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ARCHIV
FÜR
SOZIALE HYGIENE
MIT BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER
GEWERBEHYGIENE UND
MEDIZINALSTATISTIK.
NEUE FOLGE DER ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALE MEDIZIN.
IN VERBINDUNG MIT
Gewerberat Dr. BENDER Stadtrat Dr. GOTTSTEIN
CHARLOTTENBURG CHARLOTTENBURG
Ober-Med.-Rat Prof. Dr. v. GRUBER Prof. Dr. HAHN Gewerbeinspektor HAUCK
MÜNCHEN FREIBURG WIEN
Prof. Dr. LEHMANN San.-Rat Dr. PRINZING Prof. Dr. PRAUSNITZ
WÜRZBURG ULM GRAZ
Privatdozent Dr. TELEKY San.-Rat Dr. WEINBERG
WIEN STUTTGART
HERAUSGEGEBEN VON
Geh. Ober-Medizinalrat Prof. Dr. DIETRICH
Priv.-Doz. Dr. med. A. GROTJAHN Prof. Dr. med. J. KAUP
Stadtrat Dr. phil. F. KRIEGEL
SIEBENTER BAND.
LEIPZIG.
VERLAG VON F. C. W. VOGEL.
1912.
C
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Inhaltsverzeichnis des siebenten
Bandes.
Erstes Heft.
Seite
Kölsch, Entwicklung’, Wege und Ziele des ge werbeärztlichen Dienstes . . 1
Prinzing, Krebs und Beruf . 32
Hanssen, Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde beim Über¬
gang in einen Industrieort . 46
Schultze, Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase . 66
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin ( Sommer , Die Psychiatrie in den Vorentwürfen d
neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich. S. 84. — Heller
Vergleichende Morbiditätsstatistik der weiblichen kaufmännischen An
gestellten und der Dienstboten. S. 103.)
Zweites Heft.
Peiper, Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern . . . 109
Simon, Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern nach dem
Pignet’schen Verfahren . 138
Kaup, Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen . . 191
Kadestock, Die internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 und die in
sozialhygienischer Hinsicht bemerkenswerten statistischen Darstellungen
auf derselben . 237
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin ( Flesch , Hygienische Ergebnisse der Aktienbau¬
gesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. S. 247.)
y.io
Inhaltsverzeichnis.
IV
Drittes Heft.
Seite
Meinshausen, Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens 253
Scliultze, Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien . 276
Schnitze, Ein amerikanischer Kulturfortschritt . 279
Liehe, Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheil¬
stätten . 281
Fischer, Der Frauenüberschuß . 301
Aus (1er Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin ( Flesch , Hygienische Ergebnisse der Aktienbau¬
gesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M. S. 329. —
Buttermilch , Über den Wert einer zentralisierten kommunalen Säuglings¬
fürsorge. S. 335. — Gottstein, Beeinflussung von Volksseuchen durch
die Therapie, zugleich ein Beitrag zur Epidemiologie der Krätze. S. 345.
— Schaeffer , Das statistische Erhebungsformular der Heilanstalten in
Preußen. S. 354.)
Viertes Heft.
Haussen, Die Abnahme der Geburtenzahlen in den verschiedenen Be¬
völkerungsklassen und ihre Ursachen. Nachuntersuchungen in Schleswig-
Holstein . 365
Fehlinger, Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien und Irland 400
Unger, Die Entwicklung der Stadt Perleberg in bevölkerungsstatistischer
und sanitärer Beziehung (Mit 10 Kurven) . 419
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinal¬
statistik in Berlin ( Guradze Statistik und Kausalität. S. 443. —
Crzellitzer , Die Berliner städtischen Familien-Stammbücher und ihre
Ausgestaltung für die Zwecke der Vererbungsforschung und der sozialen
Hygiene. S. 448. — Juliusburger , Die soziale Bedeutung der Psychiatrie.
S. 456. — Biesalski Die Entwicklung der neueren Krüppelfürsorge.
S. 466.)
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen
Dienstes.
Von Dr. Feanz Koelsch, K. bayr. Landesgewerbearzt.
Vortrag, gehalten beim Kurs für Unfallheilung und Gewerbekrankheiten in
Frankfurt a. M. am 3. und 4. Oktober 1911.
Meine Herren! Dem Thema, welches ich vor Ihnen zu be¬
sprechen die Ehre habe, dürfte ein aktuelles Interesse wohl nicht
abzusprechen sein. Sind doch gerade in den letzten Jahren fast
in allen Kulturstaaten die Beziehungen des ärztlichen Standes zur
praktischen Gewerbehygiene, zum Gewerbeaufsichtsdienste,
Gegenstand vielfacher Diskussionen und z. T. auch legislatorischer
Maßnahmen geworden, nicht zuletzt in unserem deutschen Vaterlande,
wo die Erwägungen für und wider nicht mehr zur Buhe kommen
wollen, voraussichtlich auch nicht mehr sich beruhigen werden bis
zu einer den modernen sozialhygienischen Erkenntnissen ent¬
sprechenden Regelung. Nach dieser Richtung hin dürften sich
begreiflicherweise meine Ausführungen von einer gewissen Tendenz
nicht ganz freihalten. Andererseits glaubte ich mich auf Grund
einer nunmehr fast 3 jährigen Tätigkeit als „Gewerbearzt“ berech¬
tigt und verpflichtet, mit meinen Erfahrungen nicht zurückzuhalten
und meine darauf basierenden Anschauungen vor ihrem kompe¬
tenten Kreise zu entwickeln.
Die Beziehungen zwischen Arzt und Gewerbehygiene sind
uralt. Von den frühen Zeiten ab, als die einzelnen Berufe begannen
sich zu differenzieren und so charakteristische krankhafte Störungen
bei den Berufszugehörigen hervorzurufen, bis auf den heutigen Tag
verdankt die Gewerbepathologie und Berufshygiene der ärzt-
i
liehen Wissenschaft ihre Existenz und Weiterentwicklung. Die
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 1
2
Franz Koelsch,
von den römischen Satyrikern Martial, Juvenal, Plautus u. a. scherz¬
haftgebrauchten Termini vom „triefäugigen Schmied“, vom „hinkenden
Schneider“, vom „engbrüstigen Bäcker“, vom „varicosus haruspex“
u. dgl. waren den griechischen und römischen Heilkünstlern ebenso
geläufig wie die Berufshygiene der Ringkämpfer, der Boten oder
der Schifter. Und Hippokrates bemerkt u. a.: „Es gibt viele
Handwerke und Künste, die denjenigen, welche sie ausüben, manche
Plagen und Leiden verursachen“. Er berichtet weiterhin von ver¬
schiedenen spezifischen Erkrankungen, so der Bergleute, Lastträger,
Tuchwalker, Gärtner, Reiter, Schiffer usw. Ähnliche Beobachtungen
überlieferte auch Galen.
Ebenso liegen uns von mittelalterlichen Ärzten eine Reihe
kasuistischer Mitteilungen, später (etwa von der Zeit der Renaissance
ab) auch monographische Arbeiten über gewerbliche Gesundheits¬
schädigungen und deren Bekämpfung vor. Die Staubarbeit war
bereits in ihrer unheilvollen Wirkung bekannt, nicht minder die
Beschäftigung mit Blei, Quecksilber, Arsen und anderen Stoffen
berüchtigt. Die Berufshygiene der Bergleute und Hüttenarbeiter,
der Schiffer und Drogenhändler, der Alchymisten und Chemiker
wurde eingehend erörtert. Andere Ärzte schrieben über die Berufs¬
krankheiten der Soldaten (Morbi castrenses), der Gelehrten und
Studierenden, der Ratsherren, sogar der Hof beamten.
Im Jahre 1700 erschien sodann das berühmte Werk „De morbis
artificum diatribe“ des Professors der Medizin zu Padua B er nar-
dino Ramazzini, des „Vaters der Gewerbehygiene“ Ramazzini
darf das Verdienst in Anspruch nehmen, die bisher überall zer¬
streuten Daten gesammelt und gesichtet zu haben ; er hat dieselben
durch zahlreiche eigene Beobachtungen ergänzt und so erstmals
systematisch die Berufskrankheiten dargestellt, gleichzeitig aber
auch kulturhistorische und therapeutische Gesichtspunkte ausgiebig
berücksichtigt.
Er schildert unter anderen die berufliche Blei- und Queck¬
silbervergiftung, die Wirkung des Arsens und anderer chemischer
Stoffe, die Folge des Staubes für die Atmungsorgane, des Sitzens
und Stehens auf die Blutzirkulation; bei Behandlung der Fein¬
arbeiter finden wir eine treffliche Darstellung der physiologischen
Optik u. dgl.
Ramazzinis Werk fand eine außergewöhnliche Beachtung
und durfte sich einer stattlichen Reihe von Auflagen, Übersetzungen
und Umarbeitungen erfreuen; gleichzeitig aber gab es, begünstigt
durch die um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzende mechanisch-
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
3
industrielle Betätigung , besonders bei den englischen und fran- -
zösischen Ärzten Anlaß zur Entwicklung einer bodenständigen :
gewerbehygienischen Forschung und Literatur.
In Deutschland beschränkte sich allerdings die wissenschaft¬
liche Gewerbehygiene dieser Zeitperiode bis gegen Mitte des
• •
19. Jahrhunderts im wesentlichen auf Überarbeitungen des
Ramazzinischen Werkes, ohne wesentlich Neues, Selbständiges
hervorzubringen. Erst mit dem 1845 in Berlin erschienenen Werke
des Arztes Haifort: „Entstehung, Verlauf und Behandlung der
Krankheiten der Künstler und Gewerbetreibenden“ wurde auch im
deutschen Sprachgebiete eine neue Ära eingeleitet. 1872/78 er¬
schien das groß angelegte Werk von Dr. Hirt- Breslau, welcher
damit die moderne wissenschaftliche Gewerbehygiene be¬
gründete. Die jüngste, mächtig aufstrebende Fortbildung unserer
Wissenschaft dürfte Ihnen wohl selbst genügend bekannt sein..
Ebenso bekannt ist es aber auch, daß es — wie es ja in der Natur
der Materie liegt — fast ausschließlich ärztliche Forschungen
und Beobachtungen gewesen sind, welchen die gewerbehygienische
Wissenschaft ihre heutige stolze Entwicklung verdankt. Ich möchte
jedoch nicht anstehen, auch die mannigfachen wertvollen Anregungen
und Berichte der Gewerbeaufsichtsbeamten aus der jüngsten Zeit
rühmend hervorzuheben.
Gleichzeitig mit der Entwicklung der wissenschaftlichen
Gewerbehygiene wandte sich auch das Augenmerk der öffent¬
lichen Organe auf die im Gefolge der industriellen Entwick¬
lung auftretenden gesundheitlichen Mißstände und Körperschädi¬
gungen. Besonders seitdem die „Arbeitsmaschine“ ihren Sieges¬
lauf begonnen hatte (Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts), drängten
sich die Probleme des Arbeiterschutzes immer aufdringlicher in
den Vordergrund des allgemeinen Interesses. Wurde doch in dem
Geburtslande der modernen Großindustrie, in England, zu Anfang
des 19. Jahrhunderts die Arbeitszeit auf 14, 16, selbst 18. Stunden
ausgedehnt, in vielen Fabriken wurde ununterbrochener Betrieb
mit Tag- und Nachtschichten eingerichtet, nicht selten mußten
die Arbeiter 30 und 40 Stunden hintereinander die Maschinen
bedienen. Frauen und Kinder bis zum zartesten Alter herab
wurden herangezogen , um die Maschine nicht stillestehen
lassen zu müssen; im Jahre 1839 wurden unter 419560 Fabrik¬
arbeitern nur 96569 Männer über 18 Jahre, hingegen 192 887
männlicher Arbeiter unter 18 Jahren und 242 296 weib¬
liche Arbeitskräfte gezählt. Und ähnlich standen damals .die
l*
4 Franz Koelsch,
Verhältnisse auch in den benachbarten französischen und deutschen
Industriebezirken. Die Folgen dieser Ausbeutung der menschlichen
Arbeitskraft und der Auflösung der Familie durch die Frauen- und
Kinderarbeit zeigten sich gar bald in grauenvoller Weise. In
England starben (etwa in den 30 er Jahren des 19. Jahrhunderts)
in den Fabrikdistrikten ebensoviele Menschen vor dem 20. Lebens¬
jahre wie anderswo vor dem 40. Lebensjahre. Während bei der
übrigen Bevölkerung Englands 3 Generationen kamen und gingen,
schwanden in der gleichen Zeit bei den Textilarbeitern 9 Gene¬
rationen (n. Zadek).
Die weitere industrielle Entwicklung brachte durch Einfüh¬
rung der Dampfkraft und Elektrizität, durch Herstellung und Ver¬
wendung zahlreicher giftiger oder explosibler Stoffe, durch die
zwecks Lohneinsparungen immer wieder versuchte Bevorzugung
der Frauen- und Kinderarbeit, durch die im internationalen Kon¬
kurrenzkämpfe so intensiv gesteigerte Produktionstätigkeit eine
große Keihe neuer Gesundheitsschädigungen mit sich.
So wurden alle Kulturstaaten genötigt zum Erlasse von Ver¬
ordnungen, durch welche nach Möglichkeit die gewerblichen
Schädigungen hintangehalten und die Existenzbedingungen der
arbeitenden Bevölkerung gehoben werden sollten. Den ersten dies¬
bezüglichen Schritt machte England im Jahre 1802. Bezeich¬
nend ist übrigens, daß die gewerbehygienischen Mißstände in Eng¬
land den Anstoß zu „öffentlicher Hygiene“ überhaupt abgaben;
denn die Schädigungen der Arbeiter selbst wie die Belästigungen
dar Nachbarschaft, das kolossale Zusammenströmen der Arbeiter
in die Fabrikstädte, die ungesunden Wohnungs- und Ernährungs¬
bedingungen, die Gefahren der Seuchen Verschleppung und Ähnliches
veranlaßten die dortigen Behörden zu eingreifenden Sanierungs¬
maßnahmen. Auf dem Kontinent folgte als erster Staat P r e u ß e n
1824, dann Bayern 1825. In der Folgezeit, etwa von der Mitte
des 19. Jahrhunderts ab, treffen wir bereits bei den meisten
Kulturstaaten mehr oder minder weitgehende gesetzliche Be¬
stimmungen über Arbeitsvertrag, Regelung der Arbeitszeit, Sonn¬
tagsarbeit, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, Unfall¬
schutz und hygienische Maßnahmen, dann Sonderverfügungen für
besonders gefährliche Betriebe u. dgl.
Es würde zu weit gehen, an dieser Stelle Entwicklung und
Inhalt der internationalen Arbeiterschutzgesetzgebnng zu skizzieren;
nur in aller Kürze sollen die einschlägigen Deutschen Verord¬
nungen gestreift werden. In der Entwicklung der deutschen
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
5
Arbeiterschutzbestrebungen bildet einen Markstein das Jahr 1869,
in welchem der Norddeutsche Bund eine Gewerbeordnung aufstellte,
• die dann nach der Reichsgründung in allen Bundesstaaten zur Ein¬
führung gelangte. Im Jahre 1878 wurde unter anderen die Ge¬
werbeaufsicht an bestimmte, von den Landesregierungen zu er¬
nennende Beamte übertragen. Eine Reihe von Nachträgen sollten
dazu dienen, die Gewerbeordnung den Fortschritten der Industrie
und der sozialen Erkenntnis anzupassen ; die letzte dieser Novellen
ist bekanntlich am 1. Januar 1910 in Kraft getreten.
Die Hauptziele der Gewerbeordnung sind, wie be¬
reits angedeutet: Schutz des Arbeitsvertrages und der Ent¬
lohnung — dann Schutz für Leben, Gesundheit und Sittlich¬
keit. Diesen letztgenannten, wichtigsten Teil der Gewerbe¬
ordnung behandeln die einschneidenden Bestimmungen der
§§ 135 — 139 gesetzliche Regelung der Arbeitszeit,
§ 137 V. Wöchnerinnenschutz,
§ 105 a — h Sonntagsruhe,
§ 120 a — e Unfallverhütung und Gewerbehygiene.
Auf Grund des § 120 e und 139 a ergingen weiterhin seitens
des Bundesrates und verschiedener oberer Verwaltungsbehörden
spezielle Verordnungen, von denen bes. die Bundesrats Verordnungen
über verschiedene gesundheitsgefährliche Betriebe ärztliches
Interesse verdienen. Für Betriebe unter Tag (Bergwerke und.
unterirdische Gruben) bestehen besondere landespolizeiliche Sicher-
• •
heits- und Fürsorgegesetze. Liber die Durchführung der gewerb¬
lichen Schutzgesetze wachen in Deutschland rund 500 Beamte,
darunter etwa 20 weibliche — während ca. 120 Aufsichtspersonen
den Gesetzesvollzug in unterirdischen Betrieben beaufsichtigen.
Nun, meine Herren, läge es doch recht nahe, anzunehmen, daß
beim Vollzüge der Arbeiterschutzgesetze, dieser eminent prak¬
tischen sozialhygienischen Betätigung, überall der berufene Hygie¬
niker, derArzt, in erster Linie, beigezogen worden wäre. Dreht
sich doch die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung in ihrer Haupt¬
sache um Schutz vor Krankheit und Unfall, um Erhaltung und
Förderung der Gesundheit des Einzelindividuums wie des arbei¬
tenden Volkes im ganzen, lauter Probleme, zu deren Überwachung
und Lösung der Arzt als der berufenste Vertreter erscheint.
Leider sind — um dies gleich vorweg zu sagen — die Ver¬
hältnisse in der Praxis anders gelagert; wir finden als Aufsichts¬
beamte Männer aus den verschiedensten Berufen vertreten, vor¬
wiegend Techniker und Chemiker; nur in ganz geringem
6
Franz Koelsch,
Umfange wurde von der ärztlichen Mitarbeit Gebrauch gemacht;
teilweise wurde letztere sogar direkt refüsiertals unnötig
und unzweckmäßig.
Ich möchte mir erlauben, in kurzen Zügen die diesbezüglichen
Verhältnisse bei den einzelnen Kulturstaaten anzuführen, soweit
mir Material zugängig war. Ganz ohne Arzt ist kein Staat
bisher durchgekommen; Umfaug und Art der ärztlichen Mitwirkung
bewegen sich jedoch in außerordentlich weiten Grenzen.
Einer besonderen Bevorzugung erfreut sich die ärztliche Mit¬
arbeit in England. Vielleicht mag die geschichtliche Entwick¬
lung zu dieser intensiven Inanspruchnahme mit beigetragen haben;
*
denn da durch ein Gesetz des Jahres 1833 für Kinder und Jugend¬
liche eine verkürzte Arbeitszeit festgesetzt worden war, Geburts¬
register jedoch damals noch nicht geführt wurden, aus welchen
das Alter der Betreffenden hätte festgestellt werden können,
wurden eben die Ärzte benötigt, um durch persönliche Unter¬
suchung die erforderlichen Alterszeugnisse auszustellen. Hieraus
entwickelte sich das Institut der Untersuchungsärzte,
welches heute in ausgedehntem Umfange noch besteht.
Zunächst finden wir an der Zentrale der Gewerbeinspektion
2 Medizinalinspektoren, einen 1. Beamten (Dr. Legge) und
dessen Stellvertreter, die beide in London wohnen und deren
Tätigkeit sich über das ganze Königreich erstreckt. Sie haben die
erforderlichen Untersuchungen anzustellen, nach Ermessen den ge¬
meldeten Vergiftungsfällen nachzugehen, die Gewerbeinspektoren
zu beraten, ferner besonders jene Orte und Spitäler zu besuchen,
wo Gewerbekrankheiten häufig Vorkommen. Dem ersten Medizinal¬
inspektor untersteht auch die Anstellung oder Absetzung der er¬
wähnten Untersuchungsärzte, praktische Ärzte mit be¬
stimmten amtlichen Funktionen. Zurzeit sind über 2000 derartiger
.* • •
Arzte angestellt. Ihnen obliegt innerhalb des ihnen zugeteilten
Amtsbezirkes :
1. die Untersuchung der Jugendlichen unter 16 Jahren und
Kinder und Ausfertigung der Tauglichkeitszeugnisse für bestimmte
Betriebe,
2. die Unfallanzeige und -Untersuchung nach bestimmten Nor¬
men (Formular),
3. die Meldung gewerblicher Vergiftungen durch Blei, Phosphor,
Quecksilber, Arsen und Milzbrand,
4. die Beaufsichtigung der Arbeiten in gefährlichen Be-
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes. 7
trieben, periodische Untersuchung bestimmter Arbeitergruppen,
Beratung über Schutzeinrichtungen usw.,
5. auf Anordnung : Ausführung von Sondererhebungen und Be¬
richten, dann regelmäßiger Jahresbericht u. a.
Innerhalb des Amtsbezirkes steht dem Untersuchungsarzt das
Recht des Gewerbeinspektors zu, insofern als er jederzeit jeden
Betrieb besuchen kann; Strafanträge sind an den zuständigen Ge¬
werbeinspektor zu stellen. Die Honorierung erfolgt nach Tarif,
teils vom Unternehmer (für Tauglichkeitsatteste), teils vom Staate
(für die sonstigen Amtshandlungen). Außerdem ist auch jeder
Arzt in England insofern zur gewerbehygienischen Mitarbeit an¬
gehalten, als er nach § 73 des englischen Fabrik- und Werk¬
stättengesetzes zur Anzeige verpflichtet ist, wenn er glaubt, daß
sein Patient an Milzbrand leidet oder sich bei der Arbeit eine
Blei-, Quecksilber-, Phosphor- oder Arsenvergiftung zugezogen hat.
Er erhält für jede dieser Anzeigen eine Prämie von 2,50 M., hat
jedoch bei schuldhafter Unterlassung bis 40 M. Strafe zu zahlen,
Einige Funktionen gewerbehygienischen Charakters fallen auch
dem ordentlichen, von der Sanitätsbehörde angestellten Medi¬
zinalbeamten zu, so die baulichen Einrichtungen der Fabriken
und Werkstätten, Einfluß der Beschäftigung auf die Volksgesund¬
heit, Arbeiterwohnungen, Kontrolle der Heimarbeit, Bäckereien usw.
Endlich bestehen zwecks Vorbereitung neuer Verordnungen
gemischte Kommissionen, denen auch der Medizinalinspektor
angehört, so eine zum Studium der Ventilationsverhältnisse und
Luftfeuchtigkeit — eine andere zur Untersuchung der Glasurfrage
— der Frauen- und Kinderarbeit (Bericht 1909).
In Holland wurde 1903 ein medizinischer Berater ernannt:
„m edical adviseu r“ (Dr. W i n t g e n s). Seine Tätigkeit umfaßt
das ganze Land, er steht in direktem Verkehr mit dem Ministerium
und berichtet diesem jedes Halbjahr über seine Tätigkeit. Seine
wichtigsten Obliegenheiten sind : Ausfertigung von Gesundheits¬
zeugnissen für bestimmte Arbeiter (Heringsräuchereien, Ziegeleien),
2 monatliche Untersuchung der Frauen und Jugendlichen in den
Kerambetrieben, soweit sie mit Bleiglasuren arbeiten, die Über¬
wachung des Caissongesetzes; außerdem obliegt ihm neben den
Gewerbeinspektoren auch die Aufsicht über die Durchführung der
einschlägigen Arbeiterschutzgesetze. Dr. Wintgens hat über die
Bleivergiftung , besonders über Blutveränderung bei den Keram-
arbeitern und Diamantschleifern Untersuchungen veröffentlicht.
3 Franz Koelsch,
Außerdem finden wir auch in Holland Privatärzte für be¬
stimmte gewerbehygienische Zwecke zeitweilig autorisiert.
Belgien hat seit 22. Oktober 1895 einen Arzt in die
Zentralverwaltung aufgenommen, dem noch 4Kollegen in
der Provinz zur Seite stehen. Das Königreich ist in 4 Arzt¬
distrikte geteilt. Die Tätigkeit beschränkte sich anfangs nur auf
Untersuchungen über gewerbliche Gesundheitsschädigungen.
Eine Königl. Verordnung vom 31. Januar 1898 überwies diesen
Ärzten außerdem die Hygiene der Arbeitsräume, die bisher den
Technikern überlassen war; ein Dekret vom 3. Oktober 1898
weiterhin die Überwachung der gefährlichen , ungesunden und
lästigen Betriebe (Zündholz-, Bleiweißfabriken, Lumpensortierereien)
sowie die Sicherung der ersten Hilfe bei Unfällen.
• •
Uber die Revision genannter Betriebe werden entsprechende
'Formblätter geführt, die der Zentrale eingesandt werden müssen;
die Zahl dieser eingesandten Protokolle betrug im Jahre 1908
1108. Die Gewerbeinspektoren sind gehalten, besondere Beob¬
achtungen über neue Formen von Giftarbeit, verdächtige Er¬
krankungen, Mängel der Wasserversorgung usw. den betreffenden
Gewerbeärzten mitzuteilen.
Außerdem sind zur Unterstützung der Gewerbeärzte Mede-
cins aggrees vorgesehen, d. h. prakt. Ärzte, die von der Re¬
gierung zur Vornahme bestimmter Amtshandlungen, im vorliegenden
Falle zu periodischen Untersuchungen der Arbeiter, autorisiert sind.
Sie haben dritter Seite gegenüber ihre dienstlichen Wahrnehmungen
streng geheim zu halten; wissenschaftliche Veröffentlichungen
hierüber sind nur mit ministerieller Erlaubnis zulässig. Ihre
Tätigkeit ist durch Dekret vom 17. Juni 1902 geregelt.
Die Untersuchungsgebühr beträgt für das erste Dutzend der
Arbeiter 5 Fr., für jedes folgende Dutzend 1 Fr.; bei Bleiwei߬
fabrikarbeitern 2 Fr.
Sie sind außerdem verpflichtet, alle wissenswerten Beob¬
achtungen gewerbehygienischen Inhalts zu melden. Besonders ein¬
gehend ist die periodische Untersuchung der Bleiarbeiter. Mit
Rücksicht darauf, daß die Symptomatologie der chronischen Blei¬
vergiftung z. T. schwierig, z. T. variabel ist, wurde nur eine Ein¬
tragung der einzelnen Symptome in die Formblätter vorgesehen,
welch letztere dem Chefarzt einzusenden sind (Portofreiheit!). Die
Untersuchung beschränkt sich nicht nur auf die üblichen Merk¬
male des Saturnismus, umfaßt vielmehr eine sehr genaue Blut-
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
9
analyse mit Hämoglobinbestimmung, Feststellung basophiler Granu-^
lationen, der Leukocytose, Polychromasie usw.
Derartigen Untersuchungen auf Saturnismus wurden z. B. im
Jahre 1908 903 Arbeiter unterworfen an 3348 monatlichen Ter¬
minen; hierbei wurden bei 94 Arbeitern Bleisymptome gefunden.
Die Zahl der Bleikranken hat sich als Folge dieser Prophylaxe
naturgemäß im Laufe der Jahre wesentlich vermindert; im Jahre
1903 wurden unter 1030 Arbeitern noch 332 Bleikranke festge¬
stellt, während 493 Arbeiter geringere Symptome zeigten. In ähn¬
licher Weise ist auch die Beaufsichtigung der Phosphorbetriebe
geregelt, in welchen z. B. im Jahre 1908 1521 Arbeiter in 11024
Untersuchungen ärztlich kontrolliert wurden; 73 Arbeiter wurden
wegen Zahndefekte oder Anämie beanstandet (im Jahre 1903 noch
387 Arbeiter).
Wir verdanken den belgischen Gewerbeärzten eine ganze Reihe
größerer wissenschaftlicher Arbeiten. So wurden seitens der Zentrale
bemerkenswerte Erhebungen in Gerbereien und Fellzurichtereien,
über die Spiegelfabrikation, Mühlen, Leinenindustrie, Lumpenhandel
angestellt. — Deffernez arbeitete über Katarakt und Lues bei
Glasmachern, über die Quecksilbervergiftung bei Spiegelbelegern,
über die Arbeitsbedingungen in der keramischen Industrie — B u y s e
über Chlorvergiftung u. a.
Neuerdings wurden von Glibert wertvolle Untersuchungen
über die chronische Blei- und Schwefelkohlenstoffvergiftung ver¬
öffentlicht, weiterhin über die Leinenindustrie sowie über die bei
den dortigen Arbeiterinnen beobachtete Kindersterblichkeit, ebenso
über die Woll- und Lumpenindustrie; andere Spezialerhebungen
beschäftigten sich mit den gesundheitlichen Verhältnissen in Zünd¬
holzfabriken, Bierbrauereien, Blei weiß und Gummiwarenfabriken,
Mühlen usw. und gaben die Grundlagen für diesbezügliche gesetz¬
liche Arbeiterschutzmaßnahmen. Die Anchylostomiasis, die Milz¬
brandfrage, die hygienischen Verhältnisse in Zinkhütten, Glas¬
hütten, Parfümfabriken, bei Caissonarbeiten wurden untersucht,
Studien über die Kohlenoxyd- und Quecksilbervergiftung angestellt,
Blutbilder, Hämoglobingehalt und Blutdruckverhältnisse bei ver¬
schiedenen Arbeitergruppen studiert. *) Wiederholte Auslandsreisen
nach England, Holland, Frankreich, Deutschland und Italien gaben
9 Wir verdanken Gli b e rt auch einige technische Neuerungen, so bezüglich
der Kohlenoxydbestimmung in Arbeitsräumen, bezüglich der mikroskopischen und
bakteriologischen Luftanalyse , bezüglich eines Kraftmessers zum Messen der
Muskelkraft der Hand bei Bleiarbeitern.
10 Franz Koelsch,
dem Chefarzt Gelegenheit, die dortigen Arbeitsverhältnisse und
Schutzmaßnahmen persönlich kennen zu lernen.
Neuerdings finden eingehende Erhebungen über die hygienischen
Verhältnisse der Bergbaubetriebe (unter Tag) statt, umfassend die
Arbeitszeiten, Luft und Feuchtigkeit, Krankheit, Invalidität und
Sterblichkeit u. a., wozu von der Kammer (19. Januar 1910) eine
• •
Spezialkommission eingesetzt wurde, bestehend aus 4 Ärzten
(3 Universitätsdozenten und 1 prakt. Arzt) und 2 Technikern mit
konsultativen Stimmen, unter dem Vorsitze des Gewerbechefarztes.
Was die einschlägigen Verhältnisse in Frankreich betrifft,
so finden sich dort unter 128 Gewerbeaufsichtsbeamten zurzeit
• •
2 Arzte, die jedoch ohne besondere Absicht eingestellt wurden und
mit keiner spezifischen Aufgabe betraut sind; es sind eben reine
Aufsichtsbeamte. Für gewerbehygienische Fragen war die
gelegentliche Mitwirkung von Ärzten vorgesehen. Die
Anstellung eigentlicher Gewerbeärzte wurde seit dem Jahre 1874
wiederholt gefordert und diskutiert; aber erst am 22. Juli 1907
wurde auf Antrag des Direktors des Arbeitsbureaus ein Arzt
(Di*. Heim) vom Arbeitsminister mit der ständigen wissen¬
schaftlichen Mitarbeit betraut und ihm ein Kollegium von
Fachleuten zugestanden. Heim wählte sich 5 Mitarbeiter für
klinische Medizin, Blutuntersuchungen, Physiologie und Pathologie,
Hautkrankheiten und Chemie.
Bisher wurden auf diese Weise die Gipsfabrikation, die Borsten-
und Haarindustrie, das graphische Gewerbe, die Wirkung der Ofen¬
gase, der Schwaden in Färbereien, die gewerbliche Schwefelkohlen¬
stoff- und Quecksilbervergiftung studiert.
Dieser ständige ärztliche Beirat zum Studium der
Gewerbepathologie wurde kürzlich (1911) gesetzlich festgelegt.
Daneben finden wir wiederum für bestimmte gefährliche Be¬
rufe (Blei- und Caissonarbeit) beauftragte Untersuchungs¬
ärzte. Bei den Bleiarbeitern ist gefordert ein Zeugnis über Fehlen
von Saturnismus beim Eintritt in die Beschäftigung, eine weitere
Untersuchung zunächst nach 1 Monat, dann periodische Nachunter¬
suchungen alle 3 Monate. Der ärztliche Überwachungsdienst bei
den Caissonarbeitern umfaßt die Aufnahmeuntersuchung, dann die
Kontrolluntersuchung zunächst nach 14 Tagen, von da ab ein¬
monatlich. Unfälle der Caissonarbeiter und Erkrankungen, von
letzteren auch die leichtesten, müssen registriert werden.
Spanien führte 1906 lokale Korporationen ein, die „Juntas
locales de reformas sociales“, die unter dem Präsidium des
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
11
Bürgermeisters (alcade) stehen und vom Institut für Sozialreform
beim Ministerium des Innern abhängen. Diesen „Juntas“ obliegt
unter anderen auch die Besichtigung und Begutachtung der hygie¬
nischen Verhältnisse in den Fabriken und sonstigen Gewerbe¬
betrieben; sie setzen sich zusammen aus je 6 Arbeitgebern und
Arbeitern. 1 Kurator und 1 Arzt. Allerdings soll dieser gut¬
gemeinten sozialhygienischen Institution ein durchgreifender Erfolg
bisher noch nicht beschieden worden sein. Außerdem ist den
Aufsichtsbeamten die gelegentliche Beiziehung von
Ärzten in besonderen Fällen gestattet.
Bei Italien müssen wir von vorneherein hervorheben, daß
die bisherigen Arbeiterschutzgesetze nur einen provisorischen Cha¬
rakter tragen und erst in der Entwicklung begriffen sind. Ein
Gesetz des Jahres 1888 überwies den Gesundheitsschutz in unge¬
sunden Betrieben den Gemeinden. Demzufolge übertrug z. B.
die Stadt Turin die hygienische Überwachung der Minderjährigen
und der betreffenden Betriebe den Armenärzten; nachdem dies zu
Unzuträglichkeiten führte, stellte die Stadt einen eigenen „Medico
ispettore degli opifici industriali“ auf, dessen Tätigkeit
1908 durch ein mustergültiges Regulativ geregelt wurde. Dieser
Arzt nahm (1908) 455 Inspektionen vor, untersuchte 4894 Frauen
und Jugendliche, erließ 110 Anordnungen betreffs Betriebs¬
einrichtungen usw. Im Jahre 1909 folgte auch Mailand mit
einem ärztlichen Überwachungsdienst, Aufnahme- und periodischer
Untersuchung für Giftbetriebe, obligatorischer Anzeige der Syphilis
und Tuberkulose. Von den übrigen italienischen Städten liegen
allerdings keinerlei Mitteilungen vor.
Bei Besetzung von Fabrikinspektoren in der Schweiz wird
in der Regel technische oder medizinische Vorbildung ver¬
langt; wurde doch gerade durch einen Arzt, Dr. Fridolin
Schüler, welcher im Jahre 1878 in den Inspektionsdienst eintrat,
die erste mustergültige Organisation des Gewerbeaufsichtsdienstes
auf dem Kontinent geschaffen. Wie nachhaltig Schuler’s Wirken
in der Schweiz gewürdigt wird, mag daraus hervorgehen, daß dessen
„Gesammelte Schriften“ im Schweizer Haus der Internationalen
Hygieneausstellung ausgelegt wurden. Seither waren noch 2 Arzte
(Weg mann und Vogelsänger) tätig. Für besondere
Fälle ist zurzeit die Mitwirkung des Professors der Hygiene am
Polytechnikum in Zürich (Roth) vorgesehen. Für bestimmte peri¬
odische Untersuchungen (z. B. in Phosphorbetrieben) sind Unter¬
such u n g s ä r z t e aufgestellt, welche vom Staate honoriert werden,
12 Franz Koelsch,
der seinerseits von den Unternehmern entsprechende Gebühren
einhebt.
In Österreich wurde bisher nur gelegentlich die ärztliche
Mitarbeit in Anspruch genommen. Zwar war 1870 für bestimmte
gefährliche Industrien eine ärztliche Aufsicht vorgesehen,
jedoch erst 1889 tatsächlich durch Aufstellung bestimmter (nicht¬
amtlicher) Ärzte durchgeführt worden. Das Jahr 1910 brachte
die Aufstellung eines k. k. Sanitätskonsulenten für den
Gewerbeinspektionsdienst im k. k. Handelsministerium
(Dr. vonWunschheim). Derselbe ist aktiver Staatsbeamter und zur
Dienstleistung dem Zentral- Gewerbeinspektorat zugeteilt. Die Dienst¬
obliegenheiten des Sanitätskonsulenten erstrecken sich auf ganz
Österreich und bestehen in Erledigung der Akten gewerbehygienischer
Natur, Erstattung von Referaten, Revision von Betrieben. Er fun¬
giert als fachwissenschaftlicher Berater der Zentralstelle. Eine
definitive Dienstinstruktion ist noch nicht erlassen.
Ungarn hat unter seinen (zurzeit 64) Gewerbeaufsichtsorganen
1 Arzt angestellt, dessen Obliegenheiten zwar nicht speziell sta¬
tuiert sind, dem jedoch hauptsächlich hygienische Aufgaben zuge¬
wiesen werden. Insbesondere ist er gehalten, den von den anderen
Gewerbeinspektoren beobachteten hygienischen Mißständen nach¬
zugehen. Außerdem steht den Inspektoren die gelegentliche
Beiziehung der Amtsärzte zu.
In Dänemark finden wir nur gelegentliche Inan¬
spruchnahme bestimmter Ärzte zur Ausstellung der erforder¬
lichen Zeugnisse für Kinder und Wöchnerinnen, eventuell auch
zur sachverständigen Beratung der Inspektoren.
In Schweden ist zunächst fallweise die Inanspruch¬
nahme der Amtsärzte vorgesehen. Außerdem befindet sich
seit ca. 4 Jahren 1 Arzt unter den Gewerbeinspektoren, dem
besonders hygienische Aufgaben anvertraut sind. Neuerdings wurde
den Landeshauptmännern nahegelegt, für alle größeren industriellen
Betriebe die Aufstellung besonderer Fabrikinspektionsärzte
durchzusetzen, welche die Beachtung der gesetzlichen Vorschriften
über die Beschäftigung der Minderjährigen und Frauen zu kon¬
trollieren und bei ihren Besichtigungen etwa vorhandene Kassen-
• •
ärzte zur Teilnahme einzuladen haben. Uber die Revisionstätigkeit
ist regelmäßiger Bericht an den Landeshauptmann zu erstatten.
Norwegen sieht nur eine gelegentliche ärztliche
Mitwirkung vor ; außerdem bestehen lokale Sanitätskommis-:
s i o n e n (deren Tätigkeit auch auf die Arbeiterhygiene sich erstreckt),
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
13
welche von den Kommunen gewählt sind und aus 4 Mitgliedern,
darunter 1 Arzt, bestehen.
In Rußland gehen die bisherigen Institutionen auf dem Ge¬
biete des Arbeiterschutzes kaum über die primitivsten Anfänge
• •
hinaus. Ärztliche Inspektoren fehlen, doch sind die Fabrikanten,
falls eine gewisse Arbeiterzahl erreicht ist, gesetzlich verpflichtet,
auf eigene Kosten „Fabrikärzte“ anzustellen, denen auch die
gesundheitliche Beaufsichtigung des Betriebes obliegt. Allerdings
ist bei der Abhängigkeit dieser Fabrikärzte vom Unternehmer
eine gedeihliche prophylaktische Tätigkeit von vornherein in Frage
gestellt. Außerdem sind die Semstwo-Medizinalbeamten
mit der hygienischen Überwachung der Fabriken und Werkstätten
betraut.
In Finnland sind die Provinzial-, Stadt- und Kommunalärzte
gehalten, den Fabrikinspektoren auf Verlangen sachverstän¬
digen Beirat zu geben.
Von den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat
lediglich der Staat New York seit 1907 einen ärztlichen In¬
spektor (Dr. C. T. Graham Rogers) aufgestellt, welcher seither
eine sehr umfassende Tätigkeit entwickelte. So wurden untersucht
die hygienischen Verhältnisse in der Damenkonfektion und Hand-
schuhfabrikation, bei der Herstellung von Kunstblumen, Federn,
Strohhüten, in Wäschereien und Zeugdruckereien, in der Tabak-,
keramischen und graphischen Industrie, in Knopfdrehereien und
Kürschnereien, in Alkali-, Ultramarin-, Blei weiß-, Gummifabriken usw.
Besonders Temperatur, Feuchtigkeit, Beleuchtung, Staubbelästigung
wurden teilweise mit Unterstützung von Spezialtechnikern ein¬
gehend untersucht. Anläßlich der Erhebung in Zeugdruckereien
wurden in 136 Lokalen 430 Kohlensäurebestimmungen ausgeführt.
Weiterhin dürfte dem ärztlichen Inspektor auch die im neuen
Caissongesetz vorgesehene ärztliche Überwachung zukommen.
Unter Mitwirkung mehrerer Sachverständiger wurden Form¬
blätter ausgearbeitet, die den Untersuchungen, bzw. Revisionen
zur Unterlage dienen sollen, so für die Betriebsrevision im allge¬
meinen, für Luftuntersuchungen, ferner Gesundheitsbögen für die
eintretenden Kinder.
In Australien war 1896 bereits ein Arzt im Gewerbe¬
aufsichtsdienst beschäftigt. Neuerdings wurde seitens des
Ministeriums eine (in Sydney approbierte) Ärztin der Gewerbe¬
inspektion beigegeben.
In Deutschland besteht zwar als Reichsgesetz die „Gewerbe-
14 Franz Koelsch,
Ordnung“, der Aufsichtsdienst, die Ernennung und Honorierung der
Beamten, deren Zahl, Vorbildung und Dienstanweisung isVjedoch
den einzelnen Bundesstaaten überlassen. Wir finden daher diese
Materie nicht einheitlich geregelt, ebensowenig einheit- *
lieh aber auch die ärztliche Mitwirkung beim Gewerbe¬
aufsichtsdienst. . Die Frage an sich ist ja in Deutschland seit
Jahren vielfach diskutiert worden, sowohl in ärztlichen wie in
parlamentarischen und Arbeiterkreisen. Bereits im Jahre 1896
beschäftigte sich der Verein für öffentliche Gesundheitspflege auf
seiner Tagung in Kiel mit diesem Probleme, und hier stellte der
Referent, Obermedizinalrat von M er kel- Nürnberg, bekanntlich
einer der Vorkämpfer auf gewerbehygienischem Gebiete, die 1. These
auf: „Eine gedeihliche Entwicklung der Gewerbehygiene ist ohne
Mitwirkung der Ärzte undenkbar.“ Und weiterhin bemerkte Referent
treffend: „In unserer Gewerbeordnung stand bisher die ärztliche
Mitwirkung fast zwischen jeder Zeile; sie muß aber auf die
Zeile kommen.“
Leider mußten noch viele Jahre vergehen, bis diese an sich
selbstverständliche Forderung — wenn auch nur teilweise — reali-
• •
siert wurde; ja es mag uns deutsche Arzte eine gewisse Resignation
überkommen, wenn wir hören, . daß in unserem fortgeschrittenen
deutschen Industriestaate versucht wurde, den Arzt bei der prak¬
tischen Arbeiterhygiene, also beim Gewerbeaufsichtsdienste, unter
geradezu unglaublichen Motivierungen als unnötig und unzweck¬
mäßig auszuschalten. Allerdings blieben diese Bestrebungen
auf die Territorien nördlich der Mainlinie beschränkt. In
Preußen, Sachsen und den kleineren Bundesstaaten obliegt dem
Kreisarzt neben seinen sonstigen zahlreichen Dienstgeschäften
die ärztliche Überwachung der gewerblichen Betriebe und der
Heimarbeit sowie die gelegentliche Beratung der Gewerberäte.
Ein wesentlich intensiverer Einfluß wurde dem Arzt in den
süddeutschen Bundesstaaten eingeräumt. Hier machte den
ersten Schritt Württemberg, indem im Jahre 1905 der bis¬
herige gewerbehygienische Referent des Medizinalkollegiums (Prof.
Dr. Scheurlen) den Gewerbeaufsichtsbeamten als ständiger
Berater beigeordnet wurde. Die Inspektoren können jederzeit
direkt mit ihm verkehren; derselbe nimmt nach Bedarf an den
Revisionen teil (ca. 40—50 im Jahr), kann in besonderen Fällen
auch die Mitwirkung anderer Spezialisten (z. B. Chemiker usw.)
in Anspruch nehmen. Ein Bericht über seine Tätigkeit ist nicht
verlangt.
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
15
In Baden wurde 1906 ein Arzt (Dr. Holtzmann) als
Gewerbeinspektor angestellt, der zunächst den allgemeinen
Revisionsdienst wie die übrigen Beamten zu besorgen hat, daneben
als medizinischer Berater der Badischen Fabrikinspektion waltet.
Wir verdanken dem badischen Kollegen u. a. Untersuchungen über
die Borstendesinfektion, Vergiftungen durch nitrose Gase und durch
Benzolverbindungen.
In Elsaß - Lothringen bestand seit 1905 ein Landes¬
gesundheitsinspektor, der dem Ministerium als hygienischer Be¬
amter zugeteilt war und mit Aufgaben aus dem Gesamtgebiete der
Hygiene, besonders mit der Seuchenbekämpfung (organisierte
Typhusbekämpfung im Südwesten des Reiches) betraut war. Seit
Anfang 1906 wurde seine Dienstanweisung dahin geändert, daß ihm
hauptsächlich die Gewerbehygiene zugewiesen wurde. Es ob¬
liegt ihm (Dr. Holtzmann) die Begutachtung über die nach § 16 GO.
konzessionspflichtigen Betriebe, die Vornahme von Betriebsrevisionen,
die medizinische Beratung der Gewerbeaufsichtsbeamten. Er hat
auf Anordnung des Ministeriums oder auf Ersuchen der Aufsichts¬
beamten bestimmte Erhebungen zu pflegen, er bearbeitet das bei
den Revisionen gesammelte Beobachtungsmaterial. Daneben kann
er allerdings noch zu andersartigen sanitätspolizeilichen Aufgaben
seitens des Ministeriums mit herangezogen werden. Zur Erfüllung
genannter gewerbehygienischer Aufgaben waren z. B. im Vorjahre
etwa 120 Reisetage nötig.
In Bayern wurde am 1. Januar 1909 ein „Landes¬
gewerbearzt“ im Hauptamte angestellt, dessen Wirkungskreis
sich auf das ganze Land und alle Betriebe erstreckt, welche den
Gewerbeaufsichtsbeamten und Berginspektoren unterstehen. Er ist
sachverständiger Beirat der Zentrale und gehört als solcher dem
Ministerium des Äußern an, dann Berater der Aufsichtsbeamten
und des K. Arbeitermuseums. Ihm obliegen gewerbehygienische
Untersuchungen, Sammlung und Verarbeitung des anfallenden
Materials über gewerbliche Gesundheitsschädigungen, x4ufklärung
in Ärzte- und Arbeiterkreisen usw.
Über die Tätigkeit mögen einige Daten aus dem letzten
Jahresbericht Auskunft geben: Gutachten 48, Sprechstunden¬
beratungen 11, Vorträge 22, Führungen durch das Arbeiter¬
museum 8, Revisionen 135, Reisetage 91. — Größere Abhand¬
lungen wurden bisher publiziert: Über die Perlmutterknopfindustrie
— über Arbeit- und Tuberkulose-Erhebungen im Malergewerbe auf
Grund von 5000 Untersuchungen — über Milzbrandtherapie —
16
Franz Koelsch,
über Augenschutz in Glashütten, über Ramazzini, den Vater der
Gewerbehygiene usw. Populäre Presseartikel erschienen über die
Berufswahl, über giftige Hölzer, über die Bleivergiftung. Hierzu
kommen noch Arbeiten im Laboratorium (Farb-Glasuranalysen, Ver¬
suche mit Häutedesinfektion, Blutuntersuchungen, Tierversuche mit
Amylacetatdämpfen u. dgl.).
Meine Herren! Wir können demnach verschiedene Systeme
der ärztlichen Mitwirkung im Gewerbeaufsichtsdienste unterscheiden :
Zunächst a) die nur nebenamtliche Mitwirkung und gelegent¬
liche Inanspruchnahme der Amtsärzte oder sonstiger
Ärzte für besondere Fragen: Norddeutsche Bundesstaaten, Ru߬
land, Dänemark, Norwegen, Spanien, z. T. Italien, oder in engerer
Verbindung stehende ständige wissenschaftliche Berater
und Kommissionen: Württemberg, Frankreich; dann b) die
Einstellung von Ärzten als reguläre Gewerbeaufsichts¬
beamte (ärztliche Inspektoren, z. T. als Berater der übrigen Be¬
amten): Baden, Schweiz, Ungarn, Schweden, Australien; c) endlich
die Aufstellung eigener Gewerbeärzte im Hauptamte mit
rein ärztlich - hygienischer Betätigung, für das ganze
Land oder größere Bezirke: England, Holland, Belgien, Bayern,
Elsaß, Österreich, im Staate New York.
Daneben sind in fast allen Industriestaaten noch sog. Unter¬
suchungsärzte aufgestellt zur Vornahme der für gefährliche
Betriebe gesetzlich vorgeschriebenen Aufnahme- und Zwischen¬
untersuchungon.
Welches System verdient nun den Vorzug?
Bevor wir in die Kritik dieser 3 Systeme eintreten, dürfte es
zweckmäßig erscheinen, zunächst die Aufgaben des Gewerbe¬
arztes und dessen Arbeitsgebiet näher zu besprechen; denn nur
auf diese Weise werden wir beurteilen können, inwieweit die bis¬
herigen Verhältnisse den zu stellenden Anforderungen entsprechen.
Über die Art der Betätigung mögen die Anschauungen
geteilt sein, je nachdem die Grenzen enger oder weiter gezogen
werden. Unserer bisherigen Erfahrung nach dürfte das nach¬
stehende Programm den gewerbeärztlichen Dienst ziemlich er¬
schöpfend umfassen. Selbstredend sei nicht gesagt, daß jeder Ge¬
werbearzt das ganze große Programm gleichzeitig in Angriff
nehmen und erledigen muß. Es soll vielmehr nur gezeigt werden,
in welcher Weise etwa sich der Gewerbearzt betätigen kann.
Die Programm punkte sind:
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
17
1. Sachverständigentätigkeit für die Zentralstelle
und für die Außenbeamten.
2. Durchführung der Arbeiter schutzgesetze:
a) Revisionen, Sammlung und Bearbeitung des anfallenden
Materials,
b) Organisation und Kontrolle der TJntersuchungsärzte,
c) Fürsorge für 1. Hilfe,
d) hygienische Untersuchungen als Basis für das Vorgehen der
Aufsichtsbeamten.
3. Selbständige wissenschaftliche Arbeiten:
a) Statistik,
b) Serienuntersuchungen,
c) experimentelle Arbeiten im Laboratorium,
d) klinische Beobachtungen.
4. Aufklärende Tätigkeit (Referate, Vorträge) für Auf-
• • _
sichtsbeamte, Arzte, Arbeiter usw.; in Fortbildungsschulen und
Sprechstunden.
5. Förderung verschiedener sozial hygienisch er
Bestrebungen und Probleme.
Hierzu einige aufklärende Bemerkungen! Beim ersten Pro¬
grammpunkte, die Gutachtertätigkeit betreffend, dürfte zur
Erläuterung wenig zu sagen sein.
Zu Punkt 2 seien einige Bemerkungen gestattet:
a) Die Revisionen, besonders in gesundheitsgefährlichen Betrie¬
ben, werden am besten in Begleitung der zuständigen Aufsichtsbeamten
vorgenommen. Letzteren werden eventuelle Beanstandungen zwecks
Abstellung mitgeteilt. Das Augenmerk richtet sich auf alle in
gesundheitlicher Beziehung maßgebende Einrichtungen und Vor¬
gänge. Um über die vorkommenden Gesundheitschädigungen nach
Art und Ort orientiert zu sein, muß die Mitwirkung der
praktizierenden Kollegen gesichert werden; denn diese sind
in der Lage, durch vertrauliche Mitteilungen auf manche sonst
verborgen bleibende Erkrankungen oder Mißstände hinzuweisen.
• •
„Die Arzte müssen die Gesandten sein, korrespondierende Mit¬
glieder, Lieferanten von Fällen, von Beobachtungen und Problemen
für das Studium“, wie Professor Devoto-Mailand anläßlich der
Grundsteinlegung seiner Klinik für Arbeiterkrankheiten richtig be¬
merkte.
Besonders muß auch auf die Mitwirkung der Kranken¬
kassen und Krankenanstalten, dann aber auch der Ar¬
beiterorganisationen Wert gelegt werden ; diese müssen ver-
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 2
18 ' Franz Koelscli,
anlaßt werden, ihre Erfahrungen über gewerbliche Erkrankungen
und hygienische Mißstände umgehend- dem Gewerbearzt ‘ zu be¬
richten.
r' ' " ‘ ’ ‘ A
Radikaler wirkt natürlich die gesetzliche A n z e i g e p f 1 i c h t
für gewerbliche Erkrankungen, bzw. Vergiftungen. Die¬
selbe wurde seit einet Reihe von Jahren schon von namhaften Ge¬
werbehygienikern gefordert (S ommerfeld, «Sternberg, Le -w in,
Kaup u. a.), seitens der Internationalen Vereinigung für gesetz¬
lichen Arbeiterschutz in Basel durch Eingabe bei allen Kultur¬
staaten (Mai 1906) offiziell in Anregung gebracht ,.als der einzige
Weg zur sicheren Feststellung der Quelle und der Größe der ge¬
werblichen Vergiftungsgefahren“. Wie oben angedeutet, besteht
eine derartige Anzeigepflicht bereits in England, indem jeder
Arzt zur Anzeige verpflichtet ist, „sofern er zu einem Kranken
gerufen wurde, von dem er glaubt, daß er an Blei-, Phosphor-,
Arsenik- oder Quecksilbervergiftung oder an Milzbrand leidet und
daß er sich diese Krankheit in einer Fabrik oder Werkstätte
!*• ■ r
zugezogen hat.“ Der Staatssekretär ist befugt, diese Anzeigepflicht
ev. auch auf andere Berufskrankheiten auszudehnen. Weiterhin
ist auch der Zivilstandsbeamte verpflichtet, dem Chefinspektors eine
Kopie des Sterbezettels zu übersenden, falls der Tod durch der¬
artige Erkrankungen erfolgt war.
Eine Anzeigepflicht finden wir ferner in der Schweiz, aller¬
dings auf anderer Basis; dort besteht nämlich die Haftpflicht des
Unternehmers für Schäden, welche die Arbeiter durch bestimmte
gefährliche Arbeiten erleiden. Derzeitig sind 34 Gifte inkl. Er¬
krankung an Milzbrand, Rotz und Pocken in die Liste dieser ent¬
schädigungspflichtigen Gewerbekrankheiten aufgenommen. Die An¬
zeige erfolgt durch den Unternehmer. Sonst besteht eine An¬
zeigepflicht meines Wissens nur in Sachsen insofern, als seitens
der Kreishauptmannschaft die Krankenkassen zur Anzeige gewerb¬
licher Erkrankungen binnen 3 Tagen nach Beginn der Erkrankung
angehalten werden können. Der Erfolg dieser Verfügung war
eklatant: Während 1903 der Gewerbeinspektor keine ernsteren
Erkrankungen an Bleivergiftung verzeichnen konnte, kamen im
folgenden Jahre, also nach Inkrafttreten der Anzeigepflicht, im
Stadtbezirke Leipzig allein nicht weniger als 293 Fälle zur amt¬
lichen Kenntnis, i. J. 1907 in ganz Sachsen 491 Fälle.
Meine Herren! Auch ich selbst- habe nicht versäumt, gleich
nach meinem- Dienstantritte meiner Vorgesetzten Stelle eine kurze
. v ^ _ ** > r r .«
Denkschrift über die Notwendigkeit der Anzeigepflicht
Entwicklung', Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes. 19
in Bayern nebst entsprechendem Antrag vorzulegen, derart, daß
etwa 10, in ihrer Wirkungsweise gut charakterisierte, praktisch-
wuchtige Gifte unter die Anzeigepflicht fallen sollen, natürlich auch
Milzbrand, Kotz und Pocken. Durch äußere Umstände wurde die
Normierung dieser Anzeigepflicht im Polizeistrafgesetzbuche bisher
hinausgeschoben, kommt aber noch in dieser Landtagssession zur
Vorlage. Vielleicht dürfte in absehbarer Zeit diese für Bayern seit
einigen Jahren vorbereitete Anzeigepflicht durch Reichsgesetz über¬
holt werden; denn im März heurigen Jahres wurde im Reichs¬
tage eine Resolution Albrecht und Genossen eingebracht des In- ,
halts, es möchten alle gewerblichen Vergiftungen, insbesondere
solche, die bei Gewinnung und Verarbeitung von Teerabkömm¬
lingen, Arsen, Blei, Chlor, Chrom, Schwefel, Stickstoffverbindungen,
Quecksilber und Phosphor Vorkommen, einer ärztlichen Anmelde¬
pflicht unterstellt werden. Über den weiteren Verlauf dieser An¬
gelegenheit wird also die nächste Zukunft entscheiden.
Die Voraussetzung für einen Erfolg der Anzeigepflicht w7äre natür¬
lich die völligeUnabhängigkeitderbetr. Ärzte vom Unter¬
nehmer, die Ausschaltung von Kollisionen zwischen Pflicht und Privat¬
rücksichten. Es hat nicht an Stimmen gefehlt, welche mit Rücksicht
auf diese schwer ausschaltbaren Momente der Anzeigepflicht wenig
Vertrauen entgegenbrachten. Richtig ist ja, w7ie Teleky hervor¬
hebt, daß eine mangelhaft durchgeführte Anzeigepflicht eher schäd¬
lich wirken kann insofern, als durch die geringe Zahl gemeldeter
Fälle den Gegnern der Arbeiterschutzgebung eine gewichtige Waffe
in die Hand gegeben wird.
Ich möchte aber gleichwohl an der Notwendigkeit der An¬
zeigepflicht unbedingt festhalten, da wir nur auf diese Weise ein
annähernd richtiges Bild bekommen von Umfang, Art und Ort der
wuchtigsten gewerblichen Erkrankungen — und damit auch eine
Hauptgrundlage für die weitere gewerbeärztliche Tätigkeit.
b) Ein sehr wichtiger Teil des gewerbeärztlichen Dienstes
besteht in der Organisation und Kontrolle der Tätig¬
keit der sog. Untersuchungsärzte. Wie bereits angedeutet,
sind durch verschiedene Verordnungen Untersuchungen der Arbeiter
vorgesehen teils vor Eintritt in den Betrieb, teils peri¬
odisch während derArbeit. Zu ersteren zählen : die Arbeiter
in Quecksilber-Spiegelbelegereien, Bleifarben- und Bleizuckerfabriken,
Alkalichromat- und Akkumulatorenfabriken, Zinkhütten und Thomas¬
schlackenmühlen, die Arbeiterinnen in Steinkohlenbergwerken, Zink-
und BleierzbergwTerken und Kokereien im Regierungsbezirke Oppeln,
2*
20
Franz Koelsch,
die Arbeiterinnen und Jugendlichen in Glashütten, Walz- und
Hammerwerken, die Jugendlichen in Steinkohlenbergwerken. Zu
letzteren zählen die Spiegelbelegeanstalten, Bleifarben- und Blei¬
zuckerfabriken, Alkalichromat-, Akkumulatorenfabriken, Thomas¬
schlackenmühlen, Vulkanisierungsanlagen, Blei-Zinkhütten, Maler
und Lackierer — auch die Caissonarbeiter bei höherem Druck.
Nach dieser Richtung liegt nach vielfachen Erfahrungen noch
manches im argen, sei es daß die Untersuchungen nicht zur vor¬
geschriebenen Zeit oder nicht in entsprechender Weise oder mit
der nötigen Genauigkeit vorgenommen werden. Es dürfte daher
durchaus empfehlenswert sein, den Untersuchungsärzten ähnlich wie
in Belgien, ein einheitliches Formblatt hinauszugeben, um sie
an der Hand des Vordrucks auf die im vorliegenden Falle in Be¬
tracht kommenden Symptome und Details hinzuweisen. Von Zeit
zu Zeit wird der Gewerbearzt selbst den Untersuchungen anwohnen
und die Tätigkeit der Untersuchungsärzte kontrollieren.
Überhaupt muß die periodische Untersuchung mehr vertieft
werden; wir dürfen uns z. B. bei der Bleiarbeiteruntersuchung
nicht auf Saum und Obstipation, ev. Kolik beschränken, müssen
vielmehr versuchen, auf Grund genauer Blutbild-, Blutdruck-,
Hämoglobinbestimmungen und minutiöser persönlicher Unter¬
suchung möglichst frühzeitig die Fälle von Saturnismus zu
eruieren. Ähnliche Verhältnisse gelten für die Schwefelkohlenstoff-,
Chromatbetriebe u. a. Gleichzeitig soll eine entsprechende kurze
Belehrung der betr. Arbeiter stattfinden.
Begreiflicherweise müssen wir darauf bedacht sein, die er¬
krankten Arbeiter möglichst frühzeitig zu entdecken und
von der gefährlichen Arbeit zu entfernen, bei einer anderen, harm¬
loseren Arbeit unterzubringen oder krank zu melden. Allerdings
setzt diese wohltätige Prophylaxe voraus, daß dem Arbeiter hier¬
durch eine finanzielle Einbuße nicht erwächst; es müssen seitens
der Kranken- oder Wohlfahrtskassen Mittel bereitgestellt werden,
welche den bei der Kontrolluntersuchung suspendierten Arbeitern
die Lohndifferenz vergütet.
Natürlich muß auch die Unabhängigkeit dieserUnter-
suchungsärzte gewahrt bleiben ; zweckmäßig sollen daher nicht
die betreffenden Kassenärzte, der Hausarzt des Fabrikanten usw.
hierfür anerkannt werden, vielmehr möglichst der heimischen
• • • •
Privatpraxis entrückte Arzte, Amts- oder Militärärzte, Arzte aus
dem Nachbarorte oder einem anderen Stadtteil usw. Die Auf¬
stellung und Absetzung dieser Untersuchungsärzte muß offiziell
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes.
21
durch die zuständige Behörde erfolgen (Regierung, Zentralstelle im
Ministerium) nach Rücksprache mit dem Gewerbearzt. Die Hono¬
rierung soll nach bestimmtem Tarif erfolgen; die Taxen sind vom
Steueramte oder von der Gemeinde einzuziehen und vom Amte
an den Arzt hinauszuzahlen.
Auf diese Weise wird es sich ermöglichen lassen, der bisher
vielfach nur formalen Untersuchung die Bedeutung zu geben, welche
ihr zukommen soll, die Autorität und Unabhängigkeit des Unter¬
suchungsarztes zu wahren, die Arbeitgeber und -nehmer periodisch
auf die große Bedeutung der gesundheitlichen Prophylaxe hinzu¬
weisen.
Die Resultate der Untersuchung werden umgehend dem Ge¬
werbearzt übersandt, der seinerseits das Weitere veranlaßt und
die Ergebnisse verarbeitet.
c) Dem Gewerbearzt obliegt weiterhin die Fürsorge für das
Rettungswesen, für Bereitstellung von Verbandsmitteln und
deren richtige Anwendung durch eingeübte Personen, für Bereit¬
stellung von Sauerstoffapparaten, Tragbahren usw.
d) Endlich muß der Gewerbearzt als Amtshygieniker in der
Lage sein, die experimentellen Grundlagen zu geben,
auf die sich die oft ziemlich eingreifenden Sanierungsmaßnahmen
der Aufsichtsbeamten stützen können. Bisher war der Aufsichts¬
beamte in den meisten Fällen auf die Spekulation und auf die
Güte seiner Sinnesorgane angewiesen, um z. B. den Grad der Luft¬
verunreinigung durch Gase, durch Staub usw., die Giftigkeit eines
Stoffes, die Lichtreize und Beleuchtungsmängel festzustellen. Und
doch wäre es in vielen Fällen notwendig, exakte Begriffe vom
Grade der in Betracht kommenden Luftverunreinigung oder der
Giftwirkung eines Stoffes zu bekommen, besonders um eventuell
den Reklamationen des renitenten Unternehmers mit Nachdruck
entgegentreten zu können. Denn nichts schädigt die Autorität des
Aufsichtsbeamten mehr, als wenn seine Auflage in höherer Instanz
zurückgewiesen oder eingeschränkt werden muß. Liegt aber eine
vorherige exakte Untersuchung vor, so vermag kein Gegengutachten
mehr den Unternehmer von der manchmal finanziell ziemlich be¬
lastenden Auflage zu befreien.
Hier wären also anzuführen: Analysen verdächtiger Farben
und Glasuren, quantitative und morphologische Untersuchungen
über die Gefährlichkeit einer Staubart, über die Menge eines Gift¬
stoffes in der Atmungsluft oder im Staube der Räume, Kontrolle
der Desinfektion milzbrandverdächtigen Materials (Probeentnahme,
22
Franz Koelsch,
Einlegen von Sporen und Maximalthermometern) , Helligkeits¬
prüfungen, eventuell sogar Trinkwasser- und Abwässeruntersuchung,
dann ärztliche Untersuchung einzelner Arbeiter wegen verdächtiger
Symptome, Blutarmut, Hautausschläge u. dgl. m.
Voraussetzung für die Vornahme der genannten Untersuchungen
ist natürlich die entsprechende ins t rum enteile Ausrüstung.
Abgesehen von ärztlich-diagnostischen Hilfsmitteln sind Ohren-,
Nasen-, Kehlkopfspiegel, Apparate zur Hämoglobin- und Blutdruck¬
bestimmung, Mikroskop, Thermometer, Hygrometer, Helligkeits¬
prüfer, Apparate zur Luftanalyse auf gas- und staubförmige Ver¬
unreinigungen, photographischer Apparat usw., das für jeden Ge¬
werbearzt unbedingt notwendige Handwerkszeug, das je nach
Arbeitsgebiet noch durch andere Apparate ergänzt werden muß.
Notwendigerweise ist zur Aufbewahrung der Apparate und Reagen-
tien, zur Vornahme verschiedener Analysen, eventuell von Tier¬
versuchen ein Arbeitsraum, einLaboratorium erforderlich,
ln London, Brüssel, München, meines Wissens auch im Haag sind
derartige gewerbeärztliche Laboratorien bereits eingerichtet, in
Straßburg für die nächste Zeit geplant; auch für Österreich wurde
die Errichtung einer gewerbehygienischen Versuchsstation bereits
mehrfach gefordert. Zum Teile verdankt ja auch unsere Gastgeberin,
das Institut für Gewerbehygiene in Frankfurt, diesen Überlegungen
und Bedürfnissen seine Entstehung.
3. Ein unerschöpfliches Arbeitsgebiet erschließt sich dem Ge¬
werbearzt in der selbständigen wissenschaftlichen
Untersuchung der zahllosen gewerbehygienischen Fragen. Die
Statistik, Serienuntersuchungen in einzelnen Berufsklassen und
deren Arbeitsstätten, experimentelle Arbeiten im Laboratorium,
klinische Beobachtung interessanter gewerblicher Krankheitsbilder
— alle diese Methoden bieten so reiche Ausbeutungsmöglichkeiten,
daß sie in einer Lebensarbeit kaum erschöpft werden.
Gestatten Sie mir, meine Herren, daß ich in aller Kürze noch
auf die genannten Arbeitsmethoden näher eingehe. In welch ansehn¬
lichem Umfange dieselben von den wenigen, bis jetzt existierenden
Gewerbeärzten bereits geübt wurden, zeigen die bereits oben mit¬
geteilten Arbeiten der genannten Herren.
a) Zunächst einige Worte über die Statistik. Der hohe
Wert einer zuverlässigen beruflichen Morbiditäts- und Mortalitäts¬
statistik ist unbestritten. Die richtig durchgeführte Statistik allein
gibt den wahren Maßstab dafür, wo Verbesserungen nötig sind, ob
etwas, was und wieviel erreicht wurde und wo die Hebel zu neuer
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
23
Tätigkeit angesetzt werden müssen. „Eine richtige Methodik der
Berufsstatistik ist das Fundament der Gewerbehygiene“, sagt
Rosen feld. — Es ist hier nicht der Ort, über diese Methodik,
über die Schwierigkeiten, Fehlerquellen und Fehlschlüsse der beruf¬
lichen Morbiditäts- und Mortalitätsstatistik Ausführliches zu sagen.
Jedenfalls darf sich der Gewerbearzt statistischen Arbeiten nicht
entziehen, da sie die Grundlage gewerbehygienischen Wissens und
Handelns abgeben.
b) Ebenso kommt den Serienuntersuchungen in den ver¬
schiedensten Berufsarten wesentliche praktische Bedeutung zu,
einerseits um über die gesundheitlichen Verhältnisse einzelner Be¬
rufe und Betriebe einwandfreie Kenntnis zu bekommen, andererseits
um die grundlegenden Normal zahlen zu eruieren, die für die
hygienischen Verhältnisse der einzelnen Berufsarten maßgebend
sein müssen. Bisher basierten unsere Normen für die Temperaturen,
Feuchtigkeit, Belichtung, Staub- und Gasbelästigung usw. eigentlich
• •
mehr oder minder nur auf theoretischen Überlegungen und Labora¬
toriumserfahrungen, Leider ist in der gewerbeärztlichen Praxis
mit diesen Normalzahlen oft relativ wenig anzufangen; wir werden
diese Zahlen gelegentlich merklich überschritten finden, ohne daß
wir in der Lage sind, irgendwelche Gesundheitsschädigungen wahr¬
zunehmen. Viel richtiger ist es daher, diese Normalzahlen aus
der betreffenden Industriegruppe selbst zu entnehmen.
Wir stellen dabei in einer Reihe von Betrieben der gleichen Gruppe
mit normalen Gesundheitsverhältnissen die eben in Betracht
kommenden Zahlen (Temperaturen, Feuchtigkeit, Helligkeit, Luft¬
verunreinigungen usw., eventuell Fälle von Vergiftungen) fest und
nehmen hiervon den Durchschnitt; bleibt ein Betrieb erheblich über
diesem „Betriebsgruppen- Index“, so haben wir das Recht
und die Pflicht, mit allen Mitteln die baldige Sanierung zu fordern.
Das Bedürfnis nach einem bestimmten, zahlenmäßig festzulegenden
Maßstabe hat bei verschiedenen Staaten bereits zur Aufstellung
derartiger Standardzahlen geführt (England, Frankreich), die
dem revidierenden Beamten einen Anhalt bei seiner Dienstestätig¬
keit geben. AVenn auch das persönliche Ermessen des Beamten
hierdurch durchaus nicht ausgeschaltet werden soll, so dürften doch
besonders bei Beanstandungen — derartige der Praxis ent¬
nommene Grundsätze eine wertvolle Unterstützung abgeben und in
strittigen Fällen kaum entbehrt werden können.
Außerordentlich begrüßenswert würde ich es erachten, wenn
in den verschiedenen Staaten nach dieser Richtung gleich-
24 Franz Koelsch,
mäßig, nach gleichen, vorher besprochenen Gesichtspunkten und
mit gleichen Methoden vorgegangen würde. Der sogenannte „Be-
triebsgruppen-Index“ würde bei derartigem internationalem Vor¬
gehen außerordentlich an Wert gewinnen.
c) Zu dem Punkte „experimentelle Arbeiten“ dürften sich
weitere Ausführungen erübrigen. Noch harren Dutzende der be¬
deutungsvollsten Fragen der wissenschaftlichen Forschung und Er¬
klärung: das Problem der Ermüdung, die Physiologie der Arbeit
überhaupt, die Wirkung zahlreicher Giftstoffe, die Resorptions- und
Toleranzgrenzen für gewisse Stoffe — von zahlreichen kasuistischen
Themen ganz zu schweigen. Hierin den Weg gewiesen zu haben
ist unvergängliches Verdienst Lehmann ’s (Wiirzburg) und
seiner Schule; gleichwohl bleibt für jeden Gewerbearzt noch für
unabsehbare Zeit Material genug zu eigener exakter Forschung
übrig.
d) Schließlich dürfte sich jedem Gewerbearzt auch das
klinische Studium gewerbepathologischer Symptome von selbst
aufdrängen. Es ist durchaus kein Zufall, daß neuerdings Spezi al-
kliniken für Ar beit er kr ankh eiten geschaffen wurden; die
Errichtung der Mailänder Klinik, das Projekt der Bndapester
Anstalt, das Teleky’sche Ambulatorium in Wien stellen nur
eine neue Phase in der Entwicklung unserer Materie dar, die
von selbst zur Beobachtung und Therapie des Berufskranken hin¬
überleitet. Die Erfolge dieser neuen Form gewerbeärztlicher Tätig¬
keit liegen bereits vor uns in Gestalt der vielseitigen Arbeiten aus
dem Mailänder Institut sowie der Wiener Mitteilungen aus dem
Gebiete der Sozialen Medizin von Teleky.
Wenn auch aus naheliegenden Gründen nicht allerorts der¬
artige Kliniken oder Ambulatorien entstehen können, so dürfte das
Bedürfnis nach ärztlicher Beobachtung gewerbepathologischer Er¬
scheinungen sich mit Hilfe der Krankenkassen und Kassenärzte
überall leicht befriedigen lassen, etwa derart, daß ambulante
Patienten seitens der Kassenverwaltungen usw. regelmäßig zu
einem Termin vorgeladen werden, interessante bettlägerige Patienten
in den betreffenden Krankenanstalten besucht werden. Im übrigen
dürften die weiteren Erfahrungen besonders der Mailänder Klinik
abzu warten sein.
4. Ein weiteres Arbeitsgebiet betrifft die Aufklärung.
Nachdem eine Gefahr nur dann wirksam vermieden werden kann,
wenn sie nach Art und Wirkungsweise genau bekannt ist, ist die
Aufklärung über die wichtigsten gewerblichen Schäd-
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
25
liclikeiten und ihre Verhütung eine zwingende Notwendig¬
keit. Tatsächlich dürften Sie, meine Herren, kaum ein dankbareres
Publikum linden als die Arbeiterschaft bei Besprechung gewerbe¬
hygienischer Fragen, bes wenn der Vortrag — was eigentlich
selbstverständlich sein soll — mit Demonstrationen, Lichtbildern
usw. wirksam aufgeputzt ist. Auch populäre Artikel in der
Tagespresse vermögen hierbei viel Nutzen zu stiften. Aber
auch die Ärzte, Gewerbeaufsichtsbeamten, die Verwaltungsbeamten
und andere Interessentengruppen bedürfen gelegentlicher Aufklä¬
rung über aktuelle Fragen, sei es in Form von Vorträgen, oder
von Referaten in der einschlägigen Literatur.
Vielleicht dürfte es nicht indiskutabel erscheinen, wenn der
Gewerbearzt auch den gewerbehygienischen Unterricht in den
Fortbildungsschulen selbst übernimmt, soweit seine übrigen
Dienstesaufgaben dies zulassen.
Endlich wäre die Beratung des Publikums in bekanntgegebenen
Sprechstunden nicht zu vergessen; jedermann soll sich vom
Gewerbearzte Rat erholen können, sei es über Berufswahl und Be¬
rufswechsel, Schutzmaßnahmen (Brillen, Respiratoren usw.), ver¬
dächtige Krankheitssymptome, Verbesserung von Betriebseinrich¬
tungen usw. Besonders die Beratung bei der Berufswahl ist
bekanntlich eine Betätigung von weittragender sozialer Bedeutung,
der sich der Gewerbearzt nicht entziehen darf.
5. Unter dem letzten Punkte müssen wir die Förderung der
Arbeiterwohlfahrt .im weitesten Sinne des Wortes
subsumieren , sei es nun Alkohol- und Tuberkuloseprophylaxe,
Säuglingsschutz , Errichtung von Stillstuben, Konsumanstalten,
Arbeiterwohnungen u. dgl. Eine wenn auch flüchtige Kenntnis
der hierbei in Betracht kommenden Grundsätze ist für den Ge¬
werbearzt unerläßlich; je nach Zeit und Vorliebe bleibt ein ge¬
naueres Studium dieser sozialhygienischen Einrichtungen dem ein¬
zelnen Vorbehalten. Ganz besonders bedürfen, wie dies Kaup
hervorgehoben hat, die Probleme der Jugendlichen- und Frauenarbeit
eingehenden Studiums im Hinblick auf die tiefgreifende Rück¬
wirkung dieser Erscheinungen auf das Volkswohl, auf Wehrfähig¬
keit und Erzeugung lebentüchtiger Nachkommenschaft. Mehr wie
bisher müßten künftig unsere Schutzbestrebungen von derartigen
großen Gesichtspunkten geleitet werden.
Meine Herren! Ich habe versucht, Ihnen mit meinen Ausfüh¬
rungen ein Bild zu zeichnen von den vielseitigen und wich¬
tigen Aufgaben, welche des „Gewerbearztes“ harren. Ich
26
Franz Koelsch,
habe bewußt den Kreis seiner Tätigkeit möglichst weit um¬
schrieben ; das Gebiet ist aber auch tatsächlich so vielseitig, durch
so viele gesetzliche, technische und sozialhygienische Momente
kompliziert, daß eine engherzige Auffassung das Institut des Ge¬
werbearztes nur diskreditieren könnte.
Wenn wir nun, nachdem wir über die vielseitigen Aufgaben
orientiert sind, welche des Gewerbearztes harren, uns in eine
Kritik der oben erwähnten, bisher bei den einzelnen Industrie¬
staaten geübten ärztlichen Mitwirkung einlassen, so mag es zu¬
nächst jedermann einleuchtend erscheinen, daß die nur gelegentliche
Beiziehung der beamteten Ärzte oder die nebenamtliche Tätigkeit
einzelner Medizinalpersonen doch kaum derartigen Anforderungen
entsprechen kann. Zunächst sind die Amtsärzte mit
Arbeiten aller Art so reichlich versehen, daß sie kaum Zeit finden
dürften, mit entsprechendem Eifer detaillierten gewerbehygienischen
Fragen nachzugehen. Andererseits aber ist es den Amtsärzten bei
nur gelegentlicher Inanspruchnahme kaum möglich, das umfang¬
reiche Gebiet der Arbeiterhygiene vollkommen zu beherrschen, die
Wechsel vollen technischen Neuerungen und die große Literatur
ständig zu verfolgen, sich mit den einschlägigen Untersuchungs¬
methoden und deren Technik vertraut zu machen. Die Materie
hat eben bereits einen Umfang angenommen, der eine Speziali¬
sierung notwendig macht. Außerdem sei darauf hingewiesen,
daß dem Amtsärzte nicht einmal der Zutritt zu einem Betriebe
jederzeit so frei steht, wie dies zu einer ersprießlichen Tätigkeit
notwendig wäre.
Etwas zweckmäßiger erscheint die Ans t e 1 1 u n g v o n Ä r z t en
als Fabrikinspektoren, nachdem hierdurch wenigstens die
Möglichkeit gegeben ist, sowohl innerhalb des Dienstbezirkes als
auch durch Beratung der Kollegen das ärztlich- hygienische Moment
mehr zur Geltung zu bringen. Als Mißstand dürfte wohl der
durch die übrigen Amtsgeschäfte bedingte Zeitaufwand anzusprechen
sein, der für die rein hygienischen Arbeiten verloren geht. Zweifel¬
los lassen sich aber auch auf diesem Wege, bes. bei entsprechender
Organisation, doch schon Erfolge erzielen.
Die beste Lösung erscheint die Beiziehung von Ärzten
nach dem Beispiele, das zunächst England, dann in noch glück¬
licherer Ausbildung Belgien gegeben hat, ähnlich der Stellung,
welche der Landesgewerbearzt in Bayern, der Gewerbearzt in
Elsaß, der Sanitätskonsulent in Österreich bekleidet. Denn
das große Arbeitsgebiet verlangt eine, durch die formellen Arbeiten
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlicken Dienstes.
27
des regulären Gewerbeaufsichtsdienstes nicht beeinträchtigte Kon¬
zentration auf die hygienisch-sozialen Fragen — ganz abgesehen
davon, daß die über das ganze Land und über alle Betriebe gleich¬
mäßig ausgedehnte Tätigkeit ein mehr abgerundetes, dabei doch wieder
vielseitigeres Bild abgibt als die Tätigkeit im umgrenzten kleinen
Dienstbezirke. Ich möchte daher diesen grundsätzlichen Unter¬
schied zwischen „ä r z 1 1 i c h e m I n s p e k t o r“ und „Gewerbearz t“
ausdrücklich betonen und meine Ausführungen lediglich auf letzteren,
den eigentlichen Gewerbearzt, bezogen wissen.
Selbstredend muß der Gewerbearzt die Berechtigung zur
jederzeitigen Revision eines jeden Betriebes besitzen, weiter¬
hin auch das Recht mit den Aufsichtsbeamten, Unternehmern und
Arbeitern, Ärzten und ^Krankenkassen, kurz mit allen in Betracht
kommenden Faktoren in direkten Verkehr zu treten. Eine
derartige Bewegungsfreiheit ist m. E. für eine ersprießliche Tätig¬
keit des Gewerbearztes unerläßliche Vorbedingung.
