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Full text of "Archiv für die gesamte Psychologie. v.36.1917. California"

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ARCHIV 


FÜR DIE 



GESAMTE PSYCHOLOGIE 

BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 


UNTER MIT WIRKUNG 

VON 

Prof. N. ACH in Königsberg, Prof. E. BECHER in Münster, Prof. 
H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. KIE80W in Turin, Prof. 
A. KIRSCHMANN in Leipzig, Prof. E. KRAEPELIN in München, 
Prof. 0. KÜLPE in München +, Prof. A. LEHMANN in Kopen¬ 
hagen, Prof. G. MARTIUS in Kiel, Prof. A. ME8SER in Giessen, 
Prof. G. STÖRRING in Bonn und Prof. W. WUNDT in Leipzig 

HERAUSGEGEBEN VON 

W. WIRTH 

A. O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXXVI. BAND 

MIT 43 FIGUREN UND 82 KURVEN IM TEXT 



LEIPZIG 

VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 
1917 


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Es worden ausgegeben: 

Heft 1 (S. 1—144) am 4. Joli 1916 

Heft 2 und 3 (S. 146—368) am 20. Februar 1917 

Heft 4 (S. 369—474) am 27. Märe 1917 


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Inhalt des sechsunddreissigsten Bandes. 


Abhandlungen: Seit« 

Othmar Sterzinoer, Rhythmische and ästhetische Charakteristik der musi¬ 
kalischen Sukzeseivintervalle nnd ihre ursächlichen Zusammenhänge. 

Mit 8 Kurven im Text. 1 

V. Benussi, Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen (kine- 
matohaptischer Erscheinungen) nach ihren äußeren Bedingungen und 
ihren Beziehungen zu den parallelen optischen Phänomenen. Mit 
23 Figuren im Text.59 


Ralph Pettow, Zur Psychologie der Transvestie. III. (Schluß.) Zugleich 

ein Beitrag zur Reform des § 61 St.G.B. Mit 4 Figuren im Text . 136 

Walter Müller, Das Verhältnis der Definitionen zu den Axiomen in der 

neueren Mathematik.145 

Ludwig Rangette, Untersuchung Uber die Psychologie des wissenschaft¬ 
lichen Denkens auf experimenteller Grundlage. I. Teil: Die elemen¬ 
taren Inhalte der Denkprozesse. Mit 7 Figuren im Text.169 

M. Nachmansohn, Zur Erklärung der durch Inspiration entstandenen Be- 

wußtseinserlebnisse.266 

Paul Feldkeller, Über BegriffsUberschiebungen. 281 

M. Antonie Goerrig, Über den Einfluß der Zeitdauer auf die Größen¬ 
schätzung von Armbewegungen. Mit 14 Figurengruppen (Kurven) 
im Text.‘.293 

A. Hertz, Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift.369 

Heinrich Gustav Steinmann, Zur systematischen Stellung der Phänomeno¬ 
logie .391 

A. A. Grünbaum, Untersuchungen Uber die Funktionen des Denkens und 

des Gedächtnisses. I. Psychologische Natur der Beziehungserlebnisse. 423 
Schütz (I.) und Wittmann (II.), Zur quantitativen Auswertung der Ergo- 

gramme. Mit 9 Figuren im Text.461 


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Preis des Bandes (4 Hefte) M. 24.— f ^ ' 


sp- 

ARCHIV 

FÜR DIE 

GESAMTE PSYCHOLOGIE 

BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 

UNTER MITWIRKUNG 

VON 

Pkof. N. ACH in Königsberg, Prof. E. BECHER in Münster, 
Prof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. KIESOW in Turin, 
Prof. A. KIRSCHMANN in Leipzig, Prof. E. KRAEPELIN in Mün¬ 
chen, Prof. 0. KÜLPE in München f, Prof. A. LEHMANN in Kopen¬ 
hagen, Prof. G. MARTIUS in Kiel, Prof. A. MESSER in Giessen, 
Prof. G. STÖRRING in Bonn und Prof. W. WUNDT in Leipzig 

HERAUSGKGF.BF.N von 

W. WIRTH 

A. 0. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 

XXXVI. BAND, 1. HEFT 

MIT 27 FIGUREN UND 8 KURVEN IM TEXT 




LEIPZIG 

VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 



Bemerkungen für die Mitarbeiter. 

1. Das Archiv erscheint in Heften, deren je vier einen Band von 
36 Bogen bilden. 

2. Sämtliche Handschriften sind drnckfertig an Prof. Dr. W. Wirth 
Leipzig, Haydnstraße 6 ra , einzuliefern; größere Änderungen im 
Satz sind nnzalässig. Die Veröffentlichung geschieht in der Reihen¬ 
folge des Eingangs, jedoch bleiben Änderungen Vorbehalten. 

3. Zeichnungen sind auf besonderen Blättern zu liefern; außer¬ 
gewöhnliche Anforderungen an die Herstellung der Abbildungen 
bedingen vorherige Vereinbarung; dies gilt auch für größere und 
schwierige Tabellen. — Alle Tafel-Beigaben können nur auf 
Kosten der Verfasser hergestellt werden. 

4. Honoriert werden die Abhandlungen nur bis zu drei Bogen 
und zwar während des Krieges mit Jt 20.— für den Druckbogen. 
Die Honorare gelangen beim Schluß eines Bandes zur Auszahlung. 
Alle Kosten für Satz, Druck, Papier, Korrekturen usw. 
von Abhandlungen sind, soweit sie den Umfang von fünf 
Bogen überschreiten, von den Verfassern selbst zn tragen. 

Dissertationen sind von der Honorierung ausgeschlossen. 

5.40 Sonderdrucke der Abhandlungen werden unberechnet ge¬ 
liefert, weitere gegen Berechnung. 

6. Korrekturen sind umgehend zu erledigen und an die Verlags¬ 
buchhandlung (ohne die Handschrift) zurückzusenden. Die 
Verlagsbuchhandlung trägt Korrekturkosten nur bis zu einem 
Dnrchschnittsbetrag von Jt 6.— für den Druckbogen. 

Änderungen des Aufenthalts sind der Verlagshandlung sofort 
mitznteilen. 

7. Die Orthographie ist die in Deutschland, Österreich und der 
Schweiz amtlich eingeführte (s. Duden, Rechtschreibung, 9. Auf¬ 
lage, Leipzig 1915). 

Herausgeber nnd Verlagsbuchhandlung. 


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Aus dem psychologischen Institut der Universität München. 



Rhythmische und ästhetische Charakteristik der 
musikalischen Sukzessivintervalle und ihre ursäch¬ 
lichen Zusammenhänge. 

Von 

Othmar Sterzinger (Innsbruck). 

(Mit 8 Kurven im Text.) 


Einleitang. 

Nachstehende Ausführungen schließen sich eng an die unter 
dem Titel: Rhythmus und Gefälligkeit von Sukzessivintervallen 
(Archiv für die ges. Psychologie, Bd. XXXV, S. 75 ff., zitiert als 
R. und G.) niedergelegten Untersuchungen an. Es wird daher 
auch deren Ergebnis vorausgesetzt: Daß sukzessiv gegebene Inter¬ 
valle einen rhythmischen Eindruck hervorrufen, dessen Art (steigend, 
fallend) von der Stellung des höheren Tones im Zwei- oder Drei¬ 
klang bestimmt wird und dessen Intensität (Stärke, Ausgeprägt¬ 
heit) bei den einzelnen Intervallen eine verschiedene ist, daß 
ebenso die einzelnen Intervalle einen verschiedenen Grad von Ge¬ 
fälligkeit besitzen, und daß, wenn man die Intervalle in regel¬ 
mäßigen Abständen auf einer Abszissenachse aufträgt, die Werte 
für die rhythmische Ausgeprägtheit und für die Gefälligkeit aber 
zu den entsprechenden Ordinaten macht, zwei Kurven erhalten 
werden, die einen verwandten Verlauf zeigen, so daß von einer 
ziemlich erheblichen Korrelation zwischen beiden Erscheinungen 
gesprochen werden kann. Hatte es sich sohin dabei mehr um 
Maß und Zahl gehandelt, so beschäftigen sich die folgenden Dar¬ 
legungen mit der qualitativen und kausalen Seite, das heißt mit 
den subjektiven Gründeq und der genaueren Beschreibung des 
rhythmischen und ästhetischen Charakters und mit der Aufdeckung 
der ursächlichen Zusammenhänge zwischen den beiden Erschei¬ 
nungen. Die experimentellen Daten, auf die sie sich stützen, sind 
zu einem Teil die der ersten Arbeit, zum anderen sind sie gleich¬ 
zeitig mit ihnen entstanden: als die Protokolle der Selbstbeobach- 

Archir ftr Psychologie. XXXVI. 1 

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2 


Othmar Sterzinger, 


tungen, welche die Messungen der rhythmischen Stärke und die 
bei der Verglerchsmethode abgegebenen jeweiligen Urteile beglei¬ 
teten- . . .•'*. 

4 * # -*• * 1 * 

• ^ # M * 4 * • » 

Die Gründe der größeres und geringeren Ausgeprägtheit der 
einzelnen Intervalle. Deren rhythmische Charakteristik. 

Hier handelt es sich um das, was den Vpn. als Motive für 
ihr Vorzugs- oder Verwerfungsurteil bewußt geworden ist, bzw. 
was sich ihnen bei Abgabe des Urteils als auffälligste Begleit¬ 
erscheinung am rhythmischen Eindruck auf drängte. Die Frage 
war nicht ausdrücklich nach den Motiven gestellt, sondern lautete 
nur allgemein auf die Angabe des besonderen Eindrucks, daher 
sich in den Antworten neben deutlichen Motiven auch bloße Be¬ 
schreibungen des rhythmischen Charakters vorfinden. Zu einem 
Teil sind die Motive für die Verwerfung die Gegenstücke zu denen 
der Bevorzugung. In diesen Fällen werden die entsprechenden 
Aussagen nebeneinander angeführt. Die übrigen Motive werden 
naturgemäß nach solchen der Bevorzugung und der Verwerfung 
geschieden. 

1) Der Tonschritt. Daß der Tonschritt ein wichtiger 
Faktor für den rhythmischen Charakter ist, wurde bereits R. und G. 
S. 84 erwähnt und geht schon aus der bei manchen Vpn. 
vorhanden gewesenen Parallelität der Kurve der rhythmischen 
Stärke mit der der Intervallgröße hervor. Die Protokollaussagen 
liefern eine Bestätigung. 

Sg 1. cd ce . Das zweite ausgeprägter. Der Ton 2 beim 
zweiten Paar war höher; die Klangfarbe schien heller, hatte mehr 
Sonorität. 

Sg 8. cg^>ce. Das erste ausgeprägter. Der Unterschied 
war größer zwischen den beiden Tönen. 

Se 116. c g c e . Beide jambisch. Die Quinte etwas stärker. 
Und zwar, ganz primitiv ausgedrückt, schien das einfach daher zu 
kommen, daß die beiden Töne weiter auseinander entfernt 
lagen, daß der Bogen der größere war und dadurch schien der 
zweite Ton wichtiger zu werden, wo ein wirkliches Hinaufsteigen 
nötig war (bei der Terz war es ähnlich wie bei der Sekunde). 

Ganz ähnlich lauten mehrere Aussagen der Vp. Kü und sind 
vermutlich im selben Sinne aufzufassen. 

Kü 111. cg~^>ce. Anfangs gleichwertig in der Ausprägung 
des rhythmisch-jambischen Charakters. Allmählich trat ein Unter¬ 
schied hervor, der beim letztenmal am deutlichsten war. Danach 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 3 

war das zweite entschieden weniger ausgeprägt als das erste. Beim 
ersten Intervall hatte ich den Eindruck einer größeren Spannung, 
als wenn gewissermaßen weiter ausgeholt werden müßte, 
um den betonten Ton zu erreichen, und ich kann mir ganz gut denken, 
daß das den Eindruck einer größeren zeitlichen Entfernung macht. 
Unmittelbar mit dem Eindruck der Töne selbst vorhanden war die 
optische Vorstellung eines Bogens, wenn jemand springt, von einer 
Platte zur anderen. 

He 146. cg ca. Das zweite stärker betont ... Es sieht 
aus, als ob der vierte Ton vom dritten mehr entfernt wäre 
als der zweite vom ersten. 

Kö 133. c c c a . Beide Male jambisch, das erste das aus¬ 
geprägtere. Und zwar möchte ich sagen, ein gewisses Distanzgefiikl, 
daß diese größere Reichweite eben auch dem Tone den 
Akzent verleiht. 

Daran seien einige Beispiele gereiht, die zeigen, daß auch das 
Verwerfungsurteil von demselben Grunde bestimmt werden kann. 
Von derselben Vp.: 

154. ca^>ce. Beide Male jambisch, das zweite weniger aus¬ 
geprägt. Hier habe ich bemerkt, daß die Tonhöhe beim zweiten 
auch eine gewisse abfallende Intensität des Intervalls her¬ 
beigeführt hat gegenüber dem ersten. Nach dem großen Tonschritt 
des ersten scheint genau, wie die Tonhöhe sinkt, beim zweiten auch 
die innere Kraft des Intervalls zu sinken. Diesen Eindruck habe ich 
meistens, wenn das höhere Intervall vorher kommt. 

2) Das Hinauf- bzw. Hinuntergehen. Dieses Moment 
findet sich im Bereiche der rhythmischen Vergleiche nur einmal. 
Wenn es trotzdem angeführt wird, so geschieht es deshalb, weil 
es sich bei den Gefälligkeitsvergleichen bei Kü und He etwas 
häufiger einfindet. Die größere Seltenheit hier geht wohl auf die 
geringere Anzahl von Vergleichen (Versuchen) zurück. 

Sg 10. ch^> c e . Das H. weniger ausgegrägt. Mir schien 
dabei eine Art Kadenz zu sein, beim II. Intervall. Beim I. hatte 
ich den Eindruck des Steigens, beim II. den des Fallens. 

3) Die Schwere, der dynamische Eindruck. Es er¬ 
scheint mir nicht zweifelhaft, daß diese Momente nicht sehr ur¬ 
sprünglicher Natur, sondern ebenso wie die verwandten folgenden 
als Ausflüsse des sogenannten Tonvolumens anzusehen sind. 

Kö 146. c h <d c d . II ist ausgeprägter, es hat einen größe¬ 
ren Schlag. Der I. Rhythmus klang schon stärker betont als vor¬ 
her (im vorhergegangenen Beispiele), aber zuletzt trat das H. Paar 
immer stärker hervor. Es wurde stärker, als es zu Anfang war, 
wenigstens ließ es den Zweifel nicht mehr aufkommen. Nach längerem 

1 * 

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4 Othmar Sterzinger, 

Zuhören trug es einen anderen Schlag in sich, während das I. 
matter klang. 

Kö 141. c d ? cg . Beide Male jambisch; welches das aus¬ 
geprägtere ist, ist zweifelhaft. Doch würde ich wahrscheinlich das I. 
vorziehen . . . ich habe das I. Paar lauter gehört. 

Sgl79. c f ? cd . Beide in ihrer Art ausgeprägt. Beim I. 
der gewöhnliche Eindruck, daß Abschluß da ist und Beruhigung. 
Beim II. gerate ich in eine gewisse Spannung, ich möchte die ganze 
Reihenfolge hören, der dynamische Akzent auf dem II. ist 
stärker und doch ein gewisses Widerstreben, diesen Rhythmus als 
ausgeprägter zu erklären. Es gibt etwas, was dagegen wirkt, viel¬ 
leicht das Abrupte des Schließens. 

Ju 4. c d c a . Jambisch dasselbe wie vorher. . . . Sukzessive 
Verminderung der Intensitätsauffassung des 2. Tones in den 
letzten 3 Fällen (cf — ca). 

Aus den angeführten Proben, die sehr stark vermehrt werden 
könnten, und wie die folgenden 2 von Vpn. stammen, welche die 
Sk stark rhythmisierend empfinden, ersieht man, daß es das klei¬ 
nere Intervall ist, welches den »stärkeren Schlag« hat. 

4) Das Tonvolumen, die Fülle. Es ist eine bekannte 
Erscheinung, daß tiefere Töne im Vergleich zu höheren etwas 
Voluminöses an sich haben, eine Erscheinung, die in der Literatur 
als Größe, räumliches Moment, Tonvolumen bezeichnet worden 
ist (C. L. Merkel, Anatomie und Physiologie des menschlichen 
Stimm- und Sprachorganes, S. 278; Stumpf, Tonpsychologie I, 
S.207; B,. Gaetschenberger, Über die Möglichkeit einer Quanti¬ 
tät der Tonempfindung, Archiv für die ges. Psych., Bd. I, S. 110) 
und die ohne Zweifel auch in den folgenden Protokollen gemeint 
ist. Ob ein eigenes physikalisches Substrat hierfür gesucht werden 
muß, wie es Gaetschenberger unternimmt, erscheint mir zweifel¬ 
haft; gewiß sind Wellenlänge und Schwingungszahlen physikalisch 
unzertrennlich; aber es ist nicht einzusehen, warum die Größe der 
Wellenlänge nicht die psychische Erscheinung des Tonvolumens 
und die Anzahl der Schwingungen die der Tonhöhe liervorrufen 
können. Auch Stumpf erklärt im Bericht über den Psychologen¬ 
kongreß 1914, S. 308, daß ihm Bedenken, als ob es etwas nicht 
geben könne, das keine gesonderte physikalische Grundlage hat, 
unverständlich seien. 

Kö 96. ac <^g c. Das H. ausgesprochen trochäisch, beim I. 
schien es mir auch so zu sein. . . . Das I. hat Betonungsgehalt, 
das II. mehr Klingungsgelialt, Schwingungsgehalt. ... Wenn 
diese Schwingungsfülle sich nicht vorgedrängt hätte, wäre 
es auch nicht vorgezogen worden. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervallc usw. 5 

Beispiele, daß der Mangel an Volumen im gegenteiligen Sinne 
wirkt: 

Sg 15. cf^>cc. Hier ist es auch so, nur ist der 2. Ton et¬ 
was betonter als bei der Sp. Die I. Folge entschieden am stärksten 
jambisch betont. Das II. Paar klingt etwas matter; das Dünnere 
im Ton, das kann vielleicht ein Zurücktreten veranlassen gegenüber 
der I. Folge. 

Kö 101. c x c <d h c . ... vielleicht, weil Ton Ij etwas Dün¬ 

neres hat als Ht und infolgedessen als schwächer empfunden wird. 

Ju 25. ca <d cd . In I Rhythmus nicht sehr nötigend, in II 
ausgesprochen jambisch. Quantitierung verschieden in beiden. In I 
erscheint der 2. Ton mehr weggeschleudert, zu kurz, in II eher 
gleichmäßiger Spondäus. Subjektive Nötigung daher klar in II. 

5) Das Ruhige, Gravitätische. Sehr nahe verwandt mit 
dem vorigen und dürfte ebenfalls auf das größere Tonvolumen 
zurückzuführen sein. 

Ju 21. cd^>cg. Entschiedenes Vorwiegen von I. Dyna¬ 
mischer Eindruck. Auch ist tatsächlich I ernster, ruhiger, 
macht den Eindruck von mehr Zielsicherheit, II hingegen ist 
etwas leichter, etwas weniger ausgesprochen. 

Kö 40. c d^> c c 1 . Im großen und ganzen dasselbe Ergebnis 
wie beim vorhergehenden. Obwohl sich zeitweise die II. Folge sehr 
stark hervordrängt. Der 1. Ton der I. Folge tritt gegenüber dem 
2. Ton durch die Dunkelheit etwas’ mehr zurück. Der ästhetische 
und gravitätische Eindruck ist gleichfalls vorhanden. Der Rhyth¬ 
mus ist ruhiger als bei II. Und die Ruhe macht auch den 
Eindruck von Kraft, das ist das ästhetische Moment. 

Als Beleg für die entsprechende Wirkung des Nichtvorhanden¬ 
seins, zugleich als Überleitung zum folgenden Punkte: 

Ju 40. ch <dc a . I hat etwas Unruhiges, Unfertiges, Offenes; 
man ist sich nicht klar, ist das bloß ein Tonschritt, oder wirkt es 
auch rhythmisch, es ist gar nichts Abgeschlossenes und man flüchtet 
sich förmlich nach II hinüber. Dort tritt der Abschlußcharakter zur 
Verstärkung des 2. Elementes und zur Rhythmisierung klar zutage; 
nebenbei ist es auch wohlklingender. 

6) Der Abschlußcharakter. Daß der Abschluß Charakter 
einer melodischen Folge von 2 Tönen als Motiv für die rhyth¬ 
mische Ausgeprägtheit wesentlich mitspricht, geht aus den Proto¬ 
kollen, die der Beurteilung von Quarte und Oktave hinzugefügt 
wurden, unzweifelhaft hervor. Während aber der Abschlu߬ 
charakter bei der Quarte in diesem Intervall keinen inneren Gegner 
findet, ist dies bei der Oktave nicht der Fall. Dortselbst liegt er, 
abgesehen von den vorhin angeführten Motiven, in stetem Kampfe 

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Othmar Sterzinger, 


mit der Konsonanzwirkung, die eine gegenteilige ist. Bald siegt 
er, bald sie, und so geht das Urteil über die rhythmische Aus¬ 
geprägtheit der Oktave nicht nur bei den einzelnen Vpn. aus¬ 
einander, sondern auch hei ein und derselben Vp. erhält sie 
gleichen Intervallen gegenüber bald ein Plus, bald ein Minus. 

Se 81. ce^>cf. Ich glaube, daß das II. Intervall den ausge¬ 
prägteren Jambus dargestellt bat. . . . Das bängt zusammen mit 
dem Abscblußcharakter, den die q hatte und die T nicht. Es 
war nicht ein einfacher Jambus, sondern der 2. Ton war mehr be¬ 
tont als ein Ende, als ein Abschluß. 

Sg 152. cf^>ce. Das I. ausgeprägter. Ein gewisser Nach¬ 
druck darauf, und ein Ahschlußcharakter da, beim 2. eine 
gewisse Spannung, als ob noch eine Reihe folgen sollte. 

Kö 117. ceP^cc 1 . Beide Male jambisch, beim II. Ab¬ 
schlußcharakter. Beim 2. Ton hatte der Ton selber eine 
solche Gewalt, während äußerlich der Klang schwächer 
schien. In diesem Sinne ist eigentlich das II. Paar stärker ge¬ 
wesen. 

Kö 147. c d <C c c 1 . Beide Male jambisch, das II. hatte einen 
größeren Abschlußcharakter, so daß ich ihm wahrhaft die 
größere rhythmische Ausgeprägtheit zuschreiben möchte. 
Wenn der Ahschlußcharakter hei einem Intervall sehr ausgeprägt ist, 
dann wird es sehr dominierend gegenüber dem anderen. 

7) Die Harmonie. Über die Charakterisierung dieses Mo¬ 
mentes siehe beim entsprechenden Punkte der Gefälligkeitsgründe. 
Der Umstand, daß die Harmonie und der folgende Punkt, die 
W ohlgefälligkeit, vielleicht auch der Abschlußcharakter und das 
Moment des Ruhigen, als Gründe für die rhythmische Ausgeprägt¬ 
heit erscheinen, scheint mir die Frage, oh die Einheitlichkeit (Ein¬ 
heit in der Mannigfaltigkeit), die Klarheit (im Wun dt sehen 
Sinne) oder das Hervortretende, das aus der Reihe Fallende heim 
Rhythmus seine Beziehungen zum Ästhetischen vermittelt, im 
Sinne des ersteren zu beantworten. 

Ju 117. cf~^>ef. Beides zwingend jambisch. Ausgeprägterl. 
Der subjektiven Bewertung nach I angenehmer, es macht den Ein¬ 
druck des Lieblich-harmonischen, nicht Gezierten, in sich Ge¬ 
schlossenen. . . . 

Ihr Mangel als Motiv für das Verwerfungsurteil: 

Ju 119. cf^>ch. I gehört und mir gesagt, ja, es ist nicht 
ohne, hin neugierig, was jetzt kommt, da muß schon etwas ausge¬ 
sprochen Besseres kommen, wenn ich es vorziehen soll, II gehört, 
das ist es nicht. H hat etwas Offenes, nicht Geeinigtes, was 
bei mir immer den weniger günstigen Eindruck hervorruft. . . . 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 


7 


Ju 36. cf^>cc x . Nach einigem Schwanken glaube ich doch, 
ganz sicher erkannt zu haben, daß der I. Rhythmus ausgeprägter ist, 
und es erscheint mir Ton I 2 verstärkt. Das II. Element klang au 
und für sich wohlgefällig, der Tonschritt ist ein größerer, aber es ist 
etwas stärker auseinandertretend, zwingt nicht so zur Rhytlimi- 
sierung, ist unklar. 

Kü 117. ch<^cf. Die größere rhythmische Ausgeprägtheit 
im einfachen Sinne des Betonungsverhältnisses scheint mir dem 
II. Intervall zuzukommen. Das I. Intervall hatte eine größere Span¬ 
nung, aber eine viel größere Selbständigkeit der beiden Töne gegen¬ 
einander. 

8) Die Wohlgefälligkeit. Unter den Gründen, die mit 
einer gewissen Periodizität zugunsten der rhythmischen Kraft eines 
Intervalls in die Wagschale geworfen werden, gehört auch seine 
Gefälligkeit. Dabei handelt es sich nicht um ein wohlerwogenes 
ästhetisches Urteil, sondern entweder ausgesprochen nur um den 
Wohlklang des betreffenden Intervalls, oder schlechthin um einen 
gewissen allgemeinen Gefälligkeitscharakter. Die Aussagen der 
Ypn. sind in diesem Falle von besonderem Interesse. 

Se 135. cg <^c a . Die Sexte ist schon etwas stärker ausge¬ 
prägt, aber nicht viel. Die klangliche Schönheit der Quinte 
hat mich geneigt gemacht, die Quinte etwas zu bevorzugen. Sonst 
derselbe Eindruck wie früher bei den einzelnen Intervallen. 

Ju 2. c d c c 1 . Jambus zwingend in beiden Fällen, ausge¬ 
prägter I und zwar darum, weil die Höhendifferenz in I etwas Ge¬ 
fälliges hat, etwas Harmonisches, nicht diesen mutwilligen Charakter 
des II. 

Ju 3. ce<^cf. Die rhythmische Ausgeprägtheit ist in II 
größer und zwar erblicke ich den Grund in dem subjektiven Wert¬ 
urteil, in der Disposition ?u diesem Werturteil. Es sind 
mir beide Paare nicht angenehm, aber H würde mir noch mehr Zu¬ 
sagen als I. 

Ju 34. cc 1 ce. Ich habe den Eindruck, daß ich mehr nach 
dem II. gerichtet bin und zwar aus folgenden Gründen, die ich nicht 
theoretisch geben möchte, die ich aber immanent verspüre. Das I. 
macht wieder den Eindruck des Nicht-Symmetrischen, dabei das 
optische Bild von einem senkrechten und einem geneigten Pfeil. 
Das HL. macht den Eindruck einer äußeren Symmetrie, einer inneren 
Klarheit, von etwas, was mir innerlich paßt, zusagend ist. 
Obzwar dieser Tonschritt beim II. kleiner ist, zwingt das II. in¬ 
folge der subjektiven Höher-Bewertung des Tonschrittes 
mehr zur Rhythmisierung als das I. 

Sg 1. cd<C.ce. Das II. ausgeprägter jambisch. Der Ton¬ 
schritt beim II. war ein größerer. Die Klangfarbe schien heller, 
hatte größere Sonorität. 

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8 


Othmar Sterzinger, 


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Sg 26. cd <^c f. Ich glaube, das II. Lange geschwankt. 
Deutlich ist, daß der Unterschied der Betonung stärker ist beim II. 
Aber ich habe, wie früher, den Eindruck, daß das I. Intervall et¬ 
was Gefälligeres an sich hat, daß man dabei mehr befrie¬ 
digt ist, beim II. bloß eine gewisse Spannung. Die weit stärkere 
Betonung des 2. Tones im II. Intervall hat dann den Ausschlag ge¬ 
geben, obwohl die Intervalle als Ganzes aufgefaßt wurden. 

Sg 22. (Spontan zu Protokoll gegebener Generaleindruck nach 
der ersten Versuchsstunde, wo die Instruktion auf die Beurteilung 
der rhythmischen Ausgeprägtheit gegeben war:) Die eine Folge, der 
eine Bhythmus kam mir musikalisch gefälliger vor, das wurde 
immer beurteilt als ausgeprägter. Es war ein gewisses Be¬ 
friedigtsein dabei. 

Ein Beispiel, daß der Mangel an Gefälligkeit im entgegen¬ 
gesetzten Sinne den Ausschlag geben kann: 

Kö 169. cg~^>ch. Das I. ausgeprägter. Das II. hatte so 
etwas Unbefriedigendes, das scheint mitgewirkt zu haben. 

Kö 143. c a^> cd. Beide Male jambisch; das I. entschieden 
ausgeprägter. Vielleicht verstärkt durch die Wohlgefälligkeit. 
Das I. war entschieden wohlgefälliger, der 4. Ton war] unbefriedigend, 
der Tonschritt war auf keinen Fall sympathisch. Zusatz¬ 
frage : Ob die einzelnen Töne oder das Intervall als Ganzes beurteilt 
wurde? Antwort: Den 1. Ton höre ich natürlich immer mit, aber 
der 2. Ton gibt den Ausschlag, der 1. Ton wird nur als Ausgangs¬ 
punkt betrachtet sozusagen. Die 2. Töne geben erst den Ausschlag, 
sie formen das Ganze, das Intervall wird durch den 2. bestimmt. 

9) Die Lebendigkeit und Frische, die Neuartig¬ 
keit. Dieser subjektive Eindruck, der, wenn auch nicht oft, so 
doch einige Male als Motiv der Bevorzugung angegeben wird, geht 
objektiv in einem Falle auf den Gegensatz zur Konsonaq?- 
erscheinung, in den Übrigen Fällen auf eine größere Verschieden¬ 
heit in der Tonhöhe zurück, die dem betreffenden Intervall in 
phänomenologischer Hinsicht einen größeren Grad von Neuartig¬ 
keit verleiht. 

So 74. ca^> cc 1 . Das I. etwas ausgeprägter. . . . Beim I. 
sind die beiden Töne mehr heterogen als beim II. Beim 
2. Ton des I. Intervalls kommt ein neues Element dazu. 

He 133. c e ? c c l . Beide haben den jambischen Bhythmus, 
bei keinem ganz ausgeprägt, aber bei beiden vorhanden; eventuell 
stärker das II. Und zwar liegt dies in der Neuartigkeit, 
Fremdartigkeit des 2. Tones, der einen gewissen Nachdruck nach 
sich zieht. 

He 129. cd ca. Das H. Paar entschieden mehr zum Bhyth¬ 
mus drängend als das I. . . . Das I. ist ruhig, gleichgültig, das H. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 9 

bekommt durch den 4. Ton so eine eigenartige Note, und gerade 
durch dieses Überraschende bekommt er den Nachdruck. 

10) Die Bedeutsamkeit. 

Kü 115. cg^>cd. Das II. Intervall erschien mir weniger 
rhythmisch ausgeprägt. Dazu kommt aber auch, daß das I. Intervall 
bedeutsamer erschien als das II. Das II. so wie ein rasches Hin- 
weggehen, während das I. mit Nachdruck sich einführt. Man kann 
auch sagen, das ganze I. Intervall hatte einen ausgeprägteren, be¬ 
deutsameren Charakter als daB II., nicht nur eine rhythmischere 
Gliederung. 

Se 78. cd<^cf. Das II. stärker ausgeprägt. Beim I. waren 
die beiden Töne fast gleichartig, beim II. der 2. wuchtiger, wert¬ 
voller. 

11) Schwer zu beschreibende Charakterzüge des 
Intervalles. Es handelt sich dabei um Züge, die den voraus¬ 
gegangenen Momenten der Gefälligkeit und Neuartigkeit und 
namentlich der Bedeutsamkeit nahe stehen, aber etwas tiefer als 
sie liegende Charakterzüge des Intervalls zu meinen scheinen. 
An der Übergangsstelle vom vorausgegangenen Motiv steht folgende 
Äußerung: 

He 131. cd<C.cf. Das II. stärker als das I. jambisch. Das 
Überraschende, das, was die Eigenart eben ausmacht, gibt 
ihm den Bhythmus. Das I. ist so charakterlos. 

Se 76. cf? ca . Entschieden alle beide sehr ausgeprägt. 
Aber beide in ähnlicher Weise. In bezug auf die Stärke kaum eines 
einen Vorzug. Auffallend war diese Ähnlichkeit. Beide Intervalle 
gehören in dieselbe harmonische Sphäre, die durch den 
Dreiklang gegeben ist. 

Ju 3. cd cg . In beiden Fällen ist der jambische Eindruck 
zwingend. Ich würde mich für den 2. entscheiden . . . wegen des 
musikalischen Charakters, der dem II. Falle etwas Ausge¬ 
prägteres verleiht; der I. Fall macht einen mehr ernsten, haus¬ 
backenen Eindruck, das II. Paar ist fröhlicher, weist auf etwas an¬ 
deres hin. 

Als einziges positives Moment, das zuungunsten der rhyth¬ 
mischen Stärke der betreffenden Intervalle in die Wagschale ge¬ 
worfen wird, ist die Konsonanz oder der Gleichklang zu 
nennen. In einem Falle kann als Gegenstück das Moment der 
Neuartigkeit aufgefaßt werden. 

Kö 172. cc 1 < cg . Das II. Paar entschieden ausgeprägter, ob¬ 
wohl das I. entschieden Abschlußcharakter besitzt, so daß mir zeit¬ 
weise die Konkurrenz immerhin möglich erschien. Aber es ist doch 
ausgesprochen das 2. ausgeprägter. Die tonale Übereinstimmung, 


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10 


Othmar Sterzinger, 


dieses Gleichklingende, hat einen sehr abschließenden Charakter, da¬ 
gegen die Gleichheit, der Umstand, daß nichts Neues kommt, 
schwächt bedeutend die innere Kraft ah. Das Erlebnis, wie 
man sich verhält, ist deutlich zeitlich geteilt. 

Se 145. ef> cc 1 . Die Quarte war stärker betont. Der Ab- 
schlußcharakter hatte wieder eine stärkere Rolle gespielt. Die Oktave 
war merkwürdig wenig jambisch im Gegensatz zu sonst, es ist mir 
wieder aufgefallen diese Ähnlichkeit, die sie mit der Quinte besitzt: 
Ähnlicher Eindrnck, keiner der beiden Töne hat einen 
Vorzug, ein Hin- und Herschwanken zwischen einer Ausgangs- und 
Endlage, weder der 1. noch der 2. Ton hatte etwas harmonisch Wich¬ 
tigeres zu bedeuten. Einfach bo hin und her. 

Se 147. cg ? cc 1 . Beide deutlich jambisch, weiß nicht, wel¬ 
ches stärker war. Deutlich geworden die Ähnlichkeit der beiden 
Intervalle: Die Formhaftigkeit usw. 

Sg 12. cf~^>cg. ... beim II. zu geringer qualitativer 
Unterschied. 

Rhythmische Charakteristik. 

Allgemeines: Die allgemein rhythmischen Charakterzüge 
sind, wenn man Rhythmus im weiteren Sinne faßt, Quantitierung 
und Akzentuierung. Jede dieser Qualitäten ist für sich allein 
imstande, den Rhythmus einer Klanggruppe zu bestimmen. Ein 
Achten auf die Unterscheidung der beiden war den Ypn. nur bei 
einzelnen Reihen von Indifferenzpunktbestimmungen zur Pflicht 
gemacht worden; bei der Bestimmung der rhythmischen Ausge¬ 
prägtheit nach der Methode der paarweisen Vergleichung war den 
Vpn. nichts in dieser Richtung aufgetragen. So finden sich da¬ 
her in diesen Protokollen, die für die zweigliederigen Rhythmen 
allein in Betracht kommen, nicht allzuviele darauf bezügliche An¬ 
gaben vor. Immerhin hat beispielsweise Vp. Ju durch eine Reihe 
von Versuchen aus eigenen Stücken auf die Quantitierung sein 
Augenmerk gelegt. Und so ergibt sich dann auch trotz des nicht 
allzu zahlreichen vorliegenden Materials ein ganz klares Bild. 

Die Art des Rhythmus überhaupt, ob Jambus, Trochäus, 
Daktylus oder Anapäst, Bacchius oder Palimbacchius gehört wird, 
hängt, bei gleichen Zwischenzeiten und gleichen dynamischen Ver¬ 
hältnissen, ausschließlich davon ab, an welcher Stelle der höhere 
Ton steht. Damit ist aber keineswegs inbegriffen, daß auch die 
jeweilige Stärke des Rhythmus lediglich eine Funktion des tonalen 
Abstandes der einzelnen Töne voneinander ist. Wäre dem so, 
so müßten die Versuchsreihen zwischen Intervallgröße und rhyth¬ 
mischer Ausprägung einen unzweideutigen Parallelismus zeigen. 


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Rhythm, and ÜLsthet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. X1 


Ein solcher findet sich zwar bei Kü, einigermaßen auch bei Crai 
bei den übrigen Vpn. aber besteht ein derartiger Parallelismus 
nicht. Die relativ größere Tonhöhe wirkt dabei als Akzent, der 
mehr oder weniger scharf sein kann, der als solcher aber auch 
durch andere Momente, wie es die völlige Konsonanz bei der 
Oktave beispielsweise ist, wieder geschwächt wird. 

Das Tonvolumen, die »Breite* (Kö), wächst in der entgegen¬ 
gesetzten Sichtung zur Tonhöhe. Die Wirkung ist eine solche 
der Quantitierung. Der tiefere Ton erscheint gegenüber dem 
höheren als länger, als schwerer. Hier ist der Parallelismus ein 
vollständiger. Bei der Quinte schon wird der höhere Ton nur 
mehr selten als lang bezeichnet, von ihr aufwärts nur mehr als 
kurz, hastig oder überkurz. Dieser Unterschied spielt vollkommen 
auf die griechische Bezeichnung der Töne als d^v und ßagv 
(scharf = hoch, schwer = tief J ein; vielleicht darf man annehmen, 
daß die Griechen die Musik mehr metrisch erfaßt und genossen 
haben. 

Auch dies gilt nur für gleiche Zwischenzeiten. Denn die In¬ 
differenzpunktbestimmungen beweisen, daß auch die jeweilige Größe 
der Zwischenzeit ihren rhythmischen Effekt besitzt. Bei drei- 
gliederigen Rhythmen verleiht die größere Zwischenzeit dem durch 
sie abgetrennten Klang dadurch, daß sie ihn länger erscheinen 
läßt, also durch die Quantitierung, die Fähigkeit, die Art des 
Rhythmus zu bestimmen. 

Bei gleichen Zwischenzeiten erscheint daher bei den niederen 
Intervallen der höhere Ton als betonte Länge, von der Quinte ab 
als mehr oder weniger scharf betonte Kürze. 

Es ist . klar, daß die rhythmische Stärke, da in einem einzelnen 
Zweiklang der höhere Ton stets an Quantität hinter dem tieferen 
zurücksteht, auf einer Mischung der Quantität mit dem auf die 
größere Tonhöhe zurückgehenden Akzent beruhen muß. Die 
glücklichste Mischung wird daher jenes Intervall besitzen, das ein 
noch beträchtliches Volumen des höheren Tones mit einem schon 
beträchtlichen Tonabstand vereinigt. Darüber oder darunter wird 
der jeweilige Mangel des anderen Teiles, von wenigen individuellen 
Geschmacksrichtungen abgesehen, als schwächend empfunden. 
Bestätigende Protokolle wurden hinreichend gebracht. Hier sei 
noch eines wiedergegeben, das die Mischungstatsache selbst fest¬ 
legt. 

Kö 11. ce cc 1 . Jambisch, das U. klingt matt. Der 2. Ton, 
der hat etwas Spitzes oder Mattes (d. h. es fehlt die »Schwere«, die 


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Othmar Sterzinger, 


Quantität), vielleicht auch, daß die Höhe, der Tonschritt, zu groß 
war, daß dadurch eine gewisse Farblosigkeit eintrat, was für die 
rhythmische Empfindung etwas Unharmonisches mit sich 
bringt, so als ob sich die Tonhöhe von der rhythmischen 
Stärke trennen würde. 

Spezielle rhythmische Charakteristik: In den ange¬ 
führten Momenten, die zugunsten oder zuungunsten der rhythmischen 
Ausgeprägtheit eines Intervalles angeführt wurden, sind bereits die 
Ansätze zu einer rhythmischen Charakteristik der einzelnen Inter¬ 
valle gegeben. Dasselbe läßt sich aus einer Anzahl anderer 
Protokolle, die sich weniger mit der Angabe der Gründe für und 
wider befaßten (die Instruktion lautete nur allgemein auf die 
Angabe des besonderen Eindrucks), sondern mehr die Beschreibung 
ihrer Erscheinungsweise in den Vordergrund stellten, vervoll¬ 
ständigen. 

Die große Sekunde. Ihr rhythmischer Charakter ist der 
eines Jambus, der in diesem Falle im allgemeinen nicht sehr aus¬ 
gesprochen ist und stellenweise sogar spondäisch klingt. Die 
beiden Töne sind nahezu gleichwertig oder gleichgewichtig, machen 
den Eindruck von harmonischen Schlägen und stehen unverbunden 
nebeneinander; die Zeitspanne zwischen ihnen erscheint nicht aus¬ 
gefüllt. Manchen Vpn. erscheint sie aber auch anders; dann 
wertet sich die mechanische Seite des Schlages zur Kraft, Buhe, 
Zielsicherheit und Wucht aus. 

Se 140. cd<dcg . Bei der Sekunde wie früher; die beiden 
Töne haben jeder für sich ein bestimmtes Gewicht, es ist 
etwas Schleppendes darin, es nähert sich dem Spondäus. . . . 

Se 130. cd <^ce . Das I. sehr schwach jambisch, Annäherung 
an Spondäus. ... Die klanglichen Verhältnisse, der Charakter des 
Intervalles haben gar nicht viel mitgespielt. Das war von unter¬ 
geordneter Bedeutung; denn bei der Sekunde hatten die beiden 
Töne jeder ein fast gleiches Gewicht, . . . jeder Ton setzt 
sich für sich durch. 

Kü 110. cf^> cd. ... Beim IE. hatte sich eine Annäherung 
an die bloße Gleichwertigkeit der Töne bemerkbar gemacht. . .. 

Kü 123. ch~^>cd. Das H. etwas weniger ausgeprägt alB 
das I. Der Unterschied der Bedeutsamkeit der Spannung war wieder 
deutlich. Das II. Intervall trug einen mechanischen Charakter, 
aber der Betonungsunterschied war im 2. Fall trotzdem in diesem 
Fall geringer. . . . 

Ju 20. cd^>cg. (Entschiedenes Vorwiegen von I.) Dyna¬ 
mischer Eindruck; auch ist I tatsächlich ernster, ruhiger, 
macht den Eindruck von mehr Zielsicherheit. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 13 


He 126. cd<^cc x . Bei der Sekunde ist es so, als ob der 
Rhythmus ganz langsam wäre. Im 1. Paar stehen die Töne 
nebeneinander. — —. 

Sg 24. ce^>cd. ... beim II. scheinen die Töne zu wenig 
voneinander verschieden, es macht fast den Eindruck eines spon- 
däischen Rhythmus. 

Kö 12. cd^>cc x . Das I. ausgesprochener; das ist diesmal 
wieder so gewesen, daß der 2. Ton diesen starken Schlag 
hatte. . . . 

Die große Terz. Ihr Charakter wird ähnlich dem der Se¬ 
kunde beschrieben. Auch sie hat etwas Schleppendes, Träges; 
desgleichen wurde auch bei ihr, allerdings nur einmal, eine An¬ 
näherung an den Spondäus angegeben. Es ist keine besondere 
Charakteristik darin, der Klangcharakter spielt noch wenig herein, 
wird aber immerhin in vereinzelten Fällen schon erwähnt; der 
mechanische Schlag, den der Ton der Sekunde zeigt, hat sich 
bei ihr zum bloßen Druck abgeschwächt. Das Intervall wird da¬ 
her auch als matt bezeichnet. Während die Sekunde wegen des 
Schlagcharakters ihrer Töne von einzelnen Vpn. gern mit einem 
Vorzugsurteil bedacht wird, reicht der Druckcharakter der Terz 
hierzu nicht mehr aus, und so erklärt sich wohl auch, daß die 
Terz bei diesen Vpn. in der rhythmischen Ausgeprägtheit hinter 
der Sekunde rangiert. 

Se 134. ce<^cf. Das I., merkwürdig, so uncharakteristisch, 
so gar keinen spezifischen Ausdruck, einfach Jambus, gleich¬ 
gültig, als ob es 2 Schläge wären, und gerade zufällig die Terz. 

Se 130. c d c e . Das II. war ein natürlicher Jambus, hat 

nichts besonders Charakteristisches an sich. 

Se 141. c e c a . Das I. schien schleppend . . . die Terz 

hatte so etwas, das sie der Sekunde ähnlich macht, so etwas 
Träges. 

Cra 76. ce ? cf. Beide jambisch und zwar ist der Rhythmus 

verschieden. Beim I. mehr in der Länge, beim II. mehr in der 

Betonung. 

Cra 50. ch^>ce. Der I. Jambus stärker. Wirkt im I. wie 
ein Schlag, im II. wie ein Druck. 

Sg 11. c e c c 1 . Das I. ausgeprägter wie das II. Und zwar 
weil auf dem 2. Ton eine Art Nachdruck zu liegen schien. 

Ju 9. ch <C. c e. ... ausgeprägter II. ... Das II. macht 
keinen spießerigen Eindruck, aber einen vernünftigen, ehr¬ 
lichen. . . . 

Kö 23. c c x c e . Beide Male jambisch, die I. Folge tritt sehr 
stark hervor gegenüber der Et., die etwas matt klingt, aber immer¬ 
hin doch noch jambisch im Rhythmus ist, obwohl diese Mattheit des 

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14 


Othmar Sterzinger, 


Tones bisweilen das Erkennen des Rhythmus viel mehr erschwert als 
im I., der ganz präzis ist. 

Die Quarte. Dasjenige Intervall, dem von der Majorität 
der Ypn. die größte rhythmische Ausgeprägtheit zugesprochen 
wird, und das gewissermaßen als die rhythmische Aß — Ver¬ 
gleiche aus dem Kartenspiel sind ja in der Psychologie erlaubt — 
bezeichnet werden könnte. Dabei sind für ihren Sieg die Beweg¬ 
gründe wechselnd. Sie siegt infolge der beträchtlichen Höhen¬ 
differenz der beiden Töne über die Sk und T, wegen der größeren 
Fülle und größeren Konsonanz über die zerrissene Sp, wegen 
des größeren Abschlußcharakters und des geringeren Konsonanz¬ 
grades über die Oktave. So steht sie also mit ihren Eigenschaften 
in der Mitte. Von der »mechanischen Schwere« der tieferen 
Intervalle ist ihr die Festigkeit geblieben, die sich im Verein mit 
der bereits beträchtlichen Größe des Tonschrittes zu etwas mehr 
Geistigem, zur Energie entwickelt, während die rhythmisch un¬ 
günstig wirkende »Dünnheit«, die mit der Vergrößerung der Ton¬ 
distanz zunimmt, gerade bis zur Klarheit gediehen ist. Vielleicht 
hat die Vereinigung aller dieser Eigenschaften die gewisse Fülle, 
und den hohen Abschlußcharakter, die ihr zugeschrieben werden, 
zur Folge, beides Eigenschaften, die rhythmisch eine günstige 
Wirkung entfalten. Die beiden Töne gelten als verbunden, die 
Zwischenzeit ist ausgefüllt. 

He 137. ce<^cf. H. Paar stärker rhythmisch betont. . .. 
Das I. Paar verläuft so ruhig, das II. entschieden temperament¬ 
voller (größere Tonhöhe). 

Sg 2. cf^>cd. I ausgeprägter. Beide jambisch. Das I. 
stärker, bestimmter, das II. etwas verschwommener, gedämpft. 

Se 138. c f c a . Die Quarte war stärker; aber es ist eigen¬ 
tümlich — das ist mir jetzt deutlich geworden —, daß die verschie¬ 
den starke Ausprägung des Jambus sich allmählich entwickelt hat. 
Sie war das erstemal nicht so stark wie zuletzt. Ich glaube, das war 
früher auch schon da, ohne daß ich es beobachtet habe, und zwar 
so viel ich weiß, ging diese Stärke des Rhythmus parallel einem 
inneren Auffassen der Eigenart des Intervalles als solchen. Zum 
Beispiel der Abschlußcharakter vom 2. Ton der Quarte war das erste¬ 
mal auch noch nicht’ da wie zuletzt. Dieser eigentümlich ener¬ 
gische Charakter bildet Bich immer heraus, und gleichzeitig wurde 
auch der rhythmische Eindruck strenger und fester. 

i 

Se 145. c/‘^>cc 1 . Die Quarte war stärker betont. Der Ab¬ 

schlußcharakter hatte wieder eine starke Rolle gespielt, .. . 
Die Zwischenzeit bei der Quarte ist ausgefüllt, obwohl das bloß 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervallc usw. 15 


als vorläufiger Ausdruck erscheint. Typisch für die ausgefiillte 
Zwischenzeit bleibt die Sexte. 

Kö 139. c d cf. Beide Male jambisch, das II. ausgeprägter 
wegen des größeren Abschlußcharakters. Es war auch überhaupt 
sympathischer. Geht gewissermaßen Hand in Hand, Abschlußcharakter 
und Wohlgefälligkeit. 

Ju 36. c/‘^>cc 1 . Nach einigem Schwanken glaube ich doch 

erkannt zu haben, daß der I. Rhythmus ausgeprägter ist. Es er¬ 
scheint mir der Ton I; verstärkt, das H. Element klingt an und 
für sich wohlgefällig, der Tonschritt ist ein größerer, es ist etwas 
stark auseinandertretend, zwingt mich nicht so zur Rhythmisierung. 
Abschlußcharakter beim H. nicht besonders da, beim I. wohl. 

Die Quinte. Ihr rhythmischer Charakter im aufsteigenden 
Zweiklang wird geschildert als schlichter, natürlicher, gleichgültiger 
Jambus. Eine eingehendere Beschreibung spricht von einem gleich¬ 
mäßigen Hin- und Herpendeln ohne Zielcharakter zwischen beiden 
Tönen, wobei der 2. Ton aus einem unbekannten Grunde etwas 
stärker betont ist. Gründe für ein sie treffendes Vorzugsurteil 
werden in den seltensten Fällen angegeben. Wo es etwa geschieht, 
wird ihre Klarheit gerühmt. Die Zwischenzeit ist ausgefüllt; es 
»handelt sich dabei auch um ein in-die-Höhe-Führen, nur wurde 
der höhere Ton nicht als festes Ziel erreicht, sondern blieb 
offen« (Se). 

Kü 113. ch ? cg. ... beim II. der gewöhnliche, einfache, 
schlichte Charakter des Jambus. 

Se 124. c g c a . ... dieser Zielcharakter deutlich im Gegen¬ 

sätze zur Quinte, wo ein gleichmäßiges Hin- und Herpendeln 
war, irgendwie der 2. Ton etwas stärker betont; aber es war eine 
gleichgültige Betonung. 

Se 125. ch cg. ... und hei der Quinte war auch das 
wieder deutlich: Ich kann nicht feststellen, warum der 2. Ton mehr 
betont, es scheint mehr zufällig zu sein, gar nicht gefördert durch 
die klangliche Eigentümlichkeit, ein gleichgültiger Jambus. 

Die Sexte. Bei ihr wird von den Vpn. mit starker musika¬ 
lischer Veranlagung das Geistige im rhythmischen Charakter be¬ 
tont. Dir Rhythmus ist für sie kein bloßer Schlag, sondern gleich¬ 
zeitig noch Träger einer Bedeutung. Die Zwischenzeit wird in 
ihr als ausgefüllt, sogar als typisch ausgefüllt bezeichnet; »ein 
Band führt, so lautet eine mehrmalige Aussage, vom tieferen Ton 
zum höheren«. Eine weniger musikalische Vp. spricht von dem 
Freudigen, Lebhaften, Forcierten ihres Rhythmus. 

Kü 119. ca ? cd. ... ein wirklicher Unterschied in der 
rhythmischen Ausgeprägtheit schien mir doch nicht vorzuliegen; es 


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Othmar Sterzinger, 


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war nur [cd) einfacher, schlichter, beim I. pathetischer, anspruchs¬ 
voller. . . . es ist ein Unterschied zwischen einem mechanischen und 
einem Sinnrhythmus. Beim II. nur ein mechanischer Rhythmus, beim I. 
ein Sinnrhythmus, indem jeder Ton nicht nur ein Ton, 
sondern auch zugleich Träger einer Bedeutung, eines Ein¬ 
drucks ist. 

Se 112. ca^>cd. ... im I. Fall ein qualitativ anderer Jam¬ 
bus, zwischen dem 1. und dem 2. Ton war gleichsam ein wirkliches 
Band, ein Hinaufziehen und Zustreben, dagegen . . . 

Se 128. c a ? c f . ... bei der Sexte war die Verbindung, 

das Band, das Hinaufziehen, Hinauffuhren; die Zeit war mehr 
ausgefüllt. Als ob der Tonschritt eine wirkliche Symbolisierung 
erfahren hätte durch diesen Eindruck des Hinaufziehens. (Bei der 
Quarte waren die beiden Töne viel mehr für sich, mehr auf sich ge¬ 
stellt. Der ganze Charakter war dadurch ein knapper, bestimmter, 
nicht so weich wie bei der Sexte.) 

Ju 4. ca^>cd. ... I ist freudiger, weniger schulmeister¬ 
lich, lebhafter als II. 

Ju 8. ce ca. ... II erscheint ausgeprägter, ich möchte 
aber dazu sagen, daß mich II unnötig stark zum Jambischen hin¬ 
reißt, ich möchte es als forciert bezeichnen. Ja, ja, es ist ein 
Jambus, aber wozu so übertreiben; infolgedessen subjektiv ange¬ 
nehmer das I., weil es sich in gewissen Grenzen hält, das II. ist so 
aufdringlich. Wie wenn jemand durch übertriebenen Ehrgeiz sich 
hervortut. 

Die Septime. Der starke Dissonanzcharakter dieses Inter¬ 
valles wirkt bei den einen Vpn. in dieser, bei den anderen in 
jener Weise auf seinen rhythmischen ein. Bei den einen wirkt 
der Dissonanzcharakter mehr direkt auf die Beeinträchtigung der 
rhythmischen Ausgeprägtheit hin; beim musikalisch Begabteren 
wird hie und da scheinbar die gegenteilige Wirkung zu verspüren 
geglaubt, und der Dissonanzcharakter beeinflußt dann den rhyth¬ 
mischen in phänomenologischer Hinsicht. Der Rhythmus hat et¬ 
was Krampfhaftes, Gezwungenes, Unbefriedigendes, ein Drängen. 
Wieder bei anderen Vpn. wird der allzustarke Mangel an Ver¬ 
wandtschaft der beiden Töne wegen zu großen Unterschiedes in 
der Tonhöhe als mindernd angeführt. 

Kü 113. ch ? cg . Auch hier ganz besonders den Eindruck 
einer größeren Spannung und auch einer größeren zeitlichen Ent¬ 
fernung beim I. Intervall gehabt als beim II. Es schien mir zu 
dieser großen Spannung die Natur des Intervalles selbst, die starke 
Dissonanz, das Auseinanderstreben dieser Töne beizutragen. 
Das stört auch etwas die einheitliche rhythmische Auf¬ 
fassung desselben, so daß ich nicht ohne weiteres sagen kann, es 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 


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wäre das II. Intervall weniger rhythmisch ausgeprägt gewesen. Es J 

war gerade ein anderer Charakter . . . beim I. wie ein Zögern, um j 

den 2. Eindruck zu erreichen, und etwas Unlustiges dabei, als ob man 4 

sich nur ungern entschlösse, einen solchen Ton folgen zu lassen 
(Dissonanz). 

Kö 169. c g c h . Das I. Paar ausgeprägter. Das II. Inter¬ 
vall hatte so etwas Unbefriedigendes, das scheint entschieden mit- < 

gewirkt zu haben. 

Sg 167. cc^^ch. Das I. ausgeprägter. Es kann von Ein- ; 

floß sein, daß das I. ausklingt oder Abschluß hat, während beim II. * 

der Schluß so abrupt ist. 

Se 118. ch^>ce. Das I. ein viel ausgeprägterer Jambus als 
das H. . . . Übrigens hatte das I. irgendeine besondere eigentüm- 
tümliche Färbung, nämlich der 2. Ton, der betonte, hatte so etwas 
Krampfhaftes, er wurde krampfhaft betont und das hängt mit der 
klanglichen Eigenart des Intervalles zusammen, die infiziert. 

Se 139. cg<^ch. ... bei der Septime der Nachdruck auf t 

dem 2. Ton liegt, weil das Nichterreichte, das harmonisch Un¬ 
befriedigende an den 2. Ton geheftet ist (obwohl ich das Intervall 
als Ganzes beurteile). Vom 1. Ton auf den 2. geht ein Streben, 
der 2. sollte einen Abschluß bringen dafür; aber er bringt es nicht; 
und gerade dieses unbefriedigende Enden bekommt diesen 
krampfhaften Nachdruck, so daß der 2. Ton in dieser speziellen 
Eigenart betont als der Betontere erscheint. 

Ju 9. ch ce. ... ausgeprägter II. Zur Charakterisierung 

folgendes: Wie ich das I. hörte, drängte sich mir sofort der Eindruck 
auf, da ist schon wieder so etwas Exotisches (nicht ganz der richtige 
Ausdruck). Wie wenn jemand durch eine Kleidung sich mehr hervor¬ 
tut als notwendig ist. Das II. . . . 

Dazu vergleiche man 

Ju 10. ce]>cc l . I erscheint ausgeprägter und zwar gilt das¬ 
selbe, was ich früher in bezug auf einen unangenehm Ehrgeizigen ge¬ 
sagt habe. Es hat auch das unangenehm Exotische, Auffallende. 

Beides haftet II an. 

Ju 8. ce c a . ... möchte aber ... II als forciert bezeich¬ 

nen . . . Infolgedessen angenehmer I., weil es sich in gemes¬ 
senen Grenzen hält. 

Die Oktave. Wegen ihren mit entgegengesetzter rhythmi¬ 
scher Wirkung versehenen Eigenschaften der Konsonanz und des 
Abschlußcharakters schwankt ihr rhythmisches Charakterbild, je 
nachdem die eine oder die andere Eigenschaft sich dem Hörer in 
die Ohren drängt. Dazu kommt noch die große relative Tonhöhe 
des 2. Tones, dem andererseits wieder ein geringeres Volumen ent¬ 
spricht, so daß auch auf Grund dieser Eigenschaften entgegen- 

Archiv für Psychologie. XXXVI. 2 


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Othmar Stemnger, 


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gesetzte rhythmische Wirkungen auftreten können. Im allge¬ 
meinen ist die resultierende Wirkung die, daß die Oktave an 
rhythmischer Stärke hinter die Sexte tritt, während der gewisse 
Wohlklang und der Abschlußcharakter ihr gegenüber der Septime 
bei den meisten Ypn. ein prae gibt. In aufsteigender Folge er¬ 
scheint der erste Ton geschwächt, als ein bloßer Auftakt zum 2.; 
macht sich ihr Konsonanzcharakter stärker fühlbar, so wird ähnlich 
wie bei der Quinte von einem Hin und Her zwischen Ausgang 
und Endlage gesprochen. Die Zwischenzeit erscheint derjenigen 
Vp., die hierauf besonders achtete, Vp. Se, wieder leer. Die 
Zwischenzeiten erscheinen somit bei einer objektiven Zwischenzeit 
von 0,554 • als leer oder fast leer bei Sekunde, Terz und Ok¬ 
tave, als ausgefüllt bei Quarte, Quinte, Sexte und Septime, am 
stärksten ausgefüllt bei der Sexte. 

(Ungünstige Wirkung der Tonhöhe.) 

Ktt 114. o c 1 o a . Ich glaube doch, daß das II. Intervall 
einen stärker ausgeprägten jambischen Rhythmus gehabt als das I. 
Bei ihm war wiederum die Spannung groß und weit und darum 
die Beziehbarkeit der Töne auf ein rhythmisches Ganzes 
etwas gehemmt. 

Ju 5. cd~^> ec 1 . Ausgeprägter I und zwar darum, weil die 

Höhendifferenz in I etwas Gefälliges, etwas Harmonisches hat, nicht 
diesen mutwilligen Charakter. ... XE hat etwas Zerfahrenes, 
Offenes, Unzusammengehöriges und verliert infolgedessen 
an seinem Rhythmus, weil die Aufmerksamkeit durch diesen zer¬ 
fahrenen Eindruck vom Rhythmus abgelenkt wird. 

(Charakter.) 

Se 129. ch ? ce l . ... und bei der Oktave hat er wieder 

ganz gefehlt (der Drang, den die Septime hat), die Zeitstrecke 
schien einfach leer zu sein. Der 1. Ton hat irgendwie als Auf¬ 
takt gedient. 

Sg 166. ce 1 cd. ... besonders im I. kamen mir die Töne 
stellenweise isoliert vor, wie getrennt. 

Se 171. (Instruktion auf die Beschreibung des Charakters.) 
c c 1 : Es war ein sehr deutlicher Jambus, durchaus der wichtigste 
Ton war der 2., der 1. war eigentlich nur ein Auftakt zum 2. 
Der 2. Ton hatte deutlich Abschlußcharakter, er war ein Schluß, ein 
erreichtes Ziel. Der 1. Ton hatte dabei eine ganz sekundäre Rolle 
gespielt, als Mittel zum Zweck, wobei der 2. Ton in seiner Abschlu߬ 
eigenschaft besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Nicht daß der 
1. Ton für sich richtig aufgefaßt wurde, und daß von da aus zum 2. 
hinaufgeführt wurde, sondern es war nur ein Auftakt, ein ziemlich 
indifferenter Auftakt. Diesen großen Abstand zwischen den beiden 
Tönen, den habe ich logisch deutlich genug empfunden; aber es war 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musik&l. Sukzessivintervalle usw. 19 

nicht dementsprechend eine besonders große Spannweite vom tieferen 
Ton zum höheren. Der 1. war eben eigentlich derselbe wie der 2., 
und so wurde er ziemlich gleichgültig. Es wurde nicht der ganze 
Weg von der Tiefe zur Höhe durchlaufen, was zweifellos der Fall 
ist bei der Sp } wo wirklich von fast unten ein großer Weg ist. Die 
Zwischenzeit war eben nicht so ausgefüllt wie bei der Sexte oder 
Quarte, das heißt nicht, daß sie völlig leer war. Ich höre auch hier 
ein Ganzes; was ich nachher aussage, ist analysiert. Zunächst ist 
mir ein Ganzes gegeben. 


Die Gründe für das ästhetische Vorzugs- biw. Verwerfhngsnrteil. 
Ästhetische Charakteristik der Intervalle. Vergleiche mit den 
entsprechenden Versuchen Aber Simultanklänge. 

Es soll auch an dieser Stelle wieder darauf aufmerksam ge¬ 
macht werden, daß es sich im folgenden nur um die Gründe, 
oder was sich den Vpn. in diesem Gewände zu nähern schien, 
handelt. Inwieweit sich aus diesen Gründen die Ursachen ab¬ 
leiten lassen, bleibt, wie bei den rhythmischen Reihen, späteren 
Ausführungen Vorbehalten. Besondere Momente für das Vorzugs¬ 
und das Verwerfungsurteil treten hier nicht auf; es besteht durchaus 
eine Gemeinsamkeit des Gegensatzes. 

1) Äußerungen, die das mehr oder weniger gute Zusammen¬ 
klingen der beiden Töne meinen, »die Harmonie«. Dieses 
Moment wird vornehmlich von den weniger musikalischen Vpn. 
angeführt und geht in ätiologischer Hinsicht überwiegendenteils, 
aber nicht ausschließlich auf die Erscheinung der Konsonanz 
zurück. In deskriptiv-psychologischer Hinsicht stellt es sich dar 
als die Empfindung von etwas Zusammenstimmendem, Geeinigtem, 
Ebenmäßigem, Glattem im Gegensatz zum Zerfahrenen, Schroffen, 
Rauhen, Abrupten, und ist nach Stumpf als eine Gefühlsempfin¬ 
dung (Konsonanz und Konkordanz, 6. Heft der B. z. A. u. M., 
S. 146 und 149) zu bezeichnen. Für wirkliche Harmoniegefühle 
im Sinne akkordischen Erfassens sind die Vpn., welche diese Aus¬ 
drücke am meisten, fast ausschließlich, gebrauchten, zu wenig 
musikalisch und musikalisch geschult. Daß verschiedene ätio¬ 
logische Momente dafür in Betracht kommen können und wahr¬ 
scheinlich auch kommen, stört die subjektive Einheitlichkeit der 
Empfindung des Harmonischen nicht. Wenn Vpn. mit feinerem 
Empfinden dort, wo die anderen von Harmonie sprechen, mehrere 
Empfindungen zu konstatieren imstande sind, so kann unbeschadet 
dessen für die Vp. mit weniger feiner Veranlagung eine homogene 

2 * 

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20 


Othmar Sterzinger, 


Empfindung vorhanden sein. Die mangelnde Differenzierung braucht 
keineswegs auf einen unscharf beobachtenden Intellekt, sie kann 
auch — und dafür spricht der Umstand, daß es Vpn. mit sehr 
guter Selbstbeobachtung waren — auf eine noch nicht eingetretene 
Differenzierung der betreffenden seelischen Erscheinung zurück- 
gehen. Außer Tönen, die gleichzeitig gegeben, konsonieren, 
scheinen den Eindruck des Harmonischen auch noch Zweiklänge 
mit nahe beieinander liegenden Tonhöhen, in anderen Fällen auch 
solche mit Abschlußcharakter hervorzurufen. 

a) Im positiven Sinne: 

Hierher gehören die Aussagen: Die beiden Töne klingen besser 
zusammen, sie klingen harmonischer, melodischer, glatter; die 
Töne machen einen zusammengehörigen Eindruck, sie sind eben¬ 
mäßiger, assimilierender. 

Kö 206. cf^>ce. Das I. sympathischer als das II., weil es 
harmonischer ist und den größeren Abschlußcharakter hat. Har¬ 
monischer heißt: Die Töne stimmen besser zusammen. 

Kü 177. c g ? c a . ... zugunsten des I. spricht die klang¬ 

liche Beschaffenheit und die volle Harmonie. 

Ju 41. cc’^>ca. ... obzwar II abgeschlossener erscheint, 
ist doch I volltönender und musikalisch angenehmer. Die Töne 
liegen harmonischer zueinander. 

Sg 116. cf<^ca. Das II. gefälliger. Es ist harmonischer, 
klingt besser zusammen. 

Cra 26. c e 1 ? e d . Es läßt sich schwer entscheiden. Das 
I. Intervall klingt, obwohl es einen großen Tonschritt hat, recht 
harmonisch. . . . beim II. ist wieder dieser Übergang vom einen 
Ton zum anderen soviel angenehmer als am I. 

Kö 221. ch<^cc l . Das TL angenehmer als das I., weil es 
harmonischer ist, assimilierender, die beiden Töne stim¬ 
men besser zusammen. 

Im vorstehenden wurden solche Beispiele angeführt, wo der 
Eindruck des Harmonischen auf die Konsonanz zurückgeht; nun 
folgen einige Fälle, wo die Vp. dieselben Ausdrücke auch für die 
Intervalle gebraucht, deren Töne sehr nahe beieinander liegen, 
und sie gleichfalls zugunsten des betreffenden Intervalles in die 
Wagschale wirft. 

Ju 92. cd~^>cf. Zusammengehöriger ist I. Und hat ent¬ 
schieden den Vorzug vor II. Die beiden Töne ergänzen sich. 

Wahrscheinlich auch folgendes: 

Ju 94. cf^>ca. I entschieden vorzuziehen. Auch wegen des 
Eindrucks des sich mehr Entsprechens, während II ein Aus¬ 
einanderstreben beider Töne hat. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 21 


He 24. c g <C. c d . Das II. Paar ist harmonischer. 

He 43. c d c c 1 . Das I. Paar ist gefälliger; der 2. Ton 
paßt besser zum 1. 

Kö 191. od~^>ca. Das I. ist das wohlgefälligere. Diesmal 
ist mir das so aufgefallen; es schien mir die größere Gleichheit 
der Töne das Ausschlaggebende zu sein. Sie stehen näher 
einander als beim II. 

Kö 186. c e~^> c a . Das I. wohlgefälliger als das H. Ich 
glaube, eine Verwandtschaft, die in der Tonhöhe der beiden 
Töne liegt, daß sie nahe beieinander liegen, was die Ton¬ 
höhe anlangt, ist der Grund. 

b) Im negativen Sinne. Der Mangel des Zusammenklingens 
bzw. der geringere Zusammenklang, die Disharmonie bildet den 
Grund für das Verwerfungsurteil. Die Vpn. sprechen von Dis¬ 
harmonie, Dissonanz, Schroffheit. 

Cra 34. ch<^cf. Das H. entschieden wohlgefälliger als das I. 
Das I. ist unharmonisch und unmelodisch. Es kommen Töne 
hintereinander, die gar nicht zueinander passen. 

Ju 5. cd^>oh. ... das EL Intervall scheint zerrissen, die 
Töne scheinen in melodischer Hinsicht nicht zusammen¬ 
zuhängen. 

Sg 60. cf^>ch. ... Disharmonie und Schroffheit beim H. 

Sg 72. eh<^cd. Das H. weniger mißfällig, aber auch dis¬ 
sonierend. 

Sg 119. ca^>ch. Das H. weniger gefällig. Der gewöhnliche 
Eindruck des Aufhörens wie abrupt. 

Sg 117. cd<^ca. Das H. scheint weniger mißfällig zu sein. 
... sie klappen nicht zusammen, es ist keine Harmonie darinnen. 

2) Sehr nahe verwandt mit dem Gefälligkeitsmotive des Har¬ 
monischen ist das des sinnlichen Wohlklanges, oder wie an¬ 
dere Ausdrücke dafür lauten, des Wohllautes, der klanglichen 
Schönheit, der sinnlichen Annehmlichkeit, des Melodischen. Die 
Tatsache des Wohlklanges ist in deskriptiv-psychologischer Hin¬ 
sicht als eine einfache Erscheinung, wenn auch nicht als eine 
primäre zu bezeichnen, sondern zu einem Teil auf die Konsonanz, 
Tonhöhendistanz und dergleichen zurückzuführen. Sie ist eine im 
Organismus auftretende Folgeerscheinung aller dieser Dinge, aber als 
solche einfach und wohl zu unterscheiden von einem Gefälligkeits¬ 
urteil, das eine Vp. nach Erwägung der und jener Gründe ab¬ 
gibt, wobei gewiß auch die sinnliche Annehmlichkeit als entschei¬ 
dender Faktor mitspielen kann. 

Kö 223. cg cc l . Das I. sympathischer als das II. und zwar 
noch sympathischer als vorhin das I. [ca), weil es etwas Wohl- 

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Othmar Sterzinger, 


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lautendes an sich hat, das ist eine sinnliche Annehmlichkeit. 
Hier hat das I. direkt etwas Wohlklingendes . . . 

Kü 30. ca ? c e . Ungefähr gleichwertig. Ich kann keinen 
wesentlichen Unterschied finden zwischen dieser und der anderen Folge. 
Der Abschlußcharakter ist für das eine ebensogut wie für das andere 
da, und der bloße Annehmlichkeitsunterschied war nicht groß 
genug, um dem ersten einen Vorzug zu geben . . . 

Kü 36. ce 1 ? cf. Auch hier hatte ich den Eindruck der 
Gleichwertigkeit. Beide schienen gleich gut im Abschlußcharakter 
und auch in der Annehmlichkeit, in der melodischen Folge, ihre 
Aufgabe zu erfüllen. Namentlich konnte ich beide gut zusammen¬ 
fassen, wobei jeder Bestandteil dem anderen gleichwertig zu sein 
schien, und das konnte sowohl in der einen wie in der anderen Sich¬ 
tung ein gutes Ganzes zustande bringen . . . 

Kü 60. cd cf . Das II. hat einen Vorzug vor dem I. in der 
größeren rhythmischen Bestimmtheit, in der klanglich größeren 
Annehmlichkeit, und der Abschlußcharakter spielt für das II. eine 
günstige Bolle. 

He 61. cg <f_ce . Das II. Paar, der 2. Ton des I. ist viel zu 
hoch, und infolgedessen kommt der Wohlklang des II. Paares viel¬ 
mehr zum Ausdruck. 

b) Im negativen Sinn als Motiv für das Verwerfungsurteil. 

Kü 6. cd^> ch . Größere Mißfälligkeit des II., und zwar wegen 
der Unerfreulichkeit des Intervalles der Sp . 

Se 26. ch<f_cd. Diesmal ist das Urteil ziemlich sicher. Das 
erste Intervall hat den Eindruck des Häßlichen und das II. wirk¬ 
lich positiv den Eindruck des Wohlgefälligen. 

Kö 233. c f^> ca ♦ Das I. wohlgefälliger als das II. Es klang 
besser und hatte größeren Abschlußcharakter. Das II. klingt nicht 
so sehr sympathisch. 

He 69. ch^> cc 1 . Das I. ist zu bevorzugen. Das H. Paar 
klingt nicht angenehm, ich würde es eher als einen Mißklang 
bezeichnen . . . 

Nun folge eine Reibe von Gründen differenzierter Natur. Mit 
dem vorstehenden Momente besteht insoweit ein Zusammenhang, 
als sie zu einem Teil auf einer weiter oder tiefer gehenden Er¬ 
forschung des Eindrucks der klanglichen Schönheit von Seite der 
Vpn. beruhen. 

3) Die Wärme. Dieses Moment, das nur bei einer Vp. auf- 
tritt, spricht zugunsten des kleineren Tonschrittes. Es nimmt ah 
von der Sekunde bis zur Quinte, woselbst Aussagen über Wärme 
aufhören. 

Kö 183. c d~^> c c 1 . Das I. . . . das H. ist auch wohlgefällig, 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 23 

und zwar wird die Einheit gestiftet durch die Gleichheit der Töne. 
Das I. aber klingt wärmer. 

Kö 224. cf^>cc x . Das I. wohlgefälliger als das II. Das I. ist 
etwas wärmer, beim II. tritt der flache Charakter wieder etwas hervor, 
b) Im Sinne des Mangels als Motiv für das Verwerfungsurteil. 

Se 118. c g c a . ... das II. besitzt irgend einen Vorzug, 

während die Quinte neutral ist, kalt. 

4) Das Moment der Ruhe zeigt analoges Auftreten. 

Kü 182. ec ? fc. ... sie stehen beide einander sehr nahe, 
sie haben eine gewisse Ähnlichkeit. Zugunsten des I. spricht eine 
größere Ruhe, ein größeres Gleichmaß [Harmonie!], während für 
das II. eine gewisse Pikanterie in der Folge der Töne angeführt 
werden kann. 

Sg 54. c e c g . Das 2. weniger gefällig, und zwar scheint 
es mir etwas Schroffes zu haben. Beim I. bin ich mehr beruhigt, 
mehr befriedigt, ich kann den Rhythmus gut mitmachen, mehr emp¬ 
finden, er paßt mir besser, während beim II. ein gewisser Widerstand 
da ist. Es fügt sich nicht so leicht in meine rhythmischen Gewohn¬ 
heiten ein, ich möchte es anders haben. 

Ju70. ce^> c g . ... aber der Tonschritt im I. Intervall macht 

einen ruhigeren Eindruck und ist mir angenehmer als das II., 
das mehr sprunghaft ist. 

Ju 88. c d c c 1 . I. zweifellos klarer. II. macht wieder einen 
zerspannten, zerfahrenen Eindruck, während I. ruhiger, geschlossener, 
einfacher ist. 

Die zwei zuletzt gebrachten Protokolle zeigen, daß der Mangel 
dieses Momentes auch als Motiv für das Verwerfungsurteil wirkt. 

5) Dasselbe wie von 3) und 4) gilt auch vom Moment der 
Weichheit oder Milde. (Gegensatz: Rauhigkeit, Härte, vielleicht 
auch Schroffheit.) 

Ju 71. cd^>cg. Das I. macht den Eindruck eines unge¬ 
mein sanften Anschwellens, das sehr anziehend ist, allerdings 
nicht abgeschlossen, das II. erscheint geschlossener, aber das I. ist 
wegen des sanften Ansteigens angenehmer, weicher, milder. 

Cra 23. cg ? cd. Ich kann zu keiner rechten Entscheidung 
kommen. Das I. ist an und für sich wohlgefälliger, bei dem H. ist 
für mich das Angenehme, daß die Töne nicht so weit auseinander 
liegen. Wenn ich sie so höre, klingt das II. wohlgefälliger, weil es 
weicher klingt; das I. klingt arg hart. 

Cra 122. cf^>cc x . Das I. viel weicher, das andere klingt 
hart dagegen. 

Die beiden letzten Protokollaussagen haben ebenfalls gleich¬ 
zeitig auch den Mangel dieser Eigenschaft als Motiv für das Ver¬ 
werfungsurteil angegeben. Eine andere Beweisstelle dafür ist 

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24 Othmar Sterzinger, 

Kö 238. cd^> cg . Das I. würde ich bevorzugen. Das Et. Paar 
klingt hart. 

Sg 91/ cc l ca . Das II. etwas weniger mißfällig. 
Rauhigkeit heim I., auch beim II. noch, aber mehr beim I. 

6) Die Fülle. Auch beim Auftreten dieses Momentes besteht 
eine gewisse Korrelation zur Kleinheit des Tonschrittes, so daß es 
zu einem Teil parallel mit den drei vorausgehenden läuft, auch 
mit ihnen von den Ypn. angeführt wird. In diesem Falle scheint 
es das im Vergleich zu Intervallen mit größeren Tonschritten 
größere Volumen auszudrücken; als sein Gegensatz wäre in diesem 
Falle die »Dünnheit« eines Intervalls zu nennen. Aber der 
Farallelismus ist kein vollständiger. Es zeigt sich auch hei höheren 
Intervallen und kann dann sehr wohl dieselbe Erscheinung sein, 
die gewissermaßen als Indikator der Verschmelzungserscheinungen 
auf den verschiedenen psychologischen Gebieten benützt werden 
kann. Wobei auch das nicht ausgeschlossen ist, daß auch im 
ersten Fall irgendwelche, vielleicht nur weiter im Physiologischen 
liegende Erscheinungen derselben Art vorhanden sind. Ich stellte 
mir dann vor, in diesem Falle (es handelt sich um zwei in der 
Tönhöhe nicht weit auseinander liegende Töne) trete eine gewisse 
Verschmelzung der benachbarten Töne ein. 

Beispiele der 1. Art und zwar zunächst eines, das den Zusam¬ 
menhang mit den vorhergehenden angibt. 

Kö 231. ed~^>ch. Das 1. wohlgefälliger als das II., und 
zwar weil es wirklich etwas Wohllautendes, Dunkles, Warmes an sich 
hat. Ich möchte sagen, daß es das Dunkle ist, was ich mit Wärme 
bezeichne; genau so wie auf dem Klavier. Dunkle Töne haben etwas 
Warmes, wogegen die hellen Töne etwas kälter sind. Der hohe Dis¬ 
kant hat etwas Kaltes an sich. Kälte und Wärme sind vielleicht 
nur bildliche Ausdrücke. In den Tönen liegt auch etwas Vo¬ 
luminöses, das wird durch das Dunkle ausgelöst. Das 
Dunkle und Voluminöse hat eine andere Erscheinung an sich, es 
ist ruhiger. 

Kü 148. g e <[ e c . Das II. gefälliger als das I. Das I. hat 
vielleicht einen Vorzug der PiKanterie, aber das II. ist ruhiger, 
voller, geschlossener, einheitlicher. 

Ähnlich: 

Kü 163. a o <C. e c . Das I. hat doch den Vorzug vor dem II., 
obwohl ich mich für die Pikanterie des IE. nicht verschließe; dieser 
Vorzug ist wesentlich klanglich bedingt. Die Terz ist immer ausge¬ 
zeichnet durch den besonderen Wohlklang, besonders hervorragend, 
wie ich ihn bei keinem anderen Intervall antreffe. Ein gesättigter, 
ruhiger, voller Wohlklang. 

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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 25 

He 72. ca ? cf. Ähnlich wie im vorhergehenden; aber das 

H. Paar hat andere Qnalitätswerte, die sich schwer mit dem I. ver¬ 
gleichen lassen. Es ist ein satterer, vollerer Klang als beim 

I. Paar. ^ 

Cra 119. cc 1 <C.cf. Das II. gefälliger, weil der Ton voller ist. 

Dementsprechend finden wir auch das für die Gefälligkeit nach¬ 
teilige Gegenstück bei den hohen Intervallen. 

Ein Beispiel für die 2. Art: 

Ju 41. cc 1 ca. ... obzwar II abgeschlossener erscheint, 
ist doch I volltönender and musikalisch angenehmer. Erreicht 
nicht den Abschluß wie II, aber die Töne liegen harmonischer zu¬ 
einander. 

Kü 179. fc?<^gc. Ich komme zu keinem entscheidenden 
Resultat. Ich bin aber doch geneigt, dem H. Intervall etwas Vorzug 
vor dem I. zu gehen. Es klingt etwas voller und scheint auch eine 
etwas größere Bedeutsamkeit zu haben. 

Dementsprechend finden wir auch das für die Gefälligkeit 
nachteilige Gegenstück bei den hohen Intervallen. 

He 98. cc 1 <^c a. ... das II. Paar, weil der 2. Ton vom I. 

so Bpitz klingt, wenn auch nicht unangenehm. 

Cra 114. c e c c 1 . Das I. gefällt besser als das II. Das II. 
klingt dünn. 

Cra 8. ca^> ch . ... ich glaube, es liegt daran, daß der hohe 

Ton so dünn ist. Es klingt gegen die anderen sehr dünn. 

Kö 230. C6^> ch . Ich ziehe das I. vor. Aber es ist nicht 

sehr sympathisch. Eb klingt besser; das H. hat etwas Leeres und 
auch direkt etwas Unbefriedigendes im Tonschritt. Das I. ist etwas 
wärmer und hat auch etwas mehr Elang, wenn auch nicht sehr. 

7) Die Kleinheit des Tonschrittes. (Nähe der beiden 
Töne, leichter, angenehmer Übergang, Natürlichkeit.) 

a) Im positiven Sinn. 

Zur Erhärtung der Beziehung zwischen diesem Moment und 
dem der Ruhe sei auf die Protokollaussage Ju 70 S. 23, für die 
Verwandtschaft mit dem der Weichheit und Milde auf die Aus¬ 
sage Cra 23, die bei den entsprecnenden Motiven wiedergegeben 
sind, verwiesen. 

Cra 32. cg<^cf. Das II. wohlgefälliger. Grund der Ton¬ 
charakter, da es für mich angenehmer ist, den kleinen Ton¬ 
schritt zu machen. 

Cra 96. cd^> cf. Das I. ist wohlgefälliger. Ich würde keines 
klar nennen, und nun hat dieses kleine Intervall den Vorzug, 
da der Übergang leichter ist. 

Kö 191. cd^>ca. Das I. ist das Wohlgefälligere. Diesmal 

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26 


Othmar Sterzinger, 


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ist mir das so aufgefallen: Es schien mir die größere Gleichheit der 
Töne das Ausschlaggebende zn sein; sie stehen näher beieinander 
als beim II. [Siehe auch Harmonie!] 

He 188. ec<C.dc. ... Die beiden Töne (II) passen so gut 
zusammen, außerdem sind sie in einer gegenseitigen Höhen¬ 
lage, die mir sehr sympathisch ist. 

Eine weitere Bekräftigung für die Wirkung dieses Momentes 
bilden die Fälle, wo sein Mangel als Grund für das Verwerfungs¬ 
urteil auftritt. 

He 52. ch<^ce. ... Beim I. ist es, als wenn es in einer 
zu hohen Lage wäre, um ein ästhetisches Vergnügen zu ge¬ 
währen. 

He 64. ch<^cd. Das II. Paar ist mir lieber. Beim I. geht 
der 2. Ton etwas zu weit vom 1. Ton. 

Cra 40. cc l ? ca. Ich finde die Entscheidung wieder sehr 
schwer. Das I. Intervall ist klarer, aber beim II. ist dieser Über¬ 
gang angenehmer. Im I. ist der Tonschritt größer und jeder 
größere Tonschritt ist unangenehmer, wie eine erzwungene 
Umschaltung. 

Ju 206. c 1 c<^ec. ... Ich habe bemerkt, daß der Ton¬ 
schritt doch etwas zu weit greift. 

8) Die Größe des Tonschrittes. Im allgemeinen tritt in 
bezug auf dieses und das vorausgehende Moment eine Spaltung 
zwischen den einzelnen Vpn. ein in der Weise, daß bei den einen 
das eine, bei den anderen das Gegenteil wirksam ist; es gibt aber 
auch Vpn., wo beide Momente ihre Wirksamkeit entfalten, zum 
Teil in der Weise, daß eine Veränderung des ästhetischen Ge¬ 
schmackes im Laufe der Versuchsreihen eintritt. 

Kü 1. cd <C.ce . Beim I. ein farbloses Nacheinander von 
zwei verwandten Tönen. Es macht mir keinen Eindruck; wirkt 
mehr wie ein Fragment. Beim II. dagegen habe ich einen viel ent¬ 
schiedeneren, abgeschlosseneren Totaleindruck. Die große Spanne 
des Tonintervalls läßt mich im Tonintervall verharren, und 
ich fasse den 2. Ton auf wie eine Antwort auf den ersten. Jeden¬ 
falls wie eine Art Buhepunkt. 

Kü 11. ce<^cc l . Hier war für das II. nicht nur das In¬ 
teresse maßgebend, das an einem größeren Intervall genom¬ 
men wurde, sondern auch der Abschlußcharakter, der dem I. durch¬ 
aus fehlt. 

He 9. ce ? ca. Das I. klingt ruhiger, natürlicher, das 
U. Paar wie ein plötzlicher Sprung, was ja auch einen gewis¬ 
sen ästhetischen Wert hat; aber das I. hat im Natürlichen und 
Ruhigen einen gewissen Wert. Beim letzten Ton zuckt man förmlich 
zusammen. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 27 

He 118. ce<^cf. Lieber das II. Paar. Beim I. ist es, wie 
wenn man einen ruhigen Schritt macht, beim II. ist mehr Energie 
darin. Dieser Sprung hat mehr Courage als von I] bis I 2 . 

Häufiger wird bei anderen Vpn. sein Fehlen als Grund für 
die Verwerfung angeführt. 

Se 43. cd<^ce. ... beim I. den Eindruck, als ob die Töne 
zu nahe nebeneinander liegen. Es besteht gar keine Freiheit. 
Es ist einfach der nächste Ton, der dazu kommt. 

Kö 259. cg~^>cd. I sympathischer als II, weil bei II diese 
Kleinheit des Tonschrittes unangenehm empfunden wird, ob¬ 
wohl I auch nicht so ausgiebig wohllautend ist. 

Se 8. ce<^cg. ... das I. gegenüber dem II. gepreßter. 

9) Die Klarheit oder Reinheit eines Intervalles. (Viel¬ 
leicht auch gemeint unter den Ausdrücken: formale Reinlichkeit, 
klare Struktur /: Se ce 1 , Kü fc :/.) 

Es ist nicht sicher, ob alle Vpn. unter diesen Bezeichnungen 
dasselbe verstanden haben. Aber im großen herrscht sichtlich 
Einheitlichkeit und dabei zeigt sich gleichzeitig ein Parallelismus 
dieses Momentes mit der zunehmenden Größe des Tonschrittes. 
Vp. Kö beispielsweise bezeichnet ausdrücklich die kleinen Inter¬ 
valle als dunkel und warm, sogar als dumpf, die Oktave als klar 
und glänzend. (225, 226, 245, besonders aber 231, wiedergegeben 
bei Punkt: Fülle, außerdem noch die im folgenden zitierten.) 

Cra 124. ca<^,ec l . Das II. ist reiner; und Cra 125. 
c c 1 > c s . Es ist klarer wie das II. 

Cra 104. cd ? ca. Ich kann es auch hier wieder nicht sagen; 
sie haben beide cbarakteristische Vorzüge; das II. ist klarer, beim 
ersten ist der Übergang viel besser. 

Cra 227. cf<^cd. Es ist viel klarer und reiner als das 
andere. 

Kö 181. cd<^cg. ... es hatte einen reineren Ton; dieses 
heller Klingende war mir angenehmer. Das I. war zeitweise 
etwaB getrübt. 

Se 3. cd<^cg. ... die Quinte hat etwas Offenes, Klares, 
Ausgeglichenes. 

Kü 149. ac ? f c . ... Das II. hatte für sich eine einfache, 

klare Struktur (ähnlich 154). 

10) Die Frische, Lebendigkeit, Pikanterie, Interes- 
santheit, Eigenart. Eine kleine Gruppe von relativen Fak¬ 
toren, die eine größere psychische Erregtheit miteinander gemein¬ 
sam haben, und die mit dem größeren Tonschritt zusammen¬ 
zuhängen scheinen. Die meisten Beispiele hierfür liefern gleich¬ 
zeitig den Beweis für den Zusammenhang. 


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28 


Othmar Sterzmger, 


Kü 3. cd <^cg. Hierbei war daß II. Intervall entschieden 
interessanter, lebendiger, anregender als das I. ... 

Kii 51. ce ? cg. Ausgesprochene Gleichwertigkeit, sowohl in 
rhythmischer als auch in klanglicher Beziehung, und hinsichtlich des 
Abschlußcharakters. Hierbei liegen die Dinge eigentlich doppelt. 
Abschluß im musikalisch-logischem Sinn ist beim I. Intervall besser; 
anderseits aber hat das II. Intervall einen pikanteren Charakter 
durch die größere Weite des Intervalls, und das scheint sich 
ungefähr die Wage zu halten. 

Cra 85. ce~^>cd. Das I. ist wohlgefälliger. Es klingt 
frischer und lebhafter, das II. klingt ein bischen tot. 

Se 22. c e^> cd. Die Gründe liegen im speziellen Charakter 
der Intervalle. Das I. hat etwas Helles, Freudiges, das II. etwas 
Nüchternes, Trockenes. 

He 8. ce^>cg. Der letzte Ton geniert, er hat zwar etwas 
Frischeres, aber die ersten zwei passen besser zusammen. 

He 35. ch<C.cf. ... im EC. ist mehr Kraft und Eigenart 
. . . beim II. bildet sich mehr ein Gefühl heraus . . . das II. ist 
nicht so einfach, aber interessanter. 

Kü 171. f c <üac. Das II. Intervall gefällt besser; es erscheint 
pikanter. Es ist ein typisch interessantes Intervall. Die 
Klänge sind so gegeneinander gestellt, daß es diesen Eindruck macht. 

Der Mangel der genannten Züge als Motiv für das Verwerfungs- 
nrteil: 

He 113. ce <C. cg • Das II. Paar durch die überraschende Note, 
das I. klingt wieder alltäglicher. 

He 76. cg~^>ce. ... Gefühl, als ob das I. Tonpaar besser 
gefiele. Das II. ist so dumpf. 

11) Die Bedeutsamkeit und musikalische Brauch¬ 
barkeit. Eine weitere Gruppe von relativen Faktoren, wobei 
das 2. vielleicht eine gewisse weitere Entwicklung des 1. darstellt 
etwa in der Hinsicht, daß die letztere sich auf der ersteren auf¬ 
gebaut hat. Auch diese beiden Momente stehen in einem ge¬ 
wissen Zusammenhang mit der größeren Weite des Intervalles. 

Kü 6. cd c c 1 . ... und die Größe des Sprunges kommt mir 

als ein viel interessanteres, bedeutungsvolleres Moment zum Be¬ 
wußtsein als dieses einfache, schlichte Sek.-Intervall beim I. Rhythmus. 

Kü 168. g c ? c 1 c . Auch hier bin ich über die Gleichwertig¬ 
keit nicht hinausgekommen. Klanglich schien mir das I. einen Vor¬ 
zug zu haben. Im übrigen das II. eine größere Bedeutsamkeit und 
eine größere Abgeschlossenheit. Man hat unmittelbar den Eindruck 
des Bedeutungsvolleren, etwas, was tiefer geht, mehr in 
das Bewußtsein eindringt, einem eine gewisse Achtung ab¬ 
nötigt, eine Vorstufe für die Erhabenheit. Der klangliche 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 29 

Vorzug haftet rein an dem Klang als solchem, aber die Bedeutsam¬ 
keit läßt etwas, was dahinter steckt, wozu der Klang den Zugang 
eröffnet, etwas über die Erscheinung selbst Hinausgehendes, etwas 
Ideenhaftes, würden die alten Ästhetiker gesagt haben, erfassen. 

Se 20. cö^cc 1 . ... Das I. gefiel besser als das II., aber 
nur hinsichtlich der musikalischen Brauchbarkeit. Es war 
musikalisch interessanter, mehrsagend. 

Se 2. cd <^cf. ... Die Quarte hat wohl auch deshalb besser 

gefallen, weil sie mehr musikalische Möglichkeiten gehabt hat. 
Sie kann verschieden harmonisch interpretiert werden, sie kann ein 
Element in der Melodie sein; die Sekunde ist etwas Alltägliches. 

Se 15. cf^> ? c c 1 . Zunächst kein Unterschied zwischen beiden 
in der Gefälligkeit. Es schien mir ganz unmöglich, zu vergleichen. 
Erst dann, wie ich den Gesichtspunkt der musikalischen Brauch¬ 
barkeit benützt habe, kam ein schwacher Unterschied zugunsten des 
ersten hervor und zwar, weil durch die Quarte harmonisch schon 
irgendetwas fixiert war, während durch die Oktave das harmonische 
Moment ganz unberücksichtigt ist, es könnte Dur oder Moll sein. 
Dies ist aber trotzdem kein reines Urteil, sondern: Ob das eine har¬ 
monisch mehr bietet als das andere. 

Sein Mangel bildet ebenso wie bei seinen Vorgängern auch 
einen Grund für das Verwerfungsurteil. 

Kü 159. c 1 c'^>dc. Weniger gefällig das II. Namentlich 

Bedeutungslosigkeit. Ein einfacher Schritt, der nichts sagt, 
nichts ausdrückt. 

Kö 222. ... Das II. klingt flacher, es ist blasser. 

Vielleicht, wie bei einer Arbeit, wenig bedeutsam. Hier tritt 
mehr das Gleichklingende heraus, während vorhin mehr das Wohl¬ 
klingende heraustrat. 

12) Das Hinauf- bzw. (im gegenteiligen Sinne) das Hinunter¬ 
gehen. Da die beiden Momente immer gleichzeitig genannt wer¬ 
den, das eine als Motiv der Bevorzugung, das andere als das der 
Verwerfung, so ist es angemessener, sie gleichzeitig zu besprechen. 
Es handelt sich dabei um eine Art Synästhesie, wobei sich die 
Vpn. völlig klar sind, daß sich die Wirklichkeit anders verhält, 
deren Zusammenhang aber mit der Verschiedenheit der beiden 
zur Vergleichung gebrachten Tonschritte ohne weiteres ersichtlich 
ist. Dieses Moment wird nicht oft erwähnt; Kü erwähnt es ein¬ 
mal, desgleichen Sg, He etwa neunmal. Aber He erwähnt es, 
besonders in seinen letzten Reihen mit einer solchen Selbst¬ 
verständlichkeit, daß man den Eindruck gewinnt, es machte sich 
eigentlich fast durchgängig geltend. Die gewisse Struktur, die 
sich hierbei zeigt, dürfte auch imstande sein, Aufklärung zu geben, 


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30 


Othmar Sterzinger, 


warum die Gefälligkeitswerte der einzelnen Intervalle bei Yp. He 
für den »Trochäus« eine Kurve ergaben, die einen nahezu ent¬ 
gegengesetzten Verlauf zeigt als die für den »Jambus«. 

Kü 33. cg"^>cf. Hier habe ich dem H. Intervall eine geringere 
Gefälligkeit zuerkannt, nicht deswegen, weil sein Abschlußcharakter 
geringer gewesen wäre. Im Gegenteil. ^Es hatte einen größeren Ab¬ 
schlußwert. Die Gefälligkeit des Intervalles als solchen war im 
2. Falle etwas geringer. Der Hauptsache nach aber trat noch ein 
besonderes Moment hervor. Mir kam vor, als wäre hier eine 
Stufenleiter, ein höheres und ein tieferes Niveau und das 
höhere Niveau hatte einen Vorzug vor dem tieferen, zum 
höheren stieg es auf, und dieses Aufsteigen hatte einen Vor¬ 
zug gegenüber dem Abfallen. 

He 45. c f <^cc i . Das I. hat den Eindruck des Herunter- 
gehens; beim anderen Paar das Gefühl des Hinaufgehens. Das 
EL Paar gefällt besser, obwohl das I. Paar ganz harmonisch klingt. 
Aber das Hinaufgehen ist sympathischer als das Hinunter¬ 
gehen, da ist mehr Aktion als beim Hinunter. 

He 82. ce^>cd. Beim I. Paar das Wertungsgefühl des 
HinaufgehenB, das zweite Mal das Gefühl des Hinuntergehens . . . 

Das waren Fälle für den »Jambus«, wo der erstere Ton der 
tiefere ist; nun folgen noch Beispiele für den »Trochäus«, wobei 
sich sofort die Umkehrung ergibt. Machte früher der kleinere 
Tonschritt den Eindruck des Hinabgehens, so stellt sich jetzt bei 
ihm das Gefühl des Hinaufgehens ein, und beim tieferen geht es 
hinunter. Es ist klar, daß wenn das Hinaufgehen gefällt, das 
Hinuntergehen nicht, beim Trochäus genau die entgegengesetzte 
Bewertung eintreten muß, ein Fall, der bei He tatsächlich in an¬ 
genähertem Maße zu konstatieren ist. Die Vp. ist indessen nicht 
konsequent, so daß dies bloß als Hypothese gelten muß. 

He 261. dc~^> ho . Das I. ist ein interessanter Schritt, ein 

Ansteigen, und das II. ist ein Hinuntergehen. 

13) Der Abschlußcharakter. Die Mitwirkung dieses Mo¬ 
mentes beim Gefälligkeitsurteil steht über allem Zweifel, wenn es 
auch nicht immer dasjenige ist, das den Ausschlag gibt. 

Kü 20. ca c c 1 . Hier würde ich dem H. den Vorzug geben 
und zwar wegen des Abschlußcharakters, den das II. Intervall 
hat . . . 

Se 47. ce ? cf. Kein Unterschied. Das I. ist als Intervall 
viel schöner, wenn man bloß den Abstand betrachtet. Dafür hat im 
H. Intervall der 2. Ton deutlich Abschlußcharakter (Tonika). 

Kö 261. c f ? cd. Unentschieden. Das I. war im Abschluß 

sympathischer, es war bestimmter im Abschluß, und das II. war 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 31 

im Ton wärmer; aber ich konnte es nicht gegeneinander aus- 
gleichen. 

Ju 74. c f^> c d. Auch hier war wieder das I. angenehmer. 
Abschluß Charakter. Das U. Intervall als solches nicht unange¬ 
nehm, aber nicht abgeschlossen. 

Sg 72. eh cd . Das H. weniger mißfällig, aber auch dis¬ 
sonierend. Das II. hat Abschlußcharakter, ist wie eine Antwort auf 
eine Frage. 

Sein Mangel tritt gleichfalls als Motiv für das Verwerfungs¬ 
urteil auf. 

Ju 44. eh c a . ... I macht eher einen sprunghaften Ein¬ 

druck, als ob es noch etwas zum Abschluß verlangen würde . . . 

Se 14. cf^> eh. Sicher ungefälliger das H. Der Grund für 
die Mißfälligkeit des IE. ist klar, es drängt nach der Auflösung 
zur Oktave, weil dieser Drang nicht erfüllt wird, hat es etwas 
Unbefriedigtes. 

14) Die rhythmische Ausgeprägtheit. Ebenso wie hei 
der Beurteilung der rhythmischen Ausgeprägtheit öfters die Ge¬ 
fälligkeit des einen Intervalles als Ursache für seine größere rhyth¬ 
mische Ausprägung erschienen ist, so tritt auch die rhythmische 
Ausgeprägtheit als Grund für seine Gefälligkeit auf, wenn auch 
eigentlich nur bei einer Vp. 

Kü 55. cd cg . Ich habe das II. Intervall vorgezogen wegen 
größerer rhythmischer Bestimmtheit, besseren Klanges, während 
der Abschlußcharakter zweifelhaft beläßt, welchem Intervall der Vor¬ 
zug gebührt. 

Kü 56. ee<^ca. Eine größere rhythmische Bestimmt¬ 
heit würde ich dem II. und ihm infolgedessen den Vorzug 
geben. Klanglich würden sie ungefähr gleichwertig sein, und was 
den Abschluß anbetrifft, würde ich dem II. eher einen Nachteil gegen¬ 
über dem I. geben; aber die rhythmische Bestimmtheit würde 
ich in den Vordergrund stellen, weil das der Haupt- 
gesichtBpunkt für die ästhetische Vergleichung ist. 

15) Die Konsonanz 1 ). Zur klaren Unterscheidung vom Mo¬ 
ment der Harmonie sei hier, dortselbst gebrachte Gedankengänge 
wiederholend, angeführt, daß damit nicht der objektive Tatbestand 
der Konsonanz gemeint ist, sondern daß nur jene Fälle hierher 
gerechnet werden, wo dieser Tatbestand den Vpn. deutlich vorhanden 

1} Ich habe hier und unter 16] Fälle zusammengefaßt, die zweifellos nicht 
einheitlicher Natur sind, weil ich wenigstens einen Hinweis auf das, was 
Konsonanz und Dissonanz sind, darin zu finden glaubte. Sie können aber 
teilweise auch unter andere Rubriken fallen. Vgl. Kemp im Archiv f. d. 
ges. Psych., Bd. 29, S. 139 ff., bes. S. 202. 


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32 


Othmar Sterzinger, 


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zu sein schien und als ästhetisches Urteilmotiv mitwirkte. Im 
günstigen Sinne wird dieses Motiv selten genannt, obwohl der 
musikalisch gut veranlagte Teil der Ypn. über das objektive Vor¬ 
handensein oder Nichtvorhandensein natürlich im Klaren war, und 
dann fast nur im Vergleich mit der großen Sp. 

a) Im günstigen Sinne. 

Se 21. ch^>?cc 1 . ... Die Oktave hat nach einer anderen 

Anordnung einen kleinen Vorzug. Es handelt-sich jetzt um den 
Gegensatz zwischen Konsonanz und Dissonanz. 

Kü 147. hc f c . Zweifellos das II. bevorzugt gegenüber 

dem I. Dort die ausgesprochene Dissonanz, hier eine hohe Kon¬ 
sonanz, zugleich etwas Beruhigtes, etwas Klares, in sich Gefestigtes. 
Zum Unterschied von der Zerrissenheit wie von der Selbstaufhebung 
der Sp. 

Kö 242. c c 1 c a . ... und obzwar das H. auch sympathisch 

ist, wurde hier beim I. das Harmonische und auch das Gleich¬ 
klingende als wohlgefälliger gefunden als beim H. 

b) Im ungünstigen Sinne. 

Kö 222. c a c c l . ... das II. klingt flacher, es ist blasser. 

Vielleicht wie bei einer Arbeit, wenig bedeutsam. Hier tritt mehr 
das Gleichklingende heraus, während vorhin mehr das Wohl¬ 
klingende heraustrat. 

Se 36. cc x ? cf . ... Das I. ist jenseits von gut und böse, 

nicht besonders interessant, leer, etwas Formales. Das andere ist 
schon harmonisch gefärbt. . . . 

He 86. ch^> cc 1 . Das II. Paar gefällt weniger. Das I. ist 
inhaltsvoller. Beim II. kam mir vor, als ob es beidemal der 
gleiche Ton gewesen wäre. Aber es war doch nicht so. 

Kü 151. c 1 c a c . Dem II. gebe ich den Vorzug. Das I. 
ist zu monoton. Auch hier ist der Vorzug wesentlich klanglich be¬ 
dingt. Bei der Oktave ist die Konsonanz gar zu einfach. 

16) Die Dissonanz. Wenn dieses Moment nicht unter dem 
Titel mangelnder Konsonanz geführt wird, so liegt der Grund in 
dem ausgesprochen positiven Charakter der Erscheinung. Eine 
Frage ergibt sich aber nun: Sollen nur jene Fälle hierher gerech¬ 
net werden, wo tatsächlich (= nach allgemeiner Ansicht) bestehende 
Dissonanz von den Vpn. auch als solche empfunden und als Ur¬ 
teilsmotiv verwendet wurde, oder auch jene Fälle, wo auch nicht 
unter die Dissonanzen zu rechnende Intervalle als mißklingend 
bezeichnet wurden. Jedenfalls wird es sich vorteilhaft erweisen, 
eine Trennung einzuführen. 

a) Faktische Dissonanen. Esz kämen nur die Sp und Sk in 
Betracht; aber die letztere wird in der Folge nicht mehr als dis- 


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Rhythm, and Ästhet. Charakteristik der mnsikal. Sukzessivintervalle usw. 33 

soziierend bezeichnet, sondern es wird die Verwunderung ausge¬ 
sprochen, daß sie diesen Charakter in so hohem Grade einge¬ 
büßt hat. 

Kü 183. e c A e . Das II. entschieden benachteiligt infolge 
des Dissonanzverhältnisses zwischen beiden Tönen. 

Kü 184. de^>he. Ebenso; es ist merkwürdig, wie die Dis¬ 
sonanz in der Sekunde in der Folge der Töne aufgehoben 
erscheint, aber bei der großen Sp gar nicht. 

Se 5. cd~^> eh . Das II. Intervall batte etwas absolut Unge¬ 

fälliges, etwas geradezu Unangenehmes. Beim gleichzeitigen Er¬ 
klingen ergibt es eine Dissonanz, das hat hierbei mit¬ 
gespielt. Und zwar war dies unmittelbar bewußt, nicht erschlos¬ 
sen . . . 

Cra 100. ef^>ch. Das I. ist viel besser gefällig als das II. 
Ich glaube, dieses ist so mißfällig, daß man sie nicht zusam¬ 
men anscblagen könnte, das hielte man nicht aus. Es müßten 
viele Schwebungen entstehen. 

h) Empfundene Dissonanzen. 

Kö 190. c a < e f . Das II. Die Klangfarbe der Töne war 
beim II. so zusammenklingend, es stimmte besser zusammen als beim 
I., wo sie ein bischen auseinander gehen. 

Kö 194. cg~^>ca. Das I. wohlgefälliger als das II. Das II. 
hat im 2. Ton etwas darin, was mir nicht sympathisch ist, etwas 
Klirrendes, einen Nebenton, der die Einheit zu stören scheint; 
ob es im Tonschritt selber liegt, weiß ich nicht. 

He 61. ed^> ca. Das I. Paar ist mir lieber . . . der 4. Ton 
paßt nicht mehr so gut zum 3. Ton hin, während das 1. Paar 
gut paßt. 

He 78. cg~2> cc x . Das I. Paar gefällt besser. Der letzte Ton 

klingt zu schrill; ich kann nicht sagen, zu hoch, er paßt nicht. 

He 120. ce^> cc 1 . Das II. Paar gefällt weniger, aber nur des¬ 
halb, weil der 4. Ton ganz aus dem Rahmen fällt. Das I. Paar 
hat etwas Monotones; sonst wäre mir das II. Paar lieber, wenn der 
4. Ton zum 3. nicht so wenig passen würde. 

Auftretende Synästhesien. In gewissem Sinne könnte 
man hierher bereits die Momente der Rauhigkeit und Weichheit, 
der Fülle und der Dünnheit, des Hinauf- und Hinuntergehens, 
des Sprunges, der Ruhe, des Warmen und Dunklen, des Dumpfen, 
des Klaren und Frischen rechnen. Indessen haben wir hier wohl 
nur übertreibende Ausdrücke vor uns, die nur den Zweck haben, 
gewisse Charakterzüge der einzelnen Intervalle wiederzugeben, 
wenn sie auch vielleicht bereits Ansätze zu stärkeren Synästhesien 
darstellen. 

Ausgeprägte Pseudoempfindungen sind im Bereiche des ästhe- 

ArchiT für Psychologie. IXXVL 3 

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34 


Othmar Sterzinger, 


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tischen Vergleiches nur bei 2 Vpn. aufgetreten, bei Ju und 
bei He. Im Bereiche der rhythmischen Vergleiche finden sich 
solche noch bei Kü und Se. Bei Ju erscheint die Synopsie 
von parallelen oder nicht parallelen Pflöcken, wobei dann der 
1. Pflock aufrecht steht, der zweite schief gegen ihn geneigt ist, 
und heftet sich an den harmonischen oder disharmonischen Cha¬ 
rakter des betreffenden Intervalles. Bei He hingegen sind es Farben, 
angenehme und unangenehme, die den Wohlklang oder Nicht¬ 
wohlklang des jeweiligen Paares begleiten oder begründen. 

Einige bezeichnende Aussagen: 

Ju 67. cf~^>cg. In Gruppe I machen die beiden Töne einen 
zusammengehörigen Eindruck, scheinen wie das Endglied eines ein¬ 
zigen Ganzen, während II auseinanderfallt. Dabei habe ich eine 
gewisse optische Vorstellung, daß ich in I etwas wie parallele 
Pflöcke gesehen habe, unter II wie Bchief gestellte. Der 1. 
steht gerade, der 2. schief. 

Diese Synästhesie ist für Ju typisch; sie kehrt auch in der 
trochäischen Anordnung der Intervalle wieder. 

Vp. He erhielt Farben-Synästhesien erst, als die trochäische 
Folge vorgegeben wurde. Eine besondere Gesetzmäßigkeit in ob¬ 
jektiver Hinsicht konnte ich darin nicht feststellen, in subjektiver 
sind gewisse Farben, wie gelb, rotblau, angenehm, grau, gewisse 
Sorten von violett aber unangenehm. Unter den folgenden Bei¬ 
spielen ist das 1. ein solches, wo die Synästhesie den Ausschlag 
für das Urteil gegeben hat. 

He 248. ac <dhc. Das DE. Paar ist gefälliger. Das I. ist 
harmlos, natürlicher, angenehmer. Das II. hat eine interessante 
Nuance, es ist rotlila, eine Färbung, die nahe daran ist an etwas 
Unangenehmem. Wenn es sich noch mehr in das Violette verschieben 
würde, dann würde es mißfallen. So aber ist es noch rot, was ihm 
einen aparten Anschlag gibt. Das I. klingt nüchtern, brav, ganz 
richtig . . . 

He 229. g c^> f c . Das I. Paar gefälliger. Es hat etwas 
Hellgelbes, Lichtgelbes, sehr sympathisch, besonders betont ist 
das Lichte darin. Das II. ist auch nicht unsympathisch, es hat etwas 
Sonntägliches. 

Eine optische Synästhesie anderer Art von derselben Vp. 

He 242. f c^> ac . Das II. Paar weniger gefällig, obwohl beide 
etwas Störendes haben. Das I. läuft schlank an, dann hat es 
einen dicken Knopf. Mit dem 2. Ton setzt sich plötzlich 
ein Knopf an. Das II. Paar ist so, wie wenn e9 2 Knöpfe wären. 
Das Intervall schaut aus wie eine Hantel, Knopf — Pause — 
wieder ein Knopf. Es hat nichts Weiterlaufendes. 


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Original frum 

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Rhythm. und ästbet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 35 


C. S. Myers und C. W. Valentine haben in ihrer Arbeit 
(a study of the individual differences in attitude towards tones, 1 
Britisch Journal of Psychology, VII, 1914, S. 71 ff.) in Anlehnung 
an Bullough eine Einteilung der Momente gebracht, welche die 
Vpn. bei der Beurteilung von Simultanzweiklängen angeführt haben. 
Wenn ich mich im vorangegangenen nicht an sie gehalten habe, 
so liegt der Grund darin, daß ihre Einteilungsgründe nicht eigent¬ 
lich der Charakteristik der Töne selbst entnommen sind, sondern 
vielmehr außerhalb liegenden Gesichtspunkten, so daß die Unter¬ 
schiede stellenweise nur auf Nebensächlichkeiten, ja sogar auf bloße 
Abschweifungen vom Gegenstände oder Ausdrucksverlegenheiten 
der Vpn. zurückgehen. 

I. Die innerpersönlichen Momente (the intrasubjektive aspect). 

1) Die physiologischen Unterabteilungen (physiological sub- 
aspects). 

a) Die Vp. beschreibt die Töne, z. B.: hart, fest, ver¬ 
schleiert, breit, dünn, scharf. 

b) In der Vp. werden Berührungs-, Bewegungs- oder Or¬ 
ganempfindungen erregt, z. B.: Berührungsempfindungen 
im Trommelfell, Stechen im Arm, Schauer. 

c) In der Vp. werden Stimmungen und Gefühle erregt: Un¬ 
befriedigtsein, Verdrießlichkeit, Aufregung, Ruhe, Fort¬ 
getragenwerden in die Welt des Mystizismus. 

2) Die konativen Unterabteilungen (the conativ sub-aspectsj. 

a) Es treten Bowegungsimpulse auf, z. B.: der Impuls, das 
Haupt zu beugen, stille zu halten u. dgl. 

b) Die Vp. bemüht sich, Sinn und Gebrauch des Klanges zu 
bestimmen, wie: sie sucht ihn zu verbinden mit dem vor¬ 
hergehenden Ton, sie sucht seine Höhe oder sein Intervall 
zu bestimmen, sie verwundert sich, daß ein solcher Ton 
in einem Lied gebracht werden kann. 

II. Die objektiven Momente. 

a) Das Einschätzen des Klanges: 

1) Als wäre er eine Rede, z. B.: eine Ergänzung, eine Klage, 
eine Bestätigung. 

2) Als gliche er einigen nicht musikalischen Tönen: einem 
Pochen, einem Schlag, einem Echo. 

3) Als wäre er eine musikalische Note, wie in der Kirchen¬ 
musik, ein Leiteton, eine große Terz. 

b) Die Beurteilung des Tones in bezug auf die Vorstellung 
der Vp. von Reinheit, Höhe usw., die ein befriedigender 
Ton erreichen soll. Z. B.: ein dünner Ton, der aufgeblasen 
sein sollte, zu laut für diese Qualität des Tones, das Inter¬ 
vall geht zu schnell, will eine gute Harmonie, ist hölzern, 
metallisch. 

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36 Othmar Sterzinger, 

m. Der Gesichtspunkt des Charakters (anthropomorphe Auf¬ 
fassungen), z. B.: sanft, feierlich, beruhigt, würdig, grotesk, 
eckig, plump, pikant, unruhig. 

IV. Die assoziativen Momente [die beiden Autoren bringen hier 
zwei abweichende Untereinteilungen; hier sei die zweite 
wiedergegeben]. 

a) Die Synästhesien. Der Zweiklang ist dunkel, glänzend 
und gelb, dunkel sattfärbig usw. 

b) Symbolische Vorstellungen (Symbolic associations): Ein 
enger Strom von grauem Licht, in Bewegung; ein Prisma 
mit einer Ecke nach' abwärts; eine lateral asymmetrische 
Figur und ähnliches. 

c) Erinnerungen (aus der Kindheit). 

Von den Aussagen der Münchner Vpn. wären nun einzureihen 
unter 

Ila) alle die von Myers und Val. angeführten Ausdrücke, 
außerdem die häufig gebrauchten Bezeichnungen: dumpf, warm, 
weich, kalt, trocken, klar, hell, schroff, glatt, um nur einiges zu 
bringen. 

I lb) hingegen scheint ganz zu fehlen, während Ilc) immer¬ 
hin in einigen wenigen Beispielen vertreten ist: Ich bin beruhigt 
und befriedigt (Sg), Gefühl des Hinaufgehens und Hinuntergehens, 
die Töne geben eine gewisse Überraschung (He). 

12a) fehlt wiederum ganz, während unter 12b) wohl die mehr¬ 
mals geäußerte Tendenz anzuführen wäre, die beiden Intervalle 
zu einem einheitlichen Ganzen zu verbinden (Kü und Se), ebenso 
findet sich hier und da das Bestreben, das Intervall zu bestimmen. 
Von Klasse H sind a) 1 und 2 und b) vertreten. II a3) fehlt, 
da die richtigen und falschen Intervallbestimmungen wohl nicht 
hierher zu rechnen sind. Unter Hai) die Beispiele: klingt wie 
eine Frage, klingt wie eine Antwort, ist wie ein/ guter Witz, wie 
ein boshafter Einfall, unter II a 2) dürfte vielleicht gerechnet wer¬ 
den, wenn die Vp. sagt, die Töne kommen ihr vor, wie Pendel¬ 
schläge, wie ein bloßer Schlag, ein wuchtiger Schlag; nicht schlecht 
vertreten dagegen ist Hb. He beispielsweise findet, daß bei einem 
Intervall der letzte Ton nicht hierher paßt, so aufdringlich ist, 
daß er zu schnell klingt, daß der Schritt zu klein ist; Cra findet 
zu grellen Unterschied, eine zu starke Differenz; andere finden 
die Klänge banal, alltäglich, sie fallen aus der Harmonie des 
Tonschrittes heraus, ebenso gehören hierher alle Fälle, wo der 
Tonschritt zu groß gefunden, der Klang zu dünn oder zu dumpf, 
zu unrein gefunden wird, also so ziemlich alle Negative der seiner- 


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Original fro-m 

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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivinteryalle usw. 37 


zeit angeführten Gründe für die Bevorzugung. Denn immer kann 
man annehmen, daB eine Diskrepanz mit der Normal- oder Ideal¬ 
vorstellung vorhanden ist. 

Noch besser vertreten ist HL Namentlich Se bringt sehr viele 
»anthropomorphe« Bezeichnungen; er findet die Sekunde behäbig, 
fest auftretend, bescheiden und anspruchslos, die Quarte energisch 
und bestimmt, die Sexte herzlich, gemütvoll, bittend, andere spre¬ 
chen von leichten, graziösen, frischen, vergnügten, temperamentvollen, 
schwermütigen, fröhlichen, interessanten und pikanten Intervallen. 

IV a) wird hauptsächlich vertreten durch das Farbenhören von 
He bei der trochäischen Folge, worüber schon ausführlicher ge¬ 
handelt wurde. Bei anderen Vpn., wie Kö und Cra, beschränkt 
es sich bloß auf die Helligkeitswerte, wie dunkel, hell, glänzend. 

IVb) ist vertreten durch vereinzelte Äußerungen von Kü über 
die optische Vorstellung eines Sprunges von einer Platte zur an¬ 
deren, durch eine Abstand-Vorstellung bei Se, durch die sehr oft 
auftretende Vorstellung von parallel und gegeneinander gerichteten 
Pflöcken bei Ju (S. 34). Dieselbe Vp. hat auch einmal die Vor¬ 
stellung von kaskadenartigen Zickzacktreppen. He spricht ein¬ 
mal von einem Ton, der ausschaut wie eine Hantel: Knopf, Pause, 
Knopf. S. 34. 

Erinnerungen an Stellen aus Musikstücken hier und da bei Kü, 
musikalische Erinnerungen allgemeiner Natur (»wie ein Schimmer 
liegt die Durbestimmtheit über dem Ganzen«) namentlich bei Se. 
Vielleicht kann dies unter IV c) eingereiht werden. 

Daß die assoziativen Momente sich namentlich bei den musi¬ 
kalisch schlecht Begabten finden, wie es Myers und Valentine 
angeben, konnte durch diese Versuche weder widerlegt noch be¬ 
stätigt werden. 

Im übrigen zeigt sich, daß im großen und ganzen bei Suk- 
zessiv-Intervallen ähnliche Gesichtspunkte bei der Beurteilung 
herangezogen werden wie bei den Simultanintervallen. 

Zum Schlüsse sei noch eine kurze ästhetische Charakte¬ 
ristik der untersuchten Intervalle gebracht. 

Danach wird die große Sekunde einerseits als voluminös, dunkel, 
warm, weich, ruhig, als angenehmer Tonschritt, anderseits aber 
als banal, nüchtern, schlicht, einfach und ängstlich bezeichnet. 

Die Terz erhält die Beifügungen voll, satt, angenehmer Zu¬ 
sammenklang, angenehmer Übergang, sie wird auch als ruhig, 
dumpf und warm bezeichnet, im Vergleich zur Sekunde aber schon 
als lebhaft und klarer. 

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38 


Othmar Sterzinger, 


Die Quarte ist sehr harmonisch, einheitlich, zusammengehörig, 
abgeschlossen, mit sehr viel Eigenart ausgestaltet, ruhig, bestimmt, 
energisch, kräftig, verschiedene musikalische Möglichkeiten in sich 
schließend, sie hat starken Tonika-Charakter, hier und da erhält 
sie noch das Prädikat voll. 

Die Quinte gilt als angenehmer Klang, als klar, ausgeglichen, 
offen, leer, als bloße Form ohne Ausdruckswert, anderseits aber 
schon als hart, dünn, frisch, stellenweise sogar als pikant. 

Die Sexte wird charakterisiert als frisch, lebendig, pikant, hell, 
lebhaft, hüpfend, lieblich, weich, als klar, anderseits aber auch 
als hart, klirrend, auseinandergehend, sogar als disharmonisch 
(Kö und Sg), während andere wieder sagen, sie verbinde den 
Charakter des Harten mit dem Lieblichen (Se), habe eine starke 
Fröhlichkeit, die hinausgeschrien werde (Cra). 

Die Septime hat die Bezeichnungen häßlich, mißklingend, un¬ 
befriedigend, unaufgelöst, leer, zerfahren, zu hart, zu dünn, von 
zu hohem Tonschritt, denen im günstigen Sinne die Eigenschaften 
des Reinen, Klaren, Lebhaften, Interessanten, Pikanten (Cra, He, 
Se) gegenüberstehen. 

Von der Oktave endlich heißt es, sie besitzt einen angenehmen 
Klang, hat eine formale Reinlichkeit, eine gewisse Bedeutsamkeit, 
großen Abschlußcharakter, sie sei frisch, glänzend, klar, anderseits 
aber gilt sie als hart, dünn, kicksig, zerfahren, als zu hoher Ton¬ 
schritt (He, Ju, .Cra). 

Einige Vpn. haben ihre besonderen Antipathien unter den 
Intervallen, die sie dann ganz besonders mit Ausdrücken des Mi߬ 
fallens bedenken: so für He die Oktave, für Kü die große Sep¬ 
time, für Kö die Sexte, fast könnte man noch für Sg die Quinte 
hinzurechnen. Daß für manche Vpn. Oktave und Septime, 
Septime und Sexte in bezug auf die Gefälligkeit so wenig von¬ 
einander verschieden sind, weist ziemlich deutlich darauf hin, daß 
es ihnen weniger auf die Konsonanz und Dissonanz, als auf eine 
gewisse Größe des Tonschrittes ankommt. Auch E. v. Horn¬ 
bostel ist der Ansicht, »daß es in der reinen Melodie zunächst 
nicht auf die genaue, sondern nur auf eine annähernde Intervall¬ 
größe ankommt.« (Über vergleichende akustische und musik¬ 
psychologische Untersuchungen. Z. f. ang. Ps. HI. S. 479.) 

Auch hier sei die Gegenüberstellung der Äußerungen der Ypn, 
Kaestners in bezug auf die Simultanklänge gebracht. Von der 
Sekunde werden danach ziemlich häufig die Schwebungen betont, 
daneben finden sich die Bezeichnungen: rauh, verworren und wieder 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 39 

erregend, angenehme Dissonanz. Ihre wesentlich ungünstigere 
Stellung bei simultaner Darbietung scheint somit auf die Schwe¬ 
bungen zurückzugehen, während das Angenehme, das sich erst 
nach Beseitigung der Schwebungen durch Sukzessiv-Darbietung 
richtig zeigen kann, von manchen Vpn. trotzdem herausgefühlt wird. 

In bezug auf die Terz sind die Äußerungen fast übereinstim¬ 
mend: voll, weich, beruhigend, sympathisch, nur die Bezeichnung 
feierlich wurde von den Münchner Vpn. nicht zu Protokoll ge¬ 
geben. Von der Quarte hat Kaestner keine Charakterisierung 
mitgeteilt. 

Desgleichen herrscht ziemliche Übereinstimmung, soweit man 
aus den wenigen Bezeichnungen schließen kann, bei der Quinte; 
nur fehlen bei den Sukzessiv-Darbietungen die Aussagen: hell 
und mild, während der dem »hohl« ähnliche Ausdruck »leer« sich 
bei beiden vorfindet. Von der Sexte fehlen wieder die Angaben, 
während die Septime als scharf und erregender Klang charakteri¬ 
siert wird, was ziemlich mit dem schlimmen Teil der der Septime 
von den Münchner Vpn. zugeteilten Ausdrücke übereinstimmt. 


Tatbestände und Beziehungen, die die größere oder geringere 
Gefälligkeit der einzelnen Intervalle betreffen, 
v. Maltzews Übergangserlebnis und die Intervallgestalt. 

Snkzessivintervall und Simultanintervall. 

Die physikalischen Eigenschaften, durch die sich die einzelnen 
Intervalle voneinander unterscheiden, sind der Unterschied in den 
Schwingungszahlen und den Längen der beiden Tonwellen, und 
im Verhältnis dieser Zahlen, wobei ber höhere Ton eine größere 
Anzahl von Schwingungen bei kleinerer Wellenlänge besitzt. Bei 
der Suche nach den Ursachen der verschieden großen Gefälligkeit 
liegt daher die Frage am nächsten, ob von den im vorigen Ka¬ 
pitel angeführten Gründen einige als Funktion dieser physikalischen 
Momente aufgefaßt werden können. Auf die größere oder klei¬ 
nere Anzahl der Schwingungen führt man die Empfindung der 
Tonhöhe zurück, und wenn wir zunächst bei ihr bleiben, so finden 
wir den Unterschied hierin, d. i. den Tonschritt, einmal direkt 
unter den Gründen eingereiht, nur ist das Verhalten der Vpn. 
dabei ein verschiedenes, dann aber laufen andere Momente mit 
seiner Veränderung parallel. So nehmen die Momente der Wärme, 
der Fülle, der Weichheit, der Ruhe, des angenehmen Überganges 
mit ihr ab, die Klarheit, die Frische, die Lebendigkeit, die Pikan- 


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40 


Othmar Sterzinger, 


terie, die Bedeutsamkeit, die Diinulieit mit ihr zu 1 ). Eine solche 
Abnahme von Eigenschaften mit zunehmender Tondistanz wurde 
schon bei der Charakterisierung des Rhythmus zur Kenntnis ge¬ 
bracht; und zwar handelte es sich damals um die auf das Ton- 
Yolumen (S. 3 ff.) zurückgeführten Merkmale der Schwere, Buhe und 
Fülle. Es dürfte daher die Hypothese nicht allzu unvorsichtig 
sein, welche die ersteren Momente dem jeweils größeren Ton¬ 
volumen zuschreibt, während die letzteren als eine direkte Funk¬ 
tion der größeren Tondistanz zu bezeichnen wären 2 ). Sogar der 
eine Teil des unscharfen Eindrucks der Harmonie, für den be¬ 
sonders die Ausdrücke der Verwandtschaft, des Zusammenstim- 
mens, des Einheitlichen gemünzt sind, verschwindet mit zuneh¬ 
mender Tonhöhendifferenz, etwa bis zur Quinte, während von da 
ab die Ausdrücke: auseinandergehend, zerfahren, deren Stelle ein¬ 
nehmen, wogegen die größere oder geringere Konsonanz, also das 
einfache Verhältnis der Schwingungszahlen im allgemeinen, keines¬ 
wegs immer in stärkerem Maße, im positiven Sinn gewertet wer¬ 
den. Ein Parallelismus aber zwischen größerer Gefälligkeit und 
größerer Konsonanz besteht nicht. 

Die Sache läge nun ziemlich einfach, wenn die mit zunehmen¬ 
dem Tonschritt abnehmenden Momente günstig, die anderen aber 
ungünstig wirken würden oder umgekehrt; auch daun wäre die 
Verwicklung noch nicht groß, wenn bei einzelnen Vpn. ein genau 
entgegengesetztes Verhalten zu konstatieren wäre. Dann wären 
eben für die einen Vpn. die Intervalle mit kleinen, für die anderen 
die mit großen Tonschritten gradatim angenehm, bzw. unangenehm. 
In diesem Falle hätten die Gefälligkeitskurven eine sehr einfache 
Gestalt, sie würden entweder ununterbrochen steigen oder ununter¬ 
brochen fallen. Aber es ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, 
daß die Vp. durch die beiden Gruppen von Momenten in gleicher 


1) E. v. Hornbostel scheidet die Intervalle nach ihrer Gefühlswirkung 
in zwei große Eiassen: in schreitende und in springende (Z. f. ang. Ps. UI. 
479). Die beiden Gruppen von Momenten dürften sehr gut auf diese Unter¬ 
scheidung einspielen, die Ausdrücke »Schritt« und »Sprung« finden sich auch 
in den Protokollen. G. Stampf (Tonpsychologie L S. 189) nennt als Merk¬ 
male des Einzeltones, die sich parallel der Tonhöhe verändern, die Schwere 
und Schärfe, die Rauhigkeit und Glätte, die Fülle und Dünnheit. 

2) Immerhin soll nicht verschwiegen werden, daß auch an andere Mög¬ 
lichkeiten zu denken ist, wie z. B. daß bei der Sekunde der Charakter des 
tieferen Vokals, bei der Oktave der des höheren sich geltend macht, und daß 
die einen Vpn. dem einen, die anderen dem zweiten ihr Wohlgefallen zu¬ 
wenden. 


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Rhythm, and ästhet Charakteristik der musikaL Sukzessivintervalle usw. 41 


Weise angenehm, bzw., was damit verbunden ist, anangenehm be¬ 
rührt wird. Derartigen Ypn. werden die Extreme der beiden 
Gruppen am unangenehmsten und eine gewisse mittlere Stärke 
am angenehmsten erscheinen. Für die Struktur der Kurve ergibt 
sich dann ein Anstieg vom kleinsten Tonschritt angefangen bis 
zur Mitte und von ihr weg ein zunehmendes Sinken bis zum 
höchsten Tonschritt. 

Bei Heranziehung einer größeren Anzahl von Ypn. ist der 
wahrscheinlichste Fall nun der, daß eine kleine Anzahl von ihnen 
(bei einer nicht großen Gesamtzahl wird es vielleicht nur eine sein) 
den absteigenden, eine andere ebenso kleine den aufsteigenden, 
eine dritte ebenso große Gruppe aber den bis zur Mitte anstei¬ 
genden, von da ab aber sinkenden Kurventyp zeigen wird, während 
der weitaus größere Rest sich zwischen der mittleren und den 
Extrem-Kurven bewegen wird. Ja, es steht sogar zu erwarten, 
daß, wenn eine Veränderung im Geschmacke der Vp. sich im 
Laufe der Versuche einstellt, sich diese Veränderung im Sinne 
einer Annäherung an die Mittelkurve darstellen wird. 

Wenn wir auf unsere speziellen Versuche eingehen, so finden 
wir diesen der Wahrscheinlichkeit nach vorausgesehenen Modus 
des Verhaltens und Verteilens tatsächlich realisiert, und zwar 
finden wir die ansteigende Kurve vertreten bei Kü, der abstei¬ 
genden Kurve nähert sich im Durchschnittsergebnis am meisten 
Sg, während überhaupt am reinsten sie in den ersten Reihen, so¬ 
wohl in der jambischen, wie in der trochäischen Folge bei Ju 
auftritt. Die dritte ausgezeichnete Kurve mit dem Gipfel in der 
Mitte wird vertreten durch He. Eine Annäherung an die Mittel¬ 
kurve im Laufe der Versuche finden wir bei fast allen Vpn., bei 
Ju, Kö, Sg, Cra, und wenn man die trochäische Folge sich hin¬ 
zuzurechnen erlaubt, auch bei Kü. (Se hat schon in der Anfangs¬ 
reihe diesen Typus.) Eine Irritierung erleiden die Kurven übri¬ 
gens durch das von dem Tonschritt unabhängige Moment des 
Gleichklanges, dessen unmittelbare Wirkung in einer Verminderung 
des Tonschritteindrucks besteht, wodurch bei dem betreffenden 
Intervall ein größerer oder kleinerer Knick entsteht, bei günstiger 
Wirkung des Tonschrittes nach unten, bei ungünstiger nach oben. 
Siehe zu den vorstehenden Ausführungen die Tafel S. 45! 

Die Frage, die uns nun am meisten interessiert, ist die: Wel¬ 
ches Intervall stellt die Mitte dar, den Treffpunkt der beiden 
Gruppen? Der Eindruck der Wärme nimmt ziemlich rasch ab, 
ziemlich parallel verlaufen der der Ruhe und der Fülle, von der 


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Othmar Sterzinger, 


Quarte aufwärts wird davon nie mehr gesprochen, der der Härte, 
also der Beginn der unangenehmen Wirkung des höheren Ton¬ 
schrittes, wird stellenweise bereits bei der Quinte erweckt, ander¬ 
seits beginnt das Moment der Frische bereits bei der Terz ge¬ 
nannt zu werden, das der Pikanterie wird zum erstenmal bei der 
Quinte erwähnt, also muß bei den Tonschritten der Quarte oder 
Quinte das Optimum liegen. Tatsächlich ist es die Quarte, die 
hei allen Vpn., mit Ausnahme von Kü und den beiden vorhin ge¬ 
nannten extremen Reihen Ju, die meisten Stimmen auf sich zieht. 

Bekannt ist, daß die Quarte hohen Abschlußcharakter (mit 
Ausnahme von Kü schreiben ihr sämtliche Vpn. den höchsten 
Abschlußcharakter zu) besitzt. Man kann nun auf die Vermutung 
kommen, daß dieser Abschlußcharakter, dem die Eigenschaften 
der Abgeschlossenheit, Einheitlichkeit, Bestimmtheit, Energie zur 
Seite gestellt werden, eine Verschmelzungserscheinung darstellt, 
eine Verschmelzung des Eindrucks des Ruhigen, Voluminösen mit 
dem der Klarheit, Frische und Lebendigkeit. 

Daß der Abschlußcharakter auf solche Verschmelzung zurück¬ 
gehen könnte, scheint mir auch der Umstand anzudeuten, daß 
auch die Oktave starken Abschlußcharakter zeigt, wo an eine 
Verschmelzung der beiden ähnlichen Klangeindrücke oder an eine 
solche des Konsonanzeindruckes, der ja psychisch dem der Ton¬ 
höhenverwandtschaft ähnelt, mit dem der Klarheit und Lebendig¬ 
keit gedacht werden kann 1 ). 

Übrigens findet man eine Erklärung für die ausgezeichnete 
Stellung der Quarte, wenn wir den Abschlußcharakter ununter¬ 
sucht lassen, einmal in dieser Eigenschaft, dann in einer gewissen, 
auf niemanden unangenehm wirkenden Größe des Tonschrittes, in 
dem Besitz einer gewissen Fülle und einer ziemlich hohen Kon¬ 
sonanz, die aber anderseits wieder nicht so groß ist, daß sie ein¬ 
tönig wirken würde, wenn wir damit zum Teil auch nur eine 
Wiederholung der früheren Ausführungen, allerdings diesmal ohne 
hypothetische Unterlage geben. 

Die Quinte müßte nun im Durchschnitt zwischen Quarte und 
Sexte zu stehen kommen. Bei zwei Vpn. nimmt sie diese Lage 
auch tatsächlich ein, und bei einer dritten steht sie gleich hoch. 
Daß sich unter den übrigen Vpn. aber auch solche befinden, die 
nicht dem steigenden Typus angehören, verlangt nach einer Er- 

1) Verschmelzung ist hier im Sinne der experimentellen Ästhetik, nicht 
in dem C. Stumpfs, als eine Vereinigung von Eindruckscharakteren ge¬ 
nommen. 

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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 43 


klärung. Sie scheint mir damit gegeben werden zu können, daß 
bei der Quinte das Volumen oder, um hypothesenfrei zu sprechen, 
die mit dem Tonschritt abnehmenden Qualitäten schon zu gering 
sind, während der Tonschritt, dessen Größe noch eine sehr sym¬ 
pathische ist, durch die Konsonanz in seiner Wirkung auf ein 
weniger sympathisches Maß abgeschwächt wird. In Betracht 
kommen hierfür die Vpn. Cra, Sg und Se. Für Cra lauten die 
Protokolle ganz im Sinne der gegebenen Erklärung (z. B. Cra 
36 ca^>cg. »Das erste ist klarer und entschieden wohlgefälli¬ 
ger. Es liegt im Abstand der beiden Töne«), während aus den 
Protokollen Sg in dieser Angelegenheit nichts Spezielles zu ent¬ 
nehmen ist. Es sind die Momente der größeren Bedeutsamkeit, 
Pikanterie und Klarheit, die im allgemeinen der Sexte gegenüber 
der Quinte den Vorzug erwerben. Auch Se führt die genannten 
Gründe zugunsten der Sexte gegenüber der ärmlichen und trockenen 
Quinte an; warum soll nicht auch diese Eigenschaft auf zu ge¬ 
ringes Maß der ersten Momentgruppe und ungünstige Wirkung 
der Konsonanz zurückgehen? 

Bei der Sp kommt die ungünstige Wirkung des großen, durch 
keine Hilfen, wie Konsonanz, erleichterten Tonschrittes und des 
mangelnden Volumens, vielleicht in der Form eines Mißverhält¬ 
nisses zwischen Tonschritt und Fülle, voll zur Geltung. Bei 
einem Teil der Vpn. ist damit die Stellung der Sp hinreichend 
erklärt; nicht bei den musikalisch begabteren Vpn. und der übri¬ 
gens gleichfalls musikalisch geübten Vp. des aufsteigenden Typus. 
Für diese kommt zweifellos noch der Umstand in Betracht, daß 
die Sp bei gleichzeitigem Erklingen eine Dissonanz ist, sei es, 
daß diese Dissonanzwirkung auf Grund des frischen Gedächtnisses 
»in der Vorstellung« zustande kommt, also auf der mangelnden 
Verschmelzung (Stumpf) beruht, sei es, daß starke erinnerungs¬ 
mäßige Einflüsse zur Geltung gelangen. Nachdem aber die Se¬ 
kunde die ungünstige Wirkung, die sie als Simultanklang zeigt, 
bei den musikalisch weniger geschulten Vpn. gänzlich verliert, und 
auch die geschulten im längeren Verlaufe der Versuche bemerken, 
daß sie als Sukzessivintervall den Dissonanzcharakter zu verlieren 
scheint, so dünkt mir dies eine Bekräftigung der Ansicht zu sein, 
daß die Mißfälligkeit der Sp im Durchschnitt vor allem auf den 
zuerst angeführten Umständen beruht 1 ), und daß das Mehr bei 


1) Daß über ein gewisses Maß hinausgehender Tonhühenabstand, der 
vielleicht nebenher eine bestimmte absolute Höhe voraussetzt, dissonierend 


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Othmar Sterzinger, 

den musikalisch geübteren Ypn. vornehmlich assoziativer Herkunft 
ist. Die bei letzteren um ein Weniges bessere Stellung der Sk 
kann dadurch erklärt werden, daß bei gleichzeitigem Erklingen 
für die Dissonanzwirkung der Sk physikalische Gründe (Schwe¬ 
bungen) in Betracht kommen, die in der Sukzession natürlich 
fehlen, wahrend die Dissonanzwirkung der Sp mehr physiologisch¬ 
psychologischer Natur sein dürfte (mangelnde Verschmelzung im 
Sinne Stumpfs?). 

Für die im allgemeinen, was nicht übersehen werden darf» 
nicht mehr als einigermaßen günstigere Lage der Oktave kommt 
natürlich ihr Konsonanzcharakter in Betracht, einmal direkt, als 
Gefälligkeitsmoment an und für sich, dann aber, weil sie den 
Tonschritt erleichtert. Sehr groß ist indeß dieser Einfluß bei den 
Vpn. des absteigenden Typus nicht; dagegen übt dieser Umstand, 
der einer Verkleinerung des Tonschrittes und damit der Inter- 
essantheit gleichkommt, auf die Vpn. des auf steigenden Typus die 
entgegengesetzte Wirkung aus, so daß die Oktave auch im Durch¬ 
schnitte unter der Sexte zu stehen kommt. Daß die am wenigsten 
musikalische Vp. die Oktave noch unter die Sp gesetzt hat, scheint 
mir neuerlich zu bestätigen, daß die von der Vergrößerung des 
Tonschrittes unmittelbar abhängigen Züge das Fundament des 
ästhetischen Eindruckes sind. 

Die Terz kommt als Sukzessiv-Intervall viel schlechter fort 
wie als simultan gegebener Zweiklang, wo sie nach den bisherigen 
Untersuchungen die erste Stelle einzunehmen pflegt Es zeigt 
sich auch hier in ähnlicher Deutlichkeit wie bei der Sekunde, daß 
in der Aufeinanderfolge zum Teil andere Momente ausschlaggebend 
sind. Daß sie bei den Vpn. mit auf steigender Kurve unter der 
Quarte steht, ist selbstverständlich, ebenso daß sie bei solchen, 
die sich der absteigenden nähern, unter die Sekunde kommt; daß 
sie bei den letzteren aber auch unter die Quarte gestellt wird, 


wirkt, beweisen die Protokolle Ja 8, 9, 10 S. 17; Kä 114 8.18, Sg 91 S. 24, 
He 98, Cra 114, Cra 8 8. 26, He 64 8. 26 und andere. Der Umstand, 
daß S, Sp and 0 dieselbe Dünnheit, Disharmonie and Zerfahrenheit zuge¬ 
schrieben wird, kann unmöglich vernachlässigt werden. Siehe ferner auf der 
Tafel die Darchschnittskurve He and die Schlußkurve Ju! Es läßt sich übri¬ 
gens auch denken: Ebenso wie es möglich ist, daß verschiedenen psychologi¬ 
schen Erscheinungen keine gesonderten physikalischen Momente entsprechen, 
kann es umgekehrt der Fall sein, daß die Dissonanz ein bestimmt charakte¬ 
risiertes psychologisches Moment ist, das darch verschiedene physikalische 
Momente zustande kommt, also durch bestimmtes Verhältnis der Schwingungs¬ 
zahlen, durch Schwebungen, durch eine gewisse Größe der Tondistanz. 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 45 


■wird damit Zusammenhängen, daß die nicht der extremen Richtung 
angehörigen Vpn. sich der günstigen Wirkung einer gewissen mitt¬ 
leren Stärke der gegenteiligen Momentengruppe nicht entziehen. 



i 


<1 



I 


4 


i 




Vielleicht ist noch hinzuzufügen, daß die Quarte auch über ein 
mittleres, nicht zu großes und daher nicht langweilig wirkendes 
Maß von Konsonanz — in der Art und Weise, wie sie in der 
Sukzession wirken kann — verfügt. 

So, glaube ich, läßt sich der Verlauf der Kurven bei den ver¬ 
schiedenen Vpn. in befriedigender Weise erklären. Um das Mo- 


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46 


Othmar Sterzinger, 


ment des kleinen Tonschrittes, das selbst schon günstig zu wirken 
geeignet ist, gruppieren sich eine Anzahl andere, die auf das 
größere Volumen, das das Intervall mit dem kleinen Tonschritt 
begleitet, zurückgehen dürften und alle ihre gemeinsamen Lieb¬ 
haber finden, während anderseits die Größe des Tonschrittes wegen 
seines Ausholens, seiner Spannkraft, aber auch wegen des geringen 
Tonvolumens wieder im günstigen Sinne wirken kann. Es gibt 
Leute, die für die erstere Gruppe empfänglich sind, während ihnen 
der große Tonschritt unangenehm ist, und solche, die sich gerade 
entgegengesetzt verhalten. Der größere Teil ist in verschiedenen 
Abstufungen für beide empfänglich und daraus, sowie aus dem 
abseitsstehenden Einflüsse des Gleichklanges ergeben sich die ge¬ 
wissen Sägeformen der jeweiligen Gefälligkeitskurven. 

Mancher wird es vielleicht ungereimt finden, daß die Kleinheit 
des Tonschrittes günstig wirken kann, da es doch nur seine 
gewisse Größe sein muß, die diese Wirkung ausübt, sonst müßte 
der Schritt 0 eigentlich am günstigsten dastehen. Dem ist zu 
erwidern, daß es Liebhaber für Miniaturen und solche für Wand¬ 
gemälde gibt; es gibt eben verschiedene Kostgänger und dem 
einen gefällt es besser, eine kleine, dem anderen eine große Hand¬ 
schrift zu führen. 

Da die Extreme für immer mit dem Odium der Seltenheit und 
für das Nacheinander in der Zeit folgegemäß mit dem der Un¬ 
beständigkeit belastet sind, so erklärt es sich, warum im Laufe 
der Versuche Vpn., die einen extremen Typus darstellen, dem 
mittleren sich nähern. Sowohl Kü von der einen Seite, wie Ju, 
Kö, Sg von der anderen liefern die Bestätigung dieses aus dem 
allgemeinen Naturverlaufe abgeleiteten Satzes. 

Diese Extreme könnte man dann als psychische Übergangs¬ 
gebilde bezeichnen, vergleichbar jenen unbeständigen, sich in an¬ 
dere rasch verwandelnden Stoffen, die man in der Chemie mit der 
Bezeichnung Zwischenprodukte belegt hat. 

Diejenige Frage, die sich nach diesen Ausführungen vordrängt, 
ist die: welches psychische Gebilde stellt das Sukzessivintervall 
dar? Ist es eine bloße Ansammlung einzelner Merkmale oder ist 
es eine organische Einheit? Die Antwort muß lauten: Eine or¬ 
ganische Einheit. Es liegen Protokolle vor, welche trotz Angabe 
von Funktionen der einzelnen Töne ausdrücklich bemerken, daß 
das Intervall eine »Gestaltqualität« sei. (Se 171 S. 19.) Ander¬ 
seits geht aus allen Aussagen deutlich hervor, daß die Qualitäten 
des einzelnen Tones, vor allem des höheren, deutlich Selbständig- 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 47 

keit besitzen. Wenn den niederen Intervallen die Merkmale der 
Ruhe, der Fülle, der Schwere, des Dumpfen und Dunkeln und 
den hohen die des Scharfen, Hellen, Dünnen zugeschrieben wer¬ 
den, so sind dies solche, die Stumpf den tiefen bzw. hohen Tönen 
schlechthin zuschreibt. Diese scheinbar widerspruchsvolle Tat¬ 
sache stimmt durchaus mit der Ansicht von Ästhetikern überein. 
W. Schmied-Kowarzik spricht als 3. Grundsatz der ästheti¬ 
schen Intuition den Satz aus, daß an einem konkreten Gestalt¬ 
eindruck immer sowohl die einzelnen niederen Gestalten, als auch 
einzelne Seiten und Richtungen der gesamten Gestalt durch Auf¬ 
merksamkeit zu besonderer Auffassung gelangen können. (Kongreß 
f. Ästh. und allg. Kunstwissenschaft, 1913. Bericht S. 138.) 

Wenn wir nun daran gehen, die Einzelzüge herauszuschälen, 
aus denen sich die gesamte Gestalt zusammensetzt, so sind also 
einmal die Merkmale zu nennen, die aus der Qualität (im Sinne 
Stumpfs = Tonhöhe) des höheren Tones hervorgehen, Merk¬ 
male, die durch die Zusammenstellung mit einem tieferen Ton 
noch etwas unterstrichen werden. Es scheinen eben schon die 
einfachen Töne als eine Art »Gestalt« erfaßt zu werden. Die 
Ausdrücke, die Stumpf als Merkmale des Einzeltones anführt 
(Fülle—Dünnheit, rauh—glatt usw.), sind in gewissem Maße kor¬ 
relativ. Es wäre also zu denken, daß beim Anhören des Einzel¬ 
tones ein nichtgegebener 2. Ton, sei es ein tieferer oder ein höhe¬ 
rer, als »verschwommenes Fundament in der Vorstellung« *) mit¬ 
erlebt wird. Die Oktaven-Periodizität, deren Vorhandensein 
Stumpf in seinem Berichte (Psychologenkongreß 1914) als wahr¬ 
scheinlich zugibt, ließe sich dann auch dadurch erklären, daß zu 
jedem vorgegebenen Ton irgendein c, sei es das höhere oder 
tiefere, wenigstens »verschwommen« vorgestellt wird. 

Daneben finden sich aber noch andere Eigenschaften, die von 
Stumpf nicht unter den »Merkmalen, die sich parallel der Ton¬ 
qualität ändern«, angeführt werden, wie die der geringen oder 
großen Entfernung der beiden Töne voneinander, des angenehmen 
oder unangenehmen Überganges, des Hausbackenen und Pikanten, 
des Geschlossenen und Zerfahrenen, Züge, die noch deutlicher 
und zum Teil in anderer Weise auf ein Inbeziehungsetzen der 
beiden vorgegebenen Töne zueinander zurückgehen, und zwar in 
Hinsicht ihrer beiderseitigen Tonhöhen. Wir werden daher als 


1) Dieser Ausdruck entstammt den Ausführungen Brod und Weltsch’s 
(Anschauung und Begriff. Leipzig 1913) S. 100 ff. 


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48 


Othmar Sterzinger, 


den 2. Grundzug des Sukzessivintervalles die Tondistanz zu be¬ 
trachten haben, wobei dem höheren Ton die Bolle zukommt, als 
der Träger der genannten Züge zu fungieren, wohl deshalb, weil 
er die Hauptaufmerksamkeit auf sich zieht. 

Daran schließt sich die Konsonanzerscheinung, insofern sie 
nicht assoziativer Natur ist. Vielleicht wäre es besser, im An¬ 
schluß an die Protokollaussagen von einem Gleichheitseindruck 
zu sprechen. 

Aus diesen 3 Gruppen von Zügen oder Teilgestalten setzt 
sich demnach die Gesamtgestalt des musikalischen Sukzessivinter¬ 
valles zusammen. 

Diese Ausführungen stehen im Widerspruch mit denen von 
C. v. Maltzew. M. untersuchte das Erkennen sukzessiv gegebener 
musikalischer Intervalle in den äußeren Tonregionen (Z. f. Ps., 
Bd. 64, S. 161 ff.) und erklärt, daß der Intervallbeurteilung ein 
einfacher, absoluter, charakteristischer Bewußtseinsinhalt zugrunde 
liege, der nicht in Konsonanz oder Distanz auflösbar ist, das 
Übergangserlebnis. Diese spezifischen Inhalte zeigen bei verschie¬ 
denen Intervallen eine gewisse Verwandtschaft, eine Ähnlichkeit, 
nicht jene der Konsonanz oder Distanz, sondern absolute; diese 
Ähnlichkeiten bestehen zwischen der großen und kleinen Sk, 
zwischen der großen und kleinen Terz, der großen und kleinen 
Septime, ferner zwischen den Sexten und Terzen, der Oktave und 
Quinte, der Septime und dem Tritonus. Sie stützt sich hierbei 
besonders auf die Art der Fehler, die in der fünfgestrichenen 
Oktave und in der Kontraoktave gemacht wurden. Intervalle, die 
eine solche Verwandtschaft miteinander besäßen, würden eben 
gerne miteinander verwechselt. Ein Eingehen auf die Maltzew- 
schen Ergebnisse ist schon deshalb angezeigt, weil die Fehlerkurve 
in der fünfgestrichenen Oktave, also der äußersten, in der Inter¬ 
valle überhaupt noch erkannt werden können, mit den Kurven 
dieser Arbeit, namentlich der Bhythmuskurve, ziemlich überein¬ 
stimmt und daher eine Gleichheit der Ursachen vermutet werden 
kann. 

Es kann nun gleich entgegnet werden, daß die Versuchs¬ 
ergebnisse bei der Kontraoktave wegen der geringen Fehlerzahl 
in dieser Hinsicht von vornherein nichts beweisen. Gewiß wird 
die Sp achtmal mit der sp verwechselt, aber ebenso oft auch der 
Tr mit der unter eine andere Gruppe »Übergangserlebnisse« ein¬ 
gereihten q und die übrigen Fehler, wie die dreimalige Verwechs¬ 
lung der S mit Sk, die zweimalige der O mit Sp sprechen durch- 


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Rhythm, and ästhet. Charakteristik der masikal. Sukzessivintervalle usw. 49 


aus zuungunsten der M. sehen Ansichten. Bezüglich der Fehler in 
der drei- und viergestrichenen Oktave sagt M. selbst, daß sie haupt¬ 
sächlich Distanzfehler sind, bleiben also noch die Ergebnisse der 
vorhin genannten fünfgestrichenen Oktave. Gewiß findet man 
hier, daß Tr einigemale mit der Sp verwechselt wurde, aber noch 
öfter mit der ein anderes Übergangserlebnis darstellenden kleinen 
Terz oder Oktave, daß die große T verwechselt wurde mit der 
S , aber noch öfter mit der Q und fast so oft mit der Sp, oder 
die 0 mit dem Tr weniger verwechselt als mit der Q, aber viel 
öfter mit der Sp, kurz der einzige Fall, der für ein unvorein¬ 
genommenes Auge zugunsten der absolut verwandten Inhalte 
spricht, ist die ziemlich häufige Verwechslung der S mit der 
kleinen Terz. Indessen wurde sie noch öfter mit der nach M. 
einem anderen Übergangserlebnis angehörigen 0 und in ziemlich 
starkem Maße auch mit der Quarte verwechselt. Desgleichen 
steht umgekehrt eine irgendwie in Betracht kommende Verwechs¬ 
lung der großen Terz mit der großen Sexte aus. Jedenfalls 
wurde sie viel öfter mit q, Sk und sk verwechselt. Daß die Se¬ 
kunden, Sexten und Septimen paarweise miteinander verwechselt 
werden, läßt sich sehr gut auch auf Grund der Distanztheorie, 
wie sie M. nennt, erklären. Die jeweiligen Tonschrittpaare sind 
eben nicht sehr voneinander unterschieden. Und dann zeigt ge¬ 
rade diese Tabelle deutlich den Einfluß der Distanz. Weitaus 
die meisten Verwechslungen treffen die benachbarten Intervalle, 
und zwar für jedes Intervall, ohne Rücksicht auf die von der 
Verfasserin vermutete Ähnlichkeit. Es sei nur auf die in dieser 
Hinsicht besonders einschneidenden Fälle des Tr und der Sp hin¬ 
gewiesen, von denen der erste am häufigsten mit der q, dann mit 
der Q verwechselt wird, während die Sp viel öfter für die 0 ge¬ 
halten wurde, als sie selber richtig erkannt wurde. Nichtsdesto¬ 
weniger sei an der Tatsache, daß die große Sexte auffallend oft 
mit der kleinen Terz verwechselt wurde, nicht ohne Erklärung 
vorübergegangen. In der Tabelle fallen außer den genannten 
Dingen noch die vielen Verwechslungen mit der großen Sekunde 
auf. M. selbst erklärt dies damit, daß die Sk das geläufigste 
Intervall ist. Vom Tritonus angefangen fallen die Verwechslungen 
mit der kleinen Terz auf. Könnte nun die Verwechslung der 
höheren Schritte, der vom Tr aufwärts, unter denen sich eben 
die S befindet, mit der kleinen Terz nicht auch in ähnlicher 
Weise erklärt werden? Die kleine Terz ist in bezug auf die 
Häufigkeit ihres Vorkommens das 3.; für die Sk ist der Ton- 


Archiv für Psychologie. XXXVI. 


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50 Othmar Sterzinger, 

schritt den Vpn. doch zu groß, also greift man zum nächsten, zur 
kleinen Terz. 

M. ließ auch Intervalle nachsingen und wenn sie zu diesen 
Versuchen selbst bemerkt, »daß statt großer Septime kein ein- 
zigesmal kleine Septime oder Tritonus gesungen worden, daß Sep¬ 
timen am häufigsten durch die Oktave und große Sexte, Tritonus 
durch die Quarte und Quinte, kleine Sexte durch die Quinte er¬ 
setzt wurden«, so ist es für einen objektiven Leser wirklich nicht 
einzusehen, warum die Autorin so hartnäckig gegen die »Distanz¬ 
theorie« ankämpft und an der Existenz einfacher und unauflös¬ 
barer »Übergangserlebnisse« festhält. Mir erscheint aus dem Um¬ 
stande, daß bei den Gefälligkeitsvergleichen, wo doch vor allem 
innere Ähnlichkeiten zutage treten, außer bei der Quinte und 
Oktave, wo es meiner Ansicht nach auf das Konsonanzmoment 
zurückzuführen ist, niemals Ähnlichkeiten im Sinne der M.schen 
Ansicht angegeben wurden, ferner aus dem Umstande, daß der 
Sexte, vornehmlich aber der Septime und Oktave abzüglich dem 
Unterschied der Konsonanz gleiche qualitative Züge (zerfahren, 
spitzig usw.) zugeschrieben werden, vor allem der übermächtige 
Einfluß der Distanz hervorzugehen. Und wenn, woran ich nicht 
zweifle, große und kleine Sekunde, große und kleine Sexte, große 
und kleine Septime Ähnlichkeiten besitzen, so lassen sich diese 
gleichfalls am ungezwungensten aus der wenig verschiedenen 
Distanz erklären. Auch aus den Protokollen, die M. zu den letzt¬ 
genannten Versuchen angibt (neben anderen zu früheren Ver¬ 
suchen, die deutlich für die »Distanz« sprechen), ist nichts zu 
entnehmen, was gegen ihren Einfluß spricht, und wenn eine Vp. 
darunter von der gewissen »Färbung« des Intervalles spricht, ao 
sei hierzu abschließend bemerkt, daß meine Ansicht nicht dahin 
geht, daß die Distanz den ganzen psychischen Eindruck des Inter¬ 
valles ausmacht, sondern daß ihr Eindruck mit denen der anderen 
angeführten Momente zu einem einzigen neuen Gesamteindruck, 
der betreffenden Intervallgestalt verschmilzt. Der Unterschied 
zwischen dieser Ansicht und der M.s besteht darin, daß die erstere 
den Intervallcharakter aus Distanz, Konsonanz und den aus der 
Qualität des einzelnen Tones hervorgehenden Merkmalen sich auf¬ 
bauen läßt, außerhalb dieser Momente liegende, primäre Ähnlich¬ 
keiten aber nicht vorfindet, M. hingegen unter deren Umgehung 
eine einfache, unauflösbare Qualität annimmt. 

Bei den Untersuchungen, die Myers und Kaestner über die 
ästhetische Bewertung der Simultanintervalle angestellt haben, 


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Rhythm, and ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 51 


wurden zu einem großen Teile für die Charakterisierung der Inter¬ 
valle dieselben Ausdrücke gebraucht; auch hier wurde von breit 
und weich, ruhig und warm, hart und dünn, klar und hell ge¬ 
sprochen. Dies kann nur besagen, daß die Simultanintervalle in 
ihrem Charakter im großen und ganzen dieselben Momente ent¬ 
halten, wie die Sukzessivintervalle. Es wird sich also auch die 
Gestalt der Simultanintervalle zusammensetzen aus Konsonanz, 
Tonhöhe und Tondistanz, wobei allerdings dem Momente der 
Konsonanz und Dissonanz infolge des gleichzeitigen Erklingens, 
das einerseits direkte Verschmelzung nnd anderseits Schwebungen 
möglich macht, eine größere Holle zukommt. 


Versuch einer Erklärung des Verhältnisses zwischen Gefälligkeit 
nnd rhythmischer Ausgeprägtheit. 


Ist die Tatsache der Beziehung festgestellt, so ist die nächste 
Frage die nach der Erklärung. Diese muß eine der drei folgen¬ 
den Möglichkeiten sein: Entweder geht die Gefälligkeit auf 
die rhythmische Ausgeprägtheit zurück, oder es ver¬ 
hält sich gerade umgekehrt, oder beide Erscheinungen 
haben ihre gemeinsame Ursache oder Ursachen. 

Die erste Möglichkeit liegt einem verhältnismäßig nahe. Es 
läßt sich denken, daß für den, der rhythmisch empfindet, der 
stärkere Akzent, der größere Schwung, das größere Leben, das 
in dem ausgeprägteren Rhythmus liegt, eine lustbetonte Empfin¬ 
dung darstellt. Und da die rhythmische Ausgeprägtheit auf ver¬ 
schiedene Ursachen zurückgehen kann, für die die einzelnen In¬ 
dividuen in verschiedenem Maße empfänglich sein können, so ist 
auch die Möglichkeit gegeben, daß die verschiedenen Vpn. für die 
einzelnen Intervalle verschiedene Werte angeben. Die Ansicht, 
daß die rhythmische Ausgeprägtheit das primäre ist, würde daher 
auch der Tatsache der individuellen Abweichungen der Kurven 
gerecht. Es liegen einige Protokolle vor, die zu ihren Gunsten 
sprechen: 

Kü 55. cd <i cg . Ich habe das zweite Intervall vorgezogen 
wegen größerer rhythmischer Bestimmtheit, besseren Klanges, 
während es in betreff des Abschlußcharakters zweifelhaft bleibt, wel¬ 
chem Intervall der Vorzug gebührt. 

Kü 56. c e c o . Eine größere rhythmische Bestimmt¬ 
heit im II. und infolgedessen habe ich ihm den Vorzug ge¬ 
geben. Klanglich würden sie ungefähr gleichwertig sein. Und was 
den Abschlußcharakter anlangt, würde das H. eher einen Nachteil 

. 4* 


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52 


Othmar Sterling er, 


gegenüber dem I. haben; aber die rhythmische Bestimmtheit 
würde ich in den Vordergrund stellen, weil das der Haupt¬ 
gesichtspunkt der Vergleichung ist. 

Die anderen Protokolle stammen von der Vp. Sg: 

Sg 64. ee^> eg . Das zweite weniger gefällig, und zwar scheint 
es mir etwas Schroffes zu haben. Beim ersten bin ich mehr beruhigt, 
mehr befriedigt. Ich kann den Bhythmus gut mitmachen, 
mehr empfinden, er paßt mir besser, während beim zweiten 
ein gewisser Widerstand da ist. Er fügt sich nicht so leicht 
in meine rhythmischen Gewohnheiten ein, ich möchte ihn 
anders haben. 

Sg 64. cg ? cc 1 . Beide gleich mißfällig. Bei beiden das 
gleiche Gefühl des Widerstandes, ich möchte einen anderen 
Bhythmus haben, aber das paßt mir nicht, es ist etwas Wider¬ 
strebendes da. 

Die zweite Möglichkeit sieht die Gefälligkeit als Ursache 
der rhythmischen Ausgeprägtheit an. Demjenigen, dem das Ge¬ 
fälligkeitsurteil eine kühle verstandesmäßige Abwägung zu sein 
scheint, mögen die Gründe der Gefälligkeit und Mißfälligkeit zu 
getrennte Dinge sein, als daß hiervon ein einheitlicher Eindruck, 
wie es die rhythmische Ausgeprägtheit ist, ausgehen könnte. In¬ 
dessen ist das Urteil auf Gefälligkeit und Mißfälligkeit im allge¬ 
meinen stark gefühlsmäßiger Natur; auch bei Vp. Kü, deren Aus¬ 
sagen am meisten auf wohlerwogener Abschätzung beruhen, fällt 
das Gefälligkeitsurteil mit der einzigen Ausnahme der Oktave, die 
ein wenig niederer steht, mit dem Größer oder Kleiner des Wohl¬ 
klanges zusammen. Ist das Gefälligkeitsurteil aber mehr ein ge¬ 
fühlsmäßiges, so besteht eine hinreichende Verschmelzung der 
einzelnen Gründe oder Ursachen zum einheitlichen Ganzen, auf 
das sich die rhythmische Ausgeprägtheit aufbauen kann. Die 
Protokollaussagen, die zugunsten dieser Möglichkeit sprechen, sind 
in größerer Anzahl als jene, die zugunsten der vorangegangenen 
Möglichkeit aufgeführt werden konnten. Einige Vpn. deuten auch 
die Art und Weise an, wie ihnen die Einwirkung vor sich zu gehen 
scheint. Ein Teil der Protokolle wurde schon bei der Wieder¬ 
gabe der Gründe, die zugunsten der rhythmischen Ausgeprägtheit 
angeführt wurden, unter Punkt 4, die Wohlgefälligkeit, gebracht. 
Hier sei nur das Protokoll Sg 22 von den dort gebrachten wieder¬ 
gegeben, da es den Generaleindruck nach der ersten Versuchs¬ 
stunde angibt, also zu einer Zeit, wo die Vp. weder einen Ge¬ 
fälligkeitsvergleich angestellt hatte, noch überhaupt wußte, daß sie 
später solche anzustellen hätte. Diesen seien noch einige neue 


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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle usw. 53 

angeschlossen, darunter jene, die sich auf die Wirkungsweise be¬ 
ziehen. 

Sg 22. Spontan zu Protokoll gegebener Generaleindruck: Die 
eine Folge, der eine Rhythmus kam mir musikalisch gefälliger 
vor, das wurde immer beurteilt als ausgeprägter. Es war ein 
gewisses Befriedigtsein dabei. 

Kü 113. ch ? cg. (Instruktion auf rhythmische Ausgeprägt¬ 
heit.) Ich habe hier ganz besonders stark den Eindruck einer größeren 
Spannung und auch einer größeren zeitlichen Entfernung beim ersten 
Intervall gehabt als beim zweiten. Und es scheint mir zu dieser 
großen Spannung die Natur des Intervalles selbst, die starke Dis¬ 
sonanz, das Auseinanderstreben dieser Töne beizutragen. Das 
stört auch etwas die einheitliche rhythmische Auffassung 
desselben, so daß ich nicht ohne weiteres sagen kann, es wäre das 
zweite Intervall weniger rhythmisch ausgeprägt als das erste. Es 
war geradezu ein anderer Charakter beim zweiten, der gewöhnliche, 
einfache, schlichte Charakter des Jambus, beim ersten wie ein Zögern, 
um den zweiten Eindruck zu erreichen. Und etwas Unlustiges dabei, 
als ob man sich nur ungern entschließt, einen solchen Ton folgen zu 
lassen. 

Kö 166. cc l <^cf. (Instruktion auf die rhythmische Ausge¬ 
prägtheit.) Beide Male jambisch und der größere Abschlußcharakter 
und die größere Wohlgefälligkeit liegen beim zweiten. (Zusatzfrage: 
Waren Ihnen diese beiden Momente als Motive im Bewußtsein ge¬ 
geben?) Ja, diese Töne gewannen dadurch an Gewicht, an Bedeu¬ 
tung. 

Ju 117. cf^>cg. (Die Instruktion geht auf die rhythmische 
Ausgeprägtheit.) Beides zwingend jambisch. Ausgeprägter I. 
Subjektive Bewertung: angenehmer, es macht den Eindruck von et¬ 
was Lieblichem, Harmonischem, nicht Geziertem, in sich Geschlossenem. 
II möchte ich nicht gerade tadeln, aber es hat immer einen offenen 
Eindruck, ist nicht so geschlossen in sich, wie eine Frage, als ob 
noch etwas folgen möchte; subjektiv befriedigt I besser und 
die rhythmische Ausgeprägtheit erscheint mir darum auch 
in I größer. 

Ju 138. c d <d c c l . (Instruktion wie vorstehend.) Die Ton¬ 
folge I ist ausgeprägter. Auch hier hat II etwas Offenes an sich, es 
ist nichts gleichmäßig Konvergierendes, aber rhythmisch ausgeprägter 
ist I. Es ist mir gerade vor einigen Versuchen aufgeleuchtet, warum 
ich die einen Paare bevorzugte. Ich glaube, weil die Gefälligkeit 
des Ganzen die Aufmerksamkeit auf die Tonerhöhung rich¬ 
tet, und infolgedessen hat man den klaren Eindruck eines 
ansteigenden Rhythmus; der Anstieg wird durch die Tonhöhe 
des zweiten Elementes begünstigt. Bei der II. Gruppe, die sichtlich 
weniger angenehm war, wird wegen dieser ungünstigen Lage der 
Tonhöhe die Aufmerksamkeit von der Tonerhöhung abge- 


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54 


Othmar Sterzinger, 


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lenkt auf den weniger günstigen Eindruck ihres Zusammenpassens, 
und es verliert sich mehr der rhythmische Eindruck. Ganz 
genau kann ich es noch nicht angeben, aber ich habe plötzlich heraus¬ 
gespürt, daß da etwas liegen muß, obwohl ich bisher absichtlich ver¬ 
mieden habe, etwas herauszubringen. (Dieser Eindruck kam mir vor 
2 oder 3 Sekunden, und nun kam meine Frage, warum das I. aus¬ 
geprägter und das II. weniger ausgeprägt erschien, und da kam aus 
dem Unbewußten diese Theorie heraus, das ist ein Denken über das 
Gegebensein.) 

Kö 126. cg^>Cc. (Instruktion auf die rhythmische Ausge¬ 
prägtheit.) Beide Male jambisch, das I. ausgeprägter. Ich möchte 
manchmal glauben, wenn ein Bhythmus sehr stark ausgeprägt ist, 
daß diese dynamische Verstärkung den Abschlußcharakter stört, und 
zwar handelt es sich um subjektiv dynamische Verstärkung, durch 
die Verstärkungsempfindung. Im Abschlußcharakter liegt ein Buhe¬ 
moment, im Bhythmus selber ein Bewegungsmoment, die können sich 
widerstreiten. Ich kann mir denken, daß der Abschlußcharakter einen 
Ausschlag gibt, ebenso wie die Wohlgefälligkeit; ich könnte mir 
denken, daß die Wohlgefälligkeit einen größeren Grad von 
Aufmerksamkeit auf sich lenkt, wodurch das Intervall in¬ 
tensiver erfaßt wird, und weil es intensiver erfaßt wird, auch 
stärker betont erfaßt wird. Das wären aber nur subjektive 
Dinge, die nicht bei allen Vp. einzutreten brauchen. Z. B. könnte 
ich mir denken, daß einer rein musikalisch, rhythmisch genommen, 
reagiert, ohne auf die Wohlgefälligkeit zu achten, während ein an¬ 
derer, der künstlerisch eingestellt ist, mehr auf die Wohlgefälligkeit 
gerichtet, leichter geneigt ist, einen wohlgefälligen Ton für stark 
rhythmisch zu halten, während es bei einem anderen wegfällt, wenig¬ 
stens in diesem Sinne. Früher habe ich mehrmals diese Erscheinung 
gehabt. Im allgemeinen achte ich nicht darauf, um meine Aufmerk¬ 
samkeit zusammenzuhalten. 

