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Full text of "Archiv für die gesamte Psychologie 48.1924"

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I 






ARCHIV 

FÜR DIE 

GESAMTE PSYCHOLOGIE 

BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 

UNTER MITWIEKÜNÖ 

VON 

C N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW, 

A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN, 

F. KRÜEGER, G; MARTIUS, A. MESSER, 

G. STÖRRING, J. WITTMANN 


HERAUSOEGEBEN VON 

W. WIRTH 
XLVni. BAND 


MIT 7 TBXTFIOÜREN 



LEIPZIG 

AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAPT M. B. H. 

1924 




i^ych. 

l-ISRARrf 


Es wurden ansge^eben: 

Heft 1/2 (S. 1—192) am 8. JnU 1924 
Heft 8/4 (S. 198—600) am 10. Ansaat 1924 



Inhalt des achtundvierzigsten Sandes. 


M. Löwi, SchwellenanteniichQngea. Theorie nnd Experiment. 4Tafelfig:iiren 1 
S. W. Kbitkot, Zar Frage ttber die Transformation der Helligkeit Mit 

1 Textfigor.74 

Bbüno PBTBBiiAini, Bechterews Theorie der Konaentriemng. 

F. ScHNBBBSOHH, Die Wirkong Ton katastrophalen Ereignissen auf die Seele 

des normalen and anormalen Kindes.100 

Bbuno OüTMAmr, Die Ehrerbietnng der Dschagganeger gegen ihre Nnta- 

pflanzen and Haostiere.128 

Hans KbOobb, Zar Philosophie des Aineddemos Ton Knossos.147 

A. Pick, Bemerkongen za der Abhandlang Ton S. Fischer Ȇber das Ent 
stehen and Verstehen von Namen«.174 

Gustav Kakka, Zam Begriff des »Psychischen« and sdner Entwicklangs- 

geschichte.198 

Doba Lüdbkb, Experimentelle Untersachangen ttber das anmittelbare Be¬ 
halten mit besonderer Berttckdchtigang der Prozesse der Aofmerk- 
samkeit and des Wiedererkennens.218 

J. LninwoBSKT, Bevision einer Belationstheorie.248 

Abk» Hüllbb, Das Individnalitätsproblem and die Sabordination der Organe 290 
Hbbbbbt Janokb, Psychologie der sittlichen Selbstachtong and ihre Be- 

ziehnng zor Ethik seit Kant.882 

Abba Lkbtz, Experimentelle Untersachangen ttber die Bedentnng von 
Angenbewegangsempflndongen fttr die Schtttzong des räamlichen 

Charakters von Bewegongsgrttfien.428 

R. Pauu and A. Wxbzl, Über Farbenempflndnngen bei intermittierendem 

farblosem Lichte. Mit 2 Figoren im Text.470 

Literatarberiohte. Referate. 

JoHABBBS Hbssxb, Die philosophischen StrOmongen der Gegenwart. 

(Aloys Müller) .176 

Habs Dbibsch, Ordnangslehre, ein System des nichtmetaphysischen Teiles 

der Philosophie. (Biehard BeUmuth Ch>1d$ehmidt) .176 

Habs Dbibsch, Wirklichkeitslehre, ein methaphysischer Verlach. (Itiehard 

Hellmuth Chldeekmidt) .176 

Paul Hbbtz, Über das Denken and seine Beziehong znr Anschannng. 

(M.Löu)i) .181 

K. Kovpka, Beitr&ge znr Psychologie der Gestalt. (Aloye Mütter) . . . 182 
WoiiBOABo Köblbb, Die physischen Gestalten in Rahe and im station&ren 

Znstand. (Aloys Mütter) .182 

G. E. MCU.BB, Komplextheorie and Gestaltheorie. (Aloye Mütter) . . . 182 

Labt, J. M., Taylorsystem and Physiologie der bemfllchen Arbeit. (0. Klemm) 187 


r\T\ • • Q 




















Seite 


SippKL, H., Der Tamanterricht and die geistige Arbeit des Schalkindes. 

(0. Klemm) .187 

Eönio, Th., Beklame-Psychologie, ibr gegenwärtiger Stand — ihre prak* 

tische Bedentong. (0. Klemm) .188 

Bnssn, H. H., Das literarische Verständnis der werktätigen Jagend zwischen 

14 and 18. (0. Klemm) .189 

HARAI.P Höpfdino, Erlebnis and Dentang. (Friedrich Lipeiua) .... 189 
Kart. Höcksb, Phänomenologie des religiösen GefQhles in Abderhaldens 

Handbach der biologischen Arbeitsmethoden. (Ä. Körner) . . . 191 

Beligionspsychologische Literator (Nachlese). (A.. Körner) .486 

WtLHKLH WüHDT, Eine Wttrdigong. {Sann» Herrmann) .488 

A. WoHLOKHüTH, A Critical Ezamination of Psycho-Analysis. 

(Mölienhoff) . 491 

Kart. Hahsbh, Zot pathologischen Physiologie der Ataxie. (H. IHepd) 491 

Obdihans, Die Welt als Sabjekt-Objekt. (Äloyt Müller) .492 

Max WBBTHsnnn, Über Schlnfiprosezse im prodaktivea Denken. 

(Ahy» Müller) .498 

Bbhho Eudhaitw, Logik. Logische Elementarlehre. (Äloy* Müller) 498 

Emil Lask, Qesammelte Schriften. {Äloy$ Müder) .494 

Ebwin LoiwT-HATTXNDonp, Krieg, BeTolation and Unfallnearosen. 

(S. Fischer) .495 

EnnAni) HrrsoHKAinr, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters seiner 

Gestalten and Motife. (8. Fischer) .495 

BonmiT Gauff, Das sexnelle Problem Tom psychologischen Standpankt. 

(8. Fisi^er) .496 

Placzhk, Des Geschlechtsleben des Menschen. {8. Fischer) .... 496 
THXODom FnomnicHS, Zer Psychologie der Hypnose and Saggestion (mit 

einem Vorwort von Arthor Kronfeld). (8 Fischer) .497 

Ehoklbr and Banqkttb, Nene Forschongswege bei tranmatischen 

Neniosen. {8. Fischer) .497 

Adalbbbt Gbboob and Elsb Voiotlähdib, Charakterstmktar rerwahr* 

loster Kinder and Jagendlicher. (8. Fisdier) .497 

E. B. Mtklbh, Hiracles and the new Psychology. [Max Dessoür) . . . 498 
A. Botot et H. Schabbxb, Le mOcanisme de la Sarvie. {Max Sessoir) 496 
EcoAkb Ostt, La connaissance sapranonnale. (Max Vessoir) .... 499 
Kabl Hibmahh Schmidt, Die okkolten Phänomene im Lichte der Wissen¬ 
schaft. {Max Dessoir) .499 

0. Sbltz, Oswald Spengler and die intoitive Methode in der Geschichts- 
forschong. {Otto) . 500 




















ARCHIV 


FÜR DIE 


GESAMTE PSYCHOLOGIE 


BKGKl NDET VON E. MEUMANN 


UNTER MITWIRKUNG 


N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING, F. KIESOW, 
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM, E. KRAEPELIN, 

F. KRÜEGER, G. MARTIUS, A. MESSER, 

G. STÖRRING, J. VVTTTMANN 

HKRAUSGEGKBEN VON 


W. WIKTH 


XLVIII. BAND, 1. u. 2. HEFT 


MIT 4 TAFELFIOUREN UND 1 TEXTFIOUR 






LEIPZIG 

AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M. B. H. 


Ansgegeben am 3. Juli 1924 














: - itibalt des 1. u. 2. Heftes. 

.- • *. ijinle 

H: IjoAwv^efiA^elteBaitl&rtachTuigen. Theorie aad Experiment. 4Tafclfigareii I 
»s. W. Kravkov, Zur Frage über die Traufiformation der Helligkeit. Mit 

1 Textfigur ..74 

Bhcno Pktekma?w, Bechterews Theorie der Konzentrierung ..... ^'1 

F. 8CUNEKBSOHX, Die Wirkung von kataetrophalen Ereignissen auf die Seele 

eines normalen und anormalen Kindes.100 

Bh«jno Gutmann, Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutz* 

pfianzen und Haustiere ..1*B 

Hans Krüoeb, Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos.147 

A. Pick, Bemerkungen zu der Abhandlung von S. Fischer Ȇber das Ent* 

stehen und Verstehen von Namen« . ... 174 


Bemerkungen für die Mitarbeiter. 

1. Das Archiv erscheint in Heften, deren je vier einen Band bilden. 

2. Sämtliche Handschriften sind druckfertig an Prof. Dr. W.Wirth, 
Leipzig, Haydnstraße 6 “J, einznliefem; größere Änderungen im 
Satz sind unzulässig. Die Veröffentlichung geschieht in der Reihen¬ 
folge des Eingangs, jedoch bleihen Änderungen Vorbehalten. 

3. Zeichnungen sind auf besonderen Blättern zu liefern; außer¬ 
gewöhnliche Anforderungen an die Herstellung der Abbildungen 
bedingen vorherige Vereinbarung; dies gilt auch für größere und 
schwierige Tabellen. — Alle Tafel-Beigaben können nur auf 
Kosten der Verfasser hergestellt werden. 

4. Alle Kosten für Satz, Druck, Papier, Korrekturen usw. 
von Abhandlungen sind, soweit sie den Umfang von fünf 
Bogen überschreiten, von den Verfassern selbst zu tragen. 

5. 40 Sonderdrucke der Abhandlungen werden unberechnet 
geliefert, weitere können nur gegen Erstattung der Kosten ange¬ 
fertigt werden. V on Referaten werden keine Sonderdrucke geliefert. 

6. Korrekturen sind umgehend zu erledigen und an die Verlags¬ 
buchhandlung (ohnedie Handschrift) zurückzusenden. Korrektur¬ 
kosten, die der Autor selbst verschuldet hat, werden vom 
Verlage nur bis OM. 4.— pro Bogen getragen. 

Änderungen des Aufenthalts sind dem Verlage 
.sofort mitzuteilen. 

7. Die Orthographie ist die in Deutschland, Österreich und der 
Schweiz amtlich eingeführte (s. l>uden, Rechtschreibuugt. 

8. Erfüllungsort für beide Teile ist Leipzig. 

Herausgeber und Verlagsbuclihaudliing. 


T 










SchweUennntersuchungen. Theorie und Experiment. 

Von 

Priv.-Doz. Dr. M. Lowi, Breslau. 


Inhaltsübersicht. 

Erster Teil. 

I. Das Objekt der Psychophysik und die Beziehons' zwischen Psycho* 

physik and Psychologie.S. 2—12 

Das Verhältnis von Psychophysik nnd Psychologie S. 2—4. 

Die^ ans dieser Beziehong resultierende Frage S. 4. Einige 
InTsrianten in der Eonstanzmethode S. 4—6. Das Objekt als 
denkendes und die »Urteilsansdrttcke« S. 6—6. Die Notwendig¬ 
keit der Einbeziehung der Denkkomplexe in die Psychophysik. 
Forderung freien Verhaltens hinsichtlich des sprachlichen Aus¬ 
drucks S. 6—12. 

n. Die Schwelle.S. 12—20 

Das Schwellenerlebnis und seine Ausdrllckbarkeit S. 12. Der 
Belationscharakter der Schwelle nnd ihre Aufgabennatur S. 12—14. 

Das Zusammenfällen von Begriff nnd Tatsache in der Schwelle als 
Ausdruck der Augenblickserfassnng des Erlebten S. 14—16. Technik 
für die Behandlung der Schwelle im haptischen Hodalgebiet S.16—16. 

Die Fragestellung für die Untersuchung der Schwelle S. 16—17. 
Versuche nnd Gruppierung der Aussagen S. 17—18 und 62—64. 

Das Recht der Einteilung ans der begrifflichen Natur des Problems 
8.18. Der gleichzeitig begriffliche nnd tatsächliche Charakter 
der Fragestellung als Bedingung für das in der Aussage »Ge¬ 
meinte« S. 18—20. 

m. Das Optimum als Begriff und Tatsache zugleich.S. 20—24 

Der Sinn der Frage in der experimentellen Psychologie S. 20—21. 

Die nach gegenständlichen Prinzipien erfolgende »Gestaltung« der 
Aussagen S. 22. Die »Gestaltung« als Funktion der Aufgabe 
S. 22-24. 

IV. Der Anfgabenwechsel als Begriff nnd Tatsache zugleich . . S. 24—27 
Das scheinbar anfgabenlose Verhalten derVersuchsperson S. 24—26. 

Die für das nichtoptimale Verhalten charakteristischen Beziehungen 
S. 26—26. Der Anfgabenwechsel als Ausdruck für den Belations¬ 
charakter des Erlebnisses S. 27. 

Archiv ffir Psychologie. XLVm. 


1 








V. Der Anfgabenwechsel als nene Fragestellimg.S. 27—84 

Die nichtoptimalen Aussagen als Ansdmck bedentnngshafter 
Erlebnisse S. 27—28. Die nene Instruktion S.28—29. Ein mög¬ 
liches Mißverständnis S. 29. Die »Aufgabe« in ihrem Verhältnis 
an einer Mannigfaltigkeit von Optimalerlebnissen S. 29—30. Das 
Optimum als Angenblickserscheinnng S. 80. Technik für die Dar¬ 
bietung zeichenhafter Beize S. 30—31. Versuche S. 81—82. Die 
falsche und richtige Fragestellung S. 82—83. Zusammenfassung 
S. 88-84. 

VI. Das Gestaltserlebnis.8.34—41 

Eine besondere Art optimaler Erlebnisse 8.84. Die Belation 
»unabhängig von« als Träger des Psychischen 8.34—86. Die 
psychologische Bedeutung der Belation »unabhängig von« in der 
Philosophie Kants 8.36—86. Die psychologische Bedeutung der 
das Oestaltserlebnis begleitenden Motive der Undeutlichkeit und 
Unsicherheit 8.36—89. Die »wörtliche« Äußerung der Gestalts¬ 
erlebnisse als Ansdmck der Angenblickserfassung 8.89—40. Die 
Lösung der zu Beginn der Untersuchung erhobenen Fragen 8.40. 

Die Bedeutung der objektiven Beize 8. 40. 

VII. Die experimentelle Bewältigung kompliziertester Optimalerleb¬ 
nisse .8.41—60 

Komplizierte optimale Aussagen beim Heben von Gewichten 
8.41—44. Das Hervortreten des Überraschnngseindracks 8. 44. 

Der Weg zur Lösung des Problems der Überraschung 8.44—46. 

Das Anffinden der experimentellen Bedingungen 8.46—48. Die 
Einstellnngsversnche in der Psychologie 8.48. Die Anfgaben- 
bezogenheit der Aussagen als Kriterium für ihre 8inngemäßheit 
bezw. ihre 8innwidrigkeit 8.48—49. Zusammenfassung 8.49—60. 

Zweiter Teil. 

Die experimentelle Psychologie ans ihrem Begriff . . . . S. 64—73 


Erster Teil. 

I. 

Die Psychophysik nimmt innerhalb der empirischen Psycho¬ 
logie vermöge ihrer geschlossenen Methodik eine Sonderstellung 
ein. Ihre Aufgabe ist eindeutig gegeben: es handelt sich ihr 
darum, »mittels Versuchen einen Hauptwert zu gewinnen, der 
eine Schwelle, einen dem Normalreiz äquivalent ei*scheinenden 
Reiz oder einen Reiz darstellt, der zu zwei oder drei anderen 
gegebenen Reizen hinzukommend zwei äquivalent erscheinende 
Reizunterschiede ergibt«*). Um jenem Hauptwert die Be¬ 
deutung einer gesetzmäßigen Größe zu geben, müssen bei seiner 
Berechnung die zufälligen Einflüsse berücksichtigt werden, auf 

1) G.E. Müller, Die Gesichtspunkte und die Tatsachen der psycho¬ 
physischen Methodik, 1904, S. 6. 








SchwellenantersnchaDgen. Theorie und Experiment. 


3 


welche die Abweichungen z. B. Ton Schwellenwerten, die unter 
gleichen Bedingungen gefunden wurden, zurfickgeführt werden^). 
Den Haupt- oder Mittelwert für eine Schwelle bestimmen, be¬ 
deutet für den Psychophysiker zugleich das »Streuungsmaß« 
oder Maß der »zufälligen Variabilität« berechnen, das mehr oder 
weniger genaue Auskunft darüber gibt, in welcher Weise die 
einzelnen Beobachtungswerte infolge der zufälligen Einflüsse von¬ 
einander ab weichen« *). 

Durch solche Aufgaben aber lockert sich das Band zwischen 
Psychophysik und Psychologie. Müller ist sich dieses Um¬ 
standes voll bewußt, für den Psychologen ist nicht die Aufgabe 
gestellt, den Hauptwert und das gewisse Streuungsmaß zu suchen, 
sondern »der Psychologe hat in erster Linie daran ein Interesse, 
das Wesen und die Gesetzmäßigkeit der psychischen Vorgänge 
zu ergründen, die dazu führen, daß wir zwei Beize, Baum- oder 
Zeitgrößen für gleich oder verschieden, zwei Beize oder zwei 
Unterschiede für in gewisser Hinsicht äquivalent oder nicht 
äquivalent erklären« *). 

Die unter dem Gesichtspunkte der Psychophysik als Fehler¬ 
quellen zu betrachtenden zufälligen Einflüsse können aber immer 
vorhanden sein, wo Urteile über Gleichheit, Ebenmerklichkeit, 
Äquivalenz und dergleichen gefällt werden. Sie können jedes¬ 
mal als die Motive zur Abgabe solcher Urteile angesetzt werden. 
Hieraus ergibt sich für den Psychologen die Aufgabe, auf jene 
zufälligen Momente nicht bloß im negativen Sinne seine Auf¬ 
merksamkeit zu richten, sie zu eliminieren, sondern positiv sich 
ihrer als mit der Beurteilung der gebotenen Sachverhalte in 
engster Berührung stehend zu bemächtigen. Es fragt sich, auf 
welche Weise man dieser psychischen Vorgänge habhaft werden 
kann. 

Was den methodischen Absichten der Psychophysik zweck¬ 
dienlich ist, wird für die Bestrebungen der Psychologie zum 
Hemmschuh. Dort gilt es, die für den quantitativen Vergleich 
oder den absoluten Eindruck von Empflndungen erforderliche 
Maßeinheit zu schaffen, hier sollen alle bei der Erfüllung jener 
Aufgabe latent mitwirkenden psychischen Faktoren in ihrem 
vollen Gliedenmgsreichtum festgehalten werden. 


1) Ebenda. 

2) Ebenda S. 6. 
8) a. a. 0. 8. 6. 


1* 



4 


Moritc Löwi, 


Wohl ist in manchem psychophysischen Verfahren dem Her¬ 
vortreten auch des psychischen Verhaltens der Versuchspersonen 
Rechnung getragen. Manche Methode gestattet die Berück¬ 
sichtigung der Aufmerksamkeit, der Eh'innerung, absoluter Ein¬ 
drücke des Leichten, Schweren und dergleichen mehr. Aber 
bestenfalls der Umstand, dafi diese Momente vorliegen, nicht 
aber die Analyse ihrer wissenschaftlichen Bedeutung wird durch 
die psychophysische Methodik gewährleistet Die Ansprüche 
der psychophysischen Maßmethoden bezüglich der Zuverlässig¬ 
keit ihrer numerischen Angaben mögen immerhin gerechtfertigt 
erscheinen, zu ihreu Ergebnissen kann sie nur Vordringen unter 
Ausschluß der die Aussagen der Versuchspersonen begleitenden 
psychischen Komplexe. 

Zwei entscheidende Fragen knüpfen sich an diesen Sach¬ 
verhalt, einmal die: Ist die Ausschaltung der psychischen Kom¬ 
plexe eine methodologisch begründete Voraussetzung jener 
Methoden? Diese Frage zielt auf die >Möglichkeit« der psycho¬ 
physischen Verfahren. Die zweite Frage würde lauten: Wie 
lassen sich die im Verlaufe jener Verfahren wirksamen psycho¬ 
logischen Motive wissenschaftlich bestimmen? Damit ist eine 
Aufgabe der empirischen Psychologie gestellt. Die Lösung 
dieser aber wird Licht werfen auf den Sinn jener. Die 
HeraussteUung der die Aussagen über Ebenmerklichkeit, Äqui¬ 
valenz usw. mitbestimmenden psychischen Momente wird an ge¬ 
wissen Stellen der wissenschaftlichen Entwicklung unumgänglich 
mit der Frage nach den Beziehungen zwischen Physischem und 
Psychischem verschmolzen. Die psychophysische Technik wird 
an diesen Punkten Gegenstand der Kritik. 

Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen steht zunächst 
die Frage, warum die experimentelle Anordnung der psycho¬ 
physischen Maßmethoden keinen Einblick gewährt in die in jedem 
Augenblick vorherrschende gesamte psychische Haltung der Ver¬ 
suchspersonen; ferner: durch welches Verfahren diese Haltung 
wissenschaftlich bewältigt wird, und schließlich: in welchem 
Ausmaß Psychophysik >möglich« ist. 

Für die Untersuchung der Unterschiedsempfindlichkeit ist 
nach Müllers Darstellung die Methode der »konstanten Reize« 
oder kurz »Konstanzmethode« am geeignetsten. Sie ist gewisser¬ 
maßen die exakteste von allen Methoden. Das will sagen: es 
gibt im Felde der messenden Psychologie kein Verfahren, dem 
es gelänge, das Verhalten der Versuchspersonen auf einen so 
eindeutigen Ausdruck zu bringen. So ist es bei gleichzeitiger 



ScbweUenantersnchnngen. Theorie and Experiment. 


5 


Wirksamkeit der fieize nicht einerlei, ob der Hanptreiz in Be« 
Ziehung gesetzt wird zum Vergleichsreiz oder umgekehrt, ob 
der linke zum rechten oder umgekehrt, ob der erste zum zweiten 
oder umgekehrt. Je nach der vorherigen Instruktion bezüglich 
der »Urteilsrichtnng« kommt auch den Ergebnissen ein beson¬ 
derer Sinn zu. Bei sukzessiver Darbietung der Reize sind 
wiederum die Vorteile des Verfahrens mit sogenannter gebundener 
Urteilsrichtung vor demjenigen mit freier Urteilsrichtung hin¬ 
sichtlich der Bewertung des Endergebnisses ausgezeichnet. Ebenso 
gibt es bestimmte Erwägungen für den Fall, daß die Reize so¬ 
wohl hinsichtlich der Raum- als auch der Zeitlage als verschieden 
zu betrachten sind. 

Besondere Aufmerksamkeit ist bei Anwendung der Eonstanz¬ 
methode auf die Wahl der innerhalb einer Reihe voneinander 
abweichenden Reizgrößen, z. B. der Spitzenabstände oder Ge¬ 
wichtsdifferenzen zu richten. Will man möglichst eindeutige 
Resultate erzielen, so sind die Werte jener Differenzen so zu 
wählen, daß die Beträge der relativen Häufigkeit der >richtigen« 
Urteile sich über einen großen Bereich der von 0 bis 1 reichenden 
Wertskala verteile. Es ist auch nicht gleichgültig, in welcher 
Weise mit den Differenzen innerhalb einer Versuchsreihe ge¬ 
wechselt wird, ob es sich um »aufsteigenden« oder »absteigenden« 
Wechsel handelt, ob nicht im gegebenen Falle der »zufällige« 
Wechsel am geeignetsten ist, um gewisse Nebenvergleiche, das 
sind Vergleiche mit voransgegangenen Versuchen, auszuschalten. 

Man sieht ohne weiteres, welchen theoretischen Sinn alle 
diese den Versuch regulierenden Angaben besitzen. Sie haben 
die Bedeutung der Invarianz, mit Rücksicht auf welche der ge¬ 
suchte Tatbestand seine Bestimmung erfährt. Nur im Hinblick 
auf sie besteht anscheinend das Recht, das Verfahren als Ex¬ 
periment zu kennzeichnen. Fallen diese Bestimmungen, so »hängen 
zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Be¬ 
trachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen«. 
Die Vernunft tritt nicht mit Prinzipien an die Natur heran, 
um sie zu befragen, und eben deswegen darf sie keine Antwort 
auf ihre Frage erwarten. 

Allein, wofern das Objekt ein denkendes ist, wie in den 
Untersuchungen der Psychophysik, ist Frage und Antwort von 
besonderer Art Dieser Gegenstand urteilt und denkt. Aller¬ 
dings glaubt die psychophysische Maßmethodik solchem Umstande 
Rechnung getragen zu haben. Sie stellt ihren Versuchspersonen 
Urteilsausdrücke zur Verfügung. Bei der Untersuchung von 



6 


Moritz Löwi, 


Unterschiedsschwellen ergaben sich ihr bisher als zweckmäßig 
die Urteile »yiel kleiner«, >kleiner<, »unentschieden«, »größer« 
und >yiel größer«; oder wie Ebbinghaus vorschlägt, »gleich«, 
»ebenmerklich größer«, »deutlich größer«, bezw. »ebenmerklich 
kleiner« und »deutlich kleiner« ^). 

Damit aber ist der Weg zum Verständnis des eigentümlichen 
Versuchsobjektes verlegt Denn einmal lassen die in diesem 
Sinne erfolgenden Aussagen der Versuchspersonen nicht im ge¬ 
ringsten das Objekt als denkendes oder urteilendes durchblicken, 
weil es sich hier überhaupt nicht um Urteile handelt, und 
zweitens, wenn diese Ausdrücke auch als Urteile betrachtet 
werden dürften, wären sie gerade als Urteile einer Bearbeitung 
nach Art der Psychophysik niemals fähig. Es ist schlechterdings 
nicht zu begreifen, was z. B. der Ausdruck »relative Häufigkeit 
der Größer-Urteile« bedeuten solL Eine Zahlenangabe über die 
Häufigkeit des Vorkommens des Urteils »größer« oder »unent¬ 
schieden« ist zwar möglich, besagt aber nichts über die ver¬ 
schiedenen Sinnbedeutungen, welche die Versuchspersonen mit 
der Aussage verbinden. Nur unter der Voraussetzung dieser 
Sinnbedeutungen aber kann jeweils von Urteilen die Rede sein *). 

Jene Urteilsausdrücke sind demnach keine Urteile, und das 
Objekt der psychophysischen Betrachtung kein denkendes, mit 
anderen Worten keine Versuchsperson. 

Vielleicht bestreitet man die Notwendigkeit einer Einbeziehung 
des Denkens in das psychophysische Arbeitsgebiet und weist die 
Denkvorgänge der Psychologie zu. »Dieses psychologische 
Interesse führt zu Fragestellungen und Anordnungen der Ver¬ 
suche, die dem rein psychophysischen Standpunkte... 
ganz femliegen.«^ 

Schon hier fordert das Verhältnis von Physischem zu 
Psychischem Beachtung. Denn aus jener Position ergibt sich 
eine methodologisch äußerst verhängnisvolle Folgerung, nämlich 
die grundsätzliche Trennung von Psychologie und Psychophysik. 
Daß eine solche Scheidung unmöglich ist, darauf deutet das 
Verfahren auch des reinsten Psychophysikers hin: auch er kann 
ohne die Äußerungen seiner Versuchspersonen Experimente 
nicht anstellen, mögen diese Äußerungen Urteile sein oder nicht. 
Selbstverständlich brauchen jene Äußerungen durchaus nicht 


1) a. a. 0. S. 90. 

2) Vgl. aach S. 14 f. 

3) Müller a. a. 0. S. 6/7. 



Schwellenimtersiichangeii. Theorie nnd Experiment. 


7 


worthafter Natur za sein. Wer nach der Methode der >hber- 
merklichen Unterschiede< einen subjektiv mittleren Beiz fest- 
steilen will, wer also etwa wie Plateau die Versuchsperson 
anffordert, ein Grau durch eigene Wahl anzugeben, welches ihr 
genau in der Mitte zwischen reinem Schwarz und reinem Weiß 
liegt, der ist in seinen Betrachtungen natürlich nicht auf die 
worthaften Äußerungen seiner Versuchspersonen angewiesen. 
Wohl aber muß die Versuchsperson zum mindesten auf irgend¬ 
eine Weise andeuten, welches Grau ihr den Anforderungen 
zu genügen scheint, sie muß sich irgendwie verständlich machen. 
Ohne Ausdruck kein psychophysischer Versuch. 

Der Ausdruck aber ist das Glied eines Gefüges, ans welchem 
er nicht gelöst werden kann, ohne seinen Sinn einzubüßen. 
Jedes Wort, jede Geste ist nicht allein das Endglied eines 
motorischen Vorganges, sondern zugleich das Symbol eines Ge¬ 
bildes, welches man »Akt« nennt. Wenn jemand das Wort 
»Tisch« ausspricht, so verbindet er im gleichen Augenblick einen 
für seine Person ganz bestimmten Gedanken damit. Es ist also 
gar nicht angängig, dieses Wort unabhängig von dem mit ihm 
gegebenen Gedankenkomplez ii^endeiner Behandlung zu unter¬ 
ziehen. Aus diesem wenigen schon ergibt sich das Bedenkliche 
einer Trennung von Psychophysik und Psychologie. Wer Psycho- 
physik treibt, ist von Anfang an dazu gedrängt, den psychischen 
Komplexen in seinem Verfahren schärfste Beachtung zu schenken. 
Er hat es mit denkenden Objekten zu tun. 

Vielleicht weist man angesichts dieser Einwände gegen die 
in der Psychophysik gangbare Behandlung der Urteilsausdrücke 
auf Versuche hin, welche erfahrungsgemäß immer wieder die¬ 
selben Urteilsausdrücke der Versuchspersonen ergeben haben, 
und zieht daraus folgenden Schluß: Zugestanden, Wort und 
Denkvorgang sind ein nnzerstückbares Gebilde, so folgt doch 
gerade ans solcher Einsicht, daß, wenn erfahrungsgemäß die¬ 
selben worthaften Äußerungen vorliegen, gleichzeitig auch die 
nämlichen Denkkompleze zum Bewußtsein kommen. Jene Aus¬ 
drücke, wenn sie auch nicht im streng logischen Sinne als Urteile 
gelten können, bedeuten doch stets dasselbe. Die Psychophysik, 
welche in diesem Falle gleichlautende Ausdrucksweisen als 
in jeder Beziehung für gleichbedeutend setzt, macht sich 
keines theoretischen Fehlers schuldig. In gleichlautenden Aus¬ 
drücken bearbeitet sie auch gleichgeartete DenkinhaJte. Sie 
nimmt also doch im Grande auf den den Ausdruck begleitenden 



8 


Moritz L5wi, 


bezw. ihm Yorhergehenden psychischen Ablauf im positiYen Sinne 
Rücksicht 

So bestechend der Einwand klingt, er ist ohne erhebliche 
Schwierigkeiten zu entkräften. Wenn Wort und Denkvorgang 
in Funktionalbeziehnng stehen, so folgt eben ans wiederholter 
gleichlantender Wortänßenmg noch lange nicht allemal derselbe 
Denkverlanf. 

Ans bestimmten, den Gang der Untersuchung betreffenden 
Gründen mögen in folgendem einige Versuche sprechen, obwohl 
der Einwurf allein schon aus prinzipiellen Blrwägungen heraus 
abgewehrt werden kann. 

Unter »Ortssinn« der Haut versteht E. H. Weber die Fähig¬ 
keit, die durch Einwirkung an verschiedenen Hautstellen hervor¬ 
gerufenen Empfindungen im Hinblick auf den Ort ihrer Ein¬ 
wirkung zu unterscheiden. »Mag ein Druck oder mag die 
Einwirkung von Wärme und Kälte eine Empfindung hervorrufen, 
so können wir ungefähr den Ort angeben, wo die die Empfindung 
erregende Einwirkung auf unsere Haut geschieht, und wenn wir 
an zwei Teilen der Haut, die einander nicht allzu nahe sind, 
gleichzeitig oder ungleichzeitig einen Eindruck durch Wärme, 
Kälte oder Druck empfangen, so unterscheiden wir die beiden 
Orte, wo auf unserer Haut eingewirkt wird, den größeren oder 
geringeren Abstand dieser Orte voneinander und können die 
Richtung der Linie ungefähr angeben, durch welche wir uns die 
beiden Orte verbunden denken können.«^) 

Weber strebte nun die Messung der Feinheit dieser Fähig¬ 
keit an den verschiedensten Stellen der Hautoberfläche an. Im 
Dienste dieser Absicht stehen seine Versuche mit geöffneten 
Zirkelspitzen, die bekannten Reizschwellennntersuchungen. Sie 
stehen also durchaus in Zusammenhang mit der Frage der 
relativen Unterscheidbarkeit der berührten Hautstellen. 

Noch eines anderen technischen Verfahrens bedient sich 
Weber für seine Zwecke: »Wenn man mit dem */* Zoll weit 
geöffneten Zirkel die Haut am hinteren Teile des Jochbeines in 
querer Richtung berührte, so empfand man nur eine Berührung 
oder glaubte wenigstens wahrzunehmen, daß die Enden des 
Zirkels einander sehr nahe wären. Je mehr man sich aber der 
Mitte der Oberlippe bei diesen Berührungsversuchen näherte. 


1) S. H. Weber, Tastsinn nnd Gemeingefühl, heransgegeben von Ewald 
Hering, in Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 149 S. 64/65. 



Schwelleniintersnchaogeii. Theorie and Experiment. 9 

desto weiter schienen die Zirkelspitzen voneinander abzustehen 
und desto deutlicher empfand man die doppelte Berührung.«^) 

Da es sich um die Feststellung der Unterschiedsempfindlich* 
keit handelt, liegt implizite die Möglichkeit der Unterscheidung 
vor. Weber spricht in den zitierten Fällen von der Angabe 
der Orte, von der Angabe der Kichtung. Die möglichst genaue 
Bestimmung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Reiz und 
Empfindung ist für ihn nicht geknüpft an gewisse vorher fest¬ 
gelegte Urteilsausdrücke. Das ist kein Mangel, sondern ein 
Vorteil gegenüber der Psychophysik. Die theoretische Bedeutung 
der Sprache für das psychophysische Verfahren wird sich alsbald 
ergeben. 

Es soll also an der Hand der von Weber angestellten Ver¬ 
suche die Funktionalbeziehung zwischen Wort und Denkvorgang 
ihre Klärung erfahren. Die an zweiter Stelle beschriebenen 
Versuche habe ich mit Bezug auf diese Beziehung geprüft 

Versachsanordnang; Die 12 mm weit geöffneten Zirkelspitzen 
werden etwa SO** gegen die Horizontale geneigt anf das Jochbein am Ansatz¬ 
punkt der Ohrläppchen anfgesetzt, nach etwa 2Vt—8 Sekonden abgesetzt. 
Die Yp. macht ihre Anssage, ob sie eine oder zwei Spitzen gespürt hat, and 
wie im zweiten Falle die Verbindangslinie beider Spitzen lag. Alsdann 
wird dieselbe Spitzenentfemnng mit derselben Neignng, nnr weiter vom 
Ohrläppchen entfernt, näher der Mitte der Oberlippe za, anfgesetzt and so 
fort, bis die eine Spitze die Oberlippe berührt. 

Vp. K., Anssagen: 

1. Ich habe eine Spitze gespürt. 

2. Aach nnr eine Spitze. 

8. Ich habe wieder nnr eine Spitze gespürt. 

4. Eine Spitze. 

5. Wieder eine Spitze. 

6. Jetzt habe ich ganz deatlich zwei Spitzen gefühlt, and ich glanbe, 
dad sie etwa 1 Zentimeter voneinander entfernt waren. Die Bichtang war 
schräg von der Ohrmaschel zam Kinn. 

7. Ich habe wieder ganz deatlich zwei Spitzen gefühlt, die Verbindangs¬ 
linie schien mir ein wenig von der Horizontalen abznweichen. 

Die Ergebnisse bestätigen die oben angeführten Angaben 
Webers. Diesen relativ einfachen Anssagen stehen nun andere 
von wesentlich komplizierterer Struktur gegenüber. 

Versnchsanordnang: Zirkelspannong beträgt 2mm, alles andere 
wie vorher. 

Yp. Dr. P., Aassagen: 

1. Sin dicker Ponkt. Ich war ganz erstaant, weder eine Spitze, noch 
zwei gespürt za haben; ich glaabte, eine schOn gerondete, breite Bleistift¬ 
spitze sei anfgesetzt. Es war weich. 


1) Ebenda S. 66. 



10 


Moritz Löwi, 


2. Zwei deatliche Spitzen achrägliegend; ich schätze die Entfernung 
auf ungefähr 8 cm. Der höherliegende Begrenznngspnnkt der Strecke war 
sehr spitz, der andere stampf and dick. 

3. Zwei deutliche Spitzen, wieder so schräg, aber etwas tiefer aufgesetzt 
als beim yorigen Versuch. Die beiden Begrenzungspunkte unterschieden 
sich ähnlich, aber nicht so scharf wie beim vorhergehenden Versuch, es kam 
mir länger vor, und da ich Zeit hatte, merkte ich, dafi die Strecke kürzer 
war als beim Versuch 2. 

Bei Versuch 4 lag die eine Spitze in der Mitte zwischen Mundwinkel 
und Nasenflügel, die andere bereits auf der Oberlippe. 

4. Das ist eine tolle Geschichte! Wie kommen Sie auf die Lippen? 
Ich glaubte zuerst, es sei mißlungen, ich empfand deutlich, wie die unter 
den Spitzen liegende Haut nicht eben war, eine Höhlung bildete. Die Elnt- 
femung muß sehr groß gewesen sein im Vergleich zu den anderen, ich 
konnte nicht schätzen^ weil ich überrascht war. Die Spitze spürte ich auf 
der Backe recht scharf, an der Lippe weniger. Es fiel mir sofort auf, daß 
zwischen beiden Begrenzungspunkten eine gerade Linie auf der Haut nicht 
möglich ist. 

Bei Versuch 5 lag die eine Spitze auf der Oberlippe senkrecht unter 
dem linken Nasenflügel, die untere Spitze auf der Mitte der Unterlippe. 

6. Das war hübsch. Ich war gespannt, welche Hautpunkte jetzt dran¬ 
kommen würden. Die Richtung der Verbindungslinien nähert sich der 
Senkrechten. Es müssen mindestens 3—4 cm gewesen sein. Die Begrenzungs¬ 
punkte wurden sehr angenehm empfunden. Ich hatte wieder das Gefühl, 
daß ein großer Bogen sein muß, damit das Aufsetzen möglich ist. 

Hält man Reihe I der Reihe n gegenüber, so ergeben sich 
aus ihnen folgende Einsichten: Derselbe Reiz kann die ver¬ 
schiedensten Aussagen liefern. Liefert aber derselbe Reiz 
dieselbe Aussage, so sind die Aussagen durchaus nicht als dem 
Sinne nach identisch zu setzen. Immer bleibt noch die Frage 
zu beantworten, wie in jedem Falle die Aussage gemeint sei. 

Der Physiologe freilich braucht auf die sprachliche Fassung 
der Aussagen kein Augenmerk zu richten. Für ihn entscheidet 
der Umstand, ob auf den gleichen Reiz auch die gleiche Reaktion 
erfolgt ist. Die nämliche Reaktion kann aber in Aussagen von 
der Art der Reihe I sowohl wie derjenigen der Reihe II gekleidet 
sein. Folglich steht die Reaktion in keiner Funktionalbeziehung 
zur Aussage, obschon sie von ihr begleitet werden kann. Das 
gerade ist der Grund für die verhältnismäßige Belanglosigkeit 
des sprachlichen Ausdrucks für die Methode des Physiologen. 
Für Weber würde Reihe I dasselbe wie Reihen besagen. 

Eine ganz andere Bedeutung hat der Ausdruck für das Vor¬ 
haben des Psychophysikers: Sein Prinzip ist nirgends der Kausal¬ 
nexus in der spezifischen Form der Reaktion. Wollte er sich 
gleichwohl dieses Abhängigkeitsverhältnisses bedienen, so würde 



Schwellennntersachongen. Theorie and Experiment. 


11 


sein Verfahren gänzlich in der Physiologie anfgehen. Bestenfalls 
würde er Veränderungen in den Aufnahmeorganen der peripheren 
und weiteren Abschnitte des Nervensystems bestimmen können, 
niemals aber würde er die > Abhängigkeitc der Empfindungen 
von den Beizen mittels dieses Prinzips verstehen lernen. 
Empfindungen sind eben nicht nervöse Vorgänge. 
Empfindungen sind gewußte Komplexe, d. h. sie sind un« 
löslich mit dem Ausdruck verflochten. 

Wie steht es nun um die Beantwortung unserer Frage ? Ist 
der Schlnfi von denselben Wortäußerungen auf die nämlichen 
Denkvorgänge berechtigt? An der Hand der Aussagen von 
Beihe I kann diese Frage nunmehr leicht entschieden werden. 
Angenommen die Versuchsperson hätte in den Versuchen 1—5 
nichts weiter als die Worte »eine Spitzet geäußert, sie hätte 
also fünfmal genau dasselbe gesagt, hätte sie auch alle fünfmal 
dasselbe dabei gemeint? Zum mindesten hätte sie um das 
Spüren einer Spitze oder um das Empfinden einer Spitze ge¬ 
wußt, oder sie hätte nichts darüber angegeben. Jedesmal wird 
der Versuchsperson also die Empfindung bewußt, gegenwärtig. 
Indem sie empfindet, weiß sie, daß sie jetzt empfindet Sie 
stellt damit eine sinnhafte Beziehung her zu allem Vorher¬ 
gegangenen. Das aber bedeutet: der in dem Wörtchen »jetzt« 
bezeichnete Sinnkomplex ist allemal verschieden, mag die 
Aussage der Versuchsperson sich noch so oft wiederholen, ja 
gerade weil sie sich wiederholt, ist er verschieden. Von diesen 
verwickelten Sinnbezügen abzusehen aber ist dem Psychophysiker 
versagt, will er nicht den Sinn seines eigenen Verfahrens ver¬ 
leugnen. Er will ja nichts über nervöse Prozesse ausmachen, 
sondern über Empfindungen, d. h. über Gewußtes. Denselben 
Aussagen entsprechen nicht gleichbedeutende Denkprozesse, 
die Psychophysik darf nicht von gleichlautenden Aussagen auf 
gleichbedeuteiide Denkprozesse schließen. Sie darf also nicht 
von den die Aussagen begleitenden Denkprozessen absehen. 

Die hinsichtlich der psychophysischen Methode bisher vor¬ 
gebrachten Bedenken lassen sich kurz dahin zusammenfassen: 
Die gangbaren Urteilsausdrücke sind keine Urteile. Jene Urteils- 
ansdrücke sind aber nicht allein keine Urteile, sondern auch 
keine Ausdrücke. Denn im Betrieb der Psychophysik werden 
die Aussagen von den mit ihnen verklanunerten Sinnkomplexen 
gelöst Identischem Wortlaut von Aussagen liegt nicht iden¬ 
tischer Denkkomplex zugrunde. Auch gleichlautende Aussagen 
haben nur im Hinblick auf das sie begleitende Gedachte ihre 



12 


Morits LSwi, 


Bedeutung. Die Psychophysik nimmt jene gewaltsame Trennung: 
auch 7 or, wenn sie unter Berufung auf gleichen Wortlaut den 
mit ihm verbundenen Denkvorgang glaubt vernachlässigen zu 
dürfen. Die Psychophysik hat es mit gewußten Gegenständen 
zu tun. Die Aussage ist folglich als Aussage des Gewußten, 
des Gedachten anzusprechen. Da die Psychophysik diese For¬ 
derung unbeachtet läßt, kann sie grundsätzlich keinen Einblick 
gewähren in die psychische Haltung der Versuchspersonen. 
Will sie also ihr Programm, die Abhängigkeit der Empfindungen 
von äußeren Beizen, verwirklichen, so muß sie den Versuchs¬ 
personen die Möglichkeit freier Ansdrucksweise belassen. 
Dann erst besteht die Aussicht, die auf den Reiz folgende ge¬ 
wußte Erscheinung, z. B. die Empfindung, in ihrer Beziehung 
auf den Reiz zu kennzeichnen. 


n. 

Gegenüber dieser Forderung für die Behandlung psycho¬ 
physischer Fragen bedarf es einer Besinnung auf die Bedeutung 
der Schwellen. Die Erscheinung der Schwelle ist die haupt¬ 
sächliche Vorbedingung zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen 
Reiz und Empfindung. Schwellen müssen vorliegen, wenn sich 
der Webersche Satz erfüllen soll. Die Reizgrößen bilden eine 
geometrische Reihe, wofern ihnen gleiche Empfindungsstufen, d. i. 
ebenmerkliche Empfindungsunterschiede, Schwellen, zugeordnet 
sind. Man kann aber auch sagen: Die Beziehung zwischen Reiz 
und Empfindung ist nur herstellbar, sofern Gleichheit oder Eben- 
merklichkeit ausgesagt wurde. Die wiederholt ausgesagte 
Gleichheit ist aber nicht immer in derselben Weise als gleich 
empfunden, sie ist also keine Gleichheit der Empfindungsstufen. 

Damit wird die Frage nach dem psychischen Gehalt der 
ausgesagten Gleichheit oder Ebenmerklichkeit laut. Es ist weiter¬ 
hin zu erwägen, wie dieses psychische Faktum bei voller Wür¬ 
digung seines dauernd schwankend aktuellen Charakters ein 
Prinzip des Psychischen abgeben kann, ähnlich wie die Schwelle 
Prinzip für die Messung, und wie schließlich ein Faktum Prinzip 
sein kann. 

Soll das Erlebnis des Ebenmerklichen in Erscheinung treten, 
so müssen Relationserlebnisse gegeben sein. >Ebenmerklich< ist 
etwas für jemanden, was er vorher noch nicht merkte und 
jetzt gewissermaßen zum ersten Male, d. h. »gerade« merkt; 
»ebenunmerklich« ist ferner etwas für jemanden, was er früher 
deutlich merkte, jetzt aber zum ersten Male nicht mehr merkt. 



Schwellenontersachiuigen. Theorie and Experiment. 


13 


D. h.: unabhängig von anderen Erlebnissen, also ohne bewußten 
Bezng auf andere Erlebnisse, ist das Erlebnis der EbenmerkUch- 
keit bezw. der Ebennnmerklichkeit nicht anzutreffen. 

Ant Gmnd solcher Einsicht läßt sich bereits die begrifEUche 
Scheidung von »Reizschwelle« und »ünterschiedsschwelle« klar 
beleuchten. Es findet sich die Auffassung vertreten, besonders 
bei Wundt,^) als wäre die methodologische Stelle für die sogen. 
ReizschweUe im Gegensatz zu deigenigen der Unterschiedsschwelle 
im Gebiete der Physiologie anznsetzen. In dem Begriff jener 
würde nichts weiteres als eine Bestimmung für die Abhängig¬ 
keit von den peripheren und zentralen Sinnesorganen ausgesagt. 
Von psychologischem Belang dagegen sei nur die sogen. 
Unterschiedsschwelle; in ihr bestimme sich die Fähigkeit des 
Unterscheidens der durch die Reize ausgelösten Empfindungen. 

Nach allem Vorhergegangenen kann es bezüglich dieser An¬ 
gelegenheit keinen Streit geben. Entweder es ist mit den Begriffen 
Reizschwelle und Unterschiedsschwelle auf die Bestimmung or¬ 
ganischer Verhältnisse abgesehen, dann sind sie auch lediglich 
als verschiedene Arten dieser Bestimmung zu bewerten, oder 
aber sie sind theoretische Betrachtungsformen für gewisse Be- 
wußtseinserscheinnngen. Dann aber offenbaren sich sowohl in 
der Unterschiedsschwelle wie auch in der Reizschwelle ganz be¬ 
sondere Formen des Relationserlebnisses, des Erlebnisses eines 
Ebenmerklichen, der Aussage von Ebenmerklichkeit. Auch in 
dem als ReizschweUe bezeichneten Erlebnis des Ebenmerklichen 
findet eine aktueUe Beziehung auf vorhergegangene Bewußtseins¬ 
inhalte, wenn man wiU, eine Vergleichung, statt. Es ist nicht 
so, als ginge einer — im Sinne unserer Sprechweise — zum 
»ersten Male« eingetretenen Empfindung ein Nichts an Bewußt¬ 
heit voran. Soll vielmehr die Erscheinung der Reizschwelle ein 
Bestimmnngsstück für den Tatbestand »Empfindung« Uefem, so 
muß auch hier die bewußte Hinwendung des Erlebenden auf das 
dem Ebenmerklichen voraufgehende Wissen methodische Beach¬ 
tung erfahren. 

Der entwickelte Sachverhalt läßt sich noch auf andere Weise 
darlegen: Wer das Eintreten einer Empfindung »eben« merkt, 
der hat vordem Erlebnisse »gehabt«, nur nicht die bestimmte 
Empfindung, die bei ihm erwartet wird, er hatte nicht die 
Empfindung, die er haben sollte, nicht die, welche den Gegen¬ 
stand der Untersuchung bUdet. 


1) Won dt, Grondzllge der phys. Psychologie Bd. 1, 6. Aafl., S. 560. 



14 


Moritz Ldwi, 


Was jemand >haben< soll and zngleich problematiseh 
ist) das ist Aufgabe. Das »Noch-nicht-haben< einer Emp¬ 
findung heißt folglich einer Aufgabe nicht entsprechen, 
oder — weil ja auch in diesem Falle gewisse Erlebnisse auf- 
zeigbar sind — ein seinem Begriff nach Ton der ein¬ 
deutig formulierten Aufgabe klar geschiedenes, 
eben darum aber nur im Hinblick auf die gestellte 
Aufgabe zu bestimmendes Erlebnis >haben<. 

Dieselben Betrachtungen bewähren natürlich ihre Gültigkeit 
auch an dem Erlebnis des ebenmerklichen Unterschiedes. Einen 
Unterschied >gerade« merken, heißt nicht, vor dem Eintritt dieses 
Erlebnisses ein Nichts an Unterschied haben, was schon dem 
Wortlaute nach vollständig sinnlos ist. Das Bewußtsein ist viel¬ 
mehr, weil es Ebenmerklichkeit des Unterschiedes feststellt, auf 
die unmittelbar vergangenen Inhalte gerichtet. Ebenso wird der 
Akt vor dem Erfassen der Ebenmerklichkeit nur mit Bezug auf 
das erwartete Eintreten des Unterschiedes bewußt. 

An keinem Punkte der experimentellen Psychologie wird mit 
so unvermeidlichem Zwange die Notwendigkeit der Kelationierung 
der Erlebnisse unter dem Gesichtspunkte des Anfgabenbegriffs 
handgreiflich wie bei der Bearbeitung der Schwellen. Für das 
Erlebnis eines großen Unterschiedes, welches die Versuchsperson 
vor oder nach dem »ebenmerklichen« hat, oder das sie hat, ohne 
in einer Beihe auch nur einmal das Erlebnis der ausgesprochenen 
Ebenmerklichkeit zu erfassen, für dieses Erlebnis ist der Urteils- 
ansdruck »größer« oder »kleiner« oder »gleich« nur ein ab¬ 
geblaßtes Symbol dafür, was die Versuchsperson erlebt. Es ist 
ein »Größer« und »Kleiner« nicht bloß in dem relationstheore¬ 
tischen Sinne von »größer mit Bezug auf etwas«. Sondern weil 
der Beziehungspnnkt eine »Aufgabe für jemanden«, deswegen 
geht in jene Urteilsansdrücke das persönliche Erfassen der Auf¬ 
gabe, das Beherrschtsein von der Aufgabe, gleichzeitig mit ein. 
Das heißt: »Größer«, »kleiner« usw. schattieren in jedem Augen¬ 
blick ihren Sinn. 

Die Schwelle ist nicht allein Erlebnis, sondern Prinzip 
des Erlebnisses, eine Folgerung, die sich aus ihrem Belations- 
charakter herleitet. Denn die Schwelle kann nur als ein gegen¬ 
wartsgerichtetes Erlebnis, d. h. als ein solches, welches »jetzt« 
statt hat, sich vorfinden. In der damit verbundenen bewußten 
Hinwendung auf unmittelbar Vergangenes, bezw. Folgendes tritt 
sie in begriffliche Beziehung zur Aufgabe, sie ist Funktion der 
Aufgabe. In der Schwelle wird, wie sich später noch genauer 



Schwellenantersnchimgen. Theorie nnd Experiment. 


15 


zeigen wird, eine theoretische Aufgabe erf^Ut; denn es handelt 
sich nm absolute oder relative Unterschiedlichkeit Diese ist 
eine gewußte, als eine solche ist sie nur im Hinblick auf den 
in ihr enthaltenen Gegenstandsbezng zu bestimmen. Darum wird 
sie Begriff, Prinzip. Weil sie aber als Relationserlebnis 
der Aufgabe genügt oder nicht genügt, wird sie Tatsache. 
In solcher Doppelheit ihres Wesens liegt ihre Natur als Gegen¬ 
wartserlebnis beschlossen, als Erlebnis des »Jetzt«. In ihr be¬ 
mächtigt sich die Wissenschaft der Augenblicks- 
erfassnng des Gedachten. 

Für den Betrieb der experimentellen Psychologie nutzbar ge¬ 
macht, besagt das Ergebnis: Allemal dann liegt die Schwelle 
vor, wenn die Versuchsperson weiß, daß sie das Erlebnis, das 
sie haben soll, »hat«, bezw. »nicht hat«. Das Erlebnis an der 
Aufgabe messen, heißt seinen Angenblickswert fassen, heißt es 
als Schwelle darstellen. Die Schwelle rückt unter den 
Gesichtspunkt der Aufgabe in ihrer Doppelfunktion als Begriff 
und zugleich Tatsache. 

Damit schwindet das Recht, nur im Hinblick auf Intensität, 
Dauer nnd Ausdehnung der Reize Schwellen zu bestimmen. Schon 
die Bestrebungen, Erümmungsschwellen zu berechnen, fügen sich 
nicht mehr in den Rahmen solcher Festsetzungen. 

Bühl er hat bekanntlich Versuche in dieser Richtung aus¬ 
geführt ^). Er verfuhr folgendermaßen: Er ließ Kreisbögen von 
Radien mehrerer Meter Länge in verdunkelte Gläser einritzen. 
Er exponierte sie gegen das Tageslicht und forderte die Ver¬ 
suchsperson auf, anzugeben, ob die Bögen nach rechts oder 
links konkav seien. Die Aussagen konnten also nur zwischen 
»links konkav«, »rechts konkav« und »unentschieden« schwanken. 

Es liegt kein Grund vor, derartige Versuche nicht auch in 
anderen Modalsphären anzustellen. Ich habe sie im haptischen 
Sinnesgebiete vorgenommen. Hier drängten sich besonders markant 
psychologische Daten ins Bewußtsein, die auf die Dauer unmög¬ 
lich als für die Sache unwesentlich zurückgeschoben werden 
können. Die durch keinerlei Vereinbarung hinsichtlich des sprach¬ 
lichen Ausdrucks beschränkten Aussagen der Versuchspersonen 
beschrieben psychische Gebilde der mannigfachsten Art. Sich 
ihrer in ihrer Vereinzelung zu bemächtigen, auf eine aps dem 
Begriff dieser Vereinzelung, ihrer AugenbUcksnatnr quellenden 


1) E. Buhler, Die Gestaltswahmehrnnngen, 1918. 



16 


Moritz Lflwi, 


Weise, heißt, sie an der Aufgabe messen. Sie sind als Begriff 
und Tatsache zugleich darzustellen. 

Versachsanordnung: a) Versiichsfeld. 

Zar Darbietang der Karrenreize auf der Stirn wird aaf der geeigneten 
Stelle (glabella) das Beizfeld mittels eines roten Fettstiftes anfgetragen. Ein 
rechteckig geschnittener Papierstreifen wird so an die Stirn gelegt, daß die 
zwei Ecken einer L&ngsseite an die Ansatzstellen der Ohrmoscbeln zn liegen 
kommen. Das anf der Stirn abgegrenzte Feld zeichnet sich anf dem Papier* 
streifen ab. An jedem Versnchstage kann dnrch Anflegen des Streifens, 
der wieder an denselben Stellen fixiert wird, das Feld an dieselbe Stelle der 
Stirn gedrückt werden. Je nach der Versnchsperson ist Feld and Streifen 
verschieden (siehe S. 61 Abb.*Tafel Fig. 8). 

b) Das Pendelästhesiometer (siehe Abb. Tafel Fig. 1). 

A = Skaliertes Pendel (in cm) F = Versnchsfeld. 

B = Ästhesiometer. G = Rahmen. 

C = Stellschranbe. H Ästhesiometerhülse zor Dar* 

D = Gleitschiene. bietnng einer Geraden (r = oo). 

E = Stativ. 

c) Das Ästhesiometer (siehe Abb. Tafel Fig. 2). 
a —Hülse für die Federung, 
b = Stift mit Kngelfassang. 
c = Bewegliche Kugel. 

d) Instraktion. 

Die Versnchsperson .wird gern äfi der für den Begriff der Schwelle gelten¬ 
den Bedingungen instruiert. Sie wird darüber anterrichtet, dafl es sich nm 
die Darbietungen von Kurven handelt. Bei Zulassung voller sprachlicher 
Verhaltnngsfreiheit hat die Versuchsperson das Bewofitwerden der aasgelösten 
Erlebnisse möglichst entsprechend wiederzugeben. 

Nicht die Aufklärung der für das Übergehen der Kurve in 
die Gerade entscheidenden geometrischen und physikalischen Be¬ 
dingungen wird angestrebt, sondern die Aufhellung der psychischen 
Motive, welche den aktuellen Fall dieses Übergehens darstellen. 

Für die Beurteilung der Aussagen ist es wichtig, nochmals 
auf die Bedeutung der objektiven Beize aufmerksam zu machen. 
Ein bestimmt gearteter Beiz kann nicht als die Ursache einer 
bestimmten Aussage figurieren. Unter denselben objektiven 
Bedingungen finden sich die verschiedensten Aussagen. 
Spricht die Versuchsperson von einer »ausgesprochenen Geraden< 
trotz des aus gewissen Gründen objektiv als Kurve geltenden 
Beizes, so muß nach den dieses Elrlebnis bestimmenden psychischen 
Faktoren gesucht werden. Wird dies verabsäumt, so wird der 
Eindruck grundsätzlich nicht als gewußter definiert. 



Schwellennntersnchangen. Theorie and Experiment. 


17 


Dennoch darf durchaus nicht auf die theoretische Gleichgül¬ 
tigkeit der sogen, objektiven Reizverhältnisse geschlossen werden 
Nur der Eausalnezus darf in den Betrachtungen keine Rolle 
spielen. Der theoretische Sinn der objektiven Bedingungen kommt 
an einem anderen Punkt der Untersuchung zu seinem Rechte. 

Für die Herausstellung der E^rttmmungsschwellen sind dreierlei 
Fragen zu beantworten. 1. Wann, d. L unter welchen Bedingungen 
berechtigt die Aussage der Versuchsperson zur Feststellung, sie 
habe das Erlebnis einer Kurve gehabt? 2. Wann berechtigt 
die Aussage zur Annahme, sie habe das Erlebnis einer Geraden 
gehabt? Oder schließlich: 3. Wann berechtigt die Aussage zur 
Feststellung des Erlebnisses des Überganges von Kurve zur Gerade, 
des Erlebnisses des ebenmerklichen Geradewerdens? 

Indem die Theorie sich den Aussagen, nicht den Reizen zu¬ 
wendet, die Aussagen zum Ansatz ihrer Ermittelungen wählt, 
eröffnet sich ihr der einzige Ausblick auf die mit ihnen ver¬ 
flochtenen psychischen Erscheinungen, auf die Ergreifung des 
Augenblicksgehalts des Gedachten. 

Betrachte ich die Aussagen von etwa 400 Versuchen, die unter 
diesen Gesichtspunkten zunächst mit zwei Versuchspersonen an¬ 
gestellt wurden, so finden sich vier Typen von Aussagen immer, 
wenn auch in verschiedenen Nuancen wieder^): 

1. Gruppe: 

Klare, deutliche Kurve. — Ausgesprochene Kurve. — Deutliche Kurve. — 
Ganz ausgesprochene Gerade. — Ideale Gerade. — 

2. Gruppe: 

Wie eine Gerade; Zweifel, Anfang ein wenig gewölbt. — Wellig. — 
Ganz flache Kurve, nicht genau feststellbar, ob schlechte Kurve oder zittrige 
Gerade. — Nicht sicher deutbar, erst Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende 
wieder als nach oben gehend empfunden. — Kann nichts Genaues sagen; 
wellig. — 

3. Gruppe: 

Kein eindeutiger Reiz, erst Gerade, dann Kurve, schließlich Gerade; i m 
ganzen wird eine schlechte Gerade vermutet. — Ich hatte deu Eindruck 
einer nicht ganz klaren, etwas zittrigen Geraden; Gesamtbild Gerade. — 
Eine nicht ganz exakte Gerade, in der Mitte wohl etwas zittrig, jedenfalls 
Gerade. —Kurve nicht ganz eindeutig; Mitte war kurvig, danach Endurteil 
Kurve. — 

4. Gruppe: 

Schöne ganz flache Kurve. — Sehr schöne Gerade. — 


1) Vgl. die Protokollaaszüge im Anhänge zum »Ersten Teil«. 
Archiv für Psychologie. XLVm. 2 



18 


Moritz Ii9wi, 


Gruppe 1 repräsentiert Erlebnisse, welche für die Versuchs¬ 
person mit dem Charakter eindeutiger Klarheit verbunden sind. 
Gruppe 2 bringet eine gewisse Unsicherheit im Erfassen der ge¬ 
gebenen yerhältnisse zum Ausdruck. Gruppe 3 bezeichnet wiederum 
Unsicherheitserlebnisse, aber komplizierterer Art Die Versuchs¬ 
person ringt sich schließlich in ihnen zu einer gewissen Sicher¬ 
heit der Auffassung durch. Gruppe 4 gibt gefühlsbetonte Erleb¬ 
nisse wieder. 

Mit Bezug auf diese Klassifizierung ist folgendes zu bemerken: 
Es heißt die Absicht des vorliegenden Unternehmens vollständig 
verkennen, wollte man in jenen Gruppen die Möglichkeit der 
Ansdrückbarkeit der Erlebnisse, soweit es sich um Schwellen 
handelt, als erschöpft betrachten. Damit wäre allerdings das 
Kecht der gangbaren psychophysischen Handhabung, des Operierens 
mit ein für allemal festen Urteilsausdrücken bekräftigt. Ein flüch¬ 
tiger Blick auf die in den einzelnen Gruppen untergebrachten 
Aussagen lehrt einmal die durchgängige Verschiedenheit der Aus¬ 
sagen selbst innerhalb einer Gruppe. Ebendaraus folgt ferner, 
daß überhaupt nicht wie in der Psychophysik der Sinngehalt der 
Aussagen das Prinzip für die Einteilung abgibt Die Aussage 
>ideale Gerade« kann mit demselben Recht als Ausdruck eines 
eindeutig erfaßten Erlebnisses wie als gefühlsbetonte Aussage 
gewertet werden. So muß denn die Frage nach der Herkunft 
dieser Einteilung gestellt werden. Damit aber wird ein ent¬ 
scheidender Punkt für das Verfahren der experimentellen Psycho¬ 
logie berührt. 

Welches ist das Recht der Einteilung, der Zusammenfassung 
mehrerer Aussagen unter einen Gesichtspunkt? Steht sie in 
Widerspruch mit der Absicht, den Augenblickscharakter des Er¬ 
lebnisses herauszuheben? Es wurde bereits angedeutet, daß die 
Frage der Schwelle zugleich die Frage nach dem Wissen um 
Ebenmerklichkeit ist, daß in ihr gleichzeitig ein wissenschaft¬ 
liches Problem aufgerollt wird. Daher ergeben sich aus der 
Schwelle als wissenschaftlichem Problem Gesichtspunkte zur Be¬ 
arbeitung der Schwellenerlebnisse. Als Problem wird in der 
Schwelle ein System theoretischer Bedingungen, als Tatsache 
das »Jetzt« des Merklichwerdens ergriffen. Einer jener theo¬ 
retischen Gesichtspunkte ist die Forderung eindeutiger Erfassung. 

Die Aussagen »ganz ausgesprochene Gerade« und »ideale Gerade« 
finden von dem theoretischen Gesichtspunkt »eindeutige Wieder¬ 
gabe« aus ihre gemeinsame wissenschaftliche Abhandlung. Jener 
Gesichtspunkt ergibt sich also nicht aus dem Vergleich des Sinn- 



SchweUenTintersTichaiigen. Theorie und Experiment. 


19 


gehalts der Aussagen. Denn ein in der Aussage sich auswirken* 
der Sinnkomplex kann seine Bestimmung als eindeutig erfaßter 
nur in Bücksicht auf den ihn umgreifenden Zusammenhang er¬ 
fahren. Die Eindeutigkeit oder Unsicherheit — beide Ausdrücke 
sind hier nur als Erlebnismotive zu verstehen — zum Prinzip 
der Betrachtung machen heißt vielmehr, ein aus einem wissen¬ 
schaftlichen Problem hergeleitetes Motiv als Maßstab an die 
Aussagen legen. Dieser theoretische Gesichtspunkt folgt aus der 
begrifflichen Natur des Problems, aus der Struktur des Schwellen- 
begriffs, der Aufgabe. Von Schwelle ist nur zu sprechen im Bün- 
blick auf eindeutiges Erfassen. Die eindeutige Erfassung gehört 
mit zu der Erscheinung der Schwelle, und deswegen mit zu ihrem 
Begriff, sie ist eines ihrer Bestimmungselemente. Soll jene Er¬ 
scheinung in jemandem psychische Tatsache werden, soll sie sich 
an ihm als gewußtes Phänomen bewahrheiten, so geht die Forde¬ 
rung der klaren und deutlichen Erfassung mit in die vorherige 
Instruktion ein. Nur wenn sie eine Art Aufgabe für die Ver¬ 
suchsperson geworden war, können die der Belehrung folgenden 
Aussagen im Hinblick auf die Frage gesichtet werden, ob die 
Versuchsperson das Erlebnis der klaren, eindeutigen Erfassung 
gehabt hat, was sie meint, indem sie von jener Erfassung 
spricht; sie muß dieses Erlebnis gehabt haben, es gemeint haben, 
wenn sie davon spricht, oder ihre Aussage bezieht sicht gar nicht 
auf die vorherige Belehrung, d. h. auf das Problem, fällt aus dem 
Rahmen der Schwellenuntersuchungen heraus. Die oben erhobene 
Frage, wann die Aussage der Versuchsperson zur Feststellung 
berechtigt, sie habe das Erlebnis einer Kurve, einer Gerade oder 
des ebenmerklich Geradewerdens gehabt, ist nunmehr geklärt. 
Spricht die Versuchsperson nach entsprechender Belehrung, 
d. h. hier mit Rücksicht auf eine wissenschaftliche Aufgabe von 
dem Erlebnis der Kurve, dem Erlebnis der Geraden oder dem Er¬ 
lebnis des Ebengeradewerdens, dann meint sie auch das, was 
sie sagt. 

Gewiß meint sie nicht ausschließlich das was sie sagt, sie 
meint allemal im wahrsten Sinne des Wortes »alles Mögliche«. 
Es ist grundsätzlich unmöglich, alles im Augenblick Meinbare 
in Aussagen zu fassen. Aber gerade der Umstand, daß Ge¬ 
sprochenes und Gemeintes sich im Falle unserer Aussagen nimmer 
decken können, daß immer alles gedacht sein kann, gestattet, 
die scheinbar isolierten, aus dem Zusammenhang gerissenen Aus¬ 
drücke einer vergleichsweisen Betrachtung zu unterziehen. Nicht 
aus den verschiedenen Ausdrücken wird das in ihnen Gemeinte 

2 * 



20 


Moritz Löwi, 


gesucht, was einer sinntheoretischen Untersuchung gleichkäme, 
sondern Voraussetzung ist die Möglichkeit, immer alles meinen 
zu können, und gesucht ist die Art und Weise, wie sich das 
>Alles-meinen-können< im Augenblick der Richtung auf die Aus¬ 
sage darstellt. 

DieAussagen »idealeöerade«, »deutliche Kurve«, «klareKurve« 
und dergleichen haben für den Erlebenden einen unendlich mannig¬ 
fachen Sinn, wohl ist er getragen von ästhetischer Gefühls- 
betontheit und verschiedensten anderen Sinnbezügen, im Hinblick 
auf die gestellte Aufgabe, d. h. auf die Frage, ob Gerade, 
Kurve oder Ebengeradewerden im Augenblick bewußt wurde, 
bringen sie jedoch vorzüglich das klare Erlebnis einer Geraden, 
Kurve usw. zum unzweideutigen Ausdruck. Ist die Schwelle 
zugleich Problem und Tatsache, dann berechtigen die Aussagen 
der Versuchsperson zur Annahme, daß sie das im Augenblick 
gemeint hat, was sie gesagt hat. 

Bis jetzt ergeben sich folgende Einsichten: Der Schwelle die 
rechtmäßige Stellung innerhalb der experimentellen Psychologie 
zu schaffen, war die Absicht der Erörterung. Eine gegenständ¬ 
liche Definition des Schwellenbegriffs umschrieb das Schwellen¬ 
erlebnis, die Ebenmerklichkeit, als Relationserlebnis. Dies ist 
nur ein anderer Ausdruck für die Aufgabennatur des Erlebnisses. 
Die Schwelle rückt unter den Gesichtspunkt der Aufgabe. Da¬ 
mit wird die Schwelle Prinzip und Faktum. Die Auswertung 
der experimentellen Daten setzt an den Aussagen ein. Wird die 
Versuchsperson gemäß den Forderungen des Schwellenbegriffs 
belehrt über das, was sie soll, so ist, falls ihre Aussage dieser 
Aufgabe genügt, dasjenige, was sie sagt, auch ein Hinweis auf 
das, was sie meint. Der Sinn der Aufgabe wird Kriterium für 
die wissenschaftliche Bestimmung des Augenblicklichen. Jetzt 
werden auch die Aussagen in ihrer Verschiedenheit, in ihrer 
Jeweiligkeit wissenschaftlich greifbar. Die Aufgabe ist ein 
wissenschaftlicher Komplex. Mannigfaltigkeit der Aussagen ist 
dasselbe wie Augenblicksnatur der Aufgaben. 

III. 

Die Ausdrücke »Kurve«, »ausgesprochene Kurve«, »flache 
Kurve«, »Kurve sicher«, »deutliche Gerade«, »genaueGerade« usw 
geben mit Bezug auf die präzis formulierte Aufgabe die Meinung 
der Versuchsperson wieder, ohne Rücksicht auf jene Aufgabe 
geben sie allenfalls den Gegenstand sprachwissenschaftlicher Ein¬ 
sichten ab, nicht aber psychologischer Forschung. Nur wenn in 



Schwellenantersachnngen. Theorie nnd Experiment. 


21 


der Schwelle Begriff und Tatsache zugleich gesehen, nur wenn 
die Schwelle unter den Gesichtspunkt der wissenschaftlichen, 
gleichzeitig aber an jemanden gerichteten Aufgabe ruckt, 
wird einem gewichtigen Bedenken erfolgreich begegnet: 

Näher besehen, so ließe sich sagen, sind jene Aufgaben nichts 
anderes als Fragen von der Art: »Was sehen Sie? Was emp¬ 
finden Sie?< u. dgl., die als das Gemeinte bezeichnete Aussage 
die Antwort auf diese Fragen. Die Methode der experimentellen 
Psychologie unterschiede sich in nichts von dem im Alltags¬ 
leben geläufigen Wechselspiel von Frage und Antwort. Auch 
hier offenbare sich somit die Meinung des Gefragten. Die Be¬ 
mühungen um die Begründung einer bündigen Methode der 
Psychologie seien überflüssig. 

Ein kurzer Blick auf die Natur der Frage im Falle der 
Psychologie einerseits und im Dialog andererseits entkräftet 
das Bedenken. Die psychologische Frage muß aus gegen¬ 
ständlichen Prinzipien erfolgen, die dialogische nicht Jemanden 
nach der Ebenmerklichkeit der Krümmung fragen, heißt das 
Psychische in einer augenblicklichen Äußerung suchen. Wie tritt 
in dieser spezifischen Äußerung das Seelische zutage? Diese 
Frage will hier beantwortet sein. Der erlebte Augenblick soll 
als Äußerung des Seelischen festgehalten werden, als Sub¬ 
jektivität. Das Problem der Subjektivität aber ist eine 
wissenschaftliche Fragestellung xat‘ i^oxtjy, sie ergreift den Ge¬ 
danken der Gegenständlichkeit von einer besonderen Seite her. 
Wer also »für jemanden< Aufgaben stellt, gerichtet auf den 
Augenblickscharakter der erfolgenden Aussage, der fragt wissen¬ 
schaftlich. Für >jemanden< Aufgaben stellen, ist gleichwertig 
mit »für sich selbst« Aufgaben stellen, weil gleichbeteutend mit 
>für jeden« Aufgaben stellen. Es bestätigt sich wiederum, wie 
in der auf den Augenblick gerichteten Aufgabe Begriff und 
Tatsache einander durchdringen. Die dialogische Frage erfolgt 
nicht in der Absicht auf gegenständliche Prinzipien, sie dient 
einfach der Verständigung. M. a. W. die konkrete psychologische 
Fragestellung geht auf Begriffe, die dialogische nicht Ohne 
Dialog keine Psychologie, wohl aber der Dialog ohne Psychologie. 

Die »an jemanden« gerichtete Frage findet ihre Beant¬ 
wortung, weil sie zugleich wissenschaftliches Problem ist, in der 
Bildung eines Begriffs. In der Beziehung zwischen Fragestellung 
und Aussage gestaltet sich jener eigentümliche Begriff, der zu¬ 
gleich Tatsache bedeutet. 



22 


Moritz Löwi, 


Im vorliegenden Falle der Schwellenuntersuchungen kommt 
die Beziehung der Aussage zur Aufgabe, d. h. die psychologische 
Begrifisbildung, in folgender konkreten Fragestellung zur Aus* 
Wirkung: Entspricht die Aussage der Versuchsperson den For¬ 
derungen der Aufgabe ? Wann, d. i. unter welchen Umständen 
genügt sie ihnen? Dieses Problem lösen, heißt psychologische 
Begriffsbildung an jener Aussage vornehmen. 

Schon jetzt lassen sich die zwei hauptsächlichsten, die Be¬ 
griffsbildung bedingenden Momente angeben. Ein psychologischer 
Begriff liegt vor 1. wenn mit seiner Hilfe definiert werden kann, 
was unter »Schwelle< zu verstehen ist, wenn also das Psychische 
in seinem Gegenstandswert beleuchtet wird. 2. Wenn seine 
Leistung in der Aufhellung der Aufgabennatur des Schwellen¬ 
sachverhalts beruht. 

Die Aussage »deutlich Kurve< muß also mit der Aufgabe in 
Beziehung gesetzt werden, in dieser Gegenüberstellung müssen 
beide eben genannten Forderungen erfüllt sein. Daraus er¬ 
gäbe sich ein psychologischer Begriff. 

Wie verhält sich somit die Aussage »deutliche Kurve« zur 
gestellten Aufgabe? Man ist geneigt, jene Aussage als eine 
der Aufgabe entsprechende Lösung zu betrachten. Allein es ist 
zu bedenken, daß die Bezeichnung »Aufgabe«, wie schon er¬ 
wähnt, mehr bedeutet als »wissenschaftliches Problem«. Es ist 
ein Problem, in dessen Begriff der Problem st eil er mit eingeht. 
Die Beziehung des Ausdrucks »deutliche Kurve« auf die Auf¬ 
gabe ist gleichzeitig die Richtung auf den Aufgabemsteller. Der 
Ausdruck »Aufgabe für jemanden« hat also jetzt den Sinn »für 
die Versuchsperson und deswegen für andere«. In gewisser 
Weise entscheidet mithin der Fragesteller über Entsprechen 
oder Nichtentsprechen der Aussage. Nur entscheidet er nicht 
wie im Dialog aus einer Augenblickssituation heraus, ebenso 
wie er auch seine Aufgabe nicht nach Willkür stellt, beides ge¬ 
schieht vielmehr im Namen des Gegenstandes der Psychologie, 
aus dem Prinzip des Psychischen. Damit wird für den Auf¬ 
gabensteller nicht bloß der Inhalt der gebotenen Aussage, son¬ 
dern vor allem das Aussagen des Inhalts zum Problem. Der 
Inhalt als a u s g e s a g t e r ist psychologisch. Nicht der Inhalt 
der Aussage »deutliche Kurve« ist der Maßstab für die Aufgaben¬ 
erfüllung, sondern zugleich das Aussagen des Inhalts »deut¬ 
liche Kurve«. Sollen diese Worte der Aufgabe genügen, ihr 
entsprechen, so hat auch das Aussagen dieser Worte der Auf¬ 
gabe zu entsprechen. Das Aussprechen hat somit dem Frage- 



SchweUenantersTtchangen. Theorie and Experiment. 


23 


steUer zn entsprechen. Der zeitliche Vorgang des Artikulierens 
wird also Mitobjekt für die Entscheidung des Versuchsleiters. 
Elr wird von ihm »verstanden«, nicht etwa bloß »gehört«, weil 
der Sinn des Ausgesprochenen Funktion des Artikulierens ist. 
Kurz, jener zeitliche, vom Sinn nicht zu trennende Vorgang ist 
»möglich« als Gestaltung der Zeit. Wann liegt mithin Zeit* 
gestaltung vor? Um als gestaltet erkannt zu werden, muß das 
Nacheinander der »Lautung« »in einem« überschaubar sein, das 
Nacheinander wird damit »augenblicklich« gemeinter Sinn. Das 
Umgestalten des lautlichen Nacheinanders in zeitliche Ganzheit 
ist aber Funktion der Aufgabe; mit aufgabengemäßen Aussagen 
ist sie notwendig verknüpft, denn in die Problemstellung geht 
der Problemsteller mit ein. D. h.: Mit Bezug auf die Aufgabe 
hat die Gestaltung eine Bedeutung: zeitliche oder — was das¬ 
selbe heißt — Gestaltung des augenblicklich gemeinten Sinns 
heißt »für die Aufgabe eindeutig bestimmt sein«. Soweit das 
Nacheinander der Lautung überschaut ist, soweit es Ganzheit, 
gestaltet ist, soweit ist es im Sinne der Aufgabe bestimmt. Die 
Aussage »nicht sicher deutbar, erst Kurve, in der Mitte Gerade, 
am Ende wieder als nach oben gehend empfunden« ist nicht 
gestaltbar, d. h. der Aufgabe gemäß als Ganzes umfaßbar, weil 
der Aufgabe nach nicht möglich. Dagegen die Aussage »deut¬ 
liche Kurve«. Sie ist der Aufgabe nach möglich; und so sicher 
im Verlaufe des Artikulierens die Aufeinanderfolge der Laute 
oder Sinnkomplexe relativ unberücksichtigt bleibt, und damit die 
Aussage gestaltet, d. i. verstanden wird, so sicher ist sie der 
Aufgabe nach bestimmt. Ist der Funktionalzusammenhang 
zwischen Problem und Aufgabe, zwischen theoretischer Forderung 
und Gestaltung gewahrt, dann ist die der Frage korrespon¬ 
dierende Antwort entsprechend. Da die Aussage »deutliche 
Kurve« der Aufgabe nach möglich ist, und deshalb »verstanden«, 
d. h. gestaltet werden könnte, genügt sie der Aufgabe voll¬ 
ständig. Die Aussage »deutliche Kurve« drückt den vorher 
gekennzeichneten begrifflichen Sachverhalt aus, ich nenne ihn 
das Optimum. Der Begriff des Optimums^) trägt ganz aus¬ 
gesprochen die Kennzeichen psychologischer Begriffsbildung an 
sich. Mit seiner Hilfe erhellt, was jemand gemeint haben muß, 
weil er auf das Meinen selbst abzielt Eben darum aber be¬ 
ll Dieser Begriff ist nicht zn verwechseln mit dem von W. Stern als 
Optimum bezeichneten Sachverhalt (vgl. Stern, Über psych. Präsenzzeit, 
Zeitschr. f. Ps. Bd. 18). Dort ist das Optimnm lediglich der Ansdrack für 
einen extensiven Zeitwert; hier unterliegt er den für die psychologische 
Begriffsbildnng gekennzeichneten Bedingungen. 



24 


Moritz Ltfwi, 

stimmt er das Psychische. Sofern er andererseits auf das >Ge- 
meinthaben« geht, drückt er zugleich eine Tatsache ans. 
Auch das Optimum ist gleich der Aufgabe, Begriff und Tatsache 
zugleich. Diese Begriffsbildung muß möglich sein, wenn über« 
hanpt ein eindeutiger Sachverhalt soll gewußt sein können, 
soll das Wissen überhaupt Problem werden. 

Die Aussagen in Gruppe I sind optimale Erlebnisse im Hin¬ 
blick auf die Aufgabe »Schwellet. 

IV. 

Die Fruchtbarkeit solcher Gedankengänge bewährt sich in 
vollem Umfange erst im Verlauf der theoretischen Durchdringung 
einer anderen Art von Erlebnissen. Es sind dies die vorerst 
als »Unsicherheitserlebnisse« bezeichneten Akte (Gruppe 11). Der 
Aufgabenbegriff in seiner entscheidenden Bolle für die psycho¬ 
logische Begriffsbildung scheint hier seiner methodischen Be¬ 
deutung verlustig zu gehen. Eine Aussage von der Form »wie 
eine Gerade; Zweifel, Anfang ein wenig gewölbt« oder die Ant¬ 
wort »weUig< scheinen sich von der Forderung der Aufgabe 
beträchtlich zu entfernen. Oder aber es ergeben sich Aussagen 
von so komplexer Struktur, daß die in Frage kommenden psy¬ 
chischen Motive durch ein Überwuchern anderer seelischer 
Faktoren an Interesse so gut wie ganz verlieren, ja daß sich 
die Determiniertheit durch die Aufgabe in der Aussage über¬ 
haupt nicht mehr verrät. 

Ich führe als Belege nur drei Aussagen an, die sich im Ver¬ 
laufe einer Untersuchung über Unterschiedsempfindlichkeit beim 
Heben von Gewichten ergaben. 

Yersachsanordniing: Sechs gleichgroße, gleichanssehende, hölzerne, 
innen mit Gewichten beschwerte Kästen. Grandgewicht 372 g, Yergleichs- 
gewichte 1322 g, 828 g, 585 g, 465 g, 352 g, 372 g. 

Instruktion: Die Yersnchsperson wird anfgefordert, mit der rechten 
Hand (bei Rechtshändern) erst das vor ihr stehende linke Gewicht, daraat 
das rechte Gewicht einmal za heben, darauf zu senken. 

Beize: Grandgewicht 372g, Yergleichsgewicht 1322 g. 

Yersnchsperson: Privatdozent Dr. St. 

Aussage: Als ich den Kasten hob, war ich überrascht über die Leich¬ 
tigkeit and merkte, daß ich einen übermäßigen Kraftaufwand bereit hatte. 
Bevor ich den zweiten hob, schwankte ich zunächst in der Erwartung, ob 
er auch leicht sein würde, oder ob er im Gegensatz sehr schwer sein 
würde. Die letztere Erwartung wurde noch überboten. Ich fand ihn sehr 
schwer. Es kam mir der Gedanke (!), wie vielmal schwerer er wohl 
sein möchte. Ich vermutete, daß er vielleicht drei- oder viermal so schwer 
sein müßte. Aus vagen psychologischen Überlegungen heraus hatte ich 
bereits das Gefühl, mich zu täuschen. 



Schwellennntersachnngen. Theorie and Experiment. 


25 


Keiz: Qrnndgewicht 372 g, Vergleicbsgewicht 558 g. 

Anss&ge: Die Überraschung war diesmal beim Heben des ersten 
Kastens sehr gering, bei dem zweiten Kasten hatte ich das Gefühl, es wäre 
der gleiche Kasten wie beim zweiten Experiment. 

Keiz: Dieselben. Der Versuch ist einer anderen Versuchsreihe ent* 
nommen; diese unterscheidet sich durch eine andere Anordnung der Ver* 
gleichsgewichte von der Reihe, der die obigen Versuche entstammen. 

Aussage: Das rechte Gewicht glaubte ich wiederzuerkennen, mit aus¬ 
gesprochenster Überraschung und mit übermäßigem Impuls hob ich den 
leeren Kasten (der Kasten war mit 872 g belastet). Ich hatte den Ein¬ 
druck, als wäre diese Überraschung Tom Versnchsleiter beabsichtigt, und 
fühlte mich angeführt. 

In Aussage I fällt der Versuchsperson die Aufforderung zu 
schätzen nur beiläufig ein, in II und m wird jener Aufforderung 
überhaupt nicht mehr Rechnung getragen. 

Solcherlei Aussagen genügen also nicht den Bedingungen der 
Aufgabe. Es fragt sich, auf welchem Wege zu ihrem psycho¬ 
logischen Wert vorgedrungen werden kann. 

Es ist zweckmäßig, das Augenmerk nochmals auf den Begriff 
des Optimums zu richten. Der Versuchsleiter gestaltete die 
Aussage der Versuchsperson nach Prinzipien, aber auch die 
Aussage des Versuchsleiters ist gestaltet, und zwar für die Ver¬ 
suchsperson, nämlich mit Rücksicht auf die an sie gerichtete 
Aufforderung, sie verstand die Aufgabe; nur muß die Gestal¬ 
tung nicht aus gegenständlichen Prinzipien erfolgen. >Optimum< 
ist demnach die Bedingung, um wissenschaftlich von gegen¬ 
seitiger Verständigung sprechen zu können, es ist ein spezifischer 
Zeitansdmck. In den beigebrachten Fällen liegt im populären 
Sinne des Wortes keine Verständigung vor, d. h. wissen¬ 
schaftlich gesprochen, das Verhalten von Versuchsleiter und 
Versuchsperson ist nicht optimal. Welches ist der positive Sinn 
solchen Verhaltens? Durch welchen psychologischen Begriff 
wird es eindeutig bestimmt? 

Die für das nichtoptimale bezeichnenden Beziehungen sind 
folgende: Der Versuchsleiter entscheidet über die Antwort der 
Versuchsperson. Er gestaltet nach wissenschaftlichen Grund¬ 
sätzen. Die Antwort der Versuchsperson ist selbst Gestaltung 
der an sie gerichteten Aufgabe. Das Verstehen der Versuchs¬ 
person braucht nicht nach denselben Prinzipien vor sich zu 
gehen wie dasjenige des Versuchsleiters, ja im Falle ihres nicht¬ 
optimalen Verhaltens geht es sicherlich anders vor sich. Für 
den Versnchsleiter ist nicht allein der Sinn der Antwort, sondern 
auch das Gestalten der Antwort Gegenstand der Betrach¬ 
tung — er studiert ja das in der Anssage sich ausdrückende 



26 


Moritz Löwi, 


Angenblicksverhalten. Folglich legt er sich die Frage nach dem 
Prinzip des Verstehens, hier Mißverstehens vor. Von Mi߬ 
verständnis ist aber nur die Rede auf seiten des Versuchsleiters 
und nicht der Versuchsperson, er hat ihre Aussagen in diesem 
Sinne gekennzeichnet, von sich aus gestaltet. Das Prinzip 
für das Mißverstehen suchen, heißt für den Versuchsleiter sich 
selbst zum Problem machen. Die Aufgabe ist jetzt dem 
Versuchsleiter gestellt. Es handelt sich wieder darum, 
aus der Psychologie als Wissenschaft im Hinblick auf die sich 
dem Versuchsleiter als Mißverständnis darbietende Aussage die 
neue Fragestellung zu formulieren. 

Grundsätzlich ist die Sachlage von derselben Natur wie im 
Falle des optimalen Verhaltens. Dort galt es, eine Aussage auf 
das Funktionalgefüge von Problem und Gestaltung zu beziehen, 
d. h. die Aussage der Versuchsperson eindeutig zu bestimmen. 
Hier ist eine im Sinne der Versuchsperson eindeutige Aussage 
gegeben, gesucht dagegen das Funktionalverhältnis zwischen 
Problem und der von ihm beherrschten determinierten Gestaltungs* 
möglichkeit. »Nichtoptimal seine ist dieselbe Beziehung, nur 
sind die Relationstermini im umgekehrten Sinne geordnet Zur 
Bezeichnung dieses begrifflichen Sachverhalts führe ich den 
Terminus »Anfgabenwechsel« ein. Er ist ein anderer Ausdruck 
für den besonderen Charakter des psychologischen Experiments, 
er löst die Frage, wie ein Problem sich entfalten muß, nur weil 
es Problem für jemanden ist, er lehrt, wie aus einer rela¬ 
tiven Bestimmtheit einer nach Prinzipien bestimmten Aussage 
sich ein neues Problem entwickelt. Zugleich aber bezieht er 
sich auf einen vorliegenden Fall, auf ein besonderes Vorkommnis 
des Nichtverstehens, Der Begriff des Aufgabenwechsels 
ist Prinzip und Tatsache zugleich. 

Die oben angeführte Aussage »nicht sicher deutbar, erst 
Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende wieder als nach oben 
gehend empfunden« genügt nicht den durch die Schwellenunter¬ 
suchung vorgeschriebenen Bedingungen, sie drückt einen Wechsel 
der Aufgabe aus. Mit ihr stellt sich ein neues Problem.^) 

1) Fechner hat bekanntlich Urteile, mit denen die Versuchspersonen 
ein Schwanken zwischen dem subjektiven Eindruck der Gleichheit oder Un¬ 
gleichheit zweier gehobener Gewichte ausdrUckten, zu einer Hälfte den 
»richtigen«, zur anderen den »falschen« Fällen zngeschlagen. Damit ist die 
psychische Erscheinung der Unsicherheit nngerechtfertigterweise über¬ 
sehen. Durch die Funktion des Anfgabenwechsels ist der notwendigen 
Forderung, auch dieses Gebilde in seinem psychologischen Eigenwert zu 
kennzeichnen, methodisch Rechnung getragen. Vgl. Fechner, »Revision 
der Hauptpunkte der Psychophysik« 1882 S. 45/46. 



SchwaUennntersnchangen. Theorie und Experiment. 


27 


Läge fär die experimentelle Psychologie berechtigte Veran¬ 
lassung vor zur Untersuchung der Frage, was das Erlebnis der 
Unsicherheit sei, und wäre weiter die angegebene Aussage die 
Antwort auf die ihr vorangehende Fragestellung, so würde die¬ 
selbe Aussage, die mit Bezug auf die Schwellenaufgabe als 
nichtoptimal anzusehen ist, nunmehr der gestellten Aufgabe voll 
genügen, sie wäre optimal. Ein und dieselbe Aussage kann 
mithin zu den verschiedensten Begriffen führen, wird sie nur in 
Beziehung gesetzt zu einer aus dem Begriff des Psychischen 
hergeleiteten Aufgabe. Die Folge davon ist eine Relationierung 
der Erlebnisbestimmtheit. Relationierung ist keine Relativierung. 
Relationierung ist der Sinn jeder Wissenschaft, weil der Sinn 
der Erkenntnis. Relationierung ist die Leistung des echten 
Begriffs. Die vorerst als Unsicherheitserlebnisse gekennzeich¬ 
neten Aussagen (Gruppe II) sind in dem Begriff des Aufgaben¬ 
wechsels eindeutig bestimmt. 


V. 

Ein nichtoptimales Erlebnis ist also der Hinweis auf eine 
neue Aufgabe, auf ein wissenschaftliches Problem, in dessen 
Begriff der Steller des Problems mit eingeht. 

Folgendermaßen verlief die Untersuchung von den angeführten 
nichtoptimalen Aussagen bis zur Formulierung der neuen Frage¬ 
stellung: Den Aussagen »nicht genau feststellbar, ob Gerade oder 
Kurve«, »nicht genau deutbar, zweifelhaft, ob Gerade oder Kurve« 
stehen Aussagen von folgendem Wortlaut gegenüber: »wellige 
Gerade< — »Welle« — >Wellenlinie, erst nach oben, dann nach 
unten offen« — »flache Sinuslinie« — »Schlangenlinie« — »kann 
nichts Genaues sagen, wellig« — »erst nach oben, dann flach 
nach unten geöffnet« — »in der Mitte so etwas wie eine Kurve, 
im allgemeinen war es unklar« — »eine geschwungene Linie, 
wellig« — »eine flache schräg liegende Sinuslinie«. 

Wül sich der Experimentator darüber klar werden, welches 
psychologische Problem sich in den genannten Aussagen aus¬ 
prägt, so hat er sich die Frage vorzulegen, wie er selbst jene 
Aussagen versteht, aber derart, daß auch andere sie ebenso ver¬ 
stehen können. Nur mit Berücksichtigung dieses Zusatzes rührt, 
wie wir gesehen haben, der Fragesteller an einem Problem der 
psychologischen Forschung. Denn dann erst ermittelt er in 
jenen Aussagen ein neues Gegenstandsmoment am Erlebnis, eine 
neue Erscheinungsform der Subjektivität. 



28 


Moritz Löwi, 


Der Experimentator faßte die Ausdrücke »Welle«, »Schlangen¬ 
linie«, »Sinuslinie« usw. als bedeutungshafte bezw. bildhafte 
Äußerungen auf. Er sah in ihnen Symbole für etwas, wie man 
im Buchstaben das Symbol für den Laut erblickt. Er durfte 
in ihnen zeichenhafte bezw. bildhafte Erlebnisse erblicken, weil 
die Versuchsperson nach ihren Angaben: Schlangenlinie, Sinus¬ 
linie usw. gewisse Erlebnisse zeichenhaft oder bildhaft beurteilt 
haben kann. Etwas als Zeichen auffassen, heißt bereits eine 
bewußte Beziehung hersteilen auf ein »mögliches« Erlebnis, heißt 
etwas »haben« dergestalt, daß auch andere es müssen haben 
können, heißt schließlich eine bestimmte Frage der wissen¬ 
schaftlichen Psychologie formulieren. 

So ergibt sich als das nächste Ziel für das experimentelle 
Verfahren dieses: Der Versuchsleiter hat zu erforschen, wie sich 
ein haptisch dargebotener Beiz als Zeichen bei der Versuchs¬ 
person auswirken kann. So wie es im Anschluß an die Er¬ 
wägungen über die Schwelle nahe liegen mußte, die Aktua¬ 
lisierung der Kurve, ihre Augenblickserfassung zu beobachten, 
so gilt es jetzt, etwas, was jemand, der Verauchsleiter, aus 
Grundsätzen, d. i. aus dem Begriff des Psychischen, als Zeichen 
deuten mußte, in seiner Augenblicks Wirkung an jemanden, der 
Versuchsperson, methodisch zu zergliedern. 

Kurz, der Experimentator richtet eine dem Psychischen 
gemäß orientierte Frage über das Erfassen eines bestimmten 
Zeichens an seine Versuchsperson. Anknüpfend an eine bestimmte 
Gruppe nichtoptimaler Schwellenerlebnisse, das will sagen auf 
dem Wege und zugleich durch die begriffliche Forderung des 
Aufgabenwechsels bedingt, kommt das psychologische Problem 
der Erfassung bedentungshafter Zeichen zum Austrag. 

Die Bearbeitung von Erlebnissen zeichenhafter bezw. bild¬ 
hafter Natur erfordert die experimentelle Darbietung ent¬ 
sprechender Gebilde. Es sind der Versuchsperson Beize zu 
geben, die nach den Ausführungen des früheren Zusammenhanges 
leicht die Beurteilung im Sinne von Zeichen oder im Sinne von 
Bildern bei der Versuchsperson ermöglichen. Die Versuchs¬ 
person wird wieder über die Absicht des Experiments belehrt. 
Sie wird aufgefordert, bei vollständig freier Ausdrucksmöglichkeit 
die dargebotenen Linienkomplexe daraufhin zu prüfen, was sie 
als Zeichen bedeuten mögen. Nicht bloße Wiedergabe des suk¬ 
zessiven Verlaufs der Linienreize wird von ihr gewünscht, 
sondern die während des Verlaufes in buntem Wechsel auf- 
tauchende Gedankenreihe festzuhalten. Daß die Versuchsperson 



Schwellenantersachangen. Theorie and Experiment. 


29 


niemals mit dem Mittel des Wortes die unendliche Fülle ihrer 
Gedanken auch nur eines Momentes erschöpfen kann, ist wie 
bewiesen nicht nur kein Hemmnis für das Unternehmen, sondern 
geradezu die Bedingung des Versuchs, Weil eine derartige 
Leistung grundsätzlich unmöglich, deswegen muß ja ihre Aus¬ 
sage auf die Aufgabe bezogen werden. An dem in der Aussage 
nui’ bnichstttckartig wiedergegebenen Erlebnissachverhalt wird 
durch seinen Aufgabenbezug das Augenblickserfassen in seiner 
vollen Aktualität möglich. Bevor wir des näheren auf die Be¬ 
handlung der zeichenhaften, bezw. bildhaften Erlebnisse eingehen, 
muß wiederum der Möglichkeit eines Mißverständnisses gedacht 
werden: 

Es läßt sich der Verlauf, ja sogar das Ergebnis des Ver¬ 
fahrens schon jetzt voraussehen, so möchte man vielleicht glauben. 
Entweder müßten optimale Erlebnisse aufgewiesen werden oder 
aber nicht optimale. Letztere sind gleichbedeutend mit »Auf¬ 
gabenwechsel«, sie würden somit von dem eigentlichen Thema 
der Einsicht in die Natur der zeichenhaften Bedeutungserlebnisse 
abführen. Die der Aufgabe genügenden, d. i. optimalen Aussagen 
dagegen gäben bestenfalls das wieder, was aus der Besonderheit 
der Aufgabe sich von selbst vei*steht. Ganz ebenso wie die 
Versuchsperson im Falle der Krümmungsbeobachtungen in opti¬ 
maler Aussage von »deutlicher« oder »klarer Kurve< bezw. 
»Geraden« sprach, so wird sie hier das dargebotene Zeichen so 
beschreiben, wie es der Versuchsleiter der Aufgabe nach er¬ 
warten kann. Die gesamte Anordnung sei eine überflüssige 
Zutat. Der Versuchsleiter müßte schon im voraus, welche Aus¬ 
sage er von der Versuchsperson zu erwarten habe. 

Darauf ist folgendes zu erwidern: Die Aussagen der Ver¬ 
suchspersonen können sehr wohl der Aufgabe und dem damit 
verbundenen Verständnis des Versuchsleiters entsprechen, können 
optimal sein und dennoch in einer vorher nicht zu bestimmenden 
Form auftreten. Derartige Fälle kommen alsbald zur Be¬ 
sprechung. Aber selbst Aussagen von der Form »deutliche 
Kurve« sind in ihrer Besonderung von der Fragestellung her 
nicht vorauszusehen. Es gibt grundsätzlich keine Möglichkeit, 
vorherzuwissen, ob die Aussage »deutliche Kurve« oder »klare 
Kurve« oder »gute Kurve« usw. erfolgen wird. In der Auf¬ 
gabe ist implizite ein Bereich entsprechender Antworten optimaler 
Erlebnisse umgrenzt. Dagegen ist nichts über die spezifische 
Abweichung der optimalen Erlebnisse voneinander bekannt. 
Allemal birgt die wissenschaftliche Fragestellung die »mögliche 



30 


Moritz Lö^vi, 


Lösung« in sich; nur gewisse Tatbestände genügen ihren An¬ 
forderungen, nie aber kann aus der Frage heraus angegeben 
werden, welches diese Tatbestände sind. Damit hörte jede 
Erkenntnis auf, weil die Frage überflüssig würde. 

»Zeichen« als Beize geben an sich keinen Aufschluß über den 
Augenblickscharakter der ihnen entsprechenden optimalen Er¬ 
lebnisse. Ja es hat sich sogar gezeigt, daß bei vorheriger ge¬ 
nauester Schilderung der folgenden Beize, also im »wissentlichen 
Verfahren«, das optimale Erlebnis durchaus nicht in einer 
Wiedergabe der Schilderung beruht. Auch hier wird durch die 
wissenschaftliche Fragestellung ein breiterer Bezirk möglicher 
optimaler Akte umschrieben; innerhalb seiner unterscheiden sich 
die Aussagen ganz ebenso wie hinsichtlich des Kurvenerlebnisses 
die Aussagen »deutliche« Kurve von »klarer« Kurve. 

Hierin gerade äußert sich ein ganz fundamentales Motiv 
wissenschaftlicher Psychologie. Beliebige solcher Erlebnisse 
lassen sich denken, und jedes von diesen ist als optimal ge¬ 
kennzeichnet. Sie unterscheiden sich voneinander, wie sich ein 
erlebter Augenblick vom anderen unterscheidet. Denn die Auf¬ 
gabe als wissenschaftliches Problem umschreibt einen 
Bereich »möglicher« optimaler Erlebnisse, die Aufgabe als 
Tatsache dagegen fordert jeweils, d. L »augenblicklich« ein 
einziges optimales Erlebnis. Das Optimum ist immer auch 
zugleich Augenblickserlebnis. 

»Deutliche Kurve«, »klare Kurve«, »ausgesprochene 
Kurve« entsprechen Augenblicken des Erfassens von Kurven; 
ja sie sind diese Augenblicke geradezu, sofern Optimum und 
»erlebter Augenblick« zusammenfallen. 

Die Einsicht in die theoretische Bedeutung des Optimums 
bestätigt sich somit. Es gibt kein ein für allemal gültiges 
Optimum für jemanden, wie es auch keinen mathematisch ein 
für aUemal gültigen eindeutigen Schwellenwert geben kann. Ein 
ganz bestimmtes Erlebnis ist optimal, und unendlich viele 
Erlebnisse sind optimal. Das Optimum ist Augenblickserscheinung. 
Es genügt einer systematischen Fragestellung, und doch ist es 
Tatsache. Es ist Begriff und Tatsache zugleich, psychologischer 
Begriff. Nie ist vorauszusehen, welche Tatsache optimal ist. 

Zum Zwecke der Darbietung komplizierterer Kurven, also 
»möglicher« Zeichen, wurde das bisher verwendete Beizfeld in 
der angegebenen Weise vervcdlständigt (vgl. Tafel Fig. 4). Die 
Beize wurden mit dem vorher beschriebenen Ästhesiometer 
außerhalb der Pendelvorrichtung gegeben, also wie mit einem 



Schwellenanter8achiui8:en. Theorie and Experiment. 


31 


Schreibstifte. Die Anordnung gestattete, wie aus der Zeichnuug 
hervorgeht, eine beliebige Wiederholung der Reize bei gleicher 
Ausdehnung und Lokalisation. 

Der im folgenden wiedergegebene kleine Protokollausschnitt 
gibt einige Aussagen, die zunächst nicht bewältigt wurden, weil 
eine sachgemäße Belehrung fehlte. Der methodische Aufgaben¬ 
bezug war unterbunden. Der Versuchsleiter bediente sich als 
Reizen sowohl komplizierterer Kurven als auch Buchstaben. 
Sein experimentelles Verhalten war von der Erwägung über 
den Begriff des Buchstabens unbeeinflußt, daher unsicher. Die 
Aussagen sind nicht eindeutig bestimmbar, weil nicht auf 
eine eindeutige Aufgabe beziehbar. An die Versuchsperson 
wurde die Frage gerichtet: Was spüren Sie? Dies ist eine für 
das experimentelle Verfahren unzulässige Frage. Damit der 
Experimentator weiß, was die Versuchsperson gespürt hat, muß 
sie darüber belehrt werden, was sie spüren kann. Ohne diese 
Belehrung sind die Aussagen der Versuchsperson der Begriffs- 
bildnng nicht zugänglich. 

VersnchsanordnaDg: Beizfeld wie beschrieben (vgl. Tafel Fig. 4). 
Ästhesiometer ohne Pendelvorrichtang. 

Beize: In den beschriebenen 7 Yersnchen kamen nnr folgende zwei 
Beizfignren in Anwendung: and 2 

Versnchsperson: J. 

1. Beiz: 6c — 4d nsw. bis 5n. Zeit 4,2 Sek. 

Aussage: Steile Wellen, dachte anfangs, man wolle >n« schreiben. 

2. Beiz: 6c—4d — 4f—6g. Zeit 8,8 Sek. 

Ans sage: Kleine Wellen, erste sehr steil; (auf Befragen:) drei bis 
Tier Ausbuchtungen. 

3. Beiz: Buchstabe >n<, durch dieselben Punkte des Feldes bestimmt, 
Zeit 4,8 Sek. 

Aussage: Zwei komische Wellen, unten spitz, beinahe wie lateinisches 
>n<. Beim Aufstrich erinnerte der Beiz an eine Bachstabengestalt. Von 
der Deutung »Buchstabe« bin ich abgekommen, weil das Erlebnis anders 
verlief, als ich es bei einem Buchstaben erwartet hätte. 

4. Beiz: 8f—2g — 3h — 4g — 6f — 6g — 6h und Punkt bei 7g. Zeit 
6 Sekunden. 

Aussagen: Ich hatte den Eindruck, es solle eine 8 werden, die Ge¬ 
stalt war nicht ganz geschlossen: 

Zeichnung der Versuchsperson: ^ 

Beim Hinanffahren war es nur aufgetippt, aus der Schlangenlinie schlofi 
ich auf die 8. 

6. Beiz: Ein Fragezeichen ohne Punkt, von unten begonnen: 61 — 7k— 
6i — 5k — 4k — 3i—4h, also:^^^. Zeit: 2,6Sek. 

Aussage: Es war wie eine nicht deutliche 8, etwa folgendermaßen: 
"^0. Der Anfang in der Bichtang des Pfeiles. Über die Geschlossenheit 
der Figur kann ich nichts Bestimmtes aussagen, sie wird vermutet. 



32 


Moritz Löwi, 


6. Beiz: Derselbe, aber schneller. Zeit 1,4 Sek. 

Anssagfe: Es war eine 8, so: '^S. Ich hatte [das deutliche Bild 
einer 8, wndte aber, dad sie anders geschrieben war, als man eine 8 schreibt. 

7. Beiz: ein richtig geschriebenes Fragezeichen ohne Punkt in dem¬ 
selben Felde. Zeit 1,4 Sek. 

Aussage: Es war wie eine 6, so: b. Beim Schreiben sagt die Ver¬ 
suchsperson: Ach, das war ja keine 5. Die Figur war von mir ans nach 
links ofien. 

Im Hinblick auf die an die Versuchsperson gerichtete Frage: 
Was spüren Sie? ist aus den angeführten Aussagen nicht er¬ 
weisbar, ob ein optimales Erlebnis vorliegt, wenn die Versuchs¬ 
person mit Bezug auf die erste Beizfigur von einem lateinischen 
»n< spricht. Optimal ist mit demselben Kecht die Erfassung 
des Beizes als einer Wellenlinie. Beide Aussagen sind zulässig. 
Ebenso kann die Deutung des zweiten Beizes sowohl für optimal 
wie für nicht optimal gelten. 

Der methodische Fehler liegt klar zutage. Die Aussagen 
entziehen sich einer zielsicheren wissenschaftlichen Bewältigung, 
weil der Gradmesser für die Bedeutung der Aussagen der zeit¬ 
lose Sinn der Beize, nicht die eindeutig gestellte wissen¬ 
schaftliche Aufgabe ist. Mit Bezug auf die Frage: Was spüren 
Sie? ist der zeitlose Sinn des Erlebten das Kriterium für 
das Gemeinte. Erst wenn die Versuchsperson auf Grund einer 
sachgemäßen Belehrung weiß, was sie spüren kann, wird der 
zeitlose Sinn unter dem Gesichtspunkte des Augenblickserlebnisses 
bestimmt. Dem Sinne nach können die Beize freilich sowohl 
als Kurve wie auch als Buchstabe oder Buchstabenrudiment ge¬ 
deutet werden. Jede Deutung hat danach ihr Becht, wenn sie 
nur sinnvoll ist. Niemals aber kann auf diesem Wege die 
Deutung durch die Versuchsperson als Augenblickserlebnis ein¬ 
gefangen werden, nie das psychologische Problem seine Lösung 
finden, auf Grund welcher Erlebnismotive jemand sich zur 
Deutung im Sinne des Schriftzeichens oder Buchstabens geführt 
sieht. Hierfür muß der Experimentator sich allererst die Frage 
vorlegen: Was heißt »Zeichen« oder »Buchstabe« im Sinne der 
Psychologie? Im Augenblicke seiner an die Versuchsperson ge¬ 
richteten Aufforderung muß er diesen begrifflich bestimmten Sach¬ 
verhalt gegenwärtig haben, ihn verstehen. Damit ist Problem 
und Steller des Problems ein Gefüge. Das theoretische Problem 
des bedeutungshaften Verstehens wird zugleich eine an jemanden 
gerichtete Frage. Darauf bezogen ergibt sich die Aussage als 
optimal oder — in unserer Sprache — als »Aufgabenweclisek. 



Schwelleniintersachangen. Theorie and Experiment. 


33 


Jetzt erst verraten sich die psychischen Elemente der Zeichen* 
haften bezw. bildhaften Deutung. 

Eine sachgemäße Handhabung der Untersuchung hätte sich 
etwa so abgewickelt: 

Im Anschluß an die wissenschaftliche Definition des Begriffs 
>Zeichen« wäre das Problem des Schreibens und Lesens anfgeroUt 
worden. Die Fragestellung, in die auch der Steller des Problems 
eingeht, hätte für den Experimentator die Form angenommen: 
Was habe ich geschrieben? Mit Bezug hierauf sind optimale 
Aussagen möglich, d. h. es hätte die Frage erledigt werden 
können, was es heißt, einen Buchstaben lesen können (Hand¬ 
schrift); ja sogar inwieweit geschriebene Buchstaben passiv 
tastend gelesen werden können. 

Der außerordentliche Reichtum an begrifflichen Beziehungen 
drängt sich sofort auf. Ihn in dem Maße bloßzulegen ist nur 
angängig mit Hilfe der vorher umschriebenen methodischen 
Mittel der Psychologie. Schon in solcher Exposition der Themen 
bewährt sich ihre ganze Leistungsfähigkeit. Damit aber ist der 
bedeutsame Begriff des »Aufgabenwechsels< gerechtfertigt. Nach 
zwei Richtungen ist er für die Psychologie von Belang: Einmal 
macht er das tatsächliche Verfehlen einer Aufgabe seitens der 
Versuchsperson begreiflich, sodann aber wird vermöge seiner 
Funktion das Verfehlen einer bestimmten Aufgabe gleichbedeutend 
mit einer neuen Fragestellung der experimentellen Psychologie. 
Im Begriff des »Aufgabenwechsels« leuchtet der Relationsbau 
des Erlebnisses auf. 

Zu welchem Ergebnis haben bisher die beschriebenen Ver¬ 
suche geführt? 

Die Aussagen, also auch die Erlebnisse, in Gruppe I sind 
psychologisch bestimmt im Begriff des Optimums. Mit diesem 
Terminus wird zweierlei ausgesagt: wie die Erlebnisse beschaffen 
sind, wie sie der Aufgabe genügen, und ferner, daß sie der 
Aufgabennatur Rechnung tragen, daß sie ein gegenständliches 
Moment des Psychischen veranschaulichen. Prinzip und Tatsache 
werden an ihnen als ein einziger Tatbestand sichtbar. Jene 
Aussagen sind psychologisch bewertet. Der Begriff »Anfgaben- 
wechsel« bemächtigt sich der in Gruppe n zusammengestellten 
Erlebnisse. Sie entfernen sich von der Aufgabe, bringen also 
ebenfalls einen Grundzug seelischen Verhaltens zum Ausdruck, 
sie offenbaren aber zugleich, welches neue Motiv in ihnen zum 
Durchbruch kommt: die Bedeutungsbetontheit des Erlebnisses. 

Archiv für Psychologie. XLVni. 8 



34 


Morits LSwi, 


>Aiifgabenwechsel« ist wieder ein rechtmäßiger Begriff der 
experimentellen Psychologie. 


VL 

Von ganz besonderer Natur sind die Erlebnisse in Gruppe ni. 
Sie zeichnen sich gegenüber den bisherigen durch eine zusammen¬ 
fassende Tätigkeit der Versuchsperson aus. Begnügt sich die 
Versuchsperson in den geschilderten nichtoptimalen Erlebnissen 
mit einer Darstellung des Erlebten von aufeinanderfolgenden 
Phasen: >erst Kurve, in der Mitte Gerade, am Ende wieder 
nach oben gehend empfundene, >erst Haken, dann Geradec, 
oder zerlegt sie ihren Eindruck nach einem anderen Prinzip: 
»nicht genau feststellbar, ob Gerade oder Kurve« usw., so wird 
in der genannten Gruppe in der Ton vorzüglich auf die Tat¬ 
sache eines Gesamtbildes gelegt. Die Elemente des Erlebnisses, 
mögen sie zu der Vermutung eines unklaren Eindrucks berechtigen, 
in jenem Gesamtüberblick wird ihnen unzweifelhaft ein¬ 
deutige Bestimmtheit zuteil. Es liegt nahe, Erlebnisse dieser Art 
einfach als optimale abzntun. 

In der Tat ist diese Angliedemng zulässig. Indessen wird 
es sich nicht vermeiden lassen, zum wenigsten von einem be¬ 
sonderen Fall optimaler Erlebnisse zu sprechen. Die besondere 
Art der Erlebnisse zeigt den Begriff des Optimums, der »Gestal¬ 
tung«, in neuer Beleuchtung. In Rücksicht auf sie erfährt er 
eine weitere Ausgestaltung, er determiniert sich. 

Zur weiteren Gliederung des Begriffs vom Optimum bedarf 
es einer eingehenderen relationstheoretischen Betrachtung. Das 
optimale Erlebnis war geknüpft an ein mit dem Begriff einer 
Aufgabe verbundenes zeitliches Verhalten der Versuchsperson 
wie auch des Versuchsleiters. Es konnte als zeitliche Gestaltung 
definiert werden. Die Motive der Gestaltung, eben weil sie in 
funktionalem Verhältnis zum Problem stehen, müssen grund¬ 
sätzliche Unterschiede aufweisen, sofern die Probleme grund¬ 
sätzlich gegeneinander abgegrenzt sind. Grundsätzlich verschiedene 
Probleme sind dasjenige der Empfindung, z. B. der Gewichts¬ 
empfindung, und dasjenige der Gravitation. Empfindung ist etwas 
nur »mit Bezug auf jemanden«, »schwer« im physikalischen 
Sinne ist etwas nur unter der Voraussetzung der »Unabhängigkeit 
von jemandem«. 

Diese Einsicht ist in dem Maße Gemeingut geworden, daß 
darüber vergessen wurde, in der »Unabhängigkeit von 
jemandem« eine Beziehung »zu jemandem« zu erblicken. 



SchwellennntersTichTiiigen. Theorie and Experiment. 


35 


Jeder mathematische und natorwissenschaftliche Begriff verweist 
notwendig» auf jemanden«, weil »unabhängig von 
jemandem«. Nur ist solcher Bezug von grundsätzlich anderer 
Art als im Falle der Empfindung. Gleichgültig wie des näheren 
die Bezüge »für jemanden« hier und dort sich voneinander 
unterscheiden, so unvermeidlich sie bestehen müssen, so unum¬ 
gänglich ist mit jedem Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis 
auch das psychologische Motiv zeitlicher Gestaltung gegeben. 

Daraus folgt schließlich: Ganz so wie sich »für jemanden« 
von der Relation »unabhängig von jemandem«, d. h. also 
»mit Bezug auf jemanden« unterscheiden, ganz in dem 
Maße müssen verschiedene Formen zeitlicher Gestaltung nach¬ 
weisbar sein. 

Kants kritische Philosophie hat die Möglichkeit der Be¬ 
ziehung »unabhängig von jemandem« zum wesentlichen 
Gegenstand. Der mit dieser Beziehung gesetzten Forderung 
zeitlicher Gestaltung trägt sie in ihrem Ansatz Rechnung: sie 
dringt von der Tatsache der »Erscheinung« vor zum Begriff des 
Gesetzes. Ihr Ziel ist der Eorrelativbezug der Relationen der 
Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit — also etwa der Kate¬ 
gorien — auf die »Erscheinung«, d. i. auf die Relation »ab¬ 
hängig von jemandem«. Hierin liegt die Begründung dafür, 
das Wissen, die Subjektivität als Ausdruck der Gegenständlich¬ 
keit zu betrachten. Auch der umgekehrte Weg ist gangbar. 
Die Beziehung »unabhängig von« wäre alsdann Ausgangs¬ 
punkt. Wo also Begriff, da auch Gestaltung. Bestimmte psycho¬ 
logische Aufgaben sind mithin funktional verknüpft mit der durch 
die Bezeichnung »Erscheinung« umschriebenen Zeitgestaltnng. 
Wo jene Aufgaben statthaben, wo Begriffe der mathematischen 
Naturwissenschaften vorliegen, da ist die ihnen entsprechende 
Zeitgestaltung »Erscheinung«, d. h. Erfahmng. »Ich mache 
Erfahrung« ist ein Erlebnis, für welches zeitliche Gestaltung 
funktional mit einem Begriff, einer Aufgabe, einer Erfahrungs- 
Wissenschaft zusammenhängt Wie sich aber Erfahmngsbegriffe 
wohl unterscheiden von Begriffen der Art der Empfindung, so 
sind auch »Erscheinungen« eine besondere Form zeitlicher Ge¬ 
staltung gegenüber Empfindungen und Gefühlen. Die Gestaltung, 
welche der Empfindung und ähnlichen Sachverhalten entspricht, 
betätigt sich an dem Empfindenden selbst. »Erscheinungen« 
dagegen, als Gestaltungsformen mathematisch-naturwissenschaft¬ 
licher Forschung, liegen außerhalb des Forschenden, stehen 
also in anderem Sinne in Beziehung zu ihm, weil natur- 



36 


Moritz L0wi, 


wissenschaftliche Begriffe »unabhängig von jemandem« 
gelten. Elrscheinnng oder Geschehen sind »außer mir«. 

Die gleiche Relation »außer mir« liegt vor, wo der Gegen- 
stand der Gestaltung eine geometrische Beziehung ist. Hier ist 
das Ergebnis der Gestaltung freilich keine Erscheinung; denn 
das Prinzip der geometrischen Begriffsbildnng ist ein anderes 
als das der Physik. Hier ist die Bedingung jeglichen Begriffs 
Raum und Zeit, dort der Raum allein. Demnach bedarf es auch 
einer besonderen Art der Gestaltung geometrischer Verhältnisse. 
Auch sie ist eine Ausprägung der Relation »außerhalb« oder 
»unabhängig von jemandem«, aber sie wird wirksam 
lediglich am Raum, der Raum allein wird erlebt Nicht Er¬ 
scheinungen sind das Ergebnis der Erfassung, sondern Raum- 
formen, Ranmgestalten. »Außer mir« und »in mir« 
sind also die Arten psychischer Fähigkeit, psychischer Gestaltung. 
Außer mir bedeutet eigentlich »nach außen verlegen«. Die 
Möglichkeiten, nach außen gerichtet zu sein, sind so mannigfach 
wie die Möglichkeiten geometrischer bezw. naturwissenschaft¬ 
licher Begriffsbildung. So wie die Begriffe der sogen, exakten 
Wissenschaften ihrer Struktur nach eindeutig gegeneinander ab¬ 
gegrenzt sind, so sind es auch die Arten der »Richtung nach 
außen« der Gestaltung. Sie sind eindeutig bestimmt im »Sehen», 
»Hören« und »Tasten« usw. Der Bau der exakten Wissenschaften, 
ihre »Möglichkeit« fordert unausbleiblich eine Psychologie der 
Sinnesorgane, eine Gestaltspsychologie. So gewiß Mathematik 
und Naturwissenschaft »möglich«, so gewiß ist Gestaltspsychologie 
notwendig. Beide stehen und fallen miteinander. 

Das theoretische Material ist damit beigebracht, um auf 
Begriff und Tatsache des Optimums näher einzugehen. »Eine 
Kurve erleben« heißt ein Gestaltserlebnis haben. Einer Aufgabe 
dieser Art wird genügt, wenn das Erlebte als Ganzes gewußt 
wird, wenn eine »Gestalt« gewissermaßen von außen her gegeben 
erscheint, wenn jemand etwas »unabhängig von sich« erlebt 
Sie in diesem Sinne schaffen, kann «oviel bedeuten, wie »den 
Reiz tasten«. 

Gruppe I enthält optimale Gestaltserlebnisse. Gruppe TTT 
liefert ebenfalls »Gestalten«. Daneben werden allerdings Ein¬ 
drücke geäußert, die in irgendeiner Beziehung zum Gesamtbild 
stehen. Nur können sie nicht als Teile des Erlebnisses hin¬ 
gestellt werden. 

Ganz abgesehen von der Unmöglichkeit eines Aufbans des 
Erlebnisses aus Einzelteilen ist nicht zu begreifen, wie dieselbe 



Scbwellenantennchangen. Theorie and Experiment. 


37 


Kombination von Geraden- nnd Knryenelementen einmal das Knd- 
resnltat >6erade< nnd dann wieder das Besnltat »Kurve« ergeben. 
Die VersQchsperson setzt die Motive der Undeutlichkeit nnd 
Unsicherheit in Beziehung zu ihrem Gesamterlebnis, eben darum 
stehen sie auch mit ihm in Beziehung, nur geben sie nicht 
die Bedingung des Gestaltserlebnisses ab. Welches ist die 
fragliche Beziehung? 

Jedes Erlebnis ist gewußt, auch da, wo die Sprache nichts 
dergleichen andeutet. Der Mangel einer besonderen Hervor¬ 
hebung des Gewußtseins mittels der Sprache macht sich haupt¬ 
sächlich fühlbar im Falle der Gestaltserlebnisse. Man pflegt nicht 
immer zu sagen: »ich sehe diesen Gegenstand«, »ich taste ihn«, 
»ich höre diesen bestimmten Akkord«; dasselbe Erlebnis flndet 
seine sprachliche Elinkleidung etwa in der Form: »das ist ein 
Baum«, »das ist ein Akkord« usw. 

Gleichwohl gelangt in dieser Fassung das Wissen um das 
Gesagte nicht minder zur Geltung wie in jener. In dem Wort 
»ist« verbirgt sich zum Unterschied vom wissenschaftlichen 
Urteil die Bichtung des Sprechers »nach außen«, die Richtung 
des Erlebenden im Sinne der Beziehung »unabhängig von 
mir«, also in gewisser Weise »für mich«, ln dem Satz wird 
etwas bestimmt nicht nach theoretischen Grundsätzen, sondern 
in Beziehung zum Sprecher. Etwas »ist« ein Baum in diesem 
Falle, weil der Sprecher es als Baum sieht. »Ist« bedeutet hier 
eine gewisse Art des Gegebenseins, nämlich »von außen für 
jemanden«, es heißt »Gestalt«. Das Gestaltserlebnis besagt 
demnach soviel wie: etwas »unabhängig von mir«, d. i. 
in gewisser »Beziehung auf mich« erleben. «Etwas erleben« 
heißt »Wissen«, etwas »unabhängig von mir erleben« 
heißt wissen, daß mein Wissen nach außen gerichtet, heißt also: 
um mein Wissen als um ein besonderes wissen. 

Also auch da, wo im Hinblick auf ein Elrlebnis, dessen Ge- 
wnßtwerden nicht ausdrücklich in Worte gefaßt wird, ist es 
gleichwohl wirksam. 

Die Dinge liegen jetzt so: Die Gestalt ist der psychische 
Ausdruck für die Relation »außer mir«. Als solcher bezeichnet 
sie eine speziflsche Leistung des Wissens. Das Gestaltserlebnis 
oder die aktuelle Beziehung »außer mir« ist, wie eben nach¬ 
gewiesen, selbst wieder gewußt; folglich liegt auch im Gestalts¬ 
erlebnis das Wissen um ein besonderes Wissen vor; »Sehen«, 
»Hören«, »Tasten« usw. heißt gleichzeitig wissen um das 
»Sehen«, wissen um das »Hören« usw., heißt wissen um die 



38 


Moritz LOwi, 


Bichtong nach außen, mag das Wissen um das Sehen, Tasten nsw. 
an der Aussage kenntlich sein oder nicht. 

Nicht der Gedanke soll ausgeführt werden, daß das Wissen 
keine andere Bedingung über sich hat als wieder das Wissen; 
vielmehr dies besagt das Wissen vom Wissen: Wer weiß, braucht 
nicht bloß etwas zu wissen, sondern er kann auch um etwas 
als Gewußtes wissen, um das gegenständliche Prinzip von 
etwas wissen. Nicht allein, was erlebt wird, sondern wie erlebt 
wird, fällt in der Gestalt in eins zusammen. »Wissen« ist hier 
Prinzip und Tatsache zugleicL 

Es wurde oben gelegentlich der Kennzeichnung verschiedener 
Formen zeitlicher Gestaltung auf den Unterschied in den Relationen 
»außer mir« und »in mir« hingewiesen. Ihnen gemäß verhält 
sich die Gestalt etwa zur Empfindung oder zum GefühL Der 
scheinbar markante Gegensatz beider Beziehungen zueinander 
begründet die Unterscheidung von äußerer und innerer Erfahrung. 

Die letzten Ausführungen beleuchten die Berechtigung der 
Gegenüberstellung. Weil die Gestalt ein Wissen um Gewußtes, 
ein Wissen um das mir von außen Gegebene, eben darum können 
beide Beziehungen >in mir« und »außer mir« unverbrüchlich 
miteinander verfiochten sein. 

Ein Komplex findet nicht seine psychologische Auswertung 
als Gestaltserlebnis oder als Empfindung, Gefühl, Wille und dergl., 
sondern der Komplex wird methodisch angegangen, sofern er 
Gestalt oder Empfindung ist. 

Für die Aussagen in Gruppe I lag zunächst keine äußere 
Veranlassung vor, die Theorie der Gestaltspsychologie zu ent¬ 
wickeln. Sachlich fallen jene Erlebnisse selbstverständlich unter 
den Begriff der Gestalt Gruppe 111 dagegen drängt zur Er¬ 
örterung von Fragen solcher Natur. Es ist auf den ersten Blick 
nicht einsichtig, wie die erlebte eindeutige Bestimmtheit mit dem 
Zweifel und der Unsicherheit hinsichtlich der dargebotenen Beize 
in Einklang zu bringen ist. 

Die Angaben »Kurve, nicht ganz eindeutig, Mitte kurvig, 
danach Endurteil Kurve« (Gruppe lU) und die Aussage »deutliche 
Kurve« (Gruppe I) stehen psychologisch auf gleicher Stufe, soweit 
die Frage des Optimums und das Problem der Gestalt nach Klärung 
drängen; wird dagegen das Erlebnis auf seine unendliche Aktualität, 
d. h. auf den Umstand hin geprüft, daß das Wissen zugleich ge¬ 
wußt werden kann, dann ist die erste Aussage vor der zweiten 
ausgezeichnet In jener offenbart sich das Wissen um das Gestalt¬ 
erfassen, d. h. eben die psychische Unendlichkeit, und das wieder 



Schwellenimtersachiuigeii. Theorie und Experiment. 


39 


ist nur eine andere terminologische Bezeichnung für die Gestalt 
als Begriff der Psychologie, für die Gestalt als einen besonderen 
Fall der Verflechtung von Begriff und Tatsache. 

Wiederum sei auf die Abweichungen der als optimale Gestalts¬ 
erlebnisse charakterisierten Aussagen voneinander, also innerhalb 
einer Gruppe, verwiesen. Welchen wissenschaftlichen Sinn hat 
es, wenn einmal dem Erlebnis die Formulierung zukommt: »Kurve, 
nicht ganz eindeutig, Mitte war kurvig; danach Endurteil Kurve«, 
das andere Mal dagegen die Antwort miolgt: »Kurve, aber nicht 
so ausgesprochen, mehr Welle«? 

Die entsprechende Frage wurde bereits anläßlich der Be¬ 
stimmung der optimalen Erlebnisse (Gruppe I) erhoben, sie kann 
daher in Kflrze beantwortet werden. 

Gegeben ist ein Problem, es ist zugleich Frage an jemanden 
oder Aufgabe für jemanden. Ans der Doppelsinnigkeit dieses 
Ausgangspunktes folgt eine Betrachtungsweise der geäußerten 
Erlebnisse ebenfalls in doppeltem Sinne: in ihnen muß Begriff 
und Tatsache eins werden. Das Gestaltserlebnis genügt der 
Forderung. Folglich gilt für die Gestalt dasselbe wie für Optimum 
und »Anfgabenwechsel«: Es kann immer nur ganz bestimmte 
Gestaltserlebnisse geben. Eine reine Gestalt unabhängig von 
augenblicklicher Äußerung würde gerade das eigentlich psycho¬ 
logische Ineinander von Prinzip und Tatsache Zerfällen. Weil 
— im Psychischen — Begriff, deswegen einmalig, augenblicklich. 
Die Verschiedenheit der Gestaltserlebnisse ist eine Forderung, 
sie ist ebenso bündig, wie die Begriffsbildnng der Physik unbe¬ 
schränkte Wiederholbarkeit der Erscheinungen fordert Das 
Gestaltserlebnis muß augenblicklich sein, in dieser Leistung 
spiegelt sich allererst sein Verhältnis zur Aufgabe. Die »wört¬ 
liche« Äußerung ist aber Funktion zeitlicher Gestaltung, hier 
Funktion des Gestaltseindrucks. Folglich sind die Aussagen in 
ihrer Verschiedenheit das Erleben des Augenblicks. 

Das Erleben als Augenblicksgestaltung wird also bisher ge¬ 
währleistet durch folgende Begriffe der Psychologie: »Aufgabe«, 
»Optimum«, »Aufgabenwechsel«, »Zeitgestaltnng«, d. i. Verstän¬ 
digung, »Gestaltserlebnis«, d. L Sehen, Tasten, Hören usw. 

Wird im Gestaltserlebnis nur eine besondere Form der Ver¬ 
ständigung erkannt, so läßt sich sagen: alle Begriffe sind mit 
Bezug auf eine Aufgabe, also auf ein theoretisches und gleich¬ 
zeitig tatsächliches Moment bestimmt. Eben deswegen bahnt 
sich in ihnen eine Belationiemng des Erlebnisses an. Das Er¬ 
lebnis wird Relationserlebnis. 



40 


lloritx Löwi, 


Das Merkzeichen der Aussagen in Gruppe IV ist die Gefühls- 
betontheit, insbesondere die ästhetische Gefühlsbetontheit Eine 
nähere Durchsicht der Angaben nach den anfgestellten Grund¬ 
sätzen reicht über die Ziele vorliegender Überlegungen hinaus. 
Sie bedeutete, weit genüg durchgeftthrt, nichts Geringeres als 
den Versuch einer Psychologie des Kunstwerks, zugleich des 
künstlerischen Genusses. 

Damit ist der entscheidende Punkt erreicht, von dem aus die 
Beantwortung der zn Beginn der Darlegung gestellten Fragen 
in Kürze vorgenommen werden kann (vgL S. 4). Sie lauteten: 

1. Warum kann die experimentelle Anordnung der psychophy¬ 
sischen Maßmethoden keinen Einblick gewähren in die in jedem 
Augenblick vorherrschende gesamte psychische Haltung der 
Versuchspersonen? Die Antwort lautete: weil sie kein Mittel 
haben für die Bewältigung des Erlebnisses als Gewußtes. 

2. Durch welches Verfahren wird die Augenblickshaltung der 
Personen wissenschaftlich festgehalten? Antwort: Durch eine 
Methode, deren Begriffe zugleich Tatsachen liefern. 3. In welchem 
Ausmaß ist Psychophysik möglich ? Diese Frage kann erst jetzt 
nach theoretischer Erledigung des Gestaltserlebnisses beantwortet 
werden: Phychophysik ist »mögliche als Gestaltspsychologie. Die 
Beziehung des Physischen zum Psychischen, d. i. das Verhältnis 
vom Reiz zum Erlebnis definiert sich in einer besonderen Form 
des Gewußten, im Gestaltserlebnis. Die Analyse der Gestalts¬ 
erlebnisse ist Psychophysik, denn in ihr bemächtigt sich die 
Forschung der Bestimmung von Erlebnissen äußerer Erscheinnngen. 

Hier kann schließlich das früher (vgl. S. 17) zurückgestellte 
Problem der Bedeutung der objektiven Bedingungen der Reize 
für das Erleben seine relative Lösung finden: Gestaltserlebnisse 
sind, wie wir gesehen haben, nur »möglich« mit Bezug auf Be¬ 
griffe der exakten Wissenschaften. Das Erlebnis der Gestalten 
hat somit immer einen Bezugspunkt, der durch „Größe« aus¬ 
gezeichnet ist. Wird die Gestalt erlebt, dann ist auch allemal 
die Besonderheit der Größe angebbar. Nicht aber, weil etwas 
eine bestimmte Größe hat, tritt ein bestimmtes Gestaltserlebnis 
ein. Der Kansalnexus hat hier keine Stelle. Es muß heißen: 
mit Bezug auf die und die Größe ist ein Erlebnis durch be¬ 
stimmte psychologische Motive gekennzeichnet. Diese Daten 
sind aufzndecken. Die Auseinandersetzung mit der Psycho¬ 
physik ist damit geschlossen. 

Noch nicht erledigt aber sind die zn diesem Behuf unter¬ 
nommenen Schwellenbetrachtungen. Die Gruppe m der Aussagen 



Schwellenimtersachtingen. Theorie und Experiment. 


41 


konnte als Zusammenfassung optimaler Erlebnisse gelten, erforderte 
aber im Vergleich zu den Optimalerlebnissen in Gruppe 1 die Ent* 
Wicklung des Gestaltsproblems. 


vn. 

Die Darlegungen über das Gestaltserlebnis gipfelten in dem 
Hinweis auf die unendliche Komplexion des Erlebnisses, auf die 
unlösbare Verklammerung von innerer und äußerer Erfahrung, 
wie sie von der beherrschenden Gmndbeziehung jedes Erlebnisses, 
des Wissens um das Wissen gefordert wird. Mag sich nach dem 
Wortlaute der Aussage jene qualitative Unendlichkeit ankflndigen 
oder nicht, der Theoretiker und Experimentator hat damit zu 
rechnen, daß jederzeit auch die Aussage die denkbar kompli¬ 
zierteste Form annehmen kann. 

Freilich erschweren die in der komplexen Aussage bunt durch¬ 
einander laufenden Elrlebnisse das Herausschälen der gesuchten 
Tatsachen. Schon oben (vgl. S. 24) geschah jenes Umstandes Er¬ 
wähnung, daß die aufgabengemäße Leistung der Versuchsperson 
durch das Überwuchern mannigfacher sie begleitender Erlebnis¬ 
momente an methodischem Belang abgeschwächt wird, ja daß 
sie infolgedessen häufig überhaupt nicht mehr in Erscheinung 
tritt. Für die Psychologie wurde der Sachverhalt fruchtbar ge¬ 
macht im BegrifE des Aufgabenwechsels. 

Nunmehr seien noch jene Fälle erwähnt, in denen von einer 
der Aufgabe eindeutig entsprechenden Leistung gesprochen werden 
muß, dieses Verhalten aber zugleich von den mannigfachsten Äuße¬ 
rungen des Seelenlebens umrahmt ist. Folgende Versuchsreihen 
illustrieren die Sachlage: 

Yersnchsanordniing: 6 gleich große, gleich anssehende, hSlxeme 
innen mit Gewichten beschwerte Kästen. Gmndgewicht 872 g, Vergleichs- 
gewichte 1322, 828, 585, 465, 852 g (das Gmndgewicht wnrde ans bestimmten, 
hier nicht näher zu erörternden Gründen nicht immer anch als Vergleichs- 
gewicht benutzt). 

Instruktion: Die Versuchsperson wird aufgefordert, mit der rechten 
Hand (bei Rechtshändern) erst das vor ihr stehende linke Gewicht, darauf 
das rechte Gewicht einmal zu heben, darauf zu senken. 

Reihe I. Nr. 1. Reize: Gmndgewicht 872g, Vergleichsgewicht 1822g. 

Versuchsperson: Priratdozent Dr. St. 

Aussage: Als ich den Kasten hob, war ich Überrascht über die Leich¬ 
tigkeit und merkte, daß ich einen übermäßigen Kraftaufwand bereit hatte. 
Bevor ich den zweiten hob, schwankte ich zunächst in der Erwartung, oh 
er anch leicht sein würde, oder ob er im Gegensatz sehr schwer sein würde. 
Die letztere Erwartung wnrde noch Überboten, ich fand ihn sehr schwer. 
Es kam mir der Gedanke, wie viel mal schwerer er wohl sein mOcbte. Ich 



42 


Moritz Löwi, 


yermutete, daß er vielleicht drei- oder yiermal so schwer sein müßte. Ans 
vagen psychologischen Überlegnngen hatte ich bereits das Gefühl, mich zn 
tänschen. 

Nr. 2. Beiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Ans sage: Ich vermnte, daß es derselbe leere Kasten ist, den ich mit 
derselben Überraschnng wieder gehoben hatte, der andere Kasten erschien 
mir erheblich schwerer als der leere, aber höchstens halb so schwer wie der 
entsprechende beim ersten Experiment. 

Nr. 3. Reiz: Vergleichsgewicht 558 g. 

A n s 8age: Die Überraschnng war diesmal beim Heben des ersten Kastens 
sehr gering, bei dem zweiten Kasten hatte ich das Gefühl, es wäre der 
gleiche Kasten wie beim zweiten Experiment. 

Nr. 4. Beiz: Vergleichsgewicht 465 g. 

Ans sage: Beim ersten Kasten fand ich eine kleine Znnahme an Ge¬ 
wicht gegenüber den früher znerst gehobenen Kästen. Beim zweiten er¬ 
wartete ich eine Veränderung des Gewichtes, konnte aber keine feststellen 
gegenüber 2 nnd 3. 

Nr. 5. Reiz: Vergleichsgewicht 352 g. 

Anssage: Beim ersten Kasten glaubte ich eine ganz unerhebliche Ge¬ 
wichtszunahme zn beobachten, beim zweiten war ich überrascht über die 
Leichtigkeit im Vergleich zur Schwere des linken Kastens (Nr. 2) in den 
früheren Experimenten. Ich konnte mir aber nicht klar werden, welcher 
von den beiden Kästen leichter ist. 

Reihen. Reize: Grnndgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 828, 828, 
828, 828, 372 g. 

Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Anssage: Den ersten Kasten hob ich ohne erhebliche Überraschnng, 
denn ich erwartete, daß es mal anders wäre; ich glaube es ist der schwerste, 
den ich bis jetzt gehoben habe; der zweite erschien mir erheblich leichter, 
kaum mehr als die Hälfte. 

Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Anssage: Vielleicht mitbestimmt durch die Schnelligkeit der Wieder¬ 
aufnahme des Versuchs, glaubte ich dieselben Gewichte vor mir zn haben. 

Nr. 3. Beiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Anssage: In der Ansicht, es müßten nun andere Gewichte sein, stellte 
ich dieselben Gewichte noch einmal fest. Es schien mir unmittelbar nach 
dem Heben, als wäre doch das erste etwas schwerer als das erste im vor¬ 
hergehenden Experiment. 

Nr. 4. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Aussage: Das ist wieder dasselbe. 

Nr. 6. Reiz: Vergleichsgewicht 372 g. 

Aussage: Das rechte glaubte ich wiederznerkennen, mit ausgesprochenster 
Überraschung und mit übermäßigem Impuls hob ich den leeren Kasten. Ich hatte 
den Eindruck, als wäre diese Überraschung vom Versuchsleiter beabsichtigt, 
nnd fühlte mich angeführt. 

Reihe III. Reize: Grnndgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 378, 828 g. 

Reiz: Das Grnndgewicht von 1322 g, danach das Vergleichsgewicht 
von 378 g werden abwechselnd fünfmal gehoben nnd gesenkt. Nach der 
sechsten Hebung nnd Senkung des Grnndgewichtes hebt die Versuchsperson 
das Verglcichsgewicht von 828 g. 



Schwellenmitersachiuigen. Theorie and Experiment. 


43 


Anssage: Dnrch die Nenartigkeit der Anordnung war ich anf nichts 
Bestimmtes gefaßt and erkannte das schwerste mir bisher begegnete Ge¬ 
wicht wieder. Ich dachte auch bei dem zweiten Gewicht an nichts Be¬ 
sonderes and empfand nar im Arm einen starken Gegensatz beim Heben 
der zweiten Eiste. Beim zweiten Vergleich kam mir die leichtere viel 
schwerer vor als beim erstenmal Heben. Ich erwartete, daß beim dritten, 
vierten and fünften Versnch sich dieses Geftthl ändern wttrde, and war Über¬ 
rascht, daß sie mir nar dauernd schwerer vorkam als beim ersten Heben. 
Der dritte Kasten schien mir in der Mitte zwischen beiden za liegen. 

Versachsanordnung: Dieselbe. 

Reihe IV. Reize: Grandgewicht 1822 g, Vergleichsgewichte 828, 558, 
466, 852, 1822 g. 

Versuchsperson: Stadienassessor J. 

Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Aussage: Das zweite ist leichter, ziemlich bedeutend. 

Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 558 g. 

Aussage: Das zweite ist ganz bedeutend leichter, so leicht, als ob 
ttberhanpt nichts drin wäre. Das erste erschien mir ongefthr so wie beim 
vorigen Versnch das zweite. 

Nr. 8. Reiz: Vergleichsgewicht 465 g. 

Aussage: Das zweite vrieder ganz bedeutend leichter; and zwar ge¬ 
nau so wie vorhin das zweite, nämlich leer. Der Abstand zwischen beiden 
erschien mir deshalb großer, weil anch das erste Gewicht mir schwerer 
vorkam als alle vorher gehobenen. 

Nr. 4. Reiz: Vergleichsgewicht 852 g. 

Aussage: Das zweite ist wieder ganz bedeutend leichter, ich denke, 
daß das wieder der leere Kasten war. Das schwerere kommt mir vor wie 
das schwerere aus dem vorletzten Versuch. 

Nr. 5. Reiz: Vergleichsgewicht 1822 g. 

Aussage: Das zweite ist einen ganzen Teil schwerer, vom ersten weiß 
ich nicht, ob es das vorhin als schwerstes bezeichnete war, oder das schwerere 
aus Versuch 4 und 2. 

Reihe V. Reize: Grandgewicht 1322 g, Vergleichsgewichte 352, 828, 
465, 558, 1322 g. 

Nr. 1. Reiz: Vergleichsgewicht 352g. 

Aussage: Das zweite ist wieder das leere, die Differenz zwischen beiden 
kam mir etwas geringer vor als in den bisherigen Versuchen. Die Schätzung 
der Differenz ist etwas unsicher, weil ziemliche Zeit zwischen den vorigen 
Versuchen und den jetzigen vergangen ist. (Zwischen dem letzten Versuch 
der vorigen|Reihe und dem vorliegenden Versuch lag eine Pause von 20 Minuten.) 

Nr. 2. Reiz: Vergleichsgewicht 828 g. 

Aussage: Das zweite ist wieder leichter, aber es ist nicht das leere 
Kästchen; die Differenz zwischen beiden ist verhältnismäßig gering; geringer 
als die Differenz bei Versuch 5 der vorigen Reihe. Ich glaube, daß die 
niedrige Einschätzung der Differenz damit zusammenhängt, daß ich beide 
Gewichte als von mittlerer Schwere empfunden habe. 

Nr. 8. Reiz: Vergleichsgewicht 465 g. 

Aussage: Das zweite war wieder das leere Kästchen. Mit »leer« be¬ 
zeichne ich einmal dasselbe Kästchen, welches ich früher so benannt habe, 
sodann komme ich vbn dem Eindruck nicht los, daß wirklich nichts drin ist. 



44 


Morit£ Lflwi, 


Nr. 4. Beil: Vergleichsgewieht 558 g. 

Aussage: Das erste kam mir recht schwer vor. Das zweite wieder 
als das leere. 

Nr. 5. Beil: Vergleiehsgewicht 1822 g. 

Aussage: Hier bin ich im Zweifel. Ich verglich unwillkürlich dsm 
Gewicht des ersten mit den yorangegangenen; kam zu dem Ergebnis; »et^as 
schwerer«, erwartete vom zweiten Kästchen ein geringeres Gewicht und 
wurde wohl durch die Überraschung, dafi es auch schwer war, an der Schätzung 
gehindert. 

In den ersten beiden Reihen drängt sich fast in jedem Ver¬ 
such der Versuchsperson die Wirksamkeit der Überraschung auf. 
Nach dem gangbaren Verfahren in der experimentellen Psycho¬ 
logie würde hierin ein Einfluß der Aufmerksamkeit auf die Schätzung 
zu erblicken sein. »Überraschung« würde sie als sogen, »innere Be¬ 
dingung« der Aufmerksamkeit ansehen. Daher würde in dem ge¬ 
schilderten Verhalten der Versuchsperson eine Auswirkung der 
Aufmerksamkeit liegen. Aufmerksamkeit wird dort zum Prinzip, 
zur Erklärungsweise für die Ungenanigkeit der Schätzung, ln 
unserem Verfahren wäre sie für einen bestimmten Augenblick in 
der Schätzung bezeichnend. Sie müßte selbst Problem werden 
und würde damit zugleich als Tatsache gewonnen. Ebenso er¬ 
fährt der Tatbestand der Überraschung mit Bezug auf die Auf¬ 
gabe einen eindeutigen Sinn. Nur im Hinblick auf sie ergibt sich, 
was hier »Überraschung« ist, und weil mit Bezug auf die Auf¬ 
gabe, deswegen wird sie zum Augenblicksausdruck. Ein erstrebens¬ 
werteres Ziel aber, als den Augenblick des Erlebens festzuhalten, 
kann es für die Psychologie nicht geben. 

Wieder ist zu beachten: auf dem Boden der Psychologie ist 
es unmöglich zu fragen: was ist Überraschung? Die Frage hat 
zu lauten: was ist in einem gegebenen Falle Überraschung? 
Was ist jemandes Überraschung? 

Der Versuch, das psychologische Problem der Überraschung 
bis ins einzelne durchzuführen, kann hier nicht unternommen 
werden. Er würde eine eigene Untersuchung beanspruchen. Da¬ 
gegen kann der Weg zur Lösung in seinen entscheidenden 
Punkten markiert werden. 

Zunächst ist das intensive Hervortreten des Motivs der Über¬ 
raschung seitens der Versuchsperson gleichzuachten mit »Auf¬ 
gabenwechsel«. Für die besondere psychische Erscheinung der 
Überraschung ist damit noch nichts gewonnen. »Anfgabenwechsel« 
ist alles, was der methodisch gestellten Aufgabe nicht entspricht. 
Soll aus dem Aufgabenwechsel begriffen werden, was jemandes 
Überraschung ist, so muß jener Begriff sich determinieren, ähnlich 



Schwellenantersachangen. Theorie und Experiment. 


45 


wie derjenige des Optimoms gegebenenfalls sich znm Gestalts¬ 
erlebnis wandelt oder wie am Anfgabenwechsel die Bedentnngs- 
betontheit des Erlebnisses sich erbfEnete. 

Keine andere Wissenschaft liefert bezüglich solcher Begri&- 
entfaltnng Anhaltspunkte znm Vergleich. Das Übergehen der 
Begriffe etwa der physikalischen Optik in die der Elektrodynamik 
geht nach gmndsätzlich anderen Prinzipien vor sich wie die 
Abwandlung vom Optimum zur Gestalt. Jede optische Er¬ 
scheinung erfährt ihre elektrodynamische Deutung, soll sie 
wenigstens erfahren; aber nicht jedes optimale Verhalten wird 
als Gestaltserlebnis definiert. Eine optische Erscheinung bleibt 
optisch, mag sie sich noch so oft wiederholen; das optimale Ver¬ 
halten bleibt nicht notwendig optimal. . Es »bleibt« überhaupt 
nicht, es wiederholt sich nicht, weil es aufgabengemäß ist. 

Die wissenschaftliche Bedeutung vom »Aufgabenwechsel« 
ist, wie sich nachweisen ließ, der konkrete Ablauf psychologischer 
Forschung. Etwas als Aufgabenwechsel oder aus ihm begreifen, 
ist nur ein anderer Ausdruck für das Erfordernis einer neuen 
Fragestellung. Nur unter der Bedingung einer der Zeit nach 
bestimmten Frage determiniert sich hier im Gegensatz zur Natur¬ 
wissenschaft der Begriff. So nur geschieht der Doppelnatur des 
Aufgabenwechsels Genüge. Weil die Frage auf Psychisches geht, 
wird der Aufgabenwechsel Begriff; weil sie aber auf das Ge¬ 
wußte als etwas Bestimmtes zielt, deswegen ist er Tatsache. 
Er ist beides zugleich, weil das Wissen nur als Gewußtes möglich. 

Die neue Frage muß demnach einmal auf die Angabe der 
Überraschung während der Gewichtshebnng gehen, sie muß 
zweitens diese Aufgabenlösnng in unteilbarer Verbindung mit 
dem Wissen um die Lösung, d. i. in ihrem Bezug auf das Ver¬ 
stehen, auf die »Gestaltung« der Aufgabe in Angriff nehmen. 

Mit Bezug auf die bestimmte Aufgabe der Gewichtshebung 
wird die neue Fragestellung von folgenden Überlegungen geleitet: 
Die Aufgabe der Gewichtshebung löste im Falle der Überraschung 
das Wissen aus, der Aufgabe nicht genügt zu haben. Die Ver¬ 
suchsperson weiß, daß sie die Aufgabe nicht s o verstanden hat, 
wie sie sie hätte verstehen sollen. Sie ist in diesem Verstehen 
um die Lösung auf die zeitlich vorhergegangene Aufgabe ge¬ 
richtet Sie ist aber im Verständnis der Aufgabe auf die 
zeitlich folgende Lösung gerichtet Sie spricht ausdrücklich 
von Überraschung mit Bezug auf bestimmte Erwartungen, die 
sich ans dem Verständnis der Aufgabe für sie ergaben. Die 
Angabe kann also als »Erwartetes« bezeichnet werden, die 




46 


Moritz Löwi, 


Lösung als »Gehabtes«. »Überraschung« bedeutet somit für die 
Versuchsperson, das »Erwartete« und das »Gehabte« nicht in 
Einklang bringen zu können. Es gelingt ihr nicht, das Wissen 
in verschiedenen Zeitpunkten in einen einzigen Zusammenhang 
zu bringen, als in ein und derselben Weise als Gewußtes zu 
erkennen. Es ist also die Aufgabe, die Überraschung jemandes 
als Wissen, als Wissen vom Gewußten, als Begriff und Tatsache 
zugleich zur Darstellung zu bringen. Die Tatsache des Gehabten 
in ihrem Fnnktionalverhältnis zur wissenschaftlichen Aufgabe, 
d. i. in Beziehung zum »Erwarteten« ist ja dasselbe wie das 
Erlebnis als Gewußtes, dasselbe wie das Erlebnis in seinem 
Gegenstandswert »Überraschung« ist ein echter psychologischer 
Begriff, weil er Tatsache fhr jemanden ist. 

In solchen Erwägungen sind die Bedingungen für eine Ver* 
Suchsanordnung zu experimenteller Aufnahme des Überraschungs* 
erlebnisses gelegen. Der Experimentator hat für eine bestimmte 
Einstellung bei der Versuchsperson Sorge zu tragen. Er muß 
zu der Annahme berechtigt sein, daß seine Versuchsperson eine 
bestimmte Erwartung »hat«. Müller beschreibt die experi¬ 
mentellen Bedingungen für die En'eichnng einer bestimmten Ein¬ 
stellung^). Er schickt zwei motorische Impulse, welche hinsichtlich 
der Intensität in bestimmtem Grade verschieden sind, dem Arm 
zu. Bei häufiger Zusendung beider Impulse stellt sich die Ver¬ 
suchsperson in bestimmter Weise auf die Hebung ein. Je größer 
die Anzahl der Einstellungsversuche, desto anhaltender wird die 
Einstellung. Je nach der Wahl des Intensitätsunterschiedes der 
Impulse wird auch die Einstellung entsprechend bestimmt M. a. W. 
es kann grundsätzlich jede beliebige Einstellung ansgelöst werden. 
In unserem Fall soll der Effekt grundsätzlich eine und nur 
eine Einstellung auf seiten der Versuchsperson sein, jene Ein¬ 
stellung, auf Grund deren die Versuchsperson den Eindruck der 
Überraschung hatte. Es sind nicht die Bedingungen gesucht, 
die eine bestimmte Einstellung zur notwendigen Folge 
haben. Der Experimentator hat vielmehr zu fragen: welches 
sind jene Bedingungen, auf Grund deren die Versuchsperson den 
Eindruck der Überraschung hatte und deswegen muß haben 
können! Bei Müller muß es sich um physische Bedingungen 
handeln, hier — sagen wir kurz — um »gehabte« Bedingungen. 
Der Experimentator darf ein zukünftiges Eintreten der Über- 


1) G. E. Müller and Fr. Schnmann, Über die psychologischen Grund¬ 
lagen der Vergleichnng gehobener Gewichte; Pflügers Archiv Bd. 45 S. 37. 



SchwellennntersTichnngen. Theorie nnd Experiment. 


47 


raschnng yermnten, wenn er diejenige Angenblickssituation zurück' 
rufen kann, welche die Versuchsperson früher unter dem Gesamt- 
eindmck der Überraschung zu überblicken, zu gestalten vermochte. 

Die Aufgabe lautet also; Gewichtshebnng. Es werden die¬ 
selben Gewichtspaare dargeboten. Wiederum wü*d der der Ver¬ 
suchsperson besonders leicht erscheinende Kasten als erster 
gehoben, darauf der schwerste. Es dürfen vorher keine Ein- 
stellnngsversuche angestellt werden, denn der Überraschnngs- 
eindmck trat früher sofort bei der ersten Hebung ein. Der 
Wegfall der Einstellungsversuche ist eine Bedingung. Erforder¬ 
lich ist in demselben Sinne ein »erster« Versuch wie in der ur¬ 
sprünglichen Versuchsreihe. Dadurch besteht die Möglichkeit, 
dieselbe Einstellung hervorzumfen. 

Freilich ist mit der Befolgung der genannten Vorschriften 
die frühere Situation noch nicht hergestellt. Aber in ihnen ist 
ein sicherer Ausgangspunkt für das experimentelle Verfahren 
gewonnen. Selbstverständlich kann zunächst der erwartete Effekt 
ansbleiben. Aber die Versuchsperson macht ja Angaben. In 
ihnen wird dem Versuchsleiter die Richtung gewiesen für die 
Verwirklichung seiner Absicht. Er versteht die Aussagen, er 
setzt sie darum mit den früher abgegebenen Antworten in Be¬ 
ziehung. Daraus schöpft er neue Richtlinien für die Durch¬ 
führung seines methodischen Planes. Er legt sich folgende Frage 
vor: Wenn die Versuchsperson früher unter bestimmten Be¬ 
dingungen den Überraschungseindruck hatte, jetzt unter gleichen 
Bedingungen von einem anders gearteten Erlebnis spricht, wie 
sind die Bedingungen zu korrigieren auf Grund der Kenntnis 
von der Versuchsperson, um den gewünschten Effekt zu erzielen? 

Die Berufung auf die »Personenkenntnis« ist keine Ausflucht, 
sondern weist nach allen Darlegungen auf einen wohlgegliederten 
Begriff. Er ist die Bezeichnung für die das Psychische aus¬ 
zeichnende Relation, daß das Verstehen des Gewußten zugleich 
das Verstehen von der Art des Wissens um das Gewußte sein 
kann. Dies ist allemal der Fall, wenn der Verstehende aus 
Prinzipien begreifen muß, wenn er Experimentator ist. Indem 
er die Art des Wissens zum Gegenstand hat, verdichtet sich 
ihm die Kenntnis von den das Wissen bestimmenden Beziehungen 
zur Kenntnis der Person. 

So wird die Personenkenntnis ein regulatives Kriterium für 
die Auswahl bezw. Abänderung der experimentellen Bedingungen. 
Sie ermächtigt den Versuchsleiter zu der begründeten Annahme, 



48 


Moritz LOwi, 


daß der gewünschte Effekt »möglicherweise« eintritt, wenn 
gewisse Bedingungen erfüllt sind. 

Gestützt wird das Sachen nach entsprechenden Bedingongen 
noch durch einen anderen theoretischen Umstand. Die Aus¬ 
sagen, mögen sie von methodischen G^ichtspunkten beherrscht 
sein oder nicht, stehen im Dienste wechselseitiger Verständigung. 
Wer von »Überraschung« spricht, muß voranssetzen, daß der 
Angeredete denselben Sinn mit dem Worte verbindet wie er, 
daß er ihn wenigstens verbinden kann. Ebenso muß der An¬ 
geredete von der Voraussetzung aasgehen, daß er den Sinn in 
dem Wort »Überraschung« trifft, den der Anredende in es 
legt Jedes Wort hat also einen bestimmten Sinn für die Ver¬ 
ständigung. Es bietet ebenfalls eine — wenn auch nur unter¬ 
geordnete — Handhabe zur Aufstellung derVersuchsbedingungen. 

Die mit Reihe n bezeichneten Versuche weisen unter Nr. 5 
einen Fall auf, in dem sich ein nach den beschriebenen Prin¬ 
zipien gewonnener Überraschungseindruck darstellt In Reihe UI 
wird trotz fünfmaliger Hebung derselben Gewichte bei plötz¬ 
licher Abänderung äußerer Bedingungen von keinerlei Über¬ 
raschung mit Bezug auf die neuen Verhältnisse gesprochen. 

Dieser Versuch spricht gegen die Einstellungsversuche in 
der Psychologie. Unter physiologischen Voraussetzungen be¬ 
deutete natürlich ein einziger Versuch keine Gegeninstanz. In 
der Psychologie dagegen soll ja jedes Erlebnis in seiner Einzig¬ 
keit, in seiner AugenbUcklichkeit gewahrt werden. In seiner 
Vereinzelung allein hat das Erlebnis sein Recht; die einzelne 
Reaktion ist dagegen nur ein Fall, an dem sich die Gesetz¬ 
mäßigkeit für alle Fälle aufweisen läßt Bewährt sich an einem 
besonderen Falle die Gesetzmäßigkeit nicht, so ist darum die 
Theorie noch nicht verbesserungsbedürftig; es wären höchstens 
die Ursachen für die Abweichung vom Gesetz aufzusuchen. In 
der Psychologie aber hat jedes Motiv seine Theorie. Die Psycho¬ 
logie kennt keine Abweichung vom Gesetz, weil hier »Gesetz« 
kein naturwissenschaftlicher Begriff ist. Eben darum verliert 
der Einstellungsversuch seine Bedeutung. 

In der angedeuteten Bahn müßte die Lösung des Problems 
der Überraschung verlaufen. 

Die Betrachtungen zu diesem Thema waren, wie wir uns 
erinnern, durch folgende Gedanken angezeigt: Das Erlebnis ist 
»aktuell unendlich«, es sind in ihm alle »möglichen« Sinnbezüge 
anfgenommen. Der wörtliche Ausdruck der Aussagen braucht 
nicht immer das Bild mannigfach miteinander verstrickter psy- 



Schwelleimatennchaiigen. Theorie and Experiment. 


49 


chischer Begangen zn bieten. Einen Beleg hierza geben die 
einfachen Anssagen der Protokolle über Erümmnngserlebnisse 
ab. Die Aussagen können aber jederzeit trotz Anfgaben- 
erfflUnng die scheinbar entlegensten Motive zutage fördern. Mit 
Hilf e des psychologischen Begriffs vom >Aufgabenwechsel< sind 
sie auf wissenschaftlich einwandfreie Weise ans dem Ganzen 
des aktuell unendlichen Denkkomplexes herauszuheben. Der 
Aufgabenwechsel determiniert sich, es werden neue psychologische 
Begriffe gewonnen. So wie in dem herangezogenen Falle das 
Überraschungserlebnis als psychische Begleiterscheinung der Auf- 
gabenerfflllnng eintrat und auf Grund der Relationsnatur des 
Erlebnisses durch die ihr entsprechende BegriffsbUdung wissen¬ 
schaftlich bewältigt werden kann, so jedes andere Begleitmotiy, 
mag die Aussage noch so kompliziert sein. 

Im übrigen sind auch der Ansdrucksmöglichkeit Grenzen ge¬ 
setzt Sie leiten sich her aus der notwendigen Ausdrucks- 
beziehung des Erlebnisses. Wer einer bestimmten Aufgabe 
gegenübertritt, dessen Angaben müssen durch die Bichtang auf 
die Aufgabe bestimmt und damit auf umschriebene Weise sinn¬ 
voll sein. Häufen sich aufgabenwidrige und insoweit sinnlose 
Angaben, dann ist nach den sie bedingenden »Hindemissenc zu 
fragen, und es rollt sich möglicherweise das Problem der 
»seelischen Krankheit« auf. Dann spinnen sich die Fäden zwischen 
Psychologie und Psychiatrie an. 

Aus der Aufgabenbezogenheit des Seelischen wird ersichtlich, 
warum einmal aufgetauchte Begleitmotive sich immer von neuem 
ins Bewußtsein drängen. In Beihe IV und V kommt die Ver¬ 
suchsperson von dem Eindruck des »Leeren« mit Bezug auf einen 
Kasten nicht los. Beide Kästen waren belastet Ebenso kommt 
das Begleitmotiv der Überraschung in Beihe I bis ni immer 
wieder zum Durchbruch. Es ist also nicht so, daß die Aus¬ 
sagen Komplexe bunt durcheinander gewürfelter Begangen wider¬ 
spiegeln. Das ändert, wie wir gesehen haben, nichts an der 
für das Erlebnis entscheidenden Beziehung der »aktuellen Un¬ 
endlichkeit«. 


Eine gedrängte Zusammenfassung der Ergebnisse der unter¬ 
nommenen Schwellenantersuchung führt zu folgendem Gesamtbild: 

Schwelle ist ein Relationserlebnis, denn sie wird greifbar in 
der Beziehung des »noch-nicht«, »nicht-mehr« und »ebenmerk¬ 
lich«. Aus solcher Struktur folgt die Betrachtungsweise der 
Schwelle unter dem Gesichtspunkt der Au^be. Die Aufgabe 

Archiv fCbr Psychologie. XLVm. 4 



50 Moritx LOwi, Schwellenmitersiichiiiigeii. Theorie and Experiment. 


wird jemandem von jemandem gestellt Sie wird von beiden 
Seiten gedacht, d. h. sie ist Erlebnis; aber sie wird nach Prin¬ 
zipien gestellt, d. h. sie ist zugleich wissenschaftliche Auf¬ 
gabe. Der Elxperimentator beschreibt nicht, sondern, indem er 
die Aussagen im Zusammenhang mit dem vorliegenden Problem 
versteht, gestaltet, nimmt er Begriffsbildung vor. Er löst mit 
der Begriffsbildung die Frage, was sein Versuchsobjekt im Augen¬ 
blick »gemeint haben muß«. Der Elzperimentator weiß also die 
Aussagen als »gewußte«, er ergreift die Erlebnisse in ihrer 
Gegenständlichkeit Begriffsbildung heißt hier zugleich Tat¬ 
sachengewinnung. »Aufgabe«, »Optimum« und »Anfgabenwechsel« 
sind die allgemeinsten Gebilde dieser Art Je nach ihrem be¬ 
sonderen Gehalt determinieren sie sich. Im Falle unserer Unter¬ 
suchung wurden an ihnen und ans ihnen das Bedentungserlebnis, 
das Gestaltserlebnis und das Überraschungserlebnis entwickelt 
Es sind Begriffe der experimentellen Psychologie. Denn in ihnen 
werden die Motive als Tatsachen allererst begriffen. 

Wie sind Begriffe als Tatsachen oder Tatsachen als Begriffe 
möglich? — Sie sind in dem gleichen Sinne »möglich«, wie 
der Begriff der Gegenständlichkeit möglich ist. D. h.; 
nie kann nach dem Grunde solcher Begriffe, sondern stets nur 
nach ihrer Struktur gefragt werden. Der Versuch, Gegenständ¬ 
lichkeit begründen zu wollen, übersieht in der Frage nach 
der »Möglichkeit« das Walten der Gegenstandsfunktion. In 
jenem Versuch wird die Universalität des Gegenstandsbegriffs 
verkannt Oder anders gewendet: Der mit Gegenständlichkeit 
unausweichlich verknüpfte Begriff der Einzigkeit wird in 
dem Versuche einer Begründung der Gegenständlichkeit ver¬ 
nachlässigt. Weil aber »einzig«, darum bedeutet der Begriff vom 
Gegenstände zugleich Tatsache. Gegenständlichkeit begründen 
zu wollen, heißt den Begriff des Gegenstandes und sein Ver¬ 
hältnis zur Tatsache verfehlen. »Möglichkeit« von Begriffen, 
die zugleich Tatsachen bezeichnen, bedeutet niemals Begrün¬ 
dung. »Möglichkeit« von Begriffen, die zugleich Begriffe von 
Tatsachen sind, fordert eine immer erneute Festlegung der Gegen¬ 
ständlichkeit als universaler, als einziger, als Tatsache. Die 
voneinander unterschiedenen Arten solcher Bestimmung, das eben 
sind Begriffe als Tatsachen. Begriffe als Tatsachen sind »mög¬ 
lich« als Gegenstandsbezüge, als Ausprägungen der Gegenständ¬ 
lichkeit. Diese Ausprägungen heißen psychische Auhernngen. 
Die Begriffe der Psychologie sind notwendig, d. i. »möglich« wie 
der Begriff der Gegenständlichkeit selbst. 



Tafel 

Fig.I. 



Fig.2. 



I:3J natOrl. Qr. 



naiOrl. Qr. 

♦ ♦♦♦♦♦♦♦ + 

abcdefghi kl m n o p 

















52 


Moritz LQwi, 


A«h>«g nun ersten Teil. 

Protokollanszttge ans den üntersnchnngen znr 
KrilmmnngBsch welle. 

(Die Abkftrsnngen bedenten: Yl. = Versnehsleiter, Yp. = Yersnchsperson, 
r. — Badins in cm, Btg. •= Biehtnng, L—r. = von links nach rechts vom Yer- 
snchsleiter ans, Fldst. — Feldstelle, 11. M. Uber Mitte, n. M. nnter Mitte, 
M. = Mitte, das Zeichen od = Gerade, Zt. = Zeit.) 


Datnm 

Nr. 

Yl. 

Vp. 

r. 

Btg. 

Fldst. 

Zt. 

Anssage 

6.1.21 

1 

Dr. 

Dr. 

QD 

l.-r. 

M. 

0.8 

Wellige Gerade, ich hatte aber die 



J. 

L. 





Überzengnng, es werde eineKnrre 
werden. 


2 

» 

n 

5.5 

n 

tt. M. 

1.0 

Fische Enrre. 


8 

n 

II 

5.5 

n 

M. 

2.5 

Kurve mit Haken. 


4 

1» 

n 

5.5 

r.-l. 

II 

8.0 

Sehr nngleichmäflig, anch in der 
Zeit. 


5 

1» 

n 

5.5 

II 

n 

2.0 

Sehr gute glatte Kurve, link« 
höher hinauf, Druck könnte stär¬ 
ker sein. 


6 

M 

n 

5.5 

l.-r. 

II 

1.8 

Gnt als Enrre empfnnden, kleiner 
Haken. 


7 

II 

II 

8.5 

r.-l. 

II 

2.7 

Welle. 


1 

B. 

j. 

8.5 

n 

tt.M. 

2.0 

Zweifel, ob Enrre oder Gerade. 


2 

fl 

II 

8.5 

n 

II 

1.8 

Enrre, ganz dentlich empfnnden. 


3 

n 

n 

8.5 

L—r. 

M. 

2.6 

Sehr dentliche regelm&fiige Enrre; 
größere Langsamkeit des Tempos 
dentlich empfnnden. 


4 

II 

n 

8.5 

r.—1. 

II 

2.4 

Als Kurve undeutlicher als V 8. 


5 

II 

n 

8.5 

L-r. 

n 

2.8 

Kurve, sehr gut empfunden. 


6 

n 

n 

8.5 

r.—1. 

n 

2.6 

Kurve, deutlicher Haken am 
Schluß. 


7 

n 

n 

00 

II 

n 

1.9 

Unsicher, ab Derade oder Kurve; 
ich habe Gerade erwartet. 


8 

n 

II 

00 

L—r. 

w 

2.8 

Kurve, flach, zittrig gegeben. 


9 

n 

n 

00 

r,-l. 

a. M. 

2.7 

Kurve, nach unten geöffnet, bei 
Beginn Haken. 


II[] 

n 

n 

00 

l.-r. 

n. M. 

2.0 

Unsicher, ob Kurve oder Gerade. 

7.1.21 

1 

j. 

L. 

14 

II 

M. 

0.9 

Kurve ausgesprochen. 


2 

n 

n 1 

15.5 

r.—1. 

n. M. 

1.0 

Dentliche (Gerade. 


8 

11 

n 

14 

n 

0. M. 

1.4 

Kurve, aber nicht so ausgespro¬ 
chen, mehr Welle. 


4 

n 

» 

14.5 

L—r. 

M. 

1.2 

Genaue Gerade. 


5 

II 

n 

12 

II 

n.M. 

2.0 

Unsicher, ob krumm oder gerade; 
etwas schräge Gerade. 


6 

n 

fl 

00 

r-1. 

M. 

2.2 

Zittrige schräge Linie, unsicher, 
ob Gerade oder Kurve. 


7 

n 

n 

9.0 

L-r. 

II 

2.0 

Kurve. 


8 

II 

II 

11.6 

r.-l. 

n. M. 

2.0 

Erst Gerade, dann leise gewölbt, 
schräg liegend. 
















Scbwellenantersnchongen. Theorie und Experiment. 


53 


Datum 

Nr. 

VL 

Vp. 

B 



zt. 

Aussage 










7.1.21 

9 

J. 

L. 

12 

1.—r. 

M. 

1.8 

Karre sicher. 


10 

fl 

II 

12 

fl 

mH. 

0.7 

Ausgesprochene Gerade. 


11 

fl 

If 

12 

fl 

M. 

1.0 

Ausgesprochene Kurve, erst flach. 


12 

n 

fl 


II 

fl 

1.0 

Ganz flache Kurre, nicht genan 
feststellbar, ob schlechte Knire 
oder zittrige Gerade. 


18 

n 

fl 

QO 

II 

11 

2.1 

Ideale Gerade. 


14 

fl 

fl 

12 

fl 

11 

2.0 

Flache Kurve. 


15 

fl 

II 

QD 

fl 

fl 

1.7 

Zuerst für Gerade gehalten, dann 
als hinanfgehend empfunden. 


16 

II 

II 

15 

fl 

tt. M. 

1.9 

Ausgesprochene Welle, snerst 
kleine Kurve. (Yp. angeblich schon 









milde.} 

10.1.21 

1 

II 

fl 

15 

n 

fl 

1.0 

Kurve ausgesprochen, rechts etwas 
ansgebuchtet. 


2 

II 

fl 

00 

n 

M. 

1.6 

Flache Kurve. 


8 

n 

fl 

1.5 

fl 

n 

2.0 

Klar und deutlich als Gerade. 


4 

n 

fl 

15 

n 

tt. M. 

1.0 

Flache Kurve, gut empfanden. 


6 

n 

fl 

16 

n 

fl 

2.9 

Ganz aasgesprochene Gerade. 


6 

fl 

fl 

16 

fl 

fl 

1.0 

Kurve, sehr gut empfanden. 


7 

fl 

II 

GO 

II 

II 

1.8 

Gerade, sehr gut empfanden. 


8 

II 

II 

16 

II 

II 

1.2 

Ganz flache Kurve. (Vp. wünscht 
Pausen.) 


9 

» 

II 

15 

fl 

II 

1.0 

Wie eine Gerade, Zweifel, Anfang 
ein wenig gewOlbt. 

23.2.21 

1 

n 

n 

12.5 

n 

M. 

1.0 

Flache gute Kurve. 


2 

II 

II 

11.5 

fl 

fl 

1.0 

Gute Kurve, tiefer gewOlbt. 


8 

n 

II 

13.1 

fl 

II 

1.0 

Wieder eine Kurve. In bezug auf 
die Tiefe kann ich sie nicht mit 









der anderen vergleichen. 


4 

II 

n 

12.5 

n 

II 

1.0 

Zuerst dachte ich, es werde eine 
flache Kurve; dann wurde es eine 









Gerade. 


6 

II 

n 

’ß.6 

II 

II 

1.9 

Gerade, sehr langsam gezogen. 


6 

n 

fl 

12.5 

fl 

n 

0.8 

Flache SinusUnie. 


7 

fl 

fl 

8.5 

n 

11 

2.0 

Langsam gezogene Gerade. 


8 

fl 

fl 

12.5 

II 

n 

0.9 

Ganz flache Kurve, zuletzt wurde 
es eine Gerade. 


9 

II 

fl 

8.5 

fl 

fl 

1.8 

Zuerst nach oben offene, dannflaeh 
nach unten geöffnete Kiirve. 


10 

II 

II 

12.5 

II 

fl 

0.9 

Es wollte eine Kurve werden, 
wurde aber eine Gerade. 


11 

fl 

II 

8.5 

fl 

n 

1.6 

Eine ganz langsam gezogene flache 









Kurve oder Gerade. 


12 

II 

fl 

12.5 

II 

II 

0.9 

Kurve. 


18 

fl 

fl 

8.5 

fl 

II 

2.0 

Erst tiefe, dann flache Kurve. 


14 

fl 

fl 

12.5 

n 

II 

1.0 

Zuerst ging es herunter, sodafi 
ich dachte, es werde eine Kurve 









werden, dann spürte ich Gerade. 



















54 


Moritz Löwi, 


Datnm 


VI. 

Vp. 

T. 

Btg. 

Pldst. 

zt. 

Aussage 



Dr. 

Dr. 






22.2.21 

16 

J. 

L. 

8.6 

l.-r. 

M. 

2.0 

Ghtnz langsam gegebene Knrre, 
die tiefer aofhSrte als anfing. 


16 

n 

rt 

12.6 

rt 

rt 

0.9 

Ganz fiache Karre oder Gerade. 


17 

rt 

rt 

8.6 

rt 

rt 

1.0 

Wenn ich nicht wttfite, daß nnr 
Karren gegeben rrerden, wfirde 
ich sagen, in der Mitte eingebach* 
tete Gerade. 


18 

n 

ft 

12.6 

rt 

rt 

1.0 

Gate fiache Karre. 


19 

rt 

rt 

8.6 

ft 

II 

0.4 

Flache Karre, klarer Eindrack. 


20 

n 

rt 

12.6 

n 

n 

0.8 

Ganz, ganz flache Karre. 


21 

ft 

rt 

8.6 

it 

n 

2.0 

Haapteindrack der der schreck¬ 
lichen Langsamkeit. Dann Gerade. 


22 

1» 

rt 

12.6 

n 

n 

1.0 

Flache Karre, zaletzt Gerade. 


23 

f» 

rt 

8.6 

rt 

rt 

8.7 

Haapteindrack Langsamkeit, ich 
dachte, es werde eine sehr schOne 
Karre werden. Im letzten Ihittel 
Eindmck der Geraden. 


Zweiter Teil. 

Die moderne Begründung der Psychologie will durch zwei 
theoretische Maßnahmen der Psychologie die Möglichkeit einer 
sicheren methodischen Entfaltung schaffen: einmal durch An¬ 
weisung ihres systematischen Ortes und zweitens durch eine 
eindeutige Feststellung der sogenannten psycho-physischen Be¬ 
ziehung.^) 

Näher besehen sind beide Gesichtspunkte die Auswirkungen 
eines und desselben Motivs im Begriffe der Psychologie: Hier 
wie da handelt es sich um die Eigentümlichkeit der Psychologie 
als philosophischer Disziplin. Insbesondere aber ist mit der Auf¬ 
hellung des Verhältnisses zwischen Psychischem und Physischem 
der Bevormundung der Psychologie durch die Physiologie das 
Urteil gesprochen. Nicht als ob von nun an der Physiologie 
bei der Bearbeitung psychologischer Fragen ein für allemal das 
Wort entzogen wäre, sondern im Gegenteil soll die positive 
Anteilnahme dieser Naturwissenschaft an der Behandlung jener 
Probleme endgültig geregelt werden. 

Unbestritten hat der experimentelle Betrieb in der Psycho¬ 
logie besonders auf dem Gebiete der Ehnpfindungslehre rasch zu 


1) VgL B. Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie 1921, 
besonders das Kapitel Ȇber die Stellnng der Psychologie im System der 
Wissenschaften«. 












Schwellentmtersachangen. Theorie ond Experiment. 


55 


scheinbaren Erfolgen geführt Forscher wie Johannes Müller, 
E.H. Weber', Fechner nnd Helmholtz glaubten den Nach« 
weis erbracht zu haben für die Zuverlässigkeit des natur¬ 
wissenschaftlichen Verfahrens auch auf dem bis dahin für das 
Experiment unzugänglichen Felde der Psychologie. 

Wäre indessen das Psychische tatsächlich das gefügige 
Material für jenes Verfahren, dann müßte man mit diesem 
sämtlichen Äußerungen des Seelenlebens nahekommen können. 
Die sogenannten »verwickelteren Erscheinnngen< des Psychischen 
trotzen aber solcher Behandlung. Das Denken, der WUle, das 
Handeln, das religiöse und das ästhetische Erlebnis geben auf 
die Fragen des Experiments keine Antwort. 

Bei dieser Lage der Dinge muß natürlicherweise die kritische 
Besinnung auf das Recht jener Art methodischer Bearbeitung 
einsetzen. Sie muß also einerseits auf den Begriff der Psycho¬ 
logie abzielen, andererseits die Beziehungen des »Ichc auf die 
Umwelt so gestalten, daß die einheitliche Systematisierung in 
der Psychologie nicht durch eine Spaltung unterbunden sei. 

Die Untersuchung des Begriffs vom Psychischen nun liefert 
das Programm für die Möglichkeit einer durchgängigen Systematik 
psychischer Erscheinungen. Jene begriffliche Analyse leitet das 
Psychische aus dem Gegenstandsbegriff her nnd spinnt so damit 
einmal das Band zur Verflechtung aller psychischen Phänomene, 
und sie zeichnet ferner die Richtlinien für deren konkrete Be¬ 
handlung. Nicht bei den Tatsachen als solchen sich zu beruhigen 
fordert sie, sondern die Analyse der Tatsachen soweit zu treiben, 
daß zugleich der Begriff der Tatsache immer von neuem, d. h. 
immer mehr an Gliederung gewinnt. Das ist nur möglich durch 
Herstellung gewisser Gegenstandsbezüge. 

Es handelt sich also hier nicht um eine neben den gang¬ 
baren Methoden der Psychologie zu empfehlende neue Technik, 
sondern, aus dem Objektgedanken geschöpft, wird die Technik 
zur Methode. 

Die vielgerühmten Vorzüge der experimentellen Psychologie 
beruhen, wie man sagt, in ihrer dauernden Berufung auf Tat¬ 
sachen. Jedes logische Interpretieren und »vage Philosophieren< 
wird hinfällig angesichts der Unnmstößlichkeit der vermittels 
exakter Formeln oder erprobter physiologischer Verfahmngs- 
weisen gefestigten Tatsachen. So wird von den Arbeiten Webers 
über den Tastsinn geurteilt: durch sie »geschah mehr für den 
wahren Fortschritt der Psychologie als durch alle Distinktionen, 



66 


Moritx Löwi, 


Definitionen nnd Klassifikationen der Zeit etwa von Aristoteles 
bis Hobbes znsammengenommenc.^) 

Wie aber, wenn weder Formel noch der physiologische Be* 
gri&apparat in der Lage wären, die Tatsachen als Tatsachen 
festznhalten, wie, wenn die Struktur der Tatsache, d. h. des 
Psychischen seiner Natur nach den Maßmethoden widersteht? 
Dann wäre die Stützung durch Tatsachen nichts, weil yon Tat¬ 
sachen keine Rede sein kann, dann wären die erwähnten Er¬ 
gebnisse der Ehnpfindungsforschnng zwar nicht illusorisch, aber 
es wären keine Ergebnisse im Gebiete der Psychologie, weil 
keine Tatsachen. Die Psychologie findet keine Tatsachen vor, 
sie sind nicht ihr Ausgangspunkt, sie sind der Zielpunkt ihres 
Verfahrens; dnrch Beziehung auf den Gegenstandsbegriff, durch 
eigenartige Beziehung wird die Tatsache. Die psycho¬ 
physische Beziehung gibt die allgemeine Anleitung zur Ge¬ 
winnung gewisser Tatsachen. 

Eigenartig gestaltet sich also die Beziehung zwischen 
Physischem nnd dem Gegenstandsgedanken, wenn der Sinn dieser 
Beziehung das psychische Faktum sein soll. Es handelt sich 
nicht oder doch nur sekundär um die Frage, wie das Physische, 
besser wie Begriffe vom Physischen »mögliche sind. Die Ant¬ 
wort auf diese Frage gibt grundsätzlich keine Auskunft über 
irgendein psychisches Faktum. In diesem Verhältnis des Phy¬ 
sischen auf den Gegenstandsbegriff bestätigt sich vielmehr das 
Recht der Physiologie. Nicht das Physische, sondern physische 
Erscheinungen, bestimmte physische Erscheinungen auf dmi 
Gegenstand bezogen, führen zu psychischen Phänomenen, zu 
psychischen Tatsachen. M. a. W. werden die Erscheinungen des 
Physischen unabhängig von der in Frage stehenden Beziehung 
auf den Gegenstand betrachtet, so bestimmen sich in solcher 
Betrachtungsweise günstigstenfalls physische Verhältnisse, d. h. 
physiologische Begriffe, also keine psychischen Tatsachen. 

Das aber ist der Weg, den die Empfindungslehre gewählt 
hat Letztlich beabsichtigt sie festzulegen, was in psychischer 
Hinsicht Farben, Gerüche, Töne nsw. sind. Die im Verlanf der 
experimentellen Untersuchungen gewonnenen Einzeleinsichten 
über Ton-, Farbenerlebnisse nsw. fügen sich ihr zum Erlebnis 
der Farbentöne nsw. zusammen. So entwirft sie sich ein Bild 
von den Ehnpfindnngen. Dies ist das Verfahren der Physio¬ 
logie. In dem durch künstliche Bedingungen, d. i. durch das 


1) Bbbinghaas, Abriß der Psychologie, 1908, S. 16. 



Schwellemmtersnchnngeii. Theorie und Experiment. 


57 


Experiment gewonnenen Einzelfall sieht sie die Bestätigung für 
das Walten eines naturgesetzlichen Zusammenhangs. Am vor¬ 
liegenden Falle erkennt sie, was die Farbenempfindnng ist. Die 
experimentelle Psychologie ermittelt, was jemandes Farben¬ 
empfindung ist. 

Zwar betont man allenthalben den ursprünglichen Gliederungs¬ 
reichtum des Psychischen und erachtet es als die eigentliche 
Aufgabe des Psychologen, das dichtmaschige Gewebe psychischer 
Funktionen bis auf Elementarerscheinungen zu entwirren. Zer¬ 
gliederung und Abstraktion, so heißt es (vgl Ebbinghaus 
a. a. 0.), die Trennung der wechselnden Bedingung vom gleich¬ 
bleibenden Kern führen zu nicht mehr zerlegbaren psychischen 
Einheiten. Dieses Verfahren wird mit Hinweisen auf die 
organische Naturwissenschaft gestützt. Der Organismus sei ein 
ähnliches kompliziertes Gebilde, gleichwohl gelänge es dem zer¬ 
gliedernden Verfahren, ihn ohne Schädigung des funktionellen 
Gefüges in sogenannte EUementarbestandteile zu zerlegen. Die 
ständige Rücksichtnahme auf das Ganze bewahre vor einer Zer¬ 
splitterung in Atome, deren Gesamtheit die Selbständigkeit des 
Organismus durchaus nicht verständlich mache. Die Theorie der 
Empfindungen auf ähnlichem Wege gewonnen baut keine Atome 
auf. Farben, Töne, Gerüche nsw. seien Elemente, aber keine 
Atome. Aus ihnen läßt sich ein Gesamtbild der Empfindungen 
aufbanen. 

Die Undurchführbarkeit des der Biologie entlehnten Ver¬ 
fahrens auf dem Boden der Psychologie ergibt sich unschwer. 
Jene steht unter grundsätzlich anders gearteten methodischen 
Voraussetzungen als diese. Die Untersuchung des Baues des 
Organismus strebt allemal nach Ergebnissen, die für ganze 
»Klassen« von Individuen gelten sollen; die Analyse des Seelen¬ 
lebens fordert die Betrachtung des Individuums gerade in seiner 
individuellen Einzigartigkeit, d. L Angenblicklichkeit, und 
selbst da, wo Gruppen von Individuen auf ihr psychisches Ver¬ 
halten hin untersucht werden, ist die Bezugnahme auf den Ge¬ 
danken der Einzigkeit unerläßlich. 

Betrachtet man die Ergebnisse der Empfindnngslehre näher, 
so finden sich jene für die Analyse des Seelenlebens aufgestellten 
Grundsätze auch gar nicht dnrchgeführt. Eine Zergliederung 
im Sinne der Abstraktion ist nirgends vorgenommen. Vielmehr 
ist es der Stolz der experimentellen Psychologie, die schwanken 
Gebilde dm* Empfindungen durch exakte Messungen festhalten 
zu können. Es gelingt, Empfindungen zu messen, wofern einer 



58 


Moritz Li(wi, 


Bedingang genügt werden kann: Man mnfi Empfindnngsnnter< 
schiede als in irgendeiner Hinsicht gleich beurteilen können. 
Die Voraussetzung für das Maß der Empfindung ist also die 
Gleichheit von Empfindungsnnterschieden, besser Empfindnngs- 
stnfen in irgendeiner Hinsicht 

Mit der Bückführung auf konstante Verhältnisse wird indessen 
den Ansprüchen der Psychologie nicht genügt. Sie muß vielmehr 
die ausgesagte Gleichheit von Empfindungsstufen zum Gegen¬ 
stand der Betrachtung machen. Sie muß die Frage stellen: 
Was meint jemand im Augenblick mit der Aussage: »die Emp¬ 
findungen sind gleich« ? Was die messenden Verfahren voraus- 
setzen, das ist das Objekt des Psychologen, die ansgesagte 
Gleichheit im Empfindungsgebiete. 

Die messende Psychologie sucht »Bestimmungen derjenigen 
objektiven Beize, die gleich erscheinenden Empfindungen, oder 
derjenigen Beizpaare, die gleich erscheinenden Empfindungsstufen 
als ihren äußeren Ursachen zugehören<.^) In diesem klar um¬ 
schriebenen Programm ist die für die gesamte psycho-physische 
Methodik fundamentale Voraussetzung ausgesprochen: Es müssen 
gleich erscheinende Empfindungen oder gleich erscheinende Emp- 
findungsstufen vorliegen. »Gleichheit im Empfindnngsgebiete«, 
äußert ausdrücklich Fe ebner,*) »vermögen wir wohl zu be¬ 
urteilen, unsere ganzen Maßmethoden der Empfindlichkeit . . . 
stützen sich darauf.« Was aber für die Empfindlichkeit gilt, 
gilt noch nicht für die Empfindung. 

Es ist von Wichtigkeit, auf eine strenge Abgrenzung gerade 
dieser Begriffe gegeneinander zu drängen. Der Mangel einer 
präzisen Unterscheidung führt in der Psychophysik zu einer 
unstatthaften Vermengung beider Begriffe. Der Grund für diesen 
Mangel wiederum ist in einer falschen Auswertung der Web er¬ 
sehen Versuche zu erblicken. Hier liegen lediglich Unter¬ 
suchungen zum Begriff der Empfindlichkeit vor. Denn die Frage, 
ob eine vom Gehirn zur Haut verlaufende Nervenfaser innerhalb 
eines gewissen Bezirkes nur einen Eindruck aufnehmen kann 
oder nicht, bleibt eine Frage der Physiologie. Denn was auf 
diesem Wege geklärt werden soll, ist Bau und Funktion ge¬ 
wisser Nerven. Im Bahmen solcher Fragestellung hat eine 
Graduierung der Beaktion bis zum Nullpunkt einen berechtigten 
Zweck. Ebenso sinnvoll ist hier die Bedeweise von der Gleich- 


1) Ebbinghaus, Orondzilge der Psychologie, 4. Aafl., S.91. 

2) Fechner, Elemente der Psychophysik, I*, 1899, S. 55. 



Schwellenantenachnngen. Theorie and Experiment. 


59 


heit der Empfindlichkeit in zwei verschiedenen Zeitmomenten. 
Das Objekt der Betrachtung ist eben seinem Begriffe nach 
quantifizierender Behandlungsweise zugänglich, und zwar deshalb, 
weil in diesem Begriff kein psychischer Gegenstand ansgedrftckt, 
sondern eine Beziehung zum Psychischen, ein möglicher 
Gegenstand des Psychischen bestimmt wird. Kurz; die Em¬ 
pfindlichkeit ist auf Empfindung bezogen, genau so wie organische 
Funktionen auf Psychisches. Niemals aber ist auf Grund der 
Meßbarkeit der Empfindlichkeit der Rttckschlnß auch auf die 
Meßbarkeit der Empfindung möglich. Empfindlichkeit ist nicht 
die sachlich-logische Voraussetzung der Empfindung, diese läßt 
sich nicht aus jener theoretisch verstehen. Solchem Irrtum aber 
erliegt die Empfindungslehre. 

Die geschilderten theoretischen Verhältnisse seien an einem 
gangbaren Verfahren zur Ermittelung von Dmckintensitäten 
veranschaulicht: Die Intensität des Druckes nimmt mit der Zeit 
ab. Es fragt sich, um wieviel sie in einer gewissen Zeit ab- 
nimmt. Gelingt eine solche Feststellung, so gewinnt man Ein¬ 
blick in die besondere Natur der Dmckempfindnng bei einer 
Versuchsperson. Die Versuchsanordnung ist folgende: Die Ver¬ 
suchsperson hebt ein Gewicht, nach einer gewissen Zeit wird 
sie anfgefordert, mit der freien Hand ein zweites ihr ebenso 
schwer erscheinendes zu heben. Der Effekt ist dieser: Ein der 
objektiven Größe nach kleineres Gewicht erscheint ihr als gleich 
schwer. Um wieviel die Druckintensität abgenommen hat, gibt 
die Differenz beider Gewichte an. 

Der Sinn des Verfahrens besteht also in der Beziehung der 
scheinbaren Gleichheit der Empfindungen auf den Gedanken 
der Gleichheit oder Ungleichheit im Sinne der Zahl, es handelt 
sich m. a. W. um die Relationiemng der erlebten Gleichheit der 
Empfindungen im Sinne der Zahl. Die als gleich erlebten 
Empfindungen sollen in ihrem wirklichen Verhältnis zuein¬ 
ander bestimmt werden. Das, was Psychologie als Wissenschaft 
letztlich erstrebt, die Auflösung jener der Wirklichkeit gegenüber 
als Schein figurierender Komplexe in Relationsbestände wird 
unweigerlich unterbunden. 

Man entgegne nicht, man wolle die Reize objektiv bestimmen, 
nicht die gleich erscheinenden Empfindungen, man wolle psychische 
Erscheinungen auf objektive Verhältnisse beziehen. In unserem 
Falle bedeutet dies die Feststellung der Gewichtsdifferenz in 
der zwischen dem Aufheben des ersten und zweiten Gewichts 
verstrichenen Zeit, mit Bezug auf welche Momente der ge- 



60 


Morite Ldwi, 


wünschte psychische Effekt, die Gleichheit der Dmckempfin- 
dnngen, eintritt 

Indessen, wenn Dauer und Eintrittsmoment unserer psych¬ 
ischen Erscheinung aufs genaueste gemessen ist, wenn der ge¬ 
wisse psychische Effekt mit möglichster Exaktheit auf objektive 
Daten bezogen ist, über die im Augenblick vorliegende Dmck- 
empfindnng oder die erlebte Gleichheit|zweierDmckempfindungen 
ist nicht das Geringste gewonnen. Gerade das aber will der 
Psychologe wissen. Die sogenannte »Gleichheit« der Empfin¬ 
dungen ist also vorausgesetzt, ans ihr wird auf die Ver¬ 
schiedenheit der Empfindungen geschlossen. Eine solche Schlu߬ 
folgerung ist nur denkbar, wenn jene Voraussetzung definiert ist, 
wenn bereits bekannt ist, was »Gleichheit im Empfindungsgebiet« 
ist. Nicht die Versuchsperson, sondern der Versuchsleiter muß 
wissen, was »für die Versuchsperson« Gleichheit bedeutet In 
dem grundsätzlichen Verzicht auf die Ermittelung dessen, was 
die Versuchsperson als »Gleichheit der Empfindung« versteht, 
liegt zugleich der Verzicht auf die Klärung der Verhältnisse 
im Sinne der Psychologie. Der Schluß von der Gleichheit des 
Verhaltens einer Versuchsperson auf die numerische Ungleich¬ 
heit ist zulässig in der organischen Naturwissenschaft. Die Be¬ 
zeichnung »Gleichheit« hat dort einen eindeutigen Sinn, sie ist 
keine scheinbare, d.L erlebte Gleichheit. 

Den dargelegten Verhältnissen läßt sich eine doppelte Ein¬ 
sicht entnehmen: 1. Der Messung entsprechen keine psychischen 
Tatsachen; denn sie läßt die Frage, was für die Versuchsperson 
Gleichheit des psychischen Effektes bedeutet, unbertthrt, 2. Was 
die Versuche von Weber betrifft, so lieg^ tatsächlich die Gleich¬ 
heit des Verhaltens bei der Versuchsperson vor: eine Reihe von 
Reizen löst immer unter gewissen Bedingungen die Empfindlich¬ 
keit NuU aus, sie ist in solchen Fällen gleich. Es erhebt sich 
die Forderung, den psychischen Sinn dieser physiologischen 
Beobachtungen zu suchen, der ihnen zugrunde liegenden Tat¬ 
sachen habhaft zu werden. 