Natürlich ist selbst für einen kleinen Staat ein einziger Arzt
zu w e n i g. Die vielseitige Tätigkeit, z. T. auf auswärtigen Dienst¬
reisen, insbesondere der für alle experimentellen Arbeiten erforder¬
liche große Zeitaufwand, erfordert m. E. selbst für kleinere Ge¬
biete die Anstellung mehrerer Ärzte, mindestens von 2, die sich
gegenseitig unterstützen und vertreten können.
Die Mitwirkung der Amtsärzte soll jedoch nicht völlig aus¬
geschaltet werden ; sie soll sich erstrecken auf die gewerbehygienischen
Beobachtungen im Rahmen der allgemeinen Hygiene, auf einfache,
lokale Mißstände, Schutz der Umgebung der Arbeitsstätten, Kon-
zessionierung u. dgl.
Meine Herren ! Die Nützlichkeit des gewerbeärzt¬
lichen Dienstes, die Bedeutung für die weitestenBe-
völke rungsschichten glaube ich durch meine Ausführungen in
extenso dargetan zu haben Daraus resultiert aber auch der Schluß, in
den noch ausständigen Industriestaaten dem Institut der Gewerbeärzte
sich nicht länger zu verschließen. — Ersprießliches ist aber nur vom
eigentlichen Gewerbearzte zu erwarten, in dem von mir ver¬
tretenen Sinne, nicht in der verwässerten Form, welche vor einiger
Zeit von Kähler (Soz. Praxis XIX. Nr. li/13) für die Norddeutschen
Bundesstaaten in Vorschlag gebracht wurde. Kähler wollte For¬
schung und Gewerbeaufsichtsdienst getrennt wissen, indem das
Institut f. Gewerbehygiene in Frankfurt entsprechend ausgebaut
und durch Zuteilung ärztlicher Kräfte zu gewerbehygienischen
Forschungen in großem Umfange befähigt würde; durch Kurse für
28 Franz Koelsch,
Kreisärzte und Aufsichtsbeamte sollen diese Ergebnisse dann für
die Praxis verwertet werden. — Meine Herren! Auch ich würde
lebhaft dafür plaidieren, das Frankfurter Institut zu einer deut¬
schen wissenschaftlichen Zentrale für gewerbehygienische For¬
schung mit Laboratorien usw. auszubauen, ev. sogar in Verbindung
mit einer kleinen Klinik für Gewerbekrankheiten. Ein derartiges
Zentralinstitut würde für das ganze Reich von weittragender Be¬
deutung werden. Hingegen möchte ich den übrigen Vorschlägen
Kählers entschieden entgegentreten , da sie nur Halbheiten
bleiben, welche den an eine ersprießliche gewerbeärztliche Tätig¬
keit zu stellenden Anforderungen in keiner Weise entsprechen
und insbesondere den größten Vorteil des Gewerbearztes, nämlich
die Zugehörigkeit zum Aufsichtsdienste und die jederzeitige Voll¬
macht zu Betriebsrevisionen, überhaupt den Konnex mit der täg¬
lichen Praxis, von vorneherein preisgeben. Wir benötigen viel¬
mehr Gewerbeärzte im Hauptamte, wie ich bereits oben aus¬
geführt habe — und der Ruf nach derartigen gewerbehygienischen
Beamten und Spezialisten entspringt nicht nur wohlbegründeten
Erwägungen, sondern auch sittlichen Pflichten. Denn
stetig wächst die Bevölkerungsmasse, deren Wohl und Wehe von
ihrer Hände Arbeit abhängt, deren Gesundheit täglich von viel¬
fachen beruflichen Schädigungen bedroht ist. Warum sollten die
Ärzte, die berufenen Vertreter der Hygiene und
Wächter der Volksgesundheit, gerade bei diesen eminent
sozialen Aufgaben im Hintergründe bleiben müssen? — Prägnant
nimmt hiergegen Professor D e v o t o , der verdienstvolle Leiter der
Mailänder Klinik für Arbeiterkrankheiten, Stellung, indem' er sagt :
„Das Recht der Medizin, sich (um den Gewerbeaufsichtsdienst)
zu bewerben, entsteht in dem Augenblicke, in welchem die Arbeit
eine Ursache der Erkrankung bildet; die Pflicht der ärztlichen
Mitbeteilung entspringt aus der Notwendigkeit der Abwehr, der
Prophylaxe und der Krankenfürsorge.“
• •
Ich darf vielleicht daran erinnern, daß Arzte sogar mit an¬
erkanntem Erfolg die Oberleitung der Gewerbeinspektion inne
hatten; Namen wie Baker, Hawer, Schüler, Redgrafe u. a.
haben heute noch in der Gewerbehygiene einen guten Klang.
Es liegt uns jedoch völlig ferne, den Techniker aus dem
Gewerbeaufsichtsdienste irgendwie verdrängen zu wollen; ich möchte
auch nicht, wenigstens nicht verallgemeinert, unserm verdienst¬
vollen Kollegen Caro zzi- Mailand beipflichten, wenn er vom Ban¬
krott des bisherigen Systems spricht, welches die Techniker nur
Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen Dienstes.
29
mit einem dünnen Firnis hygienischen Wissens herausputze! Ich
habe im Gegenteile vielfach gefunden, daß sich die betreffenden
Herren mit großem Eifer und Verständnisse der ihnen etwas
ferne liegenden Materie annehmen. Gleichwohl muß das bis¬
herige einseitige System der nichtärztlichen Beamten eine
• •
Änderung erfahren.
Denn daß für die im Vorgehenden skizzierten vielseitigen, im
Interesse einer gedeihlichen Gewerbehygiene aber unerläßlichen
Arbeiten der reguläre Gewerbeaufsichtsbeamte nicht ganz die
geeignete Persönlichkeit ist, dürfte unbestritten sein. Zunächst
fehlt ihm für derartige Aufgaben die reichlich notwendige Zeit.
Schon bisher konnte im Laufe eines Jahres nur ein Teil der vor¬
handenen Betriebe revidiert werden; ohne entsprechende Personal¬
vermehrung ist — selbst bei intensivster Tätigkeit — die wünschens¬
werte Revisionszahl kaum zu erreichen. Weiterhin können der¬
artige ärztlich-hygienische Arbeiten von den Aufsichtsbeamten
auch wegen des in der Vorbildung begründeten Mangels an
medizinischen Kenntnissen nicht erwartet werden; die Aufsichts¬
beamten sind eben nach dieser Richtung Laien, bei denen medi¬
zinisches Denken und Wissen nicht vorausgesetzt werden kann.
Wie soll z. B. — um ein ganz aktuelles Beispiel zu wrählen —
eine Erhebung über die hygienischen Verhältnisse in den Zement¬
fabriken mit besonderer Berücksichtigung der Beziehungen zwischen
Zementindustrie und Tuberkulose gepflogen werden von technisch-
vorgebildeten Aufsichtsbeamten ohne ärztliche Mitwirkung? Jeder¬
mann, der die komplizierten Verbreitungsbedingungen der Tuber¬
kulose kennt, muß einer derartigen Laienarbeit von vorneherein
recht gewichtige Bedenken entgegenbringen. Solche Fragen lassen
sich eben nur lösen nach persönlicher ärztlicher Untersuchung
der in Betracht kommenden Arbeiter, nach eingehenden, auf Jahre
sich zurück erstreckenden Erhebungen über die Tuberkulose unter
der übrigen Bevölkerung der Gegend, unter Berücksichtigung aller
einschlägigen medizinalstatistischen Erfahrungen. Die Lösung sol¬
cher Fragen muß lediglich ärztlichem Wissen Vorbehalten bleiben,
wrenn wirklich ein brauchbares Resultat erwartet werden soll.
Dem Techniker (Chemiker us w.), also der Haupt¬
sache nach die formelle Aufsichtstätigkeit und der
Unfallschutz, dem Gewerbearzte die spezifische
Gewerbehygiene in dem bezeichneten Umfange!
Nicht rivalisieren wollen wir miteinander, sondern gemeinsam
Zusammenarbeiten und Schulter an Schulter das Ganze fördern.
30
Franz Koelsch,
„Das Gebäude der Gewerbehygiene wird eben auf dem Grenz¬
gebiete zwischen medizinischer und technischer Wissenschaft er¬
richtet; wenn der Bau gefördert werden soll, müssen die Bausteine
auf getrennten Wegen, von Ärzten und Technikern, herbeigeschafft
werden.“ Daß dies der richtige Weg ist, dafür spricht die Er¬
fahrung der Staaten, in denen bisher Ärzte beigezogen wurden,
wo nicht nur die vorurteilsfreien technischen Beamten selbst die
ärztliche Mitwirkung schätzen gelernt haben, sondern auch das
Publikum. Und gerade letzteres ist bei dieser Frage durchaus
nicht uninteressiert. Ist es doch psychologisch sehr naheliegend,
daß Arbeiter wie Unternehmer in hygienischen Fragen einem
Arzte mehr Glauben schenken und größeres Vertrauen entgegen¬
bringen als einem andersartig vorgebildeten Aufsichtsbeamten.
Und auch von den Kassenärzten dürfte der Gewerbearzt dank
seiner kollegialen Beziehungen manchmal viel mehr erfahren als
der nichtärztliche Aufsichtsbeamte.
Zum Schlüsse noch einige W orte über die Vorbildung
des Gewerbearztes.
Abgesehen von der Prüfung für den ärztlichen Staatsdienst
würde ich zunächst eine mehrjährige praktische Tätigkeit,
besonders in der Kassenpraxis, für erforderlich erachten. Die
hierbei gewonnenen Eindrücke, das Eindringen in Ideenkreis und
Denkweise des Arbeiters, die Einblicke in die Arbeitsbedingungen,
Ernährungs- und Unterkunftsverhältnisse, dies alles dürfte für die
spätere gewerbeärztliche Tätigkeit nicht ohne Bedeutung sein.
Nach der Anstellung erscheint zunächst eine mehrmonatliche Be¬
schäftigung im gewöhnlichen Aufsichtsdienste zweck¬
mäßig, um sich mit den gesetzlichen, formalen, z. T. auch tech¬
nischen Details vertraut zu machen. Außerdem ist, vorher oder
nachher, die experimentelle Schulung nicht zu übersehen
durch Arbeiten in einem klinischen, toxikologischen oder hygie¬
nischen Laboratorium. Zur späteren Weiterbildung käme vielleicht
auch einmal ein längerer Aufenthalt an einer Klinik für Arbeiter¬
krankheiten in Betracht.
Meine Herren! Vielleicht ist es mir gelungen, die nicht un¬
wichtige Frage des Gewerbearztes Ihnen näher zu bringen
und Ihr Interesse hierfür wachzurufen. Gerade bei uns in Deutsch¬
land ist in dieser Richtung noch manches gut zu machen. Die
Propaganda für den „Gewerbearzt“ kommt ja in erster
Linie der arbeitenden Bevölkerung zugute, für welche die Ge¬
sundheit das einzige Kapital bedeutet, das ihnen im schweren
Entwicklung', Wege und Ziele des gewerbeärztliclien Dienstes.
31
wirtschaftlichen Kampfe zur Verfügung- steht. Schließlich stehen
aber auch noch höhere nationale Interessen im Spiele. Be¬
völkerungszunahme und Militärtauglichkeit gestalten sich mit der
steigenden Industrialisierung Deutschlands zusehends ungünstiger.
Diese Tatsache allein schon berechtigt zur Forderung, daß der
Arzt als hygienischer Berater nicht vor den Fabrik toren
Halt machen darf, hinter denen die Mehrzahl unserer Volks¬
genossen oft unter recht unhygienischen Bedingungen sein Leben
dahinbringt. Das Problem der Arbeit ist heute nicht mehr
ein kleines Ding für sich, sondern hat sich zu einem der kompli¬
ziertesten Themen entwickelt, an dessen Lösung die verschiedensten
Disziplinen sich beteiligen müssen; ich nenne nur die Beziehungen:
Arbeit und Technik, Arbeit und Lohn, Arbeit und Volkswirtschaft,
ganz besonders wichtig „Arbeit und Volksgesund hei t“. Die
medizinische Wissenschaft, die Pfadfinderin und Führerin auf dem
Gebiete der wissenschaftlichen Gewerbehygiene, darf und
muß fordern, daß ihre Vertreter auch bei der praktischen
Gewerbehygiene, d. h. beim Gewerbeaufsichtsdienste, nicht beiseite
• •
gesetzt werden — daß den Ärzten auch offiziell die Ge¬
legenheit geboten wird, Schulter an Schulter mit
den Technikern an diesem großen Probleme mitzu-
ar beiten.
. i
/ r
i:
•r-
Krebs und Beruf.
Von Dr. F. Pbinzing, Ulm.
In jüngster Zeit sind verschiedene Arbeiten über den Einfluß
des Berufs auf die Häufigkeit des Krebses erschienen, in denen
einige Schlußfolgerungen mit ziemlicher Sicherheit gezogen worden
sind; eine nähere Prüfung derselben erscheint angezeigt.
Daß alle diejenigen Arbeiten ausscheiden müssen, die sich nur
auf die Prozentsätze der Krebsfälle unter den Gestorbenen beziehen,
bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Ausführung. Erfreulicher¬
weise trifft man nur noch selten auf diese fehlerhafte statistische
Methode, wenn sie auch dann und wann immer wieder, manchmal
in naivem Tone fester Überzeugung, in Anwendung .gebracht wird.
Viel weniger dagegen wird der weitere Grundsatz beachtet,
daß alle Morbiditäts- und Mortalitätsziffern für Berufsarten nahezu
wertlos sind, wenn sie sich nur auf die Gesamtheit der Berufsange¬
hörigen beziehen, ohne daß eine Trennung nach Altersklassen statt¬
findet. In jedem statistischen Handbuch, in jeder guten Arbeit
über Berufsmorbidität und -mortalität findet man diesen Satz; noch
kürzlich hat Mayet in dem großen Werke „Die Krankheits- und
Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und
Umgegend“ energisch darauf hingewiesen — aber immer wieder
findet man einen Rückfall in den alten Fehler.
Man ist sich anscheinend oft nicht bewußt, wie bedeutend die
Altersunterschiede bei den einzelnen Berufsarten sind. Beim Militär
und bei den Dienstboten, bei den Rentiers und Privatiers ist die
Höhe der Sterblichkeit so ersichtlich nur durch die Altersbesetzung
bedingt, daß es jedem einleuchtet, daß Sterbeziffern für die Gesamt¬
heit dieser Berufe berechnet kein Ausdruck der Lebensgefährdung
durch dieselben sein können.
Krebs und Beruf.
33
Aber auch bei anderen Berufen, bei denen es nicht so sehr in
die Augen fällt, findet man die Bedingtheit der Sterbeziffer durch
die Altersgliederung. Nach der deutschen Berufszählung von 1907
hatten z. B. von 100 männlichen Erwerbstätigen über 60 Jahre
alte Personen
Landwirtschaft, Gärtnerei und Tierzucht 12,0 Proz.
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe 6,2 „
Baugewerbe 5,0 „
Industrie der Steine und Erden 3,6 „
Metallverarbeitung 3,2 „
polygraphisches Gewerbe 2,4 „
Bergbau, Hütten- und Salinenwesen 1,7 „
Daß schon allein aus diesem Grunde bei der Landwirtschaft
und bei der Industrie der Holz- und Schnitzstoffe eine ganz erheb¬
lich höhere allgemeine Sterblichkeit herauszurechnen ist, ist natür¬
lich. Da für Deutschland die nötigen Ziffern nicht zu Gebote
stehen, mag ein Beispiel aus der Schweiz gewählt werden. Dort
standen im Mittel der Jahre 1888 und 1890 von 100 Berufstätigen
im Alter von
Landwirtschaft
Lehrer
15—20 Jahren
13,9
2,9
20-30
20,5
32,0
30—40
16,7
26,7
40 — 50 „
17,0
18,4
50-60
15,8
12,2
60—70
11,2
6,5
70 u. mehr „
4,9
1,3
Die starke Besetzung der höheren Altersklassen bei der Land¬
wirtschaft bringt es mit sich, daß die Gesamtsterblichkeit bei derselben
höher ist als bei den Lehrern. Sie war 1879 — 1890 in der Schweiz
bei ersterer 21,2, beim Lehrerstand 18,9. Es wäre aber ganz ver¬
fehlt, aus diesen Zahlen zu schließen, daß die Lebensbedrohung bei
der Landwirtschaft größer wTäre als bei den Lehrern. Tatsächlich
ist in allen Altersklassen das Umgekehrte der Fall. Auf 1000
Lebende jeden Alters starben
beim Alter von
Landwirtschaft
Lehrer
15—20
Jahren
3,4
5,4
20—30
5,5
7,0
30—40
7,6
8J
40—50
r, )
12,1
12,7
50—60
V)
21,6
24,9
60—70
46,0
64,7
70—80
n
126,3
275,0
Archiv für Soziale Hygiene. VIT.
3
F. Prinzing,
Werden so schon bei der Mortalität überhaupt durch die Alters¬
gliederung die Sterbeziffern ungemein stark beeinflußt, so muß dies
noch viel mehr geschehen, wenn Krankheiten in Frage kommen,
die gewisse Altersklassen fast ausschließlich befallen wie der Krebs.
Leider ist dem fast nirgends in den neueren krebsstatistischen
Arbeiten Rechnung getragen.
In einer großen Arbeit hat kürzlich Behla1) die Frage nach
dem preußischen Material behandelt. Die preußische Statistik eignet
sich wenig zu Untersuchungen über die Berufsmortalität, wie Behla
(a. a. 0. S. 123) selbst anführt. Die Sterbefälle werden nach einer
großen Anzahl von Berufsarten ausgezählt, doch fehlt die Trennung
nach Altersklassen. Ungemein störend wirkt die bei den Sterbe¬
fällen so große Gruppe „Lohnarbeit wechselnder Art“, in welche
bei der Berufszählung nur wenige Personen eingereiht werden;
1907 waren bei der Zählung von den erwerbstätigen Männern 0,7,
bei der Erhebung der Sterbefälle dagegen 4,7 Proz. zu dieser Gruppe
gezogen. Die Personen derselben gehörten vorher größtenteils zu
Industrie, Gewerbe und Handel. Außerdem sind der Gruppe „ohne
Beruf und Berufsangabe“ sehr viele Sterbefälle zugeteilt; 1907 ge¬
hörten hierzu unter den erwerbstätigen Männern bei der Zählung
8,1 Proz., bei den Gestorbenen dagegen 28 Proz. Dies hängt damit zu¬
sammen, daß viele Gestorbenen infolge ihrer Erkrankung den Beruf
aufgeben mußten und daher beim Tode ohne Beruf waren. Von
den 11329 Krebstodesfällen erwerbstätiger Männer im Jahre 1907
kamen allein auf diese zwei unbestimmten Gruppen:
Lohnarbeit wechselnder Art 669
Ohne Beruf und Berufsangabe 2684
zusammen 3353 = 29,6 Proz.
Bei der Berufszählung waren nur 8,8 Proz. zu den beiden
Gruppen gezogen, es fehlt also für etwa ein Fünftel aller Krebs¬
todesfälle der erwerbstätigen Männer die richtige Berufsangabe.
Nimmt man die ganze Bevölkerung, so wird das Mißverhältnis
zwischen Berufszählung und Statistik der Sterbefälle noch viel
krasser.
Trotz der Schwierigkeiten, die in dem der Untersuchung zu
Gebote stehenden Material liegen und die nicht beseitigt werden
können, hat es Behla unternommen Zahlen der Krebssterblichkeit
9 B. Behla, Krebs und Tuberkulose in beruflicher Beziehung, vom Stand¬
punkt der vergleichenden internationalen Statistik. Med.-stat. Nachr. 1910, Bd. 2r
S. 114.
Krebs und Beruf.
35
nach dem Beruf in Preußen für die Jahre 1907 und 1908 zu be¬
rechnen und dabei sehr bestimmte Schlußfolgerungen gezogen. „Die
Tatsache, daß die Landwirtschaft mehr Krebs hat als die Industrie,
sagt er, ist unbestreitbar. Als krebsarme Berufsgruppen und -arten
treten immer wieder hervor: Bergbau, Steine und Erden, Chemie,
Metallindustrie, polygraphische Gewerbe, Versicherungsgewerbe,
Militär und Marine, Buchdrucker, Graveure, Schriftsetzer, Glaser,
Steinmetze usw., dagegen als krebsreiche: Landwirte, Gärtner, Bau¬
gewerbe, Holz-, Textil-, Bekleidungs-, Reinigungsindustrie, Gast¬
un d Schankwirte, Maurer, Tischler, Zimmerer, Schmiede, Schorn¬
steinfeger, Gasarbeiter, Heizer, Kohlenträger, Wirte, Tapezierer usw.
Der Einwand, daß für diese Unterschiede nur das in der Krebs¬
ätiologie so wichtige Alter verantwortlich gemacht werden kann,
ist nicht zutreffend.“
Daß dieser Einwand doch zutreffend ist, beweist die Arbeit
Kolbs, der dasselbe Thema für Bayern methodisch richtig be¬
handelt1). Kolb hat die Krebssterbefälle der Jahre 1905— 1908 in
Bayern nach Berufen ermittelt und die Ziffern auf die Berufszäh¬
lung von 1907 bezogen, mit Unterscheidung von zehnjährigen Alters¬
klassen. Wie in der preußischen Statistik decken sich auch in
Bayern verschiedene Berufspositionen bei der Berufszählung und
bei den Sterbefällen nicht. So kommen auf 1362 „Fabrikarbeiter
ohne nähere Bezeichnung“ 374 und auf 10569 im „Hausdienst und
Lohnarbeit wechselnder Art“ beschäftigte Personen 395 Sterbefälle
an Krebs. Kolb hat sich nun in der Weise geholfen, daß er die
in den Leichenscheinen als Fabrikarbeiter bezeichneten Gestorbenen
auf die Berufsgruppen, die vorwiegend Fabrikbetrieb haben, im
Verhältnis zur Zahl der männlichen Erwerbstätigen verteilte. Von
der Gruppe „Hausdienst und Lohnarbeit wechselnder Art“ wurden
die als Taglöhner und Arbeiter bezeichneten 342 Gestorbenen ab¬
getrennt und auf die Berufsgruppen der Gärtnerei, der Industrie,
des Handels und der Gastwirtschaft verteilt. Mögen dabei auch
einigen Berufsgruppen zu wenig oder zu viel Krebssterbefälle zu¬
fallen, darin muß man Kolb sicher recht geben, daß diese un¬
sicheren Berufspositionen der Industrie und dem Handel zugerechnet
werden müssen. Kolb kommt dann zu folgenden Ziffern; auf 10000
erwerbstätige Männer kommen Sterbefälle an Krebs beim Alter von
9 K. Kolb, Der Einfluß des Berufs auf die Häufigkeit des Krebses. Zeit¬
schrift f. Krebsforschung. Bd. 9, 1910, S. 445.
3*
36
F. Prinzing,
30—40 J.
40-50 J.
50—60 J.
über 60 J.
überhaupt
Landwirtschaft 2,0
7,7
26,5
83,6
15,2
Industrie 2,1
10,3
35,1
124,7
11,2
Handel 3,1
10,7
34,2
84,6
15,2
Gastwirtschaft 3,6
17,5
57,1
188,4
21,3
Freie Berufe 1,7
10,2
34,8
137,8
11,8
Alle Erwerbstätigen 2,1
9,4
32,2
108,2
14,2
Daraus geht hervor, daß die Landwirtschaft die kleinste Krebs¬
sterblichkeit hat. Man darf nun nicht annehmen, daß sich hierbei
Bayern anders verhält als Preußen; denn die Gesamtsterbeziffer
an Krebs war auch in Bayern bei der Landwirtschaft größer als
bei der Industrie. Die Ziffern Kolb’s zeigen jedoch, daß dies einzig
und allein durch die stärkere Besetzung der höheren Altersklassen
bei der Landwirtschaft bedingt ist. Dies gilt zweifellos auch für
alle die Länder, in denen bei der letzteren eine höhere Krebssterb¬
lichkeit als bei anderen Berufen gefunden wurde. Eine Trennung
nach Altersklassen gibt nur noch die englische Statistik der Berufs¬
sterblichkeit.1) In England wird seit 50 Jahren im Anschluß an
die Volkszählungen, die alle 10 Jahre stattfinden, für die anliegen¬
den Jahre die Sterblichkeit nach dem Beruf berechnet, bis 1891
nur für die Berufstätigen, 1900—02 erstmals auch mit Einschluß
derer, die sich vom Berufe zurückgezogen haben. Auf 10000 Be¬
rufsangehörige kommen 1900 — 02 Sterbefälle an bösartiger Neu-
bildung
beim Alter von
Landwirtschaft
alle Männer
25 — 35 Jahren
0.8
1,0
3o — 4o „
3,2
4,0
45 — 55 „
10,4
14,5
55-65
27,5
36,2
über 65 „
62,9
63,8
Die Tatsache ist demnach sicher, daß bei der Landwirtschaft
der Krebs nicht häufiger ist als bei anderen Berufen; man wird ja
*) Supplement to the 65. Annual Report of births, deaths and marriages.
Part. II, London 1908. — Bei der von Dollinger geleiteten Zählung der Krebs¬
kranken in Ungarn wird ebenfalls eine Trennung nach Beruf und Alter für die
1901 — 04 an Krebs Gestorbeneu vorgenommen. Daraus lassen sich aber keine
brauchbaren Verhältnisziffern berechnen, da bei einem großen Teil der Gestorbenen
von über 7 Jahren (1901 — 04 bei 39,7 Proz.) die Todesursache nicht ärztlich be¬
zeugt ist. Die Gestorbenen, bei denen dies nicht der Fall ist, wurden nicht mit
einbezogen, die einzelnen Berufsarten verhalten sich dabei natürlich ganz ver¬
schieden (J. Dollinger, Statistik der Krebskranken in den Ländern der ungar.
h. Krone. Budapest 1908).
Krebs und Beruf.
37
zugeben, daß auf dem Lande mehr Krebssterbefälle der Beobach¬
tung entgehen als in den Städten, aber die Unterschiede sind so
bedeutend, daß die kleinen Zahlen bei der Landwirtschaft durch
diese übersehenen Fälle kaum ausgeglichen werden. Daß anderer¬
seits die Landwirtschaft keinen Schutz gegen Erkrankung an Krebs
abgibt, geht daraus hervor, daß das Gebiet hoher Krebssterblichkeit,
das das südliche Deutschland und die angrenzenden schweizerischen
und österreichischen Bezirke umfaßt, zum großen Teil eine agrarische
Bevölkerung hat. Stadt und Land weisen in diesen Gebieten hohe
Zahlen auf.
Auch der Holzindustrie schreibt B e h 1 a eine hohe Krebs¬
sterblichkeit zu. Nach Kolb kamen in Bayern auf 10000 erwerbs¬
tätige Männer Sterbefälle an Krebs
beim Alter von
Holzindustrie
Industrie überhaupt alle
Erwerb
30 — 40 J ahren
2,7
2,1
2,1
40—50
13,2
10,3
9,4
50—60
44,8
35,1
32,2
über 60 „
107,5
124,7
108,2
Nach der englischen Statistik ist die Krebssterblichkeit nur
bei einem Teil der in der Holzindustrie Beschäftigten höher, bei
den Kunstschreinern, bei den Drechslern und Küfern, bei welch
letzteren zugleich der Alkoholismus eine Rolle spielt. Auf 10000
männliche Berufsangehörige kamen in England 1900—02 Sterbefälle
an bösartiger Neubildung
02
1 .
■
P <D
beim Alter
von
■g.s
1 £
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25
-35
Jahren
1,2
35
—45
99
3,9
45
—55
99
13,5
55
-65
99
35,4
über 65
99
69,7
l CD
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1,1
1,7
0,9
2,8
2,9
3,6
18,8
8,4
22,0
40,5
31,6
44,9
79,9
68,3
73,0
02
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02 Ö
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alle
Männer
1,8
1,2
1,0
1,2
3,4
4,0
9,7
14,6
14,5
21,5
34,4
36,2
63,7
71,0
63,8
Die englischen Grundzahlen sind nur für die Zimmerleute und
Schreiner groß genug; bei diesen hat die Berechnung für 1890—92
das gleiche Ergebnis, daß die Krebssterblichkeit kleiner ist als bei
der Gesamtheit. Bei den übrigen Berufen sind die Erfahrungen
von 1890 — 92 zum Teil andere : so war sie bei den Sägern 1890 — 92
über dem Mittel, während sie jetzt unter demselben ist; bei den
Kunstschreinern ist sie jetzt hoch, 1890—92 war sie niedrig. Da
38
F. Prinzing,
für die letztere Periode die Ziffern nur für die erwerbstätigen
Männer mitgeteilt sind, so müssen auch 1900—02 die Zahlen der
letzteren allein zum Vergleich genommen werden; die amtliche Ver¬
öffentlichung enthält dieselben. Nimmt man die fünf Berufsarten
alle zusammen, so erhält man große Zahlen, mit denen sich ver¬
trauenswerte Verhältnisziffern berechnen lassen; nach diesen sind
die Holzarbeiter bis zum 65. Lebensjahre etwas weniger belastet,
als die übrigen Männer. Daß die Krebssterblichkeit der Gesamt¬
heit der Altersklassen bei der Holzindustrie groß sein muß. geht
aus dem hohen Prozentsatz der betagten Personen in derselben
hervor.
Weiter soll nach Belila der Krebs bei den Gärtnern häufig
sein. Nach Kolb ist er in Bayern bei ihnen etwas häufiger, die
Zahlen sind aber sehr klein (im ganzen 53 Sterbefälle), so daß
Kolb selbst in seinen weiteren Ausführungen nicht näher darauf
eingeht. In England ist der Krebs bei den Gärtnern selten. Auf
10000 männliche Berufsangehörige kamen Sterbefälle an bösartiger
Neubildung
beim Alter von
Gärtner
alle Männer
25 — 35 Jahren
1,3
1,0
35—45
3,8
4,0
45 — 55 „
9,6
14,5
55 — 65 „
25,8
36,2
über 65 „
62,5
63,8
Auch für die Jahre 1890—92 ergibt sich in England eine sehr
geringe Krebssterblichkeit der Gärtner. Nach Lotli1) ist der
Krebs in Erfurt mit seinem ausgedehnten Gartenbau nicht häufig;
seit Jahren sei dort in der Betriebskrankenkasse der Gärtner und
in den beiden Erfurter Krankenhäusern bei Gärtnern oder Garten¬
arbeitern kein Krebs beobachtet worden.
Für eine Anzahl von Berufen nimmt Behla eine kleine Krebs¬
sterblichkeit an. Bei den Bergleuten ist nach ihm der Krebs selten,
eine Angabe, die auch andererseits gemacht wird. Nach Kolb
kamen in Bayern auf 10000 erwerbstätige Männer Sterbefälle an
Krebs
beim Alter von
Bergbau
alle Erwerbstätigen
30 — 40 Jahren
1,8
2J
40—50
7,3
9,4
50—60
28,8
32,2
über 60 „
315,9
108,2
l) Die Krankheiten der Gärtner in Th. Weyl’s Handb. d. Arbeiterkrank¬
heiten. Jena 1908, S. 625 f.
Krebs und Beruf.
39
Danach ist der Krebs anscheinend nicht häufig bis znm 60. Jahre.
Nach diesem ist die Zahl sehr hoch; es handelt sich dabei um 41,
bzw. (nach der Korrektur) um 47 Sterbefälle. Kolb ist der An¬
sicht, daß hierbei Unstimmigkeiten bestehen, insofern die pensio¬
nierten Bergleute zu der Gruppe „Ohne Beruf“ hätten gerechnet
werden müssen. Aus der englischen Statistik ergibt sich ebenfalls
eine kleine Krebsterblichkeit bei den Bergleuten; wie bei den
anderen Berufen gelten hier die Zahlen auch für diejenigen, welche
nicht mehr erwerbstätig sind. Auf 10000 Berufsangehörige kamen
Sterbefälle an bösartiger Neubildung
beim Alter von
Kohlenbergleute d. and. Bergleute alle Bergleute
alle Männer
25 — 35 Jahren
1,1
0,9
1,1
1,0
35 — 45 „
3,3
3,6
3,3
4,0
45 — 55 „
10,4
9,6
10,4
14,5
55 — 65 „
28,5
33,8
28,9
36,2
über 65 „
54,8
74,4
56,4
63,8
In den Jahren 1890 — 92 war die Krebssterblichkeit bei den
Bergleuten ebenfalls sehr klein.
Behla und Kolb finden eine niedere Krebssterblichkeit bei
der Industrie der Steine und Erden. Nach Kolb starben in Bayern
auf 10000 erwerbstätige Männer an Krebs
beim Alter von
Industrie d. Steine u. Erden
alle Erwerbstätigen
30 — 40 Jahren
1,3
2,1
40—50
8,1
9,4
50—60
27,6
32,2
über 60 „
101,7
108,2
Demnach ist allerdings der Krebs bei der Industrie der Steine
und Erden weniger häufig. Nun sind aber bei dieser ganz ver¬
schiedenartige Gewerbebetriebe vereinigt: Steinhauer, Steinbruch¬
arbeiter, Gewinnung von Kies und Sand, Zement- und Kalkfabriken,
Ziegeleien, Tonwarenfabriken, Töpfereien, Glasindustrie usw. In
England sind die Grundziffern für einige dieser Berufsarten gegeben.
Auf 10000 männliche Berufsangehörige starben dasselbst 1900 — 02
an bösartiger Neubildung
Schiefer-,
Ziege¬
Töpferei,
Glas¬
Diese
alle
beim Alter von
Steinbruch¬
leien
Tonwaren¬
fabri¬
Berufe
Männer
arbeiter
fabriken
ken
zusammen
25 — 35 Jahren
0,4
1,2
1,0
2,0
1,0
1,0
35 — 45 „
3,7
3,6
4,0
2,3
3,5
4,0
45 — 55 „
10,6
15,7
16,0
15,3
13,5
14,5
55—65 „
34,0
22,0
41,2
40,4
32,4
36,2
über 65 „
66,0
63,9
48,1
75,0
63,8
63,8
40
F. Prinzing,
Die Unterschiede zwischen Industrie der Steine und Erden und
zwischen allen Männern sind hier nur gering; die einzelnen Berufs¬
zweige verhalten sich verschieden, bei der Kleinheit der Zahlen
läßt sich zunächst nichts Endgültiges über dieselben feststellen.
Bei der am zahlreichsten besetzten Gruppe, den Steinbrucharbeitern,
die 1900—02 eine ziemlich unter dem Mittel liegende Krebssterb¬
lichkeit haben, war sie 1890 — 92 sehr über dem Mittel ; die Ziegeleien
und Töpfereien usw. verhalten sich in beiden Beobachtungsperioden
gleich. Nimmt man alle Berufe zusammen, so erhält man genügend
große Zahlen; aus diesen geht hervor, daß in England der Krebs
in der Industrie der Steine und Erden etwas weniger häufig ist,
aber nicht in dem Maße, daß man von einem besonderen Schutz
vor Krebs in dieser Berufsgruppe reden könnte.
Aus der englischen Statistik sollen noch einige Ziffern mit¬
geteilt werden. Auf 10000 Berufszugehörige kamen 1900—02 Sterbe¬
fälle an bösartiger Neubildung
: - - ; ■,
25—35
35 — 45
45 — 55
55 — 65
über 65
Geistliche, Lehrer, Richter, Ärzte
0,3
2,9
11,8
32,3
60,6
Ladeninhaber
0,8
3,2
14,1
31,0
61,2
Maurer
0,7
3,8
12,3 .
32,9
79,1
Eisen- und Stahlindustrie
0,7
4,4
14,6
36,3
83,2
Schmiede
1,3
3,7
15,3
37,2
68,7
Handelsgehilfen, Versicherung
0,7
3,7
15,9
41,3
71,9
Textilindustrie
1J
4,7
14,8
39,3
84,7
Schuhmacher
1,1
3,9
15,7
38,1
68,0
Bäcker
1,1
4,7
14,4
41,4
65,7
Metzger
0,7
3,3
15,2
45,0
79,0
Schneider
0,8
4,4
15,5
44,5
71,9
Alle Männer
1,0
4,0
14,5
36,2
63,8
Die Krebssterblichkeit ist danach bei den gelehrten Berufen,
Ladeninhabern und Maurern unter dem Mittel, bei der Eisen- und
Stahlindustrie und bei den Schmieden in der Mitte, bei den Handels¬
gehilfen und bei der Textilindustrie etwas über derselben, auffallend
ist es, daß dies für die vier angeführten Gewerbe Schuhmacher,
Bäcker, Metzger und Schneider ebenfalls gilt. Da die Beobach¬
tungszeit nur drei Jahre beträgt, so darf darauf, daß die Zahlen
der einzelnen Altersklassen bei diesen Berufsarten nicht ganz
gleichmäßig über oder unter dem Mittel sind, kein besonderer Wert
gelegt werden.
Eines geht aus der englischen Statistik und aus derjenigen
Kolb’s mit Sicherheit hervor, daß die Gewerbe, die mit der Her¬
stellung und dem Verkauf alkoholischer Getränke sich befassen,
Krebs und Beruf.
41
sehr viel Krebs aufweisen, aus der englischen Statistik außerdem,
daß dies auch für alle die Berufe, bei denen der Alkoholismus häufig
ist, gilt. Die Zitfern Kolb’s für das Wirtsgewerbe sind oben an¬
geführt. Die Berufszweige, die in England höhere Krebsziffern auf¬
weisen und zugleich so viele Berufszugehörige haben, daß die Zahlen
hinreichende Sicherheit gewähren, sind in der folgenden Tabelle
angeführt. Die beigesetzten Standardziffern geben an, wie hoch die
Krebssterblichkeit der einzelnen Berufe wäre, wenn sie die gleiche
Altersbesetzung hätten wie die ganze männliche Bevölkerung, und
wenn die Krebssterblichkeit der letzteren = 100 wäre.
Gastwirte
110
Privatkutscher, Pferdeknechte
149
Musiker
119
Matrosen, Bootsleute usw.
154
Ausgänger, Dienstmänner
119
Bierbrauer
175
Gummiindustrie
124
Tagelöhner
182
Hausierer
137
Schornsteinfeger
224
Außer bei den Privatkutschern und Arbeitern in Gummiwaren-
fabriken sind bei allen diesen Berufen sehr zahlreiche Sterbefälle
an Alkoholismus vorgekommen. Wir geben die Ziffern der Krebs¬
sterblichkeit nach Altersklassen, sehen dabei aber von den Hau¬
sierern und Tagelöhnern ab, die zwar sehr hohe Krebsziffern haben,
bei denen es aber doch zweifelhaft ist, ob nicht bezüglich der Zu¬
teilung bei der Zählung und bei den Sterbefällen Ungleichheiten
herrschen. Auf 10000 männliche Berufszugehörige starben in Eng¬
land 1900 — 02 an bösartiger Neubildung
25—35
35—45
45—55
55—65
über 65
Musiker
0,5
7,1
16,8
42,1
71,0
Ausgänger, Dienstmänner
1,6
4,3
20,8
38,8
62,9
Matrosen, Bootsleute usw.
2,0
7,5
24,0
51,0
90,7
Bierbrauer
—
8,4
28,4
62,2
91,4
Gastwirtschaft
0,9
4,2
15,0
44,0
98,3
Schornsteinfeger
2,4
11,7
28,3
83,6
174,2
Alle Männer
1,0
4,0
14,5
36,2
63,8
Wird die Sterblichkeit aller Männer an Alkoholismus = 100
gesetzt, so war sie unter Berücksichtigung der Altersverschieden¬
heiten bei den Matrosen usw. 163, bei den Ausgängern und Dienst¬
männern 213, bei den Musikern 244, bei den Bierbrauern 294, bei
den Schornsteinfegern 300, beim Gastwirtsgewerbe 700.
Von den genannten sechs Berufen hatten die Musiker, Aus¬
gänger und Dienstmänner 1890 — 92 eine mittlere, die anderen eben¬
falls eine hohe Krebssterblichkeit, so daß von einem Zufallsergebnis
hier nicht die Kede sein kann. Die Grundziffern sind mit Aus-
42
F. Prinzing,
nähme der Schornsteinfeger bei diesen Berufen zu Verhältnisbe¬
rechnungen groß genug. Bei den letzteren war die Krebssterblich¬
keit 1890 — 92 (unter Beschränkung auf die Berufstätigen) auf 10000
Lebende beim Alter von
35 — 45 Jahren 12,4 55 — 65 Jahren 79,1
45 — 55 „ 53,2 über 65 „ 141,6
Die Ziffern der ganzen männlichen Bevölkerung waren damals
für die vier Altersklassen 8,7, 11,8, 27,65, 45,2. Inwieweit hier der
Schornsteinfegerkrebs mit in Frage kommt, muß bei dem Mangel
speziell hierauf gerichteter Untersuchungen zweifelhaft bleiben.
Das muß man nach den vorliegenden Zahlen als sicher an¬
nehmen, daß der Alkoholismus die Entstehung des Krebses be¬
günstigt, selbstverständlich nur in der Weise, daß er in den ver¬
schiedensten Organen, vor allem im Magendarmkanal, chronische
Reizzustände schafft. Bedauerlicherweise fehlen bei dem großen
und guten englischen Material Untersuchungen über die Lokalisation
des Krebses bei den einzelnen Berufs arten.
Kolb hat mit dem bayrischen Material für 1905—08 die 236
Sterbefälle der Wirte nach den befallenen Organen ausgezählt; die
Zahlen sind für endgültige Schlußfolgerungen nicht groß genug. Bei
der Krebszählung in Ungarn sind die Sterbefälle der Jahre 1901
bis 1904 in der Kombination von Beruf und Sitz des Krebses aus¬
gezählt, es starben in diesen Jahren 176 Wirte an Krebs.1) Bei je
100 an Krebs gestorbenen Personen waren die folgenden Organe
befallen:
Bayern Ungarn
Wirtsgewerbe
alle Männer
Wirtsgewerbe
alle Männer
Magen, Leber, Pankreas
58,9
65,7
63,1
62,1
Darm
17,8
11,4
9,7
8,4
Speiseröhre
6,4
2,8
2,6
Bauchfell
0,8
2J
—
0,1
andere Organe
16,1
16,1
24,4
26,8
F. A. Theilhaber2) hat aus dem Jahre 1909 die Sterbefälle
an Krebs des Magens und Mastdarms in Bayern ausgezählt; er
gibt nur die ganzen Zahlen ohne Beziehung auf die Lebenden.
Damit ist nicht viel anzufangen. Er fand viel Mastdarmkrebs bei
den Beamten, viel Magenkrebs bei der bäuerlichen Bevölkerung.
1) Dollinger, a. a. 0. S. 138 ff.
2) Ergebnisse der Krebsstatistik des Kgr. Bayerns. Münch, med. Wocli.
1911, S. 409.
m'eos und Beruf.
43
Abgesehen von dem genannten Mangel sind die Zahlen eines Jahres
viel zu klein, so daß man keine weittragenden Schlüsse daraus
ziehen darf. Die ungarische Statistik scheint allerdings die An¬
nahme Theilhaber’s zu bestätigen. In den Jahren 1901—04 war
dort unter 100 Krebstodesfällen der Sitz des Krebses
Öffentlicher Dienst,
alle
*
freie Berufe
Männer
Kehlkopf
6,9
3,3
Lippen
0,8
1,5
Mundhöhle
2,5
1,9
Zunge
5,4
3,0
Speiseröhre
3,5
2,6
Bauchfell
0,4
0,1
Magen
34,9
51,0
Dickdarm
0,6
0,3
Mastdarm
4,2
1,9
Darm im allgemeinen
9,6
6,2
Leber
13,6
10,4
Gallenblase, Pankreas, Milz
1,0
0,7
Blase
4,2
3,7
Kopfhaut
2,5
3,7
übrige Haut
0,6
0,7
anderer Sitz
4,9
3.2
Sitz nicht angegeben
4,4
5,8
Beim Vergleich der beiden Reihen muß man sich daran erinnern,
daß in Ungarn nur die Sterbefälle gezählt sind, bei welchen die
Todesursache ärztlich beglaubigt ist. Bei den Beamten usw. ist
anzunehmen, daß sie alle in ärztlicher Behandlung waren; die Krebs¬
sterblichkeit ist daher bei ihnen scheinbar viel größer (11,5 gegen 5,2).
Noch wären die eigentlichen Berufskrebse zu erwähnen.
Hierher gehört der Schorn stein fege r krebs, ein Epithelial¬
krebs des Skrotums, der infolge der chronischen Reizung durch
Steinkohlenruß und der darin enthaltenen ätzenden Stoffe auftritt.
Jedes Lebensalter wird von ihm in gleicher Weise bedroht. Schon
Hirt1) erwähnt, daß er früher in England häufiger gewesen sei,
in den 70 er Jahren aber nur noch selten beobachtet wurde. J.
Wolf gibt ebenfalls an, daß er heute kaum mehr gesehen werde.2)
Nach der englischen Statistik ist der Krebs bei den Schornstein¬
fegern noch sehr häufig, auch ist er bei jugendlichen Individuen
zahlreicher als bei irgendeinem anderen Beruf. Es wäre von
9 Die Krankheiten der Arbeiter. 2. Abt. Leipzig’ 1878, S. 48.
2) Die Lehre von der Krebskrankbeit. Bd. II, 1911, S. 145.
44
F. Prinzing,
Wert hierüber aus England nähere Aufklärung zu bekommen.
Ähnliche Krebse werden bei Petroleumraffineuren, bei Teer- und
Paraffinarbeitern auch an den Händen, Armen und Beinen beo¬
bachtet. Der Krebs entsteht hier auf dem Boden vernacfiläßigter,
durch Unreinlichkeit verschlimmerter Ekzeme.
Neuerdings wurde mehrfach der Röntgen krebs beobachtet. Bei
längerer Bestrahlung entsteht zunächst eine Dermatitis ; aus dieser
entwickeln sich Geschwüre, die allmählich einen krebsartigen
Charakter annehmen.
Ob diese durch äußere Veranlassung entstandenen bösartigen
Geschwürsbildungen tatsächlich Krebse sind, ist doch fraglich. Dem
histologischen Bau nach sind sie dies allerdings, aber sie unterscheiden
sich dadurch, daß sie keine Metastasen machen. Man hat daraus,
daß Röntgenbestrahlung unter Umständen Veranlassung zur Krebs¬
bildung geben kann, den Schluß ziehen wollen, daß der Krebs keine
parasitäre Erkrankung sein könne, da die Röntgenstrahlen direkt
antiparasitär wirken. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Röntgen¬
bestrahlung nur die Dermatitis hervorruft und daß die Krebs¬
bildung erst lange nach der Geschwürsbildung beginnt. Außer¬
dem ist es, wie eben erwähnt wurde, immerhin noch fraglich, ob
es sich dabei um echtes Karzinom handelt.
Endlich wäre noch der bösartigen Blasentumoren, die bei Anilin¬
arbeitern beobachtet werden, zu gedenken.
Sieht man von den letztgenannten Krebsen ab, die als eigent¬
liche Berufskrebse zu bezeichnen sind, so ist wenig über den Ein¬
fluß des Berufs auf die Erkrankung an Krebs bekannt. Das geht
aus unserer Untersuchung mit Sicherheit hervor, daß die Krebs¬
sterblichkeit bei der Landwirtschaft nicht höher ist als bei der
übrigen Bevölkerung, wahrscheinlich niederer. Die Bergleute und die
Arbeiter in Steinbrüchen haben eine kleine Krebssterblichkeit. Die
Erwerbstätigen bei der Herstellung und dem Verkauf alkoholischer
Getränke, überhaupt bei den Berufen, bei denen der Alkoholismus
häufig ist, haben hohe Krebszahlen. Einen näheren Einblick in
diese Verhältnisse können wir nur erhalten, wenn auch die Lokali¬
sationen des Krebses mit zur Untersuchung kommen. Dabei sprechen
wir den Wunsch aus, daß die Veröffentlichung aller Arbeiten, die
dem Verhältnis von Krebshäufigkeit und Beruf gewidmet sind, unter¬
bleiben möchte, wenn nicht zugleich die Beziehung zu den ver¬
schiedenen Altersklassen der Lebenden möglich ist.
Aus dem Vorherrschen eines bestimmten Berufs in einem Gebiet
darf auf eine Beeinflussung der Krebshäufigkeit desselben durch
Krebs und Beruf.
45
diesen Beruf nicht geschlossen werden. Da, wo der Krebs häufig
ist, sind alle Berufe der erhöhten Gefahr an Krebs zu erkranken
ausgesetzt. Ist in einem solchen Bezirk ein Beruf stark vertreten
und wird der letztere mit einem anderen Beruf verglichen, der zu¬
fällig in einem Gebiet kleiner Krebssterblichkeit ausgeübt wird,
so wäre es ein grober Fehlschluß, diese Verschiedenheiten der
Krebshäufigkeit einem Einfluß des Berufs zuzuschreiben; nicht dieser
ist hier Ursache; sie liegt vielmehr in jenen Bedingungen, die an
gewissen Örtlichkeiten die Entstehung des Krebses befördern, die
uns aber bisher nahezu vollständig unbekannt sind.
• •
Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Land¬
gemeinde beim Übergang in einen Industrieort.
Von Dr. Hanssen, Kiel.
Über die Säuglingssterblichkeit in den größeren Städten be¬
richten eine große Zahl von Autoren. Über die Verhältnisse in
• •
Berlin z. B. Finkeistein, Neumann und Tugendreich. Uber
Frankfurt kürzlich Hanaue r. Die Säuglingssterblichkeit in Dresden
ist durch die Aufsehen erregenden Untersuchungen von Mein er t
ausführlich behandelt worden. Meinert’s Untersuchungen haben
noch kürzlich durch Rietschel eine Würdigung erfahren. Die
Säuglingssterblichkeit in Hamburg erfuhr eine genaue Bearbeitung
in der Festgabe zur Naturforscherversammlung (1901).
Soweit mir bekannt ist, hat kaum jemand die Säuglingssterb¬
lichkeit in einer ländlichen Gemeinde untersucht. Nur Marie
Baum untersuchte die Lebensbedingungen und Sterblichkeit der
Säuglinge in den Kreisen Mors und Geldern. Untersuchungen, die
sich in gewisser Weise mit den meinigen vergleichen lassen, zumal
von den beiden Kreisen der eine — Geldern — fast völlig in der
alten Art verharrt ist, während der andere — Mörs — durch Aus¬
breitung der linksrheinischen Kohlengruben und die in deren Ge¬
folge einwandernden Industrien in seiner südlichen Hälfte sehr
wesentliche Umgestaltungen erfahren hat. Landwirtschaft und Vieh¬
zucht ernähren in Geldern die größere Hälfte der Bevölkerung,
während in Mörs, wo 1895 noch die gleiche Verteilung herrschte,
sich diese Verhältnisse außerordentlich stark verschoben haben.
Dementsprechend fand Marie Baum auch die Säuglingssterblich¬
keit in Mörs etwas größer und stellte in den letzten Jahren ein
leises, aber anhaltendes Steigen fest. Auch zeigte sich im Kreise
Geldern durchweg größere Gleichmäßigkeit als im Kreise Mörs.
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 47
Ich hielt es für keine undankbare Aufgabe in einer ländlichen
Gemeinde die Säuglingssterblichkeit festzustellen in einem Ort,
dessen Verhältnisse mir sehr genau bekannt waren, da ich 16 Jahre
dort als Arzt tätig war. Es handelt sich um den Fabrikort Läger¬
dorf in Schleswig-Holstein, gelegen in der ländlichen Gemeinde
Münsterdorf bei Itzehoe. Die Aufgabe erschien mir um so lohnen¬
der, als ich aus den Kirchenbüchern die Sterblichkeitsverhältnisse
der Gemeinde bis zum Jahre 1764 zurückverfolgen konnte. Auch
solche Untersuchungen der Säuglingssterblichkeit in früheren Jahr¬
hunderten liegen nur sehr wenige vor. Soweit mir bekannt, nur
aus Breslau. In dieser Stadt sind nach Rietschel die Sterbe¬
register seit 1585 fortlaufend geführt. In Hamburg gehen die
Register nur bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Trotz¬
dem manche Angaben fehlten, ergab sich doch über die Verhält¬
nisse in der Gemeinde Münsterdorf ein ziemlich übersichtliches Bild,
da die Angaben sich über einen sehr großen Zeitraum erstrecken.
Besonders interessant wurden die Verhältnisse dadurch, daß in der
rein ländlichen Gemeinde durch das Auffinden von Kreide in dem
in der Gemeinde belegenen Orte Lägerdorf eine ausgesprochen in¬
dustrielle Bevölkerung geschaffen wurde und zwar in sehr kurzer
Zeit. Durch das Aufblühen der Zementindustrie in Lägerdorf er-
erfuhr dieser vorher ländliche Ort eine fast an amerikanische Ver¬
hältnisse erinnernde Entwicklung. Die Bevölkerung wuchs bei dem
Fortschreiten der Industrie sehr schnell an und versechsfachte sich
im Laufe von 30 Jahren. Das schnelle Wachsen der Bevölkerung
kennzeichnen am besten folgende Zahlen. Nach den Volkszählungs¬
ergebnissen betrug die Einwohnerzahl Lägerdorfs:
1871
696
1875
798
1880
906
1885
1308
1890
2543
1895
2908
1900
3797
1905
3866
Dieses Anwachsen der Bevölkerung beruht natürlich zum aller¬
größten Teil auf Einwanderung. Die ursprüngliche ländliche ein¬
heimische Bevölkerung blieb im Orte wohnen, wandte sich aber
zum größten Teil ebenfalls der Industrie zu oder übte Gewerbe aus
im Dienste der Zugewanderten, wie Handel, Wirtschaftsgewerbe
und die verschiedenen Handwerke. Die große Zahl der Zuge¬
wanderten verschaffte dem Orte bald eine internationale Bevölke¬
rung. Nicht nur wurden in dem Orte Arbeiter aus ganz Deutsch¬
land, besonders aus dem Osten ansässig, auch Italiener, Russen und
48
Haussen,
Galizier ließen sich dort nieder. So entstand eine gemischte In¬
dustriebevölkerung mit allen Fehlern und Nachteilen einer solchen.
Besonders wurde in den Zeiten des glänzenden Geschäftsganges bei
sehr hohen Löhnen der Arbeiter in hohem Maße dem Alkohol ge¬
huldigt. Daß diese Verhältnisse nicht ohne Einfluß auf die Säug¬
lingssterblichkeit der Gemeinde blieben, will ich unten näher aus¬
einandersetzen.
Um nicht durch lange Zahlenreihen zu ermüden, habe ich die
Säuglingssterblichkeit von 10 zu 10 Jahren zusammengefaßt und
habe dabei gefunden, daß sich ein sehr gleichmäßiges Bild bietet
in dem Zeitraum von 1764—1869. Die Säuglingssterblichkeit ist
in diesen Jahren eine sehr geringe und dabei sehr gleichmäßige.
Zusammengefaßt sind die Zahlen folgende:
Vom Jahre 1764 — 1869.
Jan.
Febr.
März
April
Mai
Juni
Juli
Aug.
Sept.
Okt.
Nov.
Dez
50
64
53
64
61
42
50
34
35
41
31
36
Vo
n 1870
—1908.
86
96
76
76
74
81
99
135
86
83
60
74
Auf die einzelnen Dezennien verteilt sich die Säuglingssterb¬
lichkeit folgendermaßen :
Jahr-Dezennien
Januar
Februar
März
April
Mai
Juni
Juli
August
PU
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Oktober
Nov.
Dez.
1764—1769
4
7
8
0
5
0
2
1
4
4
5
3
1770-1779
4
8
4
6
5
5
5
4
4
6
5
4
1780—1789
9
4
4
10
8
2
3
6
4
4
4
1
1790-1799
1
5
10
11
2
8
5
2
2
5
2
2
1800—1809
1
10
7
3
8
7
10
4
3
4
0
3
1810—1819
10
4
2
12
2
4
6
3
2
5
3
3
1820-1829
2
4
5
3
8
5
6
2
3
2
4
3
1830-1839
5
6
5
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2
1840—1849
1850—1859
5
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3
6
5
7
6
5
2
4
4
5
1860—1869
9
10
5
8
10
2
7
5
7
4
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10
1870—1879
8
16
8
10
12
10
8
17
12
15
5
8
1880—1889
16
25
24
14
6
20
18
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15
11
11
13
1890-1899
27
22
25
18
23
17
36
51
32
29
18
25
1900-1908
35
33
19
24
33
34
37
45
27
28
26
28
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
49
Das ändert sich nach dem Jahre 1870, wo die Säuglingssterblich¬
keit relativ und absolut stark ansteigt. Es liegt nahe an einen
Zusammenhang dieser Zunahme mit der Entwicklung Lägerdorfs
zum Industrieorte zu denken. Außerdem zeigt sich aber eine sehr
auffallende Tatsache. Während nämlich in den Jahren bis zum
Jahre 1870 die Säuglingssterblichkeit am höchsten in den 5 ersten
Monaten des Jahres war (anscheinend sind unter den ländlichen
Verhältnissen in den Winter- und Frühlingsmonaten die meisten
Säuglinge an Erkältungskrankheiten zugrunde gegangen), tritt nach
dem Jahre 1870 die Säuglingssterblichkeit im Winter sehr zurück
gegen das Sterben in den Sommermonaten, besonders der August
zeichnet sich jetzt durch eine enorm hohe Sterblichkeit aus, die
doppelt so hoch ist, wie im Winter und Frühling. Wohnungsver¬
hältnisse können dabei keine Rolle spielen, denn der Ort Läger- ■
dorf behielt trotz der Ausdehnung durch die wachsende Bevölke¬
rung durchaus seinen ländlichen Charakter, die Arbeiter wohnten
in Häusern mit höchstens einem Stockwerk, unter durchaus günstigen
Verhältnissen. Von einem Zusammendrängen in ungünstigen heißen
Wohnungen im Sommer konnte keine Rede sein, zumal die größte
Zahl der Arbeiter in von den Fabriken zur Verfügung gestellten
teilweise sehr freundlichen und geräumigen Behausungen unterge¬
bracht war. Bei der Ausschaltung von ungünstigen Wohnungsver¬
hältnissen können nur Gewohnheiten, wie sie einer Industriebevöl¬
kerung eigentümlich sind, für die Steigerung der Säuglingssterb¬
lichkeit herangezogen werden. Unter diesen neuen Verhältnissen
spielt ganz besonders, das kann nicht genug betont werden, der
Ersatz der natürlichen Ernährung durch die künstliche eine Rolle.
Unter dem Einfluß der künstlichen Ernährung konnten dann alle
ungünstigen Faktoren, wie z. B. Steigerung der Geburtenzahl und
die damit verbundene geringere Aufmerksamkeit, welche dem ein¬
zelnen Kinde gewidmet werden kann, erst zur Wirkung kommen.
Weiterhin Nachlässigkeit und Vergnügungssucht sowie das Ent¬
stehen ungünstiger Lebensbedingungen unter dem Einfluß über¬
mäßigen Alkoholgenusses von seiten des Ernährers oder wie es
mir in polnischen Familien nicht selten begegnet ist, beider Eltern.
Daß diese ungünstigen Verhältnisse auf natürlich ernährte Kinder
von geringem oder gar keinem Einflüsse sind, hat erst Tugend¬
reich nachgewiesen, während man früher annahm, daß alle Säug¬
linge durch diese Ungunst der Verhältnisse in Mitleidenschaft ge¬
zogen würden, was sicher nicht richtig ist.
In dem Zeiträume bis 1870 hat der November die geringste
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 4
50
Hanssen,
Sterblichkeit mit Bl Todesfällen in 105 Jahren, die zweitniedrigste
der August. Die höchste Februar und April mit je 64. In der
Zeit nach 1870 steht der August mit 135 Todesfällen bei weitem
oben an, dann folgt der Juli mit 99. Am niedrigsten ist der
November mit 60 Todesfällen. Es tritt also in dieser Statistik der
Einfluß der Sommermonate auf die Säuglingssterblichkeit deutlich
hervor, genau wie in den Großstädten, ohne daß in einem länd¬
lichen Bezirk, wie hier die übermäßige Erhitzung der Wohnung
und ungünstige Wohnungsverhältnisse als Ursache beschuldigt
werden können. Ich habe nun zum Vergleich mit der Säuglings¬
sterblichkeit in der ländlichen Gemeinde Lägerdorf die Verhältnisse
herangezogen, wie sie die Großstadt Hamburg bietet. Die Säug¬
lingssterblichkeit in Hamburg ist sehr eingehend behandelt in „Die
Gesundheits Verhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert“, Festgabe
der 73. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Hamburg
eignet sich wegen der Nähe und der Ähnlichkeit des Klimas, sowie
auch deshalb, weil die Statistik bis zum Jahre 1820 zurückgeht,
ganz besonders zum Vergleiche.
Wenn ich zunächst mit der Kurve der Säuglingssterblichkeit
bis zum Jahre 1870 die mittlere Jahreskurve der Sterblichkeit an
entzündlichen Brustkrankheiten auf Seite 150 vergleiche, so stimmt
diese mit meiner Kurve ziemlich gut überein, wenn auch in Ham¬
burg die größte Zahl der Todesfälle auf die Monate April und Mai
fällt. Aber auch in Hamburg sterben sehr viele Säuglinge im
Februar an entzündlichen Brustkrankheiten, am wenigsten sterben
an diesen Krankheiten in den Sommermonaten und damit stimmt
meine Kurve vollkommen überein. Ich glaube dadurch den Beweis
erbracht zu haben, daß vor dem Jahre 1870 in Lägerdorf die größte
Zahl der Säuglinge an entzündlichen Brustkrankheiten in den rauhen
Wintermonaten starben, während die Darmkrankheiten an Häufig¬
keit und Gefährlichkeit sehr zurücktraten. Nach dem Jahre 1870
war das Verhältnis gerade umgekehrt. Da fiel das Maximum auf
den August und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich diese Steige¬
rung auf Rechnung der Magen- und Darmkrankheiten setze, die
nach der Umwandlung der Bevölkerung in eine industrielle aus
den oben angegebenen Gründen sehr viel häufiger geworden waren.
Die Kurve der Säuglingssterblichkeit nach dem Jahre 1870 zeigt
nur zwei Gipfel, einen im Februar und einen im August. Das ent¬
spricht durchaus der Regel. Die winterliche Hochflut akuter Er¬
krankungen der Atmungsorgane ist in hervorragendem Maße mit¬
bedingt durch die Beteiligung der Kinder an diesen Erkrankungen.
51
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
i
Die Jahreskürve der Säuglingssterblichkeit zeigt dementsprechend
einen energischen Anstieg in der rauhen Jahreszeit und wenn dieser
auch hinter dem durch die Darmkatarrhe erzeugten Sommergipfel
sichtlich zurückbleibt, so ist er doch hoch genug, um den Respira¬
tionskrankheiten den zweiten Platz in der Liste der Todesursachen
zu sichern (vgl. Finkeistein, Säuglingskrankheiten, S. 1). Die
Kurve der Säuglingssterblichkeit nach einzelnen Monaten vor dem
Jahre 1870 zeigt den Gipfel der Säuglingssterblichkeit für den
Winter für den Monat Februar ebenfalls; dann einen zweiten Gipfel
für April, dann fällt sie langsam, außer zwei geringen Erhebungen
im Juli und Oktober bis Ende des Jahres ab. Dieses Fehlen des
Sommergipfels finden wir noch jetzt in England, z. B. Manchester.
Keller (Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in England und Schott¬
land) führt dies auf einen Einfluß des Klimas zurück. Nach
Hanauer (Säuglingssterblichkeit in Frankfurt a. M.) waren um
das Jahr 1850 herum auch in Frankfurt die Monate April und Mai
die ungesundesten Monate des Jahres, einen Sommergipfel kannte
man auch damals in Frankfurt nicht, dieser findet sich aber nach
Gottstein (Beiträge zur Geschichte der Kindersterblichkeit, Medi¬
zinische Reform 1906 Nr. 5) bereits im 17. Jahrhundert in Breslau
er schließt daraus, daß schon damals die künstliche Ernährung sehr
floriert haben muß.
Eine tiefe Senkung zeigt jetzt der November, fast ebenso
günstig stehen März und Januar dar. Nach dem Jahre 1870 ist
bis 1900 die Säuglingssterblichkeit stets ungünstiger geworden, be¬
sonders im Monat August. Nach 1900 ist dann eine geringe Besse¬
rung eingetreten, wie sie auch an anderen Orten in Deutsch¬
land beobachtet wurde. Nach 1870 ist bis 1900 der Augustgipfel
immer steiler geworden. Von 1900 an ist dagegen der Wintergipfel
wieder gestiegen, der 1890 — 1899 niedrig war. Vor dem Jahre 1870
sind dann unter den ländlichen Verhältnissen im Orte ganz andere
Bedingungen eingetreten tür die Sterblichkeit der Säuglinge, wie
zu der Zeit der industriellen Blüte. Dieses Verhalten stellt die
Kurve I dar in der unteren Reihe. Würde ich für die einzelnen
Jahrzehnte vor 1870 ebenfalls Einzelkurven angelegt haben, so
würde man den allmählichen Abfall des Augustgipfels und dement¬
sprechend das Steigen des Wintergipfels ebensogut verfolgen
können, wie in der Tafel II das umgekehrte Verhalten nach 1870.
In einer zweiten Kurve habe ich die vier Jahrzehnte von
1870 an noch gesondert dargestellt. Aus diesen vier Kurven er¬
gibt sich, daß die Jahre 1890—1899, die Jahre der Hochkonjunktur
4*
52 • Hanssen,
der Zementindustrie , fast allein den hohen Augustgipfel bewirkt
haben ( - gezeichnet). Der Wintergipfel in diesem Jahrzehnte fällt
auf den Monat Januar, ein weniger hoher auf März und Dezember.
In den Jahren 1900 — 1908 ist der Augustgipfel ebenfalls noch vor¬
handen, aber lange nicht so steil, wie in dem Jahrzehnt vorher.
Der Wintergipfel im Januar ist fast ebenso hoch; der März ist der
günstigste Monat in bezug auf die Säuglingssterblichkeit. Die
Jahre 1880 — 1889 zeigen schon eine recht gleichmäßige Kurve. Ein
Augustgipfel ist zwar noch vorhanden, doch ist schon der Winter¬
gipfel im Februar höher. Am günstigten ist die Mortalität im
Monat Mai. Die Kurve des Jahrzehnts 1870 — 1879 hat einen sehr
gleichmäßigen Verlauf. (Durch einen dicken Strich bezeichnet,
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
53
während die Kurve von 1880—1889 durch einen dünnen Strich
angegeben wird.) Der Augustgipfel ist deutlich und der höchste
von allen Monaten, dann erfolgt der Höhe nach eine Erhebung im
Februar, Mai und Oktober. Diese Monate stehen ungefähr gleich
hoch. Betrachtet man die umstehende Tabelle (Nr. III) der
Geburten und Sterbefälle, so ergeben sich manche auffallende Tat¬
sachen. In den Jahren von 1764—1779 ist auffallend die große
Zahl der Totgeborenen. Es steht auch im Kirchenbuch bemerkt
bei dem Jahr 1772 : unter den 30 Toten sind wieder 4 totgeborene
Kinder. Bis zum Jahr 1820 ist die Zahl der Sterbefälle meist
so groß wie die der Geborenen ; das hatte verschiedene Ur¬
sachen, so war das Jahr 1773 ein Masernjahr. Von 1780—1789
war die Zahl der Sterbefälle höher als die Zahl der Geburten,
denn das Jahr 1785 war ein Blatternjahr. 1788 herrschten
die Frieseln (daher die große Sterblichkeit von 72 Säuglingen in
diesem Jahrzehnt. Im Jahr 1799 herrschten anscheinend viele
Darmkatarrhe). Das Jahr 1800 war wieder ein Blattern jahr, es
starben an dieser Krankheit allein 7 Personen. Auch 1801 hielten
die Blattern noch an; von 1800 — 1809 war die Zahl der Gestorbenen
fast so groß wie die der Geborenen. Von 1810—1819 war die Zahl
Hanssen
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Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
55
der Sterbefälle sogar wieder größer, als die Zahl der Geburten.
Von da an übertrifft die Zahl der Geburten die der Gestorbenen.
Von 1850—1859 übertrifft die Zahl der Geburten die der Gestor¬
benen annähernd um das Doppelte. Von 1870—1879 steigt die Zahl
der Todesfälle wieder an, besonders unter dem Einfluß des Jahres
1873, das ein Keuchlmstenjahr war. Es starben einmal 7 Kinder
innerhalb 3 Monaten an dieser Krankheit. Auch 1880— 1889 war
die Sterblichkeit wieder ziemlich hoch, denn 1884 herrschte eine
Masernepidemie. 1885 wieder Keuchhusten. Wie mörderisch die
Masern in Lägerdorf auftreten können, habe ich selber noch be-
2400
2000
1600
1200
800
400
Fälle
Kurve über die Zahl der Sterbefälle (erste Reihe).
Darunter Säuglinge (zweite Reihe).
Darunter Totgeborene (dritte Reihe).
Zahl der Geburten (vierte Reihe) in den einzelnen Jahrzehnten.
Kurve III.
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obachtet, da in einer Epidemie über 40 Kinder, an den Komplika¬
tionen der Masern zugrunde gingen. Die meisten an einem sehr
akut verlaufenden Croup, der sich an eine Stomatitis aphthosa an¬
schloß, daneben starben auch viele Kinder an Lungenentzündung,
so allein in einer Familie 3 vorher ganz gesunde und kräftige
Kinder, teilweise schon im schulpflichtigen Alter. Diese Epidemie
war von Essen aus eingeschleppt. Vom Jahre 1890 an steigt die
Zahl der Geburten sehr beträchtlich an und: übertrifft in den letzten
Jahren die Zahl der Gestorbenen um das Doppelte. Als besonders
56
Hanssen,
interessant erwähne ich noch die im Jahre 1878 erfolgte Geburt
von Fünflingen bei dem Schuhmacher Kay — ich kann diese Tat¬
sache auf Grund der urkundlichen Eintragung in das Kirchenbuch
bestätigen. Die Kinder starben alle kurze Zeit nach der Geburt.
1889 wurden Vierlinge angezeigt, die alle totgeboren waren. Eine
Übersicht der Zahl der Todesfälle in der ganzen Gemeinde Münster¬
dorf, die Totgeborenen, die Todesfälle der Säuglinge, die Zahl der
Geburten, darunter der Unehelichen ergibt Tabelle V. Von 1901
an, sind die Zahlen auch für den Industrieort Lägerdorf allein an¬
gegeben. Die Säuglingssterblichkeit in Läger dorf ist beständig
etwas höher, als in der ganzen übrigen Gemeinde. Daß sie in der
zum größten Teil ländlichen Gemeinde nicht erheblich geringer
war, als in dem Industrieort Lägerdorf, kommt daher, daß in den
Zeiten der Blüte der Zementindustrie die Industriearbeiter sich
auch in den umliegenden Dörfern (Münsterdorf und Dägeling) an¬
siedelten und die Säuglingssterblichkeit dadurch auch in diesen
Orten ungünstig beeinflußt wurde.
Die Zahl der unehelichen Geburten war in dem Industrieorte
größer als in der Gemeinde als ganzer, z. B. 1908 — 11 auf 168 in
Lägerdorf. In der ganzen Gemeinde nur 14 auf 233 Geburten.
Was die Zahl der unehelichen Geburten betrifft, so ist dieselbe
nach der Festschrift des König!, preußischen statistischen Bureaus
(1905 S. 29) für unsere Provinz folgende: unter 1000 Geborenen
waren unehelich
1875 — 1900 in den Städten — 110
auf dem Lande — 81
Von 1000 Lebendgeborenen bei den ehelichen 141 Mortalität
bei den unehelichen 298 „
Meine Zahlen sind folgende:
Die unehelichen Geburten waren unter den ländlichen Verhält-
nissen ziemlich niedrige. In den ersten sechs Jahren (1764 — 1769)
nur 3 auf 276 Geburten. Um 1800 etwa 25 auf 380. Später sogar
nur 1860 — 1869 39 auf 722. In den Zeiten der Hochkonjunktur
der Industrie dagegen 105 uneheliche Geburten auf 2452 Geburten
überhaupt. Vergleicht man damit die Kieler Verhältnisse, so be¬
trug in Kiel der Prozentsatz der unehelichen Geburten
1906 15,51
1907 14,51
1908 14,92
Die unehelichen Geburten haben also in Kiel in geringem
Grade abgenommen.
Übersicht über die Zahl der unehelichen Geburten, Totgeborenen und die Säuglingssterblichkeit in der
Gemeinde Münsterdorf überhaupt und in dem Industrieort Lägerdorf gesondert.
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 57
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2908
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«
58 Haussen,
Was den Einfluß der Lolmverhältnisse auf die Säuglingssterb¬
lichkeit anbetrifft, so gelang es mir, einen Einfluß derselben auf
die Sterblichkeit festzustellen. Die Lolmverhältnisse der Arbeiter
ergeben sich in den einzelnen Jahren aus der beifolgenden Liste,
der durchschnittliche Tagelohn war mit 2,956 M. im Jahre 1894
am niedrigsten. Im Jahre 1895 war die Säuglingssterblichkeit mit
47 Fällen im Jahr hoch und zeigte eine Kurve nach oben; sie fiel
1896, als die Lohnverhältnisse bessere wurden. Von 1895—1899
besserten sich die Lohnverhältnisse langsam, indem der durchschnitt¬
liche Tagelohn auf 3,457 anstieg. Die Säuglingssterblichkeit stieg
langsam vom Jahre 1896 an, hielt sich aber in mäßigen Grenzen.
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw. 59
Vom Jahre 1899 fiel der Tagelohn bis 1902 auf 3,123 M. Die
Säuglingssterblichkeit stieg sehr steil an bis auf 72 Fälle im Jahr
1901, fiel dann langsam ab bis 1907 wo sie niedriger war, als 1895.
Der Lohn stieg dann bis 1907, sehr schnell an auf 3,907 M. In
diesem Jahre des höchsten Tagelohnes war die Säuglingssterblich¬
keit seit 1898 mit 45 Fällen im Jahr am niedrigsten.
Der Tagelohn fiel dann bis zum Jahre 1909 auf 3,669 M. Die
Kurve der Säuglingssterblichkeit machte einen leichten Anstieg.
Auf 100
Lebendgeborene
starben in der
Gemeinde
Säuglinge
Totgeborene
Uneheliche
Geburten
darunter
Geburten
in der
Gemeinde
Jahr
\
Durch¬
schnittlicher
Tageslohn
25,0
53
15
184
1893
3,208
18,94
50
17
227
94
2,956
23,93 1
53
15
198
95
3,061
14,65
44
10
191
96
3,176
13,17
43
8
213
97
3,265
14,01
49
11
214
98
3,339
15,57
46
9
204
99
3,457
25,47
83
8
263
1900
3,241
27,48
63
9
272
01 ^
3,207
17,80
62
11
267
02
3,123
20,57
53
16
277
03
3,183
19,80
63
8
248
04
3,225
23,20
54
7
237
05
3,326
23,52
45
14
221
06
3,523
19,82
58
17
227
07
3,907
21,03
42
14
233
08
3,607
—
—
—
09
3,669
—
—
—
10
Was den Einfluß der Lohnverhältnisse auf den Alkoholver¬
brauch der Bevölkerung betrifft, so konnte ich mit größter Sicher¬
heit nach weisen, daß er am höchsten war im Jahre des höchsten
Lohnes. Er betrug 84000 Liter Branntwein bei einer Bevölkerungs¬
zahl von etwa 4000 Einwohnern, dazu kamen noch 2570 hl Bier.
Als der Lohn im Jahr 1910 niedriger geworden war, fiel der
Alkoholverbrauch auf 74000 1, der Bierkonsum auf 2410 hl. Im
Vergleich dazu betrug 1899 der Alkoholkonsum bei einem Lohn
von 3,457 M. 65000 1, der Bierkonsum 2330 hl. Die Bevölkerungs¬
zahl betrug ungefähr 3800 Einwohner. Der Einfluß der Lohnver¬
hältnisse auf die Säuglingssterblichkeit ist natürlich schwer fest¬
zustellen und auch in meiner Statistik vielleicht ein zufälliger, da
schlechte Lohnverhältnisse doch oft erst nach 1—2 Jahren ihren
60 Hanssen,
Einfluß auf die Lebenshaltung geltend machen. Ein gewisser Zu¬
sammenhang scheint aber doch zu bestehen.
Jahr
hl
Bier¬
konsum
1
Brannt¬
wein
darunter
Eigen¬
tums¬
vergehen
davon
gericht¬
liche
Be¬
strafung
darunter
wegen
Eigentums¬
vergehen
Zahl der
polizeilichen
Anzeigen
Jahr
1893
1620
38 000
_
_
80
1893
—
—
—
! -
—
_
66
94
—
—
—
—
—
—
102
95
—
—
—
—
—
—
112
96
—
—
—
—
' -
—
107
97
'* -
—
—
—
—
—
106
98
1899
2330
65 000
—
—
—
161
99
—
—
—
—
—
—
155
1900
—
—
—
—
- -
—
129
01
—
—
—
13
50
38
95
02
—
—
—
28
90
46
127
03
—
• -
—
17
71
37
90
04
—
—
—
22
68
48
122
05
—
—
—
17
60
52
140
06
1907
2570
84 000
25
81
50
133
07
—
—
—
39
106
80
128
08
—
—
—
30
88
52
136
09
1910
2410
74 000
22
70
70
141
10
Marie Baum konnte den Einfluß günstiger wirtschaftlicher
Lage sowohl bei Brust- wie bei Flaschenkindern beobachten, bei
letzteren jedoch in unverhältnismäßig größerem Maße. Im Kreise
Geldern zeigte sich für die ehelichen künstlich genährten Kinder,
deren Väter ein Einkommen von weniger als 1500 M. besaßen, eine
Sterblichkeit von 16,7 Proz., bei denen, deren Väter mehr als 1500 M.
versteuerten von 5,7 Proz. Im Kreise Mors dagegen waren die
Sterblichkeitsziffern der künstlich genährten fast die gleichen, ob
der Vater ein höheres oder niedriges Einkommen aufzuweisen hatte,
und zwar fand sich das gleiche Verhältnis, sowohl bei den Kindern
des ersten wie des zweiten, dritten und vierten Vierteljahres.
Marie Baum gibt im allgemeinen an, daß mit dem wachsenden
Wohlstand immer häufiger zur unnatürlichen Ernährung gegriffen
wird.
Meiner Ansicht nach wirkt die Lohnhöhe nur dann auf die
Säuglingssterblichkeit günstig ein, wenn es sich um Eltern von
moralischem Hochstande handelt, wenn es sich aber um Eltern
handelt, die moralisch tief stehen, wird oft gerade der hohe Lohn
zum Alkoholmißbrauch auffordern und anstatt nützlich zu wirken,
der günstigen Lebenshaltung einer Arbeiterfamilie im Wege stehen.
Uber die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
61
Dagegen gelang es mir einen deutlichen Zusammenhang der
Zahl der Bestrafungen und der Säuglingssterblichkeit festzustellen.
Die Säuglingssterblichkeit stieg vom Jahre 1896—1900 sehr steil
an, ebenso die Zahl der Bestrafungen vom Jahre 1894 mit 66 Fällen
auf 161 und 155 Fälle in den Jahren 1899 und 1900. — Von da
an nahm die Zahl der Betrafungen bis 1904 ab; in diesem Jahre
war die Zahl derjenigen der Bestraften nur 90. In demselben Jahr
war auch die Zahl der gestorbenen Säuglinge mit 49 Todesfällen
ziemlich niedrig. Vom Jahre 1905 an nahm die Kriminalität der
Bevölkerung wieder zu und auch die Säuglingssterblichkeit zeigte
wieder leichte Zacken nach oben. Die Kriminalität stieg übrigens
auffallend der Höhe der Löhne entsprechend. Im Jahre 1894, in
welchem der niedrigste Tagelohn gezahlt wurde, war die Krimi¬
nalität mit 90 Fällen bei weitem am niedrigsten. 1899, als der
Lohn einen Anstieg auf 3,457 M. zeigte, war die Kriminalität mit
161 Fällen am höchsten. Als 1907 der Tageslohn auf fast 4 M.
gestiegen war, zeigte auch die Kriminalität einen steilen Anstieg, der
allerdings nicht die Höhe des Gipfels von 1899 erreichte. Dieses
Ansteigen und Fallen der Kriminalität entsprechend dem Ansteigen
und Fallen des durchschnittlichen Tagelohnes hängt mit ziemlicher
Sicherheit mit der großen Zahl der Vergehen zusammen, die unter
dem Einfluß des Alkohols begangen werden, besonders also Be¬
drohung und Körperverletzung. Je mehr also die Höhe des Tage¬
lohnes zum Mißbrauch des Alkohols auffordert, um so mehr solcher
Vergehen werden verübt werden.
Vielleicht spielt auch das Verhalten des Milchverkehrs
eine Ko Ile. Unter den rein ländlichen Verhältnissen wurde die
Milch meist direkt von der Kuh an die Konsumenten abgegeben.