Die dritte Möglichkeit nimmt für beide Erscheinungen 
eine oder mehrere Ursachen an. Zugunsten dieser Erklärung 
spricht vor allem der Umstand, daß für die rhythmische Ausge¬ 
prägtheit und die Gefälligkeit zu einem großen Teil dieselben 
Gründe angeführt werden: Die Fülle, der größere Tonschritt, der 
Abschluß Charakter, die Ruhe, die Neuartigkeit und Pikanterie, 
die Bedeutsamkeit, während allzu große Konsonanz da wie dort 
gleich schädlich verspürt wird. Dem ließe sich entgegenhalten, 
daß das gegen die beiden anderen Möglichkeiten noch nichts be¬ 
sagt, es sei damit nur ein Zwischenglied, entweder die rhythmische 
Ausgeprägtheit, die die Gefälligkeit zur Folge hat, oder umge¬ 
kehrt, die Gefälligkeit, welche die rhythmische Ausgeprägtheit 
verursacht, übergangen worden. Die Vp. konnte ja beispielsweise, 

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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der muaikal. SukzeBsivintervalle U9W. 55 

statt daß sie zu Protokoll gibt, der Wohlklang sei die Ursache, 
die Gründe anführen, welche den Wohlklang hervorrufen. Das 
wäre dann nur eine Redeweise, die eine Art Zwischenglied aus¬ 
schaltet. Indessen liegen auch hier eine Reihe von Protokollen 
vor, welche etwas ausdrücklicher ihr Gewicht zugunsten einer ge¬ 
meinsamen Ursache in die Wagschale werfen. 

Se 138. cf^>ca. (Instruktion auf Ausgeprägtheit.) Die 
Quarte war stärker; aber es ist eigentümlich — das ist mir jetzt 
deutlich geworden — die verschieden starke Ausprägung des Jambus 
hat sich allmählich entwickelt, war das erstemal noch nicht so stark 
wie zuletzt. Ich glaube, das war früher auch schon da, ohne daß 
ich es beachtete, und zwar, so viel ich weiß, ging diese Stärke 
des Rhythmus parallel einem inneren Auffassen der Eigen¬ 
art des Intervalles als solchen. Zum Beispiel der Abschlu߬ 
charakter der Quarte war daß erstemal auch noch nicht da wie zu¬ 
letzt. Dieser eigentümlich energische Charakter bildet sich 
immer heraus, und gleichzeitig wurde auch der rhythmische 
Eindruck strenger und fester. 

He 131. cd<^cf. (Instruktion auf Ausgeprägtheit.) Das 
zweite stärker rhythmisch als das erste; jambisch. Das Überraschende, 
das, was die Eigenart eben ausmacht, gibt ihm den Rhyth¬ 
mus, das andere ist so charakterlos. [Immerhin ist nicht völlige 
Sicherheit vorhanden, ob damit nicht so etwas, wie das Moment der 
Pikanterie, gemeint sein kann. Yl.j 

Ju 108. c d c g . (Instruktion auf Ausgeprägtheit.) In beiden 
Fällen ist der jambische Eindruck zwingend. Ich würde mich für das II. 
entscheiden, aber nicht bloß wegen des rhythmischen Eindrucks, son¬ 
dern wegen des musikalischen Charakters, der diesem Fall etwas 
Ausgeprägteres verleiht; der I. Fall macht mir einen ernsten, haus¬ 
backenen Eindruck, der II. ist fröhlicher, weist auf ein Weiteres hin. 

Überhaupt gewähren alle jene Protokolle, wo die Charakter¬ 
züge der Frische, Lebendigkeit, des Überraschenden als Grund für 
die rhythmische Ausgeprägtheit herangezogen werden, den Ein¬ 
druck, als ob tatsächlich für sie und für die Gefälligkeit die Ur¬ 
sache eine und dieselbe sei. Vielleicht könnte man auch die beiden 
Protokolle Sg 54 und 64 besser im Sinne einer Bestätigung dieser 
Ansicht auffassen als der anderen, daß die rhythmische Ausge¬ 
prägtheit die Ursache für die Gefälligkeit sei. 

Im Überblick ergibt sich, daß die Hypothese, die rhythmische 
Ausgeprägtheit sei eine Funktion der Gefälligkeit, die meisten 
Protokolle für sich hat, die Hypothese, daß beide eine Funktion 
von etwas Drittem seien, den Umstand, daß tatsächlich für beide 
in vielen Fällen die gleichen Gründe angeführt werden. 


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56 


Othmar Sterzinger, 


Für den Versuchsleiter erhöht sich dadurch die Schwierigkeit. 
Es ist nicht nur zu erklären, wie die Korrelation zustande kommt, 
sondern auch, wie die Vpn. zu den verschiedenen Ansichten kom¬ 
men. 

Zwei in ihrer Wirkung nicht beabsichtigte Versuchsreihen und 
diejenigen Protokolle, welche den Zusammenhang zwischen Aus¬ 
geprägtheit und Gefälligkeit zu erklären suchen, scheinen den 
Fingerzeig zur Lösung zu geben. Die Protokolle sind auf S. 53 
und 55 wiedergegeben, Ju 138 und Kö 126, die beide der Auf¬ 
merksamkeit eine entscheidende Rolle zuschreiben. Die beiden 
Versuchsreihen betreffen Vp. Kö. Nach der ersten mit ihr ge¬ 
machten Reihe fing sie an — die Instruktion lautete auf Ausge¬ 
prägtheit — das I. Paar durchaus für das ausgeprägtere zu er¬ 
klären. Die Protokolle sagen gleichzeitig, daß das I. Paar lang¬ 
samer in der Aufeinanderfolge der Töne erscheint, dadurch werde 
die Spannung eine größere, was den Rhythmus im Sinne der 
größeren Stärke verschiebt, der Rhythmus bekommt eine gewisse 
Ruhe und Kraft; auch macht der zweite Ton den Eindruck 
größerer Bestimmtheit. Eine daran angeschlossene Versuchsreihe 
mit der Instruktion auf größere oder geringere Gefälligkeit zeitigte 
das analoge Ergebnis und die Protokolle sprechen dabei von der 
größeren Reinheit und Klarheit des I. Paares, während das II. 
stumpf und farblos klingt. 

(Ausgeprägtheit.) Kö 37. cd^> cg. Diesmal schien das erste 
stärker, auch weil die Spannung zwischen beiden Tönen größer schien 
als bei der II. Folge. Bei der H. scheinen die Töne rascher auf¬ 
einander zu folgen. Das Eintreffen des zweiten Tones iBt bei der 
ersten Folge weiter hinausgezogen als hei der IE. Dadurch wird der 
Rhythmus nach dem Jambus verschoben, nachdem er quasi einen Teil 
der Betonung auf sich nimmt. 

Kö 54. ca"^> cd . Auch beide Male jambisch, und das I. stär¬ 

ker. Wegen der rein lautlichen Stärke und wegen der größeren 
Bestimmtheit, die in der Ruhe liegt. 

(Gefälligkeit.) Kö 61. cf^>cd. Die I. Töne klingen besser 
als die II. Daher das I. schöner; sie klingen [scheinbar, der Ver¬ 
suchsleiter] reiner, heller als beim II. Paar. 

Kö 62. cd^> cg . Auch das I. Paar schöner, weil die Töne 
beim H. so stumpf klingen, während die beim I. direkt klingen. 

Kö 65. cc*]> eg . Evident, daß das I. schöner klingt, erstens 

heller, zweitens klingender, während beim II. Paar erstens der Ton¬ 
schritt farbloser ist und damit die Töne auch stumpf sind. Beim II. 
ist direkt etwas Farbloses. [Man beachte auch, welche Intervalle 
diese Urteile treffen. Versuchsleiter.] 


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. Original fram 

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Rhythm, und ästhet. Charakteristik der musikal. Sukzessivintervalle uew. 57 

Diese Aussagen erklären sich anschwer, wenn man annimmt, 
daß die Yp. dem I. Paar die größere Aufmerksamkeit zugewendet 
hatte; sie mußte denn auch in dieser Hinsicht belehrt werden. 
Dadurch bekam das so bevorzugte Paar die größere Spannung, 
Bestimmtheit, die größere Klarheit, Helligkeit und den besseren 
Klang. Gleichzeitig sind auch schon die Winke gegeben, wie die 
Rolle der Aufmerksamkeit gedacht werden soll. Wir ersehen 
erstens, daß das, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht, rhyth¬ 
misch ausgeprägter erscheint, und ferner zweitens die allbekannte 
Tatsache, daß aufmerksame Betrachtung etwas schön erscheinen 
lassen kann, was bei oberflächlichem Hinsehen sich vielleicht als 
häßlich oder mindestens »unansehnliche erweist. Irgendein Zug 
nun in der Intervallfarbe oder Intervallgestalt, wie sie unter den 
»Gründen* angeführt wurden, oder das hinter der Mehrzahl dieser 
Beschreibungen vermutete direkte Moment des Tonvolumens und 
der Tondistanz erregt die Aufmerksamkeit derjenigen Yp., die 
dafür empfänglich ist und hebt das Intervall über seinen Neben¬ 
buhler hinauf, macht es gefälliger oder rhythmisch stärker. Da¬ 
bei kann nun die eine oder die andere Erscheinung früher ein- 
treten. Ist die Yp. nach der Gefälligkeit gefragt und tritt die 
rhythmische Ausgeprägtheit früher ein, so wird die Vp. verführt 
werden, die rhythmische Ausgeprägtheit als die Ursache der Ge¬ 
fälligkeit anzusehen; ist nach der rhythmischen Ausprägung ge¬ 
fragt und tritt die Gefälligkeit früher auf, so kommt sie zur ent¬ 
gegengesetzten Hypothese; bleibt aber derjenige Eindruck, nach 
dem nicht gefragt wurde, aus, so haben wir den Fall der gemein¬ 
samen Ursache: Die Vp. gibt als Gründe nur die ihr aufgefallenen 
Züge der Intervallgestalt an. 

Ergebnisse. 

1) Die den Vpn. bewußt gewordenen Gründe für die größere 
oder geringere Ausgeprägtheit der musikalischen Sukzessiv¬ 
intervalle lassen sich im großen und ganzen in zwei Gruppen 
teilen: davon läuft die eine den Werten des Tonvolumens, 
die andere denen der Tondistanz parallel. Hohe Konsonanz 
mindert die Wirkung des Tonschrittes. 

2) Das Tonvolumen wirkt quantitierend, die Tondistanz akzen¬ 
tuierend. 

3) Entsprechende Verhältnisse liegen bei den Gründen für das 
ästhetische Vorzugs- oder Verwerfungsurteil vor. 

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58 0. Sterzinger, Rhythm, u. ästh. Charakteristik der musik. Sukzessivinterv. 

4) Die angeführten Gründe sind, soweit das für die Simultan¬ 
intervalle vorliegende Material den Vergleich zuläßt, mit 
Ausnahme der Sekunde, da wie dort annähernd dieselben. 

5) Es gibt 3 Typen unter den Vpn., einen, der die Intervalle 
mit dem größeren Tonvolumen, einen, der die mit der 
größeren Tondistanz und einen, der die mit der mittleren 
Größe der beiden Momente vorzieht. 

6) Im Laufe der Versuche tritt bei allen Vpn. eine Annäherung 
an den letzten Typus ein. 

7) Der Intervallcharakter, die Intervall > gestalt«, baut sich aus 
dem des (höheren) Einzeltones, der Distanz und der Konso¬ 
nanz auf. Die Ansicht v. Maltzews, daß das Sukzessiv¬ 
intervall ein einfaches, unauflösbares Übergangserlebnis 
darstellt, läßt sich nicht halten. 

8) Die Erscheinungen der rhythmischen Ausgeprägtheit und 
der Gefälligkeit gehen nicht aufeinander, sondern auf eine 
gemeinsame Ursache oder gemeinsame Ursachen zurück. 
Dabei spielt die stärkere Erregung der Aufmerksamkeit eine 
wichtige Bolle. 


(Eingegangen am 10. September 1916.) 


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(Aus dem Laboratorium für experim. Psychol. der Universität Graz.) 


Versuche zur Analyse taktil erweckter Schein¬ 
bewegungen 

(kinematohaptischer Erscheinungen) nach ihren äußeren 
Bedingungen und ihren Beziehungen zu den parallelen 

optischen Phänomenen. 

Von 

Y. Benussi (Graz). 

(Mit 23 Figuren im Text.) 


Inhalt. s«iu 

L Einleitendes. 60 

1) Vorbemerkung. 60 

2) Tatsachenfragen. 61 

3) Gibt es »reine« Bewegungserlebnisse?. 65 

4) Scheinbewegung und Objektvertretung im Bewußtsein .... 72 

II. Experimentelle Technik. 76 

III. Ergebnisse. 83 

A. Die Scheinbewegungsdauer und die typischen Erscheinungen bei 

22 - Abnah me und Konstanz von gz/zz . 83 

1) Vorbemerkungen. Der Quotient gz/zz. Die Grenzen hap¬ 

tischer Scheinbewegungen und die Entwicklungsstufen der 
optimalen Bewegung. 83 

2) Die typischen Scheinbewegungserscheinungen. 87 

B. Die Scheinbewegungsgröße und die Beziehungen zwischen Er¬ 
reichungszeiten und Wiederholung. 91 

1) Die Scheinbewegungsgröße. 91 

2) Über die Beziehungen zwischen Größe und Erreichungszeit 

einer Scheinbewegung bei einer größeren Wiederholungszahl. 93 

3) Bewegungsgröße und Bewegungsdauer. 97 


C. Die Scheinbewegungszeit. Bedeutung der phänomenalen Aspekte 98 
1) Die Scheinbewegungszeit bei haptischer Darbietung .... 98 

a) Objektive Eindruckszeit als subjektive Bewegungszeit. . 99 

b) Subjektive Bewegungsbegrenzung durch objektive Zwi¬ 
schenzeiten der Reize. 99 

c) Belegung bei simultanen Begrenzungsreizen bzw. bei Reiz¬ 
überschneidung .191 


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60 


V. Benussi, 


2) Die Scheinbewegungszeit bei optischer Darbietung . . . • 

a) Reizzeit und Bewegungszeit. 

b) Die Scheinbewegungserscheinungen bei Umkehrung der 
zeitlichen Verhältnisse von Reizdauer und Zwischenzeit . 

c) Die Scheinbewegungserscheinungen bei optischer Reizüber¬ 
schneidung . 

3) Scheinbewegung durch subjektive Vergrößerung der Zwi¬ 
schenzeit .. 

4) Scheinbewegung durch inadäquate Lokalisation. 

5) Scheinbewegungszeit und Scheinbewegungsform. 

D. Die Scheinbewegungsgeschwindigkeit und die Bewegungsrichtung 

1) Abhängigkeit der Scheinbewegungsgeschwindigkeit von der 

Dauer. 

2) Phrasierung, Dauer und Geschwindigkeit. 

3) Überblick über die Wechselbeziehungen zwischen Dauer, 

Größe und Eigenart einer Scheinbewegung. 

4) Bewegungsrichtung und Phrasierung. 

5) Bewegungsursprung und Aufmerksamkeitsrichtung .... 

6) Die Inversion der Scheinbewegungsrichtung. 

E. Überblick. 


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I. Einleitendes. 

1) Vorbemerkung. 

Als ich die Bearbeitung dieses zunächst so speziellen Gebietes, 
ich meine das der kinematohaptischen Erscheinungen, in Angriff 
nahm, glaubte ich kaum mehr theoretischen Gewinn als eben in bezug 
auf die spezielle Frage der Natur der Scheinbewegungserlebnisse und 
allgemeiner der Gestalterlebnisse daraus ziehen zu können. Die 
geradezu unübersehbare Mannigfaltigkeit von Erscheinungen jedoch, j 
die bereits bei einer ersten Untersuchung zum Vorschein kam, hat 
mich eines besseren belehrt. Es entspricht der natürlichen Priorität 
der Tatsachen gegenüber aller Theorie, wenn ich mich in dieser ersten I 
Abhandlung (eine zweite folgt demnächst) auf eine möglichst klare I 

Wiedergabe eines Teiles dieser Tatsachen und zwar zunächst der ' 

einfachsten unter ihnen beschränke. Eine weitere Einschränkung 
gilt der Art der Darstellung. Auf Grund meines Materials hätte 
nach der derzeit teilweise beliebten Methode ermüdender Protokoll- I 

Wiedergaben der Umfang dieser Abhandlung leicht verzehnfacht i 
werden können. Ich habe vorgezogen, nur geradezu paradigmatische j 

Versuche zur Darstellung zu bringen, so daß jeder von ihnen als 
Beleg für eine besondere Erscheinung gilt. 


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Versuche rar Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


61 


2) Tatsaohenfragen. 

Ich habe mich absichtlich bei den bisherigen Mitteilungen 1 ) über 
die kinematohaptischen Erscheinungen, d. h. Scheinbewegungen, die 
durch taktile Reize, durch sukzedierende Druckreize auf der Haut 
erweckt werden, so weit als möglich abseits von jeder Theoriebildung 
gehalten. Diese Zurückhaltung entspringt jedoch nicht etwa einer 
theorieunfreundlichen Gesinnung, sondern dem Bewußtsein einer 
derzeit noch imzulänglichen Tatsachenkenntnis auf einem bisher 
noch gar nicht durchforschten Gebiete, sowie der Überzeugung, daß 
eine Theorie erst dann mitgeteilt zu werden verdient, wenn die bekannt 
gewordenen Tatsachen eine solche nicht bloß vertragen, sondern 
sie eindeutig fordern. 

Freilich waren es theoretische Versuchsgedanken, die mich zur 
Aufdeckung haptisch hervorgerufener Scheinbewegungen geführt 
haben, und auch die gegenwärtige Mitteilung enthält eine Reihe 
von Tatsachen, die alle bestimmten theoretischen Überlegungen 
ihre Feststellung verdanken. Doch wird im folgenden kaum von 
diesen, sondern hauptsächlich von jenen die Rede sein. 

Wer mit meinen früheren Arbeiten über das Gestalterfassen und 
über die sogenannten Vorstellungen außersinnlicher Provenienz ver¬ 
traut ist, wird ohnedies oft genug aus den Fragestellungen selbst 
entnehmen können, welchen theoretischen Bedürfnissen sie ent¬ 
sprungen sind. Wer sich in theoretischem Gegensatz zu mir be¬ 
findet, wird vielleicht aus der Kenntnis der mitgeteilten Tatsachen 
zu besseren 2 ) Gedanken gelangen als diejenigen, die mich vorKennt- 

1) VgL »Kinematohaptische Erscheinungen« (Arch. f. d. ges. Psych., 
Bd. XXIX, S. 385ff.) und »Kinematohaptische Scheinbewegungen und Auf¬ 
fassungsumformung« (Bericht über den VI. Kongreß f. exper. Psych., Leipzig 
1914, S. 30ff.). 

2) Ansätze zu solchen scheint mir K. Kof f kas überaus anregende, während 
der Korrektur vorliegender Abhandlung erschienene »Auseinandersetzung mit 
V. Benussi« (vgl Zeitschr. f. PsychoL, Bd. 73, S. 11—91) zu enthalten. Auf 
Einzelheiten der Ausführungen Koffkas kann hier billigerweise nicht ein¬ 
gegangen werden. Ich komme gelegentlich darauf zurück. 

Koffka bemerkt mit Becht (das scheint mir der Hauptpunkt zu sein), 
daß die »Mehrdeutigkeit« kein Kriterium für Gestaltvorstellung sein kann, 
weil sie auch auf unbestritten sinnlichem Gebiete anzutreffen ist. Dies hat 
sich mir in letzter Zeit gleichfalls als Selbsteinwand gegen meine früheren 
diesbezüglichen Aufstellungen aufgedrängt, und zwar an der Hand folgenden 
Versuches, der eine Variante eines älteren, Meyer-Wundtschen (vgL u. a. 
Arch. f. d. ges. Psych., BdL 2, S. 427 f.) darstellt: etwa 20 graue Scheibchen 
werden auf einem zur einen Hälfte roten, zur anderen grünen Hintergrund 
kreisförmig angeordnet, so daß die eine Kreishälfte auf rotem, die andere auf 


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62 V. Benussi, 

nisnahme der Tatsachen selbst beschäftigt und zur Feststellung 
dieser geführt haben. 

Von jenen Erscheinungen (Bewegungsumformungen), über die ich 
beim VI. Kongreß der Gesellschaft für Psychologie in Göttingen 
berichtet habe, wird in den gegenwärtigen Ausführungen nicht ge¬ 
handelt. Ihre ausführliche Darstellung wird Gegenstand einer Arbeit 
für sich sein. Ich hoffe zuversichtlich, daß die Tatsachenverkettung, 
die gegenwärtig zur Darstellung gelangt, den Zusammenhang und die 
Deutung jener Gruppe hier unberücksichtigt bleibender Erscheinungen 
(Gestaltmehrdeutigkeit und Auffassungsumformung) wesentlich zu 
klären und zu fördern imstande sein wird. 

Die Fragen nun, die (mit Ausnahme von Frage 8 und 9, die dem¬ 
nächst für sich zu behandeln sein werden) im gegenwärtigen Zusam¬ 
menhänge erörtert werden, sind die folgenden. 

1) Wo liegen die Grenzen der Scheinbewegungsdauer? 
Mit anderen Worten: welche Dauer darf die einzelne Scheinbewegung 
nicht überschreiten, tun uns eben als Bewegung anschaulich, also 
in direkter Weise gegenwärtig, zu sein? 

2) Welcher Art ist die Zuordnung zwischen Scheinbewegungs- 
aspekte und Sukzession der Reize, die, wenn auch entfernt, so 
doch die Scheinbewegung mitbedingen; ist der Verringerung der 
Zwischenzeit der Reize eine eindeutige Veränderung der je¬ 
weiligen Bewegungserscheinungen hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit 


grünem Hintergründe erscheint; bei analysierender Beachtung der Kreis¬ 
gestalt schwindet die Kontrastwirkung. Denselben Versuch (wenn auch in 
einer weniger einwandfreien Variante : eine einzige Sehe be, deren eine Hälfte 
auf roten, deren andere auf grünem Hintergründe erscheint) führt auch Koff ka 
an. (Daß er diesen Meyer-Wundtschen Versuch M. Wertheimer zuschreibt, 
beruht offenbar auf Versehen.) 

Aus diesem Versuch geht hervor, daß die Bedeutung der inneren Ver- 
haltungsweise, die ich zunächst für das Gestaltgcbiet festgestellt habe, 
eine weit größere ist, als ich ursprünglich vermutete. Ich hoffe bald Gelegen¬ 
heit zu haben, meine Stellung zum Wahmehmungeproblem klarzulegen. Hier 
nur noch eine Bemerkung: Koffka vertritt eine biologisch orientierte Auf¬ 
fassung dessen, was als »Reiz« zu bezeichnen sei, und gelangt hierdurch zu 
Aufstellungen, die den meinigen widersprechen. Dieser Widerspruch ist aber 
kein tatsächlicher, da für uns das Wort »Reiz« verschiedene Bedeutungen hat. 
Ob nun, dessen ungeachtet, das Erleben von Gestalt Vorstellungen ein Plus 
an inneren Bedingungen, also Bedingungen, die in der Aktualisierung psychi¬ 
scher Verhaltungsweisen zu erblicken wären, erfordert oder nicht, ist nach 
wie vor als unentschieden anzusehen. Koffka hält das »nicht« für wahr¬ 
scheinlicher. Möglich, daß er Recht behält. Darüber können nur derzeit noch 
ausstehende Tatsachenfeststellungen entscheiden. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


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zugeordnet, oder ist dieser eindeutigen Veränderung der Reizdar¬ 
bietung eine qualitative Mannigfaltigkeit von charakteristisch 
voneinander verschiedenen Formen von Bewegungen statt einer 
eindeutigen Veränderung der Geschwindigkeit und Dauer der all¬ 
fälligen Scheinbewegungen zugeordnet 1 )? 

3) Welche Grenzen sind der Größe oder Weite einer Schein¬ 
bewegung gesteckt und wie verhalten sich diese zur Reizfolge? 

4) W ähre nd welcher Zeit vollzieht sich eine Schein¬ 
bewegung? Sind für diese die Zeitverhältnisse der Reize, 
bzw. der diesen als zugeordnet gedachten Erregungen nebst deren 
angenommenen Wechselwirkungen, oder die Zeitverhältnisse der 
den Reizen zugeordneten Erscheinungen, hiermit Zustände des 
gegenständlichen, phänomenal charakterisierten Bewußtseins maß- 

? 

5) Welche Geschwindigkeit weisen Scheinbewegungen 
auf ? Wodurch wird diese Geschwindigkeit bestimmt, inwieweit ist 
sie einem Vergleiche zugänglich, innerhalb welcher Grenzen schwankt 
sie? 

6) Welche Beziehungen bestehen zwischen Form und Geschwin¬ 
digkeit einer Scheinbewegung? 

7) Wodurch wird die Richtung einer Scheinbewegung bestimmt? 
Sind dafür Verhältnisse der einwirkenden Reize, oder Verhal¬ 
tungsweisen des der Reizwirkung ausgesetzten Bewußtseins ent¬ 
scheidend ? 

8) Welche innere Bedingungen müssen neben bestimmten äuße¬ 
ren Bedingungen realisiert werden, damit eine Scheinbewegung ent¬ 
steht, bzw.: müssen neben äußeren Reiz- auch innere Auf¬ 
fassungsbedingungen erfüllt sein, damit jene Erlebnisse auf- 
treten, deren phänomenale, gegenständliche Seite eben die Schein¬ 
bewegung ist? 

9) Wie sind die Scheinbewegungserlebnisse zu beschreiben, und 

1) Wir werden weiter unten zu konstatieren haben, daß die Übergangs¬ 
erscheinungen zwischen Sukzession und Simultaneität noch weit mannigfaltiger 
sind, als die von W. Wertheimer (Z. f. Psych., 61 (1912], S. 162ff.) als Sin¬ 
gularbewegung und duale Teilbewegung beschriebenen Zwischenerschei- 
nungen auf optischem Gebiete. Ungünstig dürfte bei den Versuchen W. dio 
relative Bevorzugung der Einzelbeobachtung (EB) gewirkt haben: ist eine Vp. 
einigermaßen geübt in der Analyse von Bewegungserscheinungen, dann bietet 
eine Dauerbeobachtung bei kontinuierlich zu- oder abnehmenden Zwischen¬ 
zeiten der Reize eine bessere Gelegenheit, charakteristische Veränderungen zu 
beachten, zumal diese immer plötzlich eintreten, also einen Wechsel der 
Qualität darstellen. 



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V. Benusai, 


wo gehören sie hin? — Wir werden sehen, daß sie sich als Erlebnisse 
bezeichnen lassen, die bestimmte Objekte, hier Bewegungen, als »vor¬ 
handene Objekte« erscheinen lassen, ohne jedoch Überzeugungs- 
(also Urteils-) oder gar Annahme- (also Phantasie-)Erlebnisse zu sein 
— was zur Feststellung eines von den bisherigen abweichenden 
Probebegriffes der Wahrnehmung führen wird. 

Die Beantwortung namentlich von Frage 8 wird zu einigen theo¬ 
retischen Überlegungen Anlaß geben, von denen ich hoffe, daß sie, 
wenn auch nicht zu einer definitiven Erklärung der Tatsachen, so 
doch zu einer Klärung mancher der gegenwärtig aktuellen Streit¬ 
fragen führen wird: Die Fragen 1 bis 7 sollen, wie berührt, in erster 
Linie der Entscheidung eines Problems dienen, welches sich in den 
Worten zusammenfassen läßt: sind für die u. U. zu beobach¬ 
tenden Scheinbewegungen die Verhältnisse der sie (indirekt) 
erweckenden Reize oder die diesen Reizen zugeordneten, 
ihnen entsprechenden Erscheinungen, gegenständlichen 
Aspekte, maßgebend? 

Einer Theorie muß nicht weniger durch Sicherstellung von Tat¬ 
sachen als auch durch Klarlegung der versuchsweise entworfenen 
Hilfsgedanken vorgearbeitet werden. Diese sollen zunächst die Ge¬ 
winnung von neuen Tatsachenkenntnissen beschleunigen. Mit einem 
hinreichenden Tatsachenmaterial ist auch die Theorie gegeben. Nur 
jene Theorie darf als solche in definitiver Form gelten, die aus den 
Tatsachen abgelesen, nicht jene, die einem Tatsachenkomplex bloß 
angepaßt sind. 

In Sachen theoretischer Auffassung muß ich nun noch auf einen 
Punkt mit allem Nachdrucke hinweisen: 

Es ist mir nicht darum zu tun, eine Theorie zuvertreten, sondern 
der Gewinnung einer nicht einseitigen Auffassung vorzuarbeiten; 
so bin ich prinzipiell nicht gegen eine physiologische Erklärung 
psychischer Erlebnisse, denn ich bin prinzipiell für die Gewinnung 
einer Erklärung dieser Erlebnisse überhaupt, ich muß aber dagegen 
Stellung nehmen, daß man eine Übersetzung ins Physiologische für 
eine Erklärung des Psychischen ansehe. 

Wer nur von den Tatsachen lernen will, der muß in jeder Hin¬ 
sicht frei von Vorurteilen sein, nur dann kann er der Gefahr eines 
Scheinlernens durch Gedanken über Tatsachen entgehen. 

Die experimentelle Analyse der Scheinbewegungen verdankt den 
in hohem Maße anregenden Untersuchungen M. Wertheimers eine 
Anzahl wichtigster Feststellungen. M. Wertheimers Theorie aber, 
die im Grunde den Bewegungseindruck auf Erregungsbewegung 


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Ve rauche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 65 

zorückführt, scheint mir einem jener Tatbestände nahezukommen, 
gegen die eben Stellung genommen wurde. 

Außerdem ist diese Theorie auf zwei, soweit ich sehe, nicht 
richtig beschriebene Beobachtungen gestützt: die Beobachtungen 
über reine (optisch vermittelte) Bewegung und die Beobachtungen 
über Bewegung bei nicht vorhandener Vertretung des 
einen Reizes im Bewußtsein. Es dürfte sich daher empfehlen, die 
eben berührten Angelegenheiten vor der Besprechung dessen ins Reine 
zu bringen, was meine eigenen Untersuchungen zur Analyse der 
Scheinbewegungen beizutragen versuchen. 

Die Erscheinung der »reinen« Bewegung enthält, wie wir sehen 
werden, etwas Paradoxes 1 ), auch dann noch, wenn sie anders als 
bisher geschehen ist, beschrieben werden muß. Um sich über die 
Eigenart der hier teilweise bestrittenen Erscheinung zu orientieren, 
bleibt niemandem etwas anderes übrig, als in voller Unvoreinge¬ 
nommenheit die Erscheinung selbst zu erleben. 

Die Bestimmung der inneren Bedingungen von Scheinbewegungen 
ist nun insoferne von prinzipieller Bedeutung, als sie nicht so sehr 
eineBereicherung unseresWissens umDetailerscheinungen, 
sondern direkt eine Vertiefung in der Auffassung dieser Er¬ 
scheinungen verspricht. 

Kehren wir nun zu unserem Hauptthema »Tatsachenfragen« 
zurück, so können wir die oben im Detail aufgezählten Fragen in 
folgende Sätze zusammenfassen: jedes Scheinbewegungserlebnis hat 
eine gegenständliche, phänomenale Seite: die Scheinbewegung, 
und eine Erlebnisseite: die Vergegenwärtigung dieses Gegen¬ 
standes Bewegung; beide Seiten sind zu analysieren, indem man fest¬ 
stellt, 1) wovon die charakteristischen Merkmale eines solchen Gegen¬ 
standes »Scheinbewegung« und 2) wovon die entsprechenden Erleb¬ 
nisse bezüglich der Bedingungen ihrer Entstehung abhängen. 

3) Gibt es »reine« Bewegungserlebnisse P 

Es seien a und b zwei benachbarte Punkte, die im finsteren Raum 
etwa 7 cm voneinander entfernt aufblitzen; m und i zwei Hautstellen 
gleicher räumlicher Entfernung, die abwechselnd kurzdauernd be¬ 
rührt werden. Die Reizzeiten (Dauer je einer Punktaufhellung, 
Dauer je einer Hautberührung in leisem Drucke) und deren Zwischen- 


1) Bezüglich einer weiteren Paradoxie vgl. man meine Untersuchungen über 
Scheinbewegungen und geom.-opt. Gestalttäuschungen. Arch. f. d. ges. Psych., 
Bd. XXIV, S. 31 ff. namentlich S. 68—59, 1912. 


Archiv ftr Psychologie. XXXVL 


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Y. Benossi, 


Zeiten sind so gewählt, daß bei sukzessiver Darbietung klare, an¬ 
schauliche Bewegung von a nach b, von m nach i zum Vorschein 
kommt. 

Die Entstehung einer solchen klaren Bewegung, also ein Optimal¬ 
stadium, ist, nebenbei bemerkt, je nach Einstellung und willkürlichem 
Verhalten des Beobachters bei verschiedenen Größen der Zwischen¬ 
zeiten der Beize anzutreffen. Bei einer konstanten Zwischenzeit 
können daher bei Dauerbeobachtung auch verschiedene Bewegungs¬ 
formen bzw. -Umformungen auftreten, wie 1) duale Teilbewegung, 
2) Ganzbewegung mit Wechsel der Bewegungsrichtung (Hin- und 
Herbewegung), 3) kontinuierliche Bewegung ohne Richtungsänderung 
(Kreisbewegung), 4) kontinuierliche Bewegung mit plötzlich ein¬ 
tretendem Umschlag der Bewegungsrichtung, 5) sich Nachlaufen 
zweier Punkte im Kreise; 6) sich Nachlaufen im Halbkreis und 
zwar von immer » neuen « Punkten, d. h. ein Punkt geht im Bogen von 
a nach b und ein Punkt läuft ihm vom b nach a davon, wobei ihm 
in a wiederum ein neuer Punkt davon läuft (ein sehr schönes Spiel) 1 ) 
usf.; 7) ruhiges Aufleuchten der Punkte (bzw. Anschlägen auf je eine 
Hautstelle) als zwei getrennte Aufhellungsfolgen (Berührungsfolgen) 
rechts und links. 

Diese Umformungen, namentlich so weit sie sich bei kon¬ 
stanten Zwischenzeiten einstellen, sind für die Analyse der 
inneren Entstehungsbedingungen von Scheinbewegungen von prin¬ 
zipieller Bedeutung und verdienen einer exakten Prüfung unter¬ 
worfen zu werden 2 3 ). 

Ist nun einmal, gleichviel auf welche äußere Grundlage hin, 
eine klare Scheinbewegung gegeben, so entsteht die Frage nach den 
phänomenalen Begebenheiten innerhalb des Bewegungsfeldes. 

Diese Frage (V. 1)*) kann den Vpn. auf eine zweifache Weise 
vorgelegt werden: 


1) Die Erscheinungen (Umformungen) 3 bis 6 sind M. Wertheimer 
(Z. f. Psychol., 61, S. 162ff. [1912]) entgangen. Sie konnten ihm deswegen 
entgehen, weil bei ihm die Einzelbeobachtung weit mehr als die Dauerbeobach¬ 
tung zur Anwendung kam. Ein Überblick über die von mir konstatierten Be¬ 
wegungserscheinungen bei Änderung der Zwischenzeit zz und Konstanz von 
gz/zz ist weiter unten sub III, A. (Die Scheinbewegungsdauer und die typischen 
Erscheinungen bei zz-Abnahme und Konstanz von gz/zz) zu finden. 

2) Dies wird zum Teil wenigstens in einer bereits abgeschlossenen zweiten 
Abhandlung versucht. 

3) Ich hebe im folgenden die einzelnen charakteristischen Versuche (V.) 
mit fettgedruckten fortlaufenden Zahlen hervor. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scbeinbewegungen. 


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1) Was geschieht im Bewegungsfelde, was bewegt sich darin? 

2) Was ist im Bewegungsfelde zu sehen, was bewegt sich — in 
diesem Sinne also als ein Sichtbares — in ihm? 

Ich habe meinen Vpn. immer beide Fragen vorgelegt und sie 
aufgefordert, das Erlebte ohne jede Rücksicht darauf, ob die Aussagen 
Widersprüche einschließen oder nicht, mitzuteilen. Ich hatte übrigens 
in dieser Richtung kaum etwas zu befürchten, da die allermeisten 
meiner Beobachter bei Scheinbewegungen durch geom.-opt. Gestalt¬ 
täuschungen 1 ), sowie bei haptisch erweckten Scheinbewegungen 
(Versuche zur Analyse der Bewegungsgeschwindigkeit) 2 ) oft 
genug Gelegenheit gehabt hatten, paradoxe Erscheinungen anzutreffen 
und sie ruhig eben als solche zu beschreiben. 

Ich führe mm im gegenwärtigen Zusammenhänge zunächst ein 
typisches Gespräch zwischen Vp. und VL., welches sich nahezu mit 
denselben Worten sehr oft wiederholt hat, an: (es handelt sich dabei 
um einen haptischen Versuch, also um etwas für jede Vp. vollständig 
Neues, Eigenartiges und Seltsames). 

Was geschieht auf Ihrer HautT — Etwas bewegt sich im Bogen durch die 
Luft und berührt abwechselnd je eine Hautstelle. Eigentlich ist das keine 
Berührung. Das, was sich bewegt, kommt ja aus der Haut (berührend?) heraus. 
Die Bewegung geht ja durch die Haut nach unten in die andere Hautstelle. — 
Was ist das, was sich bewegt? — Ich weiß es nicht. — Bewegt sich dann zwischen 
den berührten Stellen nichts? Oder bewegt sich die Berührung? — Nein, die 
Berührung ist in Ruhe, dort fängt nur die Bewegung von etwas an. Es ist 
etwas da, ich weiß aber davon nur durch die Berührung, weil es berührt und 
sich bewegt. — Ist zwischen den Berührungsstellen nichts zu spüren? Warum 
sagen Sie, daß sich etwas bewegt, wenn Sie auf der Haut zwischen m und * nichts 
berührt? Ich sage es, weü es so ist. Ich spüre die Bewegung, sie ist Be¬ 
wegung von etwas, — aber ich weiß nicht wovon. Es ist freilich sonderbar, aber 
es ist einmal so. — Vielleicht ist überhaupt nichts da, außer der Bewegung? — 
Es bewegt sich ganz entschieden etwas, nämlich das was die Haut berührt, 
ganz klar; — aber ich »sehe« es nicht und weiß nicht, was es ist. — Denken 
Sie bloß, es müßte etwas sein, oder denken Sie außer oder neben dem Be¬ 
wegungserlebnis an etwas? — Es ist kein »Gedanke«; die Bewegung ist als 
solche Bewegung von etwas, ich erlebe sie als eine solche. 

Man sieht: das,was vorliegt, ist eine vollständig klare Bewegungs¬ 
anschauung von Etwas, was in keiner Weise anschaulich 
gegeben ist, sondern für unser Bewußtsein bloß ein Berührendes 
ist. Dieses Berührende ist aber dasjenige, dessen Bewegung mit 


1) VgL über diese Erscheinungen meine in Bd. XXIV, S. 31 ff. [1912] des 
Arch. f. d. ges. Psychologie enthaltenen Ausführungen, sowie die sachlich damit 
übereinstimmenden Untersuchungen von Koffka und Kenkel in der Zeitschr. 
f. Psych., Bd. 67, S. 353ff. [1913]. 

2) Das Nähere hierüber ist weiter unten sub IIID, 1) und 2) zu finden. 


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V. Bennni, 


voller Anschaulichkeit erfaßt wird. Hier fehlt also auch jene 
Anschauung des sich Bewegenden, welche bei optischen 
Scheinbewegungen an den Endstellen der Bewegungsbahn 
gegeben ist. Trotzdem bewegt sich etwas, d. h. trotzdem 
wird die Bewegung mit aller Entschiedenheit nicht nur als die »Be¬ 
wegung von Etwas«, sondern als die Bewegung dessen, was an zwei 
Stellen außerdem auch noch die Haut berührt, bezeichnet; — und 
zwar wird sie so bezeichnet, weil sie so erlebt wird. 

Der Tatbestand des Erlebens einer anschaulichen Bewegung von 
Etwas, das in keiner Weise als ein sich Bewegendes anschaulich erlebt 
wird, mag noch so paradox erscheinen; — er ist tatsächlich anzutreffen 
und steht als solcher ganz außer Frage. 

Wir werden später eine ähnliche Sachlage antreffen: zwei Be¬ 
wegungen sind als solche vollständig klar und lebendig gegeben, in 
ebenso klarer Weise ist die Bewegungsweite der einen mehr als doppelt 
so groß als die der anderen; desgleichen dauern die zwei Bewegungen 
gleich lange; — trotzdem sind sie in bezug auf Geschwindigkeit 
gleich. 

Kehren wir zu dem uns gegenwärtig beschäftigenden Bewegungs¬ 
fall zurück: Bezeichnet man einen solchen Fall als »reine Bewegung« 
. in der Meinung bzw. Überzeugung, man habe den Eindruck einer an 
nichts haftenden Bewegung, einer Bewegung ohne Objekt, so 
ist die Bezeichnung unstatthaft, weil die durch sie zu treffende Er¬ 
scheinung gar nicht vorliegt: Die Erfahrung bietet keine reinen 
Bewegungserlebnisse im Sinne des Erlebens einer Be¬ 
wegung ohne Objekt, einer vom Objekte losgelösten Be¬ 
wegung, sie bietet nur anschauliche Bewegungserlebnisse 
ohne sinnliche Objektanschauung. Jeder, der unvorein¬ 
genommen solche Beobachtungen anstellt, und er muß sie anstellen, 
um wirklich zu verstehen, wovon hier die Rede ist und was hier be¬ 
stritten wird, wird merken, daß eine Bewegung, die »nicht auf ein 
Objekt bezüglich« 1 ) wäre, auch im nichts Sichtbares enthaltenden 

1) Nach dem Wortlaute M. Wertheimers (a. a. 0. S. 223), der mit Schu¬ 
mann das Gegebensein von reinen Bewegungserscheinungen im Sinne von 
objektfreien Bewegungen oder Bewegungen ohne Bezug auf ein Objekt be¬ 
hauptet. Wertheimer hatte aber als reguläre Vpn. nur deren 3 zur Ver¬ 
fügung (a. a. O. S. 176) und zwar aus seiner nächsten wissenschaftlichen Um¬ 
gebung. Die Zahl der von mir geprüften Vpn. ist 27. Psychologisch gebil¬ 
dete und ungebildete unterscheiden sich in bezug auf die Beschreibung des 
gegenwärtigen Falles nicht voneinander. Nur die emotive Reaktion ist, wie 
leicht verständlich, normalerweise dort und hier eine verschiedene. 

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Verfluche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 69 


Bewegungsfelde nicht anzutreffen ist. Auf haptischem Gebiete ist 
die Sachlage weniger paradox zu beschreiben, als wenn es sich um 
eine optische Scheinbewegung handelt, wo man vom Sehen einer 
Bewegung eines nicht sichtbaren Gegenstandes bis zu einem gewissen 
Grade wirklich reden kann . 

Daß man eine anschauliche Vorstellung einer Bewegung haben 
kann ohne Objektanschauung, ist freilich paradox, zugleich aber 
Tatsache, — nicht anzutreffen ist aber nach meiner und vieler 
anderer Erfahrung eine Bewegungsanschauung ohne ein unanschau¬ 
liches Bewegungsobjekt. Ein so beschaffenes Erlebnis wäre noch 
paradoxer, ist aber, so weit ich sehe, untatsächlich. 

Ich habe diese Angelegenheit absichtlich mit Zuhilfenahme hap¬ 
tisch erweckter Scheinbewegungen besprochen, weil diesen Bewegungen 
von vomeherein jede sinnliche Objektanschauung fehlt, trotzdem 
aber alle so beschaffenen Bewegungen als Bewegungen von einem 
Etwas, welches nur durch Berührungen sinnfällig wird, erlebt werden. 

Das,was für die haptischen Scheinbewegungen festgestellt wurde, 
gilt auch für die optisch erweckten. Die Antworten der Vpn. auf 
die obigen Fragen lauten beispielsweise: 

Ich sehe die Bewegung von etwas, das ich im Bewegungsfelde nicht 
sehe. — Das ist ja ein Unsinn; entweder sehen Sie die Bewegung nicht, oder 
Sie sehen auch das, was sich bewegt, oder Sie sehen Bewegungen aber nicht 
von Etwas. — Der lichte Punkt bewegt sich, aber ich sehe ihn nicht, ein 
Intervall höre ich auch und höre doch zwischen zwei Tönen nichts. — Wie ist 
das also? — Ich weiß es nicht, der Punkt ist während der Bewegung unsicht¬ 
bar, er ist nur an den Endstellen sichtbar, wenn er aufgehört hat, sich zu be¬ 
wegen, und bevor er einen neuen Sprung macht; — aber es bewegt sich der 
Punkt, der sich an den Endstellen auf hellt; seine Bewegung sehe ich. 

Mit jeder Vp. wiederholt sich dieses Gespräch nahezu im Wortlaute. 

Daraus geht hervor, daß wir auch auf optischem Gebiete jene 
Erlebnisse, wie sie von M. Wertheimer beschrieben wurden, nicht 
antreffen. Beine Bewegungserlebnisse im Sinne einer Tren¬ 
nung von Bewegung und Objekt sind nicht anzutreffen. 

Die Trennung, wenn man davon sprechen will, betrifft nur die 
Anschaulichkeit, — auf optischem Gebiete streng genommen 
auch nicht diese, sondern bloß die Sichtbarkeit, — die ihrerseits 
streng genommen nicht der Bewegung, sondern nur dem sich Be¬ 
wegenden zukommt. 

Versuche über »reine« Scheinbewegungen besagen also nur, daß 
Bewegung selbst nichts Sichtbares und auch nichts haptisch Fühl¬ 
bares ist. Der Beweis hierfür hegt in der Tatsache, daß man er¬ 
fahren kann, was Bewegung ist, wo sie ist und welche Form sie hat, 


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V. Bemusi, 


ohne einem sinnfälligen, sich bewegenden Objekte durch kontinuier¬ 
liche Sinneseindrücke folgen zu müssen. 

Nur eine Trennung, die Trennung von Bewegungserlebnis 
und Sinneserlebnis ergibt sich aus den Versuchen und Be¬ 
obachtungen über das im Bewegungsfelde Gegebene. 

Frei von Paradoxie ist auch dieser Befund freilich nicht, aber 
schließlich nicht wesentlich paradoxer als der Tatbestand des Inter¬ 
vallhörens: Im »Intervallfelde«, könnte man analog sagen, ist nichts 
Hörbares gegeben, gehört wird ein Ton zur Zeit z und ein Ton im 
Augenblicke z 2 , dazwischen nichts, trotzdem ist ein Intervall in 
lebendigster Anschaulichkeit vorhanden. 

Das Ergebnis meiner Versuche und Beobachtungen lautet also: 
im Bewegungsfelde wird Bewegung erlebt und zwar als Bewegung 
von etwas, das an den Endstellen der Bewegung sichtbar wird. 
Die Bewegung selbst ist auf haptischem Gebiete in glei¬ 
cherweise gegeben wie auf optischem, sie wird weder 
hier gesehen, noch dort berührt oder betastet, sondern 
erlebt; das sich Bewegende ist hier an einigen Stellen, an den Ruhe- 
steilen, sichtbar und wird auf haptischem Gebiete durch ruhende 
Berührung sinnfällig. 

Eine Scheinbewegungsvorstellung kann übrigens auch durch 
akustische Eindrücke, wenn sie nur relativ zueinander deutlich 
verschieden lokalisiert sind, erweckt werden; gehört wird aber die 
Bewegung nicht. Die Bewegung selbst wird nicht sinnlich erfaßt, 
wie das sich Bewegende an den Ruhestellen, bzw. an den Endstellen 
der Bewegungsbahn; die Bewegung wird außersinnlich ver¬ 
mittelt. In diesem Sinne ist jede Bewegungsvorstellung 
eine Vorstellung außersinnlicher Provenienz. 

Das ist aber auch das Einzige, was man aus Beobachtungen der 
hier in Rede stehenden Art schließen darf. Die einzige Trennung, 
die dabei zu konstatieren ist, ist die von Bewegungserlebnis und Er¬ 
leben von Sinneseindrücken. Die Trennung von Bewegung und 
Objekt geht auf ein Mißverständnis zwischen VL. und Vp. zurück, 
indem unanschauliches Objektbewußtsein mit Objekt- 
losigkeit verwechselt wurde. 

Ist die Angelegenheit der reinen Bewegungen durch das eben 
Ausgeführte als geklärt zu betrachten, so möge hier noch auf die 
Entstehungsbedingungen einer Erscheinung hingewiesen werden, die 
mit voller Bestimmtheit bei Dauerbeobachtung zu konstatieren ist: 
ich meine die Scheinbewegung mit im Bewegungsfelde ständig 
sichtbarem oder ständig haptisch fühlbarem Objekte. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


71 


Diese Erscheinung tritt dann besonders deutlich auf, wenn beim 
alternierenden Erscheinen zweier Punkte a und b in einer Entfernung 
von 10 cm und mehr eine Kreisbewegung, also eine Bewegung 
konstanter Richtung zum Vorschein kommt. 

Charakteristisch für diese Schein bewegungsform ist es, daß sie 
wohl bei verhältnismäßig weit verschiedenen Zwischenzeiten der 
a- und 6-Reize auftritt, nahezu immer aber in eine reine Bewegung 
im oben präzisierten Sinne umschlägt, wenn während der Be¬ 
obachtung die Zwischenzeit der Reize auch nur um ein 
Geringes zunimmt. Diese Kreisbewegung, wie sonst jede Schein¬ 
bewegung mit ständig sichtbarem, bzw. haptisch fühlbarem Objekte 
im Bewegungsfelde scheint mir mit der Gegenwartszeit 1 ) der 
einzelnen Punkte, diese Gegenwartszeit aber mit der Beachtungs¬ 
stärke derselben, d. h. mit dem Grade der ihnen zugewandten Aufmerk¬ 
samkeit, zusammenzuhängen, so daß man nicht ohne Berechtigung, 
wenn auch nur vermutungsweise, den Satz aufstellen könnte, eine 
Bewegung mit im Bewegungsfelde unsichtbarem (haptisch unfühl¬ 
barem) Objekte wird dann zu einer Bewegung mit ständig sichtbarem 
(bzw. haptisch fühlbarem) Objekte, wenn sich die Gegenwarts- 
zeiten der zwei Eindrücke, die in entfernter Weise dem 
Bewegungseindruck zugrunde liegen, berühren oder teil¬ 
weise überschneiden; — doch darüber bei einer späteren Ge¬ 
legenheit. Hier soll nur die Tatsache im Auge behalten werden, 
daß jenes Moment, welches man als »Phasenergänzung« oft postu¬ 
liert hat, in den eben berührten Erscheinungen tatsächlich zum 
Ausdruck kommt. 

Die Deutung dieser Erscheinung kann freilich sehr verschieden 
ausfallen. Um eine diesbezügliche Entscheidung handelt es sich aber 
im gegenwärtigen Zusammenhänge nicht. 

Neben jenem Gesetze 2 ) nun, wonach bei mehrdeutigen Reiz- 

1) Als Gegenwartszeit ist jene Zeit zu verstehen, während welcher die 
Aufmerksamkeit einer eben erlebten Erscheinung zugewendet bleibt. (Vgl. 
»Psych. <L Zeitauffassung«, S. 129, 280, 300, 313, 432, 461, sowie Arch. f. d. 
ges. Psych., Bd. IX, S. 419.) 

2) VgL meine »Psychologie der Zeitauffassung«, S. 50ff. [1913]. Die 
daselbst (S. 45 ff., Fig. 1) mitgeteilten Versuche schienen und scheinen mir mit 
AL Wertheimers physiologisch orientierter Theorie der Scheinbewegungs¬ 
erscheinungen nicht in Einklang gebracht werden zu können. K. Koffka 
hat (Zeitschr. f. Psych., Bd. 69, S. 97) in einer Besprechung meiner ersten Mit¬ 
teilung über haptisch erweckte Scheinbewegungen (Arch. f. d. ges. Psych., 
Bd. XXIX, S. 386/86) betont, daß gerade die hier ins Auge gefaßten Erschei¬ 
nungen aus Wer thei mer s Theorie folgen. Diese Bemerkung ist darauf zurück- 


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72 


V. Benossi, 


komplexen, d. h. solchen, die voneinander charakteristisch ver¬ 
schiedene, einander ablösende Bewegungsgestalten ergeben, die Be - 
harrungszeit einer bestimmten Bewegungsform durch Wieder¬ 
holung herabgesetzt, die Erreichungszeit für dieselbe Bewegungs¬ 
form durch Wiederholung weit eher verlängert ab — wie nach jeder 
»Ergänzungstheorie« der Fall sein müßte — verkürzt wird, hätte 
die Theorie der assimilativen Phasenergänzung in erster Linie die 
Tatsache zu berücksichtigen, daß eine konstant fühlbare haptisch 
bedingte Bewegung nicht zu erreichen ist, sobald eine Bewegung 
zwischen Hautstellen der linken und rechten Hand oder 
zwischen Hautstellen verschiedener Finger einer und der¬ 
selben Hand hervorgerufen wird. 

Eine assimilative Ergänzung wäre zu postulieren 

a) im allgemeinen ab reine Ergänzung zu einer Bewegung 
aus individuellen Gesichts- oder Berührungseindrücken, 

b) im besonderen, um aus einem Bewegungserlebnis bei unan¬ 
schaulichem, sinnlich nicht ergreifbarem Bewegungsobjekt ein Be¬ 
wegungserlebnis mit konstant sichtbarem oder fühlbarem Objekte zu 
gewinnen. 

Gegen a) spricht das genannte Gesetz der Beharrungs- und Er¬ 
reichungszeiten; 

gegen b) die Tatsache, daß eine etwa konstant sichtbare Be¬ 
wegung nur unter Umständen hervortritt, die ein inneres Gegen¬ 
wärtigsein des einen Eindruckes eben bb zum Eintritte des nächsten 
bedingen, d. h. abo nur bei relativ sehr raschen Bewegungen bzw. 
kleinen Zwischenzeiten der Reize. 

4) 8eheinbewegung und Objektvertretung im Bewußtsein. 

Der hier in Frage stehende Tatbestand ist folgender: sind a und 
b zwei Punkte, etwa 7 cm voneinander entfernt, so scheint sich b 
von ungefähr der Stelle, an welcher a erscheint, aus, in seine (6-) 
Erscheinungsstelle auch dann zu bewegen, wenn a nicht gesehen 


zuführen, daß Koffka meinem Hinweise gemäß wohl sicher an Beispiele von 
Scheinbewegungsmehrdeutigkeit gedacht hat (solche sind sowohl von P. 
Linke als auch von M. Wertheimer angeführt worden), es aber unterlassen 
hat, jene Fälle in Betracht zu ziehen, auf die ich (S. 388, a 3) allein hinweisen 
zu müssen meinte; Fälle nämlich, bei denen es sich um entgegengesetzt 
gerichtete, gleichzeitige, dieselbe Bahn benützende Objektbe¬ 
wegungen handelt. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegnngen. 73 

wird, d. h. wenn dem a keine Bewußtseinsvertretung durch 
einen Sehakt 1 ) zukommt. 

Diese Erscheinung steht außer Frage. Auch hier ist aber 
unberechtigterweise zuviel Gewicht auf die Vertretung im Be¬ 
wußtsein als ein Sichtbares gelegt worden. 

Man hat mit anderen Worten aus der Tatsache, daß a als solches 
nicht gesehen wird, geschlossen, es sei auch vom Erscheinungsorte 
des a nichts im Bewußtsein, wenn oder bevor b erscheint. Dabei 
ist man einem ähnlichen Mißverständnis unterlegen, wie bezüglich 
der reinen objektsfreien Bewegungen: 

von einem a braucht als von einem Sichtbaren freilich nichts im 
Bewußtsein vorhanden zu sein, damit sich ein b von einer a-Stelle 
nach einer 6-Stelle zu bewegen scheint, aber die a-Stelle, d. h. ein 
Ort, ein Lokalisationsgedanke, eine Lokalisationsvergegenwärtigung, 
welcher, bzw. welche sich der a-Stelle zuwendet, ein willkürlich oder 
unwillkürlich (durch Einstellung) hervorgerufenes Vorschweben eines 
Individualisierten vom Erscheinungsorte des b verschiedenen Ortes a 
(als Erscheinungsort des sinnfällig nicht auftretenden a), muß, soweit 
meine Erfahrung reicht, gegeben sein, wenn sich trotz unsichtbarem 
a eine Scheinbewegung von b ergeben soll. 

Der Versuch muß zunächst einstellungsfrei vorgenommen 
werden, wenn man nicht Gefahr laufen will, sich gerade den inter¬ 
essanten inneren Bedingungen von Scheinbewegungen gegenüber 
zu verschließen. 

Nur unter den Voraussetzungen, daß die Vp. gar nicht weiß, um 
was für Erscheinungen es sich handelt, und daß sie außerdem auch 
an keinen Laboratoriumsversuchen bereits teilgenommen habe, läßt 
sich in korrekter Weise ein Versuch über Scheinbewegung der hier 
in Bede bzw. Abrede stehenden Art vornehmen. 

Verfährt man auf diese Weise in völlig finsterem Baume, dann 
ist m. W. nach eine Bewegungserscheinung nicht anzutreffen. For¬ 
dert man aber die Vp. auf, gedanklich eine Baumstelle in der Um¬ 
gebung des in b periodisch aufleuchtenden Punktes hervorzu¬ 
heben, so konstatiert nahezu jeder Beobachter sofort, daß der auf¬ 
leuchtende Punkt aus der gedanklich oder beachtend herausgegrif- 

1) VgL M. Wertheimer, a. a. 0. S. 216ff. Mein jüngerer dz. im Felde 
stehender Fachgenosse und Schüler E. H. Albert teilte mir vor kurzem sehr 
interessante, an einem sichtbaren Objekt gemachte Scheinbewegungs¬ 
beobachtungen als Folge bestimmter zeitlicher Gruppierungen der Ex¬ 
positionsfolge mit. Er wird selbst darüber hoffentlich bald zu berichten 
Gelegenheit haben. 


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74 


V. Benussi, 


fenen Raumstelle »kommt« und nach seiner nur einen Augenblick 
dauernden Sinnfälligkeit (dem Sichtbarsein etwa in b) nach jener 
Stelle zurückgeht (V. 2). 

Läßt man nun ein andermal oder bei einer neuen Vp. neben dem 
periodisch aufleuchtenden Punkte einen schwachleuchtenden konstant¬ 
sichtbaren Punkt erscheinen, so dauert es gewöhnlich nicht lange, 
bis die Vp. von selbst sagt, der periodisch aufleuchtende Punkt 
taucht in den konstanten unter und erscheint dann neben ihm, indem 
er von ihm her zu kommen scheint, bzw. kommt. Hat man eine 
Bewegungserscheinung der genannten Art einmal erlebt, dann kann 
man den aufleuchtenden Punkt von einer beliebigen Seite herkommen 
und nach einer beliebigen Seite hin verschwinden »sehen*. 

Diese Erscheinungen reiner Bewegung im oben präzisierten Sinne 
setzen also eine Verhaltungsweise des Beobachters voraus, die sich 
als eine Beachtung im Zusammenhänge von mehr als einer 
Raumstelle, von mehr als einem Orte bezeichnen läßt. 

Ist diese innere Bedingung, dieses Zusammenhangserlebnis ge¬ 
geben, dann tritt Bewegung auf; wird dagegen (V. 3) an der Stelle 
a ein Punkt gezeigt und läßt man an der Stelle b einen unterschwel • 
ligen Reiz wirken, so daß in a nichts Sichtbares erscheint, so ist 
trotz der Zweiheit der gegebenen Erregungen 1 ), deren einer 
jedoch, wenn die berührte innere Bedingung nicht realisiert ist, 
keine Bewußtseinsvertretung zugeordnet ist, keine Scheinbe¬ 
wegung vorhanden. Dagegen ist eine Bewegung dort gegeben, 
wo ein Zusammenhangsfeld gegeben ist: die Bewegung vollzieht 
sich innerhalb dieses Feldes. Die Grenzen dieses Feldes brauchen 
nicht beide auf Grund von Sinneseindrücken gegeben zu sein, eine 
sinnliche Vertretung im Bewußtsein ist in diesem Sinne ent¬ 
behrlich, nicht aber die Bewußtseins Vertretung eines Zu¬ 
sammenhangsfeldes, dessen eine Grenze freilich gesehen, wäh¬ 
rend die andere nur gedacht zu werden braucht. 

So wie gelegentlich der reinen Bewegung Unanschaulichkeit 
(bzw. Unsichtbarkeit) des Bewegungsobjektes für Objektlosigkeit 
der Bewegung gehalten worden ist, so ist bei der Frage nach der 
Bewußtseinsvertretung der Mangel einer anschauungsfrischen, 
sinnlich vermittelten Vertretung durch einen Gesichtseindruck 
als ein Mangel an Bewußtseinsvertretung kurzweg angesehen 


1) M. Wertheimer dürfte also kaum im Rechte sein, wenn, er eine 
Zwischenwirkung der den Sinnesreizen zugeordneten zentralen 
Erregungen als Conditio der Scheinbewegung hilfsgedanklich annimmt. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 75 

und die Bewußtseinsvertretung durch ein Zusammenhangserlebnis 
übersehen worden. 

Dieses Versehen konnte nur dadurch zustande kommen, daß die 
Versuche selbst nicht unter sicherem Ausschluß einer Einstellungs¬ 
wirkung vorgenommen wurden. 

Die Einstellung als Folge von normalen Scheinbewegungserleb¬ 
nissen 1 ) macht sich aber m. E. n. dann nur solange bemerkbar, als 
das Zusammenhangserlebnis noch anklingt, und die Scheinbewegung 
schwindet mit dem Abklingen dieses Erlebnisses selbst. 

Die Einstellungswirkung ist auf diese Weise ohne weiteres zu 
verstehen. 

Ist man nun auf die Rolle dieses Zusammenhangserlebnisses 
selbst aufmerksam gemacht worden, dann verliert eine Schein¬ 
bewegung mit singulärer Reizvertretung im Bewußtsein ihren flüch¬ 
tigen Charakter und schwindet erst dann, wenn die Aktualisierung 
eines willkürlich erweckten Zusammenhangserlebnisses infolge von 
Müdigkeit versagt. 

In welcher Beziehung die Erreichkarbeit von Scheinbewegungen 
durch Zusammenhangserlebnisse zur geistigen Ermüdung steht, 
müßte für sich untersucht werden. 

Tatsache ist, daß Scheinbewegungserscheinungen durch 
Müdigkeit oft gänzlich gehemmt 2 ) werden (V. 4). 

Auf Grund der eben berührten Versuche ist also die Annahme 
oder gar die Behauptung, es seien Bewegungserscheinungen bei ein¬ 
gliedrigen Bewußtseinsvertretungen zweier Reize, d. h. also bei und 
trotz gegebener Unterschwelligkeit eines Reizes, anzutreffen, ent¬ 
schiedenst in Abrede zu stellen. So lange die dem überschwelligen 
Reize zugeordneten Eindrücke, genauer Erscheinungen als in sich 
abgeschlossene, individualisierte, herausgesonderte Erscheinungen 
erlebt werden, so daß sie nur als zu sich selbst in Beziehung gesetzt 
erscheinen und jene Gestalterscheinung ergeben, die wir Folge 
nennen, treten Scheinbewegungen nicht auf 3 ). Werden aber die in 
Rede stehenden Erscheinungen als im Zusammenhang mit bestimmten 


1) Auf diese Einstellungswirkung berufen sich auch M. Wertheimer 
(a. a. O.) und K. Koffka (in der Wochenschrift »Die Geisteswissenschaf¬ 
ten«, J. 1, S. 711 ff. u. 796ff.) in erster Linie. Einwandfrei und beweisend 
können aber auch hier wie sonst überall eben nur einstellungsfreie Befunde, 
wie die oben mitgeteilten, sein. 

2) Vielleicht läßt sich einmal aus dieser Tatsache ein brauchbares Kriterium 
für geistige Ermüdung gewinnen. Es liegt auf der Hand, auf welche Weise. 

3) Übereinstimmendes auch in der erwähnten Mitteilung von E. H. Albert. 

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76 


V. Bennau, 


Orten stehend erlebt und erfaßt, dann tritt eine Bewegung zwischen 
den als zusammenhängend, also in einer Zusammenhangsgestalt 
erlebten Raumstellen regelmäßig auf. Daß von diesen zwei Raum¬ 
stellen nur eine sinnfällig im Bewußtsein vertreten ist, ist unwesent¬ 
lich ; ebenso unwesentlich wie für die Vergegenwärtigung einer 
klaren Bewegung über eine bestimmte Strecke die Sichtbarkeit des 
Objektes auf dieser Strecke selbst. Der uns hier beschäftigende 
Fall stellt gegenüber diesem eben in Erinnerung gebrachten jene 
Mindestforderung an Anschaulichkeit und Sinnfälligkeit dar, 
die beim Erwecken von Scheinbewegungserlebnissen erfüllt sein muß. 
Jenes Zusammenhangserlebnis aber, welches sonst durch die An¬ 
schaulichkeit der Sinneserscheinungen aufgenötigt wird, muß bei 
mangelhaft sinnfälligem Anschauungsmaterial durch eine zielbewußte 
zusammenhangstiftende Einstellung oder Verhaltungsweise des Be¬ 
obachters ersetzt werden. 

Nach Klarlegung dieser Sachverhalte wende ich mich der Be¬ 
schreibung der von mir benutzten experimentellen Hilfsmittel zu. 

II. Experimentelle Technik. 

Die Forderungen, denen eine Versuchsanordnung zur Analyse 
von haptisch und optisch erweckten Scheinbewegungen Rechnung 
zu tragen hat, sind: 

1) Gleichzeitige oder sukzessive Darbietung optisoher 
oder, bzw. und haptischer Bewegungserscheinungen unter voll¬ 
ständig gleichen Reizverhältnissen. Für die gegenwärtige 
Abhandlung kommt nur die sukzessive Darbietung in Betracht. 

2) Stetig oder sprunghaft vor sich gehende Veränderung 
der Gesamtzeiten ( gz ), d. h. der Zeiten zwischen zwei Reiz¬ 
einsätzen. 

3) Beliebige Variation des Verhältnisses (gz/zz) zwischen Gesamt¬ 
zeit (gz) und Zwischenzeit der Reize (zz). 

4) Variation der Reizintensität (Druckstärke, Helligkeit). 

5) Variation der Reizverteilung innerhalb einer bestimmten 
Zeitstrecke. 

6) Variation der räumlichen Abstände der Reize und zwar 
für beliebige Zeitraumkombinationen. 

7) Variation der Zahl und Lage der Reize. 

8) Kombination dieses Momentes mit den früheren. 

9) Stille. 

10) Exakte graphische Kontrolle sämtlicher Variationen. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Seheinbewegoagen. 


77 


Das sinnliche Material ist bei der gegenwärtigen Arbeit ausschlie߬ 
lich durch punktuelle Hautberiihrungen und durch helle 
Punkte auf dunklem Hintergründe im Dunkelraum gegeben. Die 
äußeren Hilfsmittel sind in den Fig. 1—6 schematisch wiedergegeben. 
Sie seien kurz beschrieben. 

1) Zur Reizdarbietung dienen einzelne für meine Zwecke 
modifizierte Reizhebel. Ein Stativ SS (Fig. 1) trägt ein System 
in d gelenkig verbundener Achsen a 1( a 2 , a 3 . Die Winkel q>\, (p% usf. 
sind beliebig variierbar; hierdurch auch die Lage der einzelnen 
von a x ... usf. getragenen 
Reizhebel. Diese sind 
mittels längerer Führung 
und der Schraube auf 
je eine Achse verschiebbar, 
und rund um diese in je¬ 
dem beliebigen Neigungs¬ 
winkel fixierbar. Der Stift 
St, der den eigentlichen 
(elektromagnetisch ange¬ 
regten) Reizhebel trägt, 
ist durch in « 2 und s 3 
angebrachte Schrauben so¬ 
wohl bezüglich seines Ab¬ 
standes von . . . usf. 
als auch bezüglich des Überschneidungs winkeis von h und a l be¬ 
liebig einzustellen. Seine letzte Einstellung, passende Entfernung 
von S von der Haut, wird mit der Mikrometerschraube s, mittels 
welcher St gehoben und gesenkt werden kann, vorgenommen. Die 
Exkursion von h ist durch korkgepolsterte Stellschrauben (gs 1 und gs 2 ) 
variierbar, — hierdurch auch die Stärke des Druckes. Die auf die 
Haut anschlagende abgerundete Spitze S ist zum Zwecke passenden 
Anschlages bei Reizung auf unebenen Hautflächen und verschiedenen 
Stellungen von h, mit diesem in gelenkig verbunden. 

2) Für die Darbietung optischer Reize dient die gleiche Vor¬ 
richtung. In diesem Falle trägt h einen kleinen Schirm, der bei An¬ 
regung von Ä einen lichten Punkt abdeckt. Spitzenlager, Polsterungen 
usf. ermöglichen die stille Reizdarbietung. Elektromagnet, Gegen- 
zugsfedem usf. sind in obiger Figur der Einfachheit halber weg¬ 
gelassen worden. 

3) Neben diesen eben beschriebenen Reizhebeln kommen noch 
(Fig. 2) folgende Hilfsmittel in Betracht: 



Fig. 1. 


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78 


V. Bennssi, 



a) ein achtgliedriger Kontaktapparat {KR), bestehend aus acht 
um eine gemeinsame Achse drehbaren, durch Schrauben fixierbaren 
Fiberscheiben (1', 2'. .. 8'), deren eine Peripheriestelle, entsprechend 
einem Sektor von 8—10°, leitend ist und mit der Achse gleichfalls 
leitend verbunden wird. Tangential zu je einer der 8 Kontaktscheib¬ 
chen schleift je eine Kontaktfeder f lt / 2 .. . / 8 . Eine neunte Kon¬ 
taktfeder F besorgt die Stromzuleitung zur gemeinsamen Achse. 
Diese wird mittels Schnurlaufes in Rotation versetzt. Handelt es 
sich um Versuchsreihen mit zunehmender oder abnehmender Fre¬ 
quenz der Einzelreize, so wird die Drehung von KR am besten 
manuell bewerkstelligt, — bei konstanter Frequenz durch Motor 
mit Schneckentransmission oder Kymographionbetrieb. Jede Schleif¬ 
feder fi ... / 8 ist mit je einem Reizhebel ... s s , bzw\ dessen 
Magnet 1 ... 8 leitend verbunden. Zugleich wird 

b) zwischen je einer Schleiffeder und je einer Doppelklemme 
1" ... 8" am Kombinationsbrett K eine leitende Verbindung her¬ 
gestellt. Die Magnete 1 ... 8 sind nun außerdem gemeinschaftlich 
mit dem Markierungsraagnet MM” verbunden. Auf diese Weise 
wird die Frequenz der Reizhebelanregungen und somit der Reize 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter ScheiubeweguDgen. 79 

graphisch festgelegt; ihr Betrag wird durch eine Zeitmarkierung ZM 
der Ablesung zugeführt. Auf diese Weise wird die Frequenzveränder¬ 
ung bei Reihen mit zu- oder abnehmender Reizfrequenz fixiert. Der 
Zweck von K ist klar: benutzt man nur zwei Reizhebel und will man 
bestimmte Reizfolgen in konstanten zeitlichen Verhältnissen ohne 
Rücksicht auf die absolute Dauer der einzelnen Zwischenzeiten her- 
steilen, so wird 1 mit f lt 2 mit / 2 , f\ mit 1", dieses mit 3", 5", 7", 
/ 2 mit 2", dieses mit 4", 6", 8" verbunden. Die einzelnen Kontakt¬ 
scheiben 1'—8' werden sodann in der gewünschten relativen Lage 
der Kontaktstellen eingestellt. 

c) F und MM" sind mit der Stromquelle verbunden. Unterhalb 
von MM’ 1 ist ein zweiter Markiermagnet angebracht. Er ist mit 
einem der Vp. zur Verfügung stehenden Taster ( t ) verbunden. Auf 
diesem Taster kann die Vp. den Augenblick, in dem sich eine be¬ 
stimmte Erscheinung eingestellt hat, markieren; es ist dann aus 
den Eintragungen durch ZM und MM" sofort zu entnehmen, bei 
welcher Reizfrequenz dies der Fall war. 

d) Vor der Vp. ist nun der Dunkelkasten DK zur Darbietung 
optischer Reize aufgestellt. Die vordere Wand hat zwei oder mehrere 
kleine mit Seidenpapier überklebte, verschiebbare, durchgeschlagene 
Kreisscheibchen (4 mm Durchmesser). Hinter diesen rotiert (Hand¬ 
betrieb oder Motorbetrieb, je nachdem [vgl. oben]) eine Pappscheibe 
S mit ausgeschnittenem Sektor (8—10°). Die Achse dieser Scheibe 
ist mit einer Kontaktvorrichtung KF versehen. Bei jeder Scheiben¬ 
ganzdrehung weist sodann MM" einen Ausschlag auf. Die Frequenz 
der optischen Darbietung ist somit fixiert. Hinter S ist ein Matt¬ 
glas, hinter diesem eine Glühlampe angebracht. Außer den vorüber¬ 
gehend beleuchteten Punkten ist nichts zu sehen. 


4) Fig. 3 gibt ein Beispiel für die graphische Registrierung wieder. 
Die Vp. hatte hier Anfang und Ende einer jener langsamen 



Fig. 3. 


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80 


V. Benussi, 


haptischen Scheinbewegungen zu markieren, die sich bei sehr hoher 
Reizfrequenz einstellen 1 ). Die Dauer einer Hin- oder Herbewegung 
zwischen den Hautstellen m und % entspricht dem Abstand zweier 
Marken auf A, die Zwischenzeit zweier Reize, des einen in m, des 
anderen in t, dem Abstand zweier Marken auf B. Z- Zeitmarkierung. 
Die Linien 6 und b x geben einfache Reizfrequenzübertragungen wieder. 

5) Neben dieser Versuchsanordnung kommt noch folgende Vor¬ 
richtung für automatische Darbietung und unmittelbare Sukzession 
oder Gleichzeitigkeit von optischer und haptischer Scheinbewegungs¬ 
erweckung in Betracht. Als Beispiel diene eine Zusammenstellung 
aus drei Reizhebeln, bzw. drei sichtbaren Funkten (Fig. 4). Ein 



Strom wird zur Trommel eines Kymographions zugeleitet. Über 
einen Teil der Trommel ist ein Papiermantel KS gespannt. Kleine 
Ausschnitte k geben die Trommelfläche frei. Vor je einer Reihe 
solcher Ausschnitte ist eine Schleiffeder f x , / 2)3 angebracht. f x ist 
mit dem Magnet des Hebels S x und Schirmchen / 2 , 3 ent- 

1) VgL hierüber meinen Kongreßvortrag »Kinematohaptiache Sehein¬ 
bewegungen and Auffassungsumformung« in dem Bericht über den VL Kon¬ 
greß für exp. Psyoh. in Göttingen, Ostern 1914. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 81 

sprechend mit S 2 , s 2 oder, je nach Lage der Umschalter V , und u 2 , 
mit<S 3 und s 3 verbunden. Desgleichen ist die gemeinsame Zuleitung 
zu jS x .. . S 3 oder zu ... » 3 je nach der Lage (A, o) von U mit den 
Reizhebeln oder den mit Schirmchen versehenen sonst gleichen Hebel¬ 
vorrichtungen verbunden. Die Lämpchen L it L 2 , L 3 , wovon je 
eine den Punkt m , bzw. i und a beleuchtet, sind für sich geschaltet 
und brennen dauernd. Liegt V in A und dreht sich die Trommel, 
so werden die Hebel S x und S 2 (oder wenn durch u lf S 2 aus-, S 3 
aber eingeschaltet wird, S x und S 3 ), je eine Hautstelle m und » (oder 
m und a) affizieren. Dreht der VL. U nach o, so erfolgt jetzt eine 
optische Darbietung von m, i oder m, a, die in jeder Hinsicht der 
haptischen gleicht, und beliebig mit dieser alterniert werden kann. 
Ebenso leicht kann der VL. zwischen m-, i- und m-, o-Reizung 
alternieren, indem er u x bzw. u 2 verschiebt. 

Der untere Teil der Trommel ist mit berußtem Papier ( BS) über¬ 
zogen. Markierungen von seiten der Vp. werden durch die mit einem 
Taster verbundene Feder tf, Zeitmarkierungen durch 0 . 2 "-Uhr (SU) 
eingetragen. Verschieden ausgeschnittene Trommelmäntel, ver¬ 
schiedene Ausschnittreihen nebeneinander gestatten die Darbietung 
beliebiger, nach zeitlicher und Reizdauerzusammenstellung verschie¬ 
dener Reizfolgen. Da f 1 und / 2 ,3 verschiebbar sind, läßt sich ohne 
Unterbrechung zwischen verschiedenen Reihen abwechseln. Weitere 
Kombinationen liegen auf der Hand. Die Variationsfähigkeit der 
Reizstellen ist praktisch unbegrenzt. 



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82 


V. Benossi, 


6) Fig. 5 veranschaulicht die Zusammenstellung von 4 Reizhebeln 
bei Reizapplikation auf je einer Hand und Stirne. Vp. in liegender 
Stellung. 

Auf mehr Details einzugehen, erscheint überflüssig. Hier sei nur 
noch erwähnt, daß z. B. 7) durch Einschaltung eines Stromwenders 
(Fig. 6) eine Vertauschung der Reizdauer zwischen den Hebeln 3' 
und 2', oder je nach Lage des Umschalters in 1 oder 2, zwischen 3* 
und 1 - ohne weiteres zu bewerkstelligen ist. Ist die Schleiffeder /, 
über l mit 3, /* über k mit 2(i) verbunden, so dauert die Reizung 



durch den Hebel 3'länger als die durch 2'(1')> nach erfolgter Drehung 
des Stromwenders ist /, mit 2<i), f k aber mit 3 verbunden und hier¬ 
durch die Reizdauer auf den einzelnen Hautstellen oder die einzelnen 
optischen Darbietungszeiten (Fig. 4) vertauscht usw. 

So viel über die äußeren Hilfsmittel. Was die Durchführung der 
Versuche anlangt, ist das einschlägige bei der Besprechung der Er¬ 
gebnisse nachzusehen. Allgemeine Versuchsreihenschemata zu ent¬ 
werfen und bei allen Vpn. anzuwenden, wäre Pedanterie: die Ver¬ 
suche werden numerisch in dem Maße vorgenommen, welches durch 
die Beobachtungsfähigkeit der Vp. gefordert erscheint. 

Sind die Fragestellungen gewonnen, dann ist im gegenwärtigen 
Falle die Durchführung bis zur Selbstverständlichkeit bereits mit¬ 
gegeben. 

Ich sehe also von ermüdenden Auseinandersetzungen lieber ab. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 83 

zumal die Versuche selbst eine Art Entweder-Oder darstellen: es 
kommt darauf an, klare Erscheinungen auch klar zu beschreiben und 
nicht etwa aus » Versuchsprotokollen ein x zu bestimmen. Auch 
unterlasse ich Aussagen verschiedener Vpn. und gleichen Inhaltes im 
einzelnen anzuführen und teile nur Ergebnisse mit. 

Die Beteiligung und das rege Interesse vieler namentlich unter 
meinen Hörem und Hörerinnen haben mir ermöglicht, einen gewissen 
Einklang zwischen Absicht und Erfolg zu erreichen. 

Für dieses Seltene weiß ich allen meinen Vpn. 1 ) Dank. 


HI. Ergebnisse. 

A. Die 8oheinbewegung8dauer und die typisohen Erscheinungen 
bei xx- Abnahme und Konstans von gxjxx. 

1) Vorbemerkungen. Der Quotient qzjzz. Die Grenzen 
haptischer Scheinbewegungen und die Entwicklungsstufen 
der optimalen Bewegung. 

Bewegt sich ein Gegenstand in Wirklichkeit zwischen den Orten 
a und 6, dann sind dieser Bewegung bekanntlich nur bei Einhaltung 
besti mm ter Geschwindigkeitsgrenzen Bewegungserlebnisse zuge¬ 
ordnet. Überschreitet die Geschwindigkeit eine bestimmte untere 
Grenze, dann ist das Objekt als ruhig klar sichtbar, liegt sie oberhalb 
einer bestimmten oberen Grenze, dann ist das Objekt nicht mehr 
klar sichtbar, sondern es entsteht eine Farbenmischungserscheinung 
zwischen Objekt und Hintergrundfarbe, die sich in bestimmten Über¬ 
gängen von o bis b erstreckt. Erscheint nun ein Objekt o in a, dann 
ein anderes o' in 6, so entsteht ein Scheinbewegungserlebnis: 
o scheint sich zwischen a und b bzw. von a nach b, von b nach o zu 
bewegen. 

Die Zeit zwischen dem Erscheinen von o in o und Erscheinen von 
o' in b ist als Gesamtzeit (gz) der Reize zu bezeichnen. 

Die Zeit zwischen Aufhören des Vorhandenseins von o in a und 


1) FrL M. J. Auchentaller, Frl. C. Marega, Frl. J. Mazanowska, 
Prof. S. Witasek, Dr. J. Marx (jetztProfessor an der Musikakademie-Wien), 
Privatdozent Dr. E. Mally, R. Ferfoglia, C. Holzer, C. W. Glaser, 
F. Weber, E. H. Albert, M. de Difnico, H. Dumann, E. Antrieu, 
J. Hösler, H. Bischoff, Chormeister A. Passath (Blindgeboren), AGriso- 
gono, J. Jagodnik, R. Glondys, R. Kadje, und vielen anderen, mit 
denen ich nur Demonstrations- bzw. Kontrollversuche unternommen habe. 


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6* 

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84 V. Benussi, 

Vorhandenseinsbeginn von o' in b ist die eigentliche Zwischenzeit ( 22 ) 
der Reize. 

Handelt es sich um Bestimmungen der zeitlichen Grenzen solcher 
Scheinbewegungen, dann müssen diese zwei Zeiten streng auseinander 
gehalten werden: Die Zwischenzeit der Reize kann bis zur 
Größe Null sinken und darüber hinaus auch negative Werte auf- 
weisen, ohne daß dadurch die Erscheinung einer Schein¬ 
bewegung gestört wird. Darüber gibt der Abschnitt C. Auskunft. 

Eine genaue, derzeit freilich immer noch ausständige Bestimmung 
der oberen und unteren Scheinbewegungsgrenzen müßte daher in 
erster Linie dem Verhältnis gz/zz Rechnung tragen. 

Auf die Nichtbeachtung dieses Sachverhaltes sind die großen 
Verschiedenheiten der bisherigen anderwärtigen, wohl bloß als orien¬ 
tierend gemeinten Bestimmungen über diesen Punkt auf optischem 
Gebiete zurückzuführen. 

Auch die Gestalt der Bewegungsbahn der sich scheinbewegen¬ 
den Objekte ist dabei, was sich bisher der Beachtung größtenteils 
entzogen hat, zu berücksichtigen. 

Den Bestimmungen, die ich in diesem Zusammenhänge nur ganz 
kurz zu erwähnen habe, wurde daher ein konstantes Verhältnis 
von gz und zz zugrunde gelegt. Die Dauer der Reize war also ein 
konstanter Bruchteil der eigentlichen, ihrer absoluten Größe nach 
veränderlichen Zwischenzeit zz\ und zwar war gz/zz = */ 2 - 

Die Scheinbewegungsgrenzen waren, durch die Größe von gz 
ausgedrückt, gleich 160 o und 2200 o. Die obere Grenze ist schwan¬ 
kend und, wie für das optische Gebiet bereits konstatiert wurde, von 
der Übung abhängig. 

Diese Übung ist, wie sich dies aus vielen der in den folgenden Ab¬ 
schnitten zu verzeichnenden Erscheinungen ergibt, als Phrasie¬ 
rungsübung, als Übung im Zusammenschließen zu Komplexen an¬ 
zusehen: die obere Bewegungsgrenze ist zugleich die obere 
Phrasierungsgrenze 1 ). 

Die untere Grenze ist eine feste: für sie sind äußere Verhältnisse 
der Reize maßgebend. Für die obere Grenze geben dagegen, wie 
gesagt, nur in ne re Verhältnisse, d. h. verschiedene Verhaltungsweisen 
des Beobachters den Ausschlag. Über diese wird in einer besonderen 
Arbeit zu handeln sein. 

1) In Sachen der Phrasierung muß ich mich hier aus räumlichen Rück¬ 
sichten auf einen Hinweis auf meine früheren Versuche und Ausführungen in 
»Psychologie der Zeitauffassung«, Heidelberg, 1913, S. 99ff., 145ft, 165ff. 
(und Register) beschränken. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbeweg ungen. 85 

Zwischen den genannten Grenzen nun sind bei hingebender Ver¬ 
haltungsweise der Vp. im großen ganzen jene Erscheinungen an¬ 
zutreffen, die in den bisherigen Untersuchungen über optisch er¬ 
weckte Scheinbewegungen als Singularbewegung, als duale Teil¬ 
bewegung usw. bezeichnet wurden. 

Prinzipiell ist nun bezüglich dieser Erscheinungen zu bemerken: 
Singularbewegung und Teilbewegung sind wesentlich oder direkt 
nicht einer bestimmten Größe der Zwischenzeiten der Reize zuge¬ 
ordnet, sondern qualitativ voneinander verschiedenen Verhaltungs¬ 
weisen des erlebenden Beobachters: Eine kontinuierliche Bewegung, 
ich nenne sie Hin- und Herbewegung, zwischen den Hautstellen o 
und b ist ohne jede Veränderung der Zwischenzeiten in Singular¬ 
bewegung, Dualbewegung und Ruhe umzuwandeln. Eine isolie¬ 
rende Absicht gegenüber dem in a erfolgenden Eindruck wandelt 
eine Hin- und Herbewegung in eine Bewegung »Hin« (von o nach b) 
ohne »Zurück«, wobei auch der Fall vorkommt, daß die Berührung 
in b in einem Augenblick erfolgt, in dem das sich von o wegbewegende 
Etwas die Stelle b noch nicht erreicht hat. Eine isolierende Be¬ 
achtung der Berührungen in a und in b führt zu kleinen Bewegungen 
von zwei »Etwas« in symmetrischer Zueinander- und Auseinander¬ 
richtung und zur Ruhe; es werden mit anderen Worten zwei Folgen 
von Eindrücken, die eine in o, die andere in b erlebt. 

Verhält es sich mm so, dann sind wir in prinzipieller Hinsicht 
nicht berechtigt, in den Erscheinungen der Singular- und Dualbe¬ 
wegung Vor- oder Nachstadien des Bewegungserlebnisses, 
nämlich der Vorstellung einer Hin- und Herbewegung zu erblicken. 

Die ebengenannten Bewegungserscheinungen sind keine Entwick¬ 
lungsstadien der Bewegungsvorstellung (der Vorstellung einer opti¬ 
malen Bewegung), sondern in sich abgeschlossene, untereinander 
qualitativ verschiedene Erlebnisse, deren Verschiedenheit nicht 
in der größeren oder geringeren Annäherung zu einem bestimmten 
Erlebnis, dem Erlebnis der sogenannten optimalen Bewegung (also 
der Hin- und Herbewegung) zu suchen ist, sondern in qualitativen 
Verschiedenheiten der realisierten inneren Bedingungen, unter denen 
sich die Reizaufnahme vollzieht. 

Nur die Gegenstände der singulären und dualen Bewegungs¬ 
erlebnisse lassen sich in eine Reihe verschieden vollständiger Bewegung 
zwischen a und b einordnen. 

Diese Tatsache darf aber nicht dazu verleiten, dasjenige, was für 
die Gegenstände allein gilt, auf die Erlebnisse zu übertragen, durch 
welche jene Gegenstände vergegenwärtigt werden. Auch zwischen 


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86 


Y. Benussi, 


Grau und Weiß lassen sich Graunuancen zunehmender Helligkeit 
einreihen, deswegen aber wäre man nicht berechtigt zu behaupten, 
daß das Erlebnis »GrauVorstellung« eine Vorstufe des Erlebnisses 
»Weißvorstellung« sei. Das was hier gilt, gilt auch für den Bewe¬ 
gungsfall. 

Die Auffassung der Dual- und Singularbewegung als Zwischen¬ 
stadien zwischen den Erlebnissen von Ruhe und optimaler Bewegung 
ist nur die Folge einer bestimmten Hypothese bezüglich der Be¬ 
schaffenheit jener derzeit noch imbekannten physiologischen Vor¬ 
gänge, die den Bewegungserlebnissen entsprechen und sicher mit 
ihnen parallel verlaufen. Die Erlebnisse selbst dürfen aber nur auf 
Grund ihrer eigenen Aspekte und nicht im Hinblick auf Ähnlichkeiten 
oder Verschiedenheiten allfälliger, ihnen möglicherweise entsprechen¬ 
den physiologischen Prozesse, geordnet werden. 

Kehren wir nun zu den Beziehungen zwischen Bewegungserschei¬ 
nungen und Größe der Zwischenzeit zurück, so läßt sich sagen: 
Zwischen dieser und jenen besteht eine gesetzmäßige Beziehung, die 
Zwischenzeiten bestimmen aber nicht restlos die Art der erfaßten 
Scheinbewegung, bzw. den Ausfall des jeweiligen Erlebnisses, welches 
uns eine Bewegung bestimmter Art innerlich entgegen hält; sie er¬ 
wecken beim hinnehmenden Verhalten des Beobachters je nach ihrer 
Größe verschiedene Bedingungen der Reizaufnahme als Gruppierungen, 
Isolierung der Eindrücke durch die Aufmerksamkeit, bevorzugte Be¬ 
achtung des einen Eindrucks, Auffassung des Eindrucks an der einen 
Stelle als dem anderen über- oder untergeordnet, als Vor- oder Nach¬ 
takt usw., — vom Ausfälle dieser Aufnahmebedingungen hängt das 
Aussehen der erlebten Bewegungserscheinung ab. Zu dieser Be¬ 
hauptung berechtigt die Tatsache, daß man bei willkürlich auf eine 
bestimmte Art gestimmten Aufnahmebedingungen, ohne jede Ände¬ 
rung der Zwischenzeiten gesetzmäßig die eine oder die andere Be¬ 
wegungserscheinung erleben kann. 

Weil es sich so verhält, halte ich mich für berechtigt, 
die Scheinbewegungs - Vorstellungen als Vorstellungen 
außersinnlicher Provenienz 1 ) zu betrachten. 

Es würde aber ein völliges Verkennen meines Standpunktes be¬ 
deuten, wenn man den Gegensatz von Vorstellungen sinnlicher und 
außersinnlicher Provenienz zu einem Gegensatz vom Primären und 


1) VgL hierüber, von früheren Arbeiten abgesehen, meine »Gesetze der 
inadäquaten Gestaltauffassung« (Arch. f. d. ges*- Psych., Bd. XXXII, [1914], 
S. 397 ff., bes. S. 401—406). 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 87 

Sekundären umformen möchte. Meine Position besagt nicht mehr, 
als daß für die Entstehung bestimmter Vorstellungen auch Momente, 
innere Bedingungen, realisiert, aktualisiert sein müssen, die außer* 
halb der Reize und der ihnen direkt zugeordneten peripheren und 
zentralen Vorgänge stehen. Innere Bedingungen, von denen ich 
vorderhand glaube, daß sie realisiert sein müssen, damit jene hypo¬ 
thetischen zentralen Zwischenwirkungen der Reize, die man als 
Parallelvorgänge zu den Vorstellungen außersinnlicher Provenienz 
ansehen darf, Zur Entfaltung gelangen. 

Über die inneren Bedingungen von Scheinbewegungserlebnissen 
wird bei späterer Gelegenheit für sich noch eingehend zu handeln 
sein. Hier mögen noch an einigen Beispielen jene Erscheinungen 
veranschaulicht werden, die, wenn auch indirekt, so doch bei hin¬ 
nehmendem Verhalten der Vpn. den verschiedenen Zwischenzeiten 
der Reize gesetzmäßig zugeordnet sind. 

2) Die typischen Scheinbewegungserscheinungen. 

Einer Reihe abnehmender Zwischenzeiten bei konstantem Ver¬ 
hältnis qz/zz entsprechen (V. 5) folgende Ruhe- und Schein¬ 
bewegungserscheinungen (die zwei gereizten Hautstellen heißen a 
und 6; Ausgangsgröße von zz = 2000 a ): 

1) Irgend Etwas berührt a, ein anderes Etwas 6 (i). 
la) Die zwei Berührungen hängen zusammen (*). 

2) Das eine der zwei Etwas verläßt die von ihm berührte Stelle a 
in der Richtung nach der vom anderen Etwas berührten Stelle b. 
Das 6-Berührende weist auch eine Richtungsfärbung auf. Die zwei 
Etwas gehören irgendwie zusammen. Hat das a-Berührende diese 
Färbung »des die Stelle a in der Richtung nach b Verlassene«, so 
kommt nur ihm diese Färbung zu, während das b- Berührende nur die 
Färbung des gerichteten Eintreffens in der Richtung von a her zu 
eigen ist (*). 

3) Das a-Berührende kommt nach 6, verläßt es aber nicht, es 
berührt dann wieder die a-Stelle und kommt nach 6. Die 6-Stelle 
ist oft betont, sie »schließt ab«. Die zeitliche Reihenfolge der Be¬ 
rührungen in a, b, a ... usf., erscheint nicht gleichmäßig (ab zeit¬ 
lich > ha). Die Bewegung ist eine Bewegung »ohne Zurück«. 
(Diese Bezeichnung wird im folgenden als Terminus verwendet). 
Mitunter bleibt diese Bewegung aus: der Eindruck in b »kommt 
nicht im geeigneten Augenblick«, er paßt nicht in einen vorweg¬ 
gedachten Zusammenhang, er ist zu frühe oder zu spät da (4). 

4) Ein Etwas geht von a nach b, nach a, nach 6 ... usf., ziemlich 


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V. Beniuai, 


hoch durch die Luft: Hin- und Herbewegung. Der Abstand zwischen 
den berührten Stellen ist kleiner geworden. Die Berührungen sind 
rhythmisch, sie geben eine gleichmäßige, geschlossene Reihe (»). 

4a) Die Bewegungsbahn zu a her, weicht der zu 6 hin aus («). 

4b) Das berührende Etwas kehrt in a(6) nicht um, es geht 
nicht mehr »zurück«, sondern beschreibt berührend eine kleine 
Schleife, so daß es sich, ohne eigentlich umzukehren, nach a (b) 
fortbewegt (»). 

4c) Die plötzliche Richtungsänderung ist gänzlich verschwunden. 
Das Etwas bewegt sich im Kreis und berührt während einer Kreis¬ 
bewegung an zwei Stellen die Haut. Die Ebene der Kreisbewegung 
ist öfters senkrecht als geneigt oder horinzontal. Ist sie senkrecht, 
so geht die Bewegung durch den Arm (durch die Stirne, Handfläche); 
das sich bewegende Etwas berührt die Haut in a von oben, in b von 
unten kommend (s). 

4d) Die Richtung der Kreisbewegung hat nach einer kleinen, 
kurzdauernden Bewegungsunklarheit umgeschlagen. War die 
frühere Bewegung dem Uhrzeiger entsprechend, so fällt sie jetzt 
gegen den Sinn des Uhrzeigers aus. Die Kreisbewegung erscheint 
etwas langsamer als die Hin- und Herbewegung (trotz Gleichheit 
der Zwischenzeiten) (t). 

Die Erscheinungen («) bis (») wechseln, sie lösen sich ab. Einige 
davon werden von bestimmten Vpn. bevorzugt. Alles dies natür¬ 
lich bei der Zwischenzeit von 4). 

4e) Die Berührung in a erscheint als stetig, zu ihr her und von 
ihr weg nach b bewegt sich Etwas. Es sind also zwei »Etwas « gegeben, 
davon berührt das eine ständig oder in bestimmten kurzen Zeiten 
die Stelle o, während sich das andere Objekt zwischen a und b bewegt, 
ohne in o die Haut zu berühren (••). 

5) Rasche Kreisbewegung. Ein »kleiner Kreis« (n). 

5a) Rasche Hin- und Herbewegung. »Kleiner Abstand«. Die 
Stellen a und b liegen (scheinbar) schon sehr nahe aneinander. Das 
sich bewegende Etwas streift ständig die Haut oder bewegt sich 
»an der Haut«, ohne sie ständig zu berühren: Streifbewegung (**). 

6) Ein Etwas neigt sich nach a und b abwechselnd hin und berührt 
abwechselnd je eine Hautstelle. Der Abstand ist bereits sehr klein; 
er beträgt etwa ein Sechstel und noch weniger des Abstandes bei 4). 
(Objektiv ist die Entfernung der zwei Hautstellen überall die gleiche): 
Schaukel-, Ankerbewegung (is). 

7) Es ist keine Bewegung mehr da. Das eine Etwas klopft oder 
tickt rasch nur auf eine etwas ausgebreitete Hautstelle. (Diese wird 

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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


89 


zwischen a und 6 lokalisiert; meistens wird sie durch Hinzeigen ohne 
hinzuschauen ziemlich genau in der Mitte zwischen a und b ange¬ 
geben) (m). 

7a) Bei Abständen a-b, die größer als 14 cm sind, ist 7) durch die 
Erscheinung zweier die Haut in a und b berührenden Etwas ver¬ 
treten (w). Die Berührungen sind ständig oder sie folgen rasch 
einander. Hat sich eine so beschaffene Trennung vollzogen, so geht 
sie in folgende neue Erscheinung über: 

8) Ein Etwas verläßt in a die Haut, geht an der Haut oder durch 
die Luft nach b und von b nach a zurück (i«). Die Bewegung ist 
sehr langsam, mitunter langsamer als bei 4); sie kann bequem 
etwa durch Bewegung der anderen Hand nachgemacht, bzw. mar¬ 
kiert werden 1 ). 

Eine zz = etwa 100 a führt also wieder zur Bewegung, 
nachdem sie zur Buhe geführt hatte. 

Der progressiven Abnahme von zz bei unverändert bleibenden 
yz/zz sind also sechzehn charakteristisch verschiedene Er¬ 
scheinungen zugeordnet. 

Die ersten fünfzehn davon sind mit Ausnahme von Erscheinung 
(14) auf optischem Gebiete wiederzufinden. 

Möglicherweise gelingt es anderen Vpn., noch weitere Erscheinungs¬ 
differenzierungen zu fixieren, als es meinen gelungen ist. 

Was die Beziehungen zwischen Bewegungsdauer und -große an¬ 
langt, ist auf optischem Gebiete noch auf folgende Erscheinung hin¬ 
zuweisen : Vollzieht sich zwischen o und b eine Bewegung, so erstreckt 
sie sich sowohl über a als auch über b hinaus. D. h. der leuchtende 
Punkt, der sich von a nach b, nach a usf. bewegt, geht bei größeren zz 
deutlich über a und b noch eine gute Strecke hinaus. Davon kann 
man sich überzeugen, wenn man etwas rechts von b unmittelbar 
nach Eintritt des leuchtenden Punktes in 6, einen neuen hellen Punkt 
aufleuchten läßt: dieser erscheint dann nicht außerhalb, sondern 
innerhalb des Bewegungsfeldes a—b 2 ). Über die inneren Bedin¬ 
gungen dieses hier nur wegen des Zusammenhanges mitgeteilten 
Versuches wird von anderer Seite an anderer Stelle berichtet. Es sei 
hier erwähnt, daß diese Erscheinung der »Überschreitung« des s.z.s. 

1) Und graphisch fixiert werden. VgL oben Figur 3, wo A die Dauer der 
Hin- und Herbewegung und B die Reizfolge (sukzessive Berührungen in a 
und b) wiedergibt. 

2) Übereinstimmendes fand auch A. Gelb gelegentlich seiner Versuohe 
über Raum- und Zeitvergleich, über die er beim VI. Kongreß der Ges. f. exp. 
Psych. in Göttingen (April 1914) berichtete. 


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V. Benossi, 


objektiven Bewegungsfeldes, zu denjenigen gehört, die im Sinne der 
Annahme Wertheimers spricht. Auf haptischem Gebiete konnte 
diese Erscheinung nicht festgestellt werden: der Abstand der be¬ 
rührten Stellen wird bei zunehmenden zz wohl scheinbar größer, 
aber es findet keine Überschreitung statt. 

Hat man einen Einblick in die Mannigfaltigkeit der bereits bei 
Reizung von nur zwei Hautstellen anzutreffenden Erscheinungen 
gewonnen, so wird man auch die Größe des im ganzen zu bearbeitenden 
Gebietes einigermaßen richtig einzuschätzen vermögen. Die Be¬ 
ziehungen dieser ersten Gruppe von Phänomenen zur Größe des 
Quotienten gzjzz , die Beziehungen zu Stärkeverschiedenheiten der 
Reize, zur Qualität des Hauteindruckes, zur haptischen Differenziert¬ 
heit der gewählten Hautfläche müßten zunächst einer genauen Unter¬ 
suchung unterworfen werden. Dann erst kämen mehrgliedrige 
Komplexe in Betracht. Bereits die Einführung einer dritten Reiz¬ 
stelle führt zu den verschiedenartigsten Komplikationen 1 ), von jenen 
ganz abgesehen, die sich bei gekreuzten und entgegengesetzten Be¬ 
wegungen einstellen. Bei jeder einzelnen Erscheinung wären des 
weiteren deren Beziehungen zur Verhaltungsweise, zur vorweg¬ 
nehmenden Absicht, zur Aufmerksamkeitsbewegung, zur zusammen¬ 
hangstiftenden Betrachtung auf Grund geübter sorgfältigster Selbst¬ 
beobachtung zu präzisieren. Diese Arbeit muß nach und nach be¬ 
wältigt werden. Sie verspricht nicht nur eine Lösung theoretischer 
Fragen speziell in der Bewegungsangelegenheit, sondern im allge¬ 
meinen eine Annäherung zur Lösung allgemeiner Probleme, die die 
Grundlagen und Grundbedingungen unserer Vorstellungserlebnisse 
und hiermit die Wahrnehmung kurzweg betreffen. 

Das, was ich in den folgenden Ausführungen bringe, ist der Ver¬ 
such einer genauen Analyse dieser einen einzigen Erscheinung: 
»Bewegung zwischen zwei Hautstellen«. Trotz dieser kaum noch 
enger zu gestaltenden Einschränkung wird dieser mein Versuch 
kaum einen anderen Eindruck als den des fragmentarischen billiger¬ 
weise erwecken. Der Grund liegt auf der Hand: alle Erscheinungen 
hängen innigst zusammen und eine komplexere kann mitunter erst 
die Einsicht in eine einfachere ermöglichen. 

Dies ist aber überall dort der Fall, wo Erlebnisanalysen in Frage 
stehen. 


1) Einiges hierüber habe ich beim VL Kongreß der Ges. f. exp. Psycho¬ 
logie in Göttingen vorgetragen. (Vgl »Bericht ü. d. VL K.«, Leipzig, 1914, 
S. 30—35.) 


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Veraacho zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


91 


B. Die Soheinbewegungs große und die Beziehungen awisohen 
Erreiohungezeiten und Wiederholung. 

1) Die Scheinbewegungsgröße. 

Die Scheinbewegungsgröße ist eine Funktion des räumlichen 
Abstandes der berührten Hautstellen und des zeitlichen 
Abstandes der alternierenden Reize 1 ). Der Abstand dieser 
bestimmt zum Teil die scheinbare Größe des räumlichen Abstandes 
jener. Diesem scheinbaren Raumabstand entsprechen zunächst die 
Bewegungsgrenzen, d.h. der Abstand jener zwei Hautstellen, zwischen 
welchen sich »Etwas« bewegt. 

Die Bewegungsbahn fällt mit diesem Abstande nur in jenen 
Fällen zusammen, in welchen die Bewegung sich an der Haut gerad¬ 
linig von einer Stelle zur anderen zu vollziehen scheint. 

Dies ist aber nicht immer der Fall und tritt gesetzmäßig nur 
dann auf, wenn man eine einmalige Bewegung, etwa von m nach i, 
vor sich hat und die Zwischenzeit der Reize eine an sich tiefliegende 
obere Grenze nicht überschritten hat. 

Unter Voraussetzung gleicher Bewegungsdauer ist die Größe 
einer haptisch erweckten Scheinbewegung (nichts anders als ihre 
Richtung, vgl. unten sub D, 6: Die Inversion der Scheinbewegungs¬ 
richtung) zunächst von der Lokalisation der gereizten Hautstellen, 
dann aber, wie zu erwarten 2 ), von der haptischen Differenziert¬ 
heit der gereizten Hautgegenden abhängig: Werden zwei Punkte 
auf der Stirne und zwei gleichentfernte auf dem Vorderarm gereizt, 
so ist die scheinbare Bewegungsgröße im ersten Falle weit größer 
als im zweiten, werden aber die Spitzen beider Mittelfinger berührt, 
so ist die Größe der Bewegung von dem scheinbaren Abstande der 


1) Im allgemeinen sei hier in Erinnerung gebracht, daß zwischen optischen 
und haptischen Scheinbewegungen bezüglich der Überschreitung der Reiz« 
stellen duroh das sieh scheinbewegende Etwas insofern ein Unter¬ 
schied besteht, als ein solches Über-das-Ziel-greifen, wie es bei optischen 
Punktversuchen nahezu immer (bei kleineren gz) der Fall ist, auf haptischem 
Gebiete nicht festzustellen war. Über dieses Über-das-Ziel-greifen des 
sich bewegenden Gegenstandes finde ich in der bisherigen Literatur selt¬ 
samerweise keinen Hinweis. Übereinstimmendes hat nur A. Gelb (Berioht 
ü. d. VL Kongr. d. D. Ges. f. exp. Psych.) kurz berichtet. 

2) Man vergleiche über die Beziehungen zwischen scheinbarer Größe einer 
haptisch vermittelten Raumdistanz und Eigenart der gereizten Körpergegend 
in erster Linie A. Gemelli, II metodo degli equivalenti, Firenze 1914, namentL 
S. 83 ff. (Darüber ist im allgemeinen meine Besprechung im Arch* f. d. ges. 
Psych., Bd. XXXII, S. 42ff. des Literaturber. nachzusehen.) 


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V. Benussi, 


beiden Hände abhängig, so wie eine einmalige Scheinbewegung 
zwischen den Spitzen gekreuzter Finger ihrer Richtung nach gemäß 
der invertierten Lokalisation selbst invertiert wird. 

Wichtiger als diese Erscheinungen sind die Tatsachen der so zu 
nennenden praktischen Unbegrenztheit haptischer Schein¬ 
bewegung (V. 6), sowie der Unabhängigkeit der zeitlichen 
Bewegungsgrenzen von der Bewegungsgröße (V. 7). 

Mit dem Ausdrucke »Unbegrenztheit« bezeichne ich die Tatsache, 
daß sich bei alternierender Reizung zweier Hautstellen, mit einer 
sofort zu erwähnenden Einschränkung, die jedoch nur scheinbar 
dieser Unbegrenztheit widerspricht, unter allen Umständen, also 
auch bei maximaler Entfernung, wie die Entfernung der Mittelfinger- 
spitzen bei maximal abduzierten Armen, Bewegung zwischen den 
gereizten Stellen zeigt. 

Diese, sagen wir, maximale Bewegung tritt dann nicht auf, wenn 
die haptischen Eindrücke als voneinander unabhängige Folgen 
von Berührungen erlebt werden, gleichviel ob sich dieser Eindruck 
von selbst einstellt, oder den Erfolg einer bewußten, auf dessen Ge¬ 
winnung zielenden Absicht von seiten der Vp. darstellt (V. 8). 

Unter meinen Vpn. gab es einige, bei denen diese maximale Be¬ 
wegung nicht zu erzielen war, Bewegung war aber sofort vorhanden, 
wenn die Hände nebeneinander gestellt wurden, wenn, 
von der Seite des Erlebnisses aus betrachtet, die Reizung an Stellen 
erfolgte, die sich zu einem räumlichen Nebeneinander, zu einer Gruppe 
zusammenschlossen (V. 8a). 

Diese Erscheinung ist nicht nur im Hinblick auf die an anderer 
Stelle zu erwähnenden Versuche über die inneren Bedingungen von 
Scheinbewegungen von Wichtigkeit, sondern auch deswegen, weil 
sie bereits einen Hinweis auf die Rolle enthält, die (im Gegensätze 
zu den Verhältnissen der Reize) den »phänomenalen Aspekten« (die 
entfernt diesen Reizen zugeordnet sind) zukommt. 

Auch ist der Umstand zu beachten, daß bei Vpn., die keine maxi - 
male Bewegung erleben, ohne Änderung der gereizten Hautstellen, 
sondern nur durch Änderung ihrer Lokalisation im Raume eine Be¬ 
wegung zu erzielen ist. Bei unverändert bleibenden physiologi¬ 
schen Reizleitungsmomenten, sowie zentralen Erregungsz wischen- 
wirkungen kann also sowohl Bewegung als auch Ruhe erreicht 
werden. Maßgebend ist die Lokalisation: gestattet sie eine einheit¬ 
liche Auffassung der gereizten Stellen und hierdurch der Eindrücke, 
dann ist Bewegung vorhanden, schließt sie eine solche aus, dann ist 
nur Ruhe anzutreffen. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


93 


Was nun die berührte Unabhängigkeit der zeitlichen Bewegungs¬ 
grenzen von der Bewegungsgröße anlangt, ist folgendes zu verzeichnen: 
Die Erreichungszeiten für die Hauptformen der Be¬ 
wegungserscheinungen sind vom räumlichen Abstande 
der gereizten Hautstellen unabhängig. Die Schwankungs¬ 
breiten der Erreichungszeiten sind von der Einstellung abhängig. 
Diese kommt in nennenswertem Maße m. W. n. nur bei jener Form 
von Bewegung, die sich bogenförmig von der einen Stelle in die 
andere schwingt, zum Vorscheine. 

Ich führe ein konkretes Beispiel zu je einer dieser Aufstellungen an. 

2) Über die Beziehungen «wischen Größe und Erreichungs- 
zeifc einer Scheinbewegung bei größerer Wiederholungs - 

zahl. 

Ich untersuche die Erreichungszeiten für haptische Scheinbewe¬ 
gung, indem ich von einer zu großen (o) oder zu kleinen (6) Zwischen¬ 
zeit, also von solchen zz ausgehe, die keinen Bewegungseindruck 
bedingen. 

Der Ausgangseindruck ist im erstgenannten Falle (o) immer 
der zweier ruhenden unabhängigen Berührungen an jenen Haut¬ 
stellen, zwischen denen bei Erreichung einer bestimmmten Ver¬ 
ringerung der Zwischenzeiten zunächst Bogenbewegung, dann bei 
einer weiteren Verringerungsgrenze Streifbewegung zu konstatieren 
ist. Eine weitere Verringerung der Berührungszwischenzeiten führt 
dann, wie gesagt, bei Hautstellenabständen unter 14 cm zum Ein¬ 
druck einer raschen Berührungsfolge an einer ein¬ 
zigen Hautstelle, während bei Hautabständen über 
14 cm der Eindruck einer raschen Berührungsfolge 
je einer der getrennt lokalisierten Hautstellen er¬ 
weckt wird. 

Im zweitgenannten Falle (b) sind diese zuletzt 
genannten Eindrücke die ersten; ihnen folgen bei 
progressiver Zunahme der Zwischenzeiten die Streif- 
bewegungs- und die Bogenbewegungseindrücke, von 
den übrigen oben (V. 5) konstatierten Zwischen¬ 
erscheinungen abgesehen. 

Ich bestimme nun die Erreichungszeiten je 
einer dieser Eindrucksarten, von großen und kleinen Zwischenzeiten 
ausgehend, und erhalte beispielsweise (Vp. M. J. A.) die in Fig. 8 
wiedergegebenen Werte, die die Mittelwerte aus den bei jeder Art 
des Verfahrens erhaltenen Grenzwerten darstellen. 



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V. Benossi, 

Die einzelnen Punktabstände sind zu diesem Zwecke nicht hinter¬ 
einander, sondern entweder an verschiedenen Tagen oder getrennt 
durch größere Pausen zu untersuchen. Aus leicht einzusehenden 
Gründen der Einstellungsvermeidung usf. 

Die mittleren Erreichungszeiten für Bogenbewegung sub¬ 
jektiv optimaler Art waren für das hier angeführte Beispiel, welches 
zugleich jenes ist, bei dem sich die größten Schwankungen gezeigt 
haben, für die Abstände (gereizt wurden Hautstellen entlang der in 
Fig. 7 eingetragenen schwarzen Geraden) 

= 3, 4, 5, 6, 8,12 und 20 cm bezüglich 
= 432, 360, 440, 620, 520, 452, 480 o (jeder Wert ist ein 
Mittel aus 80 Bestimmungen) [Fig. 8 a]; 
die Erreichungszeiten für die sogenannte Streifbewegung an 
der Haut bezüglich 

= 260, 250, 250, 240, 260, 250 a [ß]; 
die Erreichungszeiten für »eine Berührungsfolge an einer« 
oder »an je einer Hautstelle« waren 

= 112,120,112,100, 90,100,110 a \y\ (V. 9.) 

Diese Werte sind der Übersicht halber 
im nebenstehenden Diagramm unter a, ß 
und y vereinigt. 

Jener räumliche Abstand, bei dem die 
Reduktion auf eine Berührungsfolge auf 
einer Hautstelle bei Zwischenzeiten unter 
rund 100 o nicht mehr stattfindet, ist zu¬ 
gleich auch jener, bei dem ich keine Streif¬ 
bewegung konstatieren konnte, — daher 
weist die Kurve ß für 20 cm keinen Wert 
auf. 

Versuch 9 zeigt, daß die Erreichungs¬ 
zeiten für bestimmte Formen opti¬ 
maler Bewegungen unabhängig sind 
vom räumlichen Abstande der ge¬ 
reizten Hautstellen. So haben auch 
Versuche bei Reizung zweier Stellen des 
linken Armes in einem Abstande von 4 cm 
und bei Reizung von zwei Stellen im Abstande von 70 cm und 140 cm 
(Fingerspitzen oder Handrücken bei maximal abduzierten Armen), 
wenn unter gleichen Einstellungsbedingungen, also etwa hinter¬ 
einander vorgenommen, genau gleiche Erreichungswerte ergeben 
(Vp. J. M.). 

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Versuche cur Analyse taktil erweckter Schelnbewegungen. 


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Diese Tatsache mahnt zur Vorsicht gegenüber Hypothesen über 
die physiologischen Begleit- oder Ursprungsvorgänge beim Erleben 
haptischer Bewegringseindrücke: eine von einer zentralen Stelle zur 
anderen hin und her flutende Erregung müßte ja für größere Wege 
größere Zeiten brauchen; die Erreichungszeiten müßten daher mit 
der Größe der räumlichen Abstände selbst meßbar zunehmen 1 ). 

Eine Erscheinung, die für sich genauer zu untersuchen wäre, sei 
hier noch erwähnt; sie betrifft den Einfluß der Wiederholung 
auf die Größe der Erreichungszeiten für Bogenbewegungs¬ 
erscheinungen. 

Für die Äußerungsform dieses Einflusses scheint die Größe des 
Abstandes der zwei gereizten Hautstellen nicht indifferent zu sein, 
es müssen vielmehr mit der Größe dieses Abstandes bestimmte Ver¬ 
änderungen im inneren Verhalten der Vp. Hand in Hand gehen, 
deren sicher dankenswerte Analyse eine Frage für sich darstellt, 
auf welche ich jedoch aus äußeren Gründen nicht näher eingehen 
konnte. 

Ich führe hier nur als Anregung folgende Beispiele an: 

Nimmt man hintereinander etwa 20 Bestimmungen der Errei¬ 
chungszeit von Bogenbewegung für die räumlichen Abstände 
8 und 12 cm vor, und zwar in getrennten Serien für den Übergang 
von sehr großen auf kleinere und von sehr kleinen auf größere Zwischen¬ 
zeiten, so findet man zunächst im allgemeinen, daß die Erreichungs¬ 
zeiten unabhängig vom Ausgangseindruck (also unabhängig 
davon, ob man von zu großen oder zu kleinen Zwischenzeiten aus¬ 
gegangen war) von Fall zu Fall größer werden, im beson¬ 
deren aber, daß für den Abstand von 8 cm alle Werte, die dem 
einen Ausgangseindrucke entsprechen, höher liegen als 
alle dem anderen Ausgangseindrucke zugeordneten, daß 
aber die Werte der zwei Reihen für einen Abstand von 12 cm nahezu 
vollständig zusammenfallen. 

Die Erreichungszeiten für Streifbewegung werden da¬ 
gegen durch Wiederholung nicht eindeutig beeinflußt. 

Die Wirkung der Bewegungsgröße scheint gleichfalls in der Be¬ 
gründung einer Tendenz zur Zu- oder Abnahme der in Rede stehen¬ 
den Erreichungszeiten zur Geltung zu kommen: für einen räumlichen 
Abstand von 8 cm nimmt die Erreichungszeit für Streifbewegung beim 
Ausgange von zu großen Zwischenzeiten von Fall zu Fall etwas zu, 
im entgegengesetzten Falle aber ab. (V. 10.) Ich stelle nun in den 


1) Dies ist namentlich zu Wertheimers Hypothese hervorzuheben. 


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V. Benassi, 


antenstehenden Diagrammen (Fig. 9 und 10) je 20 hintereinander ge¬ 
wonnene Erreichungszeiten für Bogenbewegung und zwar für die 
räumlichen Abstände 8 cm (Fig. 9) und 12 cm (Fig. 10) zusammen. 



Fig. 9. 


<j 



Die o-Kurve bezieht sich auf den Ausgang von zu großen, ß von 
zu kleinen Zwischenzeiten. 

Da mein Material trotz seiner Größe m. E. zu einer genauen 
Präzisierung der durch innere Momente der Verhaltungsweise kom¬ 
plizierten Verhältnisse zwischen Erreichungszeiten, räumlichen Ab¬ 
ständen der gereizten Hautstellen, Wiederholung und Lage der Aus¬ 
gangszwischenzeit nicht hinreicht, beschränke ich mich auf die 
Wiedergabe der obigen Beispiele, die hoffentlich anregend genug sein 
werden, um andere zur genauen Analyse der hier nur gestreiften 
Beziehungen zu ermutigen. 


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Vergliche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


97 


3) Bewegungsgröße und Bewegungsdauer. 

Was nun die Größe einer Scheinbewegung anlangt, ist noch 
einmal ausdrücklich auf deren Abhängigkeit von der Bewegungsdauer 
bzw. von der Größe der Zwischenzeiten hinzuweisen. Mit der Ab¬ 
nahme der Dauer einer Scheinbewegung geht eine Ab¬ 
nahme ihrer Größe oder Weite Hand in Hand. Diese Ab¬ 
nahme kann bis zur Aufhebung des Distanzeindruckes fort¬ 
schreiten, in welchem Falle — wie berührt — nur eine rasche Folge 
von Berührungen an einer zwischen den zwei in Wirklichkeit ge¬ 
reizten Hautstellen lokalisierten Stelle zu konstatieren ist. Liegen 
die gereizten Stellen in einem größeren Abstande (für den Vorderarm 
etwa in einem mehr als 14 cm betragenden), so fällt die letztgenannte 
Verschmelzung weg, die Bewegungsgröße verringert sich aber bis 
auf 2 cm und noch weniger und hört dann auf, indem die zwei Be¬ 
rührungsstellen rasche Druckfolgen aufweisen. 

Ist dieses Stadium erreicht, so ist eine Kücklokalisation ent¬ 
sprechend der Bewegungsgröße bei mittlerer Größe der Zwischenzeit 
nicht selten der Fall. Ist zum Beispiel Bewegung vorhanden zwischen 
rechter und linker Hand (die Hände ruhen auf den Armlehnen eines 
Liegestuhles), so erscheint die Weite einer Bewegung, die die zwei 
objektiv 75 cm voneinander entfernten Hände verbindet, nicht 
größer als 30 bis 35 cm zu sein, während der räumliche Abstand der 
zwei Berührungen, wenn keine Bewegung vorliegt, ziemlich genau 
geschätzt wird. 

Auch hier liegt eine Anzahl erst genauer zu untersuchenden Mo¬ 
mente vor. 

An dieser Stelle ist nur auf die innige Wechselbeziehung 
zwischen Zeit- und Raumvorstellungen hinzuweisen, die 
sich dann im besonderen Maße Geltung verschafft, wenn beide 
Momente an einem und demselben Erlebnis nicht nur be¬ 
teiligt sind, sondern es durch eine Art Verschmelzung 
bestimmen. Eine solche Verschmelzung tritt im Bewegungsfalle, 
wo wir eine Gestalt vor uns haben, die sowohl eine Raum- als 
auch eine Zeitgestalt ist, auf. 

Es scheint sich nicht nur die kürzer dauernde Be¬ 
wegung über einen kürzeren Weg zu erstrecken, sondern 
auch die über die objektiv kürzere Strecke sich voll¬ 
ziehende Bewegung scheint kürzer zu dauern und daher 
schneller zu sein, als eine andere sich über einen größeren 
Weg erstreckende. Näheres hierüber weiter unten sub D, 1) 

Archiv für Psychologie. XXXVI. 7 


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98 


V. Benussi, 

und 2). Zeit- und Raumbestimmungen beeinflussen sich 
also gegenseitig im Sinne der Ausgleichung (V. II) 1 ). 

So wie zu einer gegenseitigen Beeinflussung von subjektiven Zeit- 
und Raumdaten eine beide einschließende Gestaltvorstellung, 
die Bewegungsvorstellung, die beste Gelegenheit bietet, so bietet die 
Vorstellung einer räumlichen, komplexen Gestalt die beste Gelegen¬ 
heit zu gegenseitigen Beeinflussungen der Gestaltkompo¬ 
nenten, — wie sich aus der Abhängigkeit der sogenannten geome¬ 
trisch-optischen Täuschungen von der Gestaltauffassung ergibt. 

G. Die Soheinbewegungsseit. Bedeutung der phänomenalen 

Aspekte. 

1) Die Scheinbewegungszeit bei haptischer Darbietung. 

Sind m und i zwei Hautstellen, etwa des Vorderarmes, so entsteht 
bei alternierender Reizung derselben eine Scheinbewegung, deren 
Grenzen, bzw. Größenverhältnisse durch den subjektiven Abstand 
von m und i bestimmt werden. 

Es fragt sich nun: während welcher Zeit vollzieht sich 
diese Bewegungl 

Wer über eigene Erfahrungen auf optischem Gebiete verfügt, 
wird nicht weniger sicher als der gänzlich Unerfahrene meinen, die 
erlebte Scheinbewegung werde sich und müsse sich ja während der 
Zwischenzeit zwischen je zwei reizvermittelten Eindrücken voll¬ 
ziehen. 

Es verhält sich jedoch nicht so. Der experimentelle Nachweis 
dafür, daß 

a) die Zwischenzeit zweier Eindrücke nicht die Scheinbewegungs- 
zeit ist, und daß 

b) diese Zwischenzeit nur eine relativ nebensächliche Bedingung 
für die Entstehung und die Dauer einer haptisch vermittelten Schein¬ 
bewegung ist, ist leicht zu erbringen. 


1) Mit dem Gesagten stimmen sowohl meine älteren Versuche (Arch. f. 
d. ges. Psych., Bd. IX, S. 408ff.), sowie die von A. Gelb beim VI. Kongreß 
der D. Ges. f. exp. Psych. in Göttingen 1914 mitgeteilten schönen Versuche 
über Baum, und Zeitvergleichung bei optischer Objektdarbietung bestens 
überein. (VgL den Kongreßbericht S. 36ff. und S. 159f. [Diskussion].) Be¬ 
züglich der Bedingungen räumlicher Ausgleichung vgl. man meine Beiträge zur 
»Psych. d. Gestalterfassung« (in »Beiträge zur Psych. u. Gegenstth.«, hg. 
von A. Meinong, Leipzig, Barth, 1904, Nr. V.) 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 


99 


a) Objektive Eindrackszeit als subjektive Bewegungszeit (V. 12). 

Wird eine Zwischenzeit von der Dauer dz (= 100 o) mit einer 
Reizdauer dr (= 100 a) alterniert, so erlebt man, wenn der räumliche 
Abstand der zwei gereizten Hautstellen die Größe von 14—16 cm 
nicht überschritten hat, nicht eine Bewegung, sondern eine inter¬ 
mittierende oder gar dauernde etwas zitternde Berührung an einer 
einzigen Stelle (vgl. V. 5). Diese wird ungefähr in der Mitte der ge¬ 
reizten Stellen lokalisiert. Alterniert man nun die gleiche Zwischen¬ 
zeit (= 100 o) mit einer Reizdauer von 900 a, so entsteht eine 
schöne ruhige Bewegung, deren subjektive, markierte Zeit 600 (bis 
800 o) beträgt (z. B. My. Rh. 1, 8 u. 4; Bl. Rh. 1, 1). 

Die Eindruckszeit, d.h. die Zeit derReizwirkung (bzw.-dauer) 
kommt also subjektiv größtenteils als Bewegungszeit zur 
Geltung: Zwischenzeit und Bewegungszeit decken sich 
somit nicht. 

Eine Scheinbewegung fängt also nicht in dem Augenblick an, in 
dem die periphere Reizwirkung aufhört, sondern viel früher: sie 
hängt nicht von der Zwischenzeit, sondern in erster Linie von den 
zeitlichen Abständen der Reizeinsätze ab. 

Bei gleichen zeitlichen Abständen der Reizeinsätze 
ist die Scheinbewegung von der Größe der Zwischenzeit, 
bzw. vom Verhältnis dieser Zeit zur Reizzeit, unabhängig. 
Dies beweist folgender Versuch. 

b) Subjektive Bewegungsbegrenzung durch objektive Zwischenzeiten 

der Reize (V. 13). 

Läßt man eine Zwischenzeit von 900 a mit einer Reizdauer 
von 100 a alternieren, so entsteht eine behagliche klare Schein¬ 
bewegung (V. 13), kehrt man die gewählten Verhältnisse um (V. 14), 
setzt man also die Zwischenzeit gleich 100 a und die Reizzeit gleich 
900, so ändert sich an der erlebten Bewegung nicht das 
geringste; sie ist im zweiten Falle nicht rascher als im erstgenann¬ 
ten, wiewohl die Zwischenzeit um das Neunfache kleiner geworden ist. 

Nur im Hinblick auf die Qualität der sie begrenzenden Eindrücke 
fallen diese zwei Scheinbewegungen auseinander. Die Berührungs¬ 
eindrücke (Endeindrücke) sind bei langer (= 900 o) Reizdauer und 
kurzer (100 o) Zwischenzeit doppelt, indem einer starken Berüh¬ 
rung eine leise unmittelbar vorangeht; — bei kurzer Reizdauer und 
langer Zwischenzeit sind die Endeindrücke dagegen einfach. 

Die doppelte Begrenzung entsteht wie folgt: Es heißen m und i 
die zwei gereizten Hautstellen. Das Aufhören des Druckes in m 

7* 


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100 


V. Benussi, 



wird als ein positiver Eindruck, als eine leise Be¬ 
rührung erlebt. Diese wird aber nicht in m, son¬ 
dern in i lokalisiert, wo 100 a nach Aufhören 
des Druckes in m der Druckreiz einsetzt. 

Während der Zwischenzeit der Reize wird also 
nicht eine Scheinbewegung erlebt, sondern nur die 
einseitige Begrenzung einer solchen; diese einseitige 
Begrenzung (etwa in m) ist aber zusammengesetzt 
aus Eindrücken, von welchen nur einer in m, der 
andere aber in i hervorgerufen wird, — wobei 
nicht zu vergessen ist, daß m und i 7 bis 14 cm 
voneinander entfernt sind. 

Die objektive Zwischenzeit der Reize, 
jene Zeit also, die sich vorgängig als die exklu¬ 
sive Bewegungszeit präsentiert, ist subjektiv 
zur Eindruckszeit, die objektive Ein¬ 
druckszeit zur subjektiven Bewegungszeit 
geworden. 

, Die erlebte Bewegung vollzieht sich nun für 
einige Beobachter zwischen den stärkeren Ein¬ 
drücken, so daß im Augenblick des leiseren Ein¬ 
druckes die Bewegung noch nicht aufgehört hat, 
für andere verbindet die Bewegung je zwei Kom¬ 
plexe von doppelten Begrenzungen. Daraus läßt 
sich erklären, daß mancher die Bewegung, die 
sich während der objektiven Reizdauer voll¬ 
zieht, für etwas rascher hält als diejenige, die 
die objektive Zwischenzeit ausfüllt. Da jedoch 
auch die entgegengesetzte Behauptung auftritt, 
läßt sich mit großer Wahrscheinlichkeit vermuten, 
daß die zwei hier zum Vergleiche herangezogenen 
Bewegungen bezüglich ihrer Geschwindigkeit kaum 
sicher zu unterscheiden seien. In Fig. 11 ist ein 
Teil einer graphischen Aufnahme wiedergegeben 1 ). 
An einigen Stellen sind nachträglich die Haut¬ 
stellen angegeben, auf welche die markierten Ein¬ 
drücke, die als doppelte oder einfache Be wegungs- 


1) Die Vp. markiert auf einem Taster Anfang und 
Ende je einer Bogenbewegung. In Fig. 11 « 2 s' Q d auch 
die Doppelbcgrenzungen markiert. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Seheiilbtewegäreen. *...'$01 

begrenzung aufgefaßt wurden, erfolgten. ^l)abvi:wuol<*ji <£bec,'-.i\iii'* 
erwähnt m—i' in i, i—m' in m lokalisiert, wiewohl m tatsächlich in 
der Hautstelle m und nicht in i, i tatsächlich auf der Hautstelle i 
erfolgte. Im eben besprochenen Versuche wirkten die zwei Reize so 
ein, daß, wenn m affiziert war, sich i in reizfreiem Zustande befand, 
und umgekehrt. Diesem Umstande kommt aber keine Bedeutung 
zu. Dies ergibt sich aus folgendem Versuche. 


c) Bewegung bei simultanen Begrenzungsreizen bzw. bei Reiz¬ 
überschneidung. 

Läßt man beide Reize mit kurzen Unterbrechungen gleichzeitig 
auf i und m einwirken, so entsteht, wenn die kurzdauernden Reiz¬ 
unterbrechungen nicht simultan sind, eine u. U. doppeltbegrenzte 
Scheinbewegung von der Dauer der Zwischenzeit zwischen einer Unter¬ 
brechung in i und der folgenden Reizunterbrechung in m: die Be¬ 
wegung (SB) von % zu m und umgekehrt vollzieht sich 
dann während der gleichzeitigen Reizung von m und i 
(V. 14). Fig. 12 (S s ) veranschaulicht die eben berührten Reiz¬ 
verhältnisse : durch dick gezogene Striche (dr) wird die R e i zdaue r an¬ 
gegeben. Auch diese Bewegung ist eine doppeltbegrenzte; die zwei 
Eindrücke aber, die je einer Begrenzung zugrunde liegen, gehören zu 
einer und derselben Reizstelle, anstatt sich auf beide zu verteilen, 
wie dies im vorhergehenden Beispiele der Fall war. So wie bei diesem 


c Ir dz 



—□-□-□- s« 

Fig. 12. 


erscheint auch im gegenwärtigen Falle das Aufhören des Druckes 
als positiver Druck. Darauf geht die Begrenzungsverdoppelung 
zurück. Bei Umkehrung der Verhältnisse zwischen Reizdauer und 
Unterbrechungszeit tritt keine Änderung der zu konstatierenden 
Scheinbewegung auf (V. 15, Fig. 12, <S 8 gegenüber S 6 ); der einzige 
Unterschied besteht darin, daß die Begrenzung nunmehr einfach 
ist. Jene Art Vortakt durch den plötzlichen Druckabbruch fällt ab; 
die Bewegung vollzieht sich zwischen eingliedrigen Druckmarken. 

Für das Gegebensein einer bestimmten Scheinbewegung 
ist also einerlei, ob sich die Reizzeiten oder die Zwischen¬ 
zeiten symmetrisch überschneiden. Eine Scheinbewegung 


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V. Benassi, 



crföljJt;di{t.^lfefcher- Klaiheit zwischen Reizabbrüchen, wie zwischen 
Reizeinsätzen. 

Eine Doppelbegrenzung (vgl. V. 14) tritt bei Überschneidung der 
Reizzeiten je einer Hautstelle nicht immer auf; oft ist auch u. d. U. 
die Bewegung eine einfachbegrenzte, so z. B. bei Vp. Be., wenn zwei 

Hautstellen der In¬ 
nenhand gereizt wer¬ 
den. In Fig. 13 gebe 
ich einen Ausschnitt 
aus einer graphischen 
Aufnahme wieder, in 
welchem die Bewe¬ 
gungsdauer bei Über¬ 
schneidung der Reizzeiten und Überschneidung der Zwischen¬ 
zeiten untereinander abgebildet sind (Vp. Mz.). <S 6 bezieht sich 

auf jene, S 6 auf diese Form der Scheinbewegungserweckung: 
Die zwei Bewegungen dauern subjektiv gleich lange. 

Varianten zu Versuch 14. 

Die Größe der »Überschneidung« ist eine die Scheinbe¬ 
wegung nicht alterierende Bestimmung. Die Bewegung dauert 
subjektiv so lange wie die Zeit, die je zwei Reizeinsätze voneinander 
trennt. Ist die Überschneidungszeit kurz (etwa 100 o), dann kommt 
keine Doppelbegrenzung zum Vorschein. Der Eindruck des ab¬ 
brechenden Druckes in m, der dem frischen Druckeinsatz in i (nach 
100 o) folgt, geht normalerweise in diesem neuen Eindruck unter. 
(Vgl. dagegen V. 13.) 

Aus den eben mitgeteilten Versuchen geht nun hervor, daß eine 
und dieselbe Scheinbewegung unter entgegengesetzten Reizverhält¬ 
nissen entstehen kann; ihre Beziehung zu den Reizvorgängen ist also 
eine sehr lockere. Es geht ferner aus denselben Versuchen hervor, 
daß die phänomenale Seite der Empfindungserlebnisse viel be¬ 
deutungsvoller ist als die Beschaffenheit der angenommenerweise vor¬ 
handenen, diesen Empfindungen zugeordneten zentralen Erregungen: 
Phänomene sind aber keine Reize und n ; cht vorhandenen 
Reizen können auch keine zentralen Erregungen direkt zugeordnet 
sein. Die Bedeutung der phänomenalen Aspekte läßt sich aus dem 
Vergleiche von haptisch mit optisch erweckten Scheinbewegungen 
bei Einhaltung ganz exakt gleicher Reizeinwirkungsverhältnisse be¬ 
sonders klar verfolgen. Darüber geben die folgenden Versuche Aus¬ 
kunft. 



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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 103 

2) Die Scheinbewegungszeit bei optischer Darbietung, 
a) Reizzeit und Bewegungszeit. 

Bei einer Reizdauer unter oder von 100 a, die mit gleich langen 
Zwischenzeiten alterniert, tritt keine Bewegung auf. Nur hin und 
wieder erzielt man eine sehr rasche Bewegung, die wieder von einem 
zittrigen Aufleuchten zweier nebeneinander in Ruhe sichtbarer 
Punkte gefolgt wird (V. 16). 

Wird die Reizdauer um ein vielfaches größer (z. B. 900 o), so 
entsteht trotz der kurzen Zwischenzeit von 100 o eine schöne Be* 
wegungserscheinung: ein Punkt geht gradlinig oder im Bogen, un¬ 
sichtbar, von m zu i (ich bezeichne mit denselben Symbolen nunmehr 
die zwei Endstellen der Scheinbewegung), bleibt eine Weile in in 
(bzw. in i) stehen und bewegt sich rasch nach i usf. (V. 17). 

Auch für die optisch erweckte Scheinbewegung gilt also der Satz, 
daß die Zwischenzeiten derReize nicht die Bewegungszeiten sind; diese 
sind etwas länger als jene, aber nur wenig. Würden sich Bewegungs¬ 
zeit und Zwischenzeit decken, dann müßte beim Versuch 17 ebenso¬ 
wenig eine Scheinbewegung anzutreffen sein, wie bei Versuch 16. 

Wie lange, eigentlich wie kurz, eine optisch erweckte Bewegung 
der eben genannten Art dauert, kann man beispielsweise aus Fig. 14 
untnehmen. B ist die subjektive Bewegungszeit, die mit obiger 
Fig. 11 *) direkt vergleichbar ist. Die Scheinbewegung ist im gegen¬ 
wärtigen Falle eine so rasche, daß mau sie schritthaltend nicht 
nachmarkieren kann. Eine Markierung kann nur so geschehen, daß 
jene Zeit angegeben wird (durch Drücken auf den Taster), während 
welcher sich der Punkt in to (oder in i) ausruht. Die Bewegungszeit 
entspricht dann einer bestimmten Strecke, welche der Differenz 
zweier Zeiten des 
Ausruhens (des einen 
in to, des zweiten in i) 
entspricht. Die Be¬ 
wegungszeit beträgt, 
wenn man sie auf 
diese Art markiert, 
im Mittel etwas 220 a. Versucht man den Taster für die Dauer der 
Bewegung gedrückt zu halten (Fig. 14), dann ist die Bewegungszeit 

1) In Fig. 11 gibt der Abstand zwischen je zwei Marken die subjektive 
Bewegungsdauer, in Fig. 14 dagegen entspricht dem Abstande zweier Marken 
Ruhe an der einen Bewcgungsendstelle, die Dauer der Bewegung selbst ent¬ 
spricht der Ausdehnung einer Marke. 

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104 


V. Benosai, 


etwa 160 a gleichzusetzen. Zieht man die große Schwierigkeit der 
Markierung in Betracht, die sich auch in den großen Schwankungen 
der angegebenen Bewegungszeiten äußert, so kann man behaupten, 
daß die Bewegungszeit die Dauer der Zwischenzeit nur 
wenig überschreitet. 

Man sieht also, daß auf optischem Gebiete die Bewegungszeit weit 
genauer durch die Zwischenzeit der Reize bestimmt wird als auf 
haptischem Gebiete, wo nur die Zwischenzeit zwischen zwei Reiz¬ 
einsätzen in Betracht kommt; — man sieht also, daß die Schein¬ 
bewegung in erster Linie durch den phänomenalen Aspekt 
und nicht durch die Reizvorgänge bestimmt wird; denn 
die Versuche 16—17 sind in bezug auf Verhältnisse von Reizdauer 
und Zwischenzeiten dem Versuch 12 vollständig gleich. Den Ver¬ 
schiedenheiten der phänomenalen Entsprechungen gemäß treten aber 
andersgeartete Formen von Scheinbewegungen auf. 

b) Die Bewegungserscheinungen bei Umkehrung der zeitlichen 
Verhältnisse von Reizdauer und Zwischenzeit. 

Es ist oben im Versuch 13 gezeigt worden, daß für eine haptisch 
erweckte Scheinbewegung die Kombinationen zz (Zwischenzeit) = 100, 
RD (Reizdauer) = 900 a und zz = 900 o, RD = 100, die gleich 
rasche Scheinbewegung ergeben. Die Bewegungszeit ist mit anderen 
Worten für beide Fälle annähernd die gleiche. Nur die Begrenzung 
variiert, sie ist in einem Falle doppelt, im anderen einfach. Die 
optische Darbietung ergibt (V. 18) für zz = 100 a und RD = 900 o 
eine sehr rasche (vgl. Fig. 14) für zz = 900 und RD = 100 a eine 
sehr langsame Bewegung: Dort »ruht sich der helle Punkt an den 
Endstellen lange aus«, hier »geht er zurück, nachdem er kaum an¬ 
gekommen ist«. 

Die Bewegung ist im erstgenannten Falle eine so langsame, daß 
man dem aufleuchtenden Punkte mit dem Blicke folgen kann. 
Dieser Umstand ist nicht ohne theoretische Bedeutung. Im Augen¬ 
blick soll nur hervorgehoben werden, daß es für den Bewegungs¬ 
eindruck des Punktes gar nichts zu bedeuten hat, ob sehr oder 
minimal verschiedene Netzhautstellen durch die dem Punkte zuge¬ 
ordneten Reize getroffen werden. Auch Versuch 18 zeigt also, daß 
die Scheinbewegung dem phänomenalen Aspekte folgt: 
Sind die Punkte subjektiv lange vorhanden, dann ist die Bewegung 
bei sonst gleichen Verhältnissen rasch, sind sie nur vorübergehend 
sichtbar, dann langsam; — da diese phänomenale Verschie¬ 
denheit auf haptischem Gebiete nicht zur Geltung kommt. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 105 


wird die Scheinbewegung durch die Umkehrung der Ver¬ 
hältnisse von zz und RD nicht beeinflußt. 

c) Die Scheinbewegungen bei optischer Reizüberschneidung. 

Die hier zu erwähnenden Versuche entsprechen den obigen Ver¬ 
suchen 14 und 15. Bei diesen waren die zwei erweckten Schein¬ 
bewegungen bezüglich ihrer Geschwindigkeit nicht zu unterscheiden. 
Bei 14 war eine doppelte Begrenzung, wenn auch nicht immer, zu 
beobachten. 

Ganz anders auf optischem Gebiete. Bei Versuch 19 (= hapt. 
Vers. 14) sieht man zunächst zwei Punkte, die abwechselnd für einen 
kurzen Augenblick gelöscht werden. Erfaßt man diese Lösch¬ 
augenblicke oder -erscheinungen in ihrer rhythmisch-abwechselnden 
Lage, dann scheinen die Punkte zunächst nicht kurzdauernd aus¬ 
gelöscht zu werden, sondern man hat den Eindruck, als ob sie bloß 
abgeblendet, beschattet würden; — aus diesem Eindruck ent¬ 
wickelt sich schließlich ein Bewegungseindruck: ein Schatten be¬ 
wegt sich von einer Stelle zur anderen; er huscht an den 
hellen Punkten vorüber, rasch, aber matt und weich. Doch ist diese 
Erscheinung verhältnismäßig flüchtig: es treten wieder die zwei inter¬ 
mittierend verlöschenden Punkte auf. 

Eine Schattenbewegungserscheinung der eben berührten Art 
tritt mitunter auch bei gewöhnlicher Darbietung auf. Ist z. B. die 
Reizdauer = 70 a, die Zwischenzeit 210 o, so tritt manchesmal 
folgende Erscheinung auf: ein mehr oder weniger breiter Schatten 
bewegt sich hin und her und deckt oder verlöscht abwechselnd den 
Punkt rechts und den Punkt links. Dieser Schatten wird aber nicht 
gesehen, man kann auch nichts Präzises über dessen Form angeben, 
aber er ist da und bewegt sich und löscht die Punkte aus. Bei einer 
Vp. (Gys.) trat diese Schattenerscheinung während ihrer ersten 
Versuchsreihe auf: »Im völlig dunklen Raum geht ein unsichtbarer 
Schatten hin und her und löscht die Punkte aus.« 

Kehrt man nun die Reizverhältnisse um (V. 20), so daß jetzt je 
ein Punkt nur für jene Zeit aufleuchtet, während welcher er früher 
(Versuch 19) ausgelöscht war, dann sieht man sofort einen sich rasch 
und klar, ständig sichtbar bewegenden Punkt. Während die Be¬ 
wegung des früheren Schattens eine minder anschauliche, eine eher 
»gedachte« als »gesehene« Bewegung war, trifft für die jetzige nur 
letzteres zu. 

Auf haptischem Gebiete bewegte sich, wie erinnerlich, sowohl bei 
14 wie bei 15 ein berührendes Etwas, welches nur durch diese 

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106 


V. Benassi, 


Berührung hindurch gedanklich getroffen werden konnte; dies war 
also auch dann der Fall, wenn sich die Bewegung selbst während der 
Berührungszeit, d. h. zwischen je zwei Nichtberührungsaugenblicken 
(diesen entsprechen in Versuch 19 die Auslöschungen) vollzog. 

Auf optischem Gebiete bewegt sich dagegen das einemal ein 
sichtbares Helles, das anderemal ein »sichtbares« Dunkles,— 
dieses mit weit geringerer Anschaulichkeit als jenes. 

Solange die Verdunkelungen des einen Punktes für sich 
als eine »Folge« zum Bewußtsein kommen, bleiben die 
Verdunkelungen eben als solche in Ruhe. 

Dem Eindruck eines vorüberziehenden Schattens liegt unzweideutig 
die Auffassung einer einheitlichen Sukzession von Ver¬ 
dunkelungen des rechten Punktes, die mit ebensolchen des linken ab¬ 
wechseln, zugrunde. Diese Weise der Auffassung kann sich unwill¬ 
kürlich einstellen oder auf Grund einer Determination (zu ihrer Auf¬ 
fassung) hervortreten. Sie wird aber immer wieder durch den domi¬ 
nierenden Eindruck der aufleuchtenden Punkte (als starker Gegen¬ 
satz zum Hervortreten der Verdunkelung) verdrängt oder gehemmt. 

In theoretischer Hinsicht ist immerhin von Bedeutung hervor¬ 
zuheben, daß auch zwischen Erscheinungen (hier Verdunke¬ 
lungen), denen keine äußeren Reize entsprechen, Scheinbewe¬ 
gungen hervortreten können. Während der Dauer dieser Schein- 
bewegungen werden beide Endstellen, zwischen welchen sich diese 
vollziehen, simultan ununterbrochen gereizt. 

Variation zu Versuch 19. 

Dauert das Leuchten des einen Punktes 900 a und setzt die Be¬ 
leuchtung des anderen 100 a vor dem Auslöschen des ersteren ein, 
so tritt rasche Bewegung eines Punktes mit großen Phasen des 
Rühens (in m [rechts] und i [links]) auf. Diesem sich rasch bewegen¬ 
den Punkte scheint ein zweiter durch eine kurze Strecke nachzu¬ 
laufen und unterzutauchen. In dem Augenblick, in dem etwa i 
aufleuchtet, scheint m, das objektiv noch 100 a weiter leuchtet, aus¬ 
zulöschen und nach i zu springen; in dem Augenblick, in dem es tat¬ 
sächlich zu leuchten aufhört, scheint dem in i angelangten Punkt 
einer folgen zu wollen, der nur kurz und matt in m aufleuchtet. 

Diese Erscheinung der Bewegungsverdoppelung ist dasjenige, 
was der Begrenzungsverdoppelung auf haptischem Gebiete 
entspricht 1 ). 

1) Die Analyse der Bewegungsverdoppelungs-Erscheinungen müssen einer 
späteren Veröffentlichung Vorbehalten bleiben. Sie finden auf haptischem 


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Veraache rar Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 107 


Auch hier richtet sich der Bewegungsschein nach dem »Aussehen« 

© © 

der Phänomene, ungeachtet dessen, oh die Reizverhältnisse einander 
gleichen oder nicht. 

Aus dem Vergleiche von optisch und haptisch erweckten Schein¬ 
bewegungen ergibt sich also im allgemeinen, daß als Bewegungszeit 
nicht die Zwischenzeit der Reizungen, sondern die Zwischenzeit 
zwischen den Phasen des Ausruhens jener »Etwas« ist, woran die 
Bewegung haftet, und zwar gleichviel, ob dieses Etwas so unbestimmt 
ist wie »ein Berührendes« oder so eindeutig und anschaulich wie 
»ein leuchtender Punkt«. 

Jenes ruht, indem es berührt, dieses, indem es leuchtet. 

3) Scheinbewegung durch subjektive Vergrößerung der 

Zwischenzeit. 

Dürfen auch die den eben besprochenen, mannigfaltigen Er¬ 
scheinungen entnommenen Sätze als hinreichend begründet er- 
scheinen, so ist nichtsdestoweniger von Interesse, zwei weitere Ver¬ 
suche bereits hier vorgreifend zu erwähnen, aus denen hervorgeht, 
daß, wenn eine ursprünglich unzureichende zz auf Grund einer in¬ 
adäquaten Auffassung, also einer Täuschung, subjektiv vergrößert 
wird, eine deutliche klare Scheinbewegung resultiert (V. 20). 

Werden zwei Hautstellen m und i, deren Abstand 7 oder 14 cm 
beträgt, mehrmals in Zwischenzeiten von 100 o für die Dauer von 
100 a durch einen Druckreiz getroffen, so entsteht keine Schein¬ 
bewegung 1 ); werden sie aber so gereizt, daß nach der m— t-Reizung 
eine Pause von einer Sekunde oder beliebig mehr eingeschaltet wird, 
dann entsteht eine einmalige klare Bewegung von m nacht. Die 
Stelle i trägt dabei eine deutliche Schlußbetonung. Die Zwischen¬ 
zeit von je zwei Reizungen wird subjektiv um etwa V 4 
verlängert. Beträgt also die objektive gz 200 o, so ist die sub¬ 
jektive Gesamtzeit gleich 250 o, also eine Zeit, die auch bei kon¬ 
tinuierlicher Darbietung Bewegung zuläßt. 

Dieselbe Erscheinung kann auch bei mehrmaliger Reizung und 
größeren Zwischenzeiten (zz = 300 a) zutage treten; sie nimmt dann 
folgende Form an: wird eine Folge von Bewegungen m—i—m—i . . . 


Gebiete weitere Analoga in Erscheinungen, die bei »vorauseilender Aufmerk¬ 
samkeit« auftretcn. Darauf kann aber an dieser Stelle nicht eingegangen 
werden. 

1) Ist bei einer Vp. auch unter diesen Reiz Verhältnissen Bewegung vor¬ 
handen, dann muß man eben eine kürzere Dauer von zz (= RD) wählen, 
natürlioh aber eine, die nahe an der Bewegungsgrenze liegt. 


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108 


V. Bemusi, 


usw., in eine diskrete Folge m-i, m-i (meistens durch Entwicklung 
einer i-Betonung) umgewandelt, so scheint die m—i -Bewegung, die 
keinen Rückweg nach m aufweist, langsamer zu sein als jene, die 
sich ununterbrochen zwischen m und i vollzieht. 

Gegenüber naheliegenden Einwänden (etwa Nachdauer der 
Sinnesempfindungen) sei auf obigen Versuch 1 bzw. 17 hingewiesen, 
bei welchen sich das Moment der Nachdauer (bei zz = 100 o) in keiner 
Weise als bewegungsstörend erweist. 

Bei optischer Reizdarbietung lassen sich (V. 21) dieselben Er¬ 
scheinungen, d. h. Bewegungsbegünstigung bzw. -Ermög¬ 
lichung durch subjektive Verlängerung der Zwischenzeit 
konstatieren. 

Eingehenderes über diese Erscheinungen wird an anderer Stelle 
gelegentlich der Besprechung der Beziehungen zwischen Bewegung 
und Zusammenhang zu finden sein. Bereits hier sei jedoch vorweg¬ 
nehmend darauf hingewiesen, daß sich die Auffassung oder die 
Verhaltungsweise des Subjektes bei Einzeldarbietung und Dauer¬ 
beobachtung gesetzmäßig verschieden zu vollziehen scheint. Darüber 
wird die Abhandlung über die inneren Bedingungen von Schein¬ 
bewegungen Auskunft erteilen. 

4) Scheinbewegung durch inadäquate Lokalisation. 

Im Zusammenhänge mit der Frage nach der Bedeutung der 
phänomenalen Aspekte für die Qualität, Form und Richtung einer 
durch bestimmte Reizfolgen entfernt erweckten Scheinbewegungs¬ 
vorstellung sei noch folgender Versuch (V. 22) erwähnt (Fig. 15). 



— O — — O- O i‘fieit 



Wird die Hautstelle i (Fig. 15 B), die von der zweiten Haut¬ 
stelle m 6 cm entfernt ist, durch die i-Reize (Fig. 15 A), die Stelle m 
durch die Reize der m -Reihe so getroffen, daß der m-Reiz einsetzt. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 109 

wenn i aufhört, so entsteht eine Bewegung der in Fig. 15 B veran¬ 
schaulichten Art: die Hautstelle i wird zweimal nahezu unmittel¬ 
bar hintereinander getroffen (der t-Reiz dauert 100 o), von i 
nach m vollzieht sich eine Bogenbewegung, die durch eine leise Be¬ 
rührung in m begrenzt wird und in m aufhört. Von tn nach i ist 
keine Bewegung zu konstatieren. 

Die Bewegung dauert subjektiv deutlich mehr als die Dauer einer 
m-Reizung (= 400 o oder mehr). Sie beginnt aber in t, wenn der 
rre-Reiz die Stelle m trifft. Der Reizbeginn in m, der mit dem Auf¬ 
hören des Reizes in i zeitlich zusammenfällt, wird nicht in m, 
sondern in t lokalisiert. Das Aufhören des m-Reizes wird aber kor¬ 
rekt in m lokalisiert. Die Bewegung vollzieht sich zwischen zwei 
Hautstellen auf Grund einer inadäquaten Lokalisation. Der Beginn 
des Reizes m wird in unmittelbarer Nähe der Stelle t lokalisiert. 
Die tatsächliche Berührung in i durch den t-Reiz ist durch keine 
Bewegung mit der m-Berührung verbunden. Die t-Reizung hat 
also hier nur eine attraktive Funktion gegenüber der m-Reizung; 
sie bestimmt die inadäquate Lokalisation der »»-Berührung in t. 

Werden also Reizbeginn und Reizschluß einer ein¬ 
zigen Hautstelle an verschiedenen Hautstellen lokali¬ 
siert, dann vollzieht sich zwischen diesen Stellen wäh¬ 
rend der Reizeinwirkung eine Scheinbewegung (V. 22). 

Ein Umstand verdient hier noch besonders hervorgehoben zu 
werden: Normalerweise geht eine Scheinbewegung von jener Haut¬ 
stelle aus, die zuerst, also als erste von einem Reiz getroffen wird. 
In unserem gegenwärtigen Falle fängt die Bewegung mit 
der zweiten Berührung an und erstreckt sich nicht von 
der Stelle dieser Berührung zur Stelle der ersten, sondern 
umgekehrt. Die Bewegung erfolgt während der Reizung und für 
die Dauer der Reizung jener Hautstelle, die die Bewegung s.z.s. nur 
abschließen sollte. 

Im Hinblick auf theoretische Hilfsgedanken bezüglich der physio¬ 
logischen Bedingungen oder Parallelerscheinungen zu den Schein¬ 
bewegungsphänomenen ist hervorzuheben: die anzunehmende Haupt¬ 
erregungsquelle liegt in m (bzw. natürlich in jenen zentralen Stellen, 
die m entsprechen), die Bewegung müßte daher die Richtung m—i 
aufweisen, — die tatsächliche Bewegungsrichtung ist aber gerade 
die entgegengesetzte, nämlich von i nach m. 

Gelingt es einem Beobachter, durch energische Analyse die adä¬ 
quate Lokalisation zu erzwingen, dann schwindet die eben erwähnte 
Scheinbewegung. Die Art der Reizdarbietung ist aber nach wie vor 


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110 


Y. Bentusi, 

eine konstante, unveränderte: Maßgebend für die Scheinbewegung 
ist eben das innere Verhalten des Beobachters. 

Auf optischem Gebiete ist eine inadäquate Lokalisation wie die 
berührte nicht zu treffen. Daher auch keine analoge Scheinbe¬ 
wegungserscheinung. Ein Analogon im weiteren Sinne treffen wir 
auf optischem Gebiete immerhin dort, wo es sich um eine Schein¬ 
bewegung handelt, die auf Grund einer inadäquaten Lokalisation 
in die Tiefe entsteht: erscheinen mir zwei Figuren, die sich auf 
derselben Ebene befinden und die ich sukzessiv betrachte, verschieden 
entfernt, so entsteht bei entsprechender Sukzession eine Schein¬ 
bewegung von mir weg und zu mir her. Näheres hierüber in einer 
bald folgenden, bereits abgeschlossenen Abhandlung über die inneren 
Bedingungen von Scheinbewegungen. 

Die hier klargelegte Bedeutung der Lokalisation ist gelegentlich 
auch bei gewöhnlicher Beizdarbietung (d. h. Beiz, Zwischenzeit, 
Beiz usf.) anzutreffen, und zwar dann, wenn es sich um unklar 
lokalisierte Hauteindrücke auf der Haut handelt. Eine Vp. (Herr 
Du mann, Bh. 3 [30./1.15]) konnte zwei Hautstellen (Vorderarm 
dem Badius entlang) im Abstande von 6,5 cm noch immer nicht von¬ 
einander unterscheiden: es war kein Bewegungseindruck zu kon¬ 
statieren. Eine solche war dagegen sofort da, wenn die Innenhand 
oder die Innenseite der Finger berührt wurden: die Eindrücke waren 
»klar« und stammten von Etwas, das sich ebenso klar von einer 
Stelle zur anderen bewegte. Die Bewegung war ebenso klar, wenn 
die zwei Finger nicht derselben Hand gehörten, die Hände aber 
nebeneinander lagen. 

In diesem Zusammenhänge sind auch die Erscheinungen bei ab¬ 
nehmender Zwischenzeit der Beize in Erinnerung zu bringen (V. 5): 
mit schwindender Lokalisationsverschiedenheit geht auch der Be¬ 
wegungseindruck verloren; mit periodisch auftauchender Lokalisation 
tritt aber auch bei sehr kleinen Zwischenzeiten Bewegung auf: diese 
hält mit jenem Auftauchen, nicht aber mit dem Beizwechsel der 
Beizverhältnisse Schritt. 

Zum Schluß sei noch auf eine oben bereits beschriebene Erschei¬ 
nung, die eine Art Gegenstück zu der eben berührten darstellt, hin¬ 
gewiesen: es konnte festgestellt werden (V. 5), daß bei abnehmenden 
Zwischenzeiten die Bewegungsstrecke immer kleiner wurde. Für 
diese Erscheinung ist nun neben einer gegenseitigen Beein¬ 
flussung von Baum- und Zeitvorstellungen auch eine 
Lokalisationsinadäquatheit durch eine Art von Merk¬ 
zeichenmischung verantwortlich zu machen: Gehören die zwei 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 111 

berührten Hautstellen haptisch klar differenzierten Gebieten (z. B. 
den inneren Hautgebieten je eines Fingers) an, dann wird bei zu¬ 
nehmender zz wohl der Weg, ein immer höherer Bogen, größer, die 
Entfernung der Berührungsstellen bleibt aber nahezu unverändert. 

5) Scheinbewegungszeit und Scheinbewegungsform. 

Wir haben soeben von einem Scheinbewegungsfall Kenntnis ge¬ 
nommen (V. 22), der durch sein Ausbleiben auf optischem Gebiete 
eine neue Instanz zugunstendes oben aufgesteilten Satzes, die Schein¬ 
bewegung richte sich nach den phänomenalen Aspekten, darstellt. 
Dieses Gesetz wird nochmals beleuchtet durch eine weitere Schein¬ 
bewegungserscheinung, die aus demselben Grunde wie jene nur auf 
haptischem, selbst nahezu ausschließlich auf optischem Gebiete anzu¬ 
treffen ist. Bekanntlich wird eine Berührungsempfindung trotz an¬ 
haltendem konstant bleibendem Reize relativ rasch untermerklich, 
d. h. die charakteristische Erscheinung der Berührung (als solche 
bereits eine Veränderungs- oder Übergangsgestalt) schwindet sehr 
bald nach ihrem Beginne. Wird dagegen ein Punkt beleuchtet, so 
bleibt die Erscheinung »heller Punkt* unter normalen Umständen 
ebenso lang (bei Berücksichtigung der Nachbilddauer noch länger) 
aufrecht, als der Reiz wirkt. Werden nun (V. 23) zwei Punkte, die 
z. B. 10 cm voneinander entfernt liegen, abwechselnd beleuchtet und 
zwar so, daß je eine Aufhellung deutlich länger dauert als die 
Zwischenzeit, dann lassen sich zwei von einander maximal verschie¬ 
dene, als solche ganz charakteristische Bewegungserscheinungen 
beobachten, für deren Entfaltung die, gleichviel ob intendierte 
oder spontane, innere Verhaltungsweise des Beobachters 
entscheidend ist. 

Die erste dieser zwei Bewegungserscheinungen besteht im fol¬ 
genden (V. 23 a): Ein heller Punkt schnellt von einer Ruhelage, 
etwa m, nach dem Orte i, der zweiten Ruhelage, und von hier wieder 
nach m. Wie bei jeder sehr raschen einmaligen Bewegung, bzw. 
einer Bewegung zwischen Ruhelagen, läßt sich auch hier nichts über 
die Sichtbarkeit des Punktes während der Bewegung sagen: er ist 
weder sichtbar noch unsichtbar; an den Endstellen seiner Bewegungs¬ 
bahn ruht sich der Punkt förmlich aus. Nahezu jede Vp. beschreibt 
diese Erscheinung mit diesen Worten: der Punkt wird angehalten, 
als ob er gegen eine unsichtbare Wand stoßen würde, und verbleibt 
starr in Ruhe, bis er wieder nach der entgegengesetzten Seite hin¬ 
weggefegt wird. Diese Erscheinung tritt dann auf, wenn der Be¬ 
obachter die Endstellen der Bewegungsbahn als solche isoliert, sie 


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112 


V. Bennfisi, 


aufmerksam als solche zu erleben trachtet, wenn er den 
Punkt dort, wo er eben angekommen ist, gleichsam »hält«, bis er 
wieder entwischt. Bei einmaliger Darbietung ist nur diese Erschei¬ 
nung anzutreffen. 

Die zweite Bewegungserscheinung (V. 23b) ist folgendermaßen 
zu beschreiben: ein leuchtender Punkt bewegt sich langsam 
ununterbrochen im Kreis. Die Bewegungsebene ist entweder 
horizontal oder um 15 bis 25° geneigt, — seltenst senkrecht. Der 
Punkt ruht sich nirgends aus; er bewegt sich ineinemfort. Diese 
Erscheinung kann sich von selbst einstellen, nachdem die zuerst 
beschriebene eine Weile vorhanden war, sie kann aber auch willkür¬ 
lich hervorgerufen werden, indem der Beobachter die Endstellen der 
Bewegungsbahn, die einander gegenüber stehen, nicht mehr isoliert, 
sondern sie als Stellen eines zusammenhängenden Feldes 
au ff aßt, indem er sie als unbetonte zusammenhängende Phänomene 
erlebt. 

Es läßt sich zwischen den berührten Verhaltungsweisen ein Gegen¬ 
satz konstatieren, der dem Erlebnis nach gleich jenem ist, der bei 
der Betrachtung von Täuschungsfiguren zum Vorschein kommt; ich 
meine den Gegensatz von isolierendem und synthetisierendem 
Verhalten. So wie sich hier diese zwei Verhaltungsweisen ab¬ 
wechselnd bei längerer Betrachtung ablösen, so scheint im unge¬ 
zwungenen Beobachter der in Rede stehenden Scheinbewegung die 
eine Auffassungsweise die andere zu bedingen, sobald eine Art Er¬ 
müdung für eine dieser zwei Weisen der Auffassung erreicht ist. 
Dies jedoch nur nebenbei bemerkt. Hier ist zu konstatieren: 

Die phänomenalen Aspekte bestimmen die Bewegungs¬ 
zeit; die Art der Auffassung dieser Aspekte bestimmt die 
Bewegungsformals lineare rasche Bewegung bei isolierender, 
als langsame Kreisbewegung bei zusammenhangsstiftender 
Auffassung; eine konstante Zwischenzeit der Reize und eine 
konstante Reizdauer können zu verschieden lang dauern¬ 
den, daher auch dementsprechend zu langsamen oder 
raschen Scheinbewegungen Anlaß bieten. 

Die hier beschriebenen Erscheinungen kommen ab und zu auch auf 
haptischem Gebiete zum Vorschein. Doch ist hier die Norm durch 
die erste Erscheinung gegeben, wobei die Endstellen nicht durch eine, 
sondern durch zwei Berührungen ausgefüllt erscheinen. 

Jene Veränderung in der Verhaltungsweise des Beobachters, 
welche von der langsamen Kreisbewegungserscheinung zur raschen 
linearen Bewegung mit Ruhepausen führt, führt, wenn im selben 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. H3 

Sinne, nämlich im Sinne stärkster Analyse fortentwickelt, über die 
Erscheinung einer Bewegung »ohne Zurück« zur Aufhebung der 
Scheinbewegung selbst. Doch nur vorübergehend, denn die Schwie - 
rigkeit der Analysenleistung, der gedanklichen Isolierung, 
scheint eine rasche Erschöpfung mit sich zu bringen und die Schein- 
bewegung ist in der raschen oder langsamen Form wieder da. 

Die eben mitgeteilten Sätze sind nicht Deutungen von mir, 
sondern spontane Aussagen geübter Beobachter. Deshalb allein 
wurden sie hier aufgenommen. 

D. Die Soheinbewegungsgesohwindigkeit und die Bewegungs- 

riohtung. 

1) Abhängigkeit der Scheinbewegungsgeschwindigkeit von 

der Dauer. 

Nachdem es sich im vorigen Abschnitte hat zeigen lassen, daß 
die Bewegungszeit sich bisweilen nicht mit der Zwischenzeit der 
Beize deckt, sondern vielmehr der Zwischenzeit jener Erscheinungen 
entspricht, die uns in sinnfälliger Weise jenes Ding zur Vergegen¬ 
wärtigung bringen, welches für den Beobachter das Sich-Bewegende 
ist und bei haptisch und optisch erweckten Bewegungen in charak¬ 
teristisch verschiedenerWeise erfaßt wird, fragt es sich, ob wir die Ge - 
schwindigkeit einer Scheinbewegung so weit anschaulich er¬ 
fassen, daß wir imstande wären, Geschwindigkeiten erfaßter 
Scheinbewegungen miteinander mitErfolg zu vergleichen. 

So wie die im vorigen Abschnitt behandelte Hauptfrage vorgängig 
ohne daraufhin gerichtete besondere Erfahrungen entscheidbar ge¬ 
schienen haben mag, so mag die gegenwärtige womöglich in noch 
größerem Maße überflüssig oder gar paradox zu sein scheinen. Denn 
jedermann weiß, daß bei gleichen Bewegungszeiten jene Bewegung 
geschwinder erscheint, die sich über den größeren Weg erstreckt. 
Da nun jede Scheinbewegung durchaus anschaulich ist, so wäre 
zu erwarten, daß auch deren Geschwindigkeit klar und anschaulich 
sein wird; — denkt man daran, daß uns die Geschwindigkeit einer 
tatsächlichen Bewegung als eine charakteristische Veränderungs¬ 
gestalt ebenso absolut, vorstellungsmäßig gegeben ist wie die 
Helligkeit einer Farbe oder die Höhe eines Tones, dann wird der 
Eindruck des Paradoxen, das der gegenwärtigen Frage innezuwohnen 
scheint, womöglich noch stärker hervortreten. 

Werden periodische Bewegungen verschiedener gz miteinander 
verglichen, so ist im allgemeinen die Aussage, die Bewegung >>o sei 

Archiv ffir Psychologie. XXXVI. 8 


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114 


V. Bennsai, 


rascher oder langsamer als 6«, eine ganz sichere. Ein einfacher Ver¬ 
such vermag aber davon zu überzeugen, daß dasjenige, wodurch 
derartige Aussagen hervorgerufen werden, nicht die Raschheit der 
einzelnen Bewegungen ist, sondern die Raschheit der Folge von 
Einzelbewegungen. Die Verschiedenheiten in der »Raschheit 
der Folge« werden erfaßt und von der Vp. auf die Geschwindigkeit 
der erlebten Bewegungen übertragen. 

Eine rasche Folge ist eine Gestalt für sich, die sich als Gestalt 
qualitativ von der langsamen unterscheidet. (Da verschiedene 
Gegenstände, wenn paarweise verglichen, verschiedene Verglei¬ 
chungsschwellen ergeben, so ergibt auch die Vergleichung von Folgen 
in bezug auf deren Geschwindigkeit andere Schwellenwerte als die¬ 
jenigen für das Vergleichen derselben Einzelheiten außerhalb der 
Folge.) 

Der Versuch selbst besteht im folgenden. 

Zwei Bewegungen (V. 24), die gleiche gz, aber verschiedene 
Wege, d. s. verschiedene Abstände der gereizten Stellen, aufweisen, 
werden hintereinander haptisch oder optisch geboten. Die zwei 
Hautstellen m und i sind z. B. das eine Mal 7, das andere Mal 14 cm 
voneinander entfernt. Unter solchen Umständen erscheinen die 
zwei sich scheinbar in Bewegung befindlichen Etwas bezüglich der 
Raschheit, mit der sie ihren Weg zurücklegen, einander gleich, 
wiewohl das eine von diesen Etwas in der gleichgroßen Zeit den 
doppelten Weg zurücklegt. 

Wäre die Geschwindigkeit der anschaulich erlebten Be¬ 
wegung selbst anschaulich, so müßte jene Bewegung, die 
in der gleichen Zeit die größere Weite aufweist, auch an¬ 
schaulicherweise geschwinder erscheinen. Scheinbewegungen 
sind eben nur im Hinblick auf Dauer und Größe, aber nicht im Hin¬ 
blick auf Geschwindigkeit vergleichbar. D.h. Vorstellungserleb¬ 
nisse, die auf Bewegungen der hier in Rede stehenden Art zielen, 
sind wohl differenziert bezüglich jener Bestimmungen, die uns die 
Erscheinungen Bewegungsdauer und Bewegungsweite erschließen, 
undifferenziert aber bezüglich jener Bestimmungen, die uns er¬ 
möglichen würden, eine Verschiedenheit der Geschwindigkeit zu kon¬ 
statieren, bzw. zu erleben. Wir gelangen also zu dem Ergebnis: 
Scheinbewegungen haben eine eigens begründete und zwar eine 
durch die Dauer allein begründete Geschwindigkeit. 

Darin äußert sich in voller Deutlichkeit ein irrationelles Mo¬ 
ment innerhalb unserer psychischen Erlebnisse, soweit solche auf 
Erscheinungen, auf Gegenstände, gerichtet sind. Die absolute Dauer 


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Versuche rar Analyse taktil erweckter Scheinbewegnngen. 115 


der verglichenen Scheinbewegungen gleicher gz läßt die Konstanz 
ihrer Geschwindigkeit unberührt, d. h. Bewegungen, die gleichlang 
dauern, sind unabhängig von der absoluten Größe dieser Dauer, 
untereinander gleich geschwind. 

Wir treffen also folgende in sich widerspruchsvolle Sachlage glatt¬ 
weg realisiert an: Zwei Bewegungen b und b t werden beide mit der 
denkbar größten Anschaulichkeit erlebt, ebenso sicher wird dem 
direkten Aspekte der erlebten Erscheinungen entnommen, daß diese 
zwei Bewegungen, Bewegungen verschiedener Weite sind, ebenso 
sicher wird aber unbeachtet dessen konstatiert, daß die zwei Be¬ 
wegungen gleiche Geschwindigkeit haben. 