Soll dieser Forderung entsprochen werden, so gilt es vor 
allem, die Aufhellung dessen anzustreben, was die Versuchs¬ 
personen in ihren Erlebnissen »meinen«. Der Akt des Er¬ 
lebnisses ist, wie man leicht einsieht, eine Art des Bestimmens. 
Jedermann weiß anzngeben, was er erlebt, oder der Ausdruck 
»Erlebnis« wird hinfällig. Auch da, wo man vergessen hat oder 
scheinbar nicht zu sagen weiß, was man erlebt hat, liegt eine 
eindeutige Bestimmung des Erlebnisses vor. Die Art der Er- 



SchwellenuitersachTUigeii. Theorie and Experiment. 


61 


lebnisbestiimntheit aber ist nach diesen Bemerkungen im Vergleich 
zur Art der Erkenntnisbestimmtheit von eigenem Charakter: sie 
besteht nur dann, wenn »jemand« bestimmt. Zur Kennzeichnung 
dieser im Erlebnisakt sich äußernden Bestimmung dient der Aus¬ 
druck »meinen«. 

Was nun die Versuchspersonen in ihren Erlebnissen meinen, 
soll der Versuchsleiter feststellen. In dieser wechselseitigen 
Haltung werden mehrfache theoretische Motive vorausgesetzt; 
Vor allem muß sich die Versuchsperson verständlich machen, 
sie muß dem Versuchsleiter für seine Feststellung eine Handhabe 
bieten. Ferner muß dieses verbindende Mittel so geartet sein, daß 
sich seiner außer der Versuchsperson noch andere Personen zu 
bedienen verstehen, eben der Versuchsleiter. Und weiter muß 
der Versuchsleiter in jenem Instrument die Gewähr finden, die 
Versuchsperson richtig verstanden zu haben. Sind alle diese 
Bedingungen erfüllt, so weiß der Versuchsleiter, was die Ver¬ 
suchsperson »meint«. Das den gesuchten wechselseitigen Aus¬ 
tausch ermöglichende Band heißt Sprache. Die Sprache ist 
also da nicht zu missen, wo die Feststellung der »Meinung« 
recht eigentlich Problem ist. Die Sprache ist eine Funktion des 
Meinens. Die letztlich allein durch die Sprache gekennzeichnete 
Beziehung zwischen Personen heißt Verständigung, heißt 
Fragen und Antworten. Der Frage und Antwort, oder der 
Frage und Aussage ist somit bei der Feststellung des Gemeinten 
nicht zu entraten. In Frage und Aussage verläuft das Verfahren 
psychologischer Forschung. 

Selbstverständlich ist damit der Begriff der psychologischen 
Methode nicht erschöpfend definiert, nur eines der wichtigsten 
Elemente dieses Begriffs ist in dem bezeichneten Verhalten her¬ 
vorgehoben. Der Hinweis aber auf die Notwendigkeit* der Ein¬ 
beziehung der Sprache gewinnt für die Begriffsbestimmung der 
Psychologie besondere Wichtigkeit. Denn hier ist die Sprache 
zum mindesten kein methodisches Mittel In den allermeisten 
Bezirken unserer Wissenschaft spielt die Sprache nur die Rolle 
des Bezeichnens. Oft ist der Verzicht auf sprachliche Äußerungen 
nicht zu umgehen, so wenn man Tiere auf ihr psychisches Ver¬ 
halten hin untersucht Aber der Umstand, daß man auch hier 
auf das Problem der Tiersprache stößt, bezeugt die grund¬ 
sätzliche Bedeutung obiger Überlegung. Die sogenannten Ans¬ 
sageexperimente haben für den gegenwärtigen Zusammenhang 
keine tiefergehende Bedeutung, weil in ihnen die Sprache nicht 



62 


Moritz Löwi, 


sowohl als Mittel, denn yielmehr als Gegenstand der Untersnchnng 
in Betracht gezogen wird. 

Mit solchen Überlegungen erhebt sich zugleich die Forderung, 
die Bedeutung der Sprache als eines methodischen Mittels der 
experimentellen Psychologie zu sichern. Frage und Antwort als 
Ausdruck gegenseitiger Verständigung genügen freilich nicht den 
ihnen hier gestellten Anforderungen. Nicht jedes Gespräch ist 
ursprünglich ein psychologisches Experiment. Nur unter gewissen 
Voraussetzungen steht es im Dienste des Experiments. Wann 
wird also die Sprache ein Werkzeug der Methode?: Wenn ein 
wissenschaftliches Problem zugleich »die Frage an jemanden« 
darstellt. Es handelt sich um Probleme, die nur deshalb 
wissenschaftlich sind, weil sie eine Frage an jemanden bedeuten, 
nicht um solche Fragen, die wissenschaftlich und zugleich an 
jemanden gerichtet sind. Das letztere gilt für jedes Problem 
schlechthin. In der Beantwortung der aufgeworfenen Frage 
wird systematische Stellung und Begriff, Methode und Technik 
der experimentellen Psychologie auf einen Schlag offenbar. Und 
nur weil alles sich hier zu einem unzerstückbaren Ganzen zn- 
sammenfügt, ist es einer wissenschaftlichen Bewältigung zugäng¬ 
lich. Zn folgendem Bild dringt die Analyse vor: 

Wann ist eine Frage wissenschaftlich, weil sie an jemanden 
gerichtet ist ? Die »Möglichkeit« eines derartigen Sachverhalts 
ergibt sich ans folgenden Überlegungen: Wer fragt, fordert eine 
Antwort; die Frage aber nach dem theoretischen Sinn dieser 
Antwort setzt jene erste Frage zum mindesten der Zeit nach 
voraus. Beide Fragen fallen folglich auseinander. Oder: Nicht 
jede dialogische Frage fordert notwendig eine tatsächlich 
erfolgte Frage nach dem theoretischen Sinn der Antwort, 
dagegen fordert jede Frage nach dem theoretischen Sinn der 
Antwort* eine dialogische Frage. So drängt allenthalben der 
Begriff der Frage in ganz bestimmter Richtung nach theoretischer 
Klärung. In welchem Falle ist die Frage wissenschaftlich nur 
unter der Bedingung, daß sie an jemanden gerichet ist? 
Das ist das Problem. Die pädagogische Frage braucht hier 
nicht berücksichtigt zu werden. Die Frage in zweierlei Bedeutung 
des Wortes fordert demnach eine analytische Sichtung: einmal 
die Frage als die Aufgabe einer Bestimmung sachlicher, d. h. 
theoretischer Verhältnisse, und zwar der besondere Fall, daß sie 
an jemanden gerichtet ist; weiterhin die Frage als Ausdrncks- 
form wechselseitiger Verständigung. 

Die theoretische Frage ist in ihrer Bedeutung für die vor- 



SchwellenonteraiichDiig'eii. Theorie nnd Experiment. 63 

liegende Problemstellimg rascher abgetan: nicht dämm ist sie 
theoretische Frage, weil sie an jemanden gerichtet ist, sondern 
gerade darum, weil sie an niemanden gerichtet ist. Dies 
wiedemm ist damit gleichbedeutend, daß sie an jedermann ge¬ 
richtet werden kann. 

Schwieriger wird die Untersuchung der zweiten Art von 
Frage mit Bezug auf unsere Problemstellung, der Frage als 
Ausdrack wechselseitiger Verständigung. Diese Frage ist ihrer 
Natur nach allemal an jemanden gerichtet; aber nicht weil sie 
an jemanden gerichtet ist, ist sie auch wissenschaftlich. Im 
Gegenteil eben deswegen ist sie nicht wissenschaftlich. Im Hin¬ 
blick auf das vorliegende Problem ist zu entscheiden, wann eine 
an jemanden gerichtete Frage, nur weil sie an jemanden ge¬ 
richtet ist, unweigerlich Wissenschaftscharakter an sich trägt 

Die Frage als alltägliches Verständignngsmittel rückt den 
Begriff des Dialogs in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Am 
Dialog kommt die an jemanden gerichtete Frage zu klarer Aus¬ 
prägung, sie ist Frage, nur sofern sie an jemanden gerichtet 
ist. Folglich muß für die dialogische Frage die Möglichkeit 
aufgewiesen werden, daß sie auch muß wissenschaftlich sein 
können, für sie sind die Bedingungen aufzuzeigen, wann sie 
theoretisch sein muß. Ist diese Aufgabe gelöst, dann ist auch 
unser Problem bewältigt Denn die Bedingungen für die Wissen- 
schaftsnatnr der dialogischen Frage definieren eben die Fälle, 
in denen eine Frage wissenschaftlich ist, nur sofern sie an 
jemanden gerichtet ist 

Die naive Auffassung vom Sinn des Dialogs ist gemeinhin 
die eines Wechselspiels von Frage und Antwort. A fragt, B 
antwortet oder umgekehrt. Allein die schärfer zugreifende 
Analyse stößt alsbald auf die Schwächen solcher Vorstellung. 
Nicht der eine fragt und der andere antwortet nnd umgekehrt, 
sondern indem A fragt, antwortet er zugleich, nnd indem B ant¬ 
wortet, fragt er zugleich. Wäre dem nicht so, dann wäre jede 
Verständigung grundsätzlich ausgeschlossen. »Verständigen« kann 
nicht bloß heißen, daß B in seiner Antwort das Verständnis für 
die Frage bekunde, sondern A muß die Antwort des B an der 
gestellten Frage messen. Das heißt: mit der Antwort des B ist 
für A sofort wieder eine Aufgabe gegeben, also eine Frage. 
Was aber bedeutet jenes Messen der Antwort, welches A an der 
von ihm gestellten Frage vomimmt? Mit anderen Worten: 
Wann hat er die Antwort des B verstanden: Wenn er sich durch 
Fragen bei B Gewißheit schafft; damit aber gibt er zugleich 



64 


Moritz L8wi, 


Antwort auf die in der Antwort des B gelegene Frage. Kurz, 
nnr wenn die Frage des A als eine Antwort an B, und die 
Antwort des B als Frage an A begrifflich bestimmt werden 
kann, liegt Verständigung vor. 

In diesem Zusammenhang empfiehlt es sich, den Dialog von 
der Dialektik zu unterscheiden. Die Einsicht in die Wechsel* 
beziehungen beider Motive gewährleistet zugleich ihre relative 
Selbständigkeit Man spricht mit Bezug auf die Dialektik von 
einem Prozeß, und zwar von einem unendlichen Prozeß. Nach 
den Bemerkungen fiber den Dialog liegt es nahe, den Gedanken 
der Unendlichkeit auch für ihn in Anspruch zu nehmen. Der 
Gedanke der Unendlichkeit ermöglicht eine zwiefache Bestim¬ 
mung: in einer Hinsicht ist das Unendliche der Grund fflr die 
prinzipielle Unabgeschlossenheit des Prozesses im gegenständ¬ 
lichen Sinne. In der anderen Hinsicht ist die Unendlichkeit, 
wie sich alsbald zeigen wird, die Bedingung ffir die Möglichkeit 
des aktmäßigen, d. L des erkennenden Verhaltens. ist die 
»dialogischec Seite des dialektischen Sachverhalts. 

Die theoretische Philosophie definiert den objektiven Prozeß 
der Erkenntnis. Sie beweist, daß irgendeiner wissenschaftlichen 
Einsicht unabhängig von den sie bedingenden und den durch sie 
bedingten kein Eigenrecht einzuräumen ist. Jede Einsicht ist 
eingeffigt in einen ttbergreifenden Zusammenhang. Der Prozeß 
hat somit weder Anfang noch Ende. Andererseits gibt die 
Theorie dem Gedanken von Anfang und Ende doch wieder Baum: 
die eindeutige Bestimmtheit einer Einsicht bedeutet im objektiven 
Prozeß einen relativen Anfang bezw. relatives Ende. In die 
wissenschaftliche Dialektik geht an dieser Stelle das subjektive 
Verhalten des Forschers ein. Dennoch ist die Dialektik ihrem 
Begriffe nach jeder Gefahr einer subjektiven, d. L wiUkürlichen 
Handhabung entrfickt. Denn der Prozeß ist als solcher be¬ 
stimmt, er ist selbst unter dem Gesichtspunkt von Anfang und 
Ende zu betrachten, er ist, obgleich ohne Ende, ein Ganzes, er 
ist unendlich. Der Gedanke des Unendlichen macht den objektiven 
Prozeß zu einem Gebilde, das seine methodologische Besondemng 
von der »Sichtung« empfängt, der gemäß der subjektive Ansatz 
des Forschers erfolgt. Der Begriff vom Unendlichen umschreibt 
den Prozeß als geordnetes Ganzes, er weist jedem Element den 
Platz innerhalb seiner an und schafft so einem jeden den Charakter 
der Bestimmtheit; als relativer Anfang oder relatives Ende wird 
es eben dadurch von willkflrlichem Anfang bezw. Ende wohl 
unterschieden. 



Schwelleniuitersochaneren. Theorie and Experiment. 


65 


Welche Bedeatnng hat der Begriff des Unendlichen für den 
Dialog? Es wird sich alsbald zeigen, in welchem Umfange das 
Ergebnis der nun folgenden Betrachtungen für unsere nrsprüng* 
liehe Fragestellung von Belang ist. In Rücksicht auf die oben 
gekennzeichnete Relativität der Begriffe »Frage« und »Antwort« 
soll im folgenden nur von »Aussage« gesprochen werden. Im 
Dialog sagt also A aus und B sagt aus; beide genügen der Be¬ 
dingung der Eindeutigkeit, aber sie genügen ihr nicht auf dem 
Wege über den wissenschaftlichen Begriff oder sie brauchen ihr 
doch nicht auf solche Weise zu entsprechen, und gerade dieser 
Fall des Diidogs steht eben zur Erörterung. In der Aussage A 
ist nicht potenziell die Aussage B, C, D usw. enthalten, A ist 
nicht die Bedingung für B; sie ist vielmehr als Frage bezw. 
Antwort »Aussage für«, eben für B, sie ist Aufgabe für B. 
»Bedingung für« und »Aufgabe für« aber sind logisch voneinander 
geschieden: Jene gilt allemal für etwas, diese für jemanden. 
Freilich kann »die Bedingung für etwas« zugleich »Aufgabe für 
jemanden« sein, sie muß es sogar immer sein können; nur be¬ 
stimmen diese Verhältnisse die Dialektik und nicht den Dialog 
oder den Dialog, soweit er im Dienste der Dialektik steht. 
Diese Angelegenheit ist oben bereits erledigt. Im Augenblick 
ist somit »Aussage« lediglich »Aufgabe für jemanden«. Eine 
bedeutsame Schattierung des Identitätsgedankens läßt der vor¬ 
liegende Beweisgang bereits dnrchschimmem: 

Die Aussage A als Aufgabe »für jemanden« fordert eine Aus¬ 
sage B. Für die Formulierung der Aussage B ist durch A die 
Richtung vorgeschrieben. B kann nicht beliebig lauten. Sie 
wird vielmehr im Hinblick auf das mit A Bezeichnete oder in A 
Gemeinte formuliert. B muß auf das in A Gemeinte bezogen 
sein. Von B muß trotz seiner von A abweichenden Formulierung 
dasselbe gemeint sein. Würde mit B nicht dasselbe angestrebt 
werden wie von A, dann läge kein Dialog vor, dann handelte 
es sich nicht um Aussagen, sie gingen ihres charakteristischen 
Zuges verlustig: sie hörten auf »Aufgaben für jemanden« zu 
sein. Die Gebilde A und B böten sich der Betrachtung besten¬ 
falls als Sätze oder anders benannte Komplexe der Spach¬ 
wissenschaft dar. Sie weisen nicht als dialogische Aussagen 
wechselseitig aufeinander hin, sie lägen beziehungslos nebenein¬ 
ander wie isolierte Wörter. Noch ein zweiter Gedanke heischt 
auf Grund der Aufgabennatur jeder Aussage Beachtung. Wenn A 
Aufgabennatnr eignet, muß B mit Bezug auf A als Lösung ge¬ 
wertet werden können. Das ist grundsätzlich ausgeschlossen, 

AiohlT fOr Pcyohologie. XLVm. 6 



66 


Moritz LSwi, 


wenn B dem Wortlante nach mit A ToUst&ndig übereinstimmt. 
Aufgabe und Lösung w&ren nicht allein grundsätzlich, sondern 
immer auch tatsächlich ununterscheidbar. Auf die Feststellung 
der Identität des den Aussagen zugrunde liegenden Gegenstandes 
müßte ein für allemal yerzichtet werden. M. a. W. der identische 
Gegenstand wirkt sich nur in Aussagen, d. i in tatsächlich 
verschieden formulierten und aufeinander verweisenden Sätzen 
ans, im Dialog. Der identische Gegenstand wird erst durch 
die Aussage, Identität ist gebunden an das Verhalten je¬ 
mandes. Der identische Gegenstand besteht einzig für die 
Aussage jemandes und muß infolgedessen für alle, an welche 
die Aussage gerichtet ist, bestehen. Nicht bloß in dem Sinne 
tritt die Identitätsfnnktion in Erscheinung, wie die Aussage 
allemal einen eindeutigen Sachverhalt äußert; sondern weil die 
Aussage >Aussage jemandesc, ist auch der ideutische Gegenstand, 
ist auch die Identität des Gegenstandes funktionell gebunden an 
die jeweilige Struktur dieses »jemand«. »Jemand« ist immer 
nur bestimmt im jeweiligen Augenblick, durch sein momen¬ 
tanes Verhalten. Deswegen ist jene Identität in Fnnktional- 
abhängigkeit vom Akte, sie ist >gemeint<. Die dialogische 
Aussage, der Akt und die Identität des gemeinten Gegenstandes 
sind ein unzerstückbarer Komplex. Der Aktqualität der Aus¬ 
sage entspricht die Aussagequalität des Aktes. Der Dialog in 
Rücksicht auf jene drei theoretischen Momente heißt Ver¬ 
ständigung, sie definieren seinen Begriff. »Verständigung« 
ist das Prinzip des Dialogs. 

Die Verständigung kann nicht grundsätzlich abreißen; denn 
das hieße soviel wie jenen Relationszusammenhang gewaltsam 
zerstücken. Denn es bedeutete einen Akt ohne Aussagequalität, 
einen Akt, der nichts »meinte«; denn es bedeutete einen »ge¬ 
meinten Gegenstand«, der aufhören sollte, Akten, d. i. Aussagen 
zu entsprechen; denn es bedeutete .eine Aussage, die nicht ge¬ 
meint wäre und der deshalb auch jede Aktqualität fehlte. Das 
Aufhören der »Verständigung« ist das Knnstprodukt eines mangel¬ 
haften wissenschaftlichen Theorems. Der Dialog ist also grund¬ 
sätzlich unabgeschlossen. Will man diese Unabgeschlossenheit 
»Unendlichkeit« nennen, dann muß man sie als durch den Akt 
bestimmt kennzeichnen, d. h. als eine Unendlichkeit, in der es 
sich nicht um bloße Aneinanderreihung von Elementen in der 
Zeit handelt, sondern die zugleich durch den Sinnvollzug 
der Elemente gekennzeichnet ist. Sie mag in Rücksicht auf 
diesen Sinnvollzug »aktuelle Unendlichkeit« heißen. 



Schwellennntersnchiuigeii. Theorie und Experiment. 


67 


Für den Dialog als ansdmcks- bezw. worthaftes Verhalten 
kommt die Bedeutung jener Aktualität in folgenden Beziehungen 
zum Ausdruck: der Ausdruck ist die Richtung des Aktes auf 
den »gemeinten Gegenstand«, das Wort die spezifische Art und 
Weise dieser Richtung. Wer etwas meint, muß es allemal in 
bestimmter Weise meinen, oder er weiß nicht, was er meint. 
Diese bestimmte Art des Meinens ist eben die spezifische Art 
der Richtung. Das Wort ist demnach der Ausdruck der »Be¬ 
stimmtheit für jemanden«. »Für jemanden bestimmt sein« und 
»vollständig bestimmt sein« ist einerlei, denn vollständig bestimmt 
ist etwas nur, sofern es für jemanden bestimmt ist Daraus folgt: 
in jedem Akt sind vermöge der spezifischen Richtung auf den 
»gemeinten Gegenstand« alle »möglichen« Bezüge »für jemanden«, 
alle möglichen Sinnbezüge in einem angebahnt. Ebenso sind 
in jedem Wort als Ausdruck der spezifischen Richtung sämtliche 
möglichen Bezüge angeknüpft Liegt demnach eine dialogische 
Aussage vor, so ist in den Worten ein Überschauen aller mög¬ 
licher Sinnbezttge vorgenommen. Das »aktuell Unendliche« ist 
eben der Terminus für diese entwickelten Verhältnisse. 

Wir verweisen auf den Ausgangspunkt der Analyse: Im 
Dialog liegt eine Aussage A und eine Aussage B vor. B folgt 
auf A; das Prinzip dieser Folge ist nicht der Ablauf der Zeit. 
A, B, C usw. stehen sich als Richtnngskomplexe gegenüber. An 
der Besonderheit dieser Gebilde hat das Wort begründenden 
Anteil, in ihm werden jene Elemente »Bestimmtheiten für je¬ 
manden«, in ihm wird der Bezug auf alles Sinnvolle augenschein¬ 
lich, wirklich. Das Prinzip für die xotvmvia der Aussagen 
heißt das »aktuell Unendliche«. 

Die relationstheoretische Klärung des im Dialog beschlossenen 
Sachverhalts schafft die Voraussetzungen zur Lösung unseres 
Problems, zur Beantwortung der Frage: wann ist eine Frage 
wissenschaftlich, weil sie an jemanden gerichtet ist?: Im Wort 
werden sämtliche auf das Gemeinte verweisenden Sinnbezüge 
greifbar. Nicht in einer sukzessiven Aneinanderkettnng wird 
das »Gemeinte« dem Bewußtsein offenbar, sondern im wort- oder 
allgemeiner ausdmckshaften Akt, also in einem Blick, in 
einem »Augenblick«. Nur dadurch ist etwas »für jemanden« 
vollständig bestimmt und für alle anderen begreiflich. Nur 
dann spricht man von Verständigung. Die Akte stehen neben¬ 
einander wie die verschiedenen Ausdrücke desselben »Gemeinten«. 
»Verständigung« heißt jetzt: jeweils ein Gemeinsames meinen, 
von einem Gemeinsamen in immer sich erneuenden Akten sprechen. 

6 * 



68 


Moritz L0wi, 


Nicht ein Akt ergibt sich notwendig oder braucht sich nicht 
notwendig aus dem andern zu ergeben, sondern jeder Akt ist 
ein relativ neuer Ansatzpunkt In dem Wort »Ansatz« kommt 
nur die Gegenwartsbestimmtheit des Dialogs auf eigene Weise 
zum Ausdruck. 

Die Einsicht in den aktuell unendlichen Verlauf des Dialogs 
hat nunmehr ihre erschöpfende Begründung erfahren. Der Ver¬ 
lauf des Dialogs kann kein Ende haben, weil seine Gegenwarts¬ 
bestimmtheit nie aufhören kann. Sollen die Bedingungen anf- 
gewiesen werden, unter denen eine Frage wissenschaftlich ist, 
weil sie an jemanden gerichtet ist, so muß der Dialog nn- 
beschadet seines Charakters als psychische Tatsache die Voraus¬ 
setzung eines spezifischen Begriffs der Methode begründen können. 
In dieser Forderung liegt kein psychologistischer Irrtum. 

Der Begriff des Dialogs löste sich auf in ein immer neues 
Ansetzen, in eine eigenartige Gemeinschaft von Akten. In dieser 
Beziehung der Akte muß auch die Möglichkeit ruhen, die den 
Dialog zur Bedingung einer wissenschaftlichen Methode macht. 
Ans der als »Neuheit« der Ansatzpunkte bezeichneten Eigen¬ 
tümlichkeit dialogischer Aussagen tritt bei weiterer Betrachtung 
ein mit dem Dialog aufs innigste verwobenes Motiv hervor: 
»Neu« heißen jene Ansätze, sofern sie relative Anfänge sind. 
Nur dadurch, daß in jeder Aussage ein neues Anheben, ein 
Beginn anbricht, ist die Aussage dialogisch und nicht Urteil 
Mag immerhin auch für das Urteil das Anheben mitbestimmend 
sein, jenes Anheben entscheidet nicht darüber, ob etwas ein 
Urteil ist, es konstituiert nicht das Urteil, wohl aber die 
dialogische Aussage. Um sich dialogisch zu verhalten, muß man 
»anfangen«. Das heißt: der Dialog, weil Ausdruck der Gegen¬ 
wartsbestimmtheit, verläuft in der Zeit, die Aussagen folgen 
nacheinander. 

Die Sachlage ist somit folgende: Aktuell ist die Aussage 
allemal gegenwartsbestimmt, man beginnt mit jeder Aussage; 
vorausgesetzt ist damit der zeitliche Ablauf der Akte; oder um¬ 
gekehrt: aus dem zeitlichen Ablauf kann die Gegenwartsbestimmt¬ 
heit des Dialogs theoretisch verstanden werden. Der Begriff 
der Zeit kann aktuell gestaltet werden: darin offenbart sich 
die Gegenwartsbestimmtheit des Dialogs. Er braucht aber 
nicht in dieser Weise seine aktuelle Ausprägung erfahren, d.h. 
»Zeit« kann noch in anderer Form aktualisiert, gestaltet werden. 
In der Tat ergibt sich zwanglos ans jenen gewissen Anheben 
jeder dialogischen Aussage auch eine andere Art zeitlicher Ge- 


I 



SchweUenantersachiiogen. Theorie and Experiment. 


69 


staltnng: Wer »anhebt«, setzt einen Anfang; Anfangssetznng 
ist ja nur eine andere Bezeichnung für >Anheben«, sie soll nur 
die Einsicht in die zeitgestaltende Leistung des Aktes yennitteln. 
Diese Anfangssetznng ist gewissermaßen die Wahl eines Null¬ 
punktes in der durch die Zeit bedingten Reihe von Akten. Mit 
solcher aktuellen Setzung wird eine Scheidung der Reihe vor¬ 
genommen, besser eine »Unterscheidung«. Nicht als wäre dem 
Erlebenden eine Reihe von Akten gegeben, und als wählte er 
seinem Dafürhalten nach einen beliebigen Akt aus der vorliegenden 
Zahl als Teilnngspunkt. Der Sachverhalt ist vielmehr dieser: 
Weil jemand im Verlaufe mannigfacher Erlebnisse über denselben 
Gegenstand ein jedes als Anfang erlebt, eben deswegen muß er 
von diesem Punkt aus die der Zeit nach früheren Erlebnisse 
als »vergangen« betrachten können. Die Erfassung als <An¬ 
fang« wäre grundsätzlich unmöglich, würden die zeitlich früheren 
nicht mit Bezug auf diesen Anfang als unterschieden von ihm, 
als Zeiterlebnisse anderer Art festgehalten werden können. Er¬ 
lebnisse mit aktuellem Bezug auf Anfangs- oder Gegenwarts¬ 
erlebnisse heißen »Vergangenheitserlebnisse« bezw. »Znkunfts- 
erlebnisse<; in ihnen wird Zeit als Vergangenheit bezw. als 
Zukunft erlebt. Liegt ein Gegenwartserlebnis in der Form des 
Dialogs vor, so muß es mit Bezug auf dieses das Erlebnis der 
Vergangenheit geben. 

Welche Ausblicke eröffnet der so gewonnene Sachverhalt für 
die Erreichung des erstrebten Zieles? Weil eine Frage ge¬ 
stellt ist, deshalb ist mit Bezug auf sie ein anderes Erlebnis 
möglich. Mit anderen Worten: die dialogische Aussage wird Gegen¬ 
stand in einem anderen Erlebnis, die dialogische Aussage »als 
vergangen« wird gemeinter Gegenstand. Anders gewendet: Man 
besinnt sich auf die dialogische Aussage. Man besinnt sich 
— das ist zu betonen — nicht auf den Sinn jener Anssage, 
sondern auf die Aussage als Anfang, als Anheben, oder was das¬ 
selbe ist, als vergangen, auf die Aussage als dialogische. 
Nicht bloß die Frage in ihrem sachlichen Gehalt, sondern das 
Stellen der Frage als sachlicher Gehalt wird Gegenstand 
des Erlebnisses. Die Frage oder Aussage als Erzeugnis des 
Augenblicks, der Einzigkeit, als spezifische Form der 
Gegenständlichkeit Eline bestimmte Frage als Ausdruck 
der Subjektivität wird Problem, eine Frage wird wissen¬ 
schaftlich, weil sie gestellt ist. 

Wann ist eine Frage wissenschaftlich, weil sie an je¬ 
manden gerichtet ist? Wenn sich der Fragende auf seine 



70 


Moritz Löwi, 


Frage als »gestellte« besinnt; nnr weil sie aktuell gestellt 
ist, eben deswegen ist sie wissenschaftlicher Sachverhalt Richtet 
man sich anf den Sinngehalt einer Frage, dann ist die Frage 
freilich wissenschaftliches Objekt, aber nicht weil sie gestellt 
ist, sondern weil sie gestellt werden kann. 

Jene Besinnung aber ist Methode, sonst vermöchte die ge¬ 
stellte Frage nicht wissenschaftlicher Sachverhalt zu werden. 

Diese Methode heißt »experimentelle Psychologie«. 

Sie ist gekennzeichnet im Dialog und in der Besinnung auf 
die Fragen und Antworten bezw. auf die Aussagen als gewußte. 
Von welchen Gesichtspunkten wird diese methodische Besinnung 
geleitet? Es handelt sich, wie erwiesen, um die Besinnung auf 
Aussagen als gestellte, als ausgesprochene, augenblickliche; 
und gerade darum um die an den Aussagen in Erscheinung 
tretende Subjektivität Wo Subjektivität zum Problem wird, 
da sind die methodischen Richtlinien zu seiner Beherrschung 
angedeutet: es ist die Theorie der Gegenständlichkeit, inner¬ 
halb deren das Problem der Subjektivität seine Auflösung erfährt 

Damit ist das Prinzip für die wissenschaftliche Handhabung 
jener Besinnung,. d. i. der experimentellen Psychologie gegeben. 
Es gipfelt wie das Prinzip jedes Gegenstandsproblems in der 
Aufzeignng der für den jeweiligen Gegenstand charakteristischen 
»Möglichkeitsbeziehungen«. Um des durch die Aussage ver¬ 
mittelten augenblicklichen Verhaltens jemandes habhaft zu werden, 
ist also gefordert, die bezüglichen Äußerungen auf die sie er¬ 
möglichenden Beziehungen zu untersuchen. Wo Aussagen über 
augenblickliche Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle usw. 
abgegeben werden, da gilt die Forderung, in diesen Motiven 
Beziehungen, und zwar Beziehungen der Gegenständlichkeit auf- 
znweisen, in welchen sich Subjektivität, besser Psychisches erfüllt. 

Diese Beziehungen sind von ganz besonderer Art: sie sind 
Ausdrucksformen des Augenblicks, der Einzigkeit, der Gegen¬ 
ständlichkeit; sofern jemand sich auf Ausgesagtes, Vergangenes, 
auf »Gehabtes« besinnt Die Besinnung ist keine willkürliche; 
sie ist gelenkt, beherrscht von der Gegenstandsbeziehung der 
Einzigkeit, sie ist methodisch. Es sind gewußte Gegenstands¬ 
beziehungen. Es sind Gegenstandsbeziehungen, die zugleich Tat¬ 
sachen bezeichnen, weil gewußte Beziehungen. Die experi¬ 
mentelle Psychologie ist ausgezeichnet durch ihre Begrifisbildung. 
Sie macht das Augenblickserlebnis verständlich durch Begriffe, 
Prinzipien, die zugleich Tatsachen bedeuten. Jene eigentümliche 
Besinnung auf die Aussage ist mithin zugleich ein Urteilen über 



SchweUenantersachangfen. Theorie and Experiment. 


71 


die Aussage, das Erlebnis des Urteils. »Erlebnis des Urteils« 
aber ist wissenschaftliche Aufgabe. Wer sich somit 
nach Gegenstandsprinzipien auf Ansgesagtes besinnt, — ich nenne 
ihn den Experimentator — der stellt sich nnd damit anderen 
wissenschaftliche Aufgaben. Der Dialog wird zum wissenschaft¬ 
lichen Verfahren. Der Dialog wird ein Begritselement der 
Dialektik. Dialog und Dialektik durchdringen einander im Problem 
der Erkenntnis. Niemals kommt sonach der Experimentator in 
die Lage, nach eigenem Ermessen die bezüglichen Aussagen zu 
deuten, sie zu deuteln. Getrieben von der Dialektik der Gegen¬ 
ständlichkeit, geleitet von einer bestimmten, in ihr wurzelnden 
Aufgabe, bleibt es ihm gruudsätzlich versagt, zu fragen: was 
kann eine Aussage bedeuten? Diese Frage vielmehr bestimmt 
sein Verhalten: was muß eine Aussage bedeuten? Gegenüber 
einer Aufgabe hat eine Aussage aber nur einen Sinn. Der 
Aussagesinn einer Aufgabe gegenübergestellt ist keine Relati¬ 
vierung, sondern Relationiemng. Im »Hinblick« auf die Auf¬ 
gabe erwächst der Aussage ihre wissenschaftliche Eindeutigkeit. 
Die Besinnung auf eine Frage als gestellte heißt jetzt: ihre 
Eindeutigkeit im Hinblick auf eine aus dem Gedanken der Gegen¬ 
ständlichkeit verständliche Aufgabe feststellen. Die psychischen 
Elemente werden an einer Aufgabe greifbar. 

Der Dialog konnte vorher als ein Gefüge von Antworten, 
die zugleich Fragen, nnd Fragen, die zugleich Antworten sind, 
beschrieben werden. Nunmehr läßt sich sagen: Antwort, die 
zugleich Frage, heißt im methodischen Dialog »Besinnung auf 
das Psychische«, und zwar auf das »gehabte Psychische«, kurz 
auf das »Gehabte«. Frage, die zugleich Antwort, wird Auf¬ 
gabe einer eindeutigen Wiedergabe des zukünftig Psychischen, 
kurz des »Zukünftigen«. Daraus folgt: Besinnung nnd Aufgabe 
sind dasselbe. Diese Einsicht ist von entscheidender Wichtig¬ 
keit für die Bedeutung der Versnchsanordnnng im experimentellen 
Betriebe. Mit der Versuchsanordnung will der Experimentator 
bei der Versuchsperson etwas Bestimmtes bezwecken, er fragt 
sie mittels nnd in der Versuchsanordnung. Ist die Versnehs- 
peraon auf die Aufgabe gerichtet, dann muß mithin auch der 
Versuch in ihr Erlebnis eingehen. Sie sieht und hört, was vor¬ 
geht. Schaltet man die Möglichkeit, sich auf die technische 
Handhabung des Versuchs zu beziehen, aus, dann hat es der 
Experimentator verabsäumt, die Versuchsperson zu fragen, was 
er sie zu fragen wünscht. Die Versnchsanordnnng ist nichts 
anderes als die eindeutige Formulierung der Frage. Das in 



72 


Morits Löwi, 


der experimentellen Psychologie gangbare »unwissentliche Ver¬ 
fahren« hOrt auf, eine »Frage an jemanden« zu sein, es ist die 
Frage an die Natur, es verstößt gegen die Aufgabennatnr des 
Versuchs. Aufgabe für das Zukünftige ist gleich Besinnung auf 
das Vergangene. Wenn also der Versnchsleiter vor dem schein¬ 
baren Beginn einer Versuchsreihe sich die technische Einrichtung 
seines Vorhabens zurechtlegt, dann steht er nicht außerhalb 
psychischen Geschehens, er überlegt nach gegenständlichen Prin¬ 
zipien mit Bezug auf sich selbst. Weil er selbst irgend etwas 
in bestimmter Weise erlebt hat oder in bestimmter Weise er¬ 
leben kann, muß er sich darüber auch verständigen können, 
müssen andere, seine Versuchspersonen, es in derselben Weise 
erleben können. So erscheint hier die Anordnung als Frage. 
Die Technik geht in die Methode ein. In der experimentellen 
Psychologie fallen Technik und Methode zusammen. 

Die Bestrebungen der modernen Prinzipienlehre in der Psy¬ 
chologie, so begannen die Darlegungen dieses Abschnittes, seien 
nach zwei Zielpunkten hin gerichtet Sie wiesen einmal auf 
die Stellung der Psychologie im System der Wissenschaften, 
des weiteren auf eine Lösung der psycho-physischen Frage. In 
der Begründung der Psychologie als philosophischer Disziplin 
gelingt es, beide Probleme miteinander zu verweben und eben 
deswegen zu lösen. 

Das Ergebnis der vorliegenden Betrachtung gestattet nun¬ 
mehr eine Stellungnahme zu jenen Prinzipienfragen. 

Für die experimentelle Psychologie ist charakteristisch das 
Zusammenfallen von Methode und Technik, für ihre Begriffs¬ 
bildung die Durchdringung von Begriff und Tatsache. Der Be¬ 
griff des Gegenstandes wird nach einer neuen Richtung hin der 
Erkenntniswissenschaft zugänglich. Nicht allein, wie in den 
Begriffen der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit sich Gegen¬ 
ständlichkeit begründe, ist das Problem, sondern auch wie Einzig¬ 
keit, d. i. der erlebte Augenblick Gegenständlichkeit schaffe. Der 
experimentellen Psychologie wird damit ihre systematische Stellung 
angewiesen. Sie ist Moment einer Theorie des Begriffs von 
»Gegenstand überhaupt«. Damit sind die Beziehungen zum Ver¬ 
ständnis der psychophysischen Beziehung gegeben: Die Zuord¬ 
nung gewisser Erlebnisse zu physischen Gegenständen ist eine 
besondere Invariante der Augenblickserfassung. Physische Gegen¬ 
stände sind Psychischem zugeordnet, sofern sie gewußt werden. 
»Zuordnung« bedeutet hier eine gewußte Beziehung. Niemals 
besteht das Problem zu Recht: wie müssen Naturgegenstände 



Schwellennnteraachoiigeii. Theorie und Experiment. 


73 


geartet sein, damit um sie gewußt werde? So allein muß die 
Fragestellung lauten: Wie muß das Wissen bestimmt sein, 
damit ein Natnrobjekt erlebt werde? 

Die Empfindungslehre bildet sonach keinen Sonderbezirk 
innerhalb der experimentellen Psychologie. Auch sie unterliegt 
den das Wissen bestimmenden Bedingungen. So wird die durch¬ 
gängige Systematik in der Psychologie allererst »möglich«. Der 
dogmatisch-falsche Anschluß an die Naturwissenschaften zerreißt 
den systematischen Zusammenhang der psychischen Erscheinungen. 
Er vermag nicht, sie als Tatsachen, als Gebilde des Augenblicks 
zu sichern. 

Die Theorie der Gegenständlichkeit als Theorie des Einzig¬ 
artigen, Augenblicklichen bereitet den Boden für eine kraft¬ 
volle Entfaltung der Lehre vom Psychischen. 

Eingegangen am 29. Desember 1928. 



(Ans dem Psychologischen Institut der Universität Moskau.) 

Znr Frage über die Transformation der Helligkeit 

Von 

S. W. KravkoT (Moskau). 

(Mit einer Fignr im Text.) 

Schon H. V. Helmholtz^) und E. Hering*) haben darauf 
hingewiesen, daß bei unseren Wahrnehmungen die Farben und 
Helligkeiten der Gegenstände, in sehr breiten Grenzen unab¬ 
hängig von den Belichtnngsänderungen, unverändert aussehen. 
Die Ursachen solcher Erscheinung liegen nach Herings An¬ 
sicht in den peripheren physiologischen Gesetzmäßigkeiten nnseres 
Sehorgans: l.PupUlenreflez, 2.Simultankontrast(>Wechselwirkung 
der somatischen Sehfeldstellen aufeinander«) und 3. Adaptation 
(»Zustandsänderungen, welche das innere Auge infolge andauernd 
stärker oder schwächer gewordener Gesamtbelichtung der Netz¬ 
haut erfährt«). 

Es gibt aber Fälle, in welchen »zu den soeben beschriebenen 
physiologischen Faktoren, welche neben den eben wirkenden 
Strahlnngen die Farbe der Sehdinge bestimmen, gesellt sich also 
noch einer, den man, nach der üblichen Terminologie, als einen 
,psychologischen‘ bezeichnen könne«. 

Als Beispiel solcher Fälle führt Hering folgenden Versuch 
an*): Wenn wir uns mit dem Bücken an ein Fenster stellen, 
ein Stück dunkelgraues Papier in die Hand nehmen und mit 
beiden Augen abwechselnd bald dieses Papier, bald die dahinter 
liegende weiße Zimmerwand betrachten, so erscheint uns die 
Wand weiß, das Papier dnnkelgrau, obwohl es wegen seiner 
günstigeren Beleuchtung objektiv viel lichtstärker ist als die 
Wand. Die entferntere Zimmerwand erhält also eine subjektive 


1) Handb. d. pbysiol. Optik, 2. A., S. 550—556. 

2) B. Hering, GmndzUge der Lehre vom Lichtsinn, I.Lieferung, 1905, 
S. 18 ff. 

8) E. Hering, ibidem S. 10. 



S. W. KravkoT, Zur Frage ttber die Transformation der Helligkeit. 75 

Aofhellong. Ein weiterer Schritt in der Erforschung dieses 
Phänomens wurde von D. Eatz*) gemacht 

Versuche über den Einfluß der Entfernung wurden von ihm 
in folgender Weise dnrchgefflhrt Die Versuchsperson saß mit 
dem Rücken an einem Fenster und hatte die Aufgabe, die 
Helligkeit zweier vor ihr stehender grauer rotierender Scheiben 
zu vergleichen. Die eine befand sich in der Entfernung von 
1,5 m, die andere 5 m von ihr. Der Hintergrund war für beide 
Scheiben der gleiche. Die Durchmesser beider Scheiben wurden 
so gewählt, daß sie unter gleich großem Sehwinkel erschienen. 
Die Versuchsperson sollte die Größe des weißen Sektors in der 
näheren Scheibe so lange ändern, bis diese Scheibe der ent¬ 
fernteren, ihrer Helligkeit nach, gleich wurde. 

Die erhaltenen Resultate haben gezeigt, daß die Versuchs¬ 
personen die nähere Scheibe immer bedeutend heller machten, 
als es nötig wäre, in dem Falle, wenn sie die ganze Versuchs- 
anordnnng nicht sehen würden, und nur die Helligkeit der 
Scheiben durch die von innen geschwärzten Rohre vergleichen 
wurden. 

In einer anderen Serie stellte Katz seinen Versuchspersonen 
die Aufgabe, zwei graue Scheiben nach ihrer Helligkeit gleich 
zu machen, indem eine der Scheiben mit einem undurchsichtigen 
Schirme, der von der Seite der Beleuchtung stand, beschattet 
wurde. Die beiden Scheiben standen vor objektiv gleich hellem 
Hintergründe. 

Die beschattete Scheibe erfuhr bei Versuchspersonen immer 
eine subjektive Aufhellung, der zufolge die Versuchspersonen in 
die nnbeschattete Scheibe mehr Weiß zusetzten, als es nötig 
wäre für die objektive Gleichung, wenn mittels eines speziellen 
(»reduzierenden«) Schirmes, die Möglichkeit, die ganze Versuchs- 
anordnung zu überblicken für die Versuchspersonen ausgeschlossen 
wäre. Wie nach dem erst beschriebenen Versuche Herings, 
so auch nach eben erwähnten Experimenten Eatzs’, blieb es 
aber möglich, die erwähnte subjektive Aufhellung objektiv 
dunklerer Gegenstände durch die peripheren (im Sehorgane 
liegenden) Faktoren zu erklären. Im Versuche Herings, wo 
von den Versuchspersonen das Fixieren des nahen Papierstückes 
verlangt wurde, war die Eonvergenz (also auch der Pupillen¬ 
reflex) nicht ausgeschlossen. 


1) D. Katz, Die Erscheiniuigsweiseii der Farben, 1911, §§ 9 a. 14. 



76 


S. W. KraTkoT (Hosksn), 


Bezüglich der Experimente von Eatz ist ebenfalls der Ver¬ 
dacht nicht ausgeschlossen, daß bei seinen Versnchspersonen die 
Konvergenz mit dem Pupillenreflexe ebenso stattgefnnden hat, 
wenn auch nicht so ausgeprägt^) 

In seinen Experimenten mit dem beschattenden Schirme war 
der Pnpillenreflex bei seinen Versuchspersonen möglich beim 
Übergehen ihres Blickes von der beleuchteten Scheibe zur be¬ 
schatteten, welche im allgemeinen im dunkleren Zimmerteile sich 
befand.*) Die Versuche über die Schätzung der Helligkeit eines 
beschatteten, achromatischen Objekts wurden neuerdings von 
E.ItJaensch*) wiederholt Die von ihm verwendete Ver¬ 
suchsanordnung unterschied sich von der von Katz benutzten 
dadurch, daß er hinter die beschattete Scheibe weißes, hinter 
die unbeschattete schwarzes Papier stellte. Die Erscheinung der 
subjektiven Aufhellung des Beschatteten wurde auch bei dieser 
Versuchsanordnung in vollem Maße beobachtet. 

Und doch ist es a priori nicht ausgeschlossen, daß auch bei 
Jaenschs Versuchsergebnissen die peripheren physiologischen 
Faktoren die entscheidende Bolle gespielt haben. Erstens, man 
könnte wieder an den Pupillenreflex denken, der wahrscheinlich 
beim Übergange des Blickes der Versuchspersonen von der im 
ganzen helleren zu der im ganzen dunkleren Sehfeldseite sich 
vollzog. Zweitens, könnte man glauben, daß die Helligkeits¬ 
verschiedenheit beider Hintergründe hier die Wirkungen des 
sukzessiven Kontrastes erweckte, die auch gerade in der Bichtang 
der subjektiven Aufhellung des Beschatteten die Besultate be¬ 
einflussen konnte. Um diese Frage von der jetzigen 
Möglichkeit einer peripheren Erklärung der oben 
beschriebenen Phänomene der subjektiven Aufhellung 
des Beschatteten ganz bestimmt zu beantworten, 
so daß für den Zweifel der allerstrengsten Skeptiker kein Platz 
mehr bleibt, haben wir die vorliegende Arbeit an¬ 
gestellt 


1) Weil das nähere Objekt von der Versnchsperson ziemlich entfernt war. 

2) In der Anmerkung auf S. 869 finden wir zwar bei K a t z die Be¬ 
hauptung, dafi alle seine Versuche mit demselben Erfolge such mit einer 
künstlichen, dicht vor das Auge gebrachten Pupille sich anstellen lassen. 
Es ist aber nicht zu ersehen, dafi diese Bedingung auch in den Ton ihm 
beschriebenen Experimenten, welche im Texte seines Buches erwähnt sind, 
erfüllt wäre. 

8) E. B.JaenBch und E. A. M ü 11 e r, Wahrnehmung farbloser Hellig¬ 
keiten und Helligkeitskontrast. Zeitschrift f. Psychologie, 1920, Bd. 88. 



Zar Frage ttber die Transformatioa der Helligkeit. 


77 


Methodik. 

Die von uns durchgeführten Experimente bilden drei Ver- 
snchsserien: 

Die Versnchsanordnimg unserer ersten Serie (Serie I) ist der 
von Jaensch benutzten genau gleich. 

In der zweiten Serie (Serie II) wurde der mögliche Einfluß 
des Pupillenreflexes durch Atropin beseitigt. 

In der dritten Serie (Serie m) wurde der Pupillenreflex 
ebenso wie auch die mögliche Wirkung des sukzessiven Kon¬ 
trastes völlig ausgeschlossen, der erste durch Atropin, die letztere 
durch die Gleichheit der Untergründe. 

Unsere Versuchsanordnung ist aus der Abb. 1 zu ersehen. 


Abb. 1. 



Kt and Kt = die Scheiben 

b. S. = beschattender Schirm 
r. S. = redazierender Schirm 


Fj and Ft = zwei Fenster 

Vp. = die Versnchsperson 

Wir haben unseren Versuchspersonen die folgende In¬ 
struktion gegeben: »Sie sollen die Scheibe E^, ihrer Hellig¬ 
keit nach, der Scheibe E, gleich machen; die mögliche Farben¬ 
differenz zwischen beiden Scheiben sollen Sie dabei nicht beachten; 
Sie sollen sich bei Ihren Urteilen derselben Kriterien bedienen, 
die Sie im gewöhnlichen Leben benutzen, und welche Urnen 
einige Dinge (wie z. B. Stoffe, Tapeten u. dgl.) ,dnnkel', die 
anderen ,hell‘ erscheinen lassenc. 




78 


S. W. KraTkoT (Moskaa), 


Die VersuchspersoDen sollten die Helligkeiten beider Scheiben 
zuerst durch den reduzierenden Schirm vergleichen, nm Glleich- 
heit zwischen ihnen herznstellen. Unmittelbar nachdem ver¬ 
glichen sie die Helligkeiten ohne reduzierenden Schirm. Alle 
übrigen Versnchsbedingnngen blieben also unverändert. 

Die erste Gleichheitsherstellnng gab uns den Wert Vq, d. h. 
die >objektive< Größe der Variabel (EJ in den Graden des 
weißen Sektors aasgedrückt; die Gleichheitsherstellnng ohne 
reduzierenden Schirm gab uns den Wert Vg, d. h. die >subjektive« 
Größe der Variabel in demselben Maße ansgedrückt. Die schwarzen 
Sektore rechneten wir der Einfachheit halber für absolut schwarz. 

Es wurde beachtet, daß für Vg die Versuchspersonen immer 
nur die linken Hälften der Scheiben verglichen, damit eine 
mögliche Wirkung der Ungleichmäßigkeit der Beschattung der 
Scheibe K, völlig ausgeschlossen wäre. 

Der reduzierende Schirm war an der der Versuchsperson zu¬ 
gewandten Seite mattschwarz, an der den Scheiben zugewandten 
Seite weiß. Er selbst verdunkelte die Scheiben gewiß nicht 

Nach jeder Versuchsreihe verlangten wir von unseren Ver¬ 
suchspersonen introspektive Beschreibungen.. 

Ergebnisse. 

Serie L Die von uns erhaltenen Resultate haben voll¬ 
ständig das von Jaensch Gefundene bestätigt. Die »objektiv 
gleichen« Helligkeiten bleiben nicht mehr gleich, wenn wir sie 
ohne reduzierenden Schirm vergleichen, sondern die beschattete 
Scheibe (E,) bekommt eine subjektive Aufhellung. Dieses Ver¬ 
hältnis wurde von uns aus den 58 Einstellnngspaaren in 55 Fällen 
beobachtet 

Wie groß diese subjektive Aufhellung des Beschatteten war, 
ist aus der Tabelle I zu ersehen. 


Tabelle I. 


Bei Eg 

90® weiß 

180® weiß 

270® weiß 

860® weiß 



Mittlere 


Mittlere 


Mittlere 


Mittlere 


y _y 

Variatioo 

Va—V« 

Variation 

Va—Vo 1 

Variation 

V« — Vfl 

Variation 

Vpp. 


der einz. 


der einz. 


der einz. 


der einz. 


Einstell g. 


Einstellg. 

! 

Einstellg. 


Einstellg. 


in»;. V. 

Vo in % 

ln Vo 

Vo ln •/, 

in»/,Vo 

Vo in »1. 

in»;,V. 

V, ln 

S. 

80 

11 

19 

10 

49 

10 

46 

16 

B. 

87 

11 

89 

17 

88 

8 

69 

7 

G. 

67 

20 

34 

23 

— 

— 

42 

16 

Sch. 

0 

26 

16 

18 

81 

16 

26 

8 

Durch- 

8chnittlich 

31 

17 

89 

16 

66 

10 

48 

6 




























Zar Frage ttber die Tranaformatioii der Helligkeit. 


79 


Serie IL Mit Atropin; Hintergründe verschieden helL 
Die nämliche subjektive Aufhellung des Beschatteten wurde 
aus den 26 Einstellnngspaaren in 18 Fällen beobachtet. 
Quantitative Seite ist aus der Tabelle H abzulesen. 


Tabelle IL 


£eiK,-= 

90° weis 

180® weiß 

240® weiß 

860® weiß 

Vpp. 

Vg-V. 

h> % V. 

BfitÜere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
V,to •/, 

Vg-Vo 

Mittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
Ve in % 

Vg-V. 

in ‘/oV, 

Mittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 

Vo in •/o 

Vg-V, 

in*/.Vo 

Ifittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 

Vo in % 

S. 

16 


84 


66 

_ 

86 


B. 

61 

— 

98 

10 

68 

— 

61 

— 

G. 

— 

18 

17 

12 

— 

— 

16 

6 

IhiToh- 

schziittlioh 

ao 


48 


69 


84 



Ans diesen Resultaten sieht man, daß der Pupillenreflex 
in dem Zustandekommen der Transformations- 
erscheinnng keine Bolle spielt 

Serie ICL Mit Atropin; Hintergründe gleich helL 
In den 27 Fällen aus den 33 Einstellnngspaaren beobachteten 
wir dieselbe subjektive Aufhellung der Scheibe K,. 

Die Ergebnisse dieser Serie sind in der Tabelle LH gezeigt. 


Tabelle m. 


Bei Kg = 

90® weiß 

180® weiß 

270® weiß 


Vpp. 

Vg-V, 

V. 

Mittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
Vo in •/. 

Vg-Vo 

ln 7. V„ 

Mittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
Vo in % 

Vg-V. 

in •/. V, 

Mittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
Vo ln % 

SB 

Blittlere 
Variation 
der einz. 
Einstellg. 
Vo in V 

Ga. 

2 

16 

88 

7 

8 

10 

11 

4 

0. 

48 

7 

28 

6 


6 

18 

6 

Dnroh- 

Bohnittlich 

26 

11 

28 

6 

19 

8 

12 

6 


Also der mögliche Snkzessivkontrast (bei Jaenschs Ver- 
suchsanordnnng) für die Helligkeitstransformation ist ebenso 
ohne Bedeutung. 

Wir gehen hier nicht in die Interpretation der einzelnen 
von uns erhaltenen Daten ein. Sie hängen gewiß in großem 
Maße von der Individualität unserer Versuchspersonen ab. 


1) Wo keine mittlere Variation angebracht ist, haben wir nnr eine 
einaelne Beobachtung gehabt. 


























80 


S. W. ErarkoT (Moskaa), 


Fftr uns ist nur wichtig, dafi wir nach unseren Versnchen 
ganz entschieden behaupten können, daß die Helligkeits> 
transformation sich nicht durch die peripheren (im 
Sehorgane liegenden) Faktoren erklären läßt. 

Daraus folgt, daß die Ursachen dieser Erscheinung in zentralen 
Faktoren zu suchen sind. 

Über die letzteren aber können wir aus den Selbstbeobach¬ 
tungen der Versuchspersonen etwas erfahren. 

Die Selbstbeobachtungen der Versuchspersonen 
zeigen uns, daß die Versuchspersonen, mehr oder 
weniger bewußt, den Schatten von dem Beschatteten 
selbst abzuziehen versuchten. 

So lesen wir z. B.: 

»Ich unterscheide die Helligkeit selbst der vor mir 
liegenden Scheibe von der umgebenden Beleuchtung. Die 
Farbe der Scheibe erscheint mir selbst nicht dunkel, aber 
ich weiß, daß sie beschattet ist; um die Helligkeitsgleichung 
herzustellen, soll ich diesen Schatten wegnehmemc 

(Vp. S. 5./IV.) 

»Die Beschattung ist für mich etwas anderes als die 
Verdunkelung der Farbe selbst.« (Vp. S. 5./IV.) 

»Beim Vergleichen hatte ich immer eine Voraussetzung: 
auf die Scheibe E, fällt ein Schatten; ich bemühte mich, 
das bei der Schätzung nie zu vergessen.« 

(Vp. G. 20./V.) 

»Beim Vergleichen durch den reduzierenden Schirm sind 
meine Antworten unmittelbarer (sie kommen ,sogleich'), als 
wenn kein Schirm da wäre; in letzterem Falle bedarf ich 
immer einer bewußten Anstrengung.« (Vp. G. 27./IIL) 

»Die Farbe (hier gleich ,Helligkeit‘) unterscheidet sich 
von der Beschattung.« (Vp. Sch. 24./IIL) 

»Die Scheiben sehen verschieden aus: E, ist mit irgend« 
einem Grau bedeckt.« (Vp. Sch. 24./rV.) 

Daraus könnten wir schließen, daß die Ursache der Trans- 
formationserscheinnngen in unserem »Urteilen« liegt Es soll 
nur hier daran erinnert werden, daß dieses »Urteilen« nicht 
immer bewußt zu sein braucht. 

Solche Auffassung findet eine Stütze in den Ergebnissen 
einer, die Beziehung des Zwischenmedioms zu den Transfor¬ 
mationserscheinungen betreffenden Arbeit, die neuerdings von 



Zar Frage ttber die Traasformation der Helligkeit. 


81 


Thea Gramer^) durchgefflhrt worden ist. Sie zeigen uns, daß 
die Transformation umso mehr sich geltend macht, je weniger 
wir das Zwischenmedinm selbst bemerken, je mehr wir uns 
also des zn schätzenden Feldes als eines selbsständigen Gegen¬ 
standes bewußt sind. 

Die sorgfältigen Versuche W. Köhlers*) auf der anderen 
Seite aber haben bewiesen, daß Schimpansen und Hfthner, ebenso 
gut wie die Menschen, die Lichteindrttcke transformieren. 

Der letzte Umstand veranlaßt uns den wahren Grund 
der Transformationserscheinung in einem solchen 
psycho-physiologischen Faktor zn suchen, der 
irgendwo tiefer liegt und von primitiverer Natur 
ist, als unser menschliches Urteil. 

Die Versuche wurden im psychologischen Institut der Uni¬ 
versität Moskau, im Frühling 1923, mit acht psychologisch ge¬ 
schulten Versuchspersonen durchgeftthrt. 

Dem Schöpfer dieses Instituts, meinem hochverehrten Lehrer, 
Herrn Prot Tschelpanoff, sowie auch allen meinen Versuchs¬ 
personen: FrL Bulgakova, Frl. Govseeva, FrL Salesskaja, Frl. 
Odinzova, FrL Schneerson, Frl. Schnkina, Herrn Privatdozent 
Dr. N. Fedorov und Herrn stud. Gussev bin ich zn tiefstem 
Dank verpflichtet. 


1) Thea Gramer, Über die Beziehang des Zwischenmedioms za deo 
Tramsformations- ond Kontrastserscheinangen. Zeitschr. f. Sinnesphysiologie, 
1928, Bd. 64. 

2) W. KOhler, Optische Untersachongen am Schimpansen and am 
Hanshnhn. Abhandl. d. k. preodischen Akad. d. Wissenschaften. Phys.-Math. 
Kl., 1916, Nr. 8. 

Eingegangen am 18. Febrnar 1924. 


Archiv ffir Psychologie. XLVUi. 


6 



[Ans dem Psychologischen Institnt der Uniyersität Kiel.] 

Bechterews Theorie der Eonzentrienmg. 

Eine kritisohe Stndie 

als Beitrag zni Analyse des Anhnerksamkeits-Problems. 

Von 

Bmno Petermann. 

Das psychologische Denken W. von Bechterews ist ein emi¬ 
nent systematisches. Es l&ßt sich in seinen Wnrzeln Tollständig 
erfassen von zwei axiomatischen Prinzipien ans. 

Das erste Axiom gibt eine methodologische Bestimmung 
der Psychologie: Wahrhaft wissenschaftliche Psychologie mnß 
verzichten anf die gmndsätzlich wertlose, introspektiv-snbjek- 
tivistische Beobachtnng nnd kann sich allein gründen anf objek¬ 
tivistische Verfahren. Wenn es fiberhanpt wissenschaftliche 
Psychologie geben kann, so nnr eine objektive Psychologie, 
eine Biologie der Nenropsyche. 

Das zweite Axiom gibt eine inhaltliche Bestimmnng 
dieser Psychologie: Das nenropsychische Leben, objektiv be¬ 
trachtet, ist zn fassen als ein Beflexgeschehen komplizierter Art, 
als ein System von isolierten Psychoreflexen in assoziativem 
Znsammenhang, nach dem Schema des einfachen Assoziations¬ 
reflexes. Objektive Psychologie ist Psychoreflexologie. 

In diesem Bahmen entwickelt sich eine geschlossen syste¬ 
matische Theorie des neuropsychischen Oesamtgeschehens, die 
sowohl in der Eigenart ihrer prinzipiellen Orientierung wie in 
der meist gewahrten Strenge und Folgerichtigkeit der konkreten 
Entwicklung bemerkenswert ist. 

Wir wollen versuchen, die Auswirkungen der Bechterewschen 
Position speziell in seiner Theorie der Konzentrierung zu ver¬ 
folgen, zur kritischen Beurteilung ihrer Tragfähigkeit aus der 
Behandlung dieser Spezialfrage heraus. 

1. Die Merkzeichen des Eonzentrierungsphänomens 
reduzieren sich für Bechterew im Gefolge seiner objektivisti¬ 
schen Auffassung notwendig in charakteristischer Weise: 



Bruno Petermann, Bechterews Theorie der Konzentrierung. 83 


Für die äußere Eonzentriemng ist im Grunde danach nichts 
weiter kennzeichnend als die »Anpassung der perzipierenden 
Organe an die Reizquelle«, also das Einstellen der Augen, das 
Ohrenspitzen; die innere Eonzentrierung ist »durch möglichste 
Beseitigung aller äußeren Einwirkungen und Hemmung aller 
Bewegungen« charakterisiert. 

Wir bemerken sofort, daß diese Bestimmungen der Eonzen- 
triemngsphänomene jedenfalls nicht das treffen, was man üblicher¬ 
weise unter Eonzentrierung oder Aufmerksamkeit versteht 

Es braucht nur erinnert zu werden an die Tatsache, daß 
sehr wohl etwas Gegenstand der AuMerksamkeit sein kann, 
ohne daß man die Augen direkt darauf richtet, daß man »be¬ 
achten« kann, ohne zu »fixieren«. Es braucht nur darauf hin¬ 
gewiesen zu werden, wie gerade die »innere« Arbeit bei manchem 
u. U. dadurch gefördert wird, daß er etwa in dem Arbeitszimmer 
nmhergeht, ja daß gerade bei intensivster Arbeit man aufspringt 
und im ümhergehen die Gedanken besonders leicht Gestalt an¬ 
nehmen sieht 

Die von Bechterew angeführten objektiven Merkmale er¬ 
schöpfen somit nicht den ganzen Bereich der Tatsachen, die ge¬ 
meint sind, sie heben vielmehr nur einen Teil heraus. 

2. Festgehalten werden soll in der Tat aber auch in der 
Bechterewschen Umschreibung der Merkzeichen des Aufmerk¬ 
samkeitsphänomens eigentlich etwas anderes: ein »Gerichtetsein 
der Neuropsyche« auf den Reiz. 

Dies Gerichtetsein ist es, welches in der objektiven 
»Einstellung« der Organe bei äußeren Reizen erfaßt ge¬ 
dacht wird. Dies ist auch das eigentliche Prinzip, welches die 
Unterscheidung zwischen der äußeren und inneren Eonzentriemng 
begründet, wenn man die innere Eonzentriemng dadurch kenn¬ 
zeichnet, daß sie sich »auf Spuren (= innere Erregungen) 
richtet«. • 

Es erhebt sich die Frage, ob und in welchem Sinne mit 
dieser Formulierung eine zureichende Bestimmung des Phänomens 
geleistet ist, genauer, welchen Sinn zunächst diese Formel von 
der Gerichtetheit besitzt 

Um die Bahn zu einer umfassenderen als der zunächst auch 
uns hier vorgeschriebmien rein objektivistischen Betrachtung frei 
zu machen, heben wir bereits an dieser Stelle zur grundsätz¬ 
lichen Stellungnahme gegenüber Bechterew eins heraus: 

Einstellen, beachten kann man nur etwas, was man schon 
irgendwie »hat«: Die Einstellung muß notwendig innerhalb des 

6 * 



84 Brnno Petermann, 

Gegebenen bestinunt werden. Inhalt unsrer Gegebenheit sind 
aber allein die bewußten Eindrhcke (bezw. — beim Sachen eines 
noch nicht direkt Gehabten — ebenso erlebte reproduktive 
Wissenszusammenhänge), niemals aber die Reize. 

Nur von den Wahmehmungsgegenständen, den Seh* und Tast> 
dingen aus, nicht aber von den Reizen kann der Sinn dessen, 
was wir mit dem Wort >Einstellang« meinen, aufgeklärt und 
verstanden werden — ein Schlüssel für viele Mißverständnisse. 

Wenn Bechterew im Gefolge seiner objektivistischen Prin¬ 
zipien sich ausschließlich am Reiz orientiert, der seinerseits 
wieder nur als theoretisch-abgeleitete Abstraktion, nicht aber 
als einzige oder absolute Realität aufgefaßt werden darf, so 
scheint uns darin nur ein grundsätzlicher Mangel seiner Gesamt¬ 
betrachtungsweise charakterisiert, der sich allein aus einer nicht 
genügend konsequenten erkenntnistheoretisch - philosophischen 
Durchdenkung der Voraussetzungen unsres >objektiven< Welt¬ 
bildes erklärt. 

Wir wagen es demnach, auf die Analyse der erlebnismäßigen 
Seite Bezug zu nehmen, um so mehr, als diese Betrachtung 
wiederum auf immanente Kritik zurückführt, indem sich zeigt, 
wie der objektive Befand selbst, so wie er dem Objektivisten 
auch vorliegt, in seiner Geschlossenheit und Einheitlichkeit erst 
dann sich enthüllt, wenn man ihn, wissentlich oder unwissentlich, 
mit den Ergebnissen der Introspektion im Zusammenhang sieht. 

Dieser Zusammenhang wird deutlich bei der Erörterung der 
weiteren Fragen, die sich anschließen an die Formnlierang 
Bechterews von der Konzentrierung als eines Zustandes des 
»Sich-richtens auf etwas c. 

3. In jener Formulierung kommt ein Moment zum Ausdruck, 
welches auch in subjektivistischen Theorien der Aufmerksamkeit 
oft eine zentrale Bedeutung besitz^: Für die Eigenart der Auf¬ 
merksamkeit ist danach bezeichnend ein intentionaler 
Charakter; sie wird als Erlebensform einer spezifischen Ich- 
Gegenstands-Beziehung angesehen. 

Es lohnt sich, hier eine genauere Analyse anzuschließen, 
welche diese Beziehung aufklärt 

Die auf Grund dieser Beziehung erfolgende Abgrenzung der 
Aufmerksamkeit als eines besonderen seelischen Phänomens gegen¬ 
über anderen leitet sich her von solchen Fällen, in denen uns 
eine charakteristische »Einstellung« auf einen bestimmten Gegen¬ 
stand als solche zum Bewußtsein kommt. 



Bechterews Theorie der Konzentrierung. 


85 


Dies BewoBtwerden jener Beziehung des >Ich< zum >Gegen- 
Stande der Aufmerksamkeit ist in diesen Fällen typisch gebunden 
an die Einordnung des eigenen Körpers, wie wir ihn erlebens¬ 
mäßig auffassen, in den Baumzusammenhang der Wahmehmungs- 
umwelt, und an die abstraktive Heraushebung einer Bezogenheit 
dieser Körperlichkeit auf die Wahmehmungswelt. Als Grundlage 
dafür, daß diese Bezogenheit als ein Gerichtetsein, als ein ge¬ 
spanntes Hinwenden aufgefaßt wird, müssen insbesondere die 
Spannungsempfindungen der Organe angesehen werden. 
Das Körperbewußtsein ist Ausgang für jene Ich-Bezogenheit. 
(Dabei stellt sich uns aber in diesem Zusammenhang auch die 
Objektsbezogenheit durchaus in immanenter Kennzeichnung dar, 
und es muß nur gewarnt werden vor einer etwa metaphysisch¬ 
realistischen Auffassung dessen, was mit dem Wort Gegenstand 
gemeint ist. Es ist jedenfalls möglich, dies Wort auch vom 
bewußtseins-immanenten Standpunkt ans zu fassen.) 

Von den prägnantesten Fällen her erhält dann der Begriff 
der Aufmerksamkeit eine Erweiterung auch auf solche Fälle, 
in denen diese oben hervorgehobenen Körpermomente nicht be¬ 
wußt sind, in denen sie nicht da sind. 

Es ist die Frage, ob man in diesen Fällen den Aufmerksam¬ 
keitszustand als ein Gerichtetsein kennzeichnen darf bezw. in 
welchem Sinne man das darf. Es ist gut, wenn man sich darüber 
hinaus bewußt bleibt, daß jene abstrakten Beziehungen bezw. 
ihre eindrucksmäßigen Grundlagen (Spannungsempfindnngen) nicht 
mit zum Phänomen der Aufmerksamkeit gerechnet zu werden 
pflegen, vielmehr als Begleiterscheinungen angesehen werden. 

Muß man da nicht am Ende versuchen, den Begriff »neutraler« 
zu fassen? 

4. Den Zugang für eine Formulierung der fraglichen Um¬ 
stände gewinnt man vielleicht am einfachsten, wenn man sich 
klar macht, wie man die verschiedenen, sukzessive variierenden, 
konkreten Aufmerksamkeitsznstände in ihrem Wechsel unter¬ 
scheiden kann bezw. unterscheidet 

In jedem >Querschnitt« unsres Lebensablanfs haben wir im 
Erleben jeweils ein Ganzes von Inhalten vorstellungsmäßig¬ 
qualitativer, gedanklicher, affektiver Art. All das wird letztlich 
irgend wie vorgefunden in seiner Mannigfaltigkeit, wenn auch 
die Einzelmomente in abstraktiver Heraushebung erst im Augen¬ 
blick einer psychologischen Einstellung »bewußt«, d. h. in be¬ 
grifflich klarer Weise voneinander als differente Inhaltsformen 
unterschieden werden, und es stellt sich dar als eine Ganzheit, 



86 


Bruno Petermann, 


sofern jene Mannigfaltigkeit als eine geoi'dnete, in sich einheit¬ 
liche erscheint und sofern eine Isoliemng Yon Teilinhalten erst 
durch solche abstraktive Heranshebnng verwirklicht wird. 

Der Begriff der Anfmerksamkeit kann in diesem Zusammen¬ 
hang, wenn man sich einmal völlig frei macht von aller ver¬ 
mögenspsychologischen Betrachtung, lediglich seine Bestimmung 
finden ans der Eigenart dieser Gegebenheit. 

Daß dabei jede Ichbezogenheit fehlen kann, ja daß diese 
eventuell geradezu schädlich, störend wirken kann, ist eine nicht 
seltene Erfahrung. 

Wie ist die Konzentrierung zu kennzeichnen? 

Ein Beispiel: Ich sitze am Schreibtisch, eine Arbeit vor mir; 
eine glückliche Stunde. Die Gedanken strömen zu, kaum kann 
die Feder die Worte so rasch formen. Ganz fern von aller 
Umwelt entwickelt sich die innere geistige Welt völlig in sich 
geschlossen. Nichts wird >bemerkt<, was von außen ablenkend 
wirken könnte, der Straßenlänn, das Läuten der Türglocke, das 
Elavierspiel eines Hausbewohners über mir; ich habe das alles, 
es ist »auch da«, aber es wird eben nicht beachtet —, ein Bild 
höchster »Konzentrierung«. 

Allein, eigentlich liegt doch keine Konzentrierung im 
prägnanten Sinne des Wortes vor: da ist nicht etwas, was sich 
konzentriert, eine Konzentrierung, die sich richtet, sondern es 
liegt lediglich ein Gesamtznstand vor, der in der phänomeno¬ 
logischen Stmkturbeziehung seiner Momente typische Eigenart 
aufweist Diese Eigenart eben gilt es zu kennzeichnen. 

Sachlich zutreffend kann man allgemein vielleicht von einer 
spezifischen Zentriertheit des seelischen Geschehens sprechen, 
besser als von einer Konzentriertheit des Individuums. 

Das für die nähere Bezeichnung dieser Zentriertheit des 
Bewußtseinsznsammenhangs wohl brauchbare Bild von einem 
»Bewußtseinsrelief« weist hin auf den formalen Charakter 
dieses Bestimmungsmomentes der konkreten Aufmerksamkeits¬ 
zustände; es hebt zugleich ein anderes hervor: daß nämlich nie¬ 
mals Aufmerksamkeit sich auf einen bestimmten Gegenstand 
richtet, daß vielmehr allein eine formale Kennzeichnung möglich 
ist, in Hinblick auf die Art, wie der Gegenstand, d. h. der Be¬ 
wußtseinsinhalt (Vorstellungsgegenstand) im Vergleich mit anderem, 
gleichzeitig Gehabtem gegeben ist 

Wir glauben: der momentane Aufmerksamkeitszustand als 
individueller ist aUein zu kennzeichnen auf Grund einer solchen 
formalen Bestimmtheit im Gesamtbilde des momentan überhaupt 



Bechterews Theorie der Konzentrierung. 


87 


yorstellnngsmftfiig gedanklich Gehabten; und nmgekehrt, die 
Fixiemng der formalen Bestimmtheit im jeweiligen Augenblick 
ist ansreichend znr Charakterisierung dieses jetzt daseienden 
Anfmerksamkeitsznstandes — im Gegensatz zu anderen Anf- 
merksamkeitseinstellnngen >gegenflber« dem >gleichen< gegen¬ 
ständlich Gehabten. 

5. Diese Kennzeichnung des Anfmerksamkeitsznstandes ans 
einer formalen Bestimmtheit bedingt einen prinzipiellen Gegen¬ 
satz gegenüber Bechterew. 

Für Bechterew ist jeder. Eonzentriernn’gsakt — als 
bestimmter Einzelreflex unter yielen gleichartigen anderen — 
gleichberechtigt mit jenen und von ihnen allen grundsätzlich in 
seinem Bestände unabhängig zu denken; er wird (in bezug auf 
sein So-sein) als inhaltlich bestimmter Sonderprozeß von 
irgendwie in sich bestimmt gedachter Eigenstruktnr anfgefaßt. 

Von dem skizzierten formalistischen Standpunkt ans kann 
man jene Gleichberechtigung nicht anerkennen. Denn eine 
>reale< Isolierbarkeit, wie sie bei Bechterew mitgedacht 
wird, kann es fflr diese angeblichen >Elementarreflexe< nicht 
geben; die Eigenart des jeweiligen Eonzentriemngsvorganges 
wird Ton den formalen Beziehungen inhaltlich bestimmter, quali¬ 
tativer Prozesse her abgeleitet. 

Bei Bechterew Anden wir eine t 3 rpische atomistische Auf¬ 
fassung, und zwar ist diese Auffassung notwendig mit seiner 
ganzen Gmndeinstellung verbunden. 

Es ist die Frage, ob man damit anskommt, ob man nicht, 
schon vom rein objektivistischen Standpunkt aus, noch anders 
Vorgehen muß. 

In der Tat bestätigt sich gerade an dem Phänomen der >Ein- 
stellung«, wie es objektiv sich darstellt. Wir verzichten darauf, 
dies an einem konkreten Fall zu exempliflzieren, da ein sehr 
passendes Beispiel, ähnlich dem, das wir zunächst planten, sich 
— in etwas anderem Zusammenhang allerdings — bei Eof fka, 
in seiner Polemik gegen den Behaviorismus, flndet.^) 

Wir stimmen im Anschluß an jenes Beispiel mit Eof fka 
hberein darin, daß eine Möglichkeit, ein objektives (Gesamt-) 
Verhalten des Tieres wissenschaftlich zu verstehen, allein dann 
vorliegt, wenn man, über die einfache Aufzählung der einzelnen 
»Ehnstellungsbewegnngen« (Ohrenspitzen, Augenrichten, Mnskel- 


1) Man lese nach bei Eof fka, Grandlagen der psychischen Entwicklang 
1921 8.14. 



88 


Bruno Petermann, 


spannen, Körperhaltung, Atmung, Pnls nsw.) hinaus, eine zusammen- 
fassende Betrachtung ansetzt, die jene Einzelzustände als Aus¬ 
druck einer Gesamthaltnng versteht. — Daraus ziehen wir aller¬ 
dings an sich noch nicht jene weittragenden Folgerungen, die 
Koffka hier ableitet; wir halten den Behaviorismus damit noch 
nicht unmittelbar für Überwunden. Für den Bechterewschen 
Standpunkt scheint uns die eigentliche Schwäche vielmehr darin 
zu liegen, daß unter reflexologischer Betrachtung ausschließlich 
eine atomistisch-synthetische Darstellung möglich ist, während 
die objektivistische Analyse, von den Tatsachen ans, zu einem 
anderen Standpunkt führt; wir sehen hier einen Widerstreit 
zwischen den beiden Leitmotiven Bechterewschen Denkens. 

6. Wir wollen den eigentlichen Gehalt dieser Schwierigkeit 
genauer verfolgen an dem theoretischen Zusammenhang, in dem 
die Konzentrierung als Prozeß sich bei Bechterew darstellt, 
in einer Analyse des Reflexzusammenhangs. 

Auch hier ist typisch die Reduktion auf einen Elementar¬ 
vorgang, den einfachen Reflex als Ablauf. 

Bechterews Auffassung der Konzentrierung als Psychoreflex 
bedingt es, daß die Konzentrierungsvorgänge mit Notwendigkeit 
in charakteristischer Weise isoliert und damit zugleich ver¬ 
gegenständlicht werden. 

Denn Reflexe sind für Bechterew, als singuläre, für sich 
bestehende und in sich abgeschlossene Einheiten, Elementar¬ 
prozesse, aus denen sich das Gesamtgeschehen in synthetischer 
Weise aufbaut 

Eis ist die Frage, ob dieser ganz traditionell gefaßte gegen¬ 
ständliche Reflexbegriff eine mögliche Grundlage für 
die Untersuchung geben kann bezw. geben darf. 

a) Eis ist sehr einfach zu sagen, der Reflex sei ein ge¬ 
schlossener Abl&uf, gekennzeichnet durch die drei aufein¬ 
anderfolgenden einfachen und eine Einheit bildenden Teilprozesse 
der zentripetalen Leitung, der Erregung in den Zellen der Zentral¬ 
organe und der zentrifugalen Leitung. Indessen, wir wissen 
aus der neurologischen-physiologischen Untersuchung, daß selbst 
der allereinfachste Reflex, als funktionelles System betrachtet, 
sich in eine unübersehbar komplizierte Mannigfaltigkeit von 
Prozessen auflöst, die sich in verwickeltster Weise in den Gesamt¬ 
zusammenhang des physiologischen Geschehens einordnen, derart, 
daß von dem Inhalt des Reflexschemas eigentlich nichts übrig 
bleibt als eben ein grob äußerliches Schema, das bereits für den 
biologisch-physiologischen Standpunkt anfängt, eine Verfälschung 



Bechterews Theorie der Eonzentriening. 


89 


des Tatsächlichen darznstellen: Es ist im »Reflexe-Geschehen 
eben mehr darin als jene Zweigliedrigkeit »Reiz-Reaktion«, die 
zunächst allein zutage tritt. 

b) Die Anwendung des »Reflexschemas« auf Einzelprozesse, 
speziell auf die Eonzentrierungsvorgänge, setzt voraus, daß in 
Durchfflhmng des reflexologischen Prinzips das Gesamtgeschehen 
sich anflösen läßt in einen Zusammenhang, ein Gewebe kon¬ 
kreter sukzessiver isolierbarer Teilgeschehensabläufe, 
welche jeder für sich jene polare Zweigliedrigkeit Reiz- 
Reaktion und jene innerlich geschlossene Gliedbezogenheit 
besitzen, die für den Begriff des Reflexes generell kennzeichnend 
sind. 

Es ist die Frage, ob eine solche Auflösung konkret durch¬ 
führbar ist. Wenn die »Elementargebilde« nicht elementarer, 
d. h. abgeschlossener Art sind, so scheint es möglich, daß 
Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Reflex Zusammen¬ 
hänge im einzelnen entstehen können. 

Wir stellen allgemein dazu nur fest, daß die Abgrenzung 
und Zuordnung derartig zusammengehöriger Beziehungspaare 
sicher nicht restlos durchführbar ist, da der postulierte Zusammen¬ 
hang der Glieder nicht verfolgbar in angebbarer Weise 
anfgezeigt werden kann. (Dabei ist noch abgesehen von der Tat¬ 
sache eines »unterirdischen« Verschwindens der Reizwirknngen 
und eines scheinbar irgendwie spontan, d. h. ohne speziflsche 
äußere Auslösung einsetzenden Geschehens, da Bechterew auf 
andere Weise, durch seinen Spurbegriff, diese Erscheinungen in 
den Reflexznsammenhang einzugliedem versucht, obgleich sie 
unmittelbar eine direkte Durchbrechung des Reflexprinzips dar¬ 
stellen.) 

Wir weisen im Zusammenhang damit an dieser Stelle grund¬ 
sätzlich darauf hin, daß die Begiifisbildungen der Psychologie 
wie jeder Wissenschaft eben Begriffsbildnngen und zunächst 
nicht mehr sind, daß es sich stets um abstrakte Heranshebung 
und Relationsanffassnng handelt. Nie darf man den isolierten 
Gmndgebilden, wie sie insbesondere das vorwissenschaftlich 
psychologische Denken abgrenzt und wie sie die wissenschaft¬ 
liche Betrachtung vorflndet und ihrerseits als ersten termino¬ 
logischen Ausgangspunkt benutzen muß, irgendeine substanzielle 
Bedeutung beimessen. Wir stehen hier in einem Prozeß der 
Begri&bildnng, der seine Auswahlprinzipien herleitet einmal 
ans der empirischen Wirklichkeit des bestimmten Tatsachen¬ 
bereichs und zum anderen aus den inneren denkökonomischen 



90 


Brono Petermann, 


Gesichtspunkten jeder wissenschaftlichen Begrifkbildnng über¬ 
haupt 

Diese Feststellung wird uns wichtig bei der weiteren Analyse; 
sie wird uns bei der Gesamtauffassnng unseres Problems die 
nötige Freiheit geben. 

7. Mit der skizzierten formalistischen Charakterisierung halten 
wir die Aufmerksamkeitsprozesse keineswegs für erschöpfend dar¬ 
gestellt Sie ist hinreichend, die Verschiedenheiten im Wechsel 
und in der Mannigfaltigkeit der Aufmerksamkeitsznst&nde unter 
sich zu bestimmen, nicht aber, diese in ihrer Eigenart gegenüber 
den übrigen seelischen Erscheinungen zu umschreiben. 

Wir heben vielmehr noch eines heraus, was uns als wichtige 
Besonderheit der Eonzentriemngserlebnisses erscheint, eine eigen¬ 
tümliche Aktualität, besser Aktualisiertheit als Kennzeichen des 
gesamten psychophysischen Zustandes. 

In prägnanten Fällen der Konzentrierung zeigt sich deutlich 
im Erleben ein bestimmtes »inneres Drängen«, eine seltsame 
Erregung. Sie äußert sich am auffallendsten, wenn man, etwa 
nach abgeschlossener Arbeit, sich anderen Dingen znwendet, 
diesen dann mit merkwürdiger Gehobenheit, Leichtigkeit, Be- 
schwingtheit gegenübersteht. 

Ebenso wie etwa der Spannnngszustand eines Mnskels, der 
Tonus, sich deutlich offenbart in einer nachträglichen Wirksam¬ 
keit — man denke an den bekannten Demonstrationsversuch —, 
ebenso tritt jene Aktualisiertheit des Gesamtorganismus hier an 
den Nachwirkungen zutage. 

Diese Aktualisiertheit enthüllt sich als wesentliche Seite der 
Konzentrierung, wenn man Zustände betrachtet, in denen, wie 
man zu sagen pflegt, Aufmerksamkeit noch fehlt, Zustände des 
Hindämmems, des Noch-Nicht-Wachseins, wie sie etwa auch 
Dürkheim oben beschreibt, Zustände, welche in der Muskel¬ 
physiologie dem völligen Abspannen des Mnskels, der maximalen 
Herabsetzung des Tonus entsprechen würden. 

Hier wird der subjektiven Beobachtung eine affektive Seite 
im Konzentrierungsverhalten klar, deren Zusammenhang mit den 
Konzentriemngsvorgängen näher zu bestimmen ist 

Jedenfalls darf das, was wir meinen, nicht identifiziert werden 
mit den daneben unter Umständen auch wohl beobachtbaren Span- 
nnngsempfindnngen, also vorstellnngsmäßigen Inhalten. Vielmehr 
handelt es sich um echte affektive Prozesse. Und diese dürfen 
nicht als akzidentell angesehen werden, sondern sie müssen für 
den Anfmerksamkeitsprozeß als solchen wesentlich gelten. 



Bechterews Theorie der Koncentrienuig. 


91 


Eine affektive Seite ist jedenfaUs in jedem Konzentrienmgs* 
Vorgänge nachweisbar, wie insbesondere gerade die objektive 
Methode (plethysmonogi'aphische nnd pnenmographische Analyse) 
dartnt. Es kann wohl nach den üntersnchnngen von Martins 
nnd von Snter nnd den Nachprüfnngen dieser letzten Arbeit 
dnrch Bösler*) als gesichert gelten, daß spezifische Differen- 
ziemngen speziell der Atmnng bei jedem Anfmerksamkeits* oder 
Anffassnngsvorgang eintreten, die ihrerseits für den Anfmerk- 
samkeits- oder Anffassnngsvorgang eintreten, die ihrerseits für 
den Anfmerksamkeitsznstand charakteristisch sind, diesen als 
einen affektiven erkennen lassen. 

Dabei scheint es denkökonomisch nnzweckm&ßig, diese affek* 
tiven Ablänfe, die wir als seelisch körperliches Gesamt* 
geschehen spezifischer Art anffassen, von einem nnabhängig 
davon gedachten >eigentlichen< Anfmerksamkeitsprozeß zn iso¬ 
lieren. Denn damit gibt man die geschlossene Einheitlichkeit 
der Darstellnng anf, die möglich wird, sobald man vielmehr 
positiv die Aufmerksamkeit als Ausdruck der prim&ren 
Affektivit&t faßt. 

8. Gegenüber den Bechterewschen Aufstellungen 
würde in diesem Zusammenhang sich uns wiederum eine Er¬ 
weiterung ergeben. 

Die »sonstigen körperlichen Beaktionen«, die bei Bechterew 
deshalb zurücktreten, weil sie scheinbar nicht »Beaktionen« im 
Sinne von Handlungen sind, gehören für eine so verstandene 
affektivistische Auffassung wesentlich mit zum Gesamtbilde des 
EonzentriemngsphSnomens. Denn sie sind nichts anderes als 
eine Seite des gesamten seelisch-körperlichen Affektznstandes, 
dessen Verlauf uns im Eonzentrierungsvorgang gegeben ist; sie 
gehören somit notwendig zn einer Analyse der Aufmerksamkeit 
nach objektiven Methoden. Sie sind aber in dieser ihrer typischen 
Bedeutung erst bei einer entsprechend umfassenderen, allgemein 
psychophysisch eingestellten Betrachtung deutlich. 

Wir stellen fest: die Auffassung des objektiven Befundes ist 
in entschiedenem Maße abhängig von der Gesamtanffassung. 

Wenn wir nun aber bemerken, daß die »objektivistische« 
Einstellnng ihrerseits eben auch nichts anderes ist als der Aus¬ 
druck einer spezifischen AUgemeinauffassnng, so wird damit 

1) Vgl. Martins, Über die Lehre von der Beemflnssnng des Pulses 
and der Atmung durch psychische Beize, in Beiträgen zur Psychologie und 
Philosophie herausg. Ton G. Martins, Leipzig 1905; Suter, Dieses Archiy 
Bd. 26 S. 78ff.; Rösler, Zeitschrift fttr Psychologie Bd. 67 S. 820. 



92 


Brruio Petermanii, 


(ganz abgesehen von den inhaltlich sachlichen Differenzen in der 
Anffassnng des vorliegenden Einzelproblems) im Hinblick auf 
methodologische Wirkungen der exzeptionelle Charakter illu¬ 
sorisch, den der Objektivismus als Methode beansprucht 

Eine Verabsolutierung der objektivistischen Methode in der 
Psychologie findet hier ihr Urteil; eine wahrhaft allgemeine 
Psychologie ist nur möglich im Bahmen umfassender und all- 
seitiger Betrachtung des psychophysischen Gesamtgeschehens 
im ganzen. 

9. Trotz dieser ganz anders gearteten und abzulehnenden 
Auffassung in Bechterews Theorie ist bei ihm der eben von 
uns hervorgehobene Erscheinnngsbereieh in seiner Bedeutung 
für die Untersuchung der Konzentrierung ebenfalls richtig ge¬ 
sehen, insofern Bechterew ganz präzis die Konzentrierung im 
engsten Zusammenhang mit den >inneren Reizen< untersucht, 
welche die »Organpersönlichkeit« ausmachen und als »allgemeiner 
neuropsychischer Ton« gekennzeichnet sind. 

Dennoch aber ordnet sich der Gesamtkomplex der Tatsachen 
uns völlig anders alsBechterew, infolge einer gewissen Frei¬ 
heit gegenüber Voraussetzungen, die tatsächlich Vorurteile sind. 

Die Schwierigkeit jener Voraussetzung wird deutlich an der 
Dunkelheit und Verworrenheit bezw. inhaltlichen Unbestimmtheit 
der Angaben, zu denen man durch sie in bezug auf konkrete 
Einzelvorgänge gelangt. 

Die reflexologische Theorie vermag in der Tat nicht an¬ 
zugeben, was objektiv im jeweils gegenwärtigen Augenblick an 
dem daran ist, was sie persönliche Sphäre, allgemeinen neuro¬ 
psychischen Ton nennt. Sie begnügt sich, die Objektivität 
dadurch zu retten, daß sie eben von inneren Beizen, also 
körperlich-physiologischen Erregungsprozessen spricht; sie ver¬ 
gißt aber, daß sie von diesen Beizen tatsächlich gar nichts weiß; 
daß also dabei eigentlich jede konkrete Bestimmtheit ver¬ 
loren geht. Gerade hier wird das schon oben hervorgehobene 
logische Verhältnis zwischen »Beiz« und »psychischer Gegeben¬ 
heit« sehr deutlich: das Psychische ist in sich unmittelbar ge¬ 
geben, der Beiz wird seinem Begriff nach erst rückwärts in der 
auf jenes Gegebene sich gründenden Entwicklung unserer theo¬ 
retisch beziehlichen Begriffsbildung bestimmt, als ein notwendig 
Hinzuzudenkendes, aber immerhin als ein zu Denkendes, nicht 
»Vorgefundenes«. 

Wenn schon in sich nicht klar und bestimmt dargetan 
werden kann, was mit dem »allgemeinen Ton« objektiv jeweils 



Bechterews Theorie der Konsentriernng. 


93 


im konkreten gemeint ist, so erheben sich erst recht Schwierig¬ 
keiten, wenn man nachprfift, ob denn nun in dem vorliegenden 
theoretischen Zusammenhang der zn erklärende Eonzentrienmgs- 
befnnd wirklich verstanden, wirklich erklärt werden kann. 

Das generelle Prinzip, nach dem sich im Zusammenhang der 
reflexologischen Theorie eine solche »Erklärung« vollzieht, das 
Schema der assoziativ-reproduktiven Spurenbelebung, 
ist bei allgemeiner Betrachtung zunächst anscheinend sehi'klar; 
allein schon bei einer näheren Analyse des allgemeinen Zu¬ 
sammenhangs, noch mehr aber bei genauerer Prüfung am kon¬ 
kreten Fall im einzelnen wird in Wahrheit die Tragfähigkeit 
desselben in Frage gestellt 

a) Im Begriff derSpnr liegen zweierlei prinzipielle Vor- 
anssetzungen: Die Spur wird gefaßt als ein »elementares«, 
d. h. für sich bestehendes, in sich geschlossenes, atomartiges Ge¬ 
bilde, und genauer als ein strukturiertes, geformtes und insofern 
> individualisiertes«, d. h. irgendwie mit gegenständlichem 
Charakter versehenes Gebilde. Beides steht in engstem Zu¬ 
sammenhang mit der Funktion, welche der Spurbegriff in der 
Psychoreflexologie zu erfüllen hat: er ist Ansatzpunkt oder 
Element in dem Beflexsystem, und zwar im Sinne einer Stell¬ 
vertretung des Eeizmäßig-Gegenständlichen (so wie es Bech¬ 
terew im realistischen Sinne denkt). 

Der physiologische Elementarcharakter der Spuren 
ergibt sich notwendig aus der Einstellung gegenüber der Auf¬ 
gabe einer Theoriebildung, der Einstellung auf synthetische 
Systematisierung. 

Der gegenständliche Charakter der Spuren liegt in 
der Beziehung der Spuren zu den sie erzeugenden Reizen be¬ 
gründet, die in gewissem Sinne bei Bechterew trotz aller 
Eantelen doch als Abbildungsrelation angesprochen werden muß. 
(Er spricht geradezu gelegentlich von einer prinzipiellen Ȁhn 
lichkeit« zwischen Spuren und Reizen.) 

Für die Beurteilung dieser Auffassung ergeben sich uns die¬ 
selben Gesichtspunkte als maßgebend, die wir bei der Analyse 
des Reflexbegriffes oben bereits angeführt haben. Ans denselben 
Gründen wie dort ist eine Revision des Spurbegiiffes zn fordern. 

b) Abgesehen davon, daß in dieser Weise die Bestimmung 
der Elemente methodisch nicht hinreicht, zeigt sich weiter auch 
die Auffassung vom Zusammenhang dieser Elemente 
unzulänglich begründet, wenn man konsequent die objektivistische 
Auffassung festhalten will. 



94 


Brono Petermann, 


Denn: Da das Assoziationsprinzip seinen eigentlichen Boden 
zunächst findet in einer Gesetzlichkeitsbetrachtnng des sah* 
jektiv-psychisch Gegebenen, so wird eigentlich durch die 
Übernahme dieses Prinzips der objektivistische Standpunkt auf¬ 
gegeben; die Herfibemahme des Prinzips der subjektiven Psycho¬ 
logie in die objektivistische Betrachtung schaltet die snbjek- 
tivistische Begründung bezw. Gmndanffassnng dieses Prinzips 
nicht ans. Und dieses Verlassen des rein objektivistischen Stand¬ 
punktes wird um so kritischer zu beurteilen sein, als durch den 
Fortschritt der Untersuchungen mehr und mehr das Assoziations¬ 
prinzip sich selbst innerhalb der subjektivistischen Psychologie 
answeist nicht als ein letztes Grundprinzip alles Seelenlebens, 
sondern als ein Scheinprinzip von nur sekundärer, abgeleiteter 
Bedeutung.*) 

Die Begrftudung der refiexologischen Theorie kann somit 
nicht als hinreichend umfassend gelten. 

Noch weniger befriedigend aber erweist sie sich, wenn ein¬ 
mal in scharf logischer Zergliederung sich die Frage nach dem 
Erkenntnisort der hier zum Ausdruck kommenden atomistisch- 
synthetischen Betrachtungsweise beantwortet. 

Wir stellen fest: diese Theorie leistet nicht das, was eine 
Theorie leisten soll. 

Weder vermag sie eine Differentialcharakteristik des be¬ 
trachteten Phänomens zu geben — alles ist ja Refiex, und Reflexe 
sind sämtlich von gleicher Art — noch vermag sie positiv aus 
dem Zusammenhang reproduktiv-assoziativer Art, der den Ge¬ 
samtablauf adäquat darstellen soll, im konkreten, das wirkliche 
Bild des seelischen Lebens >erklärend< abznleiten. Sie leitet 
in der That nicht »ab«, sondern sie konstruiert »hinzu«; es 
bleibt letztlich völlig dunkel, wie denn nun ein spezieller Reiz 
es anfängt, daß diese und nur diese Spuren bezw. Spurenketten 
angeregt werden; umgekehrt eigentlich, es ist keineswegs ein¬ 
sichtig, woher man weiß, daß bei der Aktualisierung einer be¬ 
stimmten Reaktion gerade jene nun angenommenen Spuren ma߬ 
gebend waren, denn das Wort: Assoziation kennzeichnet zwar 
die Art des Zusammenhangs, den man zwischen jenen Gliedern 
annimmt, nicht aber ist man hinreichend in der Lage, nun im 
einzelnen die tatsächlichen Zwischenglieder irgendwie aus 
anderen Gesichtspunkten herauszufinden als aus rein konstruk- 


1) Vg:!. Wittmann, DerAafbao der seelisch-körperlichen Funktionen 
(besonders Vortrag 1) 1922. 



Bechterews Theorie der Konzentrierung. 


95 


tiven, man hat als Ansgangspnnkt in Wirklichkeit stets nur die 
Reaktion; und eigentlich selektive Prinzipien, die den tatsächlichen 
Ablanf von hier ans der Mannigfaltigkeit der möglichen Abläufe 
heransheben, fehlen völlig. 

Das Prinzip des psychoreflexologischen assoziativen Zusammen¬ 
hangs, das als Ausdruck eines eigentlich wesenhaften, eines ob¬ 
jektiv realen Zusammenhangs angesehen wird, ist in Wahrheit 
nicht eigentlich Inhalt, sondern Voraussetzung jedes 
theoretischen Zusammenhangs; es ist das Prinzip, das der Kon¬ 
struktion zugrunde liegt und das den einzigen Anlaß gibt, nun 
im bestimmten Fall zur »Erklärung« des vorliegenden Zustandes 
(der vorliegenden Reaktion) etwa gerade diese und diese Spuren 
bezw. Spnrenzusammenhänge anznsetzen — im Rückgang stets 
vom tatsächlich Erlebten bezw. Geäußerten. 

Insofern hier demnach im Einzelfall jeweils Annahmen ad 
hoc eingeftthrt werden müssen, in rein konstruktiver Weise, bleibt 
die Reflezschematik Bechterews, so imponierend sie allgemein 
betrachtet als Totalsystem vielleicht zunächst von außen ge¬ 
sehen auch erscheinen mag, doch eben nnr eine Schematik. Sie 
ist jedenfalls nicht mehr als ein methodisches Denkprinzip, eine 
Grundlage und Voraussetzung der theoretischen Systembildnng, 
die sich ihrem Gehalt nach letztlich auf das Prinzip der durch¬ 
gängigen Bestimmtheit alles Geschehens reduziert, auf keinen 
Fall aber eine Realerkenntnis, wie Bechterew mit dem Ob- 
jektivitätsanspmch seiner Psychoreflexologie postuliert Sie ist 
im Grunde eine grandiose petitio principii, ihre Erklärungen sind 
Scheinerklämngen. 

Demgegenüber ist die Stärke einer analytischen Betrachtung, 
wie wir sie im Anschluß an Martins zur Geltung zu bringen 
versuchen, in der freien Tatsächlichkeitseinstellung gegenüber 
dem Gegebenen zu sehen. — 

10. Zur Präzisierung des Aufmerksamkeitsproblems 
ergibt sich vom Standpunkt einer solchen analytischen Auffassung 
gemäß unseren bisherigen Entscheidungen eine ganz bestimmte 
Einordnung unserer Fragen in den allgemeinen Problemzusammen- 
hang der Psychologie. 

Es folgt von hier aus zunächst eine ganz bestimmte Ver¬ 
tiefung gegenüber der reinen formalistischen Beschreibung, 
die wir im ersten Teil unserer Eh-örternng als wesentliche Seite 
innerhalb jener Ich-Gegenstandsbeziehnng hervorgehoben haben, 
die im Konzentrierungsprozeß gedacht ist. Denn es wird von 



96 


Bmno Petemann, 


hier aus eine wertvolle Vereinfachung und Ver^nheitlichnng 
der Gesamtanffassung möglich, indem rttckwärts das phänomeno¬ 
logisch am unmittelbarsten Erfaßbare am Eonzentrienmgs- 
phänomen, eben jene formale Bestimmtheit der yorstellungsm&ßig 
gedanklichen Gegebenheit, nunmehr verstanden werden kann als 
abgeleitete Erscheinung, induziert durch spezifische Hemmungs¬ 
vorgänge, deren Natur aus der Eigenart des affektiven Lebens 
verständlich ist. 

Unter den Gesichtspunkten dieser Position wird man sich 
dann nicht mehr damit begnfigen, etwa (wie das auch Bech¬ 
terew tut) in den Untersuchungen über Umfang, Schwankungen 
der Konzentrierung, »Tenazität« und >Intensitätc derselben die 
eigentlich einzige Aufgabe des Eonzentrierungsproblems zu sehen, 
da diese Untersuchungen tatsächlich nicht auf die Eonzentriemng 
als solche, sondern eigentlich auf die Vorstellungsinhalte ein¬ 
gestellt sind, aber den Kernfragen des Aufmerksamkeitsproblems 
im Grunde nicht nahe kommen. 

Diese Fragen ordnen sich vielmehr einer allgemeineren affekt¬ 
psychologischen Analyse unter, welche geeignet scheint, auch jene 
bisher fast ausschließlich isoliert betrachteten Erscheinungen als 
Sekundärerscheinnngen, als Äußerung tieferliegender Phänomene, 
in einen weiteren Zusammenhang einzuordnen und so zu einer 
umfassenderen funktionspsychologischen Klärung der Formel von 
der »Hinwendung der Aufmerksamkeit« den Ansatzpunkt zu 
geben. 

Dabei leitet uns eine denkmethodische Grandeinstellung, die 
sich als analytische darüber klar ist, daß nicht ein isolierter 
Prozeß, die Aufmerksamkeit schlechthin, betrachtet wird, sondern 
daß in der Untersuchung dessen, was man Aufmerksamkeit 
nennt. Teilgeschehen herausgehoben sind, die in ihrer Gegeben¬ 
heit im Zusammenhang mit dem gesamten Gegebenen zusammen¬ 
gesehen werden müssen, wenn man sie richtig verstehen wilL 

11. Die genauere Analyse zeigt, daß im Zusammenhang des 
Gegebenen nicht allein eine formale Bestimmtheit vorliegt, 
sondern daß weiter im Zusammenhang damit beim Wechsel der 
»Beachtungsrichtung« auch wechselnde Vorstellungsznsammen- 
ordnungen, wechselnde inhaltliche Bestimmungen des (j)e- 
gebenen sich einstellen. 

Mit der Zentriertheit des Vorstellnngsmäßigen wechselt unter 
Umständen auch ganz entschieden die Erscheinungsweise der 
Vorstellnngsgesamtheit, so daß bei geeigneten Bedingungen ein 
dauernder Prozeß der Differenzierung bezw. eines Wechsels der 



Bechterews Theorie der Konzentriemng:. 


97 


Differenziertheit im YorsteUongsmäBigen in »Abhängigkeit« von 
der Art jener Zentriertheit zn konstatieren ist.^) 

Rein phänomenologisch ist im Gegensatz zn der Affekt* 
komponente beides, die wechselnde formale Bestimmtheit und 
die im Zusammenhang damit wechselnde inhaltliche Differenziert* 
heit des Gegebenen, an sich in gleicher Art bestimmt als eine 
hinznnehmende, in der Zeit sich vollziehende Ändemng des Ge¬ 
gebenen. 

Trotzdem hebt der Sprachgebrauch mit Recht nur die eine 
Seite als zn dem allgemeinen Bewußtseinsznstand der Anfmerk* 
samkeit gehörig heraus, da sie gerade ein allgemeines, formales 
Merkmal darstellt, welches unabhängig von konkreten Inhalten 
ist, nur an ihnen sich »verwirklicht«. 

Sie sieht die andere Seite als Folgeerscheinung. 

Dabei muß aber betont werden, daß das Verhältnis in unserm 
Zusammenhang nicht als ein kausales gelten kann in dem Sinne, 
daß etwa die Aufmerksamkeit, als ein wirkendes Vermögen, 
>Ursache< jenes Differenzierungsprozesses ist. Die ange* 
deuteten Beziehungen müssen uns veranlassen, in viel vorsich* 
tigerer Weise Aufmerksamkeit in unserem Sinne lediglich als 
Bedingung der Differenzierung des Vorstellungsmäßigen, des 
gedanklichen Lebens anznsehen. 

In diesem und nur in diesem Sinne darf man das Verhältnis 
zwischen der allgemein*formalen Funktion der Aufmerksamkeit 
und jenen als Folgeerscheinungen auffaßbaren, inhaltlichen 
Differenzierungen des Vorstellungsmäßigen usw. betrachten. 

12. Die Frage mündet ein in die Problemstellung nach den 
Prinzipien der Entwicklung, der Organisation des Vorstellungs* 
mäßigen, des Gedanklichen, allgemein des seelisch*körperlichen 
Geschehens; und es deutet sich hier an, wie in diesem Zusammen* 
hang die Aufmerksamkeit, die Auffassung maßgebend berück¬ 
sichtigt werden muß.^ 

Dabei ist insbesondere weiter noch zn berücksichtigen, wie 
die Aufmerksamkeit selbst als eine in der seelischen Entwicklung 
erst allmählich ausgebildete Funktion des seelischen Ablaufs 


1) Man Terg:leiche hierza meine Arbeit über die Beobachtangsbeding- 
nngen beim Tiefenaehen, sowie die übrigen Unteranchnngen zur Analyse 
des Sehraoma in Bd. 46 dieser Arbeit. 

2) Yergl. G. Martins, Über analytische und synthetische Psychologie, 
Ber. über d. 5. Eongrefi L exp. Psych. 1912; Wittmanna, a.0. ebenso 
Wittmann, Über d. Gedächtnis n. d. Anfban der Funktionen, Arch f. Psych. 
Bd.46. 

AroUr tOr Psychologie. XLVm. 


7 



98 


Brnno Petennann, 


adgesehen werden muß; wir stimmen mit Titchener überein, 
wenn er den Unterschied zwischen der sogen, passiven nnd 
aktiven Aufmerksamkeit eben unter diesem Gesichtspunkt darin 
begründet sieht, daß sie verschiedene genetische Stufen darstellen. 
Über Titchener hinaus erlaubt uns die formulierte affekti- 
vistische Auffassung der Natur des Eonzentrierungsvorganges 
wiederum, diesen Zusammenhang einzuordnen in weitere Kreise: 
Die aktive Aufmerksamkeit setzt die Ausbildung eines organi¬ 
sierten Willenslebens voraus und ist daher gegenüber den eigent¬ 
lich primären Aufmerksamkeitsvorgängen zu verstehen nur ans 
einer allgemein psychologischen Betrachtung über die Entwicklung 
des WUlenslebens überhaupt aus dem primären affektiven Leben, 
über die Entwicklung nnd Ausbildung zielgerichteter Funktions- 
Zusammenhänge auf Grund der ursprünglichen Lebendigkeit des 
seelisch-körperlichen Geschehens. 

Die Erörterung der Tragweite all dieser Zusammenhänge für 
unsem Gegenstand geht über den Rahmen dieser Arbeit hinaus; 
obgleich sie uns in der Stellungnahme zu Bechterews Psycho- 
Reflexologie im Hinblick besonders auf die Frage des genetischen 
Anfbans des Seelenlebens und in bezug auf sein Prinzip der 
Assoziation, das jene Aufbaugesetzlichkeit nach ihm zum Aus¬ 
druck bringen soll und muß, noch wesentliche allgemeinere Ge¬ 
sichtspunkte liefern würde, soll sie hier bei unserer enger ge¬ 
faßten Fragestellung ausgeschlossen, einer späteren Betrachtung 
Vorbehalten bleiben. 

Unser kritisches Ziel betrachten wir als erreicht, wenn es in 
genügend präziser Weise gelungen sein sollte, die Bechterewsche 
Position im Hinblick auf ihre inhaltliche, logische und auch er¬ 
kenntnistheoretische Voranssetzungsbelastung hinreichend deut¬ 
lich zu charakterisieren, damit klar wird, wie der Begriff des 
»Objektiven«, von dem Bechterew als einem absoluten ausgeht, 
sich tatsächlich bei einer kritischen Betrachtung relativieren 
muß, und wenn demgegenüber die Begründetheit einer analytischen 
Methode am konkreten Beispiel sich zeigen ließ. 

Dabei liegt uns wesentlich mehr als an der rein polemischen 
Erörterung an der zugleich entwickelten Stellungnahme zur 
Analyse der Aufmerksamkeit, die wir allerdings lediglich als 
einen Beitrag zur Analyse des Aufmerksamkeitsproblems, als 
eineu Beitrag zur Aufzeigung der Aufgaben einer konkreten 
Spezialuntersuchnng aufgefaßt wissen möchten. 

Wir glauben in dieser Hinsicht, trotzdem insgesamt unsere 
Erörterungen zunächst kritisch eingestellt waren, doch ein Er- 



Bechterews Theorie der Eonzentriernng:. 99 

gebnis formulieren zu können darüber, wie sieb nns der Ort 
innerhalb des Problemznsammenhangs der Psychologie bestimmt, 
der einer weiteren Analyse des Anfmerksamkeits Phänomens 
znkommt 

Unter drei Gesichtspunkten glauben wir in der weiteren 
experimentellen Forschung diese nähere Analyse des Eonzen¬ 
trierungsphänomens erwarten zu dürfen; diese Untersuchung wird 
sich anschließen: 

1. An die Loslösung des Konzentrierungsphänomens yom 
Inhaltlichgegenständlichen, in der Auffassung der Kon¬ 
zentrierung als einer lediglich formalen Bestimmtheit. 

2. An die Einordnung des Eonzentrierungsphänomens in eine 
affekt-psychologische Betrachtung, im Anschluß desselben 
an allgemeine Analyse des affektiven Lebens. 

3. An die Aufklärung dei* genetischen Zusammenhänge, der 
Bildungsprozesse, die in der Untersuchung der Entwicklung 
der Konzentrierung selbst als einer werdenden Funktion 
und, auf der anderen Seite, in der Einordnung der Kon¬ 
zentrierung in den allgemeinen Entwicklungszusammen¬ 
hang des Seelisch-Körperlichen überhaupt ihre Aufgabe 
findet 

(Eingegangen am 8. Februar 1924.) 


7* 



Die Wirkung von katastrophalen Ereignissen 
auf die Seele des normalen und anormalen Kindes^). 

Von 

Prof. Dr. F. Schneersohn. 

Einleitang. 

Nicht nur unter den Laien, sondern auch unter den Pädagogen 
herrschen die verschiedensten oft einander znwiderlanfenden 
Meinungen über die außerordentlich wichtige Frage der Wirkung 
von katastrophalen Ereignissen auf das Kind, den anfwachsenden 
Menschen. Während die einen annehmen, daß katastrophale Er¬ 
eignisse und der mit ihnen verbundene durchlebte Schrecken, 
die selbst auf den kräftig entwickelten erwachsenen Menschen 
eine so erschütternde Wirkung haben, einen nm so mächtigeren 
Eindruck auf die Jugend, auf die noch schwache und gebrech¬ 
liche, zarte nervenpsychische Organisation des Kindes, machen 
müssen, glauben die andern, daß solche Ereignisse im Gegenteil 
spurlos am Kinde Vorbeigehen, da sich dieses in der Außenwelt 
noch relativ wenig orientiert und das Schreckenerregende des 
Geschehens zu erfassen überhaupt noch nicht imstande ist. 

Es besteht noch eine dritte, seltenere Ansicht, die wir z. B. 
auf Grund von Beobachtungen anläßlich der öffentlichen Ge¬ 
richtsverhandlungen in den ukrainischen Städten gegen Banditen 
und Pogromhelden feststellen konnten. Bei solchen Verhand¬ 
lungen pflegten Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren vors Ge¬ 
richt geladen zu werden und mitunter sogar als Erkennnngs- 
zeugen gegen die Banditen, die ihre Väter ermordet oder ihre 
Mütter oder Schwestern vergewaltigt hatten, aufzutreten. Sie 
erzählen dann vor Gericht mit speziflsch kindlicher Ausführlich¬ 
keit und in rührender Einfachheit die unmenschlich scheußlichen 


1) Die vorliegende Arbeit ist anf Grand meiner systematischen Forschungen 
während des Welt- and Bürgerkrieges in Rußland entstanden. 



F. Sehneersobn, Die Wirkung ▼. katastro. Ereign. auf'die‘Seele nsv.' ''lOl 


Szenen der Folter nnd des Mordens. Und während diese naiv 
vorgetragenen Berichte durch ihren erschfittemden Inhalt beim 
Zuhörer tiefste Erregung auslösen, während manche Anwesende 
im Gerichtssaal in lautes Schluchzen ausbrechen, fahren die 
kleinen Erzähler als die einzigen, die bei den Schilderungen ver¬ 
hältnismäßig ruhig bleiben, unentwegt in der Wiedergabe ihrer 
schaudererregenden Erinnerungen fort. Diese unerschütterliche 
Buhe des Kindes pflegt in solchen Fällen bei vielen Zuhörern 
eine fast mystische Vorstellung über das Erleben des Kindes 
hervorznrufen, das sie als ein geheimnisschweres Rätsel empflnden. 

Die systematisch-objektive Untersuchung und die eingehende 
psychologische Analyse, die sich auf wissenschaftlich festgesetzte 
Tatsachen gründen und über welche wir noch ausführlich sprechen 
werden, zeigen aber, daß alle die oben angeführten Meinungen 
der Wirklichkeit durchaus ferne stehen. 

Es hat überdies nicht nur eine allgemeine, sondern auch 
eine für unser spezielles Thema methodische Bedeutnng, wenn 
wir unterstreichen, daß die angeführten Meinungen Erwachsener 
über Kinder nicht die einzigen sind, die gegen den Geist der 
Wirklichkeit verstoßen. Die Kinderpsychologie hat nicht wenige 
Tatsachen aufzuweisen, aus denen hervorgeht, daß die herrschen¬ 
den Ansichten Erwachsener über Kinder absolut irrig sind. 
Selbst bewährte Kinderpsychologen werden mitunter durch die 
Resultate ihrer Forschungsarbeiten gezwungen, ihre bis dahin 
festgehaltenen Meinungen preiszugeben. Wir wollen hier nur 
auf folgendes typische Beispiel hinweisen, welches überdies auch 
für den Gegenstand unserer besonderen Abhandlungen von 
Interesse ist Bis vor kurzem machte man allgemein die An¬ 
nahme (an der auch jetzt noch einige festhalten), daß das 
ästhetische Erleben des Kindes ein dem Erleben des Erwachsenen 
entsprechendes ist, daß also folglich z. B. die Bilder, die unser 
Wohlgefallen erregen, auch dem Kinde ästhetischen Genuß be¬ 
reiten. »Auf Grund dieser Annahmec, sagt Prof. Meumann, 
> wurden in letzter Zeit viele künstlerisch hervorragende Bilder 
als Schnlwandschmuck nnd zu Lehrzwecken verwendet.« 

Die Erwachsenen urteilen nach ihrem eignen Gefühl über 
das ästhetische Erleben des Kindes. Durch experimentelle For¬ 
schungen (Albin, Schmidt, Müller, Meumann und andere^).) 
ist aber klar erwiesen, daß das sich selbst überlassene Kind eine 
nur unbedeutende Stufe des ästhetischen Erlebens erreicht. Die 


1) Siehe Menmanns »Experimentelle P&dagogik« Yorles. 8. 






102 ’ 


F. Schneenohn, 


dem Kinde vom Forscher yorgelegten Bilder rufen bei demselben 
eigentlich nur anßerästhetische Inhaltsnrteile hervor, wobei das 
Bild vom Kinde nicht als Bild, d. h. als Kunstwerk eingeschätzt 
wird (Meumann). 

Woher nun die herrschenden falschen Ansichten über Kinder 
im allgemeinen und über die Frage der Wirkungen von Kata¬ 
strophen im besonderen? Oder — und dies ist für unsere Be¬ 
trachtungen wesentlicher — welche sind die Wege, die wir ein- 
schlagen müssen, um nicht falsche eubjektive Ansichten, sondern 
richtige Resultate über den tatsächlichen nerven-psychischen Zu¬ 
stand der Kinder, die Schreckenserlebnisse hinter sich haben, 
zu gewinnen? Die Antwort auf die gestellte Frage wird uns 
gleichzeitig die Bichtnngslinien für die objektive Kinderforschung 
Uefem, die die Grundlage und den Inhalt der vorliegenden Ar¬ 
beit bildet. 

Es ist bei allen kinderpsychologischen Fragen, besonders 
aber bei Behandlung des Problems der katastrophalen Wirkung 
unerläßlich, folgende einleuchtenden Grundannahmen zu beachten. 
Die Reaktionen des Kindes auf Anreize von außen und von 
innen sind ungeheuer groß und mannigfaltig. Das Kind kann 
auf solche Einflüsse unmittelbar mit emotionellen Willensakten 
reagieren. Das einfachste Beispiel dafür ist ja wohl das Kind, 
das auf Schläge sofort mit Weineu reagiert Außer durch die 
unmittelbare Reaktion kann die gleiche Wirkung sich auch 
anders auf den verschiedensten Gebieten des psychischen Lebens 
des Kindes ansdrücken, welchen durch diese Auswirkung eine 
neue speziflsche Färbung erteilt wird. So kann, um bei unserem 
einfachen Beispiel zu bleiben, die gedrückte Stimmung des ge¬ 
schlagenen Kindes seinen Träumen, Erzählungen, Spielen, Zeich¬ 
nungen und allen andern freischöpferischen Äußerungen einen 
charakteristischen Stempel aufdrücken. Schließlich kann noch 
die gleiche Wirkung eine zeitweilige oder bleibende (je nach 
der Frequenz und Intensität der Wirkung) allgemeine Verän¬ 
derung der Persönlichkeit des Kindes — seines Charakters, seiner 
Intelligenz, Arbeitsfähigkeit sowie des allgemeinen Stimmungs¬ 
zustandes hervormfen. So zeigen Prügelkinder die typischen 
Merkmale solcher Behandlung in ihrem ganzen Wesen. Um 
einen auf das Kind gemachten Eindruck richtig einschätzen zu 
können, müssen wir nicht nur die unmittelbaren Reaktionen, 
sondern auch alle Folgen und Nachklänge der betreffenden 
Wirkung und ihre verschiedenen psychischen Äußerungen in 
Betracht ziehen. Es kann die unmittelbare Reaktion auf diesen 




Die Wirkoog von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 103 

oder jenen Eindruck fehlen, der dafür tiefe Sparen auf den ver¬ 
schiedenen Gebieten des psychischen Lebens hinterläfit, es kann 
aber anch andrerseits eine unmittelbare intensive Reaktion nur 
relativ unbedeutende Sparen in der Seele des Kindes hinter¬ 
lassen. So sieht man zum Beispiel ein Kind, das anscheinend 
ganz zufrieden, jedenfalls aber gleichmütig, seine physisch oder 
psychisch schweren Lebensbedingungen trägt. Warum aber zuckt 
dann zur Nachtzeit seine Kinderseele so krampfhaft in unkind¬ 
lich schweren Traumbildern? Warum wird es immer mehr 
»nervös« und anfällig? Warum drängen sich in seine Erzählungen 
immer wieder nur schwarze Bilder? Warum häufen sich bei 
ihm unwillkürliche Arbeitsstörungen? Warum werden seine 
Spiele so unkindlich-eigenartig? Je genauer wir die verschiedenen 
psychischen Äußerungen dieses Kindes beobachten, desto mehr 
Fragen tauchen vor uns auf und enthüllen die im Verborgenen 
sich abspielende Kindertragödie. 

Die Erwachsenen bilden ihre falschen oder subjektiven An¬ 
schauungen über die Wirkung der Katastrophen auf Kinder auf 
Girnnd von zufälligen Gelegenheitsbeobachtungen, die nur ver¬ 
einzelte Äußerungen des psychischen Lebens des Kindes fest- 
halten, nur aus dem ganzen komplizierten Wirknngsbild los¬ 
gerissene Abschnitte vor Augen führen. Wie wir aber aus¬ 
geführt haben, können wir diese Wirkung nur dann richtig 
objektiv einschätzen, wenn wir solche Wege der Beobachtung 
einschlagen, die es uns ermöglichen, alle in Betracht kommenden 
Wirkungserscheinungen in der weitverzweigten und vielgestaltigen 
Kinderpsyche festzuhalten und zu registrieren. Damit kommen 
wir zum ersten wichtigen Punkte unserer Arbeit — zur Frage 
der von uns aasgearbeiteten objektiven Beobachtangs¬ 
methoden. 

Befinden wir uns nun einmal im Besitze des Untei*sachangs- 
materials, so stoßen wir erst auf ein neues noch schwereres 
Untersuchungsproblem. Bekanntlich sind ja die psychischen Er¬ 
scheinungen im allgemeinen überhaupt nur der Selbstbeobach¬ 
tung zugänglich. Sobald es sich um eine andere Person handelt, 
können wir nur Äußerungen oder richtiger Ansdrucksbewegungen 
beobachten, mittels der wir erst durch »Schlüsse« oder »Ur¬ 
teile« zum eigentlichen psychischen Erleben des andern gelangen 
können. (So ist ja auch die Sprache im Grande nichts anderes 
als ein System von symbolischen Ausdrucksbewegungen des 
Sprachapparates.) Das wäre also die Methode der vermittelten 
Selbstbeobachtung. Nun aber ist es uns bekannt, daß ver- 



104 


F. Schneersobn, 


schiedene Menschen^ ja selbst ein nnd dieselbe Person nnter 
verschiedenen Umständen ihr Erleben auf verschiedene Art nnd 
Weise znm Ansdmck bringen. Wir wissen, daß ein nnd dieselbe 
Erscheinung bei verschiedenen Menschen, je nach ihren indivi¬ 
duellen Besonderheiten, verschiedene Eindrücke bewirken kann. 
So wird znm Beispiel ein nnd dasselbe Bild ganz verschieden 
auf den Dnrchschnittsmenschen, den Intellektuellen and den fein¬ 
fühligen Künstler wirken. Der abgestumpfte Mensch wird auf 
ein and dasselbe Ereignis anders reagieren als der zart emp¬ 
findende. Andererseits wieder — dies verdient besondere Be- 
achtnng — bezeichnen ein und dieselben Ansdracksbewegnngen 
oder Reaktionsänßemngen, wie Gelächter, Tränen, Sprachäuße¬ 
rungen, Willenshandlungen n. dgl., bei verschiedenen Menschen 
Erlebnisse verschiedenen Charakters und Intensität Das Weinen 
von Frauen (»Weibertränen«), von Greisen oder von sogen. 
»Jammerweibem« einerseits und die Tränen von überlegt-mhigen 
Männern andererseits lassen auf Leiden ganz verschiedener Art 
schließen. Ans diesem Grunde machen auch Tränen kräftiger, 
seelenstarker Männer auf uns einen tiefen Eindruck, weil sie 
bei solchen Menschen Ansdmck von tiefem Leid sind. Wir 
sehen also, daß wir sogar im praktischen Leben eigentlich nicht 
die Menschen nach ihren Änßerungen, sondern im Gegenteil die 
Äußerungen nach dem Menschen beurteilen, indem wir stets 
mehr oder weniger die individuellen Seiten ihres Charakters, 
Temperaments u. dgl. in Betracht ziehen, weil eben, wie gesagt, 
dergleichen Handlungen bei verschiedenen Menschen absolut ver¬ 
schiedene Bedeutung zugemessen werden muß. 

Daraus geht hervor, daß an die Äußerungen des psychischen 
Lebens beim Kind nicht der für die Erwachsenen angewandte 
Maßstab anznlegen ist, da wir stets die gesetzmäßigen Besonder¬ 
heiten der eigenartigen Kinderseele im Auge behalten müssen. 
Die herrschenden falschen Ansichten über Kinder, besonders in 
der Frage der Wirkung von Katastrophen, sind auch darauf 
zurückzuführen, daß die Erwachsenen die Kinder nach ihren 
Worten nnd Handlungen beurteilen, ohne aber oder ohne hin¬ 
länglich ihren spezifisch-eigenartigen Charakter in Rechnung zu 
ziehen. Auf diesem Wege kommen wir zum zweiten wesent¬ 
lichen Punkt unserer Untersnchungsarbeit, den wir wie folgt 
formulieren können. Die objektiv beobachteten und genau 
registrierten Änßerangen des Kindes müssen nicht nach allgemein¬ 
psychologischen, sondern nach kinderpsychologischen Ge¬ 
sichtspunkten bearbeitet werden, d. h. es gilt ihre spezifisch- 



Die WirkoDg von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 105 

eigenartige Bedeutung festzustellen. Zn diesem Zweck müssen 
wir forschend die verschiedenen Äußerungen des Kindes bei 
gleichen Verhältnissen und verschiedenen Zeiten, wie auch ein 
und dieselben Äußerungen bei verschiedenen Umständen und ver¬ 
schiedenen Kindern vergleichen und dies alles im Zusammenhang 
mit den schon festgelegten Besonderheiten des psychophysischen 
Entwicklungszustandes des Kindes überhaupt untersuchen. Dies 
ist das Prinzip von der kinderpsychologischen Bearbeitung des 
Beobachtungsmaterials. 

Wir sprachen schon über die mögliche, kompliziert-verzweigte 
Wirkung von Eindrücken, welche sich offen oder versteckt in den 
verschiedensten Gebieten der Kinderseele einprägen können. Es 
ist also schon daraus zu ersehen, daß die Wirkung dynamischen 
Charakters ist, so daß sie in der Kindesseele auch nach Ent¬ 
fernung der Wirkungsursachen fortbestehen kann, und zwar bleibt 
sie nicht unwandelbar und unveränderlich, sondern wird sich im 
Gegenteil dynamisch intensiv entfalten und fortentwickeln. Wir 
greifen nun nochmals zu unserm früheren Beispiel zurück. Es 
kann Vorkommen, daß das geschlagene Kind unmittelbar nur 
wenig reagiert, rasch seine Tränen trocknet und sich leicht 
durch Spiele oder dergleichen ablenken läßt. Die gedrückte 
Stimmung infolge der durchlebten Erschütterung kann aber in 
der Nacht im Traume wieder auftauchen oder sonst in eine der 
unzähligen verschiedenen Änderungen seines bewußten und un¬ 
bewußten Lebens sich bemerkbar machen. Und selbst in den 
viel späteren Jahren des reifen Alters finden wir diese durch¬ 
lebten Szenen im Schatze der Ejndheitserinnerungen wieder, die 
in einer bestimmten Hinsicht die ganze Persönlichkeit des Menschen 
bestimmen. Die allgemein herrschenden falschen Annahmen gründen 
sich aber nur auf die momentanen oder baldigen Reaktionen des 
Kindes auf Eindruckswirkungen, ohne ihren gewaltigen dyna¬ 
mischen Charakter zu berücksichtigen. Die Eindruckswirkungen 
schlagen aber häufig »Wurzeln« in der Seele des Kindes und 
wachsen und verändern sich zusammen mit dem wachsenden 
Kind. Dies ist das Gesetz der Spätwirkung, das wir im Laufe 
unserer Untersuchung aufstellen und eingehend begründen werden. 

Wir müssen in der Frage der Wirkung katastrophaler Er¬ 
eignisse auf das Kind auch die allgemeinen Begriffe von »Kata¬ 
strophe« und »Kind«, mit denen in einer unklaren und verschwom¬ 
menen Art operiert wird, noch exakter festlegen und genau 
differenzieren. Nicht allen katastrophalen Ereignissen kommt 
vom kinderpsychologischen Standpunkt aus die gleiche Wirkungs- 



106 


F. Schneersohn, 


kraft zu. Unsere objektiven Untersuchungen zwingen uns dazu, 
zwischen »elementar katastrophalen« Erscheinungen, 
d. h. solchen, welche vererbt- instinktive Wirknngsreaktionen her- 
vorrufen, und »kompliziert katastrophalen« Erscheinungen, 
d. h. Erscheinungen, deren Wirkungskraft von der Erfahrung und 
dem Entwicklungszustand des betreffenden Menschen abhängig 
ist, unterscheiden. Auch müssen wir einen Strich ziehen zwischen 
unmittelbar durchlebten Katastrophen und der mehr oder weniger 
nachhaltigen Wirkung solcher katastrophalen Ereignisse, die in 
der Feme sich abgespielt haben. Kinder z. B., die in Kriegszeiten 
weit hinter der Front leben, machen ja die Kriegskatastrophe 
nicht unmittelbar durch, sondern stehen unter dem Einfluß der 
verschiedenen Nachwirkungen und Abklänge, die im ganzen Lande 
bemerkbar sind. Deutsche, österreichische und andere Pädagogen 
und Kinderpsychologenhaben sich während des Weltkrieges 
hauptsächlich mit der Einwirkung dieser Einflüsse auf Kinder, 
speziell auf solche, die weit im Hinterland wohnen, befaßt. Selbst- 
veratändUch wird die Reaktion solcher Kinder, die die Katastrophe 
unmittelbar durchleben, eine ganz andere sein. Besonders scharf 
und tragisch ist sie z. B. beim größten Teil der ukrainischen 
jüdischen Kinderwelt, die während einer langen Periode einer 
verheerenden Welle von unfaßbar grausamen Pogromen und 
Schreckensgeschehnissen ausgesetzt war. Nicht weniger tragisch, 
wenn auch in einer andern Art, ist das Los jener nichtjüdischen 
Kinder, die in vielen ukrainischen Städten den Judenschlächtereien 
nur zugeschaut haben, die aber in ihren Kinderseelen eine giftige 
Saat von unmenschlicher, bestialischer Grausamkeit und sadistischer 
Erschüttemng aufsprießen ließen. 

Andererseits wieder müssen wir bedenken, daß nicht alle 
Kinder der Wirkung katastrophaler Ereignisse im gleichen Aus¬ 
maße zugänglich sind. Die schwerwiegenden Ereignisse werden 
das normal lebenslustige Kind nicht so tief angreifen und es wird 
sie sich nicht so »zu Herzen« gehen lassen wie ein nervös¬ 
empfindlicher, kränklich zarter, in sich vertiefter psychopathischer 
Grübler. Ganz anders wieder werden die ungewöhnlich begabten, 
sich schnell entwickelnden Kinder, die in vielen Fällen schon heute 


1) »Jugendliches Seelenleben nnd Krieg« W. Stern (Leipzig 1915). »Schnle 
nnd Krieg« (Berlin, WeidmannscheBnchbandlnng 1915). »UnsereZwölfjährigen 
nnd der Krieg« M. Lobsien. »Die Kinder nnd der Krieg« Rnssische Samm- 
Inngen nnter der Red. von Prof. Senkowsky, Kiew. »Nos Enfants et la 
gnerre«, Paris 1917. »La jennesse Scolaire de France et la gnerre« HoUe- 
becqne. Paris 1916. Weitere Literatnrangaben folgen nnter den Anmerkungen. 



Die Wirkang von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 107 

wie die Erwachsenen fühlen und verstehen, reagieren. Mit andern 
Worten, wir müssen auch in der Frage der katastrophalen Wir¬ 
kungen, wie in allen andern, die Kinder in normale and anormale 
einteilen. Bei diesen letzteren müssen wir wieder zwei Klassen 
unterscheiden, solche die unter der Norm (ontemormale) and 
solche die über derselben (übemormale) stehen. Es ist Auf¬ 
gabe der wissenschaftlich-objektiven Untersachungsarbeit, die 
Kategorien der normalen, übemormalen und antemormalen 
Kinder getrennt zu behandeln. Bei jeder Kategorie schlieBlich 
müssen wir objektiv die Eigentümlichkeiten der verschiedenen 
Geschlechter und Altersstufen beachten. 

Wir gehen über zur Abhandlung über die Wirkung kata¬ 
strophaler Ereignisse auf normale Kinder und wollen die er¬ 
forderliche Darlegung der wesentlich allgemeinen Untersuchungs- 
methoden und Prinzipien voraasschicken. 

I. 

Unters ach an gsmethoden. 

Die Untersuchungsmethoden, die wir anwenden können und 
müssen, um die Wirkung von Katastrophen auf Kinder richtig 
einschätzen zu lernen, zerfallen in zwei Hauptmomente. Das 
erste Moment bilden die Methoden oder Mittel, welche es uns 
ermöglichen, die verschiedenen durch die Katastrophenwirkung 
hervorgerufenen psycho-physischenÄußerungen des Kindes objektiv 
zu beobachten und zu registrieren. Wie wir schon in unserer 
Einleitung festgelegt haben, müssen die Beobachtungen nicht nur 
die unmittelbaren Reaktionen des Kindes, sondern auch die weit¬ 
verzweigten Einflüsse der Katastrophen auf den verschiedenen 
Gebieten des psychischen Lebens und schließlich ihre Nachklänge 
in den späteren Lebensjahren umfassen. Das zweite Moment wird 
durch jene Methoden oder Prinzipien gebildet, welche es uns 
erlauben, die objektiv beobachteten und registrierten Äußerungen 
und Veränderungen vom kinderpsychologischen Standpunkt aus 
zu untersuchen und auf ihren spezifisch-kindlichen Charakter ein- 
zugehen. Wir können das hier Ausgeführte auf eine kurze und 
einfache Formel bringen und sagen: Das erste Moment bezieht 
sich auf das Sammeln von Beobachtungsmaterial, während das 
zweite die sachgemäße Bearbeitung des einmal vorliegenden 
Materials betrifft. 

Diese beiden Momente sind eng miteinander verknüpft. Wir 
können, wenn uns größere Beobachtungsmöglichkeiten geboten 
sind, durch Vergleich mehrerer Fälle leichter ihren spezifisch- 



108 


F. Scimeersohn, 


kindlichen Inhalt feststellen. Andererseits wieder kann — nnd 
dies ist, wie wir weiter unten sehen werden, das Ansschlag¬ 
gebende in unseren Untersuchungen — das zweite Moment, die 
Beohachtnngsmethoden,wesentlich ändern und sie vorausbestimmen. 
Denn wir werden die Beobachtungen in der Richtung leiten 
müssen, die uns durch die spezifische Eigenart der Äußerungen 
des betreffenden Eändes yorgezeichnet wird. 

Nach diesen Gesichtspunkten haben wir nun entsprechende 
Beobachtungsmethoden ansgearbeitet und soweit als möglich auch 
durchgefühlt. Wir werden nun unsere Darlegungen immer mit 
Beschreibung der betreffenden Beobachtnngsmethoden einleiten, 
um dann unter Herbeiziehung charakteristischer Beispiele aus 
dem Beobachtungsmaterial zur Darlegung der Prinzipien und 
Resultate der Materialsverarbeitung überzugehen. 

Wir teilen die Untersuchungsmethoden in drei Gruppen ein: 
statistische, psychologische nnd klinische. 

A. Statistische Methoden, die es uns erlauben, mittels 
statistischer Massenuntersnchnngen in verschiedenen Einder- 
anstalten die Veränderungen, die unter dem Einfluß der kata¬ 
strophalen Ereignisse im allgemeinen am psychischen Zustand 
der aufwachsenden Jugend wahrznnehmen sind, in Zahlen fest¬ 
zulegen. Es kommen dabei folgende Möglichkeiten in Betracht: 

1. Statistische Untersuchungen in allerlei Anstalten 
und Instituten für anormale Kinder, wie da sind: Hilfsschulen, 
verschiedene Spezialanstalten für geistesschwache und nervöse 
Kinder, Jugendgerichte, verschiedene Fürsorgeerziehungsanstalten 
für jugendliche Kriminelle n. dgl. Solche Untersuchungen könnmi 
statistische Belege liefern zur Beantwortung der Frage, ob und 
inwiefern sich die Zahl anormaler Kinder im allgemeinen nnd 
der in spezieller Hinsicht Anormalen im besonderen unter dem 
Einfluß von Katastrophen verändert hat. So haben z. B. in 
Deutschland solche Untersuchungen in der Kriegszeit den un¬ 
geheuren Einfluß der Weltkatastrophe auf die Zahl der jugend¬ 
lichen Verbrecher aller Arten bewiesen, und zwar hat sie sich 
in bedrohlichem Ausmaße vergrößert, dabei keine Altersstufe 
schonend. In Deutschland nnd Österreich wie auch in anderen 
Ländern ist eine ziemlich große Literatur über die Frage >Kri^ 
und Jugendkriminalität« entstanden. Unverhältnismäßig weniger, 


1) Einen allg^emeinen Überblick über die einschlägige Literatur bietet 
die folgende Arbeit: >Literatnr znr Kriminalität der Jugendlichen« ▼ou 
K. Wittig (Zeitschrift für Kinderforschnng 1921, Dezember/Jannar-Heft). 



Die Wirknng von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 109 

ja, soviel nns bekannt ist, fast gar keine solchen Unternehmungen 
liegen über andere Arten anormaler Kinder vor. 

Aus Rußland und der Ukraine, die hauptsächlich für uns in 
Betracht kommen, liegen nur spärliche und unverläßliche Berichte 
über die Zahl der anormalen Kinder vor, die dort in den speziellen 
Anstalten nntergebracht sind. 

Zn den statistischen Methoden dürfen wir auch die spezielle 
Anwendung der Enqueten-Methode zählen. 

2. Heilpädagogische Enquete-Untersuchungen in 
Schulen und Erziehungsanstalten. Mittels heilpädagogisch aus- 
gearbeiteter, systematisch durchgeführter Untersuchungen, die von 
Lehrern geleitet werden, läßt sich die Zahl der verschiedenen geistig 
anormalen Kinder in den Schulen und Erziehungsanstalten und 
damit auch das Anwachsen dieser Zahl unter dem Einfluß von 
katastrophalen Ereignissen gegenüber früheren normalen Zeiten 
feststellen. Wenden wir diese Enqueten-Methode in Waisen- 
hänsem und Anstalten für pogrombeschädigte Kinder an, so 
werden wir in Erfahrung bringen, ob und um wieviel die Zahl 
der geistig anormalen unter diesen Kindern größer ist als in 
Anstalten für normale Kinder. 

Jeder geistige oder moralische Mangel eines Kindes, überhaupt 
jeder psychische Defekt desselben wird vom Lehrer im Schul¬ 
leben bald auf diese oder jene Art entdeckt. Die Fragen der 
systematischen Untersuchung dürfen nicht durch die subjektiven 
Meinungen und Einschätzungen des Lehrers beeinflußt werden, 
sondern müssen sich nach den elementaren Kenntnissen richten, 
die der Lehrer über die klaren und charakteristischen Tatsachen 
des Schülerlebens hat^). So haben wir im Jahre 1921/22 spezielle 
heilpädagogische Enqueten für Schulen und andere eigens für 
Waisenhäuser und Heime für Pog^ombeschädigte anzuwendende 
aasgearbeitet. (Wir werden dieselben weiter unten in der Bei¬ 
lage bringen.) Ich selbst habe in den letzten Jahren solche 
systematische Untersuchungen in einer Reihe ukrainischer und 
polnischer Schulen und Erziehungsanstalten dnrchgeführt. Wir 
konnten auf diese Weise am Orte und in der Zeit selbst der 
katastrophalen Geschehnisse feststellen, wie hoch die durchschnitt¬ 
liche Zahl anormaler Kinder in den untersuchten Anstalten ist. 
Vergleiche gegenüber der normalen Vorkriegszeit können jedoch 


1) Siehe aasfUhrlich meine veröSentlichten Abhandlnngen: »Die Gesell- 
Bchaft, die Schale und die defektiven Kinder« and »Die jüdische Schale and 
die defektiven Kinder« (Verlag »Schale and Leben«, Warschaa). 



110 


F. Schneersohn, 


nur mit größter Vorsicht angestellt werden, da in jener Zeit die 
jüdischen und nichtjfidischen Schulen heilpädagogisch so gut wie 
überhaupt nicht untersucht wurden und sie in dieser Hinsicht 
nicht nur in unserer besonderen Frage, sondern überhaupt fast 
alles noch zu wünschen übriglassen. Vorsicht ist auch geboten 
beim Vergleichen der Enqueten-Resultate von gewöhnlichen Schulen 
mit denen von speziellen Anstalten für pogrombeschädigte Kinder, 
weil eben die allgemeinen Schulen die für sie unbequemen geistig 
anormalen Kinder seltener aufnehmen und häufiger ausschließen 
als die speziellen Institutionen^). Auf diese Weise kann die An¬ 
zahl der anormalen Kinder in den speziellen Anstalten für Pogrom¬ 
beschädigte nicht nur wegen der besonderen Eigenart dieses 
Kindermaterials größer sein, sondern sie ist auch auf die geringere 
pädagogische Regelung der Unterbringung znrückzuführen. 

Daraus geht also hervor, daß schon ans rein praktischen und 
technischen Gründen die allgemein statistischen und die speziell 
enqnetenartigen Untersuchungen nur unsicheres und schwaches 
Licht in unsere Frage bringen können. Aber selbst bei den 
günstigsten Bedingungen und der tadellosesten Durchführung kann 
die statistische Methode ihrer ganzen Natur nach keine be¬ 
friedigende Antwort auf die Frage der Katastrophenwirkungen 
auf Kinder liefern. Durch die statistischen Methoden, die ja mit 
Massennntersuchnngen arbeiten, können nur unmittelbar bemerk¬ 
bare Elrscheinnngen, die sich statistisch aufnehmen und registrieren 
lassen, beobachtet und fixiert werden, versagen aber, wo es sich 
um ein Eindringen in den komplizierten Wirkungsprozeß, der 
dynamisch und weitauslaufend in der Kinderseele vor sich geht, 
handelt 

Die Statistik kann also nur ein mehr oder weniger ergänzendes 
Hilfsmittel sein, das hier und da zur Unterstützung der anderen 
sichei’eren Hauptmethoden herangezogen wird, nachdem man es 
vorher sorgsam auf seinen Wert im besonderen Falle unter¬ 
sucht hat. 

B. Psychologische Methoden: Wenn wir die oben 
erklärte spezifische Kompliziertheit und Vielseitigkeit unserer 
Frage in Betracht ziehen, müssen wir die allgemeinen kinder¬ 
psychologischen Methoden entsprechend auswählen und prüfen, 
speziell die Methodik und die verschiedenen Anwendungsarten 
ausarbeiten. Die Methoden sind folgende: 


1) Siehe anch meine Abbandinng: *Die jüdische Schale and die defek¬ 
tiven Kinder«. 



Die Wirkong: von katastrophalen Ereignissen auf die Seele nsw. 111 

1. Die Selbsterinnernngsmethode, welche darin be¬ 
steht, dafi wir als Erwachsene nns unsere Kindheitserlebnisse 
möglichst genau rekonstruieren, ihren Charakter und Verlauf uns 
vergegenwärtigen und auf diese Weise uns eine Vorstellung von 
diesem oder jenem psychischen Zustand des Kindes machen. 
Dabei woUen wir diese Kindheitserinnemngen (in unserem speziellen 
Falle die Erinnerungen an unsere Gefühlserlebnisse anläßlich 
verschiedener Katastrophen, wie Tod der Eltern, Feuersbrunst, 
Überfall n. dgl.) genau aufzeichnen, solche Erinnerungen ver¬ 
schiedener Erwachsener kritisch miteinander vergleichen und auf 
diese Weise die Psychologie der Kindererlebnisse auf zustellen 
versuchen.^) 

Die Erinnerungen aus der Kinderzeit spielen bewußt und in 
noch größerem Maße unbewußt eine große Rolle bei der Regelung 
der Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Bilden doch 
die Erlebnisse der Kindheit bei jedem Menschen den Gmndkem 
seiner psychischen Entwicklung und wirken mehr oder weniger 
während seines ganzen Lebens nach. Diese Erinnerungen bahnen 
nns Erwachsenen gewissermaßen einen Weg in die intime Kinder¬ 
welt, deren Nähe in nns immer wieder die alten Reste unserer 
eigenen Kinderzeit weckt und neu belebt. 

Wie groß und bedeutsam aber auch die Stärke unserer Selbst- 
erinnemng sein mag, kann sie nns doch nicht als Methode eine 
objektiv richtige Vorstellung vom Seelenleben des Kindes liefern, 
wie ja schon ans der spezifischen Eigenart unserer Selbsterinnemng 
hervorgeht. Denn vor allem sifid Erinnerungen — und dies wurde 
durch experimentelle Forschungen (Stern n. a.) einwandfrei be¬ 
wiesen — absolut nicht als getreue Abbildungen unserer ver¬ 
gangenen Elrlebnisse zu werten, da sie immer wieder subjektiv 
gefärbt und verändert erscheinen. Trifft dies nun im allgemeinen 
zu, so gilt es doppelt für Erinnerungen an unsere Kinderjahre, 
und die Schwäche unseres Gedächtnisses nimmt in bezug auf 
diese Zeit einen gesetzmäßig eigenartigen Charakter an. Je weiter 
wir in unseren Jngendjahren zurttckblicken, desto unfähiger wird 
unser Gedächtnis dann, in unserem Bewußtsein ganze, einheitliche 
Erinnerungsbilder zu schaffen. Die ersten Kinderjahre entfallen 
fast ganz unserem Gedächtnis und hinterlassen nur einen ganz 
verschwommenen, wenn auch im Unbewußten stark wirkenden 

1) Auf dieser Methode gründet sich ja die Arbeit: »Krieg and Kinder- 
seele« (Erinnerongen an 1870), Kempten and München, - Joh. KOselsche Bach¬ 
handlang 1916. Diese Arbeit ist referiert in »Zeitschr. für Kinderforschang« 
1916. 



112 


F. Schneenohn, 


Schimmer. Auch der größte Teil der Erlebnisse in den späteren 
Einderjahren hinterläßt nnr vereinzelte Bilder oder unklare 
Nachklänge. Es ist dies die Erscheinung der Eindheitsanmesie 
(Eindheitsvergessen), die die Frendsche Schule besonders hervor¬ 
gehoben und in ihrer Art ansgelegt hat. Eurz, die Selbsterinnemng 
verschafft uns nur vereinzelte Abrisse dieses oder jenes Erleb¬ 
nisses unserer Eindheit, das aber zum größten Teil in Dunkel 
gehüllt verbleibt. 

Es ist dies jedoch nicht der einzige Nachteil der Selbst¬ 
erinnerungsmethode. Wir müssen ferner noch beachten, daß 
auch die herübergeretteten Reste eines solchen Eindheitserleb- 
nisses oft ihren wahren Inhalt eben durch die Lostrennnng ans 
dem natürlichen Zusammenhang mit den vergessenen Teilen des¬ 
selben Erlebnisses verlieren, genau wie die übriggebliebenen 
Reste eines aus seinem Rahmen gerissenen Bildes ihren eigent¬ 
lichen Sinn einbüßen. Drittens müssen wir noch die mehr oder 
weniger ständige und unwillkürliche Rückwirkung unseres gegen¬ 
wärtigen Bewußtseinszustandes auf unsere Eindheitserinnemngen 
in Betracht ziehen. Wir Erwachsenen rufen ja unsere Eindheits- 
erinnerungen im Lichte unseres Bewußtseins und unter der 
Wirkung unseres jetzigen Geisteszustandes hervor, und diese 
ändernde Wirkung und neue Beleuchtung werden, wie Unter¬ 
suchungen bewiesen haben, mit den Erinnerungen selbst unbe¬ 
wußt verflochten.^) 

• 

1) Es gelang mir dies besonders klar nachsuweisen anläßlich syste* 
matischer Untersnchnngen an mir selbst und vielen anderen Menschen. Ich 
lasse hier einen Fall als Beispiel folgen: D. M., zwanzig Jahre alt, hat mir 
seine möglichst genauen Eindheitserinnerungen auf dem Papier niedergelegft. 
»In meinem fünften Lebensjahre erhielten wir eines Tages ein Telegramm 
sehr betrübenden Inhalts. Die Mutter schluchzte und rang die Hände, der 
Vater ging aufgeregt im Zimmer auf und ab. Ich hörte etwas von ein¬ 
gebüßtem Geld sprechen und stand ebenfalls sehr traurig im Winkel. Vor 
dem Hause stand ein Wagen, den der Vater bald darauf bestieg und weg*- 
fuhr. Ich begleitete ihn ein paar Straßen lang, bis der Vater den Kutscher 
an den Schultern zurückzerrte, halten ließ (daran erinnere ich mich ganz 
genau). Darauf nahm der Vater von mir Abschied und fuhr in größter 
Erregung weiter, während ich weinend zurückblieb und mich über die 
Aufregung meines Vaters grämte.« Ich stellte dann bei Vater und Mutter 
des Betreffenden getrennte Nachforschungen über den Fall an und brachte 
in Erfahrung, daß zu dem vom Sohne angegebenen Zeitpunkt tatsächlich 
eine Katastrophe in der Familie sich ereignet hatte, die aber mit dem 
Telegramm in keiner Beziehung stand. Das Kind hatte damals so sorglos 
und lustig gespielt, daß man es in ein anderes Zimmer gehen hieß. Den 
Wagen wollte es nicht verlassen, da es »noch einige Straßen lang mitfahren« 



Die Wirkaii^ Ton katastrophaleo Ereignissen nnf die Seele nsw. 113 

Alle diese Unznl&nglichkeiten der Selbsteriimerangsmethode 
erkl&ren uns, warum es nur Dichtem gegeben ist, vermöge ihrer 
kfinsüerischeii Intuition >schöpferisch< ihre bloßen und unklaren 
Kindheitserinnernngen neu zu beleben, was sie ja auch schlie߬ 
lich mit Ereignissen längst vergangener historischer Epochen 
oder fremder Erlebnisse zu tun vermögen. 

Wir sehen aber aus dem bisher Gesagten, daß die Selbst¬ 
erinnerung als Methode durchaus unverläßlich ist und wir sie 
nur mit einiger Vorsicht anwenden dürfen, dabei immer die 
Resultate anderer objektiver Methoden, zn welchen wir jetzt 
übergehen werden, zur Kontrolle herbeiziehend. Es sind dies 
Methoden, durch deren Anwendung es uns gelingt, unmittelbar das 
Kind selbst und seine Äußerungen und Verändemngen unter dem 
Einfluß katastrophaler Wirkungen systematisch zu beobachten. 

Alle diese Methoden gründen sich auf die vermittelte Selbst¬ 
beobachtung, wie wir es oben in unserer Einleitung dargelegt 
haben. Sie unterscheiden sich voneinander lediglich durch die 
Art und das Objekt der Beobachtung. Folgende Methoden 
kommen hier in Betracht: 

2. Die Reizmethode, die darin besteht, daß wir experi¬ 
mentell auf das Kind verschiedene Reize oder Eindrücke ein¬ 
wirken lassen und die auftretenden Reaktionen beobachten. Wenn 
es sich aber nm so komplizierte Eindmckskompleze handelt, wie 
sie in unserem Falle der katastrophalen Ereignisse vorliegen, 
können wir natürlich solche Wirkungen nicht experimentell her- 
vormfen. Wir benutzen hier Bilder, d. h. wir zeigen dem Kinde 
verschiedene farbige Abbildungen solcher Ereignisse (oder setzen 
sie ihm entsprechend dichterisch verarbeitet vor) und beobachten 
dann seine Reaktionen. Diesen Weg schlug zum Beispiel Rudolf 
Schulze^) in Leipzig ein anläßlich einer experimentellen For¬ 
schung über den Einfluß der verschiedenen Kriegsereignisse auf 
Kinder. Er ließ die Kriegereignisse durch Bilder, dichterische 
Elrzählungen und Lieder anf die Kinder einwirken und photo¬ 
graphierte sie dabei ohne ihr Wissen und wußte auf diese Weise 
alle ihre mimischen Reaktionen, ihren Gesichtsausdmck, Hände¬ 
lage, Pose und allgemeine Körperhaltung, festzuhalten. 


wollte, and der Vater mofite es mit Gewalt entfernen. In sp&teren Jahren 
jedoch scheint der Jnnge die traurige Bedentnng jenes Tages kennen- 
gelemt and nnbewnflt seinen Gram darüber zusammen mit anderen Ereig¬ 
nissen in seine Eindheitserinnerungen verflochten zu haben. 

1) »Unsere Kinder und der Krieg« von Bad. Schulze, Leipzig 1917. 

ArohiT fOr Psychologie. XLVm. 8 



114 


F. Schneersohn, 


Auch diese Methode ist sehr mangelhaft. Erstens geht es 
nicht an, alle Geschehnisse wie auch nur alle Momente eines 
Geschehnisses in ihrer omgehener komplizierten Zusammen¬ 
stellung in Wort oder Bild wiederzngeben. Zweitens wissen wir 
nie, ob und inwiefern das Bild oder die Erzählung beim Kinde 
die Vorstellung vom betreffenden Geschehnis wachruft Drittens 
können wir dabei im besten FalUe nur die Wirkung kennen 
lernen, die die Vorstellung des Ereignisses auf das Kind ausfibt, 
nicht aber diejenige, die durch das Geschehnis selbst hervor¬ 
gerufen wird.*) 

3. Die direkte Beobachtung charakteristischer Äußerungen 
und Veränderungen des Kindes in Zusammenhang mit katastro¬ 
phalen Ereignissen. Bei dieser Methode gilt es die verschieden¬ 
artigsten Reaktionen des Kindes auf das äußere Geschehnis ob¬ 
jektiv zu beobachten und genau zu registrieren. 

Dabei muß die Beobachtung folgende zwei Arten der psych¬ 
ischen Reaktionen umfassen: Unmittelbare, d. h. solche Reaktionen, 
die sich unmittelbar beim Erleben des Ereignisses beim Kinde 
einsteUen, allerlei sprachliche, mimische und pantomimische Ge- 
ffihlsausdrftcke (wie z. B. Schreckensausmfe, Tränen, Erblassen, 
Angstbewegnngen, oder auch umgekehrt Gleichgflltigkeitsbezeu- 
gungen, kindlich-unbesorgte Neugierde u. dergl.), wie auch das 
verschiedene Verhalten des Kindes und seine Beziehungen zur 
Umwelt während dem Erlebensmoment. Außer diesen unmittel¬ 
baren oder baldigen Reaktionen muß man auch die späteren 
Reaktionen des Kindes —Anzeichen einer Veränderung des Gemüts¬ 
zustandes, des allgemeinen Verhaltens des Kindes und seiner Be¬ 
ziehungen zur Umgebung — feststellen. Wir müssen z. B. zu er¬ 
fahren trachten, ob, wie oft und in welcher Art das Kind sich 
an das Erlebte erinnert, ob es unter dem Einfluß der überlebten 
Katastrophe eine Neigung zur Einsamkeit zeigt, öfters apathisch 
dasitzt, ängstlich, nachdenklich und gedrückt erscheint, weniger 
Anteil an Spielen oder an früher bevorzugten Spielen nimmt, 
verschlossen und abweisend seinen Kameraden gegenüber ist, 
lustigen und lärmenden Kindergesellschaften aus dem Wege geht, 
oder ob es umgekehrt beweglich, unruhig geworden ist, oft un¬ 
diszipliniert und lärmend sich verhält, schnell in Zorn und Auf¬ 
regung gerät, ohne für sein Alter ausreichenden Grund weint oder 
lacht, mehr oder weniger die Arbeitslust eingebüßt hat, schnell 
ermüdet, in neuen Lagen sich schwerer orientiert u. dergL 


1] Siehe mein Buch: »Die intime Psychologie des Kindes« Kap. 1. 



Die Wirknng von katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 115 


Die direkte Methode führt uns in das Seelenleben des Kindes, 
soweit es durch seine Beaktionen zum Ausdruck kommt. Eine 
und dieselbe Reaktion kann aber verschiedenes Erleben ans¬ 
drücken, wie auch verschiedene Reaktionen ein und dasselbe 
Erlebnis zur Ursache haben können. Hier kommt uns die fol¬ 
gende Methode zu Hilfe*). 

4. Die Ausfragungsmethode, die darin besteht, daß 
wir uns mit dem Kinde in ein Gespräch einlassen und es aus¬ 
führlich über seine Gefühle anläßlich dieses oder jenes Ereig¬ 
nisses befragen. Diese Methode soll uns helfen, die verborgenen 
oder unklaren Reaktionen des Kindes ans Licht zu bringen. Zur 
Durchführung dieser Methode hei systematischen Massenunter- 
snchungen benutzen wir die sogen. Fragebogen, in denen zu diesem 
Zwecke ausgearbeitete und genau formulierte Fragen dem Kinde 
vorgelegt werden, und sammeln die Antworten, um sie einer ge¬ 
eigneten Bearbeitung zuzuführen. Diese Fragen können sich be¬ 
ziehen entweder auf das durchlebte Geschehnis im allgemeinen 
oder nur auf bestimmte Momente desselben, wir können das Er¬ 
eignis unmittelbar berühren oder auch auf indirektem Wege die 
Erinnerung des Kindes an das Durchlebte wecken. Auf diese 
Weise haben einige Forscher*) in Deutschland und in anderen 


1) Die direkte Beobachtimgsinethode kann als Hilfsmittel den photo¬ 
graphischen Apparat benntsen, welcher objektive Bilder vom Aassehen des 
Kindes in verschiedenen Momenten liefert, wie auch der Film, der ver¬ 
schiedene pantomimische Beaktionen getreu wiedergeben kann. Bei Massen- 
ontersachongen von Kindern an verschiedenen Orten onter den angttnstigen 
Umständen einer katastrophalen Zeit ist aber das Benutzen solcher Apparate 
praktisch undnrchftthrbar. Auflerdem kSnnen wir durch den Apparat nur 
Momentbilder erhalten, während die systematische Beschreibung den Verlauf 
des Prozesses während einer gewissen Zeitpause schildert. Dasselbe gilt 
auch in bezug auf einige organische Beaktionen während des Erlebens, wie 
Veränderungen der Blutzirkulation und Herztätigkeit, welche durch be¬ 
stimmte Apparate registrierbar sind. Die direkte Methode ist eigentlich 
die sogen. Aasdrucksmethode im breiten Sinne, d. h. eine Methode, die sich 
auf die Ausdrucksbewegungen und -handlangen bezieht. Nichts anderes ist 
auch die folgende Ausfragungsmethode, die Sprachreaktionen des Kindes 
heranzieht, da ja die Sprache schließlich auch ein System von symbolischen 
Ausdrucksbewegungen des Sprachapparates ist. 

2) Plecher, Der große Krieg im Urteile der Jugend (Zeitscbr. f. Kinder- 
forschung 1916); Nagy Ladislaus, Der Krieg und die Seele des Kindes 
(Verlag der Ungarischen Oesellschaft für Kinderforschung, Budapest 1916). 
Siehe auch: »Nos Enfants et la Querre« (Enquete de la Societä libre pour 
l’dtude psychologique de l’enfants) Paris 1917. Kortsen: »Eine Umfrage 
über die Wirkungen seelischer Erschtttterungen in der Kindheit« (Zeitschr. 
f. pädagogische Psychologie, 1917). 


8 * 



116 


F. Schneersohn, 


L&ndern die Wirkung des Krieges auf die E^inder untersucht. 
Solche Untersuchungen haben auch wir im Jahre 1920 bei pogrom¬ 
beschädigten Kindern durchgefhhrt. 

Auch Herr Dr.Babino witsch hat, unabhängig yon mir, solche 
Untersuchungen in Petersburg bei pogrombeschädigten Kindern 
Yorgenommen. 

Den gewissen Wert der durch diese Methode erzielten Resul¬ 
tate durchaus nicht verkennend, müssen wir jedoch folgendes 
unterstreichen: 

Bei den seelischen Erlebnissen des Kindes anläßlich katastro¬ 
phaler Geschehnisse bilden ja die emotionellen Erscheinungen 
des Schreckens und des Leidens in ihren verschiedenen Formen 
den Schwerpunkt. Wir müssen also beim Ansfragen die Auf¬ 
merksamkeit des Kindes auf seine erlebten Gefühle konzen¬ 
trieren. Emotionelle Erscheinungen oder Gefühle zeichnen sich 
aber naturgemäß durch große Unklarheit ans. »Wir können«, 
sagt Professor Titchener, »unsere Aufmerksamkeit nie auf das 
Gefühl konzentrieren, und wenn wir es dennoch versuchen, ver¬ 
schwinden die Lust- oder Unlustgefühle und unsere Beobachtung 
bleibt an einer indifferenten Empfindung oder Gestalt haften, die 
wir gar nicht zu untersuchen beabsichtigten«. — Zweitens ist 
unsere Sprache eigentlich »die Sprache unserer Vorstellungen, 
nicht aber des Gefühls«. Selbst die ausführliche eigene Be¬ 
schreibung eines Gefühls ist nach der zutreffenden Behauptung 
Titcheners nicht mehr als eine »Mitteilung von zweiter Hand«, 
weil wir gezwungen sind, das Gefühl erst in die Vorstellung vom 
Gefühl zu übertragen. »Es ergibt sich klar«, sagt Schulze, »daß 
die Methode (des Ausfragens) unbrauchbar ist. Sobald der Sprach- 
apparat den Assoziationsstrom beherrscht, tritt das Gefühl in den 
Hintergrund.« — »... t5ber das Wesen des Gefühles erfahren 
wir nichts.«^) 

Tatsächlich finden wir im Untersuchungsmaterial, das uns die 
Ausfragemethode liefert, sehr häufig verschiedene Widersprüche, 
hohle Phrasen, nicht ernst zu nehmende Kinderweisheiten und 
vieldeutige Antworten*). 


1) Siehe mein Bach: »Die Intimitätspeychologie des Kindes« Kap. I. 

2) Es ist von Interesse, hier anf folgende Beispiele hinznweisen: ln der 
obenerwähnten von Plecher dnrchgeführten Arbeit wurden 80 Kindern 
12 Fragen über den Krieg vorgelegt. Die Antworten der Kinder auf die 
fünfte Frage (Was würdest da tan, wenn da in den Krieg ziehen müßtest?) 
lauteten kampflastig und tapfer. Aaf die sechste Frage aber (Was würdest 
da tan, wenn der Feind ins Land eindringt ?) antworteten mehr als die Hälfte 



Die Wirkung tob katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 117 

Ans all dem geht hervor, daß die vorsichtige Anwendung der 
Ausfragemethode uns verschiedene Seiten des Denkens und 
Urteilens des Kindes enthüllen, oder vielmehr uns Aufschluß über 
die Art, wie es seine Beziehungen zur Umwelt formuliert, geben 
kann. In das emotionelle Erleben des Kindes, das, wie wir schon 
bemerkten, den Kern der Einwirkung von katastrophalen Ereig¬ 
nissen bildet, bietet uns hingegen diese Methode keinen Zugang. 
Wir können dies nur durch die folgende Methode erreichen^). 

5. Die Methode der Phantasienuntersnchnng. 
Die Phantasie ist ihrer Natur nach eine emotionelle Schöpfung, 
d. h. wie wir es an einem andern Orte bewiesen haben,*) sie ver¬ 
körpert oder verwirklicht unsere Gefühle und emotionelles Streben. 

Die Phantasie spiegelt bei jedem Menschen seinen Gefühls¬ 
zustand. Wenn auch Gefühle der Selbstbeobachtung nicht zu¬ 
gänglich sind und nicht die AufmerksamkeiUanf sich konzentrieren 
lassen, so stehen doch Phantasiegestalten klar Umrissen im Be¬ 
wußtsein des Kindes und lassen sich selbst von ihm in Wach- 
tränmen und Erzählungen objektiv beschreiben. Die Phantasie 
öffnet uns weit die Türen in die intime Gefühlswelt des Kindes, 
welche sich in ihren Erzählungen und emotionell-durchsichtigen 
Phantasiebildem enthüllt. 

Noch im Jahre 1919 haben wir verschiedene Methoden zur 
Untersuchung der Phantasie ausgearbeitet. Wir werden hier nur 
die einfachsten und allgemein zugänglichen ausführen: a) Die 
Methode der Selbsterzählung. Diese Methode nutzt die Pro¬ 
dukte der Kinderphantasie — das »Geschichtchen«, die Märchen- 

(42 Sinder), dafi sie sich Terberf^en oder fliehen würden. Ist dies Feigheit? 
Flecher sucht dies anf folgende ausgeklügelte Weise anszndenten: Die 
Sinder wollen sich verbergen, weil sie wissen, daß nicht mobilisierte Personen 
nicht in den Kampf eingreifen dürfen. 

1) Zar Aasfragemethode gehört eigentlich auch die > Definitionsprüfong« 
von Gregor, welcher den Kindern verschiedene Begriffe zor Bestimmang 
vorlegt and dabei sieht, inwiefern die Eindrücke des Überlebten sich in der 
Begriffsbestimmnng des Kindes widerspiegeln. — Es ist dies eigentlich not 
eine indirekte Art der Aasfragemethode. Gregor, Über den Einflofi von 
Kriegs- and Zeitkomplexen anf die Definitionsleistnngen bei Kindern (Zeitschr. 
fOr pädagogische Psychologie 1920/21). So gehören anch za derselben 
Methode die Untersachongen von Kammei, die 1914—16 an einer Kinder- 
gmppe dnrchgeführt worden sind. Diese Untersachnngen haben znm Unter¬ 
schied von denjenigen Gregors gezeigt, daß der Krieg keine bedeutende 
Wirkung auf die Kinder, speziell auf die Entwicklung der Kinderinteressen 
hat. Kammei: »Der Einfluß des Krieges auf die Berafsvorstellungen der 
Kinder« (Zeitschr. f. päd. Psych., 19016). 

2) »Intimitätspsychologie des Kindes« I. Teil. 



118 


F. Schneersohn, 


erzählung, das Träumen im Schlafe und im Wachen —, die das 
Kind selbst zum besten gibt, ohne daß es direkt dazu anfgefordert 
wurde, aus. Dies geschieht öfters, als man anzunehmen geneigt 
ist Unsere Erfahrungen haben uns bewiesen, daß das Kind häufig 
»Geschichtchen« und »Wachträume« improvisiert, die die tiefsten 
und edelsten Zttge seines inneren Erlebens in Gestalten verkörpert 
wiedergeben, b) Die Methode der unbegrenzten Bestell* 
erzählung, d. h. man schlägt dem Kinde vor, irgendeine selbst* 
verfaßte Geschichte oder Märchen zu erzähen, ohne daß man es an 
ein bestimmtes Thema oder gegebenes Sujet bindet So kann 
man sich einfach an das £[ind wenden: »Erzähl’ uns mal was 
Interessantes«. Die Erfahrung zeigt, daß die Kinder sehr gern 
auf einen solchen Vorschlag eingehen, und ihre Erzählungen, die 
dabei durchaus ungezwungen und natürlich bleiben, liefern ein ge* 
naues Abbild ihrer en^otionellen Persönlichkeit c) Die Methode 
der begrenzten Bestellerzählung, d. h. wir schlagen also 
dem Kinde vor, ein Geschichtchen oder Märchen über ein bestimmtes 
Thema zu erzählen, zu einem vorgelegten Bild, über ein konkretes 
Elreignis u. dgl., alles Momente, die nun in einem gewissen Maße 
die Form und die Richtung der Schöpfung beeinfiussen, keines* 
Wegs aber, wie unsere Versuche zeigten, der emotionellen QueUe 
Einhalt gebieten. Das gegebene Thema oder Bild kann zu den 
erlebten Geschehnissen in einer gewissen Beziehung stehen, und aus 
der Erzählung sehen wir sogleich, wie die Phantasie des Kindes 
auf das Erlebte reagiert 

Bei solchen Untersuchungen ist es sehr interessant zu sehen, 
ob, wie oft und auf welche Weise in den Phantasien und Träumen 
des Kindes Bilder und Gestalten der erlebten Ereignisse auf* 
tauchen. Die weitere Analyse des Phantasiematerials deckt uns 
den intimen Gefühlsznstand des Kindes auf. Es versteht sich 
von selbst, daß solche Untersuchungen genau und objektiv durch¬ 
geführt werden, etwaige suggerierende Wirkungendes Untersuchers 
wie überhaupt alle Nebenwirkungen ausgeschaltet werden müssen, 
da sonst die unmittelbare Natürlichkeit des Kindes gestört wird. 
Aus diesem Grunde können wir nicht Schulaufsätze als Phantasie¬ 
material behandeln, da sie oft nach den Anweisungen des Lehrers 
gemacht werden, jedenfalls von diesem beeinflußt sind und die 
spezifische Schulatmosphäre mit ihren festen Traditionen die un¬ 
mittelbare Natürlichkeit des Kindes einschränkt. Die Unter¬ 
suchungen müssen bei gewöhnlich-normaler Stimmung des Kindes 


1) Siehe aach mein Werk: »Die intime Psychologfie des Kindes« Kap. 8. 



Die Wirknng yon katastrophalen Ereignissen auf die Seele nsw. 119 

— nicht wenn es ermüdet, aufgeregt oder dgL ist — gemacht 
werden. 

Zn dieser Methode der Phantasienntersuchung müssen wir 
eigentlich auch die folgende zählen: 

6. Die Erinnerungsmethode, d. h. die Sammlung von 
Phantasieerinnemngen des Kindes, die uns zeigen, welche Ereig¬ 
nisse der Vergangenheit dem Kinde sich eingeprägt haben, und 
auf welche Art das in der Erinnerung Fixierte yerarbeitet und 
yerändert worden. Analog der yorangehenden Methode unter¬ 
scheiden wir auch hier folgende Abarten: a) Selbsterinne- 
rnng. Das Kind erzählt aus eigenem Antrieb, irgendeine seiner 
Ehinnemngen, die sich ans seiner Seele spontan gelöst, b) U n - 
begrenzte Aufforderung. Wir schlagen dem Kinde yor, 
eine seiner Erinnerungen zu erzählen, ohne dabei Thema und 
Inhalt irgendwie zu bestimmen, c) Begrenzter Vorschlag, 
d. h. wir schlagen dem Kinde yor, eine Erinnerung an ein be¬ 
stimmtes Ereignis oder eine bestimmte Zeit zu erzählen. Wie 
die früher erwähnten Methoden muß auch die Erinnerungsmethode 
wissenschaftlich exakt und objektiy in dem eben beschriebenen 
Sinne dnrchgeführt werden. Auf diese Weise sind wir in den Besitz 
sehr wichtigen Materials gelangt. Auch Tagebücher und charak¬ 
teristische Briefe, denen wir bei älteren Kindern begegnen, gehören 
dazu. Zn der Erinnerungsmethode gehört auch die autobiographi¬ 
sche Methode, die wir bei älteren Kindern angewendet haben. 

7. Zeichnenmethode. Das Zeichnen und Malen hat, wie 
Kik richtig heryorgehoben hat, beim Eände ganz andere Be¬ 
deutung wie beim Erwachsenen. Während nämlich der letztere 
nur bei ausgesprochener Begabung oder entsprechender Schulung 
sich daran wagt, sein Erleben durch Bilder wiederzugeben, da 
ihm diese Ausdmcksweise bei weitem nicht so geläufig und natür¬ 
lich wie die Sprache ist, ist das Kind naiy dayon überzeugt, daß 
seine Linien, Figuren und all die merkwürdigen zeichnerischen 
Einfälle der Wirklichkeit entsprechen. Und deshalb drückt das 
Kind seine Erlebnisse Und Traumgestalten frei und offen in 
Zeichnungen ans, die uns einen Einblick in das Denken und 
Fühlen des Kindes gewähren. So hat der oben erwähnte Kik^) 
im Jahre 1915 die Kriegszeichnungen der deutschen Kinder be¬ 
arbeitet^). Leider konnten wir aus technischen Gründen diese 
Methode nicht gebührend berücksichtigen. 

1) Eik, Kriegszeichnimg^en der Knaben and Mädchen (»Jngendlichea 
Seelenleben and Krieg:«, Leipzig: 1915). Siehe aach M-lleB6my; »Dessins 
d'enforts« (»Nos Enfants et la Oaerre« Paris 1917). 



120 


F. Schneenohn, 


Wir sprechen hier von »freien« Einderzeichnungen, nicht 
aber von Kopien, die Kinder nach anderen Zeichnungen anfertigen. 
Anch bei Zeichnnngen unterscheiden wir wieder die folgenden 
üntersuchungsmethoden. 

a) Freie Zeichnnngen. Die Kinder zeichnen ans eigenem 
Antrieb, ohne dazu anfgef ordert zu werden, b) Unbegrenzte 
Anffordernng. Wir schlagen dem Kinde vor, irgendein Bild 
zu zeichnen, ohne ihm ein Sujet vorzuschreiben, c) Begrenzte 
Aufforderung. Wir geben dem Kinde ein bestimmtes Thema 
zur Zeichnung, ohne jedoch im fibrigen seiner Phantasie Zfigel 
anfzulegen. 

Im gleichen Sinne, wenn anch nicht in so hohem Maße, können 
auch andere künstlerische Arbeiten der Kinder, wie Modellieren 
n. dgl., zur Untersuchung herangezogen werden. 

8) Spieluntersuchnngen. In Phantasien, Träumen und 
Erzählungen drückt das Kind seinen Gemütszustand in lyrischer 
oder epischer Form ans, während es im Spiel eine dramatische 
Ausdmcksform in aktiven Äußerungen und Handlungen findet. 
Das Kind wählt sich in verschiedenen Spielen verschiedene Rollen 
und bringt so seine Persönlichkeit in verschiedenen Arten zum Aus¬ 
druck. Im Spiel verwirklicht das Kind instinktiv seine schlummern¬ 
den Anlagen und innerlichen Bestrebungen. Bei genauer Beobach¬ 
tung können wir im Spiele des Kindes merken, ob und inwiefern 
sich die erlebten Geschehnisse im psychischen Leben des Kindes 
widergespiegelt haben. Wir müssen in Schulen und Erziehungs¬ 
anstalten systematisch objektiv die allgemein herrschenden Spiele 
der ganzen Kinderkollektion, wie anch die Spiele der verschiedenen 
Gruppen und die besonderen Spiele einzelner Kinder beobachten. 
Folgende Momente kommen da in Betracht: Spielinhalt, Spiel¬ 
verlauf und Rollenverteilung. Der Spielinhalt kann direkt oder 
indirekt den erlebten Geschehnissen entlehnt werden: Kriegsspiele 
oder die in der Ukraine so oft beobachteten Banditen- und Räuber¬ 
spiele. In diese Spiele werden aber verschiedene Änderungen und 
Modifikationen hineingetragen, die charakteristisch die spezifischen 
Kindererlebnisse widerspiegeln. Das Answählen und die Aus¬ 
führung einer bestimmten Lieblingsrolle charakterisieren in ge¬ 
wisser Hinsicht jedes spielende Kind. Es versteht sich von selbst, 
daß unsere Ausführungen sich anf »freie« Spiele beziehen, nicht 
aber auf von Erwachsenen organisierte, die nach den Anweisungen 
der Erzieher oder unter ihrem Einfiuß ausgeftthrt werden. 

Alle diese psychologischen Methoden führen uns, jede auf 
ihre Art, in die innere Welt des Kinderlebens, und alle zusammen 



Die Wirkong Ton katastrophalen Ereignissen anf die Seele nsw. 121 

Termögen uns das yielfarbige Wirknngsbild von Katastrophen 
auf das Kind zn liefern. Zur Ergänzung wollen wir noch die 
letzte, sehr wichtige Gruppe von Methoden heranziehen. 

C. Klinische Methoden. Hier handelt es sich um die 
Untersuchung von nerven-psychischen Kinderkrankheiten oder 
krankhaften Veränderungen, die unter dem Einfluß katastrophaler 
Geschehnisse anfgetreten sind. Eigentlich bildet diese Methode 
einen Hauptbestandteil der eingangs besprochenen allgemein 
statistischen Untersuchungen, die zum Ziele haben, festzustellen, 
ob und nm wieviel die Zahl der nerven*psychischen Krankheiten 
bei Kindern unter der Einwirkung katastrophaler Ereignisse ge¬ 
wachsen ist. Von größter Bedeutung ist aber die individuell¬ 
klinische Methode, d. h. die spezielle Untersuchung des Zusammen¬ 
hanges zwischen durchlebter Katastrophe und dem konkreten 
Krankheitsfall, und es kommen hier zwei Möglichkeiten inBetracht: 

a) Die Katastrophe ist nicht die Ursache, son¬ 
dern der Anlaß zum Ausbruch der Krankheit, d. h. 
sie weckt schon vorhandene verborgene Krankheiten oder Krank¬ 
heitskeime anf. So können, wie wir weiter sehen werden, kata¬ 
strophale Erlebnisse den Ausbruch epileptischer Anfälle, Chorea 
n. dergl. bewirken. 

b) Die durchlebte Katastrophe als Hauptursache 
der nerven-psychischen Krankheit, wenn wir auch hier nicht 
eine ererbte krankhafte Disposition ausschließen können. In 
erster Linie müssen wir die verschiedenen Fälle von Schreck- 
neorose bei Kindern nach äußersten Erschütterungen[dazn rechnen. 
Wir werden später auf solche und ähnliche Fälle ausführlich 
zurückkommen. 

Das folgende Schema möge zur Gewinnung eines klaren Über¬ 
blicks über die beschriebenen Untersnchungsmethoden dienen. 

A. Statistische Methoden: 

1. Allgemeine statistische Untersuchungen. 

2. Spezielle Enqneten-Untersuchung. 

B. Psychologische Methoden: 

1. Selbsterinnerung des Erwachsenen. 

2. Heizmethode. 

3. Direkte Beobachtungsmethode. 

4. Ansfragnngsmethode. 



122 Schneersobn, Die Wirkangen t. katastr. Breign. auf die Seele osw. 


5. Phantasie-Untersuchnngeii 

6. Erinnerangsmethode 

7. Zeichnungen 

8. Spielnntersnchnngen. 


Selbsterzählnng, unbe¬ 
grenzte und begrenzte Anf- 
forderong. 

Selbsterinnemng, unbe¬ 
grenzte und begrenzte Auf- 
fordemng. 

Selbstzeichnnngen, unbe¬ 
grenzte und begrenzte Auf¬ 
forderung. 


C. Klinische Untersuchungen. 

Alles, was wir bisher über die Methoden ausgeführt haben, 
bezeichnet uns das erste Moment der Untersuchung, zeigt uns 
nur die Mittel und Wege zur objektiven Beobachtung und Re¬ 
gistrierung der psychischen Veränderung des Kindes beim Er¬ 
leben katastrophaler Geschehnisse. Das zweite Moment besteht 
in der objektiv richtigen Bearbeitung des schon vorliegenden 
Materials, das auf seinen spezifischen Inhalt und Charakter ge¬ 
prüft werden mnß. Dieses zweite Moment ist das wesentliche 
und verantwortungsvollere und bildet, wie wir schon in unserer 
Einleitung dargelegt haben, den springenden Punkt des Ganzen. 
Über diese in der Untersuchung festgestellten Prinzipien bei der 
objektiven Abschätzung von des Kindes Äußerungen und Re¬ 
aktionen wird in den nächsten Kapiteln gesprochen werden. 

(Fortsetzang folgt.) 

(Eingegangen am 8. Febrnar 1924.) 



Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre 
Nutzpflanzen und Haustiere. 

Von 

Bnino Gatmann. 

Die Stämme um den Eilimandscharo her waren tief in die 
Schrecken des Weltkrieges mit hineingezogen, viele Gefechte 
spielten sich in den Steppen am das Gebirge her ab, sie sahen 
den Einbruch der Engländer mit ungeahnter Entfaltung ihrer 
Machtmittel, sie wurden selber gewaltsam dem Heerwarme ein- 
yerleibt, ihre Häuptlinge fielen zum Teil europäischen Ausntttzem 
der Lage zum Opfer, — sie hätten wirklich abgestumpft sein 
können im Wechsel der Schrecken, aber blieben dennoch in 
in ihren seelischen Tiefen erregt Da ging z. B. 1919 ein Ge* 
rächt durch alle Dschaggahäuptlingschaften: in der Steppe hinter 
Amscha sei ein amgeschlagener Baum gewesen, der habe sich 
von selber wieder anfgerichtet, stehe fest und grüne aufs neue. 
Den Masai gelte das als Zeichen, daß ihre Herrschaft wieder¬ 
komme, und andere sahen darin ein Zeichen vom Weltuntergänge 
und der Wiederkehr der Toten. In der Landschaft Moschi er¬ 
weckte das Gerücht die Erinnerung an ein Erlebnis ähnlicher 
Art vor 25 Jahren. Das damals führende Glied der Sippe der 
Wand2au habe am Abhange oberhalb eines Kanals einen uralten 
Baum amgeschlagen, der sei abhangwärts umgefallen und sie 
hätten ihn da in allem Kronwerk liegen lassen, um ihn am 
andern Tage zu entästen. Aber in der Nacht habe man den 
Baum rufen hören: ui, ui, und am nächsten Morgen sah man, 
wie der Baum sich von selber noch einmal aufgerichtet hatte 
und nach der andern Seite, d. h. bergwärts wieder umgefallen 
war. Nicht lange darnach sei der FäUer des Baumes gestorben 
und nach ihm in kurzen Zeitabständen seine Helfer. 

Noch hingen die Leute ihren Gedanken darüber nach, da 
kam schon wieder ein neues Gerücht von Amscha herüber auf 
den raschen Wellen der Weltkriegerregung: In Amscha sei ein 



124 


Bmno Gotmann, 


Kind geboren worden im Federkleide, und an Stelle der Arme 
habe es Flügel. Ganz gewiü sei die Tatsache, man habe es 
dem englischen Bezirksbeamten gezeigt 

Diese Gegenwartsbilder versetzen nns unmittelbar in den 
Bereich der Gefühle, aus denen die religiösen Strebungen dieser 
Stämme entstehen, und lassen ihre Urgewalt noch heute ahnen, 
mit der sie einst alle Anschauungen gestalteten. Diese Urgewalt 
ist das Gefühl um die Lebenseinheit mit Tier und Pflanze und 
der Wunsch, sie zu einer Gemeinschaft zu gestalten, die vom 
Menschen beherrscht wird, der sie zu einem Kreise rundet, in 
dem sich alles voll ergänzt und nach außen abschließt Der 
Urmensch fühlt seine Abhängigkeit von Tier und Pflanze in 
einer Stärke, die wir in Zeiten der Not, wie den jetzigen, nur 
ganz von ferne her, doch nur wieder ahnen können. Im Banne 
dieser Abhängigkeit erlebt er auch ganz anders, also nicht nur 
dem Grade nach unterschieden, die Selbstsicherheit und Ver¬ 
sorgungsgewißheit, die Tier und Pflanze vor ihm anszeichnet. 
Und so war ihm auch der Weg gewiesen, auf dem er selbst 
Anteil an ihrer Sicherheit und Gewißheit, erhöhten Lebensschutz 
und Lebenstmtz gewinnen konnte, nicht durch Gewalt, sondern 
durch Ehrerbietung, durch Anpassung und Dienst an ihren 
Lebenswnrzeln und Lebensgewohnheiten, und nicht um sie aus- 
znbeuten und zu berauben, also mit aller Berechnung der späteren, 
selbständiger gewordenen Menschheit, sondern um mit ihr die 
rechte innere Lebenseinheit zu gewinnen, eine gemeinsame Er¬ 
höhung und Standfestigung gegen die als feindselig erfahrene 
andere Welt 

Die Einteilung in Jäger, Hirten und Ackerbauer ist zwar 
seit langem aufgegeben, aber im Unterbewußtsein lebt von ihr 
her noch eine Hemmung weiter, die uns hindert, den Reichtum 
der Beziehungen zu erfassen, den der noch nicht streng beruflich 
gebundene Mensch besitzt. Der Dschagga hat jetzt über 
12 Enlturgewächse in Pflege, darunter die Banane mit 6 Haupt¬ 
sorten, die Jamswurzel mit ebenfalls 6 Sorten und 7 Bohnen¬ 
sorten. Daneben aber achtet er noch auf eine Anzahl Wild¬ 
pflanzen, die er um ihrer arzneilichen oder kultischen Bedeutung 
willen entweder im Anbaubereiche weiterwachsen läßt und mit¬ 
betreut oder in einigen Stücken in erreichbare Nähe aus der 
freien Natur hereinpflanzt in seinen Lebensbereich. Dazu kommen 
dann die eigentlichen Wildpflanzen, bei denen er Hilfe in einer 
ganz bestimmten Not sucht und die ihn ohne diese gleichgültig' 
lassen. Über 200 Arznei- und Knltpflanzen konnte ein einziger 



Die Shrerbietang der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen new. 125 

Gewährsmann mich unterrichten. Die Anfzeichnnngen ftber etwa 
einhnndertnndfflnfzig habe ich noch in Händen. Davon sind 27, 
also mehr als der sechste Teil, für Mensch und Tier gleichzeitig 
bestimmt Hätte ich diesem Zusammenhänge gesondert nach* 
gehen können, so wären sicher noch viel zahlreichere Zusammen* 
hänge zutage getreten. 

Aber schon unter diesen zufällig aufgedeckten ist einer be¬ 
merkenswert, der ihr Gefühl um eine natürliche Lebenseinheit 
zwischen Tier und Mensch noch jetzt recht anschaulich hervor¬ 
treten läßt 10 Pflanzen unter den 27 stellen Frau und Rind 
unter ganz die gleiche Behandlung bei Nöten und Beschwerden 
aus Geburt und Stillgeschäft 

Die gleiche Behandlungsart ist es z. B. bei der Eandelaber- 
Euphorbie (ipapongu), deren Ruß von verbrannten Ästen dem 
Rinde in die Nüstern eingeblasen wird, während man davon 
einer schwangeren Frau leicht in die Nase räuchert. 

Gegen den bösen Blick schützen die Blätter des Eäpurika- 
Rankgewächses, weshalb man sowohl die Brüste der Frau vor 
ihrem ersten Ausgange nach den Wochen damit einreibt, wie 
auch das Enter der Euh vorm ersten Weidegange nach dem 
Werfen eines Ealbes. 

Mehrere Eräuter verbessern bei beiden die Milch, andere 
wieder durch innere oder äußere Anwendung die Drüsen, sei 
es sie kräftigend oder im Gegenteil von einer Geschwulst be¬ 
freiend. 

Die Blätter vom Moroma-Baum, einem Schmetterlingsblütler, 
sänftigen ein Rind, das das Ealb nicht zuläßt und beim Melken 
ausschlägt. Die Blätter werden eing^eben, der Wnrzelsaft des 
Baumes auf Einschnitte in die Nase verrieben. Die Melkerin 
bestreicht sich mit dem Ruße aus verbrannten Blättern Stirn 
und Zunge und dem Rinde alle Gelenke. Es soll auch junge 
Frauen geben, die sich dem Säuggeschäfte wild widersetzen und 
das Eind immer wieder von der Warze reißen. Dagegen ver¬ 
reibt man den Wurzelsaft aus Sämlingen des Baumes auf Ein¬ 
schnitte, die man der Frau auf die Brüste und zwischen sie 
macht. Der Säugling wird am Einn ebenso behandelt. Die 
Befriedungskraft dieses Baumes wird auch den Pflanzen zugute 
gebracht durch den Ackerstock, den man von ihm nimmt. 

Unter den Liebesmitteln ist eines gleich kräftig gegen Mensch 
und Tier: die Mbuwuo-Liane. Das Pulver aus ihren Blättern, 
Blüten und Früchten auf Zungenspitze, Lippen und Stirn ge¬ 
strichen, zwingt einem das Wohlwollen der Menschen zu und 



126 


Bruno Outmann, 


auch des Rindes, wenn man ihm auch die Gelenke damit betupft. 
Wurzel und Eem zerrieben und in ein ZiegenhOmchen getan, 
ist ein starkes Liebeszwangmittel. Schlage man mit einem 
HOmchen solchen Inhalts an seine Stirn und dann an die Stim 
eines Rindes in der Herde, und gehe man darnach ohne sich 
umzusehen nach Hause, so folge einem nicht nur dieses eine 
Rind nach, sondern die ganze Herde. 

Vom Msambotsi-mka-Stranche nahm man das Bogenholz zum 
Abschießen der Zapfpfeile in die Halsschlagader des Rindes zur 
Gewinnung des Bluttrankes für die Wöchnerin. Mit der Sichel 
nur durfte es von dem Berufenen abgeschnitten werden, nach 
Beschwörung und Anschneiden an vier vorg&ngigen Tagen. Daheim 
besprengte er es mit Entsühnnngswasser und setzte ihm einen 
Bnndesring aus der Kopfhaut eines Rindes unter Beschwörung 
seiner Glückskraft für Rind und Kind und Wöchnerin. 

Hier sehen wir wieder einen geschlossenen Ring freigelegt, 
der das Leben von Pflanze, Tier und Mensch umfaßt. 

Der Adlerfam, ngantu genannt, ist die eigentliche Glücks¬ 
pflanze der Dschagga. Elr wird in den vom Opferblute gedüngten 
Boden des Bananenhaines gepflanzt, um diesem alle schädlichen 
Kräfte zu nehmen, seine Knollen vergräbt man unter die Herd¬ 
steine, unter die Tür, Schlafstelle und Rinderstelle mit Friedens¬ 
wünschen, ein Stück Wurzel kommt ins Essen für kranke Kinder 
und die erste Milch einer Kalbe. 

Der Mlailai-Banm liefert Ackerstöcke, die alles schneller 
fruchten lassen, von ihm schneidet man den Glücksstock für die 
Bananen. 

Baum und Mensch sind die zwei höchstentwickelten orga¬ 
nischen Gebilde auf der Erde. Gerade der deutsche Mensch be¬ 
ginnt auf einer höheren Bewußtseinslage wieder die enge Schutz- 
gesellnng zu verstehen und andern zu deuten, die zwischen Baum 
und Mensch besteht und zu beider Bestem erhalten bleiben muß. 
Der Urmensch fühlte sie viel unmittelbarer und körperlicher 
und ehrte den Baum als den höheren Erdgenossen, der ihm 
Nahrung, Kleidung und Obdach spendete, der ihm Werkzeug^ 
und Waffe lieferte, die mit Biegsamkeit wie beim Bogen, oder 
Knotenhärte, wie bei der Keule, unmittelbar in eigner Kraft 
sich ihm verbündete und der ihm aus erstorbenem Leibe das 
Lebendigste gab zum Schutze gegen Raubtier und Gespenst und es 
ihm deckte bis auf den letzten weißen Aschenrest: das Schönste 
im Walde: die rote Blume des Feuers. Zum Baume schaute er 
auf als seinem Wegweiser durch Zeit und Raum und als dem 



Die Ehrerbietnng der Dschagganeger gegen ihre Nntapflanzen nsv. 127 

Mnweiser anch in die geheimnisvollen Vorgänge der Selbst- 
emenemng aus Samen, Ast- und Wnrzeltrieb — und so hat er 
sich gerade für den JPorterhalt der Geschlechterfolge und die 
Lebenswiederkehr im Nachfahren in die Bnndesgemeinschaft mit 
solchen Bäumen begeben, die ihm eine auffällige Kraft zur 
Selbstemeuerung und zur Selbstgesnndnng zu haben schienen. 

Bis auf den heutigen Tag ist darum dem Dschagga bei 
Hochzeiten und Geburten der Zusammenhang mit bestimmten 
Bäumen wichtig. Unter ihnen ragt die Baniane oder Würge¬ 
feige hervor, die ja nach zwei Seiten sich als Förderer jungen 
Lebens ihm empfiehlt: um ihrer Verjüngungskraft ans den Luft¬ 
wurzeln willen und wegen des milden Milchsaftes in der Binde, 
der so reichlich fließt, daß er jede Bindenverletzung damit heilt. 
Ihre Bastfäden nmbinden das Leben von Säugling und Mutter. 
Von einem Baume dieser Art, der auf dem Grunde der Msiwu- 
Sippe heilig gehalten wird, werden unter feierlichen Handlungen 
und Gebeten an den Baum selber anch die Bastfäden für die 
Jungbeschnittenen genommen, die ja anch nach dem Zusammen¬ 
hänge aller Biten als nengewordene Wesen behandelt werden. 

Der Lehrstock, an dessen Bindekerben die Burschen und 
Mädchen in das Werden und Wachsen des Säuglings eingeführt 
werden, darf nur vom Mringonn genommen werden, einem Unde- 
ähnlichen, recht wohlwüchsigen Baume, dessen Holz auch die 
Schwertscheiden lieferte als Glücksholz, das vorm Tode be¬ 
wahrte. Ein belaubter Ast vom Mringonu bildet zusammen mit 
einem Aste vom Msesevebaume anch die Hochzeitslanbe. Beide 
Äste werden unter feierlicher Anrede vom Bräutigam unter Füh¬ 
rung seines Ehebeistandes und im Geleite der nächstverpflichteten 
Verwandten eingeholt und ans ihnen die Laube vor dem Hütten¬ 
eingange errichtet Der Ast vom Mseseve wird etwa 2 m vor 
der Hüttentür in die Erde gesteckt, der Mringonuast darüber¬ 
gelegt, mit dem Schnittende im Strohdache über der Tür fest¬ 
gesteckt Neben dieser Laube liegt Kuhdung, das ursprüngliche 
Sühne- und Sänftemittel, und brennt das Hochzeitsfener, denn 
die Feier dauert durch die Nacht. Unter guten Wünschen für 
sich und ihren Hof und Bannnng aller bösen Mächte werden 
Braut und Bräutigam viermal um Mseseveast, Feuer und Dung 
durch die Laube herumgeführt. Darnach sitzen Ehebeistand, 
Ritenalter, Bräutigam und sein Schlachtanteilhaber um den Mseseve¬ 
ast nieder, so daß sie sich bequem das Opferschaf von Hand zu 
Hand geben können, das nun auch viermal um den Mseseveast 
geleitet und dann geopfeit wird. Schließlich nimmt der Biten- 



128 


Brano Oatmann, 


alte mit der Bitenalten die Lanbenäste wieder fort, bricht die 
belaubten Spitzen ab und legt sie auf den Dung, das Holz aber 
brechen und b&ndeln sie, daß es für das erste Feuer nach der 
Geburt des ersten Kindes an^ehoben werde. Mit dem Laube 
kehrt schließlich die Alte unter erneuten Heilwttnschen den Dung 
vom Hofe. 

Diese Hochzeitslanbe heißt muri, gleichlautend mit Wohn- 
statt, und hält vielleicht in der Andeutung das Wohnen unter 
der Banmlaube fest. 

Andre Bäume gibt es, die beim Hüttenbau und einzelnen 
Hüttenbestandteilen wenigstens den Anfang machen müssen, 
wieder andre sind Tabu dafür und dürfen unter keinen Um¬ 
ständen verwendet werden. 