Nach dem Anwachsen der Bevölkerung kamen auch Milchwagen
in den Verkehr, welche die Milch erst nach einem längeren Trans¬
port von auswärts an die Konsumenten verabfolgen konnten.
Flügge (Aufgaben und Leistungen der Milchsterilisierung,
Zeitschrift für Hygiene Bd. 17 S. 262) betont diesen Unterschied
in der Milchversorgung zwischen Dörfern und Städten sehr und
mißt ihm große Bedeutung bei. In einer saub er en Ar b eit er-
wohnungwird auch nicht ganz einwandfreie Milch bei
zweckmäßiger Behandlung nicht schlechter, während
auch gute Milch in den Händen einer unsauberen und nachlässigen
Mutter für das Kind gefährlich werden kann.
Mir ist es nicht gelungen, einen Unterschied in der Milchver-
62>
Hanssen,
sorgung, ob Milchwagen oder direkte Abgabe von der Kuh an die
Familien, in bezug auf die Säuglingssterblichkeit festzustellen.
Es erübrigt sich noch, den Einfluß der Wärme der Sommer¬
monate auf die Säuglingssterblichkeit festzustellen. Wenn Meiner t
für Dresden (Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage) angibt,
daß während der heißen Jahreszeit gegenüber der Cholera infantum
sich auch die minderwertigen Wohnungen gefahrenfrei erwiesen,
wenn sie in freistehende Häuser eingebaut waren (Haus’mann’s
Wohnungen), so kann ich diese Ansicht nicht bestätigen, denn in
Lägerdorf war auch kein einziges Wohnhaus der Arbeiter nicht
freistehend. Keine geschlossene Straße war vorhanden, auch nicht,
als sich die Industriearbeiter in dem Ort angesiedelt hatten. Trotz
der Industrialisierung der Bevölkerung des Ortes war die Bebauung
eine durchaus ländliche geblieben, da genügend Bauland vorhanden
war, um auch für die größer gewordene Bevölkerung genügend ländlich
freistehende Wohnhäuser zu schaffen. Trotzdem in dieser Beziehung
der ländliche Charakter des Ortes gewahrt blieb, starben unter
den industriellen Verhältnissen eine sehr große Zahl von Kindern
und zwar genau wie in den Großstädten im August, nicht wie vor¬
her unter den ländlichen Verhältnissen die meisten Säuglinge an
Erkältungskrankheiten im Winter.
Die Monate der größten Säuglingssterblichkeit in den ver¬
schiedenen Sommern der letzten 20 Jahre ergeben sich aus folgen¬
der Tabelle.
Jahr
Juli
August
.
September
1891
9
1893
—
- .
8
1894
—
9
—
1900
—
8
—
1901
7
10
8
1903
12
5
—
Es hatte also die höchste Säuglingssterblichkeit der Juli 1903.
Dabei hatte er nur ein Monatsmittel der Temperatur von 16,5 0 C
(nach Mitteilung der Kaiserl. Seewarte in Hamburg) und gehörte
nicht zu den acht heißesten Monaten Juli in diesen 20 Jahren.
Der wärmste Monat war der Juli 1901 mit einer mittleren Tem¬
peratur von 19,3 °. Die Säuglingssterblichkeit war mit 7 Fällen
im Monat wohl hoch, aber doch nicht so hoch wie 1903. Der
zweitheißeste Juli war im Jahre 1900. Die Säuglingssterblichkeit
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
63
mit vier Fällen niedrig-. 1894 und 1899 .stellt der Juli mit 18,3°
an dritter Stelle. Die Säuglingssterblichkeit betrug in beiden
Jahren sechs Fälle, war zwar mittelhoch, aber niedriger, als in
anderen Jahren. Der wärmste August mit 18,2 0 im Mittel war
der des Jahres 1897. Die Säuglingssterblichkeit war mit 4 Fällen
niedrig. Der zweitwärmste August im Jahr 1898 (17,9 0 C). Die
Säuglingssterblichkeit mit 5 Fällen nur mittelgroß. Der wärmste
September. 1895 (15,5 °) , die Säuglingssterblichkeit betrug nur
3 Fälle. Der zweitwärmste September war der des Jahres 1891
(14,9°), die Säuglingssterblichkeit war mit 4 Fällen kaum mittel¬
hoch. Dagegen starben im September 1893 und 1901 je acht
Säuglinge. Daüei war die Temperatur des September 1901 die
dritte in der Reihe der September mit 14,6°. Der September 1893
aber mit 12,4° unter dem Mittel.
Die wärmsten Monate. 1891—1910.
In Celsius.
1901
1900
1894
1899
1905
1908
1896
1904
! Juli 19,3°
1897 S August 18,2 0
1895 ;
Juli 18,4°
1898
August 17,9 0
1891
Juli 18,3°
Juli 18,3°
1892
August 17,4 0
1901
Juli 18,1°
1893
August 17,2 0
1898
Juli 17,9°
1906
August 17,1 0
1900
Juli 17,5°
1895
August 17,0°
1903
Juli 17,5°
1901
August 17,0°
September 15,5 9
September 14,9°
September 14,6°
September 14,5°
September 14,8°
September 14,2 0
Ich kann auf Grund meiner Untersuchung keinen Einfluß der
Temperatur im Sommer nachweisen, soweit sie aus dem Monats¬
mittel berechnet ist und ich kann den Rat Finkeistein ’s ver¬
stehen, die Tageskurve anstatt dessen in Betracht zu ziehen. Ich
bezweifle allerdings, daß ich auch bei diesem Vorgehen greifbare
Resultate erzielt hätte.
Ich fasse die Resultate meiner Untersuchungen zusammen:
In einer vorher ländlichen Gemeinde sind nach
dem Entstehen einer Industriebevölkerung die vor -
her normalen Sterblichkeitsverhältnisse der Säug¬
linge, mit einem geringenWintergipfel, ganz andere
geworden: Es ist ein typischer hoher Sommergipfel
entstanden, dieser ist weder durch Witterungs-, noch
durch Wohnungsverhältnisse bedingt. Die Wohnungs¬
verhältnisse waren vor 1868 wie nachher genau dieselben; keine
Reihenhäuser, sondern Hausmannswohnungen. Dieser Sommergipfel
der Säuglingssterblichkeit ist an erster Stelle durch das Aufgeben
der natürlichen Ernährung entstanden, dann durch die Nachlässig-
64
Hanssen,
keit und Gleichgültigkeit, mit welcher in Industriearbeiterkreisen
Kinder erzeugt und aufgezogen werden.. Oft fehlen unseren jung¬
heiratenden Arbeitern und Arbeiterinnen die Mittel und Erfahrung,
für ihre Nachkommen zu sorgen. Je kinderreicher eine Familie
ist, desto mehr Kinder sterben in derselben. Ich habe diese Er¬
fahrung oft gemacht; so könnte ich verschiedene solcher Familien
angeben, in welchen der Reihe nach Säuglinge starben. (Vgl.
St ölte, Jahrbuch für Kinderheilkunde, Februar 1911.) Meist
konnte ich in solchen Fällen den Alkoholmißbrauch
des Ernährers als Ursache nachweisen. Eine heredi¬
täre Belastung war nach meinen Erfahrungen als
Hausarzt nicht vorhanden. Die Trunksucht des Ernährers
und die dadurch bedingte mangelhafte Lebenshaltung bewirkte oft
bei der Ehefrau eine gewisse Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit.
Oft war das Verhalten aber auch umgekehrt, indem eine schmutzige,
untüchtige Hausfrau den vorher ordentlichen Mann ins Wirtshaus
trieb. In solchen Fällen würde die Statistik versagen. Die Statistik
würde (vgl. Li efm an n) einen hohen Lohn des Ernährers ergeben,
wo tatsächlich durch das Potatorium desselben die Ernährungsver¬
hältnisse seiner Familie mangelhafte waren. Vergleiche auch die
Tabellen XII und XI bei Dr. Marie Baum, (Ernährungsstand
der ehelichen Säuglinge nach dem Einkommen des Vaters, Zeit¬
schrift für Säuglingsfürsorge, Bd. IV, 1910).
Ein Einfluß der Lohnverhältnisse auf die Säuglingssterblichkeit
scheint vorhanden zu sein, je höherderLohn,destoge ringer
die Säuglingssterblichkeit. Leider gilt aber auch die Regel :
Je höher der Lohn, desto größer der Alkoholver¬
brauch. Für die arbeitende Klasse und das Gedeihen ihrer
Familie scheint ein mittelhoher Lohn der günstigste zu sein.
Die mehr oder minder große Vergnügungssucht der
Mütter scheint ohne Einfluß auf die Säuglingssterblichkeit zu sein.
Die Kriminalität der arbeitenden Bevölkerung scheint in einem
Zusammenhang mit der Säuglingssterblichkeit zu stehen: je mehr
Bestrafungen, desto höher dieSäuglingssterblichkeit.
Die Wärme des Sommers hat nach meiner Statistik
keinen Einfluß auf die Säuglingssterblichkeit in einem länd¬
lichen Orte.
Zum Schlüsse meiner Arbeit kann ich es mir nicht versagen,
• »
folgenden Herren für ihre Unterstützung und Überlassung von
Material meinen Dank auszusprechen: Dem Königl. Landrate des
Über die Säuglingssterblichkeit in einer Landgemeinde usw.
65
Kreises Steinburg, Herrn Pahlke zu Itzehoe, Herrn Pastor
Herrn b erg in Münsterdorf, Herrn Hauptlehrer Hansen, Herrn
Gemeindevorsteher Schilling und Herrn Prokurist Lange in
Lägerdorf. Der Kaiserl. Seewarte und dem physikalischen Institut
in Kiel bin ich ebenfalls zu Dank verpflichtet.
Herrn Dr. Eff ler in Danzig danke ich ganz besonders für
die zahlreichen Ratschläge bei der Fertigstellung meiner Arbeit.
Literaturangabe.
Baum, Marie. Lebensbedingungen und Sterblichkeit der Säuglinge in den
Kreisen Mörs und Geldern. Zeitschr. f. Säuglingsfürsorge. Bd. IV, 1910.
Dieselbe. Ernährungszustand der ehelichen Säuglinge nach dem Einkommen
des Vaters. Zeitschr. f. Säuglingsfürsorge. Bd. IV, 1910.
Einkelstein. Lehrbuch der Säuglingskrankheiten. S. 1.
Flügge. Aufgaben und Leistungen der Milchsterilisierung. Zeitschr. f. Hygiene.
Bd. 17, S. 262.
Gesundheitsverhältnisse. — Die G. Hamburgs im 19. Jahrhundert. Hamburg 1901.
Gottstein. Beiträge zur Geschichte der Kindersterblichkeit. Medizinische
Reform 1906, Nr. 5.
Hanauer. Säuglingssterblichkeit in Frankfurt a. M. Ergebnisse der Säuglings¬
fürsorge. Heft VII.
Keller. Säuglingsfürsorge und Kinderschutz in England und Schottland. Er¬
gebnisse der Säuglingsfürsorge. Heft XI.
Lief mann. Die Bedeutung sozialer Momente für die Säuglingssterblichkeit.
Zeitschr. f. Hygiene. Bd. LXII, 1908.
Meinert. Säuglingssterblichkeit und Wohnungsfrage. Archiv f. Kinderheil¬
kunde. XLIV, Heft 1/3.
Reich , das Deutsche — in gesundheitlicher und demographischer Beziehung.
Festschr. des K. Gesundheitsamts und K. statistischen Amts. Berlin 1907.
Rietschel. Sommersterblichkeit der Säuglinge. Ergebnisse der inneren Medizin
und Kinderheilkunde. Bd. VI, S. 375.
Stolze. Über das frühzeitige Sterben zahlreicher Kinder einer Familie. Jahr¬
buch für Kinderheilkunde. Februar 1911, S. 164.
Tagendreich. Mutter- und Säuglingsfürsorge, Handbuch der — .
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
5
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
Von Gewerbeinspektor ScHULTZE-Fulda.
(Mit 6 Abbildungen.)
Einen Überblick über die Gefährdungen durch nitrose Gase
geben die Jahresberichte der Königlich Preußischen Regierungs¬
und Gewerberäte. Besondere Mitteilungen über Erkrankungen sind
in folgenden Berichten enthalten: 1897 S. 352; 1899 S. 124; 1901
S. 54; 1909 S. 81; zahlreiche Todesfälle sind mitgeteilt: 1895 S. 106,
122 und 136; 1896 S. 81; 1897 S. 114; 1899 S. 161; 1901 S. 54;
1903 S. 67, 433; 1906 S. 200 und 375; 1907 S. 100; 1908 S. 94.
Der in dem Jahresbericht 1897 S. 114 mitgeteilte Unfall hat,
wie später gezeigt wird, ein besonderes Interesse. Die Mitteilung
darüber lautet: Leider ist über Unfälle zu berichten, welche zwar
nicht Fabrikarbeiter, aber eine große Zahl von Feuerwehrleuten
betroffen haben, die beim Löschen eines Fabrikbrandes nitrose Gase
einatmeten. Die chemische Fabrik auf Aktien stellte auf ihrem in
Berlin, Fennstraße, gelegenen Grundstück in den Grenzen der ihr
erteilten Konzession Kollodium dar und benötigte zu dieser Fabri¬
kation größerer Mengen Salpetersäure, welche sie in den üblichen
Glasballons von außerhalb bezog. Der Schuppen, in welchem die
Ballons aufbewahrt wurden, geriet zu einer Zeit, in der nicht mehr
gearbeitet wurde, in Brand. Der Ausbruch des Feuers ist sehr
wahrscheinlich auf das Zerspringen eines Säureballons zurück¬
zuführen. Die aus dem Ballon aussickernde Säure setzte infolge
der starken Oxydations wärme das Verpackungsstroh und das Ge¬
flecht des Korbes, in dem der Ballon verpackt war, in Brand. In¬
folge des Brandes zersprangen noch andere Ballons. Die aus ihnen
fließende Salpetersäure vergaste bei der Hitze und wurde von den
zum Löschen herbeigeeilten Feuerwehrleuten eingeatmet. Es er-
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
67
krankten 3 Offiziere, 57 Oberfeuerwehrmänner und Feuerwehrmänner,
von denen 1 Oberfeuerwehrmann nach 6 Stunden starb. Viele
andere waren lange Zeit krank und dienstunfähig. Der behandelnde
Arzt ist zu der Ansicht gekommen, daß die eingeatmeten nitrosen
Gase infolge einer Blutzersetzung Störungen des Zentralnerven¬
systems hervorrufen, also wie Vergiftungen wirken, welche unter
Umständen einen schnellen Tod herbeifuhren. Um ähnlichen Un¬
fällen in der an anderer Stelle inzwischen errichteten Fabrikanlage
vorzubeugen, werden die Säureballons jetzt unter einem nach allen
Seiten offenen Schuppen, nicht in einem geschlossenen Raume oder
gar in einem Keller aufbewahrt. Die Ballons stehen auf einem
Rost, welcher über einem geneigten, betonierten Fußboden liegt.
Der Fußboden hat Gefälle nach einem tieferliegenden Graben, dessen
Inhalt so bemessen ist, daß er die ganze Menge der gelagerten
Säure fassen kann und noch eine Verdünnung der Säure durch
Wasser gestattet. Die einzelnen Reihen von Säureballons sollen
durch zwischengestellte Eisenbleche voneinander getrennt werden,
damit ein Brand sich nicht leicht über das ganze Lager ausbreiten
kann.
Besonders erwähnenswert sind ferner drei tödliche Vergiftungs¬
fälle aus den Jahren 1907 und 1908, weil an ihnen eine gericht¬
liche Sektion vorgenommen wurde. Holtz mann -Karlsruhe be¬
richtet darüber:
1. Fall. In einem Kellerraume befanden sich fünf große
eiserne Fässer eines Gemischs von Schwefelsäure und Salpetersäure.
Eines Morgens wurde bemerkt, daß eines der Fässer undicht ge¬
worden war. Die Direktion ließ die vorhandenen Rauchmasken
herbeiholen und wollte die Säure herauspumpen lassen. Zur Mon¬
tierung der Pumpe stiegen zwei Schlosser in den Keller und ver¬
weilten dort ungefähr 25 Minuten. Zum Schutze gegen die Dämpfe
hielten sie sich Putzwolle und das Taschentuch vor, die Maske
hatten sie sich nicht aufgesetzt. Der eine Schlosser erkrankte nur
leicht an Husten, während der andere noch am selben Abend an
schwerer Atemnot starb. Die Sektion ergibt eine starke Schwellung
der Schleimhaut des Kehlkopfes und der Stimmbänder. Die Liga¬
menta ary-epiglottica sind polsterartig vorgetrieben. Der obere
Teil der Luftröhre ist entzündet. Der Unterlappen der linken
Lunge fühlt sich etwas fester als rechts und enthält etwas reich¬
licher Blut, die Lungen sind durchweg noch lufthaltig. Von einer
Verfärbung des Blutes ist nichts bemerkt. Der Verstorbene wird
als untersetzter, dicker Mann bezeichnet. Er war 38 Jahre alt.
5*
68
Schultz e,
Die beiden anderen Arbeiter waren in der Nitrierlialle be¬
schäftigt. woselbst das Nitriergut der Nitrierflüssigkeit (Schwefel¬
und Salpetersäure) zugegeben wird, die längere Zeit darauf ein wirkt.
2. Fall. Ein Arbeiter war am 27. Mai in die Fabrik einge¬
treten, schon nach wenigen Stunden klagte er über Brustschmerzen
und Schwindel, am 29. Mai starb er. Von ihm ist bekannt, daß
er schon vorher an Lungenerweiterung und chronischer Bronchitis
gelitten hat. Er war 43 Jahre alt.
Die Sektion ergibt Blähung und Vergrößerung der Lungen
nebst starkem Blutgehalt. Das Lungengewebe ist sehr saftreich,
auf Druck entleert sich schleimige Flüssigkeit. Die Bronchien und
Bronchiolen sind bis in die feinsten Äste hinein mit Schleim und
Eiter verstopft. Die Luftröhrenschleimhaut ist entzündet, ebenso
die Magenschleimhaut, was jedenfalls durch Verschlucken säure¬
haltigen Speichels verursacht war. Erwähnt wird besonders die
auffallend schwärzliche Färbung des Blutes in den großen Gefäßen
und die stark braune Färbung der Organe.
3. Fall. Ein anderer Arbeiter war am 15. Juli in die Fabrik
eingetreten und ist am 16. Juli nachmittags gestorben, nachdem er
nur 3 Stunden dort gearbeitet hatte. Er war 40 Jahre alt und
soll bereits vorher krank gewesen sein. Die Sektion ergibt starke
Rötung und Schwellung des Kehldeckels, des Kehlkopfes und der
Luftröhre bis hinein in die kleinsten Verzweigungen. Die Lungen
sind groß und rot, aus beiden Lungen entleert sich schaumige
Flüssigkeit in sehr großer Menge. Die übrigen Organe sind braun¬
rot, das Blut dunkelrot, fast schwärzlich. Erwähnt sei noch, daß
die Patienten bei der Aufnahme ins Hospital öfter eine gelbliche
Verfärbung des Bartes, der Augenbrauen, des Zahnfleisches und
der Zähne zeigen, die auf Bildung Xantroproteinsäure zurück¬
zuführen sei.
Von den bei den gerichtlichen Erhebungen vernommenen Meistern
und Mitarbeitern wurde besonders angegeben, daß während der
ganzen Zeit der Beschäftigung der beiden verstorbenen Säurearbeiter
kein Topf „gebrannt“ habe. Mit dieser Bezeichnung belegen die
Arbeiter das Entweichen der rotbraunen untersalpetersauren Dämpfe,
auf deren Gefährlichkeit jeder Arbeiter bei seinem Eintritte hin¬
gewiesen wird mit der Anweisung, beim etwaigen Auftreten dieser
Dämpfe sofort die Halle zu verlassen. Die Fälle zeigen also, daß
nicht nur diese Dämpfe, die ja schon durch ihre Sichtbarkeit warnen,
gefährlich werden können.
Im ersten hier aufgeführten Falle ist der Tod auf die heftig
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
69
entzündliche Schwellung des Kehlkopfes der Stimmbänder und der
oberen Luftwege, hervorgerufen durch den ätzenden Reiz der Säure,
zurückzuführen. Eine Alteration der Lunge hatte erst begonnen,
Veränderungen im Blute waren noch nicht wahrzunehmen. In den
beiden letzten Fällen war der Tod durch Lungenödem verursacht.
Dabei war aber bereits eine Alteration des Blutes nachweisbar.
Die dunkle Blutfärbung ist nach Schmieden ein konstanter Befund,
der freilich spektroskopisch noch nicht genügend geklärt ist.
Eine bedeutende Unkenntnis herrscht bei den Unternehmern,
Betriebsbeamten und Arbeitern auch über die Vergiftungsgefahren
durch Verschütten der Salpetersäure. Diese Gefahren sind durch
die Unüberlegtheit der Arbeiter oft bis zur Lebensgefahr gesteigert.
Die Arbeiter suchen die verschüttete Säure durch Sägemehl oder
Sägespäne aufzusaugen. Bei Anwesenheit dieser organischen Stoffe
geht nach Holtzmann die Salpetersäure Zersetzungen in ihren
niedrigen Oxydationsstufen ein, in salpetrige Säure (NOaH),
Untersalpetersäure und Stickoxyd (NO). Die Untersalpetersäure
ist aufgelöst in der sogenannten rauchenden Salpetersäure vorhanden.
Sie bildet wegen ihrer Giftigkeit die so gefürchteten braunroten
Dämpfe. Im Augenblick der Einatmung wird aus der Untersalpeter¬
säure durch das Hinzukommen von Wasser salpetrige Säure. Erstere
ist als das eigentliche schädliche Agens anzusehen. Wie häufig
die so hervorgerufenen Todesfälle sind, hat die Berufsgenossenschaft
der chemischen Industrie nachgewiesen. Von 32 Todesfällen durch
Vergiftungen infolge Einatmung nitroser Gase entfielen 13, also
mehr als ein Drittel, auf die Beseitigung verschütteter oder aus¬
gelaufener Salpetersäure.
Zwei hierfür besonders charakteristische Todesfälle aus dem
Jahre 1910 teilt der Gewerbeinspektor Ulrichs -Köln mit:
1. Eine galvanische Anstalt wurde verlegt. Eine aus der alten
Anlage mitgenommene Korbflasche mit etwa 30 Liter Salpetersäure
wurde vorübergehend im ersten Stocke der neuen Anlage auf den
mit Zementbelag versehenen Fußboden gestellt. Da sie bei der Auf¬
stellung von Apparaten im Wege stand, wurde sie von einem Lehr¬
ling an eine andere Stelle gebracht, wobei sie wahrscheinlich in¬
folge zu heftigen Aufsetzens auf den Fußboden zerbrach. Ein
Arbeiter, der schon länger in galvanischen Anstalten und Metall¬
brennereien tätig war, gab den Rat, man solle Sägemehl, das ja
in galvanischen Anstalten immer vorrätig ist, über die ausgelaufene
Salpetersäure streuen, um Beschädigungen des Fußbodens und des
darunter befindlichen Arbeitsraumes zu vermeiden. Das Sägemehl
70
Schnitze,
wurde auch über die Salpetersäure gestreut und dann von dem
Lehrling und einem 33 Jahre alten, anscheinend kräftigen, gesunden
Arbeiter sorgfältig zusammengekehrt und auf den Hof geschafft.
r Der Lehrling wurde schon während der Arbeit von Übelkeit
befallen, erholte sich aber bald wieder. Der erwachsene Arbeiter
war am selben Tage noch 5 Stunden im Betriebe tätig, ohne Be¬
schwerden zu haben, erkrankte aber am Abend und starb am
folgenden Tage infolge der Vergiftung durch nitrose Gase.
2. In einer Walzenfabrik wird Salpetersäure zum Ätzen von
Stahlwalzen benutzt. Die Säure wurde früher in Korbflaschen von
etwa 50 Liter Inhalt bezogen und in einem Keller gelagert, dessen
Fußboden aus gestampfter Erde besteht. In einer durch einen
Lattenverschlag getrennten Nebenabteilung des Kellers wurde der
Ölvorrat in Fässern aufbewahrt. Am Tage des Unfalls sollten
5 Korbflaschen von 2 Arbeitern über die etwas steile Treppe in
den Keller getragen werden. Dem vorn gehenden, schon von früher
her als unzuverlässig bekannten Arbeiter war das Tragen zu un¬
bequem, er zog die einzelnen Korbflaschen hinter sich her die Treppe
herab. Infolge dieser leichtsinnigen Beförderung zerbrach eine
Flasche und ihr Inhalt ergoß sich in den Keller.
Der sofort herbeigerufene kaufmännisch gebildete Teilinhaber
der Fabrik (der technisch gebildete Teilinhaber war verreist) ließ
Sägespäne aus der Tischlerei der Fabrik auf den mit Säure ge¬
tränkten Fußboden des Kellers streuen, und als keine Späne mehr
vorhanden waren, Müll und Asche aufschütten. Inzwischen fing
ein von der Salpetersäure getroffenes Holzgestell an zu brennen.
Erst jetzt kam man auf den richtigen Gedanken, Wasser in den
Keller zu schütten. Nachdem das Feuer erstickt war, glaubte der
Teilhaber, die Feuersgefahr von dem Öllager am besten dadurch
abzuhalten, daß er das Gemisch von Säure und Spänen, Asche und
Wasser aus dem Keller tragen ließ. An diesen Arbeiten, die etwa
2 Stunden in Anspruch nahmen, beteiligten sich der Teilhaber und
7 Arbeitnehmer. Diese Personen wurden zum Teil sofort, zum
Teile erst nach einigen Stunden von Übelkeit, Brustschmerzen und
Atemnot befallen. Keiner hielt es aber für nötig, sofort ärztliche
Hilfe in Anspruch zu nehmen. In der folgenden Nacht starben der
Teilhaber und ein Arbeiter, und im Laufe der nächsten Woche
zwei weitere Arbeiter, letztere trotz Krankenhausbehandlung. Ferner
mußten von den an den Aufräumungsarbeiten beteiligten Personen
1 Meister und 3 Arbeiter die Arbeit bis zu einer Woche aussetzen,
ohne jedoch dauernden Schaden zu erleiden. Der Nachtwächter
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
71
der Fabrik hatte in der auf den Unfall folgenden Nacht den Keller
mehrmals betreten, um sich zu überzeugen, ob die Feuersgefahr
beseitigt sei. Erst 2 Tage später stellten sich bei ihm Hals¬
schmerzen ein ; trotz Krankenhausbehandlung starb er nach 2 Wochen.
Hier war aber die Einatmung der nitrosen Gase wahrscheinlich
nicht die einzige Ursache des Todes, da der Nachtwächter bereits
Invalide war. Wiederholt wurden in anderen Betrieben Arbeiter,
die seit Jahren Salpetersäure verwenden, gefragt, was sie beim
Auslaufen von Salpetersäure tun würden. In der Regel antworteten
sie, sie würden Späne oder Sägemehl darauf streuen. Nur selten
dachten sie daran, die Säure mit Wasser zu verdünnen und fort¬
zuspülen.
Die schädliche Wirkung der nitrosen Gase auf den mensch¬
lichen Körper schildert Holtzmann:
Bei Prüfung der Frage, wie die Schädigung des Körpers
durch die Einatmung dieser giftigen Gase zustande kommt, stehen
sich 2 Anschauungen gegenüber. Die einen nehmen eine lokale
Reizung durch die Säure an und bezeichnen die stets gefundene
entzündliche Schwellung der oberen Luftwege und der Bronchien
als die eigentliche Ursache der Erkrankung, die unter den Er¬
scheinungen des Lungenödems häutig zum Tode führt. Andere
nehmen eine entfernte Ursache an, eine Allgemeinvergiftung des
Blutes durch die in den Lungen absorbierten giftigen Gase.
Eulenberg in seiner Monographie über die schädlichen und
giftigen Gase gibt an, daß die salpetrigsauren Dämpfe schnell in
das Blut übertreten und durch Veränderung der Blutbeschaffenheit
zur eigentlichen Todesursache werden. Ähnlich spricht sich
Heinzerling in Weyl’s Handbuch der Hygiene aus. Auch Roth
gibt an, daß die salpetrige Säure durch Methämoglobinbildung
(Methämoglobin ist das erste Zersetzungsprodukt des normalen
Sauerstoffhämoglobins) und Wirkung auf das Zentralnervensystem
tödlich wirke. Aus den Veröffentlichungen der letzten Jahre wäre
hier der Fall von Künne zu erwähnen, der von einer Massen¬
vergiftung durch Dämpfe aus geplatzten Ballons rauchender Salpeter¬
säure berichtet und ausdrücklich betont, daß die Veränderung der
Blutbeschaffenheit das wesentliche Moment bei der Vergiftung bilde,
während die entzündliche Affektion der Bronchien den geringsten
Anteil daran habe.
Auch Manouvrier, der Vergiftungen durch Erhitzung eines
Düngemittels beschreibt, das aus einer Mischung von Salpeter,
schwefelhaltiger Braunkohle und Wollab fällen bestand, spricht von
72 Schnitze,
einer vollständigen Durchdringung des Blutes durch die Säure¬
dämpfe, die zur Todesursache werde.
Demgegenüber betont schon Lewin in seinem Lehrbuche,
daß die Aufnahme der salpetrigsauren Dämpfe in das Blut nur in
geringem Maße statthabe. Kunkel spricht die entzündliche
Schwellung der Bronchien bis in die feinsten Verzweigungen hinein
als die primäre Todesursache an, die eine wässerige Durchtränkung
der Lunge (Lungenödem) hervorrufe und zum Erstickungstode
führe. Schmieden berichtet über den Fall eines Arbeiters, der
in die ausgelaufene Flüssigkeit eines geplatzten Salpetersäureballons
Sägespäne ausstreute. Hierdurch kam es zu einer stürmischen
Entwicklung von salpetriger Säure. Der Tod trat durch Lungen¬
ödem ein. Konkel veröffentlicht einen ähnlichen Fall. Auf
Grund seiner Tierversuche spricht er sich dahin aus, daß die
salpetrige Säure lokal auf die Lungen ohne erhebliche Allgemein¬
vergiftung wirke. Die entzündliche Schwellung verhindert den
normalen Gasaustausch des Blutes in den Lungen, das Blut gerinnt
in den kleinen Gefäßen (thrombosiert), hierdurch treten wieder
Rückstauungen im ganzen Körper auf, es kommt zur Exsudation
(Durchtritt des Blutserums durch die Gefäße), die ihrerseits wieder
die Atemnot erhöht und so zum Erstickungstode führt. Diese Er¬
fahrungen am Menschen scheinen auch die durch Tierexperiment
gewonnenen Resultate Lassar’s zu bestätigen; er führt aus, daß
die Salpetersäure zu den wirklich irrespirablen Gasen gehöre (d. h.
daß sie nicht von dem Körperkreislauf aufgenommen werde), da
sie in den Harnausscheidungen nicht nachweisbar sei.
Vielfach, auch in den Fällen von Künne, wird darauf hin¬
gewiesen, daß zwischen der Zeit der Einatmung der Dämpfe, wobei
sich Husten und Beengungsgefühle einstellen, die aber bald ver¬
schwinden, und dem Einsetzen schwerer Krankheitssymptome ein
mehrstündiges freies Intervall läge, während dessen die Patienten
sich völlig wohl fühlten. Dies war in unseren Fällen nicht einwand¬
frei nachzuweisen, da die Leute bis zum Auftreten schwerer Reiz¬
erscheinungen in der säuregeschwängerten Atmosphäre arbeiten.
Wohl aber wurde mir über diese Erscheinung von einer anderen
chemischen Fabrik berichtet, die sich mit der Herstellung von
Salpetersäure befaßt. Beim Platzen eines Säureballons treten bei
den dort arbeitenden Leuten erst nach Stunden, wenn sie zu Hause
sind, Krankheitserscheinungen auf. Todesfälle sind nicht vorge¬
kommen. Vielleicht hängt diese Späterkrankung mit der Blut¬
alteration zusammen.
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
73
Nach dem Befand in unseren Fällen muß es als feststehend
erscheinen, daß bei einer länger dauernden starken Einwirkung
salpetrigsaurer Dämpfe eine Ätzung der Luftwege zustande kommt,
besonders bei Individuen mit bestehender Erkrankung des Atmungs¬
apparates und des Herzens, die primär zum Tode führen kann.
Daneben findet aber auch eine allmähliche Veränderung des Blutes
statt. Durch Lassar’s oben erwähnte Versuche ist auch nach¬
gewiesen, daß die Säure bzw. das Salz nicht unverändert den
tierischen Organismus passiert. Die Stickstoffverbindung ver¬
schwindet im Stoffwechsel. Lassar selbst erschienen auch seine
Resultate, was die Salpetersäure anlangt, nicht beweisend. Er
schreibt: „Von der Salpetersäure mußte es von vornherein ungewiß
erscheinen, ob die entstehende Nitroverbindung als salpetersaures
Salz im Harne auftreten werde.“ In der Tat wäre es ja sonderbar,
wenn von den durch Nase und Rachen in die Luftwege einge¬
drungenen salpetrigsauren Dämpfen, die auch noch durch Speichel
in den Magen gelangen können (vgl. Fall 2), gar nichts resorbiert
würde. Die Säure mag zunächst als salpetrigsaures Natron im
Körper auftreten, dessen zersetzende Wirkung auf das Blut unter
Methämoglobinbildung bekannt ist.
Sehr wünschenswert ist es, daß bei frischen Fällen von
Salpetrigsäurevergiftung spektroskopische Blutuntersuchungen vor¬
genommen werden, um die noch nicht ganz gelöste Frage des
Grundes der schwarzen Blutfärbung zu erklären. Von der Unter¬
suchung des Leichenbluts ist nicht viel zu erwarten, da Methämo-
globin als das erste Zersetzungsprodukt des Oxyhämoglobins sich
in dem Blute jeder Leiche nach kurzer Zeit findet.
Zur Verhütung der Vergiftung finden sich in den Jahres¬
berichten der Königlich Preußischen Regierungs- und Gewerberäte
praktisch bewährte Dunstabzüge an folgenden Stellen mitgeteilt
1890 S. 216, 1897 S. 113, 1903 S. 68. Von diesen seien hier mit¬
geteilt:
1. 1897 S. 113, Len hoff’ sehe Metallbrenne (Fig. 1 u. 2). Die
Säuregefäße stehen unter einem Überfang erhöht, so daß sich die
Arbeiter beim Eintauchen der abzubrennenden Gegenstände nicht
über die Gefäße zu bücken brauchen. Die schweren nitrosen Gase
werden durch Öffnungen, weiche unmittelbar hinter den Säure¬
gefäßen in der Wand angebracht sind und bis zum Fußboden
reichen, abgesogen. Diese Anordnung ist sehr wichtig. Die Zug¬
wirkung wird durch ein etwa 25 m hohes Tonrohr hervorgebracht,
in welches auch die Heizgase der Glühöfen eingeleitet werden. Zur
74
Schnitze,
Fi g- 1-
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
75
Verstärkung des Zuges ist außerdem ein Korb mit brennendem
Koks in den Fuchs eingesetzt. Die Wirkung dieser Einrichtung
ist sehr gut. Der Brennraum ist auch bei starker Benutzung so
frei von Säuredämpfen, daß selbst empfindliche Personen keine
Reizung mehr verspüren.
2. 1903 S. 68. Die Brenngefäße sind in einem pultartigen
Digestorium aufgestellt, dessen obere Fläche verglast ist. Der
Arbeiter kann somit den Verlauf des Brennens genau beobachten,
ohne durch die aufsteigenden Dämpfe gefährdet zu sein. Diese
werden durch Schornstein und Lockflamme oder dgl. mit Sicherheit
abgeleitet, weil sie verhindert sind, sich zu verbreiten, und der
Schornstein innerhalb des engen Raumes des Pults einen kräftigen
Luftstrom zu erzeugen vermag. Die Ventilation wird noch wesent¬
lich durch Dampfstrahlen verstärkt, welche aus einer Abdampfleitung
dicht über dem Rande der Säuregefäße austreten, die Gase ver-
76 Schnitze,
dünnen, erwärmen und sie nach dem Schornstein treiben. Die
stärkste und somit gefährlichste Gasentwicklung geht beim Ansetzen
der frischen Säuren vor sich. Bei dieser Arbeit werden die Klappen
an der Stirnseite des Pults geschlossen und damit ein vollständiger
Abschluß der Brenngefäße erzielt.
Hinsichtlich der für die Prophylaxe vorgeschlagenen Mittel
seien unter anderen erwähnt: Holtzmann kommt zu dem Schlüsse,
daß in jeder Fabrik, in der Arbeiter den Dämpfen der Salpeter¬
säure ausgesetzt sind, vorher eine ärztliche Untersuchung der
Arbeiter stattfindet. Es soll verhindert werden, daß Arbeiter mit
Erkrankungen der Lunge und des Herzens eingestellt werden,
weil sie besonders leicht durch Einatmung der Dämpfe erkranken.
Daneben wäre noch nach dem Vorschläge Kunkel’s ein Spray¬
apparat mit doppeltkohlensaurem Natron bereit zu halten, wodurch
die eingeatmete Säure neutralisiert und ein Weiterschreiten der
Erkrankung verhindert wird. Dr. Seyfferth, Direktor der
Rheinisch -Westfälischen Sprengstoff- A.-G. in Troisdorf bei Köln, hat
die innerliche Anwendung von Chloroform im Betriebe erprobt.
Es werden 3 — 5 Tropfen in einem Glase Wasser alle 16 Minuten
genommen ; auch Krankenkassenärzte der Fabrik haben das Mittel
schon mit Erfolg angewandt. Juri sch empfiehlt, an jeder Arbeits¬
stätte einen genügenden Vorrat von Ammoniakfläschchen bereit zu
halten, um Ammoniak zum Schutze gegen Erkrankungen gegebenen
Falles einatmen zu können.
Von den gesetzlichen Maßnahmen zur Verhütung von Ver¬
giftungsfällen sind zu erwähnen: Der Polizeipräsident zu Berlin
hat am 21. November 1890 eine Polizeiverordnung über die Ein¬
richtung und den Betrieb von Metallbrennen erlassen und diese
später durch Grundsätze für die Aufbewahrung von Salpeter¬
säure ergänzt.
Der oben mitgeteilte Fabrikbrand infolge Auslaufens von
Salpetersäure, bei welchem 60 Mitglieder der Berliner Feuerwehr
erkrankten, hat die Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie
veranlaßt, besondere Vorschriften zum Schutze gegen die Wirkung
salpetriger (nitroser) Gase und im Zusammenhang damit speziell
für den Verkehr mit Salpetersäure zu erlassen. Diese sind ge¬
nehmigt vom Reichsversicherungsamte am 22. Juli 1899 und 16. Mai
1903, veröffentlicht im Reichsanzeiger vom 31. Juli 1899 und 19.
Juni 1903.
Die Gewerbeaufsichtsbeamten sind durch Erlaß des Ministers
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
77
für Handel und Gewerbe B. 11. 267 vom 2. Januar 1900 angewiesen,
die Durchführung dieser Vorschriften zu fördern.
Um auch den Arbeitern in Betrieben, welche der chemischen
Berufsgenossenschaft nicht angehören, über die Vergiftungsgefahren
aufzuklären, schlägt der Gewerbeinspektor Ullrichs -Köln vor, in
allen Betrieben, in denen Salpetersäure verwendet oder gelagert
wird, nicht nur in Metallbrennereien, die Verteilung eines Merk¬
blattes in folgender Fassung:
Salpetersäure Vorsicht!
Gefahr: Vergiftung durch nitrose, rotbraune Dämpfe, die beim
Verarbeiten der Säure und ihrer Mischungen und beim Verschütten
der Säure auf Metalle, Holz, Sägespäne, Sägemehl, Stroh, Erde usw.
entstehen.
Übelkeit, Halsschmerzen, Brustschmerzen, Atemnot, Be¬
klemmungen oft erst stundenlang nach dem Einatmen. Häufig Tod
sofort oder erst nach Wochen.
Feuersgefahr bei der Berührung von Säure mit brennbaren
Stoffen.
Beförderung der Säurebehälter nur durch erfahrene, gewissen¬
hafte Arbeiter, nicht Lehrlinge.
Aufbewahrung: vor Sonne geschützt, am besten zu ebener
Erde auf säurefestem, wasserundurchlässigen Fußboden aus Fliesen,
Steinplatten, Asphalt usw., nicht Holz oder Zement.
Möglichst kleiner Vorrat.
Kippvorrichtungen oder Abfüllvorrichtungen.
Näheres bei der Gewerbeinspektion.
Verwendung: Einatmen der Dämpfe vermeiden. Gute Dunst¬
abzüge über den Beizgefäßen der Metallbrennereien.
Näheres bei der Gewerbeinspektion.
Zerbrechen der Gefäße:
Verschütten der Säure: Am verkehrtesten Aufstreuen von
Sägespänen, Sägemehl, Asche, unreiner Erde usw.
Am besten Verdünnen und Fortspülen mit viel Wasser (auch
wohl Aufstreuen von ganz reinem ausgeglühtem Sande der später
mit Kalk, Ammoniak oder dgl. abzustumpfen ist). Alle Fenster
öffnen und den Raum so bald wie möglich verlassen.
Arzt aufsuchen, sobald giftige Dämpfe eingeatmet sind oder
Beschwerden auftreten. Gegenmittel an wenden.
Lungen- oder Herzkranke sind besonders gefährdet und sollen
78
Schultze,
die Beschäftigung mit Salpetersäure überhaupt vermeiden. Des¬
halb ärztliche Untersuchung vor Beginn der Beschäftigung.
In der allerjüngsten Zeit hat der Minister für Handel und
Gewerbe die königlich-technische Deputation für Gewerbe veranlaßt,
allgemeine Gesichtspunkte über die Einrichtung und den Betrieb
von Metallbrennereien auszuarbeiten. Diese sind durch Erlaß des
Ministers für Handel und Gewerbe III. 579 vom 8. Februar 1911
den Gewerbeinspektoren als Anhalt bei der Durchführung der Be¬
stimmungen der Gewerbeordnung §§ 120a ff. mitgeteilt und lauten:
Grundsätze für die gewerbepolizeiliche Überwachung der
Metallbeizereien (Metallbrennen).
1. Metallbeizereien (Metallbrennen) zum Beizen von Metallen
mit Salpetersäure müssen von den sonstigen Arbeits- und von
Wohnräumen durch dichte Wände abgetrennt und so angeordnet
sein, daß keine schädlichen Gase in andere Arbeits- und in Wolin-
räume gelangen können. Verbindungsöffnungen mit anderen
Arbeits- und mit Wohnräumen sind durch selbsttätig zufallende,
dicht schließende Türen geschlossen zu halten.
2. Der Fußboden der Beizerei ist aus säurebeständigem Stoff
(Steinplatten, harten Klinkern, Asphalt u. dgl.) nicht Zement, un¬
durchlässig und so herzustellen, daß Säure und säurehaltige Spül¬
wässer nach Sinklöchern ablaufen müssen. Der Anschluß des Fu߬
bodens an die Umfassungswände ist säurefest und so herzustellen,
daß letztere von Säure nicht zerstört werden können. Der Fu߬
boden und die Seiten wände müssen durch Abspritzen mit Wasser
dauernd sauber gehalten werden. Die Sinklöcher sind durch säure¬
beständige Rohrleitungen (glasierte Tonröhren u. dgl., nicht Zement¬
röhren) mit einem ebenfalls säurebeständigen Sammelbehälter zu
verbinden, in welchem sie vor weiterer Ableitung durch Kalk oder
auf andere Weise neutralisiert werden.
3. Die zum Beizen benutzten Säuregefäße müssen auf säure¬
festem Untergrund und, wenn nicht auf andere Weise für den
Schutz der Arbeiter gesorgt ist, so hoch aufgestellt werden, daß
die x4rbeiter durch die Säure und die Dämpfe möglichst wenig
gefährdet werden.
4. Metallbeizereien müssen durch Tageslicht und bei Dunkel¬
heit durch künstliche Beleuchtung so gut erhellt sein, wie es die
Sicherheit des Betriebes erfordert.
5. Die Säuredämpfe sind an der Entstehungsstelle in wirksamer
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
79
Weise abzufangen und so abzuführen, daß sie nicht in Wohn- oder
Arbeitsräume dringen können.
6. Das Ansetzen der Säure darf nur unter einem gut wirkenden
Abzug erfolgen. Bei Nichtbenutzung der Beizerei sind die Säure¬
gefäße dicht abzudecken.
7. In der Beizerei selbst dürfen organische Stoffe, wie Papier,
Holz, Stroh, Kohlen, Gewebe u. dgl. nicht aufbewahrt werden.
8. Jugendliche Arbeiter dürfen in der Beizerei nicht beschäftigt
werden. Den Beizarbeitern sind Schutzmittel wie Gummihandschuhe
oder dgl. zur Verfügung zu stellen.
9. Der Genuß von Branntwein ist in der Beizerei zu untersagen.
Personen, die zu übermäßigem Genüsse von Spirituosen neigen, sind
von der Beschäftigung in der Beizerei auszuschließen.
10. Als Gegenmittel gegen Einatmung von nitrosen Dämpfen
ist Chloroformwasser bereit zu halten und die Möglichkeit der
Sauerstoffatmung vorzusehen. Wo Einrichtungen der letztbezeich-
neten Art nicht vorhanden sind, ist durch Anschlag auf die Sauer¬
stoffapparate und Brat’schen Wiederbelebungsapparate der nächsten
Feuerwache hinzuweisen.
11. In jeder Beizerei ist auf die Gefahr der Vergiftung durch
Einatmung nitroser, rotbrauner Dämpfe mittels auffallenden An¬
schlags eindringlich aufmerksam zu machen und anzuraten, nach
Einatmung größerer Mengen dieser Dämpfe, auch bei scheinbarem
Wohlbefinden, sofort den Arzt aufzusuchen und Gegenmittel anzu¬
wenden.
12. Für den Anschlag wird folgender Wortlaut empfohlen:
„Vorsicht!
Die Dämpfe der Salpetersäure, besonders die rotbraunen, sind
giftig. Es ist lebensgefährlich, sie einzuatmen, da sie die Lunge
angreifen.
Nicht unter die Abzugshaube beugen!
Wer Säuredämpfe in größerer Menge eingeatmet hat, suche,
auch wenn er sich scheinbar wohlbefindet, sofort den Arzt auf.
Auslaufende Säure ist sofort mit viel Wasser zu verdünnen
und fortzuspülen.“
13. Eine nachahmenswerte Einrichtung zum Schutze der
Arbeiter gegen nitrose Gase, die sich allerdings nur für größere
Betriebe eignen wird, ist in der Zeitschrift des Vereins Deutscher
Ingenieure, Jahrgang 1910, Seite 1279 ff. beschrieben.
80 Schultze,
Die in Ziffer 13 erwähnte Einrichtung ist in dem Kabelwerk
Ob er spree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft ausgeführt.
Dr. Bender beschreibt sie:
Nach der von Dr. Fr. Adler gegebenen Beschreibung ist im
Beizraum ein Gerüst aus Eisen mit Laufschienen errichtet, auf dem
die Laufkatze a mittels des Kettentriebes b durch den ganzen
Baum gefahren werden kann. Mit der durch Hebel c bewegten
Winde hebt der Arbeiter den gefüllten Beizkorb d aus Aluminium
in die Höhe, führt ihn bis über die Aluminiumhaube e, öffnet deren
Deckel f1? der sich über dem Säuregefäße befindet, durch Druck
auf den Tritthebel und senkt den Kopf in das Beizgefäß nieder.
Fig. 4.
Innenansicht.
Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.
Der Deckel f, hat sich inzwischen durch Gesichtsbelastung wieder
selbsttätig geschlossen. Nachdem die Beize die Oxydschichten von
den Metallteilen abgelöst hat, hebt der Arbeiter den Beizkorb aus
der Säure in den Bereich der Aluminiumhaube hinauf, fängt mit
dem schwingbaren Hebel h die Hängestange i aus Aluminium ab
und schüttelt durch Hin- und Herstoßen des Hebels h die an¬
haftenden Säuretropfen vom Beizkorb ab. Alsdann führt er den
Beizkorb in das Wassergefäß über, spült durch schnelles Hin- und
Herdrehen der Windenkurbel die Teile in dem kalten Wasser gut
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
81
ab und hebt den Korb durch die selbsttätige Klappe nunmehr ganz
aus der Haube e heraus.
Die gesamte Gasentwicklung spielt sich also in einem völlig
von der Aluminiumhaube umschlossenen Raume ab, der nur einen
schmalen Längsschlitz für den Durchgang der Hängestange hat.
Diese Haube ist durch eine Tonleitung und zwei Tontöpfe an einen
tönernen Exhaustor 1 angeschlossen, der die Abgase aus der Haube
kräftig absaugt und in einen Sternplattenturm m hineindrückt.
Die Absaugung geschieht so gründlich, daß zu keinem Zeitpunkte
des Arbeitsvorganges Stickstoffdioxyde in den freien Raum austreten.
Qneran sicht.
Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.
Das Beizgut wandert mit Hilfe des Kranes in das benachbarte
Heißwassergefäß, das aus zwei Steinzeugtrögen mit Aluminium¬
haube besteht. Die unter der Haube entstehenden Wasserdämpfe
werden durch natürlichen Zug des Schornsteins über Dach entführt.
Aus dem Heißwasser ausgehoben, trocknet das Beizgut durch die
Eigenwärme schnell ab und wird in bereitstehende Förderkästen
entleert.
Der Exhaustor leistet mit 1,5 PS. und 1500 Umläufen in der
Archiv für Soziale Hygiene. VII. ß
82
Schnitze,
Minute 40 cbm bei einem größten Widerstande von 70 mm Wasser¬
säule. Das Flügelrad hat einen Durchmesser von 400 mm; es ist
unmittelbar mit einem Elektromotor q gekuppelt, der außerhalb des
Gebäudes Aufstellung gefunden hat.
Exhaustor und Sternplattenturm sind von den Deutschen Ton-
und Steinzeugwerken Aktiengesellschaft hergestellt worden. Das
Aluminiumrohr, welches das Kaltwasser dem Spülbottich unter der
Haube e zuführt, ist als Schnecke in den Beizbottich eingelegt und
kühlt dadurch die Beize. Je kühler aber in gewissen Grenzen
diese Beize ist, desto geringer ist auch die Abgasentwicklung.
Auf diese Weise kommt der Arbeiter mit den Abgasen gar
nicht in Berührung. Um aber auch eine Benetzung des Arbeiters
mit der Säureflüssigkeit oder mit dem Spülwasser zu vermeiden,
sind die Felder des Krangeriists durch eine Aluminiumwand ge¬
schlossen. Die Vorgänge hinter dieser Wand sind dem Arbeiter
bequem durch die eingelegte Fensterreihe sichtbar. Als seitliche
Begrenzung dienen gleichfalls Aluminiumwände mit Türen.
Metallbrenne des Kabelwerks Oberspree der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft.
Der Fußboden der ganzen Halle ist mit säurefesten Steinen
ausgelegt und wird täglich mehrmals aus zwei Hydranten abge¬
spült. Die- Wände sind nach dem Streichen mit Farbe noch mit
einem heißen Überzüge von Paraffin versehen worden. Der Baum
wird durch eine lange Rinne w und drei Gullys nach einer alka¬
lischen Grube entwässert. Zur Schonung der Leitungen ist ein
Beitrag zur Vergiftung durch nitrose Gase.
Rührgefäß x angebracht, das dauernd Kalkmilch in die Leitungen
befördert.
Die Salpetersäure im Beizbottich wird täglich durch Nach-
f üllen neuer Säure aufgefrischt. Dies geschieht in der Weise, daß
der Gasballon a, der in einen Korb eingebettet ist, auf den ab¬
nehmbaren Holztisch b des Kaltwassergefäßes n gehoben und mit
der Holzhaube c überdeckt wird, die Schutz gewähren soll, falls
etwa beim Platzen eines Ballons Säure herausspritzt. Alsdann
wird der Aluminiumheber d eingesetzt und seine Röhre durch ein
Kolbenspiel mit der Säure gefüllt, die darauf selbsttätig in den
Beizbottich überströmt. An Stelle des Saughebers wird neuerdings
eine Luftdruckpumpe benutzt, mit dem Vorteile, daß der Gasballon
nicht überhöht aufgestellt zu werden braucht.
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 5. November 1910.
Herr E. S o mm er-Gießen trägt vor über wl)ie Psychiatrie in den Yor-
entwiirfen für die neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich1**.
Nachdem in kurzer Aufeinanderfolge in der zweiten Hälfte des Jahres 1909 die
Vorentwürfe für die neuen Strafgesetzbücher in Deutschland und Österreich er¬
schienen sind, liegt es nahe, diese Entwürfe untereinander und mit den zurzeit
noch geltenden Gesetzbüchern zu vergleichen und zu sehen, welche Entwicklungs¬
richtungen sich in den Entwürfen zeigen, und wie diese vom kriminalpsycho¬
logischen und psychiatrischen Standpunkt aus zu beurteilen sind. Dabei be¬
schränke ich mich hier ausschließlich auf die psychiatrische Seite der Sache
mit einigen Ausblicken in das allgemeine kriminalpsychologische Gebiet. Wir
wollen unter Ausschaltung einer Eeihe von anderen Bestandteilen hier der Be¬
urteilung folgende Punkte unterziehen: I. Ausschluß der Strafe infolge von
Geistesstörung, II. Die Behandlung der sog. Gemindert-Zurechnungsfähigen, III.
Die Behandlung der Jugendlichen, IV. Die Behandlung der Alkoholisten, V. Die
Sicherungsmaßregeln im allgemeinen, VI. Die Behandlung der Sittlichkeitsver¬
brecher, besonders der Homosexuellen.
Wir wenden uns zunächst zu: I. Ausschluß der Strafe infolge Geistesstörung
(vgl. zu dem folgenden meinen Aufsatz in „Der Staatsbürger“ vom Juni 1910
Seite 203 u. f.). „Um die psychiatrischen Begriffe im Vorentwurf des neuen
deutschen Strafgesetzbuches zu beurteilen, empfiehlt es sich, von dem geltenden
Eecht auszugehen, die alten und neuen Bestimmungen miteinander zu vergleichen
und sie vom Standpunkte der psychiatrischen Erfahrung zu betrachten. Dabei
beschränken wir uns hier auf den Ausschluß von Strafe infolge von geistiger
Störung. Der § 51 des jetzigen deutschen Eeichsstrafgesetzbuches lautet: „Eine
strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur Zeit der Begehung
der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder krankhafter
Störung der Geistestätigkeit befand, durchweichen seine freie Willensbestimmung
ausgeschlossen war.“ In dieser Fassung kommt der Begriff des „Zurechnens“
oder der „Zurechnungsfähigkeit“ überhaupt nicht vor, sondern es wird gesagt:
ö Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 31 u. 32
der „Medizinischen Eeform“, 1910, herausg. von E. Lennhoff.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 85
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn . . .“ Die Anwendung des
Ausdrucks „Zurechnungsfähigkeit“ geht also im Grunde übe^ diesen Wortlaut
hinaus. Es ist daher vor Gericht zweckmäßig, sich streng an die Fassung des
Gesetzes zu halten.
Wesentlich in der Fassung dieses Paragraphen sind folgende Punkte : I. Es
steht zur Beurteilung, in welchem Zustande der Täter zur Zeit der Begehung
der Handlung gewesen ist. Der Psychiater wird zwar immer von dem Zustande
des Täters zur Zeit seiner Beobachtung ausgehen, muß aber dann versuchen, aus
dieser und aus dem Gesamtinhalt der Akten, eventuell auch aus neuen von ihm
veranlaßten Erhebungen, rückwärts zu schließen, wie der Zustand zur Zeit der
Handlung war. II. Die psychiatrischen Leitbegriffe des § 51 des Beichsstraf-
gesetzbuches sind : „Bewußtlosigkeit oder krankhafte Störung der Geistestätigkeit.“
Jede Bewußtlosigkeit ist, wenn man von dem normalen Schlaf ab sieht, eine krank¬
hafte Störung der Geistestätigkeit, so daß die besondere Hervorhebung des Be¬
griffes überflüssig erscheinen könnte. Sie ist im wesentlichen geschichtlich ver¬
ständlich, da vorübergehende Bewußtlosigkeit erst allmählich als krankhafte
Störung der Geistestätigkeit erkannt wurde und es nötig erschien, diese neue
Erkenntnis besonders auszudrücken. Nachdem sich die Erkenntnis jetzt in den
Anschauungen der Arzte und Juristen sowie weiterer Kreise gefestigt hat, wäre
ihre Hervorhebung eigentlich nicht mehr nötig. Im jetzigen Gesetz steht neben
der Bewußtlosigkeit: „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“, also ein allge¬
meiner Begriff,1) nicht — wie in einer Beihe von älteren Gesetzbüchern — eine
besondere psychiatrische Gruppe.
III. Der Zustand von Bewußtlosigkeit oder krankhafter Störung der Geistes¬
tätigkeit wird in § 51 des Beichsstrafgesetzbuches durch den Belativsatz einge¬
schränkt: . . .„durch welchen seine (des Täters) freie Willensbestimmung ausge¬
schlossen war“. Dieser Zusatz soll die Bechtspflege vor Ausschreitungen der
Psychiatrie bewahren und wird in diesem Sinne vor Gericht angewendet, bedingt
aber sehr oft völlig nutzlose Streitigkeiten. Der Zusatz gibt im Grunde weder
einen psychiatrischen noch einen juristischen, sondern einen rein philosophischen
Begriff, ruft so außerordentlich viele Zweifel und Widersprüche hervor, und ver¬
wirrt die gerichtliche Psychiatrie mehr, als er sie klärt. Ich habe in dem Buche
über Kriminalpsychologie eingehend über die Frage gehandelt und die Unnötig-
keit des Zusatzes nachgewiesen. Das Strafrecht wird durch ihn auf den schwan¬
kenden Boden der philosophischen Spekulation gestellt, während es fest auf der
Grundlage praktischer und psychologischer Erfahrung stehen soll.
Wie verhält sich nun zu diesen Punkten die Fassung im neuen Entwurf?
Sie lautet: (§ 63) „Nicht strafbar ist, wer zur Zeit der Handlung geisteskrank,
blödsinnig oder bewußtlos war, so daß dadurch seine freie Willensbestimmung
ausgeschlossen wurde“.
Es ergibt sich folgender Vergleich. Die einleitende Formel : „Eine strafbare
Handlung ist nicht vorhanden“ ist verändert in „Nicht strafbar ist, wer . . .“
Im übrigen zeigt sich folgendes:
Zu I, Der Hinweis auf die Zeit der Handlung ist festgehalten, was durch¬
aus zu billigen ist. Es liegt hier eine bestimmte praktisch wichtige Forderung
für die Begutachtung vor.
1 ) Vgl. die Motive zu dem Entwurf eines Strafgesetzbuches für den Nord¬
deutschen Bund. Berlin 1869, zu § 46, S. 100.
86 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
II. Die psychiatrischen Begriffe sind zum Teil festgehalten, zum Teil modifi¬
ziert, zum Teil vermehrt. Geblieben ist die Hervorhebung der Bewußtlosigkeit.
Modifiziert ist der Ausdruck: „Krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ in
„Geisteskrankheit“. Hinzugekommen ist der Begriff: „Blödsinn“. Neben der
Hervorhebung der Bewußtlosigkeit erscheint der Begriff „Geisteskrankheit“ all¬
gemein genug, um über die Art der Störung nichts im voraus zu bestimmen,
auch ist er zugleich als Anpassung an den psychiatrischen Sprachgebrauch an¬
nehmbar. Dagegen erweckt der neue Ausdruck „Blödsinn“ lebhafte Bedenken.
Geschichtlich bedeutet er eine Wiederaufnahme der in dem geltenden Beeilt be¬
seitigten früheren Gesetzgebung, in welcher „Blödsinn“ neben „Wahnsinn“ als
Strafausschließungsgrund genannt war. Prüft man ihn vom Standpunkte der
klinischen Erfahrung und Ausdrucksweise, so ergibt sich folgendes: Wir reden
z. B. von paralytischem oder epileptischem Blödsinn, auch von Verblödungs¬
prozessen, womit besonders die Verlaufsart des sogenannten primären Schwachsinns
(dementia präcox) bezeichnet wird. In allen diesen Fällen ist Blödsinn eine be¬
sondere symptomatische Gruppe innerhalb der Geisteskrankheit, so daß im neuen
Entwurf durch die Zusammenstellung: Geisteskrankheit, Blödsinn usw. nach dem
Ganzen ein Teil genannt wird, was als unlogische Gleichstellung erscheint. Dies
gilt auch für den Fall, daß unter „Blödsinn“ entgegen dem in der modernen
Psychiatrie herrschenden Sprachgebrauch angeborener Schwachsinn verstanden
werden sollte, da auch in diesem Falle durch das Wort Blödsinn nur eine be¬
sondere Gruppe von Geisteskrankheiten hervorgehoben werden würde. Der Aus¬
druck hätte nur einen Zweck, wenn er einen geringeren Grad von Geisteskrank¬
heit, d. h. Geistesschwäche im Sinne des BGB. ausdrücken könnte, was nicht der
Fall ist. Somit ist er in jeder Beziehung falsch und wird praktisch die größten
Mißverständnisse hervorrufen, da er mit den Ausdrücken des psychiatrischen
Unterrichts in völligem Widerspruche steht.
Nach den Motiven zu dem Vorentwurf haben die Verfasser anscheinend den
zweiten der eben genannten Fälle im Sinne gehabt, was aus den Bemerkungen
zu § 63, S. 227, hervorgeht. Die betreffende Stelle lautet:
„Unter Vermeidung des Ausdrucks „Unzurechnungsfähigkeit“ bezeichnet der
Entwurf als die erwähnten abnormen Zustände, welche die Zurechnungsfähigkeit
ausschließen können, „Geisteskrankheit“, „Blödsinn“ und „Bewußtlosigkeit“. Diese
Fassung ist bereits von ärztlicher Seite gebilligt. Zugleich ist von beachtens¬
werter juristischer Seite auf ihre Einfachheit und Gemeinverständlichkeit hinge¬
wiesen worden. Der bisher im Gesetz enthaltene Ausdruck „krankhafte Störung
der Geistestätigkeit“ ist in Wegfall gekommen. Er wurde gewählt, um nicht nur
die eigentlichen Geisteskrankheiten, sondern auch Entwicklungshemmungen, wie
Blödsinn oder geistige Entartungszustände, oder mit geistigen Störungen ver¬
bundene körperliche Leiden, wie Fieberdelirien, Nervenkrankheiten, zu umfassen.
Alle diese Krankheitszustände fallen, mögen sie chronisch oder vorübergehend
sein, unter eine der gewählten drei allgemeinen Bezeichnungen. Unter den Be¬
griff der Bewußtlosigkeit können insbesondere auch hypnotische Suggestion und
Trunkenheit fallen. Insoweit bejaht also der Entwurf die Frage, ob die Trunken¬
heit als ein Zustand der Unzurechnungsfähigkeit angesehen werden kann.“ Nach
obigen Ausführungen ist jedoch zu erwarten, daß der Begriff „Blödsinn“ neben
„Geisteskrankheit“ vor Gericht verwirrend wirken wird, so daß er besser wegge¬
lassen wird. Auch eine besondere Hervorhebung des „angeborenen Schwachsinns“
ist unnötig, da dieser ebenfalls nur einen Teil der Geisteskrankheit darstellt.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 87
IV. Der Zusatz betr. die freie Willensbestimmung ist beibehalten, obgleich
diese Fassung-, wie bisher, auch in Zukunft nutzlose Streitigkeiten hervorrufen
wird. Will man den tatsächlichen Kern der Sache ausdrücken, so müßte der Zu¬
satz lauten: „durch welchen (Zustand) die Handlung bedingt ist.“ Hierdurch
würden die Gutachter nochmals dringlich auf die Untersuchung der Handlung,
ihrer Motive, ihre Besonderheiten, ihrer Bedingungen hingewiesen, während zur¬
zeit noch manche psychiatrische Gutachten gerade dadurch einen Fehler begehen,
daß sie zu allgemein die Frage der Geisteskrankheit behandeln, ohne die straf¬
rechtlich doch in erster Linie wichtige Handlung selbst gründlich vom psycho¬
logischen Standpunkte zu betrachten.“ — Vergleichen wir nun mit dem deutschen
Gesetzentwurf die entsprechenden österreichischen Bestimmungen, so gehört zu¬
nächst hierher der § 2 ÖBStrGB., welcher folgendermaßen lautet:
„Daher wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zuge¬
rechnet:
a) wenn der Täter des Gebrauches der Vernunft ganz beraubt ist,
b) wenn die Tat bei abwechselnder Sinnenverrückung zu derZeit, da die Ver¬
rückung dauerte, oder
c) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung
(§§ 226 und 523) oder einer anderen Sinnenverwirrung, in welcher der
Täter sich seiner Handlung nicht bewußt war, begangen worden,
d) wenn der Täter noch das vierzehnte Jahr nicht zurückgelegt hat (§§ 237
und 269) usw. —
Die Leitbegriffe in diesen Bestimmungen sind folgende:
1. des Gebrauches der Vernunft beraubt sein,
2. abwechselnde Sinnenverrückung,
3. Berauschung, wenn diese ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogen ist,
4. Sinnenverwirrung, in welcher der Täter sich seiner Handlung nicht be¬
wußt war.
Es ist psychiatrisch erkennbar, daß die Bestimmungen unter b und c sozu¬
sagen eine Kasuistik oder besser eine Hervorhebung mehrerer Einzel gruppen
bedeutet, die in dem deutschen Gesetze unter dem allgemeinen Begriffe der Be¬
wußtlosigkeit zusammengefaßt sind. Im übrigen erscheint der Leitbegriff des
deutschen Gesetzes: „Krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ viel allgemeiner
als der im österreichischen Gesetz enthaltene Begriff des Gebrauchs der Vernunft
beraubt sein“. Letzterer bedeutet nur einen besonderen Fall innerhalb des
größeren Gebietes, das in dem deutschen Gesetz durch die krankhafte Störung
der Geistestätigkeit bezeichnet wird. Diese Feststellungen entsprechen dem Gang
der geschichtlichen Entwicklung in diesem Gebiet der gerichtlich-psychiatrischen
Begriffe. In den früheren Gesetzgebungen waren in der Begel nur bestimmte
psychiatrische Einzelfälle genannt, bei denen eine Zurechnung der Handlung
als strafbar nicht erfolgte. Die Bildung eines allgemeinen Begriffs: „Krank¬
hafte Störung der Geistestätigkeit“ oder „Geisteskrankheit“ ist eine spätere Er¬
scheinung. In meinem Buch über Kriminalpsychologie habe ich in dem Kapitel
über die psychiatrischen Begriffe in einer ganzen Reihe von deutschen Strafgesetz¬
büchern diese eigentümliche Entwicklung von den besonderen Ausnahmefällen zu
dem zusammenfassenden Begriff nachgewiesen.
Vom Standpunkte der vergleichenden Begriffsgeschichte erscheint daher die
geltende österreichische Bestimmung von vornherein älter als die des geltenden
deutschen Rechtes. Untersucht man die Entstehung der beiden Gesetzbücher, so
88 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
bestätigt sich diese Auffassung als richtig. Das österreichische Gesetz ist gültig
vom 27. Mai 1852, erscheint jedoch sachlich nur als eine wenig veränderte und
zum Teil ergänzte neue Auflage des älteren Strafgesetzbuches, das unter Kaiser
Franz II. im Jahre 1803 zur Herrschaft kam. Geschichtlich entsprechen die
kasuistischen Gruppen psychiatrischer Art dem damaligen Zustand der Psychiatrie
im allgemeinen. Das geltende deutsche Strafgesetzbuch stammt scheinbar vom
Jahre 1870, war aber in Wirklichkeit schon vorher im Norddeutschen Bunde
gültig und entspricht im wesentlichen dem im Jahre 1867 geschaffenen Gesetz.
Es liegt also zwischen den Bestimmungen des österreichischen und deutschen Ge¬
setzes ein Zeitraum von mehr als 60 Jahren. Dies erklärt, wenn man die unter¬
dessen weiter fortgeschrittene Entwicklung der Psychiatrie betrachtet, die Ver¬
schiedenheit der Begriffe sehr gut.
Von vornherein hatte also Österreich bei seinem Vorentwurf eine längere
Periode von psychiatrischer Begriffsbildung in Form eines Gesetzes nachzuholen,
als der deutsche Vorentwurf, der ungefähr 43 Jahre nach der eigentlichen Ent¬
stehung des jetzigen DRStrGB. zustande gekommen ist.
Es fragt sich nun, welcher von den beiden Entwürfen dem gegenwärtigen
Zustand der psychiatrischen Forschung am besten entspricht. Der § 3 des ÖE.,
der sich unter der Überschrift „Zurechnungsfähigkeit“ findet, lautet: „Nicht strafbar
ist, wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewußt¬
seinsstörung nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder
seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.“
Hier finden sich die psychiatrischen Leitbegriffe Geistesstörung, Geistes¬
schwäche, und bzw. oder Bewußtseinsstörung. Es stimmt demnach diese Fassung
in zwei Begriffen, nämlich „Geistesstörung“ und „Bewußtseinsstörung“
mit dem geltenden deutschen Recht und auch dem deutschen Vorentwurf im
wesentlichen überein, da sich in diesen die Ausdrücke „Krankhafte Störung der
Geistestätigkeit“ in § 51 des RStrGB. und „Geisteskrankheit“ im deutschen Vor¬
entwurf § 63 finden, ebenso wie der Ausdruck „Bewußtlosigkeit“ in letzterem an
dritter Stelle.
Einen wesentlichen Unterschied zeigen die Vorentwürfe in bezug auf den
an zweiter Stelle genannten Ausdruck: im DE. „Blödsinn“, im ÖE. „Geistes¬
schwäche“. Aus der oben durchgeführten kritischen Behandlung des DE. ist zu
erkennen, daß der Ausdruck „Blödsinn“ vom Standpunkt der psychiatrischen
Wissenschaft entschieden abzulehnen ist, da er bei seiner eventuellen Einführung
Verwirrung stiften würde, so daß es jedenfalls besser wäre, nur „Geisteskrank¬
heit“ und „Bewußtlosigkeit“ zu nennen. Nun steht in dem österreichischen Ent¬
wurf noch der Begriff der Geistesschwäche, den wir oben als geeignet bezeichnet
haben, um die geringeren Grade von Geistesstörung entsprechend der Bedeutung
des § 6 Ziffer 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich auszu¬
drücken. Wenn der Ausdruck in diesem Sinne verstanden wird, wäre es sehr
zweckmäßig, ihn in das deutsche Gesetz aufzunehmen. Wenn ferner der Begriff
der Geistesschwäche im § 3 des österreichischen Entwurfs entsprechend definiert
würde, so wäre dadurch im wesentlichen eine völlige Übereinstimmung
der deutschen und österreichischen Gesetzgebung in diesem
fundamentalen psychiatrischen Punkte erreicht.
Allerdings ist noch ein Unterschied des § 63 des deutschen Entwurfs und
des «j 3 des österreichischen Entwurfs vorhanden. In dem ersteren ist der Zusatz
gemacht: „So daß dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde“.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 89
Im letzteren kommt der Zusatz: „Nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner
Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen“. Ver¬
gleichen wir zunächst die psychologische Bedeutung dieser Zusätze , so ist er¬
sichtlich, daß der Zusatz im geltenden deutschen Hecht und im deutschen Ent¬
wurf mit seiner metaphysischen Hypothese der „freien Willensbestimmung“ sehr
geeignet ist, Verwirrung zu stiften, wie dies bisher unter der Herrschaft des
geltenden Rechtes in reichlichem Maße geschehen ist. Der Zusatz im öster¬
reichischen Entwurf vermeidet diese unklare spekulative Ausdrucksweise und gibt
bestimmte Kriterien an, die vorhanden sein müssen, verfährt dabei also ent¬
schieden mehr im empirisch-psychologischen Sinne, indem er zwei Fälle hervor- '
hebt: nämlich die Fähigkeit 1. das Unrecht einer Tat einzusehen, oder 2. den
Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Es ist klar, daß im Hinblick auf
die psychiatrische Erfahrung hiermit einerseits intellektuelle Störung, andererseits
Störungen der Willenssphäre, wie wir sie z. B. bei katatonischen Handlungen,
ferner bei Zwangszuständen, sowie in dem großen Gebiet des Schwachsinns finden,
berührt sind. Von den beiden Fassungen des Zusatzes im deutschen und öster¬
reichischen Entwurf ist entschieden der in letzterem gegebene praktisch brauch¬
barer, weil er die theoretischen Streitigkeiten zwischen Staatsanwälten und Sach¬
verständigen ansschließt und klare psychologische Kriterien gibt. Der öster¬
reichische Entwurf leidet andererseits daran, daß der betr. Zusatz nur bestimmte
Einzelmomente psychologischer Art hervorhebt, die eigentlich im einzelnen Fall
nichts anderes sind, als Symptome der Krankheit, neben denen ebensogut
andere Symptome hervorgerufen werden könnten. Ich kann daher eine psychia¬
trische Notwendigkeit, einen solchen Zusatz zu machen, überhaupt weder für den
deutschen noch für den österreichischen Entwurf anerkennen, und empfehle, ihn
aus beiden Entwürfen völlig zu entfernen. Ich komme daher aus dieser weiteren
Vergleichung zu dem gleichen Schluß, wie oben bei der Beurteilung des deutschen
Gesetzes und deutschen Entwurfes, und schlage für beide Strafgesetze die folgende
Fassung vor: „Die Handlung ist nicht strafbar, wenn sie durch einen Zustand von
Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Bewußtlosigkeit bedingt war.“
Nachdem in den letzten Jahrzehnten der Begriff der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit vielfach erörtert worden ist, erscheint es erklärlich, daß der¬
selbe nunmehr anfängt, in die Entwürfe der neuen Strafgesetzbücher einzudringen.
Allerdings handelt es sich dabei im Grunde um das Wiederauftauchen von Vor¬
stellungen, die in der früheren Psychiatrie zum Teil schon vorhanden waren,
jedoch noch nicht eine solche Klarheit und Sicherheit erlangt hatten, um in die
Strafgesetzgebung der 60er Jahre einzudringen. Daraus erklärt es sich, daß eine
Bestimmung im deutschen RStGB. in dieser Beziehung völlig fehlt, während in
dem viel älteren österreichischen RStGB. wenigstens schon Andeutungen vorhanden
sind. Der Keim des Begriffes ist eigentlich schon in den alten Bestimmungen
über Milderungsumstände gegeben, soweit diese subjektiver Natur sind, d. h.
in dem Geisteszustand des Täters beruhen. Sehr interessant sind in dieser Be¬
ziehung die Milderungsgründe aus der Beschaffenheit des Täters, die im § 46 des
österreichischen RStGB. vorhanden sind. Dieser lautet: „Milderungsumstände,
welche auf die Person des Täters Beziehung haben, sind: a) wenn der Täter in
inem Alter unter 20 Jahren, wenn er schwach an Verstand, oder seine Erziehung
sehr vernachlässigt worden ist; b) wenn er vor dem Verbrechen eines untadel¬
haften Wandels gewesen; c) wenn er auf den Antrieb eines Dritten, aus Furcht
oder Gehorsam das Verbrechen begangen hat; d) wenn er in einer aus dem ge-
90 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
wohnlichen Menschengefühle entstandenen heftigen Gemütsbewegung sich zu dem
Verbrechen hat hinreißen lassen; e) wenn er mehr durch die ihm aus fremder
Nachlässigkeit aufgestoßene Gelegenheit zum Verbrechen angelockt worden ist,
als sich mit vorausgefaßter Absicht dazu bestimmt hat; f) wenn er von drücken¬
der Armut sich zu dem Verbrechen hat verleiten lassen; g) wenn er den ver¬
ursachten Schaden gut zu machen, oder die weiteren Folgen zu verhindern, mit
tätigem Eifer sich bestrebt hat; h) Avenn er, da er leicht entfliehen oder unent-
deckt hätte bleiben können, sich selbst angegeben und das Verbrechen bekannt;
i) wenn er andere verborgene Verbrecher entdeckt und zu ihrer Einbringung
Gelegenheit und Mittel an die Hand gegeben hat; k) wenn er wegen der ohne
sein Verschulden verlängerten Untersuchung durch längere Zeit verhaftet war.“
In dieser Zusammenstellung ist der kasuistische Charakter, der auch die
psychiatrischen Bestimmungen im § 2 dieses Gesetzes (Gründe, die den bösen
Vorsatz ausschließen) beherrscht, deutlich erkennbar. In vorliegendem Zusammen
hang kommen für uns besonders die Bestimmungen des § 46 a, b, c, d in Be¬
tracht. Bei a handelt es sich um die Voraussetzung eines Alters von unter 20
Jahren, um Schwäche des Verstandes und Vernachlässigung der Erziehung; bei
b um den Widerspruch der Tat mit dem früheren untadelhaften .Wandel, ein
Kriterium, das vielfach auf das Auftreten von psychopathischen Zügen deutet;
bei c und d um bestimmte Arten von starken Affekten. Bei e wird in praktisch
sehr bedeutungsvoller Weise der Fall behandelt, daß die äußeren Momente einen
Menschen zum Verbrechen anlocken, während es sich bei dieser Gelegenheit
eigentlich um fremde Nachlässigkeit und nicht um eine vorausgefaßte Absicht
handelt.
Es ist erkennbar, daß es sich in diesen Bestimmungen um eine ganze Reihe
von empirisch-psychologischen Beobachtungen im Gebiet der Kriminalistik handelt,
die ihre eigentliche Wurzel in der Erfahrungsseelenlehre am Ende des
18. Jahrhunderts haben. Wie diese im allgemeinen Gebiet der Psychologie in den
ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts immer mehr von spekulativen
Momenten überwuchert und in den Hintergrund gedrängt worden ist, so hat auch
die Psychologie der mildernden Umstände, soAveit es sich um subjektive
Momente handelt, im Laufe des vorigen Jahrhunderts eigentlich eine Rück¬
bildung erfahren. Es ergibt sich daraus der merkwürdige Tatbestand, daß in
dieser Beziehung das alte österreichische Gesetz, das aus dem Anfang des vorigen
Jahrhunderts stammt, und in dem sich eine Reihe von psychologischen Beobach¬
tungen der vorangegangenen Jahrzehnte niedergeschlagen hat, in dieser Beziehung
entschieden inhaltsreicher ist, als das in den psychiatrischen Grundbegriffen weiter
vorgeschrittene deutsche RStGB., dessen eigentliche Entstehung in den 60 er Jahren
liegt. In diesem eigenartigen sozusagen gekreuzten Verhältnis ist die Beziehung
der Strafgesetzbücher zu der allgemeinen psychologischen Entwicklung deutlich
ersichtlich, was uns ein Beispiel für die Abhängigkeit der kriminalpsychologischen
Entwicklung von dem Werdegang der wissenschaftlichen Psychologie und Psycho¬
pathologie bietet. Geschichtlich ist der Zusammenhang so, daß sich aus der Er¬
kenntnis der subjektiven Momente immer mehr Einsichten in eine Reihe von
Geisteszuständen geboten haben, die eine Mittelstufe zwischen der ausgeprägten
Geisteskrankheit und der Geistesgesundheit darstellen.
Im Hinblick auf die strafrechtliche Bewertung ist diese Gruppe von Geistes¬
zuständen in den letzten Jahrzehnten dann namentlich unter dem Begriff der
„geminderten Zurechnungsfähigkeit“ zusammengefaßt Avorden. Da ich ein er-
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 91
klärter Anhänger derjenigen Bestrebungen bin, die auf eine Anerkennung dieser
Mittelzustände zwischen Geisteskrankheit und Geistesgesundheit in den Straf¬
gesetzbüchern hinausarbeiten, so werde ich hoffentlich nicht mißverstanden, wenn
ich den sprachlichen Ausdruck „geminderte Zurechnungsfähigkeit“ hier
nochmals entsprechend meinen Ausführungen in dem Buch über Kriminalpsycho¬
logie (vgl. S. 276) kritisch betrachte. Ursprünglich kommt in den alten Gesetz¬
büchern der Ausdruck vor , „jemandem eine Handlung als strafbar zurechnen“ ;
der Zurechnende ist also der Richter, und der Ausdruck Zurechnungsfähigkeit
bedeutet sprachlich und logisch eigentlich die Fähigkeit, jemandem eine Handlung
zuzurechnen. Nur durch eine völlig unlogische Verwechslung von Subjekt und
Objekt ist der Ausdruck auf den Täter übergegangen, dem eine Handlung zuge¬
rechnet oder nicht zugerechnet wird, und bedeutet in diesem übertragenen Sinn
die subjektive Voraussetzung, d. h. die Art des Geisteszustandes, die es be¬
dingt, daß man ihm die Handlung zurechnet, oder nicht. Die verminderte Zu¬
rechnungsfähigkeit als sprachlicher Ausdruck ist daher völlig zu verwerfen,
während sie inhaltlich in bezug auf die gemeinten Geisteszustände durchaus für
viele Fälle zu Recht besteht. Psychologisch und psychiatrisch erscheint es viel
richtiger und wünschenswert, die gemeinten Geisteszustände ihrer eigentlichen
Natur nach zu bezeichnen, wie dies prinzipiell für die ausgeprägten Zustände von
Geisteskrankheit im § 51 des deutschen RStGB. und im § 63 des deutschen Ent¬
wurfs geschieht. Vergleichen wir damit die Fassung des § 63, soweit sie sich
auf die Erörterung über die sog. verminderte Zurechnungsfähigkeit bezieht.