Wäre diese Geschwindigkeit nicht direkt im Aspekte der vor¬ 
schwebenden Erscheinungen enthalten, bzw. aus diesem Aspekte zu 
entnehmen, sondern erschlossen, hinzugedacht, dann könnte in 
den Aussagen gebildeter Vpn. sicher kein solcher Widerspruch zum 
Vorscheine kommen 1 ). 

Die Momente »Vorstellung eines Weges«, »Vorstellung einer 
Dauer« und »Vorstellung einer Bewegung« Weisen also u. U. andere 
Abhängigkeitsbeziehungen auf, als diejenigen es sind, die Weg, 
Dauer und Bewegungsgeschwindigkeit untereinander verbinden, 
bzw. die diese letzteren in eine bestimmte notwendige Abhängigkeit 
von jenen ersteren stellen. 

Da wir mm gesehene tatsächliche Bewegungen im Hinblick 
auf Geschwindigkeit vergleichen können, d. h. sie unmittelbar ohne 
Rücksicht auf eine konstante Bezugszeit als (verschieden) rasch oder 
langsam erleben, so wie wir eine Farbe als Rot und eine andere als 
Orange unmittelbar und nicht erst auf dem Umweg über eine Röt- 
lichkeitsvergleichung als solche erleben, so dürfte aus der Begrün¬ 
dungseigenart der Geschwindigkeit von Scheinbewegungen auf eine 
Verschiedenheit der Provenienz von Scheinbewegungsvorstellung und 

1) Ist eine Geschwindigkeitsvorstellung, die die Grundlage für die Aussage 
»beide Bewegungen gleich oder verschieden geschwind« abgibt, vorhanden, 
so muß sie anschaulich sein, denn ein Geschwindigkeitsgedanke würde zu- 
mindestens sehr oft richtig und subjektiv immer widerspruchsfrei ausfallen. 
Ob aber ein eigentlicher Geschwindigkeitseindruck überhaupt vorhanden 
ist, ist erst die Frage. Viele unter meinen Vpn. behaupteten rundweg, ein 
solcher Eindruck sei gar nicht da. Ist diese Beobachtung richtig, dann hatten 
wir den Fall einer anschaulichen Bewegungsvergegenwärtigung vor uns, die 
frei wäre von jeder Geschwindigkeitsvergegenwärtigung; der anschauliche Ein¬ 
druck der Bewegung wäre dann als trennbar erwiesen von dem Geschwindig¬ 
keitseindruck, — trotz der notwendigen Verknüpfung der Erscheinungen 
»Bewegung« und »Geschwindigkeit«. 

8 * 


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116 


V. Benussi, 


normaler Bewegungsvorstellung geschlossen werden können. In 
diesem Falle wären wir nicht berechtigt zu behaupten, die Analyse 
der Scheinbewegungen biete uns zugleich auch einen Einblick in die 
Entstehungsbedingungen der normalen Bewegungsvorstellung. 

Um die Geschwindigkeitsvergleichung zu erleichtern, kann man 
eine Scheinbewegung erzeugen (V. 25), die bei Einhaltung ihrer Ge¬ 
samtdauer (z. B. [570 o]) und ohne jede Bewegungsunterbre¬ 
chung abwechselnd verschieden weit ausfällt; etwa von 
m zu i (= 7 cm), von * zu m (= 7 cm), von mzua(- 14 cm), a zu 
m (= 14 cm), m zu t, i zu m, m zu o usf. 

Äußerlich wird der Versuch folgendermaßen angestellt. Die 
Schleiffeder Sfi (Fig. 16) wird leitend mit dem Umschalter u ver¬ 
bunden, von diesem 
zweigt sich der Strom¬ 
kreis nach Sa und Si, 
d. h. jenen Spitzen ab, 
die die Hautpunkte a 
und t zu berühren 
haben. Hat nun die 
Schleiffeder Sfi eine 
Kontaktstelle Ka ( Kt ) 
überschritten, so stellt 
der VL. den Umschalterzeiger von 2 nach 1 um. Beim nächsten 
Kontakt von Sf x wird nun Si angeregt und der 4-Punkt gereizt. 
Ist Sh an Ki vorüber, so wird u wieder nach 2 gedreht, worauf 
der nächsten Kontaktstelle eine o-Reizung entspricht. 

Die drei Hautstellen werden u. s. U. in der Reihenfolge m—4— 
m—a—m—i-^m—a usf. berührt. 

Die zu erwartende Bewegung ist dann die untenstehend (Fig. 17) 
veranschaulichte; sie ist gleichmäßig bezüglich der Dauer m— i—m, 

m—ar-m , die Bewegungsweite ist 
aber im zweiten Fall objektiv dop¬ 
pelt so groß wie im ersteren. Die 
erwartete bogenförmig oder gerad¬ 
linig aussehende Scheinbewegung 
tritt auch ein: die Geschwindig¬ 
keit der m—i—m-Bewegung ist 
aber von der der m— o-m-Bewegung nicht zu unterscheiden. 

Eine geringfügige Modifikation in der Reizgebung, bzw. die Ein¬ 
schaltung von Versuch 26 als Einstellungsversuch, gestattet nun 
auch die letzte Vergleichungsschwierigkeit zu beseitigen, die in 






Fig. 16. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegnngen. 117 

Versuch 25 durch den Umstand gegeben ist, daß die zwei zu ver¬ 
gleichenden Bewegungen eben als zwei, als einzelne in sich abge¬ 
schlossene und sich bloß aneinander anreihende Gebilde erfaßt oder 
erlebt werden. 

Folgen sich (V. 26) die Reize auf den Stellen tn, *, a nach dem 
Schema: m—i (= 570o), *— m (=1710o), m—a (= 570 o) a—m 
(= 1710 o), so entsteht eine m, i und a kontinuierlich verbindende 
Bewegung, welche vollständig ungegliedert, also einheitlich im 
engsten Sinne ausfällt 1 ). Ihr »Aussehen« ist aus Fig. 18 zu ent¬ 
nehmen. »Etwas«, das die Haut an drei Stellen berührt, beschreibt 
zuerst in m beginnend über i den kleinen Kreis k, und setzt seine 
Bewegung neuerdings über m nach a in einem größeren Kreis K fort. 
Ha der zeitliche Abstand m—i gleich ist dem Abstande m—a, der 
Weg aber in diesem Falle weit größer, so müßte das sich Bewegende, 
sobald es in die Kurve m—i gerät, seine Bewegung verlangsamen, bzw. 
sie beschleunigen, sobald es in die Kurve m—a einfährt. Ha es sich 
um eine fortfließende Bewegung handelt, müßte eine ruckweise ein¬ 
tretende Geschwindigkeitsänderung sehr leicht bemerkbar sein. Sie 
bleibt jedoch aus. Her Kreis K erscheint mehr als doppelt so 
groß als k, die Geschwindigkeit aber bleibt dieselbe, trotz des weit 
größeren Weges, den nun das sich Bewegende in der Zeit von 570 + 
1710 o zurückzulegen hat. Auch dieser Versuch weist also darauf 
hin, daß die Scheinbewegung trotz ihrer 
Anschaulichkeit eine bloß dauerbegrün¬ 
dete Geschwindigkeit hat; d. h. Schein¬ 
bewegungen, die gleichlang dauern, 
vollziehen sich mit subjektiv glei¬ 
cher Geschwindigkeit, unabhängig 
von der Größe des zurückgelegten 
Weges. Hieselbe Bewegungserscheinung 
{Fig. 18) kommt auch bei Versuch 25 zum 
Vorschein, normalerweise als Einstellungs¬ 
erscheinung durch Versuch 26; bei manchen Vpn. jedoch auch ohne 
eine solche. Eine Geschwindigkeitsänderung ist auch hier nicht 
zu konstatieren. Hie Bewegung ist vollständig gleichmäßig 2 ). 



1) Über die hier auf tretende zeitliche Ausgleichung zwischen m—i and 
»—m bzw. m—a and a—m wird weiter unten noch za handeln sein (vgL V. 29, a). 

2) In theoretischer Hinsicht sei hier auf die Unabhängigkeit der Erreichungs¬ 
zeiten haptischer Bewegungen von dem Abstande (4 cm bis 170 cm) der ge¬ 
reizten Hautatellen hingewiesen. Der Geschwindigkeitsversuch dürfte, sowie 
die Erreichungszeitversuche bezüglich der Natnr physiologischer Zentral- 


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118 


V. Benusai, 


Das Ganze dauert bei Versuch 25 kürzer, die Bewegung ist weit 
rascher als bei Versuch 26. Die geringere Gesamtdauer wird 
also als größere Bewegungsgeschwindigkeit erlebt. 

Abschließend einige Bemerkungen über Doppelkreiserscheinungen 
im Versuch 25 sowie Varianten nach Versuch 18 und 19. 

Kennt eine Vp. aus eigener Erfahrung eine Kreisscheinbewegung 
— eine solche stellt sich bei geringerer Gesamtdauer als in Versuch 25 
und Einhaltung gleicher Verhältnisse von Beizdauer und Zwischen¬ 
zeit nahezu ausnahmslos ein — dann wird bald auch in Versuch 25 
die Doppelkreisgestalt erfaßt. Die Bewegung ist vollständig gleich¬ 
mäßig und man kann sich gar nicht Bechenschaft darüber geben, wie 
es denn kommt, daß die Bewegung am kleineren Kreis nicht lang¬ 
samer erscheint als die andere. Auch bei Kreisscheinbewegungen 
also, die durch zeitlich gleichmäßig abwechselnde Beizgebung 
hervorgerufen werden (was bei Versuch 26 nicht der Fall war und als 
Einwand hätte vorgebracht werden können) ist die Geschwindigkeit 
eine bloß dauerbestimmte, d. h. eine von der Größe des Weges un¬ 
abhängige Bewegungsbestimmung. 

Die gleiche Erscheinung tritt bei Umkehrung der Verhält¬ 
nisse zwischen Beizdauer und Zwischenzeit (V. 25a) ein. 
(Vgl. Versuch 18 und 19.) Der einzige Unterschied gegenüber Ver¬ 
such 25 besteht darin, daß die Berührungen einen Vortakt zeigen. 
Dieser Vor- oder Auftakt, der durch das Aufhören des 
Druckes an einer bestimmten Hautstelle hervorgerufen 

wird, wird immer an jener Stelle 
lokalisiert, an der der neue Druck¬ 
reiz einsetzt. 

Ist die Beihenfolge der Beize to— i-m— 
a-m-i-m-a usf., in welchem Falle, wenn 
die Bewegung subjektiv in m beginnt (in¬ 
folge näher zu bestimmenden, hier neben¬ 
sächlichen Umständen) die Bewegung der 
Pfeilrichtung (Fig. 19 1 ) folgt, und nennen 
wir Vi, Vj, Fs die Vortakte oder Vor¬ 
berührungen in to, i, a, so ist Fi das Aufhören des Druckes in », 
wenn die kleine, in o, wenn die große Kreisbewegung vollzogen 



prozesse als Parallelerscheinung oder Substrat von Scheinbewegungserlebnissen, 
für die Annahme qualitativer Vorgänge sprechen. 

1) In Fig. 19 ist aus Versehen unterhalb von V t der Buchstabe * aus¬ 
geblieben. 


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I 



Versuche rar Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. H9 


wird. Entsprechend sind F a und F 3 das Auf hören des Druckes 
in m für den kleinen und den großen Kreis. 

Bei der genannten Umkehrung von Reizdauer und Zwischenzeit 
der Reize ist daher der subjektive Tatbestand bezüglich der erlebten 
Berührungen folgender: Vitn' (V 1 = Vorberührung in m, der objektiv 
das Aufhören des Reizes in * entspricht, m' = Berührung in m, der 
der objektive Einsatz des neuen Reizes in m entspricht), F 2 Fit»', 
F 3 a', Fim', F a *' usf. 

In der Zeit also, während welcher der Druckreiz etwa 
in m wirkt, hat die von m ausgehende Bewegung i erreicht, 
und wird hier durch das Auf hören des Reizes in m ( = Fj) und 
Anschlägen in i »begrenzt#. (Vgl. Versuch 18 und 19 und die 
Schlußbemerkungen zu Versuch 20.) 

Die Bewegungszeit ist also auch hier nicht die Zwischen* 
zeit der Reize, sondern die Reizdauer an einer Hautstelle 
selbst. 

Die optische Darbietung (V. 27) von Doppelkreisbewegungen be¬ 
stätigt die Konstanz der Scheinbewegungsgeschwindigkeit trotz 
Größenverschiedenheit des Weges; sie ist außerdem im Hinblick auf 
die Ergebnisse von Versuch 16 bis 20, namentlich 18 und 19 , aus 
folgendem Grunde beachtenswert. 

Eine optisch vermittelte Scheinbewegung wird rascher, wenn die 
Zwischenzeit bei konstanter Gesamtdauer (Reizdauer + Zwischenzeit) 
kleiner wird, — was, wie gesagt, bei haptischen Scheinbewegungen 
nicht der Fall ist. Nun zeigt die optische Darbietung von obigem 
Vereuch 25 in der Umkehrung der Verhältnisse von Reizdauer und 
Zwischenzeit (also diese kleiner als jene) keine Zunahme der Rasch* 
heit der Bewegung. Da nun in den Versuchen 18 und 19 geradlinige 
Bewegung hin und zurück zu bemerken war, hier aber Kreisbewegung, 
d. h. eine Bewegung größerer Einheitlichkeit oder geringerer Gliede¬ 
rung als jene auftritt, so wird man zur Frage nach den Beziehungen 
zwischen Bewegungszeit und Bewegungsform bei unver¬ 
änderter Reizlage geführt. Eine Frage, die weiter unten für sich zu 
behandeln sein wird. 

Was nun den Versuch 27 anlangt, ist noch folgendes zu bemerken. 
Man könnte meinen, der Schein gleicher Geschwindigkeit gehe auf 
eine hohe Schwelle für Geschwindigkeitsvergleichung zurück, so daß 
die Verdoppelung des Weges bei kleinem Gesichtswinkel eben noch 
nicht genüge, um eine adäquate Geschwindigkeitsvergleichung auf- 
kommen zu lassen. Stellt man nun die drei erscheinenden Punkte 
m, », a so zueinander, daß m-i 10, m—a aber 60 cm beträgt, und 

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120 


V. Benussi, 


wählt man einen Gesichtswinkel, bei dem m und a eben noch über* 
schaubar sind, dann überzeugt man sich, daß der erwähnte Einwurf 
nicht Stich hält: auch für den Fall, daß m-a das sechsfache von 
m —i beträgt, sind die subjektiven Bewegungsgeschwindigkeiten ein¬ 
ander gleich. Dabei wird von mancher Vp. sogar bemerkt, daß die 
kleinere Bewegung etwas kürzer als die große zu dauern scheine 
(Vp. Ma., Rh. 10 2./IX.), wodurch der Eindruck erweckt wird, als 
ob die kleinere Bewegung die raschere wäre. 

Es liegt hier eine Beeinflussung vorgestellter zeitlicher Strecken 
durch die Vorstellungen räumlicher Strecken vor, die gleich¬ 
falls in einer späteren Mitteilung näher analysiert wird. 

Das Gleiche wird auch und zwar öfter in der Form mitgeteilt »die 
größere Bewegung scheint etwas langsamer zu sein als die kleinere«. 

Von Bedeutung ist bei allen diesen Aussagen der Umstand, daß 
ach gerade das s.z.s. Irrationelle phänomenal Geltung verschafft; 
irrationell deswegen, weil es ja weit näherliegend sein müßte, zu 
meinen, die kleinere Bewegung sei nicht die raschere, sondern die 
langsamere. 

Während also die tatsächliche Geschwindigkeit dem 
Quotienten Weg durch Zeit proportional ist, ist die Ge¬ 
schwindigkeit von Scheinbewegungen nicht einem rela¬ 
tiven, sondern einem absolutenWerte zugeordnet, nämlich 
der Bewegungsdauer. Jene Scheinbewegung ist die raschere, die 
kürzer dauert, abgesehen davon, ob der Bewegungsweg groß oder klein 
ist, und abgesehen davon, ob (wie bereits erwähnt wurde und im nächsten 

Abschnitte noch näher zu erweisen sein 
wird) die Zunahme der Dauer eine tat¬ 
sächliche oder eine bloß subjektive ist. 

Eine eingehendere Untersuchung der 
ScheinbewegungBgeschwindigkeit ist im 
Gange. 

2) Phrasierung, Dauer und Ge¬ 
schwindigkeit. 

Der Grundversuch (V. 28), aus wel¬ 
chem sich eine Präzisierung der Bezie¬ 
hungen zwischen den einzelnen in der Überschrift dieses Abschnittes 
aufgezählten Faktoren entnehmen läßt, weist folgende Gestalt auf. 

Es werden im ganzen 3 Hautstellen t, m und a gereizt. Die zwei 
letzteren gehören dem linken (rechten), die erstere dem rechten (linken) 
Vorderarm zu. (Vgl. Fig. 20.) Die Reizung erfolgt nach folgendem 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegnngen. 121 


Schema: m-o—m—»—»-»» usf. Die Zwischenzeiten sind 
überall gleich, das Verhältnis von Reizdauer und Zwischenzeit bleibt 
konstant; Abstand zwischen m und a 7, zwischen « und m 75 cm. 

Unter solchen Umständen entstehen zwei verschiedene Schein¬ 
bewegungserlebnisse, die vom Typus der Vp. abhängen. Der eine 

Typus (A) erlebt m a m || » || m a m || * usf.; der 

andere (B) a m * m a m » usf. Für den einen ist also 
zwischen m und »’ keine Bewegung vorhanden. Dieser Typus bleibt 
hier außer Acht. Darüber wird in der zweiten Abhandlung unter 
Bewegungsverdrängung durch rä umli che Zusammenhangslosigkeit 
das Nähere zu entnehmen sein. Beim Typus B läßt sich mm fol¬ 
gendes feststellen. 

1) Ist die Gesamtzeit (Reizdauer + Zwischenzeit, wobei sich 
diese wie 1 :3 verhalten) gleich 1100 a, dann erscheinen die Be- 

wegungszeiten untereinander gleich: m a dauert ebenso lang 

—‘a 

wie m t. Die zwei Bewegungen sind gleich schnell; die Geschwin¬ 
digkeit ist also gleich. 

2) Ist die Gesamtzeit gleich 600 a, so dauert m * subjektiv 
kürzer und die m »'-Bewegung ist die schnellere, geschwindere. 

3) Wird die Gesamtzeit gleich 440 a gesetzt, so ist die subjektive 

m—»-Zeit größer als die m—o-Zeit und die m t - Bewegung die 
langsamere. 

In Sachen der Geschwindigkeit von Scheinbewegungen ist »2)« 
zweideutig, denn man könnte ebenso gut meinen, die größere Schnellig¬ 
keit sei durch den größere n Weg bedingt, wie man annehmen könnte, 
sie habe in der geringeren Dauer der Bewegung ihren Grund. 

»3)« entscheidet jedoch eindeutig zugunsten der früheren Auf¬ 
fassung, wonach die subjektive Geschwindigkeit von der Dauer allein 
abhängt, gleichviel ob diese subjektiv oder objektiv verändert wird. 
Hierfür spricht auch »1)«. Desgleichen weist »1)« darauf hin, daß 
der Gegensatz zwischen »2)« und »3)« durch Etwas bedingt sein muß, 
das mit der Frequenz der Reize, also mit der Größe der Gesamtzeit 
zusammenhängt. ' 

Was dieses Etwas sei, ergibt sich durch Selbstbeobachtung und 
frühere Feststellungen sofort; es ist die Phrasierungsgestalt, in 
der die Hauteindrücke erlebt werden. Bei gz = 1100o folgen 

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122 


V. Benussi, 


die Eindrücke einander (Folgengestalt), bei gz = 600 a entsteht die 
Phrasierungsgestalt: 


bei gz 


m—i—m—a—m—i—m—a—m—i—m—a—m 

--»» v.*#» 

440 a aber: 

m—i—m—a—m—i—m—a—m—i—m—a—m 


wobei bei 2) das m vor dem i, bei 3) das m vor dem a subjektiv an* 
fangsbetont wird. Dieser Umstand muß für 2) eine subjektive 
Verkürzung der m-i-, für 3) eine subjektive Verkürzung der 
m—o-Zeit zur Folge haben. Außerdem bedingt die Phrasierung 
nach 2) eine subjektive Verlängerung der a-m-, die Phrasierung 
nach 3) aber der i-m- Zeit. Der Gegensatz zwischen 2) und 3) ist 
hierdurch restlos geklärt 1 ). 

Zugleich werden aber individuelle Abweichungen ohne weiteres 
verständlich: je nach beabsichtigter oder imbeabsichtigter Phrasie¬ 
rungsart wird bald die Bewegung über die längere, bald die über die 
kürzere Strecke als die geschwindere bezeichnet: Die Phra¬ 
sierung bestimmt die subjektive Dauer einer Bewegung, 
die subjektive Dauer bestimmt die subjektive Geschwin¬ 
digkeit. Unter objektiv gleichen Reizverhältnissen kann 
daher eine und dieselbe Bewegung ihre subjektive Ge¬ 
schwindigkeit ändern je nach ihrer Stellung in einer mit¬ 
erlebten Phrasierungsgestalt. 

Die Beziehungen zwischen Bewegungsdauer, Geschwindigkeit und 
Phrasierung liefern somit einen neuen Beweis für den Satz: die Ge¬ 
schwindigkeit einer Scheinbewegung wechselt mit deren Dauer ohne 
[Rücksicht auf die Größe des Weges. 

Die Lage der Betonung spielt eine nebensächliche Rolle; so 
lange die Phrasierung gleich bleibt, ergeben m—i—m—a—m—i—m—a 
und m—i—m—a—m—i—m—a trotz der gegensätzlichen Betonung: 
*m—i—m kürzer und rascher als m—a—m «. 


1) Weist eine bestimmte Phrasierung eine große Beharrlichkeit auf, 
dann schwindet die dem Frequenzweohsel zugeordnete Umkehrung des Ge« 
■chwindigkeitsverhältnisses zwischen m—a—m- und m—i —m-Bewegung. Die 
Analyse dieser Beziehungen wäre eine Arbeit für sich und würde nicht nur 
für die augenblicklich zu klärenden Probleme der Scheinbewegungaauffas- 
sung, sondern auch für die Psychologie von Zeit und Rhythmus von Be¬ 
deutung sein. 


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Veraach« zur Analyse taktil erweckter Scheiabewegangen. 123 


3) Überblick über die Wechselbeziehungen zwischen Dauer, 
Größe und Eigenart einer Scheinbewegung. 

Die innige Abhängigkeit zwischen Raum- und Zeiterlebnissen be¬ 
züglich einer im Aussehen der diesen Erlebnissen zugeordneten Gegen¬ 
stände sich verratenden gegenseitigen Beeinflussung hat sich uns 
bereits wiederholt aufgedrängt. Die einschlägigen Haupterscheinun¬ 
gen, Versuch 29 inbegriffen, sind: 

1) Das Kleiner-(Größer-)Werden eines Raumabstandes bei 
Zunahme (Abnahme) der Schnelligkeit einer Bewegung. Die Ver¬ 
kleinerung des »Weges« erreicht unter Umständen den Wert Null; 
sie führt mit anderen Worten zur Aufhebung jeder Scheinbewegung, 
indem die zwei Berührungen schließlich zusammenfallen. 

2) Die Ausgleichung zweier Zeit strecken bei vollständig ein¬ 
heitlicher Scheinbewegung zwischen zwei Hautstellen (vgl. V. 29). 
Berührungen, die in Zwischenzeiten von 400,1200, 400, 1200 a usw. 
erfolgen, scheinen in gleichen Abständen zu erfolgen, wenn die ur¬ 
sprüngliche Hin-Bewegung (Bewegung ohne »Zurück«) über eine Be¬ 
wegung »hin« bei weniger anschaulicher Bewegung »her« zu einer 
Kreisbewegung geworden ist. 

3) Die größere Scheindauer jener Bewegung, die sich über die 
größere Raumstrecke vollzieht; sie tritt dann auf, wenn die Bewegung 
von o nach b (= 7 cm) mit einer Bewegung von a nach c (= 14 cm) 
abwechselt. 

Die scheinbare Raumgröße, die scheinbare Zeitgröße und die 
Einheitlichkeit einer Scheinbewegung stehen also in deutlich zum 
Ausdruck gelangender, gesetzmäßiger Wechselwirkung zueinander. 
Die günstigsten Entstehungsbedingungen solcher Wechselwirkungen 
scheinen dann gegeben zu sein, wenn die genannten Komponenten 
einheitlich eine in sich geschlossene Bewegungsgestalt betreffen. 
Der innige, phänomenale, sich am erfaßten Gegenstände verratende 
Zusammenhang der einzelnen Aspekte dieses Gegenstandes scheint 
die allgemeine Bedingung dessen zu sein, was sich als Inadäquatheit 
der Raum- oder Zeitvorstellung am kürzesten bezeichnen läßt. So 
wie auf räumlichen Gebieten einzelne Figurenteile sich dann am aus¬ 
giebigsten in Hinblick auf Lage und Größe gegenseitig beeinflussen, 
wenn sie einer in sich geschlossenen Gestalt angehören, so beein¬ 
flussen sich Raum- und Zeitdistanzen dann in besonders auffälliger 
Weise, wenn sie gleichfalls eng zusammengehören; die Bewegungs¬ 
gestalt, die in sich Raum- und Zeitdaten zu einer neuen 


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124 V. Bentusi, 

Erscheinung vereinigt, bietet daher zu solchen Einflüssen 
die beste Gelegenheit. 

Jenes Gesetz, wonach sich Inhalte dann gegenseitig beeinflussen, 
wenn sie in Gestaltbeziehung zueinander stehen, findet hier eine 
neue nicht gering anzuschlagende Bestätigung. 

4) Bewegungsrichtung und Phrasierung. 

Die Richtung einer Scheinbewegung etwa zwischen m und t ist 
zunächst von der Zeitverteilung der Reize abhängig: von der Stelle 
des ersten Reizes vollzieht sich eine Scheinbewegung zur Stelle des 
zweiten Reizes hin. Wieso es kommt, daß, obwohl der Endort der 
Bewegung erst in dem Augenblick durch den zweiten Reiz bestimmt 
wird, in dem die Bewegung abgeschlossen wird, wir den klaren Ein¬ 
druck haben, daß sich während der Zwischenzeit eine Bewegung 

gerade von m aus nach i oder umge¬ 
kehrt vollzogen habe, ist eine Frage 
für sich. Sie kann hier nur gestellt 
werden. Werden nun die Punkte 
(Hautstellen) m und i alternierend in 
gleichen Zeitabständen gereizt, so tritt 
eine Bewegung eben von m nach t, 
von i nach m auf usf. Der Richtungs¬ 
wechsel folgt eben dem zeitlichen 
Wechsel der Reize. 

Nun tritt aber noch ein weiteres Moment hinzu: die Phrasierung 
oder gruppenmäßige Auffassung der einzelnen Berührungen. Da 
über diesen Punkt in einer zweiten Abhandlung unter »Bewegungs¬ 
verdrängung durch zeitliche Zusammenhangslosigkeit« besonders zu 
handeln sein wird, kann ich mich hier auf die Mitteilung eines para¬ 
digmatischen »Richtungsversuches« beschränken. 

Dieser (V. 29) besteht darin, daß die Reizung des Punktes «', die 
natürlich zwischen zwei m-Reizengen (m 1 und m 2 ) fällt, zeitlich 
gegen oder m 2 verschoben wird, und zwar so, daß 7 einander in 
kurzen Pausen folgende Beobachtungen folgenden Verhältnissen 
entsprechen: die Zeit tn l —i verhält sich zur Zeit i—m 2 wie 1 : 7 (1), 

1 : 3 (2), 1 :1,6 (3), 1 :1 (4), 1,6 :1 (5), 3 :1 (6), 7 :1 (7). Diese 
Reizverhältnisse sind in Fig. 21 versinnbildlicht, wobei die zeit¬ 
lichen Abstände der Reize durch räumliche wiedergegeben sind. 
Die Reizfolgen auf m und i sind dann, etwa von m—i = 200 a 
(Nr. 1 in Fig. 21) ausgehend: m (200 o) i (1400 a) m (200 o % ...; 

2 : m (400 o) i (1200 o) m (400 o) i ...; 3 : m (600 a) i (1000 o) 



Fig. 21. 


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Versuche sor Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 125 

m (600 a) i ... uflf. bis zu 7 : m (1400 a) i (200 a) m (1400 a) 
i (200 o) m ... 

Unter diesen Umständen tritt beim spontanen Verhalten der Vp. 
(d. h. bei einem solchen, der frei von jeder Phrasierungsabsicht ist, 
so daß derVp.eben nur jene Berührungen als gruppenmäßig zusammen¬ 
hängend erscheinen, die sich zeitlich von selbst als Gruppe abheben) 
in den Fällen 1, 2 und 3 nur eine Bewegung von m x nach », in den 
Fällen 5, 6 und 7 aber nur eine Bewegung von i nach m 2 ein: die 
entgegengesetzte Zeitlage jener Berührungen, die sich 
als Gruppe oder Phrase abheben, hat eine Umkehrung 
der Bewegungsrichtung zur Folge. 

Im Falle 4, wo keine äußere Gruppenbegünstigung vorliegt, ist 
die Bewegung eine ununterbrochene. 

Hat sich nun auf Grund von 1, 2 und 3 bereits eine Einstellung 
zu einer bestimmt gegliederten Auffassung entwickelt, so ergibt 
auch 4 nur Bewegung von m nach i. 

Wird eine solche Versuchsgruppe mehrmals vorgenommen, oder hat 
eine Vp. eine deutliche Neigung zur einheitlichen Auffassung mehrerer 
einander folgenden Berührungen von m, t, m ... usf., dann ist 
bald bei allen Versuchen (1 bis 7) ununterbrochene Bewegung 
vorhanden. Ist dieses Stadium aber erreicht, dann tritt die zeit¬ 
liche Gliederung der m- und i-Berührungen immer mehr im 
Bewußtsein zurück. Es findet eine Ausgleichung zwischen 
den m—i- und den i-m- Zeiten statt, die so weit gehen kann, 
daß auch die Fälle 1 und 7, bei denen sich die zwei Berührungs¬ 
zwischenzeiten (m —i und i—m) wie 1 zu 7 verhalten, den Eindruck 
gleichmäßiger fortlaufender Bewegung erwecken. Trotz der großen 
objektiven Verschiedenheit der Zwischenzeiten (m—i gegenüber 
i-m), trotz der hierdurch gebotenen Gelegenheit, Bewegungen von 
weit verschiedener Geschwindigkeit zu erfassen (vgl. V. 24), bleibt 
die Geschwindigkeit eine konstante, gleichmäßige: Die Einheit¬ 
lichkeit oder, besser gesagt, die Gleichstellung der ein¬ 
zelnen Berührungen als Bewegungsgrenzen oder Bewe¬ 
gungsursprungs- und Bewegungsabschlußstellen, lassen 
die objektiven Reizverhältnisse gar nicht zur Geltung 
kommen. Je ausschließlicher man sich dem Hin- und Zurück- 
Bewegungserlebnis hingibt, um so mehr gleichen sich die Be¬ 
wegungszeiten aus. Diese Ausgleichung erreicht ihr Maximum dann, 
wenn sich aus der Hin- und Zurück-Bewegung eine Kreisbewe¬ 
gung entwickelt (V. 29a). Sobald, wie eben in diesem Falle, der 
Eindruck des »hin« und »her« verschwunden und die Richtung der 


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126 


V. Bennflfi, 


Bewegung somit eine konstante ist, erreicht das ganze Phänomen 
eine früher nicht vorhanden gewesene Abgeschlossenheit: die Er¬ 
scheinung wird zu einer bewegungsungegliederten, maximal einheit¬ 
lichen und die einzelnen Berührungen sind dieser Erscheinung voll¬ 
ständig untergeordnet; die erlebte Kreisbewegung ist rhythmisch 
von Hautberührungen begleitet, d. h. jenes Etwas, das sich u. s. U. 
ganz klar duroh den Arm hindurch bewegt, trifft an ungefähr gegen¬ 
überliegenden Peripheriestellen die Haut und wird in diesen Augen¬ 
blicken auch sinnfällig. Von der früheren zeitlichen Gliederung 
dieser Berührungsaugenblicke bleibt manches Mal nur dieses Eine 
zurück: die »Peripheriestellen« m und i liegen nicht ganz einander 
gegenüber, sie sind »gedanklich« nicht durch einen Durchmesser, 
sondern durch eine Sehne zu verbinden. 

6) Bewegungsursprung und Aufmerksamkeitsrichtung. 

Bei Erweckung einer Reihe haptischer Scheinbewegungen (also 
bei »hin«- und »her«-Bewegungen) läßt sich oft folgender Erschei¬ 
nungswechsel konstatieren: Eine zunächst vollständig gleichmäßig 
verlaufende Bewegung etwa von m nach i und von hier zu m usf., 
wandelt sich in eine wohl noch immer kontinuierliche aber periodisch 
anfangsgefärbte um, d. h. eine der zwei Stellen, zwischen denen 
sich die Bewegung vollzieht, weist stets Anfangscharakter auf. 
Die Bewegung beginnt im m (*), i (m) hat eine Art Schlußcharakter 
und die Bewegung von i nach m etwas »Leises«, »Flüchtiges« an 
sich; sie ist »rascher« und oft geradlinig, während die Bewegung, 
die ihr folgt, in m »sicher« einsetzt, sich nach i bogenartig verlau¬ 
fend schwingt und wiederum »unscheinbar« und »hastig« dorthin 
zurückläuft, von wo eine »neue« Bewegung von neuem einsetzt. 
Zweifellos sind hier Phrasierungsmomente im Spiele von der oben 
[sub D, 2] (Phrasierung, Dauer und Geschwindigkeit) genannten Art. 
Dies geht auch daraus hervor, daß bei länger anhaltender Dar¬ 
bietung aus der eben genannten Erscheinung eine »Bewegung ohne 
Zurück«, von der in einer späteren Abhandlung sub »Bewegungs¬ 
verdrängung durch zeitliche Zusammengehörigkeit« zu handeln sein 
wird, entsteht. 

Hier interessieren uns aber nur die Entstehungsbedingungen 
des Anfangscharakters und zwar näher die äußeren Entstehungs¬ 
bedingungen desselben. 

Es fragt sich also, ob es möglich ist, ohne jede Phrasierungsvor¬ 
schrift, durch bloße Änderung der relativen Stärke oder der relativen 
Dauer von m (i) eine bestimmte »Anfangserscheinung« zu erwecken. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 127 

Die Versuche, die ich rar Beantwortung dieser Frage angestellfc 
habe und die bei der Vp. eine bereits stark entwickelte Beobachtungs¬ 
fähigkeit voraussetzen, also nicht mit einer jeden ohne weiteres vor¬ 
genommen werden können, ergaben keine gesetzmäßige Beziehung zwi¬ 
schen den genannten Momenten. Dies besagt natürlich nicht, daß 
hier Gesetzlosigkeit herrscht, sondern nur, daß noch ein entschei¬ 
dendes Moment im Spiele ist, welches durch Stärke und Dauer 
von »i (t) nicht eindeutig bestimmt wird. Dieses Moment ist 
die größere Beachtung, die Aufmerksamkeitskonzentration 
auf eine der zwei Berührungen, die durch Bewegung verbunden 
erscheinen: ein »angestrengtes Denken« an die m-Stelle hat einen 
Anfangscharakter der Bewegung aus dieser Stelle zur Folge (V. 30). 

Eine objektive Verstärkung von m kann dasselbe zur Folge 
haben, — aber auch nicht; sobald die schwächere Berührung in t 
eben hierdurch zur auffälligeren, beachteteren wird, ist auch der 
Anfangscharakter nicht mehr in m, sondern eben in t. 

Der Schein des Ungesetzmäßigen wird durch das Gesetz der Auf¬ 
merksamkeitsschwankung hervorgerufen: mit dem Wandern der 
größeren Beachtung von m nach i wandert auch der Anfangscharakter 
der Bewegungserscheinung. 

Das objektiv bedingte Hervorheben der einen Berührung durch 
Druckverstärkung beeinträchtigt innerhalb gewisser Grenzen das 
relativ Rhythmische dieser »Aufmerksamkeitsschwankung«, kann sie 
aber nicht durch eine Reihe von Einzelversuchen hindurch, wie sie 
zur Konstatierung einer Gesetzmäßigkeit erforderlich wäre, in kon¬ 
stantem Sinne beeinflussen. 

Variationen der Reizdauer vermögen noch weniger als solche der 
Stärke die Lage des Bewegungsursprungs, also des »Anfangs« trotz 
Kontinuierlichkeit der vor sich gehenden Hin- und Herbewegung 
eindeutig zu bestimmen, und zwar deswegen, weil eine Verlängerung 
der Reizdauer nicht nur und in erster Linie zu Doppelbegren¬ 
zungen, sondern oft auch zu einer Art Doppelbewegung führt, 
die eine ruhige Beobachtung der Lage der Anfangsstelle unmöglich 
machen. 

Die Erscheinung, die eben als Doppelbewegung bezeichnet wurde, 
besteht im folgenden (V. 31): 

Ist die Reizdauer in m etwa zweimal so lang als in i und ist die 
»-Reizung eine nahezu (subjektiv) punktuelle, so entsteht von m 
aus in der Richtung nach i eine Bewegung, die nicht direkt von m 
nach i geht, sondern i erst über eine dritte zwischen m und * 
liegende, objektiv natürlich keinem Druckreize ausgesetzte, subjektiv 


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128 


V. Benagst, 


aber berührt erscheinende Hautstelle m' erreicht. Das Bewegungs¬ 
bild ist in Fig. 22 A angedeutet. 

Zwischen m und m' vollzieht sich also eine Bewegung 
während der Druckdauer in m. 

Die subjektive Berührung in m' entspricht dem Aufhören der 
Berührung in m. Wird m' von * »angezogen«, so resultiert eine 

Bewegung von m nach * mit Dop¬ 
pelbegrenzung in % (Fig. 22 B), die 
sehr oft ohne Rückbewegung nach 
m verläuft. Darüber entscheidet 
wiederum die Art der Phrasierung, 
von der in einer bald nachfolgen¬ 
den Untersuchung die Rede sein 
wird. Der Anfangscharakter läßt 
sich aber auch hier willkürlich ver¬ 
schieben, je nachdem m oder i auf¬ 
merksamkeitsmäßig bevorzugt wird: zwischen Bewegungsursprung 
und Aufmerksamkeitsrichtung besteht eine durchaus eindeutig be¬ 
stimmbare Beziehung. 

Die Erscheinung des Anfangscharakters, also (da mit dem Wan¬ 
dern der Anfangsstelle die Hauptrichtung der Bewegung selbst um¬ 
schlägt) eine bestimmte Richtungserscheinung, ist ein Vor¬ 
stadium der durch zeitliche Zusammenhangslosigkeit gesetzmäßig 
zu erweckenden Erscheinung einer »Bewegung ohne Zurück«, von 
welch letzterer in einer zweiten Veröffentlichung » über die inneren 
Bedingungen von Scheinbewegungen« zu handeln sein wird. 



6) Die Inversion der Scheinbewegungsrichtung. 

Die Richtung einer Scheinbewegung ist nicht nur von der Reiz¬ 
darbietung, sowie der entweder hierdurch oder durch eine beabsich¬ 
tigte Gruppierung bedingten Phrasierung abhängig, sondern auch 
von der Lokalisation der Bewegungsbahn. Jedes Raum¬ 
gebilde ist seinen relativen Tiefenbestimmungen nach umkehrbar. 
Die bekannten Würfel- und Treppenmuster sind nur ausgezeichnete 
Fälle davon. Die durch Umkehrung der genannten Tiefenwerte 
gegebene Inversion ist nicht nur bei visuell erfaßten Raum¬ 
gebilden möglich, sondern, wie die gegenwärtigen Versuche außer 
Zweifel setzen, auch für solche, die erst auf dem Umwege über 
eine haptisch erweckte Scheinbewegung zur Vergegenwärtigung ge¬ 
langen. Verläuft eine Scheinbewegung zwischen zwei Orten bogen¬ 
förmig oder geradlinig, dann tritt, solange es sich um nicht kon- 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 129 

tinuierliche Bewegungen handelt, keine Inversion der Bewegungs¬ 
richtung auf, — was ja selbstverständlich ist. Wohl läßt sich 
aber bereits bei diesen Bewegungen eine Art Inversionsvorstufe 
nach weisen: sie äußert sich in der Tatsache des »Stützpunktes« oder 
»Ursprungsortes« einer zwischen zwei Punkten sich ununter¬ 
brochen 1 ) vollziehenden Bewegung: die Bewegung geht von einem 
der zwei Punkte gleichsam aus, so daß der zweite Hautpunkt nur 
eine Art Zielstelle darstellt, bis zu welcher die aus dem ersteren 
ausgehende Bewegung eben reicht und von hier in ihre Ursprungs¬ 
stelle wieder zurückkehrt. Die Lage dieses Ursprungspunktes 
kann nun (V. 32) invertiert, vertauscht werden: hierdurch 
wird nicht die Bewegungsrichtung (die Bewegung bleibt ja unver¬ 
ändert eine Hin- und Herbewegung), sondern nur die Lage jener 
Stelle invertiert, aus der die Bewegung entspringt und in die sie 
zurückläuft. Sind die zwei Punkte etwa o und m, so resultiert 
von a aus betrachtet einmal eine Hin- und Her-, ein andermal eine 
Her- und Hin-Bewegung. Über die Lage der Ursprungsstelle ent¬ 
scheidet eine bestimmte Art der Gestaltauffassung: ist m (gleichviel 
ob durch geringere Intensität oder durch Aufmerksamkeitslenkung 
auf a) dem a untergeordnet, dann ist m Ursprungs-, a Ziel¬ 
stelle und umgekehrt (vgl. V. 30). 

Die Bewegung von der Zielstelle zurück zum Ursprungsort ist 
rascher und weniger anschaulich; — rascher deswegen, weil sie sub¬ 
jektiv kürzer zu dauern scheint als die Bewegung vom Ursprungs- 
zum Zielorte. 

Ist nun die Bewegung eine in sich geschlossene, kontinuierliche, 
dann tritt mit der Inversion der relativen Tiefenwerte der Bewejmngs- 
ebenen ausnahmslos eine Inversion der Bewegungs-Richtung auf. 

So wird (V. 33 a) aus der in Fig. 23, 1 veranschaulichten Be¬ 
wegung die sub 2 angegebene und umgekehrt. 

Hat sich (V. 33 b) zwischen zwei Punkten eine kontinuierliche 

1) Wir müssen natürlich zwischen kontinuierlich und ununterbrochen 
definitorisch unterscheiden, indem der Ausdruck kontinuierlich nur auf Be¬ 
wegungen bezogen wird, die in sich »geschlossen« sind, während der Ausdruck 
»ununterbrochen« das Fortfließen in der Zeit bezeichnet: Eine Kreisbewegung 
ist in diesem Sinne eine kontinuierliche, eine Hin- und Herbew r egung 
zwischen zwei Punkten eine ununterbrochene. Hier ist die Bewegungsrichtung 
durch das »hin« und »her« gegliedert, dort ist sie eine ungegliederte. 
Doch sind diese letzteren Ausdrucke nicht unmißverständlich zu gebrauchen, 
weil z. B. eine Doppelkreisbewegung nicht nur als eine kontinuierliche, sondern 
zugleich auch als eine gegliederte bezeichnet werden müßte. 

Archi? für Pijrchologi«. XXXVL 9 

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130 


V. Benussi, 


Kreisbewegung entwickelt, so schlägt deren Richtung mit der In¬ 
version der Bewegungsebene gleichfalls um. Aus 3 wird über 4 oder 
plötzlich die bei 5 veranschaulichte Bewegung entgegengesetzter 
Richtung 1 ). 

Werden (V. 33 c) 3 Hautstellen in Dreieckslage gereizt, so ge¬ 
schieht das nämliche: wird das gegebene Bewegungsdreieck in Spiegel¬ 
lage erfaßt, so ist die Bewegungsrichtung eine entgegengesetzte; aus 
der in Fig. 23,6 wird die sub 7 veranschaulichte Bewegung und um¬ 
gekehrt. Der Dreiecks versuch ist deswegen wichtig, weil hier eine 
Inversion des Grundrisses als solchen unmittelbar vergegenwärtigt 
wird und ganz klar ist, während sie bei den Kreisbewegungen nur aus 
dem Umschläge der Bewegungsrichtung erschlossen werden kann. 



Fig. 23. 


So wie die subjektive Lokalisation der berührten Haut - 
stellen in der Zeit die Scheingeschwindigkeit, so bestimmt 
die subjektive Lokalisation der gereizten Hautstellen im 
Raume die Scheinbewegungsrichtung. 

E. Überblick. 

Versuchen wir aus der Mannigfaltigkeit der im obigen mitgeteilten 
typischen Erscheinungen die allgemeinen charakteristischen Züge 
und Beziehungen herauszulösen, so gelangen wir zu folgenden Sätzen. 

1) In Figur 23,5 ist aus Versehen eine falsche Pfeilrichtung eingetragen: 
die ihr entgegengesetzte ist an ihre Stelle zu setzen. 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 131 


Für den Eintritt von Scheinbewegungen sind nicht die zeitlichen 
(oder sonst wie beschaffenen) Verhältnisse der ein Sinnesorgan 
treffenden Reize und daher auch nicht die Zwischenwirkungen der 
diesen Reizen zugeordneten zentralen Erregungen maßgebend, son¬ 
dern die zeitlichen Verhältnisse jener Erscheinungen, also »Gegen¬ 
stände«, die von uns auf Grund bestimmter Reize als vorhanden 
erlebt werden. (Man vergleiche V. 2 bis 4, sowie V. 12 bis 23 und 
V. 28 bis 31.) In dem Maße, in dem diese Erscheinungen von jenen 
Reizen unabhängig sind, sind es auch die Scheinbewegungserlebnisse. 
In einer zweiten bereits abgeschlossenen Abhandlung wird die Frage 
zu beantworten sein, ob das Erleben dieser Erscheinungen allein mit 
Notwendigkeit zu Scheinbewegungserlebnissen führt oder nicht; ob 
also neben der Realisierung bestimmter, den Reizen, wenn auch nur 
lose, zugeordneten Erlebnisse eine bestimmte Verhaltungsweise des 
die Reize aufnehmenden Subjektes gegeben sein muß, damit taktil 
oder optisch vermittelte Scheinbewegung erfolge. Mehrere der be¬ 
reits in der gegenwärtigen Abhandlung mitgeteilten Tatsachen schei¬ 
nen darauf hinzuweisen, daß das Überspannen bestimmter Er¬ 
scheinungen oder Phasen von solchen durch unsere Aufmerksam¬ 
keit jene Bedingung darstellt, die im Verhalten des Beobachters 
willkürlich oder unwillkürlich realisiert sein muß, damit ein Schein¬ 
bewegungserlebnis entsteht. 

Die speziellen Ergebnisse der gegenwärtigen Abhandlung bezüglich 
der Bewegungs-Zeit, -Dauer,-Form,-Größe und-Geschwindig¬ 
keit lassen sich ohne Einbuße an Klarheit und Anschaulichkeit 
kaum wiedergeben. Trotzdem stelle ich sie als eine Art Index hier 
zusammen. Ihre Nummerierung entspricht der im Texte eingehalte¬ 
nen. Die Textstellen sind also sofort zu finden. 

Va 11 Es gibt keine reinen Scheinbewegungen im Sinne von (für 
unser Erlebnis) objektlosen Bewegungen, wohl aber Bewegungs¬ 
erlebnisse anschaulichster Bewegung eines nur unanschaulichst ver¬ 
gegenwärtigten Objektes, eines »Etwas«. Va2l Es gibt keine 
Scheinbewegung, wenn nur ein Objekt im Bewußtsein vertreten ist. 
Das Gegenteil kann nur behauptet werden, wenn man unter Bewußt¬ 
seinsvertretung das sinnfällige Gegebensein versteht. Im Bewußtsein 
vertreten ist aber alles, woran man denkt. Ist nur ein Objekt sicht¬ 
bar, so bewegt es sich sofort, wenn man einen beliebigen Ort seiner 
Umgebung beachtend hervorhebt. Es bewegt sich verschwindend 
eben dorthin. Fehlt diese Bewußtseinsvertretung im Sinne eines Zu¬ 
sammenhangserlebnisses, so tritt keine Bewegung auf. Wa 3l Fehlt 
dieses »Zusammenhangserlebnis«, so ist auch dann keine Bewegung 

9* 


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132 


V. Bennssi, 


vorhanden, wenn zwei Objekte sinnfällig sind, dem einen davon aber 
ein unterschwelliger Reiz entspricht. Trotz der Zweiheit der Er¬ 
regungen tritt eine Scheinbewegung nicht auf. V.4l Geistige 
Ermüdung verdrängt eine ursprünglich durch Zusammenhangsbewußt¬ 
sein erweckte Scheinbewegung. V«5l (Erscheinungen 1—16.) 
Bei jeder Untersuchung der Beziehungen zwischen Scheinbewegungs¬ 
erscheinungen und Zeitverhältnissen der Reize ist der Quotient gz/zz 
in erster Linie zu berücksichtigen, zz kann zu Null werden oder 
gar einen negativen Wert aufweisen, ohne daß deswegen die Schein¬ 
bewegung verschwinden müßte; für diese ist die Größe von gz ma߬ 
gebend. Der Größe gz/zz sind verschiedene Erscheinungsgruppen 
zugeordnet. Der progressiven Abnahme von zz bei Konstanz des 
Quotienten gz/zz sind 16 verschiedene Scheinbewegungserscheinungen 
zugeordnet. V.6i Die Größe einer haptisch erweckten Schein¬ 
bewegung ist praktisch unbegrenzt. Sie ist eine Funktion des 
räumlichen Abstandes der gereizten Hautstellen und des zeitlichen 
Abstandes der Reizeintrittsaugenblicke. Va 71 Die zeitlichen Be¬ 
wegungsgrenzen sind konstant, sie ändern sich mit der Bewegungs¬ 
größe (Abstand der gereizten Hautstellen) nicht. lf a 8l Tritt eine 
ihrer Größe nach maximale Bewegung nicht auf, so ist eine Be¬ 
wegung sofort zu erzielen, wenn die früher maximal abduzierten 
Arme nun einander näher (30 bis 40 cm) rücken. Dabei bleiben 
die gereizten Hautstellen konstant. Va 9 u. IOi Die Erreichungs¬ 
zeiten für verschiedene Formen optimaler Scheinbewegungen sind 
von der Bewegungsgröße unabhängig. Dies gilt für die möglichen 
Grenzen von 3 (4) cm und 150 (170) cm. Die Erreichungszeiten für 
Bogenbewegung sind von der Wiederholung gesetzmäßig abhängig: 
sie nehmen mit der Wiederholungszahl zu. Die Veränderungsrichtung 
der zz beeinflußt bei Wiederholung die Erreichungszeiten in ver¬ 
schiedenem Sinne je nach der gegebenen Bewegungsgröße. V* III 
Zeit und Raumbestimmungen beeinflussen sich gegenseitig im Sinne 
der Ausgleichung, sobald sie an einer einheitlichen Gestalt beteiligt 
sind, wie dies bei der Bewegungsgestalt der Fall ist. lfalSl Die 
Kombination (beipsielsweise) zz = 100 o, RD =» 100 o ergibt Ruhe. 
Die Kombination zz = 100 o. RD = 900 o langsame Bewegung. Die 
Zeit dieser Bewegung ist nahezu die Zwischenzeit der Reizeinsätze. 
Die subjektive haptische Begrenzung besteht in einerDoppelberührung. 
Jeder Bewegungseinsatz etwa in m ist subjektiv durch das Aufhören 
der Berührung in i (welches als w-Berührung erlebt wird), und das 
Einsetzen der Berührung in m gegeben. Die Bewegung vollzieht sich 
während der Reizung einer der zwei gereizten Stellen. V.I3i Die 


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Versuche sur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 133 

Umkehrung zz = 900 0 und RD = 100 0 läßt die bei 12 verhandene 
Bewegung unverändert, — wiewohl diese Bewegung durch Zwischen¬ 
zeiten der Reize begrenzt wird. V*l4l Bei Reizüberschneidung 
vollzieht sich die Bewegung während der simultanen Reizung beider 
Stellen. V a l5l Die Umkehrung der Verhältnisse von Reizdauer 
und 22 läßt die Bewegungserscheinung unberührt. Für die Bewegung 
sind die phänomenalen Aspekte maßgebend; fallen diese trotz größter 
Reizverschiedenheiten gleich aus, so tritt auch immer die gleiche 
Bewegungserscheinung auf. Eine Bestätigung dafür liegt im Er¬ 
gebnisse optisch erweckter Scheinbewegungen. Va 16 u. 17 ■ Auch 
bei optischer Scheinbewegungsdarbietung decken sich Zwischenzeiten 
der Reize und Zeit der Bewegung nicht. Ist 22 = 100 und RD = 900 0 , 
so ist die Zeit der Bewegung = 160 bis 200 0 , also eine sehr rasche 
(Fig. 14). Unter gleichen Reizbedingungen ist eine haptische Be¬ 
wegung sehr langsam (V. 12). V s l8l Die Umkehrung (22 = 900, 
RD = 100), die haptisch indifferent ist, ergibt sehr langsame Be¬ 
wegung: man kann der Bewegung mit dem Blicke folgen. (Be¬ 
wegungsschein trotz angenäherter Konstanz der gereizten Netz¬ 
hautstellen.) V. 19 1 Die Reizverhältnisse von 14 und 15 ergeben 
optisch im ersteren Fall rasche Schattenbewegung (die Bewegung 
vollzieht sich also während der simultanen Reizung zweier Netz¬ 
hautstellen, ist also durch die Zwischenzeiten der Reize s.z.s. be¬ 
grenzt), im zweiten Falle langsame, klare Bewegung. Eine 
Variante (von 19) mit partieller Reizüberschneidung ergibt Bewegungs¬ 
verdoppelung. lf a 201 Reicht eine gegebene 22 zur Erweckung 
einer haptischen Scheinbewegung nicht aus (z. B. 22 = 100 0 , 
RD = 100 0 oder etwas weniger), so tritt Bewegung sofort ein, 
wenn die 22 (bzw. gz) subjektiv vergrößert wird (w r as bei zz - 100, 
RD - 100, Pause von 1,5 bis 2", 22 = 100 usf. der Fall ist). Es 
wird also Bewegung durch subjektive Vergrößerung einer nicht 
passenden zz erzielt. Mißt man die subjektive Bewegungszeit, so 
findet man, daß sie um ungefähr 0,25 der gz subjektiv vergrößert wird, 
somit eine Zeit darstellt, die auch bei Dauerdarbietung Bewegung 
hervorbringt. lf a 211 Dasselbe gilt auch auf optischem Gebiete. 
V.22i Eine haptische Scheinbewegung verlangt nicht unter allen 
Umständen eine Reizung von zwei Hautstellen. Wird ein »an¬ 
ziehender Reiz« eingeführt, so tritt eine Scheinbewegung auf, die 
sich während der Dauer des »angezogenen« Reizes vollzieht und 
sich von der Stelle des »anziehenden« zur Stelle des »angezoge¬ 
nen« erstreckt. lf. 23 a und b: Auf optischem und nur auf opti¬ 
schem Gebiete sind bei konstanten Reizverhältnissen, wenn dabei 


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134 


V. Benusai, 


RD^> zz ist, zwei verschiedene mit der Verhaltungsweise des Sub¬ 
jekts gesetzmäßig zusammenhängende Erscheinungen anzutreffen: 
a) lineare, geradlinige sehr rasche Bewegung mit Ruhepausen an den 
Endstellen, b) kreisförmige, kontinuierliche, gleichmäßige Bewegung 
konstanter Richtung, a) entspricht einem isolierenden, b) einem 
zusammenhangstiftenden Verhalten von seiten des Beobachters. 
V a 241 Die Geschwindigkeit anschaulich erfaßter Scheinbewegungen 
ist insofern als unanschaulich zu bezeichnen als sie, statt dem Quo¬ 
tienten Weg/Zeit, der Bewegungsdauer, und zwar der subjektiven, 
zugeordnet ist. Die Scheinbewegungsgeschwindigkeit ist eine dauer- 
begründete. Die Selbstbeobachtung scheint dafür zu sprechen, daß 
nur Bewegung und Dauer, aber keine eigenthche Geschwindigkeit 
erlebt wird. (Dieser viele weitere Probleme einschließende Tatbestand 
muß für sich erst eingehender untersucht werden.) V« 251 Der bei 
24 festgestellte Tatbestand tritt besonders deutlich zutage, wenn kleine 
und große geradlinige Bewegungen abwechselnd einander folgen. 
V* 261 Dasselbe läßt sich konstatieren, wenn eine vollständig 
einheitliche, fortlaufende, in sich imabgeschlossene Bewegung, eine 
Doppelkreisbewegung, erweckt, bzw. erlebt wird; und zwar sowohl 
wenn, wie in Versuch 26, alle Reizabstände untereinander zeitlich 
gleich, als auch wenn sie es nur paarweise sind. Ein Einfluß der 
Winkelgeschwindigkeit des sich im Doppelkreis bewegenden Etwas 
auf die lineare Geschwindigkeit ist durch Versuch 25 auszuschließen. 
V. 271 Auch auf optischem Gebiete gilt die auf haptischem Gebiete 
konstatierte Zuordnung zwischen Geschwindigkeit und Dauer einer 
gebotenen Scheinbewegung, indem auch hier jene Bewegung als die 
»raschere« erscheint, die kürzer dauert, ungeachtet des Umstandes, 
ob sie sich über einen größeren oder geringeren Weg zu erstrecken 
scheint, bzw. ob ihre Zeit tatsächlich oder nur subjektiv, etwa durch 
Phrasierung, verkürzt wird. Letzteres zeigt V. 281 Bei Reizung 
dreier Hautstellen nach dem Schema m—ar~m—i—rn--a ..., kann, 
wenn alle Zwischenzeiten einander gleich sind und der m— a-Ab¬ 
stand 7, der m— i-Abstand 75 cm beträgt, sowohl die Bewegung m—a 
als auch m—i rascher erscheinen als die mit ihr alternierende: darüber 
entscheidet die Phrasierung, indem sie die tatsächliche Gleichheit der 
Zwischenzeiten (zz) subjektiv nicht zur Geltung kommen läßt. Die 
absolute Größe von zz bestimmt bei einigen Vpn. die Art der unwill¬ 
kürlichen Phrasierung, daher mitunter eine Zuordnung von zz-Größe 
und GeschwindigkeitsVerschiedenheit zwischen der m—a- und der 
m— i-Bewegung. Bei willkürlicher Phrasierung gibt es eine solche 
Zuordnung nicht. V* 291 Die Richtung einer Scheinbewegung wird 


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Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen. 135 


gleichfalls von der gruppenmäßigen Auffassung der gebotenen Ein¬ 
drücke bestimmt. Isolieren sich innerhalb einer Reizreihe w—i— to—*— ro 
die Eindrücke m und i zu einer Gruppengestalt, so erfolgt Bewegung 
nur von m nach i ; gruppieren sich aber infolge zeitlichen Heran¬ 
rückens von i zu m eben diese Eindrücke zu einer Einheit i m , 
dann tritt wiederum nur i—ro-Bewegung hervor: die Bewegungs¬ 
richtungwird also invertiert. Entwickelt sich unter den gegebenen 
Reizverhältnissen eine einheitliche Kreisbewegung (V. 29 a), so 
treten die zeitlichen Verschiedenheiten von i—m und tn—i subjektiv 
gänzlich zurück; — auch dann noch, wenn sich die zeitlichen 
Intervalle i—m, m—i wie 1 zu 7 verhalten: maximale Angleichung 
von Zeitstrecken durch die einheitliche, in sich abgeschlossene Be¬ 
wegungsgestalt konstanter Bewegungsrichtung. V« 301 Eine Vor¬ 
stufe der Richtungsinversion hegt in der Inversion der Ursprungs - 
stelle (des Anfangscharakters) einer kontinuierlichen Bewegung bei 
gleichen zz. Jene Hautstelle, die intensiver beachtet wird, ist anfangs¬ 
betont, hat in bezug auf die gegebene Bewegung Ursprungscharakter. 
Die Lebhaftigkeit der Berührung fördert die intensivere Beachtung; 
daher die scheinbare Zuordnung zwischen Lage des Anfangscharakters 
und Lage der lebhafteren Berührung. Scheinbar ist diese Zuordnung 
deswegen, weil, sobald die schwächere Berührung durch inten¬ 
sivere Beachtung ausgezeichnet wird, ihr auch der Anfangscharak¬ 
ter anhaftet. V. 31« Unterscheiden sich die zwei Hauteindrücke 
nicht durch Intensität, sondern durch Dauer (der einwirkenden 
Reize), so tritt Analoges zum Vorschein. Dabei sind aber auch noch 
Doppelbewegungen und Doppelbegrenzung zu konstatieren, lf ■ 32 a, 
b und c: Die Bewegungsrichtung ist abhängig von der Lokalisation 
der Bewegungsbahn im Raume; vollzieht sich eine räumliche In¬ 
version, so tritt Inversion der Bewegungsrichtung hervor. So schlägt 
die Richtung einer Kreisbewegung oder einer Dreiecksbewegung um, 
sobald sich im Raume die Bewegungsebene scheinbar um 180° dreht. 
Wir finden also hier ein Analogon zu den invertierbaren Zeichnungen 
auf dem Gebiete einer noch unerforschten Art der Raumauffassung, 
nämlich der Raumauffassung auf Grund haptisch erweckter Schein¬ 
bewegungen. 


(Eingegangen am 26. September 1915.) 


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Zur Psychologie der Transvestie. 
in. (Schluß.) 

Zugleich ein Beitrag zur Reform des § 61 St.G.B. 

Von 

Dr. Ralph Pettow (Berlin). 

(Mit 4 Figuren im Text) 


In dem ersten der unser Thema behandelnden Aufsätze 1 ) wurde 
bereits in Erwägung gezogen, daß schon durch die bloße Vornahme 
des transvestitischen Aktes als solchen Delikte gezeitigt werden 
könnten. Ein Beleg hierfür findet sich in folgendem Bericht: 

Von fast grotesker Komik war eine Verhandlung vor dem Schöffen¬ 
gericht Berlin-Mitte am 19. Juni 1912 gegen einen Angeklagten in 
Frauenkleidem, dessen weiblicher Ehre angeblich zu nahe getreten 
worden war. Wegen Körperverletzung war der frühere Schlosser, 
jetzige Artist Emst Mittenstedt angeklagt. Bei Aufruf der Sache 
trat eine junge Dame in einem eleganten Tailormade-Kostüm und 
wallender Pleureuse in den Saal und ging sofort in die Anklagebank 
hinein. Das scheinbare Mißverständnis der jungen Dame klärte sich 
jedoch sogleich auf, denn es'ergab sich, daß dieselbe der Angeklagte 
Mittenstedt war. Auf die Frage des Vorsitzenden, weshalb er in 
weiblicher Kleidung erscheine, erwiderte der Angeklagte, daß er seit 
mehreren Jahren in Frauenkleidung gehe, und die Polizei hiervon 
auch Kenntnis habe, da er in Männerkleidung sehr auffalle, während 
dies nicht der Fall sei, wenn er in Frauenkleidem gehe. Da dies in 
einem Bericht des Kriminalkommissars Dr. Kopp bestätigt wurde, 
nahm das Gericht keinen Anlaß, den Angeklagten wegen Ungebühr 
zu bestrafen. — In der Sache selbst handelte es sich um eine Szene, 
bei der er bzw. sie bewiesen hatte, daß sie auch sehr schlagfertig sein 
könne, wenn jemand »ihrer« Ehre zu nahe trete. Rechtsanwalt Dr. 
Coßmann beantragte die Freisprechung des Angeklagten, da dieser 

1) Vgl. auch Bd.XXn, 1911, Heft 2/3, S.249 ff. und Bd.XXIX, 1913, 
Heft 1/2, a 92 ff. 


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Zur Psychologie der Transvestie. 


137 


der Meinung sein konnte, einen imberechtigten Angriff mit Gewalt 
abwehren zu müssen. Das Gericht erkannte auch in diesem Sinn 
und seidenrauschend verließ der Angeklagte den Gerichtssaal. — 
Eine weitere originelle Folge hätte sich unseres Erachtens durch eine 
angestellte Widerklage ergeben, indem der Kläger und Widerbeklagte 
unter Umständen nicht nur wegen Beleidigung, sondern je nach Lage 
des Falls wegen Versuchs am untauglichen Objekt (Notzucht) hätte 
belangt werden können. 

Im Anschluß an das Gesagte seien hier noch einige weitere ein¬ 
schlägige Fälle verzeichnet. Am 25. Juli 1913 wird aus Berlin unter 
der Rubrik »Der galante Dieb « berichtet: Eine überaus überraschende 
Aufklärung fand eine Raubaffaire, die sich auf dem Gesundbrunnen 
abgespielt hat. Kupferschmied Willy Laßnack lernte beim Spa¬ 
zierengehen in der Badstraße eine elegant gekleidete Dame kennen. 
Er besuchte mehrere Bierlokale mit ihr, und in vorgerückter Nacht¬ 
stunde suchten die beiden den Brunnen platz auf. Hier wurde die 
hübsche Begleiterin Laßnacks überaus zärtlich. Sie beteuerte ihm 
ihre Liebe und fiel dem Geliebtep stürmisch um den Hals. Als er 
nach einiger Zeit sich wieder von der Bank erheben wollte, machte er 
eine unangenehme Entdeckung; sein Portemonnaie, das 83 M. ent¬ 
halten hatte, war spurlos verschwunden. Niemand anders konnte 
es geraubt haben, als seine Begleiterin, die noch wenige Minuten 
vorher ihre Liebe so heiß beteuert hatte. Der Bestohlene rief einen 
Schutzmann herbei, und bei einer Leibesvisitation sollte es eine 
eigenartige Überraschung geben. Die junge Dame war keine Frau, 
sondern ein junger Mann, der 24 Jahre alte »Gelegenheitsarbeiter« 
Paul Peter aus der Bemauer Straße. Der Dieb gab zu, daß er sich 
absichtlich mit Frauenkleidem versehen habe. Er war bei dem Um¬ 
wandlungsakt so raffiniert zu Werke gegangen, daß ihm niemand 
angesehen hätte, daß sich unter der Frauenkleidung eine Mannsperson 
verbarg. Peter wurde verhaftet. 

Am 27. Oktober 1913 las man: Ein Mann in Frauenkleidem, 
dessen Absichten und Persönlichkeit noch nicht einwandfrei fest¬ 
gestellt werden konnte, wurde gestern dem Charlottenburger Polizei¬ 
präsidium eingeliefert. In der 3. Morgenstunde des gestrigen Sonn¬ 
tags wurden in der Nähe des Wittenbergplatzes mehrere Herren von 
einer elegant gekleideten Dame angesprochen. Die Fremde erzählte, 
daß sie fremd in Berlin sei. Einer der Anwesenden faßte Verdacht, 
und er teilte diesen einem Polizeibeamten mit, der die Frau nun 
sistieren wollte. In diesem Augenblick aber raffte die Dame ihr 
Kleid auf, und man sah ein paar ganz unweibliche Herrenbeinkleider, 


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138 


Ralph Pettow, 


und der Mann verschwand auch schon um die nächste Ecke. Man 
eilte hinter dem Flüchtling her, aber erst mit einem Auto gelang es 
schließlich, ihn am Lützowufer einzuholen und festzunehmen. Auf 
der Wache erklärte der Mann, der aus Kienitz gebürtige wohnungslose 
27jährige Diener Wilhelm Pötter zu sein. Er sei berechtigt, Frauen¬ 
kleider zu tragen, habe aber die Erlaubniskarte in seiner Heimat ver¬ 
gessen. Bis auf weiteres wurde der Verdächtige dem Polizeipräsidium 
eingeliefert. 

Ferner im Februar 1914, daß das Berliner Polizeipräsidium auf 
Grund von ärztlichen Gutachten einem Architekten und einem 
Kaufmann gestattet, in Frauenkleidem auszugehen, wenn dadurch 
die öffentliche Ordnung und Sicherheit nicht gefährdet wird. Beide 
Männer sind wohlhabend und stehen im Alter von etwa 40 Jahren. 
Sie sind beide verheiratet, haben Kinder und führen beide eine 
glückliche Ehe. 

Von einem »Wunderdoktor« in Frauenkleidem wird im März 1914 
aus Bromberg berichtet. Wegen räuberischer Erpressung hatte sich 
der Gärtner Johann Plewa vor degi dortigen Schwurgericht zu ver¬ 
antworten. Der Angeklagte, der bereits zahlreiche Vorstrafen ver¬ 
büßt hat, ist früher als »Wunderdoktor« im Lande umhergezogen und 
hat dabei raffinierte Schwindeleien verübt. Auf seinen Irrfahrten 
kam er im Dezember 1913 auch nach Bielsko. Dort erschien er in 
Frauenkleidem bei zwei Frauen und stellte sich als Wunderdoktor 
vor, der alles wisse. Zum Beispiel sei ihm bekannt, daß sie drei 
Schweine verkauft hätten und ein Grundstück kaufen wollten; er 
wisse auch, daß die ältere der Frauen an Bheumatismus leide, und er 
sei bereit, sie von ihrer Krankheit zu heilen, verlange aber dafür 
80 Mark. Drohend fügte er hinzu, wenn er das Geld nicht erhalte, 
werde ein großes Unglück in der Familie passieren. Damit die 
Frauen nicht im Zweifel sein konnten, welcher Art das Unglück sein 
werde, legte er ein großes Messer neben sich. Die geängstigten Frauen, 
die für ihr Leben fürchteten, gaben dem Angeklagten die 80 Mark, 
worauf dieser verschwand und nichts mehr von sich hören ließ. 
Das Gericht verurteilte den gefährlichen Wunderdoktor wegen dieser 
»Kur« unter Versagung mildernder Umstände zu 2 x / 8 Jahren Zucht¬ 
haus und 5 Jahren Ehrverlust. 

Unter der Rubrik »Verkleidungsschwindel gegen einen Gelbdrief- 
träger« heißt es am 7. Mai 1914 folgendermaßen: Vor der 11. Straf¬ 
kammer des Landgerichts I hatten sich gestern der Schuhmacher¬ 
geselle Andreas Zimny wegen Urkundenfälschung und Betrugs und 
die Aufwärterin Auguste Bock wegen Beihilfe dazu zu verantworten. 


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Zur Psychologie der Trsnsvestie. 


139 


Der noch jugendliche Zimny wohnte bei Frau Bock in Schlafstelle 
und verlor im Dezember v. J. seine Arbeit. Er war mit den Familien¬ 
verhältnissen eines früheren Schulkameraden Hasselbach vertraut, 
telegraphierte unter dessen Namen an dessen Eltern in Lautem und 
ersuchte sie um telegraphische Geldübersendung an seine postlagernde 
Adresse. Als die Eltern die nur mit »Hasselbach« Unterzeichnete 
Depesche erhielten, zweifelten sie nicht daran, daß sie von ihrem 
Sohn herrühre und sandten umgehend das verlangte Geld. Inzwischen 
hatte Zimny folgenden Trick vorbereitet: Er hatte sich bei seiner 
Wirtin ein paar Damenzöpfe und von einer gleichfalls bei Frau Bock 
wohnenden Verkäuferin ein Kleid geliehen; ferner hatte er an der 
Wohnungstür eine Visitenkarte befestigt, auf die er die Worte »Maria 
Hasselbach« geschrieben hatte. Nach Beendigung dieser Vor¬ 
bereitungen ging er zum Postamt und gab den Auftrag, eine etwa 
für Hasselbach einlaufende telegraphische Postanweisung, die für 
seine Cousine Maria Hasselbach bestimmt wäre, unverzüglich durch 
besonderen Boten in die Wohnung dieser Cousine bei Frau Bock zu 
befördern. Demgemäß sandte der Schalterbeamte, als bald darauf 
die Anweisung von der Postagentur Lautem einlief, einen Post¬ 
schaffner nach der angegebenen Wohnung. Auf dessen Klingeln 
öffnete ihm Frau Bock, die ihn auf seine Frage nach Fräulein Hassel¬ 
bach nach dem Zimmer wies, wo bereits Zimny als Dame ver¬ 
kleidet des Briefträgers harrte. Nach der ganzen Sachlage unterließ 
es der letztere, die Vorlegung besonderer Legitimationspapiere zu 
verlangen, und begnügte sich mit den üblichen Fragen nach der 
Höhe des Betrages und Herkunft des Geldes. Als Zimny mit ver¬ 
stellter Stimme diese Fragen zutreffend beantwortet hatte, nahm 
der Briefträger keinen Anstand, den Betrag dem verkleideten Schuh¬ 
machergesellen auszuzahlen, der darauf mit »Maria Hasselbach« 
quittierte. Der ganze Schwindel ist erst Monate später ans Licht 
gekommen. Staatsanwalt Lanzenberger beantragte gegen Zimny 
vier Monate, gegen Frau Bock wegen Beihilfe zum Betrüge zwei 
Wochen Gefängnis. Für letztere erbat Rechtsanwalt Dr. Herbert 
Fuchs nur eine Geldstrafe, da Frau Bock eigentlich ohne Überlegung 
in die ganze Geschichte hineingeraten sei. Der Gerichtshof ver¬ 
urteilte Zimny zu drei Monaten Gefängnis unter Anrechnung von 
sechs Wochen Untersuchungshaft, Frau Bock zu 20 M. Geldstrafe. 

Am 8. Mai 1914 wurde die Verhaftung eines jugendlichen Berliner 
Pärchens aus Hamburg gemeldet. Auf dem Steindamm fielen einem 
Beamten zwei junge Mädchen auf, von denen das eine sehr auffällig 
gekleidet war und übergroße Füße hatte. Der Verdacht des Beamten, 


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140 


Ralph Pettow, 


daß er einen Mann vor sich habe, bestätigte sich, worauf beide ver¬ 
haftet wurden. Sie entpuppten sich als der siebzehn Jahre alte 
Buchdrucker Janos aus Berlin und seine 16 Jahre alte Freundin 
Knopf. Beide sind aus Berlin geflüchtet, wollen sich aber keiner 
strafbaren Handlung schuldig gemacht haben. Eine Untersuchung 
ist eingeleitet. 

Schließlich sei noch eine Verhandlung erwähnt, die am 6. März 
1914 vor dem Schöffengericht Berlin-Schöneberg unter Vorsitz des 
Amtsrichters Grolmann stattfand. Wegen groben Unfugs war der 
19jährige aus guter Familie stammende Kaufm ann Hans L. an¬ 
geklagt. Eines Abends beobachtete ein Krimin ftlschiit zmann eine 
an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche stehende sehr elegant ge¬ 
kleidete Dame, die verschiedene Herren ansprach. Er sistierte sie 
schließlich und war sehr erstaunt, als die »Dame« auf der Polizei¬ 
wache zu weinen anfing und sich schließlich als der Kaufmann Hans 
L. entpuppte. Die Polizei sah das Tragen von Frauenkleidem als 
einen groben Unfug an und erließ gegen L. ein Strafmandat, das auf 
die Höchststrafe von sechs Wochen Haft lautete. Dagegen erhob der 
Angeklagte unter Beistand des Rechtsanwalts Dr. Abraham Wider¬ 
spruch, der sich auf ein von Dr. Magnus Hirschfeld eingefordertes 
Gutachten stützte, in dem sich der Sachverständige dahin äußerte, 
daß hier ein Fall seelischen Zwittertums vorliege. Der Ange¬ 
klagte, der in Männerkleidung schon sehr häufig für ein verkleidetes 
Mädchen gehalten worden sei, handele in einem unwiderstehlichen 
Zwange, so daß die Voraussetzungen des § 51 gegeben seien. Der 
Amtsanwalt beantragte auf Grund dieses Gutachtens die Frei¬ 
sprechung. Das Gericht nahm an, daß auch aus dem Grunde kein 
grober Unfug vorhege, da der Kriminalbeamte selbst der festen Über¬ 
zeugung gewesen sei, er habe eine Frau sistiert. Das Urteil lautete 
auf Freisprechung. 

Aus den soeben geschilderten Fällen, in denen es sich nicht wie 
in dem letzterwähnten um echte Transvestie handelt, sondern bei 
denen man von einer Pseudo-Transvestie sprechen muß, die krimi¬ 
nellen Zwecken dienstbar gemacht wird, ergibt sich die überraschende 
Tatsache, daß der Umwandlungsakt vom Mann zur Frau so raffiniert 
vorgenommen wurde, daß weder das Publikum, noch die Polizei 
zunächst etwas davon merkten. Eine Illustration hierzu bieten 
die nebenstehenden Bilder. Man sieht, wieviel eine veränderte 
Haartracht bei bartlosen Gesichtem ausmacht, wenn dazu ein Wechsel 
der Geschlechtstracht tritt. Aber dabei handelt es sich nur um äußer¬ 
liche Merkmale, die die Frage nicht erklären, aus welchem Grunde 


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Zur Psychologie der Transvestie. 141 

diese kriminellen Pseudotransvestiten ihren verbrecherischen Zwecken 
nachgehen. Da ist auf ein bereits gelegentlich erwähntes Motiv 
hinzuweisen: den Verkleidungstrieb, dessen wir bereits als psychisches 
Grundelement der Transvestie gedacht haben, der allen Menschen 
in der einen oder anderen Form immanent ist. Während er aber in 
der Psyche des normalen Bürgers durch gelegentliches Austoben im 


Kri minelle Pseudo-Transvestiten. 



Mädchen als Knabe verkleidet. 



Mann als Frau verkleidet. 

Aus »Großstadtpolizei« von Polizeipräsident Dr. Roscher, Hamburg (1913). 

Fig. 1-4. 


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142 


Ralph Pettow, 


Fasching sein Genüge findet, pflegt er in der anormalen Psyche die 
verschiedenartigsten, mehr oder weniger sonderbaren oder erklär¬ 
lichen Reize auszulösen, die sich als erotische, deliktische oder reine 
Manie oder als Konglomerat von diesen charakterisieren lassen, und 
zwar gemeingefährlicher oder auch harmloser Natur. Es ist daher 
nicht verwunderlich, wenn die Beobachtung derartiger Verkleidungs¬ 
wirkungen in asozialen Gemütern den Plan reifen läßt, diese Effekte 
bei ihren verbrecherischen Plänen zu Hilfe zu nehmen oder ihre 
Projekte direkt auf sie zu stützen. Ernst v. Wolzogen spricht in 
»Der maskierte Massenmensch« von der Stärke dieses »Urtriebes« 
am Verkleiden, dieser »kindlichen Lust«, die den Menschen befällt, 
wenn er ausruht, wenn er Feste feiert, und der das »ehrliche Kind«, 
das »ehrliche Tier« immer wieder unverändert zum Vorschein kom¬ 
men läßt, so oft der Mensch dem Alltag entfliehen darf. In diesem 
Zusammenhang erst wird es voll und ganz verständlich, daß gerade 
die Retour ä l’enfance-Sucht fast als essentielles Merkmal der Trans- 
vestie bezeichnet werden darf, als Grundstock und Leitmotiv des 
ganzen Triebes, und es ist ein Verdienst Wolzogens, wenn er bei 
Beantwortung seines Themas erkannt hat, welche Rolle dabei das 
Feindlich-Natürliche spielt, wenn sich »die am Alltag auf Hungerdiät 
gesetzte Phantasie in der Maske mästet«. »Alle tiefsten und reinsten 
Freuden, die unserer Menschlichkeit gegönnt sind, könnte man tierisch 
und kindisch nennen, ebenso aber auch die lasterhaften Freuden, 
denn wir müssen uns darüber klar sein, daß nicht ausschließlich das 
natürlich ist, was wir zur Tugend gestempelt haben. Es bricht sich 
bei Gelegenheit aller unserer Fest- und Leidenschaftsräusche sogar 
eine gewisse, sonst versteckte Perversität Bahn, die auch schon im 
Kinde vorhanden ist. Im Fasching verkleiden sich Männer 
gern als Frauen, Frauen als Männer, Kinder als greise 
Zwerglein und dergleichen, erwachsene Mädchen als Babys. 
Das liebe Kind verlangt doch zuweilen gebieterisch nach Betätigung 
im Spiel, und sie flüchten sich hinter die schützende Maske, um sich 
vor sich selber zu verstecken.« Ferner heißt es: »Man will mal ganz 
wer anders scheinen, als man ist, man will von seinesgleichen gründ¬ 
lich verkannt werden. Es ist so tödlich langweilig, immer das vor¬ 
stellen zu müssen, wozu einen das Amt, der Titel, der Beruf, das 
Geschäft verpflichtet. Der Philister will sich einmal wie ein Kunst¬ 
zigeuner, der Korrekte wie ein Strolch gebärden usw.« Da 
haben wir eine Antwort auf unsere Fragen, die sich hören läßt! Und 
ebenso sagt glänzend zum selben Thema Kurt Münzer: »Ihre 
* Tracht, ihr Kostüm, darin sie sich so unkenntlich wähnen, verrät 


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Zur Psychologie der Transvestie. 


143 


die Verkleideten am besten. Sich unerkannt, fast unsichtbar wähnend, 
vor allen Blicken sicher in seiner äußeren Verwandlung, hört der 
Mensch zu heucheln auf, begibt sich der bei aller Gewohnheit doch 
nicht zur endgültigen Natur gewordenen Verstellung, und tritt auf 
in der reinen Wahrheit seines Inn ern. Wie verräterisch sind jene 
Bälle, die unter einem bestimmten Zeichen stehen: Dienstboten-, 
Apachen-, mittelalterlich-höfische Bälle! Wie sicher fügen sich da 
Damen und Herren in Zofen- und Kutscherrollen, wie wahr ist ein 
junger Salonheld als Straßenapache, eine lächelnde Teetischdame ab 
Apachenmädchen! (Reiz zum Kriminellen.) Hier enthüllt sich jen¬ 
seits des Zufalb ihrer Geburt und ihres Berufes die wahre Bestimmung 
der Menschen. Im Karneval wird der Zufall korrigiert, das Schicksal 
berichtigt, eine jenseitige Realität entsteht. Da werden die Reichen 
Bettler, die Helden Karikaturen, die großen Damen Grisetten; und 
Unterdrückte, Stille, Einsame wachsen zu Königen und Göttern. 
Auf tausend Kesten feiern Jauchzende die Auferstehung ihrer wahren 
Natur, bis der Alltag wieder über die Erlösten hereinbricht und sie 
in seine Maske zwingt.« 

Unseres Erachtens liegen für die Entstehungsmöglichkeit einer 
Transvestie andere Gedanken noch naher. Erstlich der gewaltige 
Reiz des Gegensätzlichen, Unbekannten, der schreckt, aber noch 
mehr anzieht. Um diesen Reiz aber in seiner ganzen Skala von der 
Süße bis zur Furchtbarkeit ganz auskosten zu können, sind Ver¬ 
kleidungsakte unumgänglich. Und aus geheimnisvollen Gründen, die 
wir nur zu ahnen verstehen, schwingt nach ihrer Vornahme die Seele 
wunderbarerweise mit, ab ob von ihnen ein Fluidum ausginge. Mit 
Recht sagt Paul Barchan (Petersburg): »Was wissen wir von der 
gesunden Seele! Eine Seele, wie jedes Organ, fühlen wir erst, wenn 
sie krank geworden ist.« So heißt es auch bezeichnenderweise in 
einer Studie über Russinnen gewordene Prinzessinnen: »Wenn sie 
mit diesen Bojarenkleidem angetan sich frauenhaft neugierig und 
selbstverliebt verloren im Spiegel betrachteten, dann zog in die wand¬ 
lungsfähigen Frauen auch etwas von der Seele und dem Wesen dieser 
Kleider ein und nistete sich dort fest, und Spiel und Emst, Wünsche 
und ungeahnte Erfüllung verflochten sich wunderbar in ihrem 
Inneren. 4 

Ein weiteres Moment liegt in den Begriffen »weibische Männer« 
und »herrische Frauen« und gibt uns einen Anhaltspunkt, von dem 
aus die weiteren Schlüsse von selbst erfolgen. Denn ein Weib mit 
Feuerseele wird nach allen erreichbaren Prärogativen des Mannes 
trachten, zu denen schon rein äußerlich die Kleidung gehört, und 


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144 


Ralph Pettow, Zur Psychologie der Transvestie. 


umgekehrt wird der an weibischem Tun und Wesen Geschmack 
findende Mann öfters eine Vorliebe für die entsprechende Kleidung 
haben. »Kleid«; schon das Wort als solches könnte man als sprach¬ 
lichen Transvestit bezeichnen, da es bald als genereller, bald als 
femininer Spezialbegriff gebraucht wird. In der Poesie ist es Gattungs¬ 
begriff, da es auch auf den Mann bezogen wird; z. B.: »In meinem 
Reiche herrscht der Mann und nicht des Mannes Kleid.« Im heutigen 
Sprachgebrauch des Singulars sagt wohl eine Dame, sie habe sich ein 
Kleid machen lassen; nicht aber kann ein Mann von seinem Kleid 

0 

reden. Der Plural »Kleider « wiederum wird von beiden Geschlechtern 
angewandt; z. B. in abgerissenen Kleidern gehen, sich neue Kleider 
machen lassen usw. 

Auch sonst spielen in unseren Tagen geschlechtsvertauschende 
Begriffe eine Rolle. Es fiel das Wort von der »männlichen Mütter¬ 
lichkeit«, und, im Zeitalter des Kindes kein Wunder, heißt es in einer 
Definition des »Verhältnisses« zwischen Vater und Kind: »Die Kunst 
der Vaterschaft besteht darin, seinem Kinde der erste Liebhaber zu 
sein.« Derartige Sentenzen und Lehren sind von psychischer Trans* 
vestie nicht mehr weit entfernt. 


(Eingegangen am 23. April 1914.) 


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Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig. 


Oswald Külpe f 

Psychologie und Medizin 

Sonderdruck aus der 
Zeitschrift für Pathopsychologie 
I. Band 

VI n. 81 Seiten. Gr. 8. Format 16 1 2 x24. Gewicht 150 Gr. 

Preis Jt 1.50 


Entwicklungsgeschichte 
des Bewußtseins 

(Auf physiologischer Grundlage) 

von 


l)r. med. Fr. H. Legahn 


Mit 179 Figuren im Text 


VII n. 554 Seiten. Gr. 8. Format 16‘/ 2 X 24 V 2 Gewicht 905 Gr. 


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Preis M 17.60 


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Inhalt des 1. Heftes 


Salt« 


Othmar Sterzinger, Rhythmische and ästhetische Charakteristik der musi* 
kalischen Sukzessivintervalle und ihre ursächlichen Zusammenhänge. 

Mit 8 Surren im Text. 1 

V. Benusbi, Versuche zur Analyse taktil erweckter Scheinbewegungen (kine* 
matohaptischer Erscheinungen) nach ihren äußeren Bedingungen und 
ihren Beziehungen zu den parallelen optischen Phänomenen. Mit 

23 Figuren im Text.69 

Ralph Pettow, Zur Psychologie der Transrestie. III. (Schluß.) Zugleich 


ein Beitrag zur Reform deB § öl St.G.B. Mit 4 Figuren im Text . 136 


Verlag von Wilhelm Engelm»nn in Leipzig. 


Zur psychologischen Analyse der 
Repsoldschen Mikrometerregistrierung 
you Sterndurchgängen 

von 

W. Wirth 

a. o. Professor au der Universität Leipzig 


Psychologische Studien, hrsg. von W. Wundt, Band X Heft I) 


gr. 8. 99 Seiten. M. 3.75 

Aus den Besprechungen: 

Mit dieser Abhandlung dürfte sich Wirth den Dank aller Astronomen erwerben. 

Mathematisch-natarwissensch. Blätter . Jg . 1915, Nr« 6. 

Das Beobachtungsverfahren heim Repsoldschen unpersönlichen Mikrometer bietet auch der 
Psychologie eine Gelegenheit, die Wirkungsart und Entstehung persönlicher Fehler unter ganz 
neuen Bedingungen zu untersuchen und die Astronomie durchAufschliis.se nach dieser Richtung 
in der Erreichung gröberer Vollkommenheit zu unterstützen. Die vorliegende, das Problem in 
sehr eingehender Weise behandelnde Arbeit zerfallt in 3 Teile. Im ersten wird die Methode 
seilet und Repsolds Versuche, die die Grundlagen für seine von durchschlagendem Erfolg* 
begleitete Gestaltung des Verfahrens schufen, beschrieben, und im zweiten werden die von astro¬ 
nomischer Seite ausgeführten Untersuchungen über die Fehlerbedingungcn der neuen Methode 
erörtert. Es erscheinen dabei manche Verhältnisse in einem anderen Lichte, als sie der Astro¬ 
nom zu sehen gewöhnt ist, und einzelne Punkte bedürften wohl noch der Klärung, um die beiden 
Auffassungen in Einklang zu bringen. Der dritte Teil berichtet über experimentelle Versuche 
mit einem Apparat, der die Verhältnisse der astronomischen Praxis in möglichster Anlehnung 
an diejenisen des Münchener Meridiankreises wiedergehen soll und in der Konstruktion dem 
Pepsoldschen Versuchsapparat ähnelt. 

Literarisches Beiblatt zu den Astron . Nachrichten 3.Jg, Nr. 26. 


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Druck Ton Preitkopf & Hirtel in Leipzig. 

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Preis des Bandes (4 Helte) M. **■!.— /Y^ &JI ^ 0 


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ARCHIV 




FÜR DIE 

GESAMTE PSYCHOLOGIE 

BEGRÜNDET VON E. MEüMANN 
UNTER MITWIRKUNG 

VOR 

Proe. N. ACH in Königsberg, Prof. E. BECHER in Münster, 
Pboe. H. HÖFFU1NG in Kopenhagen, Prof. F. KIESOW in Turin, 
Prof. A. KIRSCHMANN in Leipzig, Prof. E. KRAEPELIN in Mün¬ 
chen, Prof. O.KÜLPE in München-)-, Prof. A. LEHMANN in Kopen¬ 
hagen, Prof. G. MARTIU8 in Kieg, Pkof. A. ME88ER in Giessen, 
Prof. G. STÖRRING in Bonn und Prof. W. WUNDT in Leipzig 

HERAUSGEGKBEN VON 

W. WIRTH 

A O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 

XXXVI. BAND, 2. und 3. IIKFT 

MIT 7 FIGUREN UND M KURVEN IM TEXT 

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VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 

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Bemerkungen für die Mitarbeiter. 

1. Das Archiv erscheint in Heften, deren je vier einen Band von 
36 Bogen bilden. 

2. Sämtliche Handschriften sind drnckfertig an Prof. Dr. W. Wirtb ' 
Leipzig, Haydnstraße 6 m , einzuliefern; größere Änderungen im 
Satz siud unzulässig. Die Veröffentlichung geschieht in der Reihen¬ 
folge des Eingangs, jedoch bleiben Änderungen Vorbehalten. 

3. Zeichnungen sind auf besonderen Blättern zu liefern; außer¬ 
gewöhnliche Anforderungen an die Herstellung der Abbildungen 
bedingen vorherige Vereinbarung; dies gilt auch für größere und 
schwierige Tabellen. — Alle Tafel-Beigaben können nur auf 
Kosten der Verfasser hergestellt werden. 

4. Honoriert werden die Abhandlungen nur bis zu drei Bogen, 
und zwar während des Krieges mit Jt 20.— für den Druckbogen. 
Die Honorare gelangen beim Schluß eines Bandes zur Auszahlung. 
Alle Kosten für Satz, Druck, Papier, Korrekturen usw. 
von Abhandlungen sind, soweit sie den Umfang von fünf 
Bögen überschreiten, von den Verfassern selbst zu tragen. 

Dissertatiouen sind von der Honorierung ausgeschlossen. 

5. 40 Sonderdrucke der Abhandlungen werden unberechnet ge¬ 
liefert, weitere gegen Berechnung. 

6. Korrekturen sind umgehend zu erledigen und an die Verlags¬ 
buchhandlung (ohne die Handschrift) zurückznsenden. Die, 
Verlagsbuchhandlung trägt Korrekturkosten nur bis zu einem 
Durchschnittsbetrag von Jt 6.— für den Druckbogen. 

Änderungen des Aufenthalts sind der Verlagshandlung sofort 
mitzuteilen. 

7. Die Orthographie ist die in Deutschland, Österreich und der t 
Schweiz amtlich eingeführte (s. Duden, Rechtschreibung, 9. Auf¬ 
lage, Leipzig 1915). 


Herausgeber und Verlagsbuchhandlung* 


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1 



Das Verhältnis der Definitionen zu den Axiomen 
in der neueren Mathematik 1 ). 

Von 

Dr. phil. Walter Müller (Barmen). 


Inhaltsübersicht. Seit« 

Einleitung.145 

I. Teil. Die Definitionen und Axiome in der Logik.147 

§ 1. Der Begriff als fixierte Bedeutung.. . 147 

§ 2. Begriffe und Objekte.148 

f 3. Die Definition als Begriffsbestimmung.150 

§ 4. Die schaffende Definition.152 

§ 5. Die Bestimmung idealer Objekte durch die Definition . . . 154 

§ 0. Das Wesen der Axiome.156 

II. Teil. Die Stellung der Definitionen und Axiome in der modernen 

Mathematik.158 

§ 7. Die Aufgabe und die Methode.168 

§ 8. Gleichzeitige Berücksichtigung der Definitionen und Axiome 158 

§ 9. Die Gegner der Definition.161 

§10. Die Axiome als Definitionen.164 

HL TeiL Ergebnisse.165 

§11. Kritische Ausführungen.165 

§ 12. Die Bestimmung der Grundgebilde in der Mathematik durch 

die Objektsdefinitionen.166 

§13. Das Verhältnis der Definitionen zu den Axiomen.167 


Einleitung. 

Die vorliegende Arbeit über »das Verhältnis der Definitionen zu 
den Axiomen in der modernen Mathematik« soll eine philosophische 
und nicht eine mathematische sein. Sie versucht also nicht eine 
»Grundlegung« der mathematischen Disziplinen, will auch nicht das 
in schon bestehenden Grundlegungen dargebotene Material kritisch 


1) Der Verfasser der Arbeit ist am 16. September 1914 bei Laon gefallen. 
Die Herausgabe ist von Professor August Messer, Gießen, besorgt. 

AnUr Ar Psychologie. XXXVI. 10 


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146 


Walter Müller, 


auf seinen mathematischen Inhalt untersuchen. Sie will also nicht 
feststellen, ob dieses oder jenes Axiom richtig ist, ob diese oder jene 
Definition nicht besser durch eine andere ersetzt würde, oder ob 
irgend ein bestimmtes Axiom in irgend einer Definition enthalten ist 
usw. Das ist Aufgabe des die Grundlagen seiner Wissenschaft unter¬ 
suchenden Mathematikers. Sie soll vielmehr feststellen, was für den 
Mathematiker überhaupt Definitionen und Axiome sind, wie er sie 
anwendet und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Die 
Arbeit ist also wesentlich als eine Untersuchung formaler Grund¬ 
lagen gedacht und nicht als eine solche der materialen. Die Be¬ 
rechtigung einer solchen formalen Untersuchung sei hier kurz dar¬ 
gelegt. 

In den letzten Jahrzehnten ist eine größere Anzahl von Büchern 
erschienen, welche sich mit den Grundlagen der mathematischen 
Wissenschaften befassen. Ihre Verfasser versuchen alle, einzelnen 
Disziplinen der Mathematik — insbesondere der Geometrie — eine 
sichere Fundierung zu geben. 

Diese Arbeiten nun zeigen in der Verwendung von Definitionen 
und Axiomen verschiedene Auffassungen. Es gibt Mathematiker, 
welche sowohl Definitionen als auch Axiome anwenden und damit 
im wesentlichen den Euklidischen Standpunkt vertreten. Daneben 
gibt es aber zweitens Mathematiker, welche den Gebrauch der Defi¬ 
nitionen bei der Grundlegung der Geometrie vollständig verwerfen 
und nur Axiome zulassen. Sie nennen ihre Methode die »axioma- 
tische« (Hilbert, Grundlagen der Geometrie 1909, S. 257). Joh. 
Mollerup charakterisiert sie in seinem Referat über die Grund¬ 
lagen der Geometrie in Paskals >>llepetitorium der höheren Mathe¬ 
matik« (1910) mit den Worten: »Das Wesen der axiomatischen Dar¬ 
stellung besteht darin, daß sie nicht damit anfängt, die zu behandeln¬ 
den Begriffe zu definieren. Man läßt vielmehr in den Axiomen die 
elementargeometrischen Begriffe Undefiniert auftreten.« Wieder 
andere Mathematiker setzen die Axiome den Definitionen gleich. 
So behauptet Poincare, daß die Axiome — wenigstens die geome¬ 
trischen — »verkleidete Definitionen« seien (Wissenschaft und Hypo¬ 
these« 1 ), S. 51). Aus diesen wenigen Bemerkungen mag schon hervor¬ 
gehen, daß sich bei den Mathematikern eine große Verschiedenheit 
zeigt in der Auffassung und Einschätzung der Definitionen und 
Axiome. Es ergibt sich also wegen dieser Meinungsverschiedenheiten 
die Notwendigkeit und Berechtigung einer Untersuchung des Wesens 


1) Deutsch von Lindemann, Leipzig 1906. 


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Das Verhältnis d. Definit, zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 147 


der Definitionen und Axiome und des Verhältnisses zwischen beiden 
in der modernen Mathematik. Die vorliegende Arbeit soll diese 
Untersuchung leisten. Dabei ist es nicht nur das Ziel des Verfassers 
gewesen, die verschiedenen Auffassungen nebeneinander darzustellen 
und in ihrer Verschiedenheit scharf ziun Ausdruck zu bringen, sondern 
er hat auch versucht, den Weg zu einer einheitlichen Auffassung 
zu ebnen. 

I. Teil. 

Die Definitionen nnd Axiome in der Logik. 

§ 1. Der Begriff als fixierte Bedeutung. 

Es ist ein bemerkenswertes Zeichen für die Lebensfähigkeit der 
modernen Philosophie, daß die Logik, die eitlem Kant »allem An¬ 
sehen nach geschlossen und vollendet zu sein schien«, neuerdings 
eine fruchtbare und vielseitige Bearbeitung gefunden hat. Fortschritte 
sind unverkennbar. Das zeigt sich hier besonders in der Lehre vom 
Begriff, dessen logische Bedeutung von verschiedenen Forschern 
scharf herausgearbeitet und insbesondere von psychologischen Bei¬ 
mengungen befreit worden ist. 

Diese Forderung der völligen Objektivierung der Wissenschaft — 
ihrer Loslösung vom erkennenden Individuum — hat nun in vor¬ 
bildlicher W eise Oswald Külpe erfüllt für das in Frage stehende 
Problem der Bestimmung des Wesens der Begriffe. In den folgenden 
Ausführungen schließen wir uns im wesentlichen an seine Aus¬ 
führungen in einer Vorlesung über Logik sowie in seinem Buche 
»Die Realisierung« (Bd. I, Leipzig 191-) an. 

Bei aller Wissenschaft unterscheidet man Forschung und Dar¬ 
stellung. Die Forschung soll Erkenntnis schaffen, die Darstellung 
soll diese Erkenntnis in Formen bringen, die eine Mitteilung an andere 
Individuen, eine Formulierung des Erkenntnisbesitzes ermöglichen. 
Die Forschung ist auf die Gegenstände der Erkenntnis selbst gerichtet, 
mit denen sie sich unmittelbar beschäftigt. Die Darstellung soll 
unser Wissen von den Gegenständen der Mitteilung zugänglich 
machen. Sie beschäftigt sich also nicht unmittelbar mit den Gegen¬ 
ständen. Sie bedient sich vielmehr, um ihre Aufgabe zu erfüllen, 
einer Form, die in einer geordneten Folge von Zeichen besteht. Doch 
genügt diese bloße Form für die Darstellung nicht, vielmehr wird 
sie erst zur Darstellung dadurch, daß ihr ein Sinn, eine Bedeutung 
beigelegt wird. Diese Bedeutung der geordneten Folge von Zeichen 
nennen wir den Inhalt der Darstellung, so daß wir an der Darstellung 

10 * 

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148 Walter Hüller, 

eine Form, einen Inhalt und einen (dargestellten) Gegenstand unter¬ 
scheiden können. 

Die Gesamtbedeutung der Darstellung nun setzt sich aus Ele¬ 
menten, Einzelbedeutungen zusammen. Die Einzelbedeutung kann 
erklärt werden als eine Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, 
die erlaubt und fordert, bestimmte Zeichen auf bestimmte Gegenstände 
anzuwenden, so daß wir sagen können: »Bedeutungen sind die Ge¬ 
samtheit notwendiger und .hinreichender Bedingungen für die Be¬ 
ziehung von Zeichen auf die ihnen zugeordneten Gegenstände.« Wenn 
wir die Zeichen konstant nehmen und ihnen konstante Zuordnung zu 
konstanten Gegenständen geben, erhalten wir für eine wissenschaft¬ 
liche Darstellung brauchbare Elemente, die fixierten Bedeutungen. 
Diese nennen wir Begriffe. Die notwendigen und hinreichenden Be¬ 
dingungen für die Zuordnung von Gegenständen zu Zeichen nennen 
wir beim Begriff dessen Merkmale, so daß sich der Begriff aus der 
Gesamtheit der notwendigen und hinreichenden Merkmale konsti¬ 
tuiert. 

§ 2. Begriffe und Objekte. 

Nennen wir alles, was Gegenstand der Forschung werden kann, 
»Gegenstand«, so erhellt ohne weiteres, daß die Begriffe als eine 
Klasse der Gegenstände aufgefaßt werden können; ebenso die Zeichen 
als eine zweite Klasse von Gegenständen. Als dritte Klasse derselben 
können wir die Objekte anführen 1 ). Diese teilt Külpe weiter ein 
in wirkliche, reale und ideale Objekte. Wirkliches Objekt ist das, 
was im erkennenden Subjekt unmittelbar gegeben ist, die realen 
Objekte sind aus den wirklichen der Sinnes- und Selbstwahrnehmung 
abgeleitet, indem sie diejenigen Gegenstände bezeichnen, welche 
unabhängig von dem erkennenden Akte eines Subjekts bestehend 
gedacht werden. Die idealen Objekte sind dadurch von den realen 
unterschieden, daß sie lediglich als Gedankengebilde aufgefaßt wer¬ 
den, daß ihnen also die Unabhängigkeit vom wahrnehmenden bzw. 
denkenden Subjekt fehlt. 

Unter Zugrundelegung dieser Terminologie behaupten wir nun, 
daß die Mathematik eine Wissenschaft von (mathematischen) Ideal¬ 
objekten ist. Indem man sich in Mathematikerkreisen genötigt sah, 
die reale Existenz der mathematischen Gegenstände zu leugnen, 
indem man ihre mathematische Bedeutung als eine rein formale 
erkannte, hielt man es vielfach für zweckmäßig, ja für sachlich 

1) BeimDenken und Sprechen überObjekte sind natürlich nur die letzteren, 
nicht die Begriffe und Worte für uns »Gegenstände«. 


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Das Verhältnis d.Definit, za den Axiomen in der neueren Mathematik. 149 

geboten, sie lediglich als Begriffe zu bezeichnen, so daß in den 
Augen mancher Mathematiker die Mathematik eine Wissenschaft 
von den mathematischen Begriffen wurde. 

Obgleich für die mathematische Forschung als solche die Lösung 
der Frage, ob die Gegenstände der Mathematik Begriffe oder ideale 
Objekte sind, ohne Belang ist, obgleich ferner eine nicht zu ver¬ 
kennende Ähnlichkeit zwischen Begriff und idealem Objekt besteht, 
glauben wir doch, im Interesse einer scharfen Formulierung bestimmt 
die Verschiedenartigkeit der beiden betonen zu müssen 1 ). 

1) Im ersten Paragraphen haben wir den Begriff als das Binde¬ 
mittel zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand, als die fest¬ 
stehende Bedeutung des Zeichens erkannt. Eine solche Zuordnung 
zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand ist aber nur möglich, 
wenn beide vorausgesetzt werden. Begriffe gibt es also nicht ohne 
Zeichen und Gegenstände; und die Zeichen haben als solche auch 
nur Existenz, sofern sie etwas bezeichnen. Anderenfalls, als Schrift¬ 
bilder oder Lautäußerungen, werden sie zu Objekten. Diese aber 
haben die Eigentümlichkeit, von der Zuordnung zu Zeichen unab¬ 
hängig zu sein. »Objekte brauchen nicht bezeichnet zu werden, sie 
können auch ohne Begriffe da sein. Sie haben in diesem Sinne ein 
absolutes Sein.« Das gilt auch für die durch Abstraktion oder Kom¬ 
bination oder Setzung erzeugten idealen Objekte im Unterschied von 
den Begriffen. Man denke nur an den mathematischen Punkt, die 
gerade Linie, den Kreis. Diese Absolutheit bezeichnet Külpe 
geradezu als ein Kriterium der Objektsnatur. 

2) Der Inhalt des Begriffs, der sich als die Summe der Merkmale 
(der Bedingungen der Zuordnung) darstellt, pflegt sich auf diejenigen 
Hinweise zu beschränken, die hinreichend sind, um den bezeichneten 
Gegenstand festzulegen, so daß der Gegenstand in der Regel reicher 
als sein Begriff ist. Das gilt auch für die Gegenstände der Mathe¬ 
matik. Überhaupt brauchen die Eigenschaften der Objekte nicht mit 
den Merkmalen der Begriffe zusammenzufallen. 

3) Für jede Darstellung von Wichtigkeit ist auch die Beachtung 
des »Gesetzes der spezifischen Geltung der Prädikationen für ihre 
Gebiete«. Dieses Gesetz besagt, daß über Zeichen nur grammatische, 
über Objekte nur sachliche, über Begriffe nur logische Aussagen ge¬ 
macht werden können, daß also die Gegenstände spezifisch nur durch 
Beschaffenheiten und Beziehungen bestimmt werden können, die 
ihrer eigenen Sphäre angehören. Külpe bemerkt ganz richtig, daß 


1) Vgl. Külpe, a. a. 0. S. 17—27, 226ff. 


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150 


Walter Müller, 


gegen diese Regel außerordentlich oft in der Darstellung verstoßen 
wird: »So bezeichnet der mathematische Naturwissenschaftler die 
Atome und Moleküle als Begriffe, um dann Aussagen über diese Gegen¬ 
stände zu machen, die mit dieser Bezeichnung nicht vereinbar sind. 
Wenn z. B. die Größenordnung eines Wasserstoffatoms bestimmt 
wird, so kann das Atom kein Begriff sein. Begriffe haben keine 
Größenordnung.« Dasselbe können wir auch von den Gegenständen 
der Mathematik sagen. Wenn wir die Strecke AB als Begriff auf¬ 
fassen, so können wir schlechterdings nicht von der Länge dieses 
Begriffs reden, und auch dem Begriff »Kreis« können wir keine gleich¬ 
mäßige Krümmung als »Eigenschaft« zuschreiben, obgleich niemand 
die gleichmäßige Krümmung des Kreises als eines Idealobjektes 
leugnen wird. 

4) Ein letztes wichtiges Moment, das für die Notwendigkeit einer 
Unterscheidung zwischen Begriff und Idealobjekt spricht und uns 
die mathematischen Gegenstände den Idealobjekten zurechnen läßt, 
ist die Unterscheidung von Begriffs- und Objektsurteilen. Wenn wir 
sagen: Zwei Gerade schneiden sich in einem und nur einem Punkt, 
so wollen wir damit nicht eine logische, sondern eine sachliche Be¬ 
ziehung zum Ausdruck bringen. Überhaupt nötigt uns eine Betrach¬ 
tung der mathematischen Sätze unter Berücksichtigung dieser Unter¬ 
scheidung von Begriffs- und Objektsurteilen die Gegenstände der 
Mathematik nicht als Begriffe, sondern als Objekte aufzufassen. 

§ 8. Die Definition als Begriffsbestimmung. 

Jede systematische Darstellung setzt eine Reihe von Begriffen als 
hinlänglich bestimmt voraus und muß eventuell während ihrer Fort¬ 
führung noch neue schaffen. Wir haben also zu unterscheiden zwi¬ 
schen Vorgefundenen und neuzuschaffenden Begriffen. Dabei wird 
ein Begriff neu geschaffen sein, wenn man ein Wort mit einer Be¬ 
deutung versieht, ihm einen Sinn beilegt, und zwar in eindeutiger 
Weise, so daß von mm an die Bedeutung des Wortes feststeht. Da 
der Begriff von uns aufgefaßt ist als die Gesamtheit seiner Merkmale, 
so wird die Schaffung eines Begriffs dadurch geschehen können, daß 
man die notwendigen und hinreichenden Merkmale festlegt, die ein 
Wort einem Gegenstand zuordnen. Dieses Festlegen des Sinnes eines 
Wortes wollen wir als die »Definition« des dadurch entstehenden 
Begriffs bezeichnen. 

Auch bei den Vorgefundenen Begriffen ist es manchmal gut, sich 
ihren bereits feststehenden Inhalt zu vergegenwärtigen und durch 
eine Analyse, die ebenfalls in einer Angabe der Merkmale besteht, 


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Das Verhältnis d. Definit, zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 151 

festzustellen, was mit dem von uns gebrauchten Wort gemeint ist. 
Wir können also auch hier von einer »Definition << des Begriffs sprechen. 

Die Definition hat also die Aufgabe, Begriffe festzulegen, und zwar 
einmal, indem sie den Inhalt von schon geltenden Begriffen bestimmt, 
und dann dadurch, daß sie neue Begriffe schafft. Demnach können 
wir zwei grundlegende Arten von Definitionen unterscheiden, die wir 
mit Külpe (a. a. 0. S. 21) die bestimmende oder darlegende und die 
erzeugende oder schaffende nennen wollen. Daß die bestimmende 
Definition, welche Vorgefundene Begriffe analysiert, nur für die Dar¬ 
stellung von Wert ist, braucht nicht hervorgehoben zu werden. Die 
Frage, wie sich die schaffende Definition hier verhält, ist schwieriger 
und soll erst bei der Besprechung dieser letzteren behandelt w’erden. 

Zunächst möge uns die bestimmende Definition beschäftigen. 
Da die herkömmliche Logik die Definition als eine Begriffsbestimmung 
auffaßt und diese in der Weise abzugrenzen pflegt, daß man darunter 
versteht die Angabe der Merkmale, die den Inhalt des Begriffs kon¬ 
stituieren, so kann man wohl die Definition auch als eine »Begriffs¬ 
gleichung« bezeichnen. Neben dieser Art der Definition, welche wohl 
immer als eine sprachlich formulierte anzusehen ist, wird von mehreren 
Forschern eine andere Art genannt, die deiktische, welche den Be¬ 
griff durch Hinweisen auf einen ihm entsprechenden Gegenstand 
bestimmt. 

Tatsache ist es wohl, daß wir auf diese Weise eine große Anzahl 
von Begriffen gewonnen haben. Es ist jedoch die Frage, ob wir diese 
Definition wirklich als vollwertig ansehen können; denn das Wesent¬ 
liche der Definition, daß sie eine Begriffsgleichung ist, kommt nicht 
zum Ausdruck. Vielmehr ist die deiktische Definition nur ein Mittel, 
gewisse Vorstellungen zu erwecken, sie hat also nur eine psychologische 
Bedeutung, mit der man für die Logik nicht zufrieden sein kann. 
Außerdem ist zu bedenken, daß inan nicht die Merkmale des Begriffs, 
sondern die Eigenschaften der Objekte durch sie dem Schüler vor¬ 
führt, und daß es sehr wohl möglich ist, daß dieser unwesentliche 
Eigenschaften als Merkmale für den zu bildenden Begriff aufnimmt, 
während der Begriff als Merkmale nur die wesentlichen Eigenschaften 
des Objekts in sich tragen soll, und schließlich mag es auch Vorkom¬ 
men, daß ein und derselbe Gegenstand durch eine Vielheit von Begrif¬ 
fen charakterisiert werden kann. Ein weiterer Mangel liegt wohl darin, 
daß die deiktische Definition nur in einem begrenzten Rahmen an¬ 
wendbar ist. Endlich sei noch bemerkt, daß eine abstrahierende und 
kombinierende Tätigkeit des Geistes nötig ist, um Begriffe auf Grund 
einer deiktischen Definition zu bilden. Jedenfalls sind die Mängel 


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152 


Walter Müller, 


dieser Art der Definition so schwerwiegender Natur, daß wir sie für 
eine wissenschaftliche Darstellung kaum in Anspruch nehmen können, 
wenigstens nicht als »Definition«. Dort hat vielmehr erst die sprach¬ 
lich formulierte Definition einen Wert. 

Zusammenfassend können wir sagen: »Die bestimmende oder 
darlegende Definition ist ein analytisches Begriffsurteil, das die not¬ 
wendigen und hinreichenden Bedingungen für die Anwendung eines 
Namens auf Gegenstände angibt.« 

§ 4. Die schaffende Definition. 

Nach Külpe soll, wie wir schon angaben, die schaffende Definition 
Begriffe in die Wissenschaft einführen. Sie soll sagen, was man in 
der Darstellung mit einem gewissen Zeichen meinen will. Sie ist also 
eine Sache der Willkür und deshalb lediglich zu beurteilen vom Ge¬ 
sichtspunkt der Zweckmäßigkeit. Von einer Richtigkeit oder Un¬ 
richtigkeit kann nicht gesprochen werden, während dies bei einer 
bestimmenden Definition sehr wohl der Fall ist. Darum entzieht 
sich die schaffende Definition einer logischen Beurteilung. 

Für die Darstellung bilden solche erzeugende Definitionen letzte 
Voraussetzungen, insofern sie für die ganze Darstellung gewisse 
Begriffe festsetzen. Aber sie sind nicht notwendige Voraussetzungen, 
insofern man mit herkömmlichen Begriffen arbeiten kann, wie die 
empirischen Wissenschaften beispielsweise schon viele Begriffe vor¬ 
finden. In den Formal- oder Idealwissenschaften sind sie nicht zu 
umgehen, weil man es hier mit selbstgeschaffenen Objekten zu tun 
hat, die deshalb in bezug auf ihre Bezeichnung festgelegt werden 
müssen. 

Die Unterscheidung zwischen bestimmenden und schaffenden 
Definitionen fällt zusammen mit der aus der herkömmlichen Logik 
bekannten Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen 
Definitionen, die ja beide in der Weise charakterisiert werden, daß 
die erstere sich auf einen schon feststehenden Sprachgebrauch stützt, 
während die letztere in der Erklärung besteht, es solle ein Wort in 
einem bestimmten Sinn genommen werden. Daß die analytische 
Definition zusammenfällt mit seiner bestimmenden, gibt Külpe zu. 
Von der synthetischen sagt er: »Sie ist die Aufstellung eines Begriffs 
auf Grund seiner Merkmale. Der Begriff wird also gebildet durch die 
Zusammensetzung der Merkmale, die in ihm enthalten sind. Wird 
dabei eine Neubildung beabsichtigt, so fällt sie zusammen mit der 
schaffenden Definition.« (Nach einer Vorlesung über Logik.) Nach 
unserer Meinung ist aber mit einer Bildung des Begriffs durch Zu- 


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Dwf VerbKltnis d. Definit za den Axiomen in der neueren Mathematik. 153 

sammensetzung der Merkmale immer eine Neubildung gemeint. Wir 
werden also die schaffende Definition Külpes mit der synthetischen 
zusammenfallen lassen. 

Zu einer tieferen Einsicht in das eigentliche Wesen der synthe¬ 
tischen Definition werden wir kommen, wenn wir uns die Frage vor¬ 
legen: Worin hegt das Wesen der Synthesis bei der synthetischen 
Definition? Um diese Frage einer Beantwortung zugänglich zu 
machen, wollen wir einige Beispiele betrachten. Wir nehmen an, 
wir wären die ersten Menschen, die einen Neger sehen und diesen 
Begriff schaffen durch die Definition: Unter dem Wort Neger wollen 
wir verstehen einen schwarzen Menschen, so wäre diese Definition 
zweifellos eine synthetische oder schaffende. Worin besteht nun das 
Schaffende in dieser Definition? Offenbar schaffen wir nicht das 
Objekt, auch nicht dessen Eigenschaften, auch nicht die Merkmale 
»schwarz« und »Mensch«. Die Merkmale schwarz und Mensch und 
auch ihre Verbindung zu »schwarzer Mensch« sind ohne weiteres 
mit dem Tatbestand des vor uns stehenden Objektes gegeben. Wir 
nehmen also in diesem Sinne auch gar keine Synthese vor. Das 
Schaffende tritt erst hervor, wenn wir den Namen »Neger« einführen. 
Der Sinn, die Bedeutung des von uns eingeführten Wortes ist schon 
gegeben, wird also nicht geschaffen. Was geschaffen wird, ist die Zu¬ 
ordnung der Bedeutung zu dem Wort, die »Fixierung« der Bedeutung, 
also die Schaffung des Begriffs. Die Synthesis könnte also nur darin 
bestehen, daß einer Bedeutung ein Wort zugeordnet wird. Und 
diese Zuordnung können wir kaum »Synthesis« nennen. 

Weiter haben wir uns zu fragen, ob die von uns gebrachte Defini¬ 
tion ein Urteil ist, oder nur eine Willenserklärung. Tatsächlich ist 
sie ja ihrer äußeren Form nach eine Willenserklärung. Daß sie aber 
auch ein Urteil enthält, können wir erkennen, wenn wir die Form 
wählen: Wir wollen, daß das Urteil: ein Neger ist ein schwarzer 
Mensch, Gültigkeit hat, und die kann es nur haben, wenn Neger ein 
Begriff, und zwar der in Frage kommende Begriff ist. Weiter ist 
dieses Urteil ein analytisches, weil das Prädikat schon im Subjekt 
enthalten ist und dem Subjekt nichtsNeues hinzufügt, wenn das Urteil 
gilt. Es ergibt sich also die Tatsache, daß die schaffende Definition 
ein Begriffsurteil, und zwar ein analytisches enthält, ebenso wie die 
bestimmende Definition, so daß eigentlich die Berechtigung verloren 
geht, von einer »synthetischen« Definition zu sprechen. 

Wir wollen unsere Ergebnisse zusammenfassen in den Satz: 

»Eine schaffende Definition — oder wie die herkömmliche Logik 
sagt, eine synthetische Definition — ist die Fixierung einer Bedeutung, 


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154 


Walter Müller, 


wodurch ein Begriff geschaffen wird, und zwar auf Grund der Aus¬ 
sage, daß ein analytisches Begriffsurteil gelten soll.« 

Die Benennung »synthetische« Definition wollen wir fallen lassen 
und dafür die Benennung »schaffende« Definition annehmen, einmal, 
weil dadurch die Tatsache der Willenserklärung ihren Ausdruck 
findet, und dann, weil das bei der schaffenden Definition verwandte 
Begriffsurteil ein »analytisches« ist. Das Wesentliche der schaffen¬ 
den Definition ist also: 

1) Das Objekt ist vorgefunden, 

2) die Definition schafft einen Begriff, 

3) sie geschieht durch ein Begriffsurteil, 

4) das Urteil ist ein analytisches, 

5) die Definition hat nur Wert für die Darstellung. 

§ 5. Die Bestimmung idealer Objekte duroh die Definition. 

Offenbar gibt es neben der von uns charakterisierten schaffenden 
Definition noch eine andere Art schaffender Definition, die jedoch 
so grundverschieden von der bisher behandelten ist, daß man für sie 
einen anderen Namen wählen muß. 

Wenn wir eine Definition in der Mathematik betrachten, etwa die 
des Punktes oder Kreises, so wird durch dieselbe zwar auch ein Begriff 
definiert, im Grunde genommen ist sie aber auf das Objekt gerichtet 
und will dieses schaffen. Eine solche Definition ist weniger für die 
Darstellung berechnet, sondern hauptsächlich für die Forschung, 
indem sie dieser erst ihren Gegenstand liefert. Für die Darstellung 
kommt sie nur insofern in Betracht, als die sclbstgeschaffenen Objekte 
in bezug auf ihre Bezeichnung festgelegt werden müssen. Schon 
Kant hat eine der hier vertretenen Anschauung ähnliche gehabt 
und nennt die in Frage kommende Definition Realdefinition. Er 
sagt (Kr. d. r. V., Reclam, S. 225): »Die Realdefinition ist eine 
solche, welche nicht bloß den Begriff, sondern zugleich die objektive 
Realität desselben deutlich macht« und führt als Beispiel an die 
mathematischen Definitionen. 

Wenn wir das Eigentümliche dieser Definition weiter unter¬ 
suchen, können wir zunächst bemerken, daß das Urteil, welches wir 
anwenden, kein Begriffs-, sondern ein Objektsurteil ist. Dann ist 
es kein analytisches, sondern ein synthetisches Urteil, indem es erst 
das für das Subjekt geltende Prädikat schafft. Die Synthesis besteht 
also darin, daß wir den Sachverhalt, den wir prädizieren wollen, nicht 
vorfinden, sondern ihn erst schaffen müssen. Sowohl die hier ver¬ 
tretene Auffassung, als auch die, daß die schaffende Definition ein 


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Das Verhältnis d. Definit, zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 155 


analytisches Begriffsurteil verwendet, findet ihre Bestätigung durch 
eine Bemerkung Kants, die Riehl zitiert (Philos. Kritizismus I, 
S. 442) »Im analytischen Urteil geht das Prädikat eigentlich auf den 
Begriff, im synthetischen auf das Objekt des Begriffs, weil das Prä¬ 
dikat im Begriff nicht enthalten ist.« 

Wir wollen zusammenfassend die Eigenschaften der von uns hier 
hervorgehobenen Definition angeben und finden in Analogie zu den 
5 Punkten, die wir bei der schaffenden Definition angeben konnten: 

1) Es ist kein Objekt vorhanden. 

2) Die Definition schafft zwar auch einen Begriff, will aber vor¬ 
nehmlich das Objekt des Begriffs schaffen. 

3) Sie erfolgt durch ein Objektsurteil. 

4) Dieses ist ein synthetisches. 

5) Die Definition hat vorwiegend einen Wert für die Forschung, 
für die Darstellung nur insofern sie auch den Begriff schafft. 

Indem wir bedenken, daß die bestimmende Definition und die 
schaffende (in der ersterwähnten Bedeutung) sich eines analytischen 
Urteils bedienen und Begriffe definieren, wollen wir sie zusammen¬ 
fassend analytische oder Begriffsdefinitionen nennen und die von uns 
zuletzt erörterte Definition, da sie sich eines synthetischen Urteils 
bedient und auf Objekte geht, eine synthetische oder Objektsdefini¬ 
tion, wobei wir uns jedoch immer vergegenwärtigen wollen, daß eine 
Objektsdefinition zugleich auch den Begriff des Objekts definiert, 
und daß auch sie nur möglich ist für selbstgeschaffene Objekte, 
während für die Vorgefundenen Objekte die »Beschreibung« an Stelle 
der »Definition« tritt. Beschreibung und synthetische Objektsdefini¬ 
tion verhalten sich also zueinander, wie bestimmende und schaffende 
Begriffsdefinition. Wir können mithin folgendes Schema aufstellen: 

Begriffsbestimmung: a) bestimmendeD, (für vorgef. Begr.) 

b) schaffende D. (für zu schaff. Begr.) 

Objektsbestimmung: a) Beschreibung (für vorgef. Obj.) 

b) Objektsdefinition (für selbstgesch. Obj.) 

Auch Külpe betont die Notwendigkeit der Unterscheidung von 
Begriffs- und Objektsbestimmung; doch ist für die Bestimmung der 
Objekte durch eine Objektsdefinition der Ausdruck »Konstruktion« 
gewählt. Da jedoch in Mathematikerkreisen der Ausdruck Konstruk¬ 
tion in anderer Bedeutung gebraucht wird, halten wir es für besser, 
die Bezeichnung synthetische Objektsdefinition beizubehalten. 

Um die Einteilung der Objektsdefinitionen noch weiter durch- 


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Walter Müller, 


zuführen, müssen wir bedenken, daß wir bei ihnen zwei verschiedene 
Arten zu beachten haben, die von Enriques (» Probleme der Wissen¬ 
schaft« I, [1910], S.171) und Schoenflies( »Stellung der Definitionen 
in der Axiomatik« § 4, a, b) 1 ) angeführt werden. Es wird von beiden 
nämlich unterschieden zwischen Definitionen, die zur Festsetzung der 
»Grundbegriffe« dienen, und solchen, die im Laufe der Untersuchung 
eingeführt werden. Die Unterscheidung derselben in Real- und 
Nominaldefinitionen, wie sie Enriques vorschlägt, sehen wir als 
verfehlt an. Schoenflies spricht von Definitionen von »axioma- 
tischem Charakter« und von »Definitionen im engeren Sinne«. Wir 
wollen sie nennen grundlegende und ableitbare D. Die grund¬ 
legenden Objektsdefinitionen sollen die für den Aufbau der mathe¬ 
matischen Wissenschaften benutzten grundlegenden Objekte und 
deren Namen (wie Schoenflies sagt die »Grundbegriffe«) einführen, 
und die ableitbaren Definitionen sollen die später einzuführenden 
Objekte und deren Begriffe schaffen. Von diesen letzteren bemerkt 
Schoenflies sehr richtig — und das ist auch der Grund, weshalb 
wir sie ableitbare Definitionen nennen —: »Da die Definition (diese 
letztere) ein mathematisches Objekt von gewissen Eigenschaften neu 
einführt 2 ), so wird durch ihren Inhalt eine mathematische Tatsache 
behauptet. Eine solche bedarf, wie jede mathematische Tatsache, 
an sich eines Beweises. Er hat zu zeigen, daß die Existenz derjenigen 
Beziehungen, die in der Definition zum Ausdruck kommen, aus den 
zugrunde gelegten Axiomen gefolgert werden kann.« 

Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung ist also, daß es neben 
den Begriffsbestimmungen durch Definition auch Objektsbestim¬ 
mungen gibt, die hier Objektsdefinitionen genannt wurden. Wie 
nun aber die Objektsbestimmung vorgenommen wird, das muß 
aus der Arbeitsmethode der Mathematik hervorgehen, und diese 
Frage ist an späterer Stelle erst zu beantworten. 


§ 6. Das Wesen der Axiome. 

Die Frage nach dem Wesen der Axiome läßt sich zerlegen in die 
beiden Fragen: 

Was sind die Axiome? und 
Woher stammt ihre Geltung? 


1) S.-A. aas d. Sehr. d. physik.-ökon. Gesellsch. in Königsberg, 61. Jahrg. 
1901,1, S. 260—93. 

2) Die Unterscheidung von Begriff and Objekt ist bei S. nioht beaohtet. 


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DuVerhältnia d. Definit zn den Axiomen in der neueren Mathematik. 157 

Die erste Frage, die nach der Bedeutung der Axiome, ist eine logische, 
die zweite eine erkenntnistheoretische. Für eine Behandlung des 
Verhältnisses der Definitionen zu den Axiomen ist die erste Frage von 
besonderer Bedeutung. Sie sei zunächst erörtert. 

In verschiedenen Wissensgebieten finden wir Axiome vor: die 
Geometrie beginnt ihren Aufbau mit einem System von Axiomen. 
Ein berühmtes Axiom in der Arithmetik ist das von E. Schröder 
zuerst als solches formulierte, daß die Anzahl unabhängig vom Zähl¬ 
prozeß ist, daß man also, wenn man eine Menge wiederholt zählt, 
dieselbe Anzahl bekommt; in der Mechanik sind die drei New ton - 
schen Axiome bekannt; Leop.old von Buch stellt für die Natur¬ 
wissenschaft das Axiom von der Gleichförmigkeit des Naturgeschehens 
auf, das auch von Mi 11 hervorgehoben wird; die Logik endlich spricht 
auch von Axiomen und führt als solche au den Satz der Identität und 
des Widerspruchs. 

Diese Verschiedenartigkeit der Gebiete und der Axiome müssen 
wir bei einer Bestimmung ihres Wesens berücksichtigen. 

Um nun eine solche vorzunehmen, können wir zunächst einmal 
behaupten, daß die Axiome Urteile sind, also Sachverhalte aussagen. 
Doch diese Bestimmung ist zu weit; nicht jedes Urteil ist ein Axiom. 
Wir müssen also versuchen, die Bestimmung einzugrenzen, und das 
können wir, indem wir auch auf den Geltungscharakter der Axiome 
eingehen. Zunächst können wir sagen, daß die Axiome als Urteile 
unbedingte Geltung für sich in Anspruch nehmen, und daß wir ihnen 
diese Geltung ohne weiteres zugestehen, oder aber wir erkennen das 
Axiom nicht als solches an. Diese Geltung nun sehen wir zwar als 
Tatsache an, es ist aber nicht möglich, sie aus anderen Tatsachen 
abzuleiten. In diesem Sinne sind sie letzte, unbeweisbare Urteile. 
Wenn wir noch bemerken, daß sie als solche Grundlagen oder 
Voraussetzungen für ein bestimmtes Wissensgebiet sind, so kommen 
wir zu einer befriedigenden Bestimmung. Wir können sagen: 

»Axiome sind Urteile, die für ein bestimmtes Wissensgebiet, für 
das sie aufgestellt sind, als letzte, unbeweisbare Voraussetzungen an¬ 
zusehen sind.« 

Voraussetzungen können nun für die Forschung wie auch für die 
Darstellung von Wichtigkeit sein. Im ersten Falle bezeichnen wir 
die Axiome als Grundgesetze, im zweiten Falle als Grundsätze. Je 
nachdem man es mit wirklichen, Real- oder Idealobjekten zu tun hat, 
muß man dann die Grundgesetze noch weiter einteilen. So wäre das 
»Trägheitsprinzip« der Mechanik ein Grundgesetz für reale, irgend 
ein Axiom der Geometrie — etwa: zwei Gerade schneiden sich in 


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158 


Walter Mtiller, 


einem und nur einem Punkt — ein Grundgesetz für ideale Objekte. 
Überhaupt müßten die Axiome der Geometrie als Grundgesetze und 
nicht als Grundsätze bezeichnet werden. Die Axiome der Logik 
wären als Grundsätze der Darstellung zu bezeichnen. 

Da für unsere Betrachtung nur die Axiome der Mathematik in 
Betracht kommen, sollen nur diese weiter charakterisiert werden. 
Folgende Forderungen sind für sie zu beachten. Sie müssen unab¬ 
hängig voneinander, widerspruchslos sein und ein vollständiges 
System bilden. Vahlen macht darauf aufmerksam, daß die Zahl 
der Grundgesetze und der Inhalt jedes einzelnen möglichst klein 
sein soll 1 ). 

Die Axiome beschreiben die gegenseitigen Beziehungen der geo¬ 
metrischen Grundgebilde. Unser Wissen von diesen beschränkt sich 
auf das, was in den Axiomen enthalten ist und was aus ihnen abge¬ 
leitet werden kann. 

Die Frage nach der Geltungsgrundlage der Axiome ist für die 
vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung. 

II. Teil. 

Die Stellung der Definitionen und Axiome in der modernen 

Mathematik. 

§ 7. Die Aufgabe und die Methode. 

Nachdem wir die Untersuchung über das Wesen der Definitionen 
und Axiome zum Abschluß gebracht haben, müssen wir uns jetzt 
dem zweiten Teil unserer Aufgabe zuwenden und die Stellung der 
Definitionen und Axiome im Aufbau der Mathematik charakterisieren. 
Hierbei interessiert uns in erster Linie die Geometrie, weil sich für 
unsere Aufgabe in diesem Gebiet das meiste Material findet. 

Wir erinnern uns dabei an die verschiedenen in der Einleitung 
angedeuteten Richtungen, die entweder Definitionen und Axiome 
nebeneinander bei der Einführung der Grundgebilde benutzten, oder 
aber die Definitionen als unzulässig ansehen. 

§ 8. Gleichzeitige Berücksichtigung der Definitionen, und Axiome. 

Wenn wir von den Definitionen in der Mathematik sprechen, so 
müssen wir unterscheiden zwischen Definitionen, die zur Bestimmung 
der Grundgebilde benutzt werden, und solchen, die man im späteren 
Verlauf der Entwicklung einführt. Da es uns hauptsächlich um jene 


1) Vahlen, Abstrakte Geometrie 1905, S. 1. 


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Das Verhältnis d. Definit, zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 159 


ersteren zu tun ist, und Schwierigkeiten wegen der letzteren nicht 
bestehen, wollen wir nur wenige unsere früheren Ausführungen er¬ 
gänzende Bemerkungen über die letzteren machen. 

Außer den Grundgebilden gibt es noch abgeleitete Gebilde. Sie 
lassen sich auf die Grundgebilde zurückführen, und zwar geschieht 
das durch Definitionen. So lehren wohl alle Lehrbücher, und in 
diesem Sinne benutzen die Mathematiker tatsächlich die »beweis¬ 
bare« Definition. Als Beispiele seien angeführt einmal das Lehrbuch 
von Thieme >>Grundlehreu der Mathematik«, Leipzig 1909, welches 
den Definitionen die Aufgabe der Einführung der abgeleiteten Ge¬ 
bilde zuspricht, und dann die Abhandlung von F. Schur: Ȇber die 
Grundlagen der Geometrie« (Math. Annalen, Bd. 55), wo in der an¬ 
gegebenen Weise verfahren wird. Beispielsweise führt Schur die 
Gerade ein durch die Definition: Eine Gerade besteht aus den Punkten 
einer Strecke und ihren beiden Verlängerungen. Dabei sind als Grund¬ 
gebilde vorausgesetzt die Strecke und ihre Verlängerungen. Diese 
Ausführungen mögen genügen, die Stellung der beweisbaren Definition 
zu charakterisieren. Sie kann im folgenden von der Untersuchung 
ausgeschlossen werden. Wir können uns nun den Definitionen der 
Grundgebilde zuwenden. 

Wenngleich wir unser Hauptaugenmerk auf die moderne Geo¬ 
metrie zu richten haben, so ist doch unumgänglich nötig, an dieser 
Stelle auch der älteren Mathematik, insbesondere der grundlegenden 
Darstellung Euklids, Erwähnung zu tun, weil nur aus der Auf¬ 
fassung der älteren Mathematiker über die Stellung der Definitionen 
im Aufbau der Geometrie heraus das Verständnis für die ablehnende 
Haltung einer großen Zahl moderner Geometer gegenüber den Defi¬ 
nitionen zu verstehen ist. Bei unseren Ausführungen halten wir uns 
vor allem au die Werke von Enriques, »Prinzipien der Geometrie« 
und Killing, »Grundlagen der Geometrie«, denen wir auch die 
Zitate entnehmen. 

Euklid unterscheidet zwischen Definitionen, Axiomen und Postu- 
laten. Nach dem Vorgehen der meisten Mathematiker lassen wir 
die Unterscheidungen zwischen Axiomen und Postulaten als un¬ 
wesentlich fallen und unterscheiden demnach nur Definitionen und 
Axiome. Die Definitionen betreffen Punkt, Gerade, Ebene, Kreis, 
Winkel und Dreieck, Viereck. Uns interessieren nur die der Grund¬ 
gebilde. Euklid sagt: 

Ein Punkt ist, was keine Teile hat. 

Eine Linie ist eine Länge ohne Breite. 

Das Äußerste (die Grenze) einer Linie sind Punkte. 


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Walter Müller, 


Die Gerade ist diejenige Linie, welche gegen die in ihr enthaltenen 
Punkte gleichförmig liegt. Die Ebene ist diejenige Fläche, welche 
zwischen den in ihr gelegenen Geraden gleichförmig liegt. 

Nachdem er diese Definitionen aufgestellt hat, geht er dazu über, 
eine Reihe von Axiomen aufzustellen, die gewisse Beziehungen zwi¬ 
schen den vorher definierten Grundgebilden fordern. Wir brauchen 
auf diese nicht weiter einzugehen. 

Archimedes definiert die Gerade als die kürzeste Verbindung 
zweier Punkte. JedochhatdieseDefinitionsicherstdurchLegendre 
allgemeines Bürgerrecht erworben. Killing 1 ) wirft ihr mit Recht vor, 
daß sie unstatthaft sei, und zwar: 

a) weil von vornherein die Möglichkeit der Messung für alle 
Linien vorausgesetzt wird, was nicht angeht, 

b) weil vor Ausführung der Messung ein Maßstab vorhanden sein 
muß, dieser aber erst durch die gerade Linie gegeben wird, 

c) weil die Existenz eines Minimums nicht evident ist, vielmehr 
nur axiomatisch gefordert werden kann (S. 187). 

Weiter sagt er, daß die angegebenen Bedenken sich nur gegen den 
Versuch richten, rein »begrifflich« die Gerade als kürzeste Linie ein¬ 
zuführen. »Dagegen kann man die Gerade als kürzeste Linie ein¬ 
führen, wenn man ein geeignetes Axiom aufstellt« (S. 190). Er 
macht darauf aufmerksam, daß Be t a z zi das getan hat. Noch andere 
Definitionen der Geraden und Ebene gibt es, die auch von Killing 
angeführt werden (S. 177): »Die Gerade ist diejenige Linie, welche 
durch zwei ihrer Punkte bestimmt ist«; »die Ebene ist diejenige 
Fläche, welche durch eine Gerade und einen nicht in ihr liegenden 
Punkt bestimmt ist.« Killing wendet gegen diese Definition ein, 
daß zwar eine Linie oder Fläche durch eine gewisse Anzahl Punkte 
bestimmt sei, daß diese Behauptung jedoch nur einen Sinn habe, 
wenn man die Eigenschaften der Linie oder Fläche als bekannt 
voraussetzt. Lediglich aus der Zahl der ein Gebilde bestimmenden 
Punkte kann man nicht dessen Eigenschaften bestimmen. Weiterhin 
müßte auffallen, daß man diese Erklärung nur auf die Gerade und 
Ebene beschränkt und bei den übrigen Gebilden von anderen Defini¬ 
tionen ausgeht. Der Grund liegt eben darin, daß man mit der Er¬ 
klärung nichts anfangen kann (S. 179). Nach Killing geht die 
einzig richtige Definition der Raumgebilde, wie sie nach ihm auch 
regelmäßig in den Lehrbüchern gegeben wird, vom Begriff des Körpers 
und dem der Teilung aus (S. 174). Man teile einen Körper, so wird 


1) Grundlagen der Geometrie 1893. 


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Da« Verhältnis d. Definit zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 161 

die gegenseitige Grenze eine Fläche sein, teilt man die Fläche wieder, 
so wird die gegenseitige Grenze der beiden Teile durch eine Linie 
gegeben, und wenn man endlich eine Linie in zwei Teile zerlegt, so 
besteht die gegenseitige Grenze in einem Punkt. Wir wollen nicht 
durch Aufzählung weiterer Beispiele, die hierher gehören, ermüden 
und beschränken uns lieber darauf, kurz das Wesentliche der an¬ 
gewandten Methode zu charakterisieren. Wir können es zusammen¬ 
fassen in den Satz: 

»Es gibt eine Richtung in der Geometrie, welche die Grundgebilde 
durch Definitionen einführt und dann über die Beziehungen zwischen 
diesen Grundgebilden Axiome aufstellt.« 

Wir wollen dabei noch hervorheben, daß die Eigenschaften, 
welche die Definition von dem Grundgebilde aussagt, gar nicht 
für die weitere Entwicklung in Betracht kommen, sondern daß man 
sich dabei lediglich auf die in den Axiomen gemachten Aussagen 
stützt. 


§ 0. Die Gegner der Definition. 

Wenn Erklärungen das nicht leisten, was sie eigentlich zu leisten 
hätten, so ist es wohl verständlich, wenn man sie, ihres Unvermögens 
wegen, aufgibt. Wenn die Definitionen der Grundgebilde uns keinen 
Aufschluß über die Eigenschaften derselben geben, die wir im späteren 
Aufbau des Lehrgebäudes der Geometrie brauchen, und ausschließlich 
brauchen, wenn sie nur Daten angeben, die für die geometrische 
Entwicklung überflüssig sind, warum halten wir sie denn überhaupt! 
Also fort mit ihnen! Das waren die Erwägungen, an die neuere 
Geometer anknüpften, und die sie dazu brachten, ihre Grundlegung 
nicht mit Definitionen anzufangen. Außerdem wird noch oftmals 
hinzugefügt, daß Definitionen auch deshalb nicht verwertbar sind 
für die Einführung der Grundbegriffe, weil »die Definition eines 
Begriffes seine Zurückführung auf schon bekannte Begriffe sei«, die 
Grundbegriffe aber nicht auf andere zurückgeführt werden könnten, 
da sie eben »Grundbegriffe« seien. In dieser Hinsicht äußert sich 
Joh. Mollerup in dem S. 146 erwähnten Referat über die Grund¬ 
lagen der Elementargeometrie, weshalb er zur Begründung der 
Geometrie die axiomatische Darstellung für allein richtig hält, die 
nicht damit anfange, die zu behandelnden Begriffe zu definieren. 
Vielmehr müssen Punkt und Gerade Undefiniert auftreten. Ihm 
sind die Definitionen Euklids nicht eigentliche Definitionen, »son¬ 
dern sie sollen die Aufmerksamkeit nur auf die bequemste Veran¬ 
schaulichung richten«. 

Archiv ftr Psychologie. XXXVI. D 


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Walter Müller, 


Unser Wissen von den grundlegenden geometrischen Begriffen 
beschränkt sich auf das, was in den Axiomen enthalten ist. Auch 
beiEnriques finden wir ähnliche Erwägungen (Probleme der Wiss. I). 
Er sagt: »Die üblichen Definitionen der geometrischen Grund¬ 
gebilde können nur im erweiterten Sinne des Wortes als wirkliche 
Definitionen betrachtet werden; man hat sie in diesem Sinne als 
psychologische Definitionen zu bezeichnen. Dieser Name bringt 
ihre Aufgabe zum Ausdruck, gewisse Vorstellungen von den Grund¬ 
gebilden zu erwecken und ihre Beziehungen anschaulich zu machen. « 
Ihre Mangelhaftigkeit betont er dabei noch ausdrücklich, indem er 
hinzufügt: »Die Definitionen, die wir beispielsweise von der Geraden 
haben, lehren uns nicht die elementaren Eigenschaften derselben, 
von denen man in der logischen Entwicklung der Geometrie Gebrauch 
macht. Nicht die einfachste Eigenschaft, daß zwei Gerade sich in 
einem Punkt schneiden, kann man daraus ableiten« (S. 169). 

Um nun aber für den Zweck unserer Untersuchung zu einem 
befriedigenden Ergebnis zu kommen, können wir uns nicht mit der 
Feststellung dieser Ablehnung begnügen. Wir müssen noch er¬ 
gänzend das von diesen »reinen Axiomatikern« angewandte Verfahren 
uns vor Augen führen, um die Eigenart ihrer »axiomatischen «Methode 
zu kennzeichnen. Wir stützen uns dabei auf die grundlegenden Werke 
von Pasch, »Vorlesungen über neuere Geometrie« (1882) und Hil¬ 
bert, »Grundlagen der Geometrie« (1909). 

Pasch betont auch die Unzulänglichkeit der Euklidischen 
Definitionen (S. 16) und will deshalb die Benutzung der Definitionen 
nur für die Einführung der abgeleiteten Begriffe gestatten. Seine 
Methode zur Einführung der Grundgebilde ist dadurch charakterisiert, 
daß keine Definitionen aufgestellt, sondern nur hinreichend viele 
Eigenschaften der Gebilde in Form von »Grundsätzen« an die Spitze 
seiner Untersuchungen gesetzt werden. Wir können noch hinzufügen, 
daß er als Grundsätze alle diejenigen Tatsachen anführen will, auf 
die sich spätere Beweise stützen, und die selbst nicht bewiesen 
werden können. Es wird angebracht sein, einige derselben hier an¬ 
zugeben : 

1) Zwischen zwei Punkten kann man stets eine gerade Strecke 
ziehen, und zwar nur eine. 

2) Man kann stets einen Punkt angeben, der innerhalb einer ge¬ 
gebenen geraden Strecke hegt. 

3) Liegt der Punkt C innerhalb der Strecke A B, so hegt der 
Punkt A außerhalb der Strecke B C. 

Pasch betont späterhin noch ausdrücklich, daß die Grundbegriffe 


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Das Verhältnis d. Definit, zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 163 

nicht definiert worden sind, sondern daß wir sie der Anschauung ver¬ 
danken (S. 17). 

Wenn wir Hilbert hier unter den Gegnern der Definition auf¬ 
führen, so müssen wir sofort hinzufügen, daß dies nur in gewisser 
Weise berechtigt ist, insofern nämlich Hilbert sehr wohl auch die 
Möglichkeit einer Definition zugibt und nur die »psychologische« 
Definition nicht benutzt. »Seine Stellungnahme wird sich aus unserer 
Darlegung ergeben. 

Hilbert setzt drei Systeme von Dingen, die er Punkte, Gerade 
und Ebenen nennt, und zwischen denen bestimmte Beziehungen be¬ 
stehen. Die genaue und vollständige Beschreibung dieser Beziehungen 
erfolgt durch die Axiome der Geometrie, die in fünf Gruppen auf¬ 
gezählt werden. Nur die in diesen Axiomen enthaltenen Beziehungen 
machen den Inhalt der Grundgebilde aus und geben auch das für die 
Entwicklung Wesentliche an. Die Namen und die Beschaffenheiten 
der mathematischen Objekte sind deshalb belanglos, so daß man 
diese Namen »Punkt« usw. ganz entbehren könnte und statt ihrer 
nur Buchstaben A, a, a zu benutzen brauchte. Der mathematische 
Inhalt der Objekte ist einzig und allein durch die Axiome bestimmt, 
die diese Objekte miteinander verbinden (Schoenflies, S. 5). Defi¬ 
nitionen werden nicht verwandt. Nur sagt Hilbert gelegentlich: 
Die Axiome der Anordnung definieren den Begriff »zwischen«. 

Frege hat, an diese Bemerkung anknüpfend, wohl zuerst darauf 
aufmerksam gemacht, daß Hilbert sehr w'ohl Definitionen braucht, 
und Hilbert hat das in einem Briefe an Frege zugegeben, in dem er 
sagt, daß die Axiome ihm Bestandteile von Definitionen sind. (Siehe 
Frege, Über die Grundlagen der Geometrie, Jahresberichte der 
deutschen Mathematikervereinigung, Bd. XII, S. 322.) So sind zum 
Beispiel die Axiome II X bis II 6 Bestandteile der Definition »zwischen«. 
Frege polemisiert äußerst heftig gegen diese Verwendung der Defini¬ 
tion, weil er nur Begriffsdefinitionen kennt, die Unbekanntes durch 
Bekanntes ersetzen. Die Grundfrage ist ihm: »Können Axiome, die 
doch Grundgesetze für ideale Objekte sind, überhaupt definieren, also 
Begriffe bestimmen? « Weiter wendet er sich gegen die Möglichkeit 
einer Unabhängigkeit der Axiome. Erst durch sämtliche Axiome, 
die zur Definition des Punktes gehören, bekäme das Wort Punkt 
einen Sinn; und also erhält auch erst durch diese sämtlichen Axiome 
jedes einzelne, in dem das Wort Punkt vorkommt, seinen vollen Sinn, 
so daß die zur Definition gehörigen Axiome voneinander abhängig 
sind. — Korselt hat in demselben Bande der Jahresberichte (S. 402 
bis 407) einen Verständigungsversuch unternommen, der unseres 

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164 


Walter MUller, 


Erachtens die Hauptpunkte des Problems treffend charakterisiert 
und klarstellt. Wir wollen seine Arbeit an späterer Stelle berück¬ 
sichtigen. 

Nach diesen Darlegungen können wir den Standpunkt der hier 
behandelten Richtung zusammenfassen in den Satz: »Eine Grund¬ 
legung der Geometrie ist möglich unter Ausschluß von Definitionen 
nur dadurch, daß man die Grundgebilde Undefiniert auftreten läßt 
und die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen durch Axiome fest¬ 
setzt, so daß der mathematische Inhalt der Grundgebilde nur durch 
die Axiome bestimmt ist.« 

§ 10. Die Axiome als Definitionen. 

Zum Schluß haben wir noch eine Ansicht zu erwähnen, die der 
französische Mathematiker Poi ncare (a. a. 0. S. 51) vertreten hat. 

Poincare erkennt die Axiome vollständig an; sie sind ihm aber 
nichts weiter als (verkleidete) Definitionen. Er kommt zu dieser 
Auffassung, indem er von der Frage ausgeht: Welches ist die Natur 
der geometrischen Axiome? Er beantwortet diese Frage dahin, daß 
sie weder synthetische Urteile a priori, noch experimentelle Tatsachen 
sind, sondern »auf Übereinkommen beruhende Festsetzungen«. 
Darum können sie streng richtig sein, selbst wenn die Erfahrung die 
Gesetze, welche ihre Annahme bewirkt haben, als nur annähernd 
richtig bestimmt. 

Hierzu muß folgendes bemerkt werden: 

Poincare sah das Wesen der Definitionen als hinlänglich bestimmt 
an durch die Bemerkung, daß die Definitionen auf Übereinkommen 
beruhende Festsetzungen seien. Damit trifft er jedoch ihr Wesen 
nur in einem beschränkten Maße, da er einmal die »bestimmenden« 
Definitionen ganz außer acht läßt, dann aber auch nicht zwischen 
»schaffender« Begriffsdefinition und »synthetischer« Objektsdefi¬ 
nition« unterscheidet. Die Axiome, die doch die Grundgesetze für 
die mathematischen Grundgebilde aussprechen sollen, sind sicher 
keine »schaffenden« Definitionen, sie wollen keine Namen einführen. 
Von diesem Gesichtspunkte aus ist es nicht angängig, die Axiome 
ohne weiteres als verkleidete Definitionen aufzufassen. Daß anderer¬ 
seits zwischen den Axiomen und Objektsdefinitionen ein enger Zu¬ 
sammenhang besteht, daß die Axiome als Teile von Objektsdefini¬ 
tionen aufzufassen sind, wird sich im folgenden zeigen. 


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Das Verhältnis d. Definit zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 165 


m. Teil. 

Ergebnisse. 

§ 11. Kritisohe Ausführungen. 

Wenn die Mathematik die Wissenschaft von den mathematischen 
Idealobjekten ist, so muß es auch eine Möglichkeit der Bestimmung 
dieser Objekte, es muß »Objektsdefinitionen« geben. Das war ein 
Hauptergebnis des ersten Teiles dieser Untersuchung. Wie nun diese 
Objektsdefinitionen zu geben sind, das sollte die Arbeitsmethode der 
Mathematiker, das von ihnen ge handhabte Verfahren zur Einführung 
ihrer Idealobjekte zeigen. Darum wurden im zweiten Teil die beiden 
sich gegenüberstehenden Methoden zur Begründung der Geometrie 
an der Hand von Beispielen dargelegt. Es bleibt jetzt noch übrig, 
aus dem zusammengestellten Material die nötigen Schlüsse zu ziehen, 
um die Art und Weise der Objektsdefinition zu erkennen, um also die 
Frage zu beantworten: Wie sind Objektsdefinitionen möglich? 

Bevor diese Feststellungen gemacht werden, seien einige kritische 
Äußerungen vorgebracht. 

1) Die von Poincare aufgestellte Behauptung, daß die geome¬ 
trischen Axiome nichts weiter als Definitionen seien, läßt sich nicht 
ohne weiteres halten, wie schon ausgeführt wurde. 

2) Die in neuerer Zeit gegen die herkömmlichen Definitionen der 
Grundgebilde sich wendende Kritik ist vollkommen berechtigt. Diese 
Definitionen verdienen ihren Namen gar nicht. Sie sind nach dem 
Sprachgebrauche von Enriques lediglich »psychologische« Defini¬ 
tionen. 

3) Es besteht bis jetzt in der mathematischen Wissenschaft noch 
keine reinliche Scheidung zwischen Begriff und Objekt. Die geome¬ 
trische Forschung hat es direkt mit den geometrischen Objekten zu 
tun, nicht mit den Begriffen von diesen Objekten. Der Grund für 
diese Unklarheit liegt einmal darin, daß in weiten Kreisen noch 
immer das Dogma vertreten wird, daß alles Denken auf Begriffe ziele, 
dann in der Tatsache, daß die bisherige Logik nur von Begriffsdefini¬ 
tionen spricht. Daraus zu erklären ist der Einwand, den man gegen 
die Einführung der Grundgebilde — nicht Grundbegriffe — durch 
Definitionen macht, wonach eine solche Einführung nicht möglich 
ist, weil die Definition die Zurückführung eines Begriffs auf schon 
bekannte sei. Diese Bestimmung des Wesens der Definition ist aber 
nicht ausreichend. Sie gilt nur für Begriffsdefinitionen. Wie sich 
die Objektsdefinitionen der Grundgebilde hier verhalten, darüber 


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166 


Walter MHller, 


kann, man a priori nichts aussagen, darüber ist auch kaum je etwas 
ausgesagt worden. Aber die Praxis der Mathematik lehrt es uns. 

§ 12. Die Bestimmung der Grundgebilde in der Mathematik 
durch die Objektsdeflnitionen. 

Die Beschreibung der mathematischen Eigenschaften der Grund¬ 
gebilde erfolgt in den Axiomen. Es ist deshalb neuerdings wiederholt 
die Ansicht vertreten worden, daß die Axiome in ihrer Gesamtheit 
als die Definition der Grundgebilde aufzufassen sind. Hilbert selbst 
macht schon eine Andeutung in dieser Hinsicht. Enriques ist 
derselben Auffassung. Er sagt: Man betrachtet die Gesamtheit der 
Axiome als die implizite Definition der gegebenen Grundgebilde 
(Probleme der Wissenschaft, I, S. 174). Auch Schoenflies äußert 
sich in gleicher Weise, indem er sagt: »Man kann die Axiome als 
Definitionen der Grundgebilde ansehen. Die Eigenart dieser Defini¬ 
tionen besteht dann darin, daß sie eine gewisse Gruppe von Begriffen 
und Beziehungen zugleich definieren.« Das Resultat seiner Unter¬ 
suchung über die Stellung der Definition in der Axiomatik faßt er 
dann zusammen in den Satz: »Die Definition kann im axiomatischen 
Aufbau einen Platz nur insofern beanspruchen, als die in ihr enthaltene 
mathematische Tatsache selbst den Axiomen oder anders ausgedrückt 
der Stammtafel der mathematischen Begriffe und Beziehungen zu¬ 
gezählt wird.« Schoenflies meint hier also nur die grundlegende 
oder axiomatische Objektsdefinition. Von bestimmender oder schaf¬ 
fender Definition, ebenso von beweisbarer Definition ist nicht die Rede. 

Demnach ergibt sich, daß die Definition der Grundgebilde dadurch 
geschieht, daß man in den Axiomen die für sie bestehenden Gesetze 
ausspricht, so daß die Axiome als Teile von Objektsdefinitionen auf¬ 
zufassen sind. 

Wir müssen nun noch auf die von Fr ege gegen die von uns hier 
vertretene Hilbert sehe Anschauung gemachten Einwände ent¬ 
gegnen. F r e g e behauptet: 

1) Axiome können nicht definieren. Wie schon ausgeführt wurde, 
ist diese Behauptung dadurch zu erklären, daß Fr ege nur Begriffs¬ 
definitionen kennt. 

2) Die Hilbertschen Definitionen geben uns keinen Aufschluß 
über die Natur der mathematischen Objekte. Es ist darauf zu er¬ 
widern: die mathematischen Objekte brauchen für uns nur soviel 
Inhalt zu haben, als für die mathematischen Entwicklungen nötig ist. 

Diesen erhalten sie aber vollständig durch die Axiome, und alle 
Klassen von Objekten, die den Axiomen genügen, können wir deshalb 


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Dae Verhältnis d. Definit zu den Axiomen in der neueren Mathematik. 167 

geradezu als die von uns gebrauchten mathematischen Objekte auf¬ 
fassen. Das ergibt den Satz, daß die Definitionen der mathematischen 
Grundgebilde mit Hilfe von Axiomen verschiedene Deutungen zulassen, 
sowohl der Grundgebilde als auch der Beziehungen. Das Wesentliche 
dieser »abstrakten« (Vahlen) oder »rationalisierten« (Korselt.) 
Geometrie ist es eben, daß eine Reihe formaler Schlüsse auf ver¬ 
schiedene Weise gedeutet werden kann. Beispielsweise kann man das 
Hilbertsche Axiomensystem befriedigen, wenn man als Grund¬ 
gebilde die Punkte, Geraden und Ebenen der gewöhnlichen Geometrie 
nimmt, aber auch, wenn man als Grundgebilde nimmt das Punkte¬ 
paar, Kreis und Kugel. Gerade in der Möglichkeit der Loslösung von 
der Anschauung liegt der große Wert der Hilbertschen Axiomatik. 
Daß darum die mathematischen Objekte keinen Inhalt haben, darf 
nicht gesagt werden. Sie haben gerade den Inhalt, den die Axiome 
ihnen beilegeD. 

3) Die Definitionen bilden ein System von Gleichungen mit mehre¬ 
ren Unbekannten. Diese Behauptung kann durch eine Bemerkung 
Korselts 1 ) entkräftet werden: Die zugrunde gelegten einfachen 
Begriffe können nur durch Sätze bestimmt werden, in denen mehrere 
solche Begriffe gleichzeitig auftreten. Die einfachen Grundbegriffe 
bilden keine Reihe, sondern ein Netz, in dem man von jedem Knoten 
zu jedem anderen gelangen kann, das sich aber doch nicht in einen 
einzigen Faden auflösen läßt. 

4) Die Axiome sind voneinander abhängig. Diese Behauptung 
findet ihre Erledigung darin, daß für Hilbert das Wort unabhängig 
lediglich »nicht auseinander ableitbar« bedeutet. 

5) Die Hilbertsche Methode rechtfertigt den ontologischen 
Gottesbeweis. Hier findet sich bei Frege eine vollständige Ver¬ 
kennung der Tatsachen. Er unterscheidet nicht zwischen der Daseins¬ 
form eines Idealobjekts und eines Realobjekts. Die Idealobjekte 
sind »gesetzt«, die Realobjekte »existieren«. Die reale Existenz 
kann aber nicht logisch festgestellt werden. Darum folgt noch lange 
nicht aus der Tatsache, daß wir durch Definitionen und Axiome die 
Idealobjekte selbst schaffen, die Berechtigung, auf diese Weise auch 
das Dasein Gottes zu beweisen. 

§ 13. Das Verhältnis der Definitionen zu den Axiomen. 

Aus der Unterscheidung zwischen Forschung und Darstellung 
folgt die Notwendigkeit der Trennung der Definitionen in Begriffs- 


1) Jahreeber. d. Math. Ver., Bd. 12, 1913, S. 406. 


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168 Walter Müller, Daß Verhältnis der Definitionen zn den Axiomen nsw. 

und Objektsdefinitionen. Für die Darstellung kommen nur die 
ersteren in Betracht. Wir können demnach sagen: Nur soweit die 
Mathematik dargestellt wird, braucht sie Begriffsdefinitionen, die 
den Zweck haben, den selbstgeschaffenen Objekten Namen zu geben. 
Die Objektsdefinitionen kommen dagegen für die Forschung in 
Betracht. Sie liefern der Forschung ihre Objekte, und zwar sind sie 
von axiomatischem Charakter — durch Axiome bestimmt und aus 
solchen zusammengesetzt —, wenn es sich um die Einführung der 
Grundgebilde handelt, so daß die Axiome als Teile dieser grund¬ 
legenden Objektsdefinitionen anzusehen sind. Die im Verlauf der 
Untersuchung einzuführenden Gebilde, die sich auf die Grundgebilde 
zurückführen lassen, werden durch die ableitbare Objektsdefinition 
geschaffen. 

Durch diese Bestimmung regelt sich sowohl die verschiedene Auf¬ 
gabe der Definition als auch das Verhältnis der Definitionen zu den 
Axiomen ohne Schwierigkeit. Diese lag bisher lediglich darin, daß 
die Logik nicht klar unterschied zwischen Begriffs- und Objekts¬ 
definitionen. Und doch hat die mathematische Wissenschaft beide 
Arten anerkannt. In der schon erwähnten Schrift von Schoenflies 
heißt es (§ 4, a): Jede Definition enthält einen Namen für ein mathe¬ 
matisches Objekt. Da der Name belanglos ist, so kommt es nur auf 
das Objekt an. Dieses Objekt wird durch die Definition so eingeführt, 
»daß sie seinen mathematischen Inhalt angibt«. Die Unklarheiten 
können also vermieden werden, wenn man sich dieser Verschieden¬ 
artigkeit der Definitionen und ihrer Aufgabe bewußt ist. Eine rein¬ 
liche Scheidung wäre deshalb bei jeder Darlegung der Grundlagen 
der Mathematik am Platze. Man sollte sich klar bewußt sein, was 
man mit der Definition will, ob man der Forschung oder nur der 
Darstellung damit dienen will. 


• (Eingegangen am 3. Dezember 1915.) 


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(Aus dem psychologischen Laboratorium Bonn.) 


Untersuchung über die Psychologie des wissenschaft¬ 
lichen Denkens auf experimenteller Grundlage. 

I. Teil: 

Die elementaren Inhalte der Denkprozesse. 

Von 

Ludwig Rangette (Düsseldorf). 

Mit 7 Figuren im Text. 


Inhaltsangabe. 

Einleitung. Seite 

§ 1. Geschichtlicher Überblick.171 

§ 2. Die Problemstellung.172 

§ 3. Die Versuchsanordnung.174 

§ 4. Die Verarbeitung der Versuche und Ausblick auf weitere 

Probleme. 179 

§ 5. Stellungnahme zur Selz sehen Arbeit über die Gesetze des 

geordneten Denk Verlaufes.182 

Kapitel I. Die Vorstellungen. 

I. Die Vorstellungen als Begleiterscheinungen.183 

§ 1. Die Vorstellungen und die Aufgabe.183 

§ 2. Begleitende Vorstellungen.185 

§ 3. Einordnende Vorstellungen.186 

§ 4. Ablösende Vorstellungen.*.187 

II. Die Vorstellungen innerhalb der Denkprozesse.188 

§ 5. Akustische Vorstellungen.188 

§ 6. Bewußtseinsstufen der Vorstellungen.190 

§ 7. Immanente Änderung der Vorstellungen und Übergang zu kin- 

ästhetischen Vorstellungen.191 

III. Die Vorstellungen in der Mathematik ..193 

§ 8. Die Dynamik der Vorstellungen.193 

§ 9. Symbolische Vorstellungen.195 

§ 10. Vorstellungen und Gedanken.195 

Schlußbemerkung.197 

Kapitel II. Das Schema. 

§ 1. Entstehung des Schemas, allgemeine Eigenschaften und Ab¬ 
hängigkeit von den Wissensgebieten.198 


J 2. Das Schema als Stütze des reproduktiven Denkens.200 


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170 


Ludwig Rangette, 


Seit« 


§ 3. Die gedankliche Ausfüllung des Schemas.201 

§ 4. Das Schema innerhalb der Denkprozesse (zur Kinästhesie und 

Dynamik des Schemas).203 

§ 5, Fixation (Extemalisation der Gedanken).206 

Schlußbemerkung.207 

Kapitel IIL Die Lokalisation. 

Zur Einführung.208 

§ 1. Das historisch-geographische Schema.209 

§ 2. Räumliche Lokalisation.210 

§ 3. Zeitrepräsentationen. .211 

§ 4. Die Ausfüllung von Zeitabschnitten.213 

§ 6. Lokalisationswechsel.215 

Schlußbemerkung.217 

Kapitel IV. Zur Psychologie der Gedanken. 

Zur Einführung.219 

I. Die anschauliche Repräsentation.220 

§ 1. Repräsentanten oder Träger von Gedanken und Gedankenkom¬ 
plexen .220 

II. Die unanschauliche Repräsentation.222 

§ 2. Gedankenkomplexe.222 

§ 3. Das Wissen implicite.224 

§ 4. Bewußtseinsstufen bei der unanschaulichen Repräsentation 

(Wissensaktualisierung).225 

III. Der Gedanke innerhalb des Denkprozesses.226 

§ 5. Gedankenentwicklung.226 

§ 6. Mehrfache Gedanken . ..230 

§ 7. Gedankenbeziehung.232 

IV. Angebahnte Wege im Denkprozeß.233 

§ 8. Die durch die Aufgabe verursachte Anbahnung.233 

§ 9. Die Anbahnungwährend des Denkprozesses, (Die Konstatierung) 235 
§ 10. Der Gedanke und das im Bewußtsein bereitliegende Wissen 236 

Sohlußbemerkung über Gedankenzusammenhänge.237 

Schluß. 

Zusammenfassung. Verhältnis der Denkfunktion zu den elementaren 
Inhalten. Beziehungen zum wissenschaftlichen Denken* sowie zu 
anderen Gebieten und Aufgaben.238 


Anhang. 

Zusammenstellung der in dieser Arbeit vorgelegten Fragen aus den ein¬ 
zelnen Gebieten.249 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens anf exp. Grundlage. 171 


Einleitung. 

§ 1. Geschichtlicher Überblick. 

Im Jahre 1860 hat Gustav Theodor Fechner durch seine 
»Elemente der Psychophysik« die experimentelle Psychologie be¬ 
gründet, aber erst vor etwa 12 Jahren hat man sic h einer Unter¬ 
suchung auch der komplexeren Erscheinungen unseres Seelenlebens 
zugewandt, und besonders im Würzburger Institut ist die experimen¬ 
telle Untersuchung des Denkens und Wollens gepflegt worden, mit 
denen Untersuchungen von Bi net und amerikanischen Forschern 
sich verbanden. Die Methode, die sich bei allen Arbeiten als äußerst 
fruchtbar erwiesen hatte, war die systematische Anwendung der 
Selbstbeobachtung. Die erste größere Untersuchung war die von 
Marbe: Experimentelle psychologische Untersuchung über das Urteil, 
1901, dann folgten Watt, Ach, Schultze, Messer, Bühler. Wenn 
auch in diesen Arbeiten das Hauptinteresse der Beschreibung der 
psychischen Inhalte zugewandt wird, so entgeht den Forschern doch 
nicht die Tatsache, daß selbst bei den einfachen Aufgaben, die gegeben 
wurden, die in der damaligen Psychologie zur Verfügung stehenden 
Termini: Gefühle, Vorstellungen und Empfindungen nicht ausreichen, 
die intellektuellen Prozesse zu erfassen. Marbe schuf den Begriff 
der Bewußtseinslage für Bewußtseinstatsachen, deren Inhalte sich 
einer näheren Charakterisierung entweder ganz entziehen oder doch 
schwer zugänglich erweisen, und Messer bedient sich jenes Terminus 
als eines provisorischen Sammelnamens für alle Erlebnisse, die den 
Vpn. von den allgemein anerkannten Klassen der Bewußtseinsinhalte 
verschieden und auch nicht auf diese durch Analyse zurückführbar 
zu sein schienen (Messer, S. 175). Der Schwerpunkt in der Bühler - 
sehen Arbeit verschiebt sich, den Vorstellungen wird eine untergeord¬ 
nete Bedeutung beigelegt und als die wesentlichen Bestandstücke 
unserer Denkerlebnisse werden die Gedanken angesehen (S. 317). 
Ein schönes Zeichen echter Wissenschaftlichkeit ist, daß jede der 
Arbeiten den Keim für die nächstfolgende Untersuchung in sich trägt, 
daß also, obgleich wir heute noch nicht ein abgerundetes System 
besitzen, sich doch die Arbeiten zu einer Einheit einordnen lassen. 
Ich möchte meine Arbeit als Fortsetzung nicht einer einzelnen Unter¬ 
suchung, sondern in der Richtung, wie sie diese Forscher angegeben 
haben, betrachten. 


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172 


Ludwig Bangette, 


§ 2. Die Problemstellung. 

DieVpn. in den Bühl ersehen Arbeiten äußerten sich dahin, daß 
das Verstehen von schwierigeren Sätzen in der Wirklichkeit ebenso 
vor sich ginge, wie in den Versuchen. Auch mein Bestreben war 
darauf gerichtet, mich in meinen Versuchen dem natürlichen Denk¬ 
verlauf möglichst zu nähern. Dann aber wollte ich die im Denken 
wirklich vorkommenden elementaren Inhalte untersuchen und die 
Frage beantworten: Wie verhalten sich die elementaren Inhalte, 
also z. B. Vorstellungen oder Gedanken, innerhalb eines komplizier¬ 
teren Denkprozesses, wo die einzelnen Elemente gewissermaßen als 
Glieder einer Kette auftreten? Außerdem sollte festgestellt werden, 
ob etwa und wie, abgesehen von individuellen Unterschieden, das 
Auftreten oder das Vorherrschen dieses oder jenes Elements durch 
die Wahl der Wissensgebiete begünstigt wird. Um diesen Gesichts¬ 
punkten gerecht zu werden, hielt ich es für das beste, aus verschiedenen 
Gebieten: Mathematik, Philosophie, Geschichte und Germanistik 
Fragen an Vertreter dieser Fächer zu richten. Dabei ergibt sich 
gleich die Möglichkeit, eine andere Frage zu beantworten: welcher 
Art sind die Prozesse, die bei der Lösung der Aufgaben auftreten 
und angewandt werden, und wie verhalten sich die Vpn., denen auf 
Grund der Vorbildung ein ungefähr gleiches Maß von Wissen eigen 
ist, derselben Aufgabe gegenüber? Um diese Fragen zu beantworten, 
durfte ich mich nicht begnügen, den Begriff des Denkens als provi¬ 
sorischen Sammelbegriff gelten zu lassen, sondern ich mußte eine 
Differenzierung der Prozesse an der Hand der Aufgaben durchführen. 
Ich brauchte nicht zu fürchten, daß ich einen Zirkelschluß beging, 
indem ich spezielle Begriffe des Denkens an den Anfang einer Arbeit 
über Denkpsychologie stellte, denn ich wollte nur eine vorläufige 
Einteilung auf Grund üblicher Unterscheidungen gewinnen. Man 
pflegt ein reproduktives, produktives und kritisches Denken einander 
gegenüberzustellen: 

1) Das Vorhandensein von Vorstellungen, Schemata und Ge¬ 
danken ist noch kein Denken; der Prozeß, der diese elementaren 
Inhalte einem in der Vp. bereitliegenden Wissen einordnet oder 
die Aktualisierung eines Wissens zur Beantwortung einer ge¬ 
stellten Frage ist das Denken erster Art. 

2) DieEntwicklung, Hemmung, Auswahl, das Deutlicherwerden, die 
Dynamik der elementaren Inhalte innerhalb eines Denkprozesses 
zur selbständigen Erreichung eines in der Aufgabe liegenden 
Ziels beruht auf der Funktion einer spontanen Denkbewegung. 


