I
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
BEGRÜNDET VON E. MEUMANN
UNTER MITWIEKÜNÖ
VON
C N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW,
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN,
F. KRÜEGER, G; MARTIUS, A. MESSER,
G. STÖRRING, J. WITTMANN
HERAUSOEGEBEN VON
W. WIRTH
XLVni. BAND
MIT 7 TBXTFIOÜREN
LEIPZIG
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAPT M. B. H.
1924
i^ych.
l-ISRARrf
Es wurden ansge^eben:
Heft 1/2 (S. 1—192) am 8. JnU 1924
Heft 8/4 (S. 198—600) am 10. Ansaat 1924
Inhalt des achtundvierzigsten Sandes.
M. Löwi, SchwellenanteniichQngea. Theorie nnd Experiment. 4Tafelfig:iiren 1
S. W. Kbitkot, Zar Frage ttber die Transformation der Helligkeit Mit
1 Textfigor.74
Bbüno PBTBBiiAini, Bechterews Theorie der Konaentriemng.
F. ScHNBBBSOHH, Die Wirkong Ton katastrophalen Ereignissen auf die Seele
des normalen and anormalen Kindes.100
Bbuno OüTMAmr, Die Ehrerbietnng der Dschagganeger gegen ihre Nnta-
pflanzen and Haostiere.128
Hans KbOobb, Zar Philosophie des Aineddemos Ton Knossos.147
A. Pick, Bemerkongen za der Abhandlang Ton S. Fischer »Über das Ent¬
stehen and Verstehen von Namen«.174
Gustav Kakka, Zam Begriff des »Psychischen« and sdner Entwicklangs-
geschichte.198
Doba Lüdbkb, Experimentelle Untersachangen ttber das anmittelbare Be¬
halten mit besonderer Berttckdchtigang der Prozesse der Aofmerk-
samkeit and des Wiedererkennens.218
J. LninwoBSKT, Bevision einer Belationstheorie.248
Abk» Hüllbb, Das Individnalitätsproblem and die Sabordination der Organe 290
Hbbbbbt Janokb, Psychologie der sittlichen Selbstachtong and ihre Be-
ziehnng zor Ethik seit Kant.882
Abba Lkbtz, Experimentelle Untersachangen ttber die Bedentnng von
Angenbewegangsempflndongen fttr die Schtttzong des räamlichen
Charakters von Bewegongsgrttfien.428
R. Pauu and A. Wxbzl, Über Farbenempflndnngen bei intermittierendem
farblosem Lichte. Mit 2 Figoren im Text.470
Literatarberiohte. Referate.
JoHABBBS Hbssxb, Die philosophischen StrOmongen der Gegenwart.
(Aloys Müller) .176
Habs Dbibsch, Ordnangslehre, ein System des nichtmetaphysischen Teiles
der Philosophie. (Biehard BeUmuth Ch>1d$ehmidt) .176
Habs Dbibsch, Wirklichkeitslehre, ein methaphysischer Verlach. (Itiehard
Hellmuth Chldeekmidt) .176
Paul Hbbtz, Über das Denken and seine Beziehong znr Anschannng.
(M.Löu)i) .181
K. Kovpka, Beitr&ge znr Psychologie der Gestalt. (Aloye Mütter) . . . 182
WoiiBOABo Köblbb, Die physischen Gestalten in Rahe and im station&ren
Znstand. (Aloys Mütter) .182
G. E. MCU.BB, Komplextheorie and Gestaltheorie. (Aloye Mütter) . . . 182
Labt, J. M., Taylorsystem and Physiologie der bemfllchen Arbeit. (0. Klemm) 187
r\T\ • • Q
Seite
SippKL, H., Der Tamanterricht and die geistige Arbeit des Schalkindes.
(0. Klemm) .187
Eönio, Th., Beklame-Psychologie, ibr gegenwärtiger Stand — ihre prak*
tische Bedentong. (0. Klemm) .188
Bnssn, H. H., Das literarische Verständnis der werktätigen Jagend zwischen
14 and 18. (0. Klemm) .189
HARAI.P Höpfdino, Erlebnis and Dentang. (Friedrich Lipeiua) .... 189
Kart. Höcksb, Phänomenologie des religiösen GefQhles in Abderhaldens
Handbach der biologischen Arbeitsmethoden. (Ä. Körner) . . . 191
Beligionspsychologische Literator (Nachlese). (A.. Körner) .486
WtLHKLH WüHDT, Eine Wttrdigong. {Sann» Herrmann) .488
A. WoHLOKHüTH, A Critical Ezamination of Psycho-Analysis.
(Mölienhoff) . 491
Kart. Hahsbh, Zot pathologischen Physiologie der Ataxie. (H. IHepd) 491
Obdihans, Die Welt als Sabjekt-Objekt. (Äloyt Müller) .492
Max WBBTHsnnn, Über Schlnfiprosezse im prodaktivea Denken.
(Ahy» Müller) .498
Bbhho Eudhaitw, Logik. Logische Elementarlehre. (Äloy* Müller) 498
Emil Lask, Qesammelte Schriften. {Äloy$ Müder) .494
Ebwin LoiwT-HATTXNDonp, Krieg, BeTolation and Unfallnearosen.
(S. Fischer) .495
EnnAni) HrrsoHKAinr, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters seiner
Gestalten and Motife. (8. Fischer) .495
BonmiT Gauff, Das sexnelle Problem Tom psychologischen Standpankt.
(8. Fisi^er) .496
Placzhk, Des Geschlechtsleben des Menschen. {8. Fischer) .... 496
THXODom FnomnicHS, Zer Psychologie der Hypnose and Saggestion (mit
einem Vorwort von Arthor Kronfeld). (8 Fischer) .497
Ehoklbr and Banqkttb, Nene Forschongswege bei tranmatischen
Neniosen. {8. Fischer) .497
Adalbbbt Gbboob and Elsb Voiotlähdib, Charakterstmktar rerwahr*
loster Kinder and Jagendlicher. (8. Fisdier) .497
E. B. Mtklbh, Hiracles and the new Psychology. [Max Dessoür) . . . 498
A. Botot et H. Schabbxb, Le mOcanisme de la Sarvie. {Max Sessoir) 496
EcoAkb Ostt, La connaissance sapranonnale. (Max Vessoir) .... 499
Kabl Hibmahh Schmidt, Die okkolten Phänomene im Lichte der Wissen¬
schaft. {Max Dessoir) .499
0. Sbltz, Oswald Spengler and die intoitive Methode in der Geschichts-
forschong. {Otto) . 500
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
BKGKl NDET VON E. MEUMANN
UNTER MITWIRKUNG
N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW,
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN,
F. KRÜEGER, G. MARTIUS, A. MESSER,
G. STÖRRING, J. VVTTTMANN
HKRAUSGEGKBEN VON
W. WIKTH
XLVIII. BAND, 1. u. 2. HEFT
MIT 4 TAFELFIOUREN UND 1 TEXTFIOUR
LEIPZIG
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M. B. H.
Ansgegeben am 3. Juli 1924
: - itibalt des 1. u. 2. Heftes.
.- • *. ijinle
H: IjoAwv^efiA^elteBaitl&rtachTuigen. Theorie aad Experiment. 4Tafclfigareii I
»s. W. Kravkov, Zur Frage über die Traufiformation der Helligkeit. Mit
1 Textfigur ..74
Bhcno Pktekma?w, Bechterews Theorie der Konzentrierung ..... ^'1
F. 8CUNEKBSOHX, Die Wirkung von kataetrophalen Ereignissen auf die Seele
eines normalen und anormalen Kindes.100
Bh«jno Gutmann, Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutz*
pfianzen und Haustiere ..1*B
Hans Krüoeb, Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos.147
A. Pick, Bemerkungen zu der Abhandlung von S. Fischer Ȇber das Ent*
stehen und Verstehen von Namen« . ... 174
Bemerkungen für die Mitarbeiter.
1. Das Archiv erscheint in Heften, deren je vier einen Band bilden.
2. Sämtliche Handschriften sind druckfertig an Prof. Dr. W.Wirth,
Leipzig, Haydnstraße 6 “J, einznliefem; größere Änderungen im
Satz sind unzulässig. Die Veröffentlichung geschieht in der Reihen¬
folge des Eingangs, jedoch bleihen Änderungen Vorbehalten.
3. Zeichnungen sind auf besonderen Blättern zu liefern; außer¬
gewöhnliche Anforderungen an die Herstellung der Abbildungen
bedingen vorherige Vereinbarung; dies gilt auch für größere und
schwierige Tabellen. — Alle Tafel-Beigaben können nur auf
Kosten der Verfasser hergestellt werden.
4. Alle Kosten für Satz, Druck, Papier, Korrekturen usw.
von Abhandlungen sind, soweit sie den Umfang von fünf
Bogen überschreiten, von den Verfassern selbst zu tragen.
5. 40 Sonderdrucke der Abhandlungen werden unberechnet
geliefert, weitere können nur gegen Erstattung der Kosten ange¬
fertigt werden. V on Referaten werden keine Sonderdrucke geliefert.
6. Korrekturen sind umgehend zu erledigen und an die Verlags¬
buchhandlung (ohnedie Handschrift) zurückzusenden. Korrektur¬
kosten, die der Autor selbst verschuldet hat, werden vom
Verlage nur bis OM. 4.— pro Bogen getragen.
Änderungen des Aufenthalts sind dem Verlage
.sofort mitzuteilen.
7. Die Orthographie ist die in Deutschland, Österreich und der
Schweiz amtlich eingeführte (s. l>uden, Rechtschreibuugt.
8. Erfüllungsort für beide Teile ist Leipzig.
Herausgeber und Verlagsbuclihaudliing.
T
SchweUennntersuchungen. Theorie und Experiment.
Von
Priv.-Doz. Dr. M. Lowi, Breslau.
Inhaltsübersicht.
Erster Teil.
I. Das Objekt der Psychophysik und die Beziehons' zwischen Psycho*
physik and Psychologie.S. 2—12
Das Verhältnis von Psychophysik nnd Psychologie S. 2—4.
Die^ ans dieser Beziehong resultierende Frage S. 4. Einige
InTsrianten in der Eonstanzmethode S. 4—6. Das Objekt als
denkendes und die »Urteilsansdrttcke« S. 6—6. Die Notwendig¬
keit der Einbeziehung der Denkkomplexe in die Psychophysik.
Forderung freien Verhaltens hinsichtlich des sprachlichen Aus¬
drucks S. 6—12.
n. Die Schwelle.S. 12—20
Das Schwellenerlebnis und seine Ausdrllckbarkeit S. 12. Der
Belationscharakter der Schwelle nnd ihre Aufgabennatur S. 12—14.
Das Zusammenfällen von Begriff nnd Tatsache in der Schwelle als
Ausdruck der Augenblickserfassnng des Erlebten S. 14—16. Technik
für die Behandlung der Schwelle im haptischen Hodalgebiet S.16—16.
Die Fragestellung für die Untersuchung der Schwelle S. 16—17.
Versuche nnd Gruppierung der Aussagen S. 17—18 und 62—64.
Das Recht der Einteilung ans der begrifflichen Natur des Problems
8.18. Der gleichzeitig begriffliche nnd tatsächliche Charakter
der Fragestellung als Bedingung für das in der Aussage »Ge¬
meinte« S. 18—20.
m. Das Optimum als Begriff und Tatsache zugleich.S. 20—24
Der Sinn der Frage in der experimentellen Psychologie S. 20—21.
Die nach gegenständlichen Prinzipien erfolgende »Gestaltung« der
Aussagen S. 22. Die »Gestaltung« als Funktion der Aufgabe
S. 22-24.
IV. Der Anfgabenwechsel als Begriff nnd Tatsache zugleich . . S. 24—27
Das scheinbar anfgabenlose Verhalten derVersuchsperson S. 24—26.
Die für das nichtoptimale Verhalten charakteristischen Beziehungen
S. 26—26. Der Anfgabenwechsel als Ausdruck für den Belations¬
charakter des Erlebnisses S. 27.
Archiv ffir Psychologie. XLVm.
1
V. Der Anfgabenwechsel als nene Fragestellimg.S. 27—84
Die nichtoptimalen Aussagen als Ansdmck bedentnngshafter
Erlebnisse S. 27—28. Die nene Instruktion S.28—29. Ein mög¬
liches Mißverständnis S. 29. Die »Aufgabe« in ihrem Verhältnis
an einer Mannigfaltigkeit von Optimalerlebnissen S. 29—30. Das
Optimum als Angenblickserscheinnng S. 80. Technik für die Dar¬
bietung zeichenhafter Beize S. 30—31. Versuche S. 81—82. Die
falsche und richtige Fragestellung S. 82—83. Zusammenfassung
S. 88-84.
VI. Das Gestaltserlebnis.8.34—41
Eine besondere Art optimaler Erlebnisse 8.84. Die Belation
»unabhängig von« als Träger des Psychischen 8.34—86. Die
psychologische Bedeutung der Belation »unabhängig von« in der
Philosophie Kants 8.36—86. Die psychologische Bedeutung der
das Oestaltserlebnis begleitenden Motive der Undeutlichkeit und
Unsicherheit 8.36—89. Die »wörtliche« Äußerung der Gestalts¬
erlebnisse als Ansdmck der Angenblickserfassung 8.89—40. Die
Lösung der zu Beginn der Untersuchung erhobenen Fragen 8.40.
Die Bedeutung der objektiven Beize 8. 40.
VII. Die experimentelle Bewältigung kompliziertester Optimalerleb¬
nisse .8.41—60
Komplizierte optimale Aussagen beim Heben von Gewichten
8.41—44. Das Hervortreten des Überraschnngseindracks 8. 44.
Der Weg zur Lösung des Problems der Überraschung 8.44—46.
Das Anffinden der experimentellen Bedingungen 8.46—48. Die
Einstellnngsversnche in der Psychologie 8.48. Die Anfgaben-
bezogenheit der Aussagen als Kriterium für ihre 8inngemäßheit
bezw. ihre 8innwidrigkeit 8.48—49. Zusammenfassung 8.49—60.
Zweiter Teil.
Die experimentelle Psychologie ans ihrem Begriff . . . . S. 64—73
Erster Teil.
I.
Die Psychophysik nimmt innerhalb der empirischen Psycho¬
logie vermöge ihrer geschlossenen Methodik eine Sonderstellung
ein. Ihre Aufgabe ist eindeutig gegeben: es handelt sich ihr
darum, »mittels Versuchen einen Hauptwert zu gewinnen, der
eine Schwelle, einen dem Normalreiz äquivalent ei*scheinenden
Reiz oder einen Reiz darstellt, der zu zwei oder drei anderen
gegebenen Reizen hinzukommend zwei äquivalent erscheinende
Reizunterschiede ergibt«*). Um jenem Hauptwert die Be¬
deutung einer gesetzmäßigen Größe zu geben, müssen bei seiner
Berechnung die zufälligen Einflüsse berücksichtigt werden, auf
1) G.E. Müller, Die Gesichtspunkte und die Tatsachen der psycho¬
physischen Methodik, 1904, S. 6.
SchwellenantersnchaDgen. Theorie und Experiment.
3
welche die Abweichungen z. B. Ton Schwellenwerten, die unter
gleichen Bedingungen gefunden wurden, zurfickgeführt werden^).
Den Haupt- oder Mittelwert für eine Schwelle bestimmen, be¬
deutet für den Psychophysiker zugleich das »Streuungsmaß«
oder Maß der »zufälligen Variabilität« berechnen, das mehr oder
weniger genaue Auskunft darüber gibt, in welcher Weise die
einzelnen Beobachtungswerte infolge der zufälligen Einflüsse von¬
einander ab weichen« *).
Durch solche Aufgaben aber lockert sich das Band zwischen
Psychophysik und Psychologie. Müller ist sich dieses Um¬
standes voll bewußt, für den Psychologen ist nicht die Aufgabe
gestellt, den Hauptwert und das gewisse Streuungsmaß zu suchen,
sondern »der Psychologe hat in erster Linie daran ein Interesse,
das Wesen und die Gesetzmäßigkeit der psychischen Vorgänge
zu ergründen, die dazu führen, daß wir zwei Beize, Baum- oder
Zeitgrößen für gleich oder verschieden, zwei Beize oder zwei
Unterschiede für in gewisser Hinsicht äquivalent oder nicht
äquivalent erklären« *).
Die unter dem Gesichtspunkte der Psychophysik als Fehler¬
quellen zu betrachtenden zufälligen Einflüsse können aber immer
vorhanden sein, wo Urteile über Gleichheit, Ebenmerklichkeit,
Äquivalenz und dergleichen gefällt werden. Sie können jedes¬
mal als die Motive zur Abgabe solcher Urteile angesetzt werden.
Hieraus ergibt sich für den Psychologen die Aufgabe, auf jene
zufälligen Momente nicht bloß im negativen Sinne seine Auf¬
merksamkeit zu richten, sie zu eliminieren, sondern positiv sich
ihrer als mit der Beurteilung der gebotenen Sachverhalte in
engster Berührung stehend zu bemächtigen. Es fragt sich, auf
welche Weise man dieser psychischen Vorgänge habhaft werden
kann.
Was den methodischen Absichten der Psychophysik zweck¬
dienlich ist, wird für die Bestrebungen der Psychologie zum
Hemmschuh. Dort gilt es, die für den quantitativen Vergleich
oder den absoluten Eindruck von Empflndungen erforderliche
Maßeinheit zu schaffen, hier sollen alle bei der Erfüllung jener
Aufgabe latent mitwirkenden psychischen Faktoren in ihrem
vollen Gliedenmgsreichtum festgehalten werden.
1) Ebenda.
2) Ebenda S. 6.
8) a. a. 0. 8. 6.
1*
4
Moritc Löwi,
Wohl ist in manchem psychophysischen Verfahren dem Her¬
vortreten auch des psychischen Verhaltens der Versuchspersonen
Rechnung getragen. Manche Methode gestattet die Berück¬
sichtigung der Aufmerksamkeit, der Eh'innerung, absoluter Ein¬
drücke des Leichten, Schweren und dergleichen mehr. Aber
bestenfalls der Umstand, dafi diese Momente vorliegen, nicht
aber die Analyse ihrer wissenschaftlichen Bedeutung wird durch
die psychophysische Methodik gewährleistet Die Ansprüche
der psychophysischen Maßmethoden bezüglich der Zuverlässig¬
keit ihrer numerischen Angaben mögen immerhin gerechtfertigt
erscheinen, zu ihreu Ergebnissen kann sie nur Vordringen unter
Ausschluß der die Aussagen der Versuchspersonen begleitenden
psychischen Komplexe.
Zwei entscheidende Fragen knüpfen sich an diesen Sach¬
verhalt, einmal die: Ist die Ausschaltung der psychischen Kom¬
plexe eine methodologisch begründete Voraussetzung jener
Methoden? Diese Frage zielt auf die >Möglichkeit« der psycho¬
physischen Verfahren. Die zweite Frage würde lauten: Wie
lassen sich die im Verlaufe jener Verfahren wirksamen psycho¬
logischen Motive wissenschaftlich bestimmen? Damit ist eine
Aufgabe der empirischen Psychologie gestellt. Die Lösung
dieser aber wird Licht werfen auf den Sinn jener. Die
HeraussteUung der die Aussagen über Ebenmerklichkeit, Äqui¬
valenz usw. mitbestimmenden psychischen Momente wird an ge¬
wissen Stellen der wissenschaftlichen Entwicklung unumgänglich
mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Physischem und
Psychischem verschmolzen. Die psychophysische Technik wird
an diesen Punkten Gegenstand der Kritik.
Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen steht zunächst
die Frage, warum die experimentelle Anordnung der psycho¬
physischen Maßmethoden keinen Einblick gewährt in die in jedem
Augenblick vorherrschende gesamte psychische Haltung der Ver¬
suchspersonen; ferner: durch welches Verfahren diese Haltung
wissenschaftlich bewältigt wird, und schließlich: in welchem
Ausmaß Psychophysik >möglich« ist.
Für die Untersuchung der Unterschiedsempfindlichkeit ist
nach Müllers Darstellung die Methode der »konstanten Reize«
oder kurz »Konstanzmethode« am geeignetsten. Sie ist gewisser¬
maßen die exakteste von allen Methoden. Das will sagen: es
gibt im Felde der messenden Psychologie kein Verfahren, dem
es gelänge, das Verhalten der Versuchspersonen auf einen so
eindeutigen Ausdruck zu bringen. So ist es bei gleichzeitiger
ScbweUenantersnchnngen. Theorie and Experiment.
5
Wirksamkeit der fieize nicht einerlei, ob der Hanptreiz in Be«
Ziehung gesetzt wird zum Vergleichsreiz oder umgekehrt, ob
der linke zum rechten oder umgekehrt, ob der erste zum zweiten
oder umgekehrt. Je nach der vorherigen Instruktion bezüglich
der »Urteilsrichtnng« kommt auch den Ergebnissen ein beson¬
derer Sinn zu. Bei sukzessiver Darbietung der Reize sind
wiederum die Vorteile des Verfahrens mit sogenannter gebundener
Urteilsrichtung vor demjenigen mit freier Urteilsrichtung hin¬
sichtlich der Bewertung des Endergebnisses ausgezeichnet. Ebenso
gibt es bestimmte Erwägungen für den Fall, daß die Reize so¬
wohl hinsichtlich der Raum- als auch der Zeitlage als verschieden
zu betrachten sind.
Besondere Aufmerksamkeit ist bei Anwendung der Eonstanz¬
methode auf die Wahl der innerhalb einer Reihe voneinander
abweichenden Reizgrößen, z. B. der Spitzenabstände oder Ge¬
wichtsdifferenzen zu richten. Will man möglichst eindeutige
Resultate erzielen, so sind die Werte jener Differenzen so zu
wählen, daß die Beträge der relativen Häufigkeit der >richtigen«
Urteile sich über einen großen Bereich der von 0 bis 1 reichenden
Wertskala verteile. Es ist auch nicht gleichgültig, in welcher
Weise mit den Differenzen innerhalb einer Versuchsreihe ge¬
wechselt wird, ob es sich um »aufsteigenden« oder »absteigenden«
Wechsel handelt, ob nicht im gegebenen Falle der »zufällige«
Wechsel am geeignetsten ist, um gewisse Nebenvergleiche, das
sind Vergleiche mit voransgegangenen Versuchen, auszuschalten.
Man sieht ohne weiteres, welchen theoretischen Sinn alle
diese den Versuch regulierenden Angaben besitzen. Sie haben
die Bedeutung der Invarianz, mit Rücksicht auf welche der ge¬
suchte Tatbestand seine Bestimmung erfährt. Nur im Hinblick
auf sie besteht anscheinend das Recht, das Verfahren als Ex¬
periment zu kennzeichnen. Fallen diese Bestimmungen, so »hängen
zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Be¬
trachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen«.
Die Vernunft tritt nicht mit Prinzipien an die Natur heran,
um sie zu befragen, und eben deswegen darf sie keine Antwort
auf ihre Frage erwarten.
Allein, wofern das Objekt ein denkendes ist, wie in den
Untersuchungen der Psychophysik, ist Frage und Antwort von
besonderer Art Dieser Gegenstand urteilt und denkt. Aller¬
dings glaubt die psychophysische Maßmethodik solchem Umstande
Rechnung getragen zu haben. Sie stellt ihren Versuchspersonen
Urteilsausdrücke zur Verfügung. Bei der Untersuchung von
6
Moritz Löwi,
Unterschiedsschwellen ergaben sich ihr bisher als zweckmäßig
die Urteile »yiel kleiner«, >kleiner<, »unentschieden«, »größer«
und >yiel größer«; oder wie Ebbinghaus vorschlägt, »gleich«,
»ebenmerklich größer«, »deutlich größer«, bezw. »ebenmerklich
kleiner« und »deutlich kleiner« ^).
Damit aber ist der Weg zum Verständnis des eigentümlichen
Versuchsobjektes verlegt Denn einmal lassen die in diesem
Sinne erfolgenden Aussagen der Versuchspersonen nicht im ge¬
ringsten das Objekt als denkendes oder urteilendes durchblicken,
weil es sich hier überhaupt nicht um Urteile handelt, und
zweitens, wenn diese Ausdrücke auch als Urteile betrachtet
werden dürften, wären sie gerade als Urteile einer Bearbeitung
nach Art der Psychophysik niemals fähig. Es ist schlechterdings
nicht zu begreifen, was z. B. der Ausdruck »relative Häufigkeit
der Größer-Urteile« bedeuten solL Eine Zahlenangabe über die
Häufigkeit des Vorkommens des Urteils »größer« oder »unent¬
schieden« ist zwar möglich, besagt aber nichts über die ver¬
schiedenen Sinnbedeutungen, welche die Versuchspersonen mit
der Aussage verbinden. Nur unter der Voraussetzung dieser
Sinnbedeutungen aber kann jeweils von Urteilen die Rede sein *).
Jene Urteilsausdrücke sind demnach keine Urteile, und das
Objekt der psychophysischen Betrachtung kein denkendes, mit
anderen Worten keine Versuchsperson.
Vielleicht bestreitet man die Notwendigkeit einer Einbeziehung
des Denkens in das psychophysische Arbeitsgebiet und weist die
Denkvorgänge der Psychologie zu. »Dieses psychologische
Interesse führt zu Fragestellungen und Anordnungen der Ver¬
suche, die dem rein psychophysischen Standpunkte...
ganz femliegen.«^
Schon hier fordert das Verhältnis von Physischem zu
Psychischem Beachtung. Denn aus jener Position ergibt sich
eine methodologisch äußerst verhängnisvolle Folgerung, nämlich
die grundsätzliche Trennung von Psychologie und Psychophysik.
Daß eine solche Scheidung unmöglich ist, darauf deutet das
Verfahren auch des reinsten Psychophysikers hin: auch er kann
ohne die Äußerungen seiner Versuchspersonen Experimente
nicht anstellen, mögen diese Äußerungen Urteile sein oder nicht.
Selbstverständlich brauchen jene Äußerungen durchaus nicht
1) a. a. 0. S. 90.
2) Vgl. aach S. 14 f.
3) Müller a. a. 0. S. 6/7.
Schwellenimtersiichangeii. Theorie nnd Experiment.
7
worthafter Natur za sein. Wer nach der Methode der >hber-
merklichen Unterschiede< einen subjektiv mittleren Beiz fest-
steilen will, wer also etwa wie Plateau die Versuchsperson
anffordert, ein Grau durch eigene Wahl anzugeben, welches ihr
genau in der Mitte zwischen reinem Schwarz und reinem Weiß
liegt, der ist in seinen Betrachtungen natürlich nicht auf die
worthaften Äußerungen seiner Versuchspersonen angewiesen.
Wohl aber muß die Versuchsperson zum mindesten auf irgend¬
eine Weise andeuten, welches Grau ihr den Anforderungen
zu genügen scheint, sie muß sich irgendwie verständlich machen.
Ohne Ausdruck kein psychophysischer Versuch.
Der Ausdruck aber ist das Glied eines Gefüges, ans welchem
er nicht gelöst werden kann, ohne seinen Sinn einzubüßen.
Jedes Wort, jede Geste ist nicht allein das Endglied eines
motorischen Vorganges, sondern zugleich das Symbol eines Ge¬
bildes, welches man »Akt« nennt. Wenn jemand das Wort
»Tisch« ausspricht, so verbindet er im gleichen Augenblick einen
für seine Person ganz bestimmten Gedanken damit. Es ist also
gar nicht angängig, dieses Wort unabhängig von dem mit ihm
gegebenen Gedankenkomplez ii^endeiner Behandlung zu unter¬
ziehen. Aus diesem wenigen schon ergibt sich das Bedenkliche
einer Trennung von Psychophysik und Psychologie. Wer Psycho-
physik treibt, ist von Anfang an dazu gedrängt, den psychischen
Komplexen in seinem Verfahren schärfste Beachtung zu schenken.
Er hat es mit denkenden Objekten zu tun.
Vielleicht weist man angesichts dieser Einwände gegen die
in der Psychophysik gangbare Behandlung der Urteilsausdrücke
auf Versuche hin, welche erfahrungsgemäß immer wieder die¬
selben Urteilsausdrücke der Versuchspersonen ergeben haben,
und zieht daraus folgenden Schluß: Zugestanden, Wort und
Denkvorgang sind ein nnzerstückbares Gebilde, so folgt doch
gerade ans solcher Einsicht, daß, wenn erfahrungsgemäß die¬
selben worthaften Äußerungen vorliegen, gleichzeitig auch die
nämlichen Denkkompleze zum Bewußtsein kommen. Jene Aus¬
drücke, wenn sie auch nicht im streng logischen Sinne als Urteile
gelten können, bedeuten doch stets dasselbe. Die Psychophysik,
welche in diesem Falle gleichlautende Ausdrucksweisen als
in jeder Beziehung für gleichbedeutend setzt, macht sich
keines theoretischen Fehlers schuldig. In gleichlautenden Aus¬
drücken bearbeitet sie auch gleichgeartete DenkinhaJte. Sie
nimmt also doch im Grande auf den den Ausdruck begleitenden
8
Moritz L5wi,
bezw. ihm Yorhergehenden psychischen Ablauf im positiYen Sinne
Rücksicht
So bestechend der Einwand klingt, er ist ohne erhebliche
Schwierigkeiten zu entkräften. Wenn Wort und Denkvorgang
in Funktionalbeziehnng stehen, so folgt eben ans wiederholter
gleichlantender Wortänßenmg noch lange nicht allemal derselbe
Denkverlanf.
Ans bestimmten, den Gang der Untersuchung betreffenden
Gründen mögen in folgendem einige Versuche sprechen, obwohl
der Einwurf allein schon aus prinzipiellen Blrwägungen heraus
abgewehrt werden kann.
Unter »Ortssinn« der Haut versteht E. H. Weber die Fähig¬
keit, die durch Einwirkung an verschiedenen Hautstellen hervor¬
gerufenen Empfindungen im Hinblick auf den Ort ihrer Ein¬
wirkung zu unterscheiden. »Mag ein Druck oder mag die
Einwirkung von Wärme und Kälte eine Empfindung hervorrufen,
so können wir ungefähr den Ort angeben, wo die die Empfindung
erregende Einwirkung auf unsere Haut geschieht, und wenn wir
an zwei Teilen der Haut, die einander nicht allzu nahe sind,
gleichzeitig oder ungleichzeitig einen Eindruck durch Wärme,
Kälte oder Druck empfangen, so unterscheiden wir die beiden
Orte, wo auf unserer Haut eingewirkt wird, den größeren oder
geringeren Abstand dieser Orte voneinander und können die
Richtung der Linie ungefähr angeben, durch welche wir uns die
beiden Orte verbunden denken können.«^)
Weber strebte nun die Messung der Feinheit dieser Fähig¬
keit an den verschiedensten Stellen der Hautoberfläche an. Im
Dienste dieser Absicht stehen seine Versuche mit geöffneten
Zirkelspitzen, die bekannten Reizschwellennntersuchungen. Sie
stehen also durchaus in Zusammenhang mit der Frage der
relativen Unterscheidbarkeit der berührten Hautstellen.
Noch eines anderen technischen Verfahrens bedient sich
Weber für seine Zwecke: »Wenn man mit dem */* Zoll weit
geöffneten Zirkel die Haut am hinteren Teile des Jochbeines in
querer Richtung berührte, so empfand man nur eine Berührung
oder glaubte wenigstens wahrzunehmen, daß die Enden des
Zirkels einander sehr nahe wären. Je mehr man sich aber der
Mitte der Oberlippe bei diesen Berührungsversuchen näherte.
1) S. H. Weber, Tastsinn nnd Gemeingefühl, heransgegeben von Ewald
Hering, in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 149 S. 64/65.
Schwelleniintersnchaogeii. Theorie and Experiment. 9
desto weiter schienen die Zirkelspitzen voneinander abzustehen
und desto deutlicher empfand man die doppelte Berührung.«^)
Da es sich um die Feststellung der Unterschiedsempfindlich*
keit handelt, liegt implizite die Möglichkeit der Unterscheidung
vor. Weber spricht in den zitierten Fällen von der Angabe
der Orte, von der Angabe der Kichtung. Die möglichst genaue
Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Reiz und
Empfindung ist für ihn nicht geknüpft an gewisse vorher fest¬
gelegte Urteilsausdrücke. Das ist kein Mangel, sondern ein
Vorteil gegenüber der Psychophysik. Die theoretische Bedeutung
der Sprache für das psychophysische Verfahren wird sich alsbald
ergeben.
Es soll also an der Hand der von Weber angestellten Ver¬
suche die Funktionalbeziehung zwischen Wort und Denkvorgang
ihre Klärung erfahren. Die an zweiter Stelle beschriebenen
Versuche habe ich mit Bezug auf diese Beziehung geprüft
Versachsanordnang; Die 12 mm weit geöffneten Zirkelspitzen
werden etwa SO** gegen die Horizontale geneigt anf das Jochbein am Ansatz¬
punkt der Ohrläppchen anfgesetzt, nach etwa 2Vt—8 Sekonden abgesetzt.
Die Yp. macht ihre Anssage, ob sie eine oder zwei Spitzen gespürt hat, and
wie im zweiten Falle die Verbindangslinie beider Spitzen lag. Alsdann
wird dieselbe Spitzenentfemnng mit derselben Neignng, nnr weiter vom
Ohrläppchen entfernt, näher der Mitte der Oberlippe za, anfgesetzt and so
fort, bis die eine Spitze die Oberlippe berührt.
Vp. K., Anssagen:
1. Ich habe eine Spitze gespürt.
2. Aach nnr eine Spitze.
8. Ich habe wieder nnr eine Spitze gespürt.
4. Eine Spitze.
5. Wieder eine Spitze.
6. Jetzt habe ich ganz deatlich zwei Spitzen gefühlt, and ich glanbe,
dad sie etwa 1 Zentimeter voneinander entfernt waren. Die Bichtang war
schräg von der Ohrmaschel zam Kinn.
7. Ich habe wieder ganz deatlich zwei Spitzen gefühlt, die Verbindangs¬
linie schien mir ein wenig von der Horizontalen abznweichen.
Die Ergebnisse bestätigen die oben angeführten Angaben
Webers. Diesen relativ einfachen Anssagen stehen nun andere
von wesentlich komplizierterer Struktur gegenüber.
Versnchsanordnang: Zirkelspannong beträgt 2mm, alles andere
wie vorher.
Yp. Dr. P., Aassagen:
1. Sin dicker Ponkt. Ich war ganz erstaant, weder eine Spitze, noch
zwei gespürt za haben; ich glaabte, eine schOn gerondete, breite Bleistift¬
spitze sei anfgesetzt. Es war weich.
1) Ebenda S. 66.
10
Moritz Löwi,
2. Zwei deatliche Spitzen achrägliegend; ich schätze die Entfernung
auf ungefähr 8 cm. Der höherliegende Begrenznngspnnkt der Strecke war
sehr spitz, der andere stampf and dick.
3. Zwei deutliche Spitzen, wieder so schräg, aber etwas tiefer aufgesetzt
als beim yorigen Versuch. Die beiden Begrenzungspunkte unterschieden
sich ähnlich, aber nicht so scharf wie beim vorhergehenden Versuch, es kam
mir länger vor, und da ich Zeit hatte, merkte ich, dafi die Strecke kürzer
war als beim Versuch 2.
Bei Versuch 4 lag die eine Spitze in der Mitte zwischen Mundwinkel
und Nasenflügel, die andere bereits auf der Oberlippe.
4. Das ist eine tolle Geschichte! Wie kommen Sie auf die Lippen?
Ich glaubte zuerst, es sei mißlungen, ich empfand deutlich, wie die unter
den Spitzen liegende Haut nicht eben war, eine Höhlung bildete. Die Elnt-
femung muß sehr groß gewesen sein im Vergleich zu den anderen, ich
konnte nicht schätzen^ weil ich überrascht war. Die Spitze spürte ich auf
der Backe recht scharf, an der Lippe weniger. Es fiel mir sofort auf, daß
zwischen beiden Begrenzungspunkten eine gerade Linie auf der Haut nicht
möglich ist.
Bei Versuch 5 lag die eine Spitze auf der Oberlippe senkrecht unter
dem linken Nasenflügel, die untere Spitze auf der Mitte der Unterlippe.
6. Das war hübsch. Ich war gespannt, welche Hautpunkte jetzt dran¬
kommen würden. Die Richtung der Verbindungslinien nähert sich der
Senkrechten. Es müssen mindestens 3—4 cm gewesen sein. Die Begrenzungs¬
punkte wurden sehr angenehm empfunden. Ich hatte wieder das Gefühl,
daß ein großer Bogen sein muß, damit das Aufsetzen möglich ist.
Hält man Reihe I der Reihe n gegenüber, so ergeben sich
aus ihnen folgende Einsichten: Derselbe Reiz kann die ver¬
schiedensten Aussagen liefern. Liefert aber derselbe Reiz
dieselbe Aussage, so sind die Aussagen durchaus nicht als dem
Sinne nach identisch zu setzen. Immer bleibt noch die Frage
zu beantworten, wie in jedem Falle die Aussage gemeint sei.
Der Physiologe freilich braucht auf die sprachliche Fassung
der Aussagen kein Augenmerk zu richten. Für ihn entscheidet
der Umstand, ob auf den gleichen Reiz auch die gleiche Reaktion
erfolgt ist. Die nämliche Reaktion kann aber in Aussagen von
der Art der Reihe I sowohl wie derjenigen der Reihe II gekleidet
sein. Folglich steht die Reaktion in keiner Funktionalbeziehung
zur Aussage, obschon sie von ihr begleitet werden kann. Das
gerade ist der Grund für die verhältnismäßige Belanglosigkeit
des sprachlichen Ausdrucks für die Methode des Physiologen.
Für Weber würde Reihe I dasselbe wie Reihen besagen.
Eine ganz andere Bedeutung hat der Ausdruck für das Vor¬
haben des Psychophysikers: Sein Prinzip ist nirgends der Kausal¬
nexus in der spezifischen Form der Reaktion. Wollte er sich
gleichwohl dieses Abhängigkeitsverhältnisses bedienen, so würde
Schwellennntersachongen. Theorie and Experiment.
11
sein Verfahren gänzlich in der Physiologie anfgehen. Bestenfalls
würde er Veränderungen in den Aufnahmeorganen der peripheren
und weiteren Abschnitte des Nervensystems bestimmen können,
niemals aber würde er die > Abhängigkeitc der Empfindungen
von den Beizen mittels dieses Prinzips verstehen lernen.
Empfindungen sind eben nicht nervöse Vorgänge.
Empfindungen sind gewußte Komplexe, d. h. sie sind un«
löslich mit dem Ausdruck verflochten.
Wie steht es nun um die Beantwortung unserer Frage ? Ist
der Schlnfi von denselben Wortäußerungen auf die nämlichen
Denkvorgänge berechtigt? An der Hand der Aussagen von
Beihe I kann diese Frage nunmehr leicht entschieden werden.
Angenommen die Versuchsperson hätte in den Versuchen 1—5
nichts weiter als die Worte »eine Spitzet geäußert, sie hätte
also fünfmal genau dasselbe gesagt, hätte sie auch alle fünfmal
dasselbe dabei gemeint? Zum mindesten hätte sie um das
Spüren einer Spitze oder um das Empfinden einer Spitze ge¬
wußt, oder sie hätte nichts darüber angegeben. Jedesmal wird
der Versuchsperson also die Empfindung bewußt, gegenwärtig.
Indem sie empfindet, weiß sie, daß sie jetzt empfindet Sie
stellt damit eine sinnhafte Beziehung her zu allem Vorher¬
gegangenen. Das aber bedeutet: der in dem Wörtchen »jetzt«
bezeichnete Sinnkomplex ist allemal verschieden, mag die
Aussage der Versuchsperson sich noch so oft wiederholen, ja
gerade weil sie sich wiederholt, ist er verschieden. Von diesen
verwickelten Sinnbezügen abzusehen aber ist dem Psychophysiker
versagt, will er nicht den Sinn seines eigenen Verfahrens ver¬
leugnen. Er will ja nichts über nervöse Prozesse ausmachen,
sondern über Empfindungen, d. h. über Gewußtes. Denselben
Aussagen entsprechen nicht gleichbedeutende Denkprozesse,
die Psychophysik darf nicht von gleichlautenden Aussagen auf
gleichbedeuteiide Denkprozesse schließen. Sie darf also nicht
von den die Aussagen begleitenden Denkprozessen absehen.
Die hinsichtlich der psychophysischen Methode bisher vor¬
gebrachten Bedenken lassen sich kurz dahin zusammenfassen:
Die gangbaren Urteilsausdrücke sind keine Urteile. Jene Urteils-
ansdrücke sind aber nicht allein keine Urteile, sondern auch
keine Ausdrücke. Denn im Betrieb der Psychophysik werden
die Aussagen von den mit ihnen verklanunerten Sinnkomplexen
gelöst Identischem Wortlaut von Aussagen liegt nicht iden¬
tischer Denkkomplex zugrunde. Auch gleichlautende Aussagen
haben nur im Hinblick auf das sie begleitende Gedachte ihre
12
Morits LSwi,
Bedeutung. Die Psychophysik nimmt jene gewaltsame Trennung:
auch 7 or, wenn sie unter Berufung auf gleichen Wortlaut den
mit ihm verbundenen Denkvorgang glaubt vernachlässigen zu
dürfen. Die Psychophysik hat es mit gewußten Gegenständen
zu tun. Die Aussage ist folglich als Aussage des Gewußten,
des Gedachten anzusprechen. Da die Psychophysik diese For¬
derung unbeachtet läßt, kann sie grundsätzlich keinen Einblick
gewähren in die psychische Haltung der Versuchspersonen.
Will sie also ihr Programm, die Abhängigkeit der Empfindungen
von äußeren Beizen, verwirklichen, so muß sie den Versuchs¬
personen die Möglichkeit freier Ansdrucksweise belassen.
Dann erst besteht die Aussicht, die auf den Reiz folgende ge¬
wußte Erscheinung, z. B. die Empfindung, in ihrer Beziehung
auf den Reiz zu kennzeichnen.
n.
Gegenüber dieser Forderung für die Behandlung psycho¬
physischer Fragen bedarf es einer Besinnung auf die Bedeutung
der Schwellen. Die Erscheinung der Schwelle ist die haupt¬
sächliche Vorbedingung zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen
Reiz und Empfindung. Schwellen müssen vorliegen, wenn sich
der Webersche Satz erfüllen soll. Die Reizgrößen bilden eine
geometrische Reihe, wofern ihnen gleiche Empfindungsstufen, d. i.
ebenmerkliche Empfindungsunterschiede, Schwellen, zugeordnet
sind. Man kann aber auch sagen: Die Beziehung zwischen Reiz
und Empfindung ist nur herstellbar, sofern Gleichheit oder Eben-
merklichkeit ausgesagt wurde. Die wiederholt ausgesagte
Gleichheit ist aber nicht immer in derselben Weise als gleich
empfunden, sie ist also keine Gleichheit der Empfindungsstufen.
Damit wird die Frage nach dem psychischen Gehalt der
ausgesagten Gleichheit oder Ebenmerklichkeit laut. Es ist weiter¬
hin zu erwägen, wie dieses psychische Faktum bei voller Wür¬
digung seines dauernd schwankend aktuellen Charakters ein
Prinzip des Psychischen abgeben kann, ähnlich wie die Schwelle
Prinzip für die Messung, und wie schließlich ein Faktum Prinzip
sein kann.
Soll das Erlebnis des Ebenmerklichen in Erscheinung treten,
so müssen Relationserlebnisse gegeben sein. >Ebenmerklich< ist
etwas für jemanden, was er vorher noch nicht merkte und
jetzt gewissermaßen zum ersten Male, d. h. »gerade« merkt;
»ebenunmerklich« ist ferner etwas für jemanden, was er früher
deutlich merkte, jetzt aber zum ersten Male nicht mehr merkt.
Schwellenontersachiuigen. Theorie and Experiment.
13
D. h.: unabhängig von anderen Erlebnissen, also ohne bewußten
Bezng auf andere Erlebnisse, ist das Erlebnis der EbenmerkUch-
keit bezw. der Ebennnmerklichkeit nicht anzutreffen.
Ant Gmnd solcher Einsicht läßt sich bereits die begrifEUche
Scheidung von »Reizschwelle« und »ünterschiedsschwelle« klar
beleuchten. Es findet sich die Auffassung vertreten, besonders
bei Wundt,^) als wäre die methodologische Stelle für die sogen.
ReizschweUe im Gegensatz zu deigenigen der Unterschiedsschwelle
im Gebiete der Physiologie anznsetzen. In dem Begriff jener
würde nichts weiteres als eine Bestimmung für die Abhängig¬
keit von den peripheren und zentralen Sinnesorganen ausgesagt.
Von psychologischem Belang dagegen sei nur die sogen.
Unterschiedsschwelle; in ihr bestimme sich die Fähigkeit des
Unterscheidens der durch die Reize ausgelösten Empfindungen.
Nach allem Vorhergegangenen kann es bezüglich dieser An¬
gelegenheit keinen Streit geben. Entweder es ist mit den Begriffen
Reizschwelle und Unterschiedsschwelle auf die Bestimmung or¬
ganischer Verhältnisse abgesehen, dann sind sie auch lediglich
als verschiedene Arten dieser Bestimmung zu bewerten, oder
aber sie sind theoretische Betrachtungsformen für gewisse Be-
wußtseinserscheinnngen. Dann aber offenbaren sich sowohl in
der Unterschiedsschwelle wie auch in der Reizschwelle ganz be¬
sondere Formen des Relationserlebnisses, des Erlebnisses eines
Ebenmerklichen, der Aussage von Ebenmerklichkeit. Auch in
dem als ReizschweUe bezeichneten Erlebnis des Ebenmerklichen
findet eine aktueUe Beziehung auf vorhergegangene Bewußtseins¬
inhalte, wenn man wiU, eine Vergleichung, statt. Es ist nicht
so, als ginge einer — im Sinne unserer Sprechweise — zum
»ersten Male« eingetretenen Empfindung ein Nichts an Bewußt¬
heit voran. Soll vielmehr die Erscheinung der Reizschwelle ein
Bestimmnngsstück für den Tatbestand »Empfindung« Uefem, so
muß auch hier die bewußte Hinwendung des Erlebenden auf das
dem Ebenmerklichen voraufgehende Wissen methodische Beach¬
tung erfahren.
Der entwickelte Sachverhalt läßt sich noch auf andere Weise
darlegen: Wer das Eintreten einer Empfindung »eben« merkt,
der hat vordem Erlebnisse »gehabt«, nur nicht die bestimmte
Empfindung, die bei ihm erwartet wird, er hatte nicht die
Empfindung, die er haben sollte, nicht die, welche den Gegen¬
stand der Untersuchung bUdet.
1) Won dt, Grondzllge der phys. Psychologie Bd. 1, 6. Aafl., S. 560.
14
Moritz Ldwi,
Was jemand >haben< soll and zngleich problematiseh
ist) das ist Aufgabe. Das »Noch-nicht-haben< einer Emp¬
findung heißt folglich einer Aufgabe nicht entsprechen,
oder — weil ja auch in diesem Falle gewisse Erlebnisse auf-
zeigbar sind — ein seinem Begriff nach Ton der ein¬
deutig formulierten Aufgabe klar geschiedenes,
eben darum aber nur im Hinblick auf die gestellte
Aufgabe zu bestimmendes Erlebnis >haben<.
Dieselben Betrachtungen bewähren natürlich ihre Gültigkeit
auch an dem Erlebnis des ebenmerklichen Unterschiedes. Einen
Unterschied >gerade« merken, heißt nicht, vor dem Eintritt dieses
Erlebnisses ein Nichts an Unterschied haben, was schon dem
Wortlaute nach vollständig sinnlos ist. Das Bewußtsein ist viel¬
mehr, weil es Ebenmerklichkeit des Unterschiedes feststellt, auf
die unmittelbar vergangenen Inhalte gerichtet. Ebenso wird der
Akt vor dem Erfassen der Ebenmerklichkeit nur mit Bezug auf
das erwartete Eintreten des Unterschiedes bewußt.
An keinem Punkte der experimentellen Psychologie wird mit
so unvermeidlichem Zwange die Notwendigkeit der Kelationierung
der Erlebnisse unter dem Gesichtspunkte des Anfgabenbegriffs
handgreiflich wie bei der Bearbeitung der Schwellen. Für das
Erlebnis eines großen Unterschiedes, welches die Versuchsperson
vor oder nach dem »ebenmerklichen« hat, oder das sie hat, ohne
in einer Beihe auch nur einmal das Erlebnis der ausgesprochenen
Ebenmerklichkeit zu erfassen, für dieses Erlebnis ist der Urteils-
ansdruck »größer« oder »kleiner« oder »gleich« nur ein ab¬
geblaßtes Symbol dafür, was die Versuchsperson erlebt. Es ist
ein »Größer« und »Kleiner« nicht bloß in dem relationstheore¬
tischen Sinne von »größer mit Bezug auf etwas«. Sondern weil
der Beziehungspnnkt eine »Aufgabe für jemanden«, deswegen
geht in jene Urteilsansdrücke das persönliche Erfassen der Auf¬
gabe, das Beherrschtsein von der Aufgabe, gleichzeitig mit ein.
Das heißt: »Größer«, »kleiner« usw. schattieren in jedem Augen¬
blick ihren Sinn.
Die Schwelle ist nicht allein Erlebnis, sondern Prinzip
des Erlebnisses, eine Folgerung, die sich aus ihrem Belations-
charakter herleitet. Denn die Schwelle kann nur als ein gegen¬
wartsgerichtetes Erlebnis, d. h. als ein solches, welches »jetzt«
statt hat, sich vorfinden. In der damit verbundenen bewußten
Hinwendung auf unmittelbar Vergangenes, bezw. Folgendes tritt
sie in begriffliche Beziehung zur Aufgabe, sie ist Funktion der
Aufgabe. In der Schwelle wird, wie sich später noch genauer
Schwellenantersnchimgen. Theorie nnd Experiment.
15
zeigen wird, eine theoretische Aufgabe erf^Ut; denn es handelt
sich nm absolute oder relative Unterschiedlichkeit Diese ist
eine gewußte, als eine solche ist sie nur im Hinblick auf den
in ihr enthaltenen Gegenstandsbezng zu bestimmen. Darum wird
sie Begriff, Prinzip. Weil sie aber als Relationserlebnis
der Aufgabe genügt oder nicht genügt, wird sie Tatsache.
In solcher Doppelheit ihres Wesens liegt ihre Natur als Gegen¬
wartserlebnis beschlossen, als Erlebnis des »Jetzt«. In ihr be¬
mächtigt sich die Wissenschaft der Augenblicks-
erfassnng des Gedachten.
Für den Betrieb der experimentellen Psychologie nutzbar ge¬
macht, besagt das Ergebnis: Allemal dann liegt die Schwelle
vor, wenn die Versuchsperson weiß, daß sie das Erlebnis, das
sie haben soll, »hat«, bezw. »nicht hat«. Das Erlebnis an der
Aufgabe messen, heißt seinen Angenblickswert fassen, heißt es
als Schwelle darstellen. Die Schwelle rückt unter den
Gesichtspunkt der Aufgabe in ihrer Doppelfunktion als Begriff
und zugleich Tatsache.
Damit schwindet das Recht, nur im Hinblick auf Intensität,
Dauer nnd Ausdehnung der Reize Schwellen zu bestimmen. Schon
die Bestrebungen, Erümmungsschwellen zu berechnen, fügen sich
nicht mehr in den Rahmen solcher Festsetzungen.
Bühl er hat bekanntlich Versuche in dieser Richtung aus¬
geführt ^). Er verfuhr folgendermaßen: Er ließ Kreisbögen von
Radien mehrerer Meter Länge in verdunkelte Gläser einritzen.
Er exponierte sie gegen das Tageslicht und forderte die Ver¬
suchsperson auf, anzugeben, ob die Bögen nach rechts oder
links konkav seien. Die Aussagen konnten also nur zwischen
»links konkav«, »rechts konkav« und »unentschieden« schwanken.
Es liegt kein Grund vor, derartige Versuche nicht auch in
anderen Modalsphären anzustellen. Ich habe sie im haptischen
Sinnesgebiete vorgenommen. Hier drängten sich besonders markant
psychologische Daten ins Bewußtsein, die auf die Dauer unmög¬
lich als für die Sache unwesentlich zurückgeschoben werden
können. Die durch keinerlei Vereinbarung hinsichtlich des sprach¬
lichen Ausdrucks beschränkten Aussagen der Versuchspersonen
beschrieben psychische Gebilde der mannigfachsten Art. Sich
ihrer in ihrer Vereinzelung zu bemächtigen, auf eine aps dem
Begriff dieser Vereinzelung, ihrer AugenbUcksnatnr quellenden
1) E. Buhler, Die Gestaltswahmehrnnngen, 1918.
16
Moritz Lflwi,
Weise, heißt, sie an der Aufgabe messen. Sie sind als Begriff
und Tatsache zugleich darzustellen.
Versachsanordnung: a) Versiichsfeld.
Zar Darbietang der Karrenreize auf der Stirn wird aaf der geeigneten
Stelle (glabella) das Beizfeld mittels eines roten Fettstiftes anfgetragen. Ein
rechteckig geschnittener Papierstreifen wird so an die Stirn gelegt, daß die
zwei Ecken einer L&ngsseite an die Ansatzstellen der Ohrmoscbeln zn liegen
kommen. Das anf der Stirn abgegrenzte Feld zeichnet sich anf dem Papier*
streifen ab. An jedem Versnchstage kann dnrch Anflegen des Streifens,
der wieder an denselben Stellen fixiert wird, das Feld an dieselbe Stelle der
Stirn gedrückt werden. Je nach der Versnchsperson ist Feld and Streifen
verschieden (siehe S. 61 Abb.*Tafel Fig. 8).
b) Das Pendelästhesiometer (siehe Abb. Tafel Fig. 1).
A = Skaliertes Pendel (in cm) F = Versnchsfeld.
B = Ästhesiometer. G = Rahmen.
C = Stellschranbe. H Ästhesiometerhülse zor Dar*
D = Gleitschiene. bietnng einer Geraden (r = oo).
E = Stativ.
c) Das Ästhesiometer (siehe Abb. Tafel Fig. 2).
a —Hülse für die Federung,
b = Stift mit Kngelfassang.
c = Bewegliche Kugel.
d) Instraktion.
Die Versnchsperson .wird gern äfi der für den Begriff der Schwelle gelten¬
den Bedingungen instruiert. Sie wird darüber anterrichtet, dafl es sich nm
die Darbietungen von Kurven handelt. Bei Zulassung voller sprachlicher
Verhaltnngsfreiheit hat die Versuchsperson das Bewofitwerden der aasgelösten
Erlebnisse möglichst entsprechend wiederzugeben.
Nicht die Aufklärung der für das Übergehen der Kurve in
die Gerade entscheidenden geometrischen und physikalischen Be¬
dingungen wird angestrebt, sondern die Aufhellung der psychischen
Motive, welche den aktuellen Fall dieses Übergehens darstellen.
Für die Beurteilung der Aussagen ist es wichtig, nochmals
auf die Bedeutung der objektiven Beize aufmerksam zu machen.
Ein bestimmt gearteter Beiz kann nicht als die Ursache einer
bestimmten Aussage figurieren. Unter denselben objektiven
Bedingungen finden sich die verschiedensten Aussagen.
Spricht die Versuchsperson von einer »ausgesprochenen Geraden<
trotz des aus gewissen Gründen objektiv als Kurve geltenden
Beizes, so muß nach den dieses Elrlebnis bestimmenden psychischen
Faktoren gesucht werden. Wird dies verabsäumt, so wird der
Eindruck grundsätzlich nicht als gewußter definiert.
Schwellennntersnchangen. Theorie and Experiment.
17
Dennoch darf durchaus nicht auf die theoretische Gleichgül¬
tigkeit der sogen, objektiven Reizverhältnisse geschlossen werden
Nur der Eausalnezus darf in den Betrachtungen keine Rolle
spielen. Der theoretische Sinn der objektiven Bedingungen kommt
an einem anderen Punkt der Untersuchung zu seinem Rechte.
Für die Herausstellung der E^rttmmungsschwellen sind dreierlei
Fragen zu beantworten. 1. Wann, d. L unter welchen Bedingungen
berechtigt die Aussage der Versuchsperson zur Feststellung, sie
habe das Erlebnis einer Kurve gehabt? 2. Wann berechtigt
die Aussage zur Annahme, sie habe das Erlebnis einer Geraden
gehabt? Oder schließlich: 3. Wann berechtigt die Aussage zur
Feststellung des Erlebnisses des Überganges von Kurve zur Gerade,
des Erlebnisses des ebenmerklichen Geradewerdens?
Indem die Theorie sich den Aussagen, nicht den Reizen zu¬
wendet, die Aussagen zum Ansatz ihrer Ermittelungen wählt,
eröffnet sich ihr der einzige Ausblick auf die mit ihnen ver¬
flochtenen psychischen Erscheinungen, auf die Ergreifung des
Augenblicksgehalts des Gedachten.
Betrachte ich die Aussagen von etwa 400 Versuchen, die unter
diesen Gesichtspunkten zunächst mit zwei Versuchspersonen an¬
gestellt wurden, so finden sich vier Typen von Aussagen immer,
wenn auch in verschiedenen Nuancen wieder^):
1. Gruppe:
Klare, deutliche Kurve. — Ausgesprochene Kurve. — Deutliche Kurve. —
Ganz ausgesprochene Gerade. — Ideale Gerade. —
2. Gruppe:
Wie eine Gerade; Zweifel, Anfang ein wenig gewölbt. — Wellig. —
Ganz flache Kurve, nicht genau feststellbar, ob schlechte Kurve oder zittrige
Gerade. — Nicht sicher deutbar, erst Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende
wieder als nach oben gehend empfunden. — Kann nichts Genaues sagen;
wellig. —
3. Gruppe:
Kein eindeutiger Reiz, erst Gerade, dann Kurve, schließlich Gerade; i m
ganzen wird eine schlechte Gerade vermutet. — Ich hatte deu Eindruck
einer nicht ganz klaren, etwas zittrigen Geraden; Gesamtbild Gerade. —
Eine nicht ganz exakte Gerade, in der Mitte wohl etwas zittrig, jedenfalls
Gerade. —Kurve nicht ganz eindeutig; Mitte war kurvig, danach Endurteil
Kurve. —
4. Gruppe:
Schöne ganz flache Kurve. — Sehr schöne Gerade. —
1) Vgl. die Protokollaaszüge im Anhänge zum »Ersten Teil«.
Archiv für Psychologie. XLVm. 2
18
Moritz Ii9wi,
Gruppe 1 repräsentiert Erlebnisse, welche für die Versuchs¬
person mit dem Charakter eindeutiger Klarheit verbunden sind.
Gruppe 2 bringet eine gewisse Unsicherheit im Erfassen der ge¬
gebenen yerhältnisse zum Ausdruck. Gruppe 3 bezeichnet wiederum
Unsicherheitserlebnisse, aber komplizierterer Art Die Versuchs¬
person ringt sich schließlich in ihnen zu einer gewissen Sicher¬
heit der Auffassung durch. Gruppe 4 gibt gefühlsbetonte Erleb¬
nisse wieder.
Mit Bezug auf diese Klassifizierung ist folgendes zu bemerken:
Es heißt die Absicht des vorliegenden Unternehmens vollständig
verkennen, wollte man in jenen Gruppen die Möglichkeit der
Ansdrückbarkeit der Erlebnisse, soweit es sich um Schwellen
handelt, als erschöpft betrachten. Damit wäre allerdings das
Kecht der gangbaren psychophysischen Handhabung, des Operierens
mit ein für allemal festen Urteilsausdrücken bekräftigt. Ein flüch¬
tiger Blick auf die in den einzelnen Gruppen untergebrachten
Aussagen lehrt einmal die durchgängige Verschiedenheit der Aus¬
sagen selbst innerhalb einer Gruppe. Ebendaraus folgt ferner,
daß überhaupt nicht wie in der Psychophysik der Sinngehalt der
Aussagen das Prinzip für die Einteilung abgibt Die Aussage
>ideale Gerade« kann mit demselben Recht als Ausdruck eines
eindeutig erfaßten Erlebnisses wie als gefühlsbetonte Aussage
gewertet werden. So muß denn die Frage nach der Herkunft
dieser Einteilung gestellt werden. Damit aber wird ein ent¬
scheidender Punkt für das Verfahren der experimentellen Psycho¬
logie berührt.
Welches ist das Recht der Einteilung, der Zusammenfassung
mehrerer Aussagen unter einen Gesichtspunkt? Steht sie in
Widerspruch mit der Absicht, den Augenblickscharakter des Er¬
lebnisses herauszuheben? Es wurde bereits angedeutet, daß die
Frage der Schwelle zugleich die Frage nach dem Wissen um
Ebenmerklichkeit ist, daß in ihr gleichzeitig ein wissenschaft¬
liches Problem aufgerollt wird. Daher ergeben sich aus der
Schwelle als wissenschaftlichem Problem Gesichtspunkte zur Be¬
arbeitung der Schwellenerlebnisse. Als Problem wird in der
Schwelle ein System theoretischer Bedingungen, als Tatsache
das »Jetzt« des Merklichwerdens ergriffen. Einer jener theo¬
retischen Gesichtspunkte ist die Forderung eindeutiger Erfassung.
Die Aussagen »ganz ausgesprochene Gerade« und »ideale Gerade«
finden von dem theoretischen Gesichtspunkt »eindeutige Wieder¬
gabe« aus ihre gemeinsame wissenschaftliche Abhandlung. Jener
Gesichtspunkt ergibt sich also nicht aus dem Vergleich des Sinn-
SchweUenTintersTichaiigen. Theorie und Experiment.
19
gehalts der Aussagen. Denn ein in der Aussage sich auswirken*
der Sinnkomplex kann seine Bestimmung als eindeutig erfaßter
nur in Bücksicht auf den ihn umgreifenden Zusammenhang er¬
fahren. Die Eindeutigkeit oder Unsicherheit — beide Ausdrücke
sind hier nur als Erlebnismotive zu verstehen — zum Prinzip
der Betrachtung machen heißt vielmehr, ein aus einem wissen¬
schaftlichen Problem hergeleitetes Motiv als Maßstab an die
Aussagen legen. Dieser theoretische Gesichtspunkt folgt aus der
begrifflichen Natur des Problems, aus der Struktur des Schwellen-
begriffs, der Aufgabe. Von Schwelle ist nur zu sprechen im Bün-
blick auf eindeutiges Erfassen. Die eindeutige Erfassung gehört
mit zu der Erscheinung der Schwelle, und deswegen mit zu ihrem
Begriff, sie ist eines ihrer Bestimmungselemente. Soll jene Er¬
scheinung in jemandem psychische Tatsache werden, soll sie sich
an ihm als gewußtes Phänomen bewahrheiten, so geht die Forde¬
rung der klaren und deutlichen Erfassung mit in die vorherige
Instruktion ein. Nur wenn sie eine Art Aufgabe für die Ver¬
suchsperson geworden war, können die der Belehrung folgenden
Aussagen im Hinblick auf die Frage gesichtet werden, ob die
Versuchsperson das Erlebnis der klaren, eindeutigen Erfassung
gehabt hat, was sie meint, indem sie von jener Erfassung
spricht; sie muß dieses Erlebnis gehabt haben, es gemeint haben,
wenn sie davon spricht, oder ihre Aussage bezieht sicht gar nicht
auf die vorherige Belehrung, d. h. auf das Problem, fällt aus dem
Rahmen der Schwellenuntersuchungen heraus. Die oben erhobene
Frage, wann die Aussage der Versuchsperson zur Feststellung
berechtigt, sie habe das Erlebnis einer Kurve, einer Gerade oder
des ebenmerklich Geradewerdens gehabt, ist nunmehr geklärt.
Spricht die Versuchsperson nach entsprechender Belehrung,
d. h. hier mit Rücksicht auf eine wissenschaftliche Aufgabe von
dem Erlebnis der Kurve, dem Erlebnis der Geraden oder dem Er¬
lebnis des Ebengeradewerdens, dann meint sie auch das, was
sie sagt.
Gewiß meint sie nicht ausschließlich das was sie sagt, sie
meint allemal im wahrsten Sinne des Wortes »alles Mögliche«.
Es ist grundsätzlich unmöglich, alles im Augenblick Meinbare
in Aussagen zu fassen. Aber gerade der Umstand, daß Ge¬
sprochenes und Gemeintes sich im Falle unserer Aussagen nimmer
decken können, daß immer alles gedacht sein kann, gestattet,
die scheinbar isolierten, aus dem Zusammenhang gerissenen Aus¬
drücke einer vergleichsweisen Betrachtung zu unterziehen. Nicht
aus den verschiedenen Ausdrücken wird das in ihnen Gemeinte
2 *
20
Moritz Löwi,
gesucht, was einer sinntheoretischen Untersuchung gleichkäme,
sondern Voraussetzung ist die Möglichkeit, immer alles meinen
zu können, und gesucht ist die Art und Weise, wie sich das
>Alles-meinen-können< im Augenblick der Richtung auf die Aus¬
sage darstellt.
DieAussagen »idealeöerade«, »deutliche Kurve«, «klareKurve«
und dergleichen haben für den Erlebenden einen unendlich mannig¬
fachen Sinn, wohl ist er getragen von ästhetischer Gefühls-
betontheit und verschiedensten anderen Sinnbezügen, im Hinblick
auf die gestellte Aufgabe, d. h. auf die Frage, ob Gerade,
Kurve oder Ebengeradewerden im Augenblick bewußt wurde,
bringen sie jedoch vorzüglich das klare Erlebnis einer Geraden,
Kurve usw. zum unzweideutigen Ausdruck. Ist die Schwelle
zugleich Problem und Tatsache, dann berechtigen die Aussagen
der Versuchsperson zur Annahme, daß sie das im Augenblick
gemeint hat, was sie gesagt hat.
Bis jetzt ergeben sich folgende Einsichten: Der Schwelle die
rechtmäßige Stellung innerhalb der experimentellen Psychologie
zu schaffen, war die Absicht der Erörterung. Eine gegenständ¬
liche Definition des Schwellenbegriffs umschrieb das Schwellen¬
erlebnis, die Ebenmerklichkeit, als Relationserlebnis. Dies ist
nur ein anderer Ausdruck für die Aufgabennatur des Erlebnisses.
Die Schwelle rückt unter den Gesichtspunkt der Aufgabe. Da¬
mit wird die Schwelle Prinzip und Faktum. Die Auswertung
der experimentellen Daten setzt an den Aussagen ein. Wird die
Versuchsperson gemäß den Forderungen des Schwellenbegriffs
belehrt über das, was sie soll, so ist, falls ihre Aussage dieser
Aufgabe genügt, dasjenige, was sie sagt, auch ein Hinweis auf
das, was sie meint. Der Sinn der Aufgabe wird Kriterium für
die wissenschaftliche Bestimmung des Augenblicklichen. Jetzt
werden auch die Aussagen in ihrer Verschiedenheit, in ihrer
Jeweiligkeit wissenschaftlich greifbar. Die Aufgabe ist ein
wissenschaftlicher Komplex. Mannigfaltigkeit der Aussagen ist
dasselbe wie Augenblicksnatur der Aufgaben.
III.
Die Ausdrücke »Kurve«, »ausgesprochene Kurve«, »flache
Kurve«, »Kurve sicher«, »deutliche Gerade«, »genaueGerade« usw
geben mit Bezug auf die präzis formulierte Aufgabe die Meinung
der Versuchsperson wieder, ohne Rücksicht auf jene Aufgabe
geben sie allenfalls den Gegenstand sprachwissenschaftlicher Ein¬
sichten ab, nicht aber psychologischer Forschung. Nur wenn in
Schwellenantersachnngen. Theorie nnd Experiment.
21
der Schwelle Begriff und Tatsache zugleich gesehen, nur wenn
die Schwelle unter den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen,
gleichzeitig aber an jemanden gerichteten Aufgabe ruckt,
wird einem gewichtigen Bedenken erfolgreich begegnet:
Näher besehen, so ließe sich sagen, sind jene Aufgaben nichts
anderes als Fragen von der Art: »Was sehen Sie? Was emp¬
finden Sie?< u. dgl., die als das Gemeinte bezeichnete Aussage
die Antwort auf diese Fragen. Die Methode der experimentellen
Psychologie unterschiede sich in nichts von dem im Alltags¬
leben geläufigen Wechselspiel von Frage und Antwort. Auch
hier offenbare sich somit die Meinung des Gefragten. Die Be¬
mühungen um die Begründung einer bündigen Methode der
Psychologie seien überflüssig.
Ein kurzer Blick auf die Natur der Frage im Falle der
Psychologie einerseits und im Dialog andererseits entkräftet
das Bedenken. Die psychologische Frage muß aus gegen¬
ständlichen Prinzipien erfolgen, die dialogische nicht Jemanden
nach der Ebenmerklichkeit der Krümmung fragen, heißt das
Psychische in einer augenblicklichen Äußerung suchen. Wie tritt
in dieser spezifischen Äußerung das Seelische zutage? Diese
Frage will hier beantwortet sein. Der erlebte Augenblick soll
als Äußerung des Seelischen festgehalten werden, als Sub¬
jektivität. Das Problem der Subjektivität aber ist eine
wissenschaftliche Fragestellung xat‘ i^oxtjy, sie ergreift den Ge¬
danken der Gegenständlichkeit von einer besonderen Seite her.
Wer also »für jemanden< Aufgaben stellt, gerichtet auf den
Augenblickscharakter der erfolgenden Aussage, der fragt wissen¬
schaftlich. Für >jemanden< Aufgaben stellen, ist gleichwertig
mit »für sich selbst« Aufgaben stellen, weil gleichbeteutend mit
>für jeden« Aufgaben stellen. Es bestätigt sich wiederum, wie
in der auf den Augenblick gerichteten Aufgabe Begriff und
Tatsache einander durchdringen. Die dialogische Frage erfolgt
nicht in der Absicht auf gegenständliche Prinzipien, sie dient
einfach der Verständigung. M. a. W. die konkrete psychologische
Fragestellung geht auf Begriffe, die dialogische nicht Ohne
Dialog keine Psychologie, wohl aber der Dialog ohne Psychologie.
Die »an jemanden« gerichtete Frage findet ihre Beant¬
wortung, weil sie zugleich wissenschaftliches Problem ist, in der
Bildung eines Begriffs. In der Beziehung zwischen Fragestellung
und Aussage gestaltet sich jener eigentümliche Begriff, der zu¬
gleich Tatsache bedeutet.
22
Moritz Löwi,
Im vorliegenden Falle der Schwellenuntersuchungen kommt
die Beziehung der Aussage zur Aufgabe, d. h. die psychologische
Begrifisbildung, in folgender konkreten Fragestellung zur Aus*
Wirkung: Entspricht die Aussage der Versuchsperson den For¬
derungen der Aufgabe ? Wann, d. i. unter welchen Umständen
genügt sie ihnen? Dieses Problem lösen, heißt psychologische
Begriffsbildung an jener Aussage vornehmen.
Schon jetzt lassen sich die zwei hauptsächlichsten, die Be¬
griffsbildung bedingenden Momente angeben. Ein psychologischer
Begriff liegt vor 1. wenn mit seiner Hilfe definiert werden kann,
was unter »Schwelle< zu verstehen ist, wenn also das Psychische
in seinem Gegenstandswert beleuchtet wird. 2. Wenn seine
Leistung in der Aufhellung der Aufgabennatur des Schwellen¬
sachverhalts beruht.
Die Aussage »deutlich Kurve< muß also mit der Aufgabe in
Beziehung gesetzt werden, in dieser Gegenüberstellung müssen
beide eben genannten Forderungen erfüllt sein. Daraus er¬
gäbe sich ein psychologischer Begriff.
Wie verhält sich somit die Aussage »deutliche Kurve« zur
gestellten Aufgabe? Man ist geneigt, jene Aussage als eine
der Aufgabe entsprechende Lösung zu betrachten. Allein es ist
zu bedenken, daß die Bezeichnung »Aufgabe«, wie schon er¬
wähnt, mehr bedeutet als »wissenschaftliches Problem«. Es ist
ein Problem, in dessen Begriff der Problem st eil er mit eingeht.
Die Beziehung des Ausdrucks »deutliche Kurve« auf die Auf¬
gabe ist gleichzeitig die Richtung auf den Aufgabemsteller. Der
Ausdruck »Aufgabe für jemanden« hat also jetzt den Sinn »für
die Versuchsperson und deswegen für andere«. In gewisser
Weise entscheidet mithin der Fragesteller über Entsprechen
oder Nichtentsprechen der Aussage. Nur entscheidet er nicht
wie im Dialog aus einer Augenblickssituation heraus, ebenso
wie er auch seine Aufgabe nicht nach Willkür stellt, beides ge¬
schieht vielmehr im Namen des Gegenstandes der Psychologie,
aus dem Prinzip des Psychischen. Damit wird für den Auf¬
gabensteller nicht bloß der Inhalt der gebotenen Aussage, son¬
dern vor allem das Aussagen des Inhalts zum Problem. Der
Inhalt als a u s g e s a g t e r ist psychologisch. Nicht der Inhalt
der Aussage »deutliche Kurve« ist der Maßstab für die Aufgaben¬
erfüllung, sondern zugleich das Aussagen des Inhalts »deut¬
liche Kurve«. Sollen diese Worte der Aufgabe genügen, ihr
entsprechen, so hat auch das Aussagen dieser Worte der Auf¬
gabe zu entsprechen. Das Aussprechen hat somit dem Frage-
SchweUenantersTtchangen. Theorie and Experiment.
23
steUer zn entsprechen. Der zeitliche Vorgang des Artikulierens
wird also Mitobjekt für die Entscheidung des Versuchsleiters.
Elr wird von ihm »verstanden«, nicht etwa bloß »gehört«, weil
der Sinn des Ausgesprochenen Funktion des Artikulierens ist.
Kurz, jener zeitliche, vom Sinn nicht zu trennende Vorgang ist
»möglich« als Gestaltung der Zeit. Wann liegt mithin Zeit*
gestaltung vor? Um als gestaltet erkannt zu werden, muß das
Nacheinander der »Lautung« »in einem« überschaubar sein, das
Nacheinander wird damit »augenblicklich« gemeinter Sinn. Das
Umgestalten des lautlichen Nacheinanders in zeitliche Ganzheit
ist aber Funktion der Aufgabe; mit aufgabengemäßen Aussagen
ist sie notwendig verknüpft, denn in die Problemstellung geht
der Problemsteller mit ein. D. h.: Mit Bezug auf die Aufgabe
hat die Gestaltung eine Bedeutung: zeitliche oder — was das¬
selbe heißt — Gestaltung des augenblicklich gemeinten Sinns
heißt »für die Aufgabe eindeutig bestimmt sein«. Soweit das
Nacheinander der Lautung überschaut ist, soweit es Ganzheit,
gestaltet ist, soweit ist es im Sinne der Aufgabe bestimmt. Die
Aussage »nicht sicher deutbar, erst Kurve, in der Mitte Gerade,
am Ende wieder als nach oben gehend empfunden« ist nicht
gestaltbar, d. h. der Aufgabe gemäß als Ganzes umfaßbar, weil
der Aufgabe nach nicht möglich. Dagegen die Aussage »deut¬
liche Kurve«. Sie ist der Aufgabe nach möglich; und so sicher
im Verlaufe des Artikulierens die Aufeinanderfolge der Laute
oder Sinnkomplexe relativ unberücksichtigt bleibt, und damit die
Aussage gestaltet, d. i. verstanden wird, so sicher ist sie der
Aufgabe nach bestimmt. Ist der Funktionalzusammenhang
zwischen Problem und Aufgabe, zwischen theoretischer Forderung
und Gestaltung gewahrt, dann ist die der Frage korrespon¬
dierende Antwort entsprechend. Da die Aussage »deutliche
Kurve« der Aufgabe nach möglich ist, und deshalb »verstanden«,
d. h. gestaltet werden könnte, genügt sie der Aufgabe voll¬
ständig. Die Aussage »deutliche Kurve« drückt den vorher
gekennzeichneten begrifflichen Sachverhalt aus, ich nenne ihn
das Optimum. Der Begriff des Optimums^) trägt ganz aus¬
gesprochen die Kennzeichen psychologischer Begriffsbildung an
sich. Mit seiner Hilfe erhellt, was jemand gemeint haben muß,
weil er auf das Meinen selbst abzielt Eben darum aber be¬
ll Dieser Begriff ist nicht zn verwechseln mit dem von W. Stern als
Optimum bezeichneten Sachverhalt (vgl. Stern, Über psych. Präsenzzeit,
Zeitschr. f. Ps. Bd. 18). Dort ist das Optimnm lediglich der Ansdrack für
einen extensiven Zeitwert; hier unterliegt er den für die psychologische
Begriffsbildnng gekennzeichneten Bedingungen.
24
Moritz Ltfwi,
stimmt er das Psychische. Sofern er andererseits auf das >Ge-
meinthaben« geht, drückt er zugleich eine Tatsache ans.
Auch das Optimum ist gleich der Aufgabe, Begriff und Tatsache
zugleich. Diese Begriffsbildung muß möglich sein, wenn über«
hanpt ein eindeutiger Sachverhalt soll gewußt sein können,
soll das Wissen überhaupt Problem werden.
Die Aussagen in Gruppe I sind optimale Erlebnisse im Hin¬
blick auf die Aufgabe »Schwellet.
IV.
Die Fruchtbarkeit solcher Gedankengänge bewährt sich in
vollem Umfange erst im Verlauf der theoretischen Durchdringung
einer anderen Art von Erlebnissen. Es sind dies die vorerst
als »Unsicherheitserlebnisse« bezeichneten Akte (Gruppe 11). Der
Aufgabenbegriff in seiner entscheidenden Bolle für die psycho¬
logische Begriffsbildung scheint hier seiner methodischen Be¬
deutung verlustig zu gehen. Eine Aussage von der Form »wie
eine Gerade; Zweifel, Anfang ein wenig gewölbt« oder die Ant¬
wort »weUig< scheinen sich von der Forderung der Aufgabe
beträchtlich zu entfernen. Oder aber es ergeben sich Aussagen
von so komplexer Struktur, daß die in Frage kommenden psy¬
chischen Motive durch ein Überwuchern anderer seelischer
Faktoren an Interesse so gut wie ganz verlieren, ja daß sich
die Determiniertheit durch die Aufgabe in der Aussage über¬
haupt nicht mehr verrät.
Ich führe als Belege nur drei Aussagen an, die sich im Ver¬
laufe einer Untersuchung über Unterschiedsempfindlichkeit beim
Heben von Gewichten ergaben.
Yersachsanordniing: Sechs gleichgroße, gleichanssehende, hölzerne,
innen mit Gewichten beschwerte Kästen. Grandgewicht 372 g, Yergleichs-
gewichte 1322 g, 828 g, 585 g, 465 g, 352 g, 372 g.
Instruktion: Die Yersnchsperson wird anfgefordert, mit der rechten
Hand (bei Rechtshändern) erst das vor ihr stehende linke Gewicht, daraat
das rechte Gewicht einmal za heben, darauf zu senken.
Beize: Grandgewicht 372g, Yergleichsgewicht 1322 g.
Yersnchsperson: Privatdozent Dr. St.
Aussage: Als ich den Kasten hob, war ich überrascht über die Leich¬
tigkeit and merkte, daß ich einen übermäßigen Kraftaufwand bereit hatte.
Bevor ich den zweiten hob, schwankte ich zunächst in der Erwartung, ob
er auch leicht sein würde, oder ob er im Gegensatz sehr schwer sein
würde. Die letztere Erwartung wurde noch überboten. Ich fand ihn sehr
schwer. Es kam mir der Gedanke (!), wie vielmal schwerer er wohl
sein möchte. Ich vermutete, daß er vielleicht drei- oder viermal so schwer
sein müßte. Aus vagen psychologischen Überlegungen heraus hatte ich
bereits das Gefühl, mich zu täuschen.
Schwellennntersachnngen. Theorie and Experiment.
25
Keiz: Qrnndgewicht 372 g, Vergleicbsgewicht 558 g.
Anss&ge: Die Überraschung war diesmal beim Heben des ersten
Kastens sehr gering, bei dem zweiten Kasten hatte ich das Gefühl, es wäre
der gleiche Kasten wie beim zweiten Experiment.
Keiz: Dieselben. Der Versuch ist einer anderen Versuchsreihe ent*
nommen; diese unterscheidet sich durch eine andere Anordnung der Ver*
gleichsgewichte von der Reihe, der die obigen Versuche entstammen.
Aussage: Das rechte Gewicht glaubte ich wiederzuerkennen, mit aus¬
gesprochenster Überraschung und mit übermäßigem Impuls hob ich den
leeren Kasten (der Kasten war mit 872 g belastet). Ich hatte den Ein¬
druck, als wäre diese Überraschung Tom Versnchsleiter beabsichtigt, und
fühlte mich angeführt.
In Aussage I fällt der Versuchsperson die Aufforderung zu
schätzen nur beiläufig ein, in II und m wird jener Aufforderung
überhaupt nicht mehr Rechnung getragen.
Solcherlei Aussagen genügen also nicht den Bedingungen der
Aufgabe. Es fragt sich, auf welchem Wege zu ihrem psycho¬
logischen Wert vorgedrungen werden kann.
Es ist zweckmäßig, das Augenmerk nochmals auf den Begriff
des Optimums zu richten. Der Versuchsleiter gestaltete die
Aussage der Versuchsperson nach Prinzipien, aber auch die
Aussage des Versuchsleiters ist gestaltet, und zwar für die Ver¬
suchsperson, nämlich mit Rücksicht auf die an sie gerichtete
Aufforderung, sie verstand die Aufgabe; nur muß die Gestal¬
tung nicht aus gegenständlichen Prinzipien erfolgen. >Optimum<
ist demnach die Bedingung, um wissenschaftlich von gegen¬
seitiger Verständigung sprechen zu können, es ist ein spezifischer
Zeitansdmck. In den beigebrachten Fällen liegt im populären
Sinne des Wortes keine Verständigung vor, d. h. wissen¬
schaftlich gesprochen, das Verhalten von Versuchsleiter und
Versuchsperson ist nicht optimal. Welches ist der positive Sinn
solchen Verhaltens? Durch welchen psychologischen Begriff
wird es eindeutig bestimmt?
Die für das nichtoptimale bezeichnenden Beziehungen sind
folgende: Der Versuchsleiter entscheidet über die Antwort der
Versuchsperson. Er gestaltet nach wissenschaftlichen Grund¬
sätzen. Die Antwort der Versuchsperson ist selbst Gestaltung
der an sie gerichteten Aufgabe. Das Verstehen der Versuchs¬
person braucht nicht nach denselben Prinzipien vor sich zu
gehen wie dasjenige des Versuchsleiters, ja im Falle ihres nicht¬
optimalen Verhaltens geht es sicherlich anders vor sich. Für
den Versnchsleiter ist nicht allein der Sinn der Antwort, sondern
auch das Gestalten der Antwort Gegenstand der Betrach¬
tung — er studiert ja das in der Anssage sich ausdrückende
26
Moritz Löwi,
Angenblicksverhalten. Folglich legt er sich die Frage nach dem
Prinzip des Verstehens, hier Mißverstehens vor. Von Mi߬
verständnis ist aber nur die Rede auf seiten des Versuchsleiters
und nicht der Versuchsperson, er hat ihre Aussagen in diesem
Sinne gekennzeichnet, von sich aus gestaltet. Das Prinzip
für das Mißverstehen suchen, heißt für den Versuchsleiter sich
selbst zum Problem machen. Die Aufgabe ist jetzt dem
Versuchsleiter gestellt. Es handelt sich wieder darum,
aus der Psychologie als Wissenschaft im Hinblick auf die sich
dem Versuchsleiter als Mißverständnis darbietende Aussage die
neue Fragestellung zu formulieren.
Grundsätzlich ist die Sachlage von derselben Natur wie im
Falle des optimalen Verhaltens. Dort galt es, eine Aussage auf
das Funktionalgefüge von Problem und Gestaltung zu beziehen,
d. h. die Aussage der Versuchsperson eindeutig zu bestimmen.
Hier ist eine im Sinne der Versuchsperson eindeutige Aussage
gegeben, gesucht dagegen das Funktionalverhältnis zwischen
Problem und der von ihm beherrschten determinierten Gestaltungs*
möglichkeit. »Nichtoptimal seine ist dieselbe Beziehung, nur
sind die Relationstermini im umgekehrten Sinne geordnet Zur
Bezeichnung dieses begrifflichen Sachverhalts führe ich den
Terminus »Anfgabenwechsel« ein. Er ist ein anderer Ausdruck
für den besonderen Charakter des psychologischen Experiments,
er löst die Frage, wie ein Problem sich entfalten muß, nur weil
es Problem für jemanden ist, er lehrt, wie aus einer rela¬
tiven Bestimmtheit einer nach Prinzipien bestimmten Aussage
sich ein neues Problem entwickelt. Zugleich aber bezieht er
sich auf einen vorliegenden Fall, auf ein besonderes Vorkommnis
des Nichtverstehens, Der Begriff des Aufgabenwechsels
ist Prinzip und Tatsache zugleich.
Die oben angeführte Aussage »nicht sicher deutbar, erst
Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende wieder als nach oben
gehend empfunden« genügt nicht den durch die Schwellenunter¬
suchung vorgeschriebenen Bedingungen, sie drückt einen Wechsel
der Aufgabe aus. Mit ihr stellt sich ein neues Problem.^)
1) Fechner hat bekanntlich Urteile, mit denen die Versuchspersonen
ein Schwanken zwischen dem subjektiven Eindruck der Gleichheit oder Un¬
gleichheit zweier gehobener Gewichte ausdrUckten, zu einer Hälfte den
»richtigen«, zur anderen den »falschen« Fällen zngeschlagen. Damit ist die
psychische Erscheinung der Unsicherheit nngerechtfertigterweise über¬
sehen. Durch die Funktion des Anfgabenwechsels ist der notwendigen
Forderung, auch dieses Gebilde in seinem psychologischen Eigenwert zu
kennzeichnen, methodisch Rechnung getragen. Vgl. Fechner, »Revision
der Hauptpunkte der Psychophysik« 1882 S. 45/46.
SchwaUennntersnchangen. Theorie und Experiment.
27
Läge fär die experimentelle Psychologie berechtigte Veran¬
lassung vor zur Untersuchung der Frage, was das Erlebnis der
Unsicherheit sei, und wäre weiter die angegebene Aussage die
Antwort auf die ihr vorangehende Fragestellung, so würde die¬
selbe Aussage, die mit Bezug auf die Schwellenaufgabe als
nichtoptimal anzusehen ist, nunmehr der gestellten Aufgabe voll
genügen, sie wäre optimal. Ein und dieselbe Aussage kann
mithin zu den verschiedensten Begriffen führen, wird sie nur in
Beziehung gesetzt zu einer aus dem Begriff des Psychischen
hergeleiteten Aufgabe. Die Folge davon ist eine Relationierung
der Erlebnisbestimmtheit. Relationierung ist keine Relativierung.
Relationierung ist der Sinn jeder Wissenschaft, weil der Sinn
der Erkenntnis. Relationierung ist die Leistung des echten
Begriffs. Die vorerst als Unsicherheitserlebnisse gekennzeich¬
neten Aussagen (Gruppe II) sind in dem Begriff des Aufgaben¬
wechsels eindeutig bestimmt.
V.
Ein nichtoptimales Erlebnis ist also der Hinweis auf eine
neue Aufgabe, auf ein wissenschaftliches Problem, in dessen
Begriff der Steller des Problems mit eingeht.
Folgendermaßen verlief die Untersuchung von den angeführten
nichtoptimalen Aussagen bis zur Formulierung der neuen Frage¬
stellung: Den Aussagen »nicht genau feststellbar, ob Gerade oder
Kurve«, »nicht genau deutbar, zweifelhaft, ob Gerade oder Kurve«
stehen Aussagen von folgendem Wortlaut gegenüber: »wellige
Gerade< — »Welle« — >Wellenlinie, erst nach oben, dann nach
unten offen« — »flache Sinuslinie« — »Schlangenlinie« — »kann
nichts Genaues sagen, wellig« — »erst nach oben, dann flach
nach unten geöffnet« — »in der Mitte so etwas wie eine Kurve,
im allgemeinen war es unklar« — »eine geschwungene Linie,
wellig« — »eine flache schräg liegende Sinuslinie«.
Wül sich der Experimentator darüber klar werden, welches
psychologische Problem sich in den genannten Aussagen aus¬
prägt, so hat er sich die Frage vorzulegen, wie er selbst jene
Aussagen versteht, aber derart, daß auch andere sie ebenso ver¬
stehen können. Nur mit Berücksichtigung dieses Zusatzes rührt,
wie wir gesehen haben, der Fragesteller an einem Problem der
psychologischen Forschung. Denn dann erst ermittelt er in
jenen Aussagen ein neues Gegenstandsmoment am Erlebnis, eine
neue Erscheinungsform der Subjektivität.
28
Moritz Löwi,
Der Experimentator faßte die Ausdrücke »Welle«, »Schlangen¬
linie«, »Sinuslinie« usw. als bedeutungshafte bezw. bildhafte
Äußerungen auf. Er sah in ihnen Symbole für etwas, wie man
im Buchstaben das Symbol für den Laut erblickt. Er durfte
in ihnen zeichenhafte bezw. bildhafte Erlebnisse erblicken, weil
die Versuchsperson nach ihren Angaben: Schlangenlinie, Sinus¬
linie usw. gewisse Erlebnisse zeichenhaft oder bildhaft beurteilt
haben kann. Etwas als Zeichen auffassen, heißt bereits eine
bewußte Beziehung hersteilen auf ein »mögliches« Erlebnis, heißt
etwas »haben« dergestalt, daß auch andere es müssen haben
können, heißt schließlich eine bestimmte Frage der wissen¬
schaftlichen Psychologie formulieren.
So ergibt sich als das nächste Ziel für das experimentelle
Verfahren dieses: Der Versuchsleiter hat zu erforschen, wie sich
ein haptisch dargebotener Beiz als Zeichen bei der Versuchs¬
person auswirken kann. So wie es im Anschluß an die Er¬
wägungen über die Schwelle nahe liegen mußte, die Aktua¬
lisierung der Kurve, ihre Augenblickserfassung zu beobachten,
so gilt es jetzt, etwas, was jemand, der Verauchsleiter, aus
Grundsätzen, d. i. aus dem Begriff des Psychischen, als Zeichen
deuten mußte, in seiner Augenblicks Wirkung an jemanden, der
Versuchsperson, methodisch zu zergliedern.
Kurz, der Experimentator richtet eine dem Psychischen
gemäß orientierte Frage über das Erfassen eines bestimmten
Zeichens an seine Versuchsperson. Anknüpfend an eine bestimmte
Gruppe nichtoptimaler Schwellenerlebnisse, das will sagen auf
dem Wege und zugleich durch die begriffliche Forderung des
Aufgabenwechsels bedingt, kommt das psychologische Problem
der Erfassung bedentungshafter Zeichen zum Austrag.
Die Bearbeitung von Erlebnissen zeichenhafter bezw. bild¬
hafter Natur erfordert die experimentelle Darbietung ent¬
sprechender Gebilde. Es sind der Versuchsperson Beize zu
geben, die nach den Ausführungen des früheren Zusammenhanges
leicht die Beurteilung im Sinne von Zeichen oder im Sinne von
Bildern bei der Versuchsperson ermöglichen. Die Versuchs¬
person wird wieder über die Absicht des Experiments belehrt.
Sie wird aufgefordert, bei vollständig freier Ausdrucksmöglichkeit
die dargebotenen Linienkomplexe daraufhin zu prüfen, was sie
als Zeichen bedeuten mögen. Nicht bloße Wiedergabe des suk¬
zessiven Verlaufs der Linienreize wird von ihr gewünscht,
sondern die während des Verlaufes in buntem Wechsel auf-
tauchende Gedankenreihe festzuhalten. Daß die Versuchsperson
Schwellenantersachangen. Theorie and Experiment.
29
niemals mit dem Mittel des Wortes die unendliche Fülle ihrer
Gedanken auch nur eines Momentes erschöpfen kann, ist wie
bewiesen nicht nur kein Hemmnis für das Unternehmen, sondern
geradezu die Bedingung des Versuchs, Weil eine derartige
Leistung grundsätzlich unmöglich, deswegen muß ja ihre Aus¬
sage auf die Aufgabe bezogen werden. An dem in der Aussage
nui’ bnichstttckartig wiedergegebenen Erlebnissachverhalt wird
durch seinen Aufgabenbezug das Augenblickserfassen in seiner
vollen Aktualität möglich. Bevor wir des näheren auf die Be¬
handlung der zeichenhaften, bezw. bildhaften Erlebnisse eingehen,
muß wiederum der Möglichkeit eines Mißverständnisses gedacht
werden:
Es läßt sich der Verlauf, ja sogar das Ergebnis des Ver¬
fahrens schon jetzt voraussehen, so möchte man vielleicht glauben.
Entweder müßten optimale Erlebnisse aufgewiesen werden oder
aber nicht optimale. Letztere sind gleichbedeutend mit »Auf¬
gabenwechsel«, sie würden somit von dem eigentlichen Thema
der Einsicht in die Natur der zeichenhaften Bedeutungserlebnisse
abführen. Die der Aufgabe genügenden, d. i. optimalen Aussagen
dagegen gäben bestenfalls das wieder, was aus der Besonderheit
der Aufgabe sich von selbst vei*steht. Ganz ebenso wie die
Versuchsperson im Falle der Krümmungsbeobachtungen in opti¬
maler Aussage von »deutlicher« oder »klarer Kurve< bezw.
»Geraden« sprach, so wird sie hier das dargebotene Zeichen so
beschreiben, wie es der Versuchsleiter der Aufgabe nach er¬
warten kann. Die gesamte Anordnung sei eine überflüssige
Zutat. Der Versuchsleiter müßte schon im voraus, welche Aus¬
sage er von der Versuchsperson zu erwarten habe.
Darauf ist folgendes zu erwidern: Die Aussagen der Ver¬
suchspersonen können sehr wohl der Aufgabe und dem damit
verbundenen Verständnis des Versuchsleiters entsprechen, können
optimal sein und dennoch in einer vorher nicht zu bestimmenden
Form auftreten. Derartige Fälle kommen alsbald zur Be¬
sprechung. Aber selbst Aussagen von der Form »deutliche
Kurve« sind in ihrer Besonderung von der Fragestellung her
nicht vorauszusehen. Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit,
vorherzuwissen, ob die Aussage »deutliche Kurve« oder »klare
Kurve« oder »gute Kurve« usw. erfolgen wird. In der Auf¬
gabe ist implizite ein Bereich entsprechender Antworten optimaler
Erlebnisse umgrenzt. Dagegen ist nichts über die spezifische
Abweichung der optimalen Erlebnisse voneinander bekannt.
Allemal birgt die wissenschaftliche Fragestellung die »mögliche
30
Moritz Lö^vi,
Lösung« in sich; nur gewisse Tatbestände genügen ihren An¬
forderungen, nie aber kann aus der Frage heraus angegeben
werden, welches diese Tatbestände sind. Damit hörte jede
Erkenntnis auf, weil die Frage überflüssig würde.
»Zeichen« als Beize geben an sich keinen Aufschluß über den
Augenblickscharakter der ihnen entsprechenden optimalen Er¬
lebnisse. Ja es hat sich sogar gezeigt, daß bei vorheriger ge¬
nauester Schilderung der folgenden Beize, also im »wissentlichen
Verfahren«, das optimale Erlebnis durchaus nicht in einer
Wiedergabe der Schilderung beruht. Auch hier wird durch die
wissenschaftliche Fragestellung ein breiterer Bezirk möglicher
optimaler Akte umschrieben; innerhalb seiner unterscheiden sich
die Aussagen ganz ebenso wie hinsichtlich des Kurvenerlebnisses
die Aussagen »deutliche« Kurve von »klarer« Kurve.
Hierin gerade äußert sich ein ganz fundamentales Motiv
wissenschaftlicher Psychologie. Beliebige solcher Erlebnisse
lassen sich denken, und jedes von diesen ist als optimal ge¬
kennzeichnet. Sie unterscheiden sich voneinander, wie sich ein
erlebter Augenblick vom anderen unterscheidet. Denn die Auf¬
gabe als wissenschaftliches Problem umschreibt einen
Bereich »möglicher« optimaler Erlebnisse, die Aufgabe als
Tatsache dagegen fordert jeweils, d. L »augenblicklich« ein
einziges optimales Erlebnis. Das Optimum ist immer auch
zugleich Augenblickserlebnis.
»Deutliche Kurve«, »klare Kurve«, »ausgesprochene
Kurve« entsprechen Augenblicken des Erfassens von Kurven;
ja sie sind diese Augenblicke geradezu, sofern Optimum und
»erlebter Augenblick« zusammenfallen.
Die Einsicht in die theoretische Bedeutung des Optimums
bestätigt sich somit. Es gibt kein ein für allemal gültiges
Optimum für jemanden, wie es auch keinen mathematisch ein
für aUemal gültigen eindeutigen Schwellenwert geben kann. Ein
ganz bestimmtes Erlebnis ist optimal, und unendlich viele
Erlebnisse sind optimal. Das Optimum ist Augenblickserscheinung.
Es genügt einer systematischen Fragestellung, und doch ist es
Tatsache. Es ist Begriff und Tatsache zugleich, psychologischer
Begriff. Nie ist vorauszusehen, welche Tatsache optimal ist.
Zum Zwecke der Darbietung komplizierterer Kurven, also
»möglicher« Zeichen, wurde das bisher verwendete Beizfeld in
der angegebenen Weise vervcdlständigt (vgl. Tafel Fig. 4). Die
Beize wurden mit dem vorher beschriebenen Ästhesiometer
außerhalb der Pendelvorrichtung gegeben, also wie mit einem
Schwellenanter8achiui8:en. Theorie and Experiment.
31
Schreibstifte. Die Anordnung gestattete, wie aus der Zeichnuug
hervorgeht, eine beliebige Wiederholung der Reize bei gleicher
Ausdehnung und Lokalisation.
Der im folgenden wiedergegebene kleine Protokollausschnitt
gibt einige Aussagen, die zunächst nicht bewältigt wurden, weil
eine sachgemäße Belehrung fehlte. Der methodische Aufgaben¬
bezug war unterbunden. Der Versuchsleiter bediente sich als
Reizen sowohl komplizierterer Kurven als auch Buchstaben.
Sein experimentelles Verhalten war von der Erwägung über
den Begriff des Buchstabens unbeeinflußt, daher unsicher. Die
Aussagen sind nicht eindeutig bestimmbar, weil nicht auf
eine eindeutige Aufgabe beziehbar. An die Versuchsperson
wurde die Frage gerichtet: Was spüren Sie? Dies ist eine für
das experimentelle Verfahren unzulässige Frage. Damit der
Experimentator weiß, was die Versuchsperson gespürt hat, muß
sie darüber belehrt werden, was sie spüren kann. Ohne diese
Belehrung sind die Aussagen der Versuchsperson der Begriffs-
bildnng nicht zugänglich.
VersnchsanordnaDg: Beizfeld wie beschrieben (vgl. Tafel Fig. 4).
Ästhesiometer ohne Pendelvorrichtang.
Beize: In den beschriebenen 7 Yersnchen kamen nnr folgende zwei
Beizfignren in Anwendung: and 2
Versnchsperson: J.
1. Beiz: 6c — 4d nsw. bis 5n. Zeit 4,2 Sek.
Aussage: Steile Wellen, dachte anfangs, man wolle >n« schreiben.
2. Beiz: 6c—4d — 4f—6g. Zeit 8,8 Sek.
Ans sage: Kleine Wellen, erste sehr steil; (auf Befragen:) drei bis
Tier Ausbuchtungen.
3. Beiz: Buchstabe >n<, durch dieselben Punkte des Feldes bestimmt,
Zeit 4,8 Sek.
Aussage: Zwei komische Wellen, unten spitz, beinahe wie lateinisches
>n<. Beim Aufstrich erinnerte der Beiz an eine Bachstabengestalt. Von
der Deutung »Buchstabe« bin ich abgekommen, weil das Erlebnis anders
verlief, als ich es bei einem Buchstaben erwartet hätte.
4. Beiz: 8f—2g — 3h — 4g — 6f — 6g — 6h und Punkt bei 7g. Zeit
6 Sekunden.
Aussagen: Ich hatte den Eindruck, es solle eine 8 werden, die Ge¬
stalt war nicht ganz geschlossen:
Zeichnung der Versuchsperson: ^
Beim Hinanffahren war es nur aufgetippt, aus der Schlangenlinie schlofi
ich auf die 8.
6. Beiz: Ein Fragezeichen ohne Punkt, von unten begonnen: 61 — 7k—
6i — 5k — 4k — 3i—4h, also:^^^. Zeit: 2,6Sek.
Aussage: Es war wie eine nicht deutliche 8, etwa folgendermaßen:
"^0. Der Anfang in der Bichtang des Pfeiles. Über die Geschlossenheit
der Figur kann ich nichts Bestimmtes aussagen, sie wird vermutet.
32
Moritz Löwi,
6. Beiz: Derselbe, aber schneller. Zeit 1,4 Sek.
Anssagfe: Es war eine 8, so: '^S. Ich hatte [das deutliche Bild
einer 8, wndte aber, dad sie anders geschrieben war, als man eine 8 schreibt.
7. Beiz: ein richtig geschriebenes Fragezeichen ohne Punkt in dem¬
selben Felde. Zeit 1,4 Sek.
Aussage: Es war wie eine 6, so: b. Beim Schreiben sagt die Ver¬
suchsperson: Ach, das war ja keine 5. Die Figur war von mir ans nach
links ofien.
Im Hinblick auf die an die Versuchsperson gerichtete Frage:
Was spüren Sie? ist aus den angeführten Aussagen nicht er¬
weisbar, ob ein optimales Erlebnis vorliegt, wenn die Versuchs¬
person mit Bezug auf die erste Beizfigur von einem lateinischen
»n< spricht. Optimal ist mit demselben Kecht die Erfassung
des Beizes als einer Wellenlinie. Beide Aussagen sind zulässig.
Ebenso kann die Deutung des zweiten Beizes sowohl für optimal
wie für nicht optimal gelten.
Der methodische Fehler liegt klar zutage. Die Aussagen
entziehen sich einer zielsicheren wissenschaftlichen Bewältigung,
weil der Gradmesser für die Bedeutung der Aussagen der zeit¬
lose Sinn der Beize, nicht die eindeutig gestellte wissen¬
schaftliche Aufgabe ist. Mit Bezug auf die Frage: Was spüren
Sie? ist der zeitlose Sinn des Erlebten das Kriterium für
das Gemeinte. Erst wenn die Versuchsperson auf Grund einer
sachgemäßen Belehrung weiß, was sie spüren kann, wird der
zeitlose Sinn unter dem Gesichtspunkte des Augenblickserlebnisses
bestimmt. Dem Sinne nach können die Beize freilich sowohl
als Kurve wie auch als Buchstabe oder Buchstabenrudiment ge¬
deutet werden. Jede Deutung hat danach ihr Becht, wenn sie
nur sinnvoll ist. Niemals aber kann auf diesem Wege die
Deutung durch die Versuchsperson als Augenblickserlebnis ein¬
gefangen werden, nie das psychologische Problem seine Lösung
finden, auf Grund welcher Erlebnismotive jemand sich zur
Deutung im Sinne des Schriftzeichens oder Buchstabens geführt
sieht. Hierfür muß der Experimentator sich allererst die Frage
vorlegen: Was heißt »Zeichen« oder »Buchstabe« im Sinne der
Psychologie? Im Augenblicke seiner an die Versuchsperson ge¬
richteten Aufforderung muß er diesen begrifflich bestimmten Sach¬
verhalt gegenwärtig haben, ihn verstehen. Damit ist Problem
und Steller des Problems ein Gefüge. Das theoretische Problem
des bedeutungshaften Verstehens wird zugleich eine an jemanden
gerichtete Frage. Darauf bezogen ergibt sich die Aussage als
optimal oder — in unserer Sprache — als »Aufgabenweclisek.
Schwelleniintersachangen. Theorie and Experiment.
33
Jetzt erst verraten sich die psychischen Elemente der Zeichen*
haften bezw. bildhaften Deutung.
Eine sachgemäße Handhabung der Untersuchung hätte sich
etwa so abgewickelt:
Im Anschluß an die wissenschaftliche Definition des Begriffs
>Zeichen« wäre das Problem des Schreibens und Lesens anfgeroUt
worden. Die Fragestellung, in die auch der Steller des Problems
eingeht, hätte für den Experimentator die Form angenommen:
Was habe ich geschrieben? Mit Bezug hierauf sind optimale
Aussagen möglich, d. h. es hätte die Frage erledigt werden
können, was es heißt, einen Buchstaben lesen können (Hand¬
schrift); ja sogar inwieweit geschriebene Buchstaben passiv
tastend gelesen werden können.
Der außerordentliche Reichtum an begrifflichen Beziehungen
drängt sich sofort auf. Ihn in dem Maße bloßzulegen ist nur
angängig mit Hilfe der vorher umschriebenen methodischen
Mittel der Psychologie. Schon in solcher Exposition der Themen
bewährt sich ihre ganze Leistungsfähigkeit. Damit aber ist der
bedeutsame Begriff des »Aufgabenwechsels< gerechtfertigt. Nach
zwei Richtungen ist er für die Psychologie von Belang: Einmal
macht er das tatsächliche Verfehlen einer Aufgabe seitens der
Versuchsperson begreiflich, sodann aber wird vermöge seiner
Funktion das Verfehlen einer bestimmten Aufgabe gleichbedeutend
mit einer neuen Fragestellung der experimentellen Psychologie.
Im Begriff des »Aufgabenwechsels« leuchtet der Relationsbau
des Erlebnisses auf.
Zu welchem Ergebnis haben bisher die beschriebenen Ver¬
suche geführt?
Die Aussagen, also auch die Erlebnisse, in Gruppe I sind
psychologisch bestimmt im Begriff des Optimums. Mit diesem
Terminus wird zweierlei ausgesagt: wie die Erlebnisse beschaffen
sind, wie sie der Aufgabe genügen, und ferner, daß sie der
Aufgabennatur Rechnung tragen, daß sie ein gegenständliches
Moment des Psychischen veranschaulichen. Prinzip und Tatsache
werden an ihnen als ein einziger Tatbestand sichtbar. Jene
Aussagen sind psychologisch bewertet. Der Begriff »Anfgaben-
wechsel« bemächtigt sich der in Gruppe n zusammengestellten
Erlebnisse. Sie entfernen sich von der Aufgabe, bringen also
ebenfalls einen Grundzug seelischen Verhaltens zum Ausdruck,
sie offenbaren aber zugleich, welches neue Motiv in ihnen zum
Durchbruch kommt: die Bedeutungsbetontheit des Erlebnisses.
Archiv für Psychologie. XLVni. 8
34
Morits LSwi,
>Aiifgabenwechsel« ist wieder ein rechtmäßiger Begriff der
experimentellen Psychologie.
VL
Von ganz besonderer Natur sind die Erlebnisse in Gruppe ni.
Sie zeichnen sich gegenüber den bisherigen durch eine zusammen¬
fassende Tätigkeit der Versuchsperson aus. Begnügt sich die
Versuchsperson in den geschilderten nichtoptimalen Erlebnissen
mit einer Darstellung des Erlebten von aufeinanderfolgenden
Phasen: >erst Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende wieder
nach oben gehend empfundene, >erst Haken, dann Geradec,
oder zerlegt sie ihren Eindruck nach einem anderen Prinzip:
»nicht genau feststellbar, ob Gerade oder Kurve« usw., so wird
in der genannten Gruppe in der Ton vorzüglich auf die Tat¬
sache eines Gesamtbildes gelegt. Die Elemente des Erlebnisses,
mögen sie zu der Vermutung eines unklaren Eindrucks berechtigen,
in jenem Gesamtüberblick wird ihnen unzweifelhaft ein¬
deutige Bestimmtheit zuteil. Es liegt nahe, Erlebnisse dieser Art
einfach als optimale abzntun.
In der Tat ist diese Angliedemng zulässig. Indessen wird
es sich nicht vermeiden lassen, zum wenigsten von einem be¬
sonderen Fall optimaler Erlebnisse zu sprechen. Die besondere
Art der Erlebnisse zeigt den Begriff des Optimums, der »Gestal¬
tung«, in neuer Beleuchtung. In Rücksicht auf sie erfährt er
eine weitere Ausgestaltung, er determiniert sich.
Zur weiteren Gliederung des Begriffs vom Optimum bedarf
es einer eingehenderen relationstheoretischen Betrachtung. Das
optimale Erlebnis war geknüpft an ein mit dem Begriff einer
Aufgabe verbundenes zeitliches Verhalten der Versuchsperson
wie auch des Versuchsleiters. Es konnte als zeitliche Gestaltung
definiert werden. Die Motive der Gestaltung, eben weil sie in
funktionalem Verhältnis zum Problem stehen, müssen grund¬
sätzliche Unterschiede aufweisen, sofern die Probleme grund¬
sätzlich gegeneinander abgegrenzt sind. Grundsätzlich verschiedene
Probleme sind dasjenige der Empfindung, z. B. der Gewichts¬
empfindung, und dasjenige der Gravitation. Empfindung ist etwas
nur »mit Bezug auf jemanden«, »schwer« im physikalischen
Sinne ist etwas nur unter der Voraussetzung der »Unabhängigkeit
von jemandem«.
Diese Einsicht ist in dem Maße Gemeingut geworden, daß
darüber vergessen wurde, in der »Unabhängigkeit von
jemandem« eine Beziehung »zu jemandem« zu erblicken.
SchwellennntersTichTiiigen. Theorie and Experiment.
35
Jeder mathematische und natorwissenschaftliche Begriff verweist
notwendig» auf jemanden«, weil »unabhängig von
jemandem«. Nur ist solcher Bezug von grundsätzlich anderer
Art als im Falle der Empfindung. Gleichgültig wie des näheren
die Bezüge »für jemanden« hier und dort sich voneinander
unterscheiden, so unvermeidlich sie bestehen müssen, so unum¬
gänglich ist mit jedem Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis
auch das psychologische Motiv zeitlicher Gestaltung gegeben.
Daraus folgt schließlich: Ganz so wie sich »für jemanden«
von der Relation »unabhängig von jemandem«, d. h. also
»mit Bezug auf jemanden« unterscheiden, ganz in dem
Maße müssen verschiedene Formen zeitlicher Gestaltung nach¬
weisbar sein.
Kants kritische Philosophie hat die Möglichkeit der Be¬
ziehung »unabhängig von jemandem« zum wesentlichen
Gegenstand. Der mit dieser Beziehung gesetzten Forderung
zeitlicher Gestaltung trägt sie in ihrem Ansatz Rechnung: sie
dringt von der Tatsache der »Erscheinung« vor zum Begriff des
Gesetzes. Ihr Ziel ist der Eorrelativbezug der Relationen der
Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit — also etwa der Kate¬
gorien — auf die »Erscheinung«, d. i. auf die Relation »ab¬
hängig von jemandem«. Hierin liegt die Begründung dafür,
das Wissen, die Subjektivität als Ausdruck der Gegenständlich¬
keit zu betrachten. Auch der umgekehrte Weg ist gangbar.
Die Beziehung »unabhängig von« wäre alsdann Ausgangs¬
punkt. Wo also Begriff, da auch Gestaltung. Bestimmte psycho¬
logische Aufgaben sind mithin funktional verknüpft mit der durch
die Bezeichnung »Erscheinung« umschriebenen Zeitgestaltnng.
Wo jene Aufgaben statthaben, wo Begriffe der mathematischen
Naturwissenschaften vorliegen, da ist die ihnen entsprechende
Zeitgestaltung »Erscheinung«, d. h. Erfahmng. »Ich mache
Erfahrung« ist ein Erlebnis, für welches zeitliche Gestaltung
funktional mit einem Begriff, einer Aufgabe, einer Erfahrungs-
Wissenschaft zusammenhängt Wie sich aber Erfahmngsbegriffe
wohl unterscheiden von Begriffen der Art der Empfindung, so
sind auch »Erscheinungen« eine besondere Form zeitlicher Ge¬
staltung gegenüber Empfindungen und Gefühlen. Die Gestaltung,
welche der Empfindung und ähnlichen Sachverhalten entspricht,
betätigt sich an dem Empfindenden selbst. »Erscheinungen«
dagegen, als Gestaltungsformen mathematisch-naturwissenschaft¬
licher Forschung, liegen außerhalb des Forschenden, stehen
also in anderem Sinne in Beziehung zu ihm, weil natur-
36
Moritz L0wi,
wissenschaftliche Begriffe »unabhängig von jemandem«
gelten. Elrscheinnng oder Geschehen sind »außer mir«.
Die gleiche Relation »außer mir« liegt vor, wo der Gegen-
stand der Gestaltung eine geometrische Beziehung ist. Hier ist
das Ergebnis der Gestaltung freilich keine Erscheinung; denn
das Prinzip der geometrischen Begriffsbildnng ist ein anderes
als das der Physik. Hier ist die Bedingung jeglichen Begriffs
Raum und Zeit, dort der Raum allein. Demnach bedarf es auch
einer besonderen Art der Gestaltung geometrischer Verhältnisse.
Auch sie ist eine Ausprägung der Relation »außerhalb« oder
»unabhängig von jemandem«, aber sie wird wirksam
lediglich am Raum, der Raum allein wird erlebt Nicht Er¬
scheinungen sind das Ergebnis der Erfassung, sondern Raum-
formen, Ranmgestalten. »Außer mir« und »in mir«
sind also die Arten psychischer Fähigkeit, psychischer Gestaltung.
Außer mir bedeutet eigentlich »nach außen verlegen«. Die
Möglichkeiten, nach außen gerichtet zu sein, sind so mannigfach
wie die Möglichkeiten geometrischer bezw. naturwissenschaft¬
licher Begriffsbildung. So wie die Begriffe der sogen, exakten
Wissenschaften ihrer Struktur nach eindeutig gegeneinander ab¬
gegrenzt sind, so sind es auch die Arten der »Richtung nach
außen« der Gestaltung. Sie sind eindeutig bestimmt im »Sehen»,
»Hören« und »Tasten« usw. Der Bau der exakten Wissenschaften,
ihre »Möglichkeit« fordert unausbleiblich eine Psychologie der
Sinnesorgane, eine Gestaltspsychologie. So gewiß Mathematik
und Naturwissenschaft »möglich«, so gewiß ist Gestaltspsychologie
notwendig. Beide stehen und fallen miteinander.
Das theoretische Material ist damit beigebracht, um auf
Begriff und Tatsache des Optimums näher einzugehen. »Eine
Kurve erleben« heißt ein Gestaltserlebnis haben. Einer Aufgabe
dieser Art wird genügt, wenn das Erlebte als Ganzes gewußt
wird, wenn eine »Gestalt« gewissermaßen von außen her gegeben
erscheint, wenn jemand etwas »unabhängig von sich« erlebt
Sie in diesem Sinne schaffen, kann «oviel bedeuten, wie »den
Reiz tasten«.
Gruppe I enthält optimale Gestaltserlebnisse. Gruppe TTT
liefert ebenfalls »Gestalten«. Daneben werden allerdings Ein¬
drücke geäußert, die in irgendeiner Beziehung zum Gesamtbild
stehen. Nur können sie nicht als Teile des Erlebnisses hin¬
gestellt werden.
Ganz abgesehen von der Unmöglichkeit eines Aufbans des
Erlebnisses aus Einzelteilen ist nicht zu begreifen, wie dieselbe
Scbwellenantennchangen. Theorie and Experiment.
37
Kombination von Geraden- nnd Knryenelementen einmal das Knd-
resnltat >6erade< nnd dann wieder das Besnltat »Kurve« ergeben.
Die VersQchsperson setzt die Motive der Undeutlichkeit nnd
Unsicherheit in Beziehung zu ihrem Gesamterlebnis, eben darum
stehen sie auch mit ihm in Beziehung, nur geben sie nicht
die Bedingung des Gestaltserlebnisses ab. Welches ist die
fragliche Beziehung?
Jedes Erlebnis ist gewußt, auch da, wo die Sprache nichts
dergleichen andeutet. Der Mangel einer besonderen Hervor¬
hebung des Gewußtseins mittels der Sprache macht sich haupt¬
sächlich fühlbar im Falle der Gestaltserlebnisse. Man pflegt nicht
immer zu sagen: »ich sehe diesen Gegenstand«, »ich taste ihn«,
»ich höre diesen bestimmten Akkord«; dasselbe Erlebnis flndet
seine sprachliche Elinkleidung etwa in der Form: »das ist ein
Baum«, »das ist ein Akkord« usw.
Gleichwohl gelangt in dieser Fassung das Wissen um das
Gesagte nicht minder zur Geltung wie in jener. In dem Wort
»ist« verbirgt sich zum Unterschied vom wissenschaftlichen
Urteil die Bichtung des Sprechers »nach außen«, die Richtung
des Erlebenden im Sinne der Beziehung »unabhängig von
mir«, also in gewisser Weise »für mich«, ln dem Satz wird
etwas bestimmt nicht nach theoretischen Grundsätzen, sondern
in Beziehung zum Sprecher. Etwas »ist« ein Baum in diesem
Falle, weil der Sprecher es als Baum sieht. »Ist« bedeutet hier
eine gewisse Art des Gegebenseins, nämlich »von außen für
jemanden«, es heißt »Gestalt«. Das Gestaltserlebnis besagt
demnach soviel wie: etwas »unabhängig von mir«, d. i.
in gewisser »Beziehung auf mich« erleben. «Etwas erleben«
heißt »Wissen«, etwas »unabhängig von mir erleben«
heißt wissen, daß mein Wissen nach außen gerichtet, heißt also:
um mein Wissen als um ein besonderes wissen.
Also auch da, wo im Hinblick auf ein Elrlebnis, dessen Ge-
wnßtwerden nicht ausdrücklich in Worte gefaßt wird, ist es
gleichwohl wirksam.
Die Dinge liegen jetzt so: Die Gestalt ist der psychische
Ausdruck für die Relation »außer mir«. Als solcher bezeichnet
sie eine speziflsche Leistung des Wissens. Das Gestaltserlebnis
oder die aktuelle Beziehung »außer mir« ist, wie eben nach¬
gewiesen, selbst wieder gewußt; folglich liegt auch im Gestalts¬
erlebnis das Wissen um ein besonderes Wissen vor; »Sehen«,
»Hören«, »Tasten« usw. heißt gleichzeitig wissen um das
»Sehen«, wissen um das »Hören« usw., heißt wissen um die
38
Moritz LOwi,
Bichtong nach außen, mag das Wissen um das Sehen, Tasten nsw.
an der Aussage kenntlich sein oder nicht.
Nicht der Gedanke soll ausgeführt werden, daß das Wissen
keine andere Bedingung über sich hat als wieder das Wissen;
vielmehr dies besagt das Wissen vom Wissen: Wer weiß, braucht
nicht bloß etwas zu wissen, sondern er kann auch um etwas
als Gewußtes wissen, um das gegenständliche Prinzip von
etwas wissen. Nicht allein, was erlebt wird, sondern wie erlebt
wird, fällt in der Gestalt in eins zusammen. »Wissen« ist hier
Prinzip und Tatsache zugleicL
Es wurde oben gelegentlich der Kennzeichnung verschiedener
Formen zeitlicher Gestaltung auf den Unterschied in den Relationen
»außer mir« und »in mir« hingewiesen. Ihnen gemäß verhält
sich die Gestalt etwa zur Empfindung oder zum GefühL Der
scheinbar markante Gegensatz beider Beziehungen zueinander
begründet die Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung.
Die letzten Ausführungen beleuchten die Berechtigung der
Gegenüberstellung. Weil die Gestalt ein Wissen um Gewußtes,
ein Wissen um das mir von außen Gegebene, eben darum können
beide Beziehungen >in mir« und »außer mir« unverbrüchlich
miteinander verfiochten sein.
Ein Komplex findet nicht seine psychologische Auswertung
als Gestaltserlebnis oder als Empfindung, Gefühl, Wille und dergl.,
sondern der Komplex wird methodisch angegangen, sofern er
Gestalt oder Empfindung ist.
Für die Aussagen in Gruppe I lag zunächst keine äußere
Veranlassung vor, die Theorie der Gestaltspsychologie zu ent¬
wickeln. Sachlich fallen jene Erlebnisse selbstverständlich unter
den Begriff der Gestalt Gruppe 111 dagegen drängt zur Er¬
örterung von Fragen solcher Natur. Es ist auf den ersten Blick
nicht einsichtig, wie die erlebte eindeutige Bestimmtheit mit dem
Zweifel und der Unsicherheit hinsichtlich der dargebotenen Beize
in Einklang zu bringen ist.
Die Angaben »Kurve, nicht ganz eindeutig, Mitte kurvig,
danach Endurteil Kurve« (Gruppe lU) und die Aussage »deutliche
Kurve« (Gruppe I) stehen psychologisch auf gleicher Stufe, soweit
die Frage des Optimums und das Problem der Gestalt nach Klärung
drängen; wird dagegen das Erlebnis auf seine unendliche Aktualität,
d. h. auf den Umstand hin geprüft, daß das Wissen zugleich ge¬
wußt werden kann, dann ist die erste Aussage vor der zweiten
ausgezeichnet In jener offenbart sich das Wissen um das Gestalt¬
erfassen, d. h. eben die psychische Unendlichkeit, und das wieder
Schwellenimtersachiuigeii. Theorie und Experiment.
39
ist nur eine andere terminologische Bezeichnung für die Gestalt
als Begriff der Psychologie, für die Gestalt als einen besonderen
Fall der Verflechtung von Begriff und Tatsache.
Wiederum sei auf die Abweichungen der als optimale Gestalts¬
erlebnisse charakterisierten Aussagen voneinander, also innerhalb
einer Gruppe, verwiesen. Welchen wissenschaftlichen Sinn hat
es, wenn einmal dem Erlebnis die Formulierung zukommt: »Kurve,
nicht ganz eindeutig, Mitte war kurvig; danach Endurteil Kurve«,
das andere Mal dagegen die Antwort miolgt: »Kurve, aber nicht
so ausgesprochen, mehr Welle«?
Die entsprechende Frage wurde bereits anläßlich der Be¬
stimmung der optimalen Erlebnisse (Gruppe I) erhoben, sie kann
daher in Kflrze beantwortet werden.
Gegeben ist ein Problem, es ist zugleich Frage an jemanden
oder Aufgabe für jemanden. Ans der Doppelsinnigkeit dieses
Ausgangspunktes folgt eine Betrachtungsweise der geäußerten
Erlebnisse ebenfalls in doppeltem Sinne: in ihnen muß Begriff
und Tatsache eins werden. Das Gestaltserlebnis genügt der
Forderung. Folglich gilt für die Gestalt dasselbe wie für Optimum
und »Anfgabenwechsel«: Es kann immer nur ganz bestimmte
Gestaltserlebnisse geben. Eine reine Gestalt unabhängig von
augenblicklicher Äußerung würde gerade das eigentlich psycho¬
logische Ineinander von Prinzip und Tatsache Zerfällen. Weil
— im Psychischen — Begriff, deswegen einmalig, augenblicklich.
Die Verschiedenheit der Gestaltserlebnisse ist eine Forderung,
sie ist ebenso bündig, wie die Begriffsbildnng der Physik unbe¬
schränkte Wiederholbarkeit der Erscheinungen fordert Das
Gestaltserlebnis muß augenblicklich sein, in dieser Leistung
spiegelt sich allererst sein Verhältnis zur Aufgabe. Die »wört¬
liche« Äußerung ist aber Funktion zeitlicher Gestaltung, hier
Funktion des Gestaltseindrucks. Folglich sind die Aussagen in
ihrer Verschiedenheit das Erleben des Augenblicks.
Das Erleben als Augenblicksgestaltung wird also bisher ge¬
währleistet durch folgende Begriffe der Psychologie: »Aufgabe«,
»Optimum«, »Aufgabenwechsel«, »Zeitgestaltnng«, d. i. Verstän¬
digung, »Gestaltserlebnis«, d. L Sehen, Tasten, Hören usw.
Wird im Gestaltserlebnis nur eine besondere Form der Ver¬
ständigung erkannt, so läßt sich sagen: alle Begriffe sind mit
Bezug auf eine Aufgabe, also auf ein theoretisches und gleich¬
zeitig tatsächliches Moment bestimmt. Eben deswegen bahnt
sich in ihnen eine Belationiemng des Erlebnisses an. Das Er¬
lebnis wird Relationserlebnis.
40
lloritx Löwi,
Das Merkzeichen der Aussagen in Gruppe IV ist die Gefühls-
betontheit, insbesondere die ästhetische Gefühlsbetontheit Eine
nähere Durchsicht der Angaben nach den anfgestellten Grund¬
sätzen reicht über die Ziele vorliegender Überlegungen hinaus.
Sie bedeutete, weit genüg durchgeftthrt, nichts Geringeres als
den Versuch einer Psychologie des Kunstwerks, zugleich des
künstlerischen Genusses.
Damit ist der entscheidende Punkt erreicht, von dem aus die
Beantwortung der zn Beginn der Darlegung gestellten Fragen
in Kürze vorgenommen werden kann (vgL S. 4). Sie lauteten:
1. Warum kann die experimentelle Anordnung der psychophy¬
sischen Maßmethoden keinen Einblick gewähren in die in jedem
Augenblick vorherrschende gesamte psychische Haltung der
Versuchspersonen? Die Antwort lautete: weil sie kein Mittel
haben für die Bewältigung des Erlebnisses als Gewußtes.
2. Durch welches Verfahren wird die Augenblickshaltung der
Personen wissenschaftlich festgehalten? Antwort: Durch eine
Methode, deren Begriffe zugleich Tatsachen liefern. 3. In welchem
Ausmaß ist Psychophysik möglich ? Diese Frage kann erst jetzt
nach theoretischer Erledigung des Gestaltserlebnisses beantwortet
werden: Phychophysik ist »mögliche als Gestaltspsychologie. Die
Beziehung des Physischen zum Psychischen, d. i. das Verhältnis
vom Reiz zum Erlebnis definiert sich in einer besonderen Form
des Gewußten, im Gestaltserlebnis. Die Analyse der Gestalts¬
erlebnisse ist Psychophysik, denn in ihr bemächtigt sich die
Forschung der Bestimmung von Erlebnissen äußerer Erscheinnngen.
Hier kann schließlich das früher (vgl. S. 17) zurückgestellte
Problem der Bedeutung der objektiven Bedingungen der Reize
für das Erleben seine relative Lösung finden: Gestaltserlebnisse
sind, wie wir gesehen haben, nur »möglich« mit Bezug auf Be¬
griffe der exakten Wissenschaften. Das Erlebnis der Gestalten
hat somit immer einen Bezugspunkt, der durch „Größe« aus¬
gezeichnet ist. Wird die Gestalt erlebt, dann ist auch allemal
die Besonderheit der Größe angebbar. Nicht aber, weil etwas
eine bestimmte Größe hat, tritt ein bestimmtes Gestaltserlebnis
ein. Der Kansalnexus hat hier keine Stelle. Es muß heißen:
mit Bezug auf die und die Größe ist ein Erlebnis durch be¬
stimmte psychologische Motive gekennzeichnet. Diese Daten
sind aufzndecken. Die Auseinandersetzung mit der Psycho¬
physik ist damit geschlossen.
Noch nicht erledigt aber sind die zn diesem Behuf unter¬
nommenen Schwellenbetrachtungen. Die Gruppe m der Aussagen
Schwellenimtersachtingen. Theorie und Experiment.
41
konnte als Zusammenfassung optimaler Erlebnisse gelten, erforderte
aber im Vergleich zu den Optimalerlebnissen in Gruppe 1 die Ent*
Wicklung des Gestaltsproblems.
vn.
Die Darlegungen über das Gestaltserlebnis gipfelten in dem
Hinweis auf die unendliche Komplexion des Erlebnisses, auf die
unlösbare Verklammerung von innerer und äußerer Erfahrung,
wie sie von der beherrschenden Gmndbeziehung jedes Erlebnisses,
des Wissens um das Wissen gefordert wird. Mag sich nach dem
Wortlaute der Aussage jene qualitative Unendlichkeit ankflndigen
oder nicht, der Theoretiker und Experimentator hat damit zu
rechnen, daß jederzeit auch die Aussage die denkbar kompli¬
zierteste Form annehmen kann.
Freilich erschweren die in der komplexen Aussage bunt durch¬
einander laufenden Elrlebnisse das Herausschälen der gesuchten
Tatsachen. Schon oben (vgl. S. 24) geschah jenes Umstandes Er¬
wähnung, daß die aufgabengemäße Leistung der Versuchsperson
durch das Überwuchern mannigfacher sie begleitender Erlebnis¬
momente an methodischem Belang abgeschwächt wird, ja daß
sie infolgedessen häufig überhaupt nicht mehr in Erscheinung
tritt. Für die Psychologie wurde der Sachverhalt fruchtbar ge¬
macht im BegrifE des Aufgabenwechsels.
Nunmehr seien noch jene Fälle erwähnt, in denen von einer
der Aufgabe eindeutig entsprechenden Leistung gesprochen werden
muß, dieses Verhalten aber zugleich von den mannigfachsten Äuße¬
rungen des Seelenlebens umrahmt ist. Folgende Versuchsreihen
illustrieren die Sachlage:
Yersnchsanordniing: 6 gleich große, gleich anssehende, hSlxeme
innen mit Gewichten beschwerte Kästen. Gmndgewicht 872 g, Vergleichs-
gewichte 1322, 828, 585, 465, 852 g (das Gmndgewicht wnrde ans bestimmten,
hier nicht näher zu erörternden Gründen nicht immer anch als Vergleichs-
gewicht benutzt).
Instruktion: Die Versuchsperson wird aufgefordert, mit der rechten
Hand (bei Rechtshändern) erst das vor ihr stehende linke Gewicht, darauf
das rechte Gewicht einmal zu heben, darauf zu senken.
Reihe I. Nr. 1. Reize: Gmndgewicht 872g, Vergleichsgewicht 1822g.
Versuchsperson: Priratdozent Dr. St.
Aussage: Als ich den Kasten hob, war ich Überrascht über die Leich¬
tigkeit und merkte, daß ich einen übermäßigen Kraftaufwand bereit hatte.
Bevor ich den zweiten hob, schwankte ich zunächst in der Erwartung, oh
er anch leicht sein würde, oder ob er im Gegensatz sehr schwer sein würde.
Die letztere Erwartung wnrde noch Überboten, ich fand ihn sehr schwer.
Es kam mir der Gedanke, wie viel mal schwerer er wohl sein mOcbte. Ich
42
Moritz Löwi,
yermutete, daß er vielleicht drei- oder yiermal so schwer sein müßte. Ans
vagen psychologischen Überlegnngen hatte ich bereits das Gefühl, mich zn
tänschen.
Nr. 2. Beiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Ans sage: Ich vermnte, daß es derselbe leere Kasten ist, den ich mit
derselben Überraschnng wieder gehoben hatte, der andere Kasten erschien
mir erheblich schwerer als der leere, aber höchstens halb so schwer wie der
entsprechende beim ersten Experiment.
Nr. 3. Reiz: Vergleichsgewicht 558 g.
A n s 8age: Die Überraschnng war diesmal beim Heben des ersten Kastens
sehr gering, bei dem zweiten Kasten hatte ich das Gefühl, es wäre der
gleiche Kasten wie beim zweiten Experiment.
Nr. 4. Beiz: Vergleichsgewicht 465 g.
Ans sage: Beim ersten Kasten fand ich eine kleine Znnahme an Ge¬
wicht gegenüber den früher znerst gehobenen Kästen. Beim zweiten er¬
wartete ich eine Veränderung des Gewichtes, konnte aber keine feststellen
gegenüber 2 nnd 3.
Nr. 5. Reiz: Vergleichsgewicht 352 g.
Anssage: Beim ersten Kasten glaubte ich eine ganz unerhebliche Ge¬
wichtszunahme zn beobachten, beim zweiten war ich überrascht über die
Leichtigkeit im Vergleich zur Schwere des linken Kastens (Nr. 2) in den
früheren Experimenten. Ich konnte mir aber nicht klar werden, welcher
von den beiden Kästen leichter ist.
Reihen. Reize: Grnndgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 828, 828,
828, 828, 372 g.
Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Anssage: Den ersten Kasten hob ich ohne erhebliche Überraschnng,
denn ich erwartete, daß es mal anders wäre; ich glaube es ist der schwerste,
den ich bis jetzt gehoben habe; der zweite erschien mir erheblich leichter,
kaum mehr als die Hälfte.
Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Anssage: Vielleicht mitbestimmt durch die Schnelligkeit der Wieder¬
aufnahme des Versuchs, glaubte ich dieselben Gewichte vor mir zn haben.
Nr. 3. Beiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Anssage: In der Ansicht, es müßten nun andere Gewichte sein, stellte
ich dieselben Gewichte noch einmal fest. Es schien mir unmittelbar nach
dem Heben, als wäre doch das erste etwas schwerer als das erste im vor¬
hergehenden Experiment.
Nr. 4. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Aussage: Das ist wieder dasselbe.
Nr. 6. Reiz: Vergleichsgewicht 372 g.
Aussage: Das rechte glaubte ich wiederznerkennen, mit ausgesprochenster
Überraschung und mit übermäßigem Impuls hob ich den leeren Kasten. Ich hatte
den Eindruck, als wäre diese Überraschung vom Versuchsleiter beabsichtigt,
nnd fühlte mich angeführt.
Reihe III. Reize: Grnndgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 378, 828 g.
Reiz: Das Grnndgewicht von 1322 g, danach das Vergleichsgewicht
von 378 g werden abwechselnd fünfmal gehoben nnd gesenkt. Nach der
sechsten Hebung nnd Senkung des Grnndgewichtes hebt die Versuchsperson
das Verglcichsgewicht von 828 g.
Schwellenmitersachiuigen. Theorie and Experiment.
43
Anssage: Dnrch die Nenartigkeit der Anordnung war ich anf nichts
Bestimmtes gefaßt and erkannte das schwerste mir bisher begegnete Ge¬
wicht wieder. Ich dachte auch bei dem zweiten Gewicht an nichts Be¬
sonderes and empfand nar im Arm einen starken Gegensatz beim Heben
der zweiten Eiste. Beim zweiten Vergleich kam mir die leichtere viel
schwerer vor als beim erstenmal Heben. Ich erwartete, daß beim dritten,
vierten and fünften Versnch sich dieses Geftthl ändern wttrde, and war Über¬
rascht, daß sie mir nar dauernd schwerer vorkam als beim ersten Heben.
Der dritte Kasten schien mir in der Mitte zwischen beiden za liegen.
Versachsanordnung: Dieselbe.
Reihe IV. Reize: Grandgewicht 1822 g, Vergleichsgewichte 828, 558,
466, 852, 1822 g.
Versuchsperson: Stadienassessor J.
Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Aussage: Das zweite ist leichter, ziemlich bedeutend.
Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 558 g.
Aussage: Das zweite ist ganz bedeutend leichter, so leicht, als ob
ttberhanpt nichts drin wäre. Das erste erschien mir ongefthr so wie beim
vorigen Versnch das zweite.
Nr. 8. Reiz: Vergleichsgewicht 465 g.
Aussage: Das zweite vrieder ganz bedeutend leichter; and zwar ge¬
nau so wie vorhin das zweite, nämlich leer. Der Abstand zwischen beiden
erschien mir deshalb großer, weil anch das erste Gewicht mir schwerer
vorkam als alle vorher gehobenen.
Nr. 4. Reiz: Vergleichsgewicht 852 g.
Aussage: Das zweite ist wieder ganz bedeutend leichter, ich denke,
daß das wieder der leere Kasten war. Das schwerere kommt mir vor wie
das schwerere aus dem vorletzten Versuch.
Nr. 5. Reiz: Vergleichsgewicht 1822 g.
Aussage: Das zweite ist einen ganzen Teil schwerer, vom ersten weiß
ich nicht, ob es das vorhin als schwerstes bezeichnete war, oder das schwerere
aus Versuch 4 und 2.
Reihe V. Reize: Grandgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 352, 828,
465, 558, 1322 g.
Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 352g.
Aussage: Das zweite ist wieder das leere, die Differenz zwischen beiden
kam mir etwas geringer vor als in den bisherigen Versuchen. Die Schätzung
der Differenz ist etwas unsicher, weil ziemliche Zeit zwischen den vorigen
Versuchen und den jetzigen vergangen ist. (Zwischen dem letzten Versuch
der vorigen|Reihe und dem vorliegenden Versuch lag eine Pause von 20 Minuten.)
Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g.
Aussage: Das zweite ist wieder leichter, aber es ist nicht das leere
Kästchen; die Differenz zwischen beiden ist verhältnismäßig gering; geringer
als die Differenz bei Versuch 5 der vorigen Reihe. Ich glaube, daß die
niedrige Einschätzung der Differenz damit zusammenhängt, daß ich beide
Gewichte als von mittlerer Schwere empfunden habe.
Nr. 8. Reiz: Vergleichsgewicht 465 g.
Aussage: Das zweite war wieder das leere Kästchen. Mit »leer« be¬
zeichne ich einmal dasselbe Kästchen, welches ich früher so benannt habe,
sodann komme ich vbn dem Eindruck nicht los, daß wirklich nichts drin ist.
44
Morit£ Lflwi,
Nr. 4. Beil: Vergleichsgewieht 558 g.
Aussage: Das erste kam mir recht schwer vor. Das zweite wieder
als das leere.
Nr. 5. Beil: Vergleiehsgewicht 1822 g.
Aussage: Hier bin ich im Zweifel. Ich verglich unwillkürlich dsm
Gewicht des ersten mit den yorangegangenen; kam zu dem Ergebnis; »et^as
schwerer«, erwartete vom zweiten Kästchen ein geringeres Gewicht und
wurde wohl durch die Überraschung, dafi es auch schwer war, an der Schätzung
gehindert.
In den ersten beiden Reihen drängt sich fast in jedem Ver¬
such der Versuchsperson die Wirksamkeit der Überraschung auf.
Nach dem gangbaren Verfahren in der experimentellen Psycho¬
logie würde hierin ein Einfluß der Aufmerksamkeit auf die Schätzung
zu erblicken sein. »Überraschung« würde sie als sogen, »innere Be¬
dingung« der Aufmerksamkeit ansehen. Daher würde in dem ge¬
schilderten Verhalten der Versuchsperson eine Auswirkung der
Aufmerksamkeit liegen. Aufmerksamkeit wird dort zum Prinzip,
zur Erklärungsweise für die Ungenanigkeit der Schätzung, ln
unserem Verfahren wäre sie für einen bestimmten Augenblick in
der Schätzung bezeichnend. Sie müßte selbst Problem werden
und würde damit zugleich als Tatsache gewonnen. Ebenso er¬
fährt der Tatbestand der Überraschung mit Bezug auf die Auf¬
gabe einen eindeutigen Sinn. Nur im Hinblick auf sie ergibt sich,
was hier »Überraschung« ist, und weil mit Bezug auf die Auf¬
gabe, deswegen wird sie zum Augenblicksausdruck. Ein erstrebens¬
werteres Ziel aber, als den Augenblick des Erlebens festzuhalten,
kann es für die Psychologie nicht geben.
Wieder ist zu beachten: auf dem Boden der Psychologie ist
es unmöglich zu fragen: was ist Überraschung? Die Frage hat
zu lauten: was ist in einem gegebenen Falle Überraschung?
Was ist jemandes Überraschung?
Der Versuch, das psychologische Problem der Überraschung
bis ins einzelne durchzuführen, kann hier nicht unternommen
werden. Er würde eine eigene Untersuchung beanspruchen. Da¬
gegen kann der Weg zur Lösung in seinen entscheidenden
Punkten markiert werden.
Zunächst ist das intensive Hervortreten des Motivs der Über¬
raschung seitens der Versuchsperson gleichzuachten mit »Auf¬
gabenwechsel«. Für die besondere psychische Erscheinung der
Überraschung ist damit noch nichts gewonnen. »Anfgabenwechsel«
ist alles, was der methodisch gestellten Aufgabe nicht entspricht.
Soll aus dem Aufgabenwechsel begriffen werden, was jemandes
Überraschung ist, so muß jener Begriff sich determinieren, ähnlich
Schwellenantersachangen. Theorie und Experiment.
45
wie derjenige des Optimoms gegebenenfalls sich znm Gestalts¬
erlebnis wandelt oder wie am Anfgabenwechsel die Bedentnngs-
betontheit des Erlebnisses sich erbfEnete.
Keine andere Wissenschaft liefert bezüglich solcher Begri&-
entfaltnng Anhaltspunkte znm Vergleich. Das Übergehen der
Begriffe etwa der physikalischen Optik in die der Elektrodynamik
geht nach gmndsätzlich anderen Prinzipien vor sich wie die
Abwandlung vom Optimum zur Gestalt. Jede optische Er¬
scheinung erfährt ihre elektrodynamische Deutung, soll sie
wenigstens erfahren; aber nicht jedes optimale Verhalten wird
als Gestaltserlebnis definiert. Eine optische Erscheinung bleibt
optisch, mag sie sich noch so oft wiederholen; das optimale Ver¬
halten bleibt nicht notwendig optimal. . Es »bleibt« überhaupt
nicht, es wiederholt sich nicht, weil es aufgabengemäß ist.
Die wissenschaftliche Bedeutung vom »Aufgabenwechsel«
ist, wie sich nachweisen ließ, der konkrete Ablauf psychologischer
Forschung. Etwas als Aufgabenwechsel oder aus ihm begreifen,
ist nur ein anderer Ausdruck für das Erfordernis einer neuen
Fragestellung. Nur unter der Bedingung einer der Zeit nach
bestimmten Frage determiniert sich hier im Gegensatz zur Natur¬
wissenschaft der Begriff. So nur geschieht der Doppelnatur des
Aufgabenwechsels Genüge. Weil die Frage auf Psychisches geht,
wird der Aufgabenwechsel Begriff; weil sie aber auf das Ge¬
wußte als etwas Bestimmtes zielt, deswegen ist er Tatsache.
Er ist beides zugleich, weil das Wissen nur als Gewußtes möglich.
Die neue Frage muß demnach einmal auf die Angabe der
Überraschung während der Gewichtshebnng gehen, sie muß
zweitens diese Aufgabenlösnng in unteilbarer Verbindung mit
dem Wissen um die Lösung, d. i. in ihrem Bezug auf das Ver¬
stehen, auf die »Gestaltung« der Aufgabe in Angriff nehmen.
Mit Bezug auf die bestimmte Aufgabe der Gewichtshebung
wird die neue Fragestellung von folgenden Überlegungen geleitet:
Die Aufgabe der Gewichtshebung löste im Falle der Überraschung
das Wissen aus, der Aufgabe nicht genügt zu haben. Die Ver¬
suchsperson weiß, daß sie die Aufgabe nicht s o verstanden hat,
wie sie sie hätte verstehen sollen. Sie ist in diesem Verstehen
um die Lösung auf die zeitlich vorhergegangene Aufgabe ge¬
richtet Sie ist aber im Verständnis der Aufgabe auf die
zeitlich folgende Lösung gerichtet Sie spricht ausdrücklich
von Überraschung mit Bezug auf bestimmte Erwartungen, die
sich ans dem Verständnis der Aufgabe für sie ergaben. Die
Angabe kann also als »Erwartetes« bezeichnet werden, die
46
Moritz Löwi,
Lösung als »Gehabtes«. »Überraschung« bedeutet somit für die
Versuchsperson, das »Erwartete« und das »Gehabte« nicht in
Einklang bringen zu können. Es gelingt ihr nicht, das Wissen
in verschiedenen Zeitpunkten in einen einzigen Zusammenhang
zu bringen, als in ein und derselben Weise als Gewußtes zu
erkennen. Es ist also die Aufgabe, die Überraschung jemandes
als Wissen, als Wissen vom Gewußten, als Begriff und Tatsache
zugleich zur Darstellung zu bringen. Die Tatsache des Gehabten
in ihrem Fnnktionalverhältnis zur wissenschaftlichen Aufgabe,
d. i. in Beziehung zum »Erwarteten« ist ja dasselbe wie das
Erlebnis als Gewußtes, dasselbe wie das Erlebnis in seinem
Gegenstandswert »Überraschung« ist ein echter psychologischer
Begriff, weil er Tatsache fhr jemanden ist.
In solchen Erwägungen sind die Bedingungen für eine Ver*
Suchsanordnung zu experimenteller Aufnahme des Überraschungs*
erlebnisses gelegen. Der Experimentator hat für eine bestimmte
Einstellung bei der Versuchsperson Sorge zu tragen. Er muß
zu der Annahme berechtigt sein, daß seine Versuchsperson eine
bestimmte Erwartung »hat«. Müller beschreibt die experi¬
mentellen Bedingungen für die En'eichnng einer bestimmten Ein¬
stellung^). Er schickt zwei motorische Impulse, welche hinsichtlich
der Intensität in bestimmtem Grade verschieden sind, dem Arm
zu. Bei häufiger Zusendung beider Impulse stellt sich die Ver¬
suchsperson in bestimmter Weise auf die Hebung ein. Je größer
die Anzahl der Einstellungsversuche, desto anhaltender wird die
Einstellung. Je nach der Wahl des Intensitätsunterschiedes der
Impulse wird auch die Einstellung entsprechend bestimmt M. a. W.
es kann grundsätzlich jede beliebige Einstellung ansgelöst werden.
In unserem Fall soll der Effekt grundsätzlich eine und nur
eine Einstellung auf seiten der Versuchsperson sein, jene Ein¬
stellung, auf Grund deren die Versuchsperson den Eindruck der
Überraschung hatte. Es sind nicht die Bedingungen gesucht,
die eine bestimmte Einstellung zur notwendigen Folge
haben. Der Experimentator hat vielmehr zu fragen: welches
sind jene Bedingungen, auf Grund deren die Versuchsperson den
Eindruck der Überraschung hatte und deswegen muß haben
können! Bei Müller muß es sich um physische Bedingungen
handeln, hier — sagen wir kurz — um »gehabte« Bedingungen.
Der Experimentator darf ein zukünftiges Eintreten der Über-
1) G. E. Müller and Fr. Schnmann, Über die psychologischen Grund¬
lagen der Vergleichnng gehobener Gewichte; Pflügers Archiv Bd. 45 S. 37.
SchwellennntersTichnngen. Theorie nnd Experiment.
47
raschnng yermnten, wenn er diejenige Angenblickssituation zurück'
rufen kann, welche die Versuchsperson früher unter dem Gesamt-
eindmck der Überraschung zu überblicken, zu gestalten vermochte.
Die Aufgabe lautet also; Gewichtshebnng. Es werden die¬
selben Gewichtspaare dargeboten. Wiederum wü*d der der Ver¬
suchsperson besonders leicht erscheinende Kasten als erster
gehoben, darauf der schwerste. Es dürfen vorher keine Ein-
stellnngsversuche angestellt werden, denn der Überraschnngs-
eindmck trat früher sofort bei der ersten Hebung ein. Der
Wegfall der Einstellungsversuche ist eine Bedingung. Erforder¬
lich ist in demselben Sinne ein »erster« Versuch wie in der ur¬
sprünglichen Versuchsreihe. Dadurch besteht die Möglichkeit,
dieselbe Einstellung hervorzumfen.
Freilich ist mit der Befolgung der genannten Vorschriften
die frühere Situation noch nicht hergestellt. Aber in ihnen ist
ein sicherer Ausgangspunkt für das experimentelle Verfahren
gewonnen. Selbstverständlich kann zunächst der erwartete Effekt
ansbleiben. Aber die Versuchsperson macht ja Angaben. In
ihnen wird dem Versuchsleiter die Richtung gewiesen für die
Verwirklichung seiner Absicht. Er versteht die Aussagen, er
setzt sie darum mit den früher abgegebenen Antworten in Be¬
ziehung. Daraus schöpft er neue Richtlinien für die Durch¬
führung seines methodischen Planes. Er legt sich folgende Frage
vor: Wenn die Versuchsperson früher unter bestimmten Be¬
dingungen den Überraschungseindruck hatte, jetzt unter gleichen
Bedingungen von einem anders gearteten Erlebnis spricht, wie
sind die Bedingungen zu korrigieren auf Grund der Kenntnis
von der Versuchsperson, um den gewünschten Effekt zu erzielen?
Die Berufung auf die »Personenkenntnis« ist keine Ausflucht,
sondern weist nach allen Darlegungen auf einen wohlgegliederten
Begriff. Er ist die Bezeichnung für die das Psychische aus¬
zeichnende Relation, daß das Verstehen des Gewußten zugleich
das Verstehen von der Art des Wissens um das Gewußte sein
kann. Dies ist allemal der Fall, wenn der Verstehende aus
Prinzipien begreifen muß, wenn er Experimentator ist. Indem
er die Art des Wissens zum Gegenstand hat, verdichtet sich
ihm die Kenntnis von den das Wissen bestimmenden Beziehungen
zur Kenntnis der Person.
So wird die Personenkenntnis ein regulatives Kriterium für
die Auswahl bezw. Abänderung der experimentellen Bedingungen.
Sie ermächtigt den Versuchsleiter zu der begründeten Annahme,
48
Moritz LOwi,
daß der gewünschte Effekt »möglicherweise« eintritt, wenn
gewisse Bedingungen erfüllt sind.
Gestützt wird das Sachen nach entsprechenden Bedingongen
noch durch einen anderen theoretischen Umstand. Die Aus¬
sagen, mögen sie von methodischen G^ichtspunkten beherrscht
sein oder nicht, stehen im Dienste wechselseitiger Verständigung.
Wer von »Überraschung« spricht, muß voranssetzen, daß der
Angeredete denselben Sinn mit dem Worte verbindet wie er,
daß er ihn wenigstens verbinden kann. Ebenso muß der An¬
geredete von der Voraussetzung aasgehen, daß er den Sinn in
dem Wort »Überraschung« trifft, den der Anredende in es
legt Jedes Wort hat also einen bestimmten Sinn für die Ver¬
ständigung. Es bietet ebenfalls eine — wenn auch nur unter¬
geordnete — Handhabe zur Aufstellung derVersuchsbedingungen.
Die mit Reihe n bezeichneten Versuche weisen unter Nr. 5
einen Fall auf, in dem sich ein nach den beschriebenen Prin¬
zipien gewonnener Überraschungseindruck darstellt In Reihe UI
wird trotz fünfmaliger Hebung derselben Gewichte bei plötz¬
licher Abänderung äußerer Bedingungen von keinerlei Über¬
raschung mit Bezug auf die neuen Verhältnisse gesprochen.
Dieser Versuch spricht gegen die Einstellungsversuche in
der Psychologie. Unter physiologischen Voraussetzungen be¬
deutete natürlich ein einziger Versuch keine Gegeninstanz. In
der Psychologie dagegen soll ja jedes Erlebnis in seiner Einzig¬
keit, in seiner AugenbUcklichkeit gewahrt werden. In seiner
Vereinzelung allein hat das Erlebnis sein Recht; die einzelne
Reaktion ist dagegen nur ein Fall, an dem sich die Gesetz¬
mäßigkeit für alle Fälle aufweisen läßt Bewährt sich an einem
besonderen Falle die Gesetzmäßigkeit nicht, so ist darum die
Theorie noch nicht verbesserungsbedürftig; es wären höchstens
die Ursachen für die Abweichung vom Gesetz aufzusuchen. In
der Psychologie aber hat jedes Motiv seine Theorie. Die Psycho¬
logie kennt keine Abweichung vom Gesetz, weil hier »Gesetz«
kein naturwissenschaftlicher Begriff ist. Eben darum verliert
der Einstellungsversuch seine Bedeutung.
In der angedeuteten Bahn müßte die Lösung des Problems
der Überraschung verlaufen.
Die Betrachtungen zu diesem Thema waren, wie wir uns
erinnern, durch folgende Gedanken angezeigt: Das Erlebnis ist
»aktuell unendlich«, es sind in ihm alle »möglichen« Sinnbezüge
anfgenommen. Der wörtliche Ausdruck der Aussagen braucht
nicht immer das Bild mannigfach miteinander verstrickter psy-
Schwelleimatennchaiigen. Theorie and Experiment.
49
chischer Begangen zn bieten. Einen Beleg hierza geben die
einfachen Anssagen der Protokolle über Erümmnngserlebnisse
ab. Die Aussagen können aber jederzeit trotz Anfgaben-
erfflUnng die scheinbar entlegensten Motive zutage fördern. Mit
Hilf e des psychologischen Begriffs vom >Aufgabenwechsel< sind
sie auf wissenschaftlich einwandfreie Weise ans dem Ganzen
des aktuell unendlichen Denkkomplexes herauszuheben. Der
Aufgabenwechsel determiniert sich, es werden neue psychologische
Begriffe gewonnen. So wie in dem herangezogenen Falle das
Überraschungserlebnis als psychische Begleiterscheinung der Auf-
gabenerfflllnng eintrat und auf Grund der Relationsnatur des
Erlebnisses durch die ihr entsprechende BegriffsbUdung wissen¬
schaftlich bewältigt werden kann, so jedes andere Begleitmotiy,
mag die Aussage noch so kompliziert sein.
Im übrigen sind auch der Ansdrucksmöglichkeit Grenzen ge¬
setzt Sie leiten sich her aus der notwendigen Ausdrucks-
beziehung des Erlebnisses. Wer einer bestimmten Aufgabe
gegenübertritt, dessen Angaben müssen durch die Bichtang auf
die Aufgabe bestimmt und damit auf umschriebene Weise sinn¬
voll sein. Häufen sich aufgabenwidrige und insoweit sinnlose
Angaben, dann ist nach den sie bedingenden »Hindemissenc zu
fragen, und es rollt sich möglicherweise das Problem der
»seelischen Krankheit« auf. Dann spinnen sich die Fäden zwischen
Psychologie und Psychiatrie an.
Aus der Aufgabenbezogenheit des Seelischen wird ersichtlich,
warum einmal aufgetauchte Begleitmotive sich immer von neuem
ins Bewußtsein drängen. In Beihe IV und V kommt die Ver¬
suchsperson von dem Eindruck des »Leeren« mit Bezug auf einen
Kasten nicht los. Beide Kästen waren belastet Ebenso kommt
das Begleitmotiv der Überraschung in Beihe I bis ni immer
wieder zum Durchbruch. Es ist also nicht so, daß die Aus¬
sagen Komplexe bunt durcheinander gewürfelter Begangen wider¬
spiegeln. Das ändert, wie wir gesehen haben, nichts an der
für das Erlebnis entscheidenden Beziehung der »aktuellen Un¬
endlichkeit«.
Eine gedrängte Zusammenfassung der Ergebnisse der unter¬
nommenen Schwellenantersuchung führt zu folgendem Gesamtbild:
Schwelle ist ein Relationserlebnis, denn sie wird greifbar in
der Beziehung des »noch-nicht«, »nicht-mehr« und »ebenmerk¬
lich«. Aus solcher Struktur folgt die Betrachtungsweise der
Schwelle unter dem Gesichtspunkt der Au^be. Die Aufgabe
Archiv fCbr Psychologie. XLVm. 4
50 Moritx LOwi, Schwellenmitersiichiiiigeii. Theorie and Experiment.
wird jemandem von jemandem gestellt Sie wird von beiden
Seiten gedacht, d. h. sie ist Erlebnis; aber sie wird nach Prin¬
zipien gestellt, d. h. sie ist zugleich wissenschaftliche Auf¬
gabe. Der Elxperimentator beschreibt nicht, sondern, indem er
die Aussagen im Zusammenhang mit dem vorliegenden Problem
versteht, gestaltet, nimmt er Begriffsbildung vor. Er löst mit
der Begriffsbildung die Frage, was sein Versuchsobjekt im Augen¬
blick »gemeint haben muß«. Der Elzperimentator weiß also die
Aussagen als »gewußte«, er ergreift die Erlebnisse in ihrer
Gegenständlichkeit Begriffsbildung heißt hier zugleich Tat¬
sachengewinnung. »Aufgabe«, »Optimum« und »Anfgabenwechsel«
sind die allgemeinsten Gebilde dieser Art Je nach ihrem be¬
sonderen Gehalt determinieren sie sich. Im Falle unserer Unter¬
suchung wurden an ihnen und ans ihnen das Bedentungserlebnis,
das Gestaltserlebnis und das Überraschungserlebnis entwickelt
Es sind Begriffe der experimentellen Psychologie. Denn in ihnen
werden die Motive als Tatsachen allererst begriffen.
Wie sind Begriffe als Tatsachen oder Tatsachen als Begriffe
möglich? — Sie sind in dem gleichen Sinne »möglich«, wie
der Begriff der Gegenständlichkeit möglich ist. D. h.;
nie kann nach dem Grunde solcher Begriffe, sondern stets nur
nach ihrer Struktur gefragt werden. Der Versuch, Gegenständ¬
lichkeit begründen zu wollen, übersieht in der Frage nach
der »Möglichkeit« das Walten der Gegenstandsfunktion. In
jenem Versuch wird die Universalität des Gegenstandsbegriffs
verkannt Oder anders gewendet: Der mit Gegenständlichkeit
unausweichlich verknüpfte Begriff der Einzigkeit wird in
dem Versuche einer Begründung der Gegenständlichkeit ver¬
nachlässigt. Weil aber »einzig«, darum bedeutet der Begriff vom
Gegenstände zugleich Tatsache. Gegenständlichkeit begründen
zu wollen, heißt den Begriff des Gegenstandes und sein Ver¬
hältnis zur Tatsache verfehlen. »Möglichkeit« von Begriffen,
die zugleich Tatsachen bezeichnen, bedeutet niemals Begrün¬
dung. »Möglichkeit« von Begriffen, die zugleich Begriffe von
Tatsachen sind, fordert eine immer erneute Festlegung der Gegen¬
ständlichkeit als universaler, als einziger, als Tatsache. Die
voneinander unterschiedenen Arten solcher Bestimmung, das eben
sind Begriffe als Tatsachen. Begriffe als Tatsachen sind »mög¬
lich« als Gegenstandsbezüge, als Ausprägungen der Gegenständ¬
lichkeit. Diese Ausprägungen heißen psychische Auhernngen.
Die Begriffe der Psychologie sind notwendig, d. i. »möglich« wie
der Begriff der Gegenständlichkeit selbst.
Tafel
Fig.I.
Fig.2.
I:3J natOrl. Qr.
naiOrl. Qr.
♦ ♦♦♦♦♦♦♦ +
abcdefghi kl m n o p
52
Moritz LQwi,
A«h>«g nun ersten Teil.
Protokollanszttge ans den üntersnchnngen znr
KrilmmnngBsch welle.
(Die Abkftrsnngen bedenten: Yl. = Versnehsleiter, Yp. = Yersnchsperson,
r. — Badins in cm, Btg. •= Biehtnng, L—r. = von links nach rechts vom Yer-
snchsleiter ans, Fldst. — Feldstelle, 11. M. Uber Mitte, n. M. nnter Mitte,
M. = Mitte, das Zeichen od = Gerade, Zt. = Zeit.)
Datnm
Nr.
Yl.
Vp.
r.
Btg.
Fldst.
Zt.
Anssage
6.1.21
1
Dr.
Dr.
QD
l.-r.
M.
0.8
Wellige Gerade, ich hatte aber die
J.
L.
Überzengnng, es werde eineKnrre
werden.
2
»
n
5.5
n
tt. M.
1.0
Fische Enrre.
8
n
II
5.5
n
M.
2.5
Kurve mit Haken.
4
1»
n
5.5
r.-l.
II
8.0
Sehr nngleichmäflig, anch in der
Zeit.
5
1»
n
5.5
II
n
2.0
Sehr gute glatte Kurve, link«
höher hinauf, Druck könnte stär¬
ker sein.
6
M
n
5.5
l.-r.
II
1.8
Gnt als Enrre empfnnden, kleiner
Haken.
7
II
II
8.5
r.-l.
II
2.7
Welle.
1
B.
j.
8.5
n
tt.M.
2.0
Zweifel, ob Enrre oder Gerade.
2
fl
II
8.5
n
II
1.8
Enrre, ganz dentlich empfnnden.
3
n
n
8.5
L—r.
M.
2.6
Sehr dentliche regelm&fiige Enrre;
größere Langsamkeit des Tempos
dentlich empfnnden.
4
II
n
8.5
r.—1.
II
2.4
Als Kurve undeutlicher als V 8.
5
II
n
8.5
L-r.
n
2.8
Kurve, sehr gut empfunden.
6
n
n
8.5
r.—1.
n
2.6
Kurve, deutlicher Haken am
Schluß.
7
n
n
00
II
n
1.9
Unsicher, ab Derade oder Kurve;
ich habe Gerade erwartet.
8
n
II
00
L—r.
w
2.8
Kurve, flach, zittrig gegeben.
9
n
n
00
r,-l.
a. M.
2.7
Kurve, nach unten geöffnet, bei
Beginn Haken.
II[]
n
n
00
l.-r.
n. M.
2.0
Unsicher, ob Kurve oder Gerade.
7.1.21
1
j.
L.
14
II
M.
0.9
Kurve ausgesprochen.
2
n
n 1
15.5
r.—1.
n. M.
1.0
Dentliche (Gerade.
8
11
n
14
n
0. M.
1.4
Kurve, aber nicht so ausgespro¬
chen, mehr Welle.
4
n
»
14.5
L—r.
M.
1.2
Genaue Gerade.
5
II
n
12
II
n.M.
2.0
Unsicher, ob krumm oder gerade;
etwas schräge Gerade.
6
n
fl
00
r-1.
M.
2.2
Zittrige schräge Linie, unsicher,
ob Gerade oder Kurve.
7
n
n
9.0
L-r.
II
2.0
Kurve.
8
II
II
11.6
r.-l.
n. M.
2.0
Erst Gerade, dann leise gewölbt,
schräg liegend.
Scbwellenantersnchongen. Theorie und Experiment.
53
Datum
Nr.
VL
Vp.
B
zt.
Aussage
7.1.21
9
J.
L.
12
1.—r.
M.
1.8
Karre sicher.
10
fl
II
12
fl
mH.
0.7
Ausgesprochene Gerade.
11
fl
If
12
fl
M.
1.0
Ausgesprochene Kurve, erst flach.
12
n
fl
II
fl
1.0
Ganz flache Kurre, nicht genan
feststellbar, ob schlechte Knire
oder zittrige Gerade.
18
n
fl
QO
II
11
2.1
Ideale Gerade.
14
fl
fl
12
fl
11
2.0
Flache Kurve.
15
fl
II
QD
fl
fl
1.7
Zuerst für Gerade gehalten, dann
als hinanfgehend empfunden.
16
II
II
15
fl
tt. M.
1.9
Ausgesprochene Welle, snerst
kleine Kurve. (Yp. angeblich schon
milde.}
10.1.21
1
II
fl
15
n
fl
1.0
Kurve ausgesprochen, rechts etwas
ansgebuchtet.
2
II
fl
00
n
M.
1.6
Flache Kurve.
8
n
fl
1.5
fl
n
2.0
Klar und deutlich als Gerade.
4
n
fl
15
n
tt. M.
1.0
Flache Kurve, gut empfanden.
6
n
fl
16
n
fl
2.9
Ganz aasgesprochene Gerade.
6
fl
fl
16
fl
fl
1.0
Kurve, sehr gut empfanden.
7
fl
II
GO
II
II
1.8
Gerade, sehr gut empfanden.
8
II
II
16
II
II
1.2
Ganz flache Kurve. (Vp. wünscht
Pausen.)
9
»
II
15
fl
II
1.0
Wie eine Gerade, Zweifel, Anfang
ein wenig gewOlbt.
23.2.21
1
n
n
12.5
n
M.
1.0
Flache gute Kurve.
2
II
II
11.5
fl
fl
1.0
Gute Kurve, tiefer gewOlbt.
8
n
II
13.1
fl
II
1.0
Wieder eine Kurve. In bezug auf
die Tiefe kann ich sie nicht mit
der anderen vergleichen.
4
II
n
12.5
n
II
1.0
Zuerst dachte ich, es werde eine
flache Kurve; dann wurde es eine
Gerade.
6
II
n
’ß.6
II
II
1.9
Gerade, sehr langsam gezogen.
6
n
fl
12.5
fl
n
0.8
Flache SinusUnie.
7
fl
fl
8.5
n
11
2.0
Langsam gezogene Gerade.
8
fl
fl
12.5
II
n
0.9
Ganz flache Kurve, zuletzt wurde
es eine Gerade.
9
II
fl
8.5
fl
fl
1.8
Zuerst nach oben offene, dannflaeh
nach unten geöffnete Kiirve.
10
II
II
12.5
II
fl
0.9
Es wollte eine Kurve werden,
wurde aber eine Gerade.
11
fl
II
8.5
fl
n
1.6
Eine ganz langsam gezogene flache
Kurve oder Gerade.
12
II
fl
12.5
II
II
0.9
Kurve.
18
fl
fl
8.5
fl
II
2.0
Erst tiefe, dann flache Kurve.
14
fl
fl
12.5
n
II
1.0
Zuerst ging es herunter, sodafi
ich dachte, es werde eine Kurve
werden, dann spürte ich Gerade.
54
Moritz Löwi,
Datnm
VI.
Vp.
T.
Btg.
Pldst.
zt.
Aussage
Dr.
Dr.
22.2.21
16
J.
L.
8.6
l.-r.
M.
2.0
Ghtnz langsam gegebene Knrre,
die tiefer aofhSrte als anfing.
16
n
rt
12.6
rt
rt
0.9
Ganz fiache Karre oder Gerade.
17
rt
rt
8.6
rt
rt
1.0
Wenn ich nicht wttfite, daß nnr
Karren gegeben rrerden, wfirde
ich sagen, in der Mitte eingebach*
tete Gerade.
18
n
ft
12.6
rt
rt
1.0
Gate fiache Karre.
19
rt
rt
8.6
ft
II
0.4
Flache Karre, klarer Eindrack.
20
n
rt
12.6
n
n
0.8
Ganz, ganz flache Karre.
21
ft
rt
8.6
it
n
2.0
Haapteindrack der der schreck¬
lichen Langsamkeit. Dann Gerade.
22
1»
rt
12.6
n
n
1.0
Flache Karre, zaletzt Gerade.
23
f»
rt
8.6
rt
rt
8.7
Haapteindrack Langsamkeit, ich
dachte, es werde eine sehr schOne
Karre werden. Im letzten Ihittel
Eindmck der Geraden.
Zweiter Teil.
Die moderne Begründung der Psychologie will durch zwei
theoretische Maßnahmen der Psychologie die Möglichkeit einer
sicheren methodischen Entfaltung schaffen: einmal durch An¬
weisung ihres systematischen Ortes und zweitens durch eine
eindeutige Feststellung der sogenannten psycho-physischen Be¬
ziehung.^)
Näher besehen sind beide Gesichtspunkte die Auswirkungen
eines und desselben Motivs im Begriffe der Psychologie: Hier
wie da handelt es sich um die Eigentümlichkeit der Psychologie
als philosophischer Disziplin. Insbesondere aber ist mit der Auf¬
hellung des Verhältnisses zwischen Psychischem und Physischem
der Bevormundung der Psychologie durch die Physiologie das
Urteil gesprochen. Nicht als ob von nun an der Physiologie
bei der Bearbeitung psychologischer Fragen ein für allemal das
Wort entzogen wäre, sondern im Gegenteil soll die positive
Anteilnahme dieser Naturwissenschaft an der Behandlung jener
Probleme endgültig geregelt werden.
Unbestritten hat der experimentelle Betrieb in der Psycho¬
logie besonders auf dem Gebiete der Ehnpfindungslehre rasch zu
1) VgL B. Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie 1921,
besonders das Kapitel Ȇber die Stellnng der Psychologie im System der
Wissenschaften«.
Schwellentmtersachangen. Theorie ond Experiment.
55
scheinbaren Erfolgen geführt Forscher wie Johannes Müller,
E.H. Weber', Fechner nnd Helmholtz glaubten den Nach«
weis erbracht zu haben für die Zuverlässigkeit des natur¬
wissenschaftlichen Verfahrens auch auf dem bis dahin für das
Experiment unzugänglichen Felde der Psychologie.
Wäre indessen das Psychische tatsächlich das gefügige
Material für jenes Verfahren, dann müßte man mit diesem
sämtlichen Äußerungen des Seelenlebens nahekommen können.
Die sogenannten »verwickelteren Erscheinnngen< des Psychischen
trotzen aber solcher Behandlung. Das Denken, der WUle, das
Handeln, das religiöse und das ästhetische Erlebnis geben auf
die Fragen des Experiments keine Antwort.
Bei dieser Lage der Dinge muß natürlicherweise die kritische
Besinnung auf das Recht jener Art methodischer Bearbeitung
einsetzen. Sie muß also einerseits auf den Begriff der Psycho¬
logie abzielen, andererseits die Beziehungen des »Ichc auf die
Umwelt so gestalten, daß die einheitliche Systematisierung in
der Psychologie nicht durch eine Spaltung unterbunden sei.
Die Untersuchung des Begriffs vom Psychischen nun liefert
das Programm für die Möglichkeit einer durchgängigen Systematik
psychischer Erscheinungen. Jene begriffliche Analyse leitet das
Psychische aus dem Gegenstandsbegriff her nnd spinnt so damit
einmal das Band zur Verflechtung aller psychischen Phänomene,
und sie zeichnet ferner die Richtlinien für deren konkrete Be¬
handlung. Nicht bei den Tatsachen als solchen sich zu beruhigen
fordert sie, sondern die Analyse der Tatsachen soweit zu treiben,
daß zugleich der Begriff der Tatsache immer von neuem, d. h.
immer mehr an Gliederung gewinnt. Das ist nur möglich durch
Herstellung gewisser Gegenstandsbezüge.
Es handelt sich also hier nicht um eine neben den gang¬
baren Methoden der Psychologie zu empfehlende neue Technik,
sondern, aus dem Objektgedanken geschöpft, wird die Technik
zur Methode.
Die vielgerühmten Vorzüge der experimentellen Psychologie
beruhen, wie man sagt, in ihrer dauernden Berufung auf Tat¬
sachen. Jedes logische Interpretieren und »vage Philosophieren<
wird hinfällig angesichts der Unnmstößlichkeit der vermittels
exakter Formeln oder erprobter physiologischer Verfahmngs-
weisen gefestigten Tatsachen. So wird von den Arbeiten Webers
über den Tastsinn geurteilt: durch sie »geschah mehr für den
wahren Fortschritt der Psychologie als durch alle Distinktionen,
66
Moritx Löwi,
Definitionen nnd Klassifikationen der Zeit etwa von Aristoteles
bis Hobbes znsammengenommenc.^)
Wie aber, wenn weder Formel noch der physiologische Be*
gri&apparat in der Lage wären, die Tatsachen als Tatsachen
festznhalten, wie, wenn die Struktur der Tatsache, d. h. des
Psychischen seiner Natur nach den Maßmethoden widersteht?
Dann wäre die Stützung durch Tatsachen nichts, weil yon Tat¬
sachen keine Rede sein kann, dann wären die erwähnten Er¬
gebnisse der Ehnpfindungsforschnng zwar nicht illusorisch, aber
es wären keine Ergebnisse im Gebiete der Psychologie, weil
keine Tatsachen. Die Psychologie findet keine Tatsachen vor,
sie sind nicht ihr Ausgangspunkt, sie sind der Zielpunkt ihres
Verfahrens; dnrch Beziehung auf den Gegenstandsbegriff, durch
eigenartige Beziehung wird die Tatsache. Die psycho¬
physische Beziehung gibt die allgemeine Anleitung zur Ge¬
winnung gewisser Tatsachen.
Eigenartig gestaltet sich also die Beziehung zwischen
Physischem nnd dem Gegenstandsgedanken, wenn der Sinn dieser
Beziehung das psychische Faktum sein soll. Es handelt sich
nicht oder doch nur sekundär um die Frage, wie das Physische,
besser wie Begriffe vom Physischen »mögliche sind. Die Ant¬
wort auf diese Frage gibt grundsätzlich keine Auskunft über
irgendein psychisches Faktum. In diesem Verhältnis des Phy¬
sischen auf den Gegenstandsbegriff bestätigt sich vielmehr das
Recht der Physiologie. Nicht das Physische, sondern physische
Erscheinungen, bestimmte physische Erscheinungen auf dmi
Gegenstand bezogen, führen zu psychischen Phänomenen, zu
psychischen Tatsachen. M. a. W. werden die Erscheinungen des
Physischen unabhängig von der in Frage stehenden Beziehung
auf den Gegenstand betrachtet, so bestimmen sich in solcher
Betrachtungsweise günstigstenfalls physische Verhältnisse, d. h.
physiologische Begriffe, also keine psychischen Tatsachen.
Das aber ist der Weg, den die Empfindungslehre gewählt
hat Letztlich beabsichtigt sie festzulegen, was in psychischer
Hinsicht Farben, Gerüche, Töne nsw. sind. Die im Verlanf der
experimentellen Untersuchungen gewonnenen Einzeleinsichten
über Ton-, Farbenerlebnisse nsw. fügen sich ihr zum Erlebnis
der Farbentöne nsw. zusammen. So entwirft sie sich ein Bild
von den Ehnpfindnngen. Dies ist das Verfahren der Physio¬
logie. In dem durch künstliche Bedingungen, d. i. durch das
1) Bbbinghaas, Abriß der Psychologie, 1908, S. 16.
Schwellemmtersnchnngeii. Theorie und Experiment.
57
Experiment gewonnenen Einzelfall sieht sie die Bestätigung für
das Walten eines naturgesetzlichen Zusammenhangs. Am vor¬
liegenden Falle erkennt sie, was die Farbenempfindnng ist. Die
experimentelle Psychologie ermittelt, was jemandes Farben¬
empfindung ist.
Zwar betont man allenthalben den ursprünglichen Gliederungs¬
reichtum des Psychischen und erachtet es als die eigentliche
Aufgabe des Psychologen, das dichtmaschige Gewebe psychischer
Funktionen bis auf Elementarerscheinungen zu entwirren. Zer¬
gliederung und Abstraktion, so heißt es (vgl Ebbinghaus
a. a. 0.), die Trennung der wechselnden Bedingung vom gleich¬
bleibenden Kern führen zu nicht mehr zerlegbaren psychischen
Einheiten. Dieses Verfahren wird mit Hinweisen auf die
organische Naturwissenschaft gestützt. Der Organismus sei ein
ähnliches kompliziertes Gebilde, gleichwohl gelänge es dem zer¬
gliedernden Verfahren, ihn ohne Schädigung des funktionellen
Gefüges in sogenannte EUementarbestandteile zu zerlegen. Die
ständige Rücksichtnahme auf das Ganze bewahre vor einer Zer¬
splitterung in Atome, deren Gesamtheit die Selbständigkeit des
Organismus durchaus nicht verständlich mache. Die Theorie der
Empfindungen auf ähnlichem Wege gewonnen baut keine Atome
auf. Farben, Töne, Gerüche nsw. seien Elemente, aber keine
Atome. Aus ihnen läßt sich ein Gesamtbild der Empfindungen
aufbanen.
Die Undurchführbarkeit des der Biologie entlehnten Ver¬
fahrens auf dem Boden der Psychologie ergibt sich unschwer.
Jene steht unter grundsätzlich anders gearteten methodischen
Voraussetzungen als diese. Die Untersuchung des Baues des
Organismus strebt allemal nach Ergebnissen, die für ganze
»Klassen« von Individuen gelten sollen; die Analyse des Seelen¬
lebens fordert die Betrachtung des Individuums gerade in seiner
individuellen Einzigartigkeit, d. L Angenblicklichkeit, und
selbst da, wo Gruppen von Individuen auf ihr psychisches Ver¬
halten hin untersucht werden, ist die Bezugnahme auf den Ge¬
danken der Einzigkeit unerläßlich.
Betrachtet man die Ergebnisse der Empfindnngslehre näher,
so finden sich jene für die Analyse des Seelenlebens aufgestellten
Grundsätze auch gar nicht dnrchgeführt. Eine Zergliederung
im Sinne der Abstraktion ist nirgends vorgenommen. Vielmehr
ist es der Stolz der experimentellen Psychologie, die schwanken
Gebilde dm* Empfindungen durch exakte Messungen festhalten
zu können. Es gelingt, Empfindungen zu messen, wofern einer
58
Moritz Li(wi,
Bedingang genügt werden kann: Man mnfi Empfindnngsnnter<
schiede als in irgendeiner Hinsicht gleich beurteilen können.
Die Voraussetzung für das Maß der Empfindung ist also die
Gleichheit von Empfindungsnnterschieden, besser Empfindnngs-
stnfen in irgendeiner Hinsicht
Mit der Bückführung auf konstante Verhältnisse wird indessen
den Ansprüchen der Psychologie nicht genügt. Sie muß vielmehr
die ausgesagte Gleichheit von Empfindungsstufen zum Gegen¬
stand der Betrachtung machen. Sie muß die Frage stellen:
Was meint jemand im Augenblick mit der Aussage: »die Emp¬
findungen sind gleich« ? Was die messenden Verfahren voraus-
setzen, das ist das Objekt des Psychologen, die ansgesagte
Gleichheit im Empfindungsgebiete.
Die messende Psychologie sucht »Bestimmungen derjenigen
objektiven Beize, die gleich erscheinenden Empfindungen, oder
derjenigen Beizpaare, die gleich erscheinenden Empfindungsstufen
als ihren äußeren Ursachen zugehören<.^) In diesem klar um¬
schriebenen Programm ist die für die gesamte psycho-physische
Methodik fundamentale Voraussetzung ausgesprochen: Es müssen
gleich erscheinende Empfindungen oder gleich erscheinende Emp-
findungsstufen vorliegen. »Gleichheit im Empfindnngsgebiete«,
äußert ausdrücklich Fe ebner,*) »vermögen wir wohl zu be¬
urteilen, unsere ganzen Maßmethoden der Empfindlichkeit . . .
stützen sich darauf.« Was aber für die Empfindlichkeit gilt,
gilt noch nicht für die Empfindung.
Es ist von Wichtigkeit, auf eine strenge Abgrenzung gerade
dieser Begriffe gegeneinander zu drängen. Der Mangel einer
präzisen Unterscheidung führt in der Psychophysik zu einer
unstatthaften Vermengung beider Begriffe. Der Grund für diesen
Mangel wiederum ist in einer falschen Auswertung der Web er¬
sehen Versuche zu erblicken. Hier liegen lediglich Unter¬
suchungen zum Begriff der Empfindlichkeit vor. Denn die Frage,
ob eine vom Gehirn zur Haut verlaufende Nervenfaser innerhalb
eines gewissen Bezirkes nur einen Eindruck aufnehmen kann
oder nicht, bleibt eine Frage der Physiologie. Denn was auf
diesem Wege geklärt werden soll, ist Bau und Funktion ge¬
wisser Nerven. Im Bahmen solcher Fragestellung hat eine
Graduierung der Beaktion bis zum Nullpunkt einen berechtigten
Zweck. Ebenso sinnvoll ist hier die Bedeweise von der Gleich-
1) Ebbinghaus, Orondzilge der Psychologie, 4. Aafl., S.91.
2) Fechner, Elemente der Psychophysik, I*, 1899, S. 55.
Schwellenantenachnngen. Theorie and Experiment.
59
heit der Empfindlichkeit in zwei verschiedenen Zeitmomenten.
Das Objekt der Betrachtung ist eben seinem Begriffe nach
quantifizierender Behandlungsweise zugänglich, und zwar deshalb,
weil in diesem Begriff kein psychischer Gegenstand ansgedrftckt,
sondern eine Beziehung zum Psychischen, ein möglicher
Gegenstand des Psychischen bestimmt wird. Kurz; die Em¬
pfindlichkeit ist auf Empfindung bezogen, genau so wie organische
Funktionen auf Psychisches. Niemals aber ist auf Grund der
Meßbarkeit der Empfindlichkeit der Rttckschlnß auch auf die
Meßbarkeit der Empfindung möglich. Empfindlichkeit ist nicht
die sachlich-logische Voraussetzung der Empfindung, diese läßt
sich nicht aus jener theoretisch verstehen. Solchem Irrtum aber
erliegt die Empfindungslehre.
Die geschilderten theoretischen Verhältnisse seien an einem
gangbaren Verfahren zur Ermittelung von Dmckintensitäten
veranschaulicht: Die Intensität des Druckes nimmt mit der Zeit
ab. Es fragt sich, um wieviel sie in einer gewissen Zeit ab-
nimmt. Gelingt eine solche Feststellung, so gewinnt man Ein¬
blick in die besondere Natur der Dmckempfindnng bei einer
Versuchsperson. Die Versuchsanordnung ist folgende: Die Ver¬
suchsperson hebt ein Gewicht, nach einer gewissen Zeit wird
sie anfgefordert, mit der freien Hand ein zweites ihr ebenso
schwer erscheinendes zu heben. Der Effekt ist dieser: Ein der
objektiven Größe nach kleineres Gewicht erscheint ihr als gleich
schwer. Um wieviel die Druckintensität abgenommen hat, gibt
die Differenz beider Gewichte an.
Der Sinn des Verfahrens besteht also in der Beziehung der
scheinbaren Gleichheit der Empfindungen auf den Gedanken
der Gleichheit oder Ungleichheit im Sinne der Zahl, es handelt
sich m. a. W. um die Relationiemng der erlebten Gleichheit der
Empfindungen im Sinne der Zahl. Die als gleich erlebten
Empfindungen sollen in ihrem wirklichen Verhältnis zuein¬
ander bestimmt werden. Das, was Psychologie als Wissenschaft
letztlich erstrebt, die Auflösung jener der Wirklichkeit gegenüber
als Schein figurierender Komplexe in Relationsbestände wird
unweigerlich unterbunden.
Man entgegne nicht, man wolle die Reize objektiv bestimmen,
nicht die gleich erscheinenden Empfindungen, man wolle psychische
Erscheinungen auf objektive Verhältnisse beziehen. In unserem
Falle bedeutet dies die Feststellung der Gewichtsdifferenz in
der zwischen dem Aufheben des ersten und zweiten Gewichts
verstrichenen Zeit, mit Bezug auf welche Momente der ge-
60
Morite Ldwi,
wünschte psychische Effekt, die Gleichheit der Dmckempfin-
dnngen, eintritt
Indessen, wenn Dauer und Eintrittsmoment unserer psych¬
ischen Erscheinung aufs genaueste gemessen ist, wenn der ge¬
wisse psychische Effekt mit möglichster Exaktheit auf objektive
Daten bezogen ist, über die im Augenblick vorliegende Dmck-
empfindnng oder die erlebte Gleichheit|zweierDmckempfindungen
ist nicht das Geringste gewonnen. Gerade das aber will der
Psychologe wissen. Die sogenannte »Gleichheit« der Empfin¬
dungen ist also vorausgesetzt, ans ihr wird auf die Ver¬
schiedenheit der Empfindungen geschlossen. Eine solche Schlu߬
folgerung ist nur denkbar, wenn jene Voraussetzung definiert ist,
wenn bereits bekannt ist, was »Gleichheit im Empfindungsgebiet«
ist. Nicht die Versuchsperson, sondern der Versuchsleiter muß
wissen, was »für die Versuchsperson« Gleichheit bedeutet In
dem grundsätzlichen Verzicht auf die Ermittelung dessen, was
die Versuchsperson als »Gleichheit der Empfindung« versteht,
liegt zugleich der Verzicht auf die Klärung der Verhältnisse
im Sinne der Psychologie. Der Schluß von der Gleichheit des
Verhaltens einer Versuchsperson auf die numerische Ungleich¬
heit ist zulässig in der organischen Naturwissenschaft. Die Be¬
zeichnung »Gleichheit« hat dort einen eindeutigen Sinn, sie ist
keine scheinbare, d.L erlebte Gleichheit.
Den dargelegten Verhältnissen läßt sich eine doppelte Ein¬
sicht entnehmen: 1. Der Messung entsprechen keine psychischen
Tatsachen; denn sie läßt die Frage, was für die Versuchsperson
Gleichheit des psychischen Effektes bedeutet, unbertthrt, 2. Was
die Versuche von Weber betrifft, so lieg^ tatsächlich die Gleich¬
heit des Verhaltens bei der Versuchsperson vor: eine Reihe von
Reizen löst immer unter gewissen Bedingungen die Empfindlich¬
keit NuU aus, sie ist in solchen Fällen gleich. Es erhebt sich
die Forderung, den psychischen Sinn dieser physiologischen
Beobachtungen zu suchen, der ihnen zugrunde liegenden Tat¬
sachen habhaft zu werden.
Soll dieser Forderung entsprochen werden, so gilt es vor
allem, die Aufhellung dessen anzustreben, was die Versuchs¬
personen in ihren Erlebnissen »meinen«. Der Akt des Er¬
lebnisses ist, wie man leicht einsieht, eine Art des Bestimmens.
Jedermann weiß anzngeben, was er erlebt, oder der Ausdruck
»Erlebnis« wird hinfällig. Auch da, wo man vergessen hat oder
scheinbar nicht zu sagen weiß, was man erlebt hat, liegt eine
eindeutige Bestimmung des Erlebnisses vor. Die Art der Er-
SchwellenuitersachTUigeii. Theorie and Experiment.
61
lebnisbestiimntheit aber ist nach diesen Bemerkungen im Vergleich
zur Art der Erkenntnisbestimmtheit von eigenem Charakter: sie
besteht nur dann, wenn »jemand« bestimmt. Zur Kennzeichnung
dieser im Erlebnisakt sich äußernden Bestimmung dient der Aus¬
druck »meinen«.