Der § 63 enthält über die Fassung des jetzigen § 51 hinaus zwei sein-
wichtige Zusätze, in denen der Fortschritt der strafrechtlichen Anschauungen in
psychiatrischer und sozialer Richtung zutage kommt. Sie lauten: „War die freie
Willensbestimmung durch einen der vorbezeichneten Zustände zwar nicht ausge¬
schlossen, jedoch in hohem Grade vermindert, so finden hinsichtlich der Bestrafung
die Vorschriften über den Versuch (§ 76) Anwendung. Zustände selbstverschul¬
deter Trunkenheit sind hiervon ausgenommen.
Freiheitsstrafen sind an den nach Abs. 2 Verurteilten unter Berücksichtigung
ihres Geisteszustandes und soweit dieser es erfordert, in besonderen, für sie aus¬
schließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken.“
Hier wird, unter Hindeutung auf den nicht ausgesprochenen Begriff , der
„geminderten Zurechnungsfähigkeit“ von einer „Verminderung der freien Willens¬
bestimmung“ gehandelt. Während diese Bestimmung inhaltlich einen großen
Fortschritt bedeutet, ist sie sprachlich ebenfalls nicht zu empfehlen, trotz ihres
Anklanges an den vielfach verwendeten Ausdruck der gemindeiten Zurechnungs¬
fähigkeit. Ich habe bei der Stuttgarter Versammlung der internationalen krimi¬
nalistischen Vereinigung vorgeschlagen, für diese zu setzen „Geistige Schwäche“
in dem Sinne, wie der Begriff in § 6, 1 des BGB. betr. Entmündigung vorkommt.
Es wäre dann eine außerordentlich wünschenswerte, klare Beziehung zwischen
Strafgesetzbuch und BGB. gegeben, so daß bei eventuellem Freispruch oder ge¬
ringerer Bestrafung wegen „Geistesschwäche“ die Frage der Entmündigung
gerichtlich geprüft werden könnte. Dies erscheint mir gerade bei den vielen
Imbecillen, die unter die Bestimmung der verminderten Zurechnungsfähigkeit
bzw. Verminderung der freien Willensbestimmung fallen werden, durchaus nötig.
Übrigens würde sich dadurch eine sehr wünschenswerte Übereinstimmung mit der
Fassung des österreichischen Entwurfs ergeben, der lautet: § 3. Nicht strafbar ist,
wer zur Zeit der Tat wegen Geistesstörung, Geistesschwäche oder Bewußtseins-
92 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Störung nicht die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen
Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.“ Jedenfalls bedeuten die genannten
Zusätze ihrem Inhalte nach eine wesentliche Verschiebung des jetzigen Stand¬
punktes im Sinne einer psychiatrischen Auffassung der geistesschwachen Bechts-
brecher.
Was nach der eventuellen Einführung des Begriffes der Geistesschwäche als
Strafausschließungsgrund von dem Sammelbegriff der geminderten Zurechnungs¬
fähigkeit bleibt, würde am besten unter Anknüpfung an die alte empirisch¬
psychologische Kasuistik im § 46 des österreichischen BStGB. , im Sinne einer
weiteren Ausbildung der mildernden Umstände in subjektiver Hinsicht, in
der Form eines allgemeinen Begriffes unter den Ausdruck der mildernden Um¬
stände gebracht. Der Haupteinwurf, den man gegen diesen Ausdruck erheben
konnte, lag darin, daß der Ausdruck zu unklar und vieldeutig sei. Geschichtlich
liegt jedoch das Verhältnis so, wie dies aus dem österreichischen BStGB. hervor¬
geht, daß der Ausdruck Milderungsumstände infolge der beigegebenen
Kasuistik einen ausgeprägt praktischen Inhalt gehabt hat, der nur in der Straf¬
gesetzgebung allmählich, was die subjektive Seite der Sache betrifft, immer
mehr verloren gegangen ist, bis der sehr dehnbare und unbestimmte Begriff der
mildernden Umstände im jetzigen deutschen BStGB. daraus wurde. Es wird aber
sicher möglich sein, den alten und völlig klaren Begriff, der sich seiner Fassung
nach auf die Milderung der Strafe bezieht, auch in subjektiver Beziehung
zu reformieren und dadurch wieder brauchbar zu machen. Man trenne also das
sprachlich und psychologisch unklare Gebiet der verminderten Zurechnungs¬
fähigkeit in zwei Teile, in den ersten, der das Mittelgebiet zwischen
Geisteskrankheit und Geistesgesundheit unter dem Ausdruck der
Geistesschwäche umfaßt, die ebenso wie Geisteskrankheit und Bewußtlosig¬
keit als Strafausschließungsgrund gelten soll, und den zweiten, straf¬
rechtlichen Teil, welcher unter dem Ausdruck der mildernden Umstände in
subjektiver Beziehung die Geisteszustände umfaßt, die eine mildere Strafe
bedingen, während im übrigen eine psychiatrische Behandlung nicht er¬
forderlich ist. Dadurch würde die zurzeit in dem Begriff der verminderten Zu¬
rechnungsfähigkeit gegebene Zweideutigkeit vermieden, die darin beruht, daß ein
Täter wegen seines Geisteszustandes einerseits milder bestraft, andererseits
psychiatrisch behandelt werden soll. Es kann dies leicht in der Praxis
zu einer völligen Verwirrung von Psychiatrie und Strafjustiz führen. Durch die
von mir vertretene Auflösung des Gebietes in eine psychiatrische und
strafrechtliche Gruppe würde für die Bechtsprechung meines Erachtens eine
viel klarere Grundlage gegeben sein, als durch den Begriff der verminderten
Zurechnungsfähigkeit oder der Verminderung der freien Willens¬
best i m mung.
Vergleichen wir damit die Fassung des österreichischen Entwurfes. In diesem
lautet der betreffende § 4: „War die Fähigkeit des Täters, das Unrecht seiner
Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, zur Zeit
der Tat infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich vermindert,
so ist an Stelle der Todesstrafe auf lebenslangen Kerker zu erkennen. Hat der
Täter eine Freiheitsstrafe verwirkt, deren Vollzug in ihrer regelmäßigen Art seinen
Zustand verschlimmern würde, so ordnet das Gericht an, daß die Strafe nach den
der Eigenart solcher Personen angepaßten Vorschriften vollzogen werde. Der
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 93
Vollzug solcher Strafen findet in einer besonderen Strafanstalt oder in einer be¬
sonderen Abteilung einer Strafanstalt, oder eines Gefangenhauses statt.“
Hier wird also ebenfalls, wie im deutschen Entwürfe, nicht von verminderter
Zurechnungsfähigkeit gesprochen, sondern von einer Verminderung der Fähigkeit
das Unrecht der Tat einzusehen, oder den Willen dieser Einsicht gemäß zu be¬
stimmen. Diese Begriffsbestimmung steht in klarer Beziehung zu der Fassung
des § 3, ebenso wie im deutschen Entwürfe die Ausdrucksweise des § 63 Absatz 2
zu der Fassung des § 63 Absatz 1 in Beziehung steht. Die oben gegebene Ver¬
gleichung der Begriffe trifft also auch für diese verschiedenartigen Formulierungen
der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu. Im deutschen Entwürfe herrscht der
Ausdruck: freie Willensbestimmung, im österreichischen Entwürfe der
Doppel- Ausdruck : Fähigkeit, das Unrecht einzu sehen oder seinen
Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen. Aus obiger Darstellung
ergibt sich demgemäß folgendes: Wenn man im § 63 des deutschen Entwurfes
den Zusatz betr. freie Willensbestimmung streicht und dementsprechend im
österreichischen Entwurf den Zusatz betr. Fähigkeit des Täters, das Unrecht
seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen,
so fehlt dementsprechend im § 63 Absatz 2 des deutschen Entwurfes und im § 4
des österreichischen Entwurfes die Voraussetzung zu der dort gegebenen Formu¬
lierung. In beiden neuen Gesetzen wäre im Sinne unserer Ausführungen, nach
dem der Begriff der Geistesschwäche im deutschen Gesetz eventuell auf ge¬
nommen ist, nur auszudrücken, daß, wenn bestimmte psychische Momente als
mildernde Umstände angerechnet werden, auf eine geringere Strafe erkannt
werden kann. Im Sinne dieser Auffassung ist die in den beiden Vorentwürfen
gegebene Weiterbehandlung dieser Verhältnisse dann völlig logisch, da nach dem
deutschen Entwürfe Absatz 2 in diesem Falle die Vorschriften über den Versuch
Anwendung finden.
Diese Art der Behandlung ist vom Standpunkte der geringeren Be¬
strafung durchaus folgerichtig, während sie bei Behandlung von Fällen, die
psychiatrisch unter den Begriff der Geistesschwäche fallen, praktisch zu den
größten Fehlern führen würde. —
Im deutschen BStGB. ist die Behandlung der Jugendlichen durch § 55 und
56 geregelt.
Diese Paragraphen lauten: § 55. „Wer bei Begehung der Handlung das
12. Lebensjahr nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich ver¬
folgt werden.
Gegen denselben können jedoch nach Maßgabe der landesgesetzlichen Vor¬
schriften die zur Besserung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln getroffen
werden. Insbesondere kann die Unterbringung in einer Erziehungs- oder Besserungs¬
anstalt erfolgen, nachdem durch Beschluß der Vormundschaftsbehörde die Begehung
der Handlung festgestellt und die Unterbringung für zulässig erklärt ist.
’ § 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, als er das 12., aber nicht
das 18. Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat, ist
freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Straf¬
barkeit erforderliche Einsicht nicht besaß.“
Somit ist die Altersgrenze der Strafbarkeit am Ende des 12. Lebensjahres.
Diese Begrenzung ist seit langer Zeit von vielen Seiten als zu niedrig betrachtet
worden, da die allgemeine Erfahrung lehrt, daß auch noch darüber hinaus die
nötige Verstandesreife und Charakterentwicklung nicht vorhanden ist. Prinzipiell
94 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
liegt die ganze weitere Entwicklung der Kriminalpolitik in den unter Ziffer 2
gegebenen Zusätzen vorgebildet, wonach die zur Besserung und Beaufsichtigung
erforderlichen Maßregeln getroffen werden können. In diesem Punkte setzt die
neuere Eürsorgegesetzgebung ein, die praktisch von der größten Tragweite ist.
Die ganze Weiterentwicklung der Strafjustiz, wie sie in wesentlichen Punkten in
den neuen Entwürfen vorliegt, beruht im Grunde auf einer Anwendung der bei
der Behandlung der Jugendlichen unter 12 Jahren durch geführten Grund¬
sätze auf bestimmte Gruppen von Erwachsenen. Man kann das Verhältnis so
ausdrücken, daß diese in den neuen Strafgesetzbüchern gewissermaßen als infantil
behandelt werden, derart, daß man nicht Strafe, sondern Sicherheitsmittel gegen
sie an wendet. Während das Verfahren des § 55 Ziffer 2 im Prinzip als richtig
erscheint, erweckt die Behandlung der Jugendlichen im Alter vom 12. bis zum
18. Jahr nach § 56 eine Beihe von Bedenken. Zunächst ist die untere Alters¬
grenze zu tief angesetzt und muß jedenfalls, wie dies auch in dem neuen deutschen
Entwürfe vorgesehen ist, auf 14 Jahre angenommen werden; sodann hat die
Formulierung des Kriteriums, bei welchem freizusprechen ist, einen groben Fehler.
Dasselbe bezieht sich lediglich auf die zur Erkenntnis der Strafbarkeit
erforderliche Einsicht. Diese ist, wie vergleichende Untersuchungen er¬
geben haben, einerseits hei ausgeprägt Geisteskranken, andererseits bei Jugend¬
lichen, die im übrigen eine Reihe von psychopathischen Zügen haben, ohne aus¬
geprägt geisteskrank zu sein, oft vorhanden, erscheint also unter keinen Um¬
ständen als sicherer Beweis geistiger Gesundheit. Im Gegenteil sind unter der
Herrschaft dieses Gesetzes sicher eine große Zahl von Jugendlichen verurteilt
worden, die zweifellos viel richtiger in einer Besserungs- oder Erziehungsanstalt,
oder sogar in einer Heilanstalt für psychische- und Nervenkrankheiten aufgehoben
gewesen wären. Ich rechne hierzu vor allem die mit psychogenen (hysterischen),
epileptischen oder anderen nervösen Zuständen behafteten Jugendlichen, die trotz
bestehender Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung entschieden zu den
Psychopathen gehören. Ich halte es für unbestreitbar, daß die Anwendung
des jetzigen § 56 des deutschen RStGB. eine große Zahl von Jugendlichen in das
Gefängnis führt, die dort erst auf die Bahn des Verbrechens geraten, während
eine andere, oben angedeutete Behandlung sie in das soziale Gleis hätte bringen
können. Durch die an sich vorzügliche Einrichtung der Jugendgerichte mag
das Verfahren nach § 56 im einzelnen gemildert sein, aber man darf sich nicht
darüber täuschen, daß der Hauptfehler in der Fassung des § 56 selbst liegt, in
welchem das einseitige intellektuelle Kriterium der zur Erkenntnis der
Strafbarkeit erforderlichen Einsicht die richtige Beachtung des gesamten Geistes¬
zustandes bei den Jugendlichen direkt verhindert. Praktisch kommt in manchen
Fällen dadurch ein milderer Zug in die Rechtsprechung, daß in neuerer Zeit die
Jugendlichen öfter nicht nur streng im Sinne des § 56 in bezug auf die zur Er¬
kenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht geprüft werden, sondern das mehr
allgemeine Merkmal der Verstandesreife in den Vordergrund gerückt wird,
so daß sich eine veränderte Auffassung in psychologischer Beziehung schon auf
diesem Wege zum Teile vollzogen hat. Jedoch auch dieser entschieden weitere
Begriff der mangelnden Verstandesreife ist nicht ausreichend, um die
psychologischen und psychopathischen Momente bei jugendlichen Rechtsbrechern
zu umfassen. Es wäre daher in diesem Sinne viel richtiger, einen allgemeineren
Begriff einzuführen, der auszudrücken hätte, daß die Jugendlichen freizusprechen
sind, wenn trotz Abwesenheit ausgeprägter Formen von Geistesstörungen psycho-
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 95
pathische Züge bei der Handlung wesentlich bestimmend waren. Selbstver¬
ständlich würde auch bei dieser Formulierung entsprechend dem Verfahren bei
Jugendlichen bis zum 12. Jahr der Zusatz bestehen bleiben, daß die zur Besse¬
rung und Beaufsichtigung geeigneten Maßregeln ergriffen werden können. Hierzu
müßte noch die gesetzliche Möglichkeit kommen, daß ans solchen Gründen frei¬
gesprochene Jugendliche speziell bei hysterischen, epileptischen und anderen An¬
lagen zur Behandlung in eine Anstalt für Psychischnervöse (nicht in eine Irren¬
anstalt) eingewiesen werden können. Vergleichen wir mit diesen Ausführungen
die Fassungen des deutschen Entwurfs, so zeigt sich folgendes: Es kommen
außer dem Vorentwurf wesentlich in Betracht die §§ 68 bis 70, die folgender¬
maßen lauten:
„§ 68. Nicht strafbar ist, wer bei der Begehung der Handlung das 14.
Lebensjahr nicht vollendet hat.
§ 69. Hatte der Täter zur Zeit der Tat das 18. Lebensjahr nicht vollendet,
so sind hinsichtlich der Bestrafung die Vorschriften über den Versuch (§ 76) an¬
zuwenden, doch darf auf lebenslängliches Zuchthaus nicht erkannt werden. Ist
die danach bestimmte Strafe Zuchthaus, so tritt Gefängnisstrafe von gleicher
Dauer an ihre Stelle. Auf Verschärfung des Strafvollzugs (§ 18), Arbeitshaus
(§ 42), Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (§§ 46 bis 49) und Aufenthalts¬
beschränkung (§ 53) ist nicht zu erkennen.
Erscheint die Tat hauptsächlich als Folge mangelhafter Erziehung, oder ist
sonst anzunehmen, daß Erziehungsmaßregeln erforderlich sind, um den Täter an
ein gesetzmäßiges Leben zu gewöhnen, so kann das Gericht neben oder an Stelle
einer Freiheitsstrafe seine Überweisung zur staatlich überwachten Erziehung an¬
ordnen. Die Art und Dauer der Erziehungsmaßregeln bestimmen sich nach den
hierfür bestehenden Gesetzen, doch kann das Gericht die Unterbringung in eine
Erziehungs- oder Besserungsanstalt vorschreiben.
§ 70. Die Freiheitsstrafen gegen Jugendliche sind in besonderen, für sie
ausschließlich bestimmten Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken. Dabei sind
die vollzurechnungsfähigen Jugendlichen von vermindert Zurechnungsfähigen voll¬
ständig abzusondern. Freiheitsstrafen gegen vermindert zurechnungsfähige
Jugendliche können auch in staatlich überwachten Erziehungs-, Heil- oder Pflege¬
anstalten vollzogen werden — Das Wesentliche in diesen Bestimmungen ist
folgendes:
1. Die Altersgrenze ist auf den Schluß des 14. Lebensjahres hinaufgesetzt.
2. Die Freiheitsstrafen gegen die Jugendlichen sind in einer Weise geregelt, die
dem bisher üblichen Verfahren gegenüber wesentliche Fortschritte bedeutet. Vor
allem ist dabei die Trennung der Jugendlichen in vollzurechnungsfähige und ver¬
mindert zurechnungsfähige Jugendliche von Bedeutung, wobei die vermindert
Zurechnungsfähigen sich zum Teil mit den oben angedeuteten Gruppen der
Hysterischen, Epileptoiden usw. decken. Dazu kommt, daß die Freiheitsstrafen
gegen vermindert zurechnungsfähige Jugendliche in staatlich überwachten Er¬
ziehungs-, Heil- oder Pflegeanstalten vollzogen werden können. Es entsteht da¬
durch eine ganz eigentümliche Verknüpfung von Strafjustiz und Heilbehandlung,
weil die in den Heilanstalten untergebrachten vorher zuerst zu Freiheits¬
strafen verurteilt werden, während sie dann erst der Heilanstalt im Straf¬
vollzug überwiesen werden. Denkt man sich bestimmte Heilanstalten, die eine
Reihe von derartigen zu Freiheitsstrafen verurteilten Jugendlichen aufnehmen,
so ist zu erwarten, daß solche Heilanstalten von dem Volke in absehbarer Zeit
96 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
überhaupt nicht mehr als Heilanstalt, sondern als Strafanstalt betrachtet werden.
Es liegt also eine praktisch bedenkliche Verbindung von Strafjustiz
mit Psychiatrie vor. Viel richtiger wäre es, durch die Fassung des Gesetzes
zu ermöglichen, daß die sog. vermindert zurechnungsfähigen Jugendlichen von
vornherein wegen ihres Geisteszustandes überhaupt freigesprochen werden,
während für diese Fälle ihre Unterbringung in einer Heilanstalt gesetzlich er¬
möglicht werden müßte. Nur dadurch, daß man schon im Moment der Recht¬
sprechung diese vermindert zurechnungsfähigen Jugendlichen ausgliedert, und
sie einer entsprechenden Behandlung überweist, kann man die durch den § 70
gegebene Verwirrung beseitigen. Immerhin muß ich zugeben, daß trotz dieser
Bedenken der § 70 im Verhältnis zu dem jetzigen durch § 56 gegebenen Rechts-
' zustand einen wesentlichen Fortschritt bedeutet.
Leider kann dies für das im § 69 enthaltene Kriterium der Strafbarkeit bei
Jugendlichen nicht in diesem Grad behauptet werden. Ich verweise hierbei auf
das oben zur Kritik der zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderlichen Einsicht
Vorgebrachte. Im § 69 des deutschen Entwurfes wird lediglich auf den Fall
hingewiesen, daß die Tat als Folge mangelhafter Erziehung erscheint oder daß
sonst anzunehmen ist, daß Erziehungsmaßregeln erforderlich sind, um den Täter
an ein gesetzmäßiges Leben zu gewöhnen. Auch diese Formulierung schenkt
ebenso wie die des jetzt geltenden § 56 des deutschen RStGB. den psychiatrischen
Erfahrungen über Jugendliche nicht genügende Beachtung und sollte in obigem
Sinn verändert werden.
In dem österreichischen RStGB. ist das Verfahren gegen Jugendliche durch
folgende Bestimmungen geregelt: § 2. Daher wird die Behandlung oder Unter¬
lassung nicht als Verbrechen zugerechnet; d) wenn der Täter noch das 14. Jahr
nicht zurückgelegt hat.
Ferner durch §§ 237 und 269. Diese lauten:
§ 237. Die strafbaren Handlungen, die von Kindern bis zu dem vollendeten
10. Jahre begangen werden, sind bloß der häuslichen Züchtigung zu überlassen:
aber von dem abgehenden 11. bis zu dem vollendeten 14. Jahre werden Hand¬
lungen, die nur wegen Unmündigkeit des Täters nicht als Verbrechen zugerechnet
werden (§ 2, lit. d), als Übertretung bestraft (§§ 269 und 270).
§ 269. Unmündige können auf zweifache Art schuldig werden:
a) durch strafbare Handlungen, welche nach ihrer Eigenschaft Verbrechen
wären, aber, wenn sie Unmündige begehen, nach § 237 nur als Übertretungen
bestraft werden:
b) durch solche strafbaren Handlungen, welche schon an sich nur Vergehen
oder Übertretungen sind.
In diesen Bestimmungen ist wesentlich die Hinaufrückung der Altersgrenze
auf 14 Jahre. Hier haben wir die eigentümliche Erscheinung vor uns, daß in dem
älteren aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts stammenden österreichischen
StGB, in bezug auf die Altersgrenze eine mildere Auffassung herrschte,
als in dem späteren deutschen RStGB., und daß bei der Umformung des deutschen
RStGB. in dem vorhandenen Vorentwurf inhaltlich auf den Zustand des viel
älteren österreichischen StGB, zurückgegriffen wird. Allerdings bedeutet die Be¬
stimmung des § 237 des österreichischen StGB., wonach von dem 11. bis zum
vollendeten 14. Jahre Handlungen, die nur wegen Unmündigkeit des Täters nicht
als Verbrechen zugerechnet werden, als Übertretung bestraft werden sollen,
wiederum eine Verschärfung, die praktisch in vielen Fällen zu einer härteren
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 97
Behandlung von Jugendlichen führen konnte, als dies nach dem § 56 des deutschen
BStGB. möglich war. Im übrigen ist die Bestrafung der Jugendlichen im öster¬
reichischen Gesetz im 3. Hauptstück von der Bestrafung der Unmündigen durch
§ 270 bis 273 geregelt. In diesen. Bestimmungen sind schon Ansätze vorhanden,
die in den Bestimmungen des deutschen Entwurfs in der dargestellten Weise ent¬
wickelt worden sind.
In dem österreichischen Entwurf finden sich die betr. Bestimmungen in
o
folgenden Paragraphen :
§ 5. „Wer zur Zeit der Tat das 14. Jahr nicht vollendet hat, ist nicht strafbar.
Der Unmündige wird der Fürsorgeerziehung überwiesen, sofern die häusliche Zucht
nicht ausreicht.“
§ 6. „Wer zur Zeit der Tat im Alter vom vollendeten 14. bis zum vollendeten
18. Lebensjahre stand (Jugendlicher), ist nicht strafbar, wenn er wegen zurück¬
gebliebener Entwicklung oder mangels der geistigen Beife nicht die Fähigkeit
besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen, oder seinen Willen dieser Einsicht ge¬
mäß zu bestimmen.
Ein Jugendlicher, der aus diesem Grunde nicht strafbar ist, wird der Für¬
sorgeerziehung überwiesen, sofern die häusliche Zucht nicht ausreicht.“
Diese Fassung stimmt in bezug auf die Altersgrenze mit dem deutschen
Entwurf überein. Auch die Überweisung in Fürsorgeerziehung stimmt im wesent¬
lichen mit dem deutschen Entwurf, dagegen enthält der § 6, welcher die eventuelle
Bestrafung vom 14. bis zum 18. Jahre regelt, Bestimmungen, die von der Fassung
des deutschen Entwurfs wesentlich abweichen. Der Jugendliche ist nicht strafbar,
wenn er wegen zurückgebliebener Entwicklung oder mangels geistiger Beife nicht
die Fähigkeit besaß, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser
Einsicht gemäß zu bestimmen. In letzteren Ausdrücken kehren die Begriffe
wieder, die sich im § 3 des österreichischen Entwurfs finden. Außerdem werden
aber psychologische Kriterien genannt, die den Ausschluß von Strafe bedingen;
die Begriffe: „zurückgebliebene Entwicklung und Mangel an Geistesreife“ sind
viel umfassender als die Bestimmungen des geltenden deutschen Bechtes (§ 56:
„Die zur Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht“) und des deutschen
Entwurfs § 69, in welchem lediglich von mangelnder Erziehung ge¬
sprochen wird.
Ich halte die österreichische Fassung, soweit sie die psychologischen Kenn¬
zeichen betrifft, bei welchen Jugendliche nicht bestraft werden sollen, für besser,
als die bisher gültigen Fassungen des österreichischen und deutschen Gesetzes,
und auch des deutschen Entwurfs. In diesem Punkte scheint mir also der öster¬
reichische Entwurf relativ mehr empfehlenswert zu sein, als der deutsche, wenn
ich vom psychiatrischen Standpunkt auch lieber die Bestimmung im Sinne der
obigen Fassung erweitert sehen möchte, welche die psychopathischen Züge
bei Jugendlichen im allgemeinen berücksichtigt.
Im deutschen BStGB. ist eine besondere Strafbestimmung, die sich auf den
Alkoholismus bezöge, nicht vorhanden, so daß man im einzelnen Fall auf die
Fassung des § 51 angewiesen ist. Dabei handelt es sich in der Begel um die
Frage, ob im Sinne des § 51 ein Zustand von Bewußtlosigkeit vorhanden
war oder nicht. In der Begel sind auf diesen Begriff hin oder auf den noch
allgemeineren der Schwerbetrunkenheit die an die Zeugen gerichteten
Fragen formuliert, und in der Begel tritt, wenn nicht ein Zustand völliger Be¬
trunkenheit nachgewiesen werden kann, Verurteilung ein. Die dabei als Zeichen
Archiv für Soziale Hygiene. VIT. ?
98 -^ns der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
der völligen Betrunkenheit in der Hegel gemeinten Symptome (starkes Schwanken
beim Gehen, lallende Sprache, starke Störung des logischen Zusammenhangs) sind
zu eng, um die verschiedenen Formen von Geistesstörungen zu umfassen, die durch
Alkohol z. B. bei alkohol-intoleranten Menschen manchmal durch nur kleine Dosen
von alkoholischen Getränken ausgelöst werden können. Für diese Fälle kann also
das Gutachten den viel allgemeineren Begriff der krankhaften Störung der Geistes¬
tätigkeit aus dem § 51 heranziehen, in der Regel wird der Psychiater aber gar
nicht gefragt, wenn es sich um die Folgen des Alkoholismus handelt. Die Zahl
der Fälle, in denen bei Alkoholdelikten ein psychiatrischer Sachverständiger über¬
haupt vor Gericht erscheint, ist sicher relativ nur sehr gering.
Vor allem fehlt in dem bisherigen deutschen Gesetz auch jede Bestimmung
über Behandlung der chronischen Alkoholisten. Nun ist allerdings durch die Be¬
stimmungen über die Entmündigung nach § 6,3 des BGB. eine vollkommen neue
Bahn für die soziale Behandlung der Alkoholisten gegeben. Diese Bestimmung
lautet :
§ 6. „Entmündigt kann werden:
1. Wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine Ange¬
legenheiten nicht zu besorgen vermag.
2. Wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Not¬
standes aussetzt.
3. Wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen
vermag oder sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt oder die
Sicherheit anderer gefährdet. Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn
der Grund der Entmündigung wegfällt.“
Es ist sicher, daß besonders durch die Bestimmung über die Entmündigung
der Alkoholisten, die die Sicherheit anderer gefährden, der Strafjustiz eine Reihe
von Fällen auf diesem Wege eutzogen und in geeigneter Weise untergebracht
werden können, die sonst vergeblich mit Strafe belegt worden wären. Somit ist
das BGB. gewissermaßen stellvertretend für den strafrechtlichen Einfluß einge¬
treten. Im neuen deutschen Entwurf finden wir dagegen mehrere Bestimmungen,
in denen die Alkoholisten besonders genannt sind. Zunächst sind in § 63,2 bei
dem Abschnitt über Verminderung der freien Willensbestimmung ausdrücklich die
Zustände selbstverschuldeter Trunkenheit ausgenommen, dementsprechend ist im
§ 64 folgende besondere Bestimmung gegeben:
„War der Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit und
hat der Täter in diesem Zustand eine Handlung begangen, die auch bei fahr¬
lässiger Begehung strafbar ist, so tritt die für die fahrlässige Begehung ange¬
drohte Strafe ein.“
Schließlich werden die Alkoholisten im § 65 in einem besonderen Zusatz be¬
handelt, der lautet: „Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen,
oder außer Verfolgung gesetzt, oder auf Grund des § 63 Abs. 2 zu einer milderen
Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffentliche Sicherheit erfordert,
seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflegeanstalt anzuordnen. War
der Grund der Bewußtlosigkeit selbstverschuldete Trunkenheit,
so finden auf den Freigesprochenen oder außer Verfolgung Ge¬
setzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unterbrin¬
gung in eine Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung.“
Somit ist nach der vielfachen literarischen Behandlung der Gemeingefährlich¬
keit der Alkoholisten in den Entwurf des neuen Gesetzes eine ganze Reihe von
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 99
neuen Bestimmungen hineingekommen, die entsprechend den Bestrebungen im BGB.
auf eine richtige Unterbringung der Alkoholisten hinzielen.
Vergleichen wir hiermit die Fassung des österreichischen StGB., so ergibt
sich folgendes:
Es findet sich hier im § 2 c eine ausdrückliche Bestimmung über die Be¬
handlung der alkoholistischen Geistesstörungen. Es heißt dort im § 2c: „Daher
wird die Handlung oder Unterlassung nicht als Verbrechen zugerechnet, wenn sie
c) in einer ohne Absicht anf das Verbrechen zugezogenen völligen Berauschung
(§ 236 und 523) oder anderen Sinnverwirrung, in welcher der Täter sich seiner
Handlung nicht bewußt war, begangen worden.“
Die damit in Beziehung stehenden §§ 236 und 523 lauten folgendermaßen:
„§ 236. Obgleich Handlungen, die sonst Verbrechen sind, in einer zufälligen
Trunkenheit verübt, nicht als Verbrechen angesehen werden können (§ 2 lit. c)
so wird in diesem Falle dennoch die Trunkenheit als eine Übertretung bestraft
(§ 523).
§ 523. Trunkenheit ist an demjenigen als Übertretung zu bestrafen, der in
der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm außer diesem Zustande
als Verbrechen zugerechnet würde (236). Die Strafe ist Arrest von einem bis zu
drei Monaten. War dem Trunkenen aus Erfahrung bewußt, daß er in der Be¬
rauschung heftigen Gemütsbewegungen ausgesetzt sei, so soll der Arrest ver¬
schärft, bei größeren Übeltaten aber auf strengeren Arrest bis zu sechs Monaten
erkannt werden.“ —
Es ist vom geschichtlichen Standpunkt ersichtlich, daß in dem geltenden
österreichischen KStGB., das viel älter ist, als das geltende deutsche Gesetz, viel
ausführlichere Bestimmungen über die Behandlung der Alkoholisten vorhanden
sind, als in dem geltenden deutschen Gesetz. Es ist also in diesem, wovon man
sich überzeugen kann, eine Reihe von Gesichtspunkten verloren gegangen, die in
dem österreichischen Gesetz schon vorhanden waren. Begriffsgeschichtlich hängt
dies offenbar damit zusammen, daß infolge der Schaffung eines allgemeinen Be¬
griffes „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ im geltenden deutschen Gesetz¬
buch eine Reihe von Einzelbestimmungen, speziell auch die über die Betrunken¬
heit, zunächst weggefallen sind. Der neue deutsche Entwurf greift
also merkwürdigerweise in diesem Punkt wieder auf einen
früheren Zustand zurück. Über den Wert dieses Verfahrens vom Stand¬
punkt der psychiatrischen Begriffsbildung wollen wir hier nicht streiten. Jeden¬
falls entspricht die Einführung besonderer Bestimmungen über die Alkoholisten
den gegenwärtigen in psychiatrischen und juristischen Kreisen wohl überall vor¬
handenen Neigungen, offenbar, weil die Bestimmungen des § 51 tatsächlich für
viele Fälle von alkoholistischen Straftaten Unklarheit gelassen haben, und weil
besonders für die praktische Behandlung der chronischen Alkoholisten keine ge¬
eigneten Maßregeln getroffen waren. Dementsprechend finden sich auch in dem
österreichischen Entwurf besondere Bestimmungen; allerdings beziehen sich diese
nicht auf eine Änderung des § 3 über die Zurechnung, sondern auf eine weitere
Entwicklung der schon in dem geltenden österreichischen Gesetz vorgesehenen
Sicherungsmittel gegen die Alkoholisten.
Es kommt hier besonders der § 36 des österreichischen Entwurfs in Betracht,
der folgendermaßen lautet: „Ein Geisteskranker oder Trunksüchtiger, der
eine strenger als mit sechs Monaten Freiheitsstrafe bedrohte Tat begangen hat
und wegen Zurechnungsunfähigkeit zur Zeit der Tat nicht verfolgt oder nicht
7*
100 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
verurteilt werden kann, wird an eine staatliche Anstalt für verbrecherische Irre
abgegeben, wenn er wegen seines kranken Zustandes und mit .Rücksicht auf seinen
Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als besonders gefährlich für die Sitt¬
lichkeit, oder für die Sicherheit der Person oder des Vermögens (gemeingefährlich)
anzusehen ist. Der Kranke bleibt in der Anstalt, so lange seine Gemeingefähr¬
lichkeit dauert. Die Entlassung kann endgültig oder auf Widerruf erfolgen.
Ausländer sind nur so lange zu verwahren, bis sie an den Heimatstaat ab¬
gegeben werden können.“
Ferner kommt in Betrecht Art. 55 Seite 169 der Einführungsbestimmungen,
welcher lautet: „Die baulichen Herstellungen, die zur Durchführung der Vor¬
schriften der §§ 36 bis 38 und 243 StGB, über die Verwahrung gemeingefähr¬
licher Geisteskranker, Trunksüchtiger und geistesminderwertiger Personen und
gemeingefährlicher Verbrecher notwendig sind, werden innerhalb fünf Jahren nach
der Kundmachung des Gesetzes ausgeführt.
Bis zu ihrer Vollendung sind gemeingefährliche Geisteskranke, Trunk¬
süchtige und geistigminderwertige Personen in den bestehenden öffentlichen
Irrenanstalten und in besonders eingerichteten Abteilungen von Strafanstalten und
gerichtlichen Gefangenhäusern zu verwahren. Die Kosten der Verwahrung in
öffentlichen Irrenanstalten sind zwischen dem Staat und den Ländern oder Körper¬
schaften, denen sie unterstehen, zu vereinbaren und vom Staate zu tragen.
Können nicht alle Personen in dieser Art verwahrt werden , so kann der
Justizminister die Anwendung der Bestimmungen der §§ 36 und 37 und 243 StGB,
innerhalb des im ersten Absatz angegebenen Zeitraums örtlich oder zeitlich außer
Wirksamkeit setzen oder anordnen, daß nur bestimmte Kategorien dieser Personen
zu verwahren sind.“
Im allgemeinen kann man sagen, daß die Tendenz des deutschen Entwurfs
dem im geltenden österreichischen Kecht und in dem neuen österreichischen Ent¬
wurf enthaltenen Bestrebungen durchaus Rechnung trägt, so daß eine einheitliche
Fassung des deutschen und österreichischen Entwurfs in diesen Punkten sicher
leicht zu erreichen sein würde.
V. Durch die Behandlung der Alkoholisten sind wir schon speziell in das
allgemeine Gebiet der Sicherungs maßregeln übergegangen, deren Vermehrung
und weitere Ausbildung den charakteristischen Zug der neuen Bestrebungen Im
Gebiete der Strafgesetzgebung bildet. In diesem Punkte haben sich die sämtlichen
Bestrebungen, die sich einerseits bei den Psychiatern durch das Studium der
psychopathischen Anlage und der chronischen Abnormitäten, andererseits bei den
Juristen durch das Studium der Bückfälligkeit ergeben haben, verdichtet. Hierin
ist der Hauptumschwung der ganzen Strafgesetzgebung am klarsten ersichtlich.
An Stelle von Einzelstrafen tritt immer mehr die Methode der allgemeinen
Abwehr gegen bestimmte zum Rechtsbuch neigende Individuen und
Gruppen von Individuen. Vom geschichtlichen Standpunkt betrachtet, liegt
hier eine staatliche Rezeption der Bestrebungen vor, die scheinbar zu einer Opposi¬
tion gegen das bestehende Strafrecht, in Wirklichkeit zu einer fortschreiten¬
den Beschränkung der persönlichen Freiheit von sozial schäd¬
lichen Menschen führen.
Dabei läßt sich erkennen, daß die Sicherungsmaßregeln, die in dem geltenden
deutschen Gesetz schon für die Jugendlichen vorgesehen sind, falls die Straf¬
taten bis zum vollendeten 12. Jahr geschehen, ferner für solche Jugendliche, die
bei einem Alter vom vollendeten 12. bis zum vollendeten 18. Lebensjahre die zur
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 101
Erkenntnis der Strafbarkeit erforderliche Einsicht nicht besitzen, in erweiterter
Form immer mehr auch auf bestimmte Arten von erwachsenen Kechts-
b rech er n ausgedehnt werden. Auf die Einzelheiten kann ich bei der beschränkten
Zeit des Vortrages nicht eingehen.
Im deutschen RStGB. kommen in bezug auf die Sittlichkeitsver¬
brechen die £§ 171 bis 184 in Betracht. Hiervon haben eine ganze Reihe keine
direkte psychiatrische Beziehung, da es sich um Bestimmungen handelt, die z. B.
den Schutz der Ehe (§171 und 172) oder den sexuellen Verkehr von Verwandten
bestimmten Grades betreffen (§ 178) oder den Schutz von Kindern, Schülern, Zög¬
lingen, Anstaltsinsassen bezwecken. In unserem Zusammenhang kommt haupt¬
sächlich in Betracht der § 175, der lautet: „Die widernatürliche Unzucht, welche
zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen
wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte erkannt werden.“
In diesem Paragraphen wird unter dem Begriff der widernatürlichen Unzucht
einerseits die homosexuelle Betätigung zwischen Personen männlichen Ge¬
schlechts, andererseits der Verkehr des Menschen mit Tieren (Bestialität) zu-
sammenbehandelt. Schon diese Verbindung von zwei Arten von Delikten, die
nach der psychologischen Erfahrung aus völlig verschiedenen Geisteszuständen
entspringen können, erscheint durchaus ungerechtfertigt. Jedenfalls sollten diese
beiden Fälle gesondert behandelt werden. Dabei ist erkennbar, daß im Gebiet
der Homosexualität nur der mannmännliche Verkehr betroffen wird, während
das weibliche Geschlecht dabei frei ausgeht.
Praktisch deutet sich eine mildere Auffassung der homosexuellen Beziehungen
schon dadurch an, daß, wie in der Anmerkung der Ausgabe von Julius von
Staudinger zu diesem Paragraphen gesagt ist, unter widernatürlicher Unzucht
nur die eigentliche Päderastie (coitus per anum) verstanden wird, während z. B.
die mutuelle Onanie davon nicht betroffen wird. Diese Auslegung des Gesetzes
bedeutet im geschichtlichen Zusammenhang eine Milderung. Im Hinblick auf
die vielfachen Bestrebungen zur Aufhebung dieser ganzen Bestimmung, die viel¬
leicht in einer etwas zu sehr übertriebenen Weise hervorgetreten sind, ist es von
Interesse, die Fassung des deutschen Entwurfs zu vergleichen. In diesem lautet
der § 250 folgendermaßen:
„§ 250. Die widernatürliche Unzucht mit einer Person gleichen Geschlechts
wird mit Gefängnis bestraft.
Ist die Tat unter Mißbrauch eines durch Amts- oder Dienstgewalt oder in
ähnlicher Weise begründeten Abhängigkeitsverhältnisses begangen, so tritt Zucht¬
haus bis zu fünf Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter sechs
Monaten ein.
Dieselbe Strafe trifft denjenigen, der aus dem Betrieb der widernatürlichen
Unzucht ein Gewerbe macht.
Die Strafe des Abs. 1 findet auch auf die widernatürliche Unzucht mit Tieren
Anwendung.“
Es ist daraus ersichtlich, daß zunächst die „Lücke“, die in dem bisher gelten¬
den Gesetz in bezug auf die Homosexualität der Frauen vorhanden war, ausge¬
füllt worden ist, während eine Aufhebung oder Milderung des bestehenden Gesetzes
nicht geschehen ist. Somit haben sich in diesem Punkte die bisherigen Bestrebungen
als völlig erfolglos erwiesen. Ich habe mich an den Agitationen zur völligen Auf¬
hebung von § 175 des deutschen RStGB. nicht beteiligt, weil sie mir zu weit zu
102 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
gehen und besonders keinen genügenden Schutz gegen Verleitung von Jugend¬
lichen, wenigstens in der häufig hervortretenden Form dieser Bestrebungen, zu
bieten schienen. Andererseits halte ich diese völlige Ignorierung der in den
letzten Jahrzehnten gemachten Erfahrungen über die sehr häufige psycho¬
pathische Grundlage der Homosexualität für zu weitgehend und spreche
mich dafür aus, daß diesen Momenten in der Fassung des neuen Gesetzes Rechnung
getragen wird.
Aus dem österreichischen Entwurf kommen in Betracht die §§ 259 bis 283,
wobei die Homosexualität in dem § 269 behandelt ist. Dieser lautet:
„§ 269. Wer mit einer Person desselben Geschlechts Unzucht treibt, wird
mit Gefängnis von einer Woche bis zu einem Jahre bestraft (usw.).“
Diese Bestimmungen entsprechen im wesentlichen denen des deutschen Vor¬
entwurfs, nur ist eine Bestimmung betr. Bestialität weder hier noch in einem
sonstigen Paragraphen enthalten, worüber die Erläuterungen Auskunft geben.
Obige Kritik gilt also im wesentlichen auch für den österreichischen
Entwurf. —
Ohne die sexuellen speziell homosexuellen Delikte hier weiter zu behandeln,
möchte ich als allgemeines Resultat der Vergleichung bezeichnen, daß sich auf
dem Boden der Psychopathologie eine Übereinstimmung des deutschen und öster¬
reichischen Strafgesetzes erreichen ließe. Überblickt man die nebeneinander ge¬
stellten Bestimmungen des deutschen und des österreichischen Gesetzes, sowie der
vorliegenden Vorentwürfe, so ist erkennbar, daß sich eine Reihe von Erscheinungen
zeigen, die sich nur aus der allgemeinen Geschichte der psychiatrischen
Begriffe und aus der kriminalpsychologischen Entwicklung vom
Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhundert erklären. Die
psychiatrischen Vorstellungen, die in das Strafgesetzbuch eindringen, sind im
Grunde Niederschläge der vorher in der psychiatrischen Fachentwicklung und in
der juristisch-psychiatrischen Diskussion herauskristallisierten Ideen. Je klarer
man dieses begriffsgeschichtliche Verhältnis erkennt, desto deutlicher treten die
Grundzüge der ganzen Strafrechtsentwicklung, soweit sie besonders von psych¬
iatrischen und kriminalpsychologischen Erkenntnissen bedingt sind, hervor. Die
Strafgesetzgebung einer Zeit wird um so richtiger sein, je mehr sie den wirk¬
lichen Inhalt von Erfahrungstatsachen aus diesem empirisch-psychologischen Ge¬
biet berücksichtigt und dabei die angepaßten Formen des sozialen Schutzes gegen
gemeinschädliche Handlungen findet. Sicher ist, daß im Gegensatz zu dem lange
Zeit geltenden Grundsatz der Bestrafung einzelner Handlungen immer
mehr der Gedanke einer Behandlung der Gesamtpersönlichkeit des
Täters in den Entwürfen zum Vorschein kommt. Die von vielen in Beginn
dieser Bewegung befürchteten Schädigungen der Staatsordnung durch die modernen
anthropologischen und psychiatrischen Auffassungen sind nicht erfolgt, sondern es
hat sich im Gegenteil das Eingreifen der Staatsgewalt in das ganze Leben von
Personen, die vermöge ihrer Geistesbeschaffenheit zum Rechtsbruch neigen, in viel
stärkerem Maße vollzogen, als dieses bisher unter der Herrschaft einer ein¬
seitigen Strafidee der Fall war. Bei der weiteren Behandlung der Vorent¬
würfe ist es vor allem nötig, daß in möglichst weitgehendem Maße der durch
psychiatrische und kriminalpsychologische Studien herausgestellte Tatbestand über
das Zustandekommen von Straftaten eingehend berücksichtigt wird und als Ma߬
stab bei der Behandlung der Vorentwürfe in dieser Beziehung zur Geltung kommt.
Aus der Gesellschaft für. Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 103
Sitzung vom 1. Dezember 1910.
Herr J. Heller trägt vor über „Vergleichende Morbiditätsstatistik der
weiblichen kaufmännischen Angestellten und der Dienstboten44. Die soge¬
nannte „Frauenbewegung“ hat einen vollen Sieg errungen, die meisten Berufe
sind der Frau zugängig; jede Volks- und Berufszählung weist die zunehmende
„Industrialisierung“ der Frau nach; die letzte statistische Angabe ergibt bereits
972 Millionen berufstätiger Frauen. Freilich die Fülle des Segens, die mit diesem
Fortschritt verbunden sein sollte, ist bisher nicht recht zutage getreten. Ernst
weisen Volkswirte und Politiker auf die rapide fallende Geburtenzahl hin; betonen
Nervenärzte die Zunahme der Nervosität, warnen Hygieniker vor Verschlechterung
der Rasse. Selbst die Vertreter der Industrialisierung der Frauen beginnen das
Problem: Ehe und Beruf in seiner vollen Bedeutung und Schwierigkeit zu er¬
fassen. Von diesen Gesichtspunkten aus haben Untersuchungen über die Morbidi¬
tätsverhältnisse der berufstätigen Frauen ihren Wert. In meinen 1904 und 1905
erschienenen Arbeiten l) habe ich Vergleiche an gestellt zwischen den Gesundheits¬
verhältnissen der kaufmännischen Angestellten und denen der Dienstboten. Ich
wählte die ersteren als Typus eines vorwiegend geistige Arbeit erfordernden Be¬
rufes, dessen Angehörige zahlreich genug sind, um Zufälligkeiten der Statistik
auszuschließen und letztere, weil ihre Arbeit die der Hausfrau ist, mit dem einzigen
unwesentlichen Unterschiede, daß diese Arbeit für einen fremden Haushalt aus¬
geführt wird.
Ich berücksichtige aus den Zahlen der Krankenkasse des kaufmännischen
Verbandes für weibliche Angestellte nur die über 14 Tage Arbeitsunfähigkeit be¬
dingenden Krankheitsfälle, weil diese allein volkswirtschaftlich eine Rolle spielen.
Erfahrungsgemäß werden Krankenkassenmitglieder wegen ganz unbedeutender
Affektionen 1 — 2 Wochen „krank geschrieben“. Da aber über 14 Tage dauernde
Arbeitsunfähigkeit häufig zu Verlust der Stellung führt, kann man aus dieser
langen erzwungenen Untätigkeit auf eine Krankheit schließen, die gesundheitliche
Bedeutung hat. Da für die in Privathäusern tätigen Dienstboten eine Morbiditäts¬
statistik fehlt, so nahm ich an, eine Krankheit eines Dienstboten, die zur Kranken¬
hausbehandlung zwingt, ist gleichzusetzen einer über 14 Tage Arbeitsunfähigkeit
erfordernden Affektion einer kaufmännischen Angestellten. Für die Dienstboten
ergab der Abonnementsverein der Dienstherrschaft für erkrankte Dienstboten die
brauchbaren Zahlen. Alle Zahlenreihen bezogen sich auf Groß-Berlin.
Es ergaben sich nun folgende Verhältniszahlen für die drei wichtigsten
Krankheitsgruppen (akute Infektionskrankheiten usw. wurden nicht berücksichtigt).
Krankheiten der Atmungsorgane und Tuberkulose und
Influenza .
Nervenkrankheiten .
Krankheiten der Verdauungsorgane und Chlorose, Magen¬
geschwür usw .
Weibl.
Dienstboten kaufm.
Angestellte
6,1 14,4
1,8 6,1
9,6 10,7
7 J. Heller, Eignet sich die Frau gesundheitlich für den kaufmännischen
Beruf? Berlin 1904. Hirschwald, II. Auf!., Hamburg 1905.
104 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Meine Zahlen wurden vielfach angezweifelt; die Berechtigung meiner Statistik
wurde in Abrede gestellt; freilich waren sich alle Beobachter, die über Material
verfügten, einig, daß der kaufmännische Beruf große Schädigungen für den weib¬
lichen Organismus bedingt. Man wollte nur durch Anwendung kleiner Mittel
(Sitzgelegenheit , Beschränkung der Arbeitszeit , Recht auf Urlaub usw.) diesen
Schädigungen entgegenwirken. Ich brauche wohl nicht zu versichern, daß ich
als Arzt alle diese „kleinen Mittel“ begrüße, wenn ich auch an ihre Wirksamkeit
nicht glaube.
In neuester Zeit ist nun vom kaiserlich statistischen Bureau eine Statistik
der Ortskrankenkassen Leipzig und Umgebung herausgegeben, die eine Nach¬
prüfung meiner Angaben gestattet. Das großartige Werk wird sicher noch für
viele Fragen der sozialen Medizin von ausschlaggebender Bedeutung sein. Für
unsere Frage ist es um so wichtiger, weil es unter Zugrundelegung sehr großer
Zahlen die Gesundheitsverhältuisse der weiblichen kaufmännischen Angestellten
und der Dienstboten behandelt.
Die Frage erscheint zunächst nicht in dem von mir vertretenen Sinne ge¬
löst, wenn man die Morbiditätszahlen für sich allein betrachtet.
Von 259582 weiblichen Personen (86 Proz. unter 35 Jahre) berichtet die
Statistik :
Auf 1000 Personen erkrankten überhaupt (arbeitsunfähig) 418 = 10303 Tage.
Es kommen auf diese Erkrankungen 5,32 Todesfälle. Im einzelnen verhalten sich
auf 1000 versicherte Standesangehörige berechnet:
Bureau- und
Ladenpersonal
275 Fälle
6722 Krankheitstage
3,06 Todesfälle
Dienstmädchen
im Gewerbebetrieb
263 Fälle
7744 Krankheitstage
4,81 Todesfälle
Köchinnen
323 Fälle
8932 Krankheitstage
3,40 Todesfälle
Von den Dienstmädchen sind 88 Proz., von dem Bureaupersonal und den
Köchinnen 86 Proz. unter 35 Jahre.
Nach dieser Aufstellung ist die Morbidität der Bureaubeamtinnen und des
Ladenpersonals weit günstiger als die der Dienstboten. Nun ist aber in der oben
skizzierten wirtschaftlich-nationalen Hinsicht die Morbidität als solche von geringer
Bedeutung. Außere unbedeutende Erkrankungen, Verletzungen, Rheumatismus
können für kürzere Zeit ein Individuum im Sinne des Krankenkassengesetzes
arbeitsunfähig machen, ohne die Gesundheit des Kranken wesentlich zu beein¬
trächtigen. Es kommen z. B. folgende Krankheitstage auf 1000 Personen der 3
Kategorien.
Laden- und
Dienst-
Bureau-
mädchen
Köchinnen
Muskel-Rheumatismus .
personal
. . 160
i Gew.-Betr.
538
688
Verletzungen .
. . 120
565
647
Unfälle .
. . 10
114
76
Krankheiten der äußeren Bedeckung
. . 130
991
1505
420
2218
2916
Reduziert man die Krankheitstage um diese Zahlen, was man um so eher
darf, als nur beim Rheumatismus der Dienstboten 0,05 Todesfälle auf 1000 Personen
vermerkt sind, so ergibt sich
Alis der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 105
Bureaupersonal Dienstmädchen Köchinnen
6722—420 = 6302 7744— 2218 = 5526 8934—2916 = 6018
Es verhalten sich demnach für die übrigen Krankheiten die Dienstmädchen
und Köchinnen gesundheitlich günstiger als das Bureau- und Ladenpersonal.
Es ist nun von Interesse für die in meiner früheren Arbeit aufgestellten
Kategorien von Krankheiten die Zahlen anzugeben. Freilich sind die aus der
Leipziger Krankenkassenstatistik gewonnenen nicht ohne weiteres mit meinen zu
vergleichen. Ich habe seinerzeit, wie erwähnt, nur die Krankheitsfälle berück¬
sichtigt, die eine über 14 Tage dauernde Arbeitsunfähigkeit bedingten. Ich habe
ferner Kritik an den Diagnosen geübt und habe z. B. die über 14 Tage Arbeits¬
unfähigkeit bedingenden Influenzafälle den Lungenerkrankungen zugerechnet.
Ferner habe ich die meist bei jungen Frauen auf Magenerkrankung beruhenden
oder letztere auslösenden Chlorosen (es handelt sich immer um Fälle, die über 14
Tage Arbeitsunfähigkeit bedingen) den Magenaffektionen zugerechnet. Diese
Sichtungen konnten bei der Statistik der Leipziger Ortskrankenkasse nur zum
Teil gemacht werden. f
Es muß ferner berücksichtigt werden, daß in der Leipziger Ortskrankenkasse
nur Dienstmädchen im Gewerbebetriebe als Pflichtmitglieder versichert sind. Es
ist ohne weiteres verständlich, daß der Gesundheitszustand der Dienstmädchen in
Gastwirts- und Hotelbetrieben, in Fabriken und gewerblichen Betrieben ungünstiger
ist als der jener Dienstboten, die in den Häusern der wohlhabenden Kreise Berlins
als Hausangestellte leben. Es darf aber wohl widerspruchslos behauptet werden,
daß in Groß-Berlin vorwiegend wohlhabende Familien Dienstboten halten be¬
ziehungsweise die Prämie für die Versicherung beim Abonnementverein für
Dienstherrschaften bezahlen.
Für die drei von mir berücksichtigten Hauptgruppen von Krankheiten er¬
geben sich folgende Zahlen bei den versicherungspflichtigen weiblichen Mitgliedern
der Leipziger Ortskrankenkasse. Auf 1000 Personen berechnet litten an:
Bureau- u. Laden¬
personal
Dienstmädchen
Köchinnen
Krankheiten des
Nervensystems
f 13,1 Fälle
< 418 Tage
{ 0,12 Todesfälle
7,1 Fälle
269 Tage
0,29 Todesfälle
10,3 Fälle
311 Tage
0,0 Todesfall
Kraukheiten der
Atmungsorgane und
Tuberkulose
\ 32-
I 907-
l 0,44 H
Tuberkulose
- 3,3 Fälle
- 279 Tage
- 0,99 Todesf.
Tuberkulose
23,6 + 2X»
883 + 172 Tage
0,68 + 1,02 Todesf.
Tuberkulose
23,3 + 1,9 Fälle'
706 + 108 Tage
0,50 + 0 Todesf.
Krankheiten der
V erdauungsorgane
und Blutarmut
f 57,9-
| 1059 -
l 0,23 H
Blutarmut
-62,1 Fälle
- 1649 Tage
- 0,06 Todesf.
Blutarmut
39,1+22,3 Fälle'
677 + 737 Tage
0,58 — 0,05 Todesf.
Blutarmut
45,9 + 30^Fäii?
1203 + 983 Tage
0,76 + 0 Todesf.
Von einigem Interesse ist noch die Trennung von Bureau- und Ladenpersonal
(auf 1000 Personen).
106 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
j Bureaupersonal
Ladenpersonal
Nervenkrankheiten
( 14,7 Fälle
x 504 Tage
{ — Todesfälle
12,3 Fälle
372 Tage
0,8 Todesfälle
Krankheiten
der x4.tmungsorgane
und Tuberkulose
{ 30,0 + 4,1 Fälle
870 + 308 Tage
{ 0,25 + 0,91 Todesfälle
33,2 + 2,8 Fälle
927 + 264 Tage
0,54 + 1,04 Todesfälle
Krankheiten
der Verdauungsorgane
und Chlorose
( 49.1 + 53,1 Fälle
879 + 1316 Tage
( 0 + 0,08 Todesfälle
62,5 + 67 Fälle
1157 + 1830 Tage
0,36 + 0,05 Todesfälle
Die Tabelle ergibt ein Überwiegen der Nervenkrankheiten und der Tuber¬
kulose bei dem Bureaupersonal, ein Überwiegen der Verdauungs- und Atmungs¬
organkrankheiten bei dem Ladenpersonal.
Von den freiwilligen Mitgliedern der Krankenkasse waren 1181 (885 bis 35
Jahre alt) zum Ladenpersonal gehörend, 3636 (2029 bis 35 Jahre alt) waren Dienst¬
mädchen in Privathäusern. Die Morbidität auf 1000 Standesangehörige be¬
rechnet war:
• Ladenpersonal
Dienstboten
Nervenkrankheiten
/ 50.0 Fälle
\ 2835 Tage
25,6 Fälle
1135 Tage
Krankheiten der Atmungs¬
organe und Tuberkulose
( 86,4 + 16,9 Fälle
\ 4000 +1487 Tage
61.1 + 10,5 Fälle
2849 + 611 Tage
Krankheit, d. Verdauungs¬
organe und Chlorose
f 103,3 + 199 Fälle
V 3759 + 6623 Tage
73,2 + 42,9 Fälle
2285 + 1627 Tage
Aus diesen Zahlen sollen nur einige hervorgehoben werden:
Doppelt so viel zum Bureaupersonal gehörende Frauen erkranken an Nerven¬
aff ektionen als Dienstboten (14,7 : 7,0 auf 1000). Auch bei dem freiwillig ver¬
sicherten Ladenpersonal ist die entsprechende Zahl 50 zu 25,6 bei den Dienstboten.
Die durch Lungenkrankheiten und Tuberkulosen bedingten Krankheitstage des
freiwillig versicherten Ladenpersonals zu der entsprechenden Zahl der Dienstboten
verhält sich wie 100:63. Die Zahlen für die durch Verdauungskrankheiten und
Chlorose der freiwillig versicherten Ladnerinnen und Dienstboten hervorgerufenen
Krankheitsfälle verhalten sich sogar wie 100 : 37,6. Fast doppelt so groß ist die
Tuberkulosemorbidität der Bureauangestellten 3,3 wie die der Köchinnen (1,9); sie
ist auch um 33 Proz. größer als die der Dienstmädchen.
Die Summe der Krankheitstage des Bureaupersonals, der Dienstboten, der
Köchinnen an den drei Krankheitskategorien sind 4312, 2914, 2311. Nimmt man
für den Dienstbotenberuf, zu dem doch Köchinnen auch gehören, den Durchschnitt,
so ergibt sich 2612, d. h. die Morbidität der kaufmännischen Angestellten verhält
sich zu der des Hausgesindes wie 5:3. Für die freiwillig Versicherten betragen
dieselben Zahlen etwa 20 : 9.
Es ist zwecklos, auf Einzelheiten einzugehen, da die Statistik, wie oben er¬
wähnt, durch eine Beihe Faktoren beeinflußt wird, die ich in meiner eigenen
Arbeit mehr berücksichtigt habe. (Einfluß der kurz dauernden Krankheitsfälle,
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 107
ungünstiges Material der in Gewerbebetrieben beschäftigten Dienstboten, geringe
Brauchbarkeit der Zahlen der freiwillig Versicherten usw.) Die Statistik ergibt
aber zweifellos, das gesundheitlich in den drei Krankheitsgruppen, Nervenkrank¬
heiten, Atmungsorgankrankheiten und Tuberkulose, Verdauungsorgankrankheiten
und Chlorose, das weibliche Bureau- und Ladenpersonal wesentlich ungünstiger
sich verhält als die Dienstboten.
Das Material der Leipziger Ortskrankenkasse hat also die von mir gefundenen
Zahlen durchaus bestätigt. Sie hat auch die von mir betonte Zunahme der
Morbidität speziell des Nervensystems mit dem zunehmenden Alter ergeben. Es
verhalten sich für die Krankheiten des Nervensystems:
Altersklassen Alle Berufe Bureau- und
Kontorpersonal
15—34 0,16 0,20
35—53 0,84 1,01
55—74 3,36 6.33
Daß die hier gegebenen Zahlen sich auf Männer und Frauen beziehen ist
für unsere Frage belanglos.
Im Anschluß an die Morbiditätsverhältnisse des weiblichen kaufmännischen
Personals und der Dienstboten soll noch einer anderen oft ventilierten Frage ge¬
dacht werden.
Man hat (z. B. Wolf Becher und D. Munter in der Diskussion meines
Vortrages) das Eindringen der Frauen in den kaufmännischen Beruf als ein soziales
Emporsteigen bezeichnet. Es mag die Richtigkeit dieser Behauptung dahingestellt
bleiben. Ob ein Mädchen aus gutem Haus, das eine Reihe von Jahren Erzieherin
fremder Kinder gewesen ist, sozial unter einer Stenotypistin steht, erscheint mir
zweifelhaft. Eine Köchin, die heiratet, kann z. B. als Frau eines Gastwirts ihre
Kenntnisse ebensogut verwerten, wie eine Warenhauskassiererin. Die „soziale
Bewertung“ ist ein stets wechselnder Faktor; man denke an die verschiedene
Bewertung, die 1860 und 1910 ein Arzt, ein Richter, ein Industrieller gehabt
haben. Man hat aber auch als Zeichen des niedrigen moralischen Standes der
Dienstboten auf die Häufigkeit der unehelichen Geburten hingewiesen. Es ist ja
eine bekannte Tatsache, daß die Dienstmädchen zu der Zahl der unehelichen
Mütter einen sehr großen Kontingent steilen. Ich habe aber schon in einer Ver¬
sammlung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten
darauf hingewiesen, daß man aus der Zahl der unehelichen Geburten keinen
Schluß auf die Unmoralität machen darf. Hier kann nur der praktizierende Arzt,
nicht der Statistiker die Wahrheit kennen. In einem höheren Sinne spricht näm¬
lich eine große Zahl von unehelichen Geburten gerade für die Moralität, d. h. für
die Moralität, die in der Austragung eines lebenden Kindes liegt. Es ist ja be¬
kannt, daß nur ein kleiner Teil der Aborten zur ärztlichen Kenntnis kommt.
Trotzdem ist die Zahl der Aborte im Verhältnis zur Zahl der Entbindungen ein
gewisser Gradmesser.
Die Leipziger Ortskrankenkasse gibt nun einige bemerkenswerte Zahlen.
Es wird über 7852 Köchinnen und 19 840 Dienstmädchen, also 27 692 zum
Dienstbotenstande gehörende Personen berichtet, auf die 428 Wochenbette und 91
Aborte kamen. Die Zahl der Aborte verhielt sich zur Zahl der Entbindungen wie
21 : 100 oder wie 1 : 5.
Auf 33 889 zum Bureau- und Kontorpersonal gehörende Frauen kamen 230
Entbindungen und 69 Aborte.
108 Aus <lei’ Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Die Zahl der Aborte verhielt sich zur Zahl der Entbindungen wie 30 : 100,
oder wie 1:3.
Für das Kontor- und Bureaupersonal sind die Zahlen 34,3:100; für das
Ladenpersonal 28,1 : 100.
Man darf wohl annehmen, daß die Zahl der verheirateten versicherungs¬
pflichtigen Mitglieder beider Stände gleich gering ist, daß die Zahl der nicht zur
ärztlichen Kenntnis gekommenen Aborte mindestens für beide Stände gleich groß
ist. Man kann sogar behaupten, daß die in unabhängiger Stellung befindlichen
kaufmännischen weiblichen Angestellten öfter Gelegenheit gehabt haben, bei
Aborten auf die Hilfe der Krankenkasse zu verzichten. Man darf wohl auch be¬
tonen, daß eigentlich die größere körperliche Anstrengung gerade die Dienstboten
mehr zum Abort disponiert, als das Bureaupersonal. Die Zahlen beweisen aber
stringent, daß man aus der Zahl der unehelichen Geburten allein nicht auf die
Moralität eines Standes schließen darf.
Allgemeine Schlüsse möchte ich aus dem beigebrachten Material nicht ziehen;
zweifellos beweisen die Zahlen der Leipziger Ortskrankenkasse, daß die von mir
in meinen früheren Arbeiten gefundenen Morbiditätsziffern keine aus willkürlicher
Gruppierung und Sichtung sich ergebende zufällige Werte waren. Selbstverständ¬
lich kann auch die Leipziger Statistik gewisse Einwände nicht widerlegen:
zweifellos stammt der größte Teil des weiblichen kaufmännischen Personals aus
der Großstadt, des Dienstpersonals aus der Kleinstadt resp. vom Lande. Es soll
hier nicht erörtert werden, ob die Großstadtbevölkerung für die konstitutionellen
Krankheiten so viel mehr disponiert ist, als die ländliche. Ist es aber der Fall,
so sind doch die für die Krankheiten disponierenden Berufe gewiß ungeeignet.
Vielfach wurde behauptet, daß sich vorwiegend schwache und zu konstitutionellen
Krankheiten disponierte Frauen dem kaufmännischen Beruf zuwenden; statistisch
läßt sich die Behauptung natürlich nicht widerlegen. Ich möchte aber betonen,
daß die von mir früher gewonnenen Zahlen der Krankenkasse des kaufmännischen
Verbandes entstammen; die freie Hilfskasse nimmt nur solche Mitglieder auf, die
bei einer vertrauensärztlichen Untersuchung als gesund befunden worden sind. Die
allgemeine ärztliche Erfahrung spricht auch dagegen, daß kränkliche Individuen
den Kaufmannsberuf ergreifen, und, was noch wichtiger ist, beibehalten. Sie
werden aus der großen körperliche Anforderungen stellenden Tätigkeit sehr bald
eliminiert.
Wer in der Frau nicht nur ein gewerbstätiges Individuum, sondern die
Mutter der nächsten Generation sieht, wird die zunehmende Morbidität der Frauen
an konstitutionellen Krankheiten infolge der Industrialisierung als eine für unsere
nationale Zukunft hochernste Tatsache ansehen. Ob heute noch Abhilfe geschaffen
werden kann, scheint sehr zweifelhaft. Eine gewaltige Flut einzudämmen, nach¬
dem einmal die schützenden Deiche durchstochen und abgetragen sind, geht über
Menschenkräfte; niemand vermag heute zu sagen, ob die Heilkräfte, die jeder
gesunde Volksorganismus — und nur ein solcher kann überhaupt bestehen — be¬
sitzt, die angedeuteten Schädigungen überwinden können. Bis dahin kann ver¬
sucht werden, durch die kleinen Mittel der prophylaktischen Hygiene die Schäden
für das Individuum nach Möglichkeit zu vermindern. Je wirksamer aber all
♦diese Mittel sind, desto mehr setzten sie die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit
der Frau herab, verringern damit die Löhne und führen neue Schädigungen herbei.
Ich glaube, wir müssen offen auf diesem wichtigen Gebiet bekennen: Wir haben
die Krankheit erkannt, eine Therapie kennen wir nicht.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend
in Pommern.
Von Professor Dr. Erich Peiper,
Direktor der Kgl. Univers.-Kinderklinik in Greifswald.
1
Im November 1907 richteten die Zentralstelle für Volks Wohl¬
fahrt und der deutsche Verein für ländliche Wohlfahrts- und Heimats¬
pflege eine Eingabe an die Staatsregierungen sämtlicher Bundes¬
staaten betreffend die Unterernährung auf dein Lande und deren
Folgeerscheinungen. In dieser Eingabe wurde darauf hingewiesen,
daß im Gegensatz zu der Hebung der sozialen Lage der städtischen
Arbeiterfamilien und der Besserung in den Ernährungsverhältnissen
derselben durch die moderne Entwicklung der Landwirtschaft ein
Bückgang in derErnährung und in der körperlichen Entwicklung
der ländlichen Bevölkerung sich anbahne. Die erhebliche Zunahme
des Geldverkehrs auf dem Lande habe dazu geführt, daß der Land¬
mann zum Nachteil der Befriedigung seines eigenen Bedarfs die
Bodenerzeugnisse, Schlachtvieh, Milch und Butter nach den in
steter numerischer Zunahme befindlichen Städten verkaufe.
Die „Entmilchung“ des Landes, d. h. der Verkauf der verfüg¬
baren Vollmilch, berücksichtige nicht mehr das Bedürfnis des eigenen
Haushaltes, der Genuß gehaltsarmer Magermilch oder minderwertiger
Surrogate werde aber durch den jetzigen landwirtschaftlichen
Betrieb gefördert. Im Hinblick auf die in der Schweiz gemachten
Erfahrungen wird in der Eingabe der Befürchtung Ausdruck ge¬
geben, daß durch den Kückgang kräftiger Milchnahrung auch eine
Abnahme der Wehrkraft des deutschen Volkes herbeigeführt werde.
Diese Gefahr muß besonders in den Landesteilen zum Ausdruck
kommen, in denen die normale Grundlage für das körperliche und
geistige Gedeihen der Kinder fehlt, d. h. die natürliche Ernährung
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 8
110
Erich Peiper,
der Säuglinge an der Mutterbrust in mehr oder minder starker
Abnahme begriffen ist. Denn hier gerade besteht die hohe Gefahr,
daß durch minderwertige Ersatzmittel, die in marktschreierischer
Weise als der beste Ersatz der Muttermilch angepriesen wTerden,
der Säugling an Leben und Gesundheit schwer geschädigt wird.
Die Säuglingssterblichkeit wie die Sterblichkeit
der Kinder bis zum 10. Lebens j ahre geht parallel der
künstlichen Ernährung.1)
Der Einfluß der minderwertigen Ernährung kommt aber auch
weiterhin zum Ausdruck bei dem Musterungsgeschäfte des Heeres.
Die Untersuchungen von Prinz in g, der die Tauglichkeitsziffern
der Rekrutierungsbezirke der verschiedenen deutschen Armeekorps
mit der Säuglingssterblichkeit verglich, haben zur Genüge erwiesen,
daß Kindersterblichkeit üb er und Tauglichkeit unter dem Mittel
mit überraschender Gesetzmäßigkeit zusammentrifft. Auch v. Vogl
kommt in seiner Arbeit „Die wehrpflichtige Jugend Bayerns“ zu dem
Ergebnis: „Das Gebiet niederer Tauglichkeit ist in Bayern durch¬
aus eingeschlossen in das der höchsten Kindersterblichkeit. Bezirke
mit besonders hoher Tauglichkeit liegen in Bayern im Gebiete der
geringsten Kindersterblichkeit.“ Mit diesem Nachweise, wird in der
Eingabe hervorgehoben, ist nicht bloß der Zuzamrnenhang zwischen
Säuglingssterblichkeit , Still wert und Militärtauglichkeit, sondern
auch die unheilvolle Beziehung zwischen Milchmangel und geringer
Militärtauglichkeit gegeben.
Sollte es sich tatsächlich ergeben, daß die Volksernährung
durch die Entmilchung des Landes und durch andere gleich ver¬
hängnisvolle Einwirkungen auf die Menge und Auswahl der Nahrungs¬
mittel gelitten hat, so sind die in der obigen Eingabe befürchteten
Schädigungen der Volksgesundheit in ihrem Einflüsse auf die
Wehrkraft unseres Volkes von außerordentlicher Bedeutung.
Diese Ausführungen der Zentralstelle für Volks Wohlfahrt
sind der Anlaß zu einem Erlasse des Ministers des Innern und
des Ministers der geistlichen-, Unterrichts- und Medizinalan¬
gelegenheiten (M. d. I. II b. 2538. M. d. g. A. M. 9501/07) unter
dem 16. Juni 1908 an die Regierungspräsidenten geworden, Er¬
mittelungen anzustellen „über die angeblichen Mängel in der Er¬
nährung auf dem platten Lande infolge der Entziehung von Milch
und Butter aus dem ländlichen Haushalte, sowie über die damit
9 Kuzuya, Der Einfluß der Säuglingssterblichkeit auf die Wertigkeit der
Überlebenden. München 1910. Inaug.-Diss. aus der Greifswalder Kinderklinik.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
111
zusammenhängende Herabsetzung der körperlichen Entwicklung
der Landbewohner.“
Eine Reihe von Behörden, die Landräte, Kreisärzte etc. insbe-
• • • •
sondere auch die Ärztekammern sind zu gutachtlichen Äußerungen
über die in Rede stehende wichtige Frage aufgefordert worden.
Ich habe das Resultat nach den Berichten der Ärztekammern an
anderer Stelle1) dahin zusammengefaßt, daß von den Ärzten in
allen Provinzen vielfach, wenn auch keineswegs übereinstimmend,
eine Abnahme des Milchkonsums auf dem Lande für vorliegend er¬
achtet wird. Zum Teil ist diese Erscheinung schon vor dem Auf¬
schwünge des Molkereibetriebes beobachtet, teilweise ist dieselbe
anscheinend durch die Molkereien gefördert worden. An Stelle
der Milch kommen oft minderwertige Surrogate im Haushalte zur
Verwendung. Nur vereinzelt erscheint aber die Milchbeschaffung
erschwert zu sein.
„Vergnügungssucht, Putzsucht, Alkohol- und Tabakmißbrauch,
frühzeitige schwere Arbeit der Kinder, der Wegzug der kräftigen
Leute nach den Städten oder industriellen Zentren, schlechte Er¬
nährung und Überarbeitung des weiblichen Geschlechtes werden
neben der minderwertigen Ernährung als Gründe für die auf dem
Lande, wenn auch nicht überall, so doch vielfach beobachtete
Unterernährung und für das Zurückgehen der körperlichen Ent¬
wicklung geltend gemacht.“ x)
Es ist ungemein schwer, sich ohne statistisches Grundmaterial
nur nach persönlichen Anschauungen oder gelegentlichen Beobach¬
tungen über diese für die Volksgesundheit so überaus wichtige Frage
gutachtlich zu äußern. Wir Ärzte werden überhaupt kaum in die
Lage kommen, die rein wirtschaftliche Seite der Frage, ob eine
Entmilchung des Landes, im Sinne der Entziehung der für den
Haushalt notwendigen Kuhmilch, eingetreten ist oder einzutreten
droht, richtig beurteilen zu können. Vom ärztlichen Standpunkte
aus sind wir aber recht wohl in der Lage, der wichtigen Frage
näher zu treten: Ist im Säuglingsalter , zu derjenigen Zeit also,
wo durch eine richtige Ernährung die Grundlagen für Gesundheit
und Kraft der Menschen gelegt werden, die Säuglingsernährung
und Pflege so beschaffen, daß eine Gefährdung der A^olksgesundheit
nicht zu befürchten ist? Die Beantwortung muß hervorgehen aus
der Feststellung des Stillwertes sowie derjenigen Maßnahmen,
welche die Bevölkerung eines bestimmten Gebietes für eine rich-
3) Concordia Nr. 1, 1911.
8*
112
Erich Peiper
tige Kindespflege trifft. Auch die zweite Frage, ob eine Unterer¬
nährung tatsächlich eingetreten und zu einem Rückgänge der
körperlichen Entwicklung geführt hat, läßt sich nur an der Hand
eines größeren, nach bestimmten Gesichtspunkten hin gewonnenen
Materials, der Entscheidung näher bringen.
Als geignetes Arbeitsfeld wählte ich mir die Provinz Pommern.
Dank der arbeitsfreudigen Mitarbeit der pommerschen Impfärzte
— nur 4 Kreise schlossen sich aus — gelang es, den Stillwert
der einzelnen Kreise der Provinz Pommern festzustellen. Das Ver¬
fahren, den Stillwert durch Befragen der Mütter bei den Impfter¬
minen festzustellen, ist ohne Zweifel ein brauchbares. Fehlerquellen
begegnen wir freilich auch hier und zwar besonders in den Ortschaften
und Kreisen, wo hohe Säuglingssterblichkeit viele Opfer fordert.
Da die Mütter der dahingerafften Kinder nicht befragt werden
können, erscheint der Stillwert in Kreisen mit hoher Säuglings¬
sterblichkeit dementsprechend relativ höher, als dort, wo in Folge
geringeren Sterbens fast alle Mütter bei den Impfterminen erscheinen.
Im ganzen wurden im Sommer 1909 auf den Stillwert 12317
Säuglinge untersucht. Es erhielten im Bezirk Stettin (ohne Stadt¬
kreis Stettin) von 5448 Säuglingen 60,9 Proz., im Bezirk Köslin
von 4671 Kindern 77,4 und im Bezirk Stralsund von 2198 Säug¬
lingen 57,7 Proz. die Mutterbrust. Im Bezirk Stettin und Stral¬
sund mit hoher Säuglingssterblichkeit (24,6 bezw. 22,8 Proz.) ist die
Zahl der nichtstillenden Mütter fast doppelt so groß als im Bezirk
Köslin, wo die Säuglingssterblichkeit eine wesentlich geringere,
nämlich nur 17,2 Proz. beträgt.
Die nachfolgende Tabelle ergibt den Stillwert der einzelnen
Kreise. In denjenigen Kreisen, in welchen die Höhe des Zahlen¬
materials einen Vergleich des Still wertes in Stadt und Land zuließ,
wird derselbe für Stadt und Land noch gesondert angeführt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
In denjenigen Kreisen Pommerns, in welchen die natürliche
Ernährung an der Mutterbrust eine verbreitete ist, zeigt die Säug¬
lingssterblichkeit einen wesentlich tieferen Stand als in den Kreisen,
in welchen der Stillwert ein geringer ist. An anderer Stelle1)
habe ich des weiteren darauf hingewiesen, daß die Abnahme der
natürlichen Ernährung Hand in Hand geht mit einer Verminderung
der Stilldauer. In denjenigen Kreisen der Provinz, in denen noch
9 Peiper-Pauli, Die Säuglingssterblichkeit in Pommern, ihre Ursachen
und ihre Bekämpfung. Klinisches Jahrbuch, XXIII. Bd.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
113
Von 100 Erstimpflingen hatten im Sommer 1909 erhalten:
Kreis
Brust
in Stadt
Flasche
u. Land
Bn
Stadt
ist
Land
Säugling
keit !
Stadt
ssterblich-
L 901/05
Land
Demmin
75,3
Bezirk
24,7
Stettin :
25,7
21,1
Anclam
57,1
42,8
—
—
27,8
21,5
Usedom
—
—
—
—
23,4
23,3
Ueckermünde
56,8
43,1
— •
—
27,9
25,4
Bandow
55,3
44,7
—
—
26,2
28,2
Stettin
—
—
—
—
27,8
Greifenhagen
54,6
45,4
62,0
51,8 9
25,9
26,1
Pyritz
68,5
31,5
64,3
69,7
27,0
24,1
Saatzig
55,3
44,7
64,3
60,0 b
22,4
18,3
Naugard
61,0
39,0
—
22,3
22,2
17,9
Kammin
63,8
36,2
—
—
19,8
Greifenberg
68,2
31,3
68,7
69,0
24,3
19,7
Begenwalde
85,1
14,9
92,3
83,2 b
20,3
15,6
Schivelbein
Bezirk
Köslin:
19,5
14,6
Dramburg
76,6
23,4
—
—
19,4
15,2
Neustettin
80,5
19,5
74,8
81,9
21,1
21,6
14,2
Belgard
83.4
16,6
77,1
73,3
87,8
16.3
Kolb erg
71,9
28,1
68,8 b
23,5
16,7
Köslin
59,8
40,2
—
20,9
18,7
Bublitz
77,8
22,2
76,9
78,0
21,7
15,8
Schlawe
—
—
—
—
21,4
16,7
Bummelsburg
82,2
17,8
—
—
16,2
14,6
Stolp
76,0
24,0
70,0
82,8
20,9
16,4
Lauenburg
83,2
16,8
77,6
84,3
19,9
14,5
Biitow
86,0
14,0
—
—
18,9
15,8
Bügen
57,4
Bezirk S
42,6
tralsund :
61,4
54,5 b
22,8
20,5
24,1
Stralsund
78,5
21,4
58,0
63,3
—
Franzburg
58,1
41.8
—
—
23,2
21,9
26,3
Greifswald
67,0
33,0
70,7
63,2 b
21,2
25,7
Grimmen
29,8
70,2
—
—
23,8
9 Der Stillwert ist anf dem Lande geringer als in der Stadt.
im letzten Quartal des 1. Lebensjahres die Mutterbrusternährung
einen hohen Stand zeigt, ist die Säuglingssterblichkeit eine niedrige.