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Unters. Uber die Psychologie des wissenscti. Denkens anf exp. Grundlage. 173 

3) Aus der Vergleichung mit einem Wissen, das in der Form 1) 
bereitgestellt sein kann, oder aus der Prüfung an einem selbst 
geschaffenen Maßstabe (Form 2) geht die Prüfung gegebener 
Denkprozesse hervor. 

Durch diese geläufige Unterscheidung soll der Begriff des Denkens 
für die vorliegende Arbeit näher bestimmt sein. Nach diesen Ge¬ 
sichtspunkten mußten auch die Fragen aus den verschiedenen Fächern 
gewählt werden. 

1) Das reproduktive Denken. Es wird von den Vpn. die bloße 
Aktualisierung eines Wissens verlangt, das auf Grand ihrer Kenntnisse 
vorausgesetzt werden kann. Frage ich einen Mathematiker: Was 
versteht man unter der Hessischen Konfiguration, wann ist eine 
Projektivierang perspektivisch, wie berechnen Sie den Inhalt eines 
Parabelsegments; oder einen Philosophen: Warum nennt Schopen¬ 
hauer die Erscheinung eine Vorstellung, was ist ein Subsumtions¬ 
schluß, wie faßt Kant das »Ich« auf; oder einen Germanisten: In 
welchen Beziehungen steht der »r<<- zum »s<«-Laut, welche Haupt¬ 
liedersänger umfaßt die Heidelberger Handschrift, wann trat in der 
deutschen Poesie der Reim auf; oder einen Historiker: Welches ist 
das erste germanische Reich in Italien, welche Stelle nimmt Luther 
zur Bauernfrage ein, welches waren die Verhältnisse des römischen 
Reiches beim Tode des Augustus, so muß ein Kandidat der betreffen¬ 
den Fächer darüber Auskunft geben können. 

2) Das produktive Denken. Anders steht es beim produktiven 
Denken. Es wird der Vp. eine Aufgabe vorgelegt, die sie lösen muß, 
die Lösung wird ihr leichter fallen, wenn sie die Methode kennt. 
Um auch wirklich ein produktives, d. h. selbständiges Denken zu 
erzeugen, habe ich auch schwierigere Fragen gestellt. In der Aus¬ 
wahl der Vpn. lag die Gewähr, daß sie, wenn es verlangt wurde, auch 
auf entfernter liegende Fragen antworten konnten. Einige Fragen 

2 

seien genannt: Es ist zu beweisen, daß it - — lg i ist} wie suchen 

% 

Sie den geometrischen Ort für den Scheitelpunkt zweier Parabel¬ 
tangenten, die sich rechtwinklig schneiden? — Wie würden Sie den 
Wertbegriff definieren, zeigen Sie an einem selbst zu wählenden Bei¬ 
spiel, daß die Induktion nicht Inversion des Syllogismus ist, in wel¬ 
chem Umfange lassen Sie eine Abstraktion zu? — Wie untersuchen 
Sie die Geschichte der Alpenpässe; wie untersuchen Sie den Nutzen 
oder Schaden der Römerzüge der deutschen Kaiser für Deutschland; 
wie würden Sie die Wohnsitze der einzelnen germanischen Stämme 
vor Christi Geburt nachweisen? — Wie prüfen Sie die schriftsprach- 


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174 


Ludwig Rangette, 


liehen Einmischungen in dem Dialekt eines mhd. Reimdichters; wie 
zeigen Sie die Ähnlichkeiten zwischen Wilhelm Meister und Gottfried 
Kellers Grünem Heinrich; woraus schließen Sie, daß der Dichter des 
Heliand auch eine altsächsische Genesis geschrieben hat? 

3) Das kritische Denken. Hier wird der Vp. eine Behauptung 
vorgelegt, zu der sie Stellung zu nehmen hat, oder es wird ihr ein 
Satz vorgelesen, über dessen Gültigkeit sie zu entscheiden hat. Auch 
hier seien einige Fragen genannt: Ist die Ansicht der Ästhetik als 
Normwissenschaft richtig; halten Sie Erdmanns Ansicht vom Ver¬ 
hältnis des formulierten zum unformulierten Denken für richtig? — 
Nimmt bei einem System konfokaler Ellipsen das Krümmungsmaß 
ab oder zu; stellt jede Gleichung zweiten Grades ein Kurve dar? — 
Ist es wahr, daß Goethe im Alter seiner Zeit zurück war; wie beurteilen 
Sie die Lessingsche Fabeltheorie? — Ist es wahr, daß Heinrich der 
Löwe ein großer Kolonisator war; ist nach Ihrer Ansicht die englische 
Revolution ein Vorbild für die französische gewesen? Über die 
Protokolle selbst und über die Vpn. wird der nächste Paragraph der 
Einleitung Auskunft geben. Eine Übersicht der gestellten Aufgaben, 
soweit sie in unseren Versuchen benutzt werden, enthält der Anhang. 

§ 3. Die Versuchsanordnung. 

Den ersten Antrieb zur vorhegenden Arbeit erhielt ich bei Gelegen¬ 
heit eines Einführungskursus in die höhere Mathematik, den ich im 
W.-S. 1910/11 geleitet habe. Als meine drei Zuhörer die Begriffe 
der Funktion, des Unendlichen, des Differenzialquotienten kennen 
gelernt und verstanden hatten, interessierte es mich zu wissen, worin 
das Wesen des hier vollzogenen Denkens hegt und ob und wie der 
psychologische Vorgang dabei individualisiert sei. Ich stellte meinen 
Zuhörern Fragen aus den Gebieten der analytischen Geometrie und 
der Infinitesimalrechnung mit der Instruktion, mir rückschauend 
genau anzugeben, was sie während des Denkverlaufes erlebt hätten. 
Leider brachten die so angestellten Versuche kein brauchbares Re¬ 
sultat, denn die Vpn. schilderten mir nicht einen, ihrem Wesen eigen¬ 
tümlichen Denkverlauf, sondern die ihnen vorgelegten Fragen wurden 
mehr erinnerungsmäßig im Anschluß an meine früheren Ausführungen 
behandelt. Durch diese Versuche kam ich aber dazu, den Denk¬ 
verlauf allgemein bei Vorlegung komplizierterer Fragen zu studieren, 
und zwar bei Vpn., die von mir gänzlich unbeeinflußt waren und die 
sich mit den zu untersuchenden Fächern eingehend beschäftigt hatten. 
Die Gebiete, denen ich Fragen entlehnte, waren Philosophie, Mathe¬ 
matik, Germanistik und Geschichte. Ich wählte die Fragen nach den 


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Unten. Uber die Psychologie des wissenscli. Deukens auf exp. Grundlage. 17ö 

Gesichtspunkten, wie sie im vorigen Paragraphen angedeutet worden 
sind. Jede Vp. erhielt also aus ihrem Studienfach Fragen, die ge¬ 
eignet schienen, reproduktives, produktives und kritisches Denken 
zu erzeugen. Jeder einzelnen Reihe, die aus 20 Fragen bestand, 
wurden eine Anzahl Vorfragen vorangeschickt, die den Zweck hatten, 
die Vpn. in die psychologische Methode einzuführen, sie in der syste¬ 
matischen Selbstbeobachtung auszubilden, ihnen die Instruktion 
geläufig und verständlich zu machen und eventuell anzupassen. Die 
Fragen innerhalb der einzelnen Reihen variierten ebenfalls, um Ein¬ 
tönigkeit und Einseitigkeit zu vermeiden. So wurden in der Philo¬ 
sophie allgemeine Fragen neben ganz speziellen Problemen gestellt; 
in der Mathematik berücksichtigte ich gleichmäßig die Algebra und 
Geometrie, die Gebiete der höheren und niederen Mathematik, die 
Probleme aus der Funktionentheorie und der analytischen Mechanik; 
in der Germanistik wurden Fragen an die Vp. gerichtet aus der Gram¬ 
matik, Literatur, Sprachgeschichte und Phonetik; in der Geschichte 
betrafen die Fragen Quellenuntersuchungen, Philosophie, Charakte¬ 
risierung ganzer Zeitepochen, Vergleiche usw. Leider mußte ich 
aus nahehegenden Gründen darauf verzichten, Übersetzungen zu 
verlangen oder eine kritische Stelle diskutieren zu lassen. Denk¬ 
prozesse, die sich über eine längere Zeit, etwa 1 bis 2 Minuten er¬ 
strecken, könnten für eine experimentelle Methode nutzbar gemacht 
werden, wenn geübten Vpn. die Instruktion gegeben wird, zu rea¬ 
gieren, sobald sie gerade innerhalb des Prozesses ein besonders ein¬ 
drucksvolles Erlebnis hätten oder einen originellen Denkakt voll¬ 
zögen; die Protokollierung hätte sich dann allein auf diesen Teil zu 
beziehen. Um nicht die Einheitlichkeit meiner Arbeit zu gefährden, 
habe ich darauf verzichten müssen. 

Es fragt sich, ob es mir auch durch die sorgfältige Auswahl der 
Aufgaben geglückt ist, wirklich bei den einzelnen Reihen das repro¬ 
duktive, produktive und kritische Denken zu untersuchen; da die 
Beantwortung für den ersten Teil ohne Belang ist, werde ich darüber 
ausführlicher im zweiten Teil handeln und bemerke hier nur, daß 
die Instruktion stärker wirkt als die Frage; wenn also bei einer pro¬ 
duktiven Frage eine reproduktive Lösung möglich war, versuchte 
die Vp. der Instruktion gemäß in der Regel, außer der Reproduktion 
eine selbständige Lösung zu finden. 

Die Variabilität der Aufgaben machte mir aber auch die Auswahl 
der Vpn. sehr schwer. Das Hauptaugenmerk mußte ich besonders 
darauf legen, daß ich innerhalb der einzelnen Gebiete, dann aber auch 
im allgemeinen gleichwertige Vpn. erhielt. Für die Philosophie 


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176 


Lndwig Rangette, 


stand mir freilich eine größere Auswahl zu Gebote, denn ich kannte 
aus unserem Institute eine Anzahl Herren, die philosophisches Wissen 
mit großer Übung in der systematischen Selbstbeobachtung ver¬ 
banden. In den anderen Fächern war es anders. Mit vielen Kan¬ 
didaten habe ich nur einen Teil erledigt, ihre Aussagen habe ich nicht 
verwerten können. Es treten bei der Auswahl im großen und ganzen 
folgende Hauptschwierigkeiten in den Weg. Es fehlt den Vpn. 
gelegentlich das vorausgesetzte Wissen, das ganze Denken ist bei 
ihnen rein reproduktiv, sie orientieren sich bei jeder Frage danach, 
wo sie von ihrem Gegenstände etwas gehört haben; optische, akustische 
Erinnerungsvorstellungen, Bewußtseinslagen allgemeiner Art waren 
die einzigen Tatsachen, die sie zu schildern vermochten. In der 
Mathematik zeigt es sich, daß bei vorgeschrittenen Kandidaten die 
Begriffe des Komplexen und Imaginären, die Integrationsmethoden 
usw. als Wissenskomplexe ohne nähere Analyse in den Dienst der 
Aufgabe eintreten, es bedarf bei ihnen der Vorstellungen, Erinnerungen 
in geringerem Maße, und zwar meistens nur zur Verdeutlichung irgend 
eines Teiles aus diesen Komplexen; die Vorstellungen haben bei ihnen 
einen ganz anderen Zweck als bei jüngeren Semestern. Diese pflegen 
sich erst mühsam unter Zuhilfenahme von Vorstellungen aller Art in 
der Erinnerung Ort und Zeit des Erlemens zurechtzulegen, und in den 
meisten Fällen nimmt sie das so in Anspruch, daß es zu einer eigent¬ 
lichen Behandlung der Aufgabe überhaupt nicht kommt. Ich wollte 
aber den Denkvorgang in der Mathematik, in der Germanistik und 
Geschichte untersuchen; zu diesem Zwecke bedurfte es vorgeschritte¬ 
ner Vpn. Es hat sich allgemein gezeigt, daß sich bei diesen für ihr 
Fach eigentümliche Komplexe — ein Wissen implicite — ausbilden, 
die, ohne immer aktualisiert zu werden, in dem Denkprozeß eine 
Rolle spielen. Die Komplexbildung ist, wie der spezielle Teil dartun 
wird, von dem betreffenden Fach abhängig; das Auftreten innerhalb 
des Denkprozesses dahingegen von der Aufgabe, die Art und Weise 
des Auftretens von Unterschieden individueller Art. Ich hatte 
danach ein Kriterium für die Auswahl der Vpn. gewonnen; nur solche, 
die in sich ihrem Studienfache eigentümliche Komplexe, meistens 
unter der Form eines Wissens implicite, ausgebildet haben, konnten 
für die vorliegende Untersuchung in Betracht kommen. Es ist gewiß 
eine dankenswerte Aufgabe und zugleich ein schöner Beitrag zur 
genetischen Psychologie, zu untersuchen, wie allmählich grundlegende 
Begriffe, allgemeine Methoden sich zu Komplexen vereinigen, die 
Erkenntnis der Art und Weise dieses Einordnens in den Gedankenkreis 
einer Vp. würde auch für die Pädagogik von unschätzbarem Nutzen 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 177 

sein. Für meine Untersuchung mußte dies Problem außer Betracht 
bleiben. 

Mit mangelhafter Selbstbeobachtung habe ich kaum zu kämpfen 
brauchen; alle zeigten großes Interesse und die meisten auch Ver¬ 
ständnis für ihre schwere Aufgabe; ihnen allen sei hiermit mein herz¬ 
lichster Dank ausgesprochen. Als endgültige Vpn., mit denen ich 
also die Reihen alle durchführen konnte, ergaben sich 

1) in der Philosophie die Herren Dr. Bühler, Dr. Häring, Dr. 
Rieffert, 

2) in der Mathematik Herr Gerhards, Herr Müller, Herr 
Dr. Mies, 

3) in der Germanistik Frl. Cremer, Herr Schneider, Herr 
Dr. Wirtz, 

4) in der Geschichte Herr Bappert, Herr Dr. Häring und Herr 
Schwiertz. 

Außerdem schulde ich auch den Herren Dank, die mich bei der 
Auswahl der Fragen unterstützt haben. Es ist selbstverständlich, daß 
ein VL. nicht gleichzeitig auf allen Gebieten beschlagen ist, daher 
nahm ich die Liebenswürdigkeit anderer in Anspruch, es sind hier 
zu nennen für das Gebiet der Philosophie: Herr Professor Külpe, 
der Mathematik: Herr Homrighausen, der Germanistik: Herr 
Arends, der Geschichte: Herr Schneider. 

Nun wollen wir uns einmal eine Versuchsstunde vor Augen führen. 
Sie dauerte ungefähr 50 Minuten, es wurden im Durchschnitt 3 bis 
4 Fragen behandelt. Vor dem Beginn der eigentlichen Versuche 
wurde der Vp. aufgetragen, mit keinem über die Versuche zu sprechen, 
ferner wurde ihr zur Herstellung voller Unbefangenheit zugesichert, 
daß die Protokolle ohne Anführung des Namens später veröffentlicht 
würden. Am Anfang jeder Stunde wurde der Vp. langsam und deut¬ 
lich die Instruktion vorgelesen, die für die drei Denkarten verschie¬ 
den war. 

Instruktion. 

1) Reproduktives Denken. 

Sie werden in folgendem eine Anzahl Fragen aus dem Gebiete X 
gestellt erhalten, die Sie auf Grund Ihres Wissens direkt beantworten 
können. Ich bitte Sie, ja zu sagen, wenn Sie sicher sind, die Antwort 
geben zu können, ohne eine Antwort explicite sich zu vergegen¬ 
wärtigen. Danach müssen Sie rückschauend über die Erlebnisse 
während der Beschäftigung mit dieser Frage sorgfältig berichten. 
Ich bitte jede Frage als in sich abgeschlossen anzusehen und nicht 
nach Beziehungen zu anderen schon gestellten Fragen zu suchen. 

AreUv Ar Pryeholoji*. XXIVL 12 

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178 


Ludwig Bangette, 


2) Produktives Denken. 

Sie werden in folgendem eine Anzahl von Aufgaben aus dem 
Gebiete X gestellt erhalten. Ich bitte Sie, an eine Lösung derselben 
ernstlich heranzugehen, ja zu sagen, wenn Sie die Methode dazu ge¬ 
funden haben, wiederum ohne eine Beantwortung explicite sich zu 
vergegenwärtigen. Danach müssen Sie rückschauend über die Er¬ 
lebnisse ... 

3) Kritisches Denken. 

Sie werden in folgendem eine Anzahl von Behauptungen aus dem 
Gebiete X zu hören bekommen. Ich bitte Sie, dazu Stellung zu nehmen 
und über die Geltung derselben eine Entscheidung zu treffen. Wenn 
Sie innerlich damit fertig sind, also ohne eine Beantwortung explicite 
sich zu vergegenwärtigen, bitte ich ja zu sagen und danach über die 
Erlebnisse ... 

Zur Erläuterung: Die in der Instruktion geforderte Stellungnahme 
zu der vorgeführten Behauptung bedeutet nicht eine wissenschaft¬ 
liche Entscheidung, sondern nur eine Beurteilung auf Grund der 
Ihnen jetzt zur Verfügung stehenden Kenntnisse und Erwägungen. 

Dann las ich die Frage, Aufgabe bzw. Behauptung vor. Die Zeit 
bis zur Reaktion wurde mittels einer Vs Sekunde angebenden Stopp¬ 
uhr gemessen. Die Reaktionszeiten schwankten natürlich sehr, 
Protokolle von einer Reaktionszeit über 30 Sek. habe ich bei der Ver¬ 
arbeitung nur in den seltensten Fällen berücksichtigt. Über das 
äußere Verhalten der Vp., also ob sie die Augen schloß oder nicht, 
wurde nichts ausgemacht, nur mußte die Vp. ruhig sitzen bleiben. 
Nach der Reaktion schrieb ich die Aussage der Vp. stenographisch 
nach; da ich in früheren Jahren darin eine ziemliche Gewandtheit 
erworben hatte, konnte die Vp. so schnell sprechen, als sie wollte. 
Am Schlüsse stellte ich, sofern es einer sachlichen Berichtigung be¬ 
durfte, Fragen, optische Vorstellungen in der Mathematik ließ ich 
von den Vpn. selbst zeichnen. Nachträge von Vpn. schrieb ich eben¬ 
falls auf, bei der Verarbeitung der Protokolle wurden sie nicht berück¬ 
sichtigt, während der Protokollierung legte ich scheinbar auch kein 
großes Gewicht darauf, dieses hatte den Zweck, die Vp. vor dem leicht 
auftretenden Fehler des Verallgemeinems zu bewahren. Bei kom¬ 
plizierteren Denkverläufen las ich auch auf Wunsch der Vp. die 
Niederschrift noch einmal langsam vor. Sie konnte dann dies oder 
jenes ergänzen; alle Ergänzungen wurden besonders als solche kennt¬ 
lich gemacht. Ich versuchte, soweit es mir möglich war, mich in den 
Gedankengang der Vp. einzufühlen, verschaffte mir vor allem ein 
klares Bild über die psychische Natur des Erlebnisses, also was für 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 179 

Vorstellungen aufgetreten sind, ob Gefühle (Gemeingefühle oder Einzel¬ 
gefühle) oder Willensakte vorhanden gewesen sind, ich erkundigte mich 
nach der Klarheit des Geschilderten. Ich habe dabei die Vpn. nicht 
in die psychologische Nomenklatur cingeführt. Nur habe ich bei Vpn. 
gesagt, sie könnten für ein völlig unanschauliches Wissen auch Bewußt¬ 
heit, ist dieses Wissen gefühlsbetont, auch Bewußtseinslagen sagen. 

Nachdem ich so ein Protokoll aufgenommen hatte, war es für mich 
erledigt. Es war für mich sozusagen gleichbedeutend mit einer Quelle, 
aus der ich später, ähnlich wie der Historiker, meine Schlüsse ziehen 
konnte. Mit der Verarbeitung der Protokolle wartete ich, bis ich das 
letzte erhalten hatte. Ich tat dieses aus dem Grunde, um nicht 
eventuell eine Fragestellung nach neuen bei den vorangegangenen 
Vpn. nicht angewandten Gesichtspunkten einzustellen. Die Unter¬ 
suchungen dauerten vom Anfang des S.-S. 1911 bis Ende des S.-S. 
1912 und wurden im Bonner Institut ausgeführt. Es wurde dafür 
Sorge getragen, daß eine Vp. innerhalb eines Semesters ganz, auf 
jeden Fall aber mit einer ganzen Reihe fertig wurde. 


§ 4. Die Verarbeitung der Versuche und Ausblick auf 

weitere Probleme. 

In den vorherigen Abschnitten ist gezeigt worden, auf welchem 
Wege ich das Material zur vorliegenden Arbeit gewonnen habe. Nun 
fragt es sich, wie das erhaltene Material am zweckmäßigsten zu ver¬ 
arbeiten ist, damit wir uns ein klares Bild von der Struktur des Ge¬ 
samtverlaufes der Denkprozesse bilden können. Da wir jeden kom¬ 
plizierteren Denkverlauf als Resultierende dreier Komponenten an- 
sehen können, nämlich 1) des Verlaufs der elementaren Inhalte (Vor¬ 
stellungen, Schemata, Lokalisation, Gedanken); 2) der Betätigung 
des Denkens daran, des Meinens, Urteilens, Schließens und 3) der 
determinierenden Tendenz, die den Gesamtverlauf unter Gesichts¬ 
punkte (Instruktion) und Aufgaben stellt und insofern in die Willens¬ 
sphäre hinübergreift, glaube ich, dieses Ziel zu erreichen, wenn ich 
die Arbeit in drei Abschnitte zerlege. 

I. Teil: Die elementaren Inhalte der Denkprozesse. 

II. Teil: Der Gesamtverlauf der Denkprozesse. 

III. Teil: Beiträge zur Individualpsychologie. 

Der I. Teil, in dem die elementaren Inhalte lediglich in ihrer Tat¬ 
sächlichkeit und ihrem gegenseitigen Verhalten innerhalb der Denk¬ 
prozesse aufgefaßt werden, kommt in vorliegender Arbeit zur Be¬ 
handlung. Es erübrigt sich also, nur kurz auf den II. und III. Teil 
hinzuweisen. 


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Ludwig Rangette, 


Im II. Teil wird zunächst die Rede sein von der Vorperiode, dem 
Wirksamwerden der Instruktion, von der Aufnahme der Aufgabe, 
dem Eindringen in ihren Gedankenkreis, der Gewinnung des Ver¬ 
ständnisses und dem Wirksamwerden der Aufgabe während des Er¬ 
lebnisses. In den folgenden Kapiteln wird das reproduktive, pro¬ 
duktive und kritische Denken unter Berücksichtigung der in Betracht 
kommenden Fächer behandelt. Es folgt dann ein Kapitel über Ge¬ 
dankenzusammenhänge, und ein Schlußkapitel gibt über einzelne, 
charakteristische Phasen im Denkverlauf Auskunft. 

Die Aufgabe, die Psychologie des wissenschaftlichen Denkens zu 
untersuchen, wird aber nicht durch die Aneinanderreihung der empi¬ 
risch gefundenen Tatsachen gelöst. Bei einfacheren Versuchen ist 
es möglich, die einzelnen elementaren Inhalte für sich allein zu be¬ 
trachten; in vorhegender Untersuchung müssen wir auch namentlich 
beim produktiven und kritischen Denken den Fortgang im Denk¬ 
prozeß, das Finden einer Lösung, die kritische Stellungnahme als im 
Wesen des Individuums begründet, ansehen, wo sich also individuelle 
Faktoren in dem Denkprozesse einmischen können. Den beiden 
vorangehenden Teilen schließt sich ergänzend an Teil III: Beiträge 
zur Individualpsychologie. Im ersten Kapitel kommt die quantitative 
Seite zu ihrem Rechte. Mancher wird ihr die zweckmäßigste Stelle 
im ersten Teile einräumen, doch trifft dies nicht ganz zu. Es hat 
wenig Sinn, am Anfänge Tabellen über die verschiedenen Reaktions¬ 
dauern bei den einzelnen Vpn. zu geben; das einzig sicher gestellte 
Resultat wäre die Konstatierung einer verschiedenen Reaktionsdauer 
bei den einzelnen Vpn. und Versuchen, ein Resultat, das wir, ohne 
der empirischen Forschung Abbruch zu tun, ruhig a priori annehmen 
dürfen. Es kommt darauf an, eine Begründung, vielleicht sogar eine 
Gesetzmäßigkeit für die verschiedenen Reaktionszeiten einer und 
derselben Vp. zu finden. Habe ich z. B. je für Fragen reproduktiven, 
produktiven, kritischen Inhalts aus den Reaktionszeiten bei einer 
Vp. den Zentralwert gefunden, so kann ich die Frage stellen, wie 
hängt ein Abweichen von dem Zentralwert von dem Charakter der 
Erlebnisse, der psychologischen Natur der Vp. oder der Art und Weise 
der Lösung ab? Wie sich eine weitere quantitative Ausbeutung 
gestalten wird, hat die spätere Ausführung darzutun. Im zweiten 
Kapitel wird die qualitative Seite berücksichtigt, worunter ich den 
Willen, die Gefühle, die ästhetischen Momente innerhalb des Denk¬ 
prozesses meine. Dann folgt auch unter Heranziehen der zahlreichen 
Aussagen derjenigen Vpn., die die einzelnen Reihen nicht ganz durch¬ 
geführt haben, ein Beitrag zur Psychologie der Protokollangaben. 


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Unten. Ober die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 181 

Es zeigt sich, daß einzelne Vpn. am Anfang der Protokollgebung, 
also namentlich in den Vorversuchen, Vorstellungen, Spannungs¬ 
gefühle, Erinnerungen usw. als das Primäre schildern. Im weiteren 
Verlauf werden Vorstellungen nur nebenher zum größten Teil als 
Repräsentanten größerer Gedankenkreise erwähnt; die Erinnerungen 
treten als Wissen implicite ohne weitere Beachtung und Analyse in 
den Dienst des Denkens; es werden nunmehr Schemata, Gedanken, 
Repräsentanten und Komplexe als die eigentlichen Inhalte geschildert; 
wie diese Wandlungen sich bei den einzelnen Vpn. mehr oder weniger 
vollziehen, soll in diesem Kapitel näher betrachtet werden. So vor¬ 
bereitet können wir jetzt zur Behandlung der individuellen Unter¬ 
schiede übergehen und versuchen eine Klassifikation der Vpn. vor¬ 
zunehmen; damit gelangen wir zu einer Aufstellung von Denktypen. 
Der Schluß des III. Teiles soll einen Beitrag zur genetischen Psycho¬ 
logie bringen. Wir haben durch die vorliegende Untersuchung kennen 
gelernt, was für eine Struktur der Gesamtverlauf der Denkprozesse 
im vollendeten Denken annimmt, also welche Rolle Vorstellungen, 
Schemata, Lokalisation, Gedanken, Wille, Gefühle in den einzelneu 
Disziplinen unter Zugrundelegung einer allgemeinen Instruktion 
spielen, nun fragt es sich, wie gestaltet sich der Denkverlauf, wenn 
wir Vpn. verschiedener Entwicklung unter ähnlichen Versuchsanord¬ 
nungen entsprechende Aufgaben geben? 

Wie der Naturforscher nicht damit zufrieden ist, nur das für 
unser Auge wahrnehmbare Spektrum in seinen Einzelheiten zu er¬ 
forschen, wie er vielmehr auch Gewißheit haben will über die Aus¬ 
breitung jenseits des äußersten Rot und Violett, so ruht auch der 
Psychologe nicht eher, bis er die psychischen Erscheinungen in ihrer 
nicht unmittelbar zu beobachtenden Entwicklung kennen gelernt hat. 
Durch vorliegende Untersuchung des wissenschaftlichen Denkens 
hoffe ich, daß wir eine Grundlage zum Vergleich — ich möchte sagen, 
einen psychologischen Maßstab, also für die weitere psychologische 
Forschung ein kommensurables Maß — geschaffen haben. Die Fort¬ 
führung der Arbeit würde uns einerseits ein Licht werfen auf die eigent¬ 
liche Produktivität des geistig Schaffenden, andererseits wertvolle 
Beiträge zur Pädagogik geben. Für den Forscher in der Psycho¬ 
logie wird die genaue Kenntnis unserer Denkprozesse zunächst einen 
Maßstab zur richtigen Beurteilung intellektueller Leistungen liefern, 
die -größere oder geringere Zweckmäßigkeit eines Verfahrens zur 
Lösung von Denkaufgaben erkennen und damit die Bedingungen 
angeben lassen, von denen eine gute und rasche Lösung ab¬ 
hängt. 


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Ludwig Rangette, 


§ 5. Stellungnahme zur Selzschen Arbeit über die Gesetze 
des geordneten Denkverlaufs 1 ). 

Nach Abschluß des vorliegenden Teiles meiner Arbeit erschien der 
erste Teil des Selzschen Buches über die Gesetze des geordneten 
Denkverlaufes. 

Eine kritische Besprechung und ein Vergleich unserer Ergebnisse 
wären insofern interessant, als unsere Untersuchungen imabhängig 
voneinander im Bonner psychologischen Institut unter Leitung von 
Külpe ausgeführt wurden. Anfänglich war ich auch versucht, durch 
Fußnoten zu den Ansichten und Erörterungen von Selz Stellung zu 
nehmen. Dieses gilt namentlich, wo ich über Komplexbildung und 
Wissensaktualisierung gesprochen habe. Ich möchte mich aber dieser 
reizvollen Aufgabe erst im zweiten Teile meiner Arbeit unterziehen. 

Zunächst liegen unsere Arbeiten im ersten Teile vor. Über die 
Bedeutung der Vorstellungen, der Schemata, der Gedanken, kurz 
der sogenannten elementaren Inhalte hat Selz noch nicht gesprochen; 
andrerseits werde ich noch über die Bedeutung der Aufgabe im 
zweiten Teile berichten. 

Ich möchte nur auf die Eigenart unserer Untersuchungen auf¬ 
merksam machen. Selz hat mehr die einfacheren Denkprozesse zu 
analysieren versucht; ich dahingegen war bemüht, das wissenschaft¬ 
liche Denken in größerem Umfange klarzulegen. Theoretische Er¬ 
örterungen habe ich geflissentlich beiseite gelassen. Mir kommt es 
in erster Linie darauf an, dem Leser durch Angabe möglichst vieler 
Protokolle ein Bild von der Originalität des wissenschaftlichen Den¬ 
kens zu entwerfen. Von hier aus soll der Weg gebahnt werden zu 
anderen Disziplinen, namentlich der Pädagogik und Erkenntnislehre, 
und womöglich soll sich hieran eine theoretische Erörterung über das 
Wesen des Denkens anschließen. 

Ich möchte aber meine Freude und Genugtuung darüber kund 
tun, daß unsere beiden Untersuchungen, die auf breitester Grund¬ 
lage aufgebaut sind, trotz der verschiedenen Wege einander ergänzen. 
Es bewahrheitet sich so schön das Prinzip der Kumulation, wonach 
das Ergebnis der Versuche um so sicherer ist, je mehr Wege zu dem 
gleichen Ziele führen. Zur Erkenntnis eines so komplizierten Gewebes, 
wie desjenigen, das wir in dem psychophysischen Organismus einer 
menschlichen Persönlichkeit vor uns haben, führt niemals eine ein¬ 
zige allein seligmachende Methode. 

1) Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufes. Eine experimentelle 
Untersuchung von Dr. O. Selz. Stuttgart 1913. 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 183 


Kapitel I. Die Vorstellungen. 

In unseren Versuchen wurde eine große Anzahl von Vorstellungen 
von allen Vpn. geschildert. Aus der Analyse der Protokolle unter 
Berücksichtigung der gewählten Wissensgebiete ergeben sich für eine 
allgemeinere Einteilung drei Hauptgesichtspunktc. Es wird von 
manchen Vpn. eine Fülle von Vorstellungen geschildert, die zum 
eigentlichen Denkfortschritt nichts beitragen. Bei der rückschauen* 
den Betrachtung, namentlich beim Beginne der produktiven Reihe 
fällt dies den Vpn. gelegentlich auf, sie sagen von selbst aus: Ich kann 
rückschauend genau angeben, daß die geschilderten Vorstellungen 
zum eigentlichen Denkfortschritt nichts beigetragen haben, sie waren 
mehr begleitend, oder: ich merke hier (also beim produktiven Denken), 
daß die Vorstellungen mehr verschwinden, es ist merkwürdig, daß 
ich jetzt weniger Vorstellungen habe. Wir haben es hier mit Vor¬ 
stellungen der allgemeinsten Art zu tun, die auch beim ästhetischen 
Empfinden, bei Willensakten, überhaupt fast bei jeder Untersuchung 
geschildert werden. Die erste Gruppe, worunter ich auch das Ver¬ 
hältnis der Aufgabe zu den Vorstellungen rechne, möchte ich nennen 

I. Die Vorstellungen als Begleiterscheinungen. 

Es werden von allen Vpn. andere Vorstellungsgruppen ge¬ 
schildert, die eine bedeutsame Rolle für den Denkfortschritt 
bilden. Diese für unsere Denkversuche spezifischen Vor¬ 
stellungen möchte ich zusammenfassen als 

II. Die Vorstellungen innerhalb der Denkprozesse. 

Was die Auswahl der Fächer anbetrifft, gebührt den Vor¬ 
stellungen im mathematischen Denken eine besondere Stelle, 
und so werden wir besonders behandeln 

III. Die Vorstellungen im mathematischen Denken. 

I. Die Vorstellungen als Begleitersoheinungen. 

§ 1. Die Vorstellungen und die Aufgabe. 

Das Verhältnis von Vorstellungen und Denken hängt ab: 

1) von dem Vorstellungstypus der Vp., 

2) von der optischen bzw. akustischen Darbietung der Aufgabe, 

3) von der Art der Aufgabe, wobei in der Mathematik bes. zwei 
Fälle zu unterscheiden sind, je nachdem die Aufgabe aus dem 
Gebiete der Geometrie oder dem der Algebra und Analysis 
entnommen ist. 


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184 


Ludwig Rangette, 


Die erste Frage braucht hier nicht beantwortet zu werden, da es 
sich lediglich darum handelt, die Art und Weise der Vergegenwärtigung 
der Aufgabe durch Protokolle zu belegen. Die Vpn. in der Mathematik 
hatten ausschließlich optische Vorstellungen; auch die Vergegen¬ 
wärtigung der Aufgabe, die vorgelesen, also akustisch dargeboten 
wurde, war meistens optisch, nur in seltenen Fällen, wenn in der Frage 
ein Wort besonderen akustischen Eindruck machte, kam auch die 
akustische Veranschaulichung vor. Die Vergegenwärtigung der Auf¬ 
gabe bei Vpn. der anderen Disziplinen war teils optisch (Vp. 2, 7,8), 
teils akustisch (Vp. 4, 6, 9, 3, 11), ferner zeigten sich optisch¬ 
akustische Vergegenwärtigungen häufig bei den Vpn. der Germanistik 
und eine akustisch-motorische bei Vpn. 3,11, 4; hier ist es so: dieVp. 
spricht sich innerlich die Aufgabe vor. 

MI 3 , Vp. 5, 7 Sek. 1 ) Der Satz war fast ganz optisch gegeben; 
die bedeutenden Worte gerader Raum, vierdimensional, traten be¬ 
sonders hervor, ich sehe noch deutlich das gotische G; sie sind von 
vornherein deutlicher aufgefaßt als die anderen. 

M I 5 , Vp. 5, 4 4 /s Sek- »Wie definiert« war optisch und akustisch 
hervorgetreten. Bei Komplex trat besonders da,s »ex« hervor und cha¬ 
rakterisierte mir das Gebiet des Komplexen im Gegensatz zum Reellen. 

GI 3 , Vp. 9, 4 Sek. Zuerst die Frage vorgesprochen und den Ton 
gelegt auf 1756 und Europa und lokalisiert im 18. Jahrhundert. 

Germ. II 4 , Vp. 3, 21 x / 5 Sek. Ich habe mir erst die Frage wieder¬ 
holt vergegenwärtigt, und zwar lautlich, ob akustisch oder motorisch 
weiß ich nicht, aber mit Nachdruck die Hauptsachen. 

Germ. II 3 , Vp. 3, 9 Vs Sek. Ich wiederholte mir die Frage aku¬ 
stisch, motorisch. 

PII 10 , Vp. 4, 23 Sek. Ich habe mir zuerst langsam den Satz 
nachgesprochen und dabei jedes Wort betont, im Mittelpunkt stand 
zum Schluß der Begriff Norm. 

GII 3 , Vp. 7, 20 Vs Sek. Direkt kamen die Alpenpässe, ich hatte 
das Bild eines Gebirges, das Bild zweier Berge und dadurch ging ein 
schmales Tal, durch dieses Tal lief unten ein ganz heller Weg. 

Germ. II 4 , Vp. 11,8Vs Sek. Zunächst hat dieVp. nachgesprochen. 
Schriftsprachliche Einmischung, ohne daß es ihr zum Bewußtsein ge¬ 
kommen ist. — Zuerst die Frage nicht ganz verstanden, Veldecke war 
mir sofort klar; es war akustisch vorhanden, es klang aber nicht gut, 
daher ging ich die Frage innerlich ganz deutlich wortweise durch, jedes 
Wort sprach ich mir deutlich vor. 


1) Über die Fragen und Abkürzungen siehe den Anhang. 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens anf exp. Grundlage. 185 

PIII 2 , Vp. 6, 13 4 /b Sek. Ich erfaßte den Sinn gleich und hatte 
Sensualismus optisch vor mir stehen und wußte auch gleich, worum 
es sich handelte. Sonst richtete sich meine Aufmerksamkeit besonders 
auf »mögliche«, dieses war optisch, Erkenntnistheorie war nur aku¬ 
stisch und schwach optisch. 

§ 2. Begleitende Vorstellungen. 

Es ist eine eigentümliche Tatsache, daß fast allen seelischen Vor¬ 
gängen sich besonders optische Bilder anpassen können. Fragen wir 
Personen beim Anhören eines Musikwerkes nach ihren Bewußtseins¬ 
inhalten, so werden viele optische Bilder als anschauliche Grundlage 
schildern, die sich je nach Art und Weise des Tonsatzes ändert. So 
begleiten auch unser Denken viele optische Bilder. Diese Bilder, 
ich nenne sie hier die begleitenden Vorstellungen, tragen zu dem 
eigentlichen Denkfortschritt nichts bei. Die Vpn. sagen von ihnen 
gelegentlich aus, daß beim Vorhandensein vieler Gedanken einer zu 
schnellen Aufeinanderfolge derselben durch Auftreten dieser Bilder 
Einhalt geboten wird; man könnte die begleitenden Vorstellungen 
mit Dämmen vergleichen, die den Denkstrom in gewissen Grenzen 
zu halten haben. In der Mathematik, wo unser Denken mit vielen 
Vorstellungen zu arbeiten hat, finden wir diese begleitenden Vor¬ 
stellungen fast nie, ebensowenig bei einzelnen Vpn., die an und für 
sich wenige Vorstellungen schildern; am häufigsten treten die oben 
geschilderten Bilder beim reproduktiven Denken auf. Bei den be¬ 
gleitenden Vorstellungen ist der Gedanke das erste, die Vorstellungen 
folgen. Der Verlauf der Gedanken wird durch die Kenntnisse be¬ 
stimmt und die Bilder folgen nur, wenn sich die Vpn. bei den be¬ 
treffenden Punkten aufhalten. Der Denkverlauf läßt sich also nicht 
durch die Bilder bestimmen, sondern nur durch das, was die Vp. über 
die betreffenden Vorgänge weiß. 

Germ. 1 8 , Vp. 8, 17 Sek. An Vorstellungen hatte ich das Bild 
. des jungen Schiller selbst so gesehen, wie in der Form nach der Büste 
von Dannecker, außerdem ein unklares Bild von seinem Haus in 
Marbach, das ich irgendwo in einer Literaturgeschichte gesehen hatte, 
ohne zu wissen wo. 

GII 6 , Vp. 2, 9 4 /b Sek. Ich fragte mich nun, was weißt du von 
der Frau im Mittelalter? es kam dabei ein optisches Bild, das Dürer 
gemalt hat, das kam von selbst; zuerst kam mir der Gedanke an die 
Königin Elisabeth, dabei hatte ich von ihr ein Bild mit einem kurzen' 
Kleide, dann kam mir zum Bewußtsein, daß man unsere Zeit erst als 
die Zeit der Frauenemanzipation bezeichnete, aber nur rein gedank- 


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186 


Ludwig Bangerte, 


lieh. Der Fortschritt geschah durch einen Willensimpuls.... Dann 
kam ein Lustspiel von Hans Sachs ins Gedächtnis, hier schwebte mir 
so eine Aufführung vor, die ich gesehen hatte. 

§3. Einordnende Vorstellungen. 

Nach Stellung einer Frage, besonders aus einem spezielleren Ge¬ 
biete, muß erst ein Gedankenkreis erregt werden, ehe die Vp. zur 
Lösung schreiten kann. Diese Anbahnung geschieht oft durch 
optische Bilder, die bewirken, daß das der Vp. zur Verfügung stehende 
Wissen dem Gedankenkreis der Aufgabe eingeordnet wird. Darum 
nenne ich diese Art von Bildern auch einordnende Vorstellungen. 
Dazu kann man auch die Erinnerungsvorstellungen zählen, worunter 
hier solche Vorstellungen verstanden sein mögen, welche, hin und 
wieder in den Denkprozessen auftretend, die Vpn. in die Zeit zurück¬ 
versetzen, wo sie sich eingehender mit den berührten Problemen be¬ 
schäftigt haben. In der Mathematik ist besonders hervorzuheben 
die Genauigkeit und Deutlichkeit der Schilderung dieser Erinnerungs- 
Vorstellungen, wo ihr Auftreten in Denkerlebnissen meistens nach 
einem vorausgegangenen, intensiven Denken geschieht. Die ein¬ 
ordnenden Vorstellungen haben große Ähnlichkeit mit den begleiten¬ 
den, nur folgt hier der Vorstellung der Gedanke. Einordnende Vor¬ 
stellungen werden in der Philosophie fast gar nicht geschildert, die 
Einordnung geschieht hier meistens durch ein Beziehungsbewußtsein 
zu früheren Seminarübungen, durch Abwartezustände mit der deter¬ 
minierenden Tendenz, etwas zu finden. 

Germ. II 2 , Vp. 11,18 Sek. Ich hatte klar das Haus zu Sesenheim 
vor mir, es kann auch ein anderes Landhaus sein, dann war auch 
Goethe gegeben, allerdings als alter Mann, 80jährig, und eine Post¬ 
kutsche, die war schwarz mit Rot ausgefüttert. Friederike war nicht 
optisch gegeben, so als ein unendlich liebenswürdiges Mädchen, so 
weich die Glieder, nun ging ich an die Frage heran. 

GII 7 , Vp. 9, 20 Sek. Wie ich das Wort Landsknechtswesen hörte, 
kamen mir sofort solche Bilder, Holzschnitte zur Anschauung, wie 
man sie bei Dürer oder in der Literaturgeschichte sieht. Kleine 
Bauern mit Landsknechtsgestalten: Pumphosen, Federbüsche in der 
typischen Form, dann kam eine ungewollte Überlegung, was der 
Name bedeutet, und dann kam ich ganz auf das Mittelalter. 

Germ. I 4 , Vp. 8, 12 3 / s Sek. Zunächst Denken an Laokoon, auch 
vorgestellt, dabei eine ganze Reihe von Bildern, ich sehe Goethe vor 
mir, wie er vor der Laokoongruppe steht. Dieses Bild war dasselbe, 
wie in einem Anhang zu einem Buche, das ich gelesen hatte; letzteres 


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Untere, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 187 

kommt mir erst jetzt zum Bewußtsein. Dann sah ich ganz klar ein 
Klassenbild und suche, während ich diese Vorstellung habe, die Ant¬ 
wort zu gestalten. Es ist teilweise produktive Arbeit dabei, teilweise 
sind es Erinnerungen. Ich sehe z. B. so einzelne Worte, die wür in 
der Klasse gehabt haben. Hierbei scheidet Lessing ganz aus, ich 
habe meistens nur an Goethe gedacht. 

M I 7 , Vp. 5, 6Vs Sek. Ich dachte auch an Staude; ich wußte aus 
der Erinnerung, daß in der Hessischen Konfiguration mehr Linien 
waren, ich hatte ein lebhaftes Gefühl der Mehrheit und der crößeren 
Komplexität gegenüber der Desargueschen. Dann Vorstellungen und 
Erinnerungen an Zeichnungen. Es war mir gewissermaßen das Papier 
in seiner Struktur gegenwärtig. Es war sozusagen ein Daranfühlen, 
als ob ich es auffassen wollte. Dann Überlegung: das ist die duale 
Konfiguration und nicht die Hessische. 

M I 6 , Vp. 1, 12 Sek. Ich kam nicht recht voran und dachte, das 
hast du doch einmal sehr gut gewußt. Du hast es bei London in den 
Übungen gezeichnet, und das Blatt war ein Viereck, wo ein roter 
Randstrich war. 


§ 4. Ablösende Vorstellungen. 

In der Analysis und Algebra beanspruchen die begleitenden Vor¬ 
stellungen eine besondere Betrachtung. Es wird hier durch das 
Denken der einzuschlagende Weg gefunden, danach wird die Rechnung 
mehr oder weniger explicite in Begleitung von Vorstellungen wie 
x , y, z ausgeführt. Die Vorstellungen lösen also gewissermaßen den 
Gedanken ab. Es ist so, als wenn ich eine Gleichung gefunden habe 
und diese einfach ausrechne. Diese Vorstellungen nenne ich ablösende 
Vorstellungen. Bei Vp. 5 tritt die ablösende Vorstellung nur selten 
auf, jedoch sind auch hier Ansätze vorhanden. Ähnliche Vorstellungen 
habe ich auch in der Germanistik bei grammatischen Fragen gefunden. 

M II 2 , Vp. 10, 17 Sek. Ich suchte die Lösung dadurch, daß ich 
50 zerlegte, 49 + 1 und habe das Vorstellungsbild gehabt, nicht an 
der Tafel schwarz geschrieben, sondern ohne Hintergrund, habe statt 
49 + 1 1 + 49 geschrieben, d. h. also die beiden Zahlen vertauscht, 
das war vielleicht mit einer motorischen Erregung verbunden, jedoch 
ist dies nicht ganz sicher. Dann kommt das Vorstellungsbild (1 + 49) 
V 2 » Klammer und V 2 sind das Schärfste und Wesentlichste, das 
darin liegende ist gemeint. Nun wollte ich diesen Ausdruck in eine 
binomische Reihe entwickeln. Das Vorstellungsmäßige hatte hier 
die Bedeutung des Festhaltens, es war nicht etwa weiterbringend für 
die Lösung. 


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Ludwig Bangette, 


MII 3 , Vp. 1, 16 3 /s Sek. Erst wieder etwas verwirrt, häufig vor¬ 
stellen müssen optisch x = a V10 mehrere Male und dann immer 
deutlicher sah ich die 10. Große Unklarheit über den Weg, wie machst 
du das? dann der Pythagoreische Lehrsatz könnte dazu dienlich sein. 
Dann habe ich versucht 10 in zwei Quadrate zu zerlegen und es kam 
zuerst 4 + 6 und dann kam 9 + 1, dann ein Dreieck, aber nur den 
rechten Winkel gesehen, jetzt wußte ich, wie man den Pythagoreischen 
Lehrsatz anwendet. 

MI 2 , Vp. 5, 4 Sek. Zuerst ein optischer Eindruck i und dann 6, 
dann a + bi. Der erste Gedanke war, man rechnet es einfach aus, 
man hat ja die Multiplikationsregel ... jetzt kam ein undeutlicher 
Gedanke der Verallgemeinerung der komplexen Zahlen, indem man 
sie als Zahlenpaare auffaßt und die Multiplikationsrege] für die Ein¬ 
heit definiert. Dieses war potentiell vorhanden. Der Gegensatz des 
Ausrechnens und der Abstraktion war mir deutlich gegenwärtig durch 
Gauß und Weierstraß. 

Germ. I x , Vp. 11, 6 Sek. Wie ich i-Stämme hörte, hatte ich eine 
optische Vorstellung und ein unbestimmtes Wort, dann trat das Be¬ 
wußtsein auf, das weißt du, und es trat auf, der Plural wird durch 
Umlaut gebildet, dann kam gast, gästi, es war motorisch gegeben, 
als ein inneres Sprechen, dann aber auch etwas optisch, das innere 
Sprechen konnte ich hören, es war eine Mischung von visuell-moto¬ 
risch-akustischen Vorstellungen. 

Germ. I x , Vp. 3, 22 4 /s Sek. Es war mir hier das unbehagliche 
Gefühl, daß man nicht ablehnen darf, dann sage ich geba femenina 
Stämme mit a, dann sagte ich mir die »ja« und »a« Stämme. Hier 
schwebte mir vor frauja, aber es war nur ein Vorschweben, dann 
sagte ich mir konsonantische Stämme . . . Dann sagte ich mir hanno 
als Vertreter der m-Stämme. 

n. Die Vorstellungen innerhalb der Denkprozesse. 

§ 5. Akustische Vorstellungen. 

Akustische Vorstellungen ohne Verbindung mit optischen kommen 
nur sehr selten innerhalb der Denkprozesse vor. Die akustischen 
Bilder treten dann auf, wenn das Innere von einzelnen optischen 
Bildern ganz in Anspruch genommen ist, wenn sie also einen ganzen 
Gedankenkreis beherrschen und ein anderer auftreten will, um sich 
vielleicht mit dem ersten Kreise zu verbinden; dies ist besonders in 
der Mathematik der Fall. In allen Fächern zeigt sich der Unterschied 
zwischen den optischen und akustischen Vorstellungen so, daß die 
optischen Bilder eine längere Strecke den Gedankenstrom begleiten 


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Unten. Qber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 189 

und sich demselben besser anzupassen vermögen; die akustischen 
Vorstellungen sind von viel kürzerer Dauer, dafür aber eindringlicher 
und besser geeignet, eine Fortsetzung des Gedankens zu verursachen, 
oder aber, einen alten Gedankengang abzubrechen, um einen neuen 
zu beginnen. Die akustischen Vorstellungen sind demnach bedeu¬ 
tungsvoller für den Fortschritt und die Vollendung; oft ist mit einem 
Wort die ganze Lösung gegeben. Auch die Vpn., die viele optischen 
Bilder schildern, namentlich bei Vergegenwärtigung der Aufgabe 
(Vp. 8), bedienen sich hierbei gern akustischer Bilder. 

MI 3 , Vp. 5, 7 Sek. Dann kamen wie von selbst zwei Ebenen, 
zwischen dieses optische Bild schob sich, man braucht 4 Konstante 
dazu, das Wort Konstante ausgesprochen und sogleich ein Zweifel; 
ist das auch richtig? 

M I 2 , Vp. 10, 3 Sek. Ich wandte mich daher von dem ersten Ge¬ 
danken ab und dachte jetzt an die Darstellung der Gaußschen Zahl¬ 
ebene; dabei das Wort Gauß und besonders klar »au« gehabt. Dieses 
war gewissermaßen der Repräsentant des Gedankens, daran klammerte 
sich der Gedanke an. 

.MIII 3 , Vp. 1, 12 Sek. Daß es sich um veränderliche Ellipsen 
handelt, jetzt kamen die Wortbilder akustisch »Krümmungsmaß zu 
oder ab« und in Gedanken war ganz implicite: je nachdem die Ellipsen 
sich dem Kreise nähern oder nicht. 

Germ. II s , Vp. 3, 16 Sek. Dann besann ich mich intensiv auf 
einen anderen, schon vorher hatte ich so einen allgemeinen Gedanken¬ 
kreis davon, was dieser andere geschrieben hatte. Aber ich muß erst 
auf den Namen kommen. Dabei im Bewußtsein erregt das Leben, 
die Gedichte, aber der Name kam nicht. Plötzlich taucht der Name 
Hölderlin auf, und zwar akustisch und damit sogleich das Bewußtsein, 
Hölty im Vergleich zu Hölderlin süßlich ist. 

Germ. II lt Vp. 8,15 Sek. Die für die Antwort wichtigsten Punkte 
tauchen sofort akustisch auf, es sind beide Erziehungsromane. 

P IIj 4 b> Vp. 6, 11 Sek. Da tauchte auf, daß ich den Wert anfäng¬ 
lich zu einseitig aufgefaßt hatte. Es kamen logische, ästhetische 
Werte und darauf ethische Werte, hier hielt ich mich fest und fragte 
mich: Wie definiert man ethische Werte? Es kam mir, daß es sich 
um Handlungen handele und dabei das Bewußtsein, daß man über 
den Inhalt gar nichts Einheitliches ausmachen könne, daß also der 
Wertbegriff nur formal definiert werden kann und nicht inhaltlich. 
Mit diesem Gedanken schloß ich ab und dachte, hier könnte man einen 
Lösungsversuch machen, es bringt etwas zur Lösung bei. Es war 
andauernd durchsetzt mit akustischen Repräsentationen. 


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190 


Ludwig H&ngette, 


§ 6. Bewußtseinsstufen der Vorstellungen. 

Genau wie in der Wahrnehmung durch das Denken einzelne Teile 
besonders ins Auge gefaßt werden und, wie die Versuche Wes tphals 
zeigten, die Auffassung durch die Aufgabe variiert werden kann, ist 
es auch bei den Vorstellungen. Ein Unterschied macht sich hier 
freilich geltend, indem das Denken sich selbst aus den bereitliegenden 
Vorstellungen passende herausholt, einzelne Teile eines Vorstellungs¬ 
komplexes verdeutlicht oder besonders beachtet. Dasjenige also, 
was bei den Versuchen Wes tphals die Haupt- oder Nebenaufgabe 
bewirkt, verrichtet hier das Denken ohne spezielle Aufgabe von 
selbst, um zur Lösung des ihm gestellten Hauptproblems zu gelangen. 
Die Bewußtseinsstufen der Vorstellungen sind besonders gut aus den 
Protokollen des mathematischen Denkens zu ersehen, wo Vorstellungs¬ 
komplexe auftreten, bei denen bald der eine, bald der andere Teil 
mehr beachtet wird. In den anderen Disziplinen werden, wenn 
mehrere Vorstellungen nebeneinander vorhanden oder in Bereitschaft 
sind, die einen als klarer und deutlicher im Bewußtsein vorhanden 
geschildert. Daher möchte ich hier auch von Klarheitsgraden der 
Vorstellungen sprechen. 

1) Protokolle aus der Mathematik. 

MI 4 , Vp. 5, 9 2 /ß Sek. Dann war so latent in meinem Bewußt¬ 
sein, daß man dazu gelangen könne, indem man es aufweist bei den 
einzelnen Maschinen: am Hebel, Flaschenzug, Wellrad. Im Bewußt¬ 
sein gegeben waren mir schwache Vorstellungen, der Hebel kam mir 
deutlicher zum Bewußtsein und sofort implicite war mitgegeben, 
daß der Schwerpunkt nicht sinken kann. 

M III 3 , Vp. 5, 16 Sek. Ich stellte mir vor, was sind konfokale 
Ellipsen, und sagte mir, aha, das sind Ellipsen mit gleichen Brenn¬ 
punkten; und habe dabei die beiden Brennpunkte beachtet. Dann 
sah ich die Achsen und dann symmetrisch dazu eine größere und 
kleinere Ellipse. Nun wollte ich die Krümmungskreise betrachten 
und beachtete daher die beiden Scheitel und nicht mehr die Geraden. 

M III 3 , Vp. 1, 7 3 / 6 Sek. Ich stellte mir in Gedanken eine Ellipse 
vor, also ohne bildliche Vorstellung, mit dem Bewußtsein einer ge¬ 
wissen Richtung auf zwei feste Punkte, damit waren gemeint die 
Brennpunkte. Ich hatte das Gefühl, als ob die Ellipsen nicht voll¬ 
ständig geschlossen wären, damit war mir das Wissen gegeben, daß 
es sich um veränderliche Ellipsen handele. 

M II 4 , Vp. 10, 8 V 6 Sek. Es war zunächst ein Vorstellungsbild 
vorhanden zweier Tangenten einer Parabel, die sich rechtwinklig 


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Unters. Uber die Psychologie des wiesensch. Denkens auf exp. Grundlage. 191 

schneiden, wobei insbesondere der Schnittpunkt und der rechte 
Winkel scharf hervortraten, außerdem eine Linie senkrecht zur 
Achse durch den Punkt, ohne daß die Achse selbst gegeben war. 

M I s , Vp. 10, 5 1 / 6 Sek. Ich sah die uneigentliche Ebene vor mir, 
von dieser Ebene Gerade ausgehend, die zu Anfang parallel in größerer 
Entfernung auseinanderlaufen. Nur die Geraden sind mir zum Be¬ 
wußtsein gekommen, von der Ebene habe ich weniger einen optischen 
Eindruck erhalten, nur das Wissen, daß sie da waren. 

2) Protokolle aus den übrigen Diszipünen. 

Germ. I 5 , Vp. 11, 13 1 / 6 Sek. Da trat das Bewußtsein auf, woran 
erkennst du die U-Deklination? Es war hierbei in meinem Bewußt¬ 
sein gegeben, für die a und i weißt du das, beschäftige dich nur mit 
der U-Deklination. Ich zwang mich dazu, dann kam das Bewußtsein, 
das weißt du im Augenblick nicht, und fragte mich, was sind denn 
sonst noch für Deklinationsklassen vorhanden, und es kam die 
schwache Deklination, dieses kam sehr stark mit einem optischen 
Bilde zum Bewußtsein. 

GII 8 , Vp. 9,8 Sek. Bei Originalurkunde dachte ich an das Papier, 
welches einem übergeben würde, aber recht vage. Bei den anderen 
Urkunden habe ich nichts Konkretes gehabt, die Originalurkunde 
war mir viel klarer im Bewußtsein. Ich kann sagen, ich habe den 
Akt vor mir gesehen, natürlich habe ich ihn nicht gesehen, ich brauche 
es nur als ein Beispiel, itjh habe nicht das Aussehen gehabt, es war 
konkret gegeben. 

GI a , Vp. 7, 22 2 /5 Sek. Ich ging dann hauptsächlich die Pro¬ 
vinzen des römischen Reiches durch und fing mit Germanien an, 
besonders klar war die Vorstellung der Provinz Germanien, ich hatte 
besonders deutlich den Winkel, der gebildet wird von Rhein und 
Donau, so in der Form der anschaulichen Wirklichkeit. 

GHIg, Vp. 2, 7 4 /s Sek. Dann kam der Gedanke, ich weiß, daß 
Cromwell eine Rolle spielte, ich hatte das Bild von Cromwell, aber 
nur ganz unterdrückt kam mir das Bild seines Schädels zum Bewußt¬ 
sein. ... Dann kam die Reflexion, ob wirklich die französische 
Revolution vorbildlich sein könnte, mir standen die Gestalten Robes- 
pierre und andere vor Augen. 

§7. Immanente Änderung der Vorstellungen und Über¬ 
gang zu kinästhetischen Vorstellungen. 

Bei geübteren Vpn. und fast nur bei produktiven oder kritischen 
Fragen wird zuweilen beim Übergang aus einem Wissensgebiet in 
das andere, oder beim Übergang zweier größerer Gedankenkreise, 


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192 


Ludwig Bsngette, 


die dem ersten Gedankenkreise zugrunde liegende optische oder 
akustische Vorstellung auch im zweiten Teil des Denkprozesses bei¬ 
behalten, jedoch hat sich diese Vorstellung verändert, so daß sie als 
von der ersten Vorstellung verschieden geschildert wird, wenn auch 
die Art der Änderung nicht immer angegeben werden kann. Da sich 
diese Änderung von selbst, ohne Zutun der Vp. also gewissermaßen 
innerlich vollzieht, nenne ich sie immanent. In der Mathematik gibt 
es Fälle, wo diese Änderung auch kinästhetisch empfunden wird. 

Germ. II 4 , Vp. 3, 2 IV 5 Sek. Ich suchte dann etwas herum und 
dachte an die Reimdichter und hatte dabei fast körperlich, als ob ich 
zwei Reime zusammenhielt.... Dann ging ich zurück auf den 
übrigen Text. Es waren so zwei Zeilen mit einem Reim, und dachte 
mir klar, daß man aus falscher Lautbezeichnung so sehr viel schließen 
kann. Ich hatte einen Text vor mir, ich kam darauf, weil ich mal 
eine dialektische Feststellung im Französischen gemacht habe, dabei 
glaube ich unbestimmt, einen französischen Text vor mir gehabt zu 
haben, vorher hatte ich schon etwas wie ein Textbuch, aber dieses 
hatte einen anderen Charakter, ich kann nur den Unterschied von 
den beiden Vorstellungen angeben, nicht aber näher beschreiben. 

PII x , Vp. 4, 12 3 / 5 Sek. Ich habe mich dann leiten lassen durch 
eine Erinnerung an Kants Verwendung des Begriffs Grenze; die 
spezielle Aufzählung der Kantschen Grenzbegriffe habe ich nicht 
vorgenommen, ich dachte in erster Linie an das Ding an sich. Dann 
kam mir zum Bewußtsein, ja, das muß nun verallgemeinert werden. 
Es kam eine Richtung auf die Mathematik, ich habe dabei nichts 
gesprochen, sondern das Wort Grenze hatte eine Bedeutungsmodifi¬ 
kation erlitten und sogleich hatte das innerlich ausgesprochene Wort 
eine Klangveränderung angenommen, die auf die Bedeutungsänderung 
hindeutete, das Wort klang aus einer Sphäre heraus, es klang so, als 
wenn es in einem mathematischen Zusammenhang gebraucht wäre. 

MIj, Vp. 1 , 4 4 /s Sek. Zuerst war eine gerade Linie vorhanden 
und dann unbestimmt, daß gewisse Verhältnisse gleich sind; dann 
kam die Vorstellung eines Vierecks mit gewissen Linien, die besonders 
stark optisch waren, mit dem Viereck hatte sich eine gewisse Färbung 
verbunden, es ist das Viereck im Kegelschnittbüschel, dann kam sehr 
langsam, daß auch bei gewissen Evolutionen gewisse Doppelpunkte 
harmonische Lage haben, auf Evolutionen kam ich, als ich das Viereck 
im Kegelbüschel sah. 

MII 4 , Vp. 5, 18Ve Sek. Jetzt trat ich in das Gebiet der analy¬ 
tischen Geometrie. Ich fühlte dabei, wie die optischen Vorstellungs¬ 
bilder weggingen und mehr die Abstraktion anfing. Ich hatte jetzt 


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Untere, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 193 

XY und das Bewußtsein, das ist etwas anderes, aber nicht 
formuliert. 

MIIIx, Vp. 5, 8 4 / 6 Sek. Ich habe mir zuerst so ein optisches 
Schema einer Gleichung gebildet, so daß mir die Zahl der Variabein 
einfiel, dann sofort die geometrische Vorstellung: Ich sah eine Fläche 
zweiten Grades, so eine Art Buckel eines Hyperboloids, dabei Er¬ 
weiterung zunächst in vier Dimensionen. Erinnerungen an Minkowski 
und vielleicht eine kinästhetisch empfundene Dehnung der Fläche; 
darin war eigentlich schon das Urteil enthalten oder vielmehr diese 
Vorstellung wäre ein Beispiel, woran sich die zuerst undeutlich auf¬ 
geblitzte Erkenntnis vollendete: es kommt auf die variable Zahl an. 

M III 6 , Vp. 10 , 7 V 5 Sek. Die Formulierung der Frage trat deut¬ 
lich hervor. ... Es war ein Augenblick des Abwägens vor der Ent¬ 
scheidung. Es war dabei Y = (u + i v ) als starkes Vorstellungsbild 
gegeben. Dabei trat das i besonders lebhaft optisch hervor und in 
eigentümlicher, nicht mehr weiter zu beschreibender Beleuchtung. 
Und damit zugleich war der Gedanke verbunden, nicht formuliert, 
sondern von dem i gewissermaßen abgelesen, daß nicht in v das 
Wesentlichste ist für die Nutzbarmachung der Funktion komplexen 
Arguments, sondern in i. 

PIII 7 , Vp. 4, 6 4 / 6 Sek. Es war eine Gegenüberstellung des Ge¬ 
fallens am Schaffen und des am Genießen. Diese Gegenüberstellung 
war räumlich symbolisiert. Zunächst der Genießende an meiner 
Stelle und er schaut auf ein Etwas in einer Entfernung hin. Der 
Schaffende bedeutete so in meiner Vorstellung an etwas, beides waren 
nicht ruhende Bilder, sondern es waren Vorstellungen von andauern¬ 
den Tätigkeiten, vor allem beim Schaffenden war es, daß er sich 
betätigte, es war eine Einstellung dabei, er betätigt sich und hatte 
dabei Erlebnisse und auf diese Erlebnisse zielte ich ab. 


III. Die Vorstellungen in der Mathematik. 

§ 8 . Die Dynamik der Vorstellungen. 

Wenn die Vorstellungsänderung von den Vpn. wahrgenommen 
und genau geschildert werden kann, haben wir es oft mit einer Dyna¬ 
mik der Vorstellung zu tun. Wir finden eine Dynamik nur in den 
Protokollen des mathematischen Denkens. Eng verknüpft sind sie 
mit den Bewußtseinsstufen, was aber neu hinzukommt, ist die rege 
Aktivität des Denkens. Als Grenzwert der dynamischen Vorstellung 
möchte ich das »Vorstellungsschema« bezeichnen. Hier liegt die 
Vorstellung fertig im Bewußtsein bereit und wird nicht verändert 

Archiv flkr Psychologie. XXXVI. 13 


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194 


Ludwig Rangette, 



Fig. 1. 


O 


durch das Denken, vielmehr knüpft sich der Gedankenkreis daran an. 
Andererseits aber wird die Vorstellung in schneller Folge durch das 
Denken umgebildet; hierbei vermischen sich kinästhetische Vor¬ 
stellungen mit den optischen, auch wohl mit den akustischen Bildern, 
so daß man erstere nur im Zusammenhang mit letzteren betrachten 
kann. Die Dynamik ist besonders lebhaft bei Vp. 5. 

MI 6 , Vp. 5,12 Sek. Dazwischen optische Eindrücke von Geraden 
und Ebenen. Die Geraden waren sozusagen sehr in Bewegung und 
als sie ruhig wurden, waren sie zu Ebenen gewor¬ 
den, die perspektivisch gesehen wurden.... Nach 
weiteren Überlegungen verwandelte sich die Figur 
.in ein Schema. An ihm habe ich das Resultat 
gefunden. 

MII 4 , Vp. 5, 18 4 /b Sek. Ich hatte zuerst 
»geometrischer Ort« mit dem Gedanken, das ist 
elementar, darauf, das ist es doch nicht, sofort 
nebenstehendes Bild (Fig. 1). Sogleich eine Art 
Zweifelsgefühl: Ist die Aufgabe einseitig lösbar 1 
(aber nicht formuliert). Ich dachte mir, nun 
gehe weiter, und sah, wie der eine Kreis wan- 
derte. Ich setzte ihn gleichsam in Bewegung, ich 
dachte, das wird vielleicht die Polare sein, dabei 
war das Wort Polare im Gedächtnis, konstatierte 
aber, daß das Wort Polare eventuell nicht richtig 
sein würde, wußte aber ganz genau, daß es so eine 
Linie geben würde, und sah dieselbe auch (Fig. 2). 
Dabei war gegeben, wenn es nicht die Polare 
ist, ist es vielleicht die Chordale; dabei verschob 
sich das Bild (Fig. 3). Nim komme ich auf die 
Potenzlinie, obgleich ich im Versuch nicht wußte, 
wie diese Linie hieß. Ich meinte sie nur, dabei 
wieder die optische Vorstellung der Fig. 1, und 
zwar wieder in Bewegung. Der kleine Kreis B 
schob sich auseinander in der Richtung, wie der 
Pfeil Fig. 4 angibt. Jetzt trat ich in das Gebiet 
der analytischen Geometrie, ich fühle dabei, wie 
die optischen Vorstellungsbilder weggingen.... 
MII a , Vp. 10 , 7Vb Sek. Die Größe des Winkels rief zunächst 
ein Stutzen hervor, dann die Bewegung eines Stabes mehrere Male 
um einen Punkt herum. . . . 

M IIj, Vp. 1, 6 4 / 5 Sek. Sofort etwas unbestimmt vorgestellt, eine 



o 

CP 


Fig. 3. 

DO 

Fig. 4. 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens snf exp. Grundlage. 195 

Ellipse gemeint. Deutlicher mit etwas Nachdruck sehr schnell ge¬ 
zeichnet, zwei Sehnen, die parallel waren. 

§ 9. Symbolische Vorstellungen. 

Die symbolischen Vorstellungen in der Mathematik sind mit den 
ablösenden Vorstellungen oft eng verbunden, sie bedeuten aber nicht 
nur einfach eine Hilfe zur Ausrechnung, sondern sind mit einem 
Gedanken direkt verbunden. 

MI 4 , Vp. 1 , 8 1 / 6 Sek. Dann es ersetzt durch eine Gleichung. 
Viele Gleichungen gehabt, jedoch in der Vorstellung nur Xdx. 
X ist die Kraft und dx bedeutet die virtuelle Verschiebung. An diese 
Formel knüpft sich gewissermaßen die Überlegung an, nämlich, daß 
die Arbeit der Kraft für jede virtuelle Verschiebung gleich 0 sei. 

Die symbolischen Vorstellungen können jedoch auch verallge¬ 
meinert werden. Die Tatsache, daß sich mit der Vorstellung gleich¬ 
zeitig ein anderer psychischer Inhalt verbindet, findet sich auch auf 
geometrischem Gebiete bestätigt. Von Wichtigkeit scheint mir 
dieses deshalb zu sein, weil die experimentelle Psychologie sich schon 
oft die Frage vorgelegt hat, wie das, was ich wahmehme, zu meinem 
Verständnis gelangt; man sieht hier, daß die Frage auf dem Vor- 
stellungsgebiet ebensogut gestellt werden kann und in einer Weise 
schon beantwortet ist. Oft holt das Denken aus einem Vorstellungs¬ 
komplex Teile hervor, womit zugleich ein Wissen inplicite verbunden 
oder eine Beziehung zur augenblicklichen Wissenslage hergestellt ist. 

MIII 2 , Vp. 5, 6 Sek. Dann überlegte ich mir, ist es möglich, daß 
Cos a einen Wert hat 1 .... Hierbei hatte ich die Vorstellung eines 
begrenzten Intervalles. Es war so, mit der Vorstellung hatte ich 
sogleich das »Gefühl«, daß der Cos in Grenzen eingeschlossen ist, also 
nicht formuliert. ... 

MI 8 , Vp. 10, 10Vß Sek. Es tritt dann hervor das Wort Integra¬ 
tion, wobei eine Parabel vorgestellt wird, mit Parabelstreifen außer¬ 
halb. Doch ist diese Vorstellung unklar, dann habe ich ein Vorstellimgs- 
bild eines Rechtecks mit dessen einer Diagonale, welche von der Pa¬ 
rabel ausgeht, und gleichzeitig das Wissen, daß der Parabelinhalt 
zu diesem Rechteck in einem bestimmten, einfachen Verhältnis steht. 

§ 10 . Vorstellungen und Gedanken. 

Es ist a priori vorauszusehen und in der Tat bestätigen es die 
Protokolle auf Schritt und Tritt, daß bei der mannigfaltigen Um¬ 
gestaltung der Vorstellungen auch der Gedanke variiert und beein¬ 
flußt wird. Ich habe bei den früher angegebenen Protokollen die¬ 
selben zum Teil ausführlich mitgeteilt, damit der Leser sich von 

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Ludwig Bangette, 


vornherein ein richtiges Bild von dem gesamten Denkverlauf machen 
kann und sich immer bewußt wird, daß das umgestaltende Denken 
das Primäre ist. Die folgenden Protokolle haben den Zweck, den 
Gedanken besonders zur Beachtung zu bringen, mehr als das in den 
vorigen Protokollen zum Ausdruck gekommen ist. Aus der Sache 
ergeben sich zwei Unterabteilungen: 

1 ) aus der Vorstellung heraus entwickelt sich der Gedanke, 

2 ) der Gedanke bestimmt die Vorstellung. 

Die Versuche zeigen, daß der zweite Vorgang der wichtigere ist. 

M 1 5 , Vp. 10, 11 2 /6 Sek. Nach Verlesung der Frage hatte ich direkt 
ein Integralzeichen und einen Bruchstrich.... Erst nach einem Willens¬ 
akt kehrte ich zur Frage zurück, und gab durch das Wort Potenzreihe 
eine Lösung. Gleichzeitig wurde mir das Int egralzeichen im Anfang klar. 

MIII e , Vp. 5, 14y 6 Sek. Es fiel mir zuerst der Übergang von 
dem Realen in das Komplexe wieder nach dem Realen als ein vielleicht 
gemeinter Vorzug ein, dabei optische Vorstellung und dunkle Erinne¬ 
rung an Transformationsgruppen, die im Komplexen einen, im 
Realen zwei Continua bilden.. . . Dabei fiel mir Verschiedenes ein, 
was sich nicht klärte. Es war vielleicht eine dunkle Erinnerung an 
die Analogie der hyperbolischen und trigonometrischen Funktionen 
und an den Zusammenhang mit der Exponentialfunktion. An Vor¬ 
stellungen hatte ich dabei cos h, e®, sin h optisch. Diese waren Re¬ 
präsentanten der Gedanken. 

M IIio» Vp. 5, 13 Sek. Ich stellte mir eine Kurve vor mit dem 
Gedanken: man kann die Sache punktweise machen, indem man eine 
Anzahl Abszissen aufträgt. Dieser Gedanke ging gleichsam von 
selbst schon mit großer Schnelligkeit weiter: Man kann vielleicht 
integrieren; dabei optische Vorstellungen F (a) — F ( 6 ) und dann 
die Abszissen abtragen. Es kam aber der Gedanke, das geht nicht; 
wie ist es, wenn die Differentialkurve gegeben ist? und sagte mir: 
Graphisch wird das wohl nicht gehen; du kannst es nicht mehr. Jetzt 
kam die Vorstellung einer Lie’schen Darstellung von Differential¬ 
gleichungen; der Name war mir nicht oder nur eben im Bewußtsein, 
das ganze Wissen war repräsentiert durch Figur: 

Hierzu möchte ich hier aus dem Gebiete der Mathematik und 
Germanistik zwei Protokolle fügen, welche zeigen, daß bei Zugrunde¬ 
legung einer falschen Vorstellung sich ein richtiger Gedanke doch 
Bahn bricht, eine Tatsache, die auch von Hacker im Traume beob¬ 
achtet worden ist. Aus diesen Protokollen ersieht man auch, daß 
der Gedanke vollständig abstrahiert werden kann, ja, daß die Vor¬ 
stellung den Gedanken gegenüber die zweite Stelle einnimmfc. 


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Untere. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 197 

MI 6 , Vp. 1, 16 4 /s Sek. Also zuerst eine Fig. 5, ich habe alles 
gleichmäßig fixiert, keine Linie trat mehr hervor, an der Figur knüpfen 
sich die Gedanken an. Ich habe mir überlegt, wo zwischen die Pro- 
jektivität stattfindet. Da kam zuerst, es muß eine Projektivität 
sein zwischen Punktreihen und Strahlenbüscheln. 

Ich kam nicht recht voran und dachte, das hast 
du doch einmal sehr gut gewußt, du hast es be¬ 
sonders in den Übungen gezeichnet und das Blatt 
war ein Viereck, wo ein roter Randstrich war. 

Dann kam auf einmal die Idee, daß gemeinsame 
Elemente zerfallen müssen. Ich kam auf den Be- ß 
griff des Doppelelementes, das schien es aber Fio . 5 

nicht zu sein und nun die Idee, es ist kein 
Strahlenbüschel. Jetzt wurde die äußerste Linie ( AB) fixiert und be¬ 
sonders ins Auge gefaßt und damit veränderte sich der Gedanken¬ 
kreis. Es kam, wenn der Punkt B sich selbst entspricht (es waren 
nur die Punkte vorgestellt, nicht ABC). Ich übersah am Schlüsse 
so mit einem Male, daß der Gedanke, der zugrunde gelegt worden 
war, richtig war, die Figur war falsch, es war ein falsches Erinnerungs¬ 
bild. Es war so, daß der richtige Gedanke sich an eine falsche Figur 
knüpft, und zuletzt hatte ich durch die Fixierung die richtige Figur. 
Der Gedanke war von vornherein potentiell angelegt. 

Germ. II 8 , Vp. 8,20 Sek. Zunächst ganz automatisch die Antwort 
Platen. Ich sehe den Namen vor mir geschrieben, obwohl ich das 
Bewußtsein hatte, das stimmt nicht, denn ich kannte seine Gedichte. 
Ich stelle mir so eine unbestimmte Empfindung von dem Dichter 
Platen vor, und ich weiß, das stimmt nicht, kann ihn aber nicht los 
werden, um mich von dieser Unklarheit zu befreien, zwinge ich mich 
dazu, mir klar zu machen, was das Kennzeichen der Platenschen Poesie 
ist. Es ist mir so wie ein Bewußtsein davon, darauf komme ich auf 
einen Dichter, den ich gemeint hatte, nämlich Lenau. Also das 
Charakterbild war richtig, nur der Name falsch, also das Charakter¬ 
bild verband sich mit einem falschen Namen. Um den Namen Lenau 
zu erhalten, war also ein komplizierter Prozeß notwendig. Dadurch, 
daß ich mir das klar machte, kam mir der richtige Name Lenau. 

Schlußbemerkung. 

Unser Ziel ist die Betrachtung des Verhältnisses der Vorstellungen 
und Gedanken zueinander. Weit davon ab waren wir in § 1, wo 
über die Vergegenwärtigung der Aufgabe Auskunft gegeben worden 
ist; in den drei folgenden Abschnitten war die Rede von Vorstellungen, 



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Ludwig Bangerte, 


die dem Gedanken folgen (begleitende Vorstellungen), vorangehen 
(einordnende Vorstellungen) oder ihn ablösen (ablösende Vorstel¬ 
lungen). Die akustischen Vorstellungen brachten uns dem Ver¬ 
hältnis zu den Gedanken schon wesentlich näher, was namentlich 
auch von den Änderungen der Vorstellungen, der Dynamik und den 
symbolischen Vorstellungen gilt. Die letzten Paragraphen konnten, 
allerdings nur unter allgemeiner Berücksichtigung der mathematischen 
Fragen einige Auskunft über das Verhältnis von Vorstellungen und 
Gedanken bringen. Was die Gebiete anbelangt, so konnten wir in 
§ 1 alle Fächer heranziehen; begleitende und einordnende Vorstel¬ 
lungen fanden wir hauptsächlich in der Germanistik und Geschichte, 
ablösende Vorstellungen in der Mathematik und zum Teil in der 
Germanistik; akustische Vorstellungen spielten wiederum in allen 
Fächern eine bedeutende Rolle für den Denkfortschritt; für die Be¬ 
wußtseinsstufen der Vorstellungen sind namentlich Nachweise aus 
der Mathematik erbracht worden. Die Änderung der Vorstellungen 
innerhalb der Denkprozesse fand auf verschiedenen Gebieten, nament¬ 
lich aber auch wieder in der Mathematik statt, und zwar fast aus¬ 
schließlich bei produktiven und kritischen Fragen. Dann aber 
mußten wir für die Vorstellungen im mathematischen Denken eine 
besondere Stelle einräumen. Wir sind vorläufig schuldig gebbeben, 
ein allgemeines Verhältnis von Vorstellungen und Gedanken auch für 
die anderen Disziplinen anzugeben, eine Schuld, die wir in Kapitel IV 
abtragen werden, wo wir Vorstellungen als Repräsentanten von Ge¬ 
dankenkreisen kennen lernen werden. 


Kapitel II. Das Schema. 

§ 1. Entstehung des Schemas, allgemeine Eigenschaften 
und Abhängigkeit von den Wissensgebieten. 

Neben den Vorstellungen, die in mannigfacher Weise sich dem 
Gedankengange anzupassen vermögen, finden wir bei der Analyse 
der Protokolle oft Angaben über Erlebnisse, die wir nicht als Vor¬ 
stellungen bezeichnen können, die aber so oft im Denkzusammenhangc 
auftreten, daß wir ihnen eine große Rolle zuschreiben müssen. Diese 
Erlebnisse, welche besonders Vp. 2 als ein Mittelding von Gedanken 
und Anschauungen schildert, sind die Schemata, die sich dem Denken 
auf drängen und von Vpn. mit großer Übung in der Selbstbeobachtung 
besonders beim reproduktiven Denken als aus früheren Erlebnissen 
bekannt geschildert werden. Sie sind untereinander verwandt, 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 199 • 

farblos, sie können flächenhaft und räumlich vorgestellt werden; 
wenn sie auch in manchen Versuchen namentlich beim produktiven 
und kritischen Denken sehr detailliert und mit feineren Nuancierungen 
beschrieben werden, so scheint es nur so, als ob sie wirklich soviel 
Einzelheiten enthielten. Sie können während eines großen Teiles 
des Denkprozesses, wo sie meist unwillkürlich auftreten, im Bewußt¬ 
sein oder hinter dem Bewußtsein bleiben oder von der Aufgabe 
angeregt und im Laufe des Denkens wirksam werden. Es gilt auch 
für sie eine gewisse Stufenordnung, d. h. cs werden oft Erlebnisse 
geschildert, von denen die Vp. nicht anzugeben weiß, ob sie noch zu 
den Raumschemen gehören. Die Schemata liegen dem Denken 
zugrunde, das Denken holt nicht mehr aus dem Schema heraus, als 
was es auch sonst hätte finden können. Somit sind die Schemata 
eine Stütze für das Denken. Genau wie die Vorstellungen als Reprä¬ 
sentanten dem Gedanken nahe kommen, so auch das Schema. Das 
Schema kann zum Symbol oder Repräsentanten des Gedankens 
werden, dann dient es dazu, daß ein ganzer Gedankenkomplex durch 
eine Aneinanderreihung dieser Symbole eine sehr starke Abkürzung 
erfährt. Diese Symbole treten also für den Gedanken ein, sie ver¬ 
anschaulichen den Gedankenkomplex. 

Was die Fächer anbetrifft, so kommen die Schemata fast aus¬ 
schließlich in der Philosophie vor. Es scheint, daß dem Mangel an 
Vorstellungen im philosophischen Denken durch die Fülle der Sche¬ 
mata abgeholfen wird. In der Germanistik wird nur ein einziges 
Mal von Vp. 11 ein Schema geschildert; das Schema dient hier jedoch 
zur Vergegenwärtigung einer philosophischen Tatsache. In der 
Geschichte werden von Vp. 2 einige Male Schemata geschildert, die 
uns meistens über die Entstehung des Schemas als eines Mitteldinges 
von Anschauung und Gedanke Auskunft geben. 

P III i, Vp. 2 , 11 V 6 Sek. Der Gegensatz von normativer Wissen¬ 
schaft und Tatsachenwissenschaft war so ein wenig mit einem opti¬ 
schen Schema versehen. Die Tatsachenwissenschaft war von mir. 
unten lokalisiert, die Normen waren oben lokalisiert mit Beziehung 
auf die Tatsachensphären. 

G I 8 , Vp. 9, 10 3 /s Sek. Die Frage kam mir wieder zum Bewußt¬ 
sein, in welchem Zustand war das römische Reich? Es war mir, als 
ob ein Schnitt gemacht würde, ein Brett durch die römische Geschichte 
abgeschnitten würde. Mit Augustus kam die Ausdehnung des Reiches 
und seine Macht. Irgendwelche Vorstellungen habe ich nicht gehabt, 
doch mit der Macht des Augustus verband sich auch ein Wissen von 
dem Niedergang der sittlichen Kultur, das Ganze war wie ein Ball, 


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• 200 


Ludwig Rangette, 


in dem einzelne Sachen stecken, ein zweiter Ball war der Niedergang, 
der sich gleich damit verband; das Ganze ist ein Bild. 

G II 8 , Vp. 2, 14 Sek. Ich habe die Zeit Konstantins anschaulich 
gesehen, nicht im einzelnen, sondern im allgemeinen, ein mittleres 
zwischen Anschaulichem und Unanschaulichem. Man hat dabei 
das Bewußtsein, daß es nicht nur gedruckt und gelesen ist, sondern 
daß auch etwas Unanschauliches dabei ist. Es war das Bewußtsein ge¬ 
geben, ich kann den Gedanken in Anschauung verwandeln. 

pm 7 ,Vp. 2 , 14 2 /s Sek. Ich kam jetzt mehr auf das Erhabene, 
das Wort erhaben war da und ich konstatierte, daß ein Schema von 
Kants Ästhetik ursprünglich im Hintergründe war und jetzt wirksam 
wird, da kam ich jetzt auf die Naturmacht. . .. 

P II 2 , Vp.4, 10 4 / 5 Sek. Es kam gleich eine konkrete Antwort in 
zwei Teilen: Psychologie und Geschichte. Ich habe hierbei gesprochen 
Psychologie und Geschichte und habe dabei auch etwas Schematisches 
gehabt, vielleicht ist es auch noch zu dem Raumschema zu zählen. 
Die Psychologie links, die Ethik rechts und spezifisch für die Ge¬ 
schichte war ein Erlebnis des Zurückgehens, gemeint damit war, es 
müßte von vorne angefangen werden, von den primitiven Völkern. 

P II 3 , Vp. 4,11 2 / s Sek. Dann eine Alternative: absolute Geltung 
d. h. für alle vernünftigen Wesen oder relative Geltung, d. h. für 
unseren Verstand. Dieser Gegenstand war nicht nur jetzt konstruiert, 
sondern er hatte Beziehung mit den in der Geschichte der Philosophie 
wirklich auftretenden Gegensätzen. Die Perspektive war damit 
etwas erweitert, ich weiß nicht, ob es ein Schema ist, jetzt beim Pro¬ 
tokollgeben habe ich ein Schema. 

P III 0 , Vp. 2, 13 4 / 5 Sek. Bei Kausalität waren zwei Punkte und 
dazwischen eine Verbindungslinie, auch bei Wechselwirkung war das 
Schema kein anderes, das Schema war auf jeden Fall da, als ich 
an die Kausalität dachte. Es war mir so, als ob es immer im Hinter¬ 
gründe war, nur wurde es nicht weiter beachtet. 

§ 2. Das Schema als Stütze des reproduktiven Denkens. 

Die Schemen sind eine wichtige Stütze für die Reproduktion; sie 
werden im reproduktiven Denken benutzt, um Gegensätze, Gleich¬ 
heiten, Ähnlichkeiten irgendwelcher Art zum Ausdruck zu bringen; 
sie stellen uns ferner ein System geschlossener Gedanken oder Er¬ 
innerungen dar, oder repräsentieren mehrere Wissensgebiete neben¬ 
einander. Um jeden Irrtum zu vermeiden, sei gleich bemerkt, daß 
diese Schemata sich nicht ausschließlich bei reproduktiven Fragen 
finden, bei produktiven und kritischen Fragen gibt es immer repro- 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 201 

duktive Phasen und diese sind hier unter reproduktivem Denken 
mit gemeint. Mit gewissen Einschränkungen könnte man diese 
Schemen mit den begleitenden Vorstellungen vergleichen. 

PIi.Vp.4, 3 3 /s Sek. Darauf Bewußtsein der vielfachen Möglich¬ 
keit der Definition, schließlich Richtung auf meine eigenen Gedanken, 
darüber war mir ein Schema gegeben, durch welches das Verhältnis zu 
den Einzelwissenschaften charakterisiert war, mir waren die Einzel¬ 
wissenschaften durch divergente Strahlen in der Richtung repräsentiert. 

P Iio, Vp. 4, 9Vs Sek. Ich hatte zunächst einen Fremdheits¬ 
eindruck, das ist mir nicht ohne weiteres gegenwärtig, dann kamen 
mir die Stoiker im Gegensatz zu den Epikureern, es war ein Hinüber 
und Herüber, es war durch ein räumliches Schema verknüpft, dann 
ein paar vage Gedanken über die Metaphysik; Stoiker ist ein Kom¬ 
plex und da kommt bald das eine, bald das andere mehr hervor. 

P I 5 , Vp. 2, 12 Vj Sek. Dann waren mir sofort die drei Haupt¬ 
begriffe gegenwärtig, daß es sich um Thesis, Antithesis und Synthese 
handele. Diese waren mir rein erinnerungsmäßig als Worte gegeben, 
wurden aber auch gleich inhaltlich erfaßt. Es war ein gewisses teils 
optisches, teils kinästhetisches Schema. Ich suche etwas, ich sah 
einen größeren Raum auf weißerem Grund, etwa auf Papier, links die 
Thesis und ein Zwischenraum die Antithesis. Es waren nicht die 
Worte geschrieben, sondern die Worte waren nur lokalisiert. Bei 
Synthesis war es ähnlich, als ob ich in meiner Hand die beiden Punkte 
von Thesis und Antithesis verbinde, ich weiß dieses ganz deutlich, 
das meinte ich auch mit kinästhetisch, dann ein unbestimmter Ge¬ 
danke, daß Hegel überall die Entwicklung zu begreifen suchte. 

PII 4 , Vp. 2 , 8 4 /s Sek. Die Zeit als solche nicht dargestellt, jedoch 
Raum und Zeit ein Schema, das von äußerem und innerem Sinne her¬ 
rührte. Es ist so, wie eine gerade Linie, links das Räumliche, rechts 
das Zeitliche. Das Räumliche ist vergegenwärtigt durch viele Punkte, 
das Zeitliche in dieser Gegenüberstellung mehr kreisförmig. 

§ 3. Die gedankliche Ausfüllung des Schemas. 

Die in diesem Paragraph zu schildernden Schemata können mit 
den einordnenden Vorstellungen des vorigen Kapitels verglichen 
werden. Das Schema ist hier mehr eine Umrahmung des Gebietes, 
in welchem sich die folgenden Gedanken bewegen sollten. Zunächst 
wird das Schema gebildet, aber die Anlage des Schemas ist so, daß es 
im späteren Denkverlauf nur durch ganz bestimmte, zielstrebige, 
d. h. für die Lösung der Aufgabe beitragende Gedankenkreise aus¬ 
gefüllt wird. Ich glaube, daß dieses Umrahmen noch nicht aktuali- 


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202 


Ludwig Rangette, 


sierter Gedankengänge durch die Enge des Bewußtseins unterstützt 
wird. Die Ursache für das Auftreten solcher Schemen ist im Denken 
selbst zu suchen. Die enge Beziehung des Denkens zu den Schemata, 
die in diesem wie im folgenden Paragraphen zu schildern ist, kommt 
auch dadurch zum Ausdruck, daß das Schema sich innerhalb des 
Denkprozesses erst entwickelt. Zuerst wird hier das Schema wohl 
auch nur flächenhaft ohne Beachtung der Tiefenkomponente vor¬ 
gestellt; ihre Beachtung findet oft im weiteren Verlaufe statt. 

Wir können auch hier einer Reihe wichtiger Fragen nähertreten. 
Bekannt sind bei diesen Vorstellungen die Assoziationsgesetze, gewiß 
gibt es solche Beziehungen auch für die anderen elementaren Inhalte, 
also für die Schemen und Gedanken; doch das unwillkürliche Auf¬ 
treten von einordnenden Vorstellungen, Schemen und, wie Kapitel IV 
dartun wird, von Gedanken zum Zwecke der Lösung einer Aufgabe 
zeigt uns, daß durch die Funktion des Denkens die elementaren In¬ 
halte untereinander in Beziehung gebracht werden; die Art und 
Weise, wie dieses geschieht, ist freilich noch nicht zu ersehen. Dem 
experimentellen Psychologen erwächst hier dieselbe Schwierigkeit 
wie dem Mathematiker in der Integralrechnung, wo aus einzelnen 
Angaben der Gesamtverlauf einer Funktion erschlossen werden muß. 

P II 8 , Vp. 6, 8 Sek. Ich hatte auch ein optisches Schema vor mir. 
Es war eine Fläche, das repräsentierte mir die geistigen Vorgänge 
überhaupt, und an einer Stelle die Willensvorgänge repräsentiert; 
ich richtete meinen Blick gewissermaßen mehr in die Tiefe und auch 
mit größerer Aufmerksamkeit; es war, als ob ich in die Tiefe sähe, 
mit großer Aufmerksamkeit nach dem Platze, wo die Willensvorgänge 
repräsentiert waren. Dann kam der Gedanke; man müsse zunächst 
untersuchen, was denn Wille sei, zu gleicher Zeit aber nebenher, 
dieses Mal unten lokalisiert die schwache Erinnerung daran, daß 
Willensvorgänge als Komplexe aufgefaßt werden. Dieses Unter¬ 
bewußtsein wurde verjagt durch den Hauptgedanken, der sich weiter 
entwickelte. Es kam mir bestimmt zum Bewußtsein, es hegen zwei 
Probleme vor, und dabei glaube ich, daß ich in dem Schema um¬ 
gekehrt habe, es hat sich irgend etwas umgekehrt, ich habe dabei 
bestimmt den Gedanken, daß es auf zwei Probleme ankomme, die 
psychologische Untersuchung und dann, was man unter Willen zu 
verstehen habe. Das letzte war alles nicht in der sprachlichen Weise 
vorhanden; es war zwar so ein ganz energisches Erfassen des Wissens, 
es war das Schema ganz energisch gewissermaßen erfaßt, trotzdem 
kann ich nicht beschreiben, wie das Schema aussah. 

PI®, Vp.2, 8 4 /& Sek. Dann war mir etwas Optisches gegeben: 

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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 203 

Zwei Reihen, ein Strich und der Untersatz; ich besann mich, wo ist 
das Entweder-oder zu finden, das war mir im Gedächtnis vom Urteil; 
ich wollte das Entweder und Oder auf die beiden ersten Linien ver¬ 
teilen, aber dieses ging nicht, denn ich sagte mir, das gibt keinen Schluß. 

PII 3 , Vp. 2, 19 4 / 6 Sek. Ich war einen Augenblick im Zweifel, 
was für ein Axiom ich nehmen soll, und so kam ich denn weiter auf 
die Dreidimensionalität des Raumes und hier war ein Schema vor¬ 
handen: 3 senkrecht sich schneidende Linien. Wie ich dazu kam, 
weiß ich nicht, es war mir, als ob der Raum eine Grundlage aller 
Axiome sei, dann kam als Beispiel eines sicheren Axioms: Zwischen 
zwei Punkten ist nur eine Gerade möglich, das war, was sich aus der 
Dreidimensionalität entwickelt hat. 

§ 4. Das Schema innerhalb der Denkprozesse (zur Kinästhesie 
und Dynamik des Schemas). 

Besonders im produktiven und kritischen Denken nimmt das 
Schema innerhalb des Denkprozesses eine besondere Stelle ein. Es 
sind zumeist kinästhetische und dynamische Faktoren, die dem 
Schema diese Bedeutung verschaffen. Der große Nachteil, den die 
Schemata in der Regel haben, nämlich, daß das dynamische Element 
fehlt, also daß sie zu starr sind und Beziehungen verwandtschaftlicher 
Art zwischen einzelnen Gliedern nicht zum Ausdruck briiurcn, kann 
bei Schemen, die innerhalb einer größeren, durch eine Aufgabe be¬ 
stimmten Gedankenreihe auftreten, aufgehoben werden. Feinere 
Nuancierungen, in denen besonders kinästhetische Empfindungen 
hervortreten, werden innerhalb des Schemas geschildert, die eine 
Erweiterung der Gedankenperspektiven zur Folge haben; bei Vp. 6 
haben wir es sogar mit einer Dynamik des Schemas zu tun. 

PII„ Vp. 6, 14 Sek. Das Wort »logische Bedeutung« optisch 
repräsentiert, und während ich es repräsentiert hatte, hielt ich mich 
daran fest; da kamen Grenzbegriffe und ich hatte mit einem Ruck ein 
anderes Erlebnis. Ich hatte gleich ein optisches Schema vor mir: 
einen Kreis, der mir ein Begriffsschema repräsentiert. Da wandte ich 
mich momentan ab, es kamen mehr abstrakte Gedanken: es handele 
sich mehr um Merkmale, also daß der Grenzbegriff diejenigen Arten 
enthalte, die nach ihren Merkmalen dem einen oder anderen Begriff 
zuerteilt würden. Dieses war in diesem Moment sehr undeutlich 
angelegt; bevor ich das klar durchdacht hatte, kam ich wieder zum 
Schema, das Schema verzog sich jetzt in das Schema mit einer gemein¬ 
samen Linie, eine Sphäre rechts und links, gemeint waren damit die 
Merkmale, die zuweilen einem oder dem anderen zugehören. 


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204 


Ladwig Rangette, 


PI 6 , Vp. 4, 7 2 /s Sek. Hinwendung bei dem Wort Hegel, ich 
glaube so etwas Räumliches dabei, so nach Berlin, aber sehr unsicher. 
Wichtig ist die Hinwendung zu einem bestimmten Gedankenkreis, 
der sich mit dem Wort Hegel verknüpft. Man hat dieses Hinwenden 
als ein Erlebnis, es ist nicht so, daß assoziative Bahnen aufgeschlossen 
werden, es ist im Erlebnis faßbar und darauf kam mir im Anschluß 
an dialektisch, das stark nachklang, das Wort Dreitakt, innerlich 
gehört und gesprochen. Es hat sich auch ein räumliches Schema 
entwickelt: Ein Dreieck, auch von Synthesis hatte ich etwas Moto¬ 
risches, gemeint war das Ganze. Darauf war ich auf das Innere dieser 
Raumpunkte bezogen und ich meinte dabei: Aus dem Inneren heraus; 
ich sprach auch gleich darauf Selbstentwicklung; gemeint war: Selbst¬ 
entwicklung der Begriffe, außerdem noch das Moment, daß das eine 
reale Bedeutung bei Hegel hat. Entwicklung nicht als logische Ent¬ 
wicklung, sondern auch als reale Entwicklung. Das war dadurch 
gegeben, daß die Zentren, mit Kraft begabt, aus sich herauswirkend 
aufgefaßt wurden. 

PII 1X , Vp. 2, 24 Sek. Bei Induktion war ein deutliches Schema 
von vielen Punkten, die ich unten in meinem Sehfelde lokalisierte. 
Es gingen viele Linien heraus, die oben einen gemeinsamen Treff¬ 
punkt hatten. Dieser Punkt vergegenwärtigte mir das Allgemeine, 
in das all diese Linien hinführen; das allgemeine Schema bedeutete 
eben das Hinaufführen von den Einzelfällen zu dem einen allgemeinen 
Gesetz. 

P III 6 » Vp. 4, 12 3 / ö Sek. Die Simultaneität und Sukzession war 
als ein Raumschema. vorhanden, besonders deutlich war die Klein¬ 
heit der Sukzession der zeitlichen Abstände und der Gedanke, daß 
aber dieses doch die Richtung sein müsse, nach dem Grenzfall der 
Gleichzeitigkeit. 

P III 3 , Vp. 4, 23 Sek. Ich sprach, es gibt ein formuliertes und ein 
unformuliertes Denken und dann weiter, das ist das hyperlogische, 
dabei hatte ich ein Schema von drei untereinander liegenden Zeilen, 
welche die Dreiheit des Denkens repräsentierten, es kam mir zum Be¬ 
wußtsein, daß das eine Entwicklungsschattierung enthalte. 

GII 5 , Vp. 2, 13 Sek. Eine deutliche Ausfüllung dieser Zustände 
wurde ganz bewußt durch die Instruktion eingedämmt, daß es sich 
um die Methode handele, aber ich hatte das Bedürfnis, mir überhaupt 
über den konkreten Gegenstand der Anwendung der Methode ein 
wenig im klaren zu sein; die Frage wäre nicht konkret genug, um mir 
die Methode an die Hand zu geben. Der allgemeineren Frage schob 
sich das Individuale unter, es war eine Bewegung von konzentrischen 


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Unter», über die Psychologie des wissensch. Denkens anf exp. Grundlage. 205 

Kreisen mit einer Bewegungsempfindung vorhanden, jedoch war 
diese Verengung mehr gedanklich als optisch. Es wurde kein be¬ 
stimmter Punkt fixiert. Die Bewegung gehörte mehr zur Vergegen¬ 
wärtigung des Tatbestandes. 

PII,„ Vp. 6, 24 Sek. Ich hatte so das Bewußtsein von Logik; 
ich hatte etwas Schematisches, nicht räumlich koordiniert, es war 
gewissermaßen eine Anderheit, eine andere Fläche vor mir; zuerst 
war nicht eine Fläche vor mir, sondern eine Anderheit, das ist der 
Repräsentant für das Logische. . . . Nun hatte ich formuliert: Aus¬ 
gehend vom Syllogismus. Ich hatte zunächst ein allgemeines Schema, 
woran ich mir das Schulbeispiel vergegenwärtigte; alle Menschen sind 
sterblich. Cajus ist ein Mensch, das hatte ich undeutlich in das 
Schema hineinlokalisiert. Ich bin nun von dem Schlußsatz zur 
zweiten Prämisse mit dem Bewußtsein, daß ich dieses eine und dann 
das andere induktiv finde. Dieses letztere habe ich nur schematisch 
gehabt, aber es wollte im Schema nicht so recht; als ich vom 
Schlußsatz zur zweiten Prämisse kam, störte mich etwas im 
Schema, etwas der Schlußstrich, es hat mich gestört, daß da oben 
kein Strich war, und das lenkte die Gedanken eben ab auf ein 
Schema der Induktion, das rechts auftaucht, sonderbarerweise war 
dieses Schema etwas nach links geneigt, da setzte der Gedanke von 
neuem an.. .. 

PIH 3 , Vp. 6, 23 Sek. Ich will doch nachprüfen, ich will ver¬ 
gegenwärtigen, was darunter zu verstehen ist, und heftete meinen 
Bück auf das Telephon, das bildete nun dasSymbol für meine Gedanken¬ 
konzentration. Zunächst >>formuliert« und »unformuliert« neben¬ 
einander stehend. Wie, weiß ich nicht, und während ich meine Auf¬ 
merksamkeit auf die Bedeutung der Worte richtete, verschwand die 
optische Grundlage dieser Worte, es war jetzt bloß noch ein allge¬ 
meines optisches Schema, und zwar stand in der Mitte das formulierte 
Denken und links davon das hypologische und das hyperlogische 
Denken. Ich richtete mich zunächst zum hypologischen Denken, und 
da kam so verschiedenes Ungeordnetes heraus, z. B. der Versuch, mir 
recht zu verdeutlichen, welches überhaupt der psychologische Zu¬ 
sammenhang der spezifischen Wortvorstellung mit der Wortbedeu¬ 
tung im Erdmannschen Sinne ist, und auch das Suchen danach, wie 
das unformulierte Denken psychologisch bei Erdmann beschrieben 
würde. Jedoch Wurde dieser Gedankenkomplex auf einmal zurück¬ 
gedrängt durch den Gedanken, ja, das hyperlogische Denken ist ja 
durchaus bestätigt, durch die Bühlersche Untersuchung. Gemeint 
war, daß das unanschauliche Denken im Denken überhaupt keiner 


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Ludwig Rangette, 


unanschaulichen Bestandteile bedürfe oder sie aufweise, also erst 
recht auch nicht anschaulicher Symbole bedarf; optisch repräsentiert 
war Bühler, er legte sich über dieses rechtsstehende Schema: Hypo¬ 
logisches Denken. Diese Worte waren nicht bewußt, sondern nur die 
Bedeutung, wohl aber das Wort Bühler mit einem zufriedenstellenden 
und bestätigenden Gefühlstone. Dann wandte sich der Gedanke 
von selbst nach links zum hypologischen Denken und da hatte ich das 
Wort Kinderpsychologie optisch vor mir, es legte sich auch darüber, 
gemeint war damit die Tatsache, die wir über die sprachliche Ent¬ 
wicklung kennen, daß nämlich ein Denken stattfindet, bevor das 
formulierte Denken erlernt worden ist. 

§ 5. Fixation (Externalisation der Gedanken). 

Auf die Fixation oder Externalisation von Gedanken hat schon 
Me sser aufmerksam gemacht 1 ), daher seien hier nur einige Proto¬ 
kolle angegeben. 

PII 4 , Yp. 4, IIV 6 Sek. Die Beziehung auf Baum und Zeit, die 
ich hörte, war eine Intention, die mir sehr geläufig war; ich weiß nicht, 
ob das räumlich ist, es ist äußerlich, ich lokalisiere die Gegenstände 
Raum und Zeit irgendwo hin, außer in mir, in einiger Entfernung von 
mir, da bin ich hingezogen. Indem ich diesen Punkt festhalte, denke 
ich an Raum und Zeit. 

PII 18 , Yp. 6, 12 Sek. Ich verdeutlichte mir noch einmal, daß 
Raum und Zeit nicht a priori sein können und hatte dann im Bewußt¬ 
sein, daß unser Raumbegriff aus zwei wesentlich voneinander ver¬ 
schiedenen Merkmalen bestehe. Die Aufmerksamkeit war geheftet 
auf das Fenster, es war aber nicht Repräsentant der Gedanken, es 
war der Fixationspunkt der Aufmerksamkeit, gewissermaßen das 
Symbol für dasjenige in meinen Gedanken, worum es sich handelte, 
so wie ich also auf diesen Punkt gesehen habe, repräsentiert er mir 
das, was ich in meinen Gedanken besonders beachtete, also eine inhalt¬ 
liche Beziehung ist nicht vorhanden. 

Germ. II 9 , Vp. 11, 5 Vs Sek. Mir war es, als ob man aus dem 
festhegenden Wissen, das ich mir früher erworben habe, neue Ge¬ 
sichtspunkte herauszufinden hätte, ich hatte die Romantik wie einen 
Gegenstand vor mir und suchte nach den Voraussetzungen der Ro¬ 
mantik, da fand ich sie in der Philosophie und sagte mir, das ist der 
erste Punkt, damit waren die Namen gegeben wie Schelling, Hegel, 
Fichte. Der Begriff Philosophie war auch hier räumlich lokalisiert. 


1) Archiv für die gesamte Psychologie, Band VIII, S. 160. 


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Unters. Aber die Psychologie des wissensch. Denkens anf exp. Grundlage. 207 

Dadurch wurde ein allgemeiner Gedankenkomplex ohne weiteres 
angelegt. 

Schlußbemerkung. 

Beim Vergleich des Schemas mit den Vorstellungen kann man 
fast sagen: die Schemen verhalten sich zu den Vorstellungen, wie diese 
zu der Empfindung. Es ist hier nicht der Ort, das Verhältnis von 
Vorstellungen zur Empfindung auseinander zu setzen. Wir wollen 
vielmehr nur zunächst die Ähnlichkeiten des Schemas mit der Vor¬ 
stellung, dann die Verschiedenheiten aufweisen. Die Ähnlichkeit 
liegt zunächst in der Anordnung der einzelnen Paragraphen und in 
dem Auftreten der Schemata innerhalb unseres Denkens. 

Wir können in Parallele stellen: 

Zu den begleitenden Vorstellungen Die Schemata beim reproduktiven 

Denken. 

Zu den einordnenden Vorstellungen Die ausfüllenden Schemata. 

Zu der immanenten Änderung mit Die Dynamik innerhalb der Denk- 
Einschluß der Dynamik prozesse. 

Zu den Vorstellungen als Repräsen- Die Schemata als Repräsentanten 
tanten und Symbolen und Symbole. 

Vorstellungen und Schemata treten unwillkürlich auf, sie können 
im Hinterbewußtsein vorhanden sein, sie können sich innerhalb der 
Prozesse entwickeln und sich geltend machen und längere Zeit im 
Bewußtsein bleiben. 

Die Verschiedenheiten sind äußerer und innerer Natur. 

I. Äußere Verschiedenheiten. 

1 ) In allen Fächern treten Vorstellungen auf, die Schemata mit 
ganz geringen Ausnahmen nur in der Philosophie 1 ). 

2 ) Die akustischen Vorstellungen fehlen in dem Schema ganz. 

3) Die optischen Vorstellungen sind, soweit sie geschildert werden, 
bei den Schemen sehr blaß und verschwommen. 

4) Den ablösenden und symbolischen Vorstellungen können wir 
keine ablösenden oder symbolischen Schemen gegenüberstellen. 

5) Vorstellungen können durch äußere Faktoren, z. B. durch die 
Aufgabe erregt werden, die Schemata nur innerhalb der Denkprozesse. 

6 ) Die Bewußtseinsstufen, die immanente Änderung und die 
Dynamik der Vorstellungen, die wir in drei getrennt gehaltenen Ab¬ 
schnitten behandelt haben, schrumpfen hier zusammen. 

1) Ob das nicht individuell bedingt ist, sei hier dahingestellt. 

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208 


Ludwig R&ngette, 


II. Innere Verschiedenheit. 

Die Schemen haben eine viel größere Beziehung zu unserem 
Denken und zu den Gedanken. Einfacheren Denkprozessen liegen 
einfache aus früheren Versuchen wohl bekannte Schemata zugrunde, 
die zuweilen nur flächenhaft vorgestellt werden. Bei komplizierteren 
Fragen, zumeist produktiven und kritischen Inhaltes, entsteht ein 
Schema innerhalb des Denkprozesses. Durch Hinzutreten einer 
»variabelen Tiefenkomponente« ist das Schema entwicklungsfähig 
und imstande, auch neue, originelle Gedankengänge zu umfassen. 
Was ich unter der »variabelen Tiefenkomponente« verstehe, ergibt 
sich direkt aus den Protokollen des § 4, wo die charakteristische 
Änderung des Schemas nur davon herrührt, daß dieVpn. etwa schil¬ 
dern: Das Schema verändert sich und verwandelt sich in ein Schema 
mit einer gemeinsamen Linie .. .; es hat sich auch ein räumliches 
Schema entwickelt .... ich war auf das Innere dieser Raumpunkte 
bezogen ...; Entwicklung nicht als logische Entwicklung, sondern 
auch als reale Entwicklung. Das war dadurch gegeben, daß die 
Zentren, mit Kraft begabt, aus sich herauswirkend aufgefaßt wurden. 
— Die Tiefenkomponente bildet auch, wie wir im folgenden Kapitel 
sehen, bei der Lokalisation eine wichtige Rolle, indem sie uns gerade 
die räumliche bzw. zeitliche Einordnung einer zusammenhängenden 
Gedankenkette vermittelt. Eine feinere Differenzierung der Be¬ 
ziehung des Denkens zu den Schemen scheint mir zur Zeit noch 
unmöglich. 

Kapitel UI. Die Lokalisation. 

Zur Einführung. 

Es fragt sich in diesem Kapitel, wie die räumlich-zeitliche Ein¬ 
ordnung eines Gegenstandes — wir nennen sie kurz Lokalisation — 
in unseren Versuchen geschildert wird. Bei einer vorläufigen Beant¬ 
wortung dieser Frage können wir sagen: Die Lokalisation ist wohl 
bei allen Vpn. wesentlich dieselbe, nur der in dieser Lokalisation ge¬ 
dachte Inhalt ist je nach dem Wissensgebiet verschieden. Schildert 
mir der Historiker bei einer Frage nach der Gesetzgebung Solons eine 
räumlich-zeitliche Beziehung nach Griechenland, so ist die Beschrei¬ 
bung dieser Beziehung fast gleich der des Philosophen, der über den 
Hauptinhalt des Theätet Auskunft geben soll. Es sei bemerkt, daß 
im folgenden unter Lokalisation sowohl räumliche wie zeitliche Ein¬ 
ordnung zu verstehen ist. Als Wissensgebiete kommen hier in Be¬ 
tracht: Die Geschichte, Literatur- und Sprachgeschichte und Ge¬ 
schichte der Philosophie. 


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Untere, über die Psychologie des wissenseh. Denkens auf exp. Grundlage. 209 


§ 1. Das historisch-geographische »Schema. 

Den Übergang vom Schema zur Lokalisation bildet das historisch¬ 
geographische oder zeitlich-geographische Schema. Was darunter 
zu verstehen ist, ergibt sich unmittelbar aus den einzelnen Proto¬ 
kollen, wo direkt von einem zeitlich-geographischen Schema die Rede 
ist; der Übergang ist auch dadurch gegeben, daß hier nur Protokolle 
aus dem philosophischen Gebiete angeführt werden. 

P IIx 4 a> Vp. 4, 13 2 /5 Sek. Ich suchte mir ein »Schema zurecht zu 
legen, was ich benutzen kann; zur Geschichte der Philosophie war das 
Schema Altertum—Neuzeit, hier war keine bestimmte Wissenschaft 
gemeint, sondern was ich vom Altertum weiß, ich verhalte mich mehr 
passiv, die Vorstellungen und Gedanken sollen von selbst auftauchen, 
es ist hier wie häufig im Schema, ich sehe beim Altertum nach links 
und dieses bedeutet südlich, bei der Neuzeit schaue ich mehr nach 
England, Holland, hier spezialisiert sich die Geschichte. 

PIi.Vp.4, 5 Sek. Wieder Bekanntheitseindruck und gleich die 
Richtung wieder so nach links und hinten. Die Skeptiker haben 
ihren Platz in einer nicht linearen, sondern mehr flächenhaften An¬ 
ordnung; der Streifen gibt mir die Möglichkeit, mehrere Zeitgenossen 
nacheinander zu lokalisieren und verschiedene Richtungslinien laufen 
zu lassen. Von diesen Richtungslinien war aber gar nichts gegeben, 
vielmehr nur: das sind die Skeptiker. Die Skeptiker sind nach 
Sokrates und weiter hinter den Streifen kommen die »Sophisten, ich 
hatte nur die Richtung dahin gehabt. 

PI 9 ,Vp. 6,6 Sek. Ich vergegenwärtigte mir zunächst, was unter 
»Syllogismus bei Aristoteles zu verstehen sei, dann hatte ich ein all¬ 
gemeines Wissen um die Lehre der Skeptiker, es war ein Gerichtet¬ 
sein auf die griechische Philosophie, auch Aristoteles im Zusammen¬ 
hang mit der griechischen Philosophie, es war nach einem gewissen 
Schema lokalisiert, darüber kann ich nichts mehr angeben, es war so 
ein zeitlich geographisches Schema vorhanden. 

PI 8 , Vp. 6, 14 Sek. Sofort kam der Name Giordano Bruno aku¬ 
stisch und optisch; ich hatte zur gleichen Zeit ein Bedeutungsbewußt- 
-sein, ich wußte bestimmt, welcher Art seine Philosophie war, seine 
Naturphilosophie, sein Denken als verschwommen, mehr dichterisch 
als systematisch; das war mir nicht genug. Dann kam sofort Sanchez 
ohne Bedeutungsbewußtsein; ich suchte weiter und mein Blick 
richtete sich nun immer bestimmter auf das geographisch historische 
»Schema, in diesem Fall Italien. . . . 


Archiv f&x Psychologie, XXXVI. 


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210 


Ludwig Rangette, 


§ 2. Räumliche Lokalisation. 

Die Vpn. der Germanistik und Geschichte reden bei den in § 1 
angegebenen Fällen nur von einer räumlichen Lokalisation. Es muß 
hier die Ähnlichkeit und Geläufigkeit der Schilderung auffallen. Die 
Vpn. sprechen von einem Mittelding zwischen Kartenbild und Wirk¬ 
lichkeit; immer ist die Lokalisation für unser Bewußtsein dreidimen¬ 
sional, während das Schema auch flächenhaft vorgestellt werden 
kann. Schon nach den ersten Versuchen wird selbst von ungeübteren 
Vpn. von der Lokalisation berichtet, obwohl sie vor den Versuchen 
nichts von ihrem Vorhandensein gewußt haben. Bei geübten Vpn. 
(Vp.4 letztes Protokoll) braucht die Lokalisation überhaupt nur eben 
angedeutet zu sein, trotzdem können sie rückschauend die Einzel¬ 
heiten derselben schildern. Es ist dieses für die Fruchtbarkeit der 
psychologischen Methode von großer Bedeutung; denn dadurch, 
daß innerhalb des Denkprozesses eine Komponente, die anfänglich 
sehr lebhaft zum Bewußtsein kam, allmählich nur eben beachtet, aber 
dennoch als wichtiger Bestandteil unseres Erlebnisses erkannt wird, 
können andere Bewußtseinsinhalte während des Prozesses beachtet 
und rückschauend geschildert werden. Die drei angeführten Proto¬ 
kolle aus der Germanistik zeigen deutlich den allmählichen Übergang 
vom räumlichen Schema zur Lokalisation; Vp. 7 schildert am eigen¬ 
artigsten die Lokalisation, daher seien von ihr zwei Protokolle ge¬ 
geben; das letzte Protokoll soll dartun, daß bei geübten Vpn. die 
Lokalisation nur eben angedeutet zu sein braucht. 

Germ. I 6 , Vp. 3, 10y 5 Sek. Komisch war das Vergleichen der 
Mundarten mit dem Hochdeutschen, ganz abstrakt, es war so lokali¬ 
siert zwischen Heidelberg und Würzburg, weiter weiß ich nichts 
darüber, es war als ob ich etwas Handgreifliches hätte, was ich zu 
vergleichen hätte, klarer kann ich es nicht näher beschreiben, ich 
habe es wie etwas Räumliches nebeneinander gehalten. 

Germ. II 9 , Vp. 3, 10 Sek. Es tauchte mir die Reise auf, die Tieck 
mit seinen Freunden machte, dann tauchten Goethe und Schiller auf, 
dabei stellte ich mir meine Wanderung etwas vor, so zwei Gestalten, 
die sich bewegten, und hatte die beiden Gestalten nach Weimar loka¬ 
lisiert, jedoch unbestimmt, hiermit war mir die ganze von Goethe 
und Schiller geschaffene geistige Lage aiverct. 

Germ. II 6> Vp 8, 0 1 / 5 Sek. Damit kam mir das höfische Epos 
in den Sinn, es war aber nur so ein großer Gedankenkreis, mit dem 
höfischen Epos war sofort eine Lokalisation nach Westen nach 
Frankreich und weiter nach Spanien verbunden. Ich hatte so un- 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. DenkenB auf exp. Grundlage. 211 

bestimmte Grenzen zwischen Spanien und Frankreich, sah wenig, 
eben nur angedeutet, nur einen Strich, daran erkenne ich rück¬ 
schauend die Pyrenäen, hiermit war mir das Bewußtsein gegeben: 
Parsival. . . . 

G I lf Vp. 7, 10 V 6 S e k:- Ich habe räumlich lokalisiert Mittel- und 
Oberdeutsch, es war der Gedanke an die geographische Lage; es war 
eigenartig: ich stelle mir keine Karte vor, keinen Boden, sondern 
etwas Sonderbares; es war so als ob man in der Bewegung steht, und 
man ist von der Überzeugung durchdrungen, in dem und dem Strich 
liegt es. Bei Jerusalem habe ich auch eine geographische Lokalisation 
gehabt. Mir schien die Sache klarer, es war mir, als ob ich in Europa 
stände, das ich aber nicht überblicken kann, und mir sagte, in dieser 
Richtung liegt es. 

G II 1# Vp. 7, I 6 V 5 Sek. Ich dachte zunächst an Papst-Urkunden, 
schließlich an Reichstagsbeschlüsse. Bei dem Reichstage war eine¬ 
örtliche Festlegung, die sich auf das südwestliche Deutschland er¬ 
streckte. Ich glaube, daß ich an Worms gedacht habe, es ist dieses 
ein ganz besonderes Gefühl, oder wie man es sonst bezeichnen soll. 
Ich glaube, daß es mit dem Gesichtssinn zusammenhängt. Es ist 
vielleicht ein oberflächliches Hinwegsetzen über eine Landschaft, ein 
genaues Bild der Landschaft erhielt ich nicht, ich sah so eine Gegend 
und hatte dabei das Bewußtsein: das ist Südwestdeutschland, aber 
ich bestimmte es nicht näher. 

P I 2 , Vp. 4, G 3 / 6 Sek. Das ist mir auch räumlich repräsent, habe, 
wenn ich an griechische Philosophie denke, immer so etwas Räum¬ 
liches; dieses Mal kann ich nicht genau sagen, wie es war; vermute 
aber, daß es eine räumliche Beziehung auf Griechenland ist, so etwas, 
wenn ich herüberblicke auf einer Karte von Deutschland nach Grie¬ 
chenland. Ich sehe Griechenland im Westen, damit kommt das Be¬ 
wußtsein von der Wichtigkeit des Theätct. Es kam mir der Begriff 
Erkenntnistheorie, den ich nicht weiter verfolgt habe. 


§ 3. Zeitrepräsentation. 

Zumeist in der geschichtlichen Disziplin wird durch die Aufgabe 
eine genauere Vergegenwärtigung der Zeit verhält nisse verlangt. Diese 
Vergegenwärtigung geschieht oft nicht in einem besonderen Akt, 
sondern durch das Denken werden schwache Vorstellungen, Gedanken 
(oder auch rein schematisch) hervorgeholt, die, eigentümlich gefärbt, 
der Vp. sofort das Bewußtsein von der betreffenden Zeitperiode gibt. 
Zuweilen wird die Zeit als solche auch räumlich vorgestellt; man 
könnte direkt von einer zeitlichen Lokalisation sprechen. Sie unter- 


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212 


Ludwig Rangette, 


scheidet sich von der räumlichen dadurch, daß die Tiefenkomponente, 
die dort für unser Bewußtseinserlebnis ein Mittelding zwischen der 
anschaulichen Wirklichkeit und einem nur flächenhaft vorgestellten 
Kartenbild schuf, hier der zeitlichen Orientierung dient. Die Protokoll¬ 
angaben sind origineller und individueller als die Angaben bei der 
Lokalisation, was ja auch selbstverständlich ist, denn jede Vp. benutzt 
zur räumlichen Lokalisation entweder eine Beziehung der gegen¬ 
wärtigen Lage zu dem betreffenden Lokalisationsort oder ein Karten¬ 
bild. Das Hervortretenlassen, Deutlicherwerden, die Charakteri¬ 
sierung eines Zeitabschnittes hängt mehr von dem Wissen und von 
individuellen Faktoren der Vp. ab. Die vier ersten Protokollangaben 
der Vp. 7 und Vp. 9 sollen dartun, daß beide Arten der Zeitrepräsen¬ 
tation bei einer Vp. Vorkommen können. Die anderen Aussagen geben 
uns ein Bild von der Mannigfaltigkeit in der Schilderung der zeit¬ 
lichen Repräsentation, wo besonders das letzte Protokoll unser 
Interesse in Anspruch nimmt, weil hier der zeitlichen Lokalisation 
dieselbe Rolle für unser Denken zukommt wie den einordnenden 
Vorstellungen. 

GIII 4 , Vp. 7, 8 Sek. Es war für mich Tatsache, daß das Kausal¬ 
gesetz Anwendung finde, es war mit einem Lustgefühl verbunden, 
es ist das Gefühl, daß ich überzeugt bin, die Frage lösen zu können. 
Bei dem Ganzen war ein Gefühl, als ob die Sachen so einige Zeit 
zurücklägen. Ich könnte die Zeit beinahe das Mittelalter nennen, 
es war immer so, daß sich eine bestimmte Bewußtseinstatsache 
hervordrängt. Dann konzentriert dieses sich um die Persönlichkeit 
eines Kaisers, ich habe nicht die Empfindung, daß es sich um einen 
bestimmten Vorgang oder bestimmte Kaiser handelte, es war mehr 
eine typische Erscheinung. 

G II 5 , Vp. 7, 6 x / 6 Sek. Die Vorstellung der beiden Hälften des 
Jahrhunderts war wie so eine räumliche Teilung der Zeit. Ich kann 
nicht sagen, daß es eine gezeichnete Linie war. Es war so, daß das 
17. Jahrhundert als eine Strecke mit zwei Grenzen aufgefaßt war. 
Dann war bei 30jährigem Krieg die Vorstellung von zwei Grenzen, 
deren Zwischenraum gedrängt gefüllt war. Dieses bedeutete den 
Inhalt des 30jährigen Krieges, hingegen machte der andere Teil den 
Eindruck der Leere. Ich meine, es hatte auch so etwas mit einer 
Färbung zu tun, wobei der erste Teil etwas dunkler gefärbt war, als 
der zweite. 

G II 6 , Vp. 9, 8 Sek. Dann kam mir die französische Revolution. 
Es fiel mir ein, das 17. Jahrhundert ist doch etwas anderes; es war 
dieses nicht eine direkte Lokalisation wie gewöhnlich, es war nur 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 213 

halbwegs eine Lokalisation. Es spielte gleich hinein, beeinflußt von 
Ludwig XIV., also die Zeit des Absolutismus, dann wie er auf die 
deutschen Fürsten eingewirkt hat, dann stieß ich auf Friedrich den 
Großen, aber bewußt, daß dieser anders war als Ludwig. 

G II 9 , Vp. 9, 20V6 Sek. Als es mir gelungen war, bin ich auf den 
Begriff der Reformation eingegangen, Jahreszahl ist mir nicht zum 
Bewußtsein gekommen, die Zeit war nur als Komplex gegeben. 

GIII 4 , Vp. 2 , 3 Sek. Bei Reformation trat eine Persönlichkeit 
in den Vordergrund, gemeint war damit Luther, ganz schwach optisch, 
eine große Gestalt, die für mich die Reformation repräsentiert; bei 
französischer Revolution mehr das Geschehen ganzer Völker, nicht 
einzelne Personen zu sehen. 

G I 4 , Vp. 2 , 17 Sek. Zuerst ein längeres Besinnen, ob das nicht 
ein Versprechen sei: Wormser Konkordat. Ich dachte, es muß eine 
Entscheidung der religiösen Konfession in Deutschland sein, ich 
wußte, daß eine ganze Reihe von Konkordaten gehalten wurden, ich 
konnte mich nicht richtig einstellen, ich versuchte es, es war so eine 
Art Herumtragen mit diesem Namen, ob es nicht irgendwo hinein¬ 
passe; ich hatte die Empfindung des unstetigen Wandems hin und 
her und dieses trat zugleich stark hervor, es war dabei Unlust be¬ 
tonend, besonders wegen dieses Schwankens. 

Germ. III 3 , Vp. 8 , 13 Vs Sek. Die Zeit Goethes war charakte¬ 
risiert durch Gedanken an die Romantik und Heine. 

Germ. II 6 , Vp. 11 , 5 3 / 6 Sek. Als ich die Frage verstanden hatte, 
wurde sie so eingeordnet in das Gebiet der großen Literatur, es ist 
sofort die Zeit gegeben, worin das Ganze spielt; das war für mich so 
gefühlsmäßig. Ich lokalisiere optisch in einem bestimmten Buch, 
das Buch wird nicht vorgestcllt, es ist so, als ob man ein Buch durch¬ 
blättert. 


§ 4. Die Ausfüllung von Zeitabschnitten. 

Oft handelt es sich in den einzelnen Gebieten nicht nur darum, 
eine bestimmte Zeitepoche zu charakterisieren, sondern es wird etwa 
in der Philosophie die geschichtliche Entwicklung irgend eines Pro¬ 
blems, in der Literatur die Einordnung eines Dichters in eine noch 
nicht näher angegebene Zeitepoche verlangt. In allen diesen Fällen 
haben wir es mit der Ausfüllung eines größeren Zeitraumes zu tun. 
Das Wort »Zeitraum« weist auch darauf hin, daß hier nicht nur die 
zeitliche Ausfüllung verlangt wird, sondern auch eine Orientierung 
im Raum; wir haben demnach eine Verknüpfung von räumlicher und 
zeitlicher Lokalisation, was in manchen Fällen, wenn diese Ver- 


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Ludwig Bangette, 


knüpfung im Prozeß erlebt wird, zu einer Verschmelzung von Raum 
und Zeit führen kann. Es ist besonders bemerkenswert, wie genau 
die einzelnen Epochen geschildert werden, ein Zeichen, daß sie oft 
im Denken benutzt werden. 

Germ. I 7 , Vp. 8, 16 Sek. Zufällig fiel mir der Name Platen ein, 
nun sagte ich mir, das ist nicht der erste gewesen, die anderen Namen 
kamen in sukzessiver Reihenfolge, die chronologisch verläuft. Wenn 
ich einen Dichter sage, habe ich direkt im Bewußtsein gegeben, in 
der und der Zeit hat er gelebt, ich weiß dieses, es ist schwer zu schil¬ 
dern, ich denke mir ungefähr eine Zeit, um welche er gelebt -hat, es 
sind allgemeine Zahlen: so um 1800. Geprüft habe ich ungefähr bis 
Haller, ich vergegenwärtige mir die Namen der einzelnen Werke, 
ohne weiter auf den Inhalt Rücksicht zu nehmen, nur was für ein 
Versmaß er angewandt hat. 

Germ. 1 3 , Vp. 3, 8 Vs Sek. Ich ging zunächst zum ganz modernen 
Roman über, stellte mir nichts im einzelnen vor, es war wieder so ein 
optisches Überspringen eines Zeitraumes, daß ich am Ende des 
19. Jahrhunderts anlangte. Ich hatte also im Bewußtsein nichts 
weiter, als diese zeitliche Vorstellung, ich habe so den Eindruck, als 
ob durch Striche das Jahrhundert getrennt ist, ich hüpfte nun zum 
19. Jahrhundert und hatte das Bewußtsein, es wäre wohl recht 
schwierig, den modernen Einfluß festzustellen. Dann machte ich 
mir klar, daß wohl die ganze Romanentwicklung naturalistisch sei, 
habe mir die Worte modern, naturalistisch nicht klar gedacht, auch 
nicht die Bedeutung, sondern so ein gewisser Gefühlszustand. Ich 
hatte das Bewußtsein, daß ich von hier aus irgendwie eine Antwort 
finden könnte. 

GI 2 , Vp. 9, 6Vs Sek. Mit den beiden Wörtern: Italienisch, 
germanisch war ohne weiteres verbunden, daß es sich um die Zeit 
der Völkerwanderung handele, und nun habe ich versucht, von den 
verschiedenen Reichen, die da entstanden sind, das erste heraus¬ 
zufinden. Es kam mit das Wort Langobarden in den Sinn, die ein¬ 
zelnen Völker, die in Italien gewesen sind, habe ich vergnüglich 
spazieren lassen, gesehen habe ich sie nicht, ich drücke mich nur so 
aus; das Wort Langobarden hob sich ohne weiteres heraus und damit 
verband sich die Zeit 568 so herum, sofort ohne weiteres Besprechen 
war ich gleich an den Anfang der Völkerwanderung gesprungen. Ich 
sagte mir ein allmähliches Zurückwandem führt nicht zum Ziel, geh 
an den Anfang zurück. 

G I 2 , Vp. 2, 9 l /ö Sek. Als ich die Frage hörte, war gegeben die 
Karte von Italien mit einer kinästhetischen Empfindung, daß die 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 215 

Gerinanenzüge von Norden nach Süden gingen: ich sah es umgekehrt, 
wie von der Karte und hatte das Gefühl: da sind sie gezogen; es war 
sofort der Name Albuin. Ich sagte mir, Albuin kommt erst später. 
Albuin war sofort assoziativ mitgegeben. Ich dachte an die Zeit¬ 
tafel, es war gedruckt vorgestellt; ich sah das Wort Albuin gedruckt, 
ich hatte keine Erinnerung an die geschichtlichen Geschehnisse. 
Dann wanderte ich deutlich rückwärts, ich hatte eine Bewegung 
gehabt, es war so wie eine Gehempfindung, aber ich selbst blieb doch 
stehen. Es war optisch vor mir, es war, als ob ein Vorhang weg¬ 
ging. Da fiel mir von selber ein das Reich von Odoaker; das war auch 
wieder auf der Karte gegeben. 

PIn,Vp.4, 4 l / 6 Sek. Das klang sehr fremd, ich war sofort auf 
Kant gezogen; dann gehe ich zu Aristoteles über, dachte, wo mag 
das wohl sein. Ich ging nochmals rückwärts von Kant, dachte 
Leibniz, ja, vielleicht wird es noch weiter zurückliegen. Descartes 
kam mir noch, ich fand da direkt gar nichts, was ich Vorbringen 
konnte und sagte nein. . . . Alles war räumlich nach Aristoteles 
zurückgehend, das sehr weit nach links und von mir ab, dann zurück 
zu Leibniz und von Kant auch nach links. Das Hinausgehen nach 
Descartes war nach vorne, links von Leibniz. Es vermischen sich 
merkwürdig die Zeit mit dem Ort, ich glaube, daß ich hierbei mich 
bewegt habe, doch weiß ich es nicht genau. 

§ 5. Lokalisationswechsel. 

Durch die Aufgabe bedingt, wird manchmal innerhalb der Pro¬ 
zesse ein mehrfacher Wechsel von räumlicher und zeitlicher Lokalisa¬ 
tion vorgenommen. Oft ist dieser Wechsel derart lebhaft, daß 
wir, wie ja schon die letzten Protokolle des § 4 gezeigt haben, von 
einer räumlichen und zeitlichen Wanderung sprechen können. Es 
muß uns hier die Länge der Protokolle und die Treue in der Wieder¬ 
gabe des Erlebnisses auf fallen. Vp. 11 spricht sogar (Protokoll 2) 
von einer Resultantenbildung, die von einer räumlichen und zeit¬ 
lichen Komponente verursacht wurde. Beim Vergleich der Protokolle 
untereinander finden wir auch eine große Übereinstimmung in der 
Schilderung. Nach Abschluß der Versuche habe ich einer Vp. einige 
darauf bezügliche Protokolle einer anderen Vp. vorgelesen und jene 
sagte aus: eigentümlich! genau so hätte ich es auch schildern können. 

PI 8 , Vp. 4,11 Vß Sek. Ich habe zunächst eine Hinwendung nach 
Frankreich gehabt nach dem Verstehen der Frage. Ich meinte die 
Gruppe um Montaigne, ohne Worte zu hören. Dann energische 
Wanderung nach Italien mit dem Gedanken, dort ist ja der Ursprung. 


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Ludwig Rangette, 


Da verweilte ich denn und es hob sich so heraus: Gruppenbewußtsein 
der Erneuerung von Aristoteles, Platonismus, Bewußtsein, daß einer 
den Namen Platons umgestaltet hat, und da dachte ich, ich könnte 
einige nennen. Über diese Hinwendung sagt Vp. aus, die erste nach 
Frankreich war von meinem Platze aus, und zwar bedeutet mir i mm er 
links unten die Richtung nach Südwesten, von da aus zurück, das 
war die zweite Wendung im wesentlichen östlich, also von unten 
zurück. 

Pin, Vp. 2, 7 3 / 5 Sek. Es spalteten sich zwei Begriffe. Ich 
wollte zuerst suchen, wo der Gedanke vorhanden und wo der Terminus 
da ist. Bei beiden war als Gegensatz der Raum als Form des äußeren 
Sinnes. Ich glaube nun bei Tetens auch schon diesen Begriff ge¬ 
funden zu haben und ebenso bei Chr. Wolff. Dann fragte ich mich 
plötzlich, ob das nicht schon früher vorkommt; das ist doch eine 
Unterscheidung, die in der Scholastik eine große Rolle spielt. Ich 
beschäftigte mich mit Descartes: dann ging es noch weiter zurück 
auf Augustin. Dann gab ich die Sache auf, habe auch an die griechische 
Philosophie gedacht, dann kehrte ich am Ausgange zurück und 
fragte nun nach der sachlichen Unterscheidung und habe eine ähnliche 
Wanderung noch einmal gemacht. Dabei war der Gedanke vor¬ 
handen, daß er zurückgehe, solange man zwischen äußerer und 
innerer Welt unterschieden hat, da wanderte ich wieder zurück gegen 
die Kantische Zeit zu und sagte mir: Als spezielle Form des inneren 
Sinns kann es noch nicht lange sein. Da kam mir noch Locke deut¬ 
lich zum Bewußtsein, auch die Überschrift, daß er über den inneren 
und äußeren Sinn handele, so schloß ich denn, sicher kann ich es 
nicht angeben. Die Vergangenheit war von mir aus zum Hinter¬ 
grund und scheint mir eine Resultantenbildung zu sein aus der einen 
Richtung von rechts nach links, welche die Entfernung nach vor¬ 
wärts bedeutet, und einem Schema, das einfach die Entfernung von 
meiner Zeit, von mir selbst bedeutet und durch eine Linie von mir 
ausgehend in den Hintergrund sich zieht. Die Philosophen sind 
einfach an den verschiedenen Punkten da, das Zeitschema war unter 
dem Gesichtspunkt der Philosophie gegeben. Augustin war im 
Schema in einem scharf ausgeprägten Wendepunkt, das bedeutet 
die alte und neue Zeit. Ich kann nachträglich angeben, daß dieses 
bei mir immer der Fall ist; die Linie hat hier einen Punkt und dieses 
bedeutet zugleich eine Wendung. 

GIII 3 , Vp. 7, 9 Sek. Zunächst das Bewußtsein des Deutschen 
Reiches. Ich hörte römisches Reich und damit war die Vorstellung 
des alten Römerreiches verbunden und auch die Zeit der Lokalisation. 


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Unters, über die Psychologie des wissenßch. Denkens auf exp. Grundlage. 217 

Dann kam dieses »deutsche Nation« und damit wurde die örtliche 
Lokalisation und die zeitliche auf einmal vollständig verändert und 
die Sache ging nach dem Mittelalter über und die örtliche Vorstellung 
war Deutschland. Bei dieser Lokalisation war mir die Vorstellung 
des Landes so eine Reliefkarte einer großen wirklichen Darstellung, 
so wie ich die Menschen, das Leben der Völker aus der Naturgeschichte 
kennen gelernt habe. Nun ging ich an die Beantwortung der Frage. 
Da vollzog sich eine nochmalige Umstellung der zeitlichen Lokalisa¬ 
tion, indem das Ganze wieder zurückgeschoben wurde in die Zeit des 
Entstehens des Deutschen Reiches. Dann kam der Gedanke an die 
Kaiserkrönung Karls des Großen, und da sagte ich mir denn auf 
Grand dieses Vorgangs, daß das heilige römische Reich eine Fort¬ 
setzung des früheren Reiches genannt werden könnte. Aber wieder 
sagte ich mir, daß es in anderer Hinsicht, was das Reich selbst an¬ 
belangt, nicht als Fortsetzung des Reiches gelten könnte. Damit 
war eine deutliche örtliche Lokalisation zu bemerken, je nachdem 
ich an das römische Reich dachte, oder an die deutsche Nation. Es 
wechselte also gewissermaßen; es war so wie ein Vergleich, zwischen 
diesen beiden, Örtlich getrennten Gebieten. Das alte Römerreich 
mehr in Italien, das Deutsche Reich diesseits der Alpen, und auf 
Grund d'eses Vergleiches fällte ich das Urteil. 


SchluBbemerkung. 

Wir können also kurz resümieren. Die geographisch-geschicht¬ 
liche Auffassungsweise ist die räumliche und zeitliche Lokalisation, 
deren Schilderung bei der räumlichen Lokalisation fast bei allen Vpn. 
gleich, bei der zeitlichen Lokalisation jedoch mehr individualisiert ist. 
Wozu sollen wir nun die Lokalisation rechnen? Sicherlich doch zu 
den Vorstellungen, denn hin und wieder werden ja von den Vpn. 
schwache optische Vorstellungen als im Bewußtsein vorhanden ge¬ 
schildert. Die Lokalisation ist allerdings durch unser Denken oder 
durch frühere Gedankengänge angelegt worden: Gedankengänge, 
insofern sie in räumlich-zeitlicher Beziehung stehen, benutzen immer 
wieder dieselben früher angelegten Wege, die manchmal sogar als 
schwache optische Vorstellungen geschildert werden. 

Wir wollen kurz die Unterschiede zwischen Schema und Loka¬ 
lisation feststellen. Das Schema ist entwicklungsfähig. Beim repro¬ 
duktiven Denken wird es flächenhaft oder auch starr räumlich vor¬ 
gestellt; innerhalb eines komplizierteren Denkverlaufes zumeist nach 
produktiven und kritischen Fragen wird das räumlich vorgestellte 
Schema durch Hinzutreten dynamischer und kinäsfhotischcr Faktoren 


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Ludwig Rangelte, 


modifiziert. Dies hat zur Folge, daß in unserem Bewußtsein an¬ 
geregte Gedanken in Beziehung untereinander treten, woraus neue 
Gedankenkombinationen resultieren. Die Lokalisation wird dahin¬ 
gegen von vornherein räumlich vorgestellt; die Tiefenkomponente 
bewirkt hier eine räumliche oder zeitliche Einordnung früherer 
Gedankengänge. Die Protokollangaben sind zwar bei der zeitlichen 
Lokalisation individueller gefärbt und werden beim Lokalisations¬ 
wechsel sehr detailliert geschildert, trotzdem kann die Lokalisation 
ähnlich wie das Schema des Kapitels II § 2 nur als Stütze bei repro¬ 
duktiven Denkleistungen in Betracht kommen. 

Es wird dem Leser beim Studium der zahlreichen Protokolle viel¬ 
leicht eine Beziehung zu den mnemotechnischen Systemen alter und 
neuer Zeit aufgefallen sein, wo die Behauptung aufgestellt wird, daß 
das spätere Reproduzieren einer Reihe heterogener Elemente durch 
bewußtes Stiften von räumlicher und zeitlicher Lokalisation erleichtert 
wird. Können wir auf Grund unserer Versuche zu dieser Behauptung 
Stellung nehmen? Frühere experimentelle Untersuchungen haben 
zunächst gezeigt, daß eine räumliche Einordnung von Gegenständen 
nur bei Vpn. mit optischem Vorstellungstyp geschildert wird. Das 
vorliegende Kapitel belehrt uns, daß das Reproduzieren von früher 
erlernten, geschichtlichen Tatsachen durch räumliche und zeitliche 
Lokalisation erleichtert wird; jedoch in keinem Protokolle auch nur 
einer einzigen Vp. hat sich gezeigt, daß zur Unterstützung des Ab¬ 
laufs sich während der Reproduktion eine Lokalisation gebildet hat, 
ähnlich wie beim produktiven und kritischen Denken innerhalb des 
Prozesses ein Schema entstand und sich entwickelte; sondern die 
Lokalisation liegt überall dem Gedankenstrome zugrunde. Es kann 
sich auch nicht um ein bewußtes, früheres Bilden der Lokalisation 
handeln, denn auch die weniger in der Selbstbeobachtung geübten 
Vpn. schilderten schon nach einigen Vorversuchen recht deutlich die 
Lokalisation und gaben nachträglich ohne Befragen ihrer Verwunde¬ 
rung Ausdruck, daß die Lokalisation so oft im geschichtlichen Denken 
auftritt, ohne daß sie es früher wußten. Ohne langwierige Denk¬ 
arbeit hinterlassen demnach geographisch-geschichtliche Studien 
in unserem Bewußtsein eine Spur — eben die Lokalisation — bei 
einer späteren Reproduktion werden nur die Gedankenzusammen¬ 
hänge geschildert; in unseren Versuchen, wo infolge der Instruktion 
neben der Reproduktion die Komponente der Selbstbeobachtung 
hinzutrat, wurde auch die räumliche bzw. zeitliche Unterlage ge¬ 
schildert; aber eine später zu reproduzierende Gedankenreihe läßt 
sich nicht ohne weiteres, höchstens auf Kosten einer größeren Denk- 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 219 

arbeit durch bewußtes Stiften einer Lokalisation einzwängen, ge¬ 
schweige denn eine Anzahl unzusammenhängender Elemente. Wir 
können also auf Grund unserer Versuche kurz resümieren: Abgesehen 
von einzelnen Fällen ist es nicht zweckmäßig, sich allgemein dieses 
mnemotechnischen Hilfsmittels zu bedienen. 

Wir können auch jetzt der Frage näher treten, weshalb in der 
Mathematik die feinere Entwicklung der Vorstellungen stattgefunden 
hat. Es scheint, der Grund ist darin zu suchen, daß in dieser Disziplin 
die Lokalisation und das Schema ganz fehlen und zum Ersatz dafür 
eine feinere Ausgestaltung der Vorstellungen eingetreten ist. Wir 
haben hier ein ähnliches Prinzip der Kompensation, wie wir es in der 
Physiologie haben. Wir haben aus unseren Protokollen gefunden, 
daß dem Mangel an Lokalisation und Schemata in der Mathematik 
durch eine feinere Nuancierung der Vorstellungen abgeholfen wird. 
In der Philosophie, wo die Vpn. nur selten einordnende und begleitende 
Vorstellungen schildern, wird um so häufiger ein Schema verwandt. 
Ich möchte diese Tatsache das Gesetz des Ausgleiches der elementaren 
Inhalte nennen. Hierüber genauere Nachweise zu erbringen, wird 
Aufgabe der späteren Ausführungen sein. 

Kapitel IV. Zar Psychologie der Gedanken. 

Zur Einführung. 

Die elementaren Inhalte, die im Denkprozesse auftreten, sind Vor¬ 
stellungen, Schemata (Lokalisation) und die Gedanken. Während die 
Vorstellungen besonders im mathematischen Denken eine Hauptrolle 
spielen, die Schemata in der Philosophie und die Lokalisation in der 
geschichtlichen Disziplin, treten fast gleichmäßig verteilt in allen 
von mir untersuchten Fächern trotz der mannigfachen individuellen 
Unterschiede als integrierender Bestandteil im Denkprozesse die 
Gedanken auf, das sind die unanschaulichen Inhalte. Vorstellungen 
und Schemata stehen im Dienst der Gedanken, sie können, je nachdem 
es die Gedankenkonstellation notwendig macht, nur als begleitende 
Momente im Denkprozeß auftreten. In anderen Fällen bringen sie 
dem Bewußtsein die Aufgabe näher, sie bilden oft den Übergang 
mehrerer Gedanken oder repräsentieren auch irgend einen größeren 
Gedankengang. Dieser Variabilität steht also die Stabilität der Ge¬ 
dankengänge gegenüber; aber innerhalb eines komplizierten Denk¬ 
prozesses, wo eine Lösung oder eine kritische Beurteilung verlangt 
ist, wird auch der Gedanke modifiziert. Das Aufkommenlassen, die 
Entwicklung, die Auswahl, die Hervorhebung oder Unterdrückung 


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Ludwig Rangette, 


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eines Gedankens ist abhängig von der Aufgabe. Hinzu kommt aber 
noch, und daraus geht die Priorität der Gedanken gegenüber den Vor¬ 
stellungen am besten hervor, daß die Gedanken in engster Be¬ 
rührung und Beziehung mit den spezifisch-psychischen Vorgängen 
stehen. Durch die Gedanken wird der Wille erregt, wobei vielfach 
noch eine Motivation durch die Gefühle vorangeht, ethische Fragen 
werden wach gerufen und in einzelnen Fällen werden ästhetische 
Momente ausgelöst. Die gestellte Aufgabe, wie die spezifisch¬ 
psychischen Vorgänge modifizieren also den Gedanken, der anderer¬ 
seits Vorstellungen und Schemata, deren Entstehungsursache die 
Wahrnehmung ist, nach dem später zu erörternden Prinzip der 
Ökonomie in seinen Bereich aufnimmt. 

Aber nun erhebt sich die Frage, wenn es wirklich eine vollständig 
unanschauliche Repräsentation von Gegenständen gibt, wie wird 
dieselbe erkannt und von den Vpn. geschildert? Die Beantwortung 
kann kurz sein, denn die zahlreichen Protokolle in den folgenden 
Abschnitten geben darüber Auskunft. Rein äußerlich ist zu be¬ 
merken, daß die Vpn. die Tendenz haben, erst die gedanklichen 
Momente des Prozesses zu schildern und sich dann erst der anschau¬ 
lichen Seite zuzmvenden; dann aber hilft sich die Vp. damit zu sagen, 
was gemeint ist, innerhalb eines großen Gedankenkomplexes wird nur 
der Teil hervorgehoben, der zu der Lösung beiträgt; wir haben es also 
mit einer unvollständigen Charakterisierung des Gedankens zu tun. 

Terminologisch sei zum Schlüsse bemerkt, daß im folgenden 
meistens der Ausdruck Gedanke gewählt ist und darunter nicht nur 
ein einzelner Gedanke, sondern auch ein ganzer Gedankenkomplex 
verstanden werden kann. 

I. Die anschauliche Repräsentation. 

§ 1. Repräsentanten oder Träger von Gedanken und Ge¬ 
dankenkomplexen. 

Als einziger anschaulicher Repräsentant eines Gedankens oder 
eines ganzen Gedankenkreises wird geschildert eine optische oder 
akustische Vorstellung, ein Schema, ein gesprochenes Wort; diese 
Repräsentationen sind gewissermaßen die Träger des Gedankens: 
der Gedankenkreis verknüpft sich damit und klammert sich daran 
an. Für die Ökonomie des Denkens hat die Repräsentation große 
Bedeutung. Wegen der Enge des Bewußtseins ist es oft nicht möglich, 
einen ganzen Gedankenkreis a\if einmal zu erfassen, oft ist es aber 
auch nur notwendig, einen Teil aus einem Komplex zu beachten; 


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Untere, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 221 

das Denken hilft sich mit einer Vorstellung, einem Schema, einem 
ausgesprochenen Wort, und mit diesen Trägern wird innerhalb des 
Prozesses operiert, als ob der ganze Gedanke explicite ausgedacht 
oder vorhanden wäre. 

PII i 3 , Vp. 6, 9 2 /s Sek. Ich verdeutlichte mir noch einmal, daß 
Raum und Zeit nicht a priori sein können und hatte im Bewußtsein, 
daß unser Raumbegriff aus zwei wesentlich voneinander verschie¬ 
denen Merkmalen bestehe, nämlich erstlich, daß er eine Mannig¬ 
faltigkeit sei und daß er einige auf Anschauung beruhende Merkmale 
enthalte. Hiervon war formuliert: Mannigfaltigkeit. 

PII 6 , Vp. 6 , 147 6 Sek. Zuerst hatte ich das Bewußtsein, daß 
man hier eine Antwort geben könnte, wenn man Begriffe im psycho¬ 
logischen Sinne nehmen könnte (zur Erklärung: ich meinte Begriffe 
als Bewußtseinstatsachen und ob ihnen eine Realität zukäme). Diese 
Auffassung der Frage verneinte ich zu gleicher Zeit wie sie gestellt 
wurde. Also zu gleicher Zeit wurde aufgefaßt und innerlich ver¬ 
neint, dann wandte ich mich dem Gegenteil zu; ich hatte ein optisches 
Bild, welches räumlich war, es war ein Punkt, da lokalisierte ich 
Begriffe als Bewußtseinstatsachen und das andere war unbestimmt 
außer mir. Von diesem Schema wandte ich mich zu dem Begriffenen, 
das hatte ich akustisch und frage mich, kommt den Begriffen, also 
den Inhalten des Begriffes meinte ich, eine Realität zu? Dann hatte 
ich eine flüchtige Erinnerung an Gedankengänge einer Arbeit von 
Staudt. Der Name war akustisch da und dann auch zugleich die 
in Betracht kommenden Gedanken; das tauchte aber nur so auf, es 
zog wieder ab, mit Beziehung auf Staudt dachte ich aber gleich, das 
»Allgemeine«, das im Begriff vorgestellt ist, kommt als Allgemeines 
in die Außenwelt nicht wieder. 

PIII 4 , Vp. 2 , 14 V 6 Sek. Ich vergegenwärtigte mir kurz wieder, 
was eine Normwissenschaft sei, eine Wissenschaft, welche allgemein 
gültige Regeln für ein bestimmtes, psychisches Geschehen aufstelle, 
dann war mir sofort bewußt, daß die Ästhetik immer das subjektiveste 
Gebiet sei und es wäre überhaupt gewaltsam, Normen aufzustellen; 
demgegenüber war ein ganzer Bewußtseinskomplex gegenwärtig, 
nur als Repräsentant der Ausdruck Geschmack, und so war 
zunächst eine gewisse Ablehnung der Ästhetik als Normwissenschaft 
da. Es kam dann ganz von selbst, wie ist denn Ästhetik überhaupt 
noch denkbar, wenn sie keine Normwissenschaft sei. 

M I 2 , Vp. 10,18 4 /5 Sek. Das »f« einer Funktion habe ich gesehen, 
es repräsentiert die ganze Funktion. . . . Ich wandte mich daher von 
dem ersten Gedanken ab und dachte jetzt an die Darstellung der 


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Ludwig Rangette, 


Gaußschen Zahlebene, dabei das Wort Gauß und besonders klar »au« 
vorgestellt, dieses war gewissermaßen der Repräsentant des Gedankens. 
Daran klammert sich der Gedanke an. 

Germ. III 4 , Vp. 3, 8 Sek. Zuerst in Wort Vorstellung vergleichen? 
Warum nicht. Dann Jugendwerke und ein Besinnen darauf, was da 
wohl wäre und da tauchte auf Goethes Anakreontik; ich habe ein 
Lied vor mir gesehen, ich weiß aber nicht welches, das war der 
Repräsentant für die anakreontische Lyrik, aber ich wußte, daß ich 
einen ganzen Komplex meinte, ich dachte nur an Lyrik und nicht 
an Dramen usw.; es war ein ganz bestimmtes Gedicht gemeint, ich 
wußte nur nicht den Namen. 

II. Die unanschauliolie Repräsentation. 

§ 2. Gedankenkomplexe. 

Es gibt aber auch eine völlig unanschauliche Repräsentation von 
Gedankeninhalten. Im Denken des entwickelten Geistes können 
Reproduktionen angeregt werden, die zunächst nur eine reproduktive 
Bereitschaft ankünden, oder aber, ohne näher analysiert zu werden, 
als Komplexe in dem Denkverlauf auftreten. Es bedarf keines an¬ 
schaulichen Trägers, der nur dann notwendig scheint, wenn innerhalb 
des Gedankenkreises eine neue Gedankenreihe sich Bahn bricht 
(Protokoll I). Wir haben es zumeist mit Reproduktionen zu tun, 
die noch im Status nascendi sind, die Vpn. holen aus diesen Kom¬ 
plexen nur das heraus, was eie brauchen (s. Protokoll II, wo die 
Parallele herausgeholt wird, die Ach gezogen hat). Die Komplexe 
ohne anschauliche Repräsentation treten um so häufiger auf, je mehr 
den Vpn. die Objekte immanent sind. Über das Vorhandensein von 
Komplexen wird nicht immer von den Vpn. eine Aufgabe gemacht. 
Wir können nur aus der sorgfältigen Analyse verwickelter Protokolle 
darauf schließen, wo die Komplexe auch olme nähere Spezifikation 
zur Lösung der Aufgabe beitragen. Die im Bewußtsein vorhandenen 
Gedanken, die als Teil des gesamten Komplexes erscheinen, sind 
gleichzeitig Repräsentanten des ganzen Komplexes; sie bilden so ein 
»pars pro toto«; in dem Teil selbst hat man das Ganze mit dem 
Bewußtsein, man könnte alles andere daraus entwickeln; am besten 
vergleichen könnte ich es mit dem Verhältnis von Ton und Oberton. 
Die Ökonomie des Denkens, die wir im vorigen Abschnitt schon er¬ 
wähnt haben, erfährt hier eine neue wichtige Ergänzung; hinzu tritt 
aber die Bedeutung für die Intelligenzleistung. Der spezielle Teil 
wird zeigen, wie eine originelle Lösung auch davon abhängig ist. 


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Untere- Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 223 

daß im richtigen Augenblicke dem Denken eine große Menge von 
Wissenskomplexen zur Verfügung steht und sich dem Denken ohne 
weitere Analyse einordnet. Die Komplexe sind mit den Schematen 
zu vergleichen, die wir in Kapitel II § 3 besprochen haben, denn es 
wird von vornherein durch den hervorgehobenen Gedanken eine be¬ 
stimmte Mitbereitschaft anderer Gedanken gedacht. 

P II 3 , Vp. 4, 17 2 /6 Sek. (Protokoll I). Ich hatte mir keine geo¬ 
metrischen Axiome vorgestellt, trotzdem nachher das Wissen, daß es 
geometrische Axiome waren; es war im Bewußtsein, daß die moderne 
Geometrie verschiedene Geometrien aufzubauen imstande ist mit 
verschiedenen Axiomen, die sie in einem gewissen Grade willkürlich 
aufstellt. Dann dachte ich an logische Axiome; ich habe dabei 
logisch ausgesprochen, sie kamen mir nicht alle explicite. Ich dachte 
an erster Stelle an das Prinzip des Widerspruches und ähnliches, 
indem ich dabei verweilte, kam mir die Formel: Bedingungen der 
Möglichkeit, nämlich unsere Erkenntnis. Das letztere war selbst¬ 
verständlich nicht mitbezeichnet oder explicite im Bewußtsein ge¬ 
geben. 

PIII 8 » Vp. 4, 18 4 /5 Sek. (Protokoll II.) Ich habe zunächst die 
Frage gar nicht recht verstanden, langsam nachgesprochen und dann 
hat sich in mir die Überzeugung, die von Anfang vorbereitet war, 
gestärkt, daß es sich um die Frage der Willensfreiheit handelt. Damit 
ist gegeben ein Komplex, ein Wissen regt sich, der mit dem Wort 
Willensfreiheit verbunden ist. Ich habe mich dann auf die beiden 
Worte relativ und absolut gestützt, habe sie mehrere Male innerlich 
ausgesprochen, versucht die Frage zu entscheiden, welche Abhängig¬ 
keit besteht zwischen Entschluß und Motiv. Zunächst bei der Re¬ 
produktion dessen, was ich gehört habe, habe ich ein Schema zwischen 
diesem Willensentschluß und Motiv. Die Motive sind links, die 
Kräfte aber nicht ganz wie Kräfte dargestellt und der Entschluß 
ist rechts als abhängig von der Kraft. Von da an hat sich das Denken 
an das Wort relativ angeschlossen; relativ schien mir zwei Aus¬ 
legungen möglich zu machen, nämlich bis zu einem bestimmten 
Grade, oder in einer bestimmten Betrachtungsweise im Gegensatz 
zu absolut, das in dem einen Falle vollständig und in dem anderen 
Falle metaphysisch betrachtet wurde. Ich habe entschieden: Von 
einer vollständigen Unabhängigkeit des Willensentschlusses von den 
Motiven zu sprechen hat keinen Sinn, es könnte sich höchstens darum 
handeln, ob die Motive den Entschluß eindeutig bestimmen. Ich 
war mir der Schwierigkeit, die beim Problem besteht, durchaus 
bewußt, dachte auch an den Lösungsversuch, den Ach in neuerer 


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224 


Lndwig Rangette, 


Zeit vorgeschlagen hat, hier war wiederum ein Komplex von 
Wissen angeregt, der mit dem Vortrag, den Ach in Königsberg 
gehalten hat, und der Schrift, die ich kenne, zusammenhängt. Ich 
kam dann zu der Entscheidung, die Frage wird gar nicht mit einer 
der beiden Alternativen zu beantworten sein, also weder absolut noch 
relativ unabhängig, sondern es wird höchstwahrscheinlich so sein: 
Er ist eindeutig abhängig von den Motiven. Es war mir bewußt, 
daß damit die Frage der Willensfreiheit nicht erschöpft sei, sondern 
daß damit noch eine andere Reihe von Erwägungen und Standpunkten 
geprüft werden müßten. Es waren auch so komplexe Gedanken: 
Es gibt vieles andere, diese Entscheidung gründet sich auf eine Ent¬ 
scheidung von anderen Wissens komplexen, die in mir liegen und 
die aktuell werden können. 

G II 4 , Vp. 9,14 Sek. Die Epoche kam mir nicht ganz scharf zum 
Bewußtsein, es ist ein anschwellender und ein absteigender Wert, 
dann ging ich auf den Begriff Kultur ein, da fragte ich mich, was 
ist Kultur? Es wurde klar, daß es sehr schwer wäre. Du hast so 
eine dunkle Ahnung, was man unter Kultur versteht. Ich kann den 
Seelenzustand von anderen unterscheiden, aber schildern ist sehr 
schwer. Die Vorstellung ist mir als einheitlicher Komplex gegeben, 
du siehst ihn hier nicht weiter an, soviel ich mich entsinne, ist dieser 
Komplex ganz allein in meinem Bewußtsein, danach kommt das 
Gefühl, das ist eine ungeordnete Masse, worauf man eingehen kann; 
ich weiß nur um das Dasein dieser dumpfen Vorstellung, diese Vor¬ 
stellung arbeitet unbewußt, ich weiß nicht wie ich das ausdrücken 
soll. Wenn ich Maler oder Musiker wäre, würde ich es malen oder in 
Musik umsetzen. 

§ 3. Das Wissen implicite. 

Nicht immer braucht ein angeregter Gedankenkreis durch einen 
Komplex umrahmt zu sein, in vielen Fällen liegt dem Denken ein 
allgemeines, nicht näher analysiertes Wissen potentiell im Bewußt¬ 
sein bereit. Der Zustand, wo der Vp. ein Wissen impücite zur Ver¬ 
fügung steht, ist genau zu unterscheiden von dem, wo sie nichts weiß, 
wo sie also eine Leere des Bewußtseins schildert. Es wird von den 
Vpn. beschrieben: »Ich fühle also hier gewissermaßen, daß hier das 
Denken vorgreift; bei dem Nichtwissen ist so etwas Leeres, Negatives 
im Bewußtsein, oder bei dem anderen doch etwas mehr Positives 
(Vp. 3); bei einer anderen Vp. (Vp. 6) wird von einem »Gefühl des 
Wissens« gesprochen und eine dritte Vp. sagt aus: Ich bin sicher, 
es muß noch etwas da sein, aber es wird mir nicht möglich, es wieder 


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Untere, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 225 


heraufzuholen. Bei potentiell besteht die Möglichkeit, die Asso¬ 
ziationen tatsächlich zum Bewußtsein herauszubringen, dieses ist 
alles realiter möglich, es ist so präsent, daß es zu einem klaren Ge¬ 
danken emporgehoben werden kann (Vp. 2 ). 

P III 2 j Vp. 2 , 7 Sek. Es war wiederum ein so großes Hinterland 
von Wissen da, in der Weise, daß man noch vielmehr ausführen 
könne, wenn man cs nötig hat. 

Germ. II 2 , Vp. 11, 8 2 /5 Sek. Aber ich brauchte mir diese Ge¬ 
danken, die angeregt waren, nicht weiter fortzudenken, weil mir 
jetzt das Gefühl auftrat (das Gefühl ist mehr als Erinnerung), du 
kannst die Frage im einzelnen beantworten. 

M I 4 , Vp. 5, 9 Vs Sek. Der Hebel kam mir deutlich zum Bewußt¬ 
sein und sofort implicite mitgegeben die gedankliche Betonung, daß 
der Schwerpunkt nicht sinken kann. 

P III 5 , Vp. 4, 18 Vs Sek. Dann kam ein Gedanke, den ich so 
ausdriicken kann: Die moderne Zeit hat auch an die scheinbar voll¬ 
endete Logik wieder neue Anforderungen gestellt, oder besser aus¬ 
gedrückt, auch in der Logik wird neu gearbeitet; darüber die Ver¬ 
mutung: Auch die Schlußlehre wird sich weiter entwickeln lassen, 
letzteres war nur potentiell gegeben. 


§4. Bewußtseinsstufen bei der unanschaulichenRepräsen- 
tation (Wissensaktualisierung). 

Bei der unanschaulichen Repräsentation, besonders beim Wissen 
implicite sind gewisse Klarheits- oder Deutlichkeitsstufen zu be¬ 
obachten. Außerdem gibt es aber auch einen Übergang vom Wissen 
implicite zum klaren Wissen der Einzelheiten, diesen Übergang könnte 
man nach Selz Wissensaktualisierung nennen. 

Germ. III 4 , Vp. 11 , 20 Sek. Sofort war mir die Frage als eine 
bekannte bewußt, danach ganz unabhängig Verständnis der Frage, 
dann rückten die Jugendarbeiten von Goethe und Schiller so neben¬ 
einander, wie wenn man etwas vergleicht, Sturm- und Drangperiode 
wurde mir klar, ich entsinne mich, daß Goethe den Sturm und Drang 
überwunden hatte, während Schiller noch darin lebt; das waren Be¬ 
wußtseinselemente, die darin waren. 

Germ. I 4 , Vp. 11 , 8 4 /ß Sek. Ich hatte Laokoon, es war akustisch 
gegeben: nacheinander, nebeneinander und damit das Bewußtsein, 
das ist ja das, worum es sich handelt, dann sagte ich nicht direkt ja, 
sondern überlegte noch einmal den Inhalt, als wenn ich es vortragen 
müßte, dann das klare Erkennen, daß ich es weiß. 

P 14, Vp. 6 , 2 Sek. Unmittelbares Erinnerungsbewußtsein, daß 

Archiv für Psychologie. XXXVI. 15 


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226 


Ludwig R&ngette, 


ich darüber mit einem Pater gesprochen habe, es war dieses nicht 
sehr deutlich, sondern ein Übersehen dieser Erlebnisse und in gleicher 
Zeit das Wissen um den ontologischen Gottesbeweis, und zwar, daß 
ich dies in meiner Arbeit berührt habe, obgleich die Bedeutung des 
Wertes meines Referates nicht im Bewußtsein war, geschweige 
sprachliche Elemente, und während des Erlebnisses habe ich das Be¬ 
wußtsein, daß das Wissen anstieg und hervorkäme und immer kräf¬ 
tiger wurde. 

P III 6 , Vp. 4, 24 y 6 Sek. Beim ersten Anhören habe ich wesent¬ 
lich Hume und Simultaneität von Ursache und Wirkung erfaßt, dabei 
hatte sich schon der ganze Wissenskomplex erregt, die Frage klingt 
bekannt, es fängt an, in mir das und jenes aufzunehmen. 

Bei einer rückschauenden Betrachtung muß uns die vielseitige 
Variation der Reproduktionsmöglichkeiten innerhalb unserer Denk¬ 
prozesse auffallen. In vielen Fällen, besonders bei reproduktiven 
Fragen erinnert sich die Vp. an die Zeit, wo sie zuerst von der Frage 
gehört hat; ein anderes Mal werden Vorstellungen benutzt; das 
Schema tritt als wichtige Stütze beim reproduktiven Denken auf, 
die Lokalisation ist nichts anderes, als ein Hilfsmittel zur zeitlich¬ 
räumlichen Einordnung gegenwärtiger Gedanken in frühere Gedanken¬ 
kreise; hier sind besonders beim kritischen und produktiven Denken 
die Komplexe, das Wissen implicite, die Wissensaktualisierung als 
wichtige Stütze der Reproduktion nicht als solcher, sondern wie sie 
innerhalb eines komplizierteren Denkvorganges auftritt, aufgewiesen 
worden. 

III. Der Gedanke innerhalb des Denkprozesses. 

§ 5. Gedankenentwicklung. 

Für unsere Denkweise ist die Entwicklung eines Gedankens inner¬ 
halb des Denkprozesses von großer Wichtigkeit. Von Anfang an 
schwebt der Vp. ein Inhalt in Form eines Gedankens oder auch im 
ersten Stadium einer Vorstellung vor, von dem die Vp. nicht zu wissen 
braucht, ob er richtig oder falsch ist; erst nach Zuhilfenahme eines 
komplizierten Prozesses, wo oft eine mehrmalige Vergegenwärtigung 
der Aufgabe notwendig ist, wo ferner Vorstellungen, Erinnerungen, 
Schemata, inneres Sprechen eine große Rolle spielen, gelingt es dem 
Gedanken, klar hervorzutreten, so daß mit ihm zugleich das Bewußt¬ 
sein der Richtigkeit vorhauden ist. Es scheint also fast so, als ob der 
Gedanke zu seiner Entwicklung Zeit notwendig hat, während dessen 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens anf eip. Grundlage. 227 

sich Vorstellungen, Schemata bilden, um dem Gedanken die erforder¬ 
liche Zeit zu seiner Entstehung zu geben. Wie innig das Ineinander¬ 
gehen aller elementaren Inhalte ist, haben die in früheren Abschnitten 
zum Teil ausführlichen Protokolle ergeben. In einigen Fällen kommt 
es hier auch zum intuitiven Erkennen; in diesen Fällen wird die Ent¬ 
wicklung unterbrochen, auf einmal ist der Gedanke da, mit dem 
Bewußtsein der Richtigkeit und es werden nunmehr rückwärts die 
Fäden zum abgebrochenen Denken gesucht. Wir haben es also hier 
mit einem Vorgreifen des Gedankens zu tun. 

MIII 6 , Vp. 5, 15 Sek. Zuerst war es eine starke Vergegenwärti¬ 
gung der Frage: metrische Eigenschaften oder Anordnung? Dann 
Zweifel. Jetzt die uneigentlichen Punkte sind kein metrischer 
Begriff, aber Anordnung kann es auch nicht sein. Ich hatte sozu¬ 
sagen eine Vorstellung der uneigentlichen Geraden. Das ist eine Art 
Kreis mit einer kinästhetisch betonten Dehnung ins Weite und einem 
ausgeprägten Bewußtsein, daß dieses Kreisstück nur ein anschau¬ 
liches Mittel sei, dazwischen spielt immer wieder herein die Fig. 6. 
Der Gedanke ging weiter, das ist wohl keins von beiden, das ist affine 
Geometrie, da kann man doch nicht von metrisch sprechen. Aha, 
nun kam mir allmählich der wahre Sinn zum Bewußtsein. Ich sah, 
was damit gemeint war, dabei Vorstellung der Euklidischen Ebene, 
sie wächst aus dem unmittelbar vor mir gesehenen Raum hervor. 
Ich sehe nun aber noch unformuliert, daß es sich um die Einführung 
der uneigentlichen Punkte in die Euklidische Geometrie handelt. 
Ich fühlte nun sozusagen, wie sich die Euklidische Ebene in 
die Projektive verwandelte. Von hier aus unter¬ 
suchte ich nun die Frage noch einmal und sah nach 
einigem Nachdenken, daß es wirklich Anordnungs¬ 
axiome sind: nämlich man führt die uneigentlichen 
Punkte ein, um immer sagen zu können, zwei Fig- 6- 
Gerade haben einen Punkt gemein. 

MI 6 , Vp. 5, 15 Sek. Zuerst hatte ich das Erlebnis des Über¬ 
ganges, so als ob ich sagen wollte: Aha, etwas Bekanntes. Dann ein 
langes Überlegen, ich sah, daß die Frage nicht richtig war, und suchte 
ihr einen Sinn beizulegen. Dazwischen optische Eindrücke von Ge¬ 
raden und Ebenen. Die Geraden waren sozusagen sehr in Bewegung 
und als sie ruhig wurden, waren sie zu Ebenen geworden, die per¬ 
spektivisch gesehen wurden. Ich sagte mir, bei Ebenen und 
Geraden hat die Frage einen Sinn. Nach weiterem Überlegen ver¬ 
wandelte sich die Figur in ein Schema. An ihm habe ich das 
Resultat sozusagen gefunden: Sie ist dann perspektivisch, wenn die 

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Ludwig Rangette. 