Was nun die Versuchspersonen in ihren Erlebnissen meinen,
soll der Versuchsleiter feststellen. In dieser wechselseitigen
Haltung werden mehrfache theoretische Motive vorausgesetzt;
Vor allem muß sich die Versuchsperson verständlich machen,
sie muß dem Versuchsleiter für seine Feststellung eine Handhabe
bieten. Ferner muß dieses verbindende Mittel so geartet sein, daß
sich seiner außer der Versuchsperson noch andere Personen zu
bedienen verstehen, eben der Versuchsleiter. Und weiter muß
der Versuchsleiter in jenem Instrument die Gewähr finden, die
Versuchsperson richtig verstanden zu haben. Sind alle diese
Bedingungen erfüllt, so weiß der Versuchsleiter, was die Ver¬
suchsperson »meint«. Das den gesuchten wechselseitigen Aus¬
tausch ermöglichende Band heißt Sprache. Die Sprache ist
also da nicht zu missen, wo die Feststellung der »Meinung«
recht eigentlich Problem ist. Die Sprache ist eine Funktion des
Meinens. Die letztlich allein durch die Sprache gekennzeichnete
Beziehung zwischen Personen heißt Verständigung, heißt
Fragen und Antworten. Der Frage und Antwort, oder der
Frage und Aussage ist somit bei der Feststellung des Gemeinten
nicht zu entraten. In Frage und Aussage verläuft das Verfahren
psychologischer Forschung.
Selbstverständlich ist damit der Begriff der psychologischen
Methode nicht erschöpfend definiert, nur eines der wichtigsten
Elemente dieses Begriffs ist in dem bezeichneten Verhalten her¬
vorgehoben. Der Hinweis aber auf die Notwendigkeit* der Ein¬
beziehung der Sprache gewinnt für die Begriffsbestimmung der
Psychologie besondere Wichtigkeit. Denn hier ist die Sprache
zum mindesten kein methodisches Mittel In den allermeisten
Bezirken unserer Wissenschaft spielt die Sprache nur die Rolle
des Bezeichnens. Oft ist der Verzicht auf sprachliche Äußerungen
nicht zu umgehen, so wenn man Tiere auf ihr psychisches Ver¬
halten hin untersucht Aber der Umstand, daß man auch hier
auf das Problem der Tiersprache stößt, bezeugt die grund¬
sätzliche Bedeutung obiger Überlegung. Die sogenannten Ans¬
sageexperimente haben für den gegenwärtigen Zusammenhang
keine tiefergehende Bedeutung, weil in ihnen die Sprache nicht
62
Moritz Löwi,
sowohl als Mittel, denn yielmehr als Gegenstand der Untersnchnng
in Betracht gezogen wird.
Mit solchen Überlegungen erhebt sich zugleich die Forderung,
die Bedeutung der Sprache als eines methodischen Mittels der
experimentellen Psychologie zu sichern. Frage und Antwort als
Ausdruck gegenseitiger Verständigung genügen freilich nicht den
ihnen hier gestellten Anforderungen. Nicht jedes Gespräch ist
ursprünglich ein psychologisches Experiment. Nur unter gewissen
Voraussetzungen steht es im Dienste des Experiments. Wann
wird also die Sprache ein Werkzeug der Methode?: Wenn ein
wissenschaftliches Problem zugleich »die Frage an jemanden«
darstellt. Es handelt sich um Probleme, die nur deshalb
wissenschaftlich sind, weil sie eine Frage an jemanden bedeuten,
nicht um solche Fragen, die wissenschaftlich und zugleich an
jemanden gerichtet sind. Das letztere gilt für jedes Problem
schlechthin. In der Beantwortung der aufgeworfenen Frage
wird systematische Stellung und Begriff, Methode und Technik
der experimentellen Psychologie auf einen Schlag offenbar. Und
nur weil alles sich hier zu einem unzerstückbaren Ganzen zn-
sammenfügt, ist es einer wissenschaftlichen Bewältigung zugäng¬
lich. Zn folgendem Bild dringt die Analyse vor:
Wann ist eine Frage wissenschaftlich, weil sie an jemanden
gerichtet ist ? Die »Möglichkeit« eines derartigen Sachverhalts
ergibt sich ans folgenden Überlegungen: Wer fragt, fordert eine
Antwort; die Frage aber nach dem theoretischen Sinn dieser
Antwort setzt jene erste Frage zum mindesten der Zeit nach
voraus. Beide Fragen fallen folglich auseinander. Oder: Nicht
jede dialogische Frage fordert notwendig eine tatsächlich
erfolgte Frage nach dem theoretischen Sinn der Antwort,
dagegen fordert jede Frage nach dem theoretischen Sinn der
Antwort* eine dialogische Frage. So drängt allenthalben der
Begriff der Frage in ganz bestimmter Richtung nach theoretischer
Klärung. In welchem Falle ist die Frage wissenschaftlich nur
unter der Bedingung, daß sie an jemanden gerichet ist?
Das ist das Problem. Die pädagogische Frage braucht hier
nicht berücksichtigt zu werden. Die Frage in zweierlei Bedeutung
des Wortes fordert demnach eine analytische Sichtung: einmal
die Frage als die Aufgabe einer Bestimmung sachlicher, d. h.
theoretischer Verhältnisse, und zwar der besondere Fall, daß sie
an jemanden gerichtet ist; weiterhin die Frage als Ausdrncks-
form wechselseitiger Verständigung.
Die theoretische Frage ist in ihrer Bedeutung für die vor-
SchwellenonteraiichDiig'eii. Theorie nnd Experiment. 63
liegende Problemstellimg rascher abgetan: nicht dämm ist sie
theoretische Frage, weil sie an jemanden gerichtet ist, sondern
gerade darum, weil sie an niemanden gerichtet ist. Dies
wiedemm ist damit gleichbedeutend, daß sie an jedermann ge¬
richtet werden kann.
Schwieriger wird die Untersuchung der zweiten Art von
Frage mit Bezug auf unsere Problemstellung, der Frage als
Ausdrack wechselseitiger Verständigung. Diese Frage ist ihrer
Natur nach allemal an jemanden gerichtet; aber nicht weil sie
an jemanden gerichtet ist, ist sie auch wissenschaftlich. Im
Gegenteil eben deswegen ist sie nicht wissenschaftlich. Im Hin¬
blick auf das vorliegende Problem ist zu entscheiden, wann eine
an jemanden gerichtete Frage, nur weil sie an jemanden ge¬
richtet ist, unweigerlich Wissenschaftscharakter an sich trägt
Die Frage als alltägliches Verständignngsmittel rückt den
Begriff des Dialogs in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Am
Dialog kommt die an jemanden gerichtete Frage zu klarer Aus¬
prägung, sie ist Frage, nur sofern sie an jemanden gerichtet
ist. Folglich muß für die dialogische Frage die Möglichkeit
aufgewiesen werden, daß sie auch muß wissenschaftlich sein
können, für sie sind die Bedingungen aufzuzeigen, wann sie
theoretisch sein muß. Ist diese Aufgabe gelöst, dann ist auch
unser Problem bewältigt Denn die Bedingungen für die Wissen-
schaftsnatnr der dialogischen Frage definieren eben die Fälle,
in denen eine Frage wissenschaftlich ist, nur sofern sie an
jemanden gerichtet ist
Die naive Auffassung vom Sinn des Dialogs ist gemeinhin
die eines Wechselspiels von Frage und Antwort. A fragt, B
antwortet oder umgekehrt. Allein die schärfer zugreifende
Analyse stößt alsbald auf die Schwächen solcher Vorstellung.
Nicht der eine fragt und der andere antwortet nnd umgekehrt,
sondern indem A fragt, antwortet er zugleich, nnd indem B ant¬
wortet, fragt er zugleich. Wäre dem nicht so, dann wäre jede
Verständigung grundsätzlich ausgeschlossen. »Verständigen« kann
nicht bloß heißen, daß B in seiner Antwort das Verständnis für
die Frage bekunde, sondern A muß die Antwort des B an der
gestellten Frage messen. Das heißt: mit der Antwort des B ist
für A sofort wieder eine Aufgabe gegeben, also eine Frage.
Was aber bedeutet jenes Messen der Antwort, welches A an der
von ihm gestellten Frage vomimmt? Mit anderen Worten:
Wann hat er die Antwort des B verstanden: Wenn er sich durch
Fragen bei B Gewißheit schafft; damit aber gibt er zugleich
64
Moritz L8wi,
Antwort auf die in der Antwort des B gelegene Frage. Kurz,
nnr wenn die Frage des A als eine Antwort an B, und die
Antwort des B als Frage an A begrifflich bestimmt werden
kann, liegt Verständigung vor.
In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, den Dialog von
der Dialektik zu unterscheiden. Die Einsicht in die Wechsel*
beziehungen beider Motive gewährleistet zugleich ihre relative
Selbständigkeit Man spricht mit Bezug auf die Dialektik von
einem Prozeß, und zwar von einem unendlichen Prozeß. Nach
den Bemerkungen fiber den Dialog liegt es nahe, den Gedanken
der Unendlichkeit auch für ihn in Anspruch zu nehmen. Der
Gedanke der Unendlichkeit ermöglicht eine zwiefache Bestim¬
mung: in einer Hinsicht ist das Unendliche der Grund fflr die
prinzipielle Unabgeschlossenheit des Prozesses im gegenständ¬
lichen Sinne. In der anderen Hinsicht ist die Unendlichkeit,
wie sich alsbald zeigen wird, die Bedingung ffir die Möglichkeit
des aktmäßigen, d. L des erkennenden Verhaltens. ist die
»dialogischec Seite des dialektischen Sachverhalts.
Die theoretische Philosophie definiert den objektiven Prozeß
der Erkenntnis. Sie beweist, daß irgendeiner wissenschaftlichen
Einsicht unabhängig von den sie bedingenden und den durch sie
bedingten kein Eigenrecht einzuräumen ist. Jede Einsicht ist
eingeffigt in einen ttbergreifenden Zusammenhang. Der Prozeß
hat somit weder Anfang noch Ende. Andererseits gibt die
Theorie dem Gedanken von Anfang und Ende doch wieder Baum:
die eindeutige Bestimmtheit einer Einsicht bedeutet im objektiven
Prozeß einen relativen Anfang bezw. relatives Ende. In die
wissenschaftliche Dialektik geht an dieser Stelle das subjektive
Verhalten des Forschers ein. Dennoch ist die Dialektik ihrem
Begriffe nach jeder Gefahr einer subjektiven, d. L wiUkürlichen
Handhabung entrfickt. Denn der Prozeß ist als solcher be¬
stimmt, er ist selbst unter dem Gesichtspunkt von Anfang und
Ende zu betrachten, er ist, obgleich ohne Ende, ein Ganzes, er
ist unendlich. Der Gedanke des Unendlichen macht den objektiven
Prozeß zu einem Gebilde, das seine methodologische Besondemng
von der »Sichtung« empfängt, der gemäß der subjektive Ansatz
des Forschers erfolgt. Der Begriff vom Unendlichen umschreibt
den Prozeß als geordnetes Ganzes, er weist jedem Element den
Platz innerhalb seiner an und schafft so einem jeden den Charakter
der Bestimmtheit; als relativer Anfang oder relatives Ende wird
es eben dadurch von willkflrlichem Anfang bezw. Ende wohl
unterschieden.
Schwelleniuitersochaneren. Theorie and Experiment.
65
Welche Bedeatnng hat der Begriff des Unendlichen für den
Dialog? Es wird sich alsbald zeigen, in welchem Umfange das
Ergebnis der nun folgenden Betrachtungen für unsere nrsprüng*
liehe Fragestellung von Belang ist. In Rücksicht auf die oben
gekennzeichnete Relativität der Begriffe »Frage« und »Antwort«
soll im folgenden nur von »Aussage« gesprochen werden. Im
Dialog sagt also A aus und B sagt aus; beide genügen der Be¬
dingung der Eindeutigkeit, aber sie genügen ihr nicht auf dem
Wege über den wissenschaftlichen Begriff oder sie brauchen ihr
doch nicht auf solche Weise zu entsprechen, und gerade dieser
Fall des Diidogs steht eben zur Erörterung. In der Aussage A
ist nicht potenziell die Aussage B, C, D usw. enthalten, A ist
nicht die Bedingung für B; sie ist vielmehr als Frage bezw.
Antwort »Aussage für«, eben für B, sie ist Aufgabe für B.
»Bedingung für« und »Aufgabe für« aber sind logisch voneinander
geschieden: Jene gilt allemal für etwas, diese für jemanden.
Freilich kann »die Bedingung für etwas« zugleich »Aufgabe für
jemanden« sein, sie muß es sogar immer sein können; nur be¬
stimmen diese Verhältnisse die Dialektik und nicht den Dialog
oder den Dialog, soweit er im Dienste der Dialektik steht.
Diese Angelegenheit ist oben bereits erledigt. Im Augenblick
ist somit »Aussage« lediglich »Aufgabe für jemanden«. Eine
bedeutsame Schattierung des Identitätsgedankens läßt der vor¬
liegende Beweisgang bereits dnrchschimmem:
Die Aussage A als Aufgabe »für jemanden« fordert eine Aus¬
sage B. Für die Formulierung der Aussage B ist durch A die
Richtung vorgeschrieben. B kann nicht beliebig lauten. Sie
wird vielmehr im Hinblick auf das mit A Bezeichnete oder in A
Gemeinte formuliert. B muß auf das in A Gemeinte bezogen
sein. Von B muß trotz seiner von A abweichenden Formulierung
dasselbe gemeint sein. Würde mit B nicht dasselbe angestrebt
werden wie von A, dann läge kein Dialog vor, dann handelte
es sich nicht um Aussagen, sie gingen ihres charakteristischen
Zuges verlustig: sie hörten auf »Aufgaben für jemanden« zu
sein. Die Gebilde A und B böten sich der Betrachtung besten¬
falls als Sätze oder anders benannte Komplexe der Spach¬
wissenschaft dar. Sie weisen nicht als dialogische Aussagen
wechselseitig aufeinander hin, sie lägen beziehungslos nebenein¬
ander wie isolierte Wörter. Noch ein zweiter Gedanke heischt
auf Grund der Aufgabennatur jeder Aussage Beachtung. Wenn A
Aufgabennatnr eignet, muß B mit Bezug auf A als Lösung ge¬
wertet werden können. Das ist grundsätzlich ausgeschlossen,
AiohlT fOr Pcyohologie. XLVm. 6
66
Moritz LSwi,
wenn B dem Wortlante nach mit A ToUst&ndig übereinstimmt.
Aufgabe und Lösung w&ren nicht allein grundsätzlich, sondern
immer auch tatsächlich ununterscheidbar. Auf die Feststellung
der Identität des den Aussagen zugrunde liegenden Gegenstandes
müßte ein für allemal yerzichtet werden. M. a. W. der identische
Gegenstand wirkt sich nur in Aussagen, d. i in tatsächlich
verschieden formulierten und aufeinander verweisenden Sätzen
ans, im Dialog. Der identische Gegenstand wird erst durch
die Aussage, Identität ist gebunden an das Verhalten je¬
mandes. Der identische Gegenstand besteht einzig für die
Aussage jemandes und muß infolgedessen für alle, an welche
die Aussage gerichtet ist, bestehen. Nicht bloß in dem Sinne
tritt die Identitätsfnnktion in Erscheinung, wie die Aussage
allemal einen eindeutigen Sachverhalt äußert; sondern weil die
Aussage >Aussage jemandesc, ist auch der ideutische Gegenstand,
ist auch die Identität des Gegenstandes funktionell gebunden an
die jeweilige Struktur dieses »jemand«. »Jemand« ist immer
nur bestimmt im jeweiligen Augenblick, durch sein momen¬
tanes Verhalten. Deswegen ist jene Identität in Fnnktional-
abhängigkeit vom Akte, sie ist >gemeint<. Die dialogische
Aussage, der Akt und die Identität des gemeinten Gegenstandes
sind ein unzerstückbarer Komplex. Der Aktqualität der Aus¬
sage entspricht die Aussagequalität des Aktes. Der Dialog in
Rücksicht auf jene drei theoretischen Momente heißt Ver¬
ständigung, sie definieren seinen Begriff. »Verständigung«
ist das Prinzip des Dialogs.
Die Verständigung kann nicht grundsätzlich abreißen; denn
das hieße soviel wie jenen Relationszusammenhang gewaltsam
zerstücken. Denn es bedeutete einen Akt ohne Aussagequalität,
einen Akt, der nichts »meinte«; denn es bedeutete einen »ge¬
meinten Gegenstand«, der aufhören sollte, Akten, d. i. Aussagen
zu entsprechen; denn es bedeutete .eine Aussage, die nicht ge¬
meint wäre und der deshalb auch jede Aktqualität fehlte. Das
Aufhören der »Verständigung« ist das Knnstprodukt eines mangel¬
haften wissenschaftlichen Theorems. Der Dialog ist also grund¬
sätzlich unabgeschlossen. Will man diese Unabgeschlossenheit
»Unendlichkeit« nennen, dann muß man sie als durch den Akt
bestimmt kennzeichnen, d. h. als eine Unendlichkeit, in der es
sich nicht um bloße Aneinanderreihung von Elementen in der
Zeit handelt, sondern die zugleich durch den Sinnvollzug
der Elemente gekennzeichnet ist. Sie mag in Rücksicht auf
diesen Sinnvollzug »aktuelle Unendlichkeit« heißen.
Schwellennntersnchiuigeii. Theorie und Experiment.
67
Für den Dialog als ansdmcks- bezw. worthaftes Verhalten
kommt die Bedeutung jener Aktualität in folgenden Beziehungen
zum Ausdruck: der Ausdruck ist die Richtung des Aktes auf
den »gemeinten Gegenstand«, das Wort die spezifische Art und
Weise dieser Richtung. Wer etwas meint, muß es allemal in
bestimmter Weise meinen, oder er weiß nicht, was er meint.
Diese bestimmte Art des Meinens ist eben die spezifische Art
der Richtung. Das Wort ist demnach der Ausdruck der »Be¬
stimmtheit für jemanden«. »Für jemanden bestimmt sein« und
»vollständig bestimmt sein« ist einerlei, denn vollständig bestimmt
ist etwas nur, sofern es für jemanden bestimmt ist Daraus folgt:
in jedem Akt sind vermöge der spezifischen Richtung auf den
»gemeinten Gegenstand« alle »möglichen« Bezüge »für jemanden«,
alle möglichen Sinnbezüge in einem angebahnt. Ebenso sind
in jedem Wort als Ausdruck der spezifischen Richtung sämtliche
möglichen Bezüge angeknüpft Liegt demnach eine dialogische
Aussage vor, so ist in den Worten ein Überschauen aller mög¬
licher Sinnbezttge vorgenommen. Das »aktuell Unendliche« ist
eben der Terminus für diese entwickelten Verhältnisse.
Wir verweisen auf den Ausgangspunkt der Analyse: Im
Dialog liegt eine Aussage A und eine Aussage B vor. B folgt
auf A; das Prinzip dieser Folge ist nicht der Ablauf der Zeit.
A, B, C usw. stehen sich als Richtnngskomplexe gegenüber. An
der Besonderheit dieser Gebilde hat das Wort begründenden
Anteil, in ihm werden jene Elemente »Bestimmtheiten für je¬
manden«, in ihm wird der Bezug auf alles Sinnvolle augenschein¬
lich, wirklich. Das Prinzip für die xotvmvia der Aussagen
heißt das »aktuell Unendliche«.
Die relationstheoretische Klärung des im Dialog beschlossenen
Sachverhalts schafft die Voraussetzungen zur Lösung unseres
Problems, zur Beantwortung der Frage: wann ist eine Frage
wissenschaftlich, weil sie an jemanden gerichtet ist?: Im Wort
werden sämtliche auf das Gemeinte verweisenden Sinnbezüge
greifbar. Nicht in einer sukzessiven Aneinanderkettnng wird
das »Gemeinte« dem Bewußtsein offenbar, sondern im wort- oder
allgemeiner ausdmckshaften Akt, also in einem Blick, in
einem »Augenblick«. Nur dadurch ist etwas »für jemanden«
vollständig bestimmt und für alle anderen begreiflich. Nur
dann spricht man von Verständigung. Die Akte stehen neben¬
einander wie die verschiedenen Ausdrücke desselben »Gemeinten«.
»Verständigung« heißt jetzt: jeweils ein Gemeinsames meinen,
von einem Gemeinsamen in immer sich erneuenden Akten sprechen.
6 *
68
Moritz L0wi,
Nicht ein Akt ergibt sich notwendig oder braucht sich nicht
notwendig aus dem andern zu ergeben, sondern jeder Akt ist
ein relativ neuer Ansatzpunkt In dem Wort »Ansatz« kommt
nur die Gegenwartsbestimmtheit des Dialogs auf eigene Weise
zum Ausdruck.
Die Einsicht in den aktuell unendlichen Verlauf des Dialogs
hat nunmehr ihre erschöpfende Begründung erfahren. Der Ver¬
lauf des Dialogs kann kein Ende haben, weil seine Gegenwarts¬
bestimmtheit nie aufhören kann. Sollen die Bedingungen anf-
gewiesen werden, unter denen eine Frage wissenschaftlich ist,
weil sie an jemanden gerichtet ist, so muß der Dialog nn-
beschadet seines Charakters als psychische Tatsache die Voraus¬
setzung eines spezifischen Begriffs der Methode begründen können.
In dieser Forderung liegt kein psychologistischer Irrtum.
Der Begriff des Dialogs löste sich auf in ein immer neues
Ansetzen, in eine eigenartige Gemeinschaft von Akten. In dieser
Beziehung der Akte muß auch die Möglichkeit ruhen, die den
Dialog zur Bedingung einer wissenschaftlichen Methode macht.
Ans der als »Neuheit« der Ansatzpunkte bezeichneten Eigen¬
tümlichkeit dialogischer Aussagen tritt bei weiterer Betrachtung
ein mit dem Dialog aufs innigste verwobenes Motiv hervor:
»Neu« heißen jene Ansätze, sofern sie relative Anfänge sind.
Nur dadurch, daß in jeder Aussage ein neues Anheben, ein
Beginn anbricht, ist die Aussage dialogisch und nicht Urteil
Mag immerhin auch für das Urteil das Anheben mitbestimmend
sein, jenes Anheben entscheidet nicht darüber, ob etwas ein
Urteil ist, es konstituiert nicht das Urteil, wohl aber die
dialogische Aussage. Um sich dialogisch zu verhalten, muß man
»anfangen«. Das heißt: der Dialog, weil Ausdruck der Gegen¬
wartsbestimmtheit, verläuft in der Zeit, die Aussagen folgen
nacheinander.
Die Sachlage ist somit folgende: Aktuell ist die Aussage
allemal gegenwartsbestimmt, man beginnt mit jeder Aussage;
vorausgesetzt ist damit der zeitliche Ablauf der Akte; oder um¬
gekehrt: aus dem zeitlichen Ablauf kann die Gegenwartsbestimmt¬
heit des Dialogs theoretisch verstanden werden. Der Begriff
der Zeit kann aktuell gestaltet werden: darin offenbart sich
die Gegenwartsbestimmtheit des Dialogs. Er braucht aber
nicht in dieser Weise seine aktuelle Ausprägung erfahren, d.h.
»Zeit« kann noch in anderer Form aktualisiert, gestaltet werden.
In der Tat ergibt sich zwanglos ans jenen gewissen Anheben
jeder dialogischen Aussage auch eine andere Art zeitlicher Ge-
I
SchweUenantersachiiogen. Theorie and Experiment.
69
staltnng: Wer »anhebt«, setzt einen Anfang; Anfangssetznng
ist ja nur eine andere Bezeichnung für >Anheben«, sie soll nur
die Einsicht in die zeitgestaltende Leistung des Aktes yennitteln.
Diese Anfangssetznng ist gewissermaßen die Wahl eines Null¬
punktes in der durch die Zeit bedingten Reihe von Akten. Mit
solcher aktuellen Setzung wird eine Scheidung der Reihe vor¬
genommen, besser eine »Unterscheidung«. Nicht als wäre dem
Erlebenden eine Reihe von Akten gegeben, und als wählte er
seinem Dafürhalten nach einen beliebigen Akt aus der vorliegenden
Zahl als Teilnngspunkt. Der Sachverhalt ist vielmehr dieser:
Weil jemand im Verlaufe mannigfacher Erlebnisse über denselben
Gegenstand ein jedes als Anfang erlebt, eben deswegen muß er
von diesem Punkt aus die der Zeit nach früheren Erlebnisse
als »vergangen« betrachten können. Die Erfassung als <An¬
fang« wäre grundsätzlich unmöglich, würden die zeitlich früheren
nicht mit Bezug auf diesen Anfang als unterschieden von ihm,
als Zeiterlebnisse anderer Art festgehalten werden können. Er¬
lebnisse mit aktuellem Bezug auf Anfangs- oder Gegenwarts¬
erlebnisse heißen »Vergangenheitserlebnisse« bezw. »Znkunfts-
erlebnisse<; in ihnen wird Zeit als Vergangenheit bezw. als
Zukunft erlebt. Liegt ein Gegenwartserlebnis in der Form des
Dialogs vor, so muß es mit Bezug auf dieses das Erlebnis der
Vergangenheit geben.
Welche Ausblicke eröffnet der so gewonnene Sachverhalt für
die Erreichung des erstrebten Zieles? Weil eine Frage ge¬
stellt ist, deshalb ist mit Bezug auf sie ein anderes Erlebnis
möglich. Mit anderen Worten: die dialogische Aussage wird Gegen¬
stand in einem anderen Erlebnis, die dialogische Aussage »als
vergangen« wird gemeinter Gegenstand. Anders gewendet: Man
besinnt sich auf die dialogische Aussage. Man besinnt sich
— das ist zu betonen — nicht auf den Sinn jener Anssage,
sondern auf die Aussage als Anfang, als Anheben, oder was das¬
selbe ist, als vergangen, auf die Aussage als dialogische.
Nicht bloß die Frage in ihrem sachlichen Gehalt, sondern das
Stellen der Frage als sachlicher Gehalt wird Gegenstand
des Erlebnisses. Die Frage oder Aussage als Erzeugnis des
Augenblicks, der Einzigkeit, als spezifische Form der
Gegenständlichkeit Eline bestimmte Frage als Ausdruck
der Subjektivität wird Problem, eine Frage wird wissen¬
schaftlich, weil sie gestellt ist.
Wann ist eine Frage wissenschaftlich, weil sie an je¬
manden gerichtet ist? Wenn sich der Fragende auf seine
70
Moritz Löwi,
Frage als »gestellte« besinnt; nnr weil sie aktuell gestellt
ist, eben deswegen ist sie wissenschaftlicher Sachverhalt Richtet
man sich anf den Sinngehalt einer Frage, dann ist die Frage
freilich wissenschaftliches Objekt, aber nicht weil sie gestellt
ist, sondern weil sie gestellt werden kann.
Jene Besinnung aber ist Methode, sonst vermöchte die ge¬
stellte Frage nicht wissenschaftlicher Sachverhalt zu werden.
Diese Methode heißt »experimentelle Psychologie«.
Sie ist gekennzeichnet im Dialog und in der Besinnung auf
die Fragen und Antworten bezw. auf die Aussagen als gewußte.
Von welchen Gesichtspunkten wird diese methodische Besinnung
geleitet? Es handelt sich, wie erwiesen, um die Besinnung auf
Aussagen als gestellte, als ausgesprochene, augenblickliche;
und gerade darum um die an den Aussagen in Erscheinung
tretende Subjektivität Wo Subjektivität zum Problem wird,
da sind die methodischen Richtlinien zu seiner Beherrschung
angedeutet: es ist die Theorie der Gegenständlichkeit, inner¬
halb deren das Problem der Subjektivität seine Auflösung erfährt
Damit ist das Prinzip für die wissenschaftliche Handhabung
jener Besinnung,. d. i. der experimentellen Psychologie gegeben.
Es gipfelt wie das Prinzip jedes Gegenstandsproblems in der
Aufzeignng der für den jeweiligen Gegenstand charakteristischen
»Möglichkeitsbeziehungen«. Um des durch die Aussage ver¬
mittelten augenblicklichen Verhaltens jemandes habhaft zu werden,
ist also gefordert, die bezüglichen Äußerungen auf die sie er¬
möglichenden Beziehungen zu untersuchen. Wo Aussagen über
augenblickliche Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle usw.
abgegeben werden, da gilt die Forderung, in diesen Motiven
Beziehungen, und zwar Beziehungen der Gegenständlichkeit auf-
znweisen, in welchen sich Subjektivität, besser Psychisches erfüllt.
Diese Beziehungen sind von ganz besonderer Art: sie sind
Ausdrucksformen des Augenblicks, der Einzigkeit, der Gegen¬
ständlichkeit; sofern jemand sich auf Ausgesagtes, Vergangenes,
auf »Gehabtes« besinnt Die Besinnung ist keine willkürliche;
sie ist gelenkt, beherrscht von der Gegenstandsbeziehung der
Einzigkeit, sie ist methodisch. Es sind gewußte Gegenstands¬
beziehungen. Es sind Gegenstandsbeziehungen, die zugleich Tat¬
sachen bezeichnen, weil gewußte Beziehungen. Die experi¬
mentelle Psychologie ist ausgezeichnet durch ihre Begrifisbildung.
Sie macht das Augenblickserlebnis verständlich durch Begriffe,
Prinzipien, die zugleich Tatsachen bedeuten. Jene eigentümliche
Besinnung auf die Aussage ist mithin zugleich ein Urteilen über
SchweUenantersachangfen. Theorie and Experiment.
71
die Aussage, das Erlebnis des Urteils. »Erlebnis des Urteils«
aber ist wissenschaftliche Aufgabe. Wer sich somit
nach Gegenstandsprinzipien auf Ansgesagtes besinnt, — ich nenne
ihn den Experimentator — der stellt sich nnd damit anderen
wissenschaftliche Aufgaben. Der Dialog wird zum wissenschaft¬
lichen Verfahren. Der Dialog wird ein Begritselement der
Dialektik. Dialog und Dialektik durchdringen einander im Problem
der Erkenntnis. Niemals kommt sonach der Experimentator in
die Lage, nach eigenem Ermessen die bezüglichen Aussagen zu
deuten, sie zu deuteln. Getrieben von der Dialektik der Gegen¬
ständlichkeit, geleitet von einer bestimmten, in ihr wurzelnden
Aufgabe, bleibt es ihm gruudsätzlich versagt, zu fragen: was
kann eine Aussage bedeuten? Diese Frage vielmehr bestimmt
sein Verhalten: was muß eine Aussage bedeuten? Gegenüber
einer Aufgabe hat eine Aussage aber nur einen Sinn. Der
Aussagesinn einer Aufgabe gegenübergestellt ist keine Relati¬
vierung, sondern Relationiemng. Im »Hinblick« auf die Auf¬
gabe erwächst der Aussage ihre wissenschaftliche Eindeutigkeit.
Die Besinnung auf eine Frage als gestellte heißt jetzt: ihre
Eindeutigkeit im Hinblick auf eine aus dem Gedanken der Gegen¬
ständlichkeit verständliche Aufgabe feststellen. Die psychischen
Elemente werden an einer Aufgabe greifbar.
Der Dialog konnte vorher als ein Gefüge von Antworten,
die zugleich Fragen, nnd Fragen, die zugleich Antworten sind,
beschrieben werden. Nunmehr läßt sich sagen: Antwort, die
zugleich Frage, heißt im methodischen Dialog »Besinnung auf
das Psychische«, und zwar auf das »gehabte Psychische«, kurz
auf das »Gehabte«. Frage, die zugleich Antwort, wird Auf¬
gabe einer eindeutigen Wiedergabe des zukünftig Psychischen,
kurz des »Zukünftigen«. Daraus folgt: Besinnung nnd Aufgabe
sind dasselbe. Diese Einsicht ist von entscheidender Wichtig¬
keit für die Bedeutung der Versnchsanordnnng im experimentellen
Betriebe. Mit der Versuchsanordnung will der Experimentator
bei der Versuchsperson etwas Bestimmtes bezwecken, er fragt
sie mittels nnd in der Versuchsanordnung. Ist die Versnehs-
peraon auf die Aufgabe gerichtet, dann muß mithin auch der
Versuch in ihr Erlebnis eingehen. Sie sieht und hört, was vor¬
geht. Schaltet man die Möglichkeit, sich auf die technische
Handhabung des Versuchs zu beziehen, aus, dann hat es der
Experimentator verabsäumt, die Versuchsperson zu fragen, was
er sie zu fragen wünscht. Die Versnchsanordnnng ist nichts
anderes als die eindeutige Formulierung der Frage. Das in
72
Morits Löwi,
der experimentellen Psychologie gangbare »unwissentliche Ver¬
fahren« hOrt auf, eine »Frage an jemanden« zu sein, es ist die
Frage an die Natur, es verstößt gegen die Aufgabennatnr des
Versuchs. Aufgabe für das Zukünftige ist gleich Besinnung auf
das Vergangene. Wenn also der Versnchsleiter vor dem schein¬
baren Beginn einer Versuchsreihe sich die technische Einrichtung
seines Vorhabens zurechtlegt, dann steht er nicht außerhalb
psychischen Geschehens, er überlegt nach gegenständlichen Prin¬
zipien mit Bezug auf sich selbst. Weil er selbst irgend etwas
in bestimmter Weise erlebt hat oder in bestimmter Weise er¬
leben kann, muß er sich darüber auch verständigen können,
müssen andere, seine Versuchspersonen, es in derselben Weise
erleben können. So erscheint hier die Anordnung als Frage.
Die Technik geht in die Methode ein. In der experimentellen
Psychologie fallen Technik und Methode zusammen.
Die Bestrebungen der modernen Prinzipienlehre in der Psy¬
chologie, so begannen die Darlegungen dieses Abschnittes, seien
nach zwei Zielpunkten hin gerichtet Sie wiesen einmal auf
die Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften,
des weiteren auf eine Lösung der psycho-physischen Frage. In
der Begründung der Psychologie als philosophischer Disziplin
gelingt es, beide Probleme miteinander zu verweben und eben
deswegen zu lösen.
Das Ergebnis der vorliegenden Betrachtung gestattet nun¬
mehr eine Stellungnahme zu jenen Prinzipienfragen.
Für die experimentelle Psychologie ist charakteristisch das
Zusammenfallen von Methode und Technik, für ihre Begriffs¬
bildung die Durchdringung von Begriff und Tatsache. Der Be¬
griff des Gegenstandes wird nach einer neuen Richtung hin der
Erkenntniswissenschaft zugänglich. Nicht allein, wie in den
Begriffen der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit sich Gegen¬
ständlichkeit begründe, ist das Problem, sondern auch wie Einzig¬
keit, d. i. der erlebte Augenblick Gegenständlichkeit schaffe. Der
experimentellen Psychologie wird damit ihre systematische Stellung
angewiesen. Sie ist Moment einer Theorie des Begriffs von
»Gegenstand überhaupt«. Damit sind die Beziehungen zum Ver¬
ständnis der psychophysischen Beziehung gegeben: Die Zuord¬
nung gewisser Erlebnisse zu physischen Gegenständen ist eine
besondere Invariante der Augenblickserfassung. Physische Gegen¬
stände sind Psychischem zugeordnet, sofern sie gewußt werden.
»Zuordnung« bedeutet hier eine gewußte Beziehung. Niemals
besteht das Problem zu Recht: wie müssen Naturgegenstände
Schwellennnteraachoiigeii. Theorie und Experiment.
73
geartet sein, damit um sie gewußt werde? So allein muß die
Fragestellung lauten: Wie muß das Wissen bestimmt sein,
damit ein Natnrobjekt erlebt werde?
Die Empfindungslehre bildet sonach keinen Sonderbezirk
innerhalb der experimentellen Psychologie. Auch sie unterliegt
den das Wissen bestimmenden Bedingungen. So wird die durch¬
gängige Systematik in der Psychologie allererst »möglich«. Der
dogmatisch-falsche Anschluß an die Naturwissenschaften zerreißt
den systematischen Zusammenhang der psychischen Erscheinungen.
Er vermag nicht, sie als Tatsachen, als Gebilde des Augenblicks
zu sichern.
Die Theorie der Gegenständlichkeit als Theorie des Einzig¬
artigen, Augenblicklichen bereitet den Boden für eine kraft¬
volle Entfaltung der Lehre vom Psychischen.
Eingegangen am 29. Desember 1928.
(Ans dem Psychologischen Institut der Universität Moskau.)
Znr Frage über die Transformation der Helligkeit
Von
S. W. KravkoT (Moskau).
(Mit einer Fignr im Text.)
Schon H. V. Helmholtz^) und E. Hering*) haben darauf
hingewiesen, daß bei unseren Wahrnehmungen die Farben und
Helligkeiten der Gegenstände, in sehr breiten Grenzen unab¬
hängig von den Belichtnngsänderungen, unverändert aussehen.
Die Ursachen solcher Erscheinung liegen nach Herings An¬
sicht in den peripheren physiologischen Gesetzmäßigkeiten nnseres
Sehorgans: l.PupUlenreflez, 2.Simultankontrast(>Wechselwirkung
der somatischen Sehfeldstellen aufeinander«) und 3. Adaptation
(»Zustandsänderungen, welche das innere Auge infolge andauernd
stärker oder schwächer gewordener Gesamtbelichtung der Netz¬
haut erfährt«).
Es gibt aber Fälle, in welchen »zu den soeben beschriebenen
physiologischen Faktoren, welche neben den eben wirkenden
Strahlnngen die Farbe der Sehdinge bestimmen, gesellt sich also
noch einer, den man, nach der üblichen Terminologie, als einen
,psychologischen‘ bezeichnen könne«.
Als Beispiel solcher Fälle führt Hering folgenden Versuch
an*): Wenn wir uns mit dem Bücken an ein Fenster stellen,
ein Stück dunkelgraues Papier in die Hand nehmen und mit
beiden Augen abwechselnd bald dieses Papier, bald die dahinter
liegende weiße Zimmerwand betrachten, so erscheint uns die
Wand weiß, das Papier dnnkelgrau, obwohl es wegen seiner
günstigeren Beleuchtung objektiv viel lichtstärker ist als die
Wand. Die entferntere Zimmerwand erhält also eine subjektive
1) Handb. d. pbysiol. Optik, 2. A., S. 550—556.
2) B. Hering, GmndzUge der Lehre vom Lichtsinn, I.Lieferung, 1905,
S. 18 ff.
8) E. Hering, ibidem S. 10.
S. W. KravkoT, Zur Frage ttber die Transformation der Helligkeit. 75
Aofhellong. Ein weiterer Schritt in der Erforschung dieses
Phänomens wurde von D. Eatz*) gemacht
Versuche über den Einfluß der Entfernung wurden von ihm
in folgender Weise dnrchgefflhrt Die Versuchsperson saß mit
dem Rücken an einem Fenster und hatte die Aufgabe, die
Helligkeit zweier vor ihr stehender grauer rotierender Scheiben
zu vergleichen. Die eine befand sich in der Entfernung von
1,5 m, die andere 5 m von ihr. Der Hintergrund war für beide
Scheiben der gleiche. Die Durchmesser beider Scheiben wurden
so gewählt, daß sie unter gleich großem Sehwinkel erschienen.
Die Versuchsperson sollte die Größe des weißen Sektors in der
näheren Scheibe so lange ändern, bis diese Scheibe der ent¬
fernteren, ihrer Helligkeit nach, gleich wurde.
Die erhaltenen Resultate haben gezeigt, daß die Versuchs¬
personen die nähere Scheibe immer bedeutend heller machten,
als es nötig wäre, in dem Falle, wenn sie die ganze Versuchs-
anordnnng nicht sehen würden, und nur die Helligkeit der
Scheiben durch die von innen geschwärzten Rohre vergleichen
wurden.
In einer anderen Serie stellte Katz seinen Versuchspersonen
die Aufgabe, zwei graue Scheiben nach ihrer Helligkeit gleich
zu machen, indem eine der Scheiben mit einem undurchsichtigen
Schirme, der von der Seite der Beleuchtung stand, beschattet
wurde. Die beiden Scheiben standen vor objektiv gleich hellem
Hintergründe.
Die beschattete Scheibe erfuhr bei Versuchspersonen immer
eine subjektive Aufhellung, der zufolge die Versuchspersonen in
die nnbeschattete Scheibe mehr Weiß zusetzten, als es nötig
wäre für die objektive Gleichung, wenn mittels eines speziellen
(»reduzierenden«) Schirmes, die Möglichkeit, die ganze Versuchs-
anordnung zu überblicken für die Versuchspersonen ausgeschlossen
wäre. Wie nach dem erst beschriebenen Versuche Herings,
so auch nach eben erwähnten Experimenten Eatzs’, blieb es
aber möglich, die erwähnte subjektive Aufhellung objektiv
dunklerer Gegenstände durch die peripheren (im Sehorgane
liegenden) Faktoren zu erklären. Im Versuche Herings, wo
von den Versuchspersonen das Fixieren des nahen Papierstückes
verlangt wurde, war die Eonvergenz (also auch der Pupillen¬
reflex) nicht ausgeschlossen.
1) D. Katz, Die Erscheiniuigsweiseii der Farben, 1911, §§ 9 a. 14.
76
S. W. KraTkoT (Hosksn),
Bezüglich der Experimente von Eatz ist ebenfalls der Ver¬
dacht nicht ausgeschlossen, daß bei seinen Versnchspersonen die
Konvergenz mit dem Pupillenreflexe ebenso stattgefnnden hat,
wenn auch nicht so ausgeprägt^)
In seinen Experimenten mit dem beschattenden Schirme war
der Pnpillenreflex bei seinen Versuchspersonen möglich beim
Übergehen ihres Blickes von der beleuchteten Scheibe zur be¬
schatteten, welche im allgemeinen im dunkleren Zimmerteile sich
befand.*) Die Versuche über die Schätzung der Helligkeit eines
beschatteten, achromatischen Objekts wurden neuerdings von
E.ItJaensch*) wiederholt Die von ihm verwendete Ver¬
suchsanordnung unterschied sich von der von Katz benutzten
dadurch, daß er hinter die beschattete Scheibe weißes, hinter
die unbeschattete schwarzes Papier stellte. Die Erscheinung der
subjektiven Aufhellung des Beschatteten wurde auch bei dieser
Versuchsanordnung in vollem Maße beobachtet.
Und doch ist es a priori nicht ausgeschlossen, daß auch bei
Jaenschs Versuchsergebnissen die peripheren physiologischen
Faktoren die entscheidende Bolle gespielt haben. Erstens, man
könnte wieder an den Pupillenreflex denken, der wahrscheinlich
beim Übergange des Blickes der Versuchspersonen von der im
ganzen helleren zu der im ganzen dunkleren Sehfeldseite sich
vollzog. Zweitens, könnte man glauben, daß die Helligkeits¬
verschiedenheit beider Hintergründe hier die Wirkungen des
sukzessiven Kontrastes erweckte, die auch gerade in der Bichtang
der subjektiven Aufhellung des Beschatteten die Besultate be¬
einflussen konnte. Um diese Frage von der jetzigen
Möglichkeit einer peripheren Erklärung der oben
beschriebenen Phänomene der subjektiven Aufhellung
des Beschatteten ganz bestimmt zu beantworten,
so daß für den Zweifel der allerstrengsten Skeptiker kein Platz
mehr bleibt, haben wir die vorliegende Arbeit an¬
gestellt
1) Weil das nähere Objekt von der Versnchsperson ziemlich entfernt war.
2) In der Anmerkung auf S. 869 finden wir zwar bei K a t z die Be¬
hauptung, dafi alle seine Versuche mit demselben Erfolge such mit einer
künstlichen, dicht vor das Auge gebrachten Pupille sich anstellen lassen.
Es ist aber nicht zu ersehen, dafi diese Bedingung auch in den Ton ihm
beschriebenen Experimenten, welche im Texte seines Buches erwähnt sind,
erfüllt wäre.
8) E. B.JaenBch und E. A. M ü 11 e r, Wahrnehmung farbloser Hellig¬
keiten und Helligkeitskontrast. Zeitschrift f. Psychologie, 1920, Bd. 88.
Zar Frage ttber die Transformatioa der Helligkeit.
77
Methodik.
Die von uns durchgeführten Experimente bilden drei Ver-
snchsserien:
Die Versnchsanordnimg unserer ersten Serie (Serie I) ist der
von Jaensch benutzten genau gleich.
In der zweiten Serie (Serie II) wurde der mögliche Einfluß
des Pupillenreflexes durch Atropin beseitigt.
In der dritten Serie (Serie m) wurde der Pupillenreflex
ebenso wie auch die mögliche Wirkung des sukzessiven Kon¬
trastes völlig ausgeschlossen, der erste durch Atropin, die letztere
durch die Gleichheit der Untergründe.
Unsere Versuchsanordnung ist aus der Abb. 1 zu ersehen.
Abb. 1.
Kt and Kt = die Scheiben
b. S. = beschattender Schirm
r. S. = redazierender Schirm
Fj and Ft = zwei Fenster
Vp. = die Versnchsperson
Wir haben unseren Versuchspersonen die folgende In¬
struktion gegeben: »Sie sollen die Scheibe E^, ihrer Hellig¬
keit nach, der Scheibe E, gleich machen; die mögliche Farben¬
differenz zwischen beiden Scheiben sollen Sie dabei nicht beachten;
Sie sollen sich bei Ihren Urteilen derselben Kriterien bedienen,
die Sie im gewöhnlichen Leben benutzen, und welche Urnen
einige Dinge (wie z. B. Stoffe, Tapeten u. dgl.) ,dnnkel', die
anderen ,hell‘ erscheinen lassenc.
78
S. W. KraTkoT (Moskaa),
Die VersuchspersoDen sollten die Helligkeiten beider Scheiben
zuerst durch den reduzierenden Schirm vergleichen, nm Glleich-
heit zwischen ihnen herznstellen. Unmittelbar nachdem ver¬
glichen sie die Helligkeiten ohne reduzierenden Schirm. Alle
übrigen Versnchsbedingnngen blieben also unverändert.
Die erste Gleichheitsherstellnng gab uns den Wert Vq, d. h.
die >objektive< Größe der Variabel (EJ in den Graden des
weißen Sektors aasgedrückt; die Gleichheitsherstellnng ohne
reduzierenden Schirm gab uns den Wert Vg, d. h. die >subjektive«
Größe der Variabel in demselben Maße ansgedrückt. Die schwarzen
Sektore rechneten wir der Einfachheit halber für absolut schwarz.
Es wurde beachtet, daß für Vg die Versuchspersonen immer
nur die linken Hälften der Scheiben verglichen, damit eine
mögliche Wirkung der Ungleichmäßigkeit der Beschattung der
Scheibe K, völlig ausgeschlossen wäre.
Der reduzierende Schirm war an der der Versuchsperson zu¬
gewandten Seite mattschwarz, an der den Scheiben zugewandten
Seite weiß. Er selbst verdunkelte die Scheiben gewiß nicht
Nach jeder Versuchsreihe verlangten wir von unseren Ver¬
suchspersonen introspektive Beschreibungen..
Ergebnisse.
Serie L Die von uns erhaltenen Resultate haben voll¬
ständig das von Jaensch Gefundene bestätigt. Die »objektiv
gleichen« Helligkeiten bleiben nicht mehr gleich, wenn wir sie
ohne reduzierenden Schirm vergleichen, sondern die beschattete
Scheibe (E,) bekommt eine subjektive Aufhellung. Dieses Ver¬
hältnis wurde von uns aus den 58 Einstellnngspaaren in 55 Fällen
beobachtet
Wie groß diese subjektive Aufhellung des Beschatteten war,
ist aus der Tabelle I zu ersehen.
Tabelle I.
Bei Eg
90® weiß
180® weiß
270® weiß
860® weiß
Mittlere
Mittlere
Mittlere
Mittlere
y _y
Variatioo
Va—V«
Variation
Va—Vo 1
Variation
V« — Vfl
Variation
Vpp.
der einz.
der einz.
der einz.
der einz.
Einstell g.
Einstellg.
!
Einstellg.
Einstellg.
in»;. V.
Vo in %
ln Vo
Vo ln •/,
in»/,Vo
Vo in »1.
in»;,V.
V, ln
S.
80
11
19
10
49
10
46
16
B.
87
11
89
17
88
8
69
7
G.
67
20
34
23
—
—
42
16
Sch.
0
26
16
18
81
16
26
8
Durch-
8chnittlich
31
17
89
16
66
10
48
6
Zar Frage ttber die Tranaformatioii der Helligkeit.
79
Serie IL Mit Atropin; Hintergründe verschieden helL
Die nämliche subjektive Aufhellung des Beschatteten wurde
aus den 26 Einstellnngspaaren in 18 Fällen beobachtet.
Quantitative Seite ist aus der Tabelle H abzulesen.
Tabelle IL
£eiK,-=
90° weis
180® weiß
240® weiß
860® weiß
Vpp.
Vg-V.
h> % V.
BfitÜere
Variation
der einz.
Einstellg.
V,to •/,
Vg-Vo
Mittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Ve in %
Vg-V.
in ‘/oV,
Mittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo in •/o
Vg-V,
in*/.Vo
Ifittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo in %
S.
16
84
66
_
86
B.
61
—
98
10
68
—
61
—
G.
—
18
17
12
—
—
16
6
IhiToh-
schziittlioh
ao
48
69
84
Ans diesen Resultaten sieht man, daß der Pupillenreflex
in dem Zustandekommen der Transformations-
erscheinnng keine Bolle spielt
Serie ICL Mit Atropin; Hintergründe gleich helL
In den 27 Fällen aus den 33 Einstellnngspaaren beobachteten
wir dieselbe subjektive Aufhellung der Scheibe K,.
Die Ergebnisse dieser Serie sind in der Tabelle LH gezeigt.
Tabelle m.
Bei Kg =
90® weiß
180® weiß
270® weiß
Vpp.
Vg-V,
V.
Mittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo in •/.
Vg-Vo
ln 7. V„
Mittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo in %
Vg-V.
in •/. V,
Mittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo ln %
SB
Blittlere
Variation
der einz.
Einstellg.
Vo in V
Ga.
2
16
88
7
8
10
11
4
0.
48
7
28
6
6
18
6
Dnroh-
Bohnittlich
26
11
28
6
19
8
12
6
Also der mögliche Snkzessivkontrast (bei Jaenschs Ver-
suchsanordnnng) für die Helligkeitstransformation ist ebenso
ohne Bedeutung.
Wir gehen hier nicht in die Interpretation der einzelnen
von uns erhaltenen Daten ein. Sie hängen gewiß in großem
Maße von der Individualität unserer Versuchspersonen ab.
1) Wo keine mittlere Variation angebracht ist, haben wir nnr eine
einaelne Beobachtung gehabt.
80
S. W. ErarkoT (Moskaa),
Fftr uns ist nur wichtig, dafi wir nach unseren Versnchen
ganz entschieden behaupten können, daß die Helligkeits>
transformation sich nicht durch die peripheren (im
Sehorgane liegenden) Faktoren erklären läßt.
Daraus folgt, daß die Ursachen dieser Erscheinung in zentralen
Faktoren zu suchen sind.
Über die letzteren aber können wir aus den Selbstbeobach¬
tungen der Versuchspersonen etwas erfahren.
Die Selbstbeobachtungen der Versuchspersonen
zeigen uns, daß die Versuchspersonen, mehr oder
weniger bewußt, den Schatten von dem Beschatteten
selbst abzuziehen versuchten.
So lesen wir z. B.:
»Ich unterscheide die Helligkeit selbst der vor mir
liegenden Scheibe von der umgebenden Beleuchtung. Die
Farbe der Scheibe erscheint mir selbst nicht dunkel, aber
ich weiß, daß sie beschattet ist; um die Helligkeitsgleichung
herzustellen, soll ich diesen Schatten wegnehmemc
(Vp. S. 5./IV.)
»Die Beschattung ist für mich etwas anderes als die
Verdunkelung der Farbe selbst.« (Vp. S. 5./IV.)
»Beim Vergleichen hatte ich immer eine Voraussetzung:
auf die Scheibe E, fällt ein Schatten; ich bemühte mich,
das bei der Schätzung nie zu vergessen.«
(Vp. G. 20./V.)
»Beim Vergleichen durch den reduzierenden Schirm sind
meine Antworten unmittelbarer (sie kommen ,sogleich'), als
wenn kein Schirm da wäre; in letzterem Falle bedarf ich
immer einer bewußten Anstrengung.« (Vp. G. 27./IIL)
»Die Farbe (hier gleich ,Helligkeit‘) unterscheidet sich
von der Beschattung.« (Vp. Sch. 24./IIL)
»Die Scheiben sehen verschieden aus: E, ist mit irgend«
einem Grau bedeckt.« (Vp. Sch. 24./rV.)
Daraus könnten wir schließen, daß die Ursache der Trans-
formationserscheinnngen in unserem »Urteilen« liegt Es soll
nur hier daran erinnert werden, daß dieses »Urteilen« nicht
immer bewußt zu sein braucht.
Solche Auffassung findet eine Stütze in den Ergebnissen
einer, die Beziehung des Zwischenmedioms zu den Transfor¬
mationserscheinungen betreffenden Arbeit, die neuerdings von
Zar Frage ttber die Traasformation der Helligkeit.
81
Thea Gramer^) durchgefflhrt worden ist. Sie zeigen uns, daß
die Transformation umso mehr sich geltend macht, je weniger
wir das Zwischenmedinm selbst bemerken, je mehr wir uns
also des zn schätzenden Feldes als eines selbsständigen Gegen¬
standes bewußt sind.
Die sorgfältigen Versuche W. Köhlers*) auf der anderen
Seite aber haben bewiesen, daß Schimpansen und Hfthner, ebenso
gut wie die Menschen, die Lichteindrttcke transformieren.
Der letzte Umstand veranlaßt uns den wahren Grund
der Transformationserscheinung in einem solchen
psycho-physiologischen Faktor zn suchen, der
irgendwo tiefer liegt und von primitiverer Natur
ist, als unser menschliches Urteil.
Die Versuche wurden im psychologischen Institut der Uni¬
versität Moskau, im Frühling 1923, mit acht psychologisch ge¬
schulten Versuchspersonen durchgeftthrt.
Dem Schöpfer dieses Instituts, meinem hochverehrten Lehrer,
Herrn Prot Tschelpanoff, sowie auch allen meinen Versuchs¬
personen: FrL Bulgakova, Frl. Govseeva, FrL Salesskaja, Frl.
Odinzova, FrL Schneerson, Frl. Schnkina, Herrn Privatdozent
Dr. N. Fedorov und Herrn stud. Gussev bin ich zn tiefstem
Dank verpflichtet.
1) Thea Gramer, Über die Beziehang des Zwischenmedioms za deo
Tramsformations- ond Kontrastserscheinangen. Zeitschr. f. Sinnesphysiologie,
1928, Bd. 64.
2) W. KOhler, Optische Untersachongen am Schimpansen and am
Hanshnhn. Abhandl. d. k. preodischen Akad. d. Wissenschaften. Phys.-Math.
Kl., 1916, Nr. 8.
Eingegangen am 18. Febrnar 1924.
Archiv ffir Psychologie. XLVUi.
6
[Ans dem Psychologischen Institnt der Uniyersität Kiel.]
Bechterews Theorie der Eonzentrienmg.
Eine kritisohe Stndie
als Beitrag zni Analyse des Anhnerksamkeits-Problems.
Von
Bmno Petermann.
Das psychologische Denken W. von Bechterews ist ein emi¬
nent systematisches. Es l&ßt sich in seinen Wnrzeln Tollständig
erfassen von zwei axiomatischen Prinzipien ans.
Das erste Axiom gibt eine methodologische Bestimmung
der Psychologie: Wahrhaft wissenschaftliche Psychologie mnß
verzichten anf die gmndsätzlich wertlose, introspektiv-snbjek-
tivistische Beobachtnng nnd kann sich allein gründen anf objek¬
tivistische Verfahren. Wenn es fiberhanpt wissenschaftliche
Psychologie geben kann, so nnr eine objektive Psychologie,
eine Biologie der Nenropsyche.
Das zweite Axiom gibt eine inhaltliche Bestimmnng
dieser Psychologie: Das nenropsychische Leben, objektiv be¬
trachtet, ist zn fassen als ein Beflexgeschehen komplizierter Art,
als ein System von isolierten Psychoreflexen in assoziativem
Znsammenhang, nach dem Schema des einfachen Assoziations¬
reflexes. Objektive Psychologie ist Psychoreflexologie.
In diesem Bahmen entwickelt sich eine geschlossen syste¬
matische Theorie des neuropsychischen Oesamtgeschehens, die
sowohl in der Eigenart ihrer prinzipiellen Orientierung wie in
der meist gewahrten Strenge und Folgerichtigkeit der konkreten
Entwicklung bemerkenswert ist.
Wir wollen versuchen, die Auswirkungen der Bechterewschen
Position speziell in seiner Theorie der Konzentrierung zu ver¬
folgen, zur kritischen Beurteilung ihrer Tragfähigkeit aus der
Behandlung dieser Spezialfrage heraus.
1. Die Merkzeichen des Eonzentrierungsphänomens
reduzieren sich für Bechterew im Gefolge seiner objektivisti¬
schen Auffassung notwendig in charakteristischer Weise:
Bruno Petermann, Bechterews Theorie der Konzentrierung. 83
Für die äußere Eonzentriemng ist im Grunde danach nichts
weiter kennzeichnend als die »Anpassung der perzipierenden
Organe an die Reizquelle«, also das Einstellen der Augen, das
Ohrenspitzen; die innere Eonzentrierung ist »durch möglichste
Beseitigung aller äußeren Einwirkungen und Hemmung aller
Bewegungen« charakterisiert.
Wir bemerken sofort, daß diese Bestimmungen der Eonzen-
triemngsphänomene jedenfalls nicht das treffen, was man üblicher¬
weise unter Eonzentrierung oder Aufmerksamkeit versteht
Es braucht nur erinnert zu werden an die Tatsache, daß
sehr wohl etwas Gegenstand der AuMerksamkeit sein kann,
ohne daß man die Augen direkt darauf richtet, daß man »be¬
achten« kann, ohne zu »fixieren«. Es braucht nur darauf hin¬
gewiesen zu werden, wie gerade die »innere« Arbeit bei manchem
u. U. dadurch gefördert wird, daß er etwa in dem Arbeitszimmer
nmhergeht, ja daß gerade bei intensivster Arbeit man aufspringt
und im ümhergehen die Gedanken besonders leicht Gestalt an¬
nehmen sieht
Die von Bechterew angeführten objektiven Merkmale er¬
schöpfen somit nicht den ganzen Bereich der Tatsachen, die ge¬
meint sind, sie heben vielmehr nur einen Teil heraus.
2. Festgehalten werden soll in der Tat aber auch in der
Bechterewschen Umschreibung der Merkzeichen des Aufmerk¬
samkeitsphänomens eigentlich etwas anderes: ein »Gerichtetsein
der Neuropsyche« auf den Reiz.
Dies Gerichtetsein ist es, welches in der objektiven
»Einstellung« der Organe bei äußeren Reizen erfaßt ge¬
dacht wird. Dies ist auch das eigentliche Prinzip, welches die
Unterscheidung zwischen der äußeren und inneren Eonzentriemng
begründet, wenn man die innere Eonzentriemng dadurch kenn¬
zeichnet, daß sie sich »auf Spuren (= innere Erregungen)
richtet«. •
Es erhebt sich die Frage, ob und in welchem Sinne mit
dieser Formulierung eine zureichende Bestimmung des Phänomens
geleistet ist, genauer, welchen Sinn zunächst diese Formel von
der Gerichtetheit besitzt
Um die Bahn zu einer umfassenderen als der zunächst auch
uns hier vorgeschriebmien rein objektivistischen Betrachtung frei
zu machen, heben wir bereits an dieser Stelle zur grundsätz¬
lichen Stellungnahme gegenüber Bechterew eins heraus:
Einstellen, beachten kann man nur etwas, was man schon
irgendwie »hat«: Die Einstellung muß notwendig innerhalb des
6 *
84 Brnno Petermann,
Gegebenen bestinunt werden. Inhalt unsrer Gegebenheit sind
aber allein die bewußten Eindrhcke (bezw. — beim Sachen eines
noch nicht direkt Gehabten — ebenso erlebte reproduktive
Wissenszusammenhänge), niemals aber die Reize.
Nur von den Wahmehmungsgegenständen, den Seh* und Tast>
dingen aus, nicht aber von den Reizen kann der Sinn dessen,
was wir mit dem Wort >Einstellang« meinen, aufgeklärt und
verstanden werden — ein Schlüssel für viele Mißverständnisse.
Wenn Bechterew im Gefolge seiner objektivistischen Prin¬
zipien sich ausschließlich am Reiz orientiert, der seinerseits
wieder nur als theoretisch-abgeleitete Abstraktion, nicht aber
als einzige oder absolute Realität aufgefaßt werden darf, so
scheint uns darin nur ein grundsätzlicher Mangel seiner Gesamt¬
betrachtungsweise charakterisiert, der sich allein aus einer nicht
genügend konsequenten erkenntnistheoretisch - philosophischen
Durchdenkung der Voraussetzungen unsres >objektiven< Welt¬
bildes erklärt.
Wir wagen es demnach, auf die Analyse der erlebnismäßigen
Seite Bezug zu nehmen, um so mehr, als diese Betrachtung
wiederum auf immanente Kritik zurückführt, indem sich zeigt,
wie der objektive Befand selbst, so wie er dem Objektivisten
auch vorliegt, in seiner Geschlossenheit und Einheitlichkeit erst
dann sich enthüllt, wenn man ihn, wissentlich oder unwissentlich,
mit den Ergebnissen der Introspektion im Zusammenhang sieht.
Dieser Zusammenhang wird deutlich bei der Erörterung der
weiteren Fragen, die sich anschließen an die Formnlierang
Bechterews von der Konzentrierung als eines Zustandes des
»Sich-richtens auf etwas c.
3. In jener Formulierung kommt ein Moment zum Ausdruck,
welches auch in subjektivistischen Theorien der Aufmerksamkeit
oft eine zentrale Bedeutung besitz^: Für die Eigenart der Auf¬
merksamkeit ist danach bezeichnend ein intentionaler
Charakter; sie wird als Erlebensform einer spezifischen Ich-
Gegenstands-Beziehung angesehen.
Es lohnt sich, hier eine genauere Analyse anzuschließen,
welche diese Beziehung aufklärt
Die auf Grund dieser Beziehung erfolgende Abgrenzung der
Aufmerksamkeit als eines besonderen seelischen Phänomens gegen¬
über anderen leitet sich her von solchen Fällen, in denen uns
eine charakteristische »Einstellung« auf einen bestimmten Gegen¬
stand als solche zum Bewußtsein kommt.
Bechterews Theorie der Konzentrierung.
85
Dies BewoBtwerden jener Beziehung des >Ich< zum >Gegen-
Stande der Aufmerksamkeit ist in diesen Fällen typisch gebunden
an die Einordnung des eigenen Körpers, wie wir ihn erlebens¬
mäßig auffassen, in den Baumzusammenhang der Wahmehmungs-
umwelt, und an die abstraktive Heraushebung einer Bezogenheit
dieser Körperlichkeit auf die Wahmehmungswelt. Als Grundlage
dafür, daß diese Bezogenheit als ein Gerichtetsein, als ein ge¬
spanntes Hinwenden aufgefaßt wird, müssen insbesondere die
Spannungsempfindungen der Organe angesehen werden.
Das Körperbewußtsein ist Ausgang für jene Ich-Bezogenheit.
(Dabei stellt sich uns aber in diesem Zusammenhang auch die
Objektsbezogenheit durchaus in immanenter Kennzeichnung dar,
und es muß nur gewarnt werden vor einer etwa metaphysisch¬
realistischen Auffassung dessen, was mit dem Wort Gegenstand
gemeint ist. Es ist jedenfalls möglich, dies Wort auch vom
bewußtseins-immanenten Standpunkt ans zu fassen.)
Von den prägnantesten Fällen her erhält dann der Begriff
der Aufmerksamkeit eine Erweiterung auch auf solche Fälle,
in denen diese oben hervorgehobenen Körpermomente nicht be¬
wußt sind, in denen sie nicht da sind.
Es ist die Frage, ob man in diesen Fällen den Aufmerksam¬
keitszustand als ein Gerichtetsein kennzeichnen darf bezw. in
welchem Sinne man das darf. Es ist gut, wenn man sich darüber
hinaus bewußt bleibt, daß jene abstrakten Beziehungen bezw.
ihre eindrucksmäßigen Grundlagen (Spannungsempfindnngen) nicht
mit zum Phänomen der Aufmerksamkeit gerechnet zu werden
pflegen, vielmehr als Begleiterscheinungen angesehen werden.
Muß man da nicht am Ende versuchen, den Begriff »neutraler«
zu fassen?
4. Den Zugang für eine Formulierung der fraglichen Um¬
stände gewinnt man vielleicht am einfachsten, wenn man sich
klar macht, wie man die verschiedenen, sukzessive variierenden,
konkreten Aufmerksamkeitsznstände in ihrem Wechsel unter¬
scheiden kann bezw. unterscheidet
In jedem >Querschnitt« unsres Lebensablanfs haben wir im
Erleben jeweils ein Ganzes von Inhalten vorstellungsmäßig¬
qualitativer, gedanklicher, affektiver Art. All das wird letztlich
irgend wie vorgefunden in seiner Mannigfaltigkeit, wenn auch
die Einzelmomente in abstraktiver Heraushebung erst im Augen¬
blick einer psychologischen Einstellung »bewußt«, d. h. in be¬
grifflich klarer Weise voneinander als differente Inhaltsformen
unterschieden werden, und es stellt sich dar als eine Ganzheit,
86
Bruno Petermann,
sofern jene Mannigfaltigkeit als eine geoi'dnete, in sich einheit¬
liche erscheint und sofern eine Isoliemng Yon Teilinhalten erst
durch solche abstraktive Heranshebnng verwirklicht wird.
Der Begriff der Anfmerksamkeit kann in diesem Zusammen¬
hang, wenn man sich einmal völlig frei macht von aller ver¬
mögenspsychologischen Betrachtung, lediglich seine Bestimmung
finden ans der Eigenart dieser Gegebenheit.
Daß dabei jede Ichbezogenheit fehlen kann, ja daß diese
eventuell geradezu schädlich, störend wirken kann, ist eine nicht
seltene Erfahrung.
Wie ist die Konzentrierung zu kennzeichnen?
Ein Beispiel: Ich sitze am Schreibtisch, eine Arbeit vor mir;
eine glückliche Stunde. Die Gedanken strömen zu, kaum kann
die Feder die Worte so rasch formen. Ganz fern von aller
Umwelt entwickelt sich die innere geistige Welt völlig in sich
geschlossen. Nichts wird >bemerkt<, was von außen ablenkend
wirken könnte, der Straßenlänn, das Läuten der Türglocke, das
Elavierspiel eines Hausbewohners über mir; ich habe das alles,
es ist »auch da«, aber es wird eben nicht beachtet —, ein Bild
höchster »Konzentrierung«.
Allein, eigentlich liegt doch keine Konzentrierung im
prägnanten Sinne des Wortes vor: da ist nicht etwas, was sich
konzentriert, eine Konzentrierung, die sich richtet, sondern es
liegt lediglich ein Gesamtznstand vor, der in der phänomeno¬
logischen Stmkturbeziehung seiner Momente typische Eigenart
aufweist Diese Eigenart eben gilt es zu kennzeichnen.
Sachlich zutreffend kann man allgemein vielleicht von einer
spezifischen Zentriertheit des seelischen Geschehens sprechen,
besser als von einer Konzentriertheit des Individuums.
Das für die nähere Bezeichnung dieser Zentriertheit des
Bewußtseinsznsammenhangs wohl brauchbare Bild von einem
»Bewußtseinsrelief« weist hin auf den formalen Charakter
dieses Bestimmungsmomentes der konkreten Aufmerksamkeits¬
zustände; es hebt zugleich ein anderes hervor: daß nämlich nie¬
mals Aufmerksamkeit sich auf einen bestimmten Gegenstand
richtet, daß vielmehr allein eine formale Kennzeichnung möglich
ist, in Hinblick auf die Art, wie der Gegenstand, d. h. der Be¬
wußtseinsinhalt (Vorstellungsgegenstand) im Vergleich mit anderem,
gleichzeitig Gehabtem gegeben ist
Wir glauben: der momentane Aufmerksamkeitszustand als
individueller ist aUein zu kennzeichnen auf Grund einer solchen
formalen Bestimmtheit im Gesamtbilde des momentan überhaupt
Bechterews Theorie der Konzentrierung.
87
yorstellnngsmftfiig gedanklich Gehabten; und nmgekehrt, die
Fixiemng der formalen Bestimmtheit im jeweiligen Augenblick
ist ansreichend znr Charakterisierung dieses jetzt daseienden
Anfmerksamkeitsznstandes — im Gegensatz zu anderen Anf-
merksamkeitseinstellnngen >gegenflber« dem >gleichen< gegen¬
ständlich Gehabten.
5. Diese Kennzeichnung des Anfmerksamkeitsznstandes ans
einer formalen Bestimmtheit bedingt einen prinzipiellen Gegen¬
satz gegenüber Bechterew.
Für Bechterew ist jeder. Eonzentriernn’gsakt — als
bestimmter Einzelreflex unter yielen gleichartigen anderen —
gleichberechtigt mit jenen und von ihnen allen grundsätzlich in
seinem Bestände unabhängig zu denken; er wird (in bezug auf
sein So-sein) als inhaltlich bestimmter Sonderprozeß von
irgendwie in sich bestimmt gedachter Eigenstruktnr anfgefaßt.
Von dem skizzierten formalistischen Standpunkt ans kann
man jene Gleichberechtigung nicht anerkennen. Denn eine
>reale< Isolierbarkeit, wie sie bei Bechterew mitgedacht
wird, kann es fflr diese angeblichen >Elementarreflexe< nicht
geben; die Eigenart des jeweiligen Eonzentriemngsvorganges
wird Ton den formalen Beziehungen inhaltlich bestimmter, quali¬
tativer Prozesse her abgeleitet.
Bei Bechterew Anden wir eine t 3 rpische atomistische Auf¬
fassung, und zwar ist diese Auffassung notwendig mit seiner
ganzen Gmndeinstellung verbunden.
Es ist die Frage, ob man damit anskommt, ob man nicht,
schon vom rein objektivistischen Standpunkt aus, noch anders
Vorgehen muß.
In der Tat bestätigt sich gerade an dem Phänomen der >Ein-
stellung«, wie es objektiv sich darstellt. Wir verzichten darauf,
dies an einem konkreten Fall zu exempliflzieren, da ein sehr
passendes Beispiel, ähnlich dem, das wir zunächst planten, sich
— in etwas anderem Zusammenhang allerdings — bei Eof fka,
in seiner Polemik gegen den Behaviorismus, flndet.^)
Wir stimmen im Anschluß an jenes Beispiel mit Eof fka
hberein darin, daß eine Möglichkeit, ein objektives (Gesamt-)
Verhalten des Tieres wissenschaftlich zu verstehen, allein dann
vorliegt, wenn man, über die einfache Aufzählung der einzelnen
»Ehnstellungsbewegnngen« (Ohrenspitzen, Augenrichten, Mnskel-
1) Man lese nach bei Eof fka, Grandlagen der psychischen Entwicklang
1921 8.14.
88
Bruno Petermann,
spannen, Körperhaltung, Atmung, Pnls nsw.) hinaus, eine zusammen-
fassende Betrachtung ansetzt, die jene Einzelzustände als Aus¬
druck einer Gesamthaltnng versteht. — Daraus ziehen wir aller¬
dings an sich noch nicht jene weittragenden Folgerungen, die
Koffka hier ableitet; wir halten den Behaviorismus damit noch
nicht unmittelbar für Überwunden. Für den Bechterewschen
Standpunkt scheint uns die eigentliche Schwäche vielmehr darin
zu liegen, daß unter reflexologischer Betrachtung ausschließlich
eine atomistisch-synthetische Darstellung möglich ist, während
die objektivistische Analyse, von den Tatsachen ans, zu einem
anderen Standpunkt führt; wir sehen hier einen Widerstreit
zwischen den beiden Leitmotiven Bechterewschen Denkens.
6. Wir wollen den eigentlichen Gehalt dieser Schwierigkeit
genauer verfolgen an dem theoretischen Zusammenhang, in dem
die Konzentrierung als Prozeß sich bei Bechterew darstellt,
in einer Analyse des Reflexzusammenhangs.
Auch hier ist typisch die Reduktion auf einen Elementar¬
vorgang, den einfachen Reflex als Ablauf.
Bechterews Auffassung der Konzentrierung als Psychoreflex
bedingt es, daß die Konzentrierungsvorgänge mit Notwendigkeit
in charakteristischer Weise isoliert und damit zugleich ver¬
gegenständlicht werden.
Denn Reflexe sind für Bechterew, als singuläre, für sich
bestehende und in sich abgeschlossene Einheiten, Elementar¬
prozesse, aus denen sich das Gesamtgeschehen in synthetischer
Weise aufbaut
Eis ist die Frage, ob dieser ganz traditionell gefaßte gegen¬
ständliche Reflexbegriff eine mögliche Grundlage für
die Untersuchung geben kann bezw. geben darf.
a) Eis ist sehr einfach zu sagen, der Reflex sei ein ge¬
schlossener Abl&uf, gekennzeichnet durch die drei aufein¬
anderfolgenden einfachen und eine Einheit bildenden Teilprozesse
der zentripetalen Leitung, der Erregung in den Zellen der Zentral¬
organe und der zentrifugalen Leitung. Indessen, wir wissen
aus der neurologischen-physiologischen Untersuchung, daß selbst
der allereinfachste Reflex, als funktionelles System betrachtet,
sich in eine unübersehbar komplizierte Mannigfaltigkeit von
Prozessen auflöst, die sich in verwickeltster Weise in den Gesamt¬
zusammenhang des physiologischen Geschehens einordnen, derart,
daß von dem Inhalt des Reflexschemas eigentlich nichts übrig
bleibt als eben ein grob äußerliches Schema, das bereits für den
biologisch-physiologischen Standpunkt anfängt, eine Verfälschung
Bechterews Theorie der Eonzentriening.
89
des Tatsächlichen darznstellen: Es ist im »Reflexe-Geschehen
eben mehr darin als jene Zweigliedrigkeit »Reiz-Reaktion«, die
zunächst allein zutage tritt.
b) Die Anwendung des »Reflexschemas« auf Einzelprozesse,
speziell auf die Eonzentrierungsvorgänge, setzt voraus, daß in
Durchfflhmng des reflexologischen Prinzips das Gesamtgeschehen
sich anflösen läßt in einen Zusammenhang, ein Gewebe kon¬
kreter sukzessiver isolierbarer Teilgeschehensabläufe,
welche jeder für sich jene polare Zweigliedrigkeit Reiz-
Reaktion und jene innerlich geschlossene Gliedbezogenheit
besitzen, die für den Begriff des Reflexes generell kennzeichnend
sind.
Es ist die Frage, ob eine solche Auflösung konkret durch¬
führbar ist. Wenn die »Elementargebilde« nicht elementarer,
d. h. abgeschlossener Art sind, so scheint es möglich, daß
Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Reflex Zusammen¬
hänge im einzelnen entstehen können.
Wir stellen allgemein dazu nur fest, daß die Abgrenzung
und Zuordnung derartig zusammengehöriger Beziehungspaare
sicher nicht restlos durchführbar ist, da der postulierte Zusammen¬
hang der Glieder nicht verfolgbar in angebbarer Weise
anfgezeigt werden kann. (Dabei ist noch abgesehen von der Tat¬
sache eines »unterirdischen« Verschwindens der Reizwirknngen
und eines scheinbar irgendwie spontan, d. h. ohne speziflsche
äußere Auslösung einsetzenden Geschehens, da Bechterew auf
andere Weise, durch seinen Spurbegriff, diese Erscheinungen in
den Reflexznsammenhang einzugliedem versucht, obgleich sie
unmittelbar eine direkte Durchbrechung des Reflexprinzips dar¬
stellen.)
Wir weisen im Zusammenhang damit an dieser Stelle grund¬
sätzlich darauf hin, daß die Begiifisbildungen der Psychologie
wie jeder Wissenschaft eben Begriffsbildnngen und zunächst
nicht mehr sind, daß es sich stets um abstrakte Heranshebung
und Relationsanffassnng handelt. Nie darf man den isolierten
Gmndgebilden, wie sie insbesondere das vorwissenschaftlich
psychologische Denken abgrenzt und wie sie die wissenschaft¬
liche Betrachtung vorflndet und ihrerseits als ersten termino¬
logischen Ausgangspunkt benutzen muß, irgendeine substanzielle
Bedeutung beimessen. Wir stehen hier in einem Prozeß der
Begri&bildnng, der seine Auswahlprinzipien herleitet einmal
ans der empirischen Wirklichkeit des bestimmten Tatsachen¬
bereichs und zum anderen aus den inneren denkökonomischen
90
Brono Petermann,
Gesichtspunkten jeder wissenschaftlichen Begrifkbildnng über¬
haupt
Diese Feststellung wird uns wichtig bei der weiteren Analyse;
sie wird uns bei der Gesamtauffassnng unseres Problems die
nötige Freiheit geben.
7. Mit der skizzierten formalistischen Charakterisierung halten
wir die Aufmerksamkeitsprozesse keineswegs für erschöpfend dar¬
gestellt Sie ist hinreichend, die Verschiedenheiten im Wechsel
und in der Mannigfaltigkeit der Aufmerksamkeitsznst&nde unter
sich zu bestimmen, nicht aber, diese in ihrer Eigenart gegenüber
den übrigen seelischen Erscheinungen zu umschreiben.
Wir heben vielmehr noch eines heraus, was uns als wichtige
Besonderheit der Eonzentriemngserlebnisses erscheint, eine eigen¬
tümliche Aktualität, besser Aktualisiertheit als Kennzeichen des
gesamten psychophysischen Zustandes.
In prägnanten Fällen der Konzentrierung zeigt sich deutlich
im Erleben ein bestimmtes »inneres Drängen«, eine seltsame
Erregung. Sie äußert sich am auffallendsten, wenn man, etwa
nach abgeschlossener Arbeit, sich anderen Dingen znwendet,
diesen dann mit merkwürdiger Gehobenheit, Leichtigkeit, Be-
schwingtheit gegenübersteht.
Ebenso wie etwa der Spannnngszustand eines Mnskels, der
Tonus, sich deutlich offenbart in einer nachträglichen Wirksam¬
keit — man denke an den bekannten Demonstrationsversuch —,
ebenso tritt jene Aktualisiertheit des Gesamtorganismus hier an
den Nachwirkungen zutage.
Diese Aktualisiertheit enthüllt sich als wesentliche Seite der
Konzentrierung, wenn man Zustände betrachtet, in denen, wie
man zu sagen pflegt, Aufmerksamkeit noch fehlt, Zustände des
Hindämmems, des Noch-Nicht-Wachseins, wie sie etwa auch
Dürkheim oben beschreibt, Zustände, welche in der Muskel¬
physiologie dem völligen Abspannen des Mnskels, der maximalen
Herabsetzung des Tonus entsprechen würden.
Hier wird der subjektiven Beobachtung eine affektive Seite
im Konzentrierungsverhalten klar, deren Zusammenhang mit den
Konzentriemngsvorgängen näher zu bestimmen ist
Jedenfalls darf das, was wir meinen, nicht identifiziert werden
mit den daneben unter Umständen auch wohl beobachtbaren Span-
nnngsempfindnngen, also vorstellnngsmäßigen Inhalten. Vielmehr
handelt es sich um echte affektive Prozesse. Und diese dürfen
nicht als akzidentell angesehen werden, sondern sie müssen für
den Anfmerksamkeitsprozeß als solchen wesentlich gelten.
Bechterews Theorie der Koncentrienuig.
91
Eine affektive Seite ist jedenfaUs in jedem Konzentrienmgs*
Vorgänge nachweisbar, wie insbesondere gerade die objektive
Methode (plethysmonogi'aphische nnd pnenmographische Analyse)
dartnt. Es kann wohl nach den üntersnchnngen von Martins
nnd von Snter nnd den Nachprüfnngen dieser letzten Arbeit
dnrch Bösler*) als gesichert gelten, daß spezifische Differen-
ziemngen speziell der Atmnng bei jedem Anfmerksamkeits* oder
Anffassnngsvorgang eintreten, die ihrerseits für den Anfmerk-
samkeits- oder Anffassnngsvorgang eintreten, die ihrerseits für
den Anfmerksamkeitsznstand charakteristisch sind, diesen als
einen affektiven erkennen lassen.
Dabei scheint es denkökonomisch nnzweckm&ßig, diese affek*
tiven Ablänfe, die wir als seelisch körperliches Gesamt*
geschehen spezifischer Art anffassen, von einem nnabhängig
davon gedachten >eigentlichen< Anfmerksamkeitsprozeß zn iso¬
lieren. Denn damit gibt man die geschlossene Einheitlichkeit
der Darstellnng anf, die möglich wird, sobald man vielmehr
positiv die Aufmerksamkeit als Ausdruck der prim&ren
Affektivit&t faßt.
8. Gegenüber den Bechterewschen Aufstellungen
würde in diesem Zusammenhang sich uns wiederum eine Er¬
weiterung ergeben.
Die »sonstigen körperlichen Beaktionen«, die bei Bechterew
deshalb zurücktreten, weil sie scheinbar nicht »Beaktionen« im
Sinne von Handlungen sind, gehören für eine so verstandene
affektivistische Auffassung wesentlich mit zum Gesamtbilde des
EonzentriemngsphSnomens. Denn sie sind nichts anderes als
eine Seite des gesamten seelisch-körperlichen Affektznstandes,
dessen Verlauf uns im Eonzentrierungsvorgang gegeben ist; sie
gehören somit notwendig zn einer Analyse der Aufmerksamkeit
nach objektiven Methoden. Sie sind aber in dieser ihrer typischen
Bedeutung erst bei einer entsprechend umfassenderen, allgemein
psychophysisch eingestellten Betrachtung deutlich.
Wir stellen fest: die Auffassung des objektiven Befundes ist
in entschiedenem Maße abhängig von der Gesamtanffassung.
Wenn wir nun aber bemerken, daß die »objektivistische«
Einstellnng ihrerseits eben auch nichts anderes ist als der Aus¬
druck einer spezifischen AUgemeinauffassnng, so wird damit
1) Vgl. Martins, Über die Lehre von der Beemflnssnng des Pulses
and der Atmung durch psychische Beize, in Beiträgen zur Psychologie und
Philosophie herausg. Ton G. Martins, Leipzig 1905; Suter, Dieses Archiy
Bd. 26 S. 78ff.; Rösler, Zeitschrift fttr Psychologie Bd. 67 S. 820.
92
Brruio Petermanii,
(ganz abgesehen von den inhaltlich sachlichen Differenzen in der
Anffassnng des vorliegenden Einzelproblems) im Hinblick auf
methodologische Wirkungen der exzeptionelle Charakter illu¬
sorisch, den der Objektivismus als Methode beansprucht
Eine Verabsolutierung der objektivistischen Methode in der
Psychologie findet hier ihr Urteil; eine wahrhaft allgemeine
Psychologie ist nur möglich im Bahmen umfassender und all-
seitiger Betrachtung des psychophysischen Gesamtgeschehens
im ganzen.
9. Trotz dieser ganz anders gearteten und abzulehnenden
Auffassung in Bechterews Theorie ist bei ihm der eben von
uns hervorgehobene Erscheinnngsbereieh in seiner Bedeutung
für die Untersuchung der Konzentrierung ebenfalls richtig ge¬
sehen, insofern Bechterew ganz präzis die Konzentrierung im
engsten Zusammenhang mit den >inneren Reizen< untersucht,
welche die »Organpersönlichkeit« ausmachen und als »allgemeiner
neuropsychischer Ton« gekennzeichnet sind.
Dennoch aber ordnet sich der Gesamtkomplex der Tatsachen
uns völlig anders alsBechterew, infolge einer gewissen Frei¬
heit gegenüber Voraussetzungen, die tatsächlich Vorurteile sind.
Die Schwierigkeit jener Voraussetzung wird deutlich an der
Dunkelheit und Verworrenheit bezw. inhaltlichen Unbestimmtheit
der Angaben, zu denen man durch sie in bezug auf konkrete
Einzelvorgänge gelangt.
Die reflexologische Theorie vermag in der Tat nicht an¬
zugeben, was objektiv im jeweils gegenwärtigen Augenblick an
dem daran ist, was sie persönliche Sphäre, allgemeinen neuro¬
psychischen Ton nennt. Sie begnügt sich, die Objektivität
dadurch zu retten, daß sie eben von inneren Beizen, also
körperlich-physiologischen Erregungsprozessen spricht; sie ver¬
gißt aber, daß sie von diesen Beizen tatsächlich gar nichts weiß;
daß also dabei eigentlich jede konkrete Bestimmtheit ver¬
loren geht. Gerade hier wird das schon oben hervorgehobene
logische Verhältnis zwischen »Beiz« und »psychischer Gegeben¬
heit« sehr deutlich: das Psychische ist in sich unmittelbar ge¬
geben, der Beiz wird seinem Begriff nach erst rückwärts in der
auf jenes Gegebene sich gründenden Entwicklung unserer theo¬
retisch beziehlichen Begriffsbildung bestimmt, als ein notwendig
Hinzuzudenkendes, aber immerhin als ein zu Denkendes, nicht
»Vorgefundenes«.
Wenn schon in sich nicht klar und bestimmt dargetan
werden kann, was mit dem »allgemeinen Ton« objektiv jeweils
Bechterews Theorie der Konsentriernng.
93
im konkreten gemeint ist, so erheben sich erst recht Schwierig¬
keiten, wenn man nachprfift, ob denn nun in dem vorliegenden
theoretischen Zusammenhang der zn erklärende Eonzentrienmgs-
befnnd wirklich verstanden, wirklich erklärt werden kann.
Das generelle Prinzip, nach dem sich im Zusammenhang der
reflexologischen Theorie eine solche »Erklärung« vollzieht, das
Schema der assoziativ-reproduktiven Spurenbelebung,
ist bei allgemeiner Betrachtung zunächst anscheinend sehi'klar;
allein schon bei einer näheren Analyse des allgemeinen Zu¬
sammenhangs, noch mehr aber bei genauerer Prüfung am kon¬
kreten Fall im einzelnen wird in Wahrheit die Tragfähigkeit
desselben in Frage gestellt
a) Im Begriff derSpnr liegen zweierlei prinzipielle Vor-
anssetzungen: Die Spur wird gefaßt als ein »elementares«,
d. h. für sich bestehendes, in sich geschlossenes, atomartiges Ge¬
bilde, und genauer als ein strukturiertes, geformtes und insofern
> individualisiertes«, d. h. irgendwie mit gegenständlichem
Charakter versehenes Gebilde. Beides steht in engstem Zu¬
sammenhang mit der Funktion, welche der Spurbegriff in der
Psychoreflexologie zu erfüllen hat: er ist Ansatzpunkt oder
Element in dem Beflexsystem, und zwar im Sinne einer Stell¬
vertretung des Eeizmäßig-Gegenständlichen (so wie es Bech¬
terew im realistischen Sinne denkt).
Der physiologische Elementarcharakter der Spuren
ergibt sich notwendig aus der Einstellung gegenüber der Auf¬
gabe einer Theoriebildung, der Einstellung auf synthetische
Systematisierung.
Der gegenständliche Charakter der Spuren liegt in
der Beziehung der Spuren zu den sie erzeugenden Reizen be¬
gründet, die in gewissem Sinne bei Bechterew trotz aller
Eantelen doch als Abbildungsrelation angesprochen werden muß.
(Er spricht geradezu gelegentlich von einer prinzipiellen »Ähn¬
lichkeit« zwischen Spuren und Reizen.)
Für die Beurteilung dieser Auffassung ergeben sich uns die¬
selben Gesichtspunkte als maßgebend, die wir bei der Analyse
des Reflexbegriffes oben bereits angeführt haben. Ans denselben
Gründen wie dort ist eine Revision des Spurbegiiffes zn fordern.
b) Abgesehen davon, daß in dieser Weise die Bestimmung
der Elemente methodisch nicht hinreicht, zeigt sich weiter auch
die Auffassung vom Zusammenhang dieser Elemente
unzulänglich begründet, wenn man konsequent die objektivistische
Auffassung festhalten will.
94
Brono Petermann,
Denn: Da das Assoziationsprinzip seinen eigentlichen Boden
zunächst findet in einer Gesetzlichkeitsbetrachtnng des sah*
jektiv-psychisch Gegebenen, so wird eigentlich durch die
Übernahme dieses Prinzips der objektivistische Standpunkt auf¬
gegeben; die Herfibemahme des Prinzips der subjektiven Psycho¬
logie in die objektivistische Betrachtung schaltet die snbjek-
tivistische Begründung bezw. Gmndanffassnng dieses Prinzips
nicht ans. Und dieses Verlassen des rein objektivistischen Stand¬
punktes wird um so kritischer zu beurteilen sein, als durch den
Fortschritt der Untersuchungen mehr und mehr das Assoziations¬
prinzip sich selbst innerhalb der subjektivistischen Psychologie
answeist nicht als ein letztes Grundprinzip alles Seelenlebens,
sondern als ein Scheinprinzip von nur sekundärer, abgeleiteter
Bedeutung.*)
Die Begrftudung der refiexologischen Theorie kann somit
nicht als hinreichend umfassend gelten.
Noch weniger befriedigend aber erweist sie sich, wenn ein¬
mal in scharf logischer Zergliederung sich die Frage nach dem
Erkenntnisort der hier zum Ausdruck kommenden atomistisch-
synthetischen Betrachtungsweise beantwortet.
Wir stellen fest: diese Theorie leistet nicht das, was eine
Theorie leisten soll.
Weder vermag sie eine Differentialcharakteristik des be¬
trachteten Phänomens zu geben — alles ist ja Refiex, und Reflexe
sind sämtlich von gleicher Art — noch vermag sie positiv aus
dem Zusammenhang reproduktiv-assoziativer Art, der den Ge¬
samtablauf adäquat darstellen soll, im konkreten, das wirkliche
Bild des seelischen Lebens >erklärend< abznleiten. Sie leitet
in der That nicht »ab«, sondern sie konstruiert »hinzu«; es
bleibt letztlich völlig dunkel, wie denn nun ein spezieller Reiz
es anfängt, daß diese und nur diese Spuren bezw. Spurenketten
angeregt werden; umgekehrt eigentlich, es ist keineswegs ein¬
sichtig, woher man weiß, daß bei der Aktualisierung einer be¬
stimmten Reaktion gerade jene nun angenommenen Spuren ma߬
gebend waren, denn das Wort: Assoziation kennzeichnet zwar
die Art des Zusammenhangs, den man zwischen jenen Gliedern
annimmt, nicht aber ist man hinreichend in der Lage, nun im
einzelnen die tatsächlichen Zwischenglieder irgendwie aus
anderen Gesichtspunkten herauszufinden als aus rein konstruk-
1) Vg:!. Wittmann, DerAafbao der seelisch-körperlichen Funktionen
(besonders Vortrag 1) 1922.
Bechterews Theorie der Konzentrierung.
95
tiven, man hat als Ansgangspnnkt in Wirklichkeit stets nur die
Reaktion; und eigentlich selektive Prinzipien, die den tatsächlichen
Ablanf von hier ans der Mannigfaltigkeit der möglichen Abläufe
heransheben, fehlen völlig.
Das Prinzip des psychoreflexologischen assoziativen Zusammen¬
hangs, das als Ausdruck eines eigentlich wesenhaften, eines ob¬
jektiv realen Zusammenhangs angesehen wird, ist in Wahrheit
nicht eigentlich Inhalt, sondern Voraussetzung jedes
theoretischen Zusammenhangs; es ist das Prinzip, das der Kon¬
struktion zugrunde liegt und das den einzigen Anlaß gibt, nun
im bestimmten Fall zur »Erklärung« des vorliegenden Zustandes
(der vorliegenden Reaktion) etwa gerade diese und diese Spuren
bezw. Spnrenzusammenhänge anznsetzen — im Rückgang stets
vom tatsächlich Erlebten bezw. Geäußerten.
Insofern hier demnach im Einzelfall jeweils Annahmen ad
hoc eingeftthrt werden müssen, in rein konstruktiver Weise, bleibt
die Reflezschematik Bechterews, so imponierend sie allgemein
betrachtet als Totalsystem vielleicht zunächst von außen ge¬
sehen auch erscheinen mag, doch eben nnr eine Schematik. Sie
ist jedenfalls nicht mehr als ein methodisches Denkprinzip, eine
Grundlage und Voraussetzung der theoretischen Systembildnng,
die sich ihrem Gehalt nach letztlich auf das Prinzip der durch¬
gängigen Bestimmtheit alles Geschehens reduziert, auf keinen
Fall aber eine Realerkenntnis, wie Bechterew mit dem Ob-
jektivitätsanspmch seiner Psychoreflexologie postuliert Sie ist
im Grunde eine grandiose petitio principii, ihre Erklärungen sind
Scheinerklämngen.
Demgegenüber ist die Stärke einer analytischen Betrachtung,
wie wir sie im Anschluß an Martins zur Geltung zu bringen
versuchen, in der freien Tatsächlichkeitseinstellung gegenüber
dem Gegebenen zu sehen. —
10. Zur Präzisierung des Aufmerksamkeitsproblems
ergibt sich vom Standpunkt einer solchen analytischen Auffassung
gemäß unseren bisherigen Entscheidungen eine ganz bestimmte
Einordnung unserer Fragen in den allgemeinen Problemzusammen-
hang der Psychologie.
Es folgt von hier aus zunächst eine ganz bestimmte Ver¬
tiefung gegenüber der reinen formalistischen Beschreibung,
die wir im ersten Teil unserer Eh-örternng als wesentliche Seite
innerhalb jener Ich-Gegenstandsbeziehnng hervorgehoben haben,
die im Konzentrierungsprozeß gedacht ist. Denn es wird von
96
Bmno Petemann,
hier aus eine wertvolle Vereinfachung und Ver^nheitlichnng
der Gesamtanffassung möglich, indem rttckwärts das phänomeno¬
logisch am unmittelbarsten Erfaßbare am Eonzentrienmgs-
phänomen, eben jene formale Bestimmtheit der yorstellungsm&ßig
gedanklichen Gegebenheit, nunmehr verstanden werden kann als
abgeleitete Erscheinung, induziert durch spezifische Hemmungs¬
vorgänge, deren Natur aus der Eigenart des affektiven Lebens
verständlich ist.
Unter den Gesichtspunkten dieser Position wird man sich
dann nicht mehr damit begnfigen, etwa (wie das auch Bech¬
terew tut) in den Untersuchungen über Umfang, Schwankungen
der Konzentrierung, »Tenazität« und >Intensitätc derselben die
eigentlich einzige Aufgabe des Eonzentrierungsproblems zu sehen,
da diese Untersuchungen tatsächlich nicht auf die Eonzentriemng
als solche, sondern eigentlich auf die Vorstellungsinhalte ein¬
gestellt sind, aber den Kernfragen des Aufmerksamkeitsproblems
im Grunde nicht nahe kommen.
Diese Fragen ordnen sich vielmehr einer allgemeineren affekt¬
psychologischen Analyse unter, welche geeignet scheint, auch jene
bisher fast ausschließlich isoliert betrachteten Erscheinungen als
Sekundärerscheinnngen, als Äußerung tieferliegender Phänomene,
in einen weiteren Zusammenhang einzuordnen und so zu einer
umfassenderen funktionspsychologischen Klärung der Formel von
der »Hinwendung der Aufmerksamkeit« den Ansatzpunkt zu
geben.
Dabei leitet uns eine denkmethodische Grandeinstellung, die
sich als analytische darüber klar ist, daß nicht ein isolierter
Prozeß, die Aufmerksamkeit schlechthin, betrachtet wird, sondern
daß in der Untersuchung dessen, was man Aufmerksamkeit
nennt. Teilgeschehen herausgehoben sind, die in ihrer Gegeben¬
heit im Zusammenhang mit dem gesamten Gegebenen zusammen¬
gesehen werden müssen, wenn man sie richtig verstehen wilL
11. Die genauere Analyse zeigt, daß im Zusammenhang des
Gegebenen nicht allein eine formale Bestimmtheit vorliegt,
sondern daß weiter im Zusammenhang damit beim Wechsel der
»Beachtungsrichtung« auch wechselnde Vorstellungsznsammen-
ordnungen, wechselnde inhaltliche Bestimmungen des (j)e-
gebenen sich einstellen.
Mit der Zentriertheit des Vorstellnngsmäßigen wechselt unter
Umständen auch ganz entschieden die Erscheinungsweise der
Vorstellnngsgesamtheit, so daß bei geeigneten Bedingungen ein
dauernder Prozeß der Differenzierung bezw. eines Wechsels der
Bechterews Theorie der Konzentriemng:.
97
Differenziertheit im YorsteUongsmäBigen in »Abhängigkeit« von
der Art jener Zentriertheit zn konstatieren ist.^)
Rein phänomenologisch ist im Gegensatz zn der Affekt*
komponente beides, die wechselnde formale Bestimmtheit und
die im Zusammenhang damit wechselnde inhaltliche Differenziert*
heit des Gegebenen, an sich in gleicher Art bestimmt als eine
hinznnehmende, in der Zeit sich vollziehende Ändemng des Ge¬
gebenen.
Trotzdem hebt der Sprachgebrauch mit Recht nur die eine
Seite als zn dem allgemeinen Bewußtseinsznstand der Anfmerk*
samkeit gehörig heraus, da sie gerade ein allgemeines, formales
Merkmal darstellt, welches unabhängig von konkreten Inhalten
ist, nur an ihnen sich »verwirklicht«.
Sie sieht die andere Seite als Folgeerscheinung.
Dabei muß aber betont werden, daß das Verhältnis in unserm
Zusammenhang nicht als ein kausales gelten kann in dem Sinne,
daß etwa die Aufmerksamkeit, als ein wirkendes Vermögen,
>Ursache< jenes Differenzierungsprozesses ist. Die ange*
deuteten Beziehungen müssen uns veranlassen, in viel vorsich*
tigerer Weise Aufmerksamkeit in unserem Sinne lediglich als
Bedingung der Differenzierung des Vorstellungsmäßigen, des
gedanklichen Lebens anznsehen.
In diesem und nur in diesem Sinne darf man das Verhältnis
zwischen der allgemein*formalen Funktion der Aufmerksamkeit
und jenen als Folgeerscheinungen auffaßbaren, inhaltlichen
Differenzierungen des Vorstellungsmäßigen usw. betrachten.
12. Die Frage mündet ein in die Problemstellung nach den
Prinzipien der Entwicklung, der Organisation des Vorstellungs*
mäßigen, des Gedanklichen, allgemein des seelisch*körperlichen
Geschehens; und es deutet sich hier an, wie in diesem Zusammen*
hang die Aufmerksamkeit, die Auffassung maßgebend berück¬
sichtigt werden muß.^
Dabei ist insbesondere weiter noch zn berücksichtigen, wie
die Aufmerksamkeit selbst als eine in der seelischen Entwicklung
erst allmählich ausgebildete Funktion des seelischen Ablaufs
1) Man Terg:leiche hierza meine Arbeit über die Beobachtangsbeding-
nngen beim Tiefenaehen, sowie die übrigen Unteranchnngen zur Analyse
des Sehraoma in Bd. 46 dieser Arbeit.
2) Yergl. G. Martins, Über analytische und synthetische Psychologie,
Ber. über d. 5. Eongrefi L exp. Psych. 1912; Wittmanna, a.0. ebenso
Wittmann, Über d. Gedächtnis n. d. Anfban der Funktionen, Arch f. Psych.
Bd.46.
AroUr tOr Psychologie. XLVm.
7
98
Brnno Petennann,
adgesehen werden muß; wir stimmen mit Titchener überein,
wenn er den Unterschied zwischen der sogen, passiven nnd
aktiven Aufmerksamkeit eben unter diesem Gesichtspunkt darin
begründet sieht, daß sie verschiedene genetische Stufen darstellen.
Über Titchener hinaus erlaubt uns die formulierte affekti-
vistische Auffassung der Natur des Eonzentrierungsvorganges
wiederum, diesen Zusammenhang einzuordnen in weitere Kreise:
Die aktive Aufmerksamkeit setzt die Ausbildung eines organi¬
sierten Willenslebens voraus und ist daher gegenüber den eigent¬
lich primären Aufmerksamkeitsvorgängen zu verstehen nur ans
einer allgemein psychologischen Betrachtung über die Entwicklung
des WUlenslebens überhaupt aus dem primären affektiven Leben,
über die Entwicklung nnd Ausbildung zielgerichteter Funktions-
Zusammenhänge auf Grund der ursprünglichen Lebendigkeit des
seelisch-körperlichen Geschehens.
Die Erörterung der Tragweite all dieser Zusammenhänge für
unsem Gegenstand geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus;
obgleich sie uns in der Stellungnahme zu Bechterews Psycho-
Reflexologie im Hinblick besonders auf die Frage des genetischen
Anfbans des Seelenlebens und in bezug auf sein Prinzip der
Assoziation, das jene Aufbaugesetzlichkeit nach ihm zum Aus¬
druck bringen soll und muß, noch wesentliche allgemeinere Ge¬
sichtspunkte liefern würde, soll sie hier bei unserer enger ge¬
faßten Fragestellung ausgeschlossen, einer späteren Betrachtung
Vorbehalten bleiben.
Unser kritisches Ziel betrachten wir als erreicht, wenn es in
genügend präziser Weise gelungen sein sollte, die Bechterewsche
Position im Hinblick auf ihre inhaltliche, logische und auch er¬
kenntnistheoretische Voranssetzungsbelastung hinreichend deut¬
lich zu charakterisieren, damit klar wird, wie der Begriff des
»Objektiven«, von dem Bechterew als einem absoluten ausgeht,
sich tatsächlich bei einer kritischen Betrachtung relativieren
muß, und wenn demgegenüber die Begründetheit einer analytischen
Methode am konkreten Beispiel sich zeigen ließ.
Dabei liegt uns wesentlich mehr als an der rein polemischen
Erörterung an der zugleich entwickelten Stellungnahme zur
Analyse der Aufmerksamkeit, die wir allerdings lediglich als
einen Beitrag zur Analyse des Aufmerksamkeitsproblems, als
eineu Beitrag zur Aufzeigung der Aufgaben einer konkreten
Spezialuntersuchnng aufgefaßt wissen möchten.
Wir glauben in dieser Hinsicht, trotzdem insgesamt unsere
Erörterungen zunächst kritisch eingestellt waren, doch ein Er-
Bechterews Theorie der Eonzentriernng:. 99
gebnis formulieren zu können darüber, wie sieb nns der Ort
innerhalb des Problemznsammenhangs der Psychologie bestimmt,
der einer weiteren Analyse des Anfmerksamkeits Phänomens
znkommt
Unter drei Gesichtspunkten glauben wir in der weiteren
experimentellen Forschung diese nähere Analyse des Eonzen¬
trierungsphänomens erwarten zu dürfen; diese Untersuchung wird
sich anschließen:
1. An die Loslösung des Konzentrierungsphänomens yom
Inhaltlichgegenständlichen, in der Auffassung der Kon¬
zentrierung als einer lediglich formalen Bestimmtheit.
2. An die Einordnung des Eonzentrierungsphänomens in eine
affekt-psychologische Betrachtung, im Anschluß desselben
an allgemeine Analyse des affektiven Lebens.
3. An die Aufklärung dei* genetischen Zusammenhänge, der
Bildungsprozesse, die in der Untersuchung der Entwicklung
der Konzentrierung selbst als einer werdenden Funktion
und, auf der anderen Seite, in der Einordnung der Kon¬
zentrierung in den allgemeinen Entwicklungszusammen¬
hang des Seelisch-Körperlichen überhaupt ihre Aufgabe
findet
(Eingegangen am 8. Februar 1924.)
7*
Die Wirkung von katastrophalen Ereignissen
auf die Seele des normalen und anormalen Kindes^).
Von
Prof. Dr. F. Schneersohn.
Einleitang.
Nicht nur unter den Laien, sondern auch unter den Pädagogen
herrschen die verschiedensten oft einander znwiderlanfenden
Meinungen über die außerordentlich wichtige Frage der Wirkung
von katastrophalen Ereignissen auf das Kind, den anfwachsenden
Menschen. Während die einen annehmen, daß katastrophale Er¬
eignisse und der mit ihnen verbundene durchlebte Schrecken,
die selbst auf den kräftig entwickelten erwachsenen Menschen
eine so erschütternde Wirkung haben, einen nm so mächtigeren
Eindruck auf die Jugend, auf die noch schwache und gebrech¬
liche, zarte nervenpsychische Organisation des Kindes, machen
müssen, glauben die andern, daß solche Ereignisse im Gegenteil
spurlos am Kinde Vorbeigehen, da sich dieses in der Außenwelt
noch relativ wenig orientiert und das Schreckenerregende des
Geschehens zu erfassen überhaupt noch nicht imstande ist.
Es besteht noch eine dritte, seltenere Ansicht, die wir z. B.
auf Grund von Beobachtungen anläßlich der öffentlichen Ge¬
richtsverhandlungen in den ukrainischen Städten gegen Banditen
und Pogromhelden feststellen konnten. Bei solchen Verhand¬
lungen pflegten Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren vors Ge¬
richt geladen zu werden und mitunter sogar als Erkennnngs-
zeugen gegen die Banditen, die ihre Väter ermordet oder ihre
Mütter oder Schwestern vergewaltigt hatten, aufzutreten. Sie
erzählen dann vor Gericht mit speziflsch kindlicher Ausführlich¬
keit und in rührender Einfachheit die unmenschlich scheußlichen
1) Die vorliegende Arbeit ist anf Grand meiner systematischen Forschungen
während des Welt- and Bürgerkrieges in Rußland entstanden.
F. Sehneersobn, Die Wirkung ▼. katastro. Ereign. auf'die‘Seele nsv.' ''lOl
Szenen der Folter nnd des Mordens. Und während diese naiv
vorgetragenen Berichte durch ihren erschfittemden Inhalt beim
Zuhörer tiefste Erregung auslösen, während manche Anwesende
im Gerichtssaal in lautes Schluchzen ausbrechen, fahren die
kleinen Erzähler als die einzigen, die bei den Schilderungen ver¬
hältnismäßig ruhig bleiben, unentwegt in der Wiedergabe ihrer
schaudererregenden Erinnerungen fort. Diese unerschütterliche
Buhe des Kindes pflegt in solchen Fällen bei vielen Zuhörern
eine fast mystische Vorstellung über das Erleben des Kindes
hervorznrufen, das sie als ein geheimnisschweres Rätsel empflnden.
Die systematisch-objektive Untersuchung und die eingehende
psychologische Analyse, die sich auf wissenschaftlich festgesetzte
Tatsachen gründen und über welche wir noch ausführlich sprechen
werden, zeigen aber, daß alle die oben angeführten Meinungen
der Wirklichkeit durchaus ferne stehen.
Es hat überdies nicht nur eine allgemeine, sondern auch
eine für unser spezielles Thema methodische Bedeutnng, wenn
wir unterstreichen, daß die angeführten Meinungen Erwachsener
über Kinder nicht die einzigen sind, die gegen den Geist der
Wirklichkeit verstoßen. Die Kinderpsychologie hat nicht wenige
Tatsachen aufzuweisen, aus denen hervorgeht, daß die herrschen¬
den Ansichten Erwachsener über Kinder absolut irrig sind.
Selbst bewährte Kinderpsychologen werden mitunter durch die
Resultate ihrer Forschungsarbeiten gezwungen, ihre bis dahin
festgehaltenen Meinungen preiszugeben. Wir wollen hier nur
auf folgendes typische Beispiel hinweisen, welches überdies auch
für den Gegenstand unserer besonderen Abhandlungen von
Interesse ist Bis vor kurzem machte man allgemein die An¬
nahme (an der auch jetzt noch einige festhalten), daß das
ästhetische Erleben des Kindes ein dem Erleben des Erwachsenen
entsprechendes ist, daß also folglich z. B. die Bilder, die unser
Wohlgefallen erregen, auch dem Kinde ästhetischen Genuß be¬
reiten. »Auf Grund dieser Annahmec, sagt Prof. Meumann,
> wurden in letzter Zeit viele künstlerisch hervorragende Bilder
als Schnlwandschmuck nnd zu Lehrzwecken verwendet.«
Die Erwachsenen urteilen nach ihrem eignen Gefühl über
das ästhetische Erleben des Kindes. Durch experimentelle For¬
schungen (Albin, Schmidt, Müller, Meumann und andere^).)
ist aber klar erwiesen, daß das sich selbst überlassene Kind eine
nur unbedeutende Stufe des ästhetischen Erlebens erreicht. Die
1) Siehe Menmanns »Experimentelle P&dagogik« Yorles. 8.
102 ’
F. Schneenohn,
dem Kinde vom Forscher yorgelegten Bilder rufen bei demselben
eigentlich nur anßerästhetische Inhaltsnrteile hervor, wobei das
Bild vom Kinde nicht als Bild, d. h. als Kunstwerk eingeschätzt
wird (Meumann).
Woher nun die herrschenden falschen Ansichten über Kinder
im allgemeinen und über die Frage der Wirkungen von Kata¬
strophen im besonderen? Oder — und dies ist für unsere Be¬
trachtungen wesentlicher — welche sind die Wege, die wir ein-
schlagen müssen, um nicht falsche eubjektive Ansichten, sondern
richtige Resultate über den tatsächlichen nerven-psychischen Zu¬
stand der Kinder, die Schreckenserlebnisse hinter sich haben,
zu gewinnen? Die Antwort auf die gestellte Frage wird uns
gleichzeitig die Bichtnngslinien für die objektive Kinderforschung
Uefem, die die Grundlage und den Inhalt der vorliegenden Ar¬
beit bildet.
Es ist bei allen kinderpsychologischen Fragen, besonders
aber bei Behandlung des Problems der katastrophalen Wirkung
unerläßlich, folgende einleuchtenden Grundannahmen zu beachten.
Die Reaktionen des Kindes auf Anreize von außen und von
innen sind ungeheuer groß und mannigfaltig. Das Kind kann
auf solche Einflüsse unmittelbar mit emotionellen Willensakten
reagieren. Das einfachste Beispiel dafür ist ja wohl das Kind,
das auf Schläge sofort mit Weineu reagiert Außer durch die
unmittelbare Reaktion kann die gleiche Wirkung sich auch
anders auf den verschiedensten Gebieten des psychischen Lebens
des Kindes ansdrücken, welchen durch diese Auswirkung eine
neue speziflsche Färbung erteilt wird. So kann, um bei unserem
einfachen Beispiel zu bleiben, die gedrückte Stimmung des ge¬
schlagenen Kindes seinen Träumen, Erzählungen, Spielen, Zeich¬
nungen und allen andern freischöpferischen Äußerungen einen
charakteristischen Stempel aufdrücken. Schließlich kann noch
die gleiche Wirkung eine zeitweilige oder bleibende (je nach
der Frequenz und Intensität der Wirkung) allgemeine Verän¬
derung der Persönlichkeit des Kindes — seines Charakters, seiner
Intelligenz, Arbeitsfähigkeit sowie des allgemeinen Stimmungs¬
zustandes hervormfen. So zeigen Prügelkinder die typischen
Merkmale solcher Behandlung in ihrem ganzen Wesen. Um
einen auf das Kind gemachten Eindruck richtig einschätzen zu
können, müssen wir nicht nur die unmittelbaren Reaktionen,
sondern auch alle Folgen und Nachklänge der betreffenden
Wirkung und ihre verschiedenen psychischen Äußerungen in
Betracht ziehen. Es kann die unmittelbare Reaktion auf diesen
Die Wirkoog von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 103
oder jenen Eindruck fehlen, der dafür tiefe Sparen auf den ver¬
schiedenen Gebieten des psychischen Lebens hinterläfit, es kann
aber anch andrerseits eine unmittelbare intensive Reaktion nur
relativ unbedeutende Sparen in der Seele des Kindes hinter¬
lassen. So sieht man zum Beispiel ein Kind, das anscheinend
ganz zufrieden, jedenfalls aber gleichmütig, seine physisch oder
psychisch schweren Lebensbedingungen trägt. Warum aber zuckt
dann zur Nachtzeit seine Kinderseele so krampfhaft in unkind¬
lich schweren Traumbildern? Warum wird es immer mehr
»nervös« und anfällig? Warum drängen sich in seine Erzählungen
immer wieder nur schwarze Bilder? Warum häufen sich bei
ihm unwillkürliche Arbeitsstörungen? Warum werden seine
Spiele so unkindlich-eigenartig? Je genauer wir die verschiedenen
psychischen Äußerungen dieses Kindes beobachten, desto mehr
Fragen tauchen vor uns auf und enthüllen die im Verborgenen
sich abspielende Kindertragödie.
Die Erwachsenen bilden ihre falschen oder subjektiven An¬
schauungen über die Wirkung der Katastrophen auf Kinder auf
Girnnd von zufälligen Gelegenheitsbeobachtungen, die nur ver¬
einzelte Äußerungen des psychischen Lebens des Kindes fest-
halten, nur aus dem ganzen komplizierten Wirknngsbild los¬
gerissene Abschnitte vor Augen führen. Wie wir aber aus¬
geführt haben, können wir diese Wirkung nur dann richtig
objektiv einschätzen, wenn wir solche Wege der Beobachtung
einschlagen, die es uns ermöglichen, alle in Betracht kommenden
Wirkungserscheinungen in der weitverzweigten und vielgestaltigen
Kinderpsyche festzuhalten und zu registrieren. Damit kommen
wir zum ersten wichtigen Punkte unserer Arbeit — zur Frage
der von uns aasgearbeiteten objektiven Beobachtangs¬
methoden.
Befinden wir uns nun einmal im Besitze des Untei*sachangs-
materials, so stoßen wir erst auf ein neues noch schwereres
Untersuchungsproblem. Bekanntlich sind ja die psychischen Er¬
scheinungen im allgemeinen überhaupt nur der Selbstbeobach¬
tung zugänglich. Sobald es sich um eine andere Person handelt,
können wir nur Äußerungen oder richtiger Ansdrucksbewegungen
beobachten, mittels der wir erst durch »Schlüsse« oder »Ur¬
teile« zum eigentlichen psychischen Erleben des andern gelangen
können. (So ist ja auch die Sprache im Grande nichts anderes
als ein System von symbolischen Ausdrucksbewegungen des
Sprachapparates.) Das wäre also die Methode der vermittelten
Selbstbeobachtung. Nun aber ist es uns bekannt, daß ver-
104
F. Schneersobn,
schiedene Menschen^ ja selbst ein nnd dieselbe Person nnter
verschiedenen Umständen ihr Erleben auf verschiedene Art nnd
Weise znm Ansdmck bringen. Wir wissen, daß ein nnd dieselbe
Erscheinung bei verschiedenen Menschen, je nach ihren indivi¬
duellen Besonderheiten, verschiedene Eindrücke bewirken kann.
So wird znm Beispiel ein nnd dasselbe Bild ganz verschieden
auf den Dnrchschnittsmenschen, den Intellektuellen and den fein¬
fühligen Künstler wirken. Der abgestumpfte Mensch wird auf
ein and dasselbe Ereignis anders reagieren als der zart emp¬
findende. Andererseits wieder — dies verdient besondere Be-
achtnng — bezeichnen ein und dieselben Ansdracksbewegnngen
oder Reaktionsänßemngen, wie Gelächter, Tränen, Sprachäuße¬
rungen, Willenshandlungen n. dgl., bei verschiedenen Menschen
Erlebnisse verschiedenen Charakters und Intensität Das Weinen
von Frauen (»Weibertränen«), von Greisen oder von sogen.
»Jammerweibem« einerseits und die Tränen von überlegt-mhigen
Männern andererseits lassen auf Leiden ganz verschiedener Art
schließen. Ans diesem Grunde machen auch Tränen kräftiger,
seelenstarker Männer auf uns einen tiefen Eindruck, weil sie
bei solchen Menschen Ansdmck von tiefem Leid sind. Wir
sehen also, daß wir sogar im praktischen Leben eigentlich nicht
die Menschen nach ihren Änßerungen, sondern im Gegenteil die
Äußerungen nach dem Menschen beurteilen, indem wir stets
mehr oder weniger die individuellen Seiten ihres Charakters,
Temperaments u. dgl. in Betracht ziehen, weil eben, wie gesagt,
dergleichen Handlungen bei verschiedenen Menschen absolut ver¬
schiedene Bedeutung zugemessen werden muß.
Daraus geht hervor, daß an die Äußerungen des psychischen
Lebens beim Kind nicht der für die Erwachsenen angewandte
Maßstab anznlegen ist, da wir stets die gesetzmäßigen Besonder¬
heiten der eigenartigen Kinderseele im Auge behalten müssen.
Die herrschenden falschen Ansichten über Kinder, besonders in
der Frage der Wirkung von Katastrophen, sind auch darauf
zurückzuführen, daß die Erwachsenen die Kinder nach ihren
Worten nnd Handlungen beurteilen, ohne aber oder ohne hin¬
länglich ihren spezifisch-eigenartigen Charakter in Rechnung zu
ziehen. Auf diesem Wege kommen wir zum zweiten wesent¬
lichen Punkt unserer Untersnchungsarbeit, den wir wie folgt
formulieren können. Die objektiv beobachteten und genau
registrierten Änßerangen des Kindes müssen nicht nach allgemein¬
psychologischen, sondern nach kinderpsychologischen Ge¬
sichtspunkten bearbeitet werden, d. h. es gilt ihre spezifisch-
Die WirkoDg von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 105
eigenartige Bedeutung festzustellen. Zn diesem Zweck müssen
wir forschend die verschiedenen Äußerungen des Kindes bei
gleichen Verhältnissen und verschiedenen Zeiten, wie auch ein
und dieselben Äußerungen bei verschiedenen Umständen und ver¬
schiedenen Kindern vergleichen und dies alles im Zusammenhang
mit den schon festgelegten Besonderheiten des psychophysischen
Entwicklungszustandes des Kindes überhaupt untersuchen. Dies
ist das Prinzip von der kinderpsychologischen Bearbeitung des
Beobachtungsmaterials.
Wir sprachen schon über die mögliche, kompliziert-verzweigte
Wirkung von Eindrücken, welche sich offen oder versteckt in den
verschiedensten Gebieten der Kinderseele einprägen können. Es
ist also schon daraus zu ersehen, daß die Wirkung dynamischen
Charakters ist, so daß sie in der Kindesseele auch nach Ent¬
fernung der Wirkungsursachen fortbestehen kann, und zwar bleibt
sie nicht unwandelbar und unveränderlich, sondern wird sich im
Gegenteil dynamisch intensiv entfalten und fortentwickeln. Wir
greifen nun nochmals zu unserm früheren Beispiel zurück. Es
kann Vorkommen, daß das geschlagene Kind unmittelbar nur
wenig reagiert, rasch seine Tränen trocknet und sich leicht
durch Spiele oder dergleichen ablenken läßt. Die gedrückte
Stimmung infolge der durchlebten Erschütterung kann aber in
der Nacht im Traume wieder auftauchen oder sonst in eine der
unzähligen verschiedenen Änderungen seines bewußten und un¬
bewußten Lebens sich bemerkbar machen. Und selbst in den
viel späteren Jahren des reifen Alters finden wir diese durch¬
lebten Szenen im Schatze der Ejndheitserinnerungen wieder, die
in einer bestimmten Hinsicht die ganze Persönlichkeit des Menschen
bestimmen. Die allgemein herrschenden falschen Annahmen gründen
sich aber nur auf die momentanen oder baldigen Reaktionen des
Kindes auf Eindruckswirkungen, ohne ihren gewaltigen dyna¬
mischen Charakter zu berücksichtigen. Die Eindruckswirkungen
schlagen aber häufig »Wurzeln« in der Seele des Kindes und
wachsen und verändern sich zusammen mit dem wachsenden
Kind. Dies ist das Gesetz der Spätwirkung, das wir im Laufe
unserer Untersuchung aufstellen und eingehend begründen werden.
Wir müssen in der Frage der Wirkung katastrophaler Er¬
eignisse auf das Kind auch die allgemeinen Begriffe von »Kata¬
strophe« und »Kind«, mit denen in einer unklaren und verschwom¬
menen Art operiert wird, noch exakter festlegen und genau
differenzieren. Nicht allen katastrophalen Ereignissen kommt
vom kinderpsychologischen Standpunkt aus die gleiche Wirkungs-
106
F. Schneersohn,
kraft zu. Unsere objektiven Untersuchungen zwingen uns dazu,
zwischen »elementar katastrophalen« Erscheinungen,
d. h. solchen, welche vererbt- instinktive Wirknngsreaktionen her-
vorrufen, und »kompliziert katastrophalen« Erscheinungen,
d. h. Erscheinungen, deren Wirkungskraft von der Erfahrung und
dem Entwicklungszustand des betreffenden Menschen abhängig
ist, unterscheiden. Auch müssen wir einen Strich ziehen zwischen
unmittelbar durchlebten Katastrophen und der mehr oder weniger
nachhaltigen Wirkung solcher katastrophalen Ereignisse, die in
der Feme sich abgespielt haben. Kinder z. B., die in Kriegszeiten
weit hinter der Front leben, machen ja die Kriegskatastrophe
nicht unmittelbar durch, sondern stehen unter dem Einfluß der
verschiedenen Nachwirkungen und Abklänge, die im ganzen Lande
bemerkbar sind. Deutsche, österreichische und andere Pädagogen
und Kinderpsychologenhaben sich während des Weltkrieges
hauptsächlich mit der Einwirkung dieser Einflüsse auf Kinder,
speziell auf solche, die weit im Hinterland wohnen, befaßt. Selbst-
veratändUch wird die Reaktion solcher Kinder, die die Katastrophe
unmittelbar durchleben, eine ganz andere sein. Besonders scharf
und tragisch ist sie z. B. beim größten Teil der ukrainischen
jüdischen Kinderwelt, die während einer langen Periode einer
verheerenden Welle von unfaßbar grausamen Pogromen und
Schreckensgeschehnissen ausgesetzt war. Nicht weniger tragisch,
wenn auch in einer andern Art, ist das Los jener nichtjüdischen
Kinder, die in vielen ukrainischen Städten den Judenschlächtereien
nur zugeschaut haben, die aber in ihren Kinderseelen eine giftige
Saat von unmenschlicher, bestialischer Grausamkeit und sadistischer
Erschüttemng aufsprießen ließen.
Andererseits wieder müssen wir bedenken, daß nicht alle
Kinder der Wirkung katastrophaler Ereignisse im gleichen Aus¬
maße zugänglich sind. Die schwerwiegenden Ereignisse werden
das normal lebenslustige Kind nicht so tief angreifen und es wird
sie sich nicht so »zu Herzen« gehen lassen wie ein nervös¬
empfindlicher, kränklich zarter, in sich vertiefter psychopathischer
Grübler. Ganz anders wieder werden die ungewöhnlich begabten,
sich schnell entwickelnden Kinder, die in vielen Fällen schon heute
1) »Jugendliches Seelenleben nnd Krieg« W. Stern (Leipzig 1915). »Schnle
nnd Krieg« (Berlin, WeidmannscheBnchbandlnng 1915). »UnsereZwölfjährigen
nnd der Krieg« M. Lobsien. »Die Kinder nnd der Krieg« Rnssische Samm-
Inngen nnter der Red. von Prof. Senkowsky, Kiew. »Nos Enfants et la
gnerre«, Paris 1917. »La jennesse Scolaire de France et la gnerre« HoUe-
becqne. Paris 1916. Weitere Literatnrangaben folgen nnter den Anmerkungen.
Die Wirkang von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 107
wie die Erwachsenen fühlen und verstehen, reagieren. Mit andern
Worten, wir müssen auch in der Frage der katastrophalen Wir¬
kungen, wie in allen andern, die Kinder in normale and anormale
einteilen. Bei diesen letzteren müssen wir wieder zwei Klassen
unterscheiden, solche die unter der Norm (ontemormale) and
solche die über derselben (übemormale) stehen. Es ist Auf¬
gabe der wissenschaftlich-objektiven Untersachungsarbeit, die
Kategorien der normalen, übemormalen und antemormalen
Kinder getrennt zu behandeln. Bei jeder Kategorie schlieBlich
müssen wir objektiv die Eigentümlichkeiten der verschiedenen
Geschlechter und Altersstufen beachten.
Wir gehen über zur Abhandlung über die Wirkung kata¬
strophaler Ereignisse auf normale Kinder und wollen die er¬
forderliche Darlegung der wesentlich allgemeinen Untersuchungs-
methoden und Prinzipien voraasschicken.
I.
Unters ach an gsmethoden.
Die Untersuchungsmethoden, die wir anwenden können und
müssen, um die Wirkung von Katastrophen auf Kinder richtig
einschätzen zu lernen, zerfallen in zwei Hauptmomente. Das
erste Moment bilden die Methoden oder Mittel, welche es uns
ermöglichen, die verschiedenen durch die Katastrophenwirkung
hervorgerufenen psycho-physischenÄußerungen des Kindes objektiv
zu beobachten und zu registrieren. Wie wir schon in unserer
Einleitung festgelegt haben, müssen die Beobachtungen nicht nur
die unmittelbaren Reaktionen des Kindes, sondern auch die weit¬
verzweigten Einflüsse der Katastrophen auf den verschiedenen
Gebieten des psychischen Lebens und schließlich ihre Nachklänge
in den späteren Lebensjahren umfassen. Das zweite Moment wird
durch jene Methoden oder Prinzipien gebildet, welche es uns
erlauben, die objektiv beobachteten und registrierten Äußerungen
und Veränderungen vom kinderpsychologischen Standpunkt aus
zu untersuchen und auf ihren spezifisch-kindlichen Charakter ein-
zugehen. Wir können das hier Ausgeführte auf eine kurze und
einfache Formel bringen und sagen: Das erste Moment bezieht
sich auf das Sammeln von Beobachtungsmaterial, während das
zweite die sachgemäße Bearbeitung des einmal vorliegenden
Materials betrifft.
Diese beiden Momente sind eng miteinander verknüpft. Wir
können, wenn uns größere Beobachtungsmöglichkeiten geboten
sind, durch Vergleich mehrerer Fälle leichter ihren spezifisch-
108
F. Scimeersohn,
kindlichen Inhalt feststellen. Andererseits wieder kann — nnd
dies ist, wie wir weiter unten sehen werden, das Ansschlag¬
gebende in unseren Untersuchungen — das zweite Moment, die
Beohachtnngsmethoden,wesentlich ändern und sie vorausbestimmen.
Denn wir werden die Beobachtungen in der Richtung leiten
müssen, die uns durch die spezifische Eigenart der Äußerungen
des betreffenden Eändes yorgezeichnet wird.
Nach diesen Gesichtspunkten haben wir nun entsprechende
Beobachtungsmethoden ansgearbeitet und soweit als möglich auch
durchgefühlt. Wir werden nun unsere Darlegungen immer mit
Beschreibung der betreffenden Beobachtnngsmethoden einleiten,
um dann unter Herbeiziehung charakteristischer Beispiele aus
dem Beobachtungsmaterial zur Darlegung der Prinzipien und
Resultate der Materialsverarbeitung überzugehen.
Wir teilen die Untersuchungsmethoden in drei Gruppen ein:
statistische, psychologische nnd klinische.
A. Statistische Methoden, die es uns erlauben, mittels
statistischer Massenuntersnchnngen in verschiedenen Einder-
anstalten die Veränderungen, die unter dem Einfluß der kata¬
strophalen Ereignisse im allgemeinen am psychischen Zustand
der aufwachsenden Jugend wahrznnehmen sind, in Zahlen fest¬
zulegen. Es kommen dabei folgende Möglichkeiten in Betracht:
1. Statistische Untersuchungen in allerlei Anstalten
und Instituten für anormale Kinder, wie da sind: Hilfsschulen,
verschiedene Spezialanstalten für geistesschwache und nervöse
Kinder, Jugendgerichte, verschiedene Fürsorgeerziehungsanstalten
für jugendliche Kriminelle n. dgl. Solche Untersuchungen könnmi
statistische Belege liefern zur Beantwortung der Frage, ob und
inwiefern sich die Zahl anormaler Kinder im allgemeinen nnd
der in spezieller Hinsicht Anormalen im besonderen unter dem
Einfluß von Katastrophen verändert hat. So haben z. B. in
Deutschland solche Untersuchungen in der Kriegszeit den un¬
geheuren Einfluß der Weltkatastrophe auf die Zahl der jugend¬
lichen Verbrecher aller Arten bewiesen, und zwar hat sie sich
in bedrohlichem Ausmaße vergrößert, dabei keine Altersstufe
schonend. In Deutschland nnd Österreich wie auch in anderen
Ländern ist eine ziemlich große Literatur über die Frage >Kri^
und Jugendkriminalität« entstanden. Unverhältnismäßig weniger,
1) Einen allg^emeinen Überblick über die einschlägige Literatur bietet
die folgende Arbeit: >Literatnr znr Kriminalität der Jugendlichen« ▼ou
K. Wittig (Zeitschrift für Kinderforschnng 1921, Dezember/Jannar-Heft).
Die Wirknng von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 109
ja, soviel nns bekannt ist, fast gar keine solchen Unternehmungen
liegen über andere Arten anormaler Kinder vor.
Aus Rußland und der Ukraine, die hauptsächlich für uns in
Betracht kommen, liegen nur spärliche und unverläßliche Berichte
über die Zahl der anormalen Kinder vor, die dort in den speziellen
Anstalten nntergebracht sind.
Zn den statistischen Methoden dürfen wir auch die spezielle
Anwendung der Enqueten-Methode zählen.
2. Heilpädagogische Enquete-Untersuchungen in
Schulen und Erziehungsanstalten. Mittels heilpädagogisch aus-
gearbeiteter, systematisch durchgeführter Untersuchungen, die von
Lehrern geleitet werden, läßt sich die Zahl der verschiedenen geistig
anormalen Kinder in den Schulen und Erziehungsanstalten und
damit auch das Anwachsen dieser Zahl unter dem Einfluß von
katastrophalen Ereignissen gegenüber früheren normalen Zeiten
feststellen. Wenden wir diese Enqueten-Methode in Waisen-
hänsem und Anstalten für pogrombeschädigte Kinder an, so
werden wir in Erfahrung bringen, ob und um wieviel die Zahl
der geistig anormalen unter diesen Kindern größer ist als in
Anstalten für normale Kinder.
Jeder geistige oder moralische Mangel eines Kindes, überhaupt
jeder psychische Defekt desselben wird vom Lehrer im Schul¬
leben bald auf diese oder jene Art entdeckt. Die Fragen der
systematischen Untersuchung dürfen nicht durch die subjektiven
Meinungen und Einschätzungen des Lehrers beeinflußt werden,
sondern müssen sich nach den elementaren Kenntnissen richten,
die der Lehrer über die klaren und charakteristischen Tatsachen
des Schülerlebens hat^). So haben wir im Jahre 1921/22 spezielle
heilpädagogische Enqueten für Schulen und andere eigens für
Waisenhäuser und Heime für Pog^ombeschädigte anzuwendende
aasgearbeitet. (Wir werden dieselben weiter unten in der Bei¬
lage bringen.) Ich selbst habe in den letzten Jahren solche
systematische Untersuchungen in einer Reihe ukrainischer und
polnischer Schulen und Erziehungsanstalten dnrchgeführt. Wir
konnten auf diese Weise am Orte und in der Zeit selbst der
katastrophalen Geschehnisse feststellen, wie hoch die durchschnitt¬
liche Zahl anormaler Kinder in den untersuchten Anstalten ist.
Vergleiche gegenüber der normalen Vorkriegszeit können jedoch
1) Siehe aasfUhrlich meine veröSentlichten Abhandlnngen: »Die Gesell-
Bchaft, die Schale und die defektiven Kinder« and »Die jüdische Schale and
die defektiven Kinder« (Verlag »Schale and Leben«, Warschaa).
110
F. Schneersohn,
nur mit größter Vorsicht angestellt werden, da in jener Zeit die
jüdischen und nichtjfidischen Schulen heilpädagogisch so gut wie
überhaupt nicht untersucht wurden und sie in dieser Hinsicht
nicht nur in unserer besonderen Frage, sondern überhaupt fast
alles noch zu wünschen übriglassen. Vorsicht ist auch geboten
beim Vergleichen der Enqueten-Resultate von gewöhnlichen Schulen
mit denen von speziellen Anstalten für pogrombeschädigte Kinder,
weil eben die allgemeinen Schulen die für sie unbequemen geistig
anormalen Kinder seltener aufnehmen und häufiger ausschließen
als die speziellen Institutionen^). Auf diese Weise kann die An¬
zahl der anormalen Kinder in den speziellen Anstalten für Pogrom¬
beschädigte nicht nur wegen der besonderen Eigenart dieses
Kindermaterials größer sein, sondern sie ist auch auf die geringere
pädagogische Regelung der Unterbringung znrückzuführen.
Daraus geht also hervor, daß schon ans rein praktischen und
technischen Gründen die allgemein statistischen und die speziell
enqnetenartigen Untersuchungen nur unsicheres und schwaches
Licht in unsere Frage bringen können. Aber selbst bei den
günstigsten Bedingungen und der tadellosesten Durchführung kann
die statistische Methode ihrer ganzen Natur nach keine be¬
friedigende Antwort auf die Frage der Katastrophenwirkungen
auf Kinder liefern. Durch die statistischen Methoden, die ja mit
Massennntersuchnngen arbeiten, können nur unmittelbar bemerk¬
bare Elrscheinnngen, die sich statistisch aufnehmen und registrieren
lassen, beobachtet und fixiert werden, versagen aber, wo es sich
um ein Eindringen in den komplizierten Wirkungsprozeß, der
dynamisch und weitauslaufend in der Kinderseele vor sich geht,
handelt
Die Statistik kann also nur ein mehr oder weniger ergänzendes
Hilfsmittel sein, das hier und da zur Unterstützung der anderen
sichei’eren Hauptmethoden herangezogen wird, nachdem man es
vorher sorgsam auf seinen Wert im besonderen Falle unter¬
sucht hat.
B. Psychologische Methoden: Wenn wir die oben
erklärte spezifische Kompliziertheit und Vielseitigkeit unserer
Frage in Betracht ziehen, müssen wir die allgemeinen kinder¬
psychologischen Methoden entsprechend auswählen und prüfen,
speziell die Methodik und die verschiedenen Anwendungsarten
ausarbeiten. Die Methoden sind folgende:
1) Siehe anch meine Abbandinng: *Die jüdische Schale and die defek¬
tiven Kinder«.
Die Wirkong: von katastrophalen Ereignissen auf die Seele nsw. 111
1. Die Selbsterinnernngsmethode, welche darin be¬
steht, dafi wir als Erwachsene nns unsere Kindheitserlebnisse
möglichst genau rekonstruieren, ihren Charakter und Verlauf uns
vergegenwärtigen und auf diese Weise uns eine Vorstellung von
diesem oder jenem psychischen Zustand des Kindes machen.
Dabei woUen wir diese Kindheitserinnemngen (in unserem speziellen
Falle die Erinnerungen an unsere Gefühlserlebnisse anläßlich
verschiedener Katastrophen, wie Tod der Eltern, Feuersbrunst,
Überfall n. dgl.) genau aufzeichnen, solche Erinnerungen ver¬
schiedener Erwachsener kritisch miteinander vergleichen und auf
diese Weise die Psychologie der Kindererlebnisse auf zustellen
versuchen.^)
Die Erinnerungen aus der Kinderzeit spielen bewußt und in
noch größerem Maße unbewußt eine große Rolle bei der Regelung
der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Bilden doch
die Erlebnisse der Kindheit bei jedem Menschen den Gmndkem
seiner psychischen Entwicklung und wirken mehr oder weniger
während seines ganzen Lebens nach. Diese Erinnerungen bahnen
nns Erwachsenen gewissermaßen einen Weg in die intime Kinder¬
welt, deren Nähe in nns immer wieder die alten Reste unserer
eigenen Kinderzeit weckt und neu belebt.
Wie groß und bedeutsam aber auch die Stärke unserer Selbst-
erinnemng sein mag, kann sie nns doch nicht als Methode eine
objektiv richtige Vorstellung vom Seelenleben des Kindes liefern,
wie ja schon ans der spezifischen Eigenart unserer Selbsterinnemng
hervorgeht. Denn vor allem sifid Erinnerungen — und dies wurde
durch experimentelle Forschungen (Stern n. a.) einwandfrei be¬
wiesen — absolut nicht als getreue Abbildungen unserer ver¬
gangenen Elrlebnisse zu werten, da sie immer wieder subjektiv
gefärbt und verändert erscheinen. Trifft dies nun im allgemeinen
zu, so gilt es doppelt für Erinnerungen an unsere Kinderjahre,
und die Schwäche unseres Gedächtnisses nimmt in bezug auf
diese Zeit einen gesetzmäßig eigenartigen Charakter an. Je weiter
wir in unseren Jngendjahren zurttckblicken, desto unfähiger wird
unser Gedächtnis dann, in unserem Bewußtsein ganze, einheitliche
Erinnerungsbilder zu schaffen. Die ersten Kinderjahre entfallen
fast ganz unserem Gedächtnis und hinterlassen nur einen ganz
verschwommenen, wenn auch im Unbewußten stark wirkenden
1) Auf dieser Methode gründet sich ja die Arbeit: »Krieg and Kinder-
seele« (Erinnerongen an 1870), Kempten and München, - Joh. KOselsche Bach¬
handlang 1916. Diese Arbeit ist referiert in »Zeitschr. für Kinderforschang«
1916.
112
F. Schneenohn,
Schimmer. Auch der größte Teil der Erlebnisse in den späteren
Einderjahren hinterläßt nnr vereinzelte Bilder oder unklare
Nachklänge. Es ist dies die Erscheinung der Eindheitsanmesie
(Eindheitsvergessen), die die Frendsche Schule besonders hervor¬
gehoben und in ihrer Art ansgelegt hat. Eurz, die Selbsterinnemng
verschafft uns nur vereinzelte Abrisse dieses oder jenes Erleb¬
nisses unserer Eindheit, das aber zum größten Teil in Dunkel
gehüllt verbleibt.
Es ist dies jedoch nicht der einzige Nachteil der Selbst¬
erinnerungsmethode. Wir müssen ferner noch beachten, daß
auch die herübergeretteten Reste eines solchen Eindheitserleb-
nisses oft ihren wahren Inhalt eben durch die Lostrennnng ans
dem natürlichen Zusammenhang mit den vergessenen Teilen des¬
selben Erlebnisses verlieren, genau wie die übriggebliebenen
Reste eines aus seinem Rahmen gerissenen Bildes ihren eigent¬
lichen Sinn einbüßen. Drittens müssen wir noch die mehr oder
weniger ständige und unwillkürliche Rückwirkung unseres gegen¬
wärtigen Bewußtseinszustandes auf unsere Eindheitserinnemngen
in Betracht ziehen. Wir Erwachsenen rufen ja unsere Eindheits-
erinnerungen im Lichte unseres Bewußtseins und unter der
Wirkung unseres jetzigen Geisteszustandes hervor, und diese
ändernde Wirkung und neue Beleuchtung werden, wie Unter¬
suchungen bewiesen haben, mit den Erinnerungen selbst unbe¬
wußt verflochten.^)
•
1) Es gelang mir dies besonders klar nachsuweisen anläßlich syste*
matischer Untersnchnngen an mir selbst und vielen anderen Menschen. Ich
lasse hier einen Fall als Beispiel folgen: D. M., zwanzig Jahre alt, hat mir
seine möglichst genauen Eindheitserinnerungen auf dem Papier niedergelegft.
»In meinem fünften Lebensjahre erhielten wir eines Tages ein Telegramm
sehr betrübenden Inhalts. Die Mutter schluchzte und rang die Hände, der
Vater ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Ich hörte etwas von ein¬
gebüßtem Geld sprechen und stand ebenfalls sehr traurig im Winkel. Vor
dem Hause stand ein Wagen, den der Vater bald darauf bestieg und weg*-
fuhr. Ich begleitete ihn ein paar Straßen lang, bis der Vater den Kutscher
an den Schultern zurückzerrte, halten ließ (daran erinnere ich mich ganz
genau). Darauf nahm der Vater von mir Abschied und fuhr in größter
Erregung weiter, während ich weinend zurückblieb und mich über die
Aufregung meines Vaters grämte.« Ich stellte dann bei Vater und Mutter
des Betreffenden getrennte Nachforschungen über den Fall an und brachte
in Erfahrung, daß zu dem vom Sohne angegebenen Zeitpunkt tatsächlich
eine Katastrophe in der Familie sich ereignet hatte, die aber mit dem
Telegramm in keiner Beziehung stand. Das Kind hatte damals so sorglos
und lustig gespielt, daß man es in ein anderes Zimmer gehen hieß. Den
Wagen wollte es nicht verlassen, da es »noch einige Straßen lang mitfahren«
Die Wirkaii^ Ton katastrophaleo Ereignissen nnf die Seele nsw. 113
Alle diese Unznl&nglichkeiten der Selbsteriimerangsmethode
erkl&ren uns, warum es nur Dichtem gegeben ist, vermöge ihrer
kfinsüerischeii Intuition >schöpferisch< ihre bloßen und unklaren
Kindheitserinnernngen neu zu beleben, was sie ja auch schlie߬
lich mit Ereignissen längst vergangener historischer Epochen
oder fremder Erlebnisse zu tun vermögen.
Wir sehen aber aus dem bisher Gesagten, daß die Selbst¬
erinnerung als Methode durchaus unverläßlich ist und wir sie
nur mit einiger Vorsicht anwenden dürfen, dabei immer die
Resultate anderer objektiver Methoden, zn welchen wir jetzt
übergehen werden, zur Kontrolle herbeiziehend. Es sind dies
Methoden, durch deren Anwendung es uns gelingt, unmittelbar das
Kind selbst und seine Äußerungen und Verändemngen unter dem
Einfluß katastrophaler Wirkungen systematisch zu beobachten.
Alle diese Methoden gründen sich auf die vermittelte Selbst¬
beobachtung, wie wir es oben in unserer Einleitung dargelegt
haben. Sie unterscheiden sich voneinander lediglich durch die
Art und das Objekt der Beobachtung. Folgende Methoden
kommen hier in Betracht:
2. Die Reizmethode, die darin besteht, daß wir experi¬
mentell auf das Kind verschiedene Reize oder Eindrücke ein¬
wirken lassen und die auftretenden Reaktionen beobachten. Wenn
es sich aber nm so komplizierte Eindmckskompleze handelt, wie
sie in unserem Falle der katastrophalen Ereignisse vorliegen,
können wir natürlich solche Wirkungen nicht experimentell her-
vormfen. Wir benutzen hier Bilder, d. h. wir zeigen dem Kinde
verschiedene farbige Abbildungen solcher Ereignisse (oder setzen
sie ihm entsprechend dichterisch verarbeitet vor) und beobachten
dann seine Reaktionen. Diesen Weg schlug zum Beispiel Rudolf
Schulze^) in Leipzig ein anläßlich einer experimentellen For¬
schung über den Einfluß der verschiedenen Kriegsereignisse auf
Kinder. Er ließ die Kriegereignisse durch Bilder, dichterische
Elrzählungen und Lieder anf die Kinder einwirken und photo¬
graphierte sie dabei ohne ihr Wissen und wußte auf diese Weise
alle ihre mimischen Reaktionen, ihren Gesichtsausdmck, Hände¬
lage, Pose und allgemeine Körperhaltung, festzuhalten.
wollte, and der Vater mofite es mit Gewalt entfernen. In sp&teren Jahren
jedoch scheint der Jnnge die traurige Bedentnng jenes Tages kennen-
gelemt and nnbewnflt seinen Gram darüber zusammen mit anderen Ereig¬
nissen in seine Eindheitserinnerungen verflochten zu haben.
1) »Unsere Kinder und der Krieg« von Bad. Schulze, Leipzig 1917.
ArohiT fOr Psychologie. XLVm. 8
114
F. Schneersohn,
Auch diese Methode ist sehr mangelhaft. Erstens geht es
nicht an, alle Geschehnisse wie auch nur alle Momente eines
Geschehnisses in ihrer omgehener komplizierten Zusammen¬
stellung in Wort oder Bild wiederzngeben. Zweitens wissen wir
nie, ob und inwiefern das Bild oder die Erzählung beim Kinde
die Vorstellung vom betreffenden Geschehnis wachruft Drittens
können wir dabei im besten FalUe nur die Wirkung kennen
lernen, die die Vorstellung des Ereignisses auf das Kind ausfibt,
nicht aber diejenige, die durch das Geschehnis selbst hervor¬
gerufen wird.*)
3. Die direkte Beobachtung charakteristischer Äußerungen
und Veränderungen des Kindes in Zusammenhang mit katastro¬
phalen Ereignissen. Bei dieser Methode gilt es die verschieden¬
artigsten Reaktionen des Kindes auf das äußere Geschehnis ob¬
jektiv zu beobachten und genau zu registrieren.
Dabei muß die Beobachtung folgende zwei Arten der psych¬
ischen Reaktionen umfassen: Unmittelbare, d. h. solche Reaktionen,
die sich unmittelbar beim Erleben des Ereignisses beim Kinde
einsteUen, allerlei sprachliche, mimische und pantomimische Ge-
ffihlsausdrftcke (wie z. B. Schreckensausmfe, Tränen, Erblassen,
Angstbewegnngen, oder auch umgekehrt Gleichgflltigkeitsbezeu-
gungen, kindlich-unbesorgte Neugierde u. dergl.), wie auch das
verschiedene Verhalten des Kindes und seine Beziehungen zur
Umwelt während dem Erlebensmoment. Außer diesen unmittel¬
baren oder baldigen Reaktionen muß man auch die späteren
Reaktionen des Kindes —Anzeichen einer Veränderung des Gemüts¬
zustandes, des allgemeinen Verhaltens des Kindes und seiner Be¬
ziehungen zur Umgebung — feststellen. Wir müssen z. B. zu er¬
fahren trachten, ob, wie oft und in welcher Art das Kind sich
an das Erlebte erinnert, ob es unter dem Einfluß der überlebten
Katastrophe eine Neigung zur Einsamkeit zeigt, öfters apathisch
dasitzt, ängstlich, nachdenklich und gedrückt erscheint, weniger
Anteil an Spielen oder an früher bevorzugten Spielen nimmt,
verschlossen und abweisend seinen Kameraden gegenüber ist,
lustigen und lärmenden Kindergesellschaften aus dem Wege geht,
oder ob es umgekehrt beweglich, unruhig geworden ist, oft un¬
diszipliniert und lärmend sich verhält, schnell in Zorn und Auf¬
regung gerät, ohne für sein Alter ausreichenden Grund weint oder
lacht, mehr oder weniger die Arbeitslust eingebüßt hat, schnell
ermüdet, in neuen Lagen sich schwerer orientiert u. dergL
1] Siehe mein Buch: »Die intime Psychologie des Kindes« Kap. 1.
Die Wirknng von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 115
Die direkte Methode führt uns in das Seelenleben des Kindes,
soweit es durch seine Beaktionen zum Ausdruck kommt. Eine
und dieselbe Reaktion kann aber verschiedenes Erleben ans¬
drücken, wie auch verschiedene Reaktionen ein und dasselbe
Erlebnis zur Ursache haben können. Hier kommt uns die fol¬
gende Methode zu Hilfe*).
4. Die Ausfragungsmethode, die darin besteht, daß
wir uns mit dem Kinde in ein Gespräch einlassen und es aus¬
führlich über seine Gefühle anläßlich dieses oder jenes Ereig¬
nisses befragen. Diese Methode soll uns helfen, die verborgenen
oder unklaren Reaktionen des Kindes ans Licht zu bringen. Zur
Durchführung dieser Methode hei systematischen Massenunter-
snchungen benutzen wir die sogen. Fragebogen, in denen zu diesem
Zwecke ausgearbeitete und genau formulierte Fragen dem Kinde
vorgelegt werden, und sammeln die Antworten, um sie einer ge¬
eigneten Bearbeitung zuzuführen. Diese Fragen können sich be¬
ziehen entweder auf das durchlebte Geschehnis im allgemeinen
oder nur auf bestimmte Momente desselben, wir können das Er¬
eignis unmittelbar berühren oder auch auf indirektem Wege die
Erinnerung des Kindes an das Durchlebte wecken. Auf diese
Weise haben einige Forscher*) in Deutschland und in anderen
1) Die direkte Beobachtimgsinethode kann als Hilfsmittel den photo¬
graphischen Apparat benntsen, welcher objektive Bilder vom Aassehen des
Kindes in verschiedenen Momenten liefert, wie auch der Film, der ver¬
schiedene pantomimische Beaktionen getreu wiedergeben kann. Bei Massen-
ontersachongen von Kindern an verschiedenen Orten onter den angttnstigen
Umständen einer katastrophalen Zeit ist aber das Benutzen solcher Apparate
praktisch undnrchftthrbar. Auflerdem kSnnen wir durch den Apparat nur
Momentbilder erhalten, während die systematische Beschreibung den Verlauf
des Prozesses während einer gewissen Zeitpause schildert. Dasselbe gilt
auch in bezug auf einige organische Beaktionen während des Erlebens, wie
Veränderungen der Blutzirkulation und Herztätigkeit, welche durch be¬
stimmte Apparate registrierbar sind. Die direkte Methode ist eigentlich
die sogen. Aasdrucksmethode im breiten Sinne, d. h. eine Methode, die sich
auf die Ausdrucksbewegungen und -handlangen bezieht. Nichts anderes ist
auch die folgende Ausfragungsmethode, die Sprachreaktionen des Kindes
heranzieht, da ja die Sprache schließlich auch ein System von symbolischen
Ausdrucksbewegungen des Sprachapparates ist.
2) Plecher, Der große Krieg im Urteile der Jugend (Zeitscbr. f. Kinder-
forschung 1916); Nagy Ladislaus, Der Krieg und die Seele des Kindes
(Verlag der Ungarischen Oesellschaft für Kinderforschung, Budapest 1916).
Siehe auch: »Nos Enfants et la Querre« (Enquete de la Societä libre pour
l’dtude psychologique de l’enfants) Paris 1917. Kortsen: »Eine Umfrage
über die Wirkungen seelischer Erschtttterungen in der Kindheit« (Zeitschr.
f. pädagogische Psychologie, 1917).
8 *
116
F. Schneersohn,
L&ndern die Wirkung des Krieges auf die E^inder untersucht.
Solche Untersuchungen haben auch wir im Jahre 1920 bei pogrom¬
beschädigten Kindern durchgefhhrt.
Auch Herr Dr.Babino witsch hat, unabhängig yon mir, solche
Untersuchungen in Petersburg bei pogrombeschädigten Kindern
Yorgenommen.
Den gewissen Wert der durch diese Methode erzielten Resul¬
tate durchaus nicht verkennend, müssen wir jedoch folgendes
unterstreichen:
Bei den seelischen Erlebnissen des Kindes anläßlich katastro¬
phaler Geschehnisse bilden ja die emotionellen Erscheinungen
des Schreckens und des Leidens in ihren verschiedenen Formen
den Schwerpunkt. Wir müssen also beim Ansfragen die Auf¬
merksamkeit des Kindes auf seine erlebten Gefühle konzen¬
trieren. Emotionelle Erscheinungen oder Gefühle zeichnen sich
aber naturgemäß durch große Unklarheit ans. »Wir können«,
sagt Professor Titchener, »unsere Aufmerksamkeit nie auf das
Gefühl konzentrieren, und wenn wir es dennoch versuchen, ver¬
schwinden die Lust- oder Unlustgefühle und unsere Beobachtung
bleibt an einer indifferenten Empfindung oder Gestalt haften, die
wir gar nicht zu untersuchen beabsichtigten«. — Zweitens ist
unsere Sprache eigentlich »die Sprache unserer Vorstellungen,
nicht aber des Gefühls«. Selbst die ausführliche eigene Be¬
schreibung eines Gefühls ist nach der zutreffenden Behauptung
Titcheners nicht mehr als eine »Mitteilung von zweiter Hand«,
weil wir gezwungen sind, das Gefühl erst in die Vorstellung vom
Gefühl zu übertragen. »Es ergibt sich klar«, sagt Schulze, »daß
die Methode (des Ausfragens) unbrauchbar ist. Sobald der Sprach-
apparat den Assoziationsstrom beherrscht, tritt das Gefühl in den
Hintergrund.« — »... t5ber das Wesen des Gefühles erfahren
wir nichts.«^)
Tatsächlich finden wir im Untersuchungsmaterial, das uns die
Ausfragemethode liefert, sehr häufig verschiedene Widersprüche,
hohle Phrasen, nicht ernst zu nehmende Kinderweisheiten und
vieldeutige Antworten*).
1) Siehe mein Bach: »Die Intimitätspeychologie des Kindes« Kap. I.
2) Es ist von Interesse, hier anf folgende Beispiele hinznweisen: ln der
obenerwähnten von Plecher dnrchgeführten Arbeit wurden 80 Kindern
12 Fragen über den Krieg vorgelegt. Die Antworten der Kinder auf die
fünfte Frage (Was würdest da tan, wenn da in den Krieg ziehen müßtest?)
lauteten kampflastig und tapfer. Aaf die sechste Frage aber (Was würdest
da tan, wenn der Feind ins Land eindringt ?) antworteten mehr als die Hälfte
Die Wirkung tob katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 117
Ans all dem geht hervor, daß die vorsichtige Anwendung der
Ausfragemethode uns verschiedene Seiten des Denkens und
Urteilens des Kindes enthüllen, oder vielmehr uns Aufschluß über
die Art, wie es seine Beziehungen zur Umwelt formuliert, geben
kann. In das emotionelle Erleben des Kindes, das, wie wir schon
bemerkten, den Kern der Einwirkung von katastrophalen Ereig¬
nissen bildet, bietet uns hingegen diese Methode keinen Zugang.
Wir können dies nur durch die folgende Methode erreichen^).
5. Die Methode der Phantasienuntersnchnng.
Die Phantasie ist ihrer Natur nach eine emotionelle Schöpfung,
d. h. wie wir es an einem andern Orte bewiesen haben,*) sie ver¬
körpert oder verwirklicht unsere Gefühle und emotionelles Streben.
Die Phantasie spiegelt bei jedem Menschen seinen Gefühls¬
zustand. Wenn auch Gefühle der Selbstbeobachtung nicht zu¬
gänglich sind und nicht die AufmerksamkeiUanf sich konzentrieren
lassen, so stehen doch Phantasiegestalten klar Umrissen im Be¬
wußtsein des Kindes und lassen sich selbst von ihm in Wach-
tränmen und Erzählungen objektiv beschreiben. Die Phantasie
öffnet uns weit die Türen in die intime Gefühlswelt des Kindes,
welche sich in ihren Erzählungen und emotionell-durchsichtigen
Phantasiebildem enthüllt.
Noch im Jahre 1919 haben wir verschiedene Methoden zur
Untersuchung der Phantasie ausgearbeitet. Wir werden hier nur
die einfachsten und allgemein zugänglichen ausführen: a) Die
Methode der Selbsterzählung. Diese Methode nutzt die Pro¬
dukte der Kinderphantasie — das »Geschichtchen«, die Märchen-
(42 Sinder), dafi sie sich Terberf^en oder fliehen würden. Ist dies Feigheit?
Flecher sucht dies anf folgende ausgeklügelte Weise anszndenten: Die
Sinder wollen sich verbergen, weil sie wissen, daß nicht mobilisierte Personen
nicht in den Kampf eingreifen dürfen.
1) Zar Aasfragemethode gehört eigentlich auch die > Definitionsprüfong«
von Gregor, welcher den Kindern verschiedene Begriffe zor Bestimmang
vorlegt and dabei sieht, inwiefern die Eindrücke des Überlebten sich in der
Begriffsbestimmnng des Kindes widerspiegeln. — Es ist dies eigentlich not
eine indirekte Art der Aasfragemethode. Gregor, Über den Einflofi von
Kriegs- and Zeitkomplexen anf die Definitionsleistnngen bei Kindern (Zeitschr.
fOr pädagogische Psychologie 1920/21). So gehören anch za derselben
Methode die Untersachongen von Kammei, die 1914—16 an einer Kinder-
gmppe dnrchgeführt worden sind. Diese Untersachnngen haben znm Unter¬
schied von denjenigen Gregors gezeigt, daß der Krieg keine bedeutende
Wirkung auf die Kinder, speziell auf die Entwicklung der Kinderinteressen
hat. Kammei: »Der Einfluß des Krieges auf die Berafsvorstellungen der
Kinder« (Zeitschr. f. päd. Psych., 19016).
2) »Intimitätspsychologie des Kindes« I. Teil.
118
F. Schneersohn,
erzählung, das Träumen im Schlafe und im Wachen —, die das
Kind selbst zum besten gibt, ohne daß es direkt dazu anfgefordert
wurde, aus. Dies geschieht öfters, als man anzunehmen geneigt
ist Unsere Erfahrungen haben uns bewiesen, daß das Kind häufig
»Geschichtchen« und »Wachträume« improvisiert, die die tiefsten
und edelsten Zttge seines inneren Erlebens in Gestalten verkörpert
wiedergeben, b) Die Methode der unbegrenzten Bestell*
erzählung, d. h. man schlägt dem Kinde vor, irgendeine selbst*
verfaßte Geschichte oder Märchen zu erzähen, ohne daß man es an
ein bestimmtes Thema oder gegebenes Sujet bindet So kann
man sich einfach an das £[ind wenden: »Erzähl’ uns mal was
Interessantes«. Die Erfahrung zeigt, daß die Kinder sehr gern
auf einen solchen Vorschlag eingehen, und ihre Erzählungen, die
dabei durchaus ungezwungen und natürlich bleiben, liefern ein ge*
naues Abbild ihrer en^otionellen Persönlichkeit c) Die Methode
der begrenzten Bestellerzählung, d. h. wir schlagen also
dem Kinde vor, ein Geschichtchen oder Märchen über ein bestimmtes
Thema zu erzählen, zu einem vorgelegten Bild, über ein konkretes
Elreignis u. dgl., alles Momente, die nun in einem gewissen Maße
die Form und die Richtung der Schöpfung beeinfiussen, keines*
Wegs aber, wie unsere Versuche zeigten, der emotionellen QueUe
Einhalt gebieten. Das gegebene Thema oder Bild kann zu den
erlebten Geschehnissen in einer gewissen Beziehung stehen, und aus
der Erzählung sehen wir sogleich, wie die Phantasie des Kindes
auf das Erlebte reagiert
Bei solchen Untersuchungen ist es sehr interessant zu sehen,
ob, wie oft und auf welche Weise in den Phantasien und Träumen
des Kindes Bilder und Gestalten der erlebten Ereignisse auf*
tauchen. Die weitere Analyse des Phantasiematerials deckt uns
den intimen Gefühlsznstand des Kindes auf. Es versteht sich
von selbst, daß solche Untersuchungen genau und objektiv durch¬
geführt werden, etwaige suggerierende Wirkungendes Untersuchers
wie überhaupt alle Nebenwirkungen ausgeschaltet werden müssen,
da sonst die unmittelbare Natürlichkeit des Kindes gestört wird.
Aus diesem Grunde können wir nicht Schulaufsätze als Phantasie¬
material behandeln, da sie oft nach den Anweisungen des Lehrers
gemacht werden, jedenfalls von diesem beeinflußt sind und die
spezifische Schulatmosphäre mit ihren festen Traditionen die un¬
mittelbare Natürlichkeit des Kindes einschränkt. Die Unter¬
suchungen müssen bei gewöhnlich-normaler Stimmung des Kindes
1) Siehe aach mein Werk: »Die intime Psychologfie des Kindes« Kap. 8.
Die Wirknng yon katastrophalen Ereignissen auf die Seele nsw. 119
— nicht wenn es ermüdet, aufgeregt oder dgL ist — gemacht
werden.
Zn dieser Methode der Phantasienntersuchung müssen wir
eigentlich auch die folgende zählen:
6. Die Erinnerungsmethode, d. h. die Sammlung von
Phantasieerinnemngen des Kindes, die uns zeigen, welche Ereig¬
nisse der Vergangenheit dem Kinde sich eingeprägt haben, und
auf welche Art das in der Erinnerung Fixierte yerarbeitet und
yerändert worden. Analog der yorangehenden Methode unter¬
scheiden wir auch hier folgende Abarten: a) Selbsterinne-
rnng. Das Kind erzählt aus eigenem Antrieb, irgendeine seiner
Ehinnemngen, die sich ans seiner Seele spontan gelöst, b) U n -
begrenzte Aufforderung. Wir schlagen dem Kinde yor,
eine seiner Erinnerungen zu erzählen, ohne dabei Thema und
Inhalt irgendwie zu bestimmen, c) Begrenzter Vorschlag,
d. h. wir schlagen dem Kinde yor, eine Erinnerung an ein be¬
stimmtes Ereignis oder eine bestimmte Zeit zu erzählen. Wie
die früher erwähnten Methoden muß auch die Erinnerungsmethode
wissenschaftlich exakt und objektiy in dem eben beschriebenen
Sinne dnrchgeführt werden. Auf diese Weise sind wir in den Besitz
sehr wichtigen Materials gelangt. Auch Tagebücher und charak¬
teristische Briefe, denen wir bei älteren Kindern begegnen, gehören
dazu. Zn der Erinnerungsmethode gehört auch die autobiographi¬
sche Methode, die wir bei älteren Kindern angewendet haben.
7. Zeichnenmethode. Das Zeichnen und Malen hat, wie
Kik richtig heryorgehoben hat, beim Eände ganz andere Be¬
deutung wie beim Erwachsenen. Während nämlich der letztere
nur bei ausgesprochener Begabung oder entsprechender Schulung
sich daran wagt, sein Erleben durch Bilder wiederzugeben, da
ihm diese Ausdmcksweise bei weitem nicht so geläufig und natür¬
lich wie die Sprache ist, ist das Kind naiy dayon überzeugt, daß
seine Linien, Figuren und all die merkwürdigen zeichnerischen
Einfälle der Wirklichkeit entsprechen. Und deshalb drückt das
Kind seine Erlebnisse Und Traumgestalten frei und offen in
Zeichnungen ans, die uns einen Einblick in das Denken und
Fühlen des Kindes gewähren. So hat der oben erwähnte Kik^)
im Jahre 1915 die Kriegszeichnungen der deutschen Kinder be¬
arbeitet^). Leider konnten wir aus technischen Gründen diese
Methode nicht gebührend berücksichtigen.
1) Eik, Kriegszeichnimg^en der Knaben and Mädchen (»Jngendlichea
Seelenleben and Krieg:«, Leipzig: 1915). Siehe aach M-lleB6my; »Dessins
d'enforts« (»Nos Enfants et la Oaerre« Paris 1917).
120
F. Schneenohn,
Wir sprechen hier von »freien« Einderzeichnungen, nicht
aber von Kopien, die Kinder nach anderen Zeichnungen anfertigen.
Anch bei Zeichnnngen unterscheiden wir wieder die folgenden
üntersuchungsmethoden.
a) Freie Zeichnnngen. Die Kinder zeichnen ans eigenem
Antrieb, ohne dazu anfgef ordert zu werden, b) Unbegrenzte
Anffordernng. Wir schlagen dem Kinde vor, irgendein Bild
zu zeichnen, ohne ihm ein Sujet vorzuschreiben, c) Begrenzte
Aufforderung. Wir geben dem Kinde ein bestimmtes Thema
zur Zeichnung, ohne jedoch im fibrigen seiner Phantasie Zfigel
anfzulegen.
Im gleichen Sinne, wenn anch nicht in so hohem Maße, können
auch andere künstlerische Arbeiten der Kinder, wie Modellieren
n. dgl., zur Untersuchung herangezogen werden.
8) Spieluntersuchnngen. In Phantasien, Träumen und
Erzählungen drückt das Kind seinen Gemütszustand in lyrischer
oder epischer Form ans, während es im Spiel eine dramatische
Ausdmcksform in aktiven Äußerungen und Handlungen findet.
Das Kind wählt sich in verschiedenen Spielen verschiedene Rollen
und bringt so seine Persönlichkeit in verschiedenen Arten zum Aus¬
druck. Im Spiel verwirklicht das Kind instinktiv seine schlummern¬
den Anlagen und innerlichen Bestrebungen. Bei genauer Beobach¬
tung können wir im Spiele des Kindes merken, ob und inwiefern
sich die erlebten Geschehnisse im psychischen Leben des Kindes
widergespiegelt haben. Wir müssen in Schulen und Erziehungs¬
anstalten systematisch objektiv die allgemein herrschenden Spiele
der ganzen Kinderkollektion, wie anch die Spiele der verschiedenen
Gruppen und die besonderen Spiele einzelner Kinder beobachten.
Folgende Momente kommen da in Betracht: Spielinhalt, Spiel¬
verlauf und Rollenverteilung. Der Spielinhalt kann direkt oder
indirekt den erlebten Geschehnissen entlehnt werden: Kriegsspiele
oder die in der Ukraine so oft beobachteten Banditen- und Räuber¬
spiele. In diese Spiele werden aber verschiedene Änderungen und
Modifikationen hineingetragen, die charakteristisch die spezifischen
Kindererlebnisse widerspiegeln. Das Answählen und die Aus¬
führung einer bestimmten Lieblingsrolle charakterisieren in ge¬
wisser Hinsicht jedes spielende Kind. Es versteht sich von selbst,
daß unsere Ausführungen sich anf »freie« Spiele beziehen, nicht
aber auf von Erwachsenen organisierte, die nach den Anweisungen
der Erzieher oder unter ihrem Einfiuß ausgeftthrt werden.
Alle diese psychologischen Methoden führen uns, jede auf
ihre Art, in die innere Welt des Kinderlebens, und alle zusammen
Die Wirkong Ton katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 121
Termögen uns das yielfarbige Wirknngsbild von Katastrophen
auf das Kind zn liefern. Zur Ergänzung wollen wir noch die
letzte, sehr wichtige Gruppe von Methoden heranziehen.
C. Klinische Methoden. Hier handelt es sich um die
Untersuchung von nerven-psychischen Kinderkrankheiten oder
krankhaften Veränderungen, die unter dem Einfluß katastrophaler
Geschehnisse anfgetreten sind. Eigentlich bildet diese Methode
einen Hauptbestandteil der eingangs besprochenen allgemein
statistischen Untersuchungen, die zum Ziele haben, festzustellen,
ob und nm wieviel die Zahl der nerven*psychischen Krankheiten
bei Kindern unter der Einwirkung katastrophaler Ereignisse ge¬
wachsen ist. Von größter Bedeutung ist aber die individuell¬
klinische Methode, d. h. die spezielle Untersuchung des Zusammen¬
hanges zwischen durchlebter Katastrophe und dem konkreten
Krankheitsfall, und es kommen hier zwei Möglichkeiten inBetracht:
a) Die Katastrophe ist nicht die Ursache, son¬
dern der Anlaß zum Ausbruch der Krankheit, d. h.
sie weckt schon vorhandene verborgene Krankheiten oder Krank¬
heitskeime anf. So können, wie wir weiter sehen werden, kata¬
strophale Erlebnisse den Ausbruch epileptischer Anfälle, Chorea
n. dergl. bewirken.
b) Die durchlebte Katastrophe als Hauptursache
der nerven-psychischen Krankheit, wenn wir auch hier nicht
eine ererbte krankhafte Disposition ausschließen können. In
erster Linie müssen wir die verschiedenen Fälle von Schreck-
neorose bei Kindern nach äußersten Erschütterungen[dazn rechnen.
Wir werden später auf solche und ähnliche Fälle ausführlich
zurückkommen.
Das folgende Schema möge zur Gewinnung eines klaren Über¬
blicks über die beschriebenen Untersnchungsmethoden dienen.
A. Statistische Methoden:
1. Allgemeine statistische Untersuchungen.
2. Spezielle Enqneten-Untersuchung.
B. Psychologische Methoden:
1. Selbsterinnerung des Erwachsenen.
2. Heizmethode.
3. Direkte Beobachtungsmethode.
4. Ansfragnngsmethode.
122 Schneersobn, Die Wirkangen t. katastr. Breign. auf die Seele osw.
5. Phantasie-Untersuchnngeii
6. Erinnerangsmethode
7. Zeichnungen
8. Spielnntersnchnngen.
Selbsterzählnng, unbe¬
grenzte und begrenzte Anf-
forderong.
Selbsterinnemng, unbe¬
grenzte und begrenzte Auf-
fordemng.
Selbstzeichnnngen, unbe¬
grenzte und begrenzte Auf¬
forderung.
C. Klinische Untersuchungen.
Alles, was wir bisher über die Methoden ausgeführt haben,
bezeichnet uns das erste Moment der Untersuchung, zeigt uns
nur die Mittel und Wege zur objektiven Beobachtung und Re¬
gistrierung der psychischen Veränderung des Kindes beim Er¬
leben katastrophaler Geschehnisse. Das zweite Moment besteht
in der objektiv richtigen Bearbeitung des schon vorliegenden
Materials, das auf seinen spezifischen Inhalt und Charakter ge¬
prüft werden mnß. Dieses zweite Moment ist das wesentliche
und verantwortungsvollere und bildet, wie wir schon in unserer
Einleitung dargelegt haben, den springenden Punkt des Ganzen.
Über diese in der Untersuchung festgestellten Prinzipien bei der
objektiven Abschätzung von des Kindes Äußerungen und Re¬
aktionen wird in den nächsten Kapiteln gesprochen werden.
(Fortsetzang folgt.)
(Eingegangen am 8. Febrnar 1924.)
Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre
Nutzpflanzen und Haustiere.
Von
Bnino Gatmann.
Die Stämme um den Eilimandscharo her waren tief in die
Schrecken des Weltkrieges mit hineingezogen, viele Gefechte
spielten sich in den Steppen am das Gebirge her ab, sie sahen
den Einbruch der Engländer mit ungeahnter Entfaltung ihrer
Machtmittel, sie wurden selber gewaltsam dem Heerwarme ein-
yerleibt, ihre Häuptlinge fielen zum Teil europäischen Ausntttzem
der Lage zum Opfer, — sie hätten wirklich abgestumpft sein
können im Wechsel der Schrecken, aber blieben dennoch in
in ihren seelischen Tiefen erregt Da ging z. B. 1919 ein Ge*
rächt durch alle Dschaggahäuptlingschaften: in der Steppe hinter
Amscha sei ein amgeschlagener Baum gewesen, der habe sich
von selber wieder anfgerichtet, stehe fest und grüne aufs neue.
Den Masai gelte das als Zeichen, daß ihre Herrschaft wieder¬
komme, und andere sahen darin ein Zeichen vom Weltuntergänge
und der Wiederkehr der Toten. In der Landschaft Moschi er¬
weckte das Gerücht die Erinnerung an ein Erlebnis ähnlicher
Art vor 25 Jahren. Das damals führende Glied der Sippe der
Wand2au habe am Abhange oberhalb eines Kanals einen uralten
Baum amgeschlagen, der sei abhangwärts umgefallen und sie
hätten ihn da in allem Kronwerk liegen lassen, um ihn am
andern Tage zu entästen. Aber in der Nacht habe man den
Baum rufen hören: ui, ui, und am nächsten Morgen sah man,
wie der Baum sich von selber noch einmal aufgerichtet hatte
und nach der andern Seite, d. h. bergwärts wieder umgefallen
war. Nicht lange darnach sei der FäUer des Baumes gestorben
und nach ihm in kurzen Zeitabständen seine Helfer.
Noch hingen die Leute ihren Gedanken darüber nach, da
kam schon wieder ein neues Gerücht von Amscha herüber auf
den raschen Wellen der Weltkriegerregung: In Amscha sei ein
124
Bmno Gotmann,
Kind geboren worden im Federkleide, und an Stelle der Arme
habe es Flügel. Ganz gewiü sei die Tatsache, man habe es
dem englischen Bezirksbeamten gezeigt
Diese Gegenwartsbilder versetzen nns unmittelbar in den
Bereich der Gefühle, aus denen die religiösen Strebungen dieser
Stämme entstehen, und lassen ihre Urgewalt noch heute ahnen,
mit der sie einst alle Anschauungen gestalteten. Diese Urgewalt
ist das Gefühl um die Lebenseinheit mit Tier und Pflanze und
der Wunsch, sie zu einer Gemeinschaft zu gestalten, die vom
Menschen beherrscht wird, der sie zu einem Kreise rundet, in
dem sich alles voll ergänzt und nach außen abschließt Der
Urmensch fühlt seine Abhängigkeit von Tier und Pflanze in
einer Stärke, die wir in Zeiten der Not, wie den jetzigen, nur
ganz von ferne her, doch nur wieder ahnen können. Im Banne
dieser Abhängigkeit erlebt er auch ganz anders, also nicht nur
dem Grade nach unterschieden, die Selbstsicherheit und Ver¬
sorgungsgewißheit, die Tier und Pflanze vor ihm anszeichnet.
Und so war ihm auch der Weg gewiesen, auf dem er selbst
Anteil an ihrer Sicherheit und Gewißheit, erhöhten Lebensschutz
und Lebenstmtz gewinnen konnte, nicht durch Gewalt, sondern
durch Ehrerbietung, durch Anpassung und Dienst an ihren
Lebenswnrzeln und Lebensgewohnheiten, und nicht um sie aus-
znbeuten und zu berauben, also mit aller Berechnung der späteren,
selbständiger gewordenen Menschheit, sondern um mit ihr die
rechte innere Lebenseinheit zu gewinnen, eine gemeinsame Er¬
höhung und Standfestigung gegen die als feindselig erfahrene
andere Welt
Die Einteilung in Jäger, Hirten und Ackerbauer ist zwar
seit langem aufgegeben, aber im Unterbewußtsein lebt von ihr
her noch eine Hemmung weiter, die uns hindert, den Reichtum
der Beziehungen zu erfassen, den der noch nicht streng beruflich
gebundene Mensch besitzt. Der Dschagga hat jetzt über
12 Enlturgewächse in Pflege, darunter die Banane mit 6 Haupt¬
sorten, die Jamswurzel mit ebenfalls 6 Sorten und 7 Bohnen¬
sorten. Daneben aber achtet er noch auf eine Anzahl Wild¬
pflanzen, die er um ihrer arzneilichen oder kultischen Bedeutung
willen entweder im Anbaubereiche weiterwachsen läßt und mit¬
betreut oder in einigen Stücken in erreichbare Nähe aus der
freien Natur hereinpflanzt in seinen Lebensbereich. Dazu kommen
dann die eigentlichen Wildpflanzen, bei denen er Hilfe in einer
ganz bestimmten Not sucht und die ihn ohne diese gleichgültig'
lassen. Über 200 Arznei- und Knltpflanzen konnte ein einziger
Die Shrerbietang der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen new. 125
Gewährsmann mich unterrichten. Die Anfzeichnnngen ftber etwa
einhnndertnndfflnfzig habe ich noch in Händen. Davon sind 27,
also mehr als der sechste Teil, für Mensch und Tier gleichzeitig
bestimmt Hätte ich diesem Zusammenhänge gesondert nach*
gehen können, so wären sicher noch viel zahlreichere Zusammen*
hänge zutage getreten.
Aber schon unter diesen zufällig aufgedeckten ist einer be¬
merkenswert, der ihr Gefühl um eine natürliche Lebenseinheit
zwischen Tier und Mensch noch jetzt recht anschaulich hervor¬
treten läßt 10 Pflanzen unter den 27 stellen Frau und Rind
unter ganz die gleiche Behandlung bei Nöten und Beschwerden
aus Geburt und Stillgeschäft
Die gleiche Behandlungsart ist es z. B. bei der Eandelaber-
Euphorbie (ipapongu), deren Ruß von verbrannten Ästen dem
Rinde in die Nüstern eingeblasen wird, während man davon
einer schwangeren Frau leicht in die Nase räuchert.
Gegen den bösen Blick schützen die Blätter des Eäpurika-
Rankgewächses, weshalb man sowohl die Brüste der Frau vor
ihrem ersten Ausgange nach den Wochen damit einreibt, wie
auch das Enter der Euh vorm ersten Weidegange nach dem
Werfen eines Ealbes.
Mehrere Eräuter verbessern bei beiden die Milch, andere
wieder durch innere oder äußere Anwendung die Drüsen, sei
es sie kräftigend oder im Gegenteil von einer Geschwulst be¬
freiend.
Die Blätter vom Moroma-Baum, einem Schmetterlingsblütler,
sänftigen ein Rind, das das Ealb nicht zuläßt und beim Melken
ausschlägt. Die Blätter werden eing^eben, der Wnrzelsaft des
Baumes auf Einschnitte in die Nase verrieben. Die Melkerin
bestreicht sich mit dem Ruße aus verbrannten Blättern Stirn
und Zunge und dem Rinde alle Gelenke. Es soll auch junge
Frauen geben, die sich dem Säuggeschäfte wild widersetzen und
das Eind immer wieder von der Warze reißen. Dagegen ver¬
reibt man den Wurzelsaft aus Sämlingen des Baumes auf Ein¬
schnitte, die man der Frau auf die Brüste und zwischen sie
macht. Der Säugling wird am Einn ebenso behandelt. Die
Befriedungskraft dieses Baumes wird auch den Pflanzen zugute
gebracht durch den Ackerstock, den man von ihm nimmt.
Unter den Liebesmitteln ist eines gleich kräftig gegen Mensch
und Tier: die Mbuwuo-Liane. Das Pulver aus ihren Blättern,
Blüten und Früchten auf Zungenspitze, Lippen und Stirn ge¬
strichen, zwingt einem das Wohlwollen der Menschen zu und
126
Bruno Outmann,
auch des Rindes, wenn man ihm auch die Gelenke damit betupft.
Wurzel und Eem zerrieben und in ein ZiegenhOmchen getan,
ist ein starkes Liebeszwangmittel. Schlage man mit einem
HOmchen solchen Inhalts an seine Stirn und dann an die Stim
eines Rindes in der Herde, und gehe man darnach ohne sich
umzusehen nach Hause, so folge einem nicht nur dieses eine
Rind nach, sondern die ganze Herde.
Vom Msambotsi-mka-Stranche nahm man das Bogenholz zum
Abschießen der Zapfpfeile in die Halsschlagader des Rindes zur
Gewinnung des Bluttrankes für die Wöchnerin. Mit der Sichel
nur durfte es von dem Berufenen abgeschnitten werden, nach
Beschwörung und Anschneiden an vier vorg&ngigen Tagen. Daheim
besprengte er es mit Entsühnnngswasser und setzte ihm einen
Bnndesring aus der Kopfhaut eines Rindes unter Beschwörung
seiner Glückskraft für Rind und Kind und Wöchnerin.
Hier sehen wir wieder einen geschlossenen Ring freigelegt,
der das Leben von Pflanze, Tier und Mensch umfaßt.
Der Adlerfam, ngantu genannt, ist die eigentliche Glücks¬
pflanze der Dschagga. Elr wird in den vom Opferblute gedüngten
Boden des Bananenhaines gepflanzt, um diesem alle schädlichen
Kräfte zu nehmen, seine Knollen vergräbt man unter die Herd¬
steine, unter die Tür, Schlafstelle und Rinderstelle mit Friedens¬
wünschen, ein Stück Wurzel kommt ins Essen für kranke Kinder
und die erste Milch einer Kalbe.
Der Mlailai-Banm liefert Ackerstöcke, die alles schneller
fruchten lassen, von ihm schneidet man den Glücksstock für die
Bananen.
Baum und Mensch sind die zwei höchstentwickelten orga¬
nischen Gebilde auf der Erde. Gerade der deutsche Mensch be¬
ginnt auf einer höheren Bewußtseinslage wieder die enge Schutz-
gesellnng zu verstehen und andern zu deuten, die zwischen Baum
und Mensch besteht und zu beider Bestem erhalten bleiben muß.
Der Urmensch fühlte sie viel unmittelbarer und körperlicher
und ehrte den Baum als den höheren Erdgenossen, der ihm
Nahrung, Kleidung und Obdach spendete, der ihm Werkzeug^
und Waffe lieferte, die mit Biegsamkeit wie beim Bogen, oder
Knotenhärte, wie bei der Keule, unmittelbar in eigner Kraft
sich ihm verbündete und der ihm aus erstorbenem Leibe das
Lebendigste gab zum Schutze gegen Raubtier und Gespenst und es
ihm deckte bis auf den letzten weißen Aschenrest: das Schönste
im Walde: die rote Blume des Feuers. Zum Baume schaute er
auf als seinem Wegweiser durch Zeit und Raum und als dem
Die Ehrerbietnng der Dschagganeger gegen ihre Nntapflanzen nsv. 127
Mnweiser anch in die geheimnisvollen Vorgänge der Selbst-
emenemng aus Samen, Ast- und Wnrzeltrieb — und so hat er
sich gerade für den JPorterhalt der Geschlechterfolge und die
Lebenswiederkehr im Nachfahren in die Bnndesgemeinschaft mit
solchen Bäumen begeben, die ihm eine auffällige Kraft zur
Selbstemeuerung und zur Selbstgesnndnng zu haben schienen.
Bis auf den heutigen Tag ist darum dem Dschagga bei
Hochzeiten und Geburten der Zusammenhang mit bestimmten
Bäumen wichtig. Unter ihnen ragt die Baniane oder Würge¬
feige hervor, die ja nach zwei Seiten sich als Förderer jungen
Lebens ihm empfiehlt: um ihrer Verjüngungskraft ans den Luft¬
wurzeln willen und wegen des milden Milchsaftes in der Binde,
der so reichlich fließt, daß er jede Bindenverletzung damit heilt.
Ihre Bastfäden nmbinden das Leben von Säugling und Mutter.
Von einem Baume dieser Art, der auf dem Grunde der Msiwu-
Sippe heilig gehalten wird, werden unter feierlichen Handlungen
und Gebeten an den Baum selber anch die Bastfäden für die
Jungbeschnittenen genommen, die ja anch nach dem Zusammen¬
hänge aller Biten als nengewordene Wesen behandelt werden.
Der Lehrstock, an dessen Bindekerben die Burschen und
Mädchen in das Werden und Wachsen des Säuglings eingeführt
werden, darf nur vom Mringonn genommen werden, einem Unde-
ähnlichen, recht wohlwüchsigen Baume, dessen Holz auch die
Schwertscheiden lieferte als Glücksholz, das vorm Tode be¬
wahrte. Ein belaubter Ast vom Mringonu bildet zusammen mit
einem Aste vom Msesevebaume anch die Hochzeitslanbe. Beide
Äste werden unter feierlicher Anrede vom Bräutigam unter Füh¬
rung seines Ehebeistandes und im Geleite der nächstverpflichteten
Verwandten eingeholt und ans ihnen die Laube vor dem Hütten¬
eingange errichtet Der Ast vom Mseseve wird etwa 2 m vor
der Hüttentür in die Erde gesteckt, der Mringonuast darüber¬
gelegt, mit dem Schnittende im Strohdache über der Tür fest¬
gesteckt Neben dieser Laube liegt Kuhdung, das ursprüngliche
Sühne- und Sänftemittel, und brennt das Hochzeitsfener, denn
die Feier dauert durch die Nacht. Unter guten Wünschen für
sich und ihren Hof und Bannnng aller bösen Mächte werden
Braut und Bräutigam viermal um Mseseveast, Feuer und Dung
durch die Laube herumgeführt. Darnach sitzen Ehebeistand,
Ritenalter, Bräutigam und sein Schlachtanteilhaber um den Mseseve¬
ast nieder, so daß sie sich bequem das Opferschaf von Hand zu
Hand geben können, das nun auch viermal um den Mseseveast
geleitet und dann geopfeit wird. Schließlich nimmt der Biten-
128
Brano Oatmann,
alte mit der Bitenalten die Lanbenäste wieder fort, bricht die
belaubten Spitzen ab und legt sie auf den Dung, das Holz aber
brechen und b&ndeln sie, daß es für das erste Feuer nach der
Geburt des ersten Kindes an^ehoben werde. Mit dem Laube
kehrt schließlich die Alte unter erneuten Heilwttnschen den Dung
vom Hofe.
Diese Hochzeitslanbe heißt muri, gleichlautend mit Wohn-
statt, und hält vielleicht in der Andeutung das Wohnen unter
der Banmlaube fest.
Andre Bäume gibt es, die beim Hüttenbau und einzelnen
Hüttenbestandteilen wenigstens den Anfang machen müssen,
wieder andre sind Tabu dafür und dürfen unter keinen Um¬
ständen verwendet werden.