Ganz rührend ist es, wie sich unmittelbar an den Baum ge¬ 
richtete Gebete erhalten haben und ihn vor der Entnahme eines 
Teiles oder des Ganzen um Hilfe angehen. Als ob keine Zwischen¬ 
schichten oder Glaubenswandlnngen dazwischen lägen, kommt 
es einem vor, wenn man auf Beziehungen zu Bäumen trifft, 
mit denen sich der Mensch noch heute in einem einzigartigen 
Vertrauensverhältnisse weiß. Das tritt bei den Wadschagga 
unter den Grubenjägem und Bienenpflegem zutage. Da wird 
sogar ein andrer Glücksbaum der Dschaggazone, eine wohlriechende 
Cordia, als die Sippenschwester des Eigentümers bezeichnet, die 
darum nicht er selber fällen und zu Bienenröhren verarbeiten darf, 
sondern Nichtversippte, an die er sie zuvor feierlich verlobt unter 
Anteilgabe an den Ackerspenden, an Milch und Bier, die er als 
Einheimgaben für diese Sippenschwester empfangen hat Der 
Hochzeitstag ist der Tag des Umlegens und der Umwandlung 
zu Bienenröhren. Der Baumbesitzer entfernt sich und überlädt 
es seinem Ritenbeistande, den Baum feierlich wie zur Hochzeit 
zu übergeben. Diese Übergabe geschieht unter genauer Ein¬ 
haltung aller Förmlichkeiten hierfür und unter Gebeten und 
Heilwünschen für die ausziehende Schwester. Nach der Nieder- 
legnng des Baumes kommt der Eigentümer und wehklagt über 
sein ihm geraubtes Kind. Mühsam beruhigen sie ihn mit dem 
Ausmalen des größeren Glückes, dem es nun als Honigsammler 
entgegengeht Schließlich ergreift er die entgegengestreckten 
Hände doch und nimmt ihren Friedensbund und das Versprechen 
treuer Pflege an. Der erste Honig aus deu so gewonnenen 
Butten kommt ihm auch zu als des Kindes erste Gabe vom 
neuen Hofe. Wie hier mit einzelnen Bäumen der Beruf die 
Bundesbeziehung durch gewandelte Zeiten hin lebendig erhielt, 


I 



Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nntapflanaen new. 129 


SO steht das ganze Volk zu einer Pflanze noch in vielen nralten 
Beziehungen ans dem Bewußtsein um ihre Wichtigkeit: das ist 
die Bananenstande. 

Jedes Dschaggagehöft ist von einem Bananenhaine nmgeben. 
Da die Standen unter künstlicher Bewässerung und Düngung bis 
zu 6 m Höhe erreichen und sehr üppig und dicht stehen, kann 
man auch sagen, sie walden die Gehöfte ein. Die Banane er¬ 
fordert sorgfältige Pflege. Sie hat den Dschagga recht eigentlich 
an den Boden geheftet und ihm allen Segen aufgeschlossen, der 
aus der Zucht der Bodengesellung kommt Als seinen Schutz- 
herm und Verknüpf er der Geschlechterfolgen ehrt er sie auch 
noch heute. 

Noch heute setzt er seine Lehensstufen in eins mit der Ba¬ 
nane und macht sie zu ihren Abbildern. Anstatt viele Einzelheiten 
nur anzndeuten, seien einige wichtigere eingehend beschrieben. 
Bei den Bnrschenlehren und später wieder den Hochzeitslehren 
spielt die Bananenstaude eine führende Holle. Schon die erste 
Bananentranbe für das Lehrbier wird feierlich unter Heran¬ 
führung des Jünglings eingeholt und vorm Abschneiden nicht 
nur, sondern vor jedem Wandlnngsfortschritte gebeten und be¬ 
schworen. Die eigentliche Burschenlehre beginnt mit dem feier¬ 
lichen Aufzuge des Burschen und seiner Beistände, daran schließt 
sich der Umgang des Hofes. Und auf ihn folgt gleich der Gang 
in den Bananenhain zu der vorher vom Beistände, dem älteren 
Bruder, ausgesuchten Stande, einem wohlwüchsigen Exemplar 
der Tscharebanane, deren Traube nach dem Eibo zu hängt 
Während die Alten auf dem Hofe Zurückbleiben, führt der Bei¬ 
stand den Burschen in den Bananenhain. Beiden folgt der Mutter- 
bmder des Zöglings. 

Der Beistand zeigt dem Burschen die Bananenstande und 
spricht: »Dein Widder ist das. Schau an, welchen Wohlwuchs 
sie hat! Sie diente zum Ansschmieden deines Großvaters, daß 
er deinen Vater zeugen konnte, und schmiedete ihn ans, daß er 
dich zeugen konnte. Dieser Widder ist eine Tscharebanane vom 
Ahnen her für die Burschenlehre.« 

Der Bursche wird auf die Merkmale der Banane hingewiesen 
und ermahnt, sie sich zu merken für künftige eigene Tätigkeit 
als Beistand. 

Unter Führung des Beistandes, dem Bursche und Mutter¬ 
bruder folgt, wird die Staude viermtJ umschiitten. Der Bei¬ 
stand singt dazu: 

Archiv fOr Piyohologie. XLVm. 


9 



130 


Bmno Ontmuui, 


>Stille, große Stille, ja große Stille! 

Da wurde ich gestern vom Alten geschickt 
Der Alte rüstete mir die Wanderflasche 
Und hieß mich mit ihr nach Eitito gehen. 

Und hinterm Rücken führte ich mein Männlein — 
Huckepack trug ich’s, zog hin und her mit ihm, 

Ich ging und suchte den Widder, 

Gesucht habe ich hin und her und habe gefundene 

Unter diesen Worten hat er den Umgang vollendet und 
schlägt mit der rechten Ferse gegen den Bananenschaft, ihn so 
fürs Umlegen erweichend. 

Das geschieht nach jedem der vier Umgänge mit je vier 
Schlägen. Ihm nach tun es die andern, danach nimmt der Bei* 
stand Bier in den Mund, spritzt es viermal gegen die geschlagene 
Stelle mit den Worten: >Ich begieße den Schößling, damit er 
nicht vertrockne.« Auch diese Bespeichlung wiederholt der 
Bursche und sein Begleiter. Ein neuer Umgang schließt die 
Benetzung ab unter dem Gesänge des Liedes: 

>Stille, große Stille, ja große Stille! 

Laßt uns den Schößling benetzen, damit er wachse 
Und morgen wieder einen Nachbruder lehre.« 

Der Beistand hält dann inne und spricht zum Burschen: 
»Beachte, daß wir den Schößling begossen haben, damit er nicht 
verdorre. Wenn du von diesem Nachschoß die Fruchttraube 
geschnitten hast, so sollst du ihn ordentlich herrichten fürs Nach* 
schossen. Und dein Weib möge ihm Rinderdung unterbreiten, 
damit der Stock nicht verdorre. Laßt uns jetzt andächtig stehen, 
wir wollen Großvater, den Alten, bitten.« Den Stiel des Spende¬ 
bechers umklammernd, tun sie alle das Bittgebet: »Du Ahn, 
pflege doch die Schossen, daß sie fruchten. Und laß den Widder, 
den wir hier auf der Heimstätte ausschmieden, Nachschossen 
haben wie diese Staude.« 

Nach dem Dargießen des Trankopfers, doch während sie den 
Becherstiel noch umklammern, spricht der Beistand zum Burschen: 
>Gib acht, mein Nachbruder! Beim Benetzen des Schößlings soll 
der Lehralte nicht Anlaß Anden, mich zu beschuldigen, ich hätte 
dir die Benetzungslehre nicht gesagt. Schößling! Wenn dein 
Weib gebiert — das sind alles Schößlinge. Und deinem Weibe 
mußt du dann ordentlich Speise beschaffen, daß sie sich daran 
sättige, wie wir die Staude benetzten. Aus den Knochen kommt 
keine Milch. Laßt uns nun den Widder von Gott niederholen.« 



Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nntzpflanzen nsw. 131 


Durch die Fersenschlftge ist die Staude so erweicht, daß sie 
umknicken will. Das verhindert der Beistand, indem er sie mit 
seinem Bergstock absteift. Mit der Sichel schneidet er nun 
viermal in die erweichte Stelle ein. Dabei ermahnt er den 
Burschen, jeden Schaft, den er schneidet, richtig zu entschälen 
und den Wnrzelstumpf mit dem Abfall zu bedecken. Auch seine 
künftige Frau solle er anhalten, mit aller Sorgfalt den Schö߬ 
lingen das Aufwachsen zu erleichtern. Die Einschnitte führt 
er nur so tief, daß sich der Schaft leicht zur Erde senken läßt, 
wenn er die Stütze lockert. Während er das tut und sich die 
Traube zur Erde neigt, singt er: 

»Stille, große Stüle, ja große Stille! 

Unser Widder ist das, der unsrige und der Welt, 

Dem Moschilande des Bläuptlings Saleko gehörig. 

Er lehrt das Waisenkind und den Häuptling. 

Glaube ja nicht, das tue auch ein anderer. 

Nur der von der Tscharebanane, 

Auch für ein Hänptlingskind wird kein andrer genommen. 

Da bleibt der Widder droben bei Gott! 

Was tun wir, daß er niedei-steige?« 

Der Mntterbmder übernimmt es hier, die Nutzanwendung zu 
geben. Er wiederholt die einzigartige Bedeutung der Tschare¬ 
banane für die Bnrschenlehre, im Gebrauche der Väter geheiligt, 
und macht dann die Sichel zum Träger der Fürsorgelehre: »Die 
Sichel, die dir der Vorbruder zeigte, ist ausgeschmiedet in der 
Malisasippe. Ein Schneckenhänschen ans diesem Haine hat der 
Schmied zermahlen und auf das Eisen gestreut. Das machte es 
weich fürs Schmieden. So entstand die Sichel, um die Bananen¬ 
stande zu entkranten.« Daran schließt er die Aufforderung 
zu peinlicher Bananenhainpflege und endet mit den Worten: 
»Hätte der Vater hier nicht gekrantet und sich bemüht, so würden 
wir diesen Widder nicht gefunden haben. Jetzt läßt er den 
Widder herunter, wir wollen auf die Senkung hören.« 

Der Beistand hebt die Stütze wieder ans und senkt die 
Staude und singt dazu: 

»Stille, große Stille, ja große Stille! 

Das ist der Widder des Kindes. 

Von Gott steigt er nieder. 

Er zögert, er zaudert und kommt nicht. 

Was ist daran schuld, was hindert den Widder, 

Daß er nicht niedersteigen kann von Gott?« 

9* 



132 Bruno üutmann, 

Zum Mutterbruder gewendet, spricht er: >Sage dem Knaben 
das Hemmnis !€ Der setzt ihm auseinander, daß hiermit die Ge¬ 
burt seines eigenen Kindes gemeint sei, das nicht zur Welt 
geboren werden könne, weil er, der Mutterbruder, durch ihn, 
des Kindes Vater, verstimmt worden sei Also müsse er sich 
hüten, einen Anlaß zu geben. 

Der Beistand hebt wieder an und hält wieder auf und 
singt dazu: 

>Stille, große Stille, ja große Stille! 

Du setzt das deine ein mit der Rechten und Linken 

Und spendest es Deinem Großvater beim Mutterbruder. 

Zögernd kam es schon näher, da des Mutterbruders Ver¬ 
stimmung vergangen. 

Auf einmal kehrt es nach oben zurück, 

Zieht sich wieder hinauf ins Gezweig. 

Zum zweiten Male verbirgt sich’s! 

Was kommt da wiederum dazwischen. 

Was wäre der Grund, was wäre der Anlaß?« 

Der Burschenvater macht sich selber auf 

Oder sendet zum Beistand und spricht zu ihm: 

»Die Sippenschwester eines Mannes kommt mir zu sterben 

Und ich kenne die Veranlassung nicht!« 

Der Ehebeistand geht zum Wahrsager hin und spricht 

zu ihm: 

»Was liegt für eine Verstimmung zugrunde?« 

Der sagt: »Mit dem Munde hat der Mann sich behaftet-. 

Das ist’s, das bindet den Widder fest in der Feme. 

Erklär’s dem Burschen, sag ihm, er habe die Schwester 

fortgescheucht.« 

In wirkungsvoller Gegenrede schiebt der Mutterbrader dem 
Beistände die Auslegung zu, weil er die Plage davon habe, und 
der Beistand fährt fort: »Ich sah, er fluchte der Schwester, 
traf er auf der Schwester Kind, schubste er’s von sich. Er 
schimpfte die Mutter, die ihn gebar, er schimpfte den Vater, 
der ihn zeugte. Nun bittet er den Gottesmenschen und leistet 
eine Buße. Und wie er die Buße leistet, sehe ich den Widder, 
der sich ins Gezweig zurückgezogen hatte, wiederkehren. Jetzt 
senkt er sich nieder mit seinen Wedeln, seine Wedel führt er 
mit sich. Deine Sache ist das, du Mutterbmder, beflehlt’s ihm 
gut an!« 

In alle Einzelheiten hinein bespricht der vor ihm die Be- 



Die Elirerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 133 

Ziehungen zn denBespektspersonenund den Einfluß ihrer Stimmung 
auf den Verlauf der Geburt. 

Währenddessen hat der Beistand den Schaft sich immer tiefer 
neigen lassen, bis er ihn auf den Boden legte. Die Staude zer¬ 
schleißen die Männer mit den Händen und decken die Fasern 
über den Wurzelstock. Den mittelsten Trieb, die Herzröhre, 
lassen sie unverletzt und mit der Fmchttraube verbunden bleiben, 
80 daß er wie ein Schwanz an dieser hängt. Diesen Herzschaft 
reißen sie dann für sich ab und formen ihn zum Tragkissen, 
auf dem der Bursche die Traube zum Lehrhofe emporträgt. 
Als Besänftiger verbergen sie unter die Fasern ikengera-Kraut, 
onjonjo-Gras, ein Schneckenhaus und die Krone einer Dra* 
cäne. Vorm Weggehen ordnen sie sich zum letzten Umgang um 
den Wurzelstock für den Abdank. 

Der Beistand fordert dazu mit den Worten auf: »Laßt uns 
dem Schosser danken. Nach dem Abschneiden der Sprosse laßt 
uns nicht so von dannen gehen, laßt uns dem Schosser danken, 
damit er das andre Mal fruchte und wir hier einen andern 
Widder Anden, um einen Nachbmder auszuschmieden.« 

Beim viermaligeu Umgang singt er: 

»Stille, große Stille, ja große Stille! 

Wir suchten, wir fanden. 

Fanden das Widderlein, fanden das Streckerlein. 

Und du, Bananenstaude, sei bedankt. 

Was ich suchte, hab’ ich gefunden.« 

Wenn auch die Lehren in ihrer gegenwärtig durch den 
Ahnenkult bestimmten Gestalt viel verdecken und den Hand¬ 
lungen an der Banane einen rein sinnbildlichen Wesenszng geben, 
ganz haben sie doch den ursprünglichen unmittelbaren Lebens- 
znsammenhang zwischen der Banane und dem neu zu setzenden 
Menschenleben nicht verdecken können. Am wichtigsten ist, 
daß bis auf den heutigen Tag eine bestimmte Bananenstande 
im Haine als die Sippenbanane geehrt wird. 

Der Zusammenhang zwischen Banane und Menschenleben 
tritt bei Handlungen am Neugeborenen wieder zutage. 

Am Tage nach der Geburt bringt die Bitenalte das Blatt 
eines Bananenschößlings und legt es feierlich über jenen Herd¬ 
stein, der Stein des Herrn heißt, weU es sich um einen Knaben 
handelt, und spricht dazu: »Ich ersah Nachwuchs auf dem Hofe, 
Nachwuchs der Bienen. Ich ersah den Verbinder, der den Sippen- 
gmnd verbindet. Er gedeihe wie die Banane, er dauere aus 
wie dieser Bildner.« 



134 


Bruno Gntmann, 


Nach solchen Worten nimmt sie das angewärmte Blatt vom 
Herdsteine nnd legt es Aber den RAcken des Säuglings, den ihr 
die Mutter entgegenhält. Dazu spricht sie: »Ich empfange dich 
hier in der Welt. Du bist im Bergwalde gewesen bei den Ele¬ 
fanten an einem Orte, wo dich niemand sah. Gedeihe, komme 
hoch wie die Ndischibanane. Erreiche ein Alter wie dein Gro߬ 
vater und dein Urgroßvater, verbinde, wie sie verbanden.< 

Viermal läßt sie so das Blatt zwischen Kind und Herdstein 
hin nnd her wandern nnd den Ältesten das JAngste grAßen. 
Den Beschluß bildet die Lehre an die Mutter des Kindes, die 
Sippenbanane zu pflegen, von der das Blatt stammt, sie immer 
zuerst mit Dung zu bedecken, zuerst gegen das Vertrocknen nnd 
gegen das Herandringen andrer Bananen zu schAtzen, den Raum 
zur Entfaltung der Schößlinge also ihr frei zu halten. 

An dem ersten in der HAtte nach der Geburt wieder ent¬ 
fachten Feuer wird eine Banane geröstet. Der Röstruß wird 
von ihr Aber den Herdstein geschabt, so daß er ihn bedeckt, 
und er dabei so angeredet: »aiwu wufe wofo = da ^t deine 
Wochenpflege! Sie stammt von jener Banane, die der Ahn zu 
Schutz und Hilfe fAr das Heim gepflanzt hat. Ihr beide seid 
es, die uns helfen, das Kindlein zu sehen und zu erhaltene 

Die Pflanze als Schätzerin nnd Pflegerin des noch unent¬ 
wickelten oder des schwächer werdenden Lebens zu ehren, Isig^ 
dem GemAte des Urmenschen ja so nahe, und so trieb es ihn 
denn auch, die Beziehungen zu ihr in einem Lebensbunde zn 
verfestigen, der ein Schicksal Aber beide brachte, also das letzte 
Mißtrauen ausschloß. Die um die Siedlung her angebauten 
Fruchtträger sicherten einer Schwangeren und einer Säugenden 
den Lebensunterhalt. Der jagende und weidende Nomade muß 
viel mehr Kinder einbAßen als der seßhafte Ackerbauer. In 
gleicher Weise segnet die Kulturpflanze das Alter. Der schwei¬ 
fende Nomade muß Alte oder Schwerkranke aussetzen oder töten. 
In der HAtte des Ackerbauers aber kann das Lebenslicht des 
Einzelnen ruhig niederbrennen und bis zum letzten Stumpfen 
dienen. Wenn die Alten auch nicht mehr wandern und jagen 
können, wenn sie zu schwach sind, noch ein StAck Vieh zu 
treiben, nnd zn blöde, um im Männerrate einen Gegner zu be¬ 
fehden — um die stillen Pflanzen können sie ihr Wesen meist 
bis zum letzten Atemzuge haben. Und je mehr sie allem Abrig^n 
absterben, um so inniger hängen sie sich an den Pflanzendienst: 
Großvater und GroßmAtterchen sind die fleißigsten Ackerpfleger. 



Die Shrerbietong der Dschagganeger gegen ihre Nntzpflanzen naw. 135 

Beim Übertritt ins Alter gehen sie darum auch heute noch 
einen besonderen Bund mit den Pflanzen ein und stellen sich 
unter ihren Schutz. Wenn einem Alten Enkel geboren sind, 
dann sieht er den Geschlechtszusammenhang gewahrt. Ihm liegt 
nun daran, diese Geschlechtsentfaltnng nicht mehr zu stören. 
Damm läßt er sich in die Altersehre anfnehmen, in jene Ge* 
meinschaft, die nicht mehr zeugt, aber das Lebenzeugende be¬ 
hüten kann yor den lebensfeindlichen Mächten. Ein Alter und 
eine Alte, die schon in die Altersgröße aufgenommen worden 
sind, unterrichten ihn in dem, was geschehen muß. Von allen 
AckerMchten werden immer je zwei gesammelt und zusammen 
in einem Topfe gekocht, mit Ausschluß der Erderbse und der 
Böstbanane. Das Eochwasser jener andern Feldfrüchte wird 
abgeseiht und für den andern Tag aufgehoben. Die schon Anf- 
genommenen sammeln sich mit dem Anfznnehmenden im Hause. 
Die beiden Beistände bringen das Seihwasser herbei, tauchen 
einen Büschel aus viererlei Gras hinein und besprengen damit 
das Gesicht des Alten und sprechen: 

»Du kommst in die Altersehre, du kommst in die Altersehre! 

Erhebe dich wie Eibo und Mawentsl 

Die großen Berge sind nnbeilfrei. 

So komme auch von dir kein Unheil. 

Stehe fest wie sie! 

Strebe auf wie der Berg Msemere, 

Wie die Ndischibanane. 

Ackerst du Eleusine, so gedeihe sie. 

Ackerst du Mais, so gedeihe er.< 

So zählt er alle Ackerfrüchte mit gleichem Wunsche auf. 

>Von all dem Deinen verkomme nichts. 

Legst du den Rindern vor, so sieh Milch und Kälber! 

Finde immer zu lösen und zu hüten.« 

Jede dieser Segenszeilen bekräftigen die Anwesenden mit dem 
gemeinsam gesprochenen Wunschworte hau. 

Die beiden Alten schließen mit den Worten: >Du brachtest 
es zu Ende. Kehre wieder!« Hierauf führen sie ihn vor die 
Bierkufe und schöpfen ihm den Antmnk in die hölzerne Trink¬ 
schale und sprechen dazu: >Du kommst in die Altersehre. Was 
du pflegest an Ackerfrucht, das komme hoch, nicht eines gehe 
verloren. Was du angreifst, das soll nur gedeihen, nichts komme 
davon zu Schaden!« 

Nachdem der Gesegnete seine Schale leergetronken hat, heben 
die Beistände die ihnen gefüllten an den Mund und sagen: »Du 



136 


Bruno Gutmann, 


brachtest es za Ende. Kehre wieder! Und ackerst dn Baum¬ 
rinde auf einem Steine — kommen soll es doch nnd gedeihen.< 
Eine große Kufe wird dann an die Altersklasse auf den Hof 
hinausgegeben, ans der der Hofherr ausschied. Sind die bis auf 
den Hefensatz gekommen, tun sie mit den Händen am Enfen- 
rande den Hexenflnch, unter Verschfittung der Hefe. Daran 
schließt sich eine sehr wichtige Handlung als Krönung des Tages. 
Die beiden Alten bringen einen Kolokasiensetzling nnd einen 
Znckerrohrschößling. Die pflanzen sie nun auf der Rückseite 
der Hätte an den Hofrand. Das sind die Lebenspflanzen, die 
Blühen oder Welken des Geschlechts voransverkünden. Von 
ihnen darf niemand etwas brechen oder ernten, der nicht ein 
Glied des Hauses ist. Sie sagen Ton diesen Pflanzen: yerdorren 
sie, dann werden auch des Enkels Anfänge verderben. Der 
Segen, den man über ihn sprach, wird sich nicht an ihn heften. 
Aber gedeihen sie recht, so wird auch nach ihm die Sippe groß 
werden und er selber erst in hohem Alter sterben, und alles, was 
er angreift, gedeihen. Der Segen wird sich an ihn heften. 

Wie einen Vermittler zwischen Pflanze nnd Mensch fühlen 
sie das Rind. Ganz besonders der Bananenhain ist ja auf den 
Dung des Rindes angewiesen. Nur ausgiebige Düngung sichert 
die ständige Selbstemeuerung des Haines und damit die gesunde 
Seßhaftigkeit. Wie stark sie selber noch jetzt diesen Zusammen¬ 
hang fühlen, bewies in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr¬ 
hunderts Häuptling Rindi von Moschi. Er verbot seinen Leuten 
die selbstwillige Pfändung eines Schuldners um Rind oder Rinder. 
Wer es dennoch wage, dessen Rinder werde er an den Bananen¬ 
schaft hängen. Und die versammelten Männer sahen einen 
Bananenschaft vor sich über zwei Gabelstecken gelegt nnd ein 
Rind daran gebunden. Als der Häuptling das Rind den Ahnen 
darbrachte nnd sie um Mithilfe bei Durchführung des Verbots 
anging nnd darnach das Tier den Todesstoß empflng, riß es im 
Fallen auch den Schaft vom Gestelle. Ohne Worte war so ver¬ 
anschaulicht, wie innig der Zusammenhang zwischen Rind und 
Bananenhain ist: wird jemandem das eine genommen, verliert 
er auch das andre. 

Aber noch inniger, ja wie eine Lebenseinheit müssen sie einst 
den Zusammenhang zwischen Rind und Mensch gefühlt haben. 
Stier und Mann gehören zusammen. Eine Frau, die dem Stiere 
oder Stierkalbe in der Hütte flucht, trifft damit den Mann. Sein 
Tragkissen ans Bananengrün beflehlt der Mann dem Stierkalbe 
zuzuwerfen mit den Worten: »Gib es dem Stierkalbe, es ist ein 



Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen usw. 137 

Mann wie ichc. Rind nnd Weib aber fühlen sie in innigster 
Weise voneinander abhängig. Die Haustochter heiüt das Küh¬ 
lein mit dem schwarzen Haupte, im Gegensätze zum Hausrinde, 
dem Kühlein mit dem weißen Haupte. Unter diesem Wortspiele 
wird die Werbung vorgebracht. Eine Kuh, die gekalbt hat, 
wird mit größter Ehrerbietung behandelt. Auch ihre Hütte 
darf man nicht betreten, genau wie bei der Wöchnerin, sie wird 
feierlich beglückwünscht und entsühnt und unter Segenswünschen 
ihr das erste Futter vorgeschnitten. Dazu wird eine Bananen¬ 
staude verschnitten, die eben eine Frucht entwickeln wollte. 
Das wäre sonst ein Frevel, genau so wie das Töten eines kräf¬ 
tigen oder neumelken Rindes, nnd kann, genau wie der letztere 
Fall nachweislich noch jetzt, nur als das heiligste Opfer erlaubt 
gewesen sein. Muttertier nnd Färse dürfen nicht auf dem 
gleichen Hofe stehen bleiben, einem neuvermählten Paare werden 
nur Färsen ins Hans gegeben. Der Genuß der ersten Milch ist 
auch heute noch eine heilige Handlung. Wie die Todas auf 
den Nilagiris in Südindien, die den Büffel verehren als ihr 
Heiligtum, die Hütte ehren nnd hüten, in der die Milch abge¬ 
stellt wird, so wird auch bei den Dschaggas die Milch einer 
neumelken Kuh einen ganzen Monat lang abgemolken und in 
Kalabassen in der Hütte abgestellt, ohne daß etwas davon ge¬ 
trunken werden dürfte. So kommen endlich soviele Kalabassen 
zusammen, daß jedem Hofe, der zum eignen Sippenzweige ge¬ 
hört, eine zngesendet werden kann. Das ist noch ein deut¬ 
licher Rest ehemaliger Lebensgemeinschaft im Rinde. 

Bevor das Austnn der Kalabassen geschehen kann, muß ein 
Knabe von 4 bis 6 Jahren, der ohne Fehl und Narbe ist, den 
Antmnk tun. Am Abend gießt man dem eine Trinkschale voll 
aus der ersten Kalabasse ein, die die sogenannte Kopfmilch ent¬ 
hält. Mit geschlossenen Augen nimmt der Knabe einen Schluck 
und gibt ihn auf das Maul des Kalbes zurück. Während seine 
Lippe des Tieres Lippe berührt, spricht er Segenswünsche für 
das Kalb nnd beschwört alle bösen Einflüsse, bösen Blick, Zorn 
der Milchtrinker usw. Man gibt ihm nun bestimmte sühne¬ 
kräftige Kräuter, die er in die Milch taucht nnd dem Kalbe zu 
fressen reicht. 

Jetzt kommt der entscheidende Augenblick: er setzt die 
Schale wieder an den Mund, um den ersten Trunk zu tun. 
Darauf muß er das Kalb vorbereiten mit dem Zurufe: »ich koste 
deine Milche. Während er mit geschlossenen Augen trinkt, rufen 
die Alten dem Kalbe zu: >Der Hirte ist’s, der dich bestiehlt. 



138 


Bmno Gatmann, 


der Wärter des Kindes, nicht wir, die Großen. Erschrick nicht, 
es ist dein Altersklassengenosse, der dich bestiehlt.« 

Der Hausvater selber vollzieht dann die Befriedung der Enh 
mit Quellwasser, das er im Morgengrauen geschöpft hat, bevor 
es noch jemand überschreiten konnte. 

Den endlichen Genuß leitet die erneute Versicherung an das 
Kalb ein: man wage nur zu trinken, weil der Hfiteknabe es 
ihnen gegeben habe. 

Solange die Kuh gemolken wurde, suchte man peinlich jeden 
Streit und jeden Anlaß zu Verstimmungen im ELreise der Haus¬ 
genossen und nächsten Verwandten zu vermeiden, damit die Kuh 
sich nicht ärgere und ihr die Milch versiege. Damm hatte das 
jüngste Kind im Hause in diesen Tagen unbestritten das Recht 
auf den Topfauskratz. 

Auf süße Milch darf niemals die Sonne scheinen. Auch saure 
Milch trinkt der Dschagga unter freiem Himmel nur, wenn sie 
vom Markte kommt. Solche Anschauungen beeinflussen natür¬ 
lich auch Handel und Wandel. Nur ungern, ja widerwillig, ver¬ 
kauft der Dschagga süße Milch an den Europäer. Der kann 
sich nur Bosheit oder Faulheit als Ursache denken, zumal wenn 
er weiß, daß jenem genug Milchvieh zur Verfügung steht. In 
Wahrheit scheut der Dschagga den Verkauf von Milch an die 
Europäer deshalb, weil der keine Ehrfurcht vor der Milch habe 
(ili alawode wuindi wo marawa). Daß er die süße Milch der 
Kuh kocht, erscheint dem Dschagga als äußerste Roheit Schäumt 
sie dabei noch über und verbrennt im Feuer, so muß nicht nur 
die Kuh ihre Milch verlieren, sondern auch Unfriede über das 
Hans kommen, aus dem sie stammt. 

Ein Gegenstück zur Scheinklage bei dem Fällen eines Mringa- 
ringabaumes ist die Klage um den Tod eines alten Muttertieres, 
das man schlachten mußte. Diese Scheinklage hat sich erhalten 
für ein ausgeliehen gewesenes Rind. Ein Reicher, der seine 
Rinder nicht alle selber halten kann, gibt sie an Ärmere aus, 
daß die den Milchgennß davon haben, Hanswärme und Nahrung 
für die Bananen, ihm aber die Kälber verbleiben. Hat sie 
10 Kälber geworfen und soll nun weggetan werden, so wird sie 
an den Eigner zurückgegeben, denn sie darf nur auf dem Sippen¬ 
grunde geschlachtet werden. Unter vielen feierlichen Hand¬ 
lungen wird sie für alles bedankt, vom Besitzer ihr daheim am 
Halfterpfosten versichert, daß er sie nicht töten könne, sondern 
ihr den Alterssitz im Hause lasse, weil sie ihm 10 Kälber ge¬ 
schenkt habe. Wenn ihr aber einmal ein Unglück widerfahre. 



Die Ehrerbietang der Dscha^gfsoieger gegen ihre Natspflanzen asw. 139 


solle sie wissen, daß er’s nicht yerschnldet habe. Die Sippen* 
brüder sind aber schon anf den andern Tag fürs Schlachten be¬ 
stellt Die Tötung muß aber ein Fremdversippter aus der Nach¬ 
barschaft vollziehen, während sich die Sippenbrüder mit dem 
Eigner versteckt halten. Die zurückgebliebenen Frauen fangen 
an laut zu wehklagen um das gute Tier, während es losgebunden 
und zur Schlachtung fortgeführt wird, und versichern ihm, daß 
sie unschuldig seien an seinem Tode. 

Eh^t nach dem Abledem des Tieres findet sich der Eigen¬ 
tümer mit seinen Brüdern herzu, bricht in Rufe schmerzlichster 
Überraschung aus und fragt voller Zorn nach dem Töter. Der 
tritt ihm unter die Augen und sagt: >Wir haben dir es gestohlen, 
als du abwesend warst < In einem nun folgenden Streitgespräche 
zählt der Besitzer alle Verdienste des Tieres auf, — aber das 
letzte Wort behält der Bursche, als er sagt: »Sie war eine Alte 
und mußte für andre Platz machen. Wir Menschen müssen es 
auch.« Der Besitzer bricht hierauf in Klagen und Weinen aus, 
als kränke ihn der Tod seiner Mutter. Vom Fleische genießt 
er nichts. 

Wahrscheinlich hat sich diese Sitte an dieser Stelle bis in 
dieses Geschlecht erhalten wegen der Ansleihebeziehungen, 
während sie einstmals aUgemein beim Schlachten eines Mutter¬ 
tieres wird geübt worden sein. Ehe nun der Versuch gemacht 
werden kann, die Beziehungen der Dschagga zu ihren Nutz- 
pfianzen nnd Haustieren in ihrer totemistischen Grundbedeutung 
kurz zu würdigen, muß wenigstens in einigen Strichen gezeigt 
werden, wie die Dschagga auch mitverwurzelt sind in jenem 
Boden, der heute als Entstehungsgebiet des Totemismus unbe¬ 
stritten ist 

Wenn ein Elefant in eine Fallgrube gefallen war, ging der 
Besitzer mit einem Opferschafe hinunter, um das Tier zu ent¬ 
sühnen. Er stellte sich vor das verendete Tier, zückte den 
Speer gegen es und sprach unter fortwährendem Auf- und Nieder¬ 
schwingen der Waffe: »Ich bin der Herr der Wildbahn, ich 
war’s, der diese Bahn zuerst beschritt, ich fällte den Elefanten. 
Der Fäller bin ich. Ich fällte das Eälblein der Schnecke. Ich 
— am Patschangubanme hob ich aus ein Schneckenkälbein; 
ich — bei Mandaka hob ich aus ein Schneckenkälblein.c Und 
so führt er noch sechs andre Orte an und schließt mit den 
Worten: »Der Fäller bin ich, ich fällte das Schneckenkälblein!« 
Mit diesen Worten bezieht er auch die Taten seiner Vorfahren 
und Voijäger auf sich und spricht von ihnen als von seiner 



140 


Bnmo Ootmann, 


Person. Er will damit dem Elefanten seine Hechte bezeugen 
und ihn versichern, daß er von keinem Freibeuter gefällt wurde. 

Es macht dieses Vorgeben fast den Eindruck, als solle damit 
an einen rechtsverbindlichen Vertrag zwischen Tier und Mensch 
erinnert werden. 

Im Westen des Gebirges überliefern sie noch den Namen 
einer Sippe, die den Elefanten als Sippengenossen verehrten 
und sich darum von ihm keines Leides zu versehen brauchten. 
Meist aber hat der Ahnendienst diese Beziehungen zu Tieren 
jetzt verdeckt und die Erinnerungen umgebogen. Die Sippen¬ 
tiere sind jetzt nur die Schutztiere, Helfer und Freunde, aber 
nicht mehr Ahnen und Quellpunkte. Die Wamtöan erzählen 
vom Leoparden, die Wamari vom Hnndsaffen, die Wakalaln von 
der Spinne, die Watarimo von der Schnecke als ihren Helfern. 
Andre haben ihre Beziehung zu einem Abstammnngstotem noch 
im Sippennamen festgehalten, so die Wangure ans Wildschwein, 
das sie auch heute noch nicht zu essen wagen, die Warnende 
an eine Antilope, die Wakinjaha an den Strauß, die Wangare 
an die Hyäne, die Wamrema an den Affenbrotbanm usw. Am 
lebendigsten hielt den Zusammenhang zwischen Tier und Sippe 
die Kiviasippe von Tela fest. Sie verehrte die Riesenschlange 
und nannte sie mit einem Namen, der ganz unbefangen als der 
des ersten Vorfahren bezeichnet wird. Sie habe den ersten 
Siedler ins Land heraufgeleitet, ihm die Wohnstätte angewiesen. 
Sie habe der Sippe jede Hexe kenntlich gemacht durch Nicht¬ 
annahme des von ihr dargebrachten Opfers, vor jeder Ackerzeit 
habe man zuerst ihr ein Haus gebaut, das sie bezog, und die 
ersten Pflanzen ihr angepflanzt; von jedem neugebomen Kinde 
habe man ihr Kunde gegeben, und sie habe die Hütte anf- 
gesucht und für Kind und Mutter Gedeihen gebracht Eine 
Frau, die ihr nicht gefallen hatte, kennzeichnete sie durch einen 
andern Weg für ihre Rückkehr. Die so von ihr Abgelehnte 
schickte man wieder zu den Ihrigen, weil sie als unfähig er¬ 
wiesen sei, das Sippenband weiterzuknüpfen. An dieser Stelle 
zeigt sich der Abstammungszusammenhang mit dem Sippentiere 
auch noch bei anderen Sippen, die ihn im Bewußtsein unter¬ 
drückt haben. Der Leopard z. B. trägt den neuhinzugeheirateten 
Frauen nur dann seine Jagdbeute ordentlich zu, wenn sie ihm 
Wohlgefallen. Und Wohlgefallen können ihm nur jene, die den 
Sippenbestand zu sichern fähig sind. Nach der Sage ist die 
Schlange gekränkt davongegangen, als sie ihre Hütte von einem 
Zngewanderten bewohnt vorfand, dem man sie gedankenlos ein- 



Die Ehrerbietung der Dschagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 141 

geräumt hatte, und in der Fremde wurde sie erschlagen. Ein 
Junges Ton ihr wollte man an ihrer Statt in Pflege halten, aber 
es grämte sich nach der Mutter und ging auch davon. Aber 
in jedem Jahre errichtete man ihrem Geiste eine Wohnstätte 
und opferte ihr dort ein schwarzes Schaf und pflanzte ein paar 
Maisstanden und etwas Eleusine fflr sie, damit sie auch ihre 
Acker segne. 

Den andern Sippen aber wurde dieser Kult unheimlich, man 
mied das, was von der Schlange erbeten worden war, und Aber* 
ging die Bananenhaine der Telalente beim Heischen einer Bananen« 
traubenzubuße für Burschenlehre und Hochzeit Das hat die 
Telalente wohl veranlaßt, ihren Schlangenknlt endlich aufzugeben. 
Was ihm aber bei ihnen eine festere Wurzel gab, ist doch wohl 
eine längerdauemde erwiderte Beziehung zu einer Biesen« 
schlänge gewesen. Der ostafrikanische Python ist ja ein träges 
und gutmütiges Tier, von dem man wohl denken kann, es habe 
sich an freundschaftliche Beziehungen des Menschen zu ihm 
wohl gewöhnen können. Aber freilich mußten die abreißen, 
wenn die Glaubensbindung, auf der sie beruhten, sich anflöste, 
mußten aufhöfen wie bei allen andern Tieren, die unzähmbar 
blieben und keinen Nutzwert hatten. Ganz anders aber ist es 
mit jmien Tieren gegangen, die für ein Zusammenleben mit den 
Menschen vor andern geeignet waren. Die religiöse Verehrung 
ist bei den meisten Haustieren sicher der Weg gewesen, der 
sie mit den Menschen zusammenführte und in seinen Bereich 
gewöhnte, so daß sie sich schließlich der Selbstvorsorge ent« 
schlugen, was im gemäßigten und nordischen Klima tiefer noch 
als im Süden einwirken mußte, und im Menschen, der für sie 
sorgte, auch den Führer sahen. Und als durch Wanderungen, 
Vermischungen und Wandlungen der Daseins« und Erwerbsformen 
die Tierverehnmg schwand, ließ sich das entgottete Tier willig 
das Dienstjoch über den Nacken legen. 

Nur so ist es zu erklären, daß der primitive Mensch so viele 
starke Tiere zähmen und schließlich beherrschen und für sich 
arbeiten lassen konnte, während der höher entwickelten späteren 
Menschheit keine weitere Eingewöhnung von Tieren in ihren 
Dienst gelang, so daß bis auf den heutigen Tag wirklich und 
aUgemein brauchbare Haustiere nur jene sind, von denen wir 
keine Wildstämme mehr feststellen können. 

Die wohl einzige Ausnahme bildet der Hund, der sicher von 
Anfang an sich dem jagenden Menschen anschloß, wie es der 
Schakal mit dem Löwen tut und der Peu-Peu mit dem Tiger. 



142 


Bruno Gutmaun, 


Es ist ganz natürlich, daß bei dieser vielleicht grüßten Um¬ 
wandlung, die im menschlichen Denken and Leben sich damals 
langsam vollzog, nur jene Tiere vom Menschen mit Willen fest¬ 
gehalten and ans vernünftigeren Erwägungen heraus weiterhin 
gepflegt wurden, die ihm irgendwie wirklich nützten. Damm 
schieden gerade jene Geschöpfe allmählich von ihm, die ihm als 
religiöse Wesen einst der höchsten Verehrung würdig erschienen 
waren, unter ihnen vor allen Dingen die Schlangen. Ihnen gegen¬ 
über blieb nichts zurück als das Gefühl einer tiefen, religiös 
bedingten Scheu. Und die Entfremdung zwischen beiden mußte 
um so größer werden, als die Ehrfurcht längst vergangener Ge¬ 
schlechter, die unbewußt im Nachfahren weiterlebte, in immer 
größeren Gegensatz zu den herrschenden religiösen Formen trat 
und nicht zuletzt auch zu der Lebenshaltung, die, je mehr sie 
die Umgebung sich unterwarf und für das menschliche Leben 
alleine ordnete, die Schlange aus dem menschlichen Lebensbereiche 
vertrieb und ihm immer wesensfremder und ungewohnter machte. 
Ehrfurcht und Abscheu mischten sich darum ganz wunderlich im 
Herzen des Menschen der Schlange gegenüber. 

Daß die Haustiere so ganz aus dem engeren Bereiche ver¬ 
schwunden sind, in denen man die totemistische Religion noch 
erfassen konnte nach den Namen der Sippen und der unmittel¬ 
baren Zurückfühmng der Abstammung auf das angebetete irdische 
Wesen, erklärt sich wohl sehr einfach, wenn man bedenkt, daß 
diese für den Anschluß an den Menschen geeigneten Tiere eben 
von vielen Sippen gleichzeitig angebetet worden sind und darum 
als das Kennzeichnende im Unterschiede nicht festgehalten w^*den 
konnten, als man sich enger zusammenfand, Bünde miteinander 
schloß und eine Stammesgemeinschaft miteinander einging. (Oder 
die Anbetung wurde dann Stammessache, wie bei den Tntsi, 
Kaffem und Todas, und verschwand auf diese Weise ans den 
Grundtatsachen, auf die sich die einzelne Sippe im Stamm zu- 
rückführte.) 

Noch ein anderer Umstand kommt dazu, die Beziehungen zu 
verwischen: es war viel leichter zu glauben, daß der Ahn sich 
aus solchen Tieren vermenschlichte wie aus Kuh und Pferd, nüt 
denen man bis heute schließlich eine seelische Verwandtschaft 
erfühlen kann, als wie aus den wilden Tieren. Und darum ist 
der Übergang von der Tieranbetung zur Ahnenanbetung am 
Ende so unmerklich und natürlich gewesen, daß man gar keine 
Veranlassung hatte, sie als einen auffälligen Abschnitt im Ge¬ 
dächtnisse festzuhalten. 



Die Ebrerbietnng der Dscbagganeger gegen ihre Nntzpflanzen nsw. 143 


Andere aber ging es mit jenen Tieren, die dem menschlichen 
Seelenleben so fern standen oder blieben, daß man anch für die 
Urzeit annehmen kann, es müssen besondere Umstände gewesen 
sein, die gerade diese oder jene Sippe zu dem Tiere in Be* 
Ziehung setzten. Und hier hat man dann auch späterhin die 
Beziehungen mit Absicht aufrecht zu erhalten versucht und um 
ihrer Wunderlichkeit willen weiter an Wunder geglaubt, als 
man sich schon längst auf andere Lebensträger eingestellt hatte. 

Eh^t wenn wir die Haustiere und den Reichtum der Nutz¬ 
pflanzen als die Hanptträger der totemistischen Glanbensgesellnng 
aufsnchen lernen, erfassen wir sie ganz in der grundlegenden 
Tiefe, ans der bis heute noch Kräfte in die gesamte Menschheit 
heranfwirken. Ganz verkehrt wäre es z. B., wenn man auf nur 
verstreutes Vorkommen des Totemismus unter den Dschaggasippen 
deshalb schließen wollte, weil ihre Namen verhältnismäßig wenige 
Tier* oder gar Pflanzenbezeichnungen sind. Ganz abgesehen da¬ 
von, daß nur von einem Bruchteile die Bedeutung erfaßbar ist, 
gilt es zu beachten, wie leicht anch heute noch eine Namen* 
Ersetzung eintritt. Erst 1913 erlebte ich es, daß die Mboro* 
Sippe ihren Namen außer Eure zu bringen und durch den Namen 
eines andern Ahnen zu ersetzen versuchte, nur weil die Suaheli* 
leute, mit denen sie in Verkehr traten, an dem Worte mboro 
Anstoß nahmen, das sie an eins ihrer Sprache mit häßlicher Be¬ 
deutung erinnerte. Wie viele Sippen nennen sich jetzt einfach 
nach dem Ahnen, der am Gebirge einwanderte. Bei den Hänpt* 
lingssippen hat ein Ehrenname den eigentlichen Sippengrußnamen 
verdrängt: mosi oder mn§i, entstanden aus moni oder mnuisi: 
Erdherr. 

Von den Pflanzen dürfen wir annehmen, daß sie einmal die 
Hanptträger des Totemismus gewesen sind. Wenn sie soviel un¬ 
deutlicher nur als die Tiere die Spuren der empfangenen Ver¬ 
ehrung festgehalten haben, liegt das an ihrer noch rascheren und 
allgemeineren Verbreitung als Nahrungs- und Gennßmittel. 

Besondere jene Pflanzen, die in Erregungszustände versetzen 
und darum wahrscheinlich ursprünglichste Anreger des Totemismus 
mit gewesen sind, wurden am raschesten wohl mit um der Er¬ 
regungszustände selber willen gesucht und geliebt, nicht mehr 
nur wegen der durch diese Zustände erfaßbar werdenden Lebens¬ 
beziehungen. Aber wie stark solche Lebensbeziehungen gerade 
ans ihnen einmal gefühlt worden sind, lassen noch heute Hin¬ 
weise auch in den Bnrechenlehren der Dschagga erkennen. Da 
sind die Vorkehrungen für das Brauen des Lehrbieres unter ganz 



144 


Bruno Gatmann, 


besonders feierliche Beschwörungen gestellt, die noch heute aus¬ 
sprechen, wie man in den Wirkungen der Pflanzensäfte den eigent¬ 
lichen Schöpfer und Gestalter der Lehren ehrt. Und gar gut 
hat man die einzelnen Erregnngsstnfen dabei unterschieden. Die 
erste Wirkung als Erhöher der Sprechfertigkeit, die zweite als 
Herabminderer der Ehrempflndung und die dritte als Lähmung 
der Sprechwerkzeuge. Das bringt die Beschwörung des Malz- 
mehles zum Ausdruck, wenn es ins Bananenfmchtwasser ein¬ 
gelassen wird. Umrflhrend spricht der Beistand: »Eom, belebe 
das Bananenwasser, daß ich den Lehralten rufen könne. Dich, 
Eom, vermische ich mit Ndonja-Banane. Sie hat unser Ahn 
auch dazu gemischt. Sie lehrte den Großvater und Urgroßvater. 
Belebst du dich, rufe ich den Lehralten. Kommt er und kostet 
den Antmnk, soll seine Zunge heilvoll sein. Und Heilsames soll 
sie reden. Er rede wie die Glocke des Mannes von Eitula, so 
möge seine Zunge tönen. Reden soll er wie die Drossel, die 
eine Danersängerin ist Elingen soll’s wie von gutgeschmiedeten 
Schellen. € Usw. 

>Eom, hast du dich zur Schaumschicht umgewandelt und der 
Bnrschenvater trinkt von dir, dann hilf ihm vorbedenken, was 
er sagen will, daß er nichts Unheilvolles daherrede, weil es ja 
doch seine Wiederkehr ist. Möchte er ja nicht den Lehralten 
erzürnen mit einem heillosen Wort oder auch den Mutterbmder 
dieses Widders. Der Mutterbmder wird schon mit Nachdruck 
auftreten in dem Bewußtsein: dieser Widder ist mein Qnellgebiet, 
weil er aus meiner Schwester entsprang, ich darf mich äußern, 
wie es mir gefällt Hörst du, Bnrschenvater, den Mutterbmder 
solcherart reden, bleib ruhig, schlürfe den Eeimschaum! Sänf- 
tige dich, werde ein Baumschliefer, der sich in seiner Baumhöhle 
nicht rührt.« Usw. 

»Belaurer, kommst aber du und willst mich hier in der mir 
anbefohlenen Wiederkehr belauern und schlürfst von der Malz¬ 
keimschicht und gerätst in Ehregnng: Eeimschaum, so verkehre 
ihn, damit er im Rechtsstreite unterliege, daß wir ihn büßen 
lassen und er nicht unsl 

Wenn er mit der Verschlagenheit des Lauschers kommt, um 
aufzuschnappen was ich rede, um mich damit beim Häuptlinge 
zu verklagen, so soll seine Zunge stocken und was er redet un¬ 
verständlich sein, aber der Sprecher auf unserer Sippenseite habe 
eine gelenke Zunge.« 

Die letzten Worte dieser Beschwörung machen den Ransch- 
trank schon zum unmittelbaren Rechtshelfer und führen auf den 



Die Ehrerbietang der Dsehagganeger gegen ihre Nutzpflanzen nsw. 145 

Ordalcharakter hin, den die Rauschgetränke ursprünglich jeder 
für sich in seinem Elnstehungsgebiete werden gehabt haben. Als 
solche aber machten sie dem Urmenschen die übermächtige Gewalt 
am lebhaftesten bewußt, um derentwillen er sich eben jenem 
Wesen gläubig ergab, das er darin waltend wußte. 

Im Totemismus hat der Mensch sich Tieren und Pflanzen 
untergeordnet und ihren Lebensgewohnheiten angepaßt, ln dieser 
Anpassung hat er jene geistigen und sittlichen Kräfte der Selbst¬ 
zucht entwickelt, die ihn zum Herrn der Wesen machten, denen 
er so beflissen diente und so nur dienen konnte, weil er nicht 
nur einen stofElichen Vorteil von ihnen wollte, sondern seinen 
eignen Geschlechtsbestand ganz in sie gegründet wußte. Die 
stärksten Zwänge sind in solchen Zusammenhängen von den 
Pflanzen ausgegangen. Noch heute treten die totemistischen 
Grundlinien am deutlichsten zutage, wo es sich um die Erneue¬ 
rung und den Foi*terhalt der Art handelt bis in die gebildetsten 
Kreise Europas hinein, die sich eine Hochzeitsfeier ohne Alkohol 
einfach nicht verstellen können. So erinnert uns zum Schluß 
diese Tatsache noch einmal daran, daß der Totemismus immer 
ein ursprüngliches Abstammungsverhältnis zwischen der Sippe 
und ihrem Totem voraussetzt. 

Um das begreifen zu können, muß man sich vergegenwärtigen, 
daß der Urmensch ein Vertrauensverhältnis nur zu Wesen haben 
könnt«, die mit ihm eine volle Lebenseinheit bildeten, wie sie 
ihm damals nur die gemeinsame Abstammung bot Nur darf 
man sich das nicht so vorstellen, als ob sich das Bewußtsein 
davon nur in der Zelle des engsten Zeugungsverbandes, der 
Familie in unserm Sinne, habe entwickeln müssen. Wäre dies 
der Entstehungsboden gewesen, dann bliebe allerdings die Ein¬ 
beziehung so artfremder Wesen wie Tier und Pflanze in den 
Sippenverband für uns unbegreiflich. Sondern diese Einheit in 
der Sippe beruhte zuerst auf Bindemächten und Zengungskräften 
kultischer Art, auf dem Genüsse und Austausche von Lebenssaft, 
Speichel, Milch und Blut Seine Anpassungsfähigkeit, die Kraft 
für den Erwerb der Herrschaft über die Dinge, hat der Mensch 
zur höchsten Feinheit gesteigert, als er den Gedanken der Bund¬ 
schließung auch auf Tier und Pflanze übertrug und sich so für 
einen vertieften Halt des eignen Sonderwesens in den Lebens¬ 
strom der Sicherheit gewährleistenden Pflanze oder auch eines 
Tieres selbst hineinwurzelte. 

Es lag mir heute nur daran, an noch jetzt lebendigen Resten 
im Glanbensbereiche der Dschagga ein solches Streben nach Lebens- 

Arohiv fOr Psychologie. XLVIU. 10 



146 Bruno Gntmann, Die Bbrerbietnng der Dechagguieger nsw. 

einheit mit den Lebewesen, die das menschliche Dasein sichern, 
ein wenig nachempflnden zn lassen. Und das ist nicht anwichtig, 
denn wenn der Totemismus auch keine Gegenwartsbedentung 
mehr hat, so wird die Welt des Animismus und Fetischismus, 
die jetzt so yerwirrt, doch erst dann überschaut werden können, 
wenn man ihre Einzelheiten als Wucherungen und Schmarotzer 
zu beurteilen gelernt hat, die sich auf einem riesigen Trttmmer- 
felde ansiedelten, das aus einem nrzeitlichen wundervoll ge¬ 
schlossenen Weltbilde anfgebrochen ist, eben dem Totemismus. 

(ESngegsngfen am 18. Februar 1924.) 



Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 

Ein Btraktnrpsyohologischei Versuch. 

Von 

Hans Krflger (Rostock). 

Als Hauptvertreter des griechischen Skeptizismus^) pflegt 
man gewöhnlich Pyrrhon von Elis, Ainesidemos von Knossos 
und Sextus Empiricus zu nennen. Am bekanntesten von ihnen 
ist Sextus, der letzte um die Mitte des zweiten nachchristlichen 
Jahrhunderts lebende Anhänger jener Oeistesrichtung. Redet 
er doch als einziger von allen Skeptikern eine ganz unmittel¬ 
bare Sprache zu uns, während die übrigen erst durch ihn zu 
Worte kommen und nur durch Rekonstruktion ans seinen Werken 
zu gewinnen sind. Diese, für einen Einblick in das skeptische 
Denken als solches sehr geeignet, bereiten jedoch einer Er- 
foi^chnng des historischen Entwicklungsganges der Skepsis und 
des Anteils einzelner Skeptiker an der Gesamtlehre die größten 
Schwierigkeiten. Ist doch Sextus bei seiner ganz unpersönlichen 
Einstellnng recht sparsam mit Quellenangaben, macht er doch, 
selbst wenn er Namen nennt, vielfach nur indirekte, mitunter zu 
Zweifeln an der Richtigkeit Anlaß gebende Mitteilungen über 
die Lehren seiner Vorgänger. Machen sich diese Schwierig¬ 
keiten schon etwa bei der Feststellung von Pyrrhons Anschau¬ 
ungen geltend, so treten sie doch ganz besonders bei der Klärung 
der Philosophie des Ainesidemos von Knossos hervor. Wohl 

1) Diese Abhandlnng stellt eine völlige Nenbearbeitnng des 8. Teiles 
meiner Dissertation »Ans der Gedankenwelt der antiken Skepsis« dar, die 
von Professor Geffcken in Rostock angeregt wurde nnd in der ich den 
Yersncb machte, in historischer nnd philosophischer Betrachtnngsweise den 
Entwicklungsgang des skeptischen Denkens bei den Griechen Torznftthren. 
Die vorliegende Arbeit beansprucht keineswegs, eine Gesamtschildemng der 
Philosophie des Ainesidemos zn geben. Eine solche, in der manche hier 
nnr angedentete Probleme ansftthrlich besprochen werden sollen, behalte ich 
mir für eine spätere DarsteUnng vor. Znm besseren Verständnis dieses 
Artikels, insbesondere der Einreihnng von Ainesidemos* Philosophie in den 
Gesamtverlanf der griechischen Skepsis, verweise ich hier auf eine dem¬ 
nächst von mir im »Archiv f. Gesch. d. Philos.« erscheinende Abhandlung 
Uber den »Ansgang der antiken Skepsis«. 


10* 



148 


Hans ErOger, 


können wir große Teile aus Sextus’ Schriften mit völliger Sicher¬ 
heit jenem Skeptiker zuweisen, andere mit ziemlicher Wahr¬ 
scheinlichkeit für ihn erschließen, wohl stehen uns hier außerdem 
noch die auch für andere Skeptiker brauchbare Darstellung des 
Philosophenbiographen Diogenes Laertios sowie die uns von dem 
Patriarchen Photios erhaltene Inhaltsangabe von Ainesidemos’ 
Hauptwerk, den »PyrrhonischenRedenc, und einige andere Quellen 
zur Verfügung, und doch scheint ein seltsamer Widerspruch in 
seiner Philosophie vorhanden zu sein. Er, der einerseits die fast 
ganz in Vergessenheit geratene pyrrhonische Philosophie vneder 
zu neuem Leben erweckte, der den Kampf gegen die alten Feinde 
der Pyrrhoneer, die nur einem intellektuellen Skeptizismus hul¬ 
digenden, im Grunde durchaus dogmatisch veranlagten Akademiker 
mit aller Schärfe wiederaufnahm, und der auch nach Sextus’ Be¬ 
richten sich ganz hervorragende Verdienste um die Ausbildung 
des skeptischen Systems erwarb, wird auf der anderen Seite von 
diesem als Dogmatiker hingestellt und energisch zurückgewiesen. 
Den Grund seiner Polemik findet Sextus in der Tatsache, daß 
Ainesidemos die Skepsis als den Weg zur Philosophie des Heraklit 
bezeichnet habe. Denn während die Skeptiker erklärten, x&vavxia 
negl xd aixd <paiveo&ai, d. h. von demselben Ding gebe es ver¬ 
schiedene entgegengesetzte Erscheinungsweisen, dasselbe Ding 
könne uns bald so, bald ganz anders erscheinen, stelle nach 
Ainesidemos’ Auffassung die Ansicht Heraklits, xävavxia tuqI x 6 
avxd vndQxeiv, d. h. hinsichtlich desselben Dinges sei auch ob¬ 
jektiv Entgegengesetztes vorhanden, das objektive Ding sei in 
dauernder Veränderung begriffen, gewissermaßen die Fortsetzung 
und Folgerung jener ersten Behauptung dar. Diese Nachricht 
findet ihre Ergänzung in einigen anderen Mitteilungen des Sextus, 
in denen dieser jenen Skeptiker ganz offen den »Anhänger des 
Heraklit« {Ainjaiötjfiog xaxd ‘HgdxXeixov) nennt. Um diese Wider¬ 
sprüche zu lösen — eine Aufgabe, die man als die schwierigste 
in der ganzen antiken Skepsis bezeichnet hat — hat man fol¬ 
gende Theorien aufgestellt*): 

1) Brochard, »Les Sceptiqnes Grecs« 1887 S. 277: ». .. plas difficile 
de tons les probl^mes que sool^ve l’histoire da scepticisme ancien.« Ygl. 
auch B. Bichter, »Der Skeptizismos in der Philosophie« S. 821 Anm. 145 
Bd. 1, Leipzig 1904; »Ein Entscheid ist nach dem vorhandenen Material nn- 
mbglich, and wer nicht Fachphilologe ist, soll von Lösangsversachen ab¬ 
stehen, denn dem letzteren ist mit einem offen eingestandenen non liqaet 
mehr gedient als mit ttbersubtilen Eonstraktionen.« 

2) Eine sehr gnte DarsteUnng and Eritik der einzelnen bedeatenderen 
Theorien gibt B. Bichter, a. a. 0. S. 321 Anm. 145. 



Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


149 


L Die sogen. Phasentheorie nimmt zwei verschiedene Ent- 
wicklnngsstadien des Ainesidemos an, sei es von der Skepsis 
znm Heraklitismns oder von der Philosophie des Heraklit znm 
Pyrrhonismus.^) 

n. Nach der verbreitetsten Auffassung blieb Ainesidemos zwar 
seinem skeptischen Standpunkte treu, ließ aber die Philosophie 
Heraklits als die relativ wahrscheinlichste metaphysische Hypo¬ 
these gelten.*) 

m. Während diese beiden Theorien auf der Voraussetzung 
fußen, daß in der Tat ein Zusammenhang zwischen Heraklitismns 
und Skepsis bei Ainesidemos bestanden habe, führen andere 
Forscher alle Unklarheiten und Widersprüche auf die ungenaue 
Berichterstattung des Sextus zurück, der jenen Skeptiker nur 
mißverstanden habe. Überall, wo Ainesidemos herakliteische 
Gedanken ansspreche, handle es sich lediglich um einen histo¬ 
rischen Bericht, nicht aber um die eigenen Ansichten dieses 
Skeptikers.*) 


1) Saisset (>Le scepticisme«, Paris 1865, S. 204) läflt die skeptische 
Periode auf die herakliteische folgen, während L. Haas (»De philosophornm 
scepticomni snccessionibns«, Diss. Würzbnrg 1876, S.44), Brochard (a. a. 0. 
S.284) sowie N. Macoll (»The Oreek Skeptics from Pyrrho to Sextns«, London 
and Cambridge 1869) den umgekehrten Weg annehmen. 

2) Auf diesem Standpunkt stehen Natorp (»Forsch, z. Gesch. d. Er¬ 
kenntnisproblems im Altertum« Bd. lU S. 75), Richter (a. a. 0. S. 31), 
B. Hirzel (»Untersuch, z. Ciceros philosophischen Schriften« Bd. m, Leipzig 
1883, S. 64ff.), Ooedeckemeyer (»Gesch. d. griech. Skep.« S. 228). 

3) Diese Ansicht vertreten besonders Ed. Zeller (»Philos. d. Griechen« 
Bd. in, 2* S. 36) und Di eis (»Doxogr. Graeci« S. 210). Auf einem ähnlichen 
Standpunkte stehen Th. Gomperz (»Zn Heraklits Lehre und den Überresten 
seines Werkes«, Wiener Studien 1886 S. 1048/49) und Patin (»Herakütische 
Beispiele«, Progr. Nenburg a.D. 1892/93 S. 35), die daneben betonen, dafi 
Ainesidemoe der Stoa habe zeigen wollen, der von ihr verehrte Heraklit sei 
im Grunde »skeptischer als die Skepsis selbst« (Gomperz S. 1049). Ander 
den genannten führe ich hier noch zwei Theorien an: a) E. Pappenheim 
(»Der angebliche Heraklitismns des Skeptikers Aines.«, Progr. Berlin 1889), 
stellte die sehr unwahrscheinliche und wohl auch von keinem Forscher an¬ 
genommene Hypothese auf, AlvijaiSrifioe xarä ’HQixXettov sei der Titel einer 
von Herakliteem verfafiten Tendenzzschrift gewesen, die den Aines. als An¬ 
hänger Heraklits hinstellen sollte, und ans der Sextus seine Kenntnis jenes 
Skeptikers schöpfte, b) ILHerbertz (»Das Wahrheitsproblem in der grie¬ 
chischen Philosophie«, Berlin 1913, S. 106) meint, »in transeunter Kritik« 
lehne Aines. zwar Heraklit ab, in »immanenter« aber lasse er ihn gelten. 
»Der Skeptizismus ist insofern ein Weg znm Heraklitismns, als in diesem 
gewisse methodische Prinzipien, deren sich auch der Skeptizismus bedient, 
und die ihm wesentlich sind, gleichfalls wegleitend sind« (S. 112). 



150 


Hans Krttger, 


Während nun fast alle jene Theorien den Aasspmch des 
Ainesidemos, daß die Skepsis den Weg zur heraklitischen Philo¬ 
sophie bilde, znm Ausgangspunkt nehmen, möchte ich hier ein¬ 
mal das umgekehrte Verfahren einschlagen. Da nämlich eine 
solche Behauptung sehr wahrscheinlich doch erst das Ergebnis 
gewisser voraufgegangener philosophischer Untersuchungen dar¬ 
stellt, so erscheint es nötig, vor Erörterung jener Schlußfolgerung 
das uns sonst über Ainesidemos’ Philosophie überlieferte Material 
einer genauen Prüfung zu unterziehen, um vielleicht hier die 
fehlenden Glieder zu entdecken und so den Zusammenhang mit 
der heraklitischen Philosophie vei'ständlich machen zu können. 
Denn bereits von vornherein die Zuverlässigkeit des Sextus in 
Zweifel zu ziehen, wäre vollkommen unmethodisch und bedeutete 
nur den Verzicht auf endgültige Lösung jenes Problems. 

Tatsächlich findet sich nun bei Sextus Empiricus noch eine 
andere Behauptung des Ainesidemos, mit der man wegen ihrer 
Seltsamkeit bisher nichts Rechtes anzufangen gewußt hat. Mehr¬ 
fach wird uns dort berichtet, Ainesidemos habe die Zeit als 
einen Körper bezeichnet. So teilt uns Sextus zunächst in seinem 
Hauptwerk, dem »Grundriß der Pyrrhonischen Philosophie«, bei 
der Kritik des Zeitbegriffes folgendes mit (Hyp. m, 138): xax 
oiolav te ol fxkv oa>fia aixbv i<paaav eJvai, d>s ol tkqI xdy Äinj- 
atdt]/xov (fxtjdhv ydg avrdv diatpigeiv rov Svrog xal tov ngdUzov 
ofofjunog)^ ol 6h äo(b[JUixov. 

»Was ihr (sc. der Zeit) Wesen betrifft, so behaupteten die 
einen, sie sei ein Körper, wie Ainesidemos und seine Anhänger 
(denn sie unterscheide sich in nichts von dem Seienden und 
dem ersten Körper), die anderen dagegen meinten, sie sei un- 
körperlich.« 

Diese Ausführungen wiederholt Sextus in seiner Schrift 
gegen die Dogmatiker und erläutert sie dort etwas näher (adv. 
dogm. 4, 215/17): ... x&v doyfMxix&v <piXoa6<po)v tpaolv ol ßihv 
owfM elvat xöv ol 6h Aocofiaxov . . . a&fia fihv ovv 

elvai xöv xQOvov Alvt]ol6r]fjiog xaxd tov ^HgAxkenov' fif] 6ia(piQtiv 
ydg avxbv xov 5vxog xal tov tiqcotov awfxaxog. 5^ev xal 6tä xrjg 
ngtoTTjg daaycoy‘^g xatd ngay/idzcoy xerdx^ai Xiycov xdg dnkäg 
khieig, atxiveg fiigij xov köyov xvyydvovoi, xr)v fjikv *XQ6vog< nQo~ 
orjyogtav xal xfjv »fiovdg< im xrjg ovalag xexdx&ai qnjolv, fjxig iarl 
aoifioxtxiq, xd 6h jueye&rj xcöv xQovcov xal xd xe<p6Xata x&v dgv&fi&v 
inl noXvnXaaiaofiov fidXiaxa ixtpigea^at. x6 fihv ydg »vDv«, S 6t] 
Xgövov fi^iwfxd laxtv, frt 6h xrjv fiovd6a ovx &XXo xi elvat ^ r^v 
obaiav, xi]v 6h ijfiigav xal x6v rfirjvat xal t6v vlviavxbv*. noXv- 



Zur Philosophie des Ainesidemos von Enossos. 


151 


TtXaataofthv {>7idQX£iv tov »vwt Sk tov xq6vov)j xä 6k »Svot 

xal >jQ(a* xai »6ixa< xal *kxax6v<t noXvnkjaauiafJiSv slvat 
fxovddos. 

„Von den dogmatischen Philosophen behaupteten die einen, 
die Zeit sei körperlich, die anderen, sie sei nnkörperlich ... für 
einen Körper erklärte die Zeit Ainesidemos als Anhänger des 
Eeraklit. Denn sie unterscheide sich nicht von dem Seienden 
und dem ersten Körper. Daher sagt er auch in der »ersten 
Einftthmng« — wo er meint, die einfachen Ausdrücke, welche 
die Teile der Bede bilden, seien für sechs Dinge festgesetzt 
worden —, daß die Benennung »Zeitc nnd »Einheit« zur Bezeich¬ 
nung des Seins ständen, welches ja körperlich sei, yon den Längen 
der Zeiten aber sowie yon den Zusammenfassungen der Zahlen 
spreche man hauptsächlich im Hinblick auf eine Veryielfältignng. 

Denn das »Jetzt«, das ja die Zeit anzeige, sowie ferner die 
»Elinheit« sei nichts anderes als das »Sein«, der »Tag« aber, 
sowie der »Monat« nnd das »Jahr« sei die Veryielfältignng des 
»Jetzt« (womit ich die Zeit meine), die »Zwei«, die »Drei«, die 
»Zehn« nnd die »Hundert« stelle ebenso die Yeryielfachnng der 
»Einheit« dar. 

Schließlich sei noch folgende Stelle erwähnt (ady. dognL4,233): 
x6 T£ 6v xaxä x6v *HqAxX£ixov 6^q iaxiv, <&g qnjalv 6 Aivijaidrjfios. 
»Das Seiende ist nach Heraklits Ansicht die Luft, wie Ainesi¬ 
demos sagt« 

Diese zunächst äußerst wirr anmutenden Mitteilungen haben 
nun yerschiedene Interpretationen gefunden: 

L Zeller^) meint: »Für das Urwesen erklärte Ainesidemos 
nach dieser Darstellung die Luft... Von diesem Urstoff sollte 
auch die Zeit nnd die Zahl nicht yerschieden sein; denn mit 
der »Einheit« und dem »Jetzt« sei nichts anderes gemeint als 
die körperliche Substanz, nur aus der Veryielfältignng jener 
beiden entstehe aber die Zahl nnd die Zeit.« Und zu Ainesi¬ 
demos’ Behauptung x6 fikv ydg vvr ... o6x äXXo xt elvai ^ xi]v 
o6a(av bemerkt er*): »Dieser ziemlich unklare Satz soll wohl 
besagen, wenn man yon einer Einheit rede, so denke man an 
irgend ein körperliches Ding, nnd ebenso bei dem Jetzt an die 
Gegenwart des Dinges.« 

n. Goedeckemeyer*) sagt: Ainesidemos sei »nach alter 
Weise zu der Frage nach dem Wesen oder der Usie der Welt« 

1) s.a.0. Bd.m,2« S.86. 

2) a. a, 0. Bd. m, 2* S. 87 Änm. 2. 

8) a. a. 0. S. 288/4. 



152 


Hans Srttger, 


ttbergegangen. »Diese aber fand er wiederum im Anschluß an 
sein in stoischer Färbung Tor ihm stehendes Vorbild in etwas 
Körperlichem, und zwar genauer in der Luft ... Aber diese 
Usie sollte nun zugleich mit der Zeit und der Zahl zusammen- 
fallen, weil Zeit sowohl wie Zahl aus der ihnen jeweils zugrunde¬ 
liegenden Einheit entständen, die von der Usie nicht verschieden 
sei, eine These, in der wir trotz ihrer Seltsamkeit den nen- 
pythagoräischen Einschlag ... kaum verkennen werden.« 

ni. Natorp*) denkt sich den Zusammenhang so: »Nach be¬ 
kannter heraklitischer Lehre ist ,Alles aus einem' und außer 
dem einen Seienden nichts. Dies eine Seiende, die Substanz des 
Alls, faßte Ainesidemos, begreiflich, in materialistischem Sinne 
als Körper und schloß: auch die Zeit könne nicht für sich ein 
vom Körper getrenntes, ein unkörperliches Sein besitzen, also 
zwar nicht, die Zeit selbst sei Körper, wie Sextus ungenau seine 
Behauptung wiedergibt, sondern sie sei, modern ausgedrttckt, ein 
Modus des Körpers.« 

Wenn nun Ainesidemos jene Aussprüche wirklich in diesem 
Sinne meinte, so dürfte er m. E. ein höchst unklarer Kopf ge¬ 
wesen sein, oder Sextus hätte zum mindesten dessen Ansichten 
arg mißverstanden und entstellt Beide Annahmen erscheinen 
unnötig: Ainesidemos’ wirkliche Meinung läßt sich doch woM 
ohne gewaltsame Konstruktionen aus jenen Worten erkennen. 

Daß man noch in Ainesidemos’ Zeiten sich so eifrig mit 
der Frage nach dem Urstoff der Welt beschäftigte, in dem Sinne, 
wie es einst die vorsokratischen Philosophen taten, ist wenig 
wahrscheinlich. Allerdings könnte Ainesidemos dies ja im 
Anschluß an Heraklit getan haben, aber auch das ist, wie 
wir noch sehen werden, keineswegs der Fall. Wenn der Skep¬ 
tiker über die Usie Aussagen machte und unter ihr nach der 
herkömmlichen (vor allem stoischen) Auffassung die körperliche 
Substanz verstand, so beging er die denkbar größte Inkonsequenz. 
Er verließ damit den sicheren Boden der Erfahrung und stellte 
gegen aUe skeptischen Gebote Behauptungen über Dinge auf, 
die nur in den Bereich der döxa, der von den Skeptikern ent¬ 
schieden abgelehnten subjektiven Meinung gehörten. Entweder 
traut man also dem Neubegründer des Pyrrhonismus diese In¬ 
konsequenz zu, oder man nimmt an, daß er jenen Ausspruch in 
ganz anderem Sinne tat, daß er vor allem unter den Begriffen 
des o&iM und der ovala etwas anderes verstand als die bis¬ 
herigen Philosophen. Das letzte scheint in der Tat zutreffend 


1) a. a. 0. S. 109. 



Zur Philosophie des Ainesidemos von Enossos. 


163 


za sein. Ainesidemos hat anscheinend mit den beiden Worten 
eine so sehr von dem gewöhnlichen Gebrauch abweichende Be- 
dentnng yerbonden, daß diese Auffassung bereits im Altertum, 
so z. B. schon bei Sextus, zu Unklarheiten führte. 

Gewiß kann oiola die körperliche Substanz bezeichnen, und 
diese Bedeutung hatte das Wort z. B. bei den Stoikern ^). Und 
doch dürfen wir nicht so schematisch mit dem Begriffe ver« 
fahren, sondern müssen zunächst von seinen verschiedenen in¬ 
haltlichen Bestimmungen absehen und nur die formale Seite in 
Betracht ziehen. Zwar tritt er auch dann noch in verschiedenen 
Bedeutungen auf *), doch bezeichnet er im letzten Grunde nichts 
anderes als das von allen Philosophen gesuchte »wahrhaft Seiende«, 
das wahre Wesen, die »Wirklichkeit« und steht im Gegensatz 
zur Nichtwirklichkeit. Usia wird somit ganz ähnlich wie unser 
deutsches Wort »Sein« gebraucht. »Es bezeichnet einmal den 
Komplex des Seienden, als das Unendliche und das unendlich 
Mannigfaltige, das »ist«, die Welt des Seins, dann aber das Sein 
der Welt, die nicht weiter zu begründende Tatsache, daß alle 
diese Dinge eben sind; ... dort ist es der gesamte Inhalt der 
Welt, hier ist es ihre allgemeine Form«*^. Dazu tritt dann 
schließlich die hier in Betracht kommende Bedeutung von Usia, 
die zum Ausdruck bringt, was der einzelne Mensch als »wirk¬ 
lich« existierend empfindet, was er schlechthin als »Realität« 
ansieht Diese letzte Bedeutung hat man eigentlich bisher ganz 
übersehen. Denn man hielt, wie Spranger sehr richtig be¬ 
merkt, die »Realität« für etwas durchaus Eindeutiges, »obwohl 
sie eine reliefartige Durchdringung der verschiedensten Gegen¬ 
standsschichten ist; sie ist daher von der jeweiligen historischen 
und individuellen Bewußtseinslage so stark abhängig, daß man 
eine Geschichte des Realitätsbewußtseins schreiben könnte«^). 

Was hielt nun Ainesidemos für wirklich existierend? Wir 
lesen es ganz klar bei Sextus: rö ftkv ydg vvv ... oix äXXo n elvai 
xijv ohalav, das »Jetzt« nämlich — sei nichts anderes als das 
wirklich Existierende. Einer weiteren Deutung bedarf dieser 
Ausspruch nicht mehr. Es besagt nichts anderes als: das Jetzt, 
der gegenwärtige Augenblick ist das wahrhaft Seiende, d. h. 


1) YgL Zeller s. a. 0. S.llSff. 

2) Vgl. die gate Znsammenstellaiig dieser verschiedenen Bedentongen 
bei P. Natorp, »Platos Ideenlehre«, Sachregister S. 465. Zur Oeschichte 
des Wortes vgl. den Aufsatz von B. Hirzel: ovaia, »Philologns« 1918, S. 42. 

3) Q. Simmel, »Hauptprobleme der Philosophie« S.44. 

4) Lebensformen 1922* S. 89. 



154 


Hans ErUger, 


alles das, was ich im Angenblick erlebe, existiert, der gegen¬ 
wärtig von mir erlebte Zustand ist die einzige Realität! 

Dieser Anssprach, so unbedeutend er auch scheinen mag, 
stellt sich bei näherer Betrachtung als äußerst wichtig heraus. 
Wir haben die Möglichkeit, aus ihm den Charakter von Ainesi- 
demos’ Weltbild zu erkennen und weitgehende Aufschlflsse über 
dessen >Einstellung< zur Welt zu gewinnen. Und eben darauf 
kommt es an, diese Gmndeinstellang, dieses Urerlebnis, aus dem 
alle Gedanken und theoretischen Ausführungen des Philosophen 
hervorgingen, zu erfassen und durch einfühlendes Nacherleben 
zu verstehen. 

Was ist nun der > Augenblick< ? Mit welchem Rechte kann 
man ihn als real existierend bezeichnen? Da sein Wesen im 
engsten Zusammenhänge mit dem der Zeit steht, so wird jede 
Auffassung von der Zeit auch für ihn mitbestimmend sein und 
umgekehrt. Beide kann man nun von zwei verschiedenen Seiten 
betrachten, vom Subjekt und vom Objekt aus.^) Jede der beiden 
Anschauungsweisen würde für sich isoliert zu einer ganz be¬ 
stimmten Weltanschauung führen oder eine solche zur Yorans- 
setzung haben: die des Idealismus oder des ReaUsmus. Denn 
»wie diese Zeitbegriffe realisiert, erlebt werden, ist ein Charak¬ 
teristikum weltanschaulicher Stellungen«*). 

Für die antiken Philosophen ist es nun bezeichnend, daß sie 
mit wenigen Ausnahmen die Zeit nur in ihrer objektiven Be¬ 
deutung erfaßten, dagegen wird »die psychologische Seite der 
Vorstellung von der Zeit von den Philosophen des Altertums ... 
nicht hervorgehoben«*). Das zeigt uns schon ganz deutlich der 
kurze uns von Sextus gegebene Überblick über die Zeitauff assungen*). 
Da wird die Zeit definiert als »Ausdehnung der Weltbewegung« 
(Stoiker), als »Maß aller Bewegung und Ruhe« (Straton), »Zahl 
der Bewegung hinsichtlich des Früher und Später« (Aristoteles), 
oder als »Beschaffenheit von Beschaffenheiten, die Tagen, Nächten, 
Leiden, Leidlosigkeiten, Bewegungen und Ruhelagen folgt« 

1) Eine g^nte Übersicht über die hauptsächlichsten Zeittheorien vom 
Altertum bis zur Gegenwart gibt B. Eisler in seinem »Wörterbuch der 
philosophischen Begriffe« Bd. 8 S. 1882 ff. 

2) Jaspers, »Psychologie der Weltanschauungen« (Berlin 1919 l.Anfl.) 
S. 96; Tgl. zu dem Folgenden das ganze Kapitel Ober den Augenblick 
(S. 94—102). 

8) HansLeisegang, »Die Begriffe der Zeit und Ewigkeit im späteren 
Platonismns« (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 
Bd. 18, Heft 4, 8.42, Anm. 1). 

4) Sext. hyp. 186 ff. cf. adv. dogm. IV, 169 ff. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


155 


(Epiknr). Bei einer solchen Betrachtungsweise erscheint dann 
der Augenblick entweder als bloßes Zeitatom, das aber im letzten 
Grunde nur eine >lautlose atomistische Abstraktion« (Kierkegaard) 
darstellt oder als kleinste, inhalterfüllt, also räumlich gedachte 
Zeiteinheit, als ein bestimmter Teilzustand der mit der Zeit eng 
zusammenhängenden Bewegung (Zenon von Elea). Als außer 
aller Zeit seiend denkt Platon^) den Augenblick, während 
Aristoteles*) sein Wesen mit dem der Zeit in engste Verbindung 
bringt, indem er diese erst aus seiner Bewegung hervorgehen läßt. 

Demgegenüber finden wir mehr subjektivistisch gefärbte 
Zeittheorien erst bei späteren Platonikem *) und bei Ainesidemos. 
Zwar bleibt auch bei jenen die Zeit durchaus noch eine selb¬ 
ständige, transzendente Größe, doch wird jetzt auch die Rolle 
des Ich, der seelische Faktor der Zeit stärker hervorgehoben. 
Faßt schon Plntarch die Zeit als ein beseeltes Wesen auf*), so 
definiert Plotin sie geradezu als Leben der Seele, sowohl der 
Welt- wie der Einzelseele®). Während hier aber überall meta¬ 
physische Spekulationen das ursprüngliche Zeiterlebnis verdunkeln 
und entstellen, tritt uns bei Ainesidemos eine Zeittheorie ent¬ 
gegen, die man wohl nicht mit Unrecht als die subjektivistischste 
des ganzen Altertums bezeichnen kann. Hier finden wir wirklich 
eine aus dem ganz ursprünglichen Erleben des Augenblicks hervor¬ 
gegangene Zeitanffassung in ihrer reinsten Form entwickelt und 
zu einer philosophischen Weltanschauung ausgebaut Der Augen¬ 
blick, der in seiner objektiven Bedeutung den bisherigen Philo¬ 
sophen nur nur als problematisches, ja paradoxes Wesen er¬ 
schienen war, wird hier ganz unmittelbar von dem erlebenden 
Ich ans betrachtet und erst so in seiner wahren Natur erkannt. 
Freilich bei jener erstgenannten, das Subjekt vollkommen igno¬ 
rierenden Anschauungsweise mußte die Zeit notwendig als selb¬ 
ständige Größe, als homogenes Medium, als endlose Sukzession 
erscheinen; dabei übersieht man dann, daß »die in Form eines 
unbegrenzten und homogenen Mediums gedachte Zeit nur das 
Phantom des Raumes ist, das das refiektierte Bewußtsein im 
Banne hält«®). »Wir projizieren die Zeit in den Raum, wir 


1) Parmenides 56. 

2) Die aosftUirliche ErSrterang: des rifr findet sich: Phjsik 4, 13; 
auch die Besprechung des Zeitbegriffes: Physik 4, 10—12. 

8) 8. den zitierten Anfsatz von H. Leisegang. 

4) Leisegang a. a. 0. S.9. 

5) Leisegang a. a. 0. S. 24. 

6) H. Bergson, Zeit and Freiheit 1911 S. 77. 



156 


Hans Krüger, 


drücken die Däner durch Ansgedehntes aus, nnd die Sukzession 
nimm t für uns die Form einer stetigen Linie oder einer Kette 
an, deren Teile sich berühren, ohne sich zn dnrchdringen *).c Solche 
Teile sind dann die einzelnen Augenblicke, mag man sie nun 
als leere Zeitatome oder mehr als räumliche Punkte ansehen, 
von denen eigentlich keiner vor den anderen irgendeine Sonder- 
stellnng annähme; auf diese Weise wird das Wesen des Augen¬ 
blicks schwer faßbar, wird fließend, ja paradox, weil eben ein 
wirklicher Angriffspunkt, eine feste Basis nicht vorhanden ist 
Diese kommt erst dadurch zustande, daß man die Zeit nnd den 
Augenblick gleichsam »von innen«, vom erlebenden Subjekt ans 
betrachtet. Bei einer solchen unmittelbaren Einstellung erleben 
wir den Charakter des Augenblicks als das »Jetzt«, das Gegen¬ 
wärtige, erst hierdurch erkennen wir den gewaltigen Unterschied 
zwischen dem gegenwärtigen und einem vergangenen Augenblick, 
zwischen existierenden nnd nichtexistierenden Zeitteilen, ja erst 
so erfassen wir direkt den unüberbrückbaren Gegensatz von Sein 
und Nichtsein, von Wirklichkeit und Unwirklichkeit Denn »der 
gelebte Augenblick ist das Letzte, Blutwarme, Unmittelbare, Leben¬ 
dige, das leibhaftig Gegenwärtige, die Totalität des Realen, das 
allein Konkrete«^). 

So erlebt der Mensch im Augenblick die »Welt«, alle Wahr¬ 
nehmungen, Vorstellungen, Gedanken nnd Gefühle, die die Form 
des »Jetzt« aufweisen, sind, da sie als Inhalte des Augenblicks 
von den Strahlen des Erlebniszentrums, des Ich, getroffen werden, 
wirklich existierend. »So ist der jetzige Augenblick allen jetzt 
bestehenden Dingen gemeinsam; sie werden alle davon so befaßt, 
als wären sie nur ein einziges Ding, und man kann wahrhaft 
sagen, daß sie alle in demselben Zeitpunkte sind*).« Begreiflich, 
wenn ans diesem Urerlebnis eine philosophische Weltanschauung 
erwächst, die das Kriterium für alle Existenz lediglich auf dies 
Erleben einschränkt und nur das als wirklich seiend anerkennt, 
was in den Bannkreis eines Ich gelangt, was in ein Bewußtsein 
eintritt. Begreiflich, wenn Ainesidemos dem Augenblick, der 
Welt der unmittelbaren Erfahrung, die Bezeichnung ovola bei¬ 
legte und so zum Ausdruck brachte, daß die von den Philo¬ 
sophen gesuchte Wirklichkeit durchaus nicht unabhängig vom 
Subjekt als körperliches Etwas zu denken sei, sondern vielmehr 


1) H. Bergson a. a. 0. S. 79. 

2) Jaspers a. a. 0. S. 97. 

8) John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand Buch ü, 15,11. 



Zar Philosophie des Ainesidemos yon Knossos. 


157 


in engster Beziehung zu ihm stehe und gleichsam im Ich ent* 
haltmi seL In dem Satze: t6 /ikv ydg vvv ... oix äXXo n elvai 
fj T^v ovalav liegt also zugleich auch die negative Bestimmung 
enthalten: alle Existenz ist nur im Verhältnis zu einem Subjekt 
zu denken, ohne ein solches erlebendes Ich ist keine Existenz 
möglich; es ist unsinnig, irgendetwas als real anzunehmen, 
was nicht von einem Ich irgendwie erlebt würde. In einer 
Formel ausgedrfickt, würde jener Ausspruch also letzten Endes 
besagen: Existieren=erlebt werden, elvai = <paivea&ai, esse=per- 
cipi! 

Damit haben wir den philosophischen Standpunkt vor uns, 
den man als den extremen Idealismus zu bezeichnen pflegt. 
Wenn Joel*) behauptet: »Es fehlt der griechischen Philosophie 
dei* Subjektivismus eines Fichte wie der Individualismus eines 
Stimer, es fehlt selbst der kartesische und schon augustinische 
Ausgang von der Selbstgewißheit des Ich, es fehlt wie der 
voluntaristische Idealismus so auch der erkenntnistheoretische 
eines Berkeley oder Schopenhauer oder Schuppe«, so 
bedarf dieser Satz entschieden einer Einschränkung: in Ainesidemos’ 
Philosophie Anden wir sowohl den Ausgang von der Selbstgewi߬ 
heit des Ich, wie den Idealismus eines Berkeley!^ 

Bevor wir diese Darlegfungen von einem anderen Gesichts¬ 
punkte aus zu erläutern und zu stützen suchen, wollen wir zu¬ 
nächst einen kurzen Blick auf die Zeittheorie des Ainesidemos 


1) »Geachichte der antiken Philosophie« Bd. 1 S. 138. 

2) Fttr diese wie für die gesamten späteren Ansftthrangen sei noch 
folgendes bemerkt: Die Bezeichnung von Ainesidemos' Standpunkt als »ex¬ 
tremen Idealismus« sowie die angeführten Parallelen au Berkeley konnten 
die Vermutung nahelegen, als hielte ich beide Standpunkte ohne weiteres 
für vollkommen identisch. Davon kann selbstverständlich nicht im geringsten 
die Bede sein. Ich beabsichtige durchaus nicht, der Philosophie des Aine¬ 
sidemos ein modernes Schlagwort aufzuprägen, noch diesen Denker tendenziös 
für ein bestimmtes System in Anspruch zu nehmen. Die angeführten Ver- 
grleiche sollen lediglich zur Illastration seiner Weltanschauung dienen, 
deren Struktur nach einer bestimmten Bichtang hin, eben in dem Verhältnis 
mm Substanzbegriff, eine groSe Ähnlichkeit mit jenem englischen Denker 
anfweist, so daß man sie in diesem Sinne als eine »idealistische« bezeichnen 
darf. Wie weit Ainesidemos etwa noch wie Berkeley an dem Begrifi 
einer seelischen Substanz festhielt, oder wie weit er bereits za dem Posi- 
tivismas eines Mach fortgeschritten war, lassen uns die wenigen Frag¬ 
mente nicht mehr erkennen. Die Interpretation von zwei hieraaf bezüg¬ 
lichen Äußerungen, daßdieUsia sowohl Ganzes wie Teil (Sext. adv. dogm. HI, 
387), sowie daß der Verstand mit den Wahrnehmungen identisch sei, be¬ 
halte ich mir für eine spätere Darlegung vor. (Seit. hyp. I, 349/50.) 



158 


Hans Krüger, 


werfen. Wie dieser Philosoph den Angenblick erfaßte, wissen 
wir bereits. Wie stellte er sich nnn aber dessen Verhältnis znr 
Zeit vor? Sextus berichtet nns hierüber folgendes^): Die Be¬ 
nennung »Zeit« nnd »Einheit«, so sag^ er, stände znr Bezeich¬ 
nung des Seins, welches ja körperlich sei; von den Längen der 
Zeiten aber sowie den Zusammenfassungen der Zahlen spreche 
man hauptsächlich im Hinblick auf eine Vervielfältigung. Denn 
das »Jetzt«, das ja die Zeit anzeige, sowie ferner die »EUnheit« 
sei nichts anderes als das Seiende; der »Tag« aber, der »Monat« 
nnd das »Jahr« sei nur eine Vervielfältigung des >Jetzt< (womit 
ich die Zeit meine), die »Zwei« aber, die »Drei«, die »Zehn« und die 
»Hundert« sei eine Vervielfältigung der »E^heit«. Diese Aus¬ 
führungen scheinen zunächst keineswegs eindeutig nnd verständlich. 
Da hier nämlich nicht nur der Augenblick, sondern die Zeit selbst 
als Sein, als Usia bezeichnet wird, so folgt daraus, daß beide 
notwendig zusammenfallen müssen. Diese Identität von Zeit und 
Augenblick wird ja auch ganz offen durch Sextus’ Zusatz 
>... des Jetzt, womit ich die Zeit meine« ausgesprochen. Mit 
anderen Worten besagt diese Gleichung: im gegenwärtigen Augen¬ 
blick ist die ganze Zeit enthalten, oder, um mit Giordano 
Bruno zu reden: »Die Zeit ist in Wahrheit nnd Wesenheit 
nichts anderes als stete Gegenwart, ewiger Augenblick« •). Diese 
Folgerungen ergaben sich für Ainesidemos ohne weiteres ans 
seinem idealistischen Standpunkt. Wenn, wie wir hörten, nach 
Ainesidemos’ Anschauung alle Existenz nur im Hinblick auf ein 
erlebendes Ich möglich ist, wenn also die Welt der äußeren 
Dinge so in eine Welt der Bewußtseinserscheinnngen verwandelt 
wird, so muß die sonst als Sukzession der äußeren Vorgänge 
aufgefaßte und mit der Bewegung in Verbindung gebrachte Zeit 
bei dieser Einstellung zu einer Folge der Bewußtseinserscheinungen 
selber werden. In diesem Sinne sagt auch Berkeley*): »Jedes¬ 
mal, wenn ich versucht habe, eine einfache, von der Ideenfolge 
in meinem Geiste abstrahierende Idee der Zeit zu bilden, die 
gleichmäßig verfließe, nnd an der alle Dinge Anteil haben, habe 
ich mich in unauflösliche Schwierigkeiten verwickelt und ver¬ 
loren ...«; »... da also die Zeit nichts ist, wenn wir absehen 
von der Ideenfolge in unserem Geist, so folgt, daß die Dauer 
eines endlichen Geistes nach der Zahl der Ideen oder Hand- 


1) 8. oben S. 6. 

2) -Eroici fnrori (zitiert nach Jaspers). 

3) »Abhandlung über die Prinzipien dermenschlichen Erkenntnis«, Kap. 96. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Kaossos. 


1Ö9 


langen abgeschätzt werden muß, die einander in eben diesem 
Gemüte folgen.« Dieser Anffassnng der Zeit als Ideenfolge kommt 
Plotins die Zeit als Leben der Seele bezeichnende Definition sehr 
nahe. Ainesidemos jedoch schränkt die Zeit ganz auf den Augen¬ 
blick, die unmittelbar gegenwärtigen Bewußtseinserlebnisse ein, 
lehnt also mit anderen Worten jede Verbindung des Zeitbegriffes 
mit dem der Folge ganz ab. Vielleicht tat er dies, weil er schon 
den später yon Bergson ausgesprochenen Gedanken ahnte, daß 
der Begriff der Folge eigentlich nur im Hinblick auf die Welt 
der äußeren Vorgänge, nicht aber die der Bewußtseinserscheinungen 
berechtigt sei, da bei letzteren ein gegenseitiger Durchdringungs¬ 
prozeß stattfinde, der lediglich eine qualitative Veränderung, aber 
keine Folge darstelle. Denn »fttr sich betrachtet, haben die 
tieferen Bewnßtseinszustände keine Beziehung zur Quantität, sie 
sind reine Qualität; sie vermischen sich derartig, daß sich nicht 
sagen läßt, ob sie einer oder mehrere sind« ^). Möglich ist es 
also immerhin, daß Ainesidemos bereits den Unterschied zwischen 
der Zeit als Qualität, in der eine Bewußtseinstatsache entsteht, 
und der Zeit als Quantität, in die wir sie sekundär als äußeren 
Vorgang projizieren, empfunden hat. Doch sind das nur Ver¬ 
mutungen; eine vollständig klare Anschauung von Ainesidemos’ 
Zeitauffassung läßt sich infolge der mangelhaften Überlieferung 
nicht gewinnen. So ist auch die Mitteilung, daß der Philosoph 
die Länge der Zeiten, wie den Tag, den Monat und das Jahr, 
für eine Vervielfältigung des Augenblicks hielt, nicht ganz ein¬ 
deutig, besonders durch den hinzugefügten Vergleich mit der 
Zahlenreihe *). Vielleicht wollte er hiermit folgendes sagen: wenn 
man von gewissen Zeitstrecken wie dem Tag, Monat und Jahr 
rede, so seien] das im Grunde nur rein gedankliche Zusammen¬ 
fassungen von mehreren Augenblicken, nur begriffliche Verviel¬ 
fältigungen des >Jetzt«. So sagt z. B. Locke^: »Wenn die 
Seele die Vorstellung einer bestimmten Länge der Dauer erlangt 
hat, so kann sie sie verdoppeln, vervielfältigen und vergrößern, 
nicht bloß über ihre eigene Dauer, sondern auch über die aller 


1) Bergson, »Zeit and Freiheit« S. 107. 

2) Den Zosanunenhang zwischen dem Jetzt and der Einheit bemerkt 
schon Aristoteles (Phys. XI S. 106 n. 115). Ob man in diesem Vergleich bei 
Ainesidemos, wie Goedeckemeyer meint (s. S. 284; vgl. oben S. 6), neu- 
pythagoreischen Einflafi za sehen hat, wage ich heute noch nicht za ent¬ 
scheiden. Eine Behandlung dieses Problemes behalte ich mir für eine spä¬ 
tere Darstellung vor. 

3) a. a. 0. n, 15,2. 



160 


Haas Krttger, 


körperlichen Dinge und über alle Zeitmaße, die den großen Welt- 
körpem und ihren Umdrehungen entlehnt sind.« Wenn ich also 
etwa einen Tag verbracht habe, so besagt das nach Ainesidemos’ 
Ansicht nichts anderes, als daß ich eine große Anzahl von Augen¬ 
blicken durchlebt habe. Gewiß weiß ich, daß ich an diesem 
Tage dies und jenes erlebt, daßichunendlich viele Wahrnehmungen, 
Vorstellungen, Gedanken und Gefühle gehabt habe, aber davon 
existierte jeweilig immer nur ein einziges »Jetzt«, nur ein Augen¬ 
blick war immer wirklich gegenwärtig. Diesen Gedanken können 
wir auch so fassen: alle Ereignisse mußten einmal in den Rahmen 
des vvv, der Gegenwart, eingehen, um »wirklich« zu werden, 
oder wie Schopenhauer sich ausdrückt^): »Es gibt nur eine 
Gegenwart, und diese ist immer; denn sie ist die alleinige Form 
des wirklichen Daseins.« 

Doch eins ist noch zu erklären. Warum bezeichnete Ainesidemos 
die Zeit auch als Körper (o&fia) ? Der Grund hierfür war viel¬ 
leicht folgender; Die Begriffe acöjuia und oöota standen bekannt¬ 
lich im Mittelpunkt der Physik der Stoa, jener Schule, die als 
Vertreterin eines extremen Dogmatismus von jeher die größte 
Gegnerin des Skeptizismus gewesen war. Bei den Stoikern be¬ 
zeichnete nun Soma nicht nur etwa das, was wir heute unter 
einem »Körper« verstehen, sondern sie nannten z. B. auch die 
Stimme, die Tugend, ja sogar die Wahrheit Soma, sie stellten 
sich eben überhaupt unter dem »wirklich Existierenden« nur das 
sogenannte Körperliche vor und umgekehrt. Soma und Usia 
waren bei ihnen geradezu identisch *). Diese Identifizierung hatte 
sich nun unter dem Einfiuß der Stoiker auch bei anderen Schulen, 
sogar bei den Skeptikern, eingebürgert; das zeigen unzweifel¬ 
haft Sextus’ Worte (s. oben S. 12) »... des Seins (der üsia), 
welches ja körperlich sei«. So war es also ganz natürlich, daß 
Ainesidemos mit dem Worte üsia auch zugleich das Wort Soma 
übernahm, um es freilich, genau wie jenes erste, in ganz anderem 
Sinne zu verwenden. Eine überraschende Parallele zu einem 
solchen Begriffswandel finden wir bei dem Idealisten Berkeley. 
In den »Gesprächen zwischen Hylas und Philonous« erklärt 
jener am Ende aller Diskussionen n. a. folgendes‘l: »...Auf 
den ersten Blick bin ich versucht zu glauben, daß du mit der 

1) Parergaü, Anhangzn§ 142(S.300d.2.Anfl. 1862,her. y. Franenstädtl. 

2) Vgl. Zeller m, 1* S. 119. 

3) Zitiert nach derÜhersetzong von R. Richter (Leipzig 1901) S. 128S. 
Man lese die interessante, hier nur in ganz kurzem Aaszag wiedergegebene 
Stelle selber dort nach. 



Zar Philosophie des Ainesidemos Ton Enossos. 


161 


Ablengnimg der Materie die Dinge, die wir sehen and fühlen, 
ablengnest, finde aber bei n&herer Erwägung keinen Grund da¬ 
für. Was meinst da nun, wenn wir den Namen Materie 
beibehielten und ihn auf die sinnlichen Dinge an¬ 
wendeten?’) Dies könnte ohne jedweden Wechsel in deiner 
Gesinnung geschehen; und glaube mir, es wäre ein Mittel, manchen 
mit ihr zu versöhnen, der mehr Anstoß an einer Neuerung in 
den Worten als in der Meinung nimmt, t Darauf entgegnet 
Philonous u. a.: »Herzlich gern, behalte das Wort Materie bei 
und wende es auf die Gegenstände der Sinne an, wenn du Lust 
hast, vorausgesetzt, daß du ihnen kein selbständiges, von ihrem 
Wahrgenommenwerden unterschiedenes Dasein zuschreibst. .. .< 

Bedenken wir, daß das griechische Wort Soma in Verbindung 
mit Usia tatsächlich dem entspricht, was wir heute Materie 
nennen, so dürfte diese Parallele für die Klärung unseres Pro- 
blemes von größter Bedeutung sein; genau wie dort unter dem 
Begriff Materie in neuer Fassung »eine Gruppe sinnlicher Eigen¬ 
schaften, die nur im Geist wirkliches Dasein haben,« verstanden 
werden soll, so wandte Ainesidemos das Wort Soma dem bis¬ 
herigen Sprachgebrauch entgegen auf die Zeit oder den Augen¬ 
blick, d. h. auf die Summe der unmittelbar gegenwärtig erlebten 
Bewußtseinserscheinungen an. 

Diese Beibehaltung der Worte Usia und Soma hatte jedoch 
anscheinend nur den Erfolg, daß die gesamte, sich auf dieser 
Zeittheorie aufbauende Weltanschauung des Ainesidemos von den 
antiken Philosophen, ja sogar von einem Teil der Skeptiker arg 
mißverstanden wurde, so daß er, besonders durch die von 
Sextus gegen ihn geübte Polemik, bald als Erzdogmatiker er¬ 
scheinen mußte; und doch, mochte Ainesidemos’ neuer Stand¬ 
punkt sich auch von dem der bisherigen Skeptiker unterscheiden, 
im Grunde stellt er nur die konsequente Fortführung der pjrrrho- 
nischen Skepsis dar, er bedeutet nur eine neue, in dem Wesen 
des skeptischen Denkens begründete Entwicklungsstufe *). Denn 
wenn Ainesidemos die Bewußtseinstatsachen für allein existierend 
erklärte, so erkennen wir hierin durchaus den Zusammenhang 
mit den bisherigen skeptischen Lehren. War doch die gesamte 
Einstellung der pyrrhonischen Skeptiker schon von jeher auf 
das positiv Gegebene, die <paiv6/ieva, gerichtet gewesen. Deren 


1) Von mir gesperrt. 

2) Näheres darOber in meinem Artikel Uber den »Aasgang der antiken 
Skepsis« ■ 

▲rchir fttr Psychologie. XLVIII. 


11 



162 


Hans Kxflger, 


Dasein leugneten die Skeptiker keineswegs, nnr Aber das diesen 
Bewnßtseinserscheinnngen Zugrundeliegende, Aber die »wahre 
Wirklichkeit« der Dinge wollten sie keine Anssagen machen*). 
Dabei setzten sie also stillschweigend voraus, daß tatsächlich die 
Bewnßtseinserscheinnngen von außerhalb existierenden Dingen 
an sich herrAhrten. Deren Existenz zu bezweifeln, war bisher 
noch keinem Skeptiker eingefallen. Das mag sonderbar er¬ 
scheinen, ist es aber dnrchans nicht Denn die Überzeugung 
von dem Dasein absolut existierender Dinge war eine, ja eigentlich 
die Grundvoraussetzung gewesen, auf der die ganze pyrrhonische 
Skepsis fußte. Gerade aus der sich infolge der Isosthenie, der 
Gleichwertigkeit der Meinungen ergebenden Unerkennbarkeit 
dieser objektiven Wirklichkeit folgte fAr jene die Epoch^ die 
ZnrAckhaltung der Meinung, die dann ihrerseits wiederum die 
Ataraxie, die UnerschAtterlichkeit des Subjekts, nach sich zog. 
Andererseits ergab sich gegenAber dem Verzicht auf Spekula¬ 
tionen Aber die transzendente Welt als positives Resultat die 
Beschränkung auf die unmittelbaren Gegebenheiten, die Phänomene, 
die Welt der iimeigla, der direkten Erfahrung. Mochte diese 
empirische Richtung auch erst sekundär ans dem Pyrrhonismns 
folgen*), so gewann sie doch, vor allem durch die Tätigkeit der 
empirischen Ärzteschule, im Laufe der Zeiten eine stets wachsende 
Bedeutung. Die Beschäftigung mit den Phänomenen trat immer 
mehr in den Vordergrund, dagegen verlor man die Welt der 
Dinge an sich allmählich ganz ans den Augen. So kam es 
schließlich, daß die Phänomene gleichsam das real Existierende 
bildeten, allerdings ohne daß die Pyrrhoneer sich dies klar zum 
Bewußtsein brachten und es theoretisch aussprachen. Das blieb 
erst dem Ainesidemos Vorbehalten. Seine Tat bestand darin, 
jene von den Skeptikern stets mitgeschleppte, aber immer mehr 
außer acht geratene Voraussetzung von der Existenz unver¬ 
änderlicher Dinge an sich als völlig unbegrAndet zu erkenneu 
und zu beseitigen. Was schon die Sophisten versucht hatten, 
das unternahm auch Ainesidemos jetzt wieder und doch in einem 

1) Ich verweise hier aaf die aasgezeichnete Abhandlung von B.Bichter 
über »Die erkenntnistheoretischen Voranssetzangen des griechischen Skep¬ 
tizismus« (Wundts philosophische Stad. 20 [1902] S. 246 ff.). Hier finden 
sich die Ausdrttcke, die die Skeptiker fttr das wahre Wesen der Dinge 
brauchten, znsammengestellt (S. 258 ff.). Solche Worte sind s. B. ra ixoKtlftava, 
“yrms dvta, iavxö, vnag^K; usw., dem gegenüber steht das «paty6fttvor, das, 
wie Richter zeigt, von Sextus in drei verschiedenen Bedeutungen gebraucht 
wird. 

2) Über das Verhältnis von Skepsis und Empirie s. meinen gen. Artikel. 



Zur Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


163 


ganz anderen Sinne und anch mit anderem Erfolg. Zunächst 
suchte er nicht mit so radikalen Mitteln wie jene das »absolute 
Sein«, die »objektive Wahrheit« ^ Stürzen, sondern er schuf 
einen Übergang von der alten zu seiner neuen Anschauung, der 
an sich kaum auffallen konnte, hätte er sich dabei nicht der 
unheilvollen Worte Usia und Soma bedient. Seine »Chronos- 
Usia-Theorie« stellt im Grunde eine erkenntnistheoretische Grund¬ 
legung des Phänomenalismns dar, den die empirischen Ärzte nur 
praktisch ansgeflbt hatten. 

Mit dieser neuen Fassung des Wirklichkeitsbegriffes verband 
Ainesidemos nun auch einen neuen Wahrheitsbegriff. Denn 
wenn das im Augenblick Erlebte wirklich sein sollte, so konnte 
ein solches Erleben natürlich zunächst nur von dem Ich, nur 
von dem einzelnen Menschen ansgehen. Wie der Skeptiker nun 
aber einerseits weit von dem Standpunkte des Solipsismus ent¬ 
fernt war, so dachte er auf der anderen Seite auch nicht im 
geringsten daran, gleich den Sophisten die so unendlich ver¬ 
schiedenen Wahrnehmungen der einzelnen Individuen für gleich¬ 
berechtigt zu erklären. Vielmehr glaubte er das Kriterium der 
Wahrheit in der Übereinstimmung der meisten gefunden zu haben; 
das, was allen Menschen von gleicher Organisation erscheine, sei 
wahr, was aber nur einem einzelnen erscheine, könne nicht auf 
aUgemeine Gültigkeit Anspruch erheben'). Daß dieser Wahr¬ 
heitsbegriff jedoch auf einer ganz neuen Basis beruhte, erkennen 
wir ans Seztus’ Mitteilung, Ainesidemos habe eine objektiv 
existierende Wahrheit im Sinne der bisherigen Philosophen aus¬ 
drücklich geleugnet*). 

Indessen, wie paßt zu den gesamten bisherigen Ausführungen, 
was wir über Ainesidemos’ Tropenlehre wissen ? Von ihm stammen 
bekanntlich die zehn sogen. Tropen,*) Beweisgründe, die gerade 
die Unerkennbarkeit der »Wirklichkeit«, der Dinge an sich zeigen 
und daraus die Epoche folgern sollen. Wenn also Ainesidemos 
dort das Dasein absolut existierender Dinge voranssetzte, während 
wir uns bisher zu zeigen bemühten, daß er diese Annahme be¬ 
seitigte, so scheint hier in der Tat ein starker Widerspruch zu 
bestehen. Trotzdem aber lassen sich jene Gegensätze wohl ohne 
große Schwierigkeiten durch die Annsdime überbrücken, daß wir 

1) YgL Seztns, adv. dogn. ü, 8. Eine nähere ErOrtemng kann hier 
nicht gegeben werden; vgl. Ober Ainesidemos’ WahrheitsbegriS besonders 
Natorp, Forsch. S. 98fl. 

2) YgL anch Goedeckemey er a. a. 0. S. 217 Anm. 1. 

3) Bekanntlich stellte er ander diesen noch acht andere Tropen anf. 

11 * 



164 


Hans Erttger, 


es tatsächlich mit zwei verschiedenen Entwicklungsstadien im 
Leben des Skeptikers zu tun haben. Während er nämlich nr- 
sprftnglich den Lehren der bisherigen Skeptiker folgend an der 
Existenz solcher Dinge an sich festhielt, mußte ihm gerade bei 
der Erörterung der Tropen nicht nur die völlige Unerkennbar¬ 
keit jener Dinge auffallen, sondern er kam schließlich dazu, jene 
Voraussetzung als vollkommen ttberflttssig fallen zu lassen. Auch 
hier finden wir, wie wir noch sehen werden,^) wiederum eine 
Parallelle bei Berkeley, die uns jenes Verhalten verständlich 
machen kann. Diesen Schritt aber vollzog Ainesidemos nun an¬ 
scheinend in der Schrift, in der er zugleich Anschluß an Heraklit 
suchte und den am Anfänge unserer Ausffihrungen erwähnten 
rätselhaften Ausspruch tat, dessen Deutung wir m. E. nunmehr 
viel näher gekommen sind. Wie früher *) erwähnt, spricht Sextus 
oft von »Ainesidemos als dem Anhänger des Heraklit«. Es ist 
nun auffallend, daß er diese Bezeichnung immer dann wählt, 
wenn er den Ainesidemos scheinbar dogmatische Äußerungen, u. a. 
auch die Chronos-Usia-Theorie vortragen läßt, während er sonst 
nur von Ainesidemos als einem pyrrhonischen Skeptiker spricht *). 
Diese Tatsache ist wahrscheinlich nur so zu erklären, daß Sextus 
eben hier an die beiden Entwicklnngsstadien denkt und von dem 
Pyrrhoneer Ainesidemos, dem er durchaus beistimmt, den Hera- 
kliteer Ainesidemos trennt, den er mit allen Mitteln als Dogmatiker 
hinzustellen und zu bekämpfen sucht*). 


1) S. 24 f. 

2) S. 2. 

3) Ala Anhänger des Heraklit erscheint Ainesidemos: hyp. 1,210, 
hyp. ni, 188, adv. dogm. 1,349/50, adv. dogm. ü, 8, adv. dogm. HI, 337, adr. 
dogm. rv, 232/38, adv. dogm. IV, 216, adv. dogm. (IV, 38 ?). Als Pyrrho¬ 
neer behandelt ihn Sextns: hyp. 1,181, hyp. 1,222, adv. dogm. 1,346, adv. 
dogm. 2,40, adv. dogm. 11,215, adv. dogm. 11,234, adv. dogm. V, 42. 

4) Ich erinnere hier nnr daran, dafi jaErnstHaeckel anch von Kant I, 
den Verfasser der »Kritik der reinen Vernunft«, nnd Kant ü, dem Antor der 
»Kritik der praktischen Vemonft«, sprach, und doch hatte Kant nicht in¬ 
zwischen eine große innere Entwicklung dnrchgemacht, sondern verfuhr zu- 
eächst absichtlich negativ, um in seinem späteren Werke dann das Positive 
anfzubanen. Sollte es vielleicht mit Ainesidemos ebenso gewesen sein? 
Sollte anch er die Tropen vielleicht nnr deswegen benutzt haben, um da¬ 
durch die Unsinnigkeit der Annahme absolut existierender Dinge an sich 
zu zeigen? Die noch zu erwähnende Parallelle mit Berkeley (S. 24ff. 
kSnnte diese Vermutung bekräftigen. Daß übrigens die zehn Tropen »für 
Ainesidemos nicht die Bedeutung von Beweisgründen für die Epoche, sondern 
den Wert von Erklärungsgründen seiner Gmudthese hatten«, hat bereits 
Goedeckemeyer (a. a. 0. S. 217 Anm. 1) bemerkt. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


165 


Worin bestand nun jener Anschlnfi an Heraklit, wie haben 
wir Ainesidemos’ Ausspmcb, daß die Skepsis den Weg zur hera* 
kliteischen Philosophie bildet, aufzufassen? 

Sextns Eknpiricns ist über jenen Ansspruch aufs höchste 
empört und meint, man könne als Skeptiker doch unmöglich den 
so dogmatischen Äußerungen des Ephesiers, z. B. der Lehre von 
der Ekpyrosis, beistimmen. Und in der Tat wird wohl auch 
Ainesidemos diese Anschauung keineswegs geteilt haben. Denn 
nirgends steht, daß er sich allen Ansichten des Heraklit an< 
geschlossen habe. Sextns selbst teilt uns hierüber nur folgendes 
mit^); »Die Anhänger des Ainesidemos behaupten, die skeptische 
Lehre sei insofern ein Weg zur herakliteischen Philosophie, als 
der Behauptung, daß hinsichtlich desselben Dinges Entgegen¬ 
gesetztes objektiv vorhanden sei, die Tatsache vorausginge, daß 
hinsichtlich desselben Dinges verschiedene Erscheinungsweisen 
beständen. Und die Skeptiker behaupten nun, daß ein und das¬ 
selbe Ding uns verschieden erscheinen könne, während die Hera- 
kliteer von hier aus zu der Behauptung übergehen, es liege auch 
objektiv Entgegengesetztes zugrunde.« Man sieht ganz klar 
daß jener Satz in der überlieferten Form den Charakter einer 
kurzen und infolgedessen recht undeutlichen Formel trägt, die 
das Verhältnis der skeptischen zur herakliteischen Philosophie 
ansdrücken soll. Zur näheren Erklärung geben wir noch ein 
von Sextns selbst gewähltes Beispiel. Während die Skeptiker 
sich etwa bei der Feststellung beruhigten, daß der Honig den 
gesunden Menschen süß, dagegen den an Gelbsucht leidenden 
bitter erscheine, ohne daß sie über seine wahre Beschaffenheit 
Aussagen machten, behauptete Heraklit, daß der Honig tatsäch¬ 
lich auch objektiv jene verschiedene Beschaffenheit besitze, da 
er sich eben dauernd verändere. 

Nach dieser Darstellung scheint das Wesentliche von Aine¬ 
sidemos’ Ausspruch in dem Analogieschluß zu liegen, der, von 
den verschiedenen Erscheinungsweisen eines Dinges ausgehend, 
dementsprechend verschiedene objektive Zustände annimmt. Und 
doch ist eine solche Auffassung, so einleuchtend sie auch zu¬ 
nächst erscheinen mag und auch den meisten Forschem bisher 
erschienen ist, ebenso irrig, wie der sie nahelegende Bericht des 
Sextns mehrdeutig und schief ausgedrückt ist*). Die Annahme, 

1) byp. 1,210. 

^ Ich entacbeide hier nicht, ob wir es hier mit einer von Sextns ge¬ 
gebenen Darstellung oder mit einer Begründung des Ainesidemos selbst zu 
tun haben. Im ersteren Falle hätte Sextns so ziemlich das Wichtigste Ober- 



166 


Hans Krtlger, 


Ainesidemos wolle hier nur andenten, wie Heraklit auf Grand 
eines solchen Schlosses zu seiner Lehre gekommen sei, hat sich 
als völlig unhaltbar erwiesen^). Ebensowenig aber wird man 
der Theorie, Ainesidemos habe den Heraklitismus als relativ 
wahrscheinlichste metaphysische Hypothese gelten lassen, glauben 
können. Denn abgesehen davon, daß es fflr die Antike hber- 
haupt und besonders für einen Skeptiker ganz ungewöhnlich 
wäre, einer fremden Weltanschauung den Charakter der Wahr¬ 
scheinlichkeit zuzusprechen, ist wirklich nicht einzusehen, warum 
ein solcher Schluß von verschiedenen Wahmebmungen auf ver¬ 
schiedene objektive Zustände, der m. E. nicht gerade besonders 
großen Scharfsinn erfordert, eine hervorragende Stellung unter 
allen anderen Aussagen über die Dinge an sich einnehmen sollte. 
Wenn ferner der Satz x&vavzla negl t6 ainb tpcUvetcu nichts weiter 
bedeutete als »dasselbe Ding kann uns ganz verschieden er¬ 
scheinen«, dann hätte Sextos mit seiner Erklärung ganz recht, 
daß dies keineswegs eine nur dem skeptischen Denken eigen¬ 
tümliche Behauptung, sondern eine ganz gewöhnliche alltägliche 
Beobachtung sei, und daß es infolgedessen gar keinen Sinn habe, 
gerade die Skepsis als Weg zum Heraklitismus zu bezeichnen^. 
Nun ist in diesem Zusammenhang mit jenem kurzen Aussprache 
aber weit mehr gemeint. Es ist dabei nicht so sehr an die ein¬ 
fache Tatsache verschiedener Erscheinungsweisen desselben Dinges 
zu denken als vielmehr an die Art, wie diese von den Skeptikern 
demonstriert wurden, nämlich an die ivzl&eaie röäv ngayfidratr, 
die bewußt von jenen aasgeübte Gegenüberstellung der einzelnen 
Phänomene und Noumene,*) die vor allem durch die verschiedenen 
Tropen herbeigeführt wurde. Aus einer solchen Antithese er¬ 
geben sich nun zwei Möglichkeiten: man folgert entweder daraus 
die völlige Unerkennbarkeit der Dinge an sich und leistet auf 
jede Aussage über die transzendente Welt Verzicht, oder aber 
man kommt infolge der Erkenntnis, zu wie großen Widersprüchen 

sehen und eine lückenhafte Mitteilung gegeben; im zweiten Falle würde er 
einen Ausspmch des Ainesidemos ansgewählt haben, den dieser erst am 
Schlüsse aller seine Behauptung beweisenden Ausführungen gab, und der 
nur im Zusammenhangs mit diesem verständlich war. In jedem Falle seigt 
Sextns, dafi er den Kern von Ainesidemos’ Anschauungen vollständig mifi- 
verstanden hat. 

1) Diese (früher nicht miterwähnte) Theorie von Arnim (PhU. Unters. 
Bd. 11 S. 79ff.) ist von Natorp (Philos. Monatshefte Bd.26 S. 7()) und Zeller 
(a. a. 0. m, 2* S. 48,2) widerlegt worden. 

2) YgL Sextns, hyp. 1,210/11. 

8) Vgl. Sextns, hyp. 1,81. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


167 


die Annahme von unabhängig yon Menschen existierenden Dingen 
führe, dazu, diese als ein leeres Phantom schließlich ganz fallen 
zu lassen. Den ersten Weg schlugen die Pyrrhoneer ein, den 
letzten Ainesidemos. Seine Chronos-Usia-Theorie, die wir jetzt 
zur endgültigen Lösung des Problemes heranziehen wollen, zeigt 
das ganz deutlich. Besagte sie doch, wie wir hörten, nichts 
anderes, als daß alles Existieren lediglich im »Erlebtwerden« 
bestehe, daß also keine Dinge an sich unabhängig vom erleben* 
den Menschen vorhanden seien. Wenn demnach also, wie ge¬ 
sagt, q>alveo^<u die Bedeutung von eZvat = {mdqxeiv = wirklich 
vorhanden sein hatte, so folgte aus der skeptischen These x&vavria 
iugi x6 ainb tpalvexai ohne weiteres der Satz xävavxUi negl x6 
abx6 indQxei. Zur Erläuterung diene noch ein Beispiel Während 
die Skeptiker etwa feststellten, daß einerseits dem einzelnen 
Individuum derselbe Turm aus der Feme rund, aus der Nähe 
aber viereckig erschiene, und daß andererseits verschiedenen 
Menschen der gleiche Honig teils süß, teils bitter schmecke, be¬ 
deutet Ainesidemos’ Anschauung, daß es sich in allen diesen FäUen 
nicht etwa um verschiedene Erscheinungsweisen desselben Dinges 
handle, sondern daß tatsächlich jedesmal anderes »objektiv vor¬ 
handen sei«, verschiedenes »zugrunde liege«. Das besagt aber 
nichts anderes äls: außer den verschiedenen wahrnehmbaren 
Qualitäten existiert nichts, jede von ihnen kann man nur in 
Belation zu einem Subjekt denken. Dann aber haben sie alle 
die gleiche »Bealität«, dann haben wir etwa in dem obigen Bei¬ 
spiel überhaupt nicht denselben, sondern jedesmal einen andern 
Turm oder Honig vor uns, und ein Widersprach kann erst auf- 
treten, sobald ich diese verschiedenen Eigenschaften einem un¬ 
abhängig von einem erlebenden Ich existierenden substanziellen 
Träger, einem »Ding an sich« znschreibe. 

Läßt sich nun von hier ans Ainesidemos’ »Anschluß« an 
Heraklit erklären? Wer bemüht ist, einen wirklich objektiven 
Zusammenhang zwischen den Lehren beider Denker zu konstru¬ 
ieren, kommt allerdings zu keinem Ergebnis und verfällt nur auf 
die sonderbarsten Theorien. Sucht man jedoch ans der Geistes- 
richtnng des Ainesidemos selbst seine Hinneigung zu dem Denker 
von Ephesos verständlich zu machen, indem man fragt, worin er 
persönlich denn wohl die geistigen Berührungspunkte erblicken 
konnte, so kommt man der Lösung des Problems erheblich näher. 
Zweifellos sah Ainesidemos solche Übereinstimmung in dem Satze: 
xävanla jwqI xd aind ■öndgxei, eine These, die einerseits gleichsam 
die Quintessenz des heraklitischen Denkens war und auf der 



168 


Hans Krüger, 


anderen Seite auch von Ainesidemos als richtig anerkannt wurde. 
Und doch zeigt sich auch hier wieder jene bereits in den 
früheren Ansfühmngen beobachtete Tatsache, daß dieselben Worte 
einen ganz rerschiedenen Sinn annehmen können. Ainesidemos 
und Heraklit erklären beide: hinsichtlich ein und desselben 
Dinges ist objektiv Entgegengesetztes vorhanden, und jeder meint 
doch etwas anderes mit diesen Worten. Ainesidemos’ Auffassung 
haben wir soeben kennen gelernt; bei ihm würde der Ausdruck 
»ein und dasselbe Dinge (t6 atnö) also rein nominalistisch zu 
fassen sein. Wenn man etwa von »demselben« Turm, »dem¬ 
selben« Honig redet, so wäre das nach seiner Anschauung nur 
ein znsammenfassender sprachlicher Ausdruck für eine Menge 
einzelner ähnlicher Wahrnehmungen bei einem oder verschiedenen 
Menschen. Anders dagegen bei Heraklit. Hier bedeutet jener 
Ausdruck, daß tatsächlich immer noch ein »Ding« zugrunde liegt, 
an dem sich die verschiedenen Qualitäten zeigen, daß ein »etwas« 
vorhanden ist, das sich in dauernder Wandlung befindet und sich 
sogar in sein Gegenteil verändern kann. Denn trotz seines 
energischen AngrifEs auf das absolute Sein, die Arche der Vor- 
sokratiker, und trotz seiner Lehre von dem ewigen Werden, dem 
Flusse aller Dinge, kam auch dieser Denker noch nicht von 
dem alten Substanzbegriff los, wie seine Anschauung vom Feuer 
als dem Urprinzip alles Seienden deutlich zeigt. Der Hauptgrund 
hierfür liegt wohl darin, daß Heraklit noch nichts von dem 
Gegensatz zwischen Erscheinung und >Ding an sich« wußte,*) 
einer Unterscheidung, die ein notwendiges Vorstadium für die 
völlige Ablehnung des letzteren darstellt Die Anschauung 
Heraklits, wie sie u. a. auch der Satz, daß hinsichtlich desselben 
Dinges Entgegengesetztes vorhanden sei, ausdrückt, ist ledig¬ 
lich dem Eindruck der in der sinnlichen Wirklichkeit geschauten 
Veränderung entsprungen und bezeichnet keineswegs eine Aussage 
über die transzendente Welt. Und doch ist es leicht einzusehen, 
daß, als in der weiteren Entwicklung des philosophischen Denkens 
sich der Unterschied von Phänomenen und Dingen an sich immer 
mehr herausbildete, die Lehre vom Flusse alles Seienden not¬ 
wendig den Charakter einer metaphysischen Konstruktion und 
dementsprechend die These xdvartia ntql xh aind das 

Aussehen einer Behauptung über Dinge an sich gewinnen mußte. 


1) Der bereits von Heraklit hervorgehobene Unterschied von Sinnes- 
erkenntnis nnd der durch den k6yo( gewonnenen Verstandeswahrbeit fällt 
durchaus nicht mit dem obigen Gegensatz zusammen. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


169 


Als solche wiesen sie die Skeptiker daher energisch znrhck nnd 
beschränkten sich lediglich auf die Feststellung lävania negl t6 
aM ipaiverat. Ainesidemos dagegen, den seine eigenen Unter¬ 
suchungen zu der Qleichsetzung von Ezistiereu und Erlebtwerden, 
von elyat und <pa(vea^t geführt hatten, konnte daher begreiflicher¬ 
weise sehr leicht zu dem Glauben kommen, das Resultat seiues 
philosophischen Denkens für vollkommen übereinstimmend mit dem 
Satze Heraklits zu halten, wobei er dann die erwähnten tieferen 
Unterschiede ganz übersah.^) Und doch bestehen auch gewisse 
objektive Berührungspunkte zwischen beiden Denkern, insofern 
sie eben beide den Versuch gemacht hatten, den überlieferten 
Snbstanzbegri£, die Annahme eines absoluten Seins zu vernichten, 
wobei freilich dem Heraklit dieser Angriff nicht ganz glückte, 
während Ainesidemos damit vollen Erfolg hatte. Jetzt endlich 
verstehen wir auch, warum Ainesidemos die Skepsis als Weg 
zum Heraklitismus, d. h. so wie er ihn auffaßte, bezeichnen konnte. 
Denn erst mit den Mitteln der skeptischen Gedankengänge, durch 
die infolge des antithetischen Verfahrens gewonnene Einsicht von 
dem Widersinn einer Annahme absolut existierender Dinge an 
sich nnd durch die Beschränkung auf die Phänomene war es 
ihm gelungen, den «Anschluß« an den alten Denker zu finden. 
Die vor allem durch die Tropen demonstrierte skeptische Be¬ 
hauptung von den verschiedenen Erscheinungsweisen ein und 
desselben Dinges führte Ainesidemos zunächst zur Chronos-Usia- 
Theorie und von hier aus in die Nähe des Heraklit. 

Die voranfgegangenen Erörterungen dürften wohl schon gezeigt 
haben, daß Ainesidemos’ Philosophie sich ihrer ganzen Struktur 
nach wesentlich von dem Skeptizismus der alten Pyrrhoneer 
unterscheidet. Tatsächlich wird uns auch berichtet, dieser Denker 
habe erklärt, >das von allen so viel besungene Ziel« der skeptischen 
Philosophie sei einfach nicht vorhanden. *) Die für die früheren 
Skeptiker so wichtige Ataraxie wurde von ihm nur als sekundäre 
Folge des skeptischen Verhaltens hingestellt, die Epochö dagegen 
wird er, wenn sie überhaupt in seinem Denken eine Rolle spielte, 


1) Auf die Frage, wie Aioesidemos sich denn mit Heraklits Snbstana- 
begriff, der ihm doch wohl die Unterschiede eröffnen moflte, anseinander- 
setate, gehe ich hier nicht näher ein. Bekanntlich schrieb Ainesidemos ihm 
nicht da« Feaer, sondern die Lnft als Usia zn. 

2) Das Problem, welche Stellung Ainesidemos zn den Qrandbegriffen des 
alten Pyrrhonismns, der Epochd so^vie der Ataraxie, einnahm, kann hier 
nicht näher behandelt werden. Einige kurze Erörterungen darüber finden 
sich in meiner Dissertation. 



170 


Hans Krüger, 


wohl nur als Warnung vor übertriebenen Spekulationen etwa im 
Sinne der Akademiker haben gelten lassen. Man könnte unter 
diesen Umständen Bedenken tragen, ob man Ainesidemos’ Welt* 
anschanung überhaupt noch als eine skeptische anzusprechen hat, 
da sie doch, wenigstens in ihrer endgültigen Form, aller Skepsis 
zu widerstreiten scheint. Auch hier möge wiederum eine Parallelle 
mit Berkeley herangezogen werden. Denn die Art, wie dieser 
zu seinem Idealismus kam, weist in der Tat ganz überraschende 
Vergleichspunkte zu Ainesidemos’ Entwicklungsgang auf. Genau 
wie dieser geht auch Berkeley in seinem Dialog »Hylas und 
Philonous« von der Tatsache der verschiedenen Erscheinnngs* 
weisen ein und desselben Dinges aus, und folgert dann aus den 
sich ergebenden Widersprüchen die Unmöglichkeit einer Annahme 
von Dingen an sich. Dabei bezeichnet er als Ziel aller Argu¬ 
mentationen ausdrücklich die »Bekämpfung von Skeptikern und 
Atheisten <. Hylas und Philonous können geradezu als prächtige 
Darsteller der beiden Typen dienen, wie die menschliche Seele 
auf die Tatsache des Widerspruches in den Wahrnehmungen zu 
reagieren vermag. Jener kommt dadurch zur Skepsis und zur 
Epochö, dieser dagegen erwidert ihm: »... du sprichst deinen 
materiellen Wesen ein abstraktes oder äußeres Dasein zu, und 
hierin besteht nach deiner Annahme ihre Wirklichkeit. Und da 
du am Ende anzuerkennen gezwungen bist, daß solch ein Dasein 
entweder einen geraden Widerspruch oder gar nichts bedeutet, 
so bist du folglich genötigt, deine eigene Hypothese von einer 
materiellen Substanz niederzureißen und bestimmt das wirkliche 
Dasein jedes Teiles des Weltalls zu bestreiten. Und so stürzest 
du in den denkbar tiefsten und beklagenswerten Skeptizismus«^). 
Als nun Philonous von demselben Ausgangspunkt ans schließlich 
zu der Überzeugung kommt, »daß jene Dinge, die man unmittel¬ 
bar wahmimmt, die wirklichen Dinge sind«, und >daß die un¬ 
mittelbar wahrgenommenen Dinge Vorstellungen sind, wdche nur 
im Geiste bestehen«, da muß Hylas staunend bekennen: »Du 
gingst von denselben Grundsätzen ans wie gewöhnlich die Aka¬ 
demiker, Cartesianer und ähnliche Sekten, und lange Zeit sah es 
so aus, als ob du ihren philosophischen Skeptizismus verträtest; 
aber am Ende sind deine Schlüsse den ihrigen gerade entgegen¬ 
gesetzt«*). Und Philonous schließt mit den Worten: »Sieh dort, 
Hylas, das Wasser des Springbrunnens, wie es in einer runden 
Säule aufzusteigeu gezwungen ist, bis zu einer bestimmten Höhe, 

1) Richter a. a. 0. S. 86. 

2) Richter S. 181. 



Zur Philosophie des Ainesidemos Ton Knossos. 


171 


dort bricht es sich and fällt in das Becken, dem es entstieg, 
zurück: sein Aufstieg sowohl wie sein Abstieg entspringen den 
nämlichen Gesetzen der Schwerkraft. Genau so bringen 
die gleichen Grundsätze, welche auf den ersten 
Blick zum Skeptizismus führen, bis zu einem be¬ 
stimmten Punkte verfolgt, den Menschen zum ge¬ 
sunden Verstand zurück«.*) 

In gleicher Weise wie bei dem Engländer haben wir auch 
bei Ainesidemos eine >Philosophie des gesunden Menschen¬ 
verstandes« vor uns. Sein früher*) erwähnter, rein praktischer 
Wahrheitsbegriff, der mit dem xotvög löyos des Heraklit die 
grüßte Ähnlichkeit hat, zeigt dies ganz deutlich. Diese Stellung¬ 
nahme des Ainesidemos wird uns durch Berücksichtigung der 
zeitlichen Verhältnisse seines Auftretens noch weit verständlicher. 
War doch das erste vorchristliche Jahrhundert, in dessen zweiter 
Hälfte er lebte, eine Zeit, in welcher der Einfluß des praktischen 
ROmergeistes bereits eine Umgestaltung der griechischen Philo¬ 
sophie herbeigeführt hatte. Das gilt nicht nur von dem stoischen 
System, sondern ebenso von der skeptischen Philosophie, deren 
Vertreter damals in enge Fühlungnahme mit den Römern traten. 
Dem Beispiel des Ainesidemos, der sein Hauptwerk einem Römer 
widmete, scheint manch anderer Skeptiker gefolgt zu sein, ja 
sogar römisch klingende Namen wie Agrippa finden wir bald 
unter diesen Philosophen. Überall, in allen Systemen zeigt sich 
dabei der Einfluß der römischen Bewußtseinsstellang in gleicher 
Weise. Was Dilthey von der Stoa in dieser Zeit sagt, gilt — das 
sahen wir deutlich an Ainesidemos — ebenso, vielleicht noch 
mehr, von der Skepsis. > Diese Philosophie sucht für die römischen 
Lebensbegriffe eine mögliche Grundlage und findet diese in dem 
unmittelbaren Bewußtsein. In ihm sind die Elemente, welche 
allen moralischen, juristischen und politischen Lebensbegriffen 
zugrunde liegen. Sie sind angeborene Anlagen. Ihr Merkmal 
lieget in der empirischen Allgemeinheit ihres Auftretens« *). ... 
»Dieses unmittelbare Wissen ist die unerschütterliche Grundlage 
aller Bestimmung, durch welche wir das Universum zu uns in 
Verhältnis setzenc *). ... »Überall geht diese Philosophie aus 


1) Richter S. 181. Der letzte Satz iat von nxir gezperrt. 

2) 8.17. 

8) W. Dilthey, »Weltanschannng and Analyse des Menschen seit 
Renaissance und Reformation« (Leipzig and Berlin 1914) S. 18. 

4) a. a. 0. S. 14. 



172 


Hans Krüger, 


dem metaphysischen Luxus und Streit der Griechen auf ein 
einfaches System zurftck, welches das im unmittelbaren Bewußt¬ 
sein Gegegebene zu schlichten Begriffen entwickelt« ^). Daß jedoch 
Ainesidemos’ Geistesrichtnng nicht lediglich durch solche äußeren 
historischen Einflüsse herbeigeführt, sondern bereits durch die ganze 
bisherige Entwicklung der skeptischenPhilosophieorganisch bedingt 
war, hörten wir bereits früher, als wir in seiner Philosophie die 
erkenntnistheoretische Fundamentierung des nur den Phänomenen 
zngekehrten und den Dingen an sich abgewandten Standpunktes 
der empirischen Ärzte erkannten. *) Aus dieser Schule hatte jener 
Denker, der einstmals der Akademie angehörte, überhaupt erst 
seine Kenntnis des Pyrrhonismus geschöpft, und doch war er Ton 
ganz anderem Geiste beseelt als jene Empiriker. Weder reiner 
Pyrrhoneer noch Empiriker noch Akademiker zeigt er eine eigen¬ 
artige Vermischung aller dieser Geistesrichtungen. 

Als Pyrrhoneer sieht er in dem Kampf gegen den Dogmatismus 
eine seiner wichtigsten Aufgaben, als Empiriker steht er ganz 
auf dem Boden der Erfahrung, als Akademiker kann er auf 
philosophische Spekulation nicht ganz Verzicht leisten. Und 
doch findet er keineswegs mit Pyrrhon das Ziel aller skeptischen 
Gedankengänge in der Ataraxie, er übt auch nicht wie die 
Empiriker die ärztliche Praxis aus, und die übertriebenen 
Spekulationen der Akademiker verurteilt er aufs schärfste. So 
wirkt er denn teils direkt befruchtend auf jede der genannten 
Richtungen ein, teils regt er auch indirekt, indem er, besonders 
durch eine eigene Schulgründung, zu Widerspruch und Angriffen 
herausfordert, zu eifriger Beschäftigung mit den Lehren der 
Skepsis an und wird so der Vater einer geistigen Bewegung, die 
im 2. nachchristlichen Jahrhundert in Sextns Empiricus ihren 
Abschluß findet. Wie dieser einerseits große Teile seiner Lehren 
von ihm übernimmt, so weist er auf der andern Seite den »An¬ 
hänger Heraklits« und seine »dogmatischen« Theorien energisch 
zurück. Wieder taucht vor uns die mysteriöse Welt der »Dinge 
an sich« auf, wiederum ruft uns der Skeptiker laut sein biixo) 
zu, und von neuem wird uns als Lohn die Ataraxie verheißen. 
Doch alle diese Rufe hallten vergebens, alle Lockungen waren 
wirkungslos; das zu einem Riesenbrand entfachte Feuer der 
Skepsis verzehrte noch die letzten Überbleibsel der philosophischen 
Systeme und dann sich selbst. Doch aus seiner Asche entstanden 

1) a. a. 0. S. 16. 

2) S. 17. 



Zar Philosophie des Ainesidemos von Knossos. 


173 


zwei neue Gebilde, die, dem Geiste einer anderen Welt ent¬ 
stammend, den Menschen in höherem Grade den gesuchten Seelen¬ 
frieden zu geben yermochten — die Mystik und das Christentum. 

Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, Herrn Prot 
Ge.ffcken fflr das meiner Arbeit entgegengebrachte Interesse 
sowie für empfangene Anregungen meinen besten Dank aus¬ 
zusprechen. 


(Eingegangen am 13. Febroar 1924.) 



Bemerkungen zu der Abhandlung von S. Fischer 

»Über das Entstehen und Verstehen von Namen« 

im Aioh. f. d. ges. Fsyoh. Bd. 42 tu 43. 

Von 

A. Pick (Prag) f. 

Fischer selbst hat schon snr Klärung seines Themas pathologische Er* 
fahmngen herangesogen. Ich mSchte non hier an weiterer VervoUständignng 
desselben noch anf eine Beobachtung hinweisen, die wenn anch nicht direkt 
der Pathologie zugehörig, doch als abnorm gewertet wird nnd in einem 
Punkte sich als dnrchans gleichartig gewissen Ton F. im psychologischen 
Experiment festgestellten Erscheinungen darstellt. 

F., der mit znm grofien Teile nnsinnigen Bnchstabenfolgen als Namen 
fttr znm Teil sinnlose Strichzeichnungen arbeitete, konnte feststellen, dafi in 
verschiedenen Fällen den Lantbildem der nnsinnigen Bnchstabenfolgen ein 
Ansdmckswert beigelegt war, der nicht in etwa anznnehmenden frttheren 
Assoziationen begrOndet war (a. a. 0. S. 868). »Das FO gilt als das klanglich 
Weiche«; »die herabsteigende Linie stellt eine Verbengnng dar nnd dann 
paflte das Wort fnpenk sehr gut« nsw. In der ErOrtemng der Erscheinnng 
macht F. die Annahme, dafi Klang, Bhythmns, Eigenschaften der Vokale 
nnd Konsonanten neben anderen Momenten fttr den Ansdmckswert der 
Lantfolgen ansschlaggebend sein machten. 

Es liegt nun in der Literatnr etwas dem Entsprechendes, gleichBüls 
spontan Entwickeltes vor, anf das ich als Bestätigung des von F. Dar* 
gelegten hinweisen mSchte. 

Es ist die viel zitierte Beobachtung Stumpfs^) ttber die abnorme Sprach* 
entwicklnng seines Sohnes, der durch eine Reihe von Jahren eine selbst* 
gebildete Sprache gebrauchte, z. B. einen Baustein von besonderer Qestalt 
marage (das g französisch ausgesprochen) nannte. Noch im 17. Lebensjahre 
konnte er sich daran erinnern nnd gab als Grand der Bezeichnung an, »der 
Stein habe eben so ausgesehen, wie das Wort klang, nnd das komme ihm 
anch heute noch so vor«. Stumpf selbst bezieht die Erscheinnng anf 
»Analogien der Empfindung«, Verwandtschaften, welche die Eindrttcke ver* 
schiedener Sinne miteinander infolge ihrer ähnlichen Geftthlsentwicklung oder 
sonstiger Nebenumstände besitzen; es fällt diese Deutung sichtlich mit der 
von F. gegebenen im wesentlichen zusammen. Es legt das weiter die Er* 
Wägung nahe, dafi auch bei der Genese der so dunkeln Neologismen Geistes* 
kranker Ähnliches mitwirken mOchte; doch bedarf das einer speziellen 
Untersuchung, die hiermit angeregt sei. 

1) Stumpf, Eigenartige Sprachentwicklung eines Kindes. (S.-A. Zeit¬ 
schrift f. päd. Psychol. n Path. Bd. 8 S.25.) 

(Eingegangen am 18. Februar 1924.) 



Literaturberichte. 

Referate. 

^r. Johannes Hessen, Die philosophischen Strömnngen der Gegenwart. 

118 S. München, J. Eösel & Fr. Fastet, 1923. (Sammlnng KSsel 
Bd. 96.) 

Ünter den kleinen Darstellnngen der Philosophie der Gegenwart nimmt 
dieses Büchlein einen trefflichen Plata ein. Es berichtet kora and klar and 
meistens inhaltlich antreffend über die einaelnen philosophischen Richtongen. 
Man maß die Konst des Verfassers, anf beschränktem Raome so Vieles and 
Mannigfaltiges an bieten, anerkennen. Nor mochte ich ihm nahelegen, bei 
einer Neaaaflage die Einteilang an revidieren. Man kann weder von der 
badischen Schale noch von der Als-ob-Philosophie sagen, daß sie »anf Kant 
faßen«. Aach läßt sich bestreiten, daß der kritische Bealismns, daß Panlsen 
and Driesch (man denke an die »Ordnnngslehre«, die »Wirklichkeitslehre«, 
die »Logik als Aofgabe«) eine »an der Natorwissenschaft orientierte Philo¬ 
sophie« treiben. Mir scheint es ferner bedenklich, die Phänomenologie mit 
dem Pragmatismas and der Philosophie Bergsons ansammenanstellen and 
dieses Kleeblatt als »vom Leben aasgehend« an charakterisieren; das trifft 
doch den wesentlichsten Zog der Phänomenologie nicht. Ich weiß, wie schwer 
es ist, die moderne Philosophie za klassifizieren, aber ich glanbe, daß es dem 
Verfasser leicht fallen wird, eine bessere Einteilang za geben. Vielleicht paßt 
es aach besser, im Titel von den de nt sehen philosophischen StrOmongen 
an reden. James and Bergson kOnnen wegen ihrer Wirkong anf die deatsebe 
Gedankenwelt dann doch behandelt werden. 

Aloys Müller (Bonn). 


Hans Driesch, Ordnnngslehre, ein System des nichtmetaphysischen Teiles 
der Philosophie. Zweites and drittes Tansend, nene verbesserte 
and großenteils amgearbeitete Aaflage. Eagen Diederichs in Jena 
1928. 

und 

Hans Driesch, Wirklichkeitslehre, ein methaphysischer Versneh. Zweite 
dorchgesehene and teilweise erweiterte Aaflage. Emanael Beinicke 
in Leipzig 1922. Geh. 100 M.; i. L. geh. 130 M.; ganz L. 150 M. 

Die beiden großen Werke von Hans Driesch ergänzen einander and 
bringen aosammen sein System der Philosophie zor Darstellang. Die An- 
f&nge der beiden Werke gehen anf die Jahre 1904/06 znrück; so ist aach 
die sehr bekannte »Philosophie des Organischen« ein Glied des ganzen 
Sjstems; in der »Ordnnngslehre« ist das entsprechende »Kapitel über per¬ 
sonale Ganzheit« mit gatem Recht knapp zasammengedrängt. Dagegen ist 
in erfreolicher Aosfübrlichkeit das für den Psychologen höchstbedentsame 
»Kapitel über die Psychologie«, »eine arsprUnglich als selbständige Arbeit ge- 



176 


Literatnrberichte. 


Bchriebene Studie .. nachträglich in die »»Ordnongslehre«« hineingearbeitet < 
worden (in deren zweite Auflage, S. 816—419, als »die Lehre von der Ord¬ 
nung der Erlebtheit«, als »Logik des Seelischen« oder als »Psychologik«). 
Wohl erlebte schon manch ein philosophisch eingestellter Psychologe, dafi 
»ich mir eine »»Psychologie«« so, wie ich sie für meine Ordnnngsabsichten 
brauchte, erst selbst machen mußte. Es gab nämlich keine, welche zugleich 
ein Kapitel der Logik (des Empirischen) ist . . .« und so u. a. auch prak¬ 
tisch befllhigt gewesen wäre, unerwartet neue Erfahrungstatsachen einordnen 
zu lassen. Je stärker das Bedürfnis nach einer Psychologik gewesen war, 
umso hoher wird Jetzt dessen Befriedigung einzuschätzen sein! — Hier ist 
vor einem weiteren Hinweis auf die Psychologik anzudeuten, wie Hans 
Dries ch sein System der Philosophie gliedert. »Ordnungslehrc« und »Wirk¬ 
lichkeitslehre« sind jeweils »in sich selbst ganz selbständig«. Die »Wirklich¬ 
keitslehre« steht »neben der »»Ordnungslehre««, nicht etwa setzt [sie] sie im 
eigentlichen Sinne fort. [Sie] behandelt dasselbe, wie jenes Buch, aber mit 
ganz anderer Fragestellung«. Immerhin wird das reizvolle und äußerst er¬ 
tragreiche Studium der beiden Werke zweckmäßig mit der »Ordnungslehre« 
beginnen und mit der »Wirklichkeitslehre« fortfahren. 

Hans Driesch definiert »Philosophie« als »systematische Lehre vom 
Wissen und von allem Gewußten als Gewußten«. »Jeder besondere Wissens¬ 
zweig vermag dadurch ein Zweig der Philosophie zu werden, daß das aus¬ 
drückliche Wissen um sein Gewußtsein zu ihm als bloßem Wissensbesitz hin¬ 
zutritt, und daß er ausdrücklich als Teil eines höheren Ganzen angesehen wird.« 

»Philosophie« ist nur möglich, wenn »ich Etwas bewußt habe«. 
»Ich bin der Etwas Wissende, zum Wissen gehören Ich und Etwas, und 
Etwas ist, zunächst jedenfalls, das von mir Gewußte.« »Der philosophische 
Ursatz« »um mein Wissen wissend weiß ich Etwas« erfaßt »die philosophische 
Urtatsache und aller Philosophie Ausgang.« »Nur scheinbar ... ist der 
philosophische Ursatz auflösbar; seine Bestandteile aber sind das nicht ein¬ 
mal scheinbar.« »Wenn nicht die Bedeutung des Ursatzes in ihrer voUen 
Dreieinigkeit gewußt ist, kann es also keine Philosophie geben.« — 
Nun ersteht das »erste besondere Geschäft der Philosophie . . . dem sich 
selbst wissenden Wissen daraus, daß das Etwas, um welches Ich, dabei zu« 
gleich um mein Wissen wissend, weiß, nicht nur bloßes Etwas ist, sondern 
geordnetes Etwas«. Die »Urtatsachen Ich weiß, daß ich Etwas 
weiß. Ich weiß Etwas und Ich weiß um Ordnung, welche im 
Grunde eine einzige Urtatsache sind«, bilden den Inhalt eines ersten Teils 
»der Philosophie, welche Selbstbesinnungslehre heißen dürfte, . . . 
als wahrhaft erster philosophischer Sonderzweig«. 

Ich weiß also »nicht nur, was Ich weiß etwas heißt, sondern ich 
weiß auch, was Ordnung heißt, und kraft welcher Kennzeichen das Etwas 
geordnetes Etwas ist; und zwar weiß ich ganz ebenso unmittelbar das zweite 
wie das erste: Ich habe Urwissen der Bedeutungen Ordnung und Ord¬ 
nungszeichen«. Es ergibt sich die »Ordnungslehre«,'die »Lehre 
von der Gesamtheit der Ordnuugszeichen, oder »»Logik«« im 
weitesten Sinne des Wortes«; sie »handeltvon allen »»anschaulichen«« und 
allen bloß bedeutungshaft »»unanschaulichen«« Kennzeichen am Etwas, kraft 
deren das Etwas geordnet ist«. „Die allgemeine Ordnungslehre als 
Lehre vom Gegenstand überhaupt setzt alle diejenigen klaren Begriffe 
und Sätze, kraft deren die Gesamtheit des Gegenständlichen dem Denken 



Literstarberichte. 


177 


als ein (Geordnetes gegrenttbersteht«, nntersncht nnterschiedslos alles, was 
Etwas, was »»Gegenstand««, d.h. bewnBt Gehabtes im unmittelbaren 
Sinne ist, und will seine Ordnangsletztheiten schauen*; die Ordnungslehre 
setat als »den Begriff Ordnung inhaltlich« unter rigorosester Beachtung 
des Leitsatzes der strengstmOglichen Sparsamkeit (n&mlich bei jeder Er¬ 
weiterung des Geffiges nur den jedesmal unbedingt ntttigen Schritt 
tuend) bestimmend oder definierend: (1) Etwas; (2) Sein; (3) Dieses 
[Dasein] . . . Dieses ist Dieses, Dieses ist selbig; (4) Nicht- 
dieses . . . Dieses ist nicht Nicht-diese.s . . . Etwas ist Dieses 
oder Nicht-dieses; (5) Dieses-Jenes, DasAndere, Verschieden; 
(Q DieBeziehnng . . . Die Beziehung ist eindeutig; (7) Klasse- 
Einzigkeit . . . Einzigkeiten sind gleich; (8) Die Begründung 
(notwendig, mitgesetzt, »weil«) / [Logik im engeren Sinne]; (9) 
Solches (Sosein); (9a) Beaiehlichkeit; (9b) Solchheit’; (9b’)Beine 
(Solchheitsgruppe, Gegensatz); (9b“) Räumliche (Vier Forde¬ 
rungen) / [Geometrie]; (9c) Zahl; (9c’) Beine Zahl (Zahlen- 
erzeugungssatz); (Oc“) Gröfie (Grad)/[Arithmetik]; (9d) Mannig¬ 
faltigkeit; (10) Das Ganze — Die Teile. »Hiermit ist die Bestimmung 
der Setzung Ordnung vollendet. Die Logik findet aber angesichts der Er- 
lebtheit Weiteres zu tun und setzt; Damals, Selbst, Zeit, Werden, 
Beharrlichkeit [anstatt »Werdendes £s| in der Zeit .. . Es gibt 
Beharrliches im Werden . . . Der Werdegmnd setzt die Werdefolge (Folge- 
Verknüpfung)« in der ersten Auflage, der »Ordnungslehre«]. 

»Es zeigt sich schon hier, wie die Setzung Werden der tiefsten Ur¬ 
sprünglichkeit des bewuSten Habens widerstrebt; Haben ist ja gerade Fest¬ 
halten, Setzen. Doch mufi die Ordnung das Werden zulassen, um überhaupt 
nur Etwas am Anderssein der Erlebtheit in Zuordnung zu den Augenbicken 
des Habens des Selbst zu fassen. —« 

»»Die Lehre von der »Ordnung des Naturwirklichen setzt fol¬ 
gendes: Natur als ein einziger in sich verknüpfter Werdezusammen¬ 
hang, welcher als gleichsam selbständiger »gemeint« ist in dem 
einen gemeinten Naturranm und der einen gemeinten Naturzeit; 
das Natur ding; die Naturklassennd das Natur System; Kausalität 
(Werdegrund-Werdefolge); die Arten des Werdens (4mögliche Formen); 

Einzelheitskausalität.; Ganzheitskausalität.; 

Einseiwesensganzheit.; überpersOnliche Ganzheit.; 

das Ganze der Natur, als alle Natureinzelheit, auch im Werden, mit¬ 
setzender unentwickelter Begriff (er bleibt unerfüllbar).« Ferner unter 
»Einzelheitskaasalität«: »Bewegungslehre / [Mechanik] . . .; allgemeine 
Veränderungslehre / [Energetik] . . .; Urdinglehre / [Physik, 
Chemie als ihre Vorbereitungen]. Endlich: zu »Bewegungslehre«: Träg¬ 
heit, Kraft, Masse; Gegenwirkung; Erhaltung der Arbeit«, 
Zu: »allgemeine Veränderungslehre«: »Satz des Geschehens, Erhal¬ 
tung der Energie«. Zu: »ÜberpersOnliche Ganzheit«: »Phylogenie, Mensch¬ 
heitsgemeinschaft / [Kultnrlehre, Geschichte, Ethik]«. Zu: »Einzel¬ 
wesensganzheit« und »ÜberpersOnliche Ganzheit; Phylogenie«: / [Biologie]. 

»Die Lehre von der Eigen-Erlebtheit, d. h. von der Gegenständ¬ 
lichkeit in ihrem ausdrücklichen Ich-Erlebtsein setzt als Grundlegendes nur 
den Begriff: Seele / [Psychologie] 

AtoUt tfir Psychologie. XLVm. 


12 








178 


Literatnrberichte. 


als denkende (als solche Träger der Ordnung), wahr¬ 
nehmende, wollende (als solche tätiger Weltabbilder 
im Verhältnis zur Welt).« 

»>£s ist lehrreich, diejenigen Setzungen besonders heryorzuheben, an 
deren Behandlung sich besondere Wissenschaften angliedem, sei es, 
daß sie das ausschließlich auf Grund unmittelbar schaubarer Beziehungs- 
Verhältnisse, sei es, daß sie es vornehmlich auf Grund inhaltlicher Gewohn¬ 
heitserfahrung tun. Letzteres ist freilich erst in der Lehre von der Natur 
der Fall. Aber anderseits sei wieder einmal gesagt, daß kein einziger 
Begriff oder Satz der allgemeinen Ordnungslehre durchaus ohne Beziehung 
auf »Erfahrung« im weitesten Sinne des Wortes gesetzt worden ist; schon 
Dieses, und erst recht das Jenes hat nur Sinn angesichts der Tatsache, 
daß es nicht nur «Etwas«, daß es Unterschiedenes »gibt«.... 

»Die Namen der einzelnen sich an bestimmte Setzungen der Ordnungs¬ 
lehre angliedemden Wissenschaften sind .*.. unserer Übersicht an richtiger 
Stelle in besonderem Druck beigefttgt; man wird bemerken, daß irgendeine 
beliebig herausgegriffene Wissenschaft jeweils die ordnungsmäßigen Grund¬ 
sätze aller ihr in der Liste vorausgehenden als erledigt voraussetzt.« 

»Hieraus folgt, daß die Ordnungslehre die alte Frage nach einem denk¬ 
mäßig gestalteten Gefüge der Wissenschaften gleichsam von selbst mit er¬ 
ledigt. Daß es eben diese und keine anderen Wissenschaften als Sonder¬ 
wissenschaften gibt, ist darin bedingt, daß eben nur gewisse ürsetzungen 
der Ordnungslehre selbst ein Gefüge von Arten, über das sich etwas sagen 
ließe, einschließen. Ein Unterschied in der denkmäßigen Wertigkeit der 
einzelnen Setzungen der Ordnungslehre als solcher wird selbstredend nicht 
durch den Umstand bedingt, daß sich tatsächlich eine im gewissen 
Sinne selbständig gewordene bedeutsame Sonderwissenschaft an diese Setzung 
angegliedert hat oder nicht; hier spielen ja Bedürfnisse des praktischen Lebens 
mit hinein. Auch bedingt natürlich Verschiedenheit im gegenwärtigen Zu¬ 
stand der Sonderwissenschaften keinen Rangnnterschied der sie gründenden 
Ordnungszeichen. Übrigens ist unser System der Wissenschaften zugleich 
ein System der »Methoden«, denn wir wissen, daß alle Methoden sich 
aus den Gegenständen ergeben.««- 

Als »ein System des nicht-metaphysischen Teiles der Philosophie« fußt 
die Ordnungslehre lediglich auf der Urtatsache: »Ich weiß, daß ich Etwas 
weiß. Ich weiß Etwas und Ich weiß um Ordnung«. Sonach ist die Ordnungs¬ 
lehre nach ihrer Art des Begreifens solipsistisch, entsprechend einem »strengen 
subjektiven Idealismus«. »Das Denken kennt nur sich und was für es ist; 
und zwar ganz ausdrücklich mein Denken; anders gesagt: Ich«. »Nun 
»»möchte«« ich allerdings aus der Lehre vom reinen Für-mich-sein hinaus, 
und zwar nicht nur ans bloß gefühlsmäßigen Gründen, sondern aus Gründen 
der Ordnungslehre selbst. Ich möchte die Ordnungslehre 
aus Ordnungsgründen sich gleichsam selbst überwinden 
lassen...« »Wir »»verstanden«« trotz allem ordnungshaften Bedeutungs¬ 
verstehen zwei Dinge nicht, nämlich, wie es komme, daß gerade diese 
und keine andern Ordnungsbedeutungen nnn eben »»Ordnungsbedeutungen«« 
sind, und wie es komme, daß, wenn sie es sind, gerade sie erlebnismäßig 
»»erfüllt«« werden. Bei diesem Nichtverstehen möchte man sich nun freilich 
noch beruhigen, indem man es einfach hinnimmt. Aber es gibt gewisse sehr aus¬ 
geprägte Besonderheiten des Nichtverstehens für die reine Ordnungslehre«. 



Literatnrberichte. 


179 


»»leb habe ans der erlebten Oegenständlichkeit überhaupt das Natnr- 
wirkliche als ein einziges Es meinend ansgesondert, da ich so einen in 
sich verknüpften Znsammenhang des Werdens nnd daher Werdeordnnng 
finden konnte. Weil ich Ordnung wollte, sonderte ich Natnr ans, stellte 
ich mir das Natnr-Es gegenüber. ... Gewisse Sätze über das Werden des 
Natnr-Es sah ich als gültig an nicht nnr im allgemeinen Sinne der anf 
mich znrückbezüglichen gültigen Gesetztheit, sondern im Sinne der Richtig¬ 
keit, das heifit der inhaltlichen Gültigkeit für mich als den das einzige 
Es in seinem Sosein erfassen Wollenden. ... Ich verstehe nnn aber 
die MSglichkeit des Daseins der Natnr ganz nnd gar nicht. 
»Es ist so« kann ich nnr sagen. Es ist da etwas, das ich als gleichsam 
Selbständiges meinen kann. Aber warum das? Gibt es eine für das Ich 
notwendige Setzung, welche Natnr, das heifit das Dasein eines bestimmten 
geschlossenen Werdeznsammenhanges als eines gemeinten Ausschnittes ans 
gegenständlicherErlebtheit überhaupt, mitsetzt? Nein; jedenfalls nicht in 
dem Sinne, dafi sie Bestandteil der Ordnung des Für-mich-Seienden wäre. 
... Sollen wir dabei stehen bleiben? Oder sollen wir etwa sagen: Mnfi es 
denn nnr Für-mich-Sein geben? Kann es nicht ein Losgelöst-Wirkliches 
geben nnd nicht blofi ein »Natnrwirkliches«, das so ist, »als ob« es in sich 
losgelöst wäre; ein in Wahrheit Seiendes, ein An-Sich-Seiendes, das 
ich zwar in seinem Sosein nicht eigentlich« setzen kann — denn dann wäre 
es Für-mich-Seiendes! —, das ich aber setzen kann als ein Etwas, das für 
dasjenige, was ich Natnr nenne, zwar nicht der Werdegrnnd, wohl 
aber das allgemein Mitsetzende, das Bedentnnggebende ist? ... 
Kann es ... dieses Bedentnng-gebende, dieses An-sich-seiende geben? ... 
Kann ich — erkennen? Und wie etwa und was? ...«« — 

>»In der Lehre vom Erlebten als der Eigen-Erlebtheit setze ich 
ordnend eigentlich nnr eine Setzung: meine Seele. ... In der Schaffung 
der Seele werfe ich das Eigen-Erlebte gleichsam ans »mir« heraus nnd lasse 
ein anderes es in sich für mich machen, ebenso wie ich in der Schaffung 
der »Natnr« ein anderes sich in sich machen liefi. ... Die Seele, so wissen 
wir, ist die eigentliche Ordnerin; »Ich« sage nnr ans, wann sie zu meiner 
Befriedigung geordnet hat. ... Ich also stellte mich selbst in der »Seele« 
vor mich. Und dazu soll die Seele in Beziehung zur Natnr stehen, zu der 
»Ich« doch nicht »gehöre«. ... Was heifit das alles? ... Wie, wenn sich 
nnn StT^as »setzen« liefie, das ich zwar nicht in seinem Sosein fassen kann, 
das aber doch als ein An-sich den seltsamen Umstand mitsetzen würde, dafi 
»Ich« da ein gleichsam Selbständiges meinend setze, das gleichsam klüger 
ist als ich nnd »mich« gleichsam mitsetzt, nnd das dazu noch sich anf 
Natnr »parallel« bezieht — die Seele? 

»Liefie sich da nicht etwa ein Etwas erkennen — in seinem Dasein 
wenigstens — welches mitsetzt, jenen Sachverhalt, der sich ans drei Sonder¬ 
sachverhalten znsammensetzt: dafi »Ich« ordne, dafi ich ordnend 
Natnr schaue, dafi ich ordnen dm eine Seele als Natnr bezogenes 
and als meine Eigen-Erlebtheit bedingend schane?« 

»Volkstümlich sprechend könnte ich hier sagen: Die Möglichkeit des 
Innenlebens, der Eigenerlebtheit, der Erinnerung zumal führt über das Ich 
und das Für-Mieh hinaus zu einem Ansich als dem, das dem allen Be¬ 
deutung gibt.« — 


12* 



180 


Literatnrberichte. 


»Das sittliche Ftthlen sollte den snreichenden Gnmd seines Da- 
nnd Soseins erhalten dnrch das Eingpereihtsein des Einielnen in eine über* 
persönliche sieh entwickelnde Gemeinschaft, und nach bewnSter 
Schan dieses BetiehnngsTerhältnisses sollte nun anch das eigene Handeln 
»pflichtgemäfi« beurteilt werden. 

»Aber wie, wenn das alles nur »fttr mich« ist? ... 

»Wie nnn, wenn der ganze yerwickelte Gedankengang vom Qber- 
persOnlichen werdenden Ganzen, der ja doch jenes Gefühl rechtfertigen soll, 
anch nur ein »Fttr-mich« feststellte, eine Ordnnngsschan in der Srlebtheit, 
nichts weiter? 

»Befriedigen würde solche Einsicht das Ich nicht. KOnnte es aber da 
nicht wiederum ein Wissen am wenigstens das Dasein eines Ansich geben, 
das, ich sage nicht dem sittlichen Ftthlen unmittelbar, wohl aber dem 
Ergebnis der Ordnnngslehre, das es rechtfertigen soll, Bedeutung 
verleiht ? ...« 

»Dieses also sind die drei wesentlichen Fragen der Ordnnngslehre, 
welche fttr sie selbst unbeantwortet, ein ungeordneter Best 
bleiben müssen: Was heifit es, dafi das gleichsam selbständige Beich 
Natur, das gleichsam selbständige Beich meine Seele, was heittt es, 
dafi sittliches Bewufitsein erfahrungshaft »da ist«?« 

Diesen drei Fragen und vielen anschliefienden Aufgaben geht Hans 
Driesch tiefgründig in seiner Erkenntnislehre nach. 

»Eine Ordnungsaussage, z. B. aus dem Gebiete der Physik, ist richtig 
oder unrichtig: von einer Wirklichkeitsaassage werden wir sagen, dafi sie 
wahr oder unwahr sei; nur richtige Aussagen kOnnen selbstredend fttr wahre 
das Mittel sein. —« Nur »soweit das An-sich auch zum Fttr-mich werden 
kann, ist Wirklichkeitslehre möglich«. »Die Wirklichkeitslehre 
muß ... auf jeden Fall so aasgestaltet werden, dafiOrdnungs- 
lehre, ja dafi mein ganz besonderes Ich erlebe Etwas seiner 
gesamten Inhaltlichkeit nach so sein kann, wie es ist.« 

»Wirklichkeitslehre und Ordnnngslehre stehen not¬ 
wendigerweise im Verhältnis von Grund und Folge, von 
Mitsetzendem und Mitgesetztem zueinander.« »Auch jetzt noch 
bielbt Wirklichkeitslehre, was sie war und bleiben wird, eine auf 
Unbefriedigtsein, auf Wunsch gegründete Forderung. Nie, wahrlich, kann 
sie unmittelbar Sicheres werden. < 

Das Werk »Wirklichkeitslehre« bringt nach Erörterung ihres Wesens 
und ihrer Aufgabe im ersten Teil: »Die Lehre vom Wirklichen 
überhaupt«, bespricht dabei an mehreren Stellen: Wissen, Gedächtnis, 
die Seele als Ordnerin, die Heterogonie der Zwecke, Ordnungsmonismus und 
Dualismus u. a. m., womit HansDriesch auch dem metaphischen Bedürfnis 
gerade des Psychologen durchans gerecht wird, handelt dann im Ȇbergang 
zum zweiten Teile der WMrklichkeitslehre: Vom Tode« und 
entwickelt im Schlnfiabschnitt: »Der Wirklichkeitslehre höhere 
Stufen: Die Lehre von den Wirklichkeitsformen'«, worin »die 
ersten Fragen«, wie die »ünsterblichkeits-Frage« und die »Gottes-Fragen« 
ihre Beantwortung finden. 

Zum Schlufi des gegenüber der Fülle des wertvollsten Gedankenmaterialz 
notwendig karg eklektischen Bef erstes sei nochmals auf die »Logik des 
Seelischen« innerhalb der Ordnnngslehre hingewiesen! »Erster Ausgang 



Literatorberichte. 


181 


für das Verlaogen nach einer »»Psychologfik«« ist... mein besonderes Wissen 
dämm, dafl manches ans dem Bereiche des Etwas ... mit dem Tone des 
schon gehabt Gewesenseins gehabt wird. . . . Man nennt in der 
Sprache des Alltags Erlebnisse mit dem Tone des schon gehabt Gewesen- 
•eins Erinnemngs- oder Gedächtniserlebnisse.« »Die Gesamtheit der 
vom Selbst (bzw.Ich) gehabt gewesenen, seienden and künftig 
werdenden Gebilde in ihrer Znordnnng snr Zeit ist . . . das 
»»Material«« der Psychologie.« — Nach ErOrterang ihrer Aufgabe bringt die 
»Psychologik« in ihrem 2. bis 9. Kapitel; 

Materialienlebre (Elementarlehre; Komplexlehre; das phänomenologische 
Gedächtnis; der Träger) — Verknüpfnngslehre (VerknüpfongsbegriSe erster 
Stufe ... Perseveration und Assoziation, Konstellation, einschränkende und 
totalisierende Faktoren, Übung ...; die Konstanzbegriffe erster Stufe; die 
psychologischen Ordnungsbegriffe der hOc h sten Stufe, die Seele, ihre Organisation 
ihre Entwicklung, ...) — »mein Leib« — Psychophysik (Probleme; die Lehre 
vom Parallelismus und ihre Kritik; die Rolle des Hirns; noch einmal: die 
Organisation der Seele; der Irrtum; die Gefühle) — das »andere« Ich — 

Erkenntnistheorie im psychologischen Gewände_— das nicht-menschliche 

Seelische — Modifikationen des Seelenlebens (der Begriff »unbemerkt«; der 
Traum; die Hypnose ...). 

Richard Hellmuth Goldschmidt (Münster Westf.). 


Paul Hertz, Über das Denken und seine Beziehung zur Anschauung. 

Erster Teil: Über den funktionalen Zusammenhang zwischen aus- 

lösendem Erlebnis und Enderlebnis bei elementaren Prozessen. 

Verlag Julius Springer, Berlin 1923. X und 167 S. 

Der Prozefi des Denkens steht in enger Beziehung zu früheren Erleb¬ 
nissen. Folgte früher auf das Element a' das Element b', auf a" —b”, so 
wird sich an das gegenwärtige Auftauchen von ä die Erwartung von ^ 
knüpfen. Weder ä noch 'S fanden sich in der »Vorerfahrung«; die Er¬ 
wartung von T stellt demnach einen relativ neuen aktuellen Erfahmngsbezng 
her. Derartige psychische Komplexe heiSen «elementare Prozesse«; a wird 
jeweils als »auslSsendes Erlebnis« oder »antecedens«, b als »Enderlebnis« 
oder »Buccedens« bezeichnet. In jener die frühere Erfahrung übersteigenden 
»Erwartung« erblickt Verf. das Kriterium des Denkens: in der »Trans¬ 
zendenz«. Transzendenz wird mithin besonders im Zusammenhang eines 
assoziativen Gefüges psychischer Komplexe greifbar. In stetem Hinblick 
auf jenes Kriterium schreitet Hertz an die Klärung der bedeutsamen Be¬ 
ziehung zwischen Denken und Anschauung. Dort, wo das Denken 
gemäß den Normen geometrischer Relationen abläuft, also schon da, wo 
produktive Handlangen vorliegen, die »in der Mitte zwischen reinem 
Wahrnehmen und Denken stehen« (S. 86), dort treten besonders mukant 
anslösendes Erlebnis und Enderlebnis in funktionalem Zusammenhang in 
Erscheinung, da wird aber auch jene Beziehung der Analyse zugänglich. 
Unter solchem Gesichtspunkt präzisiert sieh die Fragestellung: Wie äußert 
sich der transzendente Charakter des assoziativen Denkens, wenn er gemäß 
mathematischer Funktionen, also etwa gemäß der Funktion y = const. oder 
y <= X verläuft? Es bandelt sich also, um ein Beispiel des Verfassers an- 
zuführen, um Erwartungserlebnisse, wie sie sich an die Ortsverändemng 



182 


Literatarberichte. 


starrer Stäbe zq knüpfen pflegen. Jemand hat bei einer Gelegenheit a 
einen Stab an einer bestimmten Stelle gesehen nnd »erwartet« denselben 
Stab bei Wiedereintritt von a an einer bestimmten anderen Stelle (y = const.). 
Oder: auf Gmnd der Erfassnng einer Strecke z wird s tets die gleiche 
»erwartet« (y = z) n. a. m. Die Transzendenz, das ist das Besnltat der 
Überlegungen, haftet an dynamischen Dispositionen, an »Durchlanfangs- 
Prozessen«, in denen das snccedens gefunden wird. — Eine Erwägung 
über die »Möglichkeit« der Zuordnung geometrischer Beziehungen zu den 
an unseren »Vorstellnngsbildem« waltenden metrischen Belationen klärt 
sich durch die Einsicht in die Enklidizität des sogen. Vorstellnngsranmes. 
— Gegenüber diesen Darlegungen erheben sich gewichtige Bedenken: 1. Ent* 
weder die Assoziationsreihen stellen einen Mechanismus dar; dann ist 
nicht einzusehen, wie aus einem Mechanismus ein Produktionsprozefl werden 
kann. Oder Produktion (Transzendenz) bestimmt allemarauch jedes Glied 
der »Vorerfahrung«; dann ist aber von »Assoziation« keine Bede mehr, dann 
fällt aber auch unweigerlich die Unterscheidung von »elementaren« und 
»komplexen« Prozessen im Sinne des Verfassers. Gerade in seiner Be* 
Ziehung zur Anschauung ist das Denken niemals als assoziatiTer Mecha* 
nismns theoretisch verständlich. Das »Gedachte« ist unter dem Gesichts* 
punkt der Anschauung gegenständlich bestimmt, d. h. das Denken wird 
durch methodologische und nicht durch assoziative Bezüge ge* 
kennzeichnet. Damit schwindet grundsätzlich jeglicher Unterschied 
zwischen Vorerfahrung nnd gegen wärtiger Erfassung. Auf solcher 
Grundlage bedarf das Unternehmen des Verfassers einer entscheidenden 
Sichtung. 2. Wie bestimmt sich der Begriff einer »in der Mitte zwischen 
Wahrnehmung nnd Denken stehenden Handlung«? Sie ist nach der Dar* 
Stellung des Verfassers »Vorstufe« zum Denken, sie grenzt sich so gegen 
das »eigentliche« Denken ab. Handelt es sich — so ist zu erwidern — in 
jenem Begriff um einen »erlebten« Sachverhalt, um »gewußte« Beziehungen, 
dann ist er durch seinen geometrischen Bezug in seiner Eigenart eindeutig 
deflniert; drückt er dagegen keinerlei »gewußten« Tatbestand ans, dann 
liegt auch kein psychologisches Problem vor. 8. Die Beschreibung von 
»Dnrchlanfnngsprozessen« ist nicht durch begriffliches, sondern dnrch 
experimentelles Verfahren zu ermöglichen, oder doch nur auf dem 
Boden des Experiments begrifflich zu bewältigen. 4. Die Frage der En* 
kUdizität unseres Vorstellnngsranmes (wofern dieser Begriff überhaupt de* 
finiert ist) ist kein »mögliches« Problem unter der Voraussetzung der Zn* 
Ordnung des Psychischen. Der Begriff der Zn Ordnung ist bereits ein Ans* 
druck für den heterogenen Charakter der psychischen und euklidischen 
Relationen. M. Löwi (Breslau). 


K. Eoffka, Beiträge zur Psychologie der Gestalt. Bd. I. V nnd 323 S. 
Leipzig, J. A. Barth, 1919. 12 G.*M. 

Wolfgang Köhler, Die physischen Gestalten in Ruhe nnd im stationären 
Zustand. Eine natnrphilosophische Untersuchung. Mit 5 Ab* 
bildnngen. XX nnd 263 S. Brannscbweig, Fr. Vieweg & Sohn, 
1920. 

G. E. Müller, Eomplextheorie nnd Gestalttheorie Ein Beitrag zur Wahr* 
nehmungspsychologie. 108 S. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 
1923. 



Literatarberichte. 


183 


Es erübrigt sich, über den Inhalt dieser drei Arbeiten ihrem Umfang 
and ihrer Bedentang entsprechend zn berichten, weil sie alle, die beiden 
ersten ihrer Verüffentliehnng nnd die dritte ihrem wesentlichen Inhalte 
nach, schon älter nnd dämm bekannt genug sind. Ich beschränke mich 
anf die Wiedergabe der wichtigsten Gedanken and nntersnche ihren Beitrag 
an den allgemeinen Fragen des Problemkomplezes, den wir mit dem 
Wort »Gestalt« bezeichnen. 

Ko&ka sammelt Arbeiten, die von ihm nnd seinen Mitarbeitern nnter 
dem Titel »Beiträge zur Psychologie der Gestalt- and Bewegnngserlebnisse« 
in der Zeitschr. f. Psych. erschienen sind, unter dem in der Tat besseren 
Titel »Beiträge zur Psychologie der Gestalt«. Den experimentellen Bei¬ 
trägen von Eenkel and Körte liegt die Wertheimersche Theorie der 
^'-Phänomene zngrande, die, ganz allgemein anf alle Gestalten ausgedehnt, 
besagt, dafi Gestalt and zagehbriger Beizkomplez unmittelbar, ohne psychische 
Vermittlnng, Zusammenhängen. Diese Theorie wird an verschiedenen ex¬ 
perimentellen Ergebnissen geprüft und für richtig befanden. Ko&ka gibt, 
veranlaßt durch das Beferat, das Benussi über die Arbeit von Kenkel in 
dieser Zeitschrift verdffentiichte, eine eingehende Kritik der Produktions- 
theorie Benussis. In einem letzten Beitrag versucht Koffka einen Vorgang 
im Gehirn mathematisch zu formulieren, so daß sich ans ihm gewisse (in 
den Untersuchungen von Körte gefundene) Gesetzmäßigkeiten zwischen 
Variationen von Reizkomplexen und psychologischen Gegebenheiten ableiten 
lassen. 

Kbhler will in der Hauptsache beweisen, daß es auch physische Ge¬ 
stalten gibt, d. h. daß sich physische Gesamtgebilde anfweisen lassen, die 
nicht als Summen, nicht als bloße Undverbindungen anzusehen sind. Ein 
Zusammen ist nach ihm dann und nur dann eine reine Summe von Teilen 
oder Stücken, wenn es ans ihnen, und zwar einem nach dem anderen her- 
gestellt werden kann, ohne daß infolge der Zusammensetzung einer der 
Teile sich ändert. Umgekehrt ist ein Zusammen dann eine reine Summe, 
wenn durch Ausscheidung von Teilen oder Stücken weder das zurück- 
bleibende Bestzusammen noch die aasgeschiedenen Teile geändert werden 
(S. 42). Als Kriterien für die Gestalt dienen ihm die Ehrenfels-Kriterien. 
Er versucht nun zu zeigen, wie in einer Beihe von physikalischen Fällen 
(z. B. bei den elektromotorischen Kräften zwischen zwei Elektrolyten von 
verschiedenen Materialeigenschaften, bei der elektrischen Ladung eines 
isolierten Leiters, bei Feldern, bei stationären elektrischen Strömen) diese 
Gestalteigenschaften vorliegen und die Gesamtgebilde nicht als bloße Summen 
aufzufassen sind. Er gibt noch eine erste Anwendung anf psychophysische 
Gestalten. 

G. E Müller glaubt, daß seine Kompleztheorie schon längst alles das 
enthält, was die Gestalttheorie will. Ein Komplex ist eine Gruppe von 
Vorstellungen, deren Gegenstände in bestimmten räumlich-zeitlichen und 
sonstigen Beziehungen zueinander stehen und die infolge der diesen Gegen¬ 
ständen zuteil werdenden kollektiven Auffassung die Fähigkeit erlangt, 
als ein einheitliches Ganze psychische Wirkungen zn entfalten oder zu er¬ 
fahren. Das komplexstiftende Moment ist also die Aufmerksamkeit. Die 
Bedingungen, von denen kollektive Auffassung von Vorstellungen abhängig 
ist, sind: räumliche Nachbarschaft, Gleichheit der dargebotenen Elemente 
«der auch bloße Ähnlichkeit in Gestalt oder Form, Eindringlichkeit, sym- 



184 


Literatarberichte. 


metrischer Verlanf, Kontar, Erfahrung nnd Gewohnheit. In der Entwich* 
lang der Komplexe gibt es individnelle Unterschiede, die daher rühren, 
dafi die Bedingungen nicht für alle Indmdnen gleichwertig sind. Komplexe 
sind trotz ihrer Einheitlichkeit nicht starr. Man hann mitunter willkürlich 
zwischen komplexer nnd singulärer Auffassung wechseln oder Komplexe in 
Unterkomplexe zerlegen. Auch modifizieren sich häufig die Elemente bei 
der Komplexbildung. Vielleicht ist darum auch die Angleichung eines 
Sinneseindmckes an einen anderen durch kollektive Auffassung zu deuten. 
Auf der physiologischen Seite mufi gleichfalls ein Vorgang stattfinden, durch 
den ein engerer Zusammenhang zwischen den kollektiv beeinfiufiten Er¬ 
regungen hergestellt oder ein bereits bestehender Zusammenhang gesteigert 
wird, es muß eine Kollektivdisposition angenommen werden. Durch sie 
wird auch die totalisierende Qestaltauffassung der Hemianopiker erklärt 
Ferner werden gewisse von Fuchs u. a. beobachtete pathologische Fälle, die 
von Wertheimer anfgestellte Tendenz zur Prägnanz der Gestalt, die eidotropen 
und y-Bewegungen von der Komplextheorie ans zu verstehen gesucht 
Recht ausführlich werden, immer mit Rücksicht auf die Komplextheorie, 
die physiologischen Grundlagen der Gedächtniserscheinungen besprochen. Es 
handelt sich dabei eigentlich nur um eine Reihe von Einzelbemerkungen. 
So wird z. B. betont, dafi nicht die Erregungen der der Retina korrespon¬ 
dierenden Himregion die unmittelbare Unterlage für die Gesichtsempfin dangen 
seien, sondern dafi diese Erregungen erst unter dem Einflüsse der Aufmerk¬ 
samkeit modifiziert würden; dafi wir eine bahnende und eine dispositionelle 
Einprägnng zu unterscheiden hätten, die beide bei den Gedächtnisleistangen 
in Frage kämen; dafi das Gedächtnisresiduum eines Komplexes nicht gleich der 
Summe der Residuen der Komplexglieder sei. Gleichzeitig werden kritische 
Bemerkungen von Becher, Btthler u. a. zurUckgewiesen. Den Scblufi bildet 
eine Kritik der Wertheimerschen Gestalttheorie. Ken sind an den Ausführungen 
G. E. Müllers nur die Anwendungen auf moderne Beobachtungen nnd Einzel¬ 
heiten der Gedanken über die Residuen der Gedächtnisleistangen. — 

Bei der Beschränkung auf die allgemeinen Fragen können wir ein 
psychologisches, ein physiologisches und ein physikalisches Gestaltproblem 
unterscheiden Zu dem ersten woUen vor allem Koffka und G. E. Müller, zu 
dem zweiten G. E. Müller und Köhler, zu dem dritten Köhler Beiträge geben. 

Zunächst das psychologische Gestaltproblem. G.E.Müller hat 
natürlich recht, wenn er bemerkt, dafi Wertheimer die Gestalten nicht ent¬ 
deckt habe. Schon Wandt mit seinem Prinzip der schöpferischen Synthese 
zielte auf sie ab. Allerdings hat der Gestaltbegriff mit den wirkenden 
Formen der Scholastik und des Aristoteles, wie Job. Wittmann meint, nicht 
das geringste zu tun. Aber den älteren Psychologen fehlte die Phänomenologie 
der Gestalt. Sie fehlt sogar den neueren vielfach, besonders den Gegnern der 
Theorie. So sind auch die Komplexe G. E. Müllers durchaus keine Gestalten. 
Wohl wendet er seine Komplextheorie manchmal auf Gestalten an, aber er 
fafit dabei an den Gestalten nur etwas ganz Äufierliches. Für ihn ist das 
komplexstiftende Moment ja die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksam¬ 
keit ist aber durchaus nicht das gestaltstiftende Moment, sie ist es 
in keinem einzigen Falle. Die Gestalt ist da, gleichgültig, ob wir sie mit 
mehr oder weniger Aufmerksamkeit erfassen. Nur wo es sich um Gestalt- 
mehrdentigkeit oder um unvollkommene Gestalten handelt, spielt die Auf¬ 
merksamkeit eine RoUe, aber auch hier nicht die RoUe, Gestalten zu schaffen. 



Literatorberichte. 


185 


Bondern sie entdecken bu lassen. Zufolge dieser falschen Einstellung sieht 
O. E. Hüller an der Gestalt nur den äußeren Zug der Einheitlichkeit, den 
natürlich der Komplex auch hat. 

Wnndemehmen kann das nicht, denn die Phänomenologie der Gestalt 
kommt auch bei den Gestalttheoretikem au kurz. Ich glaube nämlich nicht, 
daß die zwei Ehrenfels-Kriterien genügen, um die Gestalt zu charakterisieren. 
Es liegt zunächst zwar in dem ersten Kriterium drin, müßte aber noch stärker 
betont werden, daß in der Gestalt etwas Neues als psychisches Erlebnis zu den 
»Teilen« hinzutritt. Ganz übersehen die Kriterien, daß dieses Nene gegen¬ 
über den »Teilen« stets etwas Übergeordnetes ist, etwas, was eben das 
typisch Ganze schafft, was es macht, daß es sich hier nicht mehr um »Teile«, 
sondern um Glieder in einem Ganzen handelt. Dieses eigentliche gestalt¬ 
stiftende Moment kann mehr oder weniger deutlich hervortreten, es ist aber 
immer da. Es dnrchdringt gleichsam die Glieder, vereinigt sie, umspannt sie, 
so daß sie »zusammengehOren«, während die Teile eines Komplexes nur 
»zusammen sind«. Dieses Moment ist kein Belationserlebnis. Es stiftet 
Relationen und darum sind Relationserlebnisse mit ihm verbunden, aber es 
ist selber keins. Denn ein Relationserlebnis schafft nie diese eigenartige 
Vereinigung, diese Verschmelzung, diese Verganzung, wie sie bei der Ge¬ 
stalt vorliegt. Daß in manchen Fällen Gestalten innerhalb gewisser Grenzen 
willkürlich oder nicht sofort erfaßbar sind, gehört auch mit zur Charakteristik. 

Damit ist nun schon angedeutet, welche Art von Gegenständen die Ge¬ 
stalten sind. Ich meine, sie seien Ganzheiten. Gelegentlich, z. B. bei 
Wertheimer, werden die Gestalten wohl Ganze genannt, aber das Typische 
der Ganzheit kommt doch nicht völlig zu seinem Recht. Wir sprechen über 
den Ganzheitsbegriff gleich noch mehr, wo wir den Summenbegriff dagegen 
setzen. Ich möchte nur hier kurz bemerken, wie diese phänomenologische 
Theorie der Gestalt mit tieferen Fragen der Psychologie zusammenhängt. 
Es ist bekannt, wie eine Richtung der Biologie heute den Organismus sds 
Ganzheit und die Seele (rein phänomenologisch, ohne alle Metaphysik) als 
Ganzheitsfaktor faßt. Geht man da mit, dann wird es prinzipiell verständ¬ 
lich, wie die Gestalt ein Ausdruck der Ganzheitsstruktur der Seele ist, der 
unter gewissen, noch anznführenden Bedingungen auftrift. Eine Aktivität der 
Seele ist also mit der Gestalt immer verbunden. 

Faßt man so die Gestalt streng als Ganzes, so wird auch ihr Bereich 
viel schärfer Umrissen, als es bisher der Fall war, vor allem wird er von 
dem der Komplexe getrennt. Wenn man ans einer Reihe von parallelen 
Strichen mehrere znsammenfaßt, so ist das keine Gestalt, sondern ein Komplex. 

Von hier ans wird das physiologische Gestaltproblem ohne 
weiteres lösbar. Es ist in diesem Zusammenhang sichef^ daß es physiologische 
Ciestalten gibt. Jeder Organismus ist ja eine physiologische Gestalt. DerGanz- 
hmtsfaktor ist natürlich immer seelisch. Ans ihrer Struktur heraus gestaltet 
sich die Seele das Physiologische ganzheitlich. Darum können und müssen 
ihren Gestaltvorgängen auch physiologische Gestalten zugrunde liegen, 
nur ist dabei die Beziehung die, daß das Psychische der Ganzheitsfaktor 
des Physiologischen ist. Primär ist also immer das Seelische. Aber es gibt 
in ihm keine Gestaltvorgänge, ehe es sich nicht sein physiologisches Instrument 
geschaffen hat. Zweifellos ist also das Seelische »nicht sachlich sinnlos und 
zwanglänfig« an Physiologisches gebunden (Köhler, S. 193), und sicherlich 
ist jede spezifische seelische Gestalt von einer spezifischen physiologischen 



186 


Literatarberichte. 


nnterfahren. Das liegt im OanzheitsbegriS. Aber dieses Allgemeine — dafi 
eben beides in gegenseitiger Abstimmung gestaltet ist — ist auch die einzige 
Ähnlichkeit, die dazwischen besteht. Den Sinn der Edhlerschen Behauptung, 
daß »im Prinzip eine Himbeobachtung denkbar (ist), welche in Gestalt- und 
deshalb in wesentlichsten Eigenschaften Ähnliches physikalisch er¬ 
kennen würde, wie der Untersuchte phänomenal erlebt« (S. 193), verstehe 
ich nicht einmal. Soll das heißen, daß sich am Physiologischen unmittelbar, 
also ohne Kenntnis eines Zusammenhanges, wie der von Zeichen und Be- 
zeichnetem ist, das psychische Erlebnis ablesen lasse? Daß diese bei einem 
modernen Psychologen kaum glaubliche Ansicht sogar aus einer viel tieferen 
Oestaltauffassung, als es die KOhlersche ist, nicht folgt, ist wohl klar. Jeder 
Organismus beweist das faktisch. Wo ist die Ähnlichkeit eines Organismus 
mit seinem Seelischen ? Han kann höchstens sagen: das Psychische hat ihn 
so gestaltet, wie es »es in sich hat«, gemäß seiner gestaltenden Kraft, und 
daher die »Ähnlichkeit«. Diese Ähnlichkeit muß es natürlich auch zwischen 
den psychischen Oestaltvorgängen und den zugehörigen Gtehimvorgängen 
geben; aber sie reicht nicht aus, uns wesentliche Eigenschaften des Psychischen 
unmittelbar am Physiologischen ablesen zu lassen. 

Auch das physikalische Gestaltproblem erhält seine Beleuchtung 
von der berührten Theorie der Gestalt her. Es gibt im Physischen keine 
Gestalten als Ganzheiten. Nirgendwo ist neben den Teilen, die ein physisches 
Gesamtgebilde zusammensetzen und die isoliert existieren können, noch ein 
physischer Oanzheitsfaktor aufweisbar. Überall liegen nur Summen, 
nur Undverbindungen vor. 

Woher kommt es nun, daß Köhler physische Gestalten aufweisen zu 
können vermeint? 

Ein erster Grund liegt darin, daß, wie schon HansDriesch richtig her¬ 
vorhebt, das Physische einige Einzelzüge der Ganzheit aufweist. 
Man kann drei solcher Einzelzüge nennen. Fürs erste den Einheitszug. 
Er liegt ausgeprägt in einer gewissen relativen Geschlossenheit und Selb¬ 
ständigkeit mancher physischer Gesamtgebilde. Fürs zweite den Diffe¬ 
renzierungszug in der Entwicklung. Driesch hat ja recht: 
verstehen wir unter Entwicklung nur Entwicklung zu einer Ganzheit, so 
besitzt das Physische keine Entwicklung. Aber es hat von ihr doch den 
Zug, daß es, wie z. B. Kosmogonie und Geogonie lehren, aus weniger 
differenzierten zu mehr differenzierten Zuständen kommt. Fürs dritte den 
Ordnungszug. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man an das 
Planetensystem, das Atom, den Kristall, das Gravitationsfeld denkt. Über¬ 
all, wo bei physischen Gesamtgebilden als Reizen diese Ganzheitszüge 
vereint oder einzeln \orliegen, kann man mit einigem Grunde von einem 
physischen Gestaltreiz reden. Es ist an sich ein richtiger Gedanke, den 
Kioffka benutzt, um die Reizlosigkeit der psychischen Gestalt zu widerlegen: 
daß eben Reiz etwas Relatives zum Organismus ist. Aber wäre das alles, 
dann könnte jeder beliebige physikalische Vorgang unter Umständen Gestalt¬ 
reiz werden. Im Physischen ist indes mehr als das, ohne daß dadurch die 
Aktivität der Seele ausgeschlossen wäre. 

Ein zweiter Grund liegt in der ungenügenden Bestimmung von Summe 
und Gestalt bei Köhler. Beidemal wird zu wenig gesagt. Was er als 
Summe definiert, ist eine arithmetische Summe. Seine Definition 
paßt schon nicht mehr auf die geometrische Summe. So bleiben bei 



Literatarberichte. 


187 


jeder Zasammensetsaner und Zerlegrnng von Vektoren weder Teile noch Rest- 
cnsammen nnge&ndert. Ebensowenig trifft sie bei der Znsammensetznng 
▼on Feldern zn. Man darf tiberhanpt die Snmme nicht nnr im mathematischen 
Sinne nehmen. Charakteristisch für sie ist vielmehr, dafi bei Wegnahme 
eines Teiles eine Snmme derselben Art übrigbleibt, die in sich geschlossen 
ist nnd eine Einheit darstellt. Dagegen ist charakteristisch für die Oestalt, 
dafi sie bei Wegnahme eines wesentlichen Gliedes zertrümmert ist, zerf&llt, 
einen Torso darstellt; wir haben dann keine Ganzheit mehr. Wendet man 
diese Bestimmnngen an, so sieht man leicht, dafi es nnr physische Snmmen, 
aber keine physischen Gestalten gibt. Alles, was Kühler physische 
Gestalt nennt, ist restlos ans den Beziehnngen der Teile verst&ndlich, wobei 
unter Beziehnngen natürlich Eräftebeziehnngen verstanden sind. Jeder wird 
Kühler darin beistimmen, dafi die physische Welt mehr als die Snmme 
beziehungsloser Teile ist. Sie ist aber nicht mehr als die Snmme 
beziehnngsreicher Teile. Dagegen ist jede Ganzheit auch mehr als 
die Snmme beziehnngsreicher physischer Teile. 

_ Aloys Müller (Bonn). 

Lahy, J. M., Taylorsystem nnd Physiologie der beruflichen Arbeit. Deutsch 
von J. Waldsbnrger. Berlin, Springer, 1923. XIV nnd 164. 

Bei einer Gesamtwürdignng ist gegen das Taylorsystem neben allen 
seinen l&ngst von der Praxis eingesehenen Vorzügen vor allem der Vorwnrf zn 
erheben, dafi es den Grundsatz der Voranslese nicht beachtet. Es stüfit daher 
den Arbeiter entweder ans dem Betriebe heraus oder zwingt ihn zn übermäßi¬ 
gen Anstrengungen, um doch im Betriebe bleiben zn künnen. Daher mnfi 
in den Gedanken des Taylorsystems eine fortwährende Überwachung der Er¬ 
müdung hineingenommen werden. Das Taylorsystem ist primär darauf ein¬ 
gestellt, Aufmerksamkeit nnd Arbeitstempo zn steigern; den vielfach noch 
fehlenden Schutz gegen die Übermüdung aber kann es nnr ans der Berührung 
mit der Physiologie nnd Psychologie gewinnen. Auch die Zeitstudien, die 
eines der wichtigsten Elemente des Taylorsystems sind, müssen mit den Er- 
müdnngsnntersnchnngen Hand in Hand gehen. 

Dies ist die wichtigste psychologische Problemstellung, die sich ans 
den Darstellungen des Verf. ergibt. Seine eigenen Untersuchungen bezogen sich 
hauptsächlich auf die Ermüdung bei solchen Arbeitsleistungen, die keine 
Mnskelanstrengnng erfordern. Er benutzte dabei den Blutdruck nnd die 
Reaktionszeit nnd fand, dafi sich der Blutdruck mit anhaltender Aufmerk¬ 
samkeit erhüht, nnd daß außerdem im Zustande der Ermüdung die Reaktions¬ 
zeit rasch absinkt. Beiden Angaben stehen aber die Ergebnisse anderer 
Autoren gegenüber, die zum Teil zn vüUig abweichenden Zusammenhängen 
gelangten. Meist ist gerade die Abnahme des Blutdrucks als ein Symptom 
der Ermüdung in Anspruch genommen worden. Ich vermute, daß überhaupt 
mttdnng nnd Blutdruck nicht in so einfacher Weise aneinander gekoppelt 
sind, sondern dafi sich Zwischenglieder einschieben, die mit der allgemeinen 
psychophysischen Disposition Zusammenhängen. 