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gemeinsamen Elemente sich selbst entsprechen, damit wurde gleich¬ 
zeitig der Gedanke an den Raum, der potentiell von vornherein schon 
vorhanden war, aktiv. 

Im folgenden Protokoll sind zwei Parallelentwicklungen zu be¬ 
achten, eine Entwicklung der Vorstellung und des Gedankens, wir 
haben hier: 1 ) eine unbestimmte Vorstellung, 2 ) es kommt der richtige 
Gedanke: Exponentialfunktion, 3) es folgt ein größeres Durcheinander 
verbunden mit Unlust, 4) die schon vorhandene Vorstellung wird 
deutlich, 5) der richtige Gedanke tritt ein: Exponentialfunktion. 

M I 6 , Vp. 1 , 20 y 6 Sek. . . . und habe mir überlegt, wie ich das 
nach irgendwelchem Logarithmengesetz umformen könnte; dieses 
Überlegen war so: 1 ) Ich hatte eine unbestimmte Vorstellung von 
der Form des Logarithmus im Komplexen; ich hatte so in der Emp¬ 
findung, ohne davon eine deutliche Vorstellung zu haben, es existiert 
lg r + i(p. Mein Überlegen ging darauf hinaus, zu untersuchen: 
lg x + iy in diese Form zu bringen. Das gelang nicht, dann kam, 
man könnte es definieren als 2 ) Umkehrung der Exponentialfunktion, 
dann die Idee, es ist eine mehrdeutige Funktion, dann hatte ich eine 
unbestimmte Vorstellung, wie es im Komplexen aussieht, aber ich 
wußte es nicht und habe auch nicht weiter überlegt, dann habe ich 
die Komplexenzahl dargestellt: z = r cos 9 p + rsingp, dann habe ich 
eingesetzt lg (r cos rp + r sin ff) und dann das Logarithmengesetz. 
Nun kam ich wieder nicht so recht weiter, weil ich nicht im klaren 
war, ob die Darstellung der Komplexenzahl stimmt, ... es stellte 
sich jetzt 3) ein Gefühl des Ärgers ein und mit allem abgebrochen, 
4) die Funktion lg r + rfp wurde deutlicher vorgestellt und plötzlich 
trat auf 5) du mußt z = re ,<p setzen. 

Im folgenden Protokoll ist die Gedankenentwicklung sehr gut zu 
beobachten; es sind im ganzen vier Phasen zu unterscheiden: 1 ) eine 
dunkle logische Beziehung, 2 ) ein Teil der Aufgabe wird vergegen¬ 
wärtigt, 3) die direkt logische Beziehung wird durch ein Schema 
deutlicher, 4) sie tritt ganz klar hervor, durch den Gedanken an ein 
Kausalgesetz. Interessant ist, daß die vier Stufen nicht von der 
Vp. erkannt werden. Die Entwicklung geht also von selbst vor sich. 

P II 7 , Vp. 6,12 Sek. Nun hatte ich zunächst diejenige Bedeutung 
von Sätzen im Bewußtsein, 1 ) die so ungefähr den Sinn von logischen 
Sätzen haben; also logische Sätze war mir nicht zum Bewußtsein 
gekommen, trotzdem kann ich nachträglich bestimmt sagen, daß 
solche Sätze gemeint sind, aber im Bewußtsein hatte ich weder das 
Wort logisch noch den klaren Begriff logisch und das hegt auch so 
unbestimmt, es war so gewissermaßen eine Orientierung nach dieser 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 229 

Seite hin. ... 2) Ich richtete meine Aufmerksamkeit darauf, daß 

ich Sätze suchen soll, die gegenständliche Bedeutung hätten, und da 
wanderte meine Aufmerksamkeit ohne eigentlich eine richtige 
logische Beziehung einmal auf das gegenständliche Bedeuten, ein 
anderes Mal auf »ohne aus der Erfahrung zu stammen«, dann 
auch wieder auf das erstgenannte also logische Sätze, dann auch 
einen Augenblick mit besonderer Lebhaftigkeit trat das Moment 
hervor, daß die logischen Sätze solche Sätze seien, die nicht aus der 
Erfahrung stammen und da bildete sich 3) ein Schema aus, wie hüben 
und drüben, hier die Sätze lokalisiert und dort die äußere Erfahrung, 
und die Aufmerksamkeit schwebte so eine Zeitlang dazwischen, aber 
mehr ein erwartender Zustand, als ob sich etwas vielleicht in dem 
Sinne der Frage ergäbe, aber es war doch das Bewußtsein dabei, daß 
es hier nicht so stimmt, aber gar nicht ausgedacht. 4) Auf einmal 
drängt sich da hervor der Gedanke an den Kausalsatz, es war so eine 
gedankliche Verknüpfung dabei; nämlich das Kausalgesetz trat auf 
in dem Sinne, daß es den logischen Sätzen in den in Betracht kommen¬ 
den Merkmalen gleich sei. 

Germ. 1 9 , Vp. 11, ll 4 / ß Sek. Es war ganz dunkel das Gefühl, 
daß in Deutschland der Stabreim vorhanden war, und es stand so 
ganz im Hintergründe von Anfang an fest, daß der Endreim von 
Italien kommen müßte. Es war von Anfang an die Spur vorhanden, 
es muß irgendwo im Auslande sein und auch eine schwache Richtung 
der Lokalisation nach Italien. Dieser Zustand war sehr schnell; es 
war mir so, als ob es im Bewußtsein dunkel wäre. Da schoß der 
Name Ottfried von Weißenburg darüber. Es war mir akustisch 
vorhanden, damit war zugleich die Spur einer optischen Vorstellung 
von dem Buche, worin ich den Ottfried gelesen habe, aber sehr dunkel. 
Mit Ottfried war sofort deutlich die zuerst geschilderte dunkle Be¬ 
ziehung nach Italien gegenwärtig, es war so eine Richtung damit 
verbunden nach Italien, halb geographisch. . . . 

Die vorhergehenden Protokolle können auch eine Tatsache aus 
dem Leben dem Verständnisse näher bringen. Es ist bekannt, daß 
wir auf lange Zeit hindurch, besonders bei eigener Forschungsarbeit, 
mehr oder weniger entwickelte Gedankengänge in uns haben, ehe 
sie zum klaren Bewußtsein kommen. In unseren Versuchen kam 
die vollständige Entwicklung oft innerhalb eines Prozesses zum Vor¬ 
schein, weil wir nur Aufgaben aus dem den Vpn. vertrauten Wissens¬ 
gebiete gegeben haben. Im wissenschaftlichen Denken dauert die 
Gedankenentwicklung naturgemäß längere Zeit, weil der Gelehrte 
hier sich selbst ein noch nicht gelöstes Problem stellt. Die Protokolle, 


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230 


Ludwig Rangette, 


in denen es auch zum intuitiven Erkennen kommt, könnten die Tat¬ 
sache erhellen, wo der äußere Zufall der Anlaß einer großen Erfindung 
gewesen ist. Betrachten wir nur den Schluß der mitgeteilten Proto¬ 
kolle, so könnte uns das plötzliche Auftreten des richtigen Gedankens 
auch zufällig erscheinen. Aber das ganze Protokoll gibt über die 
Entwicklung und Bedingung des Gedankens Auskunft. So waren 
auch sicherlich in dem Gehirn eines Newton die Konsequenzen des 
Attraktionsgesetzes irgendwie angebahnt und es bedurfte nur eines 
Zufalles, den Gedanken in der klaren, mathematischen Form zu 
bringen. Wie dem auch sein mag, zahlreiche Protokolle zeigen, daß 
tatsächlich in uns angeregte Gedanken bereit hegen und nur irgend 
eines Anlasses bedürfen, um in den Blickpunkt des Bewußtseins zu 
kommen. 

§ 6. Mehrfache Gedanken. 

1 ) Meist durch die Aufgabe bedingt, treten zwei Gedankenkreise 
getrennt auf; der erste Gedanke wird vollendet, verschwindet aber 
nicht, sondern bleibt potentiell im Bewußtsein, und der zweite Ge¬ 
danke wird in Beziehung zum ersten gedacht. Hierbei ist zu kon¬ 
statieren, daß der erste Gedankenkreis im allgemeinen klarer aus¬ 
gedacht wird, als der zweite. 

2 ) Oft ist jedoch der Übergang von einem Gedankenkreis zum 
anderen oder das Auseinanderhalten zweier Gedankengänge nicht so 
einfach; die Vp. muß anschauliche Hilfsmittel heranziehen, um die 
Auseinanderhaltung der beiden Gedankenkomplexe zu bewerkstelligen. 
Diese Hilfsmittel sind dann eine Erfüllung des Bestrebens der Unter¬ 
scheidung. 

3) Stellen sich von vornherein mehrere Gedanken oder Gedanken¬ 
möglichkeiten ein, so wird der Verlauf intermittierend; die Vp. 
schwankt zwischen mehreren Gedanken; die Gedankengänge ver¬ 
schmelzen mehr oder weniger oder aber, das gilt vorzugsweise für das 
Gebiet der Mathematik, hier haben das Vorstellungsmäßige und die 
Erinnerung zunächst das Vorrecht gegenüber dem Gedanklichen. 

1 ) Germ. III 3 , Vp. 8, 14 4 / 6 Sek. Bei Herder sah ich unbestimmt 
sein Bild vor mir, und zwar zunächst ihn allein und dann in dem 
Bilde mit Goethe. Außerdem sah ich im Hintergrund des Bewußt¬ 
seins: Philosophie der Geschichte der Menschheit mit dem Bewußt¬ 
sein der Bekanntheit, daher auch das Urteil: Herder ist größer. 
Dagegen sträubt sich etwas in mir, ohne daß ich aber weiß, was es 
eigentlich ist. Daher suchte ich auf Grund meiner Kenntnisse, also 
auf Grund diskursiven Denkens, durch welche Werke Lessing auf 
unsere Literatur gewirkt hatte und in welcher Richtung diese Wirkung 


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Unten. Uber die Psychologie des wissenscb. Denkens auf exp. Grundlage. 231 

erfolgt sei. Dabei war das erste Urteil über Herder, ich meine die 
ganze Gefühlslage, die ich eben geschildert hatte, nicht verschwunden, 
sondern potentiell vorhanden, so daß es mit dem jetzigen Gedanken¬ 
kreis verglichen werden konnte. 

GI 5 , Vp.9,9 1 / 6 Sek. Bei modern kam mir gleich der Name Ranke, 
er war mir ohne weiteres aufgestiegen, also modern in Verbindung 
mit Geschichtsauffassung gab das Bild Ranke und damit sofort ver¬ 
bunden pragmatisch, erst später habe ich an Lamprecht gedacht. Im 
Mittelalter habe ich an die Art und Weise gedacht, wie man sich die 
Schmöker zusammenschrieb. Für das Mittelalter konnte ich keinen 
einzigen klaren Begriff ausdrücken, es war mehr verschwommen, aber 
das Ganze war gegenübergestellt worden der modernen Auffassung. 

2 ) P I 14 , Vp. 4, 12 y 5 Sek. Ich dachte zuerst an die »drei Ichs« 
von Rickert, ich ging dabei hinaus zu Rickert, das ist ein räumliches 
Schema, das ging von rechts nach vorne, den Namen Rickert hatte 
ich nicht, aber ich meinte ihn, daraufhin das Bewußtsein: bei Kant 
ist es doch anders; ich hatte erst den Gedanken, dann kommt das 
Schema, um die beiden auseinander zu halten. Das Schema ist so 
eine Erfüllung des Bestrebens zur Unterscheidung. 

P I 2 , Vp. 6, lOVe Sek. Nun verstand ich mit einem Male die 
Frage und hatte das Wissen der Sache, das Gefühl, du weißt es. Bei¬ 
nahe hätte ich reagiert. Im Augenblick hielt ich etwas an mich, um 
nachzuprüfen, und da dauerte es eine ganze Zeit, in der ich dieses 
allgemeine Wissen festhielt und zwar starr festhielt, daß es nicht 
auseinandergehen sollte und zwar war das optisch lokalisiert. Es war 
das Fenster, ich wollte das Wissen festhalten und mit einer großen 
Anstrengung gelang es mir bis nach Kant zu kommen. Ich vergegen¬ 
wärtigte mir bei Kant: mundus sensibilis, bei Plato die Welt der Ideen 
und der wahrgenommenen Dinge, war akustisch und optisch gegeben. 

3) Germ. II 3 , Vp. 8 , 6 x / 6 Sek. Sobald die Frage gesagt wurde, 
stellten sich sofort zwei Wege ein, also automatisch. Es ist ein inter¬ 
mittierender Verlauf, der nun andauernd durcheinander geht. Der 
eine Weg ist der, zu prüfen, in anderen höfischen Gedichten zu prüfen, 
ob der Verfasser erwähnt wird, damit war gleichzeitig, daß ich den 
Text untersuchen müsse, jetzt zwinge ich mich, mich einer einzelnen 
Frage zuzuwenden, und fälle mm das Urteil: welches ist der ein¬ 
fachere Weg, und es kam das Resultat: in anderen Dichtungen nach¬ 
zusehen, in denen der Verfasser erwähnt wird. 

GIII 2 , Vp. 2 , 12Vs Sek. Der historische Wallenstein hat sich 
vermischt mit dem von Schiller, immer hatte ich den Schillerschen 


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Ladwig Rangette, 


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Wallenstein vor mir, sogar sein Monolog war mir ziemlich deutlich 
gegenwärtig und es fiel mir ein, daß er bei Schiller ein Bündnis eiageht. 
Es war keine historische Beantwortung der Sache; dann hatte ich 
Wallenstein immer in Eger lokalisiert, ich hatte nicht als Hintergrund 
den 30jährigen Krieg, sondern auf der Karte lokalisiert. 

MII 9) Vp.l, 19Vs Sek. Wie Sie sagten: geometrischer Ort, 
dachte ich, ich will es nicht geometrisch machen und sagte mir: 
jetzt machst du es analytisch. Es tauchte aber die Vorstellung eines 

Kreises auf, und fing trotz meines Vor- 
/'"V veränderlicher habcns doch geometrisch an. Der Kreis 

fing an sich zu verkleinern (Fig.7). Ich 
sagte mir, der muß festliegen, dabei ver¬ 
schwand das Geometrische und ich 
dachte analytisch. Es war mir ein 
Kreis in der Form x 2 + y 2 = r 2 • gegeben, dabei im Bewußtsein, er 
liegt im Koordinatenanfangspunkt, einen anderen Kreis vorgestellt 
in der Form x 2 + y 2 + 2 rx + 2 ay + c - 0. Ich habe tatsächlich 
diese Form gehabt und mein Denken ging weiter, man müßte einen 
dritten Kreis bestimmen und dann auf die Form x — a bringen, 
soweit habe ich es mir explicite überlegt. 

M I 8 , Vp. 5, 9 4 /ö ^ek. Als ich die Frage vollständig gehört hatte, 
kam sofort eine historische Erinnerung an Archimedes und Wägung, 
dabei optisch Archimedes, optisch und akustisch Wägung. Dann ein 
deutliches Gefühl des Eintretens in die frühere Zeit, also ein Zeit¬ 
gefühl. Es ist mir die Bewußtheit des Ilineintauehens in die Ver¬ 
gangenheit. Ich wußte, daß Archimedes eine schlaue Leistung 
gemacht hat. Es war lustbetont und dabei knüpften sich verschie¬ 
dene Erinnerungen an, zugleich auch räumlich lokalisiert im Süden. 
Es war so im Gemüt etwas wie der blaue lächelnde Himmel. Dann 
trat der Gedanke zutage, das ist kein Berechnen, auf Berechnen Ton 
gelegt, man muß die Sache integrieren. Es war mir hierbei so, als 
ob der Gedanke des Integrierens von vornherein da war, aber jetzt erst 
wirksam wurde, daß also die historische Erinnerung prävalierte, und 
dann erst gewann der Gedanke Überhand. Die historische Erinnerung 
schob sich sozusagen über den Gedanken des Integrierens in seiner 
Entstehung. Ich habe nur das Wortbild »integrieren« gehabt, kein 
Integralzeichen. 

§ 7. Gedankenbeziehung. 

In dem ernten Kapitel § 9, wo die Rede war von Vorstellungen 
und Denken in der Mathematik, haben wir gesehen, daß sich mit einer 
Vorstellung gleichzeitig ein anderer psychischer Inhalt verbindet; 


O 0 


Kreis 

Fig. 7. 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 233 

so verbindet sich auch innerhalb des Denkprozesses ein Gedanke 
gleichzeitig mit einem anderen psychischen Inhalt. Wir haben also 
zunächst den Gedanken, gleichzeitig damit verbunden einen anderen 
Inhalt. Nenne ich also den Gedanken a, den Inhalt x, so ist (a + x) =A 
als Ganzes im Bewußtsein gegeben. Dieses % kann nun sein eine 
Beurteilung, also eine Beziehung zum Subjekt, oder aber eine Be¬ 
ziehung zum Wissen implicite, das als Komplex aus früheren Denk¬ 
leistungen gewonnen, im Bewußtsein gegeben ist. 

M II 7 , Vp. 5, 9 V 5 Sek. Durch Analyse des: »Da kannst du eine 
Reihe entwickeln« und dachte andererseits, das kann man ebenso 
definieren, wie lgi. Gleichzeitig ein Zweifel, ob die Sache auch rich¬ 
tig wäre, ich war skeptisch, das war aber nicht ein gesonderter Akt, 
sondern war gleich mit den Gedanken verbunden. . . . 

P II 6 , Yp. 6, 14 1 / 6 Sek. Zuerst hatte ich das Bewußtsein, daß 
man hier eine Antwort geben könnte, wenn man Begriff im psycho¬ 
logischen Sinn nehmen würde. Diese Auffassung der Frage verneinte 
ich zu gleicher Zeit, wie sie aufgestellt wurde, also innerlich verneint, 
dies war mit einem Male gegeben, alo die Möglichkeit der Frage und 
die Verneinung derselben. . . . 

Germ. I 2 , Yp. 11 , 7 3 /s Sek. Ich stellte mir die Handschrift 
optisch vor, mit großen Initialen und einen großen Band, unbestimmt 
lokalisiert Heidelberg. Es war damit gleichzeitig das Bewußtsein 
vorhanden, daß da viele Dichter drin seien mit einer Färbung im 
Unterbewußtsein, daß die Heidelberger Handschrift eine Geschichte 
habe. 

G III 6 , Vp. 7, SVg Sek. Es fiel mir daneben allerdings noch 
Aristoteles ein, und ich war mir des Verhältnisses des Xenophon als 
Schüler des Sokrates bewußt. ... (S. außerdem die Protokolle im 

Kapitel IV, § 2 , § 3 .) 

IV. Allgebahnte Wege im Denkprozeß. 

§ 8 . Die durch die Aufgabe verursachte Anbahnung. 

Im vorigen Abschnitt ist bei der Gedankenentwicklung gezeigt 
worden, daß in unserem Bewußtsein erregte und erst später ent¬ 
wickelte Gedanken vorhanden sind; ich nenne dieses eine Gedanken¬ 
erregung, davon ist zu unterscheiden die Anbahnung im Denk¬ 
prozesse. Die Anbahnung kann zunächst durch die Aufgabe unmittel¬ 
bar oder mittelbar verursacht sein. Nach Verlesen der Aufgabe dringt 
die Vp. allmählich in das Verständnis und den Gedankenkreis.der- 


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Ludwig Rangette, 


selben ein. Der ganze Prozeß unterscheidet sich von dem der Ge¬ 
dankenentwicklung dadurch, daß er viel passiver ist: Wir können die 
Passivität der Anbahnung der Aktivität bei der Gedankenentwick¬ 
lung gegenüberstellen. Als Begleiterscheinung der Anbahnung ist 
oft das innere Sprechen anzusehen. Man fängt formuliert an und 
der Gedankenkreis geht weiter, zuerst gleichmäßig im Sinne des 
inneren Sprechens, nachher schneller. 

Germ. II 7 , Vp. 11 , 10 4 / 5 Sek. Als nordisch und germanisch kam, 
habe ich an den ganzen Sagenkreis gedacht, das alles war mir bewußt 
im Denken, ich habe mir das gedacht, aber nicht vorgestellt. Wagner 
ist auch gedacht, ich habe nicht innerlich gesprochen. 

PI 13 , Vp. 6, 8y 6 Sek. Ich wandte mich der Bedeutung zu. Nun 
hatte ich die Bedeutung vor Augen und zugleich hatte ich »a priori« 
akustisch und optisch vor mir. Ich hatte das Wissen, daß die Frage 
einen Sinn habe, und nun einen gewissen Zwiespalt zu dem a priori. 
Das Charakteristischste war, daß ich mit Ruhe darauf gerichtet war, 
in der Weise, als ob sich das von selbst klärt. Da schoß akustisch 
und optisch ganz plötzlich auf: keine angeborenen Ideen, auch ein 
gewisser Gefühlswert war dabei. Es war nicht das Warten und 
Suchen zu gleicher Zeit des Findenwollens, nicht bewußterweise 
herumsuchen, ich will, daß es kommt, und trotzdem ließ ich es von 
selbst kommen, es war ein ausgesprochenes Erlebnis, das für mich 
deshalb so deutlich ist, weil es sich mit einer ganz anderen sinnlichen 
Unterlage und Gefühlsbetonung verband. 

P I 7 , Vp. 2 , 13 Sek. Es wurde rein gedanklich konstatiert, daß 
es sich bei Lösung der Aufgabe nicht handeln könnte, einfach Wissen 
zu reproduzieren, sondern daß ich anders vorgehen müßte. Es gab 
dann deutlich das Oszillieren zwischen zwei Bedeutungen: Gewissen 
und Bewußtsein. Es war ähnlich wie bei einer Stimmgabel, sie be¬ 
standen nicht nebeneinander, zunächst kam das eine und dann das 
andere, das war eine Zeitlang mechanisch der Fall; ich hielt mich 
passiv, ich sah einfach diesem Wechsel zu und wollte abwarten; erst 
am Schluß kam ein klarer Gedanke, ich wußte, daß es sich nur um 
Bewußtsein handele. 

PII 9 , Vp. 4, 13 3 / 6 Sek. Ich habe angefangen, innerlich zu 
sprechen, wie ich das darstelle und weiter gesagt: Nun daß ich 
zeige, daß z. B. ... bis dahin ging das Sprechen und dann ohne 
Sprechen tauchten Gedankenprobleme auf, welche die Einzelwissen¬ 
schaft nicht für sich lösen kann. 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 235 

§ 9. Die Anbahnung während des Denkprozesses. 

(Die Konstatierung.) 

Den mehrfachen Gedanken des § 2 des vorigen Kapitels entspricht 
hier die Anbahnung eines Gedankens, während ein Gedanke vor¬ 
handen ist. Der zweite Gedanke kommt allmählich zum Bewußtsein 
und gibt dem Prozeß eine neue Richtung, ergänzt oder vertieft ihn. 
Wird dieser angebahnte Gedanke als solcher erkannt, so haben wir es 
mit einer Konstatierung zu tim, über die Ursache der Entstehung 
der Anbahnung können wir sagen, daß der erste Gedanke meistens 
in Komplexform auftritt, die, wie wir gesehen haben, nur durch einen 
anschaulichen oder unanschaulichen Träger im Bewußtsein repräsen¬ 
tiert zu sein braucht, aber innerhalb dieser Komplexe sind eine un¬ 
geheuer große Anzahl anderer Gedanken und Möglichkeiten, wenn 
auch unbewußt, erregt. Es kann nun sein, daß ein Gedanke, der einen 
Komplex vertritt, einen anderen Gedanken dieses Komplexes vielleicht 
sogar unbewußt erregt, welcher dann mit dem Gedanken eines anderen 
Komplexes vielleicht auch wieder unbewußt eine Verbindung ein¬ 
geht, deren Wirkung für das Bewußtsein der Vp. daraus zu entnehmen 
ist, daß sie einen Gedanken dieses anderen Komplexes plötzlich als 
Fortsetzung oder Ergänzung des zuerst beachteten Gedankens erkannt. 

PII j 3 , Vp. 4, 11 Vs Sek. Da kam der Gedanke noch, die Mathe¬ 
matik kann beliebige Axiome auf stellen und davon ausgehen. Wäh¬ 
rend ich dieses ausdachte, kam eine andere Seite des Problems, näm¬ 
lich auch die Zeit, und jetzt wurde klar, was vorher schon explicite 
als zu Bekämpfendes da war, also meinen Gedanken entgegenstand, 
das kam jetzt deutlich zum Bewußtsein. 

GII 6 , Vp. 7, 12 Sek. Nun kam der Gedanke, der schon vorher 
im Bewußtsein schwebte, daß ich nur vereinzelte Frauen behandele, 
deutlich zum Bewußtsein, und es kam klar, es handelt sich um die 
Stellung der Frau überhaupt und dieser Gedanke veranlaßte mich, 
nach anderen Quellen zu suchen. 

PII 6 , Vp. 6, 3 Vs Sek. Ich dachte, es gehört selbstverständlich 
in die Logik und nun hatte ich da einen schwer zu analysierenden 
Bewußtseinskomplex. Einerseits setzte sich mit einer großen Selbst¬ 
verständlichkeit die Einsicht durch, daß es in die Logik hineingehörte, 
und das löste eine Gefühlslage aus, des Komischen, daß man über¬ 
haupt so eine Frage stellen könnte, und zu gleicher Zeit war auch noch 
so ein Nebenbeachten des anderen Teils der Frage mit vorhanden, 
in dem Sinne, als ob das vielleicht in irgend einem Sinne doch in 
Betracht kommen könnte. Neben diesem Gefühl der Sicherheit ging 
gleichzeitig auch ein Gefühl des unsicheren Schwankens, das un- 


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236 


Ludwig Rangette, 


mittelbar vor der Reaktion sehr stark wird. Ich stellte mir daher 
die Frage noch einmal optisch vor und beachtete auch nachträglich 
die gehörten Worte, als ich reagiert hatte, hatte ich deutüch optisch 
und akustisch, wie wenn ich sagte: in die Logik. Dieses optische Bild 
war von eigentümlicher Beschaffenheit und trug zu gleicher Zeit den 
Charakter des gesprochenen Wortes. 

Pl4>Vp. 2, 9 1 / 6 Sek. Es waren sofort die Namen Thomas und 
als Hintergrund so Typen, die sich damit beschäftigt hatten. Inner¬ 
lich gesprochen sein, damit war ganz intuitiv der Gedanke, daß das 
>>ens perfectissimum <« notwendig auch das Prädikat der Existenz 
haben müsse und daraus folge. Hier war kein Suchen, ich hatte gleich 
beim Aussprechen das Wort sein, ein Bewußtseinskomplex mit den be¬ 
treffenden Gedanken vorhanden, aber sofort mitgegeben einekleineUn- 
sicherheit, es war ein Tasten und Suchen nach einem anderen Gedanken 
■und es kam, daß der ontologische Gottesbeweis schon eine andere Form 
angenommen hatte, da war Descartes im Spiele dieser Gedanken, 
die nicht ganz klar waren, es war wiederum ein bestimmter Bewußt¬ 
seinszustand da, daß ich mir sagte, es gibt auch eine andere Auffassung. 

§ 10. Der Gedanke und das im Bewußtsein bereitliegende 

Wissen. 

Nicht nur ein anderer Gedanke wird während des Vorhandenseins 
eines Gedankens angebahnt, sondern auch das im Bewußtsein bereit¬ 
liegende Wissen wird erregt; es kann aber auch umgekehrt dieses 
Wissen das Primäre sein und erst allmählich bricht sich dann der oft 
schon zu Anfang angeregte Gedanke Bahn. Diese Tatsache ergibt, 
wie der spezielle Teil dartun wird, ein neues Kriterium für die In¬ 
telligenzleistung oder auch für die produktive Tätigkeit. Denn es 
werden sich zwei Typen zeigen: entweder haben die Vpn. bei Stellung 
der Aufgabe die Tendenz, das im Bewußtsein vorhandene Wissen zu 
aktualisieren oder aber gleich produktiv vorzugehen (reproduktive 
bzw. produktive Typen). Es gibt aber auch viele Fälle, wo ein 
Gedanke sich dem Wissen implicite einordnet, der Gedanke wird als 
solcher erkannt, Gedankenkreise treten näher und ordnen sich früheren 
Gedankengängen unter. Wir haben es hier mit dem später zu er¬ 
läuternden Prinzip der Einordnung zu tun. 

P III 2 , Vp. 2, 7 Sek. Ich kehrte daher ganz imgezwungen zum 
Ausgangspunkt zurück mit der Tendenz, die Frage auch noch anders 
zu behandeln. Ich habe mir die Worte: >>Ist eine mögliche Theorie« 
noch einmal wiederholt, wobei der Nachdruck auf Theorie gelegt 
wurde. Es wurde gesagt; eine Theorie wäre es freilich, es könne 


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Untere, über die Psychologie des wiesensch. Denkens anf exp. Grundlage. 237 

niemandem verwehrt werden, das zu erklären. Aber mit dem Vor¬ 
behalt, ob diese Theorie auch haltbar wäre. Im Hintergründe des 
Bewußtseins: Restlos wird niemals das Erkenntnisproblem von einer 
Theorie gelöst, man könnte daun alle Theorien verwerfen. In diesem 
Sinne habe ich ja gesagt. Beim letzteren war mehr Erklärung, was 
im Hintergründe war, während im ersten Teil die einzelnen Oedanken 
auch durch Worte repräsentiert waren. 

MI 8 , Vp. 5, 9 4 /s Sek. Dann trat der Gedanke zutage, das ist 
kein Berechnen, auf Berechnen Ton gelegt, man muß die Sache inte¬ 
grieren. Es war mir hierbei so, als ob der Gedanke des Integrierens 
von vornherein da war, aber jetzt erst wirksam wurde. . .. (ausführ¬ 
liches Protokoll Kapitel IV § 9). 

P II 4 , Vp. 4, 11 Vö Sek. Also kam ich auf eine dritte Möglichkeit 
der Phänomenologie und Realität des Raumes, es traten phänomenal 
und real zugleich auf, aber im Erlebnis kamen mir diese Gedanken 
als solche nicht. Ich habe nicht die Namen Trendelenburg, Fischer 
gehabt, sondern nur in den Bahnen dieser Gedankenkreise war ich. 

Sohlußbemerkung über Gedankenzuaammenhänge. 

Die zahlreichen Protokolle zur Gedankenpsychologie haben auch 
ein Licht geworfen über den Zusammenhang des Denkverlaufs. Die 
Ursachen sind: 

I. objektiver Natur und begründet durch 

1) die Wahl der Aufgabe, es wird ein Vergleich, eine Be¬ 
ziehung, eine Unterscheidung, eine Gegenüberstellung ver¬ 
langt. Die Lösung einer solchen Aufgabe ist in der Regel 
nun so, daß zunächst der eine Teil ins Auge gefaßt wird, 
dann erst der zweite (Kapitel IV § 6), auch kann nur ein 
Teil der Aufgabe beachtet worden sein, die Auffassung des 
anderen Teils kommt erst in zweiter Linie (Kapitel IV § 9), 

2) das Verhältnis der Gedanken 

a) zu den Vorstellungen und Schemata. Es ist gezeigt 
worden, daß die Gedanken innerhalb eines Prozesses 
Vorstellungen und Schemata beeinflussen. Wie w r eiter 
gezeigt, ist die Beschreibung dieser Elemente, nament¬ 
lich aber der Schemata ziemlich einseitig, ein und das¬ 
selbe Schema kann z. B. auch für mehrere Gedanken 
verwandt werden; eine Vorstellung und ein Schema 
dienen demnach als Übergang zu einem anderen Ge¬ 
danken. (Kapitel IV § 1 und Kapitel I § 5, 7 und 10, 
Kapitel II.) 


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Ludwig Rangette, 


b) untereinander. Hierher gehören die Protokolle, die bei 
der Gedankenentwicklung und bei der Anbahnung 
während des Denkprozesses geschildert sind. (Kapitel 
IV §5, §9.) 

c) zum Wissen implicite und den Komplexen. (Kapitel IV 
§ 2 und 10.) 

II. subjektiver Natur. Hiermit treten wir in das Reich der Indi¬ 
vidualpsychologie; eine Lösung oder eine Beurteilung ver¬ 
langen, daß ganz bestimmte Gedanken und Komplexe auf- 
treten, die zu einem Ziel führen. Hier sind zwei Möglichkeiten 
zu unterscheiden: entweder treten Gedanken auf, die nicht 
zum Ziele führen, oder es treten überhaupt keine auf. Dann ist 

1) mit dem Gedanken eine kritische Beurteilung verbunden 
(s. Protokolle Kapitel IV § 7) oder es treten 

2) Gefühle der Unlust auf. Diese Gefühle der Unlust können 
Gemeingefühle sein, ein weiterer Fortschritt im Denken ist 
unmöglich, sie können aber auch Einzelgefühle sein. Sie 
motivieren dann den Willen oder es bilden sich eigentüm¬ 
liche Zustände aus: Zustände der Leere und des Ab¬ 
wartens. 

Hiermit sind aber die Ursachen der Gedankenzusammenhänge 
noch keineswegs erschöpft. Die determinierende Tendenz, die je 
nach der Instruktion anders wirkt und innerhalb der Prozesse in 
die Willenssphäre hinübergreift, konnte noch nicht berücksichtigt 
werden. Eine weitere Bearbeitung bleibt den späteren Teilen Vor¬ 
behalten (s. Einleitung § 4). 


Schluß. 

Zusammenfassung. Verhältnis der Denkfunktion su den elemen¬ 
taren Inhalten. Beziehungen zum wissenschaftlichen Denken 
und zu anderen Gebieten und Aufgaben. 

I. Zusammenfassung. 

Als elementare Inhalte unseres Denkprozesses haben wir Vor¬ 
stellungen, Schemata, Lokalisation und Gedanken kennen gelernt. 
Die drei ersten elementaren Inhalte könnte man im Gegensatz zu den 
Gedanken — den unanschaulichen — die anschaulichen nennen; 
jedoch besteht innerhalb der Denkprozesse eine wechselseitige Be¬ 
ziehung zwischen den anschaulichen und unanschaulichen elemen¬ 
taren Inhalten. Wir haben gefunden: die immanente Änderung und 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage 239 

die Dynamik der Vorstellungen, die gedankliche Ausfüllung des 
Schemas und sein Auftreten innerhalb der Denkprozesse, die Aus¬ 
füllung von Zeitabschnitten und umgekehrt: die Repräsentanten, 
Träger und Symbole von Gedanken und Komplexen. 

Eine feinere Analyse, namentlich der anschaulichen elementaren 
Inhalte, ist uns nur durch die Auswahl der verschiedenen Wissens¬ 
zweige unter Berücksichtigung der Art und Weise der gestellten 
Fragen, also ob sie reproduktiv, produktiv oder kritisch waren, ge¬ 
lungen. Im besonderen hat sich ergeben, daß die immanente Ände¬ 
rung der Vorstellung und der Übergang zum Kinästhetischen in der 
Regel nur bei produktiven und kritischen Fragen, die Dynamik, die 
symbolischen Vorstellungen, insbesondere das innige Verhältnis von 
Vorstellungen und Gedanken nur im mathematischen Denken eine 
hervorragende Rolle spielen. Doch darf man hier, wie ich glaube, 
die Bedeutung der Vorstellung für das mathematische Denken trotz 
der ausführlichen Schilderung innerhalb der einzelnen Prozesse nicht 
zu hoch schätzen. Aus der Analyse der Protokolle ergibt sich, daß 
das Anschauliche sehr oft nicht das Entscheidende ist, sondern nur 
eine schöne Hilfe. Es ist begleitend; die Gedanken gehen den Vor¬ 
stellungen meist voran. Es ist in der Mathematik die Tendenz vor¬ 
handen, namentlich gilt das von den Vpn., die besonders viel Vor¬ 
stellungsmäßiges schildern, das rein analytisch Verstandene in das 
Geometrische zu übersetzen, wir haben also hier so eine Art Trans¬ 
formation des Unanschaulichen in das Anschauliche. Das Anschau¬ 
liche scheint für das Behalten und die Darstellungsweise wesentlich 
zu sein. Die Variabilitätsmöglichkeit der Änderung der Anschauung 
in den verschiedenen Bewußtseinsstufen innerhalb der Denkprozesse 
haben wir auch besonders beim produktiven und kritischen Denken 
in unseren Versuchen gefunden (Kapitel I § 6, 7). Dieses durch die 
vorliegende Untersuchung gesicherte Resultat scheint mir einen 
wichtigen psychologischen Faktor zur Erklärung der geistigen Pro¬ 
duktivität darzustellen. Im mathematischen Denken haben wir hier 
eine schöne Stufenfolge vor uns. Der Anfänger erkennt das Wesen 
der Funktion am besten durch die Anschauung, die beim reiferen 
Verständnisse schwindet, und im schöpferischen Denken bildet 
wiederum eine innerhalb der Prozesse modifizierbare anschauliche 
Grundlage für den Forscher eine Hilfe, für den Studierenden einen 
Anhaltspunkt zu ebenfalls freier geistiger Betätigung. Das Verhält¬ 
nis von Vorstellungen und Denken ist hier wegen der wichtigen Rolle 
für das mathematische Denken ausführlicher behandelt worden. 

Die feinere Ausarbeitung zeigt zunächst das Schema als repro- 


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Ludwig Rangette, 


duktive Stütze und dann seine Bedeutung für das produktive und 
kritische Denken; in der Lokalisation konnten wir die individuell 
geartete Zeitrepräsentation und in manchen Versuchen eine eigen¬ 
tümliche Verschmelzung von Raum und Zeit feststellen. Zur Psycho¬ 
logie der Gedanken haben alle Fächer, wenn auch die Mathematik in 
eigentümlicher Weise, beigetragen. Es scheint, daß das Gedankliche 
bei allen, auch den durch einfachere Aufgaben verursachten Prozessen 
das Integrierende ist. 

Beim Vergleich der elementaren Inhalte untereinander können wir 
eine allgemeine Stufenfolge konstatieren. Bei Vorstellungskomplexen 
werden einzelne Teile mehr beachtet, Vorstellungen hegen nur in 
Bereitschaft oder sind in graduellen Abstufungen im Bewußtsein vor¬ 
handen. In der Schilderung von Schemata weiß die Vp. oft nur das 
Vorhandensein anzugeben. In einzelnen Fällen, dieses gilt nament¬ 
lich bei den Schemata innerhalb der Denkprozesse, können sie sehr 
detailliert beschrieben werden; bei der Lokalisation haben wir es oft 
nur mit einer vagen räumlich-zeitlichen Beziehung zu tun, ein anderes 
Mal können die Vpn. ganz genau einen Lokalisationswechsel mit allen 
Einzelheiten angeben. Bei Komplexen ist in der Regel nur ein 
Gedanke hervorgehoben, die anderen Gedanken hegen in Bereitschaft; 
das Wissen implicite führt zur Wissensaktualisierung, bei mehr- < 

fachen Gedanken erscheint der eine klarer als der andere. Bei der 
Anbahnung entwickelt sich allmählich ein Gedanke, während ein 
anderer im Bhckpunkt des Bewußtseins ist, die Entwicklung steigert 
sich oft so, daß der zuerst beachtete Gedanke verschwindet und der 
zweite sich geltend macht. 

II. Verhältnis der Denkfunktion zu den elementaren 

Inhalten. 

Eine allgemeine Zusammenfassung des ersten Teiles, wo also die 
elementaren Inhalte der Denkprozesse beschrieben worden sind, muß 
auch neben dem Vergleich der Inhalte und deren Verhältnis zu¬ 
einander eine Beziehung der Denkfunktion zu den elementaren In¬ 
halten erörtern. Es fragt sich, worin ist die Ursache für den Über¬ 
gang von dem Anschaulichen zu dem Unanschaulichen zu finden? ' 

Die Antwort lautet: im Denken. Es scheint mir das Ergebnis des 
vorliegenden Teiles zu sein, daß die spezifische Leistung der Denk¬ 
funktion in bezug auf die elementaren Inhalte darin besteht: die 
durch die Aufgabe erregten, also von den Wissensgebieten abhängigen 
und die während der Lösung auftretenden anschaulichen elementaren 
Inhalte hinüberzuführen zu den unanschaulichen. Plan und Anlage 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 241 

des I. Teiles, dessen Ausarbeitung nicht nach vorher gefaßten Ge¬ 
sichtspunkten, sondern lediglich auf Grund der Analyse der Proto¬ 
kolle erfolgt ist, bestätigen diese Behauptung. Wir haben: begleitende, 
einordnende Vorstellungen, immanente Änderung der Vorstellungen, 
Vorstellungen und Gedanken in der Mathematik und Vorstellungen 
als Repräsentanten ganzer Gedankenkreise; die akustischen Vor¬ 
stellungen bei der Repräsentation der Aufgabe, bei Gedankenüber¬ 
gängen und ebenfalls als Träger von Gedanken und Komplexen; 
beim Schema die reproduktive Stütze, die gedankliche Ausfüllung, 
dann innerhalb der Denkprozesse wiederinn das Schema als Symbol 
und Träger ganzer Gedankenkomplexe. 

Wir können nun auch verstehen, weshalb Komplexe, also gedank¬ 
liche Momente oft im Denkprozesse ohne nähere Analyse verwertet 
werden. Die Tatsache, daß das Denken aus der mannigfaltigen Zahl 
der ihm zur Verfügung stehenden elementaren Inhalte ohne Mühe, 
fast unwillkürlich die zur Lösung zweckdienlichen aussucht, nenne 
ich die Ökonomie des Denkens, worauf ich ja schon gelegentlich in 
Kapitel IV hingewiesen habe. Wir können zusammenfassend sagen: 

Was für anschauliche elementare Inhalte auch durch die Aufgabe, 
die betreffenden Wissensgebiete und das bereitliegende Wissen der 
Vp. erregt werden, immer hat das Denken sich die Möglichkeit ge¬ 
schaffen, von den anschaulichen Inhalten zu dem Gedanken, also zu 
dem Unanschaulichen zu gelangen. Die mannigfaltige Auswahl, die 
das Denken nun innerhalb des Denkprozesses trifft, um möglichst 
schnell zu diesem Ziele zu gelangen, nenne ich eben die Ökonomie 
des Denkens. 

Diese Leistung der Denkfunktion möchte ich als Direktionskraft 
des Denkens bezeichnen; hiermit soll aber nur etwas rein Formales, 
nichts Inhaltliches ausgesagt sein. Wie ich schon in der Einleitung 
§ 4 hervorhob, gesellt sich zu jedem komplizierteren Denkprozeß 
eine außergedankliche Komponente: die determinierende Tendenz, 
die den Gesamtverlauf unter Gesichtspunkte und Aufgaben stellt. 
Das Denken ist der determinierenden Tendenz untergeordnet, die 
dem Denken den Anstoß gibt, auch innerhalb der Prozesse in die 
Willenssphäre hinübergreift, durch Gefühle und Willen das Denken 
antreibt, wenn etwa Schwierigkeiten zu überwinden sind, oder wenn 
die Lösung nicht der Erfüllung einer Aufgabe oder Instruktion ent¬ 
spricht; auch dann noch oft weiter wirkt, wenn das Denken voll¬ 
ständig versagt, indem der Prozeß mit einem Gefühl der Unlust 
endigt. Die determinierende Tendenz gibt also dem Denken nur den 
äußeren Antrieb, das Denken sucht sich Vorstellungen, Schemata, 

AretlT für P»jcholo*i«. IXXYL 16 


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Ludwig Rangette, 


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Gedanken selbständig aus. Dieses nenne ich eben die Direktions¬ 
kraft. Über das Verhältnis von Denken und determinierender Ten¬ 
denz kann erst in den späteren Teilen ausführlich die Rede sein. 

Aus dem Verhältnis der Denkfunktion zu den elementaren Inhalten 
ließe sich für den vorliegenden ersten Teil der Abhandlung eine andere, 
allgemeine Einteilung ableiten, die ich kurz skizzieren und mit unserer 
Einteilung vergleichen möchte. Das Verhalten der Denkfunktion 
den elementaren Inhalten gegenüber könnte mau unter zwei Haupt¬ 
gesichtspunkte zusammenfassen; wir könnten ganz allgemein sprechen 
von einer Psychostatik und Psychodynamik der elementaren 
Inhalte. Zur Psychostatik würde ich jene Paragraphen vorliegender 
Arbeit rechnen, wo die elementaren Inhalte auftreten, ohne daß sie 
innerhalb des Prozesses umgestaltet oder modifiziert werden. Wir 
erhielten etwa folgendes Bild: 

A. Zur Psychostatik der elementaren Inhalte, bei 

I. den Vorstellungen (Kapitel I, §1—4) 1 ), 

II. dem Schema (Kapitel II, §1, §2, §5), 

III. der Lokalisation (Kapitel III, § 1—3), 

IV. den Gedanken (Kapitel I, §9, §10; Kapitel IV, §1—3). 

B. Zur Psychodynamik der elementaren Inhalte, bei 

I. den Vorstellungen (Kapitel I, §5—8), 

II. dem Schema (Kapitel II, § 3—4), 

III. der Lokalisation (Kapitel III, § 4, § 5), 

IV. den Gedanken (Kapitel IV, § 4—10). 

Diese Einteilung hätte den Vorzug, verwandtschaftliche Bezie¬ 
hungen, dann aber auch Unterschiede zwischen den einzelnen elemen¬ 
taren Inhalten klarer zum Ausdruck zu bringen. Es würde nicht 
schwer sein, innerhalb einer Gruppe die einordnende und begleitende 
Vorstellung dem einordnenden und begleitenden Schema oder die 
Dynamik der Vorstellung und des Schemas dem Lokalisationswechsel 
und der Gedankenentwicklung gegenüber zu stellen. Es könnte 
darauf hingewiesen werden, daß den in AI, II geschilderten Vor¬ 
stellungen und Schemata keine Selbständigkeit zukommt, d. h. sie 
treten immer in Begleitung von Gedanken auf. Gedankenkomplexe, 
das Wissen implicite dahingegen können jeglicher anschaulichen 
Grundlage entbehren. Für reproduktive bzw. produktive Denk¬ 
leistungen würden, worauf wir ja schon gelegentlich hingewiesen haben, 
hauptsächlich die in A bzw. B geschilderten elementaren Inhalte in 


1) Die Klammerangaben beziehen sich auf die Abschnitte vorliegender 
Arbeit. 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 243 

Betracht kommen, jedoch mit der Einschränkung, daß die Lokalisa¬ 
tion nur reproduktiven Leistungen zugrunde liegt. 

Trotz dieser Vorzüge habe ich an der ursprünglichen Einteilung 
festgehalten, die sich unmittelbar auf Grund der Analyse der zahl¬ 
reichen Protokolle ergab. Ich wollte dem Leser ein Bild von der 
Struktur unseres Denkvorganges geben, wie es sich mir darbot; rück¬ 
schauend dürfen wir natürlich auch eine Einteilung erwähnen, die 
aus dem Ergebnisse des ersten Teiles zu gewinnen ist. 

III. Beziehungen zum wissenschaftlichen Denken. 

Wir haben im vorigen Abschnitt von der Denkfunktion als einer 
Direktionskraft gesprochen. Wie jede Kraft kann auch die Direk¬ 
tionskraft nur in ihrer Wirkung erkannt werden. Die Wirkung 
besteht nun darin, wie wir gesehen haben, daß sie sich selbständig 
Vorstellungen, Schemata, Gedanken aussucht. Wenn ich den physi¬ 
kalischen Vergleich noch weiter ausbauen darf, würde ich sagen, daß 
wir es hier mit elastischen Kräften zu tun haben. Mit wenigen Aus¬ 
nahmen, nur nach besonders eindrucksvollen Versuchen, haben es 
die Vpn. vermocht, jede Beziehung zu anderen schon gelösten Auf¬ 
gaben im Sinne der Instruktion zu vermeiden; weiter haben die zahl¬ 
reichen Protokolle ergeben, wie das Denken innerhalb eines Prozesses 
die elementaren Inhalte in einer dem Individuum eigentümlichen 
Form modifizieren und umgestalten kann, um zunächst Vorgefundene 
Gedankeninhalte zu umfassen und dem Verständnis des Denkenden 
näher zu bringen oder um neue Gedankenkombinationen entstehen 
zu lassen. Dies ist der springende Punkt. Nur aus dem Grunde, um 
Gedankeninhalte zu umfassen und neue Gedankenkombinationen zu 
bilden, treten die elementaren Inhalte, durch die Denkfunktion ver¬ 
anlaßt, in der geschilderten mannigfaltigen Weise in Beziehung. 

Im wissenschaftlichen Denken haben wir allerdings nur die Denk¬ 
inhalte — die Leistungen — vor uns; unsere Versuche setzen sich 
aber aus zwei Komponenten zusammen, dem Denkergebnis, das sich 
in der Lösung der betreffenden Aufgabe zeigt, und der psychologi¬ 
schen Grundlage, die sich aus der genauen Analyse der Denk¬ 
erlebnisse ergibt. 

Unter der psychologischen Grundlage verstehe ich die Ge¬ 
samtheit aller von den Vpn. nachträglich geschilderten Momente, 
aus denen das Denkergebnis resultiert. Zu dieser Grundlage rechne 
ich nicht nur die anschaulichen und unanschaulichen elementaren 
Inhalte, deren Verhältnis zueinander im vorliegenden Teil der Ab¬ 
handlung eingehend behandelt worden ist, sondern, da das Denken 

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Ludwig Kangette, 


als im Individuum begründet anzusehen ist, auch die Willensakte, 
die Gefühle und die ästhetischen Momente, sofern sie das Denk¬ 
ergebnis beeinflußt oder bewirkt haben. Weitere Untersuchungen, 
die ich nach Abschluß des ersten Teiles an der Düsseldorfer Maler¬ 
akademie beginnen werde, sollen Aufschluß über die psychologische 
Grundlage beim künstlerischen Schaffen und Genießen geben, um so 
die Grundlagen beim geistig und künstlerisch Schaffenden vergleichen 
zu können. In vorliegender Arbeit handelt es sich mir nur darum, 
— dem Ergebnis des ersten Teiles entsprechend — die Beziehung der 
psychologischen Grundlage, soweit sie von anschaulichen und un¬ 
anschaulichen Faktoren bedingt ist, zum wissenschaftlichen Denken 
anzudeuten. Ich denke bei der Ausführung vornehmlich an die mir 
vertrauteren Wissensgebiete der Philosophie, der Mathematik und 
der Physik. 

Die Bedeutung der psychologischen Grundlage für das wissen¬ 
schaftliche Denken soll erst später im einzelnen erörtert werden. 
Hier sei nur erwähnt, daß in unseren Versuchen, die außer der Klar¬ 
legung logischer Gedankenbeziehungen auch eine eingehende Schilde¬ 
rung der Denk erleb nisse enthalten, dieVpn. oft nur die psychologische 
Grundlage während des Prozesses im Bewußtsein hatten; sie sagen 
öfters aus: Im Bewußtsein hatte ich nur das und das, gemeint war 
damit . ..; nun folgt der eigentliche Gedankengang. Nehmen wir 
noch die gelegentüchen Äußerungen der Vpn. hinzu, daß die Versuche 
nichts Gezwungenes für sie seien, so können wir vorweg auch für 
das wissenschaftliche Denken folgern: 

»Durch die feinere, differenzierte Entwicklung der elementaren 
Inhalte schafft sich das Denken die Möglichkeit, großzügige, originale 
Ideen eines wissenschaftlichen Systems aufzufassen und zu verstehen. 
Die Bewußtseinsstufen, die immanente Änderung der Vorstellungen, 
das Schema und die Gedanken innerhalb der Denkprozesse bilden 
ferner auch die psychologische Grundlage für selbständige, produktive 
Leistungen.« 

Unser Ergebnis stimmt auch mit der Erfahrung überein. Ein guter 
Pädagoge wird die Intelligenz eines Schülers nicht nur nach seinen 
Leistungen beurteilen, die auch durch andere Faktoren: Fleiß, guten 
Willen, Aufmerksamkeit, Ehrgeiz, Ehrgefühl bedingt sein können, 
sondern auch nach der Fähigkeit des Schülers, neue Gedanken in sich 
aufzunehmen, d. h. in Beziehung zu anderen, schon vorhandenen 
zu setzen, und sie dann in individueller Weise wiederzugeben. Im 
öffentlichen Leben wird oft Intelligenz mit der bloßen Fähigkeit einer 
großen reproduktiven Bereitschaft einer Menge von Gedankeninhalten 


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Unters, über die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 245 

verwechselt; doch kann man auch hier die Beobachtung machen, daß 
selbst der einfache, schlichte Denker w T ohl zu unterscheiden weiß 
zwischen der Intelligenz und der Scheinintelligenz. 

Jedoch unsere Versuche bestätigen nicht nur, sondern führen uns 
auch einen Schritt vorwärts. Zunächst zeigen sie von neuem die 
Fruchtbarkeit der psychologischen Methode auch bei komplizierteren 
Denkversuchen. Die Vpn. konnten nach einiger Übung ganz genau 
ihre psychologische Grundlage neben der Klarlegung des Denk¬ 
ergebnisses schildern, namentlich gilt dies, abgesehen von den Vpn. 
der Philosophie, die alle große Übung in der Selbstbeobachtung be¬ 
saßen, von den Mathematikern. Hier war es dem VL. oft nur möglich, 
auf Grund der Schilderung des Erlebnisses die Resultate zu verstehen; 
aus der psychologischen Grundlage entwickelten sich erst die Ge¬ 
dankenzusammenhänge, oft war auch nur die psychologische Grund¬ 
lage im Bewußtsein, sie bildete gewissermaßen eine Vorstufe für das 
logische Erkennen. So scheint es fast, als ob wir auf zwei Wegen zum 
Verständnis und zur Erkenntnis eines wissenschaftlichen Systems 
gelangen können, indem der Forscher, namentlich wenn er auch 
Lehrender ist, dem Studierenden nicht nur die logischen Beziehungen 
seiner Gedankenkombinationen vorträgt, sondern auch die psycho¬ 
logische Grundlage schildert, aus der sein System hervorgegangen ist. 
Um zum logischen Verständnis einer Gedankenreihe zu kommen, 
vollzieht sich im Zuhörer ein komplizierter Prozeß, dessen Analyse 
wir ja in vielen Fällen kennen gelernt haben. Der Prozeß wird er¬ 
leichtert, wenn der mathematische Forscher etwa außer den logi¬ 
schen Beziehungen gleichzeitig mitteilt: So stelle ich mir den ima¬ 
ginären oder sechsdimensionalen Raum, einen Schnitt durch ein 
absolutes Kegelbüschel vor. Der Lehrer, der bei seinen Ausführungen 
auf das logische Verständnis von seiten des Schülers rechnet, wird 
ebenfalls Verständigung finden, wenn er zugleich seine psychologische 
Grundlage, in vielen Fällen die Vorstufe zum logischen Erkennen, 
schildert. Ich glaube, wenn die experimentelle Psychologie im Verein 
mit Vertretern anderer Disziplinen diese Richtung weiter verfolgt, 
wird sie uns nicht nur fruchtbare Winke für den elementaren Unter¬ 
richt geben, sondern auch für die Lehrmethode an unseren Hoch¬ 
schulen. 

Es scheint mir fast so, daß die Forschungsergebnisse der Thicm- 
schen Arbeiten über Polarsysteme bildlicher Ordnung aus einer im 
Forscher eigentümlich entwickelten psychologischen Grundlage resul¬ 
tieren. 

Vergegenwärtigen wir uns noch kurz die Verfahrungsweise der 


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Ludwig Rangette, 


Naturwissenschaft seit ihrer wissenschaftlichen Begründung. Um 
die Naturerscheinungen zu begreifen, legt der Forscher seinem Ge¬ 
dankengang Hilfsvorstellungen zugrunde, wie Atome, Molekel, Jonen, 
Äther; schon dem Anfänger werden diese fiktiven Annahmen vor¬ 
getragen, und Vorgeschrittene erhalten in der theoretischen Physik 
etwa genauere Angaben über die Natur des Äthers. In dem Gelehrten 
selbst hat sich von diesem nur hypothetisch angenommenen Stoff 
eine ganz genaue, dem Forschungsergebnisse eigentümliche Vor¬ 
stellung — eben die psychologische Grundlage — gebildet. Um z. B. 
die Erscheinungen des linear polarisierten Lichtes kennen zu lernen, 
nahm Fresnel an, daß der Lichtäther stets die gleiche Elastizität 
besitze, dagegen in verschiedenen Medien verschiedene Dichtigkeiten, 
Neu mann jedoch, die Dichte des Lichtäthers sei konstant, seine 
Elastizität variabel; daraus folgerten sie: Schwingungsebene und 
Polarisationsebene stehen entweder senkrecht zueinander oder fallen 
zusammen. PaulDrude spricht in seinen Darlegungen der F a r a d a y- 
Maxwellschen Anschauung der Elektrizität von einer Physik des 
Äthers 1 ). 

IV. Beziehungen zu anderen Gebieten und Aufgaben. 

Aus der kurzen Zusammenfassung ergibt sich von selbst die Be¬ 
ziehung zu anderen Gebieten und Aufgaben, vornehmlich zur Päda¬ 
gogik, zur Erkenntnistheorie und last not least auch zu dem eigenen 
Gebiete selbst. 

Der erste vorliegende Teil der Untersuchung hat, wie ich glaube, 
klar gezeigt, was Külpe auf dem psychologischen Kongreß in Berlin 
betonte, wo er u. a. ausführte: »Für den Unterricht im besonderen 
gilt die Erkenntnis, daß wir viel zu lange unter dem Einfluß des 
Sensualismus gestanden haben, d. h. unter dem Lehrbegriff, welcher 
alles Wissen auf die Sinne und die Anschauungen gründet. Gewiß 
hat die experimentelle Psychologie die Bedeutung der Anschauung 
für die Entwicklung des Geisteslebens nicht nur nicht herabgesetzt, 
sondern erst recht würdigen gelehrt.« Wir fanden, daß das Gedank¬ 
liche der integrierende Bestandteil innerhalb der Denkprozesse ist, 
daß aber das Anschauliche, insbesondere die Vorstellung für die Mathe¬ 
matik, die Schemata für die Philosophie, die räumlich-zeitliche Loka¬ 
lisation für die geschichtlichen Disziplinen nicht hoch genug ver¬ 
anschlagt werden könne. Die Methodik hat den weiteren Ergebnissen 


1) Paul Drude, Physik des Äthers auf elektromagnetischer Grundlage, 
Stuttgart 1894. 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 247 

der experimentellen Psychologie Rechnung zu tragen. Erfreulicher¬ 
weise hat man damit in der Mathematik schon den Anfang gemacht. 
Der Darmstädter Professor Münch hat den Kinematographen in 
den Dienst der mathematischen, astronomischen und technischen 
Wissenschaften gezogen. Der Begriff des geometrischen Ortes, der 
Verlauf einer Funktion, die Beweise vieler Lehrsätze können durch 
Ablaufenlassen eines mathematischen Films zur Anschauung gebracht 
werden. Aus unseren Versuchen haben wir gesehen, daß die Ge¬ 
dankenentwicklung das Primäre ist; wie es der Gedanke für zweck¬ 
mäßig hält, zieht er die Vorstellungen mit ihrer Dynamik in seinen 
Bereich. Mit der Vorstellungsentwicklung, die also durch das Denken 
reguliert wird, geht Hand in Hand das Verständnis; bei den Versuchen 
Münchs ist es umgekehrt, zunächst das Ablaufen der Bilder, dann 
das Verständnis. 

Die weitere Forschung hat darzutun, ob etwa auch die anderen 
elementaren anschaulichen Inhalte, also das Schema und die Loka¬ 
lisation, für die unterricht liehe Methode nutzbar gemacht werden 
können. Es wäre zu zeigen, ob und wie etwa bei grammatischen Studien 
das Schema, und zwar unter Berücksichtigung der verschiedenen 
Altersstufen, eine Rolle spielt. Genau dasselbe gilt in den geschicht¬ 
lichen Disziplinen für die räumlich-zeitliche Lokalisation. Hieraus 
würden sich viele Anhaltspunkte für die Ausgestaltung der zweck¬ 
mäßigsten Methoden finden lassen. 

Es fragt sich nun, ob lediglich durch die Wahl der Wissensgebiete 
die Bevorzugung der einzelnen elementaren Inhalte bedingt worden 
ist. Die vorliegende Untersuchung müßte also in der Weise variiert 
werden, daß neben schwierigeren Fragen aus dem Fachgebiet all¬ 
gemeinere Fragen aus den verschiedensten Gebieten allen Vpn. ge¬ 
geben werden; daraus könnte das Verhältnis der einzelnen elemen¬ 
taren Inhalte zueinander erforscht werden. Diese Versuchsanordnung 
könnte ebenfalls, natürlich unter geeigneter Auswahl der Fragen, 
ausgedehnt werden zur Untersuchung des Denkens bei Schülern. 
Ich glaube, hierdurch würden sich weitere Anhaltspunkte für die 
Beurteilung der Intelligenzleistungen und auch, worauf Külpe 
ebenfalls auf dem psychologischen Kongreß in Berlin hingewiesen 
hat, für die Erforschung der Berufswahl ergeben. 

Die Tragweite der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung 
hegt auch auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie. Wir haben auf 
das Schema als Symbol und auf Gedankenkomplexe hingewiesen und 
kurz das Problem der Gestaltqualität gestreift. Bei dem Schema 
können wir von Raumgestalten, bei der Lokalisation von Zeitgestalten 


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248 


Ludwig Rangctte, 


sprechen. Wir haben hier keine Raumempfindungen oder Farben¬ 
empfindungen, wir sehen die Gestalten in die Dinge hinein, es ist nicht 
etwas an den Dingen, Schemata, Lokalisation, Komplexe sind uns 
unmittelbar gegeben. Es ist hier ähnlich wie bei den Begriffen in der 
Logik. Den Begriffen kommen Inhalt und Umfang zu, die aber in 
der Form des Begriffes zu einer logischen Einheit verbunden sind. 
Von den Schematen und der Lokalisation kommen wir weiter zu den 
Komplexen. Auf dem unanschaulichen Gebiete haben wir in der 
Regel nicht einen Gedanken, sondern einen Komplex von Gedanken. 
Die Komplexe haben andere Eigenschaften als die einzelnen Ge¬ 
danken. Für die Ökonomie des Denkens ist wichtig, daß durch ein 
Schema oder eine Vorstellung der ganze Komplex repräsentiert sein 
kann, und daß wir innerhalb des Denkprozesses bald den einen, bald 
den anderen Teil hervorheben können, aber so, daß mit der Beachtung 
eines Gedankens gleichzeitig ein Nebenbeachten einer Bereitschaft 
der anderen Gedanken des Komplexes verbunden ist. Ich bin mir 
hier bewußt, daß ich mich in Gedankengängen bewege, die durch 
Vorlesungen über Erkenntnistheorie und Psychologie des Denkens 
bei Külpe und Bühler erregt sind, die seitdem in Komplexform in 
meinem Bewußtsein liegen und sich jetzt geltend machen. 

Die vorliegende Untersuchung hat auch bestätigt, was die anderen 
Forscher gefunden haben. Auch sie hat klargelegt, daß Gedanken, 
also unanschauliche Elemente innerhalb der Denkprozesse vorhanden 
sind. Aus den Protokollen und Erörterungen können wir auch zu 
den spezielleren Ergebnissen der anderen Forscher gelangen, insbe¬ 
sondere können wir die drei Arten von Gedanken: das Regelbewußt¬ 
sein, das Beziehungsbewußtsein und die Intention, die Bühler ge¬ 
funden hat, herauslesen: 

1) Regelbewußtsein ist das Wissen von allgemeinen Regeln, die 
mit einem Schlage bei irgend einer Aufgabe in Bereitschaft treten und 
das Wissen vermitteln; wir haben es gefunden bei den Wissenskom¬ 
plexen und dem Wissen implicite; 

2) das Beziehungsbewußtsein ist die Erinnerung an die Beziehung 
der Sätze, ohne daß man an die einzelnen Satzglieder zu denken 
braucht; wir haben es gefunden bei den Protokollen des Kapitels IV 
§6 und §9; 

3) die Intention ist die Richtung auf eine Fülle von Gedanken, die 
plötzlich gegenwärtig sind, ohne genaue Spezifikation. Bei uns waren 
es die Wissenskomplexe und die angebahnten Gedanken. 

Aber auch eine Erweiterung des Anwendungsbereiches der experi¬ 
mentellen Methode in der Psychologie scheint mir in der vorliegenden 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens auf exp. Grundlage. 249 

Untersuchung angebahnt zu sein. Wie in der Naturwissenschaft das 
Experiment nicht nur die Aufgabe hat, absichtlich in der Natur 
beobachtete Fälle hervorzubringen, sondern uns auch innerhalb eines 
kurzen Zeitraumes das zeitliche Werden der Naturvorgänge zum 
Verständnis zu bringen, so auch das Experiment in der Psychologie. 
Die Protokolle des Kapitels IV § 5 haben uns die Entwicklung eines 
Gedankens innerhalb eines Prozesses gezeigt, hierbei ist es auch in 
einigen Fällen zum intuitiven Erkennen gekommen. Das genauere 
Studium der Gedankenentwicklung unter Zuhilfenahme einer Reihe 
zweckmäßiger produktiver und kritischer Fragen wird uns ein 
weiteres Licht werfen auf die geistige Produktivität im wissenschaft¬ 
lichen Denken. Wir brauchen nur den Schluß zu machen, daß es 
im wissenschaftlichen Denken genau so zugehen wird, wie bei den 
Versuchen. Es fragt sich, ob wir berechtigt sind, diesen Schluß zu 
ziehen. Ich glaube, diese Frage bejahen zu dürfen. 

Anhang. 

Zusammenstellung der in dieser Arbeit vorgelegten Fragen aus 

den einseinen Gebieten 

(alle Fragen, die gestellt worden sind, werden erst 
im zweiten Teile mitgeteilt). 

Abkürzungen: I, II, III bedeutet das reproduktive, produktive 
bzw. kritische Denken; P = Philosophie, M = Mathematik, 
Germ. = Germanistik und G = Geschichte. 

PI. 

1) Was ist Metaphysik? 

2) Welches ist das Hauptproblem des Theätet? 

3) Was ist absolute Skepsis? 

4) Wie heißt der ontologische Gottesbeweis? 

5) Worin besteht die dialektische Methode Hegels? 

6) Was ist ein disjunktiver Schluß? 

7) Was versteht man unter Konszientialismus? 

8) Welches sind die bedeutendsten Philosophen der Renaissance? 

9) Wie wurde die Syllogistik des Aristoteles von den Skeptikern 
bestritten? 

10) Wie ist das Problem der Willensfreiheit bei den Stoikern auf¬ 
gefaßt worden? 

11) Bei welchen Philosophen finden wir zuerst die Zeit als Form 
des inneren Sinnes? 


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250 


Ludwig Rangette, 


12) Welches ist der Unterschied der zwei Weltenlehren von 
Plato und Kant? 

13) Warum ist der Nativismus nicht Kants Meinung? 

14) Wie faßt Kant das »Ich« auf? 

PII. 

1) Wie legen Sie sich die logische Bedeutung der Grenzbegriffe 
zurecht? 

2) Worauf würden Sie eine Darlegung der ethischen Prinzipien¬ 
frage stützen? 

3) Wie suchen Sie die Geltung der Axiome zu begründen? 

4) Haben Raum und Zeit nach Ihrer Ansicht eine metaphysische 
Bedeutung? 

5) Gehört das principium rationis sufficientis nach Ihrer Ansicht 
in die Logik oder Gegenstandtheorie? 

6) Kommt den Begriffen eine ReaÜtät zu? 

7) Wie können Sätze, ohne aus der Erfahrung zu stammen, den¬ 
noch gegenständliche Gültigkeit haben? 

8) Wie untersuchen Sie den Voluntarismus in der modernen 
Psychologie? 

9) Stellen Sie die Bedeutung des Erkenntnisproblems für die 
Einzelwissenschaften fest. 

10) Welche Gesichtspunkte würden Sie bei der Aufstellung ästhe¬ 
tischer Normen berücksichtigen? 

11) Zeigen Sie an einem selbst zu wählenden Beispiel, daß die 
Induktion nicht Inversion des Syllogismus ist. 

12) Wie würden Sie das »Ich« definieren? 

13) Wie würden Sie ohne Anlehnung an einen Philosophen zeigen, 
daß es nicht notwendig ist, die Apriorität der Raum- und Zeit¬ 
anschauungen anzunehmen. 

14) a) E 3 ist an einem Beispiel zu zeigen, die Wissenschaft hat 
sehr oft Wege zu gehen, die durchaus nicht mit denen überein¬ 
zustimmen brauchen, die von logischen Gesichtspunkten aus 
als die kürzesten erscheinen. 

14) b) Wie würden Sie den Wertbegriff definieren? 

P III. 

1) Ist es wahr, daß die Logik eine Wertwissenschaft ist? 

2) Ist es wahr oder falsch, daß der Sensualismus eine mögliche 
Erkenntnistheorie ist? 

3) Halten Sie Erdmanns Ansicht vom Verhältnis des formu¬ 
lierten zum unformulierten Denken für richtig? 


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Untere, über die Psychologie des wiBsensch. Denkens auf exp. Grundlage. 251 

4) Ist die Ansicht der Ästhetik als Normwissenschaft richtig ? 

5) Ist die herkömmliche Schlußlehre unangreifbar? 

6) Ist die Humesche Kritik gegen die Simultaneität von Ursache 
und Wirkung gerechtfertigt? 

7) Ist Witaseks Ansicht richtig: Das Gefallen spielt dem Ästhe¬ 
tischen gegenüber die konstituierende Rolle? 

8) Ist derWille als Quelle der sogenannten Willenshandlung nur 
in relativem oder auch im absoluten Sinne unabhängig? 

MI. 

1) Nennen Sie mir einige Hauptsätze über harmonische Teilung. 

2) Wie zeigt man, daß man mit komplexen Zahlen ebenso rech¬ 
nen kann, wie mit reellen? 

3) Welche Gründe bestimmen uns, den geraden Raum als vier¬ 
dimensional zu bezeichnen? 

4) Wie gelangt man zum Prinzip der virtuellen Verschiebung? 

5) Wie definiert man lg x im komplexen Gebiet? 

6) Wann ist eine Projektivität perspektivisch? 

7) Was versteht man unter der Hesseschen Konfiguration? 

8) Wie berechnen Sie den Inhalt eines Parabelsegments? 

MII. 

1) Wie konstruieren Sie zu einer gegebenen Ellipse den Mittel¬ 
punkt ? 

2) Wie berechnen Sie Y~bÖ durch Reihenentwicklung? 

3) Wie konstruiert man den Ausdruck x = o V 10, wenn a 
gegeben ist? 

4) Wie suchen Sie den geometrischen Ort der Schnittpunkte 
zweier Parabeltangenten, die sich rechtwinklig schneiden? 

5) Wie berechnen Sie ? 

6) Zwischen 2 und 64 sollen 4 Zahlen eingeschoben werden, so 
daß eine geometrische Reihe entsteht? 

2 

7) Es ist zu beweisen, daß 7t - — lg i ist. 

% 

8) Bestimmen Sie den Wert von cos 900°. 

9) Wie finden Sie den geometrischen Ort des Mittelpunktes eines 
veränderlichen Kreises, der stets zwei Kreise berührt? 

10) Wie konstruieren Sie die Integralkurve zu einer beliebig ge¬ 
gebenen Differentialkurve auf graphischem Wege? 

MIII. 

1) Stellt jede Gleichung zweiten Grades ein Kurve dar? 

2) Ist 2 sin a 3s sin 2 a ? 


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252 


Ludwig Rangette, 


3) Nimmt bei einem System konfokaler Ellipsen das Krümmungs- 
maß ab oder zu? 

4) Beruht der Unterschied zwischen der Definition des uneigent¬ 
lichen Punktes einer Geraden in der gewöhnlichen Geometrie 
und der Definition des imeigentlichen Punktes in der Funk¬ 
tionentheorie lediglich darauf, daß wir es dort mit einem 
eindimensionalen, hier mit einem zweidimensionalen Gebilde 
zu tun haben? 

5) Sind es metrische oder Anordnungseigenschaften, die die Ein¬ 
führung der uneigentlichen Punkte veranlassen? 

6 ) Bestehen die Vorzüge einer Funktion komplexen Arguments 
y = f (u + iü) in der Einführung der zweiten Veränder¬ 
lichen v? 

Germ. I. 

1 ) Wie bilden die i-Stämme ihren Plural? 

2) Welche Hauptliedersänger umfaßt die große Heidelberger 
Handschrift? 

3) Welchen Einfluß hat Goethes Werther auf den modernen 
Roman gehabt? 

4) Wie bekämpft Lessing den Satz, daß die Poesie eine redende 
Malerei sei? 

5) Welche Merkmale haben wir für die Bestimmung der Dekli¬ 
nationsklassen im Germanischen? 

6 ) In welchem Verhältnis stehen die Mundarten zum Hoch¬ 
deutschen? 

7) Wer führte die italienischen Versmaße in die deutsche Lite¬ 
ratur ein? 

8 ) Wie wirkte der Aufenthalt auf der Karlsschule auf Schillers 
Jugenddramen? 

9) Wann trat in der deutschen Poesie der Reim auf? 

Germ. II. 

1 ) Wie zeigen Sie die Ähnlichkeiten zwischen Wilhelm Meister 
und Gottfried Kellers »Grünem Heinrich«? 

2 ) Wie gelangen Sie zur zuverlässigsten Wahrheit über den 
Bruch zwischen Goethe und Friederike? 

3) Wie prüfen Sie die Autorschaft beim höfischen Epos? 

4) a) Wie prüfen Sie: welche Handschrift des Nibelungenliedes 
seine ursprüngliche Gestalt wiedergibt? 

4) b) Wie prüfen Sie die schriftsprachlichen Einmischungen in 
dem Dialekte eines mhd. Reimdichters? 


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Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens anf exp. Grundlage. 253 

5) Wie prüfen Sie den Bildungsgrad Wolframs von Eschenbach? 

6 ) Wie prüfen Sie den Einfluß der Troubadours auf die Minne¬ 
sänger? 

7) Wie prüfen Sie die Einwirkung der nordischen auf die germa¬ 
nischen Sagenstoffe? 

8) Wer könnte mit Höltys schwermütig elegischer Richtung 
Verwandtschaft zeigen? 

9) Wie würden Sie die Ursache der deutschen Romantik unter¬ 
suchen? 

Germ. III. 

1) Ist es wahr, daß Goethe im Alter seiner Zeit zurück war? 

2) Ergänzen sich nach Ihrer Meinung Lessing und Herder 
wirklich? 

3) Wer übte nach Ihrer Ansicht einen größeren Einfluß auf die 
deutsche Dichtung aus: Lessing oder Herder? 

4) Können nach Ihrer Ansicht die Jugend werke Goethes und 
Schillers miteinander verglichen werden? 

5) Wie beurteilen Sie die Lessingsche Fabeldefinition? 

GL 

1) Wodurch beginnt die Kreuzzugsbewegung? 

2) Welches ist das erste germanische Reich in Italien? 

3) Welches war die Gesamtlage Europas 1756? 

4) Welcher Beschluß wurde in dem Wormser Konkordat gefaßt? 

5) Inwiefern unterscheidet sich die moderne Geschichtsauffassung 
von der im Mittelalter? 

6) Welches sind die Verhältnisse des römischen Reiches beim 
Tode des Augustus? 

GII. 

1) Wie untersuchen Sie das Verhältnis zwischen Papst und 
Kaiser im Mittelalter? 

2) Wie prüfen Sie die Echtheit einer Quelle? 

3) Wie untersuchen Sie die Geschichte der Alpenpässe? 

4) Wie untersuchen Sie den Kulturzustand eines Volkes in einer 
bestimmten Epoche? 

5) Wie untersuchen Sie die Einwirkung Frankreichs auf Deutsch¬ 
land im 17. Jahrhundert? 

6) Wie untersuchen Sie die kulturelle Stellung der Frau im 
Mittelalter? 

7) Wie untersuchen Sie das Landsknechtswesen? 

8) Wie prüfen Sie die Echtheit der Konstantinischen Schenkung? 


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254 L. Rangette, Unters. Uber die Psychologie des wissensch. Denkens nsw* 


9) Wie untersuchen Sie die Entwicklung des religiösen Ideals 
unter dem Einfluß der Reformation? 

Gin. 

1 ) Ist es wahr oder falsch, daß das Zusammentreffen von 
Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen stattgefunden 
hat? 

2) Hat Wallenstein mit den Schweden ein Bündnis abgeschlossen? 

3) Ist Attila nach Ihrer Meinung von Ildiko ermordet worden? 

4) Ist es wahr, daß das Kausalgesetz in der Geschichte Anwen¬ 
dung findet? 

5) Ist es wahr, daß das Heilige Römische Reich Deutscher Nation 
eine Fortsetzung des römischen Reiches ist? 

6 ) Ist Xenophon eine zuverlässige Quelle für die griechische 
Geschichte gewesen? 

7) Ist es wahr, daß Heinrich der Löwe ein großer Kolonisator war ? 

8 ) Ist nach Ihrer Ansicht die englische Revolution ein Vorbild 
für die französische gewesen? 


(Eingegangen am 27. Dezember 1915.) 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstandenen 
Bewußtseinserlebnisse. 


Von 

Dr. M. Nachmansohn (Zürich). 


1 ) Die Inspiration wird als ein Hereinbrechen einer ganzen Ge¬ 
dankenwelt in unser Bewußtsein geschildert. Was zum Bewußtsein 
kommt, hinterläßt die Überzeugung, daß nicht »ich« die Gedanken 
gedacht, die Vorstellungen vorgestellt, sondern daß sie aus meinem 
»Innern« fertig herauskommen, wie Athene aus dem Haupte des Zeus. 
Vorstellungen, Bilder, Farben, Ideen steigen auf, innere Stimmen 
werden gehört. Doch scheint dies alles nicht dem anzugehören, was 
der so Schaffende als sein »Ich« ansieht. Nicht ich denke, sondern 
es denkt in mir, ohne meinen Willen, ja gegen meinen Willen, ja oft 
gegen meine beste Überzeugung. Etwas in mir ist da, das sich 
energisch Gehör zu verschaffen sucht, ob ich will oder nicht. Mein 
»Ich« scheint nur Organ, um dieses Fremde, nicht mir Gehörige zum 
Ausdruck zu bringen. 

Nietzsche hat beim Schaffen Zarathustras starke und anhaltende 
Inspirationen erlebt und darüber sehr scharfe Selbstbeobachtungen 
niedergeschrieben. 

»Hat jemand, Ende des 19. Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff 
davon, was Dichter starker Zeitalter Inspiration nannten? Im 
anderen Falle will ich’s beschreiben. — Mit dem geringsten Rest von 
Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß In¬ 
karnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten 
zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem 
Sinn, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit etwas 
sichtbar, hörbar wird, das einen im tiefsten erschüttert und umwirft, 
beschreibt einfach den Tatbestand. Man hat, man sieht nicht; man 
nimmt, man fragt nicht, wer da gibt, wie ein Blitz leuchtet ein Ge¬ 
danke auf mit Notwendigkeit in der Form ohne Zögern — ich habe 
nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung 


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256 


U. Nachmansohn, 


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sich in einen Tränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich 
bald stürmt, bald langsam wird, ein vollkommenes Außersichsein, 
mit dem distinkten Bewußtsein einer Unzahl feiner Schauder und 
Überrieselungen bis in die Fußzehen, eine Glückstiefe, in der das 
Schmerzlichste und Düsterste nicht als Gegensatz wirkt, sondern als 
bedingt, als herausgefordert. Alles geschieht im höchsten Grade 
unfreiwillig, aber wie im Sturme von Freiheitsgefühl, von Unbedingt¬ 
sein, von Macht, von Göttlichkeit... Die Unfreiwilligkeit des Bildes, 
des Gleichnisses ist das Merkwürdigste. Alles bietet sich als der 
nächste, der richtigste, der einfachste Ausdruck. Es scheint wirklich, 
als ob die Dinge selbst herankommen und sich zum Gleichnis an¬ 
böten 1 ).« 

Nach dieser Schilderung, die durchaus nicht einzig in ihrer Art ist, 
müssen wir annehmen, daß beim inspirativen Ausbruch die eigentliche 
Gedankenarbeit in einer Sphäre unserer Seele vor sich gegangen ist, 
von der wir sagen müssen, daß sie nicht zu unserem bewußten Ich 
gehört. In vielen Fällen kann dieses Denken nicht absolut unbewußt 
(im Sinne von ungewußt) genannt werden, denn wir haben wohl eine 
Ahnung, daß in unserer Seele sich etwas vorbereite; aber was es ist, 
worum es sich handelt, braucht nicht immer gewußt zu werden. Oft 
strengt man sich vergebens an, um sich klar zu machen, was eigentlich 
in unserem Innern vor sich geht; es gelingt aber nicht, etwas Sicheres 
davon in Erfahrung zu bringen, bis es plötzlich in imgeahnter Fülle 
da ist, meist, wenn man es nicht erwartet. Das Individuum ahnt, 
daß auf »dem Grunde seiner Seele« eine scheinbar unerschöpfliche 
Welt von Gedanken und Vorstellungen ruht, eine Art psychischen 
Chaos, das darzustellen nicht in seiner Willkür steht. JacobBöhmes 
Selbstbeobachtungen sind in dieser Hinsicht sehr wertvoll: »Im 
Innern sah ich es wohl als in einer großen Tiefe, denn ich sähe hin¬ 
durch als in einen Chaos, da alles inne liegt, aber seine Auswicklung 
war mir unmöglich« 2 ). Als diese innere psychische Welt sich aber 
im Laufe seines Lebens immer mehr entwickelt hatte, trat plötzlich 
eine gewaltige Inspiration ein und das jahrelang Gereifte kam in 
unglaublich kurzer Zeit zum apperzeptiven Bewußtsein. Er verglich 
sein Erlebnis mit einem Platzregen, »was der trifft, das trifft er«. 
Eine große Menge von Symbolen wurde von ihm erfaßt, geschaut, 
Symbolen, die für ihn kosmologische Bedeutung gewannen. Er hatte 
Vorstellungen von Signaturen und Figuren, Lineamenten und Farben, 


1) Nietzsohe, Ecce homo o. J. 92f. 

2) Böhmes Werke, herausgegeb. von Schiobler, VII, 40. 


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Zar Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse. 257 

>> vermittels derer er allen Geschöpfen gleichsam in das Herz und in 
die innerste Natur hatte sehen können« 1 ). Die Form, in der sich die 
Innenwelt kundgibt, wechselt von Individuum zu Individuum. Bald 
sind es abstrakte Gedanken, bald Vorstellungen von Personen, die 
in allen ihren Einzelheiten vor das geistige Auge treten und dargestellt 
zu werden heischen, bald Farben oder Klangvorstellungen. Oft sind 
die Gebilde fertig da in vollendeter Form, oft erscheinen im Bewußt¬ 
sein nur zusammenhanglose Vorstellungen, die erst geordnet, ge¬ 
sichtet und in ein organisches Ganze gebracht werden müssen. Carl 
Spitteier zerlegt die dichterische Produktivität in drei gesonderte 
Personifikationen: den Dichter, der sich passiv den aus dem Unbe¬ 
wußten aufsteigenden Gedanken überläßt, den Künstler, der die so 
zustande gekommenen Phantasien ordnet und gestaltet, und den 
Schriftsteller, der das Kunstwerk in eine entsprechende Form bringt 2 ). 

Das Material des Kunstwerkes kommt nach dieser Schilderung 
inspirativ zum Bewußtsein, muß aber noch verarbeitet werden. 
Damit stimmen auch die interessanten Selbstbeobachtungen Otto 
Ludwigs über sein »Verfahren beim poetischen Schaffen« überein, 
die Richard M. Meyer als die beste Schilderung dieses Geheimnisses 
bezeichnet. »Wunderbarerweise ist jenes Bild oder jene Gruppe ge¬ 
wöhnlich nicht das Bild der Katastrophe, manchmal nur eine charak¬ 
teristische Figur in irgend einer pathetischen Stellung, an diese 
schließt sich sogleich eine ganze Reihe und vom Stück erfahre®) ich 
nicht die Fabel, den novelüstischen Inhalt zuerst, sondern bald nach 
vorwärts, bald nach dem Ende zu von der erst gesehenen Situation 
aus schießen immer neue plastische und mimische Gestalten an, bis 
ich das ganze Stück in allen seinen Szenen habe; dies alles in großer 
Hast, wobei mein Bewußtsein ganz leidend sich verhält und eine Art 
körperlicher Beängstigung mich in Händen hält« 4 ). Das so erhaltene 
Material ordnete er dann nach künstlerischen Gesichtspunkten. Nach 
Berichten anderer, wie etwa dem oben zitierten von Nietzsche, ist 
auch die nachträgliche Gestaltung nicht nötig. Das Kunstwerk 
erscheint ihnen in mehr oder minder fertiger Gestalt und muß in 
unverhältnismäßig kurzer Zeit fixiert werden. Goethe und Hebbel 
sind Vertreter solchen Schaffens. 

Die Unabhängigkeit der inspirativ entstandenen Schöpfungen vom 

1) Frankenbergs Bericht über Böhme, Werke I, 1835, S. 10. 

2) VgL Otto Bank, Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage, 1912, S. 8. 

3) Man beachte die Ausdrucksweise »erfahre«, als wenn jemand ihm 
etwas mitteilt. 

4) Ludwigs Werke III, 1808, S. 370. 

Archiv fOr Psychologie. XXXVI. 17 

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258 M. Nachm&nsohn, 

bewußten Ich kann so weit gehen, daß dieses selbst zuweilen nicht 
ihren Sinn versteht. So bekennt Böhme: »solange Gott seine Hand 
über mir hält, verstehe ich wohl, was ich geschrieben habe, sobald 
er sich aber verbirgt, kenne ich meine eigene Arbeit nicht mehr und 
bin meiner Hände Werk fremd geworden« 1 ). 

Wie schon hervorgehoben, tritt die Inspiration plötzlich ein und 
das Erlebnis pflegt durch eine Überfülle von Gedanken und Vor¬ 
stellungen gekennzeichnet zu werden. Vielleicht kann das Erlebnis 
durch ein Bild, das eben nur ein Bild ist, veranschaulicht werden. 
Ein Teil des Bewußtseinsstromes wird durch einen Damm zurück- 
gehalten und bildet einen Nebenarm für sich, der sich zwar aus ver¬ 
schiedenen Quellen vermehrt, aber selber keinen Abfluß hat. In 
einem gegebenen Zeitpunkte, da der Nebenarm zu sehr anschwillt, 
durchbricht er den Damm und ergießt sich plötzlich mit außergewöhn¬ 
licher Schnelligkeit und Gewalt in den Strom des Bewußtseins, von 
dem er bisher getrennt war. Von dort wird er dann in die Außenwelt 
motorisch abgeleitet. Es wird im theoretischen Teil zu- erklären 
sein, was den Damm darstellt und wieso ein solcher überhaupt ent¬ 
steht. Wohl selten war bei jemand die Plötzlichkeit und Überfülle 
des Erlebnisses so groß, wie bei Jacob Böhme. Vor dem inspira¬ 
tiven Ausbruch wußte er nur, daß er nach einer kosmologischen und 
ethischen Weltanschauung suchte. Er war in seinem bewußten 
Denken schon bis an ,den Rand der absoluten Skepsis und Gottes¬ 
leugnung gekommen, als plötzlich die große Inspiration mit der ge¬ 
waltigen Fülle von Symbolen kam und ihn rettete: »In einem solchen 
gar ernstlichen Suchen und Begehren ist mir die Pforte eröffnet 
worden, daß ich in einer Viertelstunde mehr gesehen und gewußt 
habe, als wenn ich wäre viele Jahre auf hohen Schulen gewesen, denn 
ich sähe und erkannte das Wesen aller Wesen, den Grund und den 
Urgrund, item die Geburt der heiligen Dreifaltigkeit, das Herkommen 
und den Herstand dieser Welt und aller Kreaturen durch die göttliche 
Weisheit« 2 ). Der Anlaß des Ausbruchs bestand nach dem Berichte 
des Biographen Frankenberg darin, »daß er durch den göttlichen 
Anblick eines zinnenen Gefäßes (als des lieblichen jovialischen Schei¬ 
nes) zu dem innersten Grunde und Centro der geheimen Natur ein¬ 
geführt wurde« 3 ). 

1) Nach Zahn, Einführung in die christl. Mystik, 1908, S. 50. 

2) Böhme-Schicbier, VII, S. 400. 

3) Böhme, a. a. 0. S. 10. 

Weiteres sehr reichhaltiges Belegmaterial siehe in R. Hennig, Das 
Wesen der Inspiration, 1912. 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewnßtseineerlebnisse. 259 


2 ) Wenn wir nun zur Erklärung dieser eigentümlichen Erschei¬ 
nungen schreiten, sind wir genötigt, auf das schwierige Problem des 
Bewußtseins etwas näher einzugehen. 

Wir erwähnten schon, daß die Denktätigkeit, durch die das 
erarbeitet wird, was in der Inspiration zum apperzeptiven Bewußt¬ 
sein kommt, vom bewußten Ich zwar oft geahnt, aber nicht vollzogen 
wird. Dieses macht vielmehr den Eindruck einer Art Empfangs¬ 
station dessen, was von einem anderen Teil der Seele gedacht und 
phantasiert wird. Damit nehmen wir aber an, daß auch außerhalb 
unseres apperzeptiven 1 ) Bewußtseins eine psychische Tätigkeit vor 
sich gehen kann. Was zwingt uns zu dieser Annahme, die von einem 
so großen Teil moderner Psychologen bestritten wird ? Unter anderem 
die Tatsache der Inspiration. Solange wir daran festhalten, daß die 
inspirativen Erkenntnisse nicht von einer außerseelischen Macht 
eingehaucht werden, sondern eine natürliche Entstehungsgeschichte 
haben, müssen wir annehmen, daß auch außerhalb unseres apper¬ 
zeptiven Bewußtseins eine sehr intensive psychische Tätigkeit vor 
sich gehen kann. Hier erheben sich sehr gewichtige Fragen: Wie 
kommt es, daß auch außerhalb des Bewußtseins psychische Arbeit 
geleistet wird; wieso werden die betreffenden Denk- und Phantasie¬ 
prozesse nicht bewußt vollzogen, was hindert sie daran, was bildet 
den »Damm« gegen die psychischen Inhalte, daß sie zu gewissen 
Zeiten nicht bewußt werden können? Hierauf läßt sich folgendes 
erwidern: 

Unser Bewußtsein übt eine selektive Funktion aus und wendet 
nur einem Teil der auf die Seele einstürmenden Eindrücke sein Inter¬ 
esse zu. Einerseits hängt dies mit der sog. Enge des Bewußtseins 
zusammen, andererseits mit den angeborenen und erworbenen Be- 
achtungsdispositionen, die die Grundbedingung unserer Aufmerksam¬ 
keit und unseres Interesses sind. Ein Maler wählt bekanntlich etwa 
aus den Eindrücken einer Reise ganz andere Bestandteile aus als 
ein Dichter oder um mit Uexkuell zu sprechen: Die Merkwelt jedes 
Menschen hängt von dessen Interessen ab. Setzen wir voraus, daß 
auf beide genau dieselben Reize eingewirkt haben, so hat jeder vou 
ihnen etwas anderes beobachtet und behalten. In diesem Falle nah¬ 
men wir der Einfachheit halber an, daß die Selektion der Eindrücke 
nur durch die Beachtungsdispositionen zustande kam. Dieses braucht 


1) Unter »upperzeptivein« Bewußtsein verstehe ich das, was man allgemein 
unter Bewußtsein versteht. 


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M. Nachmansohn, 


aber nicht immer der Fall zu sein. Eine selektive Funktion übt auch 
das, was man »Wille« nennt, aus. Wer sich in einen Beruf einarbeiten 
will, der ihm unbekannt ist und für den er auch wenig angeborenes 
Interesse besitzt, beachtet willkürlich dasjenige, was ihm zur Aus¬ 
übung seines Berufes nützlich sein kann, und läßt alles unberück¬ 
sichtigt, was dafür nicht in Betracht kommt; er würde auch unter 
anderen Umständen ganz anderen Dingen seine Aufmerksamkeit 
zuwenden. 

Die selektive Funktion unserer Aufmerksamkeit hat nun eine 
außerordentlich wichtige Folge: die Einheit oder besser: die Einheiten 
unseres Bewußtseins, die von Mensch zu Mensch wechseln. Die Her¬ 
stellung einer Bewußtseinseinheit ist in jedem Falle, mag sie den 
angeborenen Beachtungsgrundlagen entsprechen oder nicht, eine 
notwendige Lebensaufgabe. Die Einheit des Wissens und Könnens 
auf irgend einem Gebiete des Lebens ist die Hauptaufgabe des An¬ 
passungsprinzips geworden. Dank der Motivationskraft, die von 
der Lebensaufgabe ausgeht, wählt das Individuum nicht nur seinen 
angeborenen Interessen entsprechend halb mechanisch, sondern auch 
willküilich unter den Impressionen aus, oder vielleicht präziser aus¬ 
gedrückt: läßt es willkürlich nur gewisse Eindrücke zum apperzep- 
tiven Bewußtsein kommen, wenngleich wir annehmen müssen, daß 
es unvergleichlich mehr perzipiert. Diejenigen Bewußtseinsinhalte, 
die die gesuchte Einheit fördern oder der schon erreichten entsprechen, 
erfahren eine Gradsteigerung, d. h. sie werden aufmerksam erfaßt, 
die übrigen werden absichtlich (bei ganz festen Einheiten, unabsicht¬ 
lich) nicht beachtet, ja bisweilen »verdrängt«, was ebenfalls will¬ 
kürlich und unwillkürlich geschehen kann. Wohl in jedem er¬ 
wachsenen normalen Menschen hat sich wenigstens eine solche 
Interesseneinheit gebildet, die einerseits die selektive Funktion 
hat, andererseits aber auch zugleich die Hemmungs- bzw. die Ver¬ 
drängungstendenz besitzt, alles zurückzuhalten, was die Einheit 
stören könnte. 

Nun brauchen aber die übrigen Reize der Außen- und Innenwelt, 
die auf die Seele einwirken, nicht verloren zu gehen. Viele werden 
perzipiert und bilden einen Bestandteil der Seele. (Es ist für unseren 
Zweck ziemlich bedeutungslos, ob man sich diese Bestandteile als 
Gchimdispositionen nur materiell denkt, wie es etwa Ebbinghaus- 
Dürr tut, oder materiell und psychisch zugleich, wie Erd mann) sie 
sind, könnte man sagen, das Nichtangepaßte, das von der angepaßten 
Einheit im wachen Zustande ununterbrochen in Schach gehalten 
wird durch die sog. Hemmungen. Vom Funktionieren dieser Hem- 

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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse- 261 

mungen hängt unser ganzes soziales Leben ab; wir nennen denjenigen 
schlecht angepaßt und in schweren Fällen geistig krank, bei dem wir 
das Fehlen der Hemmungen konstatieren 1 ). Sie sind u. a. Motiv¬ 
wirksamkeiten, die von den zu einer Einheit zusammengetretenen 
Bewußtseinsinhalten und Interessen ausgehen, und die um so wirk¬ 
samer sind, je mehr die Einheit die vorhandene psychische Kraft, 
um mit Theod. Lipps zu reden, absorbiert. Wenn wir von einem 
Menschen sagen: er ist gut angepaßt, so ist damit gesagt, daß sich 
in ihm ein einheitlicher psychischer Komplex gebildet hat, der gegen 
seelische Regungen, die dessen Einheit stören könnten, erfolgreich 
ankämpft, ja sie in den meisten Fällen nicht bewußt werden läßt. 
Es sind dies die einheitlichen, widerspruchslosen Charaktere, die den 
Typus des normalen Menschen repräsentieren und wohl nur in Aus¬ 
nahmefällen anzutreffen sind. 

Fast jeder Mensch empfängt Eindrücke, die auf mehr oder minder 
starke Beachtungsdispositionen stoßen, die aber nicht in die erstrebte 
und z. T. erlangte Einheit passen wollen, abgesehen von den vielen 
unerlaubten und bald aus moralischen, bald aus anderen Gründen 
imerfüllbaren Wünschen, die sich regen, aber deren Befriedigung nur 
Unheil anrichten würde und die deshalb vom gesunden Menschen fast 
automatisch verdrängt werden, was aber nicht bedeutet, daß sie hier¬ 
durch schon um ihre Wirksamkeit beraubt werden. Alle diese ver¬ 
schiedenen Reproduktionsgrundlagen können in verschiedenem Grade 
erregt sein, ohne daß wir es wissen und wissen können, da ihr Apper- 
zipiertwerden durch die Hemmungen vereitelt wird. Wir müssen 
aber deshalb auf ihr Vorhandensein schließen, weil sie die apper- 
zipierten Bewußtseinsinhalte und die durch sie hervorgerufenen Hand¬ 
lungen beeinflussen. Das bestbekannte, experimentell nachweisbare 
Beispiel ist das posthypnotische Phänomen. Hier ist ein psychischer 
Inhalt in uns wirksam, dessen Dasein von unserem bewußten 
Ich gamicht geahnt wird, weil er durch künstlich hergestellte »Disso¬ 
ziation« am Apperzipiertwerden gehindert wird. Dennoch übt er 
die auffallendsten Wirkungen aus. Freud hat das Verdienst, an 
einer Fülle von Beispielen nachgewiesen zu haben, daß auch im täg¬ 
lichen Leben solche nicht bemerkten psychischen Gebilde wirksam 
sind, und wie sehr unser Apperzeptionsbewußtsein von psychischen 
Vorgängen beeinflußt ist, die uns nicht unmittelbar gegeben sind, die 
wir aber mit großer Sicherheit nachweisen können, indem wir sie 


1) Die Summe der Hemmungen dürfte sich mit dem decken, was Freud 
C'ensur nennt. 


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262 


M. Nachmanaobn, 


durch assoziative Reproduktion apperzeptiv bewußt machen 1 ). Es 
ist dies u. a. das Verfahren bei der Traumdeutung und bei der Ent¬ 
rätselung vieler unverständlicher Symptomhandlungen und Zwangs¬ 
vorstellungen. Daß ein solches Vorgehen sich bewähren muß, läßt 
sich bis zu einem gewissen Grade auch a priori einsehen. Denn wir 
dürfen auf Grund unserer Kenntnisse der Assoziationsgesetze (manche 
Forscher würden sagen: des Assoziationsgesetzes) voraussetzen, daß, 
falls die apperzipierten Inhalte von den perzipierten, aber verdrängten 
beeinflußt und von ihnen hervorgerufen sind, sie mit ihnen in Asso¬ 
ziation stehen, wenn dieselbe auch über mehrere Mittelglieder geht. 
Die bewußten Inhalte entfalten nun Reproduktionstendenzen, und so 
ist anzunehmen, daß bei starker Konzentration auf den Bewußtseins¬ 
inhalt der mit ihm in Assoziation stehende verdrängte reproduziert 
wird, falls die Hemmungen nicht allzustark sind, d. h. falls sich nicht 
zwischen dem verdrängten und dem bewußten Inhalt psychische 
Gebilde einschieben, die das Auftauchen der verdrängten im apper- 
zeptiven Bewußtsein unmöglich machen. Auf diese Annahme 
stützt sich die ganze Freud sehe Methode. Wir können in diesem 
Zusammenhang nicht näher darauf eingehen, doch werden wir 
noch Gelegenheit finden, die Methode besser kennen zu lernen. 
Uns lag es vorerst daran, unsere für die Erklärung der Inspiration 
geforderte Annahme, daß auch außerhalb unseres Bewußtseins 
psychische Vorgänge stattfinden, auch auf anderem Wege nachzu¬ 
weisen, und wir glauben, daß wir dieser methodologischen Forderung 
durch den Hinweis auf das posthypnotische Phänomen Genüge ge¬ 
tan haben. 

Es ergibt sich nun eine große terminologische Schwierigkeit, wie 
wir diese Vorgänge benennen wollen. Für das seelische Geschehen 
haben wir nun einmal kein anderes Merkmal als das des Erfassens 
von Etwas verbunden mit gewissen Gefühlen und Strebungen oder 
Trieben. Unter dem »Erfassen von Etwas« verstehen wir hier Emp¬ 
findungen, Vorstellungen, Gedanken usw. Gewiß regt sich der Trieb, 
noch bevor ihm eine Zielvorstellung gegeben ist, doch gibt er sich ja 
wieder in eigentümlichen Empfindungen und Gefühlen kund. Die 
ersteren aber setzen eine Lokalisation voraus und sind nichts anderes 
als das Erfassen von bestimmten seelischen und körperlichen Zu¬ 
ständen. Phänomenologisch betrachtet lassen sich die Triebe stets 
in bestimmte Empfindungen auflösen. Die verschiedenen Arten des 
Erfassens, wie die genannten Empfindungen, Vorstellungen, Ge- 

1) S. Freud, Psychopathologie des Alltagslebens. Berlin 1912. IL AufL 

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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse. 263 

danken samt deren Gefühlston fallen aber unter den Gattungsbegriff 
des Bewußtseins im aktiven Sinne von »um etwas wissen« oder 
wissend. Wo wir nichts vorstellen, nichts fühlen, können wir auch 
nicht von Bewußtsein sprechen, da ja erst mit dem Empfinden, Vor¬ 
stellen usw. Bewußtsein gegeben ist, wenn sie auch von unserem 
apperzipierenden 1 ) Ich in vielen Füllen nicht bemerkt werden. Un¬ 
bewußte Vorstellungen sind für uns somit ex definitione ein Wider¬ 
spruch. Wir sehen aber auch keine Möglichkeit, die Definition zu 
ändern, da wir sonst dem psychischen Geschehen sein einziges und 
somit auch wesentliches Merkmal, sein »Bewußtsein« nehmen. Un¬ 
bewußtes psychisches Geschehen als innerlich wahrnehmbare oder 
erschließbare Phänomenalität kann es für uns nicht geben. Man 
wende nicht ein, daß dies eine petitio principii ist. Ich wüßte wirklich 
nicht, was das spezifische allgemeine Merkmal des Psychischen wäre, 
wenn nicht das Bewußtsein. Wer vom unbewußten Psychischen 
spricht, versteht darunter entweder das Metaphysische wieE. v. Hart¬ 
mann (s. später) oder er hat sich das Spezifische des psychischen 
Phänomens nicht klar gemacht. Mit Recht sagt E. v. Hartmann: 
»Es gibt keine absolut unbewußten Gefühle, Empfindungen, Anschau¬ 
ungen, Wahrnehmungen, Gemeinvorstellungen, Begriffe, sondern wo 
etwas Derartiges zustande kommt, wird es sofort mit der Bewußtseins¬ 
form geboren, die es erst zum psychischen Phänomen macht. Eine 
Bewußtseinsform würde, wenn man ihm die Form des Bewußtseins ab¬ 
streifen könnte, eben damit aufhören, psychisches Phänomen zu sein, 
d. h. er würde als eigentümlicher Inhalt vernichtet.« »Unterschwellige 
Empfindungen sind entweder bewußte Empfindungen in einem 
anderen Bewußtsein mit tieferer Schwellenlage oder sie sind über¬ 
haupt keine Empfindungen; jedenfalls ist es unstatthaft, unter¬ 
schwellige Erregungen als unbewußte Empfindungen zu bezeich¬ 
nen« 2 ). 

Auch Freud, der bisher erfolgreichste Erforscher des »Unbe¬ 
wußten«, gibt selbst in seiner letzten Arbeit über das Unbewußte zu, 
daß er diesen »zweideutigen« Ausdruck nur in Ermangelung eines 
besseren wählt 3 ), wenn er sich auch nicht klar gemacht zu haben 
scheint, worin die Zweideutigkeit besteht. Das geht aus seiner 


1) Unter Apperzeption verstehen wir mit Th. Lipps »das Herausheben 
oder ein Hervorheben eines psychischen Vorganges innerhalb des psychischen 
Lebenszusammenhanges«. Th. Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken, 
1902, S. 6. 

2) E. v. Hartmann, Grundriß der Psychologie, 1908, fc>. 7. 

3) Internat. Zeitschrift f. P. A., I. Jhrg., S. 123. 

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M. Nachmansohn, 


Polemik gegen Wundt hervor. »Für ihn (Wundt) ist das Bewußt¬ 
sein der nie fehlende Charakter des Seelischen. Stößt der Philosoph 
nun auf seelische Vorgänge, die man erschließen muß, an denen aber 
wirklich nichts vom Bewußtsein wahrzunehmen ist — man weiß 
nämlich nichts von ihnen und kann doch nicht umhin, sie zu 
erschließen — so sagt er nicht etwa, dies seien unbewußte seelische 
Vorgänge, sondern er heißt sie dunkelbewußt« 1 ). Aus der von mir 
hervorgehobenen Stelle » man weiß nichts von ihnen« geht deutlich 
hervor, daß Freud »bewußt« nur im passiven Sinne gebraucht und 
nur diejenigen psychischen Vorgänge bewußt nennt, von denen wir 
etwas wissen, die von uns »gewußt« werden. Nun nehmen wir aber 
vieles wahr, d. h. wir werden uns vieler Dinge bewußt, ohne daß wir 
es im Augenblick des Wahmehmens merken. Ich brauche nur daran 
zu erinnern, daß wir oft Dinge und Personen, die uns Unangenehmes 
bereiten könnten, in »unbewußter« Absicht »übersehen«, woraus wir 
ja den Schluß ziehen müssen, daß wir die Person bzw. Sache gesehen, 
d. h. daß unsere Seele der Person bewußt geworden ist, dieses Bewußt¬ 
sein aber nicht zur Apperzeption kommen ließ. 

Von diesem Bewußtseinsvorgang merkten wir zwar nichts, aber 
deswegen braucht dieser Vorgang nicht unbewußt zu sein im Sinne 
von »um etwas wissen«. Freud müßte sich dann zu der Behauptung 
verstehen, daß das aktualisierte Wissen um eine Person oder Sache, 
das unser Handeln und unser apperzeptives Bewußtsein beeinflußt, 
unbewußt ist, er müßte also von einem aktualisierten imbewußten 
Wissen sprechen, was uns ebenso widersinnig zu sein scheint, wie 
ein »unbewußtes Bewußtsein«, das er im genannten Aufsatz (120) 
energisch ablehnt. Nach unserer Auffassung müssen wir daher die 
Freudsche Definition des Bewußtseins »als eines Sinnesorganes, 
welches einen anderwärts gegebenen Inhalt wahmimmt« aufs ent¬ 
schiedenste ablehnen. Dieselbe ließe sich höchstens auf das Selbst¬ 
bewußtsein anwenden, worunter wir die Selbstwahrnehmung und 
-beobachtung verstehen, und das allerdings ein Wahmehmen der in 
uns sich abspielenden Bewußtseinsvorgänge ist. 

Andererseits kann aber das Vorhandensein von Vorstellungen, 
Gefühlen und Wollungen, deren Existenz in unserer Seele nicht 
gewußt wird, und die dennoch unsere apperzipierten Bewußtseins- 
vorgänge beeinflussen, nicht mehr bezweifelt werden. Verschiedene 
Forscher halfen sich mit dem Ausdruck »unterbewußt«. Doch 
dürfte es zweckmäßig sein, diesen Ausdruck als Gattungsbegriff für 

1) Freud, Jahrbuch für psychanal. Forsch., I, S. C. 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewnßtseinscrlebnisse. 265 

diejenigen psychischen Geschehnisse zu reservieren, die unterhalb 
der Schwelle des Bewußtseins vor sich gehen. Nun versteht man 
aber in der modernen Psychologie unter unterschwelligen Empfin¬ 
dungen solche, die so schwach erregt sind, daß sie auch dann nicht 
zurGeltung kommen, wenn ihnen kcineHemmungen im Wege stehen 1 ). 
Damit eine Empfindung entstehen kann, bedarf es bekanntlich eines 
gewissen Reizes, der zur Empfindlichkeit in umgekehrter Proportio¬ 
nalität steht. Ist eine bestimmte Größe des Reizes nicht erreicht, so 
tritt trotz seiner Einwirkung keine Empfindung auf. Wir müssen 
aber aus der Tatsache, daß durch zeitliche Summierung solcher Reize 
doch eine Empfindung angeregt wird, schließen, daß schon bei der 
ersten Erregung eine ganz schwache Empfindung auftrat, aber zu 
schwach war, um für sich allein bemerkt zu werden. Mit Recht be¬ 
zeichnet man solche Empfindungen als unterschwellig, was für uns 
gleichbedeutend ist mit unterbewußt, da das Bewußtsein, in jeder 
Form, eine Überschreitung der Schwelle voraussetzt. 

Die erschlossenen vorher gemeinten psychischen Vorgänge dürfen 
aber nicht unterschwellig genannt werden, da sie nicht so auffallende 
Wirkungen ausüben könnten. Nennt man aber solche Vorgänge 
unterbewußt, so hat das Wort zwei Bedeutungen, was wir ja nach 
Möglichkeit vermeiden wollen. Unseres Wissens ist Hugo Fried - 
mann der einzige, der zur Bezeichnung der gemeinten Vorgänge die 
Schwierigkeiten, die in den Ausdrücken» unbewußt« und »unter¬ 
bewußt« liegen, gesehen und dafür den Ausdruck »bewußtseins¬ 
verwandt« gewählt hat 2 ). Doch auch dieses Wort ist, wie er selbst 
zugibt, nicht ganz glücklich, schon weil es zu unbestimmt ist, ja es 
ist sogar etwas irreführend. Die nicht apperzipierten Vorstellungen 
sind genau so bewußt, wie die apperzipierten, sie sind also nicht 
bewußtseinsverwandt. Wir können durch eine bestimmte Methode 
in Erfahrung bringen, daß sie als Vorstellungen, Gefühle und Wollungen 
in unserer Seele existieren und dort ein Binnenleben führen. Diese 
Vorstellungen können unter sich Assoziationen eingehen und einen 
eigenen psychischen Komplex bilden, was sogar bekanntlich in patho¬ 
logischen Fällen zur Bildung einer zweiten Persönlichkeit führen kann, 
wie sie zuerst von Azam und später von Jan et u. a. beschrieben 
worden sind. Solche psychischen Geschehnisse wollen wir nach Ana¬ 
logie des Begriffes Binnenleben binnenbewußt nennen und sprechen 


1) Des petiteB perceptions des Leibniz sind etwas Unterbewußtes. Her¬ 
ber tz, Die Lehre vom Unbew. im System d. Leibniz, 1905, S. 21 f. 

2) Zeitschrift für Philosophie n. philos. Kritik, 1901, 8. 34f. 


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M. Nachmansohu, 


somit vou einem Binnenbewußtsein 1 ). Die durch Assoziationsver¬ 
flechtung zu einem binnenbewußten Komplex zusammengefaßten 
Inhalte sind im allgemeinen Gedanken und Wünsche, die die Einheit 
unseres bewußten Wollens und Handelns stören oder sonst starke 
Unlustgefühle hervorrufen würden. Sie werden deshalb verdrängt 
und in den vorhandenen Binnenkomplex, von dem eine assoziative 
Anziehungskraft ausgeht, aufgenommen. Doch ist dies, wie wir 
schon oben kurz ausführten, nicht die einzige Entstehungsbedingung 
binnenbewußter Inhalte. Wir müssen das ausdrücklich betonen, 
da nach den bisherigen psychanalytischen Veröffentlichungen diese 
Auffassung leicht entstehen kann. 

Bei empfänglichen Persönlichkeiten hinterlassen die verschieden¬ 
sten Reize des täglichen Lebens, die wegen der »Enge des Bewußt¬ 
seins« nicht alle apperzipiert werden können, in der Seele Impres¬ 
sionen, die Gegenstände binnenbewußten Denkens werden. Dieses 
Denken kann, ohne daß wir es merken, sehr fruchtbar sein, was wir 
dann feststellen können, wenn dessen Produkte zur Apperzeption 
kommen. Diese Vorgänge brauchen nicht direkt durch Hemmungen 
von der Apperzeption ausgeschlossen zu sein, seinem Bewußtwerden 
stehen keine besonderen Schwierigkeiten im Wege. Freud und, 
wahrscheinlich unabhängig von ihm, B. Erd mann nannten diese 
psychischen Vorgänge »vorbewußt«. Wir können auch auf unserm 
Standpunkt diesen Ausdruck akzeptieren, falls wir darunter vor dem 
Apperzipiertwerden bewußte Vorgänge verstehen. Die Struktur des 
Bewußtseins können wir uns jetzt an folgendem Bilde veranschau¬ 
lichen. Man denke sich alles, was in unserem Bewußtsein ist, in Ge¬ 
bieten angeordnet, die einander kreisförmig umlagern; die einzelnen 
Kreise sind miteinander und deren Bestandteile unter sich assoziiert. 
Der Kreis um den Mittelpunkt bildet das Apperzeptionsbewußtsein 
(der Blickpunkt und das Blickfeld Wundts), die übrigen Kreise das 
Binnenbewußte, das aber in zwei Kategorien zerfällt: in ein apper¬ 
zeptionsfähiges Binnenbewußtsein (vorbewußt) und in ein apper¬ 
zeptionsunfähiges Binnenbewußtsein (das Freudsche Ubw.) 2 ). Die 
binnenbewußten Vorstellungen werden nun teils infolge der Enge des 
Bewußtseins, teils infolge der selektiven Funktionen unserer Interessen 

1) Bleuler, durch seinen Aufsatz über das antistische Denken, and 
Freud selbst haben mir zur Prägung dieses Wortes verholfen. In der Traum¬ 
deutung gebraucht er nämlich an mehreren Stellen den Ausdruck »psychisches 
Binnenleben«, das ich nach meiner Auffassung vom Wesen des Bewußtseins 
mit Binnenbewußtsein übersetzen konnte. 

2) Vgl. Herbertz, Bewußtes und Unbewußtes, 1908, S. 193. 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bcwnßtseinserlebnisse. 267 

und endlich wegen der Hemmungen nicht apperzipiert, beide Kate¬ 
gorien können aber dennoch sehr intensiv erregt sein. — Man hat in 
psychanalytischen Kreisen eine Zeitlang geglaubt, daß im Binnen¬ 
bewußtsein, welches durch Verdrängung entsteht, nur Regungen und 
Vorstellungen vorhanden sind, die mit der Moral und Kultur im 
Widerspruch stehen. Pfister macht mit Recht darauf aufmerksam, 
daß dies durchaus nicht immer der Fall zu sein braucht und daß auch 
ethisch sehr wertvolle psychische Vorgänge dort anzutreffen sind 1 ). 
Das kann auch ohne weiteres einleuchten. Wir können es uns am 
folgenden Beispiel klar machen. Ein Soldat unterdrückt während 
einer kriegserfüllten Zeit sämtliche Regungen des Mitleids und bildet 
eine Bewußtseinseinheit aus, die »weichliche« Gefühlsregungen strikte 
von sich fern hält. Alle edleren Regungen der Liebe und des Mit¬ 
gefühls werden automatisch verdrängt, aber damit brauchen sie nicht 
schon beseitigt zu sein. Sie können binnenbewußt weiter leben, und 
falls die Empfänglichkeit für diese Vorstellungen besonders groß ist, 
können sie so viel psychische Kraft absorbieren, daß sie die von der 
genannten Bewußtseinseinheit ausgehenden Hemmungen überwinden 
und in größter Intensität und Deutlichkeit zur Apperzeption kommen. 
Tolstoi ist hierfür typisch. Er schlug zu Anfang seiner Entwicklung 
die militärische Laufbahn ein, machte den Krimkrieg mit und war ein 
tüchtiger Soldat. Doch bald konnte er der Mitleidsgcfiihle, die er 
eine Zeitlang siegreich unterdrückt hatte, nicht mehr Herr werden. 
Die greuelvollen Eindrücke des Krieges hatten in seiner empfänglichen 
Seele Spuren hinterlassen, sie drängten sich ihm mit Gewalt auf, die 
bisher unterdrückten ethischen Proteste fanden keinen Widerstand 
an der »Berufseinheit«, in aller Schärfe apperzipierte er sie und infolge 
seiner dichterischen Begabung mußte er sie auch darstellen. Wir sehen 
hier, wie die Wahl des Berufes zur Bildung eines Binnenbewußtseins 
beitragen kann, hauptsächlich dann, falls er nicht so sehr nach den 
angeborenen Fähigkeiten als nach ganz anderen Gesichtspunkten wie 
Tradition, Aussicht auf Fortkommen usw. gewählt wird. Wird ein 
Mensch mit starken künstlerischen Anlagen etwa Kaufmann, so ist 
er gezwungen, außerordentlich viele Eindrücke zu verdrängen, da sic 
sonst seine Berufsarbeit stören. Diese Zeit braucht aber keineswegs 
dichterisch imfruchtbar zu sein. Im Binnenbewußtsein kann sich ein 
sehr reges dichterisches Leben abspielen, wovon der Dichter höchstens 
Ahnungen hat. Wenn er dann seinen »eigentlichen« Beruf gefunden 
hat, kann das in der vorangegangenen Periode Gereifte zur Dar- 


1) Pfister, Die Psychanalytiachc Methode, 1913, S. 104. 

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M. Nachmansohn, 


Stellung gebracht werden. Wir wissen u. a. von Goethe und G. 
Keller, daß sie zwar während der Minister- bzw. Staatsschreiberzeit 
nichts Wesentliches geschaffen, dafür aber nachher um so fruchtbarer 
waren. Daraus geht aber hervor, daß sich in empfänglichen Naturen 
eine reiche Vorstellungswelt bilden kann, ohne daß sie von ihr mehr 
wissen als daß sie einen inneren Reichtum in sich verspüren. Die 
innere Welt ringt nämlich nach motorischer Entladung und gibt sich 
durch Gefühle und Ahnungen kund. Sehr fein bemerkt der in der 
Schilderung der Erotik in allen ihren Schattierungen geniale Otto 
Julius Bierbaum: »Das Unbewußte weiß in jedem Menschen, was 
fehlt, wird aber nur bewußt als ein dumpfes Gefühl der Unzufrieden¬ 
heit, das bei den instinktmächtigen Menschen zu einem Willen wird, 
das die Befehle des Unbewußten ahnt und ausführt« 1 ). 

Es scheint eines der wesentlichsten Gesetze unseres Seelenlebens 
zu sein, daß ein Ausgleich zwischen Erregung und Entladung an¬ 
gestrebt wird und nur so das seelische Gleichgewicht zu erhalten ist. 
Der natürliche Abfluß seelischer Spannungen findet nun über das 
Apperzeptionsbewußtsein statt, von wo die entsprechenden Inner¬ 
vationen ausgehen. Wo das Binnenbewußtsein diesen Ausweg 
findet, tritt ein Gefühl der Befreiung ein; die unlustbetonten Hem¬ 
mungsgefühle weichen lustbetonten Verlaufsgefühlen. Man ist erlöst! 
Wem dies nicht gelingt, wem nicht die Möglichkeit gegeben ist, die 
motorische Entladung auf diesem Wege zu vollbringen, bei dem 
sucht eine zu große innere Spannung einen anderen Weg und »kon¬ 
vertiert«, falls die Bedingungen dafür gegeben sind, und bei den 
meisten Menschen sind sie bis zu einem gewissen Grade immer gegeben, 
ins Körperliche, in eigenartige Symptomhandlungen, die einen mi߬ 
lungenen Heilungsversuch darstellen, obschon sie ein Krankheits¬ 
symptom sind. Es verhält sich mit diesen Symptomen ähnlich wie 
mit dem Husten beim Lungenkranken, der ja mit Recht als Heilungs¬ 
versuch des Organismus aufgefaßt wird, nur daß der Husten einen 
adäquaten Weg nimmt, die verdrängten Inhalte aber einen inadä¬ 
quaten einschlagen. 

Der echte Künstler gehört zu denen, die ein reiches Binnenbewußt¬ 
sein besitzen, weil sie empfänglicher als die Durchschnittsmenschen 
eine Fülle von Eindrücken in sich aufnehmen, die vom Bewußtsein 
unmöglich alle apperzipiert werden können, die deshalb im Hinter¬ 
gründe bleiben und auch eventuell verdrängt werden. Im Binnen¬ 
bewußtsein gehen sie Assoziationen ein. Solange sie bei genügender 

1) Prinz Kuckuck, III, S. 251. 


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Zar Erklärung der darch Inspiration entstaud. BewuGtsoinserlebnisse. 269 

Stärke und Fülle keine Entladung finden, fühlt das Individuum eine 
fast unerträgliche Spannung, die die eigentümlichsten Dichter¬ 
schrullen erzeugt und die mit Recht hysterisch genannt werden darf. 
Er ahnt, daß aus seinem Innern etwas hervorbrechen muß, bis das 
in ihm Gereifte fast ohne geistige Anstrengung in kürzester Zeit apper- 
zipiert und dargestellt wird. Der Dichter Kosegarten erzählt von 
sich selbst: »Ich dichtete, weil ich nicht umhin konnte es zu tun, 
weil die mich drängende Unruhe nicht anders beschwichtigt werden 
konnte als durch Hervorbringung eines Dichtwerks. Der Gedanke 
zu einem solchen kam mir nur durch Eingebung, das Ganze stand vor 
mir eines Schlages, die Personen, wie sie leibten und lebten, die Hand¬ 
lung, wie sie stand und ging; es machte sich alles wie von selbst, auch 
vermochte ich weder zu schlafen noch zu essen in solchen Umständen. 
Die fünf Eklogen der Jucunde sind in ebenso vielen Tagen ent¬ 
standen« 1 ). Wir wüßten nicht, wie diese Tatsachen anders er¬ 
klärt werden könnten, als durch die Annahme einer reichen Binnen¬ 
arbeit, deren Resultate plötzlich zum apperzeptiven Bewußtsein 
kommen. 

Diese Annahme gilt eigentlich in der Popularpsychologie als 
selbstverständlich und hat auch zu allen Zeiten Vertreter in der 
wissenschaftlichen Psychologie gefunden. Nur die deutsche Psy¬ 
chologie kennt mit Ausnahme Her bar ts nur wenig namhafte Ver¬ 
treter unserer Auffassung. E. v. Hartmann und Theod. Lipps 
sprechen zwar vom Unbewußten, aber nur im metaphysischen Sinne. 
Das große in seiner umwälzenden Bedeutung noch unberechenbare 
Verdienst Freuds besteht also nicht darin, daß er uns die Existenz 
des Binnenbewußten entdeckt hat, sondern daß er uns die Methode 
an die Hand gegeben hat, dasselbe zu eruieren und dessen Gesetze 
zu erforschen. Unsere bisherige Darstellung konnte vielleicht den 
Eindruck erwecken, als ob die nicht bemerkten und verdrängten 
Impressionen in der Art, wie sie im Binnenbewußtsein lebten, auch 
zum apperzeptiven Bewußtsein kommen, höchstens daß eine Neu¬ 
assoziierung stattfände, und daß man eigentlich nur die manifesten 
Produktionen zu studieren hätte, um das Binnenbewußtsein kennen 
zu lernen. Das wäre ein großer Irrtum! Die nicht zur Apperzeption 
gekommenen psychischen Gebilde erfahren eine außerordentliche 
Veränderung und kommen in entstellter Weise zum Bewußtsein 
(Kompromißbildungen Freuds). Diese Bildungen sind das Produkt 
unseres Strebens nach Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit in 


1) Zitiert bei R. Hennig, Das Wesen der Inspiration, 1912, S. 115. 


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M. Nacbmansobn, 


unserem Apperzeptionsbewußtsein (denn nur dies scheint den logischen 
Gesetzen zu unterhegen). Ebenso wie unser Bewußtsein beeinflußt wird 
von unserem Binnenbewußtsein, so findet auch umgekehrt eine Beein¬ 
flussung statt. Erst dann kann das Binnenbewußte im Wachzustand 
apperzipiert werden, wenn es sich so umgestaltet hat, daß es mit unserer 
ethischen, ästhetischen und logischen Weltauffassung und unserem 
Selbstbewußtsein, das ja der Kontrolle unseres bewußten Denkens 
untersteht, sich in Übereinstimmung befindet. Man kann vielleicht 
ermessen, welche große psychische Arbeit dazu gehört, um das binnen¬ 
bewußte Material, das zum großen Teil deshalb nicht apperzipiert 
werden konnte, weil es eben dieser Bedingung nicht genügt, apper¬ 
zeptionsfähig zu machen. Daß sich dennoch in den Schöpfungen der 
Dichter und Denker so viele Widersprüche finden, erklärt sich daraus, 
daß das Bewußtsein nicht immer imstande ist, dieselben zu erkennen, 
oder in vielen Fällen der Erkenntnis ausreicht, um sich logische und 
ethische Unlustgefühle zu ersparen. Die Psychanalyse hat es sich 
nun zur Aufgabe gesetzt, die Kompromißbildungen aufzulösen und 
uns so in die Ätiologie unseres apperzeptiven Bewußtseins einen 
wirklichen Einblick zu gewähren; so gelingt es ihr, die Gesetze zu 
erforschen, nach denen die binnenbewußte Arbeit vor sich geht. Es 
kann hier nicht unsere Aufgabe sein, das bisher Erforschte zu repro¬ 
duzieren, doch können wir nicht umhin, die Methode kurz darzustellen 
und gegen die hauptsächlichsten Einwände zu verteidigen. Als Bei¬ 
spiel einer Analyse greife ich die sehr instruktive und durchsichtige 
Arbeit Pfisters über die Glossolalie heraus. Unter Glossolalie ver¬ 
steht man sprachenähnliche automatische Neubildungen, deren In¬ 
halt dem Redenden unbekannt ist. Sie treten automatisch auf und 
rufen im Glossolalen das Gefühl der Erbauung und Erleichterung 
hervor. Obwohl er das Gesagte nicht versteht, fühlt er sich von Gott 
inspiriert und nach der Rede wie erlöst. Ein berühmter Glossolale 
ist der Apostel Paulus gewesen. Der Psychanalyse dürfte es gelungen 
sein, dieses Phänomen psychologisch zu enträtseln. Die Methode, 
die wir oben als die der assoziativen Reproduktion bezeichnen, ist 
folgende: Der Analytiker fixiert eine Zungenrede und läßt vom 
Glossolalen jeden einzelnen Laut aufs schärfste apperzipieren, so daß 
er im Bewußtsein dominiert. Dann wird der Analysand aufgefordert, 
alle vom aufmerksamst apperzipiert en Laut hervorgerufenen Repro¬ 
duktionen anzugeben. Es wird hierbei angenommen, daß die vom 
glossolalen Laut zurückgelassenen Dispositionen (Spuren) im asso¬ 
ziativen Zusammenhang mit denjenigen Dispositionen stehen, die das 
glossolale Wort verursacht haben, so daß die Erregung dieser sich auf 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebniese. 271 


jene übertragen muß. Diese Annahme hat sich bewährt, denn die 
Reproduktionen stehen in einer zu engen Beziehung zu den glossolalen 
Worten, als daß man von Zufall reden könnte. Die Reproduktionen 
sind nun die während und vor der Zungenrede binnenbewußt gewesenen 
Vorstellungen, die nun apperzeptiv bewußt gemacht sind. Eine kleine 
Probe mag das Vorstehende erläutern. Eine Zungenrede lautete: 
»Esin gut efflorien meinosgat schinohaz daheit wenesgut när usw.« 1 ) 
In der Analyse wurden zu den einzelnen scharf apperzipierten Lauten 
stark imlustbetonte Kindhcitserlebnisse reproduziert, die in den 
glossolalen Gebilden zur verhüllten Darstellung kamen. So repro¬ 
duzierte der Analysand z. B. zum Laut meinosgat folgendes: »Mit 
elf Jahren verlor ich einen sehr heben Freund namens Oscar, dessen 
Tod mich überwältigte, so daß ich eine Zeitlang wie ein Schatten 
umhergiug. Auf das »ga« eingestellt, reproduzierte er: »Ich sagte 
»Osgar« nicht »Oscar«. Aufmerksam gemacht auf das »at«, fiel ihm 
ein: »Ich begleitete ihn oft in ein Atelier, in dem ich die schönen Sachen 
bewunderte.« 

Es kann nach diesem ganz beliebig herausgegnffenen Beispiel 
keinem Zweifel unterliegen, daß der Laut » meinosgat« mit der binnen¬ 
bewußten Vorstellung des Kindheitserlebnisses in kausalem Zusam¬ 
menhänge steht. Das Erlebnis ist wirklich erlebt worden, das in der 
Zungenrede gesprochene Wort stellt in abgekürzter verhüllter Form 
das Erlebnis dar. Betreffs der Gesetzmäßigkeiten, nach denen di« 
binnenbewußte Tätigkeit zur Bildung der glossolalen Laute vor- 
oinjz, verweisen wir auf das Pfi st ersehe Buch. Als allgemeinste 
Regel dürfte es sich heraussteilen, daß nur derjenige psychische 
Vorgang Zugang zum Apperzeptionsbewußtsein hat, der ihm die 
größte Lust oder, falls infolge der objektiven Verhältnisse Lust¬ 
gefühle nicht möglich sind, die voraussichtlich kleinste Unlust ver¬ 
schafft. 

Gegen die psyehanalytische Methode ist vor allem eingewandt 
worden, daß das nachträgliche »freie Assoziieren« (wir würden Vor¬ 
schlägen »freie Reproduzieren«, denn es soll ja das schon Assoziierte 
reproduziert und nicht nochmals assoziiert werden) nicht die ge¬ 
ringste Garantie dafür gewähre, daß die Reproduktionen auch mit 
dem früher wirksamen latenten Material übereinstimmen, selbst wenn 
man schon zugeben wollte, daß es überhaupt aktualisierte binnen¬ 
bewußte Vorstellungen gibt, da alles mit allem in unserer Seele ver- 

1) Pfister, Die psychologische Enträtselung der religiösen <»ossolalio 
H>11, S. 20. 


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M. Nackmansohn, 


bunden sei und man von derselben Vorstellung aus das Verschiedenste 
reproduzieren könne; der Zufall könne ja auch einmal das latente 
Material zutage fördern, doch lasse sich auf den Zufall keine wissen¬ 
schaftliche Methode bauen. 

Die experimentelle Assoziationspsychologie glaubte beweisen zu 
können, daß im allgemeinen die Assoziationsketten chronologisch 
reproduziert werden, indem sie Reihen meist sinnloser Silben aus¬ 
wendig lernen ließ und die Reproduktionen prüfte. Nach dieser 
Methode ist ihr der Beweis gelungen. Es ist das Verdienst Poppel - 
reuthers, nachgewiesen zu haben, daß die Resultate nur deshalb 
erzielt werden konnten, weil die Vpn. den Auftrag bekamen, chrono¬ 
logisch zu reproduzieren 1 ). »So wurde glatt übersehen, daß das 
meiste, was man, um elementare Assoziationsgesetze zu gewinnen, 
experimentierte, in ganz eklatanter Weise Willens- und Denkvorgänge 
waren, daß dasjenige, was man als elementar ansah, nämlich die mit 
der Reihenfolge der Perzeptionen übereinstimmende Reihenfolge der 
Reproduktion, keineswegs das Elementare ist. Poppelreuther 
kommt deshalb zur eigentlich selbstverständlichen methodologischen 
Forderung, beim Studium des Vorstellungsablaufes für möglichste Frei¬ 
haltung von Denk- und Willensprozessen zu sorgen, und daß dieses 
Freihalten durch Fortfall einer besti mmten Aufgabe annähernd 
garantiert ist, braucht nicht besonders wiederholt zu werden. Das 
beherrschende methodische Prinzip ist passive Wahrnehmung und 
Reproduktion, d. h. die Vp. hat unter dem möglichsten Fortfall jeg¬ 
licher Aufgabestellung das zu Protokoll zu geben, was in ihr passiv 
reproduziert ist« (222). Liest man diese Sätze des experimentellen 
Psychologen, der seine Arbeit im Ziehen sehen Institut ausführte, 
so glaubt man die methodischen Anweisungen eines Analytikers zu 
sehen mit einer begrifflich bessern Begründung. Diese Untersuchung 
hat nun ergeben, daß sich in unserer Seele »Totalvorstellungen bilden 
und daß beim Wiederbeleben eines Teiles die Reproduktionstendenz 
auf möglichste Wiederherstellung des ganzen Sekundärerlebnisses 2 ) 
geht, also auf die Totalität und nicht von Glied zu Glied« (222). Der 
Ablauf der Vorstellungen geschieht nicht nach dem Gesetz der Kon- 
tiguität, sondern er ist »zu bezeichnen als die Explikation der Teile, 
die in einer Totalvorstellung enthalten sind, d. h. die Reproduktion 
geht auf die Totalität und aus dieser Totalität heraus explizieren sich 


1) Archiv f. d. ges. Psychologie, XII, S. 220ff. 

2) Unter Sekundärerlebnis versteht P. die durch die Empfindungen hervor 
gerufenen Vorstellungen, die die Empfindung überlebt. 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse. 273 

die Teile, die in einer mehr oder weniger unklaren Totalvorstellung 
impliziert sind« (253). 

Diese Lehre von der Bildung von Totalvorstellungen läßt es aus¬ 
geschlossen erscheinen, daß von einer Teilvorstellung aus das ver¬ 
schiedenste Material zutage gefördert wird, wenn es auch verständlich 
ist, daß die Glieder der Totalvorstellung nicht immer in derselben 
Reihenfolge reproduziert werden. Die Behauptung, daß von einer 
Vorstellung sich alles mögliche reproduzieren lasse, ist dann bis zu 
einem gewissen Grade richtig, wenn irgend ein Reizwort ohne jeden 
Zusammenhang gegeben wird, denn irgend ein Reizwort kann ein 
Glied einer ganzen Menge von Totalvorstellungen sein, nicht aber, 
wenn von einem zusammenhängenden psychischen Gebilde die Rede 
ist, und von dem aus reproduziert wird. Die Vertreter des »Ketten¬ 
schemas« übersehen vor allem, daß unsere Reproduktionen von 
»determinierenden Tendenzen«, um mit Ach zu reden, geleitet sind; 
sie übersehen den teleologischen Charakter unseres Denkens, w r ie 
sehr unser Vorstelhmgsverlauf beeinflußt ist von unseren Gefühlen 1 ), 
oder anders ausgedrückt vom Lust-Unlustprinzip und dem ihm ent¬ 
gegenwirkenden Realitätsprinzip. Nun herrscht ja bei jeder Analyse, 
sei es eines Traumes, sei es eines Symptomes, eine determinierende 
Tendenz vor, nämlich die, die binnenbewußten Vorgänge, die das 
Material für den Traum abgegeben haben, zu finden. Diese Tendenz 
hat die selektive Funktion, von den Reproduktionsgrundlagen die¬ 
jenigen zu reproduzieren, die in Beziehung zu den manifesten Be¬ 
wußtseinsphänomenen stehen. Dieser Tendenz wirkt zwar die andere 
Tendenz entgegen, die die Hemmung gegen das Bewußtmachen 
des Binnenbewußten bildet, und so sind die ersten Einfälle oft 
Kompromißbildungen, die eine Folge der gegeneinander strebenden 
Tendenzen sind. Von hier aus läßt sich aber das Binnenbewußte 
leichter eruie en. Wir bemerken ausdrücklich, daß wir uns voll be¬ 
wußt sind, lange nicht alle Schwierigkeiten besprochen zu haben, die 
s : ch dem apperzeptiven Bewußtmachen des Binnenbewußten ent¬ 
gegenstellen, wir sind uns auch der Fehlerquellen bewußt, die ein 
freies Reproduzieren in sich birgt, und behalten uns eine ausführ¬ 
lichere' Darstellung dieser vor. Das glauben wir jedoch gezeigt zu 
haben, daß die psychanalytische Methode wissenschaftlich durchaus 
berechtigt ist und sich auch auf Tatsachen stützt, die mit ganz an- 


1) R. Müller -Freienfels, Der Einfluß der Gefühle und motorischen 
Faktoren auf Assoziation und Denken. Archiv f. d. ges. Psychologie, 1913, 
S. 380ff. 

Archir ffir P»ychologie. XXXVI. Iß 


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M. NachraansohD 


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deren Methoden gefunden worden sind. Zuzugeben ist, daß Freud 
seine Methode mehr intuitiv gefunden hat, doch wäre dieses nur ein 
Beweis mehr, daß oft intuitiv Resultate vorweg genommen werden, 
die sich nachher durch die wissenschaftlich logische Forschung be¬ 
stätigen lassen. 

Durch die Frcudsche Methode können wir also ein weites, 
bisher unbearbeitetes psychologisches Gebiet der Erforschung zu¬ 
gänglich machen, das zwar vielen bekannt war, dessen Studium 
aber selbst von denen, die dessen Existenz Zugaben, abgelehnt wurde, 
mit der selbstverständlichen Behauptung, daß nur das Bewußte 
beobachtet werden könne. Da ihnen jedes Mittel fehlte, das Binnen¬ 
bewußte apperzeptiv bewußt zu machen, so ist ihre Behauptung nur 
zu berechtigt gewesen. 

Nach diesen Feststellungen können wir nun dazu übergehen, die 
Inspiration zu erklären. Nach den Schilderungen der Mystiker etwa, 
von denen viele ja ganz besonders durch Inspirationen ausge¬ 
zeichnet sind, kann man glauben, daß eine überindividuelle Intelli¬ 
genz zu oder in ihnen spreche und ihnen die tiefsten Geheimnisse 
des Universums offenbare. In einem kurzen Augenbücke wird ihnen 
Einsicht gewährt in das Wesen der Gottheit, der Dreieinigkeit, in 
die Entstehung der Welt und der Kreaturen. Wegen der Fülle 
und Plötzüchkeit der Erkenntnisse sei es ihnen garnicht möglich, 
die Gesichte und Erlebnisse nur einigermaßen adäquat zum Aus¬ 
druck zu bringen. 

Unsere Erklärung des Phänomens ist nach dem Vorhergehenden 
in den allgemeinen Zügen ohne weiteres gegeben. Das Material der 
Vorstellungen und Gedanken, die in der Inspiration erfaßt werden, 
liefern Impressionen verschiedenster Art! Persönliche Erlebnisse, 
die schon oft in frühester Kindheit stattgefunden haben, Wünsche, 
Wahrnehmungen, Belehrungen durch Bücher und Lehrer und endüch, 
und vielleicht vor allem, nicht apperzipierte seelische Regungen, die 
von den Hemmungen verdrängt wurden, noch ehe sie apperzipiert 
werden konnten. Von diesen Inhalten leben viele aus von Fall zu 
Fall festzustellenden Gründen binnenbewußt weiter, assoziieren sich 
neu und bilden mehr oder weniger umfangreiche Binnenkomplexe. 
Als organisierendes Prinzip der Neuassoziierung haben sich meistens 
gefühlsbetonte Wünsche herausgestellt. Erreichen die binnen¬ 
bewußten Komplexe eine genügende Stärke und haben sie sich so 
organisiert, daß sie mit unserer bewußten Weltauffassung in Har¬ 
monie stehen, so setzen sie sich auch gegen die Hemmungen durch 
und erzwingen eine Entladung, oder wenigstens ein apperzeptives 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse. 275 

Bewußtwerden. Ließe sich unsere Hypothese so weit annehmbar 
machen, so ergibt sich die Erklärung der Begleiterscheinungen der 
Inspiration, wie die der Passivität, der Plötzlichkeit, der Überfülle 
und der überstarken Lustgefühle von selbst. 

Betrachten wir zu diesem Zweck kurz die Entwicklung und die 
Lehre Jacob Böhmes: 

Einer der wesentlichsten Punkte seiner Lehre ist, daß in Gott 
schon das Prinzip des Guten und Bösen enthalten sei, jedoch nur 
der Möglichkeit nach. Diese Erkenntnis drängte sich ihm eines Tages 
unter einer ungeheuren Fülle von Symbolen auf, die er als die 
Qualitäten des Universums faßte. Diese sind das Heiße, Kalte, 
Bittere, Süße, Saure, Herbe oder Gesalzene. In jeder dieser Quali¬ 
täten herrscht das Prinzip des Guten und Bösen. So in der Hitze 
Licht und Grimmigkeit. »Das Licht oder das Herz der Hitze ist an 
ihm selber ein lieblicher und freudenreicher Anblick, eine Kraft 
des Lebens, eine Erleuchtung und Anblick eines Dinges, das da 
ferne ist, und ist ein Stück oder Quell des himmlischen Freuden¬ 
reiches. Denn es macht in dieser Welt alles lebendig und beweglich, 
alles Fleisch, sowie Bäume, Laub und Gras wächst in dieser Welt in 
Kraft des Lichts und hat sein Leben darin als in dem Guten. Hin¬ 
wiederum hat sie in sich Grimmigkeit, daß sie brennt, verzehrt und 
verderbt, dieselbe Grimmigkeit quellet, treibt und erhebt sich in dem 
Licht und macht das Licht beweglich und kämpft miteinander in 
seinem zweifachen Quell als ein Ding, es ist auch ein Ding, aber es hat 
einen zweifachen Quell« 1 ). Was wir hier hören, ist der empirischen 
Welt entnommen, soll aber »geistig« verstanden werden und nur sym¬ 
bolisch das entgegengesetzte Streben in der Natur darstellen, wofür 
die Dauerbedingung die Gottheit ist. Ebenso besteht das Material 
für die Schilderung »von der Engel Geburt und Ankunft, sowie von 
ihrem Kegiment, Ordnung und himmlischem Freudenleben« aus 
Natureindrücken, die er auf seinen Wanderungen erhalten oder aus 
Büchern und Gesprächen mit den »Alchymisten und Medicis« 
seiner Zeit empfangen hatte. »Gleichwie der Wiesen Blumen eine jede 
ihre Farbe von der Qualität empfängt und auch ihren Namen und 
Qualität hat, also auch die heiligen Engel. Etliche sind der herben 
Qualität am stärksten und diese sind lichtbräunlich und der Kälte 
am nächsten. Wenn nun das Licht des Sohnes Gottes an sie scheinet, 
so sind sie gleich wie ein brauner Blitz, ganz helle in ihrer Qualität. 
Etliche sind des Wassers Qualität und die sind licht gleich dem 


1) Böhme, Werke, I, S. 68f. 

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M. Nachmansohn, 


heiligen Himmel und wenn das Licht an sie scheinet, so siehts gleich 
wie ein krystallen Meer aus 1 ).« Man sieht ohne weiteres, daß Natur¬ 
erscheinungen auf das Übersinnliche übertragen sind. Es wäre 
leicht denkbar, daß es bewußt geschehen ist. Dagegen spricht aber 
die unbezweifelbare Aussage Böhmes, seine Welt in Inspirationen 
plötzlich erschaut zu haben. Wir müssen demnach annehmen, daß 
zwischen den Reproduktionsgrundlagen, die im Laufe des Lebens 
gestiftet wurden, eine Neuordnung in der Assoziation stattgefunden 
nach gewissen leitenden Prinzipien. Die prädikativen Bestimmungen 
der Naturerscheinungen verknüpften sich auch mit den Vorstellungen 
der Engel im Himmel und diese neue Anordnung wurde in gewissen 
Augenblicken mit krasser, nicht abzuweisender Deutlichkeit bewußt. 
Das in der Inspiration apperzeptiv Erfaßte wurde wieder einer Modi¬ 
fizierung unterworfen, indem es bewußt als Symbol erkannt und ins 
Geistige übersetzt wurde. 

Die Offenbarung, daß in Gott schon das Gute und Böse enthalten 
sei, wurde durch jahrelanges bewußtes Denken, dem eine binnen¬ 
bewußte Tätigkeit zur Seite ging, vorbereitet. Böhme berichtet 
darüber in der Aurora K. 1908: »Weil ich aber fand, daß in allen 
Dingen Böses und Gutes war, in den Elementen sowohl als in den 
Kreaturen, und daß es in dieser Welt dem Gottlosen so wohl ginge als 
dem Frommen ..., ward ich derowegen ganz melancholisch und hoch 
betrübt und konnte mich keine Schrift trösten, welche mir doch fast 
wohl bekannt« 2 ). Hier haben wir einige bewußte Gedanken, die der 
Binnenarbeit, die in der Inspiration zum Vorschein kam, parallel 
gingen und durch die der Autor aus den Schwierigkeiten des Lebens 
gerettet wurde. Die zitierten Gedanken dürften nur zu geeignet 
gewesen sein, die Frömmigkeit Böhmes zu erschüttern und ihn zum 
Pessimisten und Gottesleugner zu machen. Dies durfte nicht sein; 
dagegen sträubte sich seine ganze Persönlichkeit. Eine solche Philo¬ 
sophie hätte ihn melancholisch machen, ja ihm ev. das Leben kosten 
können. Im Binnenbewußtsein arbeitete es an einer Lösung im gott¬ 
freundlichen Sinne. Als sich die binnenbewußte Gedankenkette ge¬ 
schlossen hatte und sie einen großen Teil der psychophysischen Energie 
absorbiert hatte, genügte ein kleiner Anlaß, um sie mit einer imerhörten 
Intensität zur Apperzeption zu bringen. Er fühlte sich gerettet und 
erlöst! Gott hatte zu ihm gesprochen. Sein größter Wunsch war 
erfüllt. So bestätigt sich die Hypothese, daß das Binnenbewußt- 


1) Böhme, a. a. 0. S. 155. 

2) Böhmes Werke, I, S. 239. 


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Zar Erklärung der durch Inspiration entstand. Bewußtseinserlebnisse. 277 

sein auch eine wunscherfüllende Funktion hat. Ob dies durch- 
gehends der Fall ist, wie Freud behauptet, möchten wir nicht ent¬ 
scheiden. Im Falle Böhmes trifft die Annahme jedenfalls zu. »Als 
sich aber mit solcher Trübsal mein Geist (dann ich wenig oder nichts 
davon verstand, was es war) ernstlich in Gott erhob als mit einem 
großen Sturme und mein ganzes Herz und Gemüt samt allen anderen 
Gedanken und Willen sich darein schloß, ohne Nachlassen mit der 
Liebe und Barmherzigkeit zu ringen, Er segne mich denn, d. h. Er 
erleuchte mich denn mit seinem heiligen Geist, damit ich seinen 
Willen möchte verstehen und meine Traurigkeit los werden, so brach 
der Geist durch« (239/40). Man ahnt das faustische Ringen Böhmes, 
bis er seine befriedigende Lösung fand. Der Inhalt dieses Ringens 
war ihm jedoch nur ahnungsweise bekannt! Die Traurigkeit und 
Melancholie dürfte nicht nur darin ihren Grund gehabt haben, daß 
er in Gott keine Gerechtigkeit sah, sondern wohl auch darin, daß in 
einem Teil seiner Seele eine starke Spannung herrschte, die einer 
motorischen Entladung bedurfte, um ein harmonisches Gleichgewicht 
zu erhalten. Im Binnenbewußtsein hatten sich eine Fülle von Im¬ 
pressionen und Gedanken gehäuft, die weder apperzipiert noch zur 
Darstellung gebracht waren. Daß die Gedankenarbeit binnenbewußt 
vor sich ging, müssen wir daraus entnehmen, daß Böhme seine 
symbolische Welt »in weniger als einer Viertelstunde« schaute 
(wie lange Zeit sie zur Reife bedurfte, läßt sich natürlich nicht be¬ 
stimmen). 

Es ist nun die Frage zu beantworten: Warum war es Böhme nicht 
möglich, seine Weltanschauung im bewußten Denken auszubilden? 
m. a. W. warum bedurfte es der Binnenarbeit? Einmal kommt das 
Wunderbare seiner Weltanschauung als Erklärung in Betracht. Er 
hatte in sich bewußt eine Berufseinheit ausgebildet, die ganz der eines 
ungelehrten Schusters entsprach; diese setzte der phantastischen 
Vorstellungswelt des Theosophen einen Widerstand entgegen und 
ließ sie anfangs automatisch, solange die Binnenwelt noch schwach 
war, später bewußt nicht zur Apperzeption kommen. Sie paßte 
nicht in die gebildete Einheit. Als aber das Binnenbewußtsein eine 
große Stärke erreicht hatte, bedurfte es während einer unaufmerk¬ 
samen Stunde nur eines geringen Anstoßes (der Anblick eines leuch¬ 
tenden Zinngefäßes, das in symbolischer Weise seinen Grundgedanken 
darstellte, daß das Gute sich nur am Bösen offenbart), um es gegen die 
Hemmungstendenzen der Berufseinheit, d. h. gegen den Willen des 
bewußten Ich zu apperzipieren. Naiv deutet Böhme unsere Ver¬ 
mutung an: »Dieweil ich allhier von himmlischen und göttlichen 


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M. Nachm&nBohn, 


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Dingen schreibe, welches der verderbten Natur des Menschen gar 
fremde ist, darob sich der Leser an der Einfalt des Autors ohne Zweifel 
möchte wundern und ärgern, derweil der verderbten Natur Trieb nur 
auf das Hohe sieht, als eine stolze, wilde, geile und hurische Frau, die 
sich in ihrer Brunst immer nach schönen Männern umsieht, mit denen 
zu buhlen. Also ist die hoffärtige Natur des Menschen auch: die 
siehet nur auf das, was vor der Welt pranget, und vermeinet, Gott 
habe den Elenden vergessen. Sie denket, der heilige Geist sehe nur 
auf das Hohe, auf die Kunst dieser Welt und auf das große und tiefe 
Studium« (S. 120). Böhme hätte diese Verteidigungsrede, die er 
mit sehr vielen Stellen aus der hl. Schrift belegt, indem er an vielen 
Beispielen zeigt, daß gerade den Ungelehrten sich der Herr offenbare, 
sicherlich nicht niedergeschrieben, wenn er in sich selbst nicht hätte 
den Kampf durchkämpfen müssen, wenn nicht der Schuster den 
Theosophen ungläubig und unwillig angehört hätte. Seine Ver¬ 
teidigung ist mehr Rechtfertigung vor sich selbst, als vor anderen. 
Als nämlich die Offenbarungen über ihn kamen, wollte er ihnen gar 
keinen Glauben schenken, da er sie für Phantastereien hielt, die sich 
ein »ehrlicher Mann aus dem Gemüt schlagen müsse« (10). Sie hatten 
ihn sozusagen überrumpelt. Die Hemmungen regten sich aber zu 
spät; sie traten jetzt in Form von Zweifeln an der Wahrheit und 
Göttlichkeit seiner Inspirationen auf. Eine ähnliche Hemmung muß 
in der unfruchtbaren Periode nach der Veröffentlichung der Aurora 
binnenbewußt wirksam gewesen sein. Als das Buch erschien, ließ 
ihm der Magistrat auf Veranlassung des Geistlichen (G. Richter) 
streng ansagen »sich an seinen Leisten zu begnügen, das Bücher¬ 
schreiben aber unterwegens zu lassen«. Diese Mahnung hatte 
eine solche Wirkung, daß er trotz der oben zitierten aggressiven 
Verteidigung tatsächlich volle sieben Jahre bei den Leisten bleiben 
mußte und nicht produzieren konnte 1 ). Als sich aber während 
dieser Zeit in der empfänglichen Seele des Philosophen wieder ein 
großer Binnenkomplex gebildet hatte und immer stürmischer 
nach motorischer Entladung verlangte, was sich in der schweren 
melancholischen Stimmung des Mystikers während dieser Zeit kund¬ 
gibt, kam er wieder zur bewußten Apperzeption, »bis er endlich 
nach großem Kampf, Mühe und Not die erste Gnade wieder er¬ 
reichet und den Mut gefasset, hinfüro auf und mit Gott alles zu 
wagen« (12). 


1) Vgl. Frankenbergs Biographie, a. a. O. S. 12 und Böhmes Werke, 
III, S. 32. . 


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Zur Erklärung der durch Inspiration entstand. BewuL : tseinserlebnisso. 279 

Wir können jetzt die Plötzlichkeit, Überfülle und das Bewußtsein 
der Passivität leicht verstehen. Da die Reproduktionsgrundlagen ja 
gestiftet und binnenbewußt erregt sind, können viele auf einmal an¬ 
klingen und zum Bewußtsein kommen, und da die Vorstellungen (im 
weitesten Sinne) nicht bemerkt, die innere Tätigkeit kaum geahnt 
war, hat das Individuum das Bewußtsein, daß nicht sein Ich, ein 
Begriff, welcher z. T. eine Funktion der Aufmerksamkeit ist, das 
Geoffenbarte gedacht, sondern daß er es von einem anderen Wesen 
empfangen habe. 

Mit unserer Erklärung ist zugleich eine Kritik der E. v. Hart- 
mannschen Theorie der Inspiration 1 ) gegeben, die metaphysisch 
genannt werden kann und im Grunde sich nicht von der der Mystiker 
unterscheidet, die ein gnadenvolles Einsprechen Gottes annahmen 
und so die Erscheinung erklärten, indem sie das Problem ins Tran¬ 
szendente verschoben. Für v. Hart mann erklärt sich die Inspiration 
»durch unwillkürliches Auftauchen eines psychischen Inhaltes (Gefühl, 
Gedanke, Begehren) aus dem Unbewußten«. Auch wir könnten uns 
mit dieser Theorie einverstanden erklären, wenn wir uns nur an 
diesen Wortlaut halten würden. Bedenkt man jedoch, daß für 
v. Hartmann das Unbewußte gleichbedeutend ist mit dem Abso¬ 
luten 2 3 ), so kann uns seine Theorie sehr wenig befriedigen. Das 
Absolute, das an sich unbewußt ist, kommt im Mystiker oder Dichter 
zum Bewußtsein, er sieht darin »eine intuitive Zerreißung des Schleiers 
der Maja oder die gefühlsmäßige Überspringung der Schranken der 
Individuation« 8 ). Daß hiermit auf eine wissenschaftliche Erklärung 
Verzicht geleistet ist, braucht nach Kant wohl nicht besonders 
betont zu werden. 

Die Jamessche Theorie unterscheidet sich nicht wesentlich von 
der E. v. Hartmanns. Auch er sieht die Notwendigkeit ein, zur 
Erklärung der Inspiration das Unterbewußtsein heranzuziehen. Aber 
einerseits hält er dieses der Erforschung nicht zugänglich, anderer¬ 
seits versteht er darunter die bewußtseinstranszendente psychische 
Wirklichkeit, die weit über das einzelne Individuum hinausgeht. Er 
hält es nun für möglich, daß das Transzendente die psychische Kausal¬ 
reihe durchbreche und zum Bewußtsein komme 4 * ). Hierzu bemerkt 


1) E. v. Hartmann, Philosophie des Unbewußten, XI, I, S. 314. 

2) E. v. Hartmann, Die med. Psychologie, 79. 

3) E. v. Hartmann, a. a. 0. S. 490. 

4) James, Die religiöse Erfahrung, 1907, S. 429 der franz. autor. Über¬ 

setzung. 


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280 M. Nackmansohn, Zur Erkl. der durch Inspir. entstand. Bewußtseinserlebn 

Pfister mit Recht: »Wo aber Telegramme aus einer jenseitigen Welt 
einlaufen, hat die Psychologie ihr Recht verloren, denn sie steht und 
fällt, wie alle Wissenschaft, mit dem Prinzip der natürlichen Er¬ 
klärung. « 

Es handelt sich bei James ebenfalls nur um eine Problem¬ 
verschiebung. 


(Eingegangen am 27. Januar 1916.) 


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Über Begriffsüberschiebungen. 

Von 

Pani Feldkeller (Schönwalde [Mark] bei Berlin). 


Wenn wir Worte wie »bedeutend«, »gemein« u. a. uns daraufhin 
ansehen, was sie heute besagen und was unsere großen Klassiker mit 
ihnen meinten, so werden wir jener bekannten Tatsache inne, die wir 
»Bedeutungswandel« nennen und die ein verhältnismäßig einfaches 
Phänomen darstellt. Die Begriffe verlieren durch den abnutzenden 
Gebrauch die Präzision und Fülle ihrer inhaltlichen Bestimmungen: 
sie »verblassen«; andere erweitern sich (»Frau«, »Fräulein«, »Herr«); 
wiederum andere verengern sich (»Magd«, »Marschall«, »Minister«), 
ganz wie es die Entwicklung der Volksseele und der Wandel der 
Kulturverhältnisse mit sich bringen. Schließlich gibt es dann Worte, 
deren Bedeutung die ursprüngliche Begriffssphäre ganz verläßt, so 
daß weder eine Erweiterung noch Verengerung, sondern eine gänz¬ 
liche Entäußerung, ein Verlassen der Begriffssphäre statthat (»Schwei¬ 
zer«, »Oberschweizer«). Wie es zu einer solchen Bedeutungsverän¬ 
derung kommt, dafür sei ein sehr instruktives Beispiel aus der Gegen¬ 
wart angeführt. Haben wir nämlich in einem gefüllten Gasthaus 
dem Kellner einen Auftrag gegeben und dieser hat im Drang des Ge¬ 
schäfts den Gegenstand der Bestellung aus dem Gedächtnis verloren, 
so kann es geschehen, daß er uns noch einmal fragt und sich dabei 
folgender merkwürdiger Worte bedient: »Was bekamen Sie doch?« 
Dabei haben wir noch gar nichts erhalten. Hier hat der Ausdruck 
»bekommen« unmerklich die Bedeutung angenommen: Anwartschaft 
haben auf etwas, etwas zu erwarten haben. Nun haben wir in dem 
vorliegenden Beispiel freilich auch gegenwärtig noch immer das 
Bestellte zu erwarten, während der Kellner das Präteritum anwendet. 
Er bezieht sich mit seiner Frage aber auf jenen vergangenen Zeit¬ 
punkt, in dem wir die Bestellung machten, und meinte, genauer 
formuliert: »Ein was Bekommender waren Sie in dem bewußten 
Zeitpunkt?« Man sieht, wie zur Erklärung der ungewöhnlichen 
Redewendung die Annahme eines Bedeutungswandels sehr wohl 


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Paul Feldkeller, 


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ausreicht. Denn meinem Sprachgefühl nach kann »bekommen« sehr 
wohl die Bedeutung von »etwas zu erwarten haben« annehmen. 

Diesem Beispiel auf den ersten Blick außerordentlich ähnlich ist 
nun ein anderes. Auf einer kleinen Eisenbahnstation hatte der 
Schaffner meine Fahrkarte kontrolliert, trat nach einer Weile von 
neuem zu mir und fragte, um sich zu vergewissern: »Nicht wahr, Sie 
fuhren bis Nordhausen?« Aber Nordhausen sollte erst noch kommen. 
Ich wüßte nun nicht, welche Bedeutungsveränderung man für den 
Ausdruck »fahren« annehmen wollte, um diese Art der Erklärung 
zu rechtfertigen. Auch wir können, selbst wenn wir diese Rede¬ 
wendung zum ersten Male hören, uns völlig in sie einleben und sie 
verstehen. Sie hat also ihren guten Sinn und ihre Gefühlsberech¬ 
tigung, es fragt sich nur, auf Grund welcher Gesetzlichkeit. Jenes 
»Bekommen« hatte schon in seiner bloßen Bedeutung (ganz ab¬ 
gesehen von jeder Flexion) futurischen Charakter, der Ausdruck 
»fahren« hat solchen niemals, sondern gewinnt die futurische Be¬ 
deutung erst durch die Flexion, und wäre es durch die des sog. Prä¬ 
sens, niemals aber durch das Präteritum. Dennoch hegt in dem 
Präteritum »fuhren« jenes Beispiels eine futurische Bedeutung, die 
also weder aus der Wortbedeutung an sich noch aus der Flexion 
stammt. Gemeint sind mit der ganzen Redewendung ein vergangenes 
Ereignis (die Kontrolle, auf die der Schaffner sich bezog) und ein 
zukünftiges (die Fahrt bis N.), also zwei Begriffskomplexe. In die 
volle sprachliche Erscheinung dagegen tritt — wenigstens was den 
Wortkörper an sich anlangt — wegen zu erzielender Kürze der Aus¬ 
drucksweise nur der Begriffskomplex für das zukünftige Ereignis 
(das Fahren), das im Vordergründe des Interesses steht. Für das 
vergangene Ereignis findet sich kein solcher selbständiger Ausdruck, 
wohl aber die grammatische Form des Präteritums, welche — ganz 
sinnwidrig! — dem Ausdruck für das zukünftige Ereignis angeheftet 
wird. Der Begriff der Vergangenheit w r ird sprachlich auf den Aus¬ 
druck für das kommende Ereignis über schoben. Durch einen 
sprachlichen Ausdruck wird so logisch einander Ausschließendes 
repräsentiert. 1 ). 


1) Lediglich die eigene Beobachtung wird hier entscheiden können, ob es 
sich um eine tatsächliche Überschiebung handelt oder ob mit jener Rede¬ 
wendung nur gemeint ist, daß ich in jenem vergangenen Augenblick der Kon¬ 
trolle — unter Absehen von allen übrigen Zeitpunkten — auf der Fahrt bis 
Nordhausen begriffen war. In diesem Falle wäre der gemeinte Sachverhalt 
regulär ausgedrückt. Dennoch empfindet Verf., daß mit der Redewendung 
noch etwas anderes »gemeint« ist, das nicht durch einen selbständigen Wort- 


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Über Begriffsllberschiebungeii. 


283 


Wenn es nun auch sonst kaum noch ein solches logisches Monstrum 
gibt, das dennoch durch das Sprachgefühl legitimiert wird, so finden 
sich ähnlicher Begriffsüberschiebungen in der deutschen Umgangs- 
wie auch der Literatursprache nicht wenige. Eduard Sievers wies 
in seinen Vorlesungen bisweilen auf diese merkwürdige Erscheinung 
hin und gab damit vor Jahren dem Verfasser den Anlaß, nach einer 
psychologischen Erklärung zu suchen. Eine Schranke finden diese 
Überschiebungen zunächst an dem Assoziationsgesetz der Ivonti- 
guität (Bewnßtseinsnachbarschaft): es wird ein Begriff (Eigenschaft, 
Zustand, Tätigkeit u. dgl.) von einer Vorstellung bzw. deren sprach¬ 
lichem Ausdruck nur auf eine solche andere Vorstellung überschoben, 
mit der jene erste Vorstellung lange genug gleichzeitig im Bewußtsein 
zusammengewesen war, so daß irgendwie ein sachlicher Zusammen¬ 
hang besteht. Dies ist die Hauptbedingung für das Zustandekommen 
von Begriffsüberschiebungen. Am häufigsten sind solche da, wo es 
sich um den sachlichen Zusammenhang des Produktions- oder Besitz¬ 
verhältnisses handelt. Hier finden sich Überschiebungen vom Ur¬ 
heber oder Besitzer auf das Erzeugnis oder den Besitz. Es scheint 
sich da vorwiegend um seelische Eigenschaften u. dgl. zu handeln, 
die überschoben werden, so werden Gemütsstimmungen in dieser 
Weise auf eine Sache übertragen, der sie garnic-ht zukommen. Wir 
sagen »er spielte eine sehnsüchtige Weise«, »er sang ein frohes 
Lied«, wohl gar mit »heiterer Stimme«, trotzdem nur der Spieler, 
Sänger, Besitzer der Stimme sehnsüchtig, froh, heiter sein kann. 
Doch haben wir uns so sehr daran gewöhnt, daß wir nichts Unge¬ 
wöhnliches mehr in jenen Redewendungen erblicken. Auffallender 
wirkt schon die Überschiebung von Begriffen für sittliche Eigen¬ 
schaften: so kann man in Rezensionen von einer »fleißigen Arbeit«, 
einem »fleißigen«, ja einem »mutigen Buch« lesen, in Kollekten 
wird um »milde Gaben« gebeten. Aber auch andere Begriffe werden 
ebenso verschränkt: wir machen eine »stillschweigende Voraus¬ 
setzung«, obwohl doch wir, die Voraussetzenden, das Stillschweigen 


leib, sondern nur durch die Beibehaltung des einem ganz fremden Wort ange¬ 
hängten Tempus ausgedrückt wurde. Die t Meinung «, die Intention, kann ja 
allein darüber entscheiden, was für ein Fall vorliegt. In dem gleichsam ver¬ 
einsamten Tempus bat eben die der Vergangenheit angehörende bestimmte 
Funktion des Schaffners ihren abgekürzten Ausdruck gefunden. Ganz ent¬ 
sprechend sagt ein Redner rekapitulierend am Schluß seines Vortrags etwa: 
»Hundert Zentimeter waren der zehnmillionste Teil eines Erdquadranten«, 
nnd meint damit: »An einer bestimmten Stelle des Vortrags fanden wir, daß 
hundert Zentimeter so groß sind«. 


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284 


Paal Feldkeller, 


besorgen. Wir sprechen von einem »verrückten Unternehmen«, 
obwohl nur der Unternehmer verrückt sein kann (dagegen bedeuten 
Wendungen wie »verkehrtes Unternehmen« keine Überschiebung). 
Die Schachspieler reden vom »blinden Spiel«, bekannt ist das 
»blinde Spiel des Zufalls«; doch ist es nicht sicher, ob diese beiden 
Beispiele hierhergehören. Die Rede vom »blinden Zufall« ist eine 
bloße Personifikation. Auch die Ausdrücke »blindes Spiel«, »blinde 
Wahl« u. a. sind mehr durch die Verbindungen »blind spielen«, 
»blind wählen« nahegelegt, so daß in diesen Beispielen das Adjektiv 
»blind« die Funktion eines Adverbs hat, die Überschiebung also nicht 
echt zu sein scheint. Dagegen gehören die verwaltungstechnischen 
Ausdrücke »blinde Pferderationen, Tafel- und Messegelder« durchaus 
hierher. Ferner kann man in Zeitungsinseraten und sonst von 
»galanten Krankheiten« lesen, welcher Ausdruck ebenfalls durch 
Überschiebung von den Ursachen der Krankheiten auf diese selbst 
entstanden ist. Dies Beispiel zeigt übrigens am klarsten den funda¬ 
mentalen Unterschied der Begriffsüberschiebung von der Metapher, 
da doch im völligen Gegensatz zur Ausdrucksweise die Krankheiten 
den Leidenden recht »ungalant« anpacken. Der »Hocker« (Stuhl 
ohne Lehnen) führt seinen Namen nicht von sich her, sondern von 
seinem Benutzer. 

Aber auch umgekehrt, vom Resultat auf den Urheber bzw. vom 
Besitz einer Eigenschaft auf den Besitzer, wird gern überschoben. 
Mime in Richard Wagners »Siegfried« (2. Akt) will den Titelhelden 
mit »queckem Trank« erlaben, obwohl nicht der Trank selbst diese 
Eigenschaft hat, sondern der, welcher ihn trinkt. Unsere Sprache 
kennt die Rede von einem »traurigen Lob«, das gespendet wird, 
von einer »traurigen Sachlage«, einem »traurigen Kerl« usw., wo 
allemal nur »trauererregend« gemeint ist. In Niederdeutschland 
sagt man bisweilen, ein Mensch sei »eklig«, wenn er leicht Ekel 
empfindet. Man nennt jemanden »bequem«, der die Bequemlich¬ 
keit liebt, wo also der Gegenstand, nicht die Person, bequem ist. 
Uns sind — in regulärer Anwendung des Ausdrucks — Dinge und 
Personen »gleichgültig«; in der lässigen Umgangssprache aber 
werden auch solche Menschen, denen etwas gleichgültig ist, als 
»gleichgültig« bezeichnet. Eben hierhin gehören die Ausdrücke 
»kalte Mamsell« (statt: für Zubereitung kalter Speisen) und »mö¬ 
blierter Herr«. Auf den ersten Blick wie Überschiebungen vom 
Produkt, Gegenstand usw. auf den Handelnden sehen auch die be¬ 
kannten irregulären aktiven Partizipia Perfekti aus, die es bei tran¬ 
sitiven Verben im Deutschen sonst nicht gibt. Es sind dies die Aus- 


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Über BegriffsUbenehiebangen. 


285 


drücke »ein gedienter Soldat«, »ein gelernter Handwerker«, 
»ein studierter Mann«, »überlegt handeln«, »ungebetet essen«, 
»ungescheut sprechen« (= ohne sich gescheut zu haben), »un¬ 
gefragt ins Zimmer treten« (= ohne gefragt zu haben), »unge¬ 
frühstückt an die Arbeit gehen« u. a. m. Wir haben aber in diesen 
Ausdrücken wahrscheinlich nur Analogieformen zu den Partizipien 
der intransitiven Verben: gehen, laufen, fahren u. a. zu sehen. Dem¬ 
nach wäre-z. B. »ein studierter Mann« aufzulösen in »ein Mann, der 
studiert hat«, wobei dann diese aktive Form von der Sprache mit 
einer neutralen, intransitiven Bedeutung verbunden worden ist. 
Der Umweg einer Erklärung von dem »studierten« Wissensgebiet 
her scheint mir hier künstlich. Als gutes Beispiel dagegen vermerken 
wir folgende Begriffsverschränkung in Goethes »Iphigenie« 1, 201—3: 
»Ein gewaltsam neues Blut treibt nicht den König, solche Jünglings¬ 
tat verwegen auszuüben«. Nicht das Blut, sondern die etwaige 
plötzliche Leidenschaft, also sein Produkt, kann allein »neu« sein. 

Eine neue Gruppe von Überschiebungen besteht hinsichtlich des 
Verhältnisses eines Dinges zu seiner lokalen oder temporalen Be¬ 
stimmung, bestehe diese in der Angabe eines Vehikels, Behälters, 
Ortes oder einer Zeit usw. So sprechen wir von »nachtschlafen¬ 
der Zeit«, während doch nicht diese, sondern die Bevölkerung schläft. 
Naturgemäß sind es dann Begriffe des sich Bewegens und Rühens, 
die überschoben werden. Man findet Sätze wie »das Zimmer sitzt 
voll von Menschen«, »der Markt steht voll von Buden«, »der Baum 
hängt voll von Obst«, »der Hügel wimmelt (krabbelt) von 
Ameisen«, wobei jedoch gemeint ist, daß die Menschen sitzen, die 
Buden stehen, das Obst hängt, die Ameisen wimmeln. Beim letzten 
Beispiel spielt freilich die Sinnestäuschung, als ob der Hügel selbst 
sich bewege, eine Rolle. Vielleicht gehört auch der Satz »die Wand 
entlang geht (läuft) eine Galerie« hierher, dann wäre der Begriff 
der Bewegung von den schweifenden Augen oder der entlang schrei¬ 
tenden Person auf die Galerie überschoben. Aber man sagt auch 
»die Straße läuft« oder »steigt an«, »der Weg geht«. Das alles 
kann auch bildlich und personifizierend gemeint sein, da man die 
einzelnen Teile der Straße und des Weges nur nacheinander in den 
Mittelpunkt der Netzhaut bringt und somit die nacheinander wahr¬ 
genommenen Teile sinnlich den Eindruck von auch objektiv auf¬ 
einander folgenden Etappen, Phasen des personifizierten oder wenig¬ 
stens beseelten Weges machen. Deutlicher wird dies beim »sich 
schlängelnden Weg«. Diese Metaphern sind wenigstens zum Teil 
vom Anblick der wirklichen Bewegung fließender Gewässer beein- 


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286 


Paal Feldkeller, 


flußt. Unzweifelhafte Überschiebungen finden wir wieder in den 
Sätzen vor »die Schüssel ist voll gelaufen«, »ein Tropfen bringt 
das Faß zum Überlaufen«, »der Wasserhahn läuft«, wobei allemal 
das Laufen nur des Wassers gemeint ist. Aber selbst auf die Begriffe 
menschlicher Körperteile, sogar auf Abstrakta werden solche Begriffe 
von menschlichen Körpertätigkeiten überschoben. In Wolframs 
»Parzival« heißt es (Lachmann 188, 20 f.): 

»bl der küneginne liehe 
saz sin munt gar &ne wort«, 
und wir heute sprechen von »sitzender Lebensweise«. 