Ganz rührend ist es, wie sich unmittelbar an den Baum ge¬
richtete Gebete erhalten haben und ihn vor der Entnahme eines
Teiles oder des Ganzen um Hilfe angehen. Als ob keine Zwischen¬
schichten oder Glaubenswandlnngen dazwischen lägen, kommt
es einem vor, wenn man auf Beziehungen zu Bäumen trifft,
mit denen sich der Mensch noch heute in einem einzigartigen
Vertrauensverhältnisse weiß. Das tritt bei den Wadschagga
unter den Grubenjägem und Bienenpflegem zutage. Da wird
sogar ein andrer Glücksbaum der Dschaggazone, eine wohlriechende
Cordia, als die Sippenschwester des Eigentümers bezeichnet, die
darum nicht er selber fällen und zu Bienenröhren verarbeiten darf,
sondern Nichtversippte, an die er sie zuvor feierlich verlobt unter
Anteilgabe an den Ackerspenden, an Milch und Bier, die er als
Einheimgaben für diese Sippenschwester empfangen hat Der
Hochzeitstag ist der Tag des Umlegens und der Umwandlung
zu Bienenröhren. Der Baumbesitzer entfernt sich und überlädt
es seinem Ritenbeistande, den Baum feierlich wie zur Hochzeit
zu übergeben. Diese Übergabe geschieht unter genauer Ein¬
haltung aller Förmlichkeiten hierfür und unter Gebeten und
Heilwünschen für die ausziehende Schwester. Nach der Nieder-
legnng des Baumes kommt der Eigentümer und wehklagt über
sein ihm geraubtes Kind. Mühsam beruhigen sie ihn mit dem
Ausmalen des größeren Glückes, dem es nun als Honigsammler
entgegengeht Schließlich ergreift er die entgegengestreckten
Hände doch und nimmt ihren Friedensbund und das Versprechen
treuer Pflege an. Der erste Honig aus deu so gewonnenen
Butten kommt ihm auch zu als des Kindes erste Gabe vom
neuen Hofe. Wie hier mit einzelnen Bäumen der Beruf die
Bundesbeziehung durch gewandelte Zeiten hin lebendig erhielt,
I
Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nntapflanaen new. 129
SO steht das ganze Volk zu einer Pflanze noch in vielen nralten
Beziehungen ans dem Bewußtsein um ihre Wichtigkeit: das ist
die Bananenstande.
Jedes Dschaggagehöft ist von einem Bananenhaine nmgeben.
Da die Standen unter künstlicher Bewässerung und Düngung bis
zu 6 m Höhe erreichen und sehr üppig und dicht stehen, kann
man auch sagen, sie walden die Gehöfte ein. Die Banane er¬
fordert sorgfältige Pflege. Sie hat den Dschagga recht eigentlich
an den Boden geheftet und ihm allen Segen aufgeschlossen, der
aus der Zucht der Bodengesellung kommt Als seinen Schutz-
herm und Verknüpf er der Geschlechterfolgen ehrt er sie auch
noch heute.
Noch heute setzt er seine Lehensstufen in eins mit der Ba¬
nane und macht sie zu ihren Abbildern. Anstatt viele Einzelheiten
nur anzndeuten, seien einige wichtigere eingehend beschrieben.
Bei den Bnrschenlehren und später wieder den Hochzeitslehren
spielt die Bananenstaude eine führende Holle. Schon die erste
Bananentranbe für das Lehrbier wird feierlich unter Heran¬
führung des Jünglings eingeholt und vorm Abschneiden nicht
nur, sondern vor jedem Wandlnngsfortschritte gebeten und be¬
schworen. Die eigentliche Burschenlehre beginnt mit dem feier¬
lichen Aufzuge des Burschen und seiner Beistände, daran schließt
sich der Umgang des Hofes. Und auf ihn folgt gleich der Gang
in den Bananenhain zu der vorher vom Beistände, dem älteren
Bruder, ausgesuchten Stande, einem wohlwüchsigen Exemplar
der Tscharebanane, deren Traube nach dem Eibo zu hängt
Während die Alten auf dem Hofe Zurückbleiben, führt der Bei¬
stand den Burschen in den Bananenhain. Beiden folgt der Mutter-
bmder des Zöglings.
Der Beistand zeigt dem Burschen die Bananenstande und
spricht: »Dein Widder ist das. Schau an, welchen Wohlwuchs
sie hat! Sie diente zum Ansschmieden deines Großvaters, daß
er deinen Vater zeugen konnte, und schmiedete ihn ans, daß er
dich zeugen konnte. Dieser Widder ist eine Tscharebanane vom
Ahnen her für die Burschenlehre.«
Der Bursche wird auf die Merkmale der Banane hingewiesen
und ermahnt, sie sich zu merken für künftige eigene Tätigkeit
als Beistand.
Unter Führung des Beistandes, dem Bursche und Mutter¬
bruder folgt, wird die Staude viermtJ umschiitten. Der Bei¬
stand singt dazu:
Archiv fOr Piyohologie. XLVm.
9
130
Bmno Ontmuui,
>Stille, große Stille, ja große Stille!
Da wurde ich gestern vom Alten geschickt
Der Alte rüstete mir die Wanderflasche
Und hieß mich mit ihr nach Eitito gehen.
Und hinterm Rücken führte ich mein Männlein —
Huckepack trug ich’s, zog hin und her mit ihm,
Ich ging und suchte den Widder,
Gesucht habe ich hin und her und habe gefundene
Unter diesen Worten hat er den Umgang vollendet und
schlägt mit der rechten Ferse gegen den Bananenschaft, ihn so
fürs Umlegen erweichend.
Das geschieht nach jedem der vier Umgänge mit je vier
Schlägen. Ihm nach tun es die andern, danach nimmt der Bei*
stand Bier in den Mund, spritzt es viermal gegen die geschlagene
Stelle mit den Worten: >Ich begieße den Schößling, damit er
nicht vertrockne.« Auch diese Bespeichlung wiederholt der
Bursche und sein Begleiter. Ein neuer Umgang schließt die
Benetzung ab unter dem Gesänge des Liedes:
>Stille, große Stille, ja große Stille!
Laßt uns den Schößling benetzen, damit er wachse
Und morgen wieder einen Nachbruder lehre.«
Der Beistand hält dann inne und spricht zum Burschen:
»Beachte, daß wir den Schößling begossen haben, damit er nicht
verdorre. Wenn du von diesem Nachschoß die Fruchttraube
geschnitten hast, so sollst du ihn ordentlich herrichten fürs Nach*
schossen. Und dein Weib möge ihm Rinderdung unterbreiten,
damit der Stock nicht verdorre. Laßt uns jetzt andächtig stehen,
wir wollen Großvater, den Alten, bitten.« Den Stiel des Spende¬
bechers umklammernd, tun sie alle das Bittgebet: »Du Ahn,
pflege doch die Schossen, daß sie fruchten. Und laß den Widder,
den wir hier auf der Heimstätte ausschmieden, Nachschossen
haben wie diese Staude.«
Nach dem Dargießen des Trankopfers, doch während sie den
Becherstiel noch umklammern, spricht der Beistand zum Burschen:
>Gib acht, mein Nachbruder! Beim Benetzen des Schößlings soll
der Lehralte nicht Anlaß Anden, mich zu beschuldigen, ich hätte
dir die Benetzungslehre nicht gesagt. Schößling! Wenn dein
Weib gebiert — das sind alles Schößlinge. Und deinem Weibe
mußt du dann ordentlich Speise beschaffen, daß sie sich daran
sättige, wie wir die Staude benetzten. Aus den Knochen kommt
keine Milch. Laßt uns nun den Widder von Gott niederholen.«
Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nntzpflanzen nsw. 131
Durch die Fersenschlftge ist die Staude so erweicht, daß sie
umknicken will. Das verhindert der Beistand, indem er sie mit
seinem Bergstock absteift. Mit der Sichel schneidet er nun
viermal in die erweichte Stelle ein. Dabei ermahnt er den
Burschen, jeden Schaft, den er schneidet, richtig zu entschälen
und den Wnrzelstumpf mit dem Abfall zu bedecken. Auch seine
künftige Frau solle er anhalten, mit aller Sorgfalt den Schö߬
lingen das Aufwachsen zu erleichtern. Die Einschnitte führt
er nur so tief, daß sich der Schaft leicht zur Erde senken läßt,
wenn er die Stütze lockert. Während er das tut und sich die
Traube zur Erde neigt, singt er:
»Stille, große Stüle, ja große Stille!
Unser Widder ist das, der unsrige und der Welt,
Dem Moschilande des Bläuptlings Saleko gehörig.
Er lehrt das Waisenkind und den Häuptling.
Glaube ja nicht, das tue auch ein anderer.
Nur der von der Tscharebanane,
Auch für ein Hänptlingskind wird kein andrer genommen.
Da bleibt der Widder droben bei Gott!
Was tun wir, daß er niedei-steige?«
Der Mntterbmder übernimmt es hier, die Nutzanwendung zu
geben. Er wiederholt die einzigartige Bedeutung der Tschare¬
banane für die Bnrschenlehre, im Gebrauche der Väter geheiligt,
und macht dann die Sichel zum Träger der Fürsorgelehre: »Die
Sichel, die dir der Vorbruder zeigte, ist ausgeschmiedet in der
Malisasippe. Ein Schneckenhänschen ans diesem Haine hat der
Schmied zermahlen und auf das Eisen gestreut. Das machte es
weich fürs Schmieden. So entstand die Sichel, um die Bananen¬
stande zu entkranten.« Daran schließt er die Aufforderung
zu peinlicher Bananenhainpflege und endet mit den Worten:
»Hätte der Vater hier nicht gekrantet und sich bemüht, so würden
wir diesen Widder nicht gefunden haben. Jetzt läßt er den
Widder herunter, wir wollen auf die Senkung hören.«
Der Beistand hebt die Stütze wieder ans und senkt die
Staude und singt dazu:
»Stille, große Stille, ja große Stille!
Das ist der Widder des Kindes.
Von Gott steigt er nieder.
Er zögert, er zaudert und kommt nicht.
Was ist daran schuld, was hindert den Widder,
Daß er nicht niedersteigen kann von Gott?«
9*
132 Bruno üutmann,
Zum Mutterbruder gewendet, spricht er: >Sage dem Knaben
das Hemmnis !€ Der setzt ihm auseinander, daß hiermit die Ge¬
burt seines eigenen Kindes gemeint sei, das nicht zur Welt
geboren werden könne, weil er, der Mutterbruder, durch ihn,
des Kindes Vater, verstimmt worden sei Also müsse er sich
hüten, einen Anlaß zu geben.
Der Beistand hebt wieder an und hält wieder auf und
singt dazu:
>Stille, große Stille, ja große Stille!
Du setzt das deine ein mit der Rechten und Linken
Und spendest es Deinem Großvater beim Mutterbruder.
Zögernd kam es schon näher, da des Mutterbruders Ver¬
stimmung vergangen.
Auf einmal kehrt es nach oben zurück,
Zieht sich wieder hinauf ins Gezweig.
Zum zweiten Male verbirgt sich’s!
Was kommt da wiederum dazwischen.
Was wäre der Grund, was wäre der Anlaß?«
Der Burschenvater macht sich selber auf
Oder sendet zum Beistand und spricht zu ihm:
»Die Sippenschwester eines Mannes kommt mir zu sterben
Und ich kenne die Veranlassung nicht!«
Der Ehebeistand geht zum Wahrsager hin und spricht
zu ihm:
»Was liegt für eine Verstimmung zugrunde?«
Der sagt: »Mit dem Munde hat der Mann sich behaftet-.
Das ist’s, das bindet den Widder fest in der Feme.
Erklär’s dem Burschen, sag ihm, er habe die Schwester
fortgescheucht.«
In wirkungsvoller Gegenrede schiebt der Mutterbrader dem
Beistände die Auslegung zu, weil er die Plage davon habe, und
der Beistand fährt fort: »Ich sah, er fluchte der Schwester,
traf er auf der Schwester Kind, schubste er’s von sich. Er
schimpfte die Mutter, die ihn gebar, er schimpfte den Vater,
der ihn zeugte. Nun bittet er den Gottesmenschen und leistet
eine Buße. Und wie er die Buße leistet, sehe ich den Widder,
der sich ins Gezweig zurückgezogen hatte, wiederkehren. Jetzt
senkt er sich nieder mit seinen Wedeln, seine Wedel führt er
mit sich. Deine Sache ist das, du Mutterbmder, beflehlt’s ihm
gut an!«
In alle Einzelheiten hinein bespricht der vor ihm die Be-
Die Elirerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 133
Ziehungen zn denBespektspersonenund den Einfluß ihrer Stimmung
auf den Verlauf der Geburt.
Währenddessen hat der Beistand den Schaft sich immer tiefer
neigen lassen, bis er ihn auf den Boden legte. Die Staude zer¬
schleißen die Männer mit den Händen und decken die Fasern
über den Wurzelstock. Den mittelsten Trieb, die Herzröhre,
lassen sie unverletzt und mit der Fmchttraube verbunden bleiben,
80 daß er wie ein Schwanz an dieser hängt. Diesen Herzschaft
reißen sie dann für sich ab und formen ihn zum Tragkissen,
auf dem der Bursche die Traube zum Lehrhofe emporträgt.
Als Besänftiger verbergen sie unter die Fasern ikengera-Kraut,
onjonjo-Gras, ein Schneckenhaus und die Krone einer Dra*
cäne. Vorm Weggehen ordnen sie sich zum letzten Umgang um
den Wurzelstock für den Abdank.
Der Beistand fordert dazu mit den Worten auf: »Laßt uns
dem Schosser danken. Nach dem Abschneiden der Sprosse laßt
uns nicht so von dannen gehen, laßt uns dem Schosser danken,
damit er das andre Mal fruchte und wir hier einen andern
Widder Anden, um einen Nachbmder auszuschmieden.«
Beim viermaligeu Umgang singt er:
»Stille, große Stille, ja große Stille!
Wir suchten, wir fanden.
Fanden das Widderlein, fanden das Streckerlein.
Und du, Bananenstaude, sei bedankt.
Was ich suchte, hab’ ich gefunden.«
Wenn auch die Lehren in ihrer gegenwärtig durch den
Ahnenkult bestimmten Gestalt viel verdecken und den Hand¬
lungen an der Banane einen rein sinnbildlichen Wesenszng geben,
ganz haben sie doch den ursprünglichen unmittelbaren Lebens-
znsammenhang zwischen der Banane und dem neu zu setzenden
Menschenleben nicht verdecken können. Am wichtigsten ist,
daß bis auf den heutigen Tag eine bestimmte Bananenstande
im Haine als die Sippenbanane geehrt wird.
Der Zusammenhang zwischen Banane und Menschenleben
tritt bei Handlungen am Neugeborenen wieder zutage.
Am Tage nach der Geburt bringt die Bitenalte das Blatt
eines Bananenschößlings und legt es feierlich über jenen Herd¬
stein, der Stein des Herrn heißt, weU es sich um einen Knaben
handelt, und spricht dazu: »Ich ersah Nachwuchs auf dem Hofe,
Nachwuchs der Bienen. Ich ersah den Verbinder, der den Sippen-
gmnd verbindet. Er gedeihe wie die Banane, er dauere aus
wie dieser Bildner.«
134
Bruno Gntmann,
Nach solchen Worten nimmt sie das angewärmte Blatt vom
Herdsteine nnd legt es Aber den RAcken des Säuglings, den ihr
die Mutter entgegenhält. Dazu spricht sie: »Ich empfange dich
hier in der Welt. Du bist im Bergwalde gewesen bei den Ele¬
fanten an einem Orte, wo dich niemand sah. Gedeihe, komme
hoch wie die Ndischibanane. Erreiche ein Alter wie dein Gro߬
vater und dein Urgroßvater, verbinde, wie sie verbanden.<
Viermal läßt sie so das Blatt zwischen Kind und Herdstein
hin nnd her wandern nnd den Ältesten das JAngste grAßen.
Den Beschluß bildet die Lehre an die Mutter des Kindes, die
Sippenbanane zu pflegen, von der das Blatt stammt, sie immer
zuerst mit Dung zu bedecken, zuerst gegen das Vertrocknen nnd
gegen das Herandringen andrer Bananen zu schAtzen, den Raum
zur Entfaltung der Schößlinge also ihr frei zu halten.
An dem ersten in der HAtte nach der Geburt wieder ent¬
fachten Feuer wird eine Banane geröstet. Der Röstruß wird
von ihr Aber den Herdstein geschabt, so daß er ihn bedeckt,
und er dabei so angeredet: »aiwu wufe wofo = da ^t deine
Wochenpflege! Sie stammt von jener Banane, die der Ahn zu
Schutz und Hilfe fAr das Heim gepflanzt hat. Ihr beide seid
es, die uns helfen, das Kindlein zu sehen und zu erhaltene
Die Pflanze als Schätzerin nnd Pflegerin des noch unent¬
wickelten oder des schwächer werdenden Lebens zu ehren, Isig^
dem GemAte des Urmenschen ja so nahe, und so trieb es ihn
denn auch, die Beziehungen zu ihr in einem Lebensbunde zn
verfestigen, der ein Schicksal Aber beide brachte, also das letzte
Mißtrauen ausschloß. Die um die Siedlung her angebauten
Fruchtträger sicherten einer Schwangeren und einer Säugenden
den Lebensunterhalt. Der jagende und weidende Nomade muß
viel mehr Kinder einbAßen als der seßhafte Ackerbauer. In
gleicher Weise segnet die Kulturpflanze das Alter. Der schwei¬
fende Nomade muß Alte oder Schwerkranke aussetzen oder töten.
In der HAtte des Ackerbauers aber kann das Lebenslicht des
Einzelnen ruhig niederbrennen und bis zum letzten Stumpfen
dienen. Wenn die Alten auch nicht mehr wandern und jagen
können, wenn sie zu schwach sind, noch ein StAck Vieh zu
treiben, nnd zn blöde, um im Männerrate einen Gegner zu be¬
fehden — um die stillen Pflanzen können sie ihr Wesen meist
bis zum letzten Atemzuge haben. Und je mehr sie allem Abrig^n
absterben, um so inniger hängen sie sich an den Pflanzendienst:
Großvater und GroßmAtterchen sind die fleißigsten Ackerpfleger.
Die Shrerbietong der Dschagganeger gegen ihre Nntzpflanzen naw. 135
Beim Übertritt ins Alter gehen sie darum auch heute noch
einen besonderen Bund mit den Pflanzen ein und stellen sich
unter ihren Schutz. Wenn einem Alten Enkel geboren sind,
dann sieht er den Geschlechtszusammenhang gewahrt. Ihm liegt
nun daran, diese Geschlechtsentfaltnng nicht mehr zu stören.
Damm läßt er sich in die Altersehre anfnehmen, in jene Ge*
meinschaft, die nicht mehr zeugt, aber das Lebenzeugende be¬
hüten kann yor den lebensfeindlichen Mächten. Ein Alter und
eine Alte, die schon in die Altersgröße aufgenommen worden
sind, unterrichten ihn in dem, was geschehen muß. Von allen
AckerMchten werden immer je zwei gesammelt und zusammen
in einem Topfe gekocht, mit Ausschluß der Erderbse und der
Böstbanane. Das Eochwasser jener andern Feldfrüchte wird
abgeseiht und für den andern Tag aufgehoben. Die schon Anf-
genommenen sammeln sich mit dem Anfznnehmenden im Hause.
Die beiden Beistände bringen das Seihwasser herbei, tauchen
einen Büschel aus viererlei Gras hinein und besprengen damit
das Gesicht des Alten und sprechen:
»Du kommst in die Altersehre, du kommst in die Altersehre!
Erhebe dich wie Eibo und Mawentsl
Die großen Berge sind nnbeilfrei.
So komme auch von dir kein Unheil.
Stehe fest wie sie!
Strebe auf wie der Berg Msemere,
Wie die Ndischibanane.
Ackerst du Eleusine, so gedeihe sie.
Ackerst du Mais, so gedeihe er.<
So zählt er alle Ackerfrüchte mit gleichem Wunsche auf.
>Von all dem Deinen verkomme nichts.
Legst du den Rindern vor, so sieh Milch und Kälber!
Finde immer zu lösen und zu hüten.«
Jede dieser Segenszeilen bekräftigen die Anwesenden mit dem
gemeinsam gesprochenen Wunschworte hau.
Die beiden Alten schließen mit den Worten: >Du brachtest
es zu Ende. Kehre wieder!« Hierauf führen sie ihn vor die
Bierkufe und schöpfen ihm den Antmnk in die hölzerne Trink¬
schale und sprechen dazu: >Du kommst in die Altersehre. Was
du pflegest an Ackerfrucht, das komme hoch, nicht eines gehe
verloren. Was du angreifst, das soll nur gedeihen, nichts komme
davon zu Schaden!«
Nachdem der Gesegnete seine Schale leergetronken hat, heben
die Beistände die ihnen gefüllten an den Mund und sagen: »Du
136
Bruno Gutmann,
brachtest es za Ende. Kehre wieder! Und ackerst dn Baum¬
rinde auf einem Steine — kommen soll es doch nnd gedeihen.<
Eine große Kufe wird dann an die Altersklasse auf den Hof
hinausgegeben, ans der der Hofherr ausschied. Sind die bis auf
den Hefensatz gekommen, tun sie mit den Händen am Enfen-
rande den Hexenflnch, unter Verschfittung der Hefe. Daran
schließt sich eine sehr wichtige Handlung als Krönung des Tages.
Die beiden Alten bringen einen Kolokasiensetzling nnd einen
Znckerrohrschößling. Die pflanzen sie nun auf der Rückseite
der Hätte an den Hofrand. Das sind die Lebenspflanzen, die
Blühen oder Welken des Geschlechts voransverkünden. Von
ihnen darf niemand etwas brechen oder ernten, der nicht ein
Glied des Hauses ist. Sie sagen Ton diesen Pflanzen: yerdorren
sie, dann werden auch des Enkels Anfänge verderben. Der
Segen, den man über ihn sprach, wird sich nicht an ihn heften.
Aber gedeihen sie recht, so wird auch nach ihm die Sippe groß
werden und er selber erst in hohem Alter sterben, und alles, was
er angreift, gedeihen. Der Segen wird sich an ihn heften.
Wie einen Vermittler zwischen Pflanze nnd Mensch fühlen
sie das Rind. Ganz besonders der Bananenhain ist ja auf den
Dung des Rindes angewiesen. Nur ausgiebige Düngung sichert
die ständige Selbstemeuerung des Haines und damit die gesunde
Seßhaftigkeit. Wie stark sie selber noch jetzt diesen Zusammen¬
hang fühlen, bewies in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬
hunderts Häuptling Rindi von Moschi. Er verbot seinen Leuten
die selbstwillige Pfändung eines Schuldners um Rind oder Rinder.
Wer es dennoch wage, dessen Rinder werde er an den Bananen¬
schaft hängen. Und die versammelten Männer sahen einen
Bananenschaft vor sich über zwei Gabelstecken gelegt nnd ein
Rind daran gebunden. Als der Häuptling das Rind den Ahnen
darbrachte nnd sie um Mithilfe bei Durchführung des Verbots
anging nnd darnach das Tier den Todesstoß empflng, riß es im
Fallen auch den Schaft vom Gestelle. Ohne Worte war so ver¬
anschaulicht, wie innig der Zusammenhang zwischen Rind und
Bananenhain ist: wird jemandem das eine genommen, verliert
er auch das andre.
Aber noch inniger, ja wie eine Lebenseinheit müssen sie einst
den Zusammenhang zwischen Rind und Mensch gefühlt haben.
Stier und Mann gehören zusammen. Eine Frau, die dem Stiere
oder Stierkalbe in der Hütte flucht, trifft damit den Mann. Sein
Tragkissen ans Bananengrün beflehlt der Mann dem Stierkalbe
zuzuwerfen mit den Worten: »Gib es dem Stierkalbe, es ist ein
Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen usw. 137
Mann wie ichc. Rind nnd Weib aber fühlen sie in innigster
Weise voneinander abhängig. Die Haustochter heiüt das Küh¬
lein mit dem schwarzen Haupte, im Gegensätze zum Hausrinde,
dem Kühlein mit dem weißen Haupte. Unter diesem Wortspiele
wird die Werbung vorgebracht. Eine Kuh, die gekalbt hat,
wird mit größter Ehrerbietung behandelt. Auch ihre Hütte
darf man nicht betreten, genau wie bei der Wöchnerin, sie wird
feierlich beglückwünscht und entsühnt und unter Segenswünschen
ihr das erste Futter vorgeschnitten. Dazu wird eine Bananen¬
staude verschnitten, die eben eine Frucht entwickeln wollte.
Das wäre sonst ein Frevel, genau so wie das Töten eines kräf¬
tigen oder neumelken Rindes, nnd kann, genau wie der letztere
Fall nachweislich noch jetzt, nur als das heiligste Opfer erlaubt
gewesen sein. Muttertier nnd Färse dürfen nicht auf dem
gleichen Hofe stehen bleiben, einem neuvermählten Paare werden
nur Färsen ins Hans gegeben. Der Genuß der ersten Milch ist
auch heute noch eine heilige Handlung. Wie die Todas auf
den Nilagiris in Südindien, die den Büffel verehren als ihr
Heiligtum, die Hütte ehren nnd hüten, in der die Milch abge¬
stellt wird, so wird auch bei den Dschaggas die Milch einer
neumelken Kuh einen ganzen Monat lang abgemolken und in
Kalabassen in der Hütte abgestellt, ohne daß etwas davon ge¬
trunken werden dürfte. So kommen endlich soviele Kalabassen
zusammen, daß jedem Hofe, der zum eignen Sippenzweige ge¬
hört, eine zngesendet werden kann. Das ist noch ein deut¬
licher Rest ehemaliger Lebensgemeinschaft im Rinde.
Bevor das Austnn der Kalabassen geschehen kann, muß ein
Knabe von 4 bis 6 Jahren, der ohne Fehl und Narbe ist, den
Antmnk tun. Am Abend gießt man dem eine Trinkschale voll
aus der ersten Kalabasse ein, die die sogenannte Kopfmilch ent¬
hält. Mit geschlossenen Augen nimmt der Knabe einen Schluck
und gibt ihn auf das Maul des Kalbes zurück. Während seine
Lippe des Tieres Lippe berührt, spricht er Segenswünsche für
das Kalb nnd beschwört alle bösen Einflüsse, bösen Blick, Zorn
der Milchtrinker usw. Man gibt ihm nun bestimmte sühne¬
kräftige Kräuter, die er in die Milch taucht nnd dem Kalbe zu
fressen reicht.
Jetzt kommt der entscheidende Augenblick: er setzt die
Schale wieder an den Mund, um den ersten Trunk zu tun.
Darauf muß er das Kalb vorbereiten mit dem Zurufe: »ich koste
deine Milche. Während er mit geschlossenen Augen trinkt, rufen
die Alten dem Kalbe zu: >Der Hirte ist’s, der dich bestiehlt.
138
Bmno Gatmann,
der Wärter des Kindes, nicht wir, die Großen. Erschrick nicht,
es ist dein Altersklassengenosse, der dich bestiehlt.«
Der Hausvater selber vollzieht dann die Befriedung der Enh
mit Quellwasser, das er im Morgengrauen geschöpft hat, bevor
es noch jemand überschreiten konnte.
Den endlichen Genuß leitet die erneute Versicherung an das
Kalb ein: man wage nur zu trinken, weil der Hfiteknabe es
ihnen gegeben habe.
Solange die Kuh gemolken wurde, suchte man peinlich jeden
Streit und jeden Anlaß zu Verstimmungen im ELreise der Haus¬
genossen und nächsten Verwandten zu vermeiden, damit die Kuh
sich nicht ärgere und ihr die Milch versiege. Damm hatte das
jüngste Kind im Hause in diesen Tagen unbestritten das Recht
auf den Topfauskratz.
Auf süße Milch darf niemals die Sonne scheinen. Auch saure
Milch trinkt der Dschagga unter freiem Himmel nur, wenn sie
vom Markte kommt. Solche Anschauungen beeinflussen natür¬
lich auch Handel und Wandel. Nur ungern, ja widerwillig, ver¬
kauft der Dschagga süße Milch an den Europäer. Der kann
sich nur Bosheit oder Faulheit als Ursache denken, zumal wenn
er weiß, daß jenem genug Milchvieh zur Verfügung steht. In
Wahrheit scheut der Dschagga den Verkauf von Milch an die
Europäer deshalb, weil der keine Ehrfurcht vor der Milch habe
(ili alawode wuindi wo marawa). Daß er die süße Milch der
Kuh kocht, erscheint dem Dschagga als äußerste Roheit Schäumt
sie dabei noch über und verbrennt im Feuer, so muß nicht nur
die Kuh ihre Milch verlieren, sondern auch Unfriede über das
Hans kommen, aus dem sie stammt.
Ein Gegenstück zur Scheinklage bei dem Fällen eines Mringa-
ringabaumes ist die Klage um den Tod eines alten Muttertieres,
das man schlachten mußte. Diese Scheinklage hat sich erhalten
für ein ausgeliehen gewesenes Rind. Ein Reicher, der seine
Rinder nicht alle selber halten kann, gibt sie an Ärmere aus,
daß die den Milchgennß davon haben, Hanswärme und Nahrung
für die Bananen, ihm aber die Kälber verbleiben. Hat sie
10 Kälber geworfen und soll nun weggetan werden, so wird sie
an den Eigner zurückgegeben, denn sie darf nur auf dem Sippen¬
grunde geschlachtet werden. Unter vielen feierlichen Hand¬
lungen wird sie für alles bedankt, vom Besitzer ihr daheim am
Halfterpfosten versichert, daß er sie nicht töten könne, sondern
ihr den Alterssitz im Hause lasse, weil sie ihm 10 Kälber ge¬
schenkt habe. Wenn ihr aber einmal ein Unglück widerfahre.
Die Ehrerbietang der Dscha^gfsoieger gegen ihre Natspflanzen asw. 139
solle sie wissen, daß er’s nicht yerschnldet habe. Die Sippen*
brüder sind aber schon anf den andern Tag fürs Schlachten be¬
stellt Die Tötung muß aber ein Fremdversippter aus der Nach¬
barschaft vollziehen, während sich die Sippenbrüder mit dem
Eigner versteckt halten. Die zurückgebliebenen Frauen fangen
an laut zu wehklagen um das gute Tier, während es losgebunden
und zur Schlachtung fortgeführt wird, und versichern ihm, daß
sie unschuldig seien an seinem Tode.
Eh^t nach dem Abledem des Tieres findet sich der Eigen¬
tümer mit seinen Brüdern herzu, bricht in Rufe schmerzlichster
Überraschung aus und fragt voller Zorn nach dem Töter. Der
tritt ihm unter die Augen und sagt: >Wir haben dir es gestohlen,
als du abwesend warst < In einem nun folgenden Streitgespräche
zählt der Besitzer alle Verdienste des Tieres auf, — aber das
letzte Wort behält der Bursche, als er sagt: »Sie war eine Alte
und mußte für andre Platz machen. Wir Menschen müssen es
auch.« Der Besitzer bricht hierauf in Klagen und Weinen aus,
als kränke ihn der Tod seiner Mutter. Vom Fleische genießt
er nichts.
Wahrscheinlich hat sich diese Sitte an dieser Stelle bis in
dieses Geschlecht erhalten wegen der Ansleihebeziehungen,
während sie einstmals aUgemein beim Schlachten eines Mutter¬
tieres wird geübt worden sein. Ehe nun der Versuch gemacht
werden kann, die Beziehungen der Dschagga zu ihren Nutz-
pfianzen nnd Haustieren in ihrer totemistischen Grundbedeutung
kurz zu würdigen, muß wenigstens in einigen Strichen gezeigt
werden, wie die Dschagga auch mitverwurzelt sind in jenem
Boden, der heute als Entstehungsgebiet des Totemismus unbe¬
stritten ist
Wenn ein Elefant in eine Fallgrube gefallen war, ging der
Besitzer mit einem Opferschafe hinunter, um das Tier zu ent¬
sühnen. Er stellte sich vor das verendete Tier, zückte den
Speer gegen es und sprach unter fortwährendem Auf- und Nieder¬
schwingen der Waffe: »Ich bin der Herr der Wildbahn, ich
war’s, der diese Bahn zuerst beschritt, ich fällte den Elefanten.
Der Fäller bin ich. Ich fällte das Eälblein der Schnecke. Ich
— am Patschangubanme hob ich aus ein Schneckenkälbein;
ich — bei Mandaka hob ich aus ein Schneckenkälblein.c Und
so führt er noch sechs andre Orte an und schließt mit den
Worten: »Der Fäller bin ich, ich fällte das Schneckenkälblein!«
Mit diesen Worten bezieht er auch die Taten seiner Vorfahren
und Voijäger auf sich und spricht von ihnen als von seiner
140
Bnmo Ootmann,
Person. Er will damit dem Elefanten seine Hechte bezeugen
und ihn versichern, daß er von keinem Freibeuter gefällt wurde.
Es macht dieses Vorgeben fast den Eindruck, als solle damit
an einen rechtsverbindlichen Vertrag zwischen Tier und Mensch
erinnert werden.
Im Westen des Gebirges überliefern sie noch den Namen
einer Sippe, die den Elefanten als Sippengenossen verehrten
und sich darum von ihm keines Leides zu versehen brauchten.
Meist aber hat der Ahnendienst diese Beziehungen zu Tieren
jetzt verdeckt und die Erinnerungen umgebogen. Die Sippen¬
tiere sind jetzt nur die Schutztiere, Helfer und Freunde, aber
nicht mehr Ahnen und Quellpunkte. Die Wamtöan erzählen
vom Leoparden, die Wamari vom Hnndsaffen, die Wakalaln von
der Spinne, die Watarimo von der Schnecke als ihren Helfern.
Andre haben ihre Beziehung zu einem Abstammnngstotem noch
im Sippennamen festgehalten, so die Wangure ans Wildschwein,
das sie auch heute noch nicht zu essen wagen, die Warnende
an eine Antilope, die Wakinjaha an den Strauß, die Wangare
an die Hyäne, die Wamrema an den Affenbrotbanm usw. Am
lebendigsten hielt den Zusammenhang zwischen Tier und Sippe
die Kiviasippe von Tela fest. Sie verehrte die Riesenschlange
und nannte sie mit einem Namen, der ganz unbefangen als der
des ersten Vorfahren bezeichnet wird. Sie habe den ersten
Siedler ins Land heraufgeleitet, ihm die Wohnstätte angewiesen.
Sie habe der Sippe jede Hexe kenntlich gemacht durch Nicht¬
annahme des von ihr dargebrachten Opfers, vor jeder Ackerzeit
habe man zuerst ihr ein Haus gebaut, das sie bezog, und die
ersten Pflanzen ihr angepflanzt; von jedem neugebomen Kinde
habe man ihr Kunde gegeben, und sie habe die Hütte anf-
gesucht und für Kind und Mutter Gedeihen gebracht Eine
Frau, die ihr nicht gefallen hatte, kennzeichnete sie durch einen
andern Weg für ihre Rückkehr. Die so von ihr Abgelehnte
schickte man wieder zu den Ihrigen, weil sie als unfähig er¬
wiesen sei, das Sippenband weiterzuknüpfen. An dieser Stelle
zeigt sich der Abstammungszusammenhang mit dem Sippentiere
auch noch bei anderen Sippen, die ihn im Bewußtsein unter¬
drückt haben. Der Leopard z. B. trägt den neuhinzugeheirateten
Frauen nur dann seine Jagdbeute ordentlich zu, wenn sie ihm
Wohlgefallen. Und Wohlgefallen können ihm nur jene, die den
Sippenbestand zu sichern fähig sind. Nach der Sage ist die
Schlange gekränkt davongegangen, als sie ihre Hütte von einem
Zngewanderten bewohnt vorfand, dem man sie gedankenlos ein-
Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 141
geräumt hatte, und in der Fremde wurde sie erschlagen. Ein
Junges Ton ihr wollte man an ihrer Statt in Pflege halten, aber
es grämte sich nach der Mutter und ging auch davon. Aber
in jedem Jahre errichtete man ihrem Geiste eine Wohnstätte
und opferte ihr dort ein schwarzes Schaf und pflanzte ein paar
Maisstanden und etwas Eleusine fflr sie, damit sie auch ihre
Acker segne.
Den andern Sippen aber wurde dieser Kult unheimlich, man
mied das, was von der Schlange erbeten worden war, und Aber*
ging die Bananenhaine der Telalente beim Heischen einer Bananen«
traubenzubuße für Burschenlehre und Hochzeit Das hat die
Telalente wohl veranlaßt, ihren Schlangenknlt endlich aufzugeben.
Was ihm aber bei ihnen eine festere Wurzel gab, ist doch wohl
eine längerdauemde erwiderte Beziehung zu einer Biesen«
schlänge gewesen. Der ostafrikanische Python ist ja ein träges
und gutmütiges Tier, von dem man wohl denken kann, es habe
sich an freundschaftliche Beziehungen des Menschen zu ihm
wohl gewöhnen können. Aber freilich mußten die abreißen,
wenn die Glaubensbindung, auf der sie beruhten, sich anflöste,
mußten aufhöfen wie bei allen andern Tieren, die unzähmbar
blieben und keinen Nutzwert hatten. Ganz anders aber ist es
mit jmien Tieren gegangen, die für ein Zusammenleben mit den
Menschen vor andern geeignet waren. Die religiöse Verehrung
ist bei den meisten Haustieren sicher der Weg gewesen, der
sie mit den Menschen zusammenführte und in seinen Bereich
gewöhnte, so daß sie sich schließlich der Selbstvorsorge ent«
schlugen, was im gemäßigten und nordischen Klima tiefer noch
als im Süden einwirken mußte, und im Menschen, der für sie
sorgte, auch den Führer sahen. Und als durch Wanderungen,
Vermischungen und Wandlungen der Daseins« und Erwerbsformen
die Tierverehnmg schwand, ließ sich das entgottete Tier willig
das Dienstjoch über den Nacken legen.
Nur so ist es zu erklären, daß der primitive Mensch so viele
starke Tiere zähmen und schließlich beherrschen und für sich
arbeiten lassen konnte, während der höher entwickelten späteren
Menschheit keine weitere Eingewöhnung von Tieren in ihren
Dienst gelang, so daß bis auf den heutigen Tag wirklich und
aUgemein brauchbare Haustiere nur jene sind, von denen wir
keine Wildstämme mehr feststellen können.
Die wohl einzige Ausnahme bildet der Hund, der sicher von
Anfang an sich dem jagenden Menschen anschloß, wie es der
Schakal mit dem Löwen tut und der Peu-Peu mit dem Tiger.
142
Bruno Gutmaun,
Es ist ganz natürlich, daß bei dieser vielleicht grüßten Um¬
wandlung, die im menschlichen Denken and Leben sich damals
langsam vollzog, nur jene Tiere vom Menschen mit Willen fest¬
gehalten and ans vernünftigeren Erwägungen heraus weiterhin
gepflegt wurden, die ihm irgendwie wirklich nützten. Damm
schieden gerade jene Geschöpfe allmählich von ihm, die ihm als
religiöse Wesen einst der höchsten Verehrung würdig erschienen
waren, unter ihnen vor allen Dingen die Schlangen. Ihnen gegen¬
über blieb nichts zurück als das Gefühl einer tiefen, religiös
bedingten Scheu. Und die Entfremdung zwischen beiden mußte
um so größer werden, als die Ehrfurcht längst vergangener Ge¬
schlechter, die unbewußt im Nachfahren weiterlebte, in immer
größeren Gegensatz zu den herrschenden religiösen Formen trat
und nicht zuletzt auch zu der Lebenshaltung, die, je mehr sie
die Umgebung sich unterwarf und für das menschliche Leben
alleine ordnete, die Schlange aus dem menschlichen Lebensbereiche
vertrieb und ihm immer wesensfremder und ungewohnter machte.
Ehrfurcht und Abscheu mischten sich darum ganz wunderlich im
Herzen des Menschen der Schlange gegenüber.
Daß die Haustiere so ganz aus dem engeren Bereiche ver¬
schwunden sind, in denen man die totemistische Religion noch
erfassen konnte nach den Namen der Sippen und der unmittel¬
baren Zurückfühmng der Abstammung auf das angebetete irdische
Wesen, erklärt sich wohl sehr einfach, wenn man bedenkt, daß
diese für den Anschluß an den Menschen geeigneten Tiere eben
von vielen Sippen gleichzeitig angebetet worden sind und darum
als das Kennzeichnende im Unterschiede nicht festgehalten w^*den
konnten, als man sich enger zusammenfand, Bünde miteinander
schloß und eine Stammesgemeinschaft miteinander einging. (Oder
die Anbetung wurde dann Stammessache, wie bei den Tntsi,
Kaffem und Todas, und verschwand auf diese Weise ans den
Grundtatsachen, auf die sich die einzelne Sippe im Stamm zu-
rückführte.)
Noch ein anderer Umstand kommt dazu, die Beziehungen zu
verwischen: es war viel leichter zu glauben, daß der Ahn sich
aus solchen Tieren vermenschlichte wie aus Kuh und Pferd, nüt
denen man bis heute schließlich eine seelische Verwandtschaft
erfühlen kann, als wie aus den wilden Tieren. Und darum ist
der Übergang von der Tieranbetung zur Ahnenanbetung am
Ende so unmerklich und natürlich gewesen, daß man gar keine
Veranlassung hatte, sie als einen auffälligen Abschnitt im Ge¬
dächtnisse festzuhalten.
Die Ebrerbietnng der Dscbagganeger gegen ihre Nntzpflanzen nsw. 143
Andere aber ging es mit jenen Tieren, die dem menschlichen
Seelenleben so fern standen oder blieben, daß man anch für die
Urzeit annehmen kann, es müssen besondere Umstände gewesen
sein, die gerade diese oder jene Sippe zu dem Tiere in Be*
Ziehung setzten. Und hier hat man dann auch späterhin die
Beziehungen mit Absicht aufrecht zu erhalten versucht und um
ihrer Wunderlichkeit willen weiter an Wunder geglaubt, als
man sich schon längst auf andere Lebensträger eingestellt hatte.
Eh^t wenn wir die Haustiere und den Reichtum der Nutz¬
pflanzen als die Hanptträger der totemistischen Glanbensgesellnng
aufsnchen lernen, erfassen wir sie ganz in der grundlegenden
Tiefe, ans der bis heute noch Kräfte in die gesamte Menschheit
heranfwirken. Ganz verkehrt wäre es z. B., wenn man auf nur
verstreutes Vorkommen des Totemismus unter den Dschaggasippen
deshalb schließen wollte, weil ihre Namen verhältnismäßig wenige
Tier* oder gar Pflanzenbezeichnungen sind. Ganz abgesehen da¬
von, daß nur von einem Bruchteile die Bedeutung erfaßbar ist,
gilt es zu beachten, wie leicht anch heute noch eine Namen*
Ersetzung eintritt. Erst 1913 erlebte ich es, daß die Mboro*
Sippe ihren Namen außer Eure zu bringen und durch den Namen
eines andern Ahnen zu ersetzen versuchte, nur weil die Suaheli*
leute, mit denen sie in Verkehr traten, an dem Worte mboro
Anstoß nahmen, das sie an eins ihrer Sprache mit häßlicher Be¬
deutung erinnerte. Wie viele Sippen nennen sich jetzt einfach
nach dem Ahnen, der am Gebirge einwanderte. Bei den Hänpt*
lingssippen hat ein Ehrenname den eigentlichen Sippengrußnamen
verdrängt: mosi oder mn§i, entstanden aus moni oder mnuisi:
Erdherr.
Von den Pflanzen dürfen wir annehmen, daß sie einmal die
Hanptträger des Totemismus gewesen sind. Wenn sie soviel un¬
deutlicher nur als die Tiere die Spuren der empfangenen Ver¬
ehrung festgehalten haben, liegt das an ihrer noch rascheren und
allgemeineren Verbreitung als Nahrungs- und Gennßmittel.
Besondere jene Pflanzen, die in Erregungszustände versetzen
und darum wahrscheinlich ursprünglichste Anreger des Totemismus
mit gewesen sind, wurden am raschesten wohl mit um der Er¬
regungszustände selber willen gesucht und geliebt, nicht mehr
nur wegen der durch diese Zustände erfaßbar werdenden Lebens¬
beziehungen. Aber wie stark solche Lebensbeziehungen gerade
ans ihnen einmal gefühlt worden sind, lassen noch heute Hin¬
weise auch in den Bnrechenlehren der Dschagga erkennen. Da
sind die Vorkehrungen für das Brauen des Lehrbieres unter ganz
144
Bruno Gatmann,
besonders feierliche Beschwörungen gestellt, die noch heute aus¬
sprechen, wie man in den Wirkungen der Pflanzensäfte den eigent¬
lichen Schöpfer und Gestalter der Lehren ehrt. Und gar gut
hat man die einzelnen Erregnngsstnfen dabei unterschieden. Die
erste Wirkung als Erhöher der Sprechfertigkeit, die zweite als
Herabminderer der Ehrempflndung und die dritte als Lähmung
der Sprechwerkzeuge. Das bringt die Beschwörung des Malz-
mehles zum Ausdruck, wenn es ins Bananenfmchtwasser ein¬
gelassen wird. Umrflhrend spricht der Beistand: »Eom, belebe
das Bananenwasser, daß ich den Lehralten rufen könne. Dich,
Eom, vermische ich mit Ndonja-Banane. Sie hat unser Ahn
auch dazu gemischt. Sie lehrte den Großvater und Urgroßvater.
Belebst du dich, rufe ich den Lehralten. Kommt er und kostet
den Antmnk, soll seine Zunge heilvoll sein. Und Heilsames soll
sie reden. Er rede wie die Glocke des Mannes von Eitula, so
möge seine Zunge tönen. Reden soll er wie die Drossel, die
eine Danersängerin ist Elingen soll’s wie von gutgeschmiedeten
Schellen. € Usw.
>Eom, hast du dich zur Schaumschicht umgewandelt und der
Bnrschenvater trinkt von dir, dann hilf ihm vorbedenken, was
er sagen will, daß er nichts Unheilvolles daherrede, weil es ja
doch seine Wiederkehr ist. Möchte er ja nicht den Lehralten
erzürnen mit einem heillosen Wort oder auch den Mutterbmder
dieses Widders. Der Mutterbmder wird schon mit Nachdruck
auftreten in dem Bewußtsein: dieser Widder ist mein Qnellgebiet,
weil er aus meiner Schwester entsprang, ich darf mich äußern,
wie es mir gefällt Hörst du, Bnrschenvater, den Mutterbmder
solcherart reden, bleib ruhig, schlürfe den Eeimschaum! Sänf-
tige dich, werde ein Baumschliefer, der sich in seiner Baumhöhle
nicht rührt.« Usw.
»Belaurer, kommst aber du und willst mich hier in der mir
anbefohlenen Wiederkehr belauern und schlürfst von der Malz¬
keimschicht und gerätst in Ehregnng: Eeimschaum, so verkehre
ihn, damit er im Rechtsstreite unterliege, daß wir ihn büßen
lassen und er nicht unsl
Wenn er mit der Verschlagenheit des Lauschers kommt, um
aufzuschnappen was ich rede, um mich damit beim Häuptlinge
zu verklagen, so soll seine Zunge stocken und was er redet un¬
verständlich sein, aber der Sprecher auf unserer Sippenseite habe
eine gelenke Zunge.«
Die letzten Worte dieser Beschwörung machen den Ransch-
trank schon zum unmittelbaren Rechtshelfer und führen auf den
Die Ehrerbietang der Dsehagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 145
Ordalcharakter hin, den die Rauschgetränke ursprünglich jeder
für sich in seinem Elnstehungsgebiete werden gehabt haben. Als
solche aber machten sie dem Urmenschen die übermächtige Gewalt
am lebhaftesten bewußt, um derentwillen er sich eben jenem
Wesen gläubig ergab, das er darin waltend wußte.
Im Totemismus hat der Mensch sich Tieren und Pflanzen
untergeordnet und ihren Lebensgewohnheiten angepaßt, ln dieser
Anpassung hat er jene geistigen und sittlichen Kräfte der Selbst¬
zucht entwickelt, die ihn zum Herrn der Wesen machten, denen
er so beflissen diente und so nur dienen konnte, weil er nicht
nur einen stofElichen Vorteil von ihnen wollte, sondern seinen
eignen Geschlechtsbestand ganz in sie gegründet wußte. Die
stärksten Zwänge sind in solchen Zusammenhängen von den
Pflanzen ausgegangen. Noch heute treten die totemistischen
Grundlinien am deutlichsten zutage, wo es sich um die Erneue¬
rung und den Foi*terhalt der Art handelt bis in die gebildetsten
Kreise Europas hinein, die sich eine Hochzeitsfeier ohne Alkohol
einfach nicht verstellen können. So erinnert uns zum Schluß
diese Tatsache noch einmal daran, daß der Totemismus immer
ein ursprüngliches Abstammungsverhältnis zwischen der Sippe
und ihrem Totem voraussetzt.
Um das begreifen zu können, muß man sich vergegenwärtigen,
daß der Urmensch ein Vertrauensverhältnis nur zu Wesen haben
könnt«, die mit ihm eine volle Lebenseinheit bildeten, wie sie
ihm damals nur die gemeinsame Abstammung bot Nur darf
man sich das nicht so vorstellen, als ob sich das Bewußtsein
davon nur in der Zelle des engsten Zeugungsverbandes, der
Familie in unserm Sinne, habe entwickeln müssen. Wäre dies
der Entstehungsboden gewesen, dann bliebe allerdings die Ein¬
beziehung so artfremder Wesen wie Tier und Pflanze in den
Sippenverband für uns unbegreiflich. Sondern diese Einheit in
der Sippe beruhte zuerst auf Bindemächten und Zengungskräften
kultischer Art, auf dem Genüsse und Austausche von Lebenssaft,
Speichel, Milch und Blut Seine Anpassungsfähigkeit, die Kraft
für den Erwerb der Herrschaft über die Dinge, hat der Mensch
zur höchsten Feinheit gesteigert, als er den Gedanken der Bund¬
schließung auch auf Tier und Pflanze übertrug und sich so für
einen vertieften Halt des eignen Sonderwesens in den Lebens¬
strom der Sicherheit gewährleistenden Pflanze oder auch eines
Tieres selbst hineinwurzelte.
Es lag mir heute nur daran, an noch jetzt lebendigen Resten
im Glanbensbereiche der Dschagga ein solches Streben nach Lebens-
Arohiv fOr Psychologie. XLVIU. 10
146 Bruno Gntmann, Die Bbrerbietnng der Dechagguieger nsw.
einheit mit den Lebewesen, die das menschliche Dasein sichern,
ein wenig nachempflnden zn lassen. Und das ist nicht anwichtig,
denn wenn der Totemismus auch keine Gegenwartsbedentung
mehr hat, so wird die Welt des Animismus und Fetischismus,
die jetzt so yerwirrt, doch erst dann überschaut werden können,
wenn man ihre Einzelheiten als Wucherungen und Schmarotzer
zu beurteilen gelernt hat, die sich auf einem riesigen Trttmmer-
felde ansiedelten, das aus einem nrzeitlichen wundervoll ge¬
schlossenen Weltbilde anfgebrochen ist, eben dem Totemismus.
(ESngegsngfen am 18. Februar 1924.)
Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
Ein Btraktnrpsyohologischei Versuch.
Von
Hans Krflger (Rostock).
Als Hauptvertreter des griechischen Skeptizismus^) pflegt
man gewöhnlich Pyrrhon von Elis, Ainesidemos von Knossos
und Sextus Empiricus zu nennen. Am bekanntesten von ihnen
ist Sextus, der letzte um die Mitte des zweiten nachchristlichen
Jahrhunderts lebende Anhänger jener Oeistesrichtung. Redet
er doch als einziger von allen Skeptikern eine ganz unmittel¬
bare Sprache zu uns, während die übrigen erst durch ihn zu
Worte kommen und nur durch Rekonstruktion ans seinen Werken
zu gewinnen sind. Diese, für einen Einblick in das skeptische
Denken als solches sehr geeignet, bereiten jedoch einer Er-
foi^chnng des historischen Entwicklungsganges der Skepsis und
des Anteils einzelner Skeptiker an der Gesamtlehre die größten
Schwierigkeiten. Ist doch Sextus bei seiner ganz unpersönlichen
Einstellnng recht sparsam mit Quellenangaben, macht er doch,
selbst wenn er Namen nennt, vielfach nur indirekte, mitunter zu
Zweifeln an der Richtigkeit Anlaß gebende Mitteilungen über
die Lehren seiner Vorgänger. Machen sich diese Schwierig¬
keiten schon etwa bei der Feststellung von Pyrrhons Anschau¬
ungen geltend, so treten sie doch ganz besonders bei der Klärung
der Philosophie des Ainesidemos von Knossos hervor. Wohl
1) Diese Abhandlnng stellt eine völlige Nenbearbeitnng des 8. Teiles
meiner Dissertation »Ans der Gedankenwelt der antiken Skepsis« dar, die
von Professor Geffcken in Rostock angeregt wurde nnd in der ich den
Yersncb machte, in historischer nnd philosophischer Betrachtnngsweise den
Entwicklungsgang des skeptischen Denkens bei den Griechen Torznftthren.
Die vorliegende Arbeit beansprucht keineswegs, eine Gesamtschildemng der
Philosophie des Ainesidemos zn geben. Eine solche, in der manche hier
nnr angedentete Probleme ansftthrlich besprochen werden sollen, behalte ich
mir für eine spätere DarsteUnng vor. Znm besseren Verständnis dieses
Artikels, insbesondere der Einreihnng von Ainesidemos* Philosophie in den
Gesamtverlanf der griechischen Skepsis, verweise ich hier auf eine dem¬
nächst von mir im »Archiv f. Gesch. d. Philos.« erscheinende Abhandlung
Uber den »Ansgang der antiken Skepsis«.
10*
148
Hans ErOger,
können wir große Teile aus Sextus’ Schriften mit völliger Sicher¬
heit jenem Skeptiker zuweisen, andere mit ziemlicher Wahr¬
scheinlichkeit für ihn erschließen, wohl stehen uns hier außerdem
noch die auch für andere Skeptiker brauchbare Darstellung des
Philosophenbiographen Diogenes Laertios sowie die uns von dem
Patriarchen Photios erhaltene Inhaltsangabe von Ainesidemos’
Hauptwerk, den »PyrrhonischenRedenc, und einige andere Quellen
zur Verfügung, und doch scheint ein seltsamer Widerspruch in
seiner Philosophie vorhanden zu sein. Er, der einerseits die fast
ganz in Vergessenheit geratene pyrrhonische Philosophie vneder
zu neuem Leben erweckte, der den Kampf gegen die alten Feinde
der Pyrrhoneer, die nur einem intellektuellen Skeptizismus hul¬
digenden, im Grunde durchaus dogmatisch veranlagten Akademiker
mit aller Schärfe wiederaufnahm, und der auch nach Sextus’ Be¬
richten sich ganz hervorragende Verdienste um die Ausbildung
des skeptischen Systems erwarb, wird auf der anderen Seite von
diesem als Dogmatiker hingestellt und energisch zurückgewiesen.
Den Grund seiner Polemik findet Sextus in der Tatsache, daß
Ainesidemos die Skepsis als den Weg zur Philosophie des Heraklit
bezeichnet habe. Denn während die Skeptiker erklärten, x&vavxia
negl xd aixd <paiveo&ai, d. h. von demselben Ding gebe es ver¬
schiedene entgegengesetzte Erscheinungsweisen, dasselbe Ding
könne uns bald so, bald ganz anders erscheinen, stelle nach
Ainesidemos’ Auffassung die Ansicht Heraklits, xävavxia tuqI x 6
avxd vndQxeiv, d. h. hinsichtlich desselben Dinges sei auch ob¬
jektiv Entgegengesetztes vorhanden, das objektive Ding sei in
dauernder Veränderung begriffen, gewissermaßen die Fortsetzung
und Folgerung jener ersten Behauptung dar. Diese Nachricht
findet ihre Ergänzung in einigen anderen Mitteilungen des Sextus,
in denen dieser jenen Skeptiker ganz offen den »Anhänger des
Heraklit« {Ainjaiötjfiog xaxd ‘HgdxXeixov) nennt. Um diese Wider¬
sprüche zu lösen — eine Aufgabe, die man als die schwierigste
in der ganzen antiken Skepsis bezeichnet hat — hat man fol¬
gende Theorien aufgestellt*):
1) Brochard, »Les Sceptiqnes Grecs« 1887 S. 277: ». .. plas difficile
de tons les probl^mes que sool^ve l’histoire da scepticisme ancien.« Ygl.
auch B. Bichter, »Der Skeptizismos in der Philosophie« S. 821 Anm. 145
Bd. 1, Leipzig 1904; »Ein Entscheid ist nach dem vorhandenen Material nn-
mbglich, and wer nicht Fachphilologe ist, soll von Lösangsversachen ab¬
stehen, denn dem letzteren ist mit einem offen eingestandenen non liqaet
mehr gedient als mit ttbersubtilen Eonstraktionen.«
2) Eine sehr gnte DarsteUnng and Eritik der einzelnen bedeatenderen
Theorien gibt B. Bichter, a. a. 0. S. 321 Anm. 145.
Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
149
L Die sogen. Phasentheorie nimmt zwei verschiedene Ent-
wicklnngsstadien des Ainesidemos an, sei es von der Skepsis
znm Heraklitismns oder von der Philosophie des Heraklit znm
Pyrrhonismus.^)
n. Nach der verbreitetsten Auffassung blieb Ainesidemos zwar
seinem skeptischen Standpunkte treu, ließ aber die Philosophie
Heraklits als die relativ wahrscheinlichste metaphysische Hypo¬
these gelten.*)
m. Während diese beiden Theorien auf der Voraussetzung
fußen, daß in der Tat ein Zusammenhang zwischen Heraklitismns
und Skepsis bei Ainesidemos bestanden habe, führen andere
Forscher alle Unklarheiten und Widersprüche auf die ungenaue
Berichterstattung des Sextus zurück, der jenen Skeptiker nur
mißverstanden habe. Überall, wo Ainesidemos herakliteische
Gedanken ansspreche, handle es sich lediglich um einen histo¬
rischen Bericht, nicht aber um die eigenen Ansichten dieses
Skeptikers.*)
1) Saisset (>Le scepticisme«, Paris 1865, S. 204) läflt die skeptische
Periode auf die herakliteische folgen, während L. Haas (»De philosophornm
scepticomni snccessionibns«, Diss. Würzbnrg 1876, S.44), Brochard (a. a. 0.
S.284) sowie N. Macoll (»The Oreek Skeptics from Pyrrho to Sextns«, London
and Cambridge 1869) den umgekehrten Weg annehmen.
2) Auf diesem Standpunkt stehen Natorp (»Forsch, z. Gesch. d. Er¬
kenntnisproblems im Altertum« Bd. lU S. 75), Richter (a. a. 0. S. 31),
B. Hirzel (»Untersuch, z. Ciceros philosophischen Schriften« Bd. m, Leipzig
1883, S. 64ff.), Ooedeckemeyer (»Gesch. d. griech. Skep.« S. 228).
3) Diese Ansicht vertreten besonders Ed. Zeller (»Philos. d. Griechen«
Bd. in, 2* S. 36) und Di eis (»Doxogr. Graeci« S. 210). Auf einem ähnlichen
Standpunkte stehen Th. Gomperz (»Zn Heraklits Lehre und den Überresten
seines Werkes«, Wiener Studien 1886 S. 1048/49) und Patin (»Herakütische
Beispiele«, Progr. Nenburg a.D. 1892/93 S. 35), die daneben betonen, dafi
Ainesidemoe der Stoa habe zeigen wollen, der von ihr verehrte Heraklit sei
im Grunde »skeptischer als die Skepsis selbst« (Gomperz S. 1049). Ander
den genannten führe ich hier noch zwei Theorien an: a) E. Pappenheim
(»Der angebliche Heraklitismns des Skeptikers Aines.«, Progr. Berlin 1889),
stellte die sehr unwahrscheinliche und wohl auch von keinem Forscher an¬
genommene Hypothese auf, AlvijaiSrifioe xarä ’HQixXettov sei der Titel einer
von Herakliteem verfafiten Tendenzzschrift gewesen, die den Aines. als An¬
hänger Heraklits hinstellen sollte, und ans der Sextus seine Kenntnis jenes
Skeptikers schöpfte, b) ILHerbertz (»Das Wahrheitsproblem in der grie¬
chischen Philosophie«, Berlin 1913, S. 106) meint, »in transeunter Kritik«
lehne Aines. zwar Heraklit ab, in »immanenter« aber lasse er ihn gelten.
»Der Skeptizismus ist insofern ein Weg znm Heraklitismns, als in diesem
gewisse methodische Prinzipien, deren sich auch der Skeptizismus bedient,
und die ihm wesentlich sind, gleichfalls wegleitend sind« (S. 112).
150
Hans Krttger,
Während nun fast alle jene Theorien den Aasspmch des
Ainesidemos, daß die Skepsis den Weg zur heraklitischen Philo¬
sophie bilde, znm Ausgangspunkt nehmen, möchte ich hier ein¬
mal das umgekehrte Verfahren einschlagen. Da nämlich eine
solche Behauptung sehr wahrscheinlich doch erst das Ergebnis
gewisser voraufgegangener philosophischer Untersuchungen dar¬
stellt, so erscheint es nötig, vor Erörterung jener Schlußfolgerung
das uns sonst über Ainesidemos’ Philosophie überlieferte Material
einer genauen Prüfung zu unterziehen, um vielleicht hier die
fehlenden Glieder zu entdecken und so den Zusammenhang mit
der heraklitischen Philosophie vei'ständlich machen zu können.
Denn bereits von vornherein die Zuverlässigkeit des Sextus in
Zweifel zu ziehen, wäre vollkommen unmethodisch und bedeutete
nur den Verzicht auf endgültige Lösung jenes Problems.
Tatsächlich findet sich nun bei Sextus Empiricus noch eine
andere Behauptung des Ainesidemos, mit der man wegen ihrer
Seltsamkeit bisher nichts Rechtes anzufangen gewußt hat. Mehr¬
fach wird uns dort berichtet, Ainesidemos habe die Zeit als
einen Körper bezeichnet. So teilt uns Sextus zunächst in seinem
Hauptwerk, dem »Grundriß der Pyrrhonischen Philosophie«, bei
der Kritik des Zeitbegriffes folgendes mit (Hyp. m, 138): xax
oiolav te ol fxkv oa>fia aixbv i<paaav eJvai, d>s ol tkqI xdy Äinj-
atdt]/xov (fxtjdhv ydg avrdv diatpigeiv rov Svrog xal tov ngdUzov
ofofjunog)^ ol 6h äo(b[JUixov.
»Was ihr (sc. der Zeit) Wesen betrifft, so behaupteten die
einen, sie sei ein Körper, wie Ainesidemos und seine Anhänger
(denn sie unterscheide sich in nichts von dem Seienden und
dem ersten Körper), die anderen dagegen meinten, sie sei un-
körperlich.«
Diese Ausführungen wiederholt Sextus in seiner Schrift
gegen die Dogmatiker und erläutert sie dort etwas näher (adv.
dogm. 4, 215/17): ... x&v doyfMxix&v <piXoa6<po)v tpaolv ol ßihv
owfM elvat xöv ol 6h Aocofiaxov . . . a&fia fihv ovv
elvai xöv xQOvov Alvt]ol6r]fjiog xaxd tov ^HgAxkenov' fif] 6ia(piQtiv
ydg avxbv xov 5vxog xal tov tiqcotov awfxaxog. 5^ev xal 6tä xrjg
ngtoTTjg daaycoy‘^g xatd ngay/idzcoy xerdx^ai Xiycov xdg dnkäg
khieig, atxiveg fiigij xov köyov xvyydvovoi, xr)v fjikv *XQ6vog< nQo~
orjyogtav xal xfjv »fiovdg< im xrjg ovalag xexdx&ai qnjolv, fjxig iarl
aoifioxtxiq, xd 6h jueye&rj xcöv xQovcov xal xd xe<p6Xata x&v dgv&fi&v
inl noXvnXaaiaofiov fidXiaxa ixtpigea^at. x6 fihv ydg »vDv«, S 6t]
Xgövov fi^iwfxd laxtv, frt 6h xrjv fiovd6a ovx &XXo xi elvat ^ r^v
obaiav, xi]v 6h ijfiigav xal x6v rfirjvat xal t6v vlviavxbv*. noXv-
Zur Philosophie des Ainesidemos von Enossos.
151
TtXaataofthv {>7idQX£iv tov »vwt Sk tov xq6vov)j xä 6k »Svot
xal >jQ(a* xai »6ixa< xal *kxax6v<t noXvnkjaauiafJiSv slvat
fxovddos.
„Von den dogmatischen Philosophen behaupteten die einen,
die Zeit sei körperlich, die anderen, sie sei nnkörperlich ... für
einen Körper erklärte die Zeit Ainesidemos als Anhänger des
Eeraklit. Denn sie unterscheide sich nicht von dem Seienden
und dem ersten Körper. Daher sagt er auch in der »ersten
Einftthmng« — wo er meint, die einfachen Ausdrücke, welche
die Teile der Bede bilden, seien für sechs Dinge festgesetzt
worden —, daß die Benennung »Zeitc nnd »Einheit« zur Bezeich¬
nung des Seins ständen, welches ja körperlich sei, yon den Längen
der Zeiten aber sowie yon den Zusammenfassungen der Zahlen
spreche man hauptsächlich im Hinblick auf eine Veryielfältignng.
Denn das »Jetzt«, das ja die Zeit anzeige, sowie ferner die
»Elinheit« sei nichts anderes als das »Sein«, der »Tag« aber,
sowie der »Monat« nnd das »Jahr« sei die Veryielfältignng des
»Jetzt« (womit ich die Zeit meine), die »Zwei«, die »Drei«, die
»Zehn« nnd die »Hundert« stelle ebenso die Yeryielfachnng der
»Einheit« dar.
Schließlich sei noch folgende Stelle erwähnt (ady. dognL4,233):
x6 T£ 6v xaxä x6v *HqAxX£ixov 6^q iaxiv, <&g qnjalv 6 Aivijaidrjfios.
»Das Seiende ist nach Heraklits Ansicht die Luft, wie Ainesi¬
demos sagt«
Diese zunächst äußerst wirr anmutenden Mitteilungen haben
nun yerschiedene Interpretationen gefunden:
L Zeller^) meint: »Für das Urwesen erklärte Ainesidemos
nach dieser Darstellung die Luft... Von diesem Urstoff sollte
auch die Zeit nnd die Zahl nicht yerschieden sein; denn mit
der »Einheit« und dem »Jetzt« sei nichts anderes gemeint als
die körperliche Substanz, nur aus der Veryielfältignng jener
beiden entstehe aber die Zahl nnd die Zeit.« Und zu Ainesi¬
demos’ Behauptung x6 fikv ydg vvr ... o6x äXXo xt elvai ^ xi]v
o6a(av bemerkt er*): »Dieser ziemlich unklare Satz soll wohl
besagen, wenn man yon einer Einheit rede, so denke man an
irgend ein körperliches Ding, nnd ebenso bei dem Jetzt an die
Gegenwart des Dinges.«
n. Goedeckemeyer*) sagt: Ainesidemos sei »nach alter
Weise zu der Frage nach dem Wesen oder der Usie der Welt«
1) s.a.0. Bd.m,2« S.86.
2) a. a, 0. Bd. m, 2* S. 87 Änm. 2.
8) a. a. 0. S. 288/4.
152
Hans Srttger,
ttbergegangen. »Diese aber fand er wiederum im Anschluß an
sein in stoischer Färbung Tor ihm stehendes Vorbild in etwas
Körperlichem, und zwar genauer in der Luft ... Aber diese
Usie sollte nun zugleich mit der Zeit und der Zahl zusammen-
fallen, weil Zeit sowohl wie Zahl aus der ihnen jeweils zugrunde¬
liegenden Einheit entständen, die von der Usie nicht verschieden
sei, eine These, in der wir trotz ihrer Seltsamkeit den nen-
pythagoräischen Einschlag ... kaum verkennen werden.«
ni. Natorp*) denkt sich den Zusammenhang so: »Nach be¬
kannter heraklitischer Lehre ist ,Alles aus einem' und außer
dem einen Seienden nichts. Dies eine Seiende, die Substanz des
Alls, faßte Ainesidemos, begreiflich, in materialistischem Sinne
als Körper und schloß: auch die Zeit könne nicht für sich ein
vom Körper getrenntes, ein unkörperliches Sein besitzen, also
zwar nicht, die Zeit selbst sei Körper, wie Sextus ungenau seine
Behauptung wiedergibt, sondern sie sei, modern ausgedrttckt, ein
Modus des Körpers.«
Wenn nun Ainesidemos jene Aussprüche wirklich in diesem
Sinne meinte, so dürfte er m. E. ein höchst unklarer Kopf ge¬
wesen sein, oder Sextus hätte zum mindesten dessen Ansichten
arg mißverstanden und entstellt Beide Annahmen erscheinen
unnötig: Ainesidemos’ wirkliche Meinung läßt sich doch woM
ohne gewaltsame Konstruktionen aus jenen Worten erkennen.
Daß man noch in Ainesidemos’ Zeiten sich so eifrig mit
der Frage nach dem Urstoff der Welt beschäftigte, in dem Sinne,
wie es einst die vorsokratischen Philosophen taten, ist wenig
wahrscheinlich. Allerdings könnte Ainesidemos dies ja im
Anschluß an Heraklit getan haben, aber auch das ist, wie
wir noch sehen werden, keineswegs der Fall. Wenn der Skep¬
tiker über die Usie Aussagen machte und unter ihr nach der
herkömmlichen (vor allem stoischen) Auffassung die körperliche
Substanz verstand, so beging er die denkbar größte Inkonsequenz.
Er verließ damit den sicheren Boden der Erfahrung und stellte
gegen aUe skeptischen Gebote Behauptungen über Dinge auf,
die nur in den Bereich der döxa, der von den Skeptikern ent¬
schieden abgelehnten subjektiven Meinung gehörten. Entweder
traut man also dem Neubegründer des Pyrrhonismus diese In¬
konsequenz zu, oder man nimmt an, daß er jenen Ausspruch in
ganz anderem Sinne tat, daß er vor allem unter den Begriffen
des o&iM und der ovala etwas anderes verstand als die bis¬
herigen Philosophen. Das letzte scheint in der Tat zutreffend
1) a. a. 0. S. 109.
Zur Philosophie des Ainesidemos von Enossos.
163
za sein. Ainesidemos hat anscheinend mit den beiden Worten
eine so sehr von dem gewöhnlichen Gebrauch abweichende Be-
dentnng yerbonden, daß diese Auffassung bereits im Altertum,
so z. B. schon bei Sextus, zu Unklarheiten führte.
Gewiß kann oiola die körperliche Substanz bezeichnen, und
diese Bedeutung hatte das Wort z. B. bei den Stoikern ^). Und
doch dürfen wir nicht so schematisch mit dem Begriffe ver«
fahren, sondern müssen zunächst von seinen verschiedenen in¬
haltlichen Bestimmungen absehen und nur die formale Seite in
Betracht ziehen. Zwar tritt er auch dann noch in verschiedenen
Bedeutungen auf *), doch bezeichnet er im letzten Grunde nichts
anderes als das von allen Philosophen gesuchte »wahrhaft Seiende«,
das wahre Wesen, die »Wirklichkeit« und steht im Gegensatz
zur Nichtwirklichkeit. Usia wird somit ganz ähnlich wie unser
deutsches Wort »Sein« gebraucht. »Es bezeichnet einmal den
Komplex des Seienden, als das Unendliche und das unendlich
Mannigfaltige, das »ist«, die Welt des Seins, dann aber das Sein
der Welt, die nicht weiter zu begründende Tatsache, daß alle
diese Dinge eben sind; ... dort ist es der gesamte Inhalt der
Welt, hier ist es ihre allgemeine Form«*^. Dazu tritt dann
schließlich die hier in Betracht kommende Bedeutung von Usia,
die zum Ausdruck bringt, was der einzelne Mensch als »wirk¬
lich« existierend empfindet, was er schlechthin als »Realität«
ansieht Diese letzte Bedeutung hat man eigentlich bisher ganz
übersehen. Denn man hielt, wie Spranger sehr richtig be¬
merkt, die »Realität« für etwas durchaus Eindeutiges, »obwohl
sie eine reliefartige Durchdringung der verschiedensten Gegen¬
standsschichten ist; sie ist daher von der jeweiligen historischen
und individuellen Bewußtseinslage so stark abhängig, daß man
eine Geschichte des Realitätsbewußtseins schreiben könnte«^).
Was hielt nun Ainesidemos für wirklich existierend? Wir
lesen es ganz klar bei Sextus: rö ftkv ydg vvv ... oix äXXo n elvai
xijv ohalav, das »Jetzt« nämlich — sei nichts anderes als das
wirklich Existierende. Einer weiteren Deutung bedarf dieser
Ausspruch nicht mehr. Es besagt nichts anderes als: das Jetzt,
der gegenwärtige Augenblick ist das wahrhaft Seiende, d. h.
1) YgL Zeller s. a. 0. S.llSff.
2) Vgl. die gate Znsammenstellaiig dieser verschiedenen Bedentongen
bei P. Natorp, »Platos Ideenlehre«, Sachregister S. 465. Zur Oeschichte
des Wortes vgl. den Aufsatz von B. Hirzel: ovaia, »Philologns« 1918, S. 42.
3) Q. Simmel, »Hauptprobleme der Philosophie« S.44.
4) Lebensformen 1922* S. 89.
154
Hans ErUger,
alles das, was ich im Angenblick erlebe, existiert, der gegen¬
wärtig von mir erlebte Zustand ist die einzige Realität!
Dieser Anssprach, so unbedeutend er auch scheinen mag,
stellt sich bei näherer Betrachtung als äußerst wichtig heraus.
Wir haben die Möglichkeit, aus ihm den Charakter von Ainesi-
demos’ Weltbild zu erkennen und weitgehende Aufschlflsse über
dessen >Einstellung< zur Welt zu gewinnen. Und eben darauf
kommt es an, diese Gmndeinstellang, dieses Urerlebnis, aus dem
alle Gedanken und theoretischen Ausführungen des Philosophen
hervorgingen, zu erfassen und durch einfühlendes Nacherleben
zu verstehen.
Was ist nun der > Augenblick< ? Mit welchem Rechte kann
man ihn als real existierend bezeichnen? Da sein Wesen im
engsten Zusammenhänge mit dem der Zeit steht, so wird jede
Auffassung von der Zeit auch für ihn mitbestimmend sein und
umgekehrt. Beide kann man nun von zwei verschiedenen Seiten
betrachten, vom Subjekt und vom Objekt aus.^) Jede der beiden
Anschauungsweisen würde für sich isoliert zu einer ganz be¬
stimmten Weltanschauung führen oder eine solche zur Yorans-
setzung haben: die des Idealismus oder des ReaUsmus. Denn
»wie diese Zeitbegriffe realisiert, erlebt werden, ist ein Charak¬
teristikum weltanschaulicher Stellungen«*).
Für die antiken Philosophen ist es nun bezeichnend, daß sie
mit wenigen Ausnahmen die Zeit nur in ihrer objektiven Be¬
deutung erfaßten, dagegen wird »die psychologische Seite der
Vorstellung von der Zeit von den Philosophen des Altertums ...
nicht hervorgehoben«*). Das zeigt uns schon ganz deutlich der
kurze uns von Sextus gegebene Überblick über die Zeitauff assungen*).
Da wird die Zeit definiert als »Ausdehnung der Weltbewegung«
(Stoiker), als »Maß aller Bewegung und Ruhe« (Straton), »Zahl
der Bewegung hinsichtlich des Früher und Später« (Aristoteles),
oder als »Beschaffenheit von Beschaffenheiten, die Tagen, Nächten,
Leiden, Leidlosigkeiten, Bewegungen und Ruhelagen folgt«
1) Eine g^nte Übersicht über die hauptsächlichsten Zeittheorien vom
Altertum bis zur Gegenwart gibt B. Eisler in seinem »Wörterbuch der
philosophischen Begriffe« Bd. 8 S. 1882 ff.
2) Jaspers, »Psychologie der Weltanschauungen« (Berlin 1919 l.Anfl.)
S. 96; Tgl. zu dem Folgenden das ganze Kapitel Ober den Augenblick
(S. 94—102).
8) HansLeisegang, »Die Begriffe der Zeit und Ewigkeit im späteren
Platonismns« (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters
Bd. 18, Heft 4, 8.42, Anm. 1).
4) Sext. hyp. 186 ff. cf. adv. dogm. IV, 169 ff.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
155
(Epiknr). Bei einer solchen Betrachtungsweise erscheint dann
der Augenblick entweder als bloßes Zeitatom, das aber im letzten
Grunde nur eine >lautlose atomistische Abstraktion« (Kierkegaard)
darstellt oder als kleinste, inhalterfüllt, also räumlich gedachte
Zeiteinheit, als ein bestimmter Teilzustand der mit der Zeit eng
zusammenhängenden Bewegung (Zenon von Elea). Als außer
aller Zeit seiend denkt Platon^) den Augenblick, während
Aristoteles*) sein Wesen mit dem der Zeit in engste Verbindung
bringt, indem er diese erst aus seiner Bewegung hervorgehen läßt.
Demgegenüber finden wir mehr subjektivistisch gefärbte
Zeittheorien erst bei späteren Platonikem *) und bei Ainesidemos.
Zwar bleibt auch bei jenen die Zeit durchaus noch eine selb¬
ständige, transzendente Größe, doch wird jetzt auch die Rolle
des Ich, der seelische Faktor der Zeit stärker hervorgehoben.
Faßt schon Plntarch die Zeit als ein beseeltes Wesen auf*), so
definiert Plotin sie geradezu als Leben der Seele, sowohl der
Welt- wie der Einzelseele®). Während hier aber überall meta¬
physische Spekulationen das ursprüngliche Zeiterlebnis verdunkeln
und entstellen, tritt uns bei Ainesidemos eine Zeittheorie ent¬
gegen, die man wohl nicht mit Unrecht als die subjektivistischste
des ganzen Altertums bezeichnen kann. Hier finden wir wirklich
eine aus dem ganz ursprünglichen Erleben des Augenblicks hervor¬
gegangene Zeitanffassung in ihrer reinsten Form entwickelt und
zu einer philosophischen Weltanschauung ausgebaut Der Augen¬
blick, der in seiner objektiven Bedeutung den bisherigen Philo¬
sophen nur nur als problematisches, ja paradoxes Wesen er¬
schienen war, wird hier ganz unmittelbar von dem erlebenden
Ich ans betrachtet und erst so in seiner wahren Natur erkannt.
Freilich bei jener erstgenannten, das Subjekt vollkommen igno¬
rierenden Anschauungsweise mußte die Zeit notwendig als selb¬
ständige Größe, als homogenes Medium, als endlose Sukzession
erscheinen; dabei übersieht man dann, daß »die in Form eines
unbegrenzten und homogenen Mediums gedachte Zeit nur das
Phantom des Raumes ist, das das refiektierte Bewußtsein im
Banne hält«®). »Wir projizieren die Zeit in den Raum, wir
1) Parmenides 56.
2) Die aosftUirliche ErSrterang: des rifr findet sich: Phjsik 4, 13;
auch die Besprechung des Zeitbegriffes: Physik 4, 10—12.
8) 8. den zitierten Anfsatz von H. Leisegang.
4) Leisegang a. a. 0. S.9.
5) Leisegang a. a. 0. S. 24.
6) H. Bergson, Zeit and Freiheit 1911 S. 77.
156
Hans Krüger,
drücken die Däner durch Ansgedehntes aus, nnd die Sukzession
nimm t für uns die Form einer stetigen Linie oder einer Kette
an, deren Teile sich berühren, ohne sich zn dnrchdringen *).c Solche
Teile sind dann die einzelnen Augenblicke, mag man sie nun
als leere Zeitatome oder mehr als räumliche Punkte ansehen,
von denen eigentlich keiner vor den anderen irgendeine Sonder-
stellnng annähme; auf diese Weise wird das Wesen des Augen¬
blicks schwer faßbar, wird fließend, ja paradox, weil eben ein
wirklicher Angriffspunkt, eine feste Basis nicht vorhanden ist
Diese kommt erst dadurch zustande, daß man die Zeit nnd den
Augenblick gleichsam »von innen«, vom erlebenden Subjekt ans
betrachtet. Bei einer solchen unmittelbaren Einstellung erleben
wir den Charakter des Augenblicks als das »Jetzt«, das Gegen¬
wärtige, erst hierdurch erkennen wir den gewaltigen Unterschied
zwischen dem gegenwärtigen und einem vergangenen Augenblick,
zwischen existierenden nnd nichtexistierenden Zeitteilen, ja erst
so erfassen wir direkt den unüberbrückbaren Gegensatz von Sein
und Nichtsein, von Wirklichkeit und Unwirklichkeit Denn »der
gelebte Augenblick ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Leben¬
dige, das leibhaftig Gegenwärtige, die Totalität des Realen, das
allein Konkrete«^).
So erlebt der Mensch im Augenblick die »Welt«, alle Wahr¬
nehmungen, Vorstellungen, Gedanken nnd Gefühle, die die Form
des »Jetzt« aufweisen, sind, da sie als Inhalte des Augenblicks
von den Strahlen des Erlebniszentrums, des Ich, getroffen werden,
wirklich existierend. »So ist der jetzige Augenblick allen jetzt
bestehenden Dingen gemeinsam; sie werden alle davon so befaßt,
als wären sie nur ein einziges Ding, und man kann wahrhaft
sagen, daß sie alle in demselben Zeitpunkte sind*).« Begreiflich,
wenn ans diesem Urerlebnis eine philosophische Weltanschauung
erwächst, die das Kriterium für alle Existenz lediglich auf dies
Erleben einschränkt und nur das als wirklich seiend anerkennt,
was in den Bannkreis eines Ich gelangt, was in ein Bewußtsein
eintritt. Begreiflich, wenn Ainesidemos dem Augenblick, der
Welt der unmittelbaren Erfahrung, die Bezeichnung ovola bei¬
legte und so zum Ausdruck brachte, daß die von den Philo¬
sophen gesuchte Wirklichkeit durchaus nicht unabhängig vom
Subjekt als körperliches Etwas zu denken sei, sondern vielmehr
1) H. Bergson a. a. 0. S. 79.
2) Jaspers a. a. 0. S. 97.
8) John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand Buch ü, 15,11.
Zar Philosophie des Ainesidemos yon Knossos.
157
in engster Beziehung zu ihm stehe und gleichsam im Ich ent*
haltmi seL In dem Satze: t6 /ikv ydg vvv ... oix äXXo n elvai
fj T^v ovalav liegt also zugleich auch die negative Bestimmung
enthalten: alle Existenz ist nur im Verhältnis zu einem Subjekt
zu denken, ohne ein solches erlebendes Ich ist keine Existenz
möglich; es ist unsinnig, irgendetwas als real anzunehmen,
was nicht von einem Ich irgendwie erlebt würde. In einer
Formel ausgedrfickt, würde jener Ausspruch also letzten Endes
besagen: Existieren=erlebt werden, elvai = <paivea&ai, esse=per-
cipi!
Damit haben wir den philosophischen Standpunkt vor uns,
den man als den extremen Idealismus zu bezeichnen pflegt.
Wenn Joel*) behauptet: »Es fehlt der griechischen Philosophie
dei* Subjektivismus eines Fichte wie der Individualismus eines
Stimer, es fehlt selbst der kartesische und schon augustinische
Ausgang von der Selbstgewißheit des Ich, es fehlt wie der
voluntaristische Idealismus so auch der erkenntnistheoretische
eines Berkeley oder Schopenhauer oder Schuppe«, so
bedarf dieser Satz entschieden einer Einschränkung: in Ainesidemos’
Philosophie Anden wir sowohl den Ausgang von der Selbstgewi߬
heit des Ich, wie den Idealismus eines Berkeley!^
Bevor wir diese Darlegfungen von einem anderen Gesichts¬
punkte aus zu erläutern und zu stützen suchen, wollen wir zu¬
nächst einen kurzen Blick auf die Zeittheorie des Ainesidemos
1) »Geachichte der antiken Philosophie« Bd. 1 S. 138.
2) Fttr diese wie für die gesamten späteren Ansftthrangen sei noch
folgendes bemerkt: Die Bezeichnung von Ainesidemos' Standpunkt als »ex¬
tremen Idealismus« sowie die angeführten Parallelen au Berkeley konnten
die Vermutung nahelegen, als hielte ich beide Standpunkte ohne weiteres
für vollkommen identisch. Davon kann selbstverständlich nicht im geringsten
die Bede sein. Ich beabsichtige durchaus nicht, der Philosophie des Aine¬
sidemos ein modernes Schlagwort aufzuprägen, noch diesen Denker tendenziös
für ein bestimmtes System in Anspruch zu nehmen. Die angeführten Ver-
grleiche sollen lediglich zur Illastration seiner Weltanschauung dienen,
deren Struktur nach einer bestimmten Bichtang hin, eben in dem Verhältnis
mm Substanzbegriff, eine groSe Ähnlichkeit mit jenem englischen Denker
anfweist, so daß man sie in diesem Sinne als eine »idealistische« bezeichnen
darf. Wie weit Ainesidemos etwa noch wie Berkeley an dem Begrifi
einer seelischen Substanz festhielt, oder wie weit er bereits za dem Posi-
tivismas eines Mach fortgeschritten war, lassen uns die wenigen Frag¬
mente nicht mehr erkennen. Die Interpretation von zwei hieraaf bezüg¬
lichen Äußerungen, daßdieUsia sowohl Ganzes wie Teil (Sext. adv. dogm. HI,
387), sowie daß der Verstand mit den Wahrnehmungen identisch sei, be¬
halte ich mir für eine spätere Darlegung vor. (Seit. hyp. I, 349/50.)
158
Hans Krüger,
werfen. Wie dieser Philosoph den Angenblick erfaßte, wissen
wir bereits. Wie stellte er sich nnn aber dessen Verhältnis znr
Zeit vor? Sextus berichtet nns hierüber folgendes^): Die Be¬
nennung »Zeit« nnd »Einheit«, so sag^ er, stände znr Bezeich¬
nung des Seins, welches ja körperlich sei; von den Längen der
Zeiten aber sowie den Zusammenfassungen der Zahlen spreche
man hauptsächlich im Hinblick auf eine Vervielfältigung. Denn
das »Jetzt«, das ja die Zeit anzeige, sowie ferner die »EUnheit«
sei nichts anderes als das Seiende; der »Tag« aber, der »Monat«
nnd das »Jahr« sei nur eine Vervielfältigung des >Jetzt< (womit
ich die Zeit meine), die »Zwei« aber, die »Drei«, die »Zehn« und die
»Hundert« sei eine Vervielfältigung der »E^heit«. Diese Aus¬
führungen scheinen zunächst keineswegs eindeutig nnd verständlich.
Da hier nämlich nicht nur der Augenblick, sondern die Zeit selbst
als Sein, als Usia bezeichnet wird, so folgt daraus, daß beide
notwendig zusammenfallen müssen. Diese Identität von Zeit und
Augenblick wird ja auch ganz offen durch Sextus’ Zusatz
>... des Jetzt, womit ich die Zeit meine« ausgesprochen. Mit
anderen Worten besagt diese Gleichung: im gegenwärtigen Augen¬
blick ist die ganze Zeit enthalten, oder, um mit Giordano
Bruno zu reden: »Die Zeit ist in Wahrheit nnd Wesenheit
nichts anderes als stete Gegenwart, ewiger Augenblick« •). Diese
Folgerungen ergaben sich für Ainesidemos ohne weiteres ans
seinem idealistischen Standpunkt. Wenn, wie wir hörten, nach
Ainesidemos’ Anschauung alle Existenz nur im Hinblick auf ein
erlebendes Ich möglich ist, wenn also die Welt der äußeren
Dinge so in eine Welt der Bewußtseinserscheinnngen verwandelt
wird, so muß die sonst als Sukzession der äußeren Vorgänge
aufgefaßte und mit der Bewegung in Verbindung gebrachte Zeit
bei dieser Einstellung zu einer Folge der Bewußtseinserscheinungen
selber werden. In diesem Sinne sagt auch Berkeley*): »Jedes¬
mal, wenn ich versucht habe, eine einfache, von der Ideenfolge
in meinem Geiste abstrahierende Idee der Zeit zu bilden, die
gleichmäßig verfließe, nnd an der alle Dinge Anteil haben, habe
ich mich in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt und ver¬
loren ...«; »... da also die Zeit nichts ist, wenn wir absehen
von der Ideenfolge in unserem Geist, so folgt, daß die Dauer
eines endlichen Geistes nach der Zahl der Ideen oder Hand-
1) 8. oben S. 6.
2) -Eroici fnrori (zitiert nach Jaspers).
3) »Abhandlung über die Prinzipien dermenschlichen Erkenntnis«, Kap. 96.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Kaossos.
1Ö9
langen abgeschätzt werden muß, die einander in eben diesem
Gemüte folgen.« Dieser Anffassnng der Zeit als Ideenfolge kommt
Plotins die Zeit als Leben der Seele bezeichnende Definition sehr
nahe. Ainesidemos jedoch schränkt die Zeit ganz auf den Augen¬
blick, die unmittelbar gegenwärtigen Bewußtseinserlebnisse ein,
lehnt also mit anderen Worten jede Verbindung des Zeitbegriffes
mit dem der Folge ganz ab. Vielleicht tat er dies, weil er schon
den später yon Bergson ausgesprochenen Gedanken ahnte, daß
der Begriff der Folge eigentlich nur im Hinblick auf die Welt
der äußeren Vorgänge, nicht aber die der Bewußtseinserscheinungen
berechtigt sei, da bei letzteren ein gegenseitiger Durchdringungs¬
prozeß stattfinde, der lediglich eine qualitative Veränderung, aber
keine Folge darstelle. Denn »fttr sich betrachtet, haben die
tieferen Bewnßtseinszustände keine Beziehung zur Quantität, sie
sind reine Qualität; sie vermischen sich derartig, daß sich nicht
sagen läßt, ob sie einer oder mehrere sind« ^). Möglich ist es
also immerhin, daß Ainesidemos bereits den Unterschied zwischen
der Zeit als Qualität, in der eine Bewußtseinstatsache entsteht,
und der Zeit als Quantität, in die wir sie sekundär als äußeren
Vorgang projizieren, empfunden hat. Doch sind das nur Ver¬
mutungen; eine vollständig klare Anschauung von Ainesidemos’
Zeitauffassung läßt sich infolge der mangelhaften Überlieferung
nicht gewinnen. So ist auch die Mitteilung, daß der Philosoph
die Länge der Zeiten, wie den Tag, den Monat und das Jahr,
für eine Vervielfältigung des Augenblicks hielt, nicht ganz ein¬
deutig, besonders durch den hinzugefügten Vergleich mit der
Zahlenreihe *). Vielleicht wollte er hiermit folgendes sagen: wenn
man von gewissen Zeitstrecken wie dem Tag, Monat und Jahr
rede, so seien] das im Grunde nur rein gedankliche Zusammen¬
fassungen von mehreren Augenblicken, nur begriffliche Verviel¬
fältigungen des >Jetzt«. So sagt z. B. Locke^: »Wenn die
Seele die Vorstellung einer bestimmten Länge der Dauer erlangt
hat, so kann sie sie verdoppeln, vervielfältigen und vergrößern,
nicht bloß über ihre eigene Dauer, sondern auch über die aller
1) Bergson, »Zeit and Freiheit« S. 107.
2) Den Zosanunenhang zwischen dem Jetzt and der Einheit bemerkt
schon Aristoteles (Phys. XI S. 106 n. 115). Ob man in diesem Vergleich bei
Ainesidemos, wie Goedeckemeyer meint (s. S. 284; vgl. oben S. 6), neu-
pythagoreischen Einflafi za sehen hat, wage ich heute noch nicht za ent¬
scheiden. Eine Behandlung dieses Problemes behalte ich mir für eine spä¬
tere Darstellung vor.
3) a. a. 0. n, 15,2.
160
Haas Krttger,
körperlichen Dinge und über alle Zeitmaße, die den großen Welt-
körpem und ihren Umdrehungen entlehnt sind.« Wenn ich also
etwa einen Tag verbracht habe, so besagt das nach Ainesidemos’
Ansicht nichts anderes, als daß ich eine große Anzahl von Augen¬
blicken durchlebt habe. Gewiß weiß ich, daß ich an diesem
Tage dies und jenes erlebt, daßichunendlich viele Wahrnehmungen,
Vorstellungen, Gedanken und Gefühle gehabt habe, aber davon
existierte jeweilig immer nur ein einziges »Jetzt«, nur ein Augen¬
blick war immer wirklich gegenwärtig. Diesen Gedanken können
wir auch so fassen: alle Ereignisse mußten einmal in den Rahmen
des vvv, der Gegenwart, eingehen, um »wirklich« zu werden,
oder wie Schopenhauer sich ausdrückt^): »Es gibt nur eine
Gegenwart, und diese ist immer; denn sie ist die alleinige Form
des wirklichen Daseins.«
Doch eins ist noch zu erklären. Warum bezeichnete Ainesidemos
die Zeit auch als Körper (o&fia) ? Der Grund hierfür war viel¬
leicht folgender; Die Begriffe acöjuia und oöota standen bekannt¬
lich im Mittelpunkt der Physik der Stoa, jener Schule, die als
Vertreterin eines extremen Dogmatismus von jeher die größte
Gegnerin des Skeptizismus gewesen war. Bei den Stoikern be¬
zeichnete nun Soma nicht nur etwa das, was wir heute unter
einem »Körper« verstehen, sondern sie nannten z. B. auch die
Stimme, die Tugend, ja sogar die Wahrheit Soma, sie stellten
sich eben überhaupt unter dem »wirklich Existierenden« nur das
sogenannte Körperliche vor und umgekehrt. Soma und Usia
waren bei ihnen geradezu identisch *). Diese Identifizierung hatte
sich nun unter dem Einfiuß der Stoiker auch bei anderen Schulen,
sogar bei den Skeptikern, eingebürgert; das zeigen unzweifel¬
haft Sextus’ Worte (s. oben S. 12) »... des Seins (der üsia),
welches ja körperlich sei«. So war es also ganz natürlich, daß
Ainesidemos mit dem Worte üsia auch zugleich das Wort Soma
übernahm, um es freilich, genau wie jenes erste, in ganz anderem
Sinne zu verwenden. Eine überraschende Parallele zu einem
solchen Begriffswandel finden wir bei dem Idealisten Berkeley.
In den »Gesprächen zwischen Hylas und Philonous« erklärt
jener am Ende aller Diskussionen n. a. folgendes‘l: »...Auf
den ersten Blick bin ich versucht zu glauben, daß du mit der
1) Parergaü, Anhangzn§ 142(S.300d.2.Anfl. 1862,her. y. Franenstädtl.
2) Vgl. Zeller m, 1* S. 119.
3) Zitiert nach derÜhersetzong von R. Richter (Leipzig 1901) S. 128S.
Man lese die interessante, hier nur in ganz kurzem Aaszag wiedergegebene
Stelle selber dort nach.
Zar Philosophie des Ainesidemos Ton Enossos.
161
Ablengnimg der Materie die Dinge, die wir sehen and fühlen,
ablengnest, finde aber bei n&herer Erwägung keinen Grund da¬
für. Was meinst da nun, wenn wir den Namen Materie
beibehielten und ihn auf die sinnlichen Dinge an¬
wendeten?’) Dies könnte ohne jedweden Wechsel in deiner
Gesinnung geschehen; und glaube mir, es wäre ein Mittel, manchen
mit ihr zu versöhnen, der mehr Anstoß an einer Neuerung in
den Worten als in der Meinung nimmt, t Darauf entgegnet
Philonous u. a.: »Herzlich gern, behalte das Wort Materie bei
und wende es auf die Gegenstände der Sinne an, wenn du Lust
hast, vorausgesetzt, daß du ihnen kein selbständiges, von ihrem
Wahrgenommenwerden unterschiedenes Dasein zuschreibst. .. .<
Bedenken wir, daß das griechische Wort Soma in Verbindung
mit Usia tatsächlich dem entspricht, was wir heute Materie
nennen, so dürfte diese Parallele für die Klärung unseres Pro-
blemes von größter Bedeutung sein; genau wie dort unter dem
Begriff Materie in neuer Fassung »eine Gruppe sinnlicher Eigen¬
schaften, die nur im Geist wirkliches Dasein haben,« verstanden
werden soll, so wandte Ainesidemos das Wort Soma dem bis¬
herigen Sprachgebrauch entgegen auf die Zeit oder den Augen¬
blick, d. h. auf die Summe der unmittelbar gegenwärtig erlebten
Bewußtseinserscheinungen an.
Diese Beibehaltung der Worte Usia und Soma hatte jedoch
anscheinend nur den Erfolg, daß die gesamte, sich auf dieser
Zeittheorie aufbauende Weltanschauung des Ainesidemos von den
antiken Philosophen, ja sogar von einem Teil der Skeptiker arg
mißverstanden wurde, so daß er, besonders durch die von
Sextus gegen ihn geübte Polemik, bald als Erzdogmatiker er¬
scheinen mußte; und doch, mochte Ainesidemos’ neuer Stand¬
punkt sich auch von dem der bisherigen Skeptiker unterscheiden,
im Grunde stellt er nur die konsequente Fortführung der pjrrrho-
nischen Skepsis dar, er bedeutet nur eine neue, in dem Wesen
des skeptischen Denkens begründete Entwicklungsstufe *). Denn
wenn Ainesidemos die Bewußtseinstatsachen für allein existierend
erklärte, so erkennen wir hierin durchaus den Zusammenhang
mit den bisherigen skeptischen Lehren. War doch die gesamte
Einstellung der pyrrhonischen Skeptiker schon von jeher auf
das positiv Gegebene, die <paiv6/ieva, gerichtet gewesen. Deren
1) Von mir gesperrt.
2) Näheres darOber in meinem Artikel Uber den »Aasgang der antiken
Skepsis« ■
▲rchir fttr Psychologie. XLVIII.
11
162
Hans Kxflger,
Dasein leugneten die Skeptiker keineswegs, nnr Aber das diesen
Bewnßtseinserscheinnngen Zugrundeliegende, Aber die »wahre
Wirklichkeit« der Dinge wollten sie keine Anssagen machen*).
Dabei setzten sie also stillschweigend voraus, daß tatsächlich die
Bewnßtseinserscheinnngen von außerhalb existierenden Dingen
an sich herrAhrten. Deren Existenz zu bezweifeln, war bisher
noch keinem Skeptiker eingefallen. Das mag sonderbar er¬
scheinen, ist es aber dnrchans nicht Denn die Überzeugung
von dem Dasein absolut existierender Dinge war eine, ja eigentlich
die Grundvoraussetzung gewesen, auf der die ganze pyrrhonische
Skepsis fußte. Gerade aus der sich infolge der Isosthenie, der
Gleichwertigkeit der Meinungen ergebenden Unerkennbarkeit
dieser objektiven Wirklichkeit folgte fAr jene die Epoch^ die
ZnrAckhaltung der Meinung, die dann ihrerseits wiederum die
Ataraxie, die UnerschAtterlichkeit des Subjekts, nach sich zog.
Andererseits ergab sich gegenAber dem Verzicht auf Spekula¬
tionen Aber die transzendente Welt als positives Resultat die
Beschränkung auf die unmittelbaren Gegebenheiten, die Phänomene,
die Welt der iimeigla, der direkten Erfahrung. Mochte diese
empirische Richtung auch erst sekundär ans dem Pyrrhonismns
folgen*), so gewann sie doch, vor allem durch die Tätigkeit der
empirischen Ärzteschule, im Laufe der Zeiten eine stets wachsende
Bedeutung. Die Beschäftigung mit den Phänomenen trat immer
mehr in den Vordergrund, dagegen verlor man die Welt der
Dinge an sich allmählich ganz ans den Augen. So kam es
schließlich, daß die Phänomene gleichsam das real Existierende
bildeten, allerdings ohne daß die Pyrrhoneer sich dies klar zum
Bewußtsein brachten und es theoretisch aussprachen. Das blieb
erst dem Ainesidemos Vorbehalten. Seine Tat bestand darin,
jene von den Skeptikern stets mitgeschleppte, aber immer mehr
außer acht geratene Voraussetzung von der Existenz unver¬
änderlicher Dinge an sich als völlig unbegrAndet zu erkenneu
und zu beseitigen. Was schon die Sophisten versucht hatten,
das unternahm auch Ainesidemos jetzt wieder und doch in einem
1) Ich verweise hier aaf die aasgezeichnete Abhandlung von B.Bichter
über »Die erkenntnistheoretischen Voranssetzangen des griechischen Skep¬
tizismus« (Wundts philosophische Stad. 20 [1902] S. 246 ff.). Hier finden
sich die Ausdrttcke, die die Skeptiker fttr das wahre Wesen der Dinge
brauchten, znsammengestellt (S. 258 ff.). Solche Worte sind s. B. ra ixoKtlftava,
“yrms dvta, iavxö, vnag^K; usw., dem gegenüber steht das «paty6fttvor, das,
wie Richter zeigt, von Sextus in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht
wird.
2) Über das Verhältnis von Skepsis und Empirie s. meinen gen. Artikel.
Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
163
ganz anderen Sinne und anch mit anderem Erfolg. Zunächst
suchte er nicht mit so radikalen Mitteln wie jene das »absolute
Sein«, die »objektive Wahrheit« ^ Stürzen, sondern er schuf
einen Übergang von der alten zu seiner neuen Anschauung, der
an sich kaum auffallen konnte, hätte er sich dabei nicht der
unheilvollen Worte Usia und Soma bedient. Seine »Chronos-
Usia-Theorie« stellt im Grunde eine erkenntnistheoretische Grund¬
legung des Phänomenalismns dar, den die empirischen Ärzte nur
praktisch ansgeflbt hatten.
Mit dieser neuen Fassung des Wirklichkeitsbegriffes verband
Ainesidemos nun auch einen neuen Wahrheitsbegriff. Denn
wenn das im Augenblick Erlebte wirklich sein sollte, so konnte
ein solches Erleben natürlich zunächst nur von dem Ich, nur
von dem einzelnen Menschen ansgehen. Wie der Skeptiker nun
aber einerseits weit von dem Standpunkte des Solipsismus ent¬
fernt war, so dachte er auf der anderen Seite auch nicht im
geringsten daran, gleich den Sophisten die so unendlich ver¬
schiedenen Wahrnehmungen der einzelnen Individuen für gleich¬
berechtigt zu erklären. Vielmehr glaubte er das Kriterium der
Wahrheit in der Übereinstimmung der meisten gefunden zu haben;
das, was allen Menschen von gleicher Organisation erscheine, sei
wahr, was aber nur einem einzelnen erscheine, könne nicht auf
aUgemeine Gültigkeit Anspruch erheben'). Daß dieser Wahr¬
heitsbegriff jedoch auf einer ganz neuen Basis beruhte, erkennen
wir ans Seztus’ Mitteilung, Ainesidemos habe eine objektiv
existierende Wahrheit im Sinne der bisherigen Philosophen aus¬
drücklich geleugnet*).
Indessen, wie paßt zu den gesamten bisherigen Ausführungen,
was wir über Ainesidemos’ Tropenlehre wissen ? Von ihm stammen
bekanntlich die zehn sogen. Tropen,*) Beweisgründe, die gerade
die Unerkennbarkeit der »Wirklichkeit«, der Dinge an sich zeigen
und daraus die Epoche folgern sollen. Wenn also Ainesidemos
dort das Dasein absolut existierender Dinge voranssetzte, während
wir uns bisher zu zeigen bemühten, daß er diese Annahme be¬
seitigte, so scheint hier in der Tat ein starker Widerspruch zu
bestehen. Trotzdem aber lassen sich jene Gegensätze wohl ohne
große Schwierigkeiten durch die Annsdime überbrücken, daß wir
1) YgL Seztns, adv. dogn. ü, 8. Eine nähere ErOrtemng kann hier
nicht gegeben werden; vgl. Ober Ainesidemos’ WahrheitsbegriS besonders
Natorp, Forsch. S. 98fl.
2) YgL anch Goedeckemey er a. a. 0. S. 217 Anm. 1.
3) Bekanntlich stellte er ander diesen noch acht andere Tropen anf.
11 *
164
Hans Erttger,
es tatsächlich mit zwei verschiedenen Entwicklungsstadien im
Leben des Skeptikers zu tun haben. Während er nämlich nr-
sprftnglich den Lehren der bisherigen Skeptiker folgend an der
Existenz solcher Dinge an sich festhielt, mußte ihm gerade bei
der Erörterung der Tropen nicht nur die völlige Unerkennbar¬
keit jener Dinge auffallen, sondern er kam schließlich dazu, jene
Voraussetzung als vollkommen ttberflttssig fallen zu lassen. Auch
hier finden wir, wie wir noch sehen werden,^) wiederum eine
Parallelle bei Berkeley, die uns jenes Verhalten verständlich
machen kann. Diesen Schritt aber vollzog Ainesidemos nun an¬
scheinend in der Schrift, in der er zugleich Anschluß an Heraklit
suchte und den am Anfänge unserer Ausffihrungen erwähnten
rätselhaften Ausspruch tat, dessen Deutung wir m. E. nunmehr
viel näher gekommen sind. Wie früher *) erwähnt, spricht Sextus
oft von »Ainesidemos als dem Anhänger des Heraklit«. Es ist
nun auffallend, daß er diese Bezeichnung immer dann wählt,
wenn er den Ainesidemos scheinbar dogmatische Äußerungen, u. a.
auch die Chronos-Usia-Theorie vortragen läßt, während er sonst
nur von Ainesidemos als einem pyrrhonischen Skeptiker spricht *).
Diese Tatsache ist wahrscheinlich nur so zu erklären, daß Sextus
eben hier an die beiden Entwicklnngsstadien denkt und von dem
Pyrrhoneer Ainesidemos, dem er durchaus beistimmt, den Hera-
kliteer Ainesidemos trennt, den er mit allen Mitteln als Dogmatiker
hinzustellen und zu bekämpfen sucht*).
1) S. 24 f.
2) S. 2.
3) Ala Anhänger des Heraklit erscheint Ainesidemos: hyp. 1,210,
hyp. ni, 188, adv. dogm. 1,349/50, adv. dogm. ü, 8, adv. dogm. HI, 337, adr.
dogm. rv, 232/38, adv. dogm. IV, 216, adv. dogm. (IV, 38 ?). Als Pyrrho¬
neer behandelt ihn Sextns: hyp. 1,181, hyp. 1,222, adv. dogm. 1,346, adv.
dogm. 2,40, adv. dogm. 11,215, adv. dogm. 11,234, adv. dogm. V, 42.
4) Ich erinnere hier nnr daran, dafi jaErnstHaeckel anch von Kant I,
den Verfasser der »Kritik der reinen Vernunft«, nnd Kant ü, dem Antor der
»Kritik der praktischen Vemonft«, sprach, und doch hatte Kant nicht in¬
zwischen eine große innere Entwicklung dnrchgemacht, sondern verfuhr zu-
eächst absichtlich negativ, um in seinem späteren Werke dann das Positive
anfzubanen. Sollte es vielleicht mit Ainesidemos ebenso gewesen sein?
Sollte anch er die Tropen vielleicht nnr deswegen benutzt haben, um da¬
durch die Unsinnigkeit der Annahme absolut existierender Dinge an sich
zu zeigen? Die noch zu erwähnende Parallelle mit Berkeley (S. 24ff.
kSnnte diese Vermutung bekräftigen. Daß übrigens die zehn Tropen »für
Ainesidemos nicht die Bedeutung von Beweisgründen für die Epoche, sondern
den Wert von Erklärungsgründen seiner Gmudthese hatten«, hat bereits
Goedeckemeyer (a. a. 0. S. 217 Anm. 1) bemerkt.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
165
Worin bestand nun jener Anschlnfi an Heraklit, wie haben
wir Ainesidemos’ Ausspmcb, daß die Skepsis den Weg zur hera*
kliteischen Philosophie bildet, aufzufassen?
Sextns Eknpiricns ist über jenen Ansspruch aufs höchste
empört und meint, man könne als Skeptiker doch unmöglich den
so dogmatischen Äußerungen des Ephesiers, z. B. der Lehre von
der Ekpyrosis, beistimmen. Und in der Tat wird wohl auch
Ainesidemos diese Anschauung keineswegs geteilt haben. Denn
nirgends steht, daß er sich allen Ansichten des Heraklit an<
geschlossen habe. Sextns selbst teilt uns hierüber nur folgendes
mit^); »Die Anhänger des Ainesidemos behaupten, die skeptische
Lehre sei insofern ein Weg zur herakliteischen Philosophie, als
der Behauptung, daß hinsichtlich desselben Dinges Entgegen¬
gesetztes objektiv vorhanden sei, die Tatsache vorausginge, daß
hinsichtlich desselben Dinges verschiedene Erscheinungsweisen
beständen. Und die Skeptiker behaupten nun, daß ein und das¬
selbe Ding uns verschieden erscheinen könne, während die Hera-
kliteer von hier aus zu der Behauptung übergehen, es liege auch
objektiv Entgegengesetztes zugrunde.« Man sieht ganz klar
daß jener Satz in der überlieferten Form den Charakter einer
kurzen und infolgedessen recht undeutlichen Formel trägt, die
das Verhältnis der skeptischen zur herakliteischen Philosophie
ansdrücken soll. Zur näheren Erklärung geben wir noch ein
von Sextns selbst gewähltes Beispiel. Während die Skeptiker
sich etwa bei der Feststellung beruhigten, daß der Honig den
gesunden Menschen süß, dagegen den an Gelbsucht leidenden
bitter erscheine, ohne daß sie über seine wahre Beschaffenheit
Aussagen machten, behauptete Heraklit, daß der Honig tatsäch¬
lich auch objektiv jene verschiedene Beschaffenheit besitze, da
er sich eben dauernd verändere.
Nach dieser Darstellung scheint das Wesentliche von Aine¬
sidemos’ Ausspruch in dem Analogieschluß zu liegen, der, von
den verschiedenen Erscheinungsweisen eines Dinges ausgehend,
dementsprechend verschiedene objektive Zustände annimmt. Und
doch ist eine solche Auffassung, so einleuchtend sie auch zu¬
nächst erscheinen mag und auch den meisten Forschem bisher
erschienen ist, ebenso irrig, wie der sie nahelegende Bericht des
Sextns mehrdeutig und schief ausgedrückt ist*). Die Annahme,
1) byp. 1,210.
^ Ich entacbeide hier nicht, ob wir es hier mit einer von Sextns ge¬
gebenen Darstellung oder mit einer Begründung des Ainesidemos selbst zu
tun haben. Im ersteren Falle hätte Sextns so ziemlich das Wichtigste Ober-
166
Hans Krtlger,
Ainesidemos wolle hier nur andenten, wie Heraklit auf Grand
eines solchen Schlosses zu seiner Lehre gekommen sei, hat sich
als völlig unhaltbar erwiesen^). Ebensowenig aber wird man
der Theorie, Ainesidemos habe den Heraklitismus als relativ
wahrscheinlichste metaphysische Hypothese gelten lassen, glauben
können. Denn abgesehen davon, daß es fflr die Antike hber-
haupt und besonders für einen Skeptiker ganz ungewöhnlich
wäre, einer fremden Weltanschauung den Charakter der Wahr¬
scheinlichkeit zuzusprechen, ist wirklich nicht einzusehen, warum
ein solcher Schluß von verschiedenen Wahmebmungen auf ver¬
schiedene objektive Zustände, der m. E. nicht gerade besonders
großen Scharfsinn erfordert, eine hervorragende Stellung unter
allen anderen Aussagen über die Dinge an sich einnehmen sollte.
Wenn ferner der Satz x&vavzla negl t6 ainb tpcUvetcu nichts weiter
bedeutete als »dasselbe Ding kann uns ganz verschieden er¬
scheinen«, dann hätte Sextos mit seiner Erklärung ganz recht,
daß dies keineswegs eine nur dem skeptischen Denken eigen¬
tümliche Behauptung, sondern eine ganz gewöhnliche alltägliche
Beobachtung sei, und daß es infolgedessen gar keinen Sinn habe,
gerade die Skepsis als Weg zum Heraklitismus zu bezeichnen^.
Nun ist in diesem Zusammenhang mit jenem kurzen Aussprache
aber weit mehr gemeint. Es ist dabei nicht so sehr an die ein¬
fache Tatsache verschiedener Erscheinungsweisen desselben Dinges
zu denken als vielmehr an die Art, wie diese von den Skeptikern
demonstriert wurden, nämlich an die ivzl&eaie röäv ngayfidratr,
die bewußt von jenen aasgeübte Gegenüberstellung der einzelnen
Phänomene und Noumene,*) die vor allem durch die verschiedenen
Tropen herbeigeführt wurde. Aus einer solchen Antithese er¬
geben sich nun zwei Möglichkeiten: man folgert entweder daraus
die völlige Unerkennbarkeit der Dinge an sich und leistet auf
jede Aussage über die transzendente Welt Verzicht, oder aber
man kommt infolge der Erkenntnis, zu wie großen Widersprüchen
sehen und eine lückenhafte Mitteilung gegeben; im zweiten Falle würde er
einen Ausspmch des Ainesidemos ansgewählt haben, den dieser erst am
Schlüsse aller seine Behauptung beweisenden Ausführungen gab, und der
nur im Zusammenhangs mit diesem verständlich war. In jedem Falle seigt
Sextns, dafi er den Kern von Ainesidemos’ Anschauungen vollständig mifi-
verstanden hat.
1) Diese (früher nicht miterwähnte) Theorie von Arnim (PhU. Unters.
Bd. 11 S. 79ff.) ist von Natorp (Philos. Monatshefte Bd.26 S. 7()) und Zeller
(a. a. 0. m, 2* S. 48,2) widerlegt worden.
2) YgL Sextns, hyp. 1,210/11.
8) Vgl. Sextns, hyp. 1,81.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
167
die Annahme von unabhängig yon Menschen existierenden Dingen
führe, dazu, diese als ein leeres Phantom schließlich ganz fallen
zu lassen. Den ersten Weg schlugen die Pyrrhoneer ein, den
letzten Ainesidemos. Seine Chronos-Usia-Theorie, die wir jetzt
zur endgültigen Lösung des Problemes heranziehen wollen, zeigt
das ganz deutlich. Besagte sie doch, wie wir hörten, nichts
anderes, als daß alles Existieren lediglich im »Erlebtwerden«
bestehe, daß also keine Dinge an sich unabhängig vom erleben*
den Menschen vorhanden seien. Wenn demnach also, wie ge¬
sagt, q>alveo^<u die Bedeutung von eZvat = {mdqxeiv = wirklich
vorhanden sein hatte, so folgte aus der skeptischen These x&vavria
iugi x6 ainb tpalvexai ohne weiteres der Satz xävavxUi negl x6
abx6 indQxei. Zur Erläuterung diene noch ein Beispiel Während
die Skeptiker etwa feststellten, daß einerseits dem einzelnen
Individuum derselbe Turm aus der Feme rund, aus der Nähe
aber viereckig erschiene, und daß andererseits verschiedenen
Menschen der gleiche Honig teils süß, teils bitter schmecke, be¬
deutet Ainesidemos’ Anschauung, daß es sich in allen diesen FäUen
nicht etwa um verschiedene Erscheinungsweisen desselben Dinges
handle, sondern daß tatsächlich jedesmal anderes »objektiv vor¬
handen sei«, verschiedenes »zugrunde liege«. Das besagt aber
nichts anderes äls: außer den verschiedenen wahrnehmbaren
Qualitäten existiert nichts, jede von ihnen kann man nur in
Belation zu einem Subjekt denken. Dann aber haben sie alle
die gleiche »Bealität«, dann haben wir etwa in dem obigen Bei¬
spiel überhaupt nicht denselben, sondern jedesmal einen andern
Turm oder Honig vor uns, und ein Widersprach kann erst auf-
treten, sobald ich diese verschiedenen Eigenschaften einem un¬
abhängig von einem erlebenden Ich existierenden substanziellen
Träger, einem »Ding an sich« znschreibe.
Läßt sich nun von hier ans Ainesidemos’ »Anschluß« an
Heraklit erklären? Wer bemüht ist, einen wirklich objektiven
Zusammenhang zwischen den Lehren beider Denker zu konstru¬
ieren, kommt allerdings zu keinem Ergebnis und verfällt nur auf
die sonderbarsten Theorien. Sucht man jedoch ans der Geistes-
richtnng des Ainesidemos selbst seine Hinneigung zu dem Denker
von Ephesos verständlich zu machen, indem man fragt, worin er
persönlich denn wohl die geistigen Berührungspunkte erblicken
konnte, so kommt man der Lösung des Problems erheblich näher.
Zweifellos sah Ainesidemos solche Übereinstimmung in dem Satze:
xävanla jwqI xd aind ■öndgxei, eine These, die einerseits gleichsam
die Quintessenz des heraklitischen Denkens war und auf der
168
Hans Krüger,
anderen Seite auch von Ainesidemos als richtig anerkannt wurde.
Und doch zeigt sich auch hier wieder jene bereits in den
früheren Ansfühmngen beobachtete Tatsache, daß dieselben Worte
einen ganz rerschiedenen Sinn annehmen können. Ainesidemos
und Heraklit erklären beide: hinsichtlich ein und desselben
Dinges ist objektiv Entgegengesetztes vorhanden, und jeder meint
doch etwas anderes mit diesen Worten. Ainesidemos’ Auffassung
haben wir soeben kennen gelernt; bei ihm würde der Ausdruck
»ein und dasselbe Dinge (t6 atnö) also rein nominalistisch zu
fassen sein. Wenn man etwa von »demselben« Turm, »dem¬
selben« Honig redet, so wäre das nach seiner Anschauung nur
ein znsammenfassender sprachlicher Ausdruck für eine Menge
einzelner ähnlicher Wahrnehmungen bei einem oder verschiedenen
Menschen. Anders dagegen bei Heraklit. Hier bedeutet jener
Ausdruck, daß tatsächlich immer noch ein »Ding« zugrunde liegt,
an dem sich die verschiedenen Qualitäten zeigen, daß ein »etwas«
vorhanden ist, das sich in dauernder Wandlung befindet und sich
sogar in sein Gegenteil verändern kann. Denn trotz seines
energischen AngrifEs auf das absolute Sein, die Arche der Vor-
sokratiker, und trotz seiner Lehre von dem ewigen Werden, dem
Flusse aller Dinge, kam auch dieser Denker noch nicht von
dem alten Substanzbegriff los, wie seine Anschauung vom Feuer
als dem Urprinzip alles Seienden deutlich zeigt. Der Hauptgrund
hierfür liegt wohl darin, daß Heraklit noch nichts von dem
Gegensatz zwischen Erscheinung und >Ding an sich« wußte,*)
einer Unterscheidung, die ein notwendiges Vorstadium für die
völlige Ablehnung des letzteren darstellt Die Anschauung
Heraklits, wie sie u. a. auch der Satz, daß hinsichtlich desselben
Dinges Entgegengesetztes vorhanden sei, ausdrückt, ist ledig¬
lich dem Eindruck der in der sinnlichen Wirklichkeit geschauten
Veränderung entsprungen und bezeichnet keineswegs eine Aussage
über die transzendente Welt. Und doch ist es leicht einzusehen,
daß, als in der weiteren Entwicklung des philosophischen Denkens
sich der Unterschied von Phänomenen und Dingen an sich immer
mehr herausbildete, die Lehre vom Flusse alles Seienden not¬
wendig den Charakter einer metaphysischen Konstruktion und
dementsprechend die These xdvartia ntql xh aind das
Aussehen einer Behauptung über Dinge an sich gewinnen mußte.
1) Der bereits von Heraklit hervorgehobene Unterschied von Sinnes-
erkenntnis nnd der durch den k6yo( gewonnenen Verstandeswahrbeit fällt
durchaus nicht mit dem obigen Gegensatz zusammen.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
169
Als solche wiesen sie die Skeptiker daher energisch znrhck nnd
beschränkten sich lediglich auf die Feststellung lävania negl t6
aM ipaiverat. Ainesidemos dagegen, den seine eigenen Unter¬
suchungen zu der Qleichsetzung von Ezistiereu und Erlebtwerden,
von elyat und <pa(vea^t geführt hatten, konnte daher begreiflicher¬
weise sehr leicht zu dem Glauben kommen, das Resultat seiues
philosophischen Denkens für vollkommen übereinstimmend mit dem
Satze Heraklits zu halten, wobei er dann die erwähnten tieferen
Unterschiede ganz übersah.^) Und doch bestehen auch gewisse
objektive Berührungspunkte zwischen beiden Denkern, insofern
sie eben beide den Versuch gemacht hatten, den überlieferten
Snbstanzbegri£, die Annahme eines absoluten Seins zu vernichten,
wobei freilich dem Heraklit dieser Angriff nicht ganz glückte,
während Ainesidemos damit vollen Erfolg hatte. Jetzt endlich
verstehen wir auch, warum Ainesidemos die Skepsis als Weg
zum Heraklitismus, d. h. so wie er ihn auffaßte, bezeichnen konnte.
Denn erst mit den Mitteln der skeptischen Gedankengänge, durch
die infolge des antithetischen Verfahrens gewonnene Einsicht von
dem Widersinn einer Annahme absolut existierender Dinge an
sich nnd durch die Beschränkung auf die Phänomene war es
ihm gelungen, den «Anschluß« an den alten Denker zu finden.
Die vor allem durch die Tropen demonstrierte skeptische Be¬
hauptung von den verschiedenen Erscheinungsweisen ein und
desselben Dinges führte Ainesidemos zunächst zur Chronos-Usia-
Theorie und von hier aus in die Nähe des Heraklit.
Die voranfgegangenen Erörterungen dürften wohl schon gezeigt
haben, daß Ainesidemos’ Philosophie sich ihrer ganzen Struktur
nach wesentlich von dem Skeptizismus der alten Pyrrhoneer
unterscheidet. Tatsächlich wird uns auch berichtet, dieser Denker
habe erklärt, >das von allen so viel besungene Ziel« der skeptischen
Philosophie sei einfach nicht vorhanden. *) Die für die früheren
Skeptiker so wichtige Ataraxie wurde von ihm nur als sekundäre
Folge des skeptischen Verhaltens hingestellt, die Epochö dagegen
wird er, wenn sie überhaupt in seinem Denken eine Rolle spielte,
1) Auf die Frage, wie Aioesidemos sich denn mit Heraklits Snbstana-
begriff, der ihm doch wohl die Unterschiede eröffnen moflte, anseinander-
setate, gehe ich hier nicht näher ein. Bekanntlich schrieb Ainesidemos ihm
nicht da« Feaer, sondern die Lnft als Usia zn.
2) Das Problem, welche Stellung Ainesidemos zn den Qrandbegriffen des
alten Pyrrhonismns, der Epochd so^vie der Ataraxie, einnahm, kann hier
nicht näher behandelt werden. Einige kurze Erörterungen darüber finden
sich in meiner Dissertation.
170
Hans Krüger,
wohl nur als Warnung vor übertriebenen Spekulationen etwa im
Sinne der Akademiker haben gelten lassen. Man könnte unter
diesen Umständen Bedenken tragen, ob man Ainesidemos’ Welt*
anschanung überhaupt noch als eine skeptische anzusprechen hat,
da sie doch, wenigstens in ihrer endgültigen Form, aller Skepsis
zu widerstreiten scheint. Auch hier möge wiederum eine Parallelle
mit Berkeley herangezogen werden. Denn die Art, wie dieser
zu seinem Idealismus kam, weist in der Tat ganz überraschende
Vergleichspunkte zu Ainesidemos’ Entwicklungsgang auf. Genau
wie dieser geht auch Berkeley in seinem Dialog »Hylas und
Philonous« von der Tatsache der verschiedenen Erscheinnngs*
weisen ein und desselben Dinges aus, und folgert dann aus den
sich ergebenden Widersprüchen die Unmöglichkeit einer Annahme
von Dingen an sich. Dabei bezeichnet er als Ziel aller Argu¬
mentationen ausdrücklich die »Bekämpfung von Skeptikern und
Atheisten <. Hylas und Philonous können geradezu als prächtige
Darsteller der beiden Typen dienen, wie die menschliche Seele
auf die Tatsache des Widerspruches in den Wahrnehmungen zu
reagieren vermag. Jener kommt dadurch zur Skepsis und zur
Epochö, dieser dagegen erwidert ihm: »... du sprichst deinen
materiellen Wesen ein abstraktes oder äußeres Dasein zu, und
hierin besteht nach deiner Annahme ihre Wirklichkeit. Und da
du am Ende anzuerkennen gezwungen bist, daß solch ein Dasein
entweder einen geraden Widerspruch oder gar nichts bedeutet,
so bist du folglich genötigt, deine eigene Hypothese von einer
materiellen Substanz niederzureißen und bestimmt das wirkliche
Dasein jedes Teiles des Weltalls zu bestreiten. Und so stürzest
du in den denkbar tiefsten und beklagenswerten Skeptizismus«^).
Als nun Philonous von demselben Ausgangspunkt ans schließlich
zu der Überzeugung kommt, »daß jene Dinge, die man unmittel¬
bar wahmimmt, die wirklichen Dinge sind«, und >daß die un¬
mittelbar wahrgenommenen Dinge Vorstellungen sind, wdche nur
im Geiste bestehen«, da muß Hylas staunend bekennen: »Du
gingst von denselben Grundsätzen ans wie gewöhnlich die Aka¬
demiker, Cartesianer und ähnliche Sekten, und lange Zeit sah es
so aus, als ob du ihren philosophischen Skeptizismus verträtest;
aber am Ende sind deine Schlüsse den ihrigen gerade entgegen¬
gesetzt«*). Und Philonous schließt mit den Worten: »Sieh dort,
Hylas, das Wasser des Springbrunnens, wie es in einer runden
Säule aufzusteigeu gezwungen ist, bis zu einer bestimmten Höhe,
1) Richter a. a. 0. S. 86.
2) Richter S. 181.
Zur Philosophie des Ainesidemos Ton Knossos.
171
dort bricht es sich and fällt in das Becken, dem es entstieg,
zurück: sein Aufstieg sowohl wie sein Abstieg entspringen den
nämlichen Gesetzen der Schwerkraft. Genau so bringen
die gleichen Grundsätze, welche auf den ersten
Blick zum Skeptizismus führen, bis zu einem be¬
stimmten Punkte verfolgt, den Menschen zum ge¬
sunden Verstand zurück«.*)
In gleicher Weise wie bei dem Engländer haben wir auch
bei Ainesidemos eine >Philosophie des gesunden Menschen¬
verstandes« vor uns. Sein früher*) erwähnter, rein praktischer
Wahrheitsbegriff, der mit dem xotvög löyos des Heraklit die
grüßte Ähnlichkeit hat, zeigt dies ganz deutlich. Diese Stellung¬
nahme des Ainesidemos wird uns durch Berücksichtigung der
zeitlichen Verhältnisse seines Auftretens noch weit verständlicher.
War doch das erste vorchristliche Jahrhundert, in dessen zweiter
Hälfte er lebte, eine Zeit, in welcher der Einfluß des praktischen
ROmergeistes bereits eine Umgestaltung der griechischen Philo¬
sophie herbeigeführt hatte. Das gilt nicht nur von dem stoischen
System, sondern ebenso von der skeptischen Philosophie, deren
Vertreter damals in enge Fühlungnahme mit den Römern traten.
Dem Beispiel des Ainesidemos, der sein Hauptwerk einem Römer
widmete, scheint manch anderer Skeptiker gefolgt zu sein, ja
sogar römisch klingende Namen wie Agrippa finden wir bald
unter diesen Philosophen. Überall, in allen Systemen zeigt sich
dabei der Einfluß der römischen Bewußtseinsstellang in gleicher
Weise. Was Dilthey von der Stoa in dieser Zeit sagt, gilt — das
sahen wir deutlich an Ainesidemos — ebenso, vielleicht noch
mehr, von der Skepsis. > Diese Philosophie sucht für die römischen
Lebensbegriffe eine mögliche Grundlage und findet diese in dem
unmittelbaren Bewußtsein. In ihm sind die Elemente, welche
allen moralischen, juristischen und politischen Lebensbegriffen
zugrunde liegen. Sie sind angeborene Anlagen. Ihr Merkmal
lieget in der empirischen Allgemeinheit ihres Auftretens« *). ...
»Dieses unmittelbare Wissen ist die unerschütterliche Grundlage
aller Bestimmung, durch welche wir das Universum zu uns in
Verhältnis setzenc *). ... »Überall geht diese Philosophie aus
1) Richter S. 181. Der letzte Satz iat von nxir gezperrt.
2) 8.17.
8) W. Dilthey, »Weltanschannng and Analyse des Menschen seit
Renaissance und Reformation« (Leipzig and Berlin 1914) S. 18.
4) a. a. 0. S. 14.
172
Hans Krüger,
dem metaphysischen Luxus und Streit der Griechen auf ein
einfaches System zurftck, welches das im unmittelbaren Bewußt¬
sein Gegegebene zu schlichten Begriffen entwickelt« ^). Daß jedoch
Ainesidemos’ Geistesrichtnng nicht lediglich durch solche äußeren
historischen Einflüsse herbeigeführt, sondern bereits durch die ganze
bisherige Entwicklung der skeptischenPhilosophieorganisch bedingt
war, hörten wir bereits früher, als wir in seiner Philosophie die
erkenntnistheoretische Fundamentierung des nur den Phänomenen
zngekehrten und den Dingen an sich abgewandten Standpunktes
der empirischen Ärzte erkannten. *) Aus dieser Schule hatte jener
Denker, der einstmals der Akademie angehörte, überhaupt erst
seine Kenntnis des Pyrrhonismus geschöpft, und doch war er Ton
ganz anderem Geiste beseelt als jene Empiriker. Weder reiner
Pyrrhoneer noch Empiriker noch Akademiker zeigt er eine eigen¬
artige Vermischung aller dieser Geistesrichtungen.
Als Pyrrhoneer sieht er in dem Kampf gegen den Dogmatismus
eine seiner wichtigsten Aufgaben, als Empiriker steht er ganz
auf dem Boden der Erfahrung, als Akademiker kann er auf
philosophische Spekulation nicht ganz Verzicht leisten. Und
doch findet er keineswegs mit Pyrrhon das Ziel aller skeptischen
Gedankengänge in der Ataraxie, er übt auch nicht wie die
Empiriker die ärztliche Praxis aus, und die übertriebenen
Spekulationen der Akademiker verurteilt er aufs schärfste. So
wirkt er denn teils direkt befruchtend auf jede der genannten
Richtungen ein, teils regt er auch indirekt, indem er, besonders
durch eine eigene Schulgründung, zu Widerspruch und Angriffen
herausfordert, zu eifriger Beschäftigung mit den Lehren der
Skepsis an und wird so der Vater einer geistigen Bewegung, die
im 2. nachchristlichen Jahrhundert in Sextns Empiricus ihren
Abschluß findet. Wie dieser einerseits große Teile seiner Lehren
von ihm übernimmt, so weist er auf der andern Seite den »An¬
hänger Heraklits« und seine »dogmatischen« Theorien energisch
zurück. Wieder taucht vor uns die mysteriöse Welt der »Dinge
an sich« auf, wiederum ruft uns der Skeptiker laut sein biixo)
zu, und von neuem wird uns als Lohn die Ataraxie verheißen.
Doch alle diese Rufe hallten vergebens, alle Lockungen waren
wirkungslos; das zu einem Riesenbrand entfachte Feuer der
Skepsis verzehrte noch die letzten Überbleibsel der philosophischen
Systeme und dann sich selbst. Doch aus seiner Asche entstanden
1) a. a. 0. S. 16.
2) S. 17.
Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos.
173
zwei neue Gebilde, die, dem Geiste einer anderen Welt ent¬
stammend, den Menschen in höherem Grade den gesuchten Seelen¬
frieden zu geben yermochten — die Mystik und das Christentum.
Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prot
Ge.ffcken fflr das meiner Arbeit entgegengebrachte Interesse
sowie für empfangene Anregungen meinen besten Dank aus¬
zusprechen.
(Eingegangen am 13. Febroar 1924.)
Bemerkungen zu der Abhandlung von S. Fischer
»Über das Entstehen und Verstehen von Namen«
im Aioh. f. d. ges. Fsyoh. Bd. 42 tu 43.
Von
A. Pick (Prag) f.
Fischer selbst hat schon snr Klärung seines Themas pathologische Er*
fahmngen herangesogen. Ich mSchte non hier an weiterer VervoUständignng
desselben noch anf eine Beobachtung hinweisen, die wenn anch nicht direkt
der Pathologie zugehörig, doch als abnorm gewertet wird nnd in einem
Punkte sich als dnrchans gleichartig gewissen Ton F. im psychologischen
Experiment festgestellten Erscheinungen darstellt.
F., der mit znm grofien Teile nnsinnigen Bnchstabenfolgen als Namen
fttr znm Teil sinnlose Strichzeichnungen arbeitete, konnte feststellen, dafi in
verschiedenen Fällen den Lantbildem der nnsinnigen Bnchstabenfolgen ein
Ansdmckswert beigelegt war, der nicht in etwa anznnehmenden frttheren
Assoziationen begrOndet war (a. a. 0. S. 868). »Das FO gilt als das klanglich
Weiche«; »die herabsteigende Linie stellt eine Verbengnng dar nnd dann
paflte das Wort fnpenk sehr gut« nsw. In der ErOrtemng der Erscheinnng
macht F. die Annahme, dafi Klang, Bhythmns, Eigenschaften der Vokale
nnd Konsonanten neben anderen Momenten fttr den Ansdmckswert der
Lantfolgen ansschlaggebend sein machten.
Es liegt nun in der Literatnr etwas dem Entsprechendes, gleichBüls
spontan Entwickeltes vor, anf das ich als Bestätigung des von F. Dar*
gelegten hinweisen mSchte.
Es ist die viel zitierte Beobachtung Stumpfs^) ttber die abnorme Sprach*
entwicklnng seines Sohnes, der durch eine Reihe von Jahren eine selbst*
gebildete Sprache gebrauchte, z. B. einen Baustein von besonderer Qestalt
marage (das g französisch ausgesprochen) nannte. Noch im 17. Lebensjahre
konnte er sich daran erinnern nnd gab als Grand der Bezeichnung an, »der
Stein habe eben so ausgesehen, wie das Wort klang, nnd das komme ihm
anch heute noch so vor«. Stumpf selbst bezieht die Erscheinnng anf
»Analogien der Empfindung«, Verwandtschaften, welche die Eindrttcke ver*
schiedener Sinne miteinander infolge ihrer ähnlichen Geftthlsentwicklung oder
sonstiger Nebenumstände besitzen; es fällt diese Deutung sichtlich mit der
von F. gegebenen im wesentlichen zusammen. Es legt das weiter die Er*
Wägung nahe, dafi auch bei der Genese der so dunkeln Neologismen Geistes*
kranker Ähnliches mitwirken mOchte; doch bedarf das einer speziellen
Untersuchung, die hiermit angeregt sei.
1) Stumpf, Eigenartige Sprachentwicklung eines Kindes. (S.-A. Zeit¬
schrift f. päd. Psychol. n Path. Bd. 8 S.25.)
(Eingegangen am 18. Februar 1924.)
Literaturberichte.
Referate.
^r. Johannes Hessen, Die philosophischen Strömnngen der Gegenwart.
118 S. München, J. Eösel & Fr. Fastet, 1923. (Sammlnng KSsel
Bd. 96.)
Ünter den kleinen Darstellnngen der Philosophie der Gegenwart nimmt
dieses Büchlein einen trefflichen Plata ein. Es berichtet kora and klar and
meistens inhaltlich antreffend über die einaelnen philosophischen Richtongen.
Man maß die Konst des Verfassers, anf beschränktem Raome so Vieles and
Mannigfaltiges an bieten, anerkennen. Nor mochte ich ihm nahelegen, bei
einer Neaaaflage die Einteilang an revidieren. Man kann weder von der
badischen Schale noch von der Als-ob-Philosophie sagen, daß sie »anf Kant
faßen«. Aach läßt sich bestreiten, daß der kritische Bealismns, daß Panlsen
and Driesch (man denke an die »Ordnnngslehre«, die »Wirklichkeitslehre«,
die »Logik als Aofgabe«) eine »an der Natorwissenschaft orientierte Philo¬
sophie« treiben. Mir scheint es ferner bedenklich, die Phänomenologie mit
dem Pragmatismas and der Philosophie Bergsons ansammenanstellen and
dieses Kleeblatt als »vom Leben aasgehend« an charakterisieren; das trifft
doch den wesentlichsten Zog der Phänomenologie nicht. Ich weiß, wie schwer
es ist, die moderne Philosophie za klassifizieren, aber ich glanbe, daß es dem
Verfasser leicht fallen wird, eine bessere Einteilang za geben. Vielleicht paßt
es aach besser, im Titel von den de nt sehen philosophischen StrOmongen
an reden. James and Bergson kOnnen wegen ihrer Wirkong anf die deatsebe
Gedankenwelt dann doch behandelt werden.
Aloys Müller (Bonn).
Hans Driesch, Ordnnngslehre, ein System des nichtmetaphysischen Teiles
der Philosophie. Zweites and drittes Tansend, nene verbesserte
and großenteils amgearbeitete Aaflage. Eagen Diederichs in Jena
1928.
und
Hans Driesch, Wirklichkeitslehre, ein methaphysischer Versneh. Zweite
dorchgesehene and teilweise erweiterte Aaflage. Emanael Beinicke
in Leipzig 1922. Geh. 100 M.; i. L. geh. 130 M.; ganz L. 150 M.
Die beiden großen Werke von Hans Driesch ergänzen einander and
bringen aosammen sein System der Philosophie zor Darstellang. Die An-
f&nge der beiden Werke gehen anf die Jahre 1904/06 znrück; so ist aach
die sehr bekannte »Philosophie des Organischen« ein Glied des ganzen
Sjstems; in der »Ordnnngslehre« ist das entsprechende »Kapitel über per¬
sonale Ganzheit« mit gatem Recht knapp zasammengedrängt. Dagegen ist
in erfreolicher Aosfübrlichkeit das für den Psychologen höchstbedentsame
»Kapitel über die Psychologie«, »eine arsprUnglich als selbständige Arbeit ge-
176
Literatnrberichte.
Bchriebene Studie .. nachträglich in die »»Ordnongslehre«« hineingearbeitet <
worden (in deren zweite Auflage, S. 816—419, als »die Lehre von der Ord¬
nung der Erlebtheit«, als »Logik des Seelischen« oder als »Psychologik«).
Wohl erlebte schon manch ein philosophisch eingestellter Psychologe, dafi
»ich mir eine »»Psychologie«« so, wie ich sie für meine Ordnnngsabsichten
brauchte, erst selbst machen mußte. Es gab nämlich keine, welche zugleich
ein Kapitel der Logik (des Empirischen) ist . . .« und so u. a. auch prak¬
tisch befllhigt gewesen wäre, unerwartet neue Erfahrungstatsachen einordnen
zu lassen. Je stärker das Bedürfnis nach einer Psychologik gewesen war,
umso hoher wird Jetzt dessen Befriedigung einzuschätzen sein! — Hier ist
vor einem weiteren Hinweis auf die Psychologik anzudeuten, wie Hans
Dries ch sein System der Philosophie gliedert. »Ordnungslehrc« und »Wirk¬
lichkeitslehre« sind jeweils »in sich selbst ganz selbständig«. Die »Wirklich¬
keitslehre« steht »neben der »»Ordnungslehre««, nicht etwa setzt [sie] sie im
eigentlichen Sinne fort. [Sie] behandelt dasselbe, wie jenes Buch, aber mit
ganz anderer Fragestellung«. Immerhin wird das reizvolle und äußerst er¬
tragreiche Studium der beiden Werke zweckmäßig mit der »Ordnungslehre«
beginnen und mit der »Wirklichkeitslehre« fortfahren.
Hans Driesch definiert »Philosophie« als »systematische Lehre vom
Wissen und von allem Gewußten als Gewußten«. »Jeder besondere Wissens¬
zweig vermag dadurch ein Zweig der Philosophie zu werden, daß das aus¬
drückliche Wissen um sein Gewußtsein zu ihm als bloßem Wissensbesitz hin¬
zutritt, und daß er ausdrücklich als Teil eines höheren Ganzen angesehen wird.«
»Philosophie« ist nur möglich, wenn »ich Etwas bewußt habe«.
»Ich bin der Etwas Wissende, zum Wissen gehören Ich und Etwas, und
Etwas ist, zunächst jedenfalls, das von mir Gewußte.« »Der philosophische
Ursatz« »um mein Wissen wissend weiß ich Etwas« erfaßt »die philosophische
Urtatsache und aller Philosophie Ausgang.« »Nur scheinbar ... ist der
philosophische Ursatz auflösbar; seine Bestandteile aber sind das nicht ein¬
mal scheinbar.« »Wenn nicht die Bedeutung des Ursatzes in ihrer voUen
Dreieinigkeit gewußt ist, kann es also keine Philosophie geben.« —
Nun ersteht das »erste besondere Geschäft der Philosophie . . . dem sich
selbst wissenden Wissen daraus, daß das Etwas, um welches Ich, dabei zu«
gleich um mein Wissen wissend, weiß, nicht nur bloßes Etwas ist, sondern
geordnetes Etwas«. Die »Urtatsachen Ich weiß, daß ich Etwas
weiß. Ich weiß Etwas und Ich weiß um Ordnung, welche im
Grunde eine einzige Urtatsache sind«, bilden den Inhalt eines ersten Teils
»der Philosophie, welche Selbstbesinnungslehre heißen dürfte, . . .
als wahrhaft erster philosophischer Sonderzweig«.
Ich weiß also »nicht nur, was Ich weiß etwas heißt, sondern ich
weiß auch, was Ordnung heißt, und kraft welcher Kennzeichen das Etwas
geordnetes Etwas ist; und zwar weiß ich ganz ebenso unmittelbar das zweite
wie das erste: Ich habe Urwissen der Bedeutungen Ordnung und Ord¬
nungszeichen«. Es ergibt sich die »Ordnungslehre«,'die »Lehre
von der Gesamtheit der Ordnuugszeichen, oder »»Logik«« im
weitesten Sinne des Wortes«; sie »handeltvon allen »»anschaulichen«« und
allen bloß bedeutungshaft »»unanschaulichen«« Kennzeichen am Etwas, kraft
deren das Etwas geordnet ist«. „Die allgemeine Ordnungslehre als
Lehre vom Gegenstand überhaupt setzt alle diejenigen klaren Begriffe
und Sätze, kraft deren die Gesamtheit des Gegenständlichen dem Denken
Literstarberichte.
177
als ein (Geordnetes gegrenttbersteht«, nntersncht nnterschiedslos alles, was
Etwas, was »»Gegenstand««, d.h. bewnBt Gehabtes im unmittelbaren
Sinne ist, und will seine Ordnangsletztheiten schauen*; die Ordnungslehre
setat als »den Begriff Ordnung inhaltlich« unter rigorosester Beachtung
des Leitsatzes der strengstmOglichen Sparsamkeit (n&mlich bei jeder Er¬
weiterung des Geffiges nur den jedesmal unbedingt ntttigen Schritt
tuend) bestimmend oder definierend: (1) Etwas; (2) Sein; (3) Dieses
[Dasein] . . . Dieses ist Dieses, Dieses ist selbig; (4) Nicht-
dieses . . . Dieses ist nicht Nicht-diese.s . . . Etwas ist Dieses
oder Nicht-dieses; (5) Dieses-Jenes, DasAndere, Verschieden;
(Q DieBeziehnng . . . Die Beziehung ist eindeutig; (7) Klasse-
Einzigkeit . . . Einzigkeiten sind gleich; (8) Die Begründung
(notwendig, mitgesetzt, »weil«) / [Logik im engeren Sinne]; (9)
Solches (Sosein); (9a) Beaiehlichkeit; (9b) Solchheit’; (9b’)Beine
(Solchheitsgruppe, Gegensatz); (9b“) Räumliche (Vier Forde¬
rungen) / [Geometrie]; (9c) Zahl; (9c’) Beine Zahl (Zahlen-
erzeugungssatz); (Oc“) Gröfie (Grad)/[Arithmetik]; (9d) Mannig¬
faltigkeit; (10) Das Ganze — Die Teile. »Hiermit ist die Bestimmung
der Setzung Ordnung vollendet. Die Logik findet aber angesichts der Er-
lebtheit Weiteres zu tun und setzt; Damals, Selbst, Zeit, Werden,
Beharrlichkeit [anstatt »Werdendes £s| in der Zeit .. . Es gibt
Beharrliches im Werden . . . Der Werdegmnd setzt die Werdefolge (Folge-
Verknüpfung)« in der ersten Auflage, der »Ordnungslehre«].
»Es zeigt sich schon hier, wie die Setzung Werden der tiefsten Ur¬
sprünglichkeit des bewuSten Habens widerstrebt; Haben ist ja gerade Fest¬
halten, Setzen. Doch mufi die Ordnung das Werden zulassen, um überhaupt
nur Etwas am Anderssein der Erlebtheit in Zuordnung zu den Augenbicken
des Habens des Selbst zu fassen. —«
»»Die Lehre von der »Ordnung des Naturwirklichen setzt fol¬
gendes: Natur als ein einziger in sich verknüpfter Werdezusammen¬
hang, welcher als gleichsam selbständiger »gemeint« ist in dem
einen gemeinten Naturranm und der einen gemeinten Naturzeit;
das Natur ding; die Naturklassennd das Natur System; Kausalität
(Werdegrund-Werdefolge); die Arten des Werdens (4mögliche Formen);
Einzelheitskausalität.; Ganzheitskausalität.;
Einseiwesensganzheit.; überpersOnliche Ganzheit.;
das Ganze der Natur, als alle Natureinzelheit, auch im Werden, mit¬
setzender unentwickelter Begriff (er bleibt unerfüllbar).« Ferner unter
»Einzelheitskaasalität«: »Bewegungslehre / [Mechanik] . . .; allgemeine
Veränderungslehre / [Energetik] . . .; Urdinglehre / [Physik,
Chemie als ihre Vorbereitungen]. Endlich: zu »Bewegungslehre«: Träg¬
heit, Kraft, Masse; Gegenwirkung; Erhaltung der Arbeit«,
Zu: »allgemeine Veränderungslehre«: »Satz des Geschehens, Erhal¬
tung der Energie«. Zu: »ÜberpersOnliche Ganzheit«: »Phylogenie, Mensch¬
heitsgemeinschaft / [Kultnrlehre, Geschichte, Ethik]«. Zu: »Einzel¬
wesensganzheit« und »ÜberpersOnliche Ganzheit; Phylogenie«: / [Biologie].
»Die Lehre von der Eigen-Erlebtheit, d. h. von der Gegenständ¬
lichkeit in ihrem ausdrücklichen Ich-Erlebtsein setzt als Grundlegendes nur
den Begriff: Seele / [Psychologie]
AtoUt tfir Psychologie. XLVm.
12
178
Literatnrberichte.
als denkende (als solche Träger der Ordnung), wahr¬
nehmende, wollende (als solche tätiger Weltabbilder
im Verhältnis zur Welt).«
»>£s ist lehrreich, diejenigen Setzungen besonders heryorzuheben, an
deren Behandlung sich besondere Wissenschaften angliedem, sei es,
daß sie das ausschließlich auf Grund unmittelbar schaubarer Beziehungs-
Verhältnisse, sei es, daß sie es vornehmlich auf Grund inhaltlicher Gewohn¬
heitserfahrung tun. Letzteres ist freilich erst in der Lehre von der Natur
der Fall. Aber anderseits sei wieder einmal gesagt, daß kein einziger
Begriff oder Satz der allgemeinen Ordnungslehre durchaus ohne Beziehung
auf »Erfahrung« im weitesten Sinne des Wortes gesetzt worden ist; schon
Dieses, und erst recht das Jenes hat nur Sinn angesichts der Tatsache,
daß es nicht nur «Etwas«, daß es Unterschiedenes »gibt«....
»Die Namen der einzelnen sich an bestimmte Setzungen der Ordnungs¬
lehre angliedemden Wissenschaften sind .*.. unserer Übersicht an richtiger
Stelle in besonderem Druck beigefttgt; man wird bemerken, daß irgendeine
beliebig herausgegriffene Wissenschaft jeweils die ordnungsmäßigen Grund¬
sätze aller ihr in der Liste vorausgehenden als erledigt voraussetzt.«
»Hieraus folgt, daß die Ordnungslehre die alte Frage nach einem denk¬
mäßig gestalteten Gefüge der Wissenschaften gleichsam von selbst mit er¬
ledigt. Daß es eben diese und keine anderen Wissenschaften als Sonder¬
wissenschaften gibt, ist darin bedingt, daß eben nur gewisse ürsetzungen
der Ordnungslehre selbst ein Gefüge von Arten, über das sich etwas sagen
ließe, einschließen. Ein Unterschied in der denkmäßigen Wertigkeit der
einzelnen Setzungen der Ordnungslehre als solcher wird selbstredend nicht
durch den Umstand bedingt, daß sich tatsächlich eine im gewissen
Sinne selbständig gewordene bedeutsame Sonderwissenschaft an diese Setzung
angegliedert hat oder nicht; hier spielen ja Bedürfnisse des praktischen Lebens
mit hinein. Auch bedingt natürlich Verschiedenheit im gegenwärtigen Zu¬
stand der Sonderwissenschaften keinen Rangnnterschied der sie gründenden
Ordnungszeichen. Übrigens ist unser System der Wissenschaften zugleich
ein System der »Methoden«, denn wir wissen, daß alle Methoden sich
aus den Gegenständen ergeben.««-
Als »ein System des nicht-metaphysischen Teiles der Philosophie« fußt
die Ordnungslehre lediglich auf der Urtatsache: »Ich weiß, daß ich Etwas
weiß. Ich weiß Etwas und Ich weiß um Ordnung«. Sonach ist die Ordnungs¬
lehre nach ihrer Art des Begreifens solipsistisch, entsprechend einem »strengen
subjektiven Idealismus«. »Das Denken kennt nur sich und was für es ist;
und zwar ganz ausdrücklich mein Denken; anders gesagt: Ich«. »Nun
»»möchte«« ich allerdings aus der Lehre vom reinen Für-mich-sein hinaus,
und zwar nicht nur ans bloß gefühlsmäßigen Gründen, sondern aus Gründen
der Ordnungslehre selbst. Ich möchte die Ordnungslehre
aus Ordnungsgründen sich gleichsam selbst überwinden
lassen...« »Wir »»verstanden«« trotz allem ordnungshaften Bedeutungs¬
verstehen zwei Dinge nicht, nämlich, wie es komme, daß gerade diese
und keine andern Ordnungsbedeutungen nnn eben »»Ordnungsbedeutungen««
sind, und wie es komme, daß, wenn sie es sind, gerade sie erlebnismäßig
»»erfüllt«« werden. Bei diesem Nichtverstehen möchte man sich nun freilich
noch beruhigen, indem man es einfach hinnimmt. Aber es gibt gewisse sehr aus¬
geprägte Besonderheiten des Nichtverstehens für die reine Ordnungslehre«.
Literatnrberichte.
179
»»leb habe ans der erlebten Oegenständlichkeit überhaupt das Natnr-
wirkliche als ein einziges Es meinend ansgesondert, da ich so einen in
sich verknüpften Znsammenhang des Werdens nnd daher Werdeordnnng
finden konnte. Weil ich Ordnung wollte, sonderte ich Natnr ans, stellte
ich mir das Natnr-Es gegenüber. ... Gewisse Sätze über das Werden des
Natnr-Es sah ich als gültig an nicht nnr im allgemeinen Sinne der anf
mich znrückbezüglichen gültigen Gesetztheit, sondern im Sinne der Richtig¬
keit, das heifit der inhaltlichen Gültigkeit für mich als den das einzige
Es in seinem Sosein erfassen Wollenden. ... Ich verstehe nnn aber
die MSglichkeit des Daseins der Natnr ganz nnd gar nicht.
»Es ist so« kann ich nnr sagen. Es ist da etwas, das ich als gleichsam
Selbständiges meinen kann. Aber warum das? Gibt es eine für das Ich
notwendige Setzung, welche Natnr, das heifit das Dasein eines bestimmten
geschlossenen Werdeznsammenhanges als eines gemeinten Ausschnittes ans
gegenständlicherErlebtheit überhaupt, mitsetzt? Nein; jedenfalls nicht in
dem Sinne, dafi sie Bestandteil der Ordnung des Für-mich-Seienden wäre.
... Sollen wir dabei stehen bleiben? Oder sollen wir etwa sagen: Mnfi es
denn nnr Für-mich-Sein geben? Kann es nicht ein Losgelöst-Wirkliches
geben nnd nicht blofi ein »Natnrwirkliches«, das so ist, »als ob« es in sich
losgelöst wäre; ein in Wahrheit Seiendes, ein An-Sich-Seiendes, das
ich zwar in seinem Sosein nicht eigentlich« setzen kann — denn dann wäre
es Für-mich-Seiendes! —, das ich aber setzen kann als ein Etwas, das für
dasjenige, was ich Natnr nenne, zwar nicht der Werdegrnnd, wohl
aber das allgemein Mitsetzende, das Bedentnnggebende ist? ...
Kann es ... dieses Bedentnng-gebende, dieses An-sich-seiende geben? ...
Kann ich — erkennen? Und wie etwa und was? ...«« —
>»In der Lehre vom Erlebten als der Eigen-Erlebtheit setze ich
ordnend eigentlich nnr eine Setzung: meine Seele. ... In der Schaffung
der Seele werfe ich das Eigen-Erlebte gleichsam ans »mir« heraus nnd lasse
ein anderes es in sich für mich machen, ebenso wie ich in der Schaffung
der »Natnr« ein anderes sich in sich machen liefi. ... Die Seele, so wissen
wir, ist die eigentliche Ordnerin; »Ich« sage nnr ans, wann sie zu meiner
Befriedigung geordnet hat. ... Ich also stellte mich selbst in der »Seele«
vor mich. Und dazu soll die Seele in Beziehung zur Natnr stehen, zu der
»Ich« doch nicht »gehöre«. ... Was heifit das alles? ... Wie, wenn sich
nnn StT^as »setzen« liefie, das ich zwar nicht in seinem Sosein fassen kann,
das aber doch als ein An-sich den seltsamen Umstand mitsetzen würde, dafi
»Ich« da ein gleichsam Selbständiges meinend setze, das gleichsam klüger
ist als ich nnd »mich« gleichsam mitsetzt, nnd das dazu noch sich anf
Natnr »parallel« bezieht — die Seele?
»Liefie sich da nicht etwa ein Etwas erkennen — in seinem Dasein
wenigstens — welches mitsetzt, jenen Sachverhalt, der sich ans drei Sonder¬
sachverhalten znsammensetzt: dafi »Ich« ordne, dafi ich ordnend
Natnr schaue, dafi ich ordnen dm eine Seele als Natnr bezogenes
and als meine Eigen-Erlebtheit bedingend schane?«
»Volkstümlich sprechend könnte ich hier sagen: Die Möglichkeit des
Innenlebens, der Eigenerlebtheit, der Erinnerung zumal führt über das Ich
und das Für-Mieh hinaus zu einem Ansich als dem, das dem allen Be¬
deutung gibt.« —
12*
180
Literatnrberichte.
»Das sittliche Ftthlen sollte den snreichenden Gnmd seines Da-
nnd Soseins erhalten dnrch das Eingpereihtsein des Einielnen in eine über*
persönliche sieh entwickelnde Gemeinschaft, und nach bewnSter
Schan dieses BetiehnngsTerhältnisses sollte nun anch das eigene Handeln
»pflichtgemäfi« beurteilt werden.
»Aber wie, wenn das alles nur »fttr mich« ist? ...
»Wie nnn, wenn der ganze yerwickelte Gedankengang vom Qber-
persOnlichen werdenden Ganzen, der ja doch jenes Gefühl rechtfertigen soll,
anch nur ein »Fttr-mich« feststellte, eine Ordnnngsschan in der Srlebtheit,
nichts weiter?
»Befriedigen würde solche Einsicht das Ich nicht. KOnnte es aber da
nicht wiederum ein Wissen am wenigstens das Dasein eines Ansich geben,
das, ich sage nicht dem sittlichen Ftthlen unmittelbar, wohl aber dem
Ergebnis der Ordnnngslehre, das es rechtfertigen soll, Bedeutung
verleiht ? ...«
»Dieses also sind die drei wesentlichen Fragen der Ordnnngslehre,
welche fttr sie selbst unbeantwortet, ein ungeordneter Best
bleiben müssen: Was heifit es, dafi das gleichsam selbständige Beich
Natur, das gleichsam selbständige Beich meine Seele, was heittt es,
dafi sittliches Bewufitsein erfahrungshaft »da ist«?«
Diesen drei Fragen und vielen anschliefienden Aufgaben geht Hans
Driesch tiefgründig in seiner Erkenntnislehre nach.
»Eine Ordnungsaussage, z. B. aus dem Gebiete der Physik, ist richtig
oder unrichtig: von einer Wirklichkeitsaassage werden wir sagen, dafi sie
wahr oder unwahr sei; nur richtige Aussagen kOnnen selbstredend fttr wahre
das Mittel sein. —« Nur »soweit das An-sich auch zum Fttr-mich werden
kann, ist Wirklichkeitslehre möglich«. »Die Wirklichkeitslehre
muß ... auf jeden Fall so aasgestaltet werden, dafiOrdnungs-
lehre, ja dafi mein ganz besonderes Ich erlebe Etwas seiner
gesamten Inhaltlichkeit nach so sein kann, wie es ist.«
»Wirklichkeitslehre und Ordnnngslehre stehen not¬
wendigerweise im Verhältnis von Grund und Folge, von
Mitsetzendem und Mitgesetztem zueinander.« »Auch jetzt noch
bielbt Wirklichkeitslehre, was sie war und bleiben wird, eine auf
Unbefriedigtsein, auf Wunsch gegründete Forderung. Nie, wahrlich, kann
sie unmittelbar Sicheres werden. <
Das Werk »Wirklichkeitslehre« bringt nach Erörterung ihres Wesens
und ihrer Aufgabe im ersten Teil: »Die Lehre vom Wirklichen
überhaupt«, bespricht dabei an mehreren Stellen: Wissen, Gedächtnis,
die Seele als Ordnerin, die Heterogonie der Zwecke, Ordnungsmonismus und
Dualismus u. a. m., womit HansDriesch auch dem metaphischen Bedürfnis
gerade des Psychologen durchans gerecht wird, handelt dann im Ȇbergang
zum zweiten Teile der WMrklichkeitslehre: Vom Tode« und
entwickelt im Schlnfiabschnitt: »Der Wirklichkeitslehre höhere
Stufen: Die Lehre von den Wirklichkeitsformen'«, worin »die
ersten Fragen«, wie die »ünsterblichkeits-Frage« und die »Gottes-Fragen«
ihre Beantwortung finden.
Zum Schlufi des gegenüber der Fülle des wertvollsten Gedankenmaterialz
notwendig karg eklektischen Bef erstes sei nochmals auf die »Logik des
Seelischen« innerhalb der Ordnnngslehre hingewiesen! »Erster Ausgang
Literatorberichte.
181
für das Verlaogen nach einer »»Psychologfik«« ist... mein besonderes Wissen
dämm, dafl manches ans dem Bereiche des Etwas ... mit dem Tone des
schon gehabt Gewesenseins gehabt wird. . . . Man nennt in der
Sprache des Alltags Erlebnisse mit dem Tone des schon gehabt Gewesen-
•eins Erinnemngs- oder Gedächtniserlebnisse.« »Die Gesamtheit der
vom Selbst (bzw.Ich) gehabt gewesenen, seienden and künftig
werdenden Gebilde in ihrer Znordnnng snr Zeit ist . . . das
»»Material«« der Psychologie.« — Nach ErOrterang ihrer Aufgabe bringt die
»Psychologik« in ihrem 2. bis 9. Kapitel;
Materialienlebre (Elementarlehre; Komplexlehre; das phänomenologische
Gedächtnis; der Träger) — Verknüpfnngslehre (VerknüpfongsbegriSe erster
Stufe ... Perseveration und Assoziation, Konstellation, einschränkende und
totalisierende Faktoren, Übung ...; die Konstanzbegriffe erster Stufe; die
psychologischen Ordnungsbegriffe der hOc h sten Stufe, die Seele, ihre Organisation
ihre Entwicklung, ...) — »mein Leib« — Psychophysik (Probleme; die Lehre
vom Parallelismus und ihre Kritik; die Rolle des Hirns; noch einmal: die
Organisation der Seele; der Irrtum; die Gefühle) — das »andere« Ich —
Erkenntnistheorie im psychologischen Gewände_— das nicht-menschliche
Seelische — Modifikationen des Seelenlebens (der Begriff »unbemerkt«; der
Traum; die Hypnose ...).
Richard Hellmuth Goldschmidt (Münster Westf.).
Paul Hertz, Über das Denken und seine Beziehung zur Anschauung.
Erster Teil: Über den funktionalen Zusammenhang zwischen aus-
lösendem Erlebnis und Enderlebnis bei elementaren Prozessen.
Verlag Julius Springer, Berlin 1923. X und 167 S.
Der Prozefi des Denkens steht in enger Beziehung zu früheren Erleb¬
nissen. Folgte früher auf das Element a' das Element b', auf a" —b”, so
wird sich an das gegenwärtige Auftauchen von ä die Erwartung von ^
knüpfen. Weder ä noch 'S fanden sich in der »Vorerfahrung«; die Er¬
wartung von T stellt demnach einen relativ neuen aktuellen Erfahmngsbezng
her. Derartige psychische Komplexe heiSen «elementare Prozesse«; a wird
jeweils als »auslSsendes Erlebnis« oder »antecedens«, b als »Enderlebnis«
oder »Buccedens« bezeichnet. In jener die frühere Erfahrung übersteigenden
»Erwartung« erblickt Verf. das Kriterium des Denkens: in der »Trans¬
zendenz«. Transzendenz wird mithin besonders im Zusammenhang eines
assoziativen Gefüges psychischer Komplexe greifbar. In stetem Hinblick
auf jenes Kriterium schreitet Hertz an die Klärung der bedeutsamen Be¬
ziehung zwischen Denken und Anschauung. Dort, wo das Denken
gemäß den Normen geometrischer Relationen abläuft, also schon da, wo
produktive Handlangen vorliegen, die »in der Mitte zwischen reinem
Wahrnehmen und Denken stehen« (S. 86), dort treten besonders mukant
anslösendes Erlebnis und Enderlebnis in funktionalem Zusammenhang in
Erscheinung, da wird aber auch jene Beziehung der Analyse zugänglich.
Unter solchem Gesichtspunkt präzisiert sieh die Fragestellung: Wie äußert
sich der transzendente Charakter des assoziativen Denkens, wenn er gemäß
mathematischer Funktionen, also etwa gemäß der Funktion y = const. oder
y <= X verläuft? Es bandelt sich also, um ein Beispiel des Verfassers an-
zuführen, um Erwartungserlebnisse, wie sie sich an die Ortsverändemng
182
Literatarberichte.
starrer Stäbe zq knüpfen pflegen. Jemand hat bei einer Gelegenheit a
einen Stab an einer bestimmten Stelle gesehen nnd »erwartet« denselben
Stab bei Wiedereintritt von a an einer bestimmten anderen Stelle (y = const.).
Oder: auf Gmnd der Erfassnng einer Strecke z wird s tets die gleiche
»erwartet« (y = z) n. a. m. Die Transzendenz, das ist das Besnltat der
Überlegungen, haftet an dynamischen Dispositionen, an »Durchlanfangs-
Prozessen«, in denen das snccedens gefunden wird. — Eine Erwägung
über die »Möglichkeit« der Zuordnung geometrischer Beziehungen zu den
an unseren »Vorstellnngsbildem« waltenden metrischen Belationen klärt
sich durch die Einsicht in die Enklidizität des sogen. Vorstellnngsranmes.
— Gegenüber diesen Darlegungen erheben sich gewichtige Bedenken: 1. Ent*
weder die Assoziationsreihen stellen einen Mechanismus dar; dann ist
nicht einzusehen, wie aus einem Mechanismus ein Produktionsprozefl werden
kann. Oder Produktion (Transzendenz) bestimmt allemarauch jedes Glied
der »Vorerfahrung«; dann ist aber von »Assoziation« keine Bede mehr, dann
fällt aber auch unweigerlich die Unterscheidung von »elementaren« und
»komplexen« Prozessen im Sinne des Verfassers. Gerade in seiner Be*
Ziehung zur Anschauung ist das Denken niemals als assoziatiTer Mecha*
nismns theoretisch verständlich. Das »Gedachte« ist unter dem Gesichts*
punkt der Anschauung gegenständlich bestimmt, d. h. das Denken wird
durch methodologische und nicht durch assoziative Bezüge ge*
kennzeichnet. Damit schwindet grundsätzlich jeglicher Unterschied
zwischen Vorerfahrung nnd gegen wärtiger Erfassung. Auf solcher
Grundlage bedarf das Unternehmen des Verfassers einer entscheidenden
Sichtung. 2. Wie bestimmt sich der Begriff einer »in der Mitte zwischen
Wahrnehmung nnd Denken stehenden Handlung«? Sie ist nach der Dar*
Stellung des Verfassers »Vorstufe« zum Denken, sie grenzt sich so gegen
das »eigentliche« Denken ab. Handelt es sich — so ist zu erwidern — in
jenem Begriff um einen »erlebten« Sachverhalt, um »gewußte« Beziehungen,
dann ist er durch seinen geometrischen Bezug in seiner Eigenart eindeutig
deflniert; drückt er dagegen keinerlei »gewußten« Tatbestand ans, dann
liegt auch kein psychologisches Problem vor. 8. Die Beschreibung von
»Dnrchlanfnngsprozessen« ist nicht durch begriffliches, sondern dnrch
experimentelles Verfahren zu ermöglichen, oder doch nur auf dem
Boden des Experiments begrifflich zu bewältigen. 4. Die Frage der En*
kUdizität unseres Vorstellnngsranmes (wofern dieser Begriff überhaupt de*
finiert ist) ist kein »mögliches« Problem unter der Voraussetzung der Zn*
Ordnung des Psychischen. Der Begriff der Zn Ordnung ist bereits ein Ans*
druck für den heterogenen Charakter der psychischen und euklidischen
Relationen. M. Löwi (Breslau).
K. Eoffka, Beiträge zur Psychologie der Gestalt. Bd. I. V nnd 323 S.
Leipzig, J. A. Barth, 1919. 12 G.*M.
Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe nnd im stationären
Zustand. Eine natnrphilosophische Untersuchung. Mit 5 Ab*
bildnngen. XX nnd 263 S. Brannscbweig, Fr. Vieweg & Sohn,
1920.
G. E. Müller, Eomplextheorie nnd Gestalttheorie Ein Beitrag zur Wahr*
nehmungspsychologie. 108 S. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht,
1923.
Literatarberichte.
183
Es erübrigt sich, über den Inhalt dieser drei Arbeiten ihrem Umfang
and ihrer Bedentang entsprechend zn berichten, weil sie alle, die beiden
ersten ihrer Verüffentliehnng nnd die dritte ihrem wesentlichen Inhalte
nach, schon älter nnd dämm bekannt genug sind. Ich beschränke mich
anf die Wiedergabe der wichtigsten Gedanken and nntersnche ihren Beitrag
an den allgemeinen Fragen des Problemkomplezes, den wir mit dem
Wort »Gestalt« bezeichnen.
Ko&ka sammelt Arbeiten, die von ihm nnd seinen Mitarbeitern nnter
dem Titel »Beiträge zur Psychologie der Gestalt- and Bewegnngserlebnisse«
in der Zeitschr. f. Psych. erschienen sind, unter dem in der Tat besseren
Titel »Beiträge zur Psychologie der Gestalt«. Den experimentellen Bei¬
trägen von Eenkel and Körte liegt die Wertheimersche Theorie der
^'-Phänomene zngrande, die, ganz allgemein anf alle Gestalten ausgedehnt,
besagt, dafi Gestalt and zagehbriger Beizkomplez unmittelbar, ohne psychische
Vermittlnng, Zusammenhängen. Diese Theorie wird an verschiedenen ex¬
perimentellen Ergebnissen geprüft und für richtig befanden. Ko&ka gibt,
veranlaßt durch das Beferat, das Benussi über die Arbeit von Kenkel in
dieser Zeitschrift verdffentiichte, eine eingehende Kritik der Produktions-
theorie Benussis. In einem letzten Beitrag versucht Koffka einen Vorgang
im Gehirn mathematisch zu formulieren, so daß sich ans ihm gewisse (in
den Untersuchungen von Körte gefundene) Gesetzmäßigkeiten zwischen
Variationen von Reizkomplexen und psychologischen Gegebenheiten ableiten
lassen.
Kbhler will in der Hauptsache beweisen, daß es auch physische Ge¬
stalten gibt, d. h. daß sich physische Gesamtgebilde anfweisen lassen, die
nicht als Summen, nicht als bloße Undverbindungen anzusehen sind. Ein
Zusammen ist nach ihm dann und nur dann eine reine Summe von Teilen
oder Stücken, wenn es ans ihnen, und zwar einem nach dem anderen her-
gestellt werden kann, ohne daß infolge der Zusammensetzung einer der
Teile sich ändert. Umgekehrt ist ein Zusammen dann eine reine Summe,
wenn durch Ausscheidung von Teilen oder Stücken weder das zurück-
bleibende Bestzusammen noch die aasgeschiedenen Teile geändert werden
(S. 42). Als Kriterien für die Gestalt dienen ihm die Ehrenfels-Kriterien.
Er versucht nun zu zeigen, wie in einer Beihe von physikalischen Fällen
(z. B. bei den elektromotorischen Kräften zwischen zwei Elektrolyten von
verschiedenen Materialeigenschaften, bei der elektrischen Ladung eines
isolierten Leiters, bei Feldern, bei stationären elektrischen Strömen) diese
Gestalteigenschaften vorliegen und die Gesamtgebilde nicht als bloße Summen
aufzufassen sind. Er gibt noch eine erste Anwendung anf psychophysische
Gestalten.
G. E Müller glaubt, daß seine Kompleztheorie schon längst alles das
enthält, was die Gestalttheorie will. Ein Komplex ist eine Gruppe von
Vorstellungen, deren Gegenstände in bestimmten räumlich-zeitlichen und
sonstigen Beziehungen zueinander stehen und die infolge der diesen Gegen¬
ständen zuteil werdenden kollektiven Auffassung die Fähigkeit erlangt,
als ein einheitliches Ganze psychische Wirkungen zn entfalten oder zu er¬
fahren. Das komplexstiftende Moment ist also die Aufmerksamkeit. Die
Bedingungen, von denen kollektive Auffassung von Vorstellungen abhängig
ist, sind: räumliche Nachbarschaft, Gleichheit der dargebotenen Elemente
«der auch bloße Ähnlichkeit in Gestalt oder Form, Eindringlichkeit, sym-
184
Literatarberichte.
metrischer Verlanf, Kontar, Erfahrung nnd Gewohnheit. In der Entwich*
lang der Komplexe gibt es individnelle Unterschiede, die daher rühren,
dafi die Bedingungen nicht für alle Indmdnen gleichwertig sind. Komplexe
sind trotz ihrer Einheitlichkeit nicht starr. Man hann mitunter willkürlich
zwischen komplexer nnd singulärer Auffassung wechseln oder Komplexe in
Unterkomplexe zerlegen. Auch modifizieren sich häufig die Elemente bei
der Komplexbildung. Vielleicht ist darum auch die Angleichung eines
Sinneseindmckes an einen anderen durch kollektive Auffassung zu deuten.
Auf der physiologischen Seite mufi gleichfalls ein Vorgang stattfinden, durch
den ein engerer Zusammenhang zwischen den kollektiv beeinfiufiten Er¬
regungen hergestellt oder ein bereits bestehender Zusammenhang gesteigert
wird, es muß eine Kollektivdisposition angenommen werden. Durch sie
wird auch die totalisierende Qestaltauffassung der Hemianopiker erklärt
Ferner werden gewisse von Fuchs u. a. beobachtete pathologische Fälle, die
von Wertheimer anfgestellte Tendenz zur Prägnanz der Gestalt, die eidotropen
und y-Bewegungen von der Komplextheorie ans zu verstehen gesucht
Recht ausführlich werden, immer mit Rücksicht auf die Komplextheorie,
die physiologischen Grundlagen der Gedächtniserscheinungen besprochen. Es
handelt sich dabei eigentlich nur um eine Reihe von Einzelbemerkungen.
So wird z. B. betont, dafi nicht die Erregungen der der Retina korrespon¬
dierenden Himregion die unmittelbare Unterlage für die Gesichtsempfin dangen
seien, sondern dafi diese Erregungen erst unter dem Einflüsse der Aufmerk¬
samkeit modifiziert würden; dafi wir eine bahnende und eine dispositionelle
Einprägnng zu unterscheiden hätten, die beide bei den Gedächtnisleistangen
in Frage kämen; dafi das Gedächtnisresiduum eines Komplexes nicht gleich der
Summe der Residuen der Komplexglieder sei. Gleichzeitig werden kritische
Bemerkungen von Becher, Btthler u. a. zurUckgewiesen. Den Scblufi bildet
eine Kritik der Wertheimerschen Gestalttheorie. Ken sind an den Ausführungen
G. E. Müllers nur die Anwendungen auf moderne Beobachtungen nnd Einzel¬
heiten der Gedanken über die Residuen der Gedächtnisleistangen. —
Bei der Beschränkung auf die allgemeinen Fragen können wir ein
psychologisches, ein physiologisches und ein physikalisches Gestaltproblem
unterscheiden Zu dem ersten woUen vor allem Koffka und G. E. Müller, zu
dem zweiten G. E. Müller und Köhler, zu dem dritten Köhler Beiträge geben.
Zunächst das psychologische Gestaltproblem. G.E.Müller hat
natürlich recht, wenn er bemerkt, dafi Wertheimer die Gestalten nicht ent¬
deckt habe. Schon Wandt mit seinem Prinzip der schöpferischen Synthese
zielte auf sie ab. Allerdings hat der Gestaltbegriff mit den wirkenden
Formen der Scholastik und des Aristoteles, wie Job. Wittmann meint, nicht
das geringste zu tun. Aber den älteren Psychologen fehlte die Phänomenologie
der Gestalt. Sie fehlt sogar den neueren vielfach, besonders den Gegnern der
Theorie. So sind auch die Komplexe G. E. Müllers durchaus keine Gestalten.
Wohl wendet er seine Komplextheorie manchmal auf Gestalten an, aber er
fafit dabei an den Gestalten nur etwas ganz Äufierliches. Für ihn ist das
komplexstiftende Moment ja die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksam¬
keit ist aber durchaus nicht das gestaltstiftende Moment, sie ist es
in keinem einzigen Falle. Die Gestalt ist da, gleichgültig, ob wir sie mit
mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfassen. Nur wo es sich um Gestalt-
mehrdentigkeit oder um unvollkommene Gestalten handelt, spielt die Auf¬
merksamkeit eine RoUe, aber auch hier nicht die RoUe, Gestalten zu schaffen.
Literatorberichte.
185
Bondern sie entdecken bu lassen. Zufolge dieser falschen Einstellung sieht
O. E. Hüller an der Gestalt nur den äußeren Zug der Einheitlichkeit, den
natürlich der Komplex auch hat.
Wnndemehmen kann das nicht, denn die Phänomenologie der Gestalt
kommt auch bei den Gestalttheoretikem au kurz. Ich glaube nämlich nicht,
daß die zwei Ehrenfels-Kriterien genügen, um die Gestalt zu charakterisieren.
Es liegt zunächst zwar in dem ersten Kriterium drin, müßte aber noch stärker
betont werden, daß in der Gestalt etwas Neues als psychisches Erlebnis zu den
»Teilen« hinzutritt. Ganz übersehen die Kriterien, daß dieses Nene gegen¬
über den »Teilen« stets etwas Übergeordnetes ist, etwas, was eben das
typisch Ganze schafft, was es macht, daß es sich hier nicht mehr um »Teile«,
sondern um Glieder in einem Ganzen handelt. Dieses eigentliche gestalt¬
stiftende Moment kann mehr oder weniger deutlich hervortreten, es ist aber
immer da. Es dnrchdringt gleichsam die Glieder, vereinigt sie, umspannt sie,
so daß sie »zusammengehOren«, während die Teile eines Komplexes nur
»zusammen sind«. Dieses Moment ist kein Belationserlebnis. Es stiftet
Relationen und darum sind Relationserlebnisse mit ihm verbunden, aber es
ist selber keins. Denn ein Relationserlebnis schafft nie diese eigenartige
Vereinigung, diese Verschmelzung, diese Verganzung, wie sie bei der Ge¬
stalt vorliegt. Daß in manchen Fällen Gestalten innerhalb gewisser Grenzen
willkürlich oder nicht sofort erfaßbar sind, gehört auch mit zur Charakteristik.
Damit ist nun schon angedeutet, welche Art von Gegenständen die Ge¬
stalten sind. Ich meine, sie seien Ganzheiten. Gelegentlich, z. B. bei
Wertheimer, werden die Gestalten wohl Ganze genannt, aber das Typische
der Ganzheit kommt doch nicht völlig zu seinem Recht. Wir sprechen über
den Ganzheitsbegriff gleich noch mehr, wo wir den Summenbegriff dagegen
setzen. Ich möchte nur hier kurz bemerken, wie diese phänomenologische
Theorie der Gestalt mit tieferen Fragen der Psychologie zusammenhängt.
Es ist bekannt, wie eine Richtung der Biologie heute den Organismus sds
Ganzheit und die Seele (rein phänomenologisch, ohne alle Metaphysik) als
Ganzheitsfaktor faßt. Geht man da mit, dann wird es prinzipiell verständ¬
lich, wie die Gestalt ein Ausdruck der Ganzheitsstruktur der Seele ist, der
unter gewissen, noch anznführenden Bedingungen auftrift. Eine Aktivität der
Seele ist also mit der Gestalt immer verbunden.
Faßt man so die Gestalt streng als Ganzes, so wird auch ihr Bereich
viel schärfer Umrissen, als es bisher der Fall war, vor allem wird er von
dem der Komplexe getrennt. Wenn man ans einer Reihe von parallelen
Strichen mehrere znsammenfaßt, so ist das keine Gestalt, sondern ein Komplex.
Von hier ans wird das physiologische Gestaltproblem ohne
weiteres lösbar. Es ist in diesem Zusammenhang sichef^ daß es physiologische
Ciestalten gibt. Jeder Organismus ist ja eine physiologische Gestalt. DerGanz-
hmtsfaktor ist natürlich immer seelisch. Ans ihrer Struktur heraus gestaltet
sich die Seele das Physiologische ganzheitlich. Darum können und müssen
ihren Gestaltvorgängen auch physiologische Gestalten zugrunde liegen,
nur ist dabei die Beziehung die, daß das Psychische der Ganzheitsfaktor
des Physiologischen ist. Primär ist also immer das Seelische. Aber es gibt
in ihm keine Gestaltvorgänge, ehe es sich nicht sein physiologisches Instrument
geschaffen hat. Zweifellos ist also das Seelische »nicht sachlich sinnlos und
zwanglänfig« an Physiologisches gebunden (Köhler, S. 193), und sicherlich
ist jede spezifische seelische Gestalt von einer spezifischen physiologischen
186
Literatarberichte.
nnterfahren. Das liegt im OanzheitsbegriS. Aber dieses Allgemeine — dafi
eben beides in gegenseitiger Abstimmung gestaltet ist — ist auch die einzige
Ähnlichkeit, die dazwischen besteht. Den Sinn der Edhlerschen Behauptung,
daß »im Prinzip eine Himbeobachtung denkbar (ist), welche in Gestalt- und
deshalb in wesentlichsten Eigenschaften Ähnliches physikalisch er¬
kennen würde, wie der Untersuchte phänomenal erlebt« (S. 193), verstehe
ich nicht einmal. Soll das heißen, daß sich am Physiologischen unmittelbar,
also ohne Kenntnis eines Zusammenhanges, wie der von Zeichen und Be-
zeichnetem ist, das psychische Erlebnis ablesen lasse? Daß diese bei einem
modernen Psychologen kaum glaubliche Ansicht sogar aus einer viel tieferen
Oestaltauffassung, als es die KOhlersche ist, nicht folgt, ist wohl klar. Jeder
Organismus beweist das faktisch. Wo ist die Ähnlichkeit eines Organismus
mit seinem Seelischen ? Han kann höchstens sagen: das Psychische hat ihn
so gestaltet, wie es »es in sich hat«, gemäß seiner gestaltenden Kraft, und
daher die »Ähnlichkeit«. Diese Ähnlichkeit muß es natürlich auch zwischen
den psychischen Oestaltvorgängen und den zugehörigen Gtehimvorgängen
geben; aber sie reicht nicht aus, uns wesentliche Eigenschaften des Psychischen
unmittelbar am Physiologischen ablesen zu lassen.
Auch das physikalische Gestaltproblem erhält seine Beleuchtung
von der berührten Theorie der Gestalt her. Es gibt im Physischen keine
Gestalten als Ganzheiten. Nirgendwo ist neben den Teilen, die ein physisches
Gesamtgebilde zusammensetzen und die isoliert existieren können, noch ein
physischer Oanzheitsfaktor aufweisbar. Überall liegen nur Summen,
nur Undverbindungen vor.
Woher kommt es nun, daß Köhler physische Gestalten aufweisen zu
können vermeint?
Ein erster Grund liegt darin, daß, wie schon HansDriesch richtig her¬
vorhebt, das Physische einige Einzelzüge der Ganzheit aufweist.
Man kann drei solcher Einzelzüge nennen. Fürs erste den Einheitszug.
Er liegt ausgeprägt in einer gewissen relativen Geschlossenheit und Selb¬
ständigkeit mancher physischer Gesamtgebilde. Fürs zweite den Diffe¬
renzierungszug in der Entwicklung. Driesch hat ja recht:
verstehen wir unter Entwicklung nur Entwicklung zu einer Ganzheit, so
besitzt das Physische keine Entwicklung. Aber es hat von ihr doch den
Zug, daß es, wie z. B. Kosmogonie und Geogonie lehren, aus weniger
differenzierten zu mehr differenzierten Zuständen kommt. Fürs dritte den
Ordnungszug. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man an das
Planetensystem, das Atom, den Kristall, das Gravitationsfeld denkt. Über¬
all, wo bei physischen Gesamtgebilden als Reizen diese Ganzheitszüge
vereint oder einzeln \orliegen, kann man mit einigem Grunde von einem
physischen Gestaltreiz reden. Es ist an sich ein richtiger Gedanke, den
Kioffka benutzt, um die Reizlosigkeit der psychischen Gestalt zu widerlegen:
daß eben Reiz etwas Relatives zum Organismus ist. Aber wäre das alles,
dann könnte jeder beliebige physikalische Vorgang unter Umständen Gestalt¬
reiz werden. Im Physischen ist indes mehr als das, ohne daß dadurch die
Aktivität der Seele ausgeschlossen wäre.
Ein zweiter Grund liegt in der ungenügenden Bestimmung von Summe
und Gestalt bei Köhler. Beidemal wird zu wenig gesagt. Was er als
Summe definiert, ist eine arithmetische Summe. Seine Definition
paßt schon nicht mehr auf die geometrische Summe. So bleiben bei
Literatarberichte.
187
jeder Zasammensetsaner und Zerlegrnng von Vektoren weder Teile noch Rest-
cnsammen nnge&ndert. Ebensowenig trifft sie bei der Znsammensetznng
▼on Feldern zn. Man darf tiberhanpt die Snmme nicht nnr im mathematischen
Sinne nehmen. Charakteristisch für sie ist vielmehr, dafi bei Wegnahme
eines Teiles eine Snmme derselben Art übrigbleibt, die in sich geschlossen
ist nnd eine Einheit darstellt. Dagegen ist charakteristisch für die Oestalt,
dafi sie bei Wegnahme eines wesentlichen Gliedes zertrümmert ist, zerf&llt,
einen Torso darstellt; wir haben dann keine Ganzheit mehr. Wendet man
diese Bestimmnngen an, so sieht man leicht, dafi es nnr physische Snmmen,
aber keine physischen Gestalten gibt. Alles, was Kühler physische
Gestalt nennt, ist restlos ans den Beziehnngen der Teile verst&ndlich, wobei
unter Beziehnngen natürlich Eräftebeziehnngen verstanden sind. Jeder wird
Kühler darin beistimmen, dafi die physische Welt mehr als die Snmme
beziehungsloser Teile ist. Sie ist aber nicht mehr als die Snmme
beziehnngsreicher Teile. Dagegen ist jede Ganzheit auch mehr als
die Snmme beziehnngsreicher physischer Teile.
_ Aloys Müller (Bonn).
Lahy, J. M., Taylorsystem nnd Physiologie der beruflichen Arbeit. Deutsch
von J. Waldsbnrger. Berlin, Springer, 1923. XIV nnd 164.
Bei einer Gesamtwürdignng ist gegen das Taylorsystem neben allen
seinen l&ngst von der Praxis eingesehenen Vorzügen vor allem der Vorwnrf zn
erheben, dafi es den Grundsatz der Voranslese nicht beachtet. Es stüfit daher
den Arbeiter entweder ans dem Betriebe heraus oder zwingt ihn zn übermäßi¬
gen Anstrengungen, um doch im Betriebe bleiben zn künnen. Daher mnfi
in den Gedanken des Taylorsystems eine fortwährende Überwachung der Er¬
müdung hineingenommen werden. Das Taylorsystem ist primär darauf ein¬
gestellt, Aufmerksamkeit nnd Arbeitstempo zn steigern; den vielfach noch
fehlenden Schutz gegen die Übermüdung aber kann es nnr ans der Berührung
mit der Physiologie nnd Psychologie gewinnen. Auch die Zeitstudien, die
eines der wichtigsten Elemente des Taylorsystems sind, müssen mit den Er-
müdnngsnntersnchnngen Hand in Hand gehen.