Kreise mit kurzer Stilldauer zeigen hohe Säuglingssterblichkeit.
Im allgemeinen hat in der Stadtbevölkerung die Ausbreitung
der natürlichen Ernährung an Umfang erheblicher abgenommen
als auf dem Lande. Jedoch ist schon in den Kreisen Greifenhagen,
Regenwalde, Saatzig, Rügen und Greifswald auf dem Lande ein
Tiefstand der natürlichen Ernährung gegenüber den Stadtgemein-
114 Erich Peiper,
den bemerkbar. Gleichzeitig ist die Stilldauer in diesen Kreisen
wesentlich verkürzt.
Eine Kundfrage, welche ich betreffs der Säuglingsernährung
und anderer diesbezüglichen Fragen an die Ärzte der Provinz
richtete, ergibt zur Evidenz, daß nicht die Stillfähigkeit
sondern die Stillhäufigkeit abgenommen hat.
Es war bei der Durchsicht der Stilllisten besonders auffällig
der Umstand, daß sehr oft in einzelnen Ortschaften desselben
Kreises die Ausbreitung einer bestimmten Ernährungsart die ab¬
solut vorherrschende war, während in benachbarten die entgegen¬
gesetzte Kinderernährung sich weit verbreitet zeigte. Derartige
ganz auffällige Unterschiede lassen sich nicht durch Kasseneigen¬
tümlichkeiten der Bevölkerung, nicht durch etwaige degenerative Pro¬
zesse in der Drüsenentwicklung der weiblichen Brustdrüse, sondern
nur durch das Vorhandensein bestimmter örtlicher Einflüsse, tradi¬
tioneller Anschauungen und Gewohnheiten, vor allem durch das Vor¬
handensein oder Fehlen sachkundiger Beratung in Fragen der
Kinderernährung erklären.
Das Daniederliegen der Kenntnisse der Grundgesetze der Kindes¬
ernährung und Pflege, im besonderen der Stilltechnik, die Unkennt¬
nis des Wertes der Mutterbrusternährung, die Gleichstellung
oder geradezu Überschätzung der Flaschenkost, die Reklame, welche
mit den künstlichen Nährmittelfabrikaten getrieben wird, unzweck¬
mäßige Beratung durch Unerfahrene werden zumeist als Ursache
des Rückganges der natürlichen Ernährung angegeben. Hinzu
kommt der Mangel an Pflichtgefühl und die Gleichgültigkeit vieler
Mütter, die, wie es in der Antwort eines Arztes heißt, „lieber
ihre Kinder umkommen lassen, als ihnen die Brust zu geben“. Ge¬
nußsucht, Bequemlichkeit und Faulheit werden als die landläufigen
Ursachen für die geradezu epidemische Ausbreitung der künstlichen
Ernährung angeführt.
• • • •
übereinstimmend wird von den Ärzten, die sich über diese Frage
geäußert haben, angegeben, daß nicht die Betätigung in landwirt¬
schaftlichen oder industriellen Betrieben die Mütter von der Brust¬
ernährung abhält, sondern die Überschätzung der mit vielen Zeug¬
nissen versehenen Kindermehle als „bester Ersatz der Muttermilch,“
die bequeme Gummischlauchflasche, welche mit einem halben oder
ganzen Liter Kuhmilch zum beliebigen Gebrauch dem Säuglinge in
den Mund gesteckt wird, wie die völlige Unkenntnis der Grundsätze
einer geordneten Kinderpflege. Nicht der Mangel an Kuh¬
milch, sondern das hohe Vertrauen, welches die Pro-
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
115
dukte der Molkereien bei der Bevölkerung genießen,
sind ganz allgemein die Ursache des Bück ganges der
Brusternährung, der damit verbundenen hohen Säug¬
lingssterblichkeit, derVerschlechterungdes Gesund¬
heitszustandes und der geringeren Widerstands¬
fähigkeit unserer Kinderwelt gegenüber krank¬
machenden Einflüssen.
Gebiete mit hoher Säuglingssterblichkeit zeigen auch in den
nächstfolgenden Jahren eine höhere Lebensbedrohung als nach
den allgemeinen gesundheitlichen Verhältnissen zu erwarten wäre.
Unter Anderen hat Kuzuya den Einfluß der Säuglingssterb¬
lichkeit auf die körperliche Wertigkeit der Überlebenden unter
Berücksichtigung der Wanderungen in den einzelnen preußischen
Provinzen während der Jahre 1881 — 1890 bis zum 15. Lebensjahre
hin verfolgt. Wir stellen aus den dortigen Tabellen die Säuglings¬
und Kindersterblichkeit aus 3 bezüglich der Sterblichkeit un¬
günstigen Provinzen gegenüber 3 Provinzen mit niederer Säug¬
lingssterblichkeit.
Von 1000 Lebendgeborenen starben im:
2.
3.
5. 6
7.
8. 9.
10.
11. 12. 13.14.115.
Lebensjahre
Provinzen mit hoher Säuglingssterblichkeit:
in Ostpreußen
„ Westpreußen
„ Pommern
Knaben
246,9
83,4
48,5
32,9
24,4
15,1
11,3
8,7
6,9
4,9
4,4
3,6
3,5
3,2
Mädchen
219,8
80,8
46,2
32,7
23,6
15,8
11,2
8,4
6,5
5,4
4,4
3,6
3,9
3,6
Knaben
255,9
69,2
38,0
27,2
18,7
12.8
9,4 6,4
5,5
4,5
3,7
3,0
3,0
2,6
Mädchen
224,6
67,4
36,5
25,9
19,5
12,7
9,5
7,2
5,6
4,7
4,0
3,7
3,2
3,2
Knaben
228,0
59,5
31,4
29,1
19,3
12,610,1
7,7
5,4
4,3
4,0
3,4
3,0
3,2
Mädchen
199,5
58,2
30,2
27,1
17,6
12,9 10,4
’ 1
7,4
6,1
4,7
4,1
3,7
3,2
3,3
3,4
3,3
2,9
3,0
2,4
3,3
Provinzen mit geringer Säuglingssterblichkeit:
„ Schleswig-Holstein
„ Hannover
„ Westfalen
Knaben
171,6
44,7
20.5
15,1
11,8
9,0
7,5
5,8
4,6
3,8
2,9
2,9
2,5
2,2
Mädchen
147,2
43,4
21,2
14,5
11,2
9J
7,1
6,4
4,5
3,5
3,1
2,7
2,7
2,8
Knaben
166,9
53,3
26,1
16,8
12,7
9,3
7,2
5,6
4,4
3,6
3,0
3,1
2,3
2,3
Mädchen
141,0
51,9
26,5
17,1
12,6
9,3
7,5
5,5
5,0
3,6
3,1
3,0
2,9
3,0
Knaben
163,8
62,2
30,5
19,4
13,9
9,8
7,0
5,4
4,2
3,6
3,2
2,9
2,7
2,5
Mädchen
139,3
59,7
30,8
20,0
14,1
10,0
7.6
9,7
4,6
4,1
3,5
3,2
3,3
3,4
2,4
2,4
2,6
3,0
3,2
3,6
Es ist von vornherein wenig wahrscheinlich, daß ein Volk bei
hoher Säuglingssterblichkeit im Nachwuchs dadurch gesünder und
kräftiger wird, daß im ersten Lebensjahre ein erheblicher Teil der
116
Erich Peiper,
Schwächlinge den Säuglingskrankheiten zum Opfer fällt. Die
obigen Zahlen lehren zur Genüge, daß die durch die allgemeinen
ungünstigen Gesundheitsverhältnisse gelichteten Reihen der Säug¬
linge auch in den nachfolgenden Lebensjahren noch weiter dezimiert
werden trotz besserer Gesundheitsbedingungen und trotz der schär¬
feren Auslese. Die häufigste Säuglingskrankheit, die durch die
unnatürliche Ernährung zumeist mit Kuhmilch oder Mehlpräparaten
hervorgerufenen Verdauungs- und Ernährungsstörungen, tötet nicht
nur die schwächlichen Kinder, auch die anscheinend gesündesten
und kräftigsten sterben dahin oder erleiden eine Einbuße an ihrer
Gesundheit, Nach den interessanten Untersuchungen des Landrates
Ra de mach er im Kreise Westerburg starben
im ersten im zweiten
Lebensjahre
von den mit Muttermilch ernährten
n » ohne „ „
8,53 Proz. 2,77 Proz.
20,04 „ 5,52 „
Auch Ko epp e1) kommt in seinen Untersuchungen zu dem Schluß,
daß schon früh im 1. Lebensjahre einsetzende Fürsorge im 2. und 3. Le¬
bensjahre sich segensreich bemerkbar macht und reiche Zinsen an
der Gesundheit und im Wohlergehen in Aussicht stellt. Bis zum 10.
Lebensjahre und selbst darüber hinaus ist die Zahl der den Kinder¬
krankheiten zum Opfer fallenden Kinder in den Provinzen mit
hoher Säuglingssterblichkeit eine höhere als in den Gebieten, wo
im ersten Lebensjahre durch richtige Ernährung und Pflege die
Grundlagen für spätere Kraft und Gesundheit gelegt werden.
Bahnt sich tatsächlich, wie in der eingangs erwähnten Denk¬
schrift behauptet wird, ein Rückgang der körperlichen Entwicklung
insbesondere der ländlichen Bevölkerung an, so liegt in erster
Linie die Ursache in der falschen Ernährung im Säuglingsalter,
die geradezu epidemisch verbreitet ist. Wie maßgebend für die
ganze körperliche Entwicklung die im Säuglingsalter durchgeführte
Ernährung ist, lehren in unzweideutiger Weise die Untersuchungen
Rußow’s 2) an Petersburger Kindern. In der nachfolgenden Tabelle
bedeutet A natürliche Ernährung B. Flaschenkost. Am Schlüsse
wogen durchschnittlich :
x) Koeppe, Säuglingsmortalität und Auslese im Darwinschen Sinne. Münch,
med. Woch., Nr. 32, 1905 und Nr. 5, 1906.
2) Jahrbuch für Kinderheilkunde Bd. XVI, S. 86
Die körperliche Entwicklung: der Schuljugend in Pommern.
117
im
1.
Jahre
A.
Kinder
9,9
kg
Körperlänge 75
cm
B.
55
7,4
55
„ 66
55
im
2.
Jahre
A.
55
11,1
55
„ 83
55
B.
55
8,6
55
„ 75
55
im
3.
Jahre
A.
55
12,6
55
„ 89
55
B.
55
10,5
55
„ 83
55
im
4.
Jahre
A.
55
14,2
55
„ 93
55
B.
55
12
y,
87
55
im
5.
Jahre
A.
55
15,3
55
„ 100
55
B.
55
13,4
55
98
55
im
6.
Jahre
A.
55
17
55
„ 106
55
B.
55
15,7
55
„ 102
55
im
7.
Jahre
A.
n
18,2
55
„ 110
55
B.
55
15,9
55
105
55
im
8.
Jahre
A.
55
20,7
y
„ 116
55
B.
55
18,3
55
„ H3
55
Die Grundlage für eine gute körperliche Entwicklung wird
in die Schule mitgebracht und erhält sich hier trotz des Ein¬
flusses der Schule.
Der günstige Einfluß der natürlichen Ernährung auf die Kör¬
perkonstitution des späteren Kindesalters muß sich statistisch zum
Ausdruck bringen lassen durch einen Vergleich der körperlichen
Wertigkeit der Schulkinder aus Bezirken und Kreisen mit hohem
Stillwert gegenüber solchen Gebieten, in welchen die unnatürliche
Ernährung im Säuglingsalter vorherrscht. Fast aus allen Kreisen
Pommerns war mir der Stillwert dorfweise bekannt. Ich suchte
bei den Kegierungspräsidenten der drei pommerschen Begierungs-
bezirke die Erlaubnis nach, die Normalmaße der Körperkonstitution :
Körpergewicht, Länge und Brustumfang durch die Lehrerschaft be¬
stimmen lassen zu dürfen. Mit ministerieller Genehmigung wurde
mir dieselbe erteilt.
Das wissenschaftlich interessante und praktisch wichtige Ge¬
biet der Körperkonstitutionsstatistik ist noch keineswegs erschlossen.
Für vergleichende Untersuchungen fehlt vor allem eine einheitliche
Methodik, Vornahme einer ausreichenden Zahl von Nacktwägungen,
jährliche Wiederholung der Wägungen bei denselben Kindern, Be¬
rücksichtigung der Ernährung, wie der sozialen und wirtschaft¬
lichen Verhältnisse.
Bei den nachstehenden Untersuchungen kam es darauf an, die
körperliche Wertigkeit einer größeren Beilie von Schulknaben aus
Kreisen mit geringer Säuglingssterblichkeit der Schuljugend aus
118
Erich Peiper,
Kreisen mit hoher Säuglingssterblichkeit gegenüberzustellen. Die
Resultate der Körpermessungen aus den Kreisen des Bezirkes
Köslin mit der geringsten Säuglingssterblichkeit sollten sodann mit
den diesbezüglichen Untersuchungen aus den ungünstigsten Kreisen
des Bezirkes Stettin (Demmin,Anklam, Ueckermünde, Stettin, Randow.
Greifenhagen) und den annährend ebensowenig günstigen vorpommer-
schen Kreisen (Rügen, Stralsund, Franzburg, Greifswald, Grimmen)
zum Vergleich gebracht werden.
Im Bezirke Köslin hatte auf meine Veranlassung mit Geneh¬
migung der Vorgesetzten Behörden die Lehrerschaft im Sommer
1910 Körpermessungen aber, nur bei 7 und 12jährigen Knaben
vorgenommen, deren Resultate ich an anderer Stelle x) veröffentlicht
habe. Die damals erhaltenen Resultate stimmen annährend mit
den im Jahre 1911 erhaltenen überein. Die vorjährigen Unter¬
suchungen waren jedoch der Anlaß zu der Bitte, die Zeitbestimmung
für die Messungen in eine genau begrenzte Zeit, auf den 22. — 27.
Mai zu legen, die Altersbestimmung nach Geburtstagen wie eine
genaue Bestimmung des Durchschnittsgewichtes der Kleider bei
den diesjährigen Messungen besonders zu beachten.
Nach Schmid-Monnard erfolgt die Gewichtszunahme aus¬
schließlich in den Monaten August bis Oktober, während sie vom
Februar bis Ende Juni fast stillsteht. Es schien daher zweck¬
mäßig, die Durchführung der Messungen in den Mai zu legen. Für
die Altersbestimmung wurde die Bezeichnung zwischen 6—7 Ge¬
burtstage usw. gemacht, um möglichst sorgfältig die einzelnen
Altersklassen von einander zu trennen. Schließlich wurden die
einzelnen Untersucher gebeten, bei je 3 Schulknaben das Gewicht
von Hemd und Hose, mit denen die Knaben bei den Wägungen
bekleidet waren, zu bestimmen. Auf diesem Wege war es möglich,
das Durchschnittsgewicht dieser Kleidungsstücke bei mehreren
Tausend Schulknaben, die im Alter von 6, 10 und 12 Jahren
standen, zu gewinnen. Es war notwendig, diesen WTeg einzuschlagen,
da ausdrücklich bestimmt worden war, Nacktwägungen, ebenso
Wägungen bei Mädchen, möglichst zu vermeiden.
Die vorliegenden Resultate der Wägungen des Kleidergewichtes,
die ich hierorts noch durch zahlreiche Nachwägungen kontrolliert habe,
ergaben, daß das durchschnittliche Kleidergewicht im 7. Lebens¬
jahre rund 500,0, im 10. Lebensjahre 650,0, im 12. Lebensjahre
9 Ein Beitrag zur Frage der körperlichen Entwicklung der Schuljugend.
Zeitschr. der Zentrale für Volks Wohlfahrt „Concordia“, Nr. 1, 1911.
Die körperliche Entwicklung“ der Schuljugend in Pommern.
119
750,0, im 13. und 14. Lebensjahre zwischen 800,0 bis 900,0 betrug.
Um eine einheitliche Gewichtsskala durchzuführen, habe ich 'vom
7. Jahre aufwärts das Gewicht von Hose und Hemd von Jahr zu
Jahr um 50 g zunehmen lassen und von den erhaltenen Körper¬
gewichten abgezogen. Dieses Vorgehen war nicht zu vermeiden,
da Nacktwägungen , die allein die Fehlerquellen nach dieser
Kichtung hin ausschließen, ausgeschlossen waren.
Für die Ausführung der Messungen habe ich folgende An¬
leitung jeder Liste beigelegt.
Anleitung
zur Vornahme der Körperwägungen und Messungen an Schulknaben.
1. Die Wägungen sind auf einer Dezimal- oder Brückenwage auszu¬
führen, Schuhe und Strümpfe sind auszuziehen. Die Knaben sind mit Hemd und
Hose bekleidet. Die Hosentaschen sind zu entleeren.
Die Messungen sind möglichst auf die Turnstunden in die Zeit zwischen dem
22.-27. Mai zu legen.
Das Gewicht ist in Grammen anzugeben.
Wünschenswert ist die Bestimmung des Gewichts von Hemd und Hose (leere
Tasche) bei einem Knaben von 6, 10 und 12 Jahren.
2. Die Bestimmung der Körperlänge geschieht ebenfalls ohne Schuhe und
Strümpfe. Die Länge ist durch ein am Türpfosten befestigtes Zentimetermaß zu
bestimmen.
3. Der Brustumfang wird mit einem Zentimetermaße auf entblößtem Ober¬
körper, in der Höhe der Brustwarze bei mittelstarker Atmung, horizontal seitwärts
gehobenen Armen bestimmt. Das Maßband ist mittelstark anzuziehen. Es ist zu
achten, daß dasselbe horizontal liegt.
Die Atmungsphase ist nicht berücksichtigt worden, weil es, wie auch Lands¬
berger betont, im Kindesalter unzweckmäßig ist, durch das Kommando des Ein-
und Ausatmens die Aufmerksamkeit der Kinder anzuspannen.
Die Anfang Mai 1911 versandten Listen kamen Ende Mai und
Anfang Juni zurück. 42528 Scliulknaben sind untersucht worden
und zwar
im Bezirk Stettin Köslin Stralsund
Stadt 3119 8 659 2 416
Land 3 348 _ 21 747 _ 3 239
6 467 30 406 5 655
Die Listen trugen folgenden vorgedruckten Kopf:
Welche Betätigung der Bevölkerung liegt vor? Landwirtschaftlich . . . .
Industriell .... Dorf . Kreis . Bezirk .
Die Messungen beziehen sich auf Knaben, welche standen zwischen dem
6. — 7. Geburtstage 7. — 8. Geburtstage usw. 13. — 14. Geburtstage
Gewicht Länge Umfang Gewicht Länge Umfang Gewicht Länge Umfang
120
Erich Peiper,
In den einzelnen Kreisen wurden untersucht:
Bezirk Stettin.
Stadt Land
Demmin
1202
Demmin
466
Anclam
215
Anclam
328
Ueckermünde
240
Ueckermünde
970
Stettin
746
Randow
1354
Greifenhagen
716
Greifenhagen
230
Summa:
3119
Summa
: 3348
Bezirk
Köslin:
Schivelbein
224
Schivelbein
868
Dramburg
582
Dramburg
1234
Neustettin
1230
Neustettin
3205
Belgard
78
Belgard
1784
Kolberg
1646
Kolberg
2289
Köslin
713
Köslin
1360
Bublitz
240
Bublitz
1027
Schlawe
831
Schlawe
2678
Rummelsburg
436
Rummelsburg
1549
Stolp
2059
Stolp
2982
Lauenburg
297
Lauenburg
1495
Bütow
323
Bütow
1276
Summa :
8659
Summa :
21747
Bezirk Stralsund:
Rügen
368
Rügen
664
Stralsund
333
Franzburg
788
Franzburg
195
Greifswald
928
Greifswald
1170
Grimmen
859
Grimmen
350
Summa
: 3239
Summa :
2416
Demnach wurden in den Städten bei 14194, auf dem Lande
bei 283B4 Knaben die Körperkonstitution nach Gewicht, Länge
und Brustumfang bestimmt. Soweit mir bekannt, ist das vorlie¬
gende Material das reichste, welches bisher zur Verwertung kam.
Es ist mir mehr wie eine Pflicht, wenn ich an dieser Stelle der
Lehrerschaft Pommerns für ihre unendliche Mühe besonders aber
auch für die Sorgfalt, welche von ihr auf die Messungen verwandt
wurde, meinen herzlichen Dank auszusprechen. Die Messungen
haben den Untersuchern eine unendliche Zeit und Mühe gekostet.
Die nachstehenden Tabellen geben eine Übersicht über die in
den einzelnen Kreisen vorgenommenen Messungen.
+3
o
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Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
125
Sämtliche Messungen betreffen nur Schüler der Volksschulen.
Sie lassen sich daher nicht ohne weiteres vergleichen mit den
sonst in der Literatur niedergelegten Resultaten, welche Kinder aus
den verschiedensten Volkskreisen aus dem Westen oder Osten, oder bei
verschiedenen Volksrassen betreffen. Bekannt ist, daß die Pommern
ein kräftiger Menschenschlag sind. Die pommersche Bevölkerung
ist wohl durchwegs, etwa abgesehen vom Kreise Bütow mit einer
polnischen Beimengung, eine rein deutsche.
Auf die physiologischen Eigenarten der Wachstumsverhältnisse
soll später eingegangen werden. Hier seien nur folgende allgemeine
Daten hervorgehoben.
Das Durchschnittsgewicht der zwischen dem 7.— 14. Jahre
stehenden Knaben aus Stadt und Land steht
im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre
iu Pommern auf 19,02 20,93 22,88 24,95 26,47 29,59 32,38 35,40 kg
während andere Autoren Qu et eiet, Beneke, Landois u. A.
höhere Werte angeben, so
Qu et eiet 19,10 20,76 22,65 24,52 27,10 29,82 34,38 38,76 kg
Beneke 19,70 21,70 23,50 25,50 27,50 36,00 33,00 37,50 „
Landois 20,16 22,26 24,09 26,12 27,85 31,00 35,32 40,50 „
Nach Stadt und Land getrennt beträgt das Gewicht der Schul¬
knaben in Pommern
Stadt 18,87 20,53 22,30 24,60 26,75 29,32 32,30 35,29
Land 19,13 21,12 23J6 25,13 26,84 29,93 32,40 35,46
Das Gewicht der Schulknaben steht den von Quetelet er¬
haltenen Werten aus der belgischen Bevölkerung am nächsten.
Das stärkere Gewicht der Landknaben ist ohne Zweifel abhängig
von den günstigeren alimentären und hygienischen Bedingungen unter
denen die Landbevölkerung aufwächst. Dieselben sind schon im
ersten Lebensjahre bezüglich der Säuglingsernährung, wie wir oben
dargetan haben, im allgemeinen bessere als in den Stadtgemeinden.
Es bestehen in den Wohnungsverhältnissen, in der körperlichen
Beschäftigung , in der Mitarbeit bei landwirtschaftlichen Ver¬
richtungen, besonders aber in dem stetigen oder doch längeren
Aufenthalte in der freien Luft, bei der Arbeit, auf den Schulwegen
und beim Spiel, in der Ungebundenheit des Landlebens, wesentlich
günstigere sanitäre Verhältnisse als in der Stadt. Sie kommen
zum Ausdruck in der besseren körperlichen Entwicklung.
Die von Schmidt-Monnard hervorgehobenen Schwankungen
in der Gewichtszunahme während der Schulzeit treten auch in
9
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
126
Erich Peiper,
unseren Untersuchungen hervor. Nach Schmid t-Monnard er¬
folgt , vielleicht infolge des einsetzenden Schulunterrichtes , im
7. Lebensjahre die geringste Gewichtszunahme mit 1,5 kg. In
runden Zahlen angegeben beträgt die Gewichtszunahme der Hal¬
lenser Schulkinder nach
Schmidt-Monnard
im 6. — 7.
7.-8.
8.-9.
9.— 10.
10.— 11.
11.— 12.
12.— 13.
13. — 14. Jahre
1,5
2,9
2,0
2,0
2,3
2,7
2,8
4,6
Pom- fStadt —
1,7
1,7
2,3
2,1
2,5
3,0
3,0
mern \Land —
2,0
2,0
2,0
1,7
2,9
2,7
3,0
Die größere Kraftentwicklung, die bei den Hallenser Kindern
nach dem 10. Lebensjahre deutlich im Gewicht zum Ausdruck
kommt, tritt bei den pommerschen Knaben ebenfalls hervor, ist
aber im 14. Lebensjahre noch nicht so erheblich, w7ie in Halle
vorhanden.
Mit der Körpergewichtszunahme hält annähernd gleichen Schritt
die Zunahme der Körperlänge
Körperlänge in Zentimetern:
im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre
Quetelet 110,4 116,2 121,8 127,3 132,5 137,5 142,3 146,9
Schmidt-Monnard 115,9 119,5 123,8 127,8 132,9 137,8 142,0 147,3
Camerer 115 120 125 130 135 140 145 ' 151
Pommern-Stadt 112,8 116,8 121,2 126 131,2 135,2 141,0 145,8
„ Land 112,1 117 122,1 126,8 131,4 136,2 140,3 145,6
Unsere Ziffern nähern sich den von Quetelet für
gische Bevölkerung angegebenen.
Wesentliche Differenzen bestehen gegenüber den Zahlen
Camerer’s. Das Verhältnis zwischen Körpergewicht und Körper¬
länge wird nach Cartier durch einen Bruch ausgedrückt, dessen
Zähler das Gewicht, dessen Nenner die Länge ist. Es kommen,
auf 1 cm Länge nach
im 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahre
Schmidt-Monnard 171g 180 g 190 g 201g 209 g 221g 237 g 260 g
Pommern-Stadt 167 „ 177 „ 181 „ 195 „ 203 „ 217 „ 231 „ 243 „
„ Land 170 „ 180 „ 189 „ 198 „ 204 „ 219 „ 233 „ 248 „
Jährlicher
Zuwachs
d. Körper¬
länge
4,5 cm
3,9 „
4,5 „
4.1 „
4.2 „
die bel-
l) Nach Fertigstellung des Manuskriptes ist mir vom Kreisarzt Dr. Ascher
in Hamm (Westf.) eine sehr interessante Arbeit „Über das Messen und Wägen
der Schulkinder“ im Kreise Hamm zugegangen. Ascher hat in seinem Wirkungs¬
kreise ebenfalls Messungen bei Schulkindern vornehmen lassen und auf Grund der-
Die körperliche Entwicklung' der Schuljugend in Pommern. 127
Jahr:
6.-7.
7.-8.
8.-9.
9.— 10.
10.— 11.
11.— 12.
12.— 13.
13.— 14
1
Stettin
18,45
20,90
22,57
25,67
26,92
28,94
33,06
34,22
Stadt
Köslin
18,26
20,53
22,81
26,06
27,07
28,94
32,20
35,03
1
Stralsund
18,25
20,90
23,30
26,06
27,19
28,54
32,62
34,36
i
Stettin
18,04
20,53
22,69
25,67
26,92
29,21
32,91
34,22
Land l
Köslin
18,92
21,35
23,05
25,93
27,19
29,61
33,49
34,64
\
Stralsund
18,37
21,35
22,93
25,67
27,55
29,21
33,35
34,18
Pom- (
Stadt und
mern \
Land
18,59
21,00
22,81
25,80
27,06
29,13
33,35
34,50
Kreis Hamm
19,80
21,80
24,00
26,00
27,40
3068
34,42
37,13
Der Vergleich der einzelnen Zahlenreihen ergibt, daß die körperliche Wertig¬
keit der Schuljugend in den Volksschulen in Pommern hinter der der schulpflichtigen
Knaben aus dem Kreise Hamm zurücksteht. Wie weit diese Differenzen sich
durch Rasse, Säuglingsernährung, wirtschaftliche Lage der Eltern usw. erklären
lassen, bleibt dahingestellt.
Unsere Werte nähern sich demnach den von Qu et eiet ange¬
gebenen. Das Verhältnis des Körpergewichtes zur Körperlänge
nimmt mit dieser zu, bleibt aber bei den pommerschen Schulknaben
hinter den sonstigen Angaben zurück.
selben eine Tabelle aufgestellt, in der er fiir jedes Geschlecht und für jede Alters¬
stufe das Durchschnittsgewicht und die Durchschnittslänge berechnete und hieraus,
wie oben, das auf 1 cm Länge fallende Gewicht durch Division bestimmt. Dann
wurde durch Multiplikation von einer großen Reihe Längenmaße mit diesem
Zentimetergewicht ein Sollgewicht für jede Körpergröße und durch Abzug von
10 Proz. ein Minussollgewicht bestimmt. Mit Hilfe dieser Tabellen ermittelte
Ascher diejenigen, die 10 Proz. unter dem Sollghwicht blieben, — die „zu ge¬
ringen“. Bei einer Wiederholung der Körperbestimmungen in anderen Kreisen
wird es sich empfehlen, diese Berechnung ebenfalls durchzuführen, da es mit Hilfe
derselben möglich ist, die körperliche Wertigkeit der Schuljugend verschiedener
Gegenden miteinander zu vergleichen. Von direkt praktischer Bedeutung ist
dieser Modus aber auch dadurch, daß die Schwächlichen „zum Zwecke der Besse¬
rung, also der Fürsorge durch Schularzt, Schule und Elternhaus“ erkannt und
durch Arzt und Eltern überwacht werden können.
Für uns bieten die Ascher sehen Durchschnittszahlen die Möglichkeit eines
Vergleiches, indem wir im Nachfolgenden die auf 1 cm Länge fallenden Gewichte
auf die As eher sehen Mittelzahlen berechneten und so einen direkten Vergleich
mit denselben ermöglichten.
Während der Korrektur erhalte ich von Herrn Kollegen Dr. Ascher die
Mitteilung, daß die Kinder im Kreise Hamm nur nach Ablage des Schuhzeuges,
also bekleidet, gewogen wurden. Wenn man entsprechende Werte für die Klei¬
dung bei den Hammer Kindern in Abzug bringt, vermindert sich die Differenz
erheblich.
Die Säuglingssterblichkeit im Kreise Hamm beträgt nach Ascher 18 Proz.,
die Stillfähigkeit 98 Proz.
9*
128
Erich Peiper,
Als dritter wichtiger Faktor in der Bewertung der Körper¬
konstitution ist der Brustumfang zu nennen. Hierüber die Angaben
der Autoren zu vergleichen, ist um so schwerer, als andere zumeist
den Brustumfang nach anderen Methoden, als wir, gemessen haben.
Eine Gegenüberstellung der von mehreren Autoren mitgeteilten
Resultate ergibt
7
8
9
10
11
12
13
14 Jahre
Landsberger1)
55,4
58
60,2
61,9
63,7
65
—
—
Quetelet
56,4
58,5
60,6
63
—
67,5
—
—
S e i t z 2)
56
58
60
61
62
66
68
72
Pommern - Stadt
55,4
57,5
59,2
61
63,1
65,1
66,9
69,8
„ Land
57
58,9
60,8
62,8
64,5
66,5
68,7
71,2
Die Durchschnittszahlen stimmen ziemlich überein. Lands¬
berger hatte deutsche Kinder aus der Stadt Posen als Unter¬
suchungsmaterial und bediente sich derselben Methode bei der Messung,
die ich auch für die zweckmäßigste hielt und an wandte. Während
der Schulperiode steigt der Brustumfang pro Jahr um 2 cm. Dieses
Resultat stimmt mit den sonstigen Erfahrungen überein. Auch in
einem weiteren Punkte besteht bei meinen Untersuchungen mit
den von Landsberger Übereinstimmung. Ein Vergleich des
Brustumfanges mit der halben Körperlänge- ergibt, daß auch bei
den pommer sehen Schulknaben (siehe die beiden letzten
im Text angegebenen Tabellen: Pommern Stadt und Land) der
Brustumfang sich der halben Körper länge nähert.
Als Gesamtresultat unserer Untersuchungen ergibt sich: Das
Körpergewicht und die Körperlänge der pommerschen Schulknaben
steht absolut hinter den Ziffern anderer Beobachter zurück. Die
Gewichtszunahme folgt den sonst bekannten Schwankungen. Das
Verhältnis des Längenwachstumes gegenüber der Gewichtszunahme
vollzieht sich in gesetzmäßiger Folge. Die Größe des Brustum¬
fanges und die Zunahme desselben entspricht den bekannten Zahlen.
In Gewicht und Länge besteht aber bei den pommerschen Knaben eine
Minusdifferenz gegenüber den allgemein gültigen Zahlen. Inwie¬
weit hier die Verschiedenheiten des Untersuchungsmaterials nach
Abstammung, Heimat, Beschäftigung und Ernährung von Einfluß
sind, steht dahin. Immerhin ist es auffällig, daß gerade bei den
unzweifelhaft den geringsten Fehlerquellen ausgesetzten Ziffern,
ein Zurückbleiben hinter den sonstigen bekannten Zahlen zu kon¬
statieren ist. Wie gewissenhaft die Lehrerschaft vorgegangen ist
b Das Wachstum im Alter der Schulpflicht. Archiv f. Anthropol. XVII. Bd.
2) Lehrbuch d. Kinderheilkunde, III. Heft.
Die körperliche Entwicklung1 der Schuljugend in Pommern. 129
bei ihren Untersuchungen, habe ich bei der Zusammenstellung
immer und immer wieder konstatieren können. Die Resultate aus
den einzelnen Kreisen zeigen eine ganz auffällige Übereinstimmung,
die keine Zufälligkeit sein kann.
Kehren wir nun zu der früher gestellten Frage zurück: Wie
verhält sich die körperliche Entwicklung der Schulknaben in Pom¬
mern bzw. in den Bezirken und Kreisen der Provinz?
Körperliche Wertigkeit in Stadt und Land.
Bezirk
7
8
9
Gewicht
Länge
Um¬
fang
1
Gewicht Länge
1
Um¬
fang
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Stettin . .
18 626
111,8
56,0
20 496
116,4
58,0
22 700
121,7
59.9
Köslin . .
19 234
113,0
56,4
20 845
117,1
58,5
22 871
121,7
60,6
Stralsund
18 728
112,5
56,4
20163
116,9
58,5
23 067
122,1
60,7
Bezirk
10
11
12
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Stettin . .
Köslin . .
Stralsund
24 858
24 977
24 967
126.5
126.6
126,6
61,7
62,2
62,6
25 552
26 936
27 699
131,3
133,8
132,0
63,7
64,0
63,2
29630
29 638
29 920
136,1
135,6
136,5
65,9
66,0
66,5
Bezirk
13
14
Still wert
1909
Säuglings¬
sterblichkeit
1901—1905
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Gewicht
Länge
Um¬
fang
Stettin . .
31928
140,0
67,3
35 202
145,6
69,9
60,9
24,6
Köslin . .
32 407
142,6
67,2
35 351
145,9
70,6
77,4
17,2
Stralsund
32 301
141,5
68,2
35 66 8
146,7
70,7
57,7
22,8
Die Annahme, daß die körperliche Wertigkeit in den einzelnen
pommerschen Bezirken sich verschieden verhält, findet in den
obigen Zahlen eine Bestätigung.
Es war kaum anzunehmen, daß die zu erwartenden Unter¬
schiede mit mathematischer Genauigkeit hervortreten würden.
Immerhin sind die erhaltenen Resultate in unserem Sinne völlig
zu verwerten.
Die körperliche Entwicklung ist im Bezirk Köslin durch¬
schnittlich die günstigste. Es folgt der Bezirk Stralsund, hier
130
Erich Peiper,
nähern sich vom 9. Schuljahre an die Werte den Kösliner Zahlen,
die sie sogar in mehreren Jahren direkt übertreffen. Die geringsten
Werte fallen auf den Bezirk Stettin.
Eine Gegenüberstellung der Durchschnittswerte von Stadt und
Land aller 3 Bezirke ergibt bezüglich des Körpergewichtes
7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. Jahr
Stadt 18 856 g 20 537 g 22 309 g 24 608 g 26 752 g 29 321 g 32188 g 35 900 g
Land 19 132 „ 21 128 „ 23 163 „ 25 130 „ 26 937 „ 29 732 „ 32 418 „ 35 112 „
Die ländliche Jugend ist in Gewicht, Körperlänge und Brust¬
umfang durchwegs kräftiger entwickelt als die Stadtknaben. Auf¬
fallend ist das Ergebnis, daß beim Vergleich der Stadtjugend der
verschiedenen Bezirke die von Köslin erhaltenen Werte zum Teil
hinter Stettin und zumeist auch hinter denen von Stralsund Zu¬
rückbleiben.
Erheblich aber übertreffen in der Entwicklung der Körper¬
konstitution die Landknaben des Bezirkes Köstlin die der andern
beiden Kreise. Die ländliche Jugend des Bezirkes Stralsund steht
zwischen Köslin und Stettin. Von Interesse ist es, daß die Resul¬
tate in Stadt und Land mit der Zunahme des Schulalters sich
einander nähern.
Es ist ungemein schwierig, das Zahlengewirr der einzelnen
Kreise miteinander zu vergleichen. Ich suchte daher nach
einem Ein heits wert der alle 8 Altersklassen für einen Kreis
— Stadt und Land getrennt — umfaßt. Ich glaube denselben da¬
durch gefunden zu haben, daß ich für jeden Kreis Gewicht, Länge
und Umfang aller Altersklassen zusammenaddierte und durch die
Zahl der Schuljahre dividierte. Damit wurde für jeden Kreis ein
Schulknabe geschaffen, dessen Gewicht, Länge und Breitenmaß den
Konstitutionswert der Schulknaben des Kreises repräsentiert.
Es würde verwirrend wirken, die einzelnen Kreise bezüglich
ihrer körperlichen Wertigkeit mit der Höhe der daselbst herr¬
schenden Säuglingssterblichkeit zu vergleichen. Das Bild über den
Einfluß der letzteren auf die körperliche Entwicklung wird ungleich
klarer, wenn man die Kreise mit Ziffern niederer oder umgekehrt
mit hoher körperlicher Wertigkeit der daselbst konstatierten Säug¬
lingssterblichkeit gegenüberstellt.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
131
Kreise mit geringen körperlichen Werten, hoher Säuglingssterb¬
lichkeit, niederem Stillwert:
'
Ge¬
wicht
in g
Länge
in cm
Um¬
fang
in cm
Säuglings¬
sterblich¬
keit
o /
Io
Stillwert
o/
Io
Bezirk Stettin
Stadtgemeinden im Kreise
Greifenhagen ....
25 637
127,1
62,0
25,9
62,0
Stadtgemeinden im Kreise
Stettin .
25 952
128,6
62,0
27,8
unbekannt
Landgemeinden im Kreise
Ueckermünde ....
25 835
128,5
63,6
25,4
f (aus
56( Stadtu.
{ Land;
57,1 (do.)
Landgemeinden im Kreise
Anclam .
25 974
128,3
63,8
21,5
Bezirk Köslin
Stadtgemeinden im Kreise
Kolberg .
25 675
127,6
60,2
23,5
63,3 (do.)
Stadtgemeinden im Kreise
Schlawe .
25 785
127,5
63,7
21,4
unbekannt
Bezirk Stralsund
Stadtgemeinden im Kreise
Rügen .
25 416
126,3
62,3
22,8
61,4
Stadtgemeinden im Kreise
Eranzburg .
25 996
127,9
62,8
26,3
58,0
Kreise mit höheren körperlichenWerten,mitniedererSäuglings-
sterblichkeit, hohem Stillwert:
Bezirk Köslin
Stadtgemeinden im Kreise
Lauenburg .
Stadtgemeinden im Kreise
Bütow .
Landgemeinden im Kreise
Kolberg .
Landgemeinden im Kreise
Stolp .
Landgemeinden im Kreise
Köslin .
Landgemeinden im Kreise
Belgard .
Landgemeinden im Kreise
Dramburg .
27 314
131,4
64,6
19,9
77,6
27 526
130,1
63,7
18,9
86,0
27 624
129,4
64,9
16,7
68,8
27 035
129,9
64,0
16,4
82,8
( (aus
27 279
130,3
64,5
18,0
59,8 st£dt
(Land)
26 964
129,4
63,8
16,3
87,8
26 917
129,8
64,1
15,2
76,6 l)
J) Wenn man die Durchschnittszahlen aus den Tabellen von Ascher für
das schulpflichtige Alter nach unserem Modus berechnet, so erhält man auf 129 cm
Länge 27,64 Kilo. Eine Umrechnung unserer Werte auf das As eher sehe Längen¬
gewicht ergibt für:
Kreise mit geringeren körperlichen Werten: Greifenhagen 25,92, Stettin
25,92, Ueckermünde 25,92, Anclam 26,05, Kolberg 25,92, Schlawe 26,05, Bügen
25,92, Eranzburg 26,18.
Kreise mit hohen körperlichen Werten: Lauenburg 26,70, Bütow 27,21, Kol¬
berg 27,47, Stolp 27,73, Köslin 26,96, Belgard 26,83, Dramburg 26,70.
132
Erich Peiper,
Das Resultat ist das erwartete: In Kreisen mit einem Hoch¬
stand der Säuglingssterblichkeit und gleichzeitigen niederem Still¬
wert ist die körperliche Entwicklung der Schuljugend eine geringere,
als in Kreisen mit niederer Säuglingssterblichkeit und hohem
Stillwert.
Es ist von Interesse, daß zwei benachbarte, aber in ihrer
wirtschaftlichen Betätigung völlig verschiedene Kreise im Zentrum
der pommerschen Säuglingssterblichkeit liegen. Die Bevölkerung
des Kreises Randow ist stark industriell, die vom Kreise Greifen¬
hagen durchwegs landwirtschaftlich beschäftigt.
Gewicht Länge Umfang Säuglingssterblichkeit Stillwert
Randow 26 073 g 128,3 cm 62,6 cm 28,2 % 55,3 °/o
Greifenhagen 26 068 „ 127,6 „ 63,7 „ 26,1 „ 51,8 „
In beiden Kreisen ist der Still wert ein niedriger, die Säug¬
lingssterblichkeit eine hohe. Der Rückgang der Brusternährung
ist sicherlich nicht vornehmlich bedingt durch die industrielle oder
landwirtschaftliche Betätigung der Frauen. Beiden Kategorien
von Müttern bleibt Zeit und Möglichkeit offen, wenn sie nur ernst¬
lich wollten, ihren Kindern die natürliche Ernährung zu teil werden
zu lassen. Lokale Sitten und Gebräuche, die von Mutter zu Mutter
übergehen, Unkenntnis des Wertes der Muttermilch, Überschätzung
der sogenannten „künstlichen“ Ernährung und Bequemlichkeit be¬
dingen die Ausbreitung einer Ernährungsweise der Säuglinge, die
contra naturam geht und Leben und Gesundheit der Kinder¬
welt schwer bedroht. Sieht man die Technik dieser unnatürlichen
Ernährung, dann muß man sich wundern, daß nicht noch viel mehr
Kinder dahinsterben.
Die von der Zentralstelle für Volkswohlfahrt und vom Verein
für ländliche AVohlfarts- und Heimatspflege der Staatsregierung
ausgesprochene Befürchtung, daß sich ein Rückgang der körper¬
lichen Entwicklung der Bevölkerung anbahne, verdient für unsere
pommersche Schuljugend volle Beachtung.
Von besonderem Interesse sind für unsere Frage die Ergeb¬
nisse des Heeresersatzgeschäftes.* Nach den Kaup’schen1) Unter¬
suchungen macht es den Eindruck, als ob in den Jahren 1894 bis
1901 für das zweite (pommersche) Armeekorps ein nicht unbeträcht¬
licher Rückgang der Militärtauglichkeit eingetreten ist. Die von
Kaup über die Militärtauglichkeit nach Herkunft und Beschäftigung
0 Kaup, Ernährung und Lebenskraft der ländlichen Bevölkerung. Schriften
der Zentralstelle für Volkswohlfahrt. Heft 6, N. E.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. 133
aufgestellten Zahlen lassen für das ganze Armeekorps im allge¬
meinen ein Absinken der Tauglichkeit der männlichen Jugend in
Stadt und Land erkennen. Im Laufe von 7 Jahren ist im Jahre
1902/03 gegen 1907/08 ein Rückgang von 60,3 auf 57,7 Proz. ein¬
getreten. „Dieser Rückgang ist sehr bedeutend und stärker als
der Rückgang von 31/« Proz. für sämtliche Korps. Dieser Rück¬
gang ist für die Landgeborenen und Stadtgeborenen allerdings in¬
soweit verschieden, als er für die Stadtgeborenen fast doppelt so
groß ist wie für die Landgeborenen . . . Die Stellung des zweiten
Armeekorps innerhalb aller Korps hat sich durch diesen starken
Rückgang der Tauglichkeit der in Stadt und Land geborenen
ziemlich verändert. Während in den Jahren 1902/03 Pommern
gegenüber dem Reichsmittel eine um 2,5 Proz. höhere Tauglichkeit
aufwies, ist jetzt die Tauglichkeit nur mehr um 1 Proz. höher.
Auch für Pommern ist im allgemeinen zu konstatieren, daß der
Rückgang der Tauglichkeit mit der Abnahme der Sterbeziffern in
den einzelnen Altersklassen und namentlich in den jüngeren Alters¬
klassen im Widerspruch steht. Es werden daher die allgemeinen
Erscheinungen, die auf die Konstitution und Schädigung derselben
von Einfluß sein könnten, besondere Aufmerksamkeit erfordern.
Statistik und ärztliche Erfahrung lehren, daß die Höhe der
Säuglingssterblichkeit parallel geht der Ausbreitung der künstlichen
Ernährung, durch welche die häufigsten Säuglingskrankheiten, die
Magendarmerkrankungen , bedingt werden. Hohe Säuglingssterb¬
lichkeit legt den Keim bei den Überlebenden zu Krankheit und
Siechtum. Minderwertige Ernährung im Säuglings- und Kindesalter
bildet die Grundlage für die englische Krankheit, für Skrofulöse
und Tuberkulose. „Nähr kraft ist Wehrkraft.“
Von besonderem Interesse sind die nachstehenden Notizen aus
„Zum Säuglingssclmtz in der Ostmark“1). Der Pole denkt nicht nur
daran, seinen Landsleuten dadurch ein wirtschaftliches Übergewicht
zu geben, daß er sie unter anderem zur Alkoholabstinenz bzw.
Alkoholmäßigkeit erzieht, nein, er ist auch dafür besorgt, daß ihm
ein gesunder und kräftiger Nachwuchs entsteht. Der Träger dieser
Kulturbestrebungen ist in erster Linie der polnische Geistliche. . . .
Er ist ernstlich darum besorgt, die auch hierzulande schon auf¬
tretenden Geburtenpräventionen zu verhindern, vor allem aber
hält er die Mütter streng dazu an, ihre Kinder selbst zu stillen. . . .
Auf 2 selbststillende polnische Mütter fand S o 1 b r i g durchschnittlich.
l) So Ihrig, Zeitschrift für Säuglingsschutz 1911, Heft 2.
134
Erich Peiper,
1 Deutsche. Bei den Impfterminen ist die Zahl der atrophischen
Kinder bei den deutschen Müttern dementsprechend eine größere
als bei den polnischen. Es heißt Ostmarkenpolitik treiben, wenn
diese interessanten Beobachtungen durch Hebung der Säuglings¬
fürsorge auch unter der deutschen Bevölkerung in der Ostmark
praktisch verwertet werden.
Es wäre einseitig, die fehlende Muttermilchernährung als
die einzige Ursache für die minderwertige Entwicklung betrachten
zu wollen. So manches Kind gedeiht, sorgfältige Beachtung der
Ernährungsregeln vorausgesetzt, auch bei Kuh- oder Ziegen¬
milch. Ein Wagnis ist aber immer mit der sogenannten künst¬
lichen Ernährung verbunden, denn die Mehrzahl der künstlich
ernährten Säuglinge trägt den Keim zur Erkrankung in sich.
Jedenfalls steht aber der Mutter, der es versagt ist, ihr Kind
selbst zu nähren, hier in Pommern — von vereinzelten Fällen
abgesehen — kein Mangel an Kuhmilch entgegen. Die Provinz
Pommern gehört nach K au p zu denjenigen Landesteilen, in denen
die Milchverhältnisse für die Bevölkerung mit am günstigsten
liegen. An Stelle der Milch aber, die noch im 2. Lebensjahre das
Hauptnahrungsmittel bilden soll und muß, treten schon früh minder¬
wertige Surrogate. Mehlsuppen, Kaffee, Zichorienbrühe oder andere
angesüßte Getränke. Margarine, Schmalz oder Talg ersetzen die
Butter. Gemüse, Obst, Eier werden verkauft, ohne daß der eigene
Haushalt berücksichtigt wird. Sicherlich wird in der Ernährungs¬
frage der Kinder auf dem Lande meist aus Unverstand, wohl
selten aus Not, viel gesündigt.
Einer größeren körperlichen Tüchtigkeit entspricht auch eine
erhöhte geistige Leistungsfähigkeit. Mens sana in corpore
sano ist kein bloßes Schlagwort, es entspricht den Erfahrungen,
welche Ärzte und Lehrer täglich machen. Die interessanten Unter¬
suchungen von Schmidt und Lessenich1) an 4260 Bonner Schul¬
kindern lehren, daß ein gesundes, körperlich gut sich entwickelndes
Kind die größere Gewähr bietet für eine normale geistige Leistungs¬
fähigkeit, wie sie sich im regelrechten Schulerfolge ausspricht.
Nicht die Schule ist es, die die Kinder blutarm, nervös und unfähig
zu geistiger Arbeit macht; die Grundlage hierzu ist zumeist viel
früher erworben. Im ersten Lebensjahre muß durch richtige Er¬
nährung und Pflege der Grund für die spätere körperliche und
b E. A. Schmidt u. Lessenich, Zeitschr. für Schulgesundheitspflege,
1903, Nr. 1.
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern.
135
geistige Gesundheit gelegt werden. Die Kinder werden dann,
sonstige richtige Erziehung vorausgesetzt, immer seltener werden,
welche an der sogenannten Überbürdung leiden d. h. unfähig sind,
die von der Schule vorschriftsmäßig gestellten Aufgaben zu erledigen.
Man ist von jeher gewöhnt, die Schule für die Entwicklung
körperlicher Fehler und Gebrechen zu belasten. In der Tat zwingt
die Schule ihre Schüler, bei mehr oder minder angestrengter geistiger
Tätigkeit in einer bestimmten Körperhaltung, in schlechter Luft täglich
viele Stunden 8 — 9 Jahre hindurch zuzubringen. Es ist nicht in Ab¬
rede zu stellen, daß durch die Schule die Ausbreitung ansteckender
Krankheiten, die Kurzsichtigkeit, die Verkrümmungen der Wirbel¬
säule und andere Krankheitsanlagen gefördert werden. Die Schul¬
hygiene ist bemüht, die nicht vermeidbaren ungünstigen Ein¬
wirkungen zu mildern. So manches ist schon erreicht, vieles muß
aber noch geschehen. Wir wissen, daß die Schulaufsichtsbehörden
bemüht sind, nach Kräften auf die Beseitigung bestehender Mi߬
stände zu dringen.
Die segensreiche Institution der Schulärzte hat gezeigt, daß
wenigstens für die Volksschüler das Elternhaus von der gesund¬
heitlichen Seite aus von größerer Bedeutung als die Schule ist.
Licht und Luft sind die Losungsworte für die in Stadt und Land
durchzuführende Wohnungsreform. Die Notwendigkeit einer solchen,
die insbesondere auch auf die Schuljugend nach der sittlichen wie
gesundheitlichen Seite hin gleich bessernd wirken wird, steht unter
den lebhaft diskutierten Tagesfragen. Die Lösung derselben wird
den Volksseuchen insbesondere der Tuberkulose die Brutstätte
vernichten.
Hand in Hand mit der sanitären Umgestaltung der Wohnungen
geht die Förderung der Reinlichkeitspflegc, der besten Prophylaxe
gegen ansteckende Krankheiten. Die Tuberkulose ist direkt als
Schmutzkrankheit zu bezeichnen. Daß der Sinn für Sauberkeit in
in der Wohnung und am eigenen Körper in unserer pommerschen
Bevölkerung gehoben werden muß, ist eine notwendige kulturelle
Forderung. Mit welchen Schmutzschichten bedeckt kommen Er¬
wachsene wie Kinder in die ärztliche Behandlung! Die Worte
Hufeland ’s, daß die meisten Menschen außer dem Bade der
heiligen Taufe in ihrem ganzen Leben die Wohltat des Badens
nicht wieder empfinden, wird besonders in wasserarmen Gegenden
oftmals zutreffen. Selbst in Greifswald, wo uns die benachbarte
See reichlich Badegelegenheit bietet, hatten im Sommer 1902 von
den Volksschülern kalt gebadet 50 Proz., von den Mädchen nur
136
Erich Peiper,
7,5 Proz. Tm Winter hatten 2,1 Proz. Knaben, 26,7 Proz. Mädchen
warm gebadet. Bei den beschränkten Wohnungs Verhältnissen ist
unter warmem Baden übrigens meist nur eine warme Abwaschung in der
Waschbalge zu verstehen. Ein für geistige und körperliche Ent¬
wicklung unserer Kinder hochwichtiges Organ liegt unter einer
Schmutzschicht begraben. Wie leicht läßt sich mit beschränkten
Mitteln besonders bei Schulneubauten ein Brausebad anbringen!
Die Brausestrahlen werden sicherlich auch über die Schule hinaus
zum Nutzen der Kinder in die elterliche Wohnung wirken und den
Sinn für Ordnung und Peinlichkeit wecken.
In den Verhandlungen der pommerschen Ärztekammer, die
sich mit der Erstattung eines diesbezüglichen Berichtes zu befassen
hatte, wird für die Herabsetzung der körperlichen Entwicklung
der Schuljugend auch die frühzeitige schwere Arbeit der Kinder
als ursächliches Momement angeführt. Diese Erfahrung wider¬
spricht theoretisch den Bestimmungen des Kinderschutzgesetzei?
vom 30. März 1905, welches die Kinderarbeit in schweren Betrieben
bis zum 12. Jahre gänzlich verbietet, später wesentlich einschränkt.
Die eigenen Kinder dürfen für eigene Arbeit des Familienober¬
hauptes im Alter bis zu 10 Jahren abwärts beschäftigt werden.
Wenn es zutrifft, was Hanauer anführt, daß im Osten der Monarchie
Kinder täglich eine 15 — 16 ständige Arbeitszeit inkl. einiger Schul¬
stunden hinter sich haben so wird es sich sicherlich nur um ekla¬
tante Ausnahmen handeln. Im allgemeinen ist die landwirtschaft¬
liche Betätigung bei richtiger Auswahl dem Kindesalter zuträglicher,,
als die den Stadtschülern sich bietende Arbeit.
Der vermehrten Geistesarbeit gegenüber hat die Schule die
positive Aufgabe die Kräftigung des Körpers durch systematische
Leibesübungen zu fördern. Wenn 32 Stunden geistiger Arbeit
3 Turnstunden gegenüber stehen, so ist dies unzureichend. Im
allgemeinen haben die Stadtschüler in der Pflege der Leibesübungen
einen wesentlichen Vorteil vor den Landschülern voraus. Auf
dem Lande fällt im Winter der Turnunterricht zumeist, das Mädchen¬
turnen, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, überhaupt aus.
Und doch handelt es sich um eine der wichtigsten hygienischen
Maßregeln, welche die Schule für die Gesundheit ihrer Zöglinge
zu treffen hat.
Die Bedeutung des Turnunterrichtes beleuchtet eine Verfügung
der Breslauer Regierung aus dem Jahre 1860: „Es ist eine ganz
irrtümliche Ansicht, wenn angenommen wird, daß die körperliche
Anstrengungen , welche die Kinder der Dorfbewohner häufig zu
Die körperliche Entwicklung der Schuljugend in Pommern. 137
ertragen haben, sowie überhaupt die vielfachen körperlichen Be¬
wegungen, welche ihre Lebensweise mit sich bringt, ohne weiteres
auch zu denjenigen Eigenschaften führen, welche als die Frucht
der gymnastischen Übungen bezeichnet werden können. Im
Gegenteil zeigt die Erfahrung, daß je mehr der Landjugend das
Joch der Arbeit und Anstrengung auferlegt wird, desto mehr die
dem jugendlichen Alter von Natur eigentümliche Elastizität und
Gewandtheit verloren geht; sie wird unbeholfener, langsamer, schwer¬
fälliger. Dieser einseitige Einfluß körperlicher Anstrengungen bei
der ländlichen Jugend erhält gerade durch die gymnastischen
Übungen ein heilsames Gegengewicht, welches, indem es das har¬
monische Wirken der Kräfte fördert, den Körper elastisch, ge¬
wandt und zu leichten, schwungvollen Bewegungen geschickt macht,
sowie jene Schwerfälligkeit, Unbehilflichkeit und Trägheit über¬
windet und beseitigt.“
Die Zeiten, in welchen das Turnen, Schwimmen, Baden und
der Eissport als gefährliche Übungen oder unnütze Spielereien
angesehen wurden, sind vorüber. Der Schulluft und dem Schul¬
staub, der Körper und Geist ermüdenden Arbeit wird durch das
• •
Turnen und sonstige Leibesübungen ein gründliches Äquivalent
entgegengesetzt. Die Schule wird sich durch dieselben ein gesundes,
frisches, für die Geistesarbeit aufnahmefähiges Schulkind erhalten.
Es ist absolut falsch, die Säuglingsfürsorge für eine Aufgabe
der privaten Wohltätigkeit, für eine ephemere Erscheinung auf¬
zufassen. Die Erkenntnis hat sich immer mehr Bahn gebrochen,
daß die Ziele der Säuglingsfürsorge rein nationale sind. Es gilt,
durch zielbewußte Maßnahmen die Ursachen der hohen Säuglings¬
sterblichkeit, welche der Volksgesundheit alljährlich schwere Wunden
schlägt und damit die Wehrkraft unseres Volkes herabsetzen, zu be¬
seitigen oder doch abzuschwächen. Die öffentliche Gesundheitspflege
hat in Deutschland die wichtige Aufgabe, durch umfassende Ma߬
nahmen noch vielmehr als bisher fürsorgend für den Nachwuchs
der Nation einzutreten. Das Fundament, auf der sich die neuer¬
dings in erfreulichem Aufschwünge begriffene Jugendfürsorge auf-
zubauen hat, besteht in umfassenden Maßnahmen insbesondere der
staatlichen und kommunalen Behörden für die Durchführung einer
^ielbewußten Säuglingsfürsorge.
Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern
nach dem Pignet’schen Verfahren.
Von Dr. Gebhard Simon,
Stabsarzt u. Bataillonsarzt des 1. Bataillons Badischen Fußartillerieregiments Nr. 14..
I.
Wie bekannt hat die französische Armee eine hohe Tuberkulose-
Sterblichkeit. Als Hauptgegenmaßnahme betrachtet man wie bei uns die
Fernhaltung aller Schwächlichen, als der am meisten zur Tuberkulose
disponierten, vom Heeresdienst. Bei dem Rekrutenmangel in Frank¬
reich ist die Durchführung dieser Maßnahme nicht so großzügig
wie bei uns möglich. Es geht deshalb in Frankreich das Bestrebeu
dahin, unter den Schwächlichen die Schlechtesten herauszufindeu
und man meinte, es müsse sich aus den drei Maßen: Körpergröße,
Brustumfang und Körpergewicht ein Index finden lassen, der diese
wirklich unbrauchbaren Tuberkulosekandidaten kennzeichne, wie
überhaupt die Beurteilung der Körperbeschaffenheit der Wehr¬
pflichtigen erleichtere.
Pignet,1) ein französischer Militärarzt, nahm diese Anregung
auf und stellte folgende Überlegung an: Es gibt für jede Körper¬
größe sogenannte Normalmaße, so auch einen Normalbrustumfang
und ein Normalkörpergewicht. Jedes dieser Maße allein in Be-
ziehung zur Körpergröße versetzt, gestattet, wie die Erfahrung
gelehrt hat, keine Beurteilung der körperlichen Beschaffenheit.
Da aber beide Maße zur Körpergröße in einem bestimmten Ver¬
hältnis stehen, so müßte auch die Summe beider Maße von der
v) Pignet, Du coefficient de Robusticite. Nouveau mode d’appreciation de
la force physique de l’homme au moyen d’un indice numerique tire des trois
mensurations: taille, perimetre et poids. Bulletin medical, No. 33, 27. avril 1901.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 139
Körpergröße abgezogen , stets eine konstante Differenz geben.
Diese konstante Differenz repräsentiere gewissermaßen den physio¬
logischen Wert des Individuums und könne sein Kräftigkeitskoeffizient
genannt werden. Pignet stellte also folgende Formel auf:
H — (B -f- K) = x,
H = cm Zahl der Körpergröße,
B = cm Zahl des Ausatmungs-Brustumfangs,
K = kg Zahl des Körpergewichts,
x — numerischer Index,
z. B. 172 — (87 + 73) = 12, oder 169 — (86 + 64) = 19,
oder 165 — (83 + 61) = 21.
Die sich ergebende Differenz x war bei Zugrundelegung der
Normalmaße in der Tat eine konstante Zahl, die mit zunehmender
Körpergröße in ganz bestimmtem Verhältnis wächst. Diese Differenz
beträgt für die Körpergrößen
155 — 175 cm rund 21,
176—180 „ „ 22,
181—185 „ „ 23,
186—190 „ „ 24.
Für die Größenklasse 155 — 175 cm bezeichnet also die Zahl 21
den Kräftigkeitskoeffizienten; für die Größenklassen
176 — 180 cm die Zahl 22,
181—185 „ „ „ 23,
186-190 „ „ „ 24.
Pignet stellte nun zunächst den numerischen Index bei den
Mannschaften seines Regiments fest. Der Index war, wie zu er¬
warten, in den meisten Fällen eine positive Zahl, also eine wirk¬
liche Differenz. Diese Zahl war groß bei schlechter Körper¬
beschaffenheit des Mannes, klein bei guter Körperbeschaffenheit.
Vergleiche des erhaltenen numerischen Index mit der Körper¬
beschaffenheit der Mannschaften veranlaßten ihn, folgende Index¬
klassen aufzustellen:
Index
1—10
Constitution
tres forte,
11—15
77
forte,
16—20
77
bonne,
•
77
21—25
77
bonne moyenne
77
26—30
77
faible,
77
31—35
77
tres faible,
77
über 35
77
tres mediocre.
140
Gerhard Simon,
In einem geringen Prozentsatz war Brustumfang plus Körper¬
gewicht größer als Körpergröße'; die Subtraktion ergab eine negative
Zahl. Da ein solcher Zustand eine gewisse Überentwicklung dar¬
stellt, nannte Pignet in diesem Falle den Index positiv. Noch
seltener fand er die dritte mathematische Möglichkeit: Brustumfang
-f- Körpergewicht = Körpergröße, der Index also Null. Die Fälle
mit positivem Index und Index zero faßte er in eine Klasse zu¬
sammen, die er mit -f- bezeichnet, so daß Pignet also 8 Index¬
klassen zur Bezeichnung der verschiedenen Grade der Körper¬
beschaffenheit vom Überentwickelten bis zum Schwächling auf¬
stellte. Den Index 35 nahm Pignet auf Grund seiner ver¬
gleichenden Untersuchungen als den Grenzwert militärischer Brauch¬
barkeit an. Weiter ergaben die bei seinem Regiment vorgenom¬
menen Untersuchungen, daß der aus den Normalmaßen berechnete
Kräftigkeitskoeffizient 21 nicht die besten Leute, sondern die Grenze
der guten von den mittelmäßigen bezeichnet.
Dieses Pignet’sche Verfahren ist in Deutschland erst durch
•Schwiening l) bekannt geworden, der es bei einer Zählkarten¬
statistik über die Körperbeschaffenheit von 52066 zum einjährig-
freiwilligen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen unter den ver¬
schiedensten Gesichtspunkten geprüft hat. Schwiening ordnet
den numerischen Index, wie aus Tabelle I ersichtlich, in 6 Klassen,
Die Bezeichnung der einzelnen Klassen ergibt Rubrik 3.
Tabelle I.
1
2
3
4.
I.
Klasse
positiver Index
\
4-
II.
55
1—10
| besonders kräftig
A
III.
55
11—20
kräftig
B
IV.
55
21—30
schwach
C
V.
55
31—35
sehr schwach
D
VI.
»
über 35
völlig dienstuntauglich
E
Um Vergleichsmaterial für meine Untersuchungen zu haben,
mußte ich mich dieser Einteilung anschließen. Die 6 Indexgruppen
benenne ich, wie Rubrik 4 obiger Tabelle lehrt, der Kürze halber,
mit -j- A, B, C, D, E, und bezeichne die Klassen kurz als A, B,
C, D, E- Klasse und spreche von A, B, C, D, E-Leuten.
b Schwiening-, Über die Körperbeschaffenheit der zum einjährig- frei¬
willigen Dienst berechtigten Wehrpflichtigen Deutschlands. Veröffentlichungen
aus dem Gebiete des Militär-Sanitätswesens. Heft 40, 1909.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 141
Schwiening kommt zu dem Urteil, daß das Pignet’sche
Verfahren zur Beurteilung des Einzelindividuums sich nicht eignet,
aber zur Beurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen „ein verwend¬
bares Mittel darzustellen scheint“.
Dann hat Ott1) es einmal praktisch bei der Aushebung an¬
gewandt, um zu kontrollieren, inwieweit er selbst hinsichtlich der
Anforderungen an die Kräftigkeit des Körperbaues das Richtige
getroffen hat.
Ott bezeichnet die Anwendung des Pign et ’schen Verfahrens
als ein willkommenes Hilfsmittel, sich rasch über die Beschaffen¬
heit des Körperbaues größerer Massen von Untersuchten zu unter¬
richten, für den Einzelfall es anzuwenden, liege kein Bedürfnis
vor: „dazu genüge die Feststellung der 3 Maße mit einem durch
Übung geschärften Blick“.
Bei Abschluß der Arbeit erschien noch die Abhandlung von
Seyffarth,2) der das Pignet’sche Verfahren beim diesjährigen
Musterungsgeschäft im Landwehrbezirk Gumbinnen angewendet
hat. Leider teilt Seyffarth nur die Ergebnisse bei den Taug¬
lichen und einem Teile der Untauglichen mit. Dann hat Seyffarth
noch den Index bei den letzten 10 Jahrgängen des III/41 berechnet.
Sein Urteil stimmt mit dem Schwiening ’s dahin überein, daß es
sich hauptsächlich nur zu vergleichenden Untersuchungen größerer
Massen eignet. „Keinen sicheren Anhalt bietet das Verfahren
gerade dort, wo es am wünschenswertesten wäre, nämlich bei Be¬
urteilung der zahlreichen Leute, die den Grenzwert der Schwachen
aufweisen“ (S. 841).
Der Pignet’sche Index ist wegen der ihm zugrunde liegenden
3 Körpermaße lediglich ein Konstitutionsmaß und hat demgemäß
für die Beurteilung des Körperbaues des Einzelindividuums weniger
Bedeutung.
Seine Brauchbarkeit für militärärztliche Zwecke ist besonders
von Schwiening und Ott von den verschiedensten Gesichts¬
punkten untersucht worden. Für die Praxis scheint mir beson¬
ders der von Ott gemachte Vorschlag beachtenswert, den durch
§ 10 H. 0. vorgeschriebenen Berichten über die Körperbeschaffen-
heit der Wehrpflichtigen eine nach dem Pignet’schen Verfahren
hergestellte Tabelle zur Ermöglichung eines raschen und mit den
0 Ott, Das Pign et ’sche Verfahren bei der Aushebung. Deutsche Militär¬
ärztliche Zeitschr. 1911.
2) Seyffarth, Beitrag zur Verwertbarkeit des Pignet’schen Verfahrens.
Ebenda.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
10
142
Gerhard Simon,
bereits genannten Einschränkungen zuverlässigen Überblicks über
die Beschaffenheit des Körperbaues der Untersuchten beizufügen
(p. 120).
Den Wert des Pi gn et’ sehen Index gewissermaßen als Selbst¬
kontrolle nach täglich beendetem Musterungs-, bzw. Aushebungsge¬
schäft habe ich selbst ausprobiert und kann ihn zu diesem Zweck
nur empfehlen. Ergänzend möchte ich noch hinzufügen, daß man
sich des Pi gn et’ sehen Verfahrens mit Vorteil bedienen wird,,
um objektive x4nhaltspunkte über die allgemeine Körperbeschaffen¬
heit seines Truppenteils wie der einzelnen Jahrgänge zu haben.
Bisher war man in dieser Beziehung hauptsächlich auf subjektive
Momente angewiesen. Man wird mittels dieses Verfahrens auch
die so häufig von der Truppe gestellte Frage nach der Güte des
einzelnen Jahrgangs im Vergleich zu früheren objektiv beantworten
können. Schließlich könnte man das Verfahren auch zur Erklärung
von Unterschieden des Gesundheitszustandes einzelner Truppen¬
teile heranziehen.
Zur Beurteilung des Einzelindividuums wird dem Verfahren
von den 3 oben genannten Nachuntersuchern jeder Wert abge¬
sprochen. Man darf aber nicht die Motive vergessen, die P i g n e t
zur Aufstellung seiner Formel geführt haben, die leichtere Heraus¬
findung der noch Tauglichen unter den ganz Schwachen. Haupt¬
sächlich für diese Grenzfälle hat P i g n e t seine Formel angegeben und
den Index 35 als Grenze militärischer Brauchbarkeit sonst gesunder
Individuen bezeichnet.
Selbstverständlich soll der numerische Index die bisher ma߬
gebenden Anhaltspunkte, den allgemeinen Eindruck, den das In¬
dividuum macht, in Verbindung mit Erfahrung und Blick nicht er¬
setzen, denn sonst würde die P i g n et’ sehe Formel zu einem einfachen
mechanischen Hilfsmittel herabsinken, das handwerksmäßig ohne
Arzt angewendet werden könnte. Es würde auch ein solches Ver¬
fahren eine Verkennung des allgemeinen Wertes solcher anthro-
pometrischen Formeln bedeuten.
Was leistet nun das Verfahren in dieser Hinsicht? Man be¬
achte die nächste Tabelle.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 143
Tabelle II.
Klasse
Einjährig-
Freiwillige b
0/
Io
Junge
Bayern* 2)
0/
Io
35. Franz.
A.-B. 3)
o /
Io
I. Bataillon
Bad. Fuß-A.-R.
14
0/
1 0
III/41 4)
0/
Io
+
4.5
1 7 ÖK
15= 2,3
33= 6,0
30= 1,1
A
11,6
1 ' • .Ot)
90 = 17,6
153 = 28,6
406 = 14,9
B
30,9
40,56
234 = 45,8
277 = 51,1
1522 = 55,8
C
41,1
49,53
146 = 28,6
77 = 14,2
740 = 27.1
D
9,9
1,77
20= 3.9
2= 0,4
28= 1,03
E
2,5
0,29
5= 0,9
0= 0,0
2= 0,07
Da sehen wir, daß der Proz.-Anteil schon in der D-Klasse mit
Ausnahme der E. Fr. außerordentlich klein ist und in der E-Klasse
unter 1 Proz. sinkt, bei dem 1/14 die E-Klasse gar nicht, bei
III/41 in 10 Jahrgängen nur mit 0,07 Proz.< vertreten ist. — Die
verhältnismäßig großen Zahlen in der D und E Klasse bei den
Einj .-Freiwilligen sind dadurch zu erklären, daß bekanntlich an
ihre Körperbeschaffenheit die geringsten Anforderungen gestellt
werden können. Die Einj.-Freiw. scheiden also für die gewöhn¬
lichen Fälle der Praxis aus. Mit dieser Einschränkung können
wir doch auf Grund obiger Tabelle dem Pignet’schen Verfahren
einen gewissen praktischen Nutzen zur Beurteilung solcher Grenz¬
fälle nicht absprechen. Mit dem Index 35 als Grenzwert mili¬
tärischer Brauchbarkeit scheint Pignet so ziemlich das Richtige
getroffen zu haben.
Die schon oben angeführte Ansicht Ott’s, es werde sich im
Einzelfall das Verfahren anzuwenden kein Bedürfnis einstellen,
dazu genüge die Feststellung der drei Maße mit einem durch
Übung geschärften Blick, mag für den geübten Militärarzt gelten,
wenn er allein und in Ruhe untersuchen kann, z. B. Freiwillige beim
Truppenteil nicht bei der Musterung, wo der Militärvorsitzende
das ausschlaggebende Urteil fällt, und es gilt, ihm die Ansicht des
Militärarztes beizubringen. Diese Herren wollen nach meiner
mehrjährigen Erfahrung für ihr Urteil eine objektive Unterlage
haben. Sie bietet sich nach meiner Erfahrung bei Grenzfällen in
einfachster Weise in Aufstellung der Pignet’schen Formel, die über¬
zeugender wirkt, als Worte es vermögen. Wenn demnach das
0 Schwiening 1. c.
2) Ott 1. c.
3) Pignet 1. c.
4) Seiffarth 1. c.
10*
144
Gerhard Simon,
Pi gn et’ sehe Verfahren für militärische Zwecke nur von unterge¬
ordneter Bedeutung ist, so läßt es sich doch namentlich bei der
Musterung und Aushebung unter Berücksichtigung der militärischen
Verhältnisse gut als Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen
der Tauglichkeit und zur Unterstützung der ärztlichen Ansicht
gebrauchen.
Meine Ausführungen möchte ich kurz in den Satz zusammen¬
fassen :
Das Pignet’ sc he Verfahren ist ein praktisches
Hilfsmittel zur Beurteilung von Grenzfällen bei der
Musterung und Aushebung.
II.
Der Pignet’ sehe Index als Konstitutionsmaß findet natur¬
gemäß sein Hauptanwendungsgebiet bei Massenuntersuchungen zu
anthropologischen oder sozialhygienischen Zwecken.
Hier verspricht das Verfahren wegen seiner objektiven Grund¬
maße, besonders die Indexklasseneinteilung recht interessante Er¬
gebnisse.
Es schien mir nach obigen Betrachtungen aussichtsvoll, und
bei dem Interesse, welches man jetzt solchen Massenuntersuchungen
entgegenbringt, auch zeitgemäß, mittels des Pignet’ sehen Ver¬
fahrens die ganze wehrpflichtig gewordene Jahresklasse eines
Landes zu untersuchen. Bei der vorjährigen Musterung im Badischen
Seekreis kam ich auf den Gedanken, für meine Untersuchungen
den jüngsten Jahrgang Badens wehrpflichtig gewordener Jugend,
die Jahresklasse 1891 zu wählen.
Ich stellte mir die Aufgabe, mittels dieses Verfahrens fest¬
zustellen :
1. Die Körperbeschaflenheit des Jahrganges im allgemeinen.
2. In den einzelnen Bezirksämtern.
3. In einzelnen Berufsgruppen.
4. In einzelnen Berufen.
Als Grundlage für meine Untersuchungen habe ich mit behörd¬
licher Genehmigung die alphabetischen Listen der 53 Bezirksämter
benutzt. Von jedem einzelnen untersuchten Wehrpflichtigen wurde
Beruf, Größe, Brustumfang und Gewicht den Listen entnommen,
die Leute nach dem Bezirksamt ihres Geburtsortes geordnet und
dann von jedem einzelnen der Pignet’ sehe Index berechnet, die
drei Körpermaße der zu mehrjährig freiwilligem Dienst angenom¬
menen und der bereits eingestellten Leute wurden von den Truppen-
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 145
teilen bzw. Bezirkskommandos erbeten. Die znm einj.-freiw. Dienst
berechtigten jungen Leute wurden bei den Untersuchungen nicht
mit berücksichtigt.
Im folgenden gebe ich einen solchen Auszug wieder.
Bezirksamt Konstanz-Land.
Schlosser
Fabrikarbeiter
Kaufmann
Hufschmied
Landwirt
Buchbinder
Landwirt
Schlosser
Maurer
Kaufmann
Gärtner
Dienstknecht
Zimmermann
Gärtner
Fabrikarbeiter
Maurer
Taglöhner
Fabrikarbeiter
Eisendreher
Landwirte
Landwirtschaftliche Arbeiter
55 55
55 55
Zimmermann
172 — (84 -j- 61) = 27
163,5 — (80 -f 56) = 27
170 — (75 + 62) = 33
163 — (87 + 58) = 18
172 — (89 + 77)= 6
171 — (79 + 64) = 28
Mindermaß
165 — (79 + 57) = 27
162 — (84 + 66) = 12
166 — (81 + 62) = 23
161 — (79 + 84) = + 2
157 — (79 + 52) = 32
155 — (78 + 48) = 29
164 — (81 + 59) = 24
158 — (80 + 56) = 22
164 — (79 + 58) = 27
169 — (81 + 63) = 25
171 — (75 + 58) = 40
169 — (79 + 56) = 34
169 — (82 + 56) = 31
174 — (87 + 68) = 19
173 — (85 + 61) =27
Mindermaß
165 — (83 + 60) = 22
166 — (82 + 62) = 22
Im ganzen konnte ich diese fünf Angaben von 9980 im Jahre
1891 geborenen Badenern aus den alphabetischen Listen erhalten.
Es wurden 1891 im Großherzogtum Baden bei einer Bevöl¬
kerung von 1656817 Einwohnern 56 826 Kinder geboren, darunter
28 797 Knaben. Meine 9980 Mann repräsentieren 55.5 Proz. der
im Jahre 1891 geborenen jetzt noch lebenden Badener, da auf
Grund der neuesten deutschen Sterbetafeln rund 18000 der im
Jahre 1891 geborenen 28 797 noch am Leben sein würden. Daß
ich nur über 9980 Mann berichten kann, liegt in erster Linie da¬
ran, daß eine Anzahl Bezirksämter die erforderlichen Maße nicht
bei jedem Gemusterten eingetragen hat und außerdem das Unter¬
suchungsergebnis der zu mehrj.-freiw. Dienst bereits Eingetretenen
oder Angenommenen leider nicht vollständig zu erhalten war.
146
Gerhard Simon,
1.
Über die Wehrpflichtigen Badens existieren sehr ausführliche
Arbeiten.
Die erste stammt von dem verstorbenen Freiburger Anatomen
A. Ecker1 2 3 4 5) und behandelt die Größe der badischen Rekruten.
Vor allem ist aber hier Otto Ammon2-5) zu nennen, der auf
eine Anregung Rudolf Virchow’s hin zusammen mit Wils er
genaue anthropologische Untersuchungen in den Jahren 1886 — 1894
beim Ersatzgeschäft angestellt hat. Die Arbeiten boten willkom¬
menes Vergleichsmaterial für die drei Einzelmaße: Größe, Brust¬
umfang, Gewicht. Ich muß deshalb auf jedes Maß kurz eingehen.
Größe.
Bei Aufstellung der Größentabellen bin ich mit Ammon, Jo¬
hannes Ranke6), dem bekannten Münchener Anthropologen, ge¬
folgt nur mit dem Unterschiede, daß die Mindermaßigen entsprechend
der jetzt geltenden Heerordnung nicht bis zu 157 cm. sondern nur
bis zu 153 cm einschließlich reichen. Die einzelnen Größenklassen
und die Verteilung der 9980 Mann auf sie gibt Tabelle III.
Tabelle III.
Größenklasse Mindermaßige
„ I. Kleine
„ II. Mittlere
„ III. Große
„ IV. Übergroße
— 153 cm
154—161 „
162—169 „
170—175 „
201= 2,0 %
1751= 17,54 „
4866= 48,76 „
2223= 22,29 „
176 u. darüber 939= 9,4 „
9980 = 100,0 °|0
b A. Ecker, Zur Statistik der Körpergröße im Großherzogtum Baden.
Archiv für Anthropologie, Bd. 9, 1876.
2) 0. Ammon, Anthropologische Untersuchungen der Wehrpflichtigen in
Baden. Virchow-Holzendorf’s Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher
Vorträge; Heft 101, 1890.
3) Derselbe, Die natürliche Auslese beim Menschen. Jena 1893.
4) Derselbe, Die Körpergröße der Wehrpflichtigen im Großherzogtum
Baden in den Jahren 1840 — 1864. Beiträge zur Statistik des Großherzogtum
Baden. N. F., 5. Heft 1894.
5) Derselbe, Zur Anthropologie der Badener. Jena 1899. 707 Seiten.
6) J. Banke, Zur Statistik und Physiologie der Körpergröße der bayerischen
Militärpflichtigen in den 7 rechts-rheinischen Begierungsbezirken nach den Vor¬
stellungslisten der Kgl. Ober-Ersatzkommissionen vom Jahre 1875. Beiträge zur
Anthropologie und Urgeschichte Bayerns. Bd. 4, 1881.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 147
Ein Vergleich dieser Zahlen mit denen aus den Jahren
1840—1864 und 1886— 1894 x) ergibt
Tab
eile IV.
Kleine
Große
1840-
-1864
39 o/o
15,6 %
1886-
-1894
27,6 „
23,5 „
1911
19,54 „
31,61 „
Wir konstatieren eine bedeutende Abnahme der Kleinen und
•eine fast ebenso hohe Zunahme der Großen in den letzten 70 Jahren.