Überschiebungen, zwischen denen ein sonstiges Abhängigkeits¬ 
verhältnis besteht, finden sich in den Redensarten von »teuren 
Preisen« (überschoben von der Ware) und von »einer schwierigen 
Frage« (überschoben von der Antwort). 

Die gehobene Sprache hat ihre Begriffsüberschiebungen ebenso 
wie die Umgangs- und die gewöhnliche Schriftsprache. Einige unserer 
Beispiele entstammten bereits der gehobenen Sprache. Wir nennen 
noch die Wendung »lange Jahre« für »viele Jahre« (nur die Gesamt¬ 
dauer der Jahre, nicht das einzelne Jahr kann lang oder kurz sein). 
Als ein ganz besonders schönes Beispiel sei am Schlüsse unserer Auf¬ 
zählung das »braune Lachen ihrer Augen« genannt, das sich bei 
Otto Ludwig findet (»Aus dem Regen in die Traufe« S. 291, Werke 
hrsg. v. Schweizer 1906). 

Was nun die psychologische Erklärung dieser Phänomene anlangt, 
so ist diese schwerlich aus einem einzigen Prinzip möglich. Wir ge¬ 
winnen einen Erklärungsgrund zunächst aus den psychologischen 
Beziehungsgesetzen (Wundt, Grundriß der Psychologie 5, 1900, 
S. 392 ff.), wonach es unmöglich ist, daß psychische Elemente oder 
Komplexe zugleich im Bewußtsein verharren können, ohne einander 
zu beeinflussen. Wir erfahren es an uns selbst, wie die Menschen, 
Landschaften, kurz die ganze Welt uns verschieden erscheinen, je 
nachdem wir sie in positive sachliche Beziehung mit anderen Men¬ 
schen und Dingen bringen, die uns sympathisch oder imsympathisch 
sind. So haben wir die natürliche Neigung, eines uns unangenehmen 
Menschen Verwandte oder Eigentum ebenfalls gering zu schätzen. 
Die durch jenen hervorgerufenen Gemütsstimmungen, sittlichen 
Werturteile u. dgl. strömen auf alles über, was mit ihm in positiver 
sachlicher (nicht Kontrast-) Beziehung steht und uns als solches 
zu Bewußtsein kommt. Sie färben gewissermaßen ab. 

Dieses Erklärungsprinzip der Abfärbung der Gefühle und damit 
der in ihnen beschlossenen Urteilsdispositionen gilt für alle beseelen- 


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287 


Über Begriffsilberschiebmigen. 

den Überschiebungen, d. h. solche, die in einer Übertragung 
seelischer Zustände oder Funktionen von Personen auf Dinge be¬ 
stehen. Wir haben solche Überschiebungen gleich zu Anfang unserer 
Aufzählung genannt. Vor allem sind es Gemütsstimmungen (»sehn¬ 
süchtiges Lied«), welche auf Grund dieses Prinzips überschoben 
werden. Es sind das vorzugsweise poetische Redewendungen. 

Für die weitaus größte Masse der in Frage stehenden Phänomene 
versagt indes diese Erklärung völlig. Die Überschiebungen sind gar 
keine vorzugsweise poetischen Erscheinungen, sondern zum größten 
Teil höchst praktische Denkeinrichtungen. Was uns an den Über¬ 
schiebungen so merkwürdig anmutet, ist ja dies, daß die sprachlichen 
Repräsentanten der Begriffe in einer Weise verbunden werden, die 
dem gemeinten Sinn der Worte gemäß den Regeln der betreffenden 
Sprache nicht entspricht. Wörtlich ins Denken umgesetzt, ergeben 
diese Wortverbindungen daher Widersinniges. Das muß uns zu 
der Einsicht bringen, daß die grammatische Gestaltung und An- 
einanderfügung garnicht darauf eingerichtet ist, unter allen Um¬ 
ständen dem gemeinten Sinn zu entsprechen, ihm etwa genau parallel 
zu gehen. Vor allem die Syntax gehorcht noch anderen Zweck¬ 
setzungen als der des wortwörtlich wiederzugebenden Sinnes. Diese 
gilt es aufzufinden. 

Das Denken ist keineswegs unbedingt an die Lautsprache ge¬ 
bunden, wenngleich es richtig ist, daß es sich erst an ihr bzw. an der 
ihr vorausgehenden Gebärdensprache emporgerichtet und zur Voll¬ 
endung des formulierten Denkens fort entwickelt hat. Aber auch auf 
der höchsten Stufe bleiben die Gedanken zum großen Teil ohne Ein¬ 
kleidung in Worte oder auch nur in Wortvorstellungen, ja wir suchen 
möglichst viel in unsere Worte, häufig in ein einziges Wort, hinein¬ 
zulegen, so daß das meiste sprachlich unausgedrückt bleibt. Das 
Sprechen hat nicht die Aufgabe, jeden einzelnen Begriff, jede Vor¬ 
stellung in Worte umzusetzen, sprachlich »abzubilden«. Selbst 
wenn das zur Aufgabe gemacht werden sollte, würde es doch faktisch 
niemals erreicht werden. Es bleibt vielmehr stets ein Rest an Denken 
und Vorstellen, der sich der sprachlichen Ummünzung entzieht. 

Aber in entgegengesetzter Richtung vollzieht sich etwas Ähnliches. 
Beim Lesen, selbst wenn es verständnisvoll geschieht, wird nicht 
jede grammatische Funktion, ja nicht einmal jedes Wort selbst in 
Vorstellungen übersetzt (eher schon in rein abstraktes Denken). Es 
ist bekannt, daß wir selbst beim langsamen Lesen oder Hören, sogar 
Sprechen, höchstens nur einen Teil der den aufgenommenen oder 
gesprochenen Worten entsprechenden Vorstellungen erzeugen, ohne 


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288 


Paal Feldkeller, 


daß das Verständnis darunter leidet. In dieser Erkenntnis hat man 
sogar die Anschauungskraft der Wortvorstellungen d. h. ihre Fähig¬ 
keit, sinnliche Sachvorstellungen zu reproduzieren, als für die Dich¬ 
tung ungenügend hingestellt und das Wesen der »Wortkunst« auf 
andere Prinzipien als das der dichterischen Anschaulichkeit gründen 
wollen (Theodor Meyer, Dessoir). Ohne uns in den Streit hierüber 
einzumischen zu brauchen, sehen wir, wie wenig konform Sprechen 
und Denken sind. Wiewohl das eine das andere braucht und soviel sie 
Gemeinsames haben mögen, so hat doch auch jedes seine eigentüm¬ 
lichen Gesetze, die für den anderen Teil nicht gelten. Und so sehr 
sich beide in ihrer Entwicklung beeinflußt haben mögen, zu einer 
Identität oder auch nur zu einer genauen, ins einzelne gehenden 
Entsprechung, einem Parallelismus kann es nicht kommen, weil der 
Stoff und damit auch die Funktionen, die Aufgabe jedesmal ver¬ 
schieden sind. Dort sind es simultane und sukzessive logische Ver¬ 
knüpfungen, hier ein ausschließliches Nacheinander von differen¬ 
zierten Lauten bzw. Lautvorstellungen. Für jene ist die logische 
Evidenz, für diese das Sprachgefühl zuständig. Einen groben logischen 
Fehler finden wir sofort heraus, noch schneller einen Verstoß gegen 
die Grammatik der von uns beherrschten Sprache. Gibt es nun für 
das Zusammenwirken von Sprechen und Denken ein ähn¬ 
liches Gefühl? 

Das Denken bedarf offenbar einer sinnlichen Unterlage, sei sie 
akustischer (Laute), optischer (Schrift, Bilder, geschaute Gebärden), 
muskulärer (vollzogene oder innervierte Gebärden), oder anderer 
Art. Für das geformtere, differenzierte Denken ist überdies eine 
reichere Formung, Artikulierung der Sprache nötig, damit die oft 
spinnewebenfeinen Operationen des bloßen Denkens nicht spurlos 
verpuffen, sondern durch die Assoziierung mit Sinnesempfindungen 
und Vorstellungen eine genügende Kraft der Perseveration, 
des intensiven Gedankeneindrucks und der Fähigkeit zur leichten 
Reproduktion erhalten. An einer gewissen Gliederung der Laut- 
sprache, welche durch fortgesetzte Differenzierung ihrer Wortbilder 
die Differenzierung der Gedankeninhalte konsolidiert, vor der Ver¬ 
flüchtigung bewahrt und somit eindrucksvoller gestaltet, hat das 
Denken also ein Interesse. 

Dies Interesse aber hat dort seine Grenzen, wo die Sorge des ge¬ 
nauen Angepaßtseins an den entsprechenden Sinn eine Aufmerksam¬ 
keit erfordert, welche dem auszudrückenden Gedankeninhalt ent¬ 
zogen wird, was diesen benachteiligt. Dieser besonderen Aufmerk¬ 
samkeit bedarf es dort nirgends, wo ein unmittelbares Gefühl in 


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Über Begriffsllberschiebungen. 


289 


Funktion ist und uns die Gewißheit der Richtigkeit schenkt. Solch 
unmittelbare Gefühlsgewißheit gibt uns das Sprachgefühl, sowohl 
was die sprachlich richtige Flexion wie Syntax anlangt. Hierbei 
handelt es sich um nichts als die grammatische Zulässigkeit der Wort¬ 
bildung und -fügung ohne Rücksicht auf die Richtigkeit der je¬ 
weiligen Anwendung. Neben dieser im allerengsten Sinne grammati¬ 
schen Richtigkeit steht aber die Richtigkeit der Bezeichnung, An¬ 
wendung, Bedeutung, die nicht mehr eine interne Angelegenheit 
des sprachlichen Gebäudes ist. Dieser Richtigkeit entspricht eben¬ 
falls ein Gefühl: das Bedeutungsgefühl, welches uns die unmittel¬ 
bare Gefühlsgewißheit verleiht, eine Sache richtig bezeichnet zu 
haben. Dies Bedeutungsgefühl arbeitet schon etwas langsamer als 
jenes interne Sprachgefühl. Am vernehmlichsten meldet es sich bei 
der sog. Wortbedeutung, d. h. der Bedeutung des Wortstammes. 
Schon schwächer ist seine Stimme bei der Bedeutung, Konformität. 
Entsprechung der Abwandlung des Wortes. Aber überall hier 
herrscht noch die Macht der Assoziation, welche die Vorstellung an 
den Lautkomplex kittet, und der auf ihr beruhenden mechanischen 
Reproduktion. Es ist nun eine für unser Problem wichtige Erkennt¬ 
nis, daß es für die jeweilig richtige d. h. sachgemäße Bedeutung, Ent¬ 
sprechung und darauf beruhende sachlich richtige Anwendung der 
Wortfügung ein solches Bedeutungsgefühl in der Regel nicht gibt. 
Immer wieder und auf ein und dieselbe Sachlage bezügliche syntak¬ 
tische Wendungen machen hiervon vielleicht eine Ausnahme. Sonst 
aber fehlt hier jene Assoziation zwischen Sprache und Sachverhalt 
und damit auch die einfache Reproduktion. Denn die bloßen Worte 
und Flexionsformen bedeuten — mit Ausnahme der wenigen Eigen¬ 
namen — allgemeine Begriffe und sind darum der Zahl nach 
begrenzt. Dagegen die jeweiligen, momentanen, besonderen, indi¬ 
viduell differenzierten, unendlich variablen Sachverhalte zu treffen: 
das ist Sache der richtigen Anwendung von Wortfügung und Satz¬ 
bildung, die daher nicht aus schon fertigen und auf Vorrat lagernden 
Assoziationen mittels passiver Reproduktion schöpfen darf, sondern 
die sprachlichen Elemente jedesmal vom irfschen kombinieren und 
gruppieren muß. Diese aktive Arbeit der Apperzeption kann kein 
Gefühl mehr, sondern nur das Nachdenken, die Reflexion leisten, 
und diese erfordert Aufmerksamkeit. Es gibt somit sehr wohl auch 
von der Syntax ein Sprachgefühl, aber ihre sachgemäße Anwendung 
wird nicht mehr gefühlsmäßig, sondern nur noch durch die Reflexion 
geregelt. 

Reflexion aber erfordert eine Zeitdauer, die nicht immer zur Ver- 


Ircbir f&r Piychologie. XXXVI. 


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Paal Feldkeller, 


fiigiing steht. Auch beansprucht die sachlich völlig korrekte Wort¬ 
fügung ein Maß von Aufmerksamkeit, das in keinem Verhältnis zur 
Sache und ihrem Gewinn steht und in der knappen Zeit, die in Rede 
und Unterhaltung doch mit der Konzentration auf die Sache selbst 
ausgefüllt wird, weder vom Sprechenden aufgebracht, noch vom 
Hörenden gewürdigt werden kann. Die Aufmerksamkeit wird von 
dem Gegenstand der Rede absorbiert. Das Wissen um die sachlich 
richtige Anwendung und tatsächliche Bedeutung der jeweiligen syn¬ 
taktischen Ordnung hält sich nur an der Peripherie des geistigen 
Blickfeldes auf. Sie in den Mittelpunkt zu rücken und damit zum 
Gegenstand der Reflexion zu machen, würde eine Überbürdung des 
Bewußtseins bedeuten. Erst dort, wo es sich um den besonderen 
Zweck einer wissenschaftlich genauen Verständlichmachung handeln 
würde, wo also auch das Nebensächliche in den Blickpunkt des Be¬ 
wußtseins gerückt wird, erst da wäre die Sorge für möglichst genaue, 
wenigstens nicht falsche Entsprechung am Platze. Der Zweck der 
Sprache im Leben ist aber ein anderer. 

Wir gelangen damit zu folgender Sachlage. Die mechanischen 
Assoziationen mit ihren Gefühlen gewährleisten die sachlich richtige 
Anwendung zwar der Wörter und meistens auch der Flexionsformen, 
für welche beide diese Gefühle zuständig sind. Die vom Gegenstand 
erfüllte Reflexion dagegen kann nicht die sachlich richtige Anwendung 
der Syntax garantieren, obwohl diese ausschließlich Sache der Re¬ 
flexion ist. Ein infolgedessen sich hier einschleichender Fehler wird 
darum vom Sprechenden nicht bemerkt, dessen Gedankengang also 
durch ihn nicht gestört wird. Der Hörende seinerseits hat garnicht 
die Zeit, über die sachlich richtige oder unrichtige syntaktische Ent¬ 
sprechung des Gedankenganges zu reflektieren; denn ihn interessiert 
nur die Sache, die er hört. Für deren richtiges Verständnis aber 
verläßt er sich ganz auf das Sprach- und das Bedeutungsgefühl, also 
auf die Assoziationen der gehörten Wörter und Formen. Diese aber 
geben ihm die Hauptbegriffe der Rede. Alles übrige — also die Zu¬ 
ordnung der Begriffe u. a. — reimt er sich selbst auf Grund jener 
Assoziationen, der vorangegangenen Sätze und seines sonstigen 
Wissens zusammen. Die Praxis der Sprache hat diesen Weg dem 
der minuziösen Reflexion über die sachliche Richtigkeit der syntak¬ 
tischen Anwendung vorgezogen, weil er mit praktisch ausreichender 
Sicherheit schneller als der andere zum Ziele führt. Der Kraft- und 
Zeitaufwand dieser Reflexion entspricht nicht der Größe des Nutz¬ 
effekts. Natürlich aber sind jetzt gelegentliche Fehler unvermeidlich. 
Jemand will brieflich seiner Bitte um Auskunft einen höflichen Aus- 


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Über Begriffsiiberschiebungen. 


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druck geben. Den sachlich richtigen Sprachausdruck für die ein¬ 
zelnen Begriffe gibt ihm ohne weiteres das Gefühl. Die für die richtige 
syntaktische Entsprechung erforderliche Reflexion unterläßt er der 
Einfachheit halber und schreibt, wohlgemerkt ohne Verletzung 
seines Sprachgefühls : »Ich bitte um höfliche Auskunft« (bei 
einfachen Leuten nicht selten) statt: »Ich bitte höflich um Auskunft« 
oder: »In baldiger Erwartung eines Lebenszeichens« statt: »In 
Erwartung eines baldigen Lebenszeichens«. Ein Lehrer fragt einen 
Schüler: »Bist du der Vater vom Minister?« worauf der Schüler sagt: 
»Nein, aber der Sohn«. Die richtigen Begriffe sind hier überall 
vorhanden, aber, an der Sache gemessen, falsch verknüpft. Wenn 
diese Begriffsüberschiebungen nun auch manchen zum Lachen 
reizen, andere tun es nicht. Man sagt: »Das kann man so oft ge¬ 
dankenlos hören« (statt: gedankenlos reden hören). In Sachsen 
sagt man: »Du möchtest einmal nach Hause gehen«. Vielleicht ist 
auch dies eine Begriffsüberschiebung, nämlich vom Sprechenden auf 
den Angeredeten und hieße dann genau: »Ich möchte, daß du einmal 
nach Hause gehst«. Die Wörter werden in den Satz gebracht, wie 
es die syntaktische grammatische Ordnung nur irgend gestattet. 
Daß diese Ordnung der Sache nicht entspricht, wird nicht gesehen. 
Daß die Wörter dastehen oder ertönen, ist die Hauptsache; richtig 
logisch verbunden werden die Begriffe dann schon von selbst. 

Mit dieser Erklärung sind Begriffsüberschiebungen als meistens 
unvermeidliche Ungenauigkeiten dargetan. Aber wenigstens doch 
nicht alle sind als Übel, die man in Kauf nehmen muß, anzusehen. 
Es gibt auch positive Gründe für ihr Entstehen. Wir sahen, daß die 
Überschiebungen für sachliche Genauigkeit, für minuziöse Dar¬ 
legungen ein schlechtes Mittel sind. Die Sprache hat aber nicht 
nur an der Breite und Detailliertheit, sondern mehr noch an der 
Intensität, der Lebendigkeit des Denkens ihren verdienstvollen 
Anteil. Und tatsächlich läßt sich ein großer Teil der Überschiebungen 
aus dem Prinzip der Dcnkbelebung erklären. Diesen Zweck 
erreichen die Überschiebungen auf dreierlei Weise; zunächst durch 
die erlangte Kürze des Ausdrucks: der Sinn der Rede bzw. die 
Plastik der Vorstellungen soll möglichst nicht durch einen Schwall 
von Worten erstickt werden. Diese sollen möglichst wenig Aufmerk¬ 
samkeit absorbieren, diese daher nicht auf sich ziehen. Je kürzer 
ein Ausdruck ist, um so konzentrierter wirkt die Wucht seines Ge¬ 
dankeninhaltes, die nun eben nicht in die Länge gezogen und damit 
verdünnt wird. Darum werden die kürzesten Verknüpfungsmög¬ 
lichkeiten, welche die Grammatik und das Sprachgefühl bieten, an- 


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Paal Feldkeller, Über Begriffsfibenchiebungeii. 

gewendet. Nicht diese also tragen die Kosten der Kürze des Aus¬ 
drucks, sondern die nun beeinträchtigte Entsprechung der Wort- 
und Satzgrammatik einerseits und der Gedanken anderseits. Auch 
in der Verminderung des Sprachaufwandes macht sich so das Prinzip 
des kleinsten Kraftmaßes bemerkbar. 

Die bloße Kürze ist nicht das einzige Mittel für die Belebung des 
Gedanken- und Vorstellungsverlaufs. Sie ist zu sehr Ausdruck eines 
bloßen Nützlichkeitsstandpunktes, als daß sie die Überschiebungen 
gerade der gehobenen Sprache erklären könnte. Das trifft z. B. 
für das aus dem Parzival angezogene Beispiel zu. Ebenso für Gret- 
chens Worte (Faust I, 3135f.): 

»Mir wird’s so wohl in deinem Arm, 

So frei, so hingegeben warm«, 

(es müßte sonst »hingebungsvoll« oder dergleichen heißen). Hier 
liegt nicht nur Kürze des Ausdrucks vor, der Leser hat auch die 
Empfindung des Ungewohnten des Ausdrucks, ohne daß er 
die Ungewohntheit zu merken, d. h. um jene Empfindung zu wissen 
braucht. Gerade das Ungewohnte, Unabgegriffene aber, solange 
es noch nicht störend auffällt, adelt die Sprache und belebt das 
Denken und die mitschwingenden Gefühlserregungen. 

Drittens wird die Denkbelebung durch größtmögliche Ausdrucks - 
fülle in den Überschiebungen erreicht. Es werden z. B. statt farb¬ 
loser Worte kräftigere gebraucht (»das Zimmer sitzt...«, »der Baum 
hängt . . .« usw. statt »ist voll«). Diese Ausdrucksfülle darf natür¬ 
lich nicht durch 'Breite, sondern nur durch die Güte des sprachlichen 
Materials erzielt werden. Ein Beispiel für die Erfüllung dieser For¬ 
derung ist »des Lichts gesellige Flamme«, um das sich in Schillers 
»Glocke« die Hausbewohner sammeln. 

Es erübrigt sich, zu bemerken, daß sich diese drei Vorzüge in 
vielen Überschiebungen zu einer einzigen Wirkung unabtrennbar 
vereint vorfinden. 


(Eingegangen am 17. Februar 1916.) 


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Über den Einfluß der Zeitdauer 
auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 

Von 

M. Antonie Goerrig (Cöln-Merheim r.). 

Mit 14 Figurengruppen (Kurven) im Text. 


Inhaltsangabe. Seite 

Einleitung .294 

I. Teil. 

Darstellung der Versuohsbedingungen .299 

1) Der Apparat ..299 

2) Methode der Untersuchung.301 

3) Fehlerquellen ..304 


4) Die räumlichen Beziehungen der N. und V. und ihre absolute Groß e 307 

II. TeiL 

Die Beziehung von Dauer und Geschwindigkeit zur 


Größenschätzung bei kleinen Bewegungen .310 

1) Versuche zur Feststellung der U.-E. für Geschwindigkeit und Dauer 310 

2) Streckenschätzungen.320 

3) Aussagen der Vpn.320 

ni. Teil 

Die Beziehung von Dauer und Geschwindigkeit zur 

Streckenschätzung bei großen Bewegungen .334 

1) Versuche.334 

a) N. und V. schließen sich aneinander an ..334 

b) N. und V. schließen sich nicht unmittelbar aneinander an . . 343 

2) Aussagen der Vpn.355 

Literaturverzeichnis.357 


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294 


M. Antonie Goerrig, 


Einleitung. 

Im Jahre 1905 veröffentlichte Jaensch in der Zeitschrift für 
Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane eine experimentelle 
Untersuchung über die Beziehungen von Zeitschätzung und Be¬ 
wegungsempfindungen. Zu dieser Arbeit wurde er veranlaßt durch 
eine Beobachtung, die Löb in Pflügers Archiv Bd. 41 und 46 mit¬ 
teilt: wenn man jemanden unter Ausschluß der optischen Kontrolle 
mit Hand und Arm Bewegungen ausführen läßt, deren Umfang 
subjektiv gleich erscheint, so werden die tatsächlich zurückgelegten 
Strecken um so kleiner ausfallen, je mehr die tätigen Muskeln im 
Beginn schon verkürzt sind. Dagegen erscheinen sie umso größer, 
je geringer die Verkürzung der Muskeln ist. Diese Beobachtung kann 
man leicht nachprüfen. Sie ist in der Folge von verschiedenen anderen 
Forschem, Crerner, Angier, Kramer und Moskiewicz bestätigt 
worden. Das Resultat von Löb wird in mehreren Arbeiten vielfach 
modifiziert. Lobs Schüler, Crem er, der unter denselben Bedin¬ 
gungen Streckenschätzungen ausführen läßt, findet, daß bei Ver¬ 
suchen, die Abstände über 15 cm betrafen, die geschätzten Strecken 
kleiner als die markierten waren. Auch bei kleineren Distanzen 
war dies meist der Fall. Nur bei Strecken unter 10 cm traf gewöhnlich 
das Gegenteil ein. (Crerner versteht unter der markierten Strecke 
die N. 1 )). Ebenso findet Delabarre in seiner Untersuchung über 
Bewegungsempfindungen 1891 die Löbsche Erscheinung nur, wenn 
große Unterschiede in der Muskelkontraktion vorliegen. Zur Er¬ 
klärung stellte Löb zwei Hypothesen auf, die sich ergänzen. 1) Mit 
wachsender Verkürzung nimmt die Reizbarkeit des Muskels ab. Ein 
gleicher Innervationszuwachs bewirkt eine immer geringere weitere 
Verkürzung. 2) Unser Bewußtsein von der Größe und Richtung 
einer Bewegung hängt wesentlich ab von dem Willensimpuls, und 
nicht von den durch die Bewegung selbst hervorgerufenen Empfin¬ 
dungen. Obwohl Jaensch die Annahme der Existenz von Inner¬ 
vationsempfindungen, die Löb hier zur Erk’ärung heranzieht, gegen 
deren Realität schwerwiegende Bedenken erhoben worden sind, nicht 
gänzlich von der Hand weisen will, glaubt er die von Löb beschriebene 
Erscheinung auf einfachere Weise erklären zu können und greift 
zurück auf die bereits von Kramer und Moskiewicz über ihr 
Zustandekommen geäußerte Vermutung: Bei zunehmender Muskel¬ 
kontraktion haben war den Eindruck einer unbequemeren Bewegung, 

1) .Normalstrecke. 


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Einfluß der Zeitdauer anf die Grüßenechätznng von Armbewegungen. 295 

wovon man sich durch eigene Versuche leicht überzeugen kann. 
Diejenige Strecke wird überschätzt, die nach dem Urteil der Vp. 1 ) 
die unbequemere ist. Da wir stets die Neigung haben, eine unbequeme 
Bewegung langsamer auszuführen, so wird für sie im allgemeinen auch 
die längere Zeit gebraucht. Auf diese Tatsache stützt sich die Ver¬ 
mutung obiger Autoren, daß die beiden Raumstrecken deshalb für 
gleich gehalten werden, weil zur Ausführung der Bewegungen gleiche 
Zeiten gebraucht werden, gleiche Impulsgebung vorausgesetzt. 

Jaensch meint, diese Hypothese wäre bestätigt, wenn sich zeige, 
daß trotz der sehr verschiedenen Länge der für gleich gehaltenen 
Strecken die Zeiten ziemlich genau übereinstimmen. Daß wir den 
Unterschied der Streckenlänge nicht merkten, liege daran, daß wir 
uns bei der Beurteilung nicht an die Bewegungsempfindungen halten, 
die infolge der Verschiedenheit der Mechanismen nicht analog, daher 
schwer vergleichbar sind, sondern daß wir denselben Impuls geben und 
die Zeitlängen vergleichen. 

Jaensch hält es von vornherein für sehr wahrscheinlich, daß man 
sich bei der Beurteilung der Strecken allein dieses indirekten Krite¬ 
riums bedient, denn, so führt er S. 271 aus: »Wir können zwei Empfin¬ 
dungen nur dann quantitativ miteinander vergleichen, wenn sie 
qualitativ völlig oder wenigstens einigennaßen gleichartig sind. Nun 
beobachte man sich einmal bei einer Streckung des Armes, man wird 
finden, daß die Empfindungen hierbei keineswegs eine einfache ein¬ 
dimensionale Reihe bilden, wie etwa die in Ton und Sättigung über¬ 
einstimmenden Farben. Die Empfindung ändert während des Ver¬ 
laufs der Bewegung ihre Qualität beträchtlich. Dahingestellt mag 
zunächst sein, ob die Bewegungseinpfindung als solche einer quali¬ 
tativen Modifikation unterworfen ist oder ob die Änderung in dem 
Gesamterlebnis nur dem Hinzutreten wechselnder Druck- und Span¬ 
nungsempfindungen entspricht. Sicher ist, daß diese qualitative 
Änderung des Gesamterlebnisses eine quantitative Vergleichung 
äußerst erschwert.« 

Bei der Untrennbarkeit der Bewegungen von Geschwindigkeit und 
Zeitdauer ist es wohl verständlich, daß außer bei den genannten 
Autoren die Frage nach zeitlichen Einflüssen in der Literatur der 
kinästhetischen Empfindungen sehr häufig wiederkehrt. Gold- 
scheider, der zum ersten Male in wissenschaftlicher Weise Unter¬ 
suchungen auf dem Gebiete der Bewegungsempfindungen vornahm, 
bestimmte die Schwellenwerte für Bewegungen in den einzelnen 


1) Versuchsperson. 


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296 


M. Antonie Goerrig, 


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Gelenken des menschlichen Körpers. Er beobachtete, daß bei gleicher 
Geschwindigkeit die Größe der Exkursion, bei gleicher Exkursion die 
Größe der Geschwindigkeit maßgebend für die Deutlichkeit der Emp¬ 
findung ist. Die übermerklichen Empfindungen zeigten fast durch¬ 
weg eine größere Geschwindigkeit, als die eben merklichen; während 
ihre Größe nicht immer in nennenswerter Weise die der eben merk¬ 
lichen überragte, gelegentlich sogar geringer war als diese. Auch sehr 
kleine Verschiebungen wurden bei großer Geschwindigkeit deutlich 
als Bewegungen gefühlt. In der Arbeit über die Theorie der Ataxie 
hebt er hervor, daß bei gewissen Störungen der Koordination, die 
dadurch gesetzt werden, daß die Sensibilität völlig aufgehoben ist, 
sich das Urteil über die Beendigung der aktiven Bewegung haupt¬ 
sächlich auf die Zeitempfindung stützt. 

Löb beobachtete bei seinen Versuchen, daß bei kleinerer Ge¬ 
schwindigkeit auch die entsprechende Strecke kleiner gemacht werde, 
weim die Reibung zwischen Unterlage und der bewegten Hand ver¬ 
größert wird. Diese Erscheinung kann ihre Erklärung finden in den 
Täuschungen der Tastempfindungen, da auch ein Faden, der zwischen 
zwei zusammengepreßten Fingern durchgezogen wird, der Vp. bei 
größerer Geschwindigkeit der Fadenbewegung kleiner erscheint. 
Vierodt machte eine ähnliche Beobachtung über Täuschung des 
Tastsinnes; ein über die Haut gezogener Strich erscheint kleiner bei 
größerer Geschwindigkeit. An gier sagt in seiner Arbeit über 
Schätzung von Bewegungsgrößen bei Vorderarmbewegungen: »Die Ge¬ 
schwindigkeit der Bewegung war von unverkennbarem und erheb¬ 
lichem Einfluß auf die Schätzungspräzision und dies ließ sich, obwohl 
ich mir des Fehlers wohl bewußt war, durch keine Übung beseitigen.« 
Er findet eine deutliche Überschätzung bei vierfacher Geschwindigkeit. 
Aus seinen weiteren Versuchen ergibt sich dann, daß eine Bewegung, 
welche nicht merklich langsamer als dem natürlichen Rhythmus 
entsprechend abläuft, wenigstens nicht die Tendenz hat, das Urteil 
im Sinne einer Unterschätzung zu beeinflussen. 

Die meisten anderen Autoren sprechen sich dahin aus, daß bei 
gewöhnlicher Geschwindigkeit die Neigung zu beobachten sei, eine 
etwas langsamer durchfahrene Strecke als etwas größer, eine in 
kürzerer Zeit ausgeführte Bewegung als kleiner aufzufassen. Wundt 
sagt in diesem Sinne: »Wir sind geneigt, den Umfang einer langsamen 
Bewegung und eines langsam gehobenen Gewichts relativ zu über¬ 
schätzen, den Umfang einer schnellen Bevvegimg und die Größe eines 
rasch gehobenen Gewichtes dagegen zu unterschätzen, weil wir in 
der Regel kleine Gewichte schneller als große heben und weil wir zu 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätznng von Armbewegungen. 297 

größeren Bewegungen längere Zeit als zu kleineren nötig haben.« 
Den Einfluß dieser geläufigen Assoziation wie auch den der Erwartung 
oder den de von Müller und Schumann so genannten Einstellung 
hält er für sekundär und betont, daß diese Erscheinungen rücksicht¬ 
lich der Komponenten der Bewegungs'mpfindungen keine Schlüsse 
zulassen. An einer anderen Stelle verwei t Wundt auf die Versuche 
von Külpe und Segsworth, durch deren Ergebnisse die Annahme 
von Müller und Schumann widerlegt wird. 

Wundt sagt, daß sich eine bestimmte mittlere Geschwindigkeit 
als für die Vergleichung günstigste herausstellt. Abweichungen davon 
schienen die Tendenz des Entstehens konstanter Fehler zu vergrößern, 
wobei aber immerhin die Größe der Fehler sehr viel kleiner bleibe 
als die entsprechende Variation der Geschwindigkeit. Ebbinghaus 
stützt sich auf die Arbeit von Jaensch, wenn er sagt: »Wir beurteilen 
Bewegungen dann als gleich oder ungleich, wenn sie bei nicht allzu 
verschiedenen kinästhetischen Empfindungen gleich oder ungleich 
lange dauern. Und so kann es kommen, daß wir auf irgend welche 
Weise verlangsamte und also weniger umfangreiche Bewegungen doch 
einer anderen für gleich halten, wenn sie in annähernd gleicher Zeit 
ausgeführt werden wie diese.« 

Falk findet in seinen Versuchen über die Raumschätzung mit 
Hilfe von Armbewegungen außer einer möglichen Einwirkung auf 
den konstanten Fehler eine außerordentlich geringe Beeinflussung 
der Unterschiedsempfindlichkeit durch die Geschwindigkeit. Er er¬ 
wähnt zwar, daß die Empfindlichkeit bei den zeitlichen Verhältnissen, 
unter denen er gewöhnlich seine Versuche angestellt hatte, etwas 
größer sei, doch dürfte das wohl auf die größere Übung zurück¬ 
zuführen sein, deren Einfluß er selbst an anschaulichen Tabellen nach¬ 
weist. Delabarre glaubt nach den Aussagen seiner Vp. annehmen 
zu müssen, daß in vielen Fällen die Geschwindigkeit der Haupt¬ 
anhaltspunkt für die Schätzung der Bewegung sei. Aus den objek¬ 
tiven Maßnahmen hingegen folgert er, daß das unmöglich immer der 
Fall sein könne, da die V. 1 ) nicht mit größerer Geschwindigkeit als 
die N. zurückgelegt werde, und da auch, wenn die eine der beiden 
Strecken mit sehr viel größerer Geschwindigkeit durchlaufen werde 
als die andere, die Urteile über die Streckengröße bei weitem nicht 
immer mit den zeitlichen Verhältnissen in Übereinstimmung standen. 

Störring findet, daß bei Vpn., die sich anweisungsgemäß nicht 
an etwaige visuelle Vorstellungen halten, der Geschwindigkeit je 


1) V ergleiohßstreoke. 


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298 


M. Antonie ßoerrig. 


nach ihrer Größe eine verschiedene Beeinflussung der Schätzung zu¬ 
geschrieben werden muß. Bei Vpn., die besonders durch Visuelles 
und Endlageempfindungen bestimmt werden, besteht bei guter Ein¬ 
übung in die Versuche fast keine Abhängigkeit der Streckenschätzung 
von differenter Geschwindigkeit in N. und V. Störring schließt 
daraus, daß es falsch sei, zu behaupten, daß unser Urteil über Be¬ 
wegungen wesentlich auf Schätzung der Geschwindigkeit der Bewegung 
und der Dauer derselben beruhe. Zu dem gleichen Schluß führen die 
Versuche von Eris mann, die im Jahr 1912, Archiv f. d. ges. Psych., 
veröffentlicht wurden. Eris mann führt seine Versuche am Stör- 
ringschen Kinematometer aus, das bis jetzt auf dem Gebiete der Be¬ 
wegungsempfindungen die günstigsten Versuchsbedingungen ermög¬ 
licht. Die Versuche wurden unter sorgfältiger Beachtung bzw. 
Vermeidung von Fehlerquellen angestellt. Die Tabellen dieser Arbeit 
können wohl als die bedeutsamsten für die Entscheidung dieser Frage 
angesehen werden. Aus ihnen geht hervor, »daß die Strecken - 
schätzungen unter keinen Umständen auf die Schätzungen 
der für die Bewegung notwendigen Zeit und der Geschwin¬ 
digkeit zurückzuführen sind.« (5, S. 223.) Wenn es demnach 
ausgeschlossen ist, daß die Vp. bei der Schätzung der Bewegungen 
sich nur oder hauptsächlich nach den zeitlichen Verhältnissen richtet, 
so hält Eris mann es nicht für unwahrscheinlich, daß zuweilen eine 
teilweise Beeinflussung der Schätzung durch die Geschwindigkeit 
bzw. Dauer stattfindet. Aus den zahlreichen Streckenschätzungen, 
bei denen jedesmal die Dauer der Bewegung gemessen wurde, ergab 
sich, daß ein derartiger Einfluß bei objektiven Versuchen nur äußerst 
gering sein kann. Bei den passiven Bewegungen, bei denen im all¬ 
gemeinen andere Anhaltspunkte der Schätzung sehr viel undeutlicher 
auftreten, schien die Beeinflussung durch die Zeitdauer und Ge¬ 
schwindigkeit erheblich stärker zu sein. 

In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob bei dem 
Vergleich zweier Strecken die Auffassung der Geschwindigkeit und 
Dauer der Hauptanhaltspunkt ist, bzw. welchen Einfluß 
sie hat — und zwar zunächst bei kleinen Bewegungen von 
etwa 8° = 6 cm (etwas größere, als die von Eris mann unter¬ 
suchten), dann bei größeren Exkursionen und bei Bewegungen 
in verschiedenen Regionen, d. h. bei solchen Bewegungen, die sich 
nicht unmittelbar aneinander anschließen. 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 299 


I. Teil. 

Darstellung der Versuchsbedingungeu. 

1) Der Apparat. 

Wenn wir einen möglichen Einfluß der Geschwindigkeit und 
Dauer auf die Größenschätzung der Bewegung feststellen wollen, so 
ist die Frage, ob man zu den Versuchen ein- oder mehrgliedrige Be¬ 
wegungen nimmt, schon erledigt, wenn wir dem Hauptprinzip für 
alle experimentellen Untersuchungen, der Forderung möglichst ein¬ 
facher Versuchsbedingungen genügen; die Wahl kann nur auf Be¬ 
wegungen fallen, die in einem einzelnen Gelenk erfolgen. Wundt 
und mehrere andere Psychologen haben gegen die Anwendung mehr¬ 
gliedriger Bewegungen, wie wir sie z. B. bei Falk und Delabarre 
finden, polemisiert. Falk bedient sich zur Ausführung der Versuche 
eines Schlittens, der sich auf einer geradlinigen Schiene bewegt. Am 
geeignetsten und natürlichsten für die vorliegende Untersuchung sind 
jedenfalls die eingliedrigen kreisförmigen Bewegungen, wie wir sie 
bereits bei Angier, Kramer und Moskiewicz sowie Erismann 
finden. Jaenach läßt in seiner Untersuchung keine eingliedrigen 
Bewegungen ausführen. Seine Vpn. werden angewiesen, mit einem 
Stift zwei gerade Linien von gleicher Länge zu zeichnen. Die Be¬ 
wegungen des Armes sollen dabei möglichst ausgiebig erfolgen. Das 
scheint mir unmöglich, wenn nicht gleichzeitig mehrere Gelenke bei 
der Bewegung beteiligt sind. Jaensch ist sich der Unzulänglichkeit 
dieses Umstandes selber bewußt, wenn er sagt: »Nun beobachte man 
sich einmal bei einer Streckung des Armes. Man wird finden, daß die 
Empfindungen hierbei keineswegs eine einfache eindimensionale Reihe 
bilden.« (10a, S. 271.) Es ist unzweifelhaft, daß bei einer Streckung 
des Armes, wie Jaensch sie im Sinne hat, die Qualität der Be¬ 
wegung sich vor allem deshalb ändert, weil mehrere Ge¬ 
lenke in Tätigkeit treten. Eris mann bedient sich bei seinen 
Versuchen, wie vorher schon erwähnt wurde, des Störringschen 
Kinematometers, das bereits in seinen Arbeiten sowie in Stör rings 
Untersuchungen näher beschrieben worden ist. Dieser Apparat er¬ 
möglicht auch bei den hier beschriebenen Versuchen die denkbar 
günstigsten Bedingungen. Der Arm der Vp. liegt auf einer Schiene, 
die sich in der Gegend des Ellenbogengelenkes leicht um eine vertikale 
Achse drehen läßt und hinten äquilibriert ist. Zur Verminderung 
starker Reibung sind besondere Vorrichtungen angebracht, deren 


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300 


M. Antonie Goerrlg, 


nähere Beschreibung sich hier erübrig n dürfte. Vorne an der Schiene 
befindet sich ein Index, der über eine Gradeinte lung streiche Um 
der Hand einen möglich n Halt zu bieten, ist auf der Schiene ein 
verstellbarer vertikaler Stab angebracht, den die Vp. mit den Fingern 
umfaßt. Bei der Ausführung der kleinen Bewegungen wurde das 
hintere Ende der Schiene mit einem Zeiger versehen, der über die 
Trommel eines K mographions strich. Der Zeiger ist derart be¬ 
festigt, daß er sich bei jeder Unebenheit auf der Trommel leicht heben 
bzw. senken kann. In diesen Versuchsreihen wurde nicht das Kymo- 
graphion zur Zeitbestimmung angewandt, sondern der Index und die 
Arretierungen des Kinematometers mit den Klemmen eines Hipp- 
schen ChronoBkops leitend verbunden. Beim Anschlag an die Arre¬ 
tierung erfolgte Stromschluß und der Zeiger stand still. Bei Be¬ 
wegungen des Armes rückte er weiter. Um auch während der Pause 
zwischen Normal- und Vergleichsstrecke Stillstand der Uhr zu er¬ 
möglichen, war ein Stromschlüssel eingeschaltet, der durch einen 
einfachen Handgriff ein schnelles Schließen und öffnen des Stromes 
erlaubte. Während der Versuche sitzt die Vp. dicht neben dem 
Apparat, so daß der Unterarm mit der Ulnarseite bequem auf der 
Schiene aufliegt. Sonst ist der ganze Arm vollständig frei. Der 
Oberarm bildet mit dem Unterarm einen Winkel von etwa 100°. 
(Bei den großen Exkursionen in der Mittellage.) Der Ellenbogen liegt 
auf einem mit Luft aufgeblasenen Gummiring. Einigen Vpn. war es 
bequemer, die Hand flach auf das Brett aufzulegen, dabei den senk¬ 
rechten Stab zwischen Zeige- und Mittelfinger zu nehmen. Auf diese 
Weise kam natürlich eine etwas veränderte Armlage zustande, auf 
die später noch mehr eingegangen werden wird. Bei den Tabellen 
der Versuche wird bei jeder Vp. angegeben, welche der beiden charak¬ 
terisierten Armlagen sie eingenommen hat. Ein solcher Einzelversuch 
stellte sich folgendermaßen dar: Bei der Ankündigung »bitte« öffnet 
der VL. 1 ) den Stromschlüssel und merkt sich den Stand des Zeigers. 
2 Sekunden später erfolgt das Signal »jetzt«. Der Arm durchfährt 
die N., bis er an die Arretierung anschlägt; durch den Anschlag erfolgt 
Stromschluß. Der VL. best den Stand des Zeigers ab und verstellt 
die Arretierung. Alsdann die Ankündigung »bitte«, nach 2 Sekunden 
das Signal »jetzt«. Der Arm durchfährt die V. Darauf wiederum 
Ablesen der Zeit auf dem Chronoskop. Um ein unbeabsichtigtes 
öffnen des Stromes während der Pause ; wischen N. und V. zu ver¬ 
hindern, wurde ein leicht zu handhabender Stromschlüssel in die 


1) Verauohaleiter. 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 301 

Leitung eingeschaltet, der während der Verstellung der Arretierung 
geschlossen blieb. Natürlich bedurfte es längerer Einübung, sowohl 
für den VL. als für die Vpn., bis die Versuche mit der gewünschten 
Genauigkeit und Regelmäßigkeit abliefen. 

2) Methode der Untersuchung. 

Dem Vorhergehenden dürfte schon zu entnehmen sein, daß bei 
den in dieser Arbeit ausgeführten Versuchen N. und V. der Vp. dar¬ 
geboten wurde, d. h. der Anfang und das Ende der N. und V. wurden 
vom VL. durch Arretierung bestimmt. Es war nicht, wie wir es z.B. 
bei Jaensch finden, der Vp. überlassen, selbst die Bewegung zu 
unterbrechen. Wenn wir eine genaue Kontrolle der zeitlichen Ver¬ 
hältnisse erstreben, ist unsere Anordnung an dem eben beschriebenen 
Apparat die geeignetste. Gegen dieses Verfahren kann jedoch der 
Einwand erhoben werden, daß der Anstoß die genaue Auffassung der 
Strecke ungünstig zu beeinflussen vermag. An späterer Stelle soll 
dies noch ausführlicher besprochen werden. Der genannte Übelstand, 
der nach vorangegangener guter Einübung allenfalls noch in den V. 
bei aktiven Versuchen zu einer unberechenbaren Fehlerquelle werden 
kann, ist aber gewiß nicht schwerwiegender, als die Nachteile des 
anderen Verfahrens. Einige Autoren wenden sich geradezu gegen 
dieses letztere. Angier z. B. verwirft es vollständig, weil nach seiner 
Ansicht die beabsichtigte Bewegung nicht immer gleiche Länge mit 
der tatsächlich ausgeführten zu haben braucht. Er sagt, bei freien 
Bewegungen komme das Erteil während der Bewegung zustande, 
d. h. bevor der Arm sich in Ruhelage befände. Der Endteil der 
Gesamtstrecke stehe infolgedessen zum Urteil in einem höchst kom¬ 
plizierten Abhängigkeitsverhältnis. In ähnlicher Weise richtet sich 
Woodsworth gegen die Methode der mittleren Fehler, indem er 
hervorhebt, daß man eine Unterscheidung vornehmen müsse, zwischen 
der wirklich zurückgelegten Strecke und der wahrgenommenen, die 
nicht notwendig identisch zu sein brauchten. Löb, Delabarre und 
Falk, sowie Kram er und Moskiewicz arbeiten nach der Methode 
der mittleren Fehler, doch finden wir bei Falk und den beiden letzten 
Forschern auch Versuche mit Hemmungen bei der V. Erismann 
arbeitet nach der Methode der Minimaländerungen. 

Es erhebt sich nun die Frage, welche Methode ist für die vor¬ 
liegende Untersuchung die geeignetste. Man wäre vielleicht zunächst 
geneigt, die oben schon genannte Methode der Minimaländerungen 
für die passendste zu halten. Einesteils ist bei dieser Methode die 
Zeitmessung leicht vorzunehmen, andererseits kommen die Vpn. durch 


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302 


M. Antonie Goerrig, 


die unregelmäßige Reihenfolge der dargebotenen Strecken nicht leicht 
dazu, sich auf die eine oder andere Erwartung in bezug auf die Größe 
der Bewegungen einzustellen. Ein weiterer Vorzug der Methode 
wäre der, daß man dadurch bei den Streckenschätzungen gleichzeitig 
neben der Bestimmung der Abhängigkeit der Streckenschätzung von 
der Auffassung der Dauer und Geschwindigkeit auch die U.-E. für 
die Streckenschätzungen feststellen könnte. — Trotz dieser nicht 
verkennbaren Vorteile müssen wir die Methode für unsere Unter¬ 
suchungen ablehnen, weil die Berechnung der genannten Abhängigkeits¬ 
beziehung durch das Auftreten der beiden Variablen Streckenlänge 
und Zeitdauer recht unbequem werden würde. Die Dauer kann 
besonders bei den aktiven Versuchen unmöglich konstant gehalten 
werden. Wenn wir daher in unserer Berechnung nur eine Variable 
auftreten lassen wollen, müssen wir dazu nur solche Versuche heran¬ 
ziehen, in denen N. und V. von gleicher Länge sind. Bei diesem Ver¬ 
fahren muß natürlich sehr darauf geachtet werden, daß die Vpn. nicht 
merken oder auch nur zu der Vermutung kommen, daß ihnen in der 
Mehrzahl der Fälle gleiche Strecken dargeboten werden. Das kann 
nur dadurch erreicht werden, daß man außerdem eine reichliche 
Anzahl von solchen Versuchen ausführen läßt, bei denen N. und V. 
verschieden lang sind. Die Versuche der letzteren Art müssen 
natürlich mit den erstgenannten in unregelmäßiger Folge wechseln. 
— Für die Bestimmung der U.-E. für Zeit- und Geschwindigkeits¬ 
schätzung, die im zweiten Teil der Arbeit näher dargelegt wird, war 
diese Methode die geeignetste. Aus dem eben schon angeführten 
Grunde, die Berechnung nicht unnötig zu erschweren, wurde bei den 
Streckenschätzungen in derselben Weise verfahren, und zwar sowohl 
bei denjenigen, die im II. Teil ausgeführt sind, wie auch bei den Ver¬ 
suchen mit größeren Exkursionen, die im III. Teil der Arbeit aus¬ 
führlich beschrieben werden. 

Um die äußeren Umstände bei den einzelnen Versuchen möglichst 
gleich zu halten und damit eventuell Anlässe zu der einen oder an¬ 
deren Erwartung zu vermeiden, wurde die Schraube der Arretierung 
jedesmal verstellt, auch wenn die Strecken in zwei aufeinander 
folgenden Versuchen gleich blieben. Außerdem erhielten die Vpn. 
die Anweisung, anzugeben, wenn an etwaige Geräusche bei der Ver¬ 
schiebung sich die eine oder andere Erwartung angeknüpft hatte 
oder wenn ihr Urteil über die Streckenlänge dadurch beeinflußt 
worden war. Die Täuschungsversuche bildeten eine gute Kontrolle 
für die Aufmerksamkeit bzw. Ermüdung der Vp. Gelegentlich wurden 
dieselben zusammengestellt, um die Unterschiedsschwelle zu bestim- 




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Einfluß der Zeitdauer auf die ßrüßenechätzung von Armbewegnngen. 303 

men. Bei der Feststellung der U.-E. 1 ) für Geschwindigkeit und 
Dauer bewegte der YL. den Arm der Vp. Man könnte dieses Ver¬ 
fahren zu der Methode der Minimaländerungen rechnen, obwohl dabei 
die kleinen Änderungen in der Geschwindigkeit bzw. Dauer in bezug 
auf Differenz und Reihenfolge nicht vollkommen der Wahl des VL. 
anheimgestellt sind. Falls wir der Übung einen Einfluß auf die Ge¬ 
nauigkeit der Schätzung einräumen, ist auch die Reihenfolge der 
einzelnen Versuchsserien nicht belanglos. Bei den Versuchen des 
II. Teiles unserer Untersuchung, wo die äußeren Bedingungen immer 
dieselben blieben, die Schätzung sich aber teils auf Geschwindigkeit 
und Dauer, teils auf Geschwindigkeit allein, teils auf Dauer allein 
und teils auf die Größe der durchfahrenen Strecke bezog, würden die 
zuletzt ausgeführten Versuchsreihen vielleicht eine Vergünstigung 
erfahren, gegenüber den ersten. Um einen diesbezüglichen Ausgleich 
zu schaffen, wurden die Versuchsserien bei jeder Vp. in einer anderen 
Reihenfolge vorgenommen. Im III. Teil der Arbeit, in dem es sich 
lediglich um Streckenschätzungen handelt, wurde bei allen Vpn. 
dieselbe Folge beibehalten, und zwar schlossen sich die einzelnen 
Serien in der dort angeführten Reihenfolge aneinander an. 

;• , Bei sämtlichen Versuchen kam das unwissentliche Verfahren in 
Anwendung. Außer Vp. A war keine der an den berechneten Ver¬ 
suchen beteiligten Vpn. über Zw r eek und Aufgabe der Untersuchungen 
unterrichtet. Es ist sehr wohl zu begreifen, daß bei einer Arbeit, die 
nach der eben beschriebenen Weise ausgeführt wird, eine überaus 
große Anzahl von Einzelversuchen erforderlich ist. Eine beträcht¬ 
liche Menge derselben war nicht nur durch die Wichtigkeit der zu 
untersuchenden Frage geboten, sondern besonders durch den Um¬ 
stand, daß andere Arbeiten, speziell auch die von Jaensch, der zu 
dem entgegengesetzten Resultat kommt, über eine relativ geringe 
Anzahl von Versuchen verfügen. 

Die Gesamtzahl meiner in dieser Arbeit einzeln angeführten Ver¬ 
suche beträgt 7345. Die zahlreichen Kontrollversuche sind nicht 
mitgerechnet, desgleichen nicht die ausgedehnten zur Einübung der 
Vpn. und Ermittlung der günstigsten Bedingungen ausgeführtenVor- 
versuche, die sich über ein volles Halbjahr erstreckten. Diese mit¬ 
gezählt, würde sich die Anzahl der Versuche auf etwa 12 000 be¬ 
laufen. Mit einigen Vpn., die bereits eingeübt waren, konnten die 
Versuche wegen des Kriegsausbruchs nicht fortgesetzt werden; — 
sie kommen bei der Berechnung gar nicht in Betracht. Teilweise 

1) Untersohieds-Empfindlichkeit. 


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304 


M. Antonie Goerrig, 


dem gleichen Umstand ist zuzuschreiben, daß dieVpn., die an den 
Versuchen des II. Teiles beteiligt waren, nicht auch an denen des 
III. Abschnitts teilnahmen, was vielleicht als ein Mangel der Arbeit 
angesehen werden kann. 


3) Fehlerquellen. 

Für denjenigen, der auf dem Gebiete der Bewegungsempfindungen 
selbst experimentell gearbeitet hat, ist die Fülle der Widersprüche, 
die nicht nur bei dem Versuch der Lösung dieser einzelnen Frage, 
sondern allgemein bei den Untersuchungen auf dem gesamten Gebiet 
der Bewegungsempfindungen anzutreffen ist, durchaus nicht ver¬ 
wunderlich. Dieselbe steht in engstem Zusammenhang mit der 
Schwierigkeit der Bearbeitung des besprochenen Gebietes. Es 
enthält eine beträchtliche Menge von Fehlerquellen, die zuerst nicht 
alle erkannt wurden, sich jetzt aber deutlich abheben und beachtet 
werden. Nach den früheren Untersuchungen darf es als erwiesen 
gelten, daß wir nicht nur aus den Gelenken, sondern gleichzeitig auch 
aus den Muskeln, den Sehnen und der Haut Empfindungen erhalten. 
Mithin besteht die Möglichkeit, daß die Empfindungen aus den ein¬ 
zelnen Teilen des bewegten Gliedes in verschiedenen Fällen verschieden 
stark auftreten. Beim Vergleich zweier Strecken treten außerdem 
zu den Empfindungen, die durch die Bewegungen erzeugt werden, 
meist noch Vorstellungen aus anderen Sinnesgebieten hinzu, die bei 
der Bildung des Urteils mithelfen. Dieses kann verschieden aus- 
fallen, je nachdem wir unsere Aufmerksamkeit mehr auf die eine oder 
die andere Vorstellung richten. Allgemein ist die Schwankung der 
Aufmerksamkeit bei den Versuchen über Bewegungsempfindungen 
eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle. Da die Ausführung einer 
Bewegung meist mehrere Sekunden in Anspruch nimmt, die größeren 
oft 4—5 Sekunden, so ist es fast unmöglich, während des ganzen 
Versuchs die Aufmerksamkeit gleichmäßig auf dem höchsten Grad 
zu erhalten, auch wenn bei dem Signal »jetzt«, dem 2 Sekunden früher 
die Ankündigung »bitte« vorausging, die größte Konzentration der 
Aufmerksamkeit vorhanden war. Namentlich im Anfang fiel es 
einigen Vpn. schwer, ihre Aufmerksamkeit während der ganzen 
Dauer der Bewegung auf dem Maximum zu halten. Mit zunehmen¬ 
der Übung wurde es jedoch bedeutend leichter. Verschiedene Vpn. 
konnten der Aussage gemäß ihre Aufmerksamkeit besser bei ver¬ 
bundenen Augen konzentrieren, bei anderen bedeutete das Tuch vor 
den Augen eine Störung. Im letzteren Falle wurde dicht vor der 
Vp. ein Schirm aufgestellt, um zu verhüten, daß bei etwaigem öffnen 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenechätzung von Ärabewegungen. 305 


der Augen der Blick auf die dargebotene Strecke fiel. Die Übung 
machte sich bei den aktiven Versuchen besonders geltend in der Er¬ 
zielung einer gleichmäßigen Geschwindigkeit während des Durch¬ 
laufens einer Strecke. Bei den passiven Versuchen achtete der VL. 
besonders darauf, daß der Arm mit möglichst konstanter Geschwindig¬ 
keit bewegt wurde. Verschiedene Vpn. sagten aus, daß die größere 
Gleichmäßigkeit bei den passiven Versuchen angenehm empfunden 
werde und die Schätzung erleichtere. Bei den aktiven Versuchen 
war nach einiger Übung auch nur ein ganz geringer Teil der Auf¬ 
merksamkeit erforderlich, um den Arm gleichmäßig zu bewegen. 
Nicht bloß in dieser Hinsicht, sondern ganz allgemein darf der Ein¬ 
fluß der Übung auf die Genauigkeit der Schätzung nicht unbeachtet 
bleiben. Lenfest behauptet zwar, die Übung beeinflusse die Ge¬ 
nauigkeit der Schätzung nicht, aber andere Forscher, z. B. Kramer 
und Moskiewicz sowie Falk, weisen das Gegenteil nach. Auch aus 
der vorliegenden Arbeit ist zu ersehen, daß die Übung von wesent¬ 
licher Bedeutung für das Zustandekommen genauer und sicherer 
Urteile ist. 

Störring weist in seinen Beiträgen zur Lehre von Bewegungs¬ 
und Kraftempfindungen darauf hin, daß auch die verschiedene Inten¬ 
sität des Anstoßes an die Arretierung zur Quelle von Täuschungen 
bei der Auffassung der Strecke werden kann. Erwiesenermaßen ist 
eine leichte Intensität des Anstoßes für die Auffassung der Strecke 
die günstigste, weil dadurch das Ende der Bewegung deutlich markiert 
wird, anderseits die Bewegungsempfindungen nicht überdeckt wer¬ 
den. Um regelmäßig die richtige Stärke des Anstoßes zu erhalten, 
bedarf es wieder einiger Übungen besonders von seiten der Vpn. bei 
den aktiven Versuchen. Die Anweisung, mit geschlossenen Augen 
eine bestimmte Strecke mit gleichmäßiger Geschwindigkeit zu durch¬ 
fahren, muß ohnedies schon als eine recht ungewohnte Aufgabe be¬ 
trachtet werden. Als weitere Fehlerquelle bezeichnet Störring die 
Verschiedenheit der Einstellung der Vp. Er findet, daß bei moto¬ 
rischer Einstellung eine Unterschätzung der Strecke eintritt gegen¬ 
über sensorischer Einstellung. Bei der Ausführung der später näher 
zu beschreibenden Versuche wurde die Anweisung gegeben, sich 
sensorisch zu verhalten. Es fiel den Vpn. nicht schwer, sich daran 
zu gewöhnen. Aus zahlreichen Aussagen der Vpn. sowie gelegenthchen 
Beobachtungen des VL. war mit Bestimmtheit zu entnehmen, daß 
bei den zu den Berechnungen gebrauchten Versuchen fast stets diese 
Einstellung in Anwendung kam. Es kann damit allerdings nicht 
behauptet werden, daß vor Beginn des Versuches niemals eine Muskel- 


Archiv für Psychologie. XXXVI. 


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306 


M. Antonie Goerrig, 


Spannung vorhanden gewesen sei. Eris mann hat bereits darauf 
hingewiesen, daß die auf den Arm und seine Bewegung gerichtete 
Aufmerksamkeit eine Anspannung der Muskulatur mit sich bringt, 
die die Feinheit der Schätzung beeinflussen kann. Da Versuche bei 
sehr stark gespannter Muskulatur natürlich nicht mit Bewegungen 
bei schlaffer Muskulatur verglichen werden können, wurde vom VL. 
darauf geachtet, daß die Anspannung bei den einzelnen Vpn. möglichst 
konstant büeb. Eine leichte Anspannung der Muskulatur wird 
bevorzugt, weil sie die Bewegungsempfindungen verdeutlicht, so daß 
der Eindruck derselben besser im Gedächtnis bleibt. Eris mann 
hebt hervor, daß es nicht gleichgültig sein könne, ob die Spannung 
bei der Ankündigung oder bei »jetzt« erfolge, ob sie während der 
Pause zwischen N. und V. nachlasse oder beibehalfen werde und ob 
sie während des ganzen Versuchs konstant bleibe oder zum Schluß 
nachlasse. Außerdem ist von Bedeutung, ob zu Beginn der Bewegung 
ein Momentanimpuls gegeben wird, oder ob man die Strecke mit 
Dauerimpuls durchfährt, also ständig neue Impulse gibt. 

Was das Verhalten der Vpn. bei dem Vergleichen der Strecken 
angeht, so lauten die Angaben darüber recht verschieden. Die 
Schätzung wird entweder gleich nach dem Ablauf beider Strecken 
vorgenommen, oder, was meistens der Fall zu sein scheint, schon 
während der Ausführung der V. Es wurde der Vp. die ausdrückliche 
Weisung gegeben, sich an den unmittelbaren Eindruck zu halten. — 
Auch das Verhalten während der Pause zwischen N. und V. kann 
von Einfluß sein auf die Schätzung. In der ersten Versuchsperiode 
wurde meist eine große Unsicherheit in der Schätzung bemerkt. 
Zuweilen konnte überhaupt kein Urteil abgegeben werden. Dies 
trat nach guter Einübung fast nie mehr ein. Auch üeß alsdann bei 
den meisten Vpn. die Sicherheit der Aussagen wenig zu wünschen 
übrig. Ferner wurde beobachtet, daß auch die Lage des Armes auf 
der beweglichen Schiene nicht belanglos ist für die Feinheit der 
Streckenschätzung. Die Vp. wurde aufgefordert, den Unterarm mit 
der Ulnarseite aufzulegen und die Stange, die vorne auf der Schiene 
befestigt ist, mit den Fingern zu umfassen. Einzelnen Vpn. war es 
bequemer, die Hand mit der Volarseite auf das Brett aufzulegen. Das 
hatte natürlich eine etwas andere Armlage zur Folge. Die einmal 
eingenommene Stellung des Armes bzw. der Hand wurde selbst¬ 
verständlich in allen folgenden Versuchen beibehalten. Nur zur Fest¬ 
stellung eines etwaigen Unterschiedes in der Auffassung der Strecke, 
worauf später noch näher eingegangen werden wird, wurde ein zeit¬ 
weiliger Wechsel vorgenommeu. Es stellte sich heraus, daß bei 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenechätzung von Armbewegungen. 307 

großen Exkursionen die Bewegungsempfindungen deutlicher auftreten, 
wenn der Arm in der zuletzt beschriebenen Weise aufgelegt wird. 

Der Einfluß der Erwartung einer bestimmten Größe ist oben schon 
genannt worden. Dieser wird bei der unwissenden unregelmäßigen 
Methode, die bei unseren Versuchen ausschbeßbch in Anwendung 
gebracht wurde, geringer sein als bei allen anderen. — Von sehr nach- 
teihgem Einfluß auf die Genauigkeit und Sicherheit der Schätzung ist 
ferner die Ermüdung. An Tagen, an denen die Vpn. übermüdet oder 
nicht wohl disponiert waren, wurden höchstens Versuche zur Ein¬ 
übung vorgenommen. Um eine etwa eintretende Ermüdung der Vp. 
zu beseitigen, wurden während jeder Versuchsstunde mehrere Pausen 
von etwa 5 Minuten eingeschoben. 


4) Die räumlichen Beziehungen der N. und V. und ihre abso* 

lute Qröfie. 

Es wurde schon einmal erwähnt, daß Jaensch bei seinen Ver¬ 
suchen den Anfangspunkt der V. mit dem Endpunkte der N. zu¬ 
sammenfallen läßt. Er wählt niemals, wie es in anderen Arbeiten, 
z. B. bei Falk vorkommt, für N. und V. denselben Ausgangspunkt. 
Es liegt nun die Frage nahe, ist es vorzuziehen, den gleichen oder 
verschiedene Ausgangspunkte zu nehmen. Eris mann führt gegen 
die Anwendung des ersten Falles mehrere Bedenken an: 1) Die Rück¬ 
wärtsbewegung verlängere das Intervall zwischen N. und V., und 
außerdem erhalte die Vp. dadurch einen wiederholten Eindruck von 
der N., 2) könnten die Lageempfindungen unmittelbar miteinander 
verglichen werden. Über den Einfluß der Endlageempfindungen 
finden sich in der Literatur ganz verschiedene Ansichten. Nach den 
Befunden von Goldscheider und Angier braucht man den Lage¬ 
empfindungen keine sehr große Bedeutung zuzuschreiben. F6re 
streitet auf Grund seiner Experimente dem Menschen die Fähigkeit, 
die Lage seiner Glieder als solche aufzufassen, sogar vollständig ab. 
Zur Erhellung dieser Frage stellte Bloch im Jahre 1890 bemerkens¬ 
werte Versuche an. Vor der Vp. befand sich eine in Quadrate ein¬ 
geteilte Ebene. Die Aufgabe bestand darin, bei geschlossenen Augen 
mit der rechten und linken Hand Quadrate zu berühren, die gleich 
weit von der Medianebene entfernt waren. Es stellte sich heraus, 
daß die Genauigkeit der Resultate bei simultaner Bewegung viel 
größer war als bei sukzessiver, und zwar war die Größe des Fehlers 
abhängig von der Länge des Intervalls zwischen der rechten und 
linken Bewegung. 

Ganz entgegengesetzt lautet hingegen das Resultat der Unter¬ 
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308 


M. Antonie Goerrig, 


Buchungen von Delabarre, der für die Lageempfindungen eine ebenso 
feine U.-E. findet wie für Bewegungsempfindungen. Mag man dem 
Einfluß der Lageempfindung große Bedeutung beimessen oder nicht, 
schon der erste der von Erismann vorgebrachten Einwände dürfte 
allein schwerwiegend genug sein, wenigstens bei kleinen Bewegungen 
die Annahme eines gleichen Ausgangspunktes der N. und V. abzu¬ 
lehnen. Sowohl in der Arbeit von Jaensch, als auch in der vor¬ 
liegenden handelt es sich darum, den Einfluß der Verschiebung von 
Ober- und Unterarm, mit dem wir zu rechnen haben, mit in den Be¬ 
reich der Untersuchung hineinzuziehen. Deshalb wurden auch für 
die großen Exkursionen verschiedene Ausgangspunkte gewählt. 
Außer den Bewegungen, bei denen die V. sich unmittelbar an die N. 
anschloß, betrachtete Jaensch eine weitere Reihe, in der bei der 
Auswärtsbewegung die N. von einem ferneren Punkte ausging, die 
V. sich in unmittelbarer Nähe des Körpers befand. Jaensch hatte 
bei den ersten Versuchen gefunden, daß die Strecke, die die Vp. frei 
entwarf und ihrem Gedächtnis einprägte, die längere war. Die Re¬ 
produktion fiel also stets kürzer aus. Diese letztere Reihe sollte nun 
zeigen, daß zur Erklärung des genannten Phänomens jedenfalls 
physiologische Faktoren in Anspruch zu nehmen sind, daß eine auf 
psychischen Faktoren beruhende Erklärung allein nicht ausreicht, 
denn wenn das letztere wohl der Fall wäre, so müßte bei dieser Ver¬ 
suchsanordnung für Auswärtsbewegungen die nähere Strecke kürzer 
ausfallen als die entferntere. Die Experimente ergaben das Gegen¬ 
teil. Bei Vp. F wurde diese eben charakterisierte Reihenfolge V.—N. 
durchgeführt. In den Tabellen sind diese Versuche mit F* bezeichnet. 
In diesen letzten Versuchen, bei denen die Strecken sich nicht mehr 
räumlich unmittelbar aneinander anschlossen, wurde nach Jaensch 
der Wegfall des psychischen Moments überkompensiert durch den 
stärkeren Einfluß der physiologischen Faktoren, deren Wirksamkeit 
mit zunehmender Muskelkontraktion wachsen muß. Würde man 
demgemäß bei der Auswärtsbewegung die N. in unmittelbarer Nähe 
des Körpers beginnen, die V. bei einem ferneren Punkte, so müßte 
die Löbsche Erscheinung nun noch viel deutlicher auftreten, da 
alsdann sowohl die physiologischen wie die psychischen Momente in 
Wirksamkeit treten. Es soll jedoch hier nicht vorweg gegriffen wer¬ 
den, wie der tatsächliche Befund sich dazu verhält. Jaensch sagt 
S. 274 seiner Arbeit: »sicher ist zunächst, daß dieser Umstand, näm¬ 
lich, daß die Reproduktion bei Abwesenheit entgegenwirkender 
Faktoren kürzer ausfällt, beim Zustandekommen des Löbschen 
Phänomens mitwirkt«. Ähnlicher Ansicht ist Falk, wenn er sagt: 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Arabewegungen. 309 

»es wird also gewissermaßen der zuerst angegebene Reiz in unserer 
Auffassung verkleinert oder der zweite vergrößert, welches Ver¬ 
halten als Erinnerungsphänomen zu deuten ist. Jedenfalls wäre auf 
Grund desselben zu erwarten, daß in der Abstufung, wo die Normal¬ 
gleich der Vergleichsdistanz ist, häufig größer, als kürzer geschätzt 
wird, was freilich in der hierher zugehörigen Tabelle nicht deutlich 
hervorgeht, aber doch bemerkbar ist.« Zu einem anderen Resultat 
kommt Delabarre, der sich dahin äußert, daß die kleinen Strecken 
im Gedächtnis größer erscheinen, als während der Ausführung. Bei 
größeren Strecken werde diese Erscheinung durch andere Faktoren 
verdeckt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Ziehen, der aus der 
Prüfung des Zeitfehlers Rückschlüsse auf die intensogene Beschaffen¬ 
heit der Bewegungsempfindungen vomimmt. Er gibt an (21, S. 300): 
»Eines der auffälligsten Ergebnisse der Versuchsprotokolle ist die 
Häufigkeit eines positiven Zeitfehlers. In 52 Serien war der Zeit¬ 
fehler negativ, in 54 positiv. In den Gleichserien kamen sogar auf 
32 Serien mit negativem Zeitfehler 38 mit positivem.« In dieser Zu¬ 
sammenfassung scheint jedoch den in den einzelnen Versuchsgruppen 
auftretenden Verschiedenheiten zu wenig Rechnung getragen worden 
zu sein. Bei den Längenschätzungen B, C, F und F, G kommt z. B. 
durchweg ein negativer, bzw. neutraler Zeitfehler vor. 

Was die absolute Länge von N. bzw. V. anbelangt, so wurden zu 
den kleinen Bewegungen Strecken von etwa 8° gewählt, wobei die 
Hand ungefähr eine Strecke von 5 cm durchfährt, bei den großen 
Exkursionen betrug die Strecke etwa 35°. Bei den Versuchen, in 
denen die V. nicht die unmittelbare räumliche Fortsetzung der N. 
war, betrug die Differenz etw r a 60°. Die absolute Länge der Strecken 
10°. In den einzelnen Versuchsserien wurde die N. konstant ge¬ 
halten. Es wurde der Vp. gesagt, daß die N. im allgemeinen nicht 
geändert werde. Falls ihr aber eine Verschiedenheit in der Länge der 
N. auffiel, hatte sie dies im Protokoll mit anzugeben. Die auffallende 
Erscheinung, die auch Eris mann beobachtete, daß die N. der Vp. 
manchmal plötzlich viel kleiner vorkam, trotzdem sie objektiv gleich 
geblieben war, trat ziemlich häufig auf. 


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310 


M. Antonie Ooerrig, 


n. Teü. 

Die Beziehung von Dauer und Geschwindigkeit zur Größen- 
sch&tzung bei kleinen Bewegungen. 

Nachdem wir in der Hauptsache alle die Überlegungen erörtert 
haben, die der Ausführung der Versuche vorausgingen, kommen wir 
zu dem 1. Teil der eigentlichen Untersuchung. Unsere Aufgabe 
besteht darin, festzustellen, ob Dauer und Geschwindig¬ 
keit die Hauptanhaltspunkte für die Größenschätzung bei 
kleinen Bewegungen sind, und, falls dieses nicht der Fall 
ist, zu bestimmen, wie groß der Einfluß dieser beiden 
Faktoren ist. 

1) Versuche sur Feststellung der U. -B. für Geschwindigkeit 

und Dauer. 

Gehen wir zunächst von der Annahme aus, die Größensohätzung 
auf die Schätzung von Dauer und Geschwindigkeit zurückführen zu 
können. Alsdann müßte die U.-E. für jede dieser Größen feiner, ja 
vielleicht doppelt so groß sein, wie die U.-E. für die Streckenschätzun¬ 
gen. Unser nächstes Ziel wird demnach darin bestehen, die Unter¬ 
schiedsschwelle für die Schätzung der Dauer und Geschwindigkeit zu 
bestimmen, um sie dem Wert für die U.-E. bei Streckenschätzungen 
gegenüber zu stellen. — Bei den Aussagen der Vp. wurden sichere, 
ziemlich sichere und unsichere Urteile voneinander geschieden. Es 
erübrigt sich jedoch diese Einteilung in den Tabellen durchzuführen, 
da die unsicheren Urteile nicht mit aufgenommen wurden, was nur 
auf Kosten der Übersichtlichkeit hätte geschehen können. In der 
ersten jetzt folgenden Versuchsreihe wurde die Hand der Vp. passiv 
bewegt. Wir führen die Bewegungen passiv aus, weil dabei im all¬ 
gemeinen die Muskel- und Gelenkempfindungen viel schwächer auf- 
treten als bei den aktiven Versuchen. Wenn aber die genannten Emp¬ 
findungen weniger deutlich und vorherrschend sind, so wird ohne 
Zweifel mehr Aufmerksamkeit auf die Auffassung der Dauer und Ge¬ 
schwindigkeit gerichtet werden. Da wir die U.-E. für die Schätzung 
der letztgenannten Größen bei der Ausführung von Bewegun¬ 
gen feststellen wollen, so kommt es vor allem darauf an, die Versuchs¬ 
bedingungen möglichst gleich denjenigen zu wählen, die bei den 
Streckenschätzungen gegeben sind. Richtet sich in Wirklichkeit die 
Streckenschätzung hauptsächlich nach der Auffassung der zeitüchen 
Verhältnisse, so muß in jedem Einzelfalle nicht nur die Geschwindig¬ 
keit, sondern zugleich auch die Dauer der Bewegung von der Vp. in 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größen Schätzung von Armbewegnngen. 311 

Betracht gezogen werden. Wir stellen darum in dieser ersten Ver- 
suchsserie den Vpn. die Aufgabe, gleichzeitig die Dauer und 
die Geschwindigkeit der Bewegungen miteinander zu 
vergleichen. Es war also im besonderen anzugeben, ob die V. 
schneller, gleich oder langsamer bewegt worden war, ob ihre Dauer 
kürzer, gleich oder länger erschien. 

Richtet man sich bei der Beurteilung einer Streckenlänge nach der 
Auffassung der Geschwindigkeit und Dauer, so müßte sich für diese 
beiden Faktoren mindestens eine sehr viel größere Unterschied¬ 
empfindlichkeit ergeben als für die Streckenschätzung. Es ist 
bekannt, daß namentlich bei akustischen Versuchen in der Tat eine 
sehr große U.-E. für Zeitschätzung festgestellt worden ist. Es liegt 
aber auf der Hand, daß diese Bestimmungen durchaus belanglos sind 
für unseren Fall, bei dem die Bedingungen für die Zeitdauer außer¬ 
ordentlich ungünstig liegen. E r i s m a n n hat bereits auf die Schwierig¬ 
keit der richtigen Dauerschätzung bei derartigen Versuchen hinge¬ 
wiesen. Diese besteht unter anderem darin, daß die Geschwindigkeit 
in der Regel gegen Anfang und Ende der Bewegung nicht dieselbe ist, 
wie wenn die Bewegung sich in vollem Gange befindet. Um wenig¬ 
stens große Unregelmäßigkeiten in dieser Richtung vermeiden zu 
können, wurden die Bewegungen passiv ausgeführt. — Die Versuchs¬ 
bedingungen sind im übrigen vollkommen parallel laufend mit den 
Streckenschätzungen, die nach der Ansicht von Jaensch auf Zeit¬ 
schätzungen zurückzuführen sind. Außer den Kontrollversuchen war 
die Länge der V. immer gleich der der N.; ihre absolute Größe betrug 
8° =» 7 cm. Die Hand durchfuhr dabei eine Strecke von etwa 6 cm. 

In den Versuchen der hier folgenden Tabellen 1 und 2 ist die 
objektive Länge der V. immer gleich der N. Es ergibt sich dadurch 
eine ziemlich einfache Berechnung. Links in der ersten senkrechten 
Kolonne sind die Dauerdifferenzen der beiden Bewegungen angegeben. 
Die von 0 nach oben liegenden Werte +3, +6, +9 usw. gehören einer 
langsamer bewegten, die nach unten liegenden —3, —6, —9 usw. 
einer schneller bewegten V. an. Die Werte in Sekunden ausgedrückt, 
bedeuten 6 mm = Vro Sekunde. Die Tabellen enthalten ferner 
3 senkrechte Kolonnen, die die Urteile der Vp. aufweisen. Der 
größeren Übersichtlichkeit und Einfachheit der Berechnung halber 
wurden die Raumstrecken N. und V. immer gleich gehalten. Eine 
Ausnahme bildeten natürlich die Kontrollversuche. Die Urteile sind 
in Prozentzahlen dargestellt, die Summe der Zahlen in einer wag¬ 
rechten Linie muß immer 100 betragen. Die schräg gedruckten Zahlen 
geben die absolute Anzahl der zu einer bestimmten Geschwindigkeit 


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Tabelle 1. 

Danerschätzungen (zugleich Angaben ttber die Geschwindigkeit). 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Einfluß der Zeitdauer auf die Größenechätzung von Armbewegungen. 313 

und Aussage gehörenden Versuche an. Um die Resultate anschau¬ 
licher und übersichtlicher darzubieten, wurden die gefundenen Werte 
in ein Koordinatensystem eingezeichnet. Auf der Abszisse wurden 
die Dauerdifferenzen von —24+ bis +24+ abgetragen, auf der 



Ordinate die Prozentzahlen der Versuche, die zu jeder Dauerdifferenz 
gehören. Aus Tabelle bzw. Kurve 1 geht mit Deutlichkeit hervor, 
daß die U.-E. für die Dauerschätzung unter diesen Bedingungen sich 
kaum bestimmen läßt. Im günstigsten Falle bei Vp. M erst bei +18 


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Tabelle 2. 

Geschwindigkeitsachätzungen (gleichzeitig Angaben über die Daner). 


314 


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-21 2100 

-24 2 100 

24+ 2 100 



Einfloß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Arabewegungen. 315 

und —12 sind 50% Richtigschätzung. Da die mittlere Dauer etwa 
20 beträgt, so wäre die relative U.-E. nach dieser Aufstellung */ 4 - 
Die Dauer einer Strecke wird also unter den gegebenen Umständen 
im allgemeinen dann erst als größer aufgefaßt, wenn der objektive 





Fig. 2 (Kurve 2}. 


Betrag der gebrauchten Zeit beinahe verdoppelt worden ist. Eine 
kleinere Schwelle ergibt auch die Gesamtkurve nicht, in der alle 
Urteile von sämtlichen Vpn. vereinigt sind. Ein Blick auf die mittlere 
Dauer der N. und V. bei den einzelnen Vpn. zeigt, daß die V. meist 


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Tabelle 3. 
Dauerschätzungen. 


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316 


M. Antonie Goerrig, 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grüßenuchätzung von Armbewegungen. 317 

etwas langsamer bewegt wurde. Bemerkenswert ist, daß dies nicht 
etwa in der Absicht des YL. lag. Dieselbe Tendenz zeigte sich übrigens 
bei den Ypn. in der Erismannschen Untersuchung. Man könnte 
diese Erscheinung in Verbindung bringen mit der Neigung der meisten 



Fig. 3 (Kurve 3). 


Vpn., die Geschwindigkeit derV. zu überschätzen, die wir aus Tabelle 
bzw. Kurve 2 feststellen können. Was die Kontrollversuche betrifft, 
in denen die V. größer oder kleiner als die N. gewählt wurde, muß 
bemerkt werden, daß die Vpn. häufig unaufgefordert Aussagen über 

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318 


M. Antonie Goerrig, 


die Streckendifferenz machten. Urteile in der Art wie: »Trotzdem 
die Hand eine längere Strecke durchfahren hat, war die Dauer kürzer« 
kamen nicht selten vor. Ähnliche Aussagen traten auch über Ge¬ 
schwindigkeit und Streckenlänge auf. 

In der Tabelle bzw. Kurve 2 sind die gleichzeitig mit den Aus¬ 
sagen über die Zeitdauer abgegebenen Urteile über die Geschwindig¬ 
keit zusammengestellt. Da die N. immer gleich der V. blieb, so stellt 
sich die Berechnung für die Geschwindigkeitsschätzungen ebenfalls 
recht einfach dar. Wir setzen die Streckenlänge N. = V. =1. Dann 
ist die Geschwindigkeit, d. h. die in der Zeiteinheit zurückgelegte 
Strecke gleich dem reziproken Wert der für die Ausführung der Be¬ 
wegung gebrauchten Zeit. Wenn demnach zu einer Bewegung 
24 Zeiteinheiten gebraucht werden, so wurde sie mit einer Geschwin¬ 
digkeit von 1 / 24 ausgeführt, d. h., da 6 Zeiteinheiten (mm) — Vio Se¬ 
kunde und die Hand eine Strecke von 6 cm durchfährt, einer Dauer 
von 24 Zeiteinheiten entspricht eine Geschwindigkeit von l 1 / 2 cm 
in Vio Sekunde. Wenn wir die Kurve 2 näher ansehen, so bemerken 
wir, daß durchweg bei allen Vpn. die Tendenz vorhanden ist, die Ge¬ 
schwindigkeit der V. zu überschätzen. Dieser konstante Fehler ist 
bei allen Vpn. zu beobachten. Bei drei Vpn. wird sogar bei einer 
Differenz von +6 in mehr als 50% aller Fälle »schneller« geschätzt; 
ebenfalls in der Gesamtkurve. Dagegen stellt sich im günstigsten 
Falle bei Vp. M die obere Grenze auf +15, in der Gesamtkurve 
auf +18. Die Unterschiedsschwelle beträgt günstigenfalls */*• 
Da aber die Unterschiedsschwelle für Bewegungsempfindungen nach 
Eris mann keinesfalls größer als Vio ist, so ist es ausgeschlossen, 
daß bei der Schätzung von Bewegungsgrößen die Zeitschätzungen den 
Hauptanhaltspunkt bilden. In einem späteren Teil der Arbeit kom¬ 
men wir zu der Vermutung, daß sie noch erhebüch kleiner sein muß. 

Doch wir wollen die Bedingungen für die Dauer bzw. Geschwindig¬ 
keitsschätzungen noch günstiger gestalten. Bisher hatten wir jedes¬ 
mal die Dauer und Geschwindigkeit zugleich schätzen lassen. Um 
für die Auffassung jedes der beiden Faktoren die größte Aufmerksam¬ 
keit zu erzielen, lassen wir unter sonst gleichen Bedingungen bei jeder 
Bewegung nur eine Aussage machen. Tabelle bzw. Kurve 3 stellt 
eine Anzahl Versuche dar, bei denen jedesmal die Dauer zweier passiver 
Bewegungen geschätzt wurde. Die objektive Länge der N. und V. 
war stets die gleiche. Obwohl nun die Aufmerksamkeit sich ganz 
auf die Auffassung der Dauer richten konnte, sehen wir, daß die Er¬ 
gebnisse nicht erheblich besser sind. Vp. M empfand die Signale 
»bitte «, »jetzt << zwischen N. und V. als störend. Es wurde auf Wunsch 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grüßenschätzung von Arnibewegungen. 319 


Tabelle 4. 

1) D 2) F 3) S 


Versuchszahl: 162 Vereuchszahl: 160 Versuchszahl: 162 

Mittl. Dauer: y gg Mittl. Dauer: yj^ Mittl. Dauer: y^ 



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gl. 

sehn. 

lg». 

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sehn. 

lg». 

gl- 

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24 + 

2 67 

7 33 


2 67 

7 33 







24 




1 33 

2 67 



3 100 



21 

3 43 

3 43 

1 14 

3 76 

7 26 



6 

76 

2 26 


18 

2 60 


2 

7 78 

2 22 



5 

46 

3 27 

3 27 

16 

4 19 

13 62 

4 

5 60 

5 60 

/ 

9 

4 

33 

4 34 

4 33 

12 

7 8 

8 61 

4 

5 38 

8 62 



6 

33 

8 34 

6 33 

9 

7 6 

15 71 

5 

8 36 

77 60 

3 

14 

10 

30 

9 27 

14 43 

6 


8 64 

7 

9 37 

13 66 

2 

8 

7 

28 

8 32 

10 40 

3 

7 4 

12 60 

11 

3 18 

10 68 

4 

24 

3 

20 

3 20 

9 60 

0 


2 40 

3 60 

7 33 

7 34 

1 

33 

1 

10 

2 20 

7 70 

- 3 


6 60 

6 60 

3 13 

14 70 

4 

17 



7 12 

7 88 

- 6 


6 60 

6 60 

1 17 

3 50 

2 

33 

2 

40 


3 60 

- 9 


3 43 

4 67 


3 60 

2 

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7 100 

-12 



6 100 


2 67 

1 

33 





-16 



2100 

7 33 

2 67 





7 33 

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-18 






7 100 





-21 

-24 

-24 + 




7 60 


1 

60 







320 


M. Antonie Goerrig, 


eine Reihe von Versuchen ausgeführt, bei denen die Zwischensignale 
wegfielen und die Pause zwischen N. und V. auch etwas kürzer ge¬ 
macht wurde. Diese Versuche sind mit M* bezeichnet. In der Tat 
wird die Schätzung unter diesen Bedingungen etwas besser, wie die 
Kurve zeigt. Auch hierbei ist der subjektive Nullpunkt nach rechts 
verschoben. Die untere Schwelle liegt bei +6, der obere Wert bei 
+ 18. Die mittlere Dauer bei den Versuchen dieser Reihe ist 31. 
Die Unterschiedsschwelle beträgt also ungefähr 1 / 6 . Dieser Wert, 
der allerdings unter erhebüch besseren Versuchsbedingungen gefunden 
wurde, ist kleiner als der der Gesamtkurve, in der sich die untere 
Grenze auf — 12 , die obere auf +18 stellt. Da die mittlere Dauer 
etwa 28 beträgt, beläuft sich die Unterschiedsschwelle auf ungefähr 1 / a . 

Aus der Tabelle und Kurve 4 ergibt sich die erwartete Erhöhung 
der U.-E. für Geschwindigkeitsschätzungen nicht. Demnach müssen 
wir annehmen, daß auch die in Kurve 2 gefundene Unterschieds¬ 
schwelle nicht sehr bestimmt angenommen werden darf. Wahr¬ 
scheinlich sind die Geschwindigkeitsdifferenzen, die wir im allge¬ 
meinen mit Sicherheit wahrnehmen, beträchtlicher als diejenigen, die 
hauptsächlich bei unseren Versuchen Vorkommen. 

Zusammenfassend können wir somit sagen, daß die U.-E. für 
Geschwindigkeitsschätzungen bei unseren Versuchsbedingungen jeden¬ 
falls nicht größer als l /± ist. Im allgemeinen stellt sich die Unter¬ 
schiedsschwelle für Dauerschätzungen in unseren Versuchen noch 
viel größer dar, nach den Gesamtkurven ist sie ungefähr y 2 . Nur 
in einem Falle, allerdings unter viel günstigeren Versuchsbedingungen 
beläuft sie sich auf x / 5 . Da aber die U.-Schwelle für Strecken¬ 
schätzungen nicht größer als x / 10 ist, so darf man mit Bestimmt¬ 
heit annehmen, daß die Größenschätzung von Bewegungen 
nicht auf die Schätzung von Dauer und Geschwindigkeit 
zurückgeführt werden kann. Hierin befinden wir uns in Über¬ 
einstimmung mit Eris mann (5a, S. 50). »Doch auch dem Mit¬ 
geteilten darf mit einer ziemlich größeren Sicherheit entnommen 
werden, daß die Streckenschätzungen unter keinen Umständen auf 
die Schätzung der für die Bewegung notwendigen Zeit und ihrer 
Geschwindigkeit zurückzuführen sind.« Ähnlich lauten die Resultate 
von Fullerton und Catteil (8, S. 158). »Within the limits investi- 
gated the extend of movements can be judged better, than the force 
and the force better than the time. <« 

2) Streokenschätzungen. 

Wenn wir mit unserer oben aufgestellten Behauptung ablehnen, 
daß die Größenschätzung sich hauptsächlich auf die Dauer und 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größen Schätzung von Armbewegungen. 321 

Geschwindigkeit der Bewegung stützt, so ließen war damit dahin¬ 
gestellt, ob man sich bei der Streckenschätzung nicht zum Teil nach 
ihnen richtet. Es ist sehr wohl möglich, daß die genannten Faktoren 
Nebenkriterien sind, die in einzelnen Fällen, in denen andere Anhalts¬ 
punkte derSchätzung sehr undeutlich auftreten, sogar ausschlaggebend 
für das Urteil werden können. Unsere nächste Aufgabe wird darin 
bestehen, zu untersuchen, ob und inwieweit die Auffassung der Zeit 
bei der Bildung des Urteils über die Streckenlänge beteiligt ist. Das 
geschieht am besten, indem wir Streckenschätzungen ausführen 
lassen, bei denen jedesmal die Dauer der Bewegung gemessen wird. 
Es wurde also eine Reihe aktiver und passiver Versuche angestellt, 
bei denen die Vp. die räumliche Länge der V. mit der der N. zu ver¬ 
gleichen hatte; sie sagte jedesmal aus, ob die V. größer, gleich oder 
kleiner als die N. gewesen war. Da genau wie bei den oben beschrie¬ 
benen Versuchen der Zeiger des Kinematometers über die Kymo- 
graphiontrommel ging, konnte die Zeitdauer jeder Bewegung genau 
bestimmt werden. Aber nicht alle Zeitdifferenzen, die man erhält, 
wenn man die Dauer der N. von der V. subtrahiert, werden wirklich vorf 
der Vp. wahrgenommen. Wir haben oben gefunden, daß die U.-E. 
im allgemeinen nicht größer als 1 / i ist. Zunächst wollen wir diese 
Feststellung beiseite lassen und annehmen, die U.-E. sei bei allen Vpn. 
so, wie sie sich unter den sehr günstigen Bedingungen bei Vp. M dar¬ 
stellte. Nach dem dort Festgesetzten würden alle Zeitdifferenzen, 
die zwischen + 6 und +18 liegen, von den Vpn. nicht bemerkt, bei 
kleinen Differenzen wird die Dauer als kürzer, bei größeren Differenzen 
als länger aufgefaßt. Wir vergleichen nun jedes Urteil über die 
Streckenlänge (N. ist objektiv immer gleich V., wie oben schon aus¬ 
führlich dargelegt worden ist) mit den Zeitdifferenzen, wie sie nach 
den obigen Festsetzungen von den Vpn. aufgefaßt wird. Lautet das 
Urteil über die Streckenlänge: gleich und liegt die Dauerdifferenz 
von V.—N. zwischen +6 und +18, so wollen wir sagen, das Urteil 
stimmt überein mit der objektiven Strecke und der Zeitdauer. Ist 
bei demselben Urteil die Zeitdifferenz größer oder kleiner, so stimmt 
das Urteil nur mit der objektiven Strecke überein. Heißt das Urteil 
»länger«, so stimmt es nicht mit der objektiven Strecke überein, es 
kann sich entweder mit der Dauer decken oder nicht usw. Auf diese 
Weise nehmen wir eine Ordnung der Urteile vor, wie sie in der Tabelle 5a 
durchgeführt ist. Die erste Kolonne enthält Versuche, bei denen 
die Strecke richtig geschätzt wurde, d. h. nur Gleichurteile, bei denen 
aber auch kein Unterschied in der Dauer wahrgenommen werden 
konnte. In die zweite Kolonne wurden diejenigen Versuche ein- 

Archiv für P^chologio. XXXVI. 21 

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322 


M. Antonio Goerrig, 


gereiht, bei denen ebenfalls richtig geschätzt wurde, aber eine sub¬ 
jektive Dauerdifferenz von N. und V. bestand. In der dritten Kolonne 
falsche Urteile, die mit der Zeit übereinstimmen, in der vierten falsche 
Urteile, die weder mit der Zeit noch mit der Strecke übereinstimmen. 
Vorerst ist Kolonne 1 und 4 nicht zu entnehmen, was bei der Beur¬ 
teilung der Streckenlänge als Hauptanhaltspunkt gedient hat. Ein 
Vergleich der 2. und 3. Kolonne hingegen zeigt, daß die Vp. sowohl 
bei den aktiven, w T ie bei den passiven Bewegungen aller Wahrschein¬ 
lichkeit nach sich mehr nach der Streckenlänge als nach der Dauer 
der Bewegung gerichtet hat. Es muß dabei vor allem auch berück¬ 
sichtigt werden, daß hier die richtigen Urteile (Kolonne 2) sehr viel 
höher anzuschlagen sind als bei anderen Versuchen, in denen die 
Streckenlängen variiert werden. Die Vpn. wissen nicht, daß ihnen 
gleiche Strecken dargeboten werden, sie sind infolge der Verstellung 
der Schraube der Arretierung eher geneigt, anzunehmen, sie seien 
verschieden. Nach dieser Tabelle stimmt das Urteil in 27% aller 
Fälle mit der Zeitdauer überein, in 41% mit der Streckenlänge. 

Tabelle 5a. 


Vp. 

Übereir 

Sti 

obj. Strecke 
und Zeit 

istimmung zwischen 
eckenscbätzung 

und . _ . 

obj. Strecke und Ze,t 

t 

i 

Keine 

Überein¬ 

stimmung 

: 

Versuchs¬ 

zahl 

I 

D 

20 X 

A. Aktiv. 

47 x | > 12 X 

21 X 

112 

M 

7 X 

13 X >12 x 

68 X 

130 

F 

10 X 

32 X > 18 x 

40 X 

150 

H 

10 x 

33 X > 11 X 

46 X 

160 

J 

4* 

25 X > 17 X 

54 X 

76 

Ho 

12 X 

28 X 29 X 

31 X ' 

76 

Durchschnitt 

11 X 

30 X > 16 X 

43 X 

702 

für »Ile Vpn. 

F 

9 X 

B. Passiv. 

31 % 1 15 % 

46 X 

160 

M 

4X 

6 % 14 % 

76 X |! 50 

Durchschnitt 

6 X 

1 i 1 

19 15 % 

60 X 

200 

für alle Vpn. 




Um jedoch bestimmtere Aussagen machen zu können, müssen wir 
nun untersuchen, wie die tatsächliche Übereinstimmung der Strecken¬ 
schätzung und die von der Vp. bemerkte Dauerdifferenz sich zu dem 
Werte verhält, der sich durch Wahrscheinlichkeitsrechnung ergibt, 
wenn wir annehmen, daß keine direkte Abhängigkeitsbeziehung 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größensch&tzung von Armbewegungen. 323 

zwischen Streckenschätzung und der Auffassung der Dauerdifferenz be¬ 
steht. Diese Wahrscheinlichkeitsrechnung Btellen wir folgendermaßen 
an: Wir teilen die Gesamtheit aller Urteile in zwei Gruppen ein. Zur 
I. Gruppe rechnen wir die Versuche, bei denen die Streckengröße mit 
der subjektiven Dauer übereinstimmt, =»30%, zur II. Gruppe die¬ 
jenigen, bei denen diese Übereinstimmung nicht stattfindet, =70 %*). 

Der Tabelle 5a können wir entnehmen, daß in 41% aller Fälle 
richtig geschätzt wurde, in 59 % falsch. In demselben Prozentsatz 
verteilen sich die richtigen und falschen Urteile in den beiden Gruppen. 
In der I. Gruppe sind also 41 % richtige Urteile, d. s. 12 % der Gesamt¬ 
zahl, die übrigen 18% sind falsch. In der II. Gruppe ebenfalls 41% 
richtige = 29% und 59% falsche, d. s. 41% aller Fälle. 

In den falschen Urteilen der I. Gruppe und in den richtigen 
Urteilen der II. Gruppe haben wir keine Übereinstimmung von 
Schätzung und Zeitdauer. Dagegen findet Übereinstimmung von 
Streckenschätzung und Zeitdauer in den richtigen Urteilen der 
I. Gruppe statt. Fragen wir uns mm noch, wie es sich mit den fal¬ 
schen Urteilen der II. Gruppe verhält. — Die falschen Urteile sind 
entweder Über- oder Unterschätzungen. Der Wahrscheinlichkeit nach 
wird in 50% der Fälle »größer« und in 50% »kleiner« geschätzt. In 
allen Versuchen der II. Gruppe haben wir aber Nichtübereinstimmung 
von Strecke und Zeit, also ist die Dauer entweder länger oder kür¬ 
zer, der Wahrscheinlichkeit nach in 50% länger und in 50% kürzer. 
Die Urteile »größer«, »kleiner« verteilen sich so, daß 50% auf die¬ 
jenigen Fälle kommen, in denen die Dauer länger, und 50 % auf 

die Fälle, in denen sie kürzer war. Das Urteil »größer« fällt 

demnach in 25% mit der längeren Dauer zusammen, das Urteil 
»kleiner« in 25% mit der kürzeren Zeitdauer. Also besteht wahr¬ 
scheinlich in 50% der falschen Urteile der II. Gruppe Überein¬ 
stimmung des Urteils mit der Zeitdauer d. s. 50% von 41% 

aller Fälle = 20%. Es ergibt sich also folgende Übersicht, in 
der wir Übereinstimmungen von Streckenschätzung und Zeit¬ 
dauer mit +, die Nichtübereinstimmungen mit — bezeichnen wollen: 


1) Bei Vp. D ist Übereinstimmung in HO %, Niciittibereinst. in 70 % 


> > M » 

> 

* 41 X, 

> 

» 59 % 

» » F » 

y 

» 38 ?6 T 

> 

» 62 X 

» » H > 

> 

> 25 *, 

> 

» 75 X 

> > J » 

y 

» 23 X» 

> 

, 77 * 

> > Ho > 


> 24*, 

* 

» 76 X 


^ffl/alle^Vpn 1 } * 8t Übereinstimm, in etwa 30 %, Nichttibereinstetwa 70 % 


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324 


M. Antonie Goerrig, 


Zeitdiff. = Streekendiff. Zeitdiff. =■ Streckendiff. 

30 s 70 * 



r. f. 

41 * von 30 * 59 * von 30 % 


r. 

41 * von 70 * 


f. 

89 von 70 % 


+12 % —18 S 


— 29 * — 41 s 


50 s von 41 * 60 * von 41 s 


+ 20 * — 21 * 

Nach dieser Wahrscheinlichkeitsrechnung würde das Urteil in 
32% aller Fälle mit der Zeitdauer übereinstimmen, der tatsächliche 
Wert von 27%, den wir Kolonne 1 und 3 der Tabelle 5a entnehmen, 
bleibt hinter dem wahrscheinlichen bedeutend zurück. 

Dieselbe Rechnung für die passiven Bewegungen durchgeführt, 
ergibt eine wahrscheinliche Anzahl von 34%, die ebenfalls die tat¬ 
sächliche Übereinstimmung, die die Tabelle aufweist, 22%, weit 
übersteigt. 

Tabelle 5b. 


Vp. 

Übereil 

Str 

obj. Strecke 
und Zeit 

■Stimmung v 
eckenschätzi 

und 

obj. Strecke 

irischen 

mg 

und Zeit 

Keine 

Überein¬ 

stimmung 

Versuchs¬ 

zahl 

D 

32* 

A. 

36* 

Lktiv. 

9 s 

23 s 

112 

M 

8 * 

12 s 

18 s 

62 * 

130 

F 

18 s 

25 S 

20 * 

37 s 

150 

H 

24 * 

18 s 

12* 

46s 

160 

J 

13 s 

• 14 s 

17 S 

55S 

75 

Ho 

15 S 

21 S 

24 S 

40s 

76 

Durchschnitt 

18 s 

21 * 

17 * 

44 S 

702 

für alle Vpn. 

F 

19 * 

B. P 
25 s 

ässiv. 

13* 

43 s 

150 

M 

6 s 

4* 

20S 

70 * 

50 

Durchschnitt 

12 * 

15 * 

16 s 

57 s 

200 

flir alle Vpn. 



Wir wollen nun für dieselben Versuchswerte noch eine andere Be¬ 
rechnungsart durchführen. Die Unterschiedsschwelle für die Dauer¬ 
schätzungen, die wir der vorigen Rechnung zugrunde gelegt haben, 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grtißenschätzung von Armbewegungen. 325 


war nicht den Gesamtkurven, sondern der Kurve für Vp. M ent¬ 
nommen. Darin zeigte sich eine auffallende Verschiebung des sub¬ 
jektiven Nullpunktes nach rechts. In den Gesamtkurven 1 und 3 
liegen die subjektiven Nullpunkte auch etwas weiter nach rechts 





als der objektive. In Kurve 3 ist die Schwelle zwischen —12 und 
+18, die obere Grenze hegt also um 1 / 8 weiter vom objektiven Null¬ 
punkt entfernt, als die untere. Die U.-E. betrug nach dieser Kurve 
Va- Da die Unterschiedsschwelle bei Vp. M = Vs war, dürfen wir 


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326 


M. Antonie Goerrig, 


annehmen, daß sie für die anderen Vpn. auch etwas kleiner ist als 1 / 8 . 
Wir wollen annehmen, sie betrage 1 / 4 . Die mittlere Dauer der Be¬ 
wegungen beträgt auch hier etwa 30. Demnach können alle Dauer¬ 
differenzen, die größer sind als + 9 und kleiner als — 6, von den Vpn. 
wahrgenommen werden (Tabelle 5 b). — Zur Annahme dieser Schwelle 
glaube ich auch deshalb berechtigt zu sein, weil die Mehrzahl aller 
aktiven Bewegungen eine Dauerdifferenz aufweisen, die zwischen 
den angegebenen Werten hegt, und die Vpn. nach ihren Aussagen 
bemüht sind, die Geschwindigkeit bzw. Dauer ungefähr gleich zu 
machen. Alsdann ergibt sich, wenn wir wie bei der vorigen Be¬ 
rechnung verfahren, die Tabelle: 


bei Vp. D Übereinstimmung 44 *, 
> » M » Ö2 *, 

» F * 47 *, 

» H » 44 *, 

» » J » 24 *, 

» » Ho » 18 , 

für^alle''vpir } Übereinstimmung 38 *, 


Nichtübereinstimmung 66 * 

> 48 * 

» 63* 

> 66 * 

» 76* 

* 82 * 

Nichtübereinstimmung 62 * 


Bei passiven Bewegungen: 

bei Vp. F Übereinstimmung 41 *, Nichtübereinstimmung 69 * 

» » M > 48*, » 62* 

^fUr^Sle^Vpn 1 } Übereinstimmung 44 *, Nichtübereinstimmung 66 * 

Die Kolonne 1 und 2 enthält 39% Richtigschätzungen, 3 und 4 
die falschen Urteile = 61 %. Wir haben demnach Übereinstim¬ 
mung von Schätzung, objektiver Strecke und Dauer in 39% von 
38% =15%. In den übrig bleibenden 61% der ersten Gruppe 
= 23% Verschiedenheit von Schätzung und Dauerdifferenz. Dasselbe 
ist der Fall bei den 39% richtiger Urteile der 2. Gruppe =39% von 
02% = 24%. Von den falschen Urteilen der 2. Gruppe 61% von 
62% = 38% = 50%, also 19% Übereinstimmungen von Zeit und 
Streckenschätzungen. Insgesamt also wahrscheinlich in 19 + 15 = 34% 
aller Fälle Übereinstimmung von Streckenschätzungen und Zeitdauer. 
Tatsächlich enthält die Tabelle 35% Übereinstimmungen. Der wahr¬ 
scheinliche Wert wird also nur um 1% überstiegen. Die Wahrschein¬ 
lichkeitsrechnung für die passiven Versuche ausgeführt, ergibt einen 
Wert von 33%. Demgegenüber steht die tatsächliche Überein¬ 
stimmung von 28%. 

Nach beiden Berechnungen ist ein unmittelbarer Einfluß der Zeit¬ 
differenz auf die Streckenschätzung sowohl bei aktiven, wie bei 
passiven Versuchen ausgeschlossen. Eris mann findet bei seinen 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grüßensclützung von Arinbewegungen. 327 

Versuchen über den Einfluß der Zeitdauer auf die Streckenschätzung, 
deren Berechnung er in ähnlicher Weise ausführt, bei aktiven Be¬ 
wegungen eine tatsächliche Übereinstimmung zwischen der Differenz 
in der Dauer und der Schätzung in 45% aller Fälle. Der nach der 
Wahrscheinlichkeitsberechnung— unter Voraussetzung ihrer völligen, 
unmittelbaren Unabhängigkeit voneinander — sich ergebende Wert 
der Übereinstimmungen beträgt ebenfalls 45%. Dieselbe Berechnung, 
für die passiven Bewegungen durcligeführt, ergibt wahrscheinliche 
Übereinstimmung in 40%, die tatsächliche ist 43%. 

Erismann findet, daß die Beeinflussung, die auch nach seinen 
Versuchsergebnissen bei aktiven Bewegungen nur äußerst gering 
sein kann, bei passiven Versuchen beträchtlich größer zu sein scheint. 
Diese Frage können wir natürlich nach der relativ geringen Anzahl 
der in der vorhegenden Arbeit passiv ausgeführten kleinen Arm¬ 
bewegungen nicht entscheiden. 

Gegen die oben ausgeführten Berechnungen könnte jedoch der 
Einwand erhoben werden, die U.-E., die wir dort für alle Vpn. an¬ 
genommen haben, sei nicht mit Sicherheit bestimmt, und jedenfalls 
feiner, da sie unter anderen Bedingungen sich ganz anders darstelle. 
Wir wollen uns daher bei einer dritten Art der Berechnung an die 
U.-E. f ür Zeitschätzungen halten, die anderweitig unter sehr günstigen 
Bedingungen gefunden wurde. Diese beläuft sich auf ungefähr Vioo- 
Eris mann nimmt in Betracht der ungünstigen Bedingungen bei der 
Aufstellung einer seiner Übersichtstafeln eine dreimal größere Schwelle 
an. Das gleiche Verfahren auf unsere Versuche angewandt, ergibt 
Tabelle 6. Die tatsächliche Übereinstimmung von Schätzung und 
Dauerdifferenz, 31 % für aktive und 35% für passive Bewegungen, ist 
nicht größer, als der wahrscheinliche Wert, der sich auf 31% und 
36% beläuft. 

Den Annahmen, die wir den beiden ausgeführten Berechnungen 
zugrunde legten, haftet eine gewisse Willkür an. Es ist daher wün¬ 
schenswert, Zeitdifferenz und Schätzung nebeneinander zu betrachten, 
ohne Rücksicht auf die U.-E. für beide Arten der Schätzung. Dies 
ermöglicht uns die nun folgende graphische Darstellung. Auf der 
Abszisse sind die Zeitdifferenzen von —24 bis +24 abgetragen, auf 
der Ordinate die Prozentzahlen der Schätzungen, und zwar auch hier 
die Urteile »größer« über, die Urteile »kleiner« unter der Abszisse, 
während die Gleichschätzungen nicht aufgetragen werden. Sie sind 
aber ohne weiteres aus der Zeichnung zu entnehmen. Da die Gesamt¬ 
zahl aller Schätzungen = 100% gesetzt wurde, betragen die richtigen 
Urteile immer 100% — dem Prozentsatz der falschen (»größer«, 


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328 


M. Antonie Goerrig, 

Tabelle 6. 


Übereinstimmung zwischen 
Streckenschätzong 

Keine 

Überein¬ 

stimmung 

Anzahl 

obj. Strecke 
und Zeit 

und 

obj. Strecke 

and Zeit 

der Versuche 




A. i 

Lktiv. 



D 

9* 

68 96 

16* 

18* 

112 

M 

2 * 

18 96 

36* 

46* 

130 

F 

4* 

88 96 

27* 

31 * 

160 

H 

4 96 

89 96 

23* 

34* 

160 

J 

4 96 

26 * 

20* 

61 * 

75 

Ho 

6 96 

36 96 

32* 

31* 

75 

Durchschnitt 
für alle Vpn. 

6 % 

36 * 

26 * 

34* 

| 702 


B. Passiv. 


F 

5 * 

36* 

22 * 

38* 

150 

H 

2* 

8* 

40* 

60* 

60 

Durchschnitt 
Ar alle Vpn. 

4 % 

21 * 

31 * 

44* 

200 



»kleiner«) Urteile. — Konstantes Steigen oder Sinken der Kurve mit 
wachsender Dauerdifferenz würde für die Abhängigkeit der Strecken¬ 
schätzung von der Dauerschätzung sprechen. Die Kurven, die die 
oben ausgeführten Berechnungen anschaulich darstellten, zeigten 
durchweg große Unregelmäßigkeit. Sie bestätigen durch ihren Ver¬ 
lauf unsere oben bereits mehrere Male ausgesprochene Behauptung. 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grüßenschätzung von Armbewegungen. 329 


3) Aussagen der Vpn. 

Ungeübten Vpn. fällt die Selbstbeobachtung bei den Versuchen 
im Anfang recht schwer. Erst nach längerer Übung werden Angaben 
darüber gemacht, wonach sie sich beim Schätzen der Strecken richten. 
Die Vp. weiß, daß ihr Arm sich bewegt. Zuweilen treten aber die 
Armempfindungen so schwach auf, daß ihr scheint, nur die Unter¬ 
lage, die Holzschiene, bewege sich. In vielen Fällen treten dagegen 
die Armempfindungen deutlich auf. Einige Vpn. geben sie ausdrück¬ 
lich als Hauptkriterium für die Schätzung an. Namentlich bei Vp. H 
kommen Äußerungen wie »lediglich nach den Armempfindungen 
geschätzt« oder »ich urteile nur nach den Empfindungen im Arm 
und in der Hand« sehr häufig vor. Sie sagt »das eigentümliche 
Gefühl im Arm geht durch den Oberarm, Ellenbogen und Unterarm 
und zieht sich bis zu den Fingerspitzen hin.« Die Armempfindungen 
werden oft nicht weiter analysiert. Manchmal werden Muskel-, 
Sehnen- und Hautempfindungen getrennt aufgefaßt. Die Verände¬ 
rungen in der Muskulatur treten neben den Tastempfindungen am 
deutlichsten auf. Diese letzteren werden während der Bewegung 
hauptsächlich um den Condylus herum und am Handrand sowie an 
der ganzen aufliegenden Armfläche bemerkt. Verhältnismäßig selten 
werden Gelenkempfindungen genannt. Sie werden als Empfindungen 
im Ellenbogen oder als Verschiebung der Gelenkenden gegeneinander 
bezeichnet, doch scheinen sie nach Aussage der Vpn. beim Schätzen 
der Strecken sehr wenig ins Gewicht zu fallen. Zu den Hautempfin¬ 
dungen sind auch die Temperaturempfindungen zu zählen, die durch 
das Vorüberstreichen der Luft entstehen und mitunter mehr bei der 
Schätzung beteiligt sind, als die Muskelanhaltspunkte. Sehr häufig 
wird von Spannungsempfindungen gesprochen, die nicht als identisch 
mit den Muskelempfindungen angesehen werden. Während die 
letzteren ausschließlich im Ober- und Unterarm auftreten und als 
Änderungen des Zustandes der Muskulatur empfunden werden, sind 
jene viel ausgedehnter und meist konstant während der Dauer der 
Bewegungen. Von diesen Spannungen wird nicht nur die Muskulatur 
betroffen, sondern auch die Sehnen und Gelenke. Die Spannungen 
treten meist schon vor Beginn der eigentlichen Bewegungen auf und 
lösen sich nach dem Anschlag an die Arretierung. Sie sind natürlich 
auch hauptsächlich im Arm und »scheinen von dort auszugehen«. 
Eine Vp. lokalisierte sie außerdem in die Brustgegend. Am häufig¬ 
sten treten sie im Ober- und Unterarm und in der Hand und besonders 
in den Fingern auf. Nicht selten wird angegeben, daß solche Span¬ 
nungen absichtlich hergestellt werden, um den Empfindungseindruck 


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330 


M. Antonie Goerrig, 


deutlicher zu haben und besser festhalten zu können. Eine Vp. be¬ 
hauptet, durch Beobachtung des Atmungsvorganges Anhaltspunkte 
für die Streckenschätzung zu erhalten. Bei £ast allen Vpn. tritt nach 
einigen Versuchen eine mehr oder weniger deutliche Vorstellung der 
Strecke auf. Namentlich die visuellen Vorstellungen wirken sehr 
stark mit. Einzelne Vpn. sehen den vorderen Zeiger, der über die 
Skala streicht, andere haben den Eindruck, als ob sie mit der Hand, 
oder dem Zeiger eine Linie zeichneten. Bei anderen steht der Drehungs¬ 
winkel des Armes im Vordergrund des Bewußtseins. Der Arm wird 
alsdann mit einem Zirkel verglichen. Dies ist übrigens bei größeren 
Strecken sehr viel mehr der Fall als bei den kleinen Bewegungen, bei 
denen von einer Drehung sehr selten die Rede ist. Zuweilen ist die 
visuelle Vorstellung derart, daß die Streckenlänge bzw. Differenz 
derselben unaufgefordert in Zentimetern angegeben wird. Es scheint 
übrigens, daß die Vpn. von visuellem Vorstellungstyp die feinsten 
Schätzungen vorzunehmen imstande sind. 

Eine Vp. empfindet die Bewegung in den Augen. »Sie zeichnet 
die Strecke mit den Augen« und spürt nachher eine Ermüdung der¬ 
selben. Weniger häufig verbinden sich akustische Vorstellungen mit 
dem Bewegungseindruck. Gelegentlich wurde angegeben, die Be¬ 
wegung des Armes sei von einem inneren Ton begleitet, der bei der 
Schätzung mitwirke, aber nicht näher analysiert werden könne. Von 
einer anderen Vp. wurde der Anfang der Bewegung als ein kleiner Ton, 
das Ankommen als ein deutlicher Ton gekennzeichnet. Der Bericht 
ging dann weiter »Es ist aber doch noch etwas anderes, als nur ein 
Zeiturteil, es werden zwar einzelne Zeitabschnitte deutüch unter¬ 
schieden, ich weiß nicht recht, welche Anhaltspunkte außer den Arm¬ 
empfindungen sonst noch zu dem Urteil helfen.« Vermutlich stehen 
die Spannungen in einem engen Zusammenhang mit der Konzentra¬ 
tion der Aufmerksamkeit. Es wird angegeben, es gehe ihnen eine 
geistige Spannung parallel. Jedenfalls spielt die Aufmerksamkeit 
bei den Versuchen eine große Rolle. Schon die Aufgabe an sich ist 
ungewohnt und erfordert daher die größte Aufmerksamkeit. Jeder 
einzelne Moment der Bewegung muß unterschieden und festgehalten 
werden. Die Normalstrccke prägt sich Stück für Stück dem Ge¬ 
dächtnis ein. In der Pause wird das Erlebnis wiederholt, wenn auch 
nicht vollständig reproduziert, so doch gewissermaßen überblickt. 
Es liegt dann die Tendenz nahe, die Normalstrecke zu benennen, z. B. 
»kurz«, »ungewöhnlich lang« usw. DieV. wird ebenfalls Teil um 
Teil aufgefaßt. Manchmal weiß die Vp. schon zu Beginn: so weit 
müßte ich bewegen, damit die Strecken gleich würden. Wird dieser 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Grüßenschätzung vou Arnibewegungen. 331 

Punkt überschritten, so ist die V. länger. Das Plusstückchen wird 
zuweilen mit einer anderen Geschwindigkeit bewegt. Nach Schluß 
der Bewegung tritt unwillkürlich eine Kontrolle des Urteils ein. Die 
beiden Eindrücke werden nochmals kurz überblickt, namentlich wenn 
das Urteil nicht ganz sicher ist. Die sicheren Urteile erfolgen sehr 
viel schneller und bestimmter, als die weniger sicheren. Auffallend 
ist, wie sehr die Sicherheit in der Beurteilung zunimmt, mit wachsen¬ 
der Übung. Während bei den Vorversuchen alle Urteile mehr oder 
weniger unbestimmt waren, wurden namentlich die letzten meist 
mit viel größerer Sicherheit abgegeben. Eine Vp. äußerte, nachdem 
sie gut eingeübt war: »mein Urteil könnte nicht sicherer sein, wenn 
ich die Strecke mit den Augen gesehen hätte«. »Wenn mir jemand 
sagte, mein Urteil sei falsch, dann könnte ich es nicht glauben.« Eine 
große Rolle bei der Schätzung scheint der Impuls zu spielen. Es wird 
angenehm empfunden, wenn es gelungen ist, den Impuls in N. und 
V. gleich zu machen. Diesbezüglich heißt es einmal: »Die Bewegung 
muß unbedingt gleichmäßig ausgeführt werden und die zu Anfang 
der Bewegung oder auch in der Mitte bei einem Impuls sich einstellen¬ 
den Muskelverschiebungen dürfen sich möglichst wenig bemerkbar 
machen.« Die Beurteilung der Strecken* fällt schwerer, wenn die 
Bewegung mit mehreren Impulsgebungen ausgeführt wird. Daher 
wird jede Strecke meist nur mit einem Impuls durchfahren. »Ich 
habe die Empfindung, als wenn ich einen Strich zöge, ich gebe mir 
einen Ruck und ziehe nach diesem Anlauf den Strich in einem durch.« 
Fast alle Vpn. sagen im Anfang aus, daß die Dauer der Bewegungen 
ein Hauptkriterium der Schätzung sei. Es scheint ihnen zuweilen, 
daß sie die gleiche Geschwindigkeit für N. und V. wählen und die 
Dauer schätzen. »Das Urteil wurde gestützt auf die Zeitdauer, in der 
die Bewegung geschieht, auf die Bewegung selbst scheint es weniger 
anzukomraen.« Diese Aussagen werden aber nachher immer teil¬ 
weise widerrufen. »Ich urteile nach der Dauer der Bewegung.« 
»Die Zeit ist der Hauptanhaltspunkt.« »Ich glaube, daß ich die 
Geschwindigkeit gleich mache und die Dauer schätze.« »Nicht 
sicher, weil ich die Dauer nicht beachtet habe.« »Es ist wie bei einem 
Zeiturteil.« Ähnliche Aussagen kommen im Anfang besonders 
häufig vor. Später heißt es z. B. »es ist aber doch nicht nur die 
Zeit, die das Urteil zustande bringt, sondern das Erleben des Durch¬ 
laufens ist ein für sich abgeschlossenes Erlebnis, zu dem ich nichts 
hinzugebe.« »Es stimmt doch nicht ganz, was ich vorhin sagte, 
daß die Streckenschätzung gleich einer Zeitschätzung sei. Es werden 
zwar bestimmte Zeitabschnitte unterschieden, aber das Urteil richtet 


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332 


M. Antonie Goerrig, 


sich doch nicht in der Hauptsache danach. Ich weiß nicht, welche 
Anhaltspunkte da noch mitwirken, außer den Armempfindungen. 
Der stärkste Anhalt für die Schätzung ist jedenfalls noch nicht da.* 
»Geurteilt nach dem visuellen Bild und nach dem Bewegungseindruck 
des Armes. Vielleicht hat die Auffassung der Zeitdauer auch noch 
mitgespielt.« »Ich habe den Eindruck, aus allen Versuchen, daß 
bei Auffassung der Bewegung in erster Linie ihre Geschwindigkeits¬ 
eigenschaften in Betracht kommen für die Tast- und Muskelempfin¬ 
dungen, wobei die letzteren die direkten Kriterien sind für die Be¬ 
wegungsgröße, die ersteren dagegen vielleicht manchmal ausschlag¬ 
gebende Nebenkriterien.« »Mein erstes Urteil hieß .länger', weil Ton 
des Anschlages noch nicht da, in Wirklichkeit .kürzer', weil weniger 
durchlaufen.« Bei diesen kleinen Bewegungen kommt die Lage¬ 
empfindung anscheinend überhaupt nicht bei der Schätzung in Be¬ 
tracht. Es wird nur zuweilen angegeben, daß die Endlageempfindung 
bei dem Urteil überhaupt nicht mitgewirkt hat. 

Bei den passiven Bewegungen, bei denen der VL. den Arm der 
Vp. bewegt und dieser die Anweisung gegeben wird, den Arm mög¬ 
lichst ohne Anspannung schlaff auf die Unterlage zu legen, sind all¬ 
gemein dieselben Anhaltspunkte für die Auffassung der Strecken 
maßgebend wie bei den aktiven. Die Empfindungen sind allerdings 
meist sehr viel blasser. Nach Aussage der Vp. ist daher die Tendenz 
vorhanden, entweder einen kleinen Gegendruck zu leisten oder selbst 
den Arm mitzubewegen, damit der Bewegungseindruck deutlicher 
werde. Allgemein wird die größere Gleichmäßigkeit in der Führung 
des Armes angenehm empfunden und angegeben, daß die Schätzung 
dadurch erleichtert werde. Bei aktiven Bewegungen wurde die Auf¬ 
merksamkeit teilweise auf die Herstellung einer möglichst gleich¬ 
förmigen Bewegung gerichtet, die trotzdem nicht immer gelang. 
Weil die Anhaltspunkte bei den passiven Bewegungen geringer sind, 
so fallen die Schätzungen beim Übergang von den aktiven zu den 
passiven Bewegungen weniger sicher aus. Bei den letzteren sind 
namentlich die Muskelempfindungen schwächer, der Arm ermüdet 
weniger schnell. Sonst sind im allgemeinen die Anhaltspunkte für 
die Schätzungen: Armempfindungen, visuelle Vorstellungen, Haut- 
und Spannungsempfindungen, sowie Dauer und Geschwindigkeit der¬ 
selben wie bei den aktiven Versuchen. 

Wie oben bereits mitgeteilt worden ist, wurde bei den Strecken¬ 
versuchen häufig ausgesagt, daß die Größe der Bewegung nach der 
Geschwindigkeit und Dauer beurteilt werde. Demnach muß die Auf¬ 
fassung der beiden letzteren Faktoren schon in der Streckenschätzung 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 333 

enthalten sein. Trotzdem wird die Aufgabe, Dauer und Ge¬ 
schwindigkeit zu schätzen, als eine etwas andere angesehen. Wenn 
gleichzeitig über beide Größen ein Urteil abgegeben werden soll, fällt 
es den Vpn. schwerer, den gestellten Forderungen zu genügen. Für 
die Geschwindigkeit bestehen mehr Anhaltspunkte als für die Dauer 
und ihre Schätzung fällt leichter. Bei größerer Geschwindigkeit 
folgen die Muskelempfindungen schneller aufeinander. Der Kom¬ 
plex der Bewegungsempfindungen wird allgemein intensiver aufgefaßt. 
Auch im Ellenbogen wird die größere Geschwindigkeit deutlich wahr¬ 
genommen, außerdem werden Änderungen in den Hautempfindungen 
in der Nähe des Ellenbogens und am Unterarm als maßgebende Kri¬ 
terien für die Geschwindigkeitsschätzung angegeben. Bei aktiven 
Bewegungen wird das Urteil beeinflußt durch die Absicht der Vp., 
sowie durch die Stärke des Impulses »den Anfangsstoß«, »den ersten 
Antrieb«, bei passiven mehr durch den »Stoß« beim Übergang aus 
dem Ruhe- in den Bewegungszustand und durch die Stärke des An¬ 
stoßes an die Arretierung. Doch können diese Anhalte nicht die 
stärksten sein, weil sehr wohl unterschieden wird, wenn die Ge¬ 
schwindigkeit nicht konstant bleibt während der Dauer einer Be¬ 
wegung. Es wurde schon bemerkt, daß die Bewegungsempfindungen 
bei sehr geringer Geschwindigkeit recht undeutlich waren. Anderer¬ 
seits wird ausgesagt, daß bei aktiven Versuchen die Ausführung sehr 
langsamer Bewegungen unbequemer, anstrengender sei, als die der 
schnelleren. Diese Erscheinung erklärt sich dadurch, daß die lang¬ 
samen Bewegungen durch stärkere Anspannung der Antagonisten 
gehemmt werden. Die Vpn. sprechen häufig von einem Bild der Ge¬ 
schwindigkeit, das weder rein optisch, noch rein akustisch sei. 

Der Geschwindigkeitseindruck ist stärker als derjenige, der von 
der Dauer zurückgelassen wird. Einige Aussagen lauten dahin, daß 
die Geschwindigkeit ganz unabhängig von der Dauer, vielleicht auch 
von der Streckenlänge aufgefaßt werden könne. Die Zeitdauer hin¬ 
gegen scheint eng mit der Strecke verknüpft. Interessant ist, daß 
alle Vpn., auch wenn sie vorher angaben, die Strecke nach der Dauer 
zu schätzen, aussagen, das Zeiturteil richte sich nach der durchfahrenen 
Strecke und nach der Geschwindigkeit. Die Auffassung der Dauer 
ist bei allen Vpn. sehr viel schwieriger, als die Schätzung der Ge¬ 
schwindigkeit. Die Aussagen gehen dahin, daß die Zeit sich psycho¬ 
logisch überhaupt nicht direkt messen lasse. Der Dauereindruck 
entwickle sich durch einen Komplex von Empfindungen. Noch 
häufiger als bei den Streckenschätzungen wird ein Zusammenhang 
mit dem Atmungsvorgang erwähnt, der übrigens nicht als rhythmische 


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334 


M. Antonie Goerrig, 


Einstellung aufgefaßt wird. »Die Zeit wird rein kinästhetisch emp¬ 
funden und geschätzt. Es werden Empfindungen in der Brust und 
Herzgegend lokalisiert.« »Die Dauer ist gar nichts Selbständiges. 
Sie wird durch die Empfindungen geschätzt, die solange anhalten, 
wie die Zeit der Bewegung dauert.« »Niemals kann die Zeit rein 
bestimmt werden. Es geht immer etwas nebenher. Sie ist nicht das 
einzige, das beachtet wird, Geschwindigkeit und Strecke werden 
parallel beachtet.« »Eigentlich ist es nicht die Zeit, sondern die 
Strecke und die Geschwindigkeit, die geschätzt wird. Das kommt 
wohl daher, weil die Zeit nicht genau abgegrenzt ist und auch nur in 
Relation zur Strecke aufgefaßt werden kann. 

HI. Teil. 

Die Beziehung von Dauer und Geschwindigkeit znr Strecken- 
Schätzung hei großen Bewegungen. 

1) Versuohe. 

a) N. und V. schließen sich aneinander an. 

Jaensch stützt seine Behauptung über den Einfluß der Dauer 
auf die Größenschätzung auf Versuche mit ausgedehnten Bewegungen, 
bei denen das Löbsche Phänomen sehr stark auftrat. Er forderte 
seine Vp. auf, an einem Tisch Platz zu nehmen, auf dem ein Bogen 
Papier ausgespannt war, und mit einem Stift, der ihr in die Hand 
gegeben wurde, zwei in derselben Richtung verlaufende sich anein¬ 
ander anschließende gleich große Strecken zu zeichnen. Bei der Aus¬ 
wärtsbewegung war der Ausgangspunkt in möglichster Nähe der 
Brust, die an die Tischkante lehnte. Bei der Einwärtsbewegung ging 
die Vp. von einem eben noch erreichbaren rechts außen gelegenen 
Punkte aus und hatte zwei gleich lange Strecken zu zeichnen. Um 
die Zeitmessung für jede einzelne Bewegung vornehmen zu können, 
wurde der Stift mit der Kapsel eines pneumatischen Schreibers ver¬ 
bunden, der vor der Trommel eines Kymographions aufgestellt wurde. 
Bei dieser Versuchsanordnung trat die Löbsche Erscheinung sehr 
deutlich zu Tage. Sowohl bei der Beugung des Armes wie auch bei 
der Auswärtsbewegung war die Strecke die kürzere, die bei stärkerer 
Muskelkontraktion ausgeführt wurde. Jaensch stellte fest, daß, 
während der Unterschied der beiden für gleich gehaltenen Strecken 
meist beträchtlich war, zu ihrer Ausführung annähernd gleich lange 
Zeiten gebraucht wurden. Bei allen Vpn. war die Zeitdifferenz sehr 
gering und die kleinen Abweichungen erfolgten nicht alle in derselben 
Richtung. Daraus zieht Jaensch den Schluß, »daß wir die Strecken 
deshalb für gleich halten, weil die zu ihrer Zurücklegung gebrauchten 


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Einfluß der Zeitdauer auf die GrüßenBcbätznng von Armbewegungen. 335 

Zeiten gleich sind«, daß mithin die Zeitschätzung das Hauptkriterium 
für die Größenschätzung von Bewegungen sei. Im ersten Teil der 
vorliegenden Arbeit ist dargelegt worden, daß die Jaenschsche Be¬ 
hauptung für kleine Bewegungen nicht gelten kann. In dem zweiten 
Teil soll die Beziehung von Zeit- und Streckenschätzung bei großen 
Bewegungen untersucht, eine Nachprüfung der Versuche von Jae nsc h 
vorgenommen werden. In der Beschreibung der Versuchsanordnung 
ist bereits dargelegt worden, warum wir geradlinige Bewegungen für 
ungeeignet hielten. Mehr noch als bei den kleinen Exkursionen 
machen sich bei den großen Bewegungen die Nachteile der gerad¬ 
linigen Bewegungen bemerkbar. Nach dem früher Gesagten bedarf 
es keiner weiteren Erklärung, warum zu diesen Versuchen die kreis¬ 
förmigen am Kinematometer von Störring gewählt wurden. Aus 
denselben Gründen'wie im ersten Teil wurden auch hier fest begrenzte 
Strecken dargeboten. Vp. Ad, It und S legten die Hand mit 
der Volarseite auf das Brett und nahmen den Stab zwischen Zeige- 
und Mittelfinger. Es wurde auch schon darauf hingewiesen, daß die 
Zeitablesung bei diesen Versuchen mittels des Hippschen Chrono- 
skops vorgenommen wurde. Die Vp. hatte die Aufgabe, die beiden 
Raumstrecken miteinander zu vergleichen. Ebenso wie bei den Ver¬ 
suchen von Jaensch wurde wenigstens im Anfang die V. von allen 
Vpn. stark überschätzt. Außerdem wurde durchschnittlich für die 
V. längere Zeit gebraucht als für die N. Zunächst wurden mit jeder 
Vp. zur Einübung eine größere Anzahl von Vorversuchen gemacht. 
Die sich daran anschließenden 50 Versuche sind in der Tabelle bzw. 
Kurve 7 a zusammengestellt, in denen die Zeitdifferenzen in Zehntel¬ 
sekunden angegeben sind. Wie im I. Teil der Arbeit schon gesagt 
worden ist, sind auch hier bei den zur Berechnung verwandten Ver¬ 
suchen N. und V. immer von gleicher Streckenlänge. Wir ersehen 
aus Tabelle und Kurve 7 a, daß bei allen Vpn. die Tendenz vor¬ 
handen war, den Arm in der V. etwas langsamer zu bewegen. Wenn 
wir die Gesamtheit der Urteile näher ansehen, so sehen wir, daß 
weitaus in der Mehrzahl der Fälle Überschätzung der V. — die Löb- 
sche Erscheinung — auftritt. Beide Befunde scheinen den Ja e nach - 
sehen Beobachtungen parallel zu gehen. Wenn wir aber in Betracht 
ziehen, daß alle Vpn. sich der langsameren Führung des Armes in der 
V. wohl bewußt waren, so brauchen wir nicht anzunehmen, daß die 
Vpn. in der Mehrzahl der Fälle die V. deshalb überschätzen, weil sie 
längere Zeit zu ihrer Zurücklegung gebrauchen. In der Kurve ist 
eine geringe Neigung zur Seite der negativen Größen und eine gewisse 
Steigung nach den positiven Werten der Zeitdifferenzen nicht zu ver- 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



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Einfluß der Zeitdauer anf die Grüßenschätzung von Armbewegnngen. 337 

kennen. Demnach wäre also in einem Teil der Versuche eine wenn 
auch nicht bedeutende Beeinflussung der Streckenschätzung von der 
Zeitauffassung wahrscheinlich. Nehmen wir wieder wie im ersten 
Teil der Arbeit an, die U.-E. für Zeitschätzungen sei l J 6 . Die mittlere 
Dauer der Bewegung ist 27. Aus Kurve 7 a und den folgenden 
ist zu sehen, daß die Mehrzahl der aktiven Bewegungen mit einer 
Zeitdifferenz zwischen N. und V. von —3, +9 ausgeführt wurden. 




Fig. 7 a (Kurve 7 a). 


Wir wollen deshalb den Berechnungen dieselbe Unterschiedsschwelle 
für Zeitschätzungen zugrunde legen, wie früher der Tabelle 5 b. 
Alsdann ergibt sich aus der Gesamtkurve 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 14% 

» » >> objekt. Str. 10% 

» »> » und Zeit 20% 

Keine Übereinstimmung 56% 

Dieser Wert übersteigt die Anzahl der wahrscheinlichen Überein¬ 
stimmungen, der sich auf 28% beläuft, wenn wir keine immittelbare 
nähere Beziehung voraussetzen. Wir entnehmen mithin sowohl der 
Kurve, als auch der Berechnung, daß in der ersten Versuchsperiode 
eine geringe Beeinflussung der Streckenschätzung durch die Dauer 
stattfindet. Dieselbe ist aber keineswegs so groß, daß wir 
annehmen müssen, die Zeitauffassung sei hier das Hauptkriterium 
der Schätzung. 

Archiv für Psychologie. XXXVL 

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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



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24 2 100 

24+ 2 67 2 33 2 100 3100 8 60 2 33 2 17 3 100 



Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 341 

Tabelle und Kurve 7 b ist die Fortsetzung der Versuche der 
Tabelle 7 a. Auch hier ist in einem Teil der Versuche eine Über¬ 
einstimmung der Schätzung mit der Dauerdifferenz nicht zu ver¬ 
kennen, wenngleich sie noch geringer ist, als in 7 a. Besonders bei 



Vpn. Ad und F. Bei Vpn. R und S ist die Neigung der Kurve zur Seite 
der negativen Zeitdifferenz weniger stark. Bei Vp. A ist sogar eine 
Steigung nach dieser Richtung hin zu bemerken. Dieselbe Rechnung 
wie bei 7 a für diese Gesamtkurve durchgeführt, ergibt: 


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342 


M. Antonie Goerrig, 


Übereinst. von Schätzung objekt. Str. u. Zeit 7% 

» «> >> objekt. Str. 22% 

>> » » und Zeit 14% 

Keine Übereinstimmung 57% 

Demnach Übereinstimmung von Zeitdauer und Streckenschätzung 
in 21%. Die wahrscheinliche Anzahl der Übereinstimmung beträgt 
34%. Sie übersteigt also den wirklichen Wert um 14%. 

Weiter wurden aktive Versuche ausgeführt, in denen der Arm 
nach auswärts bewegt wurde. Die N. begann in der Nähe des 
Körpers, der Endpunkt der N. fiel mit dem Anfangspunkt der V. 
zusammen. Diese Bewegung war besonders in der ersten Zeit un¬ 
bequemer, als die zuerst ausgeführte Armbeugung. Nur Vp. Ad 
empfand bei diesen Versuchen keine größere Unbequemlichkeit. 
Nach einiger Zeit erschienen sie ihr sogar leichter als die ersteren. 
Bei ihr tritt die Löbsche Erscheinung nicht in dem Maße auf, wie 
bei den anderen Vpn. Nachdem ihr die Anweisung gegeben worden 
war, die Armlage zu verändern, die Haltung von Vpn. A und F ein¬ 
zunehmen, war das Löbsche Phänomen auch deutlich zu beobachten. 

Diese Versuchsserie ist in der Kurve 8 durch- bezeichnet. 

Die Schätzungen der Auswärtsbewegungen weisen keine größere 
Beeinflussung der Urteile durch die Zeitdauer auf, als die Bewegungen 
zum Körper hin. Wir führen die Rechnung wie oben durch. 
Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 23% 

» » » objekt. Str. 22% 

» » » und Zeit 16% 

Keine Übereinstimmung 39% 

Durch Wahrscheinlichkeitsrechnung ergibt sich Übereinstimmung 
von Schätzung und Dauer in 38 %. Die tatsächliche Übereinstimmung 
beträgt 1% mehr. 

Jaensch läßt bei seinen Untersuchungen nur aktive Bewegungen 
ausführen. Es empfiehlt sich jedoch festzustellen, ob der Einfluß der 
Zeitdauer sich bei passiven Bewegungen stärker bemerkbar macht. 
Oben wurde schon gesagt, daß Eris mann bei kleinen Strecken, die 
passiv durchfahren werden, eine erheblich größere Beeinflussung durch 
die Zeitdauer findet als bei aktiven Versuchen. Wir selber konnten 
bei den kleinen Bewegungen keine diesbezügliche Entscheidung 
treffen. Da hier bei den größeren Exkursionen eine reiche Anzahl 
von passiven Versuchen vorliegt, wollen wir die Frage für diese Be¬ 
wegungsgrößen untersuchen. Bei der Versuchsserie 9 wurde unter sonst 
gleichen Versuchsbedingungen der Arm der Vp. vom VL. bewegt. 
Das Bild der Kurven zeigt bei sämtlichen Vpn., daß man auch hier 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Griißenechätzung von Arinbewegungen. 348 

kaum von einer unmittelbaren Beeinflussung durch die Zeit sprechen 
kann. Bei Vpn. R und S tritt die Löbsche Erscheinung nicht mehr 
auf, wahrscheinlich weil die Bewegung jetzt den Vpn. gewohnter ist. 
Wir müssen demnach annehmen: Bei der Gesamtheit aller Urteile sind 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 25% 

>> >> ►> objekt. Str. 31% 

>> >> » und Zeit 13% 

Keine Übereinstimmung 31 % 

Nach dieser Zusammenstellung besteht Übereinstimmung von 
Zeitdauer und Schätzung in 38%. Die wahrscheinliche Überein¬ 
stimmung beträgt 37%. 

Bei den passiven Auswärtsbewegungen Kurve 10 beträgt die 
Anzahl der Übereinstimmungen von Streckenschätzung objektiver 
Strecke und Zeit 28%. 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Strecke 28% 

>> >> » und Zeit 12% 

Keine Übereinstimmung 32 % 

Übereinstimmung von Zeitdauer und Schätzung also 40%. Wenn 
keine direkte Beziehung angenommen wird, werden sie wahrscheinlich 
in 39% übereinstimmen. Der Verlauf der Kurve legt die Abwesenheit 
jeglicher Beziehung der beiden Faktoren noch deutlicher dar. Die 
Zeit hat dann keinen ersichtlichen Einfluß. Auffallend ist, dal? 
bei der Kurve Ad nur Gleich- und Unterschätzungen Vorkommen. 
Diese Tatsache steht in Einklang mit der vorher schon erwähnten 
Aussage der Vp. , daß ihr die Auswärtsbewegung leichter vorkomme. 
Auch bei R, S und F sieht man einen Rückgang der Löbsehen E)- 
scheinung im Vergleich zu den ersten Versuchen. Diese Erscheinung 
ist lediglich durch den Einfluß der großen Übung zu erklären. Wir 
sind gezwungen anzunehmen, daß nach einer außergewöhnlich guten 
Einübung eine ganz andere Art der Streckenschätzung stattfindet, 
b) N. undV. schließen sich nicht unmittelbar aneinander an. 

Jaensch trifft das genannte Phänomen weitaus in der Mehl zahl 
aller Versuche. Es kommen jedoch zuweilen auch Fälle negativer 
Täuschung vor. Jaensch führt zur Erklärung der Löbschf n Er¬ 
scheinung aus, daß bei der Entstehung jedenfalls »psychologische und 
physiologische Faktoren « beteiligt seien. Wenn man unter gewissen 
häufig verwirklichten Umständen und bei Abwesenheit entgegeu- 
wirkender physiologischer Faktoren eine Strecke reproduzieren lasse, 
so falle die Reproduktion kürzer aus, als die ursprüngliche Strecke. 
Diese an einer anderen Stelle schon als Erinnerungsphänomen be¬ 
zeichnte Erscheinung hält er für rein psychisch bedingt. Umexpcri- 


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Tabelle 9. 

Passive Bewegungen zum Körper hin. 


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UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Annbewegungen. 345 


mentell zu beweisen, daß zur Erklärung der Löbsehen Beobachtung 
die psychischen Faktoren allein nicht ausreichen, läßt er Versuche aus¬ 
führen, bei denen er die Reihenfolge N.—V. umkehrt. Bei den Aus¬ 
wärtsbewegungen z. B. beginnt die V. bei einem recht fernen, die N. 




bei einem P unk te in nächster Nähe des Körpers. Jaensch meint, 
wenn zur Erklärung des Löb sehen Phänomens die psychischen Fak¬ 
toren allein genügten, müßte nun die N. kürzer ausfallen. Das Ex¬ 
periment lieferte das Gegenteil. Die Strecke war die kürzere, die 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größen Schätzung von Armbewegungen 347 

bei größerer Muskelkontraktion ausgefübrt wurde. Das Löbsche 
Phänomen trat sogar noch deutlicher auf als vorher. Dies erklärt 
Jaensch durch die größere Wirksamkeit der physiologischen Fak¬ 
toren infolge zunehmender Muskelkontraktion. Durch diese werde 




Fig. 10 (Kurve 10). 

der Wegfall des psychologischen Momentes überkompensiert. Zur 
näheren Untersuchung der Vermutung des genannten Autors ließ ich 
Versuche ausführen, in denen die V. sich nicht wie in früheren Ver¬ 
suchen räumlich unmittelbar an die N. anschloß, sondern durch eine 


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348 


M. Antonie Goerrig, 


ungefähr 25 bis 30 cm große Raumstrecke von ihr getrennt wurde. 
Bei den Auswärtsbewegungen (Tabelle 11) z. B. begann die N. recht 
nahe am Körper. Die Arretierung, die den Endpunkt der N. bestimmte, 
nahm der YL. in der kurzen Pause zwischen N. und V. weg und be- 


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punkte der V. Entsprechend war die Versuchsanordnung bei den Ein¬ 
wärtsbewegungen. Die frühere Reihenfolge N.—V. wurde im allge¬ 
meinen beibehalten, nur bei einer Vp. wurde zuerst die V., dann die 


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Einfluß der Zeitdauer anf die Größenschätzuug von Armbewegnngen. 349 

N. ausgeführt, diese Versuche wurden in den Tabellen mit F* bezeich¬ 
net. Wenn den psychologischen Faktoren ein bedeutender Anteil bei 
der Entstehung des Löb sehen Phänomens zukommt, so muß die Über¬ 
schätzung der V. bei der Reihenfolge N.—V. eine bedeutend größere 
sein, als bei den Versuchen F*. Die Tabellen und Kurven zeigen, 
daß dies nicht der Fall ist. Desgleichen ist ersichtlich, daß auch bei 
allen diesen Bewegungen, deren Vergleich ungleich schwerer sein dürfte 
als bei den früheren Versuchen, die Zeitdauer keinen bedeutenden 
Einfluß auf die Schätzung gehabt hat, weder bei F noch bei den 
anderen Vpn. Tabelle 11 enthält aktive Auswärtsbewegungen. Die 



Fig. 11 (Kurve 11). 


mittlere Dauer ist 14. Wir setzen die IJ.-E. für Zeitschätzungen 
wieder gleich ein Fünftel und erhalten: 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 23% 

» * » objekt. Str. 31% 

» » » und Zeit 4% 

Keine Übereinstimmung 42% 

mithin 27%. Übereinstimmungen von Zeit und Schätzung gegen 
einen wahrscheinlichen Wert von 35 %. Die Kurve F* hat Überein¬ 
stimmung von Dauer und Schätzung in 20%. Die Wahrscheinlich¬ 
keitsrechnung ergibt 32%. Wie schon oben sehen wir bei sämtlichen 
Vpn. einen deutlichen Rückgang der Löbschen Erscheinung. Bei 
den passiven Versuchen, Tabelle 12, verschwindet sie fast gänzlich. 
Bemerkenswert sind in beiden Reihen die Schätzungen der Vp. S, 


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Tabelle 12. 


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24 1100 

24 + 7 60 7 60 i 100 



Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 351 

die durchweg richtig ausfielen. Es könnte die Vermutung nahe liegen, 
die Vp. sei irgendwie beeinflußt oder schätze oberflächlich. Das war 
jedoch durchaus nicht der Fall. Die in der Serie 12 zwischengeschobe¬ 
nen Täuschungsversuche wurden in 12 a zusammengestellt, zur Be¬ 




stimmung der U.-E. für diese Streckenschätzung. Die Ablesung der 
Kurve ist dieselbe, wie bei den anderen, nur haben wir hier auf der 
Abszisse die räumlichen Differenzen V.—N. statt der zeitüchen. Man 
ersieht, daß die Unterschiedsschwelle nach einer sehr großen Übung 


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Einfluß der Zeitdauer auf die GrOßenschätzung von Armbewegungen. 353 

außerordentlich klein ist. — In der Reihe der passiven Bewegungen 
zum Körper hin war ebenfalls die Zeitdauer nicht Hauptanhaltspunkt 
für die Schätzung. 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 28% 

* » » objekt. Str. 31% 

» >> » und Zeit 7% 

Keine Übereinstimmung 31 % 

Also haben wir danach tatsächliche Übereinstimmung 
von Zeitdauer und Schätzung in 35%. Nach der Wahr¬ 
scheinlichkeitsrechnung ergibt sich Übereinstimmung 
in 34 °/q aller Fälle. Für F* betragen dieWerte 34% bzw. 35%. 

Die Versuche der Tabelle 13 sind passive Bewegungen vom 
Körper weg. Die Löbsche Erscheinung verschwindet, bei keiner Vp. 
herrscht nun noch die Tendenz, die V. zu überschätzen. Der Zeit¬ 
dauer kann bei diesen Versuchen kein unmittelbarer Einfluß auf die 



Schätzung zugeschrieben werden. Führen wir auch für diese Serie 
die gewohnte Rechnung aus, so erhalten wir 

Übereinst, von Streckensch. objekt. Str. u. Zeit 31% 

» » » objekt. Str. 31% 

» » » und Zeit 6% 

Keine Übereinstimmung — 

also haben wir Übereinstimmung von Zeitdauer und Schätzung in 
37%. Denselben Wert ergibt die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Für 

Arclii? für Psychologie. XXXVI. 23 


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354 

M. Antonie Goerrig, 

F beträgt die 

tatsächliche Übereinstimmung 32%. Dieser Wert 

bleibt hinter dem wahrscheinlichen von 

33% um 1 % zurück. 

Es wurden dann noch mitYpn. A und R Versuche ausgeführt, bei 
denen die räumliche Differenz zwischen N. und V. weniger groß ge- 

nommen wurde. Der Endpunkt der N. 

war in dieser Serie von Be- 

wegungen zum 

Körper hin etwa 30° vom Anfangspunkt der V. ent- 

fernt. Das Löbsche Phänomen trat hier nicht auf. Auch eine deut¬ 
lich sichtbare Beeinflussung der Schätzung von der Zeitdauer ist nicht 
vorhanden. Wenn eine derartige Beeinflussung in diesen Versuchen 
etwas deutlicher zutage treten würde, stände sie übrigens^ im Ein¬ 
klang mit den Versuchen der ersten Periode. Wir sahen dort, daß 
der Einfluß der Zeitdauer auf die Schätzung etwas größer war, als 

in den letzten Versuchsperioden. Man 

könnte die eventuelle Be- 

einflussung durch die Zeitdauer in Tabelle 14 dadurch erklären, daß 
wir hier eine völlig ungewohnte Versuchsanordnung haben. 


Tabelle 14. 


Passive Einwärtsbewegungen. 


A 

B 


Vereuchszahl: 60 

Verenchesahl : 60 


N. 17 

Mittl. Dauer: y ^ 

Mittl.Dauer: y 


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24 

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2100 

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24 + 



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Einfluß der Zeitdauer auf die GrOßenschätznng von Armbewegung'' 355 


2) Aussagen der Vpn. 

Die Berichte der Vpn. über das Erleben der gToßen Bewegungen 
sind wesentbch dieselben wie bei den kleinen Exkursionen, vor allem 
was die Arniempfindungen und Vorstellungen angeht, die sich an die 
Bewegungen anknüpfen. Die Auswärtsbewegungen sind bei der 
Mehrzahl der Vpn. unbequemer auszuführen, als die Bewegungen zum 
Körper hin. Während bei den letzteren die durchfahrene Strecke 
als ein einheitliches Ganzes aufgefaßt wurde, war das bei den Be¬ 
wegungen vom Körper weg namentlich im Anfang oft unmöglich. 
Bis zu einem gewissen Punkte erschien die Strecke geradlinig. Alsdann 
trat der Eindruck auf, als ändere sie ihre Richtung. Derartige Aus¬ 
sagen finden sich bei den Bewegungen zum Körper hin niemals. Das 
mag damit Zusammenhängen, daß diese allgemein gewohnter sind, 
als die anderen, denn nach meiner Beobachtung glaube ich, daß wir 
die Auswärtsbewegungen des Armes meist geradlinig und schneller 
ausführen als die Bewegungen zum Körper hin. Die Bewegung bei 
stärkerer Kontraktion des Beugers ist von sehr viel ausgeprägteren 
Muskel-, Sehnen- und Gelenkempfindungen begleitet. Bei größerer 
Kontraktion des Streckers scheint es den Vpn. zuweilen, als ob sie 
die völlige Gewalt über den Arm verloren hätten. Es treten bei allen 
Bewegungen, die mit starker Muskelkontraktion ausgeführt werden, 
sehr starke »Spannungen« auf. Diese werden aber erst in einer 
späteren Versuchsperiode deutlich von den eigentlichen Bewegungs¬ 
empfindungen unterschieden. Es liegt deshalb die Vermutung 
nahe, daß die Verwechslung der dabei auftretenden Span¬ 
nungen mit den Bewegungsempfindungen die Ursache 
der Überschätzung, des Löbschcn Phänomens ist. Wahr¬ 
scheinlich werden die Spannungen erst nach sehr ausgiebiger Übung 
richtig gedeutet, alsdann verschwindet die Löbsche Erscheinung. 
— Bei den großen Bewegungen kommen die Angaben über die Lage¬ 
empfindung ziemlich häufig vor. Dieselben sind kein eigentliches 
Kriterium für die Schätzung, dienen aber manchmal zur Kontrolle 
des bereits fertigen Urteils. Auch hier wurde im Anfang angegeben, 
daß die zur Ausführung der Bewegung gebrauchte Zeit einen starken 
Anhaltspunkt für die Schätzung biete. Später nahmen die Vpn. 
immer weniger Bezug auf die Dauer der Bewegung. Einige Vpn. 
sprachen ihre Verwunderung darüber aus, daß sie in der späteren 
Versuchsperiode völlig von der Zeit abstrahieren konnten. Manchmal 
wurde die Abstraktion sogar bewußt vorgenommen, ohne da die 
Vp. dazu aufgefordert wurde. Unsere Behauptung wird also auch 

23* 


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356 


M. Antonie Goerrlg, 


durch die Selbstbeobachtungen der Vpn., denen man zwar im all¬ 
gemeinen keine sehr große Bedeutung zumessen darf, durchaus be¬ 
stätigt. 

Überblicken wir nun noch einmal die recht umfangreichen Ver¬ 
suchsreihen, die den III. Teil der vorliegenden Arbeit bilden, so ergibt 
sich, daß bei sämtlichen Streckenschätzungen, die größere 
Exkursionen betrafen, die Auffassung der Dauer bzw.Geschwin- 
digkeit der ausgeführten Bewegungen unmöglich der 
Hauptanhaltspunkt für die Schätzung sein kann. Wir 
dürfen weder für solche Bewegungen, bei denen sich die V. un¬ 
mittelbar an die N. anschloß, noch für solche, bei denen N. 
und V. in ganz verschiedenen Regionen lagen, die Strecken¬ 
schätzungen auf Zeitschätzungen zurückführen. Es ist dagegen nicht 
im wahrscheinlich, daß eine teilweise Beeinflussung des Urteils 
durch die Dauer bzw. Geschwindigkeit stattfindet, namentlich dann, 
wenn andere Anhaltspunkte weniger deutlich aufgefaßt werden. 
Diese Beeinflussung scheint nach unseren Versuchen im Anfang etwas 
stärker zu sein, — nach sehr guter Einübung in die Versuche aber 
gänzlich zu verschwinden. — Bei großen Armbewegungen bzw. solchen, 
die in ganz verschiedenen Regionen ausgeführt werden, fand auch nach 
guter Einübung in die Versuche, sowohl bei aktiver, als bei passiver 
Ausführung im allgemeinen Überschätzung derjenigen Strecke statt, 
die bei größerer Muskelkontraktion durchfahren wurde. — Diese Er¬ 
scheinung — das Löbsche Phänomen —, zu dessen Erklärung wir 
gleich Jaensch hauptsächlich physiologische Faktoren in Anspruch 
nehmen mußten, — verschwand jedoch nach ungewöhnlich großer 
Übung. Es trat alsdann weder bei aktiven noch bei passiven Be¬ 
wegungen auf. Da die Vpn. alle (mit Ausnahme von Vp. A) von dem 
Auftreten des Löbsehen Phänomens nichts wußten — Zweck und 
Methode der Untersuchung waren ihnen gänzlich unbekannt —, so 
konnte eine bewußte Korrektur des Urteils in den späteren Ver¬ 
suchen j edenfalls nicht stattfinden. Die völlige Änderung in der Art, 
die Länge der Strecken zu schätzen, kann man meines Erachtens nur 
darauf zurückführen, daß gewisse Spannungen, die bei den Arm¬ 
bewegungen, die bei starker Muskelkontraktion ausgeführt werden, 
immer auftreten, nach außerordentlich guter Übung anders 
gedeutet werden, als im Anfang. Diese Vermutung wird im vorigen 
Abschnitt einigermaßen bestätigt durch die Selbstbeobachtungen 
der Vpn. 

Hiermit sind wir am Schluß der Untersuchung angekommen und 
dürfen als Resultat derselben ansehen: 


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Einfluß der Zeitdauer auf die Größenschätzung von Armbewegungen. 357 


1) Die Schätzung von Armbewegungen hängt nicht un¬ 
mittelbar von der Zeitauffassung ab. 

2) Nicht nur bei kleinen, sondern auch hei großen Strecken 
ist der Einfluß der Zeitdauer sehr gering, mit wach¬ 
sender Übung nimmt er ab. 

3) Bei großen Bewegungen tritt im allgemeinen eine Über¬ 
schätzung der Strecke auf, die bei stärkerer Muskel¬ 
kontraktion durchfahren wird. Nach ungewöhnlich 
guter Einübung in die Versuche fällt diese Erscheinung 
weg. 

Ich freue mich, auch an dieser Stelle meinem hochverehrten Lehrer, 
Herrn Prof. 6. Störring, danken zu können für die reiche Anregung, 
die mir während der letzten Jahre meiner Studienzeit durch ihn 
zuteil wurde, besonders auch für das Thema der Untersuchung und 
das lebhafte Interesse, das er ihr jederzeit entgegenbrachte. Außer¬ 
dem gilt mein Dank Herrn Dr. Eris mann, der mich in das Gebiet 
der Bewegungsempfindungen einführte und mir während der Aus¬ 
führung der Arbeit häufig mit Ratschlägen zur Seite stand. 

Den an den Versuchen beteiligten Versuchspersonen spreche ich 
ebenfalls meinen verbindlichsten Dank aus. 


Literaturverzeichnis. 

]) Angier, Die Schätzung von Bewegungsgrößen bei Vorderarmbewegun¬ 
gen. Z. f. Fs. u. Ph. d. S. 

2) Bloch, La revue scientifique. Bd. 45. 3. Serie. 19. Jahrg. 1890/91. 

3) Cre mer. Über das Sohätzen von Distanzen bei Bewegung von Arm und 

Hand. Dissertation Würzburg 1887. 

4) Delabarre, Über Bewegungsempfindungen. Diss. Freiburg i. B. 1891. 

5) Erismann, a) Untersuchungen über Bewegungsempfindungen beim Beu¬ 

gen des rechten Armes im EUbogengelenk. Arch. f. d. ges. Psyob. 1912. 
Bd. 24. Heft 2/3. Diss. 

b) Untersuchung über das Substrat der Bewegungsempfindungen und die 
Abhängigkeit der subjektiven Bewegungsgröße vom Zustand der Mus¬ 
kulatur. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 28. Heft 1/2. 

6) Falk, Versuche über die Baumschätzung mit Hilfe von Armbewegungen. 

Dies. 1890 Dorpat. 

7) Förster, Untersuchungen über das Lokalisationsvermögen bei Sensibi- 

litätsstörungen. Monatsber.f. Psyohiatrie und NeuroL 9.(1). S. 31.1901. 

8) Fullerton and Catell, On the Peroeption of smaü Differences. Publi- 

cations of the University of Pennsylvania. May 1892. Philoeophical 
series. 


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358 M. A. Goerrig, Einfluß der Zeitdauer auf die Größensch. von Armbeweg. 


9) Goldscheider, a) Berl klin. Wochenschr. 1890 ref. Z. f. Pa tu Plu cL S. 

Bd. 1. S. 223. 14. 

b) Archiv f. Anat. u. Phya 1890. S. 380/384. 

c) Über einen Fall von tabischer Ataxie mit scheinbar intakter Sensibilität. 
Berl. klin. Wochenschr. 1890. Nr. 46. 

d) Über den Muskelsinn und die Theorie der Ataxie. Zeitsohr: für 
klin. Mod. Bd. 15. 1889. S. 82/161 ref.: Z. f. Pa tu Ph. d. S. Bd. 1. 
S. 145. 

e) Untersuchungen über den Muskelsinn. Archiv f. Anat. und Phys. 
Phya Abtl 1889. S. 369/502 u. SuppL Bd. 8 . 141—218,1890. 

f) Deutsche Militärärztl Ztschr. Bd. 14. 12. S. 556. 

g) Arch. f. Anat. u. Phya von Dubois Reymond 1887. 

10) Jaensch, a) Über die Beziehungen von Zeitsohätzung und Bewegungs¬ 

empfindungen. Z. f. Pa tu Ph. d. S. Bd. 41. S. 257. 
b) Über Täuschungen des Tastsinnea Z. f. Pa tu Ph. Bd. 41. S. 281 
und 382. 

11) Kramer und Moskiewioz, Beiträge zur Lehre von den Lage- und Be¬ 

wegungsempfindungen. Z. f. Pa u. Ph. d. S. Bd. 25. S. 101. 

12) Külpe, Grundriß der Psychologie. 1893. S. 145ff. 

13) Lenfest, The Accuracy of Linear Movement. Harvard Psychological 

Studiea VoL II. Boston u. New York, Houghton; Mifflin tu Co. 
1906:Ref.:Z.f. Pau. Ph. d. S. Bd. 45. S. 115. 

14) Löb, a) Untersuchungen über die Orientierung im Fühlraum der Hand 

und im Blickraum. Pflügers Archiv. Bd. 46. 1890. 
b) Pflügers Arch. Bd. 41. S. 107. 

15) Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen, herausg. v. B. Nagel 

in Berlin, Braunschweig 1905. 

16) Reichart, a) Über Sinnestäuschungen im Muskelsinn bei passiven Be¬ 

wegungen. Z. f. Pa u. Ph. d. S. Abt. 2. Bd. 41. S. 430. 
b) Zur Lehre vom Muskelsinn. Arbeiten aus der psychiatr. Klinik zu 
Würzburg. 4. Heft. S. 119/134. 1909, ref.: Z. f. Pa u. Ph. d. S. Bd. 54. 
S. 539. 

17) Segswortli, Ist nicht erschienen, zitiert bei Wundt, a. a. O., L, S.429. 

18) Störring, Experimonteile Beiträge zur Lehre von den Bowegungs- und 

Kraftempfindungen. Arch. f. ges. Psych. Bd. 25. Heft 3 u. 4. 

19) Woodsworth, The Accuracy of voluntary movement. Psych. Rev. 

Monogr. SuppL 3. (2). S. 114. 1899. Ref.: Z. f. Pa tu Ph. d. S. Bd. 24. 
S. 180. 

20) Wundt, Physiologische Psychologie. 4. AufL a) Bd. 1. S. 419. 

b) S. 341 ff. tu S. 355 ff. 

21) Ziehen, Experimentelle Untersuchungen über dieräumlichenEigenschaften 

einiger Empfindungsgruppen. Fortschr. d. Psych. und ihre Anwendungen 
(4. u. 5). S. 227. 


(Eingegangen am 3. März 1916.) 


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Original frem 

UNIVERSITY OF CALIFORNIA 



Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig, 


DR. PHIL. ET MED. GUSTAV STÖRRING 

ORDENTL. PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT BONN 

LOGIK 

Erster Teil: Elementare Methoden des Erkennens 

I. Abschnitt Allgemeine Bestimmungen Aber die Urteile. — 

II. Abschnitt Die Lehre vom Begriff. — III. Abschnitt. Speziellere 
Behandlung der Urteile. — IV. Abschnitt. Die SchluQlehre. 

Zweiter Teil: Methodenlehre im speziellen Sinne 

1. Abschnitt. Methoden der realwissenschaftlichen Unter- 
suchung. — II. Abschnitt. Logik des mathematischen Denkens. 

VIII, 363 Seiten, gr. 8. M. 12.— 


Vorlesungen über Psychopathologie 

in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie mit Ein¬ 
schluß der psychologischen Grundlagen der Erkenntnistheorie 

Mit 8 Figuren im Text 

VIII, 468 Seiten. 8. M. 9.—, in Leinen geb. M. 10.— 

.... Störrings Vorlesungen beweisen deutlich die Bedeutung der Psychopathologie für das 
Gesamtgebiet der Psychologie, sie sind selbst für den von Interesse, der auf einem anderen psycho¬ 
logischen Standpunkt steht und dem Autor nicht in allen Thesen zustimmen kann. Eine Reihe 
neuer Fälle werden sie auch dem Psychiater wichtig machen. 

Wilhelm Paul Schumann, Leipzig 
Vierteljahrsschrift für wiss. Philosophie, Jg. XXV, Heft 1. 

.... Hier liegt ein psychologisches Gebiet vor, wo die äußere Erfahrung für die Analyse der 
Elemente mehr leistet als die innere Erfahrung. Dem Arzte, der für psychologische Erörterungen 
Interesse hat — und welcher Arzt sollte es nicht haben — kann das gutgeschriebene Buch nur 
empfohlen werden. R. A. 

Praeer Medizinische Wochenschrift Jg. 1901 Nr. 2. 


Einführung in die Erkenntnistheorie 

Eine Auseinandersetzung mit dem Positivismus 
und dem erkenntnistheoretischen Idealismus 
V, 330 Seiten, gr. 8. M. 6.—, io Leinen geb. M. 7.— 

Nach einer Darstellung der antiken und modernen erkenntnistheoretischen Skepsis werden 
die Fragen nach der Allgemeingültigkeit, Leistungsfähigkeit, Verifikation des Denkens, nach der 
Bedeutung des unmittelbaren BcwuUtseins, nach der Realität einer transzendenten Außenwelt 
und des loh systematisch entwickelt. In eingehender Auseinandersetzung mit dem Positivismus 
und erkenntnistheorctischen Idealismus entscheidet sich der Verfasser ftir den erkenntnis- 
theoretischen Realismus. Das Buch ist um seiner klaren Darstellung und der ausgiebigen 
Heranziehung gegnerischer Anschauungen willen sehr zu empfehlen. K. 

Zeitschrift für wiss. Theologie, «lg. f>2, Hefl 3. 


Das im besten Sinne des Wortes wissenschaftliche Werk zeichnet sich durch schmuck¬ 
lose Klarheit aus und kann zum Studium nur bestens empfohlen werden. 

Kowalewski, KmiigstefcarLiral fron 

T li c » I o l' i * <■ h fl r I, i t fl r n t u r l> o !Jf^Eft3ITV »CALIFORNIA 


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larheit aus und kann 

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Inhalt des 2. u. 3. Heltes 


Seite 


Walter Müller, Das Verhältnis der Definitionen zu den Axiomen in der 

neueren Mathematik . u •... 146 

Ludwig Rakgette, Untersuchung Uber die Psychologie des Wissenschaft 
lieben Denkens auf experimenteller Grundlage. I. Teil: Die elemen¬ 
taren Inhalte der Denkprozesse. Mit 7 Figuren im Text.169 

M. Nachmansohn, Zur Erklärung der durch Inspiration entstandenen Be- 

wußtseinserlebniBse.... 266 

Paul Feldkeller, Über BegriffbUberschiebnngen . .. .... 281 

M. Antonie Goerrig, Über. den Einfluß der Zeitdauer auf die Größen- 
Schätzung von Armbewegnngen. Mit 14 Figurenginppen (Kurven) 
im Text. ....'.. .. . . . 293 

'i i I ... ii ■■■«■-■M. — i— ■ — ...i——.——— 

Verlag Ton Wilhelm Engelmann in Leipzig. 

Theodor Lipps’ neuere Urteilslehre 

Eine Darstellung 

Von 

Dr. 0. Anschütz 

175 Seiten, gr. 8. Jt 3.20 

ARBEITSPÄDAGOGIK 

Geschichte — Kritik — Wegweisung 

Von 

Prof. Dr. Ed. Borger 

Mit 34 Figuren im Text, anf 6 Tafeln und 1 Karte 
XII n. 607 Seiten, gr. 8. Jt 17.—, in Leinen geb. Jt 18.— 

- --- -- - -- t. - -- - - - t—— 

Entwicklungsgeschichte des Bewußtseins 

(auf physiologischer Grundlage) 

Von 

Dr. med. Fr. A. Legahn 

Mit 179 Figuren im Text 
VII und 664 Seiten, gr. 8. Jt 17.00 

Wahrnehmung und Halluzination 

Von 

Prof. Dr. Wilh. Specht 

VI u. 147 Seiten, gr. 8. Ji ö.— 


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Vorliegendem Hefte liegen folgende Prospekte, anf die ich besonders 
liinweisen machte, bei: Verlag von Friedrich Cohen in Bonn: Psychologie 
des menschlichen Gefühlslebens von Gustav Stdrring; Alfred Kröner, Ver¬ 
lag in Leipzig: Die Gesellschaft. Völkerpsychologie, Band VII and VIII von 
Wilhelm Wundt; Verlagsbericht des Jahres 1916 der Firma Wilhelm Engel- 










Preis des Bandes (4 Hefte) M. 24 

MAR I i^20 


ARCHIV 


BEGRÜNDET TON E. MEUMANN 


UNTER MITWIRKUNG 


VON 

Prof. N. ACH in Königsberg, Prof. E. BECHER in Münster, 
Prof. H. HÖFFDLNG in Kopenhagen, Prof. F. KIE80YV in Turin, 
Prof. A. KIR8CHMANN in Leipzig, Prof. E. KRAEPELIN in Mün¬ 
chen, Prof. 0. KÜLPE in München-^, Prof. A. LEHMANN in Kopen¬ 
hagen, Prof. G. MARTIUS in Kiel, Prof. A. MESSER in (Hessen, 
Prof. G. 8TÖRRING in Bonn und Prof. W. WUNDT in Leipzig 


HERAUSGEGEBEN VON 


W. WIRTH 

A. O. PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT LEIPZIG 


XXXVI. BAND, 4. HEIT 

MIT 9 FIGUREN IM TEXT 


LEIPZIG 


VERLAG VON WILHELM ENGELMANN 


oogie 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA 


Ausgegeben am 27. März 1917 




Bemerkungen für die Mitarbeiter. 


1. Das Archiv erscheint in Heften, deren je vier einen Band von 
36 Bogen bilden. 

2. Sämtliche Handschriften sind drnckfertig an Prof. Dr. W. Wirtb 
Leipzig, Haydnstraße 6 111 , einzuliefern; größere Änderungen im 
Satz sind unzulässig. Die Veröffentlichung geschieht in der Reihen¬ 
folge des Eingangs, jedoch bleiben Änderungen Vorbehalten. 

3. Zeichnungen sind auf besonderen Blättern zu liefern; außer¬ 
gewöhnliche Anforderungen an die Herstellung der Abbildungen 
bedingen vorherige Vereinbarung; dies gilt auch für größere und 
schwierige Tabellen. — Alle Tafel-Beigaben können nur auf 
Kosten der Verfasser hergestellt werden. 

4. Honoriert werden die Abhandlungen nar bis zu drei Bogen, 
und zwar während des Krieges mit Jl 20. — für den Druckbogen. 
Die Honorare gelangen beim Schloß eines Bandes zur Anszahlnng. 
Alle Kosten für Satz, Druck, Papier, Korrekturen usw. 
von Abhandlungen sind, soweit sie den Umfang von fünf 
Bogen Überschreiten, von den Verfassern selbst zn tragen. 

Dissertationen sind von der Honorierung ansgeschlossen. 

5.40 Sonderdrucke der Abhandlungen werden unberechnet ge¬ 
liefert, weitere gegen Berechnung. 

6. Korrekturen sind umgehend zu erledigen und an die Verlags¬ 
buchhandlung (ohne die Handschrift) zurQckznsenden. Die 
Verlagsbuchhandlung trägt Korrekturkosten nnr bis zu einem 
Durchschnittsbetrag von Jl 6.— für den Druckbogen. 