0. K1 e m m (Leipzig). 


Sippel, H., Der Turnunterricht und die geistige Arbeit des Schulkindes; 

Beiträge zur Tum- nnd Sportwissenschaft, Heft 5. Berlin, Weid- 
mannsche Buchhandlung, 1923. 53 Seiten. 



188 


Literatarberichte. 


Die zahlreichen bisherigen Untersnchnngen Uber die Wirkung des Tnmenz 
haben keineswegs zn einstimmigen Ergebnissen geführt. Znr Klkmng dieser 
Frage nntemahm der Verf. eine ausführliche experimentelle Untersncbiing 
an Schnlkindem, bei der er die Kraepelinsohe Additionsmethode in der 
Form fortlaufenden Addierens in wagerechter Richtung und Gedächtnis- 
proben an Inhalten von verschiedenem Grade der SinnerfüUnng aowandte. 
Die Additionsversnche zeigten allgemein nach dem Turnen eine Leistungs* 
Steigerung. Bei den Gedächtnisversnchen waren die Ergebnisse, zum Teil 
auch auf Grund ftnSerer Umstände, schwankend. Immerhin bestand, vor 
allem bei der sinnvollen Verknüpfung von Wortpaaren, eine Tendena so 
besseren Leistungen. 

Theoretisch lehnt der Verf. mit Recht die Vorstellung ab, daß sich eine 
Messung der geistigen Ermüdung als solcher erzielen lasse, und sucht dafür 
den Erfrischungszustand aus einer Reaktivierung erschlaffter psychischer 
Kräfte und ans der Beseitigung psychomotorischer Hemmungen durch das 
Turnen zn begreifen. Als praktische Folgerung ergibt sich die Befürwortung 
einer täglichen Tnmzeit von 80—35 Minuten. 

Die Ergebnisse sind wertvoll. Die Einschränkung auf eine kleine, aber 
geschlossene Gruppe von Problemen hat der Verf. mit Bedacht vollzogen. 
Den Wunsch nach Nachprüfung und Weiterführung spricht er selbst ans. 

0. K1 e m m (Leipzig). 


König, Th., Reklame-Psychologie, ihr gegenwärtiger Stand — ihre prak¬ 
tische Bedeutung. München und Berlin, R. Oldenbonrg, 1924. 
VI und 206. 

Der Verf. unternimmt den Versuch, die bisherigen wissenschaftlichen 
Ergebnisse der Reklameforschnng znsammenzufassen und von wissenschaft¬ 
licher und praktischer Seite ans zn beleuchten. Dieser Versuch stand unter 
besonders günstigen Umständen, da dem Verf. nicht nur ausgedehnte prak¬ 
tische Erfahrungen bei der geschäftlichen Werbung für industrielle Unter¬ 
nehmungen znr Verfügung stehen, sondern auch eine Anlehnung an den 
experimentell-psychologischen Betrieb eines Laboratoriums. 

In der Tat hat er die Ergebnisse der experimentellen Reklamepsycho¬ 
logie überall mit den praktischen Bedürfnissen so unmittelbar verwoben, 
daß ein anschauliches und belehrendes Bild von den Leistungen dieses Teiles 
der angewandten Psychologie entsteht, und mit großer Umsicht ist das in 
sehr verschiedenartigen Veröffentlichungen verstreute Material zu diesem 
Thema znsammengetragen. Darin liegt der Wert des Buches. Für die 
Psychologie selbst ist die Ausbeute etwas geringer. Einseitige psychologische 
Theorien, die höchst umstritten sind, werden zum Teil mit einer Selbstver¬ 
ständlichkeit eingeftthrt, die für das strengere wissenschaftliche Denken 
befremdlich wirkt. Als Beispiel dafür nenne ich den Abschnitt über die Ge¬ 
fühlswirkungen der Reklame, der sich auf Gnade und Ungnade der Lust- 
Unlnsttheorie ergibt. Nicht kann es Aufgabe derer sein, die ihren Schwer¬ 
punkt sichtlich im praktischen Leben haben, zn diesen schwierigen theoretischen 
Fragen Stellung zn nehmen. Aber es gibt zn denken, wie sehr die Verschieden¬ 
artigkeit des theoretischen Denkens in der Psychologie auch diese praktischen 
Auswirkungen zn beeinflussen vermag. 

0. K1 e m m (Leipzig). 



Literatarbericbte. 


189 


Basse, H.H., Das literarische Verständnis der werktätigen Jagend zwischen 
14 and 18. Beiheft 82 znr Zsch. f. angew. Psychol. Leipzig, J. A. 
Barth, 1923. X nnd 239. 

Der Yerf. sammelte seine Beohachtnngen über das Verhältnis des Jagend* 
liehen zn den Werken der Literatnr nnter jenem kameradschaftlichen Ver¬ 
hältnis zwischen Älteren and Jüngeren, das allein in der dentschen Jagend* 
bewegnng gegeben ist. Gerade die B,eifejahre amspannen jene Stnfe der 
seelischen Entwicklong, in der alles daraaf ankommt, die Tendenz des 
Jagendlichen znr SelbstabschUeßang za überwinden, and sein wirkliches 
Vertranen zn gewinnen. Im einzelnen ging der Verf. so vor, daß er in 
der »literarischen Abteilnng« eines katholischen Jünglingsvereines in einer 
indnstriearmen süddentschen Mittelstadt zwanglose Aassprachen der Teil¬ 
nehmer herbeiführte and diese mündlichen Mitteilangen sammelte. Mehr 
als 1000 Aassagen über etwa 200 Literatarwerke verschiedenen Umfanges 
worden verarbeitet. Ergänzend traten Aasleihestatistiken von Volksbüche¬ 
reien hinzn. 

Aaf der Grandlage dieses Materials werden znr Darstellnng gebracht: 
das aaffassende oder Sprachverständnis, die literarischen Interessen, das 
höhere Konst Verständnis. Der Versuch, allgemeine Entwicklangsstafen im 
literarischen Verstäudis der Jagend nachzaweisen, zeigt, wie sehr die Fort¬ 
schritte der sprachlichen Auffassung von den sozialen Lebensbedingangen 
abhängig sind. Die Entwicklung des inhaltlichen Interesses läßt die mit dem 
14. Lebensjahre fast immer schon abgeklnngene Märchenwelt bei der werk¬ 
tätigen Jagend nur selten in die Sage, viel häufiger in die Helden- and 
Abentearergeschichte, mit Einschluß der historischen Erzählung and der 
Forschungsreisen, übergehen. Daneben gibt es einen Typ, der diese epische 
Stofe überspringt nnd sofort bei der realistischen Stoffgattang anlangt. 
Bei einer engeren Groppe der Teilnehmer endlich ließ sich eine Differenzierung 
der ästhetischen Empßlnglichkeit nachweisen, die das Erhabene als die Urform 
des Schönen im Bewußtsein der männlichen Jagend enthüllt. Diesem nahe 
steht die tragische Grandstimmang. Die zahlreichen Typen and Varietäten 
gerade dieses ästhetischen Verhaltens zeigen besonders deatlich, daß das 
angebildete Volk keineswegs eine psychisch-ondifferenzierte »Masse« darstellt. 

Von der Fülle der Einzelheiten vermag dieser Bericht kaum eine Vor- 
Stellung zn geben. Als Fondgrabe für eine Psychologie der Reifezeit ist 
diese Arbeit auch deswegen so ergiebig, weil sie sich von einseitigen theore¬ 
tischen Antizipationen freihält, so vor allem von der vielfach beliebten 
Manier, das gesamte Phänomen der Reifezeit nur im Spiegel der erotischen 
Erlebnisse erblicken zn wollen. 

0. Klemm (Leipzig). 


Harald Höffding, Erlebnis and Deatnng. Sine vergleichende 
Studie zur Religionspsychologie. Übersetzt von Erwin Magnus. 
Stuttgart, Fr. Frommanns Verlag (H. Kurtz), 1923. Grandpreis 2 M., 
geb. 2.50 M. x Schlüsselzahl. 

Schon im psychologischen Teile seiner Religionsphilosophie hatte Höff¬ 
ding nnter anderem die seelischen Selbstzeagnisse der spanischen Nonne 
Santa Teresa (Teresa de Cepeda, geb. 1515) dann benatst, am an ihnen die 



190 


Literatnrberichte. 


Eigentümlichkeit des religiös-mystischen Erlebnisses darznstellen'). Im 
vorliegenden Bnche behandelt er die Probleme, die durch die inneren Er- 
fahmngen jener merkwürdigen Fran angeregt werden, anfs neue unter dem 
psychologischen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte desYerh&ltnisses 
von Erlebnis und Deutung. Höffding schätzt die Berichte Teresas besonders 
hoch wegen der in ihnen sich kundgebenden psychologischen Begabung, 
durch die sich die Heilige von den Mystikern des Mittelalters unterscheidet. 
Auch William James nennt sie eine der begabtesten Frauen, die wir kennen, 
und spricht von ihrer »bewundernswerten psychologischen Beobachtungs¬ 
gabe«, wenn er auch meint, ihre religiösen Ideen seien so armseliger Art, 
dafi er beim Lesen ihrer Schriften nur das lebhafte Bedauern empfunden 
habe, soviel seelische Kraft so unnütz vergeudet zu sehen 

Den wissenschaftlichen Ausgangspunkt der HöSdingschen Untersuchung 
bilden die folgenden scharf geprägten Sätze der Einleitung: »Was in unserem 
Bewußtsein hervortritt, ist stets Erlebnis und Deutung auf einmal. Wenn 
man unter Erfahrung Erlebnisse versteht, die in bestimmten Zusammenhang 
gebracht sind, können wir sagen, daß Erlebnis ein Grenzfall von Erfahrung 
ist. Das Deutungsmoment hat hier sein Minimum erreicht.« 

Die mystischen Erlebnisse gipfeln in der Ekstase. Wie alle Gemüts¬ 
bewegungen haben aber nach Höffding die ekstatischen Zustände eine 
Tendenz, »alle Empfindungen und Vorstellungen zu hemmen oder auszu¬ 
schließen«. Wohl können im Zustande der Ekstase Halluzinationen ent¬ 
stehen, an die man sich möglicherweise nachträglich zu erinnern vermag, 
»gerade wie man sich an Träume erinnert«. Da aber alle Mystiker die 
reine Ekstase im Grunde für unbeschreiblich erklären, obwohl sie ihr Er¬ 
lebnis als den Zustand höchster Seligkeit schildern, so ergibt sich, dafi alle 
Deutungsversuche sekundärer Art sind. Dennoch wird fast zwangsweise 
dem Erlebnis der mystischen Erhebung und des Außersichseins eine be¬ 
stimmte, der geistigen Umwelt des Ekstatikers entnommene Deutung unter¬ 
gelegt. So werden im Zeitalter des Animismus und des Totemismus die 
ekstatischen Zustände ohne weiteres durch den Eiufiuß oder das Innewohnen 
eines fremden Seelenlebens erklärt. Der primitive Mensch sieht seine Er¬ 
lebnisse teils als die Wirkung von Geistern, teils als Anzeichen seiner Ge¬ 
meinschaft mit Geistern an. Erlebnis und überlieferter Glaube werden hier 
»von Anfang an verschmolzen«. Ähnlich liegen die Dinge auf der dog¬ 
matischen Stufe, die eine theologisch ausgearbeitete Glaubenslehre besitzt. 
Nur beginnt sich jetzt der Unterschied zwischen Erlebnis und Deutung 
geltend zu machen. Er wird zwar »wieder aufgehoben durch die Ehrfurcht 
vor der überlieferten Norm« — der israelitische Prophetismus und die christ¬ 
liche Mystik bieten hierfür Beispiele —, dennoch zeigt es sich, daß die 
Mystiker der neueren Zeit besser zwischen der Ekstase selbst und den Visionen 
oder Bildern zu unterscheiden vermögen, die sie mit sich führen kann. 
Eben dies zu beweisen, ist der Hauptzweck des vorliegenden Buches. 

Es ist nun sehr lehrreich, daß Höffding den Berichten aus vergangenen 
Tagen die psychologische Erörterung der Selbstzeugnisse einer modernen 
Mystikerin anfügen kann. Es handelt sich dabei um die seelischen Schick- 

1) Harald Höffding, Religionsphilosophie, übersetzt von Bendixen, 
1901, S.91. 

2) William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltig¬ 
keit, deutsch von Wobbermin, 1907, S. 328. 



Literatnrberichte. 


191 


sale einer gebildeten Fran mittleren Lebensalters, der Vorsteherin einer in 
orthodox-protestantischem Geiste geleiteten Erziehungsanstalt fttr jnnge 
M&dchen in der franzSsischen Schweiz. Der Genfer Psychologe Theodore 
Flonmoy, an den sich Mlle. C4cile VS nm Bat nnd Hilfe wandte, hat deren 
Erlebnisse der Öffentlichkeit Übergeben. Diese Erlebnisse sind arsprttngUch 
quälender Art, haben einen sexuellen Einschlag nnd werden als ein »Alp¬ 
drücken« oder als ein »Besessensein von einer niederen Persönlichkeit« ge¬ 
schildert. Später aber erfährt C4cile die tröstende nnd moralisch stärkende 
Nähe eines »Frenndes«, wobei es jedoch niemals zn einer wirklichen Vision 
konunt, nnd nachdem sie ein halbes Jahr ihre Zuflucht zn diesem geistigen 
Freunde gefunden, werden ihr abermals neue innere Erlebnisse in der Ge¬ 
stalt Ton ekstatischen Zuständen zuteil. 

Trotz der orthodox-christlichen Glaubenswelt, in der C6cile lebt, wagt 
sie jedoch nicht, jenen »Freund« etwa mit Christus zn identiflzieren. Das 
beweist also, dafi sie zwischen dem Erlebnisse selbst und seiner möglichen 
Deutung scheidet und nicht eine ihr naheliegende sofort in den psychischen 
Befund hineinträgt. Den ekstatischen Zustand bezeichnet sie allerdings 
als »göttlich«. Aber sie gibt sich selbst genau darüber Bechenschaft, wes¬ 
halb sie dies tut nnd wodurch sie sich dazu berechtigt glaubt: »Dieses 
Erlebnis wirkt auf mich wie eine Eraft, die mich vorwärtstreibt und die 
mich gleichzeitig auf einem Niveau der Gedanken nnd Voraussetzungen 
hält, das höher ist als jenes, auf dem ich mich vorher befand. ... Deshalb 
glaube ich, daS es für mich göttlich ist«. Ersichtlich trägt aber dieses Er¬ 
lebnis einen mehr pantheistischen, weniger einen dnrch die christUch- 
theistischen Vorstellungen bestimmten Charakter. 

Der verehrte greise Gelehrte, der auch nach seinem Ausscheiden ans 
dem Lehramte noch mit unermüdlichem Fleifle tätig ist, hat uns mit dem 
vorliegenden Werkchen eine Gabe beschert, für die ihm jeder Psychologe, 
insbesondere jeder Beligionspsychologe dankbar sein wird. Dafi wir die 
gewohnte Umsicht nnd Feinheit in der Behandlung seelischer Probleme 
auch in dieser neuesten Schrift des Eopenhagener Meisters wiederfinden, 
ist selbstverständlich. _ Friedrich Lipsins. 

Earl Höcker, Phänomenologie des religiösen Gefühles in Abderhaldens 
Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI, Methoden 
der experimentellen Psychologie, Teil B, Heft 2, Lieferung 111 (als 
Fortsetzung der Lieferungen 27, 66, 64), Berlin-Wien, Urban & 
Schwarzenberg, 1928. 

Simmelsche Gedanken in geistreicher Weise verwertend nnd weiterführend, 
hat Höcker das Wesentliche des religiösen Gefühls zn gewinnen versucht, 
indem er einerseits ein apriorisches konstitutives Prinzip der religiösen Ge¬ 
fühle heransarbeitet,' anderseits die Abgrenzung der religiösen' gegenüber 
den übrigen Gefühlen vomimmt dnrch das Entwickeln einer spezifisch 
religiösen Grundform. Diese Abhandlung ist wertvoll nicht nur wegen der 
Darbietung eines neuen Versuches, sondern anch wegen der geschickten, 
klaren Darstellnngsweise im allgemeinen wie im besonderen in der über¬ 
schauenden kritischen Einordnung der Geftthlstheorien in das Ganze. — 
Im einzelnen behandelt H. nach einer polemischen Einführung das Ge- 
fühlsproblem. Unter Ablehnung der intellektnalistischen Bichtnng (Ge¬ 
fühle als Wirkungen von Vorstellnngstätigkeiten) betont H., dafi dnrch 
Gründe einfacher Selbstbeobachtung die Gefühle Momente eines Ich-Znstands 



192 


Literatarberichte. 


sind and dafi eine sekundäre Herleitnng weder mSg'lich noch einlenchtend 
sei. Er verwendet zn seiner Beweisfdhmng; gfeg^en die entere Biehtnn^ n. a. 
Beispiele ans der Beligiosität Indiens, dann aber anch pathologische Angat* 
anst&nde; behauptet H., dafi hier die Angst unter Umständen — aB. beim 
Lampenfleber — an einen bestimmten Inhalt nicht ankniipfe, so nimmt er 
bei den ersten Erscheinungen an, dafi religiöse Gefühle nicht an einen be* 
stimmten Vorstellnngsgehalt gebunden sein müssen, sondern dafi die religiöse 
Gefühlswelt eine reine Znständlichkeit unseres Ichs ist. Für H. gilt 
diese religiöse Gefüblsznständlichkeit als formale Grundkategorie (S. 576). 
Die Abgrenzung der Gefühle geschieht so, dafi H. fragt, ob nach den 
bisherigen Theorien zur Gefühlsunterscheidnng sich für die religiösen Ge¬ 
fühle ein Spezifisches ergibt. Schrittweise behandelt er die einzelnen 
Möglichkeiten. Nie gelingt es, auf Grund solcher Unterscheidung die reli¬ 
giösen Gefühle von den anderen scharf abzugrenzen. Sie kOnnen sowohl 
Gefühle im engeren Sinne wie Affekte sein (Intensität), kOnnen Stimmungen 
sein wie vorübergehende Gefühle (Donner), sie stehen ferner mit dem quali¬ 
tativen Gegensatz von Lust und Unlust nicht allein da (anch auf andere 
qualitative Unterscheidnngstheorien geht H. ein); genau so führt die Unter¬ 
scheidung auf Grund des Erkenntnisinhalts nicht zu einem Charakteristikam. 
— Im 3. Kapitel entwickelt nun H. sein neues qualitatives Merk¬ 
mal, es ist die ungelöste Antinomie zwischen Endlichem und Unendlichem; 
es ist das den religiösen Gefühlen Spezifische, dafi sie nicht nur anfn 
Unendliche (wie ästhetische, logische, ethische Gefühle), sondern eben¬ 
sogut aufs Endliche gehen, das es sozusagen in seine Sphäre hinanf- 
hebt (S. 572). Im 4. Kapitel, benannt die Einheitsform der religiösen Gefühle, 
führt H. ans, dafi nach der Verabsolutierung der Gefühle in die Ebene der 
religiösen Znständlichkeit die sogenannten religiösen Gefühle ihrerseits volle 
Aktivität gewinnen, sie geben den Lebensinhalten unmittelbar Zusammen¬ 
hang, Wärme, Tiefe und Wert. Ja selbst der von ihnen gestaltete Gegen¬ 
stand kann die Führung des Lebens übernehmen, z. B. die Gottesvorstellnng. 
Erwähnt H. gegen Ende dieses Abschnitts die Evidenzfrage (»Dafi wir danemd 
in einem gefühlsmäfligen Verhältnis zn den Werten stehen, kann man aller¬ 
dings nicht beweisen; es ist eben eine letzte, nicht ableitbare Art den Er¬ 
lebens«) im Zusammenhang einer Polemik gegen entwicklnngsgeschichtlich 
orientierte Untersuchungen, so entwickelt er im Schlnfikapitel die Ver- 
wertnngs- oder Betätigungsform der religiösen Gefühle. Vor allem ist et 
hier geleitet durch die Entwicklung einer neuen Grundstellung in dem Sinn, 
dafi der Mensch den inneren Selbstwert eines religiösen Lebens erfasse und 
ibn an Stelle der transzendenten Inhalte setze. — Die in diesem Zusammen« 
hang gegebenen Gesichtspunkte sind — z. B. dem geschichtlich gewordenen 
Christentum gegenüber — so zurückhaltend und weise, dafi man dies unbedingt 
anerkennen mnfi. Und anch seiner Forderung an die Praxis, gerade das 
religiöse Gefühl frühzeitig zn wecken — abermals verknüpft mit Abweisung 
der Intellektualisten —, werden selbst diese znstimmen kOnnen, wenn sie 
anch die Bedeutung der Vorstellnngstätigkeit für die Gefühle in ihrem 
Sinne anfrechterhalten und gegen H.s Ausführungen im einzelnen Einwen¬ 
dungen machen werden. Trotzdem dürfte für die meisten diese Abhandlung 
gewinnbringend sein, da man gerade auf religiösem Gebiet immer anch die 
Gefühlswelt als Sondergebiet zn betrachten veranlafit sein wird. 

lic. th. D. A. Römer (Leipzig). 



AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. IN LEIPZIG 


Unlängst erschien: 

Die Dekadenz der Arbeit 

von 

Prof. Dr. Th. Svedberg 

Nach der 2. Auflage aus dem Schwedischen übersetzt von 

Dr. B. Finkelsteifi 

Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der 
Energie. Moleküle und Atome, Kolloide,' moderne Transmutationsversuche, 
flüssige Kristalle üsw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ¬ 
lichen und anziehenden Form dargestellt, für die die schwedischen Gelehrten 
eine besondere Gabe besitzen. 

Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem 
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen. 

Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.— 


Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prinzip erhalten, das mehr als 
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation 
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im 
Vordergründe des wissenschaftUchen Interesses stehenden Probleme dargelegt. . . . 

Das Werk gehört unbestreitbar zu den interessantesten und wertvollsten Erscheinungen. 
Die Ausstattung ist hervorragend, die Übersetzung ausgezeichnet. 

Prof. Quibier, Jena, in Chemikerzeitung. 


AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT m. b. H. IN LEIPZIG 
Soeben erschien: 

Die Formen der Wirklichkeit 

Vorträge, gehalten in der 
Kieler Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft 
zum 200. Geburtstage Kants 
von 

G. Martius und J. Wittmann 

chem. Prol. a. d. Univ. Kiel a. o. Prof. a. d. Univ. Kiel 

114 Seiten. Preis: Goidmark 5.— 

Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über 

Raum, Zeit und Wirklichkeit 

(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants) 

Der zweite Teil von G. MARTIUS über 

Die Kategorienlehre Kants 

ln diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich 
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten, 
in einfacher, klarer Form entwickelt. 






AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M;' 


Kritik des Idealism 


von 


Friedrich Jodl 

Bearbeitet und lierausgc^tben von 

Karl Siegel und W. Schmied-Kowandk 

Univer8itätsproks9or Pnvatdozent 

Preis brosch. Goldmark 6.—. geb. Goldmark 8.— 


Aus den Besprechungen: 

Man wird die Schrift gewiß nicht ohne starken Eindruck aus der 
legen, der ganz besonders auf Rechnung des SchluBkapitels zu stellen 
dürfte, in welchem Jodl sein Bekenntnis zum wahren ~ praktisebeo 
Idealismus im Gegensätze zum falschen — theoretischen — ablegt: 
Kapitel enthält im besten Sinne des Wortes sein philosophisches Testamcidi 

österreichische Rnadschen, Wimm. 

Das Buch ist mit überzeugungsstarkem Pathos und großer Darstelli 
kraft geschrieben. Man wird es darum mit Interesse und mit wirklic 
Gewinn lesen, auch wenn man im einzelnen seine Gedanken verwirft. 

Neue Jfidische Presse, Freakfatt, 

Ein neues Buch von Jodl muß das lebhafte Interesse jedes Moniftca 
erwecken. Es handelt sich hier um ein Werk, das Jodl nicht voliendcl« 
hatte und das nach seinem Ausspruch ein philosophisches Testament dai^ 
stellen sollte. Das Werk ist zur Einführung in die Grundprobieme dn 
Philosophie geeignet. In klarer und m. E alle Zweifel beseitigendv 
Weise wird mit dem Idealismus im Sinne des Platonismus und der Tltco> 
logie Abrechnung gehalten. Merken wir uns das schöne Wort Jodls In 
SchluBkapitel: „Sich der Natur gegenüberzustellen als ganzer Mensch, obw 
jeden Mittler außer dem eigenen mutigen Willen: im Erkennen Realist» » 
Handeln Idealist, das soll der Lebensgrundsatz des modernen Mens^eo' 
sein.“ MonUiische Monatshefte, HambntR. 

Aus dem Nachlaß Fr. Jodls ist eine „Kritik des Idealismus“ heraus 
gegeben. Wir stehen im Zeichen Nitzsches: Jodls Kritik gilt dem Idealisoras, 
dei es sich zu leicht macht und dem er — wie Nietzsche den Thueydidet- 
dem Plato — die unbcschönigte Wirklichkeit als den Stoff unseres sittlicbeö^ 
Handelns in hinreisender lapidarer Sprache entgegensetzt, ist der Versudl 
eines Liebhabers (ich wünsche das Wort „Dilettant“ durchaus zu venneidenX 
für sich und seinesgleichen aus den Materialien großer Systeme ein Haus » 
eigener Benutzung zu bauen. An solchen Versuchen soll man nicht mit den 
St ilz des vereidigten Professionellen vorübergehen. 

Lil. Jahresberichi de^ Dflrertttadc«.. 


Biichdruckerei von Robert Noske n Bornri-Lcipzit 




ARCHIV 




FÜR DIE 


fiESAHTE PSYCHOLOGIE 


BEGRÜNDET VON E. MEUMANN 


UNTER MITWIRKUNG 


N. ACH, E. BECHER, H. HÖFFDING. F. KIESOW, 
A. KIRSCHMANN, 0. KLEMM. E. KRAEPELLN, 

F, KRÜEGER, G. MARTIUS, A. MESSER, 

G. STÖRRING, J. WITTMANN 


HERAUSGEOEBEN VON 


W. WIRTH 


XLVllI. BAND, 3. u. 4. HEFT 


MIT 2 TEXTF1QURF.N 



LEIPZIG 

AKADEMISCHE VERLAGSnE.SELLS< IlAl T M B H. 


hin B’. Atüt.'! 





Inhalt des 3. n. 4. Heftes. 

Salt« 

Gustav Kafka, Zum Begriff des »Psychischen« und seiner Entwicklungs¬ 
geschichte .193 

Doba Lüdbke, Experimentelle Untersuchungen über das unmittelbare Be¬ 
halten mit besonderer Berücksichtigung der Prozesse der Aufmerk¬ 
samkeit und des Wiedererkennens. 213 

J. Lindwobskt, Revision einer Relationstheorie.248 

Armin Müllsr, Das Individualitätsproblem und die Subordination der Organe 290 
Herbbbt Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung und ihre Be- 

ziehnng zur Ethik seit Kant ..382 

Anna Lentz, Experimentelle Untersuchungen Über die Bedeutung von 
Amgenbewegungsempfindungen für die Schätzung des räumlichen 

Charakters von Bewegungsgröfien., 428 

R. Pauli und A, Wbnzl, Über Parbenempfindungen bei intermittierendem 

farblosem Lichte. Mit 2 Figuren im Text.470 

Literaturberichte. Referate.485 

Religionspsychologisohe Literatur (Nachlese). (A. Bomer) .48ö 

Wilhelm Wundt, Eine Würdigung. (Eanns Hemnann) .488 

A. WoHLQEMOTH, A Cfitical Examination of 'Psycho-Analysis. 

(Möllenhoff) . 491 

Karl Hansen, Zur pathologischen Physiologie der Ataxie. (BT. Triepd) 491 

Obdinans, Die W^elt als Subjekt-Objekt. (Aloy$ MÜÜer) .492 

Max Wertheimeb, Über ^chlufiprozezse im produktiven Denken. 

(Aloys Müller) .49^1 

Benno Erdmann, Logik, Logische Elementarlehre. (Aloys Müller) 493 

Emil Lask, Gesammelte Schriften. (Aloys Müller) .494 

Ebwin Loewy-Hattendobp, Krieg, Revolntion und Unfallnenroseu. 

(S. Fischer) .495 

Eduard Hitschmann, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters seiner 

Gestalten und Motive. (S. Fischer) .. . 49t» 

Robert Qaüpp, Das sexuelle Problem vom psychologischen Standpunkt. 

(S, Fischef) . 490 

Placzek, Das Geschlechtsleben des Menschen. (S. Fischer) .... 496 
Theodor Friedrichs, Zur Psychologie der Hypnose und Suggestion (mit 
einem Vorwort von Arthur Kronfeld), (S. Fischer) . ..... 497 

EN(iF.LEN und Ranoette, Neue Forschungswege bei traumatischen 

Neurosen. (S. Fischer) .49" 

Adalbert Gregor und Else Votgtländer, Charakter Struktur verwahr¬ 
loster Kinder und Jugendlicher. (S, Fisdier) .497 

E. R. Myklem, Miracles and the new Psychology. (Max Dessoir) ... 498 
A. Kl TOT et M. Schaeker, Le mecaiiisme de la Snrvie. (Max Dessoir] 498 
Eugi':ne Osty, La connaissance supranormale. {Max Dessoir) , ... 499 
Kahl Hermann Schmidt, Die okkulten Phänomene irn Lichte der Wis-sen- 

sehaft. {Max Desaoir) . 499 

0. Seltz, Oswald Spengler und die intuitive Metliode in der Geschichts- 
for.schnng. {(jitj.O . .560 
























Zum Begriff des »Psychischen« und seiner 
Entwicklungsgeschichte. 

Von 

GustaT Kafka (Dresden). 

Jeder Versuch, die Einführung in eine Wissenschaft mit der 
begrifflichen Bestimmung ihres Gegenstandes zu beginnen, leidet 
an der Schwierigkeit, daß er die im Fortgang der Untersuchung 
zu leistende Arbeit als bereits geleistet voraussetzt, weil der 
€iegenstand ja gar nicht anders zureichend bestimmt werden 
kann als durch die Angabe seiner wesentlichen Merkmale, deren 
Kenntnis sich erst mit dem Fortschreiten der Wissenschaft ent¬ 
hüllt. Jene Schwierigkeit erleichtert sich für die Naturwissen¬ 
schaften insofern, als sie ron gewissen Begriffen des täglichen 
Lebens ausgehen können, die trotz ihrer verhältnismäßigen Un¬ 
bestimmtheit bereits zu Anfang eine hinlängliche Verständigung 
ermöglichen und nur einer schärferen Zuspitzung bedürfen, um 
eine Sonderung der wesentlichen von den unwesentlichen Merk¬ 
malen zu gestatten. Auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften 
sind dagegen gerade die Grundbegriffe so verschwommen und 
vieldeutig, daß sie nicht nur keinen verläßlichen Ausgangspunkt 
bieten, sondern im Gegenteil je nach der Deutung, die ihnen 
gegeben wird, dem ferneren Gange der Untersuchung bereits 
auf weite Strecken hinaus seine Richtung vorschreiben. Diese 
Gefahr wird in der Psychologie noch dadurch erhöht, daß eine 
Bestimmung ihres Gegenstandes ohne gewisse metaphysische 
und erkenntnistheoretische Voraussetzungen überhaupt nicht 
durchführbar zu sein scheint, und es ist schon ein Vorteil, wenn 
jene Voraussetzungen nicht stillschweigend eingeschmuggelt, 
sondern im vomhinein nachdrücklich und unmißverständlich als 
solche angezeigt werden. Indessen entstehen auf diesem Wege 
ebensoviele Psychologien, als es metaphysische und erkenntnis¬ 
theoretische Theorien über das Wesen der Seele und des Seelischen 
gibt, und gerade in der Deutung der Grundbegriffe treten die 

Atohir fllr Piyohologie. XLVm. 18 



194 


Gastav Kafka, 


yerscbiedenen Darstellungen der Psychologie, so sehr sie sich 
insgesamt auf eine Bestätigung durch die »Erfahrung« berufen^ 
zueinander in schroffsten Gegensatz. Ist also einerseits eine 
gewisse Festsetzung der Grundbegriffe unentbehrlich und hängt 
diese Festsetzung mit gewissen metaphysischen und erkenntnis* 
theoretischen Voraussetzungen aufs engste zusammen, soll sie 
aber andererseits nicht durchaus dem subjektiven Ermessen des 
einzelnen überlassen bleiben, so scheint sich nur ein Weg za 
bieten, um zu einer wenigstens vorläufigen Verständigung über 
den Gegenstand der Psychologie zu gelangen: nicht im vorhinein 
einen Versuch zur Wesensbestimmung des Seelischen zu unter¬ 
nehmen, der ohne vorhergehende Kenntnis der seelischen Tat¬ 
sachen seine Gattungs- und Artbegriffe doch nur aus Metaphysik 
und Erkenntnistheorie oder aus einer angeblich unmittelbaren 
Einsicht in das »Wesen« der Seele schöpfen könnte, sondern 
sich zunächst auf eine Aufzählung der Erscheinungen zu be¬ 
schränken, die im weitesten Sinne des Wortes als »seelisch« be¬ 
zeichnet zu werden pfiegen; also, in der Sprache der Logik 
ausgedrückt: zuerst nicht den Inhalt, sondern den Umfang des 
Begriffes der seelischen Erscheinungen zu bestimmen. Nicht 
eine — und noch viel weniger eine »einzig richtige« — Defi¬ 
nition des Seelischen soll also im folgenden zugrunde gelegt^ 
sondern nur ein möglichst vollständiger Überblick über die Ge¬ 
samtheit der Tatsachen angestrebt werden, die als seelische 
gelten, ohne daß dieser Sprachgebrauch zunächst auf seine Be¬ 
rechtigung geprüft werden soll. Wenn dabei der Ausdruck 
»psychisch« als gleichbedeutend mit »seelisch« verwendet wird, 
so soll darin nicht nur eine Anpassung an die gebräuchliche 
wissenschaftliche Terminologie, sondern auch die Absicht zum 
Ausdrucke kommen, eine neuerdings von verschiedenen Seiten 
eingeführte Unterscheidung zwischen »Seele«, »Geist«, »Psyche« 
vorläufig außer Betracht zu lassen. 

Bei einem solchen Versuche, das Anwendungsgebiet der Be¬ 
griffe »seelisch« oder »psychisch« in weitestem Sinne zu be¬ 
stimmen, liegt es nahe, auf ein Hilfsmittel zurückzugreifen, das 
den Geisteswissenschaften bei der Feststellung des Geltungs¬ 
bereiches ihrer Grundbegriffe bisweilen gute Dienste leistet: 
einer etymologischen Analyse der Wortbedeutungen. Der Er¬ 
folg dieses Verfahrens ist jedoch im vorliegenden Fall ein be¬ 
schränkter: in den germanischen Sprachen ist die Etymologie 
des Wortes »Seele« noch nicht ganz geklärt, im Latino- 
Romanischen und im Griechischen bedeutet animus oder anima 



Zorn Begrifi des »Psychischen« und seiner Entwicklnngsgeschicbte. 195 

und yjvxn ursprünglich soviel wie »Hauch«, in besonderer Zu¬ 
spitzung auf primitive »animistische« Erklärungsversuche den 
Lebenshanch, also den menschlichen Atem als Lebensprinzip. 
Der Begriff der Seele scheint somit ursprünglich durchaus körper¬ 
lich-materialistisch gedacht zu sein und keinerlei Handhabe zur 
Deutung des Begi'iffes geistiger Erscheinungen zu bieten. In¬ 
dessen wäre es verfehlt, jene primitive Auffassung vom Wesen 
der Seele, wie sie sich in dem Niederschlag der Bedeutungs- 
entwicklung kundgibt, als eine schlechthin materialistische zu 
betrachten: die Gegenüberstellung von Materialismus und Spiri¬ 
tualismus, also von Körper und Geist oder Seele, gehört erst 
einer späteren Phase des Denkens an. Ursprünglich ist viel¬ 
mehr alles Denken — wenn man nur den Begriff weit genug 
und nicht mit einer von der neueren Anthropologie eingeführten 
Einschränkung faßt — durchaus animistisch, d. h. es unter¬ 
scheidet überhaupt nicht zwischen körperlichen und geistigen 
Ursachen des Geschehens, wenn es alle Ereignisse als Wirkungen 
»Seelen«-artiger Ursachen deutet. Die Unterscheidung, die der 
Primitive zwischen der belebenden und wirkenden Seele und 
dem an sich unbelebten, bloß durch die Seele zum Wirken be¬ 
fähigten Körper trifft, hat also mit der Unterscheidung zwischen 
Psychischem und Physischem im modernen Sinne nichts als den 
Namen des Psychischen gemein. Die »Seele« denkt er sich 
— soweit er überhaupt über ihr »Wesen« nachdenkt — auch 
als einen »Körper«, als einen möglichst feinen Stoff, die »Körper« 
hingegen, soweit sie irgendwelche Veränderungen erleiden — und 
nur so weit reicht im allgemeinen sein Interesse an ihnen —, 
als bewegt durch »seelische« Kräfte. In dieser animistischen 
Allbeseelung der Natur liegt aber zugleich der erste Hinweis 
auf die ursprünglichste Bedeutung des im eigentlichen Sinne 
»Psychischen«. Der primitive Begriff der »Psyche« enthält, wie 
alle primitiven Begriffe, trotz der Unklarheit, die ihm, an 
modernen Begriffen gemessen, anhaftet, bereits eine Theorie, ja im 
Grunde die Theorie des primitiven Denkens. Für den Primi¬ 
tiven — schließlich ja auch noch für den Kulturmenschen — 
ist alles Neue, alles »Andere« feindlich und furchterregend. Er 
sucht sich mit ihm zunächst körperlich, durch Angriff, Abwehr 
oder Flucht, auseinanderzusetzen. Allmählich entwickelt sich 
aber auch das Bedürfnis, sich mit dem Neuen und Anderen 
geistig auseinanderzusetzen, es dadurch zu bewältigen, daß man 
es »erklärt«, das Unbekannte zu einem Bekannten, das »Andere« 
zu einem »Selben« macht. Als solches »Andere« wirkt jedoch 

18 * 



196 


Gustav Kafka, 


schon jede Veränderung, und von diesem Standpunkt ans leuchtet 
es unmittelbar ein, daß nicht Beharren, sondern Veränderung, 
nicht Zustände, sondern Ereignisse den ersten Gegenstand des 
Erklärungsbedftrfnisses bilden. Diese Eh'klämng findet aber der 
primitive Animismus ausschließlich darin, daß er jedes Ereignis 
als Tätigkeit deutet; für den Primitiven — so könnte man 
es geradezu ausdrttcken — »geschieht« nichts in der Welt, 
sondern alles wird »getan«, und das heißt wiederum nichts 
anderes, als daß jeder Naturvorgang — das Wehen des Windes, 
das Fließen des Stromes, das Wogen des Meeres, das Auf- und 
Absteigen der Gestirne — nur so weit verständlich erscheint, 
als mit seinem körperlichen Träger irgend ein »Geist«, eine 
»Seele« verbunden gedacht wird, die jenen Vorgang in derselben 
Weise bewirkt, wie die Seele des Menschen sein Tun bestimmt 
Dieser Gedankengang zeigt einmal, daß sich die Bedeutung des 
Seelenbegriffes ursprünglich in der eines Bewegungsprinzipes er¬ 
schöpft^); er zeigt aber zugleich, daß die »Seele« und das »Tun« 
des Menschen, gerade weil sie die Grundlage aller Erklärungen 
bilden, selbst als das Bekannteste und keinerlei Erklärung Be¬ 
dürftige erscheinen müssen. Das also, was bereits auf dieser 
primitiven Denkstnfe als wesentliches Merkmal des Pqrchischen 
zutage tritt, ist, wie man in moderner Ausdrucksweise, aber 
freilich ohne jede erkenntnistheoretische Nebenbedeutung sagen 
dürfte, sein Aktcharakter. Tätigkeit im Sinne einer senso- 
motorischen Willenshandlung, jenes eigentümliche Erlebnis eines 
aus Vorstellungen und Gefühlen entspiingenden, in eine äußere 
Bewegung mündenden Strebens, das einzige Erlebnis, in dem wir 
Aktivität unmittelbar zu erfassen und das wir nur in unserer 
»Seele« zu erfassen vermögen, ist also das ursprünglich g^nd* 
legende Merkmal alles Psychischen. 

Fällt hier der Begriff des Psychischen mit dem Begriff der 
Tätigkeit zusammen, so liegt darin doch ein Weiteres eing^e- 
schlossen. Der Begriff einer reinen Tätigkeit, die kein tätiges 
Subjekt als ihren »Träger« voraussetzen würde, ist zweifellos 
erst ein spätes Erzeugnis der metaphysischen Spekulation (selbst 
der Aristotelisch-scholastische Begriff des actus purus bedeutet 
im Grunde ein agens purus, d. h. einen von jeder materiellen 
Beimischung freien Träger der Tätigkeit), und die Impersonal- 

1) In dieselbe Richtnng' wOrde übrigens nach die Etymologie des germ. 
»Seele«, got. »saiw&la« weisen; wenn anch die frühere Annahme einer Ver¬ 
wandtschaft mit der bewegten »See« heute anfgegeben ist, so befestigt 
sich dafür die Überzengnng eines Zusammenhanges mit dem griechischen olbJloc, 



Zum Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgeschichte. 197 

s&tze der Logik, deren typische Beispiele fast ausschließlich dem 
Bereiche der Naturerscheinungen entnommen sind, wie: es regnet, 
donnert, blitzt usw., lassen sich keinesfalls als Ausdruck einer 
solchen Theorie verwerten, sondern eher noch vielleicht auf eine 
tabnistische Scheu vor der Namensnennung der »Geister« zurück- 
führen, die jene Erscheinungen bewirken. Schon der primitive 
Begriff des Psychischen enthält somit zwei Bestandstflcke; neben 
dem Begriff der Tätigkeit den Begriff des Tätigen, neben dem 
Begriff des psychischen Aktes den Begriff des psychischen Sub¬ 
jektes, während das Objekt der psychischen Tätigkeit vor¬ 
läufig noch nicht in die Sphäre des Psychischen anfgenommen 
erscheint, außer sofern es eine Gegenwirkung ausübt, also selbst 
wieder als tätig gedacht wird. Dabei darf jedoch die Vorweg¬ 
nahme der modernen Ausdrücke »Akt« und »Subjekt« nicht 
darüber hinwegtänschen, daß der primitive Begriff des Psychischen 
auch noch Merkmale einschließt, die der moderne Begriff aus 
dessen Inhalt ausgeschaltet hat; es muß vielmehr daran fest¬ 
gehalten werden, daß in die Begriffe des psychischen Aktes und 
Subjektes auf dieser Denkstufe auch noch Bestimmungen mit 
einfließen, welche erst im Laufe der späteren Entwicklung als 
»physische« aus dem Bereich des Psychischen ausgeschieden 
werden. Wie vielmehr der Begriff der psychischen Tätigkeit 
zunächst sowohl das »innere« Streben wie die »äußere« Be¬ 
wegung in sich begreift, so umfaßt auch der Begriff des psy¬ 
chischen Subjektes, der Seele, des Ich oder wie immer man es 
bezeichnen will, ursprünglich auch noch den Körper. Ursprüng¬ 
lich besteht kein Gegensatz zwischen Psychischem und Phy¬ 
sischem, sondern nur ein Gegensatz zwischen Aktivem und 
Passivem, und der Begriff des Aktiven enthält zwar bereits 
wesentliche Merkmale des späteren Begriffes des Psychischen, 
aber noch in unterschiedsloser Vermengung mit Merkmalen, die 
später als physische aus seinem Inhalt ausgeschieden werden. 

Diese Entwicklung knüpft nun, soweit sich übersehen läßt, 
in erster Linie an die Fortbildung des Seelenbegriffes an, deren 
Phasen hier natürlich nicht im einzelnen verfolgt werden sollen, 
deren wichtigste Etappe aber in der Unterscheidung einer Lebens¬ 
und einer Bildseele zu bestehen scheint. Der Unterschied 
zwischen Leben und Tod, die Wiederkehr der Verstorbenen im 
Traum oder in Spukphantasmen, Entrückungszustände und ver¬ 
wandte Erscheinungen rufen die Überzeugung wach, daß die 
scheinbare Einheit des lebenden Organismus auf einer geheimnis¬ 
vollen Zweiheit von Körper und Seele beruhe und daß sich die 



198 


Gastar Kafka, 


Seele durch ihre Ungreifbarkeit wesentlich von dem greifbaren 
Körper unterscheiden müsse. Hier liegt die Wurzel sowohl des 
Glaubens an die Immaterialität der Seele und des Seelischen 
wie der Trennung spezifisch geistiger von spezifisch körperlichen 
Funktionen, — freilich nur die Wurzel, denn einerseits muß auch 
die Lebensseele wegen ihrer körperlichen Wirkungen noch als 
materiell gedacht werden, andererseits scheint die Bildseele nicht 
nur körperliche Bedürfnisse zu besitzen, sondern auch zauber¬ 
hafte körperliche Wirkungen auszuüben. 

Der endgültige Bedeutungswandel des Seelenbegriffes bahnt 
sich vielmehr erst auf Grund von Überlegungen an, die im 
wesentlichen nicht mehr naturphilosophischen, sondern erkennt¬ 
nistheoretischen Charakter tragen. Solche Überlegungen über¬ 
steigen allerdings den Gesichtskreis der primitiven Kultur and 
scheinen sich daher überall erst auf einer verhältnismäßig hohen 
Stufe des abstrakten Denkens durchzusetzen. Die Erreichung 
dieser Stufe ist aber zugleich an einen grundlegenden Wandel 
der ganzen geistigen Einstellung geknüpft. Die Einstellung des 
Primitiven ist im wesentlichen »reaktiv«, d. h. er betrachtet 
seine Umgebung nur unter dem Gesichtspunkt, was er mit ihr 
und was sie mit ihm »tun« könne, wie es der animistischen Geistes¬ 
verfassung durchaus entspricht. Nunmehr aber tritt an die Stelle 
der Frage: »Wer tut das?« die Frage: »Was ist das?« Das 
Interesse beschränkt sich nicht mehr auf Ereignisse und Tätig¬ 
keiten, sondern dehnt sich auf Zustände und Eigenschaften der 
Umgebung aus, es richtet sich von dem — unmittelbar erlebten 
oder mittelbar in das Objekt eingelegten — Subjekt auf das 
Objekt schlechthin. So tritt neben die Kategorie einer primi¬ 
tiven, weil psychistisch gedachten Kausalität die Kategorie einer 
freilich auch noch ganz primitiv gefaßten Substanzialität Die 
Hinwendung auf das Objekt, welche das allgemeine Merkmal 
dieser Entwicklungsphase bildet, wirkt im besonderen dahin, die 
psychologische Betrachtungsweise nunmehr von dem Subjekte 
und seinen Akten auf die Eigenart psychischer Objekte zu 
lenken. 

Soweit sich überhaupt eine allgemeine Entwicklnngslinie des 
menschlichen Denkens verfolgen läßt, scheinen es vornehmlich 
zwei Tatsachengruppen zu sein, an denen die Eigenart der 
psychischen Objekte zunächst die Aufmerksamkeit auf sich zieht: 
die Erscheinungen der Halluzinationen und Hlusionen und die 
der »Sinnestäuschungen« im weitesten Sinne des Wortes. Als 
ein Eigenartiges, ein Besonderes, ein Neues, ein »Anderes« er- 



Zorn Begriff des »Psychischen« nnd seiner Entwicklnngsgeschichte. 199 

scheinen sie aber gerade deshalb, weil sie auf der animistischen 
Stnfe noch keine oder nur eine solche »Erklärung« gefunden 
haben, die in der neuen Phase des Denkens nicht mehr als be> 
friedigend anerkannt wird. Zwischen HaUnzination nnd Wahr¬ 
nehmung trifft der Primitive überhaupt keine Unterscheidung, 
weil ein Gegensatz zwischen »Schein« und »Wirklichkeit« für 
ihn nicht besteht; auf Sinnestäuschungen wird er, gerade weil 
die Wahrnehmung auf »Dingkomplexe« abzielt und deshalb die 
empfindungsmäßigen Unterschiede der einzelnen Komplexelemente 
zurücktreten läßt, nur in vereinzelten Fällen aufmerksam, die 
er durch Zurfickfflhrung auf einen »Zauber« hinlänglich zu er¬ 
klären glaubt. Mit der Beobachtung jener Erscheinungen und 
den Versuchen, ihre »Erklärung« zu vertiefen, hebt also die 
neue, auf das Objekt gerichtete und daher im wesentlichen 
erkenntnistheoretische Phase des Denkens an, und ihre Geburts¬ 
stunde wird durch die nunmehr zum erstenmal auftauchende 
Unterscheidung zwischen Schein und Wirklichkeit gekenn¬ 
zeichnet. Diese Unterscheidung tritt zugleich neben oder sogar 
an die Stelle der Unterscheidung von Aktivität und Passivität 
als der Trennungsmerkmale des Psychischen vom Physischen. 
Denn die zunächst nur negative Abgrenzung des Scheines von 
der Wirklichkeit läßt sich nur so weit begründen, als die schein¬ 
haften Objekte von den wirklichen durch ein positives Merkmal 
unterschieden werden, und dieser Unterschied wird von vorn¬ 
herein auf das Verhältnis der Objekte zum Subjekt zurück¬ 
geführt : Objekte, deren Dasein nnd Sosein von der Auffassungs¬ 
tätigkeit des Subjektes abhängig ist, gelten als »bloßer Schein«, 
Objekte, die an sich nnd unabhängig vom Subjekte sind und 
bleiben, was sie sind, gelten als »wirklich«. Die ganze spätere 
Erkenntnistheorie ist im Grunde nur eine immer weiter ge¬ 
triebene Verfeinerung des Begriffes der »Abhängigkeit der Ob¬ 
jekte vom Subjekt«, nnd wenn dieser Begriff auch allmählich 
immer mehr die Bedentnngsgleichheit mit dem Begriff des »bloßen 
Scheines« verliert, bleibt er doch von da ab der grundlegende 
Gattungsbegriff für alle Arten psychischer Objekte. 

Soll jene Entwicklung im folgenden fiüchtig Umrissen werden, 
so ist daran festzuhalten, daß ursprünglich der Begriff des psy¬ 
chischen Objektes einerseits mit dem Begriff des bloß Schein¬ 
haften zusammenfällt, andererseits einen Korrelatbegriff darstellt, 
der seine Bedeutung nur durch die Hinzunahme des Begriffes 
eines psychischen Subjektes erhält: nichts kann schlechthin 
»scheinen«, ohne »jemandem« zu scheinen. Der Begriff dieses 



200 


GoBtav Kafka, 


psychischen Subjektes selbst bleibt dabei zunächst ebenfalls noch 
ganz unklar und verschwommen, ja man dürfte nicht einmal 
ohne weiteres behaupten, dafi er mit dem im früheren ent¬ 
wickelten Begriff der »Seele« schlechterdings znsammenfiele. 
Wohl aber drängt umgekehrt die Entwicklung des Seelenbegriffes 
dazu, die bloße Scheinhaftigkeit der psychischen Objekte zu 
unterstreichen, denn der Begriff der Bildseele stammt, wie ge¬ 
zeigt wurde, in erster Linie von phantastischen, traumhaften 
oder hallnzinatorischen Erscheinungen und ist daher in beson¬ 
derem Maße geeignet, eine Wesensverwandtschaft des psychischen 
Subjektes mit seinen Objekten nahezulegen. Deskriptiv zeigen 
sich nun alle jene »Scheinobjekte« der »Wirklichkeit« gegen¬ 
über als mit einer gewissen Minderwertigkeit behaftet, und zwar 
in qualitativer Hinsicht, sofern die Phantasmen im allgemeinen 
eine geringere Stärke, Klarheit und Beständigkeit besitzen als 
die Wahrnehmungen »wirklicher« Objekte, in quantitativer Hin¬ 
sicht, sofern die sich unmittelbar aufdrängenden »Sinnestäu¬ 
schungen« den Fällen der »richtigen« Wahrnehmung gegenüber 
in der Minderzahl bleiben. 

Mit der Scheidung von Schein und Wirklichkeit hängt aber 
aufs engste eine Erweiterung und Differenzierung des Begriffes 
psychischer Akte zusammen. Sie gründet darin, daß in der Be¬ 
ziehung des psychischen Objektes zum Subjekt zugleich eine 
Rückbeziehung des Subjektes auf das Objekt eingeschlossen liegt. 
Der Begriff dieser Rückbeziehung bleibt dabei zunächst wiederum 
ungeklärt und, wie vorweggenommen werden darf, letzten Endes 
überhaupt »unerklärbar«, da er eben eine einzigartige, nicht auf 
Anderes, Bekannteres zurückführbare Beziehung enthält Wenn 
aber der Begriff des psychischen Subjektes nur als Korrelat¬ 
begriff zum Begriff der unmittelbar erlebten psychischen Tätig^- 
keiten entstanden ist, kann sich auch die Beziehung des Sub¬ 
jektes zum Objekt nur als eine Tätigkeit, als ein »Akt« eigener 
Art darstellen. Der Begriff des psychischen Aktes erweitert 
sich also dahin, daß er nicht mehr bloß die im Willensakt un¬ 
mittelbar erlebte Tätigkeit umfaßt, die ursprünglich seinen aus¬ 
schließlichen Inhalt ansmachte, sondern sich nunmehr auch auf 
»Akte« ausdehnt, die nichts mehr von jenem willensmäßigen 
Element des Strebens an sich tragen. Eis besteht also, zumindest 
entwicklnngsgeschichtlich, ein wesentlicher Unterschied zwischen 
den Begriffen der willensmäßigen und der erkenntnismäßigen 
»Akte«: der Willensakt gilt von sich ans und ursprünglich als 
ein Psychisches und richtet sich auf ein nicht oder nur ein- 



Zam Begriff des »Psjchischen« und seiner Sntwicklnngsgesehichte. 201 


gefühlt psychisches Objekt; der Erkenntnisakt hingegen wird in 
den Bereich des Psychischen erst dann aufgenommen, sobald 
sich die Überzeugnng von der psychischen Natnr gewisser Ob¬ 
jekte durchgesetzt hat, anf die er sich richtet Die Einsicht, 
daß es überhaupt Erkenntnisakte gibt, entsteht also nicht ans 
einem unmittelbaren Erlebnis, sondern mittelbar ans der Ein¬ 
sicht, daß neben Objekten, auf die sich eine willensm&ßige Tätig¬ 
keit richtet und die, wie es sich in rflckschanender Betrachtung 
darstellt, alle als >wirklich< gewertet wurden, auch Scheinobjekte 
zu finden sind. Man könnte diese Tatsache geradezu in der 
Form anssprechen, daß sich der Begriff der Erkenntnis erst an 
und mit dem Begriff der Täuschung entwickle. Indessen gilt 
die genetische Abhängigkeit des Aktbegriffes der Erkenntnis 
von ihrem Objektbegiiff gewissermaßen nur in statu nascendi: 
sobald sich vielmehr der Begriff des Erkenntnisaktes überhaupt 
gebildet hat, behält zwar der Erkenntnis a kt seine Charakteristik 
als psychische Tätigkeit, das Objekt der psychischen Erkennt¬ 
nisakte dehnt sich aber alsbald über den Umkreis der »nur 
psychiscben< Objekte aus und umfaßt auch zugleich die »wirk¬ 
lichen« Objekte. Denn wenn gerade die Scheinhaftigkeit, d. h. 
die qualitative und quantitative Unbeständigkeit gewisser Er¬ 
scheinungen den ursprünglichen Anlaß zur Anerkennung der 
Eigenart p^chischer Objekte bildete, so können solche Einzel- 
fälle dennoch nicht die unmittelbare Überzeugung von der Be¬ 
ständigkeit der übrigen Erkenntnisobjekte erschüttern, die gerade 
wegen ihrer Beharrlichkeit den Charakter der >Wirklichkeit< 
im Gegensatz zum »bloßen Schein« tragen. Aber selbst wenn 
der Begriff des psychischen Objektes im Laufe der Entwicklung 
den Charakter des bloßen Scheines abstreift, behält er doch 
immer das Merkmal der Abhängigkeit vom Subjekt bei, während 
sich der Charakter der »Wirklichkeit« schließlich immer 
wieder negativ durch das Merkmal der Unabhängigkeit vom 
Subjekte bestimmt Solange also an der Erkennbarkeit von 
»Dingen an sich« festgehalten wird, ergibt sich die Notwendig¬ 
keit, neben einer anf »nur psychische« Objekte gerichteten Er¬ 
kenntnisart auch noch eine auf »Dinge an sich« gerichtete Er¬ 
kenntnisart gelten zu lassen, und im Grunde besteht das Ziel 
aller Erkenntnistheorie darin, das Verhältnis dieser beiden Er¬ 
kenntnisarten zu einander festzustellen und sie miteinander in Ver¬ 
bindung zu bringen. Indessen kann uns die Geschichte der Er¬ 
kenntnistheorie hier, nicht weiter beschäftigen; wir müssen uns 
vielmehr auf die Konstatierung beschränken, daß der Unter- 



202 


Gustav Kafka, 


schied zwischen zwei Erkenntnisarten — die wir, um uns auf 
keine Theorie festzulegen, nur ganz allgemein dahin charak¬ 
terisieren können, daß die Objekte der einen nur für ein Subjekt, 
die der auderen nicht nur für ein Subjekt >da sind« — gleich 
im Beginn aller Erkenntnistheorie auftritt. Da jedoch über die 
rein psychische Natur beider Arten von Erkenntnisakten kein 
Zweifel bestehen kann, erfolgt die Weiterbildung des Begriffes 
des Psychischen vorwiegend im Anschluß an den Begriff des 
psychischen Objektes. 

Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist, wie gesagt, jene Stufe 
des Denkens, in welcher der Begriff des psychischen Objektes 
mit dem des »bloßen Scheines« zusammenfällt. Immerhin: auch 
die Scheinobjekte sind in irgendeiner Weise »da«, und wie alle 
Erkenntnistheorie mit dem Dualismus von Erkenntnis und Täu¬ 
schung, so hebt alle Ontologie mit dem Dualismus vou Wirklich¬ 
keit und Schein an. Dabei kann naturgemäß der Begriff des 
>Da Seins« schon nicht mehr schlechterdings mit dem Begriff 
der »Wirklichkeit« zusammenfallen; das »Da Sein« spaltet sich 
vielmehr von Anfang an in zwei Seinsarten, das »Für sich Sein« 
oder die Wirklichkeit im eigentlichen Sinne und das »Für ein 
Subjekt Sein«, das freilich, solange es als bloßer Schein bewertet 
wird, der »eigentlichen« Wirklichkeit gegenüber als »nicht wirk¬ 
lich« gilt, aber schließlich doch auch als eine Realität, wenn 
auch zuuächst bloß mindereu Grades, anerkannt werden muß. 

In dieser Auffassung der psychischen Objekte als minder¬ 
wertiger Realitäten bleibt im Grunde die ganze antike Philo¬ 
sophie stecken. Zwar scheint es, als ob gleich zu Beginn die 
beiden radikalsten Lösungsversuche des ontologischen Problems 
aufträten. Denn von Heraklit wird alles, was für ein Subjekt 
da ist, also alle psychischen Objekte, für »Wirklichkeit«, von 
den Eleaten schlechterdings für »unwirklich«, »nicht seiend« 
erklärt, aber der Herakliteische Logos ist als für sich Seiendes 
doch das eigentlich Wirkliche, während umgekehrt Parmenides 
eine Physik des »Nicht-Seienden« verfaßt. Auch Platon nähert 
sich einem solchen Dualismus im Laufe seiner Entwicklung immer 
mehr au: die Realität der psychischen Objekte wird — wenn 
wir nur den Begriff der Realität weit genug fassen — nicht 
geradezu geleugnet, aber nur als eine Realität zweiter Ordnung 
gegenüber der »wirklichen« Realität, dem »seiend Seienden« 
(dvicu? dv) anerkannt und streift darum den Charakter der bloßen 
Scheinhaftigkeit nirgends ausdrücklich ab. Wenn Aristoteles 
demgegenüber zu einem Monismus des Seins zurückkehrt und 



Zum Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgeschichte. 203 

nur eine einzige Wirklichkeit gelten lassen will, so tritt er da¬ 
mit freilich dem Dogma von der bloßen Scheinhaftigkeit der 
psychischen Objekte entgegen, aber nicht, ohne die Eigenart des 
psychischen »Da Seins« zu verwischen; denn er verliert, wie 
alle Vertreter einer »realistischen« Erkenntnistheorie, die Mög¬ 
lichkeit einer zureichenden Abgrenzung der psychischen und der 
»realen« Objekte, und wenn er an dem ursprünglichen Merkmal 
des Psychischen, seiner Abhängigkeit vom Subjekte, festhält, 
daneben aber die Bestimmung trifft, daß die realen Objekte »zu¬ 
gleich« psychische Objekte sind, »sofern« sich ein Erkenntnis¬ 
akt des Subjektes auf sie richtet, so bleibt einerseits die Frage 
offen, »inwiefern« sich eben ein Akt des Subjektes auf reale, 
also von ihm unabhängige Objekte erstrecken könne, anderer¬ 
seits nur eine physiologisch-genetische Deutung des »Da Seins« 
bloßer Scheinobjekte übrig, für deren ganz andersartige, weil 
eben bloß psychische Eealität kein Platz mehr offen ist. Da¬ 
her gehören auch die Unterscheidungen, die Aristoteles zwischen 
Inhalt, Akt und Gegenstand der Erkenntnis trifft, zu den un¬ 
klarsten Kapiteln seiner Psychologie. 

Eine verhältnismäßig schärfere Grenze zwischen psychischer 
and »eigentlicher« Wirklichkeit zieht — freilich gerade nur auf 
Grund einer mangelhaften enkenntnistheoretischen Konsequenz — 
die atomistische Philosophie, deren Lösnngsversuch daher auch 
in der Folgezeit die meiste Verbreitung gefunden hat: was tast¬ 
bar ist, ist »eigentlich« wirklich [hefj öv), besitzt also Wirklich¬ 
keit »an sich«; was mit den übrigen Sinnen wahrgenommen wird, 
beruht nur auf »Übereinkommen«, das wahrgenommene Objekt 
hat also Bealität nur für das wahmehmende Subjekt, also »nur 
psychische« Realität. Immerhin liegt darin, daß die ganze 
Wahmehmungswelt mit Ausnahme eines einzigen Sinnesgebietes 
als eine »nur psychische« Realität aufgefaßt wird, ein gewich¬ 
tigerer Anstoß zur Erschütterung der Überzeugung von der 
»bloßen Scheinhaftigkeit« des Psychischen als in dem radikalen 
Realismus des Aristoteles. Aber dieser Anstoß wirkt sich in 
der Antike nirgends yoll aus, es bleibt vielmehr bei der ver¬ 
schwommenen Unterscheidung »eigentlich» realer und »bloß« 
psychischer Objekte und das Psychische behält den Charakter 
des Scheinhaften bei, auch wo man sich, wie namentlich in der 
Schule Epikurs, mit seiner »Minderwertigkeit« in pragmatistischem 
Sinne abfindet 

Ehst in Augustin vollzieht sich die »kopemikanische« Um¬ 
wälzung: das Psychische ist nicht nur kein »bloßer Schein« 



204 


Qastay Kafka, 


mehr, es ist nicht einmal eine »nneigentliche«, minderwertige 
Realität, sondern die eigentliche, ja die einzige Realität. Damit 
ist alle materialistische Ontologie überwunden: was bisher als 
Träger der eigentlichen Realität galt, der materielle Körper, hat 
den Charakter der Realität verloren und ist seinerseits zu einem 
»bloßen Schein« berabgesunken. Zugleich wird aber das Grund¬ 
problem der »realistischen« Erkenntnistheorie gewissermaßen nm- 
gestülpt: die Frage lautet jetzt nicht mehr: »Wie kann ein 
,an sich‘ Seiendes zum Objekte für ein Subjekt werden?«, son¬ 
dern: »In welchem Sinne kann ein Seiendes, dessen Sein in 
einem Objekt-für-ein-Subjekt-Sein besteht, einen Anspruch auf 
ein Sein ,an sich' erheben?« Schon dieses erste Bekenntnis zu 
einem erkenntnistheoretischen »Idealismus« zeigt also ganz 
deutlich die Grundlosigkeit des Vorwurfes, der von Seite des 
»Realismus« immer wieder erhoben zu werden pflegt: der Ide¬ 
alismus, selbst der subjektive, verwandelt keineswegs alles 
»Sein« in »bloßen Schein«, sondern höchstens nur dasjenige Sein, 
welches der Realismus als einziges anerkennt, vor allem das der 
materiellen Körper; dagegen erklärt er umgekehrt gerade das¬ 
jenige, was der Realismus als »bloßen Schein« betrachtet, für 
das eigentliche »Sein«. Soweit man daher den Begriff der 
Realität mit dem Begriff des Seins zusammenfallen läßt, ist jeder 
Idealismus zugleich Realismus; denn obgleich er den nicht psy¬ 
chischen Objekten nur eine abgeleitete Seinsart zugesteht, wendet 
er doch auf die psychischen Objekte den Begriff des »eigent¬ 
lichen«, »wirklichen« Seins an. Der Kampf zwischen Augusti- 
nischem Idealismus und Aristotelischem Realismus durchzieht 
nun die ganze Scholastik, und der Sieg, den die Aristotelische 
Richtung in Thomas von Aquin über die Augustinische davon¬ 
trägt, verhindert zugleich im großen und ganzen eine weitere 
Vertiefung des Begriffes der psychischen Objekte. 

Erst mit der Wiederbelebung des Idealismus durch Descartes 
hebt eine neue Entwicklungsphase an. Bei Augustin war nicht 
nur die eigenartige Natur der psychischen Objekte, ihre be¬ 
sondere »Seinsform« oder »Realität« ausdrücklich anerkannt, 
sondern auch der Umkreis des Psychischen im Grunde bereits 
so weit gezogen, daß der Begriff eines anderen als des psychischen 
Seins nahezu aufgehoben erschien. Gerade an diesem Punkte 
setzt daher auch der Widerstand des Realismus ein, der das 
Psychische noch immer mit dem Scheinhaften zu verwechseln 
geneigt war und sich daher instinktiv gegen die angebliche 
Herabsetzung des Seins zum »bloßen Schein« wehrte. Der Er- 



Zam Begriff des »Psychischen« nnd seiner Entwicklnngsgeschichte. 205 

folg der Eartesianischen Lehre beruht nun zum großen Teil 
darauf, daß sie zwar an der Eigenart des psychischen Seins 
festhält und seine Verschiedenheit vom »bloßen Scheine«! nach¬ 
weist, dennoch aber jener instinktiven Abneigung gegen einen 
radikalen »Idealismus« Bechnung trägt, indem sie einer gewissen 
Klasse von Objekten das Merkmal einer vom Subjekt unab¬ 
hängigen Realität vorbehält. Wenn daher Descartes die psy¬ 
chischen Objekte durch das Merkmal des »Denkens«, die »eigent¬ 
lich« realen Objekte durch das Merkmal der »Ausdehnung« kenn¬ 
zeichnet, so zeigt diese Gegenftberstellnng zwar in erkenntnis¬ 
theoretischer Hinsicht eine weit größere Folgerichtigkeit, dennoch 
aber eine unleugbare Verwandtschaft mit der atomistischen Philo¬ 
sophie; denn wenn es sich jetzt auch nicht mehr um die Gegen¬ 
überstellung von Sinnesgebieten handelt, so sind doch auch die 
Merkmale, welche der Atomismus der »eigentlichen« Realität 
znschreibt, im wesentlichen räumliche. Zugleich liegt aber in 
der Lehre des Descartes der Anlaß zu einer folgenschweren 
Äquivokation im Begriffe des Psychischen, die bis auf heute 
nadiwirkt. 

Die Unterscheidung, die Descartes treffen will, ist keine 
erkenntnistheoretische oder psychologische, sondern eine meta¬ 
physische; er will nicht Erkenntnisobjekte, sondern »Substanzen« 
nach ihren Merkmalen anseinanderhalten, und es ergibt sich aus 
dem traditionellen, von Descartes übernommenen Begriffe der 
Substanz als eines »an sich Seienden«, daß ein solches »an sich 
Sein« nicht in einem »Für ein Subjekt Sein« bestehen, daß sich 
also das »Da Sein« von Substanzen zumindest nicht in ihrem 
Objekt-Sein erschöpfen kann. Der Begriff des Psychischen im 
Sinne des psychischen Objektes tritt daher für Descartes in 
den Hintergrund; nicht darauf kommt es an, daß gewisse »Akzi¬ 
denzien« der Substanzen psychische Objekte sind, d. h. nur für 
ein Subjekt, andere auch an sich »da sind«, sondern darauf, daß 
gewisse Substanzen psychische Subjekte sind und psychische 
Akte vollziehen, andere nicht. Der Unterschied besteht daher 
nicht zwischen »ausgedehnten« und »gedachten«, sondern zwischen 
»ausgedehnten« und »denkenden» Dingen. Wenn wir also den 
Ausdruck »cogitatio«, der ja bei Descartes nicht nur das »Denken« 
im engeren Sinne, sondern alle »Akte« des Bewußtseins ein¬ 
schließlich der Willensakte umfaßt, sinngemäß mit dem deutschen 
Worte »Bewußtsein« übersetzen und somit die »Ausdehnung« 
dem »Bewußtsein« gegenüberstellen, so dürfen wir nie vergessen, 
daß der Begriff des Bewußtseins immer zwei Bedeutungen haben 



206 


Gastay Kafka, 


kann, eine aktive nnd eine passive: »A ist bewnfit« kann heißen: 
»A ist ein psychisches Snbjekt nnd vollzieht psychische Akte«; 
es kann aber auch heißen: »A ist ein psychisches Objekt, auf 
das sich die psychischen Akte eines Subjektes richten«, nnd auf 
die Vernachlässigung dieser Doppeldeutigkeit des Begriffes sind 
die meisten Scheinprobleme der Erkenntnistheorie znrhckzufflhren. 
Für eine wissenschaftliche Psychologie empfiehlt es sich daher, 
den Ausdruck »Bewußtsein« nur im passiven Sinne des Objekt- 
für-ein-Subjekt-Seins zu verwenden, Bewußtsein als Eigenschaft 
oder Tätigkeit eines Subjektes dagegen nur als »bewußthaben« 
zu bezeichnen. Dabei wird die Schwerfälligkeit oder Ungewöhn¬ 
lichkeit des Ausdruckes, die der Rede von »Bewnßthabenden« 
oder, um die ursprüngliche Verbalform in ihre grammatikalischen 
Rechte wiedereinzusetzen, von »bewissenden« [statt von »be¬ 
wußten« Wesen oder ihrem »Bewußtsein« schlechthin anhaftet, 
durch seine Eindeutigkeit mehr als wett gemacht In diesem 
Sinne zielt also die berühmte Unterscheidung des Descartes ur¬ 
sprünglich auf den Unterschied zwischen bewußthabenden nnd 
nichtbewußthabenden Wesen ab; dennoch liegt in ihr zugleich 
die im früheren angedeutete Unterscheidung psychischer Objekte 
eingeschlossen: die ausgedehnten Gegenstände besitzen auch eine 
Realität an sich, die Gegenstände, auf die sich das »Denken« 
richtet, dagegen nur eine psychische Realität, eine Realität 
für ein Subjekt oder ein Ich. Dabei behält diese nur psychische 
Realität noch immer einen Anfiug bloßer Scheinhaftigkeit, den 
Descartes lediglich durch ihre Verankerung in einem göttlichen 
Bewußtsein, dessen Objekte sie sind, überwinden zu können 
vermeint. 

Die Schwierigkeit, die in der »realistischen« Komponente 
der Eartesianischen Lehre übrig bleibt, wie denn nun die »Dinge 
an sich« Objekte für ein Subjekt werden können, verstärkt und 
vergröbert sich bei Locke dadurch, daß er, auf den Stand¬ 
punkt der Atomistik zurückkehrend, die »Solidität«, also eine 
Tastqnalität, unter die Merkmale der »Dinge an sich« aufnimmt. 
Sie wird erst wieder durch Leibniz überwunden, der sich an 
Augustin anlehnt, wenn er den Begriff der psychischen Realität 
im Sinne eines konsequenten Idealismus von jeder Einschränkung 
seines Umfanges befreit. An die Stelle des Gegensatzes zwischen 
psychischer Realität und Realität an sich, zwischen »Denken« 
und »Ausdehnung« tritt der Gegensatz zwischen Bewußtsein 
und Bewußthaben. Der Unterschied besteht nicht mehr zwischen 
Objekten, die nur für ein Bewußtsein, und Objekten, die auch 



Zorn Begriff des »Psychischen« and seiner Entwicklnngsgescbicbte. 207 


oder ausschließlich »an sich« wären, nicht zwischen bewußt* 
habenden und nichtbewußthabenden Subjekten, sondern alles 
»Seiende« ist fttr ein Bewußtsein, also fflr ein bewissendes Sub* 
jekt, es ist aber auch zugleich bewußthabend, da selbst die 
Naturkräfte »von innen gesehen« Äußerungen des Bewußthabens 
sind. Bloß ein letzter Best der realistischen Bedenklichkeit 
gegen die Scheinhaftigkeit einer »nur psychischen« Realität bleibt 
auch noch bei Leibniz bestehen: die Überzeugung, daß der 
zureichende Grund aller »Realität« wiederum in einem über* 
individuellen göttlichen Bewnßthaben liegen müsse, dem sie be¬ 
wußt sei. 

Dieser letzte Rest wird endlich von Kant durch die Ein¬ 
sicht in die »empirische« Realität des im »transzendentalen« 
Sinne Idealen getilgt. Ob man nun zu einer realistischen oder 
einer idealistischen Erkenntnistheorie hinneigt, jedenfalls bildet 
die Lehre Kants insofern einen Abschluß der Entwicklung, als 
sie die rückhaltlose Anerkennung einer spezifischen Seinsart des 
Psychischen enthält: für den Idealismus der einzig möglichen 
Seinsart, für den Realismus einer Seinsart, die zwar vielleicht 
hinsichtlich ihrer »Allgemeinheit«, aber jedenfalls nicht mehr 
hinsichtlich ihrer »Tatsächlichkeit« anderen Seinsarten gegenüber 
als minderwertig beurteilt werden darf. 

Fassen wir nunmehr das Ergebnis dieses entwicklungsgeschicht¬ 
lichen Überblickes kurz zusammen, so zeigt sich, daß der Be¬ 
griff des »Psychischen« drei verschiedene Komponenten enthält: 
den Begriff eines Subjektes, seiner Akte und seiner Objekte. 
Diese Begriffe erfahren im Laufe der Entwicklung eigentüm¬ 
liche Umwandlungen. Der Begriff des psychischen Subjektes ist ur¬ 
sprünglich ein psychophysischer Begriff, der zunächst seine phy¬ 
sische, dann aber auch seine substanzielle Komponente abstreift. 
Ebenso ist der Begriff des psychischen Aktes ursprünglich ein 
psychophysischer Begriff, in dem »innere« und »äußere« Willens¬ 
handlung nicht unterschieden werden. Auch hier wird die phy¬ 
siologische von der psychologischen Komponente getrennt und 
ins »Physische« verwiesen, zugleich aber der Begriff des Aktes 
auf »Tätigkeiten« ausgedehnt, denen der ursprüngliche Erlebnis¬ 
charakter der Willenshandlnng nicht mehr anhaftet. Der Be¬ 
griff des psychischen Objektes endlich entwickelt sich an Phä¬ 
nomenen, die das Merkmal des Scheinhaften an sich tragen, und 
gewinnt erst allmählich einen Umfang, für dessen inhaltliche 
Bestimmung das Merkmal der Scheinhaftigkeit seine Bedeutung 
verliert. Zugleich vollzieht sich eine Erweiterung im Begriffe 



208 


OostftT Kafka, 


des Objektes; denn während der Begriff des Objektes ans dem 
Begriff »nnr psychischer« Objekte herrorging, zwingt das Be> 
dhrfnis, den Erkenntnisbegriff auch anf das »an sich Seiende< 
anszndehnen, zu einer so weiten Fassung des Begriffes der Er- 
kenntnisobjekte, dafi er sowohl >an sich seiende« wie >nnr ffir 
ein Subjekt seiende« Wesenheiten einschließt. Die Möglichkeit 
einer realistischen oder idealistischen Ansdentung des »An sich« 
interessiert nns hier nicht; es genügt yielmehr die Feststellung, 
daß das Merkmal des »Objekt Seins«, d. h. des »Für ein Snb« 
jekt Seins» nicht mehr mit dem Kriterium des Psychischen zu- 
sammenfällt, sondern daß der Begriff des Psychischen nnr mehr 
anf solche Objekte anwendbar bleibt, die »nur für ein Subjekt« 
sind, d. h. kein anderes Sein als das »Sein für ein Subjekt« be¬ 
sitzen. 

Aus dieser genetischen Ableitung ergibt sich nunmehr eine 
Möglichkeit, den Begriff des Psychischen systematisch zu be¬ 
stimmen. Es hat sich gezeigt, daß sich der Begriff des Psy¬ 
chischen nur durch eine Begriffstrias definieren läßt: psychisch 
ist, was in der Beziehung Subjekt—Akt—Objekt steht, und die 
Beziehung dieser drei dem Begriffe des Psychischen unter¬ 
geordneten, zueinander im Verhältnis der Korrelation stehenden 
Begriffe bildet zugleich das Merkmal des übergeordneten Be¬ 
griffes. Das Wesen des psychischen Subjektes besteht also nur 
darin, daß es sich durch seine Akte auf seine Objekte richtet, 
das des psychischen Aktes nur darin, daß er von einem Subjekt 
ausgeht und auf ein Objekt abzielt, und das des psychischen 
Objektes nur darin, daß es von einem Subjekt durch einen Akt 
anfgefaßt wird, — während alle Eigenschaften, die den psychischen 
Subjekten, Akten und Objekten etwa noch außerdem zukommen 
mögen, nichts mehr mit ihrer psychischen Natur zu tun haben. 

Ist in diesem Sinne der Begriff einer »Psychologie ohne Ich« 
ein Unding, so liegt darin doch zugleich eingeschlossen, daß der 
Begriff einer substanziellen »Seele« nicht mehr in den Bereich 
der Psychologie gehört, weil die Kategorie der Substanzialität 
eben kein psychologischer Begriff mehr ist Ebensowenig fällt 
in den Umkreis der Psychologie die Frage, ob das physische 
oder energetische »Subjekt« »lebendiger Organismus« mit dem 
psychischen Subjekt identisch ist oder nicht. Umgekehrt läßt 
sich ans einer Analyse der psychischen Objekte das »Dasein« 
eines psychischen Subjektes weder beweisen noch widerlegen; 
wenn daher auch die Frage, ob sich ein Ich neben oder getrennt 
von den psychischen Objekten aufweisen lasse, negativ beantwortet 



Zum Begriff des »Psychischen« und seiner Entwicklungsgeschichte. 209 


werden müßte, so wäre damit die Unentbehrlichkeit des Ich- 
begriff es zur Definition des Psychischen in keiner Weise erschüttert. 

Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der psychischen Akte. 
Die Tatsachenfrage, ob es »bewußte« psychische Akte gebe oder 
nicht, ist nicht nur, namentlich innerhalb der phänomenologischen 
Schule, durch die Äqnivokation im Begriff des Bewußtseins, sondern 
vor allem dadurch verwirrt worden, daß infolge der vorwiegend 
erkenntnistheoretischen Einstellung der neueren Psychologie das 
Prototyp der psychischen Akte, der Willensakt, gegenüber den 
Erkenntnisakten in den Hintergrund gedrängt wurde. Nun be¬ 
steht zweifellos ein Unterschied der Erlebnisform zwischen dem 
Erlebnis der Tätigkeit im Willensakte und dem £h‘lebnis der 
passiven »Impression« psychischer Objekte. Sollte sich aber 
trotzdem heraussteilen, daß Erkenntnisakte weder in der Erlebnis¬ 
form der Willensakte noch als psychische Objekte bewußt werden, 
so wäre darum der Begriff des Erkenntnisaktes als Ausdruck der 
Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis doch 
nicht weniger unentbehrlich. 

Besteht endlich das Wesen des psychischen Objektes in seinem 
»Nur für ein Subjekt Sein«, sind also Objekte nur insofern 
psychisch, als ihr Dasein mit ihrem »Objekt-«, d. h. »Für ein 
Subjekt- Sein« steht und fällt, so ist damit wiederum die Frage 
noch nicht entschieden, ob sich das »Dasein« aller Objekte, 
die überhaupt »für ein Subjekt« da sind, in ihrem »Für ein 
Subjekt Sein« erschöpfe, oder ob einem Teil der möglichen Eh*- 
kenntnisobjekte »zugleich« auch ein »Dasein an sich« zukomme. 
Man muß vielmehr im Auge behalten, daß diese Frage nur auf 
erkenntnistheoretischem Boden entschieden werden kann. Der 
Idealismus wird sie verneinen, vom realistischen Standpunkt aus 
wäre es dagegen ganz konsequent, alle Objekte, denen ein Dasein 
»an sich« zukommt, aus dem Bereich des Psychischen zu ver¬ 
weisen. So erkennen etwa Brentano und seine Schule nur die 
psychischen Akte, denen eine »intentionale« Beziehung auf einen 
»Gegenstand«, also, unter Befreiung von der scholastischen Termino¬ 
logie, schlechthin die »Beziehung auf ein Objekt« eigen ist, als 
»psychische Phänomene< an, erklären dagegen sämtliche nur 
psychischen Objekte als »physische Phänomene«. Aber diese 
Unterscheidung ist schon terminologisch vollkommen unbrauchbar; 
denn 1. verengert sie den Umkreis des Psychischen unberechtigter¬ 
weise auf die »Akte«, 2. ist sie gezwungen, auch die sämtlichen 
Phantasieobjekte als »physische Phänomene< zu bezeichnen, und 3. 
bleibt in ihr für diejenigen Gegenstände, denen gerade nach 

ArohiT für Psyohologi^. XLVin. 14 



210 


GastaT Kafka, 


begriffsrealistischer Auffassung im eigentlichen Sinne ein »Sein 
an sich« znkommt, nämlich für die durch Abstrakta bezeichneten 
Wesenheiten, kein Platz. Noch schwerer wiegt ein erkenntnis¬ 
theoretisches Bedenken, das sich freilich gegen jeden Realismus 
erhebt. Denn die Rede, daß die >an sich« seienden Objekte dm* 
Erkenntnis doch auch »zugleich« »für ein Subjekt« sein könnten, 
daß also das »Objekt an sich« mit dem »Objekt für ein Subjekt« 
identisch wäre, scheitert, kurz gesagt, am Satze vom Wider¬ 
spruch. Das unmittelbare Objekt jeder auf »äußere«, »physische« 
Gegenstände gerichteten Erkenntnis besteht jedenfalls nur für 
das Subjekt Wenn ich den »physischen Gegenstand«: »der 
Baum Tor meinem Fenster« wahmehme und sodann die Augen 
schließe, bin ich natürlich davon überzeugt, daß dieser Gegenstand 
auch »an sich« »da ist«, trotzdem er nicht mehr »für mich«, 
genauer gesagt, nicht mehr für meine Wahrnehmung »da ist«. 
Aber »etwas« ist in dem Augenblick, in dem ich die Augen 
schließe, jedenfalls tatsächlich »nicht mehr da«, und dieses Etwas 
kann eben darum mit dem »an sich Seienden« nicht identisch 
sein. Dieser Umstand hat denn auch innerhalb der Schule 
Brentanos dazu geführt, zwischen den »Inhalten«, d.h. den nur 
für das Subjekt daseienden, und den »Gegenständen«, d. b. den 
»an sich seienden« Objekten der Erkenntnis zu unterscheiden, und 
es bleibt in dieser Hinsicht grundsätzlich belanglos, obzwar 
terminologisch natürlich wieder ganz unberechtigt, wenn man, 
um den Begriff des Psychischen auf Akte oder »Funktionen« 
beschränken zu können, mit Stumpf die »Inhalte«, also nach 
unserer Ausdrucksweise die psychischen Objekte, als den Gegen¬ 
stand der »Phänomenologie« und nicht der Psychologie bezeichnen 
will; maßgebend ist nur, daß auch von diesem Standpunkt ans 
der eigenartige Charakter des »Da Seins« der »phänomenologischen 
Inhalte«, eben ihr »Da Sein für ein Subjekt« anerkannt werden muß. 

Bleibt es also dabei, daß der Begriff des Psychischen die 
Begriffe Subjekt, Akt und Objekt in sich schließt, so muß endlich 
noch das Verhältnis untersucht werden, das zwischen dem Begriff 
des Psychischen und dem Begriff des Bewußtseins besteht, der 
neuerdings nicht mehr als mit dem Begriff des Psychischen 
identisch, sondern als ihm untergeordnet betrachtet zu werden 
pflegt. Demnach wäre also nicht alles Psychische »bewußt«, 
sondern es gäbe neben den bewissenden psychischen Akten und 
den bewußten psychischen Objekten auch nicht bewissende psy¬ 
chische Akte und nicht bewußte psychische Objekte. Unter dieser 
Ausdrucksweise kann dreierlei verstanden werden. 



Zum BegriR des »Psychischen« and seiner Sntwicklongsgeschichte. 211 

. Erstens, daß bereits alle physiologischen Funktionen des 
lebendigen Organismus, die der Anfnahme und Beantwortung 
von Reizen dienen, als psychische Funktionen zu betrachten 
sind, daß aber erst im Laufe der phylo* nnd ontogenetischen 
Entwicklung jene Funktionen »bewissende«, ihre »Objekte«, also 
die Reizerreger, »bewußt« »werden«. Diese Auffassung, die 
namentlich in biologischen Kreisen beliebt ist, enthält natürlich 
keineswegs einen »schlichten Ausdruck der Tatsachen«, als der 
sie dargestellt zu werden pflegt, sondern bereits eine natur* 
philosophische Theorie, nämlich eine Identitätsphilosophie, die 
zugleich, da ihr nach Meinung ihrer Vertreter jeder animistische 
Einschlag fembleiben müsse, einer materialistischen Komponente 
nicht entbehrt Sie ist aber vornehmlich aus dem Grunde un¬ 
brauchbar, weil das ganze Problem in dem Bewußt-»Werden« 
des Unbewußten ungelöst eingeschlossen liegt Daß die phy¬ 
siologischen Funktionen der Reizaufnahme nnd -beantwortnng 
irgendwie mit den psychischen Akten Zusammenhängen, soll nicht 
bestritten werden. Die Behauptung ihrer Identität liefert aber 
keine Erklärung dieses Zusammenhanges, auch wenn die Identität 
durch den heute noch mit allerhand magischen Qualitäten aus¬ 
gestattet gedachten Begriff der »Entwicklung« hergestellt werden 
soll, sondern der Begriff des Psychischen verliert überhaupt jeden 
angebbaren Sinn, sobald das Objekt der psychischen Akte nicht 
als »bewußt«, die Akte selbst nicht als »bewissend« gelten sollen. 
Die Identität physiologischer nnd psychischer Akte könnte viel¬ 
mehr, wenn überhaupt, so gerade nur im Sinne eines Animismus 
behauptet werden, der freilich nicht nur der heutigen Geistes¬ 
strömung zuwiderliefe, sondern ebenfalls bereits eine naturphilo¬ 
sophische und daher die Grenzen psychologischer Betrachtungs¬ 
weise überschreitende Theorie enthielte. Nach dem Gesagten 
dürfte man also wohl von einem unbewußten »Seelischen« sprechen, 
sofern man unter Seele das den psychischen Erscheinungen zu¬ 
grunde liegende »Ding an sich« versteht, keinesfalls aber von 
einem unbewußten Psychischen. 

Eine zweite Bedeutung des »Unbewußten« hat sich namentlich 
in der Psychopathologie herausgebil^pt. Hier stieß man durch 
Selbst- und Fremdbeobachtnng auf Erscheinungen, die zwar 
durchaus die Merkmale des »Bewußtseins« an sich trugen, aber 
dennoch nicht dem »normalen« psychischen Subjekt, dem »nor¬ 
malen« Ich bewußt waren. Diese Erscheinungen, die sämtlich 
unter den Begriff der »Persönlichkeitsspaltung« fallen, sind in 
ihrer Tatsächlichkeit unbezweifelbar; ihr psychologischer Belang 

14 * 



212 Gaatav Kafka, Zam Begriff des »Psychiaehen« oaw. 

liegt jedoch nur darin, wie das Verhältnis der einzelnen »Persön¬ 
lichkeiten« oder Bewnßtseinssubjekte zueinander zu bestimmen 
ist, aber nicht darin, daß sie psychische Objekte anfwiesen, die 
nicht für ein Subjekt bewußt wären, und psychische Akte oder 
Subjekte, die keine Objekte bewüßten. Immerhin legt der Aus¬ 
druck »unbewußt« eine solche Mißdeutung nahe, und es wäre 
daher, wenn der Ausdruck »Selbstbewußtsein« nicht mit so viden 
Äqniyokationen behaftet wäre, vielleicht eindeutiger, sie als 
»nicht selbstbewußte«, noch unmißverständlicher, sie als »nicht 

normalbewußte« zu bezeichnen. Auch der Ausdruck »unterbewußt« 

_ • 

würde bei sinngemäßer Anwendung noch immer den Vorzug vor 
»unbewußt« verdienen. 

Schließlich drängt sich aber der Begriff des »Unbewußten« 
auch noch in Beobachtungen der Normalpsychologie auf. Das 
schlagendste Beispiel liefert das »Aha-Erlebnis« (Bühler) oder die 
Apperzeption eines zuvor bloß perzipierten Objektes. In einer 
solchen Apperzeption liegt eingeschlossen, daß das nunmehr 
apperzipierte oder »erkannte« Objekt früher in anderer Weise 
für das Subjekt »da gewesen« ist, immerhin aber doch irgendwie 
»da gewesen« sein muß, weil es ja sonst nicht mit einem »Aha« 
begrüßt, d. h. nicht identifiziert wei'den könnte. Ob man einen 
solchen Unterschied der psychischen Daseinsweisen mit den Aus¬ 
drücken »bewußt« und »unbewußt« kennzeichnen will, ist eine 
reine Zweckmäßigkeitsfrage. Wenn aber der Umstand, daß jene 
beiden Daseinsweisen psychischer Natur sind, in der Termino¬ 
logie nicht verwischt werden soll, andererseits die instinktiv 
und historisch gefestigte Gewohnheit, die Begriffe des Psychischen 
und des Bewußtseins zusammenfallen zu lassen, immer wieder 
dahin drängen würde, unter dem »Unbewußten« ein »Nicht 
Psychisches« zu verstehen, so scheint es angezeigter, einer solchen 
Verwechslung vorzubeugen, jene beiden Daseinsweisen des P^- 
chischen nicht als »bewußte« und »unbewußte«, sondern als 
»apperzeptive« und »perzeptive«, als »beachtete« und »unbeachtete« 
oder als »bemerkte« und »unbemerkte« einander gegenüberzustellen 
und den Begriff des» Bewußtseins« als gleichbedeutend mit dem Be¬ 
griff des »Psychischen« im früher festgestellten Sinne zu behandeln. 

(Eingegang^en am 16. Januar 1924.) 



(Ans dem psychologischen Laboratorinm der Universität Bonn.) 


Experimentelleüntersuchiiiigenüber das mmiittelbare 
Bebalten mit besondererBerücksicbtigimgderFrozesBe 
der Aufinerksamkeit und des Wiedererkennens. 

Von 

Dora LüdekOy Barmen. 


Inhalt. Seite 

I. Vorbemerkangen.214 

§ 1. Ziel der Untenraehimg.214 

§ 2. Das YersnchsverMiren.215 

n. Objektive Ergebniase.217 

§ 1. Die Art der Verrechnong.217 

§ 2. Die Lage der Nnllgrente.217 

§ 8. Die üntersQchnng der Parallelität der Fehlereracheinangen 219 
m. Subjektive Ergebnisse.223 

A. Brlemnngs* und Einprägnngsproaesse.228 

§ 1. Die verschiedenen Arten der Aufmerksamkeit.228 

§ 2. Das Yerbalten der Aufmerksamkeit unter verschiedenen 

Yersuchsbedingungen.224 

a) Yisnelle Darbietung.224 

1. Das Auftreten des diskreten Charakters.224 

2. Die Heranziehnng des Sprachmotorischen .... 226 
8. Scheidung der Anteile von Anfmerksamkeitsakten 

und Empfindungsinhalten.229 

b) Yisnell-akustische Darbietung.231 

1. Das ZurUcktreten des diskreten Charakters . . . 231 

2. Znsammenfassende Übersicht Ober die Beteiligung 

der Aufmerksamkeit.•.284 

B. Reproduktionsprozesse.*.286 

§ 1. BichtigkeitsbewnOtseiu und Wiedererkennen.286 

§2. Kriterien fOrRichtigkeitsbewuOtsein und Wiedererkennen 287 

1. Direkte Kriterien.287 

2. Indirekte Kriterien.240 

§ 8. Das Yerhalten während der Intervalle.242 

lY. Unmittelbares und dauerndes Behalten.246 
























214 


Dora Lttdeke, 


1. Vorbemerkungen. 

§ 1 . 

Ziel der UntergackuBg. 

Vorliegende Untersuchung wurde auf Anregung von Herrn 
Geheimrat Professor Dr. Störring im Psychologischen Institut 
der Universität Bonn durchgeführt Sie stellt sich die Aufgabe, 
einen Beitrag zur Erforschung des unmittelbaren Behaltens Eh** 
wachsener zu liefern. Neben den zahlenmäßigen Ergebnissen, 
denen vorwiegend praktische Bedeutung zukommt, soll den 
Problemen, die sich auf Grund subjektiver Selbstbeobachtung 
der Versuchspersonen über innere Vorgänge beim Anffassen, Be¬ 
halten und Reproduzieren des dargebotenen Stoffes eröffnen, ein¬ 
gehende Beachtung geschenkt werden. Ganz besonders tritt in 
diesen Aussagen die Bedeutung der Aufmerksamkeit für das un¬ 
mittelbare Behalten und das Auftreten totaler oder diskreter 
Aufmerksamkeit unter verschiedenen Versuchsbedingungen hervor. 
Dasselbe Problem findet eingehende Beachtung in den Unter¬ 
suchungen von M. Moers ^). Während aber M. Moers das Ver¬ 
halten der Aufmerksamkeit bei visueller Darbietung des 
Materials an derselben und an verschiedener Stelle ver¬ 
gleicht, ferner die rein akustische Darbietung heranzieht, handelt 
es sich bei vorliegender Arbeit um den Vergleich zwischen dem 
Verhalten bei rein visueller Darbietung im Gegensatz 
zur visuell-akustischen. Die rein akustische Dar¬ 
bietung kommt in beschränktem Maße ebenfalls zur Anwendung. 

Die Aussagen meiner Vpn. betreffen besonders das totale 
und diskrete Verhalten der Aufmerksamkeit, ferner 
die Vorgänge des Wiedererkennens und die für das¬ 
selbe in Betracht kommenden Kriterien. 

Bei den verschiedenen Darbietungsarten wurde die Dauer 
des zwischen Darbietung und Reproduktion liegen¬ 
den Intervalls variiert; über den Einfluß der ver¬ 
schiedenen Pansenlängen auf den Ablauf der Re¬ 
produktion finden sich ebenfalls vielfache Angaben der Vpn. 

Das Problem der Abgrenzung des unmittelbaren 
Behaltens vom dauernden konnte nur gestreift werden, 


1) Martha Moers, Das anmittelbare Behalten unter besonderer Be- 
rhcksichtigpnng der Darbietnngsart nnd der dabei anftretenden totalen and 
diskreten Anfmerksamkeit. Arch. f. d. ges. Psychologie Bd. 41. 



Experimentelle Untersnchnngen Uber daa anmittelbare Behalten nsw. 215 

näheren Aafschlnß über diese Frage geben die Untersacbnngen 
von M. Schorn*). 

§ 2 . 

Daa YeranehaTerfahren. 

Zu den Versuchen wurde der Lipmannsche Gedächtnis¬ 
apparatbenutzt, dessen Konstruktion eine ruckweise fortschreitende 
Exposition des Versuchsmaterials ermöglicht; letzteres wurde 
durch Reihen von 5 bis 13 Konsonanten in kleiner lateinischer 
Druckschrift gebildet. Vokale wurden ausgeschieden, da sie 
— zwischen Konsonanten angebracht — leicht AnlaB zu Assozia¬ 
tionen geben, durch welche die Buchstabenreihen den Charakter 
von Silben und Wörtern erhalten können; dadurch wären natür¬ 
lich wesentlich andere Bedingnngen gegeben als beim Lesen 
einzelner Buchstaben. 

Den eigentlichen Versuchen gingen Vorversnche voraus, die 
den Zweck hatten, die Vpn. an die äußeren Bedingnngen zu 
gewöhnen. Es sollte ferner ein für die Versuche günstiges Tempo 
festgesetzt werden, und zwar wurde auf Grund von Angaben 
der Vpn. und an der Hand der zahlenmäßigen Ergebnisse für 
die Hanptversuche ein dem Metronomtakt 76 entsprechendes 
Tempo angewandt. 

Für die erste Versnchsserie wurde die rein visuelle 
Darbietungsweise gewählt. Die Vpn. waren angewiesen, 
Heranziehung logischer oder mnemotechnischer Kunstgriffe sowie 
das Rhythmisieren zu vermeiden nndSprechbewegnngen zu unter¬ 
drücken, dagegen war inneres Mitsprechen gestattet. 

In der zweiten Versuchsreihe wurde das Material 
ebenfalls visuell dargeboten, doch hatte die Vp. gleich¬ 
zeitig die einzelnen Buchstaben laut mitzulesen. 
Auf rein akustische Darbietung wurde zunächst ver¬ 
zichtet, da mehrere Vpn. an entsprechenden akustischen Ver¬ 
suchen teilgenommen hatten und die dabei gemachten Erfahrungen 
bei den Aussagen vergleichsweise heranziehen konnten. Im Laufe 
der Untersuchung ergaben sich jedoch Momente, die eine direkte 
Nebeneinanderstellnng der drei Darbietnngsweisen wünschenswert 
erscheinen ließen; es wurde daher noch eine dritte Versuchs¬ 
reihe mit beschränkter Anzahl von Versuchen angeschlossen, 
in der alle drei Darbietungsweisen nebeneinander 
zur Anwendung kamen. 

1) Maria Schorn, Experimentelle Untersnchnngen über den Übergang 
von anmittelbarem an danemdem Behalten. Arch. f. d. ges. Psych. Bd. 43. 



216 


Dora Lüdeke, 


Die Vpn. hatten die Anweisung, in den Pansen zwischen Dar* 
bietnng nnd Reproduktion jede Wiederholung zu unterlassen und 
zu Protokoll zu geben, falls eine Reihe gegen ihren Willen anf- 
tanchen sollte. Die Dauer der Intervalle betrug bei den Ver¬ 
suchen mit visueller Darbietung in den ersten 20 Ver- 
snchsstnnden 2 Sek., dann in je 20 Stunden 4, 8 und 1 Sek., 
die Versuche mit visuell-akustischer Darbietung wurden 
fflr die Intervalle 2 nnd 4 Sek., die mit rein akustischer für 
2 Sek. durchgeftthrt. Die Reihenfolge 2, 4, 8, 1 Sek. in der 
1. Serie geschah mit Rücksicht auf die Feststellung Wolf es*), 
daß bei seinem Versuche nach 2 nnd 4 Sek. bessere Leistungen 
erzielt wurden als nach 1 Sek. Nun sind die ersten Versuche 
gegenüber den späteren ohnehin im Nachteil, da fördernde Fak¬ 
toren wie Oewühnnng an die äußeren Bedingungen und Einfluß 
der Übung fflr sie fortfallen, ein Tatbestand, der beim Vergleich 
der Resultate nach verschieden langen Intervallen nicht über¬ 
sehen werden darf. Würden nun trotz der wesentlich günstigeren 
Bedingungen die Ergebnisse bei der Pansenlänge von 1 SeL 
denen nach längeren Intervallen nachstehen, so wäre damit um 
so mehr eine Bestätigung der erwähnten Resultate gegeben; mi 
entgegengesetzten Falle wäre festznstellen, inwieweit ein Über¬ 
sehen der erwähnten Faktoren zu einer Verschiebung des an¬ 
genommenen Tatbestandes geführt hat Zur Ermöglichung einer 
solchen Feststellung sollten > Vergleichsreihenc dienen, d. h. Ver¬ 
suche, bei denen in derselben Stunde verschieden lange Intervalle 
gegeben wurden, nnd zwar die verschiedenen Kombinationen in 
wechselnder Reihenfolge. In je 6 Stunden wurden Reihen mit 
den Intervallen 4—8, 8—4 Sek., 2—8, 8—2 Sek., 2—4, 4—2 Sek. 
dargeboten. Diese Versuche wurden zwischen die mit den Inter¬ 
vallen 8 und 1 Sek. eingeschoben, dadurch wurde zugleich ein 
allmählicher Übergang von der langen zur kurzen Panse ver¬ 
mittelt Nach den Versuchen mit dem Intervall 1 Sek. wurden 
entsprechende Vergleichsreihen angeschlossen, ebenso am Schluß 
der zweiten Serie. 

Da in den Versuchen der dritten Reihe in jeder Stunde alle 
drei Darbietungsarten herangezogen werden sollten, erschien es 
angebracht, die Zahl der einzelnen Reihen zu beschränken, nm 
die Vpn. nicht zu ermüden. Es wurden daher nur Reihen von 
6, 7 usw. bis 11 Buchstaben dargeboten; mit der Reihenfolge 
der Darbietung wurde in den einzelnen Stunden gewechselt 


1) Wolfe, Über das Tonged&chtnis. (Philos. Studien Bd.8.) 



Experimentelle Untenachiingen fiber dae nnmittelbare Behalten nsw. 217 


Als Versachspersonen stellten sich znr Verfügung die Herren 
Geheimrat Professor Dr. Stöning (St.), Prof. Dr. Erismann (E.), 
Prof. Dr. Entzner (E.), Dr. phil. Achenbach (A.), Dr. phiL Amsler 
(AL) und die Damen Dr. phiL Binnefeld (B.), cand. phiL Hahn 
(H.), Dr. phiL Eiefer (Ef.), cand. phiL Schnlte-Liese (Sch.). 

II. Objektive Ergebnisse. 

§ 1 . 

Die Art der Yerreehiiiuig. 

Da es wünschenswert erschien, einmal nfther zn nntersnchen, 
wie weit sich eine Parallelität ergab zwischen Fehlern in 
der Reihenfolge — bei denen es sich nm an und für sich 
richtig genannte Elemente handelt — nnd den V erkennnngen, 
Auslassungen nnd Hinznfügnngen, wurde eine zwei¬ 
fache Berechnung der Bh^ebnisse vorgenommen. Die erste Art 
läßt die Fehler in der Reihenfolge unberücksichtigt; es wurden 
Auslassungen oder Wiedergabe falscher Elemente als ganze, 
Verwechslungen, die auf akustischer, sprachmotorischer oder 
optischer Ähnlichkeit beruhen, als halbe Fehler gezählt. Die 
zweite Art bezieht sich auf die Fehler in der Reihenfolge; Um- 
atellnngen um eine oder zwei Stellen wurden als halbe, solche 
nm mehr als zwei Stellen als ganze Fehler gerechnet Die Er¬ 
gebnisse wurden durch eine große Zahl von Tabellen und Enrven 
yeranschanlicht, deren Veröffentlichung leider wegen Raum¬ 
mangels unterbleiben muß. Die Hauptergebnisse sind in den 
folgenden Paragraphen kurz znsammengefaßt. 

§ 2 . 

Die Lage der Nnllgrreaie. 

AttfQmnd der ersten Verrechnnngsweise ergab sich, 
daß die Nullfehlergrenze, d. h. die Anzahl der Buchstaben, die 
die Vpn. nach einmaliger Darbietung fehlerfrei reproduzieren 
können, bei den Versuchen mit visueller Darbietung im 
allgemeinen zwischen 6 nnd 7 lag. Etwas höhere Werte er¬ 
reichte Vp. E. mit 7—9, die höchsten Vp. Sch. mit 11 Buch¬ 
staben, diese Leistung darf aber wohl als über den Durchschnitt 
hinausgehend bezeichnet werden. 

Die 2^hl 6—7 stellt das arithmetische Mittel der Ergebnisse 
sämtlicher Versuche dieser Serie dar, zugleich das Mittel bei 
dmi Versuchen mit 4 und 8 Sek. Pause. Bei dem Intervall von 
1 Sek. wurde ein etwas höheres (7—7‘/,), bei 2 Sek. ein ge- 



218 


Dora LOdeke, 


ringeres Durchschnittsmaß (6—6*/») erreicht. Dieses letzte Elr- 
gebnis erschien auffallend im Hinblick anf den früher erwähnten 
Befnnd Wolfes, es widersprach auch den subjektiven Aussagen 
der Vpn., bei denen durchweg das Intervall von 1 Sek. für un¬ 
günstiger als das von 2 Sek. erklärt wurde. Der Tatbestand, 
daß die Versuche mit 2 Sek. Pause an erster, die mit 1 Sek. 
an letzter Stelle gestanden hatten, wies darauf hin, der Frage 
nach einem etwaigen Übnngsfortschritte nachzngehen. Es wurden 
daher die Durchschnittswerte für die Vergleichsreihen ermittelt, 
bei denen alle Arten unter den gleichen Bedingungen gestanden 
hatten. Es ergab sich auch hier eine Nnllgrenze zwischen 6 
und 7, doch rückte sie im allgemeinen näher an 7 heran. Be¬ 
züglich der verschiedenen Intervalle standen diesmal die Ver¬ 
suche mit 2 Sek. an erster, die mit 1 Sek. an dritter Stelle, 
am ungünstigsten schien das Intervall von 8 Sek. zu sein. Die 
Vermutung eines Übungsfortschrittes scheint sich 
also nach diesen Ergebnissen zu bestätigen. 

Bei visuell-akustischer Darbietung wurde im allge¬ 
meinen eine etwas höhere Lage der Nullgrenze erreicht, bei fast 
allen Vpn. lag sie zwischen 8 und 9, nur zweimal (Vp. St. und 
Vp. H.) wurde die Zahl 7 festgestellt, obgleich unter anderen 
Bedingungen (Arbeit von Schorn) Vp. St. die Grenze 12 uufwies, 
einmal (Vp. Sch.) wurde die Grenze 12 erreicht. 

Um festzustellen, ob tatsächlich die visnell-akustische Dar¬ 
bietung für das unmittelbare Behalten günstiger ist als die rein 
visuelle, oder ob hier der von Ebert und Meumann festgestellte 
Tatbestand des Mitübens in Frage kam, wnrden die Resultate 
der dritten Versuchsreihe herangezogen, bei denen die 3 Dar¬ 
bietungsweisen nebeneinander zur Anwendung kamen. Es stand 
hier die visuell-akustische Darbietung an erster (Nnll¬ 
grenze 8—9), die rein akustische an zweiter (Nullgr.7—8), 
die rein visnelle an letzter Stelle (Nullgr. 7). 

Die rein akustische Darstellung ist hier besser gestellt als 
bei M. Moers, welche feststellt: »Mit Buchstabenmaterial ist 
die akustische Darbietung fast ebenso ungünstig wie die optische 
Darbietung A.< (Erscheinen der Buchstaben an derselben 
Stelle). Als Ursache wird das ähnliche Klangbild verschiedener 
Konsonanten geltend gemacht. Auch bei meinen Vpn. finden 
sich Angaben, daß diese Ähnlichkeit ungünstig anf das Behalten 
wirke, doch wird immer wieder hervorgehoben, daß die akustische 
Darbietung bei weitem leichter und angenehmer sei als die rein 
visuelle. Am vorteilhaftesten erscheint allen Vpn. die visuell- 



Experimentelle Untersaohnngfen ttber das anmittelbare Behalten nsw. 219 


akustische Darbietung, bei welcher der durch das ähnliche Klang¬ 
bild mancher Elemente bewirkte Nachteil durch das gleichzeitige 
visuelle Auftreten ausgeglichen wird. 

Bei der zweiten Verrechnungsweise hat die Nullgrenze eine 
etwas andere Bedeutung als bei der ersten. Eine Nullgrenze 6 
würde beispielsweise bedeuten: »Bei einer Reihe von 6 Gliedern 
wurden die überhaupt richtig genannten Elemente auch in der 
richtigen Reihenfolge wiedergegeben.« — Für die visuelle Dar¬ 
bietung wurde die Nullgrenze 7 festgestellt, bei visuell-akustischer 
Darbietung lag sie auch hier etwas höher und erreichte den 
Wert 8—9. — Im Gegensatz zu der ersten Verrechnungsweise 
standen bei visueller Darbietung die Ergebnisse der Ver¬ 
suche mit 2Sek.Pause trotz der ungünstigeren Be¬ 
dingungen von Anfang an über denen mit 1 Sek. 
Das Ergebnis Wolfes findet also auch hier Bestätigung. 


§3. 


Die Vaterraehang der Penülelltät der FeUererschelHiiBgeii. 


Es interessiert uns weiter die Frage: Wie weit hat sich auf 
Grund der objektiven Ergebnisse eine Parallelität zwischen den 
verschiedenenFehlererscheinungen—Verkennungen, Auslassungen 
und Hinzufügungen einerseits, Umstellungsfehler andererseits — 
eig^eben? 

Im allgemeinen scheint bei den Reihen, deren 
Gliederzahl die Gedächtnisspanne der Vp. nicht 
überschreitet, auch die Wiedergabe der Reihen¬ 
folge keine besonderen Schwierigkeiten zu machen, 
in vielen Fällen treten sogar Fehler in der Reihenfolge später 
auf als die übrigen Fehlerarten, und zwar nur in der Minder¬ 
zahl der Fälle erscheinen sie vor ihnen. 

Ein ganz anderes Bild ergibt sich bei längeren Reihen. 
Um zu prüfen, wie weit die Vpn. gleichmäßig gearbeitet hatten, 
wurde die mittlere Variation (Vm) festgestellt, die uns an¬ 
zeigt, wie weit die Fehlerzahlen der einzelnen Arbeitsleistungen 
sich durchschnittlich von dem mittleren Fehler entfernen. Je 
geringer die Abweichung ist, desto gleichmäßiger ist die voll¬ 
zogene Arbeitsleistung, während ein relativ hoher Betrag uns 
anzeigt, daß die Einzelleistungen starken Schwankungen unter¬ 
worfen waren. Die Berechnung geschah nach der Formel: 

(Fm — Fj) (Fm — F,) -f- (Fm — F,) -j“ (Fm—Fn) 



220 


Dora Lttdeke, 


'worin F^, F„ F, • • • Fn die Fehlerzahlen der Einzelversache be- 
denten, n die Anzahl der Versnche. 

Es ergab sich folgendes Bild: 

a) Visnelle Darbietung, erste Verrechnungsart: 

Vn. = 0 bis 0,50 in 51»/, *lo aller FÜle 
V,n = 0,51 „1 „ 38 «/o „ , 

Vs = 1,01 „ 1,30 „ 10V,®/o „ „ 

b) Visuell-akustische Darbietung, erste Verrech- 
nnngsart: 

Vni = 0 bis 0,50 in 53»/* ®/o aller Fälle 

V,n = 0,51 „ 1 „ 35»///o „ „ 

V„ = l,01 „ 1,48 „ 11 <*/o „ „ 

Das Maximum liegt bei dieser Darbietungsart etwas höher als 
bei der yisuellen; im allgemeinen zeigen jedoch beide Tabellen 
ziemlich gleichmäßige Arbeitsleistungen an. 

Auf Grund der zweiten Verrechnungsweise ergaben 
sich folgende Werte: 

a) Visuelle Darbietung: 

Vn, = 0 bis 0,50 in 34»/,®/o aller Fälle 
V„, = 0,51 „ 1 „ 40»/, »/o « „ 

V,„ = l,01 „ 1,97 „ 25V//o n » 

b) Visuell-akustische Darbietung: 

V« = 0 bis 0,50 in 36 % aUer Fälle 

V,n = 0,51 „ 1 „ 40V, «/o « « 

V„=l,01 „ 2,04 „ 23V, Vo n n 
Es zeigt sich also bei beiden Darbietungsarten eine bedeutende 
Zunahme des Maximalwertes gegenüber der ersten Verrechnung; 
der Prozentsatz, bei dem die Werte über 1 erreicht werden, ist 
ebenfalls höher. Noch weit größer wird die Differenz, wenn 
-wir nicht die Ergebnisse aller Versuche betrachten, sondern 
nur die der längeren Reihen, deren Qliederzahl oberhalb der 
Nullgrenze liegt Es steigen dann die Maximalwerte auf 
1,67 bezw. 1,72 bei der ersten, auf 3,83 bezw. 3,78 bei der 
zweiten Verrechnung; die Prozentsätze wachsen auf 18»/, bezw. 
15 bei I, auf 42 bezw. 39 bei n an. — Im allgemeinen 
ergab sich also ein gleichmäßiges Arbeiten auf 
Grund der ersten, ein unregelmäßiges auf Grund 
der zweiten Verrechnung. 

Ein ähnliches Resultat erhielten wir bei der Feststellung, 
wie sich bei längeren Reihen die Zahl der richtig genannten 
Glieder zur Nullgrenze verhielt Die erste Verrechnung 



Experimentelle üntenachnngen über das anmittelbare Behalten nsw. 221 


ergab für die visuelle Darbietung, daß bei keiner Vp. die Zahl 
der richtig genannten Glieder unter die Nnllgrenze hinabsank, 
bei vier Vpn. wurde sie durchschnittlich überschritten, zweimal 
fand sich Übereinstimmung. Diese Ergebnisse entsprechen denen 
von Binet^) und Watkins*), die gleichfalls eine geringe 
Steigerung im Behalten der Glieder bei zunehmender Beihen« 
Iftnge feststellen. 

Bei visuell-akustischer Darbietung zeigte sich bei 
einer Yp. ein Hinabsinken der Durchschnittszahl der behaltenen 
Glieder unter die Nnllgrenze, in allen anderen Fällen wurde 
diese um einen geringen Betrag überschritten. 

Ein ganz anderes Bild ergab sich auch hier auf Grund der 
zweiten Verrechnungsweise. Nur in 27*/o aller Fälle 
wurde die Nullgrenze erreicht, in 9V*®/o über¬ 
schritten, 63Va®/o Werte blieben hinter der 
Nullgrenze zurück. Waren also Reihen mit 6 oder 7Gliedern 
vollkommen richtig reproduziert, so ergab eine Prüfung mit 
9—13 Buchstaben häufig nur 3—5 in richtiger Reihenfolge 
wiedergegebene Elemente. 

Während sich bei der ersten Verrechnung eine allmähliche 
Steigerung der Fehlerzahl feststellen ließ, sind diese Werte hier 
starken Schwankungen unterworfen. 

Die Unregelmäßigkeit der Arbeitsleistungen bei Zugrunde¬ 
legung der Umstellungsfehler trat mit großer Klarheit auch in 
den Fehlerkurven der Vpn. hervor, auch hier sprunghaftes An- 
und Absteigen im Gegensatz zu dem allmählichen Anwachsen 
der Kurven der ersten Gruppe. 

Eine Deutung dieses Tatbestandes läßt sich am 
besten an der Hand einiger Aussagen der Vpn. geben. Zunächst 
weisen einige Aussagen darauf hin, daß auch hier die Dar? 
bietungsart von großem Einfiuß ist. So sagt Vp. E.: 

»Ich h&be den Eindrnck, daß bei visnellem Behalten die einielnen Bach- 
staben mehr für sich, durch sich selbst erhalten werden, während sie mehr 
aufeinander angewiesen sind bei motorischem und aknstischem Behalten, 
sodafl man eine solche Reihe nur in der mehr oder weniger 
richtigen Reihenfolge reprodasieren kann, während man bei 
Tisueller Reproduktion auch einzelne heransgreift, ohne za 
wissen, welche ihnen vorangehen. Sie werden darch sich selbst 
erhalten und sind nicht starr gekoppelt mit den yorhergehenden und nach¬ 
folgenden.« 


1) Bin et, Mdmoire des mots, L’Ann. Psych. 1894. 

Watkins, Beziehnongen zwischen der Intelligenz und dem Lernen 
und Behalten. Päd.-Psych. Arbeiten ü, 1911. 



222 


Dora Lttdeke, 


Yp. A.: >Ich habe mich diesmal an das Sprachmotorische gehalten; 
die Beprodaktion erfolgte mit grofier Sicherheit, das wäre nicht mOglich 
gewesen an der Hand der optischen Bilder, jedenfalls wäre Yp. dann 
nicht sicher gewesen in besag auf die Beihenfolge, wfthrend 
die Reihe sprachmotorisch vollkommen sicher aneinandergereiht lag.« 

»Die Bachstaben tanchten visaell aaf, and swar gans ander der Reihe. 
Ich habe das Qeftthl, als hätte ich alles darcheinander reprodoxiert. Das 
Optische ist angünstig für eine Beprodaktion in bestimmter 
Reihenfolge.« 

Yp. B.: »Die visnell-akostische Darbietang ist doch die angenehmste. 
Ich hatte mich vorwiegend aaf das Aknstische verlassen, am den Zasammen* 
hang hersastellen; als ich reprodasieren wollte, fehlte mir der Anfangs* 
bachstabe, dadarch war die Beihenfolge gestört. Während aber in 
einem ähnlichen Falle bei rein aknstischer Darbietang über* 
hanpt nichts sa retten war, kam hier das Yisaelle ergänsend 
hinan, 5-6Glieder tanchten visaell mit grofier Bestimmt¬ 
heit aaf.« 

Wir sehen, daß schon, wenn wir nur die Umstellnngs- 
fehler berücksichtigen, eine ganz verschiedene 
Bewertung dieser Fehlerart bei den drei Darbietnngs- 
arten eintreten muß. Noch stärker tritt der Unterschied 
hervor, wenn wir in Betracht ziehen, wie die verschiedenen 
Fehlerarten sich gegenseitig beeinflnssen. Am stärksten tritt 
dieser Einfluß bei der akustischen Darbietung auf; ist 
hier die Reihenfolge gestört, so besteht die Qefahr, 
daß die Reihe überhaupt ganz oder zum großen 
Teil zu Fall gebracht wird. Bei visuell-akustischer 
Darbietung kann bei Störung der Reihenfolge das 
akustische Gesamtbild zwar gestört sein, eine be¬ 
trächtliche Anzahl der Glieder aber trotzdem auf 
Grund der visuellen Spuren reproduziert werden. 
Bei visueller Darbietung Überwiegen Fehler in der 
Reihenfolge; eine gegenseitige Beeinflussung der 
verschiedenen Fehlerarten findet nicht statt. 

Die Untersuchung hat also ergeben, daß eine Parallelität 
zwischen den Fehlem in der Reihenfolge einerseits und den Aus¬ 
lassungen und Hinzufügungen andererseits nicht besteht. 
Die Verschiedenheit der Gesetzmäßigkeit tritt am deutlichsten 
hervor bei Betrachtung der richtig bezw. in richtiger Reihen¬ 
folge genannten Glieder längerer Reihen, mit besonderer Klar¬ 
heit kommt sie in der Berechnung der mittleren Variationen und 
in der graphischen Darstellung zum Ausdmck. In allen 
Fällen tritt dasSchwanken der einzelnen Arbeits¬ 
leistungen bei Berücksichtigung der zweiten, die 
Gleichmäßigkeit der Leistungen bei Berücksichtigung 
der ersten Verrechnungsweise deutlich hervor. 



Experimentelle Untersachnngen über das nnmittelbare Behalten nsw. 223 

III. Subjektive Ergebnisse. 

Nicht nur die Gewinnnng der zahlenmäßigen Ergebnisse, 
sondern anch die Analyse der einzelnen Vorgänge, die bei der 
Aufnahme, während des Intervalls und bei der Reproduktion 
eine Rolle spielen, ist von maßgebender Bedeutung für die 
Charakterisierung des unmittelbaren Behaltens gegenüber dem 
dauernden, ferner läßt sie die individuellen Differenzen im Ver< 
halten der Vpn. gegenüber den verschiedenen Darbietungsweisen 
klar hervortreten. 

A. Erlernungs* und Einprägungsprozesse. 

§ 1 . 

Die yergehledeneo Arten der Aafmerksamkeit. 

Bei der Aufnahme des dargebotenen Stoffes spielt das Ver* 
halten der Aufmerksamkeit, d. h. der willkürlichen Fixierung von 
Bewußtseinsinhalten im Blickpunkt des Bewußtseins, für das un¬ 
mittelbare Behalten eine besondere Rolle. Sowohl der Eon- 
zentrationsgrad als anch die Verteilung der Aufmerksamkeit 
sind von entscheidendem Einflüsse auf die zu leistende Arbeit. 
Meumann bezeichnet eine einmalige, höchst intensive Kon¬ 
zentration der Anfmerksamkeit mit möglichst vollständiger 
Hemmung der störenden Eindrücke und Vorstellungen als die 
wichtigste Bedingung des unmittelbaren Behaltens. Er weist 
besonders darauf hin, daß sich typische Differenzen aus der Art 
der Aufmerksamkeitsverteilung auf den dargebotenen Stoff er¬ 
geben, und unterscheidet zwischen totaler und diskreter Anf¬ 
merksamkeit. Bei ersterer verteilt die Vp. ihre Aufmerksamkeit 
gleichmäßig über die ganze Reihe und gewinnt so den Eindruck, 
als handele es sich um einen Aufmerksamkeitsakt, im zweiten 
Falle dagegen richtet sich die maximale Aufmerksamkeit auf 
jedes Glied für sich, so daß sich hier die einzelnen Akte gegen¬ 
einander abheben. Meumann spricht in diesem Sinne von 
Aufmerksamkeits- oder Lemtypen, mit denen die verschiedenen 
Vorstellnngstypen in vielfacher Beziehung stehen. Der akustische, 
motorische und visuelle Vorstellungstypus bedingen individuelle 
Arten des Behaltens; schon die Auffassnug des sinnlichen Ein¬ 
drucks ist eine durchaus verschiedene, noch mehr aber unter¬ 
scheidet sich das Einprägen selbst bei den einzelnen Typen. 
Jedoch sind Aufmerksamkeits- und Vorstellungstypus, wie aus 
zahlreichen Untersuchungen hervorgeht, durchaus nicht allein 
maßgebend für das Verhalten bei der Aufnahme und Reproduktion, 
sondern dieselbe Vp. kann sich unter verschiedenen Versuchs- 



224 


Dora Lttdeke, 


bedingungen ganz verschieden verhalten. Als Faktoren, die von 
Einflnfi auf den sensorischen Lemmodus sind, nennt Q. E.M&ller 
vor allem die Darbietungsweise, die Vorftthrnngsgeschwindigkeit, 
den Ermfldungszustand der Vp. sowie beim Lernen oder Her¬ 
sagen eintretende Störungen. Die Anssagen meiner Vpn. lassen 
besonders erkennen, in welch großem Maße die Darbietnngs- 
weise das Verhalten der Anfmei’ksamkeit beeinflußt, ich gebe 
daher eine Beihe von Aussagen Aber diesen Punkt wieder. 

§ 2 . 

Das Terhalten der AafiBerksamkelt unter Terschiedenea 
TersaehsbedingiiBirea« 

a) Visuelle Darbietung: 

1. Auftreten des diskreten Charakters. 

Zunächst seien die Aussagen deijenigen Vpn. wiedergegeben, 
die vorher an entsprechenden Versuchen mit akustischer Dar¬ 
bietung teilgenommen hatten. 

Vp. St berichtet nach den ersten Versuchen Aber das Auf¬ 
treten starker UnlustgefAhle und erklärt, daß die Sache doppelt 
so schwer erscheine als bei akustischer Darbietung. Vp. 
wundert sich Aber die große Unsicherheit bei nur wenigen Buch¬ 
staben und empfindet es unangenehm, daß die einzelnen Elemente 
sich nicht zusammenschließen. 

> Ungeheore Differenz gegenüber dem Aknstischen, die Buchstaben schlieffen 
sich nicht znsammen, zu sehr diskrete Aufmerksamkeit.« 

»Starke Verwischung. Diese ist Tom Akustischen her ganz ungewohnt, 
offenbar ist hier weit größere Anstrengung erforderlich. Beim Akustischen 
machte sich gewissermaßen alles von selbst, weil die Angliedemng der 
geistigen Akte aneinander zu einem geschlossenen Ganzen sich fast von 
selbst vollzog.« 

Vp. äußert wiederholt, daß das Fehlen eines angenehmen 
Erlebens vorliege, das bei den akustisclien Versuchen häufig 
hervortrat: 

»das Prftsentsein der zu einem Anfmerksamkeitsganzeu verschmolzenen 
Aufmerksamkeitsakte. In diesem Präsentsein war ein sehr angenehmes 
Aktivitätsgefühl gegeben«. 

»Auch der Btickblick ist ganz anders. Beim Akustischen habe ich 
vor der Reproduktion auf ein geschlossenes Ganzes zurttckgehlickt, dieses war 
die Summe aufgewandter psychischer Tätigkeit. Dabei hatte ich das Be¬ 
wußtsein: Ich kann mich darauf verlassen. Hier ist das Zurttckblicken 
schädlich, es traten nur einzelne Tatbestände auf.« 

Aus diesen Aussagen ergibt sich, daß die akustische und die 
visueUe Darbietungs weise ein durchaus verschiedenes Verhalten 
der Aufmerksamkeit bedingen, sowohl bei der Auffassung als 



Experimentelle üntersnchnogen ttber das unmittelbare Behalten nsw. 225 

auch vor der Reproduktion ergeben sich in beiden Fällen ganz 
yerschiedene Situationen. Der diskrete Charakter scheint in 
engem Zusammenhang mit dem Visuellen zu stehen, das Auf¬ 
treten der diskreten Größen wird als unangenehm empfunden, 
die so erzeugten Unlustgeföhle wirken hemmend. 

In einer späteren Aussage spricht Vp. die Vermutuug aus, 
•daß neben dem Visuellen vielleicht noch ein anderer Faktor fttr 
das Auftreten des diskreten Charakters in Betracht komme, 
nämlich der stete Wechsel, der gerade bei diesen Versuchen da¬ 
durch gegeben ist, daß das Material sich beständig am Auge 
der Vp. vorbeibewegt. 

»Der Eindrack des Diskreten war wieder sehr ausgeprägt. Dafi die Anf- 
merksamkeitsakte sich nicht aneinanderschlieflen, könnte anm Teil auch da- 
durch bedingt sein, dafi die ganzen Eindrücke anmhig werden durch den 
ateten Wechsel, den man vor Augen hat.« 

ln ähnlicher Weise betont auch Vp. E., daß sich ein aus¬ 
gesprochener Gegensatz im Verhalten der Vp. bei akustischer 
und optischer Darbietnngsweise ergibt. 

»Die Hauptsache ist hier das Behalten einzelner Buchstaben, die eine 
Reihe znsammensetzen, während beim Akustischen das Behalten der Reihe 
die Hauptsache ist, die durch die feste Beziehung der jSlieder zueinander 
als Einheit auftritt. Die Glieder ergeben sich sozusagen ans der Reihe, 
während sich beim Visuellen die Reihe ans den einzelnen Gliedern zusammen- 
setzt. Beim Tisnellen Merken werden die einzelnen Buchstaben manchmal 
nnregelmäfiig ans der Reihe heransgerissen gemerkt, hier sind namentlich 
die letzten Buchstaben im Vorteil, während bei aknstisch-motorischer Art 
vor der Reproduktion ganz besonders auf den ersten Antrieb geachtet wird. 
Wenn das verfehlt ist, so ist auch die ganze Reproduktion stark gestört, 
vielleicht unmöglich; visuell dagegen ist das Ausfallen einzelner Glieder, 
ja sogar ganzer Teile kaum wichtig.« 

Auch hier tritt uns der Gegensatz zwischen einer visuell 
und einer akustisch dargebotenen Reihe scharf entgegen. Bei 
letzterer ergeben sich die Glieder ans der Reihe, während sich 
beim Visuellen die Reihe aus den Gliedern zusammensetzt. Diese 
Aussage interessiert uns besonders im Zusammenhang mit dem 
im Teil I wiedergegebenen Protokoll der Vp. E., wonach dieser 
verschiedene Charakter von großem Einfluß auf die Art der 
Fehler ist. »Die akustische Reihe kann nur in der mehr oder 
weniger richtigen Reihenfolge reproduziert werden, während man 
bei visueller Reproduktion auch einzelne herausgreift, ohne zu 
wissen, welche ihnen vorangehen.« 

Eine Bestätigung der bisherigen Aussagen geben auch die 
der Vpn. K und A. Beide betonen, daß die Buchstaben einzeln 
auf treten und daß sie keine reihenmäßige Verbindung haben. 
Die Vpn. B., H. und K., die noch nicht an akustischen Versuchen 

Archiv fQr Psychologie. XLVm. 16 



226 


Dora Lttdeke, 


teilgenommen hatten, betonen wiederholt, daß es schwer sei, die 
Buchstaben in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben, da der 
Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern völlig fehle. 
Es wird beobachtet, daß der neu ankommende Buchstabe so im 
Blickfeld des Bewußtseins steht, daß er die ganze Aufmerksam¬ 
keit auf sich zieht und dadurch die anderen ziemlich verdrängt. 


2. Die Heranziehung des Sprachmotorischen. 

Die Vpn. versuchen nun, auch bei dieser Darbietungsweise 
bessere Resultate zu erzielen, und zwar vor allem durch stärkere 
Betonung des motorischen Faktors. Ans den Aussagen der Vp. St. 
geht hervor, daß es längerer Zeit bedarf, bis sie zu einer be^ 
friedigenden Einstellung gelangt; zunächst treten noch Unlust¬ 
gefühle auf, die störend wirken, doch wird das ganze Verhalten 
ruhiger, je mehr sich das sprachmotorische Element ansprägt. 

»Die Unlastgefühle scheinen etwas schwächer geworden ko sein. Ea 
war noch Unsicherheit vorhanden, aber weniger als früher. Das Motorische 
wurde stärker betont ohne lantes Sprechen. Der Znsammenschlaü war nnr 
angedentet als Aneinanderschiefien.« 

Vp. fügt dann die psychologische Vermutung hinzu, daß sich 
das motorische Aneinanderschießen vielleicht nicht so leicht 
mache wie das akustische, 

»nicht, als oh die Assoziation da mehr erschwert wäre (was vielleicht auch 
der Fall sein mag), sondern es fehlt der Eindruck des Ganzen; beim Rück¬ 
blick auf den Tatbestand erscheint er nicht als Ganzes im Gegensatz znm 
Akustischen.« 

Interessant ist hier das »Aneinanderschießen im Bewußtsein«, 
durch das ein Zusammenschluß der Buchstaben nur angedeutet 
wird und das also von der Innigkeit der Assoziation zu unter¬ 
scheiden ist Es fragt sich nun: ist nicht vielleicht auch die 
letztere auf akustischem Gebiet größer als auf motorischem? 
Eine Entscheidung läßt sich vielleicht auf Grund der visuell- 
akustischen Darbietung fällen, wo die beiden Faktoren neben¬ 
einander wirken. 

In einer späteren Aussage hebt Vp. St hervor, daß eine viel 
größere Anstrengung dadurch erforderlich ist, daß das Sprach¬ 
motorische willkürlich herangezogen wird. 

»Man hat den Eindruck, als ob man hier viel stärker als beim AkuatischeD 
mit der Erkennung beschäftigt ist. Es scheint, als ob der Weg zum Sprach¬ 
motorischen vom Visuellen aus viel schwächer ist als der vom Akustischen 
ans, so daS die willkürliche Setzung des Sprachmotorischen einen viel 
größeren Aufmerksamskeitsaufwand erfordert.« 



Experimentelle Untersnchnngen ttber das nnmittelbare Bebalten nsw. 227 

Von einer mehr unwiUkflrlichen sprachmotorischen Innervation 
berichten folgende Aussagen: 

»Das Aassprechen war fast nnwillkOrlich. Zn Anfang war eine leichte 
willkttrliche Untersttttanng des Anssprechens gegeben fttr die beiden ersten 
Bnchstaben, yielleicbt hat der Willkttrakt auch noch nachgewirkt. Dieses 
Verhalten erscheint mir sehr sweckm&ßig, es wird der motorische Faktor 
verst&rkt, ohne daß der Anfmerksamkeitsakt darunter leidet.« 

»Diskreter Charakter geringer als im Anfang der Ver* 
suche, das scheint damit ansammenznhftngen, daß das 
Sprachmotorische weniger willkürlich ist.« 

Vp. St sieht deutlich, daß es fttr sie schädlich ist, daß die 
motorische Beziehung zu schwach ist gegenttber dem Visuellen; 
sie spttrt, daß sie einen wUlkttrlichen Impuls in einemfort er¬ 
neuern muß. Diese willkttrliche Erneuerung stört die Aufmerk¬ 
samkeit und setzt die Leistungen herab. Dabei weiß Vp. ans 
akustischen Versuchen, daß sie nicht nur akustisch, sondern auch 
stark motorisch ist 

Aus diesen Aussagen ergibt sich, wie wenig eng die Be¬ 
ziehung zwischen dem Visuellen und Motorischen ist. Der moto¬ 
rische Apparat funktioniert nicht so, daß ein Gesamtimpnls ge¬ 
nügt, er muß immer wieder erneuert werden, damit von dem 
Gesichtsbilde aus der motorische Impuls zustande kommt Die 
wenig enge Beziehung tritt noch schärfer hervor, wenn wir in 
Betracht ziehen, daß natürlich bei diesem Verhalten der Vor- 
stellungstypus ungeheuer viel ausmacht, und daß ein Danerimpnls 
selbst bei einem ausgesprochen motorischen Typus nicht ans¬ 
reicht. Bedeutungsvoll ist ferner, daß die Größen weniger diskret 
nebeneinander treten, wenn das Sprachmotorische mehr nnwill- 
kfirlich anftritt. Der diskrete Charakter scheint also etwas ab¬ 
zuhängen von der willkürlichen Setzung des Sprachmotorischen. 

Als weiterer Faktor für das Nichtauftreten eines Aufmerk¬ 
samkeitsganzen tritt uns der Tatbestand entgegen, daß die Auf¬ 
merksamkeit durch die Augenbewegung zerrissen wird; die Vp. 
kommt infolgedessen nicht zu maximaler Konzentration der Auf¬ 
merksamkeit. 

Auch Vp. E. bedient sich bei visuell gegebenen Beihen der 
sprachmotorischen Innervation, um bessere Resultate zu erzielen, 
und macht darüber eine Reihe von Aussagen : 

»Das Visaelle hat nicht geholfen, Vp. verläßt sich hauptsächlich anf 
das Motorische. Die visnellen Hilfen bestanden darin, daß die einzelnen 
Buchstaben, die mehr individuell auftraten, diese sprachmotorische Inner¬ 
vation unterstützten. Unter den bestimmten Aufmerksamkeitsbedingungen 
trat eine Leichtigkeit des Erscheinens der nachfolgenden Buchstaben anf, 

15* 



228 


Dora Lttdeke, 


als ob Vp. sich gesagt bäte: Ich bin ganz eingestellt auf die Erfttllnng 
einer Aufgabe, so dafi alles, was nun folgt, dieser Einstellnng entsprechen 
wird. Je leichter es erfolgt, desto besser worde ihm also durch die Ein¬ 
stellnng auf die Aufgabe Torgearbeitet.« 

Hier ist also das Wirksamwerden der durch die Einstellnng 
geschaffenen psychischen Wirkungsart als Grand für die Leichtig¬ 
keit des Erscheinens der einzelnen Glieder anzusehen. Der Über¬ 
gang zum Sprachmotorischen vom Visuellen aus scheint sich bei 
Vp. E., die stark motorisch ist, leichter zu vollziehen als bei 
Vp. St.; wir hören nichts darüber, daß das willkürliche Setzen 
sprachmotorischer Impulse das Auftreten eines Aufmerksamkeits¬ 
ganzen hemmt. 

Vp. A. zieht ebenfalls das Sprachmotorische heran, arbeitet 
aber daneben mehr als Vp. St. und Vp. E. mit dem Visuellen. 
Die Eeproduktion gründet sich auf motorische Innervationen und 
optische Bilder, längere Zeit hindurch kann Vp. nicht sagen, 
welches dieser Elemente überwiegt. 

»Die Auffassung der einzelnen Buchstaben war optisch gut, anSerdem 
zog ich sprachliche Inneryationen heran. Ich kann noch nicht entscheiden, 
ob die optischen Bilder primär oder sekundär waren. « 

Bei den späteren Versuchen tritt das Optische mehr in den 
Hintergrund, das Sprachmotorische wird immer mehr heran¬ 
gezogen. 

»Ich habe den Eindruck, als wenn das Sprachmotorische in erster Reihe 
stände, das Visuelle tritt ergänzend hinzu. Das Optische ist dabei lücken¬ 
haft, die sprachmotorischen Elemente bilden die feste Kette.« 

Bei der Auffassung sind also die optischen Bilder das un¬ 
mittelbar Gegebene. Da sie aber isoliert auftreten und sich 
nicht zusammenschließen, muß eine Umsetzung ins Sprachmoto¬ 
rische erfolgen. Ist diese gelungen, so spielt das motorische 
Element bei der Wiedergabe die führende Rolle, das Optische 
wird zwar mit herangezogen, doch gibt es allein keine Gewähr 
für eine befriedigende Reproduktion. Von Vp. Kf. liegt über 
das Heranziehen des Sprachmotorischen folgende Aussage vor: 

»Ich habe das Bewußtsein, sehlecht reproduziert zu haben. Das Sprach¬ 
motorische versagte diesmal, auf das Optische alleiu kann ich mich nicht 
verlassen.« 

Die betreffende Reihe wies tatsächlich viele Fehler auf, sie 
war also zu Fall gebracht durch das Versagen des motorischen 
Faktors. 

Die vorstehenden Aussagen zeigen, wie wichtig die Heran¬ 
ziehung des Sprachmotorischen für die Überkompensierung des 



Experimentelle Uotersaebnngen ttber das unmittelbare Bebnlten nsw. 229 

diskreten Charakters des Visuellen ist. Versagt der motorische 
Faktor, so fällt die Reihe auseinander. 

Es ergibt sich hier ein Gegensatz zu den Feststellungen 
Me um an ns auf Grund des Verhaltens seiner beiden Vpn. D. 
und Fr., von denen der erstere Akustiker, der letztere Motoriker 
ist. Der Motoriker zeigt den diskreten Anfmerksamkeitstypns, 
während der Akustiker eine Art Totalanfmerksamkeit hat. 
Menmann kommt nun zu dem Schluß, daß sich ein deutlicher 
innerer Zusammenhang zwischen den Gedächtnismitteln der beiden 
Vpn. und dem Verhalten ihrer Aufmerksamkeit verrät Er glaubt, 
»daß es das motorische Mittel des Behaltens ist, die Nötigung, 
jeden einzelnen Buchstaben mit einer besonderen Sprachinner- 
vation zu begleiten, was der Aufmerksamkeit des F. die Rich¬ 
tung auf die Glieder der Reihe gibt, während es umgekehrt für 
den Akustiker gänstiger ist, wenn er erst die einzelnen akustischen 
Glieder seiner Elangbildreihe zum Ganzen verschmelzen läßt, 
um nur dieses zu reproduzieren«. Die Vpn. St, E. und A. haben 
alle akustisch-motorischen T3rpus, das motorische Element tritt be¬ 
sonders bei Vp. E. stark hervor, bei allen drei Vpn. läßt die Heran¬ 
ziehung des Sprachmotorischen den diskreten Charakter znrück- 
treten. M. Moers, die zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, weist 
darauf hin, daßMeumann^) an andererstelle den motorischen 
Typus in zwei speziellere Typen, den kinästhetischen und den 
motorisch-impulsiven, scheidet. Nur der letztere, bei dem über¬ 
mäßig starke Bewegnngsimpnlse gesetzt werden, zeigt die dis¬ 
krete Aufmerksamkeit Während wir es nun mit dem kinästhe¬ 
tischen Typus zu tun haben, hatte M e n m an n bei seinen Versuchen 
offenbar einen impulsiv-sprachmotorischen Typus vor sich. So 
hebt sich der Widerspruch. 


3. Scheidung der Anteile von Aufmerksamkeits¬ 
akten und Empfindungsinhalten am Auftreten des 
diskreten Charakters. 

Ein neues Moment für den geringeren Zusammenschluß der 
Größen bei visueller Darbietung tritt uns in folgenden Aussagen 
der Vp. St. entgegen: 

»Die Reproduktion erfolgte anf Ornnd des Motorisebeu. 
Einige Glieder traten visuell anf, die übrigen scblossen sieb 
spracbmotoriscb eng aneinander an, so dafi sie dadurch ge¬ 


ll Henmann, Experimentelle Pädagogik Bd. 2 S. 587. 



230 


Dora Lttdeke, 


■ ichert waren, aber dieser Anschlnfi ist anders als beim 
Akastischen, dort sind es die Anfmerksamkeitsakte, hier die 
Empfindnngsinhalte, die sich znsammenschliefien.« 

»Nichts gemerkt von AneinanderschlieSen von Anfmerksamkeitsakten. 
Der unmittelbare Eindrack, den man beim Vergleich hat, ist nicht einmal 
so stark der, dafi beim Akustischen ein kontinuierlicher Tatbestand ist und 
hier ein diskreter; man hat diesen Eindruck wohl, aber großer ist die 
Differenz, die darin besteht, daß das eine Mal die Beproduktion an das Auf* 
merksamkeitsganze gebunden ist, das andere Mal an den Empfindungsinhalt. 
Beim Visuellen scheint es mehr der Aneinanderschlnß der Empfindungs- 
inhalte zu sein.« 

Es sind ans also zwei Möglichkeiten zur Erklärung der 
innigeren Assoziation beim Akastischen gegeben: 

a) Der Zusammenschloß der Anfmerksamkeitsakte ist 
bei akustischer Darbietung größer; bei visueller Darbietung 
sind die Aufmerksamkeitsakte beeinträchtigt durch die Not¬ 
wendigkeit, das Sprachmotorische heranzuziehen. 

b) Daß die Anfmerksamkeitsakte sich zusammenschließen, ist 
Illusion, in Wirklichkeit handelt es sich um einen Zu¬ 
sammenschluß von Empfindungsinhalten. 

Eine Entscheidung kann erst auf Grund der Versuche mit 
visuell-akustischer Darbietung gegeben werden. 

Zusammenfassend können wir jedenfalls äber das Verhalten 
der Aufmerksamkeit bei visueller Darbietung folgendes sagen: 

Bei visueller Darbietung tritt in ausgeprägter Weise der Ein¬ 
drack des Diskreten hervor. Es fehlt der Zusammenschluß 
der einzelnen Glieder, so daß der Eindrack eines psychischen 
Ganzen nicht zustande kommt. Die willkürliche Setzung des 
motorischen Faktors hat den Nachteil, daß sie einen großen 
Aufmerksamkeitsaufwand erfordert, da der Weg vom 
Visuellen zum Sprachmotorischen schwächer ist als der vom 
Akastischen aus. Eine mehr unwillkürliche sprachmotorische 
Innervation scheint daher für das Zustandekommen eines Auf¬ 
merksamkeitsganzen zweckmäßiger zu sein. 

Das Auftreten des Diskreten wird ferner dadurch verstärkt, 
daß durch Augenbewegung ein Zerreißen der Auf¬ 
einanderfolge psychischer Akte stattfindet 

Außer durch den fehlenden Zusammenschluß von Aufmerk- 
samkeitsakten kann der diskrete Charakter auch dadurch be¬ 
günstigt werden, daß die bei Visueller Darbietung auftretenden 
Faktoren, das Visuelle und das Sprachmotorische, 
nicht gleichwertig sind. 

Eine besonders günstige Einstellung scheint dadurch gegeben 
zu sein, daß die Vp. die Aufeinanderfolge der motorischen Inner- 



Experimentelle Untersachangen ttber das unmittelbare Behalten asw. 231 

Tationen mit der Aufmerksamkeit betont. Es wird hierdurch ein 
periodischer Wechsel der Aufmerksamkeit yermieden, der sich 
leicht dadurch ausbildet, daß der Übergang yom Visuellen zum 
Sprachmotorischen sich relativ schwer vollzieht. Diese Ein« 
atellnng ermöglicht es, auch beim Sprachmotorischen totale Auf* 
merksamkeit zustande zu bringen. 

Ungünstig wirkt zuletzt die Entwicklung starker Spannungs* 
Empfindungen, während eine leichte Erregung von vorteil* 
haftem Einfluß auf die Gewinnung guter Resultate ist. 

b) Visuell akustische Darbietung. 

(Die Vp. spricht die Buchstaben beim Lesen laut aus.) 

1. Das Zurücktreten des diskreten Charakters. 
Aussagen der Vpn. 

Vp. St.: »Das ganze Erleben ist ein viel Tolleres, man merkt das, was 
Fechner als den nachbildartigen Charakter bezeichnet, riel mehr 
als nur beim Sehen.« 

Vp. E.: »Bei dieser Darbietung gewinnt die Beprodoktion wieder den 
motorisch •akostischen Charakter des Hemnterrasselns. Die Buchstaben 
schlossen sich mit großer Leichtigkeit aneinander; diese Leichtigkeit und 
Bestimmtheit bewirkten das Bewußtsein einer Sicherheit in bezug auf die 
Bichtigkeit. Dabei konnte Vp. kaum einen einzigen Buchstaben als solchen 
ans der Beihe hervorheben, sie bildeten gleichsam nur Bestandteile eines 
Übergeordneten Ganzen der Beihe.« 

V p. A.: »Vp. hOrt in der Panse ihre eigene Stimme. Das visuelle Bild 
tritt ganz znrOck, auch die motorischen Innervationen werden schwächer, 
der Schwerpunkt scheint im Akustischen zu liegen. Vp. hat das Gefühl 
als schlösse sich die Beihe wieder mehr zusammen.« 

Vp. AL: »Bei dieser Darbietung wird der Zusammenhang, der beim 
rein Visuellen verloren geht, wiederhergestellt. Es ist gewissermaßen 
«ine Melodie da, es kommt eine ganz neue Gesamtqnalität zustande, was 
beim Visuellen nicht der Fall ist.« 

Vp. H.: »Diese Darbietnngsweise ist angenehmer, ein Buchstabe zieht 
immer den anderen wie von selbst nach sich, das erleichtert die Bepro* 
duktion sehr.« 

Vp. Ef.: »Das Verhalten ist einfacher durch den engeren Zusammen* 
Schluß der Glieder. Beim Visuelleu mußte man sich Mühe geben, sich bei 
der Beproduktion jeden einzelnen Buchstaben ins Gedächtnis zurUckzumfen, 
hier schließen sie sich von selbst aneinander, so daß sich der Übergang von 
«inem zum anderen fast mühelos vollzieht.« 

ln diesen Aussagen hemcht große Übereinstimmung darüber, 
4aß bei visuell-akustischer Darbietung der dis¬ 
krete Charakter verschwindet. Es sollen nun die ein¬ 
zelnen Faktoren zusammengestellt werden, die nach den Aus¬ 
zagen der Vpn. den Zusammenschluß unterstützen. Es sind 



232 


Dora Lttdeke, 


a) Das Anssprechen der Buchstaben. 

Darüber sagt Vp. St.: 

»E8 ist, als ob da ein Ganzes heransk&me, anf das ich mich nur an 
konzentrieren brauchte, damit die Beprodnktion zustande kommt. Sehr dent> 
lieh trat folgender Tatbestand anf: Das Anssprechen selbst wirkte stark 
unterstützend auf die Reproduktion. Sobald ich die Buchstaben ansspreche, 
habe ich einen ähnlichen Tatbestand als ich bei der Darbietung hatte 
Weniger günstig ist, daß man zum lauten Lesen eines jeden Buchstabens 
Willensimpnlse setzen muß, dadurch wird die Auffassung etwas gestbrt, 
doch tritt dieser Nachteil hinter dem erwähnten Vorteil beträchtlich zurück. 
Das Akustische wirkt hier noch stärker als bei akustischer Darbietung durch 
andere.« 

Ähnlich äußert sich Vp. Al.: 

>Die Tendenz des Sprechens ist zuerst nicht vorhanden. Es erfordert 
einen besonderen Willensimpnls, daß das Sprechen einsetzt. Die Aufmerk* 
samkeit ist erst nach außen eingestellt, der Übergang, die Aufmerksamkeit 
von außen nach innen zu richten, erfordert immer Anstrengung, trotzdem 
erfolgte die Reproduktion leicht und mit dem Gefühl großer Sicherheit.« 

Vp. St. ergänzt ihre frühere Aussage noch dadurch, daß sie 
Auskunft darüber gibt, wie die reproduzierende Wirkung des 
Aussprechens gemerkt wird. Zunächst bemerkt Vp. einen Unter¬ 
schied darin, ob sie die Keihe noch einmal ganz überblickt, oder 
ob sie beim Zurückschauen Halt macht. 

»Bemerkt wird unmittelbar, daß das Bewußtsein der Reihe sehr viel 
undeutlicher ist beim Überblicken als beim Anssprechen eines bestimmten 
Buchstabens. Mache ich bei einem bestimmten Buchstaben Halt, so tritt 
der nächste mit großer Deutlichkeit anf.« 

Wir haben hier also die Aussage als Vp. und die psycho¬ 
logische Deutung nebeneinander; im ersten Falle die Feststellung 
einer tatsächlichen Differenz bei beiden Darbietungsweisen, im 
zweiten die Deutung des sich bei den verschiedenen Arten des 
Rückschauens ergebenden Unterschieds als herkommend vom 
Aussprechen. Die Ähnlichkeit des zweiten Tatbestandes mit dem 
ersten scheint also das ausschlaggebende Moment zu sein. Bei 
visueller Darbietung ist ein ähnlicher Tatbestand nicht gegeben, 
dadurch konnte dort das Anssprechen selbst geradezu störend 
wirken und war mit dem Auftreten von Unlustgefühlen ver¬ 
bunden. Bei akustischer Darbietung war der ähnliche Tatbestand 
zwar durch das Aussprechen an und für sich gegeben, aber nicht 
in dem Maße wie hier, wo noch hinznkommt, daß es sich beide 
Male um den Klang derselben Stimme handelt. Die Unterstützung 
durch das Aussprechen ist so stark, daß sogar der Nachteil, der 
durch das Setzen von Willensimpnlsen zum Aussprechen der 
einzelnen Buchstaben entsteht, stark überkompensiert wird. 



Experimentelle Unterenchnngen über das unmittelbare Behalten nsw. 233 


ß) Beduziernng der Willensakte. 

In den vorhergehenden Anssagen trat hervor, daß die Vpn. 
immer einen besonderen Impuls zum Anssprechen setzen müssen» 
Nach weiteren Aussagen der Vp. St. ist es Äußerst wichtig, »daß 
dieser Willensakt des Impnlsgebens im Bewußtsein auf ein 
Minimum beschränkt wird«. In dem starken Hervortreten der 
einzelnen Willensakte ist also ebenfalls ein Faktor gegeben, der 
den diskreten Charakter begünstigt. Bas Resultat hängt zum 
Teil davon ab, ob es gelingt, diese Willensakte zu beschränken. 

/) Die Einstellung der Aufmerksamkeit 

Über diesen Punkt sagen Vpn. St., A. und Kf. mit großer 
Übereinstimmung ans, daß der Aneinanderschlnß fehlt, sobald zu 
viel Aufmerksamkeit auf das Lesen verwendet wird. Auch bei 
dieser Darbietung bringt das Akustische allein nicht den Zu¬ 
sammenschluß zustande, sondern es ist nötig, daß die Aufmerk¬ 
samkeit richtig eingestellt wird. Lenkt sie sich zu sehr auf 
das Visuelle, so wird das Ganze zerrissen. Um einen Zusammen¬ 
schluß zu ermöglichen, muß das Visuelle aus dem Blickpunkt 
der Aufmerksamkeit heransgerückt werden. 

Sehr schön tritt uns die verschiedene Richtung der Aufmerk¬ 
samkeit der beiden Darbietungsweisen in folgender Aussage der 
Vp. AL entgegen: 

»Die Anfmerksamkeit ist hier ganz anders gerichtet als beim Visnellen. 
Anfangs wird sie auf den AnSenreis eingestellt; sobald das Sprechen an- 
flngt, ist sie nach innen gerichtet. Was im Bewnfitsein erhalten bleibt, 
sind die Spnren des Aknstisch-Motorischen, während das Yisnelle sofort ans 
dem Bewnfitsein Terschwindet, manchmal schon Tor dem Verschwinden des 
Beines.« 

d) Zusammenwirken von Aufmerksamkeit und 

Empfindung. 

Darüber sagt Vp. St: 

»Ich habe den Eindmck, dafi zwar der Znsammenschlnfi zustande ge¬ 
bracht war durch Empfindnngsinhalte und Anfmerksamkeit, dafi aber letztere 
doch nicht eine so starke Rolle spielt wie frfiher, als ich mich auf das 
Sprachmotorische verliefi. Mir scheint, als ob die Aufmerksamkeit auch 
etwas anderer Art wäre wie heim Aneinanderschlnfi von Bewegungsemp- 
findnngen, hier ist sie mehr nnwillkttrlich, dort mehr willkürlich.“ 

Hier wird also die Rolle der Anfmerksamkeit zwar etwas 
eingeschränkt gegenüber ihrer Bedeutung bei rein visueller Dar¬ 
bietung, aber es handelt sich nur um ein Zurücktreten, nicht 
um ein Ausscheiden dieses Faktors. Die Frage: »Schließen 
sich die Anfmerksamkeits- oder Empfindungsin- 



234 


Dora Lttdeke. 


halte zusammen?« entscheidet sich also dahin, daS 
wir es mit einem Zusammenwirken beider Faktoren 
zu tun haben, wobei allerdings die Aufmerksam* 
keit anderer Art ist als früher, indem es sich hier 
um eine mehr unwillkürliche Aufmerksamkeit 
handelt. 

2. Zusammenfassende Übersicht über die Beteili¬ 
gung der Aufmerksamkeit bei yisuell-akustischer 

Darbietung. 

Die Sprechbewegungsempfindungen können sich ebenso gut 
zusammenschließen wie die Elangempfindungen, am Zusammen¬ 
schluß wird man gehindert 

1. durch das Visuelle; 

2. durch eine Seite des Motorischen, nicht durch die Be- 
wegnngsempfindnngen, die beim Sprachmotorischen anftreten, 
auch nicht durch die Sprachbewegungen selbst, sondern durch die 
zeitweilig auftretenden einzelnen Willensimpulse zu motorischer 
Innervation. Richtet sich die Aufmerksamkeit auf den Klang 
oder die Sprechbewegungsempfindungen, so wird die psycho¬ 
physische Energie von anderen Momenten abgezogen, die übrigen 
Prozesse laufen mit einem Minimum von Aufmerksamkeits- bezw. 
Willensaufwand ab. 

Es kommt hier besonders darauf an, daß eine Aufmerksam¬ 
keit sich richtet auf die sich aneinanderschließenden Klänge 
oder Bewegungsempfindungen oder auf beides zusammen. Die 
in den Intervallen liegenden psychischen Akte bleiben unbeachtet, 
dadurch kommt der Zusammenschluß zustande. Nach Vp. St. 
wird »durch ein sich bildendes akustisches Empfindungsganzes 
totale Aufmerksamkeit angereg^t«. 

Es wirken also Empfindung und Aufmerksam¬ 
keit zusammen; die Aufmerksamkeit bringt — je 
nach ihrer Richtung — zugleich eine Verstärkung 
und Überbrückung zustande; denn 

1. läßt sie die Empfindungen deutlicher heraus¬ 
treten; 

2. bewirkt die Richtung der Aufmerksamkeit auf 
diese Empfindungen die Nichtbeachtung anderer in 
den Intervallen auftretender psychischer Prozesse 
und begünstigt dadurch den Aneinanderschluß der 
von ihr selbst verstärkten Prozesse; 

3. schließen sich die Aufmerksamkeitsakte selbst 



Experimentelle Untersnchnngen ttber du anmittelbare Behalten nsw. 235 

zasammen, die Auffassung aber, als sei der Zn- 
sammenschluß der Glieder allein durch den Zu* 
sam men sch Infi von Aufmerksamkeitsakten bedingt, 
scheint illusionär zu sein. 

Über das Zustandekommen dieser Illusion sagt Vp. St. fol¬ 
gendes aus: 

»worden sich nur die Empfindungsinhalte xasammenschließen, so könnte 
keine ülasion entstehen; so ist hier die Sache aber nicht, sondern es hat 
sich heraosgestellt, daß tatsächlich die Anfmerksamkeit beim Zustande¬ 
kommen des Totaleindrncks in stärkster Weise mitwiikt. Vp. merkt diese 
starke Beteiligting, kommt dadurch zu der illusionären Auffassung, die Auf¬ 
merksamkeit sei allein maßgebend, und betont sie einseitig als einzigen 
Faktor.« *) 

Es liegt zuletzt noch eine vierte Wirkungsweise der Anf¬ 
merksamkeit nach dieser Richtung vor. 

Eine Charakterisierung dieser Wirkungsweise gibt folgende 
Aussage der Vp. St.: 

»Ich wollte wUlkOrlich zustandebringen, wu im vorhergehenden Ver¬ 
suche unwillkOrlich entstand, ich wollte in erster Linie laut aassprechen 
und dadurch eine stärkere Beachtung der akustischen Faktoren herbeifOhren. 
Die Aufmerksamkeit blieb jedoch zu lange bei den einzelnen akustischen 
Tatbeständen stehen, diese stellten sich mir ganz isoliert dar als diskrete 
OrOfien.« 

Das schlechte Resultat kommt also hier dadurch zustande, 
daß die Aufmerksamkeit so einseitig auf die einzelnen akustischen 
Größen gerichtet wurde, daß die ftbrigen Reproduktionsfaktoren 
in ihrer Wirkung dadurch sehr stark herabgesetzt wurden. 
Vp. St fftgt aber noch hinzu, daß durch dieseRich- 
tung der Aufmerksamkeit noch etwas anderes litt, 
das sie als »Akt des Zusammenfassens der Ein¬ 
drücke« bezeichnet Diese Bestimmung ist sehr wichtig. 
Dieser Akt stellt sich der Vp. da, wo er fehlt, als etwas ganz 
Besonderes dar: Ȁhnlich wie einzelne psychopatho- 
logische Fälle dadurch für die psychologische 
Analyse interessant werden, daß ihnen etwas fehlt, 
was in der Norm vorhanden ist, so daß man erst 
durch dasFehlen in pathologischen Fällen auf das 
Vorhandensein in normalen aufmerksam wird, führt 
hier das Fehlen des Zusammenfassens der Ein¬ 
drücke auf die Beachtung dieses Aktes als eines 

1) Ein weit stärkeres Blervorheben des ZusammenschluaBes 
von Aufmerksamkeitsakten hat sich ebenfalls bei unmittelbarem 
Behalten unter Bedingungen gezeigt, unter denen Schorn gearbeitet hat; 
vgL dieses Archiv Bd. XLTTT S. 121. 



236 


Dora Lttdeke, 


bei normaler Eeproduktion vorhandenen.« Vp. be¬ 
zeichnet dieses Vorhandensein als dieselbe Art von 
Akt, wie sie sich vollzieht bei der Zusammenfas¬ 
sung von Prämissen als Mittel zur Entwicklung 
des Schlusses. 

Unsere Auf zählang der verschiedenen Arten des 
Wirkens der Aufmerksamkeit haben wir also durch 
einen vierten Punkt zu ergänzen: Es kann entstehen 

4. ein Aufwand von Aufmerksamkeit för die Zu¬ 
sammenfassung der aufeinanderfolgenden psychi¬ 
schen Komplexe, das ist ein besonderer Akt der 
Synthesis außer dem Sichzusammenschließen von 
Auf merksamkeitsakten. 


B. Reproduktionsprozesse. 

§ 1 . 

BlehtigkeitsbewnßtseiB and Wiedererkeuten. 

Die im vorigen Abschnitt charakterisierten Arten der Ein¬ 
stellung sind von großer Bedeutung für die Wiedergabe der 
Reihen. Alle Teile der während der Darbietung im Zentrum 
des Bewußtseins stehenden psychischen Prozesse stehen zueinander 
in inniger Beziehung. Durch die Einstellung ist eine psychische 
Wirkungsart geschaffen, deren Wirksamwerden sich in einer 
größeren oder geringeren Leichtigkeit des Auftretens der ein¬ 
zelnen Glieder zeigt. 

Zeigt sich nun unter bestimmten Aufmerksamkeitsbedingungen 
eine Leichtigkeit des Erscheinens der einzelnen Buchstaben, so 
ist die Wiedergabe mit einem Gefühl der Sicherheit verbanden, 
ohne daß schon von einem eigentlichen Wiedererkennen die Rede 
sein kann. 

Der Unterschied zwischen dem bloßen Richtigkeitsbewußtsein 
und dem eigentlichen Wiedererkennen tritt in den Aussagen der 
Vpn. deutlich hervor. Sie unterscheiden zweierlei Arten der 
Beurteilung des Reproduzierten, einerseits eine kontinuierliche 
Reproduktion, wo ein Buchstabe den andern nach sich zieht 
und ein eigentliches Wiedererkennen für den einzelnen Buch¬ 
staben nicht auftritt. Manchmal wird diese Reproduktion von 
dem allgemeinen Bewußtsein bekleidet, daß, wenn man sich auf 
den einzelnen Buchstaben speziell besinnen wollte, er auch als 
solcher wiedererkannt würde, doch ist dieses Bewußtsein nicht 
immer vorhanden, trotzdem werden ziemlich hohe Grade der 



Experimentelle Untersnchnngen über das unmittelbare Behalten nsw. 237 

Sicherheit erreicht. Diese Art des Vei’haltens tritt hauptsächlich 
bei akustisch-motorischer Reproduktion auf. Bei der zweiten 
Art werden die einzelnen Buchstaben wiedererkannt, die Be¬ 
stimmtheit ihres Auftretens unter der betreffenden Einstellung 
spielt eine große Rolle als konstituierender Bestandteil für das 
Auftreten des Sicherheitsgefühls. Dies Verhalten tritt haupt¬ 
sächlich — fast ausschließlich — bei visueller Reproduktion auf 
Vp. E. hebt noch besonders hervor, daß die Sicherheit beim 
visuellen Wiedererkennen zum Teil darauf beruht, daß der visu¬ 
elle Buchstabeneindruck sich als Glied eines Ganzen demselben 
fest einfügt, aber nicht des Ganzen im Sinne der zeitlich aus¬ 
gedehnten Buchstabenreihe, sondern als Teil des Gesamtbewußt¬ 
seins, welches da war allgemein bei der Vorweisung der Reihe 
und speziell bei der Wahrnehmung des betreffenden Buchstabens. 
Von dem allgemeinen Zustand, in dem sich die Vp. im Augen¬ 
blick der Aussage befindet, führt eine mehr oder weniger deut¬ 
liche Erinnerung zurück zu dem Zustande, in dem sie sich bei 
der Auffassung des Buchstabens befand, und in diesem letzten 
Querschnitt des Bewußtseins findet sich als fester Bestandteil 
der betreffende Buchstabe eingeschlossen. 

Von einem eigentlichen Wiedererkennen im Gegensatz zum 
bloßen Richtigkeitsbewußtsein kann erst dann die Rede sein, 
wenn zu dem Gefühl der Sicherheit eine Erinnerung hinzutritt, 
d. h. die Überzeugung, daß der Inhalt des Reproduzierten tat¬ 
sächlich etwas früher von der Vp. Erlebtes darstellt. Schließt 
sich an diese Überzeugung noch ein Identifikationsprozeß zwischen 
dem Erleben bei Darbietung und Reproduktion an, so haben wir 
es mit einem Wiedererkennen zu tun. 

§ 2 . 

Kriteiien für Wledererkennen und Blchtlgkeitsbewnfitseiii. 

Es fragt sich nun, von welchen Kriterien es abhängig ist, 
ob die reproduzierten Glieder von den Vpn. für richtig angesehen 
werden. Ich unterscheide zwischen direkten Kriterien, die zu 
einem eigentlichen Wiedererkennen führen, und indirekten Kri¬ 
terien, die für das Zustandekommen eines Richtigkeitsbewußtseins 
genügen, ohne daß die einzelnen Glieder wiedererkannt werden. 

1. Direkte Kriterien, 
a) Verifikation durch das Visuelle. 

Als Hauptkriterium für das Zustandekommen eines eigent¬ 
lichen Wiedererkennens unter den gegebenen Versuchsbedingnngen 



238 


Dora Lüdeke, 


wird von allen Vpn. die Verifikation durch das Visuelle genannt, 
die sich auf Bekanntheitsqnalität grttndet. Es kommt aber noch 
ein wesentlicher Faktor hinzn. Mit Sicherheit können fast alle 
Vpn. anssagmi, daß der Buchstabe nicht allein erscheint, sondern 
mit dem Fensterchen zusammen, das zugleich mit der mehr oder 
weniger bestimmten Form des Buchstabens, der weißen Unter¬ 
lage usw. deutlich im Bewußtsein auftritt Sobald sich diese 
Bestimmtheit des visuellen Eindrucks des Buchstabens sowohl 
als seiner unmittelbaren Umgebung verliert, nimmt auch die 
Sicherheit im allgemeinen bedeutend ab. 

Als wesentlicher Faktor der visuellen Bekannt- 
heitsqnalit&t tritt uns also hier die Tatsache der 
Lokalisation entgegen. Hierzu kommt dann weiter 
die Erinnerung, daß die Vp. die Buchstaben an der 
betreffenden Stelle bei der Darbietung schon ein¬ 
mal gesehen hat Die Erfassung der Identität der 
beiden psychischen Inhalte bei Darbietung und 
Reproduktion macht das Wesentliche des Wieder- 
erkennens ans. 

Vp. St macht in bezug auf die visuelle Verifikation noch 
folgende Aussage als Psychologe: 

»Das Visaelle kann dabei yersebieden bedingt sein, ein¬ 
mal so, dafi es eine selbständige Reproduktion darstellt 
neben dem Motorischen, so daß es sieh nicht an dieses an- 
schließt and nur die Übereinstimmung zwischen beiden als 
Verifikation dient, oder so, daß sich die yisaeIle Reprodukion 
zwar erst an das Sprachmotorische anschließt und durch 
letzteres mindestens in der Hauptsache bedingt ist, daß 
aber dann die yisuellen Vorstellungen auf Qrund ihrerlden- 
tität mit den früheren yisuellen Wahrnehmungen Bekanntheits¬ 
charakter an sich tragen.« 

Vp. E. und Vp. A. betonen, daß sie bei der deutlichen Er¬ 
innerung an den konkreten Buchstaben mit Sicherheit seine un¬ 
mittelbare Umgebung bemerken, ferner in absteigender Deutlich¬ 
keit das Vorhandensein des gesamten Ichzustandes, das im 
Moment der Auffassung vorhanden war und in das als ein Teil 
derselben der Buchstabe eingefaßt ist. 

b) Verifikation durch das Akustische. 

Über ein akustisches Wiedererkennen berichten nur die Vpn. 
St. und E., die öbrigen machen entweder keine Aussagen über 
dieses Kriterium, oder sie betonen ausdrücklich — wie Vp. A, 
und Vp. Al. —, daß beim akustischen kein eigentliches Wieder- 



Experimentelle üntennchnngen über das nnmittelbare Bebalten nsw. 239 


erkennen stattfinde nnd die Beprodnktion ausschließlich auf 
Grund der indirekten Kriterien erfolge. Bei der rein aku¬ 
stischen Darbietung tritt bei Vp. St Wiedererkennung 
der Klangfarbe des VL auf. Vp. hat den Eindruck, 
am besten zu reproduzieren, wenn sie die Aufmerksamkeit auf 
die frühere Schallquelle richtet — Vp. E. glaubt anfangs, daß 
bei akustisch-motorischer Reproduktion der einzelne Buchstabe 
als solcher wenig wiedererkannt wird, später aber heißt es: 

»Das Akustische hat sich insofern geändert, als jetzt ein Wiedererkennen 
des einzelnen Bncbstabens auch aknstisch stattfand, so dafi eine ähnliche 
Prüfnng, wie sie früher nur visnell yorgenommen wnrde, jetzt anch schon 
akustisch Torliegt.« 

Über die Beteiligung des früheren Ichzustandes berichtet 
Vp. St: 

>Anßerordentlieh unterstützend wirkt das Anssprechen 
der Buchstaben. ImMoment des Anssprechens lehneichmich 
an den Moment an, wo ich den gleichen Bnchstaben Torher 
ansgesprochen habe, es tritt znweilen geradezu eine Erinne- 
rnng an die frühere Situation bei Gelegenheit des Ans- 
Sprechens ein. Die Beprodnktionstendenzen sind so kräftig, 
daß sogar die Nebennmstände des früheren Ichznstandes an¬ 
deutungsweise reproduziert werden«. 

Meumann zieht nach bestimmten Oedächtnisyersachen den 
Schluß, daß das yisuelle Gedächtnis langsamer arbeite, aber 
sicherer und zuverlässiger sei als das akustische. Demgegen¬ 
über führt G.E. Müller Beispiele dafür an, daß es Personen 
gibt, denen die akustischen oder akustisch-motorischen Repro¬ 
duktionen für zuverlässiger gelten als die visuellen. Diese Frage 
würde sich nach meinen Versuchen folgendermaßen entscheiden: 
„Nicht das visuelle oder akustische Gedächtnis 
als solches ist zuverlässiger. Gerade bei akustisch¬ 
motorischem Verhalten werden oft hohe Grade des 
Sicherheitsbewußtseins erreicht, doch gründet 
sich diese in den meisten Fällen auf die indirekten 
Kriterien, ohne zu einem eigentlichen Wieder¬ 
erkennen zu führen. Für ein Wiedererkennen der 
einzelnen Glieder stehen die visuellen Faktoren 
an erster Stelle, auch bei Vpn.mit aknstisch-moto¬ 
rischem Typus. Sehr klar tritt dieses Verhalten in folgender 
Aussage der Vp. Sch. hervor: 

»Bei dem akustischen Verfahren war Vp. anch gespannt anf das Resultat; 
bei dieser Darbietung (yisnell mit Sprechen) nicht, weil Vp. ein ruhiges 
Sicherheitsgefühl hat, schon beim ersten Bnchstaben weiß sie, daß sie alle 
hat, während sie bei aknstischer Darbietung das Gefühl hatte: ,Ich sage 



240 


Dora Lttdeke, 


«ie, aber es können falsche damnter sein*. Das kommt nicht daher, dafi 
Vp. ein visneller Typns ist, sie fadt im Gegenteil vorwiegend akostiseh« 
motorisch anf, vielleicht liegt es daran, dafi beim Aknstischen der assoziative 
Zwang das allein Mafigebende ist; hier tritt noch das Visaelle ergänzend 
hinzu, nnd gerade die anf Grand des Visuellen reproduzierten Glieder sind 
vom GeftUü grofier Sicherheit begleitet«. 

Wie schon erwähnt, kann auch auf akustischem Wege ein 
eigentliches Wiedererkennen erreicht werden, hier ist vor allem 
die Klangfarbe des Vl. das unterstützende Moment; diese anf 
Grund der akustischen Verifikation wiederer* 
kannten Glieder sind auch mit dem Gefühl besonderer 
Sicherheit verbunden, doch finden sich hierfür bei 
meinen Vpn. viel weniger Aussagen, obgleich nur 
der vorwiegend akustische und der akustisch-moto¬ 
rische Typus vertreten waren. 

Daß das Sinnesgebiet, dessen Vorstellungsbildem eine Vp. be¬ 
sonderes Zutrauen schenkt, nicht immer zugleich das ist, für das 
ihr Gedächtnis am leistungsfähigsten ist, kann nach G. E. Müller 
auch so gedeutet werden, daß die Vp. auf Grund ihrer Erfah¬ 
rungen weiß, daß es für das Auftauchen gerade dieser Vor- 
stellnngsbilder bei ibr einer besonders kräftigen Unterlage be¬ 
darf, und daß sie dadurch für sie — wenn sie auftanchen — 
den Charakter einer besonders großen Sicherheit haben. 

c) Wiedererkennen durch Schluß. 

Über eine besondere Art des Wiedererkennens liegt folgende 
Aussage der Vp. St. vor: 

»Vp. wundert sich, dafi die Reihe so leicht ablief, trotzdem weder asso¬ 
ziatives ZwangsgefUhl noch visuelle Verifikation da war. Trotzdem hält es 
Vp. für wahrscheinlich, dafi die Buchstaben zu etwa 80*’/o richtig sind, da 
die Reproduktion so glatt von statten ging. Es handelt sich 
also um ein Wiedererkennen durch Schlnfi. Vp. fügt die psychologische 
Aussage hinzu, dafi hier anscheinend ein scharfer Gegensatz zu 
allen andern Arten des Wiedererkennens vorliegt, dafi sie 
wenigstens als Vp. den Eindruck grofier Differenz hat. Vp. 
kann nicht dafür einstehen, dafi dieser Gegensatz psychologisch (d. h. bei 
Beachtung der Genesis) ein so scharfer ist, wie er ihr psychisch erscheint.« 

2. Indirekte Kriterien, 
a) Das assoziativ bedingte Zwangsgefühl. 

Über die Entstehung des assoziativen Zwangsgefühls ver¬ 
danken wir Hume eingehende Untersuchungen. Nach Hume 
»modifiziert das wiederholte Erleben regelmäßiger Sukzessionen 
unsere Auffassung der Vorgänge. Diese Änderung kommt auf 



Experimentelle Untersnchongen tlber das unmittelbare Behalten usw. 241 

das Konto der Wiederholung, durch diese entsteht etwas Neues 
im Geist, das assoziativ bedingte Zwangsgeftthl. In diesem Qe- 
ffihl ist eine Impression gegeben, welcher der Idee der not« 
wendigen Yerknüpfung zugrunde liegtc. 

Bei unseren Versuchen waren für das Auftreten 
des assoziativen Zwangsgefflhls vorteilhafte Be< 
dingungen dadurch gegeben, daß — obgleich es sich 
nur um eine einmalige Wiederholung handelte — 
diese unmittelbar nach dem ersten Erleben anftrat. 

Über das Auftreten des assoziativ bedingten Zwangsgeftthls 
berichten Vpn. St, A., B. und Kf. Bei Vp. St heißt es: 

»Was den s^latten Verlauf der Beproduktion anbelangt, so steckten 
darin hier oSenhar Zwangsgeftthle, die Beiiehnng dieser Zwangs* 
geftthle ist nicht ganx sicher. Ich weifi nicht, ob ich sie be* 
sieben soll auf die Beziehung der Buchstaben zueinander 
oder auf die Beziehung des einzelnen Buchstabens zu der 
Einstellung, die ich habe, wenn ich die Gesamtheit repro* 
dnzieren will« 

Das Zwangsgeftthl besteht nach einer psychologischen Ans* 
sage der Vp. St in gewissen Fällen in dem »Sichanfdrängen 
neuer Sprechbewegungsimpulse<; die durch dieses 
Zwangsgeftthl entstehende Einheit ist demnach zu 
scheiden von der Aufmerksamkeitseinheit, die 
durch akustische Versuche zustande gebracht wird, 

1. weil es sich das eineMal um eine Einheit von 
Anfmerksamkeitsakten, das zweite Mal um 
eine solche von Empfindungsinhalten handelt; 

2. dadurch, daß bei den Anfmerksamkeitsakten 
die Einheit als solche sich schon in derPause 
darstellt, während das zweiteMal dieEinheit 
als solche erst bei der Reproduktion erlebt 
wird. 

Als indirekte Kriterien nennt ferner Vp. E.: 

b) Spontaneität unter einer bestimmten Einstellung; 

c) Bestimmtheit in der Gewalt der Durchsetzung; 

d) Präzisierung in der konkreten Gestaltung. 

Vp. macht dazu folgende Aussagen: 

zu b: »Beim Suchen nach fehlenden Buchstaben war folgendes ans* 
geprägt: Es wurden bestimmte Buchstaben undeutlich vorgestellt mit der 
Erwartung, dafi wenn einer von ihnen Torgewiesen wäre, er sich sofort 
herausheben würde, indem er einerseits klarer und deutlicher hervortritt 
und andererseits gleichsam einhakt in den bei der Vorweisung vorhanden 
gewesenen Zustand. Bei dieser Einstellnng traten die einzelnen Buchstaben 

Archiv für Paychologie. XLVIII. 16 




242 


Dora Lttdeke, 


mit großer Leichtigkeit anf and worden hwgesagt, ohne dafi wohl too 
einem eigentlichen Wiedererkennen die Rede war.« 

Zo c: >Aach bei dieser Reihe war aiemlich deutlich ausgesprochen das 
Sichverlassen auf die durch die Einstellung geschaffenen Bedingungen, d. h. 
dafi wenn ein Buchstabe kommt, er wohl an der Reihe gehört. Dies wird 
auch besonders deutlich bei Buchstaben, die nicht mit Sicherheit reprodudert 
werden, und hei denen die Unsicherheit anm grofien Teil daron berkommt, 
dafi sie ohne alle Bestimmtheit auftreten.« 

Zu d: »Am Schlüsse der Reihe stieg noch ein h auf, dieses trat 
1. visuell aiemlich deutlich hervor, 2. knfipfte sich an h irgend ein Gedanke 
beim Anffassen dieses Buchstabens, der bei der Reproduktion wieder antOnte, 
jedoch nur leise. Als Hanptkriterinm diente auch in diesem Falle die kon* 
krete Gestaltung, die es mir sicher erscheinen liefi, dafi der Buchstabe nur 
von diesem Versuch stammen könne und dort den Schlnfi der Reihe gebildet 
haben müsse.« 

Auch die ttbrigen Vpn. berichten fiber das Anftreten dieser 
indirekten Kriterien; letztere können so stark ansgeprägt sein^ 
daß die Vpn. Sicherheit besitzen, ohne daß die einzelnen Bach* 
staben wiedererkannt werden. Es ist dies der Fall, wenn sich 
die Yp. darauf verläßt, was ihr unter den konkreten Umständen 
des Versuchs in den Sinn kommt und auch der allgemeinen Ein¬ 
stellung, unter der ihrerseits der Versuch ausgeftthrt wird, ent¬ 
sprechen würde. Natürlich kann dabei der Grad der Sicherheit 
ein ganz verschiedener sein. Vp. E. spricht nach einer Repro¬ 
duktion die Vermutung ans, »daß die indirekten Kriterien nicht 
nur zur Sicherheit beitragen, sondern geradezu die Sicherheit 
ausmachen«. Je leichter die Buchstaben auftraten, desto größer 
war nach übereinstimmenden Aussagen aller Vpn. das Gefühl der 
Sicherheit in bezug auf die Reproduktion, ohne daß sich damit 
eine deutliche Vorstellung der einzelnen Buchstaben verband. 
Deutlich ausgeprägt war der Eindruck der Leichtigkeit der Auf¬ 
einanderfolge, was aufeinander folgte, war weniger wichtig. 

Es scheint also für die Entstehung des Sicherheitsbewußt¬ 
seins nicht das Was, sondern das Wie des Auftretens von Be¬ 
deutung zu sein.^) 


§3. 

Das Terkaltea während der Intervalle, 

a) Die Aussagen der Versuchspersonen. 

Die Vpn. erhielten die Anweisung, während der Pansen nicht 
an die Reihe zu denken und zu Protokoll zu geben, falls sie 


1) Vgl. Störring, Psychologie S. 261 ff. und Störring, Exp. n. psycho- 
pathologische Unt. über d. Beweis d. Gültigkeit dieses Archiv Bd. XTV. 



Experimentelle Untennohnngen ttber daa unmittelbare Behalten nsw. 243 


gegen ihren Willen anftanchen sollte. Die Versuche, bei denen 
eine eigentliche Beproduktion nicht unterdrückt werden konnte, 
wurden für die zahlenmäßige Verwertung ausgeschaltet, boten 
aber zum Teil reichhaltiges Material über das psychische Eh'< 
leben der Vpn. während der verschiedenen Pausen. 

Ans den Aussagen aller Vpn. ergibt sich mit großer Über* 
einstimmnng, daß das Intervall von 2 Sek. als das adäquateste 
empfunden wird. Die Pause von 1 Sek. genügt nicht, die Beihe 
zur Auswirkung kommen zu lassen. Vp. AL empfindet bei diesem 
Intervall besonders starke Neigung zum Beprodezieren. 

»Es ist merkwürdig, in diesen kurzen Pansen ist die Tendenz der Beihe, 
sich wieder in den Mittelpunkt des Bewndtseins zn drftngen, größer als bei 
2Sek. Das Bewußtsein, die Reihe bald wieder reproduzieren zn müssen, 
wirkt eher wieder belebend anf die Spuren.« 

Am besten gelingt es allen Vpn., bei 2 Sek., sich den An¬ 
ordnungen des VL gemäß zn verhalten. Vp. E. äußert sich über 
ihr Verhalten folgendermaßen: 

»In der Panse sucht Vp. sich vor allem das so gut wie völlig vor- 
stellnngslose Qesamtbild der Beihe zu erhalten. Sie faßt dies nicht als im 
Widerspruch zn der Anweisung stehend anf, denn es ist keine Reproduktion 
der Beihe oder der einzelnen Buchstaben, sondern ein Festhalten der an 
sich unterbewußten Spuren der Eindrücke, anf denen sich aber die Bepro¬ 
duktion anfbanen wird.« 

Vp. A. sagt aus: 

»Die Panse wurde schOn leer gehalten, ich hatte einen Überblick über 
die sprachmotorische Beihe, ohne daß im einzelnen reproduziert worden 
w&re. Ich unterscheide von der deutlichen Reproduktion die im dunklen 
Bewußtsein liegende Qestaltqnalitit der Reihe.« 

Auch Vp. Al. äußert wiederholt, daß sich die Tendenz geltend 
machte, die Beihe zn wiederholen, 

»d. h. nicht eigentlich zn reproduzieren, sondern den Blick anf das 
Ganze znrückschweifen zu lassen. Diese Tendenz wurde unterdrückt und 
die Anfmwksamkeit anf das schwarze Blickfeld konzentriert«. 

Vp. St. findet es besonders schwer nach optischer Darbietung, 
eine Wiederholung zu vermeiden, und führt diese Tatsache darauf 
zurück, daß sie »beim Akustischen in dem Präsentsein des Anf- 
merksamkeitsganzen eine gewisse Garantie für gute Beproduzier- 
barkeit zu haben glaubte«. Vp. sucht eine Hemmung zu setzen 
durch krampfhaftes Festhalten des ersten Gliedes. Über den Unter¬ 
schied des Wiederauftanchens der Glieder auf Grund aknstisch¬ 
motorischer oder optischer Spuren äußert sich auch Vp. A.: 

»Ich habe immer das Gefühl des Präsentseins der Beihe, es kommt 
sogar zn einer gewissen motorischen Einstellung, jedoch führen diese 
akustisch-motorisch gebliebenen Spuren nicht zu einer eigentlichen Reprc- 
dnktion. Schlimm ist es aber, wenn einige Glieder optisch anftreten. Diese 

16 * 



244 


Dora Lttdeke, 


diskreten Qrfißen scheinen vorher S'anz ans dem Bewafitsein 
entschwanden an sein, jetzt treten sie mit solcher Klarheit 
nnd Hartnäckigkeit anf, daß ich hier wohl von einer eigent¬ 
lichen Reprodnktion sprechen maß.« 

Diese Anssage ist änßerst wichtig. Wir sehen deutlich das 
Auftreten von zwei ganz verschiedenen Arten des Wiederauf- 
tanchens der Glieder, Bei der zweiten, auf Grund des Visu¬ 
ellen erfolgten Reproduktion scheinen die Elemente ganz aus 
dem Bewußtsein entschwunden, also dem mittelbaren 
Behalten verfallen zu sein. 

Über das Intervall von 4 Sek. sagt Vp. St. ans, daß sie sich 
hier ganz anders verhält als bei 2 Sek. 

*Bei 2 Sek. fühlte ich mich in der knrzen Zeit so stark geladen mit 
Eindrücken, hier fühle ich mich soznsagen freier, ich schiebe die Eindrücke 
viel stärker znrück, so daß es mir scheint, als seien sie in den dnnkelsten 
Regionen des Bewußtseins.« 

Als Psychologe bemerkt Vp. dann noch, daß es viel schwieriger 
sei, diese Glieder ins klare Bewußtsein heranzuziehen, als wenn 
sie den klaren Regionen gegenüber nur etwas znr&ckgeschoben 
wären. 

Nach Vp. E. ist in dieser längeren Pause eine sehr große 
Konzentration nötig, um das Empfangene nicht zu verlieren. 
Vp. äußert wiederholt, daß sicher keine Reproduktion stattfindet, 
wohl aber ein »Festhalten der Eindrücke, wie sie von der Dar¬ 
bietung her geblieben sind, ohne überhaupt aus dem Bewußtsein 
völlig entschwunden zu sein«. 

Das Intervall von 8 Sek. wird von allen Vpn. als sehr lang 
empfunden, es kommt als Dauer, als direkte Wartezeit zum Be¬ 
wußtsein. Das Sicherheitsgefühl nimmt ab, die Angst zu ver¬ 
gessen stellt sich ein, besonders bei längeren Reihen. Auch hier 
sehen wir ein gewisses Festhalten der Reihen durch die ganze 
Pause hindurch. Von diesem Festhalten der Eindrücke sagt Vp. AL: 

»Damit es nicht zn einer Reproduktion kommt, muß ich die Aufmerk¬ 
samkeit auf irgend etwas anderes ablenken, diese Ablenkung wirkt als etwas 
nicht zu dem Ganzen Passendes. Der Zustand ist doch der einer Vor- 
bereitnng auf die Reihe, das Natürliche wäre, daß sie sich im Bewußtsein 
aaswirken konnte. Dem wird eine Hemmung entgegengesetzt, das empfinde 
ich als etwas direkt Fremdes.« 

Auch Vp. B. empfindet die sehr starke Abwehrtendenz und 
dadurch bedingte starke Ablenkung der Aufmerksamkeit als 
etwas Störendes. 

Wiederholt tritt in den Aussagen wieder der Gegensatz 
zwischen dem Rnckschanen bei totalem und diskretem Verhalten 
hervor. So sagt Vp. Kf.: 



Experimentelle UnterBnchnngen über du unmittelbare Behalten usw. 245 


»Es ist nach dieser (aknstisch-Tisnellen) Darbietung so, als ob sich in 
den hinteren Begionen des Bewußtseins etwas abspielte, wu der Reihe 
entspricht und doch keine deutliche Reproduktion ist, auf rein optischem 
Wege ist eine derartige Rttckschau nicht möglich.« 

In den Anssagen der Vp. St tritt wiederholt hervor, daß die 
Lftnge der Panse das diskrete Verhalten begünstigt 

»In der Panse tauchten einzelne Glieder mit großer Bestimmtheit auf, 
die habe ich behalten; yon den anderen ist keine Spur mehr da. Ich habe 
den Eindruck, daß sie völlig ans dem Bewußtsein verschwunden sind. Viel¬ 
leicht sind die anderen auch nicht durch unmittelbares Behalten wieder¬ 
gegeben, du kann ich nicht mit Sicherheit behaupten. Es könnte ja auch 
sein, daß ein Teil noch unmittelbar behalten wttrde, ein anderer dagegen 
ganz au dem Bewußtsein verschwindet, so daß, wenn von denen noch ein 
Teil kommt, es sehr mittelbar ist.« 

Es scheint sich hier also um einen negativen Faktor, den 
Eindmck des völligen Yerschwnndenseins aus dem Bewußtsein, 
zu handeln. Bei Vp. A., Vp. AL und Vp. Ef. finden sich ebenfalls 
Angaben, daß bei diesem Intervall die längeren Reihen nicht 
ganz auf Grund des unmittelbaren Behaltens wiedergegeben werden. 
Die ersten Glieder stehen anscheinend dem klaren Bewußtsein 
sehr nahe und drängen sich auf, sie werden gewöhnlich unmittel¬ 
bar wiedergeben; während die mittleren besonders häufig dem 
anscheinend völligen Verschwinden aus dem dunklen Bewußtsein 
verfallen und hervorgeholt werden müssen, in vielen Fällen tauchen 
sie überhaupt nicht wieder auf. Die letzteren Glieder treten ge¬ 
wöhnlich einzeln auf, und zwar visuell, die letztere Tatsache führt 
Vp. St. darauf zurück, daß die Vp. die Einstellung auf das Aus¬ 
sprechen genommen hat, hierdurch werden andere Reproduktions¬ 
tendenzen gehemmt 

»Sobald man fertig ist, l&ßt man von dieser Einstellnng ab, so daß bei 
den letzten Buchstaben fUr das Sichansleben der Reprodnktionstendenzen 
keine Hemmung mehr gesetzt ist.« 

b. Zusammenfassung der Ergebnisse. 

1. Dauer des Intervalls. 

ISek.: Die Zeit genügt nicht, um die Reihe zur Auswirkung 
kommen zu lassen. 

2 Sek.: Die Zwischenzeit wird als angenehm empfunden. Es 
gelingt fast immer, ein so gut wie vorstellungsloses 
Gesamtbild sich zu erhalten, zu einer eigentlichen 
Reproduktion kommt es selten. 

4 Sek.: Die Eindrücke werden viel stärker zurückge¬ 
schoben, sie scheinen in den dunkelsten Regionen 
des Bewußtseins zu sein. Eine große Konzentration 
ist nötig, um das Empfangene nicht zu verlieren. 



246 Lttdeke, 

8Sek.: Die Pause kommt als direkte Wartezeit zum Bewußt¬ 
sein. Abnahme des Sicherheitsgefflhls, Angst zu ver¬ 
gessen, besonders bei längeren Beihen. Die Aufmerk¬ 
samkeit muß abgelenkt werden, damit eine eigentliche 
Beprodnktion vermieden wird; diese Ablenkung wird als 
etwas der ganzen SitnationWidersprechendes empfunden. 
Nicht immer gelingt es, eine Reproduktion zu vermeiden. 
Zweifel, ob bei längeren Reihen wirklich alle Blemente 
auf Grund unmittelbaren Behaltens wiedergegeben 
werden. 

2. Länge der Reiben. 

Kürzere Reihen: Starke Reproduktionstendenz infolge der 
sinnlichen Frische der Reihen. Auch bei längeren Pausen 
stehen sie dem klaren Bewußtsein sehr nahe. 

Längere Reihen: Reprodnktionstendenz am größten für die 
ersten Glieder, die dem klaren Bewußtsein nahestehen. 
Die mittleren Glieder scheinen bei längeren Pansen — 
besonders bei optischer Darbietung — ganz aus dem 
Bewußtsein zu verschwinden. Die letzten Glieder 
tauchen meistens visuell auf. 

3. Sinnliche Art der auftauchenden Elemente. 

Die auf Grund der aknstisch-motorischen Spuren wieder¬ 
gegebenen Glieder scheinen während des Intervalles schwach bewußt 
weiterzuwirken. Es bleibt eine Reihendisposition, auf die sich 
das Bewußtsein der Sicherheit gründet. 

Das Visuelle scheint nur während des Lesens zu wirken. 
Sobald ein Buchstabe verschwindet, ist von seinen visuellen Be¬ 
standteilen nichts mehr vorhanden, erst bei der Reproduktion taucht 
das Visuelle wieder auf. 


IV. Unmittelbares und dauerndes Behalten. 

Die beiden Arten des Wiederanftanchens der Glieder, einerseits 
»das so gut wie vorstellungslose Gesamtbild der Reihe«, anderseits 
die eigentliche Reproduktion, bei der die Glieder ans dem Bewußt¬ 
sein entschwunden zu sein scheinen, zeigen eine deutliche Be¬ 
ziehung zum unmittelbaren und dauernden Behalten. Das halb- 
dunkle und doch gestaltete Gebilde, von dem im ersten Falle die 
Rede ist, scheint das unmittelbare Nachempfinden zu sein; wird 
auf Grund dieses Nachgebildes reproduziert, so haben wir es mit 
unmittelbarem Behalten zu tun. Macht sich dagegen in der Panse 



Experimentelle Untersnchnngen Uber das anmittelbare Behalten nsw. 247 

die Tendenz bemerkbar, dieses Nacbgebilde zn entwickeln, d.h. 
jeden einzelnen Buchstaben fflr sich deutlich in die Erscheinung 
treten zu lassen, so liegt, sobald die Vp. dieser Tendenz nach* 
gibt, mittelbares Behalten Yor. 

Ein solches Verhalten macht sich, wie wir gesehen haben, 
besonders beim yisuellen Merken geltend; da diese Art des Be- 
haltens anderseits die diskrete Aufmerksamkeit begünstigt, während 
die totale beim aknstisch-motorischen Merken hervortritt, ergibt 
sich weiter die Beziehung zwischen diskreter Aufmerksamkeit und 
dauernder, totaler Aufmerksamkeit und unmittelbarem Behalten. 

Das diskrete Verhalten scheint begünstigt zu werden durch 
die Länge des Intervalles. Schon bei 4 Sek. scheinen die Glieder 
>in die dunkelsten Regionen des Bewußtseins znrückgeschobmi 
zu seine, während bei 8 Sek. der Eindruck des »völligen Ver¬ 
schwundenseins ans dem Bewußtsein« vorliegt. Ganz besonders 
tritt das bei längeren Reihen hervor. Nach einer Aussage der 
Vp. S.t scheinen bei kürzeren Reihen häufig »die Objekte nicht 
mehr im klaren Bewußtsein, aber doch diesem naheznstehen«. 
Anscheinend haben sie ihrer geringen Zahl wegen noch Platz 
in den vorderen Regionen; sobsdd sich die Zahl vergrößert, muß 
die hintere Region in Anspruch genommen werden. 