Es gibt jetzt mehr Große, als Kleine.
Nach der jetzt geltenden Ansicht der Anthropologen haben
wir diese Verschiebung in den einzelnen Größenklassen des Jahr¬
gangs 1911 als Ausdruck schnelleren Wachstums infolge besserer
Lebensbedingungen anzusehen, in jeder Beziehung ein sehr erfreu¬
licher Fortschritt.
Brustumfang.
Ammon konnte bei seinen ausgedehnten Untersuchungen fest¬
stellen, daß der Umfang der leeren Brust nur bei den reifen Leuten
unter den Kleinen und Mindermaßigen die Hälfte der Körpergröße
übersteigt.* 2) Nach meinen Untersuchungen hat sich in dieser
Beziehung nichts geändert.
Gewicht.
Bezüglich des Körpergewichtes konnte Ammon s. Z. nur er¬
fahren, wer von den Wehrpflichtigen 65 kg und mehr, wer unter
65 kg wiegt. Der fehlende Eintrag des Gewichtes in vielen alpha¬
betischen Listen des Jahrganges 1891 ist auch bei mir der
Hauptgrund, warum ich nicht über eine größere Zahl berichten
kann. Tabelle V gibt das Gewicht der Wehrpflichtigen von
1886 — 1894 und der Wehrpflichtigen von 1911.
Tabelle V.
-f- 65 kg
1886— 1894.... 15,7 %
1911 .... 23,03 „
— 65 kg
84,3 o/o
76,97 „
x) 0. Ammon.
2) 0. Ammon, Zur Anthropologie der Badener, p. 248 u. 256.
148
Gerhard Simon,
Meine Zahlen sind nur aus den Bezirken berechnet, wo bei
jedem Gemusterten das Körpergewicht eingetragen war. Wie nach
der Größenstatistik zu erwarten, sehen wir eine Zunahme der
schweren, eine Abnahme der leichten Leute.
Dies erfreuliche Ergebnis dürfte wohl unbestritten auf die
besser gewordenen Lebensbedingungen zurückzuführen sein.
Nach dieser erfreulichen Tatsache war ich nun sehr auf das
Bild gespannt, welches die Einteilung des Jahrgangs in die 6 Index¬
klassen bieten würde. Tabelle VI bringt das Ergebnis.
Tabelle VI.
Klasse + 38 = 0,3 %
„ A 440 = 4,4 „
„ B 2705 = 28,0 „
„ C 4460= 45,6 „
„ D 1338= 13,6 „
„ E 798= 8,1 „
9779%= 100%
Tabelle VII.
03
Tabelle VII soll es
Der erste Eindruck ist
Besonders fällt die hohe
Klasse auf. Freilich sind
und A m m o n hat mittels
suchungsmethoden fest¬
jungen Badener nach dem
Ich muß mir hier leider
Ammon ’schen Befunde
die Gelegenheit benutzen,
zeichnete anthropologi-
Aber das Lebensalter
klärung dieser hohen
faßt bei Schwiening
Index von 21 — 30, während
+ A B C D E
4A
28C.
136
1
ai
%
■ff
besser veranschaulichen,
der einer Überraschung.
Prozentzahl in der C-
es 20jälirige junge Leute
anthropologischer Unter¬
gestellt, daß 3/4 der
20. Jahre noch wachsen,
versagen, näher auf die
einzugehen, möchte aber
nochmal auf diese ausge-
sche Arbeit hinzuweisen,
genügt nicht zur Er-
Zahl. Die Klasse C um-
die Leute mit einem
sie bei P i g n e t 2 Klassen bilden.
21 — 25, die er mittelgut bezeichnet, und 26 — 30, die er schwächlich
nennt. Diese Einteilung scheint mir nach meinem persönlichen
Eindruck bei der Musterung auch besser zu sein, weil die Über¬
gänge von kräftiger zu schwacher Konstitution so fließend sind, daß
man sehr wohl noch eine Kategorie „mittelkräftig“ einfügen kann.
0 201 sind Mindermäßige, über die in den Listen nähere Angaben fehlen.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 149’
Man hätte dann 3 Abstufungen für die kräftige wie für die schwache
Konstitution.
Außerdem ist ja, wie Pignet selbst hervorhebt, allerdings
ohne sich danach zu richten, erst der Index 21 die Grenze der
Kräftigen von den Mittelkräftigen. Die Mittelkräftigen fangen
also beim Index 22 an. Von der Klasse C können wir daher die
eine Hälfte als mittelkräftig und die andere als schwächlich be¬
zeichnen. Das würde schon ein ganz anderes Bild geben. Von
rein statistischem Standpunkt weisen die Asymetrie der Kurve
und die außerordentlich großen Zahlen der C-Klasse, die doch ge¬
sunde 20jährige Menschen darstellt, auf das gekünstelte dieser
Einteilung hin. Leider habe ich diese, mir erst später durch Litte-
raturstudium recht zum Bewußtsein gekommene Erkenntnis nicht
mehr berücksichtigen können. Will man die Klasse C beibehalten^
konnte man sie meines Erachtens, im Hinblick auf ihr Lebensalter
als die „noch nicht genügend Entwickelten“ bezeichnen.
Die besonders Kräftigen, Klasse A, bilden 4,4 Proz.
Die Kräftigen „ B, „ 28,0 „
Die -f- Klasse weist nur 38 = 0,3 Proz. auf. Ich möchte die
Angehörigen dieser Klasse als die Überentwickelten bezeichnen.
Also noch nicht einmal 1/3 des Jahrganges besitzt kräftige Kon¬
stitution.
Die Schwachen, Klasse D, sind mit 13,6 Proz.
Klasse E, deren Angehörige ich die besonders Schwachen be¬
nennen möchte, ist mit 8,1 Proz. vertreten.
Ein ganzes Fünftel der 20 jährigen Badener weist also nach
dem Index eine schwächliche Konstitution auf und fast die Hälfte
des Jahrganges ist noch nicht genügend entwickelt. Unwillkürlich
drängt es uns weiter nach einer Erklärung dieser ungewohnten
Erscheinung. Nächst dem Lebensalter kommt die Rasseneigentüm¬
lichkeit in Frage, welche Wuchs und Statur bedingt. Da ist zu
bemerken, daß der Badener einen Mischlingstyp darstellt ; der Anteil
des Homo europaeus beträgt in Baden nach Ammon 67 Proz. nach
Fürst 69 Proz., das andere V3 stammt vom Homo alpinus.1) So
erklären sich auch die vielen Mittelgroßen in Baden.
Bei der engen Beziehung zwischen Körpergröße und Körper¬
entwicklung ist es wichtig, die Wechselwirkung zwischen Körper¬
größe und Indexklasse kennen zu lernen.
9 0. Ammon, Altes und Neues über die Menschenrassen in Europa. Zeit¬
schrift für Sozialwissenschaft Bd. 6, 1903.
150
Gerhard Simon,
Hierüber geben folgende Tabellen Aufschluß:
Tabelle VIII.
Größenklasse
Mm -f-
4-
A
ab¬
solut
.
0/
10
B
ab¬
solut
0/
Io
C
ab¬
solut
0/
Io
D
ab¬
solut
0/
Io
E
ab¬
solut
Ol
Io
Mm
201
I
—
9
66
8,7
473
27.0
868
49,5
227
12,9
108
6,0
II
—
17
207
4,2
1414
29.0
2194
45,0
690
14,1
344
7,1
III
—
6
120
5,3
590
26,5
1005
45,2
285
12,8
217
9,8
IV
—
6
47
5,0
228
24,2
393
41,8
136
14,4
129
13,6
1 -
38
440
-1
2705
—
4460
-
1338
-
798
—
Tabelle IX.
Indexklasse
I
absolut
01
Io
I
absolut
i
0/
Io
II
absolut
I
0/
Io
11
absolut
7
Ol
Io
A
66
15.0
207
47,05
120
27,27
47
10,68
440
B
473
17,5
1414
52,3
590
21,8
228
8,4
2705
C
868
24.9
2194
49,2
1005
22,5
393
8,8
4460
[D
227
16,9
690
51,5
285
21,3
136
10,1
1338
E
108
13,5
344
44,2
217
27,2
129
16,1
798
Die größten Leute haben prozentual die meisten Kräftigsten
h Proz., aber auch die meisten Schwachen 14,4 Proz. und meisten
besonders Schwachen 13,6 Proz.
Die Mittelgroßen haben die meisten Kräftigen 29 Proz.
Die Kleinen haben die meisten Mittelkräftigen 49,5 „
Wie bei Schwiening nehmen mit steigender Körpergröße
die A- D- und E-Leute zu, letztere schneller. Die Übergroßen
haben doppelt soviel besonders Schwache wie die Kleinen. Die
beiden übrigen Klassen zeigen mit zunehmender Körpergröße eine
steigende Abnahme. Sie beträgt in Klasse B 3 Proz. in Klasse C
8 Proz. Ein näherer Vergleich obiger Zahlen mit denen Sch wie¬
nin g’s ist wegen der verschiedenen Größeneinteilung nicht möglich.
Seine Tabelle bietet im großen und ganzen dasselbe Bild.
Außer diesen angeführten Gründen kommen für die Körper¬
konstitution aber noch andere Einflüsse in Betracht: Herkunft,
Beruf, Wohnung, Arbeitsverdienst, Arbeitsort, Körperpflege, Lebens
haltung, allgemeine Schädlichkeiten.
Alle diese und andere Faktoren hier zu behandeln, liegt nicht
im Ramen der Arbeit. Anführen möchte ich bloß, daß in den
alphabethischen Listen bei 726 = 7,4 Proz. schlechte Zähne und bei
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 151
1105 = 11,3 Proz. Kropfbildung verzeichnet ist. Das ist um so
mehr von Bedeutung, als bei Untersuchung des jüngsten Jahrgangs
nur die auffallendsten Fehler vermerkt werden.
Nun hört man jetzt viel von Entartung unserer Rasse reden.
Wenn wir unseren Jahrgang daraufhin prüfen, so könnte wohl der
erste Eindruck obiger Tabelle ähnliche Befürchtungen aufkommen
lassen. Aber die statistisch nachgewiesene Zunahme der Körper¬
größe und des Gewichts, sowie die Abnahme der Kleinen seit 1840
zerstreuen sicher alle schwarzen Gedanken. Wie Kruse1) ganz
allgemein aus den Ergebnissen der Sterblichkeits-, Tauglichkeits-,
Erkrankungsstatistik, Schwiening2) aus der Tauglichkeitsstatistik
der Jahre 1894 — 1903 nachgewiesen haben, kann bei uns in
Deutschland von Entartung keine Rede sein.
Über die Ergebnisse der Militärtauglichkeit kann ich keine
sicheren Angaben machen, da ich mit der Arbeit nicht bis nach
Beendigung des Oberersatzgeschäftes warten konnte. Im Durch¬
schnitt der Jahre 1894 — 1903 war nur der nördliche Teil Badens
Odenwald, Bauland, Taubergrund schlechter als der allgemeine
Durchschnitt von 57,3 Proz. der Tauglichkeitsquote zum Dienst
mit der Waffe. In Mittelbaden betrug die Tauglichkeitsquote
57 — 60 Proz., in Südbaden sogar 62—65 Proz. (Schwiening).2)
So wird auch der Jahrgang 1911 nicht schlechter sein.
Vergleiche mit anderen Gegenden sind hier besonders er¬
wünscht.
Als Vergleichsmaterial habe ich nur die Einj. - Freiw.
S c h w i e n i n g’ s.
Tabelle X bringt eine Gegenüberstellung der Prozentanteile
in den einzelnen Indexgruppen bei meinen jungen Badenern und
den Einj. -Freiw.
Tabelle X.
20 jährige Badener
Klasse -j- = 0,3 °/0
r> A = 4,4 „
* B = 28,0 „
„ 0 = 45,6 „
„ D = 13,6 „
„ E = 8J „
1) W. Kruse, Entartung. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Bd. 6, 1903.
2) Schwiening, Beiträge zur Kekrutierungsstatistik. Klinisches Jahrbuch,
Bd. 18, 1908.
Einjährig-Freiwillige
4,4 %
9,6 „
26,2 ,.
37,6 „
13,4 „
8,8 „
152
Gerhard Simon,
Wegen des verschiedenen Menschenmaterials muß beim Ver¬
gleich obiger Zahlen von vornherein mit Verschiedenheiten gerechnet
werden. Trotzdem muß auffallen:
1. Klasse -f- ist bei den Einj.-Freiw. 14 mal so stark be¬
setzt wie bei den Badenern. Da sich unter diesen 4,4 Proz. viel
Fettleibige befinden, ist dieser Unterschied wie schon angeführt,,
nicht als Vorteil anzusehen.
2. Klasse A weist bei den Einj.-Freiw. doppelt soviel Ver¬
treter auf, wohl ein Ausdruck der besseren sozialen Stellung;
dann ist zu bedenken, worauf Ott hinweist, daß die zum einjährig¬
freiwilligen Dienst Berechtigten größtenteils in einem späteren
Alter als die übrigen Militärpflichtigen zur Untersuchung kommen*
Die körperliche Entwicklung ist vollendet. Fettansatz bereits da.
3. Klasse B ist dagegen bei den Badenern mit 2 Proz. mehr
besetzt, ein sehr gutes Zeichen.
4. Klasse C hat bei den Einj.-Freiw. ebensoviel weniger, als
die beiden ersten Klassen mehr. Bei Klasse C gilt, was bei Klasse
A ausgeführt, daß die Eiuj.-Freiw. 10 Jahrgänge umfassen, unter
ihnen also mehr ausgewachsene Leute sind, als bei meinen 20 jährigen
Badenern.
Klasse D und E sind auf beiden Seiten fast gleich. Die auf¬
fallende Übereinstimmung des so verschiedenen Menschenmaterials
in Klasse D und E könnte man wohl unter Berücksichtigung des
eben Gesagten dahin erklären, daß mit zunehmendem Alter unter
den besonders Schwachen eine Besserung nicht mehr zu erwarten
ist. Kurz gesagt, wer im ersten Gestellungsjahr schwächlich ist,
bleibt es die zwei anderen Jahre auch.
Die Jahresklasse 1911 der Badener steht also dem Pignet-
schen Index nach etwas schlechter als die Einj.-Freiw. Das kann
weiter nicht wundern. Viel bedeutungsvoller wären Vergleiche mit
der 20jährigen Jungmannschaft anderer Gegenden und Länder nach
dem Ergebnis des Pign et’ sehen Verfahrens.
Nach der Tauglichkeitsskala steht Baden J) an 17. Stelle unter
den 23 deutschen Aushebungsbezirken.
2.
Um die Körperbeschaffenheit in den einzelnen Gegenden Ba¬
dens kennen zu lernen, wurde in den Bezirksämtern, deren alpha-
9 Fr. Prinzing, Der Prozentsatz der Militärtauglichen als Maßstab der
körperlichen Entwicklung einer Bevölkerungsgruppe. Zeitschrift für Sozialwissen¬
schaft, Bd. 4, 1908.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 153
betische Listen die drei Maße: Größe, Brustumfang und Gewicht
enthielten, die Wehrflpichtigen nach Größen und Indexklassen ge¬
ordnet. Leider fanden sich die drei nötigen Maße nur in 33
Bezirksämtern bei jedem Untersuchten verzeichnet. Das Ergebnis
dieser Untersuchungen bringen die nächsten Tabellen.
Tabelle XI.
Bezirksamt Lahr.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
I
—
—
1
6
25
10
3
—
45
II
—
—
7
39
69
28
14
157
III
—
—
1
19
38
6
5
—
69
IV
—
—
1
4
15
3
3
—
26
Sa.
1-
10
68
147
47
25
-
297
Tabelle XIII.
Bezirksamt Wolfacli.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
I
8
—
2
29
9
4
8
44
II
—
—
—
16
44
7
10
—
77
III
—
—
1
11
15
7
4
—
38
IV
—
—
—
2
3
5
1
—
11
Sa.
1 8
—
1
31
91
28
19
-
178
Tabelle XV.
Bezirksamt Oberkirch.
M
m
i
X
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
6
6
I
—
1
7
28
5
2
43
II
—
—
5
14
44
13
11
87
III
—
—
—
7
16
3
1
—
27
IV
—
—
2
6
1
1
10
Sa.
1 6
—
6
30
94
22
15
-
173
Tabelle XII.
Bezirksamt Offenburg.
M
m
+
A
B
C
D
E
-
Sa.
M
m
8
—
—
—
—
—
8
I
—
6
22
32
13
7
80
II
—
1
6
42
79
25
7
—
160
III
—
7
22
31
10
5
—
75
IV
—
1
2
7
15
3
3
31
Sa.
1 8
2
21
93
157
71
22
-
354
Tabelle XIV.
Bezirksamt Kehl.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
3
3
I
—
—
1
10
20
6
—
—
37
II
2
—
39
36
10
3
—
90
III
—
4
16
15
2
2
—
39
IV
—
1
10
10
1
—
22
Sa.
3
2
6
75
81
18
6
-
191
Tabelle XVI.
Bezirksamt Säckingen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
1
1
I
—
—
—
6
9
4
—
—
19
II
- -
—
1
24
34
10
2
—
71
III
—
—
12
13
5
4
—
34
IV
—
1
3
9
1
1
15
Sa.
1
—
2
45
65
20
-
140
154
Gerhard Simon,
Tabelle XVII.
Bezirksamt Breisach.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
1
1
I
—
—
1
3
12
7
1
—
24
II
—
—
1
22
28
3
9
—
63
III
—
—
1
8
11
4
4
—
28
IV
—
—
—
3
7
1
2
—
13
Sa.
1
: —
3
36
58
15
16
-
129
Tabelle XIX.
Bezirksamt Ettenheim.
M
m
~b
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
2
2
I
—
—
6
12
3
—
—
21
II
—
2
16
31
4
2
—
55
III
—
—
1
5
14
6
2
28
IV
—
—
—
4
9
3
2
—
18
Sa.
2
—
3
31
66
16
6
124
Tabelle XXI.
Bezirksamt Freiburg (Land).
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
4
4
I
—
—
1
11
13
5
1
—
31
II
—
1
2
14
43
22
11
—
93
III
—
—
2
7
25
5
14
— -
53
IV
—
—
—
3
7
2
3
15
Sa.
4
1
5
35
88
34
29
196
Tabelle XXIII.
Bezirksamt Waldkirch.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
3
3
I
—
—
2
6
20
9
6
43
II
—
—
1
17
39
22
14
93
III
—
—
3
3
14
5
3
28
IV
—
—
1
4
5
3
—
13
Sa.
3
—
6
27
77
41
26
-
o
00
r-H
Tabelle XVIII.
Bezirksamt Emmendingen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
10
10
I
—
—
1
19
40
7
9
76
II
—
—
5
69
92
30
10
206
III
—
2
3
20
40
16
8
89
IV
—
—
4
10
13
5
4
36
Sa.
10
•2
kti
13
118 185
58
31
-
417
Tabelle XX.
Bezirksamt Freiburg (Stadt).
M
m
+
A
B
c
D
E
Sa.
M
Hl
4
4
I
—
1
1
10
15
8
9
—
44
II
—
—
3
37
66
24
34
164
III
—
—
2
12
22
13
18
67
IV
—
—
—
5
8
12
8
—
33
Sa.
|4
1
6
64
111
57
69
— | 312
Tabelle XXII.
Bezirksamt Staufen.
M
m
+
A
i -
B
C
D
E
Sa.
M
m
1
1
I
—
—
—
5
4
3
—
12
II
—
- 2
18
27
11
2
—
60
III
—
—
4
13
14
1
3
35
IV
—
1
8
7
6
2
—
24
Sa.
i
_
7
44
52
21
7
-1
132
Tabelle XXIV.
Bezirksamt Lörrach.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa..
M
m
2
2
I
—
1
9
17
6
—
—
33
II
1
10
45
68
16
17
157
III
8
17
32
11
10
—
78
IV
—
—
3
5
10
2
5
—
25
Sa.
2
2
21
76
127
35
32
-1
295
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 155
Tabelle XXV.
Bezirksamt Müllheim.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
1
•
1
I
—
1
—
8
15
2
2
—
28
II
—
—
6
16
28
9
6
—
65
III
—
—
2
16
14
5
4
—
41
VI
—
—
—
6
11
4
3
—
24
Sa.
l-i
1
8
46
j 68
20
15
159
Tabelle XXVII.
Bezirksamt Schopfheim.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
3
—
—
—
—
—
3
I
—
2
9
12
2
—
25
II
5
38
50
11
2
—
106
III
—
1
1
17
18
5
3
—
45
IV
—
—
4
4
10
2
1
—
21
Sa.
3
1
12
68
90
20
6
-1
200
Tabelle XXIX.
Bezirksamt Konstanz (Stadt).
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
2
2
I
—
—
2
12
9
6
29
II
—
1
2
17
34
14
10
—
78
III
—
1
4
18
8
8
39
IV
—
—
1
5
9
4
3
—
22
Sa.
1
4
28
73
35
27
-1
170
Tabelle XXXI.
Bezirksamt Stockach.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
5
5
I
—
—
2
8
8
3
1
22
II
—
—
5
28
34
12
5
84
III
—
—
2
14
20
2
2
40
IV
—
—
—
3
7
6
2
18
Sa.
5
—
9
53
69
23
10
-
169
Tabelle XXVI.
Bezirksamt Schönau.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
2
2
I
—
—
—
1
6
2
—
9
II
—
—
6
12
32
14
4
68
III
—
—
2
0
18
5
—
30
IV
—
—
—
2
2
2
—
6
Sa.
1-2
—
8
20
58
23
4
-
115
Tabelle XXVIII.
Bezirksamt Überlingen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
3
3
I
—
—
—
9
21
7
2
—
39
II
—
—
7
21
54
18
5
105
III
—
—
2
8
31
7
4
—
52
IV
—
1
2
9
16
4
5
— .
37
Sa.
3
1
11
47
122
36
16
-
236
Tabelle XXX.
Bezirksamt Konstanz (Land).
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
6
6
I
1
—
15
34
9
3
62
II
—
—
3
28
80
30
14
155
III
—
—
3
18
38
14
11
84
IV
—
—
9
11
2
7
29
Sa.
6
1
6
70
163
55
35
336
Tabelle XXXII.
Bezirksamt Engen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
4
4
I
—
—
1
6
18
5
1
31
II
—
—
2
24
42
12
6
—
88
III
—
—
2
9
13
5
1
30
IV
—
—
—
4
5
3
4
—
16
Sa.
5
—
5
43
78
25
12
-
167
156
Gerhard Simon,
Tabelle XXXIII.
Bezirksamt Meßkirch.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
in
3
3
I
—
—
2
8
13
3
—
—
26
II
—
—
2
21
20
7
6
—
56
III
—
—
3
7
11
4
2
—
27
IV
—
—
1
2
3
3
—
9
Sa.
*3
—
7
37
46
17
11
-
121
Tabelle XXXV.
Bezirksamt Ettlingen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
4
4
I
—
—
6
19
19
5
1
—
50
II
—
2
9
47
45
11
2
—
110
III
—
—
2
10
18
7
3
—
40
IV
—
—
2
2
7
4
2
17
Sa.
4
2
19
78
89
27
8
—
227
Tabelle XXXVII.
Bezirksamt Karlsruhe (Land).
•
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
7
7
I
—
—
2
13
29
7
3
—
54
II
—
8
39
70
16
8
—
141
III
—
—
6
12
13
4
2
37
IV
1
1
5
14
1
2
24
Sa.
7
i
17
69
126
28
15
-
263
I i I
Tabelle XXXIX.
Bezirksamt Pforzheim.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
8
8
I
—
8
25
48
14
7
102
II
2
7
62
122
50
21
- -
264
III
—
2
21
75
20
13
131
IV
—
—
5
11
24
10
11
—
61
Sa.
! 8
2
22
119
269
94
52
-
566
Tabelle XXXIV.
Bezirksamt Pfullendorf.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
I
—
1
—
7
9
2
1
—
20
II
—
—
11
10
9
1
—
31
III
—
1
5
6
3
2
—
17
IV
—
—
8
2
—
—
—
10
Sa.
1-
1
1
31
27
14
4
-
78
Tabelle XXXVI.
Bezirksamt Karlsruhe (Stadt).
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
10
10
I
—
—
2
15
49
16
6
—
88
II
—
1
10
55
103
45
21
—
235
III
—
—
5
23
35
9
20
—
92
IV
—
—
3
11
28
8
19
—
69
Sa.
10
1
20
104
215
78
66
-
494
Tabelle XXXVIII.
Bezirksamt Durlach.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
I
—
—
2
19
20
K
0
4
50
II
—
—
9
41
51
19
4
—
124
III
—
1
8
12
32
10
7
70
IV
1
—
7
10
4
4
_
26
Sa.
—
2
19
79
113
38
19
-
270
I i
Tabelle XL.
Bezirksamt Bretten.
M
m
+
A
B
C
D
E i
Sa.
M
m
2
—
—
—
—
—
2
I
—
—
4
12
1
2
19
II
—
2
7
39
39
3
3
—
93
III
—
1
1
13
26
8
2
51
IV
—
—
—
7
4
2
2
15
Sa.
2
3
8
63
81
14
9
-
o
00
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 157
Tabelle XLI.
Bezirksamt Bruchsal.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
ni
5
5
I
—
1
3
27
43
10
2
—
86
II
—
—
16
72
109
42
7
246
III
—
1
4
36
50
13
6
110
IV
3
3
18
5
6
35
Sa.
1 6
2
26
138
220
70
21
—
482
Tabelle XLIII.
Bezirksamt Bühl.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
10
10
I
—
—
1
12
31
8
7
—
59
II
—
—
2
37
59
27
13
—
138
III
—
5
17
20
5
4
—
51
IV
—
—
1
5
7
2
—
—
15
Sa.
10
—
9
71
117
42
24
-
273
Tabelle XLY.
Bezirksamt Rastatt.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
12
12
I
—
4
33
59
8
6
—
110
II
—
1
11
74
97
39
14
236
III
10
30
47
4
8
99
IV
—
6
10
16
2
—
34
Sa.
|l2
1
31
147
219
53
28
—
491
Tabelle XLII.
Bezirksamt Achern.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
3
3
I
—
—
1
8
21
7
4
—
41
II
—
1
5
33
56
15
5
—
115
III
—
—
3
21
20
5
4
53
IV
—
—
2
8
7
3
3
—
23
Sa.
3
1
11
70
104
30
16
—
235
Tabelle XLIV.
Bezirksamt Baden.
M
m
+
A
B
C
I)
E
Sa.
M
m
5
5
I
—
—
2
13
24
9
2
—
50
II
—
—
7
31
44
16
13
—
111
III
—
—
2
14
23
8
6
—
53
IV
—
—
—
2
6
6
6
—
20
Sa.
1*
—
11
60
97
39
27
—
239
Tabelle XL VI.
Bezirksamt Eppingen.
M
m
+
A
B
C
D
E
Sa.
M
m
I
1
2
4
9
2
18
II
—
1
4
19
29
9
3
—
65
III
—
—
—
6
14
4
1
—
25
IV
—
—
—
—
2
3
—
5
Sa.
1-
2
6
29
54
18
4
-
113
Die Güte einer Rasse beurteilt man gewöhnlich nach dem
Prozentanteil der Besten und Schlechtesten. In Tabelle XLVII
ist deshalb der Prozentsatz der A- und E-Leute in den 33 Bezirks¬
ämtern berechnet worden.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
11
158
Gerhard Simon,
Tabelle XL VII.
Bezirksämter nach Kreisen
geordnet
Gesamtzahl
A-Kla
absolut
sse
0/
Io
E-Klasse
absolut %
Kreis Offenbar g.
Bezirksamt Lahr
297
10
3,4
25
8,4
„ Offenburg
354
21
5,9
22
6,2
Wolf ach
178
1
0,6
19
10,7
„ Kehl
191
6
3,2
6
3,2.
„ Oberkirch
173
6
3,5
15
9,0
Kreis Waldshut.
Bezirksamt Säckingen
140
2
1,4
7
5,0'
Kreis Freiburg.
Bezirksamt Breisach
129
3
2,3
16
12,4
„ Emmendingen
417
13
3,1
31
7,4
„ Ettenheim
124
3
2,4
6
4,9
„ Freiburg, Stadt
312
6
1,9
69
22,1
^ ^ Land
196
5
2,5
29
14,8
„ Staufen
132
7
5,3
7
5,3
„ Waldkirch
180
6
3,4
26
14,4
Kreis Lörrach.
Bezirksamt Lörrach
295
21
7,1
32
10, &
„ Müllheim
159
8
5,1
15
9,4
„ Schönau
115
8
7,0
4
3,5
„ Schopfheim
200
12
6,0
6
3,0
Kreis Konstanz.
Bezirksamt Überlingen
236
11
4,7
16
6,8
„ Konstanz, Stadt
170
4
2,3
27
15,8
„ „ Land
336
6
1,8
35
10,4
„ Stockach
169
9
5,3
10
5,9
„ Engen
167
5
2.9
12
7,2
„ Meßkirch
121
7
5,7
11
9,0
„ Pf ullendorf
78
1
1,3
4
5,1
Kreis Karlsruhe.
Bezirksamt Ettlingen
227
19
8,3
8
3,6
„ Karlsruhe, Stadt
494
20
4,1
66
13,7
„ „ Land
263
17
6,5
15
5,9
„ Durlach
270
19
7,0
19
7.0
„ Pforzheim
566
22
3,9
52
9;5
„ Bretten
180
8
4,4
9
5,0
Kreis Baden.
Bezirksamt Bruchsal
482
26
5,3
21
4,3
„ Achern
235
11
4,7
16
6j8
„ Bühl
* 273
9
3,3
24
8,8
„ Baden
239
11
4,5
27
11,3
„ Bastatt
491
31
6,3
28
5,7
Kreis Heidelberg.
Bezirksamt Eppingen
113
6
5,3
4
3,5
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 159
Der höchste Prozentanteil für die besonders Kräftigen ist
8,6 Proz., er übersteigt also den allgemeinen Durchschnitt um fast
das Doppelte. Von den 33 berechneten Bezirksämtern haben 18
Bezirksämter mehr als 4,4 Proz., soviel beträgt der allgemeine
Durchschnitt, A-Leute.
Die meisten Besten haben also die Bezirksämter.
Ettlingen mit 8,3 Proz.
Durlach, Lörrach, Schönau „ 7 — 8 „
Schopfheim, .Rastatt, Karlsruhe, Land „ 6 — 7 „
In der Rheinebene und dem Hügelland wohnen die kräftigsten
jungen Leute. Die wenigsten A-Leute hatte das Bezirksamt Wol-
fach mit 0,6 Proz. Wolfach liegt im hohen Schwarz wald, hat auch
von jeher die meisten Minderwertigen gehabt.
Abstammung (kleiner Schwarzwaldtyp) und mangelnder Ver¬
dienst bewirken die schlechte Körperentwicklung.
Der höchste Prozentanteil für die besonders Schwachen ist
22.1 Proz.; er übersteigt den Prozentanteil des Jahrgangs von
8.1 Proz. fast um das Dreifache. 15 Bezirksämter stehen bezüglich
der E- Leute schlechter als der allgemeine Durchschnitt. Die
meisten E-Leute hatten:
Freiburg Stadt mit 21,2 Proz.
Konstanz Stadt „ 15,8 „
Freiburg Land „ 14,8 „
Bezirksamt Waldkircli „ 14,4 „
„ Karlsruhe Stadt „ 13,7 „
Städter und Bewohner des hohen Schwarzwaldes!
3.
Um mittels des Pignet’schen Verfahrens einen Einblick in
die Körperbeschaffenheit der vertretenen Berufsgruppen und Berufs¬
klassen zu gewinnen war zunächst eine Berufsstatistik nötig.
Als Muster habe ich die anläßlich der Berufs- und Betriebs¬
zählung im Deutschen Reiche am 12. 6. 1907 aufgestellte Ein¬
teilung1) benutzt und nach diesem Muster die folgende Tabelle
aufgestellt, in welcher die 20 jährige Mannschaft nach Berufsgruppen,
Berufen, Größen und Indexklassen eingeteilt ist.
x) Statistik des Deutschen Reiches, Bd. 205, 1907. Statistische Mitteilungen
über das Großherzogtum Baden. N. F., Bd. 1, 1908.
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Berufsgruppen und Berufe
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 165
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Das nähere Studium dieser Tabelle muß ich dem Leser über¬
lassen. Aus ihr leiten sich alle folgenden Tabellen ab, zunächst
Tabelle XLIX, welche die 26 Berufsgruppen und die Verteilung
der Angehörigen dieser Berufsgruppen auf die einzelnen Index¬
klassen wieder gibt. Die einzelnen Berufsgruppen:
Tabelle XLIX.
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A
B
C
D
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I. Landwirtschaft
67
6
110
764
1327
328
162
2764
IL Forstwirtschaft
—
—
3
25
39
8
10
85
III. Bergbau
—
—
—
1
—
—
—
1
IV. Industrie der Steine und Erden
2
1
6
25
46
7
6
93
V. Metallverarbeitung
16 ,
6
54
302
503
139
68
1088
VI. Industrie der Maschinen, Instru¬
mente und Apparate
4
2
10
101
146
46
26
335
VII. Chemische Industrie
—
—
—
2
2
6
8
18
VIII. Forstwirtschaftliche Nebenpro¬
dukte
1
1
2
IX. Textilindustrie
1
1
5
36
82
28
12
165
X. Papierindustrie
3
—
—
6
20
16
7
52
XI. Lederindustrie
3
2
3
32
36
14
10
100
XII. Industrie der Holz- und Schnitz¬
stoffe
9
15
94
186
70
26
400
XIII. Industrie der Nahrungs- und
Genußmittel
24
6
66
271
355
80
25
827
XIV. Bekleidungsgewerbe
13
1
7
56
77
23
22
199
XV. Beinigungsgewerbe
3
—
1
16
43
30
13
106
XVI. Baugewerbe
4
1
45
195
312
69
39
665
XVII. Polygraphisches Gewerbe
4
—
2
16
39
25
20
106
XVIII. Künstliches Gewerbe
1
—
1
5
14
8
8
37
XIX. Fabrikarbeiter
23
3
37
236
385
102
92
878
XX. Handelsgewerbe
10
7
9
106
255
146
124
657
XXL Versicherungsgewerbe
—
—
1
1
3
2
3
10
XXII. Verkehrsgewerbe
—
1
13
50
51
16
10
141
XXIII. Gast- und Schankwirtschaft
1
—
4
16
, 31
7
8
67
XXIV. Häusliche Dienste, Lohnarbeit
wechselnder Art
11
1
34
232
310
92
53
733
XXV. Staatsdienst, freie Berufe
—
—
5
29
72
24
14
144
XXVI. Ohne Beruf
2
—
9
84
125
55
32
307
201
38
440
2705
4460
1338
798
9980
Die Haupterwerbszweige bilden nach diesen beiden Tabellen
folgende Berufsgruppen :
1. Gruppe I. Die Landwirtschaft
2. „ V. Die Metallverarbeitung.
(Pforzheimer Edelmetallindustrie und Ma¬
schinenfabriken.)
3. ,, XIX. Die Fabrikarbeit.
4. ,, XXIV. Die Lohnarbeit.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Baclnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 167
5. Gruppe
6.
7.
XIII. Die Nahrungs- und Genußmittelindustrie.
(Lalirer Zigarren-Industrie.)
XVI. Das Baugewerbe.
XX. Das Handelsgewerbe.
Es haben der Reihenfolge nach die meisten
besonders Kräftigen
Gruppe I Landwirtschaft mit 110
„ XIII Industrie der
Nahrungs-und
Genu fl mittel ,, 66
„ V Metallverarbeitung „ 54
„ XVI Baugewerbe „ 45
„ XIX Fabrikarbeit „ 37
„ XXIV Tagelohn „ 34
besonders Schwachen.
Gruppe I Landwirtschaft mit 162
,, XX Handelsgewerbe ., 124
„ XIX Fabrikarbeit „ 92
„ V Metallverarbeitung „ 68
„ X^IV Tagelohn „ 53
„ XVI Baugewerbe „ 39
Bei der Gesamtzahl von 9980 erhält man, wenn man sich das
Komma 2 Stellen nach links gerückt denkt, mit den absoluten,
zugleich die Prozentzahlen der Gesamtbeteiligung in den einzelnen
Klassen.
Die Landwirtschaft liefert uns also von der Gesamtmannschaft
die meisten „besonders Kräftigen“ und die meisten „besonders
Schwachen“. Die anderen 5 Hauptgruppen finden wir unter den
6 besten und 6 schlechtesten Gruppen auch wieder und zwar in
beiden Klassen.
I. Landwirtschaft.
V. Metallverarbeitung.
XVI. Baugewerbe.
XIX. Fabrikarbeit.
XXIV. Tagelohn.
Unter den besonders Kräftigen allein Gruppe XIII.
Unter den besonders Schwachen allein Gruppe XX.
Aus dem gemeinsamen Vorkommen der erwähnten Gruppen in
der E- und A-Klasse können wir schließen, daß sie weder nach
der guten noch nach der schlechten Seite an erster Stelle stehen.
Vermutlich wird bezüglich der körperlichen Entwickelung am besten
zu bewerten sein:
Gruppe XIII, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel,
am schlechtesten: Gruppe XX, Handelsgewerbe.
Wollen wir die Körperbeschaffenheit in den einzelnen Gruppen
näher kennen lernen, muß prozentual das Verhältnis der einzelnen
Indexklassen in den Berufsgruppen berechnet werden. Aus sta¬
tistischen Gründen hat die Berechnung nur bei den Gruppen statt¬
gefunden, die über 100 Vertreter aufweisen, das sind die 17 in
folgender Tabelle aufgeführten.
168
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i-j
B
B2
ro
cd
-; r
, |
Tabelle L.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 169
Die Prozentbeteiligung der einzelnen Berufsgruppen in den
Indexklassen ist zur besseren Veranschaulich ung noch einmal in fünf
Säulentabellen wiedergegeben. Siehe Anlage 1.
Die Plusklasse ist wegen ihrer zahlenmäßigen Unbedeutend¬
heit nicht mit aufgeführt.
Die Berufsgruppen sind in jeder Tabelle nach der Höhe des
Prozentanteils geordnet. Die 7 Hauptberufsgruppen sind punktiert
gezeichnet. Die schwarze Senkrechte in jeder Tabelle zeigt die
Stelle, an welcher der Jahrgang in der Reihenfolge stehen würde.
Wir betrachten an der Hand der Tabellen x) in jeder Indexklasse:
1. Das Verhältnis der einzelnen Berufsgruppen zum Prozent¬
anteil des Jahrgangs.
2. Den Unterschied zwischen niedrigstem und höchstem Pro¬
zentsatz.
3. Die Reihenfolge der Berufsgruppe, besonders Anfang und Ende.
Indexklasse A.
Besonders Kräftige.
Der Prozentanteil des Jahrgangs beträgt 4,4 Proz. Nur 5
Berufsgruppen haben einen höheren Prozentsatz sehr kräftiger Leute:
Gruppe XXIV Tagelohn mit 4,6 Proz.
j; V Metallverarbeitung mit 5 Proz.
„ XVI Baugewerbe mit 6,8 Proz.
,, XIII Industrie der Nahrungs- u. Genußmittel mit 8 Proz.
r~
g fteimqungsqewerbe ßg
'3: Handelsqewerbe ^3
gs
iS Polyqraphisch. Gewerbe §
sä
ö Ohne Beruf M
■o Maschinen-Jndustrie c3
RsSj
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<-* Lederindustrie W
KS
^Textilindustrie W
of Staatsdienst M
Bekleidunqsqewerbe üa
oo Holzindustrie 0
m
•S Landwirtschaft
m
•'i
nj Fabrikarbeiter PF
Häusliche Dienste
VXv:-::!
Metallindustrie •=>
§ Bauqewerbe Eä
J
o Nahrunqsmittelindust §
LS VerKehrsqewerbe M
>
25
DJ
C/t
V)
ro
Am höchsten Gruppe XXII, das VerkehrsgewTerbe, mit 9,2 Proz.,
also über das Doppelte des Prozentanteils des Jahrgangs. Die
Gruppe XXII setzt sich zusammen aus Packern, Magazinern, Fuhr¬
leuten, Bahn- und Telegraphenarbeitern; alles gut bezahlte Leute,
die hauptsächlich im Freien arbeiten.
x) Vergleiche auch die auf beigegebener Tafel vereinigten einzelnen graphi¬
schen Darstellungen.
170 Gerhard Simon,
Erfreulich ist, daß unter den 5 besten Berufsgruppen 4 Haupt¬
berufsgruppen sind, leider und auffallenderweise nicht die größte
Berufsgruppe, die Landwirtschaft. 12 Gruppen bleiben hinter dem
Prozentanteil des Jahrgangs zurück, darunter auch die Landwirte,
es sind also nur 5 von 17 Gruppen = 29,5 Proz. besser als der Ge¬
samtdurchschnitt, 70,5 Proz. schlechter.
Die wenigsten sehr Kräftigen hat das Reinigungsgewerbe, es
bleibt hinter Gruppe XXII um über das Zehnfache zurück.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils geordnet,
lautet :
Berufsgruppe
XV Reinigungsgewerbe
0,9
Proz,
»
XX Handelsgewerbe
1,4
55
n
XVII Polygraphisches Gewerbe
1,9
55
5,
XXVI ohne Beruf
2,3
55
55
VI Maschinenindustrie
3,0
55
55
XI Lederindustrie
3,0
55
55
IX Textilindustrie
3,0
55
55
XXV Staatsdienst
3,5
55
55
XIV Bekleidungsgewerbe
3,5
55
55
XII Holzindustrie
3,8
55
55
I Landwirtschaft
4,0
55
ftft
XIX Fabrikarbeit
4,2
55
• •
yj
XXIV Häusliche Bedienstete
4,6
55
• •
V Metallindustrie
5,0
55
55
XVI Baugewerbe
6,8
55
• ft
XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬
nußmittel
8,0
,5
55
XXII Verkehrsgewerbe
9,2
55
Indexklasse B.
Kräftige.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
28 Proz. Einen höheren Anteil weisen 7 Gruppen auf.
Gruppe
55
»
55
55
XIV Bekleidungsgewerbe 28,2 Proz.
XVI Baugewerbe 29,5 „
VI Maschinenindustrie 31,1 „
XXIV Häusliche Bedienstete 31,6 ,,
XI Lederindustrie 32,0 „
XIII Industrie der Nahrungs- und Genußmittel 32,8
XXII Verkehrsgewerbe 35,5
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 171
darunter nur 3 Hauptberufsgruppen. Die Landwirtschaft erreicht
auch hier nicht die Anteilsquote des Jahrgangs, trotzdem 7 Gruppen
gegen 5 in der A-Klasse mehr Kräftige als der Jahrgang im
ganzen haben.
Der Unterschied des Prozentanteils in den einzelnen Gruppen
ist lange nicht so groß und verhält sich zwischen der mit dem
niedrigsten Anteil, auch hier wieder Gruppe XV, dem Reinigungs¬
gewerbe, zu der mit dem höchsten Anteil, auch hier wieder, wie in
Indexklasse A, dem Verkehrsgewerbe wie 3 : 7.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
Berufsgruppe XI Reinigungsgewerbe
„ XVII Polygraphisches Gewerbe
„ XX Handelsgewerbe
. „ XXV Staatsdienst
„ IX Textilindustrie
„ XII Holzindustrie
,, XXVI ohne Beruf
,, I Landwirtschaft
„ V Metallindustrie
„ XIV Bekleidungsgewerbe
,, XVI Baugewerbe
„ VI Maschinenindustrie
„ XXIV Häusliche Bedienstete
„ XI Lederindustrie
„ XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬
nußmittel
„ XXII Verkehrsgewerbe
15,1 Proz..
15.1 „
16.1 „
20,1 „
21,8 „
27,0 „
27.4 „
27.5 „
27.8 „
28,2 „
29.5 „
30,1 „
31.6 „
32,0 „
32.8 „
Wie in der A-Klasse stehen auch hier am Anfang das Keini-
gungs- und das Handelsgewerbe, die also die wenigsten sehr
kräftigen und kräftigen Leute haben, und am Ende der Keihe die
172
Gerhard Simon,
Industrie der Nahrungs- und Genußmittel, und das Verkehrsge-
werbe, die also die meisten sehr Kräftigen und Kräftigen haben.
Indexklasse C.
Noch nicht genügend Entwickelte.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
45,6 Proz. Über diesen Prozentsatz sind in dieser Klasse 6 Gruppen
vertreten :
Berufsgruppe Y Metallindustrie 46,2 Proz.
„ XII Holzindustrie 46,5 „
„ XVI Baugewerbe 46,9 „
„ I Landwirtschaft 48,8 „
„ IX Textilindustrie 49,7 „
„ XXV Staatsdienst 50,0 „
Da in dieser Indexklasse, wie schon ausgeführt, 2 Körperkon¬
stitutionen, die Mittelkräftigen und die etwas Schwächlichen ver¬
treten sind, läßt sich ohne weiteres nicht sagen, ob diese den
Jahrgangsanteil übertreffenden Zahlen der 5 Berufsgruppen mehr
einen Vorteil oder Nachteil für sie darstellen. In dem Umstand,
daß unter diesen 6 Berufsgruppen 4, darunter auch die Landwirt¬
schaft sind, welche nur wenig sehr kräftige und kräftige Leute
aufweisen, kann man wohl kein günstiges Zeichen erblicken. Daß
das Baugewerbe, welches in bezug auf den Prozentanteil der
sehr Kräftigen und Kräftigen den Jahrgangsanteil übertrifft, ebenso
wie die Metallindustrie, die auch sehr Kräftige über, den Jahr¬
gangsanteil liefert, hier vertreten ^ind, läßt wohl auf eine körper¬
lich wie sozial verschieden zu bewertende Zusammensetzung der
unter diesen Berufsgruppen zusammengefaßten Berufe schließen.
Für die von mir vorgeschlagene Bezeichnung dieser Klasse,
als der noch nicht genügend Entwickelten, führe ich die 48,3 Proz.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 173
der Landwirtschaft an, einer Berufsgruppe die nach den anthro¬
pologischen Untersuchungen Ammon’s1) unter ihren 20jährigen
Vertretern die meisten körperlich noch nicht Reifen aufweist, ferner
die sehr viel niedrigere Prozentzilfer bei den Einjährig- Frei¬
willigen Schwienings mit nur 37,6 Proz.
Der Prozentanteil der einzelnen Gruppen verläuft in einer
viel gleichmäßiger ansteigenden Kurve, wie bei den besonders
Kräftigen und Kräftigen.
Der Unterschied zwischen der Gruppe mit höchster und der
mit niedrigster Beteiligung beträgt nur 3 : 4.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
Berufsgruppe XI Lederindustrie
„ XXII Verkehrsgewerbe
„ XVII Polygraphisches Gewerbe
„ XIV Bekleidungsgewerbe
„ XX Handelsgewerbe
„ XV Reinigungsgewerbe
„ XXVI ohne Beruf
„ XXIV Häusliche Bedienstete
„ XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬
nußmittel
„ XIX Fabrikarbeit
„ V Metallindustrie
XII Holzindustrie
„ XVI Baugewerbe
„ I Landwirtschaft
„ IX Textilindustrie
„ XXV Staatsdienst
36,0 Proz.
36.2 „
36,8 „
38.7 „
38.8 „
40.6 „
40.7 „
42.3 „
43.6 „
43.8 „
46.2 „
46,5 „
46.9 „
48.3 „
49.7 „
50,0 „
Indexklasse D.
Schwache.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
13,6 Proz. Während in den vorhergehenden 3 Klassen immer nur
ein kleiner Bruchteil über die Prozentzahl des Jahrgangs sich er¬
hob, sind es hier mehr als die Hälfte, 9 Berufsgruppen.
Berufsgruppe VI Maschinenindustrie mit 13,7 Proz.
„ XI Lederindustrie „ 14,0 „
„ XXV Staatsdienst „ 16,7 „
. 9 1. c.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
12
174
Gerhard Simon,
Berufsgruppe IX Textilindustrie
„ XII Holzindustrie
„ XXVI ohne Beruf
„ XX Handelsgewerbe
„ XVII Polygraphisches Gewerbe
„ XV Reinigungsgewerbe
mit 17,0 Proz.
„ 17,5
„ 17,9
„ 22,2
„ 24,5
„ 28,3
5?
)•
?*
Nahrunqsmitteljndusr j
1 Baugewerbe
Verkehrsqewerbe
C, Bekleidungsgewerbe l
■S Fabrikarbeiter
O
CU
(/)
W
n>
ejo
Landwirtschaft
-SS Häusl. Bedienstete
eS Metall ^Industrie
eä Maschinen-Jndustrie “
Textilindustrie
; Staatsdienst
i Textilindustrie
i Holzindustrie
: Ohne Beruf
Handlunqsgewerb?.
I Polygraphisch Gewerbe
ejj Reimqunqsqewerbe fei
PT
Da diese Klasse die Leute mit schwacher Körperkonstitution
darstellt, ist dieses kein günstiges Zeichen, und zwar um so weniger,
als der Prozentanteil zwischen den Berufsgruppen mit den wenigsten
und den mit den meisten Schwachen um das Dreifache differiert. Er¬
freulich ist nur, daß sich unter den Berufsgruppen mit hohem Pro¬
zentsatz an Schwachen bloß eine der 7 Hauptberufsgruppen, das
Handelsgewerbe, sich befindet.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
Berufsgruppe XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬
nußmittel 9,6 Proz»
XVI Baugewerbe 10,4 „
XXII Verkehrsgewerbe 11,3 „
XIV Bekleidungsgewerbe 11,5 „
XIX Fabrikarbeit 11,6 „
I Landwirtschaft 11,8 „
XXIV Häusliche Bedienstete Tagelöhner 12,6 „
V Metallindustrie 12,8 ,,
VI Maschinenindustrie 13,7 „
XI Lederindustrie 14,0 „
XXV Staatsdienst 16,7 „
IX Textilindustrie 17,0 „
XII Holzindustrie 17,5 „
XXVI ohne Beruf 17,9 „
XX Handelsgewerbe 22,2 „
XVII Polygraphisches Gewerbe 24,5 „
XV Reinigungsgewerbe 28,3 „
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 175
Am Anfang der Reihenfolge stehen die Berufsgruppen XIII,
XVI, XXII, welche in der A- und B-Klasse am Ende standen.
Diese Berufsgruppen haben also nicht nur die meisten sehr Kräftigen
und Kräftigen, sondern auch die wenigsten Schwachen.
Umgekehrt finden wir die in dieser Klasse am Ende der
Reihenfolge stehenden 3 Berufsgruppen XX, XVII, XV in Klasse
A und B am Anfang. Es haben also diese 3 Berufsgruppen nicht
nur die wenigsten besonders Kräftigen und Kräftigen, sondern un¬
günstigerweise auch noch die meisten schwachen Leute.
Indexklasse E.
Besonders Schwache.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
8,1 Proz. und leider erheben sich fast die Hälfte, 8 Berufsgruppen,
über diese unerfreuliche Höhe. Es sind dies folgende Berufsgruppen :
Berufsgruppe XXV Staatsdienst
„ XI Lederindustrie
„ XXVI ohne Beruf
„ XIX Fabrikarbeit
„ XIV Bekleidungsgewerbe
XV Reinigungsgewerbe
XVII Polygraphisches Gewerbe
XX Handelsgewerbe
mit 9,7 Proz.
„ 10,0 „
» 10,4 „
„ 10,5 ,,
» 11,1 „
12,3 „
» 18,8 ,,
„ 18,9 „
m i
-g Nahrunqsmiltel-Jndust
i£ Landwirtschaft —
iS Bauaewerbe
M
S Metall'Jndustrie
<3
S Holz-Jndustrie
Üf
m
1^2 Verkehrsqewerbe ü|
fä Häusl. Bedienstete
"X
Ö Textil-Jndustrie
N
y
So Maschinen-Jndusfrie
üf
ö7
<5 Staatsdienst
1r£
C/l
-S Leder-Jndustrie
oi
|-S Ohne Beruf
n>
|f§ Fabrik rbeiter
i
1*3 Bekleidungsgewerbe öl
lö Reiniqunqsqewerbe
§
SS!
|g§ Polvqraphisch.Gewerbeg
|-?S Mancllunqsqewerbe
<3^
Von den Hauptberufsgruppen sind 2, darunter die Fabrik¬
arbeiter und wiederum das Handelsgewerbe, die sogar den aller¬
höchsten Anteil stellen, 6 mal mehr wie Gruppe XIII, die Industrie
der Nahrungs- und Genußmittel. Die Reihenfolge nach der Höhe
des Prozentanteils ist:
12*
176
Gerhard Simon,
Berufsgruppe
XIII Industrie der Nahrungs- und Ge¬
nußmittel
3,0
Proz.
5? *
I Landwirtschaft
5,9
ii
n
XVI Baugewerbe
5,9
ii
11
V Metallindustrie
6,3
5,
55
XII Holzindustrie
6,5
55
11
XXII Verkehrsgewerbe
7,1
55
11
XXIV Häusliche Bedienstete, Taglöhner
7,2
55
55
IX Textilindustrie
7,3
11
11
VI Maschinenindustrie
7,8
11
V
XXV Staatsdienst
9,7
11
11
XI Lederindustrie
10,0
11
11
XXVI ohne Beruf
10,4
11
11
XIX Fabrikarbeit
10,5
11
11
XIV Bekleidungsgewerbe
11,1
11
11
XV Reinigungsgewerbe
12,3
11
•>1
XVII Polygraphisches Gewerbe
18,8
11
11
XX Handelsgewerbe
18,9
11
Am Anfang der Reihenfolge steht auch hier wieder Gruppe
XIII, Industrie der Nahrungs- und Genußmittel. Dann erfolgt
gegen die vorige Klasse eine Verschiebung insofern, als Gruppe I,
die Landwirtschaft, an 2. Stelle tritt. Das ist insofern erfreulich,
als diese bei weitem größte Gruppe in den 4 vorstehenden Index¬
klassen kein besonders günstiges Bild zeigt. Wenn die Landwirt¬
schaft auch mit die wenigsten Minderwertigen hat, so überragen
sie immer noch die besonders Kräftigen um 1,9 Proz.
Nur 3 Berufsgruppen haben mehr A- wie E-Leute.
Berufsgruppe XXII sehr Kräftige 9,2% gegen 7,1 % Minderwertige
„ XIII „ „ 8,0% „ 3,0 %
„ XVI „ „ 6,8 % „ 5,6%
Die 3 Berufsgruppen stehen also bezüglich der Körperbeschaffen¬
heit an der Spitze des Jahrgangs. Von den übrigen 16 Berufs¬
gruppen, die alle mehr besonders schwache, wie besonders kräftige
Leute haben, will ich nur 2 hervorheben.
Berufsgruppe XVII mit 1,9% besonders Kräftigen und 18,8 % besonders Schwachen
„ XX „ 1,4% „ ,, „ 18,9% „
die also bezüglich der Güte der Körperkonstitution ihrer An¬
gehörigen sehr erheblich gegen die obigen 3 Klassen zurückstehen.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 177
4. Die einzelnen Berufe.
Bei der allgemeinen Berufszählung im Deutschen Reiche ist die
Aufstellung der Berufsgruppen wohl lediglich vom wirtschaftlichen
Standpunkt aus erfolgt. Sozialhygienisch sind aber die Berufe in
den einzelnen Berufsgruppen ganz verschiedenartig zu bewerten.
Ich brauche nur auf die große Sammelgruppe „Baugewerbe“ hinzu¬
weisen. Eine Berechnung des Prozentanteils der einzelnen Berufs¬
gruppen an den einzelnen Indexklassen wird also recht verschiedene
Resultate ergeben.
Aus statistischen Gründen hat diese Berechnung nur in den
Berufen, die mehr als 100 Vertreter aufweisen, stattgefunden. Es
sind dies die in folgender Tabelle aufgeführten 21 Berufe.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Zur besseren Veranschaulichung des Prozentanteils der 21 Berufe
in den Indexklassen A-E ist auch hier eine Säulentabelle angelegt.
Anlage 2.
Die + Klasse ist auch hier wegen ihrer zahlenmäßigen Un¬
bedeutenheit nicht mit aufgeführt.
Die Berufe sind in jeder Tabelle nach der Höhe des Prozent¬
anteils geordnet, die 5 Hauptberufe sind wie die Hauptberufsgruppen
in der vorigen Säulentabelle punktiert gezeichnet. Die schwarze
Senkrechte in jeder Tabelle zeigt die Stelle, an welcher der Jahr¬
gang stehen würde. Es sollen an der Hand dieser Tabellen wie bei
den Berufsgruppen in jeder Indexklasse betrachtet werden.
1. Das Verhältnis der einzelnen Berufe zum Prozentanteil
des Jahrgangs,
2. Der Unterschied zwischen niedrigstem und höchstem Prozentsatz^
3. Die Reihenfolge der Berufe besonders Anfang und Ende.
Indexklasse A.
Besonders Kräftige.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt 4,4.
Von den 21 Berufen haben 8 mehr besonders Kräftige:
die Zigarrenarbeiter
Schlosser
„ Taglöhner
„ Maurer
„ Schmiede
178 Gerhard Simon,
Tabelle LI.
Min.
A
B
C
D
E
abs.
°/o
abs.
%
abs.
%
abs.
0/
Io
abs.
Ol
Io
abs.
°/o
abs.
Ol
Io
I. Berufsgruppe
|
1. Landwirte
37
1,8
3
0,1
77
3,7
581
28,1
1005
48,6
241
11,7
125
6,0
2069
2. Knechte
28
4,4
3
0,5
19
3,0
171
26,8
290
45,4
94
14,7
33
5,2
638
Y. Berufsgruppe
3. Gold- und Silber-
arbeiter
7
2,1
1
0,3
13
3,8
67
20,9
167
47,6
52 16,4
30
8,9
347
4. Schlosser
3
0,8
1
0,2
19
4,8
123
31,7
183
46,8
40
10,2
22
5,6
391
5. Schmiede
—
—
1
0,6
12
7,6
64
40,5
64
40,5
15
9,5
2
1,3
158
VI. Berufsgruppe
6. Mechaniker
1
0,6
1
0,6
4
2,3
47
26,8
82
46,9
23
13,1
17
9,7
175
IX. Berufsgruppe
7. Textilarbeiter
—
1
0,7
4
2,7
32
21,9
74
50,7
24
16,5
11
7,5
146
XII. Berufsgruppe
8. Schreiner
6
2,4
—
—
10
4,1
66
26,8
102
41,5
46
18,7
16
6,5
246
XIII. Berufsgruppe
9. Bäcker
15
6,5
2
0,9
25
10,8
79
34,0
90
38,8
15
6,5
6
2,0
232
10. Metzger
1
0,8
1
0,8
18
13,7
53
40,4
52
39,7
6
4,6
—
131
11. Zigarrenarbeiter
6
1,6
1
0,3
17
4,5
98
26,1
185
49,2
55
14,6
14
3,7
376
XV. Berufsgruppe
-
12. Friseure
3
3,8
—
1
0,9
16
15,2
43
40,9
29
27,6
13
12,4
105
XVI. Berufsgruppe
*
13. Maurer
1
0,4
—
17
7,0
86
35,4
101
41,6
25
10,3
13
5,3
243
14. Zimmerer
—
—
—
13
10,9
25
21,1
60
50,4
13
10,0
8
6,7
119
15. Maler
3
1,9
1
0,6
2
1,3
47
29,7
72
45,6
19
12,0
14
8,9
158
XIX. Berufsgruppe
•
16. Fabrikarbeiter
17
2,6
3
0,5
28
4,3
184
28,3
290
44,7
64
9,9
63
9,7
649
17. Arbeiter
6
2,6
—
—
9
3,9
52
22,7
95
41,5
38
16,6
29
12,7
229
XX. Berufsgruppe
18. Kaufleute
5
0,9
6
1,1
6
1,1
91
16,6
21839,6
124
22,5
100
18,2
550
XXIV. Berufsgruppe
19. Häusl. Bedienstete
—
—
2
1,4
38
26,9
55
39,0
30
21,3
16
11,4
141
20 Taglöhner
9
1,7
1
0,2
36
6,6
168
30,8
234
42,9
60
11,0
37
6,8
545
XXVI. Berufs gruppe
21. Seminaristen
1
0,7
—
—
2
1,5
39
28,2
53
38,4
24
17,4
19
13 8
138
Die Hauptberufe sind also: Landwirte mit 2069 Mann
Fabrikarbeiter „ 649 „
landwirtsch. Knechte „ 638 „
Kaufleute „ 550 „
Taglöhner „ 545 „
4451 Mann
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren.
179
die Bäcker
., Zimmerer
„ Metzger
10.8 Proz.
10.9
13,7 „
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3
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'o* Schmiede
•<
IS Bäcker M
!
§ Zimmerer
W
Sä
Metzger M
s«
Die letzteren haben also 3 mal mehr als der ganze Jahrgang.
Einer dieser 8 Berufe (Taglöhner) gehörte zu den Hauptberufen.
Auffallenderweise befinden sich nicht die Landwirte unter diesen
8 Berufen. Während von den 17 Berufsgruppen nur 29,5 Proz.
besser als der Jahrgang waren, sind es bei den 21 Berufen 38 Proz.
3 Berufe, die Bäcker, Zimmerer und Metzger, haben sogar über
10 Proz. besonders Kräftige. Die wenigsten haben die Friseure,
die zugleich Berufsgruppe XV darstellen.
Der Unterschied zwischen ihnen und den Metzgern beträgt das
Vierzehnfache.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
1.
Berufsgruppe
XV
Friseure
0,9 Proz.
2.
_!>
XX
Kaufleute
1,1
3.
5*
XVI
Maler
1,3
4.
U
XXIV
Häusliche Bedienstete
1,4
n
5.
»
XXVI
Seminaristen
1,5
55
6.
V
VI
Mechaniker
2,3
7.
b
IX
Textilarbeiter
2,7
J,
8.
V
I
Landwirtschaftliche Knechte
3,0
>>
9.
V
I
Landwirte
3,7
5J
10.
>?
V
Gold- und Silberarbeiter
3,8
V
11.
XIX
Arbeiter
3,9
J)
12.
V
XII
Schreiner
4,1
??
13.
V
XIX
Fabrikarbeiter
4,3
JJ
14.
XIII
Zigarrenarbeiter
4,5
15.
V
Schlosser
4,8
180 Gerhard Simon,
16. Berufsgruppe XXIV Taglöhner 6,6 Proz.
17. „ XVI Maurer 7,0 „
18. „ V Schmiede 7,6 „
19. „ XIII Bäcker 10,8 „
20. „ XVI Zimmerer 10,9 „
21. „ XIII Metzger 13,7 „
Wir sehen also aus der Reihenfolge, wie große Unterschiede
in der Körperbeschaifenheit der einzelnen Berufe und der Berufe
einer und derselben Berufsgruppe vorhanden sind. Vergleiche die
zur Berufsgruppe XVI gehörenden Maler, Maurer und Zimmerer
mit 1,3-7,0-10,9 Proz.
Indexklasse B.
Kräftige.
Der Prozentanteil des J ahrgangs in dieser Klasse beträgt 28 Proz.
Von den Berufgsruppen haben 7 einen höheren Prozentsatz, von den
Berufen aber 10, nahezu 50 Proz.
Landwirte 28,1 Proz.
Seminaristen 28,2 „
Fabrikarbeiter 28,3 „
Maler 29,7 .,
Taglöhner 30,8 „
Schlosser 31,7 „
Bäcker 34,0 „
Maurer 35,4 „
Metzger 40,4 „
Schmiede 40,5 „
co
X
DJ
W
l/>
n>
Bei den Berufsgruppen war die höchste Prozentzahl 35,5; die
Metzger und die Schmiede haben mit 40,4 bzw. 40,5 sogar noch
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 181
5 Proz. mehr. Der Unterschied zwischen niedrigstem Prozentsatz
15,2 Proz., den auch hier wieder die Friseure haben, und dem
höchsten Prozentsatz 40,5 bei den Schmieden, ist auch hier nicht
so groß wie in Indexklassee A und verhält sich wie 1 : 2,6.
Die Reihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
1. Berufsgruppe
XV Friseure
15,2 Proz.
2.
V
XX Kaufleute
16,6
3.
V
V Gold- und Silberarbeiter
20,9
4.
XVI Zimmerer
21,1
5.
V
IX Textilarbeiter
21,9
»•
6.
??
XIX Arbeiter
22,7
V
7.
9 •
XIII Zigarrenarbeiter
26,1
r
8.
V
I Landwirtschaftliche Knechte
26,8
r
9.
5?
VI Mechaniker
26,8
10.
V
XII Schreiner
26,8
V
11.
XXIV Häusliche Bedienstete
26,9
,*
12.
• ,
I Landwirte
28,1
13.
r
XXVI Seminaristen
28,2
« «
14.
r
XIX Fabrikarbeiter
28,3
V
15.
V
XVI Maler
29,7
«•
16.
XXIV Taglöhner
30,8
5?
17.
V Schlosser
31,7
?*
18.
V
XIII Bäcker
34,0
??
19.
XVI Maurer
35,0
1')
20.
r
XIII Metzger
40,4
::
21.
V Schmiede
40,5
V
Friseure und Kaufleute stehen in der A- und B-Klasse am
Anfang der Reihe mit einer im Verhältnis zu den anderen Berufen
auffallend niedrigen Anteilziffer. Die Landwirte, welche man ge¬
wiß unter den Besten vermutet hat, stehen in der A-Klasse in der
schlechteren Hälfte, in der B-Klasse am Anfang der besseren
Hälfte; sie zeichnen sich also keineswegs durch einen besonders
hohen Anteil guter Leute vor den übrigen Berufsgruppen aus,
bleiben sogar weit hinter ihnen zurück.
Indexklasse C.
Noch nicht genügend Entwickelte.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
45,6 Proz.
182 Gerhard Simon,
Mit einem höheren Anteil sind 7 Berufe vertreten = 33 l/8 Proz.
der 21 Berufe.
Schlosser 46,8 Proz.
Mechaniker 46,9 „
Gold- und Silberarbeiter 47,6 „
Landwirte 48,6 ,;
Zigarrenarbeiter 49,2 „
Zimmerer 50,4 „
Textilarbeiter 50,7 „
während es bei den Berufsgruppen 6 = 35 Proz. sind.
Am wenigsten C-Leute haben mit 38,4 Proz. die Seminaristen,
aber immer noch mehr als die Einjährigen Schwienings mit
37,6 Proz.
Die Beihenfolge des Prozentanteils ist:
1.
Berufsgruppe XXVI
Seminaristen
38,4 Proz.
2.
XIII
Bäcker
38,8
55
3.
55
XXIV
Häusliche Bedienstete
39,0
55
4.
• •
XX
Kaufleute
39,6
55
5.
>5
XIII
Metzger
39,7
55
6.
55
V
Schmiede
40,5
55
- 7.
55
XV
Friseure
40,9
55
8.
55
XII
Schreiner
41,5
55
9.
55
XIX
Arbeiter
41,5
55
10.
55
XVI
Maurer
41,6
55
11.
1«
/ /
XXIV
Taglöhner
42,9
55
12.
55
XIX
Fabrikarbeiter
44,7
55
13.
55
I
Landwirtschaftliche Knechte
45,4
55
14.
55
XVI
Maler
45,6
55
15.
55
V
Schlosser
46,8
55
16.
55 ‘
VI
Mechaniker
46,9
' 55
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 183
17. Berufsgruppe
V
18.
I
19.
XIII
20.
XVI
21.
IX
Gold- und Silberarbeiter
Landwirte
Zigarren arbeit er
Zimmerer
Textilarbeiter
47.6 Proz.
48.6 „
49,2 „
50,4 .,
50.7 „
Auch hier läßt sich wohl aus der Reihenfolge und dem hohen
Prozentsätze von Berufen wie Zimmerer, Schlosser, die prozentual
sehr viel besonders Kräftige und Kräftige haben, die Berechtigung
der Benennung der Klasse als noch nicht genügend Entwickelte
herleiten, während andererseits aus einem Vergleich der Reihenfolge
der Textilarbeiter, Gold- und Silberarbeiter, Mechaniker in der
A- B- und C Klasse abzuleiten ist, daß in dieser Klasse 2 Körper¬
konstitutionen Mittelkräftige und Schwächliche zusammengefaßt sind.
Indexklasse D.
Schwache.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
13,6 Proz., den 10 Berufe, also fast die Hälfte und zum Teil sehr
erheblich überschreiten.
Zigarrenarbeiter 14,6 Proz.
Landwirtschaftliche Knechte 14,7 ,,
Gold- und Silberarbeiter 16,4 „
Textilarbeiter 16,5 „
Arbeiter 16,6 .,
Seminaristen 17,4 „
Schreiner 18,7 „
Häusliche Bedienstete 21,3 „
Kaufleute 22,5 ,,
Friseure 27,0 „
184
Gerhard Simon,
Der Unterschied zwischen den Berufen mit den wenigsten nnd
den, mit den meisten Schwachen, beträgt das 6 fache. Leider sind
unter den Berufen mit den meisten Schwachen zwei Hauptberufe —
die Landwirtschaftlichen Knechte und die Kaufleute. Die Reihen¬
folge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
1.
Berufsgruppe
XIII
Metzger
4,6 Proz,
2.
V
XIII
Bäcker
6,5
3.
V
Schmiede
9,5
4.
V
XIX
Fabrikarbeiter
9,9
V
5.
??
V
Schlosser
10,2
r*
6.
XVI
Maurer
10,3
V
7.
V
XVI
Zimmerer
10,9
8.
V
XXIV
Taglöhner
11,0
9.
»
I
Landwirte
11,7
10.
??
XVI
Maler
12,5
11.
??
VI
Mechaniker
13,1
12.
XIII
Zigarren arbeiter
14,6
13.
I
Landwirtschaftliche Knechte
14,7
14.
V
Gold- und Silberarbeiter
16.4
15.
IX
Textilarbeit
16,5
V
16.
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XIX
Arbeiter
16,5
V
17.
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XXVI
Seminaristen
17,4
V
18.
5?
XII
Schreiner
18,7
19.
V
XXIV
Häusliche Bedienstete
21,3
V
20.
»
XX
Kaufleute
22,5
V
21.
”
XV
Friseure
27,0
??
Am Anfang der Reihe stehen mit nur 4,6 Proz. die Metzger,
welche in der A- und B-Klasse am Ende stehen. Umgekehrt finden
wir in der D-Klasse am Ende die Kaufleute und die Friseure mit
22,5 und 27 Proz., welche in der A- und B-Klasse am Anfang stehen.
Diese beiden Berufe haben also nicht nur die wenigsten besonders-
Kräftigen und Kräftigen sondern ungünstigerweise auch die meisten
schwachen Leute.
Indexklasse E.
Besonders Schwache.
Der Prozentanteil des Jahrgangs in dieser Klasse beträgt
8,1 Proz. 9 Berufe von den 21 = 43 Proz. haben noch mehr be¬
sonders Schwache
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 185
Gold- und Silberarbeiter
Maler
Mechaniker
Fabrikarbeiter
Häusliche Bedienstete
Friseure
Arbeiter-
Seminaristen
Kaufleute
8,9 Proz.
8,9 „
9,7 „
9,7 „
11.4 „
12.4 „
12.7 ,
13.8 „
18,2 „
Metzoer
g Schmiede
Bäcker
Ziqarrenarbeiter
Knechte
Maurer
Schlosser
m
Q)
W
C/)
cd
Landwirte
Schreiner
Zimmerer
g Taqlöhner
! Textilarbeiter
Gold-&5ilber-Arbeiter •<
Maler
Mechaniker
Fabrikarbeiter
Häusl. Bedienstete
•3 Friseure
-9 Arbeiter
Seminaristen
,9 Kaufleute
Auch hier finden sich unter dem schlechteren Teil 2 Haupt¬
berufe die Fabrikarbeiter mit 9,7 und wieder die Kaufleute, hier
sogar mit dem enorm hohen Anteil von 18,2 Proz.! Am besten
stehen die Metzger, welche überhaupt keine Minderwertigen, und
dann die Schmiede, welche nur 1,3 Proz. haben. Der Unterschied
zwischen den Berufen mit niedrigster und höchster Beteiligung ist
so groß wie in keiner Indexklasse.
Die Beihenfolge nach der Höhe des Prozentanteils ist:
1. Berufsgruppe XIII Metzger 0 Proz.
2.
5,
V
Schmiede
1,3
,5
3.
„
XIII
Bäcker
2,6
V
4.
XIII
Zigarren arbeitet’
3,7
5.
I
Landwirtschaft. Knechte
5,2
6.
M
XVI
Maurer
5,3
V
7.
V
Schlosser
5,6
V
8.
V
I
Landwirte
6,0
„
9.
„
XII
Schreiner
6,5
V
10.
XVI
Zimmerer
6,7
11.
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XXIV
Taglöhner
6,8
12.
?,
IX
Textilarbeiter
7,5
186
13. Berufsgruppe
V
Gerhard Simon, •
Gold- und Silberarbeiter
8,9 Proz.
14.
5,
XVI
Maler
8,9
55
15.
55
VI
Mechaniker
V
55
16.
55
XIX
Fabrikarbeiter
9,7
5,
17.
55
XXIV
Häusliche Bedienstete
11,4
55
18.
,5
XV
Friseure
12,4
55
19.
55
XIX
Arbeiter
12,7
55
20.
55
XXVI
Seminaristen
13,8
55
21.
55
XX
Kaufleute
18,2
55
Die
Sechs Berufe
Metzger
haben mehr A- wie E-Leute.
bes. Kräftige 13,7 Proz., bes. Schwache 0 Proz.
5?
Zimmerer
V
10 9
55 ,, ,,
6,7
55
55
Bäcker
55
10 8
., IV/, o ., „ „
2,0
5,
Schmiede
55
7 6
55 *5^ 55 55 55
1,3
55
,5
Maurer
55
70
55 ' 5V 55 55 55
5,3
55
55
Zigarrenarb.
.,
4 o
55 55 55 55
[>
CO
55
Keiner von den Hauptberufen ist unter dieser Reihe. Am günstigsten
bezüglich der Körperbeschaffenheit stehen also die Metzger und
die Bäcker da.
Die übrigen 15 Berufe haben alle mehr besonders Schwache
als besonders Kräftige. Am größten ist die Differenz bei den Kauf¬
leuten : besonders Kräftige 1,1 Proz., besonders Schwache 18,2 Proz..
den Seminaristen besonders Kräftige 1,5 Proz., besonders Schwache
13,8 Proz. Der Kaufmannsstand hat also unter den 21 Berufen
das schlechteste Menschenmaterial. Das ist um so bedeutungs¬
voller, als er zu den 5 Hauptberufen gehört. Das 2. schlechteste
Menschenmaterial weisen die Seminaristen auf, die in der Tauglich¬
keitsskala der höheren Schulen an 3. bester Stelle stehen.1)
Wir haben durch diese Untersuchungen einen Einblick in die
Körperbeschaffenheit 20 jähriger junger Leute erhalten, wie er so¬
weit ins einzelne gehend durch andere statistische Untersuchungen
bisher nicht zu erhalten wär.
Ich möchte meine Untersuchungsergebnisse kurz in den
2. Schlußsatz zusammenfassen.
Das Pignet’sche Verfahren ermöglicht eine an¬
schauliche zahlenmäßige Darstellung der Körper¬
besch affen heit einer Bevölkerungsgruppe.
5 y. Schjerning, Sanitätsstatistische Betrachtungen über Volk und Heer.
Bibliothek v. Coler-v. Schjerning, Bd. 28, 1910.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 187
III.
Überraschend war die mittels des Pignet’schen Verfahrens
festgestellte geringe Zahl besonders Kräftiger und die hohe Zahl
besonders Schwacher beim ganzen Jahrgang, in den 33 Bezirks¬
ämtern, 17 Berufsgruppen und 21 Berufen; ferner die ganz erheb¬
lichen Unterschiede der besonders Kräftigen wie der besonders
Schwachen in den 33 Bezirksämtern, 17 Berufsgruppen und 21 Be¬
rufen. Es erscheint verlockend, diese statistischen Ergebnisse er¬
klären zu wollen, aber mangels vorhandener Kontrollen und wegen
der viel zu kleinen Zahl verzichte ich auf eine Auslegung meiner
Ergebnisse. Nur soviel kann man wohl behaupten und unein¬
geschränkt gelten lassen, daß da wo hohe Differenzen zwischen
besonders Kräftigen und besonders Schwachen vorhanden sind, wie
wir sie vor allen in einzelnen Berufen und Gegenden festgestellt
haben, gesundheitliche Schäden und Mängel bestehen müssen.
Maßgebend für die Körpergestaltung sind in erster Linie Herkunft
und Abstammung. Sie allein können aber unmöglich die Vor¬
gefundenen großen körperlichen Unterschiede in den untersuchten
Berufen erklären. Man denkt bei dem Alter unseres Jahrganges
unwillkürlich an einen schädigenden Einfluß des Berufes. Prin-
zing,1) Bindewald2) und andere sind zwar der Ansicht, daß:
1. die körperliche Beschaffenheit die Berufswahl beeinflußt;
2. die Zeit vom Eintritt in den Beruf bis zur Musterung zu
kurz ist, um Schädlichkeiten größeren Umfangs zu erzeugen;
3. die Tauglichkeitsziffer nur ein Fingerzeig für die Bevor¬
zugung gewählter Berufe durch körperlich kräftige Leute oder
Schwache ist.
Ziffer 1 zugegeben; Ziffer 2 und 3 kann nach meinen Ergeb¬
nissen zur Erklärung der vielen besonders Schwachen und wenigen
besonders Kräftigen in einzelnen Berufen als nichtausreichend an¬
gesehen werden.
Mit Abelsdorff3) und Wellmann4) bin ich vielmehr der
Ansicht, daß 6 Jahre in manchem Betrieb große schädigende Ein-
x) Prinzing, Handbuch der Medizinischen Statistik 1906.
2) Bindewald, Die Wehrfähigkeit der ländlichen und städtischen Be¬
völkerung. Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im
Deutschen Beiche.
3) Abelsdorff, Die Wehrfähigkeit zweier Generationen. Berlin 1905.
4) Wellmann, Abstammung, Beruf und Heeresersatz in ihren gesetzlichen
Zusammenhängen, 1907.
188
Gerhard Simon,
flüsse auf einen wachsenden Körper ausüben können, ja ausüben
müssen. Zwei gleichkräftige 14jährige Burschen, von denen der eine
Schneider, der andere Metzger wird, dürften bei der Musterung
doch große Unterschiede zeigen. Die Richtigkeit dieser Ansicht
wird ja jetzt auch wie die überall geschallenen Organisationen zur
besseren Körperpflege der schulentlassenen Jugend (Jugendwehr
und Pfadfinderklub) zeigen, allgemein bestätigt. In der letzten
Thronrede zur Eröffnung des Preußischen Landtages am 10. Januar
1911 ist aus der gleichen Erkenntnis heraus auf die planmäßige
Ausgestaltung der Jugendpflege hingewiesen worden. A) Im Gro߬
herzogtum Baden ist die Stadt Pforzheim wegen ihrer muster¬
gültigen Jugendorganisation bekannt geworden.
Vermöge seiner objektiven Grundlagen ermöglicht uns das
Pignet’sche Verfahren also auch, gesundheitliche Schäden und
Mängel zuverlässig nachzuweisen.
Es erfüllt damit die der medizinischen Statistik nach Prin¬
zin g zufallende Aufgabe : die exakte zahlenmäßige Darstellung
der pathologischen Erscheinungen der menschlichen Gesellschaft.
Ich komme damit zu dem 3. Schlußsatz:
Das Pignet’sche Ver fahren muß als eine wertvolle
Bereicherung der Untersuchungsmethoden der medi¬
zinischen Statistik angesehen werden.
IV.
Die weitere Bedeutung des Heeresersatzgeschäftes als wichtige
Kontrolle für die Volksgesundheit ist lange noch nicht genügend
allgemein bekannt und gewürdigt. Welch vielsagende Schlüsse
sich allein aus Vergleichen der Größe und des Gewichts einzelner
Jahrgänge ziehen lassen, habe ich am Anfang der Arbeit gezeigt.
Freilich ließe sich der Wert des in den alphabetischen Listen der
Wehrpflichtigen aufgespeicherten Materials noch beträchtlich er¬
höhen, wenn von jedem Untersuchten die 3 Maße Körpergröße,
Brustumfang, Körpergewicht regelmäßig eingetragen würden. Der
aus diesen 3 Maßen berechnete Pignet’sche Index als Einheits¬
maß ermöglichte dann neben der Tauglichkeitsstatistik, die in
erster Linie ja nur für die Heeresverwaltung von Bedeutung ist,
auch eine Statistik über die allgemeine Körperbeschaffenheit des
Jahrgangs, welche mehr von allgemein staatlichem Interesse wäre
9 Bassenge, Die Heranziehung und Erhaltung einer wehrfähigen Jugend.
Veröffentlichungen aus dem Gebiete des Militärsanitätswßsens, Heft 49, 1911.