Dies ist die wichtigste psychologische Problemstellung, die sich ans
den Darstellungen des Verf. ergibt. Seine eigenen Untersuchungen bezogen sich
hauptsächlich auf die Ermüdung bei solchen Arbeitsleistungen, die keine
Mnskelanstrengnng erfordern. Er benutzte dabei den Blutdruck nnd die
Reaktionszeit nnd fand, dafi sich der Blutdruck mit anhaltender Aufmerk¬
samkeit erhüht, nnd daß außerdem im Zustande der Ermüdung die Reaktions¬
zeit rasch absinkt. Beiden Angaben stehen aber die Ergebnisse anderer
Autoren gegenüber, die zum Teil zn vüUig abweichenden Zusammenhängen
gelangten. Meist ist gerade die Abnahme des Blutdrucks als ein Symptom
der Ermüdung in Anspruch genommen worden. Ich vermute, daß überhaupt
mttdnng nnd Blutdruck nicht in so einfacher Weise aneinander gekoppelt
sind, sondern dafi sich Zwischenglieder einschieben, die mit der allgemeinen
psychophysischen Disposition Zusammenhängen.
0. K1 e m m (Leipzig).
Sippel, H., Der Turnunterricht und die geistige Arbeit des Schulkindes;
Beiträge zur Tum- nnd Sportwissenschaft, Heft 5. Berlin, Weid-
mannsche Buchhandlung, 1923. 53 Seiten.
188
Literatarberichte.
Die zahlreichen bisherigen Untersnchnngen Uber die Wirkung des Tnmenz
haben keineswegs zn einstimmigen Ergebnissen geführt. Znr Klkmng dieser
Frage nntemahm der Verf. eine ausführliche experimentelle Untersncbiing
an Schnlkindem, bei der er die Kraepelinsohe Additionsmethode in der
Form fortlaufenden Addierens in wagerechter Richtung und Gedächtnis-
proben an Inhalten von verschiedenem Grade der SinnerfüUnng aowandte.
Die Additionsversnche zeigten allgemein nach dem Turnen eine Leistungs*
Steigerung. Bei den Gedächtnisversnchen waren die Ergebnisse, zum Teil
auch auf Grund ftnSerer Umstände, schwankend. Immerhin bestand, vor
allem bei der sinnvollen Verknüpfung von Wortpaaren, eine Tendena so
besseren Leistungen.
Theoretisch lehnt der Verf. mit Recht die Vorstellung ab, daß sich eine
Messung der geistigen Ermüdung als solcher erzielen lasse, und sucht dafür
den Erfrischungszustand aus einer Reaktivierung erschlaffter psychischer
Kräfte und ans der Beseitigung psychomotorischer Hemmungen durch das
Turnen zn begreifen. Als praktische Folgerung ergibt sich die Befürwortung
einer täglichen Tnmzeit von 80—35 Minuten.
Die Ergebnisse sind wertvoll. Die Einschränkung auf eine kleine, aber
geschlossene Gruppe von Problemen hat der Verf. mit Bedacht vollzogen.
Den Wunsch nach Nachprüfung und Weiterführung spricht er selbst ans.
0. K1 e m m (Leipzig).
König, Th., Reklame-Psychologie, ihr gegenwärtiger Stand — ihre prak¬
tische Bedeutung. München und Berlin, R. Oldenbonrg, 1924.
VI und 206.
Der Verf. unternimmt den Versuch, die bisherigen wissenschaftlichen
Ergebnisse der Reklameforschnng znsammenzufassen und von wissenschaft¬
licher und praktischer Seite ans zn beleuchten. Dieser Versuch stand unter
besonders günstigen Umständen, da dem Verf. nicht nur ausgedehnte prak¬
tische Erfahrungen bei der geschäftlichen Werbung für industrielle Unter¬
nehmungen znr Verfügung stehen, sondern auch eine Anlehnung an den
experimentell-psychologischen Betrieb eines Laboratoriums.
In der Tat hat er die Ergebnisse der experimentellen Reklamepsycho¬
logie überall mit den praktischen Bedürfnissen so unmittelbar verwoben,
daß ein anschauliches und belehrendes Bild von den Leistungen dieses Teiles
der angewandten Psychologie entsteht, und mit großer Umsicht ist das in
sehr verschiedenartigen Veröffentlichungen verstreute Material zu diesem
Thema znsammengetragen. Darin liegt der Wert des Buches. Für die
Psychologie selbst ist die Ausbeute etwas geringer. Einseitige psychologische
Theorien, die höchst umstritten sind, werden zum Teil mit einer Selbstver¬
ständlichkeit eingeftthrt, die für das strengere wissenschaftliche Denken
befremdlich wirkt. Als Beispiel dafür nenne ich den Abschnitt über die Ge¬
fühlswirkungen der Reklame, der sich auf Gnade und Ungnade der Lust-
Unlnsttheorie ergibt. Nicht kann es Aufgabe derer sein, die ihren Schwer¬
punkt sichtlich im praktischen Leben haben, zn diesen schwierigen theoretischen
Fragen Stellung zn nehmen. Aber es gibt zn denken, wie sehr die Verschieden¬
artigkeit des theoretischen Denkens in der Psychologie auch diese praktischen
Auswirkungen zn beeinflussen vermag.
0. K1 e m m (Leipzig).
Literatarbericbte.
189
Basse, H.H., Das literarische Verständnis der werktätigen Jagend zwischen
14 and 18. Beiheft 82 znr Zsch. f. angew. Psychol. Leipzig, J. A.
Barth, 1923. X nnd 239.
Der Yerf. sammelte seine Beohachtnngen über das Verhältnis des Jagend*
liehen zn den Werken der Literatnr nnter jenem kameradschaftlichen Ver¬
hältnis zwischen Älteren and Jüngeren, das allein in der dentschen Jagend*
bewegnng gegeben ist. Gerade die B,eifejahre amspannen jene Stnfe der
seelischen Entwicklong, in der alles daraaf ankommt, die Tendenz des
Jagendlichen znr SelbstabschUeßang za überwinden, and sein wirkliches
Vertranen zn gewinnen. Im einzelnen ging der Verf. so vor, daß er in
der »literarischen Abteilnng« eines katholischen Jünglingsvereines in einer
indnstriearmen süddentschen Mittelstadt zwanglose Aassprachen der Teil¬
nehmer herbeiführte and diese mündlichen Mitteilangen sammelte. Mehr
als 1000 Aassagen über etwa 200 Literatarwerke verschiedenen Umfanges
worden verarbeitet. Ergänzend traten Aasleihestatistiken von Volksbüche¬
reien hinzn.
Aaf der Grandlage dieses Materials werden znr Darstellnng gebracht:
das aaffassende oder Sprachverständnis, die literarischen Interessen, das
höhere Konst Verständnis. Der Versuch, allgemeine Entwicklangsstafen im
literarischen Verstäudis der Jagend nachzaweisen, zeigt, wie sehr die Fort¬
schritte der sprachlichen Auffassung von den sozialen Lebensbedingangen
abhängig sind. Die Entwicklung des inhaltlichen Interesses läßt die mit dem
14. Lebensjahre fast immer schon abgeklnngene Märchenwelt bei der werk¬
tätigen Jagend nur selten in die Sage, viel häufiger in die Helden- and
Abentearergeschichte, mit Einschluß der historischen Erzählung and der
Forschungsreisen, übergehen. Daneben gibt es einen Typ, der diese epische
Stofe überspringt nnd sofort bei der realistischen Stoffgattang anlangt.
Bei einer engeren Groppe der Teilnehmer endlich ließ sich eine Differenzierung
der ästhetischen Empßlnglichkeit nachweisen, die das Erhabene als die Urform
des Schönen im Bewußtsein der männlichen Jagend enthüllt. Diesem nahe
steht die tragische Grandstimmang. Die zahlreichen Typen and Varietäten
gerade dieses ästhetischen Verhaltens zeigen besonders deatlich, daß das
angebildete Volk keineswegs eine psychisch-ondifferenzierte »Masse« darstellt.
Von der Fülle der Einzelheiten vermag dieser Bericht kaum eine Vor-
Stellung zn geben. Als Fondgrabe für eine Psychologie der Reifezeit ist
diese Arbeit auch deswegen so ergiebig, weil sie sich von einseitigen theore¬
tischen Antizipationen freihält, so vor allem von der vielfach beliebten
Manier, das gesamte Phänomen der Reifezeit nur im Spiegel der erotischen
Erlebnisse erblicken zn wollen.
0. Klemm (Leipzig).
Harald Höffding, Erlebnis and Deatnng. Sine vergleichende
Studie zur Religionspsychologie. Übersetzt von Erwin Magnus.
Stuttgart, Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz), 1923. Grandpreis 2 M.,
geb. 2.50 M. x Schlüsselzahl.
Schon im psychologischen Teile seiner Religionsphilosophie hatte Höff¬
ding nnter anderem die seelischen Selbstzeagnisse der spanischen Nonne
Santa Teresa (Teresa de Cepeda, geb. 1515) dann benatst, am an ihnen die
190
Literatnrberichte.
Eigentümlichkeit des religiös-mystischen Erlebnisses darznstellen'). Im
vorliegenden Bnche behandelt er die Probleme, die durch die inneren Er-
fahmngen jener merkwürdigen Fran angeregt werden, anfs neue unter dem
psychologischen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte desYerh<nisses
von Erlebnis und Deutung. Höffding schätzt die Berichte Teresas besonders
hoch wegen der in ihnen sich kundgebenden psychologischen Begabung,
durch die sich die Heilige von den Mystikern des Mittelalters unterscheidet.
Auch William James nennt sie eine der begabtesten Frauen, die wir kennen,
und spricht von ihrer »bewundernswerten psychologischen Beobachtungs¬
gabe«, wenn er auch meint, ihre religiösen Ideen seien so armseliger Art,
dafi er beim Lesen ihrer Schriften nur das lebhafte Bedauern empfunden
habe, soviel seelische Kraft so unnütz vergeudet zu sehen
Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt der HöSdingschen Untersuchung
bilden die folgenden scharf geprägten Sätze der Einleitung: »Was in unserem
Bewußtsein hervortritt, ist stets Erlebnis und Deutung auf einmal. Wenn
man unter Erfahrung Erlebnisse versteht, die in bestimmten Zusammenhang
gebracht sind, können wir sagen, daß Erlebnis ein Grenzfall von Erfahrung
ist. Das Deutungsmoment hat hier sein Minimum erreicht.«
Die mystischen Erlebnisse gipfeln in der Ekstase. Wie alle Gemüts¬
bewegungen haben aber nach Höffding die ekstatischen Zustände eine
Tendenz, »alle Empfindungen und Vorstellungen zu hemmen oder auszu¬
schließen«. Wohl können im Zustande der Ekstase Halluzinationen ent¬
stehen, an die man sich möglicherweise nachträglich zu erinnern vermag,
»gerade wie man sich an Träume erinnert«. Da aber alle Mystiker die
reine Ekstase im Grunde für unbeschreiblich erklären, obwohl sie ihr Er¬
lebnis als den Zustand höchster Seligkeit schildern, so ergibt sich, dafi alle
Deutungsversuche sekundärer Art sind. Dennoch wird fast zwangsweise
dem Erlebnis der mystischen Erhebung und des Außersichseins eine be¬
stimmte, der geistigen Umwelt des Ekstatikers entnommene Deutung unter¬
gelegt. So werden im Zeitalter des Animismus und des Totemismus die
ekstatischen Zustände ohne weiteres durch den Eiufiuß oder das Innewohnen
eines fremden Seelenlebens erklärt. Der primitive Mensch sieht seine Er¬
lebnisse teils als die Wirkung von Geistern, teils als Anzeichen seiner Ge¬
meinschaft mit Geistern an. Erlebnis und überlieferter Glaube werden hier
»von Anfang an verschmolzen«. Ähnlich liegen die Dinge auf der dog¬
matischen Stufe, die eine theologisch ausgearbeitete Glaubenslehre besitzt.
Nur beginnt sich jetzt der Unterschied zwischen Erlebnis und Deutung
geltend zu machen. Er wird zwar »wieder aufgehoben durch die Ehrfurcht
vor der überlieferten Norm« — der israelitische Prophetismus und die christ¬
liche Mystik bieten hierfür Beispiele —, dennoch zeigt es sich, daß die
Mystiker der neueren Zeit besser zwischen der Ekstase selbst und den Visionen
oder Bildern zu unterscheiden vermögen, die sie mit sich führen kann.
Eben dies zu beweisen, ist der Hauptzweck des vorliegenden Buches.
Es ist nun sehr lehrreich, daß Höffding den Berichten aus vergangenen
Tagen die psychologische Erörterung der Selbstzeugnisse einer modernen
Mystikerin anfügen kann. Es handelt sich dabei um die seelischen Schick-
1) Harald Höffding, Religionsphilosophie, übersetzt von Bendixen,
1901, S.91.
2) William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltig¬
keit, deutsch von Wobbermin, 1907, S. 328.
Literatnrberichte.
191
sale einer gebildeten Fran mittleren Lebensalters, der Vorsteherin einer in
orthodox-protestantischem Geiste geleiteten Erziehungsanstalt fttr jnnge
M&dchen in der franzSsischen Schweiz. Der Genfer Psychologe Theodore
Flonmoy, an den sich Mlle. C4cile VS nm Bat nnd Hilfe wandte, hat deren
Erlebnisse der Öffentlichkeit Übergeben. Diese Erlebnisse sind arsprttngUch
quälender Art, haben einen sexuellen Einschlag nnd werden als ein »Alp¬
drücken« oder als ein »Besessensein von einer niederen Persönlichkeit« ge¬
schildert. Später aber erfährt C4cile die tröstende nnd moralisch stärkende
Nähe eines »Frenndes«, wobei es jedoch niemals zn einer wirklichen Vision
konunt, nnd nachdem sie ein halbes Jahr ihre Zuflucht zn diesem geistigen
Freunde gefunden, werden ihr abermals neue innere Erlebnisse in der Ge¬
stalt Ton ekstatischen Zuständen zuteil.
Trotz der orthodox-christlichen Glaubenswelt, in der C6cile lebt, wagt
sie jedoch nicht, jenen »Freund« etwa mit Christus zn identiflzieren. Das
beweist also, dafi sie zwischen dem Erlebnisse selbst und seiner möglichen
Deutung scheidet und nicht eine ihr naheliegende sofort in den psychischen
Befund hineinträgt. Den ekstatischen Zustand bezeichnet sie allerdings
als »göttlich«. Aber sie gibt sich selbst genau darüber Bechenschaft, wes¬
halb sie dies tut nnd wodurch sie sich dazu berechtigt glaubt: »Dieses
Erlebnis wirkt auf mich wie eine Eraft, die mich vorwärtstreibt und die
mich gleichzeitig auf einem Niveau der Gedanken nnd Voraussetzungen
hält, das höher ist als jenes, auf dem ich mich vorher befand. ... Deshalb
glaube ich, daS es für mich göttlich ist«. Ersichtlich trägt aber dieses Er¬
lebnis einen mehr pantheistischen, weniger einen dnrch die christUch-
theistischen Vorstellungen bestimmten Charakter.
Der verehrte greise Gelehrte, der auch nach seinem Ausscheiden ans
dem Lehramte noch mit unermüdlichem Fleifle tätig ist, hat uns mit dem
vorliegenden Werkchen eine Gabe beschert, für die ihm jeder Psychologe,
insbesondere jeder Beligionspsychologe dankbar sein wird. Dafi wir die
gewohnte Umsicht nnd Feinheit in der Behandlung seelischer Probleme
auch in dieser neuesten Schrift des Eopenhagener Meisters wiederfinden,
ist selbstverständlich. _ Friedrich Lipsins.
Earl Höcker, Phänomenologie des religiösen Gefühles in Abderhaldens
Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI, Methoden
der experimentellen Psychologie, Teil B, Heft 2, Lieferung 111 (als
Fortsetzung der Lieferungen 27, 66, 64), Berlin-Wien, Urban &
Schwarzenberg, 1928.
Simmelsche Gedanken in geistreicher Weise verwertend nnd weiterführend,
hat Höcker das Wesentliche des religiösen Gefühls zn gewinnen versucht,
indem er einerseits ein apriorisches konstitutives Prinzip der religiösen Ge¬
fühle heransarbeitet,' anderseits die Abgrenzung der religiösen' gegenüber
den übrigen Gefühlen vomimmt dnrch das Entwickeln einer spezifisch
religiösen Grundform. Diese Abhandlung ist wertvoll nicht nur wegen der
Darbietung eines neuen Versuches, sondern anch wegen der geschickten,
klaren Darstellnngsweise im allgemeinen wie im besonderen in der über¬
schauenden kritischen Einordnung der Geftthlstheorien in das Ganze. —
Im einzelnen behandelt H. nach einer polemischen Einführung das Ge-
fühlsproblem. Unter Ablehnung der intellektnalistischen Bichtnng (Ge¬
fühle als Wirkungen von Vorstellnngstätigkeiten) betont H., dafi dnrch
Gründe einfacher Selbstbeobachtung die Gefühle Momente eines Ich-Znstands
192
Literatarberichte.
sind and dafi eine sekundäre Herleitnng weder mSg'lich noch einlenchtend
sei. Er verwendet zn seiner Beweisfdhmng; gfeg^en die entere Biehtnn^ n. a.
Beispiele ans der Beligiosität Indiens, dann aber anch pathologische Angat*
anst&nde; behauptet H., dafi hier die Angst unter Umständen — aB. beim
Lampenfleber — an einen bestimmten Inhalt nicht ankniipfe, so nimmt er
bei den ersten Erscheinungen an, dafi religiöse Gefühle nicht an einen be*
stimmten Vorstellnngsgehalt gebunden sein müssen, sondern dafi die religiöse
Gefühlswelt eine reine Znständlichkeit unseres Ichs ist. Für H. gilt
diese religiöse Gefüblsznständlichkeit als formale Grundkategorie (S. 576).
Die Abgrenzung der Gefühle geschieht so, dafi H. fragt, ob nach den
bisherigen Theorien zur Gefühlsunterscheidnng sich für die religiösen Ge¬
fühle ein Spezifisches ergibt. Schrittweise behandelt er die einzelnen
Möglichkeiten. Nie gelingt es, auf Grund solcher Unterscheidung die reli¬
giösen Gefühle von den anderen scharf abzugrenzen. Sie kOnnen sowohl
Gefühle im engeren Sinne wie Affekte sein (Intensität), kOnnen Stimmungen
sein wie vorübergehende Gefühle (Donner), sie stehen ferner mit dem quali¬
tativen Gegensatz von Lust und Unlust nicht allein da (anch auf andere
qualitative Unterscheidnngstheorien geht H. ein); genau so führt die Unter¬
scheidung auf Grund des Erkenntnisinhalts nicht zu einem Charakteristikam.
— Im 3. Kapitel entwickelt nun H. sein neues qualitatives Merk¬
mal, es ist die ungelöste Antinomie zwischen Endlichem und Unendlichem;
es ist das den religiösen Gefühlen Spezifische, dafi sie nicht nur anfn
Unendliche (wie ästhetische, logische, ethische Gefühle), sondern eben¬
sogut aufs Endliche gehen, das es sozusagen in seine Sphäre hinanf-
hebt (S. 572). Im 4. Kapitel, benannt die Einheitsform der religiösen Gefühle,
führt H. ans, dafi nach der Verabsolutierung der Gefühle in die Ebene der
religiösen Znständlichkeit die sogenannten religiösen Gefühle ihrerseits volle
Aktivität gewinnen, sie geben den Lebensinhalten unmittelbar Zusammen¬
hang, Wärme, Tiefe und Wert. Ja selbst der von ihnen gestaltete Gegen¬
stand kann die Führung des Lebens übernehmen, z. B. die Gottesvorstellnng.
Erwähnt H. gegen Ende dieses Abschnitts die Evidenzfrage (»Dafi wir danemd
in einem gefühlsmäfligen Verhältnis zn den Werten stehen, kann man aller¬
dings nicht beweisen; es ist eben eine letzte, nicht ableitbare Art den Er¬
lebens«) im Zusammenhang einer Polemik gegen entwicklnngsgeschichtlich
orientierte Untersuchungen, so entwickelt er im Schlnfikapitel die Ver-
wertnngs- oder Betätigungsform der religiösen Gefühle. Vor allem ist et
hier geleitet durch die Entwicklung einer neuen Grundstellung in dem Sinn,
dafi der Mensch den inneren Selbstwert eines religiösen Lebens erfasse und
ibn an Stelle der transzendenten Inhalte setze. — Die in diesem Zusammen«
hang gegebenen Gesichtspunkte sind — z. B. dem geschichtlich gewordenen
Christentum gegenüber — so zurückhaltend und weise, dafi man dies unbedingt
anerkennen mnfi. Und anch seiner Forderung an die Praxis, gerade das
religiöse Gefühl frühzeitig zn wecken — abermals verknüpft mit Abweisung
der Intellektualisten —, werden selbst diese znstimmen kOnnen, wenn sie
anch die Bedeutung der Vorstellnngstätigkeit für die Gefühle in ihrem
Sinne anfrechterhalten und gegen H.s Ausführungen im einzelnen Einwen¬
dungen machen werden. Trotzdem dürfte für die meisten diese Abhandlung
gewinnbringend sein, da man gerade auf religiösem Gebiet immer anch die
Gefühlswelt als Sondergebiet zn betrachten veranlafit sein wird.
lic. th. D. A. Römer (Leipzig).
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. IN LEIPZIG
Unlängst erschien:
Die Dekadenz der Arbeit
von
Prof. Dr. Th. Svedberg
Nach der 2. Auflage aus dem Schwedischen übersetzt von
Dr. B. Finkelsteifi
Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der
Energie. Moleküle und Atome, Kolloide,' moderne Transmutationsversuche,
flüssige Kristalle üsw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ¬
lichen und anziehenden Form dargestellt, für die die schwedischen Gelehrten
eine besondere Gabe besitzen.
Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen.
Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.—
Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prinzip erhalten, das mehr als
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im
Vordergründe des wissenschaftUchen Interesses stehenden Probleme dargelegt. . . .
Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen.
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet.
Prof. Quibier, Jena, in Chemikerzeitung.
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. IN LEIPZIG
Soeben erschien:
Die Formen der Wirklichkeit
Vorträge, gehalten in der
Kieler Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft
zum 200. Geburtstage Kants
von
G. Martius und J. Wittmann
chem. Prol. a. d. Univ. Kiel a. o. Prof. a. d. Univ. Kiel
114 Seiten. Preis: Goidmark 5.—
Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über
Raum, Zeit und Wirklichkeit
(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants)
Der zweite Teil von G. MARTIUS über
Die Kategorienlehre Kants
ln diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten,
in einfacher, klarer Form entwickelt.
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M;'
Kritik des Idealism
von
Friedrich Jodl
Bearbeitet und lierausgc^tben von
Karl Siegel und W. Schmied-Kowandk
Univer8itätsproks9or Pnvatdozent
Preis brosch. Goldmark 6.—. geb. Goldmark 8.—
Aus den Besprechungen:
Man wird die Schrift gewiß nicht ohne starken Eindruck aus der
legen, der ganz besonders auf Rechnung des SchluBkapitels zu stellen
dürfte, in welchem Jodl sein Bekenntnis zum wahren ~ praktisebeo
Idealismus im Gegensätze zum falschen — theoretischen — ablegt:
Kapitel enthält im besten Sinne des Wortes sein philosophisches Testamcidi
österreichische Rnadschen, Wimm.
Das Buch ist mit überzeugungsstarkem Pathos und großer Darstelli
kraft geschrieben. Man wird es darum mit Interesse und mit wirklic
Gewinn lesen, auch wenn man im einzelnen seine Gedanken verwirft.
Neue Jfidische Presse, Freakfatt,
Ein neues Buch von Jodl muß das lebhafte Interesse jedes Moniftca
erwecken. Es handelt sich hier um ein Werk, das Jodl nicht voliendcl«
hatte und das nach seinem Ausspruch ein philosophisches Testament dai^
stellen sollte. Das Werk ist zur Einführung in die Grundprobieme dn
Philosophie geeignet. In klarer und m. E alle Zweifel beseitigendv
Weise wird mit dem Idealismus im Sinne des Platonismus und der Tltco>
logie Abrechnung gehalten. Merken wir uns das schöne Wort Jodls In
SchluBkapitel: „Sich der Natur gegenüberzustellen als ganzer Mensch, obw
jeden Mittler außer dem eigenen mutigen Willen: im Erkennen Realist» »
Handeln Idealist, das soll der Lebensgrundsatz des modernen Mens^eo'
sein.“ MonUiische Monatshefte, HambntR.
Aus dem Nachlaß Fr. Jodls ist eine „Kritik des Idealismus“ heraus
gegeben. Wir stehen im Zeichen Nitzsches: Jodls Kritik gilt dem Idealisoras,
dei es sich zu leicht macht und dem er — wie Nietzsche den Thueydidet-
dem Plato — die unbcschönigte Wirklichkeit als den Stoff unseres sittlicbeö^
Handelns in hinreisender lapidarer Sprache entgegensetzt, ist der Versudl
eines Liebhabers (ich wünsche das Wort „Dilettant“ durchaus zu venneidenX
für sich und seinesgleichen aus den Materialien großer Systeme ein Haus »
eigener Benutzung zu bauen. An solchen Versuchen soll man nicht mit den
St ilz des vereidigten Professionellen vorübergehen.
Lil. Jahresberichi de^ Dflrertttadc«..
Biichdruckerei von Robert Noske n Bornri-Lcipzit
ARCHIV
FÜR DIE
fiESAHTE PSYCHOLOGIE
BEGRÜNDET VON E. MEUMANN
UNTER MITWIRKUNG
N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING. F. KIESOW,
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM. E. KRAEPELLN,
F, KRÜEGER, G. MARTIUS, A. MESSER,
G. STÖRRING, J. WITTMANN
HERAUSGEOEBEN VON
W. WIRTH
XLVllI. BAND, 3. u. 4. HEFT
MIT 2 TEXTF1QURF.N
LEIPZIG
AKADEMISCHE VERLAGSnE.SELLS< IlAl T M B H.
hin B’. Atüt.'!
Inhalt des 3. n. 4. Heftes.
Salt«
Gustav Kafka, Zum Begriff des »Psychischen« und seiner Entwicklungs¬
geschichte .193
Doba Lüdbke, Experimentelle Untersuchungen über das unmittelbare Be¬
halten mit besonderer Berücksichtigung der Prozesse der Aufmerk¬
samkeit und des Wiedererkennens. 213
J. Lindwobskt, Revision einer Relationstheorie.248
Armin Müllsr, Das Individualitätsproblem und die Subordination der Organe 290
Herbbbt Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung und ihre Be-
ziehnng zur Ethik seit Kant ..382
Anna Lentz, Experimentelle Untersuchungen Über die Bedeutung von
Amgenbewegungsempfindungen für die Schätzung des räumlichen
Charakters von Bewegungsgröfien., 428
R. Pauli und A, Wbnzl, Über Parbenempfindungen bei intermittierendem
farblosem Lichte. Mit 2 Figuren im Text.470
Literaturberichte. Referate.485
Religionspsychologisohe Literatur (Nachlese). (A. Bomer) .48ö
Wilhelm Wundt, Eine Würdigung. (Eanns Hemnann) .488
A. WoHLQEMOTH, A Cfitical Examination of 'Psycho-Analysis.
(Möllenhoff) . 491
Karl Hansen, Zur pathologischen Physiologie der Ataxie. (BT. Triepd) 491
Obdinans, Die W^elt als Subjekt-Objekt. (Aloy$ MÜÜer) .492
Max Wertheimeb, Über ^chlufiprozezse im produktiven Denken.
(Aloys Müller) .49^1
Benno Erdmann, Logik, Logische Elementarlehre. (Aloys Müller) 493
Emil Lask, Gesammelte Schriften. (Aloys Müller) .494
Ebwin Loewy-Hattendobp, Krieg, Revolntion und Unfallnenroseu.
(S. Fischer) .495
Eduard Hitschmann, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters seiner
Gestalten und Motive. (S. Fischer) .. . 49t»
Robert Qaüpp, Das sexuelle Problem vom psychologischen Standpunkt.
(S, Fischef) . 490
Placzek, Das Geschlechtsleben des Menschen. (S. Fischer) .... 496
Theodor Friedrichs, Zur Psychologie der Hypnose und Suggestion (mit
einem Vorwort von Arthur Kronfeld), (S. Fischer) . ..... 497
EN(iF.LEN und Ranoette, Neue Forschungswege bei traumatischen
Neurosen. (S. Fischer) .49"
Adalbert Gregor und Else Votgtländer, Charakter Struktur verwahr¬
loster Kinder und Jugendlicher. (S, Fisdier) .497
E. R. Myklem, Miracles and the new Psychology. (Max Dessoir) ... 498
A. Kl TOT et M. Schaeker, Le mecaiiisme de la Snrvie. (Max Dessoir] 498
Eugi':ne Osty, La connaissance supranormale. {Max Dessoir) , ... 499
Kahl Hermann Schmidt, Die okkulten Phänomene irn Lichte der Wis-sen-
sehaft. {Max Desaoir) . 499
0. Seltz, Oswald Spengler und die intuitive Metliode in der Geschichts-
for.schnng. {(jitj.O . .560
Zum Begriff des »Psychischen« und seiner
Entwicklungsgeschichte.
Von
GustaT Kafka (Dresden).
Jeder Versuch, die Einführung in eine Wissenschaft mit der
begrifflichen Bestimmung ihres Gegenstandes zu beginnen, leidet
an der Schwierigkeit, daß er die im Fortgang der Untersuchung
zu leistende Arbeit als bereits geleistet voraussetzt, weil der
€iegenstand ja gar nicht anders zureichend bestimmt werden
kann als durch die Angabe seiner wesentlichen Merkmale, deren
Kenntnis sich erst mit dem Fortschreiten der Wissenschaft ent¬
hüllt. Jene Schwierigkeit erleichtert sich für die Naturwissen¬
schaften insofern, als sie ron gewissen Begriffen des täglichen
Lebens ausgehen können, die trotz ihrer verhältnismäßigen Un¬
bestimmtheit bereits zu Anfang eine hinlängliche Verständigung
ermöglichen und nur einer schärferen Zuspitzung bedürfen, um
eine Sonderung der wesentlichen von den unwesentlichen Merk¬
malen zu gestatten. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften
sind dagegen gerade die Grundbegriffe so verschwommen und
vieldeutig, daß sie nicht nur keinen verläßlichen Ausgangspunkt
bieten, sondern im Gegenteil je nach der Deutung, die ihnen
gegeben wird, dem ferneren Gange der Untersuchung bereits
auf weite Strecken hinaus seine Richtung vorschreiben. Diese
Gefahr wird in der Psychologie noch dadurch erhöht, daß eine
Bestimmung ihres Gegenstandes ohne gewisse metaphysische
und erkenntnistheoretische Voraussetzungen überhaupt nicht
durchführbar zu sein scheint, und es ist schon ein Vorteil, wenn
jene Voraussetzungen nicht stillschweigend eingeschmuggelt,
sondern im vomhinein nachdrücklich und unmißverständlich als
solche angezeigt werden. Indessen entstehen auf diesem Wege
ebensoviele Psychologien, als es metaphysische und erkenntnis¬
theoretische Theorien über das Wesen der Seele und des Seelischen
gibt, und gerade in der Deutung der Grundbegriffe treten die
Atohir fllr Piyohologie. XLVm. 18
194
Gastav Kafka,
yerscbiedenen Darstellungen der Psychologie, so sehr sie sich
insgesamt auf eine Bestätigung durch die »Erfahrung« berufen^
zueinander in schroffsten Gegensatz. Ist also einerseits eine
gewisse Festsetzung der Grundbegriffe unentbehrlich und hängt
diese Festsetzung mit gewissen metaphysischen und erkenntnis*
theoretischen Voraussetzungen aufs engste zusammen, soll sie
aber andererseits nicht durchaus dem subjektiven Ermessen des
einzelnen überlassen bleiben, so scheint sich nur ein Weg za
bieten, um zu einer wenigstens vorläufigen Verständigung über
den Gegenstand der Psychologie zu gelangen: nicht im vorhinein
einen Versuch zur Wesensbestimmung des Seelischen zu unter¬
nehmen, der ohne vorhergehende Kenntnis der seelischen Tat¬
sachen seine Gattungs- und Artbegriffe doch nur aus Metaphysik
und Erkenntnistheorie oder aus einer angeblich unmittelbaren
Einsicht in das »Wesen« der Seele schöpfen könnte, sondern
sich zunächst auf eine Aufzählung der Erscheinungen zu be¬
schränken, die im weitesten Sinne des Wortes als »seelisch« be¬
zeichnet zu werden pfiegen; also, in der Sprache der Logik
ausgedrückt: zuerst nicht den Inhalt, sondern den Umfang des
Begriffes der seelischen Erscheinungen zu bestimmen. Nicht
eine — und noch viel weniger eine »einzig richtige« — Defi¬
nition des Seelischen soll also im folgenden zugrunde gelegt^
sondern nur ein möglichst vollständiger Überblick über die Ge¬
samtheit der Tatsachen angestrebt werden, die als seelische
gelten, ohne daß dieser Sprachgebrauch zunächst auf seine Be¬
rechtigung geprüft werden soll. Wenn dabei der Ausdruck
»psychisch« als gleichbedeutend mit »seelisch« verwendet wird,
so soll darin nicht nur eine Anpassung an die gebräuchliche
wissenschaftliche Terminologie, sondern auch die Absicht zum
Ausdrucke kommen, eine neuerdings von verschiedenen Seiten
eingeführte Unterscheidung zwischen »Seele«, »Geist«, »Psyche«
vorläufig außer Betracht zu lassen.
Bei einem solchen Versuche, das Anwendungsgebiet der Be¬
griffe »seelisch« oder »psychisch« in weitestem Sinne zu be¬
stimmen, liegt es nahe, auf ein Hilfsmittel zurückzugreifen, das
den Geisteswissenschaften bei der Feststellung des Geltungs¬
bereiches ihrer Grundbegriffe bisweilen gute Dienste leistet:
einer etymologischen Analyse der Wortbedeutungen. Der Er¬
folg dieses Verfahrens ist jedoch im vorliegenden Fall ein be¬
schränkter: in den germanischen Sprachen ist die Etymologie
des Wortes »Seele« noch nicht ganz geklärt, im Latino-
Romanischen und im Griechischen bedeutet animus oder anima
Zorn Begrifi des »Psychischen« und seiner Entwicklnngsgeschicbte. 195
und yjvxn ursprünglich soviel wie »Hauch«, in besonderer Zu¬
spitzung auf primitive »animistische« Erklärungsversuche den
Lebenshanch, also den menschlichen Atem als Lebensprinzip.
Der Begriff der Seele scheint somit ursprünglich durchaus körper¬
lich-materialistisch gedacht zu sein und keinerlei Handhabe zur
Deutung des Begi'iffes geistiger Erscheinungen zu bieten. In¬
dessen wäre es verfehlt, jene primitive Auffassung vom Wesen
der Seele, wie sie sich in dem Niederschlag der Bedeutungs-
entwicklung kundgibt, als eine schlechthin materialistische zu
betrachten: die Gegenüberstellung von Materialismus und Spiri¬
tualismus, also von Körper und Geist oder Seele, gehört erst
einer späteren Phase des Denkens an. Ursprünglich ist viel¬
mehr alles Denken — wenn man nur den Begriff weit genug
und nicht mit einer von der neueren Anthropologie eingeführten
Einschränkung faßt — durchaus animistisch, d. h. es unter¬
scheidet überhaupt nicht zwischen körperlichen und geistigen
Ursachen des Geschehens, wenn es alle Ereignisse als Wirkungen
»Seelen«-artiger Ursachen deutet. Die Unterscheidung, die der
Primitive zwischen der belebenden und wirkenden Seele und
dem an sich unbelebten, bloß durch die Seele zum Wirken be¬
fähigten Körper trifft, hat also mit der Unterscheidung zwischen
Psychischem und Physischem im modernen Sinne nichts als den
Namen des Psychischen gemein. Die »Seele« denkt er sich
— soweit er überhaupt über ihr »Wesen« nachdenkt — auch
als einen »Körper«, als einen möglichst feinen Stoff, die »Körper«
hingegen, soweit sie irgendwelche Veränderungen erleiden — und
nur so weit reicht im allgemeinen sein Interesse an ihnen —,
als bewegt durch »seelische« Kräfte. In dieser animistischen
Allbeseelung der Natur liegt aber zugleich der erste Hinweis
auf die ursprünglichste Bedeutung des im eigentlichen Sinne
»Psychischen«. Der primitive Begriff der »Psyche« enthält, wie
alle primitiven Begriffe, trotz der Unklarheit, die ihm, an
modernen Begriffen gemessen, anhaftet, bereits eine Theorie, ja im
Grunde die Theorie des primitiven Denkens. Für den Primi¬
tiven — schließlich ja auch noch für den Kulturmenschen —
ist alles Neue, alles »Andere« feindlich und furchterregend. Er
sucht sich mit ihm zunächst körperlich, durch Angriff, Abwehr
oder Flucht, auseinanderzusetzen. Allmählich entwickelt sich
aber auch das Bedürfnis, sich mit dem Neuen und Anderen
geistig auseinanderzusetzen, es dadurch zu bewältigen, daß man
es »erklärt«, das Unbekannte zu einem Bekannten, das »Andere«
zu einem »Selben« macht. Als solches »Andere« wirkt jedoch
18 *
196
Gustav Kafka,
schon jede Veränderung, und von diesem Standpunkt ans leuchtet
es unmittelbar ein, daß nicht Beharren, sondern Veränderung,
nicht Zustände, sondern Ereignisse den ersten Gegenstand des
Erklärungsbedftrfnisses bilden. Diese Eh'klämng findet aber der
primitive Animismus ausschließlich darin, daß er jedes Ereignis
als Tätigkeit deutet; für den Primitiven — so könnte man
es geradezu ausdrttcken — »geschieht« nichts in der Welt,
sondern alles wird »getan«, und das heißt wiederum nichts
anderes, als daß jeder Naturvorgang — das Wehen des Windes,
das Fließen des Stromes, das Wogen des Meeres, das Auf- und
Absteigen der Gestirne — nur so weit verständlich erscheint,
als mit seinem körperlichen Träger irgend ein »Geist«, eine
»Seele« verbunden gedacht wird, die jenen Vorgang in derselben
Weise bewirkt, wie die Seele des Menschen sein Tun bestimmt
Dieser Gedankengang zeigt einmal, daß sich die Bedeutung des
Seelenbegriffes ursprünglich in der eines Bewegungsprinzipes er¬
schöpft^); er zeigt aber zugleich, daß die »Seele« und das »Tun«
des Menschen, gerade weil sie die Grundlage aller Erklärungen
bilden, selbst als das Bekannteste und keinerlei Erklärung Be¬
dürftige erscheinen müssen. Das also, was bereits auf dieser
primitiven Denkstnfe als wesentliches Merkmal des Pqrchischen
zutage tritt, ist, wie man in moderner Ausdrucksweise, aber
freilich ohne jede erkenntnistheoretische Nebenbedeutung sagen
dürfte, sein Aktcharakter. Tätigkeit im Sinne einer senso-
motorischen Willenshandlung, jenes eigentümliche Erlebnis eines
aus Vorstellungen und Gefühlen entspiingenden, in eine äußere
Bewegung mündenden Strebens, das einzige Erlebnis, in dem wir
Aktivität unmittelbar zu erfassen und das wir nur in unserer
»Seele« zu erfassen vermögen, ist also das ursprünglich g^nd*
legende Merkmal alles Psychischen.
Fällt hier der Begriff des Psychischen mit dem Begriff der
Tätigkeit zusammen, so liegt darin doch ein Weiteres eing^e-
schlossen. Der Begriff einer reinen Tätigkeit, die kein tätiges
Subjekt als ihren »Träger« voraussetzen würde, ist zweifellos
erst ein spätes Erzeugnis der metaphysischen Spekulation (selbst
der Aristotelisch-scholastische Begriff des actus purus bedeutet
im Grunde ein agens purus, d. h. einen von jeder materiellen
Beimischung freien Träger der Tätigkeit), und die Impersonal-
1) In dieselbe Richtnng' wOrde übrigens nach die Etymologie des germ.
»Seele«, got. »saiw&la« weisen; wenn anch die frühere Annahme einer Ver¬
wandtschaft mit der bewegten »See« heute anfgegeben ist, so befestigt
sich dafür die Überzengnng eines Zusammenhanges mit dem griechischen olbJloc,
Zum Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgeschichte. 197
s&tze der Logik, deren typische Beispiele fast ausschließlich dem
Bereiche der Naturerscheinungen entnommen sind, wie: es regnet,
donnert, blitzt usw., lassen sich keinesfalls als Ausdruck einer
solchen Theorie verwerten, sondern eher noch vielleicht auf eine
tabnistische Scheu vor der Namensnennung der »Geister« zurück-
führen, die jene Erscheinungen bewirken. Schon der primitive
Begriff des Psychischen enthält somit zwei Bestandstflcke; neben
dem Begriff der Tätigkeit den Begriff des Tätigen, neben dem
Begriff des psychischen Aktes den Begriff des psychischen Sub¬
jektes, während das Objekt der psychischen Tätigkeit vor¬
läufig noch nicht in die Sphäre des Psychischen anfgenommen
erscheint, außer sofern es eine Gegenwirkung ausübt, also selbst
wieder als tätig gedacht wird. Dabei darf jedoch die Vorweg¬
nahme der modernen Ausdrücke »Akt« und »Subjekt« nicht
darüber hinwegtänschen, daß der primitive Begriff des Psychischen
auch noch Merkmale einschließt, die der moderne Begriff aus
dessen Inhalt ausgeschaltet hat; es muß vielmehr daran fest¬
gehalten werden, daß in die Begriffe des psychischen Aktes und
Subjektes auf dieser Denkstufe auch noch Bestimmungen mit
einfließen, welche erst im Laufe der späteren Entwicklung als
»physische« aus dem Bereich des Psychischen ausgeschieden
werden. Wie vielmehr der Begriff der psychischen Tätigkeit
zunächst sowohl das »innere« Streben wie die »äußere« Be¬
wegung in sich begreift, so umfaßt auch der Begriff des psy¬
chischen Subjektes, der Seele, des Ich oder wie immer man es
bezeichnen will, ursprünglich auch noch den Körper. Ursprüng¬
lich besteht kein Gegensatz zwischen Psychischem und Phy¬
sischem, sondern nur ein Gegensatz zwischen Aktivem und
Passivem, und der Begriff des Aktiven enthält zwar bereits
wesentliche Merkmale des späteren Begriffes des Psychischen,
aber noch in unterschiedsloser Vermengung mit Merkmalen, die
später als physische aus seinem Inhalt ausgeschieden werden.
Diese Entwicklung knüpft nun, soweit sich übersehen läßt,
in erster Linie an die Fortbildung des Seelenbegriffes an, deren
Phasen hier natürlich nicht im einzelnen verfolgt werden sollen,
deren wichtigste Etappe aber in der Unterscheidung einer Lebens¬
und einer Bildseele zu bestehen scheint. Der Unterschied
zwischen Leben und Tod, die Wiederkehr der Verstorbenen im
Traum oder in Spukphantasmen, Entrückungszustände und ver¬
wandte Erscheinungen rufen die Überzeugung wach, daß die
scheinbare Einheit des lebenden Organismus auf einer geheimnis¬
vollen Zweiheit von Körper und Seele beruhe und daß sich die
198
Gastar Kafka,
Seele durch ihre Ungreifbarkeit wesentlich von dem greifbaren
Körper unterscheiden müsse. Hier liegt die Wurzel sowohl des
Glaubens an die Immaterialität der Seele und des Seelischen
wie der Trennung spezifisch geistiger von spezifisch körperlichen
Funktionen, — freilich nur die Wurzel, denn einerseits muß auch
die Lebensseele wegen ihrer körperlichen Wirkungen noch als
materiell gedacht werden, andererseits scheint die Bildseele nicht
nur körperliche Bedürfnisse zu besitzen, sondern auch zauber¬
hafte körperliche Wirkungen auszuüben.
Der endgültige Bedeutungswandel des Seelenbegriffes bahnt
sich vielmehr erst auf Grund von Überlegungen an, die im
wesentlichen nicht mehr naturphilosophischen, sondern erkennt¬
nistheoretischen Charakter tragen. Solche Überlegungen über¬
steigen allerdings den Gesichtskreis der primitiven Kultur and
scheinen sich daher überall erst auf einer verhältnismäßig hohen
Stufe des abstrakten Denkens durchzusetzen. Die Erreichung
dieser Stufe ist aber zugleich an einen grundlegenden Wandel
der ganzen geistigen Einstellung geknüpft. Die Einstellung des
Primitiven ist im wesentlichen »reaktiv«, d. h. er betrachtet
seine Umgebung nur unter dem Gesichtspunkt, was er mit ihr
und was sie mit ihm »tun« könne, wie es der animistischen Geistes¬
verfassung durchaus entspricht. Nunmehr aber tritt an die Stelle
der Frage: »Wer tut das?« die Frage: »Was ist das?« Das
Interesse beschränkt sich nicht mehr auf Ereignisse und Tätig¬
keiten, sondern dehnt sich auf Zustände und Eigenschaften der
Umgebung aus, es richtet sich von dem — unmittelbar erlebten
oder mittelbar in das Objekt eingelegten — Subjekt auf das
Objekt schlechthin. So tritt neben die Kategorie einer primi¬
tiven, weil psychistisch gedachten Kausalität die Kategorie einer
freilich auch noch ganz primitiv gefaßten Substanzialität Die
Hinwendung auf das Objekt, welche das allgemeine Merkmal
dieser Entwicklungsphase bildet, wirkt im besonderen dahin, die
psychologische Betrachtungsweise nunmehr von dem Subjekte
und seinen Akten auf die Eigenart psychischer Objekte zu
lenken.
Soweit sich überhaupt eine allgemeine Entwicklnngslinie des
menschlichen Denkens verfolgen läßt, scheinen es vornehmlich
zwei Tatsachengruppen zu sein, an denen die Eigenart der
psychischen Objekte zunächst die Aufmerksamkeit auf sich zieht:
die Erscheinungen der Halluzinationen und Hlusionen und die
der »Sinnestäuschungen« im weitesten Sinne des Wortes. Als
ein Eigenartiges, ein Besonderes, ein Neues, ein »Anderes« er-
Zorn Begriff des »Psychischen« nnd seiner Entwicklnngsgeschichte. 199
scheinen sie aber gerade deshalb, weil sie auf der animistischen
Stnfe noch keine oder nur eine solche »Erklärung« gefunden
haben, die in der neuen Phase des Denkens nicht mehr als be>
friedigend anerkannt wird. Zwischen HaUnzination nnd Wahr¬
nehmung trifft der Primitive überhaupt keine Unterscheidung,
weil ein Gegensatz zwischen »Schein« und »Wirklichkeit« für
ihn nicht besteht; auf Sinnestäuschungen wird er, gerade weil
die Wahrnehmung auf »Dingkomplexe« abzielt und deshalb die
empfindungsmäßigen Unterschiede der einzelnen Komplexelemente
zurücktreten läßt, nur in vereinzelten Fällen aufmerksam, die
er durch Zurfickfflhrung auf einen »Zauber« hinlänglich zu er¬
klären glaubt. Mit der Beobachtung jener Erscheinungen und
den Versuchen, ihre »Erklärung« zu vertiefen, hebt also die
neue, auf das Objekt gerichtete und daher im wesentlichen
erkenntnistheoretische Phase des Denkens an, und ihre Geburts¬
stunde wird durch die nunmehr zum erstenmal auftauchende
Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit gekenn¬
zeichnet. Diese Unterscheidung tritt zugleich neben oder sogar
an die Stelle der Unterscheidung von Aktivität und Passivität
als der Trennungsmerkmale des Psychischen vom Physischen.
Denn die zunächst nur negative Abgrenzung des Scheines von
der Wirklichkeit läßt sich nur so weit begründen, als die schein¬
haften Objekte von den wirklichen durch ein positives Merkmal
unterschieden werden, und dieser Unterschied wird von vorn¬
herein auf das Verhältnis der Objekte zum Subjekt zurück¬
geführt : Objekte, deren Dasein nnd Sosein von der Auffassungs¬
tätigkeit des Subjektes abhängig ist, gelten als »bloßer Schein«,
Objekte, die an sich nnd unabhängig vom Subjekte sind und
bleiben, was sie sind, gelten als »wirklich«. Die ganze spätere
Erkenntnistheorie ist im Grunde nur eine immer weiter ge¬
triebene Verfeinerung des Begriffes der »Abhängigkeit der Ob¬
jekte vom Subjekt«, nnd wenn dieser Begriff auch allmählich
immer mehr die Bedentnngsgleichheit mit dem Begriff des »bloßen
Scheines« verliert, bleibt er doch von da ab der grundlegende
Gattungsbegriff für alle Arten psychischer Objekte.
Soll jene Entwicklung im folgenden fiüchtig Umrissen werden,
so ist daran festzuhalten, daß ursprünglich der Begriff des psy¬
chischen Objektes einerseits mit dem Begriff des bloß Schein¬
haften zusammenfällt, andererseits einen Korrelatbegriff darstellt,
der seine Bedeutung nur durch die Hinzunahme des Begriffes
eines psychischen Subjektes erhält: nichts kann schlechthin
»scheinen«, ohne »jemandem« zu scheinen. Der Begriff dieses
200
GoBtav Kafka,
psychischen Subjektes selbst bleibt dabei zunächst ebenfalls noch
ganz unklar und verschwommen, ja man dürfte nicht einmal
ohne weiteres behaupten, dafi er mit dem im früheren ent¬
wickelten Begriff der »Seele« schlechterdings znsammenfiele.
Wohl aber drängt umgekehrt die Entwicklung des Seelenbegriffes
dazu, die bloße Scheinhaftigkeit der psychischen Objekte zu
unterstreichen, denn der Begriff der Bildseele stammt, wie ge¬
zeigt wurde, in erster Linie von phantastischen, traumhaften
oder hallnzinatorischen Erscheinungen und ist daher in beson¬
derem Maße geeignet, eine Wesensverwandtschaft des psychischen
Subjektes mit seinen Objekten nahezulegen. Deskriptiv zeigen
sich nun alle jene »Scheinobjekte« der »Wirklichkeit« gegen¬
über als mit einer gewissen Minderwertigkeit behaftet, und zwar
in qualitativer Hinsicht, sofern die Phantasmen im allgemeinen
eine geringere Stärke, Klarheit und Beständigkeit besitzen als
die Wahrnehmungen »wirklicher« Objekte, in quantitativer Hin¬
sicht, sofern die sich unmittelbar aufdrängenden »Sinnestäu¬
schungen« den Fällen der »richtigen« Wahrnehmung gegenüber
in der Minderzahl bleiben.
Mit der Scheidung von Schein und Wirklichkeit hängt aber
aufs engste eine Erweiterung und Differenzierung des Begriffes
psychischer Akte zusammen. Sie gründet darin, daß in der Be¬
ziehung des psychischen Objektes zum Subjekt zugleich eine
Rückbeziehung des Subjektes auf das Objekt eingeschlossen liegt.
Der Begriff dieser Rückbeziehung bleibt dabei zunächst wiederum
ungeklärt und, wie vorweggenommen werden darf, letzten Endes
überhaupt »unerklärbar«, da er eben eine einzigartige, nicht auf
Anderes, Bekannteres zurückführbare Beziehung enthält Wenn
aber der Begriff des psychischen Subjektes nur als Korrelat¬
begriff zum Begriff der unmittelbar erlebten psychischen Tätig^-
keiten entstanden ist, kann sich auch die Beziehung des Sub¬
jektes zum Objekt nur als eine Tätigkeit, als ein »Akt« eigener
Art darstellen. Der Begriff des psychischen Aktes erweitert
sich also dahin, daß er nicht mehr bloß die im Willensakt un¬
mittelbar erlebte Tätigkeit umfaßt, die ursprünglich seinen aus¬
schließlichen Inhalt ansmachte, sondern sich nunmehr auch auf
»Akte« ausdehnt, die nichts mehr von jenem willensmäßigen
Element des Strebens an sich tragen. Eis besteht also, zumindest
entwicklnngsgeschichtlich, ein wesentlicher Unterschied zwischen
den Begriffen der willensmäßigen und der erkenntnismäßigen
»Akte«: der Willensakt gilt von sich ans und ursprünglich als
ein Psychisches und richtet sich auf ein nicht oder nur ein-
Zam Begriff des »Psjchischen« und seiner Sntwicklnngsgesehichte. 201
gefühlt psychisches Objekt; der Erkenntnisakt hingegen wird in
den Bereich des Psychischen erst dann aufgenommen, sobald
sich die Überzeugnng von der psychischen Natnr gewisser Ob¬
jekte durchgesetzt hat, anf die er sich richtet Die Einsicht,
daß es überhaupt Erkenntnisakte gibt, entsteht also nicht ans
einem unmittelbaren Erlebnis, sondern mittelbar ans der Ein¬
sicht, daß neben Objekten, auf die sich eine willensm&ßige Tätig¬
keit richtet und die, wie es sich in rflckschanender Betrachtung
darstellt, alle als >wirklich< gewertet wurden, auch Scheinobjekte
zu finden sind. Man könnte diese Tatsache geradezu in der
Form anssprechen, daß sich der Begriff der Erkenntnis erst an
und mit dem Begriff der Täuschung entwickle. Indessen gilt
die genetische Abhängigkeit des Aktbegriffes der Erkenntnis
von ihrem Objektbegiiff gewissermaßen nur in statu nascendi:
sobald sich vielmehr der Begriff des Erkenntnisaktes überhaupt
gebildet hat, behält zwar der Erkenntnis a kt seine Charakteristik
als psychische Tätigkeit, das Objekt der psychischen Erkennt¬
nisakte dehnt sich aber alsbald über den Umkreis der »nur
psychiscben< Objekte aus und umfaßt auch zugleich die »wirk¬
lichen« Objekte. Denn wenn gerade die Scheinhaftigkeit, d. h.
die qualitative und quantitative Unbeständigkeit gewisser Er¬
scheinungen den ursprünglichen Anlaß zur Anerkennung der
Eigenart p^chischer Objekte bildete, so können solche Einzel-
fälle dennoch nicht die unmittelbare Überzeugung von der Be¬
ständigkeit der übrigen Erkenntnisobjekte erschüttern, die gerade
wegen ihrer Beharrlichkeit den Charakter der >Wirklichkeit<
im Gegensatz zum »bloßen Schein« tragen. Aber selbst wenn
der Begriff des psychischen Objektes im Laufe der Entwicklung
den Charakter des bloßen Scheines abstreift, behält er doch
immer das Merkmal der Abhängigkeit vom Subjekt bei, während
sich der Charakter der »Wirklichkeit« schließlich immer
wieder negativ durch das Merkmal der Unabhängigkeit vom
Subjekte bestimmt Solange also an der Erkennbarkeit von
»Dingen an sich« festgehalten wird, ergibt sich die Notwendig¬
keit, neben einer anf »nur psychische« Objekte gerichteten Er¬
kenntnisart auch noch eine auf »Dinge an sich« gerichtete Er¬
kenntnisart gelten zu lassen, und im Grunde besteht das Ziel
aller Erkenntnistheorie darin, das Verhältnis dieser beiden Er¬
kenntnisarten zu einander festzustellen und sie miteinander in Ver¬
bindung zu bringen. Indessen kann uns die Geschichte der Er¬
kenntnistheorie hier, nicht weiter beschäftigen; wir müssen uns
vielmehr auf die Konstatierung beschränken, daß der Unter-
202
Gustav Kafka,
schied zwischen zwei Erkenntnisarten — die wir, um uns auf
keine Theorie festzulegen, nur ganz allgemein dahin charak¬
terisieren können, daß die Objekte der einen nur für ein Subjekt,
die der auderen nicht nur für ein Subjekt >da sind« — gleich
im Beginn aller Erkenntnistheorie auftritt. Da jedoch über die
rein psychische Natur beider Arten von Erkenntnisakten kein
Zweifel bestehen kann, erfolgt die Weiterbildung des Begriffes
des Psychischen vorwiegend im Anschluß an den Begriff des
psychischen Objektes.
Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist, wie gesagt, jene Stufe
des Denkens, in welcher der Begriff des psychischen Objektes
mit dem des »bloßen Scheines« zusammenfällt. Immerhin: auch
die Scheinobjekte sind in irgendeiner Weise »da«, und wie alle
Erkenntnistheorie mit dem Dualismus von Erkenntnis und Täu¬
schung, so hebt alle Ontologie mit dem Dualismus vou Wirklich¬
keit und Schein an. Dabei kann naturgemäß der Begriff des
>Da Seins« schon nicht mehr schlechterdings mit dem Begriff
der »Wirklichkeit« zusammenfallen; das »Da Sein« spaltet sich
vielmehr von Anfang an in zwei Seinsarten, das »Für sich Sein«
oder die Wirklichkeit im eigentlichen Sinne und das »Für ein
Subjekt Sein«, das freilich, solange es als bloßer Schein bewertet
wird, der »eigentlichen« Wirklichkeit gegenüber als »nicht wirk¬
lich« gilt, aber schließlich doch auch als eine Realität, wenn
auch zuuächst bloß mindereu Grades, anerkannt werden muß.
In dieser Auffassung der psychischen Objekte als minder¬
wertiger Realitäten bleibt im Grunde die ganze antike Philo¬
sophie stecken. Zwar scheint es, als ob gleich zu Beginn die
beiden radikalsten Lösungsversuche des ontologischen Problems
aufträten. Denn von Heraklit wird alles, was für ein Subjekt
da ist, also alle psychischen Objekte, für »Wirklichkeit«, von
den Eleaten schlechterdings für »unwirklich«, »nicht seiend«
erklärt, aber der Herakliteische Logos ist als für sich Seiendes
doch das eigentlich Wirkliche, während umgekehrt Parmenides
eine Physik des »Nicht-Seienden« verfaßt. Auch Platon nähert
sich einem solchen Dualismus im Laufe seiner Entwicklung immer
mehr au: die Realität der psychischen Objekte wird — wenn
wir nur den Begriff der Realität weit genug fassen — nicht
geradezu geleugnet, aber nur als eine Realität zweiter Ordnung
gegenüber der »wirklichen« Realität, dem »seiend Seienden«
(dvicu? dv) anerkannt und streift darum den Charakter der bloßen
Scheinhaftigkeit nirgends ausdrücklich ab. Wenn Aristoteles
demgegenüber zu einem Monismus des Seins zurückkehrt und
Zum Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgeschichte. 203
nur eine einzige Wirklichkeit gelten lassen will, so tritt er da¬
mit freilich dem Dogma von der bloßen Scheinhaftigkeit der
psychischen Objekte entgegen, aber nicht, ohne die Eigenart des
psychischen »Da Seins« zu verwischen; denn er verliert, wie
alle Vertreter einer »realistischen« Erkenntnistheorie, die Mög¬
lichkeit einer zureichenden Abgrenzung der psychischen und der
»realen« Objekte, und wenn er an dem ursprünglichen Merkmal
des Psychischen, seiner Abhängigkeit vom Subjekte, festhält,
daneben aber die Bestimmung trifft, daß die realen Objekte »zu¬
gleich« psychische Objekte sind, »sofern« sich ein Erkenntnis¬
akt des Subjektes auf sie richtet, so bleibt einerseits die Frage
offen, »inwiefern« sich eben ein Akt des Subjektes auf reale,
also von ihm unabhängige Objekte erstrecken könne, anderer¬
seits nur eine physiologisch-genetische Deutung des »Da Seins«
bloßer Scheinobjekte übrig, für deren ganz andersartige, weil
eben bloß psychische Eealität kein Platz mehr offen ist. Da¬
her gehören auch die Unterscheidungen, die Aristoteles zwischen
Inhalt, Akt und Gegenstand der Erkenntnis trifft, zu den un¬
klarsten Kapiteln seiner Psychologie.
Eine verhältnismäßig schärfere Grenze zwischen psychischer
and »eigentlicher« Wirklichkeit zieht — freilich gerade nur auf
Grund einer mangelhaften enkenntnistheoretischen Konsequenz —
die atomistische Philosophie, deren Lösnngsversuch daher auch
in der Folgezeit die meiste Verbreitung gefunden hat: was tast¬
bar ist, ist »eigentlich« wirklich [hefj öv), besitzt also Wirklich¬
keit »an sich«; was mit den übrigen Sinnen wahrgenommen wird,
beruht nur auf »Übereinkommen«, das wahrgenommene Objekt
hat also Bealität nur für das wahmehmende Subjekt, also »nur
psychische« Realität. Immerhin liegt darin, daß die ganze
Wahmehmungswelt mit Ausnahme eines einzigen Sinnesgebietes
als eine »nur psychische« Realität aufgefaßt wird, ein gewich¬
tigerer Anstoß zur Erschütterung der Überzeugung von der
»bloßen Scheinhaftigkeit« des Psychischen als in dem radikalen
Realismus des Aristoteles. Aber dieser Anstoß wirkt sich in
der Antike nirgends yoll aus, es bleibt vielmehr bei der ver¬
schwommenen Unterscheidung »eigentlich» realer und »bloß«
psychischer Objekte und das Psychische behält den Charakter
des Scheinhaften bei, auch wo man sich, wie namentlich in der
Schule Epikurs, mit seiner »Minderwertigkeit« in pragmatistischem
Sinne abfindet
Ehst in Augustin vollzieht sich die »kopemikanische« Um¬
wälzung: das Psychische ist nicht nur kein »bloßer Schein«
204
Qastay Kafka,
mehr, es ist nicht einmal eine »nneigentliche«, minderwertige
Realität, sondern die eigentliche, ja die einzige Realität. Damit
ist alle materialistische Ontologie überwunden: was bisher als
Träger der eigentlichen Realität galt, der materielle Körper, hat
den Charakter der Realität verloren und ist seinerseits zu einem
»bloßen Schein« berabgesunken. Zugleich wird aber das Grund¬
problem der »realistischen« Erkenntnistheorie gewissermaßen nm-
gestülpt: die Frage lautet jetzt nicht mehr: »Wie kann ein
,an sich‘ Seiendes zum Objekte für ein Subjekt werden?«, son¬
dern: »In welchem Sinne kann ein Seiendes, dessen Sein in
einem Objekt-für-ein-Subjekt-Sein besteht, einen Anspruch auf
ein Sein ,an sich' erheben?« Schon dieses erste Bekenntnis zu
einem erkenntnistheoretischen »Idealismus« zeigt also ganz
deutlich die Grundlosigkeit des Vorwurfes, der von Seite des
»Realismus« immer wieder erhoben zu werden pflegt: der Ide¬
alismus, selbst der subjektive, verwandelt keineswegs alles
»Sein« in »bloßen Schein«, sondern höchstens nur dasjenige Sein,
welches der Realismus als einziges anerkennt, vor allem das der
materiellen Körper; dagegen erklärt er umgekehrt gerade das¬
jenige, was der Realismus als »bloßen Schein« betrachtet, für
das eigentliche »Sein«. Soweit man daher den Begriff der
Realität mit dem Begriff des Seins zusammenfallen läßt, ist jeder
Idealismus zugleich Realismus; denn obgleich er den nicht psy¬
chischen Objekten nur eine abgeleitete Seinsart zugesteht, wendet
er doch auf die psychischen Objekte den Begriff des »eigent¬
lichen«, »wirklichen« Seins an. Der Kampf zwischen Augusti-
nischem Idealismus und Aristotelischem Realismus durchzieht
nun die ganze Scholastik, und der Sieg, den die Aristotelische
Richtung in Thomas von Aquin über die Augustinische davon¬
trägt, verhindert zugleich im großen und ganzen eine weitere
Vertiefung des Begriffes der psychischen Objekte.
Erst mit der Wiederbelebung des Idealismus durch Descartes
hebt eine neue Entwicklungsphase an. Bei Augustin war nicht
nur die eigenartige Natur der psychischen Objekte, ihre be¬
sondere »Seinsform« oder »Realität« ausdrücklich anerkannt,
sondern auch der Umkreis des Psychischen im Grunde bereits
so weit gezogen, daß der Begriff eines anderen als des psychischen
Seins nahezu aufgehoben erschien. Gerade an diesem Punkte
setzt daher auch der Widerstand des Realismus ein, der das
Psychische noch immer mit dem Scheinhaften zu verwechseln
geneigt war und sich daher instinktiv gegen die angebliche
Herabsetzung des Seins zum »bloßen Schein« wehrte. Der Er-
Zam Begriff des »Psychischen« nnd seiner Entwicklnngsgeschichte. 205
folg der Eartesianischen Lehre beruht nun zum großen Teil
darauf, daß sie zwar an der Eigenart des psychischen Seins
festhält und seine Verschiedenheit vom »bloßen Scheine«! nach¬
weist, dennoch aber jener instinktiven Abneigung gegen einen
radikalen »Idealismus« Bechnung trägt, indem sie einer gewissen
Klasse von Objekten das Merkmal einer vom Subjekt unab¬
hängigen Realität vorbehält. Wenn daher Descartes die psy¬
chischen Objekte durch das Merkmal des »Denkens«, die »eigent¬
lich« realen Objekte durch das Merkmal der »Ausdehnung« kenn¬
zeichnet, so zeigt diese Gegenftberstellnng zwar in erkenntnis¬
theoretischer Hinsicht eine weit größere Folgerichtigkeit, dennoch
aber eine unleugbare Verwandtschaft mit der atomistischen Philo¬
sophie; denn wenn es sich jetzt auch nicht mehr um die Gegen¬
überstellung von Sinnesgebieten handelt, so sind doch auch die
Merkmale, welche der Atomismus der »eigentlichen« Realität
znschreibt, im wesentlichen räumliche. Zugleich liegt aber in
der Lehre des Descartes der Anlaß zu einer folgenschweren
Äquivokation im Begriffe des Psychischen, die bis auf heute
nadiwirkt.
Die Unterscheidung, die Descartes treffen will, ist keine
erkenntnistheoretische oder psychologische, sondern eine meta¬
physische; er will nicht Erkenntnisobjekte, sondern »Substanzen«
nach ihren Merkmalen anseinanderhalten, und es ergibt sich aus
dem traditionellen, von Descartes übernommenen Begriffe der
Substanz als eines »an sich Seienden«, daß ein solches »an sich
Sein« nicht in einem »Für ein Subjekt Sein« bestehen, daß sich
also das »Da Sein« von Substanzen zumindest nicht in ihrem
Objekt-Sein erschöpfen kann. Der Begriff des Psychischen im
Sinne des psychischen Objektes tritt daher für Descartes in
den Hintergrund; nicht darauf kommt es an, daß gewisse »Akzi¬
denzien« der Substanzen psychische Objekte sind, d. h. nur für
ein Subjekt, andere auch an sich »da sind«, sondern darauf, daß
gewisse Substanzen psychische Subjekte sind und psychische
Akte vollziehen, andere nicht. Der Unterschied besteht daher
nicht zwischen »ausgedehnten« und »gedachten«, sondern zwischen
»ausgedehnten« und »denkenden» Dingen. Wenn wir also den
Ausdruck »cogitatio«, der ja bei Descartes nicht nur das »Denken«
im engeren Sinne, sondern alle »Akte« des Bewußtseins ein¬
schließlich der Willensakte umfaßt, sinngemäß mit dem deutschen
Worte »Bewußtsein« übersetzen und somit die »Ausdehnung«
dem »Bewußtsein« gegenüberstellen, so dürfen wir nie vergessen,
daß der Begriff des Bewußtseins immer zwei Bedeutungen haben
206
Gastay Kafka,
kann, eine aktive nnd eine passive: »A ist bewnfit« kann heißen:
»A ist ein psychisches Snbjekt nnd vollzieht psychische Akte«;
es kann aber auch heißen: »A ist ein psychisches Objekt, auf
das sich die psychischen Akte eines Subjektes richten«, nnd auf
die Vernachlässigung dieser Doppeldeutigkeit des Begriffes sind
die meisten Scheinprobleme der Erkenntnistheorie znrhckzufflhren.
Für eine wissenschaftliche Psychologie empfiehlt es sich daher,
den Ausdruck »Bewußtsein« nur im passiven Sinne des Objekt-
für-ein-Subjekt-Seins zu verwenden, Bewußtsein als Eigenschaft
oder Tätigkeit eines Subjektes dagegen nur als »bewußthaben«
zu bezeichnen. Dabei wird die Schwerfälligkeit oder Ungewöhn¬
lichkeit des Ausdruckes, die der Rede von »Bewnßthabenden«
oder, um die ursprüngliche Verbalform in ihre grammatikalischen
Rechte wiedereinzusetzen, von »bewissenden« [statt von »be¬
wußten« Wesen oder ihrem »Bewußtsein« schlechthin anhaftet,
durch seine Eindeutigkeit mehr als wett gemacht In diesem
Sinne zielt also die berühmte Unterscheidung des Descartes ur¬
sprünglich auf den Unterschied zwischen bewußthabenden nnd
nichtbewußthabenden Wesen ab; dennoch liegt in ihr zugleich
die im früheren angedeutete Unterscheidung psychischer Objekte
eingeschlossen: die ausgedehnten Gegenstände besitzen auch eine
Realität an sich, die Gegenstände, auf die sich das »Denken«
richtet, dagegen nur eine psychische Realität, eine Realität
für ein Subjekt oder ein Ich. Dabei behält diese nur psychische
Realität noch immer einen Anfiug bloßer Scheinhaftigkeit, den
Descartes lediglich durch ihre Verankerung in einem göttlichen
Bewußtsein, dessen Objekte sie sind, überwinden zu können
vermeint.
Die Schwierigkeit, die in der »realistischen« Komponente
der Eartesianischen Lehre übrig bleibt, wie denn nun die »Dinge
an sich« Objekte für ein Subjekt werden können, verstärkt und
vergröbert sich bei Locke dadurch, daß er, auf den Stand¬
punkt der Atomistik zurückkehrend, die »Solidität«, also eine
Tastqnalität, unter die Merkmale der »Dinge an sich« aufnimmt.
Sie wird erst wieder durch Leibniz überwunden, der sich an
Augustin anlehnt, wenn er den Begriff der psychischen Realität
im Sinne eines konsequenten Idealismus von jeder Einschränkung
seines Umfanges befreit. An die Stelle des Gegensatzes zwischen
psychischer Realität und Realität an sich, zwischen »Denken«
und »Ausdehnung« tritt der Gegensatz zwischen Bewußtsein
und Bewußthaben. Der Unterschied besteht nicht mehr zwischen
Objekten, die nur für ein Bewußtsein, und Objekten, die auch
Zorn Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgescbicbte. 207
oder ausschließlich »an sich« wären, nicht zwischen bewußt*
habenden und nichtbewußthabenden Subjekten, sondern alles
»Seiende« ist fttr ein Bewußtsein, also fflr ein bewissendes Sub*
jekt, es ist aber auch zugleich bewußthabend, da selbst die
Naturkräfte »von innen gesehen« Äußerungen des Bewußthabens
sind. Bloß ein letzter Best der realistischen Bedenklichkeit
gegen die Scheinhaftigkeit einer »nur psychischen« Realität bleibt
auch noch bei Leibniz bestehen: die Überzeugung, daß der
zureichende Grund aller »Realität« wiederum in einem über*
individuellen göttlichen Bewnßthaben liegen müsse, dem sie be¬
wußt sei.
Dieser letzte Rest wird endlich von Kant durch die Ein¬
sicht in die »empirische« Realität des im »transzendentalen«
Sinne Idealen getilgt. Ob man nun zu einer realistischen oder
einer idealistischen Erkenntnistheorie hinneigt, jedenfalls bildet
die Lehre Kants insofern einen Abschluß der Entwicklung, als
sie die rückhaltlose Anerkennung einer spezifischen Seinsart des
Psychischen enthält: für den Idealismus der einzig möglichen
Seinsart, für den Realismus einer Seinsart, die zwar vielleicht
hinsichtlich ihrer »Allgemeinheit«, aber jedenfalls nicht mehr
hinsichtlich ihrer »Tatsächlichkeit« anderen Seinsarten gegenüber
als minderwertig beurteilt werden darf.
Fassen wir nunmehr das Ergebnis dieses entwicklungsgeschicht¬
lichen Überblickes kurz zusammen, so zeigt sich, daß der Be¬
griff des »Psychischen« drei verschiedene Komponenten enthält:
den Begriff eines Subjektes, seiner Akte und seiner Objekte.
Diese Begriffe erfahren im Laufe der Entwicklung eigentüm¬
liche Umwandlungen. Der Begriff des psychischen Subjektes ist ur¬
sprünglich ein psychophysischer Begriff, der zunächst seine phy¬
sische, dann aber auch seine substanzielle Komponente abstreift.
Ebenso ist der Begriff des psychischen Aktes ursprünglich ein
psychophysischer Begriff, in dem »innere« und »äußere« Willens¬
handlung nicht unterschieden werden. Auch hier wird die phy¬
siologische von der psychologischen Komponente getrennt und
ins »Physische« verwiesen, zugleich aber der Begriff des Aktes
auf »Tätigkeiten« ausgedehnt, denen der ursprüngliche Erlebnis¬
charakter der Willenshandlnng nicht mehr anhaftet. Der Be¬
griff des psychischen Objektes endlich entwickelt sich an Phä¬
nomenen, die das Merkmal des Scheinhaften an sich tragen, und
gewinnt erst allmählich einen Umfang, für dessen inhaltliche
Bestimmung das Merkmal der Scheinhaftigkeit seine Bedeutung
verliert. Zugleich vollzieht sich eine Erweiterung im Begriffe
208
OostftT Kafka,
des Objektes; denn während der Begriff des Objektes ans dem
Begriff »nnr psychischer« Objekte herrorging, zwingt das Be>
dhrfnis, den Erkenntnisbegriff auch anf das »an sich Seiende<
anszndehnen, zu einer so weiten Fassung des Begriffes der Er-
kenntnisobjekte, dafi er sowohl >an sich seiende« wie >nnr ffir
ein Subjekt seiende« Wesenheiten einschließt. Die Möglichkeit
einer realistischen oder idealistischen Ansdentung des »An sich«
interessiert nns hier nicht; es genügt yielmehr die Feststellung,
daß das Merkmal des »Objekt Seins«, d. h. des »Für ein Snb«
jekt Seins» nicht mehr mit dem Kriterium des Psychischen zu-
sammenfällt, sondern daß der Begriff des Psychischen nnr mehr
anf solche Objekte anwendbar bleibt, die »nur für ein Subjekt«
sind, d. h. kein anderes Sein als das »Sein für ein Subjekt« be¬
sitzen.
Aus dieser genetischen Ableitung ergibt sich nunmehr eine
Möglichkeit, den Begriff des Psychischen systematisch zu be¬
stimmen. Es hat sich gezeigt, daß sich der Begriff des Psy¬
chischen nur durch eine Begriffstrias definieren läßt: psychisch
ist, was in der Beziehung Subjekt—Akt—Objekt steht, und die
Beziehung dieser drei dem Begriffe des Psychischen unter¬
geordneten, zueinander im Verhältnis der Korrelation stehenden
Begriffe bildet zugleich das Merkmal des übergeordneten Be¬
griffes. Das Wesen des psychischen Subjektes besteht also nur
darin, daß es sich durch seine Akte auf seine Objekte richtet,
das des psychischen Aktes nur darin, daß er von einem Subjekt
ausgeht und auf ein Objekt abzielt, und das des psychischen
Objektes nur darin, daß es von einem Subjekt durch einen Akt
anfgefaßt wird, — während alle Eigenschaften, die den psychischen
Subjekten, Akten und Objekten etwa noch außerdem zukommen
mögen, nichts mehr mit ihrer psychischen Natur zu tun haben.
Ist in diesem Sinne der Begriff einer »Psychologie ohne Ich«
ein Unding, so liegt darin doch zugleich eingeschlossen, daß der
Begriff einer substanziellen »Seele« nicht mehr in den Bereich
der Psychologie gehört, weil die Kategorie der Substanzialität
eben kein psychologischer Begriff mehr ist Ebensowenig fällt
in den Umkreis der Psychologie die Frage, ob das physische
oder energetische »Subjekt« »lebendiger Organismus« mit dem
psychischen Subjekt identisch ist oder nicht. Umgekehrt läßt
sich ans einer Analyse der psychischen Objekte das »Dasein«
eines psychischen Subjektes weder beweisen noch widerlegen;
wenn daher auch die Frage, ob sich ein Ich neben oder getrennt
von den psychischen Objekten aufweisen lasse, negativ beantwortet
Zum Begriff des »Psychischen« und seiner Entwicklungsgeschichte. 209
werden müßte, so wäre damit die Unentbehrlichkeit des Ich-
begriff es zur Definition des Psychischen in keiner Weise erschüttert.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der psychischen Akte.
Die Tatsachenfrage, ob es »bewußte« psychische Akte gebe oder
nicht, ist nicht nur, namentlich innerhalb der phänomenologischen
Schule, durch die Äqnivokation im Begriff des Bewußtseins, sondern
vor allem dadurch verwirrt worden, daß infolge der vorwiegend
erkenntnistheoretischen Einstellung der neueren Psychologie das
Prototyp der psychischen Akte, der Willensakt, gegenüber den
Erkenntnisakten in den Hintergrund gedrängt wurde. Nun be¬
steht zweifellos ein Unterschied der Erlebnisform zwischen dem
Erlebnis der Tätigkeit im Willensakte und dem £h‘lebnis der
passiven »Impression« psychischer Objekte. Sollte sich aber
trotzdem heraussteilen, daß Erkenntnisakte weder in der Erlebnis¬
form der Willensakte noch als psychische Objekte bewußt werden,
so wäre darum der Begriff des Erkenntnisaktes als Ausdruck der
Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis doch
nicht weniger unentbehrlich.
Besteht endlich das Wesen des psychischen Objektes in seinem
»Nur für ein Subjekt Sein«, sind also Objekte nur insofern
psychisch, als ihr Dasein mit ihrem »Objekt-«, d. h. »Für ein
Subjekt- Sein« steht und fällt, so ist damit wiederum die Frage
noch nicht entschieden, ob sich das »Dasein« aller Objekte,
die überhaupt »für ein Subjekt« da sind, in ihrem »Für ein
Subjekt Sein« erschöpfe, oder ob einem Teil der möglichen Eh*-
kenntnisobjekte »zugleich« auch ein »Dasein an sich« zukomme.
Man muß vielmehr im Auge behalten, daß diese Frage nur auf
erkenntnistheoretischem Boden entschieden werden kann. Der
Idealismus wird sie verneinen, vom realistischen Standpunkt aus
wäre es dagegen ganz konsequent, alle Objekte, denen ein Dasein
»an sich« zukommt, aus dem Bereich des Psychischen zu ver¬
weisen. So erkennen etwa Brentano und seine Schule nur die
psychischen Akte, denen eine »intentionale« Beziehung auf einen
»Gegenstand«, also, unter Befreiung von der scholastischen Termino¬
logie, schlechthin die »Beziehung auf ein Objekt« eigen ist, als
»psychische Phänomene< an, erklären dagegen sämtliche nur
psychischen Objekte als »physische Phänomene«. Aber diese
Unterscheidung ist schon terminologisch vollkommen unbrauchbar;
denn 1. verengert sie den Umkreis des Psychischen unberechtigter¬
weise auf die »Akte«, 2. ist sie gezwungen, auch die sämtlichen
Phantasieobjekte als »physische Phänomene< zu bezeichnen, und 3.
bleibt in ihr für diejenigen Gegenstände, denen gerade nach
ArohiT für Psyohologi^. XLVin. 14
210
GastaT Kafka,
begriffsrealistischer Auffassung im eigentlichen Sinne ein »Sein
an sich« znkommt, nämlich für die durch Abstrakta bezeichneten
Wesenheiten, kein Platz. Noch schwerer wiegt ein erkenntnis¬
theoretisches Bedenken, das sich freilich gegen jeden Realismus
erhebt. Denn die Rede, daß die >an sich« seienden Objekte dm*
Erkenntnis doch auch »zugleich« »für ein Subjekt« sein könnten,
daß also das »Objekt an sich« mit dem »Objekt für ein Subjekt«
identisch wäre, scheitert, kurz gesagt, am Satze vom Wider¬
spruch. Das unmittelbare Objekt jeder auf »äußere«, »physische«
Gegenstände gerichteten Erkenntnis besteht jedenfalls nur für
das Subjekt Wenn ich den »physischen Gegenstand«: »der
Baum Tor meinem Fenster« wahmehme und sodann die Augen
schließe, bin ich natürlich davon überzeugt, daß dieser Gegenstand
auch »an sich« »da ist«, trotzdem er nicht mehr »für mich«,
genauer gesagt, nicht mehr für meine Wahrnehmung »da ist«.
Aber »etwas« ist in dem Augenblick, in dem ich die Augen
schließe, jedenfalls tatsächlich »nicht mehr da«, und dieses Etwas
kann eben darum mit dem »an sich Seienden« nicht identisch
sein. Dieser Umstand hat denn auch innerhalb der Schule
Brentanos dazu geführt, zwischen den »Inhalten«, d.h. den nur
für das Subjekt daseienden, und den »Gegenständen«, d. b. den
»an sich seienden« Objekten der Erkenntnis zu unterscheiden, und
es bleibt in dieser Hinsicht grundsätzlich belanglos, obzwar
terminologisch natürlich wieder ganz unberechtigt, wenn man,
um den Begriff des Psychischen auf Akte oder »Funktionen«
beschränken zu können, mit Stumpf die »Inhalte«, also nach
unserer Ausdrucksweise die psychischen Objekte, als den Gegen¬
stand der »Phänomenologie« und nicht der Psychologie bezeichnen
will; maßgebend ist nur, daß auch von diesem Standpunkt ans
der eigenartige Charakter des »Da Seins« der »phänomenologischen
Inhalte«, eben ihr »Da Sein für ein Subjekt« anerkannt werden muß.
Bleibt es also dabei, daß der Begriff des Psychischen die
Begriffe Subjekt, Akt und Objekt in sich schließt, so muß endlich
noch das Verhältnis untersucht werden, das zwischen dem Begriff
des Psychischen und dem Begriff des Bewußtseins besteht, der
neuerdings nicht mehr als mit dem Begriff des Psychischen
identisch, sondern als ihm untergeordnet betrachtet zu werden
pflegt. Demnach wäre also nicht alles Psychische »bewußt«,
sondern es gäbe neben den bewissenden psychischen Akten und
den bewußten psychischen Objekten auch nicht bewissende psy¬
chische Akte und nicht bewußte psychische Objekte. Unter dieser
Ausdrucksweise kann dreierlei verstanden werden.
Zum BegriR des »Psychischen« and seiner Sntwicklongsgeschichte. 211
. Erstens, daß bereits alle physiologischen Funktionen des
lebendigen Organismus, die der Anfnahme und Beantwortung
von Reizen dienen, als psychische Funktionen zu betrachten
sind, daß aber erst im Laufe der phylo* nnd ontogenetischen
Entwicklung jene Funktionen »bewissende«, ihre »Objekte«, also
die Reizerreger, »bewußt« »werden«. Diese Auffassung, die
namentlich in biologischen Kreisen beliebt ist, enthält natürlich
keineswegs einen »schlichten Ausdruck der Tatsachen«, als der
sie dargestellt zu werden pflegt, sondern bereits eine natur*
philosophische Theorie, nämlich eine Identitätsphilosophie, die
zugleich, da ihr nach Meinung ihrer Vertreter jeder animistische
Einschlag fembleiben müsse, einer materialistischen Komponente
nicht entbehrt Sie ist aber vornehmlich aus dem Grunde un¬
brauchbar, weil das ganze Problem in dem Bewußt-»Werden«
des Unbewußten ungelöst eingeschlossen liegt Daß die phy¬
siologischen Funktionen der Reizaufnahme nnd -beantwortnng
irgendwie mit den psychischen Akten Zusammenhängen, soll nicht
bestritten werden. Die Behauptung ihrer Identität liefert aber
keine Erklärung dieses Zusammenhanges, auch wenn die Identität
durch den heute noch mit allerhand magischen Qualitäten aus¬
gestattet gedachten Begriff der »Entwicklung« hergestellt werden
soll, sondern der Begriff des Psychischen verliert überhaupt jeden
angebbaren Sinn, sobald das Objekt der psychischen Akte nicht
als »bewußt«, die Akte selbst nicht als »bewissend« gelten sollen.
Die Identität physiologischer nnd psychischer Akte könnte viel¬
mehr, wenn überhaupt, so gerade nur im Sinne eines Animismus
behauptet werden, der freilich nicht nur der heutigen Geistes¬
strömung zuwiderliefe, sondern ebenfalls bereits eine naturphilo¬
sophische und daher die Grenzen psychologischer Betrachtungs¬
weise überschreitende Theorie enthielte. Nach dem Gesagten
dürfte man also wohl von einem unbewußten »Seelischen« sprechen,
sofern man unter Seele das den psychischen Erscheinungen zu¬
grunde liegende »Ding an sich« versteht, keinesfalls aber von
einem unbewußten Psychischen.
Eine zweite Bedeutung des »Unbewußten« hat sich namentlich
in der Psychopathologie herausgebil^pt. Hier stieß man durch
Selbst- und Fremdbeobachtnng auf Erscheinungen, die zwar
durchaus die Merkmale des »Bewußtseins« an sich trugen, aber
dennoch nicht dem »normalen« psychischen Subjekt, dem »nor¬
malen« Ich bewußt waren. Diese Erscheinungen, die sämtlich
unter den Begriff der »Persönlichkeitsspaltung« fallen, sind in
ihrer Tatsächlichkeit unbezweifelbar; ihr psychologischer Belang
14 *
212 Gaatav Kafka, Zam Begriff des »Psychiaehen« oaw.
liegt jedoch nur darin, wie das Verhältnis der einzelnen »Persön¬
lichkeiten« oder Bewnßtseinssubjekte zueinander zu bestimmen
ist, aber nicht darin, daß sie psychische Objekte anfwiesen, die
nicht für ein Subjekt bewußt wären, und psychische Akte oder
Subjekte, die keine Objekte bewüßten. Immerhin legt der Aus¬
druck »unbewußt« eine solche Mißdeutung nahe, und es wäre
daher, wenn der Ausdruck »Selbstbewußtsein« nicht mit so viden
Äqniyokationen behaftet wäre, vielleicht eindeutiger, sie als
»nicht selbstbewußte«, noch unmißverständlicher, sie als »nicht
normalbewußte« zu bezeichnen. Auch der Ausdruck »unterbewußt«
_ •
würde bei sinngemäßer Anwendung noch immer den Vorzug vor
»unbewußt« verdienen.
Schließlich drängt sich aber der Begriff des »Unbewußten«
auch noch in Beobachtungen der Normalpsychologie auf. Das
schlagendste Beispiel liefert das »Aha-Erlebnis« (Bühler) oder die
Apperzeption eines zuvor bloß perzipierten Objektes. In einer
solchen Apperzeption liegt eingeschlossen, daß das nunmehr
apperzipierte oder »erkannte« Objekt früher in anderer Weise
für das Subjekt »da gewesen« ist, immerhin aber doch irgendwie
»da gewesen« sein muß, weil es ja sonst nicht mit einem »Aha«
begrüßt, d. h. nicht identifiziert wei'den könnte. Ob man einen
solchen Unterschied der psychischen Daseinsweisen mit den Aus¬
drücken »bewußt« und »unbewußt« kennzeichnen will, ist eine
reine Zweckmäßigkeitsfrage. Wenn aber der Umstand, daß jene
beiden Daseinsweisen psychischer Natur sind, in der Termino¬
logie nicht verwischt werden soll, andererseits die instinktiv
und historisch gefestigte Gewohnheit, die Begriffe des Psychischen
und des Bewußtseins zusammenfallen zu lassen, immer wieder
dahin drängen würde, unter dem »Unbewußten« ein »Nicht
Psychisches« zu verstehen, so scheint es angezeigter, einer solchen
Verwechslung vorzubeugen, jene beiden Daseinsweisen des P^-
chischen nicht als »bewußte« und »unbewußte«, sondern als
»apperzeptive« und »perzeptive«, als »beachtete« und »unbeachtete«
oder als »bemerkte« und »unbemerkte« einander gegenüberzustellen
und den Begriff des» Bewußtseins« als gleichbedeutend mit dem Be¬
griff des »Psychischen« im früher festgestellten Sinne zu behandeln.
(Eingegang^en am 16. Januar 1924.)
(Ans dem psychologischen Laboratorinm der Universität Bonn.)
Experimentelleüntersuchiiiigenüber das mmiittelbare
Bebalten mit besondererBerücksicbtigimgderFrozesBe
der Aufinerksamkeit und des Wiedererkennens.
Von
Dora LüdekOy Barmen.
Inhalt. Seite
I. Vorbemerkangen.214
§ 1. Ziel der Untenraehimg.214
§ 2. Das YersnchsverMiren.215
n. Objektive Ergebniase.217
§ 1. Die Art der Verrechnong.217
§ 2. Die Lage der Nnllgrente.217
§ 8. Die üntersQchnng der Parallelität der Fehlereracheinangen 219
m. Subjektive Ergebnisse.223
A. Brlemnngs* und Einprägnngsproaesse.228
§ 1. Die verschiedenen Arten der Aufmerksamkeit.228
§ 2. Das Yerbalten der Aufmerksamkeit unter verschiedenen
Yersuchsbedingungen.224
a) Yisnelle Darbietung.224
1. Das Auftreten des diskreten Charakters.224
2. Die Heranziehnng des Sprachmotorischen .... 226
8. Scheidung der Anteile von Anfmerksamkeitsakten
und Empfindungsinhalten.229
b) Yisnell-akustische Darbietung.231
1. Das ZurUcktreten des diskreten Charakters . . . 231
2. Znsammenfassende Übersicht Ober die Beteiligung
der Aufmerksamkeit.•.284
B. Reproduktionsprozesse.*.286
§ 1. BichtigkeitsbewnOtseiu und Wiedererkennen.286
§2. Kriterien fOrRichtigkeitsbewuOtsein und Wiedererkennen 287
1. Direkte Kriterien.287
2. Indirekte Kriterien.240
§ 8. Das Yerhalten während der Intervalle.242
lY. Unmittelbares und dauerndes Behalten.246
214
Dora Lttdeke,
1. Vorbemerkungen.
§ 1 .
Ziel der UntergackuBg.
Vorliegende Untersuchung wurde auf Anregung von Herrn
Geheimrat Professor Dr. Störring im Psychologischen Institut
der Universität Bonn durchgeführt Sie stellt sich die Aufgabe,
einen Beitrag zur Erforschung des unmittelbaren Behaltens Eh**
wachsener zu liefern. Neben den zahlenmäßigen Ergebnissen,
denen vorwiegend praktische Bedeutung zukommt, soll den
Problemen, die sich auf Grund subjektiver Selbstbeobachtung
der Versuchspersonen über innere Vorgänge beim Anffassen, Be¬
halten und Reproduzieren des dargebotenen Stoffes eröffnen, ein¬
gehende Beachtung geschenkt werden. Ganz besonders tritt in
diesen Aussagen die Bedeutung der Aufmerksamkeit für das un¬
mittelbare Behalten und das Auftreten totaler oder diskreter
Aufmerksamkeit unter verschiedenen Versuchsbedingungen hervor.
Dasselbe Problem findet eingehende Beachtung in den Unter¬
suchungen von M. Moers ^). Während aber M. Moers das Ver¬
halten der Aufmerksamkeit bei visueller Darbietung des
Materials an derselben und an verschiedener Stelle ver¬
gleicht, ferner die rein akustische Darbietung heranzieht, handelt
es sich bei vorliegender Arbeit um den Vergleich zwischen dem
Verhalten bei rein visueller Darbietung im Gegensatz
zur visuell-akustischen. Die rein akustische Dar¬
bietung kommt in beschränktem Maße ebenfalls zur Anwendung.
Die Aussagen meiner Vpn. betreffen besonders das totale
und diskrete Verhalten der Aufmerksamkeit, ferner
die Vorgänge des Wiedererkennens und die für das¬
selbe in Betracht kommenden Kriterien.
Bei den verschiedenen Darbietungsarten wurde die Dauer
des zwischen Darbietung und Reproduktion liegen¬
den Intervalls variiert; über den Einfluß der ver¬
schiedenen Pansenlängen auf den Ablauf der Re¬
produktion finden sich ebenfalls vielfache Angaben der Vpn.
Das Problem der Abgrenzung des unmittelbaren
Behaltens vom dauernden konnte nur gestreift werden,
1) Martha Moers, Das anmittelbare Behalten unter besonderer Be-
rhcksichtigpnng der Darbietnngsart nnd der dabei anftretenden totalen and
diskreten Anfmerksamkeit. Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. 41.
Experimentelle Untersnchnngen Uber daa anmittelbare Behalten nsw. 215
näheren Aafschlnß über diese Frage geben die Untersacbnngen
von M. Schorn*).
§ 2 .
Daa YeranehaTerfahren.
Zu den Versuchen wurde der Lipmannsche Gedächtnis¬
apparatbenutzt, dessen Konstruktion eine ruckweise fortschreitende
Exposition des Versuchsmaterials ermöglicht; letzteres wurde
durch Reihen von 5 bis 13 Konsonanten in kleiner lateinischer
Druckschrift gebildet. Vokale wurden ausgeschieden, da sie
— zwischen Konsonanten angebracht — leicht AnlaB zu Assozia¬
tionen geben, durch welche die Buchstabenreihen den Charakter
von Silben und Wörtern erhalten können; dadurch wären natür¬
lich wesentlich andere Bedingnngen gegeben als beim Lesen
einzelner Buchstaben.
Den eigentlichen Versuchen gingen Vorversnche voraus, die
den Zweck hatten, die Vpn. an die äußeren Bedingnngen zu
gewöhnen. Es sollte ferner ein für die Versuche günstiges Tempo
festgesetzt werden, und zwar wurde auf Grund von Angaben
der Vpn. und an der Hand der zahlenmäßigen Ergebnisse für
die Hanptversuche ein dem Metronomtakt 76 entsprechendes
Tempo angewandt.
Für die erste Versnchsserie wurde die rein visuelle
Darbietungsweise gewählt. Die Vpn. waren angewiesen,
Heranziehung logischer oder mnemotechnischer Kunstgriffe sowie
das Rhythmisieren zu vermeiden nndSprechbewegnngen zu unter¬
drücken, dagegen war inneres Mitsprechen gestattet.
In der zweiten Versuchsreihe wurde das Material
ebenfalls visuell dargeboten, doch hatte die Vp. gleich¬
zeitig die einzelnen Buchstaben laut mitzulesen.
Auf rein akustische Darbietung wurde zunächst ver¬
zichtet, da mehrere Vpn. an entsprechenden akustischen Ver¬
suchen teilgenommen hatten und die dabei gemachten Erfahrungen
bei den Aussagen vergleichsweise heranziehen konnten. Im Laufe
der Untersuchung ergaben sich jedoch Momente, die eine direkte
Nebeneinanderstellnng der drei Darbietnngsweisen wünschenswert
erscheinen ließen; es wurde daher noch eine dritte Versuchs¬
reihe mit beschränkter Anzahl von Versuchen angeschlossen,
in der alle drei Darbietungsweisen nebeneinander
zur Anwendung kamen.
1) Maria Schorn, Experimentelle Untersnchnngen über den Übergang
von anmittelbarem an danemdem Behalten. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 43.
216
Dora Lüdeke,
Die Vpn. hatten die Anweisung, in den Pansen zwischen Dar*
bietnng nnd Reproduktion jede Wiederholung zu unterlassen und
zu Protokoll zu geben, falls eine Reihe gegen ihren Willen anf-
tanchen sollte. Die Dauer der Intervalle betrug bei den Ver¬
suchen mit visueller Darbietung in den ersten 20 Ver-
snchsstnnden 2 Sek., dann in je 20 Stunden 4, 8 und 1 Sek.,
die Versuche mit visuell-akustischer Darbietung wurden
fflr die Intervalle 2 nnd 4 Sek., die mit rein akustischer für
2 Sek. durchgeftthrt. Die Reihenfolge 2, 4, 8, 1 Sek. in der
1. Serie geschah mit Rücksicht auf die Feststellung Wolf es*),
daß bei seinem Versuche nach 2 nnd 4 Sek. bessere Leistungen
erzielt wurden als nach 1 Sek. Nun sind die ersten Versuche
gegenüber den späteren ohnehin im Nachteil, da fördernde Fak¬
toren wie Oewühnnng an die äußeren Bedingungen und Einfluß
der Übung fflr sie fortfallen, ein Tatbestand, der beim Vergleich
der Resultate nach verschieden langen Intervallen nicht über¬
sehen werden darf. Würden nun trotz der wesentlich günstigeren
Bedingungen die Ergebnisse bei der Pansenlänge von 1 SeL
denen nach längeren Intervallen nachstehen, so wäre damit um
so mehr eine Bestätigung der erwähnten Resultate gegeben; mi
entgegengesetzten Falle wäre festznstellen, inwieweit ein Über¬
sehen der erwähnten Faktoren zu einer Verschiebung des an¬
genommenen Tatbestandes geführt hat Zur Ermöglichung einer
solchen Feststellung sollten > Vergleichsreihenc dienen, d. h. Ver¬
suche, bei denen in derselben Stunde verschieden lange Intervalle
gegeben wurden, nnd zwar die verschiedenen Kombinationen in
wechselnder Reihenfolge. In je 6 Stunden wurden Reihen mit
den Intervallen 4—8, 8—4 Sek., 2—8, 8—2 Sek., 2—4, 4—2 Sek.
dargeboten. Diese Versuche wurden zwischen die mit den Inter¬
vallen 8 und 1 Sek. eingeschoben, dadurch wurde zugleich ein
allmählicher Übergang von der langen zur kurzen Panse ver¬
mittelt Nach den Versuchen mit dem Intervall 1 Sek. wurden
entsprechende Vergleichsreihen angeschlossen, ebenso am Schluß
der zweiten Serie.
Da in den Versuchen der dritten Reihe in jeder Stunde alle
drei Darbietungsarten herangezogen werden sollten, erschien es
angebracht, die Zahl der einzelnen Reihen zu beschränken, nm
die Vpn. nicht zu ermüden. Es wurden daher nur Reihen von
6, 7 usw. bis 11 Buchstaben dargeboten; mit der Reihenfolge
der Darbietung wurde in den einzelnen Stunden gewechselt
1) Wolfe, Über das Tonged&chtnis. (Philos. Studien Bd.8.)
Experimentelle Untenachiingen fiber dae nnmittelbare Behalten nsw. 217
Als Versachspersonen stellten sich znr Verfügung die Herren
Geheimrat Professor Dr. Stöning (St.), Prof. Dr. Erismann (E.),
Prof. Dr. Entzner (E.), Dr. phil. Achenbach (A.), Dr. phiL Amsler
(AL) und die Damen Dr. phiL Binnefeld (B.), cand. phiL Hahn
(H.), Dr. phiL Eiefer (Ef.), cand. phiL Schnlte-Liese (Sch.).
II. Objektive Ergebnisse.
§ 1 .
Die Art der Yerreehiiiuig.
Da es wünschenswert erschien, einmal nfther zn nntersnchen,
wie weit sich eine Parallelität ergab zwischen Fehlern in
der Reihenfolge — bei denen es sich nm an und für sich
richtig genannte Elemente handelt — nnd den V erkennnngen,
Auslassungen nnd Hinznfügnngen, wurde eine zwei¬
fache Berechnung der Bh^ebnisse vorgenommen. Die erste Art
läßt die Fehler in der Reihenfolge unberücksichtigt; es wurden
Auslassungen oder Wiedergabe falscher Elemente als ganze,
Verwechslungen, die auf akustischer, sprachmotorischer oder
optischer Ähnlichkeit beruhen, als halbe Fehler gezählt. Die
zweite Art bezieht sich auf die Fehler in der Reihenfolge; Um-
atellnngen um eine oder zwei Stellen wurden als halbe, solche
nm mehr als zwei Stellen als ganze Fehler gerechnet Die Er¬
gebnisse wurden durch eine große Zahl von Tabellen und Enrven
yeranschanlicht, deren Veröffentlichung leider wegen Raum¬
mangels unterbleiben muß. Die Hauptergebnisse sind in den
folgenden Paragraphen kurz znsammengefaßt.
§ 2 .
Die Lage der Nnllgrreaie.
AttfQmnd der ersten Verrechnnngsweise ergab sich,
daß die Nullfehlergrenze, d. h. die Anzahl der Buchstaben, die
die Vpn. nach einmaliger Darbietung fehlerfrei reproduzieren
können, bei den Versuchen mit visueller Darbietung im
allgemeinen zwischen 6 nnd 7 lag. Etwas höhere Werte er¬
reichte Vp. E. mit 7—9, die höchsten Vp. Sch. mit 11 Buch¬
staben, diese Leistung darf aber wohl als über den Durchschnitt
hinausgehend bezeichnet werden.
Die 2^hl 6—7 stellt das arithmetische Mittel der Ergebnisse
sämtlicher Versuche dieser Serie dar, zugleich das Mittel bei
dmi Versuchen mit 4 und 8 Sek. Pause. Bei dem Intervall von
1 Sek. wurde ein etwas höheres (7—7‘/,), bei 2 Sek. ein ge-
218
Dora LOdeke,
ringeres Durchschnittsmaß (6—6*/») erreicht. Dieses letzte Elr-
gebnis erschien auffallend im Hinblick anf den früher erwähnten
Befnnd Wolfes, es widersprach auch den subjektiven Aussagen
der Vpn., bei denen durchweg das Intervall von 1 Sek. für un¬
günstiger als das von 2 Sek. erklärt wurde. Der Tatbestand,
daß die Versuche mit 2 Sek. Pause an erster, die mit 1 Sek.
an letzter Stelle gestanden hatten, wies darauf hin, der Frage
nach einem etwaigen Übnngsfortschritte nachzngehen. Es wurden
daher die Durchschnittswerte für die Vergleichsreihen ermittelt,
bei denen alle Arten unter den gleichen Bedingungen gestanden
hatten. Es ergab sich auch hier eine Nnllgrenze zwischen 6
und 7, doch rückte sie im allgemeinen näher an 7 heran. Be¬
züglich der verschiedenen Intervalle standen diesmal die Ver¬
suche mit 2 Sek. an erster, die mit 1 Sek. an dritter Stelle,
am ungünstigsten schien das Intervall von 8 Sek. zu sein. Die
Vermutung eines Übungsfortschrittes scheint sich
also nach diesen Ergebnissen zu bestätigen.
Bei visuell-akustischer Darbietung wurde im allge¬
meinen eine etwas höhere Lage der Nullgrenze erreicht, bei fast
allen Vpn. lag sie zwischen 8 und 9, nur zweimal (Vp. St. und
Vp. H.) wurde die Zahl 7 festgestellt, obgleich unter anderen
Bedingungen (Arbeit von Schorn) Vp. St. die Grenze 12 uufwies,
einmal (Vp. Sch.) wurde die Grenze 12 erreicht.
Um festzustellen, ob tatsächlich die visnell-akustische Dar¬
bietung für das unmittelbare Behalten günstiger ist als die rein
visuelle, oder ob hier der von Ebert und Meumann festgestellte
Tatbestand des Mitübens in Frage kam, wnrden die Resultate
der dritten Versuchsreihe herangezogen, bei denen die 3 Dar¬
bietungsweisen nebeneinander zur Anwendung kamen. Es stand
hier die visuell-akustische Darbietung an erster (Nnll¬
grenze 8—9), die rein akustische an zweiter (Nullgr.7—8),
die rein visnelle an letzter Stelle (Nullgr. 7).
Die rein akustische Darstellung ist hier besser gestellt als
bei M. Moers, welche feststellt: »Mit Buchstabenmaterial ist
die akustische Darbietung fast ebenso ungünstig wie die optische
Darbietung A.< (Erscheinen der Buchstaben an derselben
Stelle). Als Ursache wird das ähnliche Klangbild verschiedener
Konsonanten geltend gemacht. Auch bei meinen Vpn. finden
sich Angaben, daß diese Ähnlichkeit ungünstig anf das Behalten
wirke, doch wird immer wieder hervorgehoben, daß die akustische
Darbietung bei weitem leichter und angenehmer sei als die rein
visuelle. Am vorteilhaftesten erscheint allen Vpn. die visuell-
Experimentelle Untersaohnngfen ttber das anmittelbare Behalten nsw. 219
akustische Darbietung, bei welcher der durch das ähnliche Klang¬
bild mancher Elemente bewirkte Nachteil durch das gleichzeitige
visuelle Auftreten ausgeglichen wird.
Bei der zweiten Verrechnungsweise hat die Nullgrenze eine
etwas andere Bedeutung als bei der ersten. Eine Nullgrenze 6
würde beispielsweise bedeuten: »Bei einer Reihe von 6 Gliedern
wurden die überhaupt richtig genannten Elemente auch in der
richtigen Reihenfolge wiedergegeben.« — Für die visuelle Dar¬
bietung wurde die Nullgrenze 7 festgestellt, bei visuell-akustischer
Darbietung lag sie auch hier etwas höher und erreichte den
Wert 8—9. — Im Gegensatz zu der ersten Verrechnungsweise
standen bei visueller Darbietung die Ergebnisse der Ver¬
suche mit 2Sek.Pause trotz der ungünstigeren Be¬
dingungen von Anfang an über denen mit 1 Sek.
Das Ergebnis Wolfes findet also auch hier Bestätigung.
§3.
Die Vaterraehang der Penülelltät der FeUererschelHiiBgeii.
Es interessiert uns weiter die Frage: Wie weit hat sich auf
Grund der objektiven Ergebnisse eine Parallelität zwischen den
verschiedenenFehlererscheinungen—Verkennungen, Auslassungen
und Hinzufügungen einerseits, Umstellungsfehler andererseits —
eig^eben?
Im allgemeinen scheint bei den Reihen, deren
Gliederzahl die Gedächtnisspanne der Vp. nicht
überschreitet, auch die Wiedergabe der Reihen¬
folge keine besonderen Schwierigkeiten zu machen,
in vielen Fällen treten sogar Fehler in der Reihenfolge später
auf als die übrigen Fehlerarten, und zwar nur in der Minder¬
zahl der Fälle erscheinen sie vor ihnen.
Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei längeren Reihen.
Um zu prüfen, wie weit die Vpn. gleichmäßig gearbeitet hatten,
wurde die mittlere Variation (Vm) festgestellt, die uns an¬
zeigt, wie weit die Fehlerzahlen der einzelnen Arbeitsleistungen
sich durchschnittlich von dem mittleren Fehler entfernen. Je
geringer die Abweichung ist, desto gleichmäßiger ist die voll¬
zogene Arbeitsleistung, während ein relativ hoher Betrag uns
anzeigt, daß die Einzelleistungen starken Schwankungen unter¬
worfen waren. Die Berechnung geschah nach der Formel:
(Fm — Fj) (Fm — F,) -f- (Fm — F,) -j“ (Fm—Fn)
220
Dora Lttdeke,
'worin F^, F„ F, • • • Fn die Fehlerzahlen der Einzelversache be-
denten, n die Anzahl der Versnche.
Es ergab sich folgendes Bild:
a) Visnelle Darbietung, erste Verrechnungsart:
Vn. = 0 bis 0,50 in 51»/, *lo aller FÜle
V,n = 0,51 „1 „ 38 «/o „ ,
Vs = 1,01 „ 1,30 „ 10V,®/o „ „
b) Visuell-akustische Darbietung, erste Verrech-
nnngsart:
Vni = 0 bis 0,50 in 53»/* ®/o aller Fälle
V,n = 0,51 „ 1 „ 35»///o „ „
V„ = l,01 „ 1,48 „ 11 <*/o „ „
Das Maximum liegt bei dieser Darbietungsart etwas höher als
bei der yisuellen; im allgemeinen zeigen jedoch beide Tabellen
ziemlich gleichmäßige Arbeitsleistungen an.
Auf Grund der zweiten Verrechnungsweise ergaben
sich folgende Werte:
a) Visuelle Darbietung:
Vn, = 0 bis 0,50 in 34»/,®/o aller Fälle
V„, = 0,51 „ 1 „ 40»/, »/o « „
V,„ = l,01 „ 1,97 „ 25V//o n »
b) Visuell-akustische Darbietung:
V« = 0 bis 0,50 in 36 % aUer Fälle
V,n = 0,51 „ 1 „ 40V, «/o « «
V„=l,01 „ 2,04 „ 23V, Vo n n
Es zeigt sich also bei beiden Darbietungsarten eine bedeutende
Zunahme des Maximalwertes gegenüber der ersten Verrechnung;
der Prozentsatz, bei dem die Werte über 1 erreicht werden, ist
ebenfalls höher. Noch weit größer wird die Differenz, wenn
-wir nicht die Ergebnisse aller Versuche betrachten, sondern
nur die der längeren Reihen, deren Qliederzahl oberhalb der
Nullgrenze liegt Es steigen dann die Maximalwerte auf
1,67 bezw. 1,72 bei der ersten, auf 3,83 bezw. 3,78 bei der
zweiten Verrechnung; die Prozentsätze wachsen auf 18»/, bezw.
15 bei I, auf 42 bezw. 39 bei n an. — Im allgemeinen
ergab sich also ein gleichmäßiges Arbeiten auf
Grund der ersten, ein unregelmäßiges auf Grund
der zweiten Verrechnung.
Ein ähnliches Resultat erhielten wir bei der Feststellung,
wie sich bei längeren Reihen die Zahl der richtig genannten
Glieder zur Nullgrenze verhielt Die erste Verrechnung
Experimentelle üntenachnngen über das anmittelbare Behalten nsw. 221
ergab für die visuelle Darbietung, daß bei keiner Vp. die Zahl
der richtig genannten Glieder unter die Nnllgrenze hinabsank,
bei vier Vpn. wurde sie durchschnittlich überschritten, zweimal
fand sich Übereinstimmung. Diese Ergebnisse entsprechen denen
von Binet^) und Watkins*), die gleichfalls eine geringe
Steigerung im Behalten der Glieder bei zunehmender Beihen«
Iftnge feststellen.
Bei visuell-akustischer Darbietung zeigte sich bei
einer Yp. ein Hinabsinken der Durchschnittszahl der behaltenen
Glieder unter die Nnllgrenze, in allen anderen Fällen wurde
diese um einen geringen Betrag überschritten.
Ein ganz anderes Bild ergab sich auch hier auf Grund der
zweiten Verrechnungsweise. Nur in 27*/o aller Fälle
wurde die Nullgrenze erreicht, in 9V*®/o über¬
schritten, 63Va®/o Werte blieben hinter der
Nullgrenze zurück. Waren also Reihen mit 6 oder 7Gliedern
vollkommen richtig reproduziert, so ergab eine Prüfung mit
9—13 Buchstaben häufig nur 3—5 in richtiger Reihenfolge
wiedergegebene Elemente.
Während sich bei der ersten Verrechnung eine allmähliche
Steigerung der Fehlerzahl feststellen ließ, sind diese Werte hier
starken Schwankungen unterworfen.
Die Unregelmäßigkeit der Arbeitsleistungen bei Zugrunde¬
legung der Umstellungsfehler trat mit großer Klarheit auch in
den Fehlerkurven der Vpn. hervor, auch hier sprunghaftes An-
und Absteigen im Gegensatz zu dem allmählichen Anwachsen
der Kurven der ersten Gruppe.
Eine Deutung dieses Tatbestandes läßt sich am
besten an der Hand einiger Aussagen der Vpn. geben. Zunächst
weisen einige Aussagen darauf hin, daß auch hier die Dar?
bietungsart von großem Einfiuß ist. So sagt Vp. E.:
»Ich h&be den Eindrnck, daß bei visnellem Behalten die einielnen Bach-
staben mehr für sich, durch sich selbst erhalten werden, während sie mehr
aufeinander angewiesen sind bei motorischem und aknstischem Behalten,
sodafl man eine solche Reihe nur in der mehr oder weniger
richtigen Reihenfolge reprodasieren kann, während man bei
Tisueller Reproduktion auch einzelne heransgreift, ohne za
wissen, welche ihnen vorangehen. Sie werden darch sich selbst
erhalten und sind nicht starr gekoppelt mit den yorhergehenden und nach¬
folgenden.«
1) Bin et, Mdmoire des mots, L’Ann. Psych. 1894.
Watkins, Beziehnongen zwischen der Intelligenz und dem Lernen
und Behalten. Päd.-Psych. Arbeiten ü, 1911.
222
Dora Lttdeke,
Yp. A.: >Ich habe mich diesmal an das Sprachmotorische gehalten;
die Beprodaktion erfolgte mit grofier Sicherheit, das wäre nicht mOglich
gewesen an der Hand der optischen Bilder, jedenfalls wäre Yp. dann
nicht sicher gewesen in besag auf die Beihenfolge, wfthrend
die Reihe sprachmotorisch vollkommen sicher aneinandergereiht lag.«
»Die Bachstaben tanchten visaell aaf, and swar gans ander der Reihe.
Ich habe das Qeftthl, als hätte ich alles darcheinander reprodoxiert. Das
Optische ist angünstig für eine Beprodaktion in bestimmter
Reihenfolge.«
Yp. B.: »Die visnell-akostische Darbietang ist doch die angenehmste.
Ich hatte mich vorwiegend aaf das Aknstische verlassen, am den Zasammen*
hang hersastellen; als ich reprodasieren wollte, fehlte mir der Anfangs*
bachstabe, dadarch war die Beihenfolge gestört. Während aber in
einem ähnlichen Falle bei rein aknstischer Darbietang über*
hanpt nichts sa retten war, kam hier das Yisaelle ergänsend
hinan, 5-6Glieder tanchten visaell mit grofier Bestimmt¬
heit aaf.«
Wir sehen, daß schon, wenn wir nur die Umstellnngs-
fehler berücksichtigen, eine ganz verschiedene
Bewertung dieser Fehlerart bei den drei Darbietnngs-
arten eintreten muß. Noch stärker tritt der Unterschied
hervor, wenn wir in Betracht ziehen, wie die verschiedenen
Fehlerarten sich gegenseitig beeinflnssen. Am stärksten tritt
dieser Einfluß bei der akustischen Darbietung auf; ist
hier die Reihenfolge gestört, so besteht die Qefahr,
daß die Reihe überhaupt ganz oder zum großen
Teil zu Fall gebracht wird. Bei visuell-akustischer
Darbietung kann bei Störung der Reihenfolge das
akustische Gesamtbild zwar gestört sein, eine be¬
trächtliche Anzahl der Glieder aber trotzdem auf
Grund der visuellen Spuren reproduziert werden.
Bei visueller Darbietung Überwiegen Fehler in der
Reihenfolge; eine gegenseitige Beeinflussung der
verschiedenen Fehlerarten findet nicht statt.
Die Untersuchung hat also ergeben, daß eine Parallelität
zwischen den Fehlem in der Reihenfolge einerseits und den Aus¬
lassungen und Hinzufügungen andererseits nicht besteht.
Die Verschiedenheit der Gesetzmäßigkeit tritt am deutlichsten
hervor bei Betrachtung der richtig bezw. in richtiger Reihen¬
folge genannten Glieder längerer Reihen, mit besonderer Klar¬
heit kommt sie in der Berechnung der mittleren Variationen und
in der graphischen Darstellung zum Ausdmck. In allen
Fällen tritt dasSchwanken der einzelnen Arbeits¬
leistungen bei Berücksichtigung der zweiten, die
Gleichmäßigkeit der Leistungen bei Berücksichtigung
der ersten Verrechnungsweise deutlich hervor.
Experimentelle Untersachnngen über das nnmittelbare Behalten nsw. 223
III. Subjektive Ergebnisse.
Nicht nur die Gewinnnng der zahlenmäßigen Ergebnisse,
sondern anch die Analyse der einzelnen Vorgänge, die bei der
Aufnahme, während des Intervalls und bei der Reproduktion
eine Rolle spielen, ist von maßgebender Bedeutung für die
Charakterisierung des unmittelbaren Behaltens gegenüber dem
dauernden, ferner läßt sie die individuellen Differenzen im Ver<
halten der Vpn. gegenüber den verschiedenen Darbietungsweisen
klar hervortreten.
A. Erlernungs* und Einprägungsprozesse.
§ 1 .
Die yergehledeneo Arten der Aafmerksamkeit.
Bei der Aufnahme des dargebotenen Stoffes spielt das Ver*
halten der Aufmerksamkeit, d. h. der willkürlichen Fixierung von
Bewußtseinsinhalten im Blickpunkt des Bewußtseins, für das un¬
mittelbare Behalten eine besondere Rolle. Sowohl der Eon-
zentrationsgrad als anch die Verteilung der Aufmerksamkeit
sind von entscheidendem Einflüsse auf die zu leistende Arbeit.
Meumann bezeichnet eine einmalige, höchst intensive Kon¬
zentration der Anfmerksamkeit mit möglichst vollständiger
Hemmung der störenden Eindrücke und Vorstellungen als die
wichtigste Bedingung des unmittelbaren Behaltens. Er weist
besonders darauf hin, daß sich typische Differenzen aus der Art
der Aufmerksamkeitsverteilung auf den dargebotenen Stoff er¬
geben, und unterscheidet zwischen totaler und diskreter Anf¬
merksamkeit. Bei ersterer verteilt die Vp. ihre Aufmerksamkeit
gleichmäßig über die ganze Reihe und gewinnt so den Eindruck,
als handele es sich um einen Aufmerksamkeitsakt, im zweiten
Falle dagegen richtet sich die maximale Aufmerksamkeit auf
jedes Glied für sich, so daß sich hier die einzelnen Akte gegen¬
einander abheben. Meumann spricht in diesem Sinne von
Aufmerksamkeits- oder Lemtypen, mit denen die verschiedenen
Vorstellnngstypen in vielfacher Beziehung stehen. Der akustische,
motorische und visuelle Vorstellungstypus bedingen individuelle
Arten des Behaltens; schon die Auffassnug des sinnlichen Ein¬
drucks ist eine durchaus verschiedene, noch mehr aber unter¬
scheidet sich das Einprägen selbst bei den einzelnen Typen.
Jedoch sind Aufmerksamkeits- und Vorstellungstypus, wie aus
zahlreichen Untersuchungen hervorgeht, durchaus nicht allein
maßgebend für das Verhalten bei der Aufnahme und Reproduktion,
sondern dieselbe Vp. kann sich unter verschiedenen Versuchs-
224
Dora Lttdeke,
bedingungen ganz verschieden verhalten. Als Faktoren, die von
Einflnfi auf den sensorischen Lemmodus sind, nennt Q. E.M&ller
vor allem die Darbietungsweise, die Vorftthrnngsgeschwindigkeit,
den Ermfldungszustand der Vp. sowie beim Lernen oder Her¬
sagen eintretende Störungen. Die Anssagen meiner Vpn. lassen
besonders erkennen, in welch großem Maße die Darbietnngs-
weise das Verhalten der Anfmei’ksamkeit beeinflußt, ich gebe
daher eine Beihe von Aussagen Aber diesen Punkt wieder.
§ 2 .
Das Terhalten der AafiBerksamkelt unter Terschiedenea
TersaehsbedingiiBirea«
a) Visuelle Darbietung:
1. Auftreten des diskreten Charakters.
Zunächst seien die Aussagen deijenigen Vpn. wiedergegeben,
die vorher an entsprechenden Versuchen mit akustischer Dar¬
bietung teilgenommen hatten.
Vp. St berichtet nach den ersten Versuchen Aber das Auf¬
treten starker UnlustgefAhle und erklärt, daß die Sache doppelt
so schwer erscheine als bei akustischer Darbietung. Vp.
wundert sich Aber die große Unsicherheit bei nur wenigen Buch¬
staben und empfindet es unangenehm, daß die einzelnen Elemente
sich nicht zusammenschließen.
> Ungeheore Differenz gegenüber dem Aknstischen, die Buchstaben schlieffen
sich nicht znsammen, zu sehr diskrete Aufmerksamkeit.«
»Starke Verwischung. Diese ist Tom Akustischen her ganz ungewohnt,
offenbar ist hier weit größere Anstrengung erforderlich. Beim Akustischen
machte sich gewissermaßen alles von selbst, weil die Angliedemng der
geistigen Akte aneinander zu einem geschlossenen Ganzen sich fast von
selbst vollzog.«
Vp. äußert wiederholt, daß das Fehlen eines angenehmen
Erlebens vorliege, das bei den akustisclien Versuchen häufig
hervortrat:
»das Prftsentsein der zu einem Anfmerksamkeitsganzeu verschmolzenen
Aufmerksamkeitsakte. In diesem Präsentsein war ein sehr angenehmes
Aktivitätsgefühl gegeben«.
»Auch der Btickblick ist ganz anders. Beim Akustischen habe ich
vor der Reproduktion auf ein geschlossenes Ganzes zurttckgehlickt, dieses war
die Summe aufgewandter psychischer Tätigkeit. Dabei hatte ich das Be¬
wußtsein: Ich kann mich darauf verlassen. Hier ist das Zurttckblicken
schädlich, es traten nur einzelne Tatbestände auf.«
Aus diesen Aussagen ergibt sich, daß die akustische und die
visueUe Darbietungs weise ein durchaus verschiedenes Verhalten
der Aufmerksamkeit bedingen, sowohl bei der Auffassung als
Experimentelle üntersnchnogen ttber das unmittelbare Behalten nsw. 225
auch vor der Reproduktion ergeben sich in beiden Fällen ganz
yerschiedene Situationen. Der diskrete Charakter scheint in
engem Zusammenhang mit dem Visuellen zu stehen, das Auf¬
treten der diskreten Größen wird als unangenehm empfunden,
die so erzeugten Unlustgeföhle wirken hemmend.
In einer späteren Aussage spricht Vp. die Vermutuug aus,
•daß neben dem Visuellen vielleicht noch ein anderer Faktor fttr
das Auftreten des diskreten Charakters in Betracht komme,
nämlich der stete Wechsel, der gerade bei diesen Versuchen da¬
durch gegeben ist, daß das Material sich beständig am Auge
der Vp. vorbeibewegt.
»Der Eindrack des Diskreten war wieder sehr ausgeprägt. Dafi die Anf-
merksamkeitsakte sich nicht aneinanderschlieflen, könnte anm Teil auch da-
durch bedingt sein, dafi die ganzen Eindrücke anmhig werden durch den
ateten Wechsel, den man vor Augen hat.«
ln ähnlicher Weise betont auch Vp. E., daß sich ein aus¬
gesprochener Gegensatz im Verhalten der Vp. bei akustischer
und optischer Darbietnngsweise ergibt.
»Die Hauptsache ist hier das Behalten einzelner Buchstaben, die eine
Reihe znsammensetzen, während beim Akustischen das Behalten der Reihe
die Hauptsache ist, die durch die feste Beziehung der jSlieder zueinander
als Einheit auftritt. Die Glieder ergeben sich sozusagen ans der Reihe,
während sich beim Visuellen die Reihe ans den einzelnen Gliedern zusammen-
setzt. Beim Tisnellen Merken werden die einzelnen Buchstaben manchmal
nnregelmäfiig ans der Reihe heransgerissen gemerkt, hier sind namentlich
die letzten Buchstaben im Vorteil, während bei aknstisch-motorischer Art
vor der Reproduktion ganz besonders auf den ersten Antrieb geachtet wird.
Wenn das verfehlt ist, so ist auch die ganze Reproduktion stark gestört,
vielleicht unmöglich; visuell dagegen ist das Ausfallen einzelner Glieder,
ja sogar ganzer Teile kaum wichtig.«
Auch hier tritt uns der Gegensatz zwischen einer visuell
und einer akustisch dargebotenen Reihe scharf entgegen. Bei
letzterer ergeben sich die Glieder ans der Reihe, während sich
beim Visuellen die Reihe aus den Gliedern zusammensetzt. Diese
Aussage interessiert uns besonders im Zusammenhang mit dem
im Teil I wiedergegebenen Protokoll der Vp. E., wonach dieser
verschiedene Charakter von großem Einfluß auf die Art der
Fehler ist. »Die akustische Reihe kann nur in der mehr oder
weniger richtigen Reihenfolge reproduziert werden, während man
bei visueller Reproduktion auch einzelne herausgreift, ohne zu
wissen, welche ihnen vorangehen.«
Eine Bestätigung der bisherigen Aussagen geben auch die
der Vpn. K und A. Beide betonen, daß die Buchstaben einzeln
auf treten und daß sie keine reihenmäßige Verbindung haben.
Die Vpn. B., H. und K., die noch nicht an akustischen Versuchen
Archiv fQr Psychologie. XLVm. 16
226
Dora Lttdeke,
teilgenommen hatten, betonen wiederholt, daß es schwer sei, die
Buchstaben in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben, da der
Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern völlig fehle.
Es wird beobachtet, daß der neu ankommende Buchstabe so im
Blickfeld des Bewußtseins steht, daß er die ganze Aufmerksam¬
keit auf sich zieht und dadurch die anderen ziemlich verdrängt.
2. Die Heranziehung des Sprachmotorischen.
Die Vpn. versuchen nun, auch bei dieser Darbietungsweise
bessere Resultate zu erzielen, und zwar vor allem durch stärkere
Betonung des motorischen Faktors. Ans den Aussagen der Vp. St.
geht hervor, daß es längerer Zeit bedarf, bis sie zu einer be^
friedigenden Einstellung gelangt; zunächst treten noch Unlust¬
gefühle auf, die störend wirken, doch wird das ganze Verhalten
ruhiger, je mehr sich das sprachmotorische Element ansprägt.
»Die Unlastgefühle scheinen etwas schwächer geworden ko sein. Ea
war noch Unsicherheit vorhanden, aber weniger als früher. Das Motorische
wurde stärker betont ohne lantes Sprechen. Der Znsammenschlaü war nnr
angedentet als Aneinanderschiefien.«
Vp. fügt dann die psychologische Vermutung hinzu, daß sich
das motorische Aneinanderschießen vielleicht nicht so leicht
mache wie das akustische,
»nicht, als oh die Assoziation da mehr erschwert wäre (was vielleicht auch
der Fall sein mag), sondern es fehlt der Eindruck des Ganzen; beim Rück¬
blick auf den Tatbestand erscheint er nicht als Ganzes im Gegensatz znm
Akustischen.«
Interessant ist hier das »Aneinanderschießen im Bewußtsein«,
durch das ein Zusammenschluß der Buchstaben nur angedeutet
wird und das also von der Innigkeit der Assoziation zu unter¬
scheiden ist Es fragt sich nun: ist nicht vielleicht auch die
letztere auf akustischem Gebiet größer als auf motorischem?
Eine Entscheidung läßt sich vielleicht auf Grund der visuell-
akustischen Darbietung fällen, wo die beiden Faktoren neben¬
einander wirken.
In einer späteren Aussage hebt Vp. St hervor, daß eine viel
größere Anstrengung dadurch erforderlich ist, daß das Sprach¬
motorische willkürlich herangezogen wird.
»Man hat den Eindruck, als ob man hier viel stärker als beim AkuatischeD
mit der Erkennung beschäftigt ist. Es scheint, als ob der Weg zum Sprach¬
motorischen vom Visuellen aus viel schwächer ist als der vom Akustischen
ans, so daS die willkürliche Setzung des Sprachmotorischen einen viel
größeren Aufmerksamskeitsaufwand erfordert.«
Experimentelle Untersnchnngen ttber das nnmittelbare Bebalten nsw. 227
Von einer mehr unwiUkflrlichen sprachmotorischen Innervation
berichten folgende Aussagen:
»Das Aassprechen war fast nnwillkOrlich. Zn Anfang war eine leichte
willkttrliche Untersttttanng des Anssprechens gegeben fttr die beiden ersten
Bnchstaben, yielleicbt hat der Willkttrakt auch noch nachgewirkt. Dieses
Verhalten erscheint mir sehr sweckm&ßig, es wird der motorische Faktor
verst&rkt, ohne daß der Anfmerksamkeitsakt darunter leidet.«
»Diskreter Charakter geringer als im Anfang der Ver*
suche, das scheint damit ansammenznhftngen, daß das
Sprachmotorische weniger willkürlich ist.«
Vp. St sieht deutlich, daß es fttr sie schädlich ist, daß die
motorische Beziehung zu schwach ist gegenttber dem Visuellen;
sie spttrt, daß sie einen wUlkttrlichen Impuls in einemfort er¬
neuern muß. Diese willkttrliche Erneuerung stört die Aufmerk¬
samkeit und setzt die Leistungen herab. Dabei weiß Vp. ans
akustischen Versuchen, daß sie nicht nur akustisch, sondern auch
stark motorisch ist
Aus diesen Aussagen ergibt sich, wie wenig eng die Be¬
ziehung zwischen dem Visuellen und Motorischen ist. Der moto¬
rische Apparat funktioniert nicht so, daß ein Gesamtimpnls ge¬
nügt, er muß immer wieder erneuert werden, damit von dem
Gesichtsbilde aus der motorische Impuls zustande kommt Die
wenig enge Beziehung tritt noch schärfer hervor, wenn wir in
Betracht ziehen, daß natürlich bei diesem Verhalten der Vor-
stellungstypus ungeheuer viel ausmacht, und daß ein Danerimpnls
selbst bei einem ausgesprochen motorischen Typus nicht ans¬
reicht. Bedeutungsvoll ist ferner, daß die Größen weniger diskret
nebeneinander treten, wenn das Sprachmotorische mehr nnwill-
kfirlich anftritt. Der diskrete Charakter scheint also etwas ab¬
zuhängen von der willkürlichen Setzung des Sprachmotorischen.
Als weiterer Faktor für das Nichtauftreten eines Aufmerk¬
samkeitsganzen tritt uns der Tatbestand entgegen, daß die Auf¬
merksamkeit durch die Augenbewegung zerrissen wird; die Vp.
kommt infolgedessen nicht zu maximaler Konzentration der Auf¬
merksamkeit.
Auch Vp. E. bedient sich bei visuell gegebenen Beihen der
sprachmotorischen Innervation, um bessere Resultate zu erzielen,
und macht darüber eine Reihe von Aussagen :
»Das Visaelle hat nicht geholfen, Vp. verläßt sich hauptsächlich anf
das Motorische. Die visnellen Hilfen bestanden darin, daß die einzelnen
Buchstaben, die mehr individuell auftraten, diese sprachmotorische Inner¬
vation unterstützten. Unter den bestimmten Aufmerksamkeitsbedingungen
trat eine Leichtigkeit des Erscheinens der nachfolgenden Buchstaben anf,
15*
228
Dora Lttdeke,
als ob Vp. sich gesagt bäte: Ich bin ganz eingestellt auf die Erfttllnng
einer Aufgabe, so dafi alles, was nun folgt, dieser Einstellnng entsprechen
wird. Je leichter es erfolgt, desto besser worde ihm also durch die Ein¬
stellnng auf die Aufgabe Torgearbeitet.«
Hier ist also das Wirksamwerden der durch die Einstellnng
geschaffenen psychischen Wirkungsart als Grand für die Leichtig¬
keit des Erscheinens der einzelnen Glieder anzusehen. Der Über¬
gang zum Sprachmotorischen vom Visuellen aus scheint sich bei
Vp. E., die stark motorisch ist, leichter zu vollziehen als bei
Vp. St.; wir hören nichts darüber, daß das willkürliche Setzen
sprachmotorischer Impulse das Auftreten eines Aufmerksamkeits¬
ganzen hemmt.
Vp. A. zieht ebenfalls das Sprachmotorische heran, arbeitet
aber daneben mehr als Vp. St. und Vp. E. mit dem Visuellen.
Die Eeproduktion gründet sich auf motorische Innervationen und
optische Bilder, längere Zeit hindurch kann Vp. nicht sagen,
welches dieser Elemente überwiegt.
»Die Auffassung der einzelnen Buchstaben war optisch gut, anSerdem
zog ich sprachliche Inneryationen heran. Ich kann noch nicht entscheiden,
ob die optischen Bilder primär oder sekundär waren. «
Bei den späteren Versuchen tritt das Optische mehr in den
Hintergrund, das Sprachmotorische wird immer mehr heran¬
gezogen.
»Ich habe den Eindruck, als wenn das Sprachmotorische in erster Reihe
stände, das Visuelle tritt ergänzend hinzu. Das Optische ist dabei lücken¬
haft, die sprachmotorischen Elemente bilden die feste Kette.«
Bei der Auffassung sind also die optischen Bilder das un¬
mittelbar Gegebene. Da sie aber isoliert auftreten und sich
nicht zusammenschließen, muß eine Umsetzung ins Sprachmoto¬
rische erfolgen. Ist diese gelungen, so spielt das motorische
Element bei der Wiedergabe die führende Rolle, das Optische
wird zwar mit herangezogen, doch gibt es allein keine Gewähr
für eine befriedigende Reproduktion. Von Vp. Kf. liegt über
das Heranziehen des Sprachmotorischen folgende Aussage vor:
»Ich habe das Bewußtsein, sehlecht reproduziert zu haben. Das Sprach¬
motorische versagte diesmal, auf das Optische alleiu kann ich mich nicht
verlassen.«
Die betreffende Reihe wies tatsächlich viele Fehler auf, sie
war also zu Fall gebracht durch das Versagen des motorischen
Faktors.
Die vorstehenden Aussagen zeigen, wie wichtig die Heran¬
ziehung des Sprachmotorischen für die Überkompensierung des
Experimentelle Uotersaebnngen ttber das unmittelbare Bebnlten nsw. 229
diskreten Charakters des Visuellen ist. Versagt der motorische
Faktor, so fällt die Reihe auseinander.
Es ergibt sich hier ein Gegensatz zu den Feststellungen
Me um an ns auf Grund des Verhaltens seiner beiden Vpn. D.
und Fr., von denen der erstere Akustiker, der letztere Motoriker
ist. Der Motoriker zeigt den diskreten Anfmerksamkeitstypns,
während der Akustiker eine Art Totalanfmerksamkeit hat.
Menmann kommt nun zu dem Schluß, daß sich ein deutlicher
innerer Zusammenhang zwischen den Gedächtnismitteln der beiden
Vpn. und dem Verhalten ihrer Aufmerksamkeit verrät Er glaubt,
»daß es das motorische Mittel des Behaltens ist, die Nötigung,
jeden einzelnen Buchstaben mit einer besonderen Sprachinner-
vation zu begleiten, was der Aufmerksamkeit des F. die Rich¬
tung auf die Glieder der Reihe gibt, während es umgekehrt für
den Akustiker gänstiger ist, wenn er erst die einzelnen akustischen
Glieder seiner Elangbildreihe zum Ganzen verschmelzen läßt,
um nur dieses zu reproduzieren«. Die Vpn. St, E. und A. haben
alle akustisch-motorischen T3rpus, das motorische Element tritt be¬
sonders bei Vp. E. stark hervor, bei allen drei Vpn. läßt die Heran¬
ziehung des Sprachmotorischen den diskreten Charakter znrück-
treten. M. Moers, die zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, weist
darauf hin, daßMeumann^) an andererstelle den motorischen
Typus in zwei speziellere Typen, den kinästhetischen und den
motorisch-impulsiven, scheidet. Nur der letztere, bei dem über¬
mäßig starke Bewegnngsimpnlse gesetzt werden, zeigt die dis¬
krete Aufmerksamkeit Während wir es nun mit dem kinästhe¬
tischen Typus zu tun haben, hatte M e n m an n bei seinen Versuchen
offenbar einen impulsiv-sprachmotorischen Typus vor sich. So
hebt sich der Widerspruch.
3. Scheidung der Anteile von Aufmerksamkeits¬
akten und Empfindungsinhalten am Auftreten des
diskreten Charakters.
Ein neues Moment für den geringeren Zusammenschluß der
Größen bei visueller Darbietung tritt uns in folgenden Aussagen
der Vp. St. entgegen:
»Die Reproduktion erfolgte anf Ornnd des Motorisebeu.
Einige Glieder traten visuell anf, die übrigen scblossen sieb
spracbmotoriscb eng aneinander an, so dafi sie dadurch ge¬
ll Henmann, Experimentelle Pädagogik Bd. 2 S. 587.
230
Dora Lttdeke,
■ ichert waren, aber dieser Anschlnfi ist anders als beim
Akastischen, dort sind es die Anfmerksamkeitsakte, hier die
Empfindnngsinhalte, die sich znsammenschliefien.«
»Nichts gemerkt von AneinanderschlieSen von Anfmerksamkeitsakten.
Der unmittelbare Eindrack, den man beim Vergleich hat, ist nicht einmal
so stark der, dafi beim Akustischen ein kontinuierlicher Tatbestand ist und
hier ein diskreter; man hat diesen Eindruck wohl, aber großer ist die
Differenz, die darin besteht, daß das eine Mal die Beproduktion an das Auf*
merksamkeitsganze gebunden ist, das andere Mal an den Empfindungsinhalt.
Beim Visuellen scheint es mehr der Aneinanderschlnß der Empfindungs-
inhalte zu sein.«
Es sind ans also zwei Möglichkeiten zur Erklärung der
innigeren Assoziation beim Akastischen gegeben:
a) Der Zusammenschloß der Anfmerksamkeitsakte ist
bei akustischer Darbietung größer; bei visueller Darbietung
sind die Aufmerksamkeitsakte beeinträchtigt durch die Not¬
wendigkeit, das Sprachmotorische heranzuziehen.
b) Daß die Anfmerksamkeitsakte sich zusammenschließen, ist
Illusion, in Wirklichkeit handelt es sich um einen Zu¬
sammenschluß von Empfindungsinhalten.
Eine Entscheidung kann erst auf Grund der Versuche mit
visuell-akustischer Darbietung gegeben werden.
Zusammenfassend können wir jedenfalls äber das Verhalten
der Aufmerksamkeit bei visueller Darbietung folgendes sagen:
Bei visueller Darbietung tritt in ausgeprägter Weise der Ein¬
drack des Diskreten hervor. Es fehlt der Zusammenschluß
der einzelnen Glieder, so daß der Eindrack eines psychischen
Ganzen nicht zustande kommt. Die willkürliche Setzung des
motorischen Faktors hat den Nachteil, daß sie einen großen
Aufmerksamkeitsaufwand erfordert, da der Weg vom
Visuellen zum Sprachmotorischen schwächer ist als der vom
Akastischen aus. Eine mehr unwillkürliche sprachmotorische
Innervation scheint daher für das Zustandekommen eines Auf¬
merksamkeitsganzen zweckmäßiger zu sein.
Das Auftreten des Diskreten wird ferner dadurch verstärkt,
daß durch Augenbewegung ein Zerreißen der Auf¬
einanderfolge psychischer Akte stattfindet
Außer durch den fehlenden Zusammenschluß von Aufmerk-
samkeitsakten kann der diskrete Charakter auch dadurch be¬
günstigt werden, daß die bei Visueller Darbietung auftretenden
Faktoren, das Visuelle und das Sprachmotorische,
nicht gleichwertig sind.
Eine besonders günstige Einstellung scheint dadurch gegeben
zu sein, daß die Vp. die Aufeinanderfolge der motorischen Inner-
Experimentelle Untersachangen ttber das unmittelbare Behalten asw. 231
Tationen mit der Aufmerksamkeit betont. Es wird hierdurch ein
periodischer Wechsel der Aufmerksamkeit yermieden, der sich
leicht dadurch ausbildet, daß der Übergang yom Visuellen zum
Sprachmotorischen sich relativ schwer vollzieht. Diese Ein«
atellnng ermöglicht es, auch beim Sprachmotorischen totale Auf*
merksamkeit zustande zu bringen.
Ungünstig wirkt zuletzt die Entwicklung starker Spannungs*
Empfindungen, während eine leichte Erregung von vorteil*
haftem Einfluß auf die Gewinnung guter Resultate ist.
b) Visuell akustische Darbietung.
(Die Vp. spricht die Buchstaben beim Lesen laut aus.)
1. Das Zurücktreten des diskreten Charakters.
Aussagen der Vpn.
Vp. St.: »Das ganze Erleben ist ein viel Tolleres, man merkt das, was
Fechner als den nachbildartigen Charakter bezeichnet, riel mehr
als nur beim Sehen.«
Vp. E.: »Bei dieser Darbietung gewinnt die Beprodoktion wieder den
motorisch •akostischen Charakter des Hemnterrasselns. Die Buchstaben
schlossen sich mit großer Leichtigkeit aneinander; diese Leichtigkeit und
Bestimmtheit bewirkten das Bewußtsein einer Sicherheit in bezug auf die
Bichtigkeit. Dabei konnte Vp. kaum einen einzigen Buchstaben als solchen
ans der Beihe hervorheben, sie bildeten gleichsam nur Bestandteile eines
Übergeordneten Ganzen der Beihe.«
V p. A.: »Vp. hOrt in der Panse ihre eigene Stimme. Das visuelle Bild
tritt ganz znrOck, auch die motorischen Innervationen werden schwächer,
der Schwerpunkt scheint im Akustischen zu liegen. Vp. hat das Gefühl
als schlösse sich die Beihe wieder mehr zusammen.«
Vp. AL: »Bei dieser Darbietung wird der Zusammenhang, der beim
rein Visuellen verloren geht, wiederhergestellt. Es ist gewissermaßen
«ine Melodie da, es kommt eine ganz neue Gesamtqnalität zustande, was
beim Visuellen nicht der Fall ist.«
Vp. H.: »Diese Darbietnngsweise ist angenehmer, ein Buchstabe zieht
immer den anderen wie von selbst nach sich, das erleichtert die Bepro*
duktion sehr.«
Vp. Ef.: »Das Verhalten ist einfacher durch den engeren Zusammen*
Schluß der Glieder. Beim Visuelleu mußte man sich Mühe geben, sich bei
der Beproduktion jeden einzelnen Buchstaben ins Gedächtnis zurUckzumfen,
hier schließen sie sich von selbst aneinander, so daß sich der Übergang von
«inem zum anderen fast mühelos vollzieht.«
ln diesen Aussagen hemcht große Übereinstimmung darüber,
4aß bei visuell-akustischer Darbietung der dis¬
krete Charakter verschwindet. Es sollen nun die ein¬
zelnen Faktoren zusammengestellt werden, die nach den Aus¬
zagen der Vpn. den Zusammenschluß unterstützen. Es sind
232
Dora Lttdeke,
a) Das Anssprechen der Buchstaben.
Darüber sagt Vp. St.:
»E8 ist, als ob da ein Ganzes heransk&me, anf das ich mich nur an
konzentrieren brauchte, damit die Beprodnktion zustande kommt. Sehr dent>
lieh trat folgender Tatbestand anf: Das Anssprechen selbst wirkte stark
unterstützend auf die Reproduktion. Sobald ich die Buchstaben ansspreche,
habe ich einen ähnlichen Tatbestand als ich bei der Darbietung hatte
Weniger günstig ist, daß man zum lauten Lesen eines jeden Buchstabens
Willensimpnlse setzen muß, dadurch wird die Auffassung etwas gestbrt,
doch tritt dieser Nachteil hinter dem erwähnten Vorteil beträchtlich zurück.
Das Akustische wirkt hier noch stärker als bei akustischer Darbietung durch
andere.«
Ähnlich äußert sich Vp. Al.:
>Die Tendenz des Sprechens ist zuerst nicht vorhanden. Es erfordert
einen besonderen Willensimpnls, daß das Sprechen einsetzt. Die Aufmerk*
samkeit ist erst nach außen eingestellt, der Übergang, die Aufmerksamkeit
von außen nach innen zu richten, erfordert immer Anstrengung, trotzdem
erfolgte die Reproduktion leicht und mit dem Gefühl großer Sicherheit.«
Vp. St. ergänzt ihre frühere Aussage noch dadurch, daß sie
Auskunft darüber gibt, wie die reproduzierende Wirkung des
Aussprechens gemerkt wird. Zunächst bemerkt Vp. einen Unter¬
schied darin, ob sie die Keihe noch einmal ganz überblickt, oder
ob sie beim Zurückschauen Halt macht.
»Bemerkt wird unmittelbar, daß das Bewußtsein der Reihe sehr viel
undeutlicher ist beim Überblicken als beim Anssprechen eines bestimmten
Buchstabens. Mache ich bei einem bestimmten Buchstaben Halt, so tritt
der nächste mit großer Deutlichkeit anf.«
Wir haben hier also die Aussage als Vp. und die psycho¬
logische Deutung nebeneinander; im ersten Falle die Feststellung
einer tatsächlichen Differenz bei beiden Darbietungsweisen, im
zweiten die Deutung des sich bei den verschiedenen Arten des
Rückschauens ergebenden Unterschieds als herkommend vom
Aussprechen. Die Ähnlichkeit des zweiten Tatbestandes mit dem
ersten scheint also das ausschlaggebende Moment zu sein. Bei
visueller Darbietung ist ein ähnlicher Tatbestand nicht gegeben,
dadurch konnte dort das Anssprechen selbst geradezu störend
wirken und war mit dem Auftreten von Unlustgefühlen ver¬
bunden. Bei akustischer Darbietung war der ähnliche Tatbestand
zwar durch das Aussprechen an und für sich gegeben, aber nicht
in dem Maße wie hier, wo noch hinznkommt, daß es sich beide
Male um den Klang derselben Stimme handelt. Die Unterstützung
durch das Aussprechen ist so stark, daß sogar der Nachteil, der
durch das Setzen von Willensimpnlsen zum Aussprechen der
einzelnen Buchstaben entsteht, stark überkompensiert wird.
Experimentelle Unterenchnngen über das unmittelbare Behalten nsw. 233
ß) Beduziernng der Willensakte.
In den vorhergehenden Anssagen trat hervor, daß die Vpn.
immer einen besonderen Impuls zum Anssprechen setzen müssen»
Nach weiteren Aussagen der Vp. St. ist es Äußerst wichtig, »daß
dieser Willensakt des Impnlsgebens im Bewußtsein auf ein
Minimum beschränkt wird«. In dem starken Hervortreten der
einzelnen Willensakte ist also ebenfalls ein Faktor gegeben, der
den diskreten Charakter begünstigt. Bas Resultat hängt zum
Teil davon ab, ob es gelingt, diese Willensakte zu beschränken.
/) Die Einstellung der Aufmerksamkeit
Über diesen Punkt sagen Vpn. St., A. und Kf. mit großer
Übereinstimmung ans, daß der Aneinanderschlnß fehlt, sobald zu
viel Aufmerksamkeit auf das Lesen verwendet wird. Auch bei
dieser Darbietung bringt das Akustische allein nicht den Zu¬
sammenschluß zustande, sondern es ist nötig, daß die Aufmerk¬
samkeit richtig eingestellt wird. Lenkt sie sich zu sehr auf
das Visuelle, so wird das Ganze zerrissen. Um einen Zusammen¬
schluß zu ermöglichen, muß das Visuelle aus dem Blickpunkt
der Aufmerksamkeit heransgerückt werden.
Sehr schön tritt uns die verschiedene Richtung der Aufmerk¬
samkeit der beiden Darbietungsweisen in folgender Aussage der
Vp. AL entgegen:
»Die Anfmerksamkeit ist hier ganz anders gerichtet als beim Visnellen.
Anfangs wird sie auf den AnSenreis eingestellt; sobald das Sprechen an-
flngt, ist sie nach innen gerichtet. Was im Bewnfitsein erhalten bleibt,
sind die Spnren des Aknstisch-Motorischen, während das Yisnelle sofort ans
dem Bewnfitsein Terschwindet, manchmal schon Tor dem Verschwinden des
Beines.«
d) Zusammenwirken von Aufmerksamkeit und
Empfindung.
Darüber sagt Vp. St:
»Ich habe den Eindmck, dafi zwar der Znsammenschlnfi zustande ge¬
bracht war durch Empfindnngsinhalte und Anfmerksamkeit, dafi aber letztere
doch nicht eine so starke Rolle spielt wie frfiher, als ich mich auf das
Sprachmotorische verliefi. Mir scheint, als ob die Aufmerksamkeit auch
etwas anderer Art wäre wie heim Aneinanderschlnfi von Bewegungsemp-
findnngen, hier ist sie mehr nnwillkttrlich, dort mehr willkürlich.“
Hier wird also die Rolle der Anfmerksamkeit zwar etwas
eingeschränkt gegenüber ihrer Bedeutung bei rein visueller Dar¬
bietung, aber es handelt sich nur um ein Zurücktreten, nicht
um ein Ausscheiden dieses Faktors. Die Frage: »Schließen
sich die Anfmerksamkeits- oder Empfindungsin-
234
Dora Lttdeke.
halte zusammen?« entscheidet sich also dahin, daS
wir es mit einem Zusammenwirken beider Faktoren
zu tun haben, wobei allerdings die Aufmerksam*
keit anderer Art ist als früher, indem es sich hier
um eine mehr unwillkürliche Aufmerksamkeit
handelt.
2. Zusammenfassende Übersicht über die Beteili¬
gung der Aufmerksamkeit bei yisuell-akustischer
Darbietung.
Die Sprechbewegungsempfindungen können sich ebenso gut
zusammenschließen wie die Elangempfindungen, am Zusammen¬
schluß wird man gehindert
1. durch das Visuelle;
2. durch eine Seite des Motorischen, nicht durch die Be-
wegnngsempfindnngen, die beim Sprachmotorischen anftreten,
auch nicht durch die Sprachbewegungen selbst, sondern durch die
zeitweilig auftretenden einzelnen Willensimpulse zu motorischer
Innervation. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Klang
oder die Sprechbewegungsempfindungen, so wird die psycho¬
physische Energie von anderen Momenten abgezogen, die übrigen
Prozesse laufen mit einem Minimum von Aufmerksamkeits- bezw.
Willensaufwand ab.
Es kommt hier besonders darauf an, daß eine Aufmerksam¬
keit sich richtet auf die sich aneinanderschließenden Klänge
oder Bewegungsempfindungen oder auf beides zusammen. Die
in den Intervallen liegenden psychischen Akte bleiben unbeachtet,
dadurch kommt der Zusammenschluß zustande. Nach Vp. St.
wird »durch ein sich bildendes akustisches Empfindungsganzes
totale Aufmerksamkeit angereg^t«.
Es wirken also Empfindung und Aufmerksam¬
keit zusammen; die Aufmerksamkeit bringt — je
nach ihrer Richtung — zugleich eine Verstärkung
und Überbrückung zustande; denn
1. läßt sie die Empfindungen deutlicher heraus¬
treten;
2. bewirkt die Richtung der Aufmerksamkeit auf
diese Empfindungen die Nichtbeachtung anderer in
den Intervallen auftretender psychischer Prozesse
und begünstigt dadurch den Aneinanderschluß der
von ihr selbst verstärkten Prozesse;
3. schließen sich die Aufmerksamkeitsakte selbst
Experimentelle Untersnchnngen ttber du anmittelbare Behalten nsw. 235
zasammen, die Auffassung aber, als sei der Zn-
sammenschluß der Glieder allein durch den Zu*
sam men sch Infi von Aufmerksamkeitsakten bedingt,
scheint illusionär zu sein.
Über das Zustandekommen dieser Illusion sagt Vp. St. fol¬
gendes aus:
»worden sich nur die Empfindungsinhalte xasammenschließen, so könnte
keine ülasion entstehen; so ist hier die Sache aber nicht, sondern es hat
sich heraosgestellt, daß tatsächlich die Anfmerksamkeit beim Zustande¬
kommen des Totaleindrncks in stärkster Weise mitwiikt. Vp. merkt diese
starke Beteiligting, kommt dadurch zu der illusionären Auffassung, die Auf¬
merksamkeit sei allein maßgebend, und betont sie einseitig als einzigen
Faktor.« *)
Es liegt zuletzt noch eine vierte Wirkungsweise der Anf¬
merksamkeit nach dieser Richtung vor.
Eine Charakterisierung dieser Wirkungsweise gibt folgende
Aussage der Vp. St.:
»Ich wollte wUlkOrlich zustandebringen, wu im vorhergehenden Ver¬
suche unwillkOrlich entstand, ich wollte in erster Linie laut aassprechen
und dadurch eine stärkere Beachtung der akustischen Faktoren herbeifOhren.
Die Aufmerksamkeit blieb jedoch zu lange bei den einzelnen akustischen
Tatbeständen stehen, diese stellten sich mir ganz isoliert dar als diskrete
OrOfien.«
Das schlechte Resultat kommt also hier dadurch zustande,
daß die Aufmerksamkeit so einseitig auf die einzelnen akustischen
Größen gerichtet wurde, daß die ftbrigen Reproduktionsfaktoren
in ihrer Wirkung dadurch sehr stark herabgesetzt wurden.
Vp. St fftgt aber noch hinzu, daß durch dieseRich-
tung der Aufmerksamkeit noch etwas anderes litt,
das sie als »Akt des Zusammenfassens der Ein¬
drücke« bezeichnet Diese Bestimmung ist sehr wichtig.
Dieser Akt stellt sich der Vp. da, wo er fehlt, als etwas ganz
Besonderes dar: Ȁhnlich wie einzelne psychopatho-
logische Fälle dadurch für die psychologische
Analyse interessant werden, daß ihnen etwas fehlt,
was in der Norm vorhanden ist, so daß man erst
durch dasFehlen in pathologischen Fällen auf das
Vorhandensein in normalen aufmerksam wird, führt
hier das Fehlen des Zusammenfassens der Ein¬
drücke auf die Beachtung dieses Aktes als eines
1) Ein weit stärkeres Blervorheben des ZusammenschluaBes
von Aufmerksamkeitsakten hat sich ebenfalls bei unmittelbarem
Behalten unter Bedingungen gezeigt, unter denen Schorn gearbeitet hat;
vgL dieses Archiv Bd. XLTTT S. 121.
236
Dora Lttdeke,
bei normaler Eeproduktion vorhandenen.« Vp. be¬
zeichnet dieses Vorhandensein als dieselbe Art von
Akt, wie sie sich vollzieht bei der Zusammenfas¬
sung von Prämissen als Mittel zur Entwicklung
des Schlusses.
Unsere Auf zählang der verschiedenen Arten des
Wirkens der Aufmerksamkeit haben wir also durch
einen vierten Punkt zu ergänzen: Es kann entstehen
4. ein Aufwand von Aufmerksamkeit för die Zu¬
sammenfassung der aufeinanderfolgenden psychi¬
schen Komplexe, das ist ein besonderer Akt der
Synthesis außer dem Sichzusammenschließen von
Auf merksamkeitsakten.
B. Reproduktionsprozesse.
§ 1 .
BlehtigkeitsbewnßtseiB and Wiedererkeuten.
Die im vorigen Abschnitt charakterisierten Arten der Ein¬
stellung sind von großer Bedeutung für die Wiedergabe der
Reihen. Alle Teile der während der Darbietung im Zentrum
des Bewußtseins stehenden psychischen Prozesse stehen zueinander
in inniger Beziehung. Durch die Einstellung ist eine psychische
Wirkungsart geschaffen, deren Wirksamwerden sich in einer
größeren oder geringeren Leichtigkeit des Auftretens der ein¬
zelnen Glieder zeigt.
Zeigt sich nun unter bestimmten Aufmerksamkeitsbedingungen
eine Leichtigkeit des Erscheinens der einzelnen Buchstaben, so
ist die Wiedergabe mit einem Gefühl der Sicherheit verbanden,
ohne daß schon von einem eigentlichen Wiedererkennen die Rede
sein kann.
Der Unterschied zwischen dem bloßen Richtigkeitsbewußtsein
und dem eigentlichen Wiedererkennen tritt in den Aussagen der
Vpn. deutlich hervor. Sie unterscheiden zweierlei Arten der
Beurteilung des Reproduzierten, einerseits eine kontinuierliche
Reproduktion, wo ein Buchstabe den andern nach sich zieht
und ein eigentliches Wiedererkennen für den einzelnen Buch¬
staben nicht auftritt. Manchmal wird diese Reproduktion von
dem allgemeinen Bewußtsein bekleidet, daß, wenn man sich auf
den einzelnen Buchstaben speziell besinnen wollte, er auch als
solcher wiedererkannt würde, doch ist dieses Bewußtsein nicht
immer vorhanden, trotzdem werden ziemlich hohe Grade der
Experimentelle Untersnchnngen über das unmittelbare Behalten nsw. 237
Sicherheit erreicht. Diese Art des Vei’haltens tritt hauptsächlich
bei akustisch-motorischer Reproduktion auf. Bei der zweiten
Art werden die einzelnen Buchstaben wiedererkannt, die Be¬
stimmtheit ihres Auftretens unter der betreffenden Einstellung
spielt eine große Rolle als konstituierender Bestandteil für das
Auftreten des Sicherheitsgefühls. Dies Verhalten tritt haupt¬
sächlich — fast ausschließlich — bei visueller Reproduktion auf
Vp. E. hebt noch besonders hervor, daß die Sicherheit beim
visuellen Wiedererkennen zum Teil darauf beruht, daß der visu¬
elle Buchstabeneindruck sich als Glied eines Ganzen demselben
fest einfügt, aber nicht des Ganzen im Sinne der zeitlich aus¬
gedehnten Buchstabenreihe, sondern als Teil des Gesamtbewußt¬
seins, welches da war allgemein bei der Vorweisung der Reihe
und speziell bei der Wahrnehmung des betreffenden Buchstabens.
Von dem allgemeinen Zustand, in dem sich die Vp. im Augen¬
blick der Aussage befindet, führt eine mehr oder weniger deut¬
liche Erinnerung zurück zu dem Zustande, in dem sie sich bei
der Auffassung des Buchstabens befand, und in diesem letzten
Querschnitt des Bewußtseins findet sich als fester Bestandteil
der betreffende Buchstabe eingeschlossen.
Von einem eigentlichen Wiedererkennen im Gegensatz zum
bloßen Richtigkeitsbewußtsein kann erst dann die Rede sein,
wenn zu dem Gefühl der Sicherheit eine Erinnerung hinzutritt,
d. h. die Überzeugung, daß der Inhalt des Reproduzierten tat¬
sächlich etwas früher von der Vp. Erlebtes darstellt. Schließt
sich an diese Überzeugung noch ein Identifikationsprozeß zwischen
dem Erleben bei Darbietung und Reproduktion an, so haben wir
es mit einem Wiedererkennen zu tun.
§ 2 .
Kriteiien für Wledererkennen und Blchtlgkeitsbewnfitseiii.
Es fragt sich nun, von welchen Kriterien es abhängig ist,
ob die reproduzierten Glieder von den Vpn. für richtig angesehen
werden. Ich unterscheide zwischen direkten Kriterien, die zu
einem eigentlichen Wiedererkennen führen, und indirekten Kri¬
terien, die für das Zustandekommen eines Richtigkeitsbewußtseins
genügen, ohne daß die einzelnen Glieder wiedererkannt werden.
1. Direkte Kriterien,
a) Verifikation durch das Visuelle.
Als Hauptkriterium für das Zustandekommen eines eigent¬
lichen Wiedererkennens unter den gegebenen Versuchsbedingnngen
238
Dora Lüdeke,
wird von allen Vpn. die Verifikation durch das Visuelle genannt,
die sich auf Bekanntheitsqnalität grttndet. Es kommt aber noch
ein wesentlicher Faktor hinzn. Mit Sicherheit können fast alle
Vpn. anssagmi, daß der Buchstabe nicht allein erscheint, sondern
mit dem Fensterchen zusammen, das zugleich mit der mehr oder
weniger bestimmten Form des Buchstabens, der weißen Unter¬
lage usw. deutlich im Bewußtsein auftritt Sobald sich diese
Bestimmtheit des visuellen Eindrucks des Buchstabens sowohl
als seiner unmittelbaren Umgebung verliert, nimmt auch die
Sicherheit im allgemeinen bedeutend ab.
Als wesentlicher Faktor der visuellen Bekannt-
heitsqnalit&t tritt uns also hier die Tatsache der
Lokalisation entgegen. Hierzu kommt dann weiter
die Erinnerung, daß die Vp. die Buchstaben an der
betreffenden Stelle bei der Darbietung schon ein¬
mal gesehen hat Die Erfassung der Identität der
beiden psychischen Inhalte bei Darbietung und
Reproduktion macht das Wesentliche des Wieder-
erkennens ans.
Vp. St macht in bezug auf die visuelle Verifikation noch
folgende Aussage als Psychologe:
»Das Visaelle kann dabei yersebieden bedingt sein, ein¬
mal so, dafi es eine selbständige Reproduktion darstellt
neben dem Motorischen, so daß es sieh nicht an dieses an-
schließt and nur die Übereinstimmung zwischen beiden als
Verifikation dient, oder so, daß sich die yisaeIle Reprodukion
zwar erst an das Sprachmotorische anschließt und durch
letzteres mindestens in der Hauptsache bedingt ist, daß
aber dann die yisuellen Vorstellungen auf Qrund ihrerlden-
tität mit den früheren yisuellen Wahrnehmungen Bekanntheits¬
charakter an sich tragen.«
Vp. E. und Vp. A. betonen, daß sie bei der deutlichen Er¬
innerung an den konkreten Buchstaben mit Sicherheit seine un¬
mittelbare Umgebung bemerken, ferner in absteigender Deutlich¬
keit das Vorhandensein des gesamten Ichzustandes, das im
Moment der Auffassung vorhanden war und in das als ein Teil
derselben der Buchstabe eingefaßt ist.
b) Verifikation durch das Akustische.
Über ein akustisches Wiedererkennen berichten nur die Vpn.
St. und E., die öbrigen machen entweder keine Aussagen über
dieses Kriterium, oder sie betonen ausdrücklich — wie Vp. A,
und Vp. Al. —, daß beim akustischen kein eigentliches Wieder-
Experimentelle üntennchnngen über das nnmittelbare Bebalten nsw. 239
erkennen stattfinde nnd die Beprodnktion ausschließlich auf
Grund der indirekten Kriterien erfolge. Bei der rein aku¬
stischen Darbietung tritt bei Vp. St Wiedererkennung
der Klangfarbe des VL auf. Vp. hat den Eindruck,
am besten zu reproduzieren, wenn sie die Aufmerksamkeit auf
die frühere Schallquelle richtet — Vp. E. glaubt anfangs, daß
bei akustisch-motorischer Reproduktion der einzelne Buchstabe
als solcher wenig wiedererkannt wird, später aber heißt es:
»Das Akustische hat sich insofern geändert, als jetzt ein Wiedererkennen
des einzelnen Bncbstabens auch aknstisch stattfand, so dafi eine ähnliche
Prüfnng, wie sie früher nur visnell yorgenommen wnrde, jetzt anch schon
akustisch Torliegt.«
Über die Beteiligung des früheren Ichzustandes berichtet
Vp. St:
>Anßerordentlieh unterstützend wirkt das Anssprechen
der Buchstaben. ImMoment des Anssprechens lehneichmich
an den Moment an, wo ich den gleichen Bnchstaben Torher
ansgesprochen habe, es tritt znweilen geradezu eine Erinne-
rnng an die frühere Situation bei Gelegenheit des Ans-
Sprechens ein. Die Beprodnktionstendenzen sind so kräftig,
daß sogar die Nebennmstände des früheren Ichznstandes an¬
deutungsweise reproduziert werden«.
Meumann zieht nach bestimmten Oedächtnisyersachen den
Schluß, daß das yisuelle Gedächtnis langsamer arbeite, aber
sicherer und zuverlässiger sei als das akustische. Demgegen¬
über führt G.E. Müller Beispiele dafür an, daß es Personen
gibt, denen die akustischen oder akustisch-motorischen Repro¬
duktionen für zuverlässiger gelten als die visuellen. Diese Frage
würde sich nach meinen Versuchen folgendermaßen entscheiden:
„Nicht das visuelle oder akustische Gedächtnis
als solches ist zuverlässiger. Gerade bei akustisch¬
motorischem Verhalten werden oft hohe Grade des
Sicherheitsbewußtseins erreicht, doch gründet
sich diese in den meisten Fällen auf die indirekten
Kriterien, ohne zu einem eigentlichen Wieder¬
erkennen zu führen. Für ein Wiedererkennen der
einzelnen Glieder stehen die visuellen Faktoren
an erster Stelle, auch bei Vpn.mit aknstisch-moto¬
rischem Typus. Sehr klar tritt dieses Verhalten in folgender
Aussage der Vp. Sch. hervor:
»Bei dem akustischen Verfahren war Vp. anch gespannt anf das Resultat;
bei dieser Darbietung (yisnell mit Sprechen) nicht, weil Vp. ein ruhiges
Sicherheitsgefühl hat, schon beim ersten Bnchstaben weiß sie, daß sie alle
hat, während sie bei aknstischer Darbietung das Gefühl hatte: ,Ich sage
240
Dora Lttdeke,
«ie, aber es können falsche damnter sein*. Das kommt nicht daher, dafi
Vp. ein visneller Typns ist, sie fadt im Gegenteil vorwiegend akostiseh«
motorisch anf, vielleicht liegt es daran, dafi beim Aknstischen der assoziative
Zwang das allein Mafigebende ist; hier tritt noch das Visaelle ergänzend
hinzu, nnd gerade die anf Grand des Visuellen reproduzierten Glieder sind
vom GeftUü grofier Sicherheit begleitet«.
Wie schon erwähnt, kann auch auf akustischem Wege ein
eigentliches Wiedererkennen erreicht werden, hier ist vor allem
die Klangfarbe des Vl. das unterstützende Moment; diese anf
Grund der akustischen Verifikation wiederer*
kannten Glieder sind auch mit dem Gefühl besonderer
Sicherheit verbunden, doch finden sich hierfür bei
meinen Vpn. viel weniger Aussagen, obgleich nur
der vorwiegend akustische und der akustisch-moto¬
rische Typus vertreten waren.
Daß das Sinnesgebiet, dessen Vorstellungsbildem eine Vp. be¬
sonderes Zutrauen schenkt, nicht immer zugleich das ist, für das
ihr Gedächtnis am leistungsfähigsten ist, kann nach G. E. Müller
auch so gedeutet werden, daß die Vp. auf Grund ihrer Erfah¬
rungen weiß, daß es für das Auftauchen gerade dieser Vor-
stellnngsbilder bei ibr einer besonders kräftigen Unterlage be¬
darf, und daß sie dadurch für sie — wenn sie auftanchen —
den Charakter einer besonders großen Sicherheit haben.
c) Wiedererkennen durch Schluß.
Über eine besondere Art des Wiedererkennens liegt folgende
Aussage der Vp. St. vor:
»Vp. wundert sich, dafi die Reihe so leicht ablief, trotzdem weder asso¬
ziatives ZwangsgefUhl noch visuelle Verifikation da war. Trotzdem hält es
Vp. für wahrscheinlich, dafi die Buchstaben zu etwa 80*’/o richtig sind, da
die Reproduktion so glatt von statten ging. Es handelt sich
also um ein Wiedererkennen durch Schlnfi. Vp. fügt die psychologische
Aussage hinzu, dafi hier anscheinend ein scharfer Gegensatz zu
allen andern Arten des Wiedererkennens vorliegt, dafi sie
wenigstens als Vp. den Eindruck grofier Differenz hat. Vp.
kann nicht dafür einstehen, dafi dieser Gegensatz psychologisch (d. h. bei
Beachtung der Genesis) ein so scharfer ist, wie er ihr psychisch erscheint.«
2. Indirekte Kriterien,
a) Das assoziativ bedingte Zwangsgefühl.
Über die Entstehung des assoziativen Zwangsgefühls ver¬
danken wir Hume eingehende Untersuchungen. Nach Hume
»modifiziert das wiederholte Erleben regelmäßiger Sukzessionen
unsere Auffassung der Vorgänge. Diese Änderung kommt auf
Experimentelle Untersnchongen tlber das unmittelbare Behalten usw. 241
das Konto der Wiederholung, durch diese entsteht etwas Neues
im Geist, das assoziativ bedingte Zwangsgeftthl. In diesem Qe-
ffihl ist eine Impression gegeben, welcher der Idee der not«
wendigen Yerknüpfung zugrunde liegtc.
Bei unseren Versuchen waren für das Auftreten
des assoziativen Zwangsgefflhls vorteilhafte Be<
dingungen dadurch gegeben, daß — obgleich es sich
nur um eine einmalige Wiederholung handelte —
diese unmittelbar nach dem ersten Erleben anftrat.
Über das Auftreten des assoziativ bedingten Zwangsgeftthls
berichten Vpn. St, A., B. und Kf. Bei Vp. St heißt es:
»Was den s^latten Verlauf der Beproduktion anbelangt, so steckten
darin hier oSenhar Zwangsgeftthle, die Beiiehnng dieser Zwangs*
geftthle ist nicht ganx sicher. Ich weifi nicht, ob ich sie be*
sieben soll auf die Beziehung der Buchstaben zueinander
oder auf die Beziehung des einzelnen Buchstabens zu der
Einstellung, die ich habe, wenn ich die Gesamtheit repro*
dnzieren will«
Das Zwangsgeftthl besteht nach einer psychologischen Ans*
sage der Vp. St in gewissen Fällen in dem »Sichanfdrängen
neuer Sprechbewegungsimpulse<; die durch dieses
Zwangsgeftthl entstehende Einheit ist demnach zu
scheiden von der Aufmerksamkeitseinheit, die
durch akustische Versuche zustande gebracht wird,
1. weil es sich das eineMal um eine Einheit von
Anfmerksamkeitsakten, das zweite Mal um
eine solche von Empfindungsinhalten handelt;
2. dadurch, daß bei den Anfmerksamkeitsakten
die Einheit als solche sich schon in derPause
darstellt, während das zweiteMal dieEinheit
als solche erst bei der Reproduktion erlebt
wird.
Als indirekte Kriterien nennt ferner Vp. E.:
b) Spontaneität unter einer bestimmten Einstellung;
c) Bestimmtheit in der Gewalt der Durchsetzung;
d) Präzisierung in der konkreten Gestaltung.
Vp. macht dazu folgende Aussagen:
zu b: »Beim Suchen nach fehlenden Buchstaben war folgendes ans*
geprägt: Es wurden bestimmte Buchstaben undeutlich vorgestellt mit der
Erwartung, dafi wenn einer von ihnen Torgewiesen wäre, er sich sofort
herausheben würde, indem er einerseits klarer und deutlicher hervortritt
und andererseits gleichsam einhakt in den bei der Vorweisung vorhanden
gewesenen Zustand. Bei dieser Einstellnng traten die einzelnen Buchstaben
Archiv für Paychologie. XLVIII. 16
242
Dora Lttdeke,
mit großer Leichtigkeit anf and worden hwgesagt, ohne dafi wohl too
einem eigentlichen Wiedererkennen die Rede war.«
Zo c: >Aach bei dieser Reihe war aiemlich deutlich ausgesprochen das
Sichverlassen auf die durch die Einstellung geschaffenen Bedingungen, d. h.
dafi wenn ein Buchstabe kommt, er wohl an der Reihe gehört. Dies wird
auch besonders deutlich bei Buchstaben, die nicht mit Sicherheit reprodudert
werden, und hei denen die Unsicherheit anm grofien Teil daron berkommt,
dafi sie ohne alle Bestimmtheit auftreten.«
Zu d: »Am Schlüsse der Reihe stieg noch ein h auf, dieses trat
1. visuell aiemlich deutlich hervor, 2. knfipfte sich an h irgend ein Gedanke
beim Anffassen dieses Buchstabens, der bei der Reproduktion wieder antOnte,
jedoch nur leise. Als Hanptkriterinm diente auch in diesem Falle die kon*
krete Gestaltung, die es mir sicher erscheinen liefi, dafi der Buchstabe nur
von diesem Versuch stammen könne und dort den Schlnfi der Reihe gebildet
haben müsse.«
Auch die ttbrigen Vpn. berichten fiber das Anftreten dieser
indirekten Kriterien; letztere können so stark ansgeprägt sein^
daß die Vpn. Sicherheit besitzen, ohne daß die einzelnen Bach*
staben wiedererkannt werden. Es ist dies der Fall, wenn sich
die Yp. darauf verläßt, was ihr unter den konkreten Umständen
des Versuchs in den Sinn kommt und auch der allgemeinen Ein¬
stellung, unter der ihrerseits der Versuch ausgeftthrt wird, ent¬
sprechen würde. Natürlich kann dabei der Grad der Sicherheit
ein ganz verschiedener sein. Vp. E. spricht nach einer Repro¬
duktion die Vermutung ans, »daß die indirekten Kriterien nicht
nur zur Sicherheit beitragen, sondern geradezu die Sicherheit
ausmachen«. Je leichter die Buchstaben auftraten, desto größer
war nach übereinstimmenden Aussagen aller Vpn. das Gefühl der
Sicherheit in bezug auf die Reproduktion, ohne daß sich damit
eine deutliche Vorstellung der einzelnen Buchstaben verband.
Deutlich ausgeprägt war der Eindruck der Leichtigkeit der Auf¬
einanderfolge, was aufeinander folgte, war weniger wichtig.
Es scheint also für die Entstehung des Sicherheitsbewußt¬
seins nicht das Was, sondern das Wie des Auftretens von Be¬
deutung zu sein.^)
§3.
Das Terkaltea während der Intervalle,
a) Die Aussagen der Versuchspersonen.
Die Vpn. erhielten die Anweisung, während der Pansen nicht
an die Reihe zu denken und zu Protokoll zu geben, falls sie
1) Vgl. Störring, Psychologie S. 261 ff. und Störring, Exp. n. psycho-
pathologische Unt. über d. Beweis d. Gültigkeit dieses Archiv Bd. XTV.
Experimentelle Untennohnngen ttber daa unmittelbare Behalten nsw. 243
gegen ihren Willen anftanchen sollte. Die Versuche, bei denen
eine eigentliche Beproduktion nicht unterdrückt werden konnte,
wurden für die zahlenmäßige Verwertung ausgeschaltet, boten
aber zum Teil reichhaltiges Material über das psychische Eh'<
leben der Vpn. während der verschiedenen Pausen.
Ans den Aussagen aller Vpn. ergibt sich mit großer Über*
einstimmnng, daß das Intervall von 2 Sek. als das adäquateste
empfunden wird. Die Pause von 1 Sek. genügt nicht, die Beihe
zur Auswirkung kommen zu lassen. Vp. AL empfindet bei diesem
Intervall besonders starke Neigung zum Beprodezieren.
»Es ist merkwürdig, in diesen kurzen Pansen ist die Tendenz der Beihe,
sich wieder in den Mittelpunkt des Bewndtseins zn drftngen, größer als bei
2Sek. Das Bewußtsein, die Reihe bald wieder reproduzieren zn müssen,
wirkt eher wieder belebend anf die Spuren.«
Am besten gelingt es allen Vpn., bei 2 Sek., sich den An¬
ordnungen des VL gemäß zn verhalten. Vp. E. äußert sich über
ihr Verhalten folgendermaßen:
»In der Panse sucht Vp. sich vor allem das so gut wie völlig vor-
stellnngslose Qesamtbild der Beihe zu erhalten. Sie faßt dies nicht als im
Widerspruch zn der Anweisung stehend anf, denn es ist keine Reproduktion
der Beihe oder der einzelnen Buchstaben, sondern ein Festhalten der an
sich unterbewußten Spuren der Eindrücke, anf denen sich aber die Bepro¬
duktion anfbanen wird.«
Vp. A. sagt aus:
»Die Panse wurde schOn leer gehalten, ich hatte einen Überblick über
die sprachmotorische Beihe, ohne daß im einzelnen reproduziert worden
w&re. Ich unterscheide von der deutlichen Reproduktion die im dunklen
Bewußtsein liegende Qestaltqnalitit der Reihe.«
Auch Vp. Al. äußert wiederholt, daß sich die Tendenz geltend
machte, die Beihe zn wiederholen,
»d. h. nicht eigentlich zn reproduzieren, sondern den Blick anf das
Ganze znrückschweifen zu lassen. Diese Tendenz wurde unterdrückt und
die Anfmwksamkeit anf das schwarze Blickfeld konzentriert«.
Vp. St. findet es besonders schwer nach optischer Darbietung,
eine Wiederholung zu vermeiden, und führt diese Tatsache darauf
zurück, daß sie »beim Akustischen in dem Präsentsein des Anf-
merksamkeitsganzen eine gewisse Garantie für gute Beproduzier-
barkeit zu haben glaubte«. Vp. sucht eine Hemmung zu setzen
durch krampfhaftes Festhalten des ersten Gliedes. Über den Unter¬
schied des Wiederauftanchens der Glieder auf Grund aknstisch¬
motorischer oder optischer Spuren äußert sich auch Vp. A.:
»Ich habe immer das Gefühl des Präsentseins der Beihe, es kommt
sogar zn einer gewissen motorischen Einstellung, jedoch führen diese
akustisch-motorisch gebliebenen Spuren nicht zu einer eigentlichen Reprc-
dnktion. Schlimm ist es aber, wenn einige Glieder optisch anftreten. Diese
16 *
244
Dora Lttdeke,
diskreten Qrfißen scheinen vorher S'anz ans dem Bewafitsein
entschwanden an sein, jetzt treten sie mit solcher Klarheit
nnd Hartnäckigkeit anf, daß ich hier wohl von einer eigent¬
lichen Reprodnktion sprechen maß.«
Diese Anssage ist änßerst wichtig. Wir sehen deutlich das
Auftreten von zwei ganz verschiedenen Arten des Wiederauf-
tanchens der Glieder, Bei der zweiten, auf Grund des Visu¬
ellen erfolgten Reproduktion scheinen die Elemente ganz aus
dem Bewußtsein entschwunden, also dem mittelbaren
Behalten verfallen zu sein.
Über das Intervall von 4 Sek. sagt Vp. St. ans, daß sie sich
hier ganz anders verhält als bei 2 Sek.
*Bei 2 Sek. fühlte ich mich in der knrzen Zeit so stark geladen mit
Eindrücken, hier fühle ich mich soznsagen freier, ich schiebe die Eindrücke
viel stärker znrück, so daß es mir scheint, als seien sie in den dnnkelsten
Regionen des Bewußtseins.«
Als Psychologe bemerkt Vp. dann noch, daß es viel schwieriger
sei, diese Glieder ins klare Bewußtsein heranzuziehen, als wenn
sie den klaren Regionen gegenüber nur etwas znr&ckgeschoben
wären.
Nach Vp. E. ist in dieser längeren Pause eine sehr große
Konzentration nötig, um das Empfangene nicht zu verlieren.
Vp. äußert wiederholt, daß sicher keine Reproduktion stattfindet,
wohl aber ein »Festhalten der Eindrücke, wie sie von der Dar¬
bietung her geblieben sind, ohne überhaupt aus dem Bewußtsein
völlig entschwunden zu sein«.
Das Intervall von 8 Sek. wird von allen Vpn. als sehr lang
empfunden, es kommt als Dauer, als direkte Wartezeit zum Be¬
wußtsein. Das Sicherheitsgefühl nimmt ab, die Angst zu ver¬
gessen stellt sich ein, besonders bei längeren Reihen. Auch hier
sehen wir ein gewisses Festhalten der Reihen durch die ganze
Pause hindurch. Von diesem Festhalten der Eindrücke sagt Vp. AL:
»Damit es nicht zn einer Reproduktion kommt, muß ich die Aufmerk¬
samkeit auf irgend etwas anderes ablenken, diese Ablenkung wirkt als etwas
nicht zu dem Ganzen Passendes. Der Zustand ist doch der einer Vor-
bereitnng auf die Reihe, das Natürliche wäre, daß sie sich im Bewußtsein
aaswirken konnte. Dem wird eine Hemmung entgegengesetzt, das empfinde
ich als etwas direkt Fremdes.«
Auch Vp. B. empfindet die sehr starke Abwehrtendenz und
dadurch bedingte starke Ablenkung der Aufmerksamkeit als
etwas Störendes.
Wiederholt tritt in den Aussagen wieder der Gegensatz
zwischen dem Rnckschanen bei totalem und diskretem Verhalten
hervor. So sagt Vp. Kf.:
Experimentelle UnterBnchnngen über du unmittelbare Behalten usw. 245
»Es ist nach dieser (aknstisch-Tisnellen) Darbietung so, als ob sich in
den hinteren Begionen des Bewußtseins etwas abspielte, wu der Reihe
entspricht und doch keine deutliche Reproduktion ist, auf rein optischem
Wege ist eine derartige Rttckschau nicht möglich.«
In den Anssagen der Vp. St tritt wiederholt hervor, daß die
Lftnge der Panse das diskrete Verhalten begünstigt
»In der Panse tauchten einzelne Glieder mit großer Bestimmtheit auf,
die habe ich behalten; yon den anderen ist keine Spur mehr da. Ich habe
den Eindruck, daß sie völlig ans dem Bewußtsein verschwunden sind. Viel¬
leicht sind die anderen auch nicht durch unmittelbares Behalten wieder¬
gegeben, du kann ich nicht mit Sicherheit behaupten. Es könnte ja auch
sein, daß ein Teil noch unmittelbar behalten wttrde, ein anderer dagegen
ganz au dem Bewußtsein verschwindet, so daß, wenn von denen noch ein
Teil kommt, es sehr mittelbar ist.«
Es scheint sich hier also um einen negativen Faktor, den
Eindmck des völligen Yerschwnndenseins aus dem Bewußtsein,
zu handeln. Bei Vp. A., Vp. AL und Vp. Ef. finden sich ebenfalls
Angaben, daß bei diesem Intervall die längeren Reihen nicht
ganz auf Grund des unmittelbaren Behaltens wiedergegeben werden.
Die ersten Glieder stehen anscheinend dem klaren Bewußtsein
sehr nahe und drängen sich auf, sie werden gewöhnlich unmittel¬
bar wiedergeben; während die mittleren besonders häufig dem
anscheinend völligen Verschwinden aus dem dunklen Bewußtsein
verfallen und hervorgeholt werden müssen, in vielen Fällen tauchen
sie überhaupt nicht wieder auf. Die letzteren Glieder treten ge¬
wöhnlich einzeln auf, und zwar visuell, die letztere Tatsache führt
Vp. St. darauf zurück, daß die Vp. die Einstellung auf das Aus¬
sprechen genommen hat, hierdurch werden andere Reproduktions¬
tendenzen gehemmt
»Sobald man fertig ist, l&ßt man von dieser Einstellnng ab, so daß bei
den letzten Buchstaben fUr das Sichansleben der Reprodnktionstendenzen
keine Hemmung mehr gesetzt ist.«
b. Zusammenfassung der Ergebnisse.
1. Dauer des Intervalls.
ISek.: Die Zeit genügt nicht, um die Reihe zur Auswirkung
kommen zu lassen.
2 Sek.: Die Zwischenzeit wird als angenehm empfunden. Es
gelingt fast immer, ein so gut wie vorstellungsloses
Gesamtbild sich zu erhalten, zu einer eigentlichen
Reproduktion kommt es selten.
4 Sek.: Die Eindrücke werden viel stärker zurückge¬
schoben, sie scheinen in den dunkelsten Regionen
des Bewußtseins zu sein. Eine große Konzentration
ist nötig, um das Empfangene nicht zu verlieren.
246 Lttdeke,
8Sek.: Die Pause kommt als direkte Wartezeit zum Bewußt¬
sein. Abnahme des Sicherheitsgefflhls, Angst zu ver¬
gessen, besonders bei längeren Beihen. Die Aufmerk¬
samkeit muß abgelenkt werden, damit eine eigentliche
Beprodnktion vermieden wird; diese Ablenkung wird als
etwas der ganzen SitnationWidersprechendes empfunden.
Nicht immer gelingt es, eine Reproduktion zu vermeiden.
Zweifel, ob bei längeren Reihen wirklich alle Blemente
auf Grund unmittelbaren Behaltens wiedergegeben
werden.
2. Länge der Reiben.
Kürzere Reihen: Starke Reproduktionstendenz infolge der
sinnlichen Frische der Reihen. Auch bei längeren Pausen
stehen sie dem klaren Bewußtsein sehr nahe.
Längere Reihen: Reprodnktionstendenz am größten für die
ersten Glieder, die dem klaren Bewußtsein nahestehen.
Die mittleren Glieder scheinen bei längeren Pansen —
besonders bei optischer Darbietung — ganz aus dem
Bewußtsein zu verschwinden. Die letzten Glieder
tauchen meistens visuell auf.
3. Sinnliche Art der auftauchenden Elemente.
Die auf Grund der aknstisch-motorischen Spuren wieder¬
gegebenen Glieder scheinen während des Intervalles schwach bewußt
weiterzuwirken. Es bleibt eine Reihendisposition, auf die sich
das Bewußtsein der Sicherheit gründet.
Das Visuelle scheint nur während des Lesens zu wirken.
Sobald ein Buchstabe verschwindet, ist von seinen visuellen Be¬
standteilen nichts mehr vorhanden, erst bei der Reproduktion taucht
das Visuelle wieder auf.
IV. Unmittelbares und dauerndes Behalten.
Die beiden Arten des Wiederanftanchens der Glieder, einerseits
»das so gut wie vorstellungslose Gesamtbild der Reihe«, anderseits
die eigentliche Reproduktion, bei der die Glieder ans dem Bewußt¬
sein entschwunden zu sein scheinen, zeigen eine deutliche Be¬
ziehung zum unmittelbaren und dauernden Behalten. Das halb-
dunkle und doch gestaltete Gebilde, von dem im ersten Falle die
Rede ist, scheint das unmittelbare Nachempfinden zu sein; wird
auf Grund dieses Nachgebildes reproduziert, so haben wir es mit
unmittelbarem Behalten zu tun. Macht sich dagegen in der Panse
Experimentelle Untersnchnngen Uber das anmittelbare Behalten nsw. 247
die Tendenz bemerkbar, dieses Nacbgebilde zn entwickeln, d.h.
jeden einzelnen Buchstaben fflr sich deutlich in die Erscheinung
treten zu lassen, so liegt, sobald die Vp. dieser Tendenz nach*
gibt, mittelbares Behalten Yor.
Ein solches Verhalten macht sich, wie wir gesehen haben,
besonders beim yisuellen Merken geltend; da diese Art des Be-
haltens anderseits die diskrete Aufmerksamkeit begünstigt, während
die totale beim aknstisch-motorischen Merken hervortritt, ergibt
sich weiter die Beziehung zwischen diskreter Aufmerksamkeit und
dauernder, totaler Aufmerksamkeit und unmittelbarem Behalten.