Zum Schlüsse möchte ich es nicht unterlassen, allen meinen 
Vpn. dafür zn danken, daß sie mir einen Teil ihrer Zeit für die 
Versuche opferten. Ganz besonders ist es mir ein Bedürfnis, 
Herrn Geheimrat Professor Dr. Störring meinen herzlichsten 
Dank dafür anszusprechen, daß er sich mehrere Semester hin¬ 
durch als Versuchsperson zur Verfügung stellte, mir während 
der Ausführung stets mit seinem Rat zur Seite stand und mir 
viele wertvolle Anregungen gab. 

(Eingegwagen am 18. Februar 1924.) 



Eevision einer Mationstheorie. 

Von 

J. Lindworsky (E51n). 


Inhaltsyerzeichnis. 

Seite 

I. Teil: Ableitung der Belationsinhalte.249 

], Das reflexe Erleben.249 

2. Das Eemerlebnis.•.261 

3. Die Entwicklung des Kemerlebnisses bei objektiv gleichen oder 

verschiedenen Inhalten.253 

4. Die Entstehung des Begriffes »gleich« (»verschieden«).256 

5. Einwände.258 

6. Die Entstehung der Nennfnnktion.261 

7. Die Kemerlebnisse zu weiteren Beziehungserfassnngen .... 266 

8. Die Einteilung der Relationen.270 

ILTeil: Einige Folgerungen aus der vorgelegten Anffassung . . . .271 

1. Zur Terminologie.271 

2. Die Beseitigung alter Schwierigkeiten.272 

3. Vereinfachung des Glestaltproblems.275 

4. Einblicke . .. 278 

a) Sukzessiv* und Simnltanvergleich.278 

b) Begabnngsnnterschiede in der Beziehnngserfassnng.284 

5. Das Problem der Tierintelligenz.286 

6. Folgerungen für die Theorie des (Gedächtnisses.287 


Ausblick: Der Ausgleich zwischen Denk* nnd Assoziationspsychologie 288 


Manche der im nachfolgenden entwickelten (^danken schwebten 
dem Verfasser schon seit Jahren vor nnd fanden in kurzen An¬ 
deutungen, die als Anregung gemeint waren, ihren Ausdruck^). 
Die Ergebnisse einer yermeintlichen phänomenologischen Be¬ 
trachtung nnd Analyse der Beziehnngsinhalte hielten mich jedoch 
yon einer weiteren Verfolgung dieser Gedanken ab*). Inzwischen 
mußte ich bei Versuchen über das Wortyerst&ndnis erfahren, 
wie sehr bisweilen der yermeintliche Bedeutungsinhalt yon dem 


1) Vgl. des Verfassers »Experimentelle Psychologie« 1. Auflage 1921S. 187. 
^ Vgl. »Umriflskizze zu einer theoretischen Psychologie«, 1922, S. 37. 


















J. Lindworsky, BeTision einer Belationstheorie. 


249 


wirklich erlebten (und für die Verwendung des Wortes aus¬ 
reichenden) Inhalt abweicht Das ermutigte mich, die früheren 
Gedanken wieder au^greifen. 

Wir gehen folgendermaßen voran. Allgemein anerkannte und 
leicht nachweisbare Erlebnisse und Erlebnismomente stellen wir 
heraus; fragen, wie sich diese Erlebnisse bei öfterer Wiederholung 
entwickeln und mit anderen Elrlebnissen verbinden müssen, und 
prüfen dann, was solche Entwicklungsprodukte zu leisten imstande 
sind. Können die so gefundenen Entwicklungsprodnkte alles das 
leisten, was bisher mit der Annahme elementarer Beziehungs¬ 
inhalte befriedigend erklüit wurde, so bleibt der Kritik eine 
doppelte Aufgabe. Sie hat erstens das anf synthetischem Wege 
gewonnene Ergebnis auf seine Stichhaltigkeit zu untersuchen. 
Sie muß zweitens fragen, ob sich nicht neben den von uns anf- 
gezeigten Entwicklungsprodukten elementare Beziehnngsinhalte 
anfweisen lassen. Diese zweifache kritische Aufgabe soll dem 
Leser überlassen bleiben. Gerade gegenüber synthetischen Ver¬ 
suchen sehen fremde Augen sch&rfer als die eigenen. Und mehr, 
als die Frage zur Diskussion zu stellen, beabsichtigen wir nicht. 

1. Teil 

Ableitung der Relationsinhalte. 

1. Das reflexe Erleben. 

Bei den meisten Experimentalpsychologen zeigt sich eine wohl 
verständliche Abneigung, seelische Faktoren in Betracht zu ziehen, 
die sich so g^anz im Subjektiven verstecken. Die handgreiflicheu 
Empfindongen, die anschaulichen Vorstellungen sind jedermann 
willkommen. Sie lassen sich leicht wiedererzeugen und sogar 
messen. Die Gefühle stehen sich schon schlechter. Aber man 
kann sie zum Teil wenigstens objektivieren und ihren körper¬ 
lichen Ausdruck experimentell untersuchen. Das Schicksal der 
nnanschanlichen Gedanken und der Willensakte ist allbekannt. 
Aber ebenso bekannt ist es auch, daß die Psychologie immer 
dft-nii anf tote Punkte geriet, so oft sie seelische Erscheinungen 
nnr dämm zu ignorieren suchte, weil sie bislang nur subjektiv, 
in der Selbstbeobachtung, festzustellen waren. 

Ein solcher Faktor ist auch das reflexe Erleben. Zwar ist 
er m. W. noch von keinem Experimentalpsychologen direkt 
bestritten, aber, soweit ich sehe, auch noch von keinem znr 
Erklärung bestimmter Leistungen herangezogen worden. Vielleicht 
blieb gerade ans diesem Grunde seine Existenz bisher unangefochten. 



250 


J. Lisdworsky, 


■Das reflexe Erleben soll nun in dieser Arbeit znm Fundament 
eines stattlichen Gebändes gemacht werden. 

Ganz unverbindlich und nur annäherangsweise sei das reflexe 
Erleben zunächst gekennzeichnet. Man erlebt bisweilen nicht 
nur, man weiß auch, daß man erlebt, oder genauer: man wird 
seines Erlebens inne. Wir lösen uns gewissermaßen von unserem 
eigenen Elrleben los, stehen darüber, wenden uns zu unserm 
Erleben znrflck. Man könnte versucht sein, das, worauf wir 
hindeuten, als Apperzeption im Herbartschen Sinne zu fassen: 
ich nehme ein Rot wahr und erfasse mein Erlebnis als ein Rot- 
wahmehmen von mir. Aber das meine ich nicht. Eine solche 
Apperzeption ist zweifellos erst nach einer langen Entwicklung 
möglich; ich muß erst wissen, was Wahmehmungsakte und was 
Rotwahmehmung ist u. dgl. Das reflexe Erleben scheint jeder 
Apperzeption weit vorauszugehen und auch uns Erwachsenen 
noch vor jeder Apperzeption möglich zu sein. Man beobachte 
sich bei irgend einer ruhigen Tätigkeit. Da gibt es ein Zentrum 
der Erlebnisse, das besonders wach zu sein scheint: wo ich etwas 
tue oder erfahre und meines Tuns oder Erfahrens inne werde, 
ohne darum doch den Inhalt zu erfassen: jetzt schreibe ich, 
jetzt sehe ich rot. Der von uns gemeinte Erlebniszug ist auch 
nicht mit dem identisch, was man zumeist unter Aufmerksamkeit 
versteht, obwohl wir es dahingestellt sein lassen, ob er ohne 
Aufmerksamkeit möglich ist. Denn bezeichnet man mit dem 
Wort Aufmerksamkeit die erhöhte Klarheit eines Inhaltes, so 
bleibt man hinter dem fraglichen Erlebnis zurück: es ist mehr 
bzw. anderes als gesteigerte Klarheit der Inhalte. Denkt man 
aber bei Aufmerksamkeit an das willentliche Hingewendetsein 
zu einem Inhalt, das den wahrgenommenen Gegenstand oder 
wenigstens dessen genauere Wahrnehmung anstrebt, so greift 
man schon über das Wesentliche des reflexen Erlebens hinaus. 
Aufmerksames Hingegebensein dürfte sogar das reflexe Verhalten 
beeinträchtigen. Es soll eben mit diesem Terminus nur das 
geistige Innewerden der eigenen Erlebnisse fest¬ 
gehalten sein, durch das ein Sichhinwenden von einem erlebten 
Inhalt zum andern möglich wird. 

Natürlich ist das reflexe Erleben auch nicht gleichbedeutend 
mit »bewußt seine. Zwar brauchte es hier genauere Beobachtungen 
nach Art der Westphalschen Untersuchungen über Haupt- und 
Nebenaufgaben. Allein, so viel läßt sich vor jeder genaueren 
Untersuchung behaupten, daß nicht alle unsere Erlebnisse, die 
innerhalb einer bestimmten Zeiteinheit liegen, in gleicher Weise 



Bevision einer Belationstheorie. 


261 


reflex bewußt sind. Und dieser verschiedene Grad reflexen 
Erlebens gestattet nns, das reflexe Erleben gedanklich ganz von 
dem nnr schlicht bewußten zu trennen. Eine nur schlicht erlebende 
Seele ist ganz hingegeben, ganz gebunden an die seelischen 
Inhalte und Zustände, die sie der Reihe nach durchmacht Sie 
ist wie eine transparente Leinwand, die ganz von dem auf ihr 
ruhenden Lichthild erfüllt wird und für sich nichts zurückbehält. 

Ob das reflexe Verhalten ein elementares ist oder nicht, 
braucht nicht geprüft zu werden. Es genügt, daß in ihm nicht 
jener Beziehnngsinhalt enthalten ist, den wir z. B. haben, wenn 
wir die Gleichheit zweier Gegenstände erfassen. Es besagt ja 
dieses Sichlosmachen, dieses Sicherheben über die eigenen Er« 
lebnisse nichts von einem speziflschen Erkenntnisinhalt M. a. W. 
wenn wir nns reflex verhalten, so müssen wir nicht notwendig 
einen bestimmten Relationsinhalt oder bestimmte Arten von 
solchen miterfassen. Im Gegenteil scheint jede Relationserfassung 
geradeso wie jede Apperzeption (die als gedankliche immer eine 
Relationserfassnng ist) jenes reflexe Verhalten voransznsetzen. 
Denn wie wäre eine Vergleichung etwa zweier Striche möglich, 
könnte ich mir nicht jene Inhalte sozusagen gegenüber« 
stellen? Dasselbe gilt von jeder wahren Abstraktion. Die 
nneigenüiche, sinnliche >Abstraktion< kann mich stärker von 
dem einen als von dem andern Inhalt erfüllt sein lassen; sie 
kann mich mehr rot« als blauerlebend machen, allein diese größere 
Mächtigkeit eines Inhaltes ist noch nicht mit dessen Abstraktion 
gleichzusetzen. Dazu gehört ein Herausgreifen, ein Verfügen 
über die Inhalte, was alles ein gewisses Sichlösen der Seele 
von den sie erfüllenden Inhalten zur Voraussetzung hat, eben das 
besprochene reflexe Verhalten. 

Man flndet bei Geys er*) die Ansichten verschiedener Psy¬ 
chologen über das Bewußtsein zusammengestellt, die trotz sonstiger 
Differenzen das von nns gemeinte reflexe Erleben anerkennen. 

2. Das Kemerlebnis. 

An dem Auge des erstmalig Erlebenden ziehe ein roter, dann 
ein blauer Farbstreifen vorüber, und zwar in unmittelbarer Folge. 
Es wird nun heute keinem sonderlichen Bedenken begegnen, 
wenn wir behaupten, diese Farbenfolge sei nns auch wirklich 
kontinuierlich gegeben. Aber wenn wir auch in kontinuierlichem 
Übergang erst rot, dann blau erleben, so kann dies nach den 


1) Lehrbaeh der allgemeinen Psychologie 3. Anfl. 1. Bd. S. 99 S. 



252 


J. Lindworsky, 


obigen Ansführongen doch auf verschiedene Weise geschehen. 
Denkbar ist jenes Absorbiertsein von den sich folgenden Inhalten, 
jenes Gebnndensein an sie; denkbar ist aber auch jenes reflexe 
Erleben, das da in gewissem Sinne über den erlebten Inhalten 
steht und sich ihnen während des Erlebens znwendet Das Sub¬ 
jekt würde in diesem Falle in nnnnterbrochenem Fluß rot-blau 
erleben, aber gleichzeitig dieses seines Erlebens und darum auch 
dieses Überganges inne werden. Und ein solches Erlebnis nmmen 
wir das Eernerlebnis, weil es den Ausgangs- und Eristalli- 
sationspunkt für jedes Relationserlebnis abgibt. 

An diesem Kemerlebnis heben wir zwei charakteristische 
Umstände hervor. Weil wir uns im reflexen Erleben von den 
Inhalten losldsen, darum sind wir in der Lage, den einen Inhalt 
mit Rücksicht auf den andern zu betrachten. Vielleicht ist es 
nicht möglich, von dem soeben ablaufenden Inhalt »rot« aus 
den erst noch kommenden Inhalt »blau« zu betrachten; wohl 
aber können wir, wenn rot in blau übergeht, von dem erlebten 
und im Seknndärerlebnis noch bewußten Rot zu dem augenblick¬ 
lich erlebten Blau schaueu. Wollte aber jemand behaupten, man 
könne zwei Inhalte immer nur in rückschauender Selbstbeobachtung 
zueinander betrachten, so würden wir hier nicht mit ihm streiten, 
wenn er nur zugibt, daß das reflexe Erleben uns überhaupt er¬ 
möglicht, einen Inhalt in Beziehung zum andern zu beachten. 
Mit diesem Zugeständnis ist das eine Moment der uns geläoflgen 
Relationserfassungen, das Zueinander gegeben. Ein Zueinander 
liegt ja in jeder Beziehungserfassung beschlossen. 

Außer dem Zueinander ist in den uns geläuflgen Beziehungen, 
z. B. in denen der Gleichheit, Verschiedenheit usf. auch noch 
ein Inhalt gegeben, eben das Gleichsein, das Verschiedensein 
der zwei aufeinander bezogenen Inhalte. Nun wollen wir, und darin 
liegt das Wesentliche unserer Hypothese, als eine zweite Eigen¬ 
tümlichkeit des Eemerlebnisses hinstellen, daß bei diesem anfäng¬ 
lichen reflexen Erleben einer Abfolge mehrerer Inhalte ein solcher 
Beziehungsinhalt nicht erfaßt wird. Es wird also, so nehmen 
wir entgegen unserer früheren Ansicht an, wohl das Rot und das 
ihm folgende Blau erlebt; es wird weiter das Blau in Beziehung 
zum vorausgehenden Rot oder das erst erlebte Rot in Beziehung 
zum folgenden Blau erfaßt, aber ein weiterer Inhalt, der sich 
sprachlich etwa ausdrücken ließe: »verschieden«, wird nicht er¬ 
kannt. Im Gegenstandsbewnßtsein ist außer dem Rot und dem 
Blau, ihrer Abfolge und ihrer Betrachtung in Beziehung zuein¬ 
ander nichts vorhanden. Dasselbe gälte von zwei objektiv glei- 



ReTiflion einer Relationstheorie. 


253 


eben Inhalten, die nacheinander erlebt würden, z. B. wenn der 
Ton a zweimal erklingt. In diesem Falle w&re nichts im Be- 
woßtsein, was mit »gleich« wiederzngeben wäre. 

3. Die Entwicklung des Kemerlebnisses bei objektiy 
gleichen oder yerschiedenen Inhalten. 

Bekanntlich treten bisweilen beim Übergang von einem 
Empfindnngsinbalt zu einem andern Übergangsempfindungen auf. 
So scheint die eine yon zwei Geraden zu wachsen, wenn unter 
bestimmten Bedingungen der Blick von der kleineren znr größeren, 
oder zu schrumpfen, wenn er yon der größeren znr kleineren 
Linie wandert Außer solchen am anschaulichen Inhalt der 
Termini sich zeigenden Übergangsempfindungen sind auch cha¬ 
rakteristische Begleit- oder Nebeneindrücke nachweisbar, z. B. 
Blendnngserscheinungen beim Übergang yon dunkel zu hell. Es 
hegt nicht im Interesse dieser Untersuchung, sie aufzuzählen. 
Zwar geht ans unserer Gmndauffassung heryor, daß sie das Eem- 
erlebnis nicht aufbanen. Aber zweifellos yerleiht ihr Vorhanden¬ 
sein nnd ihr Fehlen dem Kemerlebnis eine gewisse Tönung und 
Charakteristik. Das nämliche gilt yon den sinnlichen Gefühlen, 
die yielleicht unmittelbar durch die anschaulichen Inhalte der 
Fundamente oder — und das wird häufiger der Fall sein — 
durch die Übeigangsempfindnngen und Nebeneindrücke geweckt 
werden. 

Nun können wir die erwähnten Übergangs- und Nebenempfin- 
dnngen nicht nur einfachhin im Bewußtsein haben, wir können sie 
auch in Verbindung mit den Termini selbstbewußt erleben. Mit 
anderen Worten: der Sachyerhalt, daß sich bestimmte Nebenein¬ 
drücke an das Kemerlebnis anschließen, kann erfaßt werden. Be¬ 
merken wir auch hier, daß eine solche Erfassung keinerlei Relations¬ 
erfassungen anderer Art yoraussetzt. Denn es soll nicht etwa 
konstatiert werden: hier ist ein Nebeneindmck, sondern dieser 
an das Gmnderlebnis sich anschließende Inhalt wird einfachhin 
in seiner Abfolge refiex erlebt, nnd zwar nicht anders als im 
Kmnerlebnis die Abfolge »rot — blau« erfaßt wird. 

Es können sich somit an das Kemerlebnis andere Kemerleb- 
nisse oder, was das nämliche ist, andere Sachyerhalte anschließen. 
Das wird bedeutsam, sobald sich an yerschiedene Kern¬ 
erlebnisse die gleichen Sachyerhalte anknüpfen. 
Und das ist in der Tat bisweilen der Fall und hebt ans der 
gewaltigen Zahl yon refiex erlebten Übergängen gewisse (bio- 



254 


J. Liodworsky, 


logisch bedeutsame) Gruppen heraus. Doch greifen wir mit diesem 
Gedanken unserer Untersuchung schon voraus. Veranschaulichen 
wir zunächst einmal, wie sich die gleichen Sachverhalte an ver¬ 
schiedene Kemerlebnisse anschließen, und welche Folge diese 
Verknüpfung von Sachverhalten haben muß. 

Gehen wir von einem anschaulichen Inhalt zu einem andern 
ttber^) und sind diese Inhalte objektiv gleich, so verbindet sich 
mit dem ganz eindeutig und individuell charakterisierten Erleb¬ 
nis des reflez bewußten Überganges z. B. von Ton a zu Ton a 
der Sachverhalt, daß Übergangsempfindnngen fehlen, daß der neue 
Eindruck leichter aufgefaßt wird und darum vielleicht mit einem 
Lustgefühl verbunden ist Handelt es sich um gleiche Flächen, 
so tritt der Sachverhalt der völligen Deckung hinzu: man kann 
die Flächen so aufeinanderlegen, daß je die eine hinter der andern 
unsichtbar wird. Oder es kommt der Sachverhalt der Verwendungs¬ 
möglichkeit hinzu: man hat etwa eine Schachtel mit einem Deckel 
zu schließen, greift nach einem Deckel, der ursprünglich nicht zu 
der geöffneten Schachtel gehört, und erreicht seinen Zweck auch 
mit ihm. Es ließen sich solcher Sachverhalte noch eine ganze 
Reihe aufzeigen. Sie sind (wenn auch nicht alle, so doch zum 
Teil) erfaßbar, ohne daß eine Gleichheits-, Verschiedenheits- oder 
sonst eine der uns Erwachsenen geläufigen Beziehungen erfaßt 
oder verwertet wird. 

Während nun das Eemerlebnis, d. h. der refiex bewußte Über¬ 
gang von dem einen anschaulichen Inhalt zu dem andern objektiv 
gleichen, stets ein individueller ist — das Erlebnis rot/rot ist ein 
anderes als das Erlebnis blau/blau —, schließen sich an diese in¬ 
dividuellen Übergänge eine Reihe von Sachverhalten an, die ob¬ 
jektiv gleich sind. Wir wollen ihnen die Bezeichnung »an¬ 
schließende Sachverhalte« geben. Sie bilden, einmal erfaßt, zu¬ 
sammen mit dem Kemerlebnis einen Komplex, der somit aus dem 
variablen und ans den konstanten Sachverhalten besteht 

Hat sich nun mit dem Erleben eines solchen Komplexes von 
Sachverhalten eine Interjektion oder eine von der Umgebung 

1) Gewiß kann man im Anfang der geistigen Entwicklung nur dann 
von einem anschaulichen Inhalt zu einem andern gleicher Art übergehen, 
wenn die beiden Inhalte irgendwie gegeneinander abgegrenit sind, d. h. wenn 
sich ein von ihnen verschiedener Inhalt zwischen beide legt. Damit ist 
jedoch nicht behauptet, es sei keine Gleichheitsbeziehung ohne Verschieden* 
heitsbeziehung möglich. Denn wir brauchen nicht zu allen Inhalten in 
der selbstbewußten Weise ttberzngehen. Sodann erlaubt das Abklingen der 
Empfindungen, daß wir zwei anschauliche und voneinander erlebnism&fiig 
getrennte Inhalte doch nahezu gleichzeitig im Bewußtsein haben. 



Beyision einer Relationstheorie. 


255 


übernommene Bezeicbnnng (natürlich noch nicht als Name diesea 
Komplexes) verknüpft, nnd tritt dann später ein bisher unbe¬ 
kanntes Eemerlebnis zusammen mit einem der schon bekannten 
Komplexglieder auf, so besteht die Tendenz, daß von diesem kon¬ 
stanten Eomplexglied aus die andern konstanten Eomplexglieder 
nnd die damals ausgestoßene Interjektion oder das damals ver¬ 
nommene Wort reproduziert wird. Und umgekehrt wird jener 
Lantkomplex die Situation wieder ins Bewußtsein rufen, die nicht 
durch die wechselnden anschaulichen Inhalte der Eemerlebnisse,. 
sondern durch die gemeinsamen Sachverhalte bezw. das Erleben 
dieser Sachverhalte gekennzeichnet ist^). 


l)Bei Bfihler: »DiegeistigeEntwicklangd.Kindes«3.Aafl.S.4191iestmanr 

»»Lindner schreibt: »Wie schon . . . erwähnt . . . waren Papa nnd 
Mama die Ton meinem Kinde im zehnten Monat znerst mit Verständnis ge¬ 
brauchten Worte. AnfBlllig ist mir hierbei gewesen, dad das Wort Mama ala 
Bofname bald wieder ander Gehranch gesetzt wnrde nnd dann Monate hin* 
dnrch die Eltern beide mit dem Namen Papa bezeichnet wnrden. Ich yermag^ 
keine genügende Erklärung f&r diese mir merkwürdige Erscheinnng zn gehen. 
Aber eine Art Seitenstäck dazn finde ich in dem nm dieselbe Zeit gehranchten 
nnd zn den ersten Wärtern seines Lexikons gehörenden »anf«, das eben¬ 
sogut ffir das Gegenteil »herab« gebraucht wnrde. Ich wnrde dabei lebhaft 
an das lateinische altns, im Sinne yon hoch nnd tief, erinnert Das Wort 
»warm« yerwendet mein Kind in derselben Weise, nämlich auch für »kalt«. 
Frisches Bmnnenwasser ist ihm ebenfalls »schön warm«. Auch Preyer er¬ 
zählt yon seinem Kinde, dafi es im 29. Monate »zn wenig« auch ffir »zn yiel« 
gebraucht habe. Anfierdem teilt er ans den Beobachtungen des Amerikanern 
flnmphrey mit, dafi dessen Kind bis znm 18.Monat das Wort no ffir ja 
und nein zugleich gebraucht habe. Beruhen diese nnd ähnliche Erschei¬ 
nungen nur anf einem Mangel an Differenzierung der Begriffe im kindlichen 
Denken, dann hat das Kind schon eine Ahnung dayon, dafi Gegensätze nur 
die Endglieder einer nnd derselben Begriffsreihe sind.« In dem letzten Satz, 
meint wohl Lindner nur, wie übrigens jeder, der etwas derartiges ans- 
drfickt, dafi irgendein Äqniyalent ffir jene logisch korrekt formulierte Er¬ 
kenntnis im Geiste der Kinder wirksam gewesen sei. Die Tatsachen enthalten 
aber, wie mir scheint, auch ffir diese Annahme keinen zwingenden Grund. 
Die psychologischen Verhältnisse können in den einzelnen Fällen yerscbieden 
liegen. Die Eindrücke warm nnd kalt sind so nahe yerwandt, dafi gegen 
die Annahme, sie seien yon dem sprechenden Kind nicht oder nicht ge¬ 
nügend unterschieden worden, nichts Stichhaltiges würde yorgebracht 
werden können.«« 

Wir würden yermnten, dafi sich an indiyidnell yerschiedene Kemerleb- 
nisse gleiche (nnd natnmotwendig) allgemeinere Sachyerhalte anschlossen, 
yon denen ans der in höherer Bereitschaft stehende Name des einen Gliedes 
anf dem Wege der Komplezergänznng reproduziert wnrde. 



256 


J. Lindworsky, 


4. Die Entstehung des Begriffes >gleieh< (»Tersehieden<). 

Der Lautkomplez »gleich« (Entsprechendes gilt fär »verschie¬ 
den«) wird nach dem Gesagten in dem bis jetzt erreichten Ent- 
wicklnngsstadinm eine ziemlich konstante Somme von Sachver¬ 
halten ins Gedächtnis mfen. Ein Summe von Sachverhalten ist 
indes ein Begriff. Wir haben somit den Gleichheitsbegriff. Im 
Vordergründe stehen die bei den meisten Abfolgen objektiv glei¬ 
cher Bewnßtseinsinhalte erlebten (konstanten) Sachverhalte. Will 
sich jedoch unsere Vp. diesen Begriff anschaulicher vorffihren, so 
denkt sie an eines der (variablen) Kemerlebnisse, etwa an den 
Übergang von einem Strich zu einem andern (objektiv) gleich 
langen oder von einem blauen Streifen zu einem andern (objektiv) 
gleich blauen. 

Das Wort »gleich« hat somit einen vollwertigen, höchst 
brauchbaren Sinn erhalten, ohne Dazwischenkunft einer elemmi- 
taren Gleichheitsrelation. 


5. Einwände. 

An dieser SteÜe ist der Einwand zu berücksichtigen, den 
man von der phänomenologischen Betrachtung her erheben kann. 
Vergegenwärtigen wir uns die Bedeutung »gleich«, so scheint 
nicht sowohl einer oder mehrere der von uns genannten Sach¬ 
verhalte als vielmehr ein besonderer eigenartiger Inhalt bewußt 
zu sein. Der Einwand ist nicht direkt zu widerlegen, weil 
niemand einem andern seine Bewnßtseinsinhalte zeigen kann. 
Aber es lassen sich Tatsachen nennen, die ihn entkräften. Denn 
dringt man zu einer irgendwie deutlichen Klärung des Begriffes 
vor, so weist man entweder auf einen der anschließenden Sach¬ 
verhalte hin, oder man greift auf ein Kemerlehnis zurück, indem 
man sich etwa den Übergang oder die Betrachtung von zwei 
gleichen Farben, Tönen u. a. vorführt. Dabei hat mau tatsächlich 
ein eigenartiges Erlebnis, aber nicht darum, weil außer den ge¬ 
nannten Sachverhalten noch ein eigener Relationsinhalt erfaßt 
würde, sondern weil der individuelle Übergang von einem Gegen¬ 
stand zu einem andern, objektiv gleichen eben ein ganz eigen¬ 
artig getöntes Erlebnis ist. Diese Tönung ist teils im Eem- 
erlebnis begründet und als solche wechselt sie bei verschiedenen 
Gegenständen; teils in dem Fehlen der Übergangsempfindnngen, 
bezw. in dem erleichterten Ablauf des zweiten Eindruckes und 
was damit verbunden sein mag, und dieser Zug kehrt bei ver¬ 
schiedenen Kemerlebnissen wieder. 



Beviaion einer Belationstheorie. 


257 


Sodann läßt sich auf eine Eigentttmlichkeit des Wortyer< 
ständnisses hinweisen, die jüngst Spearman*) näher beschrieben 
und als eine »great illnsion« bezeichnet hat. Lesen wir vertrante 
Wörter, so scheinen sie. oft der Gegenstand selbst zu sein. Das 
Wort erhält eine merkwürdige Färbung und Tönung, die ihm 
nur aus den Sachverhalten, die sich an den Gegenstand knüpfen, 
kommen kann, ohne daß man jedoch einen klaren Einblick in 
diese Substitution tun könnte. Ich habe diese Beobachtung bei 
Wortverständnisversnchen gleichfalls gemacht, und zwar bevor 
ich die Ausführungen Spearmans kannte. Auf die Sache 
selbst soll hier nicht näher eingegangen werden. Es genügt die 
Feststellung, daß wir uns über die erlebte Bedeutung der Wörter 
nur schwer klar werden können. Die Wörter gewinnen ans 
dem Hintergrund, den die mit ihnen verbundenen Sachverhalte 
schaffen, oft eine spezifische Atmosphäre, die uns leicht als ein eigener 
Inhalt neben jenen Sachverhalten erscheinen kann. Genauere 
Aufklärung muß hier das Experiment bringen. Einstweilen sind 
wir auf Grund solcher Betrachtungen berechtigt, uns durch eine 
solche wenig sichere Bedeutnngsanalyse nicht irre machen zu lassen 
und die Bewährung unserer Theorie als besseren Maßstab ihrer 
Richtigkeit anznsehen. 

Übrigens scheint mir die Sachlage bei andern Relations- 
bezeichnnngen klarer zu sein. Soll ich mir die Bedeutung des 
Wortes »schnell< vorführen, so denke ich zunächst an: Weg in 
der Zeiteinheit. Suche ich nach einer ursprünglicheren Bedeutung, 
dann sehe ich etwas nahe an meinen Augen voiüberhuschen; 
also ich gehe auf das Erlebnis selbst, auf das, was wir als 
Kemerlebnis bezeichneten, zurück. Damit bin ich befriedigt und 
suche nicht nach einem weiteren gedanklichen Inhalt Warum 
das bei »gleich« etwas anders liegt, wird unten zu besprechen sein* 

Zweitens sind hier die beachtenswerten Gedanken Bühlers 
anzufflhren. Bühl er schreibt*): »Sie (die Relationen) sind so 
beschaffen, daß sie sich scharf von den Übergangserlebnissen 
unterscheiden lassen. Wenn A gleich B und B in derselben 
Hinsicht gleich C ist, so ist auch A gleich C; das geht aus der 
Natur des Gleichheitsverhältnisses hervor. Man setze nun in 
diese Sätze statt ,Gleichheit‘ das ,Fehlen eines Übergangs« 
erlebnisses' ein, so wird der Schluß erstens uneinsichtig und 
zweitens falsch. Denn woher sollte ich wissen, und zwar evident, 


1) Spearman, »The Nature of Intelligence« 1928 S. 194S. 

2) »Die geistige Entwieklnng des Kindes« 8. Anfl. 1922 S. 178. 

AtoUt Ar Piyohologie. XLVIIL 17 



258 


J. Lindwonky, 


dafi das Fehlen von Übergangserlebnissen zwischen A nnd B, 
B nnd C auch das Fehlen eines Übergangserlebnisses zwischen 
A nnd C bedingt? Eine dahingehende allgemeine Behauptnng 
w&re anch gar nicht allgemein richtig.... Um gleich noch etwas 
hinznznfügen: jedes Relationsarteil läßt sich konvertieren', wie 
die Logik sagt; ans A = B folgt B = A, ans A ähnlich B folgt 
B ähnlich A, ans A großer als B folgt B kleiner als A, and 
zwar alles evident ans der Natur dieser Verhältnisse heraus 
a priori. Woher all dies Wissen? Antwort: derart ist das Wesen 
der Relationen und derart durchsichtig sind sie uns in der 
Wahrnehmung gegeben, daß wir aus ihrem Wesen jene Ableitungen 
zu machen vermögen; ... Wer behaupten wollte, daß all dies 
aus der Erfahrung mit Übergangseriebaissen stammt, mäßte 
wahrhaft schlecht beraten sein nnd nicht begriffen haben, was 
a priori ist und heißt« 

Wie aus den letzten Worten hervorgeht, richtet sich die 
Polemik Bflhlers unmittelbar nicht gegen nnsmie Auffassung, 
sondern gegen die Herleitnng der Relationen aus Übergangs* 
erlebnissen, genauer: Übergangsempflndnngen, die sich einsteUen, 
wenn man z. B. von einem Dunkelgrau zu einem Hellgrau fiber¬ 
geht Aber da Bfihler nicht nur von den vorhandenen oder 
nicht vorhandenen Übergangsempfindungen, sondern auch von 
dem Sachverhalt des Vorhandenseins bzw. Nichtvorhandenseins 
solcher Nebenerscheinungen spricht, kehren sich seine Gedanken 
auch wider unsere Auffassung. Noch weniger verträgt sich 
seine Lehre von der apriorischen Erkenntnis mit unserm Versuch, 
die Relationsinhalte aus der Erfahrung abzuleiten. Wir mfissen 
uns darum mit Bfihler auseinandersetzen und seine berechtigt«! 
Einwände befriedigen. Selbstverständlich nicht auf dem Wege 
prkenntnistheoretischer Beweisffihrung, sondern genetisch - psy¬ 
chologischer Ableitung. 

Vorab ist zu betonen, daß jene Sachverhaltssumme, die nach 
unserer Auffassung den Begriff »gleich« aasmacht, nicht nur den 
Sachverhalt »Fehlen von Übergangserlebnissen« enthält, sondern 
noch manche andere, z. B. den Sachverhalt der Ersetzbarkeit des 
einen durch das andere, wie es oben geschildert wurde. Setze 
ich aber dieses Merkmal in den obigen Syllogismus ein, dann 
wird er richtig und einsichtig. 

Aber woher kommt denn die Einsicht, daß A durch C er¬ 
setzbar sei. Woher die Erkenntnis, daß B = A, wenn A = B? 
Das muß doch aus dem apriorischen Charakter der Relationen 
stammen oder, wie wir früher gesagt hätten, das muß doch aus 



Bevision einer Belationstheorie. 


259 


dem Inhalt der Relationserfassnng stammen, der, einmal ans den 
Fundamenten erkannt, mir seine Kehrseite nnmittelbar zeigt. 
Indes mir scheint, hier narre nns ein wenig unsere Sprache. 
Sie sammelt erst alles Mögliche in einem Begriff, etikettieit 
dann diesen Begriff mit einem Wort, macht ans dem einen Wort 
scheinbar einen einfachen Inhalt und läßt nns dann verwundert 
feststellen, was man alles aus diesem einfachen Inhalt erkenne. 
Das muß, so scheint es dann, doch eine apriorische Erkenntnis* 
weise sein, wenn sich so ein einfacher Begriff geradezu als ein 
Tischlein-deck-dich erweist. 

Ich denke mir die Sache viel harmloser. Im Umgang mit 
objektiv gleichen Dingen erlebe ich reflex eine Anzahl von 
Sachverhalten in der oben dargelegten Weise. Ich erlebe z. B., 
daß A durch B und B durch A zu ersetzen ist. Daß der Über¬ 
gang von A nach B relativ leicht von statten geht und der Übergang 
von B nach A desgleichen. Solche Sachverhalte prSgen sich 
mir ein und werden später mit dem einen Wort >gleich< zu¬ 
sammengefaßt Diese Sachverhaltssumme schwebt mir irgendwie 
vor, wenn ich das Wort höre. Nicht alle einzelnen Sachverhalte 
gleich deutlich, aber alle in sehr hoher Bereitschaft Sobald 
nun die Frage aufgeworfen wird, ob, wenn A = B, B auch 
gleich A sei, wird der zweite im Begriff »gleich« enthaltene 
Sachverhalt: beim Übergang von B nach A erlebe ich dasselbe 
wie von A nach B lebendig. Ich muß dann folgern: also B=:A, 
weil das einfach mit dem Sachverhalt A = B mitgegeben ist 
Oder: warum schließe ich von >A größer als B< auf >B kleiner 
als A<? Nicht darum, weil ich in einer elementaren Relation 
»größer« a priori ihre Umkehrung »kleiner« beschlossen sähe, 
sondern weil ich erfahren habe, daß mit dem Erlebniskomplex, 
dem man den Namen »größer« gab, immer wieder der andere 
Erlebniskomplex, der mit »kleiner« bezeichnet wird, verbunden 
war, falls ich in umgekehrter Richtung voranging. »Gleich« 
bedeutet eben nicht nur A = B, sondern auchB = A; »größer« 
bedeutet für den Erfahrenen eben nicht nur, daß sich beim 
Übei^fang von B nach A gesetzmäßig bestimmte andere Erlebnisse 
einfinden. Aber alles dies weiß ich nur ans der Erfahrung. 
Wäre ich immer nur von A nach B gewandert, so wären mir 
diese korrelativen Verhältnisse unbekannt 

Es bleibt freilich noch ein Umstand zu berücksichtigen: die 
Allgemeinheit und Notwendigkeit dieser Korrelationen. Die 
Erfahrung zeigt sehr bald, daß gewisse Sachverhalte im Um¬ 
gang mit den Dingen erlebt werden oder nicht, je nach unserer 

17* 



260 


J. Lindworsky, 


eigenen Verfassung: manches Spiel, manche Speise macht dem 
Kinde heute Freude, morgen nicht, je nach seinem augenblick¬ 
lichen Befinden. Andere Sachverhalte werden trotz unserer 
wechselnden Verfassung immer wieder festgestellt. Sie besitzen 
somit eine Zusammenhangsrelation nicht mit unserem schwankenden 
Verhalten, sondern mit den Dingen. 

Allerdings, die Unabhängigkeit einer Erscheinung von dem 
erlebenden Subjekt erklärt noch nicht den Charakter der inneren 
Notwendigkeit, den die Konversionen der Belationsnrteile offen¬ 
bar besitzen. Ich mag das häufige Auftreten von Schwarz and 
Weifi etwa bei Fahnen als unabhängig von meinem Zustand 
erfassen; ich sehe darum noch nicht, daß Schwarz bei Weiß sein 
müßte, selbst wenn es auf der ganzen Welt keine andern als 
schwarz-weiße Fahnen gäbe. Wir müssen zeigen, woher die 
innere Notwendigkeit dieser Konversionen kommt, und zwar 
ohne apriorische Faktoren und ohne Voraussetzung einer elemen¬ 
taren Gleichheitsrelation. Aber auch hier genügt es, einen 
möglichen Weg darzustellen, da es sich zunächst nur um die 
Frage handelt, ob wir überhaupt die Erkenntnismittel zu jener 
Einsicht besitzen. 

Wir nehmen an, unsere Vp habe, ausgehend von dem Kem- 
erlebnis A in Beziehung zu B, die Relation >A = B€ erfaßt, 
und zwar sei als anschließender Sachverhalt nur der gegeben, 
daß A durch B ersetzt werden könne. B sei ein Deckel, der 
eine zu dem Deckel A gehörige Öffnung vollkommen schließe. 
Ohne apriorische Funktionen und ohne eine vorausgehende 
elementare Gleichheitsrelation erlebt zu haben, kann unsere 
Vp erkennen, daß B dank der ihm eignenden RaumerfüUung 
die Öffnung a schließt. Kein dem B äußerer Umstand, sondern 
seine eigene Beschaffenheit ist der Grund seiner Brauchbai'keit 
als Verschluß für die Öffnung a. Nun mache dieselbe Vp. aus¬ 
gehend von dem Kemerlebnis: B in Beziehung zu A, die Rela- 
tionserfassung: B = A. Auch hier sei als anschließender Sach¬ 
verhalt nur der gegeben, daß B durch A ersetzbar ist Auch 
hier wird erkannt, daß die Öffnung b durch A nur wegen der 
Beschaffenheit von A geschlossen werden kann. All dies schließe 
sich zu einem Komplex zusammen, der dann folgende Sachverhalte 
enthält: A = B, B = A, A durch B ersetzbar, und zwar, weil B 
ein bestimmtes Wesen hat: B durch A ersetzbar, und zwar, 
weil A ein bestimmtes Wesen hat Mit dem Wesen von A ist 
sonach seine Ersetzbarkeit durch B, mit dem von B dessen 
Ersetzbarkeit durch A gegeben. Die Vertauschbarkeit zweier 



Beyision einer Relationstheorie. 


261 


Dinge ist, wenn Torhanden, mit ihrem Wesen gegeben und dann 
notwendig. Setze ich nun für yertauschbar das Begriffssymbol 
>gleich<, so ergibt sich, daß wenn A = B, B notwendig gleich A ist. 

Noch einfacher ist die Ableitung, daß mit der Relation »größere 
notwendig die Korrelation »kleiner« verbunden ist. Die Natur 
der Dinge, nicht irgendwelche Willkür bringt es mit sich, daß 
beim Eemerlebnis: Strich a zu Strich b gewisse anschließende 
Sachverhalte erfahren werden. Ebenso ist es sachlich bedingt, 
daß beim Durchlaufen der umgekehrten Richtung andere Sach* 
verhalte erfaßt werden. Wird nun die Identität der beiden 
Striche im ersten und im zweiten Übergang erkannt — und das 
ist möglich ohne apriorische Relationen — so wird auch erfaßt, 
daß dieselbe Sache einmal die Relation »größer«, das andere 
Mal die Relation >kleiner« erkennen läßt, je nachdem diese 
Sache betrachtet wird; daß somit beide Relationen in der 
gleichen Sache verwurzelt sind und darum notwendig zu ein¬ 
ander gehören. 

Hier gibt es nur noch Unterschiede in der »Natur der Sache«. 
Die eine Sache steht als naturgegeben vor mir, die andere ist 
willkürlich so gemacht worden, man denke insbesondere an die 
menschlichen Zeichen. Und darum ist auch in der Preußenfahne 
notwendig bei dem Schwarz das Weiß, weil diese Farben- 
zusammensteUnng nun einmal als die preußische Fahne gewählt 
worden ist 

So dürfte sich die Evidenz der Folgerungen, aber auch die 
Natur des a priori erklären: a priori kann ich für einen neuen 
Anwendungsfall ans der Relation auf die Korrelation 
schließen, nachdem mir die Zusammengehörigkeit beider aus 
der Erfahrung als eine unabhängig von dem Subjekt bestehende, 
durch die Natur der Sache gegebene bekannt geworden ist 
Von einem andern a priori, das aller Erfahrung vorausgeht, weiß 
namentlich die Kinderpsychologie nichts zu berichten. 


6. Die Entstehung der Nennfunktion. 

Hat sich mit einem Komplex von Sachverhalten ein bestimmter 
Lautkomplex assoziiert, wie dies oben S. 254 von »gleich« an- 
gedentet wurde, so fehlt nur noch die Nennfunktion, damit dieser 
Lantkomplex als Begriffswort diene. 

Vernimmt die von uns supponierte Vp. das Wort »gleich«, 
so wird ihr zwar die Summe jener Sachverhalte ins Bewußtsein 
znrückgemfen, aber sie hat noch nicht den Gedanken: »gleich« 



262 


J. Lindworaky, 


bedeutet diese Sachverhalte, oder: das Erlebnis der Sachverhalte 
lädt sich mit dem Wort »gleich« benennen. Es scheint zunächst, 
daß unsere ganze Ableitung an dieser Klippe scheitern müsse. 
Denn gelang es uns bisher, den »elementaren« Inhalt »gleich« zu 
vermeiden, so scheint er hier unentbehrlich zu sein. Es muß 
doch einmal der Gedanke auftauchen: gleich ist dies und jenes. 
Allein vergegenwärtigen wir uns Fälle von der Art, wie einer 
im Leben Helen Kellers berichtet wird. Es habe eine Yp. die 
assoziative Verbindung der Zeichen für Wasser und der beim 
Wassertrinken vorkommenden Sachverhalte gewonnen. Eines 
Tages verlangt es die Yp. sehr nach Wasser. Assoziativ kommt 
ihr das stets mit dem Trinken vernommene Wort in dmi Sinn und 
sie spreche es gedankenlos aus. Reicht man ihr darauf Wasser, 
so kann sie diesen Sachverhalt der Aufeinanderfolge von Wort 
und Sache beachten, ohne die Nennfunktion zu kennen. Wieder¬ 
holt sich das Erlebnis öfters, so wird sich später die Yp. dem 
Wort als dem ersten Glied des erwünschten Sachverhaltes zu¬ 
wenden und das Wort »Wasser« aussprechen, wenn sie die 
Erfüllung ihres Wunsches herbeiführen will. Das Wort wird 
zunächst nicht als Name verwendet, sondern gleichsam als der 
Handgriff, mit dem man das Erwünschte herbeiführt Und so 
erscheint das Wort ja auch in der Kindersprache: »Tüll«, d. h. ich 
will auf den Stuhl Das Wort wird ferner zum Mittel, um 
im Bewußtsein des Mitmenschen einen Inhalt zu wecken. Und diese 
Znsammenhangsrelation dürfte zunächst beachtet und eingeprägt 
werden, wenn das Kind die Namen der Dinge lernt. Die stets 
wiederkehrende Frage: »is’n das?« dürfte nicht so wohl eine 
Gleichsetznng von Wort und Sache bedeuten als vielmehr den 
Sachverhalt: bei diesem Ding sagt der Erwachsene »Tisch«, und 
mit dem Wort »Tisch« lenkt man die Aufmerksamkeit der andern 
auf dieses Ding. 

Dennoch haben wir in der Sprache des Erwachsenen wirk¬ 
liche Gleichsetzungen, und unsere Theorie muß auch diesen ge¬ 
recht werden können. Wir sagen: der Ofen ist heiß, und noch 
eindeutiger formuliert die Mathematik: a = b. Sätze der ersten 
Form dürften keine allzugroßen Schwierigkeiten bereiten. Denn 
die Worte »Der Ofen ist heiß« haben doch den ursprünglichen 
Sinn: greifst du ihn an, so wirst du Schmerz empfinden. Diese 
Sachverhalte sind aber ohne Gleichheitsgedanken erfaßbar. Nur 
ist es ein besonderes sprachpsychologisches Problem, warum der 
Ausdruck dieser Sachverhalte die Fom des Gleichheitsurteils 
angenommen hat. 



Revision einer Relationstheorie. 


263 


Wie steht es aber mit den eigentlichen Gleichheits> 
urteilen? Unterscheiden wir zwei Fälle; es wird die Gleich¬ 
heit zweier Dinge unter einer bzw. unter einigen Räcksichten 
ansgesagt, und den andern Fall: es wird die Gleichheit zweier 
Gegenstände unter allen Rücksichten behauptet. Sagen wir, 
nur auf die Eörperlänge oder die Stärke usw. schauend: Karl 
ist gleich Fritz, so haben wir den schon oben geschilderten 
Komplex der Sachverhalte, die wir beim Übergang von einem 
Ding zu einem andern von objektiv gleicher Beschaffenheit er¬ 
leben. Wir können also den Sinn dieses Urteils folgendermaßen 
wiedergeben: gehst du von der Länge, der Haarfarbe oder dgl. 
des Karl zur Länge, Haarfarbe usw. des Fritz über, so hast du 
nicht nur ein eigenartiges Erlebnis, eben jener aufeinanderfol¬ 
genden Empfindungen, sondern du wirst auch noch folgende 
Sachverhalte erfahren: du wirst keine Uebergangs- oder Neben¬ 
empfindungen haben; der zweite Eindruck wird sich leichter 
und wohliger vollziehen; du kannst zu gewissen Zwecken den 
Karl ebenso verwenden wie den Fritz, nämlich wenn es dabei 
auf Körperlänge oder Haarfarbe ankommt usw. So erfüllen 
vnr die Worte »ist gleich« mit einem scharf umschriebenen 
Sinn, ohne ein elementares Gleichheitserlebnis anzunehmen. Von 
diesem Sinn tritt nun das meiste bei dem häufigen Gebrauch 
diesm* Worte zurück, und es bleibt vielleicht nur ein repräsen¬ 
tierendes Schema von zwei gleichlangen Stridien. Das Wort 
»ist« oder »ist gleich« scheint uns dann einen einfachen Inhalt 
widerzuspiegeln. Aber der nämliche Anschein tritt bei allen 
geläufigen Wörtern zutage. Auch das Wort »Pferd« scheint 
nns etwas sehr Einfaches vor die Seele zu führen, und doch 
kann es, abgesehen von dem Yorstellungsbild, nur eine Summe 
von Sachverhalten bedeuten. 

Ist so die Bedeutung des prädikativen »sein« und des »gleich¬ 
sein« ohne Voraussetzung eines elementaren Gleichheitsinhaltes 
gewonnen, so bereitet die Erfassung der Identität keine 
Schwierigkeit mehr. Für das praktische Leben kann man sich 
den Entwicklungsgang folgendermaßen zurechtlegen: man trifft 
mit jemand zusammen und erkennt seine Gleichheit mit einer 
durch die Erinnerung uns bewußt gewordenen Persönlichkeit. 
Obwohl die beiden nicht in jeder Hinsicht gleich sind, erklären 
wir sie doch für identisch, da wir einen inneren Kern bei jeder 
Persönlichkeit annehmen, den wir als unverändert denken. Nun, 
so wie wir in diesem Falle durch Erlebnis und Erinnerung zwei¬ 
mal die gleiche Person vorgestellt erhalten, können wir be- 



264 


J. Lindworsky, 


liebige Dinge, dank unserer Fähigkeit Torznstellen, sich selbst 
gegenüberstellen. Vergleichen wir sie unter den verschiedensten 
Rücksichten, so finden wir stets Gleichheit Elrstreckt sich diese 
Gleichheit aach auf Ort und Zeit der Existenz, so sprechen wir 
von Identität Sie ließe sich noch schärfer kennzeichnen: für 
unsere Zwecke genügt der Nachweis, daß wir zu dem Begriff 
der Identität gelangen können, ohne ein elementares Gleichheits¬ 
erlebnis oder sonst eine von unsem Kemerlebnissen verschiedene, 
elementare Relation anznnehmen. Freilich bedienten wir uns 
zur Ableitung der Identitätsrelation der Gleichheitsbeziehnng, 
aber wir lassen diese ihrerseits ans den Kemerlebnissen entstehen. 
Ob wir mit dm* Dazwischenknnft der Gleichheitsbeziehung die 
tatsächlich stattgefundene Entwicklung schildern, wissen wir 
nicht, bleibt aber auch für unsere Zwecke außer Betracht, da 
es nur erforderlich ist, die Möglichkeit einer solchen Ent¬ 
wicklung anfzuzeigen^). 

Auch die Zahlrelationen bereiten keine wesentliche 
Schwierigkeit. Zunächst lernt das Kind die Benennung zweier 
Dinge, z. B. zweier Ejrschen, wie es auch sonst die Namen der 
Gegenstände erlernt Die >zwei< gehört dann ganz wesentlich 
zu den Kirschen. Später lernt es jenen Sachverhalt oder jene 
Grappe von Sachverhalten mit »zwei« benennen, die immer dann 
auftreten, wenn zwei Objekte vorhanden sind. Solche Sachvm*halte 
wären z. B. das eigentümliche Erlebnis des zweimaligen Hindentens, 
das sich dem Kinde genau so als charakteristisches Erlebnis vor 
jedem Zahlbegriff einprägen kann, wie es sich dem dressierten 
Huhn einprägt, das so je zwei oder drei Körner »abzählen« 
lernt Aber kann auf diese Weise überhaupt ein einsichtiges 
Urteil gewonnen werden, etwa das Urteil: zwei mal zwei ist 
vier? Nun, etwa so: das Kind hat auf demselben Wege wie 
zuvor »zwei« die Zahl »vier« kennen gelernt Es liegen vor 
ihm vier Kirschen und es weiß: das nennt man vier, und zwar 
hat es den Zahlbegriff schon von dem Objekt losgelöst Legt 
es nun diesen vier Kirschen zwei und nochmal zwei gegenüber 
und vergleicht beide Groppen, so erkennt es die Gleichheit 

1) Die Gleichheitsrelatioii scheint für die Entwieklong and Aasge- 
staltnng: der Übrigen Relationen, namentlich für deren sprachliche Bewälti¬ 
gung, eine ähnliche Rolle zn spielen wie das dekadische System im Rechnen. 
Nicht anletzt ans diesem Grunde dürfte sie uns als etwas Elementares im¬ 
ponieren. Seltener gebrauchte Relationsbezeichnnngen, wie »schnell«, »oben«, 
weisen viel prompter auf ihre Äbstraktionsgmndlage hin und lassen den 
scheinbaren elementaren Inhalt weniger erkennen. 



BeTision einer Relationstheorie. 


265 


dieser Grappen. Will man noch \reiter gehen, so kann man es 
durch die verschiedensten Versuche die Unverträglichkeit jeder 
andern Vergleichszahl mit dem Ergebnis von zweimal zwei und 
die Unverträglichkeit jeder andern Vervielfachung von zwei 
mit der Gmppenzahl vier erfahren lassen. Es sollte mich nicht 
wundem, wenn mancher Erkenntnistheoretiker noch eine durch¬ 
sichtigere Evidenz forderte, als sie auf diesem Weg zu gewinnen 
ist. Allein für Wissenschaft und Leben und selbst fflr die Philo¬ 
sophie scheint diese Evidenz zu genügen, die da zu dem Er¬ 
gebnis kommt: wenn ich nach diesen Erfahrungen mein Leben 
und Forschen einrichte, gelange ich zum Ziel; wenn ich sie be¬ 
zweifle oder durch andere Aufstellungen ersetzen will, muß ich 
Leben und Forschen darangeben. Eis ist ein psychologisches 
Emblem für sich, wie jene Täuschung einer noch mehr aus dem 
Wesen der Dinge hervorspringenden Evidenz zustande kommt. 
Es läßt sich unseres Erachtens auf dem Boden der hier be¬ 
sprochenen Tatsachen lösen, doch führte uns das zu weit vom 
Ziele ab. 

Nachdem wir uns so ausführlich mit dem Erlebnis der Gleich- 
heitsbeziehnng abgegeben haben, können wir uns bei der Ab¬ 
leitung der andern Beziehnngsklassen kürzer fassen. Beim 
Übergang von einem anschaulichen Inhalt zu einem von ihm 
verschiedenen wird man vielleicht noch eher die Sachver¬ 
halte erfassen, die diesem Erlebnis gemeinsam sind, auch wenn 
es an den verschiedensten Inhalten durchgemacht wird. Hier 
treten leichter Übergangs- und Nebenempfindungen auf; hier 
verspürt man die Hemmung des zweiten Eindruckes; hier erlebt 
man die Enttäuschung stärker, wenn man, in der Meinung zur 
Erreichung eines bestimmten Zieles A zu ergreifen, tatsächlich 
das von ihm verschiedene B erfaßt. Die Herauslösung und die 
Benennung jener Summe stets wiederkehrender Sachverhalte 
vollzieht sich wohl in derselben Weise wie bei der Gleichheits¬ 
relation oder kann wenigstens als ebenso entstanden gedacht 
werden. 

Anhangsweise sei auf ein bedeutsames Hilfsmittel für die 
Vei^leiche des Erwachsenen hingewiesen, das sich in der Jugend 
ansbildet und später beim Beurteilen verschiedener Eindrücke 
gute Dienste leistet. Es sind das die Intensitäts- und Qualitäten¬ 
reihen. Zufällig bietet das Leben dem Kind Intensitätsreihen in 
der Welt des Schalles und des Druckes, bisweilen auch auf 
anderen Gebieten. Sie haben die Eigentümlichkeit, daß sich bei 
ihnen jenes charakteristische Übergangserlebnis, das man sonst 



266 


J. Lindworsky, 


bei zwei Stufen dieser Reihen hat, andauernd wiederholt bzw. 
erhält. Das merkwürdige Erlebnis beim Übergang von einem 
Ton zu einem lauteren, Ton einem Druck zu einem stärkeren 
nimmt in der anfsteigenden Reihe kein Ende, sondern wird immer 
eindringlicher. Ähnliches gilt für die absteigende Reihe. Solche 
Intensitäts* und Qnalitätenreihen prägen sich nun als Ganze 
ein. Auch Schemata bleiben von ihnen zurück. Hat man dann 
später zwei ungleiche Empfindungen derselben Art miteinander 
zu vergleichen, so geschieht dies nicht selten durch Rückgang 
auf diese Reihen. Die Vp. bemüht sich, die beiden Empfindungen 
einer solchen Reihe einznordnen, oder sie versucht eine solche 
Reihe herznstellen, indem sie im Sinne des gebotenen Empfin¬ 
dungspaares fortzuschreiten trachtet und erst ans dieser Fort¬ 
setzung erkennt, ob z. B. die beiden Töne anfsteigend oder ab¬ 
steigend verliefen. 

7. Die Kemerlebnlsse za weiteren Beziehnngserfassangen. 

Als Ausgangspunkt für die räumlichen Beziehnngserfas- 
sungen mag uns der Komplex der Erlebnisse dienen, die man 
bei einer Drehung des Kopfes nach rechts erfährt. Die objektive 
Gleichheit oder Verschiedenheit dei* Sehdinge, die dabei vom 
Auge getroffen werden, kann nicht als Grundlage neuer Be¬ 
ziehungserfassungen dienen, denn sie sind nicht eindeutig und 
notwendig mit ihr verbunden: bald folgt beim Kleinkinde etwa 
auf die graue Stubenwand das Grün einer Baumkrone vor dem 
Fenster, bald das nämliche Grau eines andern Teiles der gleichen 
Wand, je nach der Ausgangsstellung. Dagegen schließen sich 
bestimmte Bewegungsempfindungen mit der Aufklärung des dem 
rechten Arm benachbarten Gesichts- oder Tastfeldes zu einem 
Komplex zusammen. Das Wort »rechts« erhält den Sinn: Ab¬ 
folge bestimmter Bewegnngsempfindungen und beginnende Ver- 
denüichung des seitlichen Gesichts- und Tastfeldes, in dem so¬ 
dann der rechte Arm wahrnehmbar wird. Gewiß sind nicht alle 
Kopfbewegungen nach rechts gleichartig und zumal die Be¬ 
wegungen des Rumpfes, des Armes und des Auges sind namhaft 
untereinander verschieden, aber dennoch läßt sich der eine oder 
der andere gemeinsame Sachverhalt anfzeigen, der die Sinn- 
erfüllnng für das Wort »rechts« übernimmt. Wir wollen uns heute 
noch nicht darauf berufen, daß sich vielleicht bei allen Be¬ 
wegungen nach rechts eine gleiche kinSsthetische Gestalt findet, 
womit zweifellos die eleganteste Lösung geboten wäre; es ge¬ 
nügt, daß die initialen Bewegnngsvorstellungen der verschiedenen 



Bevision einer Belationstbeorie. 


267 


Glieder mit dem gemeinsamen Moment der Anfhellnng des seit¬ 
lichen Wahmehmongsfeldes oder der Wahrnehmung der rechten 
Körperseite zu einem Komplex verbunden sind, damit das Wort 
»rechts« eine bestimmte Erlebnissitnation ins Bewußtsein rnfe, 
die ihm einen passenden Sinn verleiht. 

Es ist möglich, daß »rechts« einmal die Situation der Kopf- 
wendung ins Bewußtsein ruft, während doch der Zusammenhang 
die der Körperwendung verlangt Nun gut, dann gibt es eben 
eine geringe Verständnishemmung, bis von dem gemeinsamen 
Glied ans der andere passende Komplex geweckt ist Solche 
anfängliche falsche BedeutungsfiUlnngen mit darauffolgender 
Hemmung oder Korrektur lassen sich in der Erfahrung nach- 
weisen. So verwunderte ich mich einmal sehr, als mir ein Mediziner, 
der gerade starken Schnupfen hatte, sagte, er habe ein Pulver 
genommen. Es war mir neu, daß man gegen Schnupfen ein Pulver 
einnehme, bis der weitere Zusammenhang ergab, daß einSchnnpf- 
pnlver gemeint war. Fär mich waren die Stücke: Mediziner — 
Pulver — Einnehmen zu einem sehr geläufigen Komplex ver¬ 
bunden. Die Tatsache also, daß durch eine Belationsbezeichnnng 
ein nicht ganz entsprechender Erlebniskomplex zur Sinnfüllung 
geweckt werden kann, bedeutet keine Schwierigkeit gegen unsere 
Theorie, um so weniger, da im Verlauf der Erfahrung nicht die 
ausführlichen Situationen, sondern die am häufigsten wieder¬ 
kehrenden Sitnationszüge reproduziert werden und zur Sinn- 
füllung ausreichen. 

Die Veränderungsrelationen haben ihr Kemerlebnis in 
dem refiexen Erfahren der sich verändernden anschaulichen In¬ 
halte. Daß uns wirklich kontinuierlich sich verändernde Inhalte 
gegeben sind oder doch gegeben sein können, wird heute von 
niemandem bestritten. Freilich das einfache Haben von sich 
verändernden Inhalten verhilft noch nicht zu irgendwelchen Be¬ 
ziehungsbegriffen dieser Art. Tritt aber das refiexe Erfassen 
der sich verändernden Inhalte hinzu, so bilden sich diese Be¬ 
griffe aus, wie es oben bei der Oleichheits- und Verschieden¬ 
heitsrelation angedentet wurde. 

Daß das Veränderungserlebnis auch die Grundlage zur Zeit- 
erfassnng abgeben kann, wurde schon öfters betont. Vom 
Standpunkt der alten klassischen Definition aus: tempus est nu- 
mems et mensura motus, wird man gegen diese Ableitung keine 
Bedenken hegen. Wer indes für apriorische Zeitformen eine 
Vorliebe hat, wird sich nicht so leicht befriedigen lassen. Allein 
für ihn gelten unsere Ausführungen nicht, die ganz vom Stand- 



268 


J. Lindworsky, 


punkt der theoretischen Psychologie, also von einem vor jeder 
Elrkenntnislehre liegenden Standpunkt ans gemacht werden. Aber 
anch von unserem Standpunkt aus wollen wir hier keine rest¬ 
lose Ableitung der Zeitbegriffe bieten, sondern nur auf das hierzu 
verwendbare Kemerlebnishinweisen und nochmals betonen, daß anch 
hier eine elementare Beziehnngserfassnng nicht benötigt wird. 

Das Material zum Eemerlebnis der Zeitrelationen können 
an sich wohl alle Empfindungsklassen liefern, doch dürften die 
Organempfindungen eine hervorragende Bedeutung besitzen. Auch 
fehlt es nicht an anderweitigen Sachverhalten, wie Stand der 
Sonne und der Gestirne, Lebensgewohnheiten der Pfianzen und 
Tiere nsw., die sich mit dem Eemerlebnis zu Eomplexen ver¬ 
binden und den vollen Sinn der Zeitrelationswörter ansmachen. 

Räumliche und zeitliche Relationserfassungen in Verbindung 
mit der Gedächtnistätigkeit ergeben die Zusammengehörig¬ 
keitsbeziehungen. Wurden A und B neben bzw. nachein¬ 
ander häufig erlebt, so reproduziert das A die Vorstellung von B. 
Tritt dann wirklich B auf, so ist damit ein ganz eigenartiges 
Erlebnis gewonnen: der Übergang von einer Vorstellung zu 
einer Wahrnehmung gleichen oder doch teilweise gleichen In¬ 
haltes. Und solche reflex erlebbare Übergänge benötigen wir ja 
als Grundlage der Beziehungen. So werden Zusammengehörig¬ 
keit von Blitz und Donner, von Tag und Nacht u. ä. m. erkannt 

Eine besondere Art der Zusammengehörigkeit besagt die 
kausale Relation. Läßt sich auch fflr sie ein Eemerlebnis 
finden? Der Gedanke an den Übergang von dem Willensent- 
schlnß zur Willenshandlung liegt nah. Dieses Erlebnis wurde 
schon mehrfach als die Gmndlage derEausalrelation angesprochen. 
Man hat aber nicht mit Unrecht eingewandt, wir erlebten gar 
nicht die Abhängigkeit unserer willkürlichen Bewegungen von 
unserm Entschluß, und verwies dabei auf mancherlei Tatsachen 
der Pathologie. Es läßt sich indes dieses Argument auf eine 
festere Grundlage stellen. Die hier gemachte Voraussetzung von 
dem isolierten Willensakt und seiner körperlichen Folgeerscheinung, 
der Bewegung, trifft nach den neueren Willensnntersnchnngen 
nicht zu oder braucht wenigstens nicht das Paradigma zu sein, 
von dem wir ausgehen. Der Willensakt erscheint nicht so wohl 
als isoliert vorausgehender Akt, denn vielmehr als ein das ganze 
Erlebnis beseelender Zug. Die gesehene und kinästhetisch empfun¬ 
dene Bewegung erscheint selbst als willentliche. Woher diese 
Auffassung kommt, braucht uns als empirisch oder theoretisch 
denkende Psychologen vorerst noch nicht zu kümmern. Wir 



Rerision einer Relationstheorie. 


269 


finden sie in frühen Kindheitsjahren vor. Und da wir, gemäß 
dem früher angegebenen Standpunkt, keine philosophische oder 
erkenntnistheoretische Überlegung oder Annahme voransschicken 
dürfen, da insbesondere angeborene Ideen oder Kategorien nach 
dem, was wir sonst empirisch ermitteln, keine Begründung in 
den Beobachtungen haben, sind wir berechtigt, diesen Eindruck 
der Eigentätigkeit bei unseren Körperbewegungen als einen der 
Erfahrung entstammenden und nicht nur als einen gelegentlich 
der Erfahrung ausgelösten Eindruck anzusprechen. Kommen wir 
aber jemals zu dem Erlebnis selbstbewußter Tätigkeit, so haben 
wir die Grundlage für die allgemeine Kansalrelation gewonnen. 
Die leichter erfaßbaren anschließenden Sachverhalte haben wir 
z. B. in den gesehenen Bewegungen der Glieder. 

Es lassen sich aber auch kritischere Ansprüche befriedigen. 
In dem Übergang von der Wertung eines Zieles zu dessen Er- 
strebung liegt zweifellos eine Tätigkeit, die eine Veränderung, 
nämlich die andere Stellung des Subjektes zum Ziel bewirkt. 
Jeder Willensakt ist eine Stellungnahme und damit eine Tätigkeit 
des Ich, die eine Veränderung, eine Wirkung herbeiführt. Mag 
dann auch in der unmittelbaren Übertragung dieser Kansalver- 
hältnisse auf die Muskelbewegnngen zunächst ein logischer Fehler 
unterlaufen, wie das so oft beim naturgemäßen Denken geschieht, 
die rechtmäßige empirische Basis ist für einen solchen Denk¬ 
fortschritt in dem inneren Willenserleben geboten. — Eis braucht 
wohl nicht besonders dargelegt zn werden, daß die Kansalbe- 
ziehnng außerhalb des Ich nur vermittels einer Gleichsetznng 
der beim Ich beobachteten Verhältnisse mit den in der Außen¬ 
welt gefundenen logisch ableitbar ist. Der psychologische Weg 
dürfte sehr viel kürzer sein. 

Von der Verschiedenheitsrelation war schon die Rede. Nach 
mehrfacher Erfahrung hebt sich aus der Gruppe der Ver¬ 
schiedenheitsrelationen die des Gegensatzes ab. In ähnlicher 
Weise ist die Verträglichkeitsrelation ein Sonder¬ 
fall der Zusammengehörigkeit und die Unverträglichkeits¬ 
beziehung ein Sonderfall der Gegensätzlichkeit. Es braucht 
aber keine neue Art von Kemerlebnissen, um die letztgenannten 
Relationen zn gewinnen. 

Auch die Relation der Ähnlichkeit wird leicht auf ursprüng¬ 
lichere Erfahrungen znrückgeführt. Wir erleben bei Dingen, 
die man als ähnliche bezeichnet, sowohl Sachverhalte, die bei 
gleichen Vorkommen, wie solche, die bei verschiedenen Gegen¬ 
ständen zu bemerken sind. Und gerade dieses Verbundensein 



270 


J. Lindwonky, 


der sonst getrennten Sachverhalte charakterisiert eindeutig 
die ühnlichkeitsbeziehnng und gibt dem Wort einen scharf 
nmrissenen Sinn, ohne daß wir zn einem elementaren Inhalt 
>ähnlich« znrttckzngreifen hätten. 

Die Existentialbeziehnng endlich findet ihren Aus¬ 
gangspunkt in dem Sachverhalt desVorfindens von Inhalten, 
wie er beim refiexen Bewußtsein erlebt wird; alle Essential- 
beziehnngen in den Vorgefundenen Inhalten, wie schon 
im einzelnen angedentet 

Damit haben wir die Hanptklassen der Relationen besprochen. 
Es wird sich nicht leicht eine weitere Relationsart aufweisen 
lassen, die nicht ans den aufgezählten ableitbar wäre. Damit 
ist aber erwiesen, daß das refiexe Erleben, in dem wir den 
Kern des Relationserlebnisses erblickten, ansreicht, um sämtliche 
Relationen grundzulegen. 

S. Die Einteilung der Relationen. 

Die Einteilung der Relationen kann sich vom psychologischen 
Standpunkt ans entweder auf die Betrachtung des Eemerlebnisses 
oder auf die der anschließenden Sachverhalte gründen. Das 
Eemerlebnis kann hinsichtlich des Momentes des refiexen £}rlebens 
nicht variieren, wohl aber hinsichtlich der refiex erlebten Inhalte 
oder Zustände des Ich. Je nachdem nun diese der gleichen 
Erlebnis- oder Inhaltsklasse angehören, und je nachdem, welchen 
Erlebnisklassen sie angehören, ließen sich Qmppen von Be¬ 
ziehungen finden. Ein in mancher Beziehung ähnlicher Versuch 
wurde schon von Spencer gemacht. Wir gehen nicht näher auf 
eine derartige Gruppierung ein. 

Schanen wir auf die sich anschließenden Sachverhalte, so 
gewinnen wir die ans der Gegenstandslehre schon bekannten 
Einteilungen der Gleichheits-, Ähnlichkeits- usw. Beziehungen, 
wie sie oben verwertet wurden. Denn der anschließende Sach¬ 
verhalt, nicht das Eemerlebnis ist hier das letztlich Bestimmende. 
Das gleiche Eemerlebnis kann sich zur Verschiedenheitserfassung 
und zur Zeitrelation entwickeln, je nach den anschließenden 
Sachverhalten; wenngleich bestimmte Sachverhalte sich nur an 
bestimmte Eemerlebnisse anschließen können. So verstanden, 
ließe sich auch behaupten, daß die Zahl der Relationen nicht 
angegeben werden kann. Denn zweifellos würde sich bei hin¬ 
reichender Beschäftigung mit selteneren Empfindungen, wie etwa 
den Gerüchen, oder subjektiven Zuständen, wie den Gefühlen, 



Revision einer Relationstheorie. 


271 


auch eine Snmme von anschliefienden Sachverhalten einprägen, 
isolieren und mit einem Namen versehen, die jetzt wegen allzu 
seltener Bekanntschaft mit jenen Inhalten nicht im Gedächtnis 
haften, noch sich zu reproduzierbaren Komplexen zusammen* 
schließen. So bedeutet es ja auch fftr den Laien etwas Neues, 
wenn ihm der Maler von kalten und warmen Farben spricht. 

Eine Unterscheidung zwischen elementaren und abgeleiteten 
Beziehnngserfassungen ist nicht wohl möglich, da wir den 
elementaren Vorgang des Eemerlebnisses noch keine Beziehungs¬ 
erfassung nennen wollten, die entwickelte Beziehungserfassung 
jedoch immer etwas Abgeleitetes ist. Es lassen sich aber bei 
den entwickelten Beziehungserfassungen je nach der Länge oder 
Kürze ihrer Ableitungsprozesse verschiedene Schichten unter¬ 
scheiden. So ist z. B. die Verschiedenheitsrelation unmittelbar 
auf das Kemerlebnis: Inhalt a — Inhalt b aufzubauen; die 
Znsammengebörigkeitsbeziehung hingegen muß die Abfolge von 
a und b als wiederholt erlebte und im Gedächtnis anfbewahrte 
voranssetzen. Eine noch kompliziertere Entwicklung machen jene 
Beziehungen durch, die nur mit Hilfe einer früher gewonnenen 
Beziehnngserfassung erarbeitet werden können. So setzt, wie 
vrir oben sahen, die Identifikation die Beziehung der Gleichheit 
voraus. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Gewinnung der 
Gleichheitsbeziehnng überhaupt einen hochbedeutsamen Schritt 
in der geistigen Entwicklung des Kindes besagt, der einmal 
vollzogen, dem Kinde sprunghaft neue Wege öffnet 

Endlich ist noch eine gewissermaßen horizontale Schichtung 
zu erwähnen, die entsteht, wenn zu einer Gruppe von anschließenden 
Sachverhalten weitere hinzutreten. So dürften zu dem Sach¬ 
verhaltskomplex bei »verschieden« andere Komplexe hinzukommen 
und die neue Beziehung »Gegensatz« begründen. 


n. Teil. 

Einige Folgerungen aus der vorgelegten Auffassung. 

1. Zur Terminologie. 

Nach der älteren Auffassung besteht kaum ein Anlaß, zwischen 
Beziehungserlebnis und Beziehungserfassung zu scheiden. Wohl 
schien es notwendig, die (elementare) Entdeckung von Be¬ 
ziehungen der Feststellung von Sachverhalten gegenüberznstellen. 
Eine Entdeckung liegt vor, wenn man die zwei Objekte A und 




272 


J. Lindworsky, 


B wahrnimmt und ihre Gleichheit erkennt. Eine FeststeUnng 
oder Erkennung von Sachverhalten hat statt, w^m man eine 
früher entdeckte Beziehung nun bei einem noch nicht n&her 
erkannten Sachverhalt wiederfindet. Dazu braucht es nicht 
notwendig eine originale Entdeckung, es genügt die indirekte 
Feststellung eines Sachverhaltes vermittels eines Eiiteriums. 

In der neueren Auffassung muß es Beziehnngserlebnisse 
geben, die nicht ohne weiteres als Beziehungserfassung zu be¬ 
zeichnen sind. Der einfache, aber refiexbewußte Übergang von 
dem einem Inhalt zu einem andern ist ein Beziehungserlebnis. 
Das wesentliche Charakteristikum eines solchen, das >in Be¬ 
ziehung zu< eignet ihm, aber es ist ganz wesentlich von der 
Beziehnngserfassung »sind gleich< verschieden, deren Inhalt 
erst nach einer namhaften Entwicklung des Denkens erfaßbar ist. 

Freilich ist die Terminologie sehr willkürlich. Aber da nun 
einmal der Unterschied ansgedrückt werden muß, so dürfte »Be¬ 
ziehnngserfassung« zweckmäßig dem entwickelten Erlebnis Vor¬ 
behalten bleiben, ganz im Einklang mit dem bisherigen Sprach¬ 
gebrauch, während »Beziehungserlebnis« im prägnanten Sinn für 
das Eemerlebnis stehen kann, ohne darum seine Verwendbarkeit 
im allgemeinsten Sinne einznbüßen. 


2. Die Beseitlgiing alter Schwierigkeiten. 

a) VieUeicht haben es auch andere als Schwierigkeit em¬ 
pfunden, wenn sie bei Betonung der wesentlichen Verschieden¬ 
heit zwischen Relationen und anschaulichen Inhalten sich bald 
auf den Inhalt der Relationsbegriffe, bald auf das spezifisch 
Relative beriefen. Diese Schwierigkeit, dieses Schillern des Be¬ 
griffes, fällt in unserer Auffassung weg. Etwas Neues gegen¬ 
über den rein anschaulichen Inhalten ist nur die relative Be¬ 
trachtungsweise, das refiexe Erleben der wesentlichen Inhalte; 
worauf wir aber in dieser Weise schauen, das sind immer nur 
anschauliche Inhalte. Damit darf man jedoch eine andere Frage 
nicht verwechseln, nämlich die, ob wir nur anschauliche Dinge 
erkennen könnten. Nein, wir fassen auch Dinge, die wie die 
Begriffe Gerechtigkeit, Seele, Gott ihrem Gegenstand nach 
ananschaulich sind, aber wir erfassen sie nur vermittels des 
Anschaulichen, wie man sich leicht an beliebigen Beispielen klar 
machen kann. 

b) Eine zweite Schwierigkeit, die nunmehr beseitig^ ist, liegt 
in folgendem Umstand. Grundsätzlich gibt es nach der früheren 



Rerisioii einer Belationstheorie. 


273 


Anffassnng so yiele Beziehungen, als Oegenstftnde zueinander 
in Beziehung gesetzt werden können. Ihre Zahl ist praktisch 
unendlich groß. In Wirklichkeit lassen sich aber nur yerhältnis- 
mäßig wenige Beziehungsinhalte nennen. Ich suchte dieser 
Schwierigkeit dadurch zu begegnen, daß ich nur die biologisch 
wichtigen Beziehungen zu eigenen Bezeichnungen kommen ließ, 
die andern hingegen »stumme Beziehungen« nannte^). Noch be< 
denklicher war die Situation für Meinong, der für einige Re< 
lationen eine Vorstellnngsproduktion annahm, für andere nicht *). 
Nach nnserer Auffassung sind alle Beziehungen, das Wort im 
obigen Sinn verstanden, gleich, doch schließen sich nicht an alle 
gleich viele und gleich markante Sachverhalte an, und anderseits 
führt uns das Leben nicht alle Beziehungen gleich oft vor. 
Grundsätzlich ist darum nicht nur die Zahl der elementaren 
Beziehungen, sondern auch die Zahl der benennbaren Beziehungs- 
erfassnngen unbegrenzt vermehrbar. 

c) Weit prinzipieller erscheint mir die Beseitigung einer 
dritten Schwierigkeit. Bisher suchte man den Relationen auf 
vierfache Weise gerecht zu werden. Die sensistische Auffassung 
bestritt das Vorhandensein von Relationsinhalten, die nicht allein 
durch die anschaulichen Inhalte der Fundamente gegeben wären. 
Diese Theorie mußte offenkundige Tatsachen leugnen und psychische 
Inhalte als Redensarten hinstellen. — Die Wertheimer Richtung 
gibt das Vorhandensein von Relationsinhalten zu und erklärt sie 
als gegeben durch die Übergangsempfindungen *). Nun muß sie 
entweder den in der Übergangsempfindung erlebten Inhalt dem 
erlebten Relationsinhalt gleichstellen — und dann gerät sie mit der 
einfachsten Selbstbeobachtung in Widerspruch: denn niemals 
meine ich nur Übergangsempfindungen, wenn ich »gleich<, »ver¬ 
schieden« nsw. denke. Oder sie muß behaupten: wie der durch 
eine Sinnesreizung hervorgerufene psychophysische Prozeß 
von der Reizseite her die letzte Bedingung für den parallel 
laufenden Empfindnngsvorgang ist, so ist der bei den Übergangs¬ 
empfindungen vorhandene psychophysische Prozeß unmittelbar 
und notwendig von dem Erleben des Relationsinhaltes begleitet. 
Allein, abgesehen von den früher^) geltend gemachten Bedenken, 
abgesehen auch davon, daß diesem psychophysischen Prozeß dann 
zwei Erlebnisse entsprächen, die Übergangsempfindungen und 

1) VgL des Verf. »Umridskizze za einer theoretischen Psychologie« S. 36 fi. 

^ VgL Meinong, Hame-Stndien II. 

3) Vgl. O. Katona, Psychologie der Belationserfassnng, 1924. 

4) Vgl. des Verf. »Umrißskizze zn einer theoretischen Psychologie« S. 12S. 

AroUr fflr Psychologie. XLVUI. 18 



274 


J. Lindworsky, 


die Vergleichsinhalte, hätten wir hier das Mißliche, daß der 
Bereich jener letzten nicht weiter erklärbaren Tatsachen, wie 
sie der ti)ergang von Leib zn Seele mit sich bringt, ganz ohne 
Not ausgeweitet wird. Das, was als unsere Einsicht erscheint,, 
ist dann in Wirklichkeit uns von der Natur geschenkt, nicht 
Ton uns erarbeitet. 

Dem steht die dritte Auffassung gegenüber: die Relations> 
inhalte werden als neue Vorstellungen auf Grund der Wahr¬ 
nehmung der Fnndamente produziert, wie Meinong nnd seine 
Schule lehrt. Vielleicht hat nur das Wort Vorstellungs Produk¬ 
tion wegen seines subjektiven Beigeschmackes so oft Anstod 
erregt Vermutlich wollte Meinong nichts anderes sagen als 
die vierte Auffassung, die neben das sinnliche ein geistiges 
Erkennen setzte und lehrte: die sinnlich nicht wahrnehm¬ 
baren Relationen werden durch ein nnsinnliches Erkenntnis¬ 
vermögen erfaßt*). Zweifellos wurde diese Anschauung bisher 
am besten den Tatsachen gerecht Denn Relationen sind nicht 
einfachbin durch Sinnesinhalte wiederzugeben. Somit ist eine 
Erkenntnisfähigkeit anznsetzen, die über das rein sinnliche 
Erleben hinausgeht Anderseits schienen die Relationsinhalte 
einfache Inhalte zu sein. Somit war die Annahme eigener 
Erkenntnisakte, die jene einfachen Inhalte erfassen, geboten. 
Nur sind mit dieser Auffassung alle jene Schwierigkeiten ver¬ 
knöpft, die hier zur Sprache kommen. Erweisen sich aber die 
Beziehnngsinhalte als nicht einfache Erkenntnisse, so kommen 
wir zwar auch an einer höheren Erkenntnisfähigkeit nicht vor¬ 
bei, aber wir beschränken ihre Tätigkeit auf eine einfache nnd 
jederzeit in der Selbstbeobachtung nachweisbare Funktion, eben 
auf das reflexe Erleben, auf das Innewerden der eigenen Erleb¬ 
nisse. Außerdem vermeiden wir alle Bedenken, die mit der 
älteren Auffassung gegeben sind, und gewinnen den Schlüs.sel 
für das Verständnis so mancher Tatsachen und zur Vereinheit¬ 
lichung der gesamten Erkenntnislehre, wie noch zu zeigen ist. 

d) Eine weitere Schwierigkeit, die für uns leicht zu beheben 
ist, liegt auf einem ganz andern Gebiet. Wer für das Webersche 
Gesetz eine physiologische Erklärung bevorzugt, ist auch geneigt, 
die Tatsache der Unterschiedsschwelle physiologisch zu erklären. 
Und doch müßte jeder, der die Relationserfassungen »gleich«. 


1) Eine Ansicht, welche die Relationsinhalte apriorischen Anlagen xnweist 
nnd sie nur gelegentlich der Wahrnehmung der Fnndamente heransspringen 
läfit, halten wir anf empirisch psychologischem Boden nicht für mSglich. 



ReviBion einer BelatioDstheorie.] 


27& 


»verschieden« als elementare Akte der Einsicht betrachtet, die 
Unterschiedsschwelle psychologisch erklären. Denn sind 
JR,, JR, nsf. die unterschwelligen Reizznwüchse zum Ausgangs¬ 
reiz R (bzw. R+JRi und R-f^Äi+^R») «nd sind Pj, P„ P, 
nsf. die zugehörigen psychophysischen Prozesse, so müssen diese 
Prozesse als voneinander verschieden angenommen werden. 
Andernfalls wäre ja Pg^Pi und es wäre nicht einzusehen, warum 
P^ (wie wir voraussetzen) einen andern Bewußtseinsinhalt wecken 
sollte als P,. Sind aber die psychophysischen Prozesse verschieden, 
so sind auch die zugehörigen Bewußtseinsinhalte I^, I,, I, nsf. 
verschieden. Wird nun doch nicht als von I,, 1, nicht als 
von verschieden erkannt, so kann dies nur am Seelischen 
liegen. Man hat also eine unerklärliche Eigenart des Seelischen 
zu fordern, dergemäß solche inhaltliche Differenzen nicht erfaßt 
werden. Besteht aber die Beziehungserfassung gar nicht in dem 
Heransspringen eines Beziehnngsinhaltes, sondern in dem Anschluß 
von zunächst physiologisch bedingten Sachverhalten und deren 
Heranshebnng, so begreift man, daß sich an physiologisch allzu 
geringe Differenzen nicht hinreichend starke Folge- und Begleit¬ 
prozesse anschließen, sondern Prozesse, die entweder überhaupt 
noch keine Bewnßtseinserscheinungen anszulösen vermögen oder 
nur so schwache, flüchtige, daß sie nicht eigens beachtet und durch 
Aufmerksamkeitszuwendung zu Komplexen zusammengeschlossen 
werden. 


3. Tereinfachung des Gestaltproblems. 

Gehen wir von den einfachsten Gestalten aus, die wir uns 
denken können, etwa den Tonschritten und den Farbenschritten. 
Die Abfolge zweier einfacher Töne, die Abfolge zweier Farben 
können als solche gelten. Auf sie paßt das Kriterium: das 
Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Die Töne 
wenigstens sind außerdem transponierbar, ohne daß die Gestalt 
zerstört wird. Mit den Farben hat es jedoch seine besondere 
Bewandtnis. 

Die Abfolge zweier Töne kann nun rein sinnlich erlebt 
werden. Sie kann aber auch in der oben beschriebenen reflexen 
Weise durchs Bewußtsein gehen. Im ersteren Falle würde ich 
nicht von Gestalt, sondern nur von dem Nacheinander zweier 
Töne reden. Im zweiten Falle haben wir das Kemerlebnis, 
wie es oben beschrieben und später mit dem Namen »Beziehung« 
im prägnanten Sinne bezeichnet wurde. Auf jeden Fall sehen 
wir, daß die Gestalten und die Beziehungserfassungen den näm- 

18 * 



276 


J. Lindworsky, 


liehen Ursprung haben. Damit ist zweifellos eine wertvolle 
Vereinfachnng der ganzen Auffassung gegeben. Es fragt sich 
nur, ob wirklich mit dem einfachen reflexen Erleben der beiden 
Töne bzw. der Farben eine Gestalt gegeben ist. 

Das Eriterinm der Transponierbarkeit trifft ja für einfache 
Farbenerlebnisse nicht zu. Zwar könnte man eine gewisse 
Parallele zwischen den Abfolgen rot —blau, gelb—grün entdecken. 
Allein das wäre weniger eine Transposition der Farben als 
vielmehr der Helligkeiten oder der Lage im Farbenkreis. Ander¬ 
seits läßt sich nicht verkennen, daß zwischen der reflez erlebten 
Abfolge zweier Farben und der zweier Töne oder sonstiger 
Empfindungen eine so große Ähnlichkeit besteht, daß es als 
gewaltige Willkür erscheint, einen Tonschritt als Gestalt, einen 
Farbenschritt nicht als Gestalt anzuerkennen. Man darf eben 
den Satz von der Transponierbarkeit nicht umkehren: wo Trans¬ 
ponierbarkeit, da Gestalten, aber nicht: wo Gestalten, da 
Transponierbarkeit. Denn gäbe es nur die drei Töne c d e, so 
gäbe es keine Transponierbarkeit von c—e, an dem Erlebnis 
der großen Terz würde sich jedoch darum nicht das geringste 
ändern. 

Somit dürfte es für die Gestalten einfachster Art nur zwei 
wesentliche Erfordernisse geben: daß sie aus anschaulichen In¬ 
halten, und daß sie aus anschaulichen aufeinander bezogenen 
Inhalten bestehen. 

Vielleicht könnte man versuchen, in dem refiexen Erleben 
eines einzigen anschaulichen Inhaltes schon die elementare Ge¬ 
stalt zu erblicken. Allein wenn eine Zeitlang ein Ton oder eine 
Farbe im Bewußtsein steht, ohne refiex von ihrem Hintergründe 
bzw. ihrer Umgebung abgehoben zu sein, so dürfte niemand von 
einer Gestalt reden. Wenn wir in der Dunkelkammer das 
Augengrau im Bewußtsein haben, ohne es irgendwie zu andern 
anschaulichen Inhalten in Beziehung zu bringen, so dürfte nie¬ 
mand von einem Gestalterlebnis sprechen. Somit scheint das 
Wesentliche eines Gestalterlebnisses in der Beziehung anschau¬ 
licher Inhalte aufeinander zu bestehen. Jedesanschauliche 
Kernerlebnis ist ein Gestalterlebnis. Am Ausgangs¬ 
punkt der Entwicklungsreihe, die zu den Beziehungserfassungen 
und zu den Begriffen führt, steht das Gestalterlebnis. Und 
zwar ist es nicht erforderlich, so möchte ich nunmehr meine 
Ansicht präzisieren, daß eine Summe solcher elementarer Be¬ 
ziehungen erfaßt werde, sondern der gesamte eigenartige Inhalt 
z. B. eines weißen Fünfeckes wird refiex zu einem blauen Hinter- 



Bevision einer Belationstheorie. 


277 


gnmd gesehen. Darauf kann eine weitere elementare Beziehung 
zwischen den Teilen des Fünfeckes einsetzen und etwa Seite zu 
Seite, Winkel zn Winkel in Beziehung bringen. Allein das sind 
neue und andere Erlebnisse, die wohl unsere späteren Betrach¬ 
tungen des Fünfeckes bereichern können, das erstmalige Gestalt¬ 
erlebnis jedoch nicht bedingen. Endlich können zn diesen ele¬ 
mentaren Beziehungen der Teile aufeinander noch eigentliche 
Beziehnngserfassungen kommen, die Worte stets in dem 
prägnanten Sinn von S. 272 gebraucht; wir können erfassen, daß 
die Seiten und Winkel einander gleich, daß die Winkel 108* 
sind. Aber das sind keine Oestalterlebnisse, sondern begrifOiche 
Erfassungen, die das Gestalterlebnis eher zerstören. 

Yon hier ans wird unsere Stellung zur Wertheimerschen 
Gestalttheorie klar. Sie scheint uns nicht so wohl das Gestalt¬ 
erlebnis als dessen Voraussetzungen zn behandeln. Keine 
elementare Beziehung, ohne daß in gewissem Sinne zuvor (rati- 
one prins) die aufeinander zu beziehenden anschaulichen Inhalte 
gegeben sind. Von der Art und Abgrenzung dieser anschaulichen 
Inhalte hängt auch das Gestalterleben ab, ist jedoch nicht un¬ 
mittelbar und eo ispo damit gegeben. Bei derselben anschaulichen 
Qualität und der nämlichen räumlichen bzw. zeitlichen Abgrenzung 
können yerschiedene Inhalte aufeinander bezogen werden. Doch 
soll nicht verkannt werden, daß gewisse Arten der anschaulichen 
Gegebenheit die Aufmerksamkeit herausfordem und eine be¬ 
stimmte Weise der Beziehung nahelegen, manchmal sogar er¬ 
zwingen. Für die psychophysischen Prozesse, die die erwähnten 
anschaulichen Voraussetzungen der Gestalterlebnisse bedingen, 
mögen in weitem Umfang Gesetzmäßigkeiten gelten, wie sie 
Wertheimer bei der Querfnnktion, Köhler bei den physi¬ 
kalischen Gestalten im Auge hat. Sie mögen oft für unser 
Glestalterleben wegweisend und ausschlaggebend sein: das Ge¬ 
stalterleben sind sie nicht, noch bedingen sie es ausschließlich. 

Es wird der zukünftigen Diskussion gewiß dienen, wenn man 
die beiden soeben unterschiedenen Probleme mit verschiedenen 
Bezeichnungen versieht und dem Figurenproblem das Ge¬ 
staltproblem gegenübersetzt. Das Figurenproblem befaßt 
sich mit dem Zustandekommen der anschaulichen Grundlage der 
Gestalt; z. B. mit der Frage, warum im Vieleck angeordnete 
Lichtreize das Bild eines Kreises ergeben. Das Gestaltproblem 
tragt, was beim Gestalterleben außer dem anschaulichen Inhalt 
noch bewußt sei. Mittels dieser Unterscheidung kann man in 
der Kontroverse Benussi-Koffka jedem der beiden Partner 



278 


J. Lindworsky, 


zn Semem Recht verhelfen: Bennssi hat recht, solange er vom 
Gestalterleben spricht und setzt sich ins Unrecht, sobald er seine 
Behauptungen auf das Figurenproblem ansdehnt. Das Umgekehrte 
gilt von Eoffka. — Ähnlich wird man bei sehr vielen geo¬ 
metrischen Täuschungen die Frage aufznwerfen haben, ob sie 
(physiologisch) als Figuren oder (psychologisch) als Gestalten 
eine Erklärung finden, eine Scheidung, mit der weitere Möglich¬ 
keiten nicht ausgeschlossen sein sollen. 

4. Einblicke. 

s) SokiesslT- aad SimnltanTerglelch. 

Sind unsere genetischen Auffassungen richtig, so läßt sich das 
Problem des Sukzessiv- und des Simultanvergleiches ein g^tes 
Stück weiterbringen. Die Antwort auf einen Vergleich erfolgt 
nicht auf Grund einer elementaren Beziehung, sondern auf Grund 
einer Beziehnngserfassung. Wir haben es somit beim Vergleich 
nicht mit einem elementaren, am Anfang der geistigen Entwick¬ 
lung stehenden, sondern mit einem höher entwickelten Vorgang 
zn tun. 

Am Ausgang dieser Entwicklung steht das Eemerlebnis, das 
natumotwendig sukzessiver Art ist Insofern dürfte jeder Ver¬ 
gleich von dem sukzessiven Erleben mehrerer Inhalte ausgehen. 
Allein mit dem Eemerlebnis ist das Erfassen der Gleichheit 
oder Ungleichheit noch nicht gegeben. Erst wenn die sich 
anschließenden Sachverhalte sich entwickelt haben, wie oben 
beschrieben wurde, kann überhaupt ein eigentlicher Vergleich 
zustande kommen. Dann aber dürfte der Simultanvergleich, 
wenigstens unter bestimmten Bedingungen, ebenso wohl möglich 
sein wie der Sukzessivvergleich. Denn schaue ich, der Erwachsene, 
auf zwei objektiv verschieden lange Striche, so sehe ich, daß 
der eine über den andern herausragt, und habe damit das 
Wissen von dem Sachverhalt »verschieden«. Ist mir jedoch der 
Gesichtspunkt des Vergleiches fern, oder ist aus irgendeinem 
Grunde die Reproduktion in dieser Richtung gehemmt, so kann 
ich solche Sachverhalte oder auch die beiden anschaulichen 
Inhalte selbst wahmehmen, ohne daß die Beziehung »gleich«, 
»verschieden« erfaßt wird. Somit ergibt sich die Beobachtung 
Grünbanms, daß zwei objektiv gleiche Figuren wahi^genommen 
und sogar apperzipiert sein konnten, ohne daß ihre Gleichheit 
bemerkt wurde, als eine Folgerung ans unserer Theorie. 

Auch auf die Rolle der Übergangserlebnisse und der Neben¬ 
eindrücke fällt neues Licht. Sie sind nicht die Beziehnngs- 



BeTision einer Belationstheorie. 


279 


«rfassüng; sie sind auch nicht, wie schon ansgefflhrt, zu jedem 
Vergleich notwendig. Aber sie werden häufig einen bedeutsamen 
Teil der sich anschließenden Sachverhalte bilden, ohne die das 
Eemerlebnis nicht zur Beziehungserfassung auswächst. Beson* 
ders bei schwellennahen Vergleichsreizen wird man sich an sie 
halten, weil sie allein jenen Komplex herbeiführen können, der 
die Bedeutung und die Benennung »gleich«, »verschieden« be¬ 
gründet. Bei überschwelligen Reizen gelangen wir auf anderem 
und bequemeren Wege zum Urteil. Es handelt sich also wirk¬ 
lich, wie Bühl er sich ausdrückte, um einen Auslösemechanismus, 
allerdings nicht um ein Nullinstmment, sondern um einen Re¬ 
produktionsmechanismus. 

Soeben macht Katona den Versuch, die Relationserfassung 
vom Standpunkt der Wertheimerschen Gestalttheorie aus zu er¬ 
klären. Jeder wirkliche Vergleich setzt nach Katona Über- 
gang^erlebnisse voraus, und in diesen ist uns die gesuchte Be¬ 
ziehung gegeben. Die Schwächen dieser Theorie dürften den 
Vorteil der hier vorgelegten deutlicher erkennen lassen. 

Sehen wir ganz davon ab, daß Katona sich auf verhält¬ 
nismäßig wenige optische Vergleiche stützt. Er sieht sich schon 
bei seinen Versuchen gezwungen, »nicht manifest gewordene< 
Übergangserlebnisse einznführen, damit sie in allen Vergleichen 
vorhanden seien. Wir können die Übergangserlebnisse in jeder 
beliebigen Häufigkeit annehmen, die aus den Versuchen erwiesen 
wird. Wir brauchen sie aber nicht gegen jede Evidenz hypo¬ 
thetisch einzuführen, da sich an das Kemerlebnis nicht nur 
Übergangserlebnisse und Nebeneindrücke, sondern auch andere 
Sachverhalte anschließen können, auf die sich die Beziehungs- 
erfassnng aufbaut 

Sodann muß Katona die Vergleichstätigkeit in Abrede 
stellen, wenn sehr verschiedene Dinge verglichen werden, z. B. 
eine längere Gerade mit einer weit kürzeren zu ihr schräg 
liegenden. Er spricht dann von einer Unterschiedswahmehmung. 
Nach unserer Auffassung ist in solchen Fällen der Vergleichs¬ 
charakter gewahrt, nur gründet sich das Urteil auf einen anderen 
Sachverhalt als beim Vergleichen wenig verschiedener Größen. 

Unser Hauptbedenken richtet sich aber gegen die Gmnd- 
auffassnng, daß mit den Übergangserlebnissen ohne weiteres der 
Relationsinhalt bewußt werden soll. Der Inhalt der Übergangs¬ 
erlebnisse und der Relationsinhalt sind zwei ganz verschiedene 
Bewußtseinsinhalte. Für erstere mag in der Qnerfunktion der 
zugehörige psychophysische Prozeß gegeben sein — das bleibe 



280 


J. Liodworsky, 


dahingestellt — letztere erscheinen jedoch in der Eatonaschen 
Theorie rein wie ein dens ex machina. 

Au dieser Stelle will ich kurz auf die Einwendungen 
Köhlers*) eingehen, die er gegen meine Ausführungen erhoben 
hat. Köhler sucht die Differenz unserer Ansichten am falschen 
Ort. Weder mache ich die von ihm abgelehnte Konstanzannahme, 
noch denke ich mir die Übergangserlebnisse als eine Reihe 
einzelner Empfindungen: das sollte schon durch das hinzugefügte 
>kontinuierlich< ausgeschlossen sein*). In beiden Punkten sind 
wir ganz der gleichen Meinung. Der Gegensatz liegt im 
folgenden. 

Gegeben seien zwei anschauliche Inhalte, Farben, Töne, 
Gestalten u. ä. Wird nun die Gleichheit oder Verschiedenheit 
oder sonst eine Beziehung zwischen den beiden Inhalten erfaßt, 
so steht mit dieser Beziehungserfassnng mehr im Bewußtsein 
als zuvor, wo nur die beiden anschaulichen Inhalte gegeben 
waren. Das wird auch Köhler einräumen. 

Nun aber behauptet die Denkpsycbologie: dieses Mehr an 
Inhalt ist nicht durch anschauliche Ehipfindungen allein wieder¬ 
zugeben; auch nicht durch eine kontinuierlich sich ändernde 
Empfindung, die wir Erwachsene bei naiver Bezeichnungsweise 
als eine steigende, stärker werdende, verblassende usw. schildern 
würden. Diesen Satz dürfte Köhler nicht unterschreiben. 
Hier allein liegt der Meinungsunterschied. 

Warum kann der Relationsinhalt, das ist eben jenes Pins, 
was zur reinen Gegebenheit der Fundamente in irgendwelcher 
Weise hinzutritt, nicht anschaulich wiedergegeben werden? Jenes 
Plus enthält ein Doppeltes: den spezifischen Relationsinhalt, 
z. B. »gleich», >verschieden< und das in jeder Relation anzu¬ 
treffende Zueinander. Keines kann nur vermittels irgendwelcher, 
wenn auch noch so modifizierter Empfindungen uns bewußt werden. 

Was zunächst den spezifischen Beziehungsinhalt betrifft, 
so hätte ich von meinem früheren Standpunkt aus behauptet, 
es könne ein Empfindnngsinhalt in dieses >gleich< nicht einmal 
eingehen. Nach der obigen Ableitung vertrete ich diese Ansicht 
nicht mehr. Empfindnngsinhalte gehen auf mannigfache Weise 
in den Beziehnngsbegriff ein, aber sie erreichen ihn für sich 
allein genommen niemals. Es steckt eben in dem Beziehnngs- 

1) W. Köhler, Zar Theorie des SakzessiTvergleiches and der Zeitfehler. 
Psych. Forschung IV (1923) S. 130 ff. 

2) s. »ümrifiskizze« S. 34. 



ReTision einer Beistionstheorie. 


281 


Inhalt schon das >Zneinanderc. Und keine Empfindung oder 
Empfindnngsmodifikation kann Ober sich hinausweisen. Das geht 
schon aus dem Begriff der Empfindung hervor. Man gestatte 
eine etwas barocke Ansdmcksweise. Die Empfindung »blau« 
kann nur »blauen«, der Ton a nur »a—en«. Und wenn sie sich 
auch irgendwie nach Intensität oder Qualität verbinden oder 
verschieben, so kommen aus Empfindungen immer nur Empfin¬ 
dungen oder Empfindungsganze heraus. Das »in Beziehung zu« 
muß auf einem anderen Boden wachsen. 

Wenn ich in die Denkart der Strukturpsychologen richtig 
eingedrungen bin, dann darf ich hier folgende Entgegnung ver¬ 
muten. Die schlichte Beobachtung zweier aufeinanderfolgender 
Schalle läßt mich bisweilen — nicht immer — unmittelbar den 
zweiten als höher, als herkommend von dem ersten erfassen, 
auch wenn der erste nicht mehr bewußt ist, auch wenn der 
Hörende nicht die Vergleichseinstellung hatte. Die Tatsache 
kenne ich, aber sollte sie wirklich in der Diskussion so, wie 
hier angenommen, verwertet werden, so mftßte ich mich nicht 
wenig wundem, daß die sonst so erfreulich bekundete Umsicht 
des Beweisverfahrens hier so ganz ansbleibt. 

Schließt denn diese Unmittelbarkeit jede voransgegangene 
Entwicklung aus? Wir verstehen doch auch das Wort »Vater« 
unmittelbar und doch nicht ohne einen höchst umständlichen 
Entwicklungsprozeß als Grundlage des Verständnisses. Doch 
abgesehen von der vorausgegangenen Entwicklung: wenn es un- 
anschauliche Faktoren gibt, schließt dann ein unmittelbares Ver¬ 
stehen ans, daß anschauliche und nnanschauliche Faktoren sofort 
und gleichzeitig miteinander arbeiten und jenen Eindrack 
des »Wachsens«, des »Herkommens von« hervorrufen? 

Aber die nnanschanlichen Faktoren, so schreibt Köhler, 
müssen sich doch ebenso nachweisen lassen wie die anschaulichen, 
sonst kann man ja mit ihnen beliebig alles erklären. Ganz meine 
Ansicht, und ich habe sie inhaltlich aufgewiesen in jenem »Zu¬ 
einander«, das mit einem Empfindungsinhalt schlankweg nicht 
wiederzngeben ist 

Das scheint Köhler selbst zu spüren. Denn er schreibt 
zu wiederholten Malen, die Beziehung sei uns in solchen 
Übergangsempfindungen so gegeben, daß sie nur abgelesen zu 
werden braucht Den Satz kann ich mir zu eigen machen, 
aber ein Ablesen braucht es. Anders gesagt: ich kann 
mir sehr wohl ein Bewußtsein denken, in dem der gesamte an¬ 
schauliche Inhalt lebt, wie er etwa bei dem Eindmck des 



282 


J. Lindworsky, 


»Schrampfens« vorliegt, ohne daß jenes Bewußtsein das in dem 
Begriff »Schrumpfen« enthaltene Zueinander erfaßt. Überhaupt, 
meine Grundauffassung vom Denken läßt sich mit allen wesent¬ 
lichen Aufstellungen der Strukturpsychologen vereinigen, wenn 
ich sagen kann: die Stmkturpsychologie liefert die anschaulichen 
Voraussetzungen für den, der abliest Das Zueinander 
erklärt sie jedoch nicht. 

Unsere Theorie erklärt ferner, wie falsche Vergleichs- 
urteile möglich sind, und wie es neben den einsichtigen un¬ 
einsichtige Vergleichsurteile geben kann. Von den falschen 
Urteilen interessieren uns hier nur die mit subjektiver Sicher¬ 
heit abgegebenen Urteile folgender Art: Die Vp hat Toninter- 
Valle als aufsteigend oder absteigend zu beurteilen. Sie urteilt 
mit Sicherheit bei gutem Gehör einmal: fallend. Der Nachkluig 
zeigt ihr jedoch das Intervall deutlich als steigend. Bei wieder¬ 
holten Versuchen ergibt sich, daß beim Anschlägen der Metall- 
streifeu öfters ein von anderen Teilen des Apparates herrührendes 
tieferes Geräusch miterklang. Früher woUte ich diese Versuchs¬ 
erlebnisse als ein falsch bezogenes Urteil bezeichnen: das Urteil 
sei auf Grund des Nebengeräusches gegeben, jedoch auf die 
beiden Klänge fälschlich bezogen worden. Allein die falsch 
bezogenen Urteile sind nicht so blind. Man findet, einmal darauf 
aufmerksam gemacht, die Urteilsgrundlage im Vergleichsgegen¬ 
stand vor. Nicht so hier, wo erst später das Nebengeräusch 
gleichzeitig mit der Tendenz zum Urteil »fallend« entdeckt 
wurde. Die von uns erwähnten Versuchserlebnisse erklären sich 
einfach dadurch, daß jenes zufällig auftretende tiefere Geräusch 
rein reproduktiv das Urteil »fallend« auslöste. Im nachklingenden 
Tonbild waren indes nur die wirklich gehörten Töne vorhanden, 
sodaß ein erneuter Vergleich möglich wui'de. Uneinsichtige 
Vei^leichsurteile sind somit solche, bei denen ein Erlebnismoment 
als Reproduktionsmotiv für das Vergleichsurteil wirksam wird, 
ohne daß man im Augenblick des Urteilens diesen Zusammenhang 
gewahr würde. Einsichtige Vergleichsurteile hingegen stützen 
sich auf erkannte Sachverhalte, die ihrerseits wiederum zwei 
Klassen bilden. Entweder dienen solche Sachverhalte nur als 
Kriterien, z. B. das Fliegen eines gehobenen Gewichtes: man 
weiß, daß dieses Fliegen mit dem Heben des leichteren verbunden 
ist. Oder sie gehören dem geläufigen Gesamtkomplex 
des betreffenden Relationsbegriffes an. Und hier lassen sich 
wieder die anschließenden Sachverhalte unterscheiden: man 
muß etwa die Muskelspannung, mit der man ein Gewicht heben 



ReTision einer Relationstheorie. 


283 


wollte, yergt&rken, um es heben zu können, — und die Kern¬ 
erlebnisse: auf einen bestimmten Schwereeindruck des Gewichtes 
folgt ein zweiter, der in der Intensitätsreihe der Schwere- 
empflndungen vom Nullpunkt weiter abliegt. Der letzte Fall 
bietet die tiefste Einsicht in die fraglichen Sachverhalte. Auch 
dieser relativ unmittelbarste Vergleich ist zwar nicht ohne 
voransgehende Entwicklung, wohl aber ohne jede elementare 
Beziehnngserfassung möglich. 

Von hier aus wird auch verständlich, wieso «mechanische« 
Urteile, die nicht auf das Erinnerungsbild des ersten Reizes 
zur&ckgreifen, sondern scheinbar blind anftreten, die zuver¬ 
lässigeren sein können. Es arbeitet da eben selbsttätig der dem 
Übergangs- oder Nebeneindruck entsprechende psychophysische 
Prozeß, während im anderen Falle ein modifiziertes Erinnerungs¬ 
bild das ungenaue Reproduktionsmotiv bildet. Auch die Be¬ 
obachtung V. Freys leuchtet nunmehr ein, daß wir nämlich 
beim wiederholten Abwägen eines Gewichtes in der Hand eine 
feinere Unterschiedsempfindlichkeit erzielen als beim einfachen 
Heben. Die Übergangsempfindungen und Nebeneindrücke werden 
dadurch mehrfach wiederholt und können so als Reproduktions- 
motiv wirken. Dagegen versteht man vom Standpunkt der ele¬ 
mentaren Beziehnngserfassung aus nicht, warum zwei, durch 
einmalige Hebungen bewußt gewordene Schwereempfindnngen 
nicht ebenso gut als gleich oder als verschieden erkannt werden 
sollen. 

Das Webersche Gesetz endlich ist auf Grund von Ver¬ 
gleichsprozessen gefunden worden, und zwar auf Grund von Ver¬ 
gleichungen ebenmerklich verschiedener Größen. Bei Verwendung 
nur ebenmerklich verschiedener Größen wird man nicht leicht 
auf Sachverhalte stoßen von der Art der oben S. 254 erwähnten: 
die eine Größe für die andere gesetzt, führt auch oder führt 
nicht zum Ziel; eine läßt sich durch die audere verdecken u.ä.m. 
Man könnte solche Sachverhalte die makroskopischen nennen. 
Es bleiben somit nur die Übergangsempfindungen und Nebenein- 
drflcke. Daß diese aber in nahezu gleichem Maße nur durch 
Reizfolgen des gleichen Verhältnisses ausgelöst werden, ist nur 
zu begreiflich. Somit gilt hier die physiologische Deu¬ 
tung des Weberschen Gesetzes. Und wir glauben seine tiefere 
Begründung eben in der Entwicklung der Beziehnngserfassung 
suchen zu dürfen. Wären jedoch die Reizzuwüchse so beschaffen, 
daß sie makroskopische Sachverhalte schüfen, so könnte das 
Webersche Gesetz nicht gelten. Es wäre nun höchst lehrreich. 



284 


J. Lindworsky, 


unter diesem Gesichtspunkte die Tatsachen nachznprflfen. Liegen 
aber makroskopische Sachverhalte vor, so dürfte eine doppelte 
Einstellnng möglich sein: eine absolute und eine relative. Die 
absolute will nur erkennen, ob ein Empfindungszuwachs vorhan¬ 
den ist. Halten wir sie ein, so entsprechen die hhgebnisse nicht 
dem Weberschen Gesetz. In der relativen Einstellnng jedoch 
schauen wir wirklich auf das Verhältnis des neuen Eindruckes 
zu dem früheren, so wie wir jüngst nicht auf den absoluten Zu¬ 
wachs des Multiplikators, sondern auf den prozentualen blickten. 
Ist ein solcher Vergleich möglich, dann dürften sich wieder Werte 
ergeben, die dem Weberschen Gesetz ungefähr entsprechen. 
Doch wäre es entschieden ratsam, dann nicht von dem Weber¬ 
schen, sondern von dem Bemoullischen Gesetz zu reden. In 
dieser Form könnte der Wundtsche Gedanke wieder anfleben. 

b) BegabangsnmterBohlede ln der BestehnngBerfasBnng. 

Sah man in der Beziehungserfassnng eine elementare Leistung, 
so hatten Begabungsunterschiede dort keinen Platz: die Gleich¬ 
heit zweier Dinge wird überhaupt oder sie wird gar nicht er¬ 
faßt. Wohl waren mindere Leistungen möglich. Aber die be¬ 
ruhten dann entweder darauf, daß die zu vergleichendmi an¬ 
schaulichen Termini nicht gut geboten waren, oder der Vei^leich 
kein wirklich originärer, sondern eine Beurteilung auf Grund 
von Nebeneindrücken oder Kriterien war, die natürlich mehr 
oder weniger vorhanden bzw. bekannt sein konnten. Der Geistes¬ 
blitz der Beziehnngserfassung mußte einem Idioten ebenso zu¬ 
kommen wie einem Goethe. 

Nun hat sich uns die Beziehungserfassnng als ein Entwick¬ 
lungsprodukt gezeigt. An die Stelle des geistigen Funkens der 
Beziehnngserfassung, die uns einen neuen Inhalt anfzeigte, der 
in den anschaulichen Fundamenten nicht gegeben war, ist das 
refiexe Erleben in der schlichten Beziehung getreten, das wir 
freilich vorerst nicht in verschiedenen Qualitätenstufen ansetzen 
können. An die Stelle des neugefnndenen Inhaltes rücken die 
sich anschließenden Sachverhalte. Und hier ist der Punkt, wo 
Begabungsunterschiede einsetzen können. 

Es läßt sich denken, daß nicht jeder Organismus z. B. Über¬ 
gangsempfindungen und Nebeneindrücke gleichmäßig entstehen 
läßt. Weiter kann es Unterschiede geben beim Behalten solcher 
Eindrücke. Endlich kann die unentbehrliche Kompl^bildung, 
bei der sich die anschließenden Sachverhalte mit dem Namen 
der Relation verknüpfen, individuell verschieden sein. 



Revision einer Relntionstheorie. 


285 


Es wären daraufhin die psychophysischen Versuche einmal 
dnrchznsehen oder zn wiederholen: denn wenn die absolute 
Empfindlichkeit mehrerer Vpn. eine andere Bangordnnng aufwiese 
als die Unterschiedsempfindlichkeit, so wäre etwa ein verschie¬ 
dener Grad der Deutlichkeit der anschließenden Sachverhalte 
wahrscheinlich gemacht Freilich dfirfte dann die absolute Em¬ 
pfindlichkeit nicht im Grunde doch als Unterschiedsempfind¬ 
lichkeit festgestellt sein. Immerhin gewinnt das merkwürdige 
Ergebnis Spechts, daß Alkoholgenuß die absolute Empfindlich¬ 
keit erhöhe, die Unterschiedsempfindlichkeit verringere, von hier 
ans eine neue Beleuchtung. Auch die Versuche Spearmans 
und Eruegers, die Unterschiedsempfindlichkeit als einen In¬ 
telligenztest heranzuziehen, werden von diesem Standpunkt aus 
gerechtfertigt 

Es gibt im Leben wohl mancherlei Gelegenheiten, wo sich 
der hier berührte Begabungsnnterschied, bzw. die hier einbe¬ 
schlossenen Begabungsunterschiede geltend machen. Sollte z. B. 
die so verschiedene Befähigung zur intuitiven Menschenbeur- 
teilnng oder zur Handschriftendeutung nicht eben darauf beruhen, 
daß wenig ausgeprägte Sachverhalte gedächtnismäßig aufbewahii; 
und mit andern Sachverhalten zu einem Komplex zusammenge¬ 
schlossen werden? Die feinen im Antlitz, im Gebaren und in 
Ausdrucksbewegnngen erscheinenden Sachverhalte müssen ja 
eingeprägt und mit den ebenfalls in der Erfahrung zusammen 
vorkommenden gröberen Sachverhalten der Art eines Menschen 
zu einem Komplex vereinigt werden. Ob sich Leute mit guter 
Menschen- und Handschriftenbenrteilung nicht auch als Leute 
von hoher Unterschiedsempfindlichkeit erweisen? 

Sodann muß es grundsätzlich pathologische Ausfälle der 
Beziehungserfassung geben. Freilich gehört die Entwicklung 
der Beziehnngserfassungen zu dem ältesten geistigen Bestand des 
Menschen. Sie sind so tief verankert und durch mannigfachen 
Ersatz sichergestellt, daß ein sauberer Ausfall kaum nachzuweisen 
ist. In der Gehimverletzten-Literatur findet man zunächst nur 
solche Fälle, wo die Voraussetzungen jederBeziehungsauffassnng, 
die Darbietung der anschaulichen Fundamente geschädigt sind. 
Ein FaU direkt geschädigter Beziehungserfassnng wird von 
M. V. Kuenburg^) geschildert, doch kann man zweifeln, ob dem 


1) über das Srlassen einfacher Beziehnngen an anschanlichem Material 
bei Himgeschftdigten. Zeitschr. f. NenroL n. Psychiatrie 86 (1923). 



286 


J. Lindworsky, 


betreffenden Patienten die Aufgabe nicht auf anderem Wege 
hätte beigebracht werden können. 

Aber bei tiefstehenden Idioten trifft man solche, die jede 
Änßemng einer Beziehungserfassnng yermissen lassen. Ich 
empfand es stets als eine Schwierigkeit meiner frfiheren Auf¬ 
fassung, diesen Ausfall nur aus dem Mangel an Fmemngsfähig- 
keit der Belationserfassnng zu erklären. Die vorgelegte Hypo¬ 
these kann solche extreme Fälle aus dem Unvermögen zur Be¬ 
ziehungserfassnng verstehen. 

Endlich muß eine Steigerung der Beziehungserfassnng 
durch Übung in demselben Maße möglich sein wie bei Gre- 
dächtnisleistungen. In der Tat läßt sich die Unterschiedsempfindlich¬ 
keit, die Befähigung zur Beurteilung von Menschen und zur 
Deutung von Handschriften durch Übung entwickeln. 

5. Das Problem der Tierintelligeiu. 

Es läßt sich m. E. mit Erfolg die Meinung vertreten, daß 
die Tiere Relationserfassungen wie die der Gleichheit, Ähnlichkeit, 
Ursächlichkeit n. a. m. nicht haben. Erblickt man nun in diesen 
Beziehungserfassungen elementare seelische Leistungen, sieht 
man in ihnen insbesondere die spezifischen, ja die einzigen 
Intelligenzfunktionen, so muß man mit ihnen dem Tier auch die 
Intelligenz absprechen. 

Durch die dargelegte Relationstheorie wird aber das Problem 
der Tierintelligenz auf einen ganz neuen Boden gestellt Der 
Ausfall der Gleichheitsrelationen kann einen doppelten Grund 
haben. Entweder fehlt der dem Eeimerlebnis wesentliche Zug 
des refiexen Überganges von einem anschaulichen Inhalt zum 
andern: denn daß die reine Abfolge anschaulicher Inhalte nicht 
fehlt, dürfte klar sein. Oder es versagen jene feinen Gedächtnis¬ 
funktionen, die beim Übergang von einem bisher noch nicht 
erlebten anschaulichen Inhalt zu einem andern gleicher Art die 
anscjiließenden Sachverhalte reproduzieren. Ist letzteres der 
Fall, dann kann man nicht behaupten, dem Tiere gehe eine 
Erkenntnisfähigkeit ab, die der Mensch habe; von einem wesent¬ 
lichen Unterschied zwischen der menschlichen und tierischen 
Erkenntnislei st nng kann zwar noch gesprochen werden, aber 
nicht mehr von einem wesentlichen Unterschied der elementaren 
Erkenntnisfunktion. 

Es wird nun die Aufgabe späterer Forschungen sein, die Ge¬ 
dächtnisfunktionen der Tiere unter diesem Gesichtswinkel zu prüfen. 



Bevision einer Belationstheorie. 


287 


Stellt sich heraus, daß die ßeproduktioDsfähigkeiten des Tieres ge¬ 
rade so fein sind wie die des Menschen, so kommen wir zn dem 
höchst bemerkenswerten Ergebnis, daß dem Tiere das reflexe 
Erleben seiner Inhalte versagt ist. Erweisen jene Forschungen 
jedoch Qedächtnismangel beim Tier, so bleiben beide Möglich¬ 
keiten offen: der tierische Rückstand kann dann sowohl durch 
die mangelhafte Gedächtnisfnnktion wie durch den Ausfall des 
reflexen hlrlebens erklärt werden. Nur wird man die Frage 
dann kaum noch empirisch, sondern aus Gründen der Welt¬ 
anschauung zn beantworten suchen, indem man etwa darauf 
hinweist, die Fähigkeit zum reflexen Erleben sei in diesem Falle 
zwecklos, da alle tierischen Leistungen auch ohne sie erklärt 
werden können. Diese Beweisführung setzt voraus, daß es nichts 
Zweckloses in der Welt geben könne und daß der einzige Zweck 
einer solchen Begabung der Tierseele in ihren jetzigen 
Leistungen zu suchen sei. Das sind aber Anschauungen, die 
nicht rein empirisch, sondern nur allgemein philosophisch ver¬ 
treten werden können. 


6. Folgerungen für die Theorie des Gedächtnisses. 

Wir glaubten beim Beziehungserlebnis ohne eine elementare 
Einsicht wie »gleiche nsw. auszukommen. Einsichtig ist nach 
unserer Auffassung immer nur der Übergang von einem Inhalt 
zum andern. Allerdings lassen sich die Ergebnisse der Ver¬ 
gleichungen und Beziehungserfassungen in Urteile formulieren. 
Aber sollen diese Urteile bis zuletzt mit Sinn erfüllt werden, 
so sind die letzten einsichtigen und sinnhaltigen Inhalte eben 
diese Übergänge. Ist diese Meinung richtig, dann sieht man 
nicht recht, wo noch für ein Sachverhaltsgedächtnis im engsten 
Sinn ein Platz bleibt. Zweifellos können wir noch Urteile und 
formulierte Sätze über Sachverhalte dem Gedächtnis anvertrauen. 
Wir können auch all das, was die Grundlage der Beziehungs¬ 
erfassungen ansmacht, uns deponiert denken — eine Einschränkung 
soll alsbald hinzngefügt werden —, aber da wir keine von den 
Eemerlebnissen losgelösten Gedanken benötigten und fanden, 
bleibt für ein gedankliches Gedächtnis gar kein Raum. Das 
reflexe Erleben selbst ist ja etwas wesentlich Aktuelles, das 
unmittelbar als solches nicht im Gedächtnis bleiben kann. 
Unsere Auffassung führt somit ganz von selbst zu einer Gedächtnis¬ 
theorie, die nur Anschauliches aufbewahren läßt und somit 
psychische Dispositionen entbehren kann. 



288 


J. Lindworaky, 


Dabei haben wir die reflexen Übergänge zu Willensakten 
nnd Gefählen nicht berücksichtigt. Fassen wir nunmehr diese 
ins Auge! Rein a priori hönnte man daran denken, die gefühls- 
nnd willensmäBigen Termini einem geistigen Gedächtnis anzn> 
yertrauen. Allein es hat noch niemand ein Gedächtnis für 
Willensakte angenommen, nnd für ein Gefühlsgedächtnis, insofern 
es eben nur Gefühle aufbewahren soll, läßt sich kaum ein triftiger 
Grund geltend machen. Die meisten Psychologen lehnen ein 
Gefühlsgedächtnis ab. Somit bliebe auch von dieser Seite kein 
Anlaß, ein geistiges Gedächtnis anzunehmen. Ganz abgesehen 
davon, daß ein reflexer Übergang von oder zu isolierten 
Gefühlen und isolierten Willensakten nach nnserm heutigen 
Wissen höchst unwahrscheinlich ist. Denn die Willensakte 
scheinen sich ähnlich wie die Gefühle mit anderen anschaulichen 
Inhalten engstens zu verknüpfen. 

Können wir ohne geistiges Gedächtnis auskommen nnd sind 
alle Gedanken letzten Endes auf die reflexen Übergänge von 
einem Terminus zum andern zurückznführen, so ist auch die Frage 
von den völlig unanschanlichen Gedanken im Prinzip 
erledigt, und zwar verneint. Aufgabe der weiteren Forschung 
kann dann nur die Erklärung der scheinbaren ünanschanlichkeit 
der Gedanken sein. Gleichwohl müssen wir für das Kemerlebnis 
(und damit für alle Gedanken) eine gewisse Unanschaulichkeit 
beanspruchen. Denn die reine Abfolge rot-grün ergibt niemals 
das Kemerlebnis. Das reflex Bewußte dieser erlebten Abfolge 
jedoch ist etwas, was durch keinen anschaulichen Inhalt begreif¬ 
lich zu machen ist. 

Ausblick. Der Ausgleich zwischen Denk- und Assoziations¬ 
psychologie. 

Ohne eklektizistischen Tendenzen zu huldigen, kommen wir 
auf Gmnd der dargelegten Theorie zu einem Ausgleich zwischen 
Denk- und Assoziationspsychologie. Jede von beiden Richtungen 
muß etwas preisgeben, aber jede kann das ihr Wesentliche 
behalten. 

Die Denkpsychologie gibt die völlig unanschanlichen 
Gedanken preis, wenigstens wie sie in jener älteren Auffassung 
behauptet werden: Gedanken seien etwas jenseits der Vorstellungen 
nnd außer ihnen Liegendes, etwas, was streckenweise ohne alle 
Vorstellungen erlebt werden könne. Sie lehrt aber auch weitö"- 
hin, daß es Gedanken g^bt, nnd damit Inhalte, die ans einfacher 



BeTuion einer Relationstheorie. 


289 


Züsajnmenfügnngyon anschanlichen Vorstellangen nicht erhältlich, 
noch durch einfache Zerlegung allein in anschauliche Vorstellungen 
und Vorstellnngsmomente begreifbar sind. Sie kann anch weiter¬ 
hin ein Unanschanliches behaupten, eben das Moment des reflezen 
Erlebens; sie kann endlich auch jetzt noch ein Bewußtsein für 
möglich halten, das, abgesehen von Gefühlen und Strebungen, 
nnr mit anschaulichen Vorstellungen arbeitet und darum in seiner 
Funktion und in seinen Leistungen wesentlich von dem mensch¬ 
lichen Bewußtsein verschieden ist. Ob ein solches Bewußtsein 
beim Tier yerwirklicht ist, ob mit anderen Worten dem Tier 
das refleze Erleben fehlt, steht heute noch dahin. 

Die Assoziationspsychologie braucht nur die eine, 
gewiß nicht fruchtbare Behauptung zu opfern, es gäbe im Er¬ 
kenntnisleben nnr anschauliche Inhalte. Sie hat statt dessen 
nur den einen Zug des reflezen Erlebens anzuerkennen. Damit 
wird sie ihrem Ideal sauberer Analyse nicht untren. Denn dieser 
Zug ist beobachtungsmäßig aufznzeigen, und es wird ihm nicht 
mehr zngemutet, als auch beobachtbar ist, nämlich nnr das refleze 
Innewerden der eigenen Erlebnisse und das Hinschauen yon dem 
einen Inhalt auf den andern. Alles weitere besorgt die Ent¬ 
wicklung der Assoziationen. Mag das Opfer der Assoziations¬ 
psychologie ein prinzipielleres sein, sie kann sich rühmen, keine 
ihrer empirisch gewonnenen Positionen preisgeben zu müssen und 
für die Lehre der Entwicklung des Erkenntnislebens den Löwen¬ 
anteil bestreiten zu können. 

(Eingegangen am 20. März 1924.) 


Ärobiv (fir Psychologie. XLVUI. 


19 



Das Individualitätsproblem nnd die Subordination 

der Organe. 

Zngleioh eiiiBeitragzmnDesoeiisiiB deiEeimdiüsender Säugetiere. 

Von 

Armin Mftller (Leipzig). 


Inhaltsübersicht. 

8«ite 

Eünleitnng.291 

1. Die mechanisch-analytische Anffassang yom lebendigen Geschehen 292 

2. Die organisch-synthetische Anffassang Tom organischen Geschehen; 

das Ganze und die Teile.295 

8. Der Begriff der Ganzheit in der Psychologie nnd Psychiatrie . . 806 

4. Der Begriff der Ganzheit in der Philosophie (Driesch).809 

5. „Verstehende“ Biologie.810 

6. Die psychologischen Voranssetznngen des mechanistischen Denkens 318 

7. Der Begriff der Ganzheit nnd die Subordination der Organe . . . 317 

8. Die Stellung der Eeimdrttsen in der Bangordnnng der Organe . . 825 

9. Das Dogma von der Erhaltungstendenz.328 

10. Das Verhältnis von Soma und Eeimplasma.881 

11. Die Anerkennung eines aufferzweckhaften, künstlerischen Prinzips 

in der organischen Natnr.884 

12. Die Herab Wanderung der Keimdrüsen nnd ihre bisherigen Erklämngs- 

versnche.848 

18. Die Subordination der Organsysteme nnd ihre Lagebeziehnng zum 

Achsensystem des Wirbeltierkörpers.. . 854 

14. Die Subordinations- nnd Banmbeziehnngen innerhalb des CNS Cen¬ 
tralnervensystem .858 

15. Die Herabwandernng der Keimdrüsen als Ausdruck ihrer negativen 

Ganzheitsbezogenheit.868 

16. Die Lage der Mammarorgane.871 

17. Integrations- nnd Desintegrationsprinzip bei Pflanze nnd Tier . . 871 

18. Epikritische Bemerkungen.872 

19. Der Ordnnngsgedanke im Weltbild von Plato nnd Aristoteles . . 877 

20. Die Idee der Bangordnnng in der deutschen Philosophie der Gegen¬ 
wart (M. Scheler und E. Spranger) 


879 
















A. Hüller, Das IndiTidoalitfitsproblem n. d. Sabordination der Organe. 291 


Einleitung. 

Für die theoretische Grandlegimg dieser Arbeit entscheidend 
wird die Erkenntnis zweier einander entgegengesetzter Prinzipien 
in jeder höheren tierischen Organisation (Eielmeyer, Berg- 
s 0 n): eines synthetischen, Individualität oder Ganzheit schaffenden 
IMnzips, das in erster Linie sich in der Funktion des Zentral¬ 
nervensystems (CNS) kundgibt, sowie eines jenem diametral ent¬ 
gegengesetzten Prinzips, das zur Lostrennung und Fortpflanzung 
tendiert Dieses wird realisiert in dem dauernd wuchernden Eeim- 
gewebe der Generationsorgane. So tritt dem Nervensystem als 
Träger der Integration (Spencer, Sherrington) in polarer 
Entgegensetzung das Eeimplasma als Träger der Desintegration 
gegenüber. Zunächst wird sich eine genauere Entwicklung des 
Begriffs der Individualität oder Ganzheit notwendig machen, wie 
er sich auf den verschiedensten biologischen Einzeldisziplinen 
sowie in der neuesten Naturphilosophie oft im bewußten Gegen¬ 
satz zu der wissenschaftlichen Tradition heraasgebildet hat. 
Hieraus wird sich weiter im Anschluß an Vorstellungen von 
Cu vier eine besondere Bangordnung oder eine Beihe von Sub- 
ordinationsbeziehnngen zwischen den großen Organsystemen be¬ 
sonders des Wirbeltierkörpers ergeben. Der in der Physiologie 
des CNS allgemein geläufige Begriff der Über- und Unterordnung 
(eines nervösen Zentrums) wird sich als notwendig erweisen auch 
in der Anwendung auf das Verhältnis des CNS zum zentraleu 
Motor des Kreislaufsystems und zur Gesamtheit der Kraft- und 
Stoffwechselorgane. So ergibt sich eine Bangordnung, eine ab¬ 
steigende Beihe hinsichtlich der Bedeutung für die Einheit und 
den Funktionszusammen hang des Ganzen. Vom CNS ab¬ 
wärts, dem Träger des caract^re dominateur (Cuvier), nimmt 
so der Grad der Ganzheitsbezogenheit ab und wird in den 
Generationsorganen, deren Fortpflanzungstendenz zum „Feiude 
der Individuationstendenz“ (Bergson) wird, schließlich zur 
negativen Ganzheitsbezogenheit. Eine eingehende Prüfung er¬ 
gibt, daß die in der Hierarchie des CNS am stärksten ansge¬ 
bildete Bangordnnng der nervösen Funktionen in den Hauptzügen 
wenigstens einen entsprechenden Ausdruck auch in den topo¬ 
graphischen Beziehungen der einzelnen Teile zueinander findet. 
Und zwar sind die funktionell jeweils »höheren« Gebilde im 
allgemeinen entweder mehr dorsalwärts oder aber kranialwärts 
gelegen. Dieses in erster Linie für das CNS gültige Struktui*- 
prinzip, diese Harmonie der Subordinations- und Lagebeziehungen, 



292 


Amin Mttller, 


läßt sich im Wirbeltierkörper auch für die Beziehungen der 
großen Organsysteme untereinander als gültig erweisen. Die 
erwähnte polare Spannung zwischen CNS und Generationsorganen, 
die Entgegensetzung der höchsten positiven und der negativen 
Ganzheitsbezogenheit muß naturgemäß dort am stärksten werden, 
wo die tierische Organisation ihre vollendetste Geschlossenheit 
und Individualisiertheit erreicht. Auf dieser Stufe wird das 
CNS zum eigentlichen Repräsentanten der tierischen Individualität, 
und andererseits kommen nach Verlust aller ungeschlechtlichen 
Fortpflanzungsweisen sowie aller stärkeren Regenerationsfähig' 
keit die Generationsorgane allein für die Abgabe von Keim- 
material in Betracht. Dieser Zustand ist realisiert in der 
allgemein als die höchste Stufe der tierischen Entwicklung be¬ 
trachteten Klasse der Säugetiere, in deren philogenetischer Reihe 
der Descensus der Keimdrüsen sich allmählich vollzogen hat 
Die somit erreichte ventro-kaudale Lage der Keimdrüsen wird 
in Übereinstimmung mit dem oben skizzierten allgemeinen Struktur¬ 
prinzip als Ausdruck der negativen Ganzheitsbezogenheit dieser 
Organe angesehen im Gegensatz zur dorso-kranialen Entwicklung 
des Groß- bzw. Stimhims aus dem Telencephalon; in jenem 
flndet das gesamte CNS gewissermaßen seinen funktionellen 
Brennpunkt. — Die hier vorausgesetzte Existenz von Ansdrucks¬ 
tendenzen sowie von »Organisationsmerkmalen t im Sinne von 
Nägeli, die mit reinen Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeits¬ 
prinzipien gar nichts zu tun haben, erfordern eine Auseinander¬ 
setzung mit zahlreichen Einzelproblemen der theoretischen 
Biologie, den rein utilitaristischen Voraussetzungen der Darwin¬ 
schen Lehre, der Frage nach objektiven ästhetischen Prin¬ 
zipien in der organischen Natur usw. 

1. Die mechanisch-analytische Auffassung vom lebendigen 

Geschehen. 

Als Schleiden^) 1842 unter ausdrücklicher Berufung auf 
Bacons induktive Methode seine Zellentheorie für die Botanik 
begründete, war sein Ziel eine rein empirische Erforschung des 
Pflanzenkörpei's. Nach dem Vorbild des Mineralogen, der ans 
der Anziehung und Abstoßung der Moleküle die Entstehung der 
Kristallstruktur zu erklären sucht, soll auch der Ban des 
lebendigen Organismus aus der Kombination der Elementarkräfte 
abgeleitet werden. Er verwarf durchaus ein »Verstehen«. Die 


1) 8. Kadi, Geschichte der biologischen Theorien Bd. 11 S. 67. 



Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 293 

Einheit des Planes, von der in der idealistischen Morphologie 
soviel die Rede gewesen war, wird streng verworfen. Das Leben 
des Gesamtorganismns ist das Hesnltat ans dem Zusammenarbeiten 
vieler Zellen. 

Schwann^) sagte 1839: »Einem Organismus liegt keine 
nach einer bestimmten Idee wirkende Kraft zugrunde, sondern 
er entsteht nach blinden Gesetzen der Notwendigkeit durch Kräfte, 
die ebenso durch die Existenz der Materie gesetzt sind wie die 
Kräfte in der anorganischen Natur. Da die Elementarstoffe in der 
organischen Natur von denen der anorganischen nicht verschieden 
sind, so kann der Grund der organischen Erscheinungen nur in 
einer anderen Kombination der Stoffe liegen.« 

Es braucht hier nicht weiter ansgeführt zu werden, in welcher 
Weise diese Auffassung des Organismus als rein summenhaftes 
Aggregat von Darwin übernommen und folgerichtig vom Einzel- 
individnnm auch auf das gesamte Reich des Lebendigen über- 
tragen wurde: Er leugnete in der Organismenwelt jede innere 
Einheit oder Entwicklungstendenz; er verwarf grundsätzlich den 
Gedanken einer irgendwie gearteten Gesamtbewegung als Träger 
der aufsteigenden organischen Entwicklung. In völliger Isolierung 
kämpft jedes Individuum den Kampf ums Dasein, im wesentlichen 
ein Zufallsprodukt der Variabilität und der Selektionsfaktoren. 

In konsequenter Weiterbildung der Selektionstheorie legte 
dann Roux im Jahre 1881 dar*), wie die Idee des Kampfes ums 
Dasein zur Erklärung der Feinstruktur der Organe auch auf die 
»Teile im Organismus« ausgedehnt werden müsse. Er leitete 
die Entstehung der Knochenspongiosa und ihre den Kraftlinien 
entsprechende Anordnung aus einem vermehrten Wachstum der 
funktionell gereizten Osteoblasten und einem entsprechenden 
Schwunde der inaktiven Elemente ab, denen die Nahrung von 
jenen im Kampfe ums Dasein entzogen wird. 

Die mechanisch eingestellte Denkweise, die durch möglichst 
sorgfältiges Studium der Konstituenten sich der Wesenserkenntnis 
des lebendigen Organismus zu nähern suchte, begünstigte natur¬ 
gemäß die Studien und die Theorienbildnng über die Proto- 
plasmastmktur (Flemming, Altmann, Bütschli), die 
»Elementarstmktur«, das »Metaphänomenale«, was körperlich 
vorstellbar, aber — vielleicht nur einstweilen — durch die Sinne 
nicht wahrgenommen werden kann (Plasome, Wiesner). 
In der Physiologie hat Verworn die analytische Methode in 

1) 8. Bidl 1. c. Bd. n S. 72. 

*) »Der Kampf der Teile im Organismas«. 



294 


Armiii Müller, 


der Gestalt des Zellnlarprinzipes am konsequentesten durch* 
zuführen versucht. Unter ausdrücklicher Berufung auf V i r c h o w, 
der »in seiner ZeUnlarpathologie das zellulare Prinzip als die 
Grundlage der gesamten organischen Forschung erklärt hat, eine 
Grundlage, auf der sich jetzt in der Tat alle unsere medi¬ 
zinischen Vorstellungen anfbauen,« verlangt Verworn neben 
einer Organphysiologie eine Zellphysiologie. Es sei der natür¬ 
liche Entwicklungsgang gewesen, zuerst die groben (!) Leistungen 
der Organe ins Auge zu fassen und erst allmählich tiefer zu 
dringen, um beim einfachsten Bauelement, bei der Zelle, anznlangen. 
»Worauf uns die Betrachtung jeder einzelnen Funktion des 
Körpers immer wieder hindrängt, das ist die Zelle. In der 
Muskelzelle liegt das Rätsel der Herzbewegnng, der Muskel¬ 
kontraktion; in der Drüsenzelle liegen die Bedingungen der 
Sekretion; in der Epithelzelle, in der weißen Blutzelle liegt das 
Problem der Nahrungsaufnahme, der Resorption, und in der 
Ganglienzelle schlummern die Geheimnisse der geistigen Vorgänge 
sowie der Regulierung aller Eörperleistungen.«') 

Hierdurch wird jene Forschungsrichtung charakterisiert, von 
der V. üexküll sagt*): »Ebenso verlor die aUgemeine Physio¬ 
logie immer mehr das Verständnis dafür, daß jedes Lebewesen 
eine »funktionelle Einheit« ist. An Stelle des Strebens nach 
Erkenntnis des Bauplanes eines jeden Lebewesens, der allein 
aus Anatomie und Physiologie erschlossen werden kann, trat 
das einseitige Studium der möglichst isolierten Teilfnnktionen, 
um diese als rein physikalisch-chemische Probleme behandeln 
zu können.« 

In hervorragendstem Maße war Virchowan den Bestrebungen 
beteiligt, die Morphologie und Physiologie des Organismus ge¬ 
wissermaßen von einem elementaren Organisationsprinzip aus 
abzuleiten. Er war überzeugt von der Autonomie der Zelle, dem 
»Elementarorganismus« im »Zellenstaat«. Die ZeUnlarpathologie, 
die natürUch eine Zellnlartheorie alles Lebendigen überhaupt 
einschUeßt, »geht davon aus, daß die ZeUen, die eigentUch 
wirkenden Teüe des Körpers, die wahren Elemente desselben 
sind, und daß von ihnen alle vitale Aktion ausgeht«. >Der 
Charakter und die Einheit des Lebens kann nicht ans einem 
bestimmten einzelnen Punkte einer höheren Organisation gefunden 
werden, z. B. im Gehirn des Menschen, sondern nur in der kon- 
stant wiede rkehrenden Einrichtung, welche jedes einzelne Ele- 

1) »Allgemeine Physiologie«, 1909, S. 66. 

*) »Umwelt and Innenwelt der Tiere«, 1921, S. 3. 



Das Individaalitätsproblem nnd die Snbordinatioo der Organe. 296 


ment an sich trägt. Daraus geht hervor, daß die Zusammen' 
Setzung eines größeren Körpers, des sogenannten (!) Individuums, 
immer auf eine Art von geseUschaftlicher Einrichtung heraus- 
kommt, einen Organismus sozialer Art darstellt, wo eine Masse 
von einzelnen Existenzen aufeinander angewiesen ist, aber so, 
daß jedes Element (Zelle oder, wie Brücke sehr gut sagt, 
Elementarorganismns) für sich eine besondere Tätigkeit hat, und 
daß jedes, wenn es auch die Anregung zu seiner Tätigkeit von 
anderen Teilen her empfängt, doch die eigentliche Leistung von 
sich ausgehen läßt« — eine Auffassung vom Organismus, die 
zweifellos, wie Diepgen^) glaubt, die demokratisch-libera- 
listische Denkweise des Autors durchscheinen läßt. 

Eline extrem autonome Auffassung der Zelle bzw. der intra¬ 
zellularen Lebenseinheiten ist dann hinsichtlich des pathologischen 
Wachstums und der Regeneration von Weigert und zuletzt 
noch von Herxheimer*) vertreten worden: »Es ist im fertig¬ 
entwickelten Organismus die geschlossene Struktur der Einzel¬ 
zelle nnd der enge Verband der Zellen untereinander, d.h. also 
die Summe der so gesetzten Widerstände, welche die Betätigung 
bioplastischer Energie im Wachstums- und Veimehrungssinn 
znrückhält Jede Beseitigung jener Widerstände kann somit als 
Auslösnngsnrsache für ihre freie Betätigung wirken. Eine solche 
hat statt, wenn Zellen oder Zellteile verloren gehen oder sonst¬ 
wie der Zellverband gelockert wird, oder wenn in der einzelnen 
Zelle eine Dekonstruktion ihres chemisch-physikalischen Aufbaues 
stattfindet« — Einem verwandten Gedankengang folgte Thiersch 
in seiner Krebstheorie: durch eine »Nachgiebigkeit« des Binde¬ 
gewebes soll eine Verschiebung des »statischen Gleichgewichts« 
zugunsten des Epithels stattfinden, das nunmehr in schranken¬ 
losem Wachstum sich betätigen kann. — Ähnlich legte auch 
Bibbert zur Erklärung des geschwulstmäßigen Wachstums 
der Lösung der organischen Verbände durch Entzündungs- oder 
Vemarbungsprozesse einen erheblichen Wert beL 

2. Die organlsch-synthetisehe AafTassnng vom lebendigen 
Geschehen; das €hmze und die Teile. 

Auf zahlreichen Einzeldisziplinen läßt sich in neuerer Zeit 
ein Umschwung feststellen in dem Sinne, daß die mechanische 
Auffassung des Organismus in den Hintergrund tritt und wieder 

1) D.ni.W. 1928 S. 460. 

2) »GrondriA der pathologischen Anatomie«, 1922, S. 48. 



296 • 


Armin Müller, 


die >organi8che< Einheit nnd Yerbnndenheit in Gestalt und 
Funktion betont wird. 

Schon frühzeitig wurde Darwin besonders von Spencer 
nnd Nägeli entgegengehalten, es sei unverständlich, wie zu¬ 
fällige Variationen der in keinem inneren Zusammenhang stehenden 
Teile zum Aufbau hochdifierenzierter Organe führen könnten, 
da doch nicht vereinzelte, sondern nur mehrere, aber gleich¬ 
gerichtete Variationen einen Vorteil, einen Selektionswert ergeben. 
Neuerdings hat Bergson^) zu diesem Eoadaptationsproblem 
bemerkt: »Gesetzt, wir nähmen kleine, dem Zufall verdankte 
Abweichungen an, die sich unablässig summieren, so ist hierbei 
nicht zu vergessen, daß alle Teile des Organismus notwendiger¬ 
weise aufeinander angelegt sein müssen . . . Unbestreitbar ist, 
daß das Organ keinerlei Dienst leistet nnd der Auslese keinerlei 
Handhabe bietet, wenn es nicht funktioniert. Und ob der feine 
Bau der Netzhaut sich noch so vollkommen entwickle, dieser 
Fortschritt wird den Sehakt nicht fördern, ja ihn stören, wenn 
sich nicht die Sehzentren nnd verschiedene Teile des Sehorgans 
selbst gleichzeitig entwickeln. Sind aber die Variationen zufällig, 
dann ist es allzu evident, daß sie sich nicht untereinander dahin 
verständigen werden, derart gleichzeitig in allen Teilen des Organs 
aufzutreten, um dieses in Ausübung seiner Funktion fortfahren 
zu lassen.« 

Vor wenigen Jahren hat der Botaniker Fitting seine An¬ 
sichten über das Verhältnis des Ganzen zu den Teilen ausführ¬ 
lich geäußert. Er sagt u. a. »Bei den tropistischen Reizkrüm¬ 
mungen, namentlich solchen, die auf Wachstum beruhen, arbeiten 
die Zellen der Organe so einheitlich zusammen, als ob das Or¬ 
gan überhaupt nicht aus Zellen zusammengesetzt wäre. Z. B. 
krümmen sich die Ranken infolge einer ganz leisen lokalen Be¬ 
rührung einer kleinen Stelle ihrer Oberfläche haptotropisch nach 
dem Berührungsreiz hin ein, indem das Wachstum der Ranke, 
und zwar von der konvex werdenden Seite nach der sich kon¬ 
kav krümmenden (berührten) allmählich abnehmend beschleunigt 
wird. Das kann nur erreicht werden, daß 1. der Reiz von der Be¬ 
rührungsstelle durch den Qerschnitt des ganzen Organs geleitet 
wird, und daß 2., falls die Zellen durch ihr Zusammenwirken 
die Reaktion des Organes ausführen, die Zellen untereinander 
durch ihre uns noch völlig unklaren engen Wechselbeziehungen 
die Intensitäten ihrer Einzelleistungen gegeneinander aufs feinste 

1) »Schöpferische Entwickelnng:«, 1912, S. 70. 

2) »Die Pflanze als lebender Organismus«, 1917, S. 24. 



Daa Indiyidaalitätsproblem und die Snbordination der Organe. 297 


abgleichen. Noch mehr sind solche Vorstellungen nötig, wenn das 
Perzeptionsorgan nnd das Reaktionsorgan yoneinander weit getrennt 
sind, ja wenn in diesem eine einheitliche Reaktion auch dann noch 
eintritt, wenn man den Reiz durch Einschnitte zwingt, »um die Ecke« 
sich in die Reaktionszone anszubreiten... Es sieht hier nnd 
bei vielen anderen Reizvorgängen, z. B. beim Gegeneinander¬ 
wirken gleicher oder verschiedener Reize so ans, als ob ein so¬ 
genannter »einheitlicher Reizznstand«, dem alle lebenden Zell¬ 
komponenten des Organs unterliegen, die Leistungen (Reaktionen) 
dieser Komponenten quantitativ und oft auch qualitativ bestimmten. 
...Wie fein müssen die Reizzustände in benachbarten Protoplasten 
aufeinander harmonisch abgestimmt sein, um das Wachstum in 
den Schichten der sie trennenden Zellwände in gleichem Aus¬ 
maß bei der Krümmung zu lenken!« Zusammenfassend sagt 
Fitting: »Die Zellen sind auch z. B. bei der Entwicklung des 
Körpers die aktiven, die bildenden, die reagierenden Teile, weil 
ja die lebende Substanz auf sie verteilt ist. Doch arbeiten sie 
meist in so enger Abhängigkeit voneinander und vom Ganzen, 
daß sie mit ihresgleichen zu den einheitlichen Leistungen der 
Organe physiologisch mehr oder weniger vollständig »zu ver¬ 
schmelzen« scheinen. Die Bedingungen nämlich dafür, welche der 
in der lebenden Substanz der Zellen schlummernden Leistungs¬ 
möglichkeiten geweckt werden, kommen vom Zellverband, vom 
Ganzen, und zwar von seinem Zustand in einem jeden Augen¬ 
blick der Entwicklung. Verständlich aber wird uns das Ver¬ 
halten der Einzelzellen im Leben der Pflanze überhaupt nur 
durch das Ganze. Nur die fertige Pflanze nämlich liefert uns 
die nötige Einsicht in die spezifischen Reaktionsmöglichkeiten 
der lebenden Substanz der Zellen. Nur das Ganze verschafft 
uns ferner Einsicht in die nicht weniger spezifischen System- 
bedingnngen, von denen die Reaktionen der Zellen an den ver¬ 
schiedenen Stellen des Körpers abhängen. Nur das Ganze end¬ 
lich macht uns verständlich, was eine jede Zelle im Körper 
während seiner Entwicklung und während seines ferneren Lebens 
leisten wird. Das merkwürdigste aber ist, daß die Zellen im 
Lebensgange des Lebewesens neue spezifische Reaktionsmöglich¬ 
keiten erwerben können, die oft nur als neue erbliche Eigen¬ 
schaften des vielzelligen Ganzen sichtbar werden und Be¬ 
deutung gewinnen... Das Ganze und der Teil, mag er nun 
eine Einzelzelle oder eine Zellgruppe sein, wirken eben bei einem 
vielzelligen Lebewesen physiologisch immer in einer sehr eigen¬ 
artigen, besonderen Weise aufs allerinnigste zusammen, und 



298 


Anuin Müller, 


zwar so, daß die Zellen meist gar keine physiologisclie Indivi¬ 
dualität in dem vielzelligen Organismus besitzen.« 

Eine gegenüber der >analytischen« vielmehr >synthetische« 
Theorie des tierischen Körpers ist in jüngster Zeit von dem 
Tübinger Anatomen Heidenhainentwickelt worden. H. ver¬ 
langt gegenüber der bisher fast ausschließlich zergUedemden 
analytischen Anatomie eine »morphologische Systemlehre oder 
Synthesiologie«, die der Natur auf ihrem »Wege einer wahren 
schöpferisch zu nennenden Synthese« zu folgen hat. Diese neue 
Wissenschaft hat nachzuweisen, >wie die auf dem Wege der 
Analyse erhaltenen Elementarbestandteile entsprechend der auf- 
steigenden Form der Entwicklung sich zu Verbänden oder Systemen 
oberer Ordnung gruppieren, ihre Funktionen und Reaktionen zu 
beschreiben und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen System 
und eingeschlossenem Teile klarzulegen«. Als einen schweren 
Irrtum der analytischen Zellentheorie, der auf Schwann 
zurückgeht, bezeichnet es H., die Gewebezellen, in Analogie zu 
den einzelligen Pflanzen nnd Tieren, den Zellpersonen, ebenfalls 
als im hohen Grade selbständige Organismen aufzufassen. »In 
dieser Verwechslung von Gewebezellen und Zellpersonen lieg^ 
ein Grundfehler der analytischen Theorie, da sie den Tier- nnd 
Pflanzenkörper in ein Aggregat einzelliger Organismen verwandelt« 
»Der ganze Bauplan wurde so gründlich in seine Bestandteile 
zerlegt, daß von ihm selbst nicht mehr viel zu sehen war.« Da 
nun die Zellen schlechthin zu >den Bausteinen des Organismus“ 
wurden, wurde die Vitalität der Interzellularsnbstanzen irrtüm¬ 
licherweise bestritten, denen aber eine Selbständigkeit in der 
Assimilation, im Wachstum und in der Differenzierung zweifellos 
znkommt. Der Zellnlarphysiologie wirft H. vor, die Unter¬ 
suchung der Systemfunktionen unterlassen zu haben, »welche ge¬ 
wissermaßen analytisch gespalten und auf die einzelnen Zellen 
ausgeteilt wurden«. Auch die Himphysiologie sei ein Opfer der 
Zellenlehre geworden, >da sich die Zustände und Leistungen der 
Seele nicht als eine Mosaikarbeit von Einzelwesen erklären 
lassen«. H. geht davon aus, daß bereits alle sichtbaren Stmktur- 
gebilde der Zelle (Kern, Chromosomen, Zentren, Chlorophyl- 
kömer) sich teilende und vermehrende »Teilkörpersysteme« dar¬ 
stellen, die in der Zelle als einem »Teilkörpersystem höherer 
Ordnung« zusammengefaßt sind. Die Gewebezellen treten nun 
ihrerseits „stufenweise zu Verbänden oberer Ordnung zusammen, 


1) M. m. W. 1918 Nr. 22; D. m. W. 1922 Nr. 37. 



Das Indiyidnalitfttsproblem und die Sabordination der Organe. 299 

welche ihre eigne Art zn funktionieren und zu reagieren besitzen, 
so daß wir mithin dem Körper eine entwicklungsphysiologische 
G-esamtverfassung zuschreiben, vergleichbar der Gliederung der 
Heeres verbände, deren Gmppen, Zöge, Kompagnien, Bataillone 
usw. ttbereinandergesteDte Dienstkreise bedeuten<. Daß hier 
tatsächlich System* und nicht Partialfunktionen vorliegen, zeigt 
H. an den Fortpflanzungserscheinnngen. Wie sich bereits die 
Teilkörpersysteme innerhalb der Zellen sowie die einzelnen Zellen 
als Ganzes fortpflanzen können, so können sich auch die aus 
den Zellen durch wahre Synthese hervorgegangenen Zellverbände 
oder Histosysteme als Ganze wiederum vermehren. So wird eine 
massenhafte Nachkommenschaft z.B. von Zungenpapillen, Leber¬ 
läppchen, Lnngenalveolen erzeugt Speziell das Wachstum der 
Speicheldrüsen gleicht demjenigen eines Polypenstocks, >da an 
dmi Enden der Drflsenzweiglein teilnngsfähige Individuen sitzen 
durch deren fortgesetzte Spaltung im Laufe der Entwicklung 
Hnnderttansende von Nachkommen entstehen.*^ H. spricht hier 
von geweblicher Stockbildung (Histocormus). Über die Unter¬ 
suchung der Geschmacksknospen ans der Papilla foliata des 
Kaninchens gibt H.folgende Zusammenfassung^): »Die rundlichen 
Knospen sind in das geschichtete Mundhöhlenepithel eingesetzt 
und ihre dichtgedrängten Zellen konvergieren gegen den so¬ 
genannten Geschmacksporus. Dieser führt in eine kleine Höhlung 
hinein, welcher bereits im Knospenscheitel gelegen ist, die Am¬ 
pulle, und in der freien Oberfläche der letzteren endigen die 
sämtlichen Sinneszellen mit stark verschmälerten Spitzen, welche 
ihrerseits die Träger der Sinneshaare sind. Die Knospen zeigen 
nur ein begrenztes Wachstum, da die Ampulle nur eine gewisse 
Menge von Sinneszellen fassen kann. Wächst die Zahl der Zellen, 
so muß die Ampulle sich schließlich durch Teilung zerlegen, um 
dadurch ihre Oberfläche zu vergrößern. Diese Verdoppelung der 
Ampulle führt zunächst zn einer »inneren Teilung« der Knospe, 
und dieser folgt eventuell die äußere Teilung, indem die Zellen 
des indifferenten Epithels der Umgebung in Form einer Scheide¬ 
wand von der Basis der Knospe ans in die Höhe wachsen und sie in 
zwei Individuen zerlegen. Das wesentliche wäre also zunächst, 
daß die Teilnngsformen festgestellt wurden. Außer¬ 
dem fanden sich massenhafte Mehrlingsbildnngen als 
Folgen der ansgebliebenen äußeren Teilung, also Zwillinge, 
Drillinge, Vierlinge usf. mit zwei, drei, vier Geschmacksporen 


1) M. m. W. 1918 S. 679. 



300 


Amin MfUler, 


bezw. Ampullen. Also bilden sich hier durch Synthese 
zusammengesetzte Systeme oberer Ordnung, in einer Weise, wie 
dies bei den Dünndarmzotten schon vorher von mir beobachtet 
wurde. In meiner Theorie werden die Glieder solcher Beihen 
als Monomer, Dimeren, Trimeren usf. bezeichneten; sie fanden 
sich hier aufsteigend bis zum 6. Gliede, bis zur Hezamere. Unter 
den Geschmacksknospen sind viele mittlere und alle größeren 
Exemplare solche Mehrlingsbildungen, und im Ganzen 
bilden sie etwa ein Drittel des gesamten Enospenbestandes der 
Sinnesfelder. Da nun während mehrerer Teilungen die Teilungs¬ 
richtung erhalten bleibt, so liegen die mehrfachen Poren der 
Mehrlingsbildungen in einer Beihe; sie sind linear oder 
monoserial geordnet, also etwa wie die Zellen eines Algen¬ 
fadens linear geordnet sind, weil die Teilungsrichtung der Zellen 
dauernd erhalten bleibt. Ans dem gleichen Grunde findet man 
die Knospen in den Sinnesfeldem zu parallelen Querreihen oder 
»Stäben« geordnet, welche gewöhnlicherweise 3 bis 6 Individuen 
enthalten. Es ist mithin auch die gesamte topographische Zu¬ 
sammenordnung der Knospen in den Sinnesfeldem ein Effekt der 
Teilungsvorgänge... Das Verhältnis der einzelnen Sinneszelle 
zu der Knospe im Ganzen ist mithin völlig klar geworden. 
Sie ist morphologisch nichts anderes als ein Brachstück einer 
übergeordneten durchaus spezifischen Form oder eines Systems, 
welches an sich selbst eine einheitliche Formerscheinung ist und 
auf Grund seiner besonderen Verfassung zu einer besonderen 
solidarischen Funktion, der Fortpflanzung durch Teilung befähigt 
ist.«—Der Grundsatz, daß alles Lebendige von Lebendigem ab¬ 
stamme, wurde seit Bemak und Virchow für die Zelle all¬ 
gemein anerkannt. Seine Gültigkeit wurde sodann auch für 
Zellorgane nachgewiesen. H. fordert seine Gültigkeit auch 
für die Zellverbände als »systematisierte Zweckverbände«, die 
ebenfalls mit dem Vermögen der Fortpflanzung begabt sind. In 
diesen Erfahrungen erblickt H. »das konstitutive Element im 
Bauplan des Organismus«^). 

In der Embryologie hat wohl am erfolgreichsten Driesch 
die Lehre von der Zelle als dem alleinigen Organisationsprinzip 
des Körpers wie auch besonders alle mechanistischen Maschinen¬ 
theorien und Präformationslehren in bezug auf die Eistrnktur 
bekämpft. Seine Lehre von den harmonisch-äquipotentiellen und 
komplex-äquipotentiellen Systemen sowie dem immaterieUen ganz- 

1) Heidenbains jüngste Poblikation »Formen ond Kräfte in der 
lebenden Natur« konnte leider nicht mehr berücksichtigt werden. 



Dm Individaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 301 

machenden Werdefaktor, der Entelechie, kann in diesem Zusammen¬ 
hang nur erwähnt werden. Verwandt sind die Anschanungen von 
T. H. Morgan*), der sich folgendermaßen äußert: »Der Haupt¬ 
einwand gegen alle diese Versuche, das Ganze aus der Wirksam¬ 
keit seiner Teile zu erklären, ist der, daß die Entwicklung der 
einzelnen Teile ja in steter Beziehung zueinander erfolgt. Das 
heißt doch wohl, daß das Ganze die Entwicklung seiner Teile 
reguliert, und nicht umgekehrt.« Angesichts der neueren For¬ 
schungsergebnisse glaubt Morgan*), daß »sich der Embryo als 
Ganzes nach einem festliegenden Bauplan, ohne Bäcksicht auf 
die Zellgrenzen entwickelt«... »Die Entwicklung einer typischen 
Seeigel- oder Amphioxuslarve aus der Hälfte oder sogar nur einem 
Viertel der normalen Zellzahl läßt die Unbrauchbarkeit der Zellen¬ 
theorie für die Erklärung ontogenetischer Vorgänge erkennen.« 
In ähnlicher Weise hat sich E. B. Wilson mit entwicklungs¬ 
physiologischen Argumenten gegen die Zellentheorie im Sinne 
Schwanns ausgesprochen. 

Der Grundauffassung Heidenhains ist unter den Patho¬ 
logen Hueck“) in weitem Maße gefolgt. Auch er erblickt in 
der Zelle nur eines neben sehr verschiedenen anderen Organi¬ 
sationsprinzipien der Natur; aber keinem dieser Systeme kommt 
Autonomie zu. »Wir haben einsehen gelernt, daß die Tätigkeit 
der einzelnen Zelle beherrscht wird vom einheitlichen Ganzen 
des Organismus, und zwar durch ein kompliziertes System fein 
abgestimmter Begulationen teils nervöser, teils chemischer Art.« 
Und im Hinblick auf gewisse neuere Erfahrung der Embryologie 
heißt es: »Man kann also wohl sagen, daß sich die gestaltenden 
Kräfte bei der Entwicklung nicht um Zellgrenzen kümmern, 
sondern daß sie die Keimmassen gestalten ohne Bücksicht auf 
die Art und Weise der Aufteilung in Zellen. Jedes Teilsystem 
und mithin der ganze Organismus reagiert in Gemeinschafts- 
handlnngen.« So wird die Tatsache angeführt, daß sich z. B. in 
gewissen Teilsystemen Fibrillen differenzieren, die sich in gar 
keiner Weise um Zellgrenzen kümmern, sondern durch das System 
als Ganzes verlaufen: Epithelfasem, Muskelfibrillen, Bindegewebe, 
Glia. Hierher dürfte meiner Meinung nach auch eine Erscheinung ge¬ 
hören, aufdiederWienerEntomologeBrunner von Watten wyl*) 


1) .Regeneration“, deutsch 1907, S. 384, zit. n. Fitting 1. c. S. 41 u. 42. 

Zitiert nach Fitting L c. S. 850. 

8) M. m. W. 1922 S. 1326. 

4) »Betrachtangen über die Farbenpracht der Insekten«, 1897. 



302 


Armin MttUer, 


aufmerksam gemacht hat: Während bei manchen Schmetterlingen 
die Bänderung von der anatomischen Struktur durchaus abhängig 
ist und Z.B. nur eine Färbung der Querademng darstellt, ist 
bei zahlreichen Insekten die Anordnung der Streifen, Bänder 
und Augenflecken durchaus nicht an bestimmte Körperteile ge¬ 
bunden, yielmehr ist die ganze Oberfläche des Tieres maßgebend. 
So verläuft bei einem javanischen Bombyciden, dem Schmetter¬ 
ling Aloa Lactinea, eine leuchtende rote Linie von einer Flügel¬ 
spitze über den Thorax zur anderen Spitze. An der Vorder¬ 
seite des Kopfes erfolgt eine Ausbiegung gegen die Brust und 
erfaßt hier die eingezogenen Schenkel der Vorderfüße. Von 
einem Augenfleck oder Ocellus heißt es^): »Bei der bekannten 
Pygaera Bucephala L. ist ein Ocellus dem Vorderteil des Thorax 
aufgesetzt. Derselbe besteht aus einem großen gelben Flecken, 
welcher von einem rostbraunen Doppelringe umsänmt ist. Dieser 
Ring umfaßt den Vorderteil des Pronotum und den oberen Teil 
des Kopfes, indem er unmittelbar unter den Augen geschlossen 
ist. Dieser Ocellus steht sonach in keinem Zusammenhang mit 
der Abgrenzung der Körperteile, sondern gleicht einer Mütze, 
die dem Tier von vom über die Stime geworfen wurde.«... 
»Striche, Bänder und Flecken erstrecken sich über die verschie¬ 
densten Körperteile, um ein einheitliches Bild zu erzeugen.« 
Die Zeichnung ist »holotypisch«. Aus sehr zahlreichen prinzi¬ 
piell gleichartigen Erscheinungen glaubt B. sogar auf die Existenz 
nicht nur besonderer morphologischer, sondern auch ästhetischer 
Gesetze schließen zu müssen. — Speziell für die Pathologie er¬ 
gibt sich nach Hu eck aus dieser — übrigens bisher in der 
Klinik schon stets angewandten — synthetischen Denkweise die 
Folgerung, daß die Krankheit nicht nur in der Erkrankung der 
einzelnen Zellen, Zwischensubstanzen, Kernen, Plastosomen usw., 
sondern neben diesen auch in einer Störung der Beziehungen 
dieser einzelnen Teile aufeinander besteht. Demnach hat auch 
die Konstitutionslehre nicht nur die Reaktion der einzelnen 
Teilkörper, sondern auch die Reaktion der zusammengefügten 
Systeme, deren Gemeinschaftshandlungen, und schließlich des 
Systems höchster Ordnung, des Individuums, und seiner persön¬ 
lichen Einheit zu studieren. Es gibt eine Pathologie der Zelle 
und eine »Pathologie der Person«. 

Eine besondere Rolle spielt die Frage der »mechanischen« 
oder »organischen« Auffassung in dem Streit um den Begriff der 

1) 1. c. S. 6. 



Das IndiTidoalitätsproblem and die Subordination der Organe. 303 

Entzflndnng. Nachdem schon Virchow anerkannt hatte, daß 
»antagonistische ober reaktive Einrichtungen im Körper bestehen, 
welche die gewöhnlichen Wege der Ansgleichung von Störungen 
darsteUen'^, hat die überwiegende Mehrzahl der Pathologen in 
der Entzündung einen im wesentlichen regulatorischen Vorgang 
erblickt und hat sich damit gmndsätzlich der »biologischen« 
oder »organischen« Auffassung angeschlossen. Aschoff sagt: 
»Wenn etwas »reguliert« werden soll, dann muß ein vorbild¬ 
liches Ganze, ein bestimmtes Ergebnis vorausgesetzt werden, 
der Vorgang auf dieses Ganze hin gerichtet, d. h. zweckmäßig 
sein.« 

In seiner Rede »Die führenden Ideen in der Physiologie der 
Gegenwart« bemerkt von Tschermack *): »Mit dem Prinzip 
der biologischen Differenzierung und Autonomie kombiniert sich 
das Integrationsprinzip, die Idee der zentralistischen Wechsel¬ 
wirkung oder Korrelation der verschiedenen Teile des Organismus.« 
Als Vermittler einer solchen sieht er in erster Linie das Nerven¬ 
system (Sherrington), sodann die Vorgänge der inneren Se¬ 
kretion an. Eine besondere Äußerung »der biologischen Inte¬ 
gration im Gesamtorganismus« erblickt von T. in den zahlreichen 
Anpassungs- und Regulationserscheinungen. 

In einem Übersichtsartikel »Neuere Forschungen und An¬ 
schauungen über Reflexe und ihre physiologische Bedeutung« 
hat sich von Weizsäcker*) folgendermaßen geäußert: »Daß 
die Reflexe irgendwie Elemente oder Bausteine sensomoto- 
rischer Gesamtfnnktionen sind, diesen Satz kann man 
jetzt unbedenklich an die Spitze stellen. Die gegenwärtige Auf¬ 
gabe ist demnach: Aufstellung der Art und Weise, wie Reflexe 
in normale (oder pathologische) Gesamthandlungen, also letzten 
Endes in die Integralfunktion des intakten Organismus eingebaut 
sind. Damit aber lebt überhaupt wieder das biologische Problem 
der Erklärbarkeit organischen Geschehens, ein Problem von 
höchstem wissenschaftlichen Rang, neu auf: Ist der Reflex in 
dem Sinne die Elementarfunktion der nervösen Substanzen, daß 
man hoffen darf, allein durch Zusammensetzung von Reflexen zu 
jeder beliebigen höheren Funktion aufzusteigen? — Man wird sich 
des Eindrucks nicht ganz erwehren können, daß Sherringtons 
bedeutendes Buch >die integrierende Aktion des Nervensystems« 
in dem Femerstehenden unerfüllte Erwartungen hervorrufen kann. 

1) M. m W. 1913 S. 2328. 

2) Kl. W. 1922 Nr. 46. 



304 


Armin Müller, 


EUnzelfunktionen werdenzusammengesetzt zu komplexen Funktionen 
ja; aber durch Zusammensetzung von Eeflexen zu einer der Tätig¬ 
keit des Gesamtorganismus gleichen Bewegung zu gelangen, 
dies gelingt in der Tat nicht<... »So fruchtbar sich also 
gerade in den Händen des englischen Forschers die Methode er¬ 
wiesen hat, am Enthirnung- oder Bückenmarkspräparat durch 
Zusammensetzung von Einzelreflexen zu komplexen Funktionen 
aufzusteigen, so notwendig ist anderweitig das Verfahren, am 
unversehrten Individuum einen integren Gesamtznstand vorans- 
zusetzen und zu belassen und nun zu sehen, wie hier sich unter 
und innerhalb dieser Voraussetzung der Eeflex verhält.* — »Bis¬ 
her pflegt man den Tatbestand, daß wir auch in dunkler Nacht 
ziemlich störungslos über einen Sturzacker mit seinem unberechen¬ 
baren Niveau gehen und laufen können, eben so zu beschreiben: 
Der Organismus wähle von den zu Gebote stehenden Eeflex- 
mechanismen die in jedem Augenblick zweckdienlichen ans und 
modifiziere ihre Stärke. Anscheinend gelangt die Forschung 
hier nur so weit, zu zeigen, daß in den Eeflexen geeignete Mittel 
zur Durchführung des Bewegungs erfolges vorhanden sind. Den 
Bewegungsplan selbst aber vermag sie aus den allgemeinen Ge¬ 
setzen der Eeflexphysiologie niemals hinreichend aufzubauen.* 
»Immer aber muß jener synthetisch niemals reproduzierbare Ge¬ 
samtzustand des Zentralnervensystems gegeben sein, jener Zu¬ 
stand, der bald als Willkürbewegung, bald als Willkürhaltung, 
bald als willkürliche Spannung oder Erschlaffung, Widerstand 
gegen oder Hingabe an äußere Kräfte, bald mit hellem, bald mit 
unbestimmtem Bewußtsein von Bewegungsform und Bewegungs¬ 
erfolg, oft genug auch ohne jedes nachweisbare Bewußtsein statt¬ 
hat — immer muß dieser originale Gesamtzustand gegeben sein. 
Erst wenn er vorausgesetzt ist, schon von der Natur produziert 
ist, erst dann vermögen wir analytisch das Spiel der gesetz¬ 
mäßigen Eeflexe in ihm, niemals das ungesetzliche Spiel mit diesen 
Eeflexen uns begreiflich zu machen.* 

Dieser kurze Überblick, der besonders Arbeiten der jüngsten 
Vergangenheit berücksichtigte, zeigt unzweifelhaft, daß zahlreiche 
Forscher wohl mehr oder weniger unabhängig voneinander auf 
den verschiedensten Gebieten, oft im bewußten Gegensatz zur 
Tradition, eine grundsätzliche Neuorientierung zum Ganzheits¬ 
problem Vornahmen. Immer mehr hat sich die Erkenntnis Bahn 
gebrochen, daß aus einer mechanischen Verknüpfung der Elemen¬ 
tarbestandteile unmöglich die Eigenschaften des Ganzen abge¬ 
leitet werden können, daß vielmehr aller Synthese im Bereich 



Das Individaalitätsproblein and die Snbordination der Organe. 305 

des Oi^fanischen noch ein spezifisch schöpferisches Moment zn* 
kommt, das ttber den summarischen Effekt der Konstituenten 
hinausweist: Das Ganze geht den Teilen yoran. 

3. Der Begriff der Ganzheit in der Psychologie und 

Psychiatrie. 

Auch auf dem Gebiete der Psychologie ist die ganz grund¬ 
sätzliche Frage nach dem Verhältnis der Teile zum Ganzen 
wieder in Fluß gekommen und hat neuartige Beantwortungen 
erfahren. Nur wegen dieser prinzipiellen Verwandtschaft der 
Fragestellung soll hier ein an und für sich heterogenes Gebiet 
in den Kreis biologischer Betrachtungen hineingezogen werden. 
Es handelt sich hier um das Verhältnis der »physiologischen 
Psychologie« oder Psychophysik, der »Psychologie der Elemente«, 
wie sie Spranger nennt, zu der Strukturpsychologie oder 
Psychologie der Persönlichkeit, wie sie sich besonders unter 
den Händen von Dilthey und seinen Schülern herausgebildet 
hat Von jener ersten, an dem methodischen Ideal der Natur¬ 
wissenschaften des Anorganischen orientierten Psychologie sagt 
Spranger*): »Wie die Physik alle körperlichen Erscheinungen 
aus eindeutigen Elementen in gesetzlichen Verbindungen auf- 
zubanen strebt, so sucht auch die ihr angegliederte Psychologie 
von Elementen ans den Komplex des seelischen Geschehens zu 
begreifen. — Man versucht aus einfachen Empfindungen oder 
aus angeblich scharf abgegrenzten und selbständigen ,Vor- 
stellungen‘ das Seelische anfzubauen.« In Nachahmung der 
naturwissenschaftlichen Methode bediente man sich dabei sogar 
des Bildes von psychischen Atomen (= Bewußtseinspartikelchen). 
Bei Wnndt, dem alles Seelische zu einem prozeßartigen Ge¬ 
schehen wird, treten einfachste Vorgänge an die Stelle ein¬ 
fachster Elemente. Sp. erkennt das Recht dieser zergliedernden 
Methode durchaus an, aber er glaubt, daß die Psychologie noch 
Höheres zu leisten vermag. »Es ist und bleibt etwas anderes, 
ob ich einen komplexen seelischen Vorgang in seine Elemente 
zerlege, oder ob ich ihn als ein Ganzes in weitere sinnvolle 
Zusammenhänge hineinstelle.« »Da zeigt sich die eigentümliche 
Tatsache, daß mit dem bezeichneten Verfahren für das Ver¬ 
ständnis seelischer Vorgänge keineswegs das Wichtigste 
geschehen ist. Niemand zweifelt daran, daß der Dichter, der 
Historiker, der Seelsorger und der Erzieher gute Psychologen 


1) »Lebensformen« 2. Aafl. S. 8 ff. 

Archiv fOr Payohologie. XLViU. 


20 



306 


Armin Müller, 


im landläufigen Sinne sein müssen, aber es ist auffallend, daß 
diejenigen, die auf diesen Gebieten das Höchste geleistet haben, 
oft von einer solchen Psychologie der Elemente nicht das 
mindeste wußten.< »Das geisteswissenschaftliche Denken geht 
also in der Regel nicht bis in die letzten unterscheidbaren Ele¬ 
mente zurück, sondern bleibt in einer höheren Begriffsschicht 
stehen und nimmt den inneren Vorgang gleich als ein sinn- 
bestimmtes Ganzes, das einer geistigen Gesamtsituation angehört 
und von ihm aus seine Bedeutung empfängt« »Überhaupt 
scheint darin die wissenschaftliche Grenze der Psychologie der 
Elemente zu liegen, daß sie den sinnyollen Zusammen¬ 
hang des Seelischen zerstört.« »Wer den Frosch zerschneidet, 
lernt seinen inneren Bau und durch Nachdenken auch die 
physiologische Funktion seiner Organe kennen. Er darf aber 
nicht erwarten, daß er die Teile wieder zusammensetzen und 
daraus einen lebendigen Frosch erzeugen könne. Ebensowenig 
kann man durch Synthese der psychischen Elemente das Seelen¬ 
ganze mit seinem auf die ganze geistige Umgebung bezogenen 
sinnvollen Lebenszusammenhang herausbringen, sondern der 
sinnvolle Zusammenhang ist das Erste, und an ihm erst unter¬ 
scheidet die Analyse jene Elemente, die aber keineswegs den 
Verständnisgrnnd für das Ganze abgeben.« 

Im Hinblick auf das, was Heidenhain unter einer 
»wahrhaft schöpferisch zu nennenden Synthese der Natur« v^- 
steht, ist es lehrreich, sich Wundts Begriff der »schöpferischen 
Synthese« zu vergegenwärtigen. W. beginnt den Aufbau des 
seelischen Geschehens mit den »Elementen«; über die psychischen 
GebUde«, »Komplexe« gelangt er schließlich zu den >seelischen 
Entwicklungen«. W.‘) sagt von dem >Prinzip der Resultanten«, 
an dem das »Prinzip der schöpferischen Synthese« zur Geltung 
kommt: »Es findet seinen Ausdruck in der Tatsache, daß jedes 
psychische Gebilde Eigenschaften zeigt, die zwar, nachdem sie 
gegeben sind, aus den Eigenschaften seiner Elemente begriffen 
werden können, die aber gleichwohl keineswegs als die bloße 
Summe der Eigenschaften jener Elemente anzusehen sind. Ein 
Zusammenhang von Tönen ist nach seinen Yorstellnngs- und 
Gefühlseigenschaften mehr als eine bloße Summe von Einzel¬ 
tönen. Bei den räumlichen und zeitlichen Vorstellungen ist die 
räumliche und zeitliche Ordnung zwar in durchaus gesetzmäßiger 
Weise in dem Zusammenwirken der Elemente begründet, die 

1) »Grundriß der Psychologie«, 1907, S. 898. 



Das Indiyidnalit&tsproblein and die Subordination der Organe. 307 

diese Yorstellimgen bildet; dabei können aber jene Ordnungen 
keinesfalls als Eigenschaften angesehen werden, die den 
Empfindnngselementen selbst bereits inhärieren. Die nativisti- 
schen Theorien, die das voraussetzen, verwickeln sich vielmehr 
in unlösbare Widersprüche und müssen, indem sie nachträgliche 
Veränderungen der ursprünglichen Kaum- und Zeitanschauungen 
infolge bestimmter Erfahmngseinflüsse znlassen, schließlich selbst 
in einem gewissen Umfang eine Neuentstehnng von Eigenschaften 
annehmen. Bei den apperzeptiven Funktionen endlich, den 
Phantasie- und Verstandestätigkeiten, kommt das nämliche 
Prinzip in einer klar bewußten Form zum Ausdruck, da nicht 
nur die durch apperzeptive Synthese verbundenen Bestandteile 
neben der Bedeutung, die sie im isolierten Zustande besitzen, 
eine neue Bedeutung in der durch ihre Verbindung entstehenden 
Gesamtvorstellnng gewinnen, sondern da namentlich auch die 
Gesamtvorstellnng selbst ein neuer psychischer Inhalt ist, der 
zwar durch jene Bestandteile ermöglicht wird, darum aber doch 
in ihnen noch nicht enthalten ist. Dies zeigt sich wieder am 
augenfälligsten an den verwickelteren Erzeugnissen apperzeptiver 
Synthese, wie an dem Kunstwerk, an dem logischen Gedanken- 
zusammenhang.< 

EineVerwandtschaft zu der »Strukturpsychologie« Sprangers 
zeigen auch neueste Strömungen in der Psychiatrie. So erklärt 
Bumke^), daß die experimentelle Psychologie, ohne den Wert 
dieser als solcher zu verkennen, insofern sie sich nur physio¬ 
logischer üntersungsarten bedient, nur bis an die Schwelle der 
Bewußtseinserscheinungen führen kann. Die Assoziationspsycho¬ 
logie oder allgemein »die Psychologie der Elemente< hält er 
für zusammengebrochen. Dem anatomisch eingesteUten Mediziner 
erschien die Zerlegung auch des »Seelischen« für ein Studium 
komplexer seelischer Vorgänge fast selbstverständlich, — eine 
Grundanschauung, die durch die Erfolge der Aphasie- und 
Apraxielehre zunächst scheinbar gestützt wurde. »Die Gehim- 
anatomie und die Aufdeckung physiologischer Mechanismen 
führen uns höchstens wieder in den Vorhof der Psychologie, 
und daß man durch die Erforschung der sogenannten seelischen 
Elemente den Grund für die Errichtung höherer Stockwerke 
des Seelischen legen, ja daß man überhaupt Empfindungen, 
Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und WiUensimpulse aus 
dem Strom des psychischen Erlebens fein säuberlich heraus- 


1) Klin. Wochenscbr. 1922 Nr. 6. 


20* 



308 


Armin Müller, 


kristallisieren könnte, um nachher durch die Synthese dieser 
Einzelelemente das Bewußtsein doch wieder zusammenzusetzen, 
davon ist gar keine Rede. Was bedeutet denn Wundts Auf¬ 
stellung der ,Apperzeption* ? Doch nichts anderes, als daß alle 
Mühen der Assoziationspsychologie vergeblich gewesen sind, und 
daß, wer mit seelischen Elementen arbeitet, schließlich immer 
noch eine wirkliche Seele einführen muß — nur daß man 
dann nicht ,Seele‘, sondern eben ,Apperzeption* zu ihr sagt.« 
Wenn Monakow, dessen Worte Bumke zitiert, sagt: »Daß 
die meisten cerebralen Funktionen nur mit Bezug auf einige 
wenige Komponenten in scharf abgegrenzten Rindenteilen 
repräsentiert sind, in der Hauptsache aber, wenn auch örtlich 
sehr ungleich, in der ganzen Rinde«, so wird man sagen dürfen, 
daß die Bewußtseinsvorgänge, soweit die Tätigkeit nervöser 
Zellelemente für diese in Betracht kommt, in einer bestimmten 
Zuordnung zu »Gemeinschaftshandlungen« dieser Ele¬ 
mente stehen. In diametralem Gegensatz zu allen zellular- 
physiologischen Interpretationen spricht Hoche‘) die Möglich¬ 
keit aus, »daß sich in denselben Struktursystemen mit demselben 
Aufwand von chemischem Umsatz und evtl anatomisch nach¬ 
weisbaren Veränderungen je nach der Form des ablanfenden 
Erregungsvorganges sehr verschiedenartiges psychisches Ge¬ 
schehen abspielen könne«. Er gebraucht ein Bild und »erinnert 
daran, daß man mit einem bestimmten Aufwande von Eraft auf 
einem gegebenen Musikinstrumente mit der gleichen Anzahl 
physikalisch zu bestimmender Schwingungen, nur in anderer 
Anordnung, die inhaltlich verschiedenartigsten Mnsikgestaltnngen 
hervorbringen könne«. Ganz wie Sprang er fordert auch 
Bumke für die Beurteilung der menschlichen Persönlichkeit 
— wenn auch wissenschaftlich geformt und ausgebaut — die 
Psychologie des täglichen Lebens, »die Psychologie der Dichter 
und Geschichtsschreiber, der Diplomaten, Seelsorger und Ärzte«. 
Den ungeheueren Erfolg der Freud sehen Schule schreibt 
Bumke, ohne sich im einzelnen ihren Lehren anzuschließen, 
einerseits der wirklichkeitsfremden Auffassung der offiziellen 
Wissenschaft zu, während andererseits die Freudsche Schule 
als einzige die Richtung vei-trat, »die das Seelische als Ganzes 
zu erfassen suchte«. Endlich heißt es, »wir erwarten für die 
Psychiatrie von der »Psychologie der Elemente« nichts mehr, 
und wir bekennen uns mit Nachdruck zu einer psychologischen 

1) ait, n. Bumke, »Psychologische Vorlesungen«, 1928. 8.83. 



Das Individnalitätsproblem und die Subordination der Organe. 309 


ArbeitsrichtuDg, die die normalen wie die pathologischen Be- 
'wnßtseinserscheinungen nicht mehr zu zerpflücken, sondern als 
Ganzes zn verstehen versucht. 

4. Der Begriff der Ganzheit in der Philosophie (Driesch). 

Im bisherigen Verlauf der Darstellung war grundsätzlich die 
Frage offen geblieben, ob hinsichtlich des Ganzheitproblems nur 
eine methodische Umstellung, ein veränderter Standpunkt der 
Betrachtung, eine bloße »Fiktion« im Sinne Vaihingers vor- 
liegft, oder ob bei zahlreichen Forschern — ausgesprochen oder 
nicht — auch eine Wandlung der natnrphilosophischen An¬ 
schauungen im tieferen Sinne stattgefunden hat. Da der Begriff 
der Ganzheit von Driesch in weitestem Maße vertieft und 
geklärt worden ist, so, daß er zum Zentralbegriff seiner Lehre 
erwachsen konnte, soll hier an seine Grundgedanken, soweit sie 
für die vorliegende Arbeit wichtig sind, kurz erinnert werden. 

Driesch vermeidet die Worte »Zweckmäßigkeit«, »Teleo¬ 
logie«, »Zielstrebigkeit« ihres psychologischen Nebensinnes wegen 
und gebraucht an ihrer Stelle bei der Erörterung von Natur¬ 
vorgängen, wo von Bewußtseinserscheinungen im empirischen 
Sinne gar keine Bede sein kann, den Ausdruck Ganzheit oder 
Ganzheitsbezogenheit, der jeder »Subjektivität« und alles Psycho¬ 
logischen entbehrt. Der Begriff Ganzheit deckt sich mit dem 
Begriff Individualität. Der Begriff Ganzheit oder das korre¬ 
lative Begriffspaar »das Ganze und die Teile« kann nun weder 
abgeleitet, noch definiert werden. Es gehört zu jenen Ur¬ 
bedeutungen oder Urordnungszeichen, wie z. B. »etwas«, »dieses«, 
»nicht«, »Beziehung«, die nnr in der »Schau« ergriffen werden. 
Ganz ist etwas, dem kein Teil genommen werden kann, ohne 
sein logisches Wesen zu zerstören. Der Teil gehört zur logischen 
Wesenskonstitution des Ganzen. In diesem Sinne ist jeder 
Organismus, jedes Artefakt, aber auch ein Gefühl, ein Charakter, 
ganz; nicht aber ist ein Berg oder eine Insel oder ein Stein¬ 
haufen ganz. Für Kant hatte alle Zweckmäßigkeits- oder Ganz¬ 
heitsbetrachtung keinen wirklichen Erkenntniswert; im Gegen¬ 
satz zn den Kategorien der Substanz, Kausalität und Wechsel¬ 
wirkung, die »konstitutiv« für die Erkenntnis sind, hat die 
Zweckbetrachtnng auch im Sinne einer immanenten Teleologie 
nur den Wert einer »regulativen« Idee. Sie bedeutet ein mo¬ 
ralisch-ästhetisches Verhalten, das in der Wissenschaft, wo nur 
kausale Erklärung gilt, kein Existenzrecht hat. Gegenüber dieser 
Versnbjektiviemng der Kategorie Ganzheit oder Individnalität 



310 


Annin MttUer, 


faßt Driesch sie gnmdsätzlich als konstitatiye Kategorie auf, 
die >im Rahmen der Erfahrung als inhaltlich erfüllt geschaut 
wird«, in erster Linie in bezug auf den personalen Organismus. 
Die Kategorie kann Anwendung finden auf bloße Begriffe, aber 
auch auf empirische Sachverhalte und Naturdinge. So unter¬ 
scheidet sich »Begriffs-« von »Sachganzheit«. Alle personalisti- 
sche Biologie oder Psychologie, die von der tatsächlichen 
Ganzheit des physischen Organismus und des seelischen Ge¬ 
schehens überzeugt ist, glaubt nicht nur an Begriffs-, sondern 
an Sachganzheit in bezug auf die betreffenden Objekte. 
Neben die »mechanische« Einzelheitskansalität der unbelebten 
Natur tritt in der organischen Natur die Ganzheitskausalität; 
sie wird repräsentiert durch einen besonderen Werdefaktor, die 
Entelechie. Sie wirkt formbestimmend in jeder Individual¬ 
entwicklung. Doch bestehen auch für die Phylogenie Anzeichen 
einer überpersönlichen Ganzheit, einer echten entelechialen 
Entwicklung. 


5. »Ter8tehende< Biologie. 

Der Begriff des Verstehens, der auf geisteswissenschaftlichem 
Gebiet, in der Psychologie und Psychiatrie neuerdings eine so 
große Rolle spielt, ist in der bisherigen Darstellung mehrfach 
anfgetaucht Er soll in seiner grundsätzlichen Bedeutung auch 
für die Biologie in folgendem erörtert werden. Spranger 
sieht die Grenze der Psychologie der Elemente darin, daß sie 
den sinnvollen Zusammenhang des Seelischen zerstört. 
Es ist aber eine Eigentümlichkeit der seelischen Totalität, daß 
sie einen Sinnzusammenhang darstellt*). »Sinn ist immer ein 
Wertbezogenes.« Ein Funktionszusammenhang ist sinnvoll, 
»wenn alle in ihm enthaltenen Teil Vorgänge aus der Beziehung 
auf wertvolle Gesamtleistungen verständlich werden«. »Eine 
Maschine z. B. kann sinnvoll heißen, weil alle ihre Einzel¬ 
leistungen zu einem Gesamteffekt Zusammenwirken, der irgend¬ 
wie Wert hat. Ein Organismus ist sinnvoll, weil aUe seine 
Eigenfunktionen auf die Erhaltung seines Bestandes unter ge¬ 
gebenen Lebensbedingungen eingestellt sind, und weil diese 
Selbsterhaltung als für ihn wertvoll beurteilt werden kann.« 
Der Akt des Verstehens beruht nun darauf, daß die individu¬ 
elle sinnerzeugende und sinnerlebende Seele über die Grenzen 
ihrer eigenen Individualität hinüberreicht und sich in den ob- 


1) 1. c. S. 13 ff. 



Du Individaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 311 

jektivierten Sinn z. B. eines Kunstwerks, eines technischen 
Produktes hineinlebt. Es entsteht in ihr >ein entsprechender, 
d. h. dem Sinne nach gleichgerichteter geistiger Akt<. 

Die Bedeutung dieses Verstehens durch Sichhineinyersetzen 
in Seelisches im Gegensatz zu bloß kausaler fh'klärung hebt 
Jaspers^) für die Psychopathologie nachdrücklich hervor. Die 
Naturwissenschaft, sagt er, kennnt nur kausale Zusammenhänge, 
ihr Ideal ist der Ausdruck von Kausalgesetzen in mathemati¬ 
schen Kansalgleichnngen. Diese quantifizierende Betrachtung 
hat auch für die Psychopathologie ihre Bedeutung. Auch sie 
forscht nach kausalen Zusammenhängen (z. B. keine Paralyse 
ohne Syphilis). Außerdem gibt es aber für die Psychologie 
noch ein ganz anderes Erkennen, ein »genetisches Verstehen«, 
das eine ganz andere Art von Zusammenhängen erfaßt. Seelisches 
»geht« ans Seelischem in einer für uns verständlichen Weise 
»hervor«. Der Angegriffene wird zornig und macht Abwehr- 
handlnngen, der Betrogene wird mißtrauisch usw. Dieses Ans- 
einanderhervorgehen des Seelischen aus Seelischem verstehen 
wir genetisch. 

Bis ist unverkennbar, daß diese Art des Verstehens mit dem 
Aufkommen jener Bestrebungen, die den Organismus in seiner 
Gestalt und seiner B^inktion wieder als Totalität, als einen 
B'nnktions Zusammenhang auf fassen, auch eine erneute Legi¬ 
timierung für die Biologie gewonnen hat. Das geht z. B. be¬ 
sonders deutlich hervor aus Aschoffs Kampf um eine »organis- 
mische< oder »biologische« Auffassung der Entzündung, deren 
Berechtigfung er z. B. neben einer >Entzündungstheorie« (Attrak¬ 
tionstheorie, primäre Gefäßwandschädigung, Reizung der Gefä߬ 
nerven usw.) verficht. »Wenn etwas reguliert werden soll, dann 
muß ein vorbildliches Ganze, ein bestimmtes Ergebnis voraus¬ 
gesetzt werden, der Vorgang auf dieses Ganze hin gerichtet, 
d. h. zweckmäßig sein.« Da nun nach dem Grunddogma der 
modernen Biologie der >Sinn« alles Lebendigen in der »Er¬ 
haltung« liegt, werden alle Regulations-, aber auch alle Ent¬ 
wicklungsvorgänge von einer Tendenz zur Selbst- oder Art¬ 
erhaltung oder zur »Dauerfähigkeit« (Roux) aus verstanden. 
Wie die Abwehrhandlung des Angegriffenen genetisch verstanden 
wird, so wird die entzündliche Abwehrreaktion des infizierten 
Organismus in ihrer biologischen Bedeutung erfaßt: Beides mal 
liegt eine Reaktion eines lebendigen Ganzen vor — wenn auch 


1) »Allgemeine Psychopathologie« 1913, S. 145 ff. 



312 


Armin Müller, 


Ton außerordentlich verschiedenem VoUkommenheitsgrade der 
Individnalisiertheit Der Wert einer solchen verstehenden 
Biologie, die sich anf den Standpnnkt einer immanenten Teleo> 
logie stellt, wird dadnrch nicht geschmälert, daß sehr viele bio¬ 
logische Vorgänge dieser snpponierten Tendenz nnr sehr nnvoll¬ 
kommen entsprechen nnd einer streng rationellen Kritik die 
Möglichkeit zn zahlreichen Einwendnngen erlanben. Es ist 
selbstverständlich, daß biologische Vorgänge anf dem Stadinm 
der Unreife, der Seneszenz, nnter der übermächtigen Einwirknng 
änßerlicher Schädlichkeiten, z. B. Abwehrvorgänge bei der in¬ 
fektiösen Entzündnng nnter dem modifizierenden Einflnsse von 
Parasiten im Sinne der fremddienlichen Zweckmäßigkeit*) sehr 
nnvollkommen verlaufen. Aber auch von Hans aus sind die 
verschiedensten Grade der Anpassung zu unterscheiden. Erinnert 
sei an Helmholtz’ Urteil über die Unvollkommenheit des op¬ 
tischen Apparates des menschlichen Auges vom Standpunkt der 
Optik aus. Kuczynski^ hat den Organismus im Hinblick 
auf den tatsächlichen Effekt der entzündlichen Reaktion «einen 
armseligen Gegenspieler der Wirklichkeit« genannt, der die 
Fülle des Tatsächlichen nur sehr unvollkommen erlebt, sie nicht 
in seinen körperlichen Reaktionen in ihrer Differenziertheit 
auszudrücken vermag. Komplizierte Instinkthandlungen (z. B. 
Lähmung von Beutetieren durch Raubwespen) werden bei ver¬ 
wandten Arten auf den verschiedensten Stufen der Ausbildung 
angetroffen. Bei der Ontogenese werden auf einzelnen Etappen 
der Entwicklung oft merkwürdig zäh aber durchaus nicht zweck¬ 
mäßig ancestrale Formen vorübergehend aufgebant und wieder 
zerstört. Erwerbungen des einen Geschlechts können in dui’ch- 
aus unzweckmäßiger Weise auch auf das andere Geschlecht 
übertragen werden. Meisenheimer®) spricht von dem »Wider¬ 
sinn« einer Übertragung der Mammardrüsenanlage als eines 
spezifisch weiblichen Merkmales auch auf das männliche Ge¬ 
schlecht und einer »noch sehr viel widersinnigeren Erscheinung« 
ähnlicher Art, der Wiederkehr des spezifisch männlichen Penis 
bei dem Weibchen als Clitoris, die bei manchen Formen durch¬ 
aus die Form und Größe des männlichen Gliedes erreichen kann. 
Das alles spricht aber nicht gegen die prinzipielle Berechti- 


1) Yergl. meine Arbeit »Die sog. fremddienliche Zweckmäßigkeit nnd 
die menschliche Pathologie“, Virchows Arch. Bd. 244. 