Unters, an wehrpflichtigen jungen Badnern n. d. Pignet’schen Verfahren. 189
und in unserer heutigen Zeit mit ihrem sozialen Tagesinteresse
ganz besondere Beachtung finden dürfte wieder zu Nutz und
Frommen der ganzen Einrichtung. Schon Rudolf Virchow1)
hatte im Jahre 1863 in seinem Vorträge: „Über Rekrutierungs¬
statistik“ auf dem internationalen statistischen Kongreß in Berlin
gefordert, die Ergebnisse des Rekrutierungsgeschäftes nicht bloß
seinem nächsten Zweck dem des Heeresersatzes, sondern noch mehr
/
dem weiteren und höheren Zwecke des Staates überhaupt nutzbar
zu machen. Denn die militärpflichtige Jugend der Nation, so führte
Virchow aus, muß in physischer Beziehung ein Spiegelbild dessen
sein, was die Nation in ihrer Gesamtheit an körperlicher Kraft zu
leisten vermag. Durch die Rekrutierungsstatistik gewonnene An¬
haltspunkte für die öffentliche Gesundheitspflege haben den großen
Vorzug, daß sie zu einer Zeit des Lebens gewonnen sind, wo über¬
haupt ein segensreiches fruchtbringendes Eingreifen noch möglich
ist.“ Zur besseren Erfüllung dieses Zweckes hielt Virchow ein
Einheitsmaß für notwendig.
Ich meine, der numerische Index Pignet’s könnte als solches
Einheitsmaß im Sinne Virchow’s angesehen werden. Es ließen
sich mit ihm die alphabetischen Listen noch mehr wie bisher zur
Lösung strittiger Tagesfragen z. B. Einfluß von Industrie und
Landwirtschaft auf die allgemeine Körperbeschaffenheit, Nachweis
eingetretener Entartung oder Besserung der Volksrasse heranziehen.
Die militärärztliche Tätigkeit könnte gleichzeitig damit im
Sinne des Herrn Generalstabsarztes der preußischen Armee, Exz.
v. Schj ern ing,2) das Band zwischen Volk und Heer noch enger
gestalten.
Meine Ausführungen fasse ich in den 4. Schlußsatz zusammen :
Das Pigne t’sche Verfahren erscheint geeignet, die
soziale Bedeutung des Heeresergänzungsgeschäftes
zu erhöhen.
Die Bedeutung und Anwendung des Pign et’schen Verfahrens
ist mit meinen Ausführungen keineswegs erschöpfend behandelt.
Seine Anwendung ist wegen der dazu nötigen Maße im größeren
Maßstabe in Deutschland vorläufig nur auf unsere Wehrpflichtigen
beschränkt, von denen die 3 Maße: Größe, Gewicht, Brustumfang
*) R. Virchow, Über Rekrutierungsstatistik. Gesammelte Abhandlungen,
Bd. I, 1873.
2) y. Schjerning, Sanitätsstatistische Betrachtungen über Volk und Heer.
Bibliothek v. Coler — v. Schjerning, Bd. XXVIII.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
13
190 Gerhard Simon, Untersuchungen an wehrpflichtigen jungen Badnern usw.
in den alphabetischen Listen oder den Freiwilligen -Listen zu
finden sind.
Dem angestrebten anthropometrischen Amt muß es überlassen
bleiben, weitere Erfahrungen mit diesem Maße zu sammeln.
Zum Schluß möchte ich nicht unterlassen, besonders den Herrn
Amtsvorständen der Großherzoglich Badischen Bezirksämter für
die liebenswürdige Unterstützung meiner Arbeit durch die bereit¬
willige Erfüllung meiner Bitte um Einsendung der alphabetischen
Listen meinen verbindlichsten Dank auszusprechen, ebenso Herrn
Oberstabsarzt Prof. Dr. Schwiening für gütige Übersendung
einer Abschrift der mir sonst nicht zugänglichen Arbeit Pi gnet’s.
Schlußsätze.
1. Das Pignet’sche Verfahren ist ein praktisches Hilfsmittel
zur Beurteilung von Grenzfällen bei der Musterung und Aushebung.
2. Das Pignet’sche Verfahren ermöglicht eine anschauliche
zahlenmäßige Darstellung der Körperbeschaffenheit einer Bevölke¬
rungsgruppe.
3. Das Pignet’sche Verfahren muß als eine wertvolle Be¬
reicherung der Untersuchungsmethoden der medizinischen Statistik
angesehen werden.
4. Das Pignet’sche Verfahren erscheint geeignet, die soziale
Bedeutung des Heeresergänzungsgeschäftes zu erhöhen.
Archiv für Sozial
Simon, Untersuchu
Archiv für Soziale Hygiene. Bd. VII
A. Klasse
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A. Klasse
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Simon, Untersuchungen.
Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig
Tafel I
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1179 22,2245283%
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Richard Hahn (H. Otto), Lelpz'g
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche
Erkrankungen.
Von Prof. Dr. med. J. Kaup, Charlottenburg.
Vortrag, gehalten im Kursus für Unfallheilung und Gewerbekrankheiten des
Instituts für Gewerbehygiene zu Frankfurt a. M. (25. und 26. September 1911).
Gewerbliche Erkrankungen und hiermit im Zusammenhänge
Todesfälle auf Grund beruflicher Schädigungen lassen sich im Ge¬
samtbilde der Medizinalstatistik nicht ohne weiteres erkennen.
Gewährt doch die Mortalitätsstatistik der einzelnen Staaten und
Völker ohne Unterscheidung nach Altersgruppen und Geschlecht
zunächst fast ein gleichartig erfreuliches Bild. Es ist bei dem
wachsenden Interesse der Öffentlichkeit für nationalbiologische Tat¬
sachen ja fast allgemein bekannt, daß in Deutschland die Sterbe¬
ziffern innerhalb der letzten Jahrzehnte von 28 Prom. (1874 — 75)
auf 19,9 Prom. (1901—05) und 18,7 (1905—07), also um 38 Proz.
gesunken sind. Andere Staaten zeigen in derselben Zeitperiode
ein ähnliches Absinken. Bis auf die Jahre 1907 und 1908 aus¬
gedehnt, verminderten sich die Sterbeziffern seit der ersten Hälfte
der 70 er Jahre am stärksten in den Niederlanden und Sachsen um
38 Proz., in Württemberg um 36 Proz., in Preußen und Baden um
33 Proz., während England und die Schweiz mit 31 Proz. folgen
und Frankreich nächst Irland mit nur 10 Proz. Abnahme an letzter
Stelle stehen.
Die Ursachen dieser Erfolge sind vorwiegend in der Besserung
der sozialen und hygienschen Verhältnisse der Bevölkerung, nament¬
lich der städtischen, gelegen, während auf dem Lande vielfach ge¬
sundheitliche Einrichtungen der öffentlichen Hygiene fehlen, obgleich
die Sterbeziffern auch hier zurückgegangen sind. Die Fortschritte
auf dem Gebiete der Städtehygiene (Wasserversorgung, Kanalisation,
13*
192
J. Kaup,
Müllabfuhr, Besserung der Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse
sind jedoch allen Kulturstaaten gemeinsam: ebenso ist allen Staaten
gemeinsam die gleichmäßige Bekämpfung der Infektionskrankheiten
auf Grund einer genauen Kenntnis der Infektionserreger. Während
jedoch die allgemeinen hygienischen Fortschritte für alle Altersklassen
gleichmäßig eine Besserung der Gesundheitsverhältnisse und hiermit
eine Abnahme der Sterbeziffern veranlaßt haben dürften, hatte das
Kindesalter von der Bekämpfung der Infektionskrankheiten höheren
Gewinn als das erwerbstätige Alter. So ist innerhalb der Jahre
1893—1908, nachdem seit 1892 in Deutschland durch eine neue
Todesursachenstatistik die Sterblichkeitsverhältnisse besser beurteilt
wrerden können, die Zahl der Verstorbenen z. B. an Diphtherie und
Croup bis zum Alter von 15 Jahren von 74000 auf 14 909 zurück¬
gegangen und sind hierdurch allein die Sterbeziffern in diesen
12 Jahren um mehr als 1 Prom. herabgedrückt worden. In ähnlicher
Weise hat auch der Rückgang anderer Infektionskrankheiten haupt¬
sächlich dem Kindesalter genützt, und nur für den Typhus gilt es,
daß durch dessen Abnahme von etwa 5000 auf etwa 3000 Fälle
auch das erwerbstätige Alter einen namhaften Nutzen hatte. Der Rück¬
gang der Tuberkulose (von 86000 auf rund 76500) für die Altersklassen
vom 15. — 60. Lebensjahr und zwar eigentlich nur der Lungentuber¬
kulose wird wohl hauptsächlich auf die besseren hygienischen Ver¬
hältnisse in den letzten 10—15 Jahren zurückzuführen sein, wenn
auch den Lungenheilstätten ein bestimmtes Verdienst hierbei nicht
abgesprochen werden kann. Andere Todesursachen, wie z. B.
Magen- und Darmkatarrhe, Neubildungen, haben im erwerbstätigen
Alter zugenommen. Diese Hinweise lassen bereits die Notwendigkeit
erkennen, die allgemeinen Sterbeziffern nach den einzelnen Alters¬
gruppen in die verschiedenen Komponenten zu zerlegen. Führt man
diese Trennung für das Deutsche Reich nach dem Säuglingsalter,
dem Kindesalter bis zum 15. Lebensjahre, der erwerbstätigen Lebens¬
periode vom 15.— 60. Lebensjahr und dem Alter der Invalidität
über 60 Jahre durch, so ergibt sich die interessante Tatsache, daß
innerhalb der Jahre 1893—96 und 1905—07 die Sterbeziffern für
das Säuglingsalter um 33 Proz., für das Kindesalter um 36, für die
eigentlichen erwerbstätigen Altersklassen vom 15. — 60. Lebensjahre
um 12 Proz., für das Greisenalter nur um 4 Proz. zurückgegangen
sind. Die Erfolge unseres Kampfes gegen die hohe Säuglingssterblich¬
keit und die Infektionskrankheiten des Kindesalters lassen sich klar
erkennen, während die geringen Veränderungen im ökonomisch¬
produktiven und im Greisenalter auf verschiedene Ursachen, wie
Der Einfluß (1er Gesetzgebung’ auf gewerbliche Erkrankungen. 193
Kranken- und Invalidenversicherung, sozialhygienische Fortschritte
anderer Art zurückgeführt werden können.
Immerhin sind für einzelne Staaten im allgemeinen, wie für
bestimmte Altersgruppen nicht unbeträchtliche Unterschiede zu er¬
kennen. In Preußen ist innerhalb der Jahre 1880 — 82 und 1900—02
die Sterblichkeitsziffer für das männliche Geschlecht um 17,5 Proz.
zurückgegangen, in England und Wales hingegen in derselben Zeit¬
periode nur um 8 Proz. Für die einzelnen Lebensabschnitte sind
Unterschiede in der Abnahme insoweit zu finden als die jüngeren
Altersgruppen eine stärkere Verminderung der Sterbeziffer zeigen
wie die älteren. Fast für alle Altersgruppen ist der Rückgang in
Preußen stärker als in England. Nur die männlichen Jugendlichen
im Alter von 15—20 Jahren zeigen in England innerhalb dieser
20 Jahre eine Verminderung der Sterbeziffer um 24 Proz., in Preußen
hingegen nur um 18 Proz. Mit dem Eintritt in die erwerbstätige
Lebensperiode scheinen für die männliche Jugend Preußens wie
auch der anderen Bundesstaaten ungünstige Einflüsse am Werke
zu sein.
In Anbetracht der Wichtigkeit, gerade für die erwerbstätige
Lebensperiode einen besseren Einblick in die Gesundheitsverhältnisse
zu erhalten, sind wir daher genötigt, die Gesamtheit der in diesem
Alter stehenden Personen in die einzelnen großen Berufsgruppen
aufzulösen. Die Ergebnisse der Berufszählungen müssen zu dem
Zwecke herangezogen werden. Hierbei wollen wir nur hervor¬
heben, daß von 30 Millionen im Jahre 1907 überhaupt erwerbstätigen
Personen mehr als 8 y2 Millionen als unselbständige Arbeiter, Ge¬
hilfen und Lehrlinge allein in Industrie und Bergbau erwerbs¬
tätig waren, während im Jahre 1895 diese Zahl kaum 6 Millionen
betrug. Von den 7 J/3 Millionen unselbständigen Arbeitern in der
Landwirtschaft und 2 Millionen im Handel und Verkehr wollen
wir hierbei völlig absehen. Auch haben wir unberücksichtigt ge¬
lassen, daß von den 8 1j2 Millionen Lohnarbeitern im engeren Sinne
etwas über 1 x/2 Millionen auf das weibliche Geschlecht entfallen.
In der Zahl der gewerblichen Lohnarbeiter steht Deutschland
von allen Kulturstaaten an der Spitze und übertrifft selbst Groß-
britanien und die Vereinigten Staaten. Betrachtet man die Berufs¬
gliederung in den einzelnen Städten des Reiches, so ist festzustellen,
daß bis zu 90 Proz. der Männer in verschiedenen Städten in In¬
dustrie und Handel erwerbstätig sind und daher der Gesundheits¬
zustand der Bevölkerung dieser Städte von dem körperlichen Zu¬
stand dieser Erwerbsgruppen abhängig ist. Es wäre nun von
194
J. Kaup,
vornherein anzunehmen, daß durch unsere Krankenversicherung*
gute Anhaltspunkte für die Beurteilung der Konstitution und Lebens¬
kraft der Lohnarbeiter gegeben sind. Sind doch in sämtlichen
Kassenarten im Jahre 1909 über 9 Millionen männliche und fast
3 1/2 Millionen weibliche Mitglieder gezählt worden. Besonders die
beiden verbreitetsten Kassenarten, die Ortskrankenkassen und Be¬
triebskrankenkassen böten hierzu gute Gelegenheit. (Ortskranken¬
kassen 4 */2 Millionen männliche und über 2 Millionen weibliche
Mitglieder, Betriebskrankenkassen 2 */2 Millionen männliche und
fast 3/4 Millionen weibliche Mitglieder.) Hierzu eignen sich jedoch
die Krankenkassenstatistiken nicht, da nur die Todesfälle innerhalb
der satzungsmäßigen Dauer der Krankenunterstützung registriert
und daher die späteren Todesfälle früherer Mitglieder nicht gezählt
werden. Eine eigentliche Mortalitätsstatistik nach Berufen besitzen
wir im allgemeinen nicht, wenn auch vor kurzem für Preußen eine
Feststellung für das Jahr 1907 unternommen wurde. Der Ge¬
werbehygieniker ist daher immer noch genötigt, auf englische
Statistiken zurückzugreifen. Auch für die Schweiz und für
Österreich liegen nur für einzelne Jahre Sterbestatistiken nach
Berufen vor.
Die englische Sterblichkeitsstatistik nach Berufen gestattet
nun, die Entwicklung der Sterbeziffern für die einzelnen Berufs¬
gruppen zu studieren. Die folgende Übersicht soll Anhaltspunkte
für die Hauptberufe geben.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
In dieser Tabelle sind nur die Berechnungen für die Jahres¬
gruppen 1880— 82, 1890 — 92, 1900—02 aufgenommen, auch ist nicht
die ganze erwerbstätige Lebensperiode vom 15. bis etwa 65. Jahre
einbezogen, sondern nur die zwei Hauptaltersklassen vom 25. bis
45. und vom 45. bis 65. Lebensjahre. Unter berufstätigen Männern
sind hier nicht etwa nur die Lohnarbeiter verstanden, sondern
sämtliche im Berufsleben stehenden Männer, gleichgültig ob sie
selbständig oder unselbständig, ob sie einem gewerblichen, künst¬
lerischen, industriellen oder freien Berufe angehören. Zu den be¬
rufslosen Männern sind vermutlich zugerechnet: die Arbeiter mit
wechselnder Beschäftung, die große Schar der Arbeitsinvaliden, die
in irgendeiner Form der Öffentlichkeit zur Last fallen. Die Sterb¬
lichkeitszahlen dieser Gruppe sind außerordentlich hoch und ein
Fortschritt innerhalb dieser 20 Jahre nicht zu erkennen; im
Gegenteile macht es den Eindruck, als ob durch die intensivere
Berufsbetätigung und durch Heranziehung auch der minderen Arbeits-
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 195
Sterblichkeitsrate männlicher Berufstätiger im Alter von 25 — 45
und 45— 65 Jahren in den Zeitabschnitten 1900 — 02, 1890—92 und
1880-82.
Durchschnittliche Sterblichkeitsrate auf 1000 Lebende.
Berufe
Im
25. — 45. Jahre
Im
45. — 65. Jahre
1900—02
1890—92
1880—82
1900-02
1890—92
1880—:
Alle Männer
8,38
9,99
10,16
25,03
28,30
25,27
Berufstätige Männer
7,84
9,52
9,71
22,73
26,69
24,63
Berufslose Männer
36,31
31,36
32,43
57,01
51,10
36,20
Farmer, Vieh¬
züchter usw.
4,81
5,64
6,09
14,82
17,19
16,53
Landarbeiter
4,81
7,10
7,13
14,08
18,74
17,68
Metallindustrie
7,48
10,25
8,80
24,83
32,58
25,93
Masch.-Kesselbauer
6,38
9,42
8,23
22,15
30,79
23,89
Werkzeug-, Scheren-,
Feilenarbeiter
9,61
12,95
11,71
32,10
41,48
34,42
Messerschmiede
11,84
14,22
12,30
37,59
44,01
34,94
Bleiarbeiter, Maler,
Glaser
8,28
10,47
11,07
26,08
31,70
32,49
Maurer, Steinmetz,
Bauarbeiter
7,01
9,86
9,25
21,81
28,60
25,59
Schiffsbauer
6,28
7,11
6,95
19,48
20,01
21,29
W ollmanuf aktur
6,81
9,10
—
24,72
29,25
—
Seidenmanufaktur
6,25
8,35
7,81
26,25
29,27
22,79
Baumwollmanufaktur 7,22
9,39
— ■
27,11
34,11
—
Färber, Bleicher,
Drucker. Appreteur 7,74
12,97
9,46
27,95
39,22
27,08
Porzellanmanufaktur
>
Töpfer
9,01
12,98
13,70
39,12
52,78
51,39
Kohlenbergleute
6,01
7,77
7,64
21,50
27,69
25,11
Drucker
7,89
11,14
11,12
21,99
28,38
26,60
Suppl. to the 65. Annual Report England Births, Deaths and Marriages. 1908.
tauglichen der verbleibende Best von Individuen im steigenden
Maße lebensschwach geworden sei. Durch diese Gruppe kommt es
zustande, daß die Sterblichkeitsziffern der berufstätigen Männer
niedriger sind als die der Männer überhaupt. Bei den einzelnen
Gruppen von fast ausschließlich Industriearbeitern, die wir hier
ausgewählt haben, ist innerhalb dieser 20 Jahre die Sterblich¬
keit beträchtlich gesunken, besonders stark bei Berufen mit ur¬
sprünglich sehr hoher Sterblichkeit, wie z. B. bei den Bleiarbeitern
und Töpfern. Für die beiden großen Altersgruppen sind einige
Unterschiede zu konstatieren, auf die wir jedoch nicht näher ein¬
geh en wollen. Für einen Vergleich der einzelnen Berufe unter-
196
J. Kaup,
einander eignet sich besser eine Standard-Betrachtung, wie sie in
den englischen Statistiken üblich ist.
Vergleichende Mortalitätsstatistik für das erwerbstätige Alter ver¬
schiedener Berufsangehöriger innerhalb der Jahre 1890 — 92 und
1900-02.
Berufe
1900—02
1890—92
Alle Männer
1,000
1,155
Berufstätige Männer
0,925
1,102
Berufslose Männer
2,884
2,566
Farmer, Viehzüchter usw.
0,562
0,651
Landarbeiter
0,551
0,770
Metallindustrie
0,973
1,303
Maschinen-Kesselbauer
0,866
1,244
Werkzeug-, Scheren-, Feilenarbeiter
1,231
1,633
Messerschmiede
1,460
1,752
Bleiarbeiter (Röhren), Maler, Glaser
1,041
1,295
Maurer, Steinmetz, Bauarbeiter
0,862
1,157
Schiffsbauer
0,765
0,836
W ollmanufaktur
0,927
1,153
Seidenmanufaktur
0,892
1,064
Baumwollmanufaktur
1,053
1,358
Färber, Bleicher, Drucker, Appreteur
1,066
1,585
Porzellanmanufaktur, Töpfer
1,420
1,970
Kohlenbergleute
0,846
1,081
Drucker (Buchdrucker)
0,935
1,267
to the 65. Annual Report England Births, Deaths,
Marriages. 1908.
Die mannigfachen Unterschiede innerhalb der einzelnen Be¬
rufsgruppen treten hier genauer in die Erscheinung. Vor allem
ist in der obersten Reihe der Rückgang der Sterblichkeit für die
Gesamtheit der Männer innerhalb der 10 Jahre deutlich zu er¬
kennen. Ein ähnlicher Rückgang findet sich bei den berufstätigen
Männern. Auch bei den einzelnen Berufsgruppen ist durchweg die
Vergleichszahl tür die Jahre 1900 — 02 niedriger als für 10 Jahre
vorher. Freiluftberufe, wie Farmer, Landarbeiter, aber auch zum
Teile Bauarbeiter haben eine geringere Sterblichkeit als der Durch¬
schnitt aller Männer. Jedoch auch einzelne Berufsklassen der
Arbeiter der Metallindustrie im weiteren Sinne, sowie der Textil¬
industrie, des Kohlenbergbaus, sterben während der Berufstätigkeit
weniger häufig als der Durchschnitt. Ungünstigere Verhältnisse
zeigen hingegen die Gruppen der Werkzeugarbeiter, der Kessel¬
schmiede, der Bleiarbeiter, auf die wir noch näher eingehen werden,
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 197
der Baumwoll- und Porzellanmanufaktur und der Färber. Auffallend
ist jedoch gerade bei diesen letzterwähnten Berufsklassen die
starke Verminderung der Vergleichszahlen innerhalb dieser 10
Jahre.
Ein besonderer Wert dieser Statistik liegt darin, daß für die
einzelnen Berufe die Todesursachen genau angegeben sind. Hier¬
bei zeigt es sich nun, daß in einigen Berufen, wie z. B. bei den
Messerschmieden, Werkzeug-, Feilen- und Scherenverfertigern,.
Bleiwarenarbeitern usw. einzelne Todesursachen doppelt und drei¬
mal so häufig Vorkommen, als sie im Durchschnitte festzustellen
waren. So sind noch in den Jahren 1900—02 auf 1000 Todesfälle
186 Todesfälle an Tuberkulose im Durchschnitt ermittelt worden,
bei den erwähnten Berufen jedoch 300 — 500, oder man fand auf
1000 Todesfälle nur einmal Bleivergiftungen als Ursache, bei den
Feilenhauern jedoch 56, bei den Bleiwarenarbeiten 102 usw. und
bei denselben Berufen wurden statt 35 Todesfällen an Nierenent¬
zündungen (Bright’scher Krankheit) 154 und 160 gefunden.
Diese beruflichen Sterbestatistiken für England, deren Ergeb¬
nisse namentlich durch die Ogle’schen Veröffentlichungen weiteren
Kreisen bekannt wurden, trugen wesentlich dazu bei, die Frage
der Gesundung gesundheitsgefährlicher Industrien in Fluß zu
bringen. So wurden im Jahre 1883 vorwiegend auf Grund der Tat¬
sachen der Sterbestatistik für einzelne Berufsgruppen Enqueten
für bestimmte Beschäftigungsarten veranstaltet, als deren Ergeb¬
nis gemäß dem englischen Fabrik- und W7erkstättengesetze von
1883 mehrere Spezialverordnungen für gesundheitsgefährliche Be¬
triebe erschienen.
An diesen Enqueten haben stets Ärzte hervorragenden Anteil
genommen. In den Rahmen meiner beiden Vorträge ist es natür¬
lich unmöglich, auf die Symptomatologie und Wirkungsweise der
einzelnen gewerblichen Vergiftungen, auf deren Beziehungen zu
anderen Krankheiten, Zahl der in Frage kommenden Betriebe und
Arbeiter auch nur flüchtig einzugehen. Zur Erforschung gewerb¬
licher Vergiftungen ist auch von deutscher Seite viel geleistet
worden. Es sei nur auf Eulenberg’s „Handbuch der Gewerbe¬
hygiene auf experimenteller Grundlage“ vom Jahre 1876, auf die
Hirtli’schen Arbeiten in den 80er Jahren verwiesen — Arbeiten,
die unermüdlich insbesondere von Lehmann fortgesetzt werden.
Auch an den Bemühungen der Internationalen Vereinigung für ge¬
setzlichen Arbeiterschlitz nach Aufstellung einer Liste der gewerb¬
lichen Gifte haben auf deutscher Seite Sommerfeld, Fischer
198
J. Kaup,
maßgebend mitgearbeitet. Ebenso ist es unmöglich, die Gesund-
heitsschädigungen gewerblicher Arbeiter durch Infektionserreger,
durch Veränderungen und Verunreinigungen der Atmungsluft in den
Arbeitsräumen, durch exzessive Temperaturen, Überanstrengungen,
Zwangsstellungen usw. auch nur anzudeuten. Andere Kollegen
werden vermutlich auf einzelne Gebiete gewerblicher Erkrankungen
ausführlich e ingehen.
Die einzelnen englischen Kommissionen namentlich für die
Bleibetriebe hatten an der Todesursachen Statistik für die gefähr¬
deten Berufe gute Anhaltspunkte. Eine Verordnung wurde im
Jahre 1883 sofort herausgegeben, 8 erschienen im Jahre 1892 und
andere in den nächsten Jahren. Diese Verordnungen bezogen sich
auf :
1883 Bleiweißfabriken.
1892 Fabrikation doppeltchromsaurer Salze.
1896 Verfüllen von kohlensäurehaltigen Wassern.
1896 Mischen und Gießen von Messing und anderen Le¬
gierungen.
1898 Herstellung von Bleiglasuren auf Ziegeln.
1892 Chemische Fabriken.
1892 und 1898 Töpfereiwaren und Porzellanfabrikation.
1892 Emaillieren von Eisenplatten mit Blei, Antimon und Arsen.
1894 Fabrikation elektrischer Akkumulatoren.
1892 Sprengstoffabriken, in denen Dinitrobenzol verwendet wird,
1894 Flachsspinnereien und Webereien.
1894 Bleirot- und -Orangefabriken.
1892 Bleigelbfabriken.
1894 Bleischmelzhütten.
1895 Fabrikation von gelbem Bleichromat.
1892 Zündholzfabriken.
1892 Fabrikation von Farben und Arsenextrakt.
1898 Lumpen- und Hadersortiereien.
1894 Verzinnen und Emaillieren von Eisenhohlwaren.
1894 Verzinnen und Emailieren von Eisemnetall.
1898 Steindruckereien zum Schmuck von Porzellan etc.
1896 Vulkanisieren von Gummi.
1896 Wollsortierereien.
1899 Wollkämmereien.
Diese Verordnungen umfassen Betriebe, in denen giftige oder
infizierende Stoffe verwendet oder hergestellt werden und weiters
Betriebe, bei deren Fabrikationsverfahren Staub oder schädliche
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 199
Dämpfe entstehen: die Mehrzahl dieser Verordnungen behandelt
jedoch Bleibetriebe. Nach Angaben von Wood sind in England
in diesen Betrieben Ende der 90 er Jahre mehr als eine J/4 Million
Arbeiter, darunter 75000 Arbeiterinnen in etwa 12000 Betrieben
beschäftigt gewesen. Die Vorschriften befassen sich mit bestimmten
Forderungen für die einzelnen Fabrikationsprozesse, Verbot der
Frauenarbeit für einzelne Beschäftigungen, Beistellung von Garde¬
roben, Waschräumen, Eßzimmern, Bädern, Getränken, wöchentliche
ärztliche Untersuchung durch einen behördlich bevollmächtigten
praktischen Arzt, Führung eines Gesundheitsverzeichnisses für die
Bleiarbeiter als Leistungen der Unternehmer, andererseits werden
jedoch auch die Arbeiter verpflichtet, von diesen Reinhaltungsein¬
richtungen und Verhaltungsmaßregeln Gebrauch zu machen uud die
die Vorschriften genau zu beobachten. In ähnlicher Weise sind
auch die Vorschriften für andere gesundheitsgefährliche Betriebe
der chemischen Industrie gehalten. Im wesentlichen beziehen sich
diese Vorschriften auf ein Beschäftigungsverbot für Jugendliche
und Kinder, oder Mädchen und Frauen für einzelne Arbeitsprozesse
oder es wird ein Beschäftigungswechsel oder eine Einschränkung
der Beschäftigungsdauer vorgeschrieben. Die Verhaltungsvor¬
schriften und Reinhaltungseinrichtungen sind ähnlich gehalten wie
bei den Bleibetrieben. Wichtig ist die Bestimmung, daß jeder
praktische Arzt, der zur Behandlung eines Patienten zugezogen
wird, verpflichtet ist, den Fall dem Chief Inspector of Factories
anzuzeigen. Für die Erstattung einer solchen Anzeige hat er x4n-
recht auf eine Gebühr von einer halben Krone, die aus dem Kredit
des Home Office zu zahlen ist. Unterläßt er die Anzeige eines
Krankheitsfalles, so verfällt er einer Geldstrafe bis zu 2 Lstl.
Hinsichtlich der Wertung von Gewerbekrankheiten in der eng¬
lischen Arbeiterschutzgesetzgebung ist eine neue Etappe durch die
Workmens Compensationsakt von 1907 eingetreten, nach der alle spe¬
zifischen gewerblichen Krankheiten, wie Unfälle entschädigungs¬
pflichtig sind. Zu diesen entschädigungspflichtigen Krankheiten
wurden die eigentlichen gewerblichen Vergiftungen , für die eine
Anzeigepflicht statuiert ist, gerechnet. Bald nach dem Erscheinen
des Gesetzes wurden jedoch noch weitere gewerbliche Erkrankungs¬
arten einbezogen, wie Vergiftungen durch Nitro- und Amidoderivate,
durch Karbonbisulphit, Nickelkarbonyl, Nitrosedämpfe, Chrom Ver¬
giftungen, Nystagmus und Caissonkrankheiten.
Von großer Bedeutung ist nun die Frage, ob die englischen
Vorschriften von Erfolgen begleitet waren. Der Wert der Anzeige-
200
J. Kaup,
pflicht namentlich fiir Bleivergiftungen käme in der Beantwortung
dieser Frage zum Ausdruck. Nach den Ausweisen des Medikal-
inspektors, der sämtliche Anzeigen sammelt und häuft, war die
Zahl der Bleivergiftungsfälle in den Jahren 1898: 1270, 1899: 1258;
seitdem ist die Zahl ständig gesunken, wie aus der nächsten
Tabelle ersichtlich ist.
Stand und Entwicklung der Bleivergiftungen in den gewerblichen
Betrieben Englands.
a) Erkrankungen. b) Todesfälle.
1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
Blei und Zinkhütten
a) 37
b) 2
33
1
24
1
38
1
28
2
70
2
66
5
34
5
Setzer
a) 13
b) 2
15
19
4
16
2
26
3
30
2
21
1
33
4
Bleiweißfabriken
' a) 109 *
b) 2
116
2
90
1
108
7
71
79
3
32
2
34
1
Keramische Industrie
a) 97
b) 3
106
4
84
3
107
4
103
9
117
12
58
5
77
11
Akkumulatorenfabriken
a) 23
b) -
33
27
1
26
21
25
1
27
2
31
Farbenfabriken
a) 39
b) 1
32
1
57
1
37
35
1
25
39
2
17
Maler im Schiffs- und
Wagenbau
a) 144
b) 7
124
7
137
7
148
11
141
6
132
4
164
7
142
11
Hausmaler
a) 201
b) 39
227
39
163
28
181
36
174
39
239
44
241
47
232
35
Andere Industrien
a) 152
b) 2
138
11
154
5
152
.8
153
5
168
8
146
6
137
5
Summe
a) 815
b) 58
824
65
755
51
813
69
752
65
885
76
794
77
737
73
Der stärkste Rückgang zeigt sich bei den Bleiweißarbeitern,
ähnlich stark auch in der keramischen Industrie, geringer in den
Bleihütten. Feilenhauereien, Farbenfabriken, im Wagen- und Schiffbau.
Keine Veränderung, eher eine Erhöhung der Vergiftungszahlen ist im
Gewerbe der Hausmaler eingetreten, das noch nicht mit Vorschriften
bedacht ist. Auffallend ist allerdings die noch immer hohe Zahl
von Todesfällen. Auch ist einer Arbeit von Legge zu entnehmen,
daß z. B. die Zahl der Bleilähmungen in allen gewerblichen Be¬
trieben in den Jahren 1904 und 1905 118, bzw. 114 betrug, in den
Jahren 1908 hingegen 157, 1909 147. Der Einwand Teleky’s,
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 201
daß in England anscheinend nur die schweren Fälle von Bleiver¬
giftung zur Anzeige kommen, hat daher etwas Berechtigung.
Andererseits gibt es für den Erfolg der Vorschriften noch weitere
einwandfreie Belege und zwar durch Vergleich der Todesursachen¬
statistik für die bleigefährdeten Berufe auf Grund der Berufs-
Mortalitätsstatistik für die Triennien 1890—1892 und 1900—1902.
Sterblichkeitsverhältmsse der Bleiarbeiter in England nach der
Statistik für die Jahre 1890 — 92 und 1900—02.
a) 1890-92. b) 1900—02.
Auf 1000 Todesfälle kommen im Durchschnitte Fälle von
Sterblich-
Blei-
keit
krankh
Alle erwerbstätigen
a)
100
1
Männer
b)
100
1
Bleiarbeiter
a)
b)
187
150
211
102
E eilenkauer
a)
b)
190
173
75
56
Spengler, Maler u.
a)
118
39
Glaser
b)
113
23
Töpfer
a)
b)
179
154
17
10
Glasfabrikation
a)
b)
156
130
12
8
Kupferschmiede
a)
b)
145
113
8
3
Wagen- u. Waggon¬
a)
109
7
maler
b)
84
8
Gasinstallateure,
a)
97
6
Schlosser
b)
96
3
Drucker
a)
b)
115
101
3
2
Krankh.d. Krankh.
Urogen.-
systems
d. Nerven¬
systems
Gicht
Phthysis
41
82
2
185
52
103
2
187
161
232
_
148
160
134
—
165
104
212
4
402
160
225
—
387
164
263
22
397
94
133
8
213
63
123
1
333
53
131
—
285
63
155
9
295
69
131
4
283
60
85
_
294
45
104
3
162
68
105
7
189
53
113
4
129
50
108
5
223
77
113
6
224
52
89
4
326
57
111
3
300
Fast bei allen bleigefährdeten Berufen ist ein namhafter Rück¬
gang der Bleiintoxikationstodesfälle, aber auch der Todesfälle an
Erkrankungen des Urogenitalsystems, des Nervensystems, an
Lungenschwindsucht, Erkrankungen der Zirkulationsorgane und
der Atmungsorgane ersichtlich. Die Verminderung der mit Blei
zusammenhängenden Todesursachen hat aber auch ein Herabsinken
der Mortalitätsziffer überhaupt bewirkt.
202
J. Kaup,
Es scheint demnach keinem Zweifel zu unterliegen, daß in
England in der Bekämpfung gewerblicher Bleivergiftungen schöne
Erfolge erzielt wurden. Ob auch in anderen gesundheitsgefähr¬
lichen Betrieben namentlich der chemischen Industrie gesundheit¬
liche Fortschritte zu bemerken sind, wollen wir unerörtert lassen.
Für Deutschland sind zum Schutze der Arbeiter vor gewerb¬
lichen Erkrankungen bereits in der Gewerbeordnung des Nord¬
deutschen Bundes vom Jahre 1869 einige Anhaltspunkte gegeben.
„Jeder Gewerbeunternehmer ist verpflichtet, auf seine Kosten
alle diejenigen Einrichtungen herzustellen und zu unterhalten,
welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Ge¬
werbebetriebes und der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherung
der Arbeiter gegen Gefahren für Leben und Gesundheit notwen¬
dig sind.“
Diese Fassung gibt noch keine genaueren Anhaltspunkte.
Große Fortschritte nach dieser Richtung weist die Gewerbeordnungs¬
novelle von 1891 auf.
Die entscheidenden Punkte sind im § 120 ab und c enthalten.
„Die Gewerbeunternehmer sind verpflichtet, die Arbeitsräume,
Betriebs Vorrichtungen, Maschinen und Gerätschaften so einzurichten
und zu unterhalten und den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeiter
gegen Gefahren für Leben und Gesundheit soweit geschützt sind,
wie es die Natur des Betriebes gestattet.“
„Insbesondere ist für genügendes Licht, ausreichenden Luft¬
raum und Luftwechsel, Beseitigung des bei dem Betriebe entstehen¬
den Staubes, der dabei entwickelten Dünste und Gase, sowie der
dabei entstehenden Abfälle Sorge zu tragen.“
Durch Beschluß des Bundesrats können Vorschriften darüber
erlassen werden, welchen Anforderungen in bestimmten Arten von
Anlagen zur Durchführung der in den § 120 a bis e enthaltenen
Grundsätze zu genügen ist. Soweit solche Vorschriften durch Be¬
schluß des Bundesrats nicht erlassen sind, können dieselben durch
Anordnungen der Landeszentralbehörden oder durch Polizeiver¬
ordnungen der zum Erlasse solcher berechtigten Behörden er¬
lassen werden.
Zunächst Bundesratsvorschriften zur Bekämpfung gewerblicher
Bleivergiftungen :
1. Bekanntmachung des Bundesrats, betr. die Einrichtung und
den Betrieb der Bleifarben- und Bleizuckerfabriken 1893 — 1903.
2. Bekanntmachung des Bundesrats, betr. die Einrichtung und
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 203
4
den Betrieb von Buchdrucker eien und Schriftgießereien 1897
bis 1907.
3. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung
und den Betrieb von Anlagen zur Herstellung elektrischer Akku¬
mulatoren aus Blei und Bleiverbindungen 1897 — 1907.
4. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung
und den Betrieb von Zinkhütten 1900.
5. Bekanntmachung des Bundesrates, betr. die Einrichtung und
den Betrieb von Bleihütten 1904.
6. Bekanntmachung des Bundesrates, betr.' die Einrichtung und
den Betrieb von Malerbetrieben 1905.
Bevor wir auf die Genesis und die Wirkungen der einzelnen
deutschen Bleiverordnungen zu sprechen kommen, seien einige
allgemeine Bemerkungen über die Häufigkeit gewerblicher Blei¬
vergiftungen in den deutschen Bundesstaaten vorausgeschickt.
Da die Krankenkassen nicht wie in Österreich zur Führung einer
eingehenden Krankheitsstatistik verhalten sind und auch eine An¬
zeigepflicht für gewerbliche Vergiftungen durch die behandelnden
Arzte und Krankenanstalten wie in England nicht existiert, so
sind nur zufällige Angaben zu finden. Einige Bleiweißfabriken
des Cölner Aufsichtsbezirkes und auch die Blei- und Zinkhütten
Oberschlesiens haben ziemlich regelmäßig Statistiken geführt, auch
mehrere Ortskrankenkassen machen ständig Angaben. Eine Sta¬
tistik über die in den 90 er Jahren in preußischen Krankenanstalten
behandelten Bleivergiftungen von Hey mann blieb mangels einer
Schilderung der gewerbehygienischen Zusammenhänge so gut wie
unbekannt. Diese Quelle ist jedoch noch die verläßlichste. Aller¬
dings kommen nur die schweren Fälle von Bleivergiftungen in den
Krankenanstalten in Behandlung, aber Vergleiche in verschiedenen
Städten, wie z. B. Paris, Wien und Berlin ergaben, daß etwa 1li
bis 1I*> aller an Bleivergiftung erkrankten Personen Krankenhäuser
aufsuchen.
Zur Bestätigung dieser Annahme sei auf folgende Tabelle
verwiesen, die die metallischen Intoxikationen der Mitglieder des
Berliner Gewerkskrankenvereins für einige Jahre zur Darstellung
bringt.
204
J. Kaup,
Metallische Intoxikationen in den zum Gewerkskrankenverein Berlin
gehörigen Kassen 1903 — 07.
Gewerbe
1903
1904
Fälle
1905
1906
1907
Kupferschmiede, G elb- u. Zinngießer
13
11
17
12
18
Schlosser
21
' 31
28
18
17
Mechaniker
147
173
115
115
81
Maler und Lackierer
570
617
527
471
444
Tischler
15
8
6
4
6
Steindrucker
16
20
21
12
8
Verschiedene Gewerbe
8
19
34
21
18
zusammen
790
879
748
653
592
Bleivergiftungsfälle, die in den
Krankenanstalten des Landes-
polizeibezirks Berlin zur Be-
handlung kamen:
178
167
151
146
1 : 5
1:4
1:4
1:4
Die hier ausgewiesenen
Fälle
von
Intoxikationen
sind fast
ausschließlich Fälle voii Bleierkrankungen, andere Intoxikationen
spielen kaum eine Bolle, namentlich nicht bei den Malern und
Lackierern, die hinsichtlich der Häufigkeit von Intoxikationen von
allen Gruppen von Berufsarbeitern Berlins weitaus an erster Stelle
stehen. Abgesehen von dem Bück gange der Bleivergiftungen seit
dem Jahre 1904, der auch in dieser Tabelle gut zum Ausdrucke
kommt, wollen wir an dieser Stelle nur auf die unten angegebenen
Bleivergiftungsfälle , die in den Krankenanstalten des Landes¬
polizeibezirks Berlin zur Behandlung kamen, verweisen. Die Gegen¬
überstellung der überhaupt zur Kenntnis der Krankenkassen ge¬
brachten Fälle und der Bleierkrankungen in den Krankenanstalten
ergibt für die Jahre 1904 — 1907 ein Verhältnis von fast durch¬
weg 1 : 4.
Die genaueren Ergebnisse und Berechnungen auf Grund der
Krankenzettel der preußischen Krankenanstalten habe ich in einem
besonderen Aufsatze mit dem Titel „Der Stand der Bleivergiftungen
in den Gewerbebetrieben Preußens“ veröffentlicht. Hier sollen
nur die wesentlichen Ergebnisse dieser Berechnungen in. einer be¬
sonderen Tabelle dargestellt und einige Materialien einbezogen
werden, die in der letzten Zeit gewonnen werden konnten.
9 Archiv für soziale Hygiene. 6. Bd., Heft 1, September 1910.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen, 205
Bleivergiftungen in den wichtigsten Berufsgruppen nach den
Materialien der preußischen Krankenanstalten.
1904
1905
1906
1907
1908
Preußen insgesamt
a)
1050
1 103
898
920
900
(alle Berufe)
b)
27 943
26 965
22 855
23 586
21 150
in
a)
134
157
160
177
172
Preußen
b)
2 871
3 675
3 742
4180
3 950
Arbeiter der
Bleiweiß- u.
Bleifarben¬
im Beg.-Bez.
a)
125
137
156
175
167
Cöln
b)
2 615
3 262
3 688
4123
3 856
fabriken
nach Angaben
der deutschen
Bleiweißfabr.
a)
b)
264
5 205
191
3 079
239
3 807
214
3 570
Blei u. Zink¬
f in
a)
121
163
115
120
121
Preußen
b)
2 418
3 212
2 172
2 792
2 951
hütten¬
arbeiter
im Beg.-Bez.
a)
110
150
97
101
97
[ Oppeln
b)
2167
3 008
1915
2 374
2 479
Maler,
[ in
a)
391
390
286
283
259
Anstreicher,
Lackierer, <
Preußen
b)
12 246
109
10 183
7 709
6 629
6 211
Weißtüncher
in
a)
109
91
88
69
u. a.
Berlin
b)
2 636
2192
1957
2 017
1584
a) Krankheitsfälle, b) Krankheitstage.
9 1909: 197 Fälle und 3816 Tage; 1910: 203 Fälle und 4081 Tage.
Das richtige Verständnis für die Bleierkrankungsfälle in den
Krankenanstalten Preußens insgesamt wird erst gewonnen, wenn
man sich der Angaben Heymann’s1) erinnert. Hey mann be¬
rechnete für die Jahre:
1895
1020i
1899
1601
Bleivergiftungsfälle
1900
1510
> für
1901
1359
Preußen.
1902
1202,
Der Abstand der Höchstziifer für 1899 und der niedrigsten im
Jahre 1906 ergibt einen Rückgang von rund 36 Proz. Ob ein ähn¬
licher Rückgang auch hinsichtlich der Krankheitstage eingetreten
ist, kann nicht angegeben werden, da Hey mann die Zahl der
Krankheitstage nicht besonders angeführt hat. In unserer Tabelle
sind nur die drei Berufsgruppen der Bleiweißfabrik-, der Blei-
und Zinkhüttenarbeiter und der Maler besonders angegeben. Diese
engere Auswahl bringt die hauptsächlich gefährdeten Arbeiter¬
gruppen zum Ausdrucke, da rund 60 Proz. sämtlicher in den
9 Zeitschrift des Kgl. Preuß. Statist. Landesamtes. 1905.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
14
206
J. Kaup,
Krankenanstalten ausgewiesenen Bleivergiftungsfälle auf diese drei
Berufe entfallen. Die Zahlen für die Bleivergiftungen in Bleiweiß-
und Bleifarbenfabriken für Preußen überhaupt und im besonderen
für den Regierungsbezirk Cöln lassen zunächst erkennen, daß in
den anderen Provinzen Preußens nur verschwindend wenige Ver¬
giftungen in solchen Betrieben Vorkommen.
Eine Verordnung ist für Blei weißfabriken bereits im Jahre
1893 erschienen und 10 Jahre später neuerdings etwas ver¬
schärft den Gewerbeaufsichtsbeamten in Erinnerung gebracht
worden. In den neunziger Jahren hat Hey mann etwa rund
310 Bleivergiftungsfälle in Bleiweißfabriken berechnet. Im
Jahre 1900 waren es 360, 1901: 282 und 1902: 327. Mit
der neuerlichen Erinnerung der Verordnung für Bleiweißfabriken
im Jahre 1903 ist dann ein starker Rückgang der Vergiftungs¬
fälle eingetreten, der leider nicht bis zu den Jahren 1907 — 08 an¬
gehalten hat. In den Angaben des Verbandes deutscher Blei¬
weißfabrikanten kommt diese Erscheinung nicht zur Geltung. Nach
diesen Zahlen könnte man annehmen, daß die Vergiftungsfälle
innerhalb der Jahre 1907 — 1910 mit etwa 200 ziemlich stationär
geblieben seien; die Zahl der Krankentage ist allerdings im Jahre
1910 mit 4081 Tagen bei 203 Fällen auffallend hoch. Immerhin
ist noch zu berücksichtigen, daß die Krankheitsziffern des Ver¬
bandes nur wenig höher sind, als die der Krankenanstalten für
den Regierungsbezirk Cöln oder für Preußen. Diese Erscheinung
ist wohl darin begründet, daß der Verband nur die Bleivergiftungs¬
fälle der Stammarbeiter angibt, die häufigen Intoxikationen der
nur vorübergehend beschäftigten und zu bestimmten gefährlichen
Arbeiten herangezogenen Hilfsarbeiter unberücksichtigt läßt. Man
wird auch hier annehmen können, daß die Ziffern für Preußen oder
für den Regierungsbezirk Cöln mit 4 multipliziert werden können,
um die vermutlich richtigen Zahlen von Bleivergiftungsfällen in
den Bleiweiß- und Bleifarbenfabriken anzudeuten.
Die nächste Gruppe behandelt die Bleivergiftungen in den
Blei- und Zinkhütten Preußens und des Regierungsbezirks Oppeln,
der das Zentrum für die Blei- und Zinkproduktion Preußens ist.
Nach Hey mann wurden unter den Blei- und Zinkhüttenarbeitern
beobachtet :
im Jahre 1895
1899
1900
1901
1902
>5
200 Fälle
250
176
186
151
V
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 207
Die Differenz zwischen der höchsten Zahl im Jahre 1899 mit
250 und der niedrigsten im Jahre 1906 mit 115 ergibt wieder
einen überaus starken Rückgang von mehr als 50 Proz. Hier
kommen zwei Verordnungen in Betracht: die Zinkhüttenverordnung
von 1900 und die Bleihüttenverordnung vom Jahre 1904. Die Zink¬
hüttenverordnung hat offenbar den starken Rückgang seit 1899 zu¬
stande gebracht, während die Wirkung der Bleihüttenverordnung
weniger leicht zu erkennen ist. Gerade für die Blei- und Zinkhütten
des Regierungsbezirks Oppeln sind in den Berichten der Gewerbe¬
aufsichtsbeamten gute Statistiken enthalten, deren Angaben für die
einzelnen Jahre in besonderen Tabellen zusammengefaßt sind. Zu¬
nächst bringen wir eine Tabelle über die Erkrankungen der Zink¬
öfenarbeiter Oberschlesiens für die Jahre 1902 — 1910. Die Röster
sind wesentlich weniger gefährdet, so daß eine Zusammenstellung
der spärlichen Bleivergiftungsfälle für diese Arbeitergruppe über¬
flüssig erscheint.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
In dieser Tabelle sind nicht nur die schweren Bleivergiftungen
(Bleikolik und Lähmungen) sondern auch andere Erkrankungen
angegeben, die mehr oder weniger häufig einer Bleieinwirkung
ihre Entstehung verdanken. Hier zeigt sich das merkwürdige
Ergebnis, daß unmittelbar nach der Zinkhüttenverordnung von
1900 an ein starker Rückgang der Bleivergiftungen eingetreten
ist, daß jedoch seit den Jahren 1902 und 1903 wieder ein kon¬
stantes Steigen gerade der schweren Vergiftungsfälle bis zum
Jahre 1910 beobachtet werden kann. Diese Erscheinung zeigt
• •
eine gewisse Ähnlichkeit mit unserer Wahrnehmung bezüglich der
Bleiweißfabriken des Regierungsbezirkes Cöln. Hier wie dort un¬
mittelbar nach der Herausgabe der Verordnung ein starkes Ab¬
sinken der Vergiftungsfälle, hernach aber wieder ein allmähliches
Ansteigen. Dieselbe Erscheinung ist auch für die anderen Er¬
krankungen, die zum großen Teile auf bleiische Einflüsse zurück¬
zuführen sind, wie für Nierentzündungen, Magen- und Darmkatarrhen,
zu beobachten. Namentlich die Zahl der Krankheitstage ist für
alle bleiischen Erkrankungen innerhalb der letzten acht Jahre an¬
gestiegen.
Es fragt sich nun, ob für die Bleihütten Oberschlesiens etwa
ähnliches festzustellen ist. Hierüber gibt die folgende Tabelle
Aufschluß.
(Tabelle siehe Seite 209.)
14*
208
J. Kaup,
Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter der Zinkhütten
Oberschlesiens.
Zinköfenarbeiter.
Erkrankungsfälle a), Prozente b) u. Krankheitstage c) bei
Jahr
Arb.- Bleikolik und
Nieren¬
Magen- und
Kheumatis-
sonstigen
zahl
Lähmung
entzündung
Darmkatarrh
mus
Krankheiten
a)
29
18
137
448
285
1902
4417 b)
0,7
0,4
3,1
10,1
6,5
c)
535
527
2007
7075
4625
a)
28
21
151
470
111
1903
4587 b)
0,6
0,5
3,2
10,2
2,4
0
652
624
2153
8168
2496
a)
44
23
181
596
91
1904
4677 b)
0,9
0,5
3,9
12,7
1,8
c)
970
698
2706
9982
1654
a)
50
18
223
612
70
1905
4789 b)
1,0
0,4
4.7
12,8
1,4
c)
2217
952
2580
10207
1150
a)
43
20
223
560
67
1906
4693 b)
1,0
0,4
4,8
11,9
1,4
c)
1053
370
2838
8920
1531
a)
51
33
197
562
72
1907
4692 b)
1,1
0,7
4,2
12,0
1,5
c)
1073
1362
2441
9547
921
a)
57
22
239
686
212
1908
4933 b)
1,2
0,5
4,8
13,9
4,3
c)
972
567
2531
10691
2834
a)
66
16
257
704
88
1909
4859 b)
1,3
0,3
5,4
14,4
1,8
c)
1240
420
3386
10686
1376
a)
69
37
197
686
1910
5169 b)
1,3
0,7
3,8
13,2
unbekannt
C
1778
1140
2221
12043
Ein Blick auf diese Tabelle läßt sofort ein wesentlich anderes
Bild erkennen: vor der Herausgabe der Verordnung (1904) von
1902 an ein Ansteigen der Bleivergiftungsfälle von 90 auf 125 im
Jahre 1904 und sogar 177 im Jahre 1905. Seitdem ein sturzähn¬
licher Rückgang bis auf 37 Fälle im Jahre 1906 und ein weiteres
Sinken bis in die letzten Jahre. Andere bleiische Erkrankungen
scheinen zum Unterschiede von den Zinkh litten arbeitern bei den
Bleihüttenarbeitern eine geringere Rolle zu spielen. Für die Blei¬
hüttenarbeiter Oberschlesiens ist somit ein sehr guter Erfolg der
Bleihütten Verordnung festzustellen , der einstweilen noch anhält.
Den weitgehenden Sanierungsarbeiten in der Kgl. Friedrichhütte
zu Tarnowitz dürfte wohl an diesem Rückgänge der Hauptanteil
zuzuschreiben sein.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 209
Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter der Bleihütten
Oberschlesiens.
Erkrankungsfälle a), Prozente b), u. Krankheitstage c) bei
Jahr Arb.- a) Bleikolik und Nieren- Magen- und Rkeuinatis- sonstigen
zahl b) Lähmung entzündung Darmkatarrh mus Krankheiten
1902 906
a)
1903 875 b)
c)
a)
1904 912 b)
c)
a)
1905 999 b)
c)
a)
1906 897 b)
c)
a)
1907 828 b)
0
a)
1908 829 b)
c)
a)
1909 834 b)
c)
a)
1910 803 b)
0
90
10,0
1588
142
15.7
2724
125
13,9
2642
177
17.7
3056
37
4,1
786
16
2,0
181
23
2,9
356
11
1.3
217
19
2.3
350
nicht angegeben
6 28 47
0,6 3,1 5,2
314 486 1067
3 49 52
0,3 5,4 5,8
47 834 1090
2 37 31
0,2 3,7 3,1
157 579 747
6 31 37
0,7 3,4 4,1
384 376 1064
1 34 45
0,1 4,2 5,6
9 422 927
2 39 47
0,2 4,9 5,9
65 609 1053
3 40 38
0,4 5,0 4,7
167 744 989
3 59 38
0,3 7,3 4,7
350 775 587
117
13,0
2443
92
10,2
2393
82
8,2
2358
79
8,8
2573
69
8,6
1538
34
4,2
691
14
1,7
149
nicht
angegeben
Die soeben durchgeführte Trennung der Vergiftungsfälle in
Blei- und Zinkhütten zeigt wieder, wie notwendig es ist, Gesamt-
resultate in die Komponenten zu zerlegen, da nur dadurch ein
richtiger Einblick in die ursächlichen Zusammenhänge geboten
wird. Die Zunahme der Vergiftungsfälle in den Zinkhütten und
die besonders starke Abnahme in den Bleihütten Oberschlesiens
kommt in der Gesamtstatistik der Haupttabelle nicht zum Aus¬
druck.
Die größte Zahl von Bleivergiftungen bei gewerblichen Ar¬
beitern findet sich jedoch bei den Malern. Auf die Angehörigen dieses
Berufes entfällt fast ein Drittel aller in Krankenanstalten vorkom¬
menden Bleivergiftungsfälle. Im untersten Teile der Haupttabelle
sind die Zahlen für Krankheitsfälle und Krankheitstage sowohl für
Preußen wie auch als Beispiel für Berlin angegeben. Die Bekannt-,
210
J. Kaup,
machung des Bundesrats betreffend die Einrichtung und den Betrieb
von Malerbetrieben trat am 1. Januar 1906 in Kraft. Die Ver¬
ordnung erschien bereits im Frühsommer 1905, so daß die Gewerbe¬
aufsichtsbeamten wie die Interessenten bereits im Sinne dieser
Verordnung tätig sein konnten. Vor dem Erscheinen hielt sich die
Zahl der Bleivergiftungen bei den Malern, Anstreichern und Lackierern
etwa in der Höhe von 400 Fällen. Im Jahre 1895 waren es 347, 1899
460, 1900 378, 1902 399, und in den Jahren 1904 — 05 391, bzw.
390. Im Jahre 1906 jedoch ist bereits ein Kückgang von mehr als
100 Fällen ein getreten, der auch in den Jahren 1907 und 1908 anhielt.
Dieselbe Erscheinung ist auch für die Maler Berlins zu finden.
Allerdings ist hier der Rückgang im Jahre 1906 noch gering, ver¬
größert sich jedoch in den folgenden Jahren. Wenn auch nicht
etwa wie in Bleiweißfabriken, in Blei- und Zinkhütten das Maler¬
gewerbe in irgendeinem Bezirk oder einer Stadt zusammen¬
geballt ist und Berlin nur etwa den dritten Teil aller Bleiver¬
giftungsfälle bei Malern aufweist, so ist doch auch durch den
Verlauf der Fälle in Berlin ein guter Einblick geboten; denn in
anderen Bezirken, wie z. B. Potsdam, Hessen-Nassau, Wiesbaden
und Rheinprovinz ist vom Jahre 1905 an ein ganz ähnlicher Rück¬
gang der Vergiftungsfälle zu konstatieren.
In Österreich ist eine Malerverordnung seit dem Jahre 1908
in Kraft. In Wien ereigneten sich seit jeher weitaus die meisten
Bleivergiftungsfälle bei Malern. Hier sind gute Angaben in den
Ausweisen der Genossenschaftskrankenkasse der Maler und An¬
streicher zu finden gewesen. In einer besonderen Tabelle ist der Ver¬
such gemacht, die Erkrankungsverhältnisse der Maler, Anstreicher
und Lakierer in Berlin und Wien vergleichend darzustellen.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
In den Jahren 1904 — 05 ist die Zahl der Bleivergiftungsfälle
für die Berliner Maler mit 610, bzw. 523 (in den Krankenan¬
stalten je 109) außerordentlich hoch gewesen. Seit dem Jahre
1906, bzw. eigentlich schon 1905 ist ein gleichmäßiger Rückgang
zu finden, der namentlich innerhalb der Jahre 1907 und 1908 fast
100 Fälle betrug. Vergleicht man wieder Maximum und Minimum,
so kann für die Berliner Maler berechnet werden, daß der Prozent¬
satz der Bleivergiftungen auf 100 Mitglieder von rund 10 Proz.
auf ungefähr 5 Proz., also um 50 Proz. gesunken ist. In Wien
war die Zahl der Bleivergiftungsfälle jetzt etwas geringer, auch
hier ist der Prozentsatz von etwa 6 auf 3,5, also auch beinahe um
die Hälfte, abgesunken. Allerdings sind die Verordnungen für
Erkrankungsverhältnisse der Maler, Anstreicher und Lackierer in Berlin und Wien.
(a = Krankheitsfälle, b = Krankheitstage.)
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 211
a
03
ÖD
a
a
M
a
7t
Sh
Ol
Sh
03
a
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a
i
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03
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a
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Sh
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o3
X
a
03
Sh
03
PQ
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Wien
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106
1386
82
1102
96
1343
119
2016
113
1415
128
1431
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3,5
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X
X
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rH
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rH
rH
212
J. Kaup,
Deutschland-Preußen und für Österreich-Wien erst so kurze Zeit
in Kraft, daß man noch nicht behaupten kann, daß dieser Rückgang
als bleibender anzusehen ist. Die Wahrnehmungen bei den Blei¬
weißfabrikarbeitern und Zinkhüttenarbeitern mahnen zur Vor¬
sicht. Manche Erfahrungen lassen die Anschauung gerechtfertigt
erscheinen, daß es oft mehr auf die Einsicht der Betriebsleitungen
als auf den Wortlaut einer Verordnung ankommt, um gewerbliche
Vergiftungen dauernd auf einem Minimum zu erhalten. Der frühere
Hinweis auf die Tätigkeit der Kgl. Friedrichshütte in Tarnowitz
ist ein Beweis hierfür.
Ein ähnliches Beispiel liegt für die große Akkumulatorenfabrik
in Hagen vor. Eine besondere Bekanntmachung des Bundesrates
vom Jahre 1897 regelte die Einrichtung und den Betrieb von An¬
lagen zur Herstellung elektrischer Akkumulatoren aus Blei- und
Bleiverbindungen. Die Hagener Fabrik ist nicht nur das größte
Etablissement dieser Art in Deutschland, sondern überhaupt in der
Welt. Die Erkrankungsverhältnisse und namentlich die Häufigkeit
von Bleivergiftungen in diesem Betriebe sei hier in einer besonderen
Tabelle zur Darstellung gebracht.
Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter einer großen
Akkumulatorenfabrik.
Gesamtzahl der Arbeiter
Es
kamen auf 100
Jahr
die mit Blei-
Arbeiter überhaupt
Bleiarbeiter
überhaupt
Produkten zu
Er-
Bleier-
Bleier=
tun haben
krankungen
krankungen
krankungen
1897
664
189
59,00
21,11
10,20
1898
648
237
49,64
7,83
4,27
1899
967
316
52,95
2,95
1,56
1900
971
298
47,47
2,01
1,30
1901
915
237
43,50
1,26
0,75
1902
926
216
42,22
2,31
1,27
1903
1040
263
40,76
1,74
1,18
1904
1470
374
44.96
2,14
1,21
1905
2270
419
42,91
1,91
0,80
1906
2588
465
40,22
1,52
0,67
1907
2851
461
43,63
1,30
0,48
1908
2914
426
50,58
1,17
0,34
Im Jahre 1897, in dem die Verordnung erschien, wurden 40
Bleivergiftungsfälle mit 724 Krankheitstagen gezählt. Im folgenden
Jahre 1898 waren es nurmehr 18 Fälle mit 272 Tagen und seitdem
ist die Zahl der Vergiftungsfälle im Durchschnitt etw^a 7 mit kaum
100 Krankheitstagen. Fortlaufende ärztliche Untersuchungen und
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 213
eine genaue Kontrolle der gefährdeten Arbeiterschaft sichern hier
einen bleibenden Erfolg.
Ein Teil von Betrieben , in denen Bleivergiftungsfälle in
größerer Häufigkeit vorzukommen pflegen, gehört zur chemischen
Industrie. Auf einige Betriebsgruppen der chemischen Industrie
wollen wir noch näher eingehen. Die besondere Gefährlichkeit
einiger Produktionsprozesse hat auch den Bundesrat auf Grund
der Gewerbeordnung zur Herausgabe besonderer Vorschriften ver¬
anlaßt. Im Jahre 1902 erschien eine Bekanntmachung betr. die
Einrichtung und den Betrieb gewerblicher Anlagen zur Vulkani¬
sierung von Gummiwaren, im Jahre 1807 betr. die Einrichtung in
Betrieben von Anlagen zur Herstellung von Alkalichromaten und
im Jahre 1909 betr. die Einrichtung und den Betrieb gewerblicher
Anlagen, in denen Thomasschlacke gemahlen oder Thomasschlacken¬
mehl gelagert wird und schließlich im Jahre 1911 vom Reichsamt
des Innern Grundsätze über die Herstellung und Verarbeitung ge¬
sundheitsschädlicher Nitro- und Amidoverbindungen. Zum Teile
gehören hierher auch die Vorschriften über die x4nlage und den
Betrieb von Schwarzpulverfabriken, zur Herstellung gelatinierten
rauchschwachen Pulvers, von Nitroglyzerin-hältigen Sprengstoffen
und Prikinsäurefabriken und von Acethylenfabriken.
Hinsichtlich des Erfolges der Bekanntmachung für Gummi-
warenfabriken liegen besondere Statistiken nicht vor. Einen be¬
stimmten Einblick gewähren Angaben in der Publikation über die
Leipziger Ortskrankenkassenstatistik. Die Ergebnisse dieser Be¬
rechnungen für die Arbeitspersonen in Gummiwarenfabriken, von
denen gerade in Leipzig eine große Zahl zu finden ist, sind in der
folgenden Tabelle dargestellt.
Arbeiter in Gummiwarenfabriken.
(Nach der Leipziger O.-Kr.-K.-Statistik.)
Auf 100 Mitglieder entfallen
Mitglieder Krankheitsfälle Krankheitstage Todesfälle
Alter :
m.
w.
m.
w.
m.
w.
m.
w.
Insges.
2228
2292
46,7
59,6
1028
1494
0,9
0,8
unter 15
33
8
48,5
37,5
1154
550
—
—
15—24
1042
1383
53,9
53,9
998
1182
0,5
0,5
24—34
760
714
40.9
73,8
934
2099
1,2
1,1
35-44
294
164
35,7
48,2
1126
1399
0,7
0,6
45 — 54
73
23
48,0
60,9
1522
2439
4,1
13,0
55—64
12
—
33,3
—
1608
—
—
—
65—74
9
—
66,7
—
1944
—
11,1
—
75 usw.
5
—
40,0
—
4640
—
—
*
214
J. Kaup,
Die Tabelle zeigt zunächst, daß, ähnlich wie in der Textil¬
industrie in dieser Industrie die Frauenarbeit vorherrscht; namentlich
in der Altersgruppe vom 15. — 24. Lebensjahre überwiegen weitaus
weibliche Arbeiter. Die Erkrankungshäufigkeit gerade für diese
Altersgruppe ist bei Männer und Frauen gleich hoch. In der
nächsten Altersgruppe vom 25.-34. Lebensjahre ist sie bei den
Frauen beträchtlich höher und in den folgenden Altersgruppen
bietet sich dasselbe Bild. Ein noch größerer Unterschied ist hin¬
sichtlich der Krankheitstage zu finden. Es ergibt sich hier wieder
die Erscheinung, daß in allen Betrieben mit gesundheitsgefährlichen
Verrichtungen Frauen ungleich leichter geschädigt werden können
als Männer. Im allgemeinen ist das Erkrankungsprozent wie die
Zahl der Krankentage für Männer und Frauen ziemlich beträcht¬
lich höher als im Mittel industrieller Arbeiter. Da die Leipziger
Statistik die Materialien für etwa 17 Jahre zusammenfaßt (1885
bis 1903) so konnte in dieser Krankheitsstatistik ein Erfolg der
Bundesratsverordnung nicht zum Ausdrucke kommen.
Bessere Anhaltspunkte sind für die Arbeiter von Betrieben,
in denen Alkalichromate hergestellt werden, vorhanden. Über die
Gesundheitsschädigungen in diesen Betrieben ist vor kurzem eine
Arbeit von R. Fischer erschienen.1)
F. hat durch eine Reihe von Einzeluntersuchungen für ver¬
schiedene Betriebe die Ursachen der einzelnen Krankheitsfälle mit
der Einrichtung und Arbeitsweise in Beziehung gebracht, und nach
dem Grundsätze, daß nur von Jahr zu Jahr fortgesetzte Vergleiche
des Gesundheitszustandes der Arbeiterschaft ein und desselben Be¬
triebes eine gute Unterlage für eine erfolgreiche Bekämpfung der
etwaigen Mängel geben könne, genauere statistische Zusammen¬
stellungen versucht. Zahlreiche Detailtabellen eignen sich nicht
zur Wiedergabe. Die wesentlichsten Resultate, namentlich hin¬
sichtlich eines Vergleiches der Chromatarbeiter großer chemischer
Betriebe mit verhältnismäßig wenig gefährdeten Hofarbeitern und
Professionisten dieser Betriebe sind in der folgenden Tabelle
zusammengefaßt.
0 Die industrielle Herstellung und Verwendung der Chrom Verbindungen, die
dabei entstehenden Gesundheitsgefahren für die Arbeiter und die Maßnahmen zu
ihrer Bekämpfung. Berlin, A. Seydel, 1911. Schriften %des Instituts für Gewerbe¬
hygiene. Frankfurt a. M.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 215
Gesundheitsverhältnisse in mehreren Chromatbetrieben
(nach Fischer).
Jahr
Auf 100 Arbeiter entfielen
Hautleiden
Innere Erkrankungen
Erkrankungen
insgesamt
bei den Hof¬
arbeitern und
Handwerk.
bei den Chro¬
mat arb eitern
bei den Hofarbeitern
und Handwerkern
bei den Chromat¬
arbeitern
bei den Hof¬
arbeitern und
Handwerk.
bei den Cliro-
matarbeitern
Fälle
Tage
Fälle
Tage
1899—1900
7,5
35,0
34,1
500
68,7
705
41,6
103,7
1900—01
8,3
48,0
37,6
546
75,0
1005
45,9
123,0
1901-02
21,0
30,0
587
29,0
328
37,4
50,0
1902—03
5,1
19,6
40,4
536
59,0
660
45,4
78,6
1903—04
4,5
31,5
25,9
399
78,5
1259
30,4
110,0
1904—05
6,6
11,6
35,9
464
50 0
540
42,5
61,6
1905—06
7,3
34,7
27,2
439
67,4
1219
34,5
102,1
1906-07
7,8
34,5
40,5
638
52,8
990
48,3
87,3
1907—08
10,3
51,0
53,0
724
74,5
940
63,3
125,5
1908-09
4,0
28,0
32,5
637
73,5
1200
36,5
101,5
Durchschn.
6,9
31,5
35,6
547,1
62,8
887,7
42,5
94,3
Die Summe der inneren und äußeren Erkrankungen für die
Chromatarbeiter ist für die einzelnen Jahrgänge ganz wesentlich
höher als für die ungefährdeten Arbeiter — mehr als doppelt so
hoch. — Vergleicht man im speziellen die Erkrankungszitfern für
äußere Erkrankungen, so sind diese bei den Chromatarbeitern etwa
fünfmal so hoch, während der Unterschied für innere Krankheiten
wesentlich geringer ist. Chromatarbeiter haben etwa 80 Proz.
höhere Erkrankungsziffern für innere Krankheiten als die weniger
gefährdeten Hofarbeiter und Professionisten. Das wichtigste Er¬
gebnis dieser Tabelle liegt darin, daß innerhalb dieser letzten zehn
Jahre trotz der beiden Verordnungen ein Rückgang der Erkrankungs¬
ziffern kaum eingetreten ist. Innere Erkrankungen haben sogar
etwas zugenommen. Vergleicht man noch die Zahl der Kranken¬
tage an inneren Erkrankungen für Chromatarbeiter und unge¬
fährdete Arbeiter, so sind diese Zahlen für 100 Arbeiter mit im
Mittel 888 gegenüber etwa 547 bei den ungefährdeten Arbeitern
um etwa 60 Proz. höher. Hinsichtlich der Zahl der Krankheits¬
tage macht es jedoch den Eindruck, als wenn deren Zahl von
Jahr zu Jahr höher geworden wäre. So betrug dieselbe für die
Chromatarbeiter an inneren Erkrankungen allein in den Jahren
1899 — 02 579 und in den Jahren 1906—09 1073; also fast doppelt
soviel, während die Zunahme der Krankheitstage für die ungefähr¬
deten Hofarbeiter und Professionisten eine wesentlich geringere ist.
216
J. Kaup,
In besonderen Tabellen hat F. jedoch auch die einzelnen Er¬
krankungsformen für innere Krankheiten für die verschiedenen
in Betracht kommenden Gruppen verglichen und hierbei fest¬
gestellt, daß z. B. von den Chromatarbeitern im Mittel dieser
10 Jahre 21 Proz. durch Erkrankungen der Atmungsorgane er¬
werbsunfähig wurden, hingegen von den ungefährdeten Arbeitern
nur 11 Proz. In ähnlicher Weise wurde auch an Erkrankungen
der Verdauungsorgane für die Chromatarbeiter eine Erkrankungs¬
häufigkeit von 20 Proz., für die Hofarbeiter und Professionisten
eine solche von 11 Proz. festgestellt. Einen Vergleich der Er¬
krankungshäufigkeit der Chromatarbeiter mit anderen gefährdeten
Arbeitergruppen werden wir später noch ziehen können. F. gibt
in seinen Tabellen jedoch auch eine Beihe von besonderen Erkran¬
kungsarten an, so über die Häufigkeit des Vorkommens von Per¬
forationen der Nasenscheidewand (bei etwa 70 Proz. der Arbeiter
in Chromatbetrieben) Verbrennungen, Verätzungen durch Chromate,
Chromgeschwüre usw. Für mehrere Chromgerbereien mit im Durch¬
schnitte 2800 männlichen Arbeitern wurden folgende Erkrankungs¬
ziffern nach den F.’schen Einzelangaben für die letzten Jahre berechnet.
Gesundheitsverhältnisse in einer großen Chromgerberei
(nach Fischer).
Jahr
Durchschnitt¬
liche Mit¬
gliederzahl
(männliche)
der Betriebs^
krankenkasse
Erkrankung!
Fälle
Auf 100 Arbe
3n insgesamt
Tage
iter entfallen
Chromater]
der Hände
Fälle
irankungen
und Arme
Tage
1904
2792
67,47
1414,43
3,01
19,02
1905
2830
70,07
1334,52
5,12
115,48
1906
2780
59,35
1058.20
1,97
35,87
1907
2792
64,11
1327,76
1,18
17,19
1908
2787
67,20
1660,35
0,86
12,89
Durchschnitt
2796
65,64
1359,05
2,43
40,09
Auch hier ist vor allem das Erkrankungsprozent mit im
Mittel 66 Proz. und 1359 Krankheitstagen außerordentlich hoch.
Auch läßt sich keine Verbesserung in den letzten Jahren kon¬
statieren. Der Anteil der Chromaterkrankungen der Hände und
Arme in diesen Gesamterkrankungen ist allerdings gering. Doch
ist hier die Bemerkung berechtigt, daß dieser Anteil nur durch
genaueste ärztliche Feststellungen und durch einwandfreie Ver¬
gleichszahlen sicher berechnet werden kann. Einstweilen ist die
Tatsache einer hohen Erkrankungshäufigkeit der Arbeiter in Chrom-
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 217
gerbereien maßgebend. Auch der Hinweis F.’s, daß in anderen
Chromgerbereien die Chromatarbeiter kaum wesentlich mehr Er¬
krankungen an Haut- und Nierenleiden aufweisen als sämtliche
Arbeiter einer Gerberei, läßt eine sichere Schlußziehung nicht zu.
Über die Gesundheitsverhältnisse in Tliomassclilackeiimülilen
bringen die Gewerbeaufsichtsbeamten seit mehreren Jahren krank¬
heitsstatistische Angaben, die in der nachfolgenden Tabelle für die
Kegierungsbezirke Arnsberg und Düsseldorf übersichtlich zusammen¬
gestellt sind.
Erkrankungsverhältnisse in sechs größeren Thomasschlackenmühlen.
(Nach deu preuß. Gewerbeaufsichtsberichteu.)
Regierungs¬
bezirk
Betrieb
Jahr
Durch¬
schnittliche
Arbeiterzahl
Im Durchschnitt entfielen auf 100 Arbeiter
im ganzen Kranken-
Erkrankungen der
Atmungsorgane
Todesf . an
Lungen-
entzündg.
Fälle
Tage
Fälle
Tage
'
T
1910
53
53
1340
26
999
1
1909
50
28
460
16
326
__
Arnsberg
TT
1910
84
96
2257
58
1636
1
n
1909
73
70
1425
30
505
—
1910
92
104
1832
32
474
3
1909
102
97
1341
33
547
1
III
1908
92
51
551
27
284
—
1907
76
67
752
29
447
1
1906
80
64
1110
24
549
1
1910
161
61
1183
11
228
7
1909
157
85
1278
30
396
7
IV
1908
165
71
858
21
360
0,5
1907
162
134
1692
54
827
6
1906
133
138
1355
54
582
2
Düsseldorf
1910
98
160
1705
73
929
1
T 7
1909
99
123
1401
52
530
2
V
1908
108
110
1439
61
842
1
1907
75
74
861
29
364
4
1906
110
77
733
42
398
2
1910
130
52
1055
14
381
1
1909
72
68
1094
13
393
4
VI
1908
68
85
711
11
111
—
1907
82
70
704
10
90
4
1906
65
66
603
9
77
4
Die Erkrankungshäufigkeit ist in allen diesen sechs Betrieben
auch noch in den letzten Jahren recht hoch gewesen, und namentlich
war die Zahl der Krankentage sehr bedeutend. Die Entwicklung ist
in den einzelnen Betrieben eine sehr verschiedene. Im Betriebe II
218
J. Kaup,
eine hohe Erkrankungshäufigkeit in den zwei letzten Jahren,
namentlich im Jahre 1910 und insbesondere eine sehr hohe Zahl
von Krankheitstagen. Im Betriebe III scheinen die Gesundheits-
Verhältnisse von Jahr zu Jahr schlechter geworden zu sein. Ebenso
im Betriebe V, in dem der Anteil an Erkrankungen der Atmungs¬
organe am höchsten ist; hingegen ist im Betriebe IV seit den
Jahren 1907, allerdings mehr nach der Erkrankungshäufigkeit als
nach der Zahl der Krankentage eine fortschreitende Besserung
ersichtlich. Auch die Erkrankungen der Atmungsorgane haben
hier wesentlich abgenommen. Der Betrieb VI hat in den letzten
fünf Jahren ungefähr die gleiche Erkrankungshäufigkeit, doch eine
zunehmende Zahl von Krankheitstagen auch hinsichtlich der
Erkrankungen der Atmungsorgane gezeigt. Wie bereits erwähnt,
sind im Jahre 1909 schärfere Bestimmungen über Thomasschlacken¬
mühlen erlassen worden. Die Erfolge dieser Bekanntmachung können
auf Grund der Krankheitsangaben nur für 1910 noch nicht be¬
urteilt werden.
Für verschiedene gesundheitsgefährliche Produktionsprozesse
in der chemischen Industrie sind erst wenig zusammenfassende
Arbeiten vorhanden.
Eine sehr instruktive Arbeit nach dieser Richtung liegt von
Leymann1) vor. Die wesentlichsten Ergebnisse der Leymann-
schen Betrachtungen und Zusammenstellungen sind der Kürze
halber in einer besonderen Tabelle dargestellt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Um die Entwicklung der Gesundheitsverhältnisse beurteilen
zu können, wurden mit I und II die Jahresgruppen 1894—99 und
1899—1904 gebildet. Von den einzelnen Abteilungen dieser Gro߬
betriebe wurden die Abteilungen mit weniger gefährlichen Arbeiten
in der Gruppe a zusammengestellt und dann noch mit den Gruppen
b, c, d und e die Hauptabteilungen hervorgehoben. Die' Er¬
krankungshäufigkeit in den einzelnen Abteilungen ist recht ver¬
schieden: Am geringsten stets in der Abteilung a, am höchsten in
den Abteilungen d und e (Anilinbetriebe und Trinitrophenolbetriebe).
Leider zeigt sich nirgends innerhalb der beiden Jahresgruppen
eine Verbesserung der Gesundheitsverhältnisse. Die Erkrankungs¬
häufigkeit in den beiden letzterwähnten besonders gesundheits¬
gefährlichen Abteilungen ist sogar außerordentlich hoch und bis
0 Erkrankungsverhältnisse in einigen chemischen Betrieben. Concordia 1906.
Carl Heymann’s Verlag. Berlin.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 219
Erkrankungsverhältnisse in einem Betriebe der chemischen
Großindustrie
(nach Leymann).
Zeitab-
Arb. aller
Arbeiter in den
Betrieben
schnitt
Betriebe
a
b
c
d
e
Durchschnitt! Arbeiterzahl
I
1515
782
136
41
95
23
pro Jahr
II
1609
660
168
53
166
42
Gesamterkrankungen
I
72,5
50,4
63,7
81,9
122,5
115,0
(auf 100 Arbeiter)
II
83,5
70,7
72,5
125,4
128,2
196,4
Gesamtkrankentage
I
992,4
700,1
887,8
1374,0
1639,6
1635,0
(auf 100 Arbeiter)
II
1167,3
1002,8
1111,1
1647,7
1525,4
2307,5
Innere
K r a n k h
eiten
Fälle (auf 100 Arbeiter)
1
II
36,2
45,1
21,0
35,1
36,8
41,1
45,2
63,1
89,8
79,4
76,7
129,7
Tage (auf 100 Arbeiter)
I
II
523.8
655^2
351.8
546,0
499,5
607,4
845,2
818,4
1177,3
971,8
1209,2
1538,7
Bespirationsorgane
Digestionsorgane
Intoxikationen
Fälle (auf 100 Arbeiter)
Tage (auf 100 Arbeiter)
Verbrennungen
Andere Verletzungen
Bewegungsorgane
Haut
darunter Fälle (Proz.):
I
9,9
5,5
10,1
15,5
11,9
22.8
II
12,4
9,1
14,3
18,7
12,9
44,0
I
14,9
9,5
14,9
14,4
34,7
41,9
II
16,4
12,9
12,4
17,2
34,6
48,8
I
2,3
0,1
—
30,7
—
II
1,6
0,2
—
—
13.7
3,6
Äußere Krankheiten
I
36,3
29,4
26,9
36,7
32,7
38,4
II
38,4
35,6
31,4
62,3
48,8
66,7
I
468,6
348,3
388,4
528,8
462,3
425,8
II
512,1
456,8
503,7
829,3
553,6
768,8
darunter Fälle (Proz.)