Änderungen des Aufenthalts sind der Verlagshandlung sofort 
mitzuteilen. . 

7. Die Orthographie ist die in Deutschland, Österreich und der 
•Schweiz amtlich eingefllhrte (s. Duden, Rechtschreibung, 9. Auf¬ 
lage, Leipzig 1915). 

Herausgeber und Verlagsbuchhandlung. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 

Von 

Dr. A. Hertz (Warschau). 


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Die Geschichte der Schrift muß mit der Definition des Schrift¬ 
stückes beginnen. Die genaue Kenntnis der greifbaren Manifesta¬ 
tionen derselben ist notwendig, um sie in allen Stadien ihrer Ent¬ 
wicklung zu erkennen und zu beschreiben. 

Diese Definition können wir nur von den mehr oder minder 
fertigen Schriften, die uns geläufig sind, ableiten, wobei wir alles 
vermeiden müssen, was, unserer Erfahrung nach, sieb im Laufe der 
Zeit als veränderlich erwiesen hat. 

Das ist: 

1) die Form und das Wesen der einzelnen Zeichen, 

2) die verschiedenen Nutzanwendungen der Schrift, ihre ur¬ 
sprüngliche und unmittelbare Nutzanwendung wird sich aus 
der Definition ergeben und uns als Kriterium dienen. 

Bei diesen Einschränkungen lautet die Definition eines Schrift¬ 
stückes *. 

Ein Schriftstück ist eine Sammlung von haltbar ausgeführten 
Zeichen, die in jedem, der lesen kann, die Vorstellung von ganz be¬ 
stimmten, diesen Zeichen genau entsprechenden Sprachwerten her¬ 
vorruft. -; 

Lesen kann nur der, welcher die Zeichen und die Sprache, 
für die sie verwendet worden sind, kennt. 

Aus dieser Definition ergibt sich, daß die ursprüngliche und un¬ 
mittelbare Nutzanwendung der Schrift die ist, bestimmte Sprach- 
werte ihrem genauen Wortlaut nach zu fixieren. 

Ich will zunächst einige Beispiele primitivster Schriftstücke an¬ 
führen und versuchen, soweit es mir das wahllos zusammengestellte 
und schlecht interpretierte Material erlaubt, die Entstehung und die 
Entwicklung der Schrift in ihren Anfängen zu demonstrieren. Das 
ist notwendig, um das Entstehen und die Entwicklung der ägyp¬ 
tischen Schrift verständlich zu machen. Die ägyptischen Hiero- 

Archir für Psychologie. XXXVI. 24 


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360 


A. Herta, 


glyphen kommen allein hier in Betracht, nicht nur weil unser Alphabet 
von ihnen abstammt, sondern auch, weil sie die einzige fertige Schrift 
sind, von der wir mit Sicherheit behaupten können, daß sie selbständig 
entstanden ist. 

Da die ersten Manifestationen der ägyptischen Schrift, die wir 
kennen, schon eine gewisse Höhe der Entwicklung verraten, so werde 
ich zunächst noch die Maya-Schrift untersuchen, deren einfachere 
Verhältnisse ihren Werdegang deutlich vor unsere Augen führen. 

Der zweite Teil dieses Artikels wird den Lehnschriften gewidmet 
sein, sowohl denen, deren Ursprung wir kennen, wie auch denen, 
deren Entstehung uns dunkel ist, aber die ihrem Charakter zufolge 
als Lehnschriften betrachtet werden müssen. 

Da die ägyptische Schrift eine Bilderschrift ist, so scheiden von 
vorneherein aus dieser Untersuchung alle Schriften aus, in denen 
etwas anderes als ein Bild zur Fixierung sprachlicher Werte gebraucht 
wird, also z. B. die peruanischen quippos (geknotete Schnüre) oder 
die durchlöcherten Bretter, an denen die Jugend der Maori die Namen 
ihrer Vorfahren lernte. Übrigens kommt dergleichen nicht allzuoft 
vor und scheint nicht entwicklungsfähig zu sein. Das Natürlichste 
und Häufigste ist die Verwendung des Bildes zur Schrift. 

Das Bild eines Gegenstandes oder eines Menschen ruft die Vor¬ 
stellung des Namens dieses Gegenstandes oder Menschen ohne weiteres 
hervor. 

Damit kann man aber noch nicht schreiben. Die Schrift erstrebt 
immer die Wiedergabe von Sätzen oder von Wortgruppen, die, ohne 
ein eigentlicher Satz zu sein, doch eng miteinander verbunden sind, 
wie z. B. ein Rektum mit seinem Regens, ein Titel, Gegenstände mit 
Zahlen usw. 

Werden solche Sprachwerte durch ein Zeichen oder eine Zeichen¬ 
gruppe, die ein unzertrennliches Ganzes bildet, ausgedrückt, so werde 
ich diese Schrift als Satzschrift bezeichnen und die Zeichengruppe 
Satzzeichen nennen, nach einem von Carl Meinhof geprägten, aber 
nicht ganz zweckmäßig gebrauchten Ausdruck. Wird dagegen ein 
Satz oder eine ein Ganzes bildende Wortgruppe durch Zeichen ge¬ 
schrieben, die einzelnen Worten entsprechen, selbst wenn nicht 
alle Worte des Satzes oder der Wortgruppe zum Ausdruck kommen, 
so werde ich nach alter Terminologie von Wortschrift und Wort¬ 
zeichen sprechen. Die Aufgabe dieses Artikels soll es sein, die Ent¬ 
stehung der Wortschrift zu demonstrieren, d. h. den Weg zu zeigen, 
auf dem man schließlich dazu gekommen war, einen Satz durch 
Zeichen zu schreiben, von denen jedes einem Wort entspricht. Wie 


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Ein Beitrag znr Entwicklung der Schrift 


361 


die Zerlegung des Wortes in seine lautlichen Bestandteile zustande 
kam, findet der Leser, der sich für diese Frage interessiert, mit ge¬ 
nügender Sicherheit bei Sethe »Zur Reform der ägyptischen Schrift- 
lehre« (Zeitschrift für Ägyptologie 1908) und bei Er man, Ägyp¬ 
tische Grammatik, 3. Auflage, dargestellt. 

Die wirklichen Verhältnisse liegen vielleicht etwas komplizierter, 
als sie Professor Sethe und Professor Erman beschreiben, aber es 
handelt sich nur um Einzelheiten, für die in einer allgemeinen Unter¬ 
suchung kein Platz ist. 

Über die Entstehung des phönizischen Alphabets werde ich bei 
den Lehnschriften einige Bemerkungen anbringen. Eine richtige 
Deutung dieser Erscheinung haben bereits Professor Lehmann- 
Haupt und neuerdings auch Professor Schäfer gegeben und der 
letzte Schritt zu unserer Schreibmethode, das Einführen der Vokale, 
ist für jeden, der das phönizische und griechische Alphabet kennt, 
ohne weiteres verständlich. 

Im allgemeinen spielt bei primitiven Völkern die bildliche Dar¬ 
stellung die Rolle, welche bei uns die Schrift spielt, sie wird überall 
da verwendet, wo eine Übermittelung von Sprachwerten durch 
Zeichen wünschenswert erscheint, z. B. bei dem Erzählen von Er¬ 
eignissen oder bei brieflichen Mitteilungen. 

Von der Schrift unterscheidet sie sich ganz wesentlich durch zwei 
Eigenschaften: 

1) Sie übermittelt die Sprach werte nicht genau und überläßt 
ihre Fassung bis zu einem gewissen Grade der Willkür des Betrachters. 

2) Sie ist, wenn gut ausgeführt, allen ohne weiteres verständlich, 
während die Schrift gelernt werden muß, da in ihr, wenn wir von den 
Bildern der Gegenstände absehen, die Zeichen im größeren oder 
kleineren Maße von der Willkür des Schrifterfinders abhängig sind 1 ) 


1) Vor allem das Zeichen für das Verbum. Es wird auch meistens bei den 
verschiedenen Wortschriften verschieden ansgedrückt. Nehmen wir %. B. 
häufig vorkommende Verba bei Sumeriem und Ägyptern: 
gehen: 

J\ ägyptisch, 



sumerisch. 


trinken: 



ägyptisch (vgl. das Determinativ in den Pyramidentexten) 



sumerisch (der Kopf mit dem Zeichen für Wasser). 

24* 


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362 A. Hertz, 

und von einem des Lesens Unkundigen nur ungefähr geraten werden 
können. 

Das Streben der bildlichen Darstellung geht darauf hinaus, mög¬ 
lichst allgemein verständlich zu sein. Sie versucht z. B. ein Ereignis 
in seinen verschiedenen Phasen abzubilden (fortlaufende Illustra¬ 
tionen), die Details zu mehren, Bie greift schließlich zu analogen Vor¬ 
gängen, um deutlicher zu werden; eine wörtliche Wiedergabe des 
Satzes erreicht sie dadurch nie. Sie ist keine Schrift, auch nicht 
eine Vorbereitung zur Schrift, sondern deren Vorläuferin, gerade so 
wie die Armbrust eine Vorläuferin der Muskete war. 

Die bildliche Szene ist also älter als die Schrift. Die Fähigkeit, 
Menschen, Tiere und Gegenstände in ihren gegenseitigen Verhält¬ 
nissen mehr oder minder wahrheitsgetreu darzustellen, erscheint bei 
gewissen Völkern schon auf einer sehr tiefen Kulturstufe, dagegen 
ist das Bedürfnis der genauen Wiedergabe sprachlicher Werte mit 
einer komplizierten Lebensweise und einer fortgeschrittenen Staats¬ 
ordnung verbunden. Wenn bei primitiven Völkern etwas wie Schrift 
erscheint, so handelt e3 sich immer nur um eine Anwendung auf ganz 
beschränktem Gebiete, in äußerst ungeschickten Formen. Charak¬ 
teristisch ist e3, daß in diesen Fällen weder ein Fortschritt, noch eine 
Erweiterung de3 Schriftgebrauches versucht wird. 

So erzählt Carl Meinhof 1 ) z. B., daß im Togo viel gebrauchte 
Sprichwörter durch Bilder ausgedrückt werden, z. B. 

rrflll 

| Nadel und Tuch für »die Nadel näht ein großes Tuch«. 

Diese Sprichwörterschrift steht ganz vereinzelt da, häufiger finden 
wir Zaubersprüche auf ähnliche Weise notiert. Wir kennen der¬ 
gleichen bei den Lappen, Eweleuten und Ojibwa-Indianem. 

Die Zauberlieder der Ojibwa Midewins (Medizinmänner) wurden 
von Dr. J. W. Hof mann gesammelt. Es sind Lieder, von denen 
jeder Vers durch ein Satzzeichen ausgedrückt wird, und die bei Ge¬ 
legenheit der Annahme neuer Mitglieder in diese Geheimgesellschaft 
gesungen wurden. Die Bilder sind recht primitiv, die Worte archaisch 

1) Carl Meinhof, »Zur Entwicklung der Schrift« (Z. Ä. 1911). Das zweite 
in diesem Artikel angeführte Beispiel für Schrift, die Gerichtssprache ans dem 
Kongo, sind meiner Definition naoh wahrscheinlich nioht als Schrift, sondern 
als primitive bildliche Szenen aufzufassen. 

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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


363 


und oft den Singenden nicht mehr verständlich. Ich betone diesen 
Punkt, um zu zeigen, daß hier der eigentliche Sprachwert des Zeichens 
hinter dem Lautwert zurücktritt. 

Wie die Mide-Lieder entstanden sind, fand der Materialsammler 
überflüssig zu erforschen. Trotzdem die Mide-Lieder, nach ihren 
archaischen Sprachformen zu urteilen, schon sehr lange im Gebrauche 
sind, können wir keinen Fortschritt konstatieren: es werden immer 
dieselben sehr primitiven Satzzeichen angewendet. 

Europäischem Einflüsse müssen wir es zuschreiben, wenn die 
nordamerikanischen Indianer Winternamen zu chronologischen 
Zwecken notieren oder Eigennamen schreiben. Da aber nur der 
Anstoß zur Schrift, nicht die Schrift selbst auf fremden Ein¬ 
fluß zurückzuführen ist, so will ich hier die Winterzählungen 
der Dakota und die geschriebenen Eigennamen, die wir bei allen 
Indianerstämmen Nordamerikas finden, in kurzen Worten be¬ 
schreiben. 

Die Winterzählungen der Dakota sind eine Sammlung von Namen, 
die man Wintern gibt und die man aus irgend einem speziell charak¬ 
teristischen Ereignis ableitet. 

Da es Namen und nicht Eintragungen von historisch wichtigen 
Tatsachen sind, so mußte ihr Wortlaut gerade so genau wiederholt 
werden, wie bei Personennamen. 

Garrick Mallery hat uns glücklicheiweise beschrieben, wie 
ein derartiges Schriftstück entsteht. (Garrick Mallery, »Picture 
Wirting of the Nordamerican Indians« S. 266 .) 

Ein mit der Ausführung von Winterzählungen betrauter Dakota- 
Indianer, Schunka Ischnala (Einsamer Hund), erzählte, daß er zuerst 
mit den alten Männern seines Stammes einen Namen für den Winter 
wählte und sich dann mit ihnen beriet, wie man denselben am besten 
ausdrücken könnte. Wurde die Form des Namens festgestellt, so 
zeichnete ihn der Einsame Hund auf eine Büffelhaut, auf der alle 
früheren Winternamen eingetragen waren, und zeigte das Bild bei 
passender Gelegenheit seinen Volksgenossen, damit sie sich den neuen 
Namen genau einprägten. Erwachsene Dakota-Indianer, denen man 
ein Faksimile der Winterzählungen vorzeigte, erkannten und lasen 
einen großen Teil der Winternamen, sie erinnerten sich natürlich 
hauptsächlich der Jahre, in denen besondere Ereignisse ihres eignen 
Lebens stattgefunden hatten. 

Wir haben hier ein schönes Beispiel, wie eine primitive 
Schrift entsteht und wie sie zu dem Bewußtsein des Volkes ge¬ 
bracht wird. 

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364 


A. Hertz, 

Theoretisch kann man sich eigentlich innerhalb eines größeren 
Verbandes die einheitliche Entwicklung einer Schrift gar nicht vor* 
stellen, ohne eine Institution, die das Alte aufbewahrt und das Neue, 
wenn nicht selbst schafft, so doch annimmt und durch ihre Autorität 
sanktioniert. 

Was die Formen der einzelnen Winternamen anbetrifft, so 
überwiegt das Bedürfnis, den ganzen Satz durch ein einziges 
Zeichen auszudrücken. Man benutzt dazu eine bildliche Szene, 
die einen dem Satz entsprechenden Vorgang darstellt. Z. B. 

heißt in Übersetzung: Le Beau (ein Weißer) 
tötete einen anderen Weißen, Kermel (Garrick 
Mallery, a. a. 0., S. 279, Ab. 216, Jahr 1831—32 
Winterzählung des Einsamen Hundes). 

Die menschlichen Gestalten werden oft abgekürzt. 

Neben diesen Satzzeichen erscheinen auch Sätze, bei denen 
man sich begnügt hat, nur ein Wort im Satze auszudrücken. 
Das geschieht regelmäßig da, wo die Darstellung einer bild¬ 
lichen Szene mit ernsten Schwierigkeiten verbunden wäre, z. B. 

Eine mexikanische Decke, für: Die Dakota kauften 
mexikanische Decken von John Richard, der viele 
Wagen davon bei den Mexikanern kaufte. (Garrick 
Mallery, S. 569, Ab. 809. Wolkenschilds Winter¬ 
zählung 1858—59.) Das einzelne, hier ausgedrückte 
Wort soll den ganzen Satz in Erinnerung rufen. Man 
muß zugeben, daß als mnemotechnisches Hilfs¬ 
mittel die andere Methode vorzuziehen war; diese 
primitive Wortschrift, wie wir sie nennen wollen, 
wird nur gebraucht, weil der Einsame Hund nicht 
gut genug zeichnen konnte, um für den erwähnten Satz eine 
bildliche Szene zu komponieren. 

In dieser Beschränkung der Fähigkeit, jeden Satz durch eine 
bildliche Szene darzustellen, liegt aber der Anstoß zum Fort¬ 
schritt. Mit der Zeit vergrößert man die Zahl der Worte, die 
durch Bilder ausgedrückt werden, und in einer der Winterzählungen 
finden wir diesen schon ganz gut mit Wortzeichen geschriebenen Satz: 





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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


365 



Der Namen * Böser Bär«. 



Magen mit zusammengezogenen Gedärmen für das Wort: 
»sterben«. 



Indianischer Schlitten für: »Jagd«. 



Der Büffel. 

(Battista’s Good Winterzählung Jahr 1853—54. 

Mallery, S. 324, Ab. 410.) 


Garrick 


Battista Good, dem wir diesen schönen Satz verdanken, konnte 
englisch schreiben. Wer weiß daher, ob dieser Fortschritt so ganz 
selbständig erzielt worden ist. 

Im allgemeinen zeigt die Schrift der Winterzählungen nur geringe 
Fortschritte, trotz ihres fast 200jährigen Bestehens. 

Außer den bereits erwähnten Ansätzen zur Wortschrift können 
wir eine gewisse Neigung zum Ordnen der Schrift feststellen, man 
beginnt ähnliche Sätze mit ähnlichen Zeichen auszudrücken, so z. B. 
wird ein Friedensschluß zwischen zwei Stämmen immer durch das 
Bild zweier feindlicher Krieger, die sich die Hand reichen, dargestellt. 
Früher nannte man dergleichen die Konventionalisierung der Schrift. 
Der Ausdruck ist natürlich falsch: eine Schrift ist nach allem, was ich 
bis jetzt gesagt habe, vom ersten Augenblick ihres Entstehens kon¬ 
ventionell, was hier vorliegt, ist nur ein Ordnen der Zeichen. Ich 
werde von nun an derartige Zeichen eingeordnet nennen. 

Auch Zeichen für einzelne Wörter werden eingeordnet, so z. B. 
wird das Wort »sterben« in Battista Goods Winterzählung immer 
durch das oben bereits dargestellte Zeichen für Magen mit zusam¬ 
mengezogenen Gedärmen ausgedrückt. 


Da viele von den Indianerstämmen noch jetzt ihre Eigennamen 
im täglichen Gebrauch nicht verwenden und sogar nur ungern sie 
dem Fragenden verraten, so kann das Schreiben derselben nur durch 
langes Zusammenleben mit den Europäern und durch die Anforderung 
des modernen Staates verursacht worden sein. 

Und tatsächlich sind die hauptsächlichen Quellen für indianische 
Eigennamen: 


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366 


A. Horts, 


1) Eine Liste von Anhängern, die ein Dakotahäuptling im Jahre 
1884 nach Washington sandte, um die offizielle Anerkennung, 
die ihm versagt war, zu erlangen. 

Dieselben Namen erscheinen auf einer Sammelliste, deren 
Ertrag zur Publikation einer Zeitschrift verwendet werden 
sollte. 

2) Eine Liste von Anhängern, die ein Oglalahäuptling dem Agenten 
der nordamerikanischen Staaten im Jahre 1883 überreichte. 
(Oglala Röster.) 

3) Die schon erwähnten Winterzählungen. 

Wir sehen deutlich, daß die Indianer, sich selbst überlassen, ihre 
Namen nicht geschrieben hätten, sie schreiben sie aber in einer pri¬ 
mitiven Weise, in der man keinen Einfluß unserer Schreibmethode 
nachweisen kann. 


Der Eigenname eines Mannes wird sowohl in der Schrift wie im 
Bilde über oder neben seinem Kopfe angebracht und durch Linien 
mit demselben verbunden. Die Eigennamen, die aus einem Satz 
bestehen, drücken die Indianer durch Satzzeichen aus, Tiernamen 
durch das Bild des entsprechenden Tieres, die Stammnamen durch 
bestimmte Zeichen, die nicht immer auf ein Bild zurückzugehen 
scheinen. So das Zeichen für Asiboin bei Battista Good (Garrick 
Mallery, S. 295). 

Es wird versucht, auch europäische Namen zu schreiben. Ein 
Beispiel, das besonders lehrreich ist, will ich hier anführen. Es 
ist der Name des Generals Maynadier, der wegen der Klangähn¬ 
lichkeit mit den englischen Worten »many deer « auf folgende 
Weise geschrieben wurde. (Garrick Mallery, S. 596, Abb. 919.) 



Da haben wir die berühmte Übertragung des 
Bildes, mit dem ein Wort geschrieben wird, auf 6ein 
Homophon, die pompös »Einführung des phonetischen 
Prinzips in die Schrift« genannt wird. 

Es ist etwas sehr Nahehegendes und Natürliches, 
wenn man gezwungen ist, Wörter zu schreiben, die 


sich durch ein Bild nicht ausdrücken lassen. 


Ich möchte noch auf die geringe Zahl der Schriftstücke und ihren 
einseitigen Gebrauch aufmerksam machen. Beides erklärt sich voll¬ 
kommen aus dem primitiven Zustand derselben. Der Gedanke an 
eine neue Nutzanwendung einer Erfindung entsteht allmählich bei 
einer langsamen und wenig fühlbaren Vervollkommnung im täglichen 
Gebrauch, er spornt den Menschen zu einer Ausarbeitung seines 
ursprüngüc hen Werkzeuges an, um es den Anforderungen des neuen 


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367 


Ein Beitrag sor Entwicklung der Schrift.^ 

Bedürfnisses anzupassen, wobei die Änderung mehr oder minder ein¬ 
schneidend wirken kann. Dieser Vorgang wiederholt sich in der 
Geschichte jeder Erfindung viele Male, und so ist es auch bei dem 
Entstehen der Schrift zugegangen. 

Die Schrift der nordamerikanischen Indianer befindet sich in 
einem primitiven Stadium der Entwicklung, wird daher nur für 
wenige Zwecke benutzt. Sie eignet sich z. B. keinesfalls zum Nach¬ 
richten geben oder zur Darstellung von Kriegs- und Jagdabenteuern. 
Dazu benutzen die Indianer die mehr oder minder geschickt aus- 
gefübrte bildliche Szene, manchmal sogar fortlaufende Illustrationen. 

Ich glaube, daß das Gesagte genügen wird, um ein Bild primitiver 
Schriften in primitiven Kulturen zu geben. Eine Vergrößerung des 
Materials würde nichts Neues und Interessantes liefern, wäre vielleicht 
auch nicht leicht zu beschaffen, da die überwiegende Mehrzahl der 
Völker der Erde wohl künstlerische Darstellungen, nicht aber eine 
eigene Schrift besitzt. 

Wir haben heutzutage übrigens nicht mehr Aussicht, die Ent¬ 
stehung einer Schrift zu erleben. Lange ehe ein Volk die Kulturhöhe 
erreicht hat, bei der man die normale Entwicklung einer Schrift zu 
erwarten hat, dringt direkt oder indirekt das europäische eventuell 
das arabische Alphabet ein. Diesen gut ausgebildeten Schreib¬ 
methoden müssen die schwachen eigenen Ansätze zur Schrift, wenn 
sie überhaupt vorhanden sind, weichen, gerade so, wie überall die 
einheimischen Pfeile und Keulen durch das Schießgewehr verdrängt 
werden. 

Im Altertum war es nicht anders; ich erinnere nur an den Triumph¬ 
zug des kanaanäi sehen Alphabetes durch die ganze Welt. Noch 
früher sind es die ägyptische und vor allem die babylonische Schrift, 
die neue Schreibmethoden ins Leben riefen. Ich habe aber gute 
Gründe, die ich am Ende dieses Artikels anführen werde, auch die 
Keilschrift als eine Entlehnung aus Ägypten zu betrachten. 

So bleiben uns dazu, die Entstehung der Schrift zu demonstrieren, 
nur die Hieroglyphen der Maya und der Ägypter, die ich nun be¬ 
schreiben will. 

Die Schrift der Maya. 

Die Kultur der Maya ist, wie Professor Seler scharfsinnig nach¬ 
gewiesen hat, aus der mexikanischen entlehnt und ihre Schrift nur 
eine Weiterentwicklung der mexikanischen, die wir denn auch zu¬ 
nächst untersuchen wollen. 

Die Chroniken der Mexikaner beginnen oft mit ausführlichen 

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A. Horts, 


fortlaufenden Illustrationen, die das Zuwandem der Azteken nach 
Mexiko erzählen, dann folgen die einzelnen Jahre, deren Datierung 
aus einer Kombination des Namens des Neujahrstages, der ihm im 
Monat zukommt, und seiner Ordnungszahl in der dreizehntägigen 
Woche abgeleitet wird. 

Die wichtigsten Ereignisse sind an den entsprechenden Jahren 
notiert. Ob es sich hier um eine Satzschrift oder um bildliche Dar¬ 
stellungen handelt, ist unmöglich zu entscheiden, doch für die Frage 
der Schriftentwicklung ohne Bedeutung. 

Was wirklich geschrieben wird, sind die Eigennamen sowohl von 
Personen, wie von Ortschaften, sie befinden sich oberhalb der dar¬ 
gestellten Menschengestalten und Städte. 

Die Namen werden folgendermaßen geschrieben: 

1) Durch Satzschrift z. B. 

ymexayacatzin (das aus seinem eventuell ihrem 
Schenkel gefertigte Gesicht). 

(Seler, Abhandlungen, Bd. 1, S. 222.) 




2) Durch primitive Wortschrift z. B. 
euatlatitzin (der die Haut verbirgt. Abgebildet 
ist die Haut, eigentlich ein aus Menschenhaut 
verfertigtes Wams). 

(Seler, Abhandlungen, Bd. 1, S. 227, Ab. 145.) 

3) Durch entwickelte Wortschrift, bei der für jedes Wort ein 
Zeichen gebraucht wird. Es ist für Mexiko charakteristisch, 
daß die Wortzeichen nicht lose nebeneinander gestellt, wie in 
der ägyptischen und anderen, wahrscheinlich von ihr abgelei¬ 
teten Schriften, sondern miteinander zu einem Ganzen ver¬ 
bunden werden, z. B. 


acapayoltzin (Rohrmücke). 

(Seler, Bd. 1, S. 224, Ab. 139.) 



Hier kommt auch das Verbum zum Ausdruck, meistens in Parti- 
zipialform, was sich nur aus dem Sinn ergibt, da Verbalformen in 
dieser Schrift selbstverständlich nicht unterschieden werden. 

Da das Substantiv: Name eines Gegenstandes, eines Tieres oder 
eines Menschen durch das entsprechende Bild ausgedrückt wird, so 
liegt der Versuch nahe, auch das Verbum durch das Bild eines Gegen- 


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Ein Beitrag rar Entwicklung der Schrift 369 

Standes, oder eines in Tätigkeit begriffenen Menschen auszu¬ 
drücken. 

Man wählt daher sowohl in spontan entstandenen, wie auch in 
entlehnten Wortschriften meistens folgende Zeichen, um ein Verbum 
zu schreiben: 

a) das, womit eine Tätigkeit ausgeführt wird, sei es ein Organ 
des menschlichen Körpers, sei es ein Werkzeug. Also Auge für 
sehen (ägyptisch, sumerisch, Schrift der Bamum), Axt für 
zimmern (ägyptisch), (dasselbe Zeichen wird auch für »Zim¬ 
mermann« gebraucht); 

b) den Gegenstand, an dem die Tätigkeit geübt wird: Teller mit 
Speise für essen (Schrift der Bamum), Blutiger Kopf eines ge¬ 
opferten Menschen für opfern (Schrift der Maya); 

c) endlich den in Tätigkeit begriffenen Menschen oder einen 
Körperteil desselben. Also ein Mann, der in einen Mörser 
stößt für bauen (ägyptisch), zwei gehende Beinchen für gehen 
(ägyptisch). 

Als einen speziellen Fall will ich noch die Verbalzeichen anführen, 
die von der Gestensprache inspiriert sind, z. B. die ausgestreckten 
Arme für die Verneinung (ägyptisch, Schrift der Bamum), ein Mann 
mit der Hand am Munde für alles, was man mit dem Mund macht 
(ägyptisch). 

Auch das Verbum in den mexikanischen Eigennamen kommt nicht 
anders zum Ausdruck, also panoc (der über einen Fluß 
setzt) wird durch einen Nachen geschrieben, in dem 
Namen xipanoctzin (Seler, Bd. 1, S. 224, Ab. 136). 
nepaualli »Fasten« durch verschiedene farbige Bänder 
(dem Gebrauch entstammend, sich beim Fasten einzu¬ 
schließen) in dem Namen Ne$aualpilli (Seler, Bd. 1, 
S. 217, Ab. 117). 

4) Die Wörter werden ausgedrückt durch das Bild eines Gegen¬ 
standes mit ähnlich lautenden Namen, wie wir es schon auf 
Seite 366 bei dem Namen Maynadier gesehen haben, z. B. der 

Name Vanitzin durch das Fähnchen ^1 pani (Seler, Bd. 1, S. 207, 

Abb. 91) oder der Ortschaftsname Tetzcoco (von Tetzcolli) durch 
einen Felsen (Tetzcalli) (Seler, Bd. 1, S. 408, Abb. 6). 

Dergleichen Wortzeichen nennt man übertragen im Gegensatz 
zu dem Wortzeichen, das entweder den Gegenstand selbst oder ein 
ihm begrifflich nahestehendes Gebilde darstellt, das Ideogramm. 

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370 A. Hertz, 

Der Unterschied ist natürlich rein formell, beides drückt für den 
Lesenden ein Wort aus. 


5) Ein längerer Name wird teilweise durch ein Ideogramm, teil¬ 
weise durch ein übertragenes Zeichen geschrieben, z. B. der Name 
Quauhtitlan (Bedeutung—am Walde; Wald — quauiti aus quauhitl, 
die Postposition tlan — am, in, bei). 


t Der Wald wird durch das Bild ienes Baumes 
ausgedrückt, die Postposition tlan durch eine dop¬ 
pelte Zahnreihe, da der Zahn gleichfalls tlan heißt. 

Ähnlich wird Tollantzinco geschrieben. Be¬ 
deutung — Klein — Tollan, wobei Tollan ein Ort, 
an dem Binsen wachsen, ist. Für Tollan steht 
eineBinse, für tzin, klein, aber der Hintere — Tzintli. 


Co bedeutet in und wird nicht ausgedrückt. (Seler, Ab. 1, S. 407 


bis 408.) 


6) Endlich wird ein Name auch durch zwei übertragene Zeichen 
geschrieben, z. B. Aztlan, die Urheimat der Azteken, durch eine 
Ameise (azcatl) und tlan — Zahn. (Seler, Abhdl. 2, S. 46.) 


Wenn ich mich hier so lange bei den mexikanischen Eigennamen 
aufgehalten habe, so war es, um zu zeigen, wie gering die Zahl der 
Schriftstücke sein kann, damit ein Fortschritt erzielt wird. Gerade 
die Eigennamen, die zuerst geschrieben werden, zwingen den Schrei¬ 
benden durch die Mannigfaltigkeit ihrer Formen, immer neue Methoden 
der Schrift anzuwenden, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. 

Eine Regelmäßigkeit haben die Mexikaner nicht erreicht, nicht 
einmal eine weitgehende Einordnung der Zeichen, da ein und dasselbe 
Wort nur äußerst selten wiederholt wird. Einige Beispiele der Ein¬ 
ordnung finden wir auch hier, so wird z. B. negaualli »Fasten* immer 
durch die bereits erwähnten farbigen Bänder, und die Silbe — tlan 
durch Zähne geschrieben. 

Die Schreibung dieser Eigennamen hatte nur geringen Einfluß 
auf die Schrift der Maya ausgeübt, die ganz an die Beischriften, die 
sich in den astrologischen Werken der Azteken befinden, anknüpft. 

Die astrologischen Bücher der Mexikaner sind Darstellungen des 
gewöhnlichen 260 Tage zählenden Jahres (des Tonalamatl’s) kom¬ 
biniert mit dem Sonnenjahre von 360 + 5 Tagen und wahrscheinlich 
der Periode des scheinbaren Venusumlaufes (584 Tage). Die Tage 
sind in Reihen von 5 oder 4 eingeordnet, jeder von ihnen mit dem 
entsprechenden Namen, den er im Monat trägt, und der Zahl, die sich 
aus seiner Stellung in der dreizehntägigen Woche ergibt. Über und 



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Ein Beitrag rar Entwicklung der Schrift. 371 

unter jeder Kolumne dieser Art werden Götter abgebildet, die in 
irgend einer Beziehung zu den Tagen stehen. 

Da diese Götter in Bewegung und mit verschiedenen Attributen 
ausgeätattet erscheinen, so bedeutet das Bild mehr als den einfachen 
Namen. 

Diese Darstellungen kehren immer wieder zurück, dann variieren 
die verschiedenen Handschriften, es gibt Bilder der zwanzig Götter 
der Monatstage, Bilder von Göttern in priesterlichen Handlungen, 
Blätter, auf denen die Namen der neun Herren der Nacht erscheinen, 
Bilder, die Anspielungen auf die mexikanische- Mythologie enthalten, 
und Bilder, die sich wahrscheinlich auf astronomische Berechnungen 
beziehen usw. 

Dies alles zusammen war das Handbuch der mexikanischen 
Astrologie. 

Daß wir hier eine Satzschrift haben, dazu bestimmt nur ein mnemo¬ 
technisches Hilfsmittel zu sehen, ist wenig wahrscheinlich. Die Kom¬ 
pliziertheit und Sorgfalt der Ausführung, die Fülle der Details, die 
angestrebte Deutlichkeit des Ausdrucks, alles weist daraufhin, daß 
wir hier bildliche Darstellungen haben, die für den in die Mythologie 
und Geheimlehre der Mexikaner Eingeweihten ohne weiteres ver¬ 
ständlich waren. 

Übrigens ist die Frage für die Entwicklung der Maya-Schrift' ohne 
Bedeutung, da dieselbe sich aus Elementen entwickelt hat, von denen 
man mit Sicherheit behaupten kann, daß sie geschrieben waren und 
zwar sind das: 

1) Die Namen der 20 Tage de3 Monats. Diese Namen werden, 
wenn sie zugleich Namen lebender Tiere oder personifizierter Wesen 
sind, durch die Köpfe der entsprechenden Wesen ausgedrückt, z. B. 



Tod. 



Hund. 



Feuerstei nmesser. 


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A. Hertz, 


2) Die Zahlen, die die 13 Tage der mexikanischen Woche be¬ 
zeichnen, werden durch runde Zeichen und Striche ausgedrückt 1 )* 

3) Die Namen der neun Herren der Stunden der Nacht, der 
13 Herren des Tages und der 13 Vögel. Es sind das Gottheiten, die 
neben den Tageszeiten abgebildet werden. Die Zeichen sind über¬ 
wiegend Köpfe der Götter. 

4) Die Namen der Feste kommen auch im Kalender der Mexi¬ 
kaner vor, in manchen Fällen können wir nicht sagen, ob wir eine 
Darstellung oder ein Schriftzeichen vor uns haben, aber manchmal 
kommen nur einzelne Zeichen vor, die nichts anderes als den Namen 
des Festes ausdrücken, z. B. der Kopf des Gottes, zu dessen Ehren 
das Fest gefeiert wird, so der Kopf des Regengottes Tlaloc für das 
sechste Jahresfest Etzalqualiztli (Seler, Abhdl., Bd. 1, S. 164, Abb. 1) 
oder der Kopf des Gottes Xipe für das zweite Jahresfest Tlacaxipeua- 
liztli (Seler, Abhdl., Bd. 1, S. 169). 

Wenn wir nun die uns zugänglichen Manuskripte der Maya unter¬ 
suchen, so sehen wir, daß alle, die Dresdner, die Madrider und die 
Pariser Handschrift Tonalamatl-Darstellungen sind, aber über den. 
Bildern der Götter befindet sich nun eine Reihe von Schriftzeichen; 
nach dem mexikanischen Schriftgebrauch erwarten wir hier in erster 
Linie die Eigennamen der Götter zu finden. Und das ist wirklich 
der Fall. Diese Namen werden ganz wie die Namen der Monatstage 
und der 9 Herren der Nacht durch den Kopf des betreffenden Gottes 
ausgedrückt. Daneben kommen noch einige Zeichen vor, die, wie 
Professor Seler nachgewiesen hat, Epitheta der betreffenden Götter 
sind, und endlich ein oder zwei Zeichen, die sich auf die Tätigkeit 
beziehen, in der der Gott abgebildet ist. 

Wir können mit ziemlicher Sicherheit den Werdegang dieser 
Schrift feststellen. Man ist wahrscheinlich zunächst auf den Ge¬ 
danken gekommen, über dem Bilde des Gottes seinen Namen zu 
schreiben, wie über den Menschengestalten in den mexikanischen 
Chroniken. Man wählte als Zeichen für seinen Namen seinen Kopf, 
was in den mexikanischen Tonalamatl-Darstellungen für einige 
Götter und die Tagesnamen Gebrauch war, dann fügte man seine 
ständigen Beinamen hinzu, für die man als Zeichen, wie üblich bei 


1) In den Tributlisten und Rechnungen wird die Zahl, die geringer ist 
als 20, meistens nicht durch spezielle Zeichen geschrieben, sondern das BUd 

des Gegenstandes wiederholt (Satzsohrift). Das Zeiohen für 20 ist nj (pamitl) 

für 400 # . ■ 


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Wortschriften, Bilder von Gegenständen wählte, die irgendwie be¬ 
griffliche Beziehungen zu dem Worte, das man schreiben wollte, 
hatten. Schließlich entschloß man sich, auch das Verbum, das siob 
auf den dargestellten Vorgang bezog, durch ein Zeichen zu schreiben. 

Wir sehen hier deutlich, daß die Schrift mit dem Schreiben von 
Eigennamen begonnen hat und durch Anwendung als Beischrift nicht 
für einzelne Götter oder Menschen, sondern für ganze bildliche Szenen 
sich weiter entwickelt hat. 

Die Zeichen der Maya sind stark stilisiert und gut ausgeführt. 
Es kommen Zeichen vor, die mehr als einem Worte entsprechen, oft 
wird das Verbum mit seinem Objekt und den adverbieilen Ausdrücken 
zu einem Ganzen zusammengefaßt, so z. B. wird in der Dresdner 
Handschrift 16—17c und 17—18c und in dem Codex Troano 18—19c 
»Das Tragen eines Vogel auf den Flechten« durch ein Zeichen aus¬ 
gedrückt (Seler, Abhdl., 1, S. 396). 

Die Maya-Schrift ist überwiegend eine Wortschrift, läßt sich 
daher selbst bei genauer Kenntnis der Maya-Sprache nicht restlos 
entziffern, wir müßten schon in einem in Maya-Sprache mit lateini¬ 
schen Buchstaben geschriebenen Buche (wie es die Bücher des Chilam 
Balaam sind) dieselben Phrasen wiederfinden, um den Wert des 
einzelnen Zeichens festzustellen. 

Ich will meine Gedanken an einem Beispiel illustrieren. Der 
Todesgott wird gewöhnlich durch 2 Köpfe geschrieben, einer von 
ihnen entspricht seinem Namen, Hunhau oder Ahpuch, nach nicht 
ganz sicherer spanischer Überlieferung; wie soll man nun den zweiten 
lesen: Todesgott, Menschentöter, wie es Professor Seler wünscht, 
oder noch anders, die Zahl der verschiedenen Möglichkeiten ist sehr 
groß. Als drittes Zeichen erscheint auch der Kopf einer Eule; Was 
bedeutet er? Vielleicht den Namen des Todesgottes, wenn er in der 
Gestalt einer Eule erscheint, aber mit derselben Wahrscheinlichkeit 
könnte man darin ein Wort sehen, welches das eulenartige Wesen 
des Todesgottes charakterisiert usw. 

Was endlich die Epitheta der Götter anbetrifft, so wird man gut 
tun, überhaupt keine Vorschläge zu machen, wenn man nicht nutzlos 
herumraten will. 

Im allgemeinen kann man folgendes von der Schrift der Maya 
sagen: 

Sie besteht aus einer Anzahl von Grundzeichen, die stilisierte 
Bilder von Gegenständen sind, daneben existieren Nebenzeichen, die 
gleichfalls Bilder von Gegenständen darstellen, aber noch stärker 
stilisiert und schwerer erkennbar sind, als die Hauptzeichen. Aus der 


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A. Hertz, 


Zusammenstellung dieser beiden Gruppen werden die Zeichen für die 
verschiedenen Wörter erhalten. Es macht den Eindruck, als ob das 
Nebenelement sich an verschiedenen Stellen an das Hauptelement 
anschließen kann, ohne daß die Bedeutung des Wortes sich dadurch 
ändert. 

Etwas ähnliches kennen wir auch in Ägypten, nur daß dort die 
Zeichen nicht stilisiert sind, z. B. 

A s rdj — geben; 

0 _j> hnk — schenken; 

l—ü Jjrp — leiten; oder 
.A iw — gehen; 

Inj — bringen. 

Nehmen wir jetzt ein Beispiel aus der Schrift der Maya, das natür¬ 
lich nur ungefähr, an der Hand der Darstellungen gedeutet werden 
kann. 



Die hier folgenden Erörterungen sind auf Grund der Angaben 
von Selers Abhandlungen 1, S. 414ff. gemacht. 

Das Hauptelement eines Wort- — s ; 

Zeichens ist die geschlossene ( v ) 

Faust. Mit dem Nebenzeichen ^ ^ v 

muß es jagen oder Jäger heißen, da es am Anfang des sogenannten 
Jagdkalenders, der Bilder von Jägern darstellt, 
steht. (Codex ^f T " -v Vogel bedeutet, bo 
lo ((5/ Tro. 18—19a.) C v> J paßt diese Erklärung 1 

Da das Zeichen gut. Das Zeichen v 

soll Mann heißen, hier vielleicht eine Andeutung, daß das Substantiv 
Jäger, nicht das Verbum jagen gemeint ist. 

#*-(Opfermesser 
Mit den Nebenelementen \p /^pr-v und Mensch, 

IL* ^ andere Form) 

bedeutet unser Zeichen kasteien. 

fT - ^ f! 

Mit den Neben elementen p\ • gleichfalls kasteien. 

V ÜiiS 

Wir haben hier natürlich zwei Wörter mit synonymer Bedeutung. 



1/ U i W* 



Endlich mit den Nebenelementen 



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heißt es Krieg 
event. Kriegs¬ 
gefangener. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


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Die Frage liegt hier nahe, ob neben diesen Zusätzen, die ich be¬ 
griffliche Komplemente nennen möchte, da sie den Sinn des Wortes 
näher erläutern, auch phonetische Komplemente Vorkommen 1 ). 

Der Ausdruck phonetisches Komplement ist von den Assyrio- 
logen geprägt worden, er beziechnet die Silbe, die dem Wortzeichen 

zugefügt wird, um seine richtige Lesung zu sichern, z. B. Haupt¬ 
wert matu, sadu (Land, Berg, sumerisch kura), kann auch kaäadu 
erreichen, erobern) gelesen werden. In den assyrischen Königs¬ 
inschriften schreibt man gewöhnlich akäud — ich eroberte, 
da das Zeichen unter vielen anderen Werten auch den Silben¬ 
wert ud hat. 


Das Zeichen kann auch irsitu (Erde, Quartier einer Stadt) 

gelesen werden. Der Genitiv dieses Wortes wird fast immer 

geschrieben, wobei das zweite Zeichen die Silbe tim ist, die die Aus¬ 
sprache irsitim fixiert. 

Die Ägyptologie gebraucht die Benennung phonetisches Kom¬ 
plement nicht, da die ägyptische Schrift, wie Prof. Sethe nach¬ 
gewiesen hat, das Resultat eines Überhandnehmens der phonetischen 
Komplemente über die alten Wortzeichen ist, die in späterer Zeit 
die Rolle von Determinativen spielen. 

An und für sich kann man das Vorhandensein phonetischer Kom¬ 
plemente in der Schrift der Maya weder leugnen noch bejahen, darauf 
kann nur eine genaue Prüfung der Texte eine Antwort geben, es sind 
aber gewisse Anzeichen, die für die Existenz derselben sprechen. 

Der Bischof Landa, dem man ausgezeichnete Nachrichten über 
die Sitten, Gebräuche und einzelne Schriftzeichen der Maya ver¬ 
dankt, hinterließ auch eine Liste von Silben und Vokalzeichen, die 
seiner Ansicht nach von den Maya zum Schreiben gebraucht wurden. 

Man hatte versucht, einfach diese Werte in die vorhandenen 
Schriftzeichen einzusetzen und die Maya-Schrift, als Silbenschrift 
zu behandeln. Der Versuch mißlang glänzend Professor Seler 
wies nach, daß die überwiegende Mehrzahl der Zeichen Wortzeichen 
sind, und nun erklärte man die Landasche Liste als vollkommen 
wertlos. 

Offen gestanden finde ich diesen Schluß etwas voreilig, die An¬ 
nahme, daß in der Landaschen Liste die von den Maya als phone- 


1) Den Gedanken, daß in der Schrift der Mava auch phonetische Kom¬ 
plemente Vorkommen können, verdanke ich Fräulein Ch. Grtitsmaoher. 

25 


Archiv für Psychologie. XXXVI. 


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A. Horts, 


tische Komplemente gebrauchte Silbenzeichen 1 ) stecken, ist nicht ein¬ 
fach von der Hand zu weisen, um so mehr, als Professor Sele r selbst 
ei n Beispiel anführt, bei dem die Angaben L a n d as zu stimmen scheinen. 


Das Zeichen 



lautet 


mit dem Nebenelement 




Pek (der Himmelshund, der den Blitz trägt); 

mit dem Nebenelement rj hat es den Wert 

0 

kan-kin (Monatsname, der »die gelbe Sonne* zu lesen ist); 


mit dem Nebenelement 



lautet es aber 



cutz (der Truthahn). 


Nun hat aber das Zeichen © nach Landa den Lautwert cu, 
das Zeichen © scheint hier also ein phonetisches Komplement 
mit dem Werte cu zu sein. 


Ein Beispiel dieser Art genügt natürlich nicht, um die Richtigkeit 
der Landaschen Liste endgültig festzustellen, aber als ein Beweis 
für deren Wertlosigkeit kann es sicher nicht gelten. 

Auch das direkte Zerlegen des Wortes in seine lautlichen Bestand¬ 
teile kommt bei den Maya vor, was wir eigentlich erwarten müssen, 
da auf diese Weise bereits die mexikanischen Eigennamen geschrieben 


werden. 

Also z. B. das Wort Katun (Periode von 20 Jahren) wird durch 
einen Fisch — cai und durch eine Art Edelsteinscheibe — tun (Stein, 


Edelstein) ausgedrückt. 

Daneben darf man nicht vergessen, daß die Maya Neigung haben, 
wie ich schon oben gesagt habe, mehrere Wörter durch ein einziges 
Zeichen zu schreiben. Manchmal ist dieses Zeichen nur eine mecha¬ 
nisch zusammengesetzte Gruppe der einzelnen Wortzeichen, wie wir 
es in Mexiko bei den Namen acapayoltzin (Rohrmücke) oder Ne- 
gaualpilli (Der fastende Prinz) sahen. 


1) Die selbstverständlich auoh als Wortzeichen füngieren können. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


377 



Ein Beispiel dafür ist das Zeichen yaxkin (grüne 
Sonne), wo das obere Zeichen yax (grün), das untere 
kin (Sonne, Tag) bedeutet. 

Aber viel häufiger bilden derartige Zeichen eine 
unzertrennliche Gruppe, ein richtiges Satzzeichen, in 
dem man die einzelnen Worte nicht unterscheiden 


kann, wie wir es in dem bereits oben besprochenen Monatsnamen 
kankin gesehen haben. 

Mehr läßt sich über den Charakter der Maya-Schrift nicht 


sagen. 

Professor Sei er hat versucht, aus der Gestalt der einzelnen Zeichen 


und dem Inhalt der Darstellungen, denen sie als Beischrift dienen, 
die Bedeutung einzelner Hieroglyphen zu ergründen, und hat auch 
manches bemerkenswerte Resultat erzielt. 


Zu einer wirklichen Entzifferung der Maya-Schrift auf diesem 
Wege zu gelangen, ist natürlich nicht gut möglich. Dazu kommt 
man nur durch ein recht gründliches Studium der Maya-Sprache, 
vor allem durch eine gena;;: Durcharbeitung der in Maya-Sprache, 
aber mit lateinischen Buchstaben geschriebenen Bücher des Chilam 
Balaam, vorausgesetzt, daß in ihnen wirklich, wie Professor Sei er 
behauptet, ungefähr dasselbe dargestellt wird, wie in den obenbe¬ 
sprochenen Manuskripten. 

Durch einen Vergleich zweier verschieden geschriebener Texte, 
die dasselbe sagen, können wir selbst dann, wenn die Ausdrucks¬ 
weise nicht identisch ist, zu ganz überraschenden Resultaten 


kommen. 


Zum Schluß möchte ich noch erwähnen, daß die Maya Schrift¬ 
zeichen als wesentliche Bestandteile ihrer bildlichen Darstellungen 
gebrauchen. So kennen wir Bilder von Göttern, die auf dem Tages¬ 
zeichen caban sitzen, da dieses Zeichen die Bedeutung »unten be¬ 
findlich« und auch »Erde«, »Welt« hat, andere halten ihre Füße 


auf dem Tageszeichen cauac, das die Bedeutung »Stein«, »Gewicht« 
hat usw. 


Ich betone diese Eigentümlichkeit, weil wir sie in den ägyptischen 
bildlichen Darstellungen wiederfinden. Es ist natürlich keine Schrift, 
sondern eine Anwendung von Schriftzeichen für die bildliche Dar¬ 
stellung der Kürze und Deutlichkeit wegen. 

Das System, nach dem die Maya ihre Jahre berechnen und schrei¬ 
ben, hat Prof. Sei er glänzend dargestellt, ich verweise den Leser, 
der sich dafür interessiert, auf seine Abhandlungen Bd. 1. 


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378 


A. Hertz, 


Die ägyptische Schrift. 

jjViel wichtiger und interessanter, als die Schrift der Maya, sind 
für uns die ägyptischen Hieroglyphen. 

Die ersten Proben der ägyptischen Schrift, die wir kennen, stammen 
aus der Zeit der Vereinigung der beiden Ägypten unter Nar-mr-Menes. 
Wir besitzen zwar von einem König Skorpion, der vielleicht nur in 
Ober-Ägypten regierte und demnach älter als Nar-mr war, ein Siegel 
und kurze Inschriften auf Gefäßen, doch eine nähere Beschreibung 
derselben ist in einer allgemein gehaltenen Arbeit nicht am Platze. 

Sowohl zur Zeit des Skorpions wie auch Nar-mr's konnten die 
Ägypter bereits etwas schreiben. Ein glücklicher Zufall hat uns 
zwei Dokumente bewahrt, die zeigen, wie weit man dazumal in der 
Schrift fortgeschritten war. 

Es sind das die Keule und Schminkpalette des oberägyptischen 
Königs Nar-mr, die er nach seinem Siege über Unter-Ägypten und 
seiner Krönung als König von Unter-Ägypten im Tempel von Hiera- 
konpolis niedergelegt hatte (Quibell, Hierak. I, XXVI b und XXIX). 
Diese zwei Prachtstücke der ägyptischen Kunst sind von ganz über¬ 
raschender Sicherheit der Komposition und der Zeichnung. Sie 
stellen Szenen aus der Krönung de3 Königs dar und unterscheiden 
sich nur durch eine geringere Zahl der Details von den späteren 
Reliefs dieser Art. 

Die ägyptischen Künstler jener Zeit haben ihre ganze Geschick¬ 
lichkeit aufgeboten, um den großen Sieg würdig zu feiern. Zu einem 
Bilde dieser Art gehört aber, der ägyptischen Sitte nach, eine In¬ 
schrift, wir erwarten demnach auch von den Schreibern, daß sie uns 
den vollen Umfang ihres Könnens hier zeigen. 

Was wird also beschrieben: 

1) Der Name de3 Königs mit und ohne die sogenannte Horus- 
Cartouche. 

2) Ein Titel eines Priesters hm nuter (Diener de3 Gottes). 

3) Ein mit Buchstaben geschriebenes Wort Tt,das Prof.Ed.Meyer 
für den Veziertitel hält, und das ich als Eigennamen auffasse 1 ). 

1) Die Schreibung Tt für den Veziertitel T’, t ist in alten Texten möglich, 
doch kommt dem Manne, über dessen Haupte die Beisohrift angebracht ist, 
naoh seiner Stellung im Zuge und seiner Tracht, ohne jeden Zweifel der Priester^ 
titel sm zu. Darum wird wohl Tt nur sein Namen sein, was mir um so wahr* 
soheinlicher erscheint, als der Veziertitel in alten Zeiten sonst nioht vorkommt 
nnd man im allgemeinen eine größere Neigung zeigt, Namen ohne Titel, als 
Titel ohne Namen zu sohreiben. 


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Ein Beitrag zur Entwicklnng der Schrift. 


379 


4) Zwei Stadtnamen und ein Gaunamen. 

5) Ein Zeichen, das entweder ein Titel oder ein Eigenname ist. 

6) Auf dem Obvers das Zeichen db> (schmücken) hinter einer 
Prozession, die sonst »Umzug um die Mauer« heißt, vielleicht 
der Name des auch sonst bekannten, bei Krönungen erwähnten 
db»-Hauses, und zwei andere Gruppen, deren Erklärung vor¬ 
läufig nur 6ehr hypothetisch sein kann, die aber keine mit 
Wortschrift geschriebenen Sätze sind. 

7) Dazu kommen auf der Keule Zahlen hinzu, und zwar Zeichen 
für tausend, zehntausend, hunderttausend und unzählige 
Mengen. 

8) Das ist alles. Bilder von Menschen, Tieren und Gegenständen, 
die als Wortzeichen fungieren, lasse ich unerwähnt. 

Der Revers der Palette stellt das sogenannte »Schlagen der 
Völker« dar, der König hat mit einer Hand den Schopf des knieenden 
Feindes gefaßt, in der anderen erhebt er eine Keule. In dem Grobe 
des fünften Nachfolgers des Nar-mr, Dn’s, fand man ein Täfelchen 
mit der Abbildung einer ähnlichen Szene. Die Zeichnung ist nach¬ 
lässig ausgeführt, aber daneben steht deutlich geschrieben: »Erstes 
Mal des Schlagens des Ostens «. 

Wenn auf dem Prachtwerk des Nar-mr’s ein analoger, kleiner 
Satz fehlt, so können wir ruhig annehmen, daß man Derartiges noch 
nicht schreiben konnte. 

Ich muß hier noch zwei recht charakteristische Gruppen be¬ 
schreiben : 

1) Auf dem Revers: Der König, als Horus-Falke, hält in den 
Krallen das Ende eines Strickes, dessen anderes Ende durch 
den Nasenring eines Kopfes gezogen ist. Hinter dem Kopfe 
befinden sich sechs Lotosblätter (Lotosblatt = dem Zeichen 
für tausend). Das Ganze soll wohl heißen: Der König nahm 
sechstausend Mann gefangen. 

2) Auf dem Obvers: Der König in der Gestalt eines Stieres tritt 
auf einen nackten Feind, während er mit den Hörnern eine 
Stadt zerstört. Die Stadt ist durch ein in dieser Zeit übliches 
Schriftzeichen für Stadt und ihren natürlich geschriebenen 
Namen dargestellt. Das Bild ist ohne weiteres verständlich. 

Es liegt gar kein Grund vor, um anzunehmen, daß wir hier eine 
Satzschrift haben: es ist einfach eine Anwendung der Schriftzeichen 
zu der bildlichen Darstellung, wie wir sie bereits bei den Maya ge¬ 
sehen haben. Was man anstrebt, ist eine möglichst genaue, mög¬ 
lichst allgemein verständliche Darstellung eines Ereignisses, nicht 


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380 


A. Hertz, 


eines Satzes. Später hat man gelernt, das Ereignis zu beschreiben, 
vorläufig versucht man mit den neueingeführten Schriftzeichen eine 
größere Deutlichkeit zu erzielen. Es ist, wenn man will, ein mi߬ 
glückter Schreibversuch, der auf die Entwicklung der Schrift keinen 
Einfluß hatte. Wir finden niemals dergleichen in einem geschrie¬ 
benen Texte, während die typischen Darstellungen von Zeremonien 
bis zu den Zeiten Dn’s als Satzzeichen Verwendung finden. 

In späteren Zeiten finden wir die Anwendung der Schriftzeichen 
in den bildlichen Darstellungen fast gerade so häufig in Ägypten, 
wie bei den Maya. Z. B. ein Gott hält dem König das Schriftzeichen 
für das Wort — Leben unter die Nase, oder die Zeichen für Leben, 
Dauer und Genuß tragen hinter dem Könige Götterstandarten. 
Diese Darstellung ist, wie viele andere, nicht alt, denn sie ist deutlich 
eine Allusion an die Sitte hinter dem königlichen Namen, » mit Leben, 
Dauer, Genuß begabt« zu schreiben, eine Formel, die wir in den ältesten 
Zeiten nicht finden. 

Die Schriftstücke aus dem Grabe des Nar-mr*s zuAbydos geben 
uns keine genügende Erklärung selbst für die geringe Schreibkunst, 
die auf den hierakonpolitanischen Denkmälern zu finden ist, wir 
sind daher gezwungen, von Manuskripten zu sprechen, die wir nicht 
besitzen. 

Vor allem setzen uns die Zeichen für die hohen Zahlen: tausend, 
zehntausend, hunderttausend und unzählige Mengen in Erstaunen. 

Sie können, meiner Ansicht nach, nur von astronomischen Be¬ 
rechnungen stammen. Daß dergleichen existiert hat, zeigt uns der 
Stein von Palermo, eine Art Reichsannalen, die bis zur fünften Dynastie 
reichen und in denen die Jahresnamen der Könige der ersten und 
zweiten Dynastie verzeichnet sind. Diese Annalen umfassen sicher 
die Regierung Aha’s, de3 ersten Nachfolgers Nar-mr*s, und vielleicht 
auch noch seine eigene. 

Bei dem Tode und der Krönung des Königs wird das Datum auf 
Monat und Tag angegeben, ein Beweis, daß man genaue astronomische 
Berechnungen kannte. 

Diese Rechnungen wurden wahrscheinlich von den Priestern 
ausgeführt, ob sie dabei noch etwas anderes schrieben ab Zahlen, ist 
zweifelhaft 1 ). 

1) Die ägyptischen Priester werden wohl, da manche von den sogenannten 
Pyramidentexten auf Zeiten zurückgehen, die noch vor der Vereinigung der 
beiden Ägypten liegen, gerade so wie die Indianischen Mide-wins, eine Satz- 
Schrift besessen haben, um die Strophen der Zaubersprüche besser im Gedächt¬ 
nis behalten zu können. Ob sie dergleichen auch bei ihren astronomischen 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift 


381 


Die Namen der Städte und Gaue stammen vielleicht aus einer 
Art Tributliste. Die letzten Könige der ersten und die Könige der 
zweiten Dynastie benennen ihre Jahre nach Zählungen des Goldes 
und der Äcker, die regelmäßig jedes zweite Jahr erfolgten. Ob es 
sich um einen wirklichen Kataster oder nur um die Zählung der 
Steuern, die Gaue und Städte von ihrem unbeweglichen und beweg¬ 
lichen Besitztum zahlten, handelt, läßt sich nicht mit Sicherheit 
entscheiden. Es ist jedenfalls höchst wahrscheinlich, daß diese 
Zählungen schon längere Zeit im Gebrauch waren, ehe man sie zu 
Datierungszwecken benutzte. 

Die Eigennamen und Titel stammen von den beschriebenen Ge¬ 
fäßen und Siegeln, die wir in den Gräbern der Könige der ersten 
Dynastie gefunden haben. 

Es ist Sitte in dieser Zeit, daß man sein Eigentum markiert. Der 
gemeine Mann macht irgend ein Zeichen, das nur für ihn und seine 
nächste Umgebung verständlich ist, der König, der vornehme Hof¬ 
mann schreibt bereits seinen Namen und sogar seinen Titel. 

Ich habe oben von den beschriebenen Töpfen des Königs Skorpions 
gesprochen, dergleichen kommt auch in den Gräbern der anderen 
Könige vor. 

An Gegenständen, die man nicht beschreiben konnte, z. B. an 
Halsbändern, befestigte man Etiketten mit der Namensaufschrift. 

Die Gefäße werden nicht immer beschrieben, oft werden sie mit 
einer Tonkapsel verschlossen, auf der ein zylinderförmiges Siegel ab¬ 
gerollt wird. 

Im Grabe Nar-mr’s sind uns nur die Siegel mit dem Namen des 
Königs verständlich, daneben finden wir Abdrücke von Siegeln, mit 
Darstellungen, die ich nicht als Schrift zu erklären wage, da sie ziem¬ 
lich unregelmäßig zerstreute Bilder von Tieren, Vögeln, und Pflanzen 
aufweisen. Derartiges finden wir noch bei dem ersten Nachfolger 
Nar-mr's, Aha, dann kommen nur noch Siegel mit Titel und Namen 
des siegelnden Beamten, eventuell mit der Inhaltsangabe des Ge¬ 
fäßes vor. 

Das Grab des vierten Nachfolgers Nar-mr’s umgeben bereits Stein¬ 
stelen mit den Namen und Titeln seiner Hofleute und sogar seiner 
Hunde. 

Das erste, was wahrscheinlich in Ägypten geschrieben wurde, 

Berechnungen gebrauchten, läßt eioh natürlich nioht sagen. Auf die Ent¬ 
wicklung der eigentlichen ägyptischen Schrift wird diese Geheimschrift kaum 
einen Einfluß gehabt haben, so wie auch die Schrift der indianischen Eigen¬ 
namen und Winterzählungen nioht von den Mide-Liedem abhängig ist. 


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382 


A. Hertz, 


■war der Käme und Titel des Königs, dann folgten ihm die seines 

Hofes. Es ist charakteristisch für die ägyptischen Kamen jener 

Zeit, daß viele von ihnen keine redenden Kamen sind, sie haben keine 

Bedeutung und können auch durch ein übertragenes Zeichen nicht 

wiedergegeben werden. Wollte man sie schreiben, so mußte man sie 

in ihre lautlichen Bestandteile zerlegen, z. B. die Königsnamen Tj 
> 

oder Itj. Diese Wortfragmente sind, gerade wie in Mexiko, Bilder 
von Gegenständen, deren Kamen einem Teil des längeren Wortes 
entspricht. 

Bei dieser Zerlegung berücksichtigten die Ägypter gar nicht die 
Vokale und nur im geringen Maße die sogenannten schwachen Konso¬ 
nanten; es steht also das Zeichen <=> — r> — Mund, für jede 
Silbe, die ein r und keinen anderen starken Konsonanten enthält, 
ganz gleichgültig, was für Vokale und was für schwache Konsonanten 
dabei noch vorhanden sind. 

So gebraucht man das Zeichen tHOHi (Brettspiel) — mn für jedes 
Wortfragment, in dem diese beiden Buchstaben Vorkommen, ohne 
Rücksicht auf die Zahl und Einordnung der Vokale. 

Der Kürze halber spricht man bei den Hieroglyphen von Buch¬ 
staben und Doppelkonsonanten, doch sind diese Kamen nach dem 
Vorhergesagten nicht ganz zutreffend. Es sind das Zeichen für Wort¬ 
teile mit variablen Vokalen. 

Auch die Übertragung erfolgt nicht, wie in Mexiko, regellos, 
sondern das Bild eines Gegenstandes steht hier für ein Wort, das 
dieselben starken Konsonanten besitzt, wie der Name des Gegen¬ 
standes 1 ). 

Wir sahen in Mexiko, daß das Schreiben der Eigennamen genügte, 
um eine ziemlich weitgehende Entwicklung der Schrift zu erzielen. 
Dasselbe gilt von Ägypten. Bereits auf der Nar-mr-Palette ist der 


Eigenname Tt c*3 mit Buchstaben geschrieben. 


Ganz charakteristisch ist es für die ältesten Texte, daß die Ortho¬ 
graphie der Eigennamen schon die umständlichen späten Formen 
zeigt, während die Titel und Sätze noch überwiegend mit Satzzeichen, 
die Wörter durch Wortzeichen geschrieben werden. So wird der zweite 


Kamen de3 Nar-mr, Mn, durch das Zeichen 



— Mn und 


noch das ww — n ausgedrückt. 


1) Näheres bei Sethe »Zur Reform der ägyptischen Schriftlehre« (Zeit¬ 
schrift für Ägyptologie«, Bd. 45, 1908, S. 36. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


383 


Vor Dn kenne ich nur ein einziges Beispiel, daß ein anderes Wort, 
als ein Eigennamen aus Buchstaben zusammengesetzt wird, es ist 
dies df (1) — Speisen auf einem Täfelchen des Aha. 

Die Titel werden in Abydos oft mit Satzschiift geschrieben, da 
aber später die Orthographie sich änderte, so können wir sie meistens 
nicht identifizieren. Einige von ihnen haben sich aber länger gehalten. 
Dies ist z. B. der Königstitel . Er kommt in diesen frühen Texten 

nicht vor, ist aber sicher alt. Er bedeutet den Horus, der auf seinem 
Feinde, d. h. auf Set, ist. Das Zeichen unter dem Horusfalken ist 
das Stadtzeichen von Ombos, der Stadt des Set. 

Ein zweiter Titel hrj sst» (der, welcher auf dem Geheimnis ist) wird 


folgendermaßen geschrieben: 



Diese Form hielt sich nur 


bis in die dritte Dvnastie, wurde aber in saitischer Zeit wieder be- 
nutzt und kann daher jetzt gelesen werden. 

Seit den Zeiten Aha’s, des ersten Nachfolgers Nar-mr’s, erscheinen 
in den Gräbern der Könige datierte Täfelchen. 

Das Datum, das meistens durch Feste ausgedrückt wird, ist entweder 



msw Inpw (Geburt des Anubis), 


oder mit Satzzeichen geschrieben, z. B. 



Das Bild drückt wahrscheinlich ein Fest des Thot aus. 

Auch das auf dem Palermostein und später häufig vorkommende 
Zeichen 6ml twj, die Vereinigung der beiden Länder, ist ein Satz¬ 
zeichen. 

Daneben haben wir Aufzählungen von Opfern und endlich auf 
zwei Täfelchen des Aha Gruppen, die meiner Ansicht nur als ganze 
Sätze aufzufassen sind. 


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384 


A. Hertz, 


1) Es baute ein hoher Beamter die Halle (des Königs Menen) 



a) ^ws — bauen (in 
allenVerbalformen), 

b) Sr — Würdenträger, 

c) die Halle. 


a b c 

2) Es baute ein hoher Beamter das Schloß : ... 



0 kd — anderes Wort für bauen. 


a 

Die Sätze sind durch Zusätze Bildern ähnlich gemacht. 

Unter dem fünften Nachfolger Nar-mr’s, Dn, hat die Schrift schon 
starke Fortschritte gemacht. Zum letzten Mal finden wir hier auf 
einem Täfelchen eine bildliche Szene aus einem hb-sd-Feete, als 
Satzzeichen verwendet. Gleichzeitig tritt die Tendenz auf, nicht mehr 
horizontal, sondern vertikal zu schreiben. 

Der Nachfolger Dn’s, Semempses, schreibt in ganz regelmäßigen 
vertikalen Zeilen. Auf einer der Steinstelen, die sein Grab umgeben, 
finden wir zum erstenmal den Schreibertitel durch das Schreibzeug 
ausgedrückt (Petrie Flinders Royal Tombs XXXVI, 43), damit 
haben wir nun auch den Beweis, daß die Schrift unter Semempses 
mannigfache Anwendungen fand und auf weichem Material aus¬ 
geführt wurde. 


Ich habe hier in kurzen Worten die Entstehung und Entwicklung 
der Schrift in Ägypten und Yucatan dargestellt, es sind das leider 
die einzigen, deren Anfangsstadien uns bekannt und, aller Wahr¬ 
scheinlichkeit nach, die einzigen, die selbständig entstanden sind. 

Was uns in der Entwicklung der ägyptischen Hieroglyphen und 
der Schrift der Maya besonders auffällt, ist die große Ähnlichkeit, 
die sie in ihren Anfängen aufweisen. 

Sowohl in Mittel-Amerika, wie in Ägypten, beginnt die Schrift 
zur Zeit einer nicht unbeträchtlienen Kulturhöhe. Vor allem ist 
hier wie dort die bildliche Darstellung stark ausgebildet und zu allen 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 385 

möglichen Zwecken benutzt, für die man später die Schrift ver¬ 
wendet. 

Diese beginnt in beiden Fällen mit dem Schreiben von Eigen¬ 
namen und Zahlen. 

Wir haben in Mexiko gesehen, daß die Namen sehr verschieden 
geschrieben wurden: mit Satzschrift, mit primitiver Wortschrift, 
einer Wortschrift, in der jedes Wort de3 Satzes zum Ausdruck kam, 
wobei die Wortzeichen sowohl Ideogramme, wie übertragene Zeichen 
waren, und endlich mit Zeichen, die Teilen des Wortes entsprachen, 
d. h. mit Silben. 

Dieselbe Entwicklung scheint auch die Orthographie des ägyp¬ 
tischen Eigennamens durchgemacht zu haben, ehe man anfing, auch 
etwas anderes zu schreiben, denn auf der Narmer-Palette finden wir 
bereits einen mit Buchstaben geschriebenen Namen Tt. 

Die Weiterentwicklung der Maya-Schrift und der ägyptischen 
verläuft verschieden. 

In Ägypten beginnt man neben den Eigennamen auch Titel zu 
schreiben und kurz darauf die Jahresnamen. Die Schrift wurde, 
aller Wahrscheinlichkeit nach, in der königlichen Kanzlei ausge¬ 
bildet 1 ). 

In Yucatan ist der nächste Schritt das Einführen der Beischriften 
in die Tonalamatl-Darstellungen, der Träger des Fortschrittes ist 
hier also das Priesterkollegium der Maya. 

Es gibt viele recht weitgehende Unterschiede zwischen der Schrift 
Ägyptens und Yucatans, aber in einem Punkte sind sie ähnlich, 
nämlich es kommen in beiden Satzzeichen vor. 

In der Schrift der Maya, die weniger entwickelt ist, scheint ihre 
Zahl sehr groß zu sein, in Ägypten beschränkt sie sich auf ein Paar 
Titel und auf die ziemlich lang anhaltende Sitte, die Namen von 
Städten und Palästen in das Stadt- eventuell Palastzeichen hinein¬ 
zuschreiben, aber Spuren von Satzschrift sind vorhanden. 

1) Wir haben in früher Zeit nur in den Gräbern der Könige und ihrer Um¬ 
gebung beschriebene Gegenstände. Reißner und Mao6 untersuchten in 
Naga-od-der Gräberstätten, deren Bau den Beamtengräbom der zweiten Hälfte 
der ersten Dynastie und der zweiten Dynastie entspricht. In den älteren 
Gräbern findet man nur ausnahmsweise Siegel. Auch die späteren Insohriften 
sind bedeutend primitiver ausgeführt, als die Inschriften der Hofleute. Nur 
ein prachtvolles Goldsiegel aus einem reich ausgestatteten Grabe zeigt gerade 
so sohöne Schriftzeichen, wie die Insohriften von Abydos. 2—3 Zeichen, die 
wir in Naga-ed-der treffen, scheinen an Ort und Stelle gemacht zu sein, da sie 
auf den dort gefundenen Siegeln immer wiederkehren, während sie in Abydos 
gar uioht Vorkommen und auch später nicht gebraucht werden. 


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386 


A. Hertz, 


Auf einen zweiten ähnlichen Zug, die weitgehende Verwendung 
der Schriftzeichen in der bildlichen Darstellung, habe ich bereits 
hingewiesen. 

Diese Ähnlichkeit der ägyptischen Hieroglyphen und der Schrift 
der Maya beruht nicht auf Zufall, dazu sind die Völker, die sie ge¬ 
schaffen haben, zu verschieden. Außerdem ist der Charakter der 
Schriftzeichen in jedem dieser Fälle verschieden. 

Im Grunde genommen ist die Analogie zwischen der Entstehung 
der beiden Schriftsysteme etwas, was zu erwarten war. 

1) Vor allem muß man betonen, worauf ich bereits hingewiesen 
habe, daß Mexiko und Ägypten im Augenblick, wo sie zu schreiben 
anfingen, auf einer ungefähr gleichen Kulturstufe standen. Ich kann 
hier nicht auf Einzelheiten eingehen, die in dieser Untersuchung unan¬ 
gebracht wären, ich will nur auf den Umstand aufmerksam machen, daß 
beide Völker ausgezeichnet zeichnen können. Eine kurze Überlegung 
zeigt uns, daß die Anforderungen des Staates diese künstlerische Ent¬ 
wicklung bedingten: sollte z. B. eine Tribut-Liste irgend einen Wert 
haben, so mußten die in ihr auf geschriebenen Gegenstände leicht er¬ 
kennbar sein. Die Chroniken, Kontrakte oder astrologisch-mythologi¬ 
schen Werke stellten noch größere Anforderungen an die Geschicklich¬ 
keit der Künstler, da es sich nicht um einzelne Gegenstände, sondern um 
bildliche Szenen handelte. Dasselbe kulturelle Bedürfnis, das schlie߬ 
lich auf einem Umwege zur Schrift führte, liegt auch der glänzenden 
Entwicklung der mexikanischen und ägyptischen Kunst zugrunde 1 ). 

2) Auch das Schwanken zwischen Satzschrift und Wortschrift 
ist leicht verständlich. Die Satzschrift steht in der Form der bereits 
ausgearbeiteten bildlichen Szene näher und ist auch für den des 
Lesens Unkundigen verständlicher, als die Wortschrift. 

Daß Spuren davon sich noch in späteren Zeiten erhalten, ist eine 
Erscheinung, die nichts Überraschendes an sich hat. Gegenüber der 
ägyptischen Schrift empfindet man sogar Erstaunen, daß wir so 
wenig Satzzeichen antreffen. 


1) Sehr interessant ist es, daß auch Jägervölker, wie Eskimo, Indianer, 
Ostyaken usw. zeichnen können, obgleich natürlich nicht so gut, wie Azteken 
nnd Ägypter. Aach hier handelt es sich nicht am »natürliche Anlagen«, son¬ 
dern am die Befriedigung der Bedürfnisse des Verbandes, man zeichnet, am 
die za Jagdzwecken zerstreuten Stamm genossen za warnen, za Hilfe zu rufen, 
za sammeln nsw. Za einer Schrift kommt es nicht, außer unter dem Drucke- _ 
nnd dem Vorbilde eines kulturell höher stehenden Staates, wie ich es bei den 
Indianern gezeigt habe. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


387 


3) Die Anwendung der Schriftzeichen für die bildliche Darstellung 
liegt auch nahe, da sie die Komposition leichter ausführbar und 
zugleich leichter verständlich machen. 

Treffen wir nun im Altertum eine Schrift bei einem Volke, das 
nicht nur keine bildliche Szene, sondern sogar einzelne Gegenstände 
kaum zeichnen kann, zeigen seine später auftauchenden bildlichen 
Darstellungen keine Anwendung von Schriftzeichen, ist nun schlie߬ 
lich seine Schrift eine reine Wortschrift ohne Spuren von Satzzeichen, 
so liegt der Verdacht sehr nahe, daß wir es mit einer Lehnschrift zu 
tun haben. 

Um den Charakter einer unzweifelhaften Lehnschrift klar dai- 
zustellen, will ich eine von ihnen, die vor kurzem in Afrika entstanden 
ist, beschreiben. 

Der noch heute regierende König Ndzoya von Bamum, angeregt 
durch den Anblick schreibender Europäer und Haussaleute, befahl 
seinen Soldaten, eine Schrift für das Bamum zu erfinden. 

Die Schrift, die auf diese Weise entstand, ist eine reine Wort¬ 
schrift, ohne Be ; mischung von Satzzeichen. 

Zeichnen können die Bamum wahrscheinlich nicht, da die Aus¬ 
führung der einzelnen Zeichen außerordentlich schlecht ist. Das 
Bild eines Gegenstandes drückt auch seinen Namen aus, das Verbum 
schreibt man, wie bei anderen Wortschriften. Die verschiedenen 
Möglichkeiten habe ich bei der mexikanischen Schrift angeführt. 

Außerdem gebraucht das Bamum auch übertragene Zeichen, 
z. B. das Auge li für das Wort »Namen«, das gleichfalls li lautet. 
Da die meiiten Wörter einsilbig sind, so kann jedes Wort als Silbe 
fungieren, aus denen man eventuell mehrsilbige Wörter zusammen¬ 
setzt. 

Kein einziger europäischer oder arabischer Buchstabe kommt in 
der Schrift der Bamum vor, dafür aber gebrauchen sie das Siegel 
Salamonis $, das ihnen von den arabischen Talismanen her be¬ 
kannt war, als das Zeichen für die Zahl Hundert. 

Durch den Charakter ihrer Zeichen unterscheidet sich die Bamum- 
Schrift nicht im geringsten von den selbständigen Schriften, wir 
haben hier, wie dort eine Mischung von Ideogrammen und über¬ 
tragenen Zeichen und die Anwendung der Zeichen für einsilbige 
Wörter als Silbenzeichen, 

Trotzdem, selbst wenn wir den Ursprung dieser Schrift nicht 
ganz genau kennen würden, müßte in uns der Verdacht aufsteigen, 
daß wir es mit einer Lehnschrift zu tun haben, weil 

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388 


A. Hertz, 

1) die Kultur der Bamum uns nicht dazu berechtigt, eine selb¬ 
ständige Schrift bei ihnen zu erwarten. 

2) die Form der Zeichen außerordentlich roh ist und darauf hin- 
weist, daß die Bamum nicht zeichnen können. 

3) die Schrift eine reine Wortschrift ohne Spuren von Satz¬ 
schrift ist. 

4) wir die Anfangsstadien der Schrift nicht kennen. Eine große 
Anzahl von Schriftzeichen erscheint plötzlich und wird für 
Dokumente verwendet, die bei einer selbständigen Schrift erst 
nach Jahrhunderte langer Entwicklung geschrieben werden. 

Außer der Schrift der Bamum kennen wir noch die Veischrift» 
die im Jahre 1834 von Momoru Doalu Buke re erfunden ist und die 
Schrift der Cherokee, die von Sikwä’ya stammt. Beide scheinen 
Silbenschriften zu sein. 

Wenn wir jetzt von der Schrift der Bamum zu der ältesten sume¬ 
rischen Schrift übergehen, so sind wir erstaunt durch die Ähnlichkeit 
der beiden Schriftsysteme. 

Die sumerische Schrift ist eine reine Wortschrift, wobei jedes 
Zeichen das rohe Bild eines Gegenstandes ist. Manche Zeichen lassen 
sich überhaupt nicht deuten, was bei den Bamum auch vorkommt. 

Die Zeichen für die meist einsilbigenWörter werden ohne weiteres für 
mehrere Wörter und für Silben gebraucht z. B. das Zeichen »—► — mu 
bedeutet Jahr, Namen und das Verbalpräfix mu. 

Die Kultur der Sumerier ist primitiv, vor allem Bteht die Kunst 
auf einer sehr niedrigen Stufe, die Werkzeuge sind ungeschickt, die 
Keramik schmucklos. 

Eine der ältesten Inschriften aus Lagash ist eine Votiv-Ziegel 
des Urninna, die den König nebst Familie und Hof darstellt. Die 
Ausführung der Bilder kann nicht gut primitiver gedacht werden, 
die Schrift ist perfekt, selbst das Verbalpräfix fehlt nicht. 

Noch älter als die Urninna-Tafel ist aber ein kleiner runder Stein, 
an dessen Seiten zwei Züge bärtiger Männer mit kahlgeschorenen 
Anführern an der Spitze dargestellt sind. Jede Spur einer Inschrift 
fehlt. 

Wir finden also 

1) daß die sumerische Schrift plötzlich erscheint, ohne die An¬ 
fangsstadien, die wir aus Ägypten und Mexiko kennen, 

2) die Schrift perfekt ist und keine Spuren von Satzschrift auf¬ 
weist, 

3) daß die Sumerier nicht zeichnen können. 


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Ein Beitrag zur Entwicklung der Schrift. 


889 


Dieser letzte Punkt genügt eigentlich vollkommen, um die sume¬ 
rische Schrift als Lehnschrift zu charakterisieren. Jeder Erfindung 
liegt ein längst gefühltes Bedürfnis zugrunde, das man zu befriedigen 
Bucht und schließlich befriedigt. 

Wenn die Sumerier nicht zeichnen können, so haben wir dafür 
nur eine Erklärung: es lag kein zwingender Grund für die Betätigung 
ihrer künstlerischen Fähigkeiten vor, da nun die Zeichnung aber 
Vorläuferin der Schrift ist, so lag um so mehr kein zwingender Grund 
für die Erfindung der Schrift 1 ) vor, also konnten sie die Schrift nicht 
erfunden, wohl aber entlehnt haben. Da uns aber aus jener Zeit nur 
eine fertige Schrift, nämlich die ägyptische, bekannt ist, und wir 
keinen Grund haben, die Existenz irgend welcher verschollenen Kul¬ 
turen anzunehmen, so können wir die sumerische Schrift nur von der 
ägyptischen ableiten. 

Ist die Entstehung der sumerischen Schrift durch ägyptische Ein¬ 
flüsse zu erklären, so würde die Zeit der ersten sumerischen Schrift¬ 
proben frühestens in die zweite Hälfte der ersten Dynastie fallen, da 
erst dann die ägyptischen Hieroglyphen genügend ausgebildet waren, 
um anderen als Vorbild zu dienen. 

Ich messe dem Umstand keinen besonderen Wert bei, daß die 
ältesten sumerischen Schriften vertikal geschrieben sind. 

Die kretensischen und hettithchen Hieroglyphen sind durch die 
Zeit und den Ort ihxe3 Entstehens genügend als Lehnschriften charak¬ 
terisiert. 

Ob die chinesische Schrift als selbständig entstanden zu be¬ 
trachten ist, weiß ich nicht. Jedenfalls kennen wir ihre Anfangs¬ 
stadien nicht, was immer verdächtig erscheint. 

Zum Schluß möchte ich noch ein paar Worte über das phönizische 
Alphabet sagen. Daß es unter dem Einflüsse der ägyptischen Hiero¬ 
glyphen entstanden ist, hat schon Barthelemy behauptet. 

Was damals eine phantastische Vermutung war, ist uns heute so 
gut wie Gewißheit. Der Gedanke, eine Silbe ohne Rücksicht auf die 


1) Dies könnte ich übrigens an der Hand der ältesten Dokumente aus 
Sumer direkt beweisen. Es sind das, außer der erwähnten Uminna-Tafel, 
nur noch Kontrakte zwischen Privatleuten, z. B. aus Surupak. 

Nun bedarf ein Kontrakt zwischen Privatleuten in einer kleinen Provinz¬ 
stadt nicht notwendig einer schriftlichen Fixierung. 

Dazu genügt vollkommen ein mündliches Verfahren vor Zeugen, wie es 
im Kongo bis zum heutigen Tage üblich ist. (Denett, »At the baok ot the 
black man’s mind«, S. 47ft) Die langen Listen von Zeugen in babylonischen 
Kontrakten gehen auf dieses mündliche Verfahren zurück. 


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390 


A. Hertz, Ein Beitrag znr Entwicklung der Schrift. 


in ihr vorkommenden Vokale immer mit demselben Zeichen zu 
schreiben, wenn der Konsonant derselbe bleibt, ist zu unpraktisch, 
um nicht einem seit Jahrhunderten eingeführten und eingebürgerten 
Vorbilde zugeschrieben zu werden, und dieses Vorbild konnten nur die 
ägyptischen Hieroglyphen sein, da alle anderen Schriften jener Zeit 
Silbenschriften mit speziellen Zeichen für Vokale sind. 

Was nun die Form der Buchstaben anbetrifft, so hat man bis jetzt 
der Frage, woher sie stammen, einen zu großen Wert zugeschrieben. 

ßchriftzeichen werden immer von Schrifterfindem ausgedacht, 
ob diese sich nun durch Bilder von Gegenständen inspirieren oder 
fremde Formen übernehmen, oder endlich irgend welche bedeutungs¬ 
lose Zeichen machen, ist vollkommen belanglos, möglich sind bei 
einer hoch entwickelten Schrift alle drei Methoden, man vergleiche 
nur die Schriftzeichen der Bamum, der Cherokee und der Vei. 

Was nun die Buchstaben des phönizischen Alphabetes anbetrifft, 
so scheinen sie frei erfunden zu sein, denn ähnlich klingende Buch¬ 
staben haben ähnliche Zeichen. 

=] Hd und B P Heth 
'M Mem * lf Nün 
© Teth » Xi" Täw 
^ Zäjin » ^ Qade 

Z Zäjin > h. Sämekh 
(zweite Form) 

Wann die Namen der Buchstaben entstanden sind, weiß ich nicht, 
auch nicht, ob sie sich auf die Form des einzelnen Buchstabens oder 
nur auf dessen Lautwert beziehen. Die Frage scheint mir an und für 
sich vollkommen uninteressant. Nur eins möchte ich hinzufügen: 
mit Sternen, Mondstationen und dergleichen haben die Buchstaben 
deä phönizischen Alphabets nichts zu tun. Man sucht nicht am 
Himmel, wenn man eine Rechnung oder seinen Namen unter einem 
Kontrakte schreiben will. 


(Eingegangen am 20. Joli 1914.) 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 

Von 

Heinrich Gustav' Steinmann (Bonn). 


I. 

In dem Jahrzehnt, das dem Erscheinen von Husserls Logischen 
Untersuchungen folgte, hat dieses Werk auf die philosophische Ent¬ 
wicklung in Deutschland einen Einfluß geübt, wie kaum ein zweites. 
Einmal hat sich ein Kreis von Männern um den Autor gesammelt, 
die in seinem Sinne Phänomenologie treiben wollen. Aber wichtiger 
als das erscheint die Tatsache, daß selbst von den ihm fernerstehenden 
philosophischen Richtungen sich kaum eine dem Einfluß dieses Buches 
hat entziehen können. Das bedeutete freilich durchaus nicht allge¬ 
meine Zustimmung; mancher Widerspruch, vielfacher Zweifel wurde 
laut, besonders aber der Wunsch nach methodischer Klärung der 
Phänomenologie. All diesen Ansprüchen konnte ein kurzer Aufsatz l ) 
nicht genügen, und so geschah es, daß man unter dem Namen Phäno¬ 
menologie recht verschiedenartige Dinge guthieß oder bekämpfte 2 3 * * ). 
Man prieß die neue Richtung psychologischer Forschung, verurteilte 
einen raffiniert verkappten Psychologismus, lobte die spekulative 
Zurückhaltung, die sich mit der bloßen Beschreibung des evident 
Gegebenen begnügt, und tadelte die esoterische Methode, die auf 
einer übervernünftigen, dem gewöhnlichen Sterblichen versagten An¬ 
schauung beruhe. 

Nun hat Husserl selbst an der Spitze des Jahrbuchs, das der 
phänomenologischen Forschung dienen soll, die Grundlagen seiner 
Methode entwickelt, und zugleich einen Überblick über ihre Trag¬ 
weite gegeben 8 ). An diese Abhandlung muß sich jetzt halten, wer die 


1) Logos I, S. 289—341. 

2) Wesentlich im Sinne der späteren Erklärung hat wohl, trotz Husserls 
Widerspruch, schon damals A. Messer die Phänomenologie aufgefaßt. Arch. 
f. d. ges. PsychoL, 22, S. 117—129. 

3) Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologisohen Philo¬ 

sophie. Jahrb. für PhiL und phänom. Forschung, I, 1—323. 

Archir für Psychologie. XXXVI. 26 


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392 


Heinrioh Gustav Steinmann, 


neue Methode zur Grundlegung der Philosophie nach authentischer 
Darstellung beurteilen will. Sicherlich hat diese Arbeit manchen Zwei¬ 
fel behoben, manches Bedenken zerstreut; wir sehen jetzt die mehr 
aphoristisch gehaltenen »Logischen Untersuchungen« des 2. Bandes 
in ihrem systematischen und methodischen Rahmen. Je klarer wir 
aber das Wesen phänomenologischer Forschung erkennen, desto 
stärker müssen sich die grundsätzlichen Bedenken gegen Grundlagen 
und angebliche Tragweite dieser Forschung geltend machen. Den ran 
phänomenologischen Ergebnissen wird freilich diese Kritik nichts 
anhaben können; vor der vollendeten Tat verliert die Frage, ob sie 
möglich sei, alle Bedeutung. Mochte man nach den Logischen Unter¬ 
suchungen die Sonderberechtigung der Phänomenologie noch bezwei¬ 
feln, so ist dies jetzt wohl nicht mehr möglich; man muß zugeben, daß 
sich dieser Methode ein großer Kreis wichtiger Probleme erschließt. 
Über Einzelheiten inHusserls Beschreibungen und Klassifikationen 
kann man verschiedener Ansicht sein; daß ein weites Gebiet wissen¬ 
schaftlichen Forschens hier gesichtet und mit Erfolg angegriffen ist, 
läßt sich nicht verkennen. Selbst Elsenhans 1 ), ein radikaler Gegner 
Husserls in den theoretischen Grundfragen, würdigt doch die Aus¬ 
führung der Phänomenologie als »den energischen und mit Scharf¬ 
sinn durchgeführten Versuch, einer modernen deskriptiven Psycho¬ 
logie zuverlässige begriffliche Grundlagen und ein von der Vermischung 
mit naturwissenschaftlichen Methoden freies Verfahren zn sichern« 2 ). 

Natürlich geht der Anspruch der Phänomenologie viel weiter; 
soll sie doch, selbst unabhängig von Philosophie und Psychologie, 
beiden Wissenschaften im weitesten Maße zur Grundlage werden. 
Daß die Phänomenologie, so wie sie Husserl in den Ideen beschreibt, 
nicht »durch Abgründe von aller Psychologie getrennt« ist, zeigt 
Messer in seinem zweiten Aufsatz®) an Beispielen; er hält seine Be¬ 
hauptung, daß sie »auch Psychologie, ja deren grundlegender Teil* 
sei, aufrecht. Dagegen bekämpft er nicht den Anspruch der Phäno¬ 
menologie, Grundlage aller Philosophie zu sein und gibt sogar zu, daß 
sie eben deshalb weit über den Rahmen der deskriptiven Psychologie 
hinausgehe 4 ); doch lehnt er es ab, näher auf Umfang und Tragweite 
der Phänomenologie einzugehen®). Diese Frage wird aber äußerst 

1) Phänomenologie, Psychologie, Erkenntnistheorie. Kantstadien, XX, 
S. 224—275. 

2) Ebenda S. 263. 

3) Aroh. f. d. gea PsyohoL, XXXII, S. 32—67. 

4) a. a. 0. S. 52. 

5) a. a. 0. S. 66. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


393 


dringend, weil sie an das wichtige Problem der Beziehungen zwischen 
Philosophie und Psychologie rührt. Sie soll daher im folgenden 
wenigstens für die theoretische Philosophie behandelt werden, nach¬ 
dem zuerst an Hand von Husserls eigenen Bestimmungen fest¬ 
gestellt ist, in welchem Sinne denn die Phänomenologie mit Recht 
zur Psychologie gerechnet werden kann. 

Nach zwei ganz verschiedenen Richtungen hin sucht Husserl 
seine Phänomenologie von der empirischen Psychologie zu trennen; 
erstens durch den logischen Unterschied zwischen Wesens- und 
Tatsachenerkenntnis, zweitens durch den transzendentalen 
zwischen phänomenologischer und natürlicher Einstellung 1 ). 
Beide haben nur das gemein, daß sie uns nicht ohne weiteres vertraut 
anmuten, weshalb Husserl sie uns in einer längeren Einleitung näher 
zu bringen sucht. Im übrigen liegen sie in ganz verschiedenen Dimen¬ 
sionen und müssen auch völlig getrennt untersucht werden 2 ). Im 
ersten Falle handelt es sich um Fragen der logischen Struktur gewisser 
Erkenntnisse und Wissenschaften, über die man sich an Hand der 
voliegenden Disziplinen jedenfalls sollte einigen können. Dagegen 
berührt die Begründung des zweiten Unterschiedes erkenntnistheore¬ 
tische und schließlich letzte metaphysische Fragen; hier kann man 
wohl seine Stellung zu den einzelnen Punkten klar legen, aber eine 
allgemeine Einigung, eine letzte Entscheidung wird sich darin nicht 
von heute auf morgen herbeiführen lassen. Der fruchtbarere Gesichts¬ 
punkt ist daher offenbar der erste, für die Stellung der Phänomenologie 
wird sich aber der zweite als ausschlaggebend erweisen. 

Auch Husserl hat die logische und die erkenntnistheoretische 
Einleitung völhg von einander getrennt und in den beiden ersten Ab¬ 
schnitten der »Ideen« behandelt. Daß er selbst eine solche Einleitung 
überhaupt für nötig hält, kann natürlich noch nicht als Einwand 
gebraucht werden gegen den Anspruch der Phänomenologie, die 
Philosophie selbst zu begründen; denn was hier entwickelt wird, 
begründet nicht seinerseits die phänomenologischen Wahrheiten, 
sondern soll nur die Rechtmäßigkeit der Methode gegen Einwürfe 
sichern, die selbst von irgend einem fertigen logischen oder erkennt¬ 
nistheoretischen Standpunkt ausgehen. Der Vorwurf des Zirkels 
trifft dieses Unternehmen so wenig wie das einer Logik und Erkennt¬ 
nistheorie überhaupt. 

1) Zuerst Id. 31 eingeführt. 

2) Es scheint, daß Elsenhans in dem angeführten Aufsatz diese Trennung 
nicht immer scharf genug durchführt. 

26* 

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Heinrich Guter Stebamt, 


f 


394 


II. 

Mit klaren Worten weist Husserl auf den grundsätzlichen Unter¬ 
schied zwischen Tatsachen - und Wesens-Erkenntnis hin, und 
leitet die Begriffe Region und Kategorie ab. In diesen Ausführungen 
erinnert manches an Lask 1 ), namentlich die Abrückung der formalen 
(Lask sagt reflexiven) Region von allen materialen und die Betonung 
dessen, daß das Unterstehen materialer Kategorien unter den Bestim¬ 
mungen der formalen Region nicht so gedeutet werden darf, daß die 
formalen Kategorien die obersten Gattungen der materialen seien. 
Dieser Gesichtspunkt ist von großer Wichtigkeit gegenüber der empi- 
ristischen Kritik der Kategorienlehre 2 3 ), die nur eine Art der Unter¬ 
ordnung kennen will, die Einordnung der Umfänge in weitere Um¬ 
fänge. Durch diese reine Umfangslogik wird einerseits der Unter¬ 
schied »Generalisierung und Formalisierung«, andererseits 
auch der zwischen der eidetischen Einordnung der Spezies unter die 
Gattung usw. und dem Verhältnis zwischen röde ti und Wesen oder 
röde t i und empirischer Gattung verwischt. Gewiß haben all diese 
Beziehungen das Gemeinsame, daß ihnen Unterordnungen der Um¬ 
fänge entsprechen, so daß sich der Kalkül der formalen Logik auf sie 
anwenden läßt, aber diese Anwendbarkeit gründet jedesmal in ganz 
verschiedenen logischen Verhältnissen. 

Die formale Region scheint Las ks reflexiver Sphäre sowohl nach 
Inhalt wie nach Stellung im System ziemlich genau zu entsprechen. 
Auf sie wird im letzten Abschnitt näher einzugehen sein. Dagegen 
erweitert Husserl die Zahl der materialen Regionen bedeutend. 
Lask kennt nur drei: Sein, Gelten und Übersein. Husserl sagt aus¬ 
drücklich*) : »Jede Tatsachenwissenschaft hat wesentliche theoretische 
Fundamente in eidetischen Ontologien.« Und da jede Ontologie einer 
Region entspricht, so gibt es innerhalb der Lask sehen Seinssphäre 
eine ganze Anzahl Husserl scher Regionen. Leider wird nirgends, 
auch am Schluß nicht, eine Übersicht über die materialen Regionen 


1) Logik der Philosophie, Tübingen 1911, und Lehre vom Urteil, Tübingen 
1912. 

2) VgL neuerdings Külpe, Zur Kategorienlehre; Sitz.-Ber. der Münchener 
Akademie, 1915, 5. AbhandL S. 72 f. und S. 33, wo die Wundtsohe Auffassung 
im wesentlichen beifällig zitiert wird. Im übrigen steht die hier vertretene 
Auffassung Külpe in mancher Beziehung nahe und verdankt ihm sehr viel. 
Das jähe Schicksal, das ihn, noch kein halbes Jahr nach Lasks Tod, der Arbeit 
an seinem systematischen Hauptwerk entriß, hat damit auoh der Hoffnung 
auf Aufhellung der hier berührten Probleme einen sohworen Schlag versetzt. 

3) Id. 19. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


995 


und die »Stufenfolge der Wesenslehren« (S. 322) gegeben. Die Region 
»Ding« (die physische Natur) nimmt für alle Realitätsregionen eine 
Vorzugsstellung ein, sie steht mit ihnen in Zusammenhängen der 
Fundierung. Gemeint sind hier außer der Region des (realen) psy¬ 
chischen Seins axiologische und praktische Regionen, solche 
z. B., die Kulturgegenständlichkeiten enthalten. Diese Regionen um¬ 
fassen aber, wenigstens in den S. 318 genannten Beispielen, Realitäten, 
also nach der üblichen Terminologie Güter, nicht Werte. Es liegt 
freilich der Schluß nahe, daß eine besondere Region der Werte neben 
der der Dinge die der Güter fundiere, doch wird er von Husserl 
nirgends angedeutet. Die 3. Region Lasks, das »Übersein«, wird 
dagegen auch von Husserl jeder anderen Art von Transzendenz 
scharf gegenüber gestellt, freilich nicht nach ihrer Wesenslehre unter¬ 
sucht 1 ). 

Ein anderer Punkt aber bedarf der Klärung. Rein wesensmäßig, 
d. h. ohne Rücksicht auf Dasein und mithin unabhängig von Er¬ 
fahrung sollen die eidetischen Wissenschaften ihr Objekt auffassen. 
Hier setzt auch Elsenhans mit seiner Kritik ein. Aus den oben er¬ 
wähnten Gründen verkennt er aber den Sinn des HusserlschenTer¬ 
minus »Wesen« und dessen Beziehung zum Apriori, und geht daher 
auf die wesentlichen Momente eidetischer Forschung gar nicht ein. 
Dies ist jedoch unbedingt erforderüch, wenn man einsehen will, wie 
weit die Problematik der phänomenologischen Methode durch ihren 
eidetischen Charakter beeinflußt wird. Wenn unsere Kritik sich 
gelegentlich mit der von Elsenhans berührt, so bleibt zu beachten, 
daß es sich hier lediglich um eine logische Vorfrage handelt, daß der 
Hauptangriffspunkt nicht im eidetischen, sondern im eigentüch 
»phänomenologischen« Charakter von Husserls Lehre liegt. 

Die formale Region ist überhaupt nur eidetischer Forschung zu¬ 
gänglich, und die Apriorität der Formalwissenschaften wird daher 
keinen Einwänden begegnen. Zweifelhafter erscheint die Lage bei 
den materialen Ontotogien. Halten wir uns nur an das Beispiel, das 
am günstigsten hegt, und auf das sich Husserl fast ausschließlich 
beruft, die Ontologie der physischen Natur. Ein Zweig von ihr 
ist z. B. die Geometrie, da das Ding wesensmäßig res extensa ist. 
Husserl muß etwa so argumentieren: »einerlei ob es tatsächlich 
Körper gibt oder nicht, so liegt es jedenfalls im Wesen dessen, was 
wir Körper nennen, ein begrenztes Stück aus einer dreidimensionalen 
Mannigfaltigkeit, genannt Raum, als seinen Rauminhalt auszu- 


1) Id. 96 f. 


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396 


Heinrieh Gustav Steinm&nn, 


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schneiden. * Natürlich steht es mir frei, mir eine irgendwie konsti¬ 
tuierte Mannigfaltigkeit beliebig vieler Dimensionen auszudenken 
und ein allseitig begrenztes Stück davon irgendwie zu bezeichnen. Zu 
jeder wohldefinierten Mannigfaltigkeit gibt es dann eine rein aprio¬ 
rische Geometrie, und unter diesen wird auch die physische Geo¬ 
metrie Vorkommen. Aber wie sie herauskennen? Darauf gibt 
es zwei Antworten. Entweder man gibt zu, daß die der Physik 
zugrundeliegende Geometrie keinen wesensmäßigen Vorrang vor 
allen anderen Möglichkeiten genieße, daß ihre vorzugsweise Anwen¬ 
dung auf die Natur nur durch gewisse scharf nachzuprüfende Er¬ 
fahrungen (ja sogar: Experimente) begründet werde; oder man 
beruft sich doch wieder auf die Anschauung der reinen Wesen: Körper 
und Raum. Dieser Weg ist ungangbar, er beruht auf einer quaternio. 
Entweder man versteht nämlich unter res extensa die Erfüllung 
eines Ausschnittes einer so und so wohldefinierten Mannigfaltigkeit, 
dann ist nicht einzusehen, welchen Vorzug diese Mannigfaltigkeit 
vor irgend welchen anderen haben soll. Oder aber Körper heißt das 
individuelle Substrat der uns erscheinenden Natur. Dann läßt sich 
über seine Eigenschaften, zu denen auch die Extensität gehört, 
wesensmäßig nichts ausmachen, ehe wir nicht die Grundzüge dieses 
Wesens aus der Erfahrung kennen. Daß die Erfahrung hier eine 
legitime Stelle zwischen der Wesenserkenntnis einnimmt, hat seinen 
Grund eben im Wesen des so aufgefaßten Körpers und kann selbst 
wesensmäßig erkannt werden. Das Wesen Körper hat notwendige 
Beziehungen zum Wesen (äußere) Erfahrung. 

Will man sich demgegenüber auf die Anschauung des reinen, aber 
für die Natur dennoch notwendig gültigen Raumes berufen, so muß 
an das erinnert werden, was seit Gauß’ Tagen mit Recht gegen die 
gleiche Kan tische Ansicht vorgebracht wird. Den Inhalt dieser 
Anschauung, soweit er nicht aus anderen Teilen deduzierbar ist, sollen 
die Axiome beschreiben. Wenn dem so wäre, so könnte man wohl 
verstehen, daß Uneinigkeit herrscht über die Formulierung der 
Axiome, aber niemals, daß man bei einer allgemein anerkannten Dis¬ 
junktion zwischen drei Axiomen ernstlich zweifelt, welcher der 
drei Fälle der Natur entspricht. Dies ist der Fall beim soge¬ 
nannten Euklid sehen Axiom. Die Erfahrung, der zweifellos allein 
die Entscheidung zufallen kann, hat hier noch nicht gesprochen, aber 
es lassen sich gewiß Beobachtungen denken, aus denen die physische 
Geltung einer »nicht-euklidischen« Geometrie folgen würde. Soweit 
ist also diese Frage davon entfernt, durch Raumanschauung lösbar 
zu sein, daß ihre Lösung vielmehr von Erfahrungen abhängt, deren 

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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


897 


Bedingungen man sich wohl ausdenken, aber noch immer nicht her- 
steilen kann. Angesichts der zweifellosen Möglichkeit solcher Er¬ 
fahrungen, wie das gleichzeitige Sichtbarwerden eines Sternes in ent¬ 
gegengesetzten Bichtungen oder wie Winkelmessungen an großen 
Dreiecken, die einen sphärischen Exzeß oder einen hyperbolischen 
Defekt ergäben, erweist sich die Behauptung, das euklidische Axiom 
beschreibe nur den evidenten Inhalt der Baumanschauung und 
komme deshalb für die Physik einzig und allein in Betracht, als 
leichtsinnige Antezipation. Täuscht aber die angeblich unfehlbare 
Anschauung an diesem Punkte, so haben wir keinen Grund mehr, ihr 
anderwärts zu trauen. In Wahrheit lassen sich die Erfahrungen, in 
denen die Geltung der übrigen Axiomgruppen für die' physische 
Geometrie gründet, im einzelnen nachweisen, wenn dies auch nicht 
ganz einfach ist. So haben z. B. die Kongruenzaxiome (ohne die 
die rein projektive Geometrie ein ausgedehntes System wichtiger 
Sätze bildet) nur in einer Welt Berechtigung, in der es starre Körper 
gibt, die verschiebbar und drehbar sind. 

Nim kann man freilich sagen, daß die Axiomatik nicht der einzige 
und auch nicht der einsichtigste Weg zur Begründung der Geometrie 
ist 1 ). Aus der reinen Mengenlehre läßt sich mit Hilfe der aus ihr 
ableitbaren Arithmetik die analytische Geometrie aufbauen, wobei 
man nur einige Sätze, die man im Schulbetrieb »synthetisch« zu be¬ 
weisen pflegt, als Definitionen aufnehmen muß. Man verstehe unter 
einem Punkte ein aus drei Zahlen x x , x 2 , x 8 bestehendes Gebilde, 
definiere Identität als entsprechende Gleichheit aller 3 Koordinaten 
(JE = Y, wenn x x = y x , x 2 -y 2 , a? 8 = y a ist) und das Quadrat der 
Entfernung zweier Punkte durch (a^ — y x ) 2 + (a-j—y 2 ) 2 + (x 8 — y 8 ) 2 . 
Es läßt sich dann leicht die Invarianz dieser Funktion für Schiebungen 
und Drehungen nachweisen. Die Schwierigkeit liegt auch hier wieder 
in der Begründung der einzelnen Schritte (z. B. der Dreidimensiona¬ 
lität, der Entfemungsdefinition usw.) durch die Erfahrung. Diese 
Schwierigkeit ist aber durch konsequentes Durchdenken der Probleme 
zu überwinden, während die Baumanschauung auch durch die beste 
phänomenologische Analyse der Konstitution der res extensa im abso¬ 
luten Bewußtsein 2 ) nicht an Beweiskraft in geometrischen Fragen 
gewinnt. 

Aus dem Beispiel der Geometrie geht also hervor, daß die materialen 
Ontologien jedenfalls nicht in dem Sinne apriori sind, daß sie erlaubten, 


1) Sh. Study, Die realistische Weltansicht. Braunschweig 1914, S. 12öff. 

2) Vgl Id. 316. 

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398 


Heinrich Gustav Steinmann, 


Erkenntnisse über Reales (wenn auch nur über das Wesen von 
Realem) ganz ohne Rekurs auf Erfahrung zu begründen. Tat* 
sächlich hegt der Fall überall, wie bei der Geometrie, nur daß diese 
bestentwickelte aller materialen Ontologien die Lage besonders deut* 
heb zeigt. Man kann z. B. als Organismus definieren, was man 
will, auch das, was die Biologie darunter versteht, und dann folgen 
daraus a priori gewisse Sätze. Derartige Schlüsse werden in der Tat 
häufig gebraucht, und es mag ein ganz nützliches Geschäft Bein für 
den Kenner der organischen Natur, den Begriff des Organismus genau 
und aus möglichst wenig Grundeigenschaften zu definieren und fest* 
zustellen, welche weiteren Eigenschaften sich hieraus deduktiv er¬ 
schließen lassen. Z. B.: aus der Tatsache der Vermehrung allein 
folgt schon die Notwendigkeit der Stoffzufuhr; der wesentlich irre¬ 
versible Lebensprozeß fordert Energiezufuhr. Es ist aber hier noch 
mehr als bei der Geometrie eine zwecklose Fiktion, wenn man diese 
Begriffe rein a priori als Besonderungen aller Möglichkeiten 
hinstellt; denn das Reich des Möglichen (d. h. der widerspruchs¬ 
freien Begriffe) ist so unübersehbar, daß keine systematische Spezia¬ 
lisierung darin jemals auf den Begriff des Organismus führt. So meint 
es wohl auch Husserl nicht. Das Mögliche ist selbst ein rein 
formaler Gegenstand (und mithin bloße Form eines Gegenstandes) 
und darf ebenso wenig als oberste Gattung für alle Arten von Wesen 
(eidrj) gelten, wie Gegenstand überhaupt für die einzelnen Gegenstands¬ 
regionen. Vielmehr soll das einzelne Wesen selbst a priori an¬ 
schaubar sein. Mehrfach wird betont, daß von eidetischer Wissen¬ 
schaft die Resultate empirischer völlig fern bleiben müssen 1 ), da dem 
scharfen Gegensatz a priori-Erfahrung der ebenso scharfe Wesen- 
Existenz entspricht. Aber hier, wie an anderen Stellen der Schrift, 
verrät Husserl eine Rückkehr zu Kant am Unrechten Fleck. Wir 
wissen heute, daß Existenz ein Wesensmerkmal ist so gut wie die 
Qualitäten 2 ); daß sich die reale Existenz bei genauer Analyse in 
gewisse Relationen aufzulösen scheint, ist etwas, was sie mit manchen 
anderen Merkmalen gemein hat. Es gehört doch wohl zu den »we¬ 
sentlichen« Eigentümlichkeiten der Körper, daß sie zur Natur, 
d. h. zur Erfahrungswelt gehören. Kann aber Existenz wirklich 
zur »Essenz« gehören, so folgt schon daraus, wenn wir den Fehler des 
Ontologismus vermeiden wollen, daß nicht jedes Wesen völlig a priori 


]) Z. B. Id. 18. 

2) VgL Otto Selz, Existenz als Gegonstandsbestimmtheit. München,. 
Philosophische Abhandlungen für Th. Lipps, Leipzig 1911. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


399 


gegeben werden kann. Man braucht Wesen und Wert eidetischer 
Erkenntnis durchaus nicht zu verkennen und kann doch zugeben, 
daß materiale Ontologie, obwohl selbst nicht Erfahrungserkenntnis, 
sich doch nur in enger Verflechtung mit gewissen Ergebnissen 
der zugehörigen Erfahrungswissenschaft entfaltet. Dieses gegen¬ 
seitige Sichfördem, das Abnehmen des Fadens durch die eine Methode, 
da wo die andere zunächst nicht weiter kann, ist ein äußerst reiz¬ 
volles Spiel, das der methodologischen Analyse höchst lohnende Auf¬ 
gaben stellt. Gewöhnlich wird es, nicht ganz exakt, als Zusammen¬ 
arbeiten von Induktion und Deduktion bezeichnet. Besonders lockt 
hier den Logiker das Problem, wie durch Vorwegnahme echter 
species und genera die Bildung empirischer Gattungsbegriffe befruchtet 
wird. Auch das Verhältnis der echten species zur methodisch zwingen¬ 
den Induktion verdient Beachtung. Die Ontologie läuft hier nicht 
neben der empirischen Wissenschaft her, sondern sie schwebt ihr ab 
ihr methodisches Ideal vor. Es sei auch darauf hingewiesen, daß der 
Schöpfer der ontologischen Disziplinen, Chr. Wolff, gleichfalls 
unserer Auffassung nahesteht 1 ). 

Aber damit scheint sich die apriorische Erkenntnis auf »analy¬ 
tische« zu reduzieren und die Rolle der Anschauung 2 3 ) wegzufallen. 
Dennoch besteht diese Rolle sehr wohl. In aktueller Erfahrung ist 
sie als sinnliche Anschauung unumstritten. Es gibt aber auch eine 
echte Anschauung von Wesen. Jede nichtsinnliche Evidenz*) 
gibt ein Beispiel. Der ganze Akt stellt sich dar als Einsicht in gewisse 
notwendige Beziehungen zwischen Sachverhalten, wie etwa bei dem 


1) VgL meine Abhandlung Uber den Einfluß Newtons auf die Erkenntnis¬ 
theorie seiner Zeit, Bonn 1913, S. 59ff. und H. Pichler, Über Christian 
Wolffs Ontologie, Leipzig 1910. 

2) Es geht wohlheute nicht mehr an, wieKülpewill(a. a. 0. S. 60, Anm. 2), 
den Begriff der Anschauung grundsätzlich auf die sinnliohe Sphäre einzu¬ 
schränken. Wir haben seit Kants Tagen genug von intellektuellen und anderen 
möglichen und unmöglichen Anschauungen gehört, um uns an einer sinngemäßen 
Erweiterung des Begriffs nicht zu stoßen. Das Festhalten an der Gleiohung 
Anschauung = Sinnlichkeit scheint mir bei Lask ein von der Schule über¬ 
kommenes Hemmnis zu sein, das ihm, wie schon Riokert (Logos, H, 26—78) 
den Weg zu einer ungezwungenen Auffassung der Mathematik versperrt. Kant 
aber wollte unter Anschauung jede Gegebenheitsweise von Gegenständen 
verstanden wissen, und das ist wohl auch heute noch der beste Sinn des Aus¬ 
drucks. Die Beschränkung auf S innli chkeit ist bei Kant durchaus nioht defini- 
torisch, sondern durch seine Ansicht von der zufälligen Organisation des mensch¬ 
lichen Erkenntnisvermögens bedingt. 

3) »Einsicht« im Sinne von Id. 285f. 


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400 


Heinrich Qoster Steinmann, 


Beispiel: Vermehrung und Nahrungsaufnahme der Organismen. Es 
geht natürlich nicht an zu sagen, hier werde die logische Abhängig¬ 
keit zweier Sätze (als Grund und Folge) eingesehen. Auch wenn 
man die Evidenz auf Urteilserlebnisse einschränkt, so wird doch nur 
ausnahmsweise (bei den sog. Beurteilungen) »die Wahrheit eines 
Urteils unmittelbar einleuchten« 1 ). Was einleuchtet, ist vielmehr 
das Bestehen eines Sachverhaltes, in unserem Fall eines wesent¬ 
lichen Sachverhaltes 2 3 ). Das Urteil stützt ja seinen Geltungsanspruch 
auf Evidenz; wie wäre das möglich, wenn sich in ihr immer nur 
wieder Urteile, nicht die Sachen selbst darstellen könnten 2 ). Ein¬ 
gesehen kann nur werden, was dem Einblick offen liegt. Man prüfe 
irgend ein eidetisches Urteil, etwa 2*3=6, auf seine Richtigkeit 
nach, und man wird erleben, daß dies einwandfrei nur möglich ist, 
wenn man den Blick auf den Sach verhal t selbst lenkt, bis sich dieser 
in leibhaftiger Selbstgegebenheit, wenn auch getragen von einem 
exemplarischen Untergründe, der Erfassung darbietet. Nur das 
Erfaßte kann evident formuliert werden; ist der Sachverhalt nicht 
selbst gegenwärtig, sondern nur vermeint, so kann er zwar auch 
formuliert werden, das Urteil besitzt aber dann nicht jenen ursprüng¬ 
lichen Rechtstitel der Vernunft, auf den Husserl den Begriff Evidenz 
aus guten Gründen beschränkt. 

Da also die Quellen der Evidenz jenseits der Urteilssphäre liegen, 
dürfte es sich empfehlen, diesem Terminus selbst einen weiteren, vom 
Urteil losgelösten Sinn zu geben, wie dies Husserls Erklärung 4 ) dem 
Kerne nach tut. Wenn auch einige Seiten weiter die gewöhnliche 
Einschränkung auf Urteile ohne Widerspruch erwähnt wird 5 ), so 
verträgt sie sich doch kaum ganz mit Husserls Auffassung. Die 
Verlegung der Evidenz in die Erfassung, nicht in den Ausdruck 
des Sachverhalts wird aber auch den Verhältnissen bei der asser¬ 
torischen Evidenz besser gerecht. Die Möglichkeit solcher Evidenz 
in der äußeren Wahrnehmung oder der Reflexion wird häufig be¬ 
stritten, weil es unmöglich sei, den angeblich evidenten Bestand in 


1) Elsenhans, 260. 

2) Wesensverhalt sagt Husserl selbst; Id. 286. 

3) Auch für Lask (Lehre vom Urteil) ist das Urteil etwas, sogar zweifach. 
Abgeleitetes und rechtfertigt seinen Geltungsanspruch nur am Urmafistab 
theoretischer Geltung, an dem schlicht in seiner Kategorie stehenden Material, 
mithin an einer Sphäre, die zwar der logischen Erfassung zugänglich ist, aber 
jenseits alles Ausdrucks steht. 

4) Id. 284. 

5) Id. 300. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


401 


einem noch völlig evidenten Urteil zu formulieren 1 ). Dennoch besitzt 
sowohl die Wahrnehmung wie die Reflexion einen solchen meist sogar 
inhaltlich recht reichen Bestand, der sich, selbst bei Ausschaltung 
aller Erfahrungsmomente, gar nicht wegleugnen läßt. Beschreib¬ 
bar ist er freilich nicht ohne die Verwendung allgemeiner Ausdrücke, 
die den individuellen Sinn, in dem allein er evident ist, niemals völlig 
treffen können. Die Formen der Aussage allein schon verhüllen den 
evidenten Sachverhalt, so daß er seine Eindeutigkeit verliert 2 3 * * * ). 

In den Einächten aber stecken noch ganz andere formale Momente, 
die nicht wie die apophantischen beim Rückgang auf den Sachverhalt 
verschwinden. Dennoch liegt in jeder materialen Wesenseinsicht ein 
Element, das nur in der Anschauung des Wesens selbst seinen Rechts¬ 
grund findet; es ist dies die Anwendbarkeit gerade dieses und keines 
anderen formalen Schemas. Ehe ich etwa die formale Operation des 
Syllogismus vornehme, muß ich es den betreffenden Wesen »ab- 
sehen«, daß sie in den erforderlichen Beziehungen zueinander stehen. 
Damit ist natürlich nicht der triviale Satz gemeint, daß man die 
Prämissen besitzen muß, um den Schluß ziehen zu können; vielmehr: 
die Kunst des Schließens, die eigentliche »Einsicht« dabei, besteht 
darin, daß man an den bekannten Sachverhalten 8 ) ihren Prämissen¬ 
charakter »sieht«. Entsprechendes gilt bei der Anwendung anderer 

1) Darauf läuft auch der Vorwurf hinaus, den Elsenhans 259 gegen die 
anschauliche Evidenz erhebt. Es braucht nicht hinzugefügt zu werden, daß 
für unsere Auffassung wie für Husserl alle Evidenz anschaulich ist, wenn nur 
Anschauung die Kantische Bedeutung: Gegebenheit des Gegenstandes behält. 

2) Weiter braucht auf das Evidenzproblem hier nioht eingegangen zu wer¬ 
den. Zur Kriteriumsfrage sei noch bemerkt: Kriterium ist allerdings Kenn- 
-zeichen, d. h. etwas, was selbst zugänglich ist und mir vermöge einer gesetz¬ 
mäßigen Beziehung Aufschluß über etwas (im Augenblick oder grundsätzlich) 
Unzugängliches gibt. In aller unmittelbaren Evidenz aber ist die Sache selbst 
gegeben, die Forderung eines Kriteriums verliert also ihren Sinn. Wollte man 
-ein Kriterium dafür fordern, ob ein Sachverhalt selbstgegeben sei, so müßte 
man auch ein weiteres Kriterium fordern, ob denn der Kriteriumssachverhalt 
gegeben sei usw. Ist dagegen ein Saohverhalt unerreichbar, so kann ein erreich¬ 
bares Kriterium allerdings seine eigene Evidenz mittelbar auf ihn übertragen; 
dies ist ja gerade seine eigentliche Funktion. Die Entstehung eines Nieder- 
-Schlages mit Chlorbarium ist unter Umständen ein ausgezeichnetes Kriterium 
für die Anwesenheit von Schwefelsäure in einer wässerigen Lösung. Habe ich 
aber selbst vorher Schwefelsäure in die Lösung hineingegossen, so kann ich mich 
-des Kriteriums überheben. 

3) Im einfachen Falle bewegen wir uns in der Sphäre des nioht aus¬ 

drücklichen Bewußtseins eidetiBoher Sachverhalte. Die Termini »Prämisse«, 

»Schluß«, die gewöhnlich nur von Urteilen gebraucht werden, sind sinngemäß 

hierauf zu übertragen. 


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402 


Heinrich Gustav Steinmann, 


reiner Formen. In dem Beispiel von Vermehrung und Stoffzufuhr 
liegt, außer anderen, die reine Form der Multiplikation einer konti¬ 
nuierlichen Größe mit einer natürlichen Zahl der Folgerung zugrunde; 
freilich kommt sie erst in der logischen Analyse zutage. Der Nerv 
des Schlusses ist aber auch hier die Einächt, daß gerade der Fall 
dieser Form hier vorliegt. Kant faßt diesen Kernpunkt der mate¬ 
rialen Wesensanschauung als eine Funktion der Urteilskraft auf, " 

und so versteht man auch seine Erklärung, daß dieses Vermögen gar 
keine allgemeinen Regeln besitze, und daß »seinem Mangel gar nicht 
abzuhelffen« sei 1 ). Freilich: Anschauen kann, wie sinnliches Sehen, 
nicht gelehrt, nur geübt werden, und Regeln dafür müßten lauten 
nach dem Muster: Blau ist etwas, wenn es blau ist. 

Bei der Wahrnehmung wie bei der Reflexion auf Erlebnisse als 
Tatsachen sahen wir, daß die Evidenz nur auf den unmittelbaren 
Wahmehmungsbestand geht, der ohne Zuhilfenahme von Wesens - 
Ausdrücken nicht einmal formulierbar ist. Die unvermeidliche 
Spannung aber zwischen Tatsache und Wesen, Individuum und 
Spezies, empirischer Zufälligkeit und eidetischer Notwendigkeit be¬ 
gründet die Unvollkommenheit aller formulierten Erfahrungserkennt¬ 
nis, die so oft dazu verleitet hat, die Evidenz sinnlicher Anschauung * 

zu übersehen. Ihr gegenüber erscheint freilich die reine Wesens- 
erkenntnis als notwendig und in diesem Sinne apriorisch. Aber 
darüber darf nieht vergessen werden, daß das Reich der eüdij einen 
unübersehbaren Ozean bildet, auf dem man sich nur im steten Hin¬ 
blick auf die Inseln der Erfahrung orientieren kann; freilich gelangt 
auch niemand zu den reichen Schätzen jener Inseln, der sich nicht 
dem Ozean anvertraut. 

Fassen wir zusammen, was sich aus alle dem für Husserls eide- 
tische BewußtseinswiBsenschaft ergibt: Kein sachhaltiges Wesen ist 
allein deshalb, weil es Wesen ist, auch schon a priori gegeben; ist 
gleich die eigentliche Wesensanschauung, d. h. das Sehen des Formalen 
am sachhaltigen Wesen, kein erfahrender Akt, so muß doch das Wesen, 
wenn wir aus der Sphäre bloßer Möglichkeiten herauskommen wollen, 
sich uns noch irgendwie anders konstituieren. Insbesondere weist 
das Wesensmerkmal »reale Existenz« stets auf begründende Er¬ 
fahrung zurück. Auch exemplarische Vergegenwärtigung von Indi¬ 
viduellem, verbunden mit Ideation kann dieser Begründung nicht 
entraten, denn wenn auch die Ideation apriorisch ist, so bleibt doch 
die Frage, woher das exemplarische röte xi gegeben sei; die Frage 


1) Kr. d. r. Vem. B. 172f. 


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Zar systematischen Stellung der Phänomenologie. 


403 


ist keineswegs nebensächlich, da es ja doch gewisse Züge am Indivi¬ 
duellen sind, die, wenn auch indirekt (über die Ideation), die Wesens* 
erkenntnis begründen. Auch die Wesenserkenntnis des reinen 
Bewußtseins wird sich über diesen Punkt ausweisen müssen. 

III. 

Wir kommen zum 2. Abschnitt der »Ideen«. Er enthält zwei 
wichtige Behauptungen: 1) Durch Ausschaltung der »natürlichen 
Thesis« erhalten wir eine Domäne des reinen Bewußtseins, die 
für sich erforscht werden kann. 2) Die Daten dieses reinen Bewußt¬ 
seins sind jederzeit selbst gegeben, also ohne den phänomenalen 
Charakter äußerer Erfahrung; mithin ist diese ganze Sphäre absolut, 
während alles Reale nur rela tiv ist. Die Richtigkeit der ersten Be¬ 
hauptung ist leicht zu erproben, auch liefert ja alles Folgende den 
Nachweis durch die Tat. Die zweite Behauptung dagegen erscheint 
höchst anfechtbar, verquickt mit alten philosophischen Irrtümern. 

Bekanntlich wird die Absolutheit des Selbstbewußtseins bei Des - 
cartes zum Ausgangspunkt der gesamten neueren Erkenntnistheorie, 
undH usserl ist sich dieser Anknüpfung wohl bewußt. Alle Folgenden, 
auch Leibniz und der englische Empirismus sind davon beeinflußt. 
Kant sucht sich mit gewaltiger Anstrengung von Descartes’ These 
frei zu machen, ohne daß es ihm völlig gelänge 1 2 ); bei seinen Nach¬ 
folgern ist sie in ihre alten Rechte eingesetzt, namentlich bei Schel- 
ling und Schopenhauer. Ein Gegengewicht schuf das Bedürfnis 
der erklärenden Psychologie, die Erlebniswirklichkeit nicht als 
ein Letztes, sondern als Erscheinung des Realpsychischen zu be¬ 
trachten. In demselben Sinne wirkte der Einfluß der Neukantianer, 
nur trat für sie an Stelle des Realpsychischen ein mehr oder weniger 
unerkennbares X. Man sieht, wir haben es hier mit einer ganz 
zentralen Frage zu tun; der Grundsatz der Absolutheit des Bewußt¬ 
seins ist der Angelpunkt alles subjektiven Idealismus und Konzien- 
tialismus von Descartes bis Mach. Freilich will Husserl nicht 
auf einen Konzientialismus ira gewöhnlichen Wortsinn hinaus; er 
betont lebhaft, daß die transzendente »Realität« der Dinge unan¬ 
getastet bleiben soll. Vielmehr sollen seine Betrachtungen nur den 
angeblich berechtigten Kern des Descartesschen und alles späteren 
Idealismus treffen, den er in dem Satz findet, daß »die Welt der trans¬ 
zendenten ,res‘ durchaus auf ... aktuelles Bewußtsein angewiesen 
sei«*). Gerade dies ist die eigentliche Grundposition des Idealismus, 

1) Kr. d. r. Vera. B. 422 Anm. 

2) Id. 92, vgL auoh 93, § 50 enter Absatz. 


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404 


Heinrich Gustav Steinmann, 


gegen die schon Kant 1 ) ankämpft. Will man gegen Kants Beweis 
einwenden, daß es sich gar nicht um die Wissenschaft vom realen, 
in die Welt verflochtenen, sondern vom phänomenologisch redu- 
zierten Bewußtsein handle, so muß daran erinnert werden, daß es 
doch nur ein Bewußtsein gibt, das nur entweder absolut oder in 
die reale Welt verflochten sein kann. Es ist völlig unmöglich, die 
realistische und die idealistische Position beide als von ihrem Stand¬ 
punkt aus gerechtfertigt anzuerkennen, wenn anders man nicht 
Widerspruchslosigkeit, sondern Treffen des Sachverhalts 
zur Rechtfertigung verlangt. Beide wollen das »wahre« Verhältnis 
von Bewußtsein und Realität bestimmen. Mag man begrifflich das 
reine Erlebnis noch so scharf aus allen Zusammenhängen mit der 
realen Welt loslösen, so bleibt doch die Frage, ob die Objekte, die 
diesem Begriff entsprechen, nämlich die aktuellen Erlebnisströme 
lebender Menschen, die gleiche Isolierung und Selbständigkeit in ihrem 
Sein aufweisen. Die Qründe, die uns veranlassen, dies zu bezweifeln, 
sind von den Vertretern des Realismus oft genug zusammengestellt 
worden 2 3 ); ihre Diskussion ist hier nicht unsere Aufgabe. Sie werden 
auch kaum bestritten, wenn man nur einmal zugibt, daß sie das ak¬ 
tuelle Bewußtsein in seinem eigentlichen Sein betreffen. Der einzige 
Ausweg, der sich dann noch zeigt, um den eigenen Charakter der 
Phänomenologie zu retten, ist der, daß man die phänomenologische 
Reduktion auffaßt als methodisches Hilfsmittel, als abstraktive 
Einschränkung des Interesses auf den durch den Begriff »reines Er¬ 
lebnis« bestimmten Ausschnitt aus der Wirklichkeit. Dieser Weg 
erscheint durchaus gangbar, aber Husserl muß ihn ablehnen*), 
weil er zwar vielleicht zu einer neuen Einzelwissenschaft, aber 
nicht zur Grundwissenschaft aller Philosophie führt. 

Hat man sich einmal von dem Zwange freigemacht, der uns die 
unmittelbaren Daten des Bewußtseins als etwas in sich Selbständiges 
und Absolutes aufdrängen will, so wird man sich auch durch das 
Argument, daß Erlebnisse sich nicht »abschatten« 4 ), nicht mehr 
anfechten lassen. Wollte man nämlich mit diesem letzten Gedanken 
Emst machen, so würde man einer Eidetik der Erlebnisse alle Grund¬ 
lagen entziehen. Es ist derselbe Zorn, den ich jetzt und vor 2 Minuten 

1) Kr. d. r. V. B. 274ff. 

2) Nur beipsielsweise sei auf das 1. Kapitel von Külpes Realisierung oder 
§ 17 seiner Einleitung in die Philosophie und auf das 5 . Kapitel von Messers 
Einführung in die Erkenntnistheorie verwiesen. 

3) Id. 91 f. 

4) Id. 89f. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


405 


fühle, derselbe nicht nur, weil er in derselben Dauer liegt (»seit 2 Mi¬ 
nuten dauert«), sondern auch wegen der bewußten Identität seines 
intentionalen Gegenstandes. Dennoch ist er mir jetzt in ganz anderer 
>>Abschattung« gegeben, als vorhin, ja die Abschattungen haben sich 
seither stetig gewandelt, genau wie die Erscheinungsweisen eines 
Körpers, der sich in einiger Entfernung an mir vorbei bewegt. Wollte 
man diesem einen Zorn, der da erscheint in seinen Abschattungen, 
Wirklichkeit absprechen und ihn als ein fälschlich hypostasiertes All¬ 
gemeines erklären, so muß man das konsequent auch mit dem erschei¬ 
nenden Körper tun, und man verfällt rettungslos der empiristischen 
Skepsis. Diese muß der Phänomenologie auch dann verderblich 
werden, wenn man den Vergleich mit der Körperwelt beiseite läßt. 
Die Lehre, daß reine Erlebnisse nicht Erscheinungen, sondern etwas 
absolut Selbständiges sind, macht offenbar ihre Unterstellung 
unter eidetische Momente unmöglich. Es könnte dann allenfalls eine 
Tatsachenwissenschaft reiner Erlebnisse 1 ), aber keine Wesens- 
lehre von ihnen geben. Zweifellos gründet aber im wahren Wesen 
der Erlebnisse die Möglichkeit der Phänomenologie, wie in dem der 
äußeren Erscheinungen die Möglichkeit der Physik (als Eidetik) 
gründet. Unabweislich drängt sich uns eben das Erscheinende in der 
Erscheinung auf. Gewiß ist es möglich, von ihm zu abstrahieren, 
aber daß man gerade durch diese Abstraktion das Wesen des Bewußt¬ 
seins erfasse, ■wird man nicht leicht glauben machen. Sonst müßte 
uns z. B. die Unterschiedsempfindlichkeit über die Zahl der in einem 
Intervall überhaupt möglichen Empfindungsqualitäten oder -Inten¬ 
sitäten aufklären, während wir mit guten Gründen annehmen, daß 
die Empfindungen ebenso stetig variieren können wie die Reize, und 
daß kleine Unterschiede bloß nicht aufgefaßt werden. Erschei¬ 
nungen verstehen, heißt über sie hinausgehen. 

Immer wieder wird uns entgegengehalten werden, daß die Phäno¬ 
menologie von diesen Einwänden gar nicht getroffen werde. Sie soll 
ja auch nicht getroffen werden, sondern nur die Überspannung, die 
ihrer methodischen Grundfiktion den Charakter einer metaphysischen 
Wahrheit zu verleihen sucht. Gerade diese Überspannung hegt in 
Husserls Auseinandersetzungen 2 ). Man glaubt wieder Lask zu 
hören, wenn man vernimmt, daß Realität und Welt nur durch Sinn¬ 
gebung seien, daß sie gründeten in gewissen Zusammenhängen des 
absoluten Bewußtseins. Der gerügten philosophischen Verabsolu- 


1) VgL IA 119 Axun. 

2) IA 106 ff. 


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406 


Heinrich Götter Steinmann, 


tierung der Welt tritt hier eine leider nicht minder philosophische 
Verabsolutierung des Bewußtseins gegenüber. Die Wegdenkbar- 
keit der Welt beweist gar nichts. Ebenso gut, sogar leichter, kann 
sich ein philosophisch unverdorbenes Gemüt alle bewußten Wesen 
aus der Welt wegdenken, wie es etwa in Betrachtungen über die Ent¬ 
stehung unseres Sonnensystems geschieht. Sonnen und Erden ent¬ 
stehen und vergehen, ohne sich im mindesten um ihre bewußten Zu¬ 
schauer zu kümmern. Ist dieser Gedanke eine naturalistische Ver¬ 
absolutierung, so ist er doch zum mindesten nicht schiefer als sein 
idealistisches Gegenstück. 

Hier kreuzt sich das erste idealistische Vorurteil mit einem zweiten, 
das auch schon die Nachfolger Kants gegen ihren Meister ausspielten. 
Man kann es das nqibvov xpevöog des objektiven Idealismus nennen, 
während die Absolutheit des Bewußtseins ursprünglich auf einen 
subjektiven Idealismus zielt. Die äußere Welt, sagt Husserl 1 ), 
ist uns nur zugänglich als intentionales Objekt unserer Gedanken. 
Sie ist daher nur durch das Bewußtsein vermittelt, mithin nur relativ. 
Auch diese Ansicht hört man gerade von Husserl mit Erstaunen. 
Ist es wirklich nötig, daran zu erinnern, daß ein Gegenstand gar nicht 
dadurch bestimmt wird, daß man ihn als Ziel einer möglichen Inten¬ 
tion bezeichnet? Einer meinenden intentio ist schlechterdings 
all es erreichbar 2 ). Intentionales Korrelat zu sein, ist keine Besonder¬ 
heit einer Gegenstandsklasse, überhaupt kein Merkmal von Gegen¬ 
ständen, vielmehr eine Relation, und zwar von seiten des Gegen¬ 
standes eine bloß ideale. Durch das »Objekt-einer-Intention-sein« 
wird also ein Gegenstand nicht nur nicht in seinem Wesen, sondern 
auch nicht in seinem metaphysischenOrt bestimmt oder beeinflußt, 
wenn anders ein Kentaur, die ©-Funktion, Gott, das Stück Papier 
vor mir und ein viereckiger Kreis verschiedene metaphysische Örter 
haben. Alle diese Gegenstände kann ich der Reihe nach »meinen«, 
sie stehen alle in der Beziehung des Objektseins zum Bewußtsein. 
Aber damit ist eben noch gar nicht gesagt, ob sie außerdem real, ideal, 
absolut, relativ oder was sonst immer seien. Wäre die Welt weiter 
nichts als ein Inbegriff intentionaler Gegenständlichkeiten, so wäre 
sie noch gar nichts; alles, was sie ist, ist sie unabhängig von dieser 
Relation. Dem kühnen Unterfangen des Menschen, die Dinge durch 
sein Denken relativieren zu wollen, stehen diese in völliger Ataraxie 


1) Id. § 49 ff. 

2) Dies bezeichnet in seiner Spraohe Lask treffend mit dem Ausdruck 
»Panarchie des Logos, aber kein Panlogismus«, Log. d. Philos. 8. 134. 


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Zar systematischen Stellung der Phänomenologie. 


407 


gegenüber. Das ganze Vorurteil stammt aus einem Gedankenkreis, 
dem Husserl sonst ziemlich femsteht. Hegel ist, soweit mir be¬ 
kannt ist, der Urheber jener Kritik des Kantischeq Ding-an-sich- 
Begriffs, die darauf hinweist, daß das Ding an sich als reines Gedanken¬ 
ding erst recht nicht über den Bereich des Bewußtseins hinausführe. 
Mit der Verwechslung von Vorstellung und Gegenstand hat Husserl 
aufgeräumt; so ist ausHegels Zugehörigkeit zum Bewußtsein eine 
Abhängigkeit von ihm geworden. 

Bleibt nur die Behauptung, das Bewußtsein sei uns anders denn 
als intentionales Objekt, unmittelbar, absolut gegeben, während die 
Außenwelt nur als Aktkorrelat zugänglich sei. Sie steht in einem 
merkwürdigen Gegensatz zu Husserls späteren Ausführungen über 
Reflexion und attentionale Wandlungen 1 ). Danach ist das jetzt nicht 
aktuell Erfaßte, aber dennoch Bewußte jederzeit Ziel einer inaktuellen, 
aber durch Blickwendung aktualisierbaren Intention; die Reflexion 
aber, durch die das reine Bewußtsein erfaßt wird, ist selbst nichts 
anderes als eine solche Blickwendung, die ein bisher nicht beachtetes, 
aber gleichwohl intentional Betroffenes aktualisiert. Von einer grund¬ 
sätzlich anderen Gegebenheitsweise des reinen Bewußtseins ist hier 
also nichts zu spüren. Und wäre auch wirklich das Bewußtsein uns 
näher als die Dinge, was beweist das für deren innere Selbständig¬ 
keit? Unsere Stellung im All von Welt und Bewußtsein ist vielleicht 
zufällig; vielleicht erfassen wir den Quell des Seins nicht an seinem 
Ursprung, sondern in seinen letzten Ableitungen. Wer das 
vergißt, wer in dem, was ihm am nächsten hegt, das Absolute selbst 
sucht, der gerade macht das für uns Erste zum Ersten an sich 2 ); 
er erhebt die Gepflogenheiten, an denen Mephisto den gelehrten 
Herrn erkennt, zum metaphysischen Prinzip. 

IV. 

Fassen wir unsere bisherigen Ergebnisse kurz zusammen. Die 
Möglichkeit einer eidetischen Wissenschaft ist immer dann einsichtig 
gegeben, wenn der Weg klarliegt, auf dem wir zur Anschauung der 
betreffenden Wesen gelangen Je nachdem sich dabei ein größeres 
oder kleineres Gebiet reiner Wesen auf einmal öffnet, werden wir 
mehr oder weniger unabhängig von anderen Wissensquellen sein, und 
es gibt hier zahlreiche Abstufungen, für die namentlich die eidetischen 
Naturwissenschaften Beispiele liefern. Von den apriorischen Dis- 

1) Z. B. Id. 133 u. 190. 

2) VgL Id. 93, § 60 Anfang. Man wird also hier »gewahr, daß das Spie!, 
welohes der Idealisra trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird«. 
Kr. d. r. V. B. 276. 

Archiv ftr Psychologie. XXXVI. 

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Heinrich Gustav Steinmann, 


ziplinen der reinen Mathematik bis zu kurzen, in die Tatsachen¬ 
ermittelung eingestreuten Gedankengängen verengert sich die Trag¬ 
weite reiner Eidetik schrittweise 1 ). Sehen wir mm zu, wie es hier 
mit der Phänomenologie bestellt ist. Deduktion im Sinne und Um¬ 
fang der Methamatik ist ihr versagt 2 3 ); es muß vielmehr fortwährend 
auf eine neue ideierende Anschauung zurückgegangen werden. 
Diese Anschauung ist aber zunächst immer eine einzelne 8 ), und wenn 
auch die Auswahl der herauszuhebenden Momente durch die wesens¬ 
wissenschaftliche Aufgabe bestimmt ist, so wird doch der Inhalt des 
Erblickten durch diese individuelle Anschauung geliefert. Wir haben 
also hier in der Tat einen Fall, der sich von den abstrakten Wesens¬ 
wissenschaften unterscheidet. Die eidetische Aufgabe ist hier nicht 
Deduktion, sondern nur Hervorhebung und Beschreibung von Wesens¬ 
merkmalen 4 * ). Bei der Ausschaltung der Deduktion kann sich aber 
die Phänomenologie die Wesen nicht, wie die Mathematik, durch die 
eidetische Arbeit selbst aus wenigen Elementen erzeugen, sondern 
sie muß sie sich von außen geben lassen. Bevor irgend etwas zu voller 
Anschaulichkeit und Klarheit erhoben wird, muß es doch gegeben 
werden und zwar immer wieder durch neue Einzelanschauungen, auf 
die sich die Ideation aufbaut. Der Akt, durch den allein diese An¬ 
schauungen gegeben werden können, ist der der Reflexion, und 
Husserls schöne Ausführungen über Reflexion und innere Wahr¬ 
nehmung zeigen jedenfalls, daß wir diesen Terminus nicht in grund¬ 
sätzlich anderem Sinne zu verstehen haben als die Psychologie. Das 
so bezeichnete Verfahren wäre also die ganz legitime Methode einer 
deskriptiven eidetischen Psychologie. 

Bleibt als wesentlicher Unterschied die phänomenologische Re¬ 
duktion. Aber auch die hat der Psychologe zu üben, nur freilich als 
das, was sie für uns nach den Erörterungen des letzten Abschnittes 
allein ist: als methodische Fiktion, als Abwendung des Interesses von 
den Gegenständen der intentionalen Erlebnisse auf diese Erlebnisse 
selbst. Ein doppeltes Interesse leitet ihn dabei; einmal will er eine 
Einstellung erreichen, die der Reflexion auf die Erlebnisse selbst 
besonders günstig sein muß; dann aber versperrt er sich durch die 
Reduktion auch methodisch die Möglichkeit, vom Wege reiner De- 

1) Als Beispiele einiger Stufen mögen dienen: theoretische Mechanik, Elek¬ 
trostatik, Wärmelehre, ohemisohe Strukturformeln. 

2) Id. 14a 

3) Id. 1241 

4) Also auch ein Sehen von etwas am Wesen, wie wir es 8. 4011 als Kern 

eidetisoher Forschung überhaupt fanden. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


409 


skription in die nur allzu naheliegenden Bahnen kausaler Erklärung 
physischer oder realpsychischer Art abzuirren. Die phänomeno¬ 
logische Reduktion findet ihre Rechtfertigung nicht in einer 
idealistischen Erkenntnistheorie, sondern in den Bedürf¬ 
nissen der deskriptiven Psychologie. 

So fällt die scharfe Scheidewand, die Husserl zwischen Phäno¬ 
menologie und eidetischer 1 ) Psychologie aufrichtet, für uns, wie für 
Messer 2 ) weg. Die geschilderte Methode unterscheidet sich nicht 
grundsätzlich von einer psychologischen, die Phänomenologie scheint 
zu einer Sonderdisziplin der Psychologie herabzusinken 8 ). Die 
schönen Analysen Husserlsim3. und 4. Abschnitt werden dadurch 
in ihrem Werte nicht berührt; hebt doch der Verfasser selbst wieder¬ 
holt ihre engen Beziehungen zur eidetischen Psychologie hervor. Nur 
den Anspruch, die philosophische Grundwissenschaft zu sein, aus der 
auch Logik und Erkenntnistheorie zu schöpfen haben, müßte die 
Phänomenologie aufgeben. 

Aber gerade hier erheben sich Bedenken; denn tatsächlich besteht 
doch in Husserls freilich nur skizzenhaften Ausführungen, nament¬ 
lich im 4. Abschnitt, ein sachlicher Zusammenhang zwischen den 
phänomenologischen Feststellungen und den dort berührten 
vernunft-theoretischenProblemen. Gibt man zu, daß die Lösung 
dieser Probleme nur von der Phänomenologie erwartet werden darf, 
so wird man unserer Behauptung, daß die Phänomenologie ein Zweig 
der Psychologie sei, mit Recht den Vorwurf des Psychologismus 
machen. Freilich ist dieses Schlagwort allmählich entwertet worden, 
da es so ziemlich gegen alle modernen erkenntnistheoretischen 
Lehren gebraucht worden ist. Schon dadurch wird man zu der Ver¬ 
mutung gedrängt, daß es — so berechtigt das allgemeine Argument 
gegen den Psychologie mus sein mag — doch in der Sache selbst einen 
dunklen Punkt geben müsse, der auf alle Behandlungsversuche jenen 
häßlichen Schatten wirft. 

Auch zu diesem vielumstrittenen Problem sollen hier, wo es sich 
um die Tragweite der Phänomenologie handelt, nur einige Andeu¬ 
tungen gegeben werden. Wir gehen dabei zweckmäßig aus von 
Husserls Grundunterscheidung zwischen Noesis und Noema 4 ). 

1) Ob es auch eine nicht-deskriptive eidetisohe Psyohologie geben kann, 
bleibe dahingestellt, vgL Id. 141. 

2) Aroh. 32, 62ft 

3) Za ähnlichem Ergebnis ist auf ganz anderem Wege auch Elsenhans 
gelangt; a a. 0. 240 f. 

4) Id. 191. 

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410 


Heinrich Gustav Steinmann, 


Sie fällt nicht mit der hergebrachten zwischen Akt und Gegenstand 
zusammen, sondern trennt innerhalb des Aktes dessen reelle und inten¬ 
tionale Komponenten. So wie Husserl diese Begriffe faßt, läuft die 
Scheidung so haarscharf mitten durch den Akt, daß jede Modi¬ 
fikation (attentionale, doxische usw.) sich auf beiden Seiten ausprägt, 
als noetische und als noematische. So werden alle folgenden For¬ 
schungen beherrscht von der strengen Korrelation zwischen Noesis 
und Noema, und es soll gar nicht geleugnet werden, daß es mit dieser 
deskriptiven Feststellung seine Richtigkeit hat. Nur muß man sich 
fragen, ob es notwendig oder zweckmäßig ist, ein Begriffspaar in den 
Vordergrund zu stellen, das alle weiteren Untersuchungsgegenstände 
verdoppelt, und so wegen der völligen Korrelation eine zweckmäßige 
Klasseneinteilung ausschließt. Und ist es denn wirklich unmöglich, 
die verschiedenen Momente danach einzuteilen, ob sie ursprünglich 
den Akt selbst, oder sein intentionales Korrelat betreffen? Nehmen 
wir etwa die attentionalenWandlungen, so erweisen sie sich leicht 
als ursprünglich noetisch. Gewiß ist das Noema ein anderes, je 
nachdem, ob es im Blickpunkt des Bewußtseins oder »abseits« liegt; 
aber Husserl selbst muß anerkennen 1 ), daß es sich nur um einen 
Wechsel der Beleuchtung, nicht des eigenthchen Sinnesbestandes 
handelt. Ein Wechsel im Gegenstand dagegen betrifft ursprüng¬ 
lich das Noema, und zwar in seiner »Kernschicht«; nur in Beziehung 
auf ihn wird der gleichzeitige Wechsel in der Noesis verständlich. 
Die Noese, die sich auf den blühenden Baum richtet, ist sicher ihrem 
Wesen nach verschieden von der auf das Haus gerichteten; aber sie 
ist es nur, insofern eben Baum—Noema und Haus—Noema ver¬ 
schieden sind. Daß hier die noematischen Unterschiede die ursprüng¬ 
lichen 8ind, kündigt sich schon dadurch an, daß die noetischen gar 
nicht faßbar sind ohne Hinweis auf die noematischen. 

Es kommt uns nicht darauf an, diese Unterscheidung der Akt¬ 
strukturen in ursprünglich - noetische und ursprünglich-noe- 
matische im einzelnen durchzuführen; nur daß sie möglich ist, sollte 
gezeigt werden. Die Husserl sehe Scheidewand zwischen Noesis und 
Noema gleicht also einem halbdurchsichtigen Spiegel: man mag hinein¬ 
sehen, von welcher Seite man will, immer wird man dieselbe Gesamt¬ 
heit von Dingen erblicken. Dem schärfer Zusehenden kann aber doch 
nicht entgehen, daß er jeweils nur einen Teil der Dinge im Original, 
die anderen aber gespiegelt erblickt, und zwar sind dies gerade die 
Dinge, die auf der anderen Seite im Orginal stehen. Wir bilden daher 


1) Id. 1dl. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


411 


den Begriff des Ursprünglich-Noetischen und des Ursprünglich- 
Noematischen und glauben damit nicht über die deskriptive Sphäre 
hinauszugehen, da sich jener Charakter in der reinen Gegebenheit der 
betreffenden Wesen mit ankündigt. 

Ursprünglich noematisch ist alles, was durch den Gegenstand 
selbst bestimmt ist; das ist aber gerade das, was Husserl als den 
noematischen Kern bezeichnet 1 ). Der Gegenstand selbst ist kein 
Thema phänomenologischer Untersuchung, sondern nur seine Dar¬ 
stellungsart im intendierenden Bewußtsein. Dies gilt nicht nur 
von realen Objekten 2 ), sondern ebenso von allen anderen Arten von 
Gegenständen. Gewiß befinden sich darunter auch die spezifischen 
Gegenstände der Phänomenologie; aber darin hegt kein Widerspruch: 
wenn wir die auf phänomenologische Gegenstände gehenden Akte 
phänomenologisch untersuchen, so setzt diese Untersuchung keine der 
phänomenologischen Wahrheiten über jene Gegenstände voraus, sie 
wird vielmehr all diese Wahrheiten neutralisieren, »einklammem«. 
Im noematischen Kern also haben wir ein Gebilde vor uns, das seinem 
eigenen Inhalt nach phänomenologisch nicht faßbar ist, obwohl 
seine Umgebung und auch seine Stellung zu dieser Umgebung zum 
eigensten Forschungsgebiet der Phänomenologie gehören. Dieser 
merkwürdige Sachverhalt gründet in dem eigentümlichen Wesen des 
Gegenstandsbewußtseins, das sein Korrelat mit seinen Formen um¬ 
greift, ohne es doch innerlich aufzulösen oder zu verwandeln. 

Husserl selbst aber hat diesen Punkt nicht überall beachtet, und 
daher gerade rühren die zuweitgehenden Ansprüche der Phänome¬ 
nologie. Die phänomenologische Reduktion soll sich zwar auch auf 
die formalen und materialen Wesenslehren erstrecken 8 ); aber später 
zeigt es sich, daß die Phänomenologie gerade auch für diese Diszi¬ 
plinen grundlegende Bedeutung haben soll 4 ). Das bedeutet natürlich 
noch keinen inneren Widerspruch, denn die Reduktion bedingt ja 
nur die Unabhängigkeit der Phänomenologie von jenen anderen 
Wissenschaften, nicht auch umgekehrt die der anderen von der Phäno¬ 
menologie. Macht man sich aber den oben geschilderten Sachverhalt 

1) Mit diesem Terminus, wie auch durch andere Redewendungen trägt 
Husserl selbst dem hier geltend gemachten Gesichtspunkt in gewissem Maße 
Rechnung. Er hat ihn also wohl gelegentlich beaohtet, nur nicht systematisch 
ausgebaut. 

2) BezügL der terminologischen Unterscheidung von Gegenstand, Objekt 
usw. verweise ich auf K&lpe, Realisierung L 11, wenn mir auch das Ausgehen 
vom Zeichen nicht zweckmäßig scheint. 

3) Id. lllff. 

4 ) Id. 307—319. 

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Heinrich Gustav Steinmann, 


klar, daß nämlich die Gegenstandsbestimmtheiten des noematischen 
Kernes gar nicht in derselben Ebene liegen, wie die ursprünglich- 
noetischen Modifikationen, so wird man einsehen, daß man bei kon¬ 
sequenter Durchführung der phänomenologischen Reduktion auf gar 
keine Weise aus der spezifisch phänomenologischen Sphäre heraus¬ 
kommen kann. Dabei macht es auch keinen Unterschied, ob der ein¬ 
mal ausgeschaltete und nun nicht wieder erreichbare Gegenstand 
selbst Tatsache oder Wesen ist. Für das Gebiet der Tatsachen ist 
das ganz klar und wird auch von Husserl zugegeben. Zur phäno¬ 
menologischen Erforschung eines auf Tatsachen gerichteten Aktes, 
etwa der Wahrnehmung dieses blühenden Baumes, gehört keine Fest¬ 
stellung, die sich auf jene Tatsache selbst (den Baum im Garten) 
bezieht. Für den Phänomenologen gibt es also gar keinen Weg aus 
seiner Sphäre heraus zum Gegenstand selbst; die einzige Möglichkeit, 
die eines Rückschlusses vom Bestand des noematischen Kernes auf 
den sich in ihm darstellenden Gegenstand, ist durch die Reduktion 
versperrt. Wohl kann man unter Festhaltung der Reduktion, aber 
unter Preisgabe der Richtung auf das Wesentliche den Tatbestand 
des Erlebnisses, auch nach der noematischen Seite hin, festlegen, 
aber das würde über den im Erlebnis vermeinten Gegenstand nichts 
erkennen lassen und überhaupt in keiner Hinsicht irgend welches 
Interesse haben. 

Offenbar ist Husserl der Ansicht, daß der Fall bei Wesen als 
Aktgegenständen anders liegt als bei Tatsachen. Seine Ausführungen 
im letzten Kapitel der »Ideen« lassen erkennen, worin er den Unter¬ 
schied sieht. Tatsachen können nicht adäquat gegeben werden, 
Wesen können es. Wie es um die adäquate Wesensanschauung be¬ 
stellt ist, haben wir im II. Abschnitt gesehen. Sie muß aber scharf 
getrennt werden von der grundsätzlich gleichfalls adäquaten, aber 
ganz anders beschaffenen Gegebenheit von Erlebnissen für die Re¬ 
flexion. Wir sahen, daß ein Wesen nur dann anschaulich faßbar ist, 
wenn man sich seiner materialen Momente vorher irgendwie anders 
versichert hat. Handelt es sich um das Wesen von Erlebnissen, 
so ist das im Rahmen der phänomenologischen Reduktion möglich, 
und auch die hierauf aufgebaute Ideation führt, als rein logische 
Operation, nicht aus diesem Rahmen heraus. Kommen aber andere 
Wesen zur Anschauung (von den rein formalen sehen wir noch ab), 
so sind ihre materialen Momente der phänomenologischen Feststellung 
ebenso unerreichbar wie die Tatsachen der betreffenden Region. 
Wollte man das leugnen, so würde man alle Wesenswissenschaften in 
Phänomenologie verwandeln. Man würde also z. B. das Wesen 


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Zar systematischen Stellung der Phänomenologie. 


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»Körper« völlig kennen zu lernen vermeinen durch genaue Analyse des 
Bewußtseins, in dem sich dieses Wesen darstellt. Das ist in der Tat der 
Sinn von Husserls zuletzt genannten Ausführungen. Daß dies aber 
unmöglich ist, haben wir schon gesehen; zum Wesen »Körper« gehört 
es jedenfalls, Glied der Natur, also transzendent und grundsätzlich 
nicht phänomenologisch faßbar zu sein. 

Natürlich kann hier, wie bei Tatsachen, der Bestand des aktuellen 
Erlebnisses phänomenologisch festgelegt werden, auch wenn dieses 
Erlebnis etwa die möglichst adäquate Anschauung eines materialen 
Wesens ist; aber wie bei der Dingwahmehmung, so wird auch hier 
durch die Reduktion nichts gewonnen, sondern höchstens etwas ver¬ 
loren werden; wir werden also auf phänomenologischem Wege sicher 
nichts erfahren, was wir nicht aus der einfachen Wesensanschauung 
schon wußten oder wissen konnten. Diese aber hat ihre letzten 
Quellen einerseits in den anders woher zu gebenden materialen Mo¬ 
menten, andererseits in den rein formalen Wesen, deren Betrachtung 
wir uns zuletzt noch einmal zuwenden. 

V. 

Die formale Ontologie wird von Husserl eingeführt als eine Art 
Umwendung der formalen Logik und Apophantik, wenn sie auch über 
diesen Rahmen hinauswächst 1 ). Freilich läßt sich der innige Zu¬ 
sammenhang zwischen beiden Gebieten gar nicht leugnen; aber die 
Voranstellung der formalen Logik ist bei Husserl offenbar durch den 
Weg von der Phänomenologie her bedingt. Sachlich das erste, und 
offenbar ganz unabhängig von aller Phänomenologie, ist die reine 
Mathesis in der höchsten Stufe der Formalisierung, wo man unter 
»Element« (oder wie man den einfachsten Untersuchungsgegenstand 
sonst nennen will) noch schlechterdings alles verstehen kann; alle 
Einschränkungen, die dieses Element näher bestimmen (z. B. schon, 
daß es von anderen unterscheidbar sei), werden als Voraussetzungen 
für bestimmte Disziplinen eingeführt. Solche Voraussetzungen, die 
nicht nur für einen Satz, sondern gleich für ein ganzes System von 
Sätzen gemacht werden, sollen Axio me heißen, wobei dieser Ausdruck 
freilich einen andern Sinn erhält, als wenn wir etwa von den Axiomen 
der physischen Geometrie reden. Wir bewegen uns hier eben nicht 
nur in einer eidetischen, sondern zudem in einer rein formalen Region, 
das heißt in einer Welt bloßer Möglichkeiten, in der die Frage nach 
der »wirklichen« Geltung eines Axioms keinen Sinn hat. Durch die 


1) Id. 307 1 


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Heinrich Gustav Steinmann, 


Axiome allein werden wir mit den besonderen Eigenschaften der 
Gegenstände zuerst bekannt; besondere »erzeugende Definitionen« 
gibt es nicht; die Definitionen sind nur Erklärungen für abkürzende 
Ausdrücke. Die Forschung geht deduktiv von den Axiomen zu 
einzelnen Sätzen, auch wohl in jener eigentümlichen Umkehrung des 
deduktiven Verfahrens, die wir regressiv nennen können, von irgend 
welchen uns zufällig bekannten formalen Sachverhalten rückwärts 
auf das sie bedingende Axiomensystem. Eine Verbindung beider 
Methoden liegt in den Forschungen über Vereinbarkeit von Axio¬ 
men vor. 

Die Tragweite dieser Disziplin ist grundsätzlich unbegrenzt, wie 
das Reich der Möglichkeiten 1 2 * ). Aber eine annähernd erschöpfende 
Behandlung der möglichen Fälle ist nur im allerallgemeinsten Teil 
durchführbar. Die vorwiegende Berücksichtigung besonderer 
Axiome und Axiomsysteme, die sich schon in der Mengenlehre zeigt, 
gründet einesteils auf deren größerer theoretischer Fruchtbarkeit, wie 
etwa bei der Wohldefiniertheit der Mengen, andemteils auf ihrem 
Erfülltsein in gewissen sachhaltigen Regionen, das die »Anwen¬ 
dung« der formalen Mathesis in materialen Ontologien gewährleistet. 
So ist die Ausbildung auch der sogenannten reinen Mathematik vor¬ 
wiegend von solchen Anwendungsgesichtspunkten geleitet worden. 
Die Gültigkeit ihrer Lehre bleibt davon aber unberührt; da sie die 
Axiome nur als Voraussetzungen cinführt, braucht es sie nicht zu 
kümmern, ob und wo diese Axiome erfüllt sind. 

Dennoch ist die Frage nach der Herkunft und den Anwendungs¬ 
gebieten der Axiome von Interesse. Wir sahen schon im II. Abschnitt, 
in welchem Sinne man sich die Lösung dieser Frage bei der Geometrie 
zu denken hat. Ähnlich kann man die Frage aufwerfen, wieso der 
Mengenlehre eine allgemeine Geltung für weite Gebiete der uns sonst 
beschäftigenden Gegenstände zukommt, und wie es insbesondere 
möglich ist, daß eine scheinbar so formale Disziplin wie die Syllogistik 
sich als Anwendungsgebiet der Mengenlehre darstellen läßt. 

Die Antwort auf die letzte Frage wird lauten: Begriffsumfänge sind 
Mengen, und zwar wohldefinierte, die Umfangssyllogismen müssen sich 
also als Anwendungen mengentheoretischer Operationen darstellen 
lassen. Nichts anderes tut der sog. Logikkalkul 8 ), und man wird 
ihm gerne zugestehen, daß er von allen Darstellungen der Syllogistik 

1) Auch Husserl hat diesen weiten Begriff der Matheus; vgL besonders 
Log. Unters. L 247 ff. 

2) Es sei hier nur auf Couturats knappe Darstellung verwiesen: L’AlgAbre 

de la Logique. Paris, Seientia No. 24. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


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die einzige formal befriedigende ist, weil er die Axiome scharf von dem 
Beweisbaren trennt, während sich in den gewöhnlichen Darstellungen 
Aufweisung und Beweis bunt durcheinander drängt. Es ist sicherlich 
der auffälligste, aber durchaus nicht der einzige Fall von Anwendung 
mathematischer Deduktion auf logische Probleme. Peano und 
Russell haben die Logik der Relationen überhaupt in derselben 
Weise darzustellen versucht ; ja das Axiom der Wohldefiniertheit weist 
schon durch seinen Namen auf logische Gegenstände als sein Er¬ 
füllungsgebiet hin. Im ganzen kann man sagen: formale Logik und 
reine Mathesis berühren sich auf einer großen Linie, und zwar derart, 
daß die Logik Erfüllungsgebiete für die Axiome der Mathesis bietet. 
Dies geht so weit, daß manche Axiome meist gar nicht in ihrer vollen 
Abstraktheit, sondern in ihrer logischen Gestalt gefaßt werden, so daß 
ihr Sinn nur in logischen Untersuchungen volle Aufklärung finden 
kann. 

Die reine Mathesis hat jedenfalls innerhalb ihres Arbeitsgebietes 
keine Begründung oder Aufklärung von der Phänomenologie zu er¬ 
warten. Ihre deduktiven Schritte vollziehen sich in völliger Klarheit, 
die keiner Steigerung fähig ist. Die Phänomenologie der Akte adä¬ 
quater Anschauung reiner Wesen hat sicherlich ein großes allgemeines 
Interesse, aber die Selbstgewißheit der Wahrheit kann durch sie nicht 
begründet oder bekräftigt, sondern nur ans Licht gestellt werden. 
Etwas anderes ist es mit der Frage nach der Herkunft der Axiome 
und dem Recht, mit dem ihnen bestimmte Anwendungsgebiete 
zugesprochen werden. Ein Blick auf das Wesen der materialen Onto- 
logien zeigte uns bereits, daß die materialen Grundzüge der Wesen 
(also das, was die Axiome erfüllt) nicht selbst wieder mathematisch 
gefunden werden können. Das gilt natürlich auch für die Erfüllung 
mit formallogischem Material. Die Axiome sind so weit zurück¬ 
geschoben, als mathematische Methode überhaupt reicht; die Tat¬ 
bestände, die ihre Erfüllung begründen, sind nur deskriptiv faßbar. 
So erhält die formale Logik eine eigentümliche Mittelstellung; sie 
liefert selbst Material für gewisse Zweige der reinen Mathesis, wäh¬ 
rend sie in ihrer ontologischen Wendung den materialen Ontologien 
als Lehre von der reinen Form einer Region gegenübertritt. Offen¬ 
bar handelt es sich beide Male um verschiedene Bedeutungen der 
Termini: Form und Material. Die mathematische Formalisierung 
(eines der fruchtbarsten Prinzipien der modernen Mathematik) stellt 
einer angewandten mathematischen Disziplin ihr reines deduktives 
Gerüst, befreit von den durch die besondere Bedeutung bedingten 
Einschränkungen, gegenüber; sie bildet z. B. zur natürlichen Geo- 


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416 


Heinrich Gustav Steinmann, 


metrie den erweiterten Begriff einer abstrakten Geometrie, 
die nicht an eine bestimmte Dimensionenzahl und andere Ein¬ 
schränkungen gebunden ist. Die logische Formalisierung da¬ 
gegen bringt keine Erweiterung, sondern nur eine Verdünnung 
des Gegenstandes mit sich; ihr ganzer Gehalt ist ein reflexiver. Es 
ist der Gehalt, den man üblicherweise der formalen Logik beilegt, 
und da wir schon wissen, daß er im Gebiet des Mathematisch-formalen 
nicht zu finden ist, so müssen wir die sachhaltige Sphäre aufweisen, 
die ihn erzeugt und ihm dabei jene eigenartige »reflexive« Formalität 
den anderen, eigentlich materialen Regionen gegenüber verleiht. 

Hält man sich das Problem in dieser doppelten Bestimmung vor 
Augen, daß nämlich der Inhalt der formalen Logik Material aus einer 
bestimmten Region und doch allen anderen Regionen gegenüber 
reflexive Form sein soll, so kann die Lösung nicht zweifelhaft sein. 
Lask hat sie mit aller Deutlichkeit gegeben 1 ). Es ist die Tätigkeit 
des Subjekts, die sich diese Welt der reflexiven Formen schafft. 
Während alle anderen Gegenstandsarten, auch die idealen Objekte, 
in ihrem eigenen Wesen unabhängig sind von den Akten des Subjekts, 
so gewinnen die Gegenstände der formalen Logik erst ihren Sinn im 
Rückblick auf einen erkennenden Geist, der bei aller Allgemeinheit 
doch immer die Züge des menschlichen an sich trägt. Das gilt ganz 
besonders von den Formen der ausdrücklichen Sphäre, da 
doch Ausdruck nur mit Rücksicht auf ein verstehendes Subjekt Sinn 
hat; vom Begriff, sowohl im allgemeineren Sinn von Bedeutung 
überhaupt, wie in dem spezielleren von Gattungsbedeutung, weiter 
vom Urteil, dessen Formenreichtum Lask mit Recht auf die Tätig¬ 
keit des Subjekts zurückführt, vom Schluß endlich, dessen Begrün¬ 
dungen ja auch nur auf das Wissen des Subjekts, nicht auf die sach¬ 
lichen Gründungsbeziehungen gehen. Die Kritik der Kantischen 
Ableitung der Kategorien aus der Urteilstafel hat immer wieder auf 
die radikale Kluft hingewiesen, die besteht zwischen den (konstitu¬ 
tiven) Kategorien als Momenten am Gegenstand und den reflexiven 
Bestimmungen, die der traditionellen Urteilstafel als Grundlage dienen. 

Ein Wort wäre noch über die reflexiven Kategorien zu sagen. 
Die Identität wird in der modernen Logik gerne als die allgemeine 
Grundbeschaffenheit, geradezu als das constituens der Gegenstände 
bezeichnet. Das trifft zu, wenn man mit Gegenstand Aktkorrelat 
meint. Im Hinblick auf die verschiedenen Akte, in denen er erfaßt 


1) VgL die ganze »Lehre vom Urteil «und »Logik der Philosophie «, S. 138ff.; 
wo auch auf Lotze und Windelband als Vorgänger hingewiesen wird. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


417 


wird, kann der Gegenstand mit Recht als der eine, identisch vor¬ 
schwebende bezeichnet werden 1 ); ohne Rücksicht auf diese Relation 
hat das gar keinen Sinn. Es geht nicht an, die Identität in dem Sinne 
als konstitutive Grundbeschaffenheit aller möglichen Gegenstände 
hinzustellen, wie es etwa die zeitliche Bestimmtheit für die realen, 
die raumzeitliche für die materiellen ist. So wenig wie man 
Cäsars Rubikoübergang in demselben Sinne eine entscheidende Tat 
und einen Urteilsinhalt nennen kann, ebensowenig darf es im selben 
Sinne eine Eigenschaft dieser Rose heißen, daß sie gelb und daß sie 
mit sich identisch ist. Will man der Identität nicht fälschlich einen 
zeitlichen Sinn unterschieben 2 ), so hat sie gar keinen greifbaren 
Gehalt, der sich auf die Gegenstände selbst, imabhängig von ihrem 
Erfaßtwerden, bezöge. Entsprechendes gilt von allen anderen re¬ 
flexiven Formen. 

Es kommt nun darauf an, aus dem Gesagten die nötigen Schlüsse 
auf die Behandlungsart der formalen Logik zu ziehen. Auf der 
Höhe der Klarheit werden die logischen Strukturen schließlich als Er¬ 
füllungsgebiete gewisser Axiome aufzuzeigen sein, worauf die weitere 
Behandlung der mathematischen Deduktion zufällt. Wie soll aber 
die Untersuchung bis auf diesen Punkt geführt werden? Es handelt 
sich also darum, das Wesen der Akte kennen zu lernen, in denen das 
Subjekt zu irgend welchen Gegenständen theoretisch Stellung nimmt, 
um die in dieser Stellungnahme gründenden Strukturen der formalen 
Logik zu verstehen. Offenbar fällt diese Aufgabe der Phäno¬ 
menologie zu. Hier ist also die Stelle, wo Husserl im Recht ist, 
wenn er die Klärung logischer Probleme von seiner neuen Betrach¬ 
tungsweise erwartet. Neu ist sie allerdings nur in ihrer Folgerichtig¬ 
keit und methodischen Bewußtheit; im Grunde hat man formale Logik 
immer so getrieben. Aber die Unklarheit über die Methode hat nicht 
nur zu der schon erwähnten Vermengung des phänomenologischen 
und des deduktiven Teils der Logik geführt, sondern sie hat auch den 
fortwährenden Kampf hervorgerufen, der sich heute an das Schlag- 
wort »Psychologismus « knüpft. Daß die Geltung der logischen Wahr¬ 
heiten mehr der der mathematischen als der der psychologischen 
gleiche, hat man stets gefühlt, aber ebenso setzt sich immer wieder 
das Bewußtsein durch, daß die Logik von der Psychologie irgend 
welche Belehrung zu empfangen habe. Die Akte theoretischen Er- 

1) Diesen Sinn gibt der Identität auch Kiilpe (Realisierung I, 92f.), nur 
mit der Einschränkung auf Denkakte. 

2) Was schon Kant beim Satz des Widerspruchs tadelt: Kr. d. r. V. 
B. 191 f. 

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Heinrich Gustav Steinmann, 


fassens müssen in der Tat wesensmäßig untersucht werden, um die 
verschiedenen Arten der Stellungnahme des denkenden Subjekts zum 
Gegenstand kennen zu lernen; daneben sind es besonders die Akte 
des Bedeutens, die für die logische Formenlehre von Wichtigkeit sind. 
Hier eröffnet sich der Phänomenologie in der Tat ein weites Arbeits¬ 
gebiet, in dem sie rein deskriptive Wesensforschung treiben kann, 
freilich nicht in voller Unabhängigkeit von der Erfahrung, aber doch 
mit der ideierenden Richtung auf das rein Wesensmäßige. Die eide- 
tische Forschungsrichtung sichert die wesensmäßige Allgemeinheit der 
beschriebenen Strukturen und ermöglicht schließlich den Nachweis der 
Erfülltheit gewisser rein formaler Axiome und damit den Übergang zur 
deduktiven Logik als einer Teildisziplin der allgemeinen Mathematik. 