2) Virchows Arch. Bd. 284 S. 300. 

8) »Geschlecht und Geschlechter« Bd. I (1921) S. 741 ff. 



Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 313 


gung einer rationalen verstehenden Biologie; erst von ihrem Stand* 
pnnkt ans erhalten Begriffe wie Jugend, Alter, Reife, Normen, 
Störung, Krankheit, Widersinnigkeit ihren über die bloß mensch¬ 
liche Zwecksetznng hinausgehenden objektiven Sinngehalt. Es 
gibt auch in der Biologie objektiv begründete Werturteile, 
Damit erhebt sich durchaus nicht die Gefahr einer zu engen 
anthropomorphistischen Betrachtung, und das Arbeiten mit dem 
Begriffe Sinn oder Zweck bedeutet noch lange nicht eine Ein¬ 
führung von seelischen Faktoren da, wo von Bewußtseinsvor¬ 
gängen gar keine Rede sein kann. Wohl aber bringt eine ver¬ 
stehende, nach Sinnzusammenhängen fragende Biologie alle Ob¬ 
jekte der lebendigen Natur in größere seelische Nähe als eine 
nur kausalmechanistische Betrachtung. Ihre prinzipielle Be¬ 
rechtigung leitet sie her aus der fundamentalen Erkenntnis, 
daß alles Seelische gleich allem Lebendigen überhaupt im Gegen¬ 
satz zur unbelebten Natur nicht ein Snmmenhaftes, nicht den 
Effekt eines »kumulativen« (Driesch) Geschehens, sondern 
einen Sinnzusammenhang, ein Ganzes darstellt, in dem ein jedes 
— sofern es sinnvoll ist — wechselseitig Mittel und Zweck ist. 
Nur Verwandtes kann Verwandtes »verstehen«. 


6. Die psychologischen Voraussetzungen des mechanistischen 

Denkens. 

Betrachtet man jene in der gesamten Biologie nachweisbare 
Hinwendung zu einer organischen Auffassung der Lebensvor¬ 
gänge in größerem geistesgeschichtlichen Zusammenhang, so 
zeigt sich, daß die Lehren von Schwann und Schleiden, 
von Virchow, Verworn nsw. ungefähr in die Periode des 
wissenschaftlichen Materialismus fallen, und daß die entgegen¬ 
gesetzten Anschauungen nicht nur in zeitlicher Nähe, sondern 
oft auch in einer gewissen inneren Verwandtschaft mit der 
Reaktion gegen die materialistische Geistesströmung überhaupt 
entstanden. Von jeher hat auf die grundsätzliche Fragestellung 
und Methodik der Biologie der Typus der Weltanschauung 
(Dilthey) der Forscher oft unbewußt entscheidenden Einfluß 
ausgeübt. Hier soll versucht werden, der Psychologie eines 
Gmnddogmas der modernen Biologie nachzugehen, dessen Ge¬ 
burt mit der quantiflzierenden Naturbetrachtung überhaupt zu¬ 
sammenfällt. Es gilt als unbedingtes Ideal, auch alles biologi¬ 
sche Geschehen als Resultante streng mathematischer Gesetzlich¬ 
keiten nach dem großen Vorbild der Physik und Chemie dar- 



314 


Armin Mttller, 


zustellen; und die ganze Fülle bisher quantitativ nicht redu¬ 
zierbarer Qualitäten gilt nur als Ausdruck des unvollkommenen 
Standes der Forschung. Ihr Werk fände seine Krönung in der 
Aufstellung der Laplaceschen Weltformel. Das Vorhandensein 
objektiver^Qualitäten, »Formenc, »Ganzheiten«, »Sinneinheiten«, 
die auf ihre Komponenten nicht zurückführbare neue Merkmde 
besitzen, wird nicht anerkannt. In besonders schroffer Form 
hat in jüngster Zeit der Pathologe Kicker*) diese extrem¬ 
mechanistische Auffassung vertreten. Auch er bekämpft die 
Zellularpathologie, aber nicht im Sinne Huecks oder 
Marchands, der gegenüber der zellnlarpathologischen Auf¬ 
fassung »an der Einheitlichkeit des Organismus, also auch an 
dem einheitlichen Leben desselben festhält« Kicker hält 
den Begriff des Lebens für naturwissenschaftlich unbrauchbar. 
Er gebraucht daher Leben nur im Laiensinne als Gegensatz zu 
Tod. Da nun die Zellulartheorie in der Tätigkeit ein Charakte¬ 
ristikum des Lebens erblickt, von aktivem oder passivem Ver¬ 
halten spricht, sieht K. in Virchows Lehre einen ausge¬ 
sprochenen Anthropomorphismus mit einem »starken, philosophi¬ 
schen, metaphysischen Element«. K. nennt die Virchowsche 
Zelle, das angebliche Individuum, einen Homunculns. Er verwirft 
jede immanente Teleologie, die die ZeUe als ein nach Zwecken 
handelndes Individuum auffaßt. Die Aufgabe der Naturwissen¬ 
schaft ist die rein kausale Verknüpfung der Beobachtung, sie 
ist »von der philosophischen, wertenden Behandlung der physio- 
und pathologischen Vorgänge als einem Teil der Naturphilo¬ 
sophie (ich nenne ihn Biologie)« streng zu trennen. — Eine 
lebensfremdere, jede lebendige Form und Gestaltung zerstörende, 
sogen. Objektivität ist nicht denkbar. Hier gilt jede Individu¬ 
alität wissenschaftlich als nicht existent. Selbst der Begriff 
des Teilkörpersystems Zelle als Zentrum einer lebendigen Tätig¬ 
keit wird als unwissenschaftlich »mythologisch, anthropomor- 
phistisch« verworfen; er hat nur Geltung als Hilfsbegriff, der 
im letzten Sinne gegenstandslos ist und nur der Leistung des 
Denkens und seiner zusammenfassenden Tätigkeit sinnlicher 
Elementarerkenntnisse verdankt wird. Es ist im Grunde der 
Streit des Nominalismus in modernem Gewände. — Goethe 
sagt: »Der Hauptbegriff, welcher, wie mich dünkt, bei jeder 
Betrachtung eines lebendigen Wesens zum Grunde liegen muß, 

1) »Grundlinien einer Logik der Physiologie als reiner Naturwissen¬ 
schaft« 1912. Ferner Virchows Arch. Bd. 237. 

2) Virchow Arch. Bd. 237. 



Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 315 

von dem man nicht abweichen darf, ist, daß nichts Mechanisches, 
gleichsam yon außen gebauet und hervorgebracht werde, ob* 
gleich Teile nach außen zu wirken und von außen Bestimmung 
annehmen.« Er bekämpft mit Entschiedenheit eine Lehre, die 
>dasjenige, was höher als die Natur, oder als höhere Natur in 
der Natur erscheint, zur materiellen schweren zwar bewegten, 
aber doch richtungs- und gestaltlosen Natur verwandelt, und 
dadurch recht viel gewonnen zu haben glaubt«. Der psycho¬ 
logischen Motivation, die zu dieser eigentümlichen, >das Leben 
des Lebens« (Nietzsche) zerstörenden Auffassung geführt hat, 
ist besonders Dilthey in seiner genial sich einfühlenden, ver¬ 
stehenden Art nachgegangen. Ich folge hier in der Hauptsache 
der Darstellung Max Sch eie rs*). Wie oben schon angedeutet, 
hatte Dilthey — und nach ihm sein Schüler Spranger — 
die Grenzen einer »naturwissenschaftlichen Psychologie« fest¬ 
gelegt und statt ihrer als Grundlage der Geisteswissenschaften 
eine verstehende, den Motivationszusammenhängen und Erlebnis¬ 
einheiten folgende Psychologie gefordert. Daß jene mecha¬ 
nistische Auffassung des seelischen Geschehens nur eine Teil¬ 
ansicht des mechanischen Weltbildes überhaupt darstellt, das 
seit der Renaissance für die verschiedensten Eulturzusammen- 
hänge maßgebend wurde, sucht Dilthey nachzuweisen. Einer 
Psychologie, die nach bloßen »Assoziationsgesetzen« ohne die 
zentrale Bindekraft des »Ich« den Wiederaufbau der in ein 
»Bündel« von Vorstellungen und Trieben zerpflückten Seele 
versuchte, entsprach die mechanistische Naturansicht der Orga¬ 
nismen. »An Stelle der ,Formen‘ — eine Idee, der die scho¬ 
lastische Weltauffassung auch die Seele (forma corporeitatis) 
und die geseUschaftUche Wirklichkeit (in der organischen 
ständischen Staatsanffassung) unterordnete — traten gesetzliche 
Beziehungen zwischen möglichst qualitätslos gedachten pnnktu- 
ellen Realitäten (Atomen, Empflndungen), während aller Anschein 
von Formeinheit in der Natur, auch der Formeinheit des ,Organis- 
mns* als ein Werk, eine Leistung des Denkens angesehen 
wurde, welches die sinnlichen Bestände kraft seiner Tätigkeit 
zu Einheiten zusammenfaßt (Nominalismus der Begriffe). Also 
wich ,Vemunft‘, ,FormS ja ,lebendige Einheit' zunächst aus 
dem All der Natur« (Scheler*). Inwieweit auch die »Ver¬ 
tragsidee« vom Staate sowie die liberalistischen Lehren der 

1) »Abhandlangen and Aofs&tze« Bd. ü: »Versache einer Philosophie 
des Lebens«. 

2) L c. S. 190. 



316 


Armin Müller, 


klassischen Nationalökonomie yom freien Spiel der Kräfte und 
der gottgewollten natürlichen Harmonie der Interessen ohne 
regulierende Eingriffe übergeordneter Mächte strukturpsycho- 
logisch zu jenem Weltbild gehören, kann hier nicht weiter ver¬ 
folgt werden. Schon Dilthey hatte den psychologischen Zu¬ 
sammenhang dieser mechanischen Ansicht von der Natur der 
Organismen wie besonders des seelischen Geschehens und dem 
ungeheuren Betätigungsdrange des modernen Menschen, der sein 
Weltbild so formt, daß ihm »die möglichen Angriffspunkte zu 
Bearbeitung und Umformung des Seins« gegeben werden, er¬ 
kannt. Für die Seele sucht er in möglichster Objektivierung 
»ein solches Bild zu gewinnen, das diese Seele durch die Mittel 
der Disziplin, der Erziehung, der staatlichen Tätigkeit und der 
Politik in analoger Weise beherrschbar mache, wie die 
mechanische Naturansicht die Natur«. Wird diese zunächst nur 
methodische Auffassung dogmatisiert, so entsteht jenes rein 
mechanische Weltbild, von dem Goethe sagte^): »Es kam 
uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe 
hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor 
einem Gespenste schauderten«. Es ist diametral entgegengesetzt 
der Anschauung eines kontemplativeren, vielleicht weniger aktiven 
Menschentypus, der sich dem Sinngehalt des Gegebenen, der 
Formenwelt der Dinge anschauend, verstehend, hinzugeben ver¬ 
mag. — Für die Biologie ergibt sich hieraus zunächst die Ein¬ 
sicht, daß bei der denkenden Bearbeitung des empirisch Er¬ 
mittelten und bei der mechanischen oder organischen Konzeption 
des lebendigen Geschehens von vornherein eine gewisse »per¬ 
sönliche Gleichung« mit im Spiele ist, die nicht nur der Erlebnis¬ 
struktur des Forschers, sondern auch ganzer Kulturperioden 
ihren Ursprung verdanken kann. Über den Erkenntniswert 
einer mechanischen oder organischen Naturbetrachtung ist damit 
noch gar nichts ausgemacht Wird aber von vornherein der 
mechanische Standpunkt über seine methodische Bedeutung hin¬ 
aus als der wissenschaftlich letzthin entscheidende zum Dogma 
erhoben, dann läuft die Forschung Gefahr, sich a priori evtl, 
weiter Erkenntnismöglichkeiten zu verschließen, die »Qualitäten« 
betreffen könnten, die einer ganz anderen Seins- oder Ge¬ 
schehenssphäre angehören als die Prozesse des Weltbilds der 
Physik und Chemie. — Eucken*) sagt hierzu: »Am Mechanismus 

1) Dichtung und Wahrheit Buch XI. 

2) »Geistige Störungen der Gegenwart«, 1913, 8. 147. 



Das Individaalitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 317 

scheint verfehlt, daß er die Welt wie ein gegebenes und ge¬ 
schlossenes System behandelt, nicht als etwas in Fluß Befind¬ 
liches, daß er daher alle Bewegung yon innen her, sowie alle 
Möglichkeit eines wesentlichen Fortschritts leugnet, daß er den 
Verbindungen der Elemente nichts anderes zuschreiben will, als 
was jedem einzelnen zukommt, daß seine Erklärungen den Ele¬ 
menten beizulegen pfiegen, was ihr Zusammensein aufweist, daß 
er nicht genügend beachtet, wie die genauere Erkenntnis des 
Lebensprozesses immer mehr die vermeintliche Isolierung der 
Elemente anfhebt.« — Goethe^) sagt einmal: >Was ist auch 
im Grunde aller Verkehr mit der Natur, wenn wir auf analy¬ 
tischem Wege bloß mit einzelnen materiellen Teilen uns zu 
schaffen machen nnd wir nicht das Atmen des Geistes empfinden, 
der jedem Teile die Richtung vorschreibt und jede Aus¬ 
schweifung durch ein inwohnendes Gesetz bändigt oder sanktio¬ 
niert« In der »Bildung und Umbildung organischer Naturen« 
heißt es: »Diese trennenden Bemühungen, immer und immer 
fortgesetzt, bringen auch manchen Nachteil hervor. Das Lebendige 
ist zwar in Elemente zerlegt, aber man kann es aus diesem 
nicht wieder znsammenstellen und beleben. Dieses gilt schon 
von vielen anorganischen, geschweige von organischen Körpern. 
Es hat sich daher auch in den wissenschaftlichen Menschen zu 
allen Zeiten ein Trieb hervorgetan, die lebendigen Bildungen 
als solche zu erkennen, ihre äußeren sichtbaren, greiflichen 
Teile im Zusammenhänge zu erfassen, sie als Andeutungen des 
Innern anfznnehmen nnd so das Ganze in der Anschauung ge¬ 
wissermaßen zu beherrschen. Wie nah dieses wissenschaftliche 
Verlangen mit dem Kunst- nnd Nachahmungstriebe Zusammen¬ 
hänge, braucht wohl nicht umständlich ausgeführt zu werden.« 


7. Der Begriff der Ganzheit nnd die Snbordination 

der Organe. 

Die hier zitierten Anschauungen Goethes deckten sich weit¬ 
gehend mit den Grundüberzeugungen der deutschen Naturphil¬ 
sophie. Die Idee vom organischen Funktionszusammenhang fand 
in der deutschen wie auch französischen idealistischen Morpho¬ 
logie ihren Ausdruck in der Lehre vom »einheitlichen Bauplan«, der 
jedem Lebewesen zugrunde liegt. Zu diesem Gedanken der Ganz¬ 
heit gesellte sich als weiteres sehr wesentliches Moment die Vor- 


1) Qespr&che mit Eckermann, Insel-Ausgabe, S. 691. 



318 


Amin Hüller, 


Stellung von der Snbordination der Teile. Der Ordnnngsbegriff 
im Fnnktionsznsammenhang der Teile des Zentralnervensystems 
ist hente Gemeingnt. Der Begriff eines über- nnd nntergeordneten 
Zentmms, eines obersten Kegnlationszentmms ist allgemein 
länfig. Inwiefern dieser Snbordinationsbegriff anßerhalb der 
nervösen Fnnktionen anch anf das Verhältnis der allgemeinen 
Gmndfnnktionen des Körpers znr Zeit der Natnrphilosophie an¬ 
gewandt wnrde, soll nnnmehr dargelegt werden. 

In erster Linie sei Kielmeyer genannt, der »tiefsinnige 
nnd geniale Physiologe« wie ihn A. von Hnmboldt nannte. 
In seiner Bede »Über die Verhältnisse der organischen Kräfte 
nntereinander in der Beihe der verschiedenen Organisationen« 
(1793), die bei ihrem Erscheinen ein großes Anf sehen in der 
wissenschaftlichen Welt erregte, hat er in programmatischer 
Weise seine Gmndanschannngen entwickelt Die drei Hanpt- 
fnnktionen des Lebensprozesses sind Empfindnng, Bewegnng so¬ 
wie Selbst- nnd Arterhaltnng; nnter letzteren beiden wird Er¬ 
nährung, Wachstum und Fortpflanzung verstanden. Ihnen ent¬ 
sprechen die Grnndkräfte der »Sensibilität«, das Vorstellungs¬ 
vermögen, ferner die »Irritabilität«, das Vermögen, anf Beize mit 
Muskelkontraktionen zu reagieren, schließlich die »Beprodnktions- 
kraft«, die Fähigkeit, »sich selbst ähnliche Wesen teilweise oder 
im ganzen nach- nnd auszubilden«. Letztere ist die allen Lebe¬ 
wesen gemeinsame Grundkraft, ans der alles Leben überhaupt 
ersteht, und die selbst aus der anorganischen Natur hervorgeht 
»Sekretions-« und »Propulsionskraft« können hier als unwesentlich 
übergangen werden. Ganz im Geiste der damaligen Naturphilo¬ 
sophie ist Kielmeyer von der Idee der Einheit des Organismus 
durchdrungen. Er glaubt daher, daß »auf eine gemeinschaftliche 
Ursache dieser Kräfte gefolgert werden kann«, daß ihnen »eine 
einige Kraft« zugrunde liegt, »die hier wie das Licht in ver¬ 
schiedene Strahlen gespalten erscheint nnd deren Strahlen dort 
in unendlich verschiedene Verhältnisse gemischt werden«. Die 
Kräfte müssen aber noch getrennt behandelt werden, »solange 
die Unterscheidung der Klassen durch einen höheren Wiz nicht 
aufgehoben und in Ähnlichkeiten verkehrt sind«. Als Maßstab, 
nach dem das Verhältnis der Kräfte in den einzelnen Organismen 
gemessen wird, gelten überwiegend quantitative Eigenschaften: 
»Zahl- und Häufigkeit der Wirkungen, . . . Mannigfaltigkeit 
derselben ... Permanenz der Wirkungen«. Die Kräfte sind nun 
im Organismenreich in durchaus ungleichem Maße verteilt, so 
daß der Zunahme auf der einen eine Abnahme anf der anderen 



Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 319 

Seite entspricht. Die Verschiedenheit der Kräfteverteilung be¬ 
dingt die Verschiedenheit der Organisation. Die stufenweise Zu¬ 
oder Abnahme der Kräfte macht die Mannigfaltigkeit der Orga¬ 
nismen aus. Die Kräfte selbst verhalten sich zueinander wie 
entgegengesetzte Größen. Es ergibt sich folgender Plan 
der Natur für die Abänderungen der Verhältnisse dieser Kräfte: 
>Die Empfindungstätigkeit (Sensibilität) nimmt vom Menschen 
abwärts immer mehr ab und wird in der Reihe der Organisationen 
allmählich durch Reizbarkeit (Irritabilität) und Reproduktionskraft 
verdrängt, und endlich weicht auch Irritabilität der letzteren; 
je mehr die eine erhöht ist, desto weniger ist es die andere, und am 
wenigsten vertragen sich Sensibilität und Reproduktions¬ 
kraft zusammen.« Die Verteilung in der anfsteigenden Orga¬ 
nismenreihe wiederholt sich auch in der Ontogenese des Indi¬ 
viduums : Anfangs regt sich nur die Reproduktionskraft (im Sinne 
des Wachstums), dann hebt sich auch die Irritabilität, »erst 
späterhin schließt sich ein Sinn nach dem anderen ... auf«. 
Zusammenfassend sagt Kuno Fischer^): »Der Grundgedanke 
Kielmeyers, der in die Naturphilosophie eingeht und in deren 
Anlage die vollste Empfänglichkeit finden mußte, ist die Idee 
der Entwicklung, die aus der anorganischen Natur sich zur 
organischen erhebt und durch das Reich der Organisationen 
stufenmäßig und stetig fortschreitet zur Erzeugung des Geistes. 
Er konstruiert den organischen Entwicklungsgang aus dem Be¬ 
griff der organischen Kräfte, aus dem Gesetz der Verteilung, ans 
der Natur ihres Gegensatzes, wonach die Kraft in der einen 
Erscheinungsform in demselben Maße verschwindet, als sie in 
der anderen hervortritt und sich ausbreitet. Die Art seiner 
Konstruktion ist bedingt durch die dynamische Vorstellungs¬ 
weise. Weiter heißt es: »Diese von der Idee der Entwicklung 
im großen, von der Vorstellung der Natur als der Entwick¬ 
lungsgeschichte des Geistes ganz erfüllte Weltanschauung 
war die Naturphilosophie.« 

Diese Grundgedanken Kielmeyers sind von Schelling 
in sein eigenes System ziemlich unverändert übernommen worden, 
imd den die organische Natur betreffenden Teil desselben hat 
er in enger Anlehnung an Kielmeyer ansgestaltet. Windel- 
band*) gibt hiervon folgende Darstellung: »Bei den niederen 
Organismen überwiegt die Reproduktion nicht nur in der un- 


1) Bd. Schelling S. 846. 

2) >Ge8chichte der neueren Philosophie« 1911 Bd. II S. 256. 



320 


Armin Hüller, 


geheuren Masse der Vermelirang, sondern anch darin, daß das 
einzelne Individuum fast nichts anderes als ein Dnrchg^angs- 
punkt in der Kontinuität der Gattung ist, und daß seine selb* 
ständige Funktion und noch mehr seine Empfindungsfähigkeit 
von der allergeringsten Ausdehnung ist. In dem Stufenreich 
der Organisation kehrt sich dies Verhältnis allmählich um; die 
Keproduktion nimmt immer mehr ab, sowohl hinsichtlich ihrer 
Masse, als auch hinsichtlich ihrer Bedeutung, welche sie im 
Leben des Individuum einnimmt, dagegen wächst um so mehr die 
Verschiedenheit in der Beaktion auf äußere Einflüsse, und die 
Fähigkeit der spezifischen Reaktion auf spezifische Beize gipfelt 
endlich in der bewußten Empfindung. In den höchsten Organis¬ 
men überwiegt deren Sensibilität derartig, daß die beiden anderen 
Funktionen untergeordneterscheinen.« — >Es ist eine Organi¬ 
sation, die durch alle diese Stufen herab allmählich bis in die 
Pflanze sich verliert, und eine ununterbrochen wirkende Ur¬ 
sache, die von der Sensibilität des ersten Tieres an bis in die 
Beproduktionskraft der letzten Pflanze sich verliert.< ... 
>Verfolgen wir diese Stufenreihe aufwärts, so steigt die Sensi¬ 
bilität, bis sie ihr Maximum erreicht, und nur auf dem Gipfel 
aller Organisation tritt sie in absoluter Unabhängigkeit von den 
untergeordneten Kräften als Beherrscherin des ganzen Organis¬ 
mus hervor^).« — Während bei Kielmeyer das Kräftever¬ 
hältnis vorwiegend quantitativ bestimmt wird, tritt bei Schelling 
ein prinzipiell neues Moment hinzu: es wird die »Bedeutung« 
der jeweiligen Kräfte für das ganze Individuum bestinunt und 
hieraus ein Subordinationsverhältnis, eine »Gradation« der Kräfte 
konstruiert. 

Der Gedanke der Subordination, der n. a. durch Leibniz’ 
Lehre von der Zentralmonade und passiveren niederen Monaden 
bereits der Aufklärung geläufig war, ist auch in Goethes 
»Bildung und Umbildung organischer Naturen« ausgesprochen: 
»Je unvollkommener das Geschöpf ist, desto mehr sind diese 
Teile einander gleich oder ähnlich und desto mehr gleichen sie 
dem Ganzen. Je vollkommener das Geschöpf wird, desto un¬ 
ähnlicher werden die Teile einander ... Je ähnlicher die Teile 
einander sind, desto weniger sind sie einander subordiniert Die 
Subordination der Teile deutet auf ein vollkommeneres Geschöpf.« 

Dieser Gedanke der Subordination, der die deutsche Natur¬ 
philosophie ganz besonders erfüllte, wurde von G. Cuvier zu 

1) zit. n. K. Fischer, Schelling: S. 420. 



Du Individaftlitfttsproblem and die Sobordination der Organe. 321 

frachtbarer Anwendung gebracht. Cuyier hatte mit Eiei- 
meyer als dessen Schüler in Stuttgart vor seiner Übersiedlung 
nach Paris längere Zeit in enger Verbindung gestanden. Un¬ 
verkennbar besteht eine innere Verwandtschaft zwischen Kiel- 
meyers Lehre von dem wechselseitigen Verhältnis der Gmnd- 
kräfte und Cuviers Lehre der Korrelation der Formen, nach 
der jeder Teil des Körpers nach gesetzmäßigem Verhältnis zur 
Gesamtleistung des Körpers beiträgt, derart, daß kein Teil sich 
verändern kann, ohne daß andere auch mit verändert würden *). 
Das gleiche gilt für Geoffroy de St. Hilaires Gesetz des 
Gleichgewichts der Orgene (»balancement des organes<). Doch 
insofern geht Cu vier über die Kiel meyer sehen Gedanken 
hinaus, als bei ihm, wie bei Schelling, die Funktionen je 
nach dem Grade von Einfluß, den sie auf den Gesamtorganismus 
ausüben, in eine besondere Ordnungsbeziehnng treten. Flon- 
rens (Analyse raisonn^e des traveaux de G. Cu vier*) sagt 
bei der Darstellung von Cuviers rationeller Methode für eine 
Gmndeinteilung der Tiere: »Un etre organisö est un tout: ses 
differentes parties ont donc entre eiles des rapports nöcessaires. 
Or, plus une partie est importante, c’est-ä-dire essentielle, par 
l’ordre de ses fonctions, plus ses modifleations en entrainent de 
correspondantes dans toutes les autres. Tout consiste donc ä 
connaitre l’importance relative des parties, et ä les snb- 
ordonner les unes aux autres dans la möthode comme elles 
le sont dans l’organisation elle-meme. C’est lä le principe 
rationnel de la möthode.« Besonders bemerkenswert ist, 
daß diese Subordination als ein konstitutives Moment in dem 
Organismus selbst gesucht wird, und nicht bloß als eine sub¬ 
jektive Zutat logischer Reflexion aufgefaßt wird. »Es kommt 
jetzt darauf an«, sagt Cuvier im R6gne animal,*) »zu wissen, 
welches bei den Tieren die Charaktere vom größten Gewicht 
sind, um daraus die Basis ihrer Grundeinteilung zu bilden. Es 
ist klar, daß es die sein müssen, welche man von den tierischen 
Funktionen, nämlich denen der Bewegung und der Empflndnng, 
entlehnt, denn nicht nur machen diese das Wesen eines Tieres 
ans, sondern sie bestimmen gewissermaßen auch den Grad der 
Animalität.« So wurde die Form des Nervensystems, als »Mittel¬ 
punkt der animalischen Funktionen«, als »caract^re dominateur« 


1) 8 . hierzu Rh dl 1. e. I S. 312. 

2) 1841, S. 124. 

8) Bd. I S. 29 (Deutsche Übers. 1831). 

ArobiT tOr Psychologie. XLViU. 


21 



322 


Amin Müller, 


in erster Linie entscheidend für die Abgrenzung der großen 
Hanptpmppen des Tierreichs. Vom Nervensystem heißt es,—soweit 
es überhaupt in deutlicher Ausprägung vorhanden ist^): >Le 
Systeme nerveux est le m^me dans chaque forme; or, le Systeme 
nerveux est au fond tout ranimal; les autres syst^mes ne sont 
lä que pour le servir ou pour l’entretenir; il n’est donc pas 
6tonnant que se soit d’apr^s lui qu’ils se r^glent.« An zweiter 
Stelle in der Bangordnung der Organe steht »das Herz und die 
Organe der Zirkulation, eine Art von Mittelpunkt für die 
vegetativen Organe, wie das Gehirn und der Stamm des Nerven* 
Systems für die animalischen’)«. Erst an dritter Stelle stehen 
die Verdaunngsorgane, die der Erhaltung des Lebens dienen, 
während die Generatiousorgane überhaupt keine Erwähnung 
finden. »Diese Beziehung der allgemeinen Formen, welche aus 
der Anordnung der Bewegungsorgane, der Verteilung der Nerven- 
massen und der Energie des Zirknlationssystems hervoi^eht, 
muß daher den Hauptabschnitten, die man im Tierreich zu machen 
hat, zur Basis dienen.« Wie im einzelnen die Anwendung dieses Prin* 
zips der Subordination der Charaktere auf die Systematik erfolgt, 
kann hier nicht weiter erwähnt werden. Rädl*) sagt von Cuviers 
Lehre: >Vom Begriffe der Einheit des Bauplanes ging Cu vier 
logisch ganz folgerichtig zu dem der Subordination der Charaktere 
über, den er (dem Beispiel des jüngeren Jussieu folgend, der 
diesen Begriff in die botanische Morphologie vor Cu vier ein* 
führte) zur Grundlage der Systematik machte. Die Bedeutung 
der vei-schiedenen Teile eines Organismus ist nach diesem Prinzip 
von ungleichem Werte, d. h. der eine Teil ist für die Ein¬ 
heit der Form und Funktion wesentlicher als ein 
anderer. Nach ihrer morphologischen und funktionellen Be¬ 
deutung zusammengestellt, würden die Teile des Oi^anismns eine 
Hierarchie bilden, welche sich für klassifikatorische Zwecke am 
besten verwerten läßt. Als weniger bedeutend sind diejenigen 
Merkmale der Tiere aufzufassen, die nur engeren Kreisen der 
Tierformen angehören; je allgemeiner ein Merkmal in der Tier¬ 
reihe vorkommt, desto höher steht es in der Hierarchie der 
Teile.« Es ist bemerkenswert, daß die Konzeption dieser höchst¬ 
aristokratischen Verfassung des tierischen Organismus in Frank- 


1) »Snr im nonvean rapprochement« etc., Annal. da Mas4am d’histoire 
naturelle 1812 T. 19. 

2) B^gne animal T. I S. 29. 

8) 1. c. I S. 816. 



Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 323 

reich etwa zn der Zeit erfolgte, als eben die Lehre von der 6galit4 
ihre stärksten revolutionären Answirknngen gezeitigt hatte. Ans 
den Worten »le Systeme nerveui est au fond tont ranimal« 
glaubt man deutlich den Geist des >retat c’est moic herausznhören. 

Die gleiche absolutistische Auffassung vom tierischen Körper 
wie bei Cuvier kommt auch in folgenden Worten Bergsons^) 
zum Ausdruck: Man könne der Kürze halber behaupten, >da6 
der höhere Organismus im wesentlichen aus einem auf Ver< 
daunngs-, Atmnngs-, Zirkulations-, Sekretions-Apparaten nsw. 
aufgesetzten sensorisch-motorischen System besteht, das nach- 
zubessem, zn reinigen und zu schützen, dem konstante Lebens- 
beding^gen zn schaffen, und dem endlich und vor allem poten¬ 
tielle, in Ortsbewegnngen umsetzbare Energie zuzuführen, die 
Rolle aU jener Apparate ist«. 

Auch bei Driesch findet sich der Gedanke einer Rang¬ 
ordnung, ohne indes eine systematische Durchführung zn er¬ 
fahren. Am Organismus spielen verschiedene Arten von Ente- 
lechie ihre Rolle. Neben die Entelechia morphogenetica tritt 
später die Entelechia psychoidea, die sich je nach der Lenkung 
von Instinkten oder Handlungen trennen läßt. Von den motorisch¬ 
nervösen Funktionen heißt es, daß »gleichsam mehrere Bewegnngs- 
entelechien, einander übergeordnet, existieren«*). »Auch während 
der Formbildung und bei Restitutionen hat offenbar jedes einzelne 
in Frage kommende harmonisch-äquipotentielle System seine 
eigene Unterentelechie.«... >So können wir denn in der Tat von 
einer Ordnung der Entelechien nach Rang oder Wert 
sprechen, einer Ordnung, die vergleichbar ist der Rang- oder 
Wertordnung in einem Heere oder einer Verwaltung. Alle 
Entelechien leiten aber ihren Ursprung von der einen anfäng¬ 
lichen her und können in dieser Beziehung doch wieder alle 
zusammen eine heißen®).< An anderer Stelle taucht der Ge¬ 
danke, die Rangordnung auch auf die anderen großen Organ¬ 
systeme zn übertragen, fiüchtig auf, wird aber nicht weiter 
verfolgt. In einer Anmerkung der Abhandlung »Der Begriff 
der organischen Form«*) heißt es von der Entelechie als der 
Leiterin bei der Handlung und der Formbildung: »Sie ist ja 
allein die Leiterin, alle Organe dienen der Ausführung. Man 
könnte versucht sein, das Nervensystem als Leitungs-, die 


1) »Schöpferische Entwicklong«, S. 180. 

»Der Vitalisinas als Geschichte und als Lehre«, 1905, S. 226. 
8) »PhUos. d. Organ.«, 1921, S. 410. 4) S. 60. 


21* 



324 


Armin Müller, 


Muskel- und Drfisensysteme als Aasführungsorgane zu bezeichnen; 
aber im tiefsten Sinne dienen alle Organe bloßer Ausführung.« 

Der Subordinationsgedanke spielt auch bei Sapper^) eine 
erhebliche Bolle. Auf der Zentralentelechie, der Trägerin 
der Bewußtseinsinhalte, beruht die morphologische und die funk¬ 
tionelle Einheit der Organismen \ Ihr untergeordnet sind 
in den verschiedensten Graden und Stufen die die Organ¬ 
systeme und Organe bildenden Entelechien, die in ihrer 
Gesamtheit ein unermeßlich kompliziertes System von Ente- 
lechiengmppen darstellen. Als zentralste Entelechiengmppe 
fungiert diejenige, die durch bestimmte Partieen des Zentral¬ 
nervensystem, »vermutlich die Großhirnhemisphären oder be¬ 
stimmte Teile derselben« repräsentiert wird*). 

Die Rangordnung oder Hierarchie, von der hier die Bede 
ist, unterscheidet sich wesentlich von dem, was Heidenhain 
mit demselben Worte belegt. H. spricht von einer entwicklnngs- 
physiologischen Gesamtverfassung auf Grund des stufenweisen 
Zusammenschlusses der Zellen zu Verbänden oberer Ordnung 
entsprechend den »übereinandergestellten Dienstkreisen«*) eines 
Heeresverbandes (Gruppen, Züge, Kompagnien, Bataillone usw.). 
Hier handelt es sich nicht um eine Zusammenfassung gleich¬ 
artiger Elemente in immer allgemeineren, umfassenderen Ver¬ 
bänden, sondern um eine Abstufung zwischen ungleichartigen 
Elementen innerhalb eines Teilköi*persystems oder des Gesamt¬ 
systems der tierischen Person. In dem Bilde H.s gesprochen, 
handelt es sich also nicht um übereinandergestellte Dienstkreise, 
sondern um das Verhältnis des im Bange Höherstehenden gegen¬ 
über dem Untergebenen. Im weiteren Sinne handelt es sich um 
das Verhältnis der Subordination oder jeweiligen Ganzheitsbe- 
zogenheit, das ein notwendiges Attribut der logischen Kategorie 
der Ganzheit oder des Ganzen und der Teile darstellt. Die Kate¬ 
gorie und mithin das Subordinationsverhältnis offenbart sich an 
den Bildungen der organischen Natur um so reiner, je höher die 
Individualität entwickelt ist. Die Subordination der Teile ent¬ 
spricht dem Grade der Vollkommenheit eines Geschöpfes (Goethe). 
Soweit die bisherigen Untersuchungen einen Schluß zulassen, darf 

1) »Das Element der Wirklichkeit und die Welt der Erfahrung« 
München 1924. 2) 1. c. S. 183. ’ 

3) Vergl. hierzu die »Stnfenordnung der seeliachen Faktoren und ihrer 
Führerfunktionen« bei E. Becher, »Die Führerrolle des Seelischen im 
Orofihim«, Ann. d. Philos. 1922. 

4) D. med. Woch. 1922 Nr. 37. 



Da8 IndiTidnalit&tsproblem and die Snbordination der Organe. 325 

waJirschemlich bereits dem Zellkern gegenüber demProtoplasma ein 
regulierender ganzmachender Einflnü zngeschrieben werden. Znm 
mindesten im logischen Sinne besteht dieses Snbordinationsver* 
hältnis überall dort, wo von Hanpt- und Nebenfonktionen ge¬ 
sprochen wird. Beide sind gleich notwendig für das Ganze, keine 
ist irgendwie entbehrlich; aber nur der Hanptfnnktion kommt 
eine zentrale und unmittelbare Bedeutung für das Ganze zu. 
Die Histologie unterscheidet zwischen spezifischen oder parenchy¬ 
matösen Bestandteilen im Gegensatz zu dem nicht-spezifischen 
oder interstitiellen Stroma. Jene sind hauptsächlich bestimmend 
für den Charakter sowie die Ganzheitsbezogenheit des Organs, 
dieses hingegen hat nur eine indirekte, mittelbare Bedeutung für 
das Ganze. Während sich die Bedeutung der Glia auf die Stütz¬ 
funktion beschränkt, zu der vielleicht noch eine gewisse Er- 
nähmngsfunktion kommt, ist an die Funktion des Nervenparenchyms 
alles das geknüpft, was das Wesentliche am CNS ausmacht. An 
einer Blüte erfüllen Deck- und Hüllblätter, Kelch, Krone, Nektarien, 
untergeordnete, dienende Funktionen gegenüber den Sexnalorganen, 
die in erster Linie Träger der Wesenseigentümlichkeit der Blüte 
sind. Sie wirken nicht nur im räumlichen, sondern auch im 
physiologischen Sinne zentrierend auf die Funktionen der Hilfs¬ 
organe. Am Auge nehmen die lichtperzipierenden Elemente eine 
>zentrale< Stellung ein, der sich die übrigen Teile unterordnen; 
teils sind sie als Hilfsapparate am Sehakt mit unmittelbar be¬ 
teiligt, teils kommt ihnen nur eine Stütz- und Emährungs- oder 
auch Schutzfunktion zu. Ihre reinste Ausprägung findet die 
Subordinationsbeziehung dort, wo es zur höchsten Ausbildung der 
Individualität und zur Bildung eigentlicher Zentralorgane, eines 
CNS, eines Herzens, kommt. Der sprachbildende Genius hat in 
tiefer Erkenntnis seine Wortsymbole besonders markanten Trägem 
solcher Snbordinationsbeziehungen in der organischen Natur ent¬ 
lehnt: man dringt zum »Kern« einer Sache vor und hebt das 
Wesentliche als >Haupt<-Sache hervor. 

8. Die Stellung der Eeimdrflsen in der Rangordnung der 

Organe. 

Eis war oben bemerkt worden, daß in der Rangordnung 
Cuviersdie Generationsorgane überhaupt nicht erwähnt werden. 
Kielmeyer hatte gesagt: »Am wenigsten vertragen sich Sen¬ 
sibilität und Reprodnktionskraft zusammen.« Entscheidend für 
die Beurteilung des Verhältnisses der nervösen und der Fort- 
pflanzungsfnnktionen und damit der Ordnnngsbeziehnng der Keim- 



326 


Armin Müller, 


drüsen im Fanktionszosammenhang des ganzen Organismus sind 
die Gedanken Bergsons: ein jeder Organismus ist ein aus 
heterogenen, sich gegenseitig ergänzenden Teilen zusammen¬ 
gesetztes Individuum, dessen verschiedengeartete Funktionen sich 
gegenseitig voranssetzen. Diese Individualität läßt eine Unendlich¬ 
keit von Graden zu, und es zeigt sich, daß sie nirgends, auch 
beim Menschen nicht, vollkommen realisiert ist. Es handelt sich 
um einen Wesenszug des Lebens, der immer nur auf dem Wege 
der Verwirklichung angetroffen wird, nicht um einen Zustand, 
vielmehr um eiue Tendenz. Diese Tendenz zur Individuation, 
die überall in der organischen Welt gegenwärtig ist, wird ebenso 
überall von der Tendenz zur Fortpflanzung bekämpft »Wäre 
die Individualität vollkommen, kein vom Organismus abgetrennter 
Teil dürfte gesondert zu leben vermögen. Doch würde damit die 
Fortpflanzung unmöglich. Denn was in der Tat ist diese, wenn 
nicht Aufbau eines neuen Organismus aus einem abgetrennten 
Bruchstück des früheren? Im eigenen Hanse also herbei^ die 
Individualität ihren Feind. Eben das empfundene Bedürfnis 
nach Fortpflanzung in der Zeit verurteilt sie dazu, im Baume 
niemals vollständig zu sein. Aufgabe des Biologen ist es, in 
jedem gegebenen Fall beiden Tendenzen genug zu tnn').< 

Cu vier hatte demjenigen Organsystem den caractöre domi> 
nateur beigelegt, das für die Einheit der Form und Funktion 
des Organismus am wesentlichsten ist, das am vomehmlichsten 
eine ganzmachende, zentralisierende, integrative Funktion ausübt. 
Daß in dieser Hinsicht das CNS durch sein Verhältnis zum 
Empflndungsmaterial der Sinnesorgane, zum gesamten motorischen 
Apparat, zur Gesamtheit der vegetativen Funktionen den ersten 
Bang in der Ordnung der Organsysteme beanspruchen dai% ist 
ohne weiteres klar. Mit Becht stellt Cu vier das Zirkulations¬ 
system an zweite Stelle, das mehr im räumlichen Sinne das 
Integrationsprinzip des Körpers repräsentiert. Die primitiven 
Leitungsbahnen im Pflanzenkörper, bei dem der Flüssigkeits¬ 
transport noch in weitgehendster Abhängigkeit von den physi¬ 
kalischen Bedingungen der Außenwelt steht, gestatten nur ein 
sehr verlangsamtes und unvollkommenes Einanderinbeziehnngtreten 
der einzelnen Teile. Der tierische Kreislauf, der bei den höheren 
Formen ein geschlossener ist, stellt mit seinem zentralen Motor 
ein weit vollendeteres Kommunikationsmittel dar und ermöglicht 
eine chemische Wechselwirkung der entferntesten Teile in kürzestmr 


1) »SchSpferische Entwicklong«, S. 20. 



Das IndiTidnalitätsproblem und die Sabordination der Org^ane. 327 


Zeit Es tritt daher in engste Beziehung zu dem nach dem CNS 
zweitwichtigsten Prinzip der Koordination des tierischen Körpers, 
der hormonalen Kegolation. Erst durch ein hochentwickeltes 
Zirkulationssystem ist die prompte Funktion der aufs feinste 
aufeinander abgestimmten endokrinen Apparate gewährleistet 
Demgegenüber entbehrt die Pflanze überhaupt noch des einheit¬ 
lichen Mittelpunktes {jxeodiriq) für ihr Leben (Aristoteles), 
sie ist in viel geringerem Grade >IndiYidualität<; sie verfüg^ 
nur über reinvegetative Organe, nicht aber über ausgeprägte 
Zentralorgane. 

Man hat oft darüber gestritten, was denn im Pflanzenreich 
überhaupt als Individuum zu gelten habe. Einen Baum hat man 
als einen Pflanzenstock, als einen Komplex von einzelnen Sprossen, 
Einzelindividuen bezeichnet und ihn mit Recht mit einem Polypen¬ 
stock verglichen. Cuvier führt die vegetativen, mit dem Kraft- 
nnd Stoffwechsel unmittelbar betrauten Organe als Energiespender 
für den Lebensunterhalt erst nach den animalischen Organen 
an dritter Stelle in der Rangordnung an. 

Es ist klar, daß im allgemeinen mit steigender Organisations¬ 
höhe der Tiere die Keimdrüsen im Vergleich zu der immer 
reicher werdenden Fülle der übrigen Organsysteme relativ immer 
geringere Ansprüche an den Stoff- und Energiehaushalt des 
Körpers zu stellen brauchen. Zugleich pflegt mit einer höheren 
Organisationsstufe auch eine immer ökonomischere Verwendung 
des Keimmaterials einherzugehen. Dadurch, daß der elterliche 
Organismus als Ganzes sich immer intensiver im Dienste der 
Fortpflanzung betätigen kann, daß das Sichflnden der Geschlechter 
erleichtert wird, an Stelle der äußeren Befruchtung eine innere 
tritt, und durch Ausbildung von allerlei Bmtorganen sowie 
Entwicklung von Bmtpflegeinstinkten der Nachkommenschaft 
immer weiterer Schutz zuteil wird, gelingt es, die Vemichtungs- 
ziffer der Keime außerordentlich herabzndrücken. In diesem 
Sinne darf von einem Bedentungswechsel der Keim¬ 
drüsen im quantitativen Sinne innerhalb der Kraft- 
und Stoffwechselbilanz des Individuums gesprochen werden. 
Aber auch im qualitativen Sinne findet eine Bedeutungs¬ 
verschiebung im Rahmen des Ganzen statt, insofern, als 
mit steigender Entfaltung des Somas die polare 
Spannung zwischen demPrinzip der Individuation 
and Zentralisation, am stärksten verkörpert im 
CNS, und der desintegrierenden Tätigkeit der 
Keimdrüsen immer mehr wächst Bringt man die 



328 


Armin Mtlller, 


Organsysteme nach Maßgabe ihrer ganzmachenden Bedentnng 
in eine Eeihe, so ergibt sich mit steigender Organisationshöhe 
ein gewissermaßen immer steileres Gefälle. Es w&chst das 
Potential zwischen CNS und Keimdrüsen, deren Ganzheits- 
hezogenheit negativ ist, zwischen »Sensibilität und Beproduktions- 
kraft, die sich am wenigsten zusammen vertragen« (Eielmeyer). 
Es wird das Gleichgewicht zwischen zentrifugalen und zentri* 
petalen Kräften immer mehr zugunsten der letzteren ver¬ 
schoben. Die bindenden, gemeinschaftbildenden Kräfte gewinnen 
immer mehr die Herrschaft gegenüber den Teilnngs- und Los- 
lösnngstendenzen, die im primitiven Organismus überwiegen und 
den Aufbau einer größeren Zellgemeinschaft verhindern. Nur 
in dieser Abgabe keimfähigen Materials besteht die eigentliche 
Leistung der Keimdrüsen. Das Fortpflanzungsgeschäft und Ge¬ 
schlechtsleben hingegen umfaßt eine immer reichere Fülle von 
tierischen Handlungen, in denen sich die höheren Kräfte der 
Individualität, besonders die seelischnervösen Funktionen, be¬ 
tätigen, evtl, bis zur Aufopferung der eigenen Individualität. 

Es ist hier von stärkerer positiver oder negativer Ganzheits- 
bezogenheit die Bede als Eigenschaften von Teilen, die inner¬ 
halb eines Ganzen in korrelativer Abhängigkeit voneinander 
stehen. Eine gewisse Berührung mit Wundts Prinzip der 
Besultanten oder schöpferischen Synthese liegt darin, daß auch 
hier den Teilen Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie 
niemals als solche besitzen, sondern die ihnen nur in der orga¬ 
nischen Verbundenheit mit anderen Teilkörpersystemen erwachsen. 

9. Das Dogma von der Erhaltungstendenz. 

Es wurde oben bei der Entwicklung des Begriffs einer ver¬ 
stehenden Biologie darauf hingewiesen, daß das biologische 
Denken der Gegenwart bis in seine feinsten Verzweigungen 
hinein von dem kaum je bezweifelten Dogma beherrscht wird, 
alle Lebenserscheinungen, alle lebendige Formbildung müsse 
unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit und der £b*haltung 
verstanden werden. Ganz besonders befestigt wurde diese 
Grundüberzeugung durch die Selektionstheorie, die Lehre vom 
Überleben des Passendsten. Nach der Lehre von der Allmacht 
der Naturzüchtnng ist Selektionswert identisch mit Erhaltnngs- 
oder Nutzwert für Individuum oder Art Darwin') kommt 
zu dem Schlüsse, »daß der Bau jedes lebenden Gieschöpfes direkt 


1) »Entatehnng der Arten«, Übers, t. S. Gams, 9. Anfl. S. 224. 



Das Individoalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 329 

oder indirekt seinem Besitzer entweder jetzt noch von Nutzen 
ist, oder früher von Nutzen wart. Roux beschreibt die Grund¬ 
funktionen des Lebens mit Einschluß der Entwicklung und der 
Selbstregulation im Hinblick auf die Herstellung und Steigerung 
der »Dauerfähigkeit«. Auch Spencers Definition: »Leben ist 
die fortwährende Anpassung innerer Relationen an äußere Rela¬ 
tionen« ist so zu verstehen, daß alle Entwicklungsvorgänge nur 
als Reaktion auf Reize im Sinne steigender Erhaltungsfähigkeit zu 
deuten sind. v. H a n s e m ann sagt: > Die Zweckmäßigkeit im Sinne 
der Nützlichkeit oder des Wertes geht eben immer nur gerade so 
weit, als zur Erhaltung der Art notwendig ist.« Und bei der 
Diskussion über die Entzündung, sowie die Anpassungs- und 
Regulationsfähigkeit der Organismen überhaupt, sagt Aschoff*): 
»In dieser ,Selbstsichernng* ist auch für den Biologen aller 
,Zweck*, d. h. Leistung, Aufgabe, Funktion des Lebens erfüllt.« 
Bleuler*) schreibt in seinem Lehrbuch der Psychiatrie: »Dem 
,Zweck‘ des psychischen Apparates gemäß, sich, resp. das Genus 
zu behaupten, die Umgebung zu benutzen oder abzuwehren, 
steckt in jedem Psychismns eine Tendenz zu reagieren, eine 
Strebung.« Für die Auffassung der Lebenserscheinungen als 
»statische« nur auf Erhaltung gerichtete Vorgänge spricht schon 
das häufig gebrauchte Bild vom »vitalen Gleichgewicht«. 
Scheler^) weist darauf hin, daß diese Auffassung des Lebens 
im Anschluß an die Philosophie Descartes’ und seine mecha¬ 
nistische Lebenslehre dadurch entstand, daß »die Grundbegriffe 
und Grundprinzipien der Mechanik und hier besonders die Er- 
haltnngsprinzipienaufdie Lebenserscheinungen übertragen 
wurden«. Die als ein Ableger der mechanistischen und utili¬ 
taristischen Philosophie seit Bacon in England herrschend 
gewordene Auffassung des Lebens führt alle Entwicklungs- 
nnd Wachstumserscheinungen auf Tendenzen der »Erhaltung« 
zurück, sodaß diese zu Epiphänomenen von Erhaltungsprozessen 
bezw. zu »Anpassungen an die Umgebung« werden*). Statt 
dessen behauptet Scheler, daß »allem Leben selbst und un¬ 
abhängig von seiner besonderen, wechselnden Umwelt und deren 
Reizen eine Tendenz zur Steigerung, zum Wachstum und zur 
Entfaltung seiner Mannigfaltigkeitsarten (Organ, Funktion nsw.) 

1) »Descendens and Pathologie« S. 228. 

2) Berl. klin. Woch. 1917 S.61. 

8) Lehrb. d. Psychiatr. 8. Aafl. S. 87. 

4) »Der Formalismas in der Ethik nsw.« 8.286. 

5) »Abhandlangen and Anfsitze« I, 8. 258. 



330 


Armin Hüller, 


inne wohnt Gleichzeitig und durch die gleichen Agentien be¬ 
stimmt, betätigt sich diese Tendenz in Organbildung bezw. Organ- 
differenzierung und in Erweiterung sowie Herausformung einer 
der Artorganisation entsprechenden >Umwelt« ans dem Gesamt¬ 
dasein der toten Welt. Dieser Tendenz aber sind jene Momente, 
die Darwin und Spencer zu den alleinigen Wesenszflgen des 
Lebens machen, nämlich »Daseinserhaltung« und »Anpassung 
innerer Beziehungen an äußere der Umwelt ganz untergeordnet^)«. 
Im ähnlichen Sinne sagt Nietzsche*): »Die demokratische 
Idiosynkrasie gegen alles, was herrscht und herrschen will, dieser 
Misarchismus (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache 
zu gebrauchen) hat sich allmählich dermaßen ins Geistige, 
Geistigste umgesetzt und verkleidet, daß er heute Schritt für 
Schritt bereits in die strengsten anscheinend objektivsten 
Wissenschaften eindringt, eindringen darf; ja er scheint mir 
schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr 
geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst ver¬ 
steht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen 
Aktivität escamotiert hat. Man stellt dagegen unter dem Druck 
jener Idiosynkrasie die Anpassung in den Vordergrund, d. h. 
eine Aktivität zweiten Ranges, eine bloße Reaktivität, ja man 
hat das Leben selbst als eine immer zweckmäßigere innere An¬ 
passung an äußere Umstände definiert (H. Spencer). Damit 
ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein Wille zur Macht; 
damit ist der principielle Vorrang übersehen, den die spontanen, 
angreifenden, übergreifenden, neuauslegenden und gestaltenden 
Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die Anpassung folgt; 
damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der 
höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille 
aktiv und formgebend erscheint«. — Von anderen »Lebens¬ 
philosophen« sei nur noch Berg so n genannt. Schon die Aus¬ 
drücke, »Evolution cr6atrice«, schöpferische Entwicklung und 
»61an vital« oder Lebensschwungkraft zeigen, wie weit er sich 
von der Grundconception der traditionellen Biologie entfernt. 
Er spricht ferner von einer in der organischen Welt überall 
gegenwärtigen »Tendenz zur Individuation«. — Den Biologen 
früherer Jahrhunderte bis einschließlich der Epoche der deut¬ 
schen Naturphilosophie war es selbstverständlich, in der Natur 
nicht nur Erhaltungstendenzen, sondern in erster Linie den 


1) »Der Genias des Krieges und der deutsche Krieg« S. 86. 

2) »Genealogie der Moral.« Werke (Kröner) 1910, Bd. VH, S. 871. 



Das XndiTidnalit&tsproblem und die Subordination der Organe. 331 


Ansdrack immer reicherer Veryollkornnmimg und Schönheits- 
Verwirklichung zu erblicken. Scheler^) bezeichnet die Lebens¬ 
auffassung, die von der neueren englischen Biologie vertreten 
wird, als »ein Hineinsehen der Struktur menschlicher Ntttzlich- 
keitszivilisation in die natürliche Lebewelt«. 

Ans diesen Erwägungen und Spekulationen, zu denen auch die 
früher erwähnten D i 11 h e y sehen Gedanken in näherer Beziehung 
stehen, erwächst der Biologie als Naturwissenschaft zunächst 
kein unmittelbarer Gewinn. Es geht aber unzweifelhaft daraus 
hervor, dafi gewisse zumeist axiomatische Gmndüberzeugungen 
oft unbewußt, zum mindesten unkritisch die biologische Theorien- 
bildung entscheidend bestimmen können. Ähnlich wie bei der 
Entstehung des mechanistischen Weltbildes, so sind auch beim 
Dog^a vou der Erhaltungstendenz sittlich-soziale Einflüsse und 
zwar von spezifisch englischer Herkunft von besonderer Bedeu¬ 
tung gewesen. Diese Einwirkung ans der kulturellen, geistes¬ 
geschichtlichen Athmosphäre muß zum mindesten den Verdacht 
einer starken Subjektivität erwecken. Jedenfalls bedarf es aller 
Kritik, die durch eine solche ,persönliche Gleichung* etwa ver¬ 
ursachten Fehler überhaupt zu erkennen und zu korrigieren. 
Dies gilt für die Biologie, worauf Scheier hinweist*), ganz 
besonders, da in ihr die reinen Verstandeskategorien, mit denen 
die Mathematik und die anorganischen Naturwissenschaften ar¬ 
beiten, bereits eine geringere Rolle spielen; dafür macht sich 
aber eine größere personale und nationale Bedingtheit geltend, 
die dann am höchsten gesteigert ist im Bereiche der Philosophie. 

10. Das Verhältnis von Soma und Keimplasma. 

In eine besondere Beziehung wurden das Soma und das 
Dogma von der Erhaltnngstendenz insofern gebracht, als dem 
Eeimplasma, dem Repräsentanten der Arterhaltnng, ein ganz 
besonderer Akzent zuerteilt wurde. Über ihr gegenseitiges 
Vm’hältnis äußert sich Doflein*) folgendermaßen: »Wie ein 
Seitenzweig wächst aus den Keimzellen die Zellenfolge hervor, 
welche den zu ihnen gehörigen Körper, das Soma bildet Er 
umhüllt und schützt sie; er ernährt sie und beseitigt, was ihnen 
schaden könnte. Für all diese Aufgaben ist er in tausend¬ 
fältigen Formen ausgebildet. Da er nur die unsterblichen 

1) »Abhandlungen und AnMtse« I, S. 254. 

^ »Krieg and Anfban«, S. 64. 

8) »Das Problem des Todes and die Unsterblichkeit bei den Pflanzen 
and Tieren«, 1910, S. 115. 



332 


Armin HtUler, 


Keimzellen durch die Schwierigkeiten des Lebens zn führen hat, 
so kann er selbst ohne Schaden sterblich sein. Wenn nur der 
Körper geeignet ist, die Keimzellen vor all jenen Katastrophen 
zn bewahren, die auch ihren Tod bedingen können, so erfüllt 
er seinen Zweck. Wenn er nur solange lebt und funktioniert, 
daß die weitere Existenz der in den Keimzellen enthaltenden 
lebenden Substanz gesichert ist, dann hat er seine Aufgabe 
erfüllt . . . Der Körper hat sein Ziel erreicht, wenn in den 
Keimzellen ein Teil seines Lebens in die Welt entsandt ist, um 
da weiter zu leben und wieder neues Leben zu erzeugen.« Im 
ähnlichen Sinne äußert sich Korschelt^), nachdem er die 
zweifellos sehr innigen, wenn auch im einzelnen oft schwer 
durchschaubaren Beziehungen zwischen Fortpflanzung und 
Lebensdauer erörtert hat Er sagt, >daß der Lebensgang der 
Organismen dahin gerichtet ist, ihre Fortpflanzung zu sichern; 
ist dieses Ziel erreicht, und alles damit zusammenhängende er¬ 
ledigt, so kann der Organismus vom Schauplatz abtreten, was 
entweder plötzlich oder nach lange andauernden, ganz all¬ 
mählichen Veränderungen, den Alterserscheinungen, geschieht«. 
Gegenüber einer solchen rein utilitaristischen Interpretation 
bemerkt Driesch mit Kecht*): »Die Lehre von der Konti¬ 
nuität des Keimplasmas scheint manche zu verführen, das ,Soma* 
als gleichsam überfllüssige Beigabe zur Generationsfolge der 
Keimzellen anzusehen. Das ist aber (zumal, wie sich zeigen 
wird, metaphysisch) ganz absurd«. Und in der Philos. d. Organ.*) 
heißt es: »Auf dem Boden der Weismannschen Lehre von 
der Kontinuität des Keimplasmas und besonders von der Be¬ 
deutung speziflscher Keimbahnen konnte leicht der Eindruck 
entstehen, als seien eigentlich nur die Keimbahnen ,wesentlich‘, 
das Soma aber eine Art Luxus. Wir setzen das Soma an seine 
bedeutsame Stelle, aber nicht nur als ,Soma‘, sondern als 
Ausdruck und Mittel desjenigen, was das eigentlich ,Wesent- 
liche' an jedem Organismus ist: Sein Seele-sein.< An einer 
anderen Stelle (Begriff d. organ. Form*) sagt er vom Soma: »Als 
Wissensvermittler wäre es die Hauptsache I« — Diese etwas 
intellektualistisch klingende Deutung Drieschs erinnert an 
Leibniz’ Lehre von den Monaden als vorstellenden Kräften, 


1) »Lebensdauer, Altem und Tod«, 1922, S. 250. 

2) »Der Beg^riS der organ. Form«, S. 81. 

8) S. 674. 

4) S. 78 Anm. 



Das IndiTidaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 333 

deren jede ein Spiegel der Welt ist, und die sich in eine Stofen* 
reihe ordnen, in der die nntersten Monaden nur unklare und 
verworrene Vorstellungen, die oberen zunehmend klare und deut¬ 
liche Vorstellungen hervorbringen. Für Driesch beschränkt 
sich das Wesen des Organismus nicht auf sein Formsein in 
räumlich materieller Hinsicht; vielmehr sind alle organischen 
Wesen im gewissen Sinne psycho- physische Personen. So 
stellt jedes einen bestimmten Typus des Wissens dar im weitesten 
Sinne des Wortes, der zugleich die Erfüllung des als Aufgabe 
geschauten umfaßt. 

Die Ablehnung des bloßen Nützlichkeitsstandpunktes kommt, 
auch in folgender Bemerkung des Anatomen Brans^) zum Aus¬ 
druck: »Die Art des Aufstieges der Organismen ist nur analog 
dem Psychischen im Menschen zu begreifem Man hat lange 
verkannt, daß Bakterien in ihrer Unkompliziertheit weit mehr 
Aussicht haben, am Leben zu bleiben und nicht ausznsterben, 
als kompliziert gebaute Organismen. Wenn die organischen 
Lebewesen, anstatt im bisherigen Zustand nach Nützlichkeits¬ 
zwecken konservativ zu beharren, nach Variation und Vervollkom- 
mung drängen, so wird jeder Schritt trotz der darin steckenden 
Oefahren gewagt. Wie das Geistige plötzliche Evolutionen macht— 
man denke an die Entstehung der Philosophie im Altertum und 
an die damalige explosive Anwendung aller geistigen Möglich¬ 
keiten, von der wir heute noch zehren —, so auch das organisch 
Körperliche. Unter größten Opfern und Gefahren für die Art 
werden einige vorgetrieben, und wird der Wurf nach höherer 
Organisation und Leistungsfähigkeit gewagt. Das Erfassen der 
günstigen Gelegenheit unter gegebenen Bedingungen ist wie bei 
Erfindungen das Geheimnis, welches die Neuschöpfung im Organi¬ 
schen umgibt. Der Newton des Grashalms wird nicht kommen.«— 
Diese Ideen sind verwandt mit den Grundanschaunngen des 
großen Kritikers des englischen Utilitarismus, von J. M. Guyau. 
[Vergl. auch die Ausführungen Schelers, »Ethik« in Jahr¬ 
bücher der Philosophie von Frischeisen, — Köhler, 2. Jahrgang. 
Der Zoologe Viktor Franz seigt sich in seiner Arbeit »Die 
Vervollkomnmung in der lebenden Natur« (1920) durchaus in der 
Darwinschen Nützlichkeitsdoktrin befangen.] 

Unter der Voraussetzung, daß dem Individualitäts- oder Per¬ 
sonenwert, dem »Wissen« gegenüber der bloßen Erhaltung im 
Sinne einer objektiven, an sich gültigen Wertrangordnung der 


1) Lehrbach der Anatomie I, Binleitang. 



334 


Armin Müller, 


Vorzng gegeben wird, wäre über das Verhältnis von Soma nnd 
Eeimplasma folgendes zn sagen. Die Tatsache, daß vielfach der 
Tod kurze Zeit nach Abgabe der Geschlechtsprodnkte erfolgt, 
darf nicht so gedeutet werden, als wäre das Soma gewisser¬ 
maßen nur ein Hilfsorgan für den gesamten Generationsprozeß. 
Zweifellos überwiegt bei niederen Formen die Reproduktionskraft 
im Vergleich zu höheren Formen. Das Individuum ist gleichsam 
nur ein Durchgangspunkt in der Kontinuität der Gattung. Bei 
parasitären Organismen kann der Fortpflanzungsapparat infolge 
eines ungeheuren Bedarfs an Geschlechtsprodukten dermaßen in 
der Gesamtorganisation quantitativ überwiegen, daß man solche 
Tiere im ausgebildeten Zustand als bloße Genitalschlänche be¬ 
zeichnen konnte (Eorschelt^)). Bei allen differenzierten Or¬ 
ganismen aber gestaltet sich das Verhältnis zwischen Soma und 
Eeimplasma so, daß aU die Leistungen, die das Geschlechts¬ 
leben vom Suchen der Geschlechter an bis zur Brutpflege er¬ 
fordert, mit die hauptsächlichste Betätigungsmöglichkeit für alle 
höheren Kräfte der Individualität darstellt. Mit der Unterbin¬ 
dung des Geschlechtslebens wird ihr ein ganz wesentliches Ob¬ 
jekt ihrer Aktivität entzogen. Dieses Verhältnis erstreckt sich 
auch noch bis ins Bereich des Menschen, obwohl hier der Per¬ 
sonenwert, das Wissen im Geistesleben zu einem ungeheuren 
selbständigen Reiche angewachsen ist. 

11. Die Anerkennung eines anfierzweekhalten, kflnstlerisehen 
Prinzips in der organischen Natur. 

Nach diesen Abschweifungen auf metaphysisches Gebiet soll 
eine Frage aufgeworfen werden, die ebenfalls zu dem ütilitäts- 
prinzip engste Beziehungen hat, die aber die Biologie als em¬ 
pirische Wissenschaft unmittelbar zu berühren vermag — die 
Frage, ob im Sinne einer verstehenden Biologie außer reinen 
Zweckmäßigkeitsbeziehungen und technischer Vervollkommnung, 
die die jeweilige Elntfaltungsstnfe erheischt, und die einer rein 
vitalen Notwendigkeit dienen, auch noch andere »Sinnznsammen- 
hänge« im Bau und in der Funktion der Lebewesen zum Aus¬ 
druck kommen. Solange es eine denkende Natnrbetrachtnng 
gibt, ist immer wieder versucht worden, in der Natur auch die 

1) Scheier hat einmal Schmarotzer, die ihre Bewegangsorgane samt 
Nerrensystem und vieles andere durch Anpassung verloren haben und fast 
nur noch ihre Verdauungsorgane zurückbehielten, einer menschlichen Ge¬ 
sellschaft verglichen, die nur noch Handels- und Industriegesellschaft wäre. 



Das IndiTidaalitätsproblem Tind die Subordination der Organe. 335 

Manifestation objektiver ästhetischer Beziehungen zu entdecken. 
Erst im vergangenen Jahrhundert, das eine Versubjektiviernng 
und Relativierung aller ethischen und ästhetischen Werte und 
dazu eine Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse in einer bisher 
ungeahnten Weise mit sich brachte, wurden derartige Versuche 
als Anthropomorphismen zumeist von vornherein verurteilt Erst 
eine grundsätzlich gewandelte Geisteshaltung, die den reinen 
Utilitarismus überwunden hat, und die es wieder wagt, bei aller 
Ejitik und nur im Sinne einer »induktiven Metaphysik« (Driesch) 
sich wieder dem Wesensgehalt der Natnrdinge anschauend hin¬ 
zugeben, anstatt allein »durch den Verstand der Natur die 
Gesetze vorzuschreiben« (Kant) — eine solche Geisteshaltung, 
die in den »Formen« der Organismen wieder snbstanzialen Gehalt, 
nicht nur begrifliche Zutat des Menschen erblickt, darf auch 
nach einem objektiven ästhetischen Sinngehalt der organischen 
Formen fragen. RädH) spricht in dem Kapitel über die Schön¬ 
heit in der lebendigen Natur die Erwartung aus, daß man es 
mit seinem wissenschaftlichen Gewissen vereinbar finden wird, 
ernstlich nach den ästhetischen Gesetzen der Farben, Formen, 
Zeichnungen, Bewegungen bei Tier und Pfianze, in der belebten 
und unbelebten Welt zu fragen, und daß man in sich Kraft 
genug fühlen wird, eine neue Wissenschaft, eine objektive 
Ästhetik zu entdecken. Den Glauben an objektive, wenn 
auch wissenschaftlich nicht faßbare Schönheitswerte in der Natur 
vertritt auch Oliver Lodge: »Den Geltungsbereich und die 
volle Bedeutung der Schönheit kann der Naturwissenschaftler 
nur dunkel fassen. Wenn er versuchen würde, sie in Ausdrücken 
der »geschlechtlichen Zuchtwahl« oder anderer dürftiger natura¬ 
listischer Begriffe wiederzugeben, so erklärt er gar nichts. Er 
zeigt nur, wie die Empfindung der Schönheit in gewissen Fällen 
wirkt. Aber die innere Natur und das Vermögen, durch das sie 
aufgefaßt wird, liegen ganz außer seinem Bereich. Nur fühlen 
läßt sich, daß die unbewußte und unaufdringliche Schönheit von 
Feld- und Wiesenrain entstanden sein muß in Auswirkung eines 
immanenten Instinktes oder eines innewohnenden Verlangens, 
eines Triebes, weit erhaben über menschliche Art und Schranke« 
(Leben und Materie S. 70). 

Schon bei dem Erwachen der Naturforschung auf deutschem 
Boden hat eine ästhetisch-deduktive Naturauffassung eine be¬ 
stimmende Rolle gespielt und zur Entdeckung wichtigster exakter 


1) »Geschichte der biolog. Theorien« ü. 



336 


Armin Müller, 


Besultate geführt Job. Kepler war, wohl in Anlehnnng an 
die spekulative Zahlenmystik der PythagorÄer, erfüllt von dem 
Gedanken der Weltharmonie, die sich in dem zahlenmäßig fixier¬ 
baren Verhältnis der Zahl der Planeten, der Größe der einzelnen 
Bahnen und der Umlaufszeiten der Planeten offenbart. In solchen 
zahlenmäßigen Proportionen, analog der Reihe der einfachen Ton¬ 
intervalle, soll die Sphärenmusik dem Ohre der Gottheit ver¬ 
nehmbar werden. Die Mathematik wie die Himmelsmechanik steht 
bei ihm durchaus im Dienste ästhetischer Zielverwirklichung 
(Siegel*). — 

In moderner Zeit hat der Wiener Entomologe Brunner v. 
Wattenwyl versucht, sich auf ästhetischem Wege dem Ver¬ 
ständnis der Farben und Zeichnungen der Insekten zu nähern. 
In seinem Festvortrag in der Wiener zool.-bot ,Gesellsch*) 
»über die Hypertelie in der Natur« bezeichnet er als hyper- 
telische Erscheinungen solche »Manifestationen, welche schlechter¬ 
dings nicht mit einem materiellen Nutzen in Verbindung gebracht 
werden können«. Gegenüber Darwin, der die Form und Farben¬ 
pracht, »welche zu dem bloßen Dasein vollständig entbehrlich 
sind,« für die geschlechtliche Bewerbung in Anspruch genommen 
hat, weist B r u n n e r auf die luxuriöse Entwicklung jener niederen 
Tiere hin, bei welchen eine geschlechtliche Bewerbung gar nicht 
stattfindet, z. B. bei den Raupen des Oleanderschwärmes oder 
der Weinschwärmer. Auch von einer Vorbildung zu dem voll¬ 
kommenen Insekt kann keine Rede sein, da das letztere die 
Zierde gamicht besitzt. »Man gebe einem Unterrichtsministerium 
oder einer Akademie der Wissenschaften eine organische Welt 
zu konstruieren, so zweifle ich nicht, daß die Mehrzahl der 
typischen Formen erzeugt würde, allein ich vermute, daß eine 
beträchtliche Zahl von Formen, die wir in der Natur beobachten, 
nicht zum Vorschein käme, weil das Gesetz der Mannigfaltigkeit 
ohne Nutzen, der Profusion der Formen ohne Notwendigkeit 
keine Berücksichtigung fände.« Ans einer zweiten Arbeit des¬ 
selben Autors »Betrachtungen über die Farbenpracht der In¬ 
sekten« •) war oben schon einiges berichtet worden. Sie verfolgt 
den Zweck, die Prinzipien der künstlerischen Ansdruckstätigkeit 
in Zeichnung und Farbe der Insekten darzulegen. So scheint 
es unter Außerachtlassung der natürlichen Abgrenzung der Organe 


1) »Geschichte der deatschen Natarphilosophie.« 

2) Verhdl. d. k. k. 20 ol.-bot. Ges. Wien 28, 1878, S. 183. 

3) Leipzig 1897. 



Dm Individnalitätsproblem und die Subordination der Organe. 337 

auf die Erzeogong eines einheitlichen Bildes, einer holo- 
tjpischen Zeichnung anznkommen. »Das Bild erscheint vollständig 
nur bei einer bestimmten Lage der Körperteile, oder — wenn 
ich mich koloristisch ausdrücken darf — die Unterlage für das 
einheitliche Gemälde ist einmal das Insekt in ansgebreiteter 
FlflgeUage, ein anderes Mal bei geschlossenen Flügeln oder auch 
halbgeschlossener Lage, und diese Mannigfaltigkeit erstreckt sich 
noch weiter, indem die Unterseite in einer anderen Lage gemalt 
erscheint als die Oberseite, oder — um fortzufahren in der 
koloristischen Sprache — daß die Malerei ein und desselben 
Objektes verschiedentlich angesetzt wurde, c Sollte wirklich die 
oft nur außerordentlich feine Linienführung, die nur bei einer 
bestimmten Flügelstellung sich zu einem Totaleindruck ergänzt? 
überhaupt vom Insektenauge als Einheit wahrgenommen werden? 
Bä dl bemerkt: »Man findet leicht heraus, daß sowohl Darwin 
als auch die angeführten Bekämpfer der geschlechtlichen Zucht¬ 
wahl unter Schönheit etwa dasjenige verstanden, was ein schlichter 
Mann vom Lande: bunte Farben, schreiende Verzierungen, Hörner, 
Geweihe, lange Federn, Schöpfe u. ä., überhaupt ungewöhnliche, 
in die Augen fallende Erscheinungen. Auf solche sind ihre 
Theorien berechnet, weniger jedoch auf wirkliche Schönheit, wie 
sie sich in feinen (wenn auch nicht auffallenden) Zeichnungen 
und Schattierungen, in eleganten Linien, in der Harmonie und Ab¬ 
tönung der Farben, der Bewegungen, des Gesangs usw. offenbart« 

1906 veröffentlichte der Botaniker M. Möbius in den Ber. 
Deutsch. Bot. Gesellsch. Bd. 24 einen Aufsatz ȟber nutzlose 
Eigenschaften an Pfianzen und das Prinzip der Schönheit«. Er 
sagt u. a.: »Was die Form betrifft, so haben wir meistens nur 
im allgemeinen einen Begriff von ihrer Zweckmäßigkeit: Nähr- 
wnrzeln müssen dünn und lang sein, für Stammorgane als Träger 
von Blättern und Blüten erscheint die Sänlenform, für die Blätter 
als Assimilationsorgane die Form einer dünnen Lamelle zweck¬ 
mäßig und dergleichen. Insofern diese Eigenschaften als Anpas¬ 
sungen an die Umgebung angesehen werden, sind sie von Sachs 
Photomorphosen, Mechanomorphosen und andere -morphosen ge¬ 
nannt worden. Wir verstehen auch in vielen Fällen die Ab¬ 
weichungen vom Typus, z. B. die Schmalheit der Blätter oder 
die Succulenz als Anpassungsformen an Trockenheit und ähn¬ 
liches. Wir sehen ferner in der Symmetrie ein den Bau der 
Pflanzen beherrschendes Prinzip und halten darum einen auf¬ 
rechten zylindrischen und allseitig gleich ansgebildeten Stamm 
für ebenso normal, wie das ^gomorphe, flache, seitlich ansitzende 

AroUv tOr Payohologl«. XLVIU. 22 



338 


Armin Müller, 


Blatt. Wir suchen schon nach einer Erklänmg, wenn die Blätter 
schief sind, wie bei Begonien nnd anderen. Was nun aber der 
Grund für die Ausgestaltung des Blattes in seiner spezifischen 
Eigentümlichkeit ist, warum ein Blatt ei-, herz-, lanzett-, pfeil¬ 
förmig ist, einfach oder zusammengesetzt, einen glatten, gezähnten, 
gesägten oder gebuchteten Rand hat, davon haben wir in den 
meisten Fällen keine Ahnung. Einige dieser Eigenschaften, so 
besonders die Randbeschaffenheit, können wir vorläufig wohl zu 
den nutzlosen rechnen, wenn auch die Möglichkeit einer Er¬ 
klärung, wie sie z. B. kürzlich für die Tränfelspitze gegeben ist, 
nicht ausgeschlossen ist. Sehr viel schwieriger aber ist es, an 
die Möglichkeit einer Erklärung für die verschiedenartigen, 
zierlichen Gestalten der Desmidiaceen nnd Diatomeen zu glauben, 
denen wir vielleicht noch die Feridineen anschließen können: 
alle sind winzige Wasserpflanzen, bei denen die geringen Unter¬ 
schiede in der Lebensweise in gar keinem Verhältnis zu der 
Mannigfaltigkeit ihrer Formen stehen. Deshalb genügt auch für 
mich die Existenz der so verschieden geformten etwa 3700 
Arten von Desmidiaceen und etwa 6000 Arten von Diatomeen, 
um zur Überzeugung zu gelangen, daß bei der Entstehung der 
Arten das Nützlichkeitsprinzip nicht die entscheidende Rolle 
gespielt hat, die ihr die Darwinsche Theorie von der natürlichen 
Zuchtwahl zuschreibt, und daß schon aus diesem Grunde die 
genannte Theorie hinfällig ist, ganz abgesehen davon, daß wie 
Nägeli längst bewiesen hat, nie etwas Neues durch natürliche 
Zuchtwahl geschaffen werden kann! — An die einzelligen Algen 
schließen sich die anderen Algen nnd die Pilze an, von deren 
zum Teil entzückend zierlichen Gestalten, wie sie uns bei der 
Betrachtung eines größeren Algenwerkes oder etwa von Cor das 
,Prachtflora europäischer Schimmelbildungen' entgegentreten, 
schwerlich jemand sagen könnte, welchen Nutzen die einzelnen 
Arten von ihrer Gestalt haben. An den Blüten ist es nicht 
bloß die Färbung, sondern oft nicht minder die Gestalt, die sie 
uns so anziehend erscheinen läßt. Auch hier gilt wieder das 
Prinzip der Symmetrie als oberstes Gesetz, und zwar so, daß 
im allgemeinen frei auf dem Ende eines Stengels nach oben 
stehende Blüten strahlig, seitlich an der Achse stehende Blüten 
zygomorph ausgebildet werden. Viele Eigentümlichkeiten des 
Blütenbaues sind durch die Bestäubungsverhältnisse zu erklären, 
aber keineswegs möchte es gelingen, etwa jede der wunderbaren 
Blütenformen der Orchideen aus diesen beiden Prinzipien zu 
erklären. Bei Früchten und Samen können wir dieselben Be- 



Daa Indiyidiialitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 339 


trachtnngen anstellen, die ich nicht weiter aasspinnen will.« ... 
Weiter heißt es, »daß die Einrichtungen für den Insektenbesuch 
viel einfacher sein könnten, daß wir uns keinen Begriff davon 
machen können, was alles die wunderbaren Zeichnungen und 
Gestaltungen etwa einer Stanhopea-Blüte (einer Orchidee) zu 
bedeuten haben«. Möbius weist besonders darauf hin, daß 
vieles, was uns als nutzlos erscheint, gerade für die menschliche 
Auffassung unter den Begriff des Schönen fällt. »... Es handelt 
sich hierbei um einen besonderen Schmack im Gegensatz zu 
derjenigen Schönheit, die wir etwa an einem Baum *) bewundern, 
nnd die teils auf architektonischen Prinzipien, teils auf der 
Freude an der Entwicklung des Lebendigen beruht. Etwas 
anderes ist auch das ästhetische Wohlgefallen, das durch die 
Zierlichkeit und Regelmäßigkeit der inneren Struktur, z. B. bei 
Betrachtung eines Blattquerschnitts, erregt wird. Wir können 
also vielleicht die Schönheit, die ich hier meine, als ornamentale 
Schönheit bezeichnen.« M. führt weiter aus, daß zwar ästhetische 
Betrachtungen über die Gründe, aus denen uns Tiere und Pflanzen 
schön erscheinen, verschiedentlich vorliegen, daß aber Erklärungs¬ 
versuche, warum Tiere und Pflanzen durch schöne Formen und 
Farben geschmückt sind — abgesehen von reinen Zweckmäßig¬ 
keitsrücksichten —, nur sehr wenige gemacht wurden. Die 
exakte Naturwissenschaft muß seiner Ansicht nach auf eine 
Erklärung der ornamentalen Schönheit verzichten und muß dies 
einer metaphysischen Betrachtung überlassen. 

Die von Möbius aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis 
des Formenreichtums zur Notwendigkeit und Nützlichkeit hat 
K Go ehe 1 als »ein Grundproblem der Organographie« folgender¬ 
maßen formuliert: »Ist die Mannigfaltigkeit der Organbildnng 
größer als die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingungen?« Es 
ist die Meinung der naiven Teleologie (von C. K. Sprengel, 
aber auch des Neodarwinismus im Sinne von Wallace), »daß 
die Mannigfaltigkeit der Gestaltung der Mannigfaltigkeit der 
Lebensbedingungen entspricht, daß also alle Gestaltungsverhält¬ 
nisse einen bestimmten Nutzen haben müssen«. »Es ist aber 
auch möglich, daß die Natur in ihren Gestaltungen sozusagen 
künstlerisch verfährt, d. h. frei und ungebunden, namentlich ohne 
Rücksicht auf den Nutzen Gestaltungen hervorbringt, teils nütz¬ 
liche, teils gleichgültige, teils unvorteilhafte.« G. betont die 


1) Yergl. Goethes Änfiening über den Schdnheitsbegriff gegenüber Ecker¬ 
mann, Insel-Ansgabe S. 806. 


22* 



340 


Armin Müller, 


große Schwierigkeit der Entscheidung eines solchen Problems. 
Seite 39 seiner Organographie der Pflanzen Band 1 kommt er 
zn dem Besnltat, daß nicht alle Gestaltverschiedenheiten inner¬ 
halb einer natürlichen Gmppe einen ganz bestimmten >Natzen< 
zn haben brauchen. »Die Mannigfaltigkeit der Formen ist viel¬ 
mehr größer als die Mannigfaltigkeit der Lebensbedingnngen.€ 
Ähnlich dem von Möbius geäußerten Gedanken sagt G. (S. 32): 
»Eine Orchideenblttte mit ihren oft wunderbaren Einrichtungen 
zur Bestäubung, speziell Fremdbestäubung, ist gewiß etwas sehr 
Merkwürdiges. Wer aber nur vom Nützlichkeitsstandpunkt aus¬ 
geht, wird mit Recht fragen: Wozu denn der ganze sinnreiche 
Apparat, während andere Pflanzen mit viel einfacheren Mitteln 
dasselbe erreichen ? Offenbar ist das nur verständlich, wenn den 
Organismen das znkommt, was man früher,Gestaltungstrieb' ge¬ 
nannt hat. Dessen Resultate, die je nach den Fähigkeiten der 
einzelnen Pflanzengruppen für den Ablauf bestimmter Funktionen 
nützlich, gleichgültig oder ungünstig sein werden, bedingen die 
(in der Einleitung) erwähnte Mannigfaltigkeit.« G. zitiert dann 
Goethes Worte (Briefwechsel mit Zelter 1830): »Es ist ein 
großes Verdienst des alten Kant um die Welt, und ich darf 
sagen um mich, daß er in seiner Kritik der Urteilskraft Kunst 
und Natur nebeneinander stellte und beiden das Recht zugesteht, 
zwecklos zu handeln. Natur und Kunst sind zu groß, um 
auf Zwecke auszugehen, und haben es auch nicht nötig, denn 
Bezüge gibts überall, und Bezüge sind das Leben.« — ln dem 
Aufsatz »Die Grundprobleme der heutigen Pflanzenmorphologie« 
(BioL Zentr.-BL 1905 Bd. 25) wird dieselbe Frage von Goebel 
wieder aufgenommen. Der Darwin-Spencer sehen Auffassung 
hatte H. Scott Ausdruck gegeben mit den Worten: »All the 
characters which the morphologist has to compare are, or have 
been adaptive.« G. fragt: »Sind die Gestaltungsmerkmale lediglich 
fixierte Anpassungsmerkmale, oder haben wir zn unterscheiden 
zwischen Organisations- und Anpassnngsmerkmalen ?« Die letztere 
Unterscheidung wird als zn Recht bestehend anerkannt 
und Scotts Annahme, daß die spezifischen Merkmale durch 
Anhäufung nützlicher fluktuierender Variationen infolge Über¬ 
leben des Passendsten entstanden seien, verworfen. G. weist 
ausdrücklich nach, daß in zahlreichen Fällen spe¬ 
zifische Merkmale nicht adaptiv, nicht nützlich 
sind. »Verfolgen wir z. B. die systematische Gliederung der 
Liliifloren, so sehen wir, daß die einzelnen Gruppen derselbmi 
sich namentlich dadurch unterscheiden, ob der Fruchtknoten ober- 



Das IndiyidaalitKtsproblem und die Subordination der Organe. 341 


oder nnterständig ist und später zn einer Kapsel oder Beere 
wird, nnd wenn Eapselfrflchte yorhanden sind, ob diese sich 
locnlicid oder septicid öffnen. Von diesen Merkmalen könnte 
man allenfalls die Frage, ob Beerenfracht oder Eapselfmcht, 
mit der Frage der Anpassung dann in Zusammenhang bringen, 
wenn sich nachweisen ließe, daß die beerenfrüchtigen Liliifloren 
Torzugsweise in Gegenden Vorkommen, oder entstanden seien, 
wo viele Vögel sich vorfinden, welche die Beeren verzehren 
und so die Samen verbreiten. Eine solche Beziehung läßt sich 
aber derzeit nicht nachweisen, und wer würde wohl die Frage, 
ob eine Kapsel sich septicid vne bei den Colchicaceen oder 
locnlicid wie bei den Liliiaceen öffnet, als eine, die mit Anpassung 
in Beziehung steht, betrachten wollen? Die Öffnnngsweise ist 
bedingt durch den Fruchtbau der Colchicaceen und der Liliiaceen, 
für die Ausstreuung der Samen aber ist es offenbar ganz gleich¬ 
gültig, vne die Kapseln sich öffnen. < G. lehnt also die Ent¬ 
stehung der spezifischen Merkmale durch Häufung kleiner nütz¬ 
licher Variationen ab, sondern nimmt mit de Vries eine 
sprungweise Neuentstehung an. Die Selektion kann somit auf 
die durch Mutation entstandenen spezifischen oder Organisations¬ 
merkmale nur insofern einwirken, als sie die unvorteilhaften 
ansjätet So vrird es verständlich, daß »ein und dieselbe Auf¬ 
gabe auf so verschiedene Weise gelöst werden kann«. 

In grundsätzlicher Übereinstimmung mit Nägeli betont auch 
Oscar Hertwig, daß zahlreichen rein morphologischen Merk¬ 
malen bei Tieren und Pfianzen jeglicher Selektions-, d. h. Nutzwert 
fehlt. »Bei den Pfianzen ist es für die Chlorophyllfnnktion ganz 
gleichgültig, ob die Blätter rund oder oval oder lanzettförmig, 
ob sie glattrandig, gezackt oder gesägt, ob sie am Zweig gegen¬ 
ständig oder spiral angeordnet sind. Auch die Formen der 
Blüten, die Zahl und Anordnung der Staubfäden, welche Linnö 
einst als Einteilungsprinzip für sein System benutzt hat, bieten 
dem Nützlichkeitsforscher nur wenig Angriffspunkte, da Lippen-, 
Glocken- und anders geformte Blüten Eier und Pollen in ge¬ 
nügender Menge produzieren und von Insekten, welche die Be¬ 
fruchtung vermitteln, aufgesucht werden. Bei den Fischen kann 
es wohl auch nicht über Leben und Tod entscheiden, ob ihre 
Haut mit Plakoidschnppen, wie bei Selachiem, mit Schmely- 
schnppen, wie bei Ganoiden, oder mit Ktenoid- und Zykloid¬ 
schuppen, vne bei Teleostiern, bedeckt ist. Solche Beispiele 
würden sich leicht in die Hunderte vermehren lassen. Wenn dies 
schon vom ansgebildeten Organ gilt, um wieviel mehr von allen 



342 


Armin MUller, 


kleinen Veränderungen, welche im Laufe der Stammesgeschichte 
dem jetzt bestehenden Zustand yoransgegangen sind!<^) 

Hierher gehören auch Gedanken, die der Neurologe 0.Höhn¬ 
st a m m freilich nur wenig systematisiert entwickelt hat. (»Zweck¬ 
tätigkeit und Ausdruckstätigkeit« in Arch. f. ges. Psychol. Bd. 29, 
1913, sowie »AuBerzweckhaftigkeit und Form in Leben und 
Kunst« 1916.) K. trennt alle Lebensäußemngen nach den polaren 
Gegensätzen: Zweckhaftigkeit und Ausdruckstätigkeit Zweck¬ 
haft ist alles, was die Existenz eines Organismus unmittelbar 
wahrt und fördert, außerzweckhaft ist hingegen alle Ausdrucks- 
tätigkeit, in der ein von uns mit Denkzwang in den Organismus 
hineingelegtes Lebensgefühl zum Ausdruck kommt, wie in dem 
Gesichtsausdruck oder der Haltung eines Menschen. Zwecktätig¬ 
keit gipfelt in der technischen Vollendung, Ausdruckstätigkeit 
in der Schönheit, beide hängen im tiefsten Grunde und in der 
letzten Erfüllung zusammen. Eine Ausdruckstätigkeit, die ein 
Gefühlserlebnis, eine Gemütsbewegung zum Ausdruck bringt, 
kann erst in einem höheren Sinne zweckmäßig genannt werden, 
insofern sie der Entladung der Affekte dient und ferner dadurch 
eine soziale Funktion erfüllt, als sie von Artgenossen wahr¬ 
genommen wird und Gefühlserlebnisse kundgibt »Die Ausdmcks- 
tätigkeit ist nicht immer sichtbare Bewegung, sie kann auch 
visceraler Art sein, d. h. sich an Eingeweiden, Kreislaufs-, 
Atmungs-, Verdauungsapparat, an Schweiß-, Speichel-, Tränen¬ 
drüsen, PupUlen abspielen. Sie kann schließlich psychischer 
Natur sein, in Gestalt symbolischer Erlebnisse der verschiedenen 
Sinnessphären. Wenn diese in Worten, in Noten, in Farben 
niedergeschrieben werden, sodaß Ansdruckstätigkeit zu selbst¬ 
ständiger und verständlicher Erscheinung gelangt, so haben wir 
»Kunst als Ausdruckstätigkeit«. Unbedingte Außerzweckhaftig- 
keit ist ein Kriterium für die Echtheit aller Kunst Nur in 
der angewandten Kunst werden Zwecke mitbedingend. Eine 
besondere Beziehung gewinnt die Ansdruckstätigkeit dadurch, 
daß sie formbildend wirkt »Ein Mensch, dessen Ausdrucks¬ 
tätigkeit darin gipfelt, daß sie ihm eine stolze Haltung verleiht, 
gewinnt eben dadurch eine bestimmte Form.« Da sich nun 
allem Leben gegenüber der Denkzwang geltend macht, daß wir 
ein Gefühl lebendiger Betätigung hineinverlegen müssen, so 
tragen wir nicht nur in Tierformen, sondern auch in pflanzliche 
Gebilde ausdrucksmäßige Beseelung hinein. Dieser anßerzweck- 


1) 0. Hertwi'g, das Werden der Organismen, 1916, S. 674. 



Das Individaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 343 

haften Ansdrückstätigkeit schreibt somit K. durchaus Objektivität 
zu. »Beispiele von reinen ausdmcksmäßigen Bildungen bietet 
die Biologie in den Schmnckformen und Schmuckfarben der 
Lebewesen. Ihre zweckbafte Erklärung im Sinne der geschlecht* 
liehen Zuchtwahl ist stark bestritten und kann jedenfalls für 
ihre Entstehung nicht in Betracht kommen. Der zweckhafte 
Zusammenhang der Blütenfarben mit der Befruchtung durch 
Insekten ist seit Hess’ Nachweis von deren Farbenblindheit 
fraglich geworden. Warum soll auch der Rhythmus des Lebens 
sich bei Pflanzen und Tieren nur in räumlicher Gliederung und 
nicht auch imFarbenkleid aussprechen bei der noch unübersehbaren 
Bedeutung des Lichtes für das Spiel der Lebensvorgänge vom 
Blattgrün bis zur Negerhaut. Wenig bemerkt ist die kunstvolle 
Technik, die in der Anordnung der Federn erforderlich ist, um 
etwa das Prachtgewand des Pfauen oder der männlichen Wild¬ 
ente hervorzubringen. Hier stellt sich wie bei der Kunst des 
Menschen wieder Zwecktätigkeit in den Dienst der Ausdmeks- 
tätigkeit, der wir den organisch gewordenen oder organisch 
gewählten Schmuck zurechnen.« Diese Schmnekorgane weisen 
eine vielfache Ähnlichkeit mit dem Schmuck des Menschen auf, 
der, um geschmackvoll zu wirken, den Anschein erwecken muB, 
als wenn er durch ein Ausdmeksstreben bedingt sei. »Von der 
unendlichen Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen 
Formbildungen, soweit sie nicht zweckhaft bedingt sind, ist aber 
nur zu sagen, daß sie anßer-zweckhaft sind. Sie sind nicht 
unzweckmäßig, stehen aber außerhalb der Kategorie der Zweck- 
haftigkeit. Dem teleologischen Utilitarismus, der von Kant als 
das für alles Leben gültige, regulative Prinzip aufgestellt wurde, 
besonders aber unter dem Einflüsse des Darwinschen Auslese¬ 
prinzips zur Herrschaft gelangte, sind also schon innerhalb des 
Lebensbereiches Grenzen gesetzt. Auch die empirische Forschung 
läßt das Bestreben erkennen, die Kompetenz des UtUitarismus 
einznschränken. In der Zoologie erheben sich starke Zweifel 
an der ausschließlich zweckhaften Deutung der Schutzfärbung 
und auch in der Botanik erweist sich der teleologische Anthro¬ 
pomorphismus als unzureichend. Mehrere Forscher weisen auf 
Beispiele von Pflanzen hin, deren lebhaft gefärbte Blütenblätter 
im Raume derartig angeordnet sind, daß sie zur Anlockung von 
Insekten ungeeignet sind. Es gilt also für die morphologischen 
und funktionellen Lebensformen ein außerzweckhaftes Prinzip, 
innerhalb dessen die Ausdruckstätigkeit vielleicht nur einen 
unter vielen FäUen verwirklicht. In der Erzeugung außer- 



344 


Armin Müller, 


zweckhafter Formen schafft dieEnnst — als Ansdmckstätigkeit— 
nach organischem Formprinzip wie das Leben selbst nnd dentet in 
dieser Gemeinsamkeit anf eine geheimnisvolle nnd nrsprflngliclie 
Verwandtschaft, die wir ahnnngsvoll zn ehren alle Ursache haben.« 

Anch Prinzhorn (>Bildnerei der Geisteskranken«) faßt >das 
Leben überhaupt als eine Hierarchie von Gestaltnngsvorgängen 
anf.« Jede äußere Zwecksetznng ist aber dem Wesen der 
Gestaltung — jedenfalls primär — fremd. Den Sinn der Ge- 
staltnng sucht er eben in der Gestaltung selbst >Wir 
glanben Vollkommenheit eines Werkes nicht anders ansdrficken 
zn können als: Höchste Lebendigkeit in vollendeter Gestaltung.« 
Wenn hier zunächst an das Kunstwerk des Menschen gedacht 
ist, so gilt der gleiche Gedanke anch für die Werke 
der Natur. Das Ausdmcksbedttrfnis, das einem dunklen, trieb¬ 
haften Drange zugeschrieben wird, offenbart sich in spielerischer 
zweckfreier Betätigung und Gestaltung. 

»Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reich¬ 
lich lohnet« 

Solche noch sehr allgemein gehaltenen philosophisch inspi¬ 
rierten Spekulationen haben zwar einen erheblichen Wert für 
die Grundlegung der theoretischen Biologie, nnd sie sind sicher¬ 
lich sehr geeignet, zn weiterer Fragestellung anznregen. Aber 
zu einer wirklich wissenschaftlichen Fassung der Probleme be¬ 
darf es weit exakterer Grundlagen, die in dem Maße an Wert 
gewinnen, als sie einer mathematischen Behandlung zugänglich 
werden. Bekanntlich hat das Problem des goldenen Schnittes, 
dessen objektiven Nachweis an zahlreichen Gebilden der orga¬ 
nischen Natur besonders Zeising versucht hat, in der zweiten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts eine gewisse Rolle gespielt. Wenn 
Z ei sing namentlich in den Kreisen der exakten Natnrforschung 
keine dauernde Anerkennung gefunden hat, nnd seine tatsächlich 
verdienstvollen Leistungen zur Zeit anscheinend ganz vergessen 
sind, so liegt das daran, daß seine Lehre, wie Fe ebner bemerkt, 
mindestens an Übertreibung nnd Mängeln der Kritik leidet. Es 
ist zweifellos eine Übertreibung, wenn er den goldenen Schnitt 
als »ein die ganze Natur und Kunst durchdringendes morpho¬ 
logisches Grundgesetz« bezeichnet. Noch entscheidender dürfte 
aber der Zeitgeist gewesen sein, der ganz erfüUt war von der 
Darwinschen Lehre nnd der rein mechanistischen Auffassung 
der organischen Natur. Zu ihr standen von vornherein in 
diametralem Gegensatz alle Versuche, objektive mathematisch¬ 
ästhetische Gesetze, die durchaus keinen Selektionswert reprä- 



Das IndiTidoalitätsproblem and die Subordination der Organe. 345 

sentieren, in der Natnr nachznweisen. Ihre innere Verwandtschaft 
mit den Bestrebungen der so verpönten idealistischen Morphologfie, 
die ebenfalls nach inneren Strukturgesetzen fahndete, ließen sie 
überhaupt nicht ernstlich diskutabel erscheinen. Aus dem 
Jahre 1885 stammt eine Schrift >Der goldene Schnitt und dessen 
Erscheinungsformen in Mathematik, Natur und Eunst< von Fr. 
X. Pf ei f er, die merkwürdigerweise aus dem wissenschaftlichen 
Bewußtsein der Gegenwart gänzlich entschwunden zu sein scheint. 
Sie zeichnet sich, was den naturwissenschaftlichen Teil betrifft, 
durch nüchterne Sachlichkeit und Kritik aus und bringt ein 
sorgfältig verwertetes Beobachtungsmaterial, das freilich im 
Verhältnis zur Bedeutung der Sache noch wesentlich umfang¬ 
reicher und genauer protokollarisch belegt seiu müßte. Ergänzt 
wird die Arbeit durch vorzügliche Lichtdrucktafeln. In dem 
Abschnitt, der die organische Natur behandelt, ist der bei weitem 
größte Teil dem Pflanzenreich gewidmet. Der g. Sch. kann 
daselbst in drei Modiflkationen auftreten: 1. im Verhältnis 
von Strecken auf ein und derselben Graden, z. B. Intemodien 
von Stengeln oder Abstände der Insertionen von Fieder-Blättchen 
an der Blattachse. 2. im Verhältnis parallel laufender Strecken, 
z. B. von parallelen Seitenästen an derselben Hauptachse. 3. im 
Verhältnis von mehreren Strecken untereinander, die strahlen¬ 
förmig von einem Punkt ausgehen, z. B. von mehreren quirl¬ 
förmig ausgehenden Seitenästen samt dem nächsthöheren Inter¬ 
nodium der Hauptachse. Wie schon diese Beispiele andeuten, 
hat Pf. sich hauptsächlich auf Stengel- und Blattgebilde als 
Träger des g. Schn, beschränkt Je vollkommener und regel¬ 
mäßiger eine Blattform gegliedert ist, wie z. B. bei den ge¬ 
fiederten Blättern, um so frequenter und exakter tritt der g. Sch. 
auf. Daher wurde er besonders häuflg bei Doldenblütlern und 
Famen nachgewiesen. Abgesehen von der Disposition, die ge¬ 
fiederte Blätter geben, scheinen unter den Kryptogamen die 
Alismaceen, unter den Dicotylen die Labiaten besonders den g. Sch. 
zu bevorzugen. Eine besondere Variation kann dadurch ent¬ 
stehen, daß die Strecken, die nach dem g. Sch. im Verhältnis 
des Major zum Minor stehen, nicht unmittelbar aufeinander folgen, 
sondern durch Zwischenglieder getrennt sind. So entstehen z. B. 
Grappen von je vier Intemodien: das jeweils 1., 2., 3., 4. Inter¬ 
nodium der einen Gmppe steht zu dem entsprechenden Inter¬ 
nodium der folgenden Gmppe im Verhältnis des g. Sch. Da¬ 
durch, daß Pf. auch auf solche kompliziertere Manifestationen 
des g. Sch. aufmerksam wurde, gelang es ihm, ihn unerwartet 



346 


Armin Müller, 


h&ufig nachznweisen. — Pf. macht darauf aufmerksam, daß bei 
solchen Pflanzenfamilien, die der Ausbildung der Proportion 
des g. Sch. an Blättern und Stengeln nicht günstig sind, der 
g. Sch. dafür besonders häuflg in den Divergenzverhältnissen, 
d. h. in der Teilung des Stengelumfangs durch den Ansatz der 
Blätter zutage tritt In der Blattstellungslehre, auf die hier 
nicht näher eingegangen werden kann, ist die Existens des g. Sch. 
seit jeher anerkannt worden. Freilich ist weder sein mechanisches 
Zustandekommen (im Sinne Schwendners) noch seine biologische 
Bedeutung in befriedigender Weise aufgeklärt (siehe Goebel, 
Organographie I, S. 212). Unzweifelhaft gebührt Pf. das Verdienst, 
das viel häufigere Vorkommen des g. Sch. einwandfrei nachge¬ 
wiesen zu haben. Dabei gelang ihm auch der Nachweis zahl¬ 
reicher anderer einfacher mathematischer Beziehungen in der 
Architektur des Pflanzenkörpers, zahlreicher arithmetischer und 
geometrischer Progressionen, die mit der L am Aschen Zahlen¬ 
reihe (deren Glieder sich wie Major zu Minor im g. Sch. ver¬ 
halten) nichts zu tun haben. Zweifellos wird aber das Ver¬ 
hältnis der Sectio aurea in der Natur ganz besonders bevorzugt. — 
Merkwürdigerweise ließ sich in der botanischen Literatur nur ein 
einziger Hinweis auf Pfeifers Arbeit entdecken. Fr. Ludwig 
schreibt in seinem Lehrbuch d. nieder. Kryptogamen 1892 (S. 608) 
anläßlich besonderer Teilungsverhältnisse der Diatomee Melosira 
arenaria, die hierbei der L amösehen Zahlenreihe (2,3,5,8, 13, 
21, 34 usw.) folgt, über den g. Sch. und seine ästhetische Be¬ 
deutung : »Woher haben wir aber dieses Schönheitsmaß ? Offenbar 
aus der Natur. Es beweist diese unbewußte Auswahl nach dem 
g. Sch., daß dieses Verhältnis in der Natur noch viel weiter 
verbreitet ist, als es der Fachgelehrte heute weiß. Unter¬ 
suchungen mit dem g. Sch.-Zirkel, wie sie X.Pfeifer angestellt 
hat, dürften dies lehren.< — Von den Untersuchungsergebnissen 
an zoologischen Objekten sei nur erwähnt, daß der g. Sch. 
häufig an Insekten sowie an Conchylien nachgewiesen wurde, 
bei letzteren besonders an den spitzkegeligen Formen (z. B. 
Gattung Terebra), deren spiralige Windungen in ihren Abständen 
sehr exakt und konstant die Proportion anfwiesen. — In seinen 
Schlußreflexionen versucht Pf. eine Erklärung für das frequente 
Auftreten des g. Sch. in Natur und Kunst zu geben. In An¬ 
lehnung an Fechners Ästhetik geht er von dem Prinzip der 
einheitlichen Verknüpfung des Mannigfaltigen ans, dem zugleich 
das Prinzip der Kontinuität und der Verknüpfung der Gegensätze 
zugfmnde liegt. In der Natur sind nun die organischen Lebe- 



Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 347 

wesen im besonderen Maße Manifestationen der Gliederung und 
der Mannigfaltigkeit in der Einheit. »Wie beim g. Sch. das 
Ganze früher ist als die Teile, so auch bei der Gliederung. Der 
g. Sch. entsteht nicht synthetisch, nicht durch Zusammensetzung, 
sondern analytisch, durch Teilung, und so entsteht auch in der 
Natur ein gegliedertes Ganze nicht durch mechanische Zusammen¬ 
setzung, sondern durch innere Differenzierung. Es ist daher 
nicht zufällig, daß gerade in organisch gegliederten Naturwesen 
der g. Sch. so frequent auftritt, sondern es hat dies in einer 
inneren Wesensverwandtschaft des g. Sch. mit organischer 
Gliederung seinen Grund. Beiderseits, im g. Sch. und in der 
organischen Gliederung, ist das Ganze vor den Teilen gegeben, c 
Wie Pf. weiter nachweist, ist der g. Sch. in besonderem Maße 
der mathematische Ausdruck vollkommener Stetigkeit und Ver¬ 
mittelung. In dem frequenten Vorkommen des g. Sch. in der 
Natur glaubt Pf. einen vollkommenen Ausdruck der auch 
sonst in der Natur vorhandenen Gesetze der Stetigkeit und 
Vermittelung (natura non facit saltus) erblicken zu dürfen. 

Wahrscheinlich beeinflußt durch Pfeifers Schrift, bringt 
Langbehn in seinem »Rembrandt als Erzieher« (das Buch 
erschien 5 Jahre nach Pf eif ers Arbeit 1890) ein Kapitel, das 
er »Tektonik der Natur« betitelt. Er fordert, daß auch die 
Naturwissenschaft gewissen künstlerischen Tendenzen folge, was 
zur Erschließung einer ganz neuen Disziplin, eben der Tektonik 
der Natur führen soll. Diese wird sich, eben auf Grund der 
reinen Mathematik, mit den mathematisch-künstlerischen Struktur¬ 
verhältnissen der Naturwesen zu beschäftigen haben; die Formen 
und Formenverhältnisse eines jeden organischen Wesens, nach 
deren tektonischem und künstlerischem Werte, fallen in ihren 
Bereich. In dem Kapitel >Darwin« heißt es unter offensicht¬ 
licher Bezugnahme auf Pfeifers Arbeit: »Innerhalb der 
Botanik sind rein mathematische Formengesetze, so das des 
g. Sch., als weitverbreitet und von hoher Bedeutung für die Ge- 
samtentwicklnng der Pflanzenwelt erst neuerdings nachgewiesen 
worden. Ein vollendeter Wohllaut der Formen-, Maß- und 
Zahlenverhältnisse des Natnrlebens gibt sich hier in überraschender 
Weise kund. Er bewegt sich in regelmäßigen Kadenzen, in 
harmonischen Akkorden, in streng gesetzmäßiger Folgerung und 
eröffnet so für eine künftige Natnrforschung die allermerk- 
wfirdigsten Perspektiven.« An einer anderen Stelle heißt es: 
>Emzelne, aber unter sich ganz zusammenhangslose Versuche 
sind auf diesem Gebiete bereits gemacht worden, Ansätze zu 



348 


Armin Müller, 


einer späteren einheitlichen Anffassnng desselben, aber auch 
nicht entfernt der wirkliche Anfang einer solchen.« 

In diesem kurzen Überblick sollte Rechenschaft abgele^ 
werden über einige Versuche, neben der reinen Zweckhaftigkeit 
noch ein anßerzweckhaftes Prinzip in der organischen Katar 
nachznweisen. Zunächst wurde versucht, die psychologische 
Bedingtheit des Utilitätsprinzipes in seiner Anwendung auf die 
organische Natur darzulegen und dadurch seine alleinige Geltung 
für die biologischen Theorien mindestens in Frage zu ziehen. 
Dann wurde im Sinne Goebels (und Nägelis) zwischen 
Organisations* und Anpassungsmerkmalen unterschieden und 
dadurch eine viel größere Formenfülle erwiesen, als es die bloß 
vitale Notwendigkeit gegenüber den Umweltsbedingnngen er¬ 
fordert. Daher spricht Goebel von einer Art »Gestaltungstrieb«, 
an dessen Produkten erst sekundär die Selektion sich im Sinne 
der reinen Zweckmäßigkeit ausmerzend betätigt Endlich wurde 
von den Arbeiten von Brunner von Wattenwyl, von 
M. Möbius, 0. Kohnstamm, F. X. Pfeifer und Lang- 
behn berichtet, die positiv den mathematisch-ästhetisch-künst¬ 
lerischen »Sinngehalt« der Naturobjekte zu >verstehen« trachten. 
Driesch wirft einmal die Frage auf: »Wie, wenn man die 
organische Mannigfaltigkeit auch ästhetisch faßte?... Fragen 
können wir wohl, aber Antworten geben können wir nicht« 

12. Die Herabwandemng der Keimdrüsen und ihre bisherigen 

Erklärungsversuche. 

Von den bis hierher gewonnenen Voraussetzungen ans soll 
nunmehr der Versuch gemacht werden, der Lösung eines ebenso 
dunklen wie schwierigen Problems näherzukommen: der Lage¬ 
veränderungen der Keimdrüsen der Säugetiere, dem Descensus 
testiculorum et ovariorum. Es soll das Problem nicht nur als 
ein isoliertes Phänomen der Keim- und Stammesgeschichte des 
Urogenitalsystems betrachtet werden, vielmehr soll unter aus¬ 
drücklicher Anerkennung eines Primats des physiologischen 
gegenüber dem anatomischen Standpunkt das Fortpflanzungs- 
vemögen in eine »organische« Beziehung zur Lebensbetätigung 
des Gesamtorganismus gesetzt werden nnd hieraus ein »Ver¬ 
stehen« jener merkwürdigen Erscheinung angestrebt werden. 

Im folgenden kann nur an die wichtigsten hier in Betracht 
kommenden Tatbestände erinnert werden; ein Hinausgehen über 
eine rein referierende Stellungnahme ist nicht beabsichtigt 



Das Indiyidaalitätsproblem nnd die Sabordination der Organe. 349 

Mit Felix nnd Bühler^) ist anznnehmen, daß sich bei den 
Vertebratenahnen die Genitalanlage über die ganze Leibeshöhle 
erstreckte nnd ancb ans ebenso viel Teilstttcken znsammengesetzt 
war, als Bnmpfsegmente vorhanden waren. In der Anlage wird 
diese Ansdehnnng noch von den meisten Vertebraten festgebalten, 
in der Ansbildnng aber eingeschränkt. Während so bei den 
niedrigsten Wirbeltieren die Gonaden sich oft noch fast dnrch 
die ganze Coelomhöhle erstrecken, findet bei den höheren Formen 
entsprechend einer regionalen Differenzierung längs der Eörper- 
hanptachse eine Beschränkung auf die mittlere oder hintere 
Eöiperregion statt. Bis zu den Reptilien und Vögeln bleiben 
die Geschlechtsdrüsen noch am Orte ihrer embryonalen Entstehung, 
dem Lnmbalahschnitt der hinteren Eörperwand liegen; erst in 
der Reihe der Säuger tritt der Descensus ein und kann von 
niederen zu höheren Formen anfsteigend auf den verschiedensten 
Stadien seiner Ausbildung verfolgt werden. Wie besonders 
Neuhäuser*) ausftthrt, unterscheidet sich die Topographie 
der Eeimdrüsen bei Reptilien von der bei Säugern dadurch, 
daß bei jenen die Eeimdrüsen regelmäßig noch kranialwärts 
von den bleibenden Nieren liegen. Dagegen findet sich bei den 
erwachsenen Säugern die Eeimdrüse regelmäßig weit kaudal- 
wärts von der Niere, und nur in wenigen Fällen unter den 
testiconden Säugern, bei denen die Testikel zeitlebens in der 
Bauchhöhle bleiben, >liegt der kraniale Pol der Eeimdrüse in 
unmittelbarer Nähe des kaudalen Nierenpols, niemals jedoch 
reicht derselbe (wie bei den Reptilien) weiter kopfwärts als der 
kraniale Nierenpolc. Neuhäuser hat, einer Anregung 
Schwalbes folgend, versucht, diesen inneren Descensus der 
Eeimdrüsen dnrch eine Beckendrehung zu erklären, die allein 
den Säugern, nicht aber den Reptilien znkommt. Bei diesen 
bilden die Längsachsen der Darmbeine noch einen spitzen 
Winkel mit dem Achsenskelett; bei den Säugern wird dieser 
Winkel zu einem stumpfen. Die Drehung erfolgt um die Mitte der 
lleosakralverbindung um eine transversale Achse, wobei das 
Acetabnlnm den annähernd größten Bogen kaudalwärts beschreibt. 
Dieser innere Descensus ist übrigens von Felix geleugnet 
worden mit dem Hinweis, daß das kaudale Hodenende von An¬ 
fang an am inneren Leistenring liege. >Was bei beiden Organen 
(Hoden- und Eierstock) den Descensus vortäuscht, ist einmal die 
Rückbildung des kranialen Abschnittes, die eine Verkürzung des 

1) Hdbch. der SntwioUgslehre der Wirbeltiere y. Hertwig HI, 1 S. 822. 

2) Ztsch. f. Morpholog. 1901, S. 226. 



350 Amin Müller, 

Gesamtorganes nnd damit eine Verschiebong des kranialen Endes 
bedingt, ferner ist die Räckbildnng der angelegten Teile schon 
an der Arbeit, wenn die Anlage selbst kandalwärts noch fort¬ 
schreitet«. (Corning, Lehrb. d. EntwickL-Gesch. 1921, S. 420). 
Eine weitere charakteristische Differenz besteht darin, daß bei 
Reptilien, wie Vögeln, der Nebenhoden nnd der mit ihm ver¬ 
bundene Hoden hinter dem Bauchfell fest an der hinteren 
Leibeshöhlenwand fixiert ist; bei den Säugern, auch bei den 
Testiconden, ist er dagegen an einer Bauchfellduplikatnr, einem 
Derivat des nach der Schrumpfung der Umiere restierenden 
Umierenligaments, mehr oder weniger verschieblich anfgehängt 
(0. Frankl). Erst auf Grund dieser großen Beweglichkeit 
dank dem nur den Säugern eigenen Aufhängeapparat kann über¬ 
haupt eine Verschiebung der Keimdrüsen stattfinden. — Unter 
den echten Testiconden, bei denen der Testikel niemals die 
Leibeshöhle verläßt, und bei denen es noch nicht zur Bildung 
eines Ingninalkanales und lig. inguinale kommt, werden zunächst 
solche Formen unterschieden, wo die Testikel, bez. Eierstöcke 
in nächster Nähe der Nieren an der hinteren Banchhöhlenwand 
fixiert bleiben. Es sind das meist primitive Säuger, die Mono- 
tremen, unter den Insektenfressern die Centetiden, Macrosceli- 
diden, Chrysochloriden, ferner Elephas und Hyrax (Klipp¬ 
schliefer). Bei einer zweiten Gruppe ist ein partieller Descensus 
eingetreten; die Hoden liegen auch hier in einer dem Umierenliga- 
ment entsprechenden Peritonealduplikatur, werden aber weiter 
kandalwärts angetroffen zwischen Blase und Rektum. Es sind 
das die Ameisenfresser nnd die Faultiere. Schließlich gibt es 
im Gegensatz zu den genannten primären noch eine Gruppe 
sekundärer Testiconden, deren Vorfahren zweifellos einen echten 
Descensus besaßen; so liegen bei den Walen in Anpassung an 
das Wasserleben die Hoden intraabdominal der vorderen Bauch¬ 
wand an. Daselbst liegen die Hoden auch bei den Gürteltieren, 
bei denen ein weiter Inguinalring mit einem hervorragenden 
kleinen Cremastersack noch an einen früheren vollständigen 
Descensus erinnert. Dort, wo ein echter Descensus auftritt, 
ist das ursprüngliche Verhalten, wie es bei Insektivoren, Nagern, 
Chiropteren und einzelnen Affen beobachtet wird, so, daß die 
Hoden bis zur Reife noch in der Leibeshöhle liegen, bei er¬ 
wachsenen Tieren aber in einen nach außen vorgestülpten Teil 
der inguinalen Bauchwand zu liegen kommen, während der 
Brunst aber durch die Wirkung des M. cremaster in die Bauch¬ 
höhle zttrückkehren. Bei anderen Säugern, so auch bei den 



Das IndiTidnalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 351 

Primaten, haben die Hoden eine danemde eztraabdominale 
Lagenmg schon während der Ontogenese gewonnen. — Be¬ 
kanntlich ist der eigentliche Mechanismns des Descensus noch 
bei beiden Geschlechtern problematisch. Wahrscheinlich ttbt 
das >in seiner ursprünglichen Bedeutung gänzlich dunkle c 
(Wiedersheim) lig. inguinale durch Schrumpfungsprozesse 
eine gewisse Traktionswirkung aus. Noch wesentlicher sind 
wohl ungleiche WachstumsYorgänge; das Leitband wächst nicht 
mit und bleibt klein, die umgebenden Organe zeigen erhebliches 
Längenwachstum und schieben sich an dem Hoden vorbei, der 
durch das am Leistenring befestigte Gnbemaculum festgehalten, 
einen zu seiner Umgebung relativen Lagewechsel vollzieht. 
Auf die Bolle, welche jenes werkwttrdige, von Elaatsch als 
C!onus ingninalis bezeichnete Gebilde spielt, das als Einstülpung 
eines Teils dei* vorderen Bauchmnskulatnr sich dem Hoden ge¬ 
wissermaßen entgegenstreckt und sich mit dem hinteren Ende 
des Leistenbandes verbindet, soll nicht weiter eingegangen 
werden. Nach Frankl entsteht es nicht durch eine bloße 
Einstülpung der vorderen Banchwand, sondern »durch förm¬ 
liches Hineinwachsen der Zellen aus der Myoblastenzone der 
vorderen Bauchwand ins lig. inguinale«. Noch weit proble¬ 
matischer als die Erklärungsversuche der Ontogenie sind die 
der Phylogenie des Descensus. Die einzige, auf umfangreichem 
vergleichend-anatomischen Material basierende, wenn auch viel 
umstrittene Theorie ist die von Elaatsch*), die vom weib¬ 
lichen Geschlecht ihren Ansgang nimmt. Die Mammarorgane 
der Ingninalgegend, wie sie jetzt noch bei Monotremen an¬ 
getroffen werden, sollen eine Wirkung auf tiefere Teile in der 
Bauchhöhle ansgeübt haben. Der periodisch mächtig an¬ 
schwellende Drüsenkörper führte zu einer Verdrängung der 
seitlichen Bauchmnskulatnr an umschriebener Stelle, zu einer 
»Einstülpung«, einem primitiven Conus ingninalis. Die Ursache 
des Auftretens des lig. inguinale, das sich mit diesem Conus 
verbindet, ist auch nach Elaatsch unbekannt. Die starke 
Ausbildung des lig. inguinale beim weiblichen Geschlecht, sein 
Zusammenhang mit dem Uterus, seine periodische Größenznnahme 
mit der Gravidität und ganz besonders seine nahe örtliche Be¬ 
ziehung zum Conus ingninalis und damit zum Mammarorgane 
machen es sehr wahrscheinlich, daß dies Gebilde im weiblichen 
Geschlecht entstand und mit den anderen zum Mammarorgan 


1) Morphol. Jahrb. Bd. 16, 1890. 



352 


Armin Müller, 


gehörenden Einrichtungen (der Milchdrüsenmuskel der weib¬ 
lichen Beuteltiere, das Homologon des m&nnUchen Cremaster¬ 
muskels) auf das männliche Geschlecht übertragen wurde. Der 
entsprechend der periodischen Mammarfunktion periodisch sich 
einstfilpende Conus gewinnt mit den ebenfalls periodisch stark 
anschwellenden Hoden Verbindung, die infolge ihres Band¬ 
apparates einer besonderen Exkursion fähig sind, während die 
Ovarien durch die starke Entwicklung der Mflllerschen Gänge 
von der vorderen Banchwand geschieden sind. Die erwähnte 
Verbindung soll schließlich im Verein mit anderen mechanisch 
wirksamen Momenten zu der Verlagerung, wie sie heute vor¬ 
liegt, geführt haben. — Die hier nur skizzenhaft wieder¬ 
gegebene Theorie von Elaatsch ist von Gegenbanr und 
M. Weber angenommen worden, Wiedersheim nimmt eine 
abwartende Stellung ein. Neuhäuser sucht die Theorie in 
zahlreichen einzelnen Punkten als irrig zu erweisen u. a. durch 
den Nachweis, daß z. B. bei Kaninchen und Meerschweinchen 
die Milchdrüsenanlage keinerlei Zusammenhang mit der Basis 
des Conus hat. Eine andererseits befriedigende Erklärung kann 
aber auch Neuhäuser nicht geben. Meisenheimer’) sagt 
von Klaatschs Theorie: >Das alles ist rein hypothetisch, 
befriedigt in seiner Ausdeutung nur wenig und steht zum Teil 
sogar in direktem Gegensatz zu tatsächlichen Befunden, insofern 
beispielsweise bei trächtigen Meerschweinchen und Kaninchen 
keine Spur eines Leistenbandes vorhanden ist, trotz voller Aus¬ 
bildung desselben im männlichen Geschlecht.< Meisenheimer 
versucht daher die Hoden selbst zum Ausgangspunkt zu nehmen. 
Bei den Vögeln ist eine erhebliche Volnmenznnahme während 
der Brunst bekannt, die beim Sperling das Tausendfache des 
ruhenden Hodens erreicht. Dieser von sauropsidenartigen Vor¬ 
fahren ererbte Zustand ist auch noch bei niedrigen Säugetieren 
festzustellen. Da nun bei Säugern die Hoden von vornherein 
sehr weit nach hinten kandalwärts von den Nieren verlagert 
sind, und sie ferner durch den Bau ihres Aufhängeapparates 
eine ganz besondere Beweglichkeit haben, wurden die in der 
hinteren Bauchregion gelegenen Organe zur Brunstzeit gegen 
die vordere Bauchwand gedrängt An der Berührungsstelle kam 
es zur Ausbildung eines Leistenbandes und durch den Druck der 
anschwellenden Hoden zur Bildung einer Tasche, eines primi¬ 
tiven Cremastersackes, der sich weiterhin mehr und mehr ver- 


1) 1. c. S. 471. 



Das Indiyidaalitätsproblem and die Subordination der Organe. 353 

YoUkommnete. Die einzelnen Stufen der Phylogenese dieses 
Vorgangs sind einigermaßen noch zu verfolgen an den ver¬ 
schiedenen Znständen bei den ^Insektenfressern. Die primitiven 
Formen, echte Testiconde, zeigen den Hoden noch unmittelbar 
hinter den Nieren, bei Oryzoryctes und Microgale liegen sie be¬ 
reits neben der Harnblase, bei Potamogale erreichen sie die 
vordere Bauchwand, die sie zur Brunstzeit etwas vorwölben. 
Erst bei den Maulwürfen tritt ein Leistenband auf, durch das 
die Hoden mit der Wand des noch seichten Cremastersacks ver¬ 
bunden sind. 

Die bisherigen Ausführungen zeigten, daß über die Verlagerung 
der Keimdrüsen, > diesen nach der mechanischen, phylogenetischen 
und bionomischen Seite hin schwer erklärbaren V organg« (Wieders- 
heim), > dessen mechanische Seite dem Verständnis Schwierigkeit 
bereitet, dessen morphogenetische, mehr noch seine bionomische 
Bedeutung dunkel ist< (M. Weber), in keiner Weise allgemein 
befriedigende, geschweige denn übereinstimmende Anschauungen 
bestehen. 

Während alle bisherigen Erklärungsversuche, besonders der 
von Elaatsch, nur die rein mechanische Seite des Problems 
behandelten, hat Meisenheimer versucht, die letzte Etappe 
des Descensus testiculorum, die Ausbildung des Scrotums, bio¬ 
logisch verständlich zu machen*). »Was hat diese so weitgehende 
Verlagerung der Geschlechtsdrüsen veranlaßt, was hat sie ihren 
gesicherten Platz in der Bauchhöhle definitiv aufgeben lassen 
und sie den zweifellos bestehenden Gefahren einer derart ex¬ 
ponierten Lage aussetzen lassen?« ... »Wenn aber« — nach 
einmal bis zur ventralen Bauchwand voUzogenem Descensus — 
»die vergrößerten Geschlechtsdrüsen zur Brunstzeit sich so weit 
vordrängten, daß sie äußerlich sichtbare Vorwölbungen der 
Bauchhaut hervorriefen, nun dann mußten diese Zeichen reifer 
Sexualität in stärkerer Weise als irgend etwas anderes dem 
Weibchen die geschlechtsbereite vollwertige Männlichkeit des 
andersartigen Geschlechtsgenossen vor Augen führen. Und da¬ 
mit gewann die Verlagerung der Hoden an die Außenfiäche des 
Körpers eine biologische Bedeutung, dieselbe mußte um so be¬ 
deutsamer werden, je mehr sich diese Verlagerung äußerlich 
ausprägte, je mehr sie zur Ausbildung eines sexuellen Schau¬ 
merkmals führte. Mehr als irgend ein sonstiger sexueller Körper¬ 
anhang mußte doch ein solcher, der in sich die Wesensbestandteile 


1) L 0. S. 478. 

Archiv ffir Psychologie. XLVUI. 


23 



364 


Armin Mfiller, 


der gesamten Männlichkeit seines Trägers barg, eben diese 
Männlichkeit zu demonstrieren imstande sein.« Meisenheimer 
führt ans, wie in einigen Fällen bei altweltlichen Affen durch 
besonders leuchtende Farben und kontrastreiche Umgebung oder 
durch einen förmlichen Bart langer Haare sich die auffällige 
Form noch mit einem auffälligen Zierat verbindet »Alles in 
allem würde also das Scrotum der Säugetiere in seiner aus¬ 
gebildeten augenfälligen Form den äußeren männlichen Schau¬ 
merkmalen zuznrechnen sein.< Meisenheimer führt weiterhin 
aus, wie bei Naturvölkern durch Zieraten des Penis selbst die 
Augenfälligkeit der Genitalgegend noch erhöht wird. — Mir 
scheint, daß diese Auffassung von der biologischen Bedeutung 
des Scrotnms dort zutreffend ist, wo, wie bei den erwähnten 
Affenarten, deutliche Schaumerkmale sekundär hinzutreten. Be¬ 
trachtet man aber schon das durch keinerlei Ornamente hervor¬ 
gehobene Scrotum als einen sexuellen Anreiz für das weibliche 
tierische Auge, so läuft man zweifellos Gefahr, menschliche Vor¬ 
stellungen in intellektualistischer Weise der tierischen Seele zu 
imputieren. Das Weibchen dürfte ganz außerstande sein, den 
Gesichtseindruck des zumeist unauffälligen Hodensacks — sofern 
der Eindruck überhaupt zustande kommt — in irgend einer Weise 
mit seinem Sexnalinstinkt in Verbindung zu bringen. Eine 
primäre Bedeutung als sexuelles Schaumerkmal kann dem Scrotum 
im allgemeinen nicht znerkannt werden. 

13. Die Subordination der Organsysteme nnd ihre Lage¬ 
beziehung znm Achsensystem des Wirbeltierkorpers. 

Am Ende des 18., zu Anfang des 19. Jahrhunderts bemühte 
sich die idealistische Morphologie in Frankreich wie in Deutsch¬ 
land, den einheitlichen >Plan< der Organismen zu erforschen, 
wie er sich in ihren räumlich-geometrischen Verhältnissen ans¬ 
spricht; daher spielte die gegenseitige Lagebeziehung der Organe 
bei Cu vier eine so besondere Bolle und wurde grundlegend für 
die Abgrenzung der Typen. Wie P. Decandolle den Pflanzen¬ 
körper, so betrachtete Bronn die tierischen Formen nach Analogie 
von Kristallen: Man forschte nach Symmetrieebenen sowie nach 
festen Lagebeziehungen zu idealen Achsensystemen. Von jener 
Epoche herstammend sind n. a. die Lehre von der Homologie nnd 
Analogie, von der Metamorphose, von der Spiraltheorie oder 
Blattstellung in den dauernden Besitz der Wissenschaft über¬ 
gegangen. Eben daher rührt auch das, was seit Haeekel 
Promorphologie oder die Lehre von den organischen Grundformen 



Das IndiTidaalitätsproblem and die Sabordination der Organe. 355 

genannt wird. In seiner generellen Morphologie, in der Haeckel 
zuerst seine Ideen über die geometrischen Grundformen der 
Organismen mitteilte, beruft er sich ausdrücklich auf H. G. Bronn 
als seinen Vorläufer. Seitdem werden, wie bekannt, folgende 
Grundformen unterschieden (nach Hertwig, Lehrbuch der 
Zool. 1907): 

1. asymmetrische, irreguläre, 

2. allseitig symmetrische, sphärische, 

■ 3. radial symmetrische (eine Hauptachse mit ungleichen Polen, 
um die die meisten Organe in größerer Anzahl gleich* 
mäßig in der Richtung der Radien verteilt sind), 

4. zweistrahlig S3nnmetrische (3 aufeinander senkrechtstehende 
Achsen; die Pole der Hauptachse sind verschieden, die der 
Sagittal- und Transversalachse gleich), 

5. bilateral-symmetrische (Hauptachse und Sagittalachse hetero* 
pol, Transversalachse als einzige gleichpolig). 

In seinen »promorphologischen Thesen« sagt HaeckeP) 
>36. Alle verschiedenen Grundformen ... lassen sich je nach der 
fortschreitenden Differenzieining ihrer Achsen und deren Pole 
in eine anfsteigende Stufenleiter ordnen, deren Stufenordnnng 
zugleich die stufenweis fortschreitende Vollkommenheit der Form 
bezeichnet.« 

In den > Thesen von der Vollkommenheit der organischen 
Grundformen«*) bringt Haeckel folgende Sätze: 

67). Die Grundform der organischen Individuen ist um so 
vollkommener, je ungleichartiger ihre konstanten Achsen sind. 

69) . Die Grundform ist um so vollkommener, je ungleichartiger 
die beiden Pole ihrer Achsen sind. 

70) . Die Grundform ist um so vollkommener, je größer die 
Zahl der ungleichartigen Pole und je geringer die Zahl der 
gleichartigen Pole ihrer Achsen ist. (s. als Ausnahme hierzu 
die Dysdipleuren S. 523.) 

Auf die engen Beziehungen, die zwischen Form und Bewegung 
bestehen, wie sie schon von Bergmann und Leuckart nach¬ 
gewiesen wurden, und weiterhin auf die Wechselbeziehung zwischen 
Form und Lebensweise überhaupt (Dollo,Abel, »Paläobiologie«) 
braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Sphärische 
sowie radialsymmetrische Formen finden sich ausschließlich bei 
Wasserbewohnem. Bilateralsymmetrie mit horizontalgestellter 


1) »Generelle Morphologie«, 1866, I S. 645. 

2) 1. c. S. 660. 



356 


Armin MOller, 


Längsachse, deren eines Ehide als Kopf bei der Bewegung voran¬ 
geht, charsdcterisiert besonders dann gut bewegliche Landformen, 
wenn deren Körper seitlich komprimiert ist 

Beim Typus der Wirbeltiere, wie ihn schon Cu vier um¬ 
schrieben hat, findet sich bekanntlich auf einem Querschnitt 
senkrecht zur Hauptachse folgende Lagebeziehnng, die das Grund¬ 
schema des Wirbeltierkörpers charakterisiert: Um den dorsalen 
Pol der Sagittalachse gruppiert sich das CNS mit der Hauptmasse 
der in einen hypaxonen und epaxonen Teil zerfallenden quer¬ 
gestreiften Muskulatur; die letztere greift an am Achsenskelett, 
das zugleich die Schutzfunktion fttr das CNS übernimmt An 
diese, animalischen Funktionen dienenden Organsysteme schließen 
sich in der Bichtung des ventr^en Pols der Sagittalachse die 
großen Blutgefäße an und schließlich die Gesamtheit der den 
Kraft- und Stoffwechselfunktionen dienenden Organe. Diese gmnd- 
sätztiche Lagebeziehung erleidet nur insofern eine Ausnahme, als 
in der Höhe des Herzens der Abschnitt des Verdauungsrohres, 
der die Passage zwischen Mundhöhle und Magen vermittelt, dorsal 
vom Zentrum des Kreislaufsystems zu liegen kommt Die oben 
erwähnte Lagebeziehung zu deu Polen der Sagittalachse ist nun 
nicht nur auf diese beschränkt, sondern findet ihre Parallele auch 
in den Beziehungen zur Hauptachse, insofern man die haupt¬ 
sächlichste Entfaltung und den Schwerpunkt der einzelnen Systeme 
in Betracht zieht In diesem Sinne finden das CNS in der Kopf¬ 
region, das Kreislaufsystem in der Brust- und die Kraft- und 
Stoffwechselorgane in der Bauchregion ihre Kulmination. Das 
der Lokomotion dienende Muskelsystem, das keine selbständige 
Zentralisation besitzt, kommt wegen seiner Ubiquität für eine 
regionale Gliederung längs der Körperhauptachse nicht in Betradit 
Die in der Kopfregion gelegenen Teile des Verdauungs- und 
Bespirationstractus sind insofern vor den übrigen hervorgehoben, 
als sie an der Laut- und Sprachbildung mehr oder weniger eng 
beteiligt werden und durch diese Beziehung zu seelischen Aus¬ 
drucksfunktionen eine höhere Ganzheitsbezogenheit gewinnen. 
Das gleiche gilt auch noch für die der Bmstregion angehörenden 
Lungen als Spender des Anblasestromes bei der Phonation. Mehr 
oder weniger unabhängig von jener grundsätzlichen Lagebeziehung 
zu den Polen der Längsachse erweisen sich unter den Stoff¬ 
wechselorganen nur die endokrinen Drüsen. Während sie in 
Übereinstimmung mit dem topographischen Grundschema des 
Wirbeltierkörpers in der Sagittalachse — mit Ausnahme der 
Epiphyse — hauptsächlich ventral vom CNS und den großen 



Das Individnalitätsproblem nnd die Sobordination der Org^ane. 357 

Blutgefäßen liegen, sind sie in der Längsachse über alle drei 
EOrperregionen annähernd gleichmäßig verstreut. Es handelt 
sich in der Kopfregion um Epi- und Hypophyse, in der Brust¬ 
region um die Gl.thyreoidea und parathyreoidea sowie die Thymus, 
in der Bauchregion um die Nebennieren und das chromaffine 
System flberhaupt sowie die innersekretorischen Anteile von 
Pankreas und Keimdrüsen. 

Sie nehmen gegenüber den der Aufbereitung und Resorption 
sowie Speicherung der Nahrung dienenden Organen eine gewisse 
Sonderstellung ein. >Es scheint nicht bloß die Bereitung che¬ 
mischer Reiz- und Bedingungsstoffe, sowie ihre Abgabe an das 
Blut unter dem tonischen Einfluß des vegetativen Nervensystems 
zu stehen, auch die Wirkung selbst kommt wenigstens zum Teil 
durch Vermittlung nervöser Elemente zustande« (von Tscher- 
m a k ^)). Insofern besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen 
beiden, als z. B. Darm und Leber hauptsächlich »Nährstoffe«, 
die endokrinen Drüsen aber »Regnlierstoffe« (Asher) in die 
Blntbahn abgeben. Dadurch aber gewinnen diese hervorragenden 
Anteil an dem »aufbauenden Prinzip, welches man gemeinhin 
als dasjenige der Koordination und gegenseitigen Regulation be¬ 
zeichnet« (Asher*). Diese Gmndfnnktion ist aber in erster 
Linie an die Tätigkeit des CNS geknüpft. — Vielleicht darf 
man auch der Leber, dem am weitesten cranialwärts gelegenen 
abdominalen Stoffwechselorgan, gegenüber dem Darmrohr selbst 
eine mehr übergeordnete Stellung zuschreiben; sie stellt, wenig¬ 
stens für den Eiweiß- und Kohlehydratstoffwechsel, das größte 
Zentralorgan des Körpers dar. 

Die hier gekennzeichneten Lagebeziehnngen lassen sich kurz 
dahin charakterisieren, daß die Subordination der Organsysteme, 
ihre Ganzbeitsbezogenheit annähernd ihren räumlichen Ausdruck 
findet in der Anordnung längs zweier Körperachsen: die jeweils 
übergeordneten oder zentraleren Systeme oder Systemteile liegen 
in der Sagittalachse mehr nach dem dorsalen, in der Längsachse 
mehr nach dem kranialen Pole zu. Die Beziehungen gelten, 
was die Längsachse anbetrifft, hauptsächlich nur für das Ver¬ 
hältnis der großen Körperregionen untereinander, wie sie als 
Kopf, Brust und Bauch unterschieden werden. Jeder dieser 
drei Regionen gehört ein Teil des (3NS, Kreislauf- sowie Kraft- 


1) M. m. W. 1918, s. 2828. 
^ Klin. W, 1922, Nr. 8. 



358 


Armin Müller, 


und StofFwechselsystem an; der jeweils dominierende Teil zeig^ 
die erwähnte Lagebeziehung. 

14. Die Subordinations- und Bsumbeziehnngen innerhalb 

des CNS. 

Es soll nun dargelegt werden, daß diese Korrespondenz von 
Subordination und Raumbeziehnng innerhalb des CNS selbst 
jedenfalls in weitem Umfange realisiert ist: das funktionell 
relativ übergeordnete Gebilde liegt entweder mehr dorsal- oder 
mehr frontalwärts. Eine ganz grundlegende Voraussetzung hier¬ 
für ist darin gegeben, daß erst im CNS im größten Maße Ver¬ 
hältnisse der Unter- und Überordnung zur Ausbildung kommen, 
deren Abstufung sich so scharf ausprägt, daß eine wahre 
Hierarchie zentralnervöser Funktionen entsteht Einige wichtige 
Einschränkungen müssen jedoch von vornherein betont werden. 
Die Kenntnis der Physiologie zahlreicher nervöser Organteile ist 
noch längst nicht weit genug gediehen, um ihre Beziehungen 
zu anderen Teilen mit Sicherheit als über-, gleich- oder unter¬ 
geordnet zu bezeichnen. Das gilt z. B. für das gegenseitige 
Verhältnis zahlreicher Teile der grauen Massen des Him- 
stammes, so z. B. für das Verhältnis zwischen Striatum und 
Pallidum. Ferner darf der obige Satz in seiner Umkehrung 
durchaus nicht Allgemeingültigkeit beanspruchen. Es wäre also 
absurd, etwa schließen zu wollen, weil irgend ein nervöses 
Zentralgebilde relativ zu einem anderen Zentrum ventral- oder 
kaudalwärts liegt, es dahei’ auch zu diesem im Verhältnis der 
funktionellen Unterordnung stehen müsse. Es dürfen daher 
räumliche Verschiebungen, die gewisse Nervenkeme phylogenetisch 
erfahren, nicht notwendig auch als Verschiebung der Snbordi- 
nationsbeziehungen gedeutet werden. So wandert nach A r i e n s - 
Kappers der ursprünglich dorsalgelegene Facialiskem und der 
für die willkürliche Muskulatur bestimmte Teil des Vaguskemes 
bei höheren Tieren ventralwärts, der Abducenskem aber in um¬ 
gekehrter Richtung, wobei erstere in Abhängigkeit von der 
Pyramidenbahn geraten. Der Satz von der Übereinstimmung 
der funktionellen und der räumlichen Subordination gilt nur für 
das Verhältnis der größeren Himabschnitte zueinander, sofern 
überhaupt von einer Subordinationsbeziehnng gesprochen werden 
kann, dann aber — wenigstens für die menschliche Physiologie — 
mit auffallender Regelmäßigkeit. Die Zentralorgane für das 
gesamte vegetative Nervensystem liegen, wie besonders die 
Forschungen der letzten Jahre ergeben haben, überwiegend nach. 



Das IndiTidaalitätsproblem nnd die Subordination der Organe. 359 

dem Vorderende des Hirnstamms zn im Zwischenhim, vomelimlich 
in der Umgebung des 3. Ventrikels, also überwiegend ventralw&rts 
Ton den rein animalischen Funktionen dienenden Stammganglien. 
Es sind die phylogenetisch älteren Teile des Diencephalon, der 
Archithalamns, der bei primitiven Vertebraten nach E ding er 
noch das höchste nervöse Zentrum überhaupt darstellt Sicher 
sind hier bei den höheren Sängern die obersten Zentren für das 
sympathische, wahrscheinlich auch für das parasympathische 
System lokalisiert. Es dürfte sich nach den vorliegenden Unter¬ 
suchungen vor allem um Zentralorgane für den Kohlehydrat-, 
Salz- und Wasserhaushalt, die Wärmeregulation sowie die 
Schweiß- nnd Speichelsekretion handeln. Die Existenz eines 
umschriebenen Vasomotorenzentmms, wie sie früher von Ludwig 
und seiner Schule im oberen Teile des verlängerten Marks an¬ 
genommen wurde, scheint nach neueren Untersuchungen fraglich 
(Glaser*)). Wahrscheinlich befindet sich im Zwischenhim 
auch ein nervöser Apparat, der bei Vermehrung der kristalloiden 
Stoffe im Blut gereizt wird und irgend wie mit der Entstehung 
der Dnrstempfindnng znsammenhängt. Mit Ausnahme eines 
kortikalen Blasenzentmms sind in weiter vom oder dorsalwärts 
gelegenen Himteilen keine vegetativen Zentren nachgewiesen. 
Die von E. Frank vertretene Annahme eines etwas dorsalwärts 
im Linsenkem gelegenen parasympathischen Zentrums für den 
Tonus der quergestreiften Muskulatur, das somit in engster Be¬ 
ziehung zu einer animalischen Funktion steht, würde mit der 
hier vertretenen Anschauung von den grundsätzlichen Lage- 
beziehnngen durchaus in Einklang stehen. Bechterews 
Aufstellungen über mehrere vegetative Zentren (Erektion, 
Schweißdrüsen, Darmbewegungen), die in der Hirnrinde gelegen 
sein sollen, sind nicht bestätigt worden. Ebenso wenig liegen 
nach Glaser sichere Beweise vor, daß vasomotorische Zentren 
sich in der Hirnrinde befinden. 

Die Lage der höchsten vegetativen Zentren nahe dem kranialen 
Polende des MeduUarrohres entspricht jener Korrespondenz von 
Subordination und Lagebeziehung in der Längsachse. Als Teile 
des Zwischenhims verdanken sie ihre Entstehung dem vordersten 
der drei primären BUmbläschen, dem Prosencephalon, in dessen 
vordersten Derivat, dem Endhim, auch die höchsten senso- 
motorischen Funktionen ihre Lokalisation finden. In der 
Sagittalachse scheint wenigstens für Rückenmark, MeduUa 


1) L. B. Müller, »Das sympathiacbe Neryenaystem«. 



360 


Armin MfiUer, 


oblongata und Mittelhim die allgemeine Lagebeziehnng folgende 
zn sein: Am weitesten dorsal entwickeln sich die sensibeln Ab¬ 
schnitte, am weitesten ventral die motorischen, in der Mitte je¬ 
doch die vegetativen Anteile. Die den Zwischenhim - Zentren 
nntergeordneten Zentren der einzelnen Rfickenmarkssegmente 
liegen auf dem Bfickenmarksquerschnitt sehr wahrscheinlich in 
den Seitenhömem der grauen Substanz zwischen VordCT- und 
Hinterhom. Sie folgen also nicht den oben angeführten Lage¬ 
beziehungen der animalischen nnd vegetativen Organsysteme zu 
den Polen der Sagittalachse. Wohl aber stimmt damit durchaus 
die Lage des Stammes des autonomen Systems, des Truncus 
sympathicus, überein, dessen zelluläre Elemente in embryonaler 
Zeit — nach den umfassenden Untersuchungen von Euntz — 
aus dem Verband des Medullarrohres durch die vordere und 
hintere Wurzel ventralwäits in die Gegend des Grenzstranges 
auswandem. 

Aus der Gesamtheit der die Tätigkeit der quergestreiften 
Muskulatur zusammenordnenden Zentren sollen hier als wich¬ 
tigste Repräsentanten der rote Eem, das Eleinhim, die großen 
Stammganglien und die motorischen Rindenzentren in ihren 
gegenseitigen Beziehungen berücksichtigt werden. Gerade durch 
die klinisch-pathologische Forschung der jüngsten Vergangen¬ 
heit ist das Verständnis für den äußerst komplizierten »Aufbau 
der Willkürbewegung« ganz wesentlich gefördert worden. Man 
hatte seit der Entdeckung der großen cortico-musknlären Leitungs- 
bahn eben der Pyramidenbahn überwiegend sein Interesse zu¬ 
gewandt; zahlreiche andere zentrifugale Bahnen waren — mit 
Ausnahme der aus dem Eleinhim und ans dem roten Eeme 
kommenden Bahnen — in ihrer physiologischen Bedeutung zu¬ 
meist noch unbekannt geblieben. Die nähere Eenntnis alles 
dessen, was zum »amyostatischen Symptomenkomplex« gehört, 
hat die Einsicht erschlossen, daß auch die großen Stammgang¬ 
lien, das Striatum und Pallidum durchaus unentbehrliche Funk¬ 
tionen für die Totalität der Willkürhandlnng erfüllen. Sie 
stellen gewissermaßen Seitenschaltnngen zur cortico-muskulären 
Hauptbahn dar, die ihre Funktionen nnabhängig von aller Be- 
wußtseinstätigkeit vollziehen. Schon länger war bekannt, daß 
das Eleinhim das Organ des >Statotonus«, der allgemeinen Er¬ 
haltung des Eörpergleichgewichts beim Gehen und Stehen ist. 
Es stellt das komplizierte Zentrum eines Reflexbogens dar, 

1) vergl. Qnensel, Med. Klin. 1922, S. 1017. 



Das IndiTidnalitfttsproblem and die Sabordinatioii der Organe. 361 


dessen zentripetaler Schenkel Ton den spino-cerebellaren und 
den vom Yestibnlaris- nnd Deiters’sehen Eeme kommenden 
Bahnen gebildet wird. Sein zentrifugaler Schenkel, der sowohl 
fördernde wie hemmende Regolationen leitet, führt zu dem ihm 
nntergeordneten, annähernd ventralwärts gelegenen roten Eem 
(s. hierzu Bostroem, Amyostatischer Symptomenkomplex, 
1922, S. 163). Mit großer Wahrscheinlichkeit darf angenommen 
werden, daß dieser gesamte Eleinhimapparat — abgesehen vom 
Stimhim — noch einem anderen weiter vom gelegenen Apparat 
untergeordnet ist, dem Linsenkem, der vermittels des Eleinhims 
durch hemmende und fördernde Impulse den gesamten Tonus 
der quergestreiften Muskulatur beeinflußt 

Anmerkung: Die jüngsten Erfahrungen der Neurologie haben 
dazu geführt, gewisse Teile der großen basalen Ganglien als »Stria¬ 
tum < und »Pallidnm« zusammenznfassen. Nncl. candatus nnd 
Pntamen (der äußere Teil des Linsenkems) bilden nunmehr das 
Striatum, während der Globus pallidus, der innere Teil des 
Linsenkems, nur noch als Pallidnm bezeichnet wird. Das Palli¬ 
dum gehört phylogenetisch zu den ältesten Teilen des Him- 
stammes nnd ist schon bei den Fischen ausgeprägt. Erst bei 
den Reptilien entwickelt sich oral- oder frontalwärts von ihm 
das Striatum. Nur dieses gehört wenigstens nach Spatz dem 
Endhim, jenes aber dem Zwischenhim an. Das phylo- nnd 
embryogenetisch ursprünglich vor dem Pallidum gelegene Stria¬ 
tum erfährt nun eine Verschiebung kaudal- nnd zugleich lateral- 
wärts sodaß aus der ursprünglichen Hintereinanderlagemng 
eine teilweise Nebeneinanderlagerung wird. Die Verschiebung 
erfolgt durch das enorme Wachstum der Hemisphärenbläschen 
des Endhims auch nach rückwärts, was bei den höheren Säuge¬ 
tieren schließlich zu einer Überlagerung des Zwischen-, Mittel¬ 
und Hinterhims führt. Es ist bedeutungsvoll, daß nach den 
neuesten Ergebnissen der Neurologie recht wahrscheinlich das 
Striatum regulierende, hemmende nnd fördernde Impulse dem 
Pallidnm zusendet. Dieser funktionellen Beziehung der Subordi¬ 
nation würde die räumliche Anordnung zum mindesten in der 
ursprünglichen Anlage entsprechen, wobei die spätere Ver¬ 
schiebung letzten Endes mit der überragenden Großhiment- 
wicklnng nnd den gegebenen Raumverhältnissen der Schädel¬ 
kapsel in Zusammenhang zu bringen ist 

Die Erfahrungen über den amyostatischen Symptomenkom¬ 
plex, besonders auch über den Parkinsonismus haben gezeigt, 
wie bei gewissen Erkrankungen die normalerweise antomatisch 



362 


Armin Mttller, 


ablanfenden Hilfs- and Mitbewegxmgen ansfallen und zum Teil 
durch Willkürbewegungen ersetzt werden. Eben diese Er¬ 
fahrungen der Pathologie haben erst das außerordentlich kompli¬ 
zierte Znsammenspiel der verschiedensten nervösen Funktionen 
näher erkennen lassen, das zum Zustandekommen einer geord¬ 
neten Handlung, eines Ganzen einer motorischen Reaktion not¬ 
wendig ist. Zu dieser geht die entscheidende Initiative von 
den >höchsten« Eoordinationszentren aus, in ihrem Gesamt- 
verlauf sind aber sehr zahlreiche unbewußt arbeitende, »tiefere« 
Zentren eingeordnet oder zwischengeschaltet Unsere Aufmerk¬ 
samkeit ist außerstande, sich bei einer Willkürbewegnng jeder 
einzelnen überhaupt nötigen Innervation zuzuwenden. Ent¬ 
sprechend der Differenziertheit der Bewegungsmöglichkeiten ist 
eine weitgehendste Arbeitsteilung der nervösen Zentralfunktionen 
erfolgt. »Bei den meisten bewußt gewollten, einem bestimmten 
Zweck dienenden Bewegungen, insbesondere bei allen ,Hantie¬ 
rungen*, d. h. bei all den zahlreichen Zweckbewegungen mit 
unseren Händen ist die Zahl der an der Ausführung der ge¬ 
wollten Zweck' oder Zielbewegung unmittelbar beteiligten 
Muskeln eine verhältnismäßig geringe. Unsere direkte, auf die 
auszuführeude Bewegung gerichtete Aufmerksamkeit beschäftigt 
sich dementsprechend nur mit einer kleinen Zahl von Muskeln, 
welche die Hand und die Finger in der bestimmten zweckent¬ 
sprechenden Weise zu bewegen haben. Daß aber diese Be¬ 
wegungen in der gewollten Weise vollkommen richtig und 
mühelos ausführbar sind, wird nur durch die gleichzeitige völlig 
gesicherte statische Fixation des ganzen Armes und ebenso 
fernerhin des ganzen Körpers ermöglicht« (Strümpell^). Außer 
diesen »myostatischen« Innervationen laufen aber auch noch 
andere Bewegungssimpulse einher, die der Willkür ebenfalls 
normalerweise mehr oder weniger entzogen sind. Es sind das 
außer den synergischen Mitbewegungen, die der möglichst öko¬ 
nomischen Gestaltung des Bewegungsvorganges dienen, noch 
zahlreiche Hilfs- oder Nebenbewegungen, die die Hauptbe- 
wegungen ergänzen (siehe hierzu und zum folgenden Bostroem*). 
So ist beim Einschlagen eines Nagels die Aufmerksamkeit in 
erster Linie auf das zu treffende Ziel gerichtet, diesem gilt die 
Hauptbewegnng, das Auf- und Abwärtsschwingen des Hammers. 
Daneben gehen zahlreiche automatische, oft nicht geahnte Hilfs . 


1) Nearol. Centralbl. 1920 Nr. 1. 

2) Ztschr. f. d. ges. Nenrol. a. Psych. 1922, S. 444. 



Das IndiTidaalitfttsproblem and die Subordination der Organe. 363 


bewegnuigen einher, die das »Spielen« des Hammergriffs in der 
Faust, den Ausgleich einer evtl. Verdrehung desselben, die 
Regulierung der den Antrieb bewirkenden Muskelkraft usw. 
betreffen. In sehr charakteristischer Weise fallen bei zahl* 
reichen Kranken mit Parkinsonismns infolge der Schädigung 
snbcorticaler Zentren, besonders von Teilen der großen Stamm¬ 
ganglien, alle jene erwähnten Hilfs- und Nebenbewegungen aus. 
»Die Kranken sind darauf angewiesen, ausgefallene normaliter 
automatisch ablaufende Bewegungen dui’ch Willkttrbewegnngen 
zu ersetzen. Sie sind so genötigt, jeder an sich belanglosen 
Hilfsbewegnng ihr besonderes Augenmerk znzuwenden. Dadurch, 
daß der Ausführung von Haupt- und Nebenbewegungen dieselbe 
Beachtung geschenkt werden muß, verliert die Hauptbewegnng 
an Bedeutung, es tritt eine gewisse Nivellierung der Be¬ 
wegungen ein« (Bostroem 1. c. S.459). Man darf hiervon 
einer Analogie zu einer Erscheinung aus der Pathologie der 
Sinnesorgane sprechen: Patienten mit hochgradiger konzen¬ 
trischer Gesichtsfeldeinschränkung vermögen nur mit der Macula 
zu sehen. Um den Ausfall der peripheren Netzhautgebiete zu 
kompensieren, muß mit Hilfe einer dauernden Stellungsverände- 
rung der Gesichtslinie jeder Gegenstand im Blickfeld gewisser¬ 
maßen Punkt für Punkt abgetastet werden. Die Totalität eines 
lebendigen Gesichtseindrucks mit seinen verschiedenen Deut¬ 
lichkeitsgraden der einzelnen Bildkomponenten je nach ihrer 
Entfernung vom Netzhautzentmm wird in ein mosaikartiges 
Nebeneinander unznsammenhängender Detaileindrücke aufgelöst. 
So wird bei gewissen Erkrankungen der großen Stammganglien 
das Harmonische, gleichzeitige, subordinierte Zusammenwirken 
coiücaler und snbcorticaler Zentren zerlegt in ein höchst un¬ 
vollkommenes Nacheinander einzelner Elementarhandlungen. 
Das in diesem Zusammenhang Bedeutungsvollste ist, daß normaler¬ 
weise alle sogen, myostatischen Innervationen sowie die Leitung 
von Hilfs- und Nebenbewegungen zum größeren Teil jedenfalls 
von »tieferen« Zentren ansgehen, die eigentliche Hauptbewegnng 
jedoch ihre Impulse vom »höchsten« Koordinationszentmm im 
Cortex empfängt. Jedoch wird nicht nur die Innervation der 
Hauptbewegung vom Cortex geleitet, sondern es wird von hier 
ans offenbar auch der gesamte motorische Plan, wie er aus der 
überschauenden Beurteilung der jeweiligen Gesamtsituation des 
Individuums entspringt, durch bestimmte Impulse den niederen 
Zentren mitgeteilt, die nunmehr im Rahmen des Ganzen ihre 
Teilfnnktion mehr oder weniger selbständig unter der Schwelle 



364 


Armin Müller, 


des Bewnfitseins ansfübren. Ja, dieser cortical bedingte Gesamt¬ 
plan übt offenbar noch eine entscheidende Wirkung anf den 
Ablanf primitiver Bückenmarksrefleze ans. Hieraus erhellt die 
alles überragende, ganzmacbende Funktion desjenigen Himab- 
schnitts, der dem Endhim, dem Telencephalon, in dorsaler 
Richtung entwachsen, ist und das vordere Polende der Körper- 
l&ngsachse bezeichnet. Das Neencephalon mit der Großhirn¬ 
rinde hat insbesondere beim Menschen immer mehr snbcorticale 
Funktionen, die anf primitiveren Stufen noch relativ selbständig 
sind, unter seine Herrschaft gezwungen, so daß Steiner von 
einem Gesetz der »Wanderung nach dem Kopfende« sprechen 
konnte. Das Sehen, die willkürliche Motilität ist bei niederen 
Wirbeltieren noch an die Tätigkeit niederer Zentren allein ge¬ 
knüpft. »Beim Menschen haben alle diese Leistungen ihre 
Hauptvertretungen im Cortez, wenigstens eine solche Vertretung, 
welche für das Zustandekommen der Funktion unerläßlich ist. 
Der Fisch »erkennt« ohne Vierhügel, der rindenblinde Mensch 
sieht, aber er »erkennt« nichts mehr. Der riudengelähmte 
Hund kann nach wenig Wochen wieder von seinen Extremi¬ 
täten Gebrauch machen, der rindengelähmte Mensch bleibt lahm« 
(H. Vogt^). Während die Olfactoriusbahnen bei den Fischen noch im 
Hyposphärinm (corpns Striatum) endigen, geht die Riechstrahlung 
von den Reptilien an zu einem großen Teil zu einem bestimmten 
Abschnitt des Palliums. — Bei niederen Vertebraten ist nur 
der geringste Teil der psychischen Funktionen cortical lokali¬ 
siert; bei den höheren Formen wandern diese mehr und mehr 
in die Stimrinde hinauf. Beim Menschen endlich scheint nur 
noch die Affektivität gewisse Beziehungen zum Himstamm zu 
haben; das seelische Leben ist ganz überwiegend an die Tätig¬ 
keit des Großhirns und seiner Rinde gebunden. 

Die hier dargelegten Beziehungen zwischen physiologischer 
Dignität und Topographie der motorischen Zentren finden eine 
wichtige Ergänzung in den Lagebeziehungen, die die haupt¬ 
sächlichste Auswirkung des Motoriums, die Sprechwerkzeuge in 
der Kopf- und Halsregion, denen sich die Lungen anschließen, 
sowie die obere und untere Extremität betreffen. Den Sprech¬ 
apparaten kommt in der gesamten Motilität des Menschen eine 
besonders nahe »Ganzheitsbezogenheit« zu. Die Sprache darf 
wohl mit Recht als der individnalisierteste und unmittelbarste 


1) Medic. natnrwiss. Arch. Bd. ü, 1910, S. 81. 



Das Individnalitätsproblem und die Sabordinstion der Organe. 365 

Ansdruck aller höheren seelischen Tätigkeit, insbesondere des 
begrifflichen Denkens angesprochen werden. Die Bedentnng 
des Wortes, des Wortsymbols für alles Denken ist so groß, daß 
man früher an ein Denken ohne mehr oder weniger deutliche 
sprachliche Formnliernng überhaupt nicht glaubte. Erst die 
neuere Denkpsychologie hat es wahrscheinlich gemacht, daß es 
neben dem anschanlichen in Wortsymbolen erfolgenden Denken 
anch ein unanschanliches noch nicht sprachlich gefaßtes Denken 
gibt Alle Bewegungen der Hand, wohl auch noch durch Übung 
erworbene Handfertigkeiten, die an den individuellen Besitz des 
einzelnen gebunden sind und nicht vererbt werden, bleiben 
immer in engster Abhängigkeit von der Hirnrinde. Dagegen 
werden Stehen, Gehen und Laufen, durchaus gattungsmäßige 
Leistungen, die in der Kindheit zwar unter unmittelbarster 
Einwirkung des Cortex erworben werden, einmal erlernt, weit¬ 
gehend automatisiert und mechanisch, sodaß etwa nur Beginn, 
Tempo und Bichtung corticaler Regelung unterliegt (H. Vogt 
1. c.). Die Tatsache, daß nach Hemiplegien die Ausfälle im 
Arm meist viel weniger reparabel sind als jene im Bein, hat 
sicher zum Teil ihren Grund darin, daß dem Bein von viel mehr 
subcorticalen, bei Zerstörung der inneren Kapsel in ihrer peri¬ 
pheren Verbindung nicht unterbrochenen Zentren Impulse zu¬ 
gehen, die eine leidliche Gehfunktion auch nach Ausfall corti¬ 
caler Innervation noch ermöglichen. Die obere Extremität hin¬ 
gegen ist vielmehr ein direktes Ausführungsorgan der Hirnrinde. 
Dem verschiedenen Abstand von Hand und Fuß vom obersten 
nervösen Zentrum entspricht ihr verschiedener Wert als seeli¬ 
sches Ausdrucksorgan. Die Tätigkeit der Hand wird wirklich 
zum Prototyp aller >Handlung<, aller räumlicbgestaltenden Ein¬ 
wirkung auf die Umwelt. 

Während der Anteil der hauptsächlichsten motorischen 
Zwischenstationen für die gesamte Willkürhandlung wenigstens 
in gröberen Zügen bekannt ist, ist die Bedeutung der in den 
Verlauf der allgemeinen Körpersensibilität sowie der Leitnngs- 
bahnen der Sinnesorgane eingeschalteten Zentren zum großen 
Teil noch unerforscht. Sicher stellt das Kleinhirn ein zwischen 
Peripherie und Zentrum eingeschaltetes nicht selbständig arbeiten¬ 
des Organ dar, das die ihm reichlich zuströmenden zentripetalen 
Einflüsse synthetisch verarbeitet, und das als eine Art inter¬ 
mediäres Sinnesorgan zu den Raum- und Lageempflndnngen in 
engster Beziehung steht. Ebensowenig wie für das Kleinhirn 
kann für den weiter vom gelegenen Thalamus, die große Um- 



366 


Amin Müller, 


schaltestelle sensibel-sensorischer Eindrücke, die genauere funktio¬ 
neile Bedeutung in bezug auf den bewußten Akt der Empfindung 
angegeben werden. Die neuere Forschung macht es wahrschein¬ 
lich, daß die Bewußtseinsvorgänge nicht ausschließlich an nervöse 
Funktionen der Hirnrinde gebunden sind, vielmehr scheint unter 
den subcorticalen Gebilden dem Thalamus in erster Linie ein 
gewisser Anteil zuznkommen — besonders soweit es sich um 
das Affektleben handelt. Die höchste Verwertung der den ein¬ 
zelnen Sinnesorganen entstammenden Eindrücke sowie das > Er¬ 
kennen« wird wenigstens beim Menschen allein durch die Tätigkeit 
des Cortex vermittelt. So wird die abschließende Verarbeitung, 
die die Mndrücke der Oberfiächen- und Tiefensensibilität in den 
zentralen Projektionsfeldem der Körperfühlsphäre erfahren, er¬ 
sichtlich ans den Ausfällen bei Erkrankungen der betreffenden 
Kindengebiete. Es leidet die Wahrnehmung elementarer Sinnes- 
qnaUtäten nur relativ wenig, umsomehr dagegen die znsammen- 
fassende Verwertung zu größeren* Komplexen, die sich ans 
elementaren Berühmngs-, Druck- undLageempfindnngen znsammen- 
setzen. Die sogen. Stereoagnosie besteht in dem Unvermögen, 
ganze Gegenstände oder wenigstens wichtige Formeigenschaften 
oder Oberfiächenbeschaffenheiten zu erkennen. Der Stellung der 
Agnosien im weiteren Sinne unter den Sensibilitäts- und senso¬ 
rischen Störungen entspricht die der Apraxien unter den Motili¬ 
tätsstörungen. Beide Male fällt eine letzte zentrale Znsammen- 
ordnnng ans, die an die Funktion bestimmter Rindengebiete 
gebunden ist, während die nachgeordneten Zwischenzentren als 
solche in ihrer Funktion nicht beeinträchtigt sind. 

Die bisherigen Betrachtungen galten den Abhängigkeitsbe- 
ziehnngen von corticalen und subcorticalen Zentren oder von 
subcorticalen Zentren untereinander. Für das Verhältnis der 
einzelnen Rin den teile untereinander ist zunächst an die domi¬ 
nierende Stellung der linken über die rechte Hemisphäre zu 
eriunem, wie sie die Aphasie- und die Apraxielehre überhaupt 
ergeben hat Es liegt also hier eine zweifellose Subordination 
vor, ohne daß ihr eine räumliche Lagebeziehung in der Längs¬ 
oder Sagittalachse des Körpers entspricht. Eine solche Über¬ 
einstimmung wäre aber dann festzustellen, wenn man berechtigt 
ist, dem Stimhim, das die dorsale Begrenzung des vorderen 
Poles der Körperachse bildet, eine gewisse Sonderstellung gegen¬ 
über den übrigen Rindenabschnitten im Sinne der Überordnung 
zuzuerkennen. Es ist wohl Gemeingut der modernen Gehim- 
physiologfie, daß alles psychische Geschehen an die Funktion 



Das IndiTidoalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 367 


des gesamten Rindenapparates gebunden ist. Und sofern von 
einer Lokalisation gewisser Funktionen die Rede ist, so kann 
das nur bedeuten, daß die Erregung bestimmter Rindengebiete 
fflr das Zustandekommen der betreffenden Vorgänge durchaus 
unentbehrlich ist, keineswegs aber ausschließlich in Betracht 
kommt; yielmehr ist zumeist mehr oder weniger eine »Gemein¬ 
schaftshandlung« aller Rindenteile anzunehmen. Fflr die Annahm e 
einer engeren Beziehung des Stimhims zu den höchsten seelischen 
Funktionen sprach vor allem, daß mit der Zunahme der intellek¬ 
tuellen Eigenschaften in der Reihe der Säugetiere eine annähernd 
parallele Entwicklung des Stimhims einhergeht (E ding er), 
während die Erfahrungen der Pathologie zu nicht eindeutigen 
Resultaten gefflhrt hatten. Ein besonderer Anteil an den höheren 
seelischen Funktionen war dem Stimhim n. a. von Flechsig, 
Oppenheim, Hitzig zugesprochen worden. In jflngster Zeit 
hat Goldstein^) das Stimhim als höchstes Regulationszentrum 
angesprochen. Auch er verwahrt sich gegen das Mißverständnis 
einer umschriebenen Lokalisation psychischer Vorgänge. Auch 
er nimmt eine Leistung der Gesamtrinde an, >in der die ein¬ 
zelnen Abschnitte nur einzelne Momente liefern, die wir nur 
durch Abstraktion voneinander trennen«. G. weist auf »die 
engen anatomischen und funktionellen Beziehungen des Stimhims 
zum Kleinhirn, dem Stammgsmglienapparat, den sensomotorischen 
Apparaten der Rinde sowie der besonders den psychischen 
Leistungen vorstehenden gesamten Rinde« hin. »Das Stirnhirn 
reguliert die durch diese abhängigen Apparate vermittelten 
reflektorischen und automatischen Leistungen nach den Er¬ 
fordernissen der gesamten psychischen Situation.« 
Das Stimhim ist »eine Art Stellapparat, vermöge dessen der 
Organismus die Möglichkeit hat, auf einen Reiz immer unter 
Berücksichtigung der ganzen früheren und gegenwärtigen Reize 
so zu reagieren, daß daraus eine der subjektiven und objektiven 
Gesamtsituation entsprechende sinnvolle Reaktion erfolgt«. 

Alles was bisher über die Übereinstimmung von Ordnungs¬ 
und Lagebeziehungen zu der Längs- und Sagittalachse des 
Wirbeltierkörpers gesagt worden ist, läßt sich dahin zusammen¬ 
fassen: mit auffallender Regelmäßigkeit, wenn auch nicht mit 
exakter Gesetzmäßigkeit, ist eine Topographie der großen Organ¬ 
systeme, ganz besonders aber der hauptsächlichen Gliederung 
des CNS in dem Sinne nachweisbar, daß die Teile mit größerer 


1) D. m. W. 1923, S. 836. Medic. KHnik 1923, Nr. 28 u. 29. 



B68 


Ar min MüUeri 


Ganzheitsbezogenheit jeweils dorsal- oder besonders kranial- bzw. 
frontalwärts gelegen sind. Für die vegetativen Funktionen gilt 
dies für die Beziehungen der »segmentalen« Bückenmarkszentren 
zu den höchsten »globalen« vegetativen Zentren im Zwischenhim, 
für die sensiblen Funktionen für das Verhältnis des Eleinhims 
als sensibles Zwischenorgan zum Thalamus und schließlich 
der Eörperfühlssphäre in der Binde. Für die Bewegungsfunktionen 
ist das Verhältnis der motorischen Bindenzentren zur Gesamtheit 
der subcorticalen Hilfsapparate entscheidend. Innerhalb dieser 
gilt sehr wahrscheinlich eine Subordinationsbeziehung zwischen 
Linsenkem (wahrscheinlich auch zwischen Sti'iatum und Pallidum), 
Kleinhirn und rotem Kern. In der Binde selbst kommt wahr¬ 
scheinlich dem Stimhim der höchste regulierende, ganzmachende 
Einfluß zu. Dieses Strukturgesetz äußert sich beim Menschen 
besonders auch in der räumlichen Anordnung der Sprachregion, 
der oberen und unteren Extremität entsprechend ihrem Werte 
als Ausdrucksorganen corticaler Funktionen. 

Es kann sich im Bahmen dieser Arbeit nur darum handeln, 
diese Eigentümlichkeit als Tatsache festzustellen. Vidieicht 
dürfte ihr vom Standpunkt der gesamten Biologie der Wirbel¬ 
tiere eine ebensolche Zweckmäßigkeit zukommen wie den prin¬ 
zipiell anderen Lagebeziehungen in anderen Tierstämmen, z. B. 
dem ventralen Strickleiternervensystem und dem dorsalen Herz¬ 
schlauch bei den Arthropoden. Wie weit hier Organisations¬ 
oder Anpassungsmerkmale im Sinne Nägelis vorliegen, soll 
hier nicht weiter verfolgt werden. 

15. Die Herabwanderung der Keimdrüsen als Ansdrnek 
ihrer negativen Ganzheitsbezogenheit. 

Es dürften nunmehr die Voraussetzungen gegeben sein, um 
die oben ausführlich erörterten Lageveränderungen der Keim¬ 
drüsen vom Standpunkt der »verstehenden Biologie« in Betracht 
zu ziehen und ins rechte Licht zu setzen. Es ist offenbar, daß 
es in keiner Weise gelingt, die große Verschiebung von einem 
Orte, der noch kranialwärts von den Nieren zu suchen ist, bis 
an das kaudale Ende des Körpers in irgend einer Weise als 
zweckmäßig zu erweisen. Daß die Topographie für die Funktion 
der Keimdrüsen an und für sich gänzlich bedeutungslos ist, 
geht daraus hervor, daß z. B. beim Elefanten, dem einzigen 
Beispiel eines phylogenetisch in jeder Hinsicht ursprünglich 
höheren Säugetieres, bei dem der Descensus unterbleibt und die 
Keimdrüsen in nächster Nachbarschaft der Nieren verbleiben. 



Du Individaalitätsproblem und die Sabordination der Organe. 369 

sie ihre Funktion offenbar genau so zweckentsprechend erfüllen 
wie bei Vertretern mit vollständigem Descensus. Dem Hinweis, 
daß durch Wanderung an die Stelle der unmittelbaren Verwer¬ 
tung des Keimmaterials eine Verkürzung der Leitungswege ge¬ 
wonnen würde, muß entgegengehalten werden, daß dieser Gewinn 
durch Verlängerung der zu- und abführenden Blutgefäße vom 
ursprünglichen Entstehnngsorte ans zum mindesten wettgemacht 
wird. Daher beruhen denn auch die bisherigen Erklärungs¬ 
versuche, besonders die von K1 a a t s c h, auf rein mechanischen Vor¬ 
aussetzungen. Dem Versuche Meisenheimers, dem äußeren 
Descensus der Hoden und der Bildung des Skrotums eine bio¬ 
logische Bedeutung im Sinne eines sexuellen Schanmerkmales 
zu vindizieren, konnte nicht allgemein zugestimmt werden. Nur 
sekundär erhält das Skrotum nach Entwicklung besonderer or¬ 
namentaler Schaumerkmale eine solche von Meisenheimer 
angenommene Bedeutung. Wohl aber wird der ganze Vorgang 
der Eeimdrüseuverschiebung dann »sinnvoll« und »verständlich«, 
wenn man sich entschließt, außer der Wirksamkeit eines reinen 
Zweckmäßigkeitsprinzips auch noch ein künstlerisch-architek¬ 
tonisches Prinzip anzunehmen. Beide können sich in der Natur 
durchdringen wie die Intentionen der reinen Zweckmäßigkeit 
und der Schönheit in der angewandten Kunst Zugleich muß 
die Voraussetzung anerkannt werden, daß entsprechend Wnndts 
Prinzip der schöpferischen Synthese auch auf biologischem Ge¬ 
biet durch die synthetische Verbundenheit der Organe neue 
Eigenschaften entstehen, die den isolierten Resultanten noch 
abgehen, d. h. in diesem Fall die Merkmale der positiven und 
negativen Ganzheitsbezogenheit. — Schon die Anordnung der 
übrigen Organsysteme, vor allem aber der Aufbau des in sich 
am reichsten abgestuften CNS bringt die in ihnen waltenden 
inneren Ordnungsbeziehungen — wenn auch nicht völlig adä¬ 
quat — zum räumlich-sinnlichen Ausdruck. Diesem eigentüm¬ 
lichen Ban mit seinem inneren Strukturgesetz, das wahrschein¬ 
lich einem reinen Zweckmäßigkeitsbedürfnis entspricht, fügt 
sich — einem rein außerzweckhaften künstlerischen Prinzipe 
folgend — durchaus harmonisch und sinnvoll die Lagerung der 
Keimdrüsen ein. Polarität und Steigerung sind die zwei großen 
Triebräder der Natur, sagt Goethe. Das CNS, die Verkörpe¬ 
rung des synthetischen oder Integrationsprinzips, der eigentliche 
Träger der tierischen Individualität, wird mehr und mehr zum 
beherrschenden Organsystem in der aufsteigenden Reihe der 
Säugetiere-, subjektiv offenbart in dem beim Menschen zum 

AroUr tOr Psychologie. XLVUl. 24 



370 


Armin Müller, 


Durchbruch kommenden Ich- oder Persönlichkeitsbewufitsein. 
Seinen Brennpunkt findet das CNS am dorsokranialen Ende der 
Eörperlängsachse. In gleichem Ausmaß wächst die natürliche 
Spannung zu dem ihm entgegengesetzten Prinzip der Desinte¬ 
gration oder Teilung, verkörpert in den männlichen und weib¬ 
lichen Keimdrüsen. Beide Prinzipien wirken in polar entgegen¬ 
gesetzter Bichtung. Ganglienzellen verlieren wahrscheinlich 
schon in der Embryonalzeit ihre Teilungsfähigkeit und zeigen 
unter allen Körpergeweben das Minimum von Regenerations¬ 
fähigkeit. Eben darum fordern sie geradezu das ihnen entgegen¬ 
gesetzte Prinzip fortwährender Teilung und Verjüngung. Die 
Begrenzung der Individualität in der Zeit, der Tod, setzt 
die Unsterblichkeit des Keimplasmas voraus. Diese polare 
Gegensätzlichkeit, die in der Gruppe der Säugetiere ihre stärkste 
Spannung findet, kommt räumlich sichtbar zum Ausdruck in 
der Verlagerung der Keimdrüsen zum aboralen Pol. Wie der 
gewissermaßen immer stärker positiven Ganzheitsbezogenheit 
des CNS die negative Ganzheitsbezogenheit der Keimdrüsen 
gegenübersteht, so entspricht der Wanderung der entscheidenden 
Regulationszentren nach dem Kopfende die Wanderung der 
Keimdrüsen nach dem kaudalen Körperende. Aber auch in 
sagittaler Richtung erfolgt wenigstens bei den männlichen Keim¬ 
drüsen eine Lageverschiebung, die dem oben erörterten Struktur¬ 
gesetz entspricht und die durch den äußeren Descensus bis anf 
den Grund des Skrotums noch eine Verstärkung erfährt. Beim 
Weibe finden die Keimdrüsen ihre definitive Lagerung in nächster 
Nähe des Genitalschlauches zwischen Blase und Rektum. Viel¬ 
leicht darf die Lage des Uterus und seiner Adnexe mit einem 
Schutzbedurfnis der sich entwickelnden Frucht in Zusammen¬ 
hang gebracht werden. 

Eine einzige Ausnahme, die mit der hier gegebenen Erklärung 
des Descensus nicht übereinstimmt, bilden die Elefanten, die 
trotz ihrer hohen Entwicklungsstufe gleich den primitivsten 
Säugetieren eine echte Testicondie anfweisen: ihre Keimdrüsen 
bleiben zeitlebens am Orte ihrer Entstehung in nächster Nähe 
der Nieren. Auch die mechanische Theorie von Klaatsch 
vermag nicht anzugeben, warum die sonst als wirksam ange¬ 
nommenen mechanischen Faktoren hier nicht ebenfalls zu einem 
Descensus geführt haben. Es muß jedoch hervorgehoben werden, 
daß die Elefanten nicht nur an den weiblichen Genitalien 
(Uterus bicomis), sondern auch an anderen Organen (z. B. Bau 



Das IndiTidualitätsproblein and die Subordination der Organe. 371 


des Handskeletts, das EQeinhim bleibt vom Pallinm fast unbedeckt) 
primitive Merkmale anfweisen. 

16. Die Lage der Mammarorgane. 

Zum Schloß mögen noch einige Bemerkungen öber die Mammar¬ 
organe und ihre Lagebeziehungen Platz finden. Ihr Verhältnis 
zur Individnalität des Organismus unterscheidet sich grundsätz¬ 
lich von dem der Keimdrüsen dadurch, daß durch sie nicht lebendiges 
mit außerordentlicher Vitalität begabtes Zellmaterial zur Aus¬ 
scheidung gelangt, sondern toter Stoff. Ihre Lage zeigt zumeist 
engste Beziehungen zu ihrer embryonalen Entstehung aus den 
von den Achselhöhlen zur Leistenbeuge konvergierenden Milch¬ 
leisten. Es können alle Anlagen in kontinuierlicher Reihe fort- 
bestehen oder aber pektorale und inguinale Gruppen isoliert oder 
in Kombinationen restieren. »Maßgebend für Zahl, Anordnung 
und Lage der Zitzen sind zweifellos die allgemeinen Lebens¬ 
formen des betreffenden Tieres nach Aufenthalt, Bewegung, Nah¬ 
rungserwerb, Jungenpfiegec (Meisenheimer*). »So stehen 
die Zitzen bei manchen Fledermäusen achselständig, sie sind bei 
einem Halbaffen, Hapalemur, auf die Schultern verschoben, sie 
finden sich bei gewissen Nagetieren, wie vor allem bei Myopo- 
tamus, rückenwärts, bei einem anderen Nager, Capromys, auf 
den Oberschenkeln, bei einem Insektenfresser, Solenodon, auf den 
Sitzhöckem. Erleichterte Zugänglichkeit für die Jungen mag 
wohl überall hier die Absonderlichkeit der Lage hervorgerufen 
haben, wie es leicht einleuchtet für die an der Brust der Mutter 
angeklammerten Jungen von Fledermäusen und Halbaffen, für 
die auf dem Rücken der schwimmenden Mutter sitzenden Jungen 
von Myopotamus.« 

17. Integration und Desintegration bei Tier und Pflanze. 

Vielleicht darf an dieser Stelle auf ein merkwürdig polar 
entgegengesetztes Verhalten der pflanzlichen und tierischen Or¬ 
ganisation hingewiesen werden. Goethe sagt einmal zu E c k e r - 
mann*): »Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich 
ausdrücken«: Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten und schließt 
zuletzt ab mit der Blüte und dem Samen. In der Tierwelt ist 
es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten 


1) L c. S. 693. 

2) Insel-Verlag 1921, S. 448. 


24* 



372 


Amin Müller, 


ZU Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden 
Tieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich an¬ 
fügen und anfügen und mit dem Kopf abschließen, in welchem 
sich die £[räfte konzentrieren. Was so bei einzelnen geschieht, 
geschieht auch bei ganzen Korporationen. Die Bienen, auch 
eine Reihe von Einzelheiten, die sich aneinanderschließen, bringen 
als Gesamtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht und 
als Kopf des Ganzen anzusehen ist, den Bienenkönig^). Wie 
dieses geschieht, ist geheimnisvoll, schwer anszusprechen, aber 
ich könnte sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe. So 
bringt ein Volk seine Helden hervor, die gleich Halbgöttern zu 
Schutz und Heil an der Spitze stehen.« Mit tiefbegründetem 
Recht setzt Goethe die Blüte, den Träger der Generations¬ 
organe, mit dem Kopfe, »in welchem sich die Kräfte konzentrieren«, 
in Parallele*). In der Blüte erfahren die Seitenorgane des 
Stammes (siehe Goethes Metamorphose der Pflanze) ihre stärkste 
Arbeitsvereinignng und zugleich Differenzierung in Kelch-, Blü¬ 
ten-, Staub-, Fruchtblätter usw. Bei den Kompositen können 
sogar die in einem Köpfchen zusammengefaßten Einzelblüten noch 
untereinander different werden. Wie nun die Blüte innerhalb 
der einzelnen Pflanze den reichsten Fnnktionszusammenhang, den 
höchsten der Pflanze erreichbaren Mannigfaltigkeits- und Indivi- 
dualitäsgrad darstellt, so erreicht das CNS in der Schädelkapsel 
— wenn auch in ungleich potenzierterem Maße — die stärkste 
Differenzierung, den höchsten Individualitätsgrad aller tierischen 
Gestalt. Während aber diese beim Tier an das Prinzip der 
Integration geknüpft ist, verbindet sich jene höchste Vollkommen¬ 
heit bei der Pflanze mit dem der Desintegration. 

18. Epikritische Bemerkangen. 

Es ist eine Grundvoraussetzung dieser Arbeit, daß dem Be¬ 
griff der Subordination als einen Wesensbestandteil der korre¬ 
lativen Begriffe das Ganze und die Teile nicht nur eine trans¬ 
zendentale Bedeutung znkomme im Sinne der Kategorien der 
kritischen Philosophie, sondern vielmehr, daß mit diesem Begriffe 
eine Wesenseigentümlichkeit der lebendigen Natnrdinge »an sich« 
erfaßt werde. Nm* unter jener Voraussetzung ergaben sich jene 
eigentümlichen Parallelen zwischen Lage- und Subordinationsbe- 

1) Gemeint ist die Königin. 

2) Von der Heranziehung der irrtümlichen „Wirbeltheorie des Schädels^ 
soll hier abgesehen werden. 



Das IndiTidnalitätsproblem and die Subordination der Organe. 373 


ziehnngen, die dazu führten, neben dem allgemein anerkannten 
Zweckmäßigkeits-Prinzip noch die Wirksamkeit eines künst¬ 
lerischen, von Ansdruckstendenzen geleiteten Prinzipes anzuer- 
kennen. — Neben der grundsätzlichen Anerkennung der Kate¬ 
gorie Ganzheit, die >im Rahmen der Erfahrung als inhaltlich 
erfüUt geschaut wird« (Driesch), verlangt die fundamentale 
These Kielmeyers von der Entgegensetzung der orga¬ 
nischen Grundkräfte unbedinte Geltung: »am wenigsten vertragen 
sich Sensibilität und Reprodnktionskraft zusammen«, eine Er¬ 
kenntnis, die Bergson — offenbar ganz unabhängig von K. — 
durch das Bild ausdrückt, daß die Individualität im eignen Haus 
ihren Feind, die Fortpflanznngstendenz, beherberge. Dieser Satz 
von der polaren Entgegensetzung von Integrations- und Desinte¬ 
grationsprinzip betrifft die tiefste Wesenskonstitution aller höhem 
animalischen Individualität. — 

Über die Anwendung dieser Grundvoraussetzungen mögen 
folgende epikritische Bemerkungen Raum finden. Die bisherigen 
Theorien über den Deczensus, die von Klaatsch und von 
Meisenheimer, sind noch durchaus kontrovers und in vielen 
Voraussetzungen angreifbar. Meisenheimer nennt die Theorie 
von Klaatsch rein hypothetisch und zum Teil im direkten 
Gegensatz zu tatsächlichen Befunden stehend. Beide Theorien 
vermögen über die auffällige Tatsache keine Rechenschaft ab¬ 
zulegen, daß die Keimdrüsen noch bei den Reptilien an der 
hinteren Bauchwand festgeheftet sind, bei den Säugetieren aber 
durch eine Bauchfellduplikatur eine besondere Verschieblichkeit 
gewinnen. Ferner bleibt nach Klaatsch die Entstehung des 
Leistenbandes, das sicher eine nicht unerhebliche Rolle beim 
Descensus zu spielen berufen ist, gänzlich unerklärt. Wieders- 
heim sowie M. Weber bezeichnen den Descensus in mecha¬ 
nischer Hinsicht als schwer verständlich, seine morphogenetische 
und bionomische Bedeutung als dunkel. Meisenheimers 
Auffassung von der allgemeinen Bedeutung des Skrotums als 
sexuellem Schaumerkmal auch ohne sekundäre Zierrarten muß 
aus tierpsychologischen Gründen zurückgewiesen werden. Die 
oben vorgetragene Auffassung knüpft an an die die unverkennbare 
Harmonie der topographischen und der Subordinationsbeziehungen 
in der Längs- wie in der Sagittalachse, die das Verhältnis der 
großen Organsysteme beim Wirbeltier untereinander betrifft, 
wie ganz besonders auch den hierarchischen Aufbau des CNS. 
Bei diesem offenbart sich jene Harmonie auch an den vomehm- 
lichsten Objekten des Psychomotoriums: den Werkzeugen der 



374 


Armin Müller, 


Laut- und Sprachbildong, der oberen und unteren Extremität. 
Gewisse oben erwähnte Abweichungen, wie vor allem das ventral 
vom Darmtraktus gelegene Herz können jenes Stmktnrprinzip 
des Wirbeltierkörpers ebensowenig verneinen lassen wie gewisse 
Abweichungen vom Prinzipe der Symmetrie. Bei dieser Sach¬ 
lage muß es sehr auffallen, daß bei den Säugetieren auch die 
Topographie der Keimdrüsen mit jenem Stmktnrgesetz auf Grund 
ihrer negativen Ganzheitsbezogenheit ttbereinstimmt, und zwar 
bei den männlichen Keimdrüsen besonders auch in der Sagittal- 
achse: der dorso-frontalen Lage des Palliums bez. Stim- 
hims entspricht die ventro-kaudale Lage der Hoden. Es wäre 
jedenfalls sehr merkwürdig, wenn diese harmonische Einfügung 
in ein allgemeines Stmktnrgesetz, wie sie durch den Vollzog 
des Descensus dargestellt wird, den zufälligen Bedingungen rein 
mechanischer Gesetzlichkeit verdankt würde. Ferner ergibt sich 
eine auffällige Korrelation zwischen dem phylogenetisch verfolg¬ 
baren Descensus der Keimdrüsen und dem »Gesetze der Wan¬ 
derung nach dem Kopfende« (Steiner), das besagt, daß im 
Laufe der Phylogenie jeweils stärker ganzheitsbezogene nervöse 
Funktionen mehr und mehr kranialwärts bez. rindenwärts loka¬ 
lisiert werden. Dabei darf keineswegs erwartet werden, schon 
bei niedrigen Tierklassen feste topographische Beziehungen im 
Sinne einer polaren Entgegensetzung zwischen Nervensystem 
und Keimdrüsen anzutreffen. Wo die Funktion ‘des Nerven¬ 
systems sich in der Vermittlung eines mehr oder weniger ein¬ 
fachen Beflexvorganges erschöpft, wo nur ein netzförmiges 
Nervensystem oder ein Nervenring vorhanden ist, auch statt 
eines Gehirns nur ein Zerebralganglion ausgebildet wird, hinter 
welchem die Bauchganglien oft an Größe kaum zurückstehen, 
kann von einem caractöre dominateur nur in sehr beschränktem 
Sinne gesprochen werden. Erst wo es zu einer stärkeren Kon¬ 
zentration des Nervengewebes kommt, wo sich innerhalb 
eines CNS ein eigentliches Gehirn herausgebildet hat, in wel¬ 
chem schließlich sämtliche animalischen und vegetativen Funk¬ 
tionen ihre zentrale Repräsentation finden, kann von einem 
eigentlichen Träger des Integrationsprinzips gesprochen werden. 
Während die niederen Wirbeltiere ein relativ kleines Gehirn 
besitzen, dessen Masse von der des Rückenmarks bedeutend über¬ 
troffen wird, zeigen die höheren Formen das umgekehrte Ver¬ 
hältnis, und zwar um so entschiedener ausgeprägt, je mehr sich 
ihre Organisations- und Individualitätsstufe hebt. Die sich 
immer stärker ausprägenden Subordinationsverhältnisse finden 



Das Individaalitätsproblem and die Sabordination der Org^ane. 375 

ihren Ausdrack in der topographischen Gliederung nach dem 
Achsensystem. Anderseits können die Generationsorgane bei 
den niederen Formen in bezug auf ihre negative Ganzheitsbe- 
zogenheit nicht ohne weiteres mit denen der höheren Formen 
auf eine Stufe gestellt werden. Bei den niederen Metazoen, 
wo die ungeschlechtliche Fortpflanzung durch Teilung, Knospung, 
Stolonenbildung bis herauf zu den Tnnikaten weit verbreitet ist, 
tritt die Bedeutung der Generationsorgane fflr die Fortpflanzung 
noch relativ zurück. Erst bei den höheren Formen, wo das 
Gefüge der tierischen Individualität weit mehr gefestigt, und 
durch entwickeltere Zentralorgane ein innigerer Verband ge¬ 
schaffen ist, und zugleich das Regenerationsvermögen sich mehr 
auf bloße Wnndheilung reduziert, übernehmen die Generations¬ 
organe endlich ausschließlich das Fortpflanzungsgeschäft und 
werden dann erst zum eigentlichen Repräsentanten der Desinte¬ 
gration. Demnach kann von einer stärkeren polaren Entgegen¬ 
setzung überhaupt erst bei höheren Formen die Rede sein, bei 
denen ein stärkeres Relief der Subordinationsverhältnisse her¬ 
vortritt. Auf die Frage, warum erst in der Phylogenie der 
Säugetierreihe jene allmählich wachsende polare Spannung ihren 
topographisch - morphologischen Ausdruck flndet, kann nur all¬ 
gemein entgegnet werden, daß erst in der Klasse der Säugetiere 
als der höchsten Individualitätsstufe, die sich vor allem in der 
Entwicklung des Gehirns bez. der psychischen Funktionen kund¬ 
gibt, jene Spannung ihren höchsten Grad erreicht. Überdies 
würde bei niederen Wirbeltieren wie den Fischen, wo die Hoden 
als voluminöses Organ von der Schwanz - bis nahe an die Kopf¬ 
region reichen, die Möglichkeit einer Verlagerung von vornherein 
ansscheiden. — Was oben für die phylogenetische Verschiebung 
von Teilen des CNS gesagt wurde, muß hier, um Mißverständ¬ 
nissen zu begegnen, in anderem Sinne nochmals wiederholt werden: 
Durchaus nicht jede Verschiebung eines Organes längs einer be¬ 
stimmten Achse darf mit veränderten Subordinationsbeziehungen 
in Verbindung gebracht werden. So liegen bei zahlreichen Rep¬ 
tilien, sowie allen Vögeln die Nieren in der Beckengegend, bei 
den Vögeln insbesondere in die Vertiefungen des Kreuzbeines ein¬ 
gesenkt. Offenbar spielt hier die Anpassung an veränderte 
Ranmverhältnisse, bei den Vögeln auch die Einwirkung der 
voluminösen abdominalen Luftsäcke eine entscheidende Rolle. 
Etwas anders dagegen dürfte der Descensus des Herzens zu 
beurteilen sein. Bei niederen Vertebraten (dem größten Teil 
der Anamnier) sowie im Embryonalstadinm auch noch bei höheren 



376 


Armin MtUler, 


Wirbeltieren gehört das Herz der vordersten Körperregion an 
und liegt in nächster Nachbarschaft der Kiemendarmhöhle. Je 
mehr sich bei höheren Formen eine stärkere Sonderung der 
einzelnen Körperregionen herausbildet, und besonders die Kopf¬ 
region durch Ausbidung eines Halses von der Bmstregion ge¬ 
schieden wird, erfolgt eine Verlagerung des Herzens samt dem 
Respirationsapparat in kaudaler Richtung. Gleichzeitig konzen¬ 
trieren sich in dem dadurch erst freibeweglich gewordenen Kopf¬ 
abschnitt mehr und mehr die wichtigsten zentralnervösen Funk¬ 
tionen, die allmählich eine solche allgemeine Präponderanz gegen¬ 
über den vegetativen Funktionen gewinnen, daß tatsächlich die 
ganzmachende Bedeutung des Herzens, »des Gehirns der vege¬ 
tativen Organe« (Cuvier), demgegenüber znrücktritt. — 

Wie bekannt, hat der Botaniker Nägeli in seiner »mecha¬ 
nisch- physiologischen Theorie der Abstammungslehre« 1884 im 
Gegensatz zu Darwinschen Anschauungen ein »Vervollkomm¬ 
nungsprinzip «^) aller Entwicklung zugrunde gelegt, durch welches 
das Leben zu höheren und höheren Formen emporgetrieben wird. 
Im Anschluß an die idealistische Morphologie vertrat N. die 
Lehre vom Plan als organisatorischem Prinzip der Organismen, 
von dem er die bloße Anpassung an Anforderungen des Milieus 
unterschied. So trennte er »Organisations- und Anpassnngs- 
merkmale« (siehe oben die entsprechenden Anschauungen G o e b e 1 s). 
Nur bei den letzteren, z. B. der gleichförmigen Beschaffenheit der 
Stammsucculenten aus den ganz verschiedenen Familien der 
Cactaceen, Euphorbiaceen und Asclepiadaceen in Anpassung an 
das Trockenklima, spielt Nützlichkeit oder Schädlichkeit eine 
entscheidende Rolle. »Der Plan ist es, was die Rose zu einer 
Rosacee, die Mistel zu einer Loranthacee, die Tulpe zu einer 
monokotyledonen Pflanze macht; unter Anpassung sollen die 
Farbe der Rosenblüte, die eigenartigen Wurzeln der Mistel ver¬ 
standen werden; Eigenschaften, welche der Pflanze durch äußere 
Umstände eingeprägt werden*).« An »Organisationsmerkmale« 
denkt auch Driesch®), wenn er dem Darwinismus vorwirft, 
»daß er prinzipiell niemals die Besonderheit solcher Eigen¬ 
schaften aufhellen kann, die für ihren Träger indifferent und 
bloße Charakterzüge der Organisation im Sinne einer Ordnnng 
der Teile sind«. Unter diesem Gesichtspunkt darf auch die 


1) was etwa der »Zielstrebigkeit“ bei K. E. v. Baer entspricht. 