Das diskrete Verhalten scheint begünstigt zu werden durch
die Länge des Intervalles. Schon bei 4 Sek. scheinen die Glieder
>in die dunkelsten Regionen des Bewußtseins znrückgeschobmi
zu seine, während bei 8 Sek. der Eindruck des »völligen Ver¬
schwundenseins ans dem Bewußtsein« vorliegt. Ganz besonders
tritt das bei längeren Reihen hervor. Nach einer Aussage der
Vp. S.t scheinen bei kürzeren Reihen häufig »die Objekte nicht
mehr im klaren Bewußtsein, aber doch diesem naheznstehen«.
Anscheinend haben sie ihrer geringen Zahl wegen noch Platz
in den vorderen Regionen; sobsdd sich die Zahl vergrößert, muß
die hintere Region in Anspruch genommen werden.
Zum Schlüsse möchte ich es nicht unterlassen, allen meinen
Vpn. dafür zn danken, daß sie mir einen Teil ihrer Zeit für die
Versuche opferten. Ganz besonders ist es mir ein Bedürfnis,
Herrn Geheimrat Professor Dr. Störring meinen herzlichsten
Dank dafür anszusprechen, daß er sich mehrere Semester hin¬
durch als Versuchsperson zur Verfügung stellte, mir während
der Ausführung stets mit seinem Rat zur Seite stand und mir
viele wertvolle Anregungen gab.
(Eingegwagen am 18. Februar 1924.)
Eevision einer Mationstheorie.
Von
J. Lindworsky (E51n).
Inhaltsyerzeichnis.
Seite
I. Teil: Ableitung der Belationsinhalte.249
], Das reflexe Erleben.249
2. Das Eemerlebnis.•.261
3. Die Entwicklung des Kemerlebnisses bei objektiv gleichen oder
verschiedenen Inhalten.253
4. Die Entstehung des Begriffes »gleich« (»verschieden«).256
5. Einwände.258
6. Die Entstehung der Nennfnnktion.261
7. Die Kemerlebnisse zu weiteren Beziehungserfassnngen .... 266
8. Die Einteilung der Relationen.270
ILTeil: Einige Folgerungen aus der vorgelegten Anffassung . . . .271
1. Zur Terminologie.271
2. Die Beseitigung alter Schwierigkeiten.272
3. Vereinfachung des Glestaltproblems.275
4. Einblicke . .. 278
a) Sukzessiv* und Simnltanvergleich.278
b) Begabnngsnnterschiede in der Beziehnngserfassnng.284
5. Das Problem der Tierintelligenz.286
6. Folgerungen für die Theorie des (Gedächtnisses.287
Ausblick: Der Ausgleich zwischen Denk* nnd Assoziationspsychologie 288
Manche der im nachfolgenden entwickelten (^danken schwebten
dem Verfasser schon seit Jahren vor nnd fanden in kurzen An¬
deutungen, die als Anregung gemeint waren, ihren Ausdruck^).
Die Ergebnisse einer yermeintlichen phänomenologischen Be¬
trachtung nnd Analyse der Beziehnngsinhalte hielten mich jedoch
yon einer weiteren Verfolgung dieser Gedanken ab*). Inzwischen
mußte ich bei Versuchen über das Wortyerst&ndnis erfahren,
wie sehr bisweilen der yermeintliche Bedeutungsinhalt yon dem
1) Vgl. des Verfassers »Experimentelle Psychologie« 1. Auflage 1921S. 187.
^ Vgl. »Umriflskizze zu einer theoretischen Psychologie«, 1922, S. 37.
J. Lindworsky, BeTision einer Belationstheorie.
249
wirklich erlebten (und für die Verwendung des Wortes aus¬
reichenden) Inhalt abweicht Das ermutigte mich, die früheren
Gedanken wieder au^greifen.
Wir gehen folgendermaßen voran. Allgemein anerkannte und
leicht nachweisbare Erlebnisse und Erlebnismomente stellen wir
heraus; fragen, wie sich diese Erlebnisse bei öfterer Wiederholung
entwickeln und mit anderen Elrlebnissen verbinden müssen, und
prüfen dann, was solche Entwicklungsprodukte zu leisten imstande
sind. Können die so gefundenen Entwicklungsprodnkte alles das
leisten, was bisher mit der Annahme elementarer Beziehungs¬
inhalte befriedigend erklüit wurde, so bleibt der Kritik eine
doppelte Aufgabe. Sie hat erstens das anf synthetischem Wege
gewonnene Ergebnis auf seine Stichhaltigkeit zu untersuchen.
Sie muß zweitens fragen, ob sich nicht neben den von uns anf-
gezeigten Entwicklungsprodukten elementare Beziehnngsinhalte
anfweisen lassen. Diese zweifache kritische Aufgabe soll dem
Leser überlassen bleiben. Gerade gegenüber synthetischen Ver¬
suchen sehen fremde Augen sch&rfer als die eigenen. Und mehr,
als die Frage zur Diskussion zu stellen, beabsichtigen wir nicht.
1. Teil
Ableitung der Relationsinhalte.
1. Das reflexe Erleben.
Bei den meisten Experimentalpsychologen zeigt sich eine wohl
verständliche Abneigung, seelische Faktoren in Betracht zu ziehen,
die sich so g^anz im Subjektiven verstecken. Die handgreiflicheu
Empfindongen, die anschaulichen Vorstellungen sind jedermann
willkommen. Sie lassen sich leicht wiedererzeugen und sogar
messen. Die Gefühle stehen sich schon schlechter. Aber man
kann sie zum Teil wenigstens objektivieren und ihren körper¬
lichen Ausdruck experimentell untersuchen. Das Schicksal der
nnanschanlichen Gedanken und der Willensakte ist allbekannt.
Aber ebenso bekannt ist es auch, daß die Psychologie immer
dft-nii anf tote Punkte geriet, so oft sie seelische Erscheinungen
nnr dämm zu ignorieren suchte, weil sie bislang nur subjektiv,
in der Selbstbeobachtung, festzustellen waren.
Ein solcher Faktor ist auch das reflexe Erleben. Zwar ist
er m. W. noch von keinem Experimentalpsychologen direkt
bestritten, aber, soweit ich sehe, auch noch von keinem znr
Erklärung bestimmter Leistungen herangezogen worden. Vielleicht
blieb gerade ans diesem Grunde seine Existenz bisher unangefochten.
250
J. Lisdworsky,
■Das reflexe Erleben soll nun in dieser Arbeit znm Fundament
eines stattlichen Gebändes gemacht werden.
Ganz unverbindlich und nur annäherangsweise sei das reflexe
Erleben zunächst gekennzeichnet. Man erlebt bisweilen nicht
nur, man weiß auch, daß man erlebt, oder genauer: man wird
seines Erlebens inne. Wir lösen uns gewissermaßen von unserem
eigenen Elrleben los, stehen darüber, wenden uns zu unserm
Erleben znrflck. Man könnte versucht sein, das, worauf wir
hindeuten, als Apperzeption im Herbartschen Sinne zu fassen:
ich nehme ein Rot wahr und erfasse mein Erlebnis als ein Rot-
wahmehmen von mir. Aber das meine ich nicht. Eine solche
Apperzeption ist zweifellos erst nach einer langen Entwicklung
möglich; ich muß erst wissen, was Wahmehmungsakte und was
Rotwahmehmung ist u. dgl. Das reflexe Erleben scheint jeder
Apperzeption weit vorauszugehen und auch uns Erwachsenen
noch vor jeder Apperzeption möglich zu sein. Man beobachte
sich bei irgend einer ruhigen Tätigkeit. Da gibt es ein Zentrum
der Erlebnisse, das besonders wach zu sein scheint: wo ich etwas
tue oder erfahre und meines Tuns oder Erfahrens inne werde,
ohne darum doch den Inhalt zu erfassen: jetzt schreibe ich,
jetzt sehe ich rot. Der von uns gemeinte Erlebniszug ist auch
nicht mit dem identisch, was man zumeist unter Aufmerksamkeit
versteht, obwohl wir es dahingestellt sein lassen, ob er ohne
Aufmerksamkeit möglich ist. Denn bezeichnet man mit dem
Wort Aufmerksamkeit die erhöhte Klarheit eines Inhaltes, so
bleibt man hinter dem fraglichen Erlebnis zurück: es ist mehr
bzw. anderes als gesteigerte Klarheit der Inhalte. Denkt man
aber bei Aufmerksamkeit an das willentliche Hingewendetsein
zu einem Inhalt, das den wahrgenommenen Gegenstand oder
wenigstens dessen genauere Wahrnehmung anstrebt, so greift
man schon über das Wesentliche des reflexen Erlebens hinaus.
Aufmerksames Hingegebensein dürfte sogar das reflexe Verhalten
beeinträchtigen. Es soll eben mit diesem Terminus nur das
geistige Innewerden der eigenen Erlebnisse fest¬
gehalten sein, durch das ein Sichhinwenden von einem erlebten
Inhalt zum andern möglich wird.
Natürlich ist das reflexe Erleben auch nicht gleichbedeutend
mit »bewußt seine. Zwar brauchte es hier genauere Beobachtungen
nach Art der Westphalschen Untersuchungen über Haupt- und
Nebenaufgaben. Allein, so viel läßt sich vor jeder genaueren
Untersuchung behaupten, daß nicht alle unsere Erlebnisse, die
innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit liegen, in gleicher Weise
Bevision einer Belationstheorie.
261
reflex bewußt sind. Und dieser verschiedene Grad reflexen
Erlebens gestattet nns, das reflexe Erleben gedanklich ganz von
dem nnr schlicht bewußten zu trennen. Eine nur schlicht erlebende
Seele ist ganz hingegeben, ganz gebunden an die seelischen
Inhalte und Zustände, die sie der Reihe nach durchmacht Sie
ist wie eine transparente Leinwand, die ganz von dem auf ihr
ruhenden Lichthild erfüllt wird und für sich nichts zurückbehält.
Ob das reflexe Verhalten ein elementares ist oder nicht,
braucht nicht geprüft zu werden. Es genügt, daß in ihm nicht
jener Beziehnngsinhalt enthalten ist, den wir z. B. haben, wenn
wir die Gleichheit zweier Gegenstände erfassen. Es besagt ja
dieses Sichlosmachen, dieses Sicherheben über die eigenen Er«
lebnisse nichts von einem speziflschen Erkenntnisinhalt M. a. W.
wenn wir nns reflex verhalten, so müssen wir nicht notwendig
einen bestimmten Relationsinhalt oder bestimmte Arten von
solchen miterfassen. Im Gegenteil scheint jede Relationserfassung
geradeso wie jede Apperzeption (die als gedankliche immer eine
Relationserfassnng ist) jenes reflexe Verhalten voransznsetzen.
Denn wie wäre eine Vergleichung etwa zweier Striche möglich,
könnte ich mir nicht jene Inhalte sozusagen gegenüber«
stellen? Dasselbe gilt von jeder wahren Abstraktion. Die
nneigenüiche, sinnliche >Abstraktion< kann mich stärker von
dem einen als von dem andern Inhalt erfüllt sein lassen; sie
kann mich mehr rot« als blauerlebend machen, allein diese größere
Mächtigkeit eines Inhaltes ist noch nicht mit dessen Abstraktion
gleichzusetzen. Dazu gehört ein Herausgreifen, ein Verfügen
über die Inhalte, was alles ein gewisses Sichlösen der Seele
von den sie erfüllenden Inhalten zur Voraussetzung hat, eben das
besprochene reflexe Verhalten.
Man flndet bei Geys er*) die Ansichten verschiedener Psy¬
chologen über das Bewußtsein zusammengestellt, die trotz sonstiger
Differenzen das von nns gemeinte reflexe Erleben anerkennen.
2. Das Kemerlebnis.
An dem Auge des erstmalig Erlebenden ziehe ein roter, dann
ein blauer Farbstreifen vorüber, und zwar in unmittelbarer Folge.
Es wird nun heute keinem sonderlichen Bedenken begegnen,
wenn wir behaupten, diese Farbenfolge sei nns auch wirklich
kontinuierlich gegeben. Aber wenn wir auch in kontinuierlichem
Übergang erst rot, dann blau erleben, so kann dies nach den
1) Lehrbaeh der allgemeinen Psychologie 3. Anfl. 1. Bd. S. 99 S.
252
J. Lindworsky,
obigen Ansführongen doch auf verschiedene Weise geschehen.
Denkbar ist jenes Absorbiertsein von den sich folgenden Inhalten,
jenes Gebnndensein an sie; denkbar ist aber auch jenes reflexe
Erleben, das da in gewissem Sinne über den erlebten Inhalten
steht und sich ihnen während des Erlebens znwendet Das Sub¬
jekt würde in diesem Falle in nnnnterbrochenem Fluß rot-blau
erleben, aber gleichzeitig dieses seines Erlebens und darum auch
dieses Überganges inne werden. Und ein solches Erlebnis nmmen
wir das Eernerlebnis, weil es den Ausgangs- und Eristalli-
sationspunkt für jedes Relationserlebnis abgibt.
An diesem Kemerlebnis heben wir zwei charakteristische
Umstände hervor. Weil wir uns im reflexen Erleben von den
Inhalten losldsen, darum sind wir in der Lage, den einen Inhalt
mit Rücksicht auf den andern zu betrachten. Vielleicht ist es
nicht möglich, von dem soeben ablaufenden Inhalt »rot« aus
den erst noch kommenden Inhalt »blau« zu betrachten; wohl
aber können wir, wenn rot in blau übergeht, von dem erlebten
und im Seknndärerlebnis noch bewußten Rot zu dem augenblick¬
lich erlebten Blau schaueu. Wollte aber jemand behaupten, man
könne zwei Inhalte immer nur in rückschauender Selbstbeobachtung
zueinander betrachten, so würden wir hier nicht mit ihm streiten,
wenn er nur zugibt, daß das reflexe Erleben uns überhaupt er¬
möglicht, einen Inhalt in Beziehung zum andern zu beachten.
Mit diesem Zugeständnis ist das eine Moment der uns geläoflgen
Relationserfassungen, das Zueinander gegeben. Ein Zueinander
liegt ja in jeder Beziehungserfassung beschlossen.
Außer dem Zueinander ist in den uns geläuflgen Beziehungen,
z. B. in denen der Gleichheit, Verschiedenheit usf. auch noch
ein Inhalt gegeben, eben das Gleichsein, das Verschiedensein
der zwei aufeinander bezogenen Inhalte. Nun wollen wir, und darin
liegt das Wesentliche unserer Hypothese, als eine zweite Eigen¬
tümlichkeit des Eemerlebnisses hinstellen, daß bei diesem anfäng¬
lichen reflexen Erleben einer Abfolge mehrerer Inhalte ein solcher
Beziehungsinhalt nicht erfaßt wird. Es wird also, so nehmen
wir entgegen unserer früheren Ansicht an, wohl das Rot und das
ihm folgende Blau erlebt; es wird weiter das Blau in Beziehung
zum vorausgehenden Rot oder das erst erlebte Rot in Beziehung
zum folgenden Blau erfaßt, aber ein weiterer Inhalt, der sich
sprachlich etwa ausdrücken ließe: »verschieden«, wird nicht er¬
kannt. Im Gegenstandsbewnßtsein ist außer dem Rot und dem
Blau, ihrer Abfolge und ihrer Betrachtung in Beziehung zuein¬
ander nichts vorhanden. Dasselbe gälte von zwei objektiv glei-
ReTiflion einer Relationstheorie.
253
eben Inhalten, die nacheinander erlebt würden, z. B. wenn der
Ton a zweimal erklingt. In diesem Falle w&re nichts im Be-
woßtsein, was mit »gleich« wiederzngeben wäre.
3. Die Entwicklung des Kemerlebnisses bei objektiy
gleichen oder yerschiedenen Inhalten.
Bekanntlich treten bisweilen beim Übergang von einem
Empfindnngsinbalt zu einem andern Übergangsempfindungen auf.
So scheint die eine yon zwei Geraden zu wachsen, wenn unter
bestimmten Bedingungen der Blick von der kleineren znr größeren,
oder zu schrumpfen, wenn er yon der größeren znr kleineren
Linie wandert Außer solchen am anschaulichen Inhalt der
Termini sich zeigenden Übergangsempfindungen sind auch cha¬
rakteristische Begleit- oder Nebeneindrücke nachweisbar, z. B.
Blendnngserscheinungen beim Übergang yon dunkel zu hell. Es
hegt nicht im Interesse dieser Untersuchung, sie aufzuzählen.
Zwar geht ans unserer Gmndauffassung heryor, daß sie das Eem-
erlebnis nicht aufbanen. Aber zweifellos yerleiht ihr Vorhanden¬
sein nnd ihr Fehlen dem Kemerlebnis eine gewisse Tönung und
Charakteristik. Das nämliche gilt yon den sinnlichen Gefühlen,
die yielleicht unmittelbar durch die anschaulichen Inhalte der
Fundamente oder — und das wird häufiger der Fall sein —
durch die Übeigangsempfindnngen und Nebeneindrücke geweckt
werden.
Nun können wir die erwähnten Übergangs- und Nebenempfin-
dnngen nicht nur einfachhin im Bewußtsein haben, wir können sie
auch in Verbindung mit den Termini selbstbewußt erleben. Mit
anderen Worten: der Sachyerhalt, daß sich bestimmte Nebenein¬
drücke an das Kemerlebnis anschließen, kann erfaßt werden. Be¬
merken wir auch hier, daß eine solche Erfassung keinerlei Relations¬
erfassungen anderer Art yoraussetzt. Denn es soll nicht etwa
konstatiert werden: hier ist ein Nebeneindmck, sondern dieser
an das Gmnderlebnis sich anschließende Inhalt wird einfachhin
in seiner Abfolge refiex erlebt, nnd zwar nicht anders als im
Kmnerlebnis die Abfolge »rot — blau« erfaßt wird.
Es können sich somit an das Kemerlebnis andere Kemerleb-
nisse oder, was das nämliche ist, andere Sachyerhalte anschließen.
Das wird bedeutsam, sobald sich an yerschiedene Kern¬
erlebnisse die gleichen Sachyerhalte anknüpfen.
Und das ist in der Tat bisweilen der Fall und hebt ans der
gewaltigen Zahl yon refiex erlebten Übergängen gewisse (bio-
254
J. Liodworsky,
logisch bedeutsame) Gruppen heraus. Doch greifen wir mit diesem
Gedanken unserer Untersuchung schon voraus. Veranschaulichen
wir zunächst einmal, wie sich die gleichen Sachverhalte an ver¬
schiedene Kemerlebnisse anschließen, und welche Folge diese
Verknüpfung von Sachverhalten haben muß.
Gehen wir von einem anschaulichen Inhalt zu einem andern
ttber^) und sind diese Inhalte objektiv gleich, so verbindet sich
mit dem ganz eindeutig und individuell charakterisierten Erleb¬
nis des reflez bewußten Überganges z. B. von Ton a zu Ton a
der Sachverhalt, daß Übergangsempfindnngen fehlen, daß der neue
Eindruck leichter aufgefaßt wird und darum vielleicht mit einem
Lustgefühl verbunden ist Handelt es sich um gleiche Flächen,
so tritt der Sachverhalt der völligen Deckung hinzu: man kann
die Flächen so aufeinanderlegen, daß je die eine hinter der andern
unsichtbar wird. Oder es kommt der Sachverhalt der Verwendungs¬
möglichkeit hinzu: man hat etwa eine Schachtel mit einem Deckel
zu schließen, greift nach einem Deckel, der ursprünglich nicht zu
der geöffneten Schachtel gehört, und erreicht seinen Zweck auch
mit ihm. Es ließen sich solcher Sachverhalte noch eine ganze
Reihe aufzeigen. Sie sind (wenn auch nicht alle, so doch zum
Teil) erfaßbar, ohne daß eine Gleichheits-, Verschiedenheits- oder
sonst eine der uns Erwachsenen geläufigen Beziehungen erfaßt
oder verwertet wird.
Während nun das Eemerlebnis, d. h. der refiex bewußte Über¬
gang von dem einen anschaulichen Inhalt zu dem andern objektiv
gleichen, stets ein individueller ist — das Erlebnis rot/rot ist ein
anderes als das Erlebnis blau/blau —, schließen sich an diese in¬
dividuellen Übergänge eine Reihe von Sachverhalten an, die ob¬
jektiv gleich sind. Wir wollen ihnen die Bezeichnung »an¬
schließende Sachverhalte« geben. Sie bilden, einmal erfaßt, zu¬
sammen mit dem Kemerlebnis einen Komplex, der somit aus dem
variablen und ans den konstanten Sachverhalten besteht
Hat sich nun mit dem Erleben eines solchen Komplexes von
Sachverhalten eine Interjektion oder eine von der Umgebung
1) Gewiß kann man im Anfang der geistigen Entwicklung nur dann
von einem anschaulichen Inhalt zu einem andern gleicher Art übergehen,
wenn die beiden Inhalte irgendwie gegeneinander abgegrenit sind, d. h. wenn
sich ein von ihnen verschiedener Inhalt zwischen beide legt. Damit ist
jedoch nicht behauptet, es sei keine Gleichheitsbeziehung ohne Verschieden*
heitsbeziehung möglich. Denn wir brauchen nicht zu allen Inhalten in
der selbstbewußten Weise ttberzngehen. Sodann erlaubt das Abklingen der
Empfindungen, daß wir zwei anschauliche und voneinander erlebnism&fiig
getrennte Inhalte doch nahezu gleichzeitig im Bewußtsein haben.
Beyision einer Relationstheorie.
255
übernommene Bezeicbnnng (natürlich noch nicht als Name diesea
Komplexes) verknüpft, nnd tritt dann später ein bisher unbe¬
kanntes Eemerlebnis zusammen mit einem der schon bekannten
Komplexglieder auf, so besteht die Tendenz, daß von diesem kon¬
stanten Eomplexglied aus die andern konstanten Eomplexglieder
nnd die damals ausgestoßene Interjektion oder das damals ver¬
nommene Wort reproduziert wird. Und umgekehrt wird jener
Lantkomplex die Situation wieder ins Bewußtsein rufen, die nicht
durch die wechselnden anschaulichen Inhalte der Eemerlebnisse,.
sondern durch die gemeinsamen Sachverhalte bezw. das Erleben
dieser Sachverhalte gekennzeichnet ist^).
l)Bei Bfihler: »DiegeistigeEntwicklangd.Kindes«3.Aafl.S.4191iestmanr
»»Lindner schreibt: »Wie schon . . . erwähnt . . . waren Papa nnd
Mama die Ton meinem Kinde im zehnten Monat znerst mit Verständnis ge¬
brauchten Worte. AnfBlllig ist mir hierbei gewesen, dad das Wort Mama ala
Bofname bald wieder ander Gehranch gesetzt wnrde nnd dann Monate hin*
dnrch die Eltern beide mit dem Namen Papa bezeichnet wnrden. Ich yermag^
keine genügende Erklärung f&r diese mir merkwürdige Erscheinnng zn gehen.
Aber eine Art Seitenstäck dazn finde ich in dem nm dieselbe Zeit gehranchten
nnd zn den ersten Wärtern seines Lexikons gehörenden »anf«, das eben¬
sogut ffir das Gegenteil »herab« gebraucht wnrde. Ich wnrde dabei lebhaft
an das lateinische altns, im Sinne yon hoch nnd tief, erinnert Das Wort
»warm« yerwendet mein Kind in derselben Weise, nämlich auch für »kalt«.
Frisches Bmnnenwasser ist ihm ebenfalls »schön warm«. Auch Preyer er¬
zählt yon seinem Kinde, dafi es im 29. Monate »zn wenig« auch ffir »zn yiel«
gebraucht habe. Anfierdem teilt er ans den Beobachtungen des Amerikanern
flnmphrey mit, dafi dessen Kind bis znm 18.Monat das Wort no ffir ja
und nein zugleich gebraucht habe. Beruhen diese nnd ähnliche Erschei¬
nungen nur anf einem Mangel an Differenzierung der Begriffe im kindlichen
Denken, dann hat das Kind schon eine Ahnung dayon, dafi Gegensätze nur
die Endglieder einer nnd derselben Begriffsreihe sind.« In dem letzten Satz,
meint wohl Lindner nur, wie übrigens jeder, der etwas derartiges ans-
drfickt, dafi irgendein Äqniyalent ffir jene logisch korrekt formulierte Er¬
kenntnis im Geiste der Kinder wirksam gewesen sei. Die Tatsachen enthalten
aber, wie mir scheint, auch ffir diese Annahme keinen zwingenden Grund.
Die psychologischen Verhältnisse können in den einzelnen Fällen yerscbieden
liegen. Die Eindrücke warm nnd kalt sind so nahe yerwandt, dafi gegen
die Annahme, sie seien yon dem sprechenden Kind nicht oder nicht ge¬
nügend unterschieden worden, nichts Stichhaltiges würde yorgebracht
werden können.««
Wir würden yermnten, dafi sich an indiyidnell yerschiedene Kemerleb-
nisse gleiche (nnd natnmotwendig) allgemeinere Sachyerhalte anschlossen,
yon denen ans der in höherer Bereitschaft stehende Name des einen Gliedes
anf dem Wege der Komplezergänznng reproduziert wnrde.
256
J. Lindworsky,
4. Die Entstehung des Begriffes >gleieh< (»Tersehieden<).
Der Lautkomplez »gleich« (Entsprechendes gilt fär »verschie¬
den«) wird nach dem Gesagten in dem bis jetzt erreichten Ent-
wicklnngsstadinm eine ziemlich konstante Somme von Sachver¬
halten ins Gedächtnis mfen. Ein Summe von Sachverhalten ist
indes ein Begriff. Wir haben somit den Gleichheitsbegriff. Im
Vordergründe stehen die bei den meisten Abfolgen objektiv glei¬
cher Bewnßtseinsinhalte erlebten (konstanten) Sachverhalte. Will
sich jedoch unsere Vp. diesen Begriff anschaulicher vorffihren, so
denkt sie an eines der (variablen) Kemerlebnisse, etwa an den
Übergang von einem Strich zu einem andern (objektiv) gleich
langen oder von einem blauen Streifen zu einem andern (objektiv)
gleich blauen.
Das Wort »gleich« hat somit einen vollwertigen, höchst
brauchbaren Sinn erhalten, ohne Dazwischenkunft einer elemmi-
taren Gleichheitsrelation.
5. Einwände.
An dieser SteÜe ist der Einwand zu berücksichtigen, den
man von der phänomenologischen Betrachtung her erheben kann.
Vergegenwärtigen wir uns die Bedeutung »gleich«, so scheint
nicht sowohl einer oder mehrere der von uns genannten Sach¬
verhalte als vielmehr ein besonderer eigenartiger Inhalt bewußt
zu sein. Der Einwand ist nicht direkt zu widerlegen, weil
niemand einem andern seine Bewnßtseinsinhalte zeigen kann.
Aber es lassen sich Tatsachen nennen, die ihn entkräften. Denn
dringt man zu einer irgendwie deutlichen Klärung des Begriffes
vor, so weist man entweder auf einen der anschließenden Sach¬
verhalte hin, oder man greift auf ein Kemerlehnis zurück, indem
man sich etwa den Übergang oder die Betrachtung von zwei
gleichen Farben, Tönen u. a. vorführt. Dabei hat mau tatsächlich
ein eigenartiges Erlebnis, aber nicht darum, weil außer den ge¬
nannten Sachverhalten noch ein eigener Relationsinhalt erfaßt
würde, sondern weil der individuelle Übergang von einem Gegen¬
stand zu einem andern, objektiv gleichen eben ein ganz eigen¬
artig getöntes Erlebnis ist. Diese Tönung ist teils im Eem-
erlebnis begründet und als solche wechselt sie bei verschiedenen
Gegenständen; teils in dem Fehlen der Übergangsempfindnngen,
bezw. in dem erleichterten Ablauf des zweiten Eindruckes und
was damit verbunden sein mag, und dieser Zug kehrt bei ver¬
schiedenen Kemerlebnissen wieder.
Beviaion einer Belationstheorie.
257
Sodann läßt sich auf eine Eigentttmlichkeit des Wortyer<
ständnisses hinweisen, die jüngst Spearman*) näher beschrieben
und als eine »great illnsion« bezeichnet hat. Lesen wir vertrante
Wörter, so scheinen sie. oft der Gegenstand selbst zu sein. Das
Wort erhält eine merkwürdige Färbung und Tönung, die ihm
nur aus den Sachverhalten, die sich an den Gegenstand knüpfen,
kommen kann, ohne daß man jedoch einen klaren Einblick in
diese Substitution tun könnte. Ich habe diese Beobachtung bei
Wortverständnisversnchen gleichfalls gemacht, und zwar bevor
ich die Ausführungen Spearmans kannte. Auf die Sache
selbst soll hier nicht näher eingegangen werden. Es genügt die
Feststellung, daß wir uns über die erlebte Bedeutung der Wörter
nur schwer klar werden können. Die Wörter gewinnen ans
dem Hintergrund, den die mit ihnen verbundenen Sachverhalte
schaffen, oft eine spezifische Atmosphäre, die uns leicht als ein eigener
Inhalt neben jenen Sachverhalten erscheinen kann. Genauere
Aufklärung muß hier das Experiment bringen. Einstweilen sind
wir auf Grund solcher Betrachtungen berechtigt, uns durch eine
solche wenig sichere Bedeutnngsanalyse nicht irre machen zu lassen
und die Bewährung unserer Theorie als besseren Maßstab ihrer
Richtigkeit anznsehen.
Übrigens scheint mir die Sachlage bei andern Relations-
bezeichnnngen klarer zu sein. Soll ich mir die Bedeutung des
Wortes »schnell< vorführen, so denke ich zunächst an: Weg in
der Zeiteinheit. Suche ich nach einer ursprünglicheren Bedeutung,
dann sehe ich etwas nahe an meinen Augen voiüberhuschen;
also ich gehe auf das Erlebnis selbst, auf das, was wir als
Kemerlebnis bezeichneten, zurück. Damit bin ich befriedigt und
suche nicht nach einem weiteren gedanklichen Inhalt Warum
das bei »gleich« etwas anders liegt, wird unten zu besprechen sein*
Zweitens sind hier die beachtenswerten Gedanken Bühlers
anzufflhren. Bühl er schreibt*): »Sie (die Relationen) sind so
beschaffen, daß sie sich scharf von den Übergangserlebnissen
unterscheiden lassen. Wenn A gleich B und B in derselben
Hinsicht gleich C ist, so ist auch A gleich C; das geht aus der
Natur des Gleichheitsverhältnisses hervor. Man setze nun in
diese Sätze statt ,Gleichheit‘ das ,Fehlen eines Übergangs«
erlebnisses' ein, so wird der Schluß erstens uneinsichtig und
zweitens falsch. Denn woher sollte ich wissen, und zwar evident,
1) Spearman, »The Nature of Intelligence« 1928 S. 194S.
2) »Die geistige Entwieklnng des Kindes« 8. Anfl. 1922 S. 178.
AtoUt Ar Piyohologie. XLVIIL 17
258
J. Lindwonky,
dafi das Fehlen von Übergangserlebnissen zwischen A nnd B,
B nnd C auch das Fehlen eines Übergangserlebnisses zwischen
A nnd C bedingt? Eine dahingehende allgemeine Behauptnng
w&re anch gar nicht allgemein richtig.... Um gleich noch etwas
hinznznfügen: jedes Relationsarteil läßt sich konvertieren', wie
die Logik sagt; ans A = B folgt B = A, ans A ähnlich B folgt
B ähnlich A, ans A großer als B folgt B kleiner als A, and
zwar alles evident ans der Natur dieser Verhältnisse heraus
a priori. Woher all dies Wissen? Antwort: derart ist das Wesen
der Relationen und derart durchsichtig sind sie uns in der
Wahrnehmung gegeben, daß wir aus ihrem Wesen jene Ableitungen
zu machen vermögen; ... Wer behaupten wollte, daß all dies
aus der Erfahrung mit Übergangseriebaissen stammt, mäßte
wahrhaft schlecht beraten sein nnd nicht begriffen haben, was
a priori ist und heißt«
Wie aus den letzten Worten hervorgeht, richtet sich die
Polemik Bflhlers unmittelbar nicht gegen nnsmie Auffassung,
sondern gegen die Herleitnng der Relationen aus Übergangs*
erlebnissen, genauer: Übergangsempflndnngen, die sich einsteUen,
wenn man z. B. von einem Dunkelgrau zu einem Hellgrau fiber¬
geht Aber da Bfihler nicht nur von den vorhandenen oder
nicht vorhandenen Übergangsempfindungen, sondern auch von
dem Sachverhalt des Vorhandenseins bzw. Nichtvorhandenseins
solcher Nebenerscheinungen spricht, kehren sich seine Gedanken
auch wider unsere Auffassung. Noch weniger verträgt sich
seine Lehre von der apriorischen Erkenntnis mit unserm Versuch,
die Relationsinhalte aus der Erfahrung abzuleiten. Wir mfissen
uns darum mit Bfihler auseinandersetzen und seine berechtigt«!
Einwände befriedigen. Selbstverständlich nicht auf dem Wege
prkenntnistheoretischer Beweisffihrung, sondern genetisch - psy¬
chologischer Ableitung.
Vorab ist zu betonen, daß jene Sachverhaltssumme, die nach
unserer Auffassung den Begriff »gleich« aasmacht, nicht nur den
Sachverhalt »Fehlen von Übergangserlebnissen« enthält, sondern
noch manche andere, z. B. den Sachverhalt der Ersetzbarkeit des
einen durch das andere, wie es oben geschildert wurde. Setze
ich aber dieses Merkmal in den obigen Syllogismus ein, dann
wird er richtig und einsichtig.
Aber woher kommt denn die Einsicht, daß A durch C er¬
setzbar sei. Woher die Erkenntnis, daß B = A, wenn A = B?
Das muß doch aus dem apriorischen Charakter der Relationen
stammen oder, wie wir früher gesagt hätten, das muß doch aus
Bevision einer Belationstheorie.
259
dem Inhalt der Relationserfassnng stammen, der, einmal ans den
Fundamenten erkannt, mir seine Kehrseite nnmittelbar zeigt.
Indes mir scheint, hier narre nns ein wenig unsere Sprache.
Sie sammelt erst alles Mögliche in einem Begriff, etikettieit
dann diesen Begriff mit einem Wort, macht ans dem einen Wort
scheinbar einen einfachen Inhalt und läßt nns dann verwundert
feststellen, was man alles aus diesem einfachen Inhalt erkenne.
Das muß, so scheint es dann, doch eine apriorische Erkenntnis*
weise sein, wenn sich so ein einfacher Begriff geradezu als ein
Tischlein-deck-dich erweist.
Ich denke mir die Sache viel harmloser. Im Umgang mit
objektiv gleichen Dingen erlebe ich reflex eine Anzahl von
Sachverhalten in der oben dargelegten Weise. Ich erlebe z. B.,
daß A durch B und B durch A zu ersetzen ist. Daß der Über¬
gang von A nach B relativ leicht von statten geht und der Übergang
von B nach A desgleichen. Solche Sachverhalte prSgen sich
mir ein und werden später mit dem einen Wort >gleich< zu¬
sammengefaßt Diese Sachverhaltssumme schwebt mir irgendwie
vor, wenn ich das Wort höre. Nicht alle einzelnen Sachverhalte
gleich deutlich, aber alle in sehr hoher Bereitschaft Sobald
nun die Frage aufgeworfen wird, ob, wenn A = B, B auch
gleich A sei, wird der zweite im Begriff »gleich« enthaltene
Sachverhalt: beim Übergang von B nach A erlebe ich dasselbe
wie von A nach B lebendig. Ich muß dann folgern: also B=:A,
weil das einfach mit dem Sachverhalt A = B mitgegeben ist
Oder: warum schließe ich von >A größer als B< auf >B kleiner
als A<? Nicht darum, weil ich in einer elementaren Relation
»größer« a priori ihre Umkehrung »kleiner« beschlossen sähe,
sondern weil ich erfahren habe, daß mit dem Erlebniskomplex,
dem man den Namen »größer« gab, immer wieder der andere
Erlebniskomplex, der mit »kleiner« bezeichnet wird, verbunden
war, falls ich in umgekehrter Richtung voranging. »Gleich«
bedeutet eben nicht nur A = B, sondern auchB = A; »größer«
bedeutet für den Erfahrenen eben nicht nur, daß sich beim
Übei^fang von B nach A gesetzmäßig bestimmte andere Erlebnisse
einfinden. Aber alles dies weiß ich nur ans der Erfahrung.
Wäre ich immer nur von A nach B gewandert, so wären mir
diese korrelativen Verhältnisse unbekannt
Es bleibt freilich noch ein Umstand zu berücksichtigen: die
Allgemeinheit und Notwendigkeit dieser Korrelationen. Die
Erfahrung zeigt sehr bald, daß gewisse Sachverhalte im Um¬
gang mit den Dingen erlebt werden oder nicht, je nach unserer
17*
260
J. Lindworsky,
eigenen Verfassung: manches Spiel, manche Speise macht dem
Kinde heute Freude, morgen nicht, je nach seinem augenblick¬
lichen Befinden. Andere Sachverhalte werden trotz unserer
wechselnden Verfassung immer wieder festgestellt. Sie besitzen
somit eine Zusammenhangsrelation nicht mit unserem schwankenden
Verhalten, sondern mit den Dingen.
Allerdings, die Unabhängigkeit einer Erscheinung von dem
erlebenden Subjekt erklärt noch nicht den Charakter der inneren
Notwendigkeit, den die Konversionen der Belationsnrteile offen¬
bar besitzen. Ich mag das häufige Auftreten von Schwarz and
Weifi etwa bei Fahnen als unabhängig von meinem Zustand
erfassen; ich sehe darum noch nicht, daß Schwarz bei Weiß sein
müßte, selbst wenn es auf der ganzen Welt keine andern als
schwarz-weiße Fahnen gäbe. Wir müssen zeigen, woher die
innere Notwendigkeit dieser Konversionen kommt, und zwar
ohne apriorische Faktoren und ohne Voraussetzung einer elemen¬
taren Gleichheitsrelation. Aber auch hier genügt es, einen
möglichen Weg darzustellen, da es sich zunächst nur um die
Frage handelt, ob wir überhaupt die Erkenntnismittel zu jener
Einsicht besitzen.
Wir nehmen an, unsere Vp habe, ausgehend von dem Kem-
erlebnis A in Beziehung zu B, die Relation >A = B€ erfaßt,
und zwar sei als anschließender Sachverhalt nur der gegeben,
daß A durch B ersetzt werden könne. B sei ein Deckel, der
eine zu dem Deckel A gehörige Öffnung vollkommen schließe.
Ohne apriorische Funktionen und ohne eine vorausgehende
elementare Gleichheitsrelation erlebt zu haben, kann unsere
Vp erkennen, daß B dank der ihm eignenden RaumerfüUung
die Öffnung a schließt. Kein dem B äußerer Umstand, sondern
seine eigene Beschaffenheit ist der Grund seiner Brauchbai'keit
als Verschluß für die Öffnung a. Nun mache dieselbe Vp. aus¬
gehend von dem Kemerlebnis: B in Beziehung zu A, die Rela-
tionserfassung: B = A. Auch hier sei als anschließender Sach¬
verhalt nur der gegeben, daß B durch A ersetzbar ist Auch
hier wird erkannt, daß die Öffnung b durch A nur wegen der
Beschaffenheit von A geschlossen werden kann. All dies schließe
sich zu einem Komplex zusammen, der dann folgende Sachverhalte
enthält: A = B, B = A, A durch B ersetzbar, und zwar, weil B
ein bestimmtes Wesen hat: B durch A ersetzbar, und zwar,
weil A ein bestimmtes Wesen hat Mit dem Wesen von A ist
sonach seine Ersetzbarkeit durch B, mit dem von B dessen
Ersetzbarkeit durch A gegeben. Die Vertauschbarkeit zweier
Beyision einer Relationstheorie.
261
Dinge ist, wenn Torhanden, mit ihrem Wesen gegeben und dann
notwendig. Setze ich nun für yertauschbar das Begriffssymbol
>gleich<, so ergibt sich, daß wenn A = B, B notwendig gleich A ist.
Noch einfacher ist die Ableitung, daß mit der Relation »größere
notwendig die Korrelation »kleiner« verbunden ist. Die Natur
der Dinge, nicht irgendwelche Willkür bringt es mit sich, daß
beim Eemerlebnis: Strich a zu Strich b gewisse anschließende
Sachverhalte erfahren werden. Ebenso ist es sachlich bedingt,
daß beim Durchlaufen der umgekehrten Richtung andere Sach*
verhalte erfaßt werden. Wird nun die Identität der beiden
Striche im ersten und im zweiten Übergang erkannt — und das
ist möglich ohne apriorische Relationen — so wird auch erfaßt,
daß dieselbe Sache einmal die Relation »größer«, das andere
Mal die Relation >kleiner« erkennen läßt, je nachdem diese
Sache betrachtet wird; daß somit beide Relationen in der
gleichen Sache verwurzelt sind und darum notwendig zu ein¬
ander gehören.
Hier gibt es nur noch Unterschiede in der »Natur der Sache«.
Die eine Sache steht als naturgegeben vor mir, die andere ist
willkürlich so gemacht worden, man denke insbesondere an die
menschlichen Zeichen. Und darum ist auch in der Preußenfahne
notwendig bei dem Schwarz das Weiß, weil diese Farben-
zusammensteUnng nun einmal als die preußische Fahne gewählt
worden ist
So dürfte sich die Evidenz der Folgerungen, aber auch die
Natur des a priori erklären: a priori kann ich für einen neuen
Anwendungsfall ans der Relation auf die Korrelation
schließen, nachdem mir die Zusammengehörigkeit beider aus
der Erfahrung als eine unabhängig von dem Subjekt bestehende,
durch die Natur der Sache gegebene bekannt geworden ist
Von einem andern a priori, das aller Erfahrung vorausgeht, weiß
namentlich die Kinderpsychologie nichts zu berichten.
6. Die Entstehung der Nennfunktion.
Hat sich mit einem Komplex von Sachverhalten ein bestimmter
Lautkomplex assoziiert, wie dies oben S. 254 von »gleich« an-
gedentet wurde, so fehlt nur noch die Nennfunktion, damit dieser
Lantkomplex als Begriffswort diene.
Vernimmt die von uns supponierte Vp. das Wort »gleich«,
so wird ihr zwar die Summe jener Sachverhalte ins Bewußtsein
znrückgemfen, aber sie hat noch nicht den Gedanken: »gleich«
262
J. Lindworaky,
bedeutet diese Sachverhalte, oder: das Erlebnis der Sachverhalte
lädt sich mit dem Wort »gleich« benennen. Es scheint zunächst,
daß unsere ganze Ableitung an dieser Klippe scheitern müsse.
Denn gelang es uns bisher, den »elementaren« Inhalt »gleich« zu
vermeiden, so scheint er hier unentbehrlich zu sein. Es muß
doch einmal der Gedanke auftauchen: gleich ist dies und jenes.
Allein vergegenwärtigen wir uns Fälle von der Art, wie einer
im Leben Helen Kellers berichtet wird. Es habe eine Yp. die
assoziative Verbindung der Zeichen für Wasser und der beim
Wassertrinken vorkommenden Sachverhalte gewonnen. Eines
Tages verlangt es die Yp. sehr nach Wasser. Assoziativ kommt
ihr das stets mit dem Trinken vernommene Wort in dmi Sinn und
sie spreche es gedankenlos aus. Reicht man ihr darauf Wasser,
so kann sie diesen Sachverhalt der Aufeinanderfolge von Wort
und Sache beachten, ohne die Nennfunktion zu kennen. Wieder¬
holt sich das Erlebnis öfters, so wird sich später die Yp. dem
Wort als dem ersten Glied des erwünschten Sachverhaltes zu¬
wenden und das Wort »Wasser« aussprechen, wenn sie die
Erfüllung ihres Wunsches herbeiführen will. Das Wort wird
zunächst nicht als Name verwendet, sondern gleichsam als der
Handgriff, mit dem man das Erwünschte herbeiführt Und so
erscheint das Wort ja auch in der Kindersprache: »Tüll«, d. h. ich
will auf den Stuhl Das Wort wird ferner zum Mittel, um
im Bewußtsein des Mitmenschen einen Inhalt zu wecken. Und diese
Znsammenhangsrelation dürfte zunächst beachtet und eingeprägt
werden, wenn das Kind die Namen der Dinge lernt. Die stets
wiederkehrende Frage: »is’n das?« dürfte nicht so wohl eine
Gleichsetznng von Wort und Sache bedeuten als vielmehr den
Sachverhalt: bei diesem Ding sagt der Erwachsene »Tisch«, und
mit dem Wort »Tisch« lenkt man die Aufmerksamkeit der andern
auf dieses Ding.
Dennoch haben wir in der Sprache des Erwachsenen wirk¬
liche Gleichsetzungen, und unsere Theorie muß auch diesen ge¬
recht werden können. Wir sagen: der Ofen ist heiß, und noch
eindeutiger formuliert die Mathematik: a = b. Sätze der ersten
Form dürften keine allzugroßen Schwierigkeiten bereiten. Denn
die Worte »Der Ofen ist heiß« haben doch den ursprünglichen
Sinn: greifst du ihn an, so wirst du Schmerz empfinden. Diese
Sachverhalte sind aber ohne Gleichheitsgedanken erfaßbar. Nur
ist es ein besonderes sprachpsychologisches Problem, warum der
Ausdruck dieser Sachverhalte die Fom des Gleichheitsurteils
angenommen hat.
Revision einer Relationstheorie.
263
Wie steht es aber mit den eigentlichen Gleichheits>
urteilen? Unterscheiden wir zwei Fälle; es wird die Gleich¬
heit zweier Dinge unter einer bzw. unter einigen Räcksichten
ansgesagt, und den andern Fall: es wird die Gleichheit zweier
Gegenstände unter allen Rücksichten behauptet. Sagen wir,
nur auf die Eörperlänge oder die Stärke usw. schauend: Karl
ist gleich Fritz, so haben wir den schon oben geschilderten
Komplex der Sachverhalte, die wir beim Übergang von einem
Ding zu einem andern von objektiv gleicher Beschaffenheit er¬
leben. Wir können also den Sinn dieses Urteils folgendermaßen
wiedergeben: gehst du von der Länge, der Haarfarbe oder dgl.
des Karl zur Länge, Haarfarbe usw. des Fritz über, so hast du
nicht nur ein eigenartiges Erlebnis, eben jener aufeinanderfol¬
genden Empfindungen, sondern du wirst auch noch folgende
Sachverhalte erfahren: du wirst keine Uebergangs- oder Neben¬
empfindungen haben; der zweite Eindruck wird sich leichter
und wohliger vollziehen; du kannst zu gewissen Zwecken den
Karl ebenso verwenden wie den Fritz, nämlich wenn es dabei
auf Körperlänge oder Haarfarbe ankommt usw. So erfüllen
vnr die Worte »ist gleich« mit einem scharf umschriebenen
Sinn, ohne ein elementares Gleichheitserlebnis anzunehmen. Von
diesem Sinn tritt nun das meiste bei dem häufigen Gebrauch
diesm* Worte zurück, und es bleibt vielleicht nur ein repräsen¬
tierendes Schema von zwei gleichlangen Stridien. Das Wort
»ist« oder »ist gleich« scheint uns dann einen einfachen Inhalt
widerzuspiegeln. Aber der nämliche Anschein tritt bei allen
geläufigen Wörtern zutage. Auch das Wort »Pferd« scheint
nns etwas sehr Einfaches vor die Seele zu führen, und doch
kann es, abgesehen von dem Yorstellungsbild, nur eine Summe
von Sachverhalten bedeuten.
Ist so die Bedeutung des prädikativen »sein« und des »gleich¬
sein« ohne Voraussetzung eines elementaren Gleichheitsinhaltes
gewonnen, so bereitet die Erfassung der Identität keine
Schwierigkeit mehr. Für das praktische Leben kann man sich
den Entwicklungsgang folgendermaßen zurechtlegen: man trifft
mit jemand zusammen und erkennt seine Gleichheit mit einer
durch die Erinnerung uns bewußt gewordenen Persönlichkeit.
Obwohl die beiden nicht in jeder Hinsicht gleich sind, erklären
wir sie doch für identisch, da wir einen inneren Kern bei jeder
Persönlichkeit annehmen, den wir als unverändert denken. Nun,
so wie wir in diesem Falle durch Erlebnis und Erinnerung zwei¬
mal die gleiche Person vorgestellt erhalten, können wir be-
264
J. Lindworsky,
liebige Dinge, dank unserer Fähigkeit Torznstellen, sich selbst
gegenüberstellen. Vergleichen wir sie unter den verschiedensten
Rücksichten, so finden wir stets Gleichheit Elrstreckt sich diese
Gleichheit aach auf Ort und Zeit der Existenz, so sprechen wir
von Identität Sie ließe sich noch schärfer kennzeichnen: für
unsere Zwecke genügt der Nachweis, daß wir zu dem Begriff
der Identität gelangen können, ohne ein elementares Gleichheits¬
erlebnis oder sonst eine von unsem Kemerlebnissen verschiedene,
elementare Relation anznnehmen. Freilich bedienten wir uns
zur Ableitung der Identitätsrelation der Gleichheitsbeziehnng,
aber wir lassen diese ihrerseits ans den Kemerlebnissen entstehen.
Ob wir mit dm* Dazwischenknnft der Gleichheitsbeziehung die
tatsächlich stattgefundene Entwicklung schildern, wissen wir
nicht, bleibt aber auch für unsere Zwecke außer Betracht, da
es nur erforderlich ist, die Möglichkeit einer solchen Ent¬
wicklung anfzuzeigen^).
Auch die Zahlrelationen bereiten keine wesentliche
Schwierigkeit. Zunächst lernt das Kind die Benennung zweier
Dinge, z. B. zweier Ejrschen, wie es auch sonst die Namen der
Gegenstände erlernt Die >zwei< gehört dann ganz wesentlich
zu den Kirschen. Später lernt es jenen Sachverhalt oder jene
Grappe von Sachverhalten mit »zwei« benennen, die immer dann
auftreten, wenn zwei Objekte vorhanden sind. Solche Sachvm*halte
wären z. B. das eigentümliche Erlebnis des zweimaligen Hindentens,
das sich dem Kinde genau so als charakteristisches Erlebnis vor
jedem Zahlbegriff einprägen kann, wie es sich dem dressierten
Huhn einprägt, das so je zwei oder drei Körner »abzählen«
lernt Aber kann auf diese Weise überhaupt ein einsichtiges
Urteil gewonnen werden, etwa das Urteil: zwei mal zwei ist
vier? Nun, etwa so: das Kind hat auf demselben Wege wie
zuvor »zwei« die Zahl »vier« kennen gelernt Es liegen vor
ihm vier Kirschen und es weiß: das nennt man vier, und zwar
hat es den Zahlbegriff schon von dem Objekt losgelöst Legt
es nun diesen vier Kirschen zwei und nochmal zwei gegenüber
und vergleicht beide Groppen, so erkennt es die Gleichheit
1) Die Gleichheitsrelatioii scheint für die Entwieklong and Aasge-
staltnng: der Übrigen Relationen, namentlich für deren sprachliche Bewälti¬
gung, eine ähnliche Rolle zn spielen wie das dekadische System im Rechnen.
Nicht anletzt ans diesem Grunde dürfte sie uns als etwas Elementares im¬
ponieren. Seltener gebrauchte Relationsbezeichnnngen, wie »schnell«, »oben«,
weisen viel prompter auf ihre Äbstraktionsgmndlage hin und lassen den
scheinbaren elementaren Inhalt weniger erkennen.
BeTision einer Relationstheorie.
265
dieser Grappen. Will man noch \reiter gehen, so kann man es
durch die verschiedensten Versuche die Unverträglichkeit jeder
andern Vergleichszahl mit dem Ergebnis von zweimal zwei und
die Unverträglichkeit jeder andern Vervielfachung von zwei
mit der Gmppenzahl vier erfahren lassen. Es sollte mich nicht
wundem, wenn mancher Erkenntnistheoretiker noch eine durch¬
sichtigere Evidenz forderte, als sie auf diesem Weg zu gewinnen
ist. Allein für Wissenschaft und Leben und selbst fflr die Philo¬
sophie scheint diese Evidenz zu genügen, die da zu dem Er¬
gebnis kommt: wenn ich nach diesen Erfahrungen mein Leben
und Forschen einrichte, gelange ich zum Ziel; wenn ich sie be¬
zweifle oder durch andere Aufstellungen ersetzen will, muß ich
Leben und Forschen darangeben. Eis ist ein psychologisches
Emblem für sich, wie jene Täuschung einer noch mehr aus dem
Wesen der Dinge hervorspringenden Evidenz zustande kommt.
Es läßt sich unseres Erachtens auf dem Boden der hier be¬
sprochenen Tatsachen lösen, doch führte uns das zu weit vom
Ziele ab.
Nachdem wir uns so ausführlich mit dem Erlebnis der Gleich-
heitsbeziehnng abgegeben haben, können wir uns bei der Ab¬
leitung der andern Beziehnngsklassen kürzer fassen. Beim
Übergang von einem anschaulichen Inhalt zu einem von ihm
verschiedenen wird man vielleicht noch eher die Sachver¬
halte erfassen, die diesem Erlebnis gemeinsam sind, auch wenn
es an den verschiedensten Inhalten durchgemacht wird. Hier
treten leichter Übergangs- und Nebenempfindungen auf; hier
verspürt man die Hemmung des zweiten Eindruckes; hier erlebt
man die Enttäuschung stärker, wenn man, in der Meinung zur
Erreichung eines bestimmten Zieles A zu ergreifen, tatsächlich
das von ihm verschiedene B erfaßt. Die Herauslösung und die
Benennung jener Summe stets wiederkehrender Sachverhalte
vollzieht sich wohl in derselben Weise wie bei der Gleichheits¬
relation oder kann wenigstens als ebenso entstanden gedacht
werden.
Anhangsweise sei auf ein bedeutsames Hilfsmittel für die
Vei^leiche des Erwachsenen hingewiesen, das sich in der Jugend
ansbildet und später beim Beurteilen verschiedener Eindrücke
gute Dienste leistet. Es sind das die Intensitäts- und Qualitäten¬
reihen. Zufällig bietet das Leben dem Kind Intensitätsreihen in
der Welt des Schalles und des Druckes, bisweilen auch auf
anderen Gebieten. Sie haben die Eigentümlichkeit, daß sich bei
ihnen jenes charakteristische Übergangserlebnis, das man sonst
266
J. Lindworsky,
bei zwei Stufen dieser Reihen hat, andauernd wiederholt bzw.
erhält. Das merkwürdige Erlebnis beim Übergang von einem
Ton zu einem lauteren, Ton einem Druck zu einem stärkeren
nimmt in der anfsteigenden Reihe kein Ende, sondern wird immer
eindringlicher. Ähnliches gilt für die absteigende Reihe. Solche
Intensitäts* und Qnalitätenreihen prägen sich nun als Ganze
ein. Auch Schemata bleiben von ihnen zurück. Hat man dann
später zwei ungleiche Empfindungen derselben Art miteinander
zu vergleichen, so geschieht dies nicht selten durch Rückgang
auf diese Reihen. Die Vp. bemüht sich, die beiden Empfindungen
einer solchen Reihe einznordnen, oder sie versucht eine solche
Reihe herznstellen, indem sie im Sinne des gebotenen Empfin¬
dungspaares fortzuschreiten trachtet und erst ans dieser Fort¬
setzung erkennt, ob z. B. die beiden Töne anfsteigend oder ab¬
steigend verliefen.
7. Die Kemerlebnlsse za weiteren Beziehnngserfassangen.
Als Ausgangspunkt für die räumlichen Beziehnngserfas-
sungen mag uns der Komplex der Erlebnisse dienen, die man
bei einer Drehung des Kopfes nach rechts erfährt. Die objektive
Gleichheit oder Verschiedenheit dei* Sehdinge, die dabei vom
Auge getroffen werden, kann nicht als Grundlage neuer Be¬
ziehungserfassungen dienen, denn sie sind nicht eindeutig und
notwendig mit ihr verbunden: bald folgt beim Kleinkinde etwa
auf die graue Stubenwand das Grün einer Baumkrone vor dem
Fenster, bald das nämliche Grau eines andern Teiles der gleichen
Wand, je nach der Ausgangsstellung. Dagegen schließen sich
bestimmte Bewegungsempfindungen mit der Aufklärung des dem
rechten Arm benachbarten Gesichts- oder Tastfeldes zu einem
Komplex zusammen. Das Wort »rechts« erhält den Sinn: Ab¬
folge bestimmter Bewegnngsempfindungen und beginnende Ver-
denüichung des seitlichen Gesichts- und Tastfeldes, in dem so¬
dann der rechte Arm wahrnehmbar wird. Gewiß sind nicht alle
Kopfbewegungen nach rechts gleichartig und zumal die Be¬
wegungen des Rumpfes, des Armes und des Auges sind namhaft
untereinander verschieden, aber dennoch läßt sich der eine oder
der andere gemeinsame Sachverhalt anfzeigen, der die Sinn-
erfüllnng für das Wort »rechts« übernimmt. Wir wollen uns heute
noch nicht darauf berufen, daß sich vielleicht bei allen Be¬
wegungen nach rechts eine gleiche kinSsthetische Gestalt findet,
womit zweifellos die eleganteste Lösung geboten wäre; es ge¬
nügt, daß die initialen Bewegnngsvorstellungen der verschiedenen
Bevision einer Belationstbeorie.
267
Glieder mit dem gemeinsamen Moment der Anfhellnng des seit¬
lichen Wahmehmongsfeldes oder der Wahrnehmung der rechten
Körperseite zu einem Komplex verbunden sind, damit das Wort
»rechts« eine bestimmte Erlebnissitnation ins Bewußtsein rnfe,
die ihm einen passenden Sinn verleiht.
Es ist möglich, daß »rechts« einmal die Situation der Kopf-
wendung ins Bewußtsein ruft, während doch der Zusammenhang
die der Körperwendung verlangt Nun gut, dann gibt es eben
eine geringe Verständnishemmung, bis von dem gemeinsamen
Glied ans der andere passende Komplex geweckt ist Solche
anfängliche falsche BedeutungsfiUlnngen mit darauffolgender
Hemmung oder Korrektur lassen sich in der Erfahrung nach-
weisen. So verwunderte ich mich einmal sehr, als mir ein Mediziner,
der gerade starken Schnupfen hatte, sagte, er habe ein Pulver
genommen. Es war mir neu, daß man gegen Schnupfen ein Pulver
einnehme, bis der weitere Zusammenhang ergab, daß einSchnnpf-
pnlver gemeint war. Fär mich waren die Stücke: Mediziner —
Pulver — Einnehmen zu einem sehr geläufigen Komplex ver¬
bunden. Die Tatsache also, daß durch eine Belationsbezeichnnng
ein nicht ganz entsprechender Erlebniskomplex zur Sinnfüllung
geweckt werden kann, bedeutet keine Schwierigkeit gegen unsere
Theorie, um so weniger, da im Verlauf der Erfahrung nicht die
ausführlichen Situationen, sondern die am häufigsten wieder¬
kehrenden Sitnationszüge reproduziert werden und zur Sinn-
füllung ausreichen.
Die Veränderungsrelationen haben ihr Kemerlebnis in
dem refiexen Erfahren der sich verändernden anschaulichen In¬
halte. Daß uns wirklich kontinuierlich sich verändernde Inhalte
gegeben sind oder doch gegeben sein können, wird heute von
niemandem bestritten. Freilich das einfache Haben von sich
verändernden Inhalten verhilft noch nicht zu irgendwelchen Be¬
ziehungsbegriffen dieser Art. Tritt aber das refiexe Erfassen
der sich verändernden Inhalte hinzu, so bilden sich diese Be¬
griffe aus, wie es oben bei der Oleichheits- und Verschieden¬
heitsrelation angedentet wurde.
Daß das Veränderungserlebnis auch die Grundlage zur Zeit-
erfassnng abgeben kann, wurde schon öfters betont. Vom
Standpunkt der alten klassischen Definition aus: tempus est nu-
mems et mensura motus, wird man gegen diese Ableitung keine
Bedenken hegen. Wer indes für apriorische Zeitformen eine
Vorliebe hat, wird sich nicht so leicht befriedigen lassen. Allein
für ihn gelten unsere Ausführungen nicht, die ganz vom Stand-
268
J. Lindworsky,
punkt der theoretischen Psychologie, also von einem vor jeder
Elrkenntnislehre liegenden Standpunkt ans gemacht werden. Aber
anch von unserem Standpunkt aus wollen wir hier keine rest¬
lose Ableitung der Zeitbegriffe bieten, sondern nur auf das hierzu
verwendbare Kemerlebnishinweisen und nochmals betonen, daß anch
hier eine elementare Beziehnngserfassnng nicht benötigt wird.
Das Material zum Eemerlebnis der Zeitrelationen können
an sich wohl alle Empfindungsklassen liefern, doch dürften die
Organempfindungen eine hervorragende Bedeutung besitzen. Auch
fehlt es nicht an anderweitigen Sachverhalten, wie Stand der
Sonne und der Gestirne, Lebensgewohnheiten der Pfianzen und
Tiere nsw., die sich mit dem Eemerlebnis zu Eomplexen ver¬
binden und den vollen Sinn der Zeitrelationswörter ansmachen.
Räumliche und zeitliche Relationserfassungen in Verbindung
mit der Gedächtnistätigkeit ergeben die Zusammengehörig¬
keitsbeziehungen. Wurden A und B neben bzw. nachein¬
ander häufig erlebt, so reproduziert das A die Vorstellung von B.
Tritt dann wirklich B auf, so ist damit ein ganz eigenartiges
Erlebnis gewonnen: der Übergang von einer Vorstellung zu
einer Wahrnehmung gleichen oder doch teilweise gleichen In¬
haltes. Und solche reflex erlebbare Übergänge benötigen wir ja
als Grundlage der Beziehungen. So werden Zusammengehörig¬
keit von Blitz und Donner, von Tag und Nacht u. ä. m. erkannt
Eine besondere Art der Zusammengehörigkeit besagt die
kausale Relation. Läßt sich auch fflr sie ein Eemerlebnis
finden? Der Gedanke an den Übergang von dem Willensent-
schlnß zur Willenshandlung liegt nah. Dieses Erlebnis wurde
schon mehrfach als die Gmndlage derEausalrelation angesprochen.
Man hat aber nicht mit Unrecht eingewandt, wir erlebten gar
nicht die Abhängigkeit unserer willkürlichen Bewegungen von
unserm Entschluß, und verwies dabei auf mancherlei Tatsachen
der Pathologie. Es läßt sich indes dieses Argument auf eine
festere Grundlage stellen. Die hier gemachte Voraussetzung von
dem isolierten Willensakt und seiner körperlichen Folgeerscheinung,
der Bewegung, trifft nach den neueren Willensnntersnchnngen
nicht zu oder braucht wenigstens nicht das Paradigma zu sein,
von dem wir ausgehen. Der Willensakt erscheint nicht so wohl
als isoliert vorausgehender Akt, denn vielmehr als ein das ganze
Erlebnis beseelender Zug. Die gesehene und kinästhetisch empfun¬
dene Bewegung erscheint selbst als willentliche. Woher diese
Auffassung kommt, braucht uns als empirisch oder theoretisch
denkende Psychologen vorerst noch nicht zu kümmern. Wir
Rerision einer Relationstheorie.
269
finden sie in frühen Kindheitsjahren vor. Und da wir, gemäß
dem früher angegebenen Standpunkt, keine philosophische oder
erkenntnistheoretische Überlegung oder Annahme voransschicken
dürfen, da insbesondere angeborene Ideen oder Kategorien nach
dem, was wir sonst empirisch ermitteln, keine Begründung in
den Beobachtungen haben, sind wir berechtigt, diesen Eindruck
der Eigentätigkeit bei unseren Körperbewegungen als einen der
Erfahrung entstammenden und nicht nur als einen gelegentlich
der Erfahrung ausgelösten Eindruck anzusprechen. Kommen wir
aber jemals zu dem Erlebnis selbstbewußter Tätigkeit, so haben
wir die Grundlage für die allgemeine Kansalrelation gewonnen.
Die leichter erfaßbaren anschließenden Sachverhalte haben wir
z. B. in den gesehenen Bewegungen der Glieder.
Es lassen sich aber auch kritischere Ansprüche befriedigen.
In dem Übergang von der Wertung eines Zieles zu dessen Er-
strebung liegt zweifellos eine Tätigkeit, die eine Veränderung,
nämlich die andere Stellung des Subjektes zum Ziel bewirkt.
Jeder Willensakt ist eine Stellungnahme und damit eine Tätigkeit
des Ich, die eine Veränderung, eine Wirkung herbeiführt. Mag
dann auch in der unmittelbaren Übertragung dieser Kansalver-
hältnisse auf die Muskelbewegnngen zunächst ein logischer Fehler
unterlaufen, wie das so oft beim naturgemäßen Denken geschieht,
die rechtmäßige empirische Basis ist für einen solchen Denk¬
fortschritt in dem inneren Willenserleben geboten. — Eis braucht
wohl nicht besonders dargelegt zn werden, daß die Kansalbe-
ziehnng außerhalb des Ich nur vermittels einer Gleichsetznng
der beim Ich beobachteten Verhältnisse mit den in der Außen¬
welt gefundenen logisch ableitbar ist. Der psychologische Weg
dürfte sehr viel kürzer sein.
Von der Verschiedenheitsrelation war schon die Rede. Nach
mehrfacher Erfahrung hebt sich aus der Gruppe der Ver¬
schiedenheitsrelationen die des Gegensatzes ab. In ähnlicher
Weise ist die Verträglichkeitsrelation ein Sonder¬
fall der Zusammengehörigkeit und die Unverträglichkeits¬
beziehung ein Sonderfall der Gegensätzlichkeit. Es braucht
aber keine neue Art von Kemerlebnissen, um die letztgenannten
Relationen zn gewinnen.
Auch die Relation der Ähnlichkeit wird leicht auf ursprüng¬
lichere Erfahrungen znrückgeführt. Wir erleben bei Dingen,
die man als ähnliche bezeichnet, sowohl Sachverhalte, die bei
gleichen Vorkommen, wie solche, die bei verschiedenen Gegen¬
ständen zu bemerken sind. Und gerade dieses Verbundensein
270
J. Lindwonky,
der sonst getrennten Sachverhalte charakterisiert eindeutig
die ühnlichkeitsbeziehnng und gibt dem Wort einen scharf
nmrissenen Sinn, ohne daß wir zn einem elementaren Inhalt
>ähnlich« znrttckzngreifen hätten.
Die Existentialbeziehnng endlich findet ihren Aus¬
gangspunkt in dem Sachverhalt desVorfindens von Inhalten,
wie er beim refiexen Bewußtsein erlebt wird; alle Essential-
beziehnngen in den Vorgefundenen Inhalten, wie schon
im einzelnen angedentet
Damit haben wir die Hanptklassen der Relationen besprochen.
Es wird sich nicht leicht eine weitere Relationsart aufweisen
lassen, die nicht ans den aufgezählten ableitbar wäre. Damit
ist aber erwiesen, daß das refiexe Erleben, in dem wir den
Kern des Relationserlebnisses erblickten, ansreicht, um sämtliche
Relationen grundzulegen.
S. Die Einteilung der Relationen.
Die Einteilung der Relationen kann sich vom psychologischen
Standpunkt ans entweder auf die Betrachtung des Eemerlebnisses
oder auf die der anschließenden Sachverhalte gründen. Das
Eemerlebnis kann hinsichtlich des Momentes des refiexen £}rlebens
nicht variieren, wohl aber hinsichtlich der refiex erlebten Inhalte
oder Zustände des Ich. Je nachdem nun diese der gleichen
Erlebnis- oder Inhaltsklasse angehören, und je nachdem, welchen
Erlebnisklassen sie angehören, ließen sich Qmppen von Be¬
ziehungen finden. Ein in mancher Beziehung ähnlicher Versuch
wurde schon von Spencer gemacht. Wir gehen nicht näher auf
eine derartige Gruppierung ein.
Schanen wir auf die sich anschließenden Sachverhalte, so
gewinnen wir die ans der Gegenstandslehre schon bekannten
Einteilungen der Gleichheits-, Ähnlichkeits- usw. Beziehungen,
wie sie oben verwertet wurden. Denn der anschließende Sach¬
verhalt, nicht das Eemerlebnis ist hier das letztlich Bestimmende.
Das gleiche Eemerlebnis kann sich zur Verschiedenheitserfassung
und zur Zeitrelation entwickeln, je nach den anschließenden
Sachverhalten; wenngleich bestimmte Sachverhalte sich nur an
bestimmte Eemerlebnisse anschließen können. So verstanden,
ließe sich auch behaupten, daß die Zahl der Relationen nicht
angegeben werden kann. Denn zweifellos würde sich bei hin¬
reichender Beschäftigung mit selteneren Empfindungen, wie etwa
den Gerüchen, oder subjektiven Zuständen, wie den Gefühlen,
Revision einer Relationstheorie.
271
auch eine Snmme von anschliefienden Sachverhalten einprägen,
isolieren und mit einem Namen versehen, die jetzt wegen allzu
seltener Bekanntschaft mit jenen Inhalten nicht im Gedächtnis
haften, noch sich zu reproduzierbaren Komplexen zusammen*
schließen. So bedeutet es ja auch fftr den Laien etwas Neues,
wenn ihm der Maler von kalten und warmen Farben spricht.
Eine Unterscheidung zwischen elementaren und abgeleiteten
Beziehnngserfassungen ist nicht wohl möglich, da wir den
elementaren Vorgang des Eemerlebnisses noch keine Beziehungs¬
erfassung nennen wollten, die entwickelte Beziehungserfassung
jedoch immer etwas Abgeleitetes ist. Es lassen sich aber bei
den entwickelten Beziehungserfassungen je nach der Länge oder
Kürze ihrer Ableitungsprozesse verschiedene Schichten unter¬
scheiden. So ist z. B. die Verschiedenheitsrelation unmittelbar
auf das Kemerlebnis: Inhalt a — Inhalt b aufzubauen; die
Znsammengebörigkeitsbeziehung hingegen muß die Abfolge von
a und b als wiederholt erlebte und im Gedächtnis anfbewahrte
voranssetzen. Eine noch kompliziertere Entwicklung machen jene
Beziehungen durch, die nur mit Hilfe einer früher gewonnenen
Beziehnngserfassung erarbeitet werden können. So setzt, wie
vrir oben sahen, die Identifikation die Beziehung der Gleichheit
voraus. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Gewinnung der
Gleichheitsbeziehnng überhaupt einen hochbedeutsamen Schritt
in der geistigen Entwicklung des Kindes besagt, der einmal
vollzogen, dem Kinde sprunghaft neue Wege öffnet
Endlich ist noch eine gewissermaßen horizontale Schichtung
zu erwähnen, die entsteht, wenn zu einer Gruppe von anschließenden
Sachverhalten weitere hinzutreten. So dürften zu dem Sach¬
verhaltskomplex bei »verschieden« andere Komplexe hinzukommen
und die neue Beziehung »Gegensatz« begründen.
n. Teil.
Einige Folgerungen aus der vorgelegten Auffassung.
1. Zur Terminologie.
Nach der älteren Auffassung besteht kaum ein Anlaß, zwischen
Beziehungserlebnis und Beziehungserfassung zu scheiden. Wohl
schien es notwendig, die (elementare) Entdeckung von Be¬
ziehungen der Feststellung von Sachverhalten gegenüberznstellen.
Eine Entdeckung liegt vor, wenn man die zwei Objekte A und
272
J. Lindworsky,
B wahrnimmt und ihre Gleichheit erkennt. Eine FeststeUnng
oder Erkennung von Sachverhalten hat statt, w^m man eine
früher entdeckte Beziehung nun bei einem noch nicht n&her
erkannten Sachverhalt wiederfindet. Dazu braucht es nicht
notwendig eine originale Entdeckung, es genügt die indirekte
Feststellung eines Sachverhaltes vermittels eines Eiiteriums.
In der neueren Auffassung muß es Beziehnngserlebnisse
geben, die nicht ohne weiteres als Beziehungserfassung zu be¬
zeichnen sind. Der einfache, aber refiexbewußte Übergang von
dem einem Inhalt zu einem andern ist ein Beziehungserlebnis.
Das wesentliche Charakteristikum eines solchen, das >in Be¬
ziehung zu< eignet ihm, aber es ist ganz wesentlich von der
Beziehnngserfassung »sind gleich< verschieden, deren Inhalt
erst nach einer namhaften Entwicklung des Denkens erfaßbar ist.
Freilich ist die Terminologie sehr willkürlich. Aber da nun
einmal der Unterschied ansgedrückt werden muß, so dürfte »Be¬
ziehnngserfassung« zweckmäßig dem entwickelten Erlebnis Vor¬
behalten bleiben, ganz im Einklang mit dem bisherigen Sprach¬
gebrauch, während »Beziehungserlebnis« im prägnanten Sinn für
das Eemerlebnis stehen kann, ohne darum seine Verwendbarkeit
im allgemeinsten Sinne einznbüßen.
2. Die Beseitlgiing alter Schwierigkeiten.
a) VieUeicht haben es auch andere als Schwierigkeit em¬
pfunden, wenn sie bei Betonung der wesentlichen Verschieden¬
heit zwischen Relationen und anschaulichen Inhalten sich bald
auf den Inhalt der Relationsbegriffe, bald auf das spezifisch
Relative beriefen. Diese Schwierigkeit, dieses Schillern des Be¬
griffes, fällt in unserer Auffassung weg. Etwas Neues gegen¬
über den rein anschaulichen Inhalten ist nur die relative Be¬
trachtungsweise, das refiexe Erleben der wesentlichen Inhalte;
worauf wir aber in dieser Weise schauen, das sind immer nur
anschauliche Inhalte. Damit darf man jedoch eine andere Frage
nicht verwechseln, nämlich die, ob wir nur anschauliche Dinge
erkennen könnten. Nein, wir fassen auch Dinge, die wie die
Begriffe Gerechtigkeit, Seele, Gott ihrem Gegenstand nach
ananschaulich sind, aber wir erfassen sie nur vermittels des
Anschaulichen, wie man sich leicht an beliebigen Beispielen klar
machen kann.
b) Eine zweite Schwierigkeit, die nunmehr beseitig^ ist, liegt
in folgendem Umstand. Grundsätzlich gibt es nach der früheren
Rerisioii einer Belationstheorie.
273
Anffassnng so yiele Beziehungen, als Oegenstftnde zueinander
in Beziehung gesetzt werden können. Ihre Zahl ist praktisch
unendlich groß. In Wirklichkeit lassen sich aber nur yerhältnis-
mäßig wenige Beziehungsinhalte nennen. Ich suchte dieser
Schwierigkeit dadurch zu begegnen, daß ich nur die biologisch
wichtigen Beziehungen zu eigenen Bezeichnungen kommen ließ,
die andern hingegen »stumme Beziehungen« nannte^). Noch be<
denklicher war die Situation für Meinong, der für einige Re<
lationen eine Vorstellnngsproduktion annahm, für andere nicht *).
Nach nnserer Auffassung sind alle Beziehungen, das Wort im
obigen Sinn verstanden, gleich, doch schließen sich nicht an alle
gleich viele und gleich markante Sachverhalte an, und anderseits
führt uns das Leben nicht alle Beziehungen gleich oft vor.
Grundsätzlich ist darum nicht nur die Zahl der elementaren
Beziehungen, sondern auch die Zahl der benennbaren Beziehungs-
erfassnngen unbegrenzt vermehrbar.
c) Weit prinzipieller erscheint mir die Beseitigung einer
dritten Schwierigkeit. Bisher suchte man den Relationen auf
vierfache Weise gerecht zu werden. Die sensistische Auffassung
bestritt das Vorhandensein von Relationsinhalten, die nicht allein
durch die anschaulichen Inhalte der Fundamente gegeben wären.
Diese Theorie mußte offenkundige Tatsachen leugnen und psychische
Inhalte als Redensarten hinstellen. — Die Wertheimer Richtung
gibt das Vorhandensein von Relationsinhalten zu und erklärt sie
als gegeben durch die Übergangsempfindungen *). Nun muß sie
entweder den in der Übergangsempfindung erlebten Inhalt dem
erlebten Relationsinhalt gleichstellen — und dann gerät sie mit der
einfachsten Selbstbeobachtung in Widerspruch: denn niemals
meine ich nur Übergangsempfindungen, wenn ich »gleich<, »ver¬
schieden« nsw. denke. Oder sie muß behaupten: wie der durch
eine Sinnesreizung hervorgerufene psychophysische Prozeß
von der Reizseite her die letzte Bedingung für den parallel
laufenden Empfindnngsvorgang ist, so ist der bei den Übergangs¬
empfindungen vorhandene psychophysische Prozeß unmittelbar
und notwendig von dem Erleben des Relationsinhaltes begleitet.
Allein, abgesehen von den früher^) geltend gemachten Bedenken,
abgesehen auch davon, daß diesem psychophysischen Prozeß dann
zwei Erlebnisse entsprächen, die Übergangsempfindungen und
1) VgL des Verf. »Umridskizze za einer theoretischen Psychologie« S. 36 fi.
^ VgL Meinong, Hame-Stndien II.
3) Vgl. O. Katona, Psychologie der Belationserfassnng, 1924.
4) Vgl. des Verf. »Umrißskizze zn einer theoretischen Psychologie« S. 12S.
AroUr fflr Psychologie. XLVUI. 18
274
J. Lindworsky,
die Vergleichsinhalte, hätten wir hier das Mißliche, daß der
Bereich jener letzten nicht weiter erklärbaren Tatsachen, wie
sie der ti)ergang von Leib zn Seele mit sich bringt, ganz ohne
Not ausgeweitet wird. Das, was als unsere Einsicht erscheint,,
ist dann in Wirklichkeit uns von der Natur geschenkt, nicht
Ton uns erarbeitet.
Dem steht die dritte Auffassung gegenüber: die Relations>
inhalte werden als neue Vorstellungen auf Grund der Wahr¬
nehmung der Fnndamente produziert, wie Meinong nnd seine
Schule lehrt. Vielleicht hat nur das Wort Vorstellungs Produk¬
tion wegen seines subjektiven Beigeschmackes so oft Anstod
erregt Vermutlich wollte Meinong nichts anderes sagen als
die vierte Auffassung, die neben das sinnliche ein geistiges
Erkennen setzte und lehrte: die sinnlich nicht wahrnehm¬
baren Relationen werden durch ein nnsinnliches Erkenntnis¬
vermögen erfaßt*). Zweifellos wurde diese Anschauung bisher
am besten den Tatsachen gerecht Denn Relationen sind nicht
einfachbin durch Sinnesinhalte wiederzugeben. Somit ist eine
Erkenntnisfähigkeit anznsetzen, die über das rein sinnliche
Erleben hinausgeht Anderseits schienen die Relationsinhalte
einfache Inhalte zu sein. Somit war die Annahme eigener
Erkenntnisakte, die jene einfachen Inhalte erfassen, geboten.
Nur sind mit dieser Auffassung alle jene Schwierigkeiten ver¬
knöpft, die hier zur Sprache kommen. Erweisen sich aber die
Beziehnngsinhalte als nicht einfache Erkenntnisse, so kommen
wir zwar auch an einer höheren Erkenntnisfähigkeit nicht vor¬
bei, aber wir beschränken ihre Tätigkeit auf eine einfache nnd
jederzeit in der Selbstbeobachtung nachweisbare Funktion, eben
auf das reflexe Erleben, auf das Innewerden der eigenen Erleb¬
nisse. Außerdem vermeiden wir alle Bedenken, die mit der
älteren Auffassung gegeben sind, und gewinnen den Schlüs.sel
für das Verständnis so mancher Tatsachen und zur Vereinheit¬
lichung der gesamten Erkenntnislehre, wie noch zu zeigen ist.
d) Eine weitere Schwierigkeit, die für uns leicht zu beheben
ist, liegt auf einem ganz andern Gebiet. Wer für das Webersche
Gesetz eine physiologische Erklärung bevorzugt, ist auch geneigt,
die Tatsache der Unterschiedsschwelle physiologisch zu erklären.
Und doch müßte jeder, der die Relationserfassungen »gleich«.
1) Eine Ansicht, welche die Relationsinhalte apriorischen Anlagen xnweist
nnd sie nur gelegentlich der Wahrnehmung der Fnndamente heransspringen
läfit, halten wir anf empirisch psychologischem Boden nicht für mSglich.
ReviBion einer BelatioDstheorie.]
27&
»verschieden« als elementare Akte der Einsicht betrachtet, die
Unterschiedsschwelle psychologisch erklären. Denn sind
JR,, JR, nsf. die unterschwelligen Reizznwüchse zum Ausgangs¬
reiz R (bzw. R+JRi und R-f^Äi+^R») «nd sind Pj, P„ P,
nsf. die zugehörigen psychophysischen Prozesse, so müssen diese
Prozesse als voneinander verschieden angenommen werden.
Andernfalls wäre ja Pg^Pi und es wäre nicht einzusehen, warum
P^ (wie wir voraussetzen) einen andern Bewußtseinsinhalt wecken
sollte als P,. Sind aber die psychophysischen Prozesse verschieden,
so sind auch die zugehörigen Bewußtseinsinhalte I^, I,, I, nsf.
verschieden. Wird nun doch nicht als von I,, 1, nicht als
von verschieden erkannt, so kann dies nur am Seelischen
liegen. Man hat also eine unerklärliche Eigenart des Seelischen
zu fordern, dergemäß solche inhaltliche Differenzen nicht erfaßt
werden. Besteht aber die Beziehungserfassung gar nicht in dem
Heransspringen eines Beziehnngsinhaltes, sondern in dem Anschluß
von zunächst physiologisch bedingten Sachverhalten und deren
Heranshebnng, so begreift man, daß sich an physiologisch allzu
geringe Differenzen nicht hinreichend starke Folge- und Begleit¬
prozesse anschließen, sondern Prozesse, die entweder überhaupt
noch keine Bewnßtseinserscheinungen anszulösen vermögen oder
nur so schwache, flüchtige, daß sie nicht eigens beachtet und durch
Aufmerksamkeitszuwendung zu Komplexen zusammengeschlossen
werden.
3. Tereinfachung des Gestaltproblems.
Gehen wir von den einfachsten Gestalten aus, die wir uns
denken können, etwa den Tonschritten und den Farbenschritten.
Die Abfolge zweier einfacher Töne, die Abfolge zweier Farben
können als solche gelten. Auf sie paßt das Kriterium: das
Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Töne
wenigstens sind außerdem transponierbar, ohne daß die Gestalt
zerstört wird. Mit den Farben hat es jedoch seine besondere
Bewandtnis.
Die Abfolge zweier Töne kann nun rein sinnlich erlebt
werden. Sie kann aber auch in der oben beschriebenen reflexen
Weise durchs Bewußtsein gehen. Im ersteren Falle würde ich
nicht von Gestalt, sondern nur von dem Nacheinander zweier
Töne reden. Im zweiten Falle haben wir das Kemerlebnis,
wie es oben beschrieben und später mit dem Namen »Beziehung«
im prägnanten Sinne bezeichnet wurde. Auf jeden Fall sehen
wir, daß die Gestalten und die Beziehungserfassungen den näm-
18 *
276
J. Lindworsky,
liehen Ursprung haben. Damit ist zweifellos eine wertvolle
Vereinfachnng der ganzen Auffassung gegeben. Es fragt sich
nur, ob wirklich mit dem einfachen reflexen Erleben der beiden
Töne bzw. der Farben eine Gestalt gegeben ist.
Das Eriterinm der Transponierbarkeit trifft ja für einfache
Farbenerlebnisse nicht zu. Zwar könnte man eine gewisse
Parallele zwischen den Abfolgen rot —blau, gelb—grün entdecken.
Allein das wäre weniger eine Transposition der Farben als
vielmehr der Helligkeiten oder der Lage im Farbenkreis. Ander¬
seits läßt sich nicht verkennen, daß zwischen der reflez erlebten
Abfolge zweier Farben und der zweier Töne oder sonstiger
Empfindungen eine so große Ähnlichkeit besteht, daß es als
gewaltige Willkür erscheint, einen Tonschritt als Gestalt, einen
Farbenschritt nicht als Gestalt anzuerkennen. Man darf eben
den Satz von der Transponierbarkeit nicht umkehren: wo Trans¬
ponierbarkeit, da Gestalten, aber nicht: wo Gestalten, da
Transponierbarkeit. Denn gäbe es nur die drei Töne c d e, so
gäbe es keine Transponierbarkeit von c—e, an dem Erlebnis
der großen Terz würde sich jedoch darum nicht das geringste
ändern.
Somit dürfte es für die Gestalten einfachster Art nur zwei
wesentliche Erfordernisse geben: daß sie aus anschaulichen In¬
halten, und daß sie aus anschaulichen aufeinander bezogenen
Inhalten bestehen.
Vielleicht könnte man versuchen, in dem refiexen Erleben
eines einzigen anschaulichen Inhaltes schon die elementare Ge¬
stalt zu erblicken. Allein wenn eine Zeitlang ein Ton oder eine
Farbe im Bewußtsein steht, ohne refiex von ihrem Hintergründe
bzw. ihrer Umgebung abgehoben zu sein, so dürfte niemand von
einer Gestalt reden. Wenn wir in der Dunkelkammer das
Augengrau im Bewußtsein haben, ohne es irgendwie zu andern
anschaulichen Inhalten in Beziehung zu bringen, so dürfte nie¬
mand von einem Gestalterlebnis sprechen. Somit scheint das
Wesentliche eines Gestalterlebnisses in der Beziehung anschau¬
licher Inhalte aufeinander zu bestehen. Jedesanschauliche
Kernerlebnis ist ein Gestalterlebnis. Am Ausgangs¬
punkt der Entwicklungsreihe, die zu den Beziehungserfassungen
und zu den Begriffen führt, steht das Gestalterlebnis. Und
zwar ist es nicht erforderlich, so möchte ich nunmehr meine
Ansicht präzisieren, daß eine Summe solcher elementarer Be¬
ziehungen erfaßt werde, sondern der gesamte eigenartige Inhalt
z. B. eines weißen Fünfeckes wird refiex zu einem blauen Hinter-
Bevision einer Belationstheorie.
277
gnmd gesehen. Darauf kann eine weitere elementare Beziehung
zwischen den Teilen des Fünfeckes einsetzen und etwa Seite zu
Seite, Winkel zn Winkel in Beziehung bringen. Allein das sind
neue und andere Erlebnisse, die wohl unsere späteren Betrach¬
tungen des Fünfeckes bereichern können, das erstmalige Gestalt¬
erlebnis jedoch nicht bedingen. Endlich können zn diesen ele¬
mentaren Beziehungen der Teile aufeinander noch eigentliche
Beziehnngserfassungen kommen, die Worte stets in dem
prägnanten Sinn von S. 272 gebraucht; wir können erfassen, daß
die Seiten und Winkel einander gleich, daß die Winkel 108*
sind. Aber das sind keine Oestalterlebnisse, sondern begrifOiche
Erfassungen, die das Gestalterlebnis eher zerstören.
Yon hier ans wird unsere Stellung zur Wertheimerschen
Gestalttheorie klar. Sie scheint uns nicht so wohl das Gestalt¬
erlebnis als dessen Voraussetzungen zn behandeln. Keine
elementare Beziehung, ohne daß in gewissem Sinne zuvor (rati-
one prins) die aufeinander zu beziehenden anschaulichen Inhalte
gegeben sind. Von der Art und Abgrenzung dieser anschaulichen
Inhalte hängt auch das Gestalterleben ab, ist jedoch nicht un¬
mittelbar und eo ispo damit gegeben. Bei derselben anschaulichen
Qualität und der nämlichen räumlichen bzw. zeitlichen Abgrenzung
können yerschiedene Inhalte aufeinander bezogen werden. Doch
soll nicht verkannt werden, daß gewisse Arten der anschaulichen
Gegebenheit die Aufmerksamkeit herausfordem und eine be¬
stimmte Weise der Beziehung nahelegen, manchmal sogar er¬
zwingen. Für die psychophysischen Prozesse, die die erwähnten
anschaulichen Voraussetzungen der Gestalterlebnisse bedingen,
mögen in weitem Umfang Gesetzmäßigkeiten gelten, wie sie
Wertheimer bei der Querfnnktion, Köhler bei den physi¬
kalischen Gestalten im Auge hat. Sie mögen oft für unser
Glestalterleben wegweisend und ausschlaggebend sein: das Ge¬
stalterleben sind sie nicht, noch bedingen sie es ausschließlich.
Es wird der zukünftigen Diskussion gewiß dienen, wenn man
die beiden soeben unterschiedenen Probleme mit verschiedenen
Bezeichnungen versieht und dem Figurenproblem das Ge¬
staltproblem gegenübersetzt. Das Figurenproblem befaßt
sich mit dem Zustandekommen der anschaulichen Grundlage der
Gestalt; z. B. mit der Frage, warum im Vieleck angeordnete
Lichtreize das Bild eines Kreises ergeben. Das Gestaltproblem
tragt, was beim Gestalterleben außer dem anschaulichen Inhalt
noch bewußt sei. Mittels dieser Unterscheidung kann man in
der Kontroverse Benussi-Koffka jedem der beiden Partner
278
J. Lindworsky,
zn Semem Recht verhelfen: Bennssi hat recht, solange er vom
Gestalterleben spricht und setzt sich ins Unrecht, sobald er seine
Behauptungen auf das Figurenproblem ansdehnt. Das Umgekehrte
gilt von Eoffka. — Ähnlich wird man bei sehr vielen geo¬
metrischen Täuschungen die Frage aufznwerfen haben, ob sie
(physiologisch) als Figuren oder (psychologisch) als Gestalten
eine Erklärung finden, eine Scheidung, mit der weitere Möglich¬
keiten nicht ausgeschlossen sein sollen.
4. Einblicke.
s) SokiesslT- aad SimnltanTerglelch.
Sind unsere genetischen Auffassungen richtig, so läßt sich das
Problem des Sukzessiv- und des Simultanvergleiches ein g^tes
Stück weiterbringen. Die Antwort auf einen Vergleich erfolgt
nicht auf Grund einer elementaren Beziehung, sondern auf Grund
einer Beziehnngserfassung. Wir haben es somit beim Vergleich
nicht mit einem elementaren, am Anfang der geistigen Entwick¬
lung stehenden, sondern mit einem höher entwickelten Vorgang
zn tun.
Am Ausgang dieser Entwicklung steht das Eemerlebnis, das
natumotwendig sukzessiver Art ist Insofern dürfte jeder Ver¬
gleich von dem sukzessiven Erleben mehrerer Inhalte ausgehen.
Allein mit dem Eemerlebnis ist das Erfassen der Gleichheit
oder Ungleichheit noch nicht gegeben. Erst wenn die sich
anschließenden Sachverhalte sich entwickelt haben, wie oben
beschrieben wurde, kann überhaupt ein eigentlicher Vergleich
zustande kommen. Dann aber dürfte der Simultanvergleich,
wenigstens unter bestimmten Bedingungen, ebenso wohl möglich
sein wie der Sukzessivvergleich. Denn schaue ich, der Erwachsene,
auf zwei objektiv verschieden lange Striche, so sehe ich, daß
der eine über den andern herausragt, und habe damit das
Wissen von dem Sachverhalt »verschieden«. Ist mir jedoch der
Gesichtspunkt des Vergleiches fern, oder ist aus irgendeinem
Grunde die Reproduktion in dieser Richtung gehemmt, so kann
ich solche Sachverhalte oder auch die beiden anschaulichen
Inhalte selbst wahmehmen, ohne daß die Beziehung »gleich«,
»verschieden« erfaßt wird. Somit ergibt sich die Beobachtung
Grünbanms, daß zwei objektiv gleiche Figuren wahi^genommen
und sogar apperzipiert sein konnten, ohne daß ihre Gleichheit
bemerkt wurde, als eine Folgerung ans unserer Theorie.
Auch auf die Rolle der Übergangserlebnisse und der Neben¬
eindrücke fällt neues Licht. Sie sind nicht die Beziehnngs-
BeTision einer Belationstheorie.
279
«rfassüng; sie sind auch nicht, wie schon ansgefflhrt, zu jedem
Vergleich notwendig. Aber sie werden häufig einen bedeutsamen
Teil der sich anschließenden Sachverhalte bilden, ohne die das
Eemerlebnis nicht zur Beziehungserfassung auswächst. Beson*
ders bei schwellennahen Vergleichsreizen wird man sich an sie
halten, weil sie allein jenen Komplex herbeiführen können, der
die Bedeutung und die Benennung »gleich«, »verschieden« be¬
gründet. Bei überschwelligen Reizen gelangen wir auf anderem
und bequemeren Wege zum Urteil. Es handelt sich also wirk¬
lich, wie Bühl er sich ausdrückte, um einen Auslösemechanismus,
allerdings nicht um ein Nullinstmment, sondern um einen Re¬
produktionsmechanismus.
Soeben macht Katona den Versuch, die Relationserfassung
vom Standpunkt der Wertheimerschen Gestalttheorie aus zu er¬
klären. Jeder wirkliche Vergleich setzt nach Katona Über-
gang^erlebnisse voraus, und in diesen ist uns die gesuchte Be¬
ziehung gegeben. Die Schwächen dieser Theorie dürften den
Vorteil der hier vorgelegten deutlicher erkennen lassen.
Sehen wir ganz davon ab, daß Katona sich auf verhält¬
nismäßig wenige optische Vergleiche stützt. Er sieht sich schon
bei seinen Versuchen gezwungen, »nicht manifest gewordene<
Übergangserlebnisse einznführen, damit sie in allen Vergleichen
vorhanden seien. Wir können die Übergangserlebnisse in jeder
beliebigen Häufigkeit annehmen, die aus den Versuchen erwiesen
wird. Wir brauchen sie aber nicht gegen jede Evidenz hypo¬
thetisch einzuführen, da sich an das Kemerlebnis nicht nur
Übergangserlebnisse und Nebeneindrücke, sondern auch andere
Sachverhalte anschließen können, auf die sich die Beziehungs-
erfassnng aufbaut
Sodann muß Katona die Vergleichstätigkeit in Abrede
stellen, wenn sehr verschiedene Dinge verglichen werden, z. B.
eine längere Gerade mit einer weit kürzeren zu ihr schräg
liegenden. Er spricht dann von einer Unterschiedswahmehmung.
Nach unserer Auffassung ist in solchen Fällen der Vergleichs¬
charakter gewahrt, nur gründet sich das Urteil auf einen anderen
Sachverhalt als beim Vergleichen wenig verschiedener Größen.
Unser Hauptbedenken richtet sich aber gegen die Gmnd-
auffassnng, daß mit den Übergangserlebnissen ohne weiteres der
Relationsinhalt bewußt werden soll. Der Inhalt der Übergangs¬
erlebnisse und der Relationsinhalt sind zwei ganz verschiedene
Bewußtseinsinhalte. Für erstere mag in der Qnerfunktion der
zugehörige psychophysische Prozeß gegeben sein — das bleibe
280
J. Liodworsky,
dahingestellt — letztere erscheinen jedoch in der Eatonaschen
Theorie rein wie ein dens ex machina.
Au dieser Stelle will ich kurz auf die Einwendungen
Köhlers*) eingehen, die er gegen meine Ausführungen erhoben
hat. Köhler sucht die Differenz unserer Ansichten am falschen
Ort. Weder mache ich die von ihm abgelehnte Konstanzannahme,
noch denke ich mir die Übergangserlebnisse als eine Reihe
einzelner Empfindungen: das sollte schon durch das hinzugefügte
>kontinuierlich< ausgeschlossen sein*). In beiden Punkten sind
wir ganz der gleichen Meinung. Der Gegensatz liegt im
folgenden.
Gegeben seien zwei anschauliche Inhalte, Farben, Töne,
Gestalten u. ä. Wird nun die Gleichheit oder Verschiedenheit
oder sonst eine Beziehung zwischen den beiden Inhalten erfaßt,
so steht mit dieser Beziehungserfassnng mehr im Bewußtsein
als zuvor, wo nur die beiden anschaulichen Inhalte gegeben
waren. Das wird auch Köhler einräumen.
Nun aber behauptet die Denkpsycbologie: dieses Mehr an
Inhalt ist nicht durch anschauliche Ehipfindungen allein wieder¬
zugeben; auch nicht durch eine kontinuierlich sich ändernde
Empfindung, die wir Erwachsene bei naiver Bezeichnungsweise
als eine steigende, stärker werdende, verblassende usw. schildern
würden. Diesen Satz dürfte Köhler nicht unterschreiben.
Hier allein liegt der Meinungsunterschied.
Warum kann der Relationsinhalt, das ist eben jenes Pins,
was zur reinen Gegebenheit der Fundamente in irgendwelcher
Weise hinzutritt, nicht anschaulich wiedergegeben werden? Jenes
Plus enthält ein Doppeltes: den spezifischen Relationsinhalt,
z. B. »gleich», >verschieden< und das in jeder Relation anzu¬
treffende Zueinander. Keines kann nur vermittels irgendwelcher,
wenn auch noch so modifizierter Empfindungen uns bewußt werden.
Was zunächst den spezifischen Beziehungsinhalt betrifft,
so hätte ich von meinem früheren Standpunkt aus behauptet,
es könne ein Empfindnngsinhalt in dieses >gleich< nicht einmal
eingehen. Nach der obigen Ableitung vertrete ich diese Ansicht
nicht mehr. Empfindnngsinhalte gehen auf mannigfache Weise
in den Beziehnngsbegriff ein, aber sie erreichen ihn für sich
allein genommen niemals. Es steckt eben in dem Beziehnngs-
1) W. Köhler, Zar Theorie des SakzessiTvergleiches and der Zeitfehler.
Psych. Forschung IV (1923) S. 130 ff.
2) s. »ümrifiskizze« S. 34.
ReTision einer Beistionstheorie.
281
Inhalt schon das >Zneinanderc. Und keine Empfindung oder
Empfindnngsmodifikation kann Ober sich hinausweisen. Das geht
schon aus dem Begriff der Empfindung hervor. Man gestatte
eine etwas barocke Ansdmcksweise. Die Empfindung »blau«
kann nur »blauen«, der Ton a nur »a—en«. Und wenn sie sich
auch irgendwie nach Intensität oder Qualität verbinden oder
verschieben, so kommen aus Empfindungen immer nur Empfin¬
dungen oder Empfindungsganze heraus. Das »in Beziehung zu«
muß auf einem anderen Boden wachsen.
Wenn ich in die Denkart der Strukturpsychologen richtig
eingedrungen bin, dann darf ich hier folgende Entgegnung ver¬
muten. Die schlichte Beobachtung zweier aufeinanderfolgender
Schalle läßt mich bisweilen — nicht immer — unmittelbar den
zweiten als höher, als herkommend von dem ersten erfassen,
auch wenn der erste nicht mehr bewußt ist, auch wenn der
Hörende nicht die Vergleichseinstellung hatte. Die Tatsache
kenne ich, aber sollte sie wirklich in der Diskussion so, wie
hier angenommen, verwertet werden, so mftßte ich mich nicht
wenig wundem, daß die sonst so erfreulich bekundete Umsicht
des Beweisverfahrens hier so ganz ansbleibt.
Schließt denn diese Unmittelbarkeit jede voransgegangene
Entwicklung aus? Wir verstehen doch auch das Wort »Vater«
unmittelbar und doch nicht ohne einen höchst umständlichen
Entwicklungsprozeß als Grundlage des Verständnisses. Doch
abgesehen von der vorausgegangenen Entwicklung: wenn es un-
anschauliche Faktoren gibt, schließt dann ein unmittelbares Ver¬
stehen ans, daß anschauliche und nnanschauliche Faktoren sofort
und gleichzeitig miteinander arbeiten und jenen Eindrack
des »Wachsens«, des »Herkommens von« hervorrufen?
Aber die nnanschanlichen Faktoren, so schreibt Köhler,
müssen sich doch ebenso nachweisen lassen wie die anschaulichen,
sonst kann man ja mit ihnen beliebig alles erklären. Ganz meine
Ansicht, und ich habe sie inhaltlich aufgewiesen in jenem »Zu¬
einander«, das mit einem Empfindungsinhalt schlankweg nicht
wiederzngeben ist
Das scheint Köhler selbst zu spüren. Denn er schreibt
zu wiederholten Malen, die Beziehung sei uns in solchen
Übergangsempfindungen so gegeben, daß sie nur abgelesen zu
werden braucht Den Satz kann ich mir zu eigen machen,
aber ein Ablesen braucht es. Anders gesagt: ich kann
mir sehr wohl ein Bewußtsein denken, in dem der gesamte an¬
schauliche Inhalt lebt, wie er etwa bei dem Eindmck des
282
J. Lindworsky,
»Schrampfens« vorliegt, ohne daß jenes Bewußtsein das in dem
Begriff »Schrumpfen« enthaltene Zueinander erfaßt. Überhaupt,
meine Grundauffassung vom Denken läßt sich mit allen wesent¬
lichen Aufstellungen der Strukturpsychologen vereinigen, wenn
ich sagen kann: die Stmkturpsychologie liefert die anschaulichen
Voraussetzungen für den, der abliest Das Zueinander
erklärt sie jedoch nicht.
Unsere Theorie erklärt ferner, wie falsche Vergleichs-
urteile möglich sind, und wie es neben den einsichtigen un¬
einsichtige Vergleichsurteile geben kann. Von den falschen
Urteilen interessieren uns hier nur die mit subjektiver Sicher¬
heit abgegebenen Urteile folgender Art: Die Vp hat Toninter-
Valle als aufsteigend oder absteigend zu beurteilen. Sie urteilt
mit Sicherheit bei gutem Gehör einmal: fallend. Der Nachkluig
zeigt ihr jedoch das Intervall deutlich als steigend. Bei wieder¬
holten Versuchen ergibt sich, daß beim Anschlägen der Metall-
streifeu öfters ein von anderen Teilen des Apparates herrührendes
tieferes Geräusch miterklang. Früher woUte ich diese Versuchs¬
erlebnisse als ein falsch bezogenes Urteil bezeichnen: das Urteil
sei auf Grund des Nebengeräusches gegeben, jedoch auf die
beiden Klänge fälschlich bezogen worden. Allein die falsch
bezogenen Urteile sind nicht so blind. Man findet, einmal darauf
aufmerksam gemacht, die Urteilsgrundlage im Vergleichsgegen¬
stand vor. Nicht so hier, wo erst später das Nebengeräusch
gleichzeitig mit der Tendenz zum Urteil »fallend« entdeckt
wurde. Die von uns erwähnten Versuchserlebnisse erklären sich
einfach dadurch, daß jenes zufällig auftretende tiefere Geräusch
rein reproduktiv das Urteil »fallend« auslöste. Im nachklingenden
Tonbild waren indes nur die wirklich gehörten Töne vorhanden,
sodaß ein erneuter Vergleich möglich wui'de. Uneinsichtige
Vei^leichsurteile sind somit solche, bei denen ein Erlebnismoment
als Reproduktionsmotiv für das Vergleichsurteil wirksam wird,
ohne daß man im Augenblick des Urteilens diesen Zusammenhang
gewahr würde. Einsichtige Vergleichsurteile hingegen stützen
sich auf erkannte Sachverhalte, die ihrerseits wiederum zwei
Klassen bilden. Entweder dienen solche Sachverhalte nur als
Kriterien, z. B. das Fliegen eines gehobenen Gewichtes: man
weiß, daß dieses Fliegen mit dem Heben des leichteren verbunden
ist. Oder sie gehören dem geläufigen Gesamtkomplex
des betreffenden Relationsbegriffes an. Und hier lassen sich
wieder die anschließenden Sachverhalte unterscheiden: man
muß etwa die Muskelspannung, mit der man ein Gewicht heben
ReTision einer Relationstheorie.
283
wollte, yergt&rken, um es heben zu können, — und die Kern¬
erlebnisse: auf einen bestimmten Schwereeindruck des Gewichtes
folgt ein zweiter, der in der Intensitätsreihe der Schwere-
empflndungen vom Nullpunkt weiter abliegt. Der letzte Fall
bietet die tiefste Einsicht in die fraglichen Sachverhalte. Auch
dieser relativ unmittelbarste Vergleich ist zwar nicht ohne
voransgehende Entwicklung, wohl aber ohne jede elementare
Beziehnngserfassung möglich.
Von hier aus wird auch verständlich, wieso «mechanische«
Urteile, die nicht auf das Erinnerungsbild des ersten Reizes
zur&ckgreifen, sondern scheinbar blind anftreten, die zuver¬
lässigeren sein können. Es arbeitet da eben selbsttätig der dem
Übergangs- oder Nebeneindruck entsprechende psychophysische
Prozeß, während im anderen Falle ein modifiziertes Erinnerungs¬
bild das ungenaue Reproduktionsmotiv bildet. Auch die Be¬
obachtung V. Freys leuchtet nunmehr ein, daß wir nämlich
beim wiederholten Abwägen eines Gewichtes in der Hand eine
feinere Unterschiedsempfindlichkeit erzielen als beim einfachen
Heben. Die Übergangsempfindungen und Nebeneindrücke werden
dadurch mehrfach wiederholt und können so als Reproduktions-
motiv wirken. Dagegen versteht man vom Standpunkt der ele¬
mentaren Beziehnngserfassung aus nicht, warum zwei, durch
einmalige Hebungen bewußt gewordene Schwereempfindnngen
nicht ebenso gut als gleich oder als verschieden erkannt werden
sollen.
Das Webersche Gesetz endlich ist auf Grund von Ver¬
gleichsprozessen gefunden worden, und zwar auf Grund von Ver¬
gleichungen ebenmerklich verschiedener Größen. Bei Verwendung
nur ebenmerklich verschiedener Größen wird man nicht leicht
auf Sachverhalte stoßen von der Art der oben S. 254 erwähnten:
die eine Größe für die andere gesetzt, führt auch oder führt
nicht zum Ziel; eine läßt sich durch die audere verdecken u.ä.m.
Man könnte solche Sachverhalte die makroskopischen nennen.
Es bleiben somit nur die Übergangsempfindungen und Nebenein-
drflcke. Daß diese aber in nahezu gleichem Maße nur durch
Reizfolgen des gleichen Verhältnisses ausgelöst werden, ist nur
zu begreiflich. Somit gilt hier die physiologische Deu¬
tung des Weberschen Gesetzes. Und wir glauben seine tiefere
Begründung eben in der Entwicklung der Beziehnngserfassung
suchen zu dürfen. Wären jedoch die Reizzuwüchse so beschaffen,
daß sie makroskopische Sachverhalte schüfen, so könnte das
Webersche Gesetz nicht gelten. Es wäre nun höchst lehrreich.
284
J. Lindworsky,
unter diesem Gesichtspunkte die Tatsachen nachznprflfen. Liegen
aber makroskopische Sachverhalte vor, so dürfte eine doppelte
Einstellnng möglich sein: eine absolute und eine relative. Die
absolute will nur erkennen, ob ein Empfindungszuwachs vorhan¬
den ist. Halten wir sie ein, so entsprechen die hhgebnisse nicht
dem Weberschen Gesetz. In der relativen Einstellnng jedoch
schauen wir wirklich auf das Verhältnis des neuen Eindruckes
zu dem früheren, so wie wir jüngst nicht auf den absoluten Zu¬
wachs des Multiplikators, sondern auf den prozentualen blickten.
Ist ein solcher Vergleich möglich, dann dürften sich wieder Werte
ergeben, die dem Weberschen Gesetz ungefähr entsprechen.
Doch wäre es entschieden ratsam, dann nicht von dem Weber¬
schen, sondern von dem Bemoullischen Gesetz zu reden. In
dieser Form könnte der Wundtsche Gedanke wieder anfleben.
b) BegabangsnmterBohlede ln der BestehnngBerfasBnng.
Sah man in der Beziehungserfassnng eine elementare Leistung,
so hatten Begabungsunterschiede dort keinen Platz: die Gleich¬
heit zweier Dinge wird überhaupt oder sie wird gar nicht er¬
faßt. Wohl waren mindere Leistungen möglich. Aber die be¬
ruhten dann entweder darauf, daß die zu vergleichendmi an¬
schaulichen Termini nicht gut geboten waren, oder der Vei^leich
kein wirklich originärer, sondern eine Beurteilung auf Grund
von Nebeneindrücken oder Kriterien war, die natürlich mehr
oder weniger vorhanden bzw. bekannt sein konnten. Der Geistes¬
blitz der Beziehnngserfassung mußte einem Idioten ebenso zu¬
kommen wie einem Goethe.
Nun hat sich uns die Beziehungserfassnng als ein Entwick¬
lungsprodukt gezeigt. An die Stelle des geistigen Funkens der
Beziehnngserfassung, die uns einen neuen Inhalt anfzeigte, der
in den anschaulichen Fundamenten nicht gegeben war, ist das
refiexe Erleben in der schlichten Beziehung getreten, das wir
freilich vorerst nicht in verschiedenen Qualitätenstufen ansetzen
können. An die Stelle des neugefnndenen Inhaltes rücken die
sich anschließenden Sachverhalte. Und hier ist der Punkt, wo
Begabungsunterschiede einsetzen können.
Es läßt sich denken, daß nicht jeder Organismus z. B. Über¬
gangsempfindungen und Nebeneindrücke gleichmäßig entstehen
läßt. Weiter kann es Unterschiede geben beim Behalten solcher
Eindrücke. Endlich kann die unentbehrliche Kompl^bildung,
bei der sich die anschließenden Sachverhalte mit dem Namen
der Relation verknüpfen, individuell verschieden sein.
Revision einer Relntionstheorie.
285
Es wären daraufhin die psychophysischen Versuche einmal
dnrchznsehen oder zn wiederholen: denn wenn die absolute
Empfindlichkeit mehrerer Vpn. eine andere Bangordnnng aufwiese
als die Unterschiedsempfindlichkeit, so wäre etwa ein verschie¬
dener Grad der Deutlichkeit der anschließenden Sachverhalte
wahrscheinlich gemacht Freilich dfirfte dann die absolute Em¬
pfindlichkeit nicht im Grunde doch als Unterschiedsempfind¬
lichkeit festgestellt sein. Immerhin gewinnt das merkwürdige
Ergebnis Spechts, daß Alkoholgenuß die absolute Empfindlich¬
keit erhöhe, die Unterschiedsempfindlichkeit verringere, von hier
ans eine neue Beleuchtung. Auch die Versuche Spearmans
und Eruegers, die Unterschiedsempfindlichkeit als einen In¬
telligenztest heranzuziehen, werden von diesem Standpunkt aus
gerechtfertigt
Es gibt im Leben wohl mancherlei Gelegenheiten, wo sich
der hier berührte Begabungsnnterschied, bzw. die hier einbe¬
schlossenen Begabungsunterschiede geltend machen. Sollte z. B.
die so verschiedene Befähigung zur intuitiven Menschenbeur-
teilnng oder zur Handschriftendeutung nicht eben darauf beruhen,
daß wenig ausgeprägte Sachverhalte gedächtnismäßig aufbewahii;
und mit andern Sachverhalten zu einem Komplex zusammenge¬
schlossen werden? Die feinen im Antlitz, im Gebaren und in
Ausdrucksbewegnngen erscheinenden Sachverhalte müssen ja
eingeprägt und mit den ebenfalls in der Erfahrung zusammen
vorkommenden gröberen Sachverhalten der Art eines Menschen
zu einem Komplex vereinigt werden. Ob sich Leute mit guter
Menschen- und Handschriftenbenrteilung nicht auch als Leute
von hoher Unterschiedsempfindlichkeit erweisen?
Sodann muß es grundsätzlich pathologische Ausfälle der
Beziehungserfassung geben. Freilich gehört die Entwicklung
der Beziehnngserfassungen zu dem ältesten geistigen Bestand des
Menschen. Sie sind so tief verankert und durch mannigfachen
Ersatz sichergestellt, daß ein sauberer Ausfall kaum nachzuweisen
ist. In der Gehimverletzten-Literatur findet man zunächst nur
solche Fälle, wo die Voraussetzungen jederBeziehungsauffassnng,
die Darbietung der anschaulichen Fundamente geschädigt sind.
Ein FaU direkt geschädigter Beziehungserfassnng wird von
M. V. Kuenburg^) geschildert, doch kann man zweifeln, ob dem
1) über das Srlassen einfacher Beziehnngen an anschanlichem Material
bei Himgeschftdigten. Zeitschr. f. NenroL n. Psychiatrie 86 (1923).
286
J. Lindworsky,
betreffenden Patienten die Aufgabe nicht auf anderem Wege
hätte beigebracht werden können.
Aber bei tiefstehenden Idioten trifft man solche, die jede
Änßemng einer Beziehungserfassnng yermissen lassen. Ich
empfand es stets als eine Schwierigkeit meiner frfiheren Auf¬
fassung, diesen Ausfall nur aus dem Mangel an Fmemngsfähig-
keit der Belationserfassnng zu erklären. Die vorgelegte Hypo¬
these kann solche extreme Fälle aus dem Unvermögen zur Be¬
ziehungserfassnng verstehen.
Endlich muß eine Steigerung der Beziehungserfassnng
durch Übung in demselben Maße möglich sein wie bei Gre-
dächtnisleistungen. In der Tat läßt sich die Unterschiedsempfindlich¬
keit, die Befähigung zur Beurteilung von Menschen und zur
Deutung von Handschriften durch Übung entwickeln.
5. Das Problem der Tierintelligeiu.
Es läßt sich m. E. mit Erfolg die Meinung vertreten, daß
die Tiere Relationserfassungen wie die der Gleichheit, Ähnlichkeit,
Ursächlichkeit n. a. m. nicht haben. Erblickt man nun in diesen
Beziehungserfassungen elementare seelische Leistungen, sieht
man in ihnen insbesondere die spezifischen, ja die einzigen
Intelligenzfunktionen, so muß man mit ihnen dem Tier auch die
Intelligenz absprechen.
Durch die dargelegte Relationstheorie wird aber das Problem
der Tierintelligenz auf einen ganz neuen Boden gestellt Der
Ausfall der Gleichheitsrelationen kann einen doppelten Grund
haben. Entweder fehlt der dem Eeimerlebnis wesentliche Zug
des refiexen Überganges von einem anschaulichen Inhalt zum
andern: denn daß die reine Abfolge anschaulicher Inhalte nicht
fehlt, dürfte klar sein. Oder es versagen jene feinen Gedächtnis¬
funktionen, die beim Übergang von einem bisher noch nicht
erlebten anschaulichen Inhalt zu einem andern gleicher Art die
anscjiließenden Sachverhalte reproduzieren. Ist letzteres der
Fall, dann kann man nicht behaupten, dem Tiere gehe eine
Erkenntnisfähigkeit ab, die der Mensch habe; von einem wesent¬
lichen Unterschied zwischen der menschlichen und tierischen
Erkenntnislei st nng kann zwar noch gesprochen werden, aber
nicht mehr von einem wesentlichen Unterschied der elementaren
Erkenntnisfunktion.
Es wird nun die Aufgabe späterer Forschungen sein, die Ge¬
dächtnisfunktionen der Tiere unter diesem Gesichtswinkel zu prüfen.
Bevision einer Belationstheorie.
287
Stellt sich heraus, daß die ßeproduktioDsfähigkeiten des Tieres ge¬
rade so fein sind wie die des Menschen, so kommen wir zn dem
höchst bemerkenswerten Ergebnis, daß dem Tiere das reflexe
Erleben seiner Inhalte versagt ist. Erweisen jene Forschungen
jedoch Qedächtnismangel beim Tier, so bleiben beide Möglich¬
keiten offen: der tierische Rückstand kann dann sowohl durch
die mangelhafte Gedächtnisfnnktion wie durch den Ausfall des
reflexen hlrlebens erklärt werden. Nur wird man die Frage
dann kaum noch empirisch, sondern aus Gründen der Welt¬
anschauung zn beantworten suchen, indem man etwa darauf
hinweist, die Fähigkeit zum reflexen Erleben sei in diesem Falle
zwecklos, da alle tierischen Leistungen auch ohne sie erklärt
werden können. Diese Beweisführung setzt voraus, daß es nichts
Zweckloses in der Welt geben könne und daß der einzige Zweck
einer solchen Begabung der Tierseele in ihren jetzigen
Leistungen zu suchen sei. Das sind aber Anschauungen, die
nicht rein empirisch, sondern nur allgemein philosophisch ver¬
treten werden können.
6. Folgerungen für die Theorie des Gedächtnisses.
Wir glaubten beim Beziehungserlebnis ohne eine elementare
Einsicht wie »gleiche nsw. auszukommen. Einsichtig ist nach
unserer Auffassung immer nur der Übergang von einem Inhalt
zum andern. Allerdings lassen sich die Ergebnisse der Ver¬
gleichungen und Beziehungserfassungen in Urteile formulieren.
Aber sollen diese Urteile bis zuletzt mit Sinn erfüllt werden,
so sind die letzten einsichtigen und sinnhaltigen Inhalte eben
diese Übergänge. Ist diese Meinung richtig, dann sieht man
nicht recht, wo noch für ein Sachverhaltsgedächtnis im engsten
Sinn ein Platz bleibt. Zweifellos können wir noch Urteile und
formulierte Sätze über Sachverhalte dem Gedächtnis anvertrauen.
Wir können auch all das, was die Grundlage der Beziehungs¬
erfassungen ansmacht, uns deponiert denken — eine Einschränkung
soll alsbald hinzngefügt werden —, aber da wir keine von den
Eemerlebnissen losgelösten Gedanken benötigten und fanden,
bleibt für ein gedankliches Gedächtnis gar kein Raum. Das
reflexe Erleben selbst ist ja etwas wesentlich Aktuelles, das
unmittelbar als solches nicht im Gedächtnis bleiben kann.
Unsere Auffassung führt somit ganz von selbst zu einer Gedächtnis¬
theorie, die nur Anschauliches aufbewahren läßt und somit
psychische Dispositionen entbehren kann.
288
J. Lindworaky,
Dabei haben wir die reflexen Übergänge zu Willensakten
nnd Gefählen nicht berücksichtigt. Fassen wir nunmehr diese
ins Auge! Rein a priori hönnte man daran denken, die gefühls-
nnd willensmäBigen Termini einem geistigen Gedächtnis anzn>
yertrauen. Allein es hat noch niemand ein Gedächtnis für
Willensakte angenommen, nnd für ein Gefühlsgedächtnis, insofern
es eben nur Gefühle aufbewahren soll, läßt sich kaum ein triftiger
Grund geltend machen. Die meisten Psychologen lehnen ein
Gefühlsgedächtnis ab. Somit bliebe auch von dieser Seite kein
Anlaß, ein geistiges Gedächtnis anzunehmen. Ganz abgesehen
davon, daß ein reflexer Übergang von oder zu isolierten
Gefühlen und isolierten Willensakten nach nnserm heutigen
Wissen höchst unwahrscheinlich ist. Denn die Willensakte
scheinen sich ähnlich wie die Gefühle mit anderen anschaulichen
Inhalten engstens zu verknüpfen.
Können wir ohne geistiges Gedächtnis auskommen nnd sind
alle Gedanken letzten Endes auf die reflexen Übergänge von
einem Terminus zum andern zurückznführen, so ist auch die Frage
von den völlig unanschanlichen Gedanken im Prinzip
erledigt, und zwar verneint. Aufgabe der weiteren Forschung
kann dann nur die Erklärung der scheinbaren ünanschanlichkeit
der Gedanken sein. Gleichwohl müssen wir für das Kemerlebnis
(und damit für alle Gedanken) eine gewisse Unanschaulichkeit
beanspruchen. Denn die reine Abfolge rot-grün ergibt niemals
das Kemerlebnis. Das reflex Bewußte dieser erlebten Abfolge
jedoch ist etwas, was durch keinen anschaulichen Inhalt begreif¬
lich zu machen ist.
Ausblick. Der Ausgleich zwischen Denk- und Assoziations¬
psychologie.
Ohne eklektizistischen Tendenzen zu huldigen, kommen wir
auf Gmnd der dargelegten Theorie zu einem Ausgleich zwischen
Denk- und Assoziationspsychologie. Jede von beiden Richtungen
muß etwas preisgeben, aber jede kann das ihr Wesentliche
behalten.
Die Denkpsychologie gibt die völlig unanschanlichen
Gedanken preis, wenigstens wie sie in jener älteren Auffassung
behauptet werden: Gedanken seien etwas jenseits der Vorstellungen
nnd außer ihnen Liegendes, etwas, was streckenweise ohne alle
Vorstellungen erlebt werden könne. Sie lehrt aber auch weitö"-
hin, daß es Gedanken g^bt, nnd damit Inhalte, die ans einfacher
BeTuion einer Relationstheorie.
289
Züsajnmenfügnngyon anschanlichen Vorstellangen nicht erhältlich,
noch durch einfache Zerlegung allein in anschauliche Vorstellungen
und Vorstellnngsmomente begreifbar sind. Sie kann anch weiter¬
hin ein Unanschanliches behaupten, eben das Moment des reflezen
Erlebens; sie kann endlich auch jetzt noch ein Bewußtsein für
möglich halten, das, abgesehen von Gefühlen und Strebungen,
nnr mit anschaulichen Vorstellungen arbeitet und darum in seiner
Funktion und in seinen Leistungen wesentlich von dem mensch¬
lichen Bewußtsein verschieden ist. Ob ein solches Bewußtsein
beim Tier yerwirklicht ist, ob mit anderen Worten dem Tier
das refleze Erleben fehlt, steht heute noch dahin.
Die Assoziationspsychologie braucht nur die eine,
gewiß nicht fruchtbare Behauptung zu opfern, es gäbe im Er¬
kenntnisleben nnr anschauliche Inhalte. Sie hat statt dessen
nur den einen Zug des reflezen Erlebens anzuerkennen. Damit
wird sie ihrem Ideal sauberer Analyse nicht untren. Denn dieser
Zug ist beobachtungsmäßig aufznzeigen, und es wird ihm nicht
mehr zngemutet, als auch beobachtbar ist, nämlich nnr das refleze
Innewerden der eigenen Erlebnisse und das Hinschauen yon dem
einen Inhalt auf den andern. Alles weitere besorgt die Ent¬
wicklung der Assoziationen. Mag das Opfer der Assoziations¬
psychologie ein prinzipielleres sein, sie kann sich rühmen, keine
ihrer empirisch gewonnenen Positionen preisgeben zu müssen und
für die Lehre der Entwicklung des Erkenntnislebens den Löwen¬
anteil bestreiten zu können.
(Eingegangen am 20. März 1924.)
Ärobiv (fir Psychologie. XLVUI.
19
Das Individualitätsproblem nnd die Subordination
der Organe.
Zngleioh eiiiBeitragzmnDesoeiisiiB deiEeimdiüsender Säugetiere.
Von
Armin Mftller (Leipzig).
Inhaltsübersicht.
8«ite
Eünleitnng.291
1. Die mechanisch-analytische Anffassang yom lebendigen Geschehen 292
2. Die organisch-synthetische Anffassang Tom organischen Geschehen;
das Ganze und die Teile.295
8. Der Begriff der Ganzheit in der Psychologie nnd Psychiatrie . . 806
4. Der Begriff der Ganzheit in der Philosophie (Driesch).809
5. „Verstehende“ Biologie.810
6. Die psychologischen Voranssetznngen des mechanistischen Denkens 318
7. Der Begriff der Ganzheit nnd die Subordination der Organe . . . 317
8. Die Stellung der Eeimdrttsen in der Bangordnnng der Organe . . 825
9. Das Dogma von der Erhaltungstendenz.328
10. Das Verhältnis von Soma und Eeimplasma.881
11. Die Anerkennung eines aufferzweckhaften, künstlerischen Prinzips
in der organischen Natnr.884
12. Die Herab Wanderung der Keimdrüsen nnd ihre bisherigen Erklämngs-
versnche.848
18. Die Subordination der Organsysteme nnd ihre Lagebeziehnng zum
Achsensystem des Wirbeltierkörpers.. . 854
14. Die Subordinations- nnd Banmbeziehnngen innerhalb des CNS Cen¬
tralnervensystem .858
15. Die Herabwandernng der Keimdrüsen als Ausdruck ihrer negativen
Ganzheitsbezogenheit.868
16. Die Lage der Mammarorgane.871
17. Integrations- nnd Desintegrationsprinzip bei Pflanze nnd Tier . . 871
18. Epikritische Bemerkungen.872
19. Der Ordnnngsgedanke im Weltbild von Plato nnd Aristoteles . . 877
20. Die Idee der Bangordnnng in der deutschen Philosophie der Gegen¬
wart (M. Scheler und E. Spranger)
879
A. Hüller, Das IndiTidoalitfitsproblem n. d. Sabordination der Organe. 291
Einleitung.
Für die theoretische Grandlegimg dieser Arbeit entscheidend
wird die Erkenntnis zweier einander entgegengesetzter Prinzipien
in jeder höheren tierischen Organisation (Eielmeyer, Berg-
s 0 n): eines synthetischen, Individualität oder Ganzheit schaffenden
IMnzips, das in erster Linie sich in der Funktion des Zentral¬
nervensystems (CNS) kundgibt, sowie eines jenem diametral ent¬
gegengesetzten Prinzips, das zur Lostrennung und Fortpflanzung
tendiert Dieses wird realisiert in dem dauernd wuchernden Eeim-
gewebe der Generationsorgane. So tritt dem Nervensystem als
Träger der Integration (Spencer, Sherrington) in polarer
Entgegensetzung das Eeimplasma als Träger der Desintegration
gegenüber. Zunächst wird sich eine genauere Entwicklung des
Begriffs der Individualität oder Ganzheit notwendig machen, wie
er sich auf den verschiedensten biologischen Einzeldisziplinen
sowie in der neuesten Naturphilosophie oft im bewußten Gegen¬
satz zu der wissenschaftlichen Tradition heraasgebildet hat.
Hieraus wird sich weiter im Anschluß an Vorstellungen von
Cu vier eine besondere Bangordnung oder eine Beihe von Sub-
ordinationsbeziehnngen zwischen den großen Organsystemen be¬
sonders des Wirbeltierkörpers ergeben. Der in der Physiologie
des CNS allgemein geläufige Begriff der Über- und Unterordnung
(eines nervösen Zentrums) wird sich als notwendig erweisen auch
in der Anwendung auf das Verhältnis des CNS zum zentraleu
Motor des Kreislaufsystems und zur Gesamtheit der Kraft- und
Stoffwechselorgane. So ergibt sich eine Bangordnung, eine ab¬
steigende Beihe hinsichtlich der Bedeutung für die Einheit und
den Funktionszusammen hang des Ganzen. Vom CNS ab¬
wärts, dem Träger des caract^re dominateur (Cuvier), nimmt
so der Grad der Ganzheitsbezogenheit ab und wird in den
Generationsorganen, deren Fortpflanzungstendenz zum „Feiude
der Individuationstendenz“ (Bergson) wird, schließlich zur
negativen Ganzheitsbezogenheit. Eine eingehende Prüfung er¬
gibt, daß die in der Hierarchie des CNS am stärksten ansge¬
bildete Bangordnnng der nervösen Funktionen in den Hauptzügen
wenigstens einen entsprechenden Ausdruck auch in den topo¬
graphischen Beziehungen der einzelnen Teile zueinander findet.
Und zwar sind die funktionell jeweils »höheren« Gebilde im
allgemeinen entweder mehr dorsalwärts oder aber kranialwärts
gelegen. Dieses in erster Linie für das CNS gültige Struktui*-
prinzip, diese Harmonie der Subordinations- und Lagebeziehungen,
292
Amin Mttller,
läßt sich im Wirbeltierkörper auch für die Beziehungen der
großen Organsysteme untereinander als gültig erweisen. Die
erwähnte polare Spannung zwischen CNS und Generationsorganen,
die Entgegensetzung der höchsten positiven und der negativen
Ganzheitsbezogenheit muß naturgemäß dort am stärksten werden,
wo die tierische Organisation ihre vollendetste Geschlossenheit
und Individualisiertheit erreicht. Auf dieser Stufe wird das
CNS zum eigentlichen Repräsentanten der tierischen Individualität,
und andererseits kommen nach Verlust aller ungeschlechtlichen
Fortpflanzungsweisen sowie aller stärkeren Regenerationsfähig'
keit die Generationsorgane allein für die Abgabe von Keim-
material in Betracht. Dieser Zustand ist realisiert in der
allgemein als die höchste Stufe der tierischen Entwicklung be¬
trachteten Klasse der Säugetiere, in deren philogenetischer Reihe
der Descensus der Keimdrüsen sich allmählich vollzogen hat
Die somit erreichte ventro-kaudale Lage der Keimdrüsen wird
in Übereinstimmung mit dem oben skizzierten allgemeinen Struktur¬
prinzip als Ausdruck der negativen Ganzheitsbezogenheit dieser
Organe angesehen im Gegensatz zur dorso-kranialen Entwicklung
des Groß- bzw. Stimhims aus dem Telencephalon; in jenem
flndet das gesamte CNS gewissermaßen seinen funktionellen
Brennpunkt. — Die hier vorausgesetzte Existenz von Ansdrucks¬
tendenzen sowie von »Organisationsmerkmalen t im Sinne von
Nägeli, die mit reinen Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeits¬
prinzipien gar nichts zu tun haben, erfordern eine Auseinander¬
setzung mit zahlreichen Einzelproblemen der theoretischen
Biologie, den rein utilitaristischen Voraussetzungen der Darwin¬
schen Lehre, der Frage nach objektiven ästhetischen Prin¬
zipien in der organischen Natur usw.
1. Die mechanisch-analytische Auffassung vom lebendigen
Geschehen.
Als Schleiden^) 1842 unter ausdrücklicher Berufung auf
Bacons induktive Methode seine Zellentheorie für die Botanik
begründete, war sein Ziel eine rein empirische Erforschung des
Pflanzenkörpei's. Nach dem Vorbild des Mineralogen, der ans
der Anziehung und Abstoßung der Moleküle die Entstehung der
Kristallstruktur zu erklären sucht, soll auch der Ban des
lebendigen Organismus aus der Kombination der Elementarkräfte
abgeleitet werden. Er verwarf durchaus ein »Verstehen«. Die
1) 8. Kadi, Geschichte der biologischen Theorien Bd. 11 S. 67.
Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 293
Einheit des Planes, von der in der idealistischen Morphologie
soviel die Rede gewesen war, wird streng verworfen. Das Leben
des Gesamtorganismns ist das Hesnltat ans dem Zusammenarbeiten
vieler Zellen.
Schwann^) sagte 1839: »Einem Organismus liegt keine
nach einer bestimmten Idee wirkende Kraft zugrunde, sondern
er entsteht nach blinden Gesetzen der Notwendigkeit durch Kräfte,
die ebenso durch die Existenz der Materie gesetzt sind wie die
Kräfte in der anorganischen Natur. Da die Elementarstoffe in der
organischen Natur von denen der anorganischen nicht verschieden
sind, so kann der Grund der organischen Erscheinungen nur in
einer anderen Kombination der Stoffe liegen.«
Es braucht hier nicht weiter ansgeführt zu werden, in welcher
Weise diese Auffassung des Organismus als rein summenhaftes
Aggregat von Darwin übernommen und folgerichtig vom Einzel-
individnnm auch auf das gesamte Reich des Lebendigen über-
tragen wurde: Er leugnete in der Organismenwelt jede innere
Einheit oder Entwicklungstendenz; er verwarf grundsätzlich den
Gedanken einer irgendwie gearteten Gesamtbewegung als Träger
der aufsteigenden organischen Entwicklung. In völliger Isolierung
kämpft jedes Individuum den Kampf ums Dasein, im wesentlichen
ein Zufallsprodukt der Variabilität und der Selektionsfaktoren.
In konsequenter Weiterbildung der Selektionstheorie legte
dann Roux im Jahre 1881 dar*), wie die Idee des Kampfes ums
Dasein zur Erklärung der Feinstruktur der Organe auch auf die
»Teile im Organismus« ausgedehnt werden müsse. Er leitete
die Entstehung der Knochenspongiosa und ihre den Kraftlinien
entsprechende Anordnung aus einem vermehrten Wachstum der
funktionell gereizten Osteoblasten und einem entsprechenden
Schwunde der inaktiven Elemente ab, denen die Nahrung von
jenen im Kampfe ums Dasein entzogen wird.
Die mechanisch eingestellte Denkweise, die durch möglichst
sorgfältiges Studium der Konstituenten sich der Wesenserkenntnis
des lebendigen Organismus zu nähern suchte, begünstigte natur¬
gemäß die Studien und die Theorienbildnng über die Proto-
plasmastmktur (Flemming, Altmann, Bütschli), die
»Elementarstmktur«, das »Metaphänomenale«, was körperlich
vorstellbar, aber — vielleicht nur einstweilen — durch die Sinne
nicht wahrgenommen werden kann (Plasome, Wiesner).
In der Physiologie hat Verworn die analytische Methode in
1) 8. Bidl 1. c. Bd. n S. 72.
*) »Der Kampf der Teile im Organismas«.
294
Armiii Müller,
der Gestalt des Zellnlarprinzipes am konsequentesten durch*
zuführen versucht. Unter ausdrücklicher Berufung auf V i r c h o w,
der »in seiner ZeUnlarpathologie das zellulare Prinzip als die
Grundlage der gesamten organischen Forschung erklärt hat, eine
Grundlage, auf der sich jetzt in der Tat alle unsere medi¬
zinischen Vorstellungen anfbauen,« verlangt Verworn neben
einer Organphysiologie eine Zellphysiologie. Es sei der natür¬
liche Entwicklungsgang gewesen, zuerst die groben (!) Leistungen
der Organe ins Auge zu fassen und erst allmählich tiefer zu
dringen, um beim einfachsten Bauelement, bei der Zelle, anznlangen.
»Worauf uns die Betrachtung jeder einzelnen Funktion des
Körpers immer wieder hindrängt, das ist die Zelle. In der
Muskelzelle liegt das Rätsel der Herzbewegnng, der Muskel¬
kontraktion; in der Drüsenzelle liegen die Bedingungen der
Sekretion; in der Epithelzelle, in der weißen Blutzelle liegt das
Problem der Nahrungsaufnahme, der Resorption, und in der
Ganglienzelle schlummern die Geheimnisse der geistigen Vorgänge
sowie der Regulierung aller Eörperleistungen.«')
Hierdurch wird jene Forschungsrichtung charakterisiert, von
der V. üexküll sagt*): »Ebenso verlor die aUgemeine Physio¬
logie immer mehr das Verständnis dafür, daß jedes Lebewesen
eine »funktionelle Einheit« ist. An Stelle des Strebens nach
Erkenntnis des Bauplanes eines jeden Lebewesens, der allein
aus Anatomie und Physiologie erschlossen werden kann, trat
das einseitige Studium der möglichst isolierten Teilfnnktionen,
um diese als rein physikalisch-chemische Probleme behandeln
zu können.«
In hervorragendstem Maße war Virchowan den Bestrebungen
beteiligt, die Morphologie und Physiologie des Organismus ge¬
wissermaßen von einem elementaren Organisationsprinzip aus
abzuleiten. Er war überzeugt von der Autonomie der Zelle, dem
»Elementarorganismus« im »Zellenstaat«. Die ZeUnlarpathologie,
die natürUch eine Zellnlartheorie alles Lebendigen überhaupt
einschUeßt, »geht davon aus, daß die ZeUen, die eigentUch
wirkenden Teüe des Körpers, die wahren Elemente desselben
sind, und daß von ihnen alle vitale Aktion ausgeht«. >Der
Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht ans einem
bestimmten einzelnen Punkte einer höheren Organisation gefunden
werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der kon-
stant wiede rkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Ele-
1) »Allgemeine Physiologie«, 1909, S. 66.
*) »Umwelt and Innenwelt der Tiere«, 1921, S. 3.
Das Individaalitätsproblem nnd die Snbordinatioo der Organe. 296
ment an sich trägt. Daraus geht hervor, daß die Zusammen'
Setzung eines größeren Körpers, des sogenannten (!) Individuums,
immer auf eine Art von geseUschaftlicher Einrichtung heraus-
kommt, einen Organismus sozialer Art darstellt, wo eine Masse
von einzelnen Existenzen aufeinander angewiesen ist, aber so,
daß jedes Element (Zelle oder, wie Brücke sehr gut sagt,
Elementarorganismns) für sich eine besondere Tätigkeit hat, und
daß jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Tätigkeit von
anderen Teilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von
sich ausgehen läßt« — eine Auffassung vom Organismus, die
zweifellos, wie Diepgen^) glaubt, die demokratisch-libera-
listische Denkweise des Autors durchscheinen läßt.
Eline extrem autonome Auffassung der Zelle bzw. der intra¬
zellularen Lebenseinheiten ist dann hinsichtlich des pathologischen
Wachstums und der Regeneration von Weigert und zuletzt
noch von Herxheimer*) vertreten worden: »Es ist im fertig¬
entwickelten Organismus die geschlossene Struktur der Einzel¬
zelle nnd der enge Verband der Zellen untereinander, d.h. also
die Summe der so gesetzten Widerstände, welche die Betätigung
bioplastischer Energie im Wachstums- und Veimehrungssinn
znrückhält Jede Beseitigung jener Widerstände kann somit als
Auslösnngsnrsache für ihre freie Betätigung wirken. Eine solche
hat statt, wenn Zellen oder Zellteile verloren gehen oder sonst¬
wie der Zellverband gelockert wird, oder wenn in der einzelnen
Zelle eine Dekonstruktion ihres chemisch-physikalischen Aufbaues
stattfindet« — Einem verwandten Gedankengang folgte Thiersch
in seiner Krebstheorie: durch eine »Nachgiebigkeit« des Binde¬
gewebes soll eine Verschiebung des »statischen Gleichgewichts«
zugunsten des Epithels stattfinden, das nunmehr in schranken¬
losem Wachstum sich betätigen kann. — Ähnlich legte auch
Bibbert zur Erklärung des geschwulstmäßigen Wachstums
der Lösung der organischen Verbände durch Entzündungs- oder
Vemarbungsprozesse einen erheblichen Wert beL
2. Die organlsch-synthetisehe AafTassnng vom lebendigen
Geschehen; das €hmze und die Teile.
Auf zahlreichen Einzeldisziplinen läßt sich in neuerer Zeit
ein Umschwung feststellen in dem Sinne, daß die mechanische
Auffassung des Organismus in den Hintergrund tritt und wieder
1) D.ni.W. 1928 S. 460.
2) »GrondriA der pathologischen Anatomie«, 1922, S. 48.
296 •
Armin Müller,
die >organi8che< Einheit nnd Yerbnndenheit in Gestalt und
Funktion betont wird.
Schon frühzeitig wurde Darwin besonders von Spencer
nnd Nägeli entgegengehalten, es sei unverständlich, wie zu¬
fällige Variationen der in keinem inneren Zusammenhang stehenden
Teile zum Aufbau hochdifierenzierter Organe führen könnten,
da doch nicht vereinzelte, sondern nur mehrere, aber gleich¬
gerichtete Variationen einen Vorteil, einen Selektionswert ergeben.
Neuerdings hat Bergson^) zu diesem Eoadaptationsproblem
bemerkt: »Gesetzt, wir nähmen kleine, dem Zufall verdankte
Abweichungen an, die sich unablässig summieren, so ist hierbei
nicht zu vergessen, daß alle Teile des Organismus notwendiger¬
weise aufeinander angelegt sein müssen . . . Unbestreitbar ist,
daß das Organ keinerlei Dienst leistet nnd der Auslese keinerlei
Handhabe bietet, wenn es nicht funktioniert. Und ob der feine
Bau der Netzhaut sich noch so vollkommen entwickle, dieser
Fortschritt wird den Sehakt nicht fördern, ja ihn stören, wenn
sich nicht die Sehzentren nnd verschiedene Teile des Sehorgans
selbst gleichzeitig entwickeln. Sind aber die Variationen zufällig,
dann ist es allzu evident, daß sie sich nicht untereinander dahin
verständigen werden, derart gleichzeitig in allen Teilen des Organs
aufzutreten, um dieses in Ausübung seiner Funktion fortfahren
zu lassen.«
Vor wenigen Jahren hat der Botaniker Fitting seine An¬
sichten über das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen ausführ¬
lich geäußert. Er sagt u. a. »Bei den tropistischen Reizkrüm¬
mungen, namentlich solchen, die auf Wachstum beruhen, arbeiten
die Zellen der Organe so einheitlich zusammen, als ob das Or¬
gan überhaupt nicht aus Zellen zusammengesetzt wäre. Z. B.
krümmen sich die Ranken infolge einer ganz leisen lokalen Be¬
rührung einer kleinen Stelle ihrer Oberfläche haptotropisch nach
dem Berührungsreiz hin ein, indem das Wachstum der Ranke,
und zwar von der konvex werdenden Seite nach der sich kon¬
kav krümmenden (berührten) allmählich abnehmend beschleunigt
wird. Das kann nur erreicht werden, daß 1. der Reiz von der Be¬
rührungsstelle durch den Qerschnitt des ganzen Organs geleitet
wird, und daß 2., falls die Zellen durch ihr Zusammenwirken
die Reaktion des Organes ausführen, die Zellen untereinander
durch ihre uns noch völlig unklaren engen Wechselbeziehungen
die Intensitäten ihrer Einzelleistungen gegeneinander aufs feinste
1) »Schöpferische Entwickelnng:«, 1912, S. 70.
2) »Die Pflanze als lebender Organismus«, 1917, S. 24.
Daa Indiyidaalitätsproblem und die Snbordination der Organe. 297
abgleichen. Noch mehr sind solche Vorstellungen nötig, wenn das
Perzeptionsorgan nnd das Reaktionsorgan yoneinander weit getrennt
sind, ja wenn in diesem eine einheitliche Reaktion auch dann noch
eintritt, wenn man den Reiz durch Einschnitte zwingt, »um die Ecke«
sich in die Reaktionszone anszubreiten... Es sieht hier nnd
bei vielen anderen Reizvorgängen, z. B. beim Gegeneinander¬
wirken gleicher oder verschiedener Reize so ans, als ob ein so¬
genannter »einheitlicher Reizznstand«, dem alle lebenden Zell¬
komponenten des Organs unterliegen, die Leistungen (Reaktionen)
dieser Komponenten quantitativ und oft auch qualitativ bestimmten.
...Wie fein müssen die Reizzustände in benachbarten Protoplasten
aufeinander harmonisch abgestimmt sein, um das Wachstum in
den Schichten der sie trennenden Zellwände in gleichem Aus¬
maß bei der Krümmung zu lenken!« Zusammenfassend sagt
Fitting: »Die Zellen sind auch z. B. bei der Entwicklung des
Körpers die aktiven, die bildenden, die reagierenden Teile, weil
ja die lebende Substanz auf sie verteilt ist. Doch arbeiten sie
meist in so enger Abhängigkeit voneinander und vom Ganzen,
daß sie mit ihresgleichen zu den einheitlichen Leistungen der
Organe physiologisch mehr oder weniger vollständig »zu ver¬
schmelzen« scheinen. Die Bedingungen nämlich dafür, welche der
in der lebenden Substanz der Zellen schlummernden Leistungs¬
möglichkeiten geweckt werden, kommen vom Zellverband, vom
Ganzen, und zwar von seinem Zustand in einem jeden Augen¬
blick der Entwicklung. Verständlich aber wird uns das Ver¬
halten der Einzelzellen im Leben der Pflanze überhaupt nur
durch das Ganze. Nur die fertige Pflanze nämlich liefert uns
die nötige Einsicht in die spezifischen Reaktionsmöglichkeiten
der lebenden Substanz der Zellen. Nur das Ganze verschafft
uns ferner Einsicht in die nicht weniger spezifischen System-
bedingnngen, von denen die Reaktionen der Zellen an den ver¬
schiedenen Stellen des Körpers abhängen. Nur das Ganze end¬
lich macht uns verständlich, was eine jede Zelle im Körper
während seiner Entwicklung und während seines ferneren Lebens
leisten wird. Das merkwürdigste aber ist, daß die Zellen im
Lebensgange des Lebewesens neue spezifische Reaktionsmöglich¬
keiten erwerben können, die oft nur als neue erbliche Eigen¬
schaften des vielzelligen Ganzen sichtbar werden und Be¬
deutung gewinnen... Das Ganze und der Teil, mag er nun
eine Einzelzelle oder eine Zellgruppe sein, wirken eben bei einem
vielzelligen Lebewesen physiologisch immer in einer sehr eigen¬
artigen, besonderen Weise aufs allerinnigste zusammen, und
298
Anuin Müller,
zwar so, daß die Zellen meist gar keine physiologisclie Indivi¬
dualität in dem vielzelligen Organismus besitzen.«
Eine gegenüber der >analytischen« vielmehr >synthetische«
Theorie des tierischen Körpers ist in jüngster Zeit von dem
Tübinger Anatomen Heidenhainentwickelt worden. H. ver¬
langt gegenüber der bisher fast ausschließlich zergUedemden
analytischen Anatomie eine »morphologische Systemlehre oder
Synthesiologie«, die der Natur auf ihrem »Wege einer wahren
schöpferisch zu nennenden Synthese« zu folgen hat. Diese neue
Wissenschaft hat nachzuweisen, >wie die auf dem Wege der
Analyse erhaltenen Elementarbestandteile entsprechend der auf-
steigenden Form der Entwicklung sich zu Verbänden oder Systemen
oberer Ordnung gruppieren, ihre Funktionen und Reaktionen zu
beschreiben und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen System
und eingeschlossenem Teile klarzulegen«. Als einen schweren
Irrtum der analytischen Zellentheorie, der auf Schwann
zurückgeht, bezeichnet es H., die Gewebezellen, in Analogie zu
den einzelligen Pflanzen nnd Tieren, den Zellpersonen, ebenfalls
als im hohen Grade selbständige Organismen aufzufassen. »In
dieser Verwechslung von Gewebezellen und Zellpersonen lieg^
ein Grundfehler der analytischen Theorie, da sie den Tier- nnd
Pflanzenkörper in ein Aggregat einzelliger Organismen verwandelt«
»Der ganze Bauplan wurde so gründlich in seine Bestandteile
zerlegt, daß von ihm selbst nicht mehr viel zu sehen war.« Da
nun die Zellen schlechthin zu >den Bausteinen des Organismus“
wurden, wurde die Vitalität der Interzellularsnbstanzen irrtüm¬
licherweise bestritten, denen aber eine Selbständigkeit in der
Assimilation, im Wachstum und in der Differenzierung zweifellos
znkommt. Der Zellnlarphysiologie wirft H. vor, die Unter¬
suchung der Systemfunktionen unterlassen zu haben, »welche ge¬
wissermaßen analytisch gespalten und auf die einzelnen Zellen
ausgeteilt wurden«. Auch die Himphysiologie sei ein Opfer der
Zellenlehre geworden, >da sich die Zustände und Leistungen der
Seele nicht als eine Mosaikarbeit von Einzelwesen erklären
lassen«. H. geht davon aus, daß bereits alle sichtbaren Stmktur-
gebilde der Zelle (Kern, Chromosomen, Zentren, Chlorophyl-
kömer) sich teilende und vermehrende »Teilkörpersysteme« dar¬
stellen, die in der Zelle als einem »Teilkörpersystem höherer
Ordnung« zusammengefaßt sind. Die Gewebezellen treten nun
ihrerseits „stufenweise zu Verbänden oberer Ordnung zusammen,
1) M. m. W. 1918 Nr. 22; D. m. W. 1922 Nr. 37.
Das Indiyidnalitfttsproblem und die Sabordination der Organe. 299
welche ihre eigne Art zn funktionieren und zu reagieren besitzen,
so daß wir mithin dem Körper eine entwicklungsphysiologische
G-esamtverfassung zuschreiben, vergleichbar der Gliederung der
Heeres verbände, deren Gmppen, Zöge, Kompagnien, Bataillone
usw. ttbereinandergesteDte Dienstkreise bedeuten<. Daß hier
tatsächlich System* und nicht Partialfunktionen vorliegen, zeigt
H. an den Fortpflanzungserscheinnngen. Wie sich bereits die
Teilkörpersysteme innerhalb der Zellen sowie die einzelnen Zellen
als Ganzes fortpflanzen können, so können sich auch die aus
den Zellen durch wahre Synthese hervorgegangenen Zellverbände
oder Histosysteme als Ganze wiederum vermehren. So wird eine
massenhafte Nachkommenschaft z.B. von Zungenpapillen, Leber¬
läppchen, Lnngenalveolen erzeugt Speziell das Wachstum der
Speicheldrüsen gleicht demjenigen eines Polypenstocks, >da an
dmi Enden der Drflsenzweiglein teilnngsfähige Individuen sitzen
durch deren fortgesetzte Spaltung im Laufe der Entwicklung
Hnnderttansende von Nachkommen entstehen.*^ H. spricht hier
von geweblicher Stockbildung (Histocormus). Über die Unter¬
suchung der Geschmacksknospen ans der Papilla foliata des
Kaninchens gibt H.folgende Zusammenfassung^): »Die rundlichen
Knospen sind in das geschichtete Mundhöhlenepithel eingesetzt
und ihre dichtgedrängten Zellen konvergieren gegen den so¬
genannten Geschmacksporus. Dieser führt in eine kleine Höhlung
hinein, welcher bereits im Knospenscheitel gelegen ist, die Am¬
pulle, und in der freien Oberfläche der letzteren endigen die
sämtlichen Sinneszellen mit stark verschmälerten Spitzen, welche
ihrerseits die Träger der Sinneshaare sind. Die Knospen zeigen
nur ein begrenztes Wachstum, da die Ampulle nur eine gewisse
Menge von Sinneszellen fassen kann. Wächst die Zahl der Zellen,
so muß die Ampulle sich schließlich durch Teilung zerlegen, um
dadurch ihre Oberfläche zu vergrößern. Diese Verdoppelung der
Ampulle führt zunächst zn einer »inneren Teilung« der Knospe,
und dieser folgt eventuell die äußere Teilung, indem die Zellen
des indifferenten Epithels der Umgebung in Form einer Scheide¬
wand von der Basis der Knospe ans in die Höhe wachsen und sie in
zwei Individuen zerlegen. Das wesentliche wäre also zunächst,
daß die Teilnngsformen festgestellt wurden. Außer¬
dem fanden sich massenhafte Mehrlingsbildnngen als
Folgen der ansgebliebenen äußeren Teilung, also Zwillinge,
Drillinge, Vierlinge usf. mit zwei, drei, vier Geschmacksporen
1) M. m. W. 1918 S. 679.
300
Amin MfUler,
bezw. Ampullen. Also bilden sich hier durch Synthese
zusammengesetzte Systeme oberer Ordnung, in einer Weise, wie
dies bei den Dünndarmzotten schon vorher von mir beobachtet
wurde. In meiner Theorie werden die Glieder solcher Beihen
als Monomer, Dimeren, Trimeren usf. bezeichneten; sie fanden
sich hier aufsteigend bis zum 6. Gliede, bis zur Hezamere. Unter
den Geschmacksknospen sind viele mittlere und alle größeren
Exemplare solche Mehrlingsbildungen, und im Ganzen
bilden sie etwa ein Drittel des gesamten Enospenbestandes der
Sinnesfelder. Da nun während mehrerer Teilungen die Teilungs¬
richtung erhalten bleibt, so liegen die mehrfachen Poren der
Mehrlingsbildungen in einer Beihe; sie sind linear oder
monoserial geordnet, also etwa wie die Zellen eines Algen¬
fadens linear geordnet sind, weil die Teilungsrichtung der Zellen
dauernd erhalten bleibt. Ans dem gleichen Grunde findet man
die Knospen in den Sinnesfeldem zu parallelen Querreihen oder
»Stäben« geordnet, welche gewöhnlicherweise 3 bis 6 Individuen
enthalten. Es ist mithin auch die gesamte topographische Zu¬
sammenordnung der Knospen in den Sinnesfeldem ein Effekt der
Teilungsvorgänge... Das Verhältnis der einzelnen Sinneszelle
zu der Knospe im Ganzen ist mithin völlig klar geworden.
Sie ist morphologisch nichts anderes als ein Brachstück einer
übergeordneten durchaus spezifischen Form oder eines Systems,
welches an sich selbst eine einheitliche Formerscheinung ist und
auf Grund seiner besonderen Verfassung zu einer besonderen
solidarischen Funktion, der Fortpflanzung durch Teilung befähigt
ist.«—Der Grundsatz, daß alles Lebendige von Lebendigem ab¬
stamme, wurde seit Bemak und Virchow für die Zelle all¬
gemein anerkannt. Seine Gültigkeit wurde sodann auch für
Zellorgane nachgewiesen. H. fordert seine Gültigkeit auch
für die Zellverbände als »systematisierte Zweckverbände«, die
ebenfalls mit dem Vermögen der Fortpflanzung begabt sind. In
diesen Erfahrungen erblickt H. »das konstitutive Element im
Bauplan des Organismus«^).
In der Embryologie hat wohl am erfolgreichsten Driesch
die Lehre von der Zelle als dem alleinigen Organisationsprinzip
des Körpers wie auch besonders alle mechanistischen Maschinen¬
theorien und Präformationslehren in bezug auf die Eistrnktur
bekämpft. Seine Lehre von den harmonisch-äquipotentiellen und
komplex-äquipotentiellen Systemen sowie dem immaterieUen ganz-
1) Heidenbains jüngste Poblikation »Formen ond Kräfte in der
lebenden Natur« konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden.
Dm Individaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 301
machenden Werdefaktor, der Entelechie, kann in diesem Zusammen¬
hang nur erwähnt werden. Verwandt sind die Anschanungen von
T. H. Morgan*), der sich folgendermaßen äußert: »Der Haupt¬
einwand gegen alle diese Versuche, das Ganze aus der Wirksam¬
keit seiner Teile zu erklären, ist der, daß die Entwicklung der
einzelnen Teile ja in steter Beziehung zueinander erfolgt. Das
heißt doch wohl, daß das Ganze die Entwicklung seiner Teile
reguliert, und nicht umgekehrt.« Angesichts der neueren For¬
schungsergebnisse glaubt Morgan*), daß »sich der Embryo als
Ganzes nach einem festliegenden Bauplan, ohne Bäcksicht auf
die Zellgrenzen entwickelt«... »Die Entwicklung einer typischen
Seeigel- oder Amphioxuslarve aus der Hälfte oder sogar nur einem
Viertel der normalen Zellzahl läßt die Unbrauchbarkeit der Zellen¬
theorie für die Erklärung ontogenetischer Vorgänge erkennen.«
In ähnlicher Weise hat sich E. B. Wilson mit entwicklungs¬
physiologischen Argumenten gegen die Zellentheorie im Sinne
Schwanns ausgesprochen.
Der Grundauffassung Heidenhains ist unter den Patho¬
logen Hueck“) in weitem Maße gefolgt. Auch er erblickt in
der Zelle nur eines neben sehr verschiedenen anderen Organi¬
sationsprinzipien der Natur; aber keinem dieser Systeme kommt
Autonomie zu. »Wir haben einsehen gelernt, daß die Tätigkeit
der einzelnen Zelle beherrscht wird vom einheitlichen Ganzen
des Organismus, und zwar durch ein kompliziertes System fein
abgestimmter Begulationen teils nervöser, teils chemischer Art.«
Und im Hinblick auf gewisse neuere Erfahrung der Embryologie
heißt es: »Man kann also wohl sagen, daß sich die gestaltenden
Kräfte bei der Entwicklung nicht um Zellgrenzen kümmern,
sondern daß sie die Keimmassen gestalten ohne Bücksicht auf
die Art und Weise der Aufteilung in Zellen. Jedes Teilsystem
und mithin der ganze Organismus reagiert in Gemeinschafts-
handlnngen.« So wird die Tatsache angeführt, daß sich z. B. in
gewissen Teilsystemen Fibrillen differenzieren, die sich in gar
keiner Weise um Zellgrenzen kümmern, sondern durch das System
als Ganzes verlaufen: Epithelfasem, Muskelfibrillen, Bindegewebe,
Glia. Hierher dürfte meiner Meinung nach auch eine Erscheinung ge¬
hören, aufdiederWienerEntomologeBrunner von Watten wyl*)
1) .Regeneration“, deutsch 1907, S. 384, zit. n. Fitting 1. c. S. 41 u. 42.
Zitiert nach Fitting L c. S. 850.
8) M. m. W. 1922 S. 1326.
4) »Betrachtangen über die Farbenpracht der Insekten«, 1897.
302
Armin MttUer,
aufmerksam gemacht hat: Während bei manchen Schmetterlingen
die Bänderung von der anatomischen Struktur durchaus abhängig
ist und Z.B. nur eine Färbung der Querademng darstellt, ist
bei zahlreichen Insekten die Anordnung der Streifen, Bänder
und Augenflecken durchaus nicht an bestimmte Körperteile ge¬
bunden, yielmehr ist die ganze Oberfläche des Tieres maßgebend.
So verläuft bei einem javanischen Bombyciden, dem Schmetter¬
ling Aloa Lactinea, eine leuchtende rote Linie von einer Flügel¬
spitze über den Thorax zur anderen Spitze. An der Vorder¬
seite des Kopfes erfolgt eine Ausbiegung gegen die Brust und
erfaßt hier die eingezogenen Schenkel der Vorderfüße. Von
einem Augenfleck oder Ocellus heißt es^): »Bei der bekannten
Pygaera Bucephala L. ist ein Ocellus dem Vorderteil des Thorax
aufgesetzt. Derselbe besteht aus einem großen gelben Flecken,
welcher von einem rostbraunen Doppelringe umsänmt ist. Dieser
Ring umfaßt den Vorderteil des Pronotum und den oberen Teil
des Kopfes, indem er unmittelbar unter den Augen geschlossen
ist. Dieser Ocellus steht sonach in keinem Zusammenhang mit
der Abgrenzung der Körperteile, sondern gleicht einer Mütze,
die dem Tier von vom über die Stime geworfen wurde.«...
»Striche, Bänder und Flecken erstrecken sich über die verschie¬
densten Körperteile, um ein einheitliches Bild zu erzeugen.«
Die Zeichnung ist »holotypisch«. Aus sehr zahlreichen prinzi¬
piell gleichartigen Erscheinungen glaubt B. sogar auf die Existenz
nicht nur besonderer morphologischer, sondern auch ästhetischer
Gesetze schließen zu müssen. — Speziell für die Pathologie er¬
gibt sich nach Hu eck aus dieser — übrigens bisher in der
Klinik schon stets angewandten — synthetischen Denkweise die
Folgerung, daß die Krankheit nicht nur in der Erkrankung der
einzelnen Zellen, Zwischensubstanzen, Kernen, Plastosomen usw.,
sondern neben diesen auch in einer Störung der Beziehungen
dieser einzelnen Teile aufeinander besteht. Demnach hat auch
die Konstitutionslehre nicht nur die Reaktion der einzelnen
Teilkörper, sondern auch die Reaktion der zusammengefügten
Systeme, deren Gemeinschaftshandlungen, und schließlich des
Systems höchster Ordnung, des Individuums, und seiner persön¬
lichen Einheit zu studieren. Es gibt eine Pathologie der Zelle
und eine »Pathologie der Person«.
Eine besondere Rolle spielt die Frage der »mechanischen«
oder »organischen« Auffassung in dem Streit um den Begriff der
1) 1. c. S. 6.
Das IndiTidoalitätsproblem and die Subordination der Organe. 303
Entzflndnng. Nachdem schon Virchow anerkannt hatte, daß
»antagonistische ober reaktive Einrichtungen im Körper bestehen,
welche die gewöhnlichen Wege der Ansgleichung von Störungen
darsteUen'^, hat die überwiegende Mehrzahl der Pathologen in
der Entzündung einen im wesentlichen regulatorischen Vorgang
erblickt und hat sich damit gmndsätzlich der »biologischen«
oder »organischen« Auffassung angeschlossen. Aschoff sagt:
»Wenn etwas »reguliert« werden soll, dann muß ein vorbild¬
liches Ganze, ein bestimmtes Ergebnis vorausgesetzt werden,
der Vorgang auf dieses Ganze hin gerichtet, d. h. zweckmäßig
sein.«
In seiner Rede »Die führenden Ideen in der Physiologie der
Gegenwart« bemerkt von Tschermack *): »Mit dem Prinzip
der biologischen Differenzierung und Autonomie kombiniert sich
das Integrationsprinzip, die Idee der zentralistischen Wechsel¬
wirkung oder Korrelation der verschiedenen Teile des Organismus.«
Als Vermittler einer solchen sieht er in erster Linie das Nerven¬
system (Sherrington), sodann die Vorgänge der inneren Se¬
kretion an. Eine besondere Äußerung »der biologischen Inte¬
gration im Gesamtorganismus« erblickt von T. in den zahlreichen
Anpassungs- und Regulationserscheinungen.
In einem Übersichtsartikel »Neuere Forschungen und An¬
schauungen über Reflexe und ihre physiologische Bedeutung«
hat sich von Weizsäcker*) folgendermaßen geäußert: »Daß
die Reflexe irgendwie Elemente oder Bausteine sensomoto-
rischer Gesamtfnnktionen sind, diesen Satz kann man
jetzt unbedenklich an die Spitze stellen. Die gegenwärtige Auf¬
gabe ist demnach: Aufstellung der Art und Weise, wie Reflexe
in normale (oder pathologische) Gesamthandlungen, also letzten
Endes in die Integralfunktion des intakten Organismus eingebaut
sind. Damit aber lebt überhaupt wieder das biologische Problem
der Erklärbarkeit organischen Geschehens, ein Problem von
höchstem wissenschaftlichen Rang, neu auf: Ist der Reflex in
dem Sinne die Elementarfunktion der nervösen Substanzen, daß
man hoffen darf, allein durch Zusammensetzung von Reflexen zu
jeder beliebigen höheren Funktion aufzusteigen? — Man wird sich
des Eindrucks nicht ganz erwehren können, daß Sherringtons
bedeutendes Buch >die integrierende Aktion des Nervensystems«
in dem Femerstehenden unerfüllte Erwartungen hervorrufen kann.
1) M. m W. 1913 S. 2328.
2) Kl. W. 1922 Nr. 46.
304
Armin Müller,
EUnzelfunktionen werdenzusammengesetzt zu komplexen Funktionen
ja; aber durch Zusammensetzung von Eeflexen zu einer der Tätig¬
keit des Gesamtorganismus gleichen Bewegung zu gelangen,
dies gelingt in der Tat nicht<... »So fruchtbar sich also
gerade in den Händen des englischen Forschers die Methode er¬
wiesen hat, am Enthirnung- oder Bückenmarkspräparat durch
Zusammensetzung von Einzelreflexen zu komplexen Funktionen
aufzusteigen, so notwendig ist anderweitig das Verfahren, am
unversehrten Individuum einen integren Gesamtznstand vorans-
zusetzen und zu belassen und nun zu sehen, wie hier sich unter
und innerhalb dieser Voraussetzung der Eeflex verhält.* — »Bis¬
her pflegt man den Tatbestand, daß wir auch in dunkler Nacht
ziemlich störungslos über einen Sturzacker mit seinem unberechen¬
baren Niveau gehen und laufen können, eben so zu beschreiben:
Der Organismus wähle von den zu Gebote stehenden Eeflex-
mechanismen die in jedem Augenblick zweckdienlichen ans und
modifiziere ihre Stärke. Anscheinend gelangt die Forschung
hier nur so weit, zu zeigen, daß in den Eeflexen geeignete Mittel
zur Durchführung des Bewegungs erfolges vorhanden sind. Den
Bewegungsplan selbst aber vermag sie aus den allgemeinen Ge¬
setzen der Eeflexphysiologie niemals hinreichend aufzubauen.*
»Immer aber muß jener synthetisch niemals reproduzierbare Ge¬
samtzustand des Zentralnervensystems gegeben sein, jener Zu¬
stand, der bald als Willkürbewegung, bald als Willkürhaltung,
bald als willkürliche Spannung oder Erschlaffung, Widerstand
gegen oder Hingabe an äußere Kräfte, bald mit hellem, bald mit
unbestimmtem Bewußtsein von Bewegungsform und Bewegungs¬
erfolg, oft genug auch ohne jedes nachweisbare Bewußtsein statt¬
hat — immer muß dieser originale Gesamtzustand gegeben sein.
Erst wenn er vorausgesetzt ist, schon von der Natur produziert
ist, erst dann vermögen wir analytisch das Spiel der gesetz¬
mäßigen Eeflexe in ihm, niemals das ungesetzliche Spiel mit diesen
Eeflexen uns begreiflich zu machen.*
Dieser kurze Überblick, der besonders Arbeiten der jüngsten
Vergangenheit berücksichtigte, zeigt unzweifelhaft, daß zahlreiche
Forscher wohl mehr oder weniger unabhängig voneinander auf
den verschiedensten Gebieten, oft im bewußten Gegensatz zur
Tradition, eine grundsätzliche Neuorientierung zum Ganzheits¬
problem Vornahmen. Immer mehr hat sich die Erkenntnis Bahn
gebrochen, daß aus einer mechanischen Verknüpfung der Elemen¬
tarbestandteile unmöglich die Eigenschaften des Ganzen abge¬
leitet werden können, daß vielmehr aller Synthese im Bereich
Das Individaalitätsproblein and die Snbordination der Organe. 305
des Oi^fanischen noch ein spezifisch schöpferisches Moment zn*
kommt, das ttber den summarischen Effekt der Konstituenten
hinausweist: Das Ganze geht den Teilen yoran.
3. Der Begriff der Ganzheit in der Psychologie und
Psychiatrie.
Auch auf dem Gebiete der Psychologie ist die ganz grund¬
sätzliche Frage nach dem Verhältnis der Teile zum Ganzen
wieder in Fluß gekommen und hat neuartige Beantwortungen
erfahren. Nur wegen dieser prinzipiellen Verwandtschaft der
Fragestellung soll hier ein an und für sich heterogenes Gebiet
in den Kreis biologischer Betrachtungen hineingezogen werden.
Es handelt sich hier um das Verhältnis der »physiologischen
Psychologie« oder Psychophysik, der »Psychologie der Elemente«,
wie sie Spranger nennt, zu der Strukturpsychologie oder
Psychologie der Persönlichkeit, wie sie sich besonders unter
den Händen von Dilthey und seinen Schülern herausgebildet
hat Von jener ersten, an dem methodischen Ideal der Natur¬
wissenschaften des Anorganischen orientierten Psychologie sagt
Spranger*): »Wie die Physik alle körperlichen Erscheinungen
aus eindeutigen Elementen in gesetzlichen Verbindungen auf-
zubanen strebt, so sucht auch die ihr angegliederte Psychologie
von Elementen ans den Komplex des seelischen Geschehens zu
begreifen. — Man versucht aus einfachen Empfindungen oder
aus angeblich scharf abgegrenzten und selbständigen ,Vor-
stellungen‘ das Seelische anfzubauen.« In Nachahmung der
naturwissenschaftlichen Methode bediente man sich dabei sogar
des Bildes von psychischen Atomen (= Bewußtseinspartikelchen).
Bei Wnndt, dem alles Seelische zu einem prozeßartigen Ge¬
schehen wird, treten einfachste Vorgänge an die Stelle ein¬
fachster Elemente. Sp. erkennt das Recht dieser zergliedernden
Methode durchaus an, aber er glaubt, daß die Psychologie noch
Höheres zu leisten vermag. »Es ist und bleibt etwas anderes,
ob ich einen komplexen seelischen Vorgang in seine Elemente
zerlege, oder ob ich ihn als ein Ganzes in weitere sinnvolle
Zusammenhänge hineinstelle.« »Da zeigt sich die eigentümliche
Tatsache, daß mit dem bezeichneten Verfahren für das Ver¬
ständnis seelischer Vorgänge keineswegs das Wichtigste
geschehen ist. Niemand zweifelt daran, daß der Dichter, der
Historiker, der Seelsorger und der Erzieher gute Psychologen
1) »Lebensformen« 2. Aafl. S. 8 ff.
Archiv fOr Payohologie. XLViU.
20
306
Armin Müller,
im landläufigen Sinne sein müssen, aber es ist auffallend, daß
diejenigen, die auf diesen Gebieten das Höchste geleistet haben,
oft von einer solchen Psychologie der Elemente nicht das
mindeste wußten.< »Das geisteswissenschaftliche Denken geht
also in der Regel nicht bis in die letzten unterscheidbaren Ele¬
mente zurück, sondern bleibt in einer höheren Begriffsschicht
stehen und nimmt den inneren Vorgang gleich als ein sinn-
bestimmtes Ganzes, das einer geistigen Gesamtsituation angehört
und von ihm aus seine Bedeutung empfängt« »Überhaupt
scheint darin die wissenschaftliche Grenze der Psychologie der
Elemente zu liegen, daß sie den sinnyollen Zusammen¬
hang des Seelischen zerstört.« »Wer den Frosch zerschneidet,
lernt seinen inneren Bau und durch Nachdenken auch die
physiologische Funktion seiner Organe kennen. Er darf aber
nicht erwarten, daß er die Teile wieder zusammensetzen und
daraus einen lebendigen Frosch erzeugen könne. Ebensowenig
kann man durch Synthese der psychischen Elemente das Seelen¬
ganze mit seinem auf die ganze geistige Umgebung bezogenen
sinnvollen Lebenszusammenhang herausbringen, sondern der
sinnvolle Zusammenhang ist das Erste, und an ihm erst unter¬
scheidet die Analyse jene Elemente, die aber keineswegs den
Verständnisgrnnd für das Ganze abgeben.«
Im Hinblick auf das, was Heidenhain unter einer
»wahrhaft schöpferisch zu nennenden Synthese der Natur« v^-
steht, ist es lehrreich, sich Wundts Begriff der »schöpferischen
Synthese« zu vergegenwärtigen. W. beginnt den Aufbau des
seelischen Geschehens mit den »Elementen«; über die psychischen
GebUde«, »Komplexe« gelangt er schließlich zu den >seelischen
Entwicklungen«. W.‘) sagt von dem >Prinzip der Resultanten«,
an dem das »Prinzip der schöpferischen Synthese« zur Geltung
kommt: »Es findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß jedes
psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie
gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen
werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße
Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind. Ein
Zusammenhang von Tönen ist nach seinen Yorstellnngs- und
Gefühlseigenschaften mehr als eine bloße Summe von Einzel¬
tönen. Bei den räumlichen und zeitlichen Vorstellungen ist die
räumliche und zeitliche Ordnung zwar in durchaus gesetzmäßiger
Weise in dem Zusammenwirken der Elemente begründet, die
1) »Grundriß der Psychologie«, 1907, S. 898.
Das Indiyidnalit&tsproblein and die Subordination der Organe. 307
diese Yorstellimgen bildet; dabei können aber jene Ordnungen
keinesfalls als Eigenschaften angesehen werden, die den
Empfindnngselementen selbst bereits inhärieren. Die nativisti-
schen Theorien, die das voraussetzen, verwickeln sich vielmehr
in unlösbare Widersprüche und müssen, indem sie nachträgliche
Veränderungen der ursprünglichen Kaum- und Zeitanschauungen
infolge bestimmter Erfahmngseinflüsse znlassen, schließlich selbst
in einem gewissen Umfang eine Neuentstehnng von Eigenschaften
annehmen. Bei den apperzeptiven Funktionen endlich, den
Phantasie- und Verstandestätigkeiten, kommt das nämliche
Prinzip in einer klar bewußten Form zum Ausdruck, da nicht
nur die durch apperzeptive Synthese verbundenen Bestandteile
neben der Bedeutung, die sie im isolierten Zustande besitzen,
eine neue Bedeutung in der durch ihre Verbindung entstehenden
Gesamtvorstellnng gewinnen, sondern da namentlich auch die
Gesamtvorstellnng selbst ein neuer psychischer Inhalt ist, der
zwar durch jene Bestandteile ermöglicht wird, darum aber doch
in ihnen noch nicht enthalten ist. Dies zeigt sich wieder am
augenfälligsten an den verwickelteren Erzeugnissen apperzeptiver
Synthese, wie an dem Kunstwerk, an dem logischen Gedanken-
zusammenhang.<
EineVerwandtschaft zu der »Strukturpsychologie« Sprangers
zeigen auch neueste Strömungen in der Psychiatrie. So erklärt
Bumke^), daß die experimentelle Psychologie, ohne den Wert
dieser als solcher zu verkennen, insofern sie sich nur physio¬
logischer üntersungsarten bedient, nur bis an die Schwelle der
Bewußtseinserscheinungen führen kann. Die Assoziationspsycho¬
logie oder allgemein »die Psychologie der Elemente< hält er
für zusammengebrochen. Dem anatomisch eingesteUten Mediziner
erschien die Zerlegung auch des »Seelischen« für ein Studium
komplexer seelischer Vorgänge fast selbstverständlich, — eine
Grundanschauung, die durch die Erfolge der Aphasie- und
Apraxielehre zunächst scheinbar gestützt wurde. »Die Gehim-
anatomie und die Aufdeckung physiologischer Mechanismen
führen uns höchstens wieder in den Vorhof der Psychologie,
und daß man durch die Erforschung der sogenannten seelischen
Elemente den Grund für die Errichtung höherer Stockwerke
des Seelischen legen, ja daß man überhaupt Empfindungen,
Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und WiUensimpulse aus
dem Strom des psychischen Erlebens fein säuberlich heraus-
1) Klin. Wochenscbr. 1922 Nr. 6.
20*
308
Armin Müller,
kristallisieren könnte, um nachher durch die Synthese dieser
Einzelelemente das Bewußtsein doch wieder zusammenzusetzen,
davon ist gar keine Rede. Was bedeutet denn Wundts Auf¬
stellung der ,Apperzeption* ? Doch nichts anderes, als daß alle
Mühen der Assoziationspsychologie vergeblich gewesen sind, und
daß, wer mit seelischen Elementen arbeitet, schließlich immer
noch eine wirkliche Seele einführen muß — nur daß man
dann nicht ,Seele‘, sondern eben ,Apperzeption* zu ihr sagt.«
Wenn Monakow, dessen Worte Bumke zitiert, sagt: »Daß
die meisten cerebralen Funktionen nur mit Bezug auf einige
wenige Komponenten in scharf abgegrenzten Rindenteilen
repräsentiert sind, in der Hauptsache aber, wenn auch örtlich
sehr ungleich, in der ganzen Rinde«, so wird man sagen dürfen,
daß die Bewußtseinsvorgänge, soweit die Tätigkeit nervöser
Zellelemente für diese in Betracht kommt, in einer bestimmten
Zuordnung zu »Gemeinschaftshandlungen« dieser Ele¬
mente stehen. In diametralem Gegensatz zu allen zellular-
physiologischen Interpretationen spricht Hoche‘) die Möglich¬
keit aus, »daß sich in denselben Struktursystemen mit demselben
Aufwand von chemischem Umsatz und evtl anatomisch nach¬
weisbaren Veränderungen je nach der Form des ablanfenden
Erregungsvorganges sehr verschiedenartiges psychisches Ge¬
schehen abspielen könne«. Er gebraucht ein Bild und »erinnert
daran, daß man mit einem bestimmten Aufwande von Eraft auf
einem gegebenen Musikinstrumente mit der gleichen Anzahl
physikalisch zu bestimmender Schwingungen, nur in anderer
Anordnung, die inhaltlich verschiedenartigsten Mnsikgestaltnngen
hervorbringen könne«. Ganz wie Sprang er fordert auch
Bumke für die Beurteilung der menschlichen Persönlichkeit
— wenn auch wissenschaftlich geformt und ausgebaut — die
Psychologie des täglichen Lebens, »die Psychologie der Dichter
und Geschichtsschreiber, der Diplomaten, Seelsorger und Ärzte«.
Den ungeheueren Erfolg der Freud sehen Schule schreibt
Bumke, ohne sich im einzelnen ihren Lehren anzuschließen,
einerseits der wirklichkeitsfremden Auffassung der offiziellen
Wissenschaft zu, während andererseits die Freudsche Schule
als einzige die Richtung vei-trat, »die das Seelische als Ganzes
zu erfassen suchte«. Endlich heißt es, »wir erwarten für die
Psychiatrie von der »Psychologie der Elemente« nichts mehr,
und wir bekennen uns mit Nachdruck zu einer psychologischen
1) ait, n. Bumke, »Psychologische Vorlesungen«, 1928. 8.83.
Das Individnalitätsproblem und die Subordination der Organe. 309
ArbeitsrichtuDg, die die normalen wie die pathologischen Be-
'wnßtseinserscheinungen nicht mehr zu zerpflücken, sondern als
Ganzes zn verstehen versucht.
4. Der Begriff der Ganzheit in der Philosophie (Driesch).
Im bisherigen Verlauf der Darstellung war grundsätzlich die
Frage offen geblieben, ob hinsichtlich des Ganzheitproblems nur
eine methodische Umstellung, ein veränderter Standpunkt der
Betrachtung, eine bloße »Fiktion« im Sinne Vaihingers vor-
liegft, oder ob bei zahlreichen Forschern — ausgesprochen oder
nicht — auch eine Wandlung der natnrphilosophischen An¬
schauungen im tieferen Sinne stattgefunden hat. Da der Begriff
der Ganzheit von Driesch in weitestem Maße vertieft und
geklärt worden ist, so, daß er zum Zentralbegriff seiner Lehre
erwachsen konnte, soll hier an seine Grundgedanken, soweit sie
für die vorliegende Arbeit wichtig sind, kurz erinnert werden.
Driesch vermeidet die Worte »Zweckmäßigkeit«, »Teleo¬
logie«, »Zielstrebigkeit« ihres psychologischen Nebensinnes wegen
und gebraucht an ihrer Stelle bei der Erörterung von Natur¬
vorgängen, wo von Bewußtseinserscheinungen im empirischen
Sinne gar keine Bede sein kann, den Ausdruck Ganzheit oder
Ganzheitsbezogenheit, der jeder »Subjektivität« und alles Psycho¬
logischen entbehrt. Der Begriff Ganzheit deckt sich mit dem
Begriff Individualität. Der Begriff Ganzheit oder das korre¬
lative Begriffspaar »das Ganze und die Teile« kann nun weder
abgeleitet, noch definiert werden. Es gehört zu jenen Ur¬
bedeutungen oder Urordnungszeichen, wie z. B. »etwas«, »dieses«,
»nicht«, »Beziehung«, die nnr in der »Schau« ergriffen werden.
Ganz ist etwas, dem kein Teil genommen werden kann, ohne
sein logisches Wesen zu zerstören. Der Teil gehört zur logischen
Wesenskonstitution des Ganzen. In diesem Sinne ist jeder
Organismus, jedes Artefakt, aber auch ein Gefühl, ein Charakter,
ganz; nicht aber ist ein Berg oder eine Insel oder ein Stein¬
haufen ganz. Für Kant hatte alle Zweckmäßigkeits- oder Ganz¬
heitsbetrachtung keinen wirklichen Erkenntniswert; im Gegen¬
satz zn den Kategorien der Substanz, Kausalität und Wechsel¬
wirkung, die »konstitutiv« für die Erkenntnis sind, hat die
Zweckbetrachtnng auch im Sinne einer immanenten Teleologie
nur den Wert einer »regulativen« Idee. Sie bedeutet ein mo¬
ralisch-ästhetisches Verhalten, das in der Wissenschaft, wo nur
kausale Erklärung gilt, kein Existenzrecht hat. Gegenüber dieser
Versnbjektiviemng der Kategorie Ganzheit oder Individnalität
310
Annin MttUer,
faßt Driesch sie gnmdsätzlich als konstitatiye Kategorie auf,
die >im Rahmen der Erfahrung als inhaltlich erfüllt geschaut
wird«, in erster Linie in bezug auf den personalen Organismus.
Die Kategorie kann Anwendung finden auf bloße Begriffe, aber
auch auf empirische Sachverhalte und Naturdinge. So unter¬
scheidet sich »Begriffs-« von »Sachganzheit«. Alle personalisti-
sche Biologie oder Psychologie, die von der tatsächlichen
Ganzheit des physischen Organismus und des seelischen Ge¬
schehens überzeugt ist, glaubt nicht nur an Begriffs-, sondern
an Sachganzheit in bezug auf die betreffenden Objekte.
Neben die »mechanische« Einzelheitskansalität der unbelebten
Natur tritt in der organischen Natur die Ganzheitskausalität;
sie wird repräsentiert durch einen besonderen Werdefaktor, die
Entelechie. Sie wirkt formbestimmend in jeder Individual¬
entwicklung. Doch bestehen auch für die Phylogenie Anzeichen
einer überpersönlichen Ganzheit, einer echten entelechialen
Entwicklung.
5. »Ter8tehende< Biologie.
Der Begriff des Verstehens, der auf geisteswissenschaftlichem
Gebiet, in der Psychologie und Psychiatrie neuerdings eine so
große Rolle spielt, ist in der bisherigen Darstellung mehrfach
anfgetaucht Er soll in seiner grundsätzlichen Bedeutung auch
für die Biologie in folgendem erörtert werden. Spranger
sieht die Grenze der Psychologie der Elemente darin, daß sie
den sinnvollen Zusammenhang des Seelischen zerstört.
Es ist aber eine Eigentümlichkeit der seelischen Totalität, daß
sie einen Sinnzusammenhang darstellt*). »Sinn ist immer ein
Wertbezogenes.« Ein Funktionszusammenhang ist sinnvoll,
»wenn alle in ihm enthaltenen Teil Vorgänge aus der Beziehung
auf wertvolle Gesamtleistungen verständlich werden«. »Eine
Maschine z. B. kann sinnvoll heißen, weil alle ihre Einzel¬
leistungen zu einem Gesamteffekt Zusammenwirken, der irgend¬
wie Wert hat. Ein Organismus ist sinnvoll, weil aUe seine
Eigenfunktionen auf die Erhaltung seines Bestandes unter ge¬
gebenen Lebensbedingungen eingestellt sind, und weil diese
Selbsterhaltung als für ihn wertvoll beurteilt werden kann.«
Der Akt des Verstehens beruht nun darauf, daß die individu¬
elle sinnerzeugende und sinnerlebende Seele über die Grenzen
ihrer eigenen Individualität hinüberreicht und sich in den ob-
1) 1. c. S. 13 ff.
Du Individaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 311
jektivierten Sinn z. B. eines Kunstwerks, eines technischen
Produktes hineinlebt. Es entsteht in ihr >ein entsprechender,
d. h. dem Sinne nach gleichgerichteter geistiger Akt<.
Die Bedeutung dieses Verstehens durch Sichhineinyersetzen
in Seelisches im Gegensatz zu bloß kausaler fh'klärung hebt
Jaspers^) für die Psychopathologie nachdrücklich hervor. Die
Naturwissenschaft, sagt er, kennnt nur kausale Zusammenhänge,
ihr Ideal ist der Ausdruck von Kausalgesetzen in mathemati¬
schen Kansalgleichnngen. Diese quantifizierende Betrachtung
hat auch für die Psychopathologie ihre Bedeutung. Auch sie
forscht nach kausalen Zusammenhängen (z. B. keine Paralyse
ohne Syphilis). Außerdem gibt es aber für die Psychologie
noch ein ganz anderes Erkennen, ein »genetisches Verstehen«,
das eine ganz andere Art von Zusammenhängen erfaßt. Seelisches
»geht« ans Seelischem in einer für uns verständlichen Weise
»hervor«. Der Angegriffene wird zornig und macht Abwehr-
handlnngen, der Betrogene wird mißtrauisch usw. Dieses Ans-
einanderhervorgehen des Seelischen aus Seelischem verstehen
wir genetisch.
Bis ist unverkennbar, daß diese Art des Verstehens mit dem
Aufkommen jener Bestrebungen, die den Organismus in seiner
Gestalt und seiner B^inktion wieder als Totalität, als einen
B'nnktions Zusammenhang auf fassen, auch eine erneute Legi¬
timierung für die Biologie gewonnen hat. Das geht z. B. be¬
sonders deutlich hervor aus Aschoffs Kampf um eine »organis-
mische< oder »biologische« Auffassung der Entzündung, deren
Berechtigfung er z. B. neben einer >Entzündungstheorie« (Attrak¬
tionstheorie, primäre Gefäßwandschädigung, Reizung der Gefä߬
nerven usw.) verficht. »Wenn etwas reguliert werden soll, dann
muß ein vorbildliches Ganze, ein bestimmtes Ergebnis voraus¬
gesetzt werden, der Vorgang auf dieses Ganze hin gerichtet,
d. h. zweckmäßig sein.« Da nun nach dem Grunddogma der
modernen Biologie der >Sinn« alles Lebendigen in der »Er¬
haltung« liegt, werden alle Regulations-, aber auch alle Ent¬
wicklungsvorgänge von einer Tendenz zur Selbst- oder Art¬
erhaltung oder zur »Dauerfähigkeit« (Roux) aus verstanden.
Wie die Abwehrhandlung des Angegriffenen genetisch verstanden
wird, so wird die entzündliche Abwehrreaktion des infizierten
Organismus in ihrer biologischen Bedeutung erfaßt: Beides mal
liegt eine Reaktion eines lebendigen Ganzen vor — wenn auch
1) »Allgemeine Psychopathologie« 1913, S. 145 ff.