Es gilt also, dem Vorwurf des Psychologismus ins Auge zu sehen 
und scharf zu scheiden zwischen der Gründung der formalen Logik 
auf die wesentlichen Züge der Denkakte und einem unberechtigten 
allgemeinen Empirismus. Es ist selbstverständlich nicht unsere Ab¬ 
sicht, die Geltung des Satzes vom Widerspruch von psychologischen 
Beobachtungen abhängig zu machen. Nur sein Sinn soll in phäno¬ 
menologischer (also für uns in gewissem Sinne psychologischer) Analyse 
geklärt werden. Hat man sich das Wesen des Aktkorrelats, mithin 
der reflexiven Gegenständlichkeit, überhaupt einmal zum Bewußtsein 
gebracht, so ist der Satz selbst durch Einsicht in den Wesensverhalt in 
strenger Allgemeinheit zu gewinnen. Aufgabe der Phänomenologie 
ist es nur, die logischen Strukturen verstehen zu lernen, die in 
ihnen gültigen Gesetze enthüllen sich dann von selbst in ihrer vollen 
Strenge. 

Aber nicht nur dieApriorität der formalen Logik scheint ihrer 
Gründung auf Erfahrung zu widerstreiten, sondern auch ihr angeb¬ 
licher Charakter als Normwissenschaft. Die Psychologie, so sagt 
man wohl, kann höchstens erforschen, wie wirklich gedacht wird, 
die Logik soll Normen aufstellen, wie gedacht werden soll 1 ). Mit 
der Logik als Normwissenschaft und Kunstlehre hat sich Husserl 
schon früher auseinandergesetzt 2 ). Die Frage kann nur sein, welches 
die »theoretischen Fundamente« dieser Normwissenschaft sind; sie 
allein suchen wir hier. Gewiß tritt neben die phänomenologische 
Aufweisung des Sinnes der logischen Gegenstände eine zweite fundie¬ 
rende Disziplin, eine »reine Logik«; es ist dies eben die Mathesis 
universalis im weitesten Sinne. Auf sie stützt sich jeder, auch der 


1) So A. Messer im Aroh. f. d. ges. Psyoh. 22. 118. 

2) Log. Untersuch. I, 1. u. 2. Kap. 

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Zar systematischen Stellung der Phänomenologie. 419 

kleinste deduktive Schritt. Ihr Umfang und ihre Wichtigkeit für alles 
Denken wird nur darum so selten erkannt, weil es annähernd unmög¬ 
lich ist, in einem Gedankengang alle deduktiven Elemente heraus¬ 
zufinden. Man kann wohl zeigen, wo in einem angeblich strengen 
Beweis ein Punkt unbewiesen aus der Erfahrung aufgegriffen wird, 
obwohl auch dies schwer ist, wenn es sich um alltägliche Erfahrungen 
handelt 1 ); man muß dabei nur konsequent von seinem Erfahrungs - 
wissen abstrahieren. Von den einfachen Formen der Deduktion 
zu abstrahieren ist aber wohl kaum je ernstlich versucht worden; 
daher gibt es wohl ein rein deduktives, aber kein rein deduktionsloses 
Wissenschaftsideal. Nirgends macht sich auch ein Bedürfnis danach 
geltend; und so kommt es, daß wir meist keine Ahnung haben, wie 
tief ins anscheinend rein materiale hinein sich der Herrschaftsbereich 
mathematischer Form erstreckt. Bringt man sich dies aber einmal 
zum Bewußtsein, so wird man sich nicht mehr scheuen, in der leinen 
Mathesis das gesuchte, von aller Psychologie unabhängige, theoretische 
Fundament der Logik anzuerkennen. 

Außer der psychologischen Grundlegung aber wird es noch ein 
Punkt sein, der vor dieser Auffassung der formalen Logik zurück¬ 
schrecken läßt: es ist die Aufteilung ihres Arbeitsgebietes zwi¬ 
schen Phänomenologie und Mathematik. Wo bleibt die eigentlich 
philosophische Arbeit in der Logik? Nun, wir meinen, daß es keine 
Schande für die Philosophie sei, ein Gebiet den Einzelwissenschaften 
zu überlassen, nachdem sie es soweit geklärt hat, daß diese darin 
arbeiten können. Erfüllt sie doch damit die Aufgabe, die von jeher 
zu ihren schönsten und fruchtbarsten gehört hat: neue Einzeldiszi¬ 
plinen hervorzubringen, neue Forschungsrichtungen anzuregen und 
ihnen ihr Arbeitsfeld anzuweisen. Und eine Verarmung des philo¬ 
sophischen Gebiets brauchen wir auch nicht zu fürchten. Handelt 
es sich doch nur um die formale Logik; unangetastet bleibt nicht 
nur die Kategorienlehre, sondern das gesamte Gebiet, das unter den 
Titeln »transzendentale Logik« oder »Erkenntnistheorie« befaßt zu 
werden pflegt. Ja, die philosophische Betrachtung soll sich auch 
weiterhin wie mit allen anderen Regionen, so auch mit der formalen 
beschäftigen: als Theorie der formallogischen Erkenntnis, als ihre 
Kategorienlehre und Methodologie. Auch die Region »Natur« ist 
sachlich aufgeteilt zwischen Naturwissenschaft und Mathematik; 
dennoch schöpft die theoretische Philosophie aus ihr Probleme in 
Fülle. So wird es auch mit der formalen Region sein. 


1) Wie z. B. der Streit um die Grundlagen der Geometrie zeigt. 


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420 


Heinrich Gustav Steinmann, 


Der Vergleich der formalen Logik mit der Ontologie der Natur darf 
selbstverständlich nicht übertrieben werden; aber nach einer Rich¬ 
tung hin mag er uns doch noch einen Fingerzeig geben. Wir sahen, 
daß die mathematische Logik auch bei denkbar größter Aus¬ 
dehnung den Problemkreis nicht erschöpfen kann, sondern ergänzt 
wird durch eine deskriptive Disziplin (in unserem Falle einen Zweig 
der Phänomenologie), die die materialen Grundlagen für das mathe¬ 
matische Schema liefert. Es ist mit der Ontologie der Natur nicht 
anders. Wie schon im II. Abschnitt ausgeführt wurde, hat z. B. die 
physische Geometrie nicht rein mathematische Grundlagen. Mag 
man sie axiomatisch oder analytisch begründen, jedenfalls wird man 
die Geltung der Axiome oder die einzelnen Schritte des analytischen 
Aufbaues an dem Wesen der res extensa ausweisen müssen. Es wird 
also auf empirischer Grundlage eine Beschreibung 1 ) derjenigen 
wesentlichen Eigenschaften des physischen Raumes zu liefern sein, 
die zum Aufbau der Geometrie imbedingt nötig sind. Wir treffen 
hier somit dieselben Verhältnisse, wie bei der formalen Region: die 
Grundlage der mathematischen Eidetik bildet die deskriptive, 
die uns freilich nicht ohne Rekurs auf Erfahrung zugänglich ist. Der 
»starre Körper«, ohne den physische Geometrie nicht zu begründen 
ist, ist ebensowenig rein a priori gegeben, wie die »doxischen Noesen «, 
die wir in der logischen Phänomenologie studieren. Der Vergleich ist 
auch geeignet, unsere Auffassung vor dem Vorwurf des Psychologis¬ 
mus zu bewahren. So wenig wie die Gau ßsche Auffassung des Raum¬ 
problems der Geometrie ihre deduktive Strenge nimmt, so wenig wird 
der Rückgang auf die konstituierenden Akte des Subjekts die logischen 
Strukturen von psychologischen Velleitäten abhängig machen. Wer 
die Geltung der syllogistischen Figuren auf psychologische Experi¬ 
mente stützen wollte, wäre nur mit dem zu vergleichen, der die ana¬ 
lytisch berechneten höheren Dezimalen von tc an großen, möglichst 
exakt gebauten Rädern nach messen wollte 2 ). Möglich sind solche 
Nachweisungen selbstverständlich, aber sie sind zwecklos und metho¬ 
disch verfehlt, weil sie die in der Natur der Gegenstände hegenden 
Grenzen zwischen Aufweis und Beweis, zwischen Deskription und 


1) Auch Hilbert, der freilich nioht die Erfahrung, sondern nur die 
Baumansehauung zu Rate ziehen will, weist in seinen Grundlagen der 
Geometrie den Axiomen gleich zu Anfang die Aufgabe zu, die gegenseitigen 
Beziehungen zwischen Punkten, Geraden und Ebenen genau zu be¬ 
schreiben. 

2) Wobei natürlich die Geltung des Euklidischen Axioms vorausgesetzt 
wird. 


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Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 


•421 


Deduktion mißachten. So verfallen sie in denselben Fehler, den man 
mit Recht bei dem verlacht, der 1000 abgezählte kleine Steine in 
Häufchen zu 27 ordnet, und, nach dem 37. Häufchen noch einen Stein 
übrig behaltend, einen strengen Beweis für die bisher voreilig gemachte 
Hypothese erbracht zu haben meint, daß 37 • 27 = 1000 — 1 ist. 

Gegen den ganzen Vergleich könnte sich der Einwand erheben, die 
formale Region sei allumfassend und daher unvergleichbar mit 
einer Einzelregion, wie der Natur, die nur einen echten Teil von ihr 
umspanne. Dagegen muß an das erinnert werden, was oben über den 
reflexiven Charakter des Formallogischen gesagt wurde. Die 
Gegenstände der Naturwissenschaft sind nicht wesensmäßig Akt¬ 
korrelate, wenn sie es auch zufällig, gewissermaßen nebenbei, in 
allen auf sie gerichteten Erkenntnisakten sind. Die Naturwissenschaft 
hat es nie nötig, auf die Akte, in denen sie selbst lebt, zu reflektieren. 
Nirgends stützt sie sich in ihren Gedankengängen darauf, daß ihre 
Gegenstände von denkenden Wesen erfaßbar sein müssen; bei der 
schrankenlosen Universalität des Logischen würde ein solches Argu¬ 
ment auch gar keine Beweiskraft haben. Nochmals zeigt sich uns 
hier die radikale Kluft, die, phänomenologisch betrachtet, zwischen 
dem gegenständlichen Kern und dem noematischen Beiwerk hegt. 
Nur in diesem Beiwerk hegen die formalen Bestimmungen, die auch 
vom materialen Gegenstand als dem Kern dieses Beiwerks gelten. 
■Sie finden alle ihren Grund in noetischen Strukturen, und nur die 
auch von uns anerkannte Vollkommenheit des noetisch-noematischen 
Spiegels überträgt sie ins Noematische und ermöghcht so die gegen¬ 
ständliche Fassung der logischen Grundsätze, die die formale Logik 
in eine formale Ontologie umwendet. 

Verfehlt wäre es aber andererseits, wenn man die hier entwickelte 
Analogie zwischen zwei Regionen als völhge Gleichheit der Ver¬ 
hältnisse in ihnen auffa&sen wollte. Deskriptiv müssen die Grund¬ 
lagen der Ontologie der Natur wie der formalen Region sein; aber sie 
sind darum nicht beide phänomenologisch. So lange man unter 
Phänomenologie eine Wissenschaft vom Bewußtsein versteht, trägt 
sie nichts bei zur Lehre von Gegenständen, die in ihrem Wesen nichts 
Bewußtseinsmäßiges enthalten. Wir haben Husserls Versuch, auch 
die materialen Ontologien phänomenologisch zu begründen, schon im 
vorigen Abschnitt bekämpft. Will man sich nicht entschließen, den 
Begriff der Phänomenologie auf alle deskriptive Eidetik auszudehnen, 
was vielleicht nach den »Logischen Untersuchungen«, nicht mehr 
aber nach den »Ideen« möglich ist, so muß man zugeben, daß es neben 
der Phänomenologie noch andere, von ihr unabhängige, deskriptive 


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422 H. G. Steinmann, Zur systematischen Stellung der Phänomenologie. 

Wesenswissenschaften gibt 1 ). Das Wesen »Natur« kann deshalb 
nicht aus dem Wesen »naturmeinender Akt« verstanden werden, weil 
dazu erst gezeigt werden müßte, daß dieser Akt mit seiner Meinung 
die reale Natur auch trifft. Dies kann nur geschehen, wenn man zum 
Vergleich das Wesen der realen Natur kennt; dann aber hat man ja, 
was man will, und der Umweg über den Akt ist überflüssig. 

Daß aber überhaupt der mathematisch-deduktive Typus der 
Wesenserkenntnis nicht der einzige sei, sondern durch einen deskrip¬ 
tiven ergänzt werden müsse, das hat Husserl scharf erkannt. Die 
Herausstellung dieses Typus und seine Trennung vom mathemati¬ 
schen 2 ) bildet eines der großen Verdienste der »Ideen«. Ergänzt 
wird diese methodische Leistung durch die sachliche: ein Stück 
deskriptiver Eidetik hegt in diesen Grundlinien der Phänomenologie 
vorgezeichnet da. Dabei hat Husserl sein Problem gleich in voller 
Ausdehnung erfaßt: neben den theoretischen Akten stehen die 
wertenden und die wollenden, und mit ihrer Untersuchung er¬ 
strebt Husserl die Grundlegung der »Axiologie« und »Praktik«. 
Wir haben uns auf die theoretische als die grundlegende Seite be¬ 
schränkt. Auch hier schon war der Ertrag reich: denn mußten auch 
die Grenzen der Phänomenologie etwas enger gezogen werden, als 
der Urheber sie gesteckt wissen will, so blieb uns doch ihr wesent¬ 
licher Gehalt, und zugleich hat sich uns der Ausblick eröffnet auf 
neue Probleme und auf Methoden, die zu ihrer Lösung dienen können. 

1) Daß die Methode der Wesensanschauung über das Gebiet des Bewußt¬ 
seins hinausreicht, stellt auch Messer in seinem zweiten Aufsatz (S. 66) fest. 
Doch scheint er dazu zu neigen, den Begriff der Phänomenologie entsprechend 
zu erweitern. 

2) Id. 132ff. 


(Eingegangen am 3. März 1916.} 


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Untersuchungen über die Funktionen des Denkens 
und des Gedächtnisses 1 ). 

i. 

Psychologische Natur der Beziehungserlebnisse. 

. Von 

Dr. A. A. Grünbaum, 

Privatdoz. der exp. Psychologie an der mediz. Fak. der Universität Amsterdam. 


Inhalt. s«it« 

I. Einleitung: Problemlage und der Gang der Untersuchungen .... 424 
1) Die Aufgabe. 2) Bemerkung über die Ordnungen der Begriffe 
und der Sachen. 3) Die theoretische Lage der modernen Gedächt¬ 
nisforschung. 4) Der Gang folgender Untersuchungen. 

II. Das »Individual«- und das innere Experiment als Orientierungsmittel 429 
1) »Mengen«experiment 2) Individualexperiment. 3) Inneres Ex¬ 
periment. 4) Gegenstandspsychologisches Experiment. 


III. Bewußtseinsformen der Beziehungserlebnisse.433 

1) Materielle Unterschiede der Beziehungserlebnisse. 2) Dynamische 
Unterschiede der Beziehungserlebnisse. 3) Stufen des Beziehungsaktes. 

IV. Inhalt, Gegenstand und Funktion in ihrem Zusammenhang in der 

psychischen Wirklichkeit.437 

1) Inhalt und Funktion in der subjektiven Erfahrung. 2) Verschie¬ 
denheit beider in bezug auf das Gegenständliche. 3) Bemerkung 


I) Die Hauptideen folgender Untersuchungen waren vorgetragen an einem 
Bonner Kolloquiumabend meines unvergeßlichen Lehrers Oswald Külpe 
vom Jahre 1911 (16. November). Druckbereit war das Manuskript in seiner 
jetzigen Form schon Ende 1913. Gründe, die nicht wissenschaftlicher Natur 
sind, lassen diese Untersuchungen erst jetzt erscheinen. Inzwischen waren die 
Arbeiten von Poppelreuter, Selz, Brod und Welsch und Müller-Freien • 
felis veröffentlicht, die an .die weiter skizzierte Reproduktionstheorie heran¬ 
reichen. Daß es sich in der vorliegenden Arbeit um prinzipiell andere Fundierung 
und damit auch um ganz andere Umgestaltung der Lehre von Assoziationen 
handelt, wird man ersehen können aus dem Zusammenhänge meiner Theorie 
von Inhalt, Gegenstand und Funktion. Ich lasse daher die ursprüngliche Form 
des Manuskriptes unberührt und verschiebe die Würdigung der genannten 
Autoren bis zur Behandlung entsprechender Experimente, die von mir im 
Bonner Psychologischen Institut in den Jahren 1911 bis 1914 ausgeführt 
worden sind. 

Archiv für Psychologie. XXXVI. 

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424 


A. A. Griiubauin, 


Seile 

über die Lehre von Brentano. 4) Gegenständlichkeit der Empfin¬ 
dungen. 5) Intimität der empfindnngsmäßigen Gegenständlichkeit. 

6) Über immanente Gegenstandsbeziehnng der Empfindnngsinhalte. 

7) Bemerkung über E. Husserl. 8) Bemerkung über A. Messer. 

9) Bemerkung über H. Bergmann. 10) Betrachtung der Argumente 
von A. Messer. 11) Distanzierung zwischen Inhalt und Gegenstand 
in der Vorstellung. 12) Intentionales Erlebnis und das Denken. 

13) Transzendenz der Denkgegenstände. 14) Psychologische Ver¬ 
schiedenheit zwischen Empfindung und Vorstellung. 

V. Die funktionale Genese des Beziehungsbewußtseins.. 453 

1) Inhaltliche Beziehungserlebnisse. 2) Funktionelles Beziehungs¬ 
bewußtsein. 3) Zwischenstufen der bewußten Beziehungsformen. 

4) Ursprüngliche Form des Beziehungsbewußtseins. 5) Konkretes 
Beziehungsbewußtsein ist nicht inhaltlich. 6] Beziehungserlebnisse 
als bewußte Zuordnungen. 


I. 

Einleitung: Problemlage und der Gang der Untersuchungen. 

1) Die folgende Untersuchung wollte zuerst einen naturgemäß auf 
die Vollständigkeit verzichtenden Versuch bilden, sich über die 
Probleme zu orientieren, welche für eine experimentelle Behandlung 
der Zusammenhänge zwischen Denken und Gedächtnis in Betracht 
kommen. Danach sollten die Gesichtspunkte ausgearbeitet werden, 
nach welchen das Beobachtungsmaterial zu schichten wäre. Ich 
mußte aber dazu die durch Theorien beeinflußten Fragestellungen auf 
ihren Ursprung hin prüfen und die Begriffe von ihrem tatsächlichen 
Gebrauch in der Theorie und Praxis auf ihren wesentlichen Gehalt 
reduzieren. Nur nach solchen Begriffen kann man sich in der schlicht 
schauenden Betrachtung richten, welche die Erfahrungsgrundlage 
jeder weiteren psychologischen Analyse bildet. Damit ist aber schon 
der eigentüche Sinn meiner Aufgabe gegeben: Im Hinblick auf 
die Methode soll eine kritische Orientierung über die Begriffe und 
eine deskriptive Orientierung über die Sache selbst versucht werden. 

2 ) Daß diese zwei Richtungen im Gang der Untersuchung nicht 
immer methodisch geschieden werden können, besagt nichts gegen 
ihren prinzipiellen Unterschied. Besitzen doch die Begriffe eine 
Ordnung, deren Prinzipien auf die Zusammenhänge der Sachen nicht 
ohne weiteres anwendbar sind. Aber die eventuelle methodische 
Unmöglichkeit, beide zu trennen, weist wenigstens darauf hin, daß 
neben der Aufgabe die Bedeutung der Begriffe zu analysieren und das 
Wesen der Sachen aufzudecken (beides Phänomenologie genannt), 
noch ein anderes tatsächliches Verfahren besteht, das weder Be¬ 
deutungsanalyse noch Wesensschauung ist. Dieses realisierende 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 425 

Verfahren bestimmt letzten Endes die allgemeine Struktur, in welche 
Begriffs- und Sachordnung, an sich genommen, eingehen. Wenn 
man Begriffsanalyse an der Hand einer unmittelbaren Erfahrung 
vomimmt, oder das Erlebnis mit Hilfe der schon festen Begriffe 
präzisiert, so setzt das immer die allgemeine Orientierung der Begriffe 
und der Sachen untereinander voraus. Prinzipien dieser fundamen¬ 
talen gegenstandstheoretischen Orientierung auch nur annähernd 
aufzudecken, schwebt mir als ein noch lange nicht erreichbares Ziel 
vor. In der vorliegenden Untersuchung ist aber versucht worden, 
hie und da einige solcher Orientierungen herauszuarbeiten und in 
speziellen Fällen anzuwenden. 

3) Daß solche vorexperimentellen Orientierungen sich dabei zu 
einer detaillierten selbständigen Untersuchung entwickeln müßten, 
liegt in erster Linie begründet in der Lage der heutigen Psychologie 
des Denkens und des Gedächtnisses. Auf der Seite der klassischen Ge¬ 
dächtnispsychologie, welche mit den sinnreichen und bahnbrechenden 
Versuchen von Ebbinghaus 1885 ihren Anfang genommen hat, ist 
man im großen und ganzen nicht über die theoretischen Voraus¬ 
setzungen dieser Versuche hinausgegangen. Der Versuch, mit sinn¬ 
losen aufeinanderfolgenden Silben dem psychologischen Wesen des 
Gedächtnisses näher zu kommen, ist nicht auf die augenscheinliche 
Mannigfaltigkeit und teleologische Lebendigkeit der tatsächlichen 
Phänomene abgezielt. In der Methode war bloß die Idee verkörpert, 
daß der subjektiven Mannigfaltigkeit und Teleologie eine objektive 
Gleichmäßigkeit und eine einfache Mechanik der realen Zusammen¬ 
hänge zugrunde liegen muß. Den bestimmten theoretischen Aus¬ 
druck dieser leitenden Idee bildet das Assoziationsschema; und die 
atomistischen Anschauungen dieser Lehre waren es, die für die Ge¬ 
staltung des Experiments, für die Auswahl des Materials und für die 
experimentelle Fragestellung vorbildlich und bestimmend gewesen 
sind. Das konsequente Weiterausbauen und die nach allen Richtungen 
gehende Variation der Bedingungen, die die klasischen Gedächtnis¬ 
untersuchungen von G. E. Müller und seiner Schule darbieten, haben 
die obige theoretische Anschauung praktisch erprobt und erhärtet. 

Damit aber traten auch in den Vordergrund des Interesses nicht 
die prinzipiellen Fragen des Gedächtnisses und das Untersuchen seiner 
Mannigfaltigkeit, sondern in erster Linie Probleme, die unmittelbar 
aus der Methodik des Experiments selbst folgen 1 ). Zwar hat die 


1) In seinem Lehrbuch der Psychologie (Bd. II) spriohfc sich Titohener 
in derselben Richtung aus. Er macht darauf aufmerksam, daß durch die aus- 

28 * 


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426 


A. A. Grün bäum, 


Forschung im bestimmten Gebiet bei solcher Problementwicklung 
immer eine sichere Grundlage in den vorhergehenden Untersuchungen 
und kann eine planmäßige Geschlossenheit der Resultate erhoffen. 
Nach der Heterogenie der Zwecke aber bringt diese Tendenz — (be¬ 
stimmte Wege des Experiments einzuschlagen) — auch einen uner¬ 
wünschten Nebeneffekt mit sich. Die theoretischen Voraussetzungen, 
die dieser Einzelmethode zugrunde liegen, werden nämlich mit der 
Methodik selbst übernommen und wachsen über das Anwendungsbe¬ 
reich dieser Methodik hinaus. Konkret gesprochen: Das Assoziations¬ 
schema, das der Untersuchung ganz bestimmter Erscheinungen des 
Gedächtnisses zugrunde gelegt war, wird allmählich a priori auf 
ganz anders geartete Erscheinungen angewandt. Und was das Ge¬ 
fährlichste ist — diese neuen Erscheinungen werden nur unter den 
experimentellen Bedingungen studiert, die von vorherein schon auf 
gewohnte Zusammenhänge und Erklärungen abzielen 1 ). Will man, 

schließliche Verwendung der sinnlosen Silben die unmittelbare psychologische 
Aufgabe einer Beschreibung der Bewußtseinsvorgänge beim Gedächtnis in den 
Hintergrund getreten ist. Durch die Bestimmtheit der Resultate und durch die 
verlockende Möglichkeit, die Ergebnisse in eine quantatitive Form zu bringen, 
wurde der Umstand zu wenig gewürdigt, daß diese quantitative Bestimmtheit 
sich vielmehr auf die organische Grundlage des Gedächtnisses bezieht, als daß 
sie das psychische Wesen der Erinnerungsvorgänge ausmaoht. (Deutsche 
Ausgabe S. 414f.) 

1) Ähnliche Konsequenzen eines theoretisch und materiell eng abgegrenz- 
ten wissenschaftlichen Betriebes finden wir sogar in den Wissensgebieten, in 
denen das Sehen der Tatsachen weniger von der Theorie abhängt, als es in der 
Psychologie leider der Fall zu sein pflegt. Man lese z. B. v. Kries, Über die 
materiellen Grundlagen der Bewußtseinserscheinungen 1901 (S. 4f.). »Selbst 
an denjenigem Gebilde, das am ehesten einer wirklichen Untersuchung seiner 
funktionellen Eigenschaften zugänglich erscheint— der peripheren Nervenfaser, 
liegen die Dinge so, daß unsere Hilfsmittel zur Zeit nur in einer Richtung, 
nämlich hinsichtlich der elektrischen Eigenschaften unserer Beobachtung die 
Funktion an ihm selbst gestatten. Ob nicht diese Beschränktheit der 
Methodik eine großeGefahr mit sioh führt, dieVorgänge sehr ein¬ 
seitig zu betrachten, ist eine wohl zu erwägende Frage. (Gesperrt 
von A. G.). Noch wichtiger aber ist folgendes: Die vielfache, gründliche, ein 
reiches Tatsachenmaterial zutage fördernde Erforschung der peripheren Nerven¬ 
faser hat naturgemäß den hieraus entwickelten physiologischen Grundbegriffen 
eine solche Bedeutung erworben, daß man auch in der Erörterung der ganz 
andersartigen Vorgänge des Zentralnervensystems zunächst eben jene physio¬ 
logischen Vorstellungen und Grundbegriffe zum Ausgangspunkt genommen und 
mit ihnen ausschließlich operiert hat. Hierdurch sind dann die meisten Ver¬ 
suche, welche darauf ausgingen, die materiellen Grundlagen psy¬ 
chischer Erscheinungen zu erforschen, in ein ganz bestimmtes 
Geleise hinein geschoben worden.« 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 427 

z. B. aus dem Bereich der sinnlosen Silben in das Gebiet des »logischen « 
Gedächtnisses übergehen, so wird die Untersuchung nach dem ge¬ 
wohnten Schema durch die Frage eingeleitet: Können die intellek¬ 
tuellen Elemente als assoziative Zwischenglieder, den repräsentativen 
Vorstellungen ähnlich, auftreten? Sind sie als assoziative Zwischen¬ 
glieder energischer als andere Elemente oder nicht? Haben sie eine 
exklusive Bedeutung im logischen Gedächtnis? 1 ) Bei dieser Art der 
Fragestellung ist die prinzipielle Gestaltung der gesuchten Antworten 
schon a priori bestimmt. Diese Antizipationen der Resultate könnte 
man in folgenden Sätzen formulieren: 1) Die Beziehungssetzung ist 
den Vorstellungen prinzipiell ähnlich, d. h. sie ist ein bewußter Inhalt, 
der wie alle anderen Inhalte relativ abgegrenzt ist und selbständig 
auftreten kann. 2) Die Art der Wirksamkeit einer Beziehung inner¬ 
halb der Inhaltsgesamtheit ist assoziativ zu denken, d. h. die bewußte 
Beziehung tritt in den psychischen Wirkungszusammenhang, indem 
sie neben die anderen Inhalte gesetzt wird, oder noch besser, zwischen 
sie eingeschoben wird. 3) Die sinnvolle Verbindung zweier Inhalte 
mittels einer bewußten Beziehung ist eine logische Hilfe — also 
kann das Logische im Gedächtnis, wenigstens bei diesem »primitiven« 
Fall, aufs Assoziative zurückgeführt werden. 

4 ) Diese Voraussetzungen für die Übertragung des Assoziations¬ 
schemas auf das Beziehungsbewußtsein und seine Wirksamkeit 
müssen aber sehr eingehend geprüft werden, da sie implicite ein 
ganzes apriorisches System der Denkpsychologie enthalten. 

1) Vgl. z. B. A. Michotte et C. Rftnsy, Contribution k l’6tude de la me¬ 
moire logique. Travail du laboratoire de peychologie experimentelle de l’Uni- 
■verat4 de Louvain. Extrait des Annales de l’Institut sup6rieur de Philosophie. 
95 S. gr. 8°. Louvain 1912. S. 0. 

Da im weiteren auf diese Arbeit mehrmals Bezug genommen wird und die 
Art ihrer Publikation für den Leser das Nachschlagen erschwert, geben ich hier 
das Notwendigste aus der Versuchsanordnung wieder: Unter logischem Ge¬ 
dächtnis wurde das Gedächtnis für den assoziativen Zusammenhang zweier 
Substantive verstanden, die bei der Einprägung von der Vp. auf Grund einer 
sinnvollen Beziehung verbunden werden sollten. Als intellektuelles Moment 
galt dabei für die A. das Bewußtsein dieser Beziehung (z. B. räumliche Konti¬ 
nuität, Gleichzeitigkeit, Kausalität, Finalität, Ähnlichkeit, Verschiedenheit, 
Koordination usw.). Bei den Experimenten wurden jedesmal 10 Gruppen 
k 2 Wörter exponiert, wobei jedes Paar 6 Sekunden gezeigt wurde. Zur 
Stiftung der Beziehung hatte die Vp. 7 Sekunden Zeit. Naoh einmaliger 
Exposition und einer Pause von 5 Minuten bekam die Vp. als Reizwort das 
erste oder das zweite Fundament einer gedachten Beziehung. Die Reaktions¬ 
zeit bis zur Antwort mit dem anderen Fundament wurde chronoskopisch ge¬ 
messen. Außer diesen Versuchen wurden vergleichsweise auch Versuche über 
das »sinnlose« Behalten von Ziffern angestellt. 


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428 


A. A. Uriinbauin, 


Eine voraussetzungslose experimentelle Behandlung dieser prin¬ 
zipiellen Fragen der psychischen Dynamik konnte in der modernen 
Denkpsychologie noch nicht vorgenommen werden. Es würde auch 
unmöglich sein, die experimentelle Einengung und Variation der Be¬ 
dingungen ohne weiteres durchzuführen. Denn bei der Vieldeutig¬ 
keit und Mannigfaltigkeit der entsprechenden Phänomene müssen 
zuerst die wesentlichen Zusammenhänge und Abgrenzungen prin¬ 
zipiell wenigstens herausgearbeitet werden, damit eine experi¬ 
mentell brauchbare — bestimmt eingeengte — Fragestellung sich 
ergibt. Die Lösung dieser speziellen deskriptiven Aufgabe verlangt 
aber zuerst eine prinzipielle Klärung über das Wesen der ent¬ 
sprechenden psychologischen Forschungsweise. Um die 
Frage zu beantworten, inwiefern das Beziehungsbewußtsein als ein 
Inhalt aufzufassen ist, gilt es einerseits die Formen des Bezie¬ 
hungsbewußtseins aufzudecken, anderseits aber das psychische 
W esen des Inhaltes einigermaßen zu bestimmen. Das ist möglich 
nur im Zusammenhänge mit einer erfahrungsgemäßen Einsicht in die 
allgemeinen Erscheinungsweisen des Bewußtseins. Da 
dieselben nur innerhalb der Auffassungsprozesse gegeben sind, so 
wird die Frage nach der inhaltlichen Struktur des Beziehungsbewußt¬ 
seins letzten Endes aus dem Problem der Auffassung der Inhalte 
und der Funktionen heraus zu beantworten sein. 

Um die Frage nach der Wirksamkeit des Beziehungsbewußtseins 
im Gedächtnis zu beantworten, ist es nötig, vor allem die Grenze des 
Assoziationsbegriffes festzustellen, um dadurch seine Anwendung 
auf das Beziehungsbewußtsein zu bestimmen. Deckt man somit den 
Sinn der meistens angenommenen Gedächtnistheorie auf, so zeigt 
sich im Laufe der Untersuchung, daß dieser Sinn gerade auf der 
Leugnung bestimmter Erscheinungsweisen des Bewußtseins beruht 
und nur innerhalb einer beschränkten Sphäre der tatsächlichen Er¬ 
fahrung Geltung hat. Seine relative Berechtigung und Stellung inner¬ 
halb der Gesamtheit der Reproduktionserscheinungen konnte ge¬ 
klärt werden jedoch durch die Statuierung realer physiologischer 
Grundlagen für das Ganze dieser Erscheinungen. Nur inso¬ 
fern ein solcher realer Zusammenhang zugegeben wird, kann man 
einen Versuch wagen, den reproduktiven Zusammenhang des 
Beziehungsbewußtseins und der Assoziation zu bestim¬ 
men. Erweist sich die reale Wirksamkeit der Assoziation als ein 
sekundäres Moment der psychischen Dynamik und der Begriff der 
Assoziation nicht genügend zur Bestimmung psychischer Zusammen¬ 
hänge — so erwächst für uns zum Schluß die Aufgabe, eine Übersicht 

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Untersuch, über die Fnnktionen des Denkens nnd des Gedächtnisses. 429 

der psychischen Organisationen zu entwerfen, welche der 
Mannigfaltigkeit der psychischen Erfahrung gerecht bleibt. 

In meinen Orientierungen auf dieses Ziel hin wird vielleicht das 
Aufdecken der sachlichen Konstitution von mancher Seite als 
begriffliche Konstruktion angesehen werden. Bei der noch 
nicht ausgestorbenen Opposition gegen »theoretische« Psychologie 
bin ich mir dessen wohl bewußt. Ich hoffe daher in weiter folgender 
Reihe der Publikationen, soweit das Experiment die Möglichkeit 
dazu bietet, manches auch durch isolierte experimentelle Provokation 
erhärten zu können. 


n. 

Das »Individual«- nnd das innere Experiment als Orientiernngs- 

mittel. 

1) Der Zusammenhang dieser rein psychologischen Experimente 
mit der hier angewandten Methode muß, mit Rücksicht auf die in den 
philosophierenden Kreisen blühenden Vorurteile gegen alles, was 
experimentell aussieht, schon jetzt festgesetzt werden. Die Samm¬ 
lung der bestimmt stilisierten Einzelfälle, welche durch das Ex¬ 
periment ermöglicht wird, das Summations-Experiment, hat den 
Sinn, die Grundlage für eine Induktion zu schaffen. Durch diese 
Induktion wird eine Gesetzmäßigkeit des Verlaufes oder die Auf¬ 
zählung aller konstituierenden Bedingungen eines idealen Phäno¬ 
mens gewonnen. Hier hat das einzelne Experiment einen Sinn nur 
in der Gesamtheit der die Induktion sichernden Anzahl der Ex¬ 
perimente. Einem einzelnen Falle kann man dabei weder die Ge¬ 
setzmäßigkeit des Verlaufes ablesen, noch mit seiner Hilfe die Ge¬ 
samtheit der konstituierenden Bedingungen feststellen. 

2) In anderen Fällen aber hat jedes einzelne Experiment einen 
Wert, der nicht erst durch die Summation mit anderen gleichartigen 
Experimenten gewonnen wird. Durch die willkürliche Provokation 
der Beobachtung und durch die Variation der Bedingungen wird dabei 
das psychische Phänomen bloßgelegt und in dasjenige Licht gesetzt, 
in dem manches überhaupt erst gesehen werden kann. Dieses Experi¬ 
ment ist, nicht quantitativ, sondern qualitativ aufzufassen. Sein 
Sinn liegt nicht in der Abgabe einer Bedingung für die gesuchte 
Totalität derselben oder eines Falles, dessen Qualität nur in der 
Gesamtheit der Einzeifälle ins Gewicht fällt. Dieses Experiment, 
welches wir ein Individualexperiment nennen wollen, deckt den 
tatsächlichen Wirkungszusammenhang oder eine strukturelle Bindung 
der Einzelmomente innerhalb eines Falles auf. Es handelt sich 


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430 


A. A. Grünbaum, 


dabei auch noch um ein Typisches, ebenso wie bei dem Summations¬ 
experiment, nur ist das nicht ein Mengen typisches, das an einem 
einzelnen Fall nicht gesehen werden kann, da die objektive Grundlage 
seiner Realisierung eben eine Menge ist. Es wird hier vielmehr das 
♦Individualtypische« aufgedeckt, d. h. die in jedem Einzelfalle ver¬ 
wirklichte lebendige Einheit der konkretisierenden Momente, welche 
eine »Idee« zu einem konkreten Gegenstand machen. Typisch ist 
diese aufgedeckte Struktur, weil sie das Allgemeine ist, das die Indi¬ 
viduen eben zu Individuen macht und den Grund abgibt für die syste¬ 
matische Geltung dieses Individuellen als einen spezifisch intendierten 
Gegenstand der allgemeinen Erkenntnis. Dieses Typische bleibt noch, 
ein Individuelles sogar im Hinblick auf die momentanen Individuen, 
weil es immer noch eine konkrete Einheit der Erlebnismomente dar¬ 
stellt und nicht bloß einen wesentlichen Zusammenhang der Merkmale, 
wodurch der Begriff sich gerade auszeichnet. Es läßt sich denken, 
daß einzelne konkrete Typen unter sich Systeme bilden können, die 
wieder auf Grund der Individualexperimente aufzudecken wären. 
Die Art der Ordnung innerhalb eines solchen Systems wird keine 
Verwandtschaft mit den begrifflichen Neben-, Über- und Unterord¬ 
nungen haben können, da die Elemente dieser Ordnung Bestandteile 
wirklicher Erlebnisse sind. Das werden vielmehr phänomenologische 
Zusammengehörigkeiten sein, die an dem ideelen Wesen im Sinne 
Husserls in verschiedenen Graden der Annäherung orientiert sind. 
Damit ist auch angedeutet, daß unsere konkreten Typen keine phäno¬ 
menologische, sondern vorerst noch psychologische Arbeitskategorien 
darstellen. Der Weg vom Einzelerlebnis zu den phänomenologischen 
Wesenheiten führt gerade durch diese Typen hindurch 1 ). 

Daß dieses konkret Typische nicht auf dem Wege der Induktion 
zu gewinnen ist, ist aus seinem Charakter unmittelbar zu ersehen. 
Die Häufung der Individualexperimente bedeutet daher nicht die 
Sammlung des Materials für eine nachfolgende Induktion. Sie bringt 
mit sich entweder die Erhärtung der gewonnenen Struktur für das 
Bewußtsein des Beobachters oder sie schafft eine Einstellung, bei der 
diese Struktur erst deutlich gesehen wird. Selbstverständlich können 
das Mengen- und das Individualexperiment bei aller ihrer prinzipiellen 
Verschiedenheit in einzelnen Fällen sich unterstützen. An einzelnen 

1) Die Theorie der Individualexperimente ist nioht nur von phänomeno¬ 
logischen Problemen abzugrenzen, sondern auoh in Beziehung zu setzen zu der 
Methodologie der »individualen« Wissenschaften. Dieselbe ist in ihren An¬ 
fängen vertreten bei H. Maier, Das geschichtliche Erkennen. Göttingen 1914, 
der den Begriff einer anschaulichen VerallgemeinerungeinfQhrt(S. 21 ff.). 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 431 

Fällen der quantitativen Reihe wird sich auch das Qualitative ab¬ 
lesen lassen. Das Umgekehrte wird m. E. schwer zu verwirklichen 
sein. Eine noch so lange Reihe von Individualexperimenten ist nur 
auf die Typik des einzelnen Falles eingestellt und kann daher nur sie 
demonstrieren. Die Gesetzmäßigkeiten des Verlaufs werden aber 
durch Summationen aufgedeckt, die gerade das Typische des Einzel¬ 
falles aufheben, wodurch erst auch die quantitative Bestimmung er¬ 
möglicht wird. Beide Aufgaben des Experiments müssen daher aus¬ 
einandergehalten werden. Dementsprechend gestaltet sich auch 
die Beurteilung der Experimente. Vor allem darf das Individual¬ 
experiment nicht an der Hand der quantitativen Zuverlässigkeits¬ 
kriterien des Mengenexperiments beurteilt werden. Manche Fest¬ 
stellung, wie gesagt, kann nur innerhalb entsprechender Bedingungen 
gesehen werden, die erst das Experiment schaffen kann, manches be¬ 
kommt die Lebendigkeit und Fülle des Tatsächlichen nur im Falle des 
durch das Experiment angeregten Erlebnisses. Insofern kann das 
Individualexperiment nicht durch eine phänomenologische Analyse 
ersetzt werden, obgleich es durch jene oft zweckmäßig angeregt 
werden kann. 

3) Vergegenwärtigt man aber innerlich ein solches Individual¬ 
experiment, so befindet man sich in der Einstellung des inneren Ex¬ 
perimentes und wieder nicht in einer phänomenologischen Stellung. 
Das sieht man schon daraus, daß nicht jedes qualitative Experiment 
eine vorherige innere Vergegenwärtigung erlaubt. Für die phäno¬ 
menologische Methode gilt das aber nicht, da sie prinzipiell auf alle 
Tatsachen anwendbar ist. Entweder hängt die obige Unmöglichkeit 
damit zusammen, daß die betreffende Komplikation des Phänomens 
in der Erfahrung des Beobachters bis jetzt noch nicht vorgekommen 
ist, so daß er nur durch eine äußere Herstellung mit ihrer konkreten 
Fülle und Lebendigkeit vertraut werden kann. Oder das Phänomen 
kann der Beobachtung nur durch eine radikale Isolation der Be¬ 
dingungen nahe gebracht werden, eine Isolation, die nur im äußeren 
Experiment verwirklicht werden kann. In diesem Punkte dürfte 
wieder ein Unterschied zu der phänomenologischen Methode liegen, 
von welcher behauptet wird, »daß es für Wesensuntersuchungen irre¬ 
levant sei, ob die betreffenden Untersuchungsgegenstände in der 
Wahrnehmung oder in der bloßen Vorstellung gegeben sind 1 ). 


1) Th. Conrad, Miinchn. Philos. AbhdL 1911, S. 76, besonders aber 
Husserl, Ideen zur reinen Phänomenologie usw., im Jahrb. L Phil, und 
phfinomenoL Forsch., Bd. L 1913. 

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A. A. Grünbaum, 


432 

Das innere Experiment entspricht, wie man sieht, nicht dem 
Ganzen des äußeren Experiments, da die quantitative Abart nie ver¬ 
gegenwärtigt werden kann, sondern nur seinem qualitativen Teil. 
Dieses Experiment muß auch von den »Modellkonstruktionen« 1 ) 
streng unterschieden werden. Denn die Modellkonstruktionen sind 
als demonstrative Hilfsmittel gedacht, die prinzipiell entbehrlich sind 
und den Gegenstand der Analyse höchstens veranschaulichen können. 
Das Individualexperiment ist aber als ein methodisch notwendiger 
Weg der betreffenden Forschung anzusehen. Die Möglichkeit, einige 
quaütative Probleme auf dem Wege des inneren Experimentes zu 
lösen, ändert nichts an der methodologischen Charakteristik dieses 
Verfahrens, als eines vollgültigen Experiments. 

4 ) Ähnlich ist das »gegenstandstheoretische« oder besser gesagt 
das »gegenstandspsychologische« Experiment, von dem Höfler 2 ) 
spricht, zu bewerten. Dies Experiment soll darin bestehen, daß man 
»absichtlich« diejenigen Vorstellungsgrundlagen herbeiführt »ange¬ 
sichts deren dann zuerst psychologisch erlebt und sodann gegenstands¬ 
theoretisch überprüft werden soll, ob sich auf jene Vorstellungen 
apriorische Urteile gründen«. Zur gegenstandstheoretischen Über¬ 
prüfung, die auf die allgemeine gegenständliche Charakteristik, un¬ 
abhängig von spezieller Inhaltsbestimmung hinzielt, genügt es öfters 
vollkommen, wenn die betreffenden Vorstellungsgrundlagen nicht tat¬ 
sächlich erlebt, sondern bloß innerlich vergegenwärtigt werden. 
Da das »absichtlich« geschieht, muß von einem Experiment ge¬ 
sprochen werden. Da diese Vergegenwärtigung den psychologischen 
Charakter des Vergegenwärtigten nicht verleugnet, sondern denselben 
gerade hervorhebt, muß man von einem psychologischen Experi¬ 
ment sprechen. Soweit dieses Verfahren aber das Typische aufdeckt, 
welches eine psychisch individuelle Einheit mitkonstituiert, nämlich 
die gegenständliche Charakteristik, ist dieses Experiment als ein Indi- 
. vidualexperiment in unserem Sinne zu betrachten. Da manche Typik 
nur an der tatsächlich vergegenwärtigten Einheit ermittelt werden 
kann, ist dieses innere gegenstandspsychologische Experiment ein 
wesentliches und nicht bloß didaktisches wissenschaftliches Verfahren. 

Die Resultate meiner Untersuchung sind in den entsprechenden 
Fragen mit Hilfe solcher Individualexperimente gewonnen. Dieses 
Verfahren ist besonders gut anwendbar auf primitive und innerlich 

1) Siehe W. Schmied-Kowarzik, Umriß einer neuen analytischen 
Psychologie 1912, S. 68f. 

2) Höfler, Gestalt und Beziehung usw. Zeitschr. für Psychologie, Bd. 60, 
S. 182 Anm. 

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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 433 


schon isolierte Phänomene des einfachen durch zwei Fundamente' 
fundierten Beziehungsbewußtseins. Es war daher auch möglich, in 
den nachfolgenden korrelativen äußeren Experimenten sich an den 
Ergebnissen der inneren Versuche zu orientieren und auch die Vpn. 
dementsprechend einzuleiten. Es hat sich auch erwiesen, daß die 
Mannigfaltigkeit der Aussagen sich einordnen läßt in das System, 
welches auf diesem Experiment aufgebaut worden ist. Die natur¬ 
gemäßen Schematismen des inneren Experiments haben sich dabei 
selbstverständlich in manchen Punkten bloß als eine vorläufige Kate¬ 
gorie der Ordnung und der Wendepunkte der Erlebnisse erwiesen. 

m. 

Bewußtseinsformen der Beziehnngserlebnisse. 

Eine von den häufigsten und dynamisch bedeutsamsten Formen 
des wirklichen Denkens bilden die sog. Erlebnisse der Beziehung. 
Eine Definition derselben und ihre Abgrenzung von anderen psychi¬ 
schen Wirklichkeiten werden wir vornehmen können nur nach einer 
detaillierten Kenntnis der Formen, unter denen diese Erlebnisse auf- 
treten. Da unsere Methode die Befragung der unmittelbaren Er¬ 
fahrung einschUeßt, kann eine Betrachtung der Ergebnisse der Unter¬ 
suchungen von Meinong, Lipps, der Brunswickschen Mono¬ 
graphie und der modernen Denkpsychologie, inauguriert durch Külpe 
und Bühler vorerst unterbleiben. Überschaue ich die Mannigfaltig¬ 
keit der Beziehungserlebnisse, so lassen sie sich nach zwei Richtungen 
hin unterscheiden, a) nach der materialen, inhaltlichen Ausfüllung 
der Erlebnisse (konkrete oder kategoriale Bestimmtheit des Bewußt¬ 
seins) und b) nach der formalen dynamischen Erfüllung desselben 
(Intendierung oder Vollziehung des Beziehungsaktes). 

1) Ad a. Eine konkrete Bestimmung der Beziehungserlebnisse 
liegt dann vor, wenn im Prozeß des Beziehens zweier konkret vorge¬ 
stellten oder auf bestimmte Weise gedachten Gegenstände dieselben in 
eine Einheit verbunden werden, die in ihrer individuellen Art nur für 
diese Gegenstände und nur in dieser Situation gilt. Wenn ich bei be¬ 
stimmten Gedankengängen eine Analogie zwischen Fluß und Kanal 
feststelle, so ist diese Analogie mit allen ihren Bestimmungen als voll¬ 
kommen durchgeführter Denkakt nur auf diese zwei Gegenstände 
anwendbar und nur in diesen Gedankengängen wirklich als solche 
gedacht. In einer anderen Situation ist die Analogie zwischen den¬ 
selben Gegenständen schon eine anders gefärbte Beziehung. Ebenso 
hat diese logische Beziehung psychologisch etwas ganz anderes im 
Falle einer festgestellten Analogie zwischen anderen Gegenständen, 

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434 


A. A. Grllnbanm, 


z. B. zwischen Kamel und Pferd. Bei konkreter Bestimmung der Be¬ 
ziehung hat sie jedesmal ihre charakteristischen Einzelheiten, Sphären¬ 
bewußtheit, Nuancen, Komplikationen und dergleichen Charakteri¬ 
stika mehr — die alle nur imgenügend den schlichten Tatbestand um¬ 
schreiben, daß sich in jedem einzelnen Falle nicht eine Gleichheit usw. 
feststelle, sondern eine ganz bestimmte Gleichheit, die durch die 
kategoriale Bezeichnung nur ganz allgemein angedeutet ist und als 
psychische Wirklichkeit ganz ungenügend charakterisiert ist. 

Ich kann aber zwei sogar konkret vorgestellte oder gedachte 
Gegenstände in einer Einheit verbinden, die bloß eine kategoriale 
Zusammenfassung bedeutet. Ich kann mir zwischen Fluß und Kanal 
eine Beziehung denken, — in Worten etwa: analoge Verwendung, — 
ohne etwas Näheres über diese Verwendung auszumachen. Und da 
diese Beziehung ohne nähere Bestimmung erlebt wird, kann psychisch 
dasselbe Erlebnis bei entsprechender Denkweise zwischen Kamel und 
Pferd sich einstellen. Hier spreche ich von kategorialem Beziehungs¬ 
erlebnis, da die Beziehung — wenn auch nicht immer in Form einer 
logisch anerkannten Kategorie ausdrückbar — doch dieselbe Struktur 
aufweist, wie im Falle einer Feststellung logisch kategorialer Ab¬ 
hängigkeit. 

2) Ad b. Nach der dynamischen Form unterscheiden sich die 
Beziehungserlebnisse, je nachdem die Beziehung tatsächlich innerlich 
durchlebt oder bloß gemeint wird, als etwas, was nur im Notfälle tat¬ 
sächlich durchdacht werden kann 1 ). Im ersten Fall haben wir es mit 
Beziehungserlebnissen zu tun, die in besonders charakteristischer Weise 
auftreten, wenn eine nicht allzufem hegende, aber für die Vp. gänzlich 
neue Beziehung gestiftet wird. Da wird tatsächlich mit den Funda¬ 
menten etwas gemacht, sie lösen sich förmlich in dem Ganzen des 
Beziehungserlebnisses auf. Diesen Vorgang möchte ich Beziehungs - 
Stiftung nennen, ohne die Frage hier zu berühren, ob eine Stiftung 
im strengen Sinne des Wortes möglich ist. Unsere Stiftung kann 
man bei den konkreten, so auch bei den kategorialen Beziehungserleb¬ 
nissen auf decken. Ebenso wie eine ausgefüllte, eigentümlich »ein¬ 
malig« gefärbte Einheit zwischen zwei Fundamenten »erlebt« wird, 
kann bei einer mathematischen Überlegung, wo plötzlich zwischen 
zwei verschiedenen Ausdrücken die Gleichheit aufleuchtet, das Er¬ 
lebnis als ein »neues«, »lebendiges«, »inniges«, durchkostet werden. 

Die zweite dynamische Form des Beziehungserlebnisses liegt in 
dem Meinen vor. Auch hier kann man die kategoriale wie die konkrete 

1) Vgl. unten S. 467. 

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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses- 435 


Zugehörigkeit zweier Fundamente »meinen« ohne sie zu durchleben 
— zwischen zwei Fundamenten alle die Nuancen und Einzelheiten 
nicht ausführen, sie aber bloß »mitmeinen« oder in einer eigentümlich 
sicheren Weise andeuten (womit schon eigentlich zu viel gesagt ist). 
Andererseits kann ich aber bloß die Gleichheit, den kausalen Zu¬ 
sammenhang zwischen zwei Gegenständen meinen, ohne nähere Inten- 
dierung der Verschiedenheit der Beziehung in jedem einzelnen Falle, 
vielmehr mit der ausdrücklichen Akzentuierung des kategorial »leeren « 
Verhältnisses. 

Somit sind vier Bewußtseinsformen des Beziehungserlebnisses 
unterschieden: 

1) konkrete Stiftung, 2) kategoriale Stiftung, 

3) konkretes Meinen, 4) kategoriales Meinen 1 ). 

Ich spreche nicht von der Stiftung einer konkreten oder kategorialen 
Beziehung oder von dem Meinen einer entsprechend gearteten Be¬ 
ziehung — denn auch der Prozeß selbst ist eigentümlich konkret und 
kategorial ausgefüllt und nicht bloß der entsprechende Gegenstand. 
Unmittelbar liegt eine Verschiedenheit der Aktcharaktere vor, 
und dies sei durch die gewählte Namensgebung hervorgehoben. Diese 
Aktcharaktere hängen aber selbstverständlich mit dem Charakter 
der entsprechenden gegenständlichen Beziehung oder vielmehr mit 
der Art der entsprechenden Gegenstandformung zusammen. Daß 

1) Diese Formen beziohen sich zuerst nur aut das primäre Erlebnis der 
Beziehung. Es bleibt vorläufig dahingestellt, welche Formen bei der Roproduk - 
tion einer Beziehung unterschieden worden; auoh die Frage, ob die Reproduktion 
eine Transformation der produzierten Beziehungsform mit sich bringt, soll jetzt 
unentschieden bleiben. Auch möchte ich jetzt in keiner Weise die Frage be¬ 
rühren, ob diese Einzelform nicht als bloß verschiedene Energiestufen einer 
Form des Beziehungserlebnisses aufzufassen sind. Für die Wirkungen inner¬ 
halb eines Reproduktionsprozesses bleibt es nicht gleichgültig, welche Form 
bei der Produktion angewandt war. Darüber später. 

Diese Tafel der Beziehungsform, die auf Grund innerer Experimente ge¬ 
wonnen war, habe ich in den späteren Experimenten als einen Leitfaden für die 
erste Orientierung der inneren Aufmerksamkeit bei Verfolgung der Beziehungs¬ 
erlebnisse der Vp. vorgelegt. Die Gefahren der Beeinflussung waren so gut wie 
ausgeschlossen. Denn neben dem Hinweis auf diese Begriffstafel, die an ganz 
allgemeinen Beispielen erläutert war, wurde der Vp. auoh eingeschärft, daß 
dieses Schema in keiner Weise verbindlich ist und, sobald dieVp. einigermaßen 
in der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse orientiert ist, zu verlassen sei. Anderer¬ 
seits waren in diesen Versuchen bloß geübte und selbständig psychologisch 
denkende Vpn. gebraucht. — Es hat sich auch tatsächlich erwiesen, daß dieses 
Schema einen Ausgangspunkt bilden konnte für eine Reihe interessanter Modi¬ 
fikationen der Beziehungsformen, wie es in dem experimentellen Teil gezeigt 
wird. VgL oben S. 432, 433. 


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436 


A. A. Grünbaum, 


dieser Zusammenhang nicht als eine einfache Zugehörigkeit des kon¬ 
kreten Aktes zum konkreten Gegenstand usw. zu denken ist, soll 
folgende Beschreibung zur Klarheit bringen. 

3) Drei Momente wollen wir in einem als vollkommen gedachten 
Beziehungsprozeß unterscheiden: 

1) Den primären Prozeß der Vereinheitlichung oder der struktu¬ 
rellen Schichtung des bis jetzt amorph gegebenen Materials — das 
Ergreifen der Beziehung. Dieses Ergreifen der Beziehung ist 
als ein primärer Akt nicht zu verwechseln mit den sich einstellenden 
weiteren oder engeren Zugehörigkeitserlebnissen, wie sie z. B. 
Haering 1 ) beschreibt. Das Ergreifen der Beziehung bildet gegen¬ 
über der weiteren Zugehörigkeitserlebnisse eine Schichtung des Er¬ 
lebnismaterials nach ganz bestimmten, wenn noch nicht klar heraus¬ 
getretenen Kichtungen. Dabei handelt es sich nicht um die inhalt¬ 
lichen Bestimmungen, wie bei den engeren Zugehörigkeitserlebnissen, 
sondern um eine dynamische Gliederung — um einen Fortschritt von 
der primären Organisation des Materials zu der letzten Vergegen- 
ständlichung desselben. 

2) Die kategoriale Formung, die darin besteht, daß die ge¬ 
wonnene Einheit gewissermaßen kristallisiert festgehalten wird in 
einer mehr oder minder abgegrenzten Form, und 

3) Vergegenständlichung — ein ausdrückliches Denken der 
schon bestimmten Beziehung als einer gegenständlich vollkommen 
abgegrenzten und aus dem Akt »transzendierten« für sich gemeinten 
Einheit. 

Unsere Formen des Beziehungserlebnisses weisen danach folgende 
ineinanderfließende Charakteristika auf: 

1) konkrete Stiftung. Als immittelbar feststellbares Erlebnis 
bildet die konkrete Stiftung auf dem Gebiete des Intellektuellen ein 
Analogon zu dem spezifischen Bewußtsein der Handlung, welches 
Mi c hotte und Prüm als notwendiges Charakteristikum der Willens¬ 
handlung aufgestellt haben und mit Recht als einen dynamischen 
Bewußtseinszustand zu den Funktionen rechnet. Der ganze Be¬ 
ziehungsprozeß bleibt hier auf der Stufe des Ergreifens. Die Formung 
und die Vergegenständlichung des Beziehungserlebnisses findet nicht 
statt, ist ausgeschlossen: nur in einer für die Zwecke der Reproduktion 
eventuell stattfindenden ausdrücklichen Besinnung auf kategoriale 


1) Haering, Untersuchuugen zur Psychologie der Wertung. Tübingen, 
Habilitationsschrift 1912. Auch Archiv f. d. ge& Psyoh., Bd. XXVII, 
S. 130 ff. 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 437 

Form kann das Ganze ab eine dem Inhaltlichen sich nähernde labile 
Einheit angedeutet werden. 

2) Kategoriale Stiftung. Sie ist gegenüber der konkreten 
Stiftung dadurch ausgezeichnet, daß neben dem Ergreifen der Be¬ 
ziehung auch eine unmittelbare kategoriale Formung geschieht. Hier 
kann u. U. eine Vergegenständlichung stattfinden, aber dazu gehört 
schon ein ausdrücklich gewollter, zu bestimmten Zwecken vorge¬ 
nommener Akt. 

3) Konkretes Meinen. In diesem Stadium ist die Vergegen¬ 
ständlichung schon ausdrücklich als konstituierendes Merkmal des 
Meinens enthalten. Der Beziehungsakt besteht letzten Endes in der 
Vergegenständlichung des Konkreten an dem Meinen. Daher ist 
jedes konkrete Meinen auch Meinen eines Konkreten, 
aber nicht umgekehrt. Denn ich kann etwas indirekt als 
konkret Gemeintes im direkten Meinen bloß kategorial geformt haben. 
In diesem Punkte liegt der scharfe Unterschied von der nächsten 
Gattung: 

4) Kategoriales Meinen. Die Vergegenständlichung webt eine 
vollkommene Unabhängigkeit von der Qualität des Aktes auf. Wenn 
beim konkreten Meinen nicht der Gegenstand die Art des 
Meinens bestimmt hat, sondern der Meinungscharakter 
die Qualität des Gegenstandes, so liegt hier die Sache um¬ 
gekehrt: der kategorial gefaßte Gegenstand erlaubt nur 
eine Art des Meinens, nämlich nur die kategoriale. Ich kann 
keinen kategorialen Gegenstand in der Form des konkreten Meinens 
mir vergegenwärtigen: jedes Meinen des Kategorialen ist ein 
kategoriales Meinen und umgekehrt. Die Art des Aktes wird 
somit hier durch den schon unabhängigen Gegenstand bestimmt. 

IV. 

Inhalt, Gegenstand und Funktion 1 ) in ihrem Zusammenhang in 
der psychischen Wirklichkeit. 

Will man in der Besti mm ung der psychologischen Natur des Be¬ 
ziehungsbewußtseins weiter Vordringen, so wird man jetzt die Ant¬ 
wort nicht für das Beziehungserlebnis überhaupt suchen können. In 

1) Beim Gebrauch des Funktionsbegriffes schließe ich mich an Stumpf 
und Külpe an. Ich bezweifle, ob es zweckmäßig ist, bei dem heftigen Wider¬ 
spruch, dessen sich dieser Begriff noch heute erfreut, und bei den schillernden 
Bedeutungen, die ihm durch die Gegner reichlich beigelegt werden, die Funktion 
noch in einer neuen Bedeutung zu gebrauchen, wie es Koffka (Zur Analyse 
der Vorstellungen und ihrer Gesetze 1912, S. 3ff.) macht. 


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438 


A. A. GrUnbaum, 


Übereinstimmung mit der Erfahrung, die im vorigen Abschnitt 
niedergelegt ist, werden wir vorerst jede Form für sich behandeln 
müssen. Mit Rücksicht auf die Gesamtheit der psychischen Gegeben¬ 
heiten wird die Frage zu beantworten sein, welche Formen des Be¬ 
ziehungsbewußtseins zur inhaltlichen und welche zur dynamischen 
funktionellen Charakteristik des Bewußtseins zuzuzählen sind. Bei 
der Ungeklärtheit der entsprechenden Begriffe ist eine vorherige 
Orientierung über die allgemeinsten Erscheinungszweige des Bewußt¬ 
seins geboten. 

1) Das psychische Gegebensein hat zwei Formen, deren Eigenart 
einerseits aus ihrer unmittelbaren Gegenüberstellung ersichtlich ist, 
andererseits aber aus dem Charakter der entsprechenden gegenständ¬ 
lichen Formung erschlossen werden muß. Diese zwei Formen sind In¬ 
halt und Funktion als unmittelbare Differenzierung der subjektiven 
Erfahrung. Indem ich erfahre, hebt sich die statische Gruppe gegen¬ 
über der dynamischen ohne weiteres ab. Die Inhalte sind mehr oder 
weniger fest Umrissen, sie sind gegeben, sie repräsentieren etwas. 
Die Funktionen sind nur aktualiter da, sie sind nicht in dem Sinne 
gegeben wie die Inhalte, sondern sie werden einfach erlebt; sie sind 
nicht umzeichnet, sie repräsentieren nicht, sind nicht das »Was« 
sondern das innere »Wie« der Psyche. Es muß aber hervorgehoben 
werden, daß ich die Eigenart der einen Gruppe nur dann, und nur 
insofern auffasse, als ich daraus die entgegengesetzte Charakteristik 
der anderen Gruppe sozusagen durch einen erlebten Gegensatz heraus¬ 
lese. Das Empfundene genau so wie das Gedachte, das Wahmehmungs- 
mäßige genau so wie das logisch Festgesetzte hebt sich in meiner 
subjektiven Erfahrung unmittelbar von der Prozeßnatur des Erleb¬ 
nisses ab. Wo kein psychischer Erlebnischarakter aufdeckbar ist, 
ist auf der anderen Seite kein psychischer Inhalt mehr, keine gesehene 
Farbe, kein gedachter Gedanke, sondern eine objektive Färbung, der 
Satz an sich usw. Andererseits bewahrt sich der Erlebnischarakter 
nur dort, wo in der Einheit der Erfahrung das Dynamische als eine 
stete Charakteristik der subjektiven Verhaltungsweise den Inhalt 
durchdringt. Verläßt man den subjektiven, durch die Funktions¬ 
betrachtung bedingten Standpunkt, so dürfte die selbständige Inhalts¬ 
betrachtung zu den rein gegenstandstheoretischen Gesichtspunkten 
führen. Verselbständigt man dagegen die Funktionen, so ist damit 
ein Anfang zur transzendental-psychologischen Theorie gemacht. Die 
psychische Empirie besteht aber in der Vereinigung beider Momente. 

2) Die Besinnung auf die gegenständliche Formung meiner Er¬ 
fahrung verlangt dieselbe Differenzierung des Psychischen. In der 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 439 

unmittelbaren Erfahrung wird nämlich nur ein Teil unmittelbar 
gegenständlich erlebt: Das ist die Gruppe derlnhalte. Die Gegenständ¬ 
lichkeit ist in der inhaltlichen Gegebenheit in gewissem Sinne ent¬ 
halten. Wenn ich die Farbe empfinde, so ist das nur in der Form einer 
Wahrnehmung des Objektivierten möglich, und damit ist schon das 
Gegenständliche im Farbeninhalt miterlebt. Anderen Inhalten haftet 
das Gegenständliche in der Form des Meinens des betreffenden Gegen¬ 
standes an. So bei den Inhalten, die durch die Empfindung nicht re¬ 
präsentiert werden. Denke ich über etwas nach, z. B. über den Gegen¬ 
satz zweier Weltanschauungen, so denke ich es, indem ich diesen 
Gegensatz als solchen für sich aus dem Denkakt »herausdenke«. 
Ich erlebe ihn also in dem Denkakt als einen selbständigen Gegen¬ 
stand. Das im psychischen Geschehen als Inhalt Gegebene ist nur 
solange als solches aufzufassen, als in ihm die Möglichkeit enthalten 
ist, es unmittelbar gegenständlich zu fassen. 

Nichts derartiges ist der dynamischen Charakteristik des Psychi¬ 
schen eigen. Gerade das ist der jedesmal anders nuancierten Aktua¬ 
lität des Bewußtseins eigentümlich, daß sie nicht gegenständlich 
erlebt wird. Daß ich will, weiß ich ohne mich dem Wollen gegenüber 
zu stellen. Gerade die Unmöglichkeit solcher Gegenüberstellungen 
begründet die Tatsache, daß eine Beobachtung und Beschreibung 
der Tätigkeit während des Erlebnisses unmöglich ist. 

3) Gegenüber der Lehre von Brentano, daß allen psychischen 
Phänomenen also auch, oder vielleicht gerade den Funktionen etwas 
GegenständÜches innewohnt 1 ), ist folgendes anzuführen: Unmittel - 
bar ist keine Tätigkeit gegenständlich orientiert und noch weniger 
gegenständlich geformt. Nur auf dem Umwege der Inhalte, welche 
die dynamische Charakteristik gliedern, und durchsetzen, ist die Tätig¬ 
keit auf Gegenstände gerichtet. Die relative Selbständigkeit in der Vari¬ 
ation der Inhalte und der Funktionen, auf die neuerdings C. Stumpf 
mit großem Nachdruck hingewiesen hat, emanzipiert die Funktion 
noch mehr von der gegenständlichen Intension. Genau so wie eine An¬ 
näherung an die bloße Herrschaft der Inhalte zu beobachten ist (z. B. 
im Traume), kann angenommen werden, daß auch eine Annäherung 
an die Herrschaft der Funktionen möglich ist. Damit wäre auch eine 
gegenständlich nicht orientierte und auch nichts intendierende Psychi- 
zität zugegeben. In diesem rein dynamischen Zustande des Bewußt¬ 
seins fehlen die fest umrissenen Inhalte und darum auch eine Be- 

1) Neuerdings auch in seiner Schrift »Von der Klassifikation der psychi¬ 
schen Phänomene«, Leipzig 1911, S. 29. 

Archiy für Psychologie. XXXVI. 29 

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440 


A. A. Grttnbfcnm, 


ziehung auf die Gegenstände. Ich brauche nur darauf hinzuweisen, 
daß, abgesehen von den pathologischen Tatbeständen, wir oft denken, 
ohne inhaltlioh »Gedanken« zu haben und daß es tiefgreifende Stam¬ 
mungen gibt, die das Bewußtsein völlig ausfüllen und gerade dadurch 
uns von der Welt der Gegenstände befreien. Zu bemerken ist noch, 
daß Tätigkeiten sich nie als Träger der Gegenstände darbieten, wenig¬ 
stens nicht in der Weise, wie es die Inhalte tun, die im wahren Sinne 
des Wortes das Gegenständliche tragen. 

4 ) Gegen diese meine durchgängigen Verknüpfungen des Inhalt¬ 
lichen mit dem Gegenständlichen kann angeführt werden, daß mit der 
Empfindung als solcher doch keine Beziehung auf ein Objekt gegeben 
zu sein braucht. So die Empfindungen, die vom Druck unserer Kleider 
herrühren, oder Geräusche, Temperatur-, Geruch- und Organemp¬ 
findungen, die gänzlich unbeachtet und ohne gegenständliche Inter¬ 
pretation bleiben. In allen diesen Fällen fehlt eine bewußte Be¬ 
ziehung auf ein Objekt, genau so wie in dem Besinnungserlebnis, wo 
diese Beziehung gesucht und nicht gefunden wird 1 ). In all diesen 
Fällen aber, wo die Empfindung den Gesamtzustand des Bewußtseins 
mitbedingt und trotzdem nicht gegenständlich interpretiert 
wird, ist einsichtlich, daß sie das Bewußtsein auch nicht in¬ 
haltlich ausfüllt, jedenfalls nicht in dieser einzigartigen Weise, wie 
die im Bewußtsein kristallisierten Inhalte. Wir haben hier zweifel¬ 
los ein Empfinden, aber keine Empfindung. In dem Fall, wo Messers 
Bewußtsein gewissermaßen ganz erfüllt war von einer gewissen 
Gehörsempfindung, die eine Zeitlang nicht gegenständlich gedeutet 
werden konnte, war doch das Erlebnis dem gegenstandlosen Gefühl 
analog 2 3 ). Mit anderen Worten, es lag da der funktionale vorinhalt¬ 
liche Zustand des bloßen Empfindens vor. Es dürfte zweifelhaft sein, 
ob bei den schon inhaltlich geformten Empfindungen oder Vor¬ 
stellungen eine Beziehung auf das Objekt fehlen kann. Denn wäre 
das der Fall, so würde die empfindungs- oder vorstellungsmäßige 
Vergegenwärtigung der anschaulichen Gegenstände unmöglich sein. 
Ebenso wie »die Gegenstände, die gedacht werden, doch irgendwie 
in den Gedanken vergegenwärtigt werden, und damit selbst zu ihnen 
gehören« 8 ), müssen auch die Gegenstände, die vorgestellt werden, 
auch irgendwie in den Vorstellungen vergegenwärtigt werden und 
somit selbst zu ihnen in gewissem Sinne gehören. Außerdem wäre 


1) VgL Messer, Empfindung und Denken, S. 40L 

2) VgL weiter S. 444. 

3) O. Külpe, Psychologie und Medizin. Separat, 1912. S. 69. 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens and des Gedächtnisses. 441 

bei der Beziehungslosigkeit einer Empfindung oder Vorstellung auf 
ein Objekt kein innerer psychologischer Grund vorhanden, die 
Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand zu vollziehen. 

Darauf soll nicht entgegnet werden, daß das einfache Empfindungs¬ 
phänomen nichts von der Trennung des Inhaltes und des Gegen¬ 
standes auf zu weisen hat. Die Farbe und die Form sind voneinander 
auch nicht trennbar und nichts weist in einem einzigen Empfin¬ 
dungsphänomen auf ihre Trennung. Sie werden aber unterschi eden 
trotz der Untrennbarkeit. Endlich weisen die Empfindungsinhalte 
unter sich eine Ordnung (z. B. Farbengeometrie) auf, die den Emp¬ 
findungsgegenständen nicht unmittelbar zukommen, sondern nur 
insofern sie wieder inhaltlich gewendet werden. Für sich aber 
besitzen diese Gegenstände wiederum Gesetzmäßigkeiten (natur¬ 
gesetzliche Zusammenhänge und kausale Abhängigkeiten), deren 
Evidenz nicht wie bei den Inhalten durch bloße Aufzeichnungen 
demonstriert wird, sondern auf objektiven Kriterien und Erfahrungen 
beruht 1 ). (Vgl. ergänzend auch Messer, a. a. 0. S. 34—39.) 

5) Diese durchgängige Durchführung des Zusammenhanges zwi¬ 
schen Inhalt und Gegenstand erfordert eine wichtige Ergänzung, um 
der phänomenologischen Mannigfaltigkeit der Erfahrung bei verschie¬ 
denen Inhaltsarten gerecht zu werden. Es muß nämlich hervor¬ 
gehoben werden, daß bei verschiedenen Inhalten eine charak¬ 
teristische Verschiedenheit der gegenständlichen Invol- 
vierung bzw. Formung und Orientierung konstatiert 
wird 2 ). Die Inhalte werden unter sich je nach der Art der gegen¬ 
ständlichen Beziehung unterschieden, welche teilweise auch ab 
bewußte Charakteristik des Inhaltes auftreten kann. Diese Be¬ 
ziehung kann man selbstverständlich nur umschreiben, und so will 


1) Selbstverständlich will ich damit keine Verdoppelung des Gegebenen 
proklamieren. Im Sinne der Wirklichkeit ist der Gegenstand und der Inhalt ein 
und dasselbe, aber nur weil es dort überhaupt keine Inh alte gibt. Nur im Sinne 
der theoretischen Trennung haben wir zwei Bestimmungszeiohen zu unter¬ 
scheiden. 

2) Den allgemeinen Gedanken, der der folgenden Analyse zugrunde liegt, 
finde ich auch bei Brentano angedeutet. »Die psychischen Phänomene unter¬ 
scheiden sich von allen psyohischen durch nichts so sehr als dadurch, daß ihnen 
etwas gegenständlich innewohnt. Und damit ist es sehr begreiflich, wenn die 
am tiefsten greifenden Unterschiede in der Weise, in welcher ihnen 
etwas gegenständlich ist, zwischen ihnen selbst wieder die vor¬ 
züglichsten Klassenunterschiede bilden« a. a. 0. S. 29. — Freilioh kann 
der Ausspruch für meine Analyse nur fruchtbar gemacht werden, indem die 
Einschränkung der Gegenstandbestimmung auf Inhalte durohgeführt ist, 

29* 

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442 


A. A. Grttnbaum, 


ich von einer Intimität der Gegenständlichkeit sprechen. In der 
Empfindung ist sie am vollkommensten verwirklicht. Hier ist das 
Gegenständliche mit dem Inhaltlichen so streng verbunden, daß der 
Inhalt als Gegenstand aufgenommen wird. In der immittelbaren 
Farbe, Rot z. B., ist die Unterscheidung des Inhaltes und des Gegen¬ 
standes nicht enthalten; die Gegenstandsbeziehung als bewußte 
Charakteristik fehlt vollkommen. Ich habe aber keine Intension auf 
einen getrennten Gegenstand Rot nur deshalb, weil ich den Gegenstand 
selbst in dem Inhalt auf die möglichst intensivste Weise besitze. 
(Daher die Lehre von der adäquaten Vergegenwärtigung des Gegen¬ 
standes einzig in der Anschauung. Hier wird von der Intimität der 
Vergegenwärtigung auf ihre erkenntnistheoretische Qualität ge¬ 
schlossen. ) Für das ausdrückliche Erlebnis einer Gegenstandbeziehung 
ist eine in der Inhaltsauffassung selbst begründete Distanzierung 
zwischen Inhalt und Gegenstand notwendig. Und das ist bei der 
Empfindung noch nicht der Fall 1 ). 

6) Man versucht daher, dem Empfindungsinhalt als solchem jede 
immanente Gegenstandsbeziehung abzusprechen und diesem einen 
besonderen Akt des Gegenstandsbewußtseins (welcher in einer ♦Inten¬ 
sion auf denselben« sich äußert) zuzuschreiben. Solche Akte als 
psychische Elementarphänomene (!) können aber n ir dann 
angenommen werden, wenn eine von drei folgenden Eventualitäten 
sich nachweisen läßt. 

1) Hier soll noch nicht entschieden werden, inwieweit die gegenständliche 
Formung bei allen Empfindungsarten dieselbe Aufdringlichkeit bewahrt. Ich 
bin geneigt anzunehmen, daß das nicht der Fall ist; man vergleiche nur die 
luftige Durchsichtigkeit einer akustischen Empfindung mit der materiellen Aus¬ 
füllung der taktilen. Es scheint, daß ein analoger schlichter Tatbestand ge* 
meint ist, wenn von der phänomenologischen Seite behauptet wird« ... 
von diesem Wirklichsein der in Sinnesinhalten gemeinten, richtiger durch 
Sinnesinhalt erscheinenden Gegenständen ... gUt, daß es darin rein phäno¬ 
menologisch verschiedene Stufen gibt. Es ist nicht immer dasselbe Wirklioh- 
sein, das uns in der Wahrnehmung verschiedener Gegenstände entgegentritt. 
W. Specht, Zur Phänomenologie und Morphologie der pathologischen Wahr¬ 
nehmungstäuschungen, Zeitschr. f. PathopsychoL, Bd. II, S. 6 ff. 

Wir können uns selbstverständlich nicht mit der reinen Konstatierung des 
Unterschiedes begnügen und müssen, nachdem diese Arbeit vollzogen ist, 
die innere Struktur dieser Unterschiede aufdecken, sie auf gemeinsame phäno¬ 
menologische Wesenheiten zurückführen, d. h. von reiner Beschreibung in das 
Gebiet der phänomenologischen Erklärung nna begeben. Der Begriff 
der differenzierten Gegenstandformung kann m. E. in diesem Falle nicht 
nur als Arbeitshypothese dienen, sondern indem er der Zusammenfassang 
der betreffenden Wesen dient, gleichzeitig auch eine phänomeno¬ 
logische Evidenz beanspruchen. 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens nnd des Gedächtnisses. 443 

1) Entweder können die Akte des Gegenstandsbewußtseins isoliert 
— ohne den Empfindungsinhalt — konstatiert werden. 2) Oder es 
lassen sich isolierte Empfindungsinhalte aufdecken, die ihre Inhalts¬ 
charakteristik vollkommen aufweisen und trotzdem von dem Gegen¬ 
standsbewußtsein frei sind. 3) Oder schließlich sind die beiden Kom¬ 
ponenten der Einheit des Gegenstandsbewußtseins und des Empfin¬ 
dungsinhaltes bei stetigem Zusammensein voneinander unabhängig 
variierbar. 

Ad 1. Es lassen sich in der psychischen Wirklichkeit unter keinen 
abstraktiven Bedingungen Akte des Gegenstandsbewußtseins nach- 
weisen, die sozusagen in der Luft hängen, ohne sich an einem phäno¬ 
menal nachweisbaren Inhalt zu aktualisieren. Nimmt man solche 
Akte an, so muß gezeigt werden, welche Tatbestände eine Vereinigung 
des reinen Inhalts mit dem reinen Akt der Gegenstandsbildung reprä¬ 
sentieren. Solche Vereinigungsakte sind keine Charaktere, die neben 
den tatsächlichen »Intensionen auf etwas << bestehen und können auch 
nicht mit dem Erfüllungserlebnis identisch gesetzt werden. Denn die 
letzteren bilden bloß eine nähere Bestimmung des schon gesetzten 
Gegenstandes, nicht aber den Akt der Gegenstandssetzung selbst. 

7) Ad 2. Es lassen sich in der psychischen Wirklichkeit ebenso¬ 
wenig Empfindungsinhalte nachweisen, die von dem spezifischen Ge¬ 
genstandsbewußtsein frei und von den Inhalten mit dem Gegenstands- 
bewußtsein sichtlich verschieden wären. Husserl scheint solche 
primären Inhalte annehmen zu wollen, die letztfundierende Elemente 
sind. Sie sollen sich von den Reflexionsinhalten unterscheiden, die 
selbst Aktcharaktere sind 1 ). Haben diese auf keine Aktcharaktere 
fundierten »sensuellen«Erlebnisse (Husserl, Ideen usw. S.172) an 
sich nichts von einer Intentionalität, so ist es nicht einsichtlich, aus 
wie gearteten Akten die intentionale Konkretion, in der diese sen¬ 
suellen Erlebnisse doch enthalten sind, entstehen sollen (vgl. die Ein¬ 
schränkungen, die Husserl selbst macht. Ideen S. 172). Ist der 
intentionale Akt nicht in einem primären Inhalt gegeben, so muß er 
irgendwie in diesem letztfundierenden Inhalt fundiert werden, also 
bedarf dieses Inhaltes als seiner konstitutiven Unterlage. Ist aber 
der intentionale Akt nicht existent außerhalb der Bedingung seines 
fundierenden Inhaltes, und treten andererseits alle konkreten Erleb¬ 
nisse als intentionale Beseelungen auf, so ist kein Grund, die Inten¬ 
tionalität außerhalb der primären Inhalte zu setzen. Da keine unab¬ 
hängige Variation beider Momente möglich ist, so ist die Trennung 


1) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. III, S. 652. 

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444 


A. A. Grttnbaum, 


phänomenologisch nicht gerechtfertigt und hat bloß eine theoretische 
Bedeutung, insofern sie das Studium der Intentionalität für sich als 
Problem hinstellt. 

8) Fehlt das Gegenstandsbewußtsein, wie Messer in dem von ihm 
erlebten Fall einer intensiven SchaUempfindung, die keine Deutung 
erfahren hat, annimmt 1 2 ), so dürfen wir auch annehmen, daß dabei 
der inhaltliche Charakter vollkommen gefehlt hat. Es konnte in 
einem solchen Falle der Gegenstandslosigkeit oder der gegenständ¬ 
lichen Organisation nur um einen nichts repräsentierenden und bloß 
präsenten Zustand handeln. Ähnlich ist es bei allen zentralen Stim¬ 
mungsgefühlen, die zu den Funktionen und nicht zu den Inhalten zu 
rechnen sind. Ebenso wie bei den Gefühlen konnte der in Frage 
kommende diffuse Zustand nicht zum Gegenstände der Aufmerksam¬ 
keit gemacht werden, da das Bewußtsein des Beobachters von dem 
intensiven Erlebnis ja »ganz erfüllt« war. Dieses Merkmal der ex¬ 
klusiven Erfüllung des Bewußtseins weist wieder auf die Verwandt¬ 
schaft dieser sozusagen »Empfindung« mit dem zentralen Gefühl als 
einer Funktion. Die affektive Färbung des Bewußtseins, die bei dem 
Mess ersehen Erlebnis stattgefunden hat, kann daher mit Wahr¬ 
scheinlichkeit als eine Bestimmung des Erlebnisses selbst und nicht 
als ein bloß dadurch ausgelöstes Effekt betrachtet werden*). 

9) H. Bergmann hat gegen die Behauptung Messers, daß es 
gegenstandslose Bewußtseinsinhalte gibt, folgenden Ein wand erhoben. 
Es ist nicht strittig, sagt er, daß das Erlebnis durch Einordnung in 
Gesamtheit der Erfahrung erst gegenständlich gedeutet werden 
muß. »Vielmehr ob jedes Hören das Hören eines Tones ist, oder ob 


1) Messer, a. a. 0. S. 40f. 

2) Die angedeutete Annäherung der inhaltlich noch nicht kristallisierten 
Empfindungsmaterie und des zentralen Gefühls findet eine Unterstützung in 
der großzügigen GefUhlstheorie Titoheners. Nach dieser Theorie stellen die 
Empfindungen und die Gefühle nur verschiedene Arten derselben psychischen 
Gattung dar, da die primäre psychische Materie durchaus homogen sein dürfte. 
Die Gefühle sind bloß Vorgänge, die in ihrer Entwicklung gehemmt worden und 
zur Klarheit nicht gekommen sind. Unter günstigen Bedingungen könnten sie 
sich aber zu Empfindungen entwickeln (E. B. Titchener, Lehrb. der Psych., 
Bd. I, S. 260ff. — physiologische Fundierung dieser Theorie und S. 228ff. — 
deskriptive Begründung derselben). Mit dieser Theorie ist die Entwicklung des 
Zuständlichen zu dem Inhaltlichen zugegeben worden, ebenso wie die Kristalli¬ 
sierung des repräsentativen Bewußtseins, (das das Merkmal einer gewissen 
Klarheit besitzt), aus den bloß präsenten Aktivitäten. Die Eigenschaft der 
Klarheit ist verwirklicht mit der im Bewußtsein gegebenen gegenständlichen 
Orientierung desselben. 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 445 


auch diese Beziehung erst durch besondere Akte hergestellt wird. 
Offenbar nicht. Und der Autor bezeugt dies selbst, indem er hervor¬ 
hebt, die Empfindung sei nicht lokalisiert gewesen. Hier ist offenbar 
das Empfundene, der Ton gemeint, denn bezüglich des Empfindens 
hätte das Staunen über den Ausfall der Lokalisation keinen Sinn und 
Messer versichert uns also selbst, daß er einen Ton gehört hat. Es 
kann also nicht die Rede davon sein, daß das Hören ohne Gegen¬ 
standsbeziehungen war, wohl aber fehlte die Bezugnahme auf die 
Dinge 1 ). 

Ich kann dem Einwand nur soweit beistimmen, als angenommen 
werden muß, daß, falls ein inhaltliches Bewußtsein vorhanden ist, 
es sicher gegenständlich gerichtet ist, gleichgültig, ob eine nähere Ein¬ 
ordnung in die Gesamtheit der Erfahrung geschehen ist oder nicht. 
Mit dem inhaltlichen Bewußtsein sind aber die möglichen Erlebnis¬ 
strukturen noch nicht erschöpft; darum hat auch Messer Recht, 
(falls man von näheren Bestimmungen seines Falles absieht), wenn er 
behauptet, daß das Erlebnis nur nachträglich gegenständlich geformt 
werden kann. Das ist der Fall, wenn das primäre Erlebnis kein 
inhaltliches ist und eine Annäherung an die Herrschaft einer bloßen 
Funktion darstellt. Trotzdem, daß jedes Hören tatsächlich das 
Hören eines Tones ist, ist diese Richtung oder Kristallisation des Er¬ 
lebnisses nicht immer erlebnismäßig gegeben. Das Fehlen der Lokali¬ 
sation in dem Mess ersehen Falle kann auch eine Bestimmung sein, 
welche nachträglich bei dem Besinnen bewußt geworden ist. In den 
Fällen des gedankenmäßigen Besinnens hat man sehr oft solche 
gegenstandslose Erlebnisse zu verzeichnen. Die Vp. kann ganz genau 
angeben, daß sie sich in der optischen Sphäre befindet, ohne aber 
irgendwelche Vorstellungscharaktere im Erlebnis zu besitzen. Auch 
hier haben wir das Gebiet der Funktion (welche mit Vorstellungs¬ 
inhalten zu tun hat), ohne Bestimmtheit des Erlebnisses durch die 
Vorstellung. Dementsprechend ist dieses Besinnungserlebnis auch 
nicht inhaltlich, sondern funktionell zu nehmen. 

10) Ad 3. Hier können folgende zwei Argumentationen geltend 
gemacht werden. 

a) Für die Änderung der Intention bei Konstanz der Empfin¬ 
dung: Die Empfindungen stellen für uns einerseits die physischen 
Gegenstände dar, andererseits gehören sie zu psychischen Gegen¬ 
ständen, die wir bei unserer Selbstbeobachtung meinen. Damit wäre 


1) H. Bergmann, Untersuchungen über die Evidenz der inneren Wahr¬ 
nehmung. S. 71. 


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446 


A. A. Grttnbanm, 


erwiesen, »daß wir die Empfindungen selbst von jenem Moment der 
Wahmehmungserlebnisse, das wir Auffassung oder Meinung genannt 
haben, sondern dürfen, denn die Empfindungen selbst, genauer jenes 
Etwas von bestimmter Qualität, Intensität und Form, das dabei 
unseren Bewußtseinsinhalt bildet, bleibt ja im allgemeinen dasselbe, 
ob wir es als physische Eigenschaft oder als psychischen Inhalt auf¬ 
fassen« 1 2 ). 

Dagegen wäre zu sagen, daß, wenn die Empfindung, die den phy¬ 
sischen Gegenstand für mich bildet, durch die Selbstbeobachtung 
selbst zum Gegenstände gemacht wird, so hört sie dadurch nicht 
auf, den physischen Gegenstand für mich darzustellen. 
Der psychische Inhalt mit seiner primären Intention ist daher durch, 
die Selbstbeobachtung in keiner Weise verändert, weder in seiner 
Qualität usw., noch in seiner primären, gegenständlichen Orientierung. 
Die Intention auf einen Gegenstand ist dabei nicht durch eine Inten¬ 
tion auf einen anderen ersetzt worden, sondern die inhaltsgegenständ¬ 
liche Einheit der Empfindung ist bloß in einen außergegenständlichen, 
funktionalen Zusammenhang eingeordnet worden. Dadurch, daß 
der Empfindungsinhalt zum Gegenstand der Selbstbeobachtung 
gemacht wird, ist keine neue Gegenständlichkeit erreicht, geschaffen 
oder intendiert. Vielmehr wird die einzige, dem Empfindungsinhalt 
zukommende Gegenständlichkeit unter Gesichtspunkte gestellt, bei 
denen die metapsychologische Funktion desselben aus der Betrach¬ 
tung vollkommen herausfällt, so daß der gegenständliche Charakter 
des Inhalts nur reiner zum Vorschein kommt. (Vgl. unten S. 448.) 

b) Für die Variation der Empfindungsinhalte bei Konstanz der 
gegenständlichen Intention kann folgende Überlegung ins Gewicht 
fallen. »Wenn ich z. B. das vor mir liegende Buch ergreife und es, 

.. . um seine Achse drehe und es dabei betrachte, so wechselt fort¬ 
während mein Bestand an optischen Empfindungen. ... Gleichwohl 
braucht rieh die Intention auf den Gegenstand gar nicht zu ändern. 
Ich nehme fortwährend »dasselbe« Buch wahr« 8 ). Bei dieser Über¬ 
legung ist m. E. der notwendige Unterschied zwischen dem suppo- 
nierten Gesamtgegenstand (Intention auf rin selbständiges Objekt) 
und dem tatsächlichen, jedem einzelnen Empfindungsinhalt imma¬ 
nente Gegenstandscharakter außer acht gelassen. In unserem 
Tatbestand liegt die Sache so, daß, wenn ich von dem Weiß und 
Schwarz der bedruckten Seiten zu dem Rot des Schnittes übergehe. 


1) Messer, a. a. 0. 8. 39. 

2) Messer, a. a. 0. S. 41. 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 447 

ich mit dem Empfindungsinhalt auch die gegenständliche Intention 
unumgänglich wechsele. Ich erfasse in der Schwarzempfindling 
einen anderen Gegenstand (nämlich die Schwärze der bedruckten 
Seiten) als in der Botempfindung, welche für mich den Schnitt des 
Buches darstellt. Nun sind aber alle hier in Betracht kommenden 
Empfindungsgegenstände 1 ) von vornherein als relativ unselbständige 
Teile eines und desselben Gesamtgegenstandes gegeben, dessen Ein¬ 
heit sich in dem Objektscharakter dokumentiert. Daher kann ich 
auch (brauche es aber nicht immer zu tun) mit den wechselnden, aber 
an sich unvariabel gegenständlich orientierten Empfindungsinhalten 
die Intention auf dasselbe Buch immer miterleben. Dieses Erlebnis 
ist dann nichts anderes als derselbe Akzent der Ganzheit, welcher 
bei verschiedenen Inhalten infolge ihrer objektiven Zugehörigkeit zu 
einem Ganzen sich einstellen kann. Ich kann aber die mitgegebene 
Ganzheit des Objekts auch außer acht lassen, womit keinesfalls die 
gegenständüche Orientierung der einzelnen Inhalte vernichtet wird. 

Somit glaube ich, daß der gegenständliche Charakter dem 
Empfindungsinhalt als solchem zugeschrieben werden 
muß. Wenn das ausdrückliche Erlebnis einer Inhalts-Gegenstands¬ 
beziehung sich dabei nicht einstellt, so liegt das, wie gesagt, daran, 
daß bei den Empfindungsinhalten noch keine genügende Distan¬ 
zierung beider Beziehungsfundamente sich vollzogen hat. 

11) Erst bei der Vorstellung wird das der Fall sein 2 ). Zuerst ist 
auch hier keine unmittelbare Distanzierung auffällig. Wenn ich mir 
zum Beispiel das väterliche Haus oder etwa meinen schlimmsten Feind 
vorstelle, weist das Vorstellungsphänomen nichts von dem Zusammen¬ 
hang zwischen Inhalt und Gegenstand auf. Ich stelle mir sicher das 
Haus vor, welches sich wirklich dort befindet und auf der wirklichen 
Erde fundamentiert ist. Auch ist mit der Vorstellung meines schlimm- 


1) Von solchen Gegenständen redet auch die Meinongsohe Gegenstands- 
theorie. VgL dazu Ameseder, Beiträge zur Grundlegung der Gegenstands- 
theorie in Meinongs Untersuchungen usw. 1901, S. 93. 

2) Ich freue mich feststellen zu können, daß dieser Unterschied trotz ver¬ 
schiedener systematischen Gedankengänge auch von der phänomenologischen 
Seite anerkannt wird. Für seine Beschreibung wird sogar derselbe Ausdruck 
gebraucht. So finde ich nachträglich in dex sorgfältigen Wesensvergleichung 
von Th. Conrad, Über Wahrnehmung und Vorstellung: »Aber man kann von 
ihr (der Vorstellung, A G.), obwohl auch sie dieGegenstände selbst nimmt, dooh 
nicht sagen, daß sie direkt und unmittelbar bis an die Gegenstände heran- 
reichte, diese bleiben vielmehr — das ist eben für die Vorstellung charakte¬ 
ristisch — durchaus in einer gewissen Distanz und Abwesenheit stehen.« 
a. a. O. 1911, S. 63. 


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448 


A. A. GrUnbaum, 


Bten Feindes eine Wirklichkeit getroffen, deren Wirkungen ich bei 
dem Vorteilen vielleicht noch am Leibe spüre. Aber das hängt, 
sowohl für die Vorstellung als auch Empfindung damit zusammen, 
daß, wenn ich mir etwas repräsentieren soll, ich mich nicht in der 
Empfindung oder der Vorstellung als einer psychischen Realität aus¬ 
lebe, sondern eben in diesem »Etwas«, in der Wirklichkeit. Meine 
Einstellung ist, indem ich konstatiere, daß ich Wirkliches empfinde 
oder vorstelle, keine psychologische, sondern eine metapsycholo¬ 
gische. Ich orientiere mich zwar am Psychischen, aber nicht über 
das Psychische als solches, sondern über das, was es bedeutet. Es 
bedeutet aber für mich sicher nicht sich selbst, sondern einen be¬ 
stimmten Gegenstand. Durch diese Möglichkeit, den metapsycho¬ 
logischen von dem psychologischen Standpunkt abzugrenzen, ist 
schon eigcntüch der Unterschied zwischen Inhalt und Gegenstand 
begründet. So wird auch die Intention auf den Gegenstand, der in 
dem vorgestellten Inhalt enthalten, einigermaßen schon in dem 
unmittelbaren Vorstellungserlebnis bemerkbar. Falls ein Gegenstand 
der in der Anschauung vollkommen erfaßt werden kann, vorgestellt 
wird, so weiß man ganz genau anzugeben, an welcher Stelle das Vor¬ 
stellungsbild qualitativ ärmer oder qualitativ anders ist, als der wirk¬ 
liche Gegenstand. Schon dieses begründet eine gewisse Differen¬ 
zierung zwischen Gegenstand und Inhalt in der Vorstellung selbst. 
Es ist dabei nicht so, daß ich neben dem Vorstellungsbild eine gedank¬ 
liche Vergegenwärtigung des Gegenstandes habe, von dem ich das 
und jenes weiß und sie mit dem Vorstellungsbild vergleiche, sondern 
das Vorstellungsbild repräsentiert ganz allein den Gegenstand. In 
dem Vorstellungsbild ist alles enthalten, was mich an diesen und 
nicht an jenen Gegenstand führt, was mich überhaupt von einem 
vorgestellten Gegenstand sprechen läßt. 

12) Will man diese immanente Charakteristik des Vorstellungs¬ 
bildes darauf zurückführen, daß dabei intentionale Erlebnisse eine 
Rolle Bpielen, die in das Gebiet des Denkens gehören, so ist gegen diese 
Auffassung folgendes zu sagen. Das intentionale Erlebnis als Denkakt 
läßt sich von der Vorstellungscharakteristik phänomenal nicht unter¬ 
scheiden, es kann nur theoretisch angenommen werden. Diese An¬ 
nahme scheint mir aber insofern unzweckmäßig zu sein, als es nach 
dieser Auffassung überhaupt kein Vorstellen ohne Denken geben 
muß. Damit wäre ein Gegenstück zu der berühmten Übertreibung 
geschaffen, welche behauptet, daß es kein Denken ohne Vorstellung 
geben kann. Aber abgesehen davon wäre das Denken, welches die Vor¬ 
stellung konstituieren soll, sicher anderer Art, als das Denken, welches 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 449 

von den Vorstellungen als eine selbständige Funktion unterschieden 
werden kann. Denn das gedankliche »Meinen eines konkreten Gegen¬ 
standes« ist doch etwas ganz anderes als die Intention eines Gegen¬ 
standes, welche in dem Vorstellungsbilde enthalten ist: die letzte ist 
bloß eine direkte mit anschaulichen Bestimmungen erfüllte Kon¬ 
statierung des Gegenstandes, das denkmäßige Meinen dürfte aber 
nur eine indirekte über das Anschauliche hinausgehende realisierende 
Konstituierung des Gegenstandes darstellen 1 ). Man könnte zwar 
davon sprechen, daß auch der Vorstellungs- und der Wahmehmungs- 
inhalt einen Gegenstand meinen. Indem sie aber unter Umständen den¬ 
selben Gegenstand meinen können, ist diese ihre Beschaffenheit, mate¬ 
riell genommen, beide Male etwas anderes. Da der Gegenstand aber 
beide Male identisch ist und als solcher zur Materie des Psychischen 
nicht gehört, so muß die Verschiedenheit der Meinungscharaktere in 
die psychische Materie der Wahrnehmungs- und der Vorstellungsinhalte 
verlegt werden. Wenn ich in meiner sinnlichen Vorstellung einen 
Gegenstand meine, so tue ich das nicht mit dem Vorstellen, sondern 
mit dem sinnlichen Inhalt dieser Funktion. Mein Wahmehmen ist 
zwar »Wahmehmen von etwas«, aber mein Wahmehmen ist auf 
dieses Etwas nur durch den Wahmehmungsinhalt gerichtet. Somit 
wäre es notwendig, zweierlei Denken anzunehmen und da wäre das 
Problem auf derselben Stelle geblieben und nur mit anderen Worten 
formuliert. Denn jetzt hätten wir nachzuweisen, worin beide Arten 
sich unterscheiden und warum wir trotz dieses Unterschiedes die Be¬ 
rechtigung haben, in beiden Fällen vom Denken zu sprechen. Ich 
kann diese Berechtigung nicht finden und muß daher die gegenständ¬ 
liche Formung nicht einer spezifischen psychischen Tätigkeit zu¬ 
schreiben, sondern zu den Merkmalen des Inhaltlichen rechnen. 

13) Auch bei den Gedanken ist das der Fall. Nur hat sich das 
Gegenständliche schon so weit distanziert, daß es gerade zu dem Wesen 
des Gedankens gehört, daß er ein »Wissen« von den Gegenständen dar¬ 
stellt. Die Distanzierung findet ihren Ausdruck auch darin, daß durch 


1) Dieses Meinen kann seiner Riohtung nach auf den Gegenstand direkt 
bezogen sein; wir sagen dann, der Gegenstand ist direkt gemeint. Die Konsti¬ 
tuierung des Gegenstandes in seiner konkreten Ausgestaltung ist aber dabei 
keine direkte, wie es bei dem Vorstellungsbild oder der Wahrnehmung der Fall 
ist, die für mich den bestimmt konkreten Gegenstand einfach ohne irgend welche 
Vermittelung bedeuten. Trotz der direkten Richtung auf den Gegenstand ist 
seine Konkretisierung in dem Meinen eben eine denkmäßige. Sie ist mit den 
Mitteln vollzogen, die mit der Konkretheit selbst nicht zusammenfallen. Ich 
sage daher, sie ist nioht konstatiert, sondern konstituiert. 


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450* 


A. A. Grün bäum, 


das Denken gerade Realitäten gesetzt werden 1 2 3 * ), in deren Wesen doch 
eine Abstreifung der subjektiven Inhaltlichkeit liegt. Auch beim 
Denken haben wir nicht mit zwei Denkakten zu tun, von welchen der 
eine die Richtung auf den Gegenstand repräsentiert, der andere aber 
die Gegenständlichkeit konstituiert. Sondern hier, genau so wie bei 
der Vorstellung und der Wahrnehmung gehört das Gegenständliche 
zu der psychischen Charakteristik des De nkinha ltes selbst. Diese 
ähnliche gegenständliche Konstitution ist auch der Grund dafür, 
warum im Prozeß der psychischen Orientierung ein Inhalt für den 
anderen, der aus einer ganz anderen Sphäre stammt, eingesetzt 
werden kann. 

Der ganze Unterschied besteht darin, daß die Beziehung zwischen 
Inhalt und Gegenstand entweder in dem einen oder anderen Funda¬ 
ment pointiert ist. Bei der Empfindung als einer psychologischen 
Kategorie ist das Inhaltliche betont und das Gegenständliche ver¬ 
nachlässigt, bei dem Gedanken das Gegenständliche hervorgehoben 
und das Inhaltliche in den Hintergrund der Beziehung zurückgetreten. 
Das mag wohl auch der Grund sein, der manche veranlassen könnte, 
spezifische Denkinhalte überhaupt zu leugnen 8 ). 

14 ) Mit Hilfe der hier angebahnten Betrachtungsweise läßt sich, 
glaube ich, auch die Frage nach der psychologischen Verschiedenheit 
der Empfindung und der reproduzierten Vorstellung einigermaßen 
klären. Mit Rücksicht auf den oben erwähnten metapsychologischen 
Gesichtspunkt bei der Beschreibung des Empfindens und des Vorstel¬ 
lens haben einige Psychologen im gewissen Sinne recht, wenn sie »die 
Gleichartigkeit der Sinnes- und Erinnerungsvorstellung* betonen 
(z. B. wie Wundt oder auch Segal in einer eben erschienenen 
Untersuchung) 8 ). Aber es wird weiter behauptet, daß zwischen Emp¬ 
findung und Vorstellung kein unmittelbarer psychologischer Unter¬ 
schied vorliegt, daß diese Unterscheidung auf »erkenntnistheore¬ 
tischer Reflexion beruht«. »So steht sie im engsten Zusammenhang 


1) VgL 0. Külpe, Über die Bedeutung der modernen Psychologie des 
Denkens. Separat. S. 28. 

2) Inwieweit die hier angedeutete Lehre in einen sachlichen Zusammenhang 
zu bringen ist mit der Unterscheidung zwischen der aktuellen und potentiellen 
Gegenständlichkeit, die sich in Meinongs »Über die Annahmen«, 2. AufL, 
S. 227f. findet, vermag ioh zur Zeit nicht zu entscheiden. Es soheint mir aber 
jedenfalls, daß die Inhalte auch nach dem charakteristischen Potenzierungsgrad 
der Gegenständlichkeit unterschieden werden können. 

3) J. Segal, Über das Vorstellen von Objekten und Situationen. 

Stuttgart 1916. 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens and desfGedächtmsaes. 451 

mit jener Reflexionspsychologie, die, indem sie die psychischen Er¬ 
lebnisse selbst hinter logischen Definitionen und Distinktionen ver¬ 
schwinden läßt, schließlich den, der sich ihr ergeben hat, zur psycho¬ 
logischen Beobachtung unfähig macht« 1 ). Das muß ich entschieden 
bestreiten. Vor allem ist die Unterscheidung keine erkenntnistheore¬ 
tische Reflexion. Sie kann jedenfalls in demselben Grade als eine 
psychologische Tatsache gelten, wie auch die Behauptung der Gleich¬ 
artigkeit der Empfindung und Vorstellung. Für diese wird angeführt, 
♦was endlich die Hauptsache ist: wenn wir der Vorstellung deshalb 
ihren Namen geben, weil sie etwas vor uns hinstellt, eine Objekti: 
vierung von Bewußtseinsinhalten bedeutet, so ist diese Objektivierung 
bei den direkt erregten genau so wie bei den reproduzierten Vor¬ 
stellungen vorhanden.« Diese Feststellung der Objektivierung der 
Bewußtseinsinhalte in beiden Fällen gehört m. E. in dasselbe Gebiet, 
in dem wir uns bei der Behauptung bewegen, daß die Art dieser 
Objektivierung infolge verschiedener Stellungnahme zu dem Objekt 
in der Vorstellung und in der Empfindung verschieden ist. Diese 
Verschiedenheit der Stellungnahme ist in der verschiedenen Distan¬ 
zierung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand in beiden Fällen 
enthalten. Das kann genau so unmittelbar festgestellt werden, wie 
die allgemeine Gleichartigkeit der Objektivierung in beiden Fällen, 
welche Wundt auf deckt urtd die somit keine erkenntnistheoretische 
Reflexion ist. Freilich kann die Verschiedenheit nur dann konstatiert 
werden, wenn die in der Wundt sehen Behauptung der Gleichartig¬ 
keit der Objektivierungen schon enthaltene Distinktion zwischen 
Inhalt und Gegenstand explicite bei der Beobachtung im Auge be¬ 
halten wird. Es scheint daher, daß wenigstens in diesem Falle ein 
gewisses Maß der logischen Distinktion und Definition die konkreten 
Erlebnisse nicht verschwinden läßt, sondern sie vielmehr der Be¬ 
obachtung näher bringt und vor allem die Beschreibung ermöglicht. 
Ist die verschiedene Distanzierung zwischen Inhalt und Gegenstand 
in der Empfindung und Vorstellung eine erkenntnistheoretische Re¬ 
flexion, so ist auch die Wundtsche Aufdeckung über die Gleich¬ 
artigkeit der Objektivierung in beiden Fällen ebenso eine erkenntnis- 
theoretische Reflexion. Eine solche gehört eben zum Wesen des 
psychologischen Tatbestandes oder vielmehr die psychischen Erleb¬ 
nisse enthalten in sich Unterschiede, die nur in Form einer solchen 
anscheinend erkenntnistheoretischen Unterscheidung sich beschreiben 


1) Wundt, Grundzüge der physiologischen Psychologie, Bd. I, 6. Aufl., 
S. 406 f. 


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A. A. Grflnbavm, 


lassen. Ich möchte aber sogar behaupten, daß die Feststellung einer 
solchen Verschiedenheit nur auf spezifisch-psychologischem Stand¬ 
punkte möglich ist. Denn sie leuchtet nur dann ein, wenn man die 
Metapsychologie verläßt, wenn man nicht dasjenige im Zentrum 
der Beobachtung behält, worüber das Phänomen uns orientiert, son¬ 
dern das, was sein psychisches Wesen (unabhängig von seiner 
biologischen Funktion) bei der inneren Zergliederung aufweist. 
Daher muß auch entschieden bestritten werden, daß die Statuierung 
der psychologischen Verschiedenheit zwischen Empfindung und Vor¬ 
stellung sich auf die verschiedene physiologische Entstehungsweise 
berufen muß oder darauf basiert ist, daß nur im ersten Falle ein wirk¬ 
liches Objekt dem Inhalt entspricht. Auch wird diese Statuierung 
durch die Berücksichtigung der relativen aber flüssigen Verschieden¬ 
heiten in der Flüchtigkeit und der Stärke der betreffenden Inhalte 
nicht konstituiert, sondern nur einigermaßen unterstützt. Diese 
Verschiedenheiten neben den von Külpe angegebenen 
Motiven 1 ) erfüllen im normalen Falle nur die Rolle der 
Erfahrungskriterien, welche die entsprechende Distan¬ 
zierung des Gegenstandes von dem Inhalt bestimmen. 
Fehlen aber diese Kriterien, wie in den Fällen, die Külpe experimen¬ 
tell hersteilen konnte, so wird derselbe Eindruck einmal objektiv und 
einmal subjektiv beurteilt, d. h. das innere Verhältnis zwischen Inhalt 
und Gegenstand ist in diesen Fällen unabhängig von den qualitativen 
Inhaltsbestimmungen und läßt sich in gewissem Sinne willkürlich 
herstellen. Daß derselbe Inhalt eine Zuordnung zu beiden Funktionen 
erträgt, und in diesem Falle die ganze Verhaltungsweise auch un¬ 
mittelbar als Empfindung oder Vorstellung charakterisiert wird, 
beweist, daß die entscheidenden Kriterien für die Feststellung der 
Verschiedenheit nicht den Inhalt als solchen betreffen, sondern seine 
gegenständliche Stellung im Erlebnis, und daß diese Verschiedenheit 
als eine erlebte und nicht bloß als eine reflektionsartige gegeben wer¬ 
den kann. Daß die Entscheidung für die Empfindung oder Vorstellung 
nicht immer leicht ist oder sogar ausbleibt, gibt nur ein Zeugnis dafür 
ab, das bei der Vorstellung und der Empfindung gemeinsame Ver- 
gegenständlichung auch in einer indifferenzierten Form Vorkommen 
kann, bei der die Distanzierung noch in keiner Weise entschieden ist. 

Das Resultat unserer Analyse ist auch von dieser Seite die Fest¬ 
stellung, daß, psychologisch gesprochen, ein Inhalt überall 

1) Külpe, Über Objektivierung und Subjektivierung der Sinneeeindrücke. 
Wundts Philos. Studien, Bd. 19. 


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Untersuch, über die Funktionen des Denkens und des Gedäch tniss es. 453 

dort vorliegt, wo ein unmittelbarer Hinweis auf eine 
Gegenständlichkeit vorhanden ist, welche von dem In¬ 
halt als solchen verschieden distanziert werden kann. 
Um diesen Exkurs abzuschließen, brauche ich nur — um Mißver¬ 
ständnissen vorzubeugen —, anzugeben, daß ich die Beziehung des 
Inhaltes auf den Gegenstand keinesfalls nur im Sinne der Beziehung 
des Eindrucks auf das Objekt verstehen möchte. Bevor ein Eindruck 
auf ein Objekt bezogen wird, ist er schon (wenn er inhaltlich auf¬ 
gefaßt ist), gegenständlich geformt. Somit geht die allgemeine 
gegenständliche Orientierung der speziell objektiven Auffassung 
voraus. Subjektive Eindrücke werden ja auch, indem sie als solche 
konstatiert sind, auf Gegenstände bezogen, die nicht immer Objekte 
zu sein brauchen 1 ). 

y. 

Die funktionale Genese des Beziehungsbewußtseins. 

1) Erst jetzt kann die Frage aufgenommen werden, ob Beziehungs¬ 
erlebnisse auf die Seite der Inhalte zu stellen sind. Die Antwort ist 
durch das obige Auseinanderhalten der gegenständlichen Orientierung 
bei verschiedenen Formen des Beziehungserlebnisses schon vor¬ 
bereitet. Nur bei den Formen, wo der Gegenstand unmittelbar durch 
den Akt konstituiert wird, tritt das Beziehungserlebnis als Inhalt in 
die Kette der psychischen Abläufe. Vor allem im kategorialen Meinen 
ist das Beziehungsbewußtsein als ein fest umrissener Inhalt, als eine 
Intention auf einen bestimmten Gedanken erlebt. Dann folgt das 
konkrete Meinen. Bei diesem hängt die Inhaltlichkeit der Be¬ 
ziehung noch zu eng mit der konkreten Bestimmung der Funda¬ 
mente zusammen, so daß der Beziehungsinhalt nicht selbständig 
auftreten kann. Die konkrete Beziehung im konkreten Meinen ist 
ein fundierter Inhalt und im Erlebnis von dem Fundament nicht 
ablösbar. Sie bildet mit dem Fundament ein inhaltliches Ganzes 
und als solcher tritt die Beziehung auch in den Reproduktionsprozeß 
ein. Die kategoriale Stiftung geht unmittelbar nicht als Inhalt in 
die Erlebnistotalität über, sondern bildet darin wie alle Stiftungen 
ihre funktionelle Charakteristik — die psychisch erlebbare Form der 
momentanen Zuordnung des Inhaltlichen. Findet innerhalb der 
Besinnung eine spezielle Vergegenständlichung statt, so bildet sich 
auf Grund der Stiftung ein kategoriales Meinen und dann tritt jene 
Form mittelbar inhaltlich in die momentanen Zusammenhänge über. 

1) Vgl. auch oben S. 447. 


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454 


A. A. Grttnbaam, 


2) Schließlich die konkrete Stiftung, der primäre Fall des Be¬ 
ziehungserlebnisses bei natürlichem (durch spezielle Versuchs¬ 
bedingungen und die vorher gestifteten Kategorien, nicht gebun¬ 
denem) Denken tritt in keiner Weise als Inhalt in den Ablauf 
ein, bleibt aber, wohlbemerkt, trotzdem die sicherste Grundlage der 
Erinnerung an das Gedachte oder Gemerkte. Ihr fehlt vollkommen 
jede gegenständliche Orientierung. Zwar sind die Fundamente 
selbständige Inhalte, wenn jedes für sich betrachtet wird. 
Die Tätigkeit aber, die sie zum Beziehungserlebnis ordnet, erschöpft 
sich durch sich selbst, weist auf keinen selbständigen Gegenstand hin 
— sogar bei Besinnung auf einen solchen kann sie, ohne in andere 
Form überzugehen, auf keinen Gegenstand hinweisen. Dieser 
völlig dynamische Charakter der Beziehungssetzung ist so ausgeprägt, 
daß, indem die Fundamente zum Beziehungserlebnis verschmolzen 
werden, sie für den Moment der Stiftung ihren eigenen Inhaltscharak¬ 
ter aufzugeben scheinen. Die Fundamente verlieren den Sinn, der sie 
als einzelne Inhalte charakterisiert, es wird gerade die Synthese dieser 
selbständigen Charakteristika geschaffen, die weder den einen noch 
den anderen Inhalt als solchen betrifft. Diese Auflösung des Inhalt¬ 
lichen kann man in den Fällen konstatieren, wo das intensive produk¬ 
tive Denken sichtlich an bestimmten, nur nachträglich »heraus¬ 
erkennbaren« Gegenständen orientiert ist, im bewußten Prozeß aber 
nichts von abgegrenzten Inhalten aufzuweisen hat. In diesem dyna¬ 
mischen Charakter einer konkreten Beziehungsstiftung ist wohl auch 
der letzte Grund zu suchen, warum das spezifische Beziehungserlebnis 
von denjenigen Autoren geleugnet wird, die außer den Inhalten keine 
bewußte psychische Wirklichkeit anzunehmen geneigt sind. 

Das konkrete Beziehungserlebnis kann somit in den unmittelbaren 
psychischen Ablauf nicht als ein Inhalt eingreifen. Der diesem Er¬ 
lebnis entsprechende Inhalt kann sich natürlich einstellen, aber bloß 
nachträglich und nur dann, wenn ich in einer rückschauenden Analyse 
das Beziehungamoment des Erlebnisses kategorial fasse, zwecks der 
Mitteilung nach außen oder für mich selbst auf seine kategoriale 
Charakteristik mich besinne und dieselbe mir erlebend vergegen¬ 
wärtige. Als Kategorie, d. h. als Gleichheit, Kausalität ganz genereller 
Art ohne jede individuelle Einzelheit oder Nuance, kann die Beziehung 
inhaltlich gegeben werden. Denn in dem indirekten Meinen ist mir 
dabei der Gegenstand und die entsprechende geltende gegenständ¬ 
liche Beziehung mitgegeben. Dieses psychische Gegebensein der 
bloß allgemein kategorial bestimmten Beziehung entspricht der Form 
des Beziehungsbewußtseins, welche Michotte und Ransy als Ge- 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens nnd des Gedächtnisses. 455 


danke an die Beziehung bezeichnet haben. Die Yp. erinnere sich dabei 
bloß, daß sie sich einer identischen oder ähnlichen usw. Sache bewußt 
gewesen ist. Es liege hier wahrscheinlich ein Dissoziationsprozeß vor, 
bei dem bloß der innere Kern des Relationserlebnisses, nur das Wesent¬ 
liche des Phänomens geblieben sei. (S. 18.) Solche reproduktiven 
Dissoziationen spielen, um mit Bühler zu reden, die Rolle eines 
realen Analysators des Erlebnisses; sie lassen uns aber bloß schließen, 
daß in dem primären Beziehungserlebnis außer den Vorstellungs¬ 
inhalten »etwas« war, was bei der Erinnerung sich als Gedanke reprä¬ 
sentiert hat. Daß dieses »etwas« schon im primären Erlebnis, wo 
auch andere Inhalte mitgegeben waren, als Denkinhalt vorhanden 
war, kann man aber auf Grund des Effekts der realen Analyse nicht 
behaupten. Es wäre doch möglich, daß das primäre Erlebnis eben 
nicht einen selbständigen Gedanken enthielte, und daß wir uns an 
diese Dynamik nur dann erinnern können, wenn sie in der Form eines 
Gedankens sich nachträglich kondensiert. Außerdem ist zu vermuten, 
daß die Verselbständigung der Beziehung bei der Reproduktion 
gar nicht so weit geht, wie es nach den Angaben der Vp. zu sein scheint. 
Denn die Vp. ist bestrebt, nur das anzugeben, wofür ihr eine sichere 
d. h. gegenständliche Bezeichnung zur Verfügung steht. Diese Be¬ 
zeichnungen im Falle der Beziehungserlebnisse sind streng kategorial 
gefaßt. Die Nuancen einer Beziehung können wir nicht schildern 
und wenn die Vp. aussagt, sie erinnere sich bloß daran, daß sie sich 
einer ähnlichen usw. Sache bewußt gewesen ist, so ist damit gemeint, 
daß es eine Sache war, die einer bestimmten Sache ähnlich war, 
d. h. ist streng individualisiert, obgleich sie in der Aussage kate¬ 
gorial klingt. Was bei dieser Sache das Wesentliche, d. h. das 
psychisch Wirksame des Phänomens ist, die kategoriale Bezeichnung 
oder das Individuelle der Beziehung — kann daher bei Unvollkom¬ 
menheit der Aussagen nicht entschieden werden. 

Da die Fundamente meistens vorstellungsmäßig repräsentiert sind, 
so wird leicht auch der ganze Beziehungsakt als etwas Anschauliches 
angesehen. Die Charakteristik der Beziehungsglieder wird dabei dem 
Beziehungsganzen zugeschrieben, was besonders leicht in Fällen der 
Akzentuierung der Beziehungsglieder infolge ihrer gegenständlichen 
Wichtigkeit stattfinden kann. Michotte und Ransy gebührt daher 
das volle Verdienst auf die Unanschaulichkeit der Beziehungs¬ 
vermittlung noch einmal ausdrücklich hingewiesen zu haben. Auch 
ist von besonderem Wert die Feststellung der Autoren, daß das je¬ 
weilige Beziehungserlebnis jedesmal individuell mit allen Nuancen 
im Bewußtsein vorhanden ist. Denn unsere Ausdrucksmittel für die 


Archiv für Psychologie. XXXVI. 

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456 


A. A. Grttobanm, 


Bezeichnung der Erlebnisse sind zu dürftig und (besonders im Gebiete 
der logischen Beziehungen) fast ausschließlich gegenständlich zu¬ 
gespitzt. Man verfällt daher leicht in den Fehler, entweder die ganze 
Mannigfaltigkeit der Beziehungserlebnisse auf ein paar unveränder¬ 
liche, logische Kategorien zurückzuführen oder noch weiter zu gehen 
und ihre psychische Existenz überhaupt nur in den Worten zu sehen, 
die zur Bezeichnung der Kategorie dienen. 

Mit desto größerem Nachdruck muß aber gegen Michotte und 
Ransy darauf hingewiesen werden, daß individuelle konkrete Be¬ 
ziehungserlebnisse nicht als Inhalte aufzufassen sind, die ungefähr wie 
eine Vorstellung zwischen zwei Fundamenten sich einschieben und 
die Assoziation vermitteln. Das wollen wir jetzt auch von einer 
anderen Seite aus zu begründen suchen. 

3) Die von uns unterschiedenen vier Bewußtseinsformen des Be¬ 
ziehungserlebnisses können in der Kontinuität eines teleologischen 
Zusammenhanges miteinander in gewissem Sinne verbunden sein 
oder ineinander übergehen. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, daß in 
experimenteller Begrenzung des Erlebnisses, welches immer auf eine 
Aussage hinausläuft, einerseits das »Meinen« als Vergegenständ- 
lichungsakt — andererseits die »kategoriale« Form als Mittel den 
Gegenstand mitteilbar zu machen, den Abschluß der Stiftung einer 
Beziehung bilden werden. 

Wird andererseits eine Beziehung in dem Erlebnis zuerst bloß 
ganz konkret gestiftet, so läuft damit parallel — aus dem Bedürfnis 
heraus, diese Stiftung faßbar zu machen — der Prozeß einer ent¬ 
sprechenden kategorialen Stiftung zwischen denselben Fundamenten. 
Das wird noch dadurch unterstützt, daß die zu stiftenden Beziehungen 
tatsächlich denjenigen gegenständlichen Beziehungen entsprechen, die 
wir schon in der früheren Erfahrung in Form der wörtlich ausgedrück¬ 
ten Kategorien uns öfters vergegenwärtigt haben. Das primäre, ur¬ 
sprüngliche, konkrete Beziehungserlebnis wird also nicht durch die 
begleitenden Umstände des Experiments und der Aussage modifiziert, 
sondern erleidet von vornherein auch eine kategoriale Bestimmung 
durch die vorhergehende Erfahrung. Reine konkrete Stiftung einer 
Beziehung, welcher weder eine fundamentierende, an den Gegenständen 
orientierte und erprobte Kategorie entsprechen, noch eine kategoriale 
Fassung zwecks Aussage nachfolgen würde, ist daher schwer zu ver¬ 
wirklichen. 

4) Unter dem Gesichtspunkt der phänomenologischen Genese er¬ 
weist sich aber das öfters erlebte konkrete Meinen als In- 
tendierung des Aktes einer entsprechenden konkreten 


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Untersuch. Uber die Funktionen des Denkens und des Gedächtnisses. 457 


Stiftung in ihrer vollen, durch Kategorien nicht verflach¬ 
ten Eigenart. Eben so kann eine kategoriale Stiftung nur unter 
der spezifischen Form der Verbindung zweier bestimmter Fundamente 
gegeben sein. D. h. aber, daß die Bestimmung des kategorialen 
Charakters einer Beziehung so geschieht, daß der Akt (der Potenz 
nach) jederzeit in eine konkrete Stiftung übergehen kann. Die momen¬ 
tane Giltigkeit der kategorialen Stiftung wird als Evidenz ihrer Anwen¬ 
dung auf die Fundamente erlebt. Sie ist nichts anderes als das in der 
kategorialen Stiftung enthaltene Möglichkeitsbewußtsein ihrer Veri¬ 
fikation durch vollständiges Ausbauen der Beziehung nach allen 
Richtungen. Diese potenzierte Verifikation durch Annäherung an 
die konkrete Stiftung verleiht der kategorialen Stiftung ihren dyna¬ 
mischen Charakter als Stiftung, m. a. W. sie hängt — der Dynamik 
nach — von der konkreten Stiftung ab, ebenso wie das konkrete 
Meinen den Erfüllungscharakter von derselben ursprünglichen Fqrm 
der Beziehungserlebnisse bezieht. Endlich ist das kategoriale Meinen 
— analog dem konkreten — die Vergegenständlichung des Akt¬ 
charakters der kategorialen Stiftung und hängt daher durch deren 
Vermittlung auch mit der konkreten Stiftung zusammen. 

Somit lassen sich die aufgezählten Formen alle von der 
ursprünglichen konkreten Stiftung ableiten, und in ihr 
werden wir daher das Spezifische des Beziehungserleb¬ 
nisses zu suchen haben. Der Zusammenhang der kategorialen 
Bestimmungen — die im Erlebnis auftreten — mit den konkreten 
Momenten der ursprünglichen Beziehungssetzung, zeigt sich am deut¬ 
lichsten bei der Reproduktion der Beziehung. Zwar wird dabei das 
Kategoriale für sich ausgesondert, da in den Reproduktionsprozessen 
überhaupt die primären Komplexe und strukturellen Zusammenhänge 
gelockert werden. Die Zugehörigkeit der Relation zum konkreten 
Erlebnis tritt aber desto charakteristischer hervor, da sie trotz der 
gleichzeitigen Aussonderung der Relation bemerkt werden kann. 

So finden auch Michotte undRansy, daß die Beziehung beider 
Reproduktion nie wie eine abstrakte Idee gegeben ist, sondern »sie ist 
immer konkret und durch diesen konkreten Charakter erscheint sie 
immer als Determination des erwarteten Inhalts.« Das zweite Funda¬ 
ment der Beziehung ist unter einer intentionalen Form gegeben und 
eigentlich noch mehr: es ist determiniert als das bestimmte »andere 
Fundament«, welches der Vp. schon früher gegeben war. Die Be¬ 
ziehung, sobald sie im Bewußtsein gegeben ist, verbindet die beiden 
in verschiedenerWeise gegebenen Fundamente. DieVp. denkt dabei 
nicht an die Gleichzeitigkeit oder Sukzession, sondern sie ist sich 


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458 


A. A. Grün bann, 


dessen bewußt, daß das andere Fundament zu dem ersten in »diesem« 
ganz bestimmten Verhältnis stand. 

Die ausgesonderte Beziehung kann aber m. E. die Determination 
des zweiten Fundamentes nur dann bedeuten, wenn das zweite Funda¬ 
ment in dieser Beziehung dasjenige ist, was ihr eine konkrete Nuance 
verleiht, trotzdem sie schon kategorial gefaßt ist. Diese konkrete 
Bestimmung einer Beziehung im Erlebnis bringt es mit sich, daß die 
erlebte Zuordnung der Fundamente in derselben logischen Kategorie 
bei verschiedenen Inhalten immer etwas psychisch ganz Verschiedenes 
ist. Das Gleiche dieser verschiedenen Zuordnungen kann nachträg¬ 
lich durch ein kategoriales Schema festgehalten werden, aber dadurch 
werden diese Zuordnungen noch nicht psychisch gleich. Auch sind 
sie nicht schematisch, sondern, wie jedes Erlebbare konkret und 
nur durch diese innere Konkretheit eindeutig wirksam 
und bestimmend für die inhaltlichen Fundamente 1 ). 

5) Bei dieser Auffassung kann man die Beziehung ihrerseits nicht 
auch als einen Inhalt in der Art einer isolierten Vorstellung betrachten. 
Denn, da sie eine konkrete Beziehung ist, muß sie beide Fundamente 
irgendwie in sich enthalten und zwar könnte sie dieselben als Inhalt 
nur inhaltlich repräsentieren. Somit hätten wir neben den inhaltlichen 
Fundamenten noch eine inhaltliche Repräsentation derselben in der 
Beziehung. Diese Verdoppelung der inhaltlichen Repräsentation der 
Fundamente ist aber nie konstatiert worden, und somit muß bei der 
konkreten Auffassung der erlebten Beziehungen ihr inhaltlicher 
Charakter bestritten werden. Die erlebte Beziehung enthält zwar 
die beiden Fundamente, aber nicht inhaltlich, sondern nur in ihrem 
gemeinsamen funktionellen Zuordnungscharakter, der seinen inhalt¬ 
lichen Ausdruck in der »Kategorie« findet 2 ). 

1) Wir müssen einen Unterschied zwischen »konkret« und »anschaulich« 
durchführen. Ein Inhalt kann anschaulich oder unanschaulich sein, ein Er¬ 
lebnis ist als solches immer nur konkret. Somit ist die Anschaulichkeit eine 
Bestimmung, die dem Inhalte zukommen kann, »konkret ist aber eine wesent¬ 
liche Erlebnisqualität. Inhalte, wenn sie anschaulich sind, stellen konkrete 
Gegenstände dar. Der Satz darf aber nicht umgekehrt werden, denn die Dar¬ 
stellung des Konkreten kann auch durch unanschauliche Inhalte geschehen, 
insofern sie zu einem tatsächlichen, also konkreten Erlebnis verwertet sind. 
Der Sinn »konkreter Gegenstand« ist somit eine Verinhalthchung derjenigen 
Qualität des Erlebnisses, die uns verbietet von »abstrakten« Erlebnissen zu 
sprechen. 

2) Folgern wir somit aus der Analyse der konkreten Eigenart des Be¬ 
ziehungsbewußtseins, daß es nicht wie ein Inhalt betrachtet werden kann, so 
werden wir auch notgedrungen das Assoziationsschema, welches mit den inhalt- 

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Untersuch, über die Funktionen des Denkens nnd des Gedächtnisses. 409 

6) Durch den Grad der Aussonderung dieser Zuordnungscharak¬ 
tere kann man die vier Formen des Beziehungserlebnisses voneinander 
unterscheiden. Am stärksten ist diese Aussonderung in dem katego- 
rialen Meinen vertreten, am schwächsten in der konkreten Stiftung. 
Nur die strukturelle Gliederung der Erlebnismomente in diesem 
Stiftungsakt gibt die Grundlage für die nachträglich relationelle Zuord¬ 
nung der Fundamente. 

Andererseits unterscheiden sich die Beziehungserlebnisse durch 
den Vollkommenheitsgrad der Zuordnung der Erlebnismomente. Die 
konkrete Stiftung ist ein Erlebnis der vollkommensten Zuordnung — 
die kategoriale Stiftung der Unvollkommensten. Da das Meinen die 
Vergegenständlichung des Aktes der entsprechenden Stiftung darstellt, 
so ist das konkrete Meinen nichts anderes als Vergegenständlichung 
des vollkommenen Zuordnungscharakters, — kategoriales Meinen 
bildet dementsprechend die Vergegenständlichung des unvollkomme¬ 
nen Zuordnungscharakters. 

Man sieht leicht ein, daß das Meinen gegenüber der Stiftung nur 
eine relative Aussonderung des Zuordnungscharakters der Erlebnis¬ 
momente bedeutet, denn auch in der Stiftung muß die strukturelle 
Gliederung des Erlebnisses so sein, daß man daraus die bestimmbare 
Zuordnung der Elemente ableiten kann. Andererseits unterscheiden 
sich konkrete und kategoriale Bestimmungen auch nur relativ von¬ 
einander. Die Kategorie ist nicht etwas absolut eindeutig Bestimmtes, 
sondern ist kategorial nur im Hinblick auf eine vollkommenere Zu¬ 
ordnung. Der kategoriale Charakter einer Beziehung muß immer 
innerhalb eines bestimmten Zusammenhanges festgestellt werden und 
ist durch den momentanen Zweck bestimmt. Wenn keine vollkom¬ 
mene Zuordnung nötig ist, begnügt man sich mit der unvollkommenen. 
In diesen Fällen ist die kategoriale Operation eine Abbreviatur der 
konkreten. In anderen Fällen kann man aber keine vollkommene 
Zuordnung gebrauchen, z. B. bei einem gewissen Vergleich der Be¬ 
ziehungen selbst — dann ist die kategoriale Operation nicht ein Ersatz 
für die konkrete, sondern wird vielmehr selbständig intendiert. In 
dem Ersatzcharakter der kategorialen Beziehung liegen Keime der 
abstrakten Bestimmungen aller Art, — in der durch momentanen 
Zweck bestimmten selbständigen Intendierung — der Gebrauch als 
Allgemeinvorstellung. 


liehen Zwischengliedern operiert, in Anwendung auf das Beziehungserlebnis 
revidieren müssen. (Dazu der später folgende Abschnitt über Beziehungs¬ 
bewußtsein und Assoziation.) 

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460 A. A. Grtlnbaam, Untersuch. Ober die Funktionen des Denkens nsw. 

Der daraus entstehende psychologische Zusammenhang zwi¬ 
schen Abstraktion und Verallgemeinerung soll an dieser Stelle nicht 
weiter verfolgt werden — ebenso wenig wie die angedeutete Theorie 
der Allgemeinvorstellung, nach welcher das Allgemeine nicht die 
eigentliche Qualität des Inhaltes ist, sondern bloß seine Funktions¬ 
weise, sein durch den bestimmten Zweck gefordertes Verhalten inner¬ 
halb der momentanen Umgebung 1 ). 


1) Die psychologische Repräsentation dieses Verhaltens bilden sog. Be¬ 
deutungssphären. Über den Zusammenhang derselben mit der angedeuteten 
Theorie der Allgemeinvorstellung siehe des Autors Vortrag: »Beobachtungen 
über das Besinnen«. Bericht über den V. Kongreß für experim. PsyohoL in 
Berlin 1912. S. 209 f. 


(Eingegangen am 9. März 1916.) 


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Aus dem Psychologischen Seminar der Universität Kiel. 


Zur quantitativen Auswertung der Ergogramme. 

Von 

Schütz (I.) and Wittmann (II.). 

Mit 9 Figuren im Text. 


I. 

Eine Reihe von Ergographenversuchen sind mit dem Mossoschen 
Gewichtsergographen angestellt worden. Hier sollen zunächst metho¬ 
dische Fehler, denen sie in physikalischer Beziehung unterliegen, auf¬ 
gedeckt werden, Fehler, die die meisten Ergogramme samt ihrer 
Interpretation problematisch machen. 

1) Es ist nach Mossos Vorgang üblich geblieben, das Gewicht 
durch eine Darmsaite zu heben, weil deren Elastizität ein Abreißen 
am besten verhindert. Die Belastung von 3—10 Kilo ruft eine er¬ 
hebliche Spannung hervor, die bei ruckweisem Heben und Fallen 
selbst starken Metalldraht zum Reißen bringt. Die starken Vibra - 
tionen aber, denen das Gewicht unterworfen ist, üben einen merk¬ 
lichen Einfluß auf die Kurven aus und müssen unbedingt berück¬ 
sichtigt werden, 
was bisher nicht 
geschehen ist. Die 
Trommel des Ky- 
mographions läuft 
in derRegelsolang- 
sam,daß der Schrei¬ 
ber dieVibrationen, 
die sich zum Teil 
auf den Schlitten 
übertragen, ver¬ 
geblich aufzuzeich¬ 
nen sucht. Aber zu 
erkennen sind sie 
noch oft, z. B. in 
den Ergogrammen von A. Hoch und E. Kraepelin (in Kraepelins 
Psychologischen Arbeiten, 1, 1896, S. 464—66, 470), besonders in der 
obenstehend reproduzierten Fig. 5, wo die Nachschwingungen mehr¬ 
fach Yj der ganzen Hubhöhe ausmachen! Figur 1. 



Fig. 1. 


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462 


Schlitz und Wittmann, 


Um diese unberücksichtigten Tatsachen aufzufinden, befestigte 
ich einen Schreiber am Gewicht selbst 1 ). Durch geeignete Führung 
der Zugsaite wurden die seitlichen Schwankungen aufgehoben — sie 
dürfen vernachlässigt werden — und nur die vertikalen Schwingungen 
auf eine schnell laufende Kymographion-Trommel unmittelbar auf¬ 
gezeichnet. Eine Vp. zog in bestimmten Abständen, wie Fig. 2 
angibt 2 ), zweimal im Sekundentakt und dann in der ersten Sekunde 
den Finger beugend, in der zweiten streckend. Das Gewicht wog 
6y 8 kg, die Saite, an der es mit Draht befestigt war, maß 61,5 cm. 
Das Gewicht vibriert infolge der großen Elastizität der Saite nach 
jedem Heben und Senken. Es befindet sich noch in schwingen¬ 
der Bewegung, wenn der neue Zug oder der Fall beginnt. Dadurch 
ward die Arbeitsleistung ständig beeinflußt. Der erste Zug (Fig. 2) 



Fig. 2 nnd 3. 


beginnt in a, der zweite in b. Zwischen beiden besteht ein deutlicher 
Unterschied; denn der erste beginnt unterhalb, der zweite oberhalb 
der Normallinie, zu der das Gewicht in der Ruhelage zurückkehrt. 
Der Weg der zweiten Gewichtshebung ist sichtlich verkürzt. Viel 
größer ist der Weg der dritten Hebung, die in c beginnt. Hier haben 
wir es auch mit einer ganz andersartigen Bewegung zu tun: Während 
das Gewicht in a und b gerade im Begriff steht, abwärts zu schwängen 
und ans dieser Bewegung aufw’ärts gezwungen werden muß, hat es 

1) Der Apparat ist der bekannte von Kraepelin (PsyohoL Arbeiten, 1, 
S. 380 ff.) verbesserte Mosso-Ergograph, von Zimmermann in Leipzig her¬ 
gestellt. 

2) Die Kurven sind in der Reproduktion um */» der Originalgröße verkleinert. 


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Zur quantitativen Auswertung der Ergogramme. 


463 


in c offenbar seine Abwärtsschwingung beendet und schwingt wieder 
aufwärts, eine Bewegung, die der Fingerkontraktion zu gute kommt. 
Daher ist der in c beginnende Weg die Wirkung zweier gleichgerich¬ 
teter Kräfte. Ebenso der in e, anders wieder der in g beginnende Weg. 

Von c ab ist das Beugen und Strecken des Fingers durch je eine 
Sekunde getrennt. Man sieht, wie auch in der Höhenlage das Gewicht 
schwingt und noch, wenn es in der nächsten Sekunde (in d, f) fällt, 
keineswegs die Schwingung zur Ruhe gekommen ist. Die Wirkung 
ist ähnlich wie oben wechselnd, wenn auch geringer, und muß in den 
schnellen Zügen ebenfalls vorhanden sein. 



Fig. 6. 


Fig. 3 veranschaulicht das Ausschwingen. Das Gewicht fällt 
bei a' und vibriert 5 Sekunden aus, wird in b' gehoben und 1 Sek. ge¬ 
halten, bis es in c' von neuem fällt, um auszuschwingen. Daraus geht 
hervor, daß in Fig. 1 beim Einsetzen des neuen Zuges die vom voraus¬ 
gehenden Fall stammenden Schwingungen keineswegs beendet sind. 

Die Kurven Fig. 4 und 5 sind ebenfalls Ergogramme des Gewichts, 
aber unter anderen Bedingungen hergestellt. Die Darmsaite war 


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464 


Sehfits and Wittmann, 


etwas stärker und länger (73 cm), das Gewicht wog 4 1 /* kg, und 
die Vp. war eine andere. Unter den Kurven gab ein Zeitschreiber 
Fünftelsekunden an. Hier ist nun deutlich die kürzere und längere 
Schwingungsdauer zu sehen. Die Zahl der Gewichtsschwingungen 
in Figur 4 schwankt zwischen 4 1 /* und 2 1 / 8 . Die Herabsetzung der 
sich auswirkenden Schwingungen ist durch die schwankende Zeit¬ 
differenz zwischen Fall und Hebung bedingt. Beachtenswert ist auch 
der verschieden tiefe Fall unter die Niveaulinie bei annähernd 
gleicher Hubhöhe (s. 2, 3, 4 und 5). Dies ist offenbar zurück¬ 
zuführen auf ein verschieden stark verzögertes Fallen. Damit stimmt 
die verschiedene Neigung und Krümmung der Fallinien überein. 

In Fig. 5 sind deutliche Schwingungen des Gewichts in seiner 
Höhenlage wahrzunehmen. Steiler Abfall ohne vorherige Schwingung 
findet sich hier selten, doch verrät sich der nicht registrierte Teil 
einer neuen Schwingung in dem konkav-konvexen Abfall. Meistens 
sind zwei oder drei Wellen und die Übergänge vorhanden. Man 
verfolge den allmählich entstehenden Buckel bis zur Schwingungs¬ 
welle von 23 zu 20, 12, 14, 17, 19, 10, 8 usw., ebenso von 3 zu 9. 
Die Schwingungszahlen bedingen sehr verschiedene Ansätze zu den 
Hebungen und verschieden steiles Ansteigen und Abfallen: Auf der 
Normallinie beginnen Figur 4,3 und Figur 5,3, weit über ihr Figur 4,8 
und Figur 5, 16. Merkwürdige Mischungen zeigen Figur 4, 7 und 
Figur 5, 11, verschieden steiles Ansteigen Figur 4, 5 und 8. 

In Figur 6 haben wir zwei Schreibungen vor uns: der eigent¬ 
liche Schreiber des Ergographen gab die obere Kurve, der Gewichts¬ 
schreiber entsprechend dazu auf einer annähernd gleich schnell 
rotierenden Trommel die untere Kurve. Für die exakte Vergleichung 
ist beiden Kurven eine synchron arbeitende Zeitschreibung in 
Fünftelsekunden hinzugefügt. Zur Erzielung möglichst verschiedener 
Fälle ist von 4 ab in schnellem Tempo gezogen worden. Zu allein 
bisher Besprochenen kommt hier eine auffallende Erscheinung hinzu: 
Jedesmal, wo eine Abwärtsschwingung des Gewichts oberhalb der 
Normallinie unterbrochen wird, also in 5, 8,10,11,15,16,18, 19 und 
20, gibt der Ergographenschreiber einen Buckel an. Dieser bedeutet 
eine Verzögerung der Aufwärtsbewegung; dem Finger wird während 
seiner Kontraktion die Arbeit erschwert, weil das Gewicht noch eine 
sehr starke Tendenz zur Abwärtsbewegung besitzt. In den Fallen 
7, 12, 14, 17 dagegen ist nicht zu erkennen, ob die Hubbewegung 
schon unter oder erst über der Normallinie einsetzt, weil Aufwärts- 
schwingung des Gewichts und Hubrichtung zusammenfallen. 

Alle diese Momente beeinflussen die Arbeitsleistung; aua 


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Zur quantitativen Auswertung der Ergogramme. 


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Schütz and Wittmann, 


den üblichen Kurven sind sie aber nicht zu ersehen; man vergleiche die 
Wiedergaben von Mosso, Koch 1 ), Hoch-Kraepelin 2 ), Joteyko*), 
Meumann*) u. a. Teilweise lassen sie sich jedoch noch aus den von 
Hoch-Kraepelin besonders in Fig. 1—2 abgebildeten Kurven 
herauslesen (Psychol. Arb., 1, S.464), s. Fig. 7 u. 8. Gesehen hat auch 



Fig. 8. 


Meumann den Weg, die Arbeitsleistung durch auseinandergezogene 
Kurven näher zu prüfen. Er empfahl (a. a. 0. S. 347) »für genauere 
Untersuchungen ... ein Arbeiten mit schneller rotierender Trommel. 

n 

1) W. Koch, Ergographische Studien. Diss. Marburg 1894. Kurven vom 
Mosso-Lombard-Apparat. 

2) Über die Wirkung der Theebestandteile auf körperliche und geistige 
Arbeit. Kraepelins Psychol Arbeiten 1 (1896), S. 464 ff. und 3 (1901), S. 659. 

3) J. Joteyko, Participation des centres nerveux dans lee ph6nom£nes de 
fatigue musculaire. L’ann6e psychologique VII (1900), S. 167 ff. 

4) Meumann, Vorlesungen II 2 , 1913, S. 347ff. 


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Zur quantitativen Auswertung der Ergogramme. 


467 


wobei selbst die kleinste Unregelmäßigkeit in den einzelnen Hebungen 
und Senkungen des Gewichts sichtbar gemacht werden kann«; weit 
entfernt aber, diesen Weg zu gehen, ersetzte er vielmehr das Kymo- 
graphion durch ein an der Rolle angebrachtes Zählwerk. 


2) Um die Arbeitsleistung zu messen, bildet man gewöhnlich das 
Produkt aus Weg und Kraft; man glaubt, die geleistete Arbeit 
durch Multiplikation des Gewichts mit der Summe der Hubhöhen in 
Meterkilogramm ausdrücken zu können, also etwa 5 kg x 500 mm = 
2500 mmkg oder 2,5 mkg. So z. B. Koch, Kemsies 1 ), Kraepelin. 
Man ging noch weiter, maß nur die Summe der Hubhöhen, weil das 
Gewicht konstant bleibe und daher die Höhe als Maß der Arbeits¬ 
leistung angesehen werden könnte. So Oseretzkowsky und 
Kraepelin 2 3 * ). Dem entspricht dann folgerichtig das am Ergographen 
ancebrachte Millimetermaß ohne Ende und das Zählwerk Meumanns. 

Zählwerk aber und Meßband sind die größten Fehlerquellen aller 
mit dem Gewichtsergographen angestellten Versuche. Erstens unter¬ 
schlägt die mechanische Zählung oder Messung der Hubhöhen alle 
für die Arbeitsleistung charakteristischen Schwankungen des Gewnchts, 
zweitens ignoriert sie einen Faktor, der nicht weniger wichtig ist: 
die Zeit. 


Das Produkt aus Kraft und Weg müßte wenigstens mit dem 
reziproken Wert des Zeitfaktors multipliziert werden, wenn man 
einigermaßen ein Bild von der Arbeitsleistung erhalten will. Denn 
für eine bestimmte objektive Arbeit steht die Leistung im umge¬ 
kehrten Verhältnis zur Zeitdauer. Warum ist niemals der Zeitfaktor 
in den Ergpgrammen berücksichtigt, wie es doch längst beim Studium 
der muskulären Ermüdungsvorgänge in vitro geschehen ist? Volk- 
mann schrieb 8 ) schon 1870: »Betrachtet man den Inhalt der Kurven 
als Maß der Arbeit, so sieht man, daß ziemlich beträchtliche Ermüdung 
der Größe der Arbeit nur wenig schadet, wenn man dagegen beim 
Bemessen der Arbeit auch auf die Zeit, die sie beansprucht, Rücksicht 

nimmt = Nutzeffektj, so findet sich, daß sie dann mit der 


Ermüdung eine sehr rasche Verminderung erfährt.« Eine Ver¬ 
wertung der bei der Faradisation der Muskeln angewandten Methoden 


1) Deutsche medizinische Wochenschrift 1896, Nr. 26, cf. 1898, Nr. 3. 

2) Über die Beeinflussung der Muskelleistung durch verschiedene Arbeits¬ 
bedingungen. Kraepelins Psychol. Arb., 3, (1901), S. 587ff. 

3) A. W. Volk mann. Die Ermüdungsverhältnisse der Muskeln. In 

Pflügers Archiv für Physiologie, III, S. 374—75. 


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468 


Schütz und Wittmnnn, 


und gefundenen Resultate hat Robert Müller 1 ) in seiner scharf¬ 
sinnigen Kritik angedeutet. Er weist darauf hin, »daß die Arbeits¬ 
leistung in der Zeiteinheit in der Zuckungsreihe von vornherein ab¬ 
nimmt«, auch in der sog. Bowditchschen Treppe, weil »der an¬ 
steigende Kurventeil in seiner Dauer zunimmt, und der Anstieg 
immer weniger steil als in der vorhergehenden Zuckungskurve ist.* 
Trotzdem bleibt Müller dabei stehen, auf die ergographische Kurve 
des willkürlich bewegten Muskels den Grundsatz anzuwenden: »Die 
Arbeit ist das Produkt aus Kraft und Weg. Bei konstanter (!) Be¬ 
lastung ist also die Arbeit nur von der Hubhöhe abhängig. ... Die 
Summe der Einzelhebungen gibt die Arbeitsgröße, ihre Länge die 
Arbeitszeit.« Müller schlägt vor, den Betrag der Arbeitsleistung 
zu ermitteln, »indem man die Fläche ausmißt, welche zwischen der 
Abszissenlinie und der Kurve eingeschlossen ist, und den Betrag der 
Arbeitsleistung in der Zeiteinheit, indem man den Inhalt des Flächen¬ 
stückes ermittelt, das von zwei um eine Zeiteinheit voneinander 
entfernten Ordinaten und dem dazu gehörigen Abschnitt der Kurve 
begrenzt wird.« 

Diese mathematische Messung führt ebensowenig zum Ziel wie 
der von Fräulein Joteyko aufgestellte Ermüdungsquotient (!) 

H 

in der exakten Form — (Höhe : Zahl der Hebungen) 2 3 ). 

Auch der Versuch A. Lehmanns 2 ), die psycho-physische Arbeits¬ 
leistung und die Muskelermüdung durch ein Arbeitsgesetz exakt zu 
bestimmen, muß als verfehlt zurückgewiesen werden. 

II. 

Der Hauptfehler, der allgemein bei zahlenmäßigen Auswertungen 
von Ergogrammen begangen wird, ist der, daß der Arbeitsprozeß der 
Muskulatur bei den einzelnen Hebungen als ein gleichförmiger und 
daher als allein durch die Hubhöhe charakterisiert angesehen wird. 
Man ist dazu offenbar durch die Annahme verleitet, daß das Maß der 
physikalisch geleisteten Arbeit durch die Formel 

A=g-h (1) 

gegeben sei, eine Formel, die tatsächlich andere Differenzen als Höhen¬ 
differenzen nicht wiedergibt. Allein die Formel A = g • h ist an sich 
schon nur mit Einschränkung gültig und gibt für die von der Musku- 

1) Über Mossos Ergograplien. Wundts Philos. Stadien, XVII, S. lfL, 
S. 20 f. 

2) L’annee psycliologique VII, S. 165ff. 

3) Die körperl. Äußerungen psychischer Zustände. ILTeil, S. 134 ff., 1901. 


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Zur quantitativen Auswertung der Ergogramme. 469 

latur geleistete Arbeit, bzw. aufgewandte Kraft aus mehreren Gründen 
kein Maß ab. 

1) Es kommt bei der Messung der subjektiv zu leistenden Arbeit 
nicht auf die Anzahl der Meterkilogramme an sich an, sondern allein 
auf die in der Zeiteinheit geleisteten Meterkilogramme. Es kommt 
auf die effektive Leistung an. Ein Maß dieser ist das mit dem rezi¬ 
proken Wert der Zeit, in der die Arbeit geleistet wird, multiplizierte 
Produkt g • h also 

E = g • h • 1/t. (2) 

Es leuchtet ein, daß E bei den einzelnen Hüben von an sich gleicher 
Höhe noch außerordentlich großen Schwankungen unterworfen sein 
kann und ist, je nachdem die an sich kurzen Hubzeiten die geringsten 
Schwankungen erleiden. Wird z. B. das eine Mal die Hubhöhe in 
Vio Sek-, das andere Mal dieselbe Höhe in Vi6 Sek. erreicht — ein 
Zeitunterschied, wie er in der Wirklichkeit immer wieder vorkommt —, 
so ist unter Voraussetzung gleichförmiger Arbeitsweise im ersten 
Falle die effektive Arbeit um 30% größer als im zweiten Falle. Die 
Ermüdung hängt jedenfalls in erster Linie von der Intensität der 
Arbeitsweise, d. h. von der Größe der in der Zeit zur objektiven Arbeit 
aufgewandten und verbrauchten Muskelkraft ab. 

2) Die Formel A = g • Ä gibt jedoch nicht einmal die objektive 
Arbeit, bei der es bekanntlich weder auf Weg noch Zeit ankommt, über 
die sie geleistet wird, uneingeschränkt an. Nur für den Fall trifft 
sie zu, daß am Anfang und Ende der Hebung das zu hebende Gewicht 
keine Geschwindigkeit besitzt. Besitzt es aber am Anfang bzw. Ende 
die nach oben oder unten gerichteten Geschwindigkeiten bzw. v t , 
so ist die objektive Arbeit gegeben durch 

A = g • h + $ • mv* + | • mv\ . (3) 

A reduziert sich auf g • h nur, wenn v t = v a =0 ist. Dieser Fall 
liegt, wie die beigegebenen, wirklichen ergographischen Fällen ent¬ 
sprechenden Figuren, oder auch die Kurven von Kraepelin-Hoch 
zeigen, im allgemeinen nicht vor. Bei Verwendung von elastischen 
Darmsaiten und bei Intervallzeiten von 1 Sek. ist v t im allgemeinen 
nicht gleich Null; ist überdies ebenso oft nach oben wie nach 
unten gerichtet. Figur 4 und 5 bieten dafür Belege. Wann c s = 0 
ist, läßt sich aus den gewöhnlichen Kurven nicht mit derselben 
Sicherheit erkennen. Für das Vorhandensein einer solchen Schlu߬ 
bewegung spricht zunächst folgende Überlegung. 

Je nach dem Momente des Einsatzes des Hubes wird sich die 
Saite während des Hubes in dem Zustande normaler oder über- bzw. 


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470 


Schütz und Wittmann, 


untemormaler Spannung befinden. Das beschleunigte Heben des 
Gewichtes wird überdies stets eine Vergrößerung der Anfangsspan¬ 
nung bewirken. Infolgedessen wird sich mit dem Aufhören des 
Fingerzuges nach oben die innere Spannung der Saite bezüglich des 
nach unten gerichteten Zuges des Gewichtes in der kurzen Hubzeit 
im allgemeinen noch nicht ausgeglichen haben; in dem Momente, da 
die Fingerbewegung aufhört, wird also das Gewicht unter der Ein¬ 
wirkung der Elastizitätskräfte der Saite noch beschleunigte Be¬ 
wegung nach oben und demzufolge eine schwingende Bewegung aus¬ 
führen. Solche ist in den Figuren Nr. 1, 2, 4 allenthalben registriert. 
Besitzt also, was zu erwarten ist, das Gewicht am Ende des Zuges 
die (unter Umständen nur durch die Elastizitätskräfte der Saite 
bewirkte) Geschwindigkeit v 2 , so ist die entsprechende Zusatzarbeit 
\ - m v| mit in Rechnung zu setzen. 

Aber auch den Ergogrammen selbst läßt sich entnehmen, daß 
mit dem Abschluß der Finger- bzw. der Schlittenbewegung die Steig¬ 
bewegung des Gewichts noch nicht beendet ist. In den Doppelkurven 
Figur 6 sind nämlich die Hubhöhen der Gewichtsregistrierung durch¬ 
schnittlich um 1 mm bis 2 mm höher als die entsprechenden der 
Schlittenregistrierung. Es wird daher die objektive Arbeit durchweg 
bis zu 10% zu niedrig gefunden, wenn man ihrer Berechnung die 
Hubhöhen der Schlittenregistrierung zugrunde legt! Dabei ist aller¬ 
dings auch noch vorausgesetzt, daß das Gewicht überhaupt über die 
ganze »Hubhöhe« oder nach über diese gehoben wird, was, wie oben 
gezeigt, durchaus nicht immer der Fall ist. 

Man könnte der Ansicht sein, die Zusatzarbeiten möchten so 
gering sein, daß sie vernachlässigt werden dürfen. Dies trifft jedoch 
nicht zu, wie aus folgenden zwei willkürlich herausgegriffenen Bei¬ 
spielen hervorgebt. 

1 . Beispiel: In Figur 5 setzt Hub Nr. 21 in dem Momente ein, da 
das Gewicht mit einer gewissen Geschwindigkeit v* nach unten 
durch die Niveaulinie schwingt. Diese Geschwindigkeit ergibt sich 
mit Wahrscheinlichkeit zu 0,2 m bis 0,25 m; demnach ergibt sich 
zu 0,009 mkg bis 0,014 mkg. Wird das Gewicht 0 
— 4,5 kg in diesem Falle — zur Höhe h = 0,025 m gehoben, so 
ist q • h = 0,11 mkg; demnach 

A = 0,11 mkg + 0,009 mkg bzw. + 0,014 mkg. 

Die objektive Zusatzarbeit beträgt also etwa 8% bis 12% von g 

Dieses Beispiel ist vielleicht deshalb nicht ganz zutreffend, weil 
die Intervallzeit zwischen Hub 21 und 20 kürzer als eine Sekunde ist. 


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Zar quantitativen Auswertung der Ergogramme. 


471 


2. Beispiel: In Figur 5 setzt Hub Nr. 10 (Intervallzeit etwa 1 Sek.) 
ebenfalls in der abwärts gerichteten Schwingung des Gewichtes ein. 
Hier ist allerdings die Geschwindigkeit nicht mehr so groß wie in 
Beispiel 1, da es sich schon um die 3. Schwingung handelt. Immerhin 
ergibt sich üj zwischen 0,12 m und 0,15 m, folglich mv\ zwischen 
0,0033 mkg und 0,005 mkg. Da in diesem Falle g • A = 0,0945 mkg 
betrug, so ergibt sich für A 

A = 0,0945 mkg + 0,0033 mkg bzw. + 0,005 mkg. 

Die objektive Zusatzarbeit betrug also immer noch zwischen 3% 
und 5% von g >h. 

Die in den vorstehenden Beispielen gefundenen Prozentzahlen 
geben jedoch noch kein richtiges Bild. Denn die Zusatzarbeiten 
müssen erst noch auf die Zeiteinheit reduziert werden. Da aber die 
Zeiten, in denen diese Zusatzarbeiten zur Überwindung der Wucht 
des fallenden Gewichtes geleistet werden im Vergleich zu den Zeiten, 
in denen das Gewicht zur Höhe h gehoben'wird, als sehr klein ange¬ 
nommen werden müssen, so ergeben sich die effektiven Zusatz¬ 
arbeiten entsprechend größer. Man erhält so Werte, die 30 % und 
60% der effektiven Arbeit g • h . 1/t ausmachen. 

Behandelt man das Aufhalten des fallenden Gewichtes analog 
zu dem Anhalten einer bewegten elastischen Kugel, so kann man 
vermittels der für den elastischen Stoß geltenden Formel: 

m • v = p • t 

die Kraft berechnen, die plötzlich von den Muskeln entfaltet werden 
muß, um in der kurzen Zeit t das Gewicht zum Stillstand zu bringen. 
Je kleiner t ist, um so größer muß p, d. h. die Muskelkraft sein; p 
kann leicht mehrere Kilogramm betragen. 


3) Aber auch die erweiterte Arbeitsformel (3) kann nicht ohne 
weiteres als Maß für die subjektiv geleistete Arbeit, welcher wieder 
der Grad der Ermüdung irgendwie proportional gesetzt werden 
könnte, galten, selbst wenn man die durch sie angegebene gesamte 
Arbeit auf die Zeiteinheit reduzierte. Denn bei Fragen der Er¬ 
müdung kommt es in erster Linie auf die Größe der in der Zeit von 
Moment zu Moment geleisteten effektiven Arbeit an, es kommt auf 
die hierzu in der Zeit variabel entwickelte und verbrauchte Kraft an. 
Dafür ist aber in obiger Formel, besonders für den Fall, daß 
v i — v 2 = 0 ist, kein Anhaltspunkt mehr zu ersehen; denn sie ist 
als Summenformel für die unendlich vielen Arbeitsgrößen anzusehen, 
die über die unendlich vielen unendlich kleinen Höhen h n = h) 

in den Zeiten t geleistet werden. 

n o 

Archiv für Psychologie. XXXVI. 31 


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472 


Schütz und Wittmann, 


Während die Formel g • h n die Größe der objektiven Arbeit bei 
gleichförmiger Arbeitsweise angibt, ein Fall, der bei der ergographi- 
schen Arbeitsweise nicht vorkommt, berücksichtigt die Formel 

A n = 9-K + l™r n+l ±lmi% (4) 

die Ungleichförmigkeit der Arbeitsweise, die vor allem bedingt ist 
durch die fortgesetzt erforderliche Überwindung der verschieden¬ 
sten Trägheitswiderstände. Die einzelnen Glieder A n sind je nach 
der beschleunigten bzw. verzögerten Arbeitsweise bald größer als 
g • h n , bald aber auch kleiner. Die Größe der effektiven Leistung 
schwankt demnach fortgesetzt; die Schwankung, von der ganz wesent¬ 
lich der Grad der Ermüdung abhängt, wird aber verwischt, wenn 
man einfach die Summe bildet über sämtliche A n : 

A = 2A n ~ 2gh n +2(±_\mvi+ x ±\mvl). (5) 

Rein rechnerisch heben sich allerdings rechts alle Glieder bis auf 
das zweite und letzte gegenseitig auf. Es ergibt sich als Endformel 

A = gh + \mb 2 + \ma 2 , (6) 

worin a und b die Anfangs- und Endgeschwindigkeiten des Gewichtes 
bedeuten. 

Diese Summenbildung (5) wird aber, da sie nicht Rücksicht nimmt 
auf die Zeiten, in denen die einzelnen Arbeiten A n geleistet wurden, 
der physikalischen Bedeutung der einzelnen Summanden und ihrer 
unmittelbaren Beziehung zur Ermüdung nicht gerecht. Wenn sich 
auch die einzelnen objektiven Arbeiten bis auf zwei gegenseitig auf- 
lieben, so haben sie doch entsprechend ihrer Größe und der Zeit, die 
sie beanspruchten, ermüdend gewirkt. Man müßte daher sämtliche 
Teilarbeiten auf die Zeiteinheit reduzieren, um die effektiven Ar¬ 
beiten zu erhalten. Diese effektiven Arbeiten würde man aber kaum 
so ohne weiteres zu einer Summe vereinigen dürfen, um ein Maß 
für die Gesamtleistung bzw. für den Grad der Ermüdung zu erhalten; 
schon aus dem Grunde nicht, weil der Grad der Ermüdung weder im 
einzelnen den Teileffektivleistungen noch im ganzen der Summe 
dieser direkt proportional ist. Analog dürfen noch weniger die suk¬ 
zessiven Einzelhubleistungen zu einer Gesamtleistung addiert werden, 
Es muß als aussichtslos angesehen werden, für einen einzelnen 
Hub ein Maß der effektiven Muskelarbeit bzw. ein Maß der durch 
sie bedingten Ermüdung aufzustellen. 

Die obigen Arbeitsformeln sind überdies deshalb unzureichend, 
weil mit dem Heben des Gewichtes die Arbeitsleistung der Muskulatur 
noch nicht beendet ist; denn es wird erstens noch Kraft verbraucht, 
um das (Jewicht in einer erreichten Höhe, z. B. der Treppe oder auf 


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Zar quantitativen Auswertung der Ergogramme. 


473 


dem Gipfel der Kurve in Ruhe zu halten (die Zeiten, während deren 
dies geschieht, können recht beträchtliche sein). Um so mehr ist hier 
Kraft erforderlich, wenn das Gewicht, wie oben bemerkt, Eigen¬ 
schwingungen ausführt. Zweitens wird noch Kraft erfordert beim 
Fallenlassen des Gewichtes; denn im allgemeinen fällt dieses nicht 
frei, sondern mehr oder weniger verzögert, wie das auch wieder die 
Treppen bei Kraepelin-Hoch zeigen. 

Endlich darf nicht übersehen werden, daß zur Muskelarbeit noch 
die Überwindung sämtlicher Reibungswiderstände des Apparates, 
der Trägheitswiderstände des Schlittens usw\, sowie die Spannung 
der Zugsaite bis zu ihrer maximalen Spannung zu rechnen sind. 
Diese letztere Arbeit, die durch den Schlittenschreiber nicht registriert, 
wird, nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch. Erst muß diese Zeit 
verstrichen sein, ehe das Gewicht sich zu heben beginnt. Aus Fig. 9 
ist dies zu ersehen. 



Fig. 9 . 


Das Gewicht berührte einen Kontakt, der mit beginnender Ge¬ 
wichtshebung geöffnet wurde. Mit Schluß des Kontaktes senkte sich 
ein Hammer, mit Öffnung hob sich dieser wieder. Die Senkung des 
Hammers gab der Schreiber B durch Schleifen auf der Trommel 
wieder, die Hebung durch Absetzen von der Trommel. A registrierte 
Fingerbeugen und -strecken; dieser Schreiber w T ar an der Saite da 
befestigt, wo sie mit der Fingerhülse in Verbindung steht. C schrieb 
Fünftelsekunden. Die das Gewicht tragende Saite war für diesen 
Versuch durch Draht ersetzt worden. Das Gewicht wurde nun ver¬ 
meintlich in a, tatsächlich erst in b gehoben, denn der Kontakt öffnete 
sich in b und schloß sich in e. Demnach leistete die Vp. schon in der 
Zeit c bis d, also in etwa Vj der ganzen Hubzeit Arbeit. Die Vibra¬ 
tion in e erklärt sich daraus, daß der Kontakt durch loses Aufstoßen 
des Gewichtes sich leicht öffnete und schloß. 

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß — sobald es sich um die 
quantitative Abschätzung der von den Muskeln tatsächlich geleisteten 
Arbeit, bzw. der bei der Arbeitsleistung und durch die Arbeitsleistung 

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474 Schütz and Wittmann, Zar qaantit Auswertung der Ergogramme. 

eingetretenen Ermüdung handelt — es nicht angängig ist, die ein¬ 
zelnen Hubarbeiten als in jeder Beziehung einander konform an¬ 
zusehen, sie demnach allein durch die Höhen zu messen, die Höhen 
wiederum beliebig in Teile zu teilen (wie das z. B. Lehmann bei der 
Aufstellung seines Arbeitsgesetzes tat) oder zu Summen zu ver¬ 
einigen. Es darf nicht vergessen werden, daß schon für eine einzige 
Hubleistung wegen des ungleichförmigen Arbeitsrhythmus und der 
variablen Zeit, in denen sie geleistet wird, sich kaum ein auch nur 
einigermaßen sicheres Maß angeben läßt. 

Schon bei der praktisch scheinbar sehr einfachen Verwendung der 
Formel A = g • Ä, also bei der alleinigen Rücksicht auf die objektive 
Arbeit, können sehr beträchtliche Fehler begangen werden; so da¬ 
durch, daß die Schlittenregistrierung einerseits die wirklichen Hub¬ 
höhen nicht exakt angibt (oben Fehler bis zu 10 %), andererseits die 
zur Überwindung aller in den Apparaten liegenden Widerstände, 
Reibung, Trägheit usw. zu leistende Arbeit überhaupt nicht registriert, 
sowie dadurch, daß die Anfangs- und Endenergie des Gewichts nicht 
berücksichtigt wird (oben Fehler bis zu 12%). Inwieweit diese der 
Berechnung einer einzelnen Hubarbeit anhaftenden Fehler bei einer 
Summierung alle Hubarbeiten eines Ergogrammes sich gegenseitig 
aufheben, läßt sich nicht sagen; doch muß eine Summe, deren Sum¬ 
manden um 20 % und mehr fehlerhaft sind, sehr wenig vertrauen¬ 
erweckend erscheinen. 

Berechnet man statt der objektiven Arbeiten die subjektiven 
effektiven Leistungen, so erhält man Zahlenwerte, die mit den 
Zahlen werten der objektiven Arbeiten natürlich nicht vergleichbar 
sind. Dies wegen der Verschiedenheit der Dimensionen der Arbeit 
A = [Pmr 2 ] und der Leistung E = [l 2 mt~ 3 ]. In der Praxis lassen 
sich aber die effektiven Leistungen nicht berechnen, da die Zeiten 
nicht bekannt sind. Noch weniger aber ließen sie sich zu Summen 
vereinigen. 


(Eingegangen am 20. Juli 1916.) 


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Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig. 

LOGIK 

von 

Dr. phil. et med. Gustav Störring 

ord. Professor der Philosophie an der Universität Bonn 

Erster Teil: Elementare Methoden des Erkennens 

I. Abschnitt. Allgemeine Bestimmungen über die Urteile. — 

II. Abschnitt. Die Lehre vom Begriff. — III. Abschnitt. Speziellere 
Behandlung der Urteile. — IV. Abschnitt. Die Schlußlehre. 

Zweiter Teil: Methodenlehre im speziellen Sinne 

I. Abschnitt. Methoden der realwissenschaftlichen Unter¬ 
suchung. — II. Abschnitt. Logik des mathematischen Denkens. 

VIII, 363 Seiten, gr. 8. Format 15 x 23. Gewicht 600 gr. M. 12.— 


Arbeiten zur Entwicklungspsychologie 

Herausgegeben von 

FELIX KRUEGER 

ord. Professor an der Universität Halle 


I. Band, 1. Heft: 

Über Entwicklungspsychologie 

ihre sachliche und geschichtliche Notwendigkeit 
von Felix Krueger 

• X u. 232 Seiten, gr. 8. Format 17 x 24 l / 2 . Gewicht 410 gr. M. 9.— 

Aus den Besprechungen: 

. . . Als kritische Selbstbesinnung der Psychologie auf ihren gegenwärtigen Gcsamtzustand, 
als Rückblick auf frühere Irrwcgo und als Wegweiser zu neuen Zielen ist das Buch zweifellos 
eine der bedeutendsten Erscheinungen der letzten Jahre auf psychologischem Gebiet. 

Sozialistische Monatshefte Jg, 1915, Heft 23. 


I. Band, 2. Heft: 

Ober die Vorstellungen der Tiere 

Ein Beitrag zur Entwicklungspsychologie 
von Hans Volkelt 


Format 17x 24V 2 . Gewicht 220 gr. M. 4.- 


IV u. 126 Seiten, gr. 8. 

Aus den Besprechungen: 

. . . Wir begrüßen das neue Unternehmen, weil es einen gesunden Kern hat und weil cs 
berufen erscheint, neues Lieht in das psychische Getriebe zu werten. Gleich die erste Arbeit 
der neuen Zeitschrift ist geeignet, unser volles Interesse zu erwecken. Sic erörtert die Frage: 
Wie erscheinen dem Tier die Dinge seiner Umgebung? Der Verfasser setzt mit Geschick aus¬ 
einander, daß die Tiere die Gegenstände keineswegs so klar, deutlich, abgegrenzt erkennen wie 
wir, daß ihr analytisches Vermögen nicht, wie bei uns, zum Auftreten gewissermaßen ato- 

ckelt ist. Berliner klinische Wochenschrift 1914, 


rnistisehcr J^tTFnesqualitaleji entwiek 

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. Inhalt des 4. Heftes Seil * 

A. Hertz, Gin Beitrag zur Entwicklung (lej Schrift.859 

Heinrich Gustav Steinhann, 2uz systematischen Stci mg der Phänomeno¬ 
logie . ...391 

A. A. Grünbaum, Untereaclrangen Uber die Funktionen des Denkens und 

des Gedächtnisses. I. Psychologische Natur der Bqziehungserlebnisse. 423 
Schütz (I.) und 'Wittmann (II), 2ur quantitativen Auswertung'der Ergo- 

gramme. Mit 9 Figuren im Text ................. 461 


Verlag Von Wilhelm Engelmann in Leipzig. 

■ ■ f * ■ ■ ■ ? i ■ — * ■ ■ . ■ — ■■ ■ ■ ■* " ! ■ ■ e. ■ ■ ^ "4 ■■■ ■ 


Soeben erschien in neuer Auflage: „ 

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Wetter, Klima und Landschaft in 
ihrem Einfluß auf das Seelenleben 

- . , k . . . x 


dargestellt von.' 

Dr. pbiL et med. Willy Helipach 

a. o. Professor der Psychologie in Karlsruhe 


Zweite, vermehrte und durchgesehene Auflage 


Mit 2 Tafeln. XXI und 489 Seiten gr. 8 
Geheftet M. 14.—, in Leinen geb. M. 16.— 

Neu hinzugekommen sind u. a. folgende wichtige Abschnitte: 
„Erklärung der Wetterwirkung,* „Das Klima als seelisches 
Erholungsmittel, a „Die Erholungswerte der Landschaft.* 


Dieses Heft enthält Ankündigungen von Wilhelm Engelmann in Leipzig Uber 
die zweite Auflage von »Helipach, D ie geo psychischen Erscheinungen* 
und über die vierte Auflage von »Villiger, Gehirn und RHckenmark«. 


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Druck von Breltkopf & Hä. ;l ln Lelpilg 

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