2) s. Eddl, L c. n S. 870. 

3) Phil. d. Org. 1921, S. 265. 



Das Individaalitätaproblem and die Subordination der Organe. 377 

Yerlagenmg der Keimdrüsen als der Erwerb eines ordnnngs- 
haften, sinnvollen Organisationsmerkmales betrachtet werden. 
— Wenn anfänglich nützliche Anpassungsmerkmale durch über¬ 
mäßige Weiterentwicklung ihrem Träger verderblich werden, so 
spricht man von Exzeßbildung. Bei dem jungtertiären Säbel¬ 
tiger Machairodus ist die anfänglich vorteilhafte Vergrößerung 
der Eckzähne über das nützliche Maß hinausgegangen und der 
ganzen Art verhängnisvoll geworden. Bei den paläozoischen 
Fischen Campyloprion und Helicoprion sind Zähne zu monströsen 
spiraligen Gebilden verschmolzen, die die Tiere zum Aussterben 
brachten. Ähnliches scheint bei manchen Biesenbildungen von 
Hörnern und Geweihen stattgefunden zu haben”). Diese Be¬ 
trachtung dürfte auch für die Bildung des Skrotums in gewisser 
Hinsicht zutreffend sein. Das Auswandem der Hoden in ventro- 
kaudaler Bichtnng aus der Bauchhöhle heraus stellt ein sinn¬ 
volles Organisationsmerkmal dar. Da nunmehr aber die Hoden 
zweifeUos traumatischer Schädigung viel leichter ausgesetzt sind, 
und somit die Skrotalbildung — sofern nicht sekundär sexuelle 
Schaumerkmale hinzutreten — sicher mehr oder weniger unzweck¬ 
mäßig ist, liegt hier vom Standpunkt der bloßen Nützlichkeit 
die Entwicklung eines zunächst indifferenten Organisationsmerk¬ 
males zu einer wenn auch geringfügigen Exzessbildnng vor. In 
einem gewissen Zusammenhang hiermit steht auch die durch den 
äußeren Descensus in den Hodensack bewirkte Disposition zur 
Hemienbildnng. 

Die in dieser Arbeit entwickelte Theorie von der Bedeutung 
des Descensus würde eine ganz wesentliche Stütze finden, wenn 
es gelänge noch andere anßerzweckhafte >Sinnzusammenhänge«, 
Organisationsmerkmale als sinnvolle Produkte des künstlerischen 
>Gestaltnngstriebes der Natur« (Goebel), »als Andeutungen 
des Innern« (Goethe), reine Formengesetze im Sinne einer ob¬ 
jektiven Ästhetik in der Biologie zu entdecken. 

19. Der Ordnungsgedanke im Weltbild von Plato und 

Aristoteles. 

Die Idee einer Harmonie von topographischen und Rang¬ 
beziehungen, die oben entwickelt wurde, knüpft an an alte Vor¬ 
stellungen von Plato sowie von Aristoteles. Plato lehrt 
in seiner Staats- und Seelenlehre, daß drei scharf geschiedene 
Stände im Staate zu einer höheren Einheit verbunden sind: der 


8) 8. Noibaam-Earsten-Weber, Lehrb. d. Biologie, 1914, S. 898. 



378 


Armin Müller, 


Stand der Könige nnd Weisen, der Philosophen, deren yomehmste 
Tugend die Weisheit ist, der Stand der Wächter und Soldaten, 
denen die Tapferkeit ziemt, nnd drittens die erwerbenden und 
produzierenden Stände, die zu Unterordnung nnd Gehorsam yer* 
pflichtet sind. Entsprechend dieser dreifachen Abstufung des 
Staatsganzen unterscheidet Plato anch an der Einzelseele drei 
subordinierte Teile, denen er eine bestimmte Lokalisation zn- 
schreibt: die Vernunft, das eigentliche Wesen der Seele, ihr gött¬ 
licher und unsterblicher Teil, hat ihren Sitz im Kopf; der yor- 
wärts drängende muthafte Wille in der Brust; das Reich der sinn¬ 
lichen Begierden im Unterleib. 

Der antike Geist war in den Vertretern seiner klassischen 
Philosophie erfüllt yon dem Gedanken eines wahrhaftigen »Kosmos<i 
dem Werke einer übermenschlichen ordnenden Vernunft So kam 
es, daß ihm die Vorstellung der »Welt« mit der sichtbar ge¬ 
wordenen sinnyollen »Ordnung« in eins yerschmolz. Dasselbe 
Prinzip, das sich in der Verknüpfung der seelischen Rangordnung 
mit den Grundgliederungen des menschlichen Körpers aussprach, 
fand seine großartigste Ausprägung in dem Bilde, das Aristoteles 
yom physischen Kosmos entwarf. Er stellt eine einzige große 
Subordinationstotalität dar, eine systematische Hierarchie, die 
ihre ersten Bewegungsimpulse yom »unbewegten Beweger«, der 
Gottheit, empfängt. Die sichtbare Welt zerfällt in einen himm¬ 
lischen nnd irdischen Teil, die Welt über und unter dem Monde. 
Die himmlische, aus dem Äther bestehende Welt ist durch die 
yollkommenere kreisförmige Bewegung charakterisiert, die ihr 
allein »natürlich« ist. Der irdischen Welt kommt die gradlinige 
Bewegung zu im Sinne der Auf- und Abwärtsbewegung je nach 
der Leichtigkeit und Schwere der Elemente. In ihr bewegen 
sich die Stoffe des Irdischen, yor allem die Erde selbst, deren 
natürlicher Ort »unten«, d. h. im Mittelpunkt des Weltgebäudes 
liegt. Ihrem Wesen als schwerer Körper folgend, fällt sie nach 
unten. Das Feuer hingegen, dessen natürlicher Ort »oben« ge¬ 
legen ist, wird durch die ihm einwohnende natürliche Aufwärts¬ 
bewegung gezwungen, bis an die Peripherie des Himmelsgewölbes 
anfzusteigen. Die Erde ruht im Mittelpunkt der Welt. Ihr 
schließt sich nach außen an das Wasser, dann die Hohlkngel 
des Luftraumes und schließlich die des Feuers. Nach außen yom 
Feuer sind in ewiger unyeränderlicher Umdrehung begriffen die 
Sphären der himmlischen Welt, der Sterne. Ihr Stoff soll um so 
reiner sein, je ferner sie der Erde sind. Der erste unbewegte 
Beweger gibt den Anstoß zur Bewegung des äußersten himmlischen 



Das Indiyidaalitätsproblem and die Snbordination der Organe. 379 

Kreises, der Sphäre des Fixstemhimmels, der somit seiner Voll- 
konunenheit am nächsten steht. Von diesem wird der Bewegungs- 
impnls anf die jeweilig inneren Kreise übertragen. Schließlich 
wird er, fortgeleitet, auch zur Ursache der Auf- und Abwärts¬ 
bewegung der irdischen Elemente. — Die Auffassung des Aristo¬ 
teles von der Fallbewegnng mit ihrer Lehre vom »oben« und 
»unten«, dem »natürlichen« und dem »geliehenen« Orte gehört 
durchaus der Geschichte an. Und doch ist eine gewisse Verwandt¬ 
schaft zu dem Strukturgesetz des Wirbeltierkörpers und besonders 
seines CNS unverkennbar. Aristoteles irrte, wenn er glaubte 
daß es zum »Wesen« des Steines gehöre, nach unten zu fallen 
und damit eine besondere räumliche Beziehung zu leichteren 
Elementen zu gewinnen, deren »natürlicher« Ort höher liegt als 
der seinige. Wohl aber trifft es zu, daß die Keimdrüsen, sofern 
sie beim Säugetier nach dem kaudalen Pol der Körperlängsachse 
wandern, ihren »natürlichen«, d. h. den ihnen anf Grund ihrer 
negativen Ganzheitsbezogenheit zukommenden Ort aufsnchen. Es 
gibt einen »natürlichen« Ort, freilich nicht für die Welt des An¬ 
organischen, sondern nur innerhalb des Achsensystems des Wirbel¬ 
tierkörpers. 


20. Die Idee der Rangordnung in der deutschen Philosophie 
der Gegenwart (M. Scheler und E. Spranger). 

Oben war als grundsätzliche Voraussetzung dieser Arbeit die 
objektive Geltung des Ganzheits- und Subordinationsbegriffs be¬ 
zeichnet worden. Zugleich wurde darauf hingewiesen, daß da¬ 
mit auch eine Überschreitung der von Kant gezogenen Erkennt¬ 
nisgrenzen gefordert wird. Hierdurch ist prinzipiell eine gewisse 
Beziehung zu Entwicklungsrichtungen der neuesten deutschen 
Philosophie gegeben, die nur angedeutet werden soll, aber auch 
nicht verschwiegen werden darf, da jene Kichtnngen zwar nicht 
den Anstoß, wohl aber eine wesentliche Förderung und Ermuti¬ 
gung zu der vorliegenden Arbeit gegeben haben. — In bewußtem 
Gegensatz zu der die Neuzeit beherrschenden Auffassung von der 
Subjektivität oder Relativität aller Werte versucht Scheler 
die Ethik »auf die Idee einer apriorischen Gesetzmäßigkeit des 
intentionalen Fühlens und Vorziehens und einer ihr entsprechenden 
objektiven Rangordnung der Werte selbst aufzubauen.« 
Die höchste materiale Wertstufe, der sich die übrigen unter- 


1) »Ethik« in Jahrbücher d. Philosophie t. Frischeisen- Kühler Bd ü, S. 92. 



380 


Armin Müller, 


ordnen, ist für ihn der Personenwert. Wie diametral er sdler 
bloßen Nützlichkeitsphilosophie und allen Erhaltnngsmazimen 
gegenübersteht nnd wie auch für ihn der Wert der Indivinalität 
der entscheidende wird, zeigt folgender Satz ans dem Vorwort 
seines Werkes >Der Formalismus in der Ethik nnd die materiale 
Wertethikc »Daß der Endsinn nnd Endwert dieses Ganzen 
Universums sich in letzter Linie ausschließlich bemesse an dem 
puren Sein (nicht an der Leistung) und dem müglichst voll* 
kommen Gut sein, in der reichsten Fülle nnd der vollständigsten 
Entfaltung, in der reinsten Schönheit und der inneren Harmonie 
der Personen, zu denen sich alle Weltkräfte zuweilen kon¬ 
zentrieren nnd emporschwingen, das ist sogar der wesentlichste 
und wichtigste Satz, den dieses Werk möglichst vollständig be¬ 
gründen und übermitteln möchte.« — Eine weitere Beziehung 
ergibt sich zu Eduard Spangers Anschauungen, wie sie in 
seinen »Lebensformen« niedergelegt sind. Er unterscheidet als 
»die idealen Grundtypen der Individualität«: den theoretischen, 
ökonomischen, ästhetischen, sozialen Menschen, den Machtmenschen 
nnd den religiösen Menschen sowie die diesen abstrakten Typen 
entsprechenden Werte. Auch er lehrt eine objektive Rang¬ 
ordnung der Werte, wie sie in dem adäquaten Erleben, d. h in 
einer nicht nur subjektiven Erlebnisweise, sondern in einer norm¬ 
gemäßen, sein sollenden Realisierung des objektiven Gehalts 
eines Wertgebildes, eines Wertzusammenhanges zum Ausdruck 
kommt Wesentlich in diesem Zusammenhang ist, daß alle 
Werte sich auf dem Boden ein nnd desselben seelischen Ganzen 
treffen. Auf ihrer Bedeutung für das einheitliche Ich beruht 
die Vergleichbarkeit der einzelnen Wertklassen. Daher ist für 
die jeweile Werthöhe entscheidend die Ganzheitsbezogenheit 
eines Wertes. Je mehr ein Werterlebm's bedeutet für das 
Lebensganze, umso höher steht der betreffende Wert Je tiefer 
ein Werterlebnis in das Sinngefüge des ganzen Lebens eingreift, 
den Gesamtsinn des Menschen betrifft, um so näher steht es 
dem religiösen Wert. Das Entscheidende für die religiöse Sinn¬ 
gebung ist umgekehrt die Totalität des Lebens. Das Religiöse 
tritt somit an die Spitze gleichsam einer Wertpyramide nnd 
teilt sich als religiöser Gehalt den anderen Wertklassen in dem 
Maße mit, je weiter sie von der Basis entfernt, der Spitze ge¬ 
nähert liegen. »Je mehr Weltanschauungswert in einem ästhe¬ 
tischen Erlebnis liegt, je weniger es bloß flüchtigen Stimmnngs- 


1) 1. c. n. Aun. S. 282. 



Du IndiTidnalitätaproblem nnd die Subordination der Organe. 381 

Charakter träg^, um so höher rückt es in der Gesamtordnong 
Werner Sombart schreibt zu Beginn seines Buches: »Der 
Bonrgois«: »Der vorkapitalistische Mensch, das ist der natürliche 
Mensch. Der Mensch, wie ihn Gott geschaffen hat. Der Mensch, 
der noch nicht auf dem Kopfe balanciert und mit den Händen 
läuft (wie es der Wirtschaftsmensch unserer Tage tut), sondern 
mit den Beinen fest auf dem Boden steht und auf ihneu durch 
die Welt schreitetc Sombart will damit die Perversion 
des Werterlebens bezeichnen, die die gegenwärtige Gesellschaft 
charakterisiert und darin zum Ausdruck kommt, daß Nutz- und 
Wirtschaftswerte im Gegensatz zu früheren Knlturepochen von 
einer mehr oder weniger dienenden Stellung zu fast absoluter 
Herrschaft gelangt sind. In verwandtem Sinne spricht S c h e 1 e r 
von einem »Umsturz der Werte< — gemessen an einer objektiven 
an sich gültigen materialen Wertrangordnnng. Zum Symbol dieses 
in rein ökonomischen Kategorien denkenden Menschen wird die 
Darwinsche Lehre mit ihren bloß utilitaristischen Voraussetzungen. 
Vom Nützlichkeitsstandpnnkte aus machte man das Soma zu 
einem »Seitenzweige« des Keimplasmas (Doflein), dieses aber 
zur »Haupt«Sache und stellte somit den Menschen auf den 
Kopf. Die Biologie hatte sich zur Dienerin des Zeitgeistes 
gemacht 


1) 1. c. S. 290. 


(Eingegangen am 2. April 1924.) 



(Aus dem philosophisch-psychologischen Seminar der Universität 
Bonn. — Direktor: Geh.-Rat Prof. Dr. med. et phiL Gustav Störring.) 


Psychologie der sittlichen Selbstachtung 

und ihre Beziehnng zur Ethik seit Kant. 

Von 

Herbert Jancke (Bonn). 

(Dieser Aufsatz referiert ttber die Ergebnisse meiner Dissertation gleichen 
Titels, die eingehender namentlich die historische Abwandlang der Selbst- 
achtong nnd die praktische Bedentong der Selbstachtnng behandelt. Die 
Dissertation ist einznsehen auf der Staatsbibliothek in Berlin and aal der 
Universitätsbibliothek in Bonn.) 


Inhaltsverzeichnis. 

1. Definition der sittlichen Selbstachtnng .883 

2. Überblick über die Geschichte der philosophischen Behandlang der 

sittlichen Selbstachtnng.884 

a) Vor Kant. Im Aasland. Bei Dichtem.884 

b) Kant.886 

c) Kritik an Kant darch seine Nachfolger.886 

d) Metaphysiker.887 

e) Vorwiegend Empiriker.888 

f) Empiriker.3^ 

3. Allgemeines über die psychologischen Methoden der an behandeln¬ 
den Antoren.889 

4. Die Psychologie der sittlichen Selbstachtnng seit Kant .... 390 

a) Kant.390 

b) Fichte.392 

c) Wandt nnd Aars.895 

d) V. Hartmann.400 

e) Lipps.401 

f) Störring.403 

5. Die psychologische Beziehnng der Selbstachtnng znr Sympathie . 408 

6. Methodik der Systematisiemng der Ethik bezgl. der sittlichen Selbst- 

achtnng.409 

a) Metaphysiker.410 

b) Persönlichkeitsethiker.410 

c) Wandt. 411 






















Herbert Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 383 


7. Die EinbettTing des Prindps der Selbstachtung in die ethischen 


Systeme.411 

a) Formale Persbnlichkeitsethiker.411 

b) Versuche, die Persönlichkeitsethik materiell zu gestalten . . 412 

c) Die materiale Persönlichkeitsethik Störrings.413 

d) Störrings Beweis der Gültigkeit der sittlichen Selbstachtung 416 

e) Über pädagogische und religiöse Bedeutung der Selbstachtung 416 

8. Die Selbstachtung als praktischer Lebenswert.416 

a) Fichte.416 

b) Goethe.417 

c) Nietzsche.418 

9. Literaturverzeichnis.421 


1. Definition der sittliehen Selbstaclitnng. 

Das Gefühl der Achtung eines Menschen vor sich selbst be- 
mht auf der Eh^ahmng sittlicher Überlegenheit der eigenen Per* 
sönlichkeit. Diese wird gewonnen bei Fällen solcher sittlichen 
Konflikte, bei denen die Intensität der Gefühle, die zur Ent¬ 
scheidung drängen, eine sehr starke ist. Das Bewußtsein sitt¬ 
licher Überlegenheit der eigenen Persönlichkeit über sich seihst 
aber ist das Bewußtsein, daß der eigene Wille kraftvoll genug 
ist, sich da gegenüber Augenblicksimpulsen durchzusetzen, wo 
es sich um eine eigene sittliche Einsicht handelt, die man, wenn 
sie sich mit aktiven Gefühlen verbindet, einen autonomen sitt¬ 
lichen Imperativ nennt. Die sittliche Selbstachtung ist das stolze 
Gefühl, daß diese sittlich sich selbst überlegene Persönlichkeit 
in sich erhalten bleibt; sittliche Selbstverachtung ist das depri¬ 
mierende Gefühl, daß sie sich durch Willensschwäche zerstört 
hat. Sittliche Selbstachtung ist so eine typische sittliche Ein¬ 
stellung, die das Verhalten einer sittlich höher entwickelten 
Persönlichkeit bedingt. Sie ist scharf zu scheiden von jeder sitt¬ 
lich indifferenten Selbstachtung. 

Es ist für die Psychologie der sittlichen Selbstachtung nicht 
gleichgültig, ob man sich vorher über die Psychogenesis der sitt¬ 
lichen Wei*tschätzungen überhaupt Rechenschaft gegeben hat. 
Denn die sittliche Selbstachtung ist eine emotionale Stellung¬ 
nahme zu den sittlichen Wertschätzungen, oder, wie man auch 
sagen kann, sie superponiert sich über ihnen. Die Psychologie 
der sittlichen Wertschätzungen lehrt uns, daß das psycho-ethische 
Geschehen unter den Individuen ein gleichförmiges ist, abhängig 
von den gleichen psychischen Faktoren. Sie zeigt uns auch die 
vorwiegend individuelle, d. h. autonome Bedingtheit der sittlichen 
Wertschätzungen. Dennoch hüten wir uns, die Frage der Gültig- 











384 


Herbert Jancke, 


keit der sittlichen Wertschätzungen und der sittlichen Selbst¬ 
achtung damit entschieden sein zu lassen. 

Aber in der Auffassung, daß man fruchtbar Ethik nur treiben 
kann, wenn man psychogenetische Entwicklungen heuristisch f&r 
die Ethik ausnutzt, schließen wir uns G. Störring an. 

Ich gehe nun so vor, daß ich von moralpsychologischen und 
moralphilosophischen Gesichtspunkten aus Querschnitte durch die 
philosophische Geschichte der sittlichen Selbstachtüng ziehe, den 
modernsten Standpunkt (Störring) am ausführlichsten darstellend. 
Anschließend skizziere ich die Bedeutung der Selbstachtung bei 
Goethe und Nietzsche, als solchen Autoren, die Ethik nicht 
als abstrakte Gelehrte (>Denker«) treiben, wie das heute noch 
zum mindesten alle nicht psychologisierenden Moralisten tun, 
nicht ein erdachtes Wissen empfangen und es ihrerseits nur modi¬ 
fizieren, sondern die ihre sittlichen Erfahrungen unmittelbar dem 
Leben selbst entnehmen und als Kenner des Lebens und ihrer 
selbst das Leben und sich selbst zu meistern suchen. Es gibt 
zu denken, wenn man die Übereinstimmung der Resultate solcher 
bedeutenden Menschen und moderner Empiriker, die mit ungleichen 
Methoden arbeiten, entdeckt. 

Diese Arbeit soll zeigen, daß die moderne Psychologie auf 
weit sichrerer Grundlage, als jene sie besaßen, die Durchleuch¬ 
tung des sittlichen Tatbestandes leistet, und wie auf Grund des 
empirischen Vorgehens nun auf einmal die außerordentliche Be¬ 
deutung der sittlichen Selbstachtung beleuchtet wird, die vorher 
nur als Problem die Gemüter in Bewegung versetzt hat, wie man 
an Hand der Geschichte und der Weltliteratur zeigen kann, aber 
in seiner scharfen Umgrenzung unerkannt geblieben ist. Sie mag 
nunmehr auch in ihrer eminenten Bedeutung für die notwendige 
kulturelle Wandlung unserer Stellungsnahme zum Leben erkannt 
werden. 

2 . Überblick über die Geschichte der philosophischen Be¬ 
handlung der sittlichen Selbstachtung. 

a) Vor Kant. — Ansland. — Dichtung. 

Die Griechen behandeln die Selbstachtnng nicht systematisch. Sie ist 
Demokrit nnd Enripides bekannt; bei Sokrates klingt sie an. In der ge¬ 
lehrten platonischen Tngendtafel scheint sie mir in Beziehnng zn setzen zn 
sein mit der Tngend der Tapferkeit. Jesns ist persönlich von ihr stark ge¬ 
leitet. Die Stoiker gründen sie anf die Möglichkeit des freien Willens- 
gebranches nnd anf die Würde des Menschen als Vemnnftwesen, wie sp&ter 
die von ihnen abh&ngigen Descartes nnd Gracian. Das Mittelalter vermag 
keinen selbständigen Kontakt mit dem Wirklichen anfznnehmen; aber zu 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


385 


den Zeiten, in denen der Mensch wieder in stärkerem Maße Fühlung mit 
sich selbst nehmen mußte, wird auch das Gefühl der Selbstachtung und der 
Gedanke der Würde des Menschen bewußt. Das ist in der Renaissance und 
in der französischen Revolution. Hier seien u. a. Pico von Mirandola, 
Cervantes, Shakespeare, Rousseau und Condorcet genannt. — Die psycho- 
logisierenden Engländer Hume, A. Smith und J. St. Mill erfassen die Bedeu¬ 
tung der Selbstachtung nicht, wenngleich sie sie kennen. — Von geringerer 
Wichtigkeit für uns sind: J. A. Eberhard, Gleim, Elopstock, Lessing, Herder, 
Schiller, Hebbel, Ibsen, Guyau, Dostojewski, SolowjeS. — Mit Ausnahme des 
Norwegers deutscher Schule Birch-Reichenwald-Aars wird die Selbstachtung 
seit Kant, soweit ich sehe, nur von Deutschen behandelt. 

b) Kant. 

Im Prinzip der sittlichen Selbstachtung zeigt sich Kant nicht abhängig 
von den Stoikern. Er wie Fichte und Nietzsche halten die Selbst»hoch- 
achtung« der Stoiker für affektiert-theatralisch. Kant geht vielmehr aus 
vom persönlichen Erlebnis des Gefühls der Selbstachtung. Die Deutung 
dieses Gefühls ist ihm nach eigenen Worten durch Rousseau ermöglicht 
worden. Als Erbe des Rationalismus war Kant für eine rationale Deutung 
sehr empfänglich. Aus dem Gefühl der Selbstachtung wird eine Idee 
der Würde der Person. Andererseits war Kant zu kritisch, als daß er das 
real erlebte Gefühl nun einfach leugnete. Die Selbstachtung kommt fortan 
bei ihm, was man bisher wenig bemerkte, in zweierlei Bedeutung vor: der 
rationalen und der empirischen. Die Nachfolger Kants stießen sich 
z. T. an dieser Unebenheit und suchten sie zu korrigieren. 

Diesen historischen Verlauf will ich im Anschluß an H. Höffding 
aufzeigen. — Kant erklärt sich die Würde des Menschen als Folge eines 
kosmischen Zusammenhanges, auf den ihm geschichtliche und entwicklungs¬ 
geschichtliche Erwägungen hinzudeuten schienen. Hier schien man eine 
Entwicklung der Menschheit beobachten zu können. Wohin ging sie ? Der 
Mensch mußte a priori teilhaben an einer höheren Welt, zu der allein er 
hinstrebte, die ihm seinen Zweck, seine »Bestimmung«, vorschrieb. Kant 
nennt sie die intelligible oder Vemunftwelt, die Welt des absoluten Seins 
und der absoluten Werte. Sie wirkt teleologisch ein auf die Welt der Er¬ 
scheinung. Bei Entwicklung und Vervollkommnung kann es sich für uns 
nur um Wertbestimmungen handeln. Der einzige absolute Wert aber, den 
Kant kennt, ist der sittliche Wert. Der Endzweck ist also ein sittlicher, 
und sein antizipierender Ausdruck im Menschen ist die erlebbare Tatsache der 
Autonomie, des Sitten g es et zes, der Kampf des Intelligiblen, der Vernunft, 
gegen die Erscheinung, die Gefühle, die sinnlichen Antriebe. Das Sitten¬ 
gesetz erscheint uns als heilig, der Mensch selbst, der Anteil am Heiligen 
zu haben gewürdigt ist, hat Würde. Dieses Glückes soll er sich würdig 
erweisen. Das höchste Gut ist daher die »Glückseligkeit« und Vollkommen¬ 
heit jenes erstrebten letzten Zustandes; die kantische Glückseligkeit ist 
nicht eudämonistisch gemeint. 

Durch Nichtbefolgung des Sittengesetzes kann der Mensch wohl zeitweise 
seine Selbstachtung verlieren, aber nicht seine Würde als Mensch, da er An¬ 
teil an der intelligiblen Welt ohne sein Zutun hat. Nicht er, sondern die 
Gattung ist des Endzweckes gewürdigt. »Der Mensch ist zwar unheilig 
genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein.« »Alle 
Archiv für Psychologie. XLVm. 26 



386 Herbert Jancke, 

Aobtnng' ffir eine Person ist immer eigentlich nnr Achtung fürs Gesetz.« 
»Stets zwingt das Gesetz in ihm nnyermeidlich Achtung für sein eigenes 
Wesen ab, und dieses Gefühl (welches von eigener Art ist, — es ist Temnnft> 
gewirkt) ist ein Grund der Pflichten.« Die Selbstachtung, empirisch ge¬ 
nommen, ist auch kein sittlicher Antrieb, sondern nnr reaktives Gefühl, 
»Erscheinung«, das beeinflussend wirkt anf eine nachträgliche Reflexion. 
Hat das Individuum unsittlich gehandelt, »so mnfi es sich selbst verachten, 
sobald es sich mit dem sittlichen Gesetz vergleicht«. Selbstverachtung aber 
ist ein Unlnstgefühl, kann also nicht sittlich motivierend wirken, das 
kann nnr die dadurch angeregte Reflexion über das Sittengesetz, die Über¬ 
legung, ob diese Tat sich mit der Idee der Menschheit (in der Person) ver¬ 
trägt, die Besinnung anf die Yemnnft. Das Sittengesetz hat bei Kant be¬ 
kanntlich formalen Charakter; wird es aber praktisch interpretiert, dann 
lautet es: »Handle so, dafl du die Menschheit sowohl in deiner Person als 
in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals als 
bloßes Mittel gebrauchst.« Die Nachfolger Kants nennen diese Interpretation 
zuweilen die Materie des Sittengesetzes. Nicht Selbstachtung in unserem 
Sinne ist es, die den Menschen vom Selbstmorde abhalten soll, sondern der 
Gedanke, dafl man im Begriffe ist, die Menschheit in seiner Person als Mittel 
zu benutzen zur Flucht aus einem unerträglichen Zustande. Die Gültigkeit 
dieser sittlichen Forderung war für Kant mit der absoluten Wertschätzung 
des Sittlichen und der Vernunft gegeben. 

Die Selbstachtung bei Kant also schließt sich an sittliche Handlungen 
an, aber motiviert sie nicht. Sie ist eine Wirkung der Achtung vor dem 
Sittengesetz. 

c) Kritik an Kant durch seine Nachfolger. 

Die Nachfolger Kants kritisieren hauptsächlich die einseitige Rationali¬ 
sierung der Selbstachtung und damit das ansschliefllich Vemnnftmäflige beim 
sittlichen Handeln überhaupt. 

Fries hat noch denselben Ausgangspunkt wie Kant. Er erkennt 
auch in der Würde der Person einen »idealen Wert«, ein »Gesetz des Zweckes 
für die Welt«. Aber die Formulierung Kants »betrifft lauter negative Be¬ 
stimmungen dessen, was ich unterlassen soll oder worin ich meine Handlung 
zu beschränken habe, positiv hingegen ist es mein Fall gar nicht, einem 
Wesen Würde zu geben, welches diese noch nicht hat«. »Wir geben Wert 
überhaupt dem Leben in der Geschichte der Menschheit, der Erscheinung 
und Ausbildung der Vernunft. Jeder einzelne gilt nnr so viel, als er in diesem 
Ganzen der Gesellschaft ist, aber nicht als Mittel zum Zweck, sondern als 
integrierender Teil.« Ob eine Handlung vernunftgemäß ist, entscheidet 
nicht die Vernunft selbst, sondern der Verstand. Der Mechanismus der sitt¬ 
lichen Handlung wird also von Fries auf das Gebiet des Psychischen, die 
Welt der Erscheinung, übertragen und dort mittels der Selbstbeobachtung 
untersucht. Leider identifiziert er Selbstbeherrschung und Verstand, so dafl 
die Mitwirkung der Gefühle beim sittlichen Handeln wieder übersehen wird. 
Die Selbstachtung wird von ihm zur »Tugend« gestempelt und diese z. T. 
mit »Ehrgefühl« verwechselt. Über Fries’ System später. 

Fichte treibt die teleologische Ausdeutung des Prinzips der persön¬ 
lichen Würde auf die Spitze. Den Beweis der Apriorität der sittlichen 
Selbstachtung sucht er kinderpsycbologisch zu führen. Nnr der Theorie 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


387 


zuliebe hält er an dem Satz fest, dafi Sittlichkeit Intelligenz ist. Er kann 
seine Beobachtungen mit der Theorie nicht in Übereinstimmung bringen. 
Bedeutsam bei ihm ist, so in den Reden an die deutsche Nation, der Ver¬ 
such, durch Erregung der Selbstachtung die Hörer zu kraftvoll-sittlicher 
Tätigkeit, hier zugunsten des Staates, anzuspornen. 

Vor ihm schon meinte F. H. Jakobi, dafi, wenn man beobachte, dafi 
»der Tugendhafte mit dem köstlichen Gefühl der Selbstachtung doch in 
einem hohem Grade unglücklich sein könne«, die Sittlichkeit etwas Drohendes 
an sich habe, und man darum den Glauben an die Notwendigkeit des Sitt¬ 
lichen für ein »Hirngespinst« halten müsse, wenn man nicht damit den 
Glauben an die »Notwendigkeit einer moralischen Regierung Gottes« und 
an ein anderes Dasein verbinden könne. Nicht der Mensch ist sittlich, 
sondern »die Natur in ihm ist sittlich«. 

»Der Mensch ist von Natur sittlich« — ist auch der erste Grundsatz 
Ficht es. Alle Erziehung kann den Menschen nur dahin fördern, dafi er 
sich bewufit wird als Glied einer sittlichen Weltordnung. Im kosmischen 
Sinne ist die Würde des Menschen und mithin seine Selbstachtung eine un- 
Terlierbare; »für das Empirische ist es hinlänglich, wenn wir uns nur nicht 
verachten müssen, positive Achtung kommt ihm nie zu, denn er kann sich 
nie über die Forderung erheben«. 

d) Metaphysiker. 

Diese negative Formulierung der Selbstachtung findet sich nicht bei 
Kant; bei ihm ist auch nicht das Gefühl der Selbstachtung habituell, 
sondern nur die Idee der persönlichen Würde. Die Negativität der Selbst¬ 
achtung findet sich aber bei fast allen Nachkantianem einschl. R. Nelson 
als Zeichen unglücklicher Verquickung ethischer und metaphysischer Ent- 
vncklungen. Bei Fichte ist z. B. die Reue »das Bewufitsein des fort¬ 
dauernden Strebens der Menschheit in mir, verbunden mit dem unan- 
nehmen Gefühl, dafi es besiegt worden«. — Das ist Theorie, aber nicht 
empirisch gewonnene Einsicht. Jenes positive Gefühl, das in dem Mikro¬ 
kosmos des Ich dessen Würde als »integrierenden« Teil des Makrokosmos 
verehrt, ist für Fichte wie für Goethe das mehr religiöse Gefühl der 
»heiligen Ehrfurcht vor sich selbst«. 

Ganz ähnlich fafitK. C. F. Krause die Selbstachtung. Ihn zwingt zur 
Selbstachtung die Vereinigung von Gott, Natur und Vernunft im Ich; sie 
soll in Kontemplation und Handeln die Selbstintuition, die Erkenntnis des 
»Wesens« aller Dinge im Selbst fördern. Das Leben ist eine »stete Wieder¬ 
geburt in Gott«. 

Metaphysische Bahnen, auf denen die Ansichten natürlich sehr verschieden 
sind, wandeln auch Schopenhauer und E. v. Hartmann. Schopen¬ 
hauer, auch von dem kosmischen Zusammenhang begeistert, sieht darin ge¬ 
rade die durch »Leiden, Not, Angst, Schmerzen« begründete Armseligkeit des 
Menschen hervorstechen, aber gar nicht seine »Würde«. Er polemisiert heftig 
gegen die »Leerheit« der[^kantischen Behauptung. Statt der Selbstachtung 
empfiehlt er einen ästhetischen Selbstgenufi. 

Das kosmisch-»mystische« Einheitsgeftthl erlebt auch v. Hart mann. Er 
legt ihm teleologische Bedeutung bei. Selbstachtung ist zwar starkes sitt¬ 
liches Ausdrucksmittel, aber die sittliche Persönlichkeit hat nur relativen 

25* 



388 


Herbert Jancke, 


Wert, sie ist nur Mittel znr Erreicbong des Endzwecks, des Nirwana. Im 
übrigen geht t. Hart mann weitgebend empirisch (Selbstbeobachtnng) tot. 

e) Vorwiegend Empiriker. 

Eine andere Heike yon Philosophen, die man als Nachfolger Kants 
bezeichnen kann, sacht die Würde des Menschen mehr empirisch za er* 
klären; aber nor C. F. Beneke kommt ohne a priori aas. Er hält es für 
natürlich, jedem Menschen Achtang entgegenzabringen, aber wahre sitt¬ 
liche Würde mofl dnrch sittliches Verhalten erworben sein and kann anch 
wieder yerloren werden. Selbstachtang lehnt er nicht gerade ab, aber er 
verhält sich zorückhaltend, weil man sie nicht genügend abgrenzen kOnne. 

Dasselbe meinte vor ihm schon der Apriorist J. Salat Einmal läflt sie 
Beneke jedoch als Motiv za: da, wo er sie in Verbindong gebracht weiß 
mit dem Vertraaen in die eigene sittliche Entwicklang. 

In ähnlicher Weise steht Herbart za ihr. 

G.W. Block fragt exakt: »Waram soll der wirkliche Wert des Menschen 
aas einem ideaUschen Verhältnis hergeleitet werden?« »Alle Paradoxie fällt 
weg, wenn man die Würde der Menschheit nicht eine blofie Idee, den ver¬ 
meintlichen Anteil an einer allgemeinen Qesetzgebang setzt, sondern, worin 
eie wirklich besteht, in einen realen Vorzag, diesen nämlich, dafi der Mensch 
seinen Zweck in sich selbst hat, oder in einen realen Zweck, nämlich den 
des nnbedingten Wertes der persönlichen Beschaffenheit.« Kann man sich 
aber die Wahrang der Würde zam Zweck setzen, so maß Selbstachtang 
anch Motiv sein können. 


f) Empiriker. 

Die neaere empirische Behandlang der Selbstachtang beginnt etwa mit 
V. Hartmann and W. Wandt gleichzeitig. Während v. Hartmann sich 
anf Selbstbeobachtang verläßt, benatzt Wandt für seine Ethik anch die 
Völkerpsychologie, ohne jedoch schon die experimentalpsychologischen Er¬ 
gebnisse anmittelbar für die Selbstachtang aaszanatzen. 

Wandt bant die Ethik von anten aaf, ohne metaphysische Voraos- 
setznngen. Er weist die aaßerordentliche Bedeatang der Gefühle beim sitt¬ 
lichen Handeln nach and polemisiert gegen die einseitige Vemanftethik: 
»Ohne Überlegnng richtig za handeln, ist schließlich das Haaptmerkmal der 
sittlichen Reife«. Infolge einer gewissen Einseitigkeit der objektiven Me¬ 
thode kommt jedoch bei ihm die Selbstachtang psychologisch and methodisch 
nicht ganz za ihrem Recht. 

Ähnlich wie Wandt die allgemeine Ethik, behandelt K. B. Aars die 
Selbstachtang im besonderen völkerpsychogenetisch. Er ist jedoch kein 
Systematiker. 

Von geisteswissenschaftlichen and koltarpsychologischen Überlegangen 
aas beleuchtet E. Spranger das Sittlich-Typische der Selbstachtang. 
A. Storch bezieht sie in phänomenologisch-beschreibende Untersachongen 
über das Selbstwerterlebnis ein (6d. 37 dieser Zeitschrift). 

Von A. Döring and Th. Lipps wird die Selbstachtang übermäßig in 
den Vordergrund ihrer Betrachtungen gerückt. Döring sucht sie eadä- 
monistisch amzudeaten, ohne daß er sich dabei genügend an Tatsachen 
hält; Lipps sieht in ihr den schlechthin absolaten sittlichen Wert, wie 
Kant in der Achtang vor dem Sittengesetz. Man könnte seine Entwick- 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


389 


Inngen modernisierte kantisehe nennen; sie leiden anch an Toreingenommener 
Schätanng dessen, worauf er hinaus will. 

Für StOrring bedeutet die Moralpsychologie die Vorhalle der eigeut- 
lichen £thik. Fr benutzt zum erstenmal in großem Umfang individual¬ 
psychologisches Material zur Bestimmung der Stellung, die den einzelnen 
sittlicben Gefühlen und Prinzipien im ethischen System zukommt. Zunächst 
deduktiv vorgehend, erweist er schließlich die Übereinstimmung dieser 
Resultate mit induktiv gewonnenen. Die Ethik zeigt volle kritische Weite 
gegen die Einseitigkeiten der Älteren. Zum erstenmal wird hier anch die 
Gültigkeit der sittlicben Werte bewiesen und die Selbstachtung in päda¬ 
gogische Entwicklungen einbezogen. 

In neuerer Zeit wird die Selbstachtung, jedoch mit wenig prinzipieller 
Bedeutung, behandelt von Mehlis, Schwarz, Eoppelmann, Höff- 
ding, Adickes, Verweyen, Meumann und Unold. 

Als prinzipielle Skeptiker in bezug auf die Selbstachtung kann man 
bezeichnen: Hegel, Feu erb ach, Schopenhauer, Sigwart.Stumpff 
und, da sie nur eine religiös bedingte, heteronome Selbstachtung anerkennen: 
Deutinger und Scheler. 


3. Allgemeines über die psychologischen Methoden der zu 

behandelnden Autoren. 

Die psychologischen Abhängigkeitsbeziehungen der sittlichen Selbst¬ 
achtung werden festgestellt an Hand von Untersuchungen über ihre Psy- 
chogenesis. Es ist nicht uninteressant zu beobachten, wie die Ethiker diese 
Untersuchung verschieden betreiben, meist je nach dem systematischen 
Zweck, den sie verfolgen. Anch Stör ring stellte zunächst deduktive Über¬ 
legungen an. Es wurde das sittliche Wollen auf Grund einer Vorüber- 
legung, nämlich daß ein Betrachter »Sympathie mit dem subjektiven so¬ 
wohl wie mit dem objektiven Tatbestände der Willenshandlnng« (Wollen 
selbst und Effekt) eines anderen empfindet, in seine einzelnen Faktoren ana¬ 
lysiert, ans denen dann wieder bestimmte Seiten als mitwirkend beim sitt¬ 
lichen Tatbestand abgeleitet wurden. So erhielt man allgemeine Eigentüm¬ 
lichkeiten des sittlichen Tatbestandes, die man später in Komplikation mit 
anderen Faktoren in komplizierten Arten sittlicher Funktionen wieder er¬ 
kannte. Ging man nun umgekehrt von elementaren psychischen Vorgängen 
aus, die induktiv in der Vorstellnngs-, Gefühls- und Willenspsychologie 
festgestellt worden waren, so mußten sich die deduktiven Überlegungen be¬ 
stätigen, wenn man zugleich in der Komplikation der Elemente mit anderen 
Faktoren in synthetischer Genese die Einsicht in einen regelrechten sitt¬ 
lich-genetischen Stnfenban gewann, der wertvolle Fingerzeige für ein Moral¬ 
prinzip ergab. Stets war die Frage der Gültigkeit noch hintangestellt. 

Fichte kam es darauf an, das Angeborensein des »Triebes nach Selbst¬ 
achtung« zu zeigen, und was war natürlicher, als daß er seine psychogene- 
tischen Untersuchungen am Kinde demonstrierte. Psychische Abhängigkeits- 
beziehnngen waren ihm nur so lange wesentlich, bis er sozusagen die päda¬ 
gogischen Reizmittel erkannt hatte, die das latente Bewußtsein der eigenen 
Würde aktuell machten. Die Systematik ist ihm dann die Hauptsache. 

Vom Standpunkt seiner Aktualitätstheorie aus hält W u n d t den Gesamt¬ 
willen für ebenso real wie den individuellen Willen. Da nun die Entwich- 



390 


Herbert Jancke, 


Inng des Oesamtwillens zom mindesten einer steten Änderung nnterworfen 
ist, wie sich rSlkerpsychologisch zeigen lädt, so gibt es »kein noch so 
heiliges Sittengesetz, das nicht im einzelnen Fall nm der wirklichen oder 
▼ermeintlichen gröfieren Heiligkeit allgemeinerer sittlicher Aufgaben willen 
... geflissentlich verletzt werden müßte«. Individuale Normen (sittliche 
Hotivationssätze) können nicht zeitlos-allgemeingültig anfgestellt werden. 
Sie wechseln mit dem Wechsel der »allgemeinen Erfassung sittlicher Lebens¬ 
aufgaben«. Diese aber sind außerpersönliche »objektive geistige Erzeug¬ 
nisse«. Wundt kommt es also auf die üntersuchnng der Psychogenesis 
der Selbstachtung nicht an. 

Aars untersucht gerade die subjektive Seite des sittlichen Tatbestandes 
völkerpsychogenetisch. Aber er untersuchte aus zu großer Feme, sah oder 
suchte nur die persönlichen Sozialwertgefühle (aller Wert, den ich mir selber 
geben dürfe, sei abhängig von dem Wert, den ich für andere habe) und 
übersah die individuale Bedingtheit sittlicher Funktionen. 

V. Hartmann, von vornherein egozentrisch eingestellt, legt den Schwer¬ 
punkt auf die Beschreibung individual bedingter sittlicher Funktionen. 

Th. Lipps endlich, der die Gültigkeit der sittlichen Werte voraussetzt, 
geht rein deduktiv vor und paßt genetische Erörterungen seinen Fest¬ 
stellungen an. 


4t. Die Psychologie der sittüchen Selbstachtung seit Kant. 

a) Kant. 

Kant macht auf folgendes aufmerksam: »Hat nicht jeder 
auch nur mittelmäßig ehrlicher Mann bisweilen gefunden, daß 
er eine sonst unschädliche Lüge, dadurch er sich entweder selbst 
ans einem rerdrießlichen Handel ziehen, oder wohl gar einem 
geliebten und verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte, 
bloß darum unterließ, nm sich insgeheim in seinen eigenen Augen 
nicht verachten zu dürfen?« — Die Betätigung der Lüge also 
wird hier gehemmt durch die Vorstellung eines unlustvollen Zu¬ 
standes nach der Tat. »Man muß wenigstens auf dem halben 
Wege schon ein ehrlicher Mann sein, um sich von jenen Empfin¬ 
dungen auch nur eine Vorstellung machen zu können.« — Nun 
ist das eigentlich »moralische (Gefühle das »Gefühl der Zufrieden¬ 
heit mit sich selbst«, das hier also gestört werden würde. (Wir 
sahen ja, daß bei Kant die Sittlichkeit der Persönlichkeit, ihre 
Würde, eine habituelle ist.) Selbstzufriedenheit bedeutet aber 
»nur ein negatives Wohlgefallen an seiner Existenz, in welchem 
man nichts zu bedürfen sich bewußt ist«. Es ist das Bewußt¬ 
sein der »Unabhängigkeit von Neigungen« oder der Überein¬ 
stimmung mit der Pfiieht, dem Sittengesetz, der Würde der 
Person. Der »Trost«, daß man »sich nicht vor sich selbst zu 
schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


391 


Ursache habe ..ist nicht Glückseligkeit«. »Diese innere 
Bemhignng ist ... die Wirkung einer ... Achtung für 
unsere höhere Bestimmung.« Diese höhere Selbstachtnng 
ist also nicht mit dem Lustmaßstabe zu messen, empirische Selbst* 
achtung nnd -Verachtung (Lust und Unlust) sind nur das sinn¬ 
liche Zeichen, ob unsere Handlungen mit jener Idee ttberein- 
stimmen. Ein Zustand empirischer Selbstachtung ist eigentlich 
auf unserer Entwicklungsstufe nicht wünschenswert, »weder in 
moralischer noch in pragmatischer Hinsicht. Die Natur hat den 
Schmerz zum Stachel der Tätigkeit in den Menschen gelegt, 
dem er nicht entgehen kann, nm immer zum Besseren fort¬ 
zuschreiten«. 

Der Schmerz des Individuums ist kein unmittelbarer, sondern 
es »muß sich selbst verachten, sobald es sich mit dem moralischen 
Gesetz vergleicht«. So ist auch Selbstachtung nicht unmittel¬ 
bar, sie ist »nicht empirischen Ursprungs, sondern kann nur auf 
das Bewußtsein eines moralischen Gesetzes, als Wirkung desselben 
aufs Gemüt, folgen«. — »Auf die Selbstachtung, wenn sie wohl¬ 
gegründet ist, wenn der Mensch nichts mehr scheut, als sich in 
der inneren Selbstprüfung in seinen eigenen Augen geringschätzig 
nnd verwerflich zu finden, kann jede gute sittliche Gesinnung 
gepfropft werden; weil dieses der beste, ja der einzige Wächter 
ist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebe vom Ge¬ 
müt abzuhalten.« Nichts ist falscher, als das Gefühl der Selbst¬ 
achtung mit dem Gedanken an ein eigenes Verdienst betr. des 
sittlichen Handelns in Verbindung zu bringen. Dieser Gedanke 
ist »schon mit Eigenliebe etwas vermischt«. 

Nach Kant ist also die Selbstachtung nicht selbst ein sitt¬ 
liches Motiv, sondern die Grundlage für alle sittlichen Motive. 
Sie selbst hat Wert in bezug auf das Bewußtsein der eigenen 
Würde als Wesen mit einer höheren Bestimmung. Sie ist das 
Gefühl, das sich einstellt bei Übereinstimmung der Handlung 
(nicht des Willens) mit der Idee der Würde. Sie ist trans¬ 
zendente Wirkung des Gesetzes auf die Sinnlichkeit. Aus Selbst¬ 
achtnng handeln, hieße nach Kant eine Umkehrung von Ursache 
nnd Wirkung vollziehen. Selbstachtung ist der durch ein 
Lustgefühl bewnßtgewordene Zustand moralischer 
Einstimmigkeit. 

Selbstverachtung kann auch nicht hemmend auf die Aus¬ 
führung einer Tat wirken, hemmend kann wirken nur der Ge¬ 
danke, durch die Handlung könne Selbstverachtnng erzeugt 
werden. 



392 


Herbert Jancke, 


Kant weiß nicht, daß wir es hier nicht mit einer >Yor- 
Stellung einer Empfindung« zu tun haben, sondern mit einer Un- 
lustgefiihlsprodnktion, die ein Gefühl reproduziert, das sich in 
einer ähnlichen Situation wie die, in die sich zu begehen man 
gerade im Begriffe ist, eingestellt hatte. Kant leugnet in der 
Kritik der praktischen Vernunft, daß Selbstyerachtnng eine 
»praktische Wirkung« habe; dazu steht aber die Stelle der 
späteren Anthropologie, die den Schmerz einen »Stachel der 
Tätigkeit« nennt, in Widerspruch. Diese letztere richtige psycho¬ 
logische Beobachtung Kants ist geeignet, die ältere Vemnnft- 
konstruktion zu entwerten. Etwas Bichtiges ist aber daran, 
wenn Kant sich gegen die Mitwirkung der Gefühle bei der 
»Pfiichthandlnng« sträubt: Die höheren sittlichen Motive, mit 
denen es Kant zweifellos zu tun hat, sind derart, daß sie sich 
nicht mit dem Lustmaßstabe messen lassen. Aber man muß doch 
behaupten, daß in der Selbstachtung sowohl wie in der Achtung 
vor dem Sittengesetz ein Lustfaktor enthalten ist. Er ist es 
jedoch nicht, der eigentlich gewollt wird, wenn ich mir bei einer 
Handlung als unmittelbaren letzten Zweck setze die Behauptung 
meiner sittlichen Selbstachtung. Gewollt wird hier die so und 
so beschaffene sittliche Willensbetätigung, die ich ansehe als 
Ausdruck meiner sittlich so und so bewerteten Persönlichkeit 
Die Frage, die hier zunächst offen bleibt, ist die: Wenn es 
wahr ist, daß Schmerz, Unlust vom Handeln abhält, oder anderer¬ 
seits sogar unmittelbar zum Handeln drängt, in der Selbstverachtung 
aber ein wesentlicher Unlustfaktor enthalten ist, kann dann nicht 
die Selbstachtung eine sittlich selbständigere Rolle spielen, als 
ihr Kant zugesteht? Worauf gründet sich aber die Selbst¬ 
achtung, wenn sie nicht die Wirkung einer transzendenten Idee 
ist? — 


b) Fichte. 

Nach Fichte ist das erste Auftreten der empirischen Selbst¬ 
achtung durch das Verhalten der Erzieher, also sozial, anders 
als bei Kant, bestimmt. Sie manifestiert sich erst später in 
individualer Bedingtheit. Fichte sagt so: »Selbstliebe«, durch 
den Selbsterhaltungstrieb angeregt, d. h. sittlich indifferent, ist 
zweifellos das erste »dunkle Gefühl«, das sich beim Kinde kon¬ 
statieren läßt. Das Sittliche in seiner reinsten Form (a priori) 
zeigt sich im »Trieb nach Achtung«. Dieser ist zunächst er¬ 
kenntlich »als Trieb, auch geachtet zu werden von dem, was 
ihm die höchste Achtung einfiößt«: Vater und Mutter. Die BYemd- 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


393 


achtung erzeugt im Eind Selbstzufriedenheit bezw. Selbstunzu* 
friedenheit. Bei richtiger Erziehung wandelt sich die sozial 
bedingte Selbstzufriedenheit in individual bedingte Selbstachtung, 
sobald das Bewußtsein eigener sittlicher Leistungsfähigkeit wohl- 
begründet aktuell wird. Aber falsche Erziehung kann unter 
Umständen das Selbstachtungsgefühl noch schneller hervorbrechen 
lassen: Wenn man z. B. »einen durch Unvorsichtigkeit verur¬ 
sachten Verlust als ein Hauptverbrechen behandelt. Das Kind 
sieht sich sodann als ein bloßes Werkzeug betrachtet, und dies 
empört sein zwar dunkles, aber dennoch nicht abwesendes Ge¬ 
fühl, daß es durch sich selbst einen Wert haben müsse. 

Was ist es doch, das dem Schmerze der Züchtigung beim 
Kinde noch die Scham hinzufügt, und was ist diese Scham? 
Offenbar ist sie das Gefühl der Selbstverachtung, die es sich 
znfügen muß, da ihm das Mißfallen seiner Eltern und Erzieher 
bezeugt wird.« »Dies Vertrauen auf einen fremden und außer 
uns befindlichen Maßstab der Selbstachtung ist auch der eigent¬ 
liche Grundzug der Kindheit und Unmündigkeit, auf dessen Vor¬ 
handensein ... sich ganz allein ... die Möglichkeit aller Er¬ 
ziehung gründet. Der mündige Mensch hat den Maßstab seiner 
Selbstschätzung in sich selbst und will von anderen geachtet 
sein, nur inwiefern sie selbst erst seiner Achtung sich würdig 
gemacht haben; und bei ihm nimmt dieser Trieb die Gestalt 
des Verlangens an, andere achten zu können und Achtungs¬ 
würdiges außer sich hervorzubringen.« 

Die übrigen Entwicklungen Fichtes sind denen Kants ganz 
ähnlich, trotzdem ihn doch seine schönen Beobachtungen von 
der Unmittelbarkeit der sittlichen Gefühlswirkung hätten über¬ 
zeugen müssen. — Er lehnt den Lustmaßstab bei der Bewertung 
der Selbstachtung ab: Die »Zufriedenheit mit sich selbst« birgt 
einen »unfreiwilligen« Lusteffekt, der »weniger rauschend, aber 
inniger« als Sinnenlust ist. Für die Entwicklung der individual 
bedingten Selbstachtung des Erwachsenen wird dessen intellek¬ 
tuelle Entwicklung vorausgesetzt; denn man kann nur dann 
wirklich sittlich handeln, wenn man vorher den »Begriff des 
Sittlichen gebildet« hat und das Motiv jeder Handlung begriff¬ 
lich vorher fixiert hat. Rein gefühlsmäßiges Handeln (»Genie 
zur Tugend«) lehnt Fichte ab; wir haben gar keinen Grund, 
uns nach einer sittlich geglückten Tat über unsere sittliche 
Tüchtigkeit zu wundem und zu freuen. »Allenthalben, wo man 
von positiver Selbstachtung spricht, meint man und kann man 
nur meinen die Abwesenheit der Selbstverachtung.« 



394 


Herbert Jancke, 


Warum fordert Fichte keine emotionelle Entwicklung? Es 
ist sehr auffallend, daß Fichte keine Beobachtungen hber die 
Entwicklung von Sympathiegefiihlen gemacht hat. Wenn auch 
zugegeben sei, daß Sympathiegefühle allein nicht ohne weiteres 
eine Form »rein sittlichen Verhaltens« darstellen, so ist ander¬ 
seits darauf hinzuweisen, daß Fichte übersieht, daß es auch eine 
sittlich indifferente Selbstachtung gibt, die sich über dem Be¬ 
wußtsein physischer und psychischer Fähigkeiten superponiert; 
Lipps macht auf sie aufmerksam, und Aars nennt sie »dyna¬ 
mische Selbstachtung«. — Aber Sympathiegefühle stellen doch 
jedenfalls einen wesentlichen Faktor innerhalb der emotionell¬ 
sittlichen Funktionen dar, der sich früh entwickelt und nicht 
von der Entwicklung der Selbstachtung abhängig zu sein scheint. 
So gänzlich im Irrtum konnten die älteren Ethiker des Sym¬ 
pathieprinzips nicht gewesen sein. In welchem Verhältnis steht 
nun aber die Selbstachtung zur Sympathie? Ohne weiteres läßt 
sich nur eine Verbindung feststellen, das ist die Sympathie mit 
der Selbstachtung anderer. Genaueres kann aber nur eine sitt- 
lich-psychogenetische Entwicklung lehren, die auf die psychischen 
Elemente zurückgeht 

Fichte hat den Unterschied zwischen sozial und individual 
bedingter Selbstachtung festgestellt Soziale Bedingtheit (Wirkung 
von Lob, Strafe und Tadel) soll auf kindlicher Entwicklungsstufe 
eine Bedingung bilden für spätere individuelle Bedingtheit Sie 
wirkt hier so stark, weil sie von Persönlichkeiten angeregt 
wird, denen das Kind Achtung, event. Ehrfurcht entgegenbringt. 
Ein Tadel solcher Persönlichkeiten wirkt besonders deprimierend, 
es werden also starke Gefühlsmassen mobil gemacht, die, wie 
schon Kant zeigte, erheblich wieder zur Tat drängen. Sagt 
Fichte nun aber selbst, dem Kinde wohne ein »dunkles Gefühl« 
des Eigenwertes inne, das doch nur individual bedingt sein kann, 
wenn dies auch autonom noch nicht so stark zur Tat drängt 
wie die auf sozialen Anstoß hin entstandene Selbstachtung, so 
läßt sich besser sagen, die sozial bedingte sittliche Selbstachtung 
prävaliere in der Kindheit. Ln späteren Leben hält man es 
nicht mehr als mit der Selbstachtung vereinbar, von so primi¬ 
tiven Faktoren wie Lob und Tadel in seinem sittlichen Ver¬ 
halten abhängig zu sein, die ursprüngliche Autonomie der Selbst¬ 
achtung kommt jetzt deutlicher zum Ausdruck. Wohl aber faßt 
man noch im Interesse der Selbstachtung liegend auf die Be- 
folg^ing gewisser heteronomer Vorschriften, die aber sittlich ge¬ 
schätzt werden auf Grund eigener Erfahrung, auch wenn sie 



Psycholo^fie der sittlichen Selbstachtung. 


395 


nicht individuell-bedingt entstanden sind. Im Staat z. B. tritt 
uns ein Organismus entgegen, der sich zweifellos auch durch 
sittliche Erfahrung von ganzen Generationen gefhgt hat. Un¬ 
beschadet der Kritik, die event im einzelnen einznsetzen hat, 
ist doch der ganze Organismus ein sittlicher. Fichte, der persön¬ 
lich so großen Wert gerade darauf legte, hat das in diesem Zu¬ 
sammenhang fibersehen. 

Was bei Fichte hauptsächlich abzulehnen ist, ist, daß er 
den Intellekt beim .sittlichen Handeln eine zu große Rolle spielen 
läßt 

Block und Krause sind die ersten, die die Förderung der 
Selbstachtung anderer fordern. Beneke erkannte zuerst, daß 
Selbstachtung etwas qualitativ Verschiedenes ist von anerkannt 
anderem sittlichen Verhalten. Aber er läßt sie nur als regula¬ 
tive Idee gelten. Herbart betonte die stärkere Geffihlsinten- 
sität der Selbstverachtung gegenfiber anders bedingter Reue. 

c) Wundt und Aars. 

Wundt stellt völkerpsychogenetisch fest, daß sich solche 
sittlichen Geffihle, die sich auf Personen und auf Über- und Un¬ 
persönliches richten, also auch Sympathiegeffihle, früher ent¬ 
wickelt haben als solche, die sich auf das eigene Selbst beziehen. 
Ich glaube, daß er damit nicht ganz recht hat, daß es sich hier 
vielmehr um eine zeitliche Folge des Bewußtwerdens solcher 
Geffihle als solcher Geffihle handelt. Es haben heteronom be¬ 
dingte Hemmungen Vorgelegen, Geffihle, die sich auf das Ich 
bezogen, als sittliche anzuerkennen. In ihrem Handeln wurden 
die geistig weniger als wir entwickelten Völker viel mehr als 
wir von kräftigen Persönlichkeitsgeffihlen bestimmt; aber Wild- 
Egoistisches und in unserm Sinne Sittlich-Selbstvolles unterschied 
man wenig, da vor allem ein Gefühl vorherrschend gewesen zu 
sein scheint: das Gefühl der Freude an der eigenen kraftvollen 
Betätigung. Eigene kraftvolle Betätigung aber kann leicht dem 
andern unbequem werden, es entsteht ein nicht zur Überein¬ 
stimmung zu bringendes Gemisch von Lust- und Unlnstgeffihlen 
in der Gesellschaft. Man wendet sich hei der Fixierung dessen, 
was sittlich sein soll, vielmehr, was »Sittec und Gesetz sein 
soll, von diesem lauten Tumult des Undurchsichtigen ab und 
neigt sich jenen stillen und sanften (Kontrast)-Idealen zu, die 
mit den religiösen Ehrfurchtsgeffihlen und den Überlegungen 
über das, was nützlich ist für ein friedliches gesellschaftliches 
Zusammenleben, das auch dem Schwachen Schutz gewährt, über- 



396 Herbert Jancke, 

einstimmeD. So stempelt man yor allem die Sympathiegeffihle 
zn den hanptsäcblichen sittlichen Gefühlen, gibt doch anch der 
Gott hierfür das Vorbild, fühlen die ihm Untertänigen vor allem 
seine Sympathie und Antipathie. Es bildet sich weiter der Be¬ 
griff der Gerechtigkeit, der noch in mancher Ethik unserer Tage 
eine dominierende EoUe spielt, ob wir gleich viel feiner in sitt¬ 
lichen Dingen zn fühlen gelernt haben und nicht mehr anf ein 
solches objektives Hilfsprinzip angewiesen sind. Die Sittlichkeit 
wird jedenfalls in Fesseln geschlagen von der Sitte, d. i. dem 
Recht, dem Staat und der Religion. Aber nicht eigentlich da¬ 
durch wird ihre Entwicklung gehemmt. Gehemmt wird sie viel¬ 
mehr durch die Traditiou, den starren Konservatismus, der, ge¬ 
nährt von falschen Pietätsgefühlen, nicht eine Entwicklung über 
das Gegebene hinaus, sondern eine solche in die Breite, eine 
Verästelung und Komplizierung des Gegebenen besorgt Daher 
entwinden sich immer einzelne der Tradition und kämpfen mit 
sittlichem Heroismus gegen die bestehende Sitte. Diese sind es 
nun, und leider nicht mehr das Volk selbst, denen der sittliche 
Fortschritt zu danken ist. Leider, denn was sonst Sache einer 
ruhigen, harmonischen Entwicklung wäre, fällt nun dem über 
das Ziel hinausschießenden Enthusiasmus einzelner anheim, deren 
nicht gleichbegabte Anhängerschaft oft viel wirklich Wertvolles 
verdirbt Das zeigen auf rein reflektorischem Gebiet die ersten 
»Ethikerc, die Sophisten. 

Es scheint mir also Wundt geirrt zn haben, wenn er meint, 
es seien sittliche Selbstgefühle auf niederen Kulturstufen nicht 
vorhanden gewesen; sie waren vielmehr nur nicht als sittlich 
anerkannt. Das Sittliche scheint mir nicht das Produkt völker¬ 
psychischer, sondern individualpsychischer Entwicklung zu sein. 
Nach Wundt jedoch nehmen »individuelle Normen« sittlichen 
Verhaltens die unterste Wertstufe in der Normenreihe ein. 

Wundt stellt nun ferner für unseren Belang fest, daß außer 
der Grundverschiedenheit von Selbstgefühl und Mitgefühl an 
sich ersteres ein Zentrum sehr vieler Vorstellungen und Gefühle 
aus verschiedenen Zeitpunkten des Lebens bildet. Diese bilden 
eine Erfahrungskette von unmittelbarer Wirkung, die im kon¬ 
kreten Fall auch verwickelten Eindrücken gegenüber einen 
sicheren Takt gewährleisten, den höchstens nachträgliche Re¬ 
flexion trüben kann. Wir werden diese Feststellung präziser 
gefaßt als »Summationszentmm der Gefühle« bei Störring 
wiederflnden. 



Psychologie der sittlichen Selbstachtnng. 


397 


Aars ist geradeso wie .Wandt der Ansicht, daß sich völker- 
psychogenetisch die Selbstkritik, auch die Selbstachtnng, später 
entwickelt habe als die Kritik der anderen. Hier ist zu er¬ 
widern, daß sittliche Selbstkritik (Rene and Stolz) doch kom¬ 
plizierter ist als einfaches kritisches Selbstgefühl. Aars ver¬ 
steht unter Selbstkritik das Sichmessen an anderen oder die 
Selbstbewertung bezüglich des Wertes, den das Individuum für 
andere hat. Aber, wie wir noch sehen werden, aus dem Sich¬ 
messen an anderen kann niemals Selbstachtung entstehen, diese 
ist völlig autonom, und die Reflexion über den eigenen Wert 
für andere ist in der Selbstachtung nicht eingeschlossen. Bei 
einigen Autoren besteht eine merkwürdige Scheu, die autonomen, 
individual bedingten sittlichen Werte anzuerkennen. Auch 
Scheler z. B. erscheint jedes unmittelbare sittliche Hinarbeiten 
auf die Förderung des eigenen Selbst (Förderung der eigenen 
sittlichen Selbstachtung) als eine Hemmung für die Entwicklung 
»der sonst möglichen Personwerte«. 

Die Sympathie mit anderen, hauptsächlich Mitleid, repro¬ 
duzierte Unlust, ist es nun nach Aars gewesen, die den ur¬ 
sprünglichen Egoismus niedergerangen und eine »heterozentrische 
Selbstbewertung« erzeugt hat. (Hier müssen wir ebenso wie bei 
Wandt entgegenhalten, daß Selbstachtungsgefühle ebenso ur¬ 
sprünglich sein können wie egoistische.) Dies könne aber nur 
möglich gewesen sein dadurch, daß die einfache Sympathie 
(»Altruismus«) unterstützt worden sei durch eine schon vor¬ 
handene gefühlsmäßige Kritik der anderen in Form von »Be¬ 
wunderung oder Hochachtung vor dem fremden Willen«. Diese 
sei schon so früh vorhanden gewesen, weil sie »biologisch nütz¬ 
lich gewesen« sei. »Selbstachtung im Sinne der Zufriedenheit mit 
dem eigenen Willen ist bereits auf primitiven, rein egoistischen 
oder egozentrischen Wertungsstadien denkbar.« Aber auf diese 
kritiklose Selbstachtung kommt es im Sinne des sittlichen Tat¬ 
bestandes nicht an. Diese Zufriedenheit mit dem eigenen Willen 
hat sich mehr auf ein Kraftbewußtsein (»dynamische Selbst¬ 
achtnng«) als auf einen »guten Willen« bezogen. 

Die egozentrische Selbstbewertung des eigenen guten Willens 
ist abhängig von der Wahl »zwischen klar vorgestellten Zwecken«. 
Sie bezieht sich unmittelbar auf dieses Wählen, nicht auf ein 
Wissen bezüglich der Effekte. »Ich selbst wähle allerdings 
seltener mit klarem Bewußtsein meinen eigenen Schaden. Nur 
in einem Sinne kommt dies vor, nämlich wenn ich zwischen den 
näheren nnd ferneren Folgen meiner Handlang deutlich unter- 



398 


Herbert Jancke, 


scheide und nun entweder den angenblicklichen Schmerz w&hle, 
nm späteres Glück zu erzielen, oder umgekehrt, die Lnst des 
Augenblicks wähle, und dabei rnhig meinem späteren Ich die 
nachher kommende Unlnst überlasse.« Wenn das spätere Ich 
sich durch das eigenmächtige Auftreten des »Ich von gestern« 
»moralisch indigniert fühlt« and dazn eine »abgespannte Demut« 
tritt, so entsteht Eene. Es muß sich aber bereits »die Idee 
des guten und schlechten Willens ausgebildet« haben, damit hier 
nicht doch Selbstzufriedenheit entsteht, wie dies anf rein ego¬ 
istischem Boden der Fall wäre. 

Dieser egozentrischen Selbstachtung fehlt aber noch jeglicher 
moralisch imperativische Charakter, hier unterscheidet sich das 
»Ich wiU« noch nicht von dem »Ich soll«. Soziales Interesse 
kann dem eigenen zu ähnlich sein, um als durchgängige Ab¬ 
hängigkeitsbeziehung des imperativischen Charakters der Selbst¬ 
achtung (Stolz und Rene) zu dienen. Soziales Interesse liegt 
etwa vor bei Furcht vor dem gemeinsamen Feind, Furcht vor 
Strafe, Wechsel von Sympathie und Eifersucht unter den Mit¬ 
gliedern der Gesellschaft, Suggestion und dynamischem Stolz vor 
anderen. Als imperativischer Antrieb hat vielmehr allein zu 
gelten »das Bestreben, die Achtung der Genossen sich zu be¬ 
wahren«. Biologische Nützlichkeit kann auch hier die Mitursache 
sein. »Die Idee, daß die Genossen mich achten, gesellt sich 
dann zur egozentrischen Wertung, um die Stimmung der Selbst¬ 
zufriedenheit noch zu verstärken.« Der Vorgang wird dann 
nicht mehr seiner Nützlichkeit wegen gewertet, sondern erhält 
Selbstwert, verknüpft mit »unmittelbarer Freude«. »D. h. aber, 
daß ich die Achtung, die die anderen mir zdigen, mir aneigne; 
daß ich dieses ihr Gefühl mit ihnen teile, indem ich mich da¬ 
durch größer und besser fühle; meine Selbstachtung ist eine 
heterozentrische geworden.« Ebenso wird die Reue heterozen¬ 
trisch. Mit dieser Selbstachtung können sich assoziieren indi¬ 
viduell- oder universell-eudämonistische Motive. 

Zu den Aarsschen Darlegungen ist folgendes zu sagen. 
Aars läßt eine egozentrische Selbstachtung entstehen ans den 
Gefühlsreaktionen des Kampfes der Augenblicksimpnlse mit vor¬ 
handener besserer Einsicht in die Effekte der Handlungsweisen. 
Es handelt sich dabei offensichtlich um eudämonistische Effekte. 
Aars erkennt richtig, daß diese egozentrische Selbstachtung 
nicht ohne weiteres sittlich sein kann. Aber er sieht nicht, daS 
dieser Kampf gar nicht immer eudämonistisch auslegbar zu sein 
braucht. Das wahre eigene Wohl des Individuums kann, wie 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


399 


schon Kant wußte, auch mit Effekten von Handlongsweisen ver¬ 
bunden sein (nicht darans bestehen!), bei denen endämonistische 
Zwecke nnd unmittelbare Lustgefühle keine Rolle spielen. Lust 
soll ja hier gerade an den Angenblicksimpuls gebunden sein. 

Wenn jetzt aber die Realisierung der Augenblickslust starke 
ünlosteffekte nach sich zieht, so wird rückschauend von dem 
Individuum, wenn es sich die Diskrepanz des Impulses nnd der 
besseren Einsicht nochmals vergegenwärtigt, eine andere Wertung 
vollzogen werden und die Vorstellung des Gegenstandes der 
Augenblicksimpnlshandlnng mit starken Unlnstgefühlen erlebt 
werden, für die eben die Unlusteffekte verantwortlich zu machen 
sind. Das Individuum faßt den Entschluß, das nächste Mal der 
besseren Einsicht zu folgen, und Unlnstgefühle, die das nächste 
Mal zusammen mit der Vorstellung der Reahsiemng des Augen- 
blicksimpnlses anftreten, verhindern vielleicht diese Realisierung. 
Die Vorstellung der der besseren Einsicht entsprechenden Hand¬ 
lung wird sich unmittelbar anfdrängen nnd sich mit Lust ver¬ 
binden, die mit der vorherigen Unlust kontrastierend ein kräftiges 
Wollen veranlaßt. Die Sympathie mit diesem Wollen drängt 
dann zur Tat. 

Biologische Nützlichkeit scheint mir im Bereiche des Sitt¬ 
lichen nicht immer maßgebend zu sein, jedenfalls braucht sie 
kein im deutlichen Bewußtsein vorhandener Faktor zu sein. Der 
Begriff der biologischen Nützlichkeit scheint mir überhaupt eine 
causa ficta zu sein. 

Reue entsteht nun, wenn ein Sieg des Angenblicksimpulses 
rückschauend von dem Individuum als Schwäche des eigenen 
Willens erlebt wird. Wie ist das möglich, da doch mit kraft¬ 
vollem Wollen stets sympathisiert wird? Einmal spielen hier 
unlnstbetonte Vorstellungen über die ferneren Effekte eine Rolle, 
nnd dann nahmen wir ja an, daß das Individuum bereits zur 
Einsicht in sein besseres, wahres Wohl gekommen war, nnd so 
wird es rückschauend diese Handlung als ein »widerspruchvolles 
Verhalten der eigenen Persönlichkeit« (Störring) anffassen. Es 
werden sich starke Unlnstgefühle entwickeln, die nun zu einem 
autonomen Imperativ hindrängen, dem Entschluß, in Zu¬ 
kunft das eigene wahre Wohl entgegen Augenblicksimpulsen 
zu realisieren. An diese Vorgänge kann sich später Selbst¬ 
achtung bezw. Selbstverachtung anschließen. 

Es kam mir dai'anf an, die Entstehung des imperativischen 
Charakters bei den Vorgängen der Entstehung der Selbstachtung 
zu zeigen. Dieser braucht nicht von außen zn kommen, wie 



400 


Herbert Jancke, 


Aars will. Was ist es denn anderes als »soziales Interesse«, wenn 
ich mir die Achtung der Genossen bewahren will? Dies soziale 
Interesse steht zwar auf keinem so primitiven Niveau wie die 
Furcht vor Strafe; aber das feinere sittliche Bewußtsein nimmt 
die Maßstäbe seiner Selbstkritik nur aus sich selber. 

Es sei übrigens darauf hingewiesen, daß R. Nelson in einer 
Polemik den Kampf des rationalen Strebens mit Angenblicks- 
impnlsen, wie er von Persönlichkeitsethikem beschrieben wird, 
ebenso wie Aars fälschlich eudämonistich auslegt und so sich 
selbst das Verständnis der Genesis der sittlichen Selbstachtung 
erschwert. 

d) V. Hartmann. 

Durch die Selbstbeobachtung psychologisch vorgehend, gewinnt 
V. Hartmann einen Einblick in die Genesis der Selbstachtung und 
weist vor allen Dingen zum ersten Mal psychologisch ihre in¬ 
dividuale Bedingtheit nach, wie überhaupt die ausschließliche 
Autonomie des Sittlichen. 

Er warnt aber vor Überschätzung des Prinzips. So mächtig 
die Illusion, als sei Selbstachtung unter allen Umständen die 
ultima ratio aller sittlichen Konflikte, in gewissen Fällen von 
Wirkung sein kann, so muß sie doch »rechtzeitig beseitigt werden, 
weil der Mensch, der sich in dieselbe verbissen hat, seinen ganzen 
sittlichen Halt verliert, wenn er früher oder später, was nicht 
ausbleiben kann, diese Stütze einer großen Versuchung gegen¬ 
über verliert«. Selbstverachtung kann gefährlich wirken »dadurch, 
daß sie eine Depression des sittlichen Selbstgefühls bewirkt, d. h. 
das sittliche Selbstvertrauen, den Glauben an die eigene sittliche 
Kraft... erschüttert... und dadurch die Energie in den ferneren 
Kämpfen lähmt. Die Zuversicht in die eigene sittliche Kraft 
dagegen erhöht die Spannkraft«. 

Hier irrt v. Hartmann. Nicht in die Selbstachtung kann man 
sich verbeißen, sondern in den Glauben an die Unfehlbarkeit der 
Wirkung eines sittlichen Willensentschlusses. Augenblicksimpulse 
schöpfen ihre Gefühlsintensität aus immer neuen das Individuum 
überraschenden und lockenden Situationen, und die Intensität 
dieser Gefühle kann außerordentlich stark sein, so daß ein Sieg 
des rationellen Strebens keineswegs garantiert ist. Die augen¬ 
blicklich entstehenden Unlustgefühle der Selbstverachtung können 
jedoch nur bei Hypochondern und von außen her etwa religiös 
oder ungeschickt erzieherisch Beeinflußten eine solche Intensität 
gewinnen, daß daraus eine Verzweiflung an die Zweckmäßigkeit 
des Fassens von neuen Vorsätzen entspringt. Selbstachtung ist 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


401 


im Begiime ihrer Entstehung imm er mit einem gewissen Gefühl 
der ünmhe yerbunden; aber Selbstachtung als Entwicklungs¬ 
produkt macht auch nach ihrer Entstehung noch eine Ent¬ 
wicklung durch. 

Goethe moniert einmal etwas Ähnliches: Er erzählte von 
einem Knaben, der sich über einen begangenen Fehler nicht 
habe beruhigen können. >Es war mir nicht lieb, dieses zu 
bemerken!, sagte er, »denn es zeugt von einem zu zarten Ge¬ 
wissen, welches das eigene moralische Selbst zu hoch schätzt, 
daß es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen macht 
hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch eine große Tätig¬ 
keit balanciert wird.« 

Die übrigen Ausführungen v. Hartmanns, soweit er in den 
sittlichen Tatbestand eindringt, decken sich ungefähr mit Ent¬ 
wicklungen von Störring. 

e) Th. Lipps. 

Lipps grenzt zunächst die Selbstachtung ab gegen den Be¬ 
griff des Egoismus. Der Egoist sucht in seinem Handeln »für 
sich selbst etwas«, sucht sich »ein dingliches Gut zu eigen zu 
machen«. Der sich selbst Achtende sucht in sich selbst etwas, 
ihm schwebt als erstrebenswert vor »die Weise, wie er sich in 
seinem Handeln betätigt und demgemäß darin sich fühlen darf 
... Es gibt ... keinen fundamentaleren Gegensatz als den ..., 
was wir sind, und den, was wir haben«. 

Sodann hat man zu unterscheiden eine sittliche Selbstachtung 
von einer sittlich indifferenten Selbstachtung, wie sie gegeben 
ist, wenn ein Gefühl des Stolzes sich einstellt im Gedanken an 
die Leistungsfähigkeit der eigenen Person bei der Verwirklichung 
egoistischer Zwecke. Es ist dieser »Stolz etwas von der Freude 
an der Verwirklichung solcher Zwecke Verschiedenes«. Es ist 
mehr »Selbstbehauptung im Kampf mit der Materie oder mit 
anderen, die sich z. B. in Form der Bache äußern kann. Weil 
man nicht aus irgend welchen Gründen von Anderem verachtet 
sein will, will man sich selbst nicht verachten«. »So ist jedes 
Streben nach Ehrung durch andere ein Streben nach Selbst¬ 
achtung. Gibt es jenes Streben, so gibt es auch ursprüngliche 
Selbstachtung.« (Indifferente Selbstachtung.) 

Die sittliche Selbstachtung superponiert sich ganz allgemein 
über der »Freude am eigenen Tun als solchem und der Freude 
am Gelingen«. Freude an kraftvoller Selbstbetätigung erweckt 
>das stolze Bewußtsein eigener Kraft und eigenen Könnens, 

Arohiy fOr P«yohologie. XLVm. 26 



402 


Herbert Jancke, 


diesen Gennfi des Selbstgefühls«. Sittliche Selbstachtung nun 
besteht in »dem beglückenden Bewußtsein des pflichtm&ßigen 
Wollens und Handelns, dem stolzen Selbstgefühl dessen, der, was 
er für recht erkannt hat, festhält, mag es ihm auch keinerlei 
Lohn, sondeim lediglich Spott und Verfolgung eintragen«. Selbst¬ 
gefühl aber ist das »Gefühl der inneren Kraft, das Gefühl der 
inneren Freiheit und der inneren Weite«. 

Lipps kennt drei Bedingungen für die Entwicklung der 
»Eigenwertgefühle«: Eine gewisse Unabhängigkeit vom Kampf 
ums Dasein, einen bestimmten Umfang der Erfahrung und die 
Ermöglichung weiter Zielsetzungen und »die Kenntnis anderer 
Menschen und das Sichmessen an ihnen«. 

»Lebensäußerungen anderer wecken in mir die Vorstdlung 
einer Steigerung eines Moments in meinem eigenen Wesen«, weil 
meine Kenntnis des anderen ganz von meiner Selbstkenntnis 
abhängt. Es entsteht schließlich so meine eigene ideale Persön¬ 
lichkeit in der Vorstellung und schließlich überhaupt das Ideal 
einer Persönlichkeit. »Der Edle, so dürfen wir sagen, der Große, 
der Freie, die stolze Natur will, daß andere edel, groß, frei seien 
und sich so fühlen können. Er achtet jede Tüchtigkeit, jede 
Ehrlichkeit, jedes menschlich berechtigte und gute Wollen. Er 
zertritt nicht, sondern richtet auf. Der wahre Mensch will 
Menschen. Die echte Herrennatur haßt die Sklaverei in jeder 
Form, will also auch nicht, daß andere ihr gegenüber Sklaven 
seien und als solche sich gebärden.« 

Systematisch faßt Lipps die Forderung der Selbstachtung 
zunächst in die Formel zusammen: »Sei dir selbst treu.« Diese 
Bestimmung muß jedoch im Sinne des sittlichen Tatbestands 
interpretiert werden. Wir sollen uns treu bleiben, »sofern wir 
sittliche nnd erkennende Persönlichkeiten sind ... Ich soll, was 
ich mir vorgenommen habe, festhalten, wenn es sittlich ist ... 
Dagegen bin ich sittlich verpflichtet, ... in meinem Wollen 
mir untreu zu werden, ... wenn ich seinen Inhalt als unsittlich 
erkenne«. »Sittliche Untreue gegen sich ist »innerlich verletzend« 
und beschämend. Es entwickelt sich das Bewußtsein des Wider¬ 
spruches mit der besseren Einsicht, ja mit der eigenen Persön¬ 
lichkeit. Das dabei entstehende »Gefühl der Demütigung ist 
notwendig um so stärker, je mehr es in meiner Natur hegt, mir 
selbst treu zu sein«. »In der starken Nachdaner der einmal 
vollzogenen Weise des inneren Verhaltens, im Streben der 
Persönlichkeit, jede Weise ihrer inneren Betätigung festzuhalten, 
liegt eine Stärke der Persönlichkeit und ihrer Lebensbetätig^gen. 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


403 


Es offenbart sich darin innere Lebenskraft. Und solche Stärke 
oder Eraft hat Wert und gibt der Persönlichkeit Wert.* Wir 
sympathisieren mit jeder Lebensbetätigung, deshalb kostet es 
uns »Mähe, Überwindung, einen Entschluß, eine Maxime innerlich 
preiszngeben und ... diese Preisgabe oder Verneinung unserer 
selbst zu bekennen«, wenn eine bestimmte Betätigung als un< 
sittlich erkannt ist. Die Stärke des Widerstandes gegen Preis¬ 
gabe einer bisherigen Maxime »ist an sich betrachtet wertvoll« 
... Aber ... diese Stärke kann zur Schwäche werden, dann 
nämlich, wenn ich »das Bekenntnis der Selbstkorrektur ver¬ 
weigere«. »Es bekundet sich eine Stärke meines Wesens eben 
auch darin, daß ich der besseren Einsicht in mir vollen Raum 
und volle Wirkung verstatte. Und es ist dies eine Stärke 
höherer Art eben darum, weil sie eine Stärke der besseren oder 
vollkommeneren Einsicht ist. Es ist die Stärke der Wahrhaftig¬ 
keit gegen mich und andere.« 

Lipps versteift sich hier zu sehr auf Wertbetrachtungen. 
Er hätte psychologisch zeigen müssen, wieso es denn eigentlich 
kommt, daß wir nicht sympathisieren mit einer kraftvollen un¬ 
sittlichen Betätigung. Wieso entstehen denn unsere Wertgefühle? 
Lipps kann diese Vorgänge nicht verständlich machen, weil er 
die Funktionen der Gefühlsreproduktion und Gefühlsübertragnng 
nicht kennt Sodann ist wiederum zu betonen, daß durch das 
Sichmessen an anderen keine Selbstachtung entsteht 


f) Gust. Störring. 

Schon Lipps hat eine gute Abgrenzung der Moralität von 
der Sittenlehre gegeben. Die Sittenlehre deckt sich mit den 
zeitränmlich bedingten tatsächlichen allgemeinen Anschauungen 
über die Sittlichkeit, diese selbst kann aber nur eine »psy¬ 
chologische Tatsachenfrage« sein. Es kann nicht die Frage 
sein, mit welchen Anschauungen von Gesittung sich die Gesell¬ 
schaft maskiert, sondern es kommt darauf an, zu untersuchen, 
zu welchen Wertgefühlen die Individuen bei harmonischer, 
heteronom nicht getrübter Entwicklung kraft angeborener ele¬ 
mentarer psychischer Eigenschaften gezwungen werden. Sitt¬ 
lichkeit, Gewissen ist nicht etwas, was im besonderen angeboren 
ist und ein Sonderleben für sich führt, sondern diese Tatbestände 
sind mit bestimmten Kombinationen psychischer Elemente, an 
die man an sich gar nicht mit sittlichen Wertfragen heranzutreten 
braucht, gegeben. 


26 * 



404 


Herbert Jancke, 


Diese Elemente and die Art nnd Weise ihrer Kombinationen 
anfzuzeigen, hat sich Störring zur Angabe gestellt Erst nach¬ 
dem er dies festgestellt hat, stellt er Wertbetrachtnngen an, 
die ihre Gründe aus den moralpsychologischen Vonmtersnchnngen 
schöpfen, also sicherer fundiert sind als »gefühlsmäßige« oder 
gar aus anderen Gebieten herbeigeftthrte Wertbetrachtungen, 
nnd schließt an sie seine sittlichen Forderungen nnd Gültigkeits¬ 
beweise an. 

Störring ist zu seinen Ergebnissen auch durch erstmaliges 
Heranziehen psychopathologischer Forschungen gelangt 

Die oben beschriebenen sittlichen Wertschätzungen nennen 
wir individual bedingte oder auch autonome Wertschätzungen. 
Sie sind feiner als die sozial bedingten und sanktionieren diese 
eigentlich erst Denn man kann in ihnen die natürlichen 
Funktionen nachweisen, die es dem Menschen ermöglichen, von 
sich aus starke und wirksame Hemmungen zu erleben in bezng auf 
die an sich mögliche Sympathie mit kräftigem unsittlichen Wollen. 

Die Quellen der sittlichen Wertschätzungen sind nun ge¬ 
geben in folgenden Faktoren: 

1. In der Fähigkeit, Freude zu empfinden an dem Eräfte- 
vorrat entsprechender Betätigung. 

2. In der Fähigkeit, Sympathie zu fühlen mit firemder Freude 
und fremdem Leid und mit den entsprechenden fremden Reak¬ 
tionsgefühlen (Dankbarkeit und Ahndung). 

3. In der Fähigkeit, Sympathieempfindungen zu entwickeln 
mit fremder kraftvoller körperlicher oder geistiger Betätigung 
nnd mit deren Hemmung. 

4. In der Fähigkeit, geistige Freude und Betätigung zu 
schätzen und sie höher zu schätzen als niedere sinnliche Freude 
und Betätigung. 

5. Allgemein in der Fähigkeit, Gefühle von einer Vorstellung 
auf die andere zu übertragen, und in der schon mit der Sym¬ 
pathie gegebenen Fähigkeit, Gefühle zu reproduzieren mi t einer 
für unsere Ideale wirksamen Intensität. Übertragung von Ge¬ 
fühlen wirkt u. a. auch für die Fähigkeit der Wertschätzung 
der Gesinnung, bei welcher die Gefühle eine Rolle spielen, die 
sich an die Durchschnittseffekte der Handlungfsweisen anschlossen, 
die aus einer Disposition des betreffenden Individuums zu be¬ 
stimmten Arten des WoUens hervorgehend gedacht werden. 

Sittliches Handeln nun hat die Eigenschaft, eine »Tätigkeit 
zu sein, die ihr entgegenstehende Hemmungen kraftvoll über¬ 
windet«. Mit solch kraftvoller Betätigung ka-nn ma.n sympathi- 



Psychologie der sittlichen Selbstachtang. 


405 


sieren. An sich kann man auch mit kräftigem nnsittlichen 
Wollen sympathisieren. Aber es »weisen die unsittlichen Be¬ 
tätigungen eine Prävalenz von Unlusteffekten bei mir und 
anderen auf«, infolge (nicht wegen!) derer sie kraft der Funk¬ 
tionen der Qefflhlsreproduktion, -Übertragung und Sympathie 
mißbilligt werden. 

Aristoteles zeigte zuerst, daß man nicht nur mit eigener 
Lust, sondern auch mit eigener Betätigung, ohne den Lusteffekt 
dabei zu berücksichtigen, sympathisieren kann. Kraftvolle geistige 
Betätigung, wie sie im sittlichen Wollen vorliegt, kann von dem 
Individuum als wichtige fördernde Lebensfunktion aufgefaßt 
werden, im Gegensatz zu Handlungsweisen, die ohne kraftvolle 
innere Betätigung, in einfacher Hingabe an augenblickliche Im¬ 
pulse ausgeführt werden, und deren Effekte erfahrungsgemäß 
prävalierend ünlustcharakter tragen. »Das Wollen des Augen¬ 
blicksimpulses erweist sich dem Individuum als unvernünftig, 
als gegen sein eigenes Wohl gerichtet.< Die inneren Vorgänge 
in dem Individuum bei einem Sieg des Augenblicksimpulses gegen 
das rationelle Streben, das eigene wahre Wohl betreffend, sind 
bei der Kritik von Aars behandelt. Die Wirkung der Gefühls¬ 
diskrepanz zwischen dem Streben nach Handlungen entsprechend 
dem wahren Wohl und dem wirklichen Handeln kann ein sogen, 
»genereller Willensentschluß« sein, so genannt, weil er »auf eine 
ganze Klasse von Wollen geht«. Das Individuum beschließt, 
»in Zukunft das einzelne Wollen dem eigenen Wohl entsprechend 
einzurichten«. Der Gedanke, daß die Art 'dieses WoUens als 
Leistung der eigenen Persönlichkeit aufzufassen sei, ist geeignet, 
die Wertschätzung dieses WoUens und damit die im sittlichen 
Kampf zu mobilisierenden Gefühle beträchtUch zu steigern. Eine 
Garantie des Sieges ist jedoch nicht damit gegeben, da die 
ständig neue Situation, der die variablen Gefühlsmassen des 
AugenbUcksimpulses entspringen, unberechenbar ist. Ist der Sieg 
nicht geglückt, so kann das Bewußtsein dieser Tatsache starke 
Unlustgefühle auslösen, und darauf kann sich eine Erneuerung 
des generellen WiUensentschlusses gründen, die sich mit starken 
lustgefärbten Gefühlen verbindet. 

Bei einem Sieg des selbstgegebenen Imperatives betr. des 
mit dem genereUen WiUensenentschluß übereinstimmenden Strebens 
nach dem eigenen wahren Wohl »hat das so bestimmte Indi¬ 
viduum das freudige Bewußtsein, daß das Ich die Kraft hat, 
seinen generellen WUlensentschluß durchzusetzen auch im Gegen¬ 
satz zu entgegengesetzten Strebungen des eigenen Innern. Das 



406 


Herbert Jancke, 


freudige Bewußtsein, die Kraft zu haben, seinen auf Realisierung 
von Handlungen, die seinem wahren Wohl entsprechen, gerich¬ 
teten Willensentschluß im Kampfe mit widerstrebenden Augen¬ 
blicksimpulsen zu behaupten, können wir als Achtung des Indi¬ 
viduums vor sich selbst, als einer die auf sein dauerndes Wohl 
abzielenden Zwecke mit Erfolg wollenden Persönlichkeit be¬ 
zeichnen, oder genauei* als Achtung des Individuums vor sich 
als einer Persönlichkeit, deren Willensrichtnng (entstanden ans 
wiederholten Erneuerungen des generellen Willensentschlusses) 
in einer als wirkungskräftig von ihm erkannten Weise auf Reali¬ 
sierung eines Wollens ausgeht, welches Wollen Förderung seines 
dauernden Wohles im Gegensatz zu Augenblicksimpulsen bedingte. 

Anfangs verbindet sich die Selbstachtung noch mit einem 
gewissen Gefühl der Unruhe. Aber sie »wird sich immer mehr 
ausprägen, je mehr das Individuum die Wirkungskräftigkeit 
seines generellen Willensentschlusses und der dadurch bestimmten 
Willensrichtung im einzelnen Wollen erfährt«. Hat ein Indi¬ 
viduum in dieser Weise Selbstachtung bei sich erlebt, so wird 
es mit kräftiger sittlicher Betätigung und der Selbstachtung 
von anderen sympathisieren können, denn Sympathie ist ja ab¬ 
hängig, wie David Hume gezeigt hat, von eigenem Erleben. 
Hier zeigt sich eine Wertschätzung des Wollens selbst, der Ge¬ 
sinnung, die nicht mehr abhängig ist von den Erfahrungen über 
den Dnrchschnittseffekt des betreffenden Wollens. 

Eine weitere Art individual bedingter sittlicher Selbstachtung 
superponiert sich über der genannten »Wertschätzung geistiger 
Lebensbetätigung und geistiger Lust im Gegensatz zu damit 
streitender sinnlicher Lebensbetätigung und damit streitendem 
sinnlichen Genuß«. Es ist psychologisch festgestellt, daß das 
»kraftvollste Handeln da möglich ist, wo die Betätigung und 
nicht die Lust in die unmittelbare Zweckvorstellung aufgenommen 
worden ist, und sodann, daß die höheren geistigen Lebensbetä¬ 
tigungen sich leichter und vollkommener vollziehen, wenn nicht 
allein die Lust, sondern allein oder mit besonderer Betonung 
die Betätigung unmittelbar gewollt wird«. 

Auch hier kann sich ein genereller Willensentschlnß ent¬ 
wickeln, von dem wieder eine Willensrichtung abhängt Erstrebt 
wird hier die »Achtung des Individuums vor sich selbst als 
einer Persönlichkeit, deren Willensrichtung in einer von dem¬ 
selben als wirkungskräftig erkannten Weise auf Realisierung 
eigenen Wollens oder Förderung von Dispositionen dazu ans¬ 
geht, welches Wollen auf Bevorzugung von geistiger Lebens- 



Psychologie der sittlichen Selbstachtnng. 407 

betätigung und geistiger Freude vor damit streitender sinnlicher 
gerichtet ist«. 

Individual bedingte Selbstachtung kann sich auch super- 
ponieren über speziellen Wertschätzungen, wie »gerechtes Handeln, 
wahrhaftes Verhalten usw.« 

Außerdem gibt es noch zwei Arten sozial bedingter sitt¬ 
licher Selbstachtung, deren Entwicklungsstadien von der Ent¬ 
wicklung der verschiedenen Formen individual bedingter Selbst¬ 
achtung beeinflußt werden können. Die eine Art superponiert 
sich über >dem Streben nach Realisierung dessen, was als sitt¬ 
liche Vorschrift dem Individuum entgegentritt«. Außer eigner 
Einsicht waren Lob, Tadel, Ehrfurchts- oder Achtungsgefühle 
hier noch soziale Antriebe. Die andere Art bezeichnet man als 
»Achtung des Individuums vor sich selbst als einer Persönlich¬ 
keit, deren Willensrichtung in wirkungsvoller Weise ausgeht 
auf Förderung der Entwicklung staatlicher Institutionen. 

>Von dem Auftreten sittlicher Selbstachtnng als Effekt ans 
schi’eitet die Entwicklung so weiter, daß nun die Selbstachtnng 
Motiv sittlichen Wollens werden kann, wobei das Individuum 
sich sagt: ich will das und das, weil ich in letzter Linie meine 
sittliche Selbstachtung behaupten will. Unter dem Wülen aber, 
seine Selbstachtung zu behaupten,; ist zu verstehen der Wille, 
die Bedingungen in sich realisiert zu halten, von denen seine 
Selbstachtung abhängt, d. h. also, es will seine einzelnen Willens¬ 
entschlüsse in Übereinstimmung halten mit seinen entsprechenden 
generellen WUlensentschlüssen.« 

Die Selbstachtung kann sich als Motiv auch so gestalten, daß 
das Individuum von der Realisierung einer Handlung Abstand 
nimmt, um das Auftreten des Gefühls der Selbstverachtung zu 
vermeiden, ja gerade diese Motivierung kann besonders stark 
ausgeprägt sein. 

Aus sittlicher Selbstachtung kann sich nun weiter die Eantsche 
»Achtung vor dem Sittengesetz« entwickeln. Handelt das Indi¬ 
viduum bei bestehender sittlicher Selbstachtung gegen den ent¬ 
sprechenden generellen Willensentschlnß, so drängt sich ihm der 
Gedanke des Widerspruches mit sich selbst in schmerzlicher 
Weise auf. Der Gedanke der Gefährdung der sittlichen Selbst¬ 
achtung flndet nun eine Übertragung auf das Urteil: »Dies 
Wollen ist sittlich verwerflich.« So wird dieses Urteil zu einem 
Summationszentmm kräftiger sittlicher Gefühle. In ähnlicher 
Weise entwickelt sich das Urteil: »Dies Wollen ist für jetzt 
sittlich geboten« zu einem positiven Summationszentmm sittlicher 



408 


Herbert Jancke, 


Gefühle. (Unter einem Summationszentnun versteht Störring 
eine Wahrnehmung, Vorstellung oder ein Urteil, an welche sich 
im Laufe des Lebens eine große Zahl gleicher oder verschiedener 
Gefühle angeschlossen haben, die jedesmal, wenn ein solcher 
intellektueller Vorgang wieder bewußt wird, zum Nachklingen 
kommen, ohne daß man sich im einzelnen über die Herkunft 
der Gefühle Rechenschaft ablegen kann.) (Die Vorstellungen 
der Mutter, Gottes, Gedanken etwa an die Musik oder eben 
auch an sittliche Betätigung.) So zeigt sich, daß die Achtung 
vor dem Sittengesetz nicht angeboren ist und auch ihr Verhältnis 
zur Selbstachtung umgekehrt ist, als wie Kant annahm. 

Die verschiedenen Formen der Selbstachtung wirken nun 
auch zusammen >in der Achtung vor unserer sittlichen Persön¬ 
lichkeit überhaupt, d. h. in dem Bewußtsein der Würde unserer 
sittlichen Persönlichkeit«. 

»Durch Zusammenwirken der eigenen sittlichen Selbstachtung 
mit der Fähigkeit, Sympathiegefühle und Sympathieempfindnng 
mit anderen Menschen zu haben, wird sich das Streben ent¬ 
wickeln, auch in anderen die Entwicklung sittlicher Selbstach¬ 
tung zu fördern, vor allen Dingen aber wird sich der Gedanke, 
daß durch die und die im Kampf der Motive ins Auge gefaßte 
Handlung die Entwicklung sittlicher Selbstachtung in anderen 
geschädigt werden könnte, mit stärksten Unlustgefühlen ver¬ 
binden, die in ihrer Intensität und Färbung von der 'eigenen 
sittlichen Selbstachtung abhängig sind.« »Eine Handlung, durch 
die wissentlich die Entwicklung sittlicher Selbstachtung in anderen 
geschädigt wird, muß im höchsten Grade verwerflich erscheinen. 
Populär ausgedrückt; eine solche Handlung muß als teuflisch 
erscheinen gegenüber einer unsittlichen Handlung, bei der ein¬ 
fach einem Individuum zu Unrecht Unlust zugefügt wird. Hier 
prägt sich der Unterschied der einfachen Werte und der höheren 
sittlichen Werte in deutlicher Weise aus.« 

Sittliche Selbstachtung, die sich gründet auf eigene sittliche 
kraftvolle WUlensbetätigung, superponiert sich über Formen sitt¬ 
lichen Handelns, die charakterisiert werden können vom endä- 
monistischen und energistischen Standpunkt aus. 

5. Die psychologische Beziehung der Selbstachtung zur 

Sympathie. 

Am Schluß der Darlegungen über die Behandlung der Psycho¬ 
gen esis der sittlichen Selbstachtung bei den Ethikem bleibt uns 
noch die Frage zu beantworten, die sich uns bei der Behandlung 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


409 


Kants anfgedrängft hatte, die Frage nach der Beziehung des 
Motivs der Selbstachtung zum Sympathiemotiv. Eines können 
wir jetzt ohne weiteres sagen: Die Entwicklung der Selbstach¬ 
tung setzt kräftiges Erleben von Sympathieempfindungen und 
Sympathiegefühlen voraus. Wo wir Sympathiegefflhle als Motiv 
bemerken, können wir sagen, das Motiv sei ein selbstloses. Nicht 
jedes selbstlose Motiv braucht ein Sympathiemotiv zu sein. 
Andererseits braucht nicht jedes sittliche Motiv ein selbstloses 
zu sein. Es ist es jedenfalls dort nicht, wo ich mir als letzten 
unmittelbaren Zweck vorsetze die Förderung der eigenen Dispo¬ 
sitionen zu sittlichem Wollen oder die Förderung und Behaup¬ 
tung eigener Selbstachtung nsw. Andererseits kann ich wohl 
zur Förderung fremder Dispositionen zu sittlichem Wollen kräf¬ 
tiges Erlebenlassen von Sympathiegefählen bezwecken, nicht aber 
die Förderung von Sympathie unmittelbar, weil diese auf ele¬ 
mentar-angeborenen Faktoren beruht und von der Intensität 
eigener Erlebnisse abhängig, also stark determiniert ist. Übrigens 
ist Sympathie nicht absolut sittlich, sondern nur dann, wenn sie 
sich nicht in Konkurrenz mit höheren sittlichen Prinzipien durch¬ 
setzt — Selbstachtung aber ist absolut sittlich. — 

Um diese Entwicklung auf dem Gebiet der praktischen Lebens- 
anschannng anzuwenden: Solange man einen Konnex mit den ge¬ 
gebenen Tatsachen anfrechterhält, ist es ein Unding, von einer 
absoluten Sympathiemoral (Liebesmoral) zu sprechen. Man zieht 
hier sekundäre Prinzipien tatsächlich erlebten primären vor. Die 
Gesinnung, die subjektive Seite des sittlichen Tatbestandes, kann 
deshalb nicht allein maßgebend sein, weil man mit der besten 
(selbstlosesten) Gesinnung das größte Unheil in der Welt an- 
richten kann. Man muß von einem psychisch gleichmäßig be¬ 
gabten Individuum verlangen, d6iß es sich gehörig auch über die 
Effekte seiner Handlungsweisen orientiert Unmittelbare sittliche 
Arbeit an sich selbst aber hat stets die wertvollsten Effekte 
auch für andere davongetragen. Es ist nicht richtig, wenn man 
sagt: »Wer sich selbst verlieren will, wird sich gewinnen« 
(Scheler). Im Gegenteil: »Man muß fest auf sich selber sitzen« 
(Nietzsche). 


6. Methodik der Systematisierung der Ethik (bezfiglich der 
sittliehen Selbstachtung). 

teilt zunächst die Horalsysteme ein in metaphysische nnd nicht- 
metaphysische. 



410 


Herbert Jancke, 


a) Metapbysiker. 

Die metaphysischen Ethiker gründen ihre Bestimmnngen anf Welt* 
anschannngslehren; zn ihnen zu rechnen sind Schopenhauer, Eranse, 
Fichte und E. t. Hartmann. Schopenhauer würdigt die Selbstach¬ 
tung als Prinzip überhaupt nicht, wie wir sahen; er kennt allein das »Sym- 
pathieprinzip«, dessen Notwendigkeit er metaphysisch erkl&rt. — Eranse 
geht ans von panentheistischen Annahmen und teleologischen Bestimmnngen. 
Alles Gegebene, Geistiges wie Ehrperliches, hat die gleiche »Würde«, weü 
hinter allem Gott sich verbirgt, besonders aber hat der Mensch Würde, weil 
hier alle Eiassen der Erscheinung (Gott, Natur und Vernunft) sich vereinigen 
und Gott speziell sich nachbildet. Der Zweck des menschlichen Lebens ist 
die Intuition Gottes in sich, d. h. durch Sittlichkeit (Selbstachtung) sich der 
Teilhaftigkeit an dem »Guten« (Gott) würdig zn machen. 

Auch nach Fichte ist das Leben anznsehen als Mittel zur Beali- 
siernng des Endzweckes, der Herrschaft der sittlichen Vernunft. Die Selbst¬ 
achtung ist der Götterfunken im Menschen, der »ihn zum Mitbürger einer 
Welt macht, dessen erstes Mitglied Gott ist«. »Jedes Individuum hat durch 
sein biofies Dasein in der Sphäre des allgemeinen Lebens eine bestimmte 
Aufgabe.« — Bei Fichte tritt die metaphysische Begründung weniger her¬ 
vor, weil er die Ethik sowohl »von oben« wie »von unten« zn fundieren 
sucht. Die z. T. empirische, z. T. schlnfifolgemde Begründung ist aber sicht¬ 
lich eingeengt durch vorgefafite Ideen. Das Moralprinzip ist in seiner For¬ 
malität unbefriedigend, weil sich daraus keine sittlichen Einzelbestimmnngen 
ableiten lassen. Fichte fordert einfach: Werde sittliche Persönlichkeit 
und »erfülle jedesmal deine Bestimmung«. 

Für E.v. Hartmann sind alle sittlichen Bestimmnngen von relativer 
Gültigkeit. Sie haben Gültigkeit, weil sie durch Bewirkung einer gesteigerten 
Hingabe an das Leben und sein Leid die Eonsequenz der Einsicht aller, dafi 
Nichtsein besser als Sein, beschleunigt herbeiführen. Der Endzweck ist ein 
ttbersittlicher, die Sittlichkeit Mittel zu seiner Verwirklichung: »Die sitt¬ 
liche Persönlichkeit ist Mittel, nicht Zweck.« Im übrigen leugnet v. Hart- 
mann eine sittliche Bedeutung sozialer Faktoren und einen Wertunterschied 
der einzelnen sittlichen Motive. 

Gemeinsam ist allen metaphysischen Ethikem die richtige Erkenntnis, 
dafi die Selbstachtung nicht mit dem Lustmafistabe zu messen ist oder um 
ihres Lustfaktors willen gewollt wird. Gewollt wird in der Selbstachtung 
die dem autonomen Imperativ gehorchende, kraftvoll die Angenblicksimpnlse 
überwindende sittliche Willensbetätignng, die Wahrung der sittlichen 
Würde der eigenen Persönlichkeit als Selbstzweck. 

b) PersOulichkeitsethiker. 

Bei V. Hartmann und Eranse wurden die sittlichen Prinzipien gleich¬ 
gewertet, bei Fichte und Schopenhauer herrscht die einseitige Bewer¬ 
tung je eines Prinzips vor. Die nichtmetaphysischen Ethiker nun, die mit 
Recht den sittlichen Tatbestand empirisch behandeln, da man nicht nOtig 
hat, ihn mit metaphysischen Anschauungen zn vermengen, teilt man ein 
nach ihren Bestimmnngen über die normalen Effekte, die ihr System der 
Zwecke des sittlichen WoUens charakterisieren. Wir bestimmten bereits, 
dafi sittliche Selbstachtung sich snperponiert über Formen des sittlichen 
Wollens, die sich vom endämonistischen und energistischen Standpunkt ans 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


411 


charakterisieren lassen. Es kann also das Prinzip der sittlichen Selbstach¬ 
tung zn Recht bestehend nicht in einem bloß endämonistischen System (oder 
bloß energistischen) einbezogen sein. Dagegen wird jedoch verstoßen 
n. a. von DO ring nndOizicki, die sich über die psychologischen Grund¬ 
lagen nicht klar geworden sind. Alle Effekte der endämonistischen und 
energistischen Zwecke können auch nur Dnrchscbnittseffekte sein, die Effekte 
des höheren sittlichen Wollens dagegen sind regelmäßige. 

Es kann also keine Ethik die Selbstachtung als Prinzip verwerten, die 
ans den Effekten ihres Systems der Zwecke bei dem sittlichen Wollen die 
Förderung nur gewisser psychischer Funktionen resultieren läßt, sondern es 
muß von einem solchen die Förderung einer harmonischen Entwicklung der 
gesamten Persönlichkeit verlangt werden. Eine solche Ethik nennen wir 
Persönlichkeitsethik. 

Eine solche, und zwar eine formale, finden wir vor bei Kant und Lipps 
(wohl auch bei Fichte), und ebenfalls formal, aber mit Anklängen an eine 
materiale Ethik, sind die Systeme von Block, Fries und Nelson; eine 
materiale Persönlichkeitsethik endlich gibt Störring. Aus einem formalen 
Prinzip, das meist in der Aufstellung eines kategorischen Imperativs gipfelt, 
kann man nicht die Stnfenordnnng der sittlichen Werte und die sittlichen 
Einzelvorschriften ableiten. 


c) Wnndt. 

Die Ethik Wnndts, die Ethik der »objektiven geistigen Erzeugnisse« 
hält »Selbstvervollkonunnnng zn individuellen Zwecken für sittlich wertlos«. 
Ihr stellen also Persönlichkeit und Selbstachtung keine absoluten Werte dar. 
Vielmehr ist die »Norm der Selbstachtung« sittlich wertvoll deshalb, weil 
unter ihrer Beobachtung die objektiven Güter gefordert werden. Eigent¬ 
liches Motiv ist die Norm auch nicht, dies steht bei Wnndt ans, sondern 
ein formaler Imperativ, der sich auf den engsten möglichen sittlichen Wir^ 
knnskreis bezieht, den individualen, der zwar »eine Bedingung aller übrigen« 
ist, aber doch an Wert hinter dem »sozialen« und »humanen« znrücksteht. 

7. Die Einbettung des Prinzips der Selbstachtung in die 

ethischen Systeme. 

a) Formale Persönlichkeitsethiker. 

Fant hat die (empirische) Selbstachtung als Prinzip in seine 
Ethik nicht aufgenommen. Er kennt nur ein Prinzip: das der 
Pflicht, ausgedrückt durch die (nicht empirische) Achtung vor 
dem Sittengesetz. Sie läßt sich geradeso nicht mit dem Lust- 
(Gefnhls-)ma6stabe messen wie die durch sie involvierte rationale 
Selbstachtung, die Achtung vor der Würde der Person. Störring 
zeigte, daß die Idee der Würde unserer sittlichen Persönlichkeit 
und die Achtung vor dem Sittengesetz ihrer Entstehung nach 
miteinander verwandt sind; aber beide haben zur Voraussetzung 
die Entwicklung verschiedener Arten sittlicher Selbstachtung. — 
Einbeziehung von ESektbetrachtnngen lehnt Kant wegen ihrer 
empirischen Dignität ab. Als Apriorist fällt für ihn auch die 



412 


Herbert Jancke, 


Zwecksetzung der Fördemng sittlicher Selbstachtimg oder der 
Achtung vor dem Sittengesetz in sich und anderen fort. 

Ich gebe noch eine für die rationale Selbstachtung charak¬ 
teristische Stelle: >Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im 
größten Unglück des Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er 
sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Be¬ 
wußtsein aufrecht, daß er die Menschheit in seiner Person 
doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, daß er sich nicht 
vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbst¬ 
prüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trost ist nicht die 
Glückseligkeit, anch nicht der mindeste Teil derselben.< 

Ebensowenig wie Kant wird Lipps dem endämonistischen 
und dem energistischen Prinzip gerecht. Nach ihm kann man 
ein Wollen nur dann als sittlich bezeichnen, wenn es sich zum 
Zweck setzt die Behauptung oder die Förderung von sittlicher 
Selbstachtung. Anch ihm kommt es nur auf die Gesinnung an, 
die er bestehen läßt in einem bestimmten Verhältnis von Motiven, 
welches sich gestalten muß nach dem formalen Gesetz: »Ver¬ 
halte dich allgemeingültig.« 

b) Versuche, die Persönlichkeitsethik material zu 

gestalten. 

Auch die nächste Gruppe von Ethikem vollzieht noch keine 
positive Würdigung von einfachem sittlichen Wollen, zieht es 
aber etwas mehr in ihre Betrachtungen hinein. Block sagt 
z. B.: »Seine eigene Glückseligkeit zu befördern, ist, wo nicht 
unmittelbar, doch gewiß mittelbar Pflicht, weil ohne dem weder 
eigene Vollkommenheit noch fremde Glückseligkeit befördert 
werden kann«. Es läßt sich nicht mit Kant behaupten, »daß 
das Prinzip der Glückseligkeit die Sittlichkeit und ihre Würde 
untergrabe«. Das (sehr unvollkommene) »materiale Prinzip« flndet 
Block in dem Grundsatz gegeben: »Strebe nach einem weisen, 
wohlwollenden und mutigen Charakter, und handle so, wie es 
demselben gemäß ist.« 

Fries erkennt zwar, >daß das Prinzip des Eudämonismus 
zu einem allgemeinen Gesetz nicht taugt«, »daß aber auch die 
Natur als unvernünftige Kraft nicht einfach willkürlich durch 
uns unterworfen werden darf«, sondern daß jeder natürliche Trieb 
einen sittlichen Wert bekommen kann, wenn er in Beziehung 
zur Selbstachtung gesetzt wird. Er kennt zwei dieser Triebe, 
den »Trieb der Tierheit« (Glückseligkeitstrieb) und den »Trieb 
der Menschheit« in uns (Streben nach höherer geistiger Lust 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


413 


und Bestätigung). Diese müssen in Beziehong gesetzt werden 
znm >Trieb der Persönlichkeitc (Selbstachtung als Idee der Würde 
der Person). Psychologisch gesehen, wird diese Inbeziehung- 
setznng nach ihm bewirkt dnrch den »reflektierten Trieb«, den 
»Verstand als Kraft der Selbstbeherrschung«. Hier ist zwar 
eine Stufenordnung von Werten aufgestellt; ihr Mangel liegt 
jedoch darin, daß die niederen Werte noch nicht als einfache 
sittliche Werte erkannt sind und daß hier ein sogen, absolutes 
Prinzip als Hilfsprinzip herangeholt wird. Auf diese Weise konute 
es zu einem materialen Prinzip nicht kommen. 

Die von der Friesschen ausgehende Nelsonsche Ethik ver¬ 
eint normative Prinzipien mit einem formalen Prinzip. 

c) Die materiale Persönlichkeitsethik Störrings. 

Störring ließ sich bei der Aufstellung seines Moralprinzips 
heuristische Dienste leisten von der psychologischen Durchleuch¬ 
tung des sittlichen Tatbestandes. »Man sieht so in demselben 
Züge, die man vorher nicht beachtet hatte, ähnlich wie bei der 
Helmholtzschen Klanganalyse durch vorgängige isolierte Dar¬ 
bietung der einzelnen Teiltöne: man sieht in demselben die Be¬ 
ziehung der verschiedenen Formen sittlicher Selbstachtung auf 
verschiedene generelle Willensentschlfisse, welche sich selbst in¬ 
haltlich auf einfaches sittliches Handeln beziehen. Also die ver¬ 
schiedenen Formen sittlicher Selbstachtung beziehen sich inhalt¬ 
lich auf einfaches sittliches Handeln, setzen einfaches sittliches 
Wollen voraus.« Das gleiche stellte sich heraus »bei näherer 
Untersuchung autonomer Achtung vor dem Sittengesetz«. 

»Die Folgerung daraus ist, daß sich die verschiedenen sitt¬ 
lich gewerteten Größen in einem System von Prinzipien charak¬ 
terisieren lassen derart, daß die höheren Prinzipien die der 
Wertung nach untergeordneten voranssetzen.« Ein Moral¬ 
prinzip soll außerdem so beschaffen sein, daß sich daraus die 
sittlichen Einzelvorschriften unter differenten Lebensbedingnngen 
ableiten lassen. 

Um den Unterschied zwischen einfachen und höher gewer¬ 
teten sittlichen Größen zu erkennen, greifen wir einen konkreten 
Fall heraus. Ich kann ein sittliches Wollen so charakterisieren, 
daß es auf der objektiven Seite nach sich zieht etwa Förderung 
von höherer geistiger Freude in anderen, und auf dessen sub¬ 
jektiver Seite ein selbstloses Motiv steht Wir können dann 
überhaupt auf die objektive Seite setzen alle die sittlichen 
Zwecke, die durch die Eudämonisten und Energisten im aUge- 



414 


Herbert Jancke, 


meinen richtig charakterisiert sind. — Nun vergleichen wir ein 
solches Wollen »mit einem Wollen, das auf Förderung dieser 
Art des Wollens selbst ausgeht, auf Förderung dieses sittlichen 
Wollens«. Da handelt es sich um einen sittlichen Zweck, der 
mit den genannten Maßstäben nicht mehr zu messen ist Das 
eine Mal ist der Zweck des Wollens Fördeimg von Lust oder 
Lebensbetätigung, das andere Mal Förderung von sittlichem 
Wollen selbst. Dasselbe gilt von einem Wollen, »bei dem der 
unmittelbare eigentliche Zweck des Wollens in Förderung sitt¬ 
licher Selbstachtung oder in Förderung autonomer Achtung vor 
dem Sittengesetz besteht«. 

Jedesmal, wenn neue sittliche Gefühle in dem Individuum 
zur Entwicklung gekommen sind, werden sie als neue, über die 
vorhandenen hinausgehende Zwecke in die Zweckvorstellung 
aufgenommen. Störring nennt diesen Vorgang »das Prinzip 
der Bereicherung der Zweckvorstellungen des sittlichen Wollens 
durch die Art des Gewolltwerdens der ursprünglich gesetzten 
Zwecke sittlichen Wollens und durch gewisse komplexe Effekte 
sittlichen Wollens in dem Wollenden«. 

In der sittlichen Selbstachtung geht höheres und niederes 
sittliches Wollen eine Synthese ein. Sie tritt da auf, wo der 
Kampf der Motive ein sehr ausgeprägter ist. — 

»Damit ist der Gegensatz überbrückt, in welchem den Per- 
sönUchkeitsethikem das sittliche Handeln, bei dem sittUche Selbst¬ 
achtung mitwirkt, zu dem Handeln steht, welches von den 
besseren eudämonistischen und energistischen Systemen als sitt¬ 
liches Handeln bezeichnet wurde.« »Es wäre ja auch von dem 
Prinzip der Erafterspamis aus keine glückliche Forderung des 
sittlichen Bewußtseins zu nennen, wenn es bei jeder relativ ge¬ 
ringfügigen Einzelhandlung die Feststellung der Beziehung zu 
einer möglichen Förderung sittlicher Selbstachtung verlangte; 
so unökonomisch arbeitet das sittlicheBewußtsein tatsächlichnicht« 

Das System der Zwecke oder das Moralprinzip würde sich 
nun so gestalten, daß zunächst das einfache sittliche Wollen 
charakterisiert wird, und sodann drei sich snperponierende Arten 
des höheren sittlichen Wollens: 

a) Das Wollen, das als normalen Effekt Förderung von ein¬ 
fachem sittlichen Wollen in der Menschheit nach sich 
zieht. 

b) Das Wollen, das als Effekt nach sich zieht: »eine über 
die Förderung einfachen sittlichen Wollens hinausgehende 
Förderung der eigenen Selbstachtung oder Selbstachtung 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


415 


in Anderen als von Persönlichkeiten, deren Willensent- 
schließong in einer von denselben als wirknngskräftig er¬ 
lebten Weise auf Realisienmg eigenen Wollens ausgeht, 
welches Förderung von in ihrem Vollzug mit Freude sich 
verbindender Lebensfunktionen in der bei Charakterisierung 
des einfachen sittlichen WoUens bestimmten Weise und 
Minderung der Hemmung solcher Lebensförderungen als 
normalen Effekt bei Übereinstimmung des letzten Zweckes 
dieses Wollens mit diesem Effekt mit sich führt, und bei 
dem der letzte eigentliche Zweck (Motiv) in dieser Förde¬ 
rung der Dispositionen zu den entsprechenden Willens¬ 
entschließungen und ihrer Aktualisierung besteht«. 

c) Das Wollen, das Förderung von autonomer Achtung vor 
dem Sittengesetz nach sich zieht. 

d) Störrings Beweis der Gültigkeit sittlicher 

Selbstachtung. 

Störring zeigt, soweit ich sehe, als einziger Ethiker die 
doch so wichtige Rechtfertigung der sittlichen Forderungen und 
der Selbstachtung. 

Ihrer formalen Seite nach scheint die Selbstachtung als ab¬ 
soluter sittlicher Wert unmittelbar erlebt zu werden. Aber es 
ist doch nicht so ohne weiteres ansgemacht, daß diesem tat¬ 
sächlichen Wert auch ein gültiger Wert entsfficht. Es 
fragt sich, »ob nicht die Rechtfertigung sittlicher Selbstachtung 
doch auf mittelbare Weise im Anschluß an das Erleben sich 
vollzieht<. Man kann zunächst einen rationalen Gültigkeits¬ 
beweis für die Selbstachtung führen, der als Vemunfterkenntnis 
für »alle Ewigkeit« gilt. Der Beweis lautet: »In den ver¬ 
schiedenen Formen sittlicher Selbstachtung treten als Ausdruck 
der eigenen Persönlichkeit g’ewußte generelle Willensentschlie߬ 
ungen in mächtigster Weise auf. In solchen generellen Willens¬ 
entschlüssen fordert aber das sittliche Individuum von sich selbst 
das Wollen, welches ihm als das höchste in bestimmter Be¬ 
ziehung erscheint. Nun kann man aber von einem mit Intelligenz 
und Willen begabten Individuum nicht mehr verlangen, als daß 
es dasjenige Wollen auch auf Kosten persönlicher Interessen 
mit aller Macht zu realisieren strebt, welches es unter Aufwand 
der ihm zur Verfügung stehenden Beurteilnngsmittel für das 
höchste hält.« 

Man kann den Charakter der sittlichen Werte als absoluter 
Werte darin begründet denken, daß es absolut wertvoll für den 



416 


Herbert Jancke, 


Menschen ist, das zu wollen, was ihm als sittlich geboten er¬ 
scheint. Der Gültigkeitsbeweis für die materiale Seite der sitt¬ 
lichen Wertschätzungen ist nur ein solcher yon hoher empirischer 
Dignität. Das charakterisierte sittliche Wollen, das hinanslänft 
anf Förderung der Entwicklung harmonischer Lebensbetätignng, 
ist naturgemäß. Die Fähigkeit zum Vollzug sittlicher Wert¬ 
schätzungen hängt ab von der »allgemeinen Entwicklung des 
Gefühlslebens, speziell von dem Vollzug von Gefühlsreproduk¬ 
tionen«, und von der Entwicklung der Intdligenz und des 
Willenslebens. Sie ist damit gegeben und führt kein Sonder¬ 
leben für sich. »Wenn man also die Entwicklung des Menschen 
in emotioneller und intellektueller Beziehung will, so muß man 
auch die sittliche Entwicklung und Mißbilligung des Unsittlichen 
wollen.« »Die sittlichen Wertschätzungen haben auch ihrem In¬ 
halt nach bleibende Gültigkeit, solange die menschliche Natur 
keine radikale Umgestaltung erfährt« 

e) Über pädagogische und religiöse Bedeutung 
der Selbstachtung. 

Nach Störring kann man in pädagogischer Hinsicht An¬ 
regungen geben, die yorteilhaft wirken auf die Entwicklung yon 
Partialfaktoren, yon denen die Entwicklung der Selbstachtung 
abhängig ist. Hat man einerseits dafür zu sorgen, daß das 
SelbstyeiiYauen des Zögling in die eigene sittliche Entwicklungs¬ 
fähigkeit nicht untergraben wird, so muß man andrerseits darauf 
hinwirken, daß der Zögling seine Erwartungen bezüglich der 
Wirkung seiner Wülensentschlüsse nicht zu hoch schraubt — 
Die Erneuerung der generellen Willensentschließungen wird 
stark beeinflußt durch Betrachtung des Lebens sittlicher Heroen, 
besonders durch die Betrachtung des Lebens Jesu. 

8. Die Selbstachtung als praktischer Lebenswert, 
a) Fichte, yiel genannt, aber wenig gelesen, hat wohl neben 
Nietzsche der deutschen Ethik die menschlich- (synthetisch¬ 
psychologischen) wertyollsten Beiträge geliefert; sie stehen yer- 
streut in seinen Schriften, namentlich in der »Rede über die 
Würde des Menschen«, dem »Wesen des Gelehrten« und den 
»Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters«. Ich wähle eine 
markante Stelle aus: Seine Formulierung des »Gesetzes der 
akademischen Freiheit«: »Meinetwegen kannst du das Rechte 
immer unterlassen, das Verkehrte immer tun; es soll dir nichts 
weiter schaden, außer daß du yerachtet und geringgeschätzt 



Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 


417 


wirst, und dich selbst, wenn da einen Blick in dein Inneres 
tost, yerachtest. Willst du es auf diese Gefahr wagen, so wage 
es getrost!« 


b) Goethe. 

Die sittliche Lebensanschanung von Goethe kennen zu lernen, 
ist Ton heuristischem Wert. Er ist uns als einer der größten 
Menschenkenner und Menschenbildner bekannt, und wir wissen, 
eine wie große Bedeutung für sein ganzes Schaffen die Kon¬ 
zentration auf das eigene höhere Selbst hatte. Außerdem wissen 
wir ihn in seinen reiferen Jahren von heteronomen Einflüssen 
so gut wie frei, und die Übereinstimmung seiner Resultate mit 
denen unserer Psychologie ist deshalb so wertvoll, weil wir in 
Goethe die allgemeine Natur des Menschen in einer Form be¬ 
deutend hoher Entwicklung bewundern. Er selbst faßt die Sitt¬ 
lichkeit auf nicht als »Produkt menschlicher Reflexion, sondern 
sie ist angeschaffene schöne Natur. Sie ist mehr oder weniger 
den Menschen im allgemeinen angeschaffen, im hohen Grade 
aber einzelnen ganz vorzüglich begabten Gemütern«. Es kommt 
darauf an, »den Gehalt der eigenen Persönlichkeit zu steigern«, 
damit Wirkung und Nutzen für andere »nicht als Zweck, 
sondern als notwendige Folge stattfinde«. 

Wenn er es auch eindeutig niederschreibt: »Uns selbst zu 
achten leitet unsere Sittlichkeit; andere zu schätzen regiert unser 
Betragen«, so brauchen wir uns hier nicht eng an Worte zu 
halten, sondern können durch Einfühlung in sein Leben und 
Schaffen bedeutend mehr erfahren, wozu uns an dieser Stelle 
allerdings der Raum fehlt. Ich weise hier hin auf die religiös¬ 
sittliche Betrachtung in »Wilhelm Meisters Wandeigahren« von 
den drei Ehrfurchten, die sich synthetisch in das höchste Ge¬ 
fühl der »Ehrfurcht vor sich selbst« zusammenschließen. Den 
ganzen Goethe wohl, den sich auf sich selbst stellenden, »gott¬ 
losen«, erschließen uns seine Worte: »Feiger Gedanken bäng¬ 
liches Schwanken, weibisches Zagen, ängstliches Klagen wendet 
kein Elend, macht dich nicht frei Allen Gewalten zürn Trotz 
sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die 
Arme der Götter herbei.« Nur ein hochentwickeltes Gefühl 
autonomer Selbstachtung befiehlt eine solche Stellung zum Leben. 
Ein bloß subjektives Prinzip der Liebe, der guten Gesinnung, 
lehrt uns nicht, unsere Gefühle durch den Willen zu zwingen, 
wie ein fruchtbares, nicht nur auf Außerpersönliches gestelltes 
Leben es von uns fordert. 

Archiv für Psychologie. XLVIU. 27 



418 


Herbert Jaiicke, 


c) Nietzsche. 

Nietzsches Position sei mit einer parallelen Stelle charak¬ 
terisiert: > Alles Fühlende leidet an mir nnd ist in meinen Ge¬ 
fängnissen; aber mein Wollen kommt mir stets als mein Befreier 
und Frendebringer. Wollen befreit. Das ist die wahre Lehre 
von Wille und Freiheit.« 

Nietzsche sucht {ebenso wie Störring) eine sittliche Werte¬ 
tafel zu gründen, die in Übereinstimmung steht mit den natür¬ 
lich-sittlichen Funktionen im Menschen. Sittlichkeit kann nnr 
autonom, individual bedingt sein; daher sein Kampf gegen hen*- 
sehende heteronome, entselbstende Einflüsse, die uns als »die 
Moral« gepredigt werden, eine Moral, die bestenfalls gewisse 
niedere sittliche Werte kennt, die als absolut bestehend 
außerhalb der Persönlichkeit geschildert werden (Staat, Her¬ 
kommen, Systeme von »Anpassungen« und, namentlich pauli- 
nisches und protestantisches, Christentum). Da heißt es: »Wer 
mir nachfolgen will, verleugne sich selbst.« So wird das 
Vertrauen in eine autonom-sittliche Entwicklung untergraben. 

Weil er diese »Moral« nicht anerkennt, nennt sich Nietzsche 
paradox »Immoralist«. »Der Weise kennt keine Sittlichkeit 
mehr außer der, welche ihre Gesetze aus ihm selbst nimmt, ja 
schon das Wort Sittlichkeit paßt für ihn nicht«, denn es leitet 
sich von dem heteronomen Begriff Sitte ab. »Es gibt niemanden, 
dem wir Eechenschaft schuldeten als uns selbst.« »Geh nur 
wir selber treulich nach, so folgst du mir. Was ist aber dieses 
»Selbst« ? Es ist der autonome, über unsere Gefühle herrschende 
Wille, das Gefühl sittlicher Überlegenheit über uns selbst, die Er¬ 
fassung des unserer Natur Entsprechenden, welches alles Selbst- 
Fremde, z. B. Impulse, gemächliche Anpassung an das »Glück 
der Herde«, abweist, kurz der »Wille zur Macht« über das sitt¬ 
liche Selbst sowohl wie über das außersittliche Nicht-Selbst (im 
persönlichen Sinne). 

Warum aber Herrschaft über die Gefühle? Wir sahen bei 
Störring, daß die Gefühle beim sittlichen Handeln eine domi¬ 
nierende RoUe spielen. Die Gefühle sind der Ausdruck fließenden 
Lebens, des irrationalen Erfassens der Lebens-Anreize, des Ver¬ 
stehens nicht nur, sondern auch des Entscheidens über den Wert 
dieser Anreize, unserer Sensibilität. Natur prägt sich im Menschen 
durch große Sensibilität und Instinkt aus. Der Höchstentwickelte 
hat das feinste, aber auch labilste Gewissen, er reproduziert am 
stärksten Gefühle, das heißt aber, wie wir bei Störring sahen, 
er sympathisiert am stärksten, er leidet am meisten mit, mit 



Fsychologfie der sittlichen Selbstachtnng. 


419 


anderen nnd mit sich selbst, er leidet überhaupt am tiefsten und 
jubelt am lautesten (Goethe: ... himmelhoch jauchzend, zu Tode 
betrübt.. .)• 

Das Leben bietet ihm unermeßliches Leid. Er leidet da, wo 
der > Sich-Anpassende c gedankenlos hindämmert, keine anderen 
Werte kennend als die ihm auf oktroyierten, an die er sich der 
Bequemlichkeit halber und des lieben Friedens willen gewöhnt 
hat Der »höhere Mensch« aber steht den »Gewalten« gegen¬ 
über in dem Bewußtsein, daß sich hier der Wert seiner Persön¬ 
lichkeit entscheidet, daß sich ihm hier der Sinn seines Lebens 
auftnt Im Trotz gegen die Gewalten, im Kampf gegen das 
Leiden entsagt er nicht dem Leben pessimistisch, sieht in ihm 
nicht das Gottgegebene, gegen welches »Gute« man nicht oppo¬ 
nieren dürfe und könne, er predigt nicht Liebe mit denen, die 
tatenlos zuschauen, gerade hier schmiedet er sich seine Lebens¬ 
werte, seine sittlichen Werte: Er selbst »gottlos«, nur sich ver¬ 
trauend und seinem Schicksal Das fordert von ihm seine Selbst¬ 
achtnng. Hier kennt er nicht »gut« noch »böse«, hier nutzt er 
alle ihm von der Natur geschenkten Kräfte. »Damit der Mensch 
Achtung vor sich selbst haben kann, muß er fähig sein, auch 
böse zu werden.« So versteht auch Goethe die Steigerung der 
Persönlichkeit. 

»Ich wollte, man finge damit an, sich selbst zu achten: Alles 
andere folgt daraus. Freilich hört man damit für die anderen 
auf; denn gerade das verzeihen sie am letzten. Wie? Ein 
Mensch, der sich selber achtet? Die vornehme Art Mensch 
fühlt sich als wertbestimmend. Alles, was sie an sich 
kennt, ehrt sie: eine solche Moral ist Selb st Verherrlichung. 
Im Vordergrund steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die 
überströmen wül, das Glück der hohen Spannung. Der Glaube 
an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft 
und Ironie gegen »Selbstlosigkeit« gehört ebenso bestimmt zur 
vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung nnd Vorsicht 
vor den Mitgefühlen nnd dem »warmen Herzen«.« »Solchen 
Menschen, die mich etwas angehen, wünsche ich Leiden, Ver¬ 
lassenheit, Krankheit, Mißhandlung, Entwürdigung, — ich wünsche 
ihnen die tiefste Selbstverachtung, die Marter des Mißtrauens 
gegen sich, daß Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt; 
ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das Einzige 
wünsche, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder 
nicht, — daß er Stand hält.« Oder ist nicht gerade diese 
Härte »Liebe«? Sagte nicht auch Jesus: »Ihr sollt nicht 

27 * 



420 


Herbert Jancke, 


wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zn senden anf die Erde. 
Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert«? 

Hier setzt die »Umwertung« der Werte ein. »Unser Mit¬ 
leiden ist ein höheres, femsichtigeres Mitleiden: wir sehen, wie der 
Mensch sich yerkleinert« »Nur die ganzesten Personen können 
lieben.« »Wir wollen das Leiden lieber noch höher und schlim¬ 
mer haben, als es je war! Wohlbefinden, wie ihr es versteht — 
das ist ja kein Ziel, das scheint mir ein Endel ein Zustand, 
welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht. 
Die Zucht des Leidens, des großen Leidens, wißt ihr nicht, daß 
nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen 
hat? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die 
Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Augenblick des großen Zn- 
grundegehens, ihre Empfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, 
Ausharren, Ausdauern, Ausnützen des Unglücks und was ihr 
mehr von Tiefe..., Größe geschenkt worden ist: ist es nicht 
ihr unter Leiden, unter der Zucht des großen Leidens geschenkt 
worden?« Der Stolze besitzt jenen »Willen zum Tragischen«, 
den »Mut, den Stolz, das Verlangen nach einem großen Feinde«. 
Er stemmt sich dem »Furchtbaren und Fragwürdigen, das allem 
Dasein eignet«, entgegen. Er fühlt zugleich in sich »alle ge¬ 
staltenden Kräfte, die auf den Menschen der Zukunft hinzielen: 
und weil sie ungeheuer sind, so entsteht für ihn, je mehr er 
znkunftbestimmend ist, Leiden«. Er leidet, denn er »rechnet 
auf den Kampf um die Existenz, den Tod der schwächeren 

Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten_ 

Aber in dem Kampf um das Leben dient der Zufall den Schwachen 
so gut wie den Starken ... In der Menschheit gehen die höheren 
Typen am leichtesten zugrunde.« Der Stolze wehrt sich noch 
gegen diesen Zufall. 

Der Sinn des Leidens ist die Züchtung des höheren, d. L 
des ideal-naturgemäßen, autonomen Menschen, des »Willens zur 
Macht«, im einzelnen Individuum, und vielleicht noch darüber 
hinaus. »Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? Sich 
nicht mehr vor sich selber schämen.« 

Selbstachtung ist für Nietzsche der bestimmende sittliche 
Wert. Man muß nach ihm zu der für die Entwicklung von 
Selbstachtung erforderlichen (namentlich durch kräftige Unlust 
ermöglichten) höheren sittlichen Entwicklung gekommen sein, 
um mit einfachen sittlichen Werten umgehen zu können. Er 
fordert nicht, wieLipps, daß Selbstachtung Motiv jeder sitt¬ 
lichen Handlung sein solle. 



Psychologie der sittlichen Selbstachtnng. 


421 


Das war in sehr beschränkenden Zügen ein Bild dessen, was 
Nietzsche nns positiv zn sagen hat; die interessanten knltnr- 
kritischen Ansführongen, die Kritik der heteronom bedingten 
Selbstachtnng, darf ich hier nur erwähnen. 

Möchte die sittliche Selbstachtnng die ihr gebührende 
Schätznng anch bei der Lösnng des »Problems der Zeit« er¬ 
fahren; ist doch das Problem nnserer Zeit das Problem aller 
Zeiten: ein sittliches! 

9. Literatarverzeiehnis. 

Diehls, Fragmente der Vorsokratiker. 

Bnripides, Helena. 

Descartes, Über die Leidenschaften der Seele. 

Gracian, Handorakel (Schopenhaner). 

John Stuart Hill, Das Nützlichkeitsprinzip. 

Harald HSffding, Lehrbuch der Geschichte der neueren Philosophie. 
Vladimir Solovjeff, Die Rechtfertigung des Guten. 


Immanuel Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten. 

Kritik der praktischen Vemnnft. 

Metaphysische Anfangsgrttnde der Tagendlehre. 

Anthropologie. 

Arthnr Schopenhaner, Parenesen und Paralipomena 11,8. 
Anmerkungen zu Kants Tagendlehre. 

Welt als Wille and Yorstellang ü. 

Aphorismen znr Lebensweisheit. 

Jakob Salat, System der Moralphilosophie. 1810. 

Friedr. Heinr. Jakobi, Allwill. 1776. 

Fliegende Bl&tter. 1776. 

Woldemar. 1777. 

Job. Gottl. Fichte, Sittenlehre. 

Reden an die deutsche Nation. 

Die Tatsachen des Bewodtseins. 

Die Bestimmang des Gelehrten. 

Rede über die Würde des Menschen. 

Das Wesen des Gelehrten. 

System der Sittenlehre. 1812. 

Grandzüge des gegenwärtigen Zeitalters. 

Die Bestimmang des Menschen. 

Zorttckfordernng der Denkfreiheit. 

Über die französische Revolution. 

Religionslehre. 

Georg Wilh. Block, Nene Grondlegang zur Philosophie der Sitten mit 
beständiger Rücksicht auf die Kantische. 1802. 

Jakob Friedr. Fries, Ethik. 

Neae Kritik der handelnden Vemanft. 

Anthropologie. 



422 Herbert Jancke, Psychologie der sittlichen Selbstachtung. 

Jakob Friedr. Fries, Glauben, Wissen nnd Ahndung. 

Julius und Evagoras. 

Maria Patt, Die Ethik von Fries. Bonner Diss. 1819. 

Rudolf Nelson, Kritik der praktischen Vernunft. 

Karl Ohr. Friedr. Krause, Gebote der Menschheit an jeden einzelnen 
Menschen. 

Der Glaube an die Menschheit. 

System der Sittenlebre. 

E. Wettley, Die Ethik Krauses. Leipzig 1907. 

G. W. Friedr. Hegel, Phaenomenologie des Geistes. 

Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. 

Grundlinien der Philosophie des Rechts. 

Philosophie des Rechts. 

Philosophische Propädeutik. 

Friedr. Eduard Beneke, Grundlegung zur Physik der Sitten. 

Grundlinien der Sittenlehre. 1837. 

Joh. Friedr. Herbart, Allgemeine Pädagogik. 1806. 

Allgemeine praktische Philosophie. 

Kleine philosophische Schriften m. 

Eduard von Hartmann, Das sittliche Bewußtsein. 

Grundriß der ethischen Prinzipienlehre. 

Ethische Studien. 1898. 

A. DOring, Handbuch der menschlich-nattlrlichen Sittenlehre. 1899. 

Chr. Birch-Reichenwald Aars, Gut nnd Bdse. Zur Psychologie der 
Moralgeftthle. Kristiania 1907. 

Wilhelm Wnndt, Ethik I nnd ü. 

Eduard Spranger, Lebensformen. Geisteswissenschaftliche Psychologie 
nnd Ethik der Persönlichkeit. 2. Anfl. 1921. 

Theodor Lipps, Die ethischen Grundfragen. 8. Aufl. 

Gustav StBrring, Moralphilosophische Streitfragen. 

Ethische Grundfragen. 

Die sittlichen Forderungen nnd die Frage ihrer Gültigkeit. 
Psychologie des menschlichen Gefühlslebens. 

Psychologie. 

Die Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend. 

Die Frage der Wahrheit der christlichen Religion. 

Alfred Storch, Zur Psychologie nnd Pathologie des Selbstwerterlebens. 

(Archiv f. d. ges. Psychol. Bd. 87.) 

Martin Dentinger, Moralphilosophie. 

Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. 


Wolfgang V. Goethe, u. a. ü., in. nnd IV. Bd. der sämtlichen Werke. 
Cotta 1860. 

Eckermanns Gespräche. 

Friedr. Nietzsche, Werke I—XVI. Leipzig 1912. 

Der Wille zur Macht. Klass. Ansg. 

(Eingegangen am 18. Februar 1924.) 



[Ans dem Psychologischen Laboratorium der Universität Bonn.] 


Experimentelle üntersnchnngen über die Bedeutnng 
von Augenbewegungsempflndungen für die Schätzung 
des räumlichen Charakters von Bewegungsgrössen. 

Von 

Aniia Lentz (Bonn). 


Inhaltsübersicht. 

L Einleitiing.>.424 

§ 1. Problemstellang . . . • ... *.424 

§ 2. Aaswahl der Yersnche.426 

a) Isolienmg der Bewegangsempfindangen.425 

b) Gleichförmige Bewegong.426 

c) Bewegangsrichtong and Winkelgeschwindigkeit .... 427 

§ 8. Die Yersachsanordnang.428 

a) Der Yersnchsapparat and seine Fnnktionsweise .... 428 

b) Die Strecken- and Zeitmessong.480 

e) Die Fehlerqnellen der Yersachsanordnang.481 

§ 4. Die Methode der Untersachnng.432 

n. Etxperimenteller Teil.434 

§ 1. Die Arten der Zeitschätnang and ihre speziellen Yersachs- 

bedingangen.435 

§ 2. Die Strecken- and Daaerschätznng bei einer Normalzeit (Nz.) 

von 1,55 sec.*.439 

a) Objektive Besnltate beider Schfttznngen.439 

b) Die Anssagen der Yersachspersonen (Ypn.) bei der Strecken- 

schätzang and Dentong derselben.440 

c) Aassagen der Ypn. bei der Zeitschitzong m. L. bei 

einer Nz. von 1,55 sec Deatang der Aassagen.443 

§ 3. Die Strecken- and Daaerschätznng bei der Nz. von 0,75 sec 446 

a) Objektive Besnltate der Strecken- and Daaerschätznng 446 

b) Aassagen der Ypn. bei der Streckenscbätzong and Dentong 

derselben.449 

c) Aassagen der Ypn. bei der Zeitschätzong des Intervalls 

m. L.; Dentong dieser sabjektiven Ergebnisse.453 

d) Anssagen der Ypn. bei der Zeitschätzong o. L. and die 

Dentong dieser Aassagen.460 

§ 4. Allgemeiner Yergleich zwischen der Strecken- and Daner- 

schätzong bei mittleren Geschwindigkeiten.466 





















424 


Anna Lentz, 


L Einleitung. 

§ 1 . 

Problemstellung. 

Bei jeder Bewegung müssen wir unterscheiden einerseits den 
BewegungsTorgang als solchen, welcher eine räumlich-zeitliche 
Größe darstellt, anderseits ein Etwas, das sich bewegt Ist nun 
die Aufgabe gestellt, die Exkursionsweiten eines Körpers, dessen 
Bewegung durch das Auge wahrgenommen wird, hinsichtlich ihrer 
Größe zu vergleichen, so können wir die allgemeinste Annahme 
machen, daß diese Schätzung abhängig sein kann von einer noch 
ganz unbestimmt gelassenen Anzahl von Faktoren. Wählen wir 
aber die Versuchsbedingungen so, daß der Körper durch den Be¬ 
wegungsvorgang für den Beobachter keine andere Veränderung 
erleidet, als eine räumlich-zeitliche Verschiebung, wirkt also nur 
die räumliche-zeitliche Größe des Bewegungsvorganges auf die 
Empfindung desselben ein, so würden wir unsere Behauptung 
dahin einschränken, daß wir sagen, die Schätzung der Bewegnngs- 
größe kann jetzt nur noch von räumlichen und zeitlichen Faktoren 
bestimmt sein. 

Von diesem Gesichtspunkt ausgehend, beabsichtigt unsere 
experimentelle Untersuchung eine Antwort auf folgende Fragen 
zu finden: >Schätzt das Auge die Streckengröße der 
Bewegung nach der Längenansdehnung oder nach 
der Dauer der Bewegung? Ist die Streckenschätzung 
nach der Dauerschätzung orientiert oder nicht?« 
Durch diese Fragestellung suchten wir zunächst eine Abgren¬ 
zung der räumlichen Faktoren gegenüber den zeitlichen zu er¬ 
möglichen, um von hier aus an die Kernfrage der vorliegenden 
Arbeit heranzutreten, welche über die Bedeutung der 
Augenbewegungsempfindungen — also der Empfin¬ 
dungen der Muskelbewegungen unserer Augen — 
für die Schätzung des räumlichen Charakters von 
Bewegnngsgrößen entscheiden soll 

Für die Entstehung der vorliegenden Arbeit lag insofern eine 
äußere Veranlassung vor, als sie die Fortsetzung und Elrweitemng 
der Experimentaluntersuchung über Augenbewegungsempfindungen 
bildete, welche von Frl. M.Binnefeld im Psychologischen Labo¬ 
ratorium zu Bonn ausgeführt worden war. Auf diese Untersuchung 
werden wir öfters zurückkommen müssen. Herrn Geheimrat 
Störring bin ich für die Anregung zu dieser Arbeit zu Dank 
verpfiichtet. Den inneren Grund ihrer Entstehung bildete das 



Experimentelle Untersnchimgen nsw. 


425 


psychologische Interesse, das wir den Angenbewegnngsempfin- 
dnngen ganz besonders entgegenbringen müssen, wenn wir be¬ 
denken, wie letztere von manchen Antoren für die Entstehung 
der ränmlichen Auffassung als wesentlich betrachtet werden, von 
anderen dagegen ihr notwendiges Mitwirken bei der Entstehung 
der Baumvorstellnng nicht anerkannt wird. Hierdurch weist 
unsere Problemstellung über die unmittelbaren experimentell¬ 
psychologischen Untersuchungen hinaus und kann insofern be¬ 
fruchtend für eine erkenntnispsychologische Betrachtungsweise 
wirken, als sie über die Entstehung r&nmlicher Streckengrößen 
auf Qmnd yon Augenbewegungsempfindnngen Rechenschaft zu 
geben sucht. 


§ 2 . 

Auswahl der Tersuehe. 

Auf Grund dieser Problemstellung mußten die Versuche so 
ausgewählt werden, daß bei Eonstanthalten der objektiven Ver¬ 
suchsbedingungen die Bewegung sowohl nach der ränmlichen wie 
zeitlichen Seite geschätzt werden konnte. Die Zeitschätznngen 
sollten als Kontrollversuche der Streckenschätzungen betrachtet 
werden, d. h. ein und dieselbe Bewegung sollte hinsichtlich der 
Größe ihrer räumlichen Ausdehnung und zeitlichen Dauer ge¬ 
schätzt werden, und die objektiven und subjektiven Ergebnisse 
beider Schätzungen sollten Aufklärung darüber verschaffen, ob 
eine gegenseitige Beeinflussung der beiden Schätznngsweisen 
stattgefnnden hatte oder nicht Da es uns aber unter den Ab¬ 
hängigkeitsbeziehungen für die räumliche Schätzung vor allem 
auf die Augenbewegungsempflndungen ankam, so mußten die 
anderen Komponenten der Streckenschätznng nach Möglichkeit 
ansgeschaltet werden, weil sonst die quantitativen Messungen 
nicht allein das Ergebnis einer Schätzung nach den kinästhetischen 
Empfindungen des Auges darstellten, sondern durch das Zusammen¬ 
wirken der ränmlichen Schätznngsfaktoren bedingt waren. 

•) iBoUemng der BewegnagsempllBdiiBgeii. (B.E.) 

Um nach Möglichkeit die übrigen ränmlichen Schätzungs¬ 
faktoren auszuschalten, mußte die Untersuchung im 
Dnnkelkabinett vorgenommen werden, um so den 
Ausschluß aller Vergleichsgegenstände zu ermög¬ 
lichen. Damit nicht etwa qualitative oder intensive Verändemngen 
des sich bewegenden Körpers, also sekundäre Kriterien, für die 
Beurteilung der Bewegnngsgröße Anhaltspunkte liefern könnten, 



426 


Anna Lentz, 


wurde ein leuchtender Punkt von etwa Vs Durchmesser und 
mittelstarker konstanter Intensität gewählt, so daß es sich hier 
um die Darstellung eines reinen Bewegungsvorganges handelte. 
Ähnliche Versuchsbedingungen finden wir in der Arbeit von 
M. Binnef eld, die im Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 37, 
erschienen ist. Bei den Untersuchungen von M. Binnef eld wurde 
die Bewegung eines isolierten Lichtpunktes im Dunkeln mit der 
macula lutea verfolgt. Als Schätzungskriterien wurden von den 
Vpn. nur Augenbewegungen und Angenbewegungs¬ 
empfindungen angegeben. Die durchschnittliche Unter¬ 
schiedsempfindlichkeit (U.E.) betrug V«- Wir verweisen zu einem 
eingehenden Studium auf die Arbeit selbst. 

b) GlelchfSmilgre Bewegung. 

Unsere Untersuchung stellt in gewisser Hinsicht eine Elr- 
weitemng, in anderer eine Spezialisierung der Binnefeldschen 
Versuche dar. Bei letzteren wurde die Bewegung nur 
in einer mittleren Geschwindigkeit geboten, und 
zwar in derjenigen, die die günstigsten Bedingungen 
für die Schätzung nach Augenbewegnngsempfin- 
dungen ermöglichte. Im Laufe der Untersuchung hatte 
sich ergeben, daß dies bei einer Winkelgeschwindigkeit des 
Auges von etwa 1,89® der Fall war. Da nun die Versuchs¬ 
leiterin (VI.) bei jenen Versuchen den leuchtenden Punkt auf 
vorgeschriebener Bahn selbst bewegte (vergleiche die Versuchs¬ 
anordnung in dieser Arbeit S. 158), so ist es klar, daß trotz der 
großen Einübung der VI. die Bewegung nicht immer ganz 
gleichmäßig sein konnte. Die genannte Darbietungsart hatte aber 
auch ihre Vorteile, indem sie es dem Beobachter un¬ 
möglich machte, die Streckenschätzung nach der 
Zeitschätzung zu orientieren. Dies hätte nämlich nur 
möglich sein können, wenn die Zeitdifferenzen zwischen der N undV 
den Streckendifferenzen entsprochen hätten, so aber war es un¬ 
wahrscheinlich, daß die Vp. zu einem Kriterium greifen würde, 
das für sie so geringe Sicherheit für die genaue Schätzung ver¬ 
bürgte. Somit war aber eineTrennungderräumlichen 
Schätzung von der zeitlichen ziemlich sich er gestellt. 
Tatsächlich zeigte sich denn auch bei der Verrechnung der¬ 
jenigen Versuche, bei denen die Streckendifferenz keine ent¬ 
sprechende Dauerdifferenz aufwies, daß dennoch in 40—50®/o aller 
über- und unterschwelligen Werte ein richtiges Streckenurteil 
abgegeben werde. >Hieraus könnt«» mi t Sicherheit geschlossen 



Experimentelle Untersachnngen osw. 


427 


werden, daß im allgemeinen die Zeitdauer die Schätzungen nicht 
beeinflußt, auf keinen Fall die Schätzungen bewirkt hat« (l.c.S.192). 
Wir sehen also die Folgerungen für unsere eigene Untersuchung. 
Verbessern wir die Bedingungen für das Zustande¬ 
kommen der Schätzung nach Bewegungsempfindungen 
durch Einführung einer möglichst gleichförmigen 
Bewegung des Lichtpunktes, so werden zugleich die 
Versuchsbedingungen für die zeitliche Schätzung 
günstiger gestaltet. Bei nnsererUntersuchungkönnen 
wir also nur dann über die gegenseitigeBeeinflussung 
oder Ausschließung von Baum- und Zeitschätznng 
Behauptungen auf stellen, wenn wir ein und dieselbe 
Bewegung unter denselben Versuchsbedingungen 
sowohl hinsichtlich ihrer räumlichen Ausdehnung 
wie zeitlichen Dauer geschätzt haben. 

e) Bewegnn^rlchtong und Wlnkelgesehirlndlirkeit. 

Es fragt sich nun, ob überhaupt die Augenbewegungen sich 
so regeln lassen, daß ihre Geschwindigkeit konstant bleibt, daß 
also beim Verfolgen eines leuchtenden Punktes der BUdort des¬ 
selben keine Verschiebung auf der Netzhaut erleidet In diesem 
Falle muß sowohl die Bewegungsrichtung wie die Winkelge¬ 
schwindigkeit des Auges yollständig mit der Richtung und 
Winkelgeschwindigkeit des bewegten Gegenstandes überein¬ 
stimmen. Wir wählten die horizontale Bewegnngsrichtung aus 
folgenden Gründen. Experimentelle Untersuchungen hatten näm¬ 
lich ergeben, daß die Bewegungen des Auges nicht immer in 
geradlinigen Bahnen erfolgen. So fand Ahlström nur in be¬ 
stimmten Richtungen geradlinige Bahnen, nämlich, >daß bei Be¬ 
wegungen des Auges aus einer Primärstellung nach abwärts oder 
aufwärts, nach innen oder außen (horizontal) die Bewegungsbahn 
annähernd der Meridianlinie entspricht« (H. Hanselmann, 
Über optische Bewegungswahmehmung S.5). Es würde also 
für die geradlinige Bahn sicher die horizontale 
Bewegungsrichtung in Betracht kommen. Dies be¬ 
ruht auf der Anordnung des Muskelapparates am Auge, denn 
bei der Augenbewegung in horizontaler Richtung kommen nur 
die Kontraktion und Dehnung des rectns extemus und internus 
in Frage, und da ihre Ansatzpunkte fast symmetrisch in der 
durch den Drehpunkt des Auges gelegten Horizontalebene liegen, 
so behält bei ihrer Drehung der Netzhanthorizont seine Lage bei. 
ln bezug auf die Geschwindigkeit konnten wir uns nach den 



428 


Anna Lentz, 


Binnefeldschen Yersachen orientieren, in welchen durchschnitt¬ 
lich mit einer Winkelgeschwindigkeit von ü) = 1,89® gearbeitet 
worden war. Bei unserer Untersuchung wurden die Strecken¬ 
größen in zwei mittleren Geschwindigkeiten geboten, die nach 
den Anssagen der Vpn. beide eine angenehme Schätznng der 
Bewegung gestatteten. Die größere betrug a> = 5,04® secr-^ die 
kleinere <o = 2,44® sec-^ Bei dieser Geschwindigkeit wurden also 
sowohl Streckenschätzungen wie Dauerschätzungen ausgefnhrt. 

Was die Größe der Exkursion anbetrifft, den die Augen um 
ihren Drehpunkt auszuführen hatten, so behielten wir den Winkel 
von 3,78® bei, weil er sich in den Versuchen von Binnefeld als 
sehr zweckmäßig für die Schätzung erwiesen hatte. Bei der Ver¬ 
gleichsstrecke hatte das Auge je nachdem einen gleich großen, 
etwas kleineren oder etwas größeren Winkel zurückzulegen. 

Überschauen wir zum Schluß noch einmal die Erwägungen, 
die die theoretische Grundlage zu unserer Elxperimentalnnter- 
snchung bilden, so ergeben sich die Zielpunkte, deren Reali¬ 
sierung durch Ausführung der einzelnen Experimente zustande 
gebracht werden soll. Wir erstreben: 

1. Die Isolierung der Bewegungsempfindnngen 
durch Ausschluß der Vergleichsobjekte und Verfolgen des beweg¬ 
ten Lichtpnnktes mit der macnla lutea. 

2. Ein möglichst reines Hervortreten ihrer Komponenten durch 
Auswahl bestimmter Bewegungsrichtung, Winkelge¬ 
schwindigkeit und Größe der Exkursion. 

3. Eine Kontrolle der Streckenschätzung nach Be¬ 
wegungsempfindnngen durch entsprechende Dauer- 
schätznngen der Bewegungsgrößen, die eine gleich¬ 
förmige Geschwindigkeit besitzen, sodaß entsprechende Strecken- 
differerenzen entsprechende Danerdifferenzen bedingen. 

§3. 

Die Versuchsanordnung. 

Es kam nun darauf an, die durch diese kritischen Überlegungen 
gewonnenen Gmndgedanken durch eine geeignete Versuchsanord¬ 
nung zu verwirklichen. Die Untersuchung wurde im Dunkelkabinett 
vorgenommen, im Gesichtsfeld des Beobachters befand sich während 
des Versuches nur der leuchtende Punkt, dessen Bewegung mit 
Hilfe von Konvergenzbewegungen verfolgt werden sollte. 

s) Der VersnehBapparat und seine Fankttonsweise. 

Wie schon öfters erwähnt, schloß sich die vorliegende Unter¬ 
suchung an die Arbeit von M.B innef eld an. Der bei jener Unter- 



Experimentelle Untersnchnngen nsw. 


429 


sachnng benutzte Apparat war auch für die Zwecke unserer 
Untersuchung geeignet, nachdem die entsprechenden Veränderungen 
an ihm vorgenommen worden waren. Die eingehende Beschreibung 
desselben findet sich in der betreffenden Arbeit (S. 138 ff). Es 
sollen hier hauptsächlich die Änderungen besprochen werden, die 
ihn für unsere Versuchsbedingungen geeignet machten. In der Skizze 
sieht man den Apparat, wie er sich vom Beobachter aus darstellt. 
Von den drei Holzkästchen zwischen den beiden Messingstangen sind 
die zwei änderen so eingerichtet, daß man sie festklemmen und 
zwischen den Stangen bewegen kann. Das mittlere Kästchen, 
welches den Lichtpunkt enthält, ist nur für Bewegung eingerichtet. 
Die Aufgabe der beiden äußeren Kästchen bestand darin, einen 
festen Anfangs- und Endpunkt für die Bewegung zu schaffen. 



Daß sie außerdem beweglich waren, hatte den Zweck, die Strecke 
zu vergrößern oder zu verkleinern. Auf der Vorderseite des Apparates 
sieht man ungefähr in Höhe der Kästchen Bollen angebracht. Die 
feste Rolle rechts sitzt auf einer Achse, die durch eine Durch¬ 
bohrung auf die Rückseite des Apparates führt, wo an derselben 
Achse noch eine Rolle sitzt. Diese Rolle steht durch eine Schnur 
ohne Ende mit dem Motor in Verbindung. Auch die beiden vorderen 
Rollen sind durch eine gleiche Schnur verbunden, auf der walzen¬ 
förmige Perlen fest aufgenäht sind. An derVorderseite des mittleren 
Kästchens sehen wir in horizontaler Richtung eine Schiene an¬ 
gebracht. Der Schienenhohlraum ist oben durch ein flaches Dach 
geschlossen, das eine sogenannte Überfallnase trägt. Dieses Dach 
sitzt an einem Schamiergelenk und läßt sich infolgedessen sehr 
leicht heben und senken. Bewegt sich nun die Kordel und mit ihr die 
aufgenähten Perlen, so werden letztere innen in der Schiene durch 






430 


Anna Lenta, 


die Überfallnase anfgefangen, und so wird das ganze Eästchen mit- 
fortgezogen und der Lichtpunkt mitbewegt, der in dem Kästchen 
sich befindet. Erreicht nun das sich bewegende Kästchen die 
Arretierung, so gleitet die abgeschrägte Ebene der Überfallnase 
über den Stift hin, dadurch hebt sie sich zugleich, xmd die Perle 
entschlttpft augenblicklich. 

Der VI. brachte den Lichtpunkt selbst zum Aufleuchten, aber 
das Erlöschen desselben wurde automatisch besorgt durch An¬ 
stoßen des Kontaktes an die vorspringende Arretierung des fest¬ 
geklemmten Kästchens. Entschlüpfen der Perle auf der Vorder¬ 
seite des Apparates und Aufstoßen des Kontaktes auf der Böck- 
seite — damit also Erlöschen des Lichtes — waren stets gleich¬ 
zeitige Vorgänge, die jedesmal eintrafen, wenn der sich bewegende 
Schlitten den festgeklemmten eben erreicht hatte. 

Zur Herstellung einer bestimmten Geschwindigkeit der Perlen 
diente eineÜbertragungsvorrichtung, die an dem Motor angebracht 
war. Eine Schnur ohne Ende führte von dem eben beschriebenen 
Appparat zu den Rollen, die mit der Drehachse des Motors ver¬ 
bunden waren. Die Übertragungsvorrichtung war so eingerichtet, 
daß bei gleichem Widerstand des Motors verschiedene Geschwindig¬ 
keiten des sich bewegenden Lichtpunktes erzeugt werden konnten. 

Die Bewegungsrichtung war horizontal, der Exkursionswinkel 
bei den Normalstrecken betrug 3,78”. Da die Vp. 300 cm von dem 
Apparat entfernt saß, so bedeutet dieser Winkel eine Normal- 
Strecke von 20 cm. Da die Bewegung des Lichtpunktes auf ge¬ 
rader Bahn erfolgte, so erlitt der Blickpunkt eine seitliche Ver¬ 
schiebung und eine Tiefenverschiebung. Jedoch war bei der kleinen 
Normalstrecke von 20 cm die Sehne sehr wenig vom Kreis ver¬ 
schieden, sodaß die Augenbewegung sehr angenähert eine qnn- 
metrische Konvergenzbewegung war. 

Damit die Bewegung für die Vp. wirklich in horizontaler 
Richtung stattfand, mußte auch auf die Augenhöhe der einzelnen 
Vpn. Rücksicht genommen werden. 

b) Die Strecken- nnd Zeitmessung. 

Wie schon eingangs erwähnt wurde, kamen zwei verschiedene 
Geschwindigkeiten bei der Bewegung zur Anwendung. Es konnte 
die Streckengröße stets an der Millimeterskala auf der Rückseite 
des Apparats sofort abgelesen werden. Die kleinstmögliche Strecken¬ 
variation betrug 1 mm, also ein Zweihundertstel der angewandten 
Normalstrecke. Es ist ersichtlich, daß, wenn man eine Geschwindig¬ 
keit genau kannte, die übrigen theoretisch aus ihr zu berechnen 



Experimentelle üntennchnngen nsw. 


431 


waren; dann war aber stillschweigend die Konstanz des Stromes 
und eine vollkommene Übertragong vorausgesetzt Es maßten 
deshalb während der ganzen Zeit der Experimentalnntersuchnng 
Zeitmessungen vorgenommen werden. Um die Konstanz des Stromes 
von vornherein zu begünstigen, wurde mit demselben Widerstand 
gearbeitet. Auch mußte die Zimmertemperatur berücksichtigt 
werden, da besonders in der Kälte Schwankungen auftraten. 
Aus diesem Grande wurde morgens der Motor vor der ersten 
Versuchsstände eine Zeitlang in Betrieb gesetzt, bis er sich ein¬ 
gelaufen hatte, im Laufe des Tages genügten dazu etwa 10—15 sec. 

Wir benutzten zwei Arten der Zeitmessung, von denen die 
eine zur allgemeinen Orientierung diente und mit der Fünftel- 
sekundenuhr bestimmt wurde, die andere mit Hilfe eines Hipp- 
schen Chronoskops. Letztere diente zur genauen Zeitmessung. 
Eis war zu diesem Zwecke das Chronoskop so eingeschaltet, daß 
der Strom geschlossen war, wenn das mittlere Kästchen am 
Anfang oder am Schluß der Strecke stand. Mit Beginn der 
Bewegung öffnete sich aber der Strom, der Zeiger auf dem 
Chronoskop begann sich zu drehen und stand still bei Schluß 
der Bewegung. Mit Hilfe dieser Zeitmessung wurde festgestellt, 
daß der Lichtpunkt bei den mittleren Geschwindigkeiten die 
Normalstrecke in 1,55 sec und in 0,75 sec durchlief. Diesen 
Normalzeiten entsprechen dann als Winkelgeschwindigkeiten des 
Auges coi = 2,44® sec-*, o>,=.5,04® sec“*. 

Das Hippsche Chronoskop benutzten wir als Kontrolle der 
allgemeinen Zeitmessung mit der Fünftelseknndenuhr, die während 
der ganzen Zeit der Untersuchung durchgeführt wurde, sodaß ein 
genaues Bild über die Abweichungen und Störungen in den Zeit- 
registriemngen gewonnen werden konnte. 

e) Die Fehlerquellen der Tersnohsanordnnnf. 

Es soll nun kurz erwähnt werden, wie der Einfluß der Fehler¬ 
quellen nach Möglichkeit bekämpft wurde. 

Von einigen Vpn. wurde zunächst das Motorgeränschals 
störend angegeben. Um dies zu verhindern, wurde der Motor auf 
eine Filzunterlage gestellt und auf einer an die Wand geschraubten 
Marmorplatte festgeklemmt. So wurde die Besonanz aasgeschaltet 
und das Geräusch desselben war jetzt dem eines Kymmographions 
vergleichbar; die Vpn. wurden nicht mehr gestört. 

Ferner hätte der Anschlag der Perle an die Arretierung, 
der bei den verschiedenen Geschwindigkeiten verschieden stark 
war, komplizierend auf die Schätzung wirken können, indem er 



432 


Anna Lentz, 


entweder das Entstehen konstanter Fehler begünstigte oder Fehler 
verdecken konnte. 

Obwohl nun dieVpn. sich nie bei der Streckenschätznng 
dahin anssprachen, daß dieser Anschlag störe oder sie 
veranlasse zu Nebenkriterien zagreifen, so wurden 
dennoch Eontrollversnche ohne Anschlag für die Strecken¬ 
schätzung eingeföhrt, um auch eine objektive Sicherheit zu schaffen. 
Denn bei der Zeitschätzung hatten die Vpn. im Gegen¬ 
satz zur Streckenschätzung öfters angegeben, vom 
Anschlag beeinflußt zu sein. 

Die Streckenschätzungen ohne Anschlag ergaben nun bei den 
Vpn. F. und Sch. genau ihre mittlere U. E. wie bei den Strecken¬ 
schätzungen mit Anschlag, nämlich und bei den Vpn. 

00,01 0 » 

M., P. und Ste. ihre feinsten Werte. Sicher ist, daß bei 
keiner Vp. günstigere Werte auftraten, als sie 
bereits mit Anschlag erreicht hatte, aber auch keine 
schlechteren. Da nun auch die Aussagen der Vpn. angaben, 
daß der Anschlag ihre Streckenschätznng nicht beeinflnsse, so 
ist nach Hinzunahme der objektiven Besultate wohl sicher, daß 
der Anschlag der Perle die Streckenschätznng nicht beeinflußt hat 

§4. 

Die Methode der Untersuchung. 

Ehe wir die Ergebnisse der Experimentaluntersuchnng mit- 
teilen, wollen wir in einigen Worten die Maßmethode erörtern 
und zunächst den Verlauf eines Experimentes schildern. 

Die Vp. nahm auf dem angewiesenen Platz ihren Sitz ein 
und empfing ihre Instruktionen, z. B. die Streckengröße der dar¬ 
gebotenen Bewegung zu schätzen. Nachdem die Dankeiadaptation 
erreicht war, gab die VL das Kommando »bitte«. Eine Sekunde 
später gab sie das Signal »bald« und ließ zugleich den Licht¬ 
punkt aufleuchten. Bei »bald« wandte die Vp. der Anweisung 
gemäß ihre Augen aus der Piimärstellung etwas nach rechts 
dem Lichtpunkt zu. Eine Sekunde nach »bald« erfolgte das 
Signal »jetzt«, das die Vp. von dem baldigen Beginn der Be¬ 
wegung in Kenntnis setzte. Etwa eine halbe Sekunde nach 
diesem »jetzt« schnappte die Perle ein, und der Lichtpunkt be¬ 
wegte sich 200 mm weit und erlosch alsdann. In der Pause nach 
dieser ersten Darbietung mußte die VI. das Kästchen, in dem der 
Lichtpunkt war, zum Ausgangspunkt zurückführen und dort wieder 
zum Aufleuchten bringen. Für diese Handgriffe benötigte sie 



Experimentelle ünterBnehangen new. 


433 


nach gründlicher Einübung gut 3 Sekunden. 2 Sekunden vor dem 
erneuten Bewegungsbeginn gab sie das Signal »bald« und eine 
Sekunde yorher das Kommando »jetzt« zugleich mit dem zweiten 
Aufleuchten des Lichtes. Also auch vor der zweiten Darbietung 
der N. hatte die Vp. Gelegenheit, den Lichtpunkt vor der Be¬ 
wegung eine knappe Sekunde lang zu fixieren. Ebenso wie 
hei den Untersuchungen von Binnefeld erwies es sich als 
zweckmäßig, die N. zweimal darzubieten. Geeignete KontroU- 
versuche werden uns zeigen, daß dies von Vorteil war, nicht nur 
für die Strecken- sondern auch für die Zeitschätzung. In der 
gleichlangen Panse nach der zweiten N. führte die VI. den 
Schlitten wieder zum Anfangspunkt zurück und verstdlte zugleich 
die Arretierung. Alsdann folgte die Darbietung der V. Die N. 
und V. gingen stets vom selben Punkte ans, die 
Differenz war am Schluß der Strecke. 

Bei der Auswahl einer Maßmethode waren für uns die Ge¬ 
sichtspunkte maßgebend, die wir in unserer Problemstellung dar¬ 
gelegt haben. Es mußten also die objektiven Ergeb¬ 
nisse so verwertet werden, daß dadurch die Strecken- 
und Zeitschätzung in ihrer Feinheit verglichen 
werden konnten. So konnte bestimmt werden, ob eine Be- 
einfinssung der beiden Schätzungen stattgefnnden hatte oder nicht 
Dies konnte am besten geschehen, wenn die Unterschieds¬ 
empfindlichkeit (U.E.) der beiden Schätzungen berechnet 
wurde. Daneben mußten die Aussagen der Vpn. berück¬ 
sichtigt werden. Zur Bestimmung der U.E. wurde die un¬ 
wissentliche Methode der Minimaländerung be¬ 
nutzt, und zwar mit unregelmäßiger Variation der 
Vergleichsstrecke; bei den Einübnngsversuchen wurde zu¬ 
nächst mit regelmäßiger Veränderung der Vergleichsgröße ge¬ 
arbeitet Eine Versnchsserie umfaßte 15—19 Einzelversuche der 
vorhin beschriebenen Art Gerade die nnwissentliche Methode 
der Minimaländemng, bei der die V. unregelmäßig verändert 
wurde in einer Versnchsserie, also in jedem Experiment größer, 
aber ebenso gut kleiner oder gleich der N. sein konnte, schloß 
ein bestimmtes Schema nach Möglichkeit aus (siehe auch die 
Arbeit von M. Binnefeld). 

Als obere Unterschiedsschwelle (So) galt derjenige Wert, der 
als erster größer beurteilt wurde, wenn auch alle auf ihn folgenden 
in gleicher Weise beurteilt wurden. Ebenso als untere Unter¬ 
schiedsschwelle (Sn) derjenige, der als erster mit »kleiner« be¬ 
urteilt wurde, wenn kein auf ihn folgender Wert entgegengesetzt 

Arohir für Pfyohologie. XLVni. 28 



434 


Anna Lentz, 


beurteilt wurde. Die mittlere Unterschiedsschwelle (S) war dem* 

nach ^ und es gab — die Ü.E. an. Als Urteile waren 
A r 

zugelassen »größere, »gleich«, »kleiner« bei der Streckenschätzung, 
bei der Zeitschfttznng »länger«, »gleich«, »kflrzer«. Außerdem 
wurden noch die Urteile abgegeben »kleiner bis gleich« und 
»größer bis gleich«. Ein Teil dieser Urteile wurde halb zu 
gleich, halb zu kleiner, bezw. größer verrechnet. 

Es muß noch darauf hingewiesen werden, daß die Erwartung 
auf eine bestimmte V. manchmal komplizierend auf die Schätzung 
einwirkte. Es konnte vielfach bei den Vpn. beobachtet werden, 
daß das Eintreten der Erwartung sehr durch die Ermfidungr 
begünstigt wurde (Vp. A., Dr., P., Ste.). Bei Ermüdung zeigte 
sich nämlich sehr oft eine Bevorzugung der Urteile »kleiner«, 
besonders bei denjenigen Vpn., die die Eimüdnng durch starre 
Fixation zu überwinden suchten (Vp. Dr., A., Sch.). Bei anderen 
Vpn. traten dann Aufmerksamkeitsstörungen auf — »einSchweifen 
der Aufmerksamkeit« —, wobei meistens die Größemrteile be¬ 
günstigt wurden. 

Als weitere Eigentümlichkeit traten bei einigen Vpn. Eon- 
trastnrteile auf (Vp. A., Dr., M.). Sie konnten ebenfalls in 
günstiger oder in ungünstiger Weise die Schätzung beeinflussen, 
wurden aber von den Vpn. stets als solche erkannt. Sie wurden 
ebenfalls wie die Erwartungsnrteile nicht mit verrechnet 

Da bereits die Binnefeldschen Versuche gezeigt hatten, 
welch große Bolle die Übung bei der Streckenschätzung habe, 
so war die Aufeinanderfolge der Versuche nicht gleichgültig. 
Sie mußte so gewählt werden, daß eine möglichst gleichmäßige 
Verteilung von Übung und Ermüdung zustande kam. Da wir nun 
von den Bewegnngsempfindungen ausgingen, so betrafen die Ein¬ 
übungsversuche bei der Mehrzahl der Vpn. die räumliche Schätzung, 
und erst nachdem die Vpn. an die Versuchsbedingnngen gewöhnt 
waren, wurde die Auf einanderfolge derV ersuche verschieden gewählt. 

II. Experimenteller Teil. 

Die Experimentaluntersuchung, die diesen Ausführungen zu¬ 
grunde liegt, erstreckte sich von Herbst 1916 bis Frühjahr 1918, 
sie nahm 3 Semester mit Einschluß aller Ferien in Anspruch. 

Als Vpn. stellten sich in liebenswürdiger Weise zur Ver¬ 
fügung: Herr Geh. Rat Prof. Dr. Störring (Stö.), die Herren 
Professoren Dr. Erismann und Dr. Kutzner (E. und K.), Herr 



Experimentelle Untersncbiingen new. 


435 


Dr. phil. Amsler (A.), Herr P. Dröege, cand. philos. (Dr.), Herr 
Blindenlehrer Horbach (Ho.), Herr Oberlehrer Dr. Sauer (Sa.), 
Herr cand. phil. SteinkrBger (Ste.). 

Ferner die Damen: Frl, cand. phil. Frank, (F.), Frl. Dr. phil. 
Hahn (Ha.), FrL Dr. phU. MOrs (M.), Frl. cand. phil. Pirig (P.), 
Frl. cand. phil. Schorn (Sch.) und Frl. cand. med. Witsch (W.). 
Nicht alle Vpn. nahmen an den Strecken- und Zeitschätznngen teil. 

§ 1 . 

Die Arten der Zeitschätznng und ihre speziellen 
\ ersnehsbedingnngen. 

Wie schon öfters erw&hnt wurde, sollten die experimentellen 
Resultate uns Aufschluß darüber geben, ob es möglich sei, die 
Streckenschätzung nach der Zeitschätznng zu orientieren. Hatten 
auch die Aussagen unserer Vpn., die wir erst in den nächsten 
Kapiteln mitteilen werden, nicht auf eine solche Abhängigkeit 
hingewiesen, ja sie geradezu ausgeschlossen, so war diese Frage 
doch erst entschieden, wenn auch die experimentelle Bestätigung 
hinzukam. Eine Übereinstimmung der quantitativen Messungen 
beider Schätzungen oder sogar eine größere Feinheit der Zeit¬ 
schätzung hätten gewiß die Richtigkeit der erwähnten Aussagen 
in Zweifel gesetzt. 

Bei unserer Untersuchung sollten nur unmittelbare Zeit¬ 
schätzungen abgegeben werden, d. h. solche, bei denen die zeit¬ 
lichen Verhältnisse unserer Erlebnisse das Objekt unserer auf¬ 
merksamen Beobachtung werden, nicht die qualitativ-intensiven 
Merkmale unserer Erlebnisse. Dies würde »ein vermitteltes oder 
mittelbares Zeiturteil« sein (Meumann, Phil. Studien VHIS. 488). 

Obwohl nun unter den experimentellen »Zeitsinnforschungen« 
viele unmittelbare Zeitschätzungen vertreten waren mit Dauer¬ 
intervallen von annähernd 1,55 sec und 0,75 sec, so ließen sich 
direkte Vergleiche nicht ziehen, weil die visuelle Reizausfüllung 
unserer Dauerintervalle mit der bei andern Experimentatoren wenig 
Ähnlichkeit zeigte. Dieser Umstand erklärt sich leicht; denn wir 
gingen bei unserer Untersuchung von der Strecken¬ 
schätzung nach Angenbewegungsempfindungen ans, 
als Kontrollversuche schlossen sich daran die Schätz¬ 
ungen der Dauer unserer visuell wahrgenommenen 
Bewegung; die Erweiterung unserer Zeitschätzung durch Ein¬ 
führung von Dauerschätzungen ohne visuelle Ausfüllung 
war nur geboten durch die speziellen Versnchsbedingungen. 

28 * 



436 


Anna Lentz, 


Es fragt sich nun, könnte diese gleichmäßige visuelle 
Ausfüllung nicht etwa günstigere Bedingungen für 
die Dauer Schätzung hervor rufen, wie vielleicht bei 
Schumann, wo es sich um Schätzung sogenannter 
>leerer< Intervalle handelte, die von zwei knall¬ 
artigen Geräuschen begrenzt waren? (Schumann: 
Über die Schätzung kL Zeitgrößen in Zeitschrift für PsychoL 
u. Physiol.Bd.rV). Oder auch wie beiMeumann, bei dem 
außer den akustisch begrenzten Zeiten noch solche 
mit diskontinuierlicher akustischer oder optischer 
Ausfüllung hinzukamen? — Wird Münsterberg recht 
behalten, wenn er behauptet, daß das Zeiturteil >in hohem 
Gradec unabhängig von der Ausfüllung der Intervalle sei, 
oder werden wir Menmann znstimmen müssen, daß die Zeit¬ 
schätzung in hohem Maße abhängig von der Art der Aus¬ 
füllung der Zeitstrecken ist? — (Philosphische Studien YIII 
S. 445 und 447). 

Sicher ist doch, daß ein reizfreies Intervall kein »leeres« 
Intervall ist, daß also die Ausfüllung der »leeren« Intervalle 
vielleicht viel mannigfaltiger sein wird, weil dem Be¬ 
obachter kein bestimmter Sinnesinhalt geboten wird. Von diesen 
Voraussetzungen ausgehend wurden die ersten Dauerschätzungen 
der optischen Bewegungseindrücke in mittleren Geschwindigkeiten 
unternommen. Es erhielten die Beobachter die entsprechmide 
Instruktion, das Licht genau wie früher mit den Augen zu ver¬ 
folgen, so daß es im deutlichsten Sehen bleibt, und die Bewegnngs- 
dauer zu schätzen. Es ergaben sich folgende Besultate: 

Yp. Dr.: Ich habe nur den Oesichteeindrnok, ein direktes Anifassen 
der Zeit ist mir nnmSglioh, direkt kQnnte ich die Zeit nnr nach dem 
Gehör schätzen. Ich kann nnr sagen, ich erschliefie die Däner. Es ist 
mir nnmöglich, die Streckenlänge Ton der Zeitlänge in trennen, denn ab¬ 
strahiere ich von der Länge, so abstrahiere ich anch von der Zeit. 

Yp. Ho.: Die Schätznng fällt sehr schwer, denn stets ist die Tendern 
vorhanden, nach der Strecke in schätzen. Ich will zwar von dem ränmlichen 
Eindmck abstrahieren, aber die Schätznng ist keine nnmittelbare. 

Yp. M.: Was in der Schätznng znm Ansdmck kommt, ist kein reines 
Zeitnrteil; dafi dies nicht gelingt, dafür ist der visuelle Ein- 
drnck verantwortlich. Damit ein reines Zeitnrteil znstande 
kommt, klopfe ich anf das Knie sn Beginn nnd Schluß nnd 
lausche anf das akustische Schlnßgeränsch. 

Um diese Angaben der Vpn. weiter zu untersuchen, wurden 
mit Vp. E. mehrere Probeserien gemacht. Sie hatte bei dieser 
Untersuchung noch keine Streckenschätzungen vollzogen, wohl 
bei der Binnefeldsehen Arbeit fast unter gleichen Versuchsbe- 



Experimentelle Untersiichangen nsw. 437 

dingnngen. In ihrer Selbstbeobachtung wurden folgende Punkte 
bervorgehoben: 

Vp. E.: »Sb Bcheint tatsächlich, dafi, wenn man die Dauer 
Bchätxt, man Ton der Bewegung als solcher abinsehen hat. 
Wird das Interyall dnrch die Znlenknng der Aufmerksamkeit 
snr Bewegung an stark ansgefttllt, so tritt die Einstellung 
auf Auffassung der Daner zurück. Man neigt dazu, den Bewegungs* 
anfang und Schloß besonders im Bewußtsein beryortreten zu lassen, dabei 
stütze ich mich sowohl auf den akustischen wie optischen Eindmck. Es 
ist, als ob yon der ganzen Bewegung ihre extremen Punkte heryorgehoben 
zu werden yerdienen.« 

»Der Eindruck yon der Länge der Strecke entsteht außerordentlich leicht, 
jedoch ist es mir mSglicb, während der Bewegung yom Ausmaß der Be¬ 
wegung zu abstrahieren. Damit wendet man die Aufmerksamkeit auch ab 
yon dem, was wir gewöhnlich Auffassung der Bewegung nennen.« 

Jedenfalls lag es nach diesen Erfahrungen nabe, 
zu untersuchen, inwieweit das Nichtznstandekommen 
des reinen Zeiturteils auf die Hemmung durch die 
frühere Einstellung zurttckzuf ühren war. Zu diesem 
Zweck wurde eine Vp. ansgewählt, die bis dahin 
überhaupt noch nicht an unsern Untersuchungen 
teilgenommen hatte, also auch noch keine Strecken¬ 
schätzungen vollzogen hatte. Es wurde ihr die Auf¬ 
gabe gestellt, Zeitschätzungen unter den vorhin 
angegebenen Yersuchsbedingnngen zu machen. 

Mit dieser Vp. — Vp. Ha. — wurden mehrere Versuchsserien 
gemacht, die erzielte U.E. betrug Ihre Aussagen, die der 
zeitlichen Folge nach geordnet sind, sollen uns darüber Aufschluß 
geben, wie ihre Schätzung sich entwickelte. 

Vp. Ha.: »Ich stelle mir stets die Strecke, die durchlaufen wird, yor. Ich 
stelle mir auch yor, ob das Endgeräusch mehr nach rechts oder nach links 
yerschoben war, ich lokalisiere es. Ich dachte sofort, es ist kleiner, denn 
der Schlitten hat yorher Halt gemacht. Es wird dann die Zeit als ein 
so und BO langes Danergeränsch anfgefaßt, das an eine Strecke 
gebunden ist. Sehr wesenstlich ist aber für meine Schätzung, daß das 
Schloßgeränsch yon einer andern Stelle des Baumes hersukommen scheint.« 

»Oft schließe ich die Augen unwillkürlich. Ich bin dann yiel sicherer 
bei der akustischen Auffassung, denn ich habe dann ein bestimmteres Bild 
des Dauereindrucks.« 

»Ich kann jetzt auch genau angeben, wie meine Schätzung jetzt ist. 
Ich wollte die Zeit schätzen, aber ich habe während der Darbietung kaum 
mehr an die Zeit gedacht. Ich schloß, da die Geschwindigkeit mir 
stets dieselbe zu sein schien, stets yon der größeren Baum* 
strecke auf die längere Zeit.« 

Sehr schnell also gelangt auch diese Vp. zu einer 
nur indirekten Zeitschätznng, die sich auf die räum- 



438 


Anna Lentz, 


liehe Größenschätznng stützt. Sie erlebt jetzt die 
typischen optischen Täuschungen, yon denen sie früher nie eine 
Andentnng machte. Aber dennoch ist sie sich des Übergangs 
in eine andere Schätzungsweise durchaus nicht sofort bewußt 
Auch bei ihr trat der Fall ein, den Prof. Störring als Vp. eben¬ 
falls erlebte: »Rückblickend läuft man Gefahr zu sagen, 
duhattestjadie Zeit einst eil ung, ohne zu beachten, 
daß sie wieder verdorben ist« 

Wodurch wird sie aber verdorben? Sie wird, wie wir schon 
hervorhoben, sehr erschwert durch die Tatsache, daß die Ver¬ 
suchspersonen abstrahieren müssen von dem visuellen Bewegnngs- 
eindruck, weil der Gesichtssinn eben zu sehr >Raumsinn« ist 
Die hemmende Wirkung der früheren Einstellung 
ist also nicht der wesentliche Faktor. Vielmehr er¬ 
gaben die Versuche mit Vp. Ha., daß als besondere Kompli¬ 
kation auch bei den übrigen Vpn. der Umstand mit¬ 
wirkte, daß die stillschweigende Voraussetzung ge¬ 
macht wird: »Die N. und V. werden stets mit gleicher 
Geschwindigkeit geboten, folglich ist die mittelbare Zeit- 
schätznng die einfachste.« Wie man aus den Aussagen der Vpn. 
bei der Dauerschätznng mit Licht ersehen kann, waren nicht sowohl 
der visuelle Reiz, als vielmehr akustische und motorische Momente 
ausschlaggebend für die Beurteilung der Dauer. Die aku¬ 
stischen Anhaltspunkte waren der Vp. gegeben durch das kurze 
scharfe Geräusch der einschnappenden Perle und den Aufschlag 
des Schlittens an die Arretierung am Schluß seiner Bahn, sie 
waren also bei der Streckenschätznng auch vor¬ 
handen gewesen, aber nie von den Vpn. erwähnt 
worden, höchstens einige Male als Störung von den Vpn., die 
sehr leicht durch Geräusche abgelenkt wurden (Vpn. F. und K). 
Wenn schon die Nichterwähnung dieser Geräusche 
bei der Streckenschätzung wohl annehmen ließ, daß 
die Vpn. sich nicht danach orientiert hatten, so woll¬ 
ten wir sie dennoch isolieren. Ans diesem Grunde sahen 
wir uns veranlaßt, Zeitschätzungen ohne Licht (o.L.) einznführen, 
bei denen genau wie in den früheren Versuchen der Schlitten 
einen Weg von 20 cm in den beiden Normalstrecken zurücklegte, 
während der Vergleichsstrecke einen gleichen, größeren oder 
kleineren Weg. Dabei fehlte die visuelle Ausfüllung, 
und die Vp. bekam die Anweisung, das Zeitintervall 
zwischen dem Anfangs- und SchInßgeränsch der Be¬ 
wegung zu sch ätzen. Diese Zeitschätznng o.L. wurde 



Experimentelle Untersachnngen new. 


439 


aber nur in der schnellsten Geschwindigkeit, also 
bei einer Normalzeit (N.Z.) yon 0,75Sek. aasgeftthrt.< 


§ 2 . 


Die Strecken- und Danersehätzung bei einer Normalzeit 

Ton 1)55 Sekunden. 


a) Objektire Besnltate beider Sehltinngea. 


In den beigefttgten Tabellen finden wir die objektiven Er¬ 
gebnisse der Streckenschätzung and der Danerschätznng mit Licht 
bei einer Nz. von 1,55 Sek. 

Die Tabelle U. E. I besteht aus zwei Haaptteilen; der erste 
Teil mit a) bezeichnet, enthält die Ü.E. für die Streckenschätzung, 
der mit b) bezeichnete die Dauerschätzung m. L. Jede Teil¬ 
tabelle ist so eingerichtet, daß die erste Vertikalkolonne die 
Namen der Vpn. enthält, die zweite die Anzahl der Schwellen- 
bestimmungen; die 3. und 4. Kolonne enthalten den Mittelwert der 
oberen und unteren absoluten Unterschiedsschwelle, ans denen 
dann die Unterschiedsempfindlichkeit berechnet wurde, die in 
der letzten Kolonne (U. E.) angegeben ist. Bei der Zeitschätzung 
enthält die 3. und 4. Kolonne die absoluten U.-schwellen sowohl 


in entsprechender Millimetmrdifferenz, wie auch in 6 = 


1000 ®®®* 


Vergleichen wir nun die U. E. für die Streckenschätzung bei 


den einzelnen Vpn., so sehen wir eine Werteskala von^ — 


1 

76* 


Setzen wir diese Werte in Beziehung zu der U. EL für Zeit- 
Schätzung, so sehen wir. daß letztere bei allen Vpn.—Vp.Ste. aus¬ 
genommen — den Wert für die Feinheit der Streckenschätzung 
nicht erreicht, woraus schon ersichtlich ist, daß die Strecken- 
Schätzung nicht nach der Zeitschätzung orientiert 
war. Außerdem zeigen die Zeitschätzungen bei den einzelnen 
Vpn. eine viel größere Annäherung. Auch hier hebt sich die 


U. E. von Vp. Ste. 


57,30 


— von den übrigen Schätzungen ab. 


Als charakteristische Erscheinung tritt uns auch die Schwankung 
der absoluten Unterschiedsschwellen um den Gleichheitspunkt her¬ 
vor, sodaß bald die So, bald die Sn einen größeren Wert zeigt. 
Ist diese Verschiebung der Schwellen sehr gering, so daß die So 
fast gleich der Sn ist, dann zeigen sich die feinsten Schätzungen, 
sowohl hinsichtlich der Strecke (Vp. M. und Sa.) wie auch der 



440 


Anna Lents, 


Daaer (Vp. Ste.). Anderseits zeigen aber anch die Tabellen, dafi 
bei denselben Vpn. diese Schwellenverschiebnngen 
meist ganz verschieden verlaufen bei der Däner- 
und Streckenschätznng (Vp. M. nnd Ste.). Auch diese 
Tatsache weist auf eine Unabhängigkeit der Strek- 
kenschätznng von der Zeitsch&tznng hin. 

U.E. I 


») üntenchiedumpfiadlichkeit für Streekenachitsiiiig. Ni = 1,56 sec. 


Vp. 

Anzahl der 
Schwellen- 
bestimmnngen 

mittlere So 

mm 

mittlere Sn 

mm 

U.E. 

A. 

6 

8,88 

4,16 

1 

60 

M. 

10 

2,70 

2,50 

1 

76,92 

Ste. 

7 

2,29 

4,88 

1 

66,06 

1 

60 

W. 

8 

4,76 

8,25 

Sa. 

8 

8,26 

8,26 

1 

61,53 

Summe 

Mittel 

89 

8,86 

8,60 

1 

67,40 


b) ünterschiedsempfindlichkeit fBr die Zeitsch&trang m. L. Ns ~ 1,66 sec. 



Anzahl 

Mittlere So 

Mittlere Sn 


Vp. 

der 

in 

in 

U.E. 

Schwellen 

mm 


mm 

6 


A. 

6 

4,88 

86,6 

6,60 

41,6 

1 

88^75 

89^04 

6^ 

8M7 

M. 

8 

8,60 

26,5 

6,76 

61,1 

Ste. 

6 

8,16 

28,9 

8,88 

28,9 

W. 

8 

8 

60,6 

4,76 

86,9 

Summe 

28 





1 

40,00 

Mittel 


4.87 


6,18 



b) Die Anssagem der Tpa. bei der Streekeasehbtsiuig ud Deatuag derselbea. 

Vp. A.: »Die Bewegung kommt mir sehr langsam Tor. Der Strecken- 
eindmck mnd sich erst entwickeln, noch hin ich unter dem SSnllnfi 
der Zeitschitzung, deshalb mufl die neue Aufgabe immer prisent sein. 
Nach mehreren Versuchen f&hrt die Vp. fort: »Es hat sieh jetzt der 
Streckeneindruck wie früher entwickelt, deshalb f&llt die 
Schatzung leicht, die Anhaltspunkte sind dieselben wie bei der grOfieren 
Geschwindigkeit. Die Einstellung ist sehr leicht zu vollziehen.« 















Experimentelle Untersnchiingen niw. 