312
Armin Müller,
Ton außerordentlich verschiedenem VoUkommenheitsgrade der
Individnalisiertheit Der Wert einer solchen verstehenden
Biologie, die sich anf den Standpnnkt einer immanenten Teleo>
logie stellt, wird dadnrch nicht geschmälert, daß sehr viele bio¬
logische Vorgänge dieser snpponierten Tendenz nnr sehr nnvoll¬
kommen entsprechen nnd einer streng rationellen Kritik die
Möglichkeit zn zahlreichen Einwendnngen erlanben. Es ist
selbstverständlich, daß biologische Vorgänge anf dem Stadinm
der Unreife, der Seneszenz, nnter der übermächtigen Einwirknng
änßerlicher Schädlichkeiten, z. B. Abwehrvorgänge bei der in¬
fektiösen Entzündnng nnter dem modifizierenden Einflnsse von
Parasiten im Sinne der fremddienlichen Zweckmäßigkeit*) sehr
nnvollkommen verlaufen. Aber auch von Hans aus sind die
verschiedensten Grade der Anpassung zu unterscheiden. Erinnert
sei an Helmholtz’ Urteil über die Unvollkommenheit des op¬
tischen Apparates des menschlichen Auges vom Standpunkt der
Optik aus. Kuczynski^ hat den Organismus im Hinblick
auf den tatsächlichen Effekt der entzündlichen Reaktion «einen
armseligen Gegenspieler der Wirklichkeit« genannt, der die
Fülle des Tatsächlichen nur sehr unvollkommen erlebt, sie nicht
in seinen körperlichen Reaktionen in ihrer Differenziertheit
auszudrücken vermag. Komplizierte Instinkthandlungen (z. B.
Lähmung von Beutetieren durch Raubwespen) werden bei ver¬
wandten Arten auf den verschiedensten Stufen der Ausbildung
angetroffen. Bei der Ontogenese werden auf einzelnen Etappen
der Entwicklung oft merkwürdig zäh aber durchaus nicht zweck¬
mäßig ancestrale Formen vorübergehend aufgebant und wieder
zerstört. Erwerbungen des einen Geschlechts können in dui’ch-
aus unzweckmäßiger Weise auch auf das andere Geschlecht
übertragen werden. Meisenheimer®) spricht von dem »Wider¬
sinn« einer Übertragung der Mammardrüsenanlage als eines
spezifisch weiblichen Merkmales auch auf das männliche Ge¬
schlecht und einer »noch sehr viel widersinnigeren Erscheinung«
ähnlicher Art, der Wiederkehr des spezifisch männlichen Penis
bei dem Weibchen als Clitoris, die bei manchen Formen durch¬
aus die Form und Größe des männlichen Gliedes erreichen kann.
Das alles spricht aber nicht gegen die prinzipielle Berechti-
1) Yergl. meine Arbeit »Die sog. fremddienliche Zweckmäßigkeit nnd
die menschliche Pathologie“, Virchows Arch. Bd. 244.
2) Virchows Arch. Bd. 284 S. 300.
8) »Geschlecht und Geschlechter« Bd. I (1921) S. 741 ff.
Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 313
gung einer rationalen verstehenden Biologie; erst von ihrem Stand*
pnnkt ans erhalten Begriffe wie Jugend, Alter, Reife, Normen,
Störung, Krankheit, Widersinnigkeit ihren über die bloß mensch¬
liche Zwecksetznng hinausgehenden objektiven Sinngehalt. Es
gibt auch in der Biologie objektiv begründete Werturteile,
Damit erhebt sich durchaus nicht die Gefahr einer zu engen
anthropomorphistischen Betrachtung, und das Arbeiten mit dem
Begriffe Sinn oder Zweck bedeutet noch lange nicht eine Ein¬
führung von seelischen Faktoren da, wo von Bewußtseinsvor¬
gängen gar keine Rede sein kann. Wohl aber bringt eine ver¬
stehende, nach Sinnzusammenhängen fragende Biologie alle Ob¬
jekte der lebendigen Natur in größere seelische Nähe als eine
nur kausalmechanistische Betrachtung. Ihre prinzipielle Be¬
rechtigung leitet sie her aus der fundamentalen Erkenntnis,
daß alles Seelische gleich allem Lebendigen überhaupt im Gegen¬
satz zur unbelebten Natur nicht ein Snmmenhaftes, nicht den
Effekt eines »kumulativen« (Driesch) Geschehens, sondern
einen Sinnzusammenhang, ein Ganzes darstellt, in dem ein jedes
— sofern es sinnvoll ist — wechselseitig Mittel und Zweck ist.
Nur Verwandtes kann Verwandtes »verstehen«.
6. Die psychologischen Voraussetzungen des mechanistischen
Denkens.
Betrachtet man jene in der gesamten Biologie nachweisbare
Hinwendung zu einer organischen Auffassung der Lebensvor¬
gänge in größerem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, so
zeigt sich, daß die Lehren von Schwann und Schleiden,
von Virchow, Verworn nsw. ungefähr in die Periode des
wissenschaftlichen Materialismus fallen, und daß die entgegen¬
gesetzten Anschauungen nicht nur in zeitlicher Nähe, sondern
oft auch in einer gewissen inneren Verwandtschaft mit der
Reaktion gegen die materialistische Geistesströmung überhaupt
entstanden. Von jeher hat auf die grundsätzliche Fragestellung
und Methodik der Biologie der Typus der Weltanschauung
(Dilthey) der Forscher oft unbewußt entscheidenden Einfluß
ausgeübt. Hier soll versucht werden, der Psychologie eines
Gmnddogmas der modernen Biologie nachzugehen, dessen Ge¬
burt mit der quantiflzierenden Naturbetrachtung überhaupt zu¬
sammenfällt. Es gilt als unbedingtes Ideal, auch alles biologi¬
sche Geschehen als Resultante streng mathematischer Gesetzlich¬
keiten nach dem großen Vorbild der Physik und Chemie dar-
314
Armin Mttller,
zustellen; und die ganze Fülle bisher quantitativ nicht redu¬
zierbarer Qualitäten gilt nur als Ausdruck des unvollkommenen
Standes der Forschung. Ihr Werk fände seine Krönung in der
Aufstellung der Laplaceschen Weltformel. Das Vorhandensein
objektiver^Qualitäten, »Formenc, »Ganzheiten«, »Sinneinheiten«,
die auf ihre Komponenten nicht zurückführbare neue Merkmde
besitzen, wird nicht anerkannt. In besonders schroffer Form
hat in jüngster Zeit der Pathologe Kicker*) diese extrem¬
mechanistische Auffassung vertreten. Auch er bekämpft die
Zellularpathologie, aber nicht im Sinne Huecks oder
Marchands, der gegenüber der zellnlarpathologischen Auf¬
fassung »an der Einheitlichkeit des Organismus, also auch an
dem einheitlichen Leben desselben festhält« Kicker hält
den Begriff des Lebens für naturwissenschaftlich unbrauchbar.
Er gebraucht daher Leben nur im Laiensinne als Gegensatz zu
Tod. Da nun die Zellulartheorie in der Tätigkeit ein Charakte¬
ristikum des Lebens erblickt, von aktivem oder passivem Ver¬
halten spricht, sieht K. in Virchows Lehre einen ausge¬
sprochenen Anthropomorphismus mit einem »starken, philosophi¬
schen, metaphysischen Element«. K. nennt die Virchowsche
Zelle, das angebliche Individuum, einen Homunculns. Er verwirft
jede immanente Teleologie, die die ZeUe als ein nach Zwecken
handelndes Individuum auffaßt. Die Aufgabe der Naturwissen¬
schaft ist die rein kausale Verknüpfung der Beobachtung, sie
ist »von der philosophischen, wertenden Behandlung der physio-
und pathologischen Vorgänge als einem Teil der Naturphilo¬
sophie (ich nenne ihn Biologie)« streng zu trennen. — Eine
lebensfremdere, jede lebendige Form und Gestaltung zerstörende,
sogen. Objektivität ist nicht denkbar. Hier gilt jede Individu¬
alität wissenschaftlich als nicht existent. Selbst der Begriff
des Teilkörpersystems Zelle als Zentrum einer lebendigen Tätig¬
keit wird als unwissenschaftlich »mythologisch, anthropomor-
phistisch« verworfen; er hat nur Geltung als Hilfsbegriff, der
im letzten Sinne gegenstandslos ist und nur der Leistung des
Denkens und seiner zusammenfassenden Tätigkeit sinnlicher
Elementarerkenntnisse verdankt wird. Es ist im Grunde der
Streit des Nominalismus in modernem Gewände. — Goethe
sagt: »Der Hauptbegriff, welcher, wie mich dünkt, bei jeder
Betrachtung eines lebendigen Wesens zum Grunde liegen muß,
1) »Grundlinien einer Logik der Physiologie als reiner Naturwissen¬
schaft« 1912. Ferner Virchows Arch. Bd. 237.
2) Virchow Arch. Bd. 237.
Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 315
von dem man nicht abweichen darf, ist, daß nichts Mechanisches,
gleichsam yon außen gebauet und hervorgebracht werde, ob*
gleich Teile nach außen zu wirken und von außen Bestimmung
annehmen.« Er bekämpft mit Entschiedenheit eine Lehre, die
>dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in
der Natur erscheint, zur materiellen schweren zwar bewegten,
aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur verwandelt, und
dadurch recht viel gewonnen zu haben glaubt«. Der psycho¬
logischen Motivation, die zu dieser eigentümlichen, >das Leben
des Lebens« (Nietzsche) zerstörenden Auffassung geführt hat,
ist besonders Dilthey in seiner genial sich einfühlenden, ver¬
stehenden Art nachgegangen. Ich folge hier in der Hauptsache
der Darstellung Max Sch eie rs*). Wie oben schon angedeutet,
hatte Dilthey — und nach ihm sein Schüler Spranger —
die Grenzen einer »naturwissenschaftlichen Psychologie« fest¬
gelegt und statt ihrer als Grundlage der Geisteswissenschaften
eine verstehende, den Motivationszusammenhängen und Erlebnis¬
einheiten folgende Psychologie gefordert. Daß jene mecha¬
nistische Auffassung des seelischen Geschehens nur eine Teil¬
ansicht des mechanischen Weltbildes überhaupt darstellt, das
seit der Renaissance für die verschiedensten Eulturzusammen-
hänge maßgebend wurde, sucht Dilthey nachzuweisen. Einer
Psychologie, die nach bloßen »Assoziationsgesetzen« ohne die
zentrale Bindekraft des »Ich« den Wiederaufbau der in ein
»Bündel« von Vorstellungen und Trieben zerpflückten Seele
versuchte, entsprach die mechanistische Naturansicht der Orga¬
nismen. »An Stelle der ,Formen‘ — eine Idee, der die scho¬
lastische Weltauffassung auch die Seele (forma corporeitatis)
und die geseUschaftUche Wirklichkeit (in der organischen
ständischen Staatsanffassung) unterordnete — traten gesetzliche
Beziehungen zwischen möglichst qualitätslos gedachten pnnktu-
ellen Realitäten (Atomen, Empflndungen), während aller Anschein
von Formeinheit in der Natur, auch der Formeinheit des ,Organis-
mns* als ein Werk, eine Leistung des Denkens angesehen
wurde, welches die sinnlichen Bestände kraft seiner Tätigkeit
zu Einheiten zusammenfaßt (Nominalismus der Begriffe). Also
wich ,Vemunft‘, ,FormS ja ,lebendige Einheit' zunächst aus
dem All der Natur« (Scheler*). Inwieweit auch die »Ver¬
tragsidee« vom Staate sowie die liberalistischen Lehren der
1) »Abhandlangen and Aofs&tze« Bd. ü: »Versache einer Philosophie
des Lebens«.
2) L c. S. 190.
316
Armin Müller,
klassischen Nationalökonomie yom freien Spiel der Kräfte und
der gottgewollten natürlichen Harmonie der Interessen ohne
regulierende Eingriffe übergeordneter Mächte strukturpsycho-
logisch zu jenem Weltbild gehören, kann hier nicht weiter ver¬
folgt werden. Schon Dilthey hatte den psychologischen Zu¬
sammenhang dieser mechanischen Ansicht von der Natur der
Organismen wie besonders des seelischen Geschehens und dem
ungeheuren Betätigungsdrange des modernen Menschen, der sein
Weltbild so formt, daß ihm »die möglichen Angriffspunkte zu
Bearbeitung und Umformung des Seins« gegeben werden, er¬
kannt. Für die Seele sucht er in möglichster Objektivierung
»ein solches Bild zu gewinnen, das diese Seele durch die Mittel
der Disziplin, der Erziehung, der staatlichen Tätigkeit und der
Politik in analoger Weise beherrschbar mache, wie die
mechanische Naturansicht die Natur«. Wird diese zunächst nur
methodische Auffassung dogmatisiert, so entsteht jenes rein
mechanische Weltbild, von dem Goethe sagte^): »Es kam
uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe
hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor
einem Gespenste schauderten«. Es ist diametral entgegengesetzt
der Anschauung eines kontemplativeren, vielleicht weniger aktiven
Menschentypus, der sich dem Sinngehalt des Gegebenen, der
Formenwelt der Dinge anschauend, verstehend, hinzugeben ver¬
mag. — Für die Biologie ergibt sich hieraus zunächst die Ein¬
sicht, daß bei der denkenden Bearbeitung des empirisch Er¬
mittelten und bei der mechanischen oder organischen Konzeption
des lebendigen Geschehens von vornherein eine gewisse »per¬
sönliche Gleichung« mit im Spiele ist, die nicht nur der Erlebnis¬
struktur des Forschers, sondern auch ganzer Kulturperioden
ihren Ursprung verdanken kann. Über den Erkenntniswert
einer mechanischen oder organischen Naturbetrachtung ist damit
noch gar nichts ausgemacht Wird aber von vornherein der
mechanische Standpunkt über seine methodische Bedeutung hin¬
aus als der wissenschaftlich letzthin entscheidende zum Dogma
erhoben, dann läuft die Forschung Gefahr, sich a priori evtl,
weiter Erkenntnismöglichkeiten zu verschließen, die »Qualitäten«
betreffen könnten, die einer ganz anderen Seins- oder Ge¬
schehenssphäre angehören als die Prozesse des Weltbilds der
Physik und Chemie. — Eucken*) sagt hierzu: »Am Mechanismus
1) Dichtung und Wahrheit Buch XI.
2) »Geistige Störungen der Gegenwart«, 1913, 8. 147.
Das Individaalitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 317
scheint verfehlt, daß er die Welt wie ein gegebenes und ge¬
schlossenes System behandelt, nicht als etwas in Fluß Befind¬
liches, daß er daher alle Bewegung yon innen her, sowie alle
Möglichkeit eines wesentlichen Fortschritts leugnet, daß er den
Verbindungen der Elemente nichts anderes zuschreiben will, als
was jedem einzelnen zukommt, daß seine Erklärungen den Ele¬
menten beizulegen pfiegen, was ihr Zusammensein aufweist, daß
er nicht genügend beachtet, wie die genauere Erkenntnis des
Lebensprozesses immer mehr die vermeintliche Isolierung der
Elemente anfhebt.« — Goethe^) sagt einmal: >Was ist auch
im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analy¬
tischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu
schaffen machen nnd wir nicht das Atmen des Geistes empfinden,
der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Aus¬
schweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktio¬
niert« In der »Bildung und Umbildung organischer Naturen«
heißt es: »Diese trennenden Bemühungen, immer und immer
fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige
ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesem
nicht wieder znsammenstellen und beleben. Dieses gilt schon
von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern.
Es hat sich daher auch in den wissenschaftlichen Menschen zu
allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen
als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen
Teile im Zusammenhänge zu erfassen, sie als Andeutungen des
Innern anfznnehmen nnd so das Ganze in der Anschauung ge¬
wissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche
Verlangen mit dem Kunst- nnd Nachahmungstriebe Zusammen¬
hänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden.«
7. Der Begriff der Ganzheit nnd die Snbordination
der Organe.
Die hier zitierten Anschauungen Goethes deckten sich weit¬
gehend mit den Grundüberzeugungen der deutschen Naturphil¬
sophie. Die Idee vom organischen Funktionszusammenhang fand
in der deutschen wie auch französischen idealistischen Morpho¬
logie ihren Ausdruck in der Lehre vom »einheitlichen Bauplan«, der
jedem Lebewesen zugrunde liegt. Zu diesem Gedanken der Ganz¬
heit gesellte sich als weiteres sehr wesentliches Moment die Vor-
1) Qespr&che mit Eckermann, Insel-Ausgabe, S. 691.
318
Amin Hüller,
Stellung von der Snbordination der Teile. Der Ordnnngsbegriff
im Fnnktionsznsammenhang der Teile des Zentralnervensystems
ist hente Gemeingnt. Der Begriff eines über- nnd nntergeordneten
Zentmms, eines obersten Kegnlationszentmms ist allgemein
länfig. Inwiefern dieser Snbordinationsbegriff anßerhalb der
nervösen Fnnktionen anch anf das Verhältnis der allgemeinen
Gmndfnnktionen des Körpers znr Zeit der Natnrphilosophie an¬
gewandt wnrde, soll nnnmehr dargelegt werden.
In erster Linie sei Kielmeyer genannt, der »tiefsinnige
nnd geniale Physiologe« wie ihn A. von Hnmboldt nannte.
In seiner Bede »Über die Verhältnisse der organischen Kräfte
nntereinander in der Beihe der verschiedenen Organisationen«
(1793), die bei ihrem Erscheinen ein großes Anf sehen in der
wissenschaftlichen Welt erregte, hat er in programmatischer
Weise seine Gmndanschannngen entwickelt Die drei Hanpt-
fnnktionen des Lebensprozesses sind Empfindnng, Bewegnng so¬
wie Selbst- nnd Arterhaltnng; nnter letzteren beiden wird Er¬
nährung, Wachstum und Fortpflanzung verstanden. Ihnen ent¬
sprechen die Grnndkräfte der »Sensibilität«, das Vorstellungs¬
vermögen, ferner die »Irritabilität«, das Vermögen, anf Beize mit
Muskelkontraktionen zu reagieren, schließlich die »Beprodnktions-
kraft«, die Fähigkeit, »sich selbst ähnliche Wesen teilweise oder
im ganzen nach- nnd auszubilden«. Letztere ist die allen Lebe¬
wesen gemeinsame Grundkraft, ans der alles Leben überhaupt
ersteht, und die selbst aus der anorganischen Natur hervorgeht
»Sekretions-« und »Propulsionskraft« können hier als unwesentlich
übergangen werden. Ganz im Geiste der damaligen Naturphilo¬
sophie ist Kielmeyer von der Idee der Einheit des Organismus
durchdrungen. Er glaubt daher, daß »auf eine gemeinschaftliche
Ursache dieser Kräfte gefolgert werden kann«, daß ihnen »eine
einige Kraft« zugrunde liegt, »die hier wie das Licht in ver¬
schiedene Strahlen gespalten erscheint nnd deren Strahlen dort
in unendlich verschiedene Verhältnisse gemischt werden«. Die
Kräfte müssen aber noch getrennt behandelt werden, »solange
die Unterscheidung der Klassen durch einen höheren Wiz nicht
aufgehoben und in Ähnlichkeiten verkehrt sind«. Als Maßstab,
nach dem das Verhältnis der Kräfte in den einzelnen Organismen
gemessen wird, gelten überwiegend quantitative Eigenschaften:
»Zahl- und Häufigkeit der Wirkungen, . . . Mannigfaltigkeit
derselben ... Permanenz der Wirkungen«. Die Kräfte sind nun
im Organismenreich in durchaus ungleichem Maße verteilt, so
daß der Zunahme auf der einen eine Abnahme anf der anderen
Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 319
Seite entspricht. Die Verschiedenheit der Kräfteverteilung be¬
dingt die Verschiedenheit der Organisation. Die stufenweise Zu¬
oder Abnahme der Kräfte macht die Mannigfaltigkeit der Orga¬
nismen aus. Die Kräfte selbst verhalten sich zueinander wie
entgegengesetzte Größen. Es ergibt sich folgender Plan
der Natur für die Abänderungen der Verhältnisse dieser Kräfte:
>Die Empfindungstätigkeit (Sensibilität) nimmt vom Menschen
abwärts immer mehr ab und wird in der Reihe der Organisationen
allmählich durch Reizbarkeit (Irritabilität) und Reproduktionskraft
verdrängt, und endlich weicht auch Irritabilität der letzteren;
je mehr die eine erhöht ist, desto weniger ist es die andere, und am
wenigsten vertragen sich Sensibilität und Reproduktions¬
kraft zusammen.« Die Verteilung in der anfsteigenden Orga¬
nismenreihe wiederholt sich auch in der Ontogenese des Indi¬
viduums : Anfangs regt sich nur die Reproduktionskraft (im Sinne
des Wachstums), dann hebt sich auch die Irritabilität, »erst
späterhin schließt sich ein Sinn nach dem anderen ... auf«.
Zusammenfassend sagt Kuno Fischer^): »Der Grundgedanke
Kielmeyers, der in die Naturphilosophie eingeht und in deren
Anlage die vollste Empfänglichkeit finden mußte, ist die Idee
der Entwicklung, die aus der anorganischen Natur sich zur
organischen erhebt und durch das Reich der Organisationen
stufenmäßig und stetig fortschreitet zur Erzeugung des Geistes.
Er konstruiert den organischen Entwicklungsgang aus dem Be¬
griff der organischen Kräfte, aus dem Gesetz der Verteilung, ans
der Natur ihres Gegensatzes, wonach die Kraft in der einen
Erscheinungsform in demselben Maße verschwindet, als sie in
der anderen hervortritt und sich ausbreitet. Die Art seiner
Konstruktion ist bedingt durch die dynamische Vorstellungs¬
weise. Weiter heißt es: »Diese von der Idee der Entwicklung
im großen, von der Vorstellung der Natur als der Entwick¬
lungsgeschichte des Geistes ganz erfüllte Weltanschauung
war die Naturphilosophie.«
Diese Grundgedanken Kielmeyers sind von Schelling
in sein eigenes System ziemlich unverändert übernommen worden,
imd den die organische Natur betreffenden Teil desselben hat
er in enger Anlehnung an Kielmeyer ansgestaltet. Windel-
band*) gibt hiervon folgende Darstellung: »Bei den niederen
Organismen überwiegt die Reproduktion nicht nur in der un-
1) Bd. Schelling S. 846.
2) >Ge8chichte der neueren Philosophie« 1911 Bd. II S. 256.
320
Armin Hüller,
geheuren Masse der Vermelirang, sondern anch darin, daß das
einzelne Individuum fast nichts anderes als ein Dnrchg^angs-
punkt in der Kontinuität der Gattung ist, und daß seine selb*
ständige Funktion und noch mehr seine Empfindungsfähigkeit
von der allergeringsten Ausdehnung ist. In dem Stufenreich
der Organisation kehrt sich dies Verhältnis allmählich um; die
Keproduktion nimmt immer mehr ab, sowohl hinsichtlich ihrer
Masse, als auch hinsichtlich ihrer Bedeutung, welche sie im
Leben des Individuum einnimmt, dagegen wächst um so mehr die
Verschiedenheit in der Beaktion auf äußere Einflüsse, und die
Fähigkeit der spezifischen Reaktion auf spezifische Beize gipfelt
endlich in der bewußten Empfindung. In den höchsten Organis¬
men überwiegt deren Sensibilität derartig, daß die beiden anderen
Funktionen untergeordneterscheinen.« — >Es ist eine Organi¬
sation, die durch alle diese Stufen herab allmählich bis in die
Pflanze sich verliert, und eine ununterbrochen wirkende Ur¬
sache, die von der Sensibilität des ersten Tieres an bis in die
Beproduktionskraft der letzten Pflanze sich verliert.< ...
>Verfolgen wir diese Stufenreihe aufwärts, so steigt die Sensi¬
bilität, bis sie ihr Maximum erreicht, und nur auf dem Gipfel
aller Organisation tritt sie in absoluter Unabhängigkeit von den
untergeordneten Kräften als Beherrscherin des ganzen Organis¬
mus hervor^).« — Während bei Kielmeyer das Kräftever¬
hältnis vorwiegend quantitativ bestimmt wird, tritt bei Schelling
ein prinzipiell neues Moment hinzu: es wird die »Bedeutung«
der jeweiligen Kräfte für das ganze Individuum bestinunt und
hieraus ein Subordinationsverhältnis, eine »Gradation« der Kräfte
konstruiert.
Der Gedanke der Subordination, der n. a. durch Leibniz’
Lehre von der Zentralmonade und passiveren niederen Monaden
bereits der Aufklärung geläufig war, ist auch in Goethes
»Bildung und Umbildung organischer Naturen« ausgesprochen:
»Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese
Teile einander gleich oder ähnlich und desto mehr gleichen sie
dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto un¬
ähnlicher werden die Teile einander ... Je ähnlicher die Teile
einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert Die
Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.«
Dieser Gedanke der Subordination, der die deutsche Natur¬
philosophie ganz besonders erfüllte, wurde von G. Cuvier zu
1) zit. n. K. Fischer, Schelling: S. 420.
Du Individaftlitfttsproblem and die Sobordination der Organe. 321
frachtbarer Anwendung gebracht. Cuyier hatte mit Eiei-
meyer als dessen Schüler in Stuttgart vor seiner Übersiedlung
nach Paris längere Zeit in enger Verbindung gestanden. Un¬
verkennbar besteht eine innere Verwandtschaft zwischen Kiel-
meyers Lehre von dem wechselseitigen Verhältnis der Gmnd-
kräfte und Cuviers Lehre der Korrelation der Formen, nach
der jeder Teil des Körpers nach gesetzmäßigem Verhältnis zur
Gesamtleistung des Körpers beiträgt, derart, daß kein Teil sich
verändern kann, ohne daß andere auch mit verändert würden *).
Das gleiche gilt für Geoffroy de St. Hilaires Gesetz des
Gleichgewichts der Orgene (»balancement des organes<). Doch
insofern geht Cu vier über die Kiel meyer sehen Gedanken
hinaus, als bei ihm, wie bei Schelling, die Funktionen je
nach dem Grade von Einfluß, den sie auf den Gesamtorganismus
ausüben, in eine besondere Ordnungsbeziehnng treten. Flon-
rens (Analyse raisonn^e des traveaux de G. Cu vier*) sagt
bei der Darstellung von Cuviers rationeller Methode für eine
Gmndeinteilung der Tiere: »Un etre organisö est un tout: ses
differentes parties ont donc entre eiles des rapports nöcessaires.
Or, plus une partie est importante, c’est-ä-dire essentielle, par
l’ordre de ses fonctions, plus ses modifleations en entrainent de
correspondantes dans toutes les autres. Tout consiste donc ä
connaitre l’importance relative des parties, et ä les snb-
ordonner les unes aux autres dans la möthode comme elles
le sont dans l’organisation elle-meme. C’est lä le principe
rationnel de la möthode.« Besonders bemerkenswert ist,
daß diese Subordination als ein konstitutives Moment in dem
Organismus selbst gesucht wird, und nicht bloß als eine sub¬
jektive Zutat logischer Reflexion aufgefaßt wird. »Es kommt
jetzt darauf an«, sagt Cuvier im R6gne animal,*) »zu wissen,
welches bei den Tieren die Charaktere vom größten Gewicht
sind, um daraus die Basis ihrer Grundeinteilung zu bilden. Es
ist klar, daß es die sein müssen, welche man von den tierischen
Funktionen, nämlich denen der Bewegung und der Empflndnng,
entlehnt, denn nicht nur machen diese das Wesen eines Tieres
ans, sondern sie bestimmen gewissermaßen auch den Grad der
Animalität.« So wurde die Form des Nervensystems, als »Mittel¬
punkt der animalischen Funktionen«, als »caract^re dominateur«
1) 8 . hierzu Rh dl 1. e. I S. 312.
2) 1841, S. 124.
8) Bd. I S. 29 (Deutsche Übers. 1831).
ArobiT tOr Psychologie. XLViU.
21
322
Amin Müller,
in erster Linie entscheidend für die Abgrenzung der großen
Hanptpmppen des Tierreichs. Vom Nervensystem heißt es,—soweit
es überhaupt in deutlicher Ausprägung vorhanden ist^): >Le
Systeme nerveux est le m^me dans chaque forme; or, le Systeme
nerveux est au fond tout ranimal; les autres syst^mes ne sont
lä que pour le servir ou pour l’entretenir; il n’est donc pas
6tonnant que se soit d’apr^s lui qu’ils se r^glent.« An zweiter
Stelle in der Bangordnung der Organe steht »das Herz und die
Organe der Zirkulation, eine Art von Mittelpunkt für die
vegetativen Organe, wie das Gehirn und der Stamm des Nerven*
Systems für die animalischen’)«. Erst an dritter Stelle stehen
die Verdaunngsorgane, die der Erhaltung des Lebens dienen,
während die Generatiousorgane überhaupt keine Erwähnung
finden. »Diese Beziehung der allgemeinen Formen, welche aus
der Anordnung der Bewegungsorgane, der Verteilung der Nerven-
massen und der Energie des Zirknlationssystems hervoi^eht,
muß daher den Hauptabschnitten, die man im Tierreich zu machen
hat, zur Basis dienen.« Wie im einzelnen die Anwendung dieses Prin*
zips der Subordination der Charaktere auf die Systematik erfolgt,
kann hier nicht weiter erwähnt werden. Rädl*) sagt von Cuviers
Lehre: >Vom Begriffe der Einheit des Bauplanes ging Cu vier
logisch ganz folgerichtig zu dem der Subordination der Charaktere
über, den er (dem Beispiel des jüngeren Jussieu folgend, der
diesen Begriff in die botanische Morphologie vor Cu vier ein*
führte) zur Grundlage der Systematik machte. Die Bedeutung
der vei-schiedenen Teile eines Organismus ist nach diesem Prinzip
von ungleichem Werte, d. h. der eine Teil ist für die Ein¬
heit der Form und Funktion wesentlicher als ein
anderer. Nach ihrer morphologischen und funktionellen Be¬
deutung zusammengestellt, würden die Teile des Oi^anismns eine
Hierarchie bilden, welche sich für klassifikatorische Zwecke am
besten verwerten läßt. Als weniger bedeutend sind diejenigen
Merkmale der Tiere aufzufassen, die nur engeren Kreisen der
Tierformen angehören; je allgemeiner ein Merkmal in der Tier¬
reihe vorkommt, desto höher steht es in der Hierarchie der
Teile.« Es ist bemerkenswert, daß die Konzeption dieser höchst¬
aristokratischen Verfassung des tierischen Organismus in Frank-
1) »Snr im nonvean rapprochement« etc., Annal. da Mas4am d’histoire
naturelle 1812 T. 19.
2) B^gne animal T. I S. 29.
8) 1. c. I S. 816.
Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 323
reich etwa zn der Zeit erfolgte, als eben die Lehre von der 6galit4
ihre stärksten revolutionären Answirknngen gezeitigt hatte. Ans
den Worten »le Systeme nerveui est au fond tont ranimal«
glaubt man deutlich den Geist des >retat c’est moic herausznhören.
Die gleiche absolutistische Auffassung vom tierischen Körper
wie bei Cuvier kommt auch in folgenden Worten Bergsons^)
zum Ausdruck: Man könne der Kürze halber behaupten, >da6
der höhere Organismus im wesentlichen aus einem auf Ver<
daunngs-, Atmnngs-, Zirkulations-, Sekretions-Apparaten nsw.
aufgesetzten sensorisch-motorischen System besteht, das nach-
zubessem, zn reinigen und zu schützen, dem konstante Lebens-
beding^gen zn schaffen, und dem endlich und vor allem poten¬
tielle, in Ortsbewegnngen umsetzbare Energie zuzuführen, die
Rolle aU jener Apparate ist«.
Auch bei Driesch findet sich der Gedanke einer Rang¬
ordnung, ohne indes eine systematische Durchführung zn er¬
fahren. Am Organismus spielen verschiedene Arten von Ente-
lechie ihre Rolle. Neben die Entelechia morphogenetica tritt
später die Entelechia psychoidea, die sich je nach der Lenkung
von Instinkten oder Handlungen trennen läßt. Von den motorisch¬
nervösen Funktionen heißt es, daß »gleichsam mehrere Bewegnngs-
entelechien, einander übergeordnet, existieren«*). »Auch während
der Formbildung und bei Restitutionen hat offenbar jedes einzelne
in Frage kommende harmonisch-äquipotentielle System seine
eigene Unterentelechie.«... >So können wir denn in der Tat von
einer Ordnung der Entelechien nach Rang oder Wert
sprechen, einer Ordnung, die vergleichbar ist der Rang- oder
Wertordnung in einem Heere oder einer Verwaltung. Alle
Entelechien leiten aber ihren Ursprung von der einen anfäng¬
lichen her und können in dieser Beziehung doch wieder alle
zusammen eine heißen®).< An anderer Stelle taucht der Ge¬
danke, die Rangordnung auch auf die anderen großen Organ¬
systeme zn übertragen, fiüchtig auf, wird aber nicht weiter
verfolgt. In einer Anmerkung der Abhandlung »Der Begriff
der organischen Form«*) heißt es von der Entelechie als der
Leiterin bei der Handlung und der Formbildung: »Sie ist ja
allein die Leiterin, alle Organe dienen der Ausführung. Man
könnte versucht sein, das Nervensystem als Leitungs-, die
1) »Schöpferische Entwicklong«, S. 180.
»Der Vitalisinas als Geschichte und als Lehre«, 1905, S. 226.
8) »PhUos. d. Organ.«, 1921, S. 410. 4) S. 60.
21*
324
Armin Müller,
Muskel- und Drfisensysteme als Aasführungsorgane zu bezeichnen;
aber im tiefsten Sinne dienen alle Organe bloßer Ausführung.«
Der Subordinationsgedanke spielt auch bei Sapper^) eine
erhebliche Bolle. Auf der Zentralentelechie, der Trägerin
der Bewußtseinsinhalte, beruht die morphologische und die funk¬
tionelle Einheit der Organismen \ Ihr untergeordnet sind
in den verschiedensten Graden und Stufen die die Organ¬
systeme und Organe bildenden Entelechien, die in ihrer
Gesamtheit ein unermeßlich kompliziertes System von Ente-
lechiengmppen darstellen. Als zentralste Entelechiengmppe
fungiert diejenige, die durch bestimmte Partieen des Zentral¬
nervensystem, »vermutlich die Großhirnhemisphären oder be¬
stimmte Teile derselben« repräsentiert wird*).
Die Rangordnung oder Hierarchie, von der hier die Bede
ist, unterscheidet sich wesentlich von dem, was Heidenhain
mit demselben Worte belegt. H. spricht von einer entwicklnngs-
physiologischen Gesamtverfassung auf Grund des stufenweisen
Zusammenschlusses der Zellen zu Verbänden oberer Ordnung
entsprechend den »übereinandergestellten Dienstkreisen«*) eines
Heeresverbandes (Gruppen, Züge, Kompagnien, Bataillone usw.).
Hier handelt es sich nicht um eine Zusammenfassung gleich¬
artiger Elemente in immer allgemeineren, umfassenderen Ver¬
bänden, sondern um eine Abstufung zwischen ungleichartigen
Elementen innerhalb eines Teilköi*persystems oder des Gesamt¬
systems der tierischen Person. In dem Bilde H.s gesprochen,
handelt es sich also nicht um übereinandergestellte Dienstkreise,
sondern um das Verhältnis des im Bange Höherstehenden gegen¬
über dem Untergebenen. Im weiteren Sinne handelt es sich um
das Verhältnis der Subordination oder jeweiligen Ganzheitsbe-
zogenheit, das ein notwendiges Attribut der logischen Kategorie
der Ganzheit oder des Ganzen und der Teile darstellt. Die Kate¬
gorie und mithin das Subordinationsverhältnis offenbart sich an
den Bildungen der organischen Natur um so reiner, je höher die
Individualität entwickelt ist. Die Subordination der Teile ent¬
spricht dem Grade der Vollkommenheit eines Geschöpfes (Goethe).
Soweit die bisherigen Untersuchungen einen Schluß zulassen, darf
1) »Das Element der Wirklichkeit und die Welt der Erfahrung«
München 1924. 2) 1. c. S. 183. ’
3) Vergl. hierzu die »Stnfenordnung der seeliachen Faktoren und ihrer
Führerfunktionen« bei E. Becher, »Die Führerrolle des Seelischen im
Orofihim«, Ann. d. Philos. 1922.
4) D. med. Woch. 1922 Nr. 37.
Da8 IndiTidnalit&tsproblem and die Snbordination der Organe. 325
waJirschemlich bereits dem Zellkern gegenüber demProtoplasma ein
regulierender ganzmachender Einflnü zngeschrieben werden. Znm
mindesten im logischen Sinne besteht dieses Snbordinationsver*
hältnis überall dort, wo von Hanpt- und Nebenfonktionen ge¬
sprochen wird. Beide sind gleich notwendig für das Ganze, keine
ist irgendwie entbehrlich; aber nur der Hanptfnnktion kommt
eine zentrale und unmittelbare Bedeutung für das Ganze zu.
Die Histologie unterscheidet zwischen spezifischen oder parenchy¬
matösen Bestandteilen im Gegensatz zu dem nicht-spezifischen
oder interstitiellen Stroma. Jene sind hauptsächlich bestimmend
für den Charakter sowie die Ganzheitsbezogenheit des Organs,
dieses hingegen hat nur eine indirekte, mittelbare Bedeutung für
das Ganze. Während sich die Bedeutung der Glia auf die Stütz¬
funktion beschränkt, zu der vielleicht noch eine gewisse Er-
nähmngsfunktion kommt, ist an die Funktion des Nervenparenchyms
alles das geknüpft, was das Wesentliche am CNS ausmacht. An
einer Blüte erfüllen Deck- und Hüllblätter, Kelch, Krone, Nektarien,
untergeordnete, dienende Funktionen gegenüber den Sexnalorganen,
die in erster Linie Träger der Wesenseigentümlichkeit der Blüte
sind. Sie wirken nicht nur im räumlichen, sondern auch im
physiologischen Sinne zentrierend auf die Funktionen der Hilfs¬
organe. Am Auge nehmen die lichtperzipierenden Elemente eine
>zentrale< Stellung ein, der sich die übrigen Teile unterordnen;
teils sind sie als Hilfsapparate am Sehakt mit unmittelbar be¬
teiligt, teils kommt ihnen nur eine Stütz- und Emährungs- oder
auch Schutzfunktion zu. Ihre reinste Ausprägung findet die
Subordinationsbeziehung dort, wo es zur höchsten Ausbildung der
Individualität und zur Bildung eigentlicher Zentralorgane, eines
CNS, eines Herzens, kommt. Der sprachbildende Genius hat in
tiefer Erkenntnis seine Wortsymbole besonders markanten Trägem
solcher Snbordinationsbeziehungen in der organischen Natur ent¬
lehnt: man dringt zum »Kern« einer Sache vor und hebt das
Wesentliche als >Haupt<-Sache hervor.
8. Die Stellung der Eeimdrflsen in der Rangordnung der
Organe.
Eis war oben bemerkt worden, daß in der Rangordnung
Cuviersdie Generationsorgane überhaupt nicht erwähnt werden.
Kielmeyer hatte gesagt: »Am wenigsten vertragen sich Sen¬
sibilität und Reprodnktionskraft zusammen.« Entscheidend für
die Beurteilung des Verhältnisses der nervösen und der Fort-
pflanzungsfnnktionen und damit der Ordnnngsbeziehnng der Keim-
326
Armin Müller,
drüsen im Fanktionszosammenhang des ganzen Organismus sind
die Gedanken Bergsons: ein jeder Organismus ist ein aus
heterogenen, sich gegenseitig ergänzenden Teilen zusammen¬
gesetztes Individuum, dessen verschiedengeartete Funktionen sich
gegenseitig voranssetzen. Diese Individualität läßt eine Unendlich¬
keit von Graden zu, und es zeigt sich, daß sie nirgends, auch
beim Menschen nicht, vollkommen realisiert ist. Es handelt sich
um einen Wesenszug des Lebens, der immer nur auf dem Wege
der Verwirklichung angetroffen wird, nicht um einen Zustand,
vielmehr um eiue Tendenz. Diese Tendenz zur Individuation,
die überall in der organischen Welt gegenwärtig ist, wird ebenso
überall von der Tendenz zur Fortpflanzung bekämpft »Wäre
die Individualität vollkommen, kein vom Organismus abgetrennter
Teil dürfte gesondert zu leben vermögen. Doch würde damit die
Fortpflanzung unmöglich. Denn was in der Tat ist diese, wenn
nicht Aufbau eines neuen Organismus aus einem abgetrennten
Bruchstück des früheren? Im eigenen Hanse also herbei^ die
Individualität ihren Feind. Eben das empfundene Bedürfnis
nach Fortpflanzung in der Zeit verurteilt sie dazu, im Baume
niemals vollständig zu sein. Aufgabe des Biologen ist es, in
jedem gegebenen Fall beiden Tendenzen genug zu tnn').<
Cu vier hatte demjenigen Organsystem den caractöre domi>
nateur beigelegt, das für die Einheit der Form und Funktion
des Organismus am wesentlichsten ist, das am vomehmlichsten
eine ganzmachende, zentralisierende, integrative Funktion ausübt.
Daß in dieser Hinsicht das CNS durch sein Verhältnis zum
Empflndungsmaterial der Sinnesorgane, zum gesamten motorischen
Apparat, zur Gesamtheit der vegetativen Funktionen den ersten
Bang in der Ordnung der Organsysteme beanspruchen dai% ist
ohne weiteres klar. Mit Becht stellt Cu vier das Zirkulations¬
system an zweite Stelle, das mehr im räumlichen Sinne das
Integrationsprinzip des Körpers repräsentiert. Die primitiven
Leitungsbahnen im Pflanzenkörper, bei dem der Flüssigkeits¬
transport noch in weitgehendster Abhängigkeit von den physi¬
kalischen Bedingungen der Außenwelt steht, gestatten nur ein
sehr verlangsamtes und unvollkommenes Einanderinbeziehnngtreten
der einzelnen Teile. Der tierische Kreislauf, der bei den höheren
Formen ein geschlossener ist, stellt mit seinem zentralen Motor
ein weit vollendeteres Kommunikationsmittel dar und ermöglicht
eine chemische Wechselwirkung der entferntesten Teile in kürzestmr
1) »SchSpferische Entwicklong«, S. 20.
Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Org^ane. 327
Zeit Es tritt daher in engste Beziehung zu dem nach dem CNS
zweitwichtigsten Prinzip der Koordination des tierischen Körpers,
der hormonalen Kegolation. Erst durch ein hochentwickeltes
Zirkulationssystem ist die prompte Funktion der aufs feinste
aufeinander abgestimmten endokrinen Apparate gewährleistet
Demgegenüber entbehrt die Pflanze überhaupt noch des einheit¬
lichen Mittelpunktes {jxeodiriq) für ihr Leben (Aristoteles),
sie ist in viel geringerem Grade >IndiYidualität<; sie verfüg^
nur über reinvegetative Organe, nicht aber über ausgeprägte
Zentralorgane.
Man hat oft darüber gestritten, was denn im Pflanzenreich
überhaupt als Individuum zu gelten habe. Einen Baum hat man
als einen Pflanzenstock, als einen Komplex von einzelnen Sprossen,
Einzelindividuen bezeichnet und ihn mit Recht mit einem Polypen¬
stock verglichen. Cuvier führt die vegetativen, mit dem Kraft-
nnd Stoffwechsel unmittelbar betrauten Organe als Energiespender
für den Lebensunterhalt erst nach den animalischen Organen
an dritter Stelle in der Rangordnung an.
Es ist klar, daß im allgemeinen mit steigender Organisations¬
höhe der Tiere die Keimdrüsen im Vergleich zu der immer
reicher werdenden Fülle der übrigen Organsysteme relativ immer
geringere Ansprüche an den Stoff- und Energiehaushalt des
Körpers zu stellen brauchen. Zugleich pflegt mit einer höheren
Organisationsstufe auch eine immer ökonomischere Verwendung
des Keimmaterials einherzugehen. Dadurch, daß der elterliche
Organismus als Ganzes sich immer intensiver im Dienste der
Fortpflanzung betätigen kann, daß das Sichflnden der Geschlechter
erleichtert wird, an Stelle der äußeren Befruchtung eine innere
tritt, und durch Ausbildung von allerlei Bmtorganen sowie
Entwicklung von Bmtpflegeinstinkten der Nachkommenschaft
immer weiterer Schutz zuteil wird, gelingt es, die Vemichtungs-
ziffer der Keime außerordentlich herabzndrücken. In diesem
Sinne darf von einem Bedentungswechsel der Keim¬
drüsen im quantitativen Sinne innerhalb der Kraft-
und Stoffwechselbilanz des Individuums gesprochen werden.
Aber auch im qualitativen Sinne findet eine Bedeutungs¬
verschiebung im Rahmen des Ganzen statt, insofern, als
mit steigender Entfaltung des Somas die polare
Spannung zwischen demPrinzip der Individuation
and Zentralisation, am stärksten verkörpert im
CNS, und der desintegrierenden Tätigkeit der
Keimdrüsen immer mehr wächst Bringt man die
328
Armin Mtlller,
Organsysteme nach Maßgabe ihrer ganzmachenden Bedentnng
in eine Eeihe, so ergibt sich mit steigender Organisationshöhe
ein gewissermaßen immer steileres Gefälle. Es w&chst das
Potential zwischen CNS und Keimdrüsen, deren Ganzheits-
hezogenheit negativ ist, zwischen »Sensibilität und Beproduktions-
kraft, die sich am wenigsten zusammen vertragen« (Eielmeyer).
Es wird das Gleichgewicht zwischen zentrifugalen und zentri*
petalen Kräften immer mehr zugunsten der letzteren ver¬
schoben. Die bindenden, gemeinschaftbildenden Kräfte gewinnen
immer mehr die Herrschaft gegenüber den Teilnngs- und Los-
lösnngstendenzen, die im primitiven Organismus überwiegen und
den Aufbau einer größeren Zellgemeinschaft verhindern. Nur
in dieser Abgabe keimfähigen Materials besteht die eigentliche
Leistung der Keimdrüsen. Das Fortpflanzungsgeschäft und Ge¬
schlechtsleben hingegen umfaßt eine immer reichere Fülle von
tierischen Handlungen, in denen sich die höheren Kräfte der
Individualität, besonders die seelischnervösen Funktionen, be¬
tätigen, evtl, bis zur Aufopferung der eigenen Individualität.
Es ist hier von stärkerer positiver oder negativer Ganzheits-
bezogenheit die Bede als Eigenschaften von Teilen, die inner¬
halb eines Ganzen in korrelativer Abhängigkeit voneinander
stehen. Eine gewisse Berührung mit Wundts Prinzip der
Besultanten oder schöpferischen Synthese liegt darin, daß auch
hier den Teilen Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie
niemals als solche besitzen, sondern die ihnen nur in der orga¬
nischen Verbundenheit mit anderen Teilkörpersystemen erwachsen.
9. Das Dogma von der Erhaltungstendenz.
Es wurde oben bei der Entwicklung des Begriffs einer ver¬
stehenden Biologie darauf hingewiesen, daß das biologische
Denken der Gegenwart bis in seine feinsten Verzweigungen
hinein von dem kaum je bezweifelten Dogma beherrscht wird,
alle Lebenserscheinungen, alle lebendige Formbildung müsse
unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und der £b*haltung
verstanden werden. Ganz besonders befestigt wurde diese
Grundüberzeugung durch die Selektionstheorie, die Lehre vom
Überleben des Passendsten. Nach der Lehre von der Allmacht
der Naturzüchtnng ist Selektionswert identisch mit Erhaltnngs-
oder Nutzwert für Individuum oder Art Darwin') kommt
zu dem Schlüsse, »daß der Bau jedes lebenden Gieschöpfes direkt
1) »Entatehnng der Arten«, Übers, t. S. Gams, 9. Anfl. S. 224.
Das Individoalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 329
oder indirekt seinem Besitzer entweder jetzt noch von Nutzen
ist, oder früher von Nutzen wart. Roux beschreibt die Grund¬
funktionen des Lebens mit Einschluß der Entwicklung und der
Selbstregulation im Hinblick auf die Herstellung und Steigerung
der »Dauerfähigkeit«. Auch Spencers Definition: »Leben ist
die fortwährende Anpassung innerer Relationen an äußere Rela¬
tionen« ist so zu verstehen, daß alle Entwicklungsvorgänge nur
als Reaktion auf Reize im Sinne steigender Erhaltungsfähigkeit zu
deuten sind. v. H a n s e m ann sagt: > Die Zweckmäßigkeit im Sinne
der Nützlichkeit oder des Wertes geht eben immer nur gerade so
weit, als zur Erhaltung der Art notwendig ist.« Und bei der
Diskussion über die Entzündung, sowie die Anpassungs- und
Regulationsfähigkeit der Organismen überhaupt, sagt Aschoff*):
»In dieser ,Selbstsichernng* ist auch für den Biologen aller
,Zweck*, d. h. Leistung, Aufgabe, Funktion des Lebens erfüllt.«
Bleuler*) schreibt in seinem Lehrbuch der Psychiatrie: »Dem
,Zweck‘ des psychischen Apparates gemäß, sich, resp. das Genus
zu behaupten, die Umgebung zu benutzen oder abzuwehren,
steckt in jedem Psychismns eine Tendenz zu reagieren, eine
Strebung.« Für die Auffassung der Lebenserscheinungen als
»statische« nur auf Erhaltung gerichtete Vorgänge spricht schon
das häufig gebrauchte Bild vom »vitalen Gleichgewicht«.
Scheler^) weist darauf hin, daß diese Auffassung des Lebens
im Anschluß an die Philosophie Descartes’ und seine mecha¬
nistische Lebenslehre dadurch entstand, daß »die Grundbegriffe
und Grundprinzipien der Mechanik und hier besonders die Er-
haltnngsprinzipienaufdie Lebenserscheinungen übertragen
wurden«. Die als ein Ableger der mechanistischen und utili¬
taristischen Philosophie seit Bacon in England herrschend
gewordene Auffassung des Lebens führt alle Entwicklungs-
nnd Wachstumserscheinungen auf Tendenzen der »Erhaltung«
zurück, sodaß diese zu Epiphänomenen von Erhaltungsprozessen
bezw. zu »Anpassungen an die Umgebung« werden*). Statt
dessen behauptet Scheler, daß »allem Leben selbst und un¬
abhängig von seiner besonderen, wechselnden Umwelt und deren
Reizen eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur
Entfaltung seiner Mannigfaltigkeitsarten (Organ, Funktion nsw.)
1) »Descendens and Pathologie« S. 228.
2) Berl. klin. Woch. 1917 S.61.
8) Lehrb. d. Psychiatr. 8. Aafl. S. 87.
4) »Der Formalismas in der Ethik nsw.« 8.286.
5) »Abhandlangen and Anfsitze« I, 8. 258.
330
Armin Hüller,
inne wohnt Gleichzeitig und durch die gleichen Agentien be¬
stimmt, betätigt sich diese Tendenz in Organbildung bezw. Organ-
differenzierung und in Erweiterung sowie Herausformung einer
der Artorganisation entsprechenden >Umwelt« ans dem Gesamt¬
dasein der toten Welt. Dieser Tendenz aber sind jene Momente,
die Darwin und Spencer zu den alleinigen Wesenszflgen des
Lebens machen, nämlich »Daseinserhaltung« und »Anpassung
innerer Beziehungen an äußere der Umwelt ganz untergeordnet^)«.
Im ähnlichen Sinne sagt Nietzsche*): »Die demokratische
Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will, dieser
Misarchismus (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache
zu gebrauchen) hat sich allmählich dermaßen ins Geistige,
Geistigste umgesetzt und verkleidet, daß er heute Schritt für
Schritt bereits in die strengsten anscheinend objektivsten
Wissenschaften eindringt, eindringen darf; ja er scheint mir
schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr
geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst ver¬
steht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen
Aktivität escamotiert hat. Man stellt dagegen unter dem Druck
jener Idiosynkrasie die Anpassung in den Vordergrund, d. h.
eine Aktivität zweiten Ranges, eine bloße Reaktivität, ja man
hat das Leben selbst als eine immer zweckmäßigere innere An¬
passung an äußere Umstände definiert (H. Spencer). Damit
ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht;
damit ist der principielle Vorrang übersehen, den die spontanen,
angreifenden, übergreifenden, neuauslegenden und gestaltenden
Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die Anpassung folgt;
damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der
höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille
aktiv und formgebend erscheint«. — Von anderen »Lebens¬
philosophen« sei nur noch Berg so n genannt. Schon die Aus¬
drücke, »Evolution cr6atrice«, schöpferische Entwicklung und
»61an vital« oder Lebensschwungkraft zeigen, wie weit er sich
von der Grundconception der traditionellen Biologie entfernt.
Er spricht ferner von einer in der organischen Welt überall
gegenwärtigen »Tendenz zur Individuation«. — Den Biologen
früherer Jahrhunderte bis einschließlich der Epoche der deut¬
schen Naturphilosophie war es selbstverständlich, in der Natur
nicht nur Erhaltungstendenzen, sondern in erster Linie den
1) »Der Genias des Krieges und der deutsche Krieg« S. 86.
2) »Genealogie der Moral.« Werke (Kröner) 1910, Bd. VH, S. 871.
Das XndiTidnalit&tsproblem und die Subordination der Organe. 331
Ansdrack immer reicherer Veryollkornnmimg und Schönheits-
Verwirklichung zu erblicken. Scheler^) bezeichnet die Lebens¬
auffassung, die von der neueren englischen Biologie vertreten
wird, als »ein Hineinsehen der Struktur menschlicher Ntttzlich-
keitszivilisation in die natürliche Lebewelt«.
Ans diesen Erwägungen und Spekulationen, zu denen auch die
früher erwähnten D i 11 h e y sehen Gedanken in näherer Beziehung
stehen, erwächst der Biologie als Naturwissenschaft zunächst
kein unmittelbarer Gewinn. Es geht aber unzweifelhaft daraus
hervor, dafi gewisse zumeist axiomatische Gmndüberzeugungen
oft unbewußt, zum mindesten unkritisch die biologische Theorien-
bildung entscheidend bestimmen können. Ähnlich wie bei der
Entstehung des mechanistischen Weltbildes, so sind auch beim
Dog^a vou der Erhaltungstendenz sittlich-soziale Einflüsse und
zwar von spezifisch englischer Herkunft von besonderer Bedeu¬
tung gewesen. Diese Einwirkung ans der kulturellen, geistes¬
geschichtlichen Athmosphäre muß zum mindesten den Verdacht
einer starken Subjektivität erwecken. Jedenfalls bedarf es aller
Kritik, die durch eine solche ,persönliche Gleichung* etwa ver¬
ursachten Fehler überhaupt zu erkennen und zu korrigieren.
Dies gilt für die Biologie, worauf Scheier hinweist*), ganz
besonders, da in ihr die reinen Verstandeskategorien, mit denen
die Mathematik und die anorganischen Naturwissenschaften ar¬
beiten, bereits eine geringere Rolle spielen; dafür macht sich
aber eine größere personale und nationale Bedingtheit geltend,
die dann am höchsten gesteigert ist im Bereiche der Philosophie.
10. Das Verhältnis von Soma und Keimplasma.
In eine besondere Beziehung wurden das Soma und das
Dogma von der Erhaltnngstendenz insofern gebracht, als dem
Eeimplasma, dem Repräsentanten der Arterhaltnng, ein ganz
besonderer Akzent zuerteilt wurde. Über ihr gegenseitiges
Vm’hältnis äußert sich Doflein*) folgendermaßen: »Wie ein
Seitenzweig wächst aus den Keimzellen die Zellenfolge hervor,
welche den zu ihnen gehörigen Körper, das Soma bildet Er
umhüllt und schützt sie; er ernährt sie und beseitigt, was ihnen
schaden könnte. Für all diese Aufgaben ist er in tausend¬
fältigen Formen ausgebildet. Da er nur die unsterblichen
1) »Abhandlungen und AnMtse« I, S. 254.
^ »Krieg and Anfban«, S. 64.
8) »Das Problem des Todes and die Unsterblichkeit bei den Pflanzen
and Tieren«, 1910, S. 115.
332
Armin HtUler,
Keimzellen durch die Schwierigkeiten des Lebens zn führen hat,
so kann er selbst ohne Schaden sterblich sein. Wenn nur der
Körper geeignet ist, die Keimzellen vor all jenen Katastrophen
zn bewahren, die auch ihren Tod bedingen können, so erfüllt
er seinen Zweck. Wenn er nur solange lebt und funktioniert,
daß die weitere Existenz der in den Keimzellen enthaltenden
lebenden Substanz gesichert ist, dann hat er seine Aufgabe
erfüllt . . . Der Körper hat sein Ziel erreicht, wenn in den
Keimzellen ein Teil seines Lebens in die Welt entsandt ist, um
da weiter zu leben und wieder neues Leben zu erzeugen.« Im
ähnlichen Sinne äußert sich Korschelt^), nachdem er die
zweifellos sehr innigen, wenn auch im einzelnen oft schwer
durchschaubaren Beziehungen zwischen Fortpflanzung und
Lebensdauer erörtert hat Er sagt, >daß der Lebensgang der
Organismen dahin gerichtet ist, ihre Fortpflanzung zu sichern;
ist dieses Ziel erreicht, und alles damit zusammenhängende er¬
ledigt, so kann der Organismus vom Schauplatz abtreten, was
entweder plötzlich oder nach lange andauernden, ganz all¬
mählichen Veränderungen, den Alterserscheinungen, geschieht«.
Gegenüber einer solchen rein utilitaristischen Interpretation
bemerkt Driesch mit Kecht*): »Die Lehre von der Konti¬
nuität des Keimplasmas scheint manche zu verführen, das ,Soma*
als gleichsam überfllüssige Beigabe zur Generationsfolge der
Keimzellen anzusehen. Das ist aber (zumal, wie sich zeigen
wird, metaphysisch) ganz absurd«. Und in der Philos. d. Organ.*)
heißt es: »Auf dem Boden der Weismannschen Lehre von
der Kontinuität des Keimplasmas und besonders von der Be¬
deutung speziflscher Keimbahnen konnte leicht der Eindruck
entstehen, als seien eigentlich nur die Keimbahnen ,wesentlich‘,
das Soma aber eine Art Luxus. Wir setzen das Soma an seine
bedeutsame Stelle, aber nicht nur als ,Soma‘, sondern als
Ausdruck und Mittel desjenigen, was das eigentlich ,Wesent-
liche' an jedem Organismus ist: Sein Seele-sein.< An einer
anderen Stelle (Begriff d. organ. Form*) sagt er vom Soma: »Als
Wissensvermittler wäre es die Hauptsache I« — Diese etwas
intellektualistisch klingende Deutung Drieschs erinnert an
Leibniz’ Lehre von den Monaden als vorstellenden Kräften,
1) »Lebensdauer, Altem und Tod«, 1922, S. 250.
2) »Der Beg^riS der organ. Form«, S. 81.
8) S. 674.
4) S. 78 Anm.
Das IndiTidaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 333
deren jede ein Spiegel der Welt ist, und die sich in eine Stofen*
reihe ordnen, in der die nntersten Monaden nur unklare und
verworrene Vorstellungen, die oberen zunehmend klare und deut¬
liche Vorstellungen hervorbringen. Für Driesch beschränkt
sich das Wesen des Organismus nicht auf sein Formsein in
räumlich materieller Hinsicht; vielmehr sind alle organischen
Wesen im gewissen Sinne psycho- physische Personen. So
stellt jedes einen bestimmten Typus des Wissens dar im weitesten
Sinne des Wortes, der zugleich die Erfüllung des als Aufgabe
geschauten umfaßt.
Die Ablehnung des bloßen Nützlichkeitsstandpunktes kommt,
auch in folgender Bemerkung des Anatomen Brans^) zum Aus¬
druck: »Die Art des Aufstieges der Organismen ist nur analog
dem Psychischen im Menschen zu begreifem Man hat lange
verkannt, daß Bakterien in ihrer Unkompliziertheit weit mehr
Aussicht haben, am Leben zu bleiben und nicht ausznsterben,
als kompliziert gebaute Organismen. Wenn die organischen
Lebewesen, anstatt im bisherigen Zustand nach Nützlichkeits¬
zwecken konservativ zu beharren, nach Variation und Vervollkom-
mung drängen, so wird jeder Schritt trotz der darin steckenden
Oefahren gewagt. Wie das Geistige plötzliche Evolutionen macht—
man denke an die Entstehung der Philosophie im Altertum und
an die damalige explosive Anwendung aller geistigen Möglich¬
keiten, von der wir heute noch zehren —, so auch das organisch
Körperliche. Unter größten Opfern und Gefahren für die Art
werden einige vorgetrieben, und wird der Wurf nach höherer
Organisation und Leistungsfähigkeit gewagt. Das Erfassen der
günstigen Gelegenheit unter gegebenen Bedingungen ist wie bei
Erfindungen das Geheimnis, welches die Neuschöpfung im Organi¬
schen umgibt. Der Newton des Grashalms wird nicht kommen.«—
Diese Ideen sind verwandt mit den Grundanschaunngen des
großen Kritikers des englischen Utilitarismus, von J. M. Guyau.
[Vergl. auch die Ausführungen Schelers, »Ethik« in Jahr¬
bücher der Philosophie von Frischeisen, — Köhler, 2. Jahrgang.
Der Zoologe Viktor Franz seigt sich in seiner Arbeit »Die
Vervollkomnmung in der lebenden Natur« (1920) durchaus in der
Darwinschen Nützlichkeitsdoktrin befangen.]
Unter der Voraussetzung, daß dem Individualitäts- oder Per¬
sonenwert, dem »Wissen« gegenüber der bloßen Erhaltung im
Sinne einer objektiven, an sich gültigen Wertrangordnung der
1) Lehrbach der Anatomie I, Binleitang.
334
Armin Müller,
Vorzng gegeben wird, wäre über das Verhältnis von Soma nnd
Eeimplasma folgendes zn sagen. Die Tatsache, daß vielfach der
Tod kurze Zeit nach Abgabe der Geschlechtsprodnkte erfolgt,
darf nicht so gedeutet werden, als wäre das Soma gewisser¬
maßen nur ein Hilfsorgan für den gesamten Generationsprozeß.
Zweifellos überwiegt bei niederen Formen die Reproduktionskraft
im Vergleich zu höheren Formen. Das Individuum ist gleichsam
nur ein Durchgangspunkt in der Kontinuität der Gattung. Bei
parasitären Organismen kann der Fortpflanzungsapparat infolge
eines ungeheuren Bedarfs an Geschlechtsprodukten dermaßen in
der Gesamtorganisation quantitativ überwiegen, daß man solche
Tiere im ausgebildeten Zustand als bloße Genitalschlänche be¬
zeichnen konnte (Eorschelt^)). Bei allen differenzierten Or¬
ganismen aber gestaltet sich das Verhältnis zwischen Soma und
Eeimplasma so, daß aU die Leistungen, die das Geschlechts¬
leben vom Suchen der Geschlechter an bis zur Brutpflege er¬
fordert, mit die hauptsächlichste Betätigungsmöglichkeit für alle
höheren Kräfte der Individualität darstellt. Mit der Unterbin¬
dung des Geschlechtslebens wird ihr ein ganz wesentliches Ob¬
jekt ihrer Aktivität entzogen. Dieses Verhältnis erstreckt sich
auch noch bis ins Bereich des Menschen, obwohl hier der Per¬
sonenwert, das Wissen im Geistesleben zu einem ungeheuren
selbständigen Reiche angewachsen ist.
11. Die Anerkennung eines anfierzweekhalten, kflnstlerisehen
Prinzips in der organischen Natur.
Nach diesen Abschweifungen auf metaphysisches Gebiet soll
eine Frage aufgeworfen werden, die ebenfalls zu dem ütilitäts-
prinzip engste Beziehungen hat, die aber die Biologie als em¬
pirische Wissenschaft unmittelbar zu berühren vermag — die
Frage, ob im Sinne einer verstehenden Biologie außer reinen
Zweckmäßigkeitsbeziehungen und technischer Vervollkommnung,
die die jeweilige Elntfaltungsstnfe erheischt, und die einer rein
vitalen Notwendigkeit dienen, auch noch andere »Sinnznsammen-
hänge« im Bau und in der Funktion der Lebewesen zum Aus¬
druck kommen. Solange es eine denkende Natnrbetrachtnng
gibt, ist immer wieder versucht worden, in der Natur auch die
1) Scheier hat einmal Schmarotzer, die ihre Bewegangsorgane samt
Nerrensystem und vieles andere durch Anpassung verloren haben und fast
nur noch ihre Verdauungsorgane zurückbehielten, einer menschlichen Ge¬
sellschaft verglichen, die nur noch Handels- und Industriegesellschaft wäre.
Das IndiTidaalitätsproblem Tind die Subordination der Organe. 335
Manifestation objektiver ästhetischer Beziehungen zu entdecken.
Erst im vergangenen Jahrhundert, das eine Versubjektiviernng
und Relativierung aller ethischen und ästhetischen Werte und
dazu eine Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse in einer bisher
ungeahnten Weise mit sich brachte, wurden derartige Versuche
als Anthropomorphismen zumeist von vornherein verurteilt Erst
eine grundsätzlich gewandelte Geisteshaltung, die den reinen
Utilitarismus überwunden hat, und die es wieder wagt, bei aller
Ejitik und nur im Sinne einer »induktiven Metaphysik« (Driesch)
sich wieder dem Wesensgehalt der Natnrdinge anschauend hin¬
zugeben, anstatt allein »durch den Verstand der Natur die
Gesetze vorzuschreiben« (Kant) — eine solche Geisteshaltung,
die in den »Formen« der Organismen wieder snbstanzialen Gehalt,
nicht nur begrifliche Zutat des Menschen erblickt, darf auch
nach einem objektiven ästhetischen Sinngehalt der organischen
Formen fragen. RädH) spricht in dem Kapitel über die Schön¬
heit in der lebendigen Natur die Erwartung aus, daß man es
mit seinem wissenschaftlichen Gewissen vereinbar finden wird,
ernstlich nach den ästhetischen Gesetzen der Farben, Formen,
Zeichnungen, Bewegungen bei Tier und Pfianze, in der belebten
und unbelebten Welt zu fragen, und daß man in sich Kraft
genug fühlen wird, eine neue Wissenschaft, eine objektive
Ästhetik zu entdecken. Den Glauben an objektive, wenn
auch wissenschaftlich nicht faßbare Schönheitswerte in der Natur
vertritt auch Oliver Lodge: »Den Geltungsbereich und die
volle Bedeutung der Schönheit kann der Naturwissenschaftler
nur dunkel fassen. Wenn er versuchen würde, sie in Ausdrücken
der »geschlechtlichen Zuchtwahl« oder anderer dürftiger natura¬
listischer Begriffe wiederzugeben, so erklärt er gar nichts. Er
zeigt nur, wie die Empfindung der Schönheit in gewissen Fällen
wirkt. Aber die innere Natur und das Vermögen, durch das sie
aufgefaßt wird, liegen ganz außer seinem Bereich. Nur fühlen
läßt sich, daß die unbewußte und unaufdringliche Schönheit von
Feld- und Wiesenrain entstanden sein muß in Auswirkung eines
immanenten Instinktes oder eines innewohnenden Verlangens,
eines Triebes, weit erhaben über menschliche Art und Schranke«
(Leben und Materie S. 70).
Schon bei dem Erwachen der Naturforschung auf deutschem
Boden hat eine ästhetisch-deduktive Naturauffassung eine be¬
stimmende Rolle gespielt und zur Entdeckung wichtigster exakter
1) »Geschichte der biolog. Theorien« ü.
336
Armin Müller,
Besultate geführt Job. Kepler war, wohl in Anlehnnng an
die spekulative Zahlenmystik der PythagorÄer, erfüllt von dem
Gedanken der Weltharmonie, die sich in dem zahlenmäßig fixier¬
baren Verhältnis der Zahl der Planeten, der Größe der einzelnen
Bahnen und der Umlaufszeiten der Planeten offenbart. In solchen
zahlenmäßigen Proportionen, analog der Reihe der einfachen Ton¬
intervalle, soll die Sphärenmusik dem Ohre der Gottheit ver¬
nehmbar werden. Die Mathematik wie die Himmelsmechanik steht
bei ihm durchaus im Dienste ästhetischer Zielverwirklichung
(Siegel*). —
In moderner Zeit hat der Wiener Entomologe Brunner v.
Wattenwyl versucht, sich auf ästhetischem Wege dem Ver¬
ständnis der Farben und Zeichnungen der Insekten zu nähern.
In seinem Festvortrag in der Wiener zool.-bot ,Gesellsch*)
»über die Hypertelie in der Natur« bezeichnet er als hyper-
telische Erscheinungen solche »Manifestationen, welche schlechter¬
dings nicht mit einem materiellen Nutzen in Verbindung gebracht
werden können«. Gegenüber Darwin, der die Form und Farben¬
pracht, »welche zu dem bloßen Dasein vollständig entbehrlich
sind,« für die geschlechtliche Bewerbung in Anspruch genommen
hat, weist B r u n n e r auf die luxuriöse Entwicklung jener niederen
Tiere hin, bei welchen eine geschlechtliche Bewerbung gar nicht
stattfindet, z. B. bei den Raupen des Oleanderschwärmes oder
der Weinschwärmer. Auch von einer Vorbildung zu dem voll¬
kommenen Insekt kann keine Rede sein, da das letztere die
Zierde gamicht besitzt. »Man gebe einem Unterrichtsministerium
oder einer Akademie der Wissenschaften eine organische Welt
zu konstruieren, so zweifle ich nicht, daß die Mehrzahl der
typischen Formen erzeugt würde, allein ich vermute, daß eine
beträchtliche Zahl von Formen, die wir in der Natur beobachten,
nicht zum Vorschein käme, weil das Gesetz der Mannigfaltigkeit
ohne Nutzen, der Profusion der Formen ohne Notwendigkeit
keine Berücksichtigung fände.« Ans einer zweiten Arbeit des¬
selben Autors »Betrachtungen über die Farbenpracht der In¬
sekten« •) war oben schon einiges berichtet worden. Sie verfolgt
den Zweck, die Prinzipien der künstlerischen Ansdruckstätigkeit
in Zeichnung und Farbe der Insekten darzulegen. So scheint
es unter Außerachtlassung der natürlichen Abgrenzung der Organe
1) »Geschichte der deatschen Natarphilosophie.«
2) Verhdl. d. k. k. 20 ol.-bot. Ges. Wien 28, 1878, S. 183.
3) Leipzig 1897.
Dm Individnalitätsproblem und die Subordination der Organe. 337
auf die Erzeogong eines einheitlichen Bildes, einer holo-
tjpischen Zeichnung anznkommen. »Das Bild erscheint vollständig
nur bei einer bestimmten Lage der Körperteile, oder — wenn
ich mich koloristisch ausdrücken darf — die Unterlage für das
einheitliche Gemälde ist einmal das Insekt in ansgebreiteter
FlflgeUage, ein anderes Mal bei geschlossenen Flügeln oder auch
halbgeschlossener Lage, und diese Mannigfaltigkeit erstreckt sich
noch weiter, indem die Unterseite in einer anderen Lage gemalt
erscheint als die Oberseite, oder — um fortzufahren in der
koloristischen Sprache — daß die Malerei ein und desselben
Objektes verschiedentlich angesetzt wurde, c Sollte wirklich die
oft nur außerordentlich feine Linienführung, die nur bei einer
bestimmten Flügelstellung sich zu einem Totaleindruck ergänzt?
überhaupt vom Insektenauge als Einheit wahrgenommen werden?
Bä dl bemerkt: »Man findet leicht heraus, daß sowohl Darwin
als auch die angeführten Bekämpfer der geschlechtlichen Zucht¬
wahl unter Schönheit etwa dasjenige verstanden, was ein schlichter
Mann vom Lande: bunte Farben, schreiende Verzierungen, Hörner,
Geweihe, lange Federn, Schöpfe u. ä., überhaupt ungewöhnliche,
in die Augen fallende Erscheinungen. Auf solche sind ihre
Theorien berechnet, weniger jedoch auf wirkliche Schönheit, wie
sie sich in feinen (wenn auch nicht auffallenden) Zeichnungen
und Schattierungen, in eleganten Linien, in der Harmonie und Ab¬
tönung der Farben, der Bewegungen, des Gesangs usw. offenbart«
1906 veröffentlichte der Botaniker M. Möbius in den Ber.
Deutsch. Bot. Gesellsch. Bd. 24 einen Aufsatz ȟber nutzlose
Eigenschaften an Pfianzen und das Prinzip der Schönheit«. Er
sagt u. a.: »Was die Form betrifft, so haben wir meistens nur
im allgemeinen einen Begriff von ihrer Zweckmäßigkeit: Nähr-
wnrzeln müssen dünn und lang sein, für Stammorgane als Träger
von Blättern und Blüten erscheint die Sänlenform, für die Blätter
als Assimilationsorgane die Form einer dünnen Lamelle zweck¬
mäßig und dergleichen. Insofern diese Eigenschaften als Anpas¬
sungen an die Umgebung angesehen werden, sind sie von Sachs
Photomorphosen, Mechanomorphosen und andere -morphosen ge¬
nannt worden. Wir verstehen auch in vielen Fällen die Ab¬
weichungen vom Typus, z. B. die Schmalheit der Blätter oder
die Succulenz als Anpassungsformen an Trockenheit und ähn¬
liches. Wir sehen ferner in der Symmetrie ein den Bau der
Pflanzen beherrschendes Prinzip und halten darum einen auf¬
rechten zylindrischen und allseitig gleich ansgebildeten Stamm
für ebenso normal, wie das ^gomorphe, flache, seitlich ansitzende
AroUv tOr Payohologl«. XLVIU. 22
338
Armin Müller,
Blatt. Wir suchen schon nach einer Erklänmg, wenn die Blätter
schief sind, wie bei Begonien nnd anderen. Was nun aber der
Grund für die Ausgestaltung des Blattes in seiner spezifischen
Eigentümlichkeit ist, warum ein Blatt ei-, herz-, lanzett-, pfeil¬
förmig ist, einfach oder zusammengesetzt, einen glatten, gezähnten,
gesägten oder gebuchteten Rand hat, davon haben wir in den
meisten Fällen keine Ahnung. Einige dieser Eigenschaften, so
besonders die Randbeschaffenheit, können wir vorläufig wohl zu
den nutzlosen rechnen, wenn auch die Möglichkeit einer Er¬
klärung, wie sie z. B. kürzlich für die Tränfelspitze gegeben ist,
nicht ausgeschlossen ist. Sehr viel schwieriger aber ist es, an
die Möglichkeit einer Erklärung für die verschiedenartigen,
zierlichen Gestalten der Desmidiaceen nnd Diatomeen zu glauben,
denen wir vielleicht noch die Feridineen anschließen können:
alle sind winzige Wasserpflanzen, bei denen die geringen Unter¬
schiede in der Lebensweise in gar keinem Verhältnis zu der
Mannigfaltigkeit ihrer Formen stehen. Deshalb genügt auch für
mich die Existenz der so verschieden geformten etwa 3700
Arten von Desmidiaceen und etwa 6000 Arten von Diatomeen,
um zur Überzeugung zu gelangen, daß bei der Entstehung der
Arten das Nützlichkeitsprinzip nicht die entscheidende Rolle
gespielt hat, die ihr die Darwinsche Theorie von der natürlichen
Zuchtwahl zuschreibt, und daß schon aus diesem Grunde die
genannte Theorie hinfällig ist, ganz abgesehen davon, daß wie
Nägeli längst bewiesen hat, nie etwas Neues durch natürliche
Zuchtwahl geschaffen werden kann! — An die einzelligen Algen
schließen sich die anderen Algen nnd die Pilze an, von deren
zum Teil entzückend zierlichen Gestalten, wie sie uns bei der
Betrachtung eines größeren Algenwerkes oder etwa von Cor das
,Prachtflora europäischer Schimmelbildungen' entgegentreten,
schwerlich jemand sagen könnte, welchen Nutzen die einzelnen
Arten von ihrer Gestalt haben. An den Blüten ist es nicht
bloß die Färbung, sondern oft nicht minder die Gestalt, die sie
uns so anziehend erscheinen läßt. Auch hier gilt wieder das
Prinzip der Symmetrie als oberstes Gesetz, und zwar so, daß
im allgemeinen frei auf dem Ende eines Stengels nach oben
stehende Blüten strahlig, seitlich an der Achse stehende Blüten
zygomorph ausgebildet werden. Viele Eigentümlichkeiten des
Blütenbaues sind durch die Bestäubungsverhältnisse zu erklären,
aber keineswegs möchte es gelingen, etwa jede der wunderbaren
Blütenformen der Orchideen aus diesen beiden Prinzipien zu
erklären. Bei Früchten und Samen können wir dieselben Be-
Daa Indiyidiialitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 339
trachtnngen anstellen, die ich nicht weiter aasspinnen will.« ...
Weiter heißt es, »daß die Einrichtungen für den Insektenbesuch
viel einfacher sein könnten, daß wir uns keinen Begriff davon
machen können, was alles die wunderbaren Zeichnungen und
Gestaltungen etwa einer Stanhopea-Blüte (einer Orchidee) zu
bedeuten haben«. Möbius weist besonders darauf hin, daß
vieles, was uns als nutzlos erscheint, gerade für die menschliche
Auffassung unter den Begriff des Schönen fällt. »... Es handelt
sich hierbei um einen besonderen Schmack im Gegensatz zu
derjenigen Schönheit, die wir etwa an einem Baum *) bewundern,
nnd die teils auf architektonischen Prinzipien, teils auf der
Freude an der Entwicklung des Lebendigen beruht. Etwas
anderes ist auch das ästhetische Wohlgefallen, das durch die
Zierlichkeit und Regelmäßigkeit der inneren Struktur, z. B. bei
Betrachtung eines Blattquerschnitts, erregt wird. Wir können
also vielleicht die Schönheit, die ich hier meine, als ornamentale
Schönheit bezeichnen.« M. führt weiter aus, daß zwar ästhetische
Betrachtungen über die Gründe, aus denen uns Tiere und Pflanzen
schön erscheinen, verschiedentlich vorliegen, daß aber Erklärungs¬
versuche, warum Tiere und Pflanzen durch schöne Formen und
Farben geschmückt sind — abgesehen von reinen Zweckmäßig¬
keitsrücksichten —, nur sehr wenige gemacht wurden. Die
exakte Naturwissenschaft muß seiner Ansicht nach auf eine
Erklärung der ornamentalen Schönheit verzichten und muß dies
einer metaphysischen Betrachtung überlassen.
Die von Möbius aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis
des Formenreichtums zur Notwendigkeit und Nützlichkeit hat
K Go ehe 1 als »ein Grundproblem der Organographie« folgender¬
maßen formuliert: »Ist die Mannigfaltigkeit der Organbildnng
größer als die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen?« Es
ist die Meinung der naiven Teleologie (von C. K. Sprengel,
aber auch des Neodarwinismus im Sinne von Wallace), »daß
die Mannigfaltigkeit der Gestaltung der Mannigfaltigkeit der
Lebensbedingungen entspricht, daß also alle Gestaltungsverhält¬
nisse einen bestimmten Nutzen haben müssen«. »Es ist aber
auch möglich, daß die Natur in ihren Gestaltungen sozusagen
künstlerisch verfährt, d. h. frei und ungebunden, namentlich ohne
Rücksicht auf den Nutzen Gestaltungen hervorbringt, teils nütz¬
liche, teils gleichgültige, teils unvorteilhafte.« G. betont die
1) Yergl. Goethes Änfiening über den Schdnheitsbegriff gegenüber Ecker¬
mann, Insel-Ansgabe S. 806.
22*
340
Armin Müller,
große Schwierigkeit der Entscheidung eines solchen Problems.
Seite 39 seiner Organographie der Pflanzen Band 1 kommt er
zn dem Besnltat, daß nicht alle Gestaltverschiedenheiten inner¬
halb einer natürlichen Gmppe einen ganz bestimmten >Natzen<
zn haben brauchen. »Die Mannigfaltigkeit der Formen ist viel¬
mehr größer als die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingnngen.€
Ähnlich dem von Möbius geäußerten Gedanken sagt G. (S. 32):
»Eine Orchideenblttte mit ihren oft wunderbaren Einrichtungen
zur Bestäubung, speziell Fremdbestäubung, ist gewiß etwas sehr
Merkwürdiges. Wer aber nur vom Nützlichkeitsstandpunkt aus¬
geht, wird mit Recht fragen: Wozu denn der ganze sinnreiche
Apparat, während andere Pflanzen mit viel einfacheren Mitteln
dasselbe erreichen ? Offenbar ist das nur verständlich, wenn den
Organismen das znkommt, was man früher,Gestaltungstrieb' ge¬
nannt hat. Dessen Resultate, die je nach den Fähigkeiten der
einzelnen Pflanzengruppen für den Ablauf bestimmter Funktionen
nützlich, gleichgültig oder ungünstig sein werden, bedingen die
(in der Einleitung) erwähnte Mannigfaltigkeit.« G. zitiert dann
Goethes Worte (Briefwechsel mit Zelter 1830): »Es ist ein
großes Verdienst des alten Kant um die Welt, und ich darf
sagen um mich, daß er in seiner Kritik der Urteilskraft Kunst
und Natur nebeneinander stellte und beiden das Recht zugesteht,
zwecklos zu handeln. Natur und Kunst sind zu groß, um
auf Zwecke auszugehen, und haben es auch nicht nötig, denn
Bezüge gibts überall, und Bezüge sind das Leben.« — ln dem
Aufsatz »Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie«
(BioL Zentr.-BL 1905 Bd. 25) wird dieselbe Frage von Goebel
wieder aufgenommen. Der Darwin-Spencer sehen Auffassung
hatte H. Scott Ausdruck gegeben mit den Worten: »All the
characters which the morphologist has to compare are, or have
been adaptive.« G. fragt: »Sind die Gestaltungsmerkmale lediglich
fixierte Anpassungsmerkmale, oder haben wir zn unterscheiden
zwischen Organisations- und Anpassnngsmerkmalen ?« Die letztere
Unterscheidung wird als zn Recht bestehend anerkannt
und Scotts Annahme, daß die spezifischen Merkmale durch
Anhäufung nützlicher fluktuierender Variationen infolge Über¬
leben des Passendsten entstanden seien, verworfen. G. weist
ausdrücklich nach, daß in zahlreichen Fällen spe¬
zifische Merkmale nicht adaptiv, nicht nützlich
sind. »Verfolgen wir z. B. die systematische Gliederung der
Liliifloren, so sehen wir, daß die einzelnen Gruppen derselbmi
sich namentlich dadurch unterscheiden, ob der Fruchtknoten ober-
Das IndiyidaalitKtsproblem und die Subordination der Organe. 341
oder nnterständig ist und später zn einer Kapsel oder Beere
wird, nnd wenn Eapselfrflchte yorhanden sind, ob diese sich
locnlicid oder septicid öffnen. Von diesen Merkmalen könnte
man allenfalls die Frage, ob Beerenfracht oder Eapselfmcht,
mit der Frage der Anpassung dann in Zusammenhang bringen,
wenn sich nachweisen ließe, daß die beerenfrüchtigen Liliifloren
Torzugsweise in Gegenden Vorkommen, oder entstanden seien,
wo viele Vögel sich vorfinden, welche die Beeren verzehren
und so die Samen verbreiten. Eine solche Beziehung läßt sich
aber derzeit nicht nachweisen, und wer würde wohl die Frage,
ob eine Kapsel sich septicid vne bei den Colchicaceen oder
locnlicid wie bei den Liliiaceen öffnet, als eine, die mit Anpassung
in Beziehung steht, betrachten wollen? Die Öffnnngsweise ist
bedingt durch den Fruchtbau der Colchicaceen und der Liliiaceen,
für die Ausstreuung der Samen aber ist es offenbar ganz gleich¬
gültig, vne die Kapseln sich öffnen. < G. lehnt also die Ent¬
stehung der spezifischen Merkmale durch Häufung kleiner nütz¬
licher Variationen ab, sondern nimmt mit de Vries eine
sprungweise Neuentstehung an. Die Selektion kann somit auf
die durch Mutation entstandenen spezifischen oder Organisations¬
merkmale nur insofern einwirken, als sie die unvorteilhaften
ansjätet So vrird es verständlich, daß »ein und dieselbe Auf¬
gabe auf so verschiedene Weise gelöst werden kann«.
In grundsätzlicher Übereinstimmung mit Nägeli betont auch
Oscar Hertwig, daß zahlreichen rein morphologischen Merk¬
malen bei Tieren und Pfianzen jeglicher Selektions-, d. h. Nutzwert
fehlt. »Bei den Pfianzen ist es für die Chlorophyllfnnktion ganz
gleichgültig, ob die Blätter rund oder oval oder lanzettförmig,
ob sie glattrandig, gezackt oder gesägt, ob sie am Zweig gegen¬
ständig oder spiral angeordnet sind. Auch die Formen der
Blüten, die Zahl und Anordnung der Staubfäden, welche Linnö
einst als Einteilungsprinzip für sein System benutzt hat, bieten
dem Nützlichkeitsforscher nur wenig Angriffspunkte, da Lippen-,
Glocken- und anders geformte Blüten Eier und Pollen in ge¬
nügender Menge produzieren und von Insekten, welche die Be¬
fruchtung vermitteln, aufgesucht werden. Bei den Fischen kann
es wohl auch nicht über Leben und Tod entscheiden, ob ihre
Haut mit Plakoidschnppen, wie bei Selachiem, mit Schmely-
schnppen, wie bei Ganoiden, oder mit Ktenoid- und Zykloid¬
schuppen, vne bei Teleostiern, bedeckt ist. Solche Beispiele
würden sich leicht in die Hunderte vermehren lassen. Wenn dies
schon vom ansgebildeten Organ gilt, um wieviel mehr von allen
342
Armin MUller,
kleinen Veränderungen, welche im Laufe der Stammesgeschichte
dem jetzt bestehenden Zustand yoransgegangen sind!<^)
Hierher gehören auch Gedanken, die der Neurologe 0.Höhn¬
st a m m freilich nur wenig systematisiert entwickelt hat. (»Zweck¬
tätigkeit und Ausdruckstätigkeit« in Arch. f. ges. Psychol. Bd. 29,
1913, sowie »AuBerzweckhaftigkeit und Form in Leben und
Kunst« 1916.) K. trennt alle Lebensäußemngen nach den polaren
Gegensätzen: Zweckhaftigkeit und Ausdruckstätigkeit Zweck¬
haft ist alles, was die Existenz eines Organismus unmittelbar
wahrt und fördert, außerzweckhaft ist hingegen alle Ausdrucks-
tätigkeit, in der ein von uns mit Denkzwang in den Organismus
hineingelegtes Lebensgefühl zum Ausdruck kommt, wie in dem
Gesichtsausdruck oder der Haltung eines Menschen. Zwecktätig¬
keit gipfelt in der technischen Vollendung, Ausdruckstätigkeit
in der Schönheit, beide hängen im tiefsten Grunde und in der
letzten Erfüllung zusammen. Eine Ausdruckstätigkeit, die ein
Gefühlserlebnis, eine Gemütsbewegung zum Ausdruck bringt,
kann erst in einem höheren Sinne zweckmäßig genannt werden,
insofern sie der Entladung der Affekte dient und ferner dadurch
eine soziale Funktion erfüllt, als sie von Artgenossen wahr¬
genommen wird und Gefühlserlebnisse kundgibt »Die Ausdmcks-
tätigkeit ist nicht immer sichtbare Bewegung, sie kann auch
visceraler Art sein, d. h. sich an Eingeweiden, Kreislaufs-,
Atmungs-, Verdauungsapparat, an Schweiß-, Speichel-, Tränen¬
drüsen, PupUlen abspielen. Sie kann schließlich psychischer
Natur sein, in Gestalt symbolischer Erlebnisse der verschiedenen
Sinnessphären. Wenn diese in Worten, in Noten, in Farben
niedergeschrieben werden, sodaß Ansdruckstätigkeit zu selbst¬
ständiger und verständlicher Erscheinung gelangt, so haben wir
»Kunst als Ausdruckstätigkeit«. Unbedingte Außerzweckhaftig-
keit ist ein Kriterium für die Echtheit aller Kunst Nur in
der angewandten Kunst werden Zwecke mitbedingend. Eine
besondere Beziehung gewinnt die Ansdruckstätigkeit dadurch,
daß sie formbildend wirkt »Ein Mensch, dessen Ausdrucks¬
tätigkeit darin gipfelt, daß sie ihm eine stolze Haltung verleiht,
gewinnt eben dadurch eine bestimmte Form.« Da sich nun
allem Leben gegenüber der Denkzwang geltend macht, daß wir
ein Gefühl lebendiger Betätigung hineinverlegen müssen, so
tragen wir nicht nur in Tierformen, sondern auch in pflanzliche
Gebilde ausdrucksmäßige Beseelung hinein. Dieser anßerzweck-
1) 0. Hertwi'g, das Werden der Organismen, 1916, S. 674.
Das Individaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 343
haften Ansdrückstätigkeit schreibt somit K. durchaus Objektivität
zu. »Beispiele von reinen ausdmcksmäßigen Bildungen bietet
die Biologie in den Schmnckformen und Schmuckfarben der
Lebewesen. Ihre zweckbafte Erklärung im Sinne der geschlecht*
liehen Zuchtwahl ist stark bestritten und kann jedenfalls für
ihre Entstehung nicht in Betracht kommen. Der zweckhafte
Zusammenhang der Blütenfarben mit der Befruchtung durch
Insekten ist seit Hess’ Nachweis von deren Farbenblindheit
fraglich geworden. Warum soll auch der Rhythmus des Lebens
sich bei Pflanzen und Tieren nur in räumlicher Gliederung und
nicht auch imFarbenkleid aussprechen bei der noch unübersehbaren
Bedeutung des Lichtes für das Spiel der Lebensvorgänge vom
Blattgrün bis zur Negerhaut. Wenig bemerkt ist die kunstvolle
Technik, die in der Anordnung der Federn erforderlich ist, um
etwa das Prachtgewand des Pfauen oder der männlichen Wild¬
ente hervorzubringen. Hier stellt sich wie bei der Kunst des
Menschen wieder Zwecktätigkeit in den Dienst der Ausdmeks-
tätigkeit, der wir den organisch gewordenen oder organisch
gewählten Schmuck zurechnen.« Diese Schmnekorgane weisen
eine vielfache Ähnlichkeit mit dem Schmuck des Menschen auf,
der, um geschmackvoll zu wirken, den Anschein erwecken muB,
als wenn er durch ein Ausdmeksstreben bedingt sei. »Von der
unendlichen Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen
Formbildungen, soweit sie nicht zweckhaft bedingt sind, ist aber
nur zu sagen, daß sie anßer-zweckhaft sind. Sie sind nicht
unzweckmäßig, stehen aber außerhalb der Kategorie der Zweck-
haftigkeit. Dem teleologischen Utilitarismus, der von Kant als
das für alles Leben gültige, regulative Prinzip aufgestellt wurde,
besonders aber unter dem Einflüsse des Darwinschen Auslese¬
prinzips zur Herrschaft gelangte, sind also schon innerhalb des
Lebensbereiches Grenzen gesetzt. Auch die empirische Forschung
läßt das Bestreben erkennen, die Kompetenz des UtUitarismus
einznschränken. In der Zoologie erheben sich starke Zweifel
an der ausschließlich zweckhaften Deutung der Schutzfärbung
und auch in der Botanik erweist sich der teleologische Anthro¬
pomorphismus als unzureichend. Mehrere Forscher weisen auf
Beispiele von Pflanzen hin, deren lebhaft gefärbte Blütenblätter
im Raume derartig angeordnet sind, daß sie zur Anlockung von
Insekten ungeeignet sind. Es gilt also für die morphologischen
und funktionellen Lebensformen ein außerzweckhaftes Prinzip,
innerhalb dessen die Ausdruckstätigkeit vielleicht nur einen
unter vielen FäUen verwirklicht. In der Erzeugung außer-
344
Armin Müller,
zweckhafter Formen schafft dieEnnst — als Ansdmckstätigkeit—
nach organischem Formprinzip wie das Leben selbst nnd dentet in
dieser Gemeinsamkeit anf eine geheimnisvolle nnd nrsprflngliclie
Verwandtschaft, die wir ahnnngsvoll zn ehren alle Ursache haben.«
Anch Prinzhorn (>Bildnerei der Geisteskranken«) faßt >das
Leben überhaupt als eine Hierarchie von Gestaltnngsvorgängen
anf.« Jede äußere Zwecksetznng ist aber dem Wesen der
Gestaltung — jedenfalls primär — fremd. Den Sinn der Ge-
staltnng sucht er eben in der Gestaltung selbst >Wir
glanben Vollkommenheit eines Werkes nicht anders ansdrficken
zn können als: Höchste Lebendigkeit in vollendeter Gestaltung.«
Wenn hier zunächst an das Kunstwerk des Menschen gedacht
ist, so gilt der gleiche Gedanke anch für die Werke
der Natur. Das Ausdmcksbedttrfnis, das einem dunklen, trieb¬
haften Drange zugeschrieben wird, offenbart sich in spielerischer
zweckfreier Betätigung und Gestaltung.
»Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reich¬
lich lohnet«
Solche noch sehr allgemein gehaltenen philosophisch inspi¬
rierten Spekulationen haben zwar einen erheblichen Wert für
die Grundlegung der theoretischen Biologie, nnd sie sind sicher¬
lich sehr geeignet, zn weiterer Fragestellung anznregen. Aber
zu einer wirklich wissenschaftlichen Fassung der Probleme be¬
darf es weit exakterer Grundlagen, die in dem Maße an Wert
gewinnen, als sie einer mathematischen Behandlung zugänglich
werden. Bekanntlich hat das Problem des goldenen Schnittes,
dessen objektiven Nachweis an zahlreichen Gebilden der orga¬
nischen Natur besonders Zeising versucht hat, in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt. Wenn
Z ei sing namentlich in den Kreisen der exakten Natnrforschung
keine dauernde Anerkennung gefunden hat, nnd seine tatsächlich
verdienstvollen Leistungen zur Zeit anscheinend ganz vergessen
sind, so liegt das daran, daß seine Lehre, wie Fe ebner bemerkt,
mindestens an Übertreibung nnd Mängeln der Kritik leidet. Es
ist zweifellos eine Übertreibung, wenn er den goldenen Schnitt
als »ein die ganze Natur und Kunst durchdringendes morpho¬
logisches Grundgesetz« bezeichnet. Noch entscheidender dürfte
aber der Zeitgeist gewesen sein, der ganz erfüUt war von der
Darwinschen Lehre nnd der rein mechanistischen Auffassung
der organischen Natur. Zu ihr standen von vornherein in
diametralem Gegensatz alle Versuche, objektive mathematisch¬
ästhetische Gesetze, die durchaus keinen Selektionswert reprä-
Das IndiTidoalitätsproblem and die Subordination der Organe. 345
sentieren, in der Natnr nachznweisen. Ihre innere Verwandtschaft
mit den Bestrebungen der so verpönten idealistischen Morphologfie,
die ebenfalls nach inneren Strukturgesetzen fahndete, ließen sie
überhaupt nicht ernstlich diskutabel erscheinen. Aus dem
Jahre 1885 stammt eine Schrift >Der goldene Schnitt und dessen
Erscheinungsformen in Mathematik, Natur und Eunst< von Fr.
X. Pf ei f er, die merkwürdigerweise aus dem wissenschaftlichen
Bewußtsein der Gegenwart gänzlich entschwunden zu sein scheint.
Sie zeichnet sich, was den naturwissenschaftlichen Teil betrifft,
durch nüchterne Sachlichkeit und Kritik aus und bringt ein
sorgfältig verwertetes Beobachtungsmaterial, das freilich im
Verhältnis zur Bedeutung der Sache noch wesentlich umfang¬
reicher und genauer protokollarisch belegt seiu müßte. Ergänzt
wird die Arbeit durch vorzügliche Lichtdrucktafeln. In dem
Abschnitt, der die organische Natur behandelt, ist der bei weitem
größte Teil dem Pflanzenreich gewidmet. Der g. Sch. kann
daselbst in drei Modiflkationen auftreten: 1. im Verhältnis
von Strecken auf ein und derselben Graden, z. B. Intemodien
von Stengeln oder Abstände der Insertionen von Fieder-Blättchen
an der Blattachse. 2. im Verhältnis parallel laufender Strecken,
z. B. von parallelen Seitenästen an derselben Hauptachse. 3. im
Verhältnis von mehreren Strecken untereinander, die strahlen¬
förmig von einem Punkt ausgehen, z. B. von mehreren quirl¬
förmig ausgehenden Seitenästen samt dem nächsthöheren Inter¬
nodium der Hauptachse. Wie schon diese Beispiele andeuten,
hat Pf. sich hauptsächlich auf Stengel- und Blattgebilde als
Träger des g. Schn, beschränkt Je vollkommener und regel¬
mäßiger eine Blattform gegliedert ist, wie z. B. bei den ge¬
fiederten Blättern, um so frequenter und exakter tritt der g. Sch.
auf. Daher wurde er besonders häuflg bei Doldenblütlern und
Famen nachgewiesen. Abgesehen von der Disposition, die ge¬
fiederte Blätter geben, scheinen unter den Kryptogamen die
Alismaceen, unter den Dicotylen die Labiaten besonders den g. Sch.
zu bevorzugen. Eine besondere Variation kann dadurch ent¬
stehen, daß die Strecken, die nach dem g. Sch. im Verhältnis
des Major zum Minor stehen, nicht unmittelbar aufeinander folgen,
sondern durch Zwischenglieder getrennt sind. So entstehen z. B.
Grappen von je vier Intemodien: das jeweils 1., 2., 3., 4. Inter¬
nodium der einen Gmppe steht zu dem entsprechenden Inter¬
nodium der folgenden Gmppe im Verhältnis des g. Sch. Da¬
durch, daß Pf. auch auf solche kompliziertere Manifestationen
des g. Sch. aufmerksam wurde, gelang es ihm, ihn unerwartet
346
Armin Müller,
h&ufig nachznweisen. — Pf. macht darauf aufmerksam, daß bei
solchen Pflanzenfamilien, die der Ausbildung der Proportion
des g. Sch. an Blättern und Stengeln nicht günstig sind, der
g. Sch. dafür besonders häuflg in den Divergenzverhältnissen,
d. h. in der Teilung des Stengelumfangs durch den Ansatz der
Blätter zutage tritt In der Blattstellungslehre, auf die hier
nicht näher eingegangen werden kann, ist die Existens des g. Sch.
seit jeher anerkannt worden. Freilich ist weder sein mechanisches
Zustandekommen (im Sinne Schwendners) noch seine biologische
Bedeutung in befriedigender Weise aufgeklärt (siehe Goebel,
Organographie I, S. 212). Unzweifelhaft gebührt Pf. das Verdienst,
das viel häufigere Vorkommen des g. Sch. einwandfrei nachge¬
wiesen zu haben. Dabei gelang ihm auch der Nachweis zahl¬
reicher anderer einfacher mathematischer Beziehungen in der
Architektur des Pflanzenkörpers, zahlreicher arithmetischer und
geometrischer Progressionen, die mit der L am Aschen Zahlen¬
reihe (deren Glieder sich wie Major zu Minor im g. Sch. ver¬
halten) nichts zu tun haben. Zweifellos wird aber das Ver¬
hältnis der Sectio aurea in der Natur ganz besonders bevorzugt. —
Merkwürdigerweise ließ sich in der botanischen Literatur nur ein
einziger Hinweis auf Pfeifers Arbeit entdecken. Fr. Ludwig
schreibt in seinem Lehrbuch d. nieder. Kryptogamen 1892 (S. 608)
anläßlich besonderer Teilungsverhältnisse der Diatomee Melosira
arenaria, die hierbei der L amösehen Zahlenreihe (2,3,5,8, 13,
21, 34 usw.) folgt, über den g. Sch. und seine ästhetische Be¬
deutung : »Woher haben wir aber dieses Schönheitsmaß ? Offenbar
aus der Natur. Es beweist diese unbewußte Auswahl nach dem
g. Sch., daß dieses Verhältnis in der Natur noch viel weiter
verbreitet ist, als es der Fachgelehrte heute weiß. Unter¬
suchungen mit dem g. Sch.-Zirkel, wie sie X.Pfeifer angestellt
hat, dürften dies lehren.< — Von den Untersuchungsergebnissen
an zoologischen Objekten sei nur erwähnt, daß der g. Sch.
häufig an Insekten sowie an Conchylien nachgewiesen wurde,
bei letzteren besonders an den spitzkegeligen Formen (z. B.
Gattung Terebra), deren spiralige Windungen in ihren Abständen
sehr exakt und konstant die Proportion anfwiesen. — In seinen
Schlußreflexionen versucht Pf. eine Erklärung für das frequente
Auftreten des g. Sch. in Natur und Kunst zu geben. In An¬
lehnung an Fechners Ästhetik geht er von dem Prinzip der
einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen ans, dem zugleich
das Prinzip der Kontinuität und der Verknüpfung der Gegensätze
zugfmnde liegt. In der Natur sind nun die organischen Lebe-
Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 347
wesen im besonderen Maße Manifestationen der Gliederung und
der Mannigfaltigkeit in der Einheit. »Wie beim g. Sch. das
Ganze früher ist als die Teile, so auch bei der Gliederung. Der
g. Sch. entsteht nicht synthetisch, nicht durch Zusammensetzung,
sondern analytisch, durch Teilung, und so entsteht auch in der
Natur ein gegliedertes Ganze nicht durch mechanische Zusammen¬
setzung, sondern durch innere Differenzierung. Es ist daher
nicht zufällig, daß gerade in organisch gegliederten Naturwesen
der g. Sch. so frequent auftritt, sondern es hat dies in einer
inneren Wesensverwandtschaft des g. Sch. mit organischer
Gliederung seinen Grund. Beiderseits, im g. Sch. und in der
organischen Gliederung, ist das Ganze vor den Teilen gegeben, c
Wie Pf. weiter nachweist, ist der g. Sch. in besonderem Maße
der mathematische Ausdruck vollkommener Stetigkeit und Ver¬
mittelung. In dem frequenten Vorkommen des g. Sch. in der
Natur glaubt Pf. einen vollkommenen Ausdruck der auch
sonst in der Natur vorhandenen Gesetze der Stetigkeit und
Vermittelung (natura non facit saltus) erblicken zu dürfen.
Wahrscheinlich beeinflußt durch Pfeifers Schrift, bringt
Langbehn in seinem »Rembrandt als Erzieher« (das Buch
erschien 5 Jahre nach Pf eif ers Arbeit 1890) ein Kapitel, das
er »Tektonik der Natur« betitelt. Er fordert, daß auch die
Naturwissenschaft gewissen künstlerischen Tendenzen folge, was
zur Erschließung einer ganz neuen Disziplin, eben der Tektonik
der Natur führen soll. Diese wird sich, eben auf Grund der
reinen Mathematik, mit den mathematisch-künstlerischen Struktur¬
verhältnissen der Naturwesen zu beschäftigen haben; die Formen
und Formenverhältnisse eines jeden organischen Wesens, nach
deren tektonischem und künstlerischem Werte, fallen in ihren
Bereich. In dem Kapitel >Darwin« heißt es unter offensicht¬
licher Bezugnahme auf Pfeifers Arbeit: »Innerhalb der
Botanik sind rein mathematische Formengesetze, so das des
g. Sch., als weitverbreitet und von hoher Bedeutung für die Ge-
samtentwicklnng der Pflanzenwelt erst neuerdings nachgewiesen
worden. Ein vollendeter Wohllaut der Formen-, Maß- und
Zahlenverhältnisse des Natnrlebens gibt sich hier in überraschender
Weise kund. Er bewegt sich in regelmäßigen Kadenzen, in
harmonischen Akkorden, in streng gesetzmäßiger Folgerung und
eröffnet so für eine künftige Natnrforschung die allermerk-
wfirdigsten Perspektiven.« An einer anderen Stelle heißt es:
>Emzelne, aber unter sich ganz zusammenhangslose Versuche
sind auf diesem Gebiete bereits gemacht worden, Ansätze zu
348
Armin Müller,
einer späteren einheitlichen Anffassnng desselben, aber auch
nicht entfernt der wirkliche Anfang einer solchen.«
In diesem kurzen Überblick sollte Rechenschaft abgele^
werden über einige Versuche, neben der reinen Zweckhaftigkeit
noch ein anßerzweckhaftes Prinzip in der organischen Katar
nachznweisen. Zunächst wurde versucht, die psychologische
Bedingtheit des Utilitätsprinzipes in seiner Anwendung auf die
organische Natur darzulegen und dadurch seine alleinige Geltung
für die biologischen Theorien mindestens in Frage zu ziehen.
Dann wurde im Sinne Goebels (und Nägelis) zwischen
Organisations* und Anpassungsmerkmalen unterschieden und
dadurch eine viel größere Formenfülle erwiesen, als es die bloß
vitale Notwendigkeit gegenüber den Umweltsbedingnngen er¬
fordert. Daher spricht Goebel von einer Art »Gestaltungstrieb«,
an dessen Produkten erst sekundär die Selektion sich im Sinne
der reinen Zweckmäßigkeit ausmerzend betätigt Endlich wurde
von den Arbeiten von Brunner von Wattenwyl, von
M. Möbius, 0. Kohnstamm, F. X. Pfeifer und Lang-
behn berichtet, die positiv den mathematisch-ästhetisch-künst¬
lerischen »Sinngehalt« der Naturobjekte zu >verstehen« trachten.
Driesch wirft einmal die Frage auf: »Wie, wenn man die
organische Mannigfaltigkeit auch ästhetisch faßte?... Fragen
können wir wohl, aber Antworten geben können wir nicht«
12. Die Herabwandemng der Keimdrüsen und ihre bisherigen
Erklärungsversuche.
Von den bis hierher gewonnenen Voraussetzungen ans soll
nunmehr der Versuch gemacht werden, der Lösung eines ebenso
dunklen wie schwierigen Problems näherzukommen: der Lage¬
veränderungen der Keimdrüsen der Säugetiere, dem Descensus
testiculorum et ovariorum. Es soll das Problem nicht nur als
ein isoliertes Phänomen der Keim- und Stammesgeschichte des
Urogenitalsystems betrachtet werden, vielmehr soll unter aus¬
drücklicher Anerkennung eines Primats des physiologischen
gegenüber dem anatomischen Standpunkt das Fortpflanzungs-
vemögen in eine »organische« Beziehung zur Lebensbetätigung
des Gesamtorganismus gesetzt werden nnd hieraus ein »Ver¬
stehen« jener merkwürdigen Erscheinung angestrebt werden.
Im folgenden kann nur an die wichtigsten hier in Betracht
kommenden Tatbestände erinnert werden; ein Hinausgehen über
eine rein referierende Stellungnahme ist nicht beabsichtigt
Das Indiyidaalitätsproblem nnd die Sabordination der Organe. 349
Mit Felix nnd Bühler^) ist anznnehmen, daß sich bei den
Vertebratenahnen die Genitalanlage über die ganze Leibeshöhle
erstreckte nnd ancb ans ebenso viel Teilstttcken znsammengesetzt
war, als Bnmpfsegmente vorhanden waren. In der Anlage wird
diese Ansdehnnng noch von den meisten Vertebraten festgebalten,
in der Ansbildnng aber eingeschränkt. Während so bei den
niedrigsten Wirbeltieren die Gonaden sich oft noch fast dnrch
die ganze Coelomhöhle erstrecken, findet bei den höheren Formen
entsprechend einer regionalen Differenzierung längs der Eörper-
hanptachse eine Beschränkung auf die mittlere oder hintere
Eöiperregion statt. Bis zu den Reptilien und Vögeln bleiben
die Geschlechtsdrüsen noch am Orte ihrer embryonalen Entstehung,
dem Lnmbalahschnitt der hinteren Eörperwand liegen; erst in
der Reihe der Säuger tritt der Descensus ein und kann von
niederen zu höheren Formen anfsteigend auf den verschiedensten
Stadien seiner Ausbildung verfolgt werden. Wie besonders
Neuhäuser*) ausftthrt, unterscheidet sich die Topographie
der Eeimdrüsen bei Reptilien von der bei Säugern dadurch,
daß bei jenen die Eeimdrüsen regelmäßig noch kranialwärts
von den bleibenden Nieren liegen. Dagegen findet sich bei den
erwachsenen Säugern die Eeimdrüse regelmäßig weit kaudal-
wärts von der Niere, und nur in wenigen Fällen unter den
testiconden Säugern, bei denen die Testikel zeitlebens in der
Bauchhöhle bleiben, >liegt der kraniale Pol der Eeimdrüse in
unmittelbarer Nähe des kaudalen Nierenpols, niemals jedoch
reicht derselbe (wie bei den Reptilien) weiter kopfwärts als der
kraniale Nierenpolc. Neuhäuser hat, einer Anregung
Schwalbes folgend, versucht, diesen inneren Descensus der
Eeimdrüsen dnrch eine Beckendrehung zu erklären, die allein
den Säugern, nicht aber den Reptilien znkommt. Bei diesen
bilden die Längsachsen der Darmbeine noch einen spitzen
Winkel mit dem Achsenskelett; bei den Säugern wird dieser
Winkel zu einem stumpfen. Die Drehung erfolgt um die Mitte der
lleosakralverbindung um eine transversale Achse, wobei das
Acetabnlnm den annähernd größten Bogen kaudalwärts beschreibt.
Dieser innere Descensus ist übrigens von Felix geleugnet
worden mit dem Hinweis, daß das kaudale Hodenende von An¬
fang an am inneren Leistenring liege. >Was bei beiden Organen
(Hoden- und Eierstock) den Descensus vortäuscht, ist einmal die
Rückbildung des kranialen Abschnittes, die eine Verkürzung des
1) Hdbch. der SntwioUgslehre der Wirbeltiere y. Hertwig HI, 1 S. 822.
2) Ztsch. f. Morpholog. 1901, S. 226.
350 Amin Müller,
Gesamtorganes nnd damit eine Verschiebong des kranialen Endes
bedingt, ferner ist die Räckbildnng der angelegten Teile schon
an der Arbeit, wenn die Anlage selbst kandalwärts noch fort¬
schreitet«. (Corning, Lehrb. d. EntwickL-Gesch. 1921, S. 420).
Eine weitere charakteristische Differenz besteht darin, daß bei
Reptilien, wie Vögeln, der Nebenhoden nnd der mit ihm ver¬
bundene Hoden hinter dem Bauchfell fest an der hinteren
Leibeshöhlenwand fixiert ist; bei den Säugern, auch bei den
Testiconden, ist er dagegen an einer Bauchfellduplikatnr, einem
Derivat des nach der Schrumpfung der Umiere restierenden
Umierenligaments, mehr oder weniger verschieblich anfgehängt
(0. Frankl). Erst auf Grund dieser großen Beweglichkeit
dank dem nur den Säugern eigenen Aufhängeapparat kann über¬
haupt eine Verschiebung der Keimdrüsen stattfinden. — Unter
den echten Testiconden, bei denen der Testikel niemals die
Leibeshöhle verläßt, und bei denen es noch nicht zur Bildung
eines Ingninalkanales und lig. inguinale kommt, werden zunächst
solche Formen unterschieden, wo die Testikel, bez. Eierstöcke
in nächster Nähe der Nieren an der hinteren Banchhöhlenwand
fixiert bleiben. Es sind das meist primitive Säuger, die Mono-
tremen, unter den Insektenfressern die Centetiden, Macrosceli-
diden, Chrysochloriden, ferner Elephas und Hyrax (Klipp¬
schliefer). Bei einer zweiten Gruppe ist ein partieller Descensus
eingetreten; die Hoden liegen auch hier in einer dem Umierenliga-
ment entsprechenden Peritonealduplikatur, werden aber weiter
kandalwärts angetroffen zwischen Blase und Rektum. Es sind
das die Ameisenfresser nnd die Faultiere. Schließlich gibt es
im Gegensatz zu den genannten primären noch eine Gruppe
sekundärer Testiconden, deren Vorfahren zweifellos einen echten
Descensus besaßen; so liegen bei den Walen in Anpassung an
das Wasserleben die Hoden intraabdominal der vorderen Bauch¬
wand an. Daselbst liegen die Hoden auch bei den Gürteltieren,
bei denen ein weiter Inguinalring mit einem hervorragenden
kleinen Cremastersack noch an einen früheren vollständigen
Descensus erinnert. Dort, wo ein echter Descensus auftritt,
ist das ursprüngliche Verhalten, wie es bei Insektivoren, Nagern,
Chiropteren und einzelnen Affen beobachtet wird, so, daß die
Hoden bis zur Reife noch in der Leibeshöhle liegen, bei er¬
wachsenen Tieren aber in einen nach außen vorgestülpten Teil
der inguinalen Bauchwand zu liegen kommen, während der
Brunst aber durch die Wirkung des M. cremaster in die Bauch¬
höhle zttrückkehren. Bei anderen Säugern, so auch bei den
Das IndiTidnalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 351
Primaten, haben die Hoden eine danemde eztraabdominale
Lagenmg schon während der Ontogenese gewonnen. — Be¬
kanntlich ist der eigentliche Mechanismns des Descensus noch
bei beiden Geschlechtern problematisch. Wahrscheinlich ttbt
das >in seiner ursprünglichen Bedeutung gänzlich dunkle c
(Wiedersheim) lig. inguinale durch Schrumpfungsprozesse
eine gewisse Traktionswirkung aus. Noch wesentlicher sind
wohl ungleiche WachstumsYorgänge; das Leitband wächst nicht
mit und bleibt klein, die umgebenden Organe zeigen erhebliches
Längenwachstum und schieben sich an dem Hoden vorbei, der
durch das am Leistenring befestigte Gnbemaculum festgehalten,
einen zu seiner Umgebung relativen Lagewechsel vollzieht.
Auf die Bolle, welche jenes werkwttrdige, von Elaatsch als
C!onus ingninalis bezeichnete Gebilde spielt, das als Einstülpung
eines Teils dei* vorderen Bauchmnskulatnr sich dem Hoden ge¬
wissermaßen entgegenstreckt und sich mit dem hinteren Ende
des Leistenbandes verbindet, soll nicht weiter eingegangen
werden. Nach Frankl entsteht es nicht durch eine bloße
Einstülpung der vorderen Banchwand, sondern »durch förm¬
liches Hineinwachsen der Zellen aus der Myoblastenzone der
vorderen Bauchwand ins lig. inguinale«. Noch weit proble¬
matischer als die Erklärungsversuche der Ontogenie sind die
der Phylogenie des Descensus. Die einzige, auf umfangreichem
vergleichend-anatomischen Material basierende, wenn auch viel
umstrittene Theorie ist die von Elaatsch*), die vom weib¬
lichen Geschlecht ihren Ansgang nimmt. Die Mammarorgane
der Ingninalgegend, wie sie jetzt noch bei Monotremen an¬
getroffen werden, sollen eine Wirkung auf tiefere Teile in der
Bauchhöhle ansgeübt haben. Der periodisch mächtig an¬
schwellende Drüsenkörper führte zu einer Verdrängung der
seitlichen Bauchmnskulatnr an umschriebener Stelle, zu einer
»Einstülpung«, einem primitiven Conus ingninalis. Die Ursache
des Auftretens des lig. inguinale, das sich mit diesem Conus
verbindet, ist auch nach Elaatsch unbekannt. Die starke
Ausbildung des lig. inguinale beim weiblichen Geschlecht, sein
Zusammenhang mit dem Uterus, seine periodische Größenznnahme
mit der Gravidität und ganz besonders seine nahe örtliche Be¬
ziehung zum Conus ingninalis und damit zum Mammarorgane
machen es sehr wahrscheinlich, daß dies Gebilde im weiblichen
Geschlecht entstand und mit den anderen zum Mammarorgan
1) Morphol. Jahrb. Bd. 16, 1890.
352
Armin Müller,
gehörenden Einrichtungen (der Milchdrüsenmuskel der weib¬
lichen Beuteltiere, das Homologon des m&nnUchen Cremaster¬
muskels) auf das männliche Geschlecht übertragen wurde. Der
entsprechend der periodischen Mammarfunktion periodisch sich
einstfilpende Conus gewinnt mit den ebenfalls periodisch stark
anschwellenden Hoden Verbindung, die infolge ihres Band¬
apparates einer besonderen Exkursion fähig sind, während die
Ovarien durch die starke Entwicklung der Mflllerschen Gänge
von der vorderen Banchwand geschieden sind. Die erwähnte
Verbindung soll schließlich im Verein mit anderen mechanisch
wirksamen Momenten zu der Verlagerung, wie sie heute vor¬
liegt, geführt haben. — Die hier nur skizzenhaft wieder¬
gegebene Theorie von Elaatsch ist von Gegenbanr und
M. Weber angenommen worden, Wiedersheim nimmt eine
abwartende Stellung ein. Neuhäuser sucht die Theorie in
zahlreichen einzelnen Punkten als irrig zu erweisen u. a. durch
den Nachweis, daß z. B. bei Kaninchen und Meerschweinchen
die Milchdrüsenanlage keinerlei Zusammenhang mit der Basis
des Conus hat. Eine andererseits befriedigende Erklärung kann
aber auch Neuhäuser nicht geben. Meisenheimer’) sagt
von Klaatschs Theorie: >Das alles ist rein hypothetisch,
befriedigt in seiner Ausdeutung nur wenig und steht zum Teil
sogar in direktem Gegensatz zu tatsächlichen Befunden, insofern
beispielsweise bei trächtigen Meerschweinchen und Kaninchen
keine Spur eines Leistenbandes vorhanden ist, trotz voller Aus¬
bildung desselben im männlichen Geschlecht.< Meisenheimer
versucht daher die Hoden selbst zum Ausgangspunkt zu nehmen.
Bei den Vögeln ist eine erhebliche Volnmenznnahme während
der Brunst bekannt, die beim Sperling das Tausendfache des
ruhenden Hodens erreicht. Dieser von sauropsidenartigen Vor¬
fahren ererbte Zustand ist auch noch bei niedrigen Säugetieren
festzustellen. Da nun bei Säugern die Hoden von vornherein
sehr weit nach hinten kandalwärts von den Nieren verlagert
sind, und sie ferner durch den Bau ihres Aufhängeapparates
eine ganz besondere Beweglichkeit haben, wurden die in der
hinteren Bauchregion gelegenen Organe zur Brunstzeit gegen
die vordere Bauchwand gedrängt An der Berührungsstelle kam
es zur Ausbildung eines Leistenbandes und durch den Druck der
anschwellenden Hoden zur Bildung einer Tasche, eines primi¬
tiven Cremastersackes, der sich weiterhin mehr und mehr ver-
1) 1. c. S. 471.
Das Indiyidaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 353
YoUkommnete. Die einzelnen Stufen der Phylogenese dieses
Vorgangs sind einigermaßen noch zu verfolgen an den ver¬
schiedenen Znständen bei den ^Insektenfressern. Die primitiven
Formen, echte Testiconde, zeigen den Hoden noch unmittelbar
hinter den Nieren, bei Oryzoryctes und Microgale liegen sie be¬
reits neben der Harnblase, bei Potamogale erreichen sie die
vordere Bauchwand, die sie zur Brunstzeit etwas vorwölben.
Erst bei den Maulwürfen tritt ein Leistenband auf, durch das
die Hoden mit der Wand des noch seichten Cremastersacks ver¬
bunden sind.
Die bisherigen Ausführungen zeigten, daß über die Verlagerung
der Keimdrüsen, > diesen nach der mechanischen, phylogenetischen
und bionomischen Seite hin schwer erklärbaren V organg« (Wieders-
heim), > dessen mechanische Seite dem Verständnis Schwierigkeit
bereitet, dessen morphogenetische, mehr noch seine bionomische
Bedeutung dunkel ist< (M. Weber), in keiner Weise allgemein
befriedigende, geschweige denn übereinstimmende Anschauungen
bestehen.
Während alle bisherigen Erklärungsversuche, besonders der
von Elaatsch, nur die rein mechanische Seite des Problems
behandelten, hat Meisenheimer versucht, die letzte Etappe
des Descensus testiculorum, die Ausbildung des Scrotums, bio¬
logisch verständlich zu machen*). »Was hat diese so weitgehende
Verlagerung der Geschlechtsdrüsen veranlaßt, was hat sie ihren
gesicherten Platz in der Bauchhöhle definitiv aufgeben lassen
und sie den zweifellos bestehenden Gefahren einer derart ex¬
ponierten Lage aussetzen lassen?« ... »Wenn aber« — nach
einmal bis zur ventralen Bauchwand voUzogenem Descensus —
»die vergrößerten Geschlechtsdrüsen zur Brunstzeit sich so weit
vordrängten, daß sie äußerlich sichtbare Vorwölbungen der
Bauchhaut hervorriefen, nun dann mußten diese Zeichen reifer
Sexualität in stärkerer Weise als irgend etwas anderes dem
Weibchen die geschlechtsbereite vollwertige Männlichkeit des
andersartigen Geschlechtsgenossen vor Augen führen. Und da¬
mit gewann die Verlagerung der Hoden an die Außenfiäche des
Körpers eine biologische Bedeutung, dieselbe mußte um so be¬
deutsamer werden, je mehr sich diese Verlagerung äußerlich
ausprägte, je mehr sie zur Ausbildung eines sexuellen Schau¬
merkmals führte. Mehr als irgend ein sonstiger sexueller Körper¬
anhang mußte doch ein solcher, der in sich die Wesensbestandteile
1) L 0. S. 478.
Archiv ffir Psychologie. XLVUI.
23
364
Armin Mfiller,
der gesamten Männlichkeit seines Trägers barg, eben diese
Männlichkeit zu demonstrieren imstande sein.« Meisenheimer
führt ans, wie in einigen Fällen bei altweltlichen Affen durch
besonders leuchtende Farben und kontrastreiche Umgebung oder
durch einen förmlichen Bart langer Haare sich die auffällige
Form noch mit einem auffälligen Zierat verbindet »Alles in
allem würde also das Scrotum der Säugetiere in seiner aus¬
gebildeten augenfälligen Form den äußeren männlichen Schau¬
merkmalen zuznrechnen sein.< Meisenheimer führt weiterhin
aus, wie bei Naturvölkern durch Zieraten des Penis selbst die
Augenfälligkeit der Genitalgegend noch erhöht wird. — Mir
scheint, daß diese Auffassung von der biologischen Bedeutung
des Scrotnms dort zutreffend ist, wo, wie bei den erwähnten
Affenarten, deutliche Schaumerkmale sekundär hinzutreten. Be¬
trachtet man aber schon das durch keinerlei Ornamente hervor¬
gehobene Scrotum als einen sexuellen Anreiz für das weibliche
tierische Auge, so läuft man zweifellos Gefahr, menschliche Vor¬
stellungen in intellektualistischer Weise der tierischen Seele zu
imputieren. Das Weibchen dürfte ganz außerstande sein, den
Gesichtseindruck des zumeist unauffälligen Hodensacks — sofern
der Eindruck überhaupt zustande kommt — in irgend einer Weise
mit seinem Sexnalinstinkt in Verbindung zu bringen. Eine
primäre Bedeutung als sexuelles Schaumerkmal kann dem Scrotum
im allgemeinen nicht znerkannt werden.
13. Die Subordination der Organsysteme nnd ihre Lage¬
beziehung znm Achsensystem des Wirbeltierkorpers.
Am Ende des 18., zu Anfang des 19. Jahrhunderts bemühte
sich die idealistische Morphologie in Frankreich wie in Deutsch¬
land, den einheitlichen >Plan< der Organismen zu erforschen,
wie er sich in ihren räumlich-geometrischen Verhältnissen ans¬
spricht; daher spielte die gegenseitige Lagebeziehung der Organe
bei Cu vier eine so besondere Bolle und wurde grundlegend für
die Abgrenzung der Typen. Wie P. Decandolle den Pflanzen¬
körper, so betrachtete Bronn die tierischen Formen nach Analogie
von Kristallen: Man forschte nach Symmetrieebenen sowie nach
festen Lagebeziehungen zu idealen Achsensystemen. Von jener
Epoche herstammend sind n. a. die Lehre von der Homologie nnd
Analogie, von der Metamorphose, von der Spiraltheorie oder
Blattstellung in den dauernden Besitz der Wissenschaft über¬
gegangen. Eben daher rührt auch das, was seit Haeekel
Promorphologie oder die Lehre von den organischen Grundformen
Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 355
genannt wird. In seiner generellen Morphologie, in der Haeckel
zuerst seine Ideen über die geometrischen Grundformen der
Organismen mitteilte, beruft er sich ausdrücklich auf H. G. Bronn
als seinen Vorläufer. Seitdem werden, wie bekannt, folgende
Grundformen unterschieden (nach Hertwig, Lehrbuch der
Zool. 1907):
1. asymmetrische, irreguläre,
2. allseitig symmetrische, sphärische,
■ 3. radial symmetrische (eine Hauptachse mit ungleichen Polen,
um die die meisten Organe in größerer Anzahl gleich*
mäßig in der Richtung der Radien verteilt sind),
4. zweistrahlig S3nnmetrische (3 aufeinander senkrechtstehende
Achsen; die Pole der Hauptachse sind verschieden, die der
Sagittal- und Transversalachse gleich),
5. bilateral-symmetrische (Hauptachse und Sagittalachse hetero*
pol, Transversalachse als einzige gleichpolig).
In seinen »promorphologischen Thesen« sagt HaeckeP)
>36. Alle verschiedenen Grundformen ... lassen sich je nach der
fortschreitenden Differenzieining ihrer Achsen und deren Pole
in eine anfsteigende Stufenleiter ordnen, deren Stufenordnnng
zugleich die stufenweis fortschreitende Vollkommenheit der Form
bezeichnet.«
In den > Thesen von der Vollkommenheit der organischen
Grundformen«*) bringt Haeckel folgende Sätze:
67). Die Grundform der organischen Individuen ist um so
vollkommener, je ungleichartiger ihre konstanten Achsen sind.
69) . Die Grundform ist um so vollkommener, je ungleichartiger
die beiden Pole ihrer Achsen sind.
70) . Die Grundform ist um so vollkommener, je größer die
Zahl der ungleichartigen Pole und je geringer die Zahl der
gleichartigen Pole ihrer Achsen ist. (s. als Ausnahme hierzu
die Dysdipleuren S. 523.)
Auf die engen Beziehungen, die zwischen Form und Bewegung
bestehen, wie sie schon von Bergmann und Leuckart nach¬
gewiesen wurden, und weiterhin auf die Wechselbeziehung zwischen
Form und Lebensweise überhaupt (Dollo,Abel, »Paläobiologie«)
braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Sphärische
sowie radialsymmetrische Formen finden sich ausschließlich bei
Wasserbewohnem. Bilateralsymmetrie mit horizontalgestellter
1) »Generelle Morphologie«, 1866, I S. 645.
2) 1. c. S. 660.
356
Armin MOller,
Längsachse, deren eines Ehide als Kopf bei der Bewegung voran¬
geht, charsdcterisiert besonders dann gut bewegliche Landformen,
wenn deren Körper seitlich komprimiert ist
Beim Typus der Wirbeltiere, wie ihn schon Cu vier um¬
schrieben hat, findet sich bekanntlich auf einem Querschnitt
senkrecht zur Hauptachse folgende Lagebeziehnng, die das Grund¬
schema des Wirbeltierkörpers charakterisiert: Um den dorsalen
Pol der Sagittalachse gruppiert sich das CNS mit der Hauptmasse
der in einen hypaxonen und epaxonen Teil zerfallenden quer¬
gestreiften Muskulatur; die letztere greift an am Achsenskelett,
das zugleich die Schutzfunktion fttr das CNS übernimmt An
diese, animalischen Funktionen dienenden Organsysteme schließen
sich in der Bichtung des ventr^en Pols der Sagittalachse die
großen Blutgefäße an und schließlich die Gesamtheit der den
Kraft- und Stoffwechselfunktionen dienenden Organe. Diese gmnd-
sätztiche Lagebeziehung erleidet nur insofern eine Ausnahme, als
in der Höhe des Herzens der Abschnitt des Verdauungsrohres,
der die Passage zwischen Mundhöhle und Magen vermittelt, dorsal
vom Zentrum des Kreislaufsystems zu liegen kommt Die oben
erwähnte Lagebeziehung zu deu Polen der Sagittalachse ist nun
nicht nur auf diese beschränkt, sondern findet ihre Parallele auch
in den Beziehungen zur Hauptachse, insofern man die haupt¬
sächlichste Entfaltung und den Schwerpunkt der einzelnen Systeme
in Betracht zieht In diesem Sinne finden das CNS in der Kopf¬
region, das Kreislaufsystem in der Brust- und die Kraft- und
Stoffwechselorgane in der Bauchregion ihre Kulmination. Das
der Lokomotion dienende Muskelsystem, das keine selbständige
Zentralisation besitzt, kommt wegen seiner Ubiquität für eine
regionale Gliederung längs der Körperhauptachse nicht in Betradit
Die in der Kopfregion gelegenen Teile des Verdauungs- und
Bespirationstractus sind insofern vor den übrigen hervorgehoben,
als sie an der Laut- und Sprachbildung mehr oder weniger eng
beteiligt werden und durch diese Beziehung zu seelischen Aus¬
drucksfunktionen eine höhere Ganzheitsbezogenheit gewinnen.
Das gleiche gilt auch noch für die der Bmstregion angehörenden
Lungen als Spender des Anblasestromes bei der Phonation. Mehr
oder weniger unabhängig von jener grundsätzlichen Lagebeziehung
zu den Polen der Längsachse erweisen sich unter den Stoff¬
wechselorganen nur die endokrinen Drüsen. Während sie in
Übereinstimmung mit dem topographischen Grundschema des
Wirbeltierkörpers in der Sagittalachse — mit Ausnahme der
Epiphyse — hauptsächlich ventral vom CNS und den großen
Das Individnalitätsproblem nnd die Sobordination der Org^ane. 357
Blutgefäßen liegen, sind sie in der Längsachse über alle drei
EOrperregionen annähernd gleichmäßig verstreut. Es handelt
sich in der Kopfregion um Epi- und Hypophyse, in der Brust¬
region um die Gl.thyreoidea und parathyreoidea sowie die Thymus,
in der Bauchregion um die Nebennieren und das chromaffine
System flberhaupt sowie die innersekretorischen Anteile von
Pankreas und Keimdrüsen.
Sie nehmen gegenüber den der Aufbereitung und Resorption
sowie Speicherung der Nahrung dienenden Organen eine gewisse
Sonderstellung ein. >Es scheint nicht bloß die Bereitung che¬
mischer Reiz- und Bedingungsstoffe, sowie ihre Abgabe an das
Blut unter dem tonischen Einfluß des vegetativen Nervensystems
zu stehen, auch die Wirkung selbst kommt wenigstens zum Teil
durch Vermittlung nervöser Elemente zustande« (von Tscher-
m a k ^)). Insofern besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen
beiden, als z. B. Darm und Leber hauptsächlich »Nährstoffe«,
die endokrinen Drüsen aber »Regnlierstoffe« (Asher) in die
Blntbahn abgeben. Dadurch aber gewinnen diese hervorragenden
Anteil an dem »aufbauenden Prinzip, welches man gemeinhin
als dasjenige der Koordination und gegenseitigen Regulation be¬
zeichnet« (Asher*). Diese Gmndfnnktion ist aber in erster
Linie an die Tätigkeit des CNS geknüpft. — Vielleicht darf
man auch der Leber, dem am weitesten cranialwärts gelegenen
abdominalen Stoffwechselorgan, gegenüber dem Darmrohr selbst
eine mehr übergeordnete Stellung zuschreiben; sie stellt, wenig¬
stens für den Eiweiß- und Kohlehydratstoffwechsel, das größte
Zentralorgan des Körpers dar.
Die hier gekennzeichneten Lagebeziehnngen lassen sich kurz
dahin charakterisieren, daß die Subordination der Organsysteme,
ihre Ganzbeitsbezogenheit annähernd ihren räumlichen Ausdruck
findet in der Anordnung längs zweier Körperachsen: die jeweils
übergeordneten oder zentraleren Systeme oder Systemteile liegen
in der Sagittalachse mehr nach dem dorsalen, in der Längsachse
mehr nach dem kranialen Pole zu. Die Beziehungen gelten,
was die Längsachse anbetrifft, hauptsächlich nur für das Ver¬
hältnis der großen Körperregionen untereinander, wie sie als
Kopf, Brust und Bauch unterschieden werden. Jeder dieser
drei Regionen gehört ein Teil des (3NS, Kreislauf- sowie Kraft-
1) M. m. W. 1918, s. 2828.
^ Klin. W, 1922, Nr. 8.
358
Armin Müller,
und StofFwechselsystem an; der jeweils dominierende Teil zeig^
die erwähnte Lagebeziehung.
14. Die Subordinations- und Bsumbeziehnngen innerhalb
des CNS.
Es soll nun dargelegt werden, daß diese Korrespondenz von
Subordination und Raumbeziehnng innerhalb des CNS selbst
jedenfalls in weitem Umfange realisiert ist: das funktionell
relativ übergeordnete Gebilde liegt entweder mehr dorsal- oder
mehr frontalwärts. Eine ganz grundlegende Voraussetzung hier¬
für ist darin gegeben, daß erst im CNS im größten Maße Ver¬
hältnisse der Unter- und Überordnung zur Ausbildung kommen,
deren Abstufung sich so scharf ausprägt, daß eine wahre
Hierarchie zentralnervöser Funktionen entsteht Einige wichtige
Einschränkungen müssen jedoch von vornherein betont werden.
Die Kenntnis der Physiologie zahlreicher nervöser Organteile ist
noch längst nicht weit genug gediehen, um ihre Beziehungen
zu anderen Teilen mit Sicherheit als über-, gleich- oder unter¬
geordnet zu bezeichnen. Das gilt z. B. für das gegenseitige
Verhältnis zahlreicher Teile der grauen Massen des Him-
stammes, so z. B. für das Verhältnis zwischen Striatum und
Pallidum. Ferner darf der obige Satz in seiner Umkehrung
durchaus nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen. Es wäre also
absurd, etwa schließen zu wollen, weil irgend ein nervöses
Zentralgebilde relativ zu einem anderen Zentrum ventral- oder
kaudalwärts liegt, es dahei’ auch zu diesem im Verhältnis der
funktionellen Unterordnung stehen müsse. Es dürfen daher
räumliche Verschiebungen, die gewisse Nervenkeme phylogenetisch
erfahren, nicht notwendig auch als Verschiebung der Snbordi-
nationsbeziehungen gedeutet werden. So wandert nach A r i e n s -
Kappers der ursprünglich dorsalgelegene Facialiskem und der
für die willkürliche Muskulatur bestimmte Teil des Vaguskemes
bei höheren Tieren ventralwärts, der Abducenskem aber in um¬
gekehrter Richtung, wobei erstere in Abhängigkeit von der
Pyramidenbahn geraten. Der Satz von der Übereinstimmung
der funktionellen und der räumlichen Subordination gilt nur für
das Verhältnis der größeren Himabschnitte zueinander, sofern
überhaupt von einer Subordinationsbeziehnng gesprochen werden
kann, dann aber — wenigstens für die menschliche Physiologie —
mit auffallender Regelmäßigkeit. Die Zentralorgane für das
gesamte vegetative Nervensystem liegen, wie besonders die
Forschungen der letzten Jahre ergeben haben, überwiegend nach.
Das IndiTidaalitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 359
dem Vorderende des Hirnstamms zn im Zwischenhim, vomelimlich
in der Umgebung des 3. Ventrikels, also überwiegend ventralw&rts
Ton den rein animalischen Funktionen dienenden Stammganglien.
Es sind die phylogenetisch älteren Teile des Diencephalon, der
Archithalamns, der bei primitiven Vertebraten nach E ding er
noch das höchste nervöse Zentrum überhaupt darstellt Sicher
sind hier bei den höheren Sängern die obersten Zentren für das
sympathische, wahrscheinlich auch für das parasympathische
System lokalisiert. Es dürfte sich nach den vorliegenden Unter¬
suchungen vor allem um Zentralorgane für den Kohlehydrat-,
Salz- und Wasserhaushalt, die Wärmeregulation sowie die
Schweiß- nnd Speichelsekretion handeln. Die Existenz eines
umschriebenen Vasomotorenzentmms, wie sie früher von Ludwig
und seiner Schule im oberen Teile des verlängerten Marks an¬
genommen wurde, scheint nach neueren Untersuchungen fraglich
(Glaser*)). Wahrscheinlich befindet sich im Zwischenhim
auch ein nervöser Apparat, der bei Vermehrung der kristalloiden
Stoffe im Blut gereizt wird und irgend wie mit der Entstehung
der Dnrstempfindnng znsammenhängt. Mit Ausnahme eines
kortikalen Blasenzentmms sind in weiter vom oder dorsalwärts
gelegenen Himteilen keine vegetativen Zentren nachgewiesen.
Die von E. Frank vertretene Annahme eines etwas dorsalwärts
im Linsenkem gelegenen parasympathischen Zentrums für den
Tonus der quergestreiften Muskulatur, das somit in engster Be¬
ziehung zu einer animalischen Funktion steht, würde mit der
hier vertretenen Anschauung von den grundsätzlichen Lage-
beziehnngen durchaus in Einklang stehen. Bechterews
Aufstellungen über mehrere vegetative Zentren (Erektion,
Schweißdrüsen, Darmbewegungen), die in der Hirnrinde gelegen
sein sollen, sind nicht bestätigt worden. Ebenso wenig liegen
nach Glaser sichere Beweise vor, daß vasomotorische Zentren
sich in der Hirnrinde befinden.
Die Lage der höchsten vegetativen Zentren nahe dem kranialen
Polende des MeduUarrohres entspricht jener Korrespondenz von
Subordination und Lagebeziehung in der Längsachse. Als Teile
des Zwischenhims verdanken sie ihre Entstehung dem vordersten
der drei primären BUmbläschen, dem Prosencephalon, in dessen
vordersten Derivat, dem Endhim, auch die höchsten senso-
motorischen Funktionen ihre Lokalisation finden. In der
Sagittalachse scheint wenigstens für Rückenmark, MeduUa
1) L. B. Müller, »Das sympathiacbe Neryenaystem«.
360
Armin MfiUer,
oblongata und Mittelhim die allgemeine Lagebeziehnng folgende
zn sein: Am weitesten dorsal entwickeln sich die sensibeln Ab¬
schnitte, am weitesten ventral die motorischen, in der Mitte je¬
doch die vegetativen Anteile. Die den Zwischenhim - Zentren
nntergeordneten Zentren der einzelnen Rfickenmarkssegmente
liegen auf dem Bfickenmarksquerschnitt sehr wahrscheinlich in
den Seitenhömem der grauen Substanz zwischen VordCT- und
Hinterhom. Sie folgen also nicht den oben angeführten Lage¬
beziehungen der animalischen nnd vegetativen Organsysteme zu
den Polen der Sagittalachse. Wohl aber stimmt damit durchaus
die Lage des Stammes des autonomen Systems, des Truncus
sympathicus, überein, dessen zelluläre Elemente in embryonaler
Zeit — nach den umfassenden Untersuchungen von Euntz —
aus dem Verband des Medullarrohres durch die vordere und
hintere Wurzel ventralwäits in die Gegend des Grenzstranges
auswandem.
Aus der Gesamtheit der die Tätigkeit der quergestreiften
Muskulatur zusammenordnenden Zentren sollen hier als wich¬
tigste Repräsentanten der rote Eem, das Eleinhim, die großen
Stammganglien und die motorischen Rindenzentren in ihren
gegenseitigen Beziehungen berücksichtigt werden. Gerade durch
die klinisch-pathologische Forschung der jüngsten Vergangen¬
heit ist das Verständnis für den äußerst komplizierten »Aufbau
der Willkürbewegung« ganz wesentlich gefördert worden. Man
hatte seit der Entdeckung der großen cortico-musknlären Leitungs-
bahn eben der Pyramidenbahn überwiegend sein Interesse zu¬
gewandt; zahlreiche andere zentrifugale Bahnen waren — mit
Ausnahme der aus dem Eleinhim und ans dem roten Eeme
kommenden Bahnen — in ihrer physiologischen Bedeutung zu¬
meist noch unbekannt geblieben. Die nähere Eenntnis alles
dessen, was zum »amyostatischen Symptomenkomplex« gehört,
hat die Einsicht erschlossen, daß auch die großen Stammgang¬
lien, das Striatum und Pallidum durchaus unentbehrliche Funk¬
tionen für die Totalität der Willkürhandlnng erfüllen. Sie
stellen gewissermaßen Seitenschaltnngen zur cortico-muskulären
Hauptbahn dar, die ihre Funktionen nnabhängig von aller Be-
wußtseinstätigkeit vollziehen. Schon länger war bekannt, daß
das Eleinhim das Organ des >Statotonus«, der allgemeinen Er¬
haltung des Eörpergleichgewichts beim Gehen und Stehen ist.
Es stellt das komplizierte Zentrum eines Reflexbogens dar,
1) vergl. Qnensel, Med. Klin. 1922, S. 1017.
Das IndiTidnalitfttsproblem and die Sabordinatioii der Organe. 361
dessen zentripetaler Schenkel Ton den spino-cerebellaren und
den vom Yestibnlaris- nnd Deiters’sehen Eeme kommenden
Bahnen gebildet wird. Sein zentrifugaler Schenkel, der sowohl
fördernde wie hemmende Regolationen leitet, führt zu dem ihm
nntergeordneten, annähernd ventralwärts gelegenen roten Eem
(s. hierzu Bostroem, Amyostatischer Symptomenkomplex,
1922, S. 163). Mit großer Wahrscheinlichkeit darf angenommen
werden, daß dieser gesamte Eleinhimapparat — abgesehen vom
Stimhim — noch einem anderen weiter vom gelegenen Apparat
untergeordnet ist, dem Linsenkem, der vermittels des Eleinhims
durch hemmende und fördernde Impulse den gesamten Tonus
der quergestreiften Muskulatur beeinflußt
Anmerkung: Die jüngsten Erfahrungen der Neurologie haben
dazu geführt, gewisse Teile der großen basalen Ganglien als »Stria¬
tum < und »Pallidnm« zusammenznfassen. Nncl. candatus nnd
Pntamen (der äußere Teil des Linsenkems) bilden nunmehr das
Striatum, während der Globus pallidus, der innere Teil des
Linsenkems, nur noch als Pallidnm bezeichnet wird. Das Palli¬
dum gehört phylogenetisch zu den ältesten Teilen des Him-
stammes nnd ist schon bei den Fischen ausgeprägt. Erst bei
den Reptilien entwickelt sich oral- oder frontalwärts von ihm
das Striatum. Nur dieses gehört wenigstens nach Spatz dem
Endhim, jenes aber dem Zwischenhim an. Das phylo- nnd
embryogenetisch ursprünglich vor dem Pallidum gelegene Stria¬
tum erfährt nun eine Verschiebung kaudal- nnd zugleich lateral-
wärts sodaß aus der ursprünglichen Hintereinanderlagemng
eine teilweise Nebeneinanderlagerung wird. Die Verschiebung
erfolgt durch das enorme Wachstum der Hemisphärenbläschen
des Endhims auch nach rückwärts, was bei den höheren Säuge¬
tieren schließlich zu einer Überlagerung des Zwischen-, Mittel¬
und Hinterhims führt. Es ist bedeutungsvoll, daß nach den
neuesten Ergebnissen der Neurologie recht wahrscheinlich das
Striatum regulierende, hemmende nnd fördernde Impulse dem
Pallidnm zusendet. Dieser funktionellen Beziehung der Subordi¬
nation würde die räumliche Anordnung zum mindesten in der
ursprünglichen Anlage entsprechen, wobei die spätere Ver¬
schiebung letzten Endes mit der überragenden Großhiment-
wicklnng nnd den gegebenen Raumverhältnissen der Schädel¬
kapsel in Zusammenhang zu bringen ist
Die Erfahrungen über den amyostatischen Symptomenkom¬
plex, besonders auch über den Parkinsonismus haben gezeigt,
wie bei gewissen Erkrankungen die normalerweise antomatisch
362
Armin Mttller,
ablanfenden Hilfs- and Mitbewegxmgen ansfallen und zum Teil
durch Willkürbewegungen ersetzt werden. Eben diese Er¬
fahrungen der Pathologie haben erst das außerordentlich kompli¬
zierte Znsammenspiel der verschiedensten nervösen Funktionen
näher erkennen lassen, das zum Zustandekommen einer geord¬
neten Handlung, eines Ganzen einer motorischen Reaktion not¬
wendig ist. Zu dieser geht die entscheidende Initiative von
den >höchsten« Eoordinationszentren aus, in ihrem Gesamt-
verlauf sind aber sehr zahlreiche unbewußt arbeitende, »tiefere«
Zentren eingeordnet oder zwischengeschaltet Unsere Aufmerk¬
samkeit ist außerstande, sich bei einer Willkürbewegnng jeder
einzelnen überhaupt nötigen Innervation zuzuwenden. Ent¬
sprechend der Differenziertheit der Bewegungsmöglichkeiten ist
eine weitgehendste Arbeitsteilung der nervösen Zentralfunktionen
erfolgt. »Bei den meisten bewußt gewollten, einem bestimmten
Zweck dienenden Bewegungen, insbesondere bei allen ,Hantie¬
rungen*, d. h. bei all den zahlreichen Zweckbewegungen mit
unseren Händen ist die Zahl der an der Ausführung der ge¬
wollten Zweck' oder Zielbewegung unmittelbar beteiligten
Muskeln eine verhältnismäßig geringe. Unsere direkte, auf die
auszuführeude Bewegung gerichtete Aufmerksamkeit beschäftigt
sich dementsprechend nur mit einer kleinen Zahl von Muskeln,
welche die Hand und die Finger in der bestimmten zweckent¬
sprechenden Weise zu bewegen haben. Daß aber diese Be¬
wegungen in der gewollten Weise vollkommen richtig und
mühelos ausführbar sind, wird nur durch die gleichzeitige völlig
gesicherte statische Fixation des ganzen Armes und ebenso
fernerhin des ganzen Körpers ermöglicht« (Strümpell^). Außer
diesen »myostatischen« Innervationen laufen aber auch noch
andere Bewegungssimpulse einher, die der Willkür ebenfalls
normalerweise mehr oder weniger entzogen sind. Es sind das
außer den synergischen Mitbewegungen, die der möglichst öko¬
nomischen Gestaltung des Bewegungsvorganges dienen, noch
zahlreiche Hilfs- oder Nebenbewegungen, die die Hauptbe-
wegungen ergänzen (siehe hierzu und zum folgenden Bostroem*).
So ist beim Einschlagen eines Nagels die Aufmerksamkeit in
erster Linie auf das zu treffende Ziel gerichtet, diesem gilt die
Hauptbewegnng, das Auf- und Abwärtsschwingen des Hammers.
Daneben gehen zahlreiche automatische, oft nicht geahnte Hilfs .
1) Nearol. Centralbl. 1920 Nr. 1.
2) Ztschr. f. d. ges. Nenrol. a. Psych. 1922, S. 444.
Das IndiTidaalitfttsproblem and die Subordination der Organe. 363
bewegnuigen einher, die das »Spielen« des Hammergriffs in der
Faust, den Ausgleich einer evtl. Verdrehung desselben, die
Regulierung der den Antrieb bewirkenden Muskelkraft usw.
betreffen. In sehr charakteristischer Weise fallen bei zahl*
reichen Kranken mit Parkinsonismns infolge der Schädigung
snbcorticaler Zentren, besonders von Teilen der großen Stamm¬
ganglien, alle jene erwähnten Hilfs- und Nebenbewegungen aus.
»Die Kranken sind darauf angewiesen, ausgefallene normaliter
automatisch ablaufende Bewegungen dui’ch Willkttrbewegnngen
zu ersetzen. Sie sind so genötigt, jeder an sich belanglosen
Hilfsbewegnng ihr besonderes Augenmerk znzuwenden. Dadurch,
daß der Ausführung von Haupt- und Nebenbewegungen dieselbe
Beachtung geschenkt werden muß, verliert die Hauptbewegnng
an Bedeutung, es tritt eine gewisse Nivellierung der Be¬
wegungen ein« (Bostroem 1. c. S.459). Man darf hiervon
einer Analogie zu einer Erscheinung aus der Pathologie der
Sinnesorgane sprechen: Patienten mit hochgradiger konzen¬
trischer Gesichtsfeldeinschränkung vermögen nur mit der Macula
zu sehen. Um den Ausfall der peripheren Netzhautgebiete zu
kompensieren, muß mit Hilfe einer dauernden Stellungsverände-
rung der Gesichtslinie jeder Gegenstand im Blickfeld gewisser¬
maßen Punkt für Punkt abgetastet werden. Die Totalität eines
lebendigen Gesichtseindrucks mit seinen verschiedenen Deut¬
lichkeitsgraden der einzelnen Bildkomponenten je nach ihrer
Entfernung vom Netzhautzentmm wird in ein mosaikartiges
Nebeneinander unznsammenhängender Detaileindrücke aufgelöst.
So wird bei gewissen Erkrankungen der großen Stammganglien
das Harmonische, gleichzeitige, subordinierte Zusammenwirken
coiücaler und snbcorticaler Zentren zerlegt in ein höchst un¬
vollkommenes Nacheinander einzelner Elementarhandlungen.
Das in diesem Zusammenhang Bedeutungsvollste ist, daß normaler¬
weise alle sogen, myostatischen Innervationen sowie die Leitung
von Hilfs- und Nebenbewegungen zum größeren Teil jedenfalls
von »tieferen« Zentren ansgehen, die eigentliche Hauptbewegnng
jedoch ihre Impulse vom »höchsten« Koordinationszentmm im
Cortex empfängt. Jedoch wird nicht nur die Innervation der
Hauptbewegung vom Cortex geleitet, sondern es wird von hier
ans offenbar auch der gesamte motorische Plan, wie er aus der
überschauenden Beurteilung der jeweiligen Gesamtsituation des
Individuums entspringt, durch bestimmte Impulse den niederen
Zentren mitgeteilt, die nunmehr im Rahmen des Ganzen ihre
Teilfnnktion mehr oder weniger selbständig unter der Schwelle
364
Armin Müller,
des Bewnfitseins ansfübren. Ja, dieser cortical bedingte Gesamt¬
plan übt offenbar noch eine entscheidende Wirkung anf den
Ablanf primitiver Bückenmarksrefleze ans. Hieraus erhellt die
alles überragende, ganzmacbende Funktion desjenigen Himab-
schnitts, der dem Endhim, dem Telencephalon, in dorsaler
Richtung entwachsen, ist und das vordere Polende der Körper-
l&ngsachse bezeichnet. Das Neencephalon mit der Großhirn¬
rinde hat insbesondere beim Menschen immer mehr snbcorticale
Funktionen, die anf primitiveren Stufen noch relativ selbständig
sind, unter seine Herrschaft gezwungen, so daß Steiner von
einem Gesetz der »Wanderung nach dem Kopfende« sprechen
konnte. Das Sehen, die willkürliche Motilität ist bei niederen
Wirbeltieren noch an die Tätigkeit niederer Zentren allein ge¬
knüpft. »Beim Menschen haben alle diese Leistungen ihre
Hauptvertretungen im Cortez, wenigstens eine solche Vertretung,
welche für das Zustandekommen der Funktion unerläßlich ist.
Der Fisch »erkennt« ohne Vierhügel, der rindenblinde Mensch
sieht, aber er »erkennt« nichts mehr. Der riudengelähmte
Hund kann nach wenig Wochen wieder von seinen Extremi¬
täten Gebrauch machen, der rindengelähmte Mensch bleibt lahm«
(H. Vogt^). Während die Olfactoriusbahnen bei den Fischen noch im
Hyposphärinm (corpns Striatum) endigen, geht die Riechstrahlung
von den Reptilien an zu einem großen Teil zu einem bestimmten
Abschnitt des Palliums. — Bei niederen Vertebraten ist nur
der geringste Teil der psychischen Funktionen cortical lokali¬
siert; bei den höheren Formen wandern diese mehr und mehr
in die Stimrinde hinauf. Beim Menschen endlich scheint nur
noch die Affektivität gewisse Beziehungen zum Himstamm zu
haben; das seelische Leben ist ganz überwiegend an die Tätig¬
keit des Großhirns und seiner Rinde gebunden.
Die hier dargelegten Beziehungen zwischen physiologischer
Dignität und Topographie der motorischen Zentren finden eine
wichtige Ergänzung in den Lagebeziehungen, die die haupt¬
sächlichste Auswirkung des Motoriums, die Sprechwerkzeuge in
der Kopf- und Halsregion, denen sich die Lungen anschließen,
sowie die obere und untere Extremität betreffen. Den Sprech¬
apparaten kommt in der gesamten Motilität des Menschen eine
besonders nahe »Ganzheitsbezogenheit« zu. Die Sprache darf
wohl mit Recht als der individnalisierteste und unmittelbarste
1) Medic. natnrwiss. Arch. Bd. ü, 1910, S. 81.
Das Individnalitätsproblem und die Sabordinstion der Organe. 365
Ansdruck aller höheren seelischen Tätigkeit, insbesondere des
begrifflichen Denkens angesprochen werden. Die Bedentnng
des Wortes, des Wortsymbols für alles Denken ist so groß, daß
man früher an ein Denken ohne mehr oder weniger deutliche
sprachliche Formnliernng überhaupt nicht glaubte. Erst die
neuere Denkpsychologie hat es wahrscheinlich gemacht, daß es
neben dem anschanlichen in Wortsymbolen erfolgenden Denken
anch ein unanschanliches noch nicht sprachlich gefaßtes Denken
gibt Alle Bewegungen der Hand, wohl auch noch durch Übung
erworbene Handfertigkeiten, die an den individuellen Besitz des
einzelnen gebunden sind und nicht vererbt werden, bleiben
immer in engster Abhängigkeit von der Hirnrinde. Dagegen
werden Stehen, Gehen und Laufen, durchaus gattungsmäßige
Leistungen, die in der Kindheit zwar unter unmittelbarster
Einwirkung des Cortex erworben werden, einmal erlernt, weit¬
gehend automatisiert und mechanisch, sodaß etwa nur Beginn,
Tempo und Bichtung corticaler Regelung unterliegt (H. Vogt
1. c.). Die Tatsache, daß nach Hemiplegien die Ausfälle im
Arm meist viel weniger reparabel sind als jene im Bein, hat
sicher zum Teil ihren Grund darin, daß dem Bein von viel mehr
subcorticalen, bei Zerstörung der inneren Kapsel in ihrer peri¬
pheren Verbindung nicht unterbrochenen Zentren Impulse zu¬
gehen, die eine leidliche Gehfunktion auch nach Ausfall corti¬
caler Innervation noch ermöglichen. Die obere Extremität hin¬
gegen ist vielmehr ein direktes Ausführungsorgan der Hirnrinde.
Dem verschiedenen Abstand von Hand und Fuß vom obersten
nervösen Zentrum entspricht ihr verschiedener Wert als seeli¬
sches Ausdrucksorgan. Die Tätigkeit der Hand wird wirklich
zum Prototyp aller >Handlung<, aller räumlicbgestaltenden Ein¬
wirkung auf die Umwelt.
Während der Anteil der hauptsächlichsten motorischen
Zwischenstationen für die gesamte Willkürhandlung wenigstens
in gröberen Zügen bekannt ist, ist die Bedeutung der in den
Verlauf der allgemeinen Körpersensibilität sowie der Leitnngs-
bahnen der Sinnesorgane eingeschalteten Zentren zum großen
Teil noch unerforscht. Sicher stellt das Kleinhirn ein zwischen
Peripherie und Zentrum eingeschaltetes nicht selbständig arbeiten¬
des Organ dar, das die ihm reichlich zuströmenden zentripetalen
Einflüsse synthetisch verarbeitet, und das als eine Art inter¬
mediäres Sinnesorgan zu den Raum- und Lageempflndnngen in
engster Beziehung steht. Ebensowenig wie für das Kleinhirn
kann für den weiter vom gelegenen Thalamus, die große Um-
366
Amin Müller,
schaltestelle sensibel-sensorischer Eindrücke, die genauere funktio¬
neile Bedeutung in bezug auf den bewußten Akt der Empfindung
angegeben werden. Die neuere Forschung macht es wahrschein¬
lich, daß die Bewußtseinsvorgänge nicht ausschließlich an nervöse
Funktionen der Hirnrinde gebunden sind, vielmehr scheint unter
den subcorticalen Gebilden dem Thalamus in erster Linie ein
gewisser Anteil zuznkommen — besonders soweit es sich um
das Affektleben handelt. Die höchste Verwertung der den ein¬
zelnen Sinnesorganen entstammenden Eindrücke sowie das > Er¬
kennen« wird wenigstens beim Menschen allein durch die Tätigkeit
des Cortex vermittelt. So wird die abschließende Verarbeitung,
die die Mndrücke der Oberfiächen- und Tiefensensibilität in den
zentralen Projektionsfeldem der Körperfühlsphäre erfahren, er¬
sichtlich ans den Ausfällen bei Erkrankungen der betreffenden
Kindengebiete. Es leidet die Wahrnehmung elementarer Sinnes-
qnaUtäten nur relativ wenig, umsomehr dagegen die znsammen-
fassende Verwertung zu größeren* Komplexen, die sich ans
elementaren Berühmngs-, Druck- undLageempfindnngen znsammen-
setzen. Die sogen. Stereoagnosie besteht in dem Unvermögen,
ganze Gegenstände oder wenigstens wichtige Formeigenschaften
oder Oberfiächenbeschaffenheiten zu erkennen. Der Stellung der
Agnosien im weiteren Sinne unter den Sensibilitäts- und senso¬
rischen Störungen entspricht die der Apraxien unter den Motili¬
tätsstörungen. Beide Male fällt eine letzte zentrale Znsammen-
ordnnng ans, die an die Funktion bestimmter Rindengebiete
gebunden ist, während die nachgeordneten Zwischenzentren als
solche in ihrer Funktion nicht beeinträchtigt sind.
Die bisherigen Betrachtungen galten den Abhängigkeitsbe-
ziehnngen von corticalen und subcorticalen Zentren oder von
subcorticalen Zentren untereinander. Für das Verhältnis der
einzelnen Rin den teile untereinander ist zunächst an die domi¬
nierende Stellung der linken über die rechte Hemisphäre zu
eriunem, wie sie die Aphasie- und die Apraxielehre überhaupt
ergeben hat Es liegt also hier eine zweifellose Subordination
vor, ohne daß ihr eine räumliche Lagebeziehung in der Längs¬
oder Sagittalachse des Körpers entspricht. Eine solche Über¬
einstimmung wäre aber dann festzustellen, wenn man berechtigt
ist, dem Stimhim, das die dorsale Begrenzung des vorderen
Poles der Körperachse bildet, eine gewisse Sonderstellung gegen¬
über den übrigen Rindenabschnitten im Sinne der Überordnung
zuzuerkennen. Es ist wohl Gemeingut der modernen Gehim-
physiologfie, daß alles psychische Geschehen an die Funktion
Das IndiTidoalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 367
des gesamten Rindenapparates gebunden ist. Und sofern von
einer Lokalisation gewisser Funktionen die Rede ist, so kann
das nur bedeuten, daß die Erregung bestimmter Rindengebiete
fflr das Zustandekommen der betreffenden Vorgänge durchaus
unentbehrlich ist, keineswegs aber ausschließlich in Betracht
kommt; yielmehr ist zumeist mehr oder weniger eine »Gemein¬
schaftshandlung« aller Rindenteile anzunehmen. Fflr die Annahm e
einer engeren Beziehung des Stimhims zu den höchsten seelischen
Funktionen sprach vor allem, daß mit der Zunahme der intellek¬
tuellen Eigenschaften in der Reihe der Säugetiere eine annähernd
parallele Entwicklung des Stimhims einhergeht (E ding er),
während die Erfahrungen der Pathologie zu nicht eindeutigen
Resultaten gefflhrt hatten. Ein besonderer Anteil an den höheren
seelischen Funktionen war dem Stimhim n. a. von Flechsig,
Oppenheim, Hitzig zugesprochen worden. In jflngster Zeit
hat Goldstein^) das Stimhim als höchstes Regulationszentrum
angesprochen. Auch er verwahrt sich gegen das Mißverständnis
einer umschriebenen Lokalisation psychischer Vorgänge. Auch
er nimmt eine Leistung der Gesamtrinde an, >in der die ein¬
zelnen Abschnitte nur einzelne Momente liefern, die wir nur
durch Abstraktion voneinander trennen«. G. weist auf »die
engen anatomischen und funktionellen Beziehungen des Stimhims
zum Kleinhirn, dem Stammgsmglienapparat, den sensomotorischen
Apparaten der Rinde sowie der besonders den psychischen
Leistungen vorstehenden gesamten Rinde« hin. »Das Stirnhirn
reguliert die durch diese abhängigen Apparate vermittelten
reflektorischen und automatischen Leistungen nach den Er¬
fordernissen der gesamten psychischen Situation.«
Das Stimhim ist »eine Art Stellapparat, vermöge dessen der
Organismus die Möglichkeit hat, auf einen Reiz immer unter
Berücksichtigung der ganzen früheren und gegenwärtigen Reize
so zu reagieren, daß daraus eine der subjektiven und objektiven
Gesamtsituation entsprechende sinnvolle Reaktion erfolgt«.
Alles was bisher über die Übereinstimmung von Ordnungs¬
und Lagebeziehungen zu der Längs- und Sagittalachse des
Wirbeltierkörpers gesagt worden ist, läßt sich dahin zusammen¬
fassen: mit auffallender Regelmäßigkeit, wenn auch nicht mit
exakter Gesetzmäßigkeit, ist eine Topographie der großen Organ¬
systeme, ganz besonders aber der hauptsächlichen Gliederung
des CNS in dem Sinne nachweisbar, daß die Teile mit größerer
1) D. m. W. 1923, S. 836. Medic. KHnik 1923, Nr. 28 u. 29.
B68
Ar min MüUeri
Ganzheitsbezogenheit jeweils dorsal- oder besonders kranial- bzw.
frontalwärts gelegen sind. Für die vegetativen Funktionen gilt
dies für die Beziehungen der »segmentalen« Bückenmarkszentren
zu den höchsten »globalen« vegetativen Zentren im Zwischenhim,
für die sensiblen Funktionen für das Verhältnis des Eleinhims
als sensibles Zwischenorgan zum Thalamus und schließlich
der Eörperfühlssphäre in der Binde. Für die Bewegungsfunktionen
ist das Verhältnis der motorischen Bindenzentren zur Gesamtheit
der subcorticalen Hilfsapparate entscheidend. Innerhalb dieser
gilt sehr wahrscheinlich eine Subordinationsbeziehung zwischen
Linsenkem (wahrscheinlich auch zwischen Sti'iatum und Pallidum),
Kleinhirn und rotem Kern. In der Binde selbst kommt wahr¬
scheinlich dem Stimhim der höchste regulierende, ganzmachende
Einfluß zu. Dieses Strukturgesetz äußert sich beim Menschen
besonders auch in der räumlichen Anordnung der Sprachregion,
der oberen und unteren Extremität entsprechend ihrem Werte
als Ausdrucksorganen corticaler Funktionen.
Es kann sich im Bahmen dieser Arbeit nur darum handeln,
diese Eigentümlichkeit als Tatsache festzustellen. Vidieicht
dürfte ihr vom Standpunkt der gesamten Biologie der Wirbel¬
tiere eine ebensolche Zweckmäßigkeit zukommen wie den prin¬
zipiell anderen Lagebeziehungen in anderen Tierstämmen, z. B.
dem ventralen Strickleiternervensystem und dem dorsalen Herz¬
schlauch bei den Arthropoden. Wie weit hier Organisations¬
oder Anpassungsmerkmale im Sinne Nägelis vorliegen, soll
hier nicht weiter verfolgt werden.
15. Die Herabwanderung der Keimdrüsen als Ansdrnek
ihrer negativen Ganzheitsbezogenheit.
Es dürften nunmehr die Voraussetzungen gegeben sein, um
die oben ausführlich erörterten Lageveränderungen der Keim¬
drüsen vom Standpunkt der »verstehenden Biologie« in Betracht
zu ziehen und ins rechte Licht zu setzen. Es ist offenbar, daß
es in keiner Weise gelingt, die große Verschiebung von einem
Orte, der noch kranialwärts von den Nieren zu suchen ist, bis
an das kaudale Ende des Körpers in irgend einer Weise als
zweckmäßig zu erweisen. Daß die Topographie für die Funktion
der Keimdrüsen an und für sich gänzlich bedeutungslos ist,
geht daraus hervor, daß z. B. beim Elefanten, dem einzigen
Beispiel eines phylogenetisch in jeder Hinsicht ursprünglich
höheren Säugetieres, bei dem der Descensus unterbleibt und die
Keimdrüsen in nächster Nachbarschaft der Nieren verbleiben.
Du Individaalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 369
sie ihre Funktion offenbar genau so zweckentsprechend erfüllen
wie bei Vertretern mit vollständigem Descensus. Dem Hinweis,
daß durch Wanderung an die Stelle der unmittelbaren Verwer¬
tung des Keimmaterials eine Verkürzung der Leitungswege ge¬
wonnen würde, muß entgegengehalten werden, daß dieser Gewinn
durch Verlängerung der zu- und abführenden Blutgefäße vom
ursprünglichen Entstehnngsorte ans zum mindesten wettgemacht
wird. Daher beruhen denn auch die bisherigen Erklärungs¬
versuche, besonders die von K1 a a t s c h, auf rein mechanischen Vor¬
aussetzungen. Dem Versuche Meisenheimers, dem äußeren
Descensus der Hoden und der Bildung des Skrotums eine bio¬
logische Bedeutung im Sinne eines sexuellen Schanmerkmales
zu vindizieren, konnte nicht allgemein zugestimmt werden. Nur
sekundär erhält das Skrotum nach Entwicklung besonderer or¬
namentaler Schaumerkmale eine solche von Meisenheimer
angenommene Bedeutung. Wohl aber wird der ganze Vorgang
der Eeimdrüseuverschiebung dann »sinnvoll« und »verständlich«,
wenn man sich entschließt, außer der Wirksamkeit eines reinen
Zweckmäßigkeitsprinzips auch noch ein künstlerisch-architek¬
tonisches Prinzip anzunehmen. Beide können sich in der Natur
durchdringen wie die Intentionen der reinen Zweckmäßigkeit
und der Schönheit in der angewandten Kunst Zugleich muß
die Voraussetzung anerkannt werden, daß entsprechend Wnndts
Prinzip der schöpferischen Synthese auch auf biologischem Ge¬
biet durch die synthetische Verbundenheit der Organe neue
Eigenschaften entstehen, die den isolierten Resultanten noch
abgehen, d. h. in diesem Fall die Merkmale der positiven und
negativen Ganzheitsbezogenheit. — Schon die Anordnung der
übrigen Organsysteme, vor allem aber der Aufbau des in sich
am reichsten abgestuften CNS bringt die in ihnen waltenden
inneren Ordnungsbeziehungen — wenn auch nicht völlig adä¬
quat — zum räumlich-sinnlichen Ausdruck. Diesem eigentüm¬
lichen Ban mit seinem inneren Strukturgesetz, das wahrschein¬
lich einem reinen Zweckmäßigkeitsbedürfnis entspricht, fügt
sich — einem rein außerzweckhaften künstlerischen Prinzipe
folgend — durchaus harmonisch und sinnvoll die Lagerung der
Keimdrüsen ein. Polarität und Steigerung sind die zwei großen
Triebräder der Natur, sagt Goethe. Das CNS, die Verkörpe¬
rung des synthetischen oder Integrationsprinzips, der eigentliche
Träger der tierischen Individualität, wird mehr und mehr zum
beherrschenden Organsystem in der aufsteigenden Reihe der
Säugetiere-, subjektiv offenbart in dem beim Menschen zum
AroUr tOr Psychologie. XLVUl. 24
370
Armin Müller,
Durchbruch kommenden Ich- oder Persönlichkeitsbewufitsein.
Seinen Brennpunkt findet das CNS am dorsokranialen Ende der
Eörperlängsachse. In gleichem Ausmaß wächst die natürliche
Spannung zu dem ihm entgegengesetzten Prinzip der Desinte¬
gration oder Teilung, verkörpert in den männlichen und weib¬
lichen Keimdrüsen. Beide Prinzipien wirken in polar entgegen¬
gesetzter Bichtung. Ganglienzellen verlieren wahrscheinlich
schon in der Embryonalzeit ihre Teilungsfähigkeit und zeigen
unter allen Körpergeweben das Minimum von Regenerations¬
fähigkeit. Eben darum fordern sie geradezu das ihnen entgegen¬
gesetzte Prinzip fortwährender Teilung und Verjüngung. Die
Begrenzung der Individualität in der Zeit, der Tod, setzt
die Unsterblichkeit des Keimplasmas voraus. Diese polare
Gegensätzlichkeit, die in der Gruppe der Säugetiere ihre stärkste
Spannung findet, kommt räumlich sichtbar zum Ausdruck in
der Verlagerung der Keimdrüsen zum aboralen Pol. Wie der
gewissermaßen immer stärker positiven Ganzheitsbezogenheit
des CNS die negative Ganzheitsbezogenheit der Keimdrüsen
gegenübersteht, so entspricht der Wanderung der entscheidenden
Regulationszentren nach dem Kopfende die Wanderung der
Keimdrüsen nach dem kaudalen Körperende. Aber auch in
sagittaler Richtung erfolgt wenigstens bei den männlichen Keim¬
drüsen eine Lageverschiebung, die dem oben erörterten Struktur¬
gesetz entspricht und die durch den äußeren Descensus bis anf
den Grund des Skrotums noch eine Verstärkung erfährt. Beim
Weibe finden die Keimdrüsen ihre definitive Lagerung in nächster
Nähe des Genitalschlauches zwischen Blase und Rektum. Viel¬
leicht darf die Lage des Uterus und seiner Adnexe mit einem
Schutzbedurfnis der sich entwickelnden Frucht in Zusammen¬
hang gebracht werden.
Eine einzige Ausnahme, die mit der hier gegebenen Erklärung
des Descensus nicht übereinstimmt, bilden die Elefanten, die
trotz ihrer hohen Entwicklungsstufe gleich den primitivsten
Säugetieren eine echte Testicondie anfweisen: ihre Keimdrüsen
bleiben zeitlebens am Orte ihrer Entstehung in nächster Nähe
der Nieren. Auch die mechanische Theorie von Klaatsch
vermag nicht anzugeben, warum die sonst als wirksam ange¬
nommenen mechanischen Faktoren hier nicht ebenfalls zu einem
Descensus geführt haben. Es muß jedoch hervorgehoben werden,
daß die Elefanten nicht nur an den weiblichen Genitalien
(Uterus bicomis), sondern auch an anderen Organen (z. B. Bau
Das IndiTidualitätsproblein and die Subordination der Organe. 371
des Handskeletts, das EQeinhim bleibt vom Pallinm fast unbedeckt)
primitive Merkmale anfweisen.
16. Die Lage der Mammarorgane.
Zum Schloß mögen noch einige Bemerkungen öber die Mammar¬
organe und ihre Lagebeziehungen Platz finden. Ihr Verhältnis
zur Individnalität des Organismus unterscheidet sich grundsätz¬
lich von dem der Keimdrüsen dadurch, daß durch sie nicht lebendiges
mit außerordentlicher Vitalität begabtes Zellmaterial zur Aus¬
scheidung gelangt, sondern toter Stoff. Ihre Lage zeigt zumeist
engste Beziehungen zu ihrer embryonalen Entstehung aus den
von den Achselhöhlen zur Leistenbeuge konvergierenden Milch¬
leisten. Es können alle Anlagen in kontinuierlicher Reihe fort-
bestehen oder aber pektorale und inguinale Gruppen isoliert oder
in Kombinationen restieren. »Maßgebend für Zahl, Anordnung
und Lage der Zitzen sind zweifellos die allgemeinen Lebens¬
formen des betreffenden Tieres nach Aufenthalt, Bewegung, Nah¬
rungserwerb, Jungenpfiegec (Meisenheimer*). »So stehen
die Zitzen bei manchen Fledermäusen achselständig, sie sind bei
einem Halbaffen, Hapalemur, auf die Schultern verschoben, sie
finden sich bei gewissen Nagetieren, wie vor allem bei Myopo-
tamus, rückenwärts, bei einem anderen Nager, Capromys, auf
den Oberschenkeln, bei einem Insektenfresser, Solenodon, auf den
Sitzhöckem. Erleichterte Zugänglichkeit für die Jungen mag
wohl überall hier die Absonderlichkeit der Lage hervorgerufen
haben, wie es leicht einleuchtet für die an der Brust der Mutter
angeklammerten Jungen von Fledermäusen und Halbaffen, für
die auf dem Rücken der schwimmenden Mutter sitzenden Jungen
von Myopotamus.«
17. Integration und Desintegration bei Tier und Pflanze.
Vielleicht darf an dieser Stelle auf ein merkwürdig polar
entgegengesetztes Verhalten der pflanzlichen und tierischen Or¬
ganisation hingewiesen werden. Goethe sagt einmal zu E c k e r -
mann*): »Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich
ausdrücken«: Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt
zuletzt ab mit der Blüte und dem Samen. In der Tierwelt ist
es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten
1) L c. S. 693.
2) Insel-Verlag 1921, S. 448.
24*
372
Amin Müller,
ZU Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden
Tieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich an¬
fügen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem
sich die £[räfte konzentrieren. Was so bei einzelnen geschieht,
geschieht auch bei ganzen Korporationen. Die Bienen, auch
eine Reihe von Einzelheiten, die sich aneinanderschließen, bringen
als Gesamtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht und
als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienenkönig^). Wie
dieses geschieht, ist geheimnisvoll, schwer anszusprechen, aber
ich könnte sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe. So
bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu
Schutz und Heil an der Spitze stehen.« Mit tiefbegründetem
Recht setzt Goethe die Blüte, den Träger der Generations¬
organe, mit dem Kopfe, »in welchem sich die Kräfte konzentrieren«,
in Parallele*). In der Blüte erfahren die Seitenorgane des
Stammes (siehe Goethes Metamorphose der Pflanze) ihre stärkste
Arbeitsvereinignng und zugleich Differenzierung in Kelch-, Blü¬
ten-, Staub-, Fruchtblätter usw. Bei den Kompositen können
sogar die in einem Köpfchen zusammengefaßten Einzelblüten noch
untereinander different werden. Wie nun die Blüte innerhalb
der einzelnen Pflanze den reichsten Fnnktionszusammenhang, den
höchsten der Pflanze erreichbaren Mannigfaltigkeits- und Indivi-
dualitäsgrad darstellt, so erreicht das CNS in der Schädelkapsel
— wenn auch in ungleich potenzierterem Maße — die stärkste
Differenzierung, den höchsten Individualitätsgrad aller tierischen
Gestalt. Während aber diese beim Tier an das Prinzip der
Integration geknüpft ist, verbindet sich jene höchste Vollkommen¬
heit bei der Pflanze mit dem der Desintegration.
18. Epikritische Bemerkangen.
Es ist eine Grundvoraussetzung dieser Arbeit, daß dem Be¬
griff der Subordination als einen Wesensbestandteil der korre¬
lativen Begriffe das Ganze und die Teile nicht nur eine trans¬
zendentale Bedeutung znkomme im Sinne der Kategorien der
kritischen Philosophie, sondern vielmehr, daß mit diesem Begriffe
eine Wesenseigentümlichkeit der lebendigen Natnrdinge »an sich«
erfaßt werde. Nm* unter jener Voraussetzung ergaben sich jene
eigentümlichen Parallelen zwischen Lage- und Subordinationsbe-
1) Gemeint ist die Königin.
2) Von der Heranziehung der irrtümlichen „Wirbeltheorie des Schädels^
soll hier abgesehen werden.
Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 373
ziehnngen, die dazu führten, neben dem allgemein anerkannten
Zweckmäßigkeits-Prinzip noch die Wirksamkeit eines künst¬
lerischen, von Ansdruckstendenzen geleiteten Prinzipes anzuer-
kennen. — Neben der grundsätzlichen Anerkennung der Kate¬
gorie Ganzheit, die >im Rahmen der Erfahrung als inhaltlich
erfüUt geschaut wird« (Driesch), verlangt die fundamentale
These Kielmeyers von der Entgegensetzung der orga¬
nischen Grundkräfte unbedinte Geltung: »am wenigsten vertragen
sich Sensibilität und Reprodnktionskraft zusammen«, eine Er¬
kenntnis, die Bergson — offenbar ganz unabhängig von K. —
durch das Bild ausdrückt, daß die Individualität im eignen Haus
ihren Feind, die Fortpflanznngstendenz, beherberge. Dieser Satz
von der polaren Entgegensetzung von Integrations- und Desinte¬
grationsprinzip betrifft die tiefste Wesenskonstitution aller höhem
animalischen Individualität. —
Über die Anwendung dieser Grundvoraussetzungen mögen
folgende epikritische Bemerkungen Raum finden. Die bisherigen
Theorien über den Deczensus, die von Klaatsch und von
Meisenheimer, sind noch durchaus kontrovers und in vielen
Voraussetzungen angreifbar. Meisenheimer nennt die Theorie
von Klaatsch rein hypothetisch und zum Teil im direkten
Gegensatz zu tatsächlichen Befunden stehend. Beide Theorien
vermögen über die auffällige Tatsache keine Rechenschaft ab¬
zulegen, daß die Keimdrüsen noch bei den Reptilien an der
hinteren Bauchwand festgeheftet sind, bei den Säugetieren aber
durch eine Bauchfellduplikatur eine besondere Verschieblichkeit
gewinnen. Ferner bleibt nach Klaatsch die Entstehung des
Leistenbandes, das sicher eine nicht unerhebliche Rolle beim
Descensus zu spielen berufen ist, gänzlich unerklärt. Wieders-
heim sowie M. Weber bezeichnen den Descensus in mecha¬
nischer Hinsicht als schwer verständlich, seine morphogenetische
und bionomische Bedeutung als dunkel. Meisenheimers
Auffassung von der allgemeinen Bedeutung des Skrotums als
sexuellem Schaumerkmal auch ohne sekundäre Zierrarten muß
aus tierpsychologischen Gründen zurückgewiesen werden. Die
oben vorgetragene Auffassung knüpft an an die die unverkennbare
Harmonie der topographischen und der Subordinationsbeziehungen
in der Längs- wie in der Sagittalachse, die das Verhältnis der
großen Organsysteme beim Wirbeltier untereinander betrifft,
wie ganz besonders auch den hierarchischen Aufbau des CNS.
Bei diesem offenbart sich jene Harmonie auch an den vomehm-
lichsten Objekten des Psychomotoriums: den Werkzeugen der
374
Armin Müller,
Laut- und Sprachbildong, der oberen und unteren Extremität.
Gewisse oben erwähnte Abweichungen, wie vor allem das ventral
vom Darmtraktus gelegene Herz können jenes Stmktnrprinzip
des Wirbeltierkörpers ebensowenig verneinen lassen wie gewisse
Abweichungen vom Prinzipe der Symmetrie. Bei dieser Sach¬
lage muß es sehr auffallen, daß bei den Säugetieren auch die
Topographie der Keimdrüsen mit jenem Stmktnrgesetz auf Grund
ihrer negativen Ganzheitsbezogenheit ttbereinstimmt, und zwar
bei den männlichen Keimdrüsen besonders auch in der Sagittal-
achse: der dorso-frontalen Lage des Palliums bez. Stim-
hims entspricht die ventro-kaudale Lage der Hoden. Es wäre
jedenfalls sehr merkwürdig, wenn diese harmonische Einfügung
in ein allgemeines Stmktnrgesetz, wie sie durch den Vollzog
des Descensus dargestellt wird, den zufälligen Bedingungen rein
mechanischer Gesetzlichkeit verdankt würde. Ferner ergibt sich
eine auffällige Korrelation zwischen dem phylogenetisch verfolg¬
baren Descensus der Keimdrüsen und dem »Gesetze der Wan¬
derung nach dem Kopfende« (Steiner), das besagt, daß im
Laufe der Phylogenie jeweils stärker ganzheitsbezogene nervöse
Funktionen mehr und mehr kranialwärts bez. rindenwärts loka¬
lisiert werden. Dabei darf keineswegs erwartet werden, schon
bei niedrigen Tierklassen feste topographische Beziehungen im
Sinne einer polaren Entgegensetzung zwischen Nervensystem
und Keimdrüsen anzutreffen. Wo die Funktion ‘des Nerven¬
systems sich in der Vermittlung eines mehr oder weniger ein¬
fachen Beflexvorganges erschöpft, wo nur ein netzförmiges
Nervensystem oder ein Nervenring vorhanden ist, auch statt
eines Gehirns nur ein Zerebralganglion ausgebildet wird, hinter
welchem die Bauchganglien oft an Größe kaum zurückstehen,
kann von einem caractöre dominateur nur in sehr beschränktem
Sinne gesprochen werden. Erst wo es zu einer stärkeren Kon¬
zentration des Nervengewebes kommt, wo sich innerhalb
eines CNS ein eigentliches Gehirn herausgebildet hat, in wel¬
chem schließlich sämtliche animalischen und vegetativen Funk¬
tionen ihre zentrale Repräsentation finden, kann von einem
eigentlichen Träger des Integrationsprinzips gesprochen werden.
Während die niederen Wirbeltiere ein relativ kleines Gehirn
besitzen, dessen Masse von der des Rückenmarks bedeutend über¬
troffen wird, zeigen die höheren Formen das umgekehrte Ver¬
hältnis, und zwar um so entschiedener ausgeprägt, je mehr sich
ihre Organisations- und Individualitätsstufe hebt. Die sich
immer stärker ausprägenden Subordinationsverhältnisse finden
Das Individaalitätsproblem and die Sabordination der Org^ane. 375
ihren Ausdrack in der topographischen Gliederung nach dem
Achsensystem. Anderseits können die Generationsorgane bei
den niederen Formen in bezug auf ihre negative Ganzheitsbe-
zogenheit nicht ohne weiteres mit denen der höheren Formen
auf eine Stufe gestellt werden. Bei den niederen Metazoen,
wo die ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Teilung, Knospung,
Stolonenbildung bis herauf zu den Tnnikaten weit verbreitet ist,
tritt die Bedeutung der Generationsorgane fflr die Fortpflanzung
noch relativ zurück. Erst bei den höheren Formen, wo das
Gefüge der tierischen Individualität weit mehr gefestigt, und
durch entwickeltere Zentralorgane ein innigerer Verband ge¬
schaffen ist, und zugleich das Regenerationsvermögen sich mehr
auf bloße Wnndheilung reduziert, übernehmen die Generations¬
organe endlich ausschließlich das Fortpflanzungsgeschäft und
werden dann erst zum eigentlichen Repräsentanten der Desinte¬
gration. Demnach kann von einer stärkeren polaren Entgegen¬
setzung überhaupt erst bei höheren Formen die Rede sein, bei
denen ein stärkeres Relief der Subordinationsverhältnisse her¬
vortritt. Auf die Frage, warum erst in der Phylogenie der
Säugetierreihe jene allmählich wachsende polare Spannung ihren
topographisch - morphologischen Ausdruck flndet, kann nur all¬
gemein entgegnet werden, daß erst in der Klasse der Säugetiere
als der höchsten Individualitätsstufe, die sich vor allem in der
Entwicklung des Gehirns bez. der psychischen Funktionen kund¬
gibt, jene Spannung ihren höchsten Grad erreicht. Überdies
würde bei niederen Wirbeltieren wie den Fischen, wo die Hoden
als voluminöses Organ von der Schwanz - bis nahe an die Kopf¬
region reichen, die Möglichkeit einer Verlagerung von vornherein
ansscheiden. — Was oben für die phylogenetische Verschiebung
von Teilen des CNS gesagt wurde, muß hier, um Mißverständ¬
nissen zu begegnen, in anderem Sinne nochmals wiederholt werden:
Durchaus nicht jede Verschiebung eines Organes längs einer be¬
stimmten Achse darf mit veränderten Subordinationsbeziehungen
in Verbindung gebracht werden. So liegen bei zahlreichen Rep¬
tilien, sowie allen Vögeln die Nieren in der Beckengegend, bei
den Vögeln insbesondere in die Vertiefungen des Kreuzbeines ein¬
gesenkt. Offenbar spielt hier die Anpassung an veränderte
Ranmverhältnisse, bei den Vögeln auch die Einwirkung der
voluminösen abdominalen Luftsäcke eine entscheidende Rolle.
Etwas anders dagegen dürfte der Descensus des Herzens zu
beurteilen sein. Bei niederen Vertebraten (dem größten Teil
der Anamnier) sowie im Embryonalstadinm auch noch bei höheren
376
Armin MtUler,
Wirbeltieren gehört das Herz der vordersten Körperregion an
und liegt in nächster Nachbarschaft der Kiemendarmhöhle. Je
mehr sich bei höheren Formen eine stärkere Sonderung der
einzelnen Körperregionen herausbildet, und besonders die Kopf¬
region durch Ausbidung eines Halses von der Bmstregion ge¬
schieden wird, erfolgt eine Verlagerung des Herzens samt dem
Respirationsapparat in kaudaler Richtung. Gleichzeitig konzen¬
trieren sich in dem dadurch erst freibeweglich gewordenen Kopf¬
abschnitt mehr und mehr die wichtigsten zentralnervösen Funk¬
tionen, die allmählich eine solche allgemeine Präponderanz gegen¬
über den vegetativen Funktionen gewinnen, daß tatsächlich die
ganzmachende Bedeutung des Herzens, »des Gehirns der vege¬
tativen Organe« (Cuvier), demgegenüber znrücktritt. —
Wie bekannt, hat der Botaniker Nägeli in seiner »mecha¬
nisch- physiologischen Theorie der Abstammungslehre« 1884 im
Gegensatz zu Darwinschen Anschauungen ein »Vervollkomm¬
nungsprinzip «^) aller Entwicklung zugrunde gelegt, durch welches
das Leben zu höheren und höheren Formen emporgetrieben wird.
Im Anschluß an die idealistische Morphologie vertrat N. die
Lehre vom Plan als organisatorischem Prinzip der Organismen,
von dem er die bloße Anpassung an Anforderungen des Milieus
unterschied. So trennte er »Organisations- und Anpassnngs-
merkmale« (siehe oben die entsprechenden Anschauungen G o e b e 1 s).
Nur bei den letzteren, z. B. der gleichförmigen Beschaffenheit der
Stammsucculenten aus den ganz verschiedenen Familien der
Cactaceen, Euphorbiaceen und Asclepiadaceen in Anpassung an
das Trockenklima, spielt Nützlichkeit oder Schädlichkeit eine
entscheidende Rolle. »Der Plan ist es, was die Rose zu einer
Rosacee, die Mistel zu einer Loranthacee, die Tulpe zu einer
monokotyledonen Pflanze macht; unter Anpassung sollen die
Farbe der Rosenblüte, die eigenartigen Wurzeln der Mistel ver¬
standen werden; Eigenschaften, welche der Pflanze durch äußere
Umstände eingeprägt werden*).« An »Organisationsmerkmale«
denkt auch Driesch®), wenn er dem Darwinismus vorwirft,
»daß er prinzipiell niemals die Besonderheit solcher Eigen¬
schaften aufhellen kann, die für ihren Träger indifferent und
bloße Charakterzüge der Organisation im Sinne einer Ordnnng
der Teile sind«. Unter diesem Gesichtspunkt darf auch die
1) was etwa der »Zielstrebigkeit“ bei K. E. v. Baer entspricht.
2) s. Eddl, L c. n S. 870.
3) Phil. d. Org. 1921, S. 265.
Das Individaalitätaproblem and die Subordination der Organe. 377
Yerlagenmg der Keimdrüsen als der Erwerb eines ordnnngs-
haften, sinnvollen Organisationsmerkmales betrachtet werden.
— Wenn anfänglich nützliche Anpassungsmerkmale durch über¬
mäßige Weiterentwicklung ihrem Träger verderblich werden, so
spricht man von Exzeßbildung. Bei dem jungtertiären Säbel¬
tiger Machairodus ist die anfänglich vorteilhafte Vergrößerung
der Eckzähne über das nützliche Maß hinausgegangen und der
ganzen Art verhängnisvoll geworden. Bei den paläozoischen
Fischen Campyloprion und Helicoprion sind Zähne zu monströsen
spiraligen Gebilden verschmolzen, die die Tiere zum Aussterben
brachten. Ähnliches scheint bei manchen Biesenbildungen von
Hörnern und Geweihen stattgefunden zu haben”). Diese Be¬
trachtung dürfte auch für die Bildung des Skrotums in gewisser
Hinsicht zutreffend sein. Das Auswandem der Hoden in ventro-
kaudaler Bichtnng aus der Bauchhöhle heraus stellt ein sinn¬
volles Organisationsmerkmal dar. Da nunmehr aber die Hoden
zweifeUos traumatischer Schädigung viel leichter ausgesetzt sind,
und somit die Skrotalbildung — sofern nicht sekundär sexuelle
Schaumerkmale hinzutreten — sicher mehr oder weniger unzweck¬
mäßig ist, liegt hier vom Standpunkt der bloßen Nützlichkeit
die Entwicklung eines zunächst indifferenten Organisationsmerk¬
males zu einer wenn auch geringfügigen Exzessbildnng vor. In
einem gewissen Zusammenhang hiermit steht auch die durch den
äußeren Descensus in den Hodensack bewirkte Disposition zur
Hemienbildnng.
Die in dieser Arbeit entwickelte Theorie von der Bedeutung
des Descensus würde eine ganz wesentliche Stütze finden, wenn
es gelänge noch andere anßerzweckhafte >Sinnzusammenhänge«,
Organisationsmerkmale als sinnvolle Produkte des künstlerischen
>Gestaltnngstriebes der Natur« (Goebel), »als Andeutungen
des Innern« (Goethe), reine Formengesetze im Sinne einer ob¬
jektiven Ästhetik in der Biologie zu entdecken.
19. Der Ordnungsgedanke im Weltbild von Plato und
Aristoteles.
Die Idee einer Harmonie von topographischen und Rang¬
beziehungen, die oben entwickelt wurde, knüpft an an alte Vor¬
stellungen von Plato sowie von Aristoteles. Plato lehrt
in seiner Staats- und Seelenlehre, daß drei scharf geschiedene
Stände im Staate zu einer höheren Einheit verbunden sind: der
8) 8. Noibaam-Earsten-Weber, Lehrb. d. Biologie, 1914, S. 898.
378
Armin Müller,
Stand der Könige nnd Weisen, der Philosophen, deren yomehmste
Tugend die Weisheit ist, der Stand der Wächter und Soldaten,
denen die Tapferkeit ziemt, nnd drittens die erwerbenden und
produzierenden Stände, die zu Unterordnung nnd Gehorsam yer*
pflichtet sind. Entsprechend dieser dreifachen Abstufung des
Staatsganzen unterscheidet Plato anch an der Einzelseele drei
subordinierte Teile, denen er eine bestimmte Lokalisation zn-
schreibt: die Vernunft, das eigentliche Wesen der Seele, ihr gött¬
licher und unsterblicher Teil, hat ihren Sitz im Kopf; der yor-
wärts drängende muthafte Wille in der Brust; das Reich der sinn¬
lichen Begierden im Unterleib.
Der antike Geist war in den Vertretern seiner klassischen
Philosophie erfüllt yon dem Gedanken eines wahrhaftigen »Kosmos<i
dem Werke einer übermenschlichen ordnenden Vernunft So kam
es, daß ihm die Vorstellung der »Welt« mit der sichtbar ge¬
wordenen sinnyollen »Ordnung« in eins yerschmolz. Dasselbe
Prinzip, das sich in der Verknüpfung der seelischen Rangordnung
mit den Grundgliederungen des menschlichen Körpers aussprach,
fand seine großartigste Ausprägung in dem Bilde, das Aristoteles
yom physischen Kosmos entwarf. Er stellt eine einzige große
Subordinationstotalität dar, eine systematische Hierarchie, die
ihre ersten Bewegungsimpulse yom »unbewegten Beweger«, der
Gottheit, empfängt. Die sichtbare Welt zerfällt in einen himm¬
lischen nnd irdischen Teil, die Welt über und unter dem Monde.
Die himmlische, aus dem Äther bestehende Welt ist durch die
yollkommenere kreisförmige Bewegung charakterisiert, die ihr
allein »natürlich« ist. Der irdischen Welt kommt die gradlinige
Bewegung zu im Sinne der Auf- und Abwärtsbewegung je nach
der Leichtigkeit und Schwere der Elemente. In ihr bewegen
sich die Stoffe des Irdischen, yor allem die Erde selbst, deren
natürlicher Ort »unten«, d. h. im Mittelpunkt des Weltgebäudes
liegt. Ihrem Wesen als schwerer Körper folgend, fällt sie nach
unten. Das Feuer hingegen, dessen natürlicher Ort »oben« ge¬
legen ist, wird durch die ihm einwohnende natürliche Aufwärts¬
bewegung gezwungen, bis an die Peripherie des Himmelsgewölbes
anfzusteigen. Die Erde ruht im Mittelpunkt der Welt. Ihr
schließt sich nach außen an das Wasser, dann die Hohlkngel
des Luftraumes und schließlich die des Feuers. Nach außen yom
Feuer sind in ewiger unyeränderlicher Umdrehung begriffen die
Sphären der himmlischen Welt, der Sterne. Ihr Stoff soll um so
reiner sein, je ferner sie der Erde sind. Der erste unbewegte
Beweger gibt den Anstoß zur Bewegung des äußersten himmlischen
Das Indiyidaalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 379
Kreises, der Sphäre des Fixstemhimmels, der somit seiner Voll-
konunenheit am nächsten steht. Von diesem wird der Bewegungs-
impnls anf die jeweilig inneren Kreise übertragen. Schließlich
wird er, fortgeleitet, auch zur Ursache der Auf- und Abwärts¬
bewegung der irdischen Elemente. — Die Auffassung des Aristo¬
teles von der Fallbewegnng mit ihrer Lehre vom »oben« und
»unten«, dem »natürlichen« und dem »geliehenen« Orte gehört
durchaus der Geschichte an. Und doch ist eine gewisse Verwandt¬
schaft zu dem Strukturgesetz des Wirbeltierkörpers und besonders
seines CNS unverkennbar. Aristoteles irrte, wenn er glaubte
daß es zum »Wesen« des Steines gehöre, nach unten zu fallen
und damit eine besondere räumliche Beziehung zu leichteren
Elementen zu gewinnen, deren »natürlicher« Ort höher liegt als
der seinige. Wohl aber trifft es zu, daß die Keimdrüsen, sofern
sie beim Säugetier nach dem kaudalen Pol der Körperlängsachse
wandern, ihren »natürlichen«, d. h. den ihnen anf Grund ihrer
negativen Ganzheitsbezogenheit zukommenden Ort aufsnchen. Es
gibt einen »natürlichen« Ort, freilich nicht für die Welt des An¬
organischen, sondern nur innerhalb des Achsensystems des Wirbel¬
tierkörpers.
20. Die Idee der Rangordnung in der deutschen Philosophie
der Gegenwart (M. Scheler und E. Spranger).
Oben war als grundsätzliche Voraussetzung dieser Arbeit die
objektive Geltung des Ganzheits- und Subordinationsbegriffs be¬
zeichnet worden. Zugleich wurde darauf hingewiesen, daß da¬
mit auch eine Überschreitung der von Kant gezogenen Erkennt¬
nisgrenzen gefordert wird. Hierdurch ist prinzipiell eine gewisse
Beziehung zu Entwicklungsrichtungen der neuesten deutschen
Philosophie gegeben, die nur angedeutet werden soll, aber auch
nicht verschwiegen werden darf, da jene Kichtnngen zwar nicht
den Anstoß, wohl aber eine wesentliche Förderung und Ermuti¬
gung zu der vorliegenden Arbeit gegeben haben. — In bewußtem
Gegensatz zu der die Neuzeit beherrschenden Auffassung von der
Subjektivität oder Relativität aller Werte versucht Scheler
die Ethik »auf die Idee einer apriorischen Gesetzmäßigkeit des
intentionalen Fühlens und Vorziehens und einer ihr entsprechenden
objektiven Rangordnung der Werte selbst aufzubauen.«
Die höchste materiale Wertstufe, der sich die übrigen unter-
1) »Ethik« in Jahrbücher d. Philosophie t. Frischeisen- Kühler Bd ü, S. 92.
380
Armin Müller,
ordnen, ist für ihn der Personenwert. Wie diametral er sdler
bloßen Nützlichkeitsphilosophie und allen Erhaltnngsmazimen
gegenübersteht nnd wie auch für ihn der Wert der Indivinalität
der entscheidende wird, zeigt folgender Satz ans dem Vorwort
seines Werkes >Der Formalismus in der Ethik nnd die materiale
Wertethikc »Daß der Endsinn nnd Endwert dieses Ganzen
Universums sich in letzter Linie ausschließlich bemesse an dem
puren Sein (nicht an der Leistung) und dem müglichst voll*
kommen Gut sein, in der reichsten Fülle nnd der vollständigsten
Entfaltung, in der reinsten Schönheit und der inneren Harmonie
der Personen, zu denen sich alle Weltkräfte zuweilen kon¬
zentrieren nnd emporschwingen, das ist sogar der wesentlichste
und wichtigste Satz, den dieses Werk möglichst vollständig be¬
gründen und übermitteln möchte.« — Eine weitere Beziehung
ergibt sich zu Eduard Spangers Anschauungen, wie sie in
seinen »Lebensformen« niedergelegt sind. Er unterscheidet als
»die idealen Grundtypen der Individualität«: den theoretischen,
ökonomischen, ästhetischen, sozialen Menschen, den Machtmenschen
nnd den religiösen Menschen sowie die diesen abstrakten Typen
entsprechenden Werte. Auch er lehrt eine objektive Rang¬
ordnung der Werte, wie sie in dem adäquaten Erleben, d. h in
einer nicht nur subjektiven Erlebnisweise, sondern in einer norm¬
gemäßen, sein sollenden Realisierung des objektiven Gehalts
eines Wertgebildes, eines Wertzusammenhanges zum Ausdruck
kommt Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, daß alle
Werte sich auf dem Boden ein nnd desselben seelischen Ganzen
treffen. Auf ihrer Bedeutung für das einheitliche Ich beruht
die Vergleichbarkeit der einzelnen Wertklassen. Daher ist für
die jeweile Werthöhe entscheidend die Ganzheitsbezogenheit
eines Wertes. Je mehr ein Werterlebm's bedeutet für das
Lebensganze, umso höher steht der betreffende Wert Je tiefer
ein Werterlebnis in das Sinngefüge des ganzen Lebens eingreift,
den Gesamtsinn des Menschen betrifft, um so näher steht es
dem religiösen Wert. Das Entscheidende für die religiöse Sinn¬
gebung ist umgekehrt die Totalität des Lebens. Das Religiöse
tritt somit an die Spitze gleichsam einer Wertpyramide nnd
teilt sich als religiöser Gehalt den anderen Wertklassen in dem
Maße mit, je weiter sie von der Basis entfernt, der Spitze ge¬
nähert liegen. »Je mehr Weltanschauungswert in einem ästhe¬
tischen Erlebnis liegt, je weniger es bloß flüchtigen Stimmnngs-
1) 1. c. n. Aun. S. 282.
Du IndiTidnalitätaproblem nnd die Subordination der Organe. 381
Charakter träg^, um so höher rückt es in der Gesamtordnong
Werner Sombart schreibt zu Beginn seines Buches: »Der
Bonrgois«: »Der vorkapitalistische Mensch, das ist der natürliche
Mensch. Der Mensch, wie ihn Gott geschaffen hat. Der Mensch,
der noch nicht auf dem Kopfe balanciert und mit den Händen
läuft (wie es der Wirtschaftsmensch unserer Tage tut), sondern
mit den Beinen fest auf dem Boden steht und auf ihneu durch
die Welt schreitetc Sombart will damit die Perversion
des Werterlebens bezeichnen, die die gegenwärtige Gesellschaft
charakterisiert und darin zum Ausdruck kommt, daß Nutz- und
Wirtschaftswerte im Gegensatz zu früheren Knlturepochen von
einer mehr oder weniger dienenden Stellung zu fast absoluter
Herrschaft gelangt sind. In verwandtem Sinne spricht S c h e 1 e r
von einem »Umsturz der Werte< — gemessen an einer objektiven
an sich gültigen materialen Wertrangordnnng. Zum Symbol dieses
in rein ökonomischen Kategorien denkenden Menschen wird die
Darwinsche Lehre mit ihren bloß utilitaristischen Voraussetzungen.
Vom Nützlichkeitsstandpnnkte aus machte man das Soma zu
einem »Seitenzweige« des Keimplasmas (Doflein), dieses aber
zur »Haupt«Sache und stellte somit den Menschen auf den
Kopf. Die Biologie hatte sich zur Dienerin des Zeitgeistes
gemacht
1) 1. c. S. 290.
(Eingegangen am 2. April 1924.)
(Aus dem philosophisch-psychologischen Seminar der Universität
Bonn. — Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. med. et phiL Gustav Störring.)
Psychologie der sittlichen Selbstachtung
und ihre Beziehnng zur Ethik seit Kant.
Von
Herbert Jancke (Bonn).
(Dieser Aufsatz referiert ttber die Ergebnisse meiner Dissertation gleichen
Titels, die eingehender namentlich die historische Abwandlang der Selbst-
achtong nnd die praktische Bedentong der Selbstachtnng behandelt. Die
Dissertation ist einznsehen auf der Staatsbibliothek in Berlin and aal der
Universitätsbibliothek in Bonn.)
Inhaltsverzeichnis.
1. Definition der sittlichen Selbstachtnng .883
2. Überblick über die Geschichte der philosophischen Behandlang der
sittlichen Selbstachtnng.884
a) Vor Kant. Im Aasland. Bei Dichtem.884
b) Kant.886
c) Kritik an Kant darch seine Nachfolger.886
d) Metaphysiker.887
e) Vorwiegend Empiriker.888
f) Empiriker.3^
3. Allgemeines über die psychologischen Methoden der an behandeln¬
den Antoren.889
4. Die Psychologie der sittlichen Selbstachtnng seit Kant .... 390
a) Kant.390
b) Fichte.392
c) Wandt nnd Aars.895
d) V. Hartmann.400
e) Lipps.401
f) Störring.403
5. Die psychologische Beziehnng der Selbstachtnng znr Sympathie . 408
6. Methodik der Systematisiemng der Ethik bezgl. der sittlichen Selbst-
achtnng.409
a) Metaphysiker.410
b) Persönlichkeitsethiker.410
c) Wandt. 411
Herbert Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 383
7. Die EinbettTing des Prindps der Selbstachtung in die ethischen
Systeme.411
a) Formale Persbnlichkeitsethiker.411
b) Versuche, die Persönlichkeitsethik materiell zu gestalten . . 412
c) Die materiale Persönlichkeitsethik Störrings.413
d) Störrings Beweis der Gültigkeit der sittlichen Selbstachtung 416
e) Über pädagogische und religiöse Bedeutung der Selbstachtung 416
8. Die Selbstachtung als praktischer Lebenswert.416
a) Fichte.416
b) Goethe.417
c) Nietzsche.418
9. Literaturverzeichnis.421
1. Definition der sittliehen Selbstaclitnng.
Das Gefühl der Achtung eines Menschen vor sich selbst be-
mht auf der Eh^ahmng sittlicher Überlegenheit der eigenen Per*
sönlichkeit. Diese wird gewonnen bei Fällen solcher sittlichen
Konflikte, bei denen die Intensität der Gefühle, die zur Ent¬
scheidung drängen, eine sehr starke ist. Das Bewußtsein sitt¬
licher Überlegenheit der eigenen Persönlichkeit über sich seihst
aber ist das Bewußtsein, daß der eigene Wille kraftvoll genug
ist, sich da gegenüber Augenblicksimpulsen durchzusetzen, wo
es sich um eine eigene sittliche Einsicht handelt, die man, wenn
sie sich mit aktiven Gefühlen verbindet, einen autonomen sitt¬
lichen Imperativ nennt. Die sittliche Selbstachtung ist das stolze
Gefühl, daß diese sittlich sich selbst überlegene Persönlichkeit
in sich erhalten bleibt; sittliche Selbstverachtung ist das depri¬
mierende Gefühl, daß sie sich durch Willensschwäche zerstört
hat. Sittliche Selbstachtung ist so eine typische sittliche Ein¬
stellung, die das Verhalten einer sittlich höher entwickelten
Persönlichkeit bedingt. Sie ist scharf zu scheiden von jeder sitt¬
lich indifferenten Selbstachtung.
Es ist für die Psychologie der sittlichen Selbstachtung nicht
gleichgültig, ob man sich vorher über die Psychogenesis der sitt¬
lichen Wei*tschätzungen überhaupt Rechenschaft gegeben hat.
Denn die sittliche Selbstachtung ist eine emotionale Stellung¬
nahme zu den sittlichen Wertschätzungen, oder, wie man auch
sagen kann, sie superponiert sich über ihnen. Die Psychologie
der sittlichen Wertschätzungen lehrt uns, daß das psycho-ethische
Geschehen unter den Individuen ein gleichförmiges ist, abhängig
von den gleichen psychischen Faktoren. Sie zeigt uns auch die
vorwiegend individuelle, d. h. autonome Bedingtheit der sittlichen
Wertschätzungen. Dennoch hüten wir uns, die Frage der Gültig-
384
Herbert Jancke,
keit der sittlichen Wertschätzungen und der sittlichen Selbst¬
achtung damit entschieden sein zu lassen.
Aber in der Auffassung, daß man fruchtbar Ethik nur treiben
kann, wenn man psychogenetische Entwicklungen heuristisch f&r
die Ethik ausnutzt, schließen wir uns G. Störring an.
Ich gehe nun so vor, daß ich von moralpsychologischen und
moralphilosophischen Gesichtspunkten aus Querschnitte durch die
philosophische Geschichte der sittlichen Selbstachtüng ziehe, den
modernsten Standpunkt (Störring) am ausführlichsten darstellend.
Anschließend skizziere ich die Bedeutung der Selbstachtung bei
Goethe und Nietzsche, als solchen Autoren, die Ethik nicht
als abstrakte Gelehrte (>Denker«) treiben, wie das heute noch
zum mindesten alle nicht psychologisierenden Moralisten tun,
nicht ein erdachtes Wissen empfangen und es ihrerseits nur modi¬
fizieren, sondern die ihre sittlichen Erfahrungen unmittelbar dem
Leben selbst entnehmen und als Kenner des Lebens und ihrer
selbst das Leben und sich selbst zu meistern suchen. Es gibt
zu denken, wenn man die Übereinstimmung der Resultate solcher
bedeutenden Menschen und moderner Empiriker, die mit ungleichen
Methoden arbeiten, entdeckt.
Diese Arbeit soll zeigen, daß die moderne Psychologie auf
weit sichrerer Grundlage, als jene sie besaßen, die Durchleuch¬
tung des sittlichen Tatbestandes leistet, und wie auf Grund des
empirischen Vorgehens nun auf einmal die außerordentliche Be¬
deutung der sittlichen Selbstachtung beleuchtet wird, die vorher
nur als Problem die Gemüter in Bewegung versetzt hat, wie man
an Hand der Geschichte und der Weltliteratur zeigen kann, aber
in seiner scharfen Umgrenzung unerkannt geblieben ist. Sie mag
nunmehr auch in ihrer eminenten Bedeutung für die notwendige
kulturelle Wandlung unserer Stellungsnahme zum Leben erkannt
werden.
2 . Überblick über die Geschichte der philosophischen Be¬
handlung der sittlichen Selbstachtung.
a) Vor Kant. — Ansland. — Dichtung.
Die Griechen behandeln die Selbstachtnng nicht systematisch. Sie ist
Demokrit nnd Enripides bekannt; bei Sokrates klingt sie an. In der ge¬
lehrten platonischen Tngendtafel scheint sie mir in Beziehnng zn setzen zn
sein mit der Tngend der Tapferkeit. Jesns ist persönlich von ihr stark ge¬
leitet. Die Stoiker gründen sie anf die Möglichkeit des freien Willens-
gebranches nnd anf die Würde des Menschen als Vemnnftwesen, wie sp&ter
die von ihnen abh&ngigen Descartes nnd Gracian. Das Mittelalter vermag
keinen selbständigen Kontakt mit dem Wirklichen anfznnehmen; aber zu
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
385
den Zeiten, in denen der Mensch wieder in stärkerem Maße Fühlung mit
sich selbst nehmen mußte, wird auch das Gefühl der Selbstachtung und der
Gedanke der Würde des Menschen bewußt. Das ist in der Renaissance und
in der französischen Revolution. Hier seien u. a. Pico von Mirandola,
Cervantes, Shakespeare, Rousseau und Condorcet genannt. — Die psycho-
logisierenden Engländer Hume, A. Smith und J. St. Mill erfassen die Bedeu¬
tung der Selbstachtung nicht, wenngleich sie sie kennen. — Von geringerer
Wichtigkeit für uns sind: J. A. Eberhard, Gleim, Elopstock, Lessing, Herder,
Schiller, Hebbel, Ibsen, Guyau, Dostojewski, SolowjeS. — Mit Ausnahme des
Norwegers deutscher Schule Birch-Reichenwald-Aars wird die Selbstachtung
seit Kant, soweit ich sehe, nur von Deutschen behandelt.
b) Kant.
Im Prinzip der sittlichen Selbstachtung zeigt sich Kant nicht abhängig
von den Stoikern. Er wie Fichte und Nietzsche halten die Selbst»hoch-
achtung« der Stoiker für affektiert-theatralisch. Kant geht vielmehr aus
vom persönlichen Erlebnis des Gefühls der Selbstachtung. Die Deutung
dieses Gefühls ist ihm nach eigenen Worten durch Rousseau ermöglicht
worden. Als Erbe des Rationalismus war Kant für eine rationale Deutung
sehr empfänglich. Aus dem Gefühl der Selbstachtung wird eine Idee
der Würde der Person. Andererseits war Kant zu kritisch, als daß er das
real erlebte Gefühl nun einfach leugnete. Die Selbstachtung kommt fortan
bei ihm, was man bisher wenig bemerkte, in zweierlei Bedeutung vor: der
rationalen und der empirischen. Die Nachfolger Kants stießen sich
z. T. an dieser Unebenheit und suchten sie zu korrigieren.
Diesen historischen Verlauf will ich im Anschluß an H. Höffding
aufzeigen. — Kant erklärt sich die Würde des Menschen als Folge eines
kosmischen Zusammenhanges, auf den ihm geschichtliche und entwicklungs¬
geschichtliche Erwägungen hinzudeuten schienen. Hier schien man eine
Entwicklung der Menschheit beobachten zu können. Wohin ging sie ? Der
Mensch mußte a priori teilhaben an einer höheren Welt, zu der allein er
hinstrebte, die ihm seinen Zweck, seine »Bestimmung«, vorschrieb. Kant
nennt sie die intelligible oder Vemunftwelt, die Welt des absoluten Seins
und der absoluten Werte. Sie wirkt teleologisch ein auf die Welt der Er¬
scheinung. Bei Entwicklung und Vervollkommnung kann es sich für uns
nur um Wertbestimmungen handeln. Der einzige absolute Wert aber, den
Kant kennt, ist der sittliche Wert. Der Endzweck ist also ein sittlicher,
und sein antizipierender Ausdruck im Menschen ist die erlebbare Tatsache der
Autonomie, des Sitten g es et zes, der Kampf des Intelligiblen, der Vernunft,
gegen die Erscheinung, die Gefühle, die sinnlichen Antriebe. Das Sitten¬
gesetz erscheint uns als heilig, der Mensch selbst, der Anteil am Heiligen
zu haben gewürdigt ist, hat Würde. Dieses Glückes soll er sich würdig
erweisen. Das höchste Gut ist daher die »Glückseligkeit« und Vollkommen¬
heit jenes erstrebten letzten Zustandes; die kantische Glückseligkeit ist
nicht eudämonistisch gemeint.
Durch Nichtbefolgung des Sittengesetzes kann der Mensch wohl zeitweise
seine Selbstachtung verlieren, aber nicht seine Würde als Mensch, da er An¬
teil an der intelligiblen Welt ohne sein Zutun hat. Nicht er, sondern die
Gattung ist des Endzweckes gewürdigt. »Der Mensch ist zwar unheilig
genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.« »Alle
Archiv für Psychologie. XLVm. 26
386 Herbert Jancke,
Aobtnng' ffir eine Person ist immer eigentlich nnr Achtung fürs Gesetz.«
»Stets zwingt das Gesetz in ihm nnyermeidlich Achtung für sein eigenes
Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigener Art ist, — es ist Temnnft>
gewirkt) ist ein Grund der Pflichten.« Die Selbstachtung, empirisch ge¬
nommen, ist auch kein sittlicher Antrieb, sondern nnr reaktives Gefühl,
»Erscheinung«, das beeinflussend wirkt anf eine nachträgliche Reflexion.
Hat das Individuum unsittlich gehandelt, »so mnfi es sich selbst verachten,
sobald es sich mit dem sittlichen Gesetz vergleicht«. Selbstverachtung aber
ist ein Unlnstgefühl, kann also nicht sittlich motivierend wirken, das
kann nnr die dadurch angeregte Reflexion über das Sittengesetz, die Über¬
legung, ob diese Tat sich mit der Idee der Menschheit (in der Person) ver¬
trägt, die Besinnung anf die Yemnnft. Das Sittengesetz hat bei Kant be¬
kanntlich formalen Charakter; wird es aber praktisch interpretiert, dann
lautet es: »Handle so, dafl du die Menschheit sowohl in deiner Person als
in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals als
bloßes Mittel gebrauchst.« Die Nachfolger Kants nennen diese Interpretation
zuweilen die Materie des Sittengesetzes. Nicht Selbstachtung in unserem
Sinne ist es, die den Menschen vom Selbstmorde abhalten soll, sondern der
Gedanke, dafl man im Begriffe ist, die Menschheit in seiner Person als Mittel
zu benutzen zur Flucht aus einem unerträglichen Zustande. Die Gültigkeit
dieser sittlichen Forderung war für Kant mit der absoluten Wertschätzung
des Sittlichen und der Vernunft gegeben.
Die Selbstachtung bei Kant also schließt sich an sittliche Handlungen
an, aber motiviert sie nicht. Sie ist eine Wirkung der Achtung vor dem
Sittengesetz.
c) Kritik an Kant durch seine Nachfolger.
Die Nachfolger Kants kritisieren hauptsächlich die einseitige Rationali¬
sierung der Selbstachtung und damit das ansschliefllich Vemnnftmäflige beim
sittlichen Handeln überhaupt.
Fries hat noch denselben Ausgangspunkt wie Kant. Er erkennt
auch in der Würde der Person einen »idealen Wert«, ein »Gesetz des Zweckes
für die Welt«. Aber die Formulierung Kants »betrifft lauter negative Be¬
stimmungen dessen, was ich unterlassen soll oder worin ich meine Handlung
zu beschränken habe, positiv hingegen ist es mein Fall gar nicht, einem
Wesen Würde zu geben, welches diese noch nicht hat«. »Wir geben Wert
überhaupt dem Leben in der Geschichte der Menschheit, der Erscheinung
und Ausbildung der Vernunft. Jeder einzelne gilt nnr so viel, als er in diesem
Ganzen der Gesellschaft ist, aber nicht als Mittel zum Zweck, sondern als
integrierender Teil.« Ob eine Handlung vernunftgemäß ist, entscheidet
nicht die Vernunft selbst, sondern der Verstand. Der Mechanismus der sitt¬
lichen Handlung wird also von Fries auf das Gebiet des Psychischen, die
Welt der Erscheinung, übertragen und dort mittels der Selbstbeobachtung
untersucht. Leider identifiziert er Selbstbeherrschung und Verstand, so dafl
die Mitwirkung der Gefühle beim sittlichen Handeln wieder übersehen wird.
Die Selbstachtung wird von ihm zur »Tugend« gestempelt und diese z. T.
mit »Ehrgefühl« verwechselt. Über Fries’ System später.
Fichte treibt die teleologische Ausdeutung des Prinzips der persön¬
lichen Würde auf die Spitze. Den Beweis der Apriorität der sittlichen
Selbstachtung sucht er kinderpsycbologisch zu führen. Nnr der Theorie
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
387
zuliebe hält er an dem Satz fest, dafi Sittlichkeit Intelligenz ist. Er kann
seine Beobachtungen mit der Theorie nicht in Übereinstimmung bringen.
Bedeutsam bei ihm ist, so in den Reden an die deutsche Nation, der Ver¬
such, durch Erregung der Selbstachtung die Hörer zu kraftvoll-sittlicher
Tätigkeit, hier zugunsten des Staates, anzuspornen.
Vor ihm schon meinte F. H. Jakobi, dafi, wenn man beobachte, dafi
»der Tugendhafte mit dem köstlichen Gefühl der Selbstachtung doch in
einem hohem Grade unglücklich sein könne«, die Sittlichkeit etwas Drohendes
an sich habe, und man darum den Glauben an die Notwendigkeit des Sitt¬
lichen für ein »Hirngespinst« halten müsse, wenn man nicht damit den
Glauben an die »Notwendigkeit einer moralischen Regierung Gottes« und
an ein anderes Dasein verbinden könne. Nicht der Mensch ist sittlich,
sondern »die Natur in ihm ist sittlich«.
»Der Mensch ist von Natur sittlich« — ist auch der erste Grundsatz
Ficht es. Alle Erziehung kann den Menschen nur dahin fördern, dafi er
sich bewufit wird als Glied einer sittlichen Weltordnung. Im kosmischen
Sinne ist die Würde des Menschen und mithin seine Selbstachtung eine un-
Terlierbare; »für das Empirische ist es hinlänglich, wenn wir uns nur nicht
verachten müssen, positive Achtung kommt ihm nie zu, denn er kann sich
nie über die Forderung erheben«.
d) Metaphysiker.
Diese negative Formulierung der Selbstachtung findet sich nicht bei
Kant; bei ihm ist auch nicht das Gefühl der Selbstachtung habituell,
sondern nur die Idee der persönlichen Würde. Die Negativität der Selbst¬
achtung findet sich aber bei fast allen Nachkantianem einschl. R. Nelson
als Zeichen unglücklicher Verquickung ethischer und metaphysischer Ent-
vncklungen. Bei Fichte ist z. B. die Reue »das Bewufitsein des fort¬
dauernden Strebens der Menschheit in mir, verbunden mit dem unan-
nehmen Gefühl, dafi es besiegt worden«. — Das ist Theorie, aber nicht
empirisch gewonnene Einsicht. Jenes positive Gefühl, das in dem Mikro¬
kosmos des Ich dessen Würde als »integrierenden« Teil des Makrokosmos
verehrt, ist für Fichte wie für Goethe das mehr religiöse Gefühl der
»heiligen Ehrfurcht vor sich selbst«.
Ganz ähnlich fafitK. C. F. Krause die Selbstachtung. Ihn zwingt zur
Selbstachtung die Vereinigung von Gott, Natur und Vernunft im Ich; sie
soll in Kontemplation und Handeln die Selbstintuition, die Erkenntnis des
»Wesens« aller Dinge im Selbst fördern. Das Leben ist eine »stete Wieder¬
geburt in Gott«.
Metaphysische Bahnen, auf denen die Ansichten natürlich sehr verschieden
sind, wandeln auch Schopenhauer und E. v. Hartmann. Schopen¬
hauer, auch von dem kosmischen Zusammenhang begeistert, sieht darin ge¬
rade die durch »Leiden, Not, Angst, Schmerzen« begründete Armseligkeit des
Menschen hervorstechen, aber gar nicht seine »Würde«. Er polemisiert heftig
gegen die »Leerheit« der[^kantischen Behauptung. Statt der Selbstachtung
empfiehlt er einen ästhetischen Selbstgenufi.
Das kosmisch-»mystische« Einheitsgeftthl erlebt auch v. Hart mann. Er
legt ihm teleologische Bedeutung bei. Selbstachtung ist zwar starkes sitt¬
liches Ausdrucksmittel, aber die sittliche Persönlichkeit hat nur relativen
25*
388
Herbert Jancke,
Wert, sie ist nur Mittel znr Erreicbong des Endzwecks, des Nirwana. Im
übrigen geht t. Hart mann weitgebend empirisch (Selbstbeobachtnng) tot.
e) Vorwiegend Empiriker.
Eine andere Heike yon Philosophen, die man als Nachfolger Kants
bezeichnen kann, sacht die Würde des Menschen mehr empirisch za er*
klären; aber nor C. F. Beneke kommt ohne a priori aas. Er hält es für
natürlich, jedem Menschen Achtang entgegenzabringen, aber wahre sitt¬
liche Würde mofl dnrch sittliches Verhalten erworben sein and kann anch
wieder yerloren werden. Selbstachtang lehnt er nicht gerade ab, aber er
verhält sich zorückhaltend, weil man sie nicht genügend abgrenzen kOnne.
Dasselbe meinte vor ihm schon der Apriorist J. Salat Einmal läflt sie
Beneke jedoch als Motiv za: da, wo er sie in Verbindong gebracht weiß
mit dem Vertraaen in die eigene sittliche Entwicklang.
In ähnlicher Weise steht Herbart za ihr.
G.W. Block fragt exakt: »Waram soll der wirkliche Wert des Menschen
aas einem ideaUschen Verhältnis hergeleitet werden?« »Alle Paradoxie fällt
weg, wenn man die Würde der Menschheit nicht eine blofie Idee, den ver¬
meintlichen Anteil an einer allgemeinen Qesetzgebang setzt, sondern, worin
eie wirklich besteht, in einen realen Vorzag, diesen nämlich, dafi der Mensch
seinen Zweck in sich selbst hat, oder in einen realen Zweck, nämlich den
des nnbedingten Wertes der persönlichen Beschaffenheit.« Kann man sich
aber die Wahrang der Würde zam Zweck setzen, so maß Selbstachtang
anch Motiv sein können.
f) Empiriker.
Die neaere empirische Behandlang der Selbstachtang beginnt etwa mit
V. Hartmann and W. Wandt gleichzeitig. Während v. Hartmann sich
anf Selbstbeobachtang verläßt, benatzt Wandt für seine Ethik anch die
Völkerpsychologie, ohne jedoch schon die experimentalpsychologischen Er¬
gebnisse anmittelbar für die Selbstachtang aaszanatzen.
Wandt bant die Ethik von anten aaf, ohne metaphysische Voraos-
setznngen. Er weist die aaßerordentliche Bedeatang der Gefühle beim sitt¬
lichen Handeln nach and polemisiert gegen die einseitige Vemanftethik:
»Ohne Überlegnng richtig za handeln, ist schließlich das Haaptmerkmal der
sittlichen Reife«. Infolge einer gewissen Einseitigkeit der objektiven Me¬
thode kommt jedoch bei ihm die Selbstachtang psychologisch and methodisch
nicht ganz za ihrem Recht.
Ähnlich wie Wandt die allgemeine Ethik, behandelt K. B. Aars die
Selbstachtang im besonderen völkerpsychogenetisch. Er ist jedoch kein
Systematiker.
Von geisteswissenschaftlichen and koltarpsychologischen Überlegangen
aas beleuchtet E. Spranger das Sittlich-Typische der Selbstachtang.
A. Storch bezieht sie in phänomenologisch-beschreibende Untersachongen
über das Selbstwerterlebnis ein (6d. 37 dieser Zeitschrift).
Von A. Döring and Th. Lipps wird die Selbstachtang übermäßig in
den Vordergrund ihrer Betrachtungen gerückt. Döring sucht sie eadä-
monistisch amzudeaten, ohne daß er sich dabei genügend an Tatsachen
hält; Lipps sieht in ihr den schlechthin absolaten sittlichen Wert, wie
Kant in der Achtang vor dem Sittengesetz. Man könnte seine Entwick-
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
389
Inngen modernisierte kantisehe nennen; sie leiden anch an Toreingenommener
Schätanng dessen, worauf er hinaus will.
Für StOrring bedeutet die Moralpsychologie die Vorhalle der eigeut-
lichen £thik. Fr benutzt zum erstenmal in großem Umfang individual¬
psychologisches Material zur Bestimmung der Stellung, die den einzelnen
sittlicben Gefühlen und Prinzipien im ethischen System zukommt. Zunächst
deduktiv vorgehend, erweist er schließlich die Übereinstimmung dieser
Resultate mit induktiv gewonnenen. Die Ethik zeigt volle kritische Weite
gegen die Einseitigkeiten der Älteren. Zum erstenmal wird hier anch die
Gültigkeit der sittlicben Werte bewiesen und die Selbstachtung in päda¬
gogische Entwicklungen einbezogen.
In neuerer Zeit wird die Selbstachtung, jedoch mit wenig prinzipieller
Bedeutung, behandelt von Mehlis, Schwarz, Eoppelmann, Höff-
ding, Adickes, Verweyen, Meumann und Unold.
Als prinzipielle Skeptiker in bezug auf die Selbstachtung kann man
bezeichnen: Hegel, Feu erb ach, Schopenhauer, Sigwart.Stumpff
und, da sie nur eine religiös bedingte, heteronome Selbstachtung anerkennen:
Deutinger und Scheler.
3. Allgemeines über die psychologischen Methoden der zu
behandelnden Autoren.
Die psychologischen Abhängigkeitsbeziehungen der sittlichen Selbst¬
achtung werden festgestellt an Hand von Untersuchungen über ihre Psy-
chogenesis. Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie die Ethiker diese
Untersuchung verschieden betreiben, meist je nach dem systematischen
Zweck, den sie verfolgen. Anch Stör ring stellte zunächst deduktive Über¬
legungen an. Es wurde das sittliche Wollen auf Grund einer Vorüber-
legung, nämlich daß ein Betrachter »Sympathie mit dem subjektiven so¬
wohl wie mit dem objektiven Tatbestände der Willenshandlnng« (Wollen
selbst und Effekt) eines anderen empfindet, in seine einzelnen Faktoren ana¬
lysiert, ans denen dann wieder bestimmte Seiten als mitwirkend beim sitt¬
lichen Tatbestand abgeleitet wurden. So erhielt man allgemeine Eigentüm¬
lichkeiten des sittlichen Tatbestandes, die man später in Komplikation mit
anderen Faktoren in komplizierten Arten sittlicher Funktionen wieder er¬
kannte. Ging man nun umgekehrt von elementaren psychischen Vorgängen
aus, die induktiv in der Vorstellnngs-, Gefühls- und Willenspsychologie
festgestellt worden waren, so mußten sich die deduktiven Überlegungen be¬
stätigen, wenn man zugleich in der Komplikation der Elemente mit anderen
Faktoren in synthetischer Genese die Einsicht in einen regelrechten sitt¬
lich-genetischen Stnfenban gewann, der wertvolle Fingerzeige für ein Moral¬
prinzip ergab. Stets war die Frage der Gültigkeit noch hintangestellt.
Fichte kam es darauf an, das Angeborensein des »Triebes nach Selbst¬
achtung« zu zeigen, und was war natürlicher, als daß er seine psychogene-
tischen Untersuchungen am Kinde demonstrierte. Psychische Abhängigkeits-
beziehnngen waren ihm nur so lange wesentlich, bis er sozusagen die päda¬
gogischen Reizmittel erkannt hatte, die das latente Bewußtsein der eigenen
Würde aktuell machten. Die Systematik ist ihm dann die Hauptsache.
Vom Standpunkt seiner Aktualitätstheorie aus hält W u n d t den Gesamt¬
willen für ebenso real wie den individuellen Willen. Da nun die Entwich-
390
Herbert Jancke,
Inng des Oesamtwillens zom mindesten einer steten Änderung nnterworfen
ist, wie sich rSlkerpsychologisch zeigen lädt, so gibt es »kein noch so
heiliges Sittengesetz, das nicht im einzelnen Fall nm der wirklichen oder
▼ermeintlichen gröfieren Heiligkeit allgemeinerer sittlicher Aufgaben willen
... geflissentlich verletzt werden müßte«. Individuale Normen (sittliche
Hotivationssätze) können nicht zeitlos-allgemeingültig anfgestellt werden.
Sie wechseln mit dem Wechsel der »allgemeinen Erfassung sittlicher Lebens¬
aufgaben«. Diese aber sind außerpersönliche »objektive geistige Erzeug¬
nisse«. Wundt kommt es also auf die üntersuchnng der Psychogenesis
der Selbstachtung nicht an.
Aars untersucht gerade die subjektive Seite des sittlichen Tatbestandes
völkerpsychogenetisch. Aber er untersuchte aus zu großer Feme, sah oder
suchte nur die persönlichen Sozialwertgefühle (aller Wert, den ich mir selber
geben dürfe, sei abhängig von dem Wert, den ich für andere habe) und
übersah die individuale Bedingtheit sittlicher Funktionen.
V. Hartmann, von vornherein egozentrisch eingestellt, legt den Schwer¬
punkt auf die Beschreibung individual bedingter sittlicher Funktionen.
Th. Lipps endlich, der die Gültigkeit der sittlichen Werte voraussetzt,
geht rein deduktiv vor und paßt genetische Erörterungen seinen Fest¬
stellungen an.
4t. Die Psychologie der sittüchen Selbstachtung seit Kant.
a) Kant.
Kant macht auf folgendes aufmerksam: »Hat nicht jeder
auch nur mittelmäßig ehrlicher Mann bisweilen gefunden, daß
er eine sonst unschädliche Lüge, dadurch er sich entweder selbst
ans einem rerdrießlichen Handel ziehen, oder wohl gar einem
geliebten und verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte,
bloß darum unterließ, nm sich insgeheim in seinen eigenen Augen
nicht verachten zu dürfen?« — Die Betätigung der Lüge also
wird hier gehemmt durch die Vorstellung eines unlustvollen Zu¬
standes nach der Tat. »Man muß wenigstens auf dem halben
Wege schon ein ehrlicher Mann sein, um sich von jenen Empfin¬
dungen auch nur eine Vorstellung machen zu können.« — Nun
ist das eigentlich »moralische (Gefühle das »Gefühl der Zufrieden¬
heit mit sich selbst«, das hier also gestört werden würde. (Wir
sahen ja, daß bei Kant die Sittlichkeit der Persönlichkeit, ihre
Würde, eine habituelle ist.) Selbstzufriedenheit bedeutet aber
»nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz, in welchem
man nichts zu bedürfen sich bewußt ist«. Es ist das Bewußt¬
sein der »Unabhängigkeit von Neigungen« oder der Überein¬
stimmung mit der Pfiieht, dem Sittengesetz, der Würde der
Person. Der »Trost«, daß man »sich nicht vor sich selbst zu
schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
391
Ursache habe ..ist nicht Glückseligkeit«. »Diese innere
Bemhignng ist ... die Wirkung einer ... Achtung für
unsere höhere Bestimmung.« Diese höhere Selbstachtnng
ist also nicht mit dem Lustmaßstabe zu messen, empirische Selbst*
achtung nnd -Verachtung (Lust und Unlust) sind nur das sinn¬
liche Zeichen, ob unsere Handlungen mit jener Idee ttberein-
stimmen. Ein Zustand empirischer Selbstachtung ist eigentlich
auf unserer Entwicklungsstufe nicht wünschenswert, »weder in
moralischer noch in pragmatischer Hinsicht. Die Natur hat den
Schmerz zum Stachel der Tätigkeit in den Menschen gelegt,
dem er nicht entgehen kann, nm immer zum Besseren fort¬
zuschreiten«.
Der Schmerz des Individuums ist kein unmittelbarer, sondern
es »muß sich selbst verachten, sobald es sich mit dem moralischen
Gesetz vergleicht«. So ist auch Selbstachtung nicht unmittel¬
bar, sie ist »nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf
das Bewußtsein eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben
aufs Gemüt, folgen«. — »Auf die Selbstachtung, wenn sie wohl¬
gegründet ist, wenn der Mensch nichts mehr scheut, als sich in
der inneren Selbstprüfung in seinen eigenen Augen geringschätzig
nnd verwerflich zu finden, kann jede gute sittliche Gesinnung
gepfropft werden; weil dieses der beste, ja der einzige Wächter
ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Ge¬
müt abzuhalten.« Nichts ist falscher, als das Gefühl der Selbst¬
achtung mit dem Gedanken an ein eigenes Verdienst betr. des
sittlichen Handelns in Verbindung zu bringen. Dieser Gedanke
ist »schon mit Eigenliebe etwas vermischt«.
Nach Kant ist also die Selbstachtung nicht selbst ein sitt¬
liches Motiv, sondern die Grundlage für alle sittlichen Motive.
Sie selbst hat Wert in bezug auf das Bewußtsein der eigenen
Würde als Wesen mit einer höheren Bestimmung. Sie ist das
Gefühl, das sich einstellt bei Übereinstimmung der Handlung
(nicht des Willens) mit der Idee der Würde. Sie ist trans¬
zendente Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit. Aus Selbst¬
achtnng handeln, hieße nach Kant eine Umkehrung von Ursache
nnd Wirkung vollziehen. Selbstachtung ist der durch ein
Lustgefühl bewnßtgewordene Zustand moralischer
Einstimmigkeit.
Selbstverachtung kann auch nicht hemmend auf die Aus¬
führung einer Tat wirken, hemmend kann wirken nur der Ge¬
danke, durch die Handlung könne Selbstverachtnng erzeugt
werden.
392
Herbert Jancke,
Kant weiß nicht, daß wir es hier nicht mit einer >Yor-
Stellung einer Empfindung« zu tun haben, sondern mit einer Un-
lustgefiihlsprodnktion, die ein Gefühl reproduziert, das sich in
einer ähnlichen Situation wie die, in die sich zu begehen man
gerade im Begriffe ist, eingestellt hatte. Kant leugnet in der
Kritik der praktischen Vernunft, daß Selbstyerachtnng eine
»praktische Wirkung« habe; dazu steht aber die Stelle der
späteren Anthropologie, die den Schmerz einen »Stachel der
Tätigkeit« nennt, in Widerspruch. Diese letztere richtige psycho¬
logische Beobachtung Kants ist geeignet, die ältere Vemnnft-
konstruktion zu entwerten. Etwas Bichtiges ist aber daran,
wenn Kant sich gegen die Mitwirkung der Gefühle bei der
»Pfiichthandlnng« sträubt: Die höheren sittlichen Motive, mit
denen es Kant zweifellos zu tun hat, sind derart, daß sie sich
nicht mit dem Lustmaßstabe messen lassen. Aber man muß doch
behaupten, daß in der Selbstachtung sowohl wie in der Achtung
vor dem Sittengesetz ein Lustfaktor enthalten ist. Er ist es
jedoch nicht, der eigentlich gewollt wird, wenn ich mir bei einer
Handlung als unmittelbaren letzten Zweck setze die Behauptung
meiner sittlichen Selbstachtung. Gewollt wird hier die so und
so beschaffene sittliche Willensbetätigung, die ich ansehe als
Ausdruck meiner sittlich so und so bewerteten Persönlichkeit
Die Frage, die hier zunächst offen bleibt, ist die: Wenn es
wahr ist, daß Schmerz, Unlust vom Handeln abhält, oder anderer¬
seits sogar unmittelbar zum Handeln drängt, in der Selbstverachtung
aber ein wesentlicher Unlustfaktor enthalten ist, kann dann nicht
die Selbstachtung eine sittlich selbständigere Rolle spielen, als
ihr Kant zugesteht? Worauf gründet sich aber die Selbst¬
achtung, wenn sie nicht die Wirkung einer transzendenten Idee
ist? —
b) Fichte.
Nach Fichte ist das erste Auftreten der empirischen Selbst¬
achtung durch das Verhalten der Erzieher, also sozial, anders
als bei Kant, bestimmt. Sie manifestiert sich erst später in
individualer Bedingtheit. Fichte sagt so: »Selbstliebe«, durch
den Selbsterhaltungstrieb angeregt, d. h. sittlich indifferent, ist
zweifellos das erste »dunkle Gefühl«, das sich beim Kinde kon¬
statieren läßt. Das Sittliche in seiner reinsten Form (a priori)
zeigt sich im »Trieb nach Achtung«. Dieser ist zunächst er¬
kenntlich »als Trieb, auch geachtet zu werden von dem, was
ihm die höchste Achtung einfiößt«: Vater und Mutter. Die BYemd-
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
393
achtung erzeugt im Eind Selbstzufriedenheit bezw. Selbstunzu*
friedenheit. Bei richtiger Erziehung wandelt sich die sozial
bedingte Selbstzufriedenheit in individual bedingte Selbstachtung,
sobald das Bewußtsein eigener sittlicher Leistungsfähigkeit wohl-
begründet aktuell wird. Aber falsche Erziehung kann unter
Umständen das Selbstachtungsgefühl noch schneller hervorbrechen
lassen: Wenn man z. B. »einen durch Unvorsichtigkeit verur¬
sachten Verlust als ein Hauptverbrechen behandelt. Das Kind
sieht sich sodann als ein bloßes Werkzeug betrachtet, und dies
empört sein zwar dunkles, aber dennoch nicht abwesendes Ge¬
fühl, daß es durch sich selbst einen Wert haben müsse.
Was ist es doch, das dem Schmerze der Züchtigung beim
Kinde noch die Scham hinzufügt, und was ist diese Scham?
Offenbar ist sie das Gefühl der Selbstverachtung, die es sich
znfügen muß, da ihm das Mißfallen seiner Eltern und Erzieher
bezeugt wird.« »Dies Vertrauen auf einen fremden und außer
uns befindlichen Maßstab der Selbstachtung ist auch der eigent¬
liche Grundzug der Kindheit und Unmündigkeit, auf dessen Vor¬
handensein ... sich ganz allein ... die Möglichkeit aller Er¬
ziehung gründet. Der mündige Mensch hat den Maßstab seiner
Selbstschätzung in sich selbst und will von anderen geachtet
sein, nur inwiefern sie selbst erst seiner Achtung sich würdig
gemacht haben; und bei ihm nimmt dieser Trieb die Gestalt
des Verlangens an, andere achten zu können und Achtungs¬
würdiges außer sich hervorzubringen.«
Die übrigen Entwicklungen Fichtes sind denen Kants ganz
ähnlich, trotzdem ihn doch seine schönen Beobachtungen von
der Unmittelbarkeit der sittlichen Gefühlswirkung hätten über¬
zeugen müssen. — Er lehnt den Lustmaßstab bei der Bewertung
der Selbstachtung ab: Die »Zufriedenheit mit sich selbst« birgt
einen »unfreiwilligen« Lusteffekt, der »weniger rauschend, aber
inniger« als Sinnenlust ist. Für die Entwicklung der individual
bedingten Selbstachtung des Erwachsenen wird dessen intellek¬
tuelle Entwicklung vorausgesetzt; denn man kann nur dann
wirklich sittlich handeln, wenn man vorher den »Begriff des
Sittlichen gebildet« hat und das Motiv jeder Handlung begriff¬
lich vorher fixiert hat. Rein gefühlsmäßiges Handeln (»Genie
zur Tugend«) lehnt Fichte ab; wir haben gar keinen Grund,
uns nach einer sittlich geglückten Tat über unsere sittliche
Tüchtigkeit zu wundem und zu freuen. »Allenthalben, wo man
von positiver Selbstachtung spricht, meint man und kann man
nur meinen die Abwesenheit der Selbstverachtung.«
394
Herbert Jancke,
Warum fordert Fichte keine emotionelle Entwicklung? Es
ist sehr auffallend, daß Fichte keine Beobachtungen hber die
Entwicklung von Sympathiegefiihlen gemacht hat. Wenn auch
zugegeben sei, daß Sympathiegefühle allein nicht ohne weiteres
eine Form »rein sittlichen Verhaltens« darstellen, so ist ander¬
seits darauf hinzuweisen, daß Fichte übersieht, daß es auch eine
sittlich indifferente Selbstachtung gibt, die sich über dem Be¬
wußtsein physischer und psychischer Fähigkeiten superponiert;
Lipps macht auf sie aufmerksam, und Aars nennt sie »dyna¬
mische Selbstachtung«. — Aber Sympathiegefühle stellen doch
jedenfalls einen wesentlichen Faktor innerhalb der emotionell¬
sittlichen Funktionen dar, der sich früh entwickelt und nicht
von der Entwicklung der Selbstachtung abhängig zu sein scheint.
So gänzlich im Irrtum konnten die älteren Ethiker des Sym¬
pathieprinzips nicht gewesen sein. In welchem Verhältnis steht
nun aber die Selbstachtung zur Sympathie? Ohne weiteres läßt
sich nur eine Verbindung feststellen, das ist die Sympathie mit
der Selbstachtung anderer. Genaueres kann aber nur eine sitt-
lich-psychogenetische Entwicklung lehren, die auf die psychischen
Elemente zurückgeht
Fichte hat den Unterschied zwischen sozial und individual
bedingter Selbstachtung festgestellt Soziale Bedingtheit (Wirkung
von Lob, Strafe und Tadel) soll auf kindlicher Entwicklungsstufe
eine Bedingung bilden für spätere individuelle Bedingtheit Sie
wirkt hier so stark, weil sie von Persönlichkeiten angeregt
wird, denen das Kind Achtung, event. Ehrfurcht entgegenbringt.
Ein Tadel solcher Persönlichkeiten wirkt besonders deprimierend,
es werden also starke Gefühlsmassen mobil gemacht, die, wie
schon Kant zeigte, erheblich wieder zur Tat drängen. Sagt
Fichte nun aber selbst, dem Kinde wohne ein »dunkles Gefühl«
des Eigenwertes inne, das doch nur individual bedingt sein kann,
wenn dies auch autonom noch nicht so stark zur Tat drängt
wie die auf sozialen Anstoß hin entstandene Selbstachtung, so
läßt sich besser sagen, die sozial bedingte sittliche Selbstachtung
prävaliere in der Kindheit. Ln späteren Leben hält man es
nicht mehr als mit der Selbstachtung vereinbar, von so primi¬
tiven Faktoren wie Lob und Tadel in seinem sittlichen Ver¬
halten abhängig zu sein, die ursprüngliche Autonomie der Selbst¬
achtung kommt jetzt deutlicher zum Ausdruck. Wohl aber faßt
man noch im Interesse der Selbstachtung liegend auf die Be-
folg^ing gewisser heteronomer Vorschriften, die aber sittlich ge¬
schätzt werden auf Grund eigener Erfahrung, auch wenn sie
Psycholo^fie der sittlichen Selbstachtung.
395
nicht individuell-bedingt entstanden sind. Im Staat z. B. tritt
uns ein Organismus entgegen, der sich zweifellos auch durch
sittliche Erfahrung von ganzen Generationen gefhgt hat. Un¬
beschadet der Kritik, die event im einzelnen einznsetzen hat,
ist doch der ganze Organismus ein sittlicher. Fichte, der persön¬
lich so großen Wert gerade darauf legte, hat das in diesem Zu¬
sammenhang fibersehen.
Was bei Fichte hauptsächlich abzulehnen ist, ist, daß er
den Intellekt beim .sittlichen Handeln eine zu große Rolle spielen
läßt
Block und Krause sind die ersten, die die Förderung der
Selbstachtung anderer fordern. Beneke erkannte zuerst, daß
Selbstachtung etwas qualitativ Verschiedenes ist von anerkannt
anderem sittlichen Verhalten. Aber er läßt sie nur als regula¬
tive Idee gelten. Herbart betonte die stärkere Geffihlsinten-
sität der Selbstverachtung gegenfiber anders bedingter Reue.
c) Wundt und Aars.
Wundt stellt völkerpsychogenetisch fest, daß sich solche
sittlichen Geffihle, die sich auf Personen und auf Über- und Un¬
persönliches richten, also auch Sympathiegeffihle, früher ent¬
wickelt haben als solche, die sich auf das eigene Selbst beziehen.
Ich glaube, daß er damit nicht ganz recht hat, daß es sich hier
vielmehr um eine zeitliche Folge des Bewußtwerdens solcher
Geffihle als solcher Geffihle handelt. Es haben heteronom be¬
dingte Hemmungen Vorgelegen, Geffihle, die sich auf das Ich
bezogen, als sittliche anzuerkennen. In ihrem Handeln wurden
die geistig weniger als wir entwickelten Völker viel mehr als
wir von kräftigen Persönlichkeitsgeffihlen bestimmt; aber Wild-
Egoistisches und in unserm Sinne Sittlich-Selbstvolles unterschied
man wenig, da vor allem ein Gefühl vorherrschend gewesen zu
sein scheint: das Gefühl der Freude an der eigenen kraftvollen
Betätigung. Eigene kraftvolle Betätigung aber kann leicht dem
andern unbequem werden, es entsteht ein nicht zur Überein¬
stimmung zu bringendes Gemisch von Lust- und Unlnstgeffihlen
in der Gesellschaft. Man wendet sich hei der Fixierung dessen,
was sittlich sein soll, vielmehr, was »Sittec und Gesetz sein
soll, von diesem lauten Tumult des Undurchsichtigen ab und
neigt sich jenen stillen und sanften (Kontrast)-Idealen zu, die
mit den religiösen Ehrfurchtsgeffihlen und den Überlegungen
über das, was nützlich ist für ein friedliches gesellschaftliches
Zusammenleben, das auch dem Schwachen Schutz gewährt, über-
396 Herbert Jancke,
einstimmeD. So stempelt man yor allem die Sympathiegeffihle
zn den hanptsäcblichen sittlichen Gefühlen, gibt doch anch der
Gott hierfür das Vorbild, fühlen die ihm Untertänigen vor allem
seine Sympathie und Antipathie. Es bildet sich weiter der Be¬
griff der Gerechtigkeit, der noch in mancher Ethik unserer Tage
eine dominierende EoUe spielt, ob wir gleich viel feiner in sitt¬
lichen Dingen zn fühlen gelernt haben und nicht mehr anf ein
solches objektives Hilfsprinzip angewiesen sind. Die Sittlichkeit
wird jedenfalls in Fesseln geschlagen von der Sitte, d. i. dem
Recht, dem Staat und der Religion. Aber nicht eigentlich da¬
durch wird ihre Entwicklung gehemmt. Gehemmt wird sie viel¬
mehr durch die Traditiou, den starren Konservatismus, der, ge¬
nährt von falschen Pietätsgefühlen, nicht eine Entwicklung über
das Gegebene hinaus, sondern eine solche in die Breite, eine
Verästelung und Komplizierung des Gegebenen besorgt Daher
entwinden sich immer einzelne der Tradition und kämpfen mit
sittlichem Heroismus gegen die bestehende Sitte. Diese sind es
nun, und leider nicht mehr das Volk selbst, denen der sittliche
Fortschritt zu danken ist. Leider, denn was sonst Sache einer
ruhigen, harmonischen Entwicklung wäre, fällt nun dem über
das Ziel hinausschießenden Enthusiasmus einzelner anheim, deren
nicht gleichbegabte Anhängerschaft oft viel wirklich Wertvolles
verdirbt Das zeigen auf rein reflektorischem Gebiet die ersten
»Ethikerc, die Sophisten.
Es scheint mir also Wundt geirrt zn haben, wenn er meint,
es seien sittliche Selbstgefühle auf niederen Kulturstufen nicht
vorhanden gewesen; sie waren vielmehr nur nicht als sittlich
anerkannt. Das Sittliche scheint mir nicht das Produkt völker¬
psychischer, sondern individualpsychischer Entwicklung zu sein.
Nach Wundt jedoch nehmen »individuelle Normen« sittlichen
Verhaltens die unterste Wertstufe in der Normenreihe ein.
Wundt stellt nun ferner für unseren Belang fest, daß außer
der Grundverschiedenheit von Selbstgefühl und Mitgefühl an
sich ersteres ein Zentrum sehr vieler Vorstellungen und Gefühle
aus verschiedenen Zeitpunkten des Lebens bildet. Diese bilden
eine Erfahrungskette von unmittelbarer Wirkung, die im kon¬
kreten Fall auch verwickelten Eindrücken gegenüber einen
sicheren Takt gewährleisten, den höchstens nachträgliche Re¬
flexion trüben kann. Wir werden diese Feststellung präziser
gefaßt als »Summationszentmm der Gefühle« bei Störring
wiederflnden.
Psychologie der sittlichen Selbstachtnng.
397
Aars ist geradeso wie .Wandt der Ansicht, daß sich völker-
psychogenetisch die Selbstkritik, auch die Selbstachtnng, später
entwickelt habe als die Kritik der anderen. Hier ist zu er¬
widern, daß sittliche Selbstkritik (Rene and Stolz) doch kom¬
plizierter ist als einfaches kritisches Selbstgefühl. Aars ver¬
steht unter Selbstkritik das Sichmessen an anderen oder die
Selbstbewertung bezüglich des Wertes, den das Individuum für
andere hat. Aber, wie wir noch sehen werden, aus dem Sich¬
messen an anderen kann niemals Selbstachtung entstehen, diese
ist völlig autonom, und die Reflexion über den eigenen Wert
für andere ist in der Selbstachtung nicht eingeschlossen. Bei
einigen Autoren besteht eine merkwürdige Scheu, die autonomen,
individual bedingten sittlichen Werte anzuerkennen. Auch
Scheler z. B. erscheint jedes unmittelbare sittliche Hinarbeiten
auf die Förderung des eigenen Selbst (Förderung der eigenen
sittlichen Selbstachtung) als eine Hemmung für die Entwicklung
»der sonst möglichen Personwerte«.
Die Sympathie mit anderen, hauptsächlich Mitleid, repro¬
duzierte Unlust, ist es nun nach Aars gewesen, die den ur¬
sprünglichen Egoismus niedergerangen und eine »heterozentrische
Selbstbewertung« erzeugt hat. (Hier müssen wir ebenso wie bei
Wandt entgegenhalten, daß Selbstachtungsgefühle ebenso ur¬
sprünglich sein können wie egoistische.) Dies könne aber nur
möglich gewesen sein dadurch, daß die einfache Sympathie
(»Altruismus«) unterstützt worden sei durch eine schon vor¬
handene gefühlsmäßige Kritik der anderen in Form von »Be¬
wunderung oder Hochachtung vor dem fremden Willen«. Diese
sei schon so früh vorhanden gewesen, weil sie »biologisch nütz¬
lich gewesen« sei. »Selbstachtung im Sinne der Zufriedenheit mit
dem eigenen Willen ist bereits auf primitiven, rein egoistischen
oder egozentrischen Wertungsstadien denkbar.« Aber auf diese
kritiklose Selbstachtung kommt es im Sinne des sittlichen Tat¬
bestandes nicht an. Diese Zufriedenheit mit dem eigenen Willen
hat sich mehr auf ein Kraftbewußtsein (»dynamische Selbst¬
achtnng«) als auf einen »guten Willen« bezogen.
Die egozentrische Selbstbewertung des eigenen guten Willens
ist abhängig von der Wahl »zwischen klar vorgestellten Zwecken«.
Sie bezieht sich unmittelbar auf dieses Wählen, nicht auf ein
Wissen bezüglich der Effekte. »Ich selbst wähle allerdings
seltener mit klarem Bewußtsein meinen eigenen Schaden. Nur
in einem Sinne kommt dies vor, nämlich wenn ich zwischen den
näheren nnd ferneren Folgen meiner Handlang deutlich unter-
398
Herbert Jancke,
scheide und nun entweder den angenblicklichen Schmerz w&hle,
nm späteres Glück zu erzielen, oder umgekehrt, die Lnst des
Augenblicks wähle, und dabei rnhig meinem späteren Ich die
nachher kommende Unlnst überlasse.« Wenn das spätere Ich
sich durch das eigenmächtige Auftreten des »Ich von gestern«
»moralisch indigniert fühlt« and dazn eine »abgespannte Demut«
tritt, so entsteht Eene. Es muß sich aber bereits »die Idee
des guten und schlechten Willens ausgebildet« haben, damit hier
nicht doch Selbstzufriedenheit entsteht, wie dies anf rein ego¬
istischem Boden der Fall wäre.
Dieser egozentrischen Selbstachtung fehlt aber noch jeglicher
moralisch imperativische Charakter, hier unterscheidet sich das
»Ich wiU« noch nicht von dem »Ich soll«. Soziales Interesse
kann dem eigenen zu ähnlich sein, um als durchgängige Ab¬
hängigkeitsbeziehung des imperativischen Charakters der Selbst¬
achtung (Stolz und Rene) zu dienen. Soziales Interesse liegt
etwa vor bei Furcht vor dem gemeinsamen Feind, Furcht vor
Strafe, Wechsel von Sympathie und Eifersucht unter den Mit¬
gliedern der Gesellschaft, Suggestion und dynamischem Stolz vor
anderen. Als imperativischer Antrieb hat vielmehr allein zu
gelten »das Bestreben, die Achtung der Genossen sich zu be¬
wahren«. Biologische Nützlichkeit kann auch hier die Mitursache
sein. »Die Idee, daß die Genossen mich achten, gesellt sich
dann zur egozentrischen Wertung, um die Stimmung der Selbst¬
zufriedenheit noch zu verstärken.« Der Vorgang wird dann
nicht mehr seiner Nützlichkeit wegen gewertet, sondern erhält
Selbstwert, verknüpft mit »unmittelbarer Freude«. »D. h. aber,
daß ich die Achtung, die die anderen mir zdigen, mir aneigne;
daß ich dieses ihr Gefühl mit ihnen teile, indem ich mich da¬
durch größer und besser fühle; meine Selbstachtung ist eine
heterozentrische geworden.« Ebenso wird die Reue heterozen¬
trisch. Mit dieser Selbstachtung können sich assoziieren indi¬
viduell- oder universell-eudämonistische Motive.
Zu den Aarsschen Darlegungen ist folgendes zu sagen.
Aars läßt eine egozentrische Selbstachtung entstehen ans den
Gefühlsreaktionen des Kampfes der Augenblicksimpnlse mit vor¬
handener besserer Einsicht in die Effekte der Handlungsweisen.
Es handelt sich dabei offensichtlich um eudämonistische Effekte.
Aars erkennt richtig, daß diese egozentrische Selbstachtung
nicht ohne weiteres sittlich sein kann. Aber er sieht nicht, daS
dieser Kampf gar nicht immer eudämonistisch auslegbar zu sein
braucht. Das wahre eigene Wohl des Individuums kann, wie
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
399
schon Kant wußte, auch mit Effekten von Handlongsweisen ver¬
bunden sein (nicht darans bestehen!), bei denen endämonistische
Zwecke nnd unmittelbare Lustgefühle keine Rolle spielen. Lust
soll ja hier gerade an den Angenblicksimpuls gebunden sein.
Wenn jetzt aber die Realisierung der Augenblickslust starke
ünlosteffekte nach sich zieht, so wird rückschauend von dem
Individuum, wenn es sich die Diskrepanz des Impulses nnd der
besseren Einsicht nochmals vergegenwärtigt, eine andere Wertung
vollzogen werden und die Vorstellung des Gegenstandes der
Augenblicksimpnlshandlnng mit starken Unlnstgefühlen erlebt
werden, für die eben die Unlusteffekte verantwortlich zu machen
sind. Das Individuum faßt den Entschluß, das nächste Mal der
besseren Einsicht zu folgen, und Unlnstgefühle, die das nächste
Mal zusammen mit der Vorstellung der Reahsiemng des Augen-
blicksimpnlses anftreten, verhindern vielleicht diese Realisierung.
Die Vorstellung der der besseren Einsicht entsprechenden Hand¬
lung wird sich unmittelbar anfdrängen nnd sich mit Lust ver¬
binden, die mit der vorherigen Unlust kontrastierend ein kräftiges
Wollen veranlaßt. Die Sympathie mit diesem Wollen drängt
dann zur Tat.
Biologische Nützlichkeit scheint mir im Bereiche des Sitt¬
lichen nicht immer maßgebend zu sein, jedenfalls braucht sie
kein im deutlichen Bewußtsein vorhandener Faktor zu sein. Der
Begriff der biologischen Nützlichkeit scheint mir überhaupt eine
causa ficta zu sein.
Reue entsteht nun, wenn ein Sieg des Angenblicksimpulses
rückschauend von dem Individuum als Schwäche des eigenen
Willens erlebt wird. Wie ist das möglich, da doch mit kraft¬
vollem Wollen stets sympathisiert wird? Einmal spielen hier
unlnstbetonte Vorstellungen über die ferneren Effekte eine Rolle,
nnd dann nahmen wir ja an, daß das Individuum bereits zur
Einsicht in sein besseres, wahres Wohl gekommen war, nnd so
wird es rückschauend diese Handlung als ein »widerspruchvolles
Verhalten der eigenen Persönlichkeit« (Störring) anffassen. Es
werden sich starke Unlnstgefühle entwickeln, die nun zu einem
autonomen Imperativ hindrängen, dem Entschluß, in Zu¬
kunft das eigene wahre Wohl entgegen Augenblicksimpulsen
zu realisieren. An diese Vorgänge kann sich später Selbst¬
achtung bezw. Selbstverachtung anschließen.
Es kam mir dai'anf an, die Entstehung des imperativischen
Charakters bei den Vorgängen der Entstehung der Selbstachtung
zu zeigen. Dieser braucht nicht von außen zn kommen, wie
400
Herbert Jancke,
Aars will. Was ist es denn anderes als »soziales Interesse«, wenn
ich mir die Achtung der Genossen bewahren will? Dies soziale
Interesse steht zwar auf keinem so primitiven Niveau wie die
Furcht vor Strafe; aber das feinere sittliche Bewußtsein nimmt
die Maßstäbe seiner Selbstkritik nur aus sich selber.
Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß R. Nelson in einer
Polemik den Kampf des rationalen Strebens mit Angenblicks-
impnlsen, wie er von Persönlichkeitsethikem beschrieben wird,
ebenso wie Aars fälschlich eudämonistich auslegt und so sich
selbst das Verständnis der Genesis der sittlichen Selbstachtung
erschwert.
d) V. Hartmann.
Durch die Selbstbeobachtung psychologisch vorgehend, gewinnt
V. Hartmann einen Einblick in die Genesis der Selbstachtung und
weist vor allen Dingen zum ersten Mal psychologisch ihre in¬
dividuale Bedingtheit nach, wie überhaupt die ausschließliche
Autonomie des Sittlichen.
Er warnt aber vor Überschätzung des Prinzips. So mächtig
die Illusion, als sei Selbstachtung unter allen Umständen die
ultima ratio aller sittlichen Konflikte, in gewissen Fällen von
Wirkung sein kann, so muß sie doch »rechtzeitig beseitigt werden,
weil der Mensch, der sich in dieselbe verbissen hat, seinen ganzen
sittlichen Halt verliert, wenn er früher oder später, was nicht
ausbleiben kann, diese Stütze einer großen Versuchung gegen¬
über verliert«. Selbstverachtung kann gefährlich wirken »dadurch,
daß sie eine Depression des sittlichen Selbstgefühls bewirkt, d. h.
das sittliche Selbstvertrauen, den Glauben an die eigene sittliche
Kraft... erschüttert... und dadurch die Energie in den ferneren
Kämpfen lähmt. Die Zuversicht in die eigene sittliche Kraft
dagegen erhöht die Spannkraft«.
Hier irrt v. Hartmann. Nicht in die Selbstachtung kann man
sich verbeißen, sondern in den Glauben an die Unfehlbarkeit der
Wirkung eines sittlichen Willensentschlusses. Augenblicksimpulse
schöpfen ihre Gefühlsintensität aus immer neuen das Individuum
überraschenden und lockenden Situationen, und die Intensität
dieser Gefühle kann außerordentlich stark sein, so daß ein Sieg
des rationellen Strebens keineswegs garantiert ist. Die augen¬
blicklich entstehenden Unlustgefühle der Selbstverachtung können
jedoch nur bei Hypochondern und von außen her etwa religiös
oder ungeschickt erzieherisch Beeinflußten eine solche Intensität
gewinnen, daß daraus eine Verzweiflung an die Zweckmäßigkeit
des Fassens von neuen Vorsätzen entspringt. Selbstachtung ist
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
401
im Begiime ihrer Entstehung imm er mit einem gewissen Gefühl
der ünmhe yerbunden; aber Selbstachtung als Entwicklungs¬
produkt macht auch nach ihrer Entstehung noch eine Ent¬
wicklung durch.
Goethe moniert einmal etwas Ähnliches: Er erzählte von
einem Knaben, der sich über einen begangenen Fehler nicht
habe beruhigen können. >Es war mir nicht lieb, dieses zu
bemerken!, sagte er, »denn es zeugt von einem zu zarten Ge¬
wissen, welches das eigene moralische Selbst zu hoch schätzt,
daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht
hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Tätig¬
keit balanciert wird.«
Die übrigen Ausführungen v. Hartmanns, soweit er in den
sittlichen Tatbestand eindringt, decken sich ungefähr mit Ent¬
wicklungen von Störring.
e) Th. Lipps.
Lipps grenzt zunächst die Selbstachtung ab gegen den Be¬
griff des Egoismus. Der Egoist sucht in seinem Handeln »für
sich selbst etwas«, sucht sich »ein dingliches Gut zu eigen zu
machen«. Der sich selbst Achtende sucht in sich selbst etwas,
ihm schwebt als erstrebenswert vor »die Weise, wie er sich in
seinem Handeln betätigt und demgemäß darin sich fühlen darf
... Es gibt ... keinen fundamentaleren Gegensatz als den ...,
was wir sind, und den, was wir haben«.
Sodann hat man zu unterscheiden eine sittliche Selbstachtung
von einer sittlich indifferenten Selbstachtung, wie sie gegeben
ist, wenn ein Gefühl des Stolzes sich einstellt im Gedanken an
die Leistungsfähigkeit der eigenen Person bei der Verwirklichung
egoistischer Zwecke. Es ist dieser »Stolz etwas von der Freude
an der Verwirklichung solcher Zwecke Verschiedenes«. Es ist
mehr »Selbstbehauptung im Kampf mit der Materie oder mit
anderen, die sich z. B. in Form der Bache äußern kann. Weil
man nicht aus irgend welchen Gründen von Anderem verachtet
sein will, will man sich selbst nicht verachten«. »So ist jedes
Streben nach Ehrung durch andere ein Streben nach Selbst¬
achtung. Gibt es jenes Streben, so gibt es auch ursprüngliche
Selbstachtung.« (Indifferente Selbstachtung.)
Die sittliche Selbstachtung superponiert sich ganz allgemein
über der »Freude am eigenen Tun als solchem und der Freude
am Gelingen«. Freude an kraftvoller Selbstbetätigung erweckt
>das stolze Bewußtsein eigener Kraft und eigenen Könnens,
Arohiy fOr P«yohologie. XLVm. 26
402
Herbert Jancke,
diesen Gennfi des Selbstgefühls«. Sittliche Selbstachtung nun
besteht in »dem beglückenden Bewußtsein des pflichtm&ßigen
Wollens und Handelns, dem stolzen Selbstgefühl dessen, der, was
er für recht erkannt hat, festhält, mag es ihm auch keinerlei
Lohn, sondeim lediglich Spott und Verfolgung eintragen«. Selbst¬
gefühl aber ist das »Gefühl der inneren Kraft, das Gefühl der
inneren Freiheit und der inneren Weite«.
Lipps kennt drei Bedingungen für die Entwicklung der
»Eigenwertgefühle«: Eine gewisse Unabhängigkeit vom Kampf
ums Dasein, einen bestimmten Umfang der Erfahrung und die
Ermöglichung weiter Zielsetzungen und »die Kenntnis anderer
Menschen und das Sichmessen an ihnen«.
»Lebensäußerungen anderer wecken in mir die Vorstdlung
einer Steigerung eines Moments in meinem eigenen Wesen«, weil
meine Kenntnis des anderen ganz von meiner Selbstkenntnis
abhängt. Es entsteht schließlich so meine eigene ideale Persön¬
lichkeit in der Vorstellung und schließlich überhaupt das Ideal
einer Persönlichkeit. »Der Edle, so dürfen wir sagen, der Große,
der Freie, die stolze Natur will, daß andere edel, groß, frei seien
und sich so fühlen können. Er achtet jede Tüchtigkeit, jede
Ehrlichkeit, jedes menschlich berechtigte und gute Wollen. Er
zertritt nicht, sondern richtet auf. Der wahre Mensch will
Menschen. Die echte Herrennatur haßt die Sklaverei in jeder
Form, will also auch nicht, daß andere ihr gegenüber Sklaven
seien und als solche sich gebärden.«
Systematisch faßt Lipps die Forderung der Selbstachtung
zunächst in die Formel zusammen: »Sei dir selbst treu.« Diese
Bestimmung muß jedoch im Sinne des sittlichen Tatbestands
interpretiert werden. Wir sollen uns treu bleiben, »sofern wir
sittliche nnd erkennende Persönlichkeiten sind ... Ich soll, was
ich mir vorgenommen habe, festhalten, wenn es sittlich ist ...
Dagegen bin ich sittlich verpflichtet, ... in meinem Wollen
mir untreu zu werden, ... wenn ich seinen Inhalt als unsittlich
erkenne«. »Sittliche Untreue gegen sich ist »innerlich verletzend«
und beschämend. Es entwickelt sich das Bewußtsein des Wider¬
spruches mit der besseren Einsicht, ja mit der eigenen Persön¬
lichkeit. Das dabei entstehende »Gefühl der Demütigung ist
notwendig um so stärker, je mehr es in meiner Natur hegt, mir
selbst treu zu sein«. »In der starken Nachdaner der einmal
vollzogenen Weise des inneren Verhaltens, im Streben der
Persönlichkeit, jede Weise ihrer inneren Betätigung festzuhalten,
liegt eine Stärke der Persönlichkeit und ihrer Lebensbetätig^gen.
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
403
Es offenbart sich darin innere Lebenskraft. Und solche Stärke
oder Eraft hat Wert und gibt der Persönlichkeit Wert.* Wir
sympathisieren mit jeder Lebensbetätigung, deshalb kostet es
uns »Mähe, Überwindung, einen Entschluß, eine Maxime innerlich
preiszngeben und ... diese Preisgabe oder Verneinung unserer
selbst zu bekennen«, wenn eine bestimmte Betätigung als un<
sittlich erkannt ist. Die Stärke des Widerstandes gegen Preis¬
gabe einer bisherigen Maxime »ist an sich betrachtet wertvoll«
... Aber ... diese Stärke kann zur Schwäche werden, dann
nämlich, wenn ich »das Bekenntnis der Selbstkorrektur ver¬
weigere«. »Es bekundet sich eine Stärke meines Wesens eben
auch darin, daß ich der besseren Einsicht in mir vollen Raum
und volle Wirkung verstatte. Und es ist dies eine Stärke
höherer Art eben darum, weil sie eine Stärke der besseren oder
vollkommeneren Einsicht ist. Es ist die Stärke der Wahrhaftig¬
keit gegen mich und andere.«
Lipps versteift sich hier zu sehr auf Wertbetrachtungen.
Er hätte psychologisch zeigen müssen, wieso es denn eigentlich
kommt, daß wir nicht sympathisieren mit einer kraftvollen un¬
sittlichen Betätigung. Wieso entstehen denn unsere Wertgefühle?
Lipps kann diese Vorgänge nicht verständlich machen, weil er
die Funktionen der Gefühlsreproduktion und Gefühlsübertragnng
nicht kennt Sodann ist wiederum zu betonen, daß durch das
Sichmessen an anderen keine Selbstachtung entsteht
f) Gust. Störring.
Schon Lipps hat eine gute Abgrenzung der Moralität von
der Sittenlehre gegeben. Die Sittenlehre deckt sich mit den
zeitränmlich bedingten tatsächlichen allgemeinen Anschauungen
über die Sittlichkeit, diese selbst kann aber nur eine »psy¬
chologische Tatsachenfrage« sein. Es kann nicht die Frage
sein, mit welchen Anschauungen von Gesittung sich die Gesell¬
schaft maskiert, sondern es kommt darauf an, zu untersuchen,
zu welchen Wertgefühlen die Individuen bei harmonischer,
heteronom nicht getrübter Entwicklung kraft angeborener ele¬
mentarer psychischer Eigenschaften gezwungen werden. Sitt¬
lichkeit, Gewissen ist nicht etwas, was im besonderen angeboren
ist und ein Sonderleben für sich führt, sondern diese Tatbestände
sind mit bestimmten Kombinationen psychischer Elemente, an
die man an sich gar nicht mit sittlichen Wertfragen heranzutreten
braucht, gegeben.
26 *
404
Herbert Jancke,
Diese Elemente and die Art nnd Weise ihrer Kombinationen
anfzuzeigen, hat sich Störring zur Angabe gestellt Erst nach¬
dem er dies festgestellt hat, stellt er Wertbetrachtnngen an,
die ihre Gründe aus den moralpsychologischen Vonmtersnchnngen
schöpfen, also sicherer fundiert sind als »gefühlsmäßige« oder
gar aus anderen Gebieten herbeigeftthrte Wertbetrachtungen,
nnd schließt an sie seine sittlichen Forderungen nnd Gültigkeits¬
beweise an.
Störring ist zu seinen Ergebnissen auch durch erstmaliges
Heranziehen psychopathologischer Forschungen gelangt
Die oben beschriebenen sittlichen Wertschätzungen nennen
wir individual bedingte oder auch autonome Wertschätzungen.
Sie sind feiner als die sozial bedingten und sanktionieren diese
eigentlich erst Denn man kann in ihnen die natürlichen
Funktionen nachweisen, die es dem Menschen ermöglichen, von
sich aus starke und wirksame Hemmungen zu erleben in bezng auf
die an sich mögliche Sympathie mit kräftigem unsittlichen Wollen.
Die Quellen der sittlichen Wertschätzungen sind nun ge¬
geben in folgenden Faktoren:
1. In der Fähigkeit, Freude zu empfinden an dem Eräfte-
vorrat entsprechender Betätigung.
2. In der Fähigkeit, Sympathie zu fühlen mit firemder Freude
und fremdem Leid und mit den entsprechenden fremden Reak¬
tionsgefühlen (Dankbarkeit und Ahndung).
3. In der Fähigkeit, Sympathieempfindungen zu entwickeln
mit fremder kraftvoller körperlicher oder geistiger Betätigung
nnd mit deren Hemmung.
4. In der Fähigkeit, geistige Freude und Betätigung zu
schätzen und sie höher zu schätzen als niedere sinnliche Freude
und Betätigung.
5. Allgemein in der Fähigkeit, Gefühle von einer Vorstellung
auf die andere zu übertragen, und in der schon mit der Sym¬
pathie gegebenen Fähigkeit, Gefühle zu reproduzieren mi t einer
für unsere Ideale wirksamen Intensität. Übertragung von Ge¬
fühlen wirkt u. a. auch für die Fähigkeit der Wertschätzung
der Gesinnung, bei welcher die Gefühle eine Rolle spielen, die
sich an die Durchschnittseffekte der Handlungfsweisen anschlossen,
die aus einer Disposition des betreffenden Individuums zu be¬
stimmten Arten des WoUens hervorgehend gedacht werden.
Sittliches Handeln nun hat die Eigenschaft, eine »Tätigkeit
zu sein, die ihr entgegenstehende Hemmungen kraftvoll über¬
windet«. Mit solch kraftvoller Betätigung ka-nn ma.n sympathi-
Psychologie der sittlichen Selbstachtang.
405
sieren. An sich kann man auch mit kräftigem nnsittlichen
Wollen sympathisieren. Aber es »weisen die unsittlichen Be¬
tätigungen eine Prävalenz von Unlusteffekten bei mir und
anderen auf«, infolge (nicht wegen!) derer sie kraft der Funk¬
tionen der Qefflhlsreproduktion, -Übertragung und Sympathie
mißbilligt werden.
Aristoteles zeigte zuerst, daß man nicht nur mit eigener
Lust, sondern auch mit eigener Betätigung, ohne den Lusteffekt
dabei zu berücksichtigen, sympathisieren kann. Kraftvolle geistige
Betätigung, wie sie im sittlichen Wollen vorliegt, kann von dem
Individuum als wichtige fördernde Lebensfunktion aufgefaßt
werden, im Gegensatz zu Handlungsweisen, die ohne kraftvolle
innere Betätigung, in einfacher Hingabe an augenblickliche Im¬
pulse ausgeführt werden, und deren Effekte erfahrungsgemäß
prävalierend ünlustcharakter tragen. »Das Wollen des Augen¬
blicksimpulses erweist sich dem Individuum als unvernünftig,
als gegen sein eigenes Wohl gerichtet.< Die inneren Vorgänge
in dem Individuum bei einem Sieg des Augenblicksimpulses gegen
das rationelle Streben, das eigene wahre Wohl betreffend, sind
bei der Kritik von Aars behandelt. Die Wirkung der Gefühls¬
diskrepanz zwischen dem Streben nach Handlungen entsprechend
dem wahren Wohl und dem wirklichen Handeln kann ein sogen,
»genereller Willensentschluß« sein, so genannt, weil er »auf eine
ganze Klasse von Wollen geht«. Das Individuum beschließt,
»in Zukunft das einzelne Wollen dem eigenen Wohl entsprechend
einzurichten«. Der Gedanke, daß die Art 'dieses WoUens als
Leistung der eigenen Persönlichkeit aufzufassen sei, ist geeignet,
die Wertschätzung dieses WoUens und damit die im sittlichen
Kampf zu mobilisierenden Gefühle beträchtUch zu steigern. Eine
Garantie des Sieges ist jedoch nicht damit gegeben, da die
ständig neue Situation, der die variablen Gefühlsmassen des
AugenbUcksimpulses entspringen, unberechenbar ist. Ist der Sieg
nicht geglückt, so kann das Bewußtsein dieser Tatsache starke
Unlustgefühle auslösen, und darauf kann sich eine Erneuerung
des generellen WiUensentschlusses gründen, die sich mit starken
lustgefärbten Gefühlen verbindet.
Bei einem Sieg des selbstgegebenen Imperatives betr. des
mit dem genereUen WiUensenentschluß übereinstimmenden Strebens
nach dem eigenen wahren Wohl »hat das so bestimmte Indi¬
viduum das freudige Bewußtsein, daß das Ich die Kraft hat,
seinen generellen WUlensentschluß durchzusetzen auch im Gegen¬
satz zu entgegengesetzten Strebungen des eigenen Innern. Das
406
Herbert Jancke,
freudige Bewußtsein, die Kraft zu haben, seinen auf Realisierung
von Handlungen, die seinem wahren Wohl entsprechen, gerich¬
teten Willensentschluß im Kampfe mit widerstrebenden Augen¬
blicksimpulsen zu behaupten, können wir als Achtung des Indi¬
viduums vor sich selbst, als einer die auf sein dauerndes Wohl
abzielenden Zwecke mit Erfolg wollenden Persönlichkeit be¬
zeichnen, oder genauei* als Achtung des Individuums vor sich
als einer Persönlichkeit, deren Willensrichtnng (entstanden ans
wiederholten Erneuerungen des generellen Willensentschlusses)
in einer als wirkungskräftig von ihm erkannten Weise auf Reali¬
sierung eines Wollens ausgeht, welches Wollen Förderung seines
dauernden Wohles im Gegensatz zu Augenblicksimpulsen bedingte.
Anfangs verbindet sich die Selbstachtung noch mit einem
gewissen Gefühl der Unruhe. Aber sie »wird sich immer mehr
ausprägen, je mehr das Individuum die Wirkungskräftigkeit
seines generellen Willensentschlusses und der dadurch bestimmten
Willensrichtung im einzelnen Wollen erfährt«. Hat ein Indi¬
viduum in dieser Weise Selbstachtung bei sich erlebt, so wird
es mit kräftiger sittlicher Betätigung und der Selbstachtung
von anderen sympathisieren können, denn Sympathie ist ja ab¬
hängig, wie David Hume gezeigt hat, von eigenem Erleben.
Hier zeigt sich eine Wertschätzung des Wollens selbst, der Ge¬
sinnung, die nicht mehr abhängig ist von den Erfahrungen über
den Dnrchschnittseffekt des betreffenden Wollens.
Eine weitere Art individual bedingter sittlicher Selbstachtung
superponiert sich über der genannten »Wertschätzung geistiger
Lebensbetätigung und geistiger Lust im Gegensatz zu damit
streitender sinnlicher Lebensbetätigung und damit streitendem
sinnlichen Genuß«. Es ist psychologisch festgestellt, daß das
»kraftvollste Handeln da möglich ist, wo die Betätigung und
nicht die Lust in die unmittelbare Zweckvorstellung aufgenommen
worden ist, und sodann, daß die höheren geistigen Lebensbetä¬
tigungen sich leichter und vollkommener vollziehen, wenn nicht
allein die Lust, sondern allein oder mit besonderer Betonung
die Betätigung unmittelbar gewollt wird«.
Auch hier kann sich ein genereller Willensentschlnß ent¬
wickeln, von dem wieder eine Willensrichtung abhängt Erstrebt
wird hier die »Achtung des Individuums vor sich selbst als
einer Persönlichkeit, deren Willensrichtung in einer von dem¬
selben als wirkungskräftig erkannten Weise auf Realisierung
eigenen Wollens oder Förderung von Dispositionen dazu ans¬
geht, welches Wollen auf Bevorzugung von geistiger Lebens-
Psychologie der sittlichen Selbstachtnng. 407
betätigung und geistiger Freude vor damit streitender sinnlicher
gerichtet ist«.
Individual bedingte Selbstachtung kann sich auch super-
ponieren über speziellen Wertschätzungen, wie »gerechtes Handeln,
wahrhaftes Verhalten usw.«
Außerdem gibt es noch zwei Arten sozial bedingter sitt¬
licher Selbstachtung, deren Entwicklungsstadien von der Ent¬
wicklung der verschiedenen Formen individual bedingter Selbst¬
achtung beeinflußt werden können. Die eine Art superponiert
sich über >dem Streben nach Realisierung dessen, was als sitt¬
liche Vorschrift dem Individuum entgegentritt«. Außer eigner
Einsicht waren Lob, Tadel, Ehrfurchts- oder Achtungsgefühle
hier noch soziale Antriebe. Die andere Art bezeichnet man als
»Achtung des Individuums vor sich selbst als einer Persönlich¬
keit, deren Willensrichtung in wirkungsvoller Weise ausgeht
auf Förderung der Entwicklung staatlicher Institutionen.
>Von dem Auftreten sittlicher Selbstachtnng als Effekt ans
schi’eitet die Entwicklung so weiter, daß nun die Selbstachtnng
Motiv sittlichen Wollens werden kann, wobei das Individuum
sich sagt: ich will das und das, weil ich in letzter Linie meine
sittliche Selbstachtung behaupten will. Unter dem Wülen aber,
seine Selbstachtung zu behaupten,; ist zu verstehen der Wille,
die Bedingungen in sich realisiert zu halten, von denen seine
Selbstachtung abhängt, d. h. also, es will seine einzelnen Willens¬
entschlüsse in Übereinstimmung halten mit seinen entsprechenden
generellen WUlensentschlüssen.«
Die Selbstachtung kann sich als Motiv auch so gestalten, daß
das Individuum von der Realisierung einer Handlung Abstand
nimmt, um das Auftreten des Gefühls der Selbstverachtung zu
vermeiden, ja gerade diese Motivierung kann besonders stark
ausgeprägt sein.
Aus sittlicher Selbstachtung kann sich nun weiter die Eantsche
»Achtung vor dem Sittengesetz« entwickeln. Handelt das Indi¬
viduum bei bestehender sittlicher Selbstachtung gegen den ent¬
sprechenden generellen Willensentschlnß, so drängt sich ihm der
Gedanke des Widerspruches mit sich selbst in schmerzlicher
Weise auf. Der Gedanke der Gefährdung der sittlichen Selbst¬
achtung flndet nun eine Übertragung auf das Urteil: »Dies
Wollen ist sittlich verwerflich.« So wird dieses Urteil zu einem
Summationszentmm kräftiger sittlicher Gefühle. In ähnlicher
Weise entwickelt sich das Urteil: »Dies Wollen ist für jetzt
sittlich geboten« zu einem positiven Summationszentmm sittlicher
408
Herbert Jancke,
Gefühle. (Unter einem Summationszentnun versteht Störring
eine Wahrnehmung, Vorstellung oder ein Urteil, an welche sich
im Laufe des Lebens eine große Zahl gleicher oder verschiedener
Gefühle angeschlossen haben, die jedesmal, wenn ein solcher
intellektueller Vorgang wieder bewußt wird, zum Nachklingen
kommen, ohne daß man sich im einzelnen über die Herkunft
der Gefühle Rechenschaft ablegen kann.) (Die Vorstellungen
der Mutter, Gottes, Gedanken etwa an die Musik oder eben
auch an sittliche Betätigung.) So zeigt sich, daß die Achtung
vor dem Sittengesetz nicht angeboren ist und auch ihr Verhältnis
zur Selbstachtung umgekehrt ist, als wie Kant annahm.
Die verschiedenen Formen der Selbstachtung wirken nun
auch zusammen >in der Achtung vor unserer sittlichen Persön¬
lichkeit überhaupt, d. h. in dem Bewußtsein der Würde unserer
sittlichen Persönlichkeit«.
»Durch Zusammenwirken der eigenen sittlichen Selbstachtung
mit der Fähigkeit, Sympathiegefühle und Sympathieempfindnng
mit anderen Menschen zu haben, wird sich das Streben ent¬
wickeln, auch in anderen die Entwicklung sittlicher Selbstach¬
tung zu fördern, vor allen Dingen aber wird sich der Gedanke,
daß durch die und die im Kampf der Motive ins Auge gefaßte
Handlung die Entwicklung sittlicher Selbstachtung in anderen
geschädigt werden könnte, mit stärksten Unlustgefühlen ver¬
binden, die in ihrer Intensität und Färbung von der 'eigenen
sittlichen Selbstachtung abhängig sind.« »Eine Handlung, durch
die wissentlich die Entwicklung sittlicher Selbstachtung in anderen
geschädigt wird, muß im höchsten Grade verwerflich erscheinen.
Populär ausgedrückt; eine solche Handlung muß als teuflisch
erscheinen gegenüber einer unsittlichen Handlung, bei der ein¬
fach einem Individuum zu Unrecht Unlust zugefügt wird. Hier
prägt sich der Unterschied der einfachen Werte und der höheren
sittlichen Werte in deutlicher Weise aus.«
Sittliche Selbstachtung, die sich gründet auf eigene sittliche
kraftvolle WUlensbetätigung, superponiert sich über Formen sitt¬
lichen Handelns, die charakterisiert werden können vom endä-
monistischen und energistischen Standpunkt aus.
5. Die psychologische Beziehung der Selbstachtung zur
Sympathie.
Am Schluß der Darlegungen über die Behandlung der Psycho¬
gen esis der sittlichen Selbstachtung bei den Ethikem bleibt uns
noch die Frage zu beantworten, die sich uns bei der Behandlung
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
409
Kants anfgedrängft hatte, die Frage nach der Beziehung des
Motivs der Selbstachtung zum Sympathiemotiv. Eines können
wir jetzt ohne weiteres sagen: Die Entwicklung der Selbstach¬
tung setzt kräftiges Erleben von Sympathieempfindungen und
Sympathiegefühlen voraus. Wo wir Sympathiegefflhle als Motiv
bemerken, können wir sagen, das Motiv sei ein selbstloses. Nicht
jedes selbstlose Motiv braucht ein Sympathiemotiv zu sein.
Andererseits braucht nicht jedes sittliche Motiv ein selbstloses
zu sein. Es ist es jedenfalls dort nicht, wo ich mir als letzten
unmittelbaren Zweck vorsetze die Förderung der eigenen Dispo¬
sitionen zu sittlichem Wollen oder die Förderung und Behaup¬
tung eigener Selbstachtung nsw. Andererseits kann ich wohl
zur Förderung fremder Dispositionen zu sittlichem Wollen kräf¬
tiges Erlebenlassen von Sympathiegefählen bezwecken, nicht aber
die Förderung von Sympathie unmittelbar, weil diese auf ele¬
mentar-angeborenen Faktoren beruht und von der Intensität
eigener Erlebnisse abhängig, also stark determiniert ist. Übrigens
ist Sympathie nicht absolut sittlich, sondern nur dann, wenn sie
sich nicht in Konkurrenz mit höheren sittlichen Prinzipien durch¬
setzt — Selbstachtung aber ist absolut sittlich. —
Um diese Entwicklung auf dem Gebiet der praktischen Lebens-
anschannng anzuwenden: Solange man einen Konnex mit den ge¬
gebenen Tatsachen anfrechterhält, ist es ein Unding, von einer
absoluten Sympathiemoral (Liebesmoral) zu sprechen. Man zieht
hier sekundäre Prinzipien tatsächlich erlebten primären vor. Die
Gesinnung, die subjektive Seite des sittlichen Tatbestandes, kann
deshalb nicht allein maßgebend sein, weil man mit der besten
(selbstlosesten) Gesinnung das größte Unheil in der Welt an-
richten kann. Man muß von einem psychisch gleichmäßig be¬
gabten Individuum verlangen, d6iß es sich gehörig auch über die
Effekte seiner Handlungsweisen orientiert Unmittelbare sittliche
Arbeit an sich selbst aber hat stets die wertvollsten Effekte
auch für andere davongetragen. Es ist nicht richtig, wenn man
sagt: »Wer sich selbst verlieren will, wird sich gewinnen«
(Scheler). Im Gegenteil: »Man muß fest auf sich selber sitzen«
(Nietzsche).
6. Methodik der Systematisierung der Ethik (bezfiglich der
sittliehen Selbstachtung).
teilt zunächst die Horalsysteme ein in metaphysische nnd nicht-
metaphysische.
410
Herbert Jancke,
a) Metapbysiker.
Die metaphysischen Ethiker gründen ihre Bestimmnngen anf Welt*
anschannngslehren; zn ihnen zu rechnen sind Schopenhauer, Eranse,
Fichte und E. t. Hartmann. Schopenhauer würdigt die Selbstach¬
tung als Prinzip überhaupt nicht, wie wir sahen; er kennt allein das »Sym-
pathieprinzip«, dessen Notwendigkeit er metaphysisch erkl&rt. — Eranse
geht ans von panentheistischen Annahmen und teleologischen Bestimmnngen.
Alles Gegebene, Geistiges wie Ehrperliches, hat die gleiche »Würde«, weü
hinter allem Gott sich verbirgt, besonders aber hat der Mensch Würde, weil
hier alle Eiassen der Erscheinung (Gott, Natur und Vernunft) sich vereinigen
und Gott speziell sich nachbildet. Der Zweck des menschlichen Lebens ist
die Intuition Gottes in sich, d. h. durch Sittlichkeit (Selbstachtung) sich der
Teilhaftigkeit an dem »Guten« (Gott) würdig zn machen.
Auch nach Fichte ist das Leben anznsehen als Mittel zur Beali-
siernng des Endzweckes, der Herrschaft der sittlichen Vernunft. Die Selbst¬
achtung ist der Götterfunken im Menschen, der »ihn zum Mitbürger einer
Welt macht, dessen erstes Mitglied Gott ist«. »Jedes Individuum hat durch
sein biofies Dasein in der Sphäre des allgemeinen Lebens eine bestimmte
Aufgabe.« — Bei Fichte tritt die metaphysische Begründung weniger her¬
vor, weil er die Ethik sowohl »von oben« wie »von unten« zn fundieren
sucht. Die z. T. empirische, z. T. schlnfifolgemde Begründung ist aber sicht¬
lich eingeengt durch vorgefafite Ideen. Das Moralprinzip ist in seiner For¬
malität unbefriedigend, weil sich daraus keine sittlichen Einzelbestimmnngen
ableiten lassen. Fichte fordert einfach: Werde sittliche Persönlichkeit
und »erfülle jedesmal deine Bestimmung«.
Für E.v. Hartmann sind alle sittlichen Bestimmnngen von relativer
Gültigkeit. Sie haben Gültigkeit, weil sie durch Bewirkung einer gesteigerten
Hingabe an das Leben und sein Leid die Eonsequenz der Einsicht aller, dafi
Nichtsein besser als Sein, beschleunigt herbeiführen. Der Endzweck ist ein
ttbersittlicher, die Sittlichkeit Mittel zu seiner Verwirklichung: »Die sitt¬
liche Persönlichkeit ist Mittel, nicht Zweck.« Im übrigen leugnet v. Hart-
mann eine sittliche Bedeutung sozialer Faktoren und einen Wertunterschied
der einzelnen sittlichen Motive.
Gemeinsam ist allen metaphysischen Ethikem die richtige Erkenntnis,
dafi die Selbstachtung nicht mit dem Lustmafistabe zu messen ist oder um
ihres Lustfaktors willen gewollt wird. Gewollt wird in der Selbstachtung
die dem autonomen Imperativ gehorchende, kraftvoll die Angenblicksimpnlse
überwindende sittliche Willensbetätignng, die Wahrung der sittlichen
Würde der eigenen Persönlichkeit als Selbstzweck.
b) PersOulichkeitsethiker.
Bei V. Hartmann und Eranse wurden die sittlichen Prinzipien gleich¬
gewertet, bei Fichte und Schopenhauer herrscht die einseitige Bewer¬
tung je eines Prinzips vor. Die nichtmetaphysischen Ethiker nun, die mit
Recht den sittlichen Tatbestand empirisch behandeln, da man nicht nOtig
hat, ihn mit metaphysischen Anschauungen zn vermengen, teilt man ein
nach ihren Bestimmnngen über die normalen Effekte, die ihr System der
Zwecke des sittlichen WoUens charakterisieren. Wir bestimmten bereits,
dafi sittliche Selbstachtung sich snperponiert über Formen des sittlichen
Wollens, die sich vom endämonistischen und energistischen Standpunkt ans
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
411
charakterisieren lassen. Es kann also das Prinzip der sittlichen Selbstach¬
tung zn Recht bestehend nicht in einem bloß endämonistischen System (oder
bloß energistischen) einbezogen sein. Dagegen wird jedoch verstoßen
n. a. von DO ring nndOizicki, die sich über die psychologischen Grund¬
lagen nicht klar geworden sind. Alle Effekte der endämonistischen und
energistischen Zwecke können auch nur Dnrchscbnittseffekte sein, die Effekte
des höheren sittlichen Wollens dagegen sind regelmäßige.
Es kann also keine Ethik die Selbstachtung als Prinzip verwerten, die
ans den Effekten ihres Systems der Zwecke bei dem sittlichen Wollen die
Förderung nur gewisser psychischer Funktionen resultieren läßt, sondern es
muß von einem solchen die Förderung einer harmonischen Entwicklung der
gesamten Persönlichkeit verlangt werden. Eine solche Ethik nennen wir
Persönlichkeitsethik.
Eine solche, und zwar eine formale, finden wir vor bei Kant und Lipps
(wohl auch bei Fichte), und ebenfalls formal, aber mit Anklängen an eine
materiale Ethik, sind die Systeme von Block, Fries und Nelson; eine
materiale Persönlichkeitsethik endlich gibt Störring. Aus einem formalen
Prinzip, das meist in der Aufstellung eines kategorischen Imperativs gipfelt,
kann man nicht die Stnfenordnnng der sittlichen Werte und die sittlichen
Einzelvorschriften ableiten.
c) Wnndt.
Die Ethik Wnndts, die Ethik der »objektiven geistigen Erzeugnisse«
hält »Selbstvervollkonunnnng zn individuellen Zwecken für sittlich wertlos«.
Ihr stellen also Persönlichkeit und Selbstachtung keine absoluten Werte dar.
Vielmehr ist die »Norm der Selbstachtung« sittlich wertvoll deshalb, weil
unter ihrer Beobachtung die objektiven Güter gefordert werden. Eigent¬
liches Motiv ist die Norm auch nicht, dies steht bei Wnndt ans, sondern
ein formaler Imperativ, der sich auf den engsten möglichen sittlichen Wir^
knnskreis bezieht, den individualen, der zwar »eine Bedingung aller übrigen«
ist, aber doch an Wert hinter dem »sozialen« und »humanen« znrücksteht.
7. Die Einbettung des Prinzips der Selbstachtung in die
ethischen Systeme.
a) Formale Persönlichkeitsethiker.
Fant hat die (empirische) Selbstachtung als Prinzip in seine
Ethik nicht aufgenommen. Er kennt nur ein Prinzip: das der
Pflicht, ausgedrückt durch die (nicht empirische) Achtung vor
dem Sittengesetz. Sie läßt sich geradeso nicht mit dem Lust-
(Gefnhls-)ma6stabe messen wie die durch sie involvierte rationale
Selbstachtung, die Achtung vor der Würde der Person. Störring
zeigte, daß die Idee der Würde unserer sittlichen Persönlichkeit
und die Achtung vor dem Sittengesetz ihrer Entstehung nach
miteinander verwandt sind; aber beide haben zur Voraussetzung
die Entwicklung verschiedener Arten sittlicher Selbstachtung. —
Einbeziehung von ESektbetrachtnngen lehnt Kant wegen ihrer
empirischen Dignität ab. Als Apriorist fällt für ihn auch die
412
Herbert Jancke,
Zwecksetzung der Fördemng sittlicher Selbstachtimg oder der
Achtung vor dem Sittengesetz in sich und anderen fort.
Ich gebe noch eine für die rationale Selbstachtung charak¬
teristische Stelle: >Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im
größten Unglück des Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er
sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Be¬
wußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person
doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht
vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbst¬
prüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost ist nicht die
Glückseligkeit, anch nicht der mindeste Teil derselben.<
Ebensowenig wie Kant wird Lipps dem endämonistischen
und dem energistischen Prinzip gerecht. Nach ihm kann man
ein Wollen nur dann als sittlich bezeichnen, wenn es sich zum
Zweck setzt die Behauptung oder die Förderung von sittlicher
Selbstachtung. Anch ihm kommt es nur auf die Gesinnung an,
die er bestehen läßt in einem bestimmten Verhältnis von Motiven,
welches sich gestalten muß nach dem formalen Gesetz: »Ver¬
halte dich allgemeingültig.«
b) Versuche, die Persönlichkeitsethik material zu
gestalten.
Auch die nächste Gruppe von Ethikem vollzieht noch keine
positive Würdigung von einfachem sittlichen Wollen, zieht es
aber etwas mehr in ihre Betrachtungen hinein. Block sagt
z. B.: »Seine eigene Glückseligkeit zu befördern, ist, wo nicht
unmittelbar, doch gewiß mittelbar Pflicht, weil ohne dem weder
eigene Vollkommenheit noch fremde Glückseligkeit befördert
werden kann«. Es läßt sich nicht mit Kant behaupten, »daß
das Prinzip der Glückseligkeit die Sittlichkeit und ihre Würde
untergrabe«. Das (sehr unvollkommene) »materiale Prinzip« flndet
Block in dem Grundsatz gegeben: »Strebe nach einem weisen,
wohlwollenden und mutigen Charakter, und handle so, wie es
demselben gemäß ist.«
Fries erkennt zwar, >daß das Prinzip des Eudämonismus
zu einem allgemeinen Gesetz nicht taugt«, »daß aber auch die
Natur als unvernünftige Kraft nicht einfach willkürlich durch
uns unterworfen werden darf«, sondern daß jeder natürliche Trieb
einen sittlichen Wert bekommen kann, wenn er in Beziehung
zur Selbstachtung gesetzt wird. Er kennt zwei dieser Triebe,
den »Trieb der Tierheit« (Glückseligkeitstrieb) und den »Trieb
der Menschheit« in uns (Streben nach höherer geistiger Lust
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
413
und Bestätigung). Diese müssen in Beziehong gesetzt werden
znm >Trieb der Persönlichkeitc (Selbstachtung als Idee der Würde
der Person). Psychologisch gesehen, wird diese Inbeziehung-
setznng nach ihm bewirkt dnrch den »reflektierten Trieb«, den
»Verstand als Kraft der Selbstbeherrschung«. Hier ist zwar
eine Stufenordnung von Werten aufgestellt; ihr Mangel liegt
jedoch darin, daß die niederen Werte noch nicht als einfache
sittliche Werte erkannt sind und daß hier ein sogen, absolutes
Prinzip als Hilfsprinzip herangeholt wird. Auf diese Weise konute
es zu einem materialen Prinzip nicht kommen.
Die von der Friesschen ausgehende Nelsonsche Ethik ver¬
eint normative Prinzipien mit einem formalen Prinzip.
c) Die materiale Persönlichkeitsethik Störrings.
Störring ließ sich bei der Aufstellung seines Moralprinzips
heuristische Dienste leisten von der psychologischen Durchleuch¬
tung des sittlichen Tatbestandes. »Man sieht so in demselben
Züge, die man vorher nicht beachtet hatte, ähnlich wie bei der
Helmholtzschen Klanganalyse durch vorgängige isolierte Dar¬
bietung der einzelnen Teiltöne: man sieht in demselben die Be¬
ziehung der verschiedenen Formen sittlicher Selbstachtung auf
verschiedene generelle Willensentschlfisse, welche sich selbst in¬
haltlich auf einfaches sittliches Handeln beziehen. Also die ver¬
schiedenen Formen sittlicher Selbstachtung beziehen sich inhalt¬
lich auf einfaches sittliches Handeln, setzen einfaches sittliches
Wollen voraus.« Das gleiche stellte sich heraus »bei näherer
Untersuchung autonomer Achtung vor dem Sittengesetz«.
»Die Folgerung daraus ist, daß sich die verschiedenen sitt¬
lich gewerteten Größen in einem System von Prinzipien charak¬
terisieren lassen derart, daß die höheren Prinzipien die der
Wertung nach untergeordneten voranssetzen.« Ein Moral¬
prinzip soll außerdem so beschaffen sein, daß sich daraus die
sittlichen Einzelvorschriften unter differenten Lebensbedingnngen
ableiten lassen.
Um den Unterschied zwischen einfachen und höher gewer¬
teten sittlichen Größen zu erkennen, greifen wir einen konkreten
Fall heraus. Ich kann ein sittliches Wollen so charakterisieren,
daß es auf der objektiven Seite nach sich zieht etwa Förderung
von höherer geistiger Freude in anderen, und auf dessen sub¬
jektiver Seite ein selbstloses Motiv steht Wir können dann
überhaupt auf die objektive Seite setzen alle die sittlichen
Zwecke, die durch die Eudämonisten und Energisten im aUge-
414
Herbert Jancke,
meinen richtig charakterisiert sind. — Nun vergleichen wir ein
solches Wollen »mit einem Wollen, das auf Förderung dieser
Art des Wollens selbst ausgeht, auf Förderung dieses sittlichen
Wollens«. Da handelt es sich um einen sittlichen Zweck, der
mit den genannten Maßstäben nicht mehr zu messen ist Das
eine Mal ist der Zweck des Wollens Fördeimg von Lust oder
Lebensbetätigung, das andere Mal Förderung von sittlichem
Wollen selbst. Dasselbe gilt von einem Wollen, »bei dem der
unmittelbare eigentliche Zweck des Wollens in Förderung sitt¬
licher Selbstachtung oder in Förderung autonomer Achtung vor
dem Sittengesetz besteht«.
Jedesmal, wenn neue sittliche Gefühle in dem Individuum
zur Entwicklung gekommen sind, werden sie als neue, über die
vorhandenen hinausgehende Zwecke in die Zweckvorstellung
aufgenommen. Störring nennt diesen Vorgang »das Prinzip
der Bereicherung der Zweckvorstellungen des sittlichen Wollens
durch die Art des Gewolltwerdens der ursprünglich gesetzten
Zwecke sittlichen Wollens und durch gewisse komplexe Effekte
sittlichen Wollens in dem Wollenden«.
In der sittlichen Selbstachtung geht höheres und niederes
sittliches Wollen eine Synthese ein. Sie tritt da auf, wo der
Kampf der Motive ein sehr ausgeprägter ist. —
»Damit ist der Gegensatz überbrückt, in welchem den Per-
sönUchkeitsethikem das sittliche Handeln, bei dem sittUche Selbst¬
achtung mitwirkt, zu dem Handeln steht, welches von den
besseren eudämonistischen und energistischen Systemen als sitt¬
liches Handeln bezeichnet wurde.« »Es wäre ja auch von dem
Prinzip der Erafterspamis aus keine glückliche Forderung des
sittlichen Bewußtseins zu nennen, wenn es bei jeder relativ ge¬
ringfügigen Einzelhandlung die Feststellung der Beziehung zu
einer möglichen Förderung sittlicher Selbstachtung verlangte;
so unökonomisch arbeitet das sittlicheBewußtsein tatsächlichnicht«
Das System der Zwecke oder das Moralprinzip würde sich
nun so gestalten, daß zunächst das einfache sittliche Wollen
charakterisiert wird, und sodann drei sich snperponierende Arten
des höheren sittlichen Wollens:
a) Das Wollen, das als normalen Effekt Förderung von ein¬
fachem sittlichen Wollen in der Menschheit nach sich
zieht.
b) Das Wollen, das als Effekt nach sich zieht: »eine über
die Förderung einfachen sittlichen Wollens hinausgehende
Förderung der eigenen Selbstachtung oder Selbstachtung
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
415
in Anderen als von Persönlichkeiten, deren Willensent-
schließong in einer von denselben als wirknngskräftig er¬
lebten Weise auf Realisienmg eigenen Wollens ausgeht,
welches Förderung von in ihrem Vollzug mit Freude sich
verbindender Lebensfunktionen in der bei Charakterisierung
des einfachen sittlichen WoUens bestimmten Weise und
Minderung der Hemmung solcher Lebensförderungen als
normalen Effekt bei Übereinstimmung des letzten Zweckes
dieses Wollens mit diesem Effekt mit sich führt, und bei
dem der letzte eigentliche Zweck (Motiv) in dieser Förde¬
rung der Dispositionen zu den entsprechenden Willens¬
entschließungen und ihrer Aktualisierung besteht«.
c) Das Wollen, das Förderung von autonomer Achtung vor
dem Sittengesetz nach sich zieht.
d) Störrings Beweis der Gültigkeit sittlicher
Selbstachtung.
Störring zeigt, soweit ich sehe, als einziger Ethiker die
doch so wichtige Rechtfertigung der sittlichen Forderungen und
der Selbstachtung.
Ihrer formalen Seite nach scheint die Selbstachtung als ab¬
soluter sittlicher Wert unmittelbar erlebt zu werden. Aber es
ist doch nicht so ohne weiteres ansgemacht, daß diesem tat¬
sächlichen Wert auch ein gültiger Wert entsfficht. Es
fragt sich, »ob nicht die Rechtfertigung sittlicher Selbstachtung
doch auf mittelbare Weise im Anschluß an das Erleben sich
vollzieht<. Man kann zunächst einen rationalen Gültigkeits¬
beweis für die Selbstachtung führen, der als Vemunfterkenntnis
für »alle Ewigkeit« gilt. Der Beweis lautet: »In den ver¬
schiedenen Formen sittlicher Selbstachtung treten als Ausdruck
der eigenen Persönlichkeit g’ewußte generelle Willensentschlie߬
ungen in mächtigster Weise auf. In solchen generellen Willens¬
entschlüssen fordert aber das sittliche Individuum von sich selbst
das Wollen, welches ihm als das höchste in bestimmter Be¬
ziehung erscheint. Nun kann man aber von einem mit Intelligenz
und Willen begabten Individuum nicht mehr verlangen, als daß
es dasjenige Wollen auch auf Kosten persönlicher Interessen
mit aller Macht zu realisieren strebt, welches es unter Aufwand
der ihm zur Verfügung stehenden Beurteilnngsmittel für das
höchste hält.«
Man kann den Charakter der sittlichen Werte als absoluter
Werte darin begründet denken, daß es absolut wertvoll für den
416
Herbert Jancke,
Menschen ist, das zu wollen, was ihm als sittlich geboten er¬
scheint. Der Gültigkeitsbeweis für die materiale Seite der sitt¬
lichen Wertschätzungen ist nur ein solcher yon hoher empirischer
Dignität. Das charakterisierte sittliche Wollen, das hinanslänft
anf Förderung der Entwicklung harmonischer Lebensbetätignng,
ist naturgemäß. Die Fähigkeit zum Vollzug sittlicher Wert¬
schätzungen hängt ab von der »allgemeinen Entwicklung des
Gefühlslebens, speziell von dem Vollzug von Gefühlsreproduk¬
tionen«, und von der Entwicklung der Intdligenz und des
Willenslebens. Sie ist damit gegeben und führt kein Sonder¬
leben für sich. »Wenn man also die Entwicklung des Menschen
in emotioneller und intellektueller Beziehung will, so muß man
auch die sittliche Entwicklung und Mißbilligung des Unsittlichen
wollen.« »Die sittlichen Wertschätzungen haben auch ihrem In¬
halt nach bleibende Gültigkeit, solange die menschliche Natur
keine radikale Umgestaltung erfährt«
e) Über pädagogische und religiöse Bedeutung
der Selbstachtung.
Nach Störring kann man in pädagogischer Hinsicht An¬
regungen geben, die yorteilhaft wirken auf die Entwicklung yon
Partialfaktoren, yon denen die Entwicklung der Selbstachtung
abhängig ist. Hat man einerseits dafür zu sorgen, daß das
SelbstyeiiYauen des Zögling in die eigene sittliche Entwicklungs¬
fähigkeit nicht untergraben wird, so muß man andrerseits darauf
hinwirken, daß der Zögling seine Erwartungen bezüglich der
Wirkung seiner Wülensentschlüsse nicht zu hoch schraubt —
Die Erneuerung der generellen Willensentschließungen wird
stark beeinflußt durch Betrachtung des Lebens sittlicher Heroen,
besonders durch die Betrachtung des Lebens Jesu.
8. Die Selbstachtung als praktischer Lebenswert,
a) Fichte, yiel genannt, aber wenig gelesen, hat wohl neben
Nietzsche der deutschen Ethik die menschlich- (synthetisch¬
psychologischen) wertyollsten Beiträge geliefert; sie stehen yer-
streut in seinen Schriften, namentlich in der »Rede über die
Würde des Menschen«, dem »Wesen des Gelehrten« und den
»Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters«. Ich wähle eine
markante Stelle aus: Seine Formulierung des »Gesetzes der
akademischen Freiheit«: »Meinetwegen kannst du das Rechte
immer unterlassen, das Verkehrte immer tun; es soll dir nichts
weiter schaden, außer daß du yerachtet und geringgeschätzt
Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
417
wirst, und dich selbst, wenn da einen Blick in dein Inneres
tost, yerachtest. Willst du es auf diese Gefahr wagen, so wage
es getrost!«
b) Goethe.
Die sittliche Lebensanschanung von Goethe kennen zu lernen,
ist Ton heuristischem Wert. Er ist uns als einer der größten
Menschenkenner und Menschenbildner bekannt, und wir wissen,
eine wie große Bedeutung für sein ganzes Schaffen die Kon¬
zentration auf das eigene höhere Selbst hatte. Außerdem wissen
wir ihn in seinen reiferen Jahren von heteronomen Einflüssen
so gut wie frei, und die Übereinstimmung seiner Resultate mit
denen unserer Psychologie ist deshalb so wertvoll, weil wir in
Goethe die allgemeine Natur des Menschen in einer Form be¬
deutend hoher Entwicklung bewundern. Er selbst faßt die Sitt¬
lichkeit auf nicht als »Produkt menschlicher Reflexion, sondern
sie ist angeschaffene schöne Natur. Sie ist mehr oder weniger
den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade
aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern«. Es kommt
darauf an, »den Gehalt der eigenen Persönlichkeit zu steigern«,
damit Wirkung und Nutzen für andere »nicht als Zweck,
sondern als notwendige Folge stattfinde«.
Wenn er es auch eindeutig niederschreibt: »Uns selbst zu
achten leitet unsere Sittlichkeit; andere zu schätzen regiert unser
Betragen«, so brauchen wir uns hier nicht eng an Worte zu
halten, sondern können durch Einfühlung in sein Leben und
Schaffen bedeutend mehr erfahren, wozu uns an dieser Stelle
allerdings der Raum fehlt. Ich weise hier hin auf die religiös¬
sittliche Betrachtung in »Wilhelm Meisters Wandeigahren« von
den drei Ehrfurchten, die sich synthetisch in das höchste Ge¬
fühl der »Ehrfurcht vor sich selbst« zusammenschließen. Den
ganzen Goethe wohl, den sich auf sich selbst stellenden, »gott¬
losen«, erschließen uns seine Worte: »Feiger Gedanken bäng¬
liches Schwanken, weibisches Zagen, ängstliches Klagen wendet
kein Elend, macht dich nicht frei Allen Gewalten zürn Trotz
sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die
Arme der Götter herbei.« Nur ein hochentwickeltes Gefühl
autonomer Selbstachtung befiehlt eine solche Stellung zum Leben.
Ein bloß subjektives Prinzip der Liebe, der guten Gesinnung,
lehrt uns nicht, unsere Gefühle durch den Willen zu zwingen,
wie ein fruchtbares, nicht nur auf Außerpersönliches gestelltes
Leben es von uns fordert.
Archiv für Psychologie. XLVIU. 27
418
Herbert Jaiicke,
c) Nietzsche.
Nietzsches Position sei mit einer parallelen Stelle charak¬
terisiert: > Alles Fühlende leidet an mir nnd ist in meinen Ge¬
fängnissen; aber mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier
und Frendebringer. Wollen befreit. Das ist die wahre Lehre
von Wille und Freiheit.«
Nietzsche sucht {ebenso wie Störring) eine sittliche Werte¬
tafel zu gründen, die in Übereinstimmung steht mit den natür¬
lich-sittlichen Funktionen im Menschen. Sittlichkeit kann nnr
autonom, individual bedingt sein; daher sein Kampf gegen hen*-
sehende heteronome, entselbstende Einflüsse, die uns als »die
Moral« gepredigt werden, eine Moral, die bestenfalls gewisse
niedere sittliche Werte kennt, die als absolut bestehend
außerhalb der Persönlichkeit geschildert werden (Staat, Her¬
kommen, Systeme von »Anpassungen« und, namentlich pauli-
nisches und protestantisches, Christentum). Da heißt es: »Wer
mir nachfolgen will, verleugne sich selbst.« So wird das
Vertrauen in eine autonom-sittliche Entwicklung untergraben.
Weil er diese »Moral« nicht anerkennt, nennt sich Nietzsche
paradox »Immoralist«. »Der Weise kennt keine Sittlichkeit
mehr außer der, welche ihre Gesetze aus ihm selbst nimmt, ja
schon das Wort Sittlichkeit paßt für ihn nicht«, denn es leitet
sich von dem heteronomen Begriff Sitte ab. »Es gibt niemanden,
dem wir Eechenschaft schuldeten als uns selbst.« »Geh nur
wir selber treulich nach, so folgst du mir. Was ist aber dieses
»Selbst« ? Es ist der autonome, über unsere Gefühle herrschende
Wille, das Gefühl sittlicher Überlegenheit über uns selbst, die Er¬
fassung des unserer Natur Entsprechenden, welches alles Selbst-
Fremde, z. B. Impulse, gemächliche Anpassung an das »Glück
der Herde«, abweist, kurz der »Wille zur Macht« über das sitt¬
liche Selbst sowohl wie über das außersittliche Nicht-Selbst (im
persönlichen Sinne).
Warum aber Herrschaft über die Gefühle? Wir sahen bei
Störring, daß die Gefühle beim sittlichen Handeln eine domi¬
nierende RoUe spielen. Die Gefühle sind der Ausdruck fließenden
Lebens, des irrationalen Erfassens der Lebens-Anreize, des Ver¬
stehens nicht nur, sondern auch des Entscheidens über den Wert
dieser Anreize, unserer Sensibilität. Natur prägt sich im Menschen
durch große Sensibilität und Instinkt aus. Der Höchstentwickelte
hat das feinste, aber auch labilste Gewissen, er reproduziert am
stärksten Gefühle, das heißt aber, wie wir bei Störring sahen,
er sympathisiert am stärksten, er leidet am meisten mit, mit
Fsychologfie der sittlichen Selbstachtnng.
419
anderen nnd mit sich selbst, er leidet überhaupt am tiefsten und
jubelt am lautesten (Goethe: ... himmelhoch jauchzend, zu Tode
betrübt.. .)•
Das Leben bietet ihm unermeßliches Leid. Er leidet da, wo
der > Sich-Anpassende c gedankenlos hindämmert, keine anderen
Werte kennend als die ihm auf oktroyierten, an die er sich der
Bequemlichkeit halber und des lieben Friedens willen gewöhnt
hat Der »höhere Mensch« aber steht den »Gewalten« gegen¬
über in dem Bewußtsein, daß sich hier der Wert seiner Persön¬
lichkeit entscheidet, daß sich ihm hier der Sinn seines Lebens
auftnt Im Trotz gegen die Gewalten, im Kampf gegen das
Leiden entsagt er nicht dem Leben pessimistisch, sieht in ihm
nicht das Gottgegebene, gegen welches »Gute« man nicht oppo¬
nieren dürfe und könne, er predigt nicht Liebe mit denen, die
tatenlos zuschauen, gerade hier schmiedet er sich seine Lebens¬
werte, seine sittlichen Werte: Er selbst »gottlos«, nur sich ver¬
trauend und seinem Schicksal Das fordert von ihm seine Selbst¬
achtnng. Hier kennt er nicht »gut« noch »böse«, hier nutzt er
alle ihm von der Natur geschenkten Kräfte. »Damit der Mensch
Achtung vor sich selbst haben kann, muß er fähig sein, auch
böse zu werden.« So versteht auch Goethe die Steigerung der
Persönlichkeit.
»Ich wollte, man finge damit an, sich selbst zu achten: Alles
andere folgt daraus. Freilich hört man damit für die anderen
auf; denn gerade das verzeihen sie am letzten. Wie? Ein
Mensch, der sich selber achtet? Die vornehme Art Mensch
fühlt sich als wertbestimmend. Alles, was sie an sich
kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selb st Verherrlichung.
Im Vordergrund steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die
überströmen wül, das Glück der hohen Spannung. Der Glaube
an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft
und Ironie gegen »Selbstlosigkeit« gehört ebenso bestimmt zur
vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung nnd Vorsicht
vor den Mitgefühlen nnd dem »warmen Herzen«.« »Solchen
Menschen, die mich etwas angehen, wünsche ich Leiden, Ver¬
lassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, — ich wünsche
ihnen die tiefste Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens
gegen sich, daß Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt;
ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige
wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder
nicht, — daß er Stand hält.« Oder ist nicht gerade diese
Härte »Liebe«? Sagte nicht auch Jesus: »Ihr sollt nicht
27 *
420
Herbert Jancke,
wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zn senden anf die Erde.
Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert«?
Hier setzt die »Umwertung« der Werte ein. »Unser Mit¬
leiden ist ein höheres, femsichtigeres Mitleiden: wir sehen, wie der
Mensch sich yerkleinert« »Nur die ganzesten Personen können
lieben.« »Wir wollen das Leiden lieber noch höher und schlim¬
mer haben, als es je war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht —
das ist ja kein Ziel, das scheint mir ein Endel ein Zustand,
welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht.
Die Zucht des Leidens, des großen Leidens, wißt ihr nicht, daß
nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen
hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die
Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Augenblick des großen Zn-
grundegehens, ihre Empfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen,
Ausharren, Ausdauern, Ausnützen des Unglücks und was ihr
mehr von Tiefe..., Größe geschenkt worden ist: ist es nicht
ihr unter Leiden, unter der Zucht des großen Leidens geschenkt
worden?« Der Stolze besitzt jenen »Willen zum Tragischen«,
den »Mut, den Stolz, das Verlangen nach einem großen Feinde«.
Er stemmt sich dem »Furchtbaren und Fragwürdigen, das allem
Dasein eignet«, entgegen. Er fühlt zugleich in sich »alle ge¬
staltenden Kräfte, die auf den Menschen der Zukunft hinzielen:
und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für ihn, je mehr er
znkunftbestimmend ist, Leiden«. Er leidet, denn er »rechnet
auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächeren
Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten_
Aber in dem Kampf um das Leben dient der Zufall den Schwachen
so gut wie den Starken ... In der Menschheit gehen die höheren
Typen am leichtesten zugrunde.« Der Stolze wehrt sich noch
gegen diesen Zufall.
Der Sinn des Leidens ist die Züchtung des höheren, d. L
des ideal-naturgemäßen, autonomen Menschen, des »Willens zur
Macht«, im einzelnen Individuum, und vielleicht noch darüber
hinaus. »Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? Sich
nicht mehr vor sich selber schämen.«
Selbstachtung ist für Nietzsche der bestimmende sittliche
Wert. Man muß nach ihm zu der für die Entwicklung von
Selbstachtung erforderlichen (namentlich durch kräftige Unlust
ermöglichten) höheren sittlichen Entwicklung gekommen sein,
um mit einfachen sittlichen Werten umgehen zu können. Er
fordert nicht, wieLipps, daß Selbstachtung Motiv jeder sitt¬
lichen Handlung sein solle.
Psychologie der sittlichen Selbstachtnng.
421
Das war in sehr beschränkenden Zügen ein Bild dessen, was
Nietzsche nns positiv zn sagen hat; die interessanten knltnr-
kritischen Ansführongen, die Kritik der heteronom bedingten
Selbstachtnng, darf ich hier nur erwähnen.
Möchte die sittliche Selbstachtnng die ihr gebührende
Schätznng anch bei der Lösnng des »Problems der Zeit« er¬
fahren; ist doch das Problem nnserer Zeit das Problem aller
Zeiten: ein sittliches!
9. Literatarverzeiehnis.
Diehls, Fragmente der Vorsokratiker.
Bnripides, Helena.
Descartes, Über die Leidenschaften der Seele.
Gracian, Handorakel (Schopenhaner).
John Stuart Hill, Das Nützlichkeitsprinzip.
Harald HSffding, Lehrbuch der Geschichte der neueren Philosophie.
Vladimir Solovjeff, Die Rechtfertigung des Guten.
Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten.
Kritik der praktischen Vemnnft.
Metaphysische Anfangsgrttnde der Tagendlehre.
Anthropologie.
Arthnr Schopenhaner, Parenesen und Paralipomena 11,8.
Anmerkungen zu Kants Tagendlehre.
Welt als Wille and Yorstellang ü.
Aphorismen znr Lebensweisheit.
Jakob Salat, System der Moralphilosophie. 1810.
Friedr. Heinr. Jakobi, Allwill. 1776.
Fliegende Bl&tter. 1776.
Woldemar. 1777.
Job. Gottl. Fichte, Sittenlehre.
Reden an die deutsche Nation.
Die Tatsachen des Bewodtseins.
Die Bestimmang des Gelehrten.
Rede über die Würde des Menschen.
Das Wesen des Gelehrten.
System der Sittenlehre. 1812.
Grandzüge des gegenwärtigen Zeitalters.
Die Bestimmang des Menschen.
Zorttckfordernng der Denkfreiheit.
Über die französische Revolution.
Religionslehre.
Georg Wilh. Block, Nene Grondlegang zur Philosophie der Sitten mit
beständiger Rücksicht auf die Kantische. 1802.
Jakob Friedr. Fries, Ethik.
Neae Kritik der handelnden Vemanft.
Anthropologie.
422 Herbert Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung.
Jakob Friedr. Fries, Glauben, Wissen nnd Ahndung.
Julius und Evagoras.
Maria Patt, Die Ethik von Fries. Bonner Diss. 1819.
Rudolf Nelson, Kritik der praktischen Vernunft.
Karl Ohr. Friedr. Krause, Gebote der Menschheit an jeden einzelnen
Menschen.
Der Glaube an die Menschheit.
System der Sittenlebre.
E. Wettley, Die Ethik Krauses. Leipzig 1907.
G. W. Friedr. Hegel, Phaenomenologie des Geistes.
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften.
Grundlinien der Philosophie des Rechts.
Philosophie des Rechts.
Philosophische Propädeutik.
Friedr. Eduard Beneke, Grundlegung zur Physik der Sitten.
Grundlinien der Sittenlehre. 1837.
Joh. Friedr. Herbart, Allgemeine Pädagogik. 1806.
Allgemeine praktische Philosophie.
Kleine philosophische Schriften m.
Eduard von Hartmann, Das sittliche Bewußtsein.
Grundriß der ethischen Prinzipienlehre.
Ethische Studien. 1898.
A. DOring, Handbuch der menschlich-nattlrlichen Sittenlehre. 1899.
Chr. Birch-Reichenwald Aars, Gut nnd Bdse. Zur Psychologie der
Moralgeftthle. Kristiania 1907.
Wilhelm Wnndt, Ethik I nnd ü.
Eduard Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie
nnd Ethik der Persönlichkeit. 2. Anfl. 1921.
Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. 8. Aufl.
Gustav StBrring, Moralphilosophische Streitfragen.
Ethische Grundfragen.
Die sittlichen Forderungen nnd die Frage ihrer Gültigkeit.
Psychologie des menschlichen Gefühlslebens.
Psychologie.
Die Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend.
Die Frage der Wahrheit der christlichen Religion.
Alfred Storch, Zur Psychologie nnd Pathologie des Selbstwerterlebens.
(Archiv f. d. ges. Psychol. Bd. 87.)
Martin Dentinger, Moralphilosophie.
Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik.
Wolfgang V. Goethe, u. a. ü., in. nnd IV. Bd. der sämtlichen Werke.
Cotta 1860.
Eckermanns Gespräche.
Friedr. Nietzsche, Werke I—XVI. Leipzig 1912.
Der Wille zur Macht. Klass. Ansg.
(Eingegangen am 18. Februar 1924.)
[Ans dem Psychologischen Laboratorium der Universität Bonn.]
Experimentelle üntersnchnngen über die Bedeutnng
von Augenbewegungsempflndungen für die Schätzung
des räumlichen Charakters von Bewegungsgrössen.
Von
Aniia Lentz (Bonn).
Inhaltsübersicht.
L Einleitiing.>.424
§ 1. Problemstellang . . . • ... *.424
§ 2. Aaswahl der Yersnche.426
a) Isolienmg der Bewegangsempfindangen.425
b) Gleichförmige Bewegong.426
c) Bewegangsrichtong and Winkelgeschwindigkeit .... 427
§ 8. Die Yersachsanordnang.428
a) Der Yersnchsapparat and seine Fnnktionsweise .... 428
b) Die Strecken- and Zeitmessong.480
e) Die Fehlerqnellen der Yersachsanordnang.481
§ 4. Die Methode der Untersachnng.432
n. Etxperimenteller Teil.434
§ 1. Die Arten der Zeitschätnang and ihre speziellen Yersachs-
bedingangen.435
§ 2. Die Strecken- and Daaerschätznng bei einer Normalzeit (Nz.)
von 1,55 sec.*.439
a) Objektive Besnltate beider Schfttznngen.439
b) Die Anssagen der Yersachspersonen (Ypn.) bei der Strecken-
schätzang and Dentong derselben.440
c) Aassagen der Ypn. bei der Zeitschitzong m. L. bei
einer Nz. von 1,55 sec Deatang der Aassagen.443
§ 3. Die Strecken- and Daaerschätznng bei der Nz. von 0,75 sec 446
a) Objektive Besnltate der Strecken- and Daaerschätznng 446
b) Aassagen der Ypn. bei der Streckenscbätzong and Dentong
derselben.449
c) Aassagen der Ypn. bei der Zeitschätzong des Intervalls
m. L.; Dentong dieser sabjektiven Ergebnisse.453
d) Anssagen der Ypn. bei der Zeitschätzong o. L. and die
Dentong dieser Aassagen.460
§ 4. Allgemeiner Yergleich zwischen der Strecken- and Daner-
schätzong bei mittleren Geschwindigkeiten.466
424
Anna Lentz,
L Einleitung.
§ 1 .
Problemstellung.
Bei jeder Bewegung müssen wir unterscheiden einerseits den
BewegungsTorgang als solchen, welcher eine räumlich-zeitliche
Größe darstellt, anderseits ein Etwas, das sich bewegt Ist nun
die Aufgabe gestellt, die Exkursionsweiten eines Körpers, dessen
Bewegung durch das Auge wahrgenommen wird, hinsichtlich ihrer
Größe zu vergleichen, so können wir die allgemeinste Annahme
machen, daß diese Schätzung abhängig sein kann von einer noch
ganz unbestimmt gelassenen Anzahl von Faktoren. Wählen wir
aber die Versuchsbedingungen so, daß der Körper durch den Be¬
wegungsvorgang für den Beobachter keine andere Veränderung
erleidet, als eine räumlich-zeitliche Verschiebung, wirkt also nur
die räumliche-zeitliche Größe des Bewegungsvorganges auf die
Empfindung desselben ein, so würden wir unsere Behauptung
dahin einschränken, daß wir sagen, die Schätzung der Bewegnngs-
größe kann jetzt nur noch von räumlichen und zeitlichen Faktoren
bestimmt sein.
Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, beabsichtigt unsere
experimentelle Untersuchung eine Antwort auf folgende Fragen
zu finden: >Schätzt das Auge die Streckengröße der
Bewegung nach der Längenansdehnung oder nach
der Dauer der Bewegung? Ist die Streckenschätzung
nach der Dauerschätzung orientiert oder nicht?«
Durch diese Fragestellung suchten wir zunächst eine Abgren¬
zung der räumlichen Faktoren gegenüber den zeitlichen zu er¬
möglichen, um von hier aus an die Kernfrage der vorliegenden
Arbeit heranzutreten, welche über die Bedeutung der
Augenbewegungsempfindungen — also der Empfin¬
dungen der Muskelbewegungen unserer Augen —
für die Schätzung des räumlichen Charakters von
Bewegnngsgrößen entscheiden soll
Für die Entstehung der vorliegenden Arbeit lag insofern eine
äußere Veranlassung vor, als sie die Fortsetzung und Elrweitemng
der Experimentaluntersuchung über Augenbewegungsempfindungen
bildete, welche von Frl. M.Binnefeld im Psychologischen Labo¬
ratorium zu Bonn ausgeführt worden war. Auf diese Untersuchung
werden wir öfters zurückkommen müssen. Herrn Geheimrat
Störring bin ich für die Anregung zu dieser Arbeit zu Dank
verpfiichtet. Den inneren Grund ihrer Entstehung bildete das
Experimentelle Untersnchimgen nsw.
425
psychologische Interesse, das wir den Angenbewegnngsempfin-
dnngen ganz besonders entgegenbringen müssen, wenn wir be¬
denken, wie letztere von manchen Antoren für die Entstehung
der ränmlichen Auffassung als wesentlich betrachtet werden, von
anderen dagegen ihr notwendiges Mitwirken bei der Entstehung
der Baumvorstellnng nicht anerkannt wird. Hierdurch weist
unsere Problemstellung über die unmittelbaren experimentell¬
psychologischen Untersuchungen hinaus und kann insofern be¬
fruchtend für eine erkenntnispsychologische Betrachtungsweise
wirken, als sie über die Entstehung r&nmlicher Streckengrößen
auf Qmnd yon Augenbewegungsempfindnngen Rechenschaft zu
geben sucht.
§ 2 .
Auswahl der Tersuehe.
Auf Grund dieser Problemstellung mußten die Versuche so
ausgewählt werden, daß bei Eonstanthalten der objektiven Ver¬
suchsbedingungen die Bewegung sowohl nach der ränmlichen wie
zeitlichen Seite geschätzt werden konnte. Die Zeitschätznngen
sollten als Kontrollversuche der Streckenschätzungen betrachtet
werden, d. h. ein und dieselbe Bewegung sollte hinsichtlich der
Größe ihrer räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauer ge¬
schätzt werden, und die objektiven und subjektiven Ergebnisse
beider Schätzungen sollten Aufklärung darüber verschaffen, ob
eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Schätznngsweisen
stattgefnnden hatte oder nicht Da es uns aber unter den Ab¬
hängigkeitsbeziehungen für die räumliche Schätzung vor allem
auf die Augenbewegungsempflndungen ankam, so mußten die
anderen Komponenten der Streckenschätznng nach Möglichkeit
ansgeschaltet werden, weil sonst die quantitativen Messungen
nicht allein das Ergebnis einer Schätzung nach den kinästhetischen
Empfindungen des Auges darstellten, sondern durch das Zusammen¬
wirken der ränmlichen Schätznngsfaktoren bedingt waren.
•) iBoUemng der BewegnagsempllBdiiBgeii. (B.E.)
Um nach Möglichkeit die übrigen ränmlichen Schätzungs¬
faktoren auszuschalten, mußte die Untersuchung im
Dnnkelkabinett vorgenommen werden, um so den
Ausschluß aller Vergleichsgegenstände zu ermög¬
lichen. Damit nicht etwa qualitative oder intensive Verändemngen
des sich bewegenden Körpers, also sekundäre Kriterien, für die
Beurteilung der Bewegnngsgröße Anhaltspunkte liefern könnten,
426
Anna Lentz,
wurde ein leuchtender Punkt von etwa Vs Durchmesser und
mittelstarker konstanter Intensität gewählt, so daß es sich hier
um die Darstellung eines reinen Bewegungsvorganges handelte.
Ähnliche Versuchsbedingungen finden wir in der Arbeit von
M. Binnef eld, die im Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 37,
erschienen ist. Bei den Untersuchungen von M. Binnef eld wurde
die Bewegung eines isolierten Lichtpunktes im Dunkeln mit der
macula lutea verfolgt. Als Schätzungskriterien wurden von den
Vpn. nur Augenbewegungen und Angenbewegungs¬
empfindungen angegeben. Die durchschnittliche Unter¬
schiedsempfindlichkeit (U.E.) betrug V«- Wir verweisen zu einem
eingehenden Studium auf die Arbeit selbst.
b) GlelchfSmilgre Bewegung.
Unsere Untersuchung stellt in gewisser Hinsicht eine Elr-
weitemng, in anderer eine Spezialisierung der Binnefeldschen
Versuche dar. Bei letzteren wurde die Bewegung nur
in einer mittleren Geschwindigkeit geboten, und
zwar in derjenigen, die die günstigsten Bedingungen
für die Schätzung nach Augenbewegnngsempfin-
dungen ermöglichte. Im Laufe der Untersuchung hatte
sich ergeben, daß dies bei einer Winkelgeschwindigkeit des
Auges von etwa 1,89® der Fall war. Da nun die Versuchs¬
leiterin (VI.) bei jenen Versuchen den leuchtenden Punkt auf
vorgeschriebener Bahn selbst bewegte (vergleiche die Versuchs¬
anordnung in dieser Arbeit S. 158), so ist es klar, daß trotz der
großen Einübung der VI. die Bewegung nicht immer ganz
gleichmäßig sein konnte. Die genannte Darbietungsart hatte aber
auch ihre Vorteile, indem sie es dem Beobachter un¬
möglich machte, die Streckenschätzung nach der
Zeitschätzung zu orientieren. Dies hätte nämlich nur
möglich sein können, wenn die Zeitdifferenzen zwischen der N undV
den Streckendifferenzen entsprochen hätten, so aber war es un¬
wahrscheinlich, daß die Vp. zu einem Kriterium greifen würde,
das für sie so geringe Sicherheit für die genaue Schätzung ver¬
bürgte. Somit war aber eineTrennungderräumlichen
Schätzung von der zeitlichen ziemlich sich er gestellt.
Tatsächlich zeigte sich denn auch bei der Verrechnung der¬
jenigen Versuche, bei denen die Streckendifferenz keine ent¬
sprechende Dauerdifferenz aufwies, daß dennoch in 40—50®/o aller
über- und unterschwelligen Werte ein richtiges Streckenurteil
abgegeben werde. >Hieraus könnt«» mi t Sicherheit geschlossen
Experimentelle Untersachnngen osw.
427
werden, daß im allgemeinen die Zeitdauer die Schätzungen nicht
beeinflußt, auf keinen Fall die Schätzungen bewirkt hat« (l.c.S.192).
Wir sehen also die Folgerungen für unsere eigene Untersuchung.
Verbessern wir die Bedingungen für das Zustande¬
kommen der Schätzung nach Bewegungsempfindungen
durch Einführung einer möglichst gleichförmigen
Bewegung des Lichtpunktes, so werden zugleich die
Versuchsbedingungen für die zeitliche Schätzung
günstiger gestaltet. Bei nnsererUntersuchungkönnen
wir also nur dann über die gegenseitigeBeeinflussung
oder Ausschließung von Baum- und Zeitschätznng
Behauptungen auf stellen, wenn wir ein und dieselbe
Bewegung unter denselben Versuchsbedingungen
sowohl hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung
wie zeitlichen Dauer geschätzt haben.
e) Bewegnn^rlchtong und Wlnkelgesehirlndlirkeit.
Es fragt sich nun, ob überhaupt die Augenbewegungen sich
so regeln lassen, daß ihre Geschwindigkeit konstant bleibt, daß
also beim Verfolgen eines leuchtenden Punktes der BUdort des¬
selben keine Verschiebung auf der Netzhaut erleidet In diesem
Falle muß sowohl die Bewegungsrichtung wie die Winkelge¬
schwindigkeit des Auges yollständig mit der Richtung und
Winkelgeschwindigkeit des bewegten Gegenstandes überein¬
stimmen. Wir wählten die horizontale Bewegnngsrichtung aus
folgenden Gründen. Experimentelle Untersuchungen hatten näm¬
lich ergeben, daß die Bewegungen des Auges nicht immer in
geradlinigen Bahnen erfolgen. So fand Ahlström nur in be¬
stimmten Richtungen geradlinige Bahnen, nämlich, >daß bei Be¬
wegungen des Auges aus einer Primärstellung nach abwärts oder
aufwärts, nach innen oder außen (horizontal) die Bewegungsbahn
annähernd der Meridianlinie entspricht« (H. Hanselmann,
Über optische Bewegungswahmehmung S.5). Es würde also
für die geradlinige Bahn sicher die horizontale
Bewegungsrichtung in Betracht kommen. Dies be¬
ruht auf der Anordnung des Muskelapparates am Auge, denn
bei der Augenbewegung in horizontaler Richtung kommen nur
die Kontraktion und Dehnung des rectns extemus und internus
in Frage, und da ihre Ansatzpunkte fast symmetrisch in der
durch den Drehpunkt des Auges gelegten Horizontalebene liegen,
so behält bei ihrer Drehung der Netzhanthorizont seine Lage bei.
ln bezug auf die Geschwindigkeit konnten wir uns nach den
428
Anna Lentz,
Binnefeldschen Yersachen orientieren, in welchen durchschnitt¬
lich mit einer Winkelgeschwindigkeit von ü) = 1,89® gearbeitet
worden war. Bei unserer Untersuchung wurden die Strecken¬
größen in zwei mittleren Geschwindigkeiten geboten, die nach
den Anssagen der Vpn. beide eine angenehme Schätznng der
Bewegung gestatteten. Die größere betrug a> = 5,04® secr-^ die
kleinere <o = 2,44® sec-^ Bei dieser Geschwindigkeit wurden also
sowohl Streckenschätzungen wie Dauerschätzungen ausgefnhrt.
Was die Größe der Exkursion anbetrifft, den die Augen um
ihren Drehpunkt auszuführen hatten, so behielten wir den Winkel
von 3,78® bei, weil er sich in den Versuchen von Binnefeld als
sehr zweckmäßig für die Schätzung erwiesen hatte. Bei der Ver¬
gleichsstrecke hatte das Auge je nachdem einen gleich großen,
etwas kleineren oder etwas größeren Winkel zurückzulegen.
Überschauen wir zum Schluß noch einmal die Erwägungen,
die die theoretische Grundlage zu unserer Elxperimentalnnter-
snchung bilden, so ergeben sich die Zielpunkte, deren Reali¬
sierung durch Ausführung der einzelnen Experimente zustande
gebracht werden soll. Wir erstreben:
1. Die Isolierung der Bewegungsempfindnngen
durch Ausschluß der Vergleichsobjekte und Verfolgen des beweg¬
ten Lichtpnnktes mit der macnla lutea.
2. Ein möglichst reines Hervortreten ihrer Komponenten durch
Auswahl bestimmter Bewegungsrichtung, Winkelge¬
schwindigkeit und Größe der Exkursion.
3. Eine Kontrolle der Streckenschätzung nach Be¬
wegungsempfindnngen durch entsprechende Dauer-
schätznngen der Bewegungsgrößen, die eine gleich¬
förmige Geschwindigkeit besitzen, sodaß entsprechende Strecken-
differerenzen entsprechende Danerdifferenzen bedingen.
§3.
Die Versuchsanordnung.
Es kam nun darauf an, die durch diese kritischen Überlegungen
gewonnenen Gmndgedanken durch eine geeignete Versuchsanord¬
nung zu verwirklichen. Die Untersuchung wurde im Dunkelkabinett
vorgenommen, im Gesichtsfeld des Beobachters befand sich während
des Versuches nur der leuchtende Punkt, dessen Bewegung mit
Hilfe von Konvergenzbewegungen verfolgt werden sollte.
s) Der VersnehBapparat und seine Fankttonsweise.
Wie schon öfters erwähnt, schloß sich die vorliegende Unter¬
suchung an die Arbeit von M.B innef eld an. Der bei jener Unter-
Experimentelle Untersnchnngen nsw.
429
sachnng benutzte Apparat war auch für die Zwecke unserer
Untersuchung geeignet, nachdem die entsprechenden Veränderungen
an ihm vorgenommen worden waren. Die eingehende Beschreibung
desselben findet sich in der betreffenden Arbeit (S. 138 ff). Es
sollen hier hauptsächlich die Änderungen besprochen werden, die
ihn für unsere Versuchsbedingungen geeignet machten. In der Skizze
sieht man den Apparat, wie er sich vom Beobachter aus darstellt.
Von den drei Holzkästchen zwischen den beiden Messingstangen sind
die zwei änderen so eingerichtet, daß man sie festklemmen und
zwischen den Stangen bewegen kann. Das mittlere Kästchen,
welches den Lichtpunkt enthält, ist nur für Bewegung eingerichtet.
Die Aufgabe der beiden äußeren Kästchen bestand darin, einen
festen Anfangs- und Endpunkt für die Bewegung zu schaffen.
Daß sie außerdem beweglich waren, hatte den Zweck, die Strecke
zu vergrößern oder zu verkleinern. Auf der Vorderseite des Apparates
sieht man ungefähr in Höhe der Kästchen Bollen angebracht. Die
feste Rolle rechts sitzt auf einer Achse, die durch eine Durch¬
bohrung auf die Rückseite des Apparates führt, wo an derselben
Achse noch eine Rolle sitzt. Diese Rolle steht durch eine Schnur
ohne Ende mit dem Motor in Verbindung. Auch die beiden vorderen
Rollen sind durch eine gleiche Schnur verbunden, auf der walzen¬
förmige Perlen fest aufgenäht sind. An derVorderseite des mittleren
Kästchens sehen wir in horizontaler Richtung eine Schiene an¬
gebracht. Der Schienenhohlraum ist oben durch ein flaches Dach
geschlossen, das eine sogenannte Überfallnase trägt. Dieses Dach
sitzt an einem Schamiergelenk und läßt sich infolgedessen sehr
leicht heben und senken. Bewegt sich nun die Kordel und mit ihr die
aufgenähten Perlen, so werden letztere innen in der Schiene durch
430
Anna Lenta,
die Überfallnase anfgefangen, und so wird das ganze Eästchen mit-
fortgezogen und der Lichtpunkt mitbewegt, der in dem Kästchen
sich befindet. Erreicht nun das sich bewegende Kästchen die
Arretierung, so gleitet die abgeschrägte Ebene der Überfallnase
über den Stift hin, dadurch hebt sie sich zugleich, xmd die Perle
entschlttpft augenblicklich.
Der VI. brachte den Lichtpunkt selbst zum Aufleuchten, aber
das Erlöschen desselben wurde automatisch besorgt durch An¬
stoßen des Kontaktes an die vorspringende Arretierung des fest¬
geklemmten Kästchens. Entschlüpfen der Perle auf der Vorder¬
seite des Apparates und Aufstoßen des Kontaktes auf der Böck-
seite — damit also Erlöschen des Lichtes — waren stets gleich¬
zeitige Vorgänge, die jedesmal eintrafen, wenn der sich bewegende
Schlitten den festgeklemmten eben erreicht hatte.
Zur Herstellung einer bestimmten Geschwindigkeit der Perlen
diente eineÜbertragungsvorrichtung, die an dem Motor angebracht
war. Eine Schnur ohne Ende führte von dem eben beschriebenen
Appparat zu den Rollen, die mit der Drehachse des Motors ver¬
bunden waren. Die Übertragungsvorrichtung war so eingerichtet,
daß bei gleichem Widerstand des Motors verschiedene Geschwindig¬
keiten des sich bewegenden Lichtpunktes erzeugt werden konnten.
Die Bewegungsrichtung war horizontal, der Exkursionswinkel
bei den Normalstrecken betrug 3,78”. Da die Vp. 300 cm von dem
Apparat entfernt saß, so bedeutet dieser Winkel eine Normal-
Strecke von 20 cm. Da die Bewegung des Lichtpunktes auf ge¬
rader Bahn erfolgte, so erlitt der Blickpunkt eine seitliche Ver¬
schiebung und eine Tiefenverschiebung. Jedoch war bei der kleinen
Normalstrecke von 20 cm die Sehne sehr wenig vom Kreis ver¬
schieden, sodaß die Augenbewegung sehr angenähert eine qnn-
metrische Konvergenzbewegung war.
Damit die Bewegung für die Vp. wirklich in horizontaler
Richtung stattfand, mußte auch auf die Augenhöhe der einzelnen
Vpn. Rücksicht genommen werden.
b) Die Strecken- nnd Zeitmessung.
Wie schon eingangs erwähnt wurde, kamen zwei verschiedene
Geschwindigkeiten bei der Bewegung zur Anwendung. Es konnte
die Streckengröße stets an der Millimeterskala auf der Rückseite
des Apparats sofort abgelesen werden. Die kleinstmögliche Strecken¬
variation betrug 1 mm, also ein Zweihundertstel der angewandten
Normalstrecke. Es ist ersichtlich, daß, wenn man eine Geschwindig¬
keit genau kannte, die übrigen theoretisch aus ihr zu berechnen
Experimentelle üntennchnngen nsw.
431
waren; dann war aber stillschweigend die Konstanz des Stromes
und eine vollkommene Übertragong vorausgesetzt Es maßten
deshalb während der ganzen Zeit der Experimentalnntersuchnng
Zeitmessungen vorgenommen werden. Um die Konstanz des Stromes
von vornherein zu begünstigen, wurde mit demselben Widerstand
gearbeitet. Auch mußte die Zimmertemperatur berücksichtigt
werden, da besonders in der Kälte Schwankungen auftraten.
Aus diesem Grande wurde morgens der Motor vor der ersten
Versuchsstände eine Zeitlang in Betrieb gesetzt, bis er sich ein¬
gelaufen hatte, im Laufe des Tages genügten dazu etwa 10—15 sec.
Wir benutzten zwei Arten der Zeitmessung, von denen die
eine zur allgemeinen Orientierung diente und mit der Fünftel-
sekundenuhr bestimmt wurde, die andere mit Hilfe eines Hipp-
schen Chronoskops. Letztere diente zur genauen Zeitmessung.
Eis war zu diesem Zwecke das Chronoskop so eingeschaltet, daß
der Strom geschlossen war, wenn das mittlere Kästchen am
Anfang oder am Schluß der Strecke stand. Mit Beginn der
Bewegung öffnete sich aber der Strom, der Zeiger auf dem
Chronoskop begann sich zu drehen und stand still bei Schluß
der Bewegung. Mit Hilfe dieser Zeitmessung wurde festgestellt,
daß der Lichtpunkt bei den mittleren Geschwindigkeiten die
Normalstrecke in 1,55 sec und in 0,75 sec durchlief. Diesen
Normalzeiten entsprechen dann als Winkelgeschwindigkeiten des
Auges coi = 2,44® sec-*, o>,=.5,04® sec“*.
Das Hippsche Chronoskop benutzten wir als Kontrolle der
allgemeinen Zeitmessung mit der Fünftelseknndenuhr, die während
der ganzen Zeit der Untersuchung durchgeführt wurde, sodaß ein
genaues Bild über die Abweichungen und Störungen in den Zeit-
registriemngen gewonnen werden konnte.
e) Die Fehlerquellen der Tersnohsanordnnnf.
Es soll nun kurz erwähnt werden, wie der Einfluß der Fehler¬
quellen nach Möglichkeit bekämpft wurde.
Von einigen Vpn. wurde zunächst das Motorgeränschals
störend angegeben. Um dies zu verhindern, wurde der Motor auf
eine Filzunterlage gestellt und auf einer an die Wand geschraubten
Marmorplatte festgeklemmt. So wurde die Besonanz aasgeschaltet
und das Geräusch desselben war jetzt dem eines Kymmographions
vergleichbar; die Vpn. wurden nicht mehr gestört.
Ferner hätte der Anschlag der Perle an die Arretierung,
der bei den verschiedenen Geschwindigkeiten verschieden stark
war, komplizierend auf die Schätzung wirken können, indem er
432
Anna Lentz,
entweder das Entstehen konstanter Fehler begünstigte oder Fehler
verdecken konnte.
Obwohl nun dieVpn. sich nie bei der Streckenschätznng
dahin anssprachen, daß dieser Anschlag störe oder sie
veranlasse zu Nebenkriterien zagreifen, so wurden
dennoch Eontrollversnche ohne Anschlag für die Strecken¬
schätzung eingeföhrt, um auch eine objektive Sicherheit zu schaffen.
Denn bei der Zeitschätzung hatten die Vpn. im Gegen¬
satz zur Streckenschätzung öfters angegeben, vom
Anschlag beeinflußt zu sein.
Die Streckenschätzungen ohne Anschlag ergaben nun bei den
Vpn. F. und Sch. genau ihre mittlere U. E. wie bei den Strecken¬
schätzungen mit Anschlag, nämlich und bei den Vpn.
00,01 0 »
M., P. und Ste. ihre feinsten Werte. Sicher ist, daß bei
keiner Vp. günstigere Werte auftraten, als sie
bereits mit Anschlag erreicht hatte, aber auch keine
schlechteren. Da nun auch die Aussagen der Vpn. angaben,
daß der Anschlag ihre Streckenschätznng nicht beeinflnsse, so
ist nach Hinzunahme der objektiven Besultate wohl sicher, daß
der Anschlag der Perle die Streckenschätznng nicht beeinflußt hat
§4.
Die Methode der Untersuchung.
Ehe wir die Ergebnisse der Experimentaluntersuchnng mit-
teilen, wollen wir in einigen Worten die Maßmethode erörtern
und zunächst den Verlauf eines Experimentes schildern.
Die Vp. nahm auf dem angewiesenen Platz ihren Sitz ein
und empfing ihre Instruktionen, z. B. die Streckengröße der dar¬
gebotenen Bewegung zu schätzen. Nachdem die Dankeiadaptation
erreicht war, gab die VL das Kommando »bitte«. Eine Sekunde
später gab sie das Signal »bald« und ließ zugleich den Licht¬
punkt aufleuchten. Bei »bald« wandte die Vp. der Anweisung
gemäß ihre Augen aus der Piimärstellung etwas nach rechts
dem Lichtpunkt zu. Eine Sekunde nach »bald« erfolgte das
Signal »jetzt«, das die Vp. von dem baldigen Beginn der Be¬
wegung in Kenntnis setzte. Etwa eine halbe Sekunde nach
diesem »jetzt« schnappte die Perle ein, und der Lichtpunkt be¬
wegte sich 200 mm weit und erlosch alsdann. In der Pause nach
dieser ersten Darbietung mußte die VI. das Kästchen, in dem der
Lichtpunkt war, zum Ausgangspunkt zurückführen und dort wieder
zum Aufleuchten bringen. Für diese Handgriffe benötigte sie
Experimentelle ünterBnehangen new.
433
nach gründlicher Einübung gut 3 Sekunden. 2 Sekunden vor dem
erneuten Bewegungsbeginn gab sie das Signal »bald« und eine
Sekunde yorher das Kommando »jetzt« zugleich mit dem zweiten
Aufleuchten des Lichtes. Also auch vor der zweiten Darbietung
der N. hatte die Vp. Gelegenheit, den Lichtpunkt vor der Be¬
wegung eine knappe Sekunde lang zu fixieren. Ebenso wie
hei den Untersuchungen von Binnefeld erwies es sich als
zweckmäßig, die N. zweimal darzubieten. Geeignete KontroU-
versuche werden uns zeigen, daß dies von Vorteil war, nicht nur
für die Strecken- sondern auch für die Zeitschätzung. In der
gleichlangen Panse nach der zweiten N. führte die VI. den
Schlitten wieder zum Anfangspunkt zurück und verstdlte zugleich
die Arretierung. Alsdann folgte die Darbietung der V. Die N.
und V. gingen stets vom selben Punkte ans, die
Differenz war am Schluß der Strecke.
Bei der Auswahl einer Maßmethode waren für uns die Ge¬
sichtspunkte maßgebend, die wir in unserer Problemstellung dar¬
gelegt haben. Es mußten also die objektiven Ergeb¬
nisse so verwertet werden, daß dadurch die Strecken-
und Zeitschätzung in ihrer Feinheit verglichen
werden konnten. So konnte bestimmt werden, ob eine Be-
einfinssung der beiden Schätzungen stattgefnnden hatte oder nicht
Dies konnte am besten geschehen, wenn die Unterschieds¬
empfindlichkeit (U.E.) der beiden Schätzungen berechnet
wurde. Daneben mußten die Aussagen der Vpn. berück¬
sichtigt werden. Zur Bestimmung der U.E. wurde die un¬
wissentliche Methode der Minimaländerung be¬
nutzt, und zwar mit unregelmäßiger Variation der
Vergleichsstrecke; bei den Einübnngsversuchen wurde zu¬
nächst mit regelmäßiger Veränderung der Vergleichsgröße ge¬
arbeitet Eine Versnchsserie umfaßte 15—19 Einzelversuche der
vorhin beschriebenen Art Gerade die nnwissentliche Methode
der Minimaländemng, bei der die V. unregelmäßig verändert
wurde in einer Versnchsserie, also in jedem Experiment größer,
aber ebenso gut kleiner oder gleich der N. sein konnte, schloß
ein bestimmtes Schema nach Möglichkeit aus (siehe auch die
Arbeit von M. Binnefeld).
Als obere Unterschiedsschwelle (So) galt derjenige Wert, der
als erster größer beurteilt wurde, wenn auch alle auf ihn folgenden
in gleicher Weise beurteilt wurden. Ebenso als untere Unter¬
schiedsschwelle (Sn) derjenige, der als erster mit »kleiner« be¬
urteilt wurde, wenn kein auf ihn folgender Wert entgegengesetzt
Arohir für Pfyohologie. XLVni. 28
434
Anna Lentz,
beurteilt wurde. Die mittlere Unterschiedsschwelle (S) war dem*
nach ^ und es gab — die Ü.E. an. Als Urteile waren
A r
zugelassen »größere, »gleich«, »kleiner« bei der Streckenschätzung,
bei der Zeitschfttznng »länger«, »gleich«, »kflrzer«. Außerdem
wurden noch die Urteile abgegeben »kleiner bis gleich« und
»größer bis gleich«. Ein Teil dieser Urteile wurde halb zu
gleich, halb zu kleiner, bezw. größer verrechnet.
Es muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Erwartung
auf eine bestimmte V. manchmal komplizierend auf die Schätzung
einwirkte. Es konnte vielfach bei den Vpn. beobachtet werden,
daß das Eintreten der Erwartung sehr durch die Ermfidungr
begünstigt wurde (Vp. A., Dr., P., Ste.). Bei Ermüdung zeigte
sich nämlich sehr oft eine Bevorzugung der Urteile »kleiner«,
besonders bei denjenigen Vpn., die die Eimüdnng durch starre
Fixation zu überwinden suchten (Vp. Dr., A., Sch.). Bei anderen
Vpn. traten dann Aufmerksamkeitsstörungen auf — »einSchweifen
der Aufmerksamkeit« —, wobei meistens die Größemrteile be¬
günstigt wurden.
Als weitere Eigentümlichkeit traten bei einigen Vpn. Eon-
trastnrteile auf (Vp. A., Dr., M.). Sie konnten ebenfalls in
günstiger oder in ungünstiger Weise die Schätzung beeinflussen,
wurden aber von den Vpn. stets als solche erkannt. Sie wurden
ebenfalls wie die Erwartungsnrteile nicht mit verrechnet
Da bereits die Binnefeldschen Versuche gezeigt hatten,
welch große Bolle die Übung bei der Streckenschätzung habe,
so war die Aufeinanderfolge der Versuche nicht gleichgültig.
Sie mußte so gewählt werden, daß eine möglichst gleichmäßige
Verteilung von Übung und Ermüdung zustande kam. Da wir nun
von den Bewegnngsempfindungen ausgingen, so betrafen die Ein¬
übungsversuche bei der Mehrzahl der Vpn. die räumliche Schätzung,
und erst nachdem die Vpn. an die Versuchsbedingnngen gewöhnt
waren, wurde die Auf einanderfolge derV ersuche verschieden gewählt.
II. Experimenteller Teil.
Die Experimentaluntersuchung, die diesen Ausführungen zu¬
grunde liegt, erstreckte sich von Herbst 1916 bis Frühjahr 1918,
sie nahm 3 Semester mit Einschluß aller Ferien in Anspruch.
Als Vpn. stellten sich in liebenswürdiger Weise zur Ver¬
fügung: Herr Geh. Rat Prof. Dr. Störring (Stö.), die Herren
Professoren Dr. Erismann und Dr. Kutzner (E. und K.), Herr
Experimentelle Untersncbiingen new.
435
Dr. phil. Amsler (A.), Herr P. Dröege, cand. philos. (Dr.), Herr
Blindenlehrer Horbach (Ho.), Herr Oberlehrer Dr. Sauer (Sa.),
Herr cand. phil. SteinkrBger (Ste.).
Ferner die Damen: Frl, cand. phil. Frank, (F.), Frl. Dr. phil.
Hahn (Ha.), FrL Dr. phU. MOrs (M.), Frl. cand. phil. Pirig (P.),
Frl. cand. phil. Schorn (Sch.) und Frl. cand. med. Witsch (W.).
Nicht alle Vpn. nahmen an den Strecken- und Zeitschätznngen teil.
§ 1 .
Die Arten der Zeitschätznng und ihre speziellen
\ ersnehsbedingnngen.
Wie schon öfters erw&hnt wurde, sollten die experimentellen
Resultate uns Aufschluß darüber geben, ob es möglich sei, die
Streckenschätzung nach der Zeitschätznng zu orientieren. Hatten
auch die Aussagen unserer Vpn., die wir erst in den nächsten
Kapiteln mitteilen werden, nicht auf eine solche Abhängigkeit
hingewiesen, ja sie geradezu ausgeschlossen, so war diese Frage
doch erst entschieden, wenn auch die experimentelle Bestätigung
hinzukam. Eine Übereinstimmung der quantitativen Messungen
beider Schätzungen oder sogar eine größere Feinheit der Zeit¬
schätzung hätten gewiß die Richtigkeit der erwähnten Aussagen
in Zweifel gesetzt.
Bei unserer Untersuchung sollten nur unmittelbare Zeit¬
schätzungen abgegeben werden, d. h. solche, bei denen die zeit¬
lichen Verhältnisse unserer Erlebnisse das Objekt unserer auf¬
merksamen Beobachtung werden, nicht die qualitativ-intensiven
Merkmale unserer Erlebnisse. Dies würde »ein vermitteltes oder
mittelbares Zeiturteil« sein (Meumann, Phil. Studien VHIS. 488).
Obwohl nun unter den experimentellen »Zeitsinnforschungen«
viele unmittelbare Zeitschätzungen vertreten waren mit Dauer¬
intervallen von annähernd 1,55 sec und 0,75 sec, so ließen sich
direkte Vergleiche nicht ziehen, weil die visuelle Reizausfüllung
unserer Dauerintervalle mit der bei andern Experimentatoren wenig
Ähnlichkeit zeigte. Dieser Umstand erklärt sich leicht; denn wir
gingen bei unserer Untersuchung von der Strecken¬
schätzung nach Angenbewegungsempfindungen ans,
als Kontrollversuche schlossen sich daran die Schätz¬
ungen der Dauer unserer visuell wahrgenommenen
Bewegung; die Erweiterung unserer Zeitschätzung durch Ein¬
führung von Dauerschätzungen ohne visuelle Ausfüllung
war nur geboten durch die speziellen Versnchsbedingungen.
28 *
436
Anna Lentz,
Es fragt sich nun, könnte diese gleichmäßige visuelle
Ausfüllung nicht etwa günstigere Bedingungen für
die Dauer Schätzung hervor rufen, wie vielleicht bei
Schumann, wo es sich um Schätzung sogenannter
>leerer< Intervalle handelte, die von zwei knall¬
artigen Geräuschen begrenzt waren? (Schumann:
Über die Schätzung kL Zeitgrößen in Zeitschrift für PsychoL
u. Physiol.Bd.rV). Oder auch wie beiMeumann, bei dem
außer den akustisch begrenzten Zeiten noch solche
mit diskontinuierlicher akustischer oder optischer
Ausfüllung hinzukamen? — Wird Münsterberg recht
behalten, wenn er behauptet, daß das Zeiturteil >in hohem
Gradec unabhängig von der Ausfüllung der Intervalle sei,
oder werden wir Menmann znstimmen müssen, daß die Zeit¬
schätzung in hohem Maße abhängig von der Art der Aus¬
füllung der Zeitstrecken ist? — (Philosphische Studien YIII
S. 445 und 447).
Sicher ist doch, daß ein reizfreies Intervall kein »leeres«
Intervall ist, daß also die Ausfüllung der »leeren« Intervalle
vielleicht viel mannigfaltiger sein wird, weil dem Be¬
obachter kein bestimmter Sinnesinhalt geboten wird. Von diesen
Voraussetzungen ausgehend wurden die ersten Dauerschätzungen
der optischen Bewegungseindrücke in mittleren Geschwindigkeiten
unternommen. Es erhielten die Beobachter die entsprechmide
Instruktion, das Licht genau wie früher mit den Augen zu ver¬
folgen, so daß es im deutlichsten Sehen bleibt, und die Bewegnngs-
dauer zu schätzen. Es ergaben sich folgende Besultate:
Yp. Dr.: Ich habe nur den Oesichteeindrnok, ein direktes Anifassen
der Zeit ist mir nnmSglioh, direkt kQnnte ich die Zeit nnr nach dem
Gehör schätzen. Ich kann nnr sagen, ich erschliefie die Däner. Es ist
mir nnmöglich, die Streckenlänge Ton der Zeitlänge in trennen, denn ab¬
strahiere ich von der Länge, so abstrahiere ich anch von der Zeit.
Yp. Ho.: Die Schätznng fällt sehr schwer, denn stets ist die Tendern
vorhanden, nach der Strecke in schätzen. Ich will zwar von dem ränmlichen
Eindmck abstrahieren, aber die Schätznng ist keine nnmittelbare.
Yp. M.: Was in der Schätznng znm Ansdmck kommt, ist kein reines
Zeitnrteil; dafi dies nicht gelingt, dafür ist der visuelle Ein-
drnck verantwortlich. Damit ein reines Zeitnrteil znstande
kommt, klopfe ich anf das Knie sn Beginn nnd Schluß nnd
lausche anf das akustische Schlnßgeränsch.
Um diese Angaben der Vpn. weiter zu untersuchen, wurden
mit Vp. E. mehrere Probeserien gemacht. Sie hatte bei dieser
Untersuchung noch keine Streckenschätzungen vollzogen, wohl
bei der Binnefeldsehen Arbeit fast unter gleichen Versuchsbe-
Experimentelle Untersiichangen nsw. 437
dingnngen. In ihrer Selbstbeobachtung wurden folgende Punkte
bervorgehoben:
Vp. E.: »Sb Bcheint tatsächlich, dafi, wenn man die Dauer
Bchätxt, man Ton der Bewegung als solcher abinsehen hat.
Wird das Interyall dnrch die Znlenknng der Aufmerksamkeit
snr Bewegung an stark ansgefttllt, so tritt die Einstellung
auf Auffassung der Daner zurück. Man neigt dazu, den Bewegungs*
anfang und Schloß besonders im Bewußtsein beryortreten zu lassen, dabei
stütze ich mich sowohl auf den akustischen wie optischen Eindmck. Es
ist, als ob yon der ganzen Bewegung ihre extremen Punkte heryorgehoben
zu werden yerdienen.«
»Der Eindruck yon der Länge der Strecke entsteht außerordentlich leicht,
jedoch ist es mir mSglicb, während der Bewegung yom Ausmaß der Be¬
wegung zu abstrahieren. Damit wendet man die Aufmerksamkeit auch ab
yon dem, was wir gewöhnlich Auffassung der Bewegung nennen.«
Jedenfalls lag es nach diesen Erfahrungen nabe,
zu untersuchen, inwieweit das Nichtznstandekommen
des reinen Zeiturteils auf die Hemmung durch die
frühere Einstellung zurttckzuf ühren war. Zu diesem
Zweck wurde eine Vp. ansgewählt, die bis dahin
überhaupt noch nicht an unsern Untersuchungen
teilgenommen hatte, also auch noch keine Strecken¬
schätzungen vollzogen hatte. Es wurde ihr die Auf¬
gabe gestellt, Zeitschätzungen unter den vorhin
angegebenen Yersuchsbedingnngen zu machen.
Mit dieser Vp. — Vp. Ha. — wurden mehrere Versuchsserien
gemacht, die erzielte U.E. betrug Ihre Aussagen, die der
zeitlichen Folge nach geordnet sind, sollen uns darüber Aufschluß
geben, wie ihre Schätzung sich entwickelte.
Vp. Ha.: »Ich stelle mir stets die Strecke, die durchlaufen wird, yor. Ich
stelle mir auch yor, ob das Endgeräusch mehr nach rechts oder nach links
yerschoben war, ich lokalisiere es. Ich dachte sofort, es ist kleiner, denn
der Schlitten hat yorher Halt gemacht. Es wird dann die Zeit als ein
so und BO langes Danergeränsch anfgefaßt, das an eine Strecke
gebunden ist. Sehr wesenstlich ist aber für meine Schätzung, daß das
Schloßgeränsch yon einer andern Stelle des Baumes hersukommen scheint.«
»Oft schließe ich die Augen unwillkürlich. Ich bin dann yiel sicherer
bei der akustischen Auffassung, denn ich habe dann ein bestimmteres Bild
des Dauereindrucks.«
»Ich kann jetzt auch genau angeben, wie meine Schätzung jetzt ist.
Ich wollte die Zeit schätzen, aber ich habe während der Darbietung kaum
mehr an die Zeit gedacht. Ich schloß, da die Geschwindigkeit mir
stets dieselbe zu sein schien, stets yon der größeren Baum*
strecke auf die längere Zeit.«
Sehr schnell also gelangt auch diese Vp. zu einer
nur indirekten Zeitschätznng, die sich auf die räum-
438
Anna Lentz,
liehe Größenschätznng stützt. Sie erlebt jetzt die
typischen optischen Täuschungen, yon denen sie früher nie eine
Andentnng machte. Aber dennoch ist sie sich des Übergangs
in eine andere Schätzungsweise durchaus nicht sofort bewußt
Auch bei ihr trat der Fall ein, den Prof. Störring als Vp. eben¬
falls erlebte: »Rückblickend läuft man Gefahr zu sagen,
duhattestjadie Zeit einst eil ung, ohne zu beachten,
daß sie wieder verdorben ist«
Wodurch wird sie aber verdorben? Sie wird, wie wir schon
hervorhoben, sehr erschwert durch die Tatsache, daß die Ver¬
suchspersonen abstrahieren müssen von dem visuellen Bewegnngs-
eindruck, weil der Gesichtssinn eben zu sehr >Raumsinn« ist
Die hemmende Wirkung der früheren Einstellung
ist also nicht der wesentliche Faktor. Vielmehr er¬
gaben die Versuche mit Vp. Ha., daß als besondere Kompli¬
kation auch bei den übrigen Vpn. der Umstand mit¬
wirkte, daß die stillschweigende Voraussetzung ge¬
macht wird: »Die N. und V. werden stets mit gleicher
Geschwindigkeit geboten, folglich ist die mittelbare Zeit-
schätznng die einfachste.« Wie man aus den Aussagen der Vpn.
bei der Dauerschätznng mit Licht ersehen kann, waren nicht sowohl
der visuelle Reiz, als vielmehr akustische und motorische Momente
ausschlaggebend für die Beurteilung der Dauer. Die aku¬
stischen Anhaltspunkte waren der Vp. gegeben durch das kurze
scharfe Geräusch der einschnappenden Perle und den Aufschlag
des Schlittens an die Arretierung am Schluß seiner Bahn, sie
waren also bei der Streckenschätznng auch vor¬
handen gewesen, aber nie von den Vpn. erwähnt
worden, höchstens einige Male als Störung von den Vpn., die
sehr leicht durch Geräusche abgelenkt wurden (Vpn. F. und K).
Wenn schon die Nichterwähnung dieser Geräusche
bei der Streckenschätzung wohl annehmen ließ, daß
die Vpn. sich nicht danach orientiert hatten, so woll¬
ten wir sie dennoch isolieren. Ans diesem Grunde sahen
wir uns veranlaßt, Zeitschätzungen ohne Licht (o.L.) einznführen,
bei denen genau wie in den früheren Versuchen der Schlitten
einen Weg von 20 cm in den beiden Normalstrecken zurücklegte,
während der Vergleichsstrecke einen gleichen, größeren oder
kleineren Weg. Dabei fehlte die visuelle Ausfüllung,
und die Vp. bekam die Anweisung, das Zeitintervall
zwischen dem Anfangs- und SchInßgeränsch der Be¬
wegung zu sch ätzen. Diese Zeitschätznng o.L. wurde
Experimentelle Untersachnngen new.
439
aber nur in der schnellsten Geschwindigkeit, also
bei einer Normalzeit (N.Z.) yon 0,75Sek. aasgeftthrt.<
§ 2 .
Die Strecken- und Danersehätzung bei einer Normalzeit
Ton 1)55 Sekunden.
a) Objektire Besnltate beider Sehltinngea.
In den beigefttgten Tabellen finden wir die objektiven Er¬
gebnisse der Streckenschätzung and der Danerschätznng mit Licht
bei einer Nz. von 1,55 Sek.
Die Tabelle U. E. I besteht aus zwei Haaptteilen; der erste
Teil mit a) bezeichnet, enthält die Ü.E. für die Streckenschätzung,
der mit b) bezeichnete die Dauerschätzung m. L. Jede Teil¬
tabelle ist so eingerichtet, daß die erste Vertikalkolonne die
Namen der Vpn. enthält, die zweite die Anzahl der Schwellen-
bestimmungen; die 3. und 4. Kolonne enthalten den Mittelwert der
oberen und unteren absoluten Unterschiedsschwelle, ans denen
dann die Unterschiedsempfindlichkeit berechnet wurde, die in
der letzten Kolonne (U. E.) angegeben ist. Bei der Zeitschätzung
enthält die 3. und 4. Kolonne die absoluten U.-schwellen sowohl
in entsprechender Millimetmrdifferenz, wie auch in 6 =
1000 ®®®*
Vergleichen wir nun die U. E. für die Streckenschätzung bei
den einzelnen Vpn., so sehen wir eine Werteskala von^ —
1
76*
Setzen wir diese Werte in Beziehung zu der U. EL für Zeit-
Schätzung, so sehen wir. daß letztere bei allen Vpn.—Vp.Ste. aus¬
genommen — den Wert für die Feinheit der Streckenschätzung
nicht erreicht, woraus schon ersichtlich ist, daß die Strecken-
Schätzung nicht nach der Zeitschätzung orientiert
war. Außerdem zeigen die Zeitschätzungen bei den einzelnen
Vpn. eine viel größere Annäherung. Auch hier hebt sich die
U. E. von Vp. Ste.
57,30
— von den übrigen Schätzungen ab.
Als charakteristische Erscheinung tritt uns auch die Schwankung
der absoluten Unterschiedsschwellen um den Gleichheitspunkt her¬
vor, sodaß bald die So, bald die Sn einen größeren Wert zeigt.
Ist diese Verschiebung der Schwellen sehr gering, so daß die So
fast gleich der Sn ist, dann zeigen sich die feinsten Schätzungen,
sowohl hinsichtlich der Strecke (Vp. M. und Sa.) wie auch der
440
Anna Lents,
Daaer (Vp. Ste.). Anderseits zeigen aber anch die Tabellen, dafi
bei denselben Vpn. diese Schwellenverschiebnngen
meist ganz verschieden verlaufen bei der Däner-
und Streckenschätznng (Vp. M. nnd Ste.). Auch diese
Tatsache weist auf eine Unabhängigkeit der Strek-
kenschätznng von der Zeitsch&tznng hin.
U.E. I
») üntenchiedumpfiadlichkeit für Streekenachitsiiiig. Ni = 1,56 sec.
Vp.
Anzahl der
Schwellen-
bestimmnngen
mittlere So
mm
mittlere Sn
mm
U.E.
A.
6
8,88
4,16
1
60
M.
10
2,70
2,50
1
76,92
Ste.
7
2,29
4,88
1
66,06
1
60
W.
8
4,76
8,25
Sa.
8
8,26
8,26
1
61,53
Summe
Mittel
89
8,86
8,60
1
67,40
b) ünterschiedsempfindlichkeit fBr die Zeitsch&trang m. L. Ns ~ 1,66 sec.
Anzahl
Mittlere So
Mittlere Sn
Vp.
der
in
in
U.E.
Schwellen
mm
mm
6
A.
6
4,88
86,6
6,60
41,6
1
88^75
89^04
6^
8M7
M.
8
8,60
26,5
6,76
61,1
Ste.
6
8,16
28,9
8,88
28,9
W.
8
8
60,6
4,76
86,9
Summe
28
1
40,00
Mittel
4.87
6,18
b) Die Anssagem der Tpa. bei der Streekeasehbtsiuig ud Deatuag derselbea.
Vp. A.: »Die Bewegung kommt mir sehr langsam Tor. Der Strecken-
eindmck mnd sich erst entwickeln, noch hin ich unter dem SSnllnfi
der Zeitschitzung, deshalb mufl die neue Aufgabe immer prisent sein.
Nach mehreren Versuchen f&hrt die Vp. fort: »Es hat sieh jetzt der
Streckeneindruck wie früher entwickelt, deshalb f&llt die
Schatzung leicht, die Anhaltspunkte sind dieselben wie bei der grOfieren
Geschwindigkeit. Die Einstellung ist sehr leicht zu vollziehen.«
Experimentelle Untersnchiingen niw.
441
>Ich könnte nichts enssagen Uber die Zeit, ich bin der An«
siebt, dafi hier vollst&ndig Ton der Zeit abstrahiert wird.«
Vp. H.: »Ich glaube nur nach Bewegangsempfindangen za
schätzen, die Endlage spielt aber eine Rolle, eigentlich stelle ich
nie innerlich die Strecke her. Bei der optischen Sebätznng empfinde ich
sofort, ob es länger oder kflrzer ist, hei der Zeitschätznng mache ich zuerst
einen Vergleich, diese Tatsache ist mir sehr auffallend jetzt.«
Von der Vp. wird häufig betont: »Ich finde die Aufgabe sehr
leicht und gebe mir keine Mfihe. Man hat die Empfindung, dafl
man sicherer schätzt als bei der Zeit.« Mitunter bemerkt sie: »Ich
habe die subjektiTe Bewegungstäuschung, besonders wenn
das Signal zu früh kommt, auch verschiebt sich manchmal die V.
nach außen, beim Fixieren rfickt sie nach innen.«
Vp. Ste.: »Anfangs war die Schätzung viel anstrengender, denn dasKriterium
war eine Art Streckenvorstellung und der Endpunkt. Die Endlage der V.
wurde rechts und links von der Endlage der N. empfanden. Jetzt schätze
ich nach Angenbewegungen und mache gar keine Anstrengnng.
Das Schätzen fällt mir leichter, je länger ich im Dunkeln sitze, denn die
ersten Werte sind stets unsicher, weil Nachbilder vorhanden sind. Die
Schätzung ist sehr angenehm und sehr leicht.«
Von dieser Vp. hören wir am häufigsten: »Starke Bewegungser-
s che in ung zu Beginn in Richtung der Bewegung. Bin ich ermfidet, so
tritt die Dlusion sofort auf. Ich merke dann auch, daß ich den
Anfangspunkt, zu stark fixiert habe.«
Vp. W: »Zuerst war ich unsicher, jetzt nicht mehr, aber
ich weiß absolut nicht wonach ich schätze. Bin ich etwas mttde,
so läßt die Sicherheit nach, auch wenn ich nicht ganz aufmerksam bin.
Aber ich bin dann doch sehr aktiv. In diesem Falle scheint mir manchmal
die Qeschwindigkeit verändert.«
Vp. Sa.: Von jetzt an fflhle ich mich sicherer, weilichnach
Angenbewegungsempfindungen schätze. Die Lokalisation des
Endpunktes, wenigstens der Versuchsstrecke wirkt ein, sie ist immer als
Anhaltspunkt mit dabeL«
Vp. K.: »Zu allererst schienen für mich Nebenkriterien in den
Vordergrund zu treten, z. B. die Zeit. Jetzt aber ist während der
Erzeugung der V. schon die Entstehung des Urteils über die
V. zu konstatieren.«
Wenn bei derV. die »Erwartungsspannung« eine gewisse Höhe
erreicht hat, so wird sie noch erhöht dadurch, daß der Punkt sich noch
nicht bewegt, obwohl er sich bewegen sollte. Eine Verschiebung des An«
fangspunktes nach der Mitte findet mitunter statt.«
Übereinstimmend finden wir bei allen Vpn. die Angabe, daß
mitunter die beiden Normalstrecken verschieden groß erscheinen,
über diese Erscheinung werden wir später noch berichten.
Fassen wir zunächst die Erscheinungen ins Auge, die bei allen
Vpn. in gleicher Weise sich vorfinden. Es ist dies zunächst die
Tatsache, daß die gestellte Aufgabe leicht und sicher
442
Anna Lents,
gelöst wird, wenn nur eine möglichst passive Ein¬
stellung realisiert nnd gewisse Schfttznngskriterien
angewandt werden. Von denjenigen Vpn., die bereits Zeit-
Schätzungen vollzogen haben (Yp. A. n. M.), werden letztere bereits
zu den Streckenschätznngen in Gegensatz gesetzt Es wird betont,
1. daß neben der Streckenschätznng keine Zeitschät-
znng einhergehen kann (Vp. H.), 2. daß ein größeres
Geffthl der Sicherheit bei der Streckenschätznng
herrsche (Vp. M.), 3. daß der ausgesprochene Ver¬
gleich beim Zeitarteil in charakteristischer Weise
sich von dem >spontanen< Urteil bei der Strecken-
Schätzung unterscheide (Vp. M.).
An zweiter Stelle sehen wir ttbereinstimmend die Schätznngs-
kriterien, Lageempfindnng, Streckeneindmck, Bewegungsempfln-
dnngen wiederkehren, Undzwar wird als die sicherste Schät¬
zungsweise diejenige angegeben, bei denen die B.E.
mit Betonung der Endlage den Hanptanhaltspunkt
bilden. Diese Einstellung zu dieser Schätzung ist am häufigsten
realisiert bei den Vpn. M., Sa., Ste., bei ihnen finden wir auch
die feinsten Werte für die U. E. und von ihnen wird die Auf¬
gabe mit größter Leichtigkeit gelöst. Sehr häufig finden wir
von Anfang an Aussagen über Bewegnngsülnsionen und Lokali-
sationsänderungen des Lichtpunktes, die stets in Beziehung zu
starker Fixation des Lichtpunktes gesetzt werden. Analoge Tat¬
bestände werden aasgedrückt durch die Angaben über verkürzte
Atmung, zu große Aktivität, Erwartnngsspannung oder Aufmerk-
samkeitsspannungen während der Darbietung. Denn in all
diesen Fällen handelt es sich um Spannungsent-
wicklungen, die vielfach von den Vpn. durch die
Betätigung der Aufmerksamkeit gesetzt werden
und sich den Vpn. vielmehr aufdrängen als dieBe-
wegungsempfindunggen.
Sicher ist, daß die >Erwartungsspannang< das
Eintreten von Unlust, Erregung nnd >aatokinetischen
Empfindungen begünstigte, und daß durch dasZu-
zammenwirken dieser Erscheinungen die objektiven
Ergebnisse beeinflußt wurden. Da es sich bei diesen
Versuchen nicht nur um kleine Ezkursionswinkel, sondern auch
um geringe Geschwindigkeit handelt, so ist es gar nicht zu ver¬
wundern, daß die Spannungsempfindungen sehr leicht eine Ver¬
deckung der Bewegungsempfindungen zustande bringen konnten.
Die störende Wirkung derselben wird auch von Goldscheider
Experimentelle üntersachiingen nsw.
443
hervorgehoben, desgleichen die Yerdeckung durch Druckempfin-
dnngen, was wir ebenfalls bei Vp. Sa. konstatieren konnten.
(Goldscheider: Untersuchungen über den Muskelsinn S. 190.)
Wir sehen aber doch, daß nach genügender Einübung
die A.-B.-Empfindungen deutlich von den Vpn. als
Schätznngskriterien erlebt werden, besonders nach*
dem sie Zeitsch&tzungen und Streckenschätzungen
in anderen Geschwindigkeiten vollzogen haben.
Erst die negative Einstellung, auf andersartige Schätzungen,
brachte den Vpn. Klarheit darüber, welche Erscheinung die
Grundlage ihrer Streckenschätzung bildete. Hier zeigt
sich also die Wichtigkeit, die der zeitlichen Folge
der Versuche für die Schätzung zngeschrieben
werden muß. Als gesichertes Ergebnis dieser Ver¬
suche können wir betrachten, daß die Strecken¬
schätzung nach A.-B.-Empfindnngen die feinste U.E.
erzielte, daß die sensorische Einstellung als die
zweckmäßigste betrachtet werden muß. Über die
Einwirkung der verschiedenen Spannungszustände werden wir
uns noch weiter zu orientieren haben.
e) Anssagem der Tpa. bei der ZelteehätEmog m. L. bei einer Ni.
TOB 1,55 Sek. Dentang der ABSsagen.
Vp. A.: > Ale Kriteriam der Schätzung dient die Innervation in den
Angen zn Beginn nnd Sohlnd. Nach der Darhietnng richtet sich
die Anfmerksamkeit nach innen nnd die Strecke wird noch
einmal hergestellt, nnd zwar begrenzt dnrch Innervationen im Kopf,
in der Stirn, in den Angen. Festgehalten wird nnr das Zeitliche,
der Sinneseindrnck wird also modifiziert in der für das Be¬
halten in Betracht kommenden Weise. Eine Abstraktion von
dem visnellen Eindrnck mnfi vorgenommen werden, nnd bei
dem Abstraktionsprozefi wird die Strecke als ein so nnd so
lange dauerndes Geräusch anfgefafit.«
Vp. M.: »Ich kämpfe noch sehr mit der richtigen Einstellung. Ich
finde, dafi der Vergleich bei diesen langenZeiten mehr her¬
vortritt, bei den kurzen tritt beim Urteil mehr das Über-
raschnngsgeffihl auf.
Das langsame Tempo ist mir nicht sympathisch, denn das Urteil wird he-
einflnüt dnrch Anfmerksamkeitsschwanknngen. Ich glaube die optische Aus¬
füllung wirkt sehr unterstützend gegen diese Schwankungen, dadurch ist
grüüere Sicherheit vorhanden. Die Urteile sind nicht spontan wie bei der
Streckenschätzung, die beiden Normalstrecken sind stets gleich.«
Vp. Sa.: »Ich habe mich dabei ertappt, rhythmische Atembewegungen
aaszuführen, so daß die Strecke mit Ansatmen schließt. Diese Schätzungs¬
weise kam mir unwillkürlich.«
444
Anna Lents,
Vp. Ste.: >Ich schätse wieder darchans rhythmieeh and awar
lind die Längerarteile sicherer. Ich hatte einen Vers im Kopf — rex
eris si rdcta fäcies. Darch ihn war mir die Däner markiert. Ich
war dabei sehr sicher and behielt stets die gleiche snbjektiTe Betonang
bd. Verschwand non bei einer Darbietang das Licht schon bd fa, so war
ich sehr dcher, dafi die Zeit kürzer war. Ich glaabe, es gibt keine
feinere Zeitschätzang als die mit Yerseinteilang, denn es
bleibt ja die Daaer stets aaf gleiche Weise darch die sab*
jektive Betonang markiert.«
Vp W.: »Ich habe grofie Ndgang, Tom Beginn bis znm Schlofi za
zählen, am einen gewissen Rhythmns heraasznbekommen. Ich finde, dafi
das Schätzen mir dann leichter flUlt, ich markiere die Daaer darch 12—84.
Zaerst stSrte mich sehr der Streckeneindraek.«
»Vom Anschlag lasse ich mich selten beherrschen. Doch mafi meine
Einstellang ziemlich aktiy sein. Ich mofi nämlich abstrahieren vom visadlen
Eindrack, and doch ist mir der Beginn der Zeit yisaell markiert, ebenso
der Schlafi.
Über die Länge der Strecke kann ich nichts aassagen. Treten onter
den Zeitarteilen Gleichheitsarteile aof, so mOchte ich sie als Verlegenhdts-
arteile charakterisieren.«
Bei allen Vpn. zeigt sich also als erster Unter¬
schied die wesentlich andere Einstellung als bei
der Streckenschätznng, die Einstellang mit Nega¬
tionen, die sich als das absichtliche Nichterfassen
des ränmlichen visuellen Eindrucks äußert Mit
dieser anderen Einstellang müssen wir auch in Zusammenhang
bringen, daß allen Vpn. die beiden N — im Gegensatz zur
Streckenschätzung — vollständig gleich erscheinen. Sicherlich
ist auf ihr Konto zu setzen, daß die Beobachter überhaupt
keine Aussagen über die Streckenlänge machen
können. In bezug auf die Intervallaasfüllang hebt sich die
Zeitschätzang zunächst in bezug auf die Streckenschätzung in
charakteristischer Weise ab; denn bei der Zeitschätzang wird
erstens abstrahiert vom ränmlichen Streckeneindraek, zweitens
können verschiedene sinnliche Substrate in den Blickpunkt
des Bewußtseins treten, so daß die Vp. stets angeben kann, daß
durch sie die Dauer markiert war.
Liegt nun die Sache bei der Zeitschätzang stets so, daß die
Beobachter sagen können, erst das Hervortreten eines bestimmten
Sinnesinhaltes — oder auch mehrerer — ließ mir das Bewußt¬
sein der Zeitgröße entstehen, gab mir zagleich erst ein Zeit¬
schätzungszeichen ? Nein, dieser Tatbestand liegt nicht immer
vor, den bei Vp. M. finden wir keinerlei Angaben darüber, daß
ein sinnliches Substrat der Dauerschätzung im Vordergfrund des
Bewußtseins steht. Die Tatsache, daß die optische AusfüUung
Experimentelle üntersnehnngen new.
445
von ihr als unterst&tzend angegeben wird, hat nichts mit einem
Eriterinm fflr die Dauerschätznng zu tun, sondern dient nnr zur
Yerhfitnng der Aufmerksamkeitsschwankungen. Es fehlen also
wahrscheinlich deshalb jegliche Angaben ftber die
sinnlichen Faktoren, weil der zeitliche Tatbestand
so isoliert heryortrat, daß die Bewußtseinsyor-
gänge, denen er eigen war, in den yorderen Re¬
gionen des Bewußtseins yon der Vp. nicht mehr
nachgewiesen werden konnten. Es hebt sich alsdann die
Schätzungsweise dieser Vp. in charakteristischer Weise yon der
Zeitschätzung der übrigen Vpn. ab. . Hier kam die Dauer¬
schätzung zustande auf Grund einer Daueranffassung,
bei der eine Beziehung zu einer sinnlichen Grund¬
lage nicht aufgefunden werden konnte.
Es fragt sich nnn, müssen wir die zweite Art der Dauer¬
schätznng als eine nur mittelbare bezeichnen, bei der in Wirk¬
lichkeit eine Aufmerksamkeitszuwendung zu qualitatiy-intensiyen
Tatbeständen besteht, die etwa nnr zeitlich interpretiert werden.
Dagegen spricht, daß 1. so yerschiedene Sinnesgebiete als sinnliches
Substrat heryortreten, daß 2. trotzdem die objektiyen Resultate
eine so große Übereinstimmung zeigen, yor allem aber 3. die
Aussagen unserer Vpn. Denn immer wieder wird betont: »Die
Aufmerksamkeit richtet sich nach innen. Festgehalten wird
nur das Zeitliche, der Sinneseindmck wird also modifiziert
in der für das Behalten in Betracht kommenden Weise.« Wir
stellen uns also auch hier, wo bestimmte sinnliche
Substrate im Bewußtsein heryortraten, auf den
Standpunkt, daß die Zeitschätzung eine unmittel¬
bare war, denn auch hier erlebte dieVp. die Isolierung
des Zeitlichen als etwas yom qualitatiy-intensiyen
Inhalt der Empfindungen Verschiedenes. Auf Grund
der Aussagen aller Vpn. über das yon ihnen zum
Zweck der Zeitschätzung realisierte Verhalten — eine
Einstellung mit Abstraktion yom räumlich-yisuellen
Streckeneindruck mußte yollzogen werden — muß be¬
hauptet werden, daß der yisuelle Bewegungsein-
druck nicht als Zeitschätzungszeichen in Betracht
kam, daß er geradezu durch seine räumliche Be¬
schaffenheit störend für die Zeitschätzung wirkte,
wenn der Beobachter andere Sinnesgebiete für die
Zeitschätzung heranzog. — Der Einwand also, daß die
Streckenschätzung auf die Schätzung der Bewegnngsdaner zu-
446 Anna Lents,
znrfickznfflhren sei, würde durch Heranziehiing dieser Tatbestände
durchaus widerlegt.
Es muß ferner noch als besondere Art der Zeit*
Schätzung die rhythmische hervorgehobeu werden,
die wir auch als reine Zeitschätznng ansehen müssen, bei der
die rhythmische Einteilung die Zeitmarkiemng bildet Es handelt
sich bei den hier ansgeführten Schätzungen um eine ganz ver¬
schiedene Art der Bhythmik, bei Vp. Sa. um »die physiologische
Rhythmik der Atembewegnngen«, bei Ypn. W. und Ste. um will¬
kürliche subjektive Bhythmisierung.
Als Ergebnisse dieser Untersuchung haben wir zu betrachten:
1. Die mittlere U.E. dieser unmittelbaren Zeit-
schätznngen m. L. betrug
2. Die Einstellung auf Zeitschätznng war ver¬
bunden mit Abstraktion vom räumlichen Strecken-
eindrnck.
3. Die Daneranffassung konnte auf sinnlicher
Grundlage erfolgen, sodann aber auch so, daß
kein besonderes sinnliches Substrat sich im
Bewußtsein nachweisen ließ.
4. Wahrscheinlich kam vorwiegend eine Apperzeption
der Dauer zustande, bei der die Auffassung der zeit¬
lichen Folge mehr oder weniger deutlich hervortrat.
5. Die sinnlichen Faktoren, die vor allem eine
Anfmerksamkeitsznwendnng zu ihrem Zeit-
verlanf veranlassen, sind unter der Einstellung
zur zeitlichen Schätzung im Gegensatz zu der
Einstellung zur Streckenschätznng neu her¬
vortretende oder neuerdings beachtete akustische
Empfindungen und Innervationsempfindnngen.
6. Als besondere Art der Zeitschätznng trat die
rhythmische auf, die bei dem Danerintervall
von l,55Sec. als äußerst günstig für dieZeit-
schätznng sich erwies.
§3.
Die Strecken- n. Dauerschätznng bei der Normalzeit von0,76 Sek.
a) Objektive Resultate der Strecken-undDauerschätznng.
Eine Erläuterung der beigeffigten Tabellen, die uns eine
Orientierung über die quantitativen Messungen geben sollen,
Experimeotelle Untersnchangen tiaw.
447
erübrigt sich, da sie in gleicher Weise wie die vorhergehenden
nnd die späteren angeordnet sind.
ü.B. n.
a) ü. E. fOr die Streckenschätznog b) U.E. ffir die Zeitschätztmg m. L.
N*. — 0,76 Sek,
Vp.
•SS
U.B.
ö a
ü. E.
mm
D
Dr.
6
6,83
2,83
1
46,18
6
6,88
21,86
8,88
14,86
1
41,46
F.
8
2,6
8,87
1
68,14
8
6,6
24,88
6,6
20,62
1
88^,33
M.
12
2,5
2,6
1
80
10
8,7
18,88
6,8
28,32
P.
10
2,8
2,9
1
76,92
6
2.6
9.87
6,6
24,88
1
44,44
Sch.
12
2,6
3,5
1
66^67
8Ö
8
7,26
27,00
4,76
17,81
1
88,33
Ste.
6
1,84
8,16
8
2,75
10,20
6,26
19,69
1
60
Somme
54
1
67,33
46
1
89,96
Mittel j
2,91
8,04
4,66
17,46
6,36
20
e) U. E. fttr die Zeitechätzimg: o. L.
Vp.
Anzahl
der
Schwellen
mittle
i]
mm 1
re So
n
6
mittle
ij
mm
ire Sn
a
6
U. E.
Dr.
6
8,16
12
6,6
21
1
46,18
F.
8
2,6
9
4,76
18
1
68,61
M.
6
2,83
11
3,83
14
1
60,06
42,91
P.
6
2,16
8
7,16
27
Sch.
7
4,28
16
6,71
21
1
40,08
1
46,76
1
60
Ste.
8
1,76
7
7
26
K.
3
4
16
4
16
Somme
Mittel
44
2,94
11
6,42
20
1
47,84
Die Tabelle ü. E. n enthält 3 Hauptkolonnen a, b, c. Die
Kolonne a) enthält die betreffenden Streckenschätzungen, b) die
entsprechenden Zeitschätzungen m. L., c) diejenigen o. L.
448
Anna Lentz,
Betrachten wir die Tabelle U. E n a), so sehen wir ein
ähnliches Bild wie bei der Streckenschätznng in langsamer
mittlerer Geschwindigkeit Von den Vpn. waren nnr Vp. M. nnd
Ste. dieselben wie bei der früheren Schätzung. Der Schwanknngs-
bereich für die U. E ist hier noch etwas erweitert, Ton ^ bis
(rther Toni-^
Während die ü. E von Vp. M. nur
eine geringe Abweichung zeigt, nämlich hier früher
1
76,9»
stehen sich bei Vp. Ste. die Werte ^ and ^ gegenüber. Diese
Differenz kann aber nicht auf die differente Geschwindigkeit
zurückgeführt werden, sondern lediglich darauf, daß die Vp. nicht
mehr unter besonderen Ermüdungs-und Schwäche-
Zuständen litt, welche eine Folge ihrer Eriegs-
verwundung waren. Die optischen Täuschungen »der auto¬
kinetischen Empfindungen« traten nach ihren Angaben kaum
mehr auf, eine passive sensorische Einstellung konnte erzielt
werden. Die Tabelle U. E. D. b) für die Zeitschätzung m. L.
zeigt uns zunächst allgemein, daß die Strecken-
schätzung nicht nach der Zeit orientiert sein konnte,
denn wir sehen, daß die U. E. für die Dauerschätzung
bei allen Vpn. weit hinter derjenigen für Strecken-
schätzung zurückbleibt, so daß sie bei der Hälfte
der Vpn. noch nicht halb so fein wie die Schätzung
nach A. B.-Empfindungen ist. — Außerdem weist die
W erteskala der Zeitschätzungen keine Parallelität zu der Strecken¬
schätzung auf; denn diejenigen Vpn., die die feinsten Werte bei
den Streckenschätzungen erzielt haben, erreichen nicht in allen
Fällen auch die feinsten ZeitschätzungmL
Es kann der FaU sein (Vp. Ste. und P.), aber manchmal gilt
auch eine Umkehrung dieser Beziehung (Vp. M., F., Pr.).
Und wie steht es mit den Dauerschätzungen ohne
visuelle Ausfüllung? — Auch bei ihnen können wir
nicht sagen, daß bei den einzelnen Vpn. sich parallele
Werte zur Dauerschätzung m. L. ergeben. Wir sehen
vielmehr die U. E. mancher Vpn. (M., F., Dr., Sch.) sich gewaltig
verfeinern, die der andern sich verschlechtern. Charakteristisch
tritt bei allen Vpn. — Vp. K. ausgenommen — die Verschiebung
der Su nach unten auf, d. h. diese Vpn. neigen also alle
zu einer Überschätzung der Vergleichsgrößen. Wor-
Experimentelle ünteraachimgen osw.
449
auf diese konstante Täuschung beruht, das kann uns erst die
Analyse der Selbstbeobachtung sagen.
b) Aussagen der Ypa. bei der Streekenscbätinng und Dentnng derselben«
Bei der Schätzung der Vp. Dr. müssen wir zwei Stadien unter*
scheiden hinsichtlich der Kriterien, die ihr die Schätzung ermög¬
lichen. Diese Differenz ihrer Schätzungsweise rnÜ
in ihren objektiven Resultaten einen charakte¬
ristischen Bruch hervor.
Yp. Dr. 1. Schätzongsweise: »Sehr viel Anfmerksamkeit ist notwendig
anr Schätzung der Strecke. Wenn eine geringe Stdmng eintritt, ist sofort
fieflexion vorhanden. Ich frage mich dann stets, wie dieses müh¬
same Schieben eigentlich zustande kommt. Dies verbindet sich
mit Unlnstgeftthlen.
Der Gesamteindmck dient manchmal als Kriterium. Ich lasse die Augen
folgen und schätze dann, aber die Bedeutung der Angenbewegungen
fttr die Beurteilung kommt mir nicht zum Bewnfltsein.
Ich habe nur mehr den Endpunkt festgehalten bei der
«rsten N-strecke. Bei der zweiten N-strecke batte ich sofort den Eindruck,
dafi der Punkt zuviel nach der Mitte gelegt sei, und korrigierte deshalb
die Streckengroße, ebenso bei der Y. Dadurch schätze ich sicher zu kurz.
Weil ich die erste Normalstrecke immer fixiere, erwarte ich
schon die zweite an ganz anderer Stelle. Ich bin nicht sicher,
wenn ich nur den Gesamteindmck nehme, ich darf den Endpunkt nicht außer
«cht lassen.«
n. Schätzungsweise: »Wenn man den Endpunkt fixiert, legt man den¬
selben, um zu korrigieren, bei jeder Strecke weiter in Richtung der Bewegung,
dadurch wird die Normalstrecke immer größer. Ich fixiere den Endpunkt
jetzt gar nicht mehr nnd mache auch keine Anstrengungen mehr. Ich wollte
durch die frühere Art der Schätzung möglichst genaue Resultate erzielen.«
Schließlich bebt sie hervor: »Ich schätze nur nach Angenbe¬
wegungen, alle anderen Kriterien sind bewuflterweise nicht
maßgebend. Früher waren bewnßterweise nur der Gesamt-
eindrnck und vor allem der fixierte Endpunkt maßgebend.
Der Zeitfaktor hat nie eine Rolle gespielt, über die Dauer hätte
ich nichts anssagen können.«
Yp. F.: »Ich schätze nach den A.-B.-Empfindungen, dabei entwickle
ich diskrete Anfmerksamkeit. Nach der zweiten N habe ich mitunter schon
ein Gefühl der Sicherheit, wenn nämlich die erste Normalstrecke gleich der
zweiten anfgefaßt wird, ich weiß dann schon vorher, daß ich die Aufgabe
lösen kann.«
Yp. M.: »Die Schätzung ist genau wie früher nach A.-B.-
Empf indun gen, nur erscheinen mir die Pansen etwas kürzer, weil die
Bewegung energischer ist. Dabei bin ich so sicher, daß ich
die Strecke gar nicht mehr als Strecke im Gedächtnis behalte
Ich merke aber auch, daß hier viel leichter Störungen Vorkommen können
als bei der Zeitscbätznng.«
Ebenso schätzen Yp. P. nnd Sch. nach A.-B.-Empfindungen. Yp. P.
hebt noch besonders hervor ihre passive Einstellung, welche große Sicherheit
Arohlv fUr Psychologie. XLVin. 29
450
Anna Lentn,
der Schätzung berTormft; Vp. Sch. bemerkt mitunter eine Betätigung:
der totalen Aufmerksamkeit, dann ist stets ein Oesamtein-
drnck der Strecke vorhanden, nachdem sich die Schätzung richtet.
Die Schätzung der Vp. Ste. zeigt analog derjenigen von Vp. Dr. ver>
schiedene Entwicklungsstadien.
Vp. Ste.: »Ich habe ruhig die Strecke angesehen und besitze
nachher eine Vorstellung von der Strecke, diese wird dann verglichen.
Ich bemerke jetzt deutlich den Unterschied gegenüber den Zeitschätzungen.
Nach der Darbietung der zweiten N. habe ich ein deutliches Bild von der
Strecke und erwarte die V. Ich kann nicht sagen, was ich eigentlich fest-
halte, doch gibt mir der Eindruck große Sicherheit. Es darf nur die Pause
nicht zu lang sein.
Ich hatte ja schon immer das Bewußtsein, mich bei der Schätznng-
nach einem Winkel der Augen zu richten. Allmählich erst bemerke ich,
daß es dabei darauf ankommt, daß sich die Augen bewegen, daß die Angen-
bewegnng den Ansschlag gibt.
Jetzt fällt es mir leicht, nach Angenbewegnngen zu
schätzen. Dabei hat man keinen fertigen Streckeneindruck,
sondern einen Bewegnngseindrnek. Man hat am Schluß das Gefühl,
jetzt hOrt die Bewegung auf. Dabei sind die Urteile ,kleiner*, deshalb
sicherer, weil man unmittelbar die Empfindung hat, jetzt wird
die mir bekannte Bewegung unterbrochen.«
Die Selbstanalyse der einzelnen Vpn. bei dieser Strecken-
schätznng ergibt in bezug auf die Anhaltspunkte der Schätzung
nnd überhaupt auf das ganze Verhalten hier ein viel eingehenderes
und umfassenderes Bild. Dies war bei einigen Vpn. dadurch
veranlaßt, daß die Einstellung für eine Schätzung
nach A.-B.-Empfinduugen sehr leicht realisiert wer¬
den konnte (Vp. M., P., Sch.). Andern Vpn. gelang die Herans-
hebung der Schätzungskriterien besser, weil sie vorher
viele Zeitschätzungen vollzogen hatten nnd sie die
Streckenschätznng zu dieser in Gegensatz setzten
(Vp. F. und Ste.), oder weil sie bei der Streckenschätzung starke
Kämpfe um die richtige Einstellung durchzufechten hatten (Vp.Dr.).
Vp. Dr. bestätigte durch ihre Verhaltungsweise und die daraus
resultierenden Größenschätzungen durchaus die Beobachtungen,
die wir früher über die Einwirkung von Spannungsznständen
machten. Über die Bedeutung, die verschiedene Autoren den
A.-B.-Empfindungen zumessen, war sie sehr genau orientiert, aber
wie sie selbst hervorhob, mißtraute sie doch sehr, ob sich nach
Augenbeweg^ngsempfindungen eine Größenschätzung vollziehen
ließ. Sie selbst erlebte sie jedenfalls zuerst nicht, nnd auch als
es ihr gelang, dieselben aus dem komplexen Erlebnis der Be¬
wegung hervorzuheben, konnte sie deren Bedentung für die Be¬
urteilung der Streckenschätzung nicht erkennen. Diese Schwierig-
Experimentelle Untersnchnngen nsw.
451
keit in der Heranshebnng der A.-B.-Empfindiingen läßt sich nur
erklären, wenn wir annehmen, daß eine Verdeckung der¬
selben stattgefnnden bat. Dafär können wir nur
Spannungsentwicklungen verantwortlich machen,
denn nach ihren Angaben ist die Vp. mit aller Kraft
bemüht, den Endpunkt durch Fixation festznhalten.
Es traten bei der Vp. aber bei dieser Fixation schließlich nur
mehr die Urteile >kürzer« auf, wenn nicht außergewöhnliche
Differenzen geboten wurden, dabei wurde die Unsicherheit immer
größer. Dies veranlaßte uns, der Vp. ganz bestimmte Anhalts¬
punkte zu geben, um eine möglichst passive Einstellung zu er¬
zielen. Das Ergebnis war der plötzliche Übergang zu den
Schwellenwerten So = -f- 4 mm, Su = — 2 mm, während ihre
Schwellen vorher So = -|-46mm, Su = -l-26mm betragen hat¬
ten. Es war also einerseits die konstante Täuschung fast ver¬
schwunden, anderseits die Feinheit der Schätzung fast um das
doppelte gewachsen. Dieser Bruch in der Schätzung der
Vp. Dr. ist uns ein erneuter Beweis dafür, daß die
Entwicklung von Spannungsempfindnngen während
der Arbeitsleistung verdeckend auf die Bewegungs-
empfindnngen wirkt. Die >Arbeitsspannung< wird
nun von den Vpn. selbst gesetzt, um wie sie sagen
jede Lage zu erfassen, >nm sich ihr hinzngeben«.
Sie muß sich darum geradezu als Widerstand gegen
die Ausführung der Bewegung äußern. Wir können
also sagen, wenn bei der Streckenschätznng die
Einstellung mit »Arbeitsspannung« realisiert ist,
dann stützt man sich auf Lageempfindung, besonders
der extremen Punkte, es kommt dann nicht auf den
kontinuierlichen Bewegnngsverlauf, sondern auf Loka¬
lisationen an. Aus diesem Grunde betonte Vp. Dr. so oft bei
dieser Schätzungsweise: »Das Fehlen des Hintergrundes macht
mir die Aufgabe so schwer, denn ich kann die Lagen nicht
vergleichen.« Deshalb kann sie auch nicht mehr ohne An-
brin^ping einer Korrektur schätzen, wenn Lokalisationsände-
mngen eintreten, während andere Vpn. sich dann sehr wohl
noch an den fertigen Streckeneindruck halten können, unbe¬
kümmert darum, ob die Endpunkte über- oder aus-
einanderfallen (Vp. M.).
Charakteristisch wirkt eine Gegenüberstellung der Vpn. Dr.
und Ste., die Entwicklung ihrer Schätzung bietet ein ganz ver¬
schiedenes Bild. Vp. Dr. geht von der aktiven Einstellung aus
29*
452
Anna Lentz,
und gelangt erst durch voUständige Umstellung zu der richtigen
Auffassung der Bewegungsgröfien. Ihre Schätzung weist einen
vollständigen Bruch auf, die U. E. von etwa steht der von
bei der späteren Schätzung gegenüber. Vp. Ste. dagegen reali¬
siert von Anfang an die passive Einstellung, sie beginnt
damit, sich »die Strecke ruhig anzusehen«. Die Feinheit ihrer
Schätzung zeigt keine nennenswerten Differenzen. Sehr schön
zeigen ihre Aussagen, wie sich ihr allmählich aber sicher die
A. B. • Empfindungen aus dem komplexen Erlebnis abheben und
schließlich in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit treten. Sie
faßt alsdann »keinen fertigen Streckeneindmck« mehr auf,
sondern etwas sich Entwickelndes, »einen Bewegnngseindruck«.
Diese Aussage werden wir noch mit Angaben anderer Vpn. zu
vergleichen haben. —
Mitunter war bei Vp. Ste. »Erwartungsspannung« aufgetreten
und es hatte sich dabei wiederum die »autokinetische Empfindung«
eingestellt, durch sie ist sicher die kleine Überschätzung bedingt,
die sich in den objektiven Kesultaten der Vp. zeigt. Doch
betonte dieVp., daß eine Trennung der Bewegungs¬
illusion von der objektiven Bewegung hier viel
leichter durchführbar sei, weil letztere in schnel¬
lerem Tempo geboten werde. Dies bestätigt unsere
früheren Angaben. Da nun Vp. Ste. darauf hinwies, daß die
Entstehung von Spannungszuständen sehr be¬
günstigt werde durch eine Verlängerung der
Zwischenpause, (auch Vp. A hatte sich früher dahin aus¬
gesprochen), so wurden mit Vp. M. Eontrollversuche angestellt,
bei denen die Pause doppelt so lang war. Dabei ergab sich,
daß schon vor der Darbietung der Strecken starke Spannung
sich entwickelte, die auch während der Darbietung sich fortsetzte
und in starkem Fixieren des Endpunktes sich äußerte. Dabei
wurde die optische Täuschung so groß, »daß das Licht genau
da erschien, wo es erloschen war«.
Fügen wir noch hinzu, daß diejenigen Vpn., die am
besten eine passive, sensorische Einstellung re¬
alisieren konnten, nämlich Vp. M. und Vp. Ste. die
feinste Ü.E. ^ erzielten, daß Vp. M. auch keiner¬
lei konstante Täuschung aufwies, so sind dies
wohl genügend Beweise dafür, daß die passive
Hingabe die zweckmäßigste Einstellung für die
Streckenschätzung bedeutet.
Experimentelle Untersnchnngen nsw.
453
Eine Znsammenfassnng der Ergebnisse aus den quantitativen
Messungen nnd der Selbstbeobachtung der Vpn. bei der Strecken¬
schätzung in mittleren Geschwindigkeiten zeigt uns folgendes:
1. Die Angenbewegnngsempfindnngen dienen als
Hanptkriterium für die Streckenschätznng,
eine besondere Betonung des Gesamteindrnckes
und der Endlageempfindnng findet zuweilen statt
2. Die feinste U. E. für die Streckenschätznng
nach A.B.-Empfindungen betrug um die-
öü
selben rein hervortreten zu lassen, ist vor
allem eine passive sensorische Einstellung zweck¬
mäßig.
3. Die aktive Einstellung läßt die A.-B.-Emp-
findnngen nicht rein zur Entwicklung ge¬
langen, vielmehr zeigt sich
a) eine Verdeckung durch Spannungsent-
wicklnng, die entweder als „Arbeitsspannung**
starke Unterschätzung der Bewegungsgrößen
hervorruft und sich mit steten Lokalisations-
änderurgen verbindet oder als „Erwartnngs-
spannung** sich zeigt und durch das Begünstigen
der Bewegungsillusion eine häufige Über¬
schätzung bewirkt,
b) ein zu motorisches Verhalten mit mangelhafter
Fixation, bei der das Auge nicht immer genau der
objektiven Bewegung folgt, so daß Geschwindigkeits-
Schwankungen mitunter auftreten. —
c) Aussagen der Tpn. bei der Zeltschätzung des InterTalls m. L.|
Deutung dieser subjektiren Ergebnisse.
Die Selbstbeobachtung der Vpn. zeigt hier gegen die vorige
Zeitschätznng auf manche Variation in bezug auf die Anhalts¬
punkte der Schätzung hin. Da die Versuchsbedingnngen — mit
Ausnahme der Zeitlänge — dieselben waren, so ist zu vermuten,
daß die Länge des Danerintervalls nicht gleichgültig für die
Wahl der »Zeitschätzungszeichen« zu sein scheint. Andererseits
weist die Tatsache, daß die U. E. in beiden Intervallen fast die¬
selbe ist — hier
— früher ^ —, auf eine Abhängigkeits¬
beziehung von konstanten Faktoren hin.
Wenden wir uns nun der Selbstbeobachtung der Vpn. zu.
454
Anna Lents,
Vp. Stö.: »Es ist sehr schwer, sich zn emanzipieren von der Strecken-
schätznng. Ich mofi also meine Einsteilang todem. Die beste EinsteUang
scheint mir die zn sein, die sich anf Existenz oder Nichtezistenz des Lichtea
der zeitlichen Seite nach richtet. Ich sage mir: Mich kümmert
nicht der Ort. Gebe ich mir diese Einstellung, so wird sie
verdorben, wenn das jetzt ertOnt, nachdem das Licht schon eine
Zeitlang da war; dadurch gewinnt für mein Bewufltsein doch der Ort eine
Bedeutung. Dies verursacht einen Widerstreit mit der Einstellung, und
man verfällt wieder in die Streckenschätzung. Rückblickend läuft
man nun Gefahr Zusagen: Du hattest ja die Zeiteinstellung,
ohne zu beachten, dafi sie wieder verdorben ist.
Ich habe mich jetzt wesentlich an das Akustische gehalten, zuweilen
lief noch eine Streckenschätzung mit unter. Aber die Konzentration
der Aufmerksamkeit auf das Akustische ist realisierbar,
allerdings ist der Anfangspunkt zu wenig akustisch markiert. Die visuelle
Markierung desselben ist sicher deshalb sehr wenig passend, weil es un*
angenehm ist, wenn der Anfang visuell, der Endpunkt akustisch hervor¬
gehoben ist. Ich vollzog nun eine Innervation im Kehlkopf.
Am schönsten war es nun, wenn die Innervation am Anfang und auch am
Schlufl mit der visnellen Hervorhebung zusammenfiel.
Ich bemerke, daß sicher eine Abstraktion vom visuellen
Eindruck, und zwar sofort durch die Einstellung bewirkt
wird. — Meine Schätzungsweise ist so, daß ich mich halte
an das Intervall zwischen zwei motorischen Innervationen.
Daneben hat auch das akustische Intervall Bedeutung, es
tritt aber hinter dem motorischen zurück. Die motorischen
Innnervationen werden aber verschieden stark je nach dem Anschlag gesetzt,
oft eine Kontraktion des Fingers. Ein starkes Unlastgefühl bei
Beachtung derDifferenz des Anschlages trittauf, esgleicht
kolossal einem Überraschungsgefühl.
Meine Schätzung ist im allgemeinen so, daß primäre und sekundäre
Anhaltspunkte in Betracht kommen. Primär wird beurteilt der
zeitliche Abstand zweier Innervationen im Kehlkopf, se¬
kundär eine visuelle Vorstellungsstrecke, die nicht mit
der visuellen Darbietung übereinstimmt.
Ich erlebte jetzt nichtmehr die Hemmung der Atmung,
die ich früher in Gestalt eines Inspirationsimpalses setzte.
Hier trat eine reine Auffassung der Dauer ohne sinnliche
Unterlage ein. Früher wurde die Dauer des Exspirations¬
impalses innerhalb der markierten Grenzen geschätzt, hier
bot sich eine sinnliche Unterlage für die Schätzung nicht
dar. Ich verhielt mich auch in diesen Fällen anders, ich
ließ die Schätzung ruhig an mich herantreten. Die frühere
Schätzung wies also gegen die jetzige zwei Differenzen auf: 1. ein
starkes Hervortreten der motorischen Reproduktion; 2.eine
deutlich ausgeprägte sinnliche Unterlage für die Dauer.
Ich möchte noch hervorheben, daß ich heute viel passiver war, eine adäquate
Auffassung der Normalzeiten wurde erzielt, so daß ihre Gleichmäßigkeit stets
hervortrat.«
Experimentelle Untersnchong^en nsw.
455
Die Selbstanalyse von Vp. Stö. zeigt uns klar den Ent¬
wicklungsgang ihrer Zeitschätznng.
Als erste notwendige Voraussetzung zur Realisierung einer
Zeitsch&tzung unter den gegebenen Versuchsbedingungen wird
die wesentlich andere Einstellung betrachtet, die
wir schon bei der früheren Zeitschätzung näher charakterisierten
Bei Vp. Stö. tritt noch besonders hervor, wie durch Einstellung
eine vollständige Ablenkung vom Räumlichen erzielt wird —
»mich kümmert nicht der Ort« —, wie aber doch der Ort
wieder Bedeutung gewinnt und eine Komplikation in der
Schätzung hervorruft, wie wir sie bereits bei Vp. Ha. erlebten.
Mit dieser Einstellung verbindet sich zugleich
eine Aufmerksamkeitszulenkung zu denjenigen
Empfindungsinhalten, die geeignet zu sein
scheinen, das Zeitliche besonders hervortreten
zu lassen. Ein Bevorzugen kinästhetischer Faktoren als
Schätzungskriterium war bei Vp. Stö. umsomehr begünstigt,
weil es sich zu Beginn des Danerintervalls nur um visuelle
Faktoren handelte. Sie konnte das Geräusch der einschnappenden
Perle nicht mehr wahmehmen. Bei anderen Vpn., die es wohl
noch hören konnten, brauchte deshalb die Aufmerksamkeit bei
der Zeitschätzung nicht unbedingt dem visuellen Bewegnngs-
beginn zugewandt zu sein, es konnten also auch für die Zeit¬
schätznng ganz andere Empfindnngsinhalte in Betracht kommen.
Wir sehen ferner bei Vp. Stö. eine Auffassung und Schätzung
der Dauer zustande kommen, ohne daß sie sich in Beziehung
zu einer sinnlichen Unterlage der Vp. darstellt Die Zeit¬
auffassung stellt sich dann als eine selbständige
Größe dar, die nicht aus empirischen Tatbeständen
von der Vp. abgeleitet werden konnte. Dsunit soll
selbstverständlich nicht gesagt sein, daß es sich hier um eine
psychische Größe handelte, bei der ein physiologisches Korrelat
nicht vorhanden war, sondern es konnte vielmehr
psychologisch das sinnliche Substrat nicht auf¬
gefunden werden, »eine sinnliche Unterlage für die Zeit¬
schätznng bot sich nicht dar«. Hier war also die relative
Absonderung der zeitlichen Verhältnisse der Be¬
wußtseinsvorgänge, die Schumann nicht anerkennen
kann, tatsächlich realisiert.
Wir können also auch nicht mit Wundt annehmen, daß ein
analoger Tatbestand wie bei der Raumauffassnng vorliege, denn
auf Grund unserer experimentellen Untersuchung müssen wir
456
Anna Lentz,
gerade hier eine wichtige Differenz betonen. Stets nämlich^
wenn eine Anffassnng und Beurteilung der Strecken»
größe zustande kam, stellte sie sich den Vpn. dar
als aus sinnlichen Tatbeständen — Empfin¬
dungen — ableitbar; ohne Beziehung zu diesen
sinnlichen Faktoren, die im Einzelfall mehr oder
weniger deutlich erlebt wurde, stellte sie sich
nie dar. Analoge empirische Faktoren fär dieEnt-
stehnng des Zeitbewußtseins ließen sich ab er nicht
finden, es stellte sich hier in diesen Fällen deut¬
lich als eine selbständige Größe dar. —
Es ist aber wahrscheinlich anzunehmen, daß wegen der
Schwierigkeit der Schätzung mitunter ein Übergang in die
mittelbare Zeitschätzung sich dadurch vollzog, daß die
Vp. ihre Aufmerksamkeit der Intervallmarkiemng durch
andere Sinneseindrficke, wie akustische Empfindungen und
motorische Innervationen, zuwandte, bei deren Darbietung
aber deutlich intensive und qualitative Differenzen
sich zeigten, die komplizierend auf die Danerauffassung
wirkten.
Die übrigen Vpn. lassen sich in verschiedene Gruppen gliedern.
Eine rein akustische Dauerschätzung vollzieht Vp. P. Sie
sagt aus:
Vp. P: >Der Zeitbeginn ist mir noch visnell gegeben, nnd ich habe die
Tendenz, die Angen zn schliefien. Beim Vergleich ist das Erinnemngshild
hauptsächlich akustisch. Häufig kommt das Visuelle als Bestätigung hinan,
aber primär ist die akustische Schätzung.«
»Ich schätze jetzt eine akustische Linie, es ist also das Interrall
akustisch ausgefüllt. Die Linie, an der ich die Zeit schätze, ist durchaus
nicht identisch mit der dargebotenen visuellen Linie. Diese ist hCchstens
hinderlich. Die Linie, die ich schätze, ist ein zeitliches Hintereinander,
eine Tonreihe.«
»Auch als Anfangspunkt nehme ich nur das Akustische; denn nur so
ist es mir möglich, vom visuellen Eindruck zu abstrahieren.«
Bei Vp. P sehen wir denselben Kampf um die richtige Ein¬
stellung wie bei Vp. Stö., aber die Abstraktion von dem visuellen
Bewegnngseindmck kommt bei ihr nur anfangs durch Einführung
motorischer Hilfen zustande, später dagegen realisiert sie als¬
bald eine durchaus akustische Zeitschätznng, bei der nach ihren
Angaben die Dauerauffassung prävaliert. Es findet eine
vollständige Ausschließung der visuellen Fak¬
toren als Schätzungskriterien statt, da auch der
Beginn akustisch markiert ist. — Umsomehr ist
Experimentelle Untersncbangfen nsw.
457
bei Vp.P. der kolossale Unterschied in derU.E. für
StreckenschÄtzung — 7 ^ 2 — gegenüber derü. E.
fürZeitschützung — 4 ^^ — hervorznheben, er zeigt
nns deutlich, daß dieStreckenschätzung nichtnach
der Danerschätzung orientiert war.
Die IL Grnppe umfaßt diejenigen Vpn., die mehrere Sinnes¬
gebiete als Substrat der Zeitsch&tzung in Anspruch nahmen.
Es sind Yp.F. mit akus tisch-motorischer Zeitschätzung, Vp.
Dr. mit motorisch-akustischer, Vp. Sch. mit motorisch¬
rhythmischer Zeitschätzung.
Yp. F.: »Ich habe daa Bewußtsein, als ob ich sehe und es doch nicht
anffasse. Ich bin üherzengt, daß ich, wenn der Fnnke nicht da
ist, genan so aoh&tae. Ich kann Ober die Länge der Strecke dnrchans
nichts anssagen. Die Angen gehen nnr mechanisch mit. Es ist
ein Znstand, wie man ihn erlebt, wenn beim Elarierspiel jede Hand eine
andere Taktart spielt. Ich merke mir das Anfangs- ond Schlnß-
geränsch, aber ich ahme sie auch nach nnd spreche ta—ta.«
Vp. Dr.: »Bisher war bei mir keine Spnr von Zeitsehätznng Torhanden,
jetzt gelingt es mir, die Strecke znrttcktreten zn lassen, in¬
dem ich zn Beginn einen leisen Ton hervorhringe, dadurch
wird die Anfmerksamkeit Ton der Bewegung abgelenkt. Ich
hin sehr sicher, daß ich bei der Strecken Schätzung nie von der Zeitsehätznng
abhängig war.«
»In dieser Serie habe ich zn Beginn nnd Schluß auf das Knie geklopft,
der Eindruck der Strecke geht verloren und ich schätze das Danerintervall
zwischen den zwei Mnskelempfindnngen, dazu mache ich eine Handbewegnng.
Ich glaube, daß mir die visuelle Ausfüllung gar nicht hilft.
Denn ich muß eine sehr aktive Einstellung realisieren, um
den Bewegnngseindrnckin den Hintergrund treten au lassen.«
Vp. Sch: »Meine Aufmerksamkeit ist mehr nach innen ge¬
richtet, nicht auf den Sinneseindrnck, sondern auf mein
inneres Zählen, es ist ein rhythmisches Zählen. Beim Be-
wegnngsbeginn gebe ich mir stets einen Ruck.
Bei der Zeitsehätznng erscheinen mir die beiden Normalzeiten vollständig
gleich, auch könnte ich nichts über die Länge der Strecke anssagen.«
Die objektiven Resultate dieser Vpn. zeigen deutlich eine
Unterschätzung des Danerintervalls, die umso größer
wird, je weniger akustische Elemente als Zeitmarkiemng in Be¬
tracht kommen. Da wir andererseits bei Vp. P. eine deut¬
liche Überschätzung fanden, so könnte man geneigt
sein, die Unterschätzung auf das Vorwiegen der motorischen
Faktoren zurückzuführen, umsomehr, da die Unterschätzung bei
Vp. F., die am wenigsten motorische Hilfen verwendet, auch am
geringsten ist. Hierüber können wir aber keine Entscheidung
458
Anna Lentz,
treffen, bis wir uns über die motorische Schätzungsweise der
Vp. M. — welche die in. Schätznngsgmppe bildet — orientiert
haben.
Vp. M.: »Meine Sch fttznng ist dnrcbang motorisch. Ich mache
an Beginn nnd Schluß eine Bewegung mit der Zange; ich hin sehr sicher.
Eine Oeschwindigkeitsändemng habe ich nie bemerkt, aber ich habe
mitunter den Eindruck, daß der räamlich*yi8uelle Eindruck
mit dem zeitlichen nicht fibereinstimmt. Ich lasse deshalb
die Augen in der Pause sich beliebig hin und her bewegen,
ähnlich wie bei den Soldaten Bührt euch! Denn die Doppel*
urteile verursachen mir ein sehr unangenehmes Oeffihl, in
diesen Fällen ist nämlich das Zeiturteil nicht so sicher
wie das visuelle.
Bei den beiden Nzn. richtet sich die Aufmerksamkeit
nach außen, hauptsächlich auf den Bewegungsanfang und -Schluß. Nach
der zweitenN. richtet sie sich nach innen und hält die Dauer
zwischen den zwei Empfindungen fest. Das Motorische bezeichnet
also nur die beiden Endpunkte, das Optische wirkt nicht störend. Bewußt
richtet sieh die Zeitschätzung nur nach dem Erlebnis der
beiden motorischen Innervationen, ich höre gar nicht das
A kustische«.
Obwohl Vp. M. als Zeitmarldernng motorische Hilfen in An*
sprach nimmt, sehen wir durchaus nicht in ihren Zeitschätzungen
eine Unterschätzung hervortreten, es zeigt sich vielmehr eine
Überschätzung genau wie bei der akustischen Zeitschätzung
von Vp. P.
Wir finden also bei der Zeitschätzung m. L. Überschätzung
des Dauerintervalls bei motorischer und akustischer Zeitschätzung,
dagegen Unterschätzung bei akustisch*motorischer Zeitschätzung.
Ob diese Täuschungen auf qualitativen oder intensiven Än¬
derungen der Empfindungen beruhten, die als sinnliches Substrat
in Betracht kommen, konnte nicht entschieden werden, besonders,
da von den Vpn. hierüber keine Angaben gemacht wurden mit
Ausnahme von Vp. Stö u. P.
Es war nun noch die Dauerschätzung der Vp. Ste. zu be¬
rücksichtigen, bei der es sich wieder um eine Schätzung ohne
bewußte Inanspruchnahme sinnlicher Faktoren handelte. Vp.
Ste. konnte nichts weiter .aassagen, als daß sie eine reine Dauer¬
schätzung vollziehe. Rhythmische Faktoren kämen dabei nicht
mehr in Betracht, weil sie sonst alles mehr oder weniger gleich
schätzen müsse. Ihr Verhalten war durchaus passiv.
Da von allen Vpn. stets der gleichmäßige Ab¬
lauf der Nzn. betont wurde, so war zu vermuten,
daß die wiederholte Darbietung der Nz. einen be¬
sonders günstigen Einfluß auf die Schätzung ans-
Experimentelle Untersnchangen luw. 459
geübt hatte, so daß auf diese Weise größere Feinheit der
U. E. — 3^95 — gegenüber der Schumannschen Werten
bei 600 a, bei 1000 a = :r 7 ^ Sek. — erzielt wurde. (Schu-
00,0 lUUU
mann: Über die Schätzung kl. Zeitgrößen. Zeitschrift für Psychol.
u. Physiologie Bd. 4.) DieProbeversuche mit einmaliger Darbietung
der Nz. lieferten interessante Besultate. —
Yp. Dr: »Das Urteil ist viel sohwieriger. Bei zwei Darbietongen tritt
die Gleichm&fiigkeit in der motorischen Innervation, hier der Handbewegnng,
hervor; sie bezeichnete ich frtther mit Bhythmns. Der Vergleich ist noch
klar, aber das erste Glied des Vergleiches ist nicht mehr klar.«
Vp. M: »Ich bin nnsicherer, weil ich nicht ganz genau reagieren kann.
Sicher ist, daß beim Vergleich das erste Glied mit Gewalt hervorgeholt
werden muß; denn es hat nnr die Intensität wie nach langer Pause.«
Die Feinheit der U. E. beider Vpn. zeigte einen enormen
Rückgang, sie betrug bei Vp. Dr. noch bei Vp. M. gegen
und der Zeitschätzungen mit zweimaliger Darbietung
der Nz. Wenn auch eine weitere Gewöhnung an diese Dar¬
bietungsart sicher eine Verbesserung der Schätzung gebracht
hätte, so blieb dennoch bestehen 1. das Fehlen der Ver¬
stärkung derNz.; 2. die erschwerte motorische Re¬
aktion; 3. das Fehlen des gleichmäßigen Ablaufes,
alles Faktoren, die für eine genaue Beurteilung der Zeit von
Wichtigkeit sind. Daß gerade die Verstärkung der Nz. durch
die wiederholte Dai'bietung von großem Einfluß zu sein scheint,
zeigt das Verhalten von Vp. Stö. und F., die selbst bei 2 Nzn.
noch dazu tendieren, vor der Vz. dieselben akustisch oder mo¬
torisch zu reproduzieren. Menmann weist auch auf diese Eigen¬
tümlichkeit bei der Zeitschätznng hin. Die Untersuchung ergab
also außer den Ergebnissen der früheren Zeitschätznng noch
folgende wichtige Bestimmungen.
1. DasAuftreten desDauerbewußtseins ohne sinn¬
liche Unterlage konnte mit gleicher Bestimmt¬
heit wie dasjenige mit sinnlicher Grundlage
konstatiert werden.
2. Die durchschnittliche U. E. der Zeitschätzung m. L. betrug
feinste U. E. wurde von Vp. Ste. bei der
Schätzung ohne Inanspruchnahme sinnlicher Substrate mit
^ erreicht,
oü
460
Anna Lentz,
3. Die bei dieser Dauerschätznng anftretende Überschätzimg
des Intervalls schien nicht eindeutig durch qualitativen
intensiven Einfluß sinnlicher Faktoren bedingt zu sein.
Sie konnte in keine direkte Beziehung zu sinnlichen Sub*
straten gesetzt werden und trat auch bei der Zeitschätzung
ohne sinnliches Substrat auf, die Zeitschätzung blieb eine
unmittelbare.
4. Nach Angaben der Vpn. ist die visuelle Ausfüllung nicht
als Begünstigung für die Zeitschätzung anzusehen, weil
sie eine Einstellung mit Negationen notwendig macht
Aber die zweimalige D arbietung derN. und die
Einschiebung von Pausen zwischen derN. und
V. muß als besonders vorteilhafte Versuchs*
bedingung betrachtet werden, weil durch erstere
ein verstärktes Erinnerungsbild der Nzn., durch letztere
eine Verarbeitungszeit für dieselben geboten wird.
d) Die Aussagen der Ypn. bei der Zeitschätzang o. L. und die
Deutung dieser Aussagen.
Im folgenden Kapitel ist zum ersten Male eine Besprechung
derjenigen Aussagen enthalten, die sich auf die Erlebnisse bei
der Dauerschätzung o. L. beziehen. Die Tabelle U. E. n c,
welche die Zeitschätznngen o. L. enthält, zeigt nun, „daß bei
allen Vpn. — Vp. K. ausgenommen — eine charakteristische Über¬
schätzung der Vz. stattfand. Nach der Größe dieser Zeit-
tänschung können wir die Vpn. so in Gruppen ordnen, daß jede
Gruppe zur vorgehenden eine wachsende Überschätzung des Dauer¬
intervalls zeigt.
L Gruppe: Die rhythmische Zeitschätzung.
Vp. E.: »Ein ungeheurer Spannungszustand entwickelt sich zunftchst,
indem eine wesentlich andere i^Btellnng als hei der Streckensch&tzung sich
bemerkbar macht. Es ist ähnlich wie bei der Musik, dafi man sich einstellt
auf den Takt. Es bildet sich jetzt eine gewisse Rhythmik
ans, die etwas unklar wird, dadurch, dafi das Signal 'jetzt' mit hinein¬
gezogen wird. Die Vp. hat den Eindruck, dafi der Anfangspunkt nicht
etwas Punktförmiges, sondern etwas Streckenförmiges hat, weil er so fein
ist. Die Yergleichsglieder treten klar hervor. Vp. hält die Intensität
des Schlufigeräusches für wichtig; denn wenn sie beider N.
manchmal in etwas Schleifendes aufgelöst ist,8okommt ein
unbestimmter Eindruck zustande.*
BeiVp.Kwird dieBhythmisierungin direkteVer-
bindung zu den begrenzenden akustischeuEmpfind-
nngen gesetzt, es handelt sich nicht um eine zeit-
messende Ausfüllung deslntervalls durch beliebige
Experimentelle Untersnchnngen asw.
461
Betonungsformen, sondern nm den einenRhythmus
derbegrenzendenGeräusche, der durch dieBetonung
der dargebotenen Reize und ihren zeitlichen Ab¬
stand ein für allemal festgelegt ist. Während also
die subjektive Rhythmisierung, wie sie bei Vp. Ste. und mitunter
bei Vp. Sch. auftrat, geradezu ein Nichtbeachten der sinnlichen
Faktoren mit sich bringt, wird bei Vp. E. das Gegenteil,
eineAufmerksamkeitszuwendung zu den akustischen
Faktoren sich zeigen müssen. Dies ist auch tatsächlich
der Fall, sie glaubt sich oft beeinflußt von der Anschlagsdifferenz
(Intensität) und auch von ihrer „Tonhöhe^* (Qualität). Es konnte
nachgewiesen werden, daß der lautere Schlußanschlag zeitver-
längemd, die größere Tonhöhe in gleichem Sinne zu wirken
schien. Durch diese Tatbestände ergibt sich wiederum eine
Bestätigung der Bestimmungen Menmanns, daß bei rhythmischen
Zeitschätzungen die Verschiedenheit der Eindrücke, sie sei
intensiver, qualitativer oder räumlicher Art, durchaus in gleichem
Sinne zeitverändemd wirkt, wenn dabei ein analoger rhythmischer
Eindruck durch die Art der Verteilung von Verschiedenheit und
Gleichheit gegeben ist (Phil. St IX S. 302.)
Die II. Gruppe umfaßt die Zeitschätznng mit Hilfe von
motorischen Empflndungen und Spannnngsempflndungen.
Vp. M.: »Der aknstische Eindmck lOste eine motorische Empfindung
SOS, ein innerlicher Buck und eine Znngenbewegnng kam zustande, das
Intervall zwischen den zwei motorischen Empfindungen wurde geschätzt.
Ich sehe keinen sich bewegenden Schlitten, aber ichlokali-
siere den ersten Schall ganz deutlich rechts, den zweiten
deutlich links. Ich habe keine Spur von Dauer, sondern nur zwei
motorische Innervationen, in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge.
Es ist dennoch eine Spannung vorhanden während der Darbietung.
Ich bemerke nämlich jetzt, daß nach dem ersten Beiz keine Entspannung
eintritt, sondern die Spannung zieht sich von der ersten zur zweiten
Innervation hin, aber nicht sehr stark, so daß ich zuerst meinte, es sei mir
nur die zeitliche Sukzession der beiden Innervationen gegeben. Ich glaube
aber, daß durch die optische Verbindung die Dauer energischer markiert
wird, weil die zwei begrenzenden Beize Licht eine Einheit bilden, hier
muß ich synthetisch tätig sein durch Zusammenfassen der einzelnen Teile.
Ich brauche daher viel mehr Energie, ab er die Sicherheit
ist auch großer als bei visueller Ausfüllung. Die Eindrücke haften hier
fester, weil sie fester eingeprägt werden. Ich atme auch stets mit der ersten
Empfindung ein, mit der zweiten ans, sonst glaube ich nicht schätzen zu
können. Es sind damit Spannungen verbunden, etwas Bäumliches tritt nicht
auf bei der Schätzung.«
Zu den Beobachtungen, die Vp. M. bei ihren früheren Zeit-
schätznngen m. L. gemacht hat, kommt hier eine wesentlich
462
Anna Lents,
neue hinzu, nämlich die Verwendung von Spannungsempfindnngen
als Zeitmarkiemng, und zwar in ähnlicher Weise, wie sie früher
von Vp. Stö. für die Zeitschätznng benutzt wurden. Doch ist
die sinnliche Interyallausffillnng so schwach, dafi sich die Syn¬
these nicht von selbst, sondern erst mit großem Energieaufwand
ergibt. Durch das große Maß der angewandten
Energie und sicherlich auch durch das Wegfallen
der negativen Einstellung in bezug auf die
visuelle Komponente erklärt sich der außer¬
ordentlich feine Wert derü. E. der allerdings
noch weit hinter der U. E. für Streckenschätzung, zurücksteht.
Eine Abhängigkeit der Schätzung hat also sicher nicht bestanden,
^ist die feinste Zeitschätzung, die wir über¬
haupt — sei es m.L. odero. L. — erreichten. Sie
wurde nur von Vp. M. bei dieser Schätzung erreicht Eine
Beeinflussung durch mittelbare Zeitschätzung konnte nicht nach¬
gewiesen werden, eine kleine Überschätzung konnte konstatiert
werden.
Die III. Gruppe umfaßt die Zeitschätzungen, für die als
sinnliches Substrat motorische, akustische und Spannungsempfin¬
dungen in Betracht kommen, bei denen auch visuelle Vorstellungen
eine Rolle spielen.
Vp. Stö.: »Ich kann mich jetzt viel leichter aknstisch verhalten, vreil
ich viel passiver bin, motorisch ist nur die Markiemng des Anfangspunktes.
Bei der visnellen Zeitschätznng bin ich zn aktiv, dann bin ich nicht
aknstisch. Die subjektiven Aussagen sind sicher, aber die Schätzungen
sind sehr unbefriedigend.
Meist verfahre ich so, daß ich zwei Innervationen vollziehe. Ist nun
die Zeit, wo die zweite Innervation vollzogen werden müßte, da sie selbst
aber noch nicht da, so sage ich ,Iänger'. Oder ich urteile, wenn ich die
zweite Innervation schon vollzogen habe ,kürzer'. Eine deutliche Aus¬
füllung des Intervalls durch Spannung ist noch nicht vorhanden. Meist ist
bei Beginn und Schluß ein Exspirationsstoß, das Verhalten der Atemmns-
knlatnr spielt also eine Rolle. Visuelle Vorstellungen habe ich erst nach
der Darbietung, achte ich aber darauf, so vergrößert sich die Strecke und
sie kommen auch während der Darbietung zustande.
Ich bemerke jetzt, daß sich die Schätzung in folgender
Weise vollzieht. Die Verbindung zwischen den zwei Ex-
spiratioiTsimpnlsen besteht in einer schwachen Fort¬
setzung des ersten Exspirationsimpnlses, so wird die
Dauer markiert. Die Schätzungen richteten sich nach diesen Impulsen
und nach den Innervationen im Kehlkopf.«
Experimentelle Untersnchnngen qbw.
463
Vp. Sch. vollzieht fast genau dieselbe Schätzungsweise wie
Vp. Stö., ihre Aussagen sind auch dementsprechend fast flber-
einstünmend. — Vollständig neu ist bei der Zeitschätzung o. L.
das Auftreten visueller Vorstellungen. Wenn sie sich auch
erst sekundär aufdrängen, so scheinen sie mitunter doch fOr die
Schätzung von Bedeutung zu sein, indem durch sie eine Art
visueller Dauermarkierung zustande kommt (Vp. Sch.).
ln der IV. Schätzungsgruppe kommen akustische und
rhythmische Tatbestände in Betracht, bei Vp. F. treten auch
noch visuelle Vorstellungen hinzu.
Vp. Er.: »Daa Anfangsger&iuch am Apparat scheint mir jetzt so scharf
markiert, daß ich keine besondere Energie mehr inm Anffassen desselben
branche, seitdem ist die Spannung in den Ohren nicht mehr bemerkbar.
Ich suche rein akustisch zu schätzen. Beim Vergleich sind zwei Qräßen
im Gedächtnis, 1. Die akustische Vorstellung des Noimalrbythmus, daneben
2. die Wahrnehmung der Vs. Der Unterschied wird unmittelbar erfaßt.
Bei feinen Unterschieden sage ich mir oft, ich härte früher, als ich hären
mußte, also war die Zeit kürzer.
Eine verschiedene Intensität des Schlnßtones bei der Nz. und Vz. habe
ich nie bemerkt, sicher bin ich, daß ich nie danach geschätzt
habe. Auch ist mir bei der akustischen Schätzung der Anfangspunkt
besser markiert, als durch den visuellen Beiz. Es ist viel schwerer, den
Beginn der Lichtbewegung als Zeitpunkt zu erfassen. Ich glaube, die
akustische Darbietung gibt zeitlich eine viel schärfere Umgrenzung. Cha*
rakteristisch ist bei dieser Schätzung, daß ich mir oft sage, es war ein
Unterschied da, nur weiß ich nicht, nach welcher Seite.«
Ganz ähnliche Tatbestände finden wir bei Vp. F. Auch sie
hat vorwiegend akustische Zeitschätzung, mitunter rhythmische
Auch die Spannung in den Ohren tritt zuweilen hervor. Des¬
gleichen macht sie die Beobachtung, daß sie mitunter nur das
Bewußtsein der Nichtgleichheit der Nz. und Vz. hat, ohne angeben
zu können, nach welcher Seite der Unterschied Uegt.
Die V. Gruppe umfaßt die akustisch-visuelle Zeitschätzung
Vp. P.: »Meine Zeitschätzung ist aknstisch-visnelL Die visuelle Vor¬
stellung ist sehr ausgeprägt, ich sehe die Schiene mit dem laufen¬
den Schlitten. Beim Vergleich beurteile ich die Dauer zweier akustischer
Elänge. Ist die visuelle Ausfüllung stark vorhanden, so tritt das Akustische
stark zurück. Eine kräftige visuelle Vorstellung auch beim Zurückgehen
des Schlittens bildet sich aus, denn das Zurückgehen des Schlittens ist mit
einem Ton verbunden, und die visuelle Vorstellung ist deshalb wichtig,
weil sie zur Vermeidung der stärenden Geräusche des Schlittens beim Zu-
rttckgehen beiträgt, indem sie die Aufmerksamkeit beschäftigt.
Ich habe die Augen stets geschlossen; ist der Anschlag stark, so ist
die Tendenz vorhanden, eine Eorrektion nach der entgegengesetzten Seite
anznbringen und zu sagen, kürzer'«.
Vp. Ste.: »Ich bemerke jetzt erst, daß es bei der Zeit¬
schätzung m. L. ganz ausgeschlossen war, genau auf das
464
Ann& Lentz,
Akastische la achten. Ich finde die Schitznng sehr anstrengend nnd
glaube, dali die letzten Resultate in jeder Serie besser werden, da ich dann
erst eingettbt bin. Wenn der Schlnfianschlag sehr leise ist, so kommt ea
mir stets kleiner vor, ist aber der zweite Schlag stärker, so wird die Zeit
verlängert. Ich beurteile das Akustische, Visuelles ist nur insofern vor¬
handen, als stets die Vorstellung eines visuellen Zeichens, eines Jambn,
während des Intervalls sich einstellt, keine Streckenlänge. Ein leeres
Intervall ist nicht da.«
Wenn wir die Angaben der Vpn. in Beziehung zu ihren
Zeitschätznngen setzen wollen, so können wir zunächst davon
ansgehen, daß wir eine Gmppenanordnnng eingeführt haben,
bei der es sich um eine steigende Zeitttberschätznng handelte.
Unsere erste Frage, die wir zu beantworten haben, wird sein:
Wie erklärt sich die Überschätzung des Dauerintervalls?
An zweiter Stelle wird uns die Frage beschäftigen:
Wie kommt es, daß die Zeitschätzungen m. L. fast bei allen
Vpn. hinter den Zeitschätzungen o. L. an Feinheit zuruckstehen?
Was die Frage der Zeitüberschätznng anbetrifft, so
werden von den verschiedensten »Zeitsinnforschem« Intervalle
angegeben, bei denen ein Indifferenzpunkt der Zeitauffassnng
vorhanden ist, wo also weder positive noch negative Zeittäu¬
schungen vorhanden sind. Nach Kollert (PhiL Stnd. I S. 80)
liegt er bei 0,7 Sek., nach Meumann (Phil. Stud. IX S. 282) bei
0,5—0,6 Sek., er ist nach seinen Angaben streng genommen nur
für die sogenannten »reizfreien Zeiten« gültig, während bei
ausgefüllten Zeiten stets die Tendenz zur Überschätzung vor¬
handen ist.
Die hier auftretende Überschätzung des Dauerintervalls sind
wir gezwungen als durch bestimmte sinnliche Faktoren veranlaßt
anzusehen. Tragen wir die subjektiven Gleichheitspnnkte nach
wachsender Überschätzung auf einer Geraden auf nnd vergegen¬
wärtigen wir uns zugleich die sinnlichen Substrate, die als Zeit¬
markierungszeichen in Ansprach genommen wurden, so sehen
wir eine wachsende Überschätzung mit Bevorzu¬
gung der akustischen Zeitschätznng.
mot. Spannonfi: mot. vis. aknst. rhvth. ak. rhythm. vis. akast. akost.
H-1-1-1-1-
— 1,9a —2,7a —3,4a —4,2a —9,4a —9,8a
M. Sch. Dr. F. P. Ste.
Wir finden nun bei fast allen Vpn. die Angabe
— sehr deutlich und zu wiederholten Malen— daß
der Intensitäts -oder Qnalitätswechsel des Schluß«
anschlages bei der V. einen enormen Einfluß auf
die Auffassung der Größe des Dauerintervalls
Experimentelle Untersnchnngen nsw.
465
habe. Und zwar kann die Richtung der Zeittäuschnng bei den
Intensitätsänderungen genau angegeben werden, indem der
stärkere Anschlag eine subjektive Verlängerung
des Intervalls zustande brachte, der schwächere
eine Verkürzung. Ganz analoge Tatbestände gibt Menmann
an bei der Schätzung der Intervalle 12 3®, es wurde das zweite
Intervall subjektiv verlängert (IX. S. 297).
Auch die Qualität spielt eine Rolle, nur ist der Unter¬
schied so fein, daß die Vpn. nicht eindeutig angeben können,
wie die Abstufung der Tonhöhe auf die Größenauffassung wirkt.
Zu den qualitativ-intensiven Einflüssen müssen wir auch die
verschiedene Lokalisation des Schlußgeräusches
rechnen, die von manchen Vpn. als sehr wichtig für die Schätzung
angegeben wird (Vp. F. und P.), von andern mitunter konstatiert
wird (Vp. M.). Diese Deutung liegt uns nicht nur deshalb nahe,
weil auch Meumann die zeittäuschenden Einflüsse der Lokali¬
sationsänderungen im gleichen Sinne wie die qualitativ-intensiven
experimentell bestätigt fand, sondern auch, weil gerade die
akustisch schätzenden Vpn. sie für die Beurteilung als sehr
wichtig ansehen.
Eontrollversuche ohne Anschlag bestätigten durchaus die
zeittäuschende Wirkung der qualitativen und intensiven Ände¬
rung des Schlußgeräusches. Die Zeitschätzungen der Vpn.P.
und Ste. sind also stark durch die mittelbare Zeit¬
schätzung beeinflußt. Sie unterscheiden sich auch objektiv
von den Schätzungen der übrigen Vpn. durch die starke
Überschätzung und dadurch, daß sie an Feinheit hinter
den Zeitschätzungen m. L. zurückstehen, was bei
sämtlichen übrigen Zeitschätzungen nicht der Fall war.
Meumann hat also sicher recht, wenn er es als eine wichtige
Aufgabe der Zeitsinnforschung ansieht, den Einfluß derbegrenzenden
Empfindungen auf die Intervalle festzustellen (IX, S. 266).
Versuche mit einmaliger Darbietung der Nz. brachten auch
hier einen Rückgang in der Feinheit der Zeitschätzungen.
Weisen wir kurz auf die Gründe für die größere Genauig¬
keit der Dauerschätzung o. L. hin, so kommt als I. Faktor die
akustische Darbietung in Betracht, als II. Faktor das Wegfallen
des optischen Bewegungseindruckes. Wir müssen ferner annehmen,
daß als in. Faktor der Gedanke des sich bewegenden Lichtes
insofern für die feinere Zeitschätzung mit verantwortlich war,
als durch ihu eine gleichmäßige Intervallausfüllung zustande kam.
Als rv. Faktor kam in Betracht, daß die Auffassung des akustisch
ArohiT für Psychologie. XLVm. 80
466
Anna Lentz,
gegebenen Zeitbeginns den Ypn. leichter zn Tollziehen war als
die des visnell markierten. Ziehen wir nnn auch noch in Betracht,
daß die wiederholte Darbietung der Nz. und die Einffthrong der
Pausen als besonders günstige Bedingungen angesehen werden
mußten, so ist es erklärlich, daß wir eine feinere ü. E., ~ ^ ,
erreichten als andere Experimentatoren, wie etwa Mehner mit
0,036 U. E, also etwa ^. Da nun ferner bei dieser Zeitschätznng
0 . L. ein negativer Zeitfehler auftrat, der sich auf den Qnalitäts-
nnd Intensitätswechsel der begrenzenden Empfindungen zurfick-
ffihren ließ, so ist es nicht berechtigt ,aUgemein zu behaupten,
die Zeittänschung sei immer direkt abhängig von der Intervall*
kürze, bezw.-länge. Hier zeigte sich eine Art der Zeit¬
tänschung, die nur insofern abhängig von der
Intervallkürze oder -länge war, als mit der Kürze
die begrenzenden Empfindungen mehr hervortraten,
mit der Länge mehr die zwischen ihnen liegende
Dauer. Und damit war auch noch keine eindeutige
Richtung der Zeittäuschung gegeben, sondern es
kam nun noch darauf an, welche Empfindungen als
sinnliches Substrat der Zeitmarkierung in Erscheinung
traten. Die experimentellen Tatbestände zwingen uns demnach,
im allgemeinen den Grenzwert für den Indifferenz¬
punkt als individuell verschieden anznnehmen.
§ 4. Allgemeiner Tergleich zwischen der Strecken- nnd
Danerschätznng bei mittleren Geschwindigkeiten.
In kurzen Zügen soll im folgenden Kapitel eine Zusammen¬
stellung über das gegenseitige Verhältnis der Strecken- und
Danerschätznng gegeben werden.
Gehen wir von der Selbstbeobachtung der Ypn. aus, so ist
an erster Stelle die wesentlich verschiedene Ein¬
stellung bei den beiden Arten der Schätzung her¬
vorzuheben. Diese Differenz ist so ausgeprägt,
daß die Einstellung für die Streckenschätzung
geradezu eine Hemmung für die Realisierung der Ein¬
stellung auf Dauerschätzung m. L. bedeutete, wodurch
zugleich ein Übergang aus einer Schätzung in die andere sehr er¬
schwert wurde. Hierdurch wurden aber reine Streckenschätznngen
einerseits, reine Dauerschätzungen andererseits garantiert.
Experimentelle Untersnchnngen nsw.
467
Bei der Darbietnng des optischen Bewegungseindmckes müssen
wir 2. die Einstellnng anf ränmliche Streckenschätznng
als die leichter zn realisierende betrachten; denn
nnr so erklärt es sich, daß bei der Danerschätznng eine Ein¬
stellnng vollzogen werden muß, bei der die willkürliche Abstraktion
vom räumlichen Streckeneindmck dentlich im Bewußtsein hervor¬
tritt, bei der Streckenschätzung aber ein absichtliches
Abstrahieren von der Dauerauffassnng nicht voll¬
zogen werden muß, ja die gebotenen akustischen
Momente vielfach gar nicht wahrgenommen werden.
Deshalb können wir sagen, daß bei der Darbietung visueller
Bewegungsgrößen die räumliche Streckenschätzung gegenüber
der Danerschätznng die primäre ist.
An dritter Stelle ist hervorzuheben, daß an die ver¬
schiedene Einstellung im allgemeinen sich ein B[ervor-
treten ganz verschiedener Sinnesinhalte im Bewußtsein
anknüpfte, die als sinnliche Substrate für die
Schätzungen in Betracht kamen. Wandte sich aber
die Aufmerksamkeit gleichen sinnlichen Faktoren
sowohl bei der Streckenschätzung wie bei der Dauer-
schätznng zn, so kam in dem einen Falle nur das
Räumliche, in dem anderen das Zeitliche der be¬
treffenden Empfindungen in Betracht. Dahin weisen
nicht nur die Aussagen der Vpn., sondern anch die objektiven
Resultate. Denn werden Spannungsempfindnngen bei der Strecken¬
schätznng verwandt, so zeigt sich Unterschätzung der Bewegungs¬
größen, treten sie in den Dienst der Zeitschätzung, so zeigt sich
keine Unterschätzung der Dauerintervalle. Damit aber, daß
die Aufmerksamkeit sich bei beiden Arten der Schätzung
verschiedenen Sinnesinhalten zuwendet oder aber
bei Inansprnchnahme gleicher Empfindungen doch
nicht dasselbe an den Empfindnngen schätzt, hängt
es zusammen, daß gewisse sinnliche Faktoren nnr
dann als Täuschung beeinflussend auftreten, wenn
die betreffenden Schätzungen vollzogen werden,
so daß ihr Vorhandensein die anderen Schätzungen
gar nicht ändert. Einen ausschlaggebenden Beweis hierfür
bilden die akustischen Zeittäuschungen durch den Anschlag und
die optischen Täuschungen bei der Streckenschätzung. Erstere
wirken nur zeitverändemd, letztere nur streckenverändemd.
Daraus ist aber ersichtlich, daß die Anfmerksamkeitsrichtung
in beiden Fällen eine ganz verschiedene gewesen sein muß. —
468
Anna Lents,
Stellen wir non die Streckenschätznngen bei mittleren Geschwindig¬
keiten mit ihrer dnrchschnittlichen U. E. von = 7 ^ und dea
07,4 67,0
Zeitschätzungen m. L. mit der U. E. von — und und der
0 . L. von gegenüber, so können wir sagen, die quanti¬
tativen Messungen bilden durchaus eine Bestätigung
der subjektiven Analyse. Denn sie zeigen, daß die
Feinheit der Schätzung für Streckengrößen bei
mittleren Geschwindigkeiten nicht erreicht wird
von der Dan er Schätzung, daß demnach die Strecken-
schätznng unmöglich nach der Dauerschätzung orien¬
tiert sein konnte, die A. B.-Empfindungen für die
feinen Resultate bei der Streckenschätznng also
durchaus verantwortlich zu machen waren.
Außer diesen wichtigen Beziehungen zwischen der Zeit- und
Streckenschätzung hatte die Untersuchung für jedes Schätzungs¬
gebiet wichtige Aufklärungen gebracht.
Es zeigte sich:
1. Die Möglichkeit, die Bewegungsempfindungen zu isolieren,
durch leichte Fixation eines sich bewegenden Lichtpunktes (im
Gegensatz zu Dodge und andern Autoren). (Dodge: The parti-
cipation of eye movements in the visual perception of motion.)
2. Eine Bestätigung der Versuche von M. Binnefeld,
indem auch bei unsern Versuchen die A.-B.- Emp¬
findungen eine ausschlaggebende Rolle spielten.
Damit war aber auch eine Entscheidung gegen die
Nativisten Hering und seine Anhänger gegeben.
3. Die Dauerauffassung konnte ohne Beziehung
zu einer sinnlichen Grundlage erlebt werden, eine
Isolierung des zeitlichen Tatbestandes ist also
mit Meumann anzunehmen.
4. Nicht nur die Qualität und Intensität der be¬
grenzenden Empfindungen, sondern auch dielnter-
vallausfüllung müssen wir mit Menmann als die
Zeitbeurteilung beeinflussend betrachten und müssen
erweiternd betonen, daß die Intervallansfüllung
nicht nur von den dargebotenen Reizen abhängt,
sondern auch von den Vpn. beliebig anders gewählt
wird. Wenn es uns gelungen ist zu zeigen, daß die
Experimentelle Untersnchnngen osw.
469
Angenbewegungsempfindangen für die Schätzung
Ton Streckengröden yon wesentlicher Bedeutung
sind, so ist damit ihre Bedeutung für die Auffassung
des Raumes nahegelegt Hierdurch weist die in engen
experimentellen Schranken gehaltene Untersuchung weit über den
Rahmen der unmittelbaren psychologischen Überlegungen hinaus.
An dieser Stelle möchte ich Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Störring,
der mir die Anregung zur vorliegenden Arbeit gegeben hat und
auch während der Ausführung der Untersuchung stets das regste
Interesse bekundete und mir durch seine Ratschläge behilflich
war, meinen aufrichtigsten Dank aussprechen, besonders auch
dafür, daß er sich in liebenswürdiger Weise als Vpn. zur Ver¬
fügung stellte. Mein besonderer Dank gebührt auch Herrn
Professor Dr. Erismann für seine theoretischen und prak¬
tischen Ratschläge, desgleichen Herrn Dr. philos. Amsler für
die Mithilfe bei der Einrichtung der Versuchsanordnung.
Ebenso danke ich allen Vpn. recht herzlich für die vielen
geopferten Standen und ihr reges Interesse.
(Eingegangen am 18. Febrnar 1924.)
(Aus dem Psychologischen Institut der Universität München.)
Über Faxbenempfindungen bei intermittierendem
farblosem Lichte.
Von
R. Pauli und A. WenzL
(Mit 2 Figfiuen im Text.)
1 . Verguchsergehnlsse.
G.Th.Fechner hat zuerst Mitteilung überFarbenerscheinungeu
gemacht, die an rotierenden Scheiben mit Schwarz-Weifisektoren
innerhalb der FLimmerzeiten anftreten (7). Seitdem sind diese
Erscheinungen verschiedentlich erwähnt worden, auch in Ver¬
bindung mit Blrklämngsversuchen, ohne Gegenstand einer ein¬
gehenden Untersuchung geworden zu sein. Nur die Arbeiten von
C. Baumann sind unter diesem Gesichtspunkte zu nennen; sie
bringen auch Abbildungen der seither verwandten Scheiben (2).
Im folgenden sollen die Ergebnisse einer systematischen Prüfung
aller einzelnen Versuchsbedingungen mitgeteilt werden, die im
zweiten Teile der Arbeit theoretisch ausgewertet sind^).
Das vollständigste Bild der Erscheinungen liefert die Ben-
hamsche Scheibe (s. Fig. 1). Mit ihr wurden die Hauptversuche
angestellt, während die übrigen Scheiben zur Ergänzung und
zum Vergleich dienten. Die Beobachtnngsbedingungen waren:
je 4 Minuten Beobachtungsdauer; die Beleuchtung bestand —
unter Ausschluß von unmittelbarem Sonnenlichte — in diffusem
Tageslicht, vermittelt durch ein großes Fenster im Bücken der
Vp. und weiß getünchte Wände; die Versuchsstunden fanden
regelmäßig zwischen 11 und 1 Uhr statt; der Scheibendorch-
1) Einen Teil dieser Beobachtungen hat Herrcand.phiL Earl Lieblang
unter Leitung des ersten Verfassers ansgeftthrt. Als Vpen. stellten sich in
dankenswerter Weise Herr Privatdozent Dr. K. Hnber nnd Herr Dr. Hill-
mayr zur Verfttgnng.
B. Pauli and A. Wenzl, Über Farbenempfindongen asw. 471
messer war gleich 20 cm; der Hintergrund bestand aus einer
großen Papp wand von einem Grau, das dem Verschmelzungsgrau
der Scheiben nahekam, demnach Kontraste weitgehend ausschloß;
der Abstand von Scheibe und Auge betrug 1 m; als Fizations*
punkt diente die Scheibenmitte, z. T. auch der Ort der Farben-
erscheinung selbst. Als wichtigste Bedingung für die Entstehung
und gesonderte Erzeugung der Farbenempfindungen ist die Um<
drehungsgeschwindigkeit zu betrachten. Sie wurde in den
Grenzen von 3—50 Umdrehungen für die Sekunde geändert und
abgestuft von 2 zu 2: im Gegensatz zu dem naheliegenden
Verfahren einer kontinuierlichen Geschwindigkeitsänderung, das
Fig. 1.
die Gefahr einer Überlagerung der Erscheinungen und einer
Störung durch Nachbilder in sich schließt. Es lassen sich drei
zeitlich und qualitativ verschiedene Farbenerscheinungen nach-
weisen. Die erste — Phase I — zeig^ sich bereits bei ganz
geringen Geschwindigkeiten (3,5 Umdrehungen in der Sek.). Sie
ist lediglich an den Bingstücken bez. an den durch sie hervor¬
gerufenen Kreisen zu beobachten. Die inneren Kreise erscheinen
abwechselnd rot- oder grüngelb, vorwiegend im letzteren Tone.
Die Farbqualitäten sind ungesättigt, d. h. mit Grau versetzt.
Die Färbung der Kreise ist nicht gleichmäßig, sondern öfters
472
B. Paoli and A. Wennl,
durch einen dunklen, rotbraunen Sektor unterbrochen. An den
mittleren und äußeren Kreisen dagegen treten blau-violette nnd
schwarz-blaue Farbtöne auf. Im ganzen sind diese Erscheinungen
bis kurz vor der Verschmelzung (etwa 45 Umdrehungen) sichtbar.
Doch machen sich Unterschiede bemerkbar derart, daß 3,5—17
Umdrehungen die Phase für sich genommen zeigen. Am gün¬
stigsten sind 7—8 Umdrehungen. Zwischen 17 und 29 Umdreh¬
ungen wird die Phase I durch die nachfolgende Phase beein¬
trächtigt ; sie büßt in ihrem Auftreten an Intensität nnd Regel¬
mäßigkeit ein. Danach tritt sie wieder reiner, wenn auch ab¬
geschwächt hervor. Die Änderung der Umdrehungsrichtung
— gewöhnlich im Sinne des Uhrzeigers — hat einen Einfluß
auf das Auftreten der Farben: bei Umkehrung der Richtung er¬
scheinen die äußeren Ringe in den Gelb-Brauntönen, während
die inneren blau-violett werden. Phase I ist im wesentlichen
nur bei der Benhamschen Scheibe zu beobachten; sonst da, wo
in die weißen Teile der Scheiben schwarze Punkte, Linien oder
ähnliche Ansatzstücke hineinragen (vergl. die Abbildungen bei
Banmann).
Die verwickelten Reizbedingungen, die mit den Kreisaus¬
schnitten der Benhamschen Scheibe gegeben sind, werden zweck¬
mäßig gesondert an je einem Ring bez. Ringstück untersucht.
Dabei sind folgende Einzelheiten geprüft worden: Die Beschaffen¬
heit der Scheibe (ganz weiß oder halb schwarz bez. farbig;
s. die Abbildungen der Zusammenstellung); die Zahl der Kreis¬
stücke (je eines bei der innersten und äußersten Sektorengruppe,
je zwei bei den mittleren Kreisstücken der Benhamscheibe; veigL
auch Abb. 1 und 3 der Zusammenstellung); die Größe der Kreis¬
abschnitte bez. Öffnungen; die Art des Ansatzes an den schwarzen
oder farbigen Halbkreis (rechts oder links, wagerechte Stellung
des schwarzen Halbsektors vorausgesetzt, und zwar unten: vergl.
die innerste nnd die äußerste Sektorengruppe der Normalscheibe);
der Kreisdurchmesser (entsprechend den 4 Benhamschen Sektoren¬
gruppen unter Berücksichtigung des jeweiligen mittleren der
3 Kreisstücke); die Farbe der Kreisstücke und des einen Halb¬
sektors (schwarz entsprechend Benham, dazu rot und grün); endlich
die Geschwindigkeit und Richtung der Umdrehung. Zwecks
einfacher Herstellung dieser zahlreichen Versuchsbedingungen
bedient man sich Maxwellscher Scheiben, deren es je 2 bez. 3
bedarf. Der letztere Fall gilt für die Verwendung zweier Kreis¬
stücke, entsprechend den beiden inneren Sektorengruppen Ben-
hams. Eine Scheibe bleibt weiß, eine wird mit einem schwarzen
über Farbenempfindongen bei intermittierendem farblosem Lichte. 473
oder farbigen Halbsektor versehen, die übrigen mit Kreisen oder
Kreisausschnitten. Bei passender Verwendung der Vorder- und
Rückseiten genügen etwa 12 Scheiben. Die Ergebnisse solcher
Versuche sind aus der Zusammenstellung zu ersehen. Versuchs-
bedingnngen, über die nähere Angaben fehlen, sind ohne wesent¬
lichen Einfluß; so z. B. Umdrehungsrichtung und Geschwindig¬
keit bei Scheibe 1, ferner die Größe der Ringstücke und Kreis¬
öffnungen usw.
Phase n, die hervorstechendste Erscheinung, tritt bei 9,5—37
Umdrehungen auf, am schönsten bei 25, also den Geschwindig¬
keiten, die ausgesprochenes Flimmern hervorrufen. Im Gegen¬
satz zu Phase 1 erstreckt sie sich über die ganze Scheibe.
Letztere erscheint von undeutlich abgegrenzten, intensiv blauen
Sektoren überdeckt, die sich in dauernder radial nach außen
gehender Bewegung befinden. Das Blau bez. Violett-Blau be¬
sitzt spektrale Sättigung und ausgesprochenen Flächencharakter
im Sinne von Katz. Zwischen die blauen Sektoren sind ent¬
sprechende gelbe gelagert, so daß die Zusammenstellung beider
Farben den Gesamteindmck der Scheibe in dieser Phase bestimmt
bei räumlichem und intensivem Überwiegen des Blau-Violett.
Im Geschwindigkeitsbereiche der Phase II zeigt sich bisweilen
auch ein mosaikähnliches Bild, das ans unregelmäßig verteilten
rötlichen und grünlichen Punkten besteht. Angesichts der Un¬
sicherheit bez. der Entstehungsbedingungen läßt sich Näheres
über diese Erscheinung nicht sagen.
Die Phase HI ist ebenfalls schwer zu beobachten wegen ihrer
außerordentlichen Flüchtigkeit. Sie tritt kurz vor der Ver¬
schmelzung auf, zwischen 33 und 40 Umdrehungen. Sie besteht in
unregelmäßig verteilten größeren roten und grünen Flecken von
ziemlicher Sättigung, die meist am Scheibenrand liegen.
Bei kurzdauernder Darbietung der Reize (0,14 Sek.) bleiben
die Erscheinungen bestehen, nehmen aber an Sättigung und Deut¬
lichkeit ab. Auch sind sie nur bei den günstigsten Umdrehungs¬
geschwindigkeiten zu sehen. Das gilt besonders für Phase I.
Bei Phase n ist nur das Blau zu sehen, das Gelb also ganz ver¬
schwunden. Erst bei einer Beobachtnngsdaner von 2 Sek. läßt
es sich wieder, wenn auch noch schwach, feststellen. Im übrigen
sei erwähnt, daß jede Verlängerung der Darbietung (1 Sek. und
mehr) die Erscheinungen durchgängig deutlicher macht und sie
denen bei Danerbeobachtnng bereits stark annähert.
Gegenüber Ändenmgen der Beleuchtungsstärke verhalten sich
die einzelnen Phasen ganz verschieden. Phase I ist auch bei
474
B. Paali and A. Wenzl,
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über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 475
ganz geringen Helligkeiten (1 Kerze bei 1 m Abstand) noch sicht¬
bar, während die Phasen n nnd m bedeutender Lichtstärken,
fast der Tageshelligkeit bedürfen. Dabei ist bemerkenswert,
daß bei einer bestimmten mäßigen Herabsetzung der Beleuchtung
das Blau der Phase U in Grün bez. Blaugrttn übergeht. Das
zwischengelagerte Gelb nimmt dementsprechend einen rötlichen
Ton an. Bei sehr großer Helligkeit (unmittelbarer Sonnenbe-
lenchtung) verschwinden sämtliche Erscheinungen vollständig.
Bei zentralem Sehen (zugehöriger Scheibendurchmesser == 5 cm,
Gesichtswinkel denmach 1** 6') bleiben sie unverändert, um bei
parazentralem (ö** seitlich) nnd bei peripherem ganz anszufallen.
Dasselbe ist schon nahezu der Fall, wenn der Fixationspunkt
an den Rand der Scheibe verlegt wird; vergl. hierzu Baumanns
Beobachtung, daß die Erscheinungen mit wachsendem Scheiben-
dnrchmesser abnehmen.
Die Verwendung farbiger Sektoren unter Weglassung der
Ringstttcke ergibt folgendes: Ersetzt man das Schwarz durch
eine der vier Grundfarben, so bleibt Phase n unter Beschränkung
auf das Blau und unter Ausschluß des Gelb unverändert erhalten.
Besonders gut ist sie bei der Zusammenstellung Weiß-Rot zu
beobachten, die sich vorzüglich zur Vorführung eignet. Das aus¬
geprägte Blau (Himmelblau) ist dabei deutlich an die Weißsektoren
gebunden. Nimmt man Scheiben mit Weiß und Blau, so bekommt
letzteres ersichtlich einen anderen Ton in Richtung des gesättigten
Violett Wird dagegen der Schwarzsektor der Scheibe belassen
und das Weiß durch die genannten Farben der Reihe nach er¬
setzt, so zeigen die schwarzen Felder bei längerer Beobachtnngs-
dauer (30") und mittleren Geschwindigkeiten (8—15 Umdrehungen)
Verfärbungen in Richtung der jeweiligen Komplementärfarbe.
2. Theorie.
Bei der großen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die durch
Modifikation der Versuchsbedingungen möglicherweise noch eine
Steigerung erfahren kann, wird ein Erklärungsversuch nicht An¬
spruch auf Vollständigkeit erheben können. Auch weisen
die Beobachtungen einerseits der Phase I, anderseits der Phase n
nndm nicht auf eine einheitliche Erklärungsmöglichkeit hin.
Der folgende Ansatz einer Theorie betrifft zunächst Phase n
und m und sucht zu decken:
1. Das Auftreten der Farben in 3 Phasen, ihren
Flächencharakter in Phase n nnd m und die Abhängig¬
keit der Erscheinungen von der Umdrehungszahl.
476
B. Paali and A. Wenzl,
2. Die Übereinstimmung der Phase n für die Wei߬
schwarz-, Weiß-rot- und Weiß-blau-Scheibe.
3. Die dominierende Stellung von Blau-Violett gegenüber Rot
und Grün.
4. Das Umschlagen des Blau in Grün bei Verdunkelimg.
5. Das Verschwinden der Erscheinungen bei unmittel¬
barem Sonnenlicht.
Als sekundär darf das in*Phase n auftretende Gelb bei
Blau, bezw. Rotgelb bei Grün ansgeschieden werden, bei dem
es sich offenbar um eine Eontrasterscheinnng handelt; dafür
spricht dessen ganze Anordnung im Sinne eines Kontrasts, sein
Auftreten erst bei längerer Beobachtung, sein Verschwinden bei
tachistoskopischer Beobachtung.
Durch ihre Abhängigkeit von der Umdrehungszahl weisen die
Erscheinungen unmittelbar auf die zeitlichen Verhältnisse
der Erregung von Farbprozessen bezw. Farbsubstanzen hin. Be¬
zeichnen wir ein zögerndes Nachfolgen der Nervenerregfung gegen¬
über dem Reiz und seiner Veränderung als Trägheit der Substanz,
so liegt es auf Grund später noch zu behandelnder Untersuchungen
nahe, eine verschiedene Trägheit für die verschiedenen Farben
anzunehmen. Von diesem Gedanken aus eröffnen sich folgende
Möglichkeiten einer Theorie der beschriebenen Erscheinungen
in Phase II und m: Erklärung auf Grund verschiedenen Tempos
des Abklingens oder auf Grund verschiedener Anstiegszeit
der durch das Weiß erregten einzelnen Farbkomponenten, oder
auf Grund eines Ansprechens der Farbsubstanzen auf eine gewisse
Anzahl von Reizen pro Zeiteinheit, also einer Art Stoßresonanz,
oder endlich auf Grund Fortschreitens der Erregung von den
unmittelbar getroffenen Netzhantstellen zu den noch nicht oder
nicht mehr erregten. Diese verschiedenen Möglichkeiten brauchen
einander nicht ausznschließen, sie sind im Gegenteil zum
Teil voneinander abhängig.
Der naheliegende Gedanke, ein Nachklingen für die Erschei¬
nungen verantwortlich zu machen und die Abhängigkeit von der
Umdrehungszahl durch Verschiedenheit der Abstiegszeit zu er¬
klären, scheitert an den Beobachtungen. Um Nachbilder im ge¬
wöhnlichen Sinn kann es sich jedenfalls nicht handeln. Negative
Nachbilder scheiden nach den Beobachtungen an den Farbscheiben
aus; aber auch positive Nachbilder kommen nicht in Frage; beiden
Annahmen widersprechen die Blauerregnng auch durch die Rot-
weiß-Scheibe und die Umfärbung des Ultramarin der Blau-weiß-
Scheibe in Violett; endlich läßt die Beobachtung, daß das Blau
über Farbenempflndangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 477
unzweifelhaft auf den Weißsektoren der Rot-weiß-Scheibe lagert,
die naheliegende Vermutung, daß das aus dem dargebotenen
Weiß stammende Blau von einem besonders langsamen Abstieg
der Blaukomponente herrtthre, als nicht zutreffend erscheinen.
Es wäre dann ein Ansatz auf Grund der Verschiedenheit
der Anstiegszeiten zu suchen. Nun scheint zwar die später
noch zu diskutierende Tatsache des langsameren Anstiegs des
Blau, seiner größeren Trägheit gut zu der verhältnismäßig ge¬
ringen Frequenz zu stimmen, die zur Erregung des Blau not¬
wendig ist. Allein, den einmaligen Vorgang für sich betrachtet,
würde ein langsamerer Anstieg, also ein Zurückbleiben der Blau¬
komponente, eher ein Übergewicht der Komplementärfarbe er¬
warten lassen.
Für sich allein scheint also weder die Verschiedenheit der
Abstiegs- noch der Anstiegszeiten eine befriedigende Erklärung
abzugeben. Dagegen läßt das Auftreten der Farberscheinungen
bei gewissen Umdrehungszahlen eine Übereinstimmung der Unter¬
brechungszahl mit Eigenfrequenzen oder doch spezifischen Reak¬
tionsgeschwindigkeiten einen Anstieg auf Grund von Reso¬
nanz vermuten.
F. W. Fröhlich schließt aus seinen Untereuchungen der
Aktionsströme im Cephalopodenauge (9), daß die Lichter ver¬
schiedener Wellenlänge in der Netzhaut rhythmische Erregungen
verschiedener Frequenz und Intensität hervorrufen, die, vom Seh¬
nerven dem Sehzentrum zugeleitet, dort jene Erregungen ver¬
ursachen, die die physiologische Grundlage für die Licht- und
Färb Wahrnehmung darstellen. Wenn auch richtig ist, daß die
Untersuchungen der Aktionsströme nichts über die Natur der
ihnen zugrunde liegenden chemischen Prozesse auszusagen ge¬
statten, ein Einwand, den Fröhlich selbst anführt, und wenn
auch bei Übertragung auf das Menschenauge alle Vorsicht ge¬
boten ist, so darf doch vermutet werden, daß auch im mensch¬
lichen Auge Lichter verschiedener Wellenlänge charakteristische
rhythmische Erregungen hervorrufen, deren Frequenz und Inten¬
sität mitverantwortlich ist für die zugehörige Farbempfindung.
Wenn nun angenommen wird, daß die Frequenz der in der Netz¬
haut erregten Rhythmen zugeordnet ist einer gewissen Eigen¬
frequenz der erregten Substanz, die gerade verantwortlich ist
für die Absorption bezw. die photochemische Wirkung dieses
Lichtes, so wird eine Erregung von gleicher Frequenz auch er¬
zeugt werden durch entsprechende periodische Lichtstöße.
Entspricht also die Umdrehungs- bezw. Unterbrechungszahl der
478
B. Panli and A. Wenzl,
einer Farbempfindung zugehörigen Netzhautfrequenz bezw. der
Eigenfrequenz der betreffenden Substanz, so wird ein Anstieg
durch Resonanz erfolgen. Da nun Blau auf 9,5 bis 37, am
besten zwischen 20 und 25 Umdrehungen anspricht, so müßte
im Sinne dieser Erklärung auf eine besonders große In¬
homogenität der Blansubstanz (bezw. des Blauprozesses) ge¬
schlossen werden. Der Unterschied des Verhaltens der Blan-
snbstanz gegenüber dem der Rot- und Grünsnbstanz ließe sich
dann auf zweierlei Art erklären: a) was die höhere Frequenz
anlangt: Rot und Grün sprechen erst auf höhere Unterbrechungs¬
zahlen an, die vielleicht größtenteils schon jenseits der Ver¬
schmelzungsgrenze liegen; b) was die geringere Intensität
anlangt: Die beobachteten Rot- und Grünfiecken sind erst am
Anfang der betreffenden wegen der Verschmelzung nicht zur
Auswirkung kommenden Phase; oder die Rot- und Grün¬
snbstanz absorbieren stark selektiv, sie sprechen daher nur
auf eine ganz bestimmte Periode an. Das würde gut zu der
Theorie der photochemischen Wirkung passen, wonach die stark
brechbaren kurzwelligen Strahlen im allgemeinen stark absorbiert
werden, für langwellige Strahlen indes Stoffe mit anomaler
Dispersion notwendig sind. Der Bereich dieser anomalen Dis¬
persion und selektiven Absorption ist schmal. Ist die Substanz
homogen, so folgt zwanglos, daß nur bei einer ganz bestimmten
Unterbrechungszahl eine Resonanz vorkommt, die keine besonders
große Wirkung hat. Zu dieser Vorstellung würde stimmen, daß
Rot- und Grünsubstanz eine höhere Reizintensität erfordern, dann
aber und deswegen rasch ansteigen und auch eine starke Empfin¬
dung abgeben.
Wie immer, das Auftreten von Blau bei niedrigerer Umdrehungs¬
zahl läßt bei Resonanzannahme auf geringere Eigenfrequenz, auf
größere Trägheit und damit auch auf längere Anstiegszeit
schließen.
Voraussetzung für die ganze Erklärung ist, daß durch Weiß
alle Farbsubstanzen erregt werden. Das entspricht zunächst der
Helmholtzschen Theorie. Im Rahmen der Hering sehen
Theorie läge auch folgende Deutung nahe: Durch den Weißsektor
werde neben der Weißsubstanz besonders die Gelbsubstanz, und
zwar stärker als die Rotsubstanz, dissimiliert, die Unterbrechung
durch den Schwarzsektor läßt die Gelbsubstanz sich erholen, der
einsetzende Assimilationsprozeß verursacht Blauempfindung (also
doch ein Nachbild), falls durch die immer wiederholte Unter-
über Farbenempfindnngen bei intermittierendem farblosem Liohte. 479
brechung eine rhythmische Verstärkung erfolgt, also im Fall der
Resonanz von Unterbrechung und Eigenperiode des Auf- und
Abbauvorgangs.
Die Resonanzannahme stimmt gut zu dem Charakter der
Flächenfarben, zu der Tatsache, daß die Farberscheinungen nicht
augenblicklich auftreten, jedenfalls erst allmählich deutlich werden,
zu der Übereinstimmung der Phase n für die Schwarz-weiß- und
die Farbscheiben, und sie ist mindestens verträglich mit der
dominierenden Stellung des Blau. Verträgt sich mit ihr auch
das Umschlagen in Grün bei geringerer Helligkeit?
Für die Helmholtzsche Theorie läge am nächsten anzunehmen,
daß die für eine Farbe charakteristische Frequenz selbst abhängig
sei von der Intensität der Erregung, derart, daß zu einer ge¬
ringeren Beleuchtung eine niedrigere Frequenz gehört. Dann
genügt bei geringerer Helligkeit bereits die sonst Blau erregende
Unterbrechungszahl zur Resonanzerregung von Grün. Umgekehrt
genügt bei übergroßer (Sonnen-) Beleuchtung auch für die Blau¬
erregung keine Frequenz mehr, die unterhalb der Verschmel¬
zungszahl liegt. Damit steht im Zusammenhang, daß die An¬
stiegszeiten für die verschiedenen Farben wohl ebenso wie für
Weiß mit zunehmender Helligkeit abnehmen.
Im Rahmen der Heringschen Theorie wäre auch folgende
Erklärung möglich: Bei geringerer Intensität wird nicht so sehr
Gelb als das spezifisch weniger helle Rot durch das Weiß mit-
erregt; dann liefert die nach der Unterbrechung einsetzende
Assimilation Grün statt Blau. Bei Sonnenbeleuchtung werden
alle Substanzen maximal miterregt.
Wir haben nun vielleicht das Moment der Bewegung noch
nicht genügend in Betracht gezogen. Der Gedanke der Resonanz
läßt sich noch konkreter durchführen. Von der Scheibe gehen
abgehackte Wellenzüge aus. Diese lassen sich durch Entwick¬
lung in ein Fouriersches Integral ersetzen durch eiue fortschrei¬
tende Welle von großer Wellenlänge. Diese entspreche der
»Wellenlänge« des rhythmischen Vorgangs, in den durch die
Nervensubstanz die hochfrequente physikalische Welle übersetzt
wird. Die Resonanzhypothese ließe sich nun unter Berücksich¬
tigung der Tatsache, daß infolge der stetigen Rotation ja kon¬
tinuierlich jeweils anderen Partien der Netzhaut Weiß dargeboten
wird, noch ausbanen durch Zuhilfenahme einer »Induktions¬
hypothese«. Die erregte Netzhautstelle induziere die benach¬
barten bereits oder noch im Dunkel liegenden Stellen, und zwar
gleichsinnig. Solche gleichsinnige Induktion durch weitgehende
480
B. Panli and A. Wenzl,
Zerstreuung der Erregung in die Umgebung des Bildes hat
Fröhlich in seinen Untersuchungen am Chephalopodenauge be¬
obachtet (9). Ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Blau
von der Art, daß im Augenblick der Maximalerregung der letzt¬
induzierten Stelle der primäre Reiz wieder einsetzt, so tritt
Verstärkung auf. Wir hätten dann eine dreifache Überlagerung:
primärer Beizstoß, Resonanz auf die Stoßzahl, Induktionswirkung.
Wirkung: Übererregung von Blau.
Die bisherigen Ausführungen können sich nicht beziehen auf
Phase L Die Analyse der Phase I für die Schwarz-weiß-Scheibe
läßt sich zurückführen auf folgende Elementarfälle: Folgt (im
Sinne der Umdrehung) der Ringsektor auf Weiß, so wird der
Kreisring blau-violett, folgt der Ringsektor auf Schwarz, so wird
der Kreisring gelb (vergl. Zusammenstellung Mittelspalte).
Die gesamte Netzhautfläche, auf der die rotierende Scheibe sich
abbildet, ist in einem Zustand ungleichmäßiger Erregung, die
um einen Durschchnittswert hemm schwankt Im ersten Fall
(Folge: Weiß, Ringsektor, Schwarz) tritt der Ringsektor ein in
ein Gebiet, das in ansteigender Erregung begriffen ist, und unter¬
bricht diesen Anstieg längs seiner Erstreckung, während er
seitlich von ihm noch andauert. Im zweiten Fall (Folge: Schwarz,
Ringsektor, Weiß) dringt der Ringsektor ein in ein Gebiet, das
im Abklingen begriffen war und längs seiner Erstreckung noch
begriffen bleibt, während seitlich von ihm bereits wieder An¬
stieg erfolgt. Es bietet sich folgende Erklämngsmöglichkeit
dar: Im ersten Fall klingt in den durch das vorangegangene
Weiß erregten Netzhautstellen diejenige Komponente nach, die
die langsamste Abstiegszeit hat. Sei dies Blau, so wird der
Kreisring von Blau überlagert. Im zweiten Fall kommt diejenige
Farbe durch das nachfolgende Weiß zuerst zur Erregung, die
die kürzeste Anstiegszeit hat, dagegen diejenige nicht mehr
voll zur Erregung, die die längste Anstiegszeit hat. Ist
letzteres wiederum Blau, ersteres Gelb, so erscheint der
Kreisring gelb. In der Tat wurde bei passender Anord¬
nung ein gelber Schweif im Gefolge des Ringsektors direkt
beobachtet. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Effekt
verstärkt wird durch Induktion aus der Umgebung (9).
Eine solche Verstärkung würde dann auf treten, wenn aus gering
erregter Umgebung am leichtesten das rasch wieder ansteigende
Gelb die Umgebung induziert, dagegen eine gleichsinnige In¬
duktion von Blau aus einem bereits weiter fortgeschrittenen
Erregungsgrad der Umgebung voraussetzt, wenn idso Blau zur
über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 481
Mitteilung der Erregung an die Umgebung das größte, Gelb
das geringste »Gefälle« braucht; denn im Falle a) ist die Um¬
gebung höher erregt als im Falle b).
Diese Vermutung erfährt eine Stütze durch die Beobachtungen
an Bingsektoren auf rein weißer Scheibe. Der entstehende
Ereisring wird blau-violett, weil diese Erregung nachklingt
entsprechend der Erklärung des Falles a); dagegen tritt der zu
erwartende gelbe Schweif im Anschluß an den Bingsektor nicht
auf, da die Umgebung bei dieser Anordnung gleichmäßig weiß
ist und im Sinne obiger Hypothese das etwa rascher ansteigende
Gelb hinter dem Bingsektor durch Induktion von Blau aus der
voll erregten Umgebung flberkompensiert wird.
Im Sinne dieser Annahme tritt bei Doppelunterbrechung und
langsamer Botation ebenfalls Violett auf; bei schnellerer Um¬
drehung allerdings erscheinen auf der rein weißen Scheibe sektor-
mäßig auch Andeutungen von gelb: eine volle Kompensation
durch Induktion findet offenbar nicht mehr statt; bei der Schwarz-
'Weiß-Scheibe, der eine oszillierende Erregung der Netzhaut ent¬
spricht, und rascher Umdrehung überlagern sich die Effekte und
ergeben sektormäßige Verteilung von Violett und Gelblich-Grün.
Durch Übertragung dieser Erklärung und Kombination er¬
geben sich zwanglos im Sinne der Farbenmischung nach den
bekannten Gesetzen die Erscheinungen an farbigen Bingsektoren.
Ist der Bingsektor rot, so vermischt sich im Fall a) das zu er¬
wartende Blau mit dem gegebenen Bot zu Purpur, im Falle b)
behält die allgemeine Erklärung Geltung, soweit Botgelb auf-
tritt; soweit das grünblaue Leuchten in Frage kommt, dürfte
es sich um Sukzessivkontrast handeln. Beim grünen Bingsektor
entspricht die Aufhellung gegen Gelb zu der Überlagerung der
Grünerregung mit dem im Fall b) zu erwartenden Gelb, die Ab¬
dunkelung gegen Blau im Fall a) liegt ebenfalls im Sinne der
allgemeinen Erklärung.
Auf alle Fälle darf auch aus diesen Beobachtungen wohl
geschlossen werden auf eine relativ große Trägheit der Blau¬
substanz.
Zum Schlüsse sei hier noch mit einigen Worten eingegangen
auf die am Ende des ersten Teils erwähnten, gelegentlich der
Untersuchungen an Scheiben ans schwarzen und farbigen
Sektoren festgestellten Erscheinungen. Nach längerer Be¬
obachtung und bei entsprechender Geschwindigkeit traten auf
den schwarzen Feldern die jeweiligen Komplementärfarben auf.
Archiv fOr Piycbologio. XLVm. 81
482
B. Pauli nnd A. Wenzl,
Die Art äer Anordnang dieser Farberscheinnngen, die verhält¬
nismäßig lange Dauer bis zu ihrem Eintritt und die Tatsache^
daß nnr bestimmte mäßige Geschwindigkeiten die Anordnung^
für das Auftreten schaffen konnten, eine Anordnung im Sinne
des Simultankontrastes, lassen einen solchen als die der Be¬
obachtung adäquate Erklärung erscheinen.
Zusammenfassung und Zusammenhang der Theorie
mit anderen Ergebnissen nnd Theorien.
Die entwickelte Theorie ruht auf folgenden allgemeinen Vor¬
aussetzungen; 1. dem Gedanken einer Trägheit der Farberregung,
2. der Annahme einer Verschiedenheit der Trägheit nach Farben,
3. dem ausführlich behandelten Resonanzgedanken.
Die erste Annahme kann sich auf anderweitige Beobachtungen
stützen. Die Tatsache des allmählichen Anstiegs zur Maximal¬
erregung, das Nachklingen als positives Nachbild und die Ver¬
schmelzung als Folge der Überlagerung von Nachklingen und
Wiederanstieg finden in dem Begriff der Trägheit eine einheit¬
liche Erklärung. Messende Untersuchungen haben sich allerdings
zumeist auf weißes Licht beschränkt.
Was die zweite in der Literatur mehrfach, wenn auch nicht
mit diesen Worten geäußerte Vermutung (11, 12, 18, 19) betrifft,
so kann sie vor allem geprüft werden durch Versuche über
Verschmelzung und Exposition. In der Tat haben nun Ver¬
schmelzungsversuche für die verschiedenen Farben auf verschie¬
dene Anstiegszeit schließen lassen, gleiche Helligkeit vorausge¬
setzt, und zwar ergab sich als Anstiegszeit für Blau 64,45 o, für
Grün 38,4 a, für Rot 42,2 a, für Gelb 32,lo, Zahlen, die auf Grund
beobachteter Verschmelzungsfrequenz aus der aus dem Talbot-
schen Gesetz erschlossenen Formel V= ?222£ ( 15 ) errechnet
sind. Eine dieser Reihenfolge widersprechende Angabe in der
Literatur (12, 19), die auf Berechnungen von Kunkel beruht,
erweist sich als unhaltbar, da die notwendigste Voraussetzung
für solche Untersuchungen, die gleiche Helligkeit, hier lediglich
auf willkürlicher Schätzung beruhte.
Es fragt sich nun, ob die angeführten Resultate in bezug
auf die Anstiegszeiten der verschiedenen Fai'ben mit den hier
behandelten Erscheinungen und der entwickelten Theorie in Zu¬
sammenhang und Einklang stehen. Es zeigt sich zunächst, daß
die angeführten Zahlen für den Anstieg den Unterbrechungs¬
zahlen, bei denen die betreffenden Farben auftreten, zuznordnen
über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 483
sind. Der geringe Unterschied zwischen der Anstiegszeit von
Rot und Grün, bei dessen Beurteilung zu berücksichtigen ist, daß
ein Fehler von einigen Prozent in der Bestimmung gleicher
Helligkeit wohl unvermeidlich ist, entspricht dem ungefähr gleich¬
zeitigen Auftreten der roten und grünen Flecken in Phase III,
die Anstiegszeit von Blau aber verhält sich zu derjenigen von
Grün und Rot ungefähr umgekehrt wie das Mittel der Unter¬
brechungszahlen, die in Phase II deutlich Blau ergeben, zu den
Unterbrechungszahlen, die in Phase III Grün und Rot liefern.
Besteht nun ein innerer Zusammenhang zwischen der Verschieden¬
heit der Trägheit und unserer Theorie ? Das Neue derselben liegt im
Resonanzgedanken. Wir kamen unter Zugrundelegung der Re¬
sonanzhypothese zu dem Ergebnis, daß Blau eine niedrige und
wenig ausgeprägte Eigenfrequenz habe. Was bedeutet nun ein
besonders langsamer Anstieg, wie er ebenfalls Blau eigen zu
sein scheint? Er kann seine Ursache haben entweder in einer
starken Inhomogenität der Farbsubstanz, so daß die Erregung
längerer Einwirkung bedarf, bis alle Elemente erfaßt sind — sei es,
daß die verschiedenen nervösen Elemente verschieden farbtüchtig
sind; sei es, daß sie nicht gleichzeitig in aufnahmefähigem Zu¬
stande sind, oder in einer relativ geringen Reaktionsgeschwindig¬
keit, einer Trägheit etwa analog der elektromagnetischen Träg¬
heit wie sie ihren Ausdruck in der Selbstinduktion findet. Beide
Ursachen können natürlich auch Zusammenwirken. Beide Ur¬
sachen aber finden sich wieder in den erwähnten Ergebnissen,
zu denen uns die Resonanzhypothese in bezug auf Blau geführt
hat. Die wenig ausgeprägte Eigenfrequenz läßt auf Inhomo¬
genität schließen, die geringe Eigenfrequenz entspricht der in der
langen Anstiegszeit sich äußernden Trägheit der einzelnen Ele¬
mente. Die bereits erwähnte Analogie der elektromagnetischen
Trägheit drängt sich wiederum auf: eine große Selbstinduktion
hat einerseits einen langsamen Stromanstieg zur Folge, ander¬
seits im Schwingungskreis eine niedrige Schwingungsfrequenz. Der
wiederholt erwähnte Zusammenhang zwischen Anstieg und Re¬
sonanz besteht also durchaus.
So erweist sich die Resonanzhypothese als Aasbau der Träg¬
heitsannahme. Sie wird durch die aus den Anstiegszeiten er¬
schlossene Trägheit gestützt und gibt umgekehrt ein Eriterium
für diese ab. Zu Anstieg, Abklingen, und Verschmelzung, die
bisher ausschließlich in bezug auf die zeitlichen Verhältnisse der
Farberregung untersucht wurden, tritt der Gedanke von Reso¬
nanzerscheinungen, der sich, wie vorauszusehen, zur Erklärung
81 *
484 Pauli und A. Wenzl, Über Farbenempfindungen nsw.
der hier in Frage stehenden Beobachtungen fruchtbar erwies
und durch sie hat wahrscheinlich machen lassen. Insofern
nehmen die betrachteten Erscheinungen eine Sonderstellung ein.
Quellennachweise.
Die mit * versehenen Arbeiten stehen nnr in mittelbarem Zusammen¬
hänge mit den Farbenerscheinnngen.
1. H. Anbert, Physiologie der Netzhaut. Breslau 1866.
2. C. Banmann, Beiträge zur Physiologie des Sehens. PflUgers Arch.
f. d. ges. Physiol. Bd. 146 1915, Bd. 166 1917, Bd. 171 1918.
3. S. Bidwell, On the negative after-images foUowing brief retinal
excitation. Proc. of the royal soc. of London. Bd. 61 1897.
4. E. Brficke, Über den Nutzeffekt intermittierender Netzhantreiznng!
Sitzungsbericht der k. Akad. d. Wissensch. Math.-natnrw. Kl. Bd. 49
Abt. 2. Wien 1864.
5. 0. J. Buroh, Praotioal exercises in physiologioal optics. Oxford 1912.
6. S. E X n e r, Bemerkungen über intermittierende Netzhantreiznng.
Pfittgers Arch. f. d. ges. PhysioL Bd. 3 1870.
7. G. Th. Fechner, Über eine Scheibe zur Erzeugung subjektiver Farben.'
Poggendorfs Annal. d. Phys. n. Chem. Bd. 45 1838.
8. J. Fr Ob es, Lehrbuch der experimentellen Psychologie. Bd. 1 2. Anfit
1923.
"‘9. F. W. Fröhlich, Beiträge zur allgemeinen Physiologie der Sinnes¬
organe. (2 Teile.) Zeitschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 48 1913.
*10: F. W. Fröhlich, Onndzüge einer Lehre vom Licht- und Farbensinne.
Jena 1921.
11; H. V. Helmholtx, Handbuch der physiologischen Optik. 8. AnfiL
2.Bd. 1911.
*12. A. Kunkel, Über die Abhängigkeit der Farbenempfindung von der
Zeit. Pflügers Arch. f. die ges. Physiol. Bd. 9 1874.
13. Ch. S. Myers, Text-book of experimental psychology. Bd. 2 2. Anfl.
1911.
14. W. Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 8 1905.
*15. B. Pauli, Über psychische Oesetzmäfiigkeit. Jena 1920.
16. J. Pikier, Schriften zur Aqpassnngstheorie des Empfindnngsvorganges.
Heft 4. Leipzig 1922.
17. Th. Schwärtze, Grundgesetze der Molekularphysik. Leipzig 1896.
*18. B. Stigler, Über den physiologischen Proportionalitätsfaktor. Zeitschr.
f. Sinnesphysiol. Bd. 44 1909.
19. B.Tiger8tedt, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2.
Leipzig 1913.
20. K. Weidlich, Wann und warum sehen wir Farben? Leipzig 1901.
(Eingegangen am 5. März 1924.)
Literaturberichte.
Referate.
Religionspsychologische Literatur (Nachlese). Von den Neu¬
erscheinungen der letzten Jahre bietet Georg Wunderle') neben einer
knappen und doch zur Orientierung durchaus genügenden historischen Über¬
schau eine Einführung in die Methodik der Religionspsychologie. Der
gediegene historische Teil nimmt seinen Ausgang von den der eigentlichen
Religionspsychologie — mit ihrer Absicht wissenschaftlicher Untersuchung
und deren methodischer Durchführung — vorausgehenden Darbietungen
des religiösen Erlebens, die im Zusammenhang stehen mit dem Lebensinteresse,
mit einer praktisch-asketischen Anwendung oder mit der »Richtigkeit« des
religiösen Tuns. Trotz der Kürze enthält dieser erste Teil nicht nur wert¬
volle Beispiele — mit mancher Anregung zur Weiterforschung —, sondern
zugleich eine weitgehende Berücksichtigung der Literatur. Wunderle läßt
dem katholischen Standpunkt gegenüber die schwierige Lage des protestan¬
tischen Lebenstypus, insbesondere der protestantischen Religionswissen-
schaftler, begründet in ihrem Subjektivismus, in sachlicher Weise in Er¬
scheinung treten, wie er anderseits gerade in der Religionspsychologie ein
Gebiet sieht, auf dem »die Gefahr einer religiösen Vermischung« nicht
droht, solange die konfessionell verschiedenen Forscher die Religionspsycho¬
logie lediglich als Tatsachenwissenschaft, nicht aber als Normwissenschaft an-
sehen. Im zweiten Teil folgt die dementsprechende systematische Auseinander-
aetzung mit der phänomenologischen und geisteswissenschaftlichen, ferner
der völkerpsychologischen Methode. Das letzte Kapitel (Methoden der empi¬
rischen Individualpsychologie) bespricht die methodische Selbstbeobachtung,
die Erhebungsmethoden, und das religionspsychologische Experiment. Ein
Namensverzeichnis, das man leider vermißt, würde zeigen, wie reichhaltig
W.s Buch ist. Alles in allem: ein Buch, dem man weite Ver¬
breitung wünschen kann.
Unter den Einzeluntersuchungen befindet sich eine Arbeit von Eduard
Grimm^ über »die zwei Wege im religiösen Denken«, auf die man
sehr gern hinweist, zum al sie auch weiteren Kreisen dienlich
sein dürfte. Zwei Wege geht das religiöse Denken, den induktiven und
den deduktiven. Indem es sich in diesen zwei Richtungen bewegt, bekundet
es, daß es dem Grundverfahren nach nichts anderes als das übrige Denken
ist. Der Einheitstrieb drängt zunächst im Zusammenhang mit zwei anderen
gegebenen Gmndtatsachen, dem Abhängigkeitsbewußtsein und dem Ver¬
ehrungsdrang, ans dem allgemeinen Bereich der Wahrnehmungen und der
Begriffsbildung vorwärts bis zu einer höchsten Ursache und einem höchsten
Ziel, ja selbst diese vereinend, zur Gottheit. Wenn diese Einheit gefunden
1) D. Georg Wunderle, Einführung in die moderne Religionspsycho¬
logie, Sammlung Kösel, Kempten 1922. 140 S.
2) Eduard Grimm, Die zwei Wege im religiösen Denken. Göttingen,
Vandenhoeck u. Ruprecht, 1922, Preis 1.20 M. 112 S.
486
Literatarberichte.
ist, so gebietet die Ehrfurcht (Yerehrungsdrang), Gott als die alles be¬
dingende Ursache yoranznstellen und alles übrige ihr nnterzuordnen. Ist
somit die Richtung für das deduktive Verfahren gefunden, so wird doch
von Grimm sehr nachdrücklich betont, daß das religiöse Denken damit nicht
am Ende ist, sondern immer wieder, durch innere Notwendigkeit, auf den
induktiven Weg zurückgeführt wird. Dadurch entsteht »ein wechselvoller
Kreislauf«, »der nicht ohne Reibungen und Verwicklungen bleibt«. Die
Wendung zum Deduktiven geschieht nicht gleichmäßig, vielfach sind es
besondere Eindrücke, »die mit einer gewissen, über das Gemüt hereinbrechenden
Gewaltsamkeit diese Wendung geschaffen haben«. Der beschränkte Raum
läßt leider nicht zu, auf diese geschickte Arbeit näher einzugehen. Die
Art, wie der Verf. seine zwei Wege mit der Umkehrung durch das Ganze
hindurch verfolgt und somit Gegensatzpaare zur Versöhnung bringt — sei es
anthropozentrisch oder theozentrisch, Immanenz oder Transzendenz, Deismus
und Pantheismus, sola gratia und Werkgerechtigkeit —, bereitet dem Leser
große Befriedigung. Die Wahrheitsfrage selbst stellt Verf. nicht. —
Eine Neuorientierung der Glaubenswissenschaft erstrebt Oskar Pfister').
Die heutige Verwirrung eines wildesten Subjektivismus, in der sich jeder
auf seine »Erlebnisse« berufe, froh darüber, »von dem gefährlichen Götzen¬
tum des Verstandes befreit« zu sein, sei eine Folge des intellektualistischen
Grundirrtums gewisser Dogmatiker, die annahmen, daß nur die religiöse
Vorstellungswelt wissenschaftlich zu bearbeiten sei. Und durch die Ver¬
quickung mit den kirchlichen »Vergangenheitsgrößen« wurde ihre Disziplin
eine »archäologische«, sie ühersah dabei den lebenden, lebendigen Christen.
Im übrigen verteidigt Pf. auch in dieser Schrift die psychoanalytische Methode,
die nicht vor dem Unbewußten halt macht und dadurch die wichtigsten
»Gesetze der Religionsbildung« enthüllt. Nicht ohne Bitterkeit wendet sich
Pf. dabei gegen die Verkennung seiner und seiner Freunde Arbeit, als
wolle er die Religiosität als Sublimierung der Sexualität erklären; auch
betont er selbst die Schranken seiner Methode (S. 22). Pf. erklärt, daß die
Psychoanalyse, von der naturwissenschaftlichen Psychologie wegen des
Mangels an Eindeutigkeit grundsätzlich verschieden, auf dem Pfade historischen
Forschens »verstehen« will, wie einzelne Glaubenserlebnisse entstehen usw.;
über die Glaubenswissenschaft aber, »die sich von dem Verdachte freihalten
will, allerlei unausgewiesene Schmuggelware mitzuführen, muß dem philo*
sophischen Denken ein uneingeschränktes Kontrollrecht« eingeräumt werden.
Im letzten Teil bespricht Pf. die Anregungen, die durch die Forderung nach
Aufdeckung der kausalen Beziehungen im genannten Sinne die Disziplinen
der theologischen Wissenschaft gewinnen, sehr bemerkenswerte
Ausführungen, auf die einzugehen hier nicht der Ort ist.—
Aus der Beschäftigung mit der psychoanalytischen Reb'gionstheorie
ergab sich für Otto Hofmann*) der Begriff der Lebendigkeit (S. 86) als
empirisch-psychologischer Ansatzpunkt für eine transzendental-psychologische
1) Oskar Pfister, Die Aufgabe der Wissenschaft vom christlichen
Glauben in der Gegenwart. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1923, für
die Schweiz: Beer u. Co., Zürich, Preis 1.20 M. 48 S.
2) Otto Hofmann, Religionspsychologie, 1. Band: Die Lebendigkeit
der Religion. Heidelberg, Carl Winter, 1923. Preis 5 M., geh. 7 M. 218 S.
Literaturberichte.
487
Betrachtung. Im ersten Teil des vorliegenden Bandes weist H. auf die
Gefahren hin, die daraus erwachsen könnten, daß die Frendsche Schule in
rebus religiosis neuerdings unter der Flagge »Religionspsychologie« segelt.
Zunächst ergibt sich aus Hofmanns kritischem Überblick, daß die Psycho*
analyse bei Pfister noch mit einer gewissen Vorsicht auftritt. Ein andres
Bild entwirft er von verschiedenen Freudschen Anhängern, deren Phantasie*
kraft er an der Hand von Beiträgen zu Imago (Felszeghy, S. 12) n. a. mit den
schärfsten Ausdrücken charakterisiert tS. 13). H. bekämpft allgemein die
einseitig-libidinöse Theorie, bei der man sich nicht zu einer avdyxri bekennt,
die sowohl Triebleben als auch Geistesleben beherrscht; und im besonderen
entwickelt er in seiner Polemik gegen Beik, daß die Religion weder in
Angst, noch in Trotz (also sexueller Triebregung) begründet ist, daß sie
höhere Bedürfnisse befriedigt, wie daß in ihr das »ganz Andere« dem Menschen
entgegentrete. Hofmann will aber anderseits das in der Psychoanalyse
schlummernde Wahrheitsmoment aufzeigen. Beherrscht doch das Ge¬
schlechtliche in all seinen Variationen den Menschen; aber »dabei darf nicht
vergessen werden, daß es nicht selbst Ursprungsgebiet ist. Es muß mit
den anderen Teilgebieten des Trieblebens einem Allgemeineren subsumiert
werden, dem Energetischen oder der Lebendigkeit«. »Diese Lebendig¬
keit enthält aber in sich nicht nur die Teiltriebe des Sexuellen, des Hungers«
usw., sondern sie »ist zugleich Substrat der Geistestätigkeit«. »Von dieser
(mindestens leise sexuell gefärbten) Lebendigkeit aus, als dem Zentralpunkt
angesehen, ist alles gleichgeorduet: sie läßt je nachdem ihren Energiestrom
dem Sättigungsbedürfnis oder grammatisch-syntaktischen Forschungen Zu¬
strömen«. Andeutungsweise will H. im zweiten Teil dieses Prinzip in seiner
Anwendung auf das neue Testament fruchtbar machen (S. 86), seine Unter¬
suchung erstreckt sich auf die Begriffe moxig^ ayant}^ iiQr^vr} u. a.
Das Buch ist sehr interessant, nicht nur wegen der Fehde, die
H.s Kritik den Exquisit-Psychoanalytikern im 1. Kapitel ansagt, oder z. B.
wegen seiner Angriffe auf Blüher's Eros (S. 119f.), sondern vor allem wegen
des eigenen Versuches des Verfassers. Ein endgültiges Urteil wird erst
möglich sein, wenn die angekttndigten weiteren Bände, »Die Erscheinungs¬
formen der Religion« und »Das Spezifisch-Religiöse«, erschienen sein und
die Neutestamentler die Arbeit H.s im einzelnen nachgeprüft haben werden.
Kicht unbedenklich erscheint mir, daß Verf. vom 2. Kapitel für seine »Lebendig¬
keit« Libido einsetzt (S. 80), was er schon zu Anfang vorbereitet hatte.
Schließlich bescherte uns das vergangene Jahr ein durch Format, Satz¬
größe und Umfang, vor allem aber durch den Inhalt »Aufbau«
verheißendes Werk') aus dem Kohlhammerschen Verlag: Ein religiös¬
lebendiger Mensch und umfassend religionsgeschichtlicher Forscher in einer
Person, bietet J. W. Hauer im ersten Buche seines großen Werkes einen
vielversprechenden Auftakt zu einem größeren Unternehmen. An
Lessing, Herder und Schleiermacher mit ihren grundsätzlichen Beiträgen
zur Entwicklungsgeschichte der Religion lehnt sich H. an, damit die Fülle
religionsgeschichtlicher Einzelforschung verknüpfend. So ergibt sich ihm
*als Aufgabe, »vom religiösen Erlebnis ausgehend, oder durch die erstarrten
1) J. W. Hauer, Die Religionen. Ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit.
Erstes Buch: Das religiöse Erlebnis auf den unteren Stufen. Stuttgart,
W. Kohlhammer, 1923. 556 S.
488
Literaturberichte.
Formen der gewordenen Religionen sn ihm vordringend« (S. 23), überall
seiner Omndart nnd seinen Sonderarten nachznspüren >nnd es in seinen
Stnfen und in seinen nach Anlage, Ort und 2^it yerschiedenen Ausgestal¬
tungen« SU begreifen und einzuordnen. Indem H. mit der Schleiermacherschen
Forderung, »Religion mit Religion zu betrachten«, Ernst macht, geht er
über Spencer und Wundt hinaus. Tiefsten Emst und größte Würde gewinnt
die religionsgeschichtliche Arbeit für H. — in Anlehnung an Hegel und
Schelling ~ erst durch die Überzeagung, »daß die religiöse Entwicklung:
nicht irgendein Prozeß, sondern höchste Geschichte, Verwirklichung ewigen
Wesens in irdischer Gestalt ist«. H. verweilt mit Absicht lange bei den
primitiven Religionen; ihr Studium zwingt uns, »unsere oft so starren
religiösen Begriffe und Vorstellangen in ihr Grundelement aufzulösen«,
wodurch man dem verborgenen Sinn der religiösen Erscheinungen und »dem
schaffenden Geist« näherkommt. — Der kürzlich erschienene erste Teil enthält
vorläufige Betrachtungen über das Wesen der Religion und der Entwicklung,
besonders der unteren Stufen, während eine endgültige Darstellung einer
»Philosophie der Religionsgeschichte« oder der »Ideen zu einer Philosophie der
Religion« einem 4. Band Vorbehalten ist. Das 2. Buch soll den Gedanken der Ent¬
wicklung, das 3. Erlebnis und Idee der Offenbarung in der Geschichte der
Religion darstellen. Durch die Herbeischaffung von Material für das reli¬
giöse Erlebnis in den primitiven Religionen wie vor allem durch die Sichtung
der religiösen Grnndprobleme und Hauptformen jener Stufe im vorliegenden
Band hat sich H. um die Religionspsjchologie zweifellos sehr verdient ge¬
macht. Seine Gmndeinstellung aber, Spengler nicht ganz unverwandt,
überwindet gerade Spenglers müden Pessimismus gmndsätzlich.
In neuer Auflage liegt vor: August Messers Abhandlung über
die Willensfreiheit'), sie gehört in unsem Zusammenhang vor allem
wegen der sehr beachtenswerten Entwicklung des psychologischen Befundes
über den Willen und die Willensfreiheit. Neben die psychologische Be¬
trachtung hat M. eine ethische und eine erkenntnistheoretisch-metaphysische
gestellt, wobei die beiden ersten Betrachtungsweisen für sich allein keine
Entscheidung zwischen Determinismus und Indeterminismus anbahnen«
während die dritte auf den Kernpunkt des Problems hinführt: auf die Voraus¬
setzung der Allgemeingültigkeit des Kausalprinzips. Letztere zu bejahen
erscheint M. nicht denknotwendig, wodurch sich für den Indeterminismus
die Zulässigkeit der Behauptung ergibt, daß die Willensentscheidungen der
naturwissenschaftlichen »Erklärungsweise nicht unterliegen, weil sie durch
ursächliche Bedingungen nicht eindeutig bestimmt seien«. Ich verweise auf
W. Wirths Ausführungen zu dieser Frage in seinem Referat Über Jaspers
Psychologie der Weltanschauungen in dieser Zeitschrift XLm S. 72 (S. 105).
lic. th. Dr. A. Römer (Leipzig).
Wilhelm Wundt. Eine Würdigung. Unter Mitwirkung des Psycho¬
logischen Instituts der Universität Leipzig und im Aufträge der
Deutschen Philosophischen Gesellschaft herausgegeben von Arthur
Hoffman n. Erfurt, Verlag der Kayserschen Buchhandlung, 1922»
124 S.
1) August Messer, Das Problem der Willensfreiheit (Wege zur Philo¬
sophie Nr. 1). Qöttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 8. Aufl., Preis 1.80M. 96 S.
Literatarberichte.
489
Das Andenken Wilhelm Wnndts zu ehren haben sich sein Nachfolger
auf dem Lehrstnhle, Felix Kmeger, dessen Mitarbeiter am Leipziger Psycho¬
logischen Institut und Peter Petersen-Hamburg rereinigt und als Schladheft
des 2. Bandes der »Beiträge znr Philosophie des deutschen Idealismus« eine
Würdigungsschrift Terfaßt, deren Herausgabe von Arthur Eoffmann-Erfurt
besorgt wurde.
Der Oeist Wundts spricht aus jedem einzelnen dieser sechs teils größeren,
teils kleineren Abhandlungen. Die Hinterlassenschaft dieses Forschers ist
jedoch nicht unverändert liegen geblieben. Diejenigen, die das Erbe Wundts
antraten, haben es weitergebildet. So stellt sich das Buch, wenn auch das
Bestreben waltet, Wundts Werk objektiv darzustellen, es aus seiner Zeit
heraus zu verstehen, als ein Bfickblick dar vom heute Erreichten auf das,
was notwendig dem Heute voransgehen mußte. Wenn sich demzufolge hier
und da Kritik bemerkbar macht, so ist das nur geeignet, den Wert dieser
Schrift zu erhöhen.
Felix Emeger-Leipzig führt in seiner Abhandlung »Wilhelm Wandt als
deutscher Denker« aus, daß, wenn es heute auch geradezu als verboten
gälte, nach der »Zugehörigkeit eines Forschers, eines Denkers zu einem
bestimmten, geschichtlich erwachsenen Lebenskreise«, nach der »nationalen
Bedingtheit und der völkisch geprägten Form seines Schaffens« zu fragen,
es doch Wandt gewesen sei, der klar erkannt hatte, daß gerade die Großen
ihre Wurzeln am tiefsten »in den Matterboden ihres eigenen Volkstums
hinabsenken«. Gerade das Denken Wundts und sein Werk seien ganz nur
zu verstehen, wenn man sie »im Zusammenhänge mit den Grundformen
deutscher Ideenbewegung« betrachtet. Der Verfasser zeichnet zunächst
ein Bild der Persönlichkeit Wundts, hebt dann die Kernpunkte des Wundt-
schen Denkens hervor und zeigt ihr enges Verflochtensein in spezifisch
deutsche Gedankengänge und ihre Entwicklung aus ihnen. Die Überzeugung
»von der unaufhebliohen Realität und von der wertgestaltenden Bedeutung
der seelischen Kräfte« sei es gewesen, die Wundts ganzes Philosophieren
znsammenhielt. Der Verfasser zeigt, wie diese Überzeugung, sowie diejenige
von der Eigenart der »psychischen Kausalität« und diejenige vom Proze߬
charakter des Psychischen, »in deutscher Weltanschauung verankert« sind.
Auch die Hauptsätze der Gefühlslehre Wundts seien »seit langem in der
deutschen Geistesgeschichte vorbereitet« gewesen. »Der Einheit einer
deutschen Weltanschauung sollte auch der wuchtige Bau seiner Völker¬
psychologie dienen.« Mit seinem Voluntarismus wendet sich Wandt gegen
den westeuropäischen Intellektualismus. Gegenüber dem Utilitarismus ver¬
tritt er die Ethik der Pflicht, die, wie er selbst sagt, von Leibniz an »den
am meisten bezeichnenden Gegensatz des deutschen Denkens gegenüber den
westeuropäischen Nationen« bilde. Der gemeinschaftsbejahenden Hauptrich-
tung des deutschen Ethos füge sich Wundts Denken ein. »Ein Kernstück
aller charakteristisch deutschen Weltanschauung« sei die Erkenntnis, daß
»die entscheidenden Mächte des menschlichen Daseins im Gemüte wohnen«.
An der Metaphysik Wundts stellt der Verfasser einen Zug »metaphysisch-
religiOser Befangenheit« fest, den Wnndt »wiederum mit den Tiefsinnigsten
unter seinen deutschen Vorgängern gemein« habe. Zuletzt geht er noch
auf den Entwicklungsgedanken in Wundts Philosophie und Psychologie ein
und legt dar, daß auch er besonders Ideengut des deutschen Volkes sei.
490
Literatarberichte.
Peter Petersen-Hamburg untersncht die Stellung der Philosophie Wilhelm
Wundts im 19. Jahrhundert. Damit die Leistung Wundts für die Philosophie
in voller Größe erkenntlich werde, mißt sie der Verfasser an den großen
Tendenzen des 19. Jahrhunderts. Zunächst geht er auf das Verhältnis Wundts
zu Kant ein. Die Klüfte, die sich in Kants System auf tun, werden von
Wundt überbrückt. Ferner hat Wundt die Philosophie wieder zur all¬
gemeinen Wissenschaft erhoben. Der Entwicklungsgedanke spielt in seinem
System eine ganz hervorragende Rolle. Für die Stimmung des Pessimismus
endlich ist in Wundts System kein Raum. Metaphysik und Ethik vereinigen
sich bei Wundt zu einer »Weltanschauung der Tat«.
Friedrich Sander-Leipzig weist in seiner Abhandlung »Wundts Prinzip
der schöpferischen Synthese« darauf hin, daß dem Prinzip der schöpferischen
Synthese bei Wundt noch ein eigentümlicher Kompromißcharakter anhaftet.
Denn Wundt bleibe noch in dem, wenn auch stark umgebildeten Elementen-
begriS befangen. Es zeuge aber gerade für den psychologischen Scharfblick
Wundts, trotzdem erkannt zu haben, daß das komplexe Erlebnis mehr ist
als »eine geschichtslose Summierung von Stücken«, daß es »ein organisch
gewordenes Ganze« ist.
August Kirschmann-Leipzig zeigt in seinem Beitrag, betitelt »Wundt
und die Relativität«, daß das Relative meist mit dem Subjektiven verwechselt
wird; auch bei Einstein. Man hätte sich bei der Psychologie, vor allem
bei Wundt, Rats holen müssen. Nach Wundt ist alle Größenbestimmung
relativ. »Wundt betrachtet die Relativität oller Größen als einen festen,
unumgänglichen Grundsatz alles Denkens, als das allerelementarste Axiom
oder Prinzip der Größenlehre.« In interessanten Darlegungen geht der
Verfasser noch auf einige Konsequenzen dieses, die ganze psycho-physische
Problemstellung mit einem genialen Griffe erfassenden Wundtschen Grund¬
gedankens ein: »Wir messen nur psychische und zwar intensive Größen«;
»alle Größenbetrachtung beruht in letzter Instanz auf der Vergleichung
zweier Bewußtseinsinhalte«, es kann keine absoluten Größen geben; »alles
Qualitative ist absolut«; »Bewegung ist gegenseitige Änderung der Raum-
beziehnngen«. Die Darlegungen Kirschmanns führen zu der Erkenntnis,
»daß auf dem Wege der nur objektiven Betrachtungsweise eine in sich ab¬
geschlossene, widerspruchslose Weltanschauung nicht erreicht werden kann«.
Hans Volkelt-Leipzig zeigt in einer größeren Abhandlung, welche Rolle
die Völkerpsychologie in Wundts Entwicklungsgang gespielt hat. Der Ver¬
fasser will anbahnen, das genetische Hauptwerk Wundts genetisch zu ver^
stehen. Der Ertrag der Darlegungen soll sein, zu zeigen, wie Wundta
völkerpsychologisches Denken seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit ent¬
spricht, ferner, daß für die Geschichte der Völkerpsychologie die Jugend¬
arbeiten Wundts von hohem Werte sind, und daß sich schließlich diese
historische Fragestellung auch systematisch bewähren wird. Nachdem der
Verfasser die persönlichen und sachlichen Wurzeln des Wundtschen Dranges
zu genetisch-psychologischer Erkenntnis aufgedeckt hat, zeigt er, wie Wundt
■schon in seinen Jugendschriften zum Verschmelzungsbegriff kommt, der
»den Tod der Assoziationspsychologie und die Geburt der Ganzheitspsycho¬
logie« bedeute. Ist es doch das Prinzip der schöpferischen Synthese, das
hier bereits (1862) von Wundt entdeckt wurde. Wundt habe jedoch den
dogmatischen Sensualismus niemals vollkommen überwunden. Seine Lehre
müsse dabin weitergebildet werden, daß die seelische Entwicklung nicht,
Literatarberichte.
491
wie Wandt dachte, >von Terstreaten Elementen znr synthetischen Ganzheit,
sondern vielmehr von Ganzheit zn Ganzheit fortschreite. »Das Prinzip der
schöpferischen Synthese ist za ersetzen dnrch ein Prinzip der schöpferischen
Synthesentransformation.«
Otto Klemm-Leipzig gfibt einen Überblick über die Geschichte des
Leipziger Psychologischen Institnts. Die Darstellang der Geschichte des
Leipziger Institnts wird zugleich »zn einem Ansschnitt aas der Geschichte
der treibenden Ideen der psychologischen Forschang Uherhanpt«. Eine
allgemeine Entwichlangsrichtang, »die darch das Interesse Wilhelm Wandts
selbst bedingt war«, prägt sich in ihr ans.
Das Bach ist geeignet, das Verständnis für Wilhelm Wandts Lebens¬
werk and zagleich das für die Fortbildang seiner Philosophie and Psycho¬
logie anflerordentlich zu fördern.
Hanns Herrmann (Leipzig).
A. W 0 h 1 ge m a t h, D. Sc., A Critical Examination of P.sycho-Analysis. London,
Verlag von George Allen & Unwin Ltd. 1923.
Verfasser betont in einer Vorrede, er sei anvoreingenommen an die
Lehre Freads herangegangen, habe ihr anfangs sogar sympathisch gegenüber-
gestanden. In den ersten beiden Kapiteln präzisiert er seinen Standpnnkt,
den der Experimental- and Assoziationspsychologie. Im Hanptteil beschäftigen
ihn insbesondere die Lehre vom Unbewaflten, von der Symbolik, der Traam-
dentang, den Determinierangen (Freads Psychopathologie des Alltagslebens).
Wichtige Mechanismen der Psychoanalyse, Verdrängung, Widerstand und
Übertragung werden innerhalb der erstgenannten Kapitel behandelt. Nach-
prüfangen durch experimentalpsycbologische Methode, Aafdecken von Zirkel¬
schlüssen, von mystischen Deutungen in den Frendschen Behauptungen be¬
stimmen den Verfasser zu einer radikalen Ablehnung. Die therapeutischen
Erfolge, mit denen die Analytiker dieWahrheit ihrer Anschauungen befestigten,
seien Snggestionserfolge. Weiter sei es nur ein bestimmter Typns von
Ärzten und Studenten, der sich mit der Analyse beschäftige, und zwar ein
visueller Typus, der angelockt würde durch den Bilderreichtum der Freud-
schen Lehre.
Möllenhoff, Leipzig.
Karl Hansen, Zur pathologischen Physiologie der Ataxie. Die Natur¬
wissenschaften 12. Jahrg. 1924, Heft 13, S. 239—244, u. Heft 14,
S. 260 -266.
Die Arbeit Hansens enthält manche Angaben, die für den Psychologen
Interesse besitzen. Das eigentümliche, nach bestimmten Gesetzen erfolgende
Zusammenarbeiten von Muskelgruppen, die Muskelkoordination, bat schon
seit geraumer Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen.
Ältere, besonders von Klinikern vertretene Ansichten, nach denen haupt¬
sächlich zentrifugale Einflüsse den Ablauf der Bewegungen regeln, sind
unbefriedigend. Einer anderen Auffassung wurde durch die sorgfältigen
Untersnchungen von Sherrington and Magnus der Boden bereitet.
Die Ausführung der Willkür- und Zielbewegnngen ist an die Vorstellungen
gebunden, die wir ȟber die jeweilige Haltung der Glieder, das Ausmafl
der Bewegungen, die Gröfle der Widerstände erhalten«. Die hierfür nötigen
peripherischen Erregungen werden durch die Organe des Druck- und des
492
Literaturberichte.
Kraftsinnes aofgenommen. Schon durch Ändernngen der QelenkateUangen
am V« — 1 ** 4er über den Gelenken liegenden Hant eine wahrnehm¬
bare Deformation hervorgerafen. Das rezeptorische Feld kann dnrch Auf¬
kleben von Heftpflasterstreifen vergröfiert werden. Dafl die Gelenke selbst
an der Reizanfnahme beteiligt sind, wie vielfach angenommen wird, trifft
nicht zu. Der Kraftsinn gibt Anfscblnß über die Spannungen der Mnskeluv
Sehnen, Faszien. Die Bahnen, auf denen die Erregungen weitergeleitet
werden, liegen in den Uuskelnerven und sodann in Nervenfasern, die durch
die hinteren Rückenmarkswurzeln verlaufen und vielleicht zum Teil das
Kleinhirn berühren. Der Kraftsinn besitzt eine äußerst niedrige Unter¬
schiedsschwelle, wie sie nur noch dem Lichtsinn zukommt. Sie beträgt
Vio» (nutzbare U. E.) bis Vsoo (wahre U. E.) des Grandreizes.
Auch für den Ablauf von Bewegungen, die nicht an ein Bewußtsein
gebunden sind, werden afferente Erregungen bedeutungsvoll, nämlich solche,
die Hnskelreflexe (Eigenrefleze der Muskeln, P.Hoffmann) auslüsen. Sie
werden durch Zerrungen der Muskeln veranlaßt, nicht durch direkte, sondern
auch indirekte, so daß zu ihnen auch die sogen. Sehnen-, Periost-, Gelenk-
refleze gerechnet werden müssen. Durch sie wird die Aufrechterhaltnng
von Dauerspannungen der Muskeln (Tonus) gewährleistet. Die Möglichkeit
der jeweils geforderten reflektorischen Korrekturen ist nicht ohne Weiteres
gegeben, sie wird erworben und nnr durch dauernde (bewußte oder unbe¬
wußte) Übung der Muskeln erhalten. Bei den Reflezrezeptoren fand Hoff¬
mann eine ebenso niedrige Unterschiedsschwelle wie bei den Rezeptoren
des Kraftsinnes, so daß die Annahme naheliegt, beide Organe seien identisch.
Die Rhythmik mancher Bewegungen, z. B. des Ganges, der Atmung, kommt
nicht, wie öfter angenommen wird, durch einen »zentralen Bewegunga-
entwurf« zustande, sondern dnrch eine reflektorische Selbststeuerung mit
Hilfe der Eigenrefleze, die abwechselnd in Agonisten und Antagonisten im
Gefolge ihrer Kontraktion anftreten. Zum Schluß wird auf die Bedeutung
der »tonischen Refleze« und der »Stellreflexe« für die Erhaltung des Tonus
und der GUederstellungen bingewiesen, sowie auf den .Zusammenhang dieser
Reflexe mit dem Labyrinth und dem Nucleus ruber.
H. Triepel (Breslau).
0 r d i n a n s, Die Welt als Subjekt-Objekt. Eine Lehre von den allgemeinsten
Gedanken. Berlin, K. Grethleins Verlag, 1923. Xll n. 328 S.
Einer jener seit den Uranfängen der Philosophie immer wiederholten
Versuche, die Welt von einem BegriSe aus zu verstehen. Hier ist es
der Begriff des Wirkens, der als Bewegung (Ortsveränderung) und Streben
nach Bewegung gefaßt wird. Die Angabe der Wissenschaft ist es, »alle
Erscheinungen des Seins, von den chemischen und physikalischen bis zu
den geistigen, znrückznführen auf die Grundsätze des Wirkens, nämlich
die des Bewegens und des Strebens zu bewegen ... Damit würde zu¬
gleich das Ziel erreicht, das Schelling in dem System des transzendentalen
Idealismus der Philosophie steckt, nämlich die Wesensgleichheit von Körper
und Geist zu zeigen, indem aus der Natur eine Intelligenz oder ans der
Intelligenz eine Natur gemacht wird. Alles Sein, von der Materie bis zur
entwickeltsten Seele, ist ein Subjekt, das etwas außer sich, das Objekt, zum
Inhalt oder zum Willensziel hat und dies dnrch Ortsveränderung er¬
reichen will« (S. 69). Diese Gedanken werden auf etwa 100 kleinen Seiten
Literatarberichte.
493
ansg^eführt, wobei Natarwiasenschaftliches, Erkenntniatheoretiachea, Meta-
phyaiaches und noch anderea liebevoll ineinanderschwimmt. Den größten
Teil dea Baches nimmt die Daretellnng dea Geiatwirkena, d. i. die Psycho¬
logie ein. Sie ist sehr popnlär and sehr primitiv. Der Wille znm Wahren,
Gaten, Schönen mag dem Verfasser nicht ahgesprochen werden. Aber ea
wäre nichts verloren, wenn A. Bachenaa das Bach nicht heraasgegeben hätte.
Aloys Müller (Bonn).
Max Wertheimer, Über Schiaßprozesse im prodaktiven Denken. Berlin
nnd Leipzig, Vereinigang wissenschaftlicher Verleger, 1920. 22 S.
In dem Sohriftchen sind logische and psychologische Fragen der Erkenntnis
verschmolzen. Im Mittelpankt steht das bekannte logische Problem, ob die
erste Fignr der klassischen Syllogismaslehre eine petitio principii enthalte.
W. bestreitet das. Er sieht aber nicht, daß seine Beispiele nar einen Fall
amfassen, neben dem es noch andere gibt, daß die Fignr aber aach eine
Petitio enthalten kann.
Psychologisch sind mehre kürzere oder längere Bemerkangen: daß die
rechte Fragestellang schon eine bedeatende Leistong sei, daß die >Um-
zentrierong« (eine andere Erfassung des Problems) häufig einen Erkenntnis¬
fortschritt bringe n. a. Sie sind richtig, aber nicht nen. Der Mathematiker
kennt ja z. B. den Wert der Umzentrierang sehr genaa.
AloysMüller (Bonn).
Benno Srdmann, Logik. Logische Elementarlehre. 8. vom Verfasser
amgearbeitete Auflage. Heraasgegeben von Brich Becher. Berlin
und Leipzig, W. de Orayter a. Co., 1923. Preis geheftet 22 M.
XVI and 831 S.
Erdmann hatte die Bearbeitung der Neuauflage im wesentlichen beendet,
als er starb. E. Becher besorgte die äußere Redaktion, die aber noch
mancherlei Mühe brachte. In der Hauptsache ist das Bach angeändert
geblieben. Zahlreiche kleinere Änderungen worden angebracht, nur wenige
Seiten sind ganz nea geschrieben. Die .Logik* enthält sicherlich Teile von
bleibendem Werte. So bieten die historischen Aosfühmngen viel Material
and vor allem manche gute Anregung. Die Kritik anderer Anffassangen
ist vielfach klassisch in ihrer Treffsicherheit and Form; ich verweise z. B«
auf die Kritik der Urteilstheorien. Man findet logische Einsichten, die man
anderswo oft vergeblich sacht; man lese z. B., wie er die vollständige In<t
duktion als Induktion ablehnt oder wie er mit Hilfe mathematischer Gedanken
beweist, daß Induktion and Deduktion keine inverse Operationen sind. Becher
macht auch mit Recht darauf aufmerksam, welchen Reichtam die dem
wirklichen Denken entnommenen Beispiele gegenüber dem faden Material
der traditionellen Logik darstellen.
Man kann nnr zweierlei bedanem. Erstens dies, daß der orsprünglich
geplante zweite Band über die Methoden der Einzelwissensohaften non nicht
erscheint. Daroh seine tiefen Kenntnisse in vielen Einzelwissenschaften
wäre Erdmann wie wenige fähig gewesen, hier neue Einsichten zu erschließen.
Er hatte auch manche Teile dieses Bandes schon fertig, konnte aber des
Stoffes nicht überall so Herr werden, wie er es wünschte. An zweiter Stelle
ist bedauerlich, daß Erdmann den modernen Forschungen nicht größeren
494
Literatarberichte.
Einflafi aaf sich gegönnt hat. Einmal in der Logik nicht Gerade hier
hätte man es am ersten erwarten können, da von den älteren Logikern
Tielleicbt keiner der modernen Anffassnng so nahe steht wie Erdmann. £r
bat ja B. B. grundsätzlich Oegenstandstheorie in die Logik anfgenommen,
allerdings ist er noch ziemlich entfernt von der Art, wie wir heute diese
Dinge auffassen. Hier hat ihm das Weitergehen sein von Husserl richtig
gesehener Psjchologismns verbaut, von dem er noch manches besaß, wenn
er es auch nie zugab (wer tut das überhaupt von den heutigen Logikern ?).
Aber der Psychologe vermißt gleichfalls manches. Daß z. B. das Belations*
erlebnis im Urteilserlebnis eine Rolle spielt, ist doch wohl heute sicher.
Indes werden trotz solcher unausbleiblicher Mängel hoffentlich viele
Lehrende und Lernende noch lange Zeit Freude an diesem Buche haben.
Da es so, wie es vorliegt, von Äußerlichkeiten abgesehen, ans der Hand Erd¬
manns hervorging, ist es für viele ans der jüngeren Generation nicht nur
ein Buch, sondern auch ein Andenken an das lebendige Wort, das sie früher
aus Erdmanns Munde hörten.
Aloys Müller (Bonn).
Emil Lask, Gesammelte Schriften. Heransgegeben von Eugen Herrigel.
I. Bd. Mit einem Geleitwort von Heinrich Rickert. XXIV n.
856 S. Preis geh. 12,50 M„ geb. 17 M.. U. Bd. IV u. 463 S.
Preis geh. 15 M., geb. 19,50 M. HI. Bd. Mit einem Faksimile. FV
u. 318 S. Preis geh. 10.50 M., geb. 15 M. Tübingen, J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), 1928/24.
Der erste Band enthält außer dem Geleitwort von Rickert und dem
Vorwort des Herausgebers die Schrift »Fichtes Idealismus und die Geschichte«,
den Beitrag über »Rechtsphilosophie« ans der Kuno Fischer-Festschrift, die
Antrittsvorlesung »Hegel in seinem Verhältnis zur Weltanschauung der
Aufklärung« und den Kongreßvortrag »Gibt es einen Primat der praktischen
Vernunft in der Logik?«. Alle diese Arbeiten sind nngeändert und ohne
Zusätze abgedruckt. Im zweiten Bande stehen die logischen Schriften
»Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre* und «Die Lehre vom
Urteil«. Hierzu hat Lask zahlreiche Notizen und Einfügungen gemacht.
Indes hat der Herausgeber den bisherigen Text unverändert gelassen und
die kleineren Znsätze in Anmerkungen, die größeren in Anhängen unter¬
gebracht. Der dritte Band bringt zunächst eine Vorlesung über Platon,
die stark gekürzt werden mußte. Dann den Anfang des Entwurfs eines
Systems der Logik. Unter den Titeln »Zum System der Philosophie« und
»Zum System der Wissenschaften« sind eine Reihe einzelner Gedanken und
Überlegungen gesammelt mit starker Streichung von Wiederholungen und
Aufgegebenem. Der dritte Band enthält ganz neues, nie veröffentlichtes
Material.
Es stimmt traurig, diesen Torso des Lebenswerkes eines solchen Denkers
vor sich zu sehen. Ich halte Lask für einen der bedeutendsten modernen
Philosophen. Sr kam bekanntlich von Rickert her. Schon in der »Logik
der Philosophie« und in der »Lehre vom Urteil« hat er Rickertsche Grund¬
gedanken weiter und tiefer ausgebaut, geriet dabei natürlich hier und da
auch in Gegensatz zu Rickert. Daß seine Entwicklung noch lange nicht
zu Ende war, zeigen die Veröffentlichungen des 3. Bandes. lu den Gedanken
dieser Niederschriften begann sich wieder Neues vorzubereiten, das, wie mir
Literatarberichte.
495
scheint, ihn anch in der Erkenntnistheorie noch weiter von Richert abführte.
Was hätte er noch leisten können mit seinem feinen, sngleich durchdrin¬
genden nnd umfassenden Verstand, wenn der Krieg den Faden nicht durch¬
schnitten hätte! Es gibt jedenfalls kaum einen Zweiten, der besonders im
Reiche des logischen Denkens so heimisch ist nnd so viel sieht wie Lask,
nnd es gibt sicherlich keinen, der in prachtvoller Sprachbeherrschnng diese
trockenen Dinge so anschaulich nnd bildhaft darznstellen vermag wie er.
Ob sich der leise Zug der Logisiernng, der sich leider immer mehr in seinem
Denken vordrängte, ganz ansgewirkt haben würde, lasse ich dahingestellt.
Der Psychologe kann zweierlei ans diesen Bänden lernen. In dem dritten
Band findet er hübsche Beispiele, wie Oedanken sich entwickeln, wie das
Denken des Denkers (nicht das der Bücher) fortschreitet. Und alle Schriften
von Lask können ihm zeigen, was eigentlich logische Probleme sind. Es
täte manchen Psychologen sehr gut, wenn sie das wüßten.
Aloys Müller (Bonn).
Dr. Erwin Loewy-Hattendorf, Krieg, Revolution nnd Unfallnenrosen.
Veröffentlichungen ans dem Gebiete der Medizinalverwaltnng. Im
Aufträge des Ministeriums für Volkswohlfahrt heransg. von der
Medizinalverwaltnng. XI. Bd. 4. H. (Der ganzen Sammlung 118. H).
Berlin, Richard Schoetz, 1920. S1 S.
Die Anschauungen über die Unfall- nnd Rentennenrosen nnd deren Be¬
handlung werden unter Anführung der einschlägigen, insbesondere während
des Krieges erschienenen Literatur eingehend besprochen. Ref. kommt zu dem
Schluß, der Krieg habe gelehrt, daß die ungünstige Prognose, die durch
Oppenheims Lehre den Tranmatikern gestellt wurde, falsch ist, daß vielmehr
die rein psychogene Ätiologie feststebe und so anch die prinzipielle Mög¬
lichkeit der Psychotherapie. Da das sozialpsychologisch und sozialpolitisch
wichtigste aller ursächlichen Momente das Rentenbegehren ist, ist nach dem
Verf. die Kapitalabfindnng das einzige Universalmittel, das es dagegen zu
geben scheint. Nur die Erledigung des traumatischen Komplexes führt
nach B. zur Gesundung und Arbeitsfähigkeit. Deshalb fordert er, daß die
Ärzte in Gutachten nnd sonstigen Äußerungen dies beherzigen, nnd daß sie
auf dem Gebiete des Unfallwesens eine bessere Ausbildung erhalten.
S. Fischer (Breslau).
Dr. Eduard Hits chm an n, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters,
seiner Gestalten nnd Motive. Internat, psychoanalytischer Ver¬
lag 1919. 125 S.
Der Leser erfährt in den 5 Kapiteln dieses Büchleins (die Bedeutung
der Mutter, das Erbe des Vaters, zum Liebesieben, der Maler nnd das Nackt¬
heitsmotiv, künstlerisches Werden) allerlei Neues insbesondere über das
Sexualleben des Dichters. Wenn Keller sich z. B. bis zum 28. Lebensjahr
von der Mutter ernähren läßt, so ist das ein Regredieren oder Verharren
in jenem Zustand frühesten Lebens, wo die Mutter aus ihrer Brust ernährt.
Je enger sich später erotische Neigung mit Dankbarkeit für Hnngerstillen
verknüpft, desto eher fixiert sich das Ernährenlassen anch für später. Man
erfährt weiter von der Analerotik des Dichters, von seiner Dirnenliebe, der
sublimierten Gleichgeschlechtlichkeit, seinen Inzestgefühlen, der frühen
496
Literatarberichte.
Verdrängung sexuellen Scbsuens und seinen exhibitionistischen Trieben-
Verf. kommt zu diesen eigenartigen Ergebnissen durch Übertragung nn*
bewiesener psychoanalytischer Lehren auf einzelne herausgegriffene Stellen
ans den Werken des Dichters. Zn einem TerständnisTollen Erfassen »des
Dichters, seiner Gestalten und Motive« gehOrt aber mehr als dies.
S. Fischer (Breslau).
Professor Dr. Robert Qanpp. Das sexuelle Problem vom psychologischen
Standpunkt. Ansprache an die Studentenschaft der Universität
Tfibingen. Tfibingen, Lanppsche Buchhandlung, 1920. 24 S.
In schwungvoller Bede wendet sich der Tübinger Professor an die stu¬
dierende Jugend, nicht um in gelehrten Worten das Sexnalproblem zu läsen,
sondern um zu zeigen, wie er auf Grund seiner reichen Lebenserfahrung
als Psychologe und Psychiater diese Fragen anschant. Verf. beginnt mit
einer Klärung des Begriffs sexuell, berührt die Frage des Selbsterhaltungs¬
triebes, des Geschlechtstriebes, dann die praktischen Fragen der Beziehungen
von körperlicher und geistiger Arbeit zum Sexualtrieb, um schließlich die
aus dem Geschlechtstrieb hervorgehenden seelischen und sozialen Konflikte
zu beleuchten.
S. Fischer (Breslan).
Dr. Placzek. Das Geschlechtsleben des Menschen. Ein Grundriß für Stu¬
dierende, Ärzte und Juristen. Leipzig, Thieme, 1922. XII, 206 8.
Das Buch soll nach den Worten des Verfs., obwohl nur ein Grundriß,
doch das gesamte sexnalwissenschaftliche Wissensgebäude enthalten und
dem Leser jede Einzelheit anschaulich vermitteln. Voransgeschickt sind
eingehende anatomisch-physiologische Vorbemerkungen über die männlichen
und weiblichen Geschlechtsorgane. Da das Buch auch für Nichtmediziner
bestimmt ist, würde die Anschaulichkeit durch Abbildungen gewinnen. In
einem kurzen Abschnitt wird dann das Geschlechtsleben des Kindes behandelt,
wobei Verf. sich gegen die einseitigen Ansichten der Psychoanalytiker wendet.
Es folgt eine ausführliche Darstellung der Erscheinungsformen der Pubertät,
der Symptomatologie des Geschlechtsdrüsenausfalles und des Geschlechts¬
triebes. Den größten Teil des Buches nimmt der letzte Abschnitt über die
Anomalien des Geschlechtstriebes ein, unter denen quantitative und qnalitative
unterschieden werden. Verf. beschränkt sich dabei im wesentlichen auf
die Beschreibung der wichtigsten Perversionen und der körperlichen Symp¬
tome der damit Behafteten. Hervorzuheben ist, daß Placzek bezüglich
der Homosexualität der Anschauung nahesteht, daß sie wohl auf angeborener
Anlage beruhen kOnne, daß es aber durchaus nicht ansgeschlossen sei, daß
zu irgendeiner Zeit der Gesehlechtsentwicklnng, solange die Triebrichtung
noch undifferenziert ist, äußere Einflüsse richtunggebend wirken. Psycho¬
logische Erklärungen für das Entstehen der Perversionen werden vermieden,
dagegen gibt das Buch vom somatisch-medizinischen Standpunkt ans einen
gnten und vorurteilsfreien Überblick über das Geschlecbtsleben des Menschen.
S.Fischer (Breslan).
Literatorberichte.
497
Theodor Friedrichs, Zar Psychologie der Hypnose and Saggestion
(mit einem Vorwort von Arthnr Eronfeld). Kleine Schriften sor
Seelenforschnng. Stattgart, Jolias Pttttmann, 1922. 32 S.
Verf. vertritt den Standpnnkt, daß die Saggestionsph&nomene dnrch
psychologische Tatsachen ihre aasreichende Erkl&rang finden, and daß es
dazn keiner physiologischen Dentong bedarf. Um einen Einblick in diese
Phänomene za gewinnen, versacht Verf. znnächst eine phänomenologische
Betrachtoug and stützt sich dabei vielfach anf andere Antoren. Als cha*
rakteristisch für den hypnotischen Znstand wird die Bewaßtseinseinengong
g^efanden, die Bedentong der affektiven Vorgänge für die Saggestionswirkang
wird gestreift; Schlaf and Hypnose werden verglichen. Im zweiten Abschnitt,
den genetisch- psychologischen ErOrterongen, werden in der Haaptsache
andere Antoren zitiert. Verf. kommt za folgenden vorläafigen Ergebnissen.
Die Snggestibilität änßert sich in bestimmten archaistischen Erlebnisweisen
and -dispositionen im Sinne der »Gläabigkeit« and ihrer »magischen« Sym¬
bolik. Die Snggestibilität stammt aas affektiven Qnellen. Die snggestive
Bindong ist in vieler Hinsicht analog der Liebesbindnng anznsehen. Die
Snggestibilität ist genetisch begreifbar ans einer nnbewnßten Determinante:
der triebbedingten ichlosen »snggestiven« Folgsamkeit des Kindes gegen
die Eltern.
S. Fischer (Ereslaa).
Dr. med. Eng eien and Dr. phil. Bangette, Nene Forsch angswege bei
traamatischen Neorosen. Berlin, Richard Schoeth, 1919. 64 S.
Die Arbeit stellt einen Versach dar, die traamatischen Nenrosen ttiit
psychologischen Experimenten za erforschen. Dazn wird vor allem das
Assoziationsexperiment verwendet, mit dessen Hilfe Verff. den Nachweis von
Rentenbegehrangen za erbringen versnoben. Aach die Abgrenzang der
Simalation soll damit gelingen. In einigen Fällen worde zor Analyse der
begleitenden Gefühle Pals and Atmong gemessen. Im Schiaßabschnitt wird
die Forderang nach Speziallaboratorien znr Erforschong der traamatischen
Neorosen gestellt. — Einen großen Baam nehmen theoretisch-psychologische
ErOrtemngen ein, die znm größten Teil bekannt, znm Teil ebenso wie die
Aaswertnng der Ergebnisse der Assoziationsexperimente anfechtbar sind.
S. Fischer (Breslan).
Prof. Dr. Adalbert Gregor and Dr. Else Voigtländer, Charakter-
straktnr verwahrloster Kinder and Jagendlicher. Beiheft 81 znr Zeit¬
schrift für angewandte Psychologie. Leipzig, J. A. Barth, 1922. 72 S.
Anf Grand statistischer Erhebangen an schalpflichtigen and schalent¬
lassenen ZOgUngen einer Fürsorgeanstalt ontersnchen Verff. die Charakter¬
züge bei den Verwahrlosten beiderlei Geschlechts. Bei den männlichen
Individnen fanden sich mehr Eigenschaften, die anf moralische Minder¬
wertigkeit, gemütliche Stompfheit and Aktivität denten, bei den weiblichen
mehr solche, die anf gemütliche Reaktionen and Beweglichkeit hinweisen.
Verff. kommen za der Feststellang, daß weibliche Verwahrlosang mehr als
Steigerang typischer weiblicher Unznlänglichkeiten, die männliche dagegen
mehr als Ansfloß einer besonderen Veranlagnng erscheint. Der Vergleich
der Ergebnisse an Schalpflichtigen and Schalentlassenen ergab, daß die an-
Archlv für Psychologie. XLVm. 32
498
Literatarberichte.
geborene Anlage bestimmender wirkt als die Entwicklung, der Qeschlechts*
unterschied stärker als der Altersnnterachied. Verff. nntersnchen daranf
die Bedehnngen der einzelnen Charaktermerkmale xn den Gmppen der
moralisch Schwachen nnd moralisch Minderwertigen. Die Qmppen Anden
wieder eine ünterteilnng in Psychopathen, psychisch Defekte, Debile, Im*
bezille nnd Epileptiker. Verwirrend ist die Verwendung des Ansdmoks
Psychopathen, da im klinischen Gebrauch dieser Begriff als Oberbegriff die
moralisch Minderwertigen mit umfafit.
S. Fischer (Breslan).
Miracles and the new Psychology. A Study in the Healing Miracles of the
New Testament. By E. R. Micklem, Oxford Unirersity Press,
London, Hnmphrey Milford, 1922. Kl. 8^. 148 S.
Nach einleitenden Bemerkungen Aber Psychotherapie, wobei die mit
religiösen Vorgängen verknüpften Heilungen (Lonrdes, Christian Science,
nsw.) außer acht bleiben, berichtet nnd untersucht der Verf. die im Neuen
Testament überlieferten »Wunder«. Er zeigt, daß die Angaben im all*
gemeinen zu unbestimmt sind, um eine sichere Diagnose der in Frage
stehenden Krankheiten zu ermöglichen. Was hingegen das Heilverfahren
anlangt, so kann es mit ziemlicher Sicherheit als suggestives bezeichnet
werden. Erstaunlich bleibt nur die Schnelligkeit, mit der die HeUnngen
erfolgt sein sollen, nnd bedauerlich ist, daß wir über die Dauerhaftigkeit
der so vollzogenen Kuren nichts erfahren. Immerhin wäre es verkehrt,
wollten wir, wie die heutigen Ärzte, nur von Snggestionswirknngen reden.
Jesus hat sich nicht damit begnügt, Symptome wegzusuggerieren, sondern
er hat jedesmal die ganze Persönlichkeit des Kranken wiederhergestellt,
indem er ihn in eine neue nnd richtige Beziehung zum Leben überhaupt
setzte; seine Berührung brachte den Kranken in Berührung mit Gott. Sonach
läßt sich mit unserer heutigen Psychotherapie, soviel sie auch im einzelnen
zum Verständnis der Evangelien-Erzählnngen beitragen mag, das Wesentliche
des Vorgangs nicht ergründen; am nächsten kommen diejenigen dem Ver*
ständnis, die durch Gebet ihre körperlichen Leiden erfolgreich zu bekämpfen
gelernt haben. — Ein Urteil über das Büchlein ließe sich nur geben, wenn
man Zusammenhang einerseits, Widerstreit andrerseits zwischen dem Psycho*
logischen und dem Metaphysisch-BeligiOsen genauer erOrtem wollte. Da
das hier nicht mOglich ist, so muß auf Kritik verzichtet werden.
Max Dessoir (Berlin).
Le mdcanisme de la Snrvie. Explication scientiAque des phdnomhnes mdta-
psychiques. Par A. Bntot etM. Schaerer. Paris, Felix Alcan,
Bruxelles, La Vnlgarisation intellectuelle, 1923. El. 8*^. 123 S.
Dies rein theoretische Buch setzt die okkulten nnd medinmistischen
Erscheinungen als anerkannte Tatsachen voraus. Die bisher vorliegenden
Erklärungen — entweder durch Geister oder durch Eryptaesthesie nnd Ekto*
plasie besonders veranlagter Menschen — genügen jedoch den Verfassern
nicht. Sie vermissen die Rücksicht auf das »Milien«, in dem beide, Geister
wie Menschen, wirken; mit dem Wort »Snrvie« bezeichnen sie (in Anlehnung
an bekannte Ausdrücke der heutigen Physik) ein Energienfeld, das durch
seelische Einflüsse des Individuums gebildet wird: während des Lebens
Literatorberichtd.
499
wttrde jeder Mensch im Weltgansen ein »Strahlenfeld« verwirklichen, ans
dem die angedenteten okknlten Erscheinungen und das Fortleben nach dem
Tode sn begreifen wären. Die Schwingungen der »Energie psychiqne«
haben solche Wellenlänge und Freqnens, »qu'elles se placent ä reztrfime
hont de la serie ultra*violette, aprbs les rayons X et les rayons gamma du
radium«. Es scheint mir nicht nOtig, solchen Spekulationen weiter sn folgen.
Max Dessoir (Berlin).
La connaissance snpranormale. Etüde experimentale. Par le Dr. Engbne
Osty. Paris, Felix Alcan, 1928. S». ynn.888S.
Mit Vertrauen erweckendem Ernste berichtet der Verfasser von Er*
fahrungen, die er bei sogen. Hellsehern gemacht hat. Er verteidigt nicht
nur die Annahme, daä ein verborgenes seelisches Leben sich sn einem
■weiten Ich ansgestalten nnd ein eigenes Gedächtnis entwickeln kann, sondern
er hält Übertragung von Gedanken nnd telepathische Auffassung fremder,
selbst unbewußter Seeleninhalte für mSglich. Sonach mag es sich ereignen,
daß die unbewußte Kenntnis von beginnenden kSrperlichen Leiden oder von
alten, längst vergessenen Erlebnissen sich auf einen Hellseher überträgt.
Herr Osty glaubt ferner an ein von Person su Person schwingendes »Fluidum«,
das er freilich wissenschaftlich absuleiten nnd einsnordnen außerstande ist.
Er leugnet jedoch ein Voraussehen allgemeiner, d. h. nicht unmittelbar mit
einem persönlichen Lebensablanf verbundener Ereignisse, also beispielsweise
die Vorahnung eines Krieges überhaupt, während das Einzelschicksal (Ver*
wundnng, Tod) vorausgesehen werden kOnne. Endlich erblickt er in toten
Gegenständen Trilger solchen Fluidums. Aber die Gegenstände sind nur
vorübergehend nnd nicht notwendig Vermittler zwischen Ich nnd Ich. Der
Hellseher ist »sensible aux modalitOs dnergOtiqnes dont nous imprOgnons
les objets que nous tonchons, est capable des se comporter envers chacnn
des Otres hnmains ayant tonchd nn objet« (S. 806). Wenn das der Fall
sein sollte, dann wäre allerdings beinahe jede Aussage richtig! Überhaupt
will mir scheinen, als ob der Verfasser, bei aller Buhe nnd Gründlichkeit
des Vorgehens, mit Beobachtungen und Erklärungsversuchen arbeitet, die
viel su weit gespannt sind. Immerhin halte ich das Buch für eins der
wenigen lesenswerten Bücher okkultistischer Bichtnng.
_ Max Dessoir (Berlin).
Die okknlten Phänomene im Lichte der Wissenschaft. Gmndzüge einer
Magiologie. Von Dr. phil. Karl Hermann Schmidt. (Samm¬
lung Göschen.) Berlin nnd Leipzig, Walter de Gmyter & Co., 1923.
12®. 134 S.
Das Büchlein erhebt sich über das durchschnittliche Schrifttum auf
diesem Gebiet, indem es versucht, die okkulten Erscheinungen teils durch
systematische Gliederung, teils durch Einordnung in weitere Znsaonmenhänge
verständlich zu machen. Aber es trägt doch das weltanschauliche Moment
als entscheidend in Fragen hinein, für die es nur mittelbare Bedeutung hat.
Wenn Dr. Schmidt behauptet, Crookes und Zöllner würden »mundtot gemacht,
weil ihre Forschungsresnltate nicht zur herrschenden Weltanschauung der
Zeit passen«, so verfehlt er den springenden Punkt. Unsre Wissenschaft
hat die merkwürdigsten Entdeckungen nnd die umwälzendsten Behauptungen
anerkannt, weil sie gut begründet wurden, und sich gegen den Okkultismus
82*
500
literatorberichte.
ablehnend rerhalten nicht ans Trägheit, sondern ans grundsätzlich be¬
rechtigtem Widerstand gegen nnznlängliche BeweisfOhrnng. Aber sie wird
sehr znfrieden sein, wenn sie ihre Forschungen immer weiter in das Gebiet
des sogen. Okkultismus hineinfhhren kann. Der Verfasser des Torliegenden
Buchs will als Tatsachen anerkennen: das ünterbewuStsein, Telepathie und
Hellsehen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, parapbysische Ideo-
plastie und endlich Telästhesie (Wünschelrute) und Teleplastie. Er fügt
hinzu: »Die Durchdringung der Materie kann als Wahrscheinlichkeit gelten,
aber von der Astrologie, den Apporten und dem objektiven Spuk kann nur
als von Möglichkeiten gesprochen werden«. Ich persönlich vermag in der An¬
erkennung nicht so weit zu gehen. Max Dessoir (Berlin).
0. Selz, Oswald Spengler und die intuitive Methode in der Geschichts¬
forschung. F. Cohen, Bonn 1922.
Die kleine Schrift beleuchtet Spenglers historische Methode in ihren
beiden Hauptzügen, dem eigentUch intuitiven und dem morphologiseh-
vergleichenden. Die Geschichte als Darstellung lebendiger Vorgänge kann
nicht nach kausalwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht werden, da
jede Kultur etwas Eigenartiges, Einzelnes, Noch-nicht-Dagewesenes und
Nie-Wiederkehrendes ist, somit sich für ihre besondere Artung kein Kausal¬
zusammenhang ableiten läfit. Das Wesen einer Kultur kann nur rein an¬
schaulich erfaßt werden in der Art eines guten Menschenkenners, der in¬
tuitiv in andern Seelen zu lesen versteht. So entdeckt diese »physiognomische
Methode« durch »Einfühlung« den ureigensten Wesenszng eines jeden Kultur-
kreises in allen seinen Lebensäufiemngen (Religion, Kunst, Wissenschaft,
Staatenbildung, Philosophie) wieder, vor allem die Art seines Zeitgefühls
und die Art seines Raumgefühls.
Spenglers eigenartigste Leistung aber ist die Durchführung einer ver¬
gleichend-morphologischen Geschichtsbetrachtung, durch die ein gleichartiger
Lebensablauf aller Kulturen aufgedeckt wird mit homologen Erscheinungen,
wie der Bildung des religiösen Mythus in der Frühzeit, der großen Knnst-
entfaltung in der Reife, dem Entstehen der großen philosophischen und
wissenschaftlichen Systeme in der Spätzeit und dem Übergang in nur noch
ansbauende und schließlich resignierende Zivilisation beim Altem.
In Gegensatz zu Spengler stellt sich der Verfasser, indem er für letzte
Kulturen größere Bereicherung der seelischen Möglichkeiten ans dem
wachsenden Schatz der Vergangenheit annimmt, so daß immer weitere
kühne Theorien zu weiterer Erkenntnis führen konnten, wohingegen Spengler
(S. 528) hier jedem Knltnrkreis seine Grenze gesetzt hat, indem er sagt:
»Das, was wir als wissenschaftliche Ergebnisse zu finden vermeinen, liegt
der Art und Weise unsres Suchens schon zugrunde«. Und ob in der Tat
der »höchste Triumph« der Einsteinschen Relativitätstheorie, die ja nach
Spengler schon Beginn der Resignation bedeutet, für Kulturen mit einem
ganz anderen Zeitgefühl Bedeutung hat, das ist ja gerade das von Spengler
aufgeworfene Problem. Dr. Otto, Remscheid.
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b, H. IN LEIPZIG
Kürzlich erschien:
Die Dekadenz der Arbeit
von
Prof. Dr. Th. Svedberg
Nach der 2. Auflage aus dem. Schwedischen übersetzt von
Dr. B. Finkelsteln
Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der
Energie, Moleküle und Atome, Kolloide, moderne Transmutationsversuche,
flüssige Kristalle usw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ¬
lichen und anziehenden Form dargestelit, für die die schwedischen Gelehrten
eine besondere Gabe besitzen.
Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen.
Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.—
Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prineip erhalten, das mehr als
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im
Vordergründe des wissenschaftlichen Interesses stehenden Probleme dargelegt. . . .
Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen.
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet.
AVo/. Outbier, Jena, in Chemikerzeitung,
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. IN LEIPZIG
Soeben erschien:
Die Formen der Wirklichkeit
Vorträge, gehalten in der
Kieler Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft
zum 200. Geburtstage Kants
von
G. Martlus und J. Wittmann
ehern. Prof. a. d. Univ. Kiel a. o. Prof. a. d. Univ. Kiel
114 Seiten. Preis: Goldmark 5.—
Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über
Raum, Zeit und Wirklichkeit
(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants)
Der zweite Teil von G. MARTIUS über
Die Kategorienlehre Kants
ln diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten,
in einfacher, klarer Form entwickelt.
AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M. B. H. 1
Kritik des Idealismus
von
Friedrich Jodl
Bearbeitet und herausgegeben von
Karl Siegel und W. Schmied-Kowarzik
Universitätsprofessor Privatdozent
Preis brosch. Goldmark 6.—, geb. Goldmark 8.—
Aus den Besprechungen:
Man wird die Schrift gewiß nicht ohne starken Eindruck aus der Hand |
legen, der ganz besonders auf Rechnung des Schlußkapitels zu stellen sein
dürfte, in welchem Jodl sein Bekenntnis zum wahren — praktischen —
Idealismus im Gegensätze zum falschen — theoretischen — ablegt: dies '
Kapitel enthält im besten Sinne des Wortes sein philosophisches Testament I
Octerrelchisch« Riuidscluiu, Wi«a.
Das Buch ist mit überzeugungsstarkem Pathos und großer Darstellungs- i
kraft geschrieben. Man wird es darum mit Interesse und mit wirklichem '
Gewinn lesen, auch wenn man im einzelnen seine Gedanken verwirft.
Neu« Jüdische Presse, Frsjikfiirl.
Ein neues Buch von jodl muß das lebhafte Interesse jedes Monisten
erwecken. Es handelt sich hier um ein Werk, das Jodl nicht vollendet j
hatte und das nach seinem Ausspruch ein philosophisches Testament dar- |
stellen sollte. Das Werk ist zur Einführung in die Grundprobleme der .
Philosophie geeignet. In klarer und m. E alle Zweifel beseitigender *
Weise wird mit dem Idealismus im Sinne des Platonismus und der Theo- i
logie Abrechnung gehalten. Merken wir uns das schöne Wort Jodls im .
Schlußkapitel: „Sich der Natur gegenüberzustellen als ganzer Mensch, ohne
jeden Mittler außer dem eigenen mutigen Willen: im Erkennen Realist, im |
Handeln Idealist, das soll der Lebensgrundsat’z des modernen Menschen |
sein.“ MonUtiiclie MonaUhefte, Hambiirg.
Aus dem Nachlaß Fr. Jodls ist eine „Kritik des Idealismus“ heraus- |
gegeben. Wir stehen im Zeichen Nietzsches: Jodls Kritik gilt dem Idealismus,
der es sich zu leicht macht und dem er — wie Nietzsche den Thueydides
dem Plato — die unbeschönigte Wirklichkeit als den Stoff unseres sittlichen
H.^ndelns in hinreisender lapidarer Sprache entgegensetzt, ist der Versuch ,
eines Liebhabers (ich wünsche das Wort „Dilettant“ durchaus zu vermeiden),
für sich und seinesgleichen aus den Materialien großer Systeme ein Haus zu
eigener Benutzung zu bauen. An solchen Versuchen soll man nicht mit dem
Stolz des vereidigten Professionellen vorubergehen.
Lit. Jahresbericht des Ofirerboades.
Buchdnickerc^ von Robert Noske in B- rna-Lnpziij.
GENERAL LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA—BERKELEY
SEVEN DAY USE
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stamped below.
Criiir
ATION-PSYCHOl
LIBRARY.
,OGY
RB 17-407n*8,’54
(6295s4)41Sd