I
3,4
1,0
6 6
6,7
4,8
6,7
II
2,4
0,8
6,1
14,4
2,7
9,5
I
13,7
13,0
7,5
7,2
12.8
15,2
II
12,8
15,5
10,1
14,8
11,2
14,5
I
10,6
7,9
8,2
14,4
5,5
8,5
II
11.0
10,9
10,3
12,5
7,1
3,6
I
7,2
5.9
3,5
8,3
8.2
7,6
II
9,3
6,7
3,4
16,3
24,8
35,7
Betriebsgruppe a) umfaßt: Tagelöhner, Schreiner, Schlosser, Schmiede,
Heizer u. ä. ;
b) Schwefel- und Salpetersäurebetrieb;
c) Chromatbetrieb;
d) Anilinbetrieb;
e) Trinitrophenolbetrieb.
Die Zeitperiode I umfaßt die Jahre 1894 — 1899,
II „ „ „ 1899—1904.
Die Zeitperiode II in der Gruppe e) umfaßt nur die Jahre 1899 — 1901.
220
J. Kaup,
zu den Jahren 1899 — 1904 noch weiter gestiegen. Ebenso ist
namentlich die Zahl der Krankentage in der Abteilung e in der
späteren Jahresgruppe höher geworden, in der Abteilung d hin¬
gegen etwas niedriger. In den anderen Abteilungen zeigt sich
ebenso eine Zunahme der Zahl der Krankentage. An dieser Ver¬
schlechterung der Gesundheitsverhältnisse in den einzelnen Ab¬
teilungen des chemischen Großbetriebes nehmen sowohl innere
Krankheiten, wie äußere ziemlich gleichmäßigen Anteil. Hinsicht¬
lich der Erkrankungshäufigkeit ist der Prozentsatz ebenso wie für
die Zahl der Krankentage für innere Erkrankungen in der Ab¬
teilung d bis zu den Jahren 1899 — 04 geringer geworden. Die
Tabelle gibt auch Aufschluß über die hauptsächlichsten inneren Er¬
krankungen (Erkrankungen der Respirations- und Digestionsorgane
und Intoxikationen) und auch äußeren Erkrankungen.
Im Anilinbetriebe ist der Prozentsatz der Intoxikationen er¬
freulicherweise gesunken. Bei Betrachtung der einzelnen äußeren
Krankheiten fällt die starke Zunahme des Erkrankungsprozents
auf für Erkrankungen der Haut in den Abteilungen d und e, aber
auch bei c. Leymann verdanken wir noch eine besondere Dar¬
stellung der „Er.krankungsverhältnisse in einer Anilinfarben¬
fabrik“. *) Auch aus dieser Arbeit sind die wichtigsten Ergebnisse
in einer Tabelle zusammengestellt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Die Trennung der einzelnen Arbeitergruppen war hier eine
einfachere, da nur die eigentlichen Fabrikarbeiter von den Hof¬
arbeitern, Handwerkern und Lagerarbeitern getrennt werden
mußten. Hier wurden die Zahlen für je drei Jahre und zwar für
die Jahresgruppen 1899 — 1902 und 1903—06 zusammengefaßt. Im
oberen Teile der Tabelle sind die durchschnittlichen Arbeiterzahlen
für die einzelnen Abteilungen und für die Gesamtheit die Er¬
krankungsprozente und die Zahl der Kranken tage angegeben. Das
Resultat ist hier günstiger: für die Gesamtheit der Fabrikarbeiter
innerhalb der beiden Jahresgruppen ein geringer Rückgang,
wenn auch für die späteren Jahresgruppen das Erkrankungsprozent
mit 66,3 noch recht hoch ist. Leider zeigte es sich jedoch, daß
die Gesundheitsverhältnisse der Arbeiter in den Mühlen und Lager¬
räumen ganz beträchtlich schlechter, die der eigentlichen Fabrik¬
arbeiter mindestens nicht besser geworden sind. Auch die Zahl
der Krankentage für die einzelnen Personen hat zugenommen.
9 Concordia, Nr. 17, 1910.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.
991
i-lUi J-
Erkrankungsverhältnisse in einer Anilinfarbenfabrik.
(Nach Leymann.)
Zeit¬
abschnitt
Fabrik¬
arbeiter
insgesamt
Hand¬
werker
Hof¬
arbeiter
Arbeiter,
Mühlen,
Lager
Eigentl.
Fabrik¬
arbeiter
Durchschnittliche
Arbeiterzahl pro
Jahr
1899-
1903-
-02
-06
2068
2171
398
383
413
532
300
293
907
953
Krankheitsfälle in
1899-
-02
69
61.1
79
55,6
72,0
Proz.
1903-
-06
66,3
58,4
55,4
76,4
72,3
Krankheitstage pro
1899-
-02
9,5
8,9
11,0
8,2
9,6
Arbeiter
1903-
-06
9,7
8,6
8,5
11,1
10,4
Ii
mere Kr
ankh eit
en.
Krankheitsfälle in
Proz.
1899-
-02
37,6
40,8
60,2
42,1
51,9
darunter :
1903-
-06
36,7
39,9
40,9
59,6
52,2
der Atmungsorgane
1899-
1903-
02
-06
12,6
10,3
9,1
7,8
14,0
7,0
10,8
12,5
* 13,9
12,4
der Verdauungs-
1899-
-02
17,0
13,6
21,2
14,8
17.3
organe
1903-
-06
16,8
11,9
16,0
19,4
18,9
Vergiftungen
1899-
-02
0,15
0,1
0,06
0,08
0,2
1903-
-06
0,10
0,06
0,08
0,18
Äußere Kr
ankheit
en.
Krankheitsfälle in
1899-
-02
18,9
20,2
18,9
13,4
20,1
Proz.
1903-
-06
18,0
18,4
14,5
16,9
20,2
Verbrennungen
1899-
1903-
-02
-06
1,8
1,5
2,1
1,0
1,8
0,7
0,3
0,7
2,1
2,2
Andere Verletzun-
1899-
-02
5,1
7,7
6,0
4,2
3,8
gen
1903-
-06
5,8
8,3
4,8
4,4
5,9
der Beweguugs-
1899-
-02
1,7
1,6
1,5
1,5
1,8
organe
1903-
-06
1,9
2,0
1,4
2,4
2,1
Hautkrankheiten
1899-
1903-
-02
-06
7.5
6.5
6,6
5,4
7,1
5,6
5,3
6,6
8,8
7,3
An diesen Erscheinungen tragen für die einzelnen Fabrikarbeiter
die erhöhte Zahl an Erkrankungen der Verdauungsorgane und für
die Mühlen- und Lagerarbeiter ebenfalls diese Erkrankungsformen
und die Erkrankungen der Atmungsorgane die Schuld. Hinsicht¬
lich der äußeren Krankheiten sind die Unterschiede geringer.
Immerhin scheinen die Gesundheitsverhältnisse gerade in dieser
Archiv für Soziale Hygiene. VII. lü
222
J. Kaup,
Anilinfarbenfabrik noch ziemlich gut zu sein; denn nach Fischer
konnte für die Anilinabteilung mehrerer Großbetriebe für die
( Jahresgruppen 1899 — 1902 ein Erkrankungsprozent von 141, für
die Jahresgruppe 1906 — 1909 erfreulicherweise von 113 Proz. be¬
rechnet werden. Für diese Betriebe ist wenigstens ein deutlicher
Rückgang zu verzeichnen, wenn auch das Erkrankungsprozent
selbst noch überaus hoch ist.
In den letzten Monaten ist eine Zusammenstellung erschienen,,
in der Curschmann1) für einen Teil der Arbeiter der chemischen
Industrie die Erkrankungsverhältnisse für die Jahre 1909 — 10
ziffermäßig darzustellen sucht. Leider ist in dieser Statistik kaum
ein Viertel der gesamten Arbeiterzahl (im Jahre 1910: 222530 Voll¬
arbeiter, bei C. nur 50 761) der chemischen Industrie einbezogen,
C. hat ähnlich wie Leymann die Arbeiterschaft in sieben Gruppen
geteilt und die hauptsächlich gefährdeten Arbeiter unterschieden
in die Arbeiter in anorganischen Betrieben und in organischen Be¬
trieben. Auch sind die beiden Geschlechter getrennt. Ein Mangel
der Statistik liegt in dem Fehlen einer Trennung der Erkrankungen
für die einzelnen Altersgruppen, da der Altersaufbau der Handwerker
und der eigentlichen Fabrikarbeiter ein recht verschiedener ist. C.
hat nur Krankheitsfälle mit einer Erwerbsunfähigkeit von mehr als
3 Tagen und einer Krankheitsdauer bis zu 26 Wochen mit Aus¬
schluß der Sonn- und Feiertage statistisch verwendet. Auf diese
Weise berechnet er für die Jahre 1909—1910 eine Krankheits¬
häufigkeit von 54,9 Proz. und eine Krankheitswahrscheinlichkeit
(Zahl der Krankheitstage pro Jahr auf 100 Arbeiter) von 955
Krankheitstagen. Von den eigentlichen „chemischen“ Arbeitern der
organischen und anorganischen Betriebe erkrankten in diesen
beiden Jahren 57,9 Proz., von den ungefährlicheren Abteilungen
47,4 Proz. und von den weiblichen Arbeitern 65 Proz. Auch die
Zahl der Krankheitstage war mit 1050 für die eigentlich ge¬
fährdeten Arbeiter wesentlich größer als die der anderen Gruppen
mit 761. Die Frauen hatten allerdings 1068 Krankheitstage auf¬
zuweisen. Aus diesen statistischen Angaben zieht C. im Vergleiche
mit den Zahlen der Leipziger Ortskrankenkasse folgenden Schluß:
„Jedoch entspricht dies (das Erkrankungsprozent nach Cursch¬
mann) durchaus Zahlen, wie sie sonst in Deutschland und Öster-
9 Krankenstatistik der deutschen chemischen Industrie für die Jahre 1909
und 1910. Bearbeitet im Aufträge der Berufsgenossenschaft der chemischen
Industrie. Verwaltungsbericht der Berufsgenossenschaft der chemischen In¬
dustrie 1910.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 223
reich gefunden worden sind, ja sie bleiben in ihrem Durchschnitt
noch vielfach hinter diesen zurück.“ C. glaubt sogar hinsichtlich
der Erkrankungshäufigkeit und der Erkrankungswahrscheinlichkeit
der einzelnen Arbeitergruppen annehmen zu können: „daß er¬
hebliche Unterschiede in der Erkrankungshäufigkeit bei chemischen
Arbeitern, Handwerkern und Hofarbeitern nicht bestehen, und daß
demnach die Beschäftigung mit chemischen Stoffen an sich keine
Erhöhung der Erkrankungsziffern bedingt.“ Diese Schlußfolgerung
entspricht nicht den Tatsachen, die er selbst gefunden hat und noch
weniger den Tatsachen für einzelne Betriebsgruppen der chemischen
Industrie, die wir vorher vorgeführt haben. Auch gibt C. selbst
an, daß die Betriebshandwerker ebenfalls gewerblichen Erkran¬
kungen in hohem Grade ausgesetzt sind und daß die Hofarbeiter
vielfach halbinvalide Personen sind. Trotz dieser ungenügenden
Trennung gesundheitsgefährdeter und ungefährdeter Arbeitergruppen
sind in der Erkrankungshäufigkeit und in der Erkrankungs Wahr¬
scheinlichkeit Unterschiede zuungunsten der eigentlichen chemischen
Arbeiter vorhanden.
Für die von C. statistisch erfaßten Arbeitergruppen konnte er
für 100 Arbeiter nur in 0,34 Fällen und für 5,9 Krankheitstage
gewerbliche Erkrankungen feststellen. Eigentliche Vergiftungen
wurden auf 100 Arbeiter nur 0,21 beobachtet; C. glaubt aus diesen
Zahlen annehmen zu können, daß es kaum ein Gewerbe unter allen
als gesundheitsschädlich bezeiclineten gibt, das so wenig Berufs¬
erkrankungen aufweist wie die chemische Industrie. Auch diese
Behauptung steht mit unseren zusammenfassenden Angaben über
die chemische Industrie recht erheblich im Widerspruch. Ley-
mann hatte für die Gesamtarbeiterschaft eines chemischen Gro߬
betriebes auf 100 Arbeiter 1,3 Vergiftungen berechnet, für die
Anilinbetriebe jedoch 15,7, dagegen Erkrankungen der Haut 8,1 Proz.
für die Gesamtheit und 16 Proz. für die Anilinbetriebe, so daß
sich hierdurch die Gesamtzahlen für gewerbliche Erkrankungen
ungleich höher als nach C. berechnen lassen. Selbst nach der
letzten Arbeit von Leymann vom Jahre 1910 ist der Prozent¬
satz gewerblicher Erkrankungen ganz wesentlich höher. Die
geringen Werte von C. sind zu verstehen, wenn man bedenkt, daß
die Gesamtheit der Bleivergiftungen bei den von seiner Statistik
erfaßten chemischen Arbeitern nur 13 Fälle betrug, während die
deutschen Bleifärbenfabrikanten in der früher erwähnten Statistik
für den Durchschnitt der letzten 5 Jahre selbst 221 Bleiver¬
giftungsfälle mit 3926 Krankheitstagen pro Jahr ausgewiesen
15*
224
J. Kaup,
hatten. Es ist daher anzunehmen, daß durch die C ursch mann -
sehe Statistik im allgemeinen nur chemische Betriebe erfaßt wurden,
die sich durch eine geringere Gesundheitsgefährlichkeit auszeichnen.
Schlußfolgerungen aus Zahlen, die für einen Teil der chemischen
Großindustrie gewonnen wurden, können daher m. E. für die Ge¬
samtheit der Industrie nicht gezogen werden.
Eine Durchsicht der englischen Sterblichkeitsstatistik nach Be¬
rufen ergibt auch ziffernmäßig, daß in einigen Berufen Todesfälle durch
Verunglückungen besonders häufig Vorkommen. Wird für alle er¬
werbstätigen Männer als Standardzahl der Todesfälle durch Unfälle
100 angenommen, so ergibt sich, daß auf der einen Seite, abgesehen
von Lehrern und Geistlichen, Berufsgruppen wie die Buchdrucker,
Schuhmacher, Schreiner, Schneider, Bäcker, das Kontor- und Laden¬
personal 34—45 Todesfälle als Unfälle aufwiesen, hingegen die
Arbeiter der Maschinen- und Glasindustrie bereits etwas über 100,
Dachdecker 238, und Bergleute sogar 241 Unfalltodesfälle. Aber
auch von den Erkrankungen im allgemeinen kommt in den ein¬
zelnen Berufsgruppen ein namhafter Prozentsatz den Unfallerkran¬
kungen zu. Nach der Leipziger Krankenkassenstatistik entfielen
bei den männlichen versicherungspflichtigen Mitgliedern 198 Krank¬
heitstage von 1000 auf Verletzungen und andere äußere Einwir¬
kungen, bei den weiblichen Mitgliedern hingegen nur 55. Die
ungleiche Verteilung der Zahl der Krankentage auf Unfallver¬
letzungen nach Berufen ist in der folgenden Tabelle ersichtlich
gemacht.
t
Betriebs-Unfall-Krankentage auf 1000 ein Jahr lang beobachtete
versicherungspflichtige männliche Personen.
(Aus
dem Tabellenwerke des Kaiserlichen Statistischen Amtes
der Leipziger Ortskrankenkasse.)
über
das Material
Im Durchschnitte aller Berufsgruppen
In den Berufsgruppen:
938 Krankentage
1.
Bureau- und Kontorpersonal
52
2.
Bekleidung und Reinigung
143
3.
Beherbergung und Erquickung
236
4.
Polygraphische Gewerbe
354
5.
Hilfsgewerbe des Handels
413
6.
Industrie der Häute, Felle und Haare
414
7.
Lederindustrie und Industrie lederartiger Stoffe
482
8.
Papierindustrie
694
9.
Glas-, Porzellanerzeugung, Töpferei
694
10.
Verfertigung musikalischer Instrumente
854
11.
Gärtnerei, Land- und Forstwirtschaft
924
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche
Erkrankungen.
225
12.
Nahrungs- und Genußmittelindustrie
950 Krankentage
13.
Industrie der Holz- und Schnitzstoffe
1046
55
14.
Textilindustrie
1133
55
15.
Steinbearbeitung
1156
55
16.
Industrie der Fette, Öle, Lacke, Firnisse
1327
55
17.
Maschinisten und Heizer
1346
55
18.
Baugewerbe
1360
55
19.
Chemische Industrie
1411
55
20.
Zement- und Kalkindustrie
1518
55
21.
Metallverarbeitung
1586
55
22.
Arbeiter in Gasanstalten
1824
>5
23.
V erkehrsgewerbe
1972
55
Die Unterschiede sind außerordentlich groß.
Behufs Verminderung von Unfällen in Betrieben sind die Un¬
fallversicherung und die mit deren Einrichtung vorgesehenen Organi¬
sationen höchst segensreich gewesen. Während bei Herausgabe
des Unfallversicherungsgesetzes im Jahre 1884 nur etwa 3 Millionen
Personen versicherungspflichtig waren, ist diese Zahl bis zum
Jahre 1909 auf 9 Millionen angestiegen. Außerordentlich be¬
deutungsvoll für die Unfallverhütung wurde die Schaffung von Be¬
rufsgenossenschaften für die einzelnen Berufsgruppen, deren Organe
(Revisionsingenieure) im Vereine mit dem zuständigen Gewerbe¬
aufsichtsbeamten am besten in der Lage waren, den Ursachen der
einzelnen Unfälle nachzugehen und durch Herausgabe besonderer
Verhütungs Vorschriften eine Besserung anzustreben. Die deutschen
Berufsgenossenschaften konnten vor kurzem auf eine 25 jährige
Tätigkeit zurückblicken. Die Hauptergebnisse sind in der folgenden
Tabelle wiedergegeben.
Häufigkeit und Folgen von Unfallverletzungen.
'S Ö
Folgen der Verletzungen
P CD
cö ö
dauernde voll.
dauernde teilw.
vorübergeh.
Ver-
O
m
Tod
Erwerbs-
Erwerbs-
Erwerbs-
Jahr
sicherte
N qj
'S PL,
Unfähigkeit
Unfähigkeit
Unfähigkeit
Personen
auf
auf
auf
auf
< v O
im
1000
im
1000
im
1000
im
1000
ganzen
Fers.
ganzen
Pers.
ganzen
Pers.
ganzen
Pers.
1885
2 986 248
0,30
226
0,08
1890
4 926 672
5,36
3597
0,73
1784
0,36
16194
3,30
4 828
0,89
1895
5 409 218
6,24
3644
0,66
780
0,14
19 312
3,57
9 992
1,87
1900
6 928 894
7,46
5108
0,73
592
0,08
24 790
3,56
21 207
3,09
1905
8 195 732
8,34
5154
0,62
572
0,07
29 423
3,59
33 211
4,06
1908
8 917 772
8,36
5939
0,66
566
0,06
29114
3,26
38 962
4,38
226
J. Kaup,
Berufsgenossenschaft der Chemischen Industrie
V ersicherte
Verletzte
auf 1000
1885
78 428
Personen
3,54
1890
98 391
6,37
1895
115 713
6,48
1900
154 479
8.31
1905
192 381
8,71
1908
216 751
9,20
Knappschafts-Berufsgenossenschaft
Verletzte Tödi. Unfälle
Versicherte
-
auf 1000
auf 1000
Personen
Personen
(1886)
343 709
1886
6.60
2,55
1890
8,54
2,23
(1896)
446 342
1895
11,39
2,26
1900
12,19
2,14
(1906)
689 248
1905
15,55
2,01
1908
ie;o3
2,62
Rheinisch- westfälische Hütten- und Walzwerks-Berufsgenossenschaft
Verletzte
tödl. Aus¬
dauernd
dauernd vorüber¬
Versicherte
auf 1000
gang (auf
völlige
teilweise gehende
Personen
1000 Pers.)
Erwerbsunfähigk. a. 10U0 Pers.
1906
163 507
16,1
1,23
1.17
10,8 2,89
1908
165 368
16,5
1.21
0,95
11,5 2,82
1910
177 836
14,6
1,07
1,12
9,5 2,88
Im allgemeinen ist eine Zunahme der entschädigungspflichtigen
Verletzungen ein getreten, hingegen eine kleine Abnahme der Un¬
falltodesfälle, eine größere der Unfälle mit völliger Erwerbsunfähig¬
keit, ein Gleichbleiben teilweiser, und eine Zunahme vorübergehen¬
der Erwerbsunfähigkeit. Die besonderen Angaben für die chemische
Industrie, den Bergbau und die Hiittenbetriebe zeigen eine etwas
abweichende Entwicklung. Namentlich im Bergbau hat der Pro¬
zentsatz der Unfallverletzten stark zugenommen.
Daß die Erfolge nicht größer sind, wird zurückgeführt auf
den Aufschwung der Industrie, besonders auf die Vermehrung der
Großbetriebe und die Akkordarbeit, auf die Zunahme der Frauen¬
arbeit, auf den stärkeren Zuzug fremder Arbeiter ohne Kenntnis
der Schutzmaßnahmen, auf die steigende Verwendung von Ma¬
schinen an Stelle der Handarbeit, auf die immer größer werdenden
Maschinengeschwindigkeiten und auch auf die Leichtsinnigkeit
der Arbeiter.
In dieser Darstellung ist jedoch auch darauf verwiesen, daß
durch die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts vielfach
Der Einfluß der Gesetzgebung- auf gewerbliche Erkrankungen.
227
■eine Erweiterung des Begriffs „Unfall“ eingetreten sei. Nach der
ständigen Rechtsprechung des Amtes hat man unter Unfall eine
körperliche Schädigung eines Menschen zu verstehen, die auf ein
plötzliches oder wenigstens zeitlich genau bestimmbares, von ihm
nicht beabsichtigtes Ereignis zurückzuführen ist. Tm versicherungs¬
rechtlichen Sinne stellt hiernach nicht das schädigende äußere
Ereignis, das in der Sprache des gewöhnlichen Lebens als Unfall
bezeichnet wird, sondern der dadurch herbeigeführte Schaden den
Unfall dar. Nach dieser Auffassung werden Gewerbekrankheiten
nicht als Unfälle angesehen, denn sie sind körperliche Schädigungen,
-die bei vielen Gewerbetätigkeiten als das Endergebnis der eine
längere Zeit andauernden, der Gesundheit entweder durch Ver¬
wendung von Giften oder durch Einfluß von Zugluft, Feuchtig¬
keit, Luftverschlechterung, nachteiligen Betriebsweise beobachtet
werden. Hier ist nicht genau zu bestimmen, zu welcher Zeit das
äußere Ereignis eingetreten ist, das zu der körperlichen Schädigung
führte. Die Ursache eines Unfalls und einer Gewerbekrankheit
kann die gleiche z. B. ein chemisches Gift sein. Ob es sich um
■einen Unfall oder um eine Gewerbekrankheit handelt, wird nach
der zeitlichen Einwirkung dieser Ursache entschieden. Aber der
selbst vorsichtig wägende Sozialpolitiken Mugdan will es nicht
völlig von der Hand weisen, daß auch gewerbliche Vergiftungen
nach der deutschen Rechtsprechung als Unfälle angesehen werden
könnten, da sie sich als Endergebnis einer Reihe aufeinander¬
folgender zeitlich bestimmbarer Vergiftungen, also als ein Ausdruck
gehäufter Unfälle darstellen. Die Frage ist für die Betroffenen
selbst aus dem Grunde von großer Bedeutung, da chronisch er¬
krankte, bzw. invalid gewordene Personen nur Anspruch auf eine
Invalidenrente haben, die jedoch nicht unbeträchtlich geringer
ist als die Unfallrente. Auf dem 8. Internationalen Arbeiter¬
versicherungskongreß in Rom im Jahre 1908 ist die Frage der
Versicherung der Berufskrankheiten eingehend besprochen worden.
Eine Reihe von Referenten besonders Teleky kommt zu dem
Schlüsse, daß die sogenannten spezifischen Berufskrankheiten Un¬
fällen gleich betrachtet werden sollten. Zu diesen spezifischen Be¬
rufskrankheiten werden im Sinne der englischen Kompensations¬
akte von 1906 alle Erkrankungen gerechnet, die wegen der Plötz¬
lichkeit des Entstehens den Charakter des Unfalls tragen, also
akute Intoxikationen und auch gewerbliche Infektionskrankheiten;
somit Vergiftungen mit Blei, Quecksilber, Phosphor, Arsenik, Mangan
und deren Verbindungen, den Nitro- und Amidoderivaten des Ben-
I
228 J- Kaup,
zins, und mit Schwefelkohlenstoff; ferner Chromgeschwüre und
deren Folgen , der Teerkrebs (mit dem Schornsteinfegerkrebs),
durch Teer veranlaßte Augenentzündungen, Ankylostomiasis und
Nystagmus der Bergleute, grauer Star der Glasarbeiter, Telegra¬
phistenkrampf, Perlmutterostitis. Da Deutschland und Österreich
eine staatliche Kranken- und Unfallversicherung besitzen, wTäre
von einer Haftpflicht der Unternehmer für im Betrieb erworbene
gewerbliche Erkrankungen der vorerwähnten Art wie in der
Schweiz und in England abzusehen, es sollten vielmehr einfach die
spezifischen Berufskrankheiten den Unfällen der Unfallversicherung
gleichgestellt werden.
Gewerbliche Erkrankungen kommen jedoch auch durch Staub-
einwirkung zustande.
Es ist in diesem Kreise überflüssig, auf die Zusammenhänge-
zwischen Staubeinatmung, Erkrankungen der Atmungsorgane und
Tuberkulose näher einzugehen. Auch wollen wir nicht den Einfluß
des Alkoholmißbrauchs, schlechter Körperhaltung und verdorbener
Luft auf die Entstehung der Tuberkulose erörtern. Die
Reichsregierung hat sich im Sinne des § 120 der G.O. vielfach
mit Staubbetrieben beschäftigt. So wurden im Jahre 1902 eine
Bekanntmachung betreffend die Beschäftigung von Arbeiterinnen
und jugendlichen Arbeitern in Glashütten, Glasschleifereien und
Glasbeizereien sowie Sandbläsereien, 1909 betreffend die Einrichtung
und den Betrieb von Steinbrüchen und Steinhauereien verlaut¬
bart. Das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe hat
bereits im Jahre 1894 bestimmte Anforderungen bei Errichtung
von Arbeitsräumen in Spinnereien gestellt ; einige Regierungspräsi¬
denten haben besondere Erlässe für Metallschleifereien herausgegeben.
Wir wollen uns lediglich mit der Häufigkeit des Vorkommens von
Tuberkulose bei Lohnarbeitern und auch mit der Frage beschäftigen,,
ob die Tuberkulose als Berufskrankheit zu- oder abgenommen
habe. Vor allem ist zu bemerken, daß die Gefahr einer Staubeinatmung
fast bei jeder beruflichen Betätigung in mehr oder minder hohem
Grade vorhanden ist. Immerhin sind es einige Berufsgruppen, die
unter der Staubgefahr besonders zu leiden haben, wie die Berg-
und Hüttenleute, die Arbeiter der keramischen Industrie, der
Metallverarbeitung, der chemischen Industrie und Textilindustrie,,
des Bekleidungs- und Baugewerbes, die Holzarbeiter, das poly¬
graphische Gewerbe, aber auch die Personen der Gast- und Schank¬
wirtschaften. Hinsichtlich der Häufigkeit von Todesfällen an Tuber¬
kulose für die einzelnen Berufe sind die Angaben der englischen
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 229’
Mortalitätsstatistik vor allem heranzuziehen. Nach der Statistik
für die Jahre 1900 — 02 zeigen von den größeren Berufsgrnppen
das Gast- und Schankwirtschaftsgewerbe mit 246 — 660 Todesfälle
an Lungentuberkulose auf die Mittelzahl von 1000 Todesfällen für
den Durchschnitt die höchsten Ziffern, dann folgen das polygraphische
Gewerbe mit 240 — 290, die Lederindustrie mit 314, das Bekleidungs¬
gewerbe mit 246 mit den nächst höheren Ziffern. Nimmt man
einzelne Berufsarten heraus, so stehen nach dieser Statistik an der
Spitze die Arbeiter des Zinnbergbaus mit 830, das niedere Hotel¬
personal mit 660, Gelegenheitsarbeiter mit 560 und Hausierer mit
516 Todesfällen an Lungentuberkulose auf 1000 Todesfälle als
Standardzahl. Berechnet man den Prozentsatz der Todesfälle an
Lungentuberkulose auf 100 Todesfälle für die einzelnen Berufe, so
stehen an der Spitze ebenfalls die Zinnminenarbeiter mit 38 Proz.f
dann folgen die Messer- und Scherenmacher mit 34 Proz. , das
Hotelpersonal mit 30 Proz., die Hausierer mit 29 Proz., die Buch¬
binder und Buchdrucker ebenfalls mit 30 Proz., während von den
eigentlichen Arbeiterberufen, abgesehen von der Landwirtschaft,
das Transportgewerbe mit 10 und 19 die niedrigsten Ziffern zeigen.
Für deutsche Verhältnisse liegen seit den letzten Jahren
eine Reihe wertvoller Statistiken vor. Abgesehen von den älteren
Sommerfeld’schen Arbeiten, die sich auf die ungenauen Sterb¬
lichkeitsziffern der Krankenkassen stützen, sind nunmehr Angaben
für die einzelnen Berufe für Württemberg, Bayern und seit einigen
Monaten auch für Preußen zu finden. Nach einer württembergischen
Statistik entfallen von 100 Todesfällen der unselbständigen Arbeits¬
kräfte zwischen 50 und 54,4 Proz. auf die Bäcker, Buchdrucker,
Schneider und Buchbinder aber auch auf die Strickerinnen und
Näherinnen, mit 49,5 Proz. kommen dann die Steinhauer und 46,4 Proz.
die Schuhmacher usw. Auch nach dieser Statistik haben die
niedrigsten Prozentsätze die Arbeiter des Eisenbahn- und Postbe¬
triebes und des Frachtfuhrwerks mit 19 — 21 Proz. Der Bearbeiter
der württembergischen Statistik Dr. Elben hat jedoch den ver¬
schiedenen Altersaufbau der einzelnen Berufsangehörigen berück¬
sichtigt und berechnet, wieviel Personen auf 100 mit Berücksichtigung
des Lebensalters erwarteten Todesfällen an Lungentuberkulose tat¬
sächlich gestorben sind. Auch nach dieser Berechnung fand er die
niedrigsten Ziffern beim Frachtfuhrwerk, im Eisenbahn- und Post¬
betriebe, bei den Ziegel- und Sandarbeitern also bei den vorwiegend
Freiluftarbeitern mit 65—80 Todesfällen, die höchsten Ziffern mit
222 bei den Kellnern, mit 167 bei den Steinmetzen, 160 bei den
230
J. Kaup,
Buchdruckern, 150 bei den Buchbindern, während Schmiede, Müller,
Gerber und Fleischer etwa die erwartete Todeshäufigkeit von 100
zeigen. Bei einem Vergleiche der englischen Statistik zeigt sich
eine ziemliche Übereinstimmung, wenn auch, namentlich nach den
vorerwähnten Prozentzahlen der Anteil der Lungentuberkulose an
den gesamten Todesfällen besonders in einigen Berufen in Württem¬
berg wesentlich größer zu sein scheint. Diese Wahrnehmung ist
besonders von Wichtigkeit, weil die Statistik dieselben Jahre um¬
faßt. Für Preußen1) und Bayern2) habe ich die Ergebnisse in einer
besonderen Tabelle zusammengestellt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Der Altersaufbau der einzelnen Berufsangehörigen ist nicht
berücksichtigt. Für Preußen sind nur Angaben für die großen
Berufsgruppen gemacht. Das Bekleidungsgewerbe und die Ange¬
hörigen der Gast- und Schankwirtschaft weisen die höchste Sterb¬
lichkeit an Tuberkulose auf. Für Bayern gewährt die weitgehende
Gliederung sehr instruktive Einblicke. Steinarbeiter, Schreiner
und andere Holzarbeiter sind im außerordentlichen Maße durch die
Staubwirkung von der Tuberkulose betroffen. In Ergänzung dieser
Tabelle muß jedoch erwähnt werden, daß ähnlich wie für England auch
für Preußen und Bayern die höchste Tuberkulosesterblichkeit mit
5,7 Prom. für Preußen und mit 4,3 Prom. für Bayern für die Beruf¬
losen und Angehörigen mit wechselnden Berufen (für Bayern aber nur
Männer) gefunden wurden. Für Preußen sind für die männlichen An¬
gehörigen des künstlerischen Gewerbes mit 6,4 Todesfällen auf 1000
Lebende noch höhere Ziffern gefunden. Ganz außerordentlich hoch
ist die Todeshäufigkeit an Tuberkulose mit 12,7 Proz. für Bayern
für die weiblichen Angehörigen der Gruppe sonstiger Berufe und
Berufslose, Die preußische Statistik gibt auch den Prozent¬
satz der Tuberkulosefälle auf 100 Gestorbene an, wonach ebenfalls
das künstlerische Gewerbe mit 40 Proz. an der Spitze steht, das
Reinigungsgewerbe mit 34 Proz., das polygraphische Gewerbe
mit 33 Proz. folgen. Den niedrigsten Prozentsatz zeigt, abgesehen
von der Land- und Forstwirtschaft, der Bergbau, die chemische
Industrie und das Baugewerbe mit 15 — 18 Proz. Für Bayern sind
auch die einzelnen Staubberufe hinsichtlich der vorherrschenden
Staubart voneinander geschieden und hierbei berechnet, daß die
0 Behla, Krebs und Tuberkulose in beruflicher Beziehung vom Standpunkte
der internationalen vergleichenden Statistik. Medizinalstatistische Nachrichten.
II. Jahrg., 1910, I. Heft, Berlin 1910, S. 114ff.
2) Kölsch, Arbeit und Tuberkulose. Arch. f. Soziale Hygiene, Bd. VI, 4L 1.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen. 231
Tuberkulosesterblichkeit nach Berufen in Preußen und Bayern.
Ton 1000 erwerbstätigen Männern nachstehender Erwerbszweige starben im Jahre
1908 an Tuberkulose:
Erwerbszweig
Preußen
Bayern
Erwerbszweig
Preußen
Bayern
1. Landwirtschaft, Gärt-
10. Holz- u. Schnitzstoffe
2,80
nerei, Tierzucht
1,60
Drechsler
5,19
Gärtner
3,37
Holzarbeiter
10,06
Landwirtsch. Arbeiter
1,82
Kammacher
5,46
Tierzüchter
15,63
Korbmacher
4,60
3. Bergbau, Hütten-,
Schreiner
13,37
Salinenwerke, Torf
1,54
13. Nahrungs- u. Genuß-
Bergleute
4,17
mittel
2,06
Hüttenarbeiter
0,60
Bäcker u. Konditoren
2,80
Torfgräber
0,51
Brauer
3,25
4. Steine und Erden
1,64
Käser u. Schweizer
4,88
Glasarbeiter
3,81
Mälzer
3,56
Hafner
7,21
Metzger
4,07
Kalkbrenner
2,46
Müller
4,69
Porzellanarbeiter
4,06
Tabakarbeiter
3,26
Steinschleifer u. Hauer
26,85
14. Bekleidungsgewerbe
3,05
Zementarbeiter
3,16
Handschuhmacher
3,26
Ziegeleiarbeiter
0,93
Hutmacher
5,79
5. Metallverarbeitung
2,24
Kürschner
4,57
Blechwarenarbeiter
5,29
Sattler
4.10
Ciseleure
7,11
Schneider
4,94
Drahtgewerbe
7,13
Schuhmacher
3,63
Eisengießer
0,95
Tapezierer
3,76
Feilenhauer
5,73
16. Baugewerbe
2,00
Glockengießer
2.91
Bauunternehmer
0,35
Gürtler
1,05
Dachdecker
4,45
Kupferschmiede
3,90
Maurer
10,23
Schlosser
8,03
Tüncher, Maler
7,28
Schmiede
6,09
Zimmerer
5,20
Zinngießer
5,61
17. Polygraphisches Ge-
6. Maschinen, Instrumente
1,48
werbe
2,55
Gasanstaltsarbeiter
3,25
Buchdrucker
4,90
Mechaniker
1,28
Lithographen
3,22
Schuß waffenverfertig.
4,06
20. Handelsgewerbe
2,65
Uhrmacher
3,25
Händler u. Krämer
7,88
W agner
2,80
Hausierer
8,11
7. Chemische Industrie
1,14
Kaufleute u. Reisende
2,97
9. Textilindustrie
1,95
22. Verkehrsgewerbe
1,89
Baumwollspinner
0,96
Bahnbedienstete
2,46
Hechler
1,50
Postbedienstete
2,99
Posamentierer
4,46
Kutscher
5,64
Seiler
2,57
23. Gast- u.Schankwirtsch.
3,01
Stricker
4,06
Gastwirte \
7 45
Weber
1,72
Kellner j
Berufe mit Mineralstaub mit einer durchschnittlichen Sterblichkeit
von 4,6 auf 1000 Lebende die ungünstigsten Verhältnisse zeigen und
dann die Berufe mit vegetabilischem Staub mit 4,3, mit gemischtem
Staub mit 4, mit Metallstaub mit 3,7 folgen, während die staub-
\
232 J. Kanp,
freien Berufe nur eine Tuberkulosemortalität von 2,1 auf 1000
aufweisen.
Überblickt man diese Ergebnisse, so ergibt sich als feststehende
' Tatsache, daß, abgesehen von allen Einflüssen der Lebenshaltung,
der Wohnung und anderer Faktoren für viele Berufe die Tuber¬
kulosesterblichkeit auf Grund der in der Berufstätigkeit liegenden
Gefahr noch abnorm hoch ist, denn anders können die großen Unter¬
schiede bei sozial annähernd gleich gestellten Berufen nicht erklärt
werden.
Die deutschen Statistiken sind erst in den letzten Jahren ent¬
standen, so daß ein Nachweis, ob sich zahlenmäßig für einzelne
Berufe eine Zu- oder Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit ergibt,
nicht zu erbringen ist. Es kann jedoch angenommen werden,
daß die für einzelne Gewerbe vorhandenen Staubverhütungs Vor¬
schriften, die rastlose Tätigkeit der Gewerbeinspektoren nach dieser
Richtung und die vorbeugende Behandlung der Initialfälle an
Lungentuberkulose in den Heilanstalten der Versicherungsanstalten
eine gute Wirkung entfaltet haben. Ob für Deutschland die noch
mangelhafte Isolierung von Bazillenträgern, die vielfach noch ihrem
Berufe nachgehen können, eine besondere Rolle für die Verbreitung
der Tuberkulose an der Arbeitsstätte spielt, ist eine offene Frage.
Eine bestimmte Gefahr liegt trotz des Spuckverbotes gewiß noch vor.
Die englische Statistik hingegen gestattet den strikten Be¬
weis, daß für eine Reihe von Berufen innerhalb der Jahre 1890 — 92
und 1900 — 02 die Tuberkulosesterblichkeit zurückgegangen ist. Hier
ist die Statistik ein Fingerzeig, für welche Berufe besondere Ge¬
fahren vorliegen, bzw. in welchen Berufen mit besonderem Eifer
eine Verminderung der Tuberkulososterblichkeit angestrebt werden
muß. Für Deutschland wird, abgesehen von allen gewerbe¬
hygienischen Bestrebungen, die Erweiterung der Versicherungs¬
pflicht auf die Personen mit wechselnder Lohnarbeit, auf die Per¬
sonen in häuslichen Diensten und in der Heimarbeit von guter
Wirkung sein. Andererseits ist jedoch die Staubgefahr in vielen
Betriebsgruppen noch so groß, daß nur durch besondere den Be¬
triebsprozessen angepaßte Vorschriften eine wesentliche Besserung
erzielt werden könnte.
Mit dieser flüchtigen Besprechung der Betriebsgruppen, die
gewerbliche Gifte erzeugen oder verwenden, wobei die Gefahren
durch Quecksilber, Zink, Arsen, Mangan, Chrom, Chlor u. a. , ferner
durch Milzbrand gar nicht berührt werden konnten, und der Staub¬
berufe sind die Möglichkeiten gewerblicher Erkrankungen nicht
Der Einfluß der Gesetzgebung- auf gewerbliche Erkrankungen.
233
erschöpft. Die großen Betriebsgruppen des Bergbaus, der Eisen¬
großindustrie mit ihren besonderen Gefahren für die Arbeiter
müssen unerwähnt bleiben.
In der letzten Zeit sind zwei weitere bedeutungsvolle Fragen in
den Vordergrund des Interesses gerückt. 1. Sind durch die Art und
den Umfang beruflicher Betätigung jugendlicher noch im Ent¬
wicklungsalter stehenden Personen (14 — 18 Jahre) Schädigungen
von Leben und Gesundheit eingetreten und 2. Ist durch die so
stark zunehmende außerhäusliche Frauenarbeit eine Gefährdung
der generativen Kraft der Frauen und damit eine Verschlechterung
des Nachwuchses zu erwarten?
Die erste Frage suchte ich in einer kleinen Schrift für die
Gesellschaft für Soziale Reform1) zu beantworten. Einige Tatsachen
seien nur hervorgehoben:
Das Gleichbleiben der Sterbeziffern für die männlichen Jugend¬
lichen der Altersklasse vom 15. — 20. Lebensjahre in den preußischen
Städten innerhalb der Jahre 1900 — 1901 und 1905 — 06 mit 4,3 Prom.,
in den Großstädten sogar eine Zunahme von 4,0 auf 4,3 Prom.,
während in den 90er Jahren ein starker Rückgang wahrzunehmen war.
Ebenso ist bei den weiblichen Jugendlichen nur ein verschwinden¬
der Rückgang eingetreten. Das Stationärbleiben der Todesquoten
an Tuberkulose für die männlichen Jugendlichen seit dem Ende
der 90er Jahre, während bei den weiblichen Jugendlichen seit
diesen Jahren sogar eine Erhöhung der Todesziffern eingetreten
ist, die noch für die Altersgruppe vom 20. — 25. Lebensjahr
anhält. Eine höhere Erkrankungshäufigkeit und auch eine
größere Zahl von Krankheitstagen für die männlichen Jugendlichen
gegenüber den folgenden Altersklassen in vielen Berufen, wie
Metallarbeiten, polygraphisches Gewerbe, Textilindustrie nach der
Leipziger Statistik und nach der bekannten Frankfurter wie auch der
österreichischen Statistik, und last not least die abnehmende Taug¬
lichkeit der gestellungspflichtigen jungen Männer vorwiegend in
den Städten ; so der hauptsächlich gewerblich tätigen stadtgeborenen
jungen Männer von 53,8 auf 49,7 Proz. (4,1 Proz.) innerhalb der Jahre
1902 — 03 und 1907 — 08, der landgeborenen, jedoch in den Städten
berufstätigen Jünglinge von 59,7 auf 57,2 Proz. (2,5 Proz.) Hin¬
sichtlich der 2. Frage, die durch den Hinweis der zunehmenden
Tuberkulosesterblichkeit der Mädchen bereits gestreift wurde, sei
nur hervorgehoben, daß in allen Berufen, in denen beide Ge-
J) Heft 3 des IV. Bandes: „Schädigungen von Lehen und Gesundheit der
Jugendlichen“. Jena 1911, G. Fischer.
234
J. Kaup,
schlechter annähernd gleiche Arbeit verrichten, z. B. Textilindustrie,
Bekleidungs- und Handelsgewerbe die einzelnen Altersgruppen der
Frauen eine höhere Erkrankungshäufigkeit und Zahl der Krank¬
heitstage aufweisen als die gleichaltrigen Männer. Diese Er¬
scheinung ist namentlich für die jugendlichen Arbeiterinnen bei
Ausschaltung von Einflüssen der Mutterschaft eindeutig. Der
weibliche Organismus ist den bestehenden Anforderungen der Be¬
rufstätigkeit nicht voll gewachsen. Die daran zu knüpfenden
Schlußfolgerungen, werden noch die Gesetzgebung und die Öffent¬
lichkeit viel beschäftigen.
Die offenkundig vorhandene Überanstrengung und Gefährdung
der Jugendlichen beiderlei Geschlechts in vielen Berufen durch
Art und Umfang der Arbeit und auch anderer ungünstiger Lebens¬
bedingungen hat jedoch anläßlich der Ausarbeitung der vorerwähnten
Schrift zu einer Reihe von sozialhygienischen Vorschlägen angeregt,
von denen ich nur folgende hervorhebe: Vollständige Fernhaltung
aller Jugendlichen bis zu 18 Jahren von allen gesundheitsgefähr¬
lichen Betrieben im Sinne der Gewerbeordnungsnovelle von 1891.
Bisher nur einzelne Arbeitsverbote. Hier heißt es hinsichtlich der
Jugendlichen ausdrücklich, daß Arbeiter unter 18 Jahren gegen
die Gefahren geschützt werden sollen, die ihnen in Hinsicht auf
ihr jugendliches Alter und den in der Entwicklung begriffenen
Organismus bei der gewerblichen Arbeit sowohl in Gestalt von
Unfällen als durch allmählich wirkende Beeinträchtigung der Ge¬
sundheit drohen. Einführung eines regelmäßigen ärztlichen Be-
lehrungs- und Untersuchungsdienstes fiir alle erwerbstätigen
Jugendlichen. x)
Das Ergebnis unserer Betrachtungen kann etwa
folgendermaßen zusammengefaßt werden:
Die Ar beit er Schutzgesetzgebung insonderheit
die besonderen Vorschriften für bestimm teBetriebs-
gruppen haben in Deutschland ebenso wie in England
die Gesundheitsgefährdung der Arbeiter in den in
Frage stehenden Betriebsgruppen zum Teile nicht un¬
bedeutend vermindert: Über die Erfolge sind jedoch
nur selten einwandfreie Anhaltspunkte zu finden.
Folgende Tatsachen zwingen im Interesse einer
rationellen Volksökonomie zu einer vollständigeren
b Eine eingehende Begründung dieser und anderer Vorschläge ist zu finden
in der Schrift „Sozialhygienische Vorschläge zur Ertüchtigung unserer Jugend¬
lichen“. C. Heymanns Verlag, Berlin 1911.
Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.
235
Durchführung der einzelnen Forderungen der Gewerbe¬
ordnungsno veile und zu einem weiteren Ausbau der
Ar beiter Schutzgesetzgebung:
1. Hinsichtlich gewerblicher Vergiftungen: Die noch immer
hohe Zahl von Bleivergiftungen in vielen Betriebsgruppen nament¬
lich in Bleiweißfabriken, bei Malern und Zinkhüttenarbeitern, die
Verminderung der Vergiftungen unmittelbar nach der Herausgabe
einer Verordnung und später die abermalige Zunahme trotz kost¬
spieliger technisch-hygienischer Einrichtungen, im Zusammenhänge
hiermit auch eine Zunahme des Erkrankungsprozents und der
Morbiditätsziffer, in vielen chemischen Betrieben mit Giftstoffen bei
noch immer abnorm hohen Erkrankungsziffern.
Diese Tatsachen lassen folgende Vorschläge notwendig er¬
scheinen: Im Sinne der Eingaben der internationalen Vereinigung
für gesetzlichen Arbeiterschutz:
a) Anzeigepflicht gewerblicher Vergiftungen seitens der be¬
handelnden Ärzte und Krankenanstalten an die Amtsärzte der zu¬
ständigen sanitären Aufsichtsbehörden, bzw. an die besonderen
Gewerbeärzte1), Verständigung der Gewerbeinspektoren durch die¬
selben behufs gemeinsamen Vorgehens;
b) Regelmäßige ärztliche Belehrung und Untersuchung aller
mit Giftstoffen in Berührung kommenden Arbeiter durch unab¬
hängige Kassenärzte, wenn irgend möglich durch Gewerbeärzte
oder Kreisärzte (Bezirksärzte);
c) Gleichstellung spezifischer Gewerbekrankheiten mit Unfällen;
d) Verbesserung bestehender und Herausgabe neuer Spezial¬
vorschriften für einzelne Betriebsgruppen durch Bundesrat und
Landeszentralbehörden.
2. Hinsichtlich der besonderen Gesundheitsgefährdung im Berg¬
bau, in Eisenhütten, Walz- und Hammerwerken, wie in Staubbetrieben
überhaupt :
a) Weiterer Ausbau und strenge Benutzungskontrolle der
technisch-hygienischen Einrichtungen behufs Verminderung der
Unfall- und Staubgefahr;
b) Regelmäßige technische und ärztliche Belehrung der Arbeiter
über die Gefahren des Berufs;
c) Herausgabe von Spezialvorschriften für besonders gesund¬
heitsgefährliche Betriebsgruppen.
3. Hinsichtlich der offenkundigen Überanstrengung und Ge-
b Vgl. F. Kölsch: „Entwicklung, Wege und Ziele des gewerbeärztlichen
Dienstes.“ Archiv für Soziale Hygiene Bd. VII, H. 1, Nr. 1911.
236 J- Kaup, Der Einfluß der Gesetzgebung auf gewerbliche Erkrankungen.
fährdung jugendlicher Arbeiter beiderlei Geschlechts (und auch
der erwachsenen Frauen).
Durchführung der in den vorerwähnten Jugendlichen-Schriften
vorgeschlagenen Maßnahmen.
4. Behufs richtiger Beurteilung aller Gewerbekrankheiten und
der Erfolge ihrer Bekämpfung:
a) Schaffung einer verläßlichen Mortalitätsstatistik nach Be¬
rufen, Altersklassen und Geschlecht auf Grund der Totenscheine und
Ergebnisse der Berufszählungen durch die statistischen Landesämter;
b) Gewinnung einer guten Morbiditätsstatik nach Berufen,
Altersklassen und Geschlecht auf Grund eines Berufs-Morbiditäts¬
schemas durch die Krankenkassen und Sammlung dieser Materialien
an Zentralstellen ;
c) Einführung eines geregelten ärztlichen Dienstes für alle
gesundheitsgefährlichen Betriebe und gefährdeten Berufe auf Grund
einer Erweiterung der Dienstinstruktion der Kreis-, bzw. Bezirks¬
ärzte, Bestellung besonderer Gewerbeärzte in Industriezentren und
bei den Zentralbehörden;
d) Fallweise Einsetzung von Kommissionen zum Studium
aktueller Fragen der Arbeitergesundheit.
Die Kosten für die Ausführung dieser Vorschläge sind begründet
durch die wirtschaftlichen Vorteile einer besseren Menschenökonomie:
Die ökonomisch-produktive Kraft der einzelnen Individuen ist
im Interesse des Staates und der Familien zu erhöhen: durch
Schonung des Menschenmaterials in der letzten Phase des Ent¬
wicklungsalters bei guter Ausbildung, Belehrung und körperlicher
Ertüchtigung, durch kräftige Ausnützung der Leistungsfähigkeit
erwachsener Personen bei Abwehr aller vermeidbaren beruflichen
Gesundheitsgefahren und Beschneidung rentenhysterischer An¬
wandlungen. Die steigenden Ausgaben an Kranken- und Unfall¬
kosten für das Einzelindividuum, die zunehmenden Jahresraten des
Heeres der Invalidenrentner, die bei zunehmender Rentenbezugs¬
dauer ein höheres ökonomisch-produktives Lebensalter Vortäuschen,
die geringe und abnehmende Militärtauglichkeit der erwerbstätigen
Stadtjugend können nur durch derartige Maßnahmen vermindert
werden. Auch können nur dadurch die Renten für die Hinterbliebenen
nach vorzeitigem Tode der Ernährer, die Ausgaben der Städte für
verwaiste und arbeitsunfähige Personen und vor allem die in der
Arbeiterversicherung zusammengetragenen ungeheuren Aufwen¬
dungen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie des Staates auf
ein erträgliches Maß gebracht werden.
Die Internationale Hygieneausstellnng Dresden 1911
und die in sozialhygienischer Hinsicht bemerkens¬
werten statistischen Darstellungen auf derselben.
Von Dr. med. G. Radestock,
Wissenschaftlichem Hilfsarbeiter im K. S. Statistischen Landesamt zu Dresden.
Außer vielen zur Belehrung über den Bau, die Verrichtungen
und die Pflege des menschlichen Körpers bestimmten Gegenständen,
welche in der populären Halle „Der Mensch“ etwra 4x/2 Millionen
Besuchern, darunter zahlreichen vom Staate wie von Arbeitgebern
oder Privatleuten mit Freikarten bedachten Arbeitern vorgeführt
wurden, beleuchtete die glänzend verlaufene Ausstellung mit Hilfe
eines großen Teils der insgesamt etwa 4000 graphischen Darstel¬
lungen wichtige Fragen aus dem Gebiete der sozialen Hygiene und
Arbeiterfürsorge. Manche dieser statistischen Darstellungen waren
weniger für das große Publikum als für den Fachmann bestimmt,
z. B. die ziemlich verwickelten Diagramme über Vererbungsfragen,
die meisten zeichneten sich aber durch große Übersichtlichkeit und
Verständlichkeit aus. Beispielsweise befand sich in Halle 53 (Beruf
und Arbeit) eine sehr klare graphische Darstellung in Gestalt
mehrerer Kurven. Letztere zeigten, daß im Jahre 1910 die Gesamt¬
sterblichkeit der Schleifer (und Instrumentenmacher) in Shef¬
field 30,4 gegenüber 9,3 Promille in Solingen betrug und daß
an Tuberkulose von den Sheffielder Schleifern 15,4, von den
Solinger nur 4,4 Promille starben. Noch im Jahre 1884 hatte, wie
die bis dahin zurückreichende Kurve zeigte, auch die Sterblichkeits¬
ziffer der Solinger Schleifer eine Höhe von 20,6 Promille, von da
ab — nach Einführung der Arbeiterversicherung — ist sie rasch
auf die jetzige Ziffer (9,3 Promille) gesunken. Eine weitere Kurve
zeigte, daß die Gesamtbevölkerung der Stadt Solingen 1884 eine
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 16
238
G. Radestock,
Tuberkulosesterblichkeit von 54 Promille, 1910 eine solche von
18 Promille hatte. Bei aller Einfachheit und Knappheit der Dar-
stellungsweise drangen diese leicht verständlichen Kurven, denen
übrigens noch erläuternde Zahlenübersichten beigegeben waren,
tief in die Grundlagen der Erscheinungen ein und beleuchteten
die Wirkung der Arbeiterversicherung klarer und treff¬
licher als manche weitschweifigere graphische Darstellung in der
Gruppe Arbeiterversicherung (Halle 10). -
In der wissenschaftlichen Abteilung waren zur Gruppe Tuber¬
kulose äußerst lehrreiche Gegenstände zu finden, einmal Wachs¬
nachbildungen menschlicher Körperteile, an denen gezeigt wurde,
welche gewaltigen Fortschritte man in der Diagnose dieser Krank¬
heit gemacht hat insofern, als heute das Bestreichen der Haut mit
Tuberkulinsalbe oder das leichte Einimpfen von Tuberkulin genügt,
um das Vorhandensein von tuberkulöser Erkrankung des mensch¬
lichen Körpers mit Sicherheit festzustellen oder auszuschließen;
daneben waren graphische Darstellungen in Kurvenform, welche
anschaulich nachwiesen, daß die Tuberkulosesterblichkeit nicht nur
in den deutschen Großstädten, sondern auch in allen zivilisierten
europäischen Staaten von Jahr zu Jahr geringer wird und gegen¬
wärtig bereits auf einem verhältnismäßig niedrigen Stande ange¬
langt ist. Zweifellos dürfen sowohl die staatliche wie die städtische,
als auch die private Hygiene, namentlich die Vereine für Tuber¬
kulosebekämpfung ihr Verdienst um den Rückgang der Tuberkulose¬
sterblichkeit mit Recht geltend machen und darin einen Ansporn
zu weiterer segensreicher Tätigkeit erblicken, indes im Lichte
nüchterner statistischer Auffassung kann man doch die Erschei¬
nung, daß die Tuberkulosesterblichkeit beispielsweise im König¬
reich Sachsen eine geringere als im Großherzogtum Baden ist, von
einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten. Hält man nämlich
neben die Kurve der Tuberkulosesterblichkeit die Kurve der Säug¬
lingssterblichkeit in den verschiedenen Bundesstaaten, so erkennt
man, daß die Säuglingssterblichkeit in Sachsen erheblich
größer als in Baden ist. Dies dürfte den Schluß nahelegen, daß
die Tuberkulosesterblichkeit im Königreich Sachsen deshalb eine
geringere als in Baden ist, weil in Sachsen viele infolge Abstam¬
mung, Lebenshaltung und Umgebung für Tuberkulose empfängliche
Kinder bereits im ersten Lebensjahre an angeborener Lebens¬
schwäche, Atrophie, Krämpfen, Magen- und Darmkatarrh oder
sonstigen Todesursachen absterben, bevor sie mit Tuberkulose an¬
gesteckt sind.
Die Internationale Hygieneausstellung' Dresden 1911 usw. 239
übrigens gaben zahlreiche Kurven über Säuglingssterblichkeit
in Stadt und Land beachtenswerte Anhaltepunkte für die Reform¬
bedürftigkeit der Säuglingsfürsorge im allgemeinen und der länd¬
lichen insbesondere. Im Anschluß hieran sei erwähnt, daß der Rat
der Stadt Leipzig sehr eingehende graphische Darstellungen zur
Milchversorgung der Stadt Leipzig ausgestellt hatte. Sie zeigten
nicht nur den gewaltigen Umfang der Milchzufuhr auf den Land¬
straßen sowie mittels der Eisenbahn, sondern auch auf einer großen
Karte der weiteren Umgebung Leipzigs einschließlich Sachsen-
Altenburg und der Grenzgebiete Preußens sämtliche Produktions¬
orte der am 28. September 1910 nach Leipzig eingeführten Milch
und die von den Produktionsorten gelieferten Milchmengen. Diese
Karte zeigte recht anschaulich, wie weit der milchentziehende
Einfluß einer Großstadt auf das Land hinaus, ja in benach¬
barte Staaten hinein sich erstreckt und zwar wohl zum Nachteil
der Dorfkinder, zumal der Ziehkinder auf dem Lande. Wie große
Erfolge durch eine gute Ziehkinderkontrolle erreichbar sind,
zeigte eine von Privatdozent Dr. S c h e 1 b 1 e in Halle 56 (Nahrungs¬
und Genußmittel) ausgestellte graphische Darstellung. Eine blaue
Kurve veranschaulichte die prozentuale Sterblichkeit der ehelichen
Säuglinge, eine rote die der (kontrollierten) unehelichen Ziehkinder
in der Stadt Freiburg i. B. während der Jahre 1901 bis 1910. Es
mußte jedem Beobachter in die Augen fällen, daß die rote Kurve
im Vergleich mit der blauen viel steiler abfiel, was einzig und
allein auf die Erfolge der Ziehkinderkontrolle zurückzuführen ist.
• •
Überhaupt ist die Säuglingssterblichkeit statistisch mit großer
Sorgfalt behandelt worden. Ein vom Kgl. Sächs. Statistischen
Landesamt ausgestelltes Kartogramm (in Halle 7) zeigte die Säug¬
lingssterblichkeit in Sachsen während der Jahre 1901 bis 1905 für
die einzelnen (1205) Standesamtsbezirke in achtfacher
gradueller Abtönung. Diese Originalkarte, deren graphische Her¬
stellung allein 300 M. Kosten verursacht hatte, dürfte sehr lehrreich
für die staatlichen und städtischen Verwaltungsbehörden gewesen
und als Vorbild künftiger Darstellungen über Säuglingssterblichkeit
zu betrachten sein. Auch würde dieses Kartogramm, der oben¬
erwähnten Milchversorgung Leipzigs nach milchliefernden Ort¬
schaften gegenübergestellt, Handhaben für eine Erörterung liefern,
inwieweit der milchentziehende Einfluß der Großstadt auf die Säug¬
lingssterblichkeit der Dörfer einwirkt.
Eine nicht minder eingehende graphische Darstellung in der¬
selben Halle hatte die Tuberkulosesterblichkeit im Staate Baden
16*
240
G. Radestock
nach Gemeinden zum Gegenstand. Gleich daneben befand sich
eine für den Fachmann wie für den Laien gleich interessante, im
Statistischen Bureau der Hygieneausstellung (Dr. E. Rösle) her¬
gestellte Tafel, welche die mit der Höhenlage abnehmende Tuber¬
kulosesterblichkeit für Sachsen auf die Jahre 1904 bis 1907 nach¬
wies. Sie zeigte für 41 sächsische , Städte, beginnend mit Riesa,
endigend mit Falkenstein, die mit zunehmender Höhenlage
abnehmende Sterbeziffer an Tuberkulose auf je 10000
Einwohner mittels vertikaler linearer Säulen, unter letzteren —
der Reihenfolge der 41 Städte entsprechend — ein von der Tief¬
ebene bei Riesa bis zum Gebirgskamm bei Falkenstein ansteigendes
ideales Landschaftsbild, in welches auch etwaige Bewaldung hinein¬
gezeichnet war. Dieser Beitrag zur Tuberkulosestatistik war recht
geeignet, die vielfach verbreitete irrige Annahme zu widerlegen,
daß die ärmliche Bevölkerung des sächsischen Erz- und Elster¬
gebirges infolge kärglicher Ernährungsweise weniger widerstands¬
fähig gegen Krankheiten, besonders Tuberkulose, sei.
Sehr eingehend wurde auch in zahlreichen, zum Teil plastischen
Diagrammen die berufliche Zusammensetzung der Bevölkerung in
den einzelnen Großstädten sowie verschiedenen Bundesstaaten be¬
treffs der Berufszugehörigkeit nach den Berufszählungsjahren 1882,
1885 und 1907 in Verbindung mit der zeitlichen Entwicklung der
Geburtenhäufigkeit sowie der Säuglings- und Tuberkulosesterblich¬
keit behandelt. Eine vom Statistischen Bureau der Ausstellung
ausgeführte demographische Darstellung, welche die Sterblichkeit
in den einzelnen deutschen Großstädten nach 5jährigen Alters¬
klassen, getrennt nach Geschlecht einerseits und nach den Zeit¬
perioden 1885/86 und 1905/06 andererseits behandelte, bestand für
jede einzelne Großstadt aus je vier aus Pappe ausgeschnittenen
pyramidenförmigen, hintereinander aufgestellten Diagrammen, die
eine rasche Orientierung darüber gewährten, wie die Sterblichkeit
sowohl in den Geschlechtern, als in den Altersklassen der ver¬
schiedenen großstädtischen Bevölkerungen abgenommen hat. Eine
weitere, die Bevölkerungsbewegung in den Städten Chemnitz,
Dresden, Leipzig behandelnde Tafel verfolgte die Eheschließungen,
Geburten und Sterbefälle bis in das 17. Jahrhundert zurück. Hierzu
seien einige Zahlenangaben gebracht. Auf 1000 verheiratete Frauen
zwischen 15 und 50 Jahren entfielen:
im Deutschen Reiche
in Sachsen
1876—85
1886—95
268
258
293
286
Die Internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 usw.
241
eheliche Kinder derselben.
Demgegenüber
betrug die allgemeine
Sterblichkeitsziffer :
im Deutschen Reiche
in Sachsen
Prom.
Prom.
1871—80
27,2
30,9
1881—90
25,1
29,6
1891—00
22,2
25,3
1901—04
19,6
21,1
also ein Rückgang der Sterblichkeit, der einerseits auf die
Fortschritte der Medizin, andererseits auf die Verbesserung der
Wohnung, Ernährung und Körperpflege zurückzuführen ist. Da¬
gegen ist die Säuglingssterblichkeit keineswegs stetig gesunken,
denn von 1000 Lebendgeborenen starben im ersten Lebensjahre in :
Preußen
Sachsen
1871—75
224
268
1876-80
205
278
1881—85
209
282
1886—90
208
282
1891—95
205
280
1896—00
201
265
1901—04
188
243
Ferner kamen auf
1000 Köpfe der mittleren
Bevölkerung Ehe-
Schließungen in :
Deutschland
Sachsen
1861—70
8,5
8,9
1871-80
8,6
9,4
1881-90
7,8
9,1
1891-00
8,2
9J
1901-04
8,0
8,3
Dabei waren von 1000 Heiratenden in Sachsen:
1876-80
, ( m. 851,5
led‘g 1 w. 908,4
verwitwet j w 79;0
Der Anteil der Ledigen unter den Eheschließenden ist dem¬
nach stark gewachsen und von 100 männlichen Personen heirateten
im Alter von Jahren :
20—25
25—30
1881—85
38,3
35,9
1886—90
39,0
36,7
1891—95
38,6
37,6
1896-00
42,9
35,8
1901—04
40,5
37,9
1901—04
880,7
925,2
102,4
56,4
242
G. Kadestock,
Weitere demographische Diagramme zeigten, daß Sachsen vom
Jahre 1871 bis zum Jahre 1905 eine Bevölkerungszunahme von
1 952 357 Köpfen erfahren hat, wovon der Geburtengewinn — d. i.
nach Abzug der Sterblichkeit — mit 1 711 492 Köpfen, also mit
87,7 Proz. der Bevölkerungszuuahme beteiligt ist, während der
Rest von 240 865 Personen, also 12,3 Proz. als Wanderungs¬
gewinn zu betrachten ist, auf den das industrielle Sachsen stark
angewiesen ist, obwohl seine überseeische Auswandererzahl als
unbeträchtlich angesehen werden kann.
Durch das in allen zivilisierten Staaten nachweisbare starke
Sinken der Sterbeziffer wurden die Erfolge auf dem Gebiet der
Seuchenbekämpfung trefflich beleuchtet. Das Kaiserliche
Gesundheitsamt hatte treffliche Darstellungen, insbesondere zur
Diphtherie- und Typhusbekämpfung, gestellt, im Hinblick auf letztere
ein großes Kartogramm über die Trinkwasserversorgung in
den deutschen Städten ausgestellt. In der Halle 54 (Ansiedelung
und Wohnung) brachte die Großherzoglich Badische Oberdirektion
für Wasser- und Straßenbau einige sehr eingehende graphische
Darstellungen über die Entwicklung der Wasserversorgung des
Staates Baden mit Rohrleitungswasser in den Jahren 1878 — 1910.
Lineare farbige Säulen zeigten a) die Zahl der mit Wasser aus
staatlichen Leitungen versorgten Einwohner, b) die Länge der bis
1910 angelegten öffentlichen Leitungen, c) den Kostenaufwand hier¬
für in Millionen Mark. Danach waren im Jahre 1910 unter Mit¬
wirkung der technischen Staatsbehörden 825 000 Einwohner Badens
mit Trinkwasser aus Leitungen von insgesamt 4200 km Länge ver¬
sorgt, deren Anlage 43 Mill. M. Kosten verursacht hatten. Eine
weitere Tafel zeigte, daß ohne Mitwirkung der technischen Staats¬
behörden die Wasserleitungen für die zehn größeren Städte, d. i.
für 520 000 Bewohner gebaut wurden, so daß am Schlüsse des
Jahres 1910 1 350 000 oder 67 Proz. der badischen Gesamtbevölke¬
rung mit Trinkwasser aus Leitungen versorgt waren, indes mit
erheblichen Unterschieden zwischen den verschiedenen 11 Kreisen ;
beispielsweise waren im Kreise Konstanz 83, im Kreise Offenburg
nur 33 Proz. der Einwohner mit Leitungswasser versehen.
Ebenso reichhaltig wie die Frage von der Trinkwasser¬
versorgung wurde das Kapitel Alkoholismus statistisch behandelt,
leider nicht immer mit einwandfreien Unterlagen, mitunter auch
von unzuständigen Autoren. Bemerkenswert waren indes: 1. Eine
vom sächsischen Landesverband der Enthaltsamkeitsvereine zu¬
sammengestellte Übersicht, aus der hervorging, daß 89 Proz. der
Die Internationale Hygieneausstellnng Dresden 1911 nsw.
243
geretteten sächsischen Trinker und 80 Proz. der geretteten
Trinkerinnen der Arbeiterversicherung angehören. 2. Eine Zu¬
sammenstellung der Leipziger Ortskrankenkasse über den Zusammen¬
hang zwischen Alkohol, Krankheit, Sterblichkeit und Unfällen, nach
Untergruppen bzw. Krankheitsformen und Arten der Verunglückung
berechnet auf 1000 Personen a) der Allgemeinheit, b) der Trinker.
3. Krankheits- und Sterbeziffern der (ärztlich ermittelten) Trinker
in der Leipziger Ortskrankenkasse nach Altersklassen. Besser und
nachhaltiger als alle graphischen Darstellungen dieser Art wirkte
aber auf die große Menge der Besucher das plastische Kunstwerk
eines französischen Bildhauers ein, La Paye (der Zahltag), welches
darstellt, wie ein gut gekleideter jüngerer Arbeiter in der Gosse
neben der zerbrochenen großen Schnapsflasche liegend von seiner
abgehärmten Frau und seinen beiden Kindern sinnlos betrunken
aufgefunden wird.
In engem Zusammenhang mit dem Alkoholismus wurden die
Vererbungsfragen behandelt, leider in einer für die meisten
Laien kaum verständlichen Darstellungsweise. Wenn beispielsweise
der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, Geheimrat Schüle,
und dessen Assistent F. Römer auf 21 umfangreichen und etwa
20 qm Wandfläche einnehmenden Tafeln die entartende Wirkung
des Alkohols und daneben zugleich den die Nachkommenschaft
schädigenden Einfluß der Inzucht, d. i. des Heiratens unter Bluts¬
verwandten, an 12 Stammbäumen von Familien aus zwei badischen
Wein- und Schnapsbrennereiorten nachzuweisen suchten, so war dies
methodologisch und rassenbiologisch zweifellos sehr interessant,
aber zu unübersichtlich und für den Laien fast unverständlich,
abgesehen davon, daß gleichzeitig zwei rassenschädigende Momente,
Alkohol und Inzucht zur Untersuchung gelangten, so daß eine klare
Trennung beider Faktoren unmöglich war. Eine kurze tabellarische
Übersicht über die Endergebnisse der mühsamen Untersuchung
wäre für die Mehrzahl der Ausstellungsbesucher vielleicht zweck¬
mäßiger gewesen.
Es erübrigt noch auf diejenigen Ausstellungsgegenstände, ins¬
besondere statistischen Darstellungen einzugehen, welche, abgesehen
von einigen schon oben erwähnten, sich eingehender mit sächsi¬
schen Verhältnissen auf dem Gebiete der sozialen Hygiene
und verwandten Gegenständen beschäftigen. Bei der hohen in¬
dustriellen Entwicklung Sachsens ist es nicht überraschend, daß
mehr als 300 graphische Darstellungen in der Hygieneausstellung
sich allein auf Sachsen oder die sächsischen Städte bezogen, wo-
244
G. Radestock,
durch zweifellos auch der sozialen Hygiene einige Förderung zu¬
teil geworden ist. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die gra¬
phischen Darstellungen zur Wohnungsfrage u. a. trefflich erläutert
wurden durch Musterbauten von richtigen Arbeiterhäusern in Holz
und Stein, die mit gefälligem und praktischem Mobiliar bis aufs
kleinste ausgestattet, gewiß nicht nur den die Ausstellung be¬
suchenden Arbeitern, als auch Architekten, Fabrikanten, Bauver¬
einigungen und Behörden eine Fülle von Anregungen boten. Be¬
merkenswert war eine vom K. S. Statistischen Landesamt darge¬
botene Darstellung über Berufsverteilung und Wohnungs Ver¬
hältnisse der Bevölkerung in 30 sächsischen Städten (mit
Unterscheidung der Wohnungen mit 1, 2, 3, 4 und mehr heizbaren
Zimmern), ergänzt durch 3 weitere Diagramme: a) Die Säuglings¬
sterblichkeit in Beziehung zur Verteilung der Bevölkerung auf die
Wohnungen mit nicht mehr als 2 heizbaren Zimmern einerseits
und zu ihrer Zugehörigkeit zur Industrie andererseits in 30
sächsischen Städten, b) die übervölkerten Schlafräume in Beziehung
zur Wohndichtigkeit in 27 sächsischen Städten auf Grund der
Wohnungserhebung vom 1. Dezember 1905, c) die Gäufigkeit der
Abortanlagen in 27 sächsischen Städten, dargestellt in 27 liegenden
linearen Säulen, welche zeigten, wieviele unter 100 Wohnungen
eigene Aborte hatten und wieviele den Abort mit den Insassen
anderer Wohnungen teilen mußten. Daran reihte sich eine Kur¬
vendarstellung über die Art der Erkrankung der in die sächsischen
allgemeinen öffentlichen Krankenhäuser 1891 — 1908 aufgenomme¬
nen Personen, sehr anschaulich die mit der Bevölkerungszunahme
einhergehende Vermehrung der Betten erläuternd, auch ein Diagramm
über die Ausdehnung und Leistungen der Krankenversicherung in
Sachsen, Kurven zum Vergleich der absoluten und relativen Zahl
der Mitglieder mit der Gesamtbevölkerung jedes Geschlechts, so¬
wie der auf ein Mitglied kommenden Beiträge und Ausgaben.
Übrigens war auch das Ergebnis der in dieser Zeitschrift,
Jahrgang 1910, Seite 450 veröffentlichten Arbeit über die Ab¬
hängigkeit der plötzlichen Todesfälle an Altersschwäche oder an
Herzschlag bzw. Gehirnschlag von Luftdruckschwankungen unter
den vom sächsischen Statistischen Landesamt ausgestellten Dar¬
stellungen als sehr anschaulich wirkendes Kreisdiagramm vorhanden.
Betreffs der Gewerbeaufsicht war besonders bemerkens¬
wert die vom K. Sächs. Ministerium des Innern ausgestellte Dar¬
stellung der in Sachsen beaufsichtigten gewerblichen Betriebe, eine
Tafel von 120X100 cm, mit verschiedenen Kurven, nicht nur über
Die Internationale Hygieneausstellung’ Dresden 1911 usw.
245
die Zahl der revidierten Betriebe, sondern auch über die Zahl der
in ihnen beschäftigten Arbeiter im Vergleich mit der Gesamtbe-
völkerung, über Geschlecht, Alterszusammensetzung der Arbeiter und
deren Verteilung auf die verschiedenen Berufsgruppen. Obwohl
diese Darstellung auch für den Laien verständlich erscheinen
mußte, war ihr fürsorglicherweise noch eine gedruckte 20spaltige
Tabelle beigegeben, welche außer den durch ihre Höhe bemerkens¬
werten absoluten Zahlen nicht weniger als 6 Spalten Verhältnis¬
zitfern für etwaige in Verhältnisberechnungen ungeübte Leser
enthielt. In materieller Beziehung waren auf sozialhygienischem
Gebiete besonders lobenswert: Eine graphische Darstellung über
den günstigen Einfluß der rechtzeitigen Arbeitsunter¬
brechung auf Geburt und Wochenbett nach Berechnungen
der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung (Vergleichung
der prozentualen Häufigkeit von Fehlgeburt, Frühgeburt, Eklampsie
und sonstigen Zufällen in der Schwangerschaft, Todesfälle bei
und nach der Entbindung bei ruhenden und weiterarbeitenden
Schwangeren bzw. Entbundenen), ferner ein Diagramm über die
größere Säuglingssterblichkeit in den Industriebezirken Sachsens,
vorwiegend industrielle Amtshauptmannschaften (z. B. Chemnitz,
Glauchau, Ölsnitz, Zwickau) und Industrieorte in Vergleich stellend
zu vorwiegend landwirtschaftlichen Bezirken (Amtshauptmann¬
schaften Bautzen, Kamenz usw.), berechnet auf die Jahre 1891 — 1900,
weiter eine Tafel über die Unfallhäufigkeit bei verschiedenen
Berufsgenossenschaften im Jahre 1907, berechnet auf 1000 Voll¬
arbeiter nach 20 Berufsgruppen (nach dem Statist. Jahrb. f. d.
Kgr. Sachsen 1909), auch eine Übersicht über Blutuntersuchungen
bei an Bleivergiftungen erkrankten erwerbsunfähigen Mit¬
gliedern der Leipziger Ortskrankenkasse, ausgeführt im hygienischen
Institut der Universität Leipzig (10 Berufsarten).
Weiterhin hatte die Sektion VII der Knappschaftsbe¬
rufsgenossenschaft wertvolle Beiträge zur Unfallstatistik im
Braunkohlen-, Steinkohlen- und sonstigen Bergbau Sachsens auf die
Jahre 1885 — 1909 geliefert.
Besonders beachtenswert waren auch 2 graphische Darstellungen
von der Stadt Leipzig, deren eine die Tuberkulose to de s fälle
nach Höhenlage (Stockwerken) der Wohnungen der Verstorbenen,
deren andere die prozentuale Häufigkeit (auf 100 Grundstücke) der
Tuberkulosetodesfälle nach 8 Graden in den einzelnen Stadtbezirken
auf die Jahre 1880—1904 behandelte. In Zusammenhang mit die¬
ser Frage standen die Diagramme über die Zunahme der Grün-
246 G. Radestock, Die Internationale Hygieneausstellung Dresden 1911 usw.
an läge n (d. i. der großstädtischen Lungen) in den Städten Leipzig,
Dresden, Chemnitz seit 1870 sowie die Darstellungen über die Luft¬
verschlechterung durch Rauch und Ruß, u. a. ein Stadtplan von
Dresden 1 : 10 000 mit örtlicher Einzeichnung der Heizflächen der
Hochdruckdampfkessel nach dem Stande von 1911. Der allgemeine
Mietbewohnerverein Dresden suchte durch eine graphische Dar¬
stellung über R^formbestrebungen im Kleinwohnungsbau nachzu¬
weisen, daß, je niedriger der Bodenspekulationsgewinn sei, desto
höher die Volksgesundheit und Volkswohlfahrt steige.
Das Statistische Amt der Stadt Schöneberg erläuterte an Bei¬
spielen von 16 sächsischen Mittel- und Kleinstädten das Verhältnis
zwischen Einkommen und Miete nach 19 Einkommensklassen
und nach Zahl der Wohnungen.
Der Rat der Stadt Chemnitz wies an einem Stadtplane die in
den Jahren 1907 — 1910 behördlicherseits vorgenommene Woh¬
nungskontrolle nach, woraus zu ersehen war, daß gerade in
den von Arbeitern bevorzugten Stadtbezirken eine gewissenhafte
Überwachung der Wohnungsverhältnisse stattgefunden hat.
Sehr lehrreich war ferner eine von der Stadt Dresden gelie¬
ferte graphische Darstellung über die Mengen und Beschaffenheit
(nach 7 Arten) des Dresdner Hausmülls a) nach Jahreszeiten
bzw. Monaten, b) nach der Wohlhabenheit (Mietzins) der Bewohner.
Vorstehende aus der großen Menge von Ausstellungsobjekten
herausgegriffeneBeispiele dürften zur Genüge zeigen, welche trefflichen
Beiträge staatliche wie städtische Behörden, wissenschaftliche In¬
stitute und einzelne Gelehrte auf dem Gebiete der sozialen Hygiene
geliefert haben.
Ans der Gesellschaft fiir Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 1. Dezember 1910.
Herr Max Fl e sch (Frankfurt a. M.) trägt vor über „Hygienische Ergeb¬
nisse der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M.“
Als das Ergebnis eines großzügigen hygienischen Experimentes könnte man die
Feststellungen ansehen, die sich aus der Prüfung der Sterblichkeitsverhältnisse
in den Häusern der Frankfurter Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen und
aus deren Vergleich mit den entsprechenden Ermittelungen über die Gesamt¬
bevölkerung der Stadt entnehmen lassen. Im Rahmen der Einwohnerschaft einer
schnell wachsenden Großstadt sehen wir eine etwa l3/4 Proz. davon bildende
Gruppe von Menschen, die in den von der Aktiengesellschaft errichteten Häusern
zusammengefaßt sind, in jahrelanger Beobachtung durch so überraschend günstige
Sterblichkeitsziffern ausgezeichnet, daß ein Spiel des Zufalls ausgeschlossen er¬
scheint. Ob zwischen diesen günstigen Sterblichkeitsziffern und den Wohnungs¬
verhältnissen ein ursächlicher Zusammenhang besteht, soll hier einer Prüfung
unterstellt werden.
Als Unterlage für die Wertschätzung der später mitzuteilenden statistischen
Ergebnisse wird es nötig sein, hier einiges über die Eigenart des Untersuchungs¬
objektes voranzuschicken. Die Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in
Frankfurt a. M. ist vor 20 Jahren gegründet worden. Seit der Fertigstellung der
ersten 7 Häuser mit 86 Wohnungen im Mai 1891 ist der Besitz der Gesellschaft
auf 1201 Wohnungen, in welchen 5677 Menschen wohnen, gewachsen. Die Bauten
der Gesellschaft sind in 6 Blocks verteilt, die sich teils inmitten dichter be¬
völkerter Quartiere in der Innenstadt, teils in Außenvierteln, einer vorläufig ganz
peripher außerhalb des anderweitig schon zur Bebauung benutzten Areals befinden.
Je nachdem für die Erstellung der Häuser nötig gewordenen