441 


>Ich könnte nichts enssagen Uber die Zeit, ich bin der An« 
siebt, dafi hier vollst&ndig Ton der Zeit abstrahiert wird.« 

Vp. H.: »Ich glaube nur nach Bewegangsempfindangen za 
schätzen, die Endlage spielt aber eine Rolle, eigentlich stelle ich 
nie innerlich die Strecke her. Bei der optischen Sebätznng empfinde ich 
sofort, ob es länger oder kflrzer ist, hei der Zeitschätznng mache ich zuerst 
einen Vergleich, diese Tatsache ist mir sehr auffallend jetzt.« 

Von der Vp. wird häufig betont: »Ich finde die Aufgabe sehr 
leicht und gebe mir keine Mfihe. Man hat die Empfindung, dafl 
man sicherer schätzt als bei der Zeit.« Mitunter bemerkt sie: »Ich 
habe die subjektiTe Bewegungstäuschung, besonders wenn 
das Signal zu früh kommt, auch verschiebt sich manchmal die V. 
nach außen, beim Fixieren rfickt sie nach innen.« 

Vp. Ste.: »Anfangs war die Schätzung viel anstrengender, denn dasKriterium 
war eine Art Streckenvorstellung und der Endpunkt. Die Endlage der V. 
wurde rechts und links von der Endlage der N. empfanden. Jetzt schätze 
ich nach Angenbewegungen und mache gar keine Anstrengnng. 
Das Schätzen fällt mir leichter, je länger ich im Dunkeln sitze, denn die 
ersten Werte sind stets unsicher, weil Nachbilder vorhanden sind. Die 
Schätzung ist sehr angenehm und sehr leicht.« 

Von dieser Vp. hören wir am häufigsten: »Starke Bewegungser- 
s che in ung zu Beginn in Richtung der Bewegung. Bin ich ermfidet, so 
tritt die Dlusion sofort auf. Ich merke dann auch, daß ich den 
Anfangspunkt, zu stark fixiert habe.« 

Vp. W: »Zuerst war ich unsicher, jetzt nicht mehr, aber 
ich weiß absolut nicht wonach ich schätze. Bin ich etwas mttde, 
so läßt die Sicherheit nach, auch wenn ich nicht ganz aufmerksam bin. 
Aber ich bin dann doch sehr aktiv. In diesem Falle scheint mir manchmal 
die Qeschwindigkeit verändert.« 

Vp. Sa.: Von jetzt an fflhle ich mich sicherer, weilichnach 
Angenbewegungsempfindungen schätze. Die Lokalisation des 
Endpunktes, wenigstens der Versuchsstrecke wirkt ein, sie ist immer als 
Anhaltspunkt mit dabeL« 

Vp. K.: »Zu allererst schienen für mich Nebenkriterien in den 
Vordergrund zu treten, z. B. die Zeit. Jetzt aber ist während der 
Erzeugung der V. schon die Entstehung des Urteils über die 
V. zu konstatieren.« 

Wenn bei derV. die »Erwartungsspannung« eine gewisse Höhe 
erreicht hat, so wird sie noch erhöht dadurch, daß der Punkt sich noch 
nicht bewegt, obwohl er sich bewegen sollte. Eine Verschiebung des An« 
fangspunktes nach der Mitte findet mitunter statt.« 

Übereinstimmend finden wir bei allen Vpn. die Angabe, daß 
mitunter die beiden Normalstrecken verschieden groß erscheinen, 
über diese Erscheinung werden wir später noch berichten. 

Fassen wir zunächst die Erscheinungen ins Auge, die bei allen 
Vpn. in gleicher Weise sich vorfinden. Es ist dies zunächst die 
Tatsache, daß die gestellte Aufgabe leicht und sicher 



442 


Anna Lents, 


gelöst wird, wenn nur eine möglichst passive Ein¬ 
stellung realisiert nnd gewisse Schfttznngskriterien 
angewandt werden. Von denjenigen Vpn., die bereits Zeit- 
Schätzungen vollzogen haben (Yp. A. n. M.), werden letztere bereits 
zu den Streckenschätznngen in Gegensatz gesetzt Es wird betont, 
1. daß neben der Streckenschätznng keine Zeitschät- 
znng einhergehen kann (Vp. H.), 2. daß ein größeres 
Geffthl der Sicherheit bei der Streckenschätznng 
herrsche (Vp. M.), 3. daß der ausgesprochene Ver¬ 
gleich beim Zeitarteil in charakteristischer Weise 
sich von dem >spontanen< Urteil bei der Strecken- 
Schätzung unterscheide (Vp. M.). 

An zweiter Stelle sehen wir ttbereinstimmend die Schätznngs- 
kriterien, Lageempfindnng, Streckeneindmck, Bewegungsempfln- 
dnngen wiederkehren, Undzwar wird als die sicherste Schät¬ 
zungsweise diejenige angegeben, bei denen die B.E. 
mit Betonung der Endlage den Hanptanhaltspunkt 
bilden. Diese Einstellung zu dieser Schätzung ist am häufigsten 
realisiert bei den Vpn. M., Sa., Ste., bei ihnen finden wir auch 
die feinsten Werte für die U. E. und von ihnen wird die Auf¬ 
gabe mit größter Leichtigkeit gelöst. Sehr häufig finden wir 
von Anfang an Aussagen über Bewegnngsülnsionen und Lokali- 
sationsänderungen des Lichtpunktes, die stets in Beziehung zu 
starker Fixation des Lichtpunktes gesetzt werden. Analoge Tat¬ 
bestände werden aasgedrückt durch die Angaben über verkürzte 
Atmung, zu große Aktivität, Erwartnngsspannung oder Aufmerk- 
samkeitsspannungen während der Darbietung. Denn in all 
diesen Fällen handelt es sich um Spannungsent- 
wicklungen, die vielfach von den Vpn. durch die 
Betätigung der Aufmerksamkeit gesetzt werden 
und sich den Vpn. vielmehr aufdrängen als dieBe- 
wegungsempfindunggen. 

Sicher ist, daß die >Erwartungsspannang< das 
Eintreten von Unlust, Erregung nnd >aatokinetischen 
Empfindungen begünstigte, und daß durch dasZu- 
zammenwirken dieser Erscheinungen die objektiven 
Ergebnisse beeinflußt wurden. Da es sich bei diesen 
Versuchen nicht nur um kleine Ezkursionswinkel, sondern auch 
um geringe Geschwindigkeit handelt, so ist es gar nicht zu ver¬ 
wundern, daß die Spannungsempfindungen sehr leicht eine Ver¬ 
deckung der Bewegungsempfindungen zustande bringen konnten. 
Die störende Wirkung derselben wird auch von Goldscheider 



Experimentelle üntersachiingen nsw. 


443 


hervorgehoben, desgleichen die Yerdeckung durch Druckempfin- 
dnngen, was wir ebenfalls bei Vp. Sa. konstatieren konnten. 
(Goldscheider: Untersuchungen über den Muskelsinn S. 190.) 
Wir sehen aber doch, daß nach genügender Einübung 
die A.-B.-Empfindungen deutlich von den Vpn. als 
Schätznngskriterien erlebt werden, besonders nach* 
dem sie Zeitsch&tzungen und Streckenschätzungen 
in anderen Geschwindigkeiten vollzogen haben. 
Erst die negative Einstellung, auf andersartige Schätzungen, 
brachte den Vpn. Klarheit darüber, welche Erscheinung die 
Grundlage ihrer Streckenschätzung bildete. Hier zeigt 
sich also die Wichtigkeit, die der zeitlichen Folge 
der Versuche für die Schätzung zngeschrieben 
werden muß. Als gesichertes Ergebnis dieser Ver¬ 
suche können wir betrachten, daß die Strecken¬ 
schätzung nach A.-B.-Empfindnngen die feinste U.E. 
erzielte, daß die sensorische Einstellung als die 
zweckmäßigste betrachtet werden muß. Über die 
Einwirkung der verschiedenen Spannungszustände werden wir 
uns noch weiter zu orientieren haben. 

e) Anssagem der Tpa. bei der ZelteehätEmog m. L. bei einer Ni. 

TOB 1,55 Sek. Dentang der ABSsagen. 

Vp. A.: > Ale Kriteriam der Schätzung dient die Innervation in den 
Angen zn Beginn nnd Sohlnd. Nach der Darhietnng richtet sich 
die Anfmerksamkeit nach innen nnd die Strecke wird noch 
einmal hergestellt, nnd zwar begrenzt dnrch Innervationen im Kopf, 
in der Stirn, in den Angen. Festgehalten wird nnr das Zeitliche, 
der Sinneseindrnck wird also modifiziert in der für das Be¬ 
halten in Betracht kommenden Weise. Eine Abstraktion von 
dem visnellen Eindrnck mnfi vorgenommen werden, nnd bei 
dem Abstraktionsprozefi wird die Strecke als ein so nnd so 
lange dauerndes Geräusch anfgefafit.« 

Vp. M.: »Ich kämpfe noch sehr mit der richtigen Einstellung. Ich 
finde, dafi der Vergleich bei diesen langenZeiten mehr her¬ 
vortritt, bei den kurzen tritt beim Urteil mehr das Über- 
raschnngsgeffihl auf. 

Das langsame Tempo ist mir nicht sympathisch, denn das Urteil wird he- 
einflnüt dnrch Anfmerksamkeitsschwanknngen. Ich glaube die optische Aus¬ 
füllung wirkt sehr unterstützend gegen diese Schwankungen, dadurch ist 
grüüere Sicherheit vorhanden. Die Urteile sind nicht spontan wie bei der 
Streckenschätzung, die beiden Normalstrecken sind stets gleich.« 

Vp. Sa.: »Ich habe mich dabei ertappt, rhythmische Atembewegungen 
aaszuführen, so daß die Strecke mit Ansatmen schließt. Diese Schätzungs¬ 
weise kam mir unwillkürlich.« 



444 


Anna Lents, 


Vp. Ste.: >Ich schätse wieder darchans rhythmieeh and awar 
lind die Längerarteile sicherer. Ich hatte einen Vers im Kopf — rex 
eris si rdcta fäcies. Darch ihn war mir die Däner markiert. Ich 
war dabei sehr sicher and behielt stets die gleiche snbjektiTe Betonang 
bd. Verschwand non bei einer Darbietang das Licht schon bd fa, so war 
ich sehr dcher, dafi die Zeit kürzer war. Ich glaabe, es gibt keine 
feinere Zeitschätzang als die mit Yerseinteilang, denn es 
bleibt ja die Daaer stets aaf gleiche Weise darch die sab* 
jektive Betonang markiert.« 

Vp W.: »Ich habe grofie Ndgang, Tom Beginn bis znm Schlofi za 
zählen, am einen gewissen Rhythmns heraasznbekommen. Ich finde, dafi 
das Schätzen mir dann leichter flUlt, ich markiere die Daaer darch 12—84. 
Zaerst stSrte mich sehr der Streckeneindraek.« 

»Vom Anschlag lasse ich mich selten beherrschen. Doch mafi meine 
Einstellang ziemlich aktiy sein. Ich mofi nämlich abstrahieren vom visadlen 
Eindrack, and doch ist mir der Beginn der Zeit yisaell markiert, ebenso 
der Schlafi. 

Über die Länge der Strecke kann ich nichts aassagen. Treten onter 
den Zeitarteilen Gleichheitsarteile aof, so mOchte ich sie als Verlegenhdts- 
arteile charakterisieren.« 

Bei allen Vpn. zeigt sich also als erster Unter¬ 
schied die wesentlich andere Einstellung als bei 
der Streckenschätznng, die Einstellang mit Nega¬ 
tionen, die sich als das absichtliche Nichterfassen 
des ränmlichen visuellen Eindrucks äußert Mit 
dieser anderen Einstellang müssen wir auch in Zusammenhang 
bringen, daß allen Vpn. die beiden N — im Gegensatz zur 
Streckenschätzung — vollständig gleich erscheinen. Sicherlich 
ist auf ihr Konto zu setzen, daß die Beobachter überhaupt 
keine Aussagen über die Streckenlänge machen 
können. In bezug auf die Intervallaasfüllang hebt sich die 
Zeitschätzang zunächst in bezug auf die Streckenschätzung in 
charakteristischer Weise ab; denn bei der Zeitschätzang wird 
erstens abstrahiert vom ränmlichen Streckeneindraek, zweitens 
können verschiedene sinnliche Substrate in den Blickpunkt 
des Bewußtseins treten, so daß die Vp. stets angeben kann, daß 
durch sie die Dauer markiert war. 

Liegt nun die Sache bei der Zeitschätzang stets so, daß die 
Beobachter sagen können, erst das Hervortreten eines bestimmten 
Sinnesinhaltes — oder auch mehrerer — ließ mir das Bewußt¬ 
sein der Zeitgröße entstehen, gab mir zagleich erst ein Zeit¬ 
schätzungszeichen ? Nein, dieser Tatbestand liegt nicht immer 
vor, den bei Vp. M. finden wir keinerlei Angaben darüber, daß 
ein sinnliches Substrat der Dauerschätzung im Vordergfrund des 
Bewußtseins steht. Die Tatsache, daß die optische AusfüUung 



Experimentelle üntersnehnngen new. 


445 


von ihr als unterst&tzend angegeben wird, hat nichts mit einem 
Eriterinm fflr die Dauerschätznng zu tun, sondern dient nnr zur 
Yerhfitnng der Aufmerksamkeitsschwankungen. Es fehlen also 
wahrscheinlich deshalb jegliche Angaben ftber die 
sinnlichen Faktoren, weil der zeitliche Tatbestand 
so isoliert heryortrat, daß die Bewußtseinsyor- 
gänge, denen er eigen war, in den yorderen Re¬ 
gionen des Bewußtseins yon der Vp. nicht mehr 
nachgewiesen werden konnten. Es hebt sich alsdann die 
Schätzungsweise dieser Vp. in charakteristischer Weise yon der 
Zeitschätzung der übrigen Vpn. ab. . Hier kam die Dauer¬ 
schätzung zustande auf Grund einer Daueranffassung, 
bei der eine Beziehung zu einer sinnlichen Grund¬ 
lage nicht aufgefunden werden konnte. 

Es fragt sich nnn, müssen wir die zweite Art der Dauer¬ 
schätznng als eine nur mittelbare bezeichnen, bei der in Wirk¬ 
lichkeit eine Aufmerksamkeitszuwendung zu qualitatiy-intensiyen 
Tatbeständen besteht, die etwa nnr zeitlich interpretiert werden. 
Dagegen spricht, daß 1. so yerschiedene Sinnesgebiete als sinnliches 
Substrat heryortreten, daß 2. trotzdem die objektiyen Resultate 
eine so große Übereinstimmung zeigen, yor allem aber 3. die 
Aussagen unserer Vpn. Denn immer wieder wird betont: »Die 
Aufmerksamkeit richtet sich nach innen. Festgehalten wird 
nur das Zeitliche, der Sinneseindmck wird also modifiziert 
in der für das Behalten in Betracht kommenden Weise.« Wir 
stellen uns also auch hier, wo bestimmte sinnliche 
Substrate im Bewußtsein heryortraten, auf den 
Standpunkt, daß die Zeitschätzung eine unmittel¬ 
bare war, denn auch hier erlebte dieVp. die Isolierung 
des Zeitlichen als etwas yom qualitatiy-intensiyen 
Inhalt der Empfindungen Verschiedenes. Auf Grund 
der Aussagen aller Vpn. über das yon ihnen zum 
Zweck der Zeitschätzung realisierte Verhalten — eine 
Einstellung mit Abstraktion yom räumlich-yisuellen 
Streckeneindruck mußte yollzogen werden — muß be¬ 
hauptet werden, daß der yisuelle Bewegungsein- 
druck nicht als Zeitschätzungszeichen in Betracht 
kam, daß er geradezu durch seine räumliche Be¬ 
schaffenheit störend für die Zeitschätzung wirkte, 
wenn der Beobachter andere Sinnesgebiete für die 
Zeitschätzung heranzog. — Der Einwand also, daß die 
Streckenschätzung auf die Schätzung der Bewegnngsdaner zu- 



446 Anna Lents, 

znrfickznfflhren sei, würde durch Heranziehiing dieser Tatbestände 
durchaus widerlegt. 

Es muß ferner noch als besondere Art der Zeit* 
Schätzung die rhythmische hervorgehobeu werden, 
die wir auch als reine Zeitschätznng ansehen müssen, bei der 
die rhythmische Einteilung die Zeitmarkiemng bildet Es handelt 
sich bei den hier ansgeführten Schätzungen um eine ganz ver¬ 
schiedene Art der Bhythmik, bei Vp. Sa. um »die physiologische 
Rhythmik der Atembewegnngen«, bei Ypn. W. und Ste. um will¬ 
kürliche subjektive Bhythmisierung. 

Als Ergebnisse dieser Untersuchung haben wir zu betrachten: 

1. Die mittlere U.E. dieser unmittelbaren Zeit- 

schätznngen m. L. betrug 

2. Die Einstellung auf Zeitschätznng war ver¬ 
bunden mit Abstraktion vom räumlichen Strecken- 
eindrnck. 

3. Die Daneranffassung konnte auf sinnlicher 
Grundlage erfolgen, sodann aber auch so, daß 
kein besonderes sinnliches Substrat sich im 
Bewußtsein nachweisen ließ. 

4. Wahrscheinlich kam vorwiegend eine Apperzeption 
der Dauer zustande, bei der die Auffassung der zeit¬ 
lichen Folge mehr oder weniger deutlich hervortrat. 

5. Die sinnlichen Faktoren, die vor allem eine 
Anfmerksamkeitsznwendnng zu ihrem Zeit- 
verlanf veranlassen, sind unter der Einstellung 
zur zeitlichen Schätzung im Gegensatz zu der 
Einstellung zur Streckenschätznng neu her¬ 
vortretende oder neuerdings beachtete akustische 
Empfindungen und Innervationsempfindnngen. 

6. Als besondere Art der Zeitschätznng trat die 
rhythmische auf, die bei dem Danerintervall 
von l,55Sec. als äußerst günstig für dieZeit- 
schätznng sich erwies. 

§3. 

Die Strecken- n. Dauerschätznng bei der Normalzeit von0,76 Sek. 

a) Objektive Resultate der Strecken-undDauerschätznng. 

Eine Erläuterung der beigeffigten Tabellen, die uns eine 
Orientierung über die quantitativen Messungen geben sollen, 



Experimeotelle Untersnchangen tiaw. 


447 


erübrigt sich, da sie in gleicher Weise wie die vorhergehenden 
nnd die späteren angeordnet sind. 

ü.B. n. 

a) ü. E. fOr die Streckenschätznog b) U.E. ffir die Zeitschätztmg m. L. 


N*. — 0,76 Sek, 


Vp. 

•SS 



U.B. 

ö a 



ü. E. 




mm 






D 


Dr. 

6 

6,83 

2,83 

1 

46,18 

6 

6,88 

21,86 

8,88 

14,86 

1 

41,46 

F. 

8 

2,6 

8,87 

1 

68,14 

8 

6,6 

24,88 

6,6 

20,62 

1 

88^,33 

M. 

12 

2,5 

2,6 

1 

80 

10 

8,7 

18,88 

6,8 

28,32 

P. 

10 

2,8 

2,9 

1 

76,92 

6 

2.6 

9.87 

6,6 

24,88 

1 

44,44 

Sch. 

12 

2,6 

3,5 

1 

66^67 

8Ö 

8 

7,26 

27,00 

4,76 

17,81 

1 

88,33 

Ste. 

6 

1,84 

8,16 

8 

2,75 

10,20 

6,26 

19,69 

1 

60 

Somme 

54 



1 

67,33 

46 





1 

89,96 

Mittel j 


2,91 

8,04 


4,66 

17,46 

6,36 

20 


e) U. E. fttr die Zeitechätzimg: o. L. 


Vp. 

Anzahl 

der 

Schwellen 

mittle 

i] 

mm 1 

re So 
n 

6 

mittle 

ij 

mm 

ire Sn 
a 

6 

U. E. 

Dr. 

6 

8,16 

12 

6,6 

21 

1 

46,18 

F. 

8 

2,6 

9 

4,76 

18 

1 

68,61 

M. 

6 

2,83 

11 

3,83 

14 

1 

60,06 

42,91 

P. 

6 

2,16 

8 

7,16 

27 

Sch. 

7 

4,28 

16 

6,71 

21 

1 

40,08 

1 

46,76 

1 

60 

Ste. 

8 

1,76 

7 

7 

26 

K. 

3 

4 

16 

4 

16 

Somme 

Mittel 

44 

2,94 

11 

6,42 

20 

1 

47,84 


Die Tabelle ü. E. n enthält 3 Hauptkolonnen a, b, c. Die 
Kolonne a) enthält die betreffenden Streckenschätzungen, b) die 
entsprechenden Zeitschätzungen m. L., c) diejenigen o. L. 












448 


Anna Lentz, 


Betrachten wir die Tabelle U. E n a), so sehen wir ein 
ähnliches Bild wie bei der Streckenschätznng in langsamer 
mittlerer Geschwindigkeit Von den Vpn. waren nnr Vp. M. nnd 
Ste. dieselben wie bei der früheren Schätzung. Der Schwanknngs- 

bereich für die U. E ist hier noch etwas erweitert, Ton ^ bis 


(rther Toni-^ 


Während die ü. E von Vp. M. nur 


eine geringe Abweichung zeigt, nämlich hier früher 


1 

76,9» 


stehen sich bei Vp. Ste. die Werte ^ and ^ gegenüber. Diese 


Differenz kann aber nicht auf die differente Geschwindigkeit 
zurückgeführt werden, sondern lediglich darauf, daß die Vp. nicht 
mehr unter besonderen Ermüdungs-und Schwäche- 
Zuständen litt, welche eine Folge ihrer Eriegs- 
verwundung waren. Die optischen Täuschungen »der auto¬ 
kinetischen Empfindungen« traten nach ihren Angaben kaum 
mehr auf, eine passive sensorische Einstellung konnte erzielt 
werden. Die Tabelle U. E. D. b) für die Zeitschätzung m. L. 
zeigt uns zunächst allgemein, daß die Strecken- 
schätzung nicht nach der Zeit orientiert sein konnte, 
denn wir sehen, daß die U. E. für die Dauerschätzung 
bei allen Vpn. weit hinter derjenigen für Strecken- 
schätzung zurückbleibt, so daß sie bei der Hälfte 
der Vpn. noch nicht halb so fein wie die Schätzung 
nach A. B.-Empfindungen ist. — Außerdem weist die 
W erteskala der Zeitschätzungen keine Parallelität zu der Strecken¬ 
schätzung auf; denn diejenigen Vpn., die die feinsten Werte bei 
den Streckenschätzungen erzielt haben, erreichen nicht in allen 
Fällen auch die feinsten ZeitschätzungmL 

Es kann der FaU sein (Vp. Ste. und P.), aber manchmal gilt 
auch eine Umkehrung dieser Beziehung (Vp. M., F., Pr.). 


Und wie steht es mit den Dauerschätzungen ohne 
visuelle Ausfüllung? — Auch bei ihnen können wir 
nicht sagen, daß bei den einzelnen Vpn. sich parallele 
Werte zur Dauerschätzung m. L. ergeben. Wir sehen 
vielmehr die U. E. mancher Vpn. (M., F., Dr., Sch.) sich gewaltig 
verfeinern, die der andern sich verschlechtern. Charakteristisch 
tritt bei allen Vpn. — Vp. K. ausgenommen — die Verschiebung 
der Su nach unten auf, d. h. diese Vpn. neigen also alle 
zu einer Überschätzung der Vergleichsgrößen. Wor- 



Experimentelle ünteraachimgen osw. 


449 


auf diese konstante Täuschung beruht, das kann uns erst die 
Analyse der Selbstbeobachtung sagen. 

b) Aussagen der Ypa. bei der Streekenscbätinng und Dentnng derselben« 
Bei der Schätzung der Vp. Dr. müssen wir zwei Stadien unter* 
scheiden hinsichtlich der Kriterien, die ihr die Schätzung ermög¬ 
lichen. Diese Differenz ihrer Schätzungsweise rnÜ 
in ihren objektiven Resultaten einen charakte¬ 
ristischen Bruch hervor. 

Yp. Dr. 1. Schätzongsweise: »Sehr viel Anfmerksamkeit ist notwendig 
anr Schätzung der Strecke. Wenn eine geringe Stdmng eintritt, ist sofort 
fieflexion vorhanden. Ich frage mich dann stets, wie dieses müh¬ 
same Schieben eigentlich zustande kommt. Dies verbindet sich 
mit Unlnstgeftthlen. 

Der Gesamteindmck dient manchmal als Kriterium. Ich lasse die Augen 
folgen und schätze dann, aber die Bedeutung der Angenbewegungen 
fttr die Beurteilung kommt mir nicht zum Bewnfltsein. 

Ich habe nur mehr den Endpunkt festgehalten bei der 
«rsten N-strecke. Bei der zweiten N-strecke batte ich sofort den Eindruck, 
dafi der Punkt zuviel nach der Mitte gelegt sei, und korrigierte deshalb 
die Streckengroße, ebenso bei der Y. Dadurch schätze ich sicher zu kurz. 
Weil ich die erste Normalstrecke immer fixiere, erwarte ich 
schon die zweite an ganz anderer Stelle. Ich bin nicht sicher, 
wenn ich nur den Gesamteindmck nehme, ich darf den Endpunkt nicht außer 
«cht lassen.« 

n. Schätzungsweise: »Wenn man den Endpunkt fixiert, legt man den¬ 
selben, um zu korrigieren, bei jeder Strecke weiter in Richtung der Bewegung, 
dadurch wird die Normalstrecke immer größer. Ich fixiere den Endpunkt 
jetzt gar nicht mehr nnd mache auch keine Anstrengungen mehr. Ich wollte 
durch die frühere Art der Schätzung möglichst genaue Resultate erzielen.« 

Schließlich bebt sie hervor: »Ich schätze nur nach Angenbe¬ 
wegungen, alle anderen Kriterien sind bewuflterweise nicht 
maßgebend. Früher waren bewnßterweise nur der Gesamt- 
eindrnck und vor allem der fixierte Endpunkt maßgebend. 
Der Zeitfaktor hat nie eine Rolle gespielt, über die Dauer hätte 
ich nichts anssagen können.« 

Yp. F.: »Ich schätze nach den A.-B.-Empfindungen, dabei entwickle 
ich diskrete Anfmerksamkeit. Nach der zweiten N habe ich mitunter schon 
ein Gefühl der Sicherheit, wenn nämlich die erste Normalstrecke gleich der 
zweiten anfgefaßt wird, ich weiß dann schon vorher, daß ich die Aufgabe 
lösen kann.« 

Yp. M.: »Die Schätzung ist genau wie früher nach A.-B.- 
Empf indun gen, nur erscheinen mir die Pansen etwas kürzer, weil die 
Bewegung energischer ist. Dabei bin ich so sicher, daß ich 
die Strecke gar nicht mehr als Strecke im Gedächtnis behalte 
Ich merke aber auch, daß hier viel leichter Störungen Vorkommen können 
als bei der Zeitscbätznng.« 

Ebenso schätzen Yp. P. nnd Sch. nach A.-B.-Empfindungen. Yp. P. 
hebt noch besonders hervor ihre passive Einstellung, welche große Sicherheit 

Arohlv fUr Psychologie. XLVin. 29 



450 


Anna Lentn, 


der Schätzung berTormft; Vp. Sch. bemerkt mitunter eine Betätigung: 
der totalen Aufmerksamkeit, dann ist stets ein Oesamtein- 
drnck der Strecke vorhanden, nachdem sich die Schätzung richtet. 

Die Schätzung der Vp. Ste. zeigt analog derjenigen von Vp. Dr. ver> 
schiedene Entwicklungsstadien. 

Vp. Ste.: »Ich habe ruhig die Strecke angesehen und besitze 
nachher eine Vorstellung von der Strecke, diese wird dann verglichen. 
Ich bemerke jetzt deutlich den Unterschied gegenüber den Zeitschätzungen. 
Nach der Darbietung der zweiten N. habe ich ein deutliches Bild von der 
Strecke und erwarte die V. Ich kann nicht sagen, was ich eigentlich fest- 
halte, doch gibt mir der Eindruck große Sicherheit. Es darf nur die Pause 
nicht zu lang sein. 

Ich hatte ja schon immer das Bewußtsein, mich bei der Schätznng- 
nach einem Winkel der Augen zu richten. Allmählich erst bemerke ich, 
daß es dabei darauf ankommt, daß sich die Augen bewegen, daß die Angen- 
bewegnng den Ansschlag gibt. 

Jetzt fällt es mir leicht, nach Angenbewegnngen zu 
schätzen. Dabei hat man keinen fertigen Streckeneindruck, 
sondern einen Bewegnngseindrnek. Man hat am Schluß das Gefühl, 
jetzt hOrt die Bewegung auf. Dabei sind die Urteile ,kleiner*, deshalb 
sicherer, weil man unmittelbar die Empfindung hat, jetzt wird 
die mir bekannte Bewegung unterbrochen.« 

Die Selbstanalyse der einzelnen Vpn. bei dieser Strecken- 
schätznng ergibt in bezug auf die Anhaltspunkte der Schätzung 
nnd überhaupt auf das ganze Verhalten hier ein viel eingehenderes 
und umfassenderes Bild. Dies war bei einigen Vpn. dadurch 
veranlaßt, daß die Einstellung für eine Schätzung 
nach A.-B.-Empfinduugen sehr leicht realisiert wer¬ 
den konnte (Vp. M., P., Sch.). Andern Vpn. gelang die Herans- 
hebung der Schätzungskriterien besser, weil sie vorher 
viele Zeitschätzungen vollzogen hatten nnd sie die 
Streckenschätznng zu dieser in Gegensatz setzten 
(Vp. F. und Ste.), oder weil sie bei der Streckenschätzung starke 
Kämpfe um die richtige Einstellung durchzufechten hatten (Vp.Dr.). 

Vp. Dr. bestätigte durch ihre Verhaltungsweise und die daraus 
resultierenden Größenschätzungen durchaus die Beobachtungen, 
die wir früher über die Einwirkung von Spannungsznständen 
machten. Über die Bedeutung, die verschiedene Autoren den 
A.-B.-Empfindungen zumessen, war sie sehr genau orientiert, aber 
wie sie selbst hervorhob, mißtraute sie doch sehr, ob sich nach 
Augenbeweg^ngsempfindungen eine Größenschätzung vollziehen 
ließ. Sie selbst erlebte sie jedenfalls zuerst nicht, nnd auch als 
es ihr gelang, dieselben aus dem komplexen Erlebnis der Be¬ 
wegung hervorzuheben, konnte sie deren Bedentung für die Be¬ 
urteilung der Streckenschätzung nicht erkennen. Diese Schwierig- 



Experimentelle Untersnchnngen nsw. 


451 


keit in der Heranshebnng der A.-B.-Empfindiingen läßt sich nur 
erklären, wenn wir annehmen, daß eine Verdeckung der¬ 
selben stattgefnnden bat. Dafär können wir nur 
Spannungsentwicklungen verantwortlich machen, 
denn nach ihren Angaben ist die Vp. mit aller Kraft 
bemüht, den Endpunkt durch Fixation festznhalten. 
Es traten bei der Vp. aber bei dieser Fixation schließlich nur 
mehr die Urteile >kürzer« auf, wenn nicht außergewöhnliche 
Differenzen geboten wurden, dabei wurde die Unsicherheit immer 
größer. Dies veranlaßte uns, der Vp. ganz bestimmte Anhalts¬ 
punkte zu geben, um eine möglichst passive Einstellung zu er¬ 
zielen. Das Ergebnis war der plötzliche Übergang zu den 
Schwellenwerten So = -f- 4 mm, Su = — 2 mm, während ihre 
Schwellen vorher So = -|-46mm, Su = -l-26mm betragen hat¬ 
ten. Es war also einerseits die konstante Täuschung fast ver¬ 
schwunden, anderseits die Feinheit der Schätzung fast um das 
doppelte gewachsen. Dieser Bruch in der Schätzung der 
Vp. Dr. ist uns ein erneuter Beweis dafür, daß die 
Entwicklung von Spannungsempfindnngen während 
der Arbeitsleistung verdeckend auf die Bewegungs- 
empfindnngen wirkt. Die >Arbeitsspannung< wird 
nun von den Vpn. selbst gesetzt, um wie sie sagen 
jede Lage zu erfassen, >nm sich ihr hinzngeben«. 
Sie muß sich darum geradezu als Widerstand gegen 
die Ausführung der Bewegung äußern. Wir können 
also sagen, wenn bei der Streckenschätznng die 
Einstellung mit »Arbeitsspannung« realisiert ist, 
dann stützt man sich auf Lageempfindung, besonders 
der extremen Punkte, es kommt dann nicht auf den 
kontinuierlichen Bewegnngsverlauf, sondern auf Loka¬ 
lisationen an. Aus diesem Grunde betonte Vp. Dr. so oft bei 
dieser Schätzungsweise: »Das Fehlen des Hintergrundes macht 
mir die Aufgabe so schwer, denn ich kann die Lagen nicht 
vergleichen.« Deshalb kann sie auch nicht mehr ohne An- 
brin^ping einer Korrektur schätzen, wenn Lokalisationsände- 
mngen eintreten, während andere Vpn. sich dann sehr wohl 
noch an den fertigen Streckeneindruck halten können, unbe¬ 
kümmert darum, ob die Endpunkte über- oder aus- 
einanderfallen (Vp. M.). 

Charakteristisch wirkt eine Gegenüberstellung der Vpn. Dr. 
und Ste., die Entwicklung ihrer Schätzung bietet ein ganz ver¬ 
schiedenes Bild. Vp. Dr. geht von der aktiven Einstellung aus 

29* 



452 


Anna Lentz, 


und gelangt erst durch voUständige Umstellung zu der richtigen 
Auffassung der Bewegungsgröfien. Ihre Schätzung weist einen 

vollständigen Bruch auf, die U. E. von etwa steht der von 

bei der späteren Schätzung gegenüber. Vp. Ste. dagegen reali¬ 
siert von Anfang an die passive Einstellung, sie beginnt 
damit, sich »die Strecke ruhig anzusehen«. Die Feinheit ihrer 
Schätzung zeigt keine nennenswerten Differenzen. Sehr schön 
zeigen ihre Aussagen, wie sich ihr allmählich aber sicher die 
A. B. • Empfindungen aus dem komplexen Erlebnis abheben und 
schließlich in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit treten. Sie 
faßt alsdann »keinen fertigen Streckeneindmck« mehr auf, 
sondern etwas sich Entwickelndes, »einen Bewegnngseindruck«. 
Diese Aussage werden wir noch mit Angaben anderer Vpn. zu 
vergleichen haben. — 

Mitunter war bei Vp. Ste. »Erwartungsspannung« aufgetreten 
und es hatte sich dabei wiederum die »autokinetische Empfindung« 
eingestellt, durch sie ist sicher die kleine Überschätzung bedingt, 
die sich in den objektiven Kesultaten der Vp. zeigt. Doch 
betonte dieVp., daß eine Trennung der Bewegungs¬ 
illusion von der objektiven Bewegung hier viel 
leichter durchführbar sei, weil letztere in schnel¬ 
lerem Tempo geboten werde. Dies bestätigt unsere 
früheren Angaben. Da nun Vp. Ste. darauf hinwies, daß die 
Entstehung von Spannungszuständen sehr be¬ 
günstigt werde durch eine Verlängerung der 
Zwischenpause, (auch Vp. A hatte sich früher dahin aus¬ 
gesprochen), so wurden mit Vp. M. Eontrollversuche angestellt, 
bei denen die Pause doppelt so lang war. Dabei ergab sich, 
daß schon vor der Darbietung der Strecken starke Spannung 
sich entwickelte, die auch während der Darbietung sich fortsetzte 
und in starkem Fixieren des Endpunktes sich äußerte. Dabei 
wurde die optische Täuschung so groß, »daß das Licht genau 
da erschien, wo es erloschen war«. 

Fügen wir noch hinzu, daß diejenigen Vpn., die am 
besten eine passive, sensorische Einstellung re¬ 
alisieren konnten, nämlich Vp. M. und Vp. Ste. die 

feinste Ü.E. ^ erzielten, daß Vp. M. auch keiner¬ 
lei konstante Täuschung aufwies, so sind dies 
wohl genügend Beweise dafür, daß die passive 
Hingabe die zweckmäßigste Einstellung für die 
Streckenschätzung bedeutet. 



Experimentelle Untersnchnngen nsw. 


453 


Eine Znsammenfassnng der Ergebnisse aus den quantitativen 
Messungen nnd der Selbstbeobachtung der Vpn. bei der Strecken¬ 
schätzung in mittleren Geschwindigkeiten zeigt uns folgendes: 

1. Die Angenbewegnngsempfindnngen dienen als 
Hanptkriterium für die Streckenschätznng, 
eine besondere Betonung des Gesamteindrnckes 
und der Endlageempfindnng findet zuweilen statt 

2. Die feinste U. E. für die Streckenschätznng 

nach A.B.-Empfindungen betrug um die- 

öü 

selben rein hervortreten zu lassen, ist vor 
allem eine passive sensorische Einstellung zweck¬ 
mäßig. 

3. Die aktive Einstellung läßt die A.-B.-Emp- 
findnngen nicht rein zur Entwicklung ge¬ 
langen, vielmehr zeigt sich 

a) eine Verdeckung durch Spannungsent- 
wicklnng, die entweder als „Arbeitsspannung** 
starke Unterschätzung der Bewegungsgrößen 
hervorruft und sich mit steten Lokalisations- 
änderurgen verbindet oder als „Erwartnngs- 
spannung** sich zeigt und durch das Begünstigen 
der Bewegungsillusion eine häufige Über¬ 
schätzung bewirkt, 

b) ein zu motorisches Verhalten mit mangelhafter 
Fixation, bei der das Auge nicht immer genau der 
objektiven Bewegung folgt, so daß Geschwindigkeits- 
Schwankungen mitunter auftreten. — 


c) Aussagen der Tpn. bei der Zeltschätzung des InterTalls m. L.| 
Deutung dieser subjektiren Ergebnisse. 


Die Selbstbeobachtung der Vpn. zeigt hier gegen die vorige 
Zeitschätznng auf manche Variation in bezug auf die Anhalts¬ 
punkte der Schätzung hin. Da die Versuchsbedingnngen — mit 
Ausnahme der Zeitlänge — dieselben waren, so ist zu vermuten, 
daß die Länge des Danerintervalls nicht gleichgültig für die 
Wahl der »Zeitschätzungszeichen« zu sein scheint. Andererseits 
weist die Tatsache, daß die U. E. in beiden Intervallen fast die¬ 


selbe ist — hier 


— früher ^ —, auf eine Abhängigkeits¬ 


beziehung von konstanten Faktoren hin. 

Wenden wir uns nun der Selbstbeobachtung der Vpn. zu. 



454 


Anna Lents, 


Vp. Stö.: »Es ist sehr schwer, sich zn emanzipieren von der Strecken- 
schätznng. Ich mofi also meine Einsteilang todem. Die beste EinsteUang 
scheint mir die zn sein, die sich anf Existenz oder Nichtezistenz des Lichtea 
der zeitlichen Seite nach richtet. Ich sage mir: Mich kümmert 
nicht der Ort. Gebe ich mir diese Einstellung, so wird sie 
verdorben, wenn das jetzt ertOnt, nachdem das Licht schon eine 
Zeitlang da war; dadurch gewinnt für mein Bewufltsein doch der Ort eine 
Bedeutung. Dies verursacht einen Widerstreit mit der Einstellung, und 
man verfällt wieder in die Streckenschätzung. Rückblickend läuft 
man nun Gefahr Zusagen: Du hattest ja die Zeiteinstellung, 
ohne zu beachten, dafi sie wieder verdorben ist. 

Ich habe mich jetzt wesentlich an das Akustische gehalten, zuweilen 
lief noch eine Streckenschätzung mit unter. Aber die Konzentration 
der Aufmerksamkeit auf das Akustische ist realisierbar, 
allerdings ist der Anfangspunkt zu wenig akustisch markiert. Die visuelle 
Markierung desselben ist sicher deshalb sehr wenig passend, weil es un* 
angenehm ist, wenn der Anfang visuell, der Endpunkt akustisch hervor¬ 
gehoben ist. Ich vollzog nun eine Innervation im Kehlkopf. 
Am schönsten war es nun, wenn die Innervation am Anfang und auch am 
Schlufl mit der visnellen Hervorhebung zusammenfiel. 

Ich bemerke, daß sicher eine Abstraktion vom visuellen 
Eindruck, und zwar sofort durch die Einstellung bewirkt 
wird. — Meine Schätzungsweise ist so, daß ich mich halte 
an das Intervall zwischen zwei motorischen Innervationen. 
Daneben hat auch das akustische Intervall Bedeutung, es 
tritt aber hinter dem motorischen zurück. Die motorischen 
Innnervationen werden aber verschieden stark je nach dem Anschlag gesetzt, 
oft eine Kontraktion des Fingers. Ein starkes Unlastgefühl bei 
Beachtung derDifferenz des Anschlages trittauf, esgleicht 
kolossal einem Überraschungsgefühl. 

Meine Schätzung ist im allgemeinen so, daß primäre und sekundäre 
Anhaltspunkte in Betracht kommen. Primär wird beurteilt der 
zeitliche Abstand zweier Innervationen im Kehlkopf, se¬ 
kundär eine visuelle Vorstellungsstrecke, die nicht mit 
der visuellen Darbietung übereinstimmt. 

Ich erlebte jetzt nichtmehr die Hemmung der Atmung, 
die ich früher in Gestalt eines Inspirationsimpalses setzte. 
Hier trat eine reine Auffassung der Dauer ohne sinnliche 
Unterlage ein. Früher wurde die Dauer des Exspirations¬ 
impalses innerhalb der markierten Grenzen geschätzt, hier 
bot sich eine sinnliche Unterlage für die Schätzung nicht 
dar. Ich verhielt mich auch in diesen Fällen anders, ich 
ließ die Schätzung ruhig an mich herantreten. Die frühere 
Schätzung wies also gegen die jetzige zwei Differenzen auf: 1. ein 
starkes Hervortreten der motorischen Reproduktion; 2.eine 
deutlich ausgeprägte sinnliche Unterlage für die Dauer. 
Ich möchte noch hervorheben, daß ich heute viel passiver war, eine adäquate 
Auffassung der Normalzeiten wurde erzielt, so daß ihre Gleichmäßigkeit stets 
hervortrat.« 



Experimentelle Untersnchong^en nsw. 


455 


Die Selbstanalyse von Vp. Stö. zeigt uns klar den Ent¬ 
wicklungsgang ihrer Zeitschätznng. 

Als erste notwendige Voraussetzung zur Realisierung einer 
Zeitsch&tzung unter den gegebenen Versuchsbedingungen wird 
die wesentlich andere Einstellung betrachtet, die 
wir schon bei der früheren Zeitschätzung näher charakterisierten 
Bei Vp. Stö. tritt noch besonders hervor, wie durch Einstellung 
eine vollständige Ablenkung vom Räumlichen erzielt wird — 
»mich kümmert nicht der Ort« —, wie aber doch der Ort 
wieder Bedeutung gewinnt und eine Komplikation in der 
Schätzung hervorruft, wie wir sie bereits bei Vp. Ha. erlebten. 

Mit dieser Einstellung verbindet sich zugleich 
eine Aufmerksamkeitszulenkung zu denjenigen 
Empfindungsinhalten, die geeignet zu sein 
scheinen, das Zeitliche besonders hervortreten 
zu lassen. Ein Bevorzugen kinästhetischer Faktoren als 
Schätzungskriterium war bei Vp. Stö. umsomehr begünstigt, 
weil es sich zu Beginn des Danerintervalls nur um visuelle 
Faktoren handelte. Sie konnte das Geräusch der einschnappenden 
Perle nicht mehr wahmehmen. Bei anderen Vpn., die es wohl 
noch hören konnten, brauchte deshalb die Aufmerksamkeit bei 
der Zeitschätzung nicht unbedingt dem visuellen Bewegnngs- 
beginn zugewandt zu sein, es konnten also auch für die Zeit¬ 
schätznng ganz andere Empfindnngsinhalte in Betracht kommen. 
Wir sehen ferner bei Vp. Stö. eine Auffassung und Schätzung 
der Dauer zustande kommen, ohne daß sie sich in Beziehung 
zu einer sinnlichen Unterlage der Vp. darstellt Die Zeit¬ 
auffassung stellt sich dann als eine selbständige 
Größe dar, die nicht aus empirischen Tatbeständen 
von der Vp. abgeleitet werden konnte. Dsunit soll 
selbstverständlich nicht gesagt sein, daß es sich hier um eine 
psychische Größe handelte, bei der ein physiologisches Korrelat 
nicht vorhanden war, sondern es konnte vielmehr 
psychologisch das sinnliche Substrat nicht auf¬ 
gefunden werden, »eine sinnliche Unterlage für die Zeit¬ 
schätznng bot sich nicht dar«. Hier war also die relative 
Absonderung der zeitlichen Verhältnisse der Be¬ 
wußtseinsvorgänge, die Schumann nicht anerkennen 
kann, tatsächlich realisiert. 

Wir können also auch nicht mit Wundt annehmen, daß ein 
analoger Tatbestand wie bei der Raumauffassnng vorliege, denn 
auf Grund unserer experimentellen Untersuchung müssen wir 



456 


Anna Lentz, 


gerade hier eine wichtige Differenz betonen. Stets nämlich^ 
wenn eine Anffassnng und Beurteilung der Strecken» 
größe zustande kam, stellte sie sich den Vpn. dar 
als aus sinnlichen Tatbeständen — Empfin¬ 

dungen — ableitbar; ohne Beziehung zu diesen 
sinnlichen Faktoren, die im Einzelfall mehr oder 
weniger deutlich erlebt wurde, stellte sie sich 
nie dar. Analoge empirische Faktoren fär dieEnt- 
stehnng des Zeitbewußtseins ließen sich ab er nicht 
finden, es stellte sich hier in diesen Fällen deut¬ 
lich als eine selbständige Größe dar. — 

Es ist aber wahrscheinlich anzunehmen, daß wegen der 
Schwierigkeit der Schätzung mitunter ein Übergang in die 
mittelbare Zeitschätzung sich dadurch vollzog, daß die 
Vp. ihre Aufmerksamkeit der Intervallmarkiemng durch 
andere Sinneseindrficke, wie akustische Empfindungen und 
motorische Innervationen, zuwandte, bei deren Darbietung 
aber deutlich intensive und qualitative Differenzen 
sich zeigten, die komplizierend auf die Danerauffassung 
wirkten. 

Die übrigen Vpn. lassen sich in verschiedene Gruppen gliedern. 
Eine rein akustische Dauerschätzung vollzieht Vp. P. Sie 
sagt aus: 

Vp. P: >Der Zeitbeginn ist mir noch visnell gegeben, nnd ich habe die 
Tendenz, die Angen zn schliefien. Beim Vergleich ist das Erinnemngshild 
hauptsächlich akustisch. Häufig kommt das Visuelle als Bestätigung hinan, 
aber primär ist die akustische Schätzung.« 

»Ich schätze jetzt eine akustische Linie, es ist also das Interrall 
akustisch ausgefüllt. Die Linie, an der ich die Zeit schätze, ist durchaus 
nicht identisch mit der dargebotenen visuellen Linie. Diese ist hCchstens 
hinderlich. Die Linie, die ich schätze, ist ein zeitliches Hintereinander, 
eine Tonreihe.« 

»Auch als Anfangspunkt nehme ich nur das Akustische; denn nur so 
ist es mir möglich, vom visuellen Eindruck zu abstrahieren.« 

Bei Vp. P sehen wir denselben Kampf um die richtige Ein¬ 
stellung wie bei Vp. Stö., aber die Abstraktion von dem visuellen 
Bewegnngseindmck kommt bei ihr nur anfangs durch Einführung 
motorischer Hilfen zustande, später dagegen realisiert sie als¬ 
bald eine durchaus akustische Zeitschätznng, bei der nach ihren 
Angaben die Dauerauffassung prävaliert. Es findet eine 
vollständige Ausschließung der visuellen Fak¬ 
toren als Schätzungskriterien statt, da auch der 
Beginn akustisch markiert ist. — Umsomehr ist 



Experimentelle Untersncbangfen nsw. 


457 


bei Vp.P. der kolossale Unterschied in derU.E. für 
StreckenschÄtzung — 7 ^ 2 — gegenüber derü. E. 

fürZeitschützung — 4 ^^ — hervorznheben, er zeigt 

nns deutlich, daß dieStreckenschätzung nichtnach 
der Danerschätzung orientiert war. 

Die IL Grnppe umfaßt diejenigen Vpn., die mehrere Sinnes¬ 
gebiete als Substrat der Zeitsch&tzung in Anspruch nahmen. 
Es sind Yp.F. mit akus tisch-motorischer Zeitschätzung, Vp. 
Dr. mit motorisch-akustischer, Vp. Sch. mit motorisch¬ 
rhythmischer Zeitschätzung. 

Yp. F.: »Ich habe daa Bewußtsein, als ob ich sehe und es doch nicht 
anffasse. Ich bin üherzengt, daß ich, wenn der Fnnke nicht da 
ist, genan so aoh&tae. Ich kann Ober die Länge der Strecke dnrchans 
nichts anssagen. Die Angen gehen nnr mechanisch mit. Es ist 
ein Znstand, wie man ihn erlebt, wenn beim Elarierspiel jede Hand eine 
andere Taktart spielt. Ich merke mir das Anfangs- ond Schlnß- 
geränsch, aber ich ahme sie auch nach nnd spreche ta—ta.« 

Vp. Dr.: »Bisher war bei mir keine Spnr von Zeitsehätznng Torhanden, 
jetzt gelingt es mir, die Strecke znrttcktreten zn lassen, in¬ 
dem ich zn Beginn einen leisen Ton hervorhringe, dadurch 
wird die Anfmerksamkeit Ton der Bewegung abgelenkt. Ich 
hin sehr sicher, daß ich bei der Strecken Schätzung nie von der Zeitsehätznng 
abhängig war.« 

»In dieser Serie habe ich zn Beginn nnd Schluß auf das Knie geklopft, 
der Eindruck der Strecke geht verloren und ich schätze das Danerintervall 
zwischen den zwei Mnskelempfindnngen, dazu mache ich eine Handbewegnng. 
Ich glaube, daß mir die visuelle Ausfüllung gar nicht hilft. 
Denn ich muß eine sehr aktive Einstellung realisieren, um 
den Bewegnngseindrnckin den Hintergrund treten au lassen.« 

Vp. Sch: »Meine Aufmerksamkeit ist mehr nach innen ge¬ 
richtet, nicht auf den Sinneseindrnck, sondern auf mein 
inneres Zählen, es ist ein rhythmisches Zählen. Beim Be- 
wegnngsbeginn gebe ich mir stets einen Ruck. 

Bei der Zeitsehätznng erscheinen mir die beiden Normalzeiten vollständig 
gleich, auch könnte ich nichts über die Länge der Strecke anssagen.« 

Die objektiven Resultate dieser Vpn. zeigen deutlich eine 
Unterschätzung des Danerintervalls, die umso größer 
wird, je weniger akustische Elemente als Zeitmarkiemng in Be¬ 
tracht kommen. Da wir andererseits bei Vp. P. eine deut¬ 
liche Überschätzung fanden, so könnte man geneigt 
sein, die Unterschätzung auf das Vorwiegen der motorischen 
Faktoren zurückzuführen, umsomehr, da die Unterschätzung bei 
Vp. F., die am wenigsten motorische Hilfen verwendet, auch am 
geringsten ist. Hierüber können wir aber keine Entscheidung 



458 


Anna Lentz, 


treffen, bis wir uns über die motorische Schätzungsweise der 
Vp. M. — welche die in. Schätznngsgmppe bildet — orientiert 
haben. 

Vp. M.: »Meine Sch fttznng ist dnrcbang motorisch. Ich mache 
an Beginn nnd Schluß eine Bewegung mit der Zange; ich hin sehr sicher. 
Eine Oeschwindigkeitsändemng habe ich nie bemerkt, aber ich habe 
mitunter den Eindruck, daß der räamlich*yi8uelle Eindruck 
mit dem zeitlichen nicht fibereinstimmt. Ich lasse deshalb 
die Augen in der Pause sich beliebig hin und her bewegen, 
ähnlich wie bei den Soldaten Bührt euch! Denn die Doppel* 
urteile verursachen mir ein sehr unangenehmes Oeffihl, in 
diesen Fällen ist nämlich das Zeiturteil nicht so sicher 
wie das visuelle. 

Bei den beiden Nzn. richtet sich die Aufmerksamkeit 
nach außen, hauptsächlich auf den Bewegungsanfang und -Schluß. Nach 
der zweitenN. richtet sie sich nach innen und hält die Dauer 
zwischen den zwei Empfindungen fest. Das Motorische bezeichnet 
also nur die beiden Endpunkte, das Optische wirkt nicht störend. Bewußt 
richtet sieh die Zeitschätzung nur nach dem Erlebnis der 
beiden motorischen Innervationen, ich höre gar nicht das 
A kustische«. 

Obwohl Vp. M. als Zeitmarldernng motorische Hilfen in An* 
sprach nimmt, sehen wir durchaus nicht in ihren Zeitschätzungen 
eine Unterschätzung hervortreten, es zeigt sich vielmehr eine 
Überschätzung genau wie bei der akustischen Zeitschätzung 
von Vp. P. 

Wir finden also bei der Zeitschätzung m. L. Überschätzung 
des Dauerintervalls bei motorischer und akustischer Zeitschätzung, 
dagegen Unterschätzung bei akustisch*motorischer Zeitschätzung. 
Ob diese Täuschungen auf qualitativen oder intensiven Än¬ 
derungen der Empfindungen beruhten, die als sinnliches Substrat 
in Betracht kommen, konnte nicht entschieden werden, besonders, 
da von den Vpn. hierüber keine Angaben gemacht wurden mit 
Ausnahme von Vp. Stö u. P. 

Es war nun noch die Dauerschätzung der Vp. Ste. zu be¬ 
rücksichtigen, bei der es sich wieder um eine Schätzung ohne 
bewußte Inanspruchnahme sinnlicher Faktoren handelte. Vp. 
Ste. konnte nichts weiter .aassagen, als daß sie eine reine Dauer¬ 
schätzung vollziehe. Rhythmische Faktoren kämen dabei nicht 
mehr in Betracht, weil sie sonst alles mehr oder weniger gleich 
schätzen müsse. Ihr Verhalten war durchaus passiv. 

Da von allen Vpn. stets der gleichmäßige Ab¬ 
lauf der Nzn. betont wurde, so war zu vermuten, 
daß die wiederholte Darbietung der Nz. einen be¬ 
sonders günstigen Einfluß auf die Schätzung ans- 



Experimentelle Untersnchangen luw. 459 


geübt hatte, so daß auf diese Weise größere Feinheit der 
U. E. — 3^95 — gegenüber der Schumannschen Werten 

bei 600 a, bei 1000 a = :r 7 ^ Sek. — erzielt wurde. (Schu- 
00,0 lUUU 

mann: Über die Schätzung kl. Zeitgrößen. Zeitschrift für Psychol. 
u. Physiologie Bd. 4.) DieProbeversuche mit einmaliger Darbietung 
der Nz. lieferten interessante Besultate. — 


Yp. Dr: »Das Urteil ist viel sohwieriger. Bei zwei Darbietongen tritt 
die Gleichm&fiigkeit in der motorischen Innervation, hier der Handbewegnng, 
hervor; sie bezeichnete ich frtther mit Bhythmns. Der Vergleich ist noch 
klar, aber das erste Glied des Vergleiches ist nicht mehr klar.« 

Vp. M: »Ich bin nnsicherer, weil ich nicht ganz genau reagieren kann. 
Sicher ist, daß beim Vergleich das erste Glied mit Gewalt hervorgeholt 
werden muß; denn es hat nnr die Intensität wie nach langer Pause.« 


Die Feinheit der U. E. beider Vpn. zeigte einen enormen 
Rückgang, sie betrug bei Vp. Dr. noch bei Vp. M. gegen 


und der Zeitschätzungen mit zweimaliger Darbietung 


der Nz. Wenn auch eine weitere Gewöhnung an diese Dar¬ 
bietungsart sicher eine Verbesserung der Schätzung gebracht 
hätte, so blieb dennoch bestehen 1. das Fehlen der Ver¬ 
stärkung derNz.; 2. die erschwerte motorische Re¬ 
aktion; 3. das Fehlen des gleichmäßigen Ablaufes, 
alles Faktoren, die für eine genaue Beurteilung der Zeit von 
Wichtigkeit sind. Daß gerade die Verstärkung der Nz. durch 
die wiederholte Dai'bietung von großem Einfluß zu sein scheint, 
zeigt das Verhalten von Vp. Stö. und F., die selbst bei 2 Nzn. 
noch dazu tendieren, vor der Vz. dieselben akustisch oder mo¬ 
torisch zu reproduzieren. Menmann weist auch auf diese Eigen¬ 
tümlichkeit bei der Zeitschätznng hin. Die Untersuchung ergab 
also außer den Ergebnissen der früheren Zeitschätznng noch 
folgende wichtige Bestimmungen. 

1. DasAuftreten desDauerbewußtseins ohne sinn¬ 
liche Unterlage konnte mit gleicher Bestimmt¬ 
heit wie dasjenige mit sinnlicher Grundlage 
konstatiert werden. 

2. Die durchschnittliche U. E. der Zeitschätzung m. L. betrug 

feinste U. E. wurde von Vp. Ste. bei der 

Schätzung ohne Inanspruchnahme sinnlicher Substrate mit 

^ erreicht, 
oü 



460 


Anna Lentz, 


3. Die bei dieser Dauerschätznng anftretende Überschätzimg 
des Intervalls schien nicht eindeutig durch qualitativen 
intensiven Einfluß sinnlicher Faktoren bedingt zu sein. 
Sie konnte in keine direkte Beziehung zu sinnlichen Sub* 
straten gesetzt werden und trat auch bei der Zeitschätzung 
ohne sinnliches Substrat auf, die Zeitschätzung blieb eine 
unmittelbare. 

4. Nach Angaben der Vpn. ist die visuelle Ausfüllung nicht 
als Begünstigung für die Zeitschätzung anzusehen, weil 
sie eine Einstellung mit Negationen notwendig macht 
Aber die zweimalige D arbietung derN. und die 
Einschiebung von Pausen zwischen derN. und 
V. muß als besonders vorteilhafte Versuchs* 
bedingung betrachtet werden, weil durch erstere 
ein verstärktes Erinnerungsbild der Nzn., durch letztere 
eine Verarbeitungszeit für dieselben geboten wird. 

d) Die Aussagen der Ypn. bei der Zeitschätzang o. L. und die 
Deutung dieser Aussagen. 

Im folgenden Kapitel ist zum ersten Male eine Besprechung 
derjenigen Aussagen enthalten, die sich auf die Erlebnisse bei 
der Dauerschätzung o. L. beziehen. Die Tabelle U. E. n c, 
welche die Zeitschätznngen o. L. enthält, zeigt nun, „daß bei 
allen Vpn. — Vp. K. ausgenommen — eine charakteristische Über¬ 
schätzung der Vz. stattfand. Nach der Größe dieser Zeit- 
tänschung können wir die Vpn. so in Gruppen ordnen, daß jede 
Gruppe zur vorgehenden eine wachsende Überschätzung des Dauer¬ 
intervalls zeigt. 

L Gruppe: Die rhythmische Zeitschätzung. 

Vp. E.: »Ein ungeheurer Spannungszustand entwickelt sich zunftchst, 
indem eine wesentlich andere i^Btellnng als hei der Streckensch&tzung sich 
bemerkbar macht. Es ist ähnlich wie bei der Musik, dafi man sich einstellt 
auf den Takt. Es bildet sich jetzt eine gewisse Rhythmik 
ans, die etwas unklar wird, dadurch, dafi das Signal 'jetzt' mit hinein¬ 
gezogen wird. Die Vp. hat den Eindruck, dafi der Anfangspunkt nicht 
etwas Punktförmiges, sondern etwas Streckenförmiges hat, weil er so fein 
ist. Die Yergleichsglieder treten klar hervor. Vp. hält die Intensität 
des Schlufigeräusches für wichtig; denn wenn sie beider N. 
manchmal in etwas Schleifendes aufgelöst ist,8okommt ein 
unbestimmter Eindruck zustande.* 

BeiVp.Kwird dieBhythmisierungin direkteVer- 
bindung zu den begrenzenden akustischeuEmpfind- 
nngen gesetzt, es handelt sich nicht um eine zeit- 
messende Ausfüllung deslntervalls durch beliebige 



Experimentelle Untersnchnngen asw. 


461 


Betonungsformen, sondern nm den einenRhythmus 
derbegrenzendenGeräusche, der durch dieBetonung 
der dargebotenen Reize und ihren zeitlichen Ab¬ 
stand ein für allemal festgelegt ist. Während also 
die subjektive Rhythmisierung, wie sie bei Vp. Ste. und mitunter 
bei Vp. Sch. auftrat, geradezu ein Nichtbeachten der sinnlichen 
Faktoren mit sich bringt, wird bei Vp. E. das Gegenteil, 
eineAufmerksamkeitszuwendung zu den akustischen 
Faktoren sich zeigen müssen. Dies ist auch tatsächlich 
der Fall, sie glaubt sich oft beeinflußt von der Anschlagsdifferenz 
(Intensität) und auch von ihrer „Tonhöhe^* (Qualität). Es konnte 
nachgewiesen werden, daß der lautere Schlußanschlag zeitver- 
längemd, die größere Tonhöhe in gleichem Sinne zu wirken 
schien. Durch diese Tatbestände ergibt sich wiederum eine 
Bestätigung der Bestimmungen Menmanns, daß bei rhythmischen 
Zeitschätzungen die Verschiedenheit der Eindrücke, sie sei 
intensiver, qualitativer oder räumlicher Art, durchaus in gleichem 
Sinne zeitverändemd wirkt, wenn dabei ein analoger rhythmischer 
Eindruck durch die Art der Verteilung von Verschiedenheit und 
Gleichheit gegeben ist (Phil. St IX S. 302.) 

Die II. Gruppe umfaßt die Zeitschätznng mit Hilfe von 
motorischen Empflndungen und Spannnngsempflndungen. 

Vp. M.: »Der aknstische Eindmck lOste eine motorische Empfindung 
SOS, ein innerlicher Buck und eine Znngenbewegnng kam zustande, das 
Intervall zwischen den zwei motorischen Empfindungen wurde geschätzt. 
Ich sehe keinen sich bewegenden Schlitten, aber ichlokali- 
siere den ersten Schall ganz deutlich rechts, den zweiten 
deutlich links. Ich habe keine Spur von Dauer, sondern nur zwei 
motorische Innervationen, in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge. 

Es ist dennoch eine Spannung vorhanden während der Darbietung. 
Ich bemerke nämlich jetzt, daß nach dem ersten Beiz keine Entspannung 
eintritt, sondern die Spannung zieht sich von der ersten zur zweiten 
Innervation hin, aber nicht sehr stark, so daß ich zuerst meinte, es sei mir 
nur die zeitliche Sukzession der beiden Innervationen gegeben. Ich glaube 
aber, daß durch die optische Verbindung die Dauer energischer markiert 
wird, weil die zwei begrenzenden Beize Licht eine Einheit bilden, hier 
muß ich synthetisch tätig sein durch Zusammenfassen der einzelnen Teile. 
Ich brauche daher viel mehr Energie, ab er die Sicherheit 
ist auch großer als bei visueller Ausfüllung. Die Eindrücke haften hier 
fester, weil sie fester eingeprägt werden. Ich atme auch stets mit der ersten 
Empfindung ein, mit der zweiten ans, sonst glaube ich nicht schätzen zu 
können. Es sind damit Spannungen verbunden, etwas Bäumliches tritt nicht 
auf bei der Schätzung.« 

Zu den Beobachtungen, die Vp. M. bei ihren früheren Zeit- 
schätznngen m. L. gemacht hat, kommt hier eine wesentlich 



462 


Anna Lents, 


neue hinzu, nämlich die Verwendung von Spannungsempfindnngen 
als Zeitmarkiemng, und zwar in ähnlicher Weise, wie sie früher 
von Vp. Stö. für die Zeitschätznng benutzt wurden. Doch ist 
die sinnliche Interyallausffillnng so schwach, dafi sich die Syn¬ 
these nicht von selbst, sondern erst mit großem Energieaufwand 
ergibt. Durch das große Maß der angewandten 
Energie und sicherlich auch durch das Wegfallen 
der negativen Einstellung in bezug auf die 
visuelle Komponente erklärt sich der außer¬ 
ordentlich feine Wert derü. E. der allerdings 

noch weit hinter der U. E. für Streckenschätzung, zurücksteht. 
Eine Abhängigkeit der Schätzung hat also sicher nicht bestanden, 
^ist die feinste Zeitschätzung, die wir über¬ 
haupt — sei es m.L. odero. L. — erreichten. Sie 
wurde nur von Vp. M. bei dieser Schätzung erreicht Eine 
Beeinflussung durch mittelbare Zeitschätzung konnte nicht nach¬ 
gewiesen werden, eine kleine Überschätzung konnte konstatiert 
werden. 

Die III. Gruppe umfaßt die Zeitschätzungen, für die als 
sinnliches Substrat motorische, akustische und Spannungsempfin¬ 
dungen in Betracht kommen, bei denen auch visuelle Vorstellungen 
eine Rolle spielen. 

Vp. Stö.: »Ich kann mich jetzt viel leichter aknstisch verhalten, vreil 
ich viel passiver bin, motorisch ist nur die Markiemng des Anfangspunktes. 
Bei der visnellen Zeitschätznng bin ich zn aktiv, dann bin ich nicht 
aknstisch. Die subjektiven Aussagen sind sicher, aber die Schätzungen 
sind sehr unbefriedigend. 

Meist verfahre ich so, daß ich zwei Innervationen vollziehe. Ist nun 
die Zeit, wo die zweite Innervation vollzogen werden müßte, da sie selbst 
aber noch nicht da, so sage ich ,Iänger'. Oder ich urteile, wenn ich die 
zweite Innervation schon vollzogen habe ,kürzer'. Eine deutliche Aus¬ 
füllung des Intervalls durch Spannung ist noch nicht vorhanden. Meist ist 
bei Beginn und Schluß ein Exspirationsstoß, das Verhalten der Atemmns- 
knlatnr spielt also eine Rolle. Visuelle Vorstellungen habe ich erst nach 
der Darbietung, achte ich aber darauf, so vergrößert sich die Strecke und 
sie kommen auch während der Darbietung zustande. 

Ich bemerke jetzt, daß sich die Schätzung in folgender 
Weise vollzieht. Die Verbindung zwischen den zwei Ex- 
spiratioiTsimpnlsen besteht in einer schwachen Fort¬ 
setzung des ersten Exspirationsimpnlses, so wird die 
Dauer markiert. Die Schätzungen richteten sich nach diesen Impulsen 
und nach den Innervationen im Kehlkopf.« 



Experimentelle Untersnchnngen qbw. 


463 


Vp. Sch. vollzieht fast genau dieselbe Schätzungsweise wie 
Vp. Stö., ihre Aussagen sind auch dementsprechend fast flber- 
einstünmend. — Vollständig neu ist bei der Zeitschätzung o. L. 
das Auftreten visueller Vorstellungen. Wenn sie sich auch 
erst sekundär aufdrängen, so scheinen sie mitunter doch fOr die 
Schätzung von Bedeutung zu sein, indem durch sie eine Art 
visueller Dauermarkierung zustande kommt (Vp. Sch.). 

ln der IV. Schätzungsgruppe kommen akustische und 
rhythmische Tatbestände in Betracht, bei Vp. F. treten auch 
noch visuelle Vorstellungen hinzu. 

Vp. Er.: »Daa Anfangsger&iuch am Apparat scheint mir jetzt so scharf 
markiert, daß ich keine besondere Energie mehr inm Anffassen desselben 
branche, seitdem ist die Spannung in den Ohren nicht mehr bemerkbar. 
Ich suche rein akustisch zu schätzen. Beim Vergleich sind zwei Qräßen 
im Gedächtnis, 1. Die akustische Vorstellung des Noimalrbythmus, daneben 
2. die Wahrnehmung der Vs. Der Unterschied wird unmittelbar erfaßt. 
Bei feinen Unterschieden sage ich mir oft, ich härte früher, als ich hären 
mußte, also war die Zeit kürzer. 

Eine verschiedene Intensität des Schlnßtones bei der Nz. und Vz. habe 
ich nie bemerkt, sicher bin ich, daß ich nie danach geschätzt 
habe. Auch ist mir bei der akustischen Schätzung der Anfangspunkt 
besser markiert, als durch den visuellen Beiz. Es ist viel schwerer, den 
Beginn der Lichtbewegung als Zeitpunkt zu erfassen. Ich glaube, die 
akustische Darbietung gibt zeitlich eine viel schärfere Umgrenzung. Cha* 
rakteristisch ist bei dieser Schätzung, daß ich mir oft sage, es war ein 
Unterschied da, nur weiß ich nicht, nach welcher Seite.« 

Ganz ähnliche Tatbestände finden wir bei Vp. F. Auch sie 
hat vorwiegend akustische Zeitschätzung, mitunter rhythmische 
Auch die Spannung in den Ohren tritt zuweilen hervor. Des¬ 
gleichen macht sie die Beobachtung, daß sie mitunter nur das 
Bewußtsein der Nichtgleichheit der Nz. und Vz. hat, ohne angeben 
zu können, nach welcher Seite der Unterschied Uegt. 

Die V. Gruppe umfaßt die akustisch-visuelle Zeitschätzung 

Vp. P.: »Meine Zeitschätzung ist aknstisch-visnelL Die visuelle Vor¬ 
stellung ist sehr ausgeprägt, ich sehe die Schiene mit dem laufen¬ 
den Schlitten. Beim Vergleich beurteile ich die Dauer zweier akustischer 
Elänge. Ist die visuelle Ausfüllung stark vorhanden, so tritt das Akustische 
stark zurück. Eine kräftige visuelle Vorstellung auch beim Zurückgehen 
des Schlittens bildet sich aus, denn das Zurückgehen des Schlittens ist mit 
einem Ton verbunden, und die visuelle Vorstellung ist deshalb wichtig, 
weil sie zur Vermeidung der stärenden Geräusche des Schlittens beim Zu- 
rttckgehen beiträgt, indem sie die Aufmerksamkeit beschäftigt. 

Ich habe die Augen stets geschlossen; ist der Anschlag stark, so ist 
die Tendenz vorhanden, eine Eorrektion nach der entgegengesetzten Seite 
anznbringen und zu sagen, kürzer'«. 

Vp. Ste.: »Ich bemerke jetzt erst, daß es bei der Zeit¬ 
schätzung m. L. ganz ausgeschlossen war, genau auf das 



464 


Ann& Lentz, 


Akastische la achten. Ich finde die Schitznng sehr anstrengend nnd 
glaube, dali die letzten Resultate in jeder Serie besser werden, da ich dann 
erst eingettbt bin. Wenn der Schlnfianschlag sehr leise ist, so kommt ea 
mir stets kleiner vor, ist aber der zweite Schlag stärker, so wird die Zeit 
verlängert. Ich beurteile das Akustische, Visuelles ist nur insofern vor¬ 
handen, als stets die Vorstellung eines visuellen Zeichens, eines Jambn, 
während des Intervalls sich einstellt, keine Streckenlänge. Ein leeres 
Intervall ist nicht da.« 

Wenn wir die Angaben der Vpn. in Beziehung zu ihren 
Zeitschätznngen setzen wollen, so können wir zunächst davon 
ansgehen, daß wir eine Gmppenanordnnng eingeführt haben, 
bei der es sich um eine steigende Zeitttberschätznng handelte. 
Unsere erste Frage, die wir zu beantworten haben, wird sein: 

Wie erklärt sich die Überschätzung des Dauerintervalls? 

An zweiter Stelle wird uns die Frage beschäftigen: 

Wie kommt es, daß die Zeitschätzungen m. L. fast bei allen 
Vpn. hinter den Zeitschätzungen o. L. an Feinheit zuruckstehen? 

Was die Frage der Zeitüberschätznng anbetrifft, so 
werden von den verschiedensten »Zeitsinnforschem« Intervalle 
angegeben, bei denen ein Indifferenzpunkt der Zeitauffassnng 
vorhanden ist, wo also weder positive noch negative Zeittäu¬ 
schungen vorhanden sind. Nach Kollert (PhiL Stnd. I S. 80) 
liegt er bei 0,7 Sek., nach Meumann (Phil. Stud. IX S. 282) bei 
0,5—0,6 Sek., er ist nach seinen Angaben streng genommen nur 
für die sogenannten »reizfreien Zeiten« gültig, während bei 
ausgefüllten Zeiten stets die Tendenz zur Überschätzung vor¬ 
handen ist. 

Die hier auftretende Überschätzung des Dauerintervalls sind 
wir gezwungen als durch bestimmte sinnliche Faktoren veranlaßt 
anzusehen. Tragen wir die subjektiven Gleichheitspnnkte nach 
wachsender Überschätzung auf einer Geraden auf nnd vergegen¬ 
wärtigen wir uns zugleich die sinnlichen Substrate, die als Zeit¬ 
markierungszeichen in Ansprach genommen wurden, so sehen 
wir eine wachsende Überschätzung mit Bevorzu¬ 
gung der akustischen Zeitschätznng. 

mot. Spannonfi: mot. vis. aknst. rhvth. ak. rhythm. vis. akast. akost. 

H-1-1-1-1- 

— 1,9a —2,7a —3,4a —4,2a —9,4a —9,8a 

M. Sch. Dr. F. P. Ste. 

Wir finden nun bei fast allen Vpn. die Angabe 

— sehr deutlich und zu wiederholten Malen— daß 
der Intensitäts -oder Qnalitätswechsel des Schluß« 
anschlages bei der V. einen enormen Einfluß auf 
die Auffassung der Größe des Dauerintervalls 



Experimentelle Untersnchnngen nsw. 


465 


habe. Und zwar kann die Richtung der Zeittäuschnng bei den 
Intensitätsänderungen genau angegeben werden, indem der 
stärkere Anschlag eine subjektive Verlängerung 
des Intervalls zustande brachte, der schwächere 
eine Verkürzung. Ganz analoge Tatbestände gibt Menmann 
an bei der Schätzung der Intervalle 12 3®, es wurde das zweite 
Intervall subjektiv verlängert (IX. S. 297). 

Auch die Qualität spielt eine Rolle, nur ist der Unter¬ 
schied so fein, daß die Vpn. nicht eindeutig angeben können, 
wie die Abstufung der Tonhöhe auf die Größenauffassung wirkt. 
Zu den qualitativ-intensiven Einflüssen müssen wir auch die 
verschiedene Lokalisation des Schlußgeräusches 
rechnen, die von manchen Vpn. als sehr wichtig für die Schätzung 
angegeben wird (Vp. F. und P.), von andern mitunter konstatiert 
wird (Vp. M.). Diese Deutung liegt uns nicht nur deshalb nahe, 
weil auch Meumann die zeittäuschenden Einflüsse der Lokali¬ 
sationsänderungen im gleichen Sinne wie die qualitativ-intensiven 
experimentell bestätigt fand, sondern auch, weil gerade die 
akustisch schätzenden Vpn. sie für die Beurteilung als sehr 
wichtig ansehen. 

Eontrollversuche ohne Anschlag bestätigten durchaus die 
zeittäuschende Wirkung der qualitativen und intensiven Ände¬ 
rung des Schlußgeräusches. Die Zeitschätzungen der Vpn.P. 
und Ste. sind also stark durch die mittelbare Zeit¬ 
schätzung beeinflußt. Sie unterscheiden sich auch objektiv 
von den Schätzungen der übrigen Vpn. durch die starke 
Überschätzung und dadurch, daß sie an Feinheit hinter 
den Zeitschätzungen m. L. zurückstehen, was bei 
sämtlichen übrigen Zeitschätzungen nicht der Fall war. 

Meumann hat also sicher recht, wenn er es als eine wichtige 
Aufgabe der Zeitsinnforschung ansieht, den Einfluß derbegrenzenden 
Empfindungen auf die Intervalle festzustellen (IX, S. 266). 

Versuche mit einmaliger Darbietung der Nz. brachten auch 
hier einen Rückgang in der Feinheit der Zeitschätzungen. 

Weisen wir kurz auf die Gründe für die größere Genauig¬ 
keit der Dauerschätzung o. L. hin, so kommt als I. Faktor die 
akustische Darbietung in Betracht, als II. Faktor das Wegfallen 
des optischen Bewegungseindruckes. Wir müssen ferner annehmen, 
daß als in. Faktor der Gedanke des sich bewegenden Lichtes 
insofern für die feinere Zeitschätzung mit verantwortlich war, 
als durch ihu eine gleichmäßige Intervallausfüllung zustande kam. 
Als rv. Faktor kam in Betracht, daß die Auffassung des akustisch 

ArohiT für Psychologie. XLVm. 80 



466 


Anna Lentz, 


gegebenen Zeitbeginns den Ypn. leichter zn Tollziehen war als 
die des visnell markierten. Ziehen wir nnn auch noch in Betracht, 
daß die wiederholte Darbietung der Nz. und die Einffthrong der 
Pausen als besonders günstige Bedingungen angesehen werden 

mußten, so ist es erklärlich, daß wir eine feinere ü. E., ~ ^ , 

erreichten als andere Experimentatoren, wie etwa Mehner mit 

0,036 U. E, also etwa ^. Da nun ferner bei dieser Zeitschätznng 

0 . L. ein negativer Zeitfehler auftrat, der sich auf den Qnalitäts- 
nnd Intensitätswechsel der begrenzenden Empfindungen zurfick- 
ffihren ließ, so ist es nicht berechtigt ,aUgemein zu behaupten, 
die Zeittänschung sei immer direkt abhängig von der Intervall* 
kürze, bezw.-länge. Hier zeigte sich eine Art der Zeit¬ 
tänschung, die nur insofern abhängig von der 
Intervallkürze oder -länge war, als mit der Kürze 
die begrenzenden Empfindungen mehr hervortraten, 
mit der Länge mehr die zwischen ihnen liegende 
Dauer. Und damit war auch noch keine eindeutige 
Richtung der Zeittäuschung gegeben, sondern es 
kam nun noch darauf an, welche Empfindungen als 
sinnliches Substrat der Zeitmarkierung in Erscheinung 
traten. Die experimentellen Tatbestände zwingen uns demnach, 
im allgemeinen den Grenzwert für den Indifferenz¬ 
punkt als individuell verschieden anznnehmen. 

§ 4. Allgemeiner Tergleich zwischen der Strecken- nnd 
Danerschätznng bei mittleren Geschwindigkeiten. 

In kurzen Zügen soll im folgenden Kapitel eine Zusammen¬ 
stellung über das gegenseitige Verhältnis der Strecken- und 
Danerschätznng gegeben werden. 

Gehen wir von der Selbstbeobachtung der Ypn. aus, so ist 
an erster Stelle die wesentlich verschiedene Ein¬ 
stellung bei den beiden Arten der Schätzung her¬ 
vorzuheben. Diese Differenz ist so ausgeprägt, 
daß die Einstellung für die Streckenschätzung 
geradezu eine Hemmung für die Realisierung der Ein¬ 
stellung auf Dauerschätzung m. L. bedeutete, wodurch 
zugleich ein Übergang aus einer Schätzung in die andere sehr er¬ 
schwert wurde. Hierdurch wurden aber reine Streckenschätznngen 
einerseits, reine Dauerschätzungen andererseits garantiert. 



Experimentelle Untersnchnngen nsw. 


467 


Bei der Darbietnng des optischen Bewegungseindmckes müssen 
wir 2. die Einstellnng anf ränmliche Streckenschätznng 
als die leichter zn realisierende betrachten; denn 
nnr so erklärt es sich, daß bei der Danerschätznng eine Ein¬ 
stellnng vollzogen werden muß, bei der die willkürliche Abstraktion 
vom räumlichen Streckeneindmck dentlich im Bewußtsein hervor¬ 
tritt, bei der Streckenschätzung aber ein absichtliches 
Abstrahieren von der Dauerauffassnng nicht voll¬ 
zogen werden muß, ja die gebotenen akustischen 
Momente vielfach gar nicht wahrgenommen werden. 
Deshalb können wir sagen, daß bei der Darbietung visueller 
Bewegungsgrößen die räumliche Streckenschätzung gegenüber 
der Danerschätznng die primäre ist. 

An dritter Stelle ist hervorzuheben, daß an die ver¬ 
schiedene Einstellung im allgemeinen sich ein B[ervor- 
treten ganz verschiedener Sinnesinhalte im Bewußtsein 
anknüpfte, die als sinnliche Substrate für die 
Schätzungen in Betracht kamen. Wandte sich aber 
die Aufmerksamkeit gleichen sinnlichen Faktoren 
sowohl bei der Streckenschätzung wie bei der Dauer- 
schätznng zn, so kam in dem einen Falle nur das 
Räumliche, in dem anderen das Zeitliche der be¬ 
treffenden Empfindungen in Betracht. Dahin weisen 
nicht nur die Aussagen der Vpn., sondern anch die objektiven 
Resultate. Denn werden Spannungsempfindnngen bei der Strecken¬ 
schätznng verwandt, so zeigt sich Unterschätzung der Bewegungs¬ 
größen, treten sie in den Dienst der Zeitschätzung, so zeigt sich 
keine Unterschätzung der Dauerintervalle. Damit aber, daß 
die Aufmerksamkeit sich bei beiden Arten der Schätzung 
verschiedenen Sinnesinhalten zuwendet oder aber 
bei Inansprnchnahme gleicher Empfindungen doch 
nicht dasselbe an den Empfindnngen schätzt, hängt 
es zusammen, daß gewisse sinnliche Faktoren nnr 
dann als Täuschung beeinflussend auftreten, wenn 
die betreffenden Schätzungen vollzogen werden, 
so daß ihr Vorhandensein die anderen Schätzungen 
gar nicht ändert. Einen ausschlaggebenden Beweis hierfür 
bilden die akustischen Zeittäuschungen durch den Anschlag und 
die optischen Täuschungen bei der Streckenschätzung. Erstere 
wirken nur zeitverändemd, letztere nur streckenverändemd. 
Daraus ist aber ersichtlich, daß die Anfmerksamkeitsrichtung 
in beiden Fällen eine ganz verschiedene gewesen sein muß. — 



468 


Anna Lents, 


Stellen wir non die Streckenschätznngen bei mittleren Geschwindig¬ 
keiten mit ihrer dnrchschnittlichen U. E. von = 7 ^ und dea 

07,4 67,0 

Zeitschätzungen m. L. mit der U. E. von — und und der 

0 . L. von gegenüber, so können wir sagen, die quanti¬ 
tativen Messungen bilden durchaus eine Bestätigung 
der subjektiven Analyse. Denn sie zeigen, daß die 
Feinheit der Schätzung für Streckengrößen bei 
mittleren Geschwindigkeiten nicht erreicht wird 
von der Dan er Schätzung, daß demnach die Strecken- 
schätznng unmöglich nach der Dauerschätzung orien¬ 
tiert sein konnte, die A. B.-Empfindungen für die 
feinen Resultate bei der Streckenschätznng also 
durchaus verantwortlich zu machen waren. 

Außer diesen wichtigen Beziehungen zwischen der Zeit- und 
Streckenschätzung hatte die Untersuchung für jedes Schätzungs¬ 
gebiet wichtige Aufklärungen gebracht. 

Es zeigte sich: 

1. Die Möglichkeit, die Bewegungsempfindungen zu isolieren, 
durch leichte Fixation eines sich bewegenden Lichtpunktes (im 
Gegensatz zu Dodge und andern Autoren). (Dodge: The parti- 
cipation of eye movements in the visual perception of motion.) 

2. Eine Bestätigung der Versuche von M. Binnefeld, 
indem auch bei unsern Versuchen die A.-B.- Emp¬ 
findungen eine ausschlaggebende Rolle spielten. 
Damit war aber auch eine Entscheidung gegen die 
Nativisten Hering und seine Anhänger gegeben. 

3. Die Dauerauffassung konnte ohne Beziehung 
zu einer sinnlichen Grundlage erlebt werden, eine 
Isolierung des zeitlichen Tatbestandes ist also 
mit Meumann anzunehmen. 

4. Nicht nur die Qualität und Intensität der be¬ 
grenzenden Empfindungen, sondern auch dielnter- 
vallausfüllung müssen wir mit Menmann als die 
Zeitbeurteilung beeinflussend betrachten und müssen 
erweiternd betonen, daß die Intervallansfüllung 
nicht nur von den dargebotenen Reizen abhängt, 
sondern auch von den Vpn. beliebig anders gewählt 
wird. Wenn es uns gelungen ist zu zeigen, daß die 



Experimentelle Untersnchnngen osw. 


469 


Angenbewegungsempfindangen für die Schätzung 
Ton Streckengröden yon wesentlicher Bedeutung 
sind, so ist damit ihre Bedeutung für die Auffassung 
des Raumes nahegelegt Hierdurch weist die in engen 
experimentellen Schranken gehaltene Untersuchung weit über den 
Rahmen der unmittelbaren psychologischen Überlegungen hinaus. 

An dieser Stelle möchte ich Herrn Geh. Rat Prof. Dr. Störring, 
der mir die Anregung zur vorliegenden Arbeit gegeben hat und 
auch während der Ausführung der Untersuchung stets das regste 
Interesse bekundete und mir durch seine Ratschläge behilflich 
war, meinen aufrichtigsten Dank aussprechen, besonders auch 
dafür, daß er sich in liebenswürdiger Weise als Vpn. zur Ver¬ 
fügung stellte. Mein besonderer Dank gebührt auch Herrn 
Professor Dr. Erismann für seine theoretischen und prak¬ 
tischen Ratschläge, desgleichen Herrn Dr. philos. Amsler für 
die Mithilfe bei der Einrichtung der Versuchsanordnung. 

Ebenso danke ich allen Vpn. recht herzlich für die vielen 
geopferten Standen und ihr reges Interesse. 

(Eingegangen am 18. Febrnar 1924.) 



(Aus dem Psychologischen Institut der Universität München.) 


Über Faxbenempfindungen bei intermittierendem 
farblosem Lichte. 

Von 

R. Pauli und A. WenzL 
(Mit 2 Figfiuen im Text.) 

1 . Verguchsergehnlsse. 

G.Th.Fechner hat zuerst Mitteilung überFarbenerscheinungeu 
gemacht, die an rotierenden Scheiben mit Schwarz-Weifisektoren 
innerhalb der FLimmerzeiten anftreten (7). Seitdem sind diese 
Erscheinungen verschiedentlich erwähnt worden, auch in Ver¬ 
bindung mit Blrklämngsversuchen, ohne Gegenstand einer ein¬ 
gehenden Untersuchung geworden zu sein. Nur die Arbeiten von 
C. Baumann sind unter diesem Gesichtspunkte zu nennen; sie 
bringen auch Abbildungen der seither verwandten Scheiben (2). 
Im folgenden sollen die Ergebnisse einer systematischen Prüfung 
aller einzelnen Versuchsbedingungen mitgeteilt werden, die im 
zweiten Teile der Arbeit theoretisch ausgewertet sind^). 

Das vollständigste Bild der Erscheinungen liefert die Ben- 
hamsche Scheibe (s. Fig. 1). Mit ihr wurden die Hauptversuche 
angestellt, während die übrigen Scheiben zur Ergänzung und 
zum Vergleich dienten. Die Beobachtnngsbedingungen waren: 
je 4 Minuten Beobachtungsdauer; die Beleuchtung bestand — 
unter Ausschluß von unmittelbarem Sonnenlichte — in diffusem 
Tageslicht, vermittelt durch ein großes Fenster im Bücken der 
Vp. und weiß getünchte Wände; die Versuchsstunden fanden 
regelmäßig zwischen 11 und 1 Uhr statt; der Scheibendorch- 


1) Einen Teil dieser Beobachtungen hat Herrcand.phiL Earl Lieblang 
unter Leitung des ersten Verfassers ansgeftthrt. Als Vpen. stellten sich in 
dankenswerter Weise Herr Privatdozent Dr. K. Hnber nnd Herr Dr. Hill- 
mayr zur Verfttgnng. 



B. Pauli and A. Wenzl, Über Farbenempfindongen asw. 471 


messer war gleich 20 cm; der Hintergrund bestand aus einer 
großen Papp wand von einem Grau, das dem Verschmelzungsgrau 
der Scheiben nahekam, demnach Kontraste weitgehend ausschloß; 
der Abstand von Scheibe und Auge betrug 1 m; als Fizations* 
punkt diente die Scheibenmitte, z. T. auch der Ort der Farben- 
erscheinung selbst. Als wichtigste Bedingung für die Entstehung 
und gesonderte Erzeugung der Farbenempfindungen ist die Um< 
drehungsgeschwindigkeit zu betrachten. Sie wurde in den 
Grenzen von 3—50 Umdrehungen für die Sekunde geändert und 
abgestuft von 2 zu 2: im Gegensatz zu dem naheliegenden 
Verfahren einer kontinuierlichen Geschwindigkeitsänderung, das 



Fig. 1. 


die Gefahr einer Überlagerung der Erscheinungen und einer 
Störung durch Nachbilder in sich schließt. Es lassen sich drei 
zeitlich und qualitativ verschiedene Farbenerscheinungen nach- 
weisen. Die erste — Phase I — zeig^ sich bereits bei ganz 
geringen Geschwindigkeiten (3,5 Umdrehungen in der Sek.). Sie 
ist lediglich an den Bingstücken bez. an den durch sie hervor¬ 
gerufenen Kreisen zu beobachten. Die inneren Kreise erscheinen 
abwechselnd rot- oder grüngelb, vorwiegend im letzteren Tone. 
Die Farbqualitäten sind ungesättigt, d. h. mit Grau versetzt. 
Die Färbung der Kreise ist nicht gleichmäßig, sondern öfters 



472 


B. Paoli and A. Wennl, 


durch einen dunklen, rotbraunen Sektor unterbrochen. An den 
mittleren und äußeren Kreisen dagegen treten blau-violette nnd 
schwarz-blaue Farbtöne auf. Im ganzen sind diese Erscheinungen 
bis kurz vor der Verschmelzung (etwa 45 Umdrehungen) sichtbar. 
Doch machen sich Unterschiede bemerkbar derart, daß 3,5—17 
Umdrehungen die Phase für sich genommen zeigen. Am gün¬ 
stigsten sind 7—8 Umdrehungen. Zwischen 17 und 29 Umdreh¬ 
ungen wird die Phase I durch die nachfolgende Phase beein¬ 
trächtigt ; sie büßt in ihrem Auftreten an Intensität nnd Regel¬ 
mäßigkeit ein. Danach tritt sie wieder reiner, wenn auch ab¬ 
geschwächt hervor. Die Änderung der Umdrehungsrichtung 
— gewöhnlich im Sinne des Uhrzeigers — hat einen Einfluß 
auf das Auftreten der Farben: bei Umkehrung der Richtung er¬ 
scheinen die äußeren Ringe in den Gelb-Brauntönen, während 
die inneren blau-violett werden. Phase I ist im wesentlichen 
nur bei der Benhamschen Scheibe zu beobachten; sonst da, wo 
in die weißen Teile der Scheiben schwarze Punkte, Linien oder 
ähnliche Ansatzstücke hineinragen (vergl. die Abbildungen bei 
Banmann). 

Die verwickelten Reizbedingungen, die mit den Kreisaus¬ 
schnitten der Benhamschen Scheibe gegeben sind, werden zweck¬ 
mäßig gesondert an je einem Ring bez. Ringstück untersucht. 
Dabei sind folgende Einzelheiten geprüft worden: Die Beschaffen¬ 
heit der Scheibe (ganz weiß oder halb schwarz bez. farbig; 
s. die Abbildungen der Zusammenstellung); die Zahl der Kreis¬ 
stücke (je eines bei der innersten und äußersten Sektorengruppe, 
je zwei bei den mittleren Kreisstücken der Benhamscheibe; veigL 
auch Abb. 1 und 3 der Zusammenstellung); die Größe der Kreis¬ 
abschnitte bez. Öffnungen; die Art des Ansatzes an den schwarzen 
oder farbigen Halbkreis (rechts oder links, wagerechte Stellung 
des schwarzen Halbsektors vorausgesetzt, und zwar unten: vergl. 
die innerste nnd die äußerste Sektorengruppe der Normalscheibe); 
der Kreisdurchmesser (entsprechend den 4 Benhamschen Sektoren¬ 
gruppen unter Berücksichtigung des jeweiligen mittleren der 
3 Kreisstücke); die Farbe der Kreisstücke und des einen Halb¬ 
sektors (schwarz entsprechend Benham, dazu rot und grün); endlich 
die Geschwindigkeit und Richtung der Umdrehung. Zwecks 
einfacher Herstellung dieser zahlreichen Versuchsbedingungen 
bedient man sich Maxwellscher Scheiben, deren es je 2 bez. 3 
bedarf. Der letztere Fall gilt für die Verwendung zweier Kreis¬ 
stücke, entsprechend den beiden inneren Sektorengruppen Ben- 
hams. Eine Scheibe bleibt weiß, eine wird mit einem schwarzen 



über Farbenempfindongen bei intermittierendem farblosem Lichte. 473 

oder farbigen Halbsektor versehen, die übrigen mit Kreisen oder 
Kreisausschnitten. Bei passender Verwendung der Vorder- und 
Rückseiten genügen etwa 12 Scheiben. Die Ergebnisse solcher 
Versuche sind aus der Zusammenstellung zu ersehen. Versuchs- 
bedingnngen, über die nähere Angaben fehlen, sind ohne wesent¬ 
lichen Einfluß; so z. B. Umdrehungsrichtung und Geschwindig¬ 
keit bei Scheibe 1, ferner die Größe der Ringstücke und Kreis¬ 
öffnungen usw. 

Phase n, die hervorstechendste Erscheinung, tritt bei 9,5—37 
Umdrehungen auf, am schönsten bei 25, also den Geschwindig¬ 
keiten, die ausgesprochenes Flimmern hervorrufen. Im Gegen¬ 
satz zu Phase 1 erstreckt sie sich über die ganze Scheibe. 
Letztere erscheint von undeutlich abgegrenzten, intensiv blauen 
Sektoren überdeckt, die sich in dauernder radial nach außen 
gehender Bewegung befinden. Das Blau bez. Violett-Blau be¬ 
sitzt spektrale Sättigung und ausgesprochenen Flächencharakter 
im Sinne von Katz. Zwischen die blauen Sektoren sind ent¬ 
sprechende gelbe gelagert, so daß die Zusammenstellung beider 
Farben den Gesamteindmck der Scheibe in dieser Phase bestimmt 
bei räumlichem und intensivem Überwiegen des Blau-Violett. 
Im Geschwindigkeitsbereiche der Phase II zeigt sich bisweilen 
auch ein mosaikähnliches Bild, das ans unregelmäßig verteilten 
rötlichen und grünlichen Punkten besteht. Angesichts der Un¬ 
sicherheit bez. der Entstehungsbedingungen läßt sich Näheres 
über diese Erscheinung nicht sagen. 

Die Phase HI ist ebenfalls schwer zu beobachten wegen ihrer 
außerordentlichen Flüchtigkeit. Sie tritt kurz vor der Ver¬ 
schmelzung auf, zwischen 33 und 40 Umdrehungen. Sie besteht in 
unregelmäßig verteilten größeren roten und grünen Flecken von 
ziemlicher Sättigung, die meist am Scheibenrand liegen. 

Bei kurzdauernder Darbietung der Reize (0,14 Sek.) bleiben 
die Erscheinungen bestehen, nehmen aber an Sättigung und Deut¬ 
lichkeit ab. Auch sind sie nur bei den günstigsten Umdrehungs¬ 
geschwindigkeiten zu sehen. Das gilt besonders für Phase I. 
Bei Phase n ist nur das Blau zu sehen, das Gelb also ganz ver¬ 
schwunden. Erst bei einer Beobachtnngsdaner von 2 Sek. läßt 
es sich wieder, wenn auch noch schwach, feststellen. Im übrigen 
sei erwähnt, daß jede Verlängerung der Darbietung (1 Sek. und 
mehr) die Erscheinungen durchgängig deutlicher macht und sie 
denen bei Danerbeobachtnng bereits stark annähert. 

Gegenüber Ändenmgen der Beleuchtungsstärke verhalten sich 
die einzelnen Phasen ganz verschieden. Phase I ist auch bei 



474 


B. Paali and A. Wenzl, 


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über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 475 

ganz geringen Helligkeiten (1 Kerze bei 1 m Abstand) noch sicht¬ 
bar, während die Phasen n nnd m bedeutender Lichtstärken, 
fast der Tageshelligkeit bedürfen. Dabei ist bemerkenswert, 
daß bei einer bestimmten mäßigen Herabsetzung der Beleuchtung 
das Blau der Phase U in Grün bez. Blaugrttn übergeht. Das 
zwischengelagerte Gelb nimmt dementsprechend einen rötlichen 
Ton an. Bei sehr großer Helligkeit (unmittelbarer Sonnenbe- 
lenchtung) verschwinden sämtliche Erscheinungen vollständig. 

Bei zentralem Sehen (zugehöriger Scheibendurchmesser == 5 cm, 
Gesichtswinkel denmach 1** 6') bleiben sie unverändert, um bei 
parazentralem (ö** seitlich) nnd bei peripherem ganz anszufallen. 
Dasselbe ist schon nahezu der Fall, wenn der Fixationspunkt 
an den Rand der Scheibe verlegt wird; vergl. hierzu Baumanns 
Beobachtung, daß die Erscheinungen mit wachsendem Scheiben- 
dnrchmesser abnehmen. 

Die Verwendung farbiger Sektoren unter Weglassung der 
Ringstttcke ergibt folgendes: Ersetzt man das Schwarz durch 
eine der vier Grundfarben, so bleibt Phase n unter Beschränkung 
auf das Blau und unter Ausschluß des Gelb unverändert erhalten. 
Besonders gut ist sie bei der Zusammenstellung Weiß-Rot zu 
beobachten, die sich vorzüglich zur Vorführung eignet. Das aus¬ 
geprägte Blau (Himmelblau) ist dabei deutlich an die Weißsektoren 
gebunden. Nimmt man Scheiben mit Weiß und Blau, so bekommt 
letzteres ersichtlich einen anderen Ton in Richtung des gesättigten 
Violett Wird dagegen der Schwarzsektor der Scheibe belassen 
und das Weiß durch die genannten Farben der Reihe nach er¬ 
setzt, so zeigen die schwarzen Felder bei längerer Beobachtnngs- 
dauer (30") und mittleren Geschwindigkeiten (8—15 Umdrehungen) 
Verfärbungen in Richtung der jeweiligen Komplementärfarbe. 

2. Theorie. 

Bei der großen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die durch 
Modifikation der Versuchsbedingungen möglicherweise noch eine 
Steigerung erfahren kann, wird ein Erklärungsversuch nicht An¬ 
spruch auf Vollständigkeit erheben können. Auch weisen 
die Beobachtungen einerseits der Phase I, anderseits der Phase n 
nndm nicht auf eine einheitliche Erklärungsmöglichkeit hin. 
Der folgende Ansatz einer Theorie betrifft zunächst Phase n 
und m und sucht zu decken: 

1. Das Auftreten der Farben in 3 Phasen, ihren 
Flächencharakter in Phase n nnd m und die Abhängig¬ 
keit der Erscheinungen von der Umdrehungszahl. 



476 


B. Paali and A. Wenzl, 


2. Die Übereinstimmung der Phase n für die Wei߬ 
schwarz-, Weiß-rot- und Weiß-blau-Scheibe. 

3. Die dominierende Stellung von Blau-Violett gegenüber Rot 
und Grün. 

4. Das Umschlagen des Blau in Grün bei Verdunkelimg. 

5. Das Verschwinden der Erscheinungen bei unmittel¬ 
barem Sonnenlicht. 

Als sekundär darf das in*Phase n auftretende Gelb bei 
Blau, bezw. Rotgelb bei Grün ansgeschieden werden, bei dem 
es sich offenbar um eine Eontrasterscheinnng handelt; dafür 
spricht dessen ganze Anordnung im Sinne eines Kontrasts, sein 
Auftreten erst bei längerer Beobachtung, sein Verschwinden bei 
tachistoskopischer Beobachtung. 

Durch ihre Abhängigkeit von der Umdrehungszahl weisen die 
Erscheinungen unmittelbar auf die zeitlichen Verhältnisse 
der Erregung von Farbprozessen bezw. Farbsubstanzen hin. Be¬ 
zeichnen wir ein zögerndes Nachfolgen der Nervenerregfung gegen¬ 
über dem Reiz und seiner Veränderung als Trägheit der Substanz, 
so liegt es auf Grund später noch zu behandelnder Untersuchungen 
nahe, eine verschiedene Trägheit für die verschiedenen Farben 
anzunehmen. Von diesem Gedanken aus eröffnen sich folgende 
Möglichkeiten einer Theorie der beschriebenen Erscheinungen 
in Phase II und m: Erklärung auf Grund verschiedenen Tempos 
des Abklingens oder auf Grund verschiedener Anstiegszeit 
der durch das Weiß erregten einzelnen Farbkomponenten, oder 
auf Grund eines Ansprechens der Farbsubstanzen auf eine gewisse 
Anzahl von Reizen pro Zeiteinheit, also einer Art Stoßresonanz, 
oder endlich auf Grund Fortschreitens der Erregung von den 
unmittelbar getroffenen Netzhantstellen zu den noch nicht oder 
nicht mehr erregten. Diese verschiedenen Möglichkeiten brauchen 
einander nicht ausznschließen, sie sind im Gegenteil zum 
Teil voneinander abhängig. 

Der naheliegende Gedanke, ein Nachklingen für die Erschei¬ 
nungen verantwortlich zu machen und die Abhängigkeit von der 
Umdrehungszahl durch Verschiedenheit der Abstiegszeit zu er¬ 
klären, scheitert an den Beobachtungen. Um Nachbilder im ge¬ 
wöhnlichen Sinn kann es sich jedenfalls nicht handeln. Negative 
Nachbilder scheiden nach den Beobachtungen an den Farbscheiben 
aus; aber auch positive Nachbilder kommen nicht in Frage; beiden 
Annahmen widersprechen die Blauerregnng auch durch die Rot- 
weiß-Scheibe und die Umfärbung des Ultramarin der Blau-weiß- 
Scheibe in Violett; endlich läßt die Beobachtung, daß das Blau 



über Farbenempflndangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 477 


unzweifelhaft auf den Weißsektoren der Rot-weiß-Scheibe lagert, 
die naheliegende Vermutung, daß das aus dem dargebotenen 
Weiß stammende Blau von einem besonders langsamen Abstieg 
der Blaukomponente herrtthre, als nicht zutreffend erscheinen. 

Es wäre dann ein Ansatz auf Grund der Verschiedenheit 
der Anstiegszeiten zu suchen. Nun scheint zwar die später 
noch zu diskutierende Tatsache des langsameren Anstiegs des 
Blau, seiner größeren Trägheit gut zu der verhältnismäßig ge¬ 
ringen Frequenz zu stimmen, die zur Erregung des Blau not¬ 
wendig ist. Allein, den einmaligen Vorgang für sich betrachtet, 
würde ein langsamerer Anstieg, also ein Zurückbleiben der Blau¬ 
komponente, eher ein Übergewicht der Komplementärfarbe er¬ 
warten lassen. 

Für sich allein scheint also weder die Verschiedenheit der 
Abstiegs- noch der Anstiegszeiten eine befriedigende Erklärung 
abzugeben. Dagegen läßt das Auftreten der Farberscheinungen 
bei gewissen Umdrehungszahlen eine Übereinstimmung der Unter¬ 
brechungszahl mit Eigenfrequenzen oder doch spezifischen Reak¬ 
tionsgeschwindigkeiten einen Anstieg auf Grund von Reso¬ 
nanz vermuten. 

F. W. Fröhlich schließt aus seinen Untereuchungen der 
Aktionsströme im Cephalopodenauge (9), daß die Lichter ver¬ 
schiedener Wellenlänge in der Netzhaut rhythmische Erregungen 
verschiedener Frequenz und Intensität hervorrufen, die, vom Seh¬ 
nerven dem Sehzentrum zugeleitet, dort jene Erregungen ver¬ 
ursachen, die die physiologische Grundlage für die Licht- und 
Färb Wahrnehmung darstellen. Wenn auch richtig ist, daß die 
Untersuchungen der Aktionsströme nichts über die Natur der 
ihnen zugrunde liegenden chemischen Prozesse auszusagen ge¬ 
statten, ein Einwand, den Fröhlich selbst anführt, und wenn 
auch bei Übertragung auf das Menschenauge alle Vorsicht ge¬ 
boten ist, so darf doch vermutet werden, daß auch im mensch¬ 
lichen Auge Lichter verschiedener Wellenlänge charakteristische 
rhythmische Erregungen hervorrufen, deren Frequenz und Inten¬ 
sität mitverantwortlich ist für die zugehörige Farbempfindung. 
Wenn nun angenommen wird, daß die Frequenz der in der Netz¬ 
haut erregten Rhythmen zugeordnet ist einer gewissen Eigen¬ 
frequenz der erregten Substanz, die gerade verantwortlich ist 
für die Absorption bezw. die photochemische Wirkung dieses 
Lichtes, so wird eine Erregung von gleicher Frequenz auch er¬ 
zeugt werden durch entsprechende periodische Lichtstöße. 
Entspricht also die Umdrehungs- bezw. Unterbrechungszahl der 



478 


B. Panli and A. Wenzl, 


einer Farbempfindung zugehörigen Netzhautfrequenz bezw. der 
Eigenfrequenz der betreffenden Substanz, so wird ein Anstieg 
durch Resonanz erfolgen. Da nun Blau auf 9,5 bis 37, am 
besten zwischen 20 und 25 Umdrehungen anspricht, so müßte 
im Sinne dieser Erklärung auf eine besonders große In¬ 
homogenität der Blansubstanz (bezw. des Blauprozesses) ge¬ 
schlossen werden. Der Unterschied des Verhaltens der Blan- 
snbstanz gegenüber dem der Rot- und Grünsnbstanz ließe sich 
dann auf zweierlei Art erklären: a) was die höhere Frequenz 
anlangt: Rot und Grün sprechen erst auf höhere Unterbrechungs¬ 
zahlen an, die vielleicht größtenteils schon jenseits der Ver¬ 
schmelzungsgrenze liegen; b) was die geringere Intensität 
anlangt: Die beobachteten Rot- und Grünfiecken sind erst am 
Anfang der betreffenden wegen der Verschmelzung nicht zur 
Auswirkung kommenden Phase; oder die Rot- und Grün¬ 
snbstanz absorbieren stark selektiv, sie sprechen daher nur 
auf eine ganz bestimmte Periode an. Das würde gut zu der 
Theorie der photochemischen Wirkung passen, wonach die stark 
brechbaren kurzwelligen Strahlen im allgemeinen stark absorbiert 
werden, für langwellige Strahlen indes Stoffe mit anomaler 
Dispersion notwendig sind. Der Bereich dieser anomalen Dis¬ 
persion und selektiven Absorption ist schmal. Ist die Substanz 
homogen, so folgt zwanglos, daß nur bei einer ganz bestimmten 
Unterbrechungszahl eine Resonanz vorkommt, die keine besonders 
große Wirkung hat. Zu dieser Vorstellung würde stimmen, daß 
Rot- und Grünsubstanz eine höhere Reizintensität erfordern, dann 
aber und deswegen rasch ansteigen und auch eine starke Empfin¬ 
dung abgeben. 

Wie immer, das Auftreten von Blau bei niedrigerer Umdrehungs¬ 
zahl läßt bei Resonanzannahme auf geringere Eigenfrequenz, auf 
größere Trägheit und damit auch auf längere Anstiegszeit 
schließen. 

Voraussetzung für die ganze Erklärung ist, daß durch Weiß 
alle Farbsubstanzen erregt werden. Das entspricht zunächst der 
Helmholtzschen Theorie. Im Rahmen der Hering sehen 
Theorie läge auch folgende Deutung nahe: Durch den Weißsektor 
werde neben der Weißsubstanz besonders die Gelbsubstanz, und 
zwar stärker als die Rotsubstanz, dissimiliert, die Unterbrechung 
durch den Schwarzsektor läßt die Gelbsubstanz sich erholen, der 
einsetzende Assimilationsprozeß verursacht Blauempfindung (also 
doch ein Nachbild), falls durch die immer wiederholte Unter- 



über Farbenempfindnngen bei intermittierendem farblosem Liohte. 479 

brechung eine rhythmische Verstärkung erfolgt, also im Fall der 
Resonanz von Unterbrechung und Eigenperiode des Auf- und 
Abbauvorgangs. 

Die Resonanzannahme stimmt gut zu dem Charakter der 
Flächenfarben, zu der Tatsache, daß die Farberscheinungen nicht 
augenblicklich auftreten, jedenfalls erst allmählich deutlich werden, 
zu der Übereinstimmung der Phase n für die Schwarz-weiß- und 
die Farbscheiben, und sie ist mindestens verträglich mit der 
dominierenden Stellung des Blau. Verträgt sich mit ihr auch 
das Umschlagen in Grün bei geringerer Helligkeit? 

Für die Helmholtzsche Theorie läge am nächsten anzunehmen, 
daß die für eine Farbe charakteristische Frequenz selbst abhängig 
sei von der Intensität der Erregung, derart, daß zu einer ge¬ 
ringeren Beleuchtung eine niedrigere Frequenz gehört. Dann 
genügt bei geringerer Helligkeit bereits die sonst Blau erregende 
Unterbrechungszahl zur Resonanzerregung von Grün. Umgekehrt 
genügt bei übergroßer (Sonnen-) Beleuchtung auch für die Blau¬ 
erregung keine Frequenz mehr, die unterhalb der Verschmel¬ 
zungszahl liegt. Damit steht im Zusammenhang, daß die An¬ 
stiegszeiten für die verschiedenen Farben wohl ebenso wie für 
Weiß mit zunehmender Helligkeit abnehmen. 

Im Rahmen der Heringschen Theorie wäre auch folgende 
Erklärung möglich: Bei geringerer Intensität wird nicht so sehr 
Gelb als das spezifisch weniger helle Rot durch das Weiß mit- 
erregt; dann liefert die nach der Unterbrechung einsetzende 
Assimilation Grün statt Blau. Bei Sonnenbeleuchtung werden 
alle Substanzen maximal miterregt. 

Wir haben nun vielleicht das Moment der Bewegung noch 
nicht genügend in Betracht gezogen. Der Gedanke der Resonanz 
läßt sich noch konkreter durchführen. Von der Scheibe gehen 
abgehackte Wellenzüge aus. Diese lassen sich durch Entwick¬ 
lung in ein Fouriersches Integral ersetzen durch eiue fortschrei¬ 
tende Welle von großer Wellenlänge. Diese entspreche der 
»Wellenlänge« des rhythmischen Vorgangs, in den durch die 
Nervensubstanz die hochfrequente physikalische Welle übersetzt 
wird. Die Resonanzhypothese ließe sich nun unter Berücksich¬ 
tigung der Tatsache, daß infolge der stetigen Rotation ja kon¬ 
tinuierlich jeweils anderen Partien der Netzhaut Weiß dargeboten 
wird, noch ausbanen durch Zuhilfenahme einer »Induktions¬ 
hypothese«. Die erregte Netzhautstelle induziere die benach¬ 
barten bereits oder noch im Dunkel liegenden Stellen, und zwar 
gleichsinnig. Solche gleichsinnige Induktion durch weitgehende 



480 


B. Panli and A. Wenzl, 


Zerstreuung der Erregung in die Umgebung des Bildes hat 
Fröhlich in seinen Untersuchungen am Chephalopodenauge be¬ 
obachtet (9). Ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Blau 
von der Art, daß im Augenblick der Maximalerregung der letzt¬ 
induzierten Stelle der primäre Reiz wieder einsetzt, so tritt 
Verstärkung auf. Wir hätten dann eine dreifache Überlagerung: 
primärer Beizstoß, Resonanz auf die Stoßzahl, Induktionswirkung. 
Wirkung: Übererregung von Blau. 

Die bisherigen Ausführungen können sich nicht beziehen auf 
Phase L Die Analyse der Phase I für die Schwarz-weiß-Scheibe 
läßt sich zurückführen auf folgende Elementarfälle: Folgt (im 
Sinne der Umdrehung) der Ringsektor auf Weiß, so wird der 
Kreisring blau-violett, folgt der Ringsektor auf Schwarz, so wird 
der Kreisring gelb (vergl. Zusammenstellung Mittelspalte). 
Die gesamte Netzhautfläche, auf der die rotierende Scheibe sich 
abbildet, ist in einem Zustand ungleichmäßiger Erregung, die 
um einen Durschchnittswert hemm schwankt Im ersten Fall 
(Folge: Weiß, Ringsektor, Schwarz) tritt der Ringsektor ein in 
ein Gebiet, das in ansteigender Erregung begriffen ist, und unter¬ 
bricht diesen Anstieg längs seiner Erstreckung, während er 
seitlich von ihm noch andauert. Im zweiten Fall (Folge: Schwarz, 
Ringsektor, Weiß) dringt der Ringsektor ein in ein Gebiet, das 
im Abklingen begriffen war und längs seiner Erstreckung noch 
begriffen bleibt, während seitlich von ihm bereits wieder An¬ 
stieg erfolgt. Es bietet sich folgende Erklämngsmöglichkeit 
dar: Im ersten Fall klingt in den durch das vorangegangene 
Weiß erregten Netzhautstellen diejenige Komponente nach, die 
die langsamste Abstiegszeit hat. Sei dies Blau, so wird der 
Kreisring von Blau überlagert. Im zweiten Fall kommt diejenige 
Farbe durch das nachfolgende Weiß zuerst zur Erregung, die 
die kürzeste Anstiegszeit hat, dagegen diejenige nicht mehr 
voll zur Erregung, die die längste Anstiegszeit hat. Ist 
letzteres wiederum Blau, ersteres Gelb, so erscheint der 
Kreisring gelb. In der Tat wurde bei passender Anord¬ 
nung ein gelber Schweif im Gefolge des Ringsektors direkt 
beobachtet. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Effekt 
verstärkt wird durch Induktion aus der Umgebung (9). 
Eine solche Verstärkung würde dann auf treten, wenn aus gering 
erregter Umgebung am leichtesten das rasch wieder ansteigende 
Gelb die Umgebung induziert, dagegen eine gleichsinnige In¬ 
duktion von Blau aus einem bereits weiter fortgeschrittenen 
Erregungsgrad der Umgebung voraussetzt, wenn idso Blau zur 



über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 481 

Mitteilung der Erregung an die Umgebung das größte, Gelb 
das geringste »Gefälle« braucht; denn im Falle a) ist die Um¬ 
gebung höher erregt als im Falle b). 

Diese Vermutung erfährt eine Stütze durch die Beobachtungen 
an Bingsektoren auf rein weißer Scheibe. Der entstehende 
Ereisring wird blau-violett, weil diese Erregung nachklingt 
entsprechend der Erklärung des Falles a); dagegen tritt der zu 
erwartende gelbe Schweif im Anschluß an den Bingsektor nicht 
auf, da die Umgebung bei dieser Anordnung gleichmäßig weiß 
ist und im Sinne obiger Hypothese das etwa rascher ansteigende 
Gelb hinter dem Bingsektor durch Induktion von Blau aus der 
voll erregten Umgebung flberkompensiert wird. 

Im Sinne dieser Annahme tritt bei Doppelunterbrechung und 
langsamer Botation ebenfalls Violett auf; bei schnellerer Um¬ 
drehung allerdings erscheinen auf der rein weißen Scheibe sektor- 
mäßig auch Andeutungen von gelb: eine volle Kompensation 
durch Induktion findet offenbar nicht mehr statt; bei der Schwarz- 
'Weiß-Scheibe, der eine oszillierende Erregung der Netzhaut ent¬ 
spricht, und rascher Umdrehung überlagern sich die Effekte und 
ergeben sektormäßige Verteilung von Violett und Gelblich-Grün. 

Durch Übertragung dieser Erklärung und Kombination er¬ 
geben sich zwanglos im Sinne der Farbenmischung nach den 
bekannten Gesetzen die Erscheinungen an farbigen Bingsektoren. 
Ist der Bingsektor rot, so vermischt sich im Fall a) das zu er¬ 
wartende Blau mit dem gegebenen Bot zu Purpur, im Falle b) 
behält die allgemeine Erklärung Geltung, soweit Botgelb auf- 
tritt; soweit das grünblaue Leuchten in Frage kommt, dürfte 
es sich um Sukzessivkontrast handeln. Beim grünen Bingsektor 
entspricht die Aufhellung gegen Gelb zu der Überlagerung der 
Grünerregung mit dem im Fall b) zu erwartenden Gelb, die Ab¬ 
dunkelung gegen Blau im Fall a) liegt ebenfalls im Sinne der 
allgemeinen Erklärung. 

Auf alle Fälle darf auch aus diesen Beobachtungen wohl 
geschlossen werden auf eine relativ große Trägheit der Blau¬ 
substanz. 

Zum Schlüsse sei hier noch mit einigen Worten eingegangen 
auf die am Ende des ersten Teils erwähnten, gelegentlich der 
Untersuchungen an Scheiben ans schwarzen und farbigen 
Sektoren festgestellten Erscheinungen. Nach längerer Be¬ 
obachtung und bei entsprechender Geschwindigkeit traten auf 
den schwarzen Feldern die jeweiligen Komplementärfarben auf. 

Archiv fOr Piycbologio. XLVm. 81 



482 


B. Pauli nnd A. Wenzl, 


Die Art äer Anordnang dieser Farberscheinnngen, die verhält¬ 
nismäßig lange Dauer bis zu ihrem Eintritt und die Tatsache^ 
daß nnr bestimmte mäßige Geschwindigkeiten die Anordnung^ 
für das Auftreten schaffen konnten, eine Anordnung im Sinne 
des Simultankontrastes, lassen einen solchen als die der Be¬ 
obachtung adäquate Erklärung erscheinen. 

Zusammenfassung und Zusammenhang der Theorie 
mit anderen Ergebnissen nnd Theorien. 

Die entwickelte Theorie ruht auf folgenden allgemeinen Vor¬ 
aussetzungen; 1. dem Gedanken einer Trägheit der Farberregung, 

2. der Annahme einer Verschiedenheit der Trägheit nach Farben, 

3. dem ausführlich behandelten Resonanzgedanken. 

Die erste Annahme kann sich auf anderweitige Beobachtungen 
stützen. Die Tatsache des allmählichen Anstiegs zur Maximal¬ 
erregung, das Nachklingen als positives Nachbild und die Ver¬ 
schmelzung als Folge der Überlagerung von Nachklingen und 
Wiederanstieg finden in dem Begriff der Trägheit eine einheit¬ 
liche Erklärung. Messende Untersuchungen haben sich allerdings 
zumeist auf weißes Licht beschränkt. 

Was die zweite in der Literatur mehrfach, wenn auch nicht 
mit diesen Worten geäußerte Vermutung (11, 12, 18, 19) betrifft, 
so kann sie vor allem geprüft werden durch Versuche über 
Verschmelzung und Exposition. In der Tat haben nun Ver¬ 
schmelzungsversuche für die verschiedenen Farben auf verschie¬ 
dene Anstiegszeit schließen lassen, gleiche Helligkeit vorausge¬ 
setzt, und zwar ergab sich als Anstiegszeit für Blau 64,45 o, für 
Grün 38,4 a, für Rot 42,2 a, für Gelb 32,lo, Zahlen, die auf Grund 
beobachteter Verschmelzungsfrequenz aus der aus dem Talbot- 

schen Gesetz erschlossenen Formel V= ?222£ ( 15 ) errechnet 

sind. Eine dieser Reihenfolge widersprechende Angabe in der 
Literatur (12, 19), die auf Berechnungen von Kunkel beruht, 
erweist sich als unhaltbar, da die notwendigste Voraussetzung 
für solche Untersuchungen, die gleiche Helligkeit, hier lediglich 
auf willkürlicher Schätzung beruhte. 

Es fragt sich nun, ob die angeführten Resultate in bezug 
auf die Anstiegszeiten der verschiedenen Fai'ben mit den hier 
behandelten Erscheinungen und der entwickelten Theorie in Zu¬ 
sammenhang und Einklang stehen. Es zeigt sich zunächst, daß 
die angeführten Zahlen für den Anstieg den Unterbrechungs¬ 
zahlen, bei denen die betreffenden Farben auftreten, zuznordnen 



über Farbenempfindangen bei intermittierendem farblosem Lichte. 483 

sind. Der geringe Unterschied zwischen der Anstiegszeit von 
Rot und Grün, bei dessen Beurteilung zu berücksichtigen ist, daß 
ein Fehler von einigen Prozent in der Bestimmung gleicher 
Helligkeit wohl unvermeidlich ist, entspricht dem ungefähr gleich¬ 
zeitigen Auftreten der roten und grünen Flecken in Phase III, 
die Anstiegszeit von Blau aber verhält sich zu derjenigen von 
Grün und Rot ungefähr umgekehrt wie das Mittel der Unter¬ 
brechungszahlen, die in Phase II deutlich Blau ergeben, zu den 
Unterbrechungszahlen, die in Phase III Grün und Rot liefern. 
Besteht nun ein innerer Zusammenhang zwischen der Verschieden¬ 
heit der Trägheit und unserer Theorie ? Das Neue derselben liegt im 
Resonanzgedanken. Wir kamen unter Zugrundelegung der Re¬ 
sonanzhypothese zu dem Ergebnis, daß Blau eine niedrige und 
wenig ausgeprägte Eigenfrequenz habe. Was bedeutet nun ein 
besonders langsamer Anstieg, wie er ebenfalls Blau eigen zu 
sein scheint? Er kann seine Ursache haben entweder in einer 
starken Inhomogenität der Farbsubstanz, so daß die Erregung 
längerer Einwirkung bedarf, bis alle Elemente erfaßt sind — sei es, 
daß die verschiedenen nervösen Elemente verschieden farbtüchtig 
sind; sei es, daß sie nicht gleichzeitig in aufnahmefähigem Zu¬ 
stande sind, oder in einer relativ geringen Reaktionsgeschwindig¬ 
keit, einer Trägheit etwa analog der elektromagnetischen Träg¬ 
heit wie sie ihren Ausdruck in der Selbstinduktion findet. Beide 
Ursachen können natürlich auch Zusammenwirken. Beide Ur¬ 
sachen aber finden sich wieder in den erwähnten Ergebnissen, 
zu denen uns die Resonanzhypothese in bezug auf Blau geführt 
hat. Die wenig ausgeprägte Eigenfrequenz läßt auf Inhomo¬ 
genität schließen, die geringe Eigenfrequenz entspricht der in der 
langen Anstiegszeit sich äußernden Trägheit der einzelnen Ele¬ 
mente. Die bereits erwähnte Analogie der elektromagnetischen 
Trägheit drängt sich wiederum auf: eine große Selbstinduktion 
hat einerseits einen langsamen Stromanstieg zur Folge, ander¬ 
seits im Schwingungskreis eine niedrige Schwingungsfrequenz. Der 
wiederholt erwähnte Zusammenhang zwischen Anstieg und Re¬ 
sonanz besteht also durchaus. 

So erweist sich die Resonanzhypothese als Aasbau der Träg¬ 
heitsannahme. Sie wird durch die aus den Anstiegszeiten er¬ 
schlossene Trägheit gestützt und gibt umgekehrt ein Eriterium 
für diese ab. Zu Anstieg, Abklingen, und Verschmelzung, die 
bisher ausschließlich in bezug auf die zeitlichen Verhältnisse der 
Farberregung untersucht wurden, tritt der Gedanke von Reso¬ 
nanzerscheinungen, der sich, wie vorauszusehen, zur Erklärung 

81 * 



484 Pauli und A. Wenzl, Über Farbenempfindungen nsw. 

der hier in Frage stehenden Beobachtungen fruchtbar erwies 
und durch sie hat wahrscheinlich machen lassen. Insofern 
nehmen die betrachteten Erscheinungen eine Sonderstellung ein. 

Quellennachweise. 

Die mit * versehenen Arbeiten stehen nnr in mittelbarem Zusammen¬ 
hänge mit den Farbenerscheinnngen. 

1. H. Anbert, Physiologie der Netzhaut. Breslau 1866. 

2. C. Banmann, Beiträge zur Physiologie des Sehens. PflUgers Arch. 

f. d. ges. Physiol. Bd. 146 1915, Bd. 166 1917, Bd. 171 1918. 

3. S. Bidwell, On the negative after-images foUowing brief retinal 

excitation. Proc. of the royal soc. of London. Bd. 61 1897. 

4. E. Brficke, Über den Nutzeffekt intermittierender Netzhantreiznng! 

Sitzungsbericht der k. Akad. d. Wissensch. Math.-natnrw. Kl. Bd. 49 
Abt. 2. Wien 1864. 

5. 0. J. Buroh, Praotioal exercises in physiologioal optics. Oxford 1912. 

6. S. E X n e r, Bemerkungen über intermittierende Netzhantreiznng. 

Pfittgers Arch. f. d. ges. PhysioL Bd. 3 1870. 

7. G. Th. Fechner, Über eine Scheibe zur Erzeugung subjektiver Farben.' 

Poggendorfs Annal. d. Phys. n. Chem. Bd. 45 1838. 

8. J. Fr Ob es, Lehrbuch der experimentellen Psychologie. Bd. 1 2. Anfit 

1923. 

"‘9. F. W. Fröhlich, Beiträge zur allgemeinen Physiologie der Sinnes¬ 
organe. (2 Teile.) Zeitschr. f. Sinnesphysiol. Bd. 48 1913. 

*10: F. W. Fröhlich, Onndzüge einer Lehre vom Licht- und Farbensinne. 
Jena 1921. 

11; H. V. Helmholtx, Handbuch der physiologischen Optik. 8. AnfiL 
2.Bd. 1911. 

*12. A. Kunkel, Über die Abhängigkeit der Farbenempfindung von der 
Zeit. Pflügers Arch. f. die ges. Physiol. Bd. 9 1874. 

13. Ch. S. Myers, Text-book of experimental psychology. Bd. 2 2. Anfl. 

1911. 

14. W. Nagel, Handbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 8 1905. 
*15. B. Pauli, Über psychische Oesetzmäfiigkeit. Jena 1920. 

16. J. Pikier, Schriften zur Aqpassnngstheorie des Empfindnngsvorganges. 

Heft 4. Leipzig 1922. 

17. Th. Schwärtze, Grundgesetze der Molekularphysik. Leipzig 1896. 
*18. B. Stigler, Über den physiologischen Proportionalitätsfaktor. Zeitschr. 

f. Sinnesphysiol. Bd. 44 1909. 

19. B.Tiger8tedt, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 2. 

Leipzig 1913. 

20. K. Weidlich, Wann und warum sehen wir Farben? Leipzig 1901. 

(Eingegangen am 5. März 1924.) 



Literaturberichte. 

Referate. 

Religionspsychologische Literatur (Nachlese). Von den Neu¬ 
erscheinungen der letzten Jahre bietet Georg Wunderle') neben einer 
knappen und doch zur Orientierung durchaus genügenden historischen Über¬ 
schau eine Einführung in die Methodik der Religionspsychologie. Der 
gediegene historische Teil nimmt seinen Ausgang von den der eigentlichen 
Religionspsychologie — mit ihrer Absicht wissenschaftlicher Untersuchung 
und deren methodischer Durchführung — vorausgehenden Darbietungen 
des religiösen Erlebens, die im Zusammenhang stehen mit dem Lebensinteresse, 
mit einer praktisch-asketischen Anwendung oder mit der »Richtigkeit« des 
religiösen Tuns. Trotz der Kürze enthält dieser erste Teil nicht nur wert¬ 
volle Beispiele — mit mancher Anregung zur Weiterforschung —, sondern 
zugleich eine weitgehende Berücksichtigung der Literatur. Wunderle läßt 
dem katholischen Standpunkt gegenüber die schwierige Lage des protestan¬ 
tischen Lebenstypus, insbesondere der protestantischen Religionswissen- 
schaftler, begründet in ihrem Subjektivismus, in sachlicher Weise in Er¬ 
scheinung treten, wie er anderseits gerade in der Religionspsychologie ein 
Gebiet sieht, auf dem »die Gefahr einer religiösen Vermischung« nicht 
droht, solange die konfessionell verschiedenen Forscher die Religionspsycho¬ 
logie lediglich als Tatsachenwissenschaft, nicht aber als Normwissenschaft an- 
sehen. Im zweiten Teil folgt die dementsprechende systematische Auseinander- 
aetzung mit der phänomenologischen und geisteswissenschaftlichen, ferner 
der völkerpsychologischen Methode. Das letzte Kapitel (Methoden der empi¬ 
rischen Individualpsychologie) bespricht die methodische Selbstbeobachtung, 
die Erhebungsmethoden, und das religionspsychologische Experiment. Ein 
Namensverzeichnis, das man leider vermißt, würde zeigen, wie reichhaltig 
W.s Buch ist. Alles in allem: ein Buch, dem man weite Ver¬ 
breitung wünschen kann. 

Unter den Einzeluntersuchungen befindet sich eine Arbeit von Eduard 
Grimm^ über »die zwei Wege im religiösen Denken«, auf die man 
sehr gern hinweist, zum al sie auch weiteren Kreisen dienlich 
sein dürfte. Zwei Wege geht das religiöse Denken, den induktiven und 
den deduktiven. Indem es sich in diesen zwei Richtungen bewegt, bekundet 
es, daß es dem Grundverfahren nach nichts anderes als das übrige Denken 
ist. Der Einheitstrieb drängt zunächst im Zusammenhang mit zwei anderen 
gegebenen Gmndtatsachen, dem Abhängigkeitsbewußtsein und dem Ver¬ 
ehrungsdrang, ans dem allgemeinen Bereich der Wahrnehmungen und der 
Begriffsbildung vorwärts bis zu einer höchsten Ursache und einem höchsten 
Ziel, ja selbst diese vereinend, zur Gottheit. Wenn diese Einheit gefunden 


1) D. Georg Wunderle, Einführung in die moderne Religionspsycho¬ 
logie, Sammlung Kösel, Kempten 1922. 140 S. 

2) Eduard Grimm, Die zwei Wege im religiösen Denken. Göttingen, 
Vandenhoeck u. Ruprecht, 1922, Preis 1.20 M. 112 S. 



486 


Literatarberichte. 


ist, so gebietet die Ehrfurcht (Yerehrungsdrang), Gott als die alles be¬ 
dingende Ursache yoranznstellen und alles übrige ihr nnterzuordnen. Ist 
somit die Richtung für das deduktive Verfahren gefunden, so wird doch 
von Grimm sehr nachdrücklich betont, daß das religiöse Denken damit nicht 
am Ende ist, sondern immer wieder, durch innere Notwendigkeit, auf den 
induktiven Weg zurückgeführt wird. Dadurch entsteht »ein wechselvoller 
Kreislauf«, »der nicht ohne Reibungen und Verwicklungen bleibt«. Die 
Wendung zum Deduktiven geschieht nicht gleichmäßig, vielfach sind es 
besondere Eindrücke, »die mit einer gewissen, über das Gemüt hereinbrechenden 
Gewaltsamkeit diese Wendung geschaffen haben«. Der beschränkte Raum 
läßt leider nicht zu, auf diese geschickte Arbeit näher einzugehen. Die 
Art, wie der Verf. seine zwei Wege mit der Umkehrung durch das Ganze 
hindurch verfolgt und somit Gegensatzpaare zur Versöhnung bringt — sei es 
anthropozentrisch oder theozentrisch, Immanenz oder Transzendenz, Deismus 
und Pantheismus, sola gratia und Werkgerechtigkeit —, bereitet dem Leser 
große Befriedigung. Die Wahrheitsfrage selbst stellt Verf. nicht. — 

Eine Neuorientierung der Glaubenswissenschaft erstrebt Oskar Pfister'). 
Die heutige Verwirrung eines wildesten Subjektivismus, in der sich jeder 
auf seine »Erlebnisse« berufe, froh darüber, »von dem gefährlichen Götzen¬ 
tum des Verstandes befreit« zu sein, sei eine Folge des intellektualistischen 
Grundirrtums gewisser Dogmatiker, die annahmen, daß nur die religiöse 
Vorstellungswelt wissenschaftlich zu bearbeiten sei. Und durch die Ver¬ 
quickung mit den kirchlichen »Vergangenheitsgrößen« wurde ihre Disziplin 
eine »archäologische«, sie ühersah dabei den lebenden, lebendigen Christen. 
Im übrigen verteidigt Pf. auch in dieser Schrift die psychoanalytische Methode, 
die nicht vor dem Unbewußten halt macht und dadurch die wichtigsten 
»Gesetze der Religionsbildung« enthüllt. Nicht ohne Bitterkeit wendet sich 
Pf. dabei gegen die Verkennung seiner und seiner Freunde Arbeit, als 
wolle er die Religiosität als Sublimierung der Sexualität erklären; auch 
betont er selbst die Schranken seiner Methode (S. 22). Pf. erklärt, daß die 
Psychoanalyse, von der naturwissenschaftlichen Psychologie wegen des 
Mangels an Eindeutigkeit grundsätzlich verschieden, auf dem Pfade historischen 
Forschens »verstehen« will, wie einzelne Glaubenserlebnisse entstehen usw.; 
über die Glaubenswissenschaft aber, »die sich von dem Verdachte freihalten 
will, allerlei unausgewiesene Schmuggelware mitzuführen, muß dem philo* 
sophischen Denken ein uneingeschränktes Kontrollrecht« eingeräumt werden. 
Im letzten Teil bespricht Pf. die Anregungen, die durch die Forderung nach 
Aufdeckung der kausalen Beziehungen im genannten Sinne die Disziplinen 
der theologischen Wissenschaft gewinnen, sehr bemerkenswerte 
Ausführungen, auf die einzugehen hier nicht der Ort ist.— 

Aus der Beschäftigung mit der psychoanalytischen Reb'gionstheorie 
ergab sich für Otto Hofmann*) der Begriff der Lebendigkeit (S. 86) als 
empirisch-psychologischer Ansatzpunkt für eine transzendental-psychologische 


1) Oskar Pfister, Die Aufgabe der Wissenschaft vom christlichen 
Glauben in der Gegenwart. Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1923, für 
die Schweiz: Beer u. Co., Zürich, Preis 1.20 M. 48 S. 

2) Otto Hofmann, Religionspsychologie, 1. Band: Die Lebendigkeit 
der Religion. Heidelberg, Carl Winter, 1923. Preis 5 M., geh. 7 M. 218 S. 



Literaturberichte. 


487 


Betrachtung. Im ersten Teil des vorliegenden Bandes weist H. auf die 
Gefahren hin, die daraus erwachsen könnten, daß die Frendsche Schule in 
rebus religiosis neuerdings unter der Flagge »Religionspsychologie« segelt. 
Zunächst ergibt sich aus Hofmanns kritischem Überblick, daß die Psycho* 
analyse bei Pfister noch mit einer gewissen Vorsicht auftritt. Ein andres 
Bild entwirft er von verschiedenen Freudschen Anhängern, deren Phantasie* 
kraft er an der Hand von Beiträgen zu Imago (Felszeghy, S. 12) n. a. mit den 
schärfsten Ausdrücken charakterisiert tS. 13). H. bekämpft allgemein die 
einseitig-libidinöse Theorie, bei der man sich nicht zu einer avdyxri bekennt, 
die sowohl Triebleben als auch Geistesleben beherrscht; und im besonderen 
entwickelt er in seiner Polemik gegen Beik, daß die Religion weder in 
Angst, noch in Trotz (also sexueller Triebregung) begründet ist, daß sie 
höhere Bedürfnisse befriedigt, wie daß in ihr das »ganz Andere« dem Menschen 
entgegentrete. Hofmann will aber anderseits das in der Psychoanalyse 
schlummernde Wahrheitsmoment aufzeigen. Beherrscht doch das Ge¬ 
schlechtliche in all seinen Variationen den Menschen; aber »dabei darf nicht 
vergessen werden, daß es nicht selbst Ursprungsgebiet ist. Es muß mit 
den anderen Teilgebieten des Trieblebens einem Allgemeineren subsumiert 
werden, dem Energetischen oder der Lebendigkeit«. »Diese Lebendig¬ 
keit enthält aber in sich nicht nur die Teiltriebe des Sexuellen, des Hungers« 
usw., sondern sie »ist zugleich Substrat der Geistestätigkeit«. »Von dieser 
(mindestens leise sexuell gefärbten) Lebendigkeit aus, als dem Zentralpunkt 
angesehen, ist alles gleichgeorduet: sie läßt je nachdem ihren Energiestrom 
dem Sättigungsbedürfnis oder grammatisch-syntaktischen Forschungen Zu¬ 
strömen«. Andeutungsweise will H. im zweiten Teil dieses Prinzip in seiner 
Anwendung auf das neue Testament fruchtbar machen (S. 86), seine Unter¬ 
suchung erstreckt sich auf die Begriffe moxig^ ayant}^ iiQr^vr} u. a. 

Das Buch ist sehr interessant, nicht nur wegen der Fehde, die 
H.s Kritik den Exquisit-Psychoanalytikern im 1. Kapitel ansagt, oder z. B. 
wegen seiner Angriffe auf Blüher's Eros (S. 119f.), sondern vor allem wegen 
des eigenen Versuches des Verfassers. Ein endgültiges Urteil wird erst 
möglich sein, wenn die angekttndigten weiteren Bände, »Die Erscheinungs¬ 
formen der Religion« und »Das Spezifisch-Religiöse«, erschienen sein und 
die Neutestamentler die Arbeit H.s im einzelnen nachgeprüft haben werden. 
Kicht unbedenklich erscheint mir, daß Verf. vom 2. Kapitel für seine »Lebendig¬ 
keit« Libido einsetzt (S. 80), was er schon zu Anfang vorbereitet hatte. 

Schließlich bescherte uns das vergangene Jahr ein durch Format, Satz¬ 
größe und Umfang, vor allem aber durch den Inhalt »Aufbau« 
verheißendes Werk') aus dem Kohlhammerschen Verlag: Ein religiös¬ 
lebendiger Mensch und umfassend religionsgeschichtlicher Forscher in einer 
Person, bietet J. W. Hauer im ersten Buche seines großen Werkes einen 
vielversprechenden Auftakt zu einem größeren Unternehmen. An 
Lessing, Herder und Schleiermacher mit ihren grundsätzlichen Beiträgen 
zur Entwicklungsgeschichte der Religion lehnt sich H. an, damit die Fülle 
religionsgeschichtlicher Einzelforschung verknüpfend. So ergibt sich ihm 
*als Aufgabe, »vom religiösen Erlebnis ausgehend, oder durch die erstarrten 

1) J. W. Hauer, Die Religionen. Ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit. 
Erstes Buch: Das religiöse Erlebnis auf den unteren Stufen. Stuttgart, 
W. Kohlhammer, 1923. 556 S. 



488 


Literaturberichte. 


Formen der gewordenen Religionen sn ihm vordringend« (S. 23), überall 
seiner Omndart nnd seinen Sonderarten nachznspüren >nnd es in seinen 
Stnfen und in seinen nach Anlage, Ort und 2^it yerschiedenen Ausgestal¬ 
tungen« SU begreifen und einzuordnen. Indem H. mit der Schleiermacherschen 
Forderung, »Religion mit Religion zu betrachten«, Ernst macht, geht er 
über Spencer und Wundt hinaus. Tiefsten Emst und größte Würde gewinnt 
die religionsgeschichtliche Arbeit für H. — in Anlehnung an Hegel und 
Schelling ~ erst durch die Überzeagung, »daß die religiöse Entwicklung: 
nicht irgendein Prozeß, sondern höchste Geschichte, Verwirklichung ewigen 
Wesens in irdischer Gestalt ist«. H. verweilt mit Absicht lange bei den 
primitiven Religionen; ihr Studium zwingt uns, »unsere oft so starren 
religiösen Begriffe und Vorstellangen in ihr Grundelement aufzulösen«, 
wodurch man dem verborgenen Sinn der religiösen Erscheinungen und »dem 
schaffenden Geist« näherkommt. — Der kürzlich erschienene erste Teil enthält 
vorläufige Betrachtungen über das Wesen der Religion und der Entwicklung, 
besonders der unteren Stufen, während eine endgültige Darstellung einer 
»Philosophie der Religionsgeschichte« oder der »Ideen zu einer Philosophie der 
Religion« einem 4. Band Vorbehalten ist. Das 2. Buch soll den Gedanken der Ent¬ 
wicklung, das 3. Erlebnis und Idee der Offenbarung in der Geschichte der 
Religion darstellen. Durch die Herbeischaffung von Material für das reli¬ 
giöse Erlebnis in den primitiven Religionen wie vor allem durch die Sichtung 
der religiösen Grnndprobleme und Hauptformen jener Stufe im vorliegenden 
Band hat sich H. um die Religionspsjchologie zweifellos sehr verdient ge¬ 
macht. Seine Gmndeinstellung aber, Spengler nicht ganz unverwandt, 
überwindet gerade Spenglers müden Pessimismus gmndsätzlich. 

In neuer Auflage liegt vor: August Messers Abhandlung über 
die Willensfreiheit'), sie gehört in unsem Zusammenhang vor allem 
wegen der sehr beachtenswerten Entwicklung des psychologischen Befundes 
über den Willen und die Willensfreiheit. Neben die psychologische Be¬ 
trachtung hat M. eine ethische und eine erkenntnistheoretisch-metaphysische 
gestellt, wobei die beiden ersten Betrachtungsweisen für sich allein keine 
Entscheidung zwischen Determinismus und Indeterminismus anbahnen« 
während die dritte auf den Kernpunkt des Problems hinführt: auf die Voraus¬ 
setzung der Allgemeingültigkeit des Kausalprinzips. Letztere zu bejahen 
erscheint M. nicht denknotwendig, wodurch sich für den Indeterminismus 
die Zulässigkeit der Behauptung ergibt, daß die Willensentscheidungen der 
naturwissenschaftlichen »Erklärungsweise nicht unterliegen, weil sie durch 
ursächliche Bedingungen nicht eindeutig bestimmt seien«. Ich verweise auf 
W. Wirths Ausführungen zu dieser Frage in seinem Referat Über Jaspers 
Psychologie der Weltanschauungen in dieser Zeitschrift XLm S. 72 (S. 105). 

lic. th. Dr. A. Römer (Leipzig). 


Wilhelm Wundt. Eine Würdigung. Unter Mitwirkung des Psycho¬ 
logischen Instituts der Universität Leipzig und im Aufträge der 
Deutschen Philosophischen Gesellschaft herausgegeben von Arthur 
Hoffman n. Erfurt, Verlag der Kayserschen Buchhandlung, 1922» 
124 S. 


1) August Messer, Das Problem der Willensfreiheit (Wege zur Philo¬ 
sophie Nr. 1). Qöttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 8. Aufl., Preis 1.80M. 96 S. 



Literatarberichte. 


489 


Das Andenken Wilhelm Wnndts zu ehren haben sich sein Nachfolger 
auf dem Lehrstnhle, Felix Kmeger, dessen Mitarbeiter am Leipziger Psycho¬ 
logischen Institut und Peter Petersen-Hamburg rereinigt und als Schladheft 
des 2. Bandes der »Beiträge znr Philosophie des deutschen Idealismus« eine 
Würdigungsschrift Terfaßt, deren Herausgabe von Arthur Eoffmann-Erfurt 
besorgt wurde. 

Der Oeist Wundts spricht aus jedem einzelnen dieser sechs teils größeren, 
teils kleineren Abhandlungen. Die Hinterlassenschaft dieses Forschers ist 
jedoch nicht unverändert liegen geblieben. Diejenigen, die das Erbe Wundts 
antraten, haben es weitergebildet. So stellt sich das Buch, wenn auch das 
Bestreben waltet, Wundts Werk objektiv darzustellen, es aus seiner Zeit 
heraus zu verstehen, als ein Bfickblick dar vom heute Erreichten auf das, 
was notwendig dem Heute voransgehen mußte. Wenn sich demzufolge hier 
und da Kritik bemerkbar macht, so ist das nur geeignet, den Wert dieser 
Schrift zu erhöhen. 

Felix Emeger-Leipzig führt in seiner Abhandlung »Wilhelm Wandt als 
deutscher Denker« aus, daß, wenn es heute auch geradezu als verboten 
gälte, nach der »Zugehörigkeit eines Forschers, eines Denkers zu einem 
bestimmten, geschichtlich erwachsenen Lebenskreise«, nach der »nationalen 
Bedingtheit und der völkisch geprägten Form seines Schaffens« zu fragen, 
es doch Wandt gewesen sei, der klar erkannt hatte, daß gerade die Großen 
ihre Wurzeln am tiefsten »in den Matterboden ihres eigenen Volkstums 
hinabsenken«. Gerade das Denken Wundts und sein Werk seien ganz nur 
zu verstehen, wenn man sie »im Zusammenhänge mit den Grundformen 
deutscher Ideenbewegung« betrachtet. Der Verfasser zeichnet zunächst 
ein Bild der Persönlichkeit Wundts, hebt dann die Kernpunkte des Wundt- 
schen Denkens hervor und zeigt ihr enges Verflochtensein in spezifisch 
deutsche Gedankengänge und ihre Entwicklung aus ihnen. Die Überzeugung 
»von der unaufhebliohen Realität und von der wertgestaltenden Bedeutung 
der seelischen Kräfte« sei es gewesen, die Wundts ganzes Philosophieren 
znsammenhielt. Der Verfasser zeigt, wie diese Überzeugung, sowie diejenige 
von der Eigenart der »psychischen Kausalität« und diejenige vom Proze߬ 
charakter des Psychischen, »in deutscher Weltanschauung verankert« sind. 
Auch die Hauptsätze der Gefühlslehre Wundts seien »seit langem in der 
deutschen Geistesgeschichte vorbereitet« gewesen. »Der Einheit einer 
deutschen Weltanschauung sollte auch der wuchtige Bau seiner Völker¬ 
psychologie dienen.« Mit seinem Voluntarismus wendet sich Wandt gegen 
den westeuropäischen Intellektualismus. Gegenüber dem Utilitarismus ver¬ 
tritt er die Ethik der Pflicht, die, wie er selbst sagt, von Leibniz an »den 
am meisten bezeichnenden Gegensatz des deutschen Denkens gegenüber den 
westeuropäischen Nationen« bilde. Der gemeinschaftsbejahenden Hauptrich- 
tung des deutschen Ethos füge sich Wundts Denken ein. »Ein Kernstück 
aller charakteristisch deutschen Weltanschauung« sei die Erkenntnis, daß 
»die entscheidenden Mächte des menschlichen Daseins im Gemüte wohnen«. 
An der Metaphysik Wundts stellt der Verfasser einen Zug »metaphysisch- 
religiOser Befangenheit« fest, den Wnndt »wiederum mit den Tiefsinnigsten 
unter seinen deutschen Vorgängern gemein« habe. Zuletzt geht er noch 
auf den Entwicklungsgedanken in Wundts Philosophie und Psychologie ein 
und legt dar, daß auch er besonders Ideengut des deutschen Volkes sei. 



490 


Literatarberichte. 


Peter Petersen-Hamburg untersncht die Stellung der Philosophie Wilhelm 
Wundts im 19. Jahrhundert. Damit die Leistung Wundts für die Philosophie 
in voller Größe erkenntlich werde, mißt sie der Verfasser an den großen 
Tendenzen des 19. Jahrhunderts. Zunächst geht er auf das Verhältnis Wundts 
zu Kant ein. Die Klüfte, die sich in Kants System auf tun, werden von 
Wundt überbrückt. Ferner hat Wundt die Philosophie wieder zur all¬ 
gemeinen Wissenschaft erhoben. Der Entwicklungsgedanke spielt in seinem 
System eine ganz hervorragende Rolle. Für die Stimmung des Pessimismus 
endlich ist in Wundts System kein Raum. Metaphysik und Ethik vereinigen 
sich bei Wundt zu einer »Weltanschauung der Tat«. 

Friedrich Sander-Leipzig weist in seiner Abhandlung »Wundts Prinzip 
der schöpferischen Synthese« darauf hin, daß dem Prinzip der schöpferischen 
Synthese bei Wundt noch ein eigentümlicher Kompromißcharakter anhaftet. 
Denn Wundt bleibe noch in dem, wenn auch stark umgebildeten Elementen- 
begriS befangen. Es zeuge aber gerade für den psychologischen Scharfblick 
Wundts, trotzdem erkannt zu haben, daß das komplexe Erlebnis mehr ist 
als »eine geschichtslose Summierung von Stücken«, daß es »ein organisch 
gewordenes Ganze« ist. 

August Kirschmann-Leipzig zeigt in seinem Beitrag, betitelt »Wundt 
und die Relativität«, daß das Relative meist mit dem Subjektiven verwechselt 
wird; auch bei Einstein. Man hätte sich bei der Psychologie, vor allem 
bei Wundt, Rats holen müssen. Nach Wundt ist alle Größenbestimmung 
relativ. »Wundt betrachtet die Relativität oller Größen als einen festen, 
unumgänglichen Grundsatz alles Denkens, als das allerelementarste Axiom 
oder Prinzip der Größenlehre.« In interessanten Darlegungen geht der 
Verfasser noch auf einige Konsequenzen dieses, die ganze psycho-physische 
Problemstellung mit einem genialen Griffe erfassenden Wundtschen Grund¬ 
gedankens ein: »Wir messen nur psychische und zwar intensive Größen«; 
»alle Größenbetrachtung beruht in letzter Instanz auf der Vergleichung 
zweier Bewußtseinsinhalte«, es kann keine absoluten Größen geben; »alles 
Qualitative ist absolut«; »Bewegung ist gegenseitige Änderung der Raum- 
beziehnngen«. Die Darlegungen Kirschmanns führen zu der Erkenntnis, 
»daß auf dem Wege der nur objektiven Betrachtungsweise eine in sich ab¬ 
geschlossene, widerspruchslose Weltanschauung nicht erreicht werden kann«. 

Hans Volkelt-Leipzig zeigt in einer größeren Abhandlung, welche Rolle 
die Völkerpsychologie in Wundts Entwicklungsgang gespielt hat. Der Ver¬ 
fasser will anbahnen, das genetische Hauptwerk Wundts genetisch zu ver^ 
stehen. Der Ertrag der Darlegungen soll sein, zu zeigen, wie Wundta 
völkerpsychologisches Denken seiner wissenschaftlichen Persönlichkeit ent¬ 
spricht, ferner, daß für die Geschichte der Völkerpsychologie die Jugend¬ 
arbeiten Wundts von hohem Werte sind, und daß sich schließlich diese 
historische Fragestellung auch systematisch bewähren wird. Nachdem der 
Verfasser die persönlichen und sachlichen Wurzeln des Wundtschen Dranges 
zu genetisch-psychologischer Erkenntnis aufgedeckt hat, zeigt er, wie Wundt 
■schon in seinen Jugendschriften zum Verschmelzungsbegriff kommt, der 
»den Tod der Assoziationspsychologie und die Geburt der Ganzheitspsycho¬ 
logie« bedeute. Ist es doch das Prinzip der schöpferischen Synthese, das 
hier bereits (1862) von Wundt entdeckt wurde. Wundt habe jedoch den 
dogmatischen Sensualismus niemals vollkommen überwunden. Seine Lehre 
müsse dabin weitergebildet werden, daß die seelische Entwicklung nicht, 



Literatarberichte. 


491 


wie Wandt dachte, >von Terstreaten Elementen znr synthetischen Ganzheit, 
sondern vielmehr von Ganzheit zn Ganzheit fortschreite. »Das Prinzip der 
schöpferischen Synthese ist za ersetzen dnrch ein Prinzip der schöpferischen 
Synthesentransformation.« 

Otto Klemm-Leipzig gfibt einen Überblick über die Geschichte des 
Leipziger Psychologischen Institnts. Die Darstellang der Geschichte des 
Leipziger Institnts wird zugleich »zn einem Ansschnitt aas der Geschichte 
der treibenden Ideen der psychologischen Forschang Uherhanpt«. Eine 
allgemeine Entwichlangsrichtang, »die darch das Interesse Wilhelm Wandts 
selbst bedingt war«, prägt sich in ihr ans. 

Das Bach ist geeignet, das Verständnis für Wilhelm Wandts Lebens¬ 
werk and zagleich das für die Fortbildang seiner Philosophie and Psycho¬ 
logie anflerordentlich zu fördern. 

Hanns Herrmann (Leipzig). 


A. W 0 h 1 ge m a t h, D. Sc., A Critical Examination of P.sycho-Analysis. London, 
Verlag von George Allen & Unwin Ltd. 1923. 

Verfasser betont in einer Vorrede, er sei anvoreingenommen an die 
Lehre Freads herangegangen, habe ihr anfangs sogar sympathisch gegenüber- 
gestanden. In den ersten beiden Kapiteln präzisiert er seinen Standpnnkt, 
den der Experimental- and Assoziationspsychologie. Im Hanptteil beschäftigen 
ihn insbesondere die Lehre vom Unbewaflten, von der Symbolik, der Traam- 
dentang, den Determinierangen (Freads Psychopathologie des Alltagslebens). 
Wichtige Mechanismen der Psychoanalyse, Verdrängung, Widerstand und 
Übertragung werden innerhalb der erstgenannten Kapitel behandelt. Nach- 
prüfangen durch experimentalpsycbologische Methode, Aafdecken von Zirkel¬ 
schlüssen, von mystischen Deutungen in den Frendschen Behauptungen be¬ 
stimmen den Verfasser zu einer radikalen Ablehnung. Die therapeutischen 
Erfolge, mit denen die Analytiker dieWahrheit ihrer Anschauungen befestigten, 
seien Snggestionserfolge. Weiter sei es nur ein bestimmter Typns von 
Ärzten und Studenten, der sich mit der Analyse beschäftige, und zwar ein 
visueller Typus, der angelockt würde durch den Bilderreichtum der Freud- 
schen Lehre. 

Möllenhoff, Leipzig. 


Karl Hansen, Zur pathologischen Physiologie der Ataxie. Die Natur¬ 
wissenschaften 12. Jahrg. 1924, Heft 13, S. 239—244, u. Heft 14, 
S. 260 -266. 

Die Arbeit Hansens enthält manche Angaben, die für den Psychologen 
Interesse besitzen. Das eigentümliche, nach bestimmten Gesetzen erfolgende 
Zusammenarbeiten von Muskelgruppen, die Muskelkoordination, bat schon 
seit geraumer Zeit die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gezogen. 
Ältere, besonders von Klinikern vertretene Ansichten, nach denen haupt¬ 
sächlich zentrifugale Einflüsse den Ablauf der Bewegungen regeln, sind 
unbefriedigend. Einer anderen Auffassung wurde durch die sorgfältigen 
Untersnchungen von Sherrington and Magnus der Boden bereitet. 
Die Ausführung der Willkür- und Zielbewegnngen ist an die Vorstellungen 
gebunden, die wir ȟber die jeweilige Haltung der Glieder, das Ausmafl 
der Bewegungen, die Gröfle der Widerstände erhalten«. Die hierfür nötigen 
peripherischen Erregungen werden durch die Organe des Druck- und des 



492 


Literaturberichte. 


Kraftsinnes aofgenommen. Schon durch Ändernngen der QelenkateUangen 
am V« — 1 ** 4er über den Gelenken liegenden Hant eine wahrnehm¬ 

bare Deformation hervorgerafen. Das rezeptorische Feld kann dnrch Auf¬ 
kleben von Heftpflasterstreifen vergröfiert werden. Dafl die Gelenke selbst 
an der Reizanfnahme beteiligt sind, wie vielfach angenommen wird, trifft 
nicht zu. Der Kraftsinn gibt Anfscblnß über die Spannungen der Mnskeluv 
Sehnen, Faszien. Die Bahnen, auf denen die Erregungen weitergeleitet 
werden, liegen in den Uuskelnerven und sodann in Nervenfasern, die durch 
die hinteren Rückenmarkswurzeln verlaufen und vielleicht zum Teil das 
Kleinhirn berühren. Der Kraftsinn besitzt eine äußerst niedrige Unter¬ 
schiedsschwelle, wie sie nur noch dem Lichtsinn zukommt. Sie beträgt 
Vio» (nutzbare U. E.) bis Vsoo (wahre U. E.) des Grandreizes. 

Auch für den Ablauf von Bewegungen, die nicht an ein Bewußtsein 
gebunden sind, werden afferente Erregungen bedeutungsvoll, nämlich solche, 
die Hnskelreflexe (Eigenrefleze der Muskeln, P.Hoffmann) auslüsen. Sie 
werden durch Zerrungen der Muskeln veranlaßt, nicht durch direkte, sondern 
auch indirekte, so daß zu ihnen auch die sogen. Sehnen-, Periost-, Gelenk- 
refleze gerechnet werden müssen. Durch sie wird die Aufrechterhaltnng 
von Dauerspannungen der Muskeln (Tonus) gewährleistet. Die Möglichkeit 
der jeweils geforderten reflektorischen Korrekturen ist nicht ohne Weiteres 
gegeben, sie wird erworben und nnr durch dauernde (bewußte oder unbe¬ 
wußte) Übung der Muskeln erhalten. Bei den Reflezrezeptoren fand Hoff¬ 
mann eine ebenso niedrige Unterschiedsschwelle wie bei den Rezeptoren 
des Kraftsinnes, so daß die Annahme naheliegt, beide Organe seien identisch. 
Die Rhythmik mancher Bewegungen, z. B. des Ganges, der Atmung, kommt 
nicht, wie öfter angenommen wird, durch einen »zentralen Bewegunga- 
entwurf« zustande, sondern dnrch eine reflektorische Selbststeuerung mit 
Hilfe der Eigenrefleze, die abwechselnd in Agonisten und Antagonisten im 
Gefolge ihrer Kontraktion anftreten. Zum Schluß wird auf die Bedeutung 
der »tonischen Refleze« und der »Stellreflexe« für die Erhaltung des Tonus 
und der GUederstellungen bingewiesen, sowie auf den .Zusammenhang dieser 
Reflexe mit dem Labyrinth und dem Nucleus ruber. 

H. Triepel (Breslau). 


0 r d i n a n s, Die Welt als Subjekt-Objekt. Eine Lehre von den allgemeinsten 
Gedanken. Berlin, K. Grethleins Verlag, 1923. Xll n. 328 S. 

Einer jener seit den Uranfängen der Philosophie immer wiederholten 
Versuche, die Welt von einem BegriSe aus zu verstehen. Hier ist es 
der Begriff des Wirkens, der als Bewegung (Ortsveränderung) und Streben 
nach Bewegung gefaßt wird. Die Angabe der Wissenschaft ist es, »alle 
Erscheinungen des Seins, von den chemischen und physikalischen bis zu 
den geistigen, znrückznführen auf die Grundsätze des Wirkens, nämlich 
die des Bewegens und des Strebens zu bewegen ... Damit würde zu¬ 
gleich das Ziel erreicht, das Schelling in dem System des transzendentalen 
Idealismus der Philosophie steckt, nämlich die Wesensgleichheit von Körper 
und Geist zu zeigen, indem aus der Natur eine Intelligenz oder ans der 
Intelligenz eine Natur gemacht wird. Alles Sein, von der Materie bis zur 
entwickeltsten Seele, ist ein Subjekt, das etwas außer sich, das Objekt, zum 
Inhalt oder zum Willensziel hat und dies dnrch Ortsveränderung er¬ 
reichen will« (S. 69). Diese Gedanken werden auf etwa 100 kleinen Seiten 



Literatarberichte. 


493 


ansg^eführt, wobei Natarwiasenschaftliches, Erkenntniatheoretiachea, Meta- 
phyaiaches und noch anderea liebevoll ineinanderschwimmt. Den größten 
Teil dea Baches nimmt die Daretellnng dea Geiatwirkena, d. i. die Psycho¬ 
logie ein. Sie ist sehr popnlär and sehr primitiv. Der Wille znm Wahren, 
Gaten, Schönen mag dem Verfasser nicht ahgesprochen werden. Aber ea 
wäre nichts verloren, wenn A. Bachenaa das Bach nicht heraasgegeben hätte. 

Aloys Müller (Bonn). 


Max Wertheimer, Über Schiaßprozesse im prodaktiven Denken. Berlin 
nnd Leipzig, Vereinigang wissenschaftlicher Verleger, 1920. 22 S. 

In dem Sohriftchen sind logische and psychologische Fragen der Erkenntnis 
verschmolzen. Im Mittelpankt steht das bekannte logische Problem, ob die 
erste Fignr der klassischen Syllogismaslehre eine petitio principii enthalte. 
W. bestreitet das. Er sieht aber nicht, daß seine Beispiele nar einen Fall 
amfassen, neben dem es noch andere gibt, daß die Fignr aber aach eine 
Petitio enthalten kann. 

Psychologisch sind mehre kürzere oder längere Bemerkangen: daß die 
rechte Fragestellang schon eine bedeatende Leistong sei, daß die >Um- 
zentrierong« (eine andere Erfassung des Problems) häufig einen Erkenntnis¬ 
fortschritt bringe n. a. Sie sind richtig, aber nicht nen. Der Mathematiker 
kennt ja z. B. den Wert der Umzentrierang sehr genaa. 

AloysMüller (Bonn). 


Benno Srdmann, Logik. Logische Elementarlehre. 8. vom Verfasser 
amgearbeitete Auflage. Heraasgegeben von Brich Becher. Berlin 
und Leipzig, W. de Orayter a. Co., 1923. Preis geheftet 22 M. 
XVI and 831 S. 

Erdmann hatte die Bearbeitung der Neuauflage im wesentlichen beendet, 
als er starb. E. Becher besorgte die äußere Redaktion, die aber noch 
mancherlei Mühe brachte. In der Hauptsache ist das Bach angeändert 
geblieben. Zahlreiche kleinere Änderungen worden angebracht, nur wenige 
Seiten sind ganz nea geschrieben. Die .Logik* enthält sicherlich Teile von 
bleibendem Werte. So bieten die historischen Aosfühmngen viel Material 
and vor allem manche gute Anregung. Die Kritik anderer Anffassangen 
ist vielfach klassisch in ihrer Treffsicherheit and Form; ich verweise z. B« 
auf die Kritik der Urteilstheorien. Man findet logische Einsichten, die man 
anderswo oft vergeblich sacht; man lese z. B., wie er die vollständige In<t 
duktion als Induktion ablehnt oder wie er mit Hilfe mathematischer Gedanken 
beweist, daß Induktion and Deduktion keine inverse Operationen sind. Becher 
macht auch mit Recht darauf aufmerksam, welchen Reichtam die dem 
wirklichen Denken entnommenen Beispiele gegenüber dem faden Material 
der traditionellen Logik darstellen. 

Man kann nnr zweierlei bedanem. Erstens dies, daß der orsprünglich 
geplante zweite Band über die Methoden der Einzelwissensohaften non nicht 
erscheint. Daroh seine tiefen Kenntnisse in vielen Einzelwissenschaften 
wäre Erdmann wie wenige fähig gewesen, hier neue Einsichten zu erschließen. 
Er hatte auch manche Teile dieses Bandes schon fertig, konnte aber des 
Stoffes nicht überall so Herr werden, wie er es wünschte. An zweiter Stelle 
ist bedauerlich, daß Erdmann den modernen Forschungen nicht größeren 



494 


Literatarberichte. 


Einflafi aaf sich gegönnt hat. Einmal in der Logik nicht Gerade hier 
hätte man es am ersten erwarten können, da von den älteren Logikern 
Tielleicbt keiner der modernen Anffassnng so nahe steht wie Erdmann. £r 
bat ja B. B. grundsätzlich Oegenstandstheorie in die Logik anfgenommen, 
allerdings ist er noch ziemlich entfernt von der Art, wie wir heute diese 
Dinge auffassen. Hier hat ihm das Weitergehen sein von Husserl richtig 
gesehener Psjchologismns verbaut, von dem er noch manches besaß, wenn 
er es auch nie zugab (wer tut das überhaupt von den heutigen Logikern ?). 
Aber der Psychologe vermißt gleichfalls manches. Daß z. B. das Belations* 
erlebnis im Urteilserlebnis eine Rolle spielt, ist doch wohl heute sicher. 

Indes werden trotz solcher unausbleiblicher Mängel hoffentlich viele 
Lehrende und Lernende noch lange Zeit Freude an diesem Buche haben. 
Da es so, wie es vorliegt, von Äußerlichkeiten abgesehen, ans der Hand Erd¬ 
manns hervorging, ist es für viele ans der jüngeren Generation nicht nur 
ein Buch, sondern auch ein Andenken an das lebendige Wort, das sie früher 
aus Erdmanns Munde hörten. 

Aloys Müller (Bonn). 


Emil Lask, Gesammelte Schriften. Heransgegeben von Eugen Herrigel. 

I. Bd. Mit einem Geleitwort von Heinrich Rickert. XXIV n. 
856 S. Preis geh. 12,50 M„ geb. 17 M.. U. Bd. IV u. 463 S. 
Preis geh. 15 M., geb. 19,50 M. HI. Bd. Mit einem Faksimile. FV 
u. 318 S. Preis geh. 10.50 M., geb. 15 M. Tübingen, J. C. B. Mohr 
(Paul Siebeck), 1928/24. 

Der erste Band enthält außer dem Geleitwort von Rickert und dem 
Vorwort des Herausgebers die Schrift »Fichtes Idealismus und die Geschichte«, 
den Beitrag über »Rechtsphilosophie« ans der Kuno Fischer-Festschrift, die 
Antrittsvorlesung »Hegel in seinem Verhältnis zur Weltanschauung der 
Aufklärung« und den Kongreßvortrag »Gibt es einen Primat der praktischen 
Vernunft in der Logik?«. Alle diese Arbeiten sind nngeändert und ohne 
Zusätze abgedruckt. Im zweiten Bande stehen die logischen Schriften 
»Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre* und «Die Lehre vom 
Urteil«. Hierzu hat Lask zahlreiche Notizen und Einfügungen gemacht. 
Indes hat der Herausgeber den bisherigen Text unverändert gelassen und 
die kleineren Znsätze in Anmerkungen, die größeren in Anhängen unter¬ 
gebracht. Der dritte Band bringt zunächst eine Vorlesung über Platon, 
die stark gekürzt werden mußte. Dann den Anfang des Entwurfs eines 
Systems der Logik. Unter den Titeln »Zum System der Philosophie« und 
»Zum System der Wissenschaften« sind eine Reihe einzelner Gedanken und 
Überlegungen gesammelt mit starker Streichung von Wiederholungen und 
Aufgegebenem. Der dritte Band enthält ganz neues, nie veröffentlichtes 
Material. 

Es stimmt traurig, diesen Torso des Lebenswerkes eines solchen Denkers 
vor sich zu sehen. Ich halte Lask für einen der bedeutendsten modernen 
Philosophen. Sr kam bekanntlich von Rickert her. Schon in der »Logik 
der Philosophie« und in der »Lehre vom Urteil« hat er Rickertsche Grund¬ 
gedanken weiter und tiefer ausgebaut, geriet dabei natürlich hier und da 
auch in Gegensatz zu Rickert. Daß seine Entwicklung noch lange nicht 
zu Ende war, zeigen die Veröffentlichungen des 3. Bandes. lu den Gedanken 
dieser Niederschriften begann sich wieder Neues vorzubereiten, das, wie mir 



Literatarberichte. 


495 


scheint, ihn anch in der Erkenntnistheorie noch weiter von Richert abführte. 
Was hätte er noch leisten können mit seinem feinen, sngleich durchdrin¬ 
genden nnd umfassenden Verstand, wenn der Krieg den Faden nicht durch¬ 
schnitten hätte! Es gibt jedenfalls kaum einen Zweiten, der besonders im 
Reiche des logischen Denkens so heimisch ist nnd so viel sieht wie Lask, 
nnd es gibt sicherlich keinen, der in prachtvoller Sprachbeherrschnng diese 
trockenen Dinge so anschaulich nnd bildhaft darznstellen vermag wie er. 
Ob sich der leise Zug der Logisiernng, der sich leider immer mehr in seinem 
Denken vordrängte, ganz ansgewirkt haben würde, lasse ich dahingestellt. 

Der Psychologe kann zweierlei ans diesen Bänden lernen. In dem dritten 
Band findet er hübsche Beispiele, wie Oedanken sich entwickeln, wie das 
Denken des Denkers (nicht das der Bücher) fortschreitet. Und alle Schriften 
von Lask können ihm zeigen, was eigentlich logische Probleme sind. Es 
täte manchen Psychologen sehr gut, wenn sie das wüßten. 

Aloys Müller (Bonn). 


Dr. Erwin Loewy-Hattendorf, Krieg, Revolution nnd Unfallnenrosen. 

Veröffentlichungen ans dem Gebiete der Medizinalverwaltnng. Im 
Aufträge des Ministeriums für Volkswohlfahrt heransg. von der 
Medizinalverwaltnng. XI. Bd. 4. H. (Der ganzen Sammlung 118. H). 
Berlin, Richard Schoetz, 1920. S1 S. 

Die Anschauungen über die Unfall- nnd Rentennenrosen nnd deren Be¬ 
handlung werden unter Anführung der einschlägigen, insbesondere während 
des Krieges erschienenen Literatur eingehend besprochen. Ref. kommt zu dem 
Schluß, der Krieg habe gelehrt, daß die ungünstige Prognose, die durch 
Oppenheims Lehre den Tranmatikern gestellt wurde, falsch ist, daß vielmehr 
die rein psychogene Ätiologie feststebe und so anch die prinzipielle Mög¬ 
lichkeit der Psychotherapie. Da das sozialpsychologisch und sozialpolitisch 
wichtigste aller ursächlichen Momente das Rentenbegehren ist, ist nach dem 
Verf. die Kapitalabfindnng das einzige Universalmittel, das es dagegen zu 
geben scheint. Nur die Erledigung des traumatischen Komplexes führt 
nach B. zur Gesundung und Arbeitsfähigkeit. Deshalb fordert er, daß die 
Ärzte in Gutachten nnd sonstigen Äußerungen dies beherzigen, nnd daß sie 
auf dem Gebiete des Unfallwesens eine bessere Ausbildung erhalten. 

S. Fischer (Breslau). 


Dr. Eduard Hits chm an n, Gottfried Keller, Psychoanalyse des Dichters, 
seiner Gestalten nnd Motive. Internat, psychoanalytischer Ver¬ 
lag 1919. 125 S. 

Der Leser erfährt in den 5 Kapiteln dieses Büchleins (die Bedeutung 
der Mutter, das Erbe des Vaters, zum Liebesieben, der Maler nnd das Nackt¬ 
heitsmotiv, künstlerisches Werden) allerlei Neues insbesondere über das 
Sexualleben des Dichters. Wenn Keller sich z. B. bis zum 28. Lebensjahr 
von der Mutter ernähren läßt, so ist das ein Regredieren oder Verharren 
in jenem Zustand frühesten Lebens, wo die Mutter aus ihrer Brust ernährt. 
Je enger sich später erotische Neigung mit Dankbarkeit für Hnngerstillen 
verknüpft, desto eher fixiert sich das Ernährenlassen anch für später. Man 
erfährt weiter von der Analerotik des Dichters, von seiner Dirnenliebe, der 
sublimierten Gleichgeschlechtlichkeit, seinen Inzestgefühlen, der frühen 



496 


Literatarberichte. 


Verdrängung sexuellen Scbsuens und seinen exhibitionistischen Trieben- 
Verf. kommt zu diesen eigenartigen Ergebnissen durch Übertragung nn* 
bewiesener psychoanalytischer Lehren auf einzelne herausgegriffene Stellen 
ans den Werken des Dichters. Zn einem TerständnisTollen Erfassen »des 
Dichters, seiner Gestalten und Motive« gehOrt aber mehr als dies. 

S. Fischer (Breslau). 


Professor Dr. Robert Qanpp. Das sexuelle Problem vom psychologischen 
Standpunkt. Ansprache an die Studentenschaft der Universität 
Tfibingen. Tfibingen, Lanppsche Buchhandlung, 1920. 24 S. 

In schwungvoller Bede wendet sich der Tübinger Professor an die stu¬ 
dierende Jugend, nicht um in gelehrten Worten das Sexnalproblem zu läsen, 
sondern um zu zeigen, wie er auf Grund seiner reichen Lebenserfahrung 
als Psychologe und Psychiater diese Fragen anschant. Verf. beginnt mit 
einer Klärung des Begriffs sexuell, berührt die Frage des Selbsterhaltungs¬ 
triebes, des Geschlechtstriebes, dann die praktischen Fragen der Beziehungen 
von körperlicher und geistiger Arbeit zum Sexualtrieb, um schließlich die 
aus dem Geschlechtstrieb hervorgehenden seelischen und sozialen Konflikte 
zu beleuchten. 

S. Fischer (Breslan). 


Dr. Placzek. Das Geschlechtsleben des Menschen. Ein Grundriß für Stu¬ 
dierende, Ärzte und Juristen. Leipzig, Thieme, 1922. XII, 206 8. 

Das Buch soll nach den Worten des Verfs., obwohl nur ein Grundriß, 
doch das gesamte sexnalwissenschaftliche Wissensgebäude enthalten und 
dem Leser jede Einzelheit anschaulich vermitteln. Voransgeschickt sind 
eingehende anatomisch-physiologische Vorbemerkungen über die männlichen 
und weiblichen Geschlechtsorgane. Da das Buch auch für Nichtmediziner 
bestimmt ist, würde die Anschaulichkeit durch Abbildungen gewinnen. In 
einem kurzen Abschnitt wird dann das Geschlechtsleben des Kindes behandelt, 
wobei Verf. sich gegen die einseitigen Ansichten der Psychoanalytiker wendet. 
Es folgt eine ausführliche Darstellung der Erscheinungsformen der Pubertät, 
der Symptomatologie des Geschlechtsdrüsenausfalles und des Geschlechts¬ 
triebes. Den größten Teil des Buches nimmt der letzte Abschnitt über die 
Anomalien des Geschlechtstriebes ein, unter denen quantitative und qnalitative 
unterschieden werden. Verf. beschränkt sich dabei im wesentlichen auf 
die Beschreibung der wichtigsten Perversionen und der körperlichen Symp¬ 
tome der damit Behafteten. Hervorzuheben ist, daß Placzek bezüglich 
der Homosexualität der Anschauung nahesteht, daß sie wohl auf angeborener 
Anlage beruhen kOnne, daß es aber durchaus nicht ansgeschlossen sei, daß 
zu irgendeiner Zeit der Gesehlechtsentwicklnng, solange die Triebrichtung 
noch undifferenziert ist, äußere Einflüsse richtunggebend wirken. Psycho¬ 
logische Erklärungen für das Entstehen der Perversionen werden vermieden, 
dagegen gibt das Buch vom somatisch-medizinischen Standpunkt ans einen 
gnten und vorurteilsfreien Überblick über das Geschlecbtsleben des Menschen. 

S.Fischer (Breslan). 



Literatorberichte. 


497 


Theodor Friedrichs, Zar Psychologie der Hypnose and Saggestion 
(mit einem Vorwort von Arthnr Eronfeld). Kleine Schriften sor 
Seelenforschnng. Stattgart, Jolias Pttttmann, 1922. 32 S. 

Verf. vertritt den Standpnnkt, daß die Saggestionsph&nomene dnrch 
psychologische Tatsachen ihre aasreichende Erkl&rang finden, and daß es 
dazn keiner physiologischen Dentong bedarf. Um einen Einblick in diese 
Phänomene za gewinnen, versacht Verf. znnächst eine phänomenologische 
Betrachtoug and stützt sich dabei vielfach anf andere Antoren. Als cha* 
rakteristisch für den hypnotischen Znstand wird die Bewaßtseinseinengong 
g^efanden, die Bedentong der affektiven Vorgänge für die Saggestionswirkang 
wird gestreift; Schlaf and Hypnose werden verglichen. Im zweiten Abschnitt, 
den genetisch- psychologischen ErOrterongen, werden in der Haaptsache 
andere Antoren zitiert. Verf. kommt za folgenden vorläafigen Ergebnissen. 
Die Snggestibilität änßert sich in bestimmten archaistischen Erlebnisweisen 
and -dispositionen im Sinne der »Gläabigkeit« and ihrer »magischen« Sym¬ 
bolik. Die Snggestibilität stammt aas affektiven Qnellen. Die snggestive 
Bindong ist in vieler Hinsicht analog der Liebesbindnng anznsehen. Die 
Snggestibilität ist genetisch begreifbar ans einer nnbewnßten Determinante: 
der triebbedingten ichlosen »snggestiven« Folgsamkeit des Kindes gegen 
die Eltern. 

S. Fischer (Ereslaa). 


Dr. med. Eng eien and Dr. phil. Bangette, Nene Forsch angswege bei 
traamatischen Neorosen. Berlin, Richard Schoeth, 1919. 64 S. 

Die Arbeit stellt einen Versach dar, die traamatischen Nenrosen ttiit 
psychologischen Experimenten za erforschen. Dazn wird vor allem das 
Assoziationsexperiment verwendet, mit dessen Hilfe Verff. den Nachweis von 
Rentenbegehrangen za erbringen versnoben. Aach die Abgrenzang der 
Simalation soll damit gelingen. In einigen Fällen worde zor Analyse der 
begleitenden Gefühle Pals and Atmong gemessen. Im Schiaßabschnitt wird 
die Forderang nach Speziallaboratorien znr Erforschong der traamatischen 
Neorosen gestellt. — Einen großen Baam nehmen theoretisch-psychologische 
ErOrtemngen ein, die znm größten Teil bekannt, znm Teil ebenso wie die 
Aaswertnng der Ergebnisse der Assoziationsexperimente anfechtbar sind. 

S. Fischer (Breslan). 


Prof. Dr. Adalbert Gregor and Dr. Else Voigtländer, Charakter- 
straktnr verwahrloster Kinder and Jagendlicher. Beiheft 81 znr Zeit¬ 
schrift für angewandte Psychologie. Leipzig, J. A. Barth, 1922. 72 S. 

Anf Grand statistischer Erhebangen an schalpflichtigen and schalent¬ 
lassenen ZOgUngen einer Fürsorgeanstalt ontersnchen Verff. die Charakter¬ 
züge bei den Verwahrlosten beiderlei Geschlechts. Bei den männlichen 
Individnen fanden sich mehr Eigenschaften, die anf moralische Minder¬ 
wertigkeit, gemütliche Stompfheit and Aktivität denten, bei den weiblichen 
mehr solche, die anf gemütliche Reaktionen and Beweglichkeit hinweisen. 
Verff. kommen za der Feststellang, daß weibliche Verwahrlosang mehr als 
Steigerang typischer weiblicher Unznlänglichkeiten, die männliche dagegen 
mehr als Ansfloß einer besonderen Veranlagnng erscheint. Der Vergleich 
der Ergebnisse an Schalpflichtigen and Schalentlassenen ergab, daß die an- 
Archlv für Psychologie. XLVm. 32 



498 


Literatarberichte. 


geborene Anlage bestimmender wirkt als die Entwicklung, der Qeschlechts* 
unterschied stärker als der Altersnnterachied. Verff. nntersnchen daranf 
die Bedehnngen der einzelnen Charaktermerkmale xn den Gmppen der 
moralisch Schwachen nnd moralisch Minderwertigen. Die Qmppen Anden 
wieder eine ünterteilnng in Psychopathen, psychisch Defekte, Debile, Im* 
bezille nnd Epileptiker. Verwirrend ist die Verwendung des Ansdmoks 
Psychopathen, da im klinischen Gebrauch dieser Begriff als Oberbegriff die 
moralisch Minderwertigen mit umfafit. 

S. Fischer (Breslan). 


Miracles and the new Psychology. A Study in the Healing Miracles of the 
New Testament. By E. R. Micklem, Oxford Unirersity Press, 
London, Hnmphrey Milford, 1922. Kl. 8^. 148 S. 

Nach einleitenden Bemerkungen Aber Psychotherapie, wobei die mit 
religiösen Vorgängen verknüpften Heilungen (Lonrdes, Christian Science, 
nsw.) außer acht bleiben, berichtet nnd untersucht der Verf. die im Neuen 
Testament überlieferten »Wunder«. Er zeigt, daß die Angaben im all* 
gemeinen zu unbestimmt sind, um eine sichere Diagnose der in Frage 
stehenden Krankheiten zu ermöglichen. Was hingegen das Heilverfahren 
anlangt, so kann es mit ziemlicher Sicherheit als suggestives bezeichnet 
werden. Erstaunlich bleibt nur die Schnelligkeit, mit der die HeUnngen 
erfolgt sein sollen, nnd bedauerlich ist, daß wir über die Dauerhaftigkeit 
der so vollzogenen Kuren nichts erfahren. Immerhin wäre es verkehrt, 
wollten wir, wie die heutigen Ärzte, nur von Snggestionswirknngen reden. 
Jesus hat sich nicht damit begnügt, Symptome wegzusuggerieren, sondern 
er hat jedesmal die ganze Persönlichkeit des Kranken wiederhergestellt, 
indem er ihn in eine neue nnd richtige Beziehung zum Leben überhaupt 
setzte; seine Berührung brachte den Kranken in Berührung mit Gott. Sonach 
läßt sich mit unserer heutigen Psychotherapie, soviel sie auch im einzelnen 
zum Verständnis der Evangelien-Erzählnngen beitragen mag, das Wesentliche 
des Vorgangs nicht ergründen; am nächsten kommen diejenigen dem Ver* 
ständnis, die durch Gebet ihre körperlichen Leiden erfolgreich zu bekämpfen 
gelernt haben. — Ein Urteil über das Büchlein ließe sich nur geben, wenn 
man Zusammenhang einerseits, Widerstreit andrerseits zwischen dem Psycho* 
logischen und dem Metaphysisch-BeligiOsen genauer erOrtem wollte. Da 
das hier nicht mOglich ist, so muß auf Kritik verzichtet werden. 

Max Dessoir (Berlin). 


Le mdcanisme de la Snrvie. Explication scientiAque des phdnomhnes mdta- 
psychiques. Par A. Bntot etM. Schaerer. Paris, Felix Alcan, 
Bruxelles, La Vnlgarisation intellectuelle, 1923. El. 8*^. 123 S. 

Dies rein theoretische Buch setzt die okkulten nnd medinmistischen 
Erscheinungen als anerkannte Tatsachen voraus. Die bisher vorliegenden 
Erklärungen — entweder durch Geister oder durch Eryptaesthesie nnd Ekto* 
plasie besonders veranlagter Menschen — genügen jedoch den Verfassern 
nicht. Sie vermissen die Rücksicht auf das »Milien«, in dem beide, Geister 
wie Menschen, wirken; mit dem Wort »Snrvie« bezeichnen sie (in Anlehnung 
an bekannte Ausdrücke der heutigen Physik) ein Energienfeld, das durch 
seelische Einflüsse des Individuums gebildet wird: während des Lebens 



Literatorberichtd. 


499 


wttrde jeder Mensch im Weltgansen ein »Strahlenfeld« verwirklichen, ans 
dem die angedenteten okknlten Erscheinungen und das Fortleben nach dem 
Tode sn begreifen wären. Die Schwingungen der »Energie psychiqne« 
haben solche Wellenlänge und Freqnens, »qu'elles se placent ä reztrfime 
hont de la serie ultra*violette, aprbs les rayons X et les rayons gamma du 
radium«. Es scheint mir nicht nOtig, solchen Spekulationen weiter sn folgen. 

Max Dessoir (Berlin). 


La connaissance snpranormale. Etüde experimentale. Par le Dr. Engbne 
Osty. Paris, Felix Alcan, 1928. S». ynn.888S. 

Mit Vertrauen erweckendem Ernste berichtet der Verfasser von Er* 
fahrungen, die er bei sogen. Hellsehern gemacht hat. Er verteidigt nicht 
nur die Annahme, daä ein verborgenes seelisches Leben sich sn einem 
■weiten Ich ansgestalten nnd ein eigenes Gedächtnis entwickeln kann, sondern 
er hält Übertragung von Gedanken nnd telepathische Auffassung fremder, 
selbst unbewußter Seeleninhalte für mSglich. Sonach mag es sich ereignen, 
daß die unbewußte Kenntnis von beginnenden kSrperlichen Leiden oder von 
alten, längst vergessenen Erlebnissen sich auf einen Hellseher überträgt. 
Herr Osty glaubt ferner an ein von Person su Person schwingendes »Fluidum«, 
das er freilich wissenschaftlich absuleiten nnd einsnordnen außerstande ist. 
Er leugnet jedoch ein Voraussehen allgemeiner, d. h. nicht unmittelbar mit 
einem persönlichen Lebensablanf verbundener Ereignisse, also beispielsweise 
die Vorahnung eines Krieges überhaupt, während das Einzelschicksal (Ver* 
wundnng, Tod) vorausgesehen werden kOnne. Endlich erblickt er in toten 
Gegenständen Trilger solchen Fluidums. Aber die Gegenstände sind nur 
vorübergehend nnd nicht notwendig Vermittler zwischen Ich nnd Ich. Der 
Hellseher ist »sensible aux modalitOs dnergOtiqnes dont nous imprOgnons 
les objets que nous tonchons, est capable des se comporter envers chacnn 
des Otres hnmains ayant tonchd nn objet« (S. 806). Wenn das der Fall 
sein sollte, dann wäre allerdings beinahe jede Aussage richtig! Überhaupt 
will mir scheinen, als ob der Verfasser, bei aller Buhe nnd Gründlichkeit 
des Vorgehens, mit Beobachtungen und Erklärungsversuchen arbeitet, die 
viel su weit gespannt sind. Immerhin halte ich das Buch für eins der 
wenigen lesenswerten Bücher okkultistischer Bichtnng. 

_ Max Dessoir (Berlin). 

Die okknlten Phänomene im Lichte der Wissenschaft. Gmndzüge einer 
Magiologie. Von Dr. phil. Karl Hermann Schmidt. (Samm¬ 
lung Göschen.) Berlin nnd Leipzig, Walter de Gmyter & Co., 1923. 
12®. 134 S. 

Das Büchlein erhebt sich über das durchschnittliche Schrifttum auf 
diesem Gebiet, indem es versucht, die okkulten Erscheinungen teils durch 
systematische Gliederung, teils durch Einordnung in weitere Znsaonmenhänge 
verständlich zu machen. Aber es trägt doch das weltanschauliche Moment 
als entscheidend in Fragen hinein, für die es nur mittelbare Bedeutung hat. 
Wenn Dr. Schmidt behauptet, Crookes und Zöllner würden »mundtot gemacht, 
weil ihre Forschungsresnltate nicht zur herrschenden Weltanschauung der 
Zeit passen«, so verfehlt er den springenden Punkt. Unsre Wissenschaft 
hat die merkwürdigsten Entdeckungen nnd die umwälzendsten Behauptungen 
anerkannt, weil sie gut begründet wurden, und sich gegen den Okkultismus 

82* 



500 


literatorberichte. 


ablehnend rerhalten nicht ans Trägheit, sondern ans grundsätzlich be¬ 
rechtigtem Widerstand gegen nnznlängliche BeweisfOhrnng. Aber sie wird 
sehr znfrieden sein, wenn sie ihre Forschungen immer weiter in das Gebiet 
des sogen. Okkultismus hineinfhhren kann. Der Verfasser des Torliegenden 
Buchs will als Tatsachen anerkennen: das ünterbewuStsein, Telepathie und 
Hellsehen in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, parapbysische Ideo- 
plastie und endlich Telästhesie (Wünschelrute) und Teleplastie. Er fügt 
hinzu: »Die Durchdringung der Materie kann als Wahrscheinlichkeit gelten, 
aber von der Astrologie, den Apporten und dem objektiven Spuk kann nur 
als von Möglichkeiten gesprochen werden«. Ich persönlich vermag in der An¬ 
erkennung nicht so weit zu gehen. Max Dessoir (Berlin). 


0. Selz, Oswald Spengler und die intuitive Methode in der Geschichts¬ 
forschung. F. Cohen, Bonn 1922. 

Die kleine Schrift beleuchtet Spenglers historische Methode in ihren 
beiden Hauptzügen, dem eigentUch intuitiven und dem morphologiseh- 
vergleichenden. Die Geschichte als Darstellung lebendiger Vorgänge kann 
nicht nach kausalwissenschaftlichen Gesichtspunkten untersucht werden, da 
jede Kultur etwas Eigenartiges, Einzelnes, Noch-nicht-Dagewesenes und 
Nie-Wiederkehrendes ist, somit sich für ihre besondere Artung kein Kausal¬ 
zusammenhang ableiten läfit. Das Wesen einer Kultur kann nur rein an¬ 
schaulich erfaßt werden in der Art eines guten Menschenkenners, der in¬ 
tuitiv in andern Seelen zu lesen versteht. So entdeckt diese »physiognomische 
Methode« durch »Einfühlung« den ureigensten Wesenszng eines jeden Kultur- 
kreises in allen seinen Lebensäufiemngen (Religion, Kunst, Wissenschaft, 
Staatenbildung, Philosophie) wieder, vor allem die Art seines Zeitgefühls 
und die Art seines Raumgefühls. 

Spenglers eigenartigste Leistung aber ist die Durchführung einer ver¬ 
gleichend-morphologischen Geschichtsbetrachtung, durch die ein gleichartiger 
Lebensablauf aller Kulturen aufgedeckt wird mit homologen Erscheinungen, 
wie der Bildung des religiösen Mythus in der Frühzeit, der großen Knnst- 
entfaltung in der Reife, dem Entstehen der großen philosophischen und 
wissenschaftlichen Systeme in der Spätzeit und dem Übergang in nur noch 
ansbauende und schließlich resignierende Zivilisation beim Altem. 

In Gegensatz zu Spengler stellt sich der Verfasser, indem er für letzte 
Kulturen größere Bereicherung der seelischen Möglichkeiten ans dem 
wachsenden Schatz der Vergangenheit annimmt, so daß immer weitere 
kühne Theorien zu weiterer Erkenntnis führen konnten, wohingegen Spengler 
(S. 528) hier jedem Knltnrkreis seine Grenze gesetzt hat, indem er sagt: 
»Das, was wir als wissenschaftliche Ergebnisse zu finden vermeinen, liegt 
der Art und Weise unsres Suchens schon zugrunde«. Und ob in der Tat 
der »höchste Triumph« der Einsteinschen Relativitätstheorie, die ja nach 
Spengler schon Beginn der Resignation bedeutet, für Kulturen mit einem 
ganz anderen Zeitgefühl Bedeutung hat, das ist ja gerade das von Spengler 
aufgeworfene Problem. Dr. Otto, Remscheid. 



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Die Dekadenz der Arbeit 

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Prof. Dr. Th. Svedberg 

Nach der 2. Auflage aus dem. Schwedischen übersetzt von 

Dr. B. Finkelsteln 

Die aktuellen Probleme der Physik und Chemie — Umwandlung der 
Energie, Moleküle und Atome, Kolloide, moderne Transmutationsversuche, 
flüssige Kristalle usw. — werden in dem Werk in jener allgemeinverständ¬ 
lichen und anziehenden Form dargestelit, für die die schwedischen Gelehrten 
eine besondere Gabe besitzen. 

Nicht nur der gebildete Laie, sondern auch der Fachmann findet in dem 
Buch viele Angaben, die in der zugänglichen Fachliteratur fehlen. 

Gebunden Goldmark 6.—, broschiert Goldmark 5.— 


Besprechung: Das Buch hat seinen Titel nach dem Prineip erhalten, das mehr als 
alle anderen die Naturforschung der letzten Jahre beherrscht, von dem Gesetze der Degradation 
der Energie, der Arbeitsdekadenz. In wahrhaft allgemeinverständlicher Form werden die im 
Vordergründe des wissenschaftlichen Interesses stehenden Probleme dargelegt. . . . 

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Der erste Teil der Schrift von J. WITTMANN handelt über 

Raum, Zeit und Wirklichkeit 

(zugleich eine Würdigung der Lehre Kants) 

Der zweite Teil von G. MARTIUS über 

Die Kategorienlehre Kants 

ln diesen Arbeiten werden Kants kritische Grundideen vom wirklich 
empirischen Standpunkt, wie Biologie und Psychologie ihn heute bieten, 
in einfacher, klarer Form entwickelt. 





AKADEMISCHE VERLAGSGESELLSCHAFT M. B. H. 1 


Kritik des Idealismus 

von 

Friedrich Jodl 

Bearbeitet und herausgegeben von 

Karl Siegel und W. Schmied-Kowarzik 

Universitätsprofessor Privatdozent 

Preis brosch. Goldmark 6.—, geb. Goldmark 8.— 


Aus den Besprechungen: 

Man wird die Schrift gewiß nicht ohne starken Eindruck aus der Hand | 
legen, der ganz besonders auf Rechnung des Schlußkapitels zu stellen sein 
dürfte, in welchem Jodl sein Bekenntnis zum wahren — praktischen — 
Idealismus im Gegensätze zum falschen — theoretischen — ablegt: dies ' 
Kapitel enthält im besten Sinne des Wortes sein philosophisches Testament I 

Octerrelchisch« Riuidscluiu, Wi«a. 

Das Buch ist mit überzeugungsstarkem Pathos und großer Darstellungs- i 

kraft geschrieben. Man wird es darum mit Interesse und mit wirklichem ' 

Gewinn lesen, auch wenn man im einzelnen seine Gedanken verwirft. 

Neu« Jüdische Presse, Frsjikfiirl. 

Ein neues Buch von jodl muß das lebhafte Interesse jedes Monisten 
erwecken. Es handelt sich hier um ein Werk, das Jodl nicht vollendet j 

hatte und das nach seinem Ausspruch ein philosophisches Testament dar- | 

stellen sollte. Das Werk ist zur Einführung in die Grundprobleme der . 

Philosophie geeignet. In klarer und m. E alle Zweifel beseitigender * 

Weise wird mit dem Idealismus im Sinne des Platonismus und der Theo- i 

logie Abrechnung gehalten. Merken wir uns das schöne Wort Jodls im . 

Schlußkapitel: „Sich der Natur gegenüberzustellen als ganzer Mensch, ohne 
jeden Mittler außer dem eigenen mutigen Willen: im Erkennen Realist, im | 

Handeln Idealist, das soll der Lebensgrundsat’z des modernen Menschen | 

sein.“ MonUtiiclie MonaUhefte, Hambiirg. 

Aus dem Nachlaß Fr. Jodls ist eine „Kritik des Idealismus“ heraus- | 

gegeben. Wir stehen im Zeichen Nietzsches: Jodls Kritik gilt dem Idealismus, 
der es sich zu leicht macht und dem er — wie Nietzsche den Thueydides 
dem Plato — die unbeschönigte Wirklichkeit als den Stoff unseres sittlichen 
H.^ndelns in hinreisender lapidarer Sprache entgegensetzt, ist der Versuch , 
eines Liebhabers (ich wünsche das Wort „Dilettant“ durchaus zu vermeiden), 
für sich und seinesgleichen aus den Materialien großer Systeme ein Haus zu 
eigener Benutzung zu bauen. An solchen Versuchen soll man nicht mit dem 
Stolz des vereidigten Professionellen vorubergehen. 

Lit. Jahresbericht des Ofirerboades. 


Buchdnickerc^ von Robert Noske in B- rna-Lnpziij. 










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ATION-PSYCHOl 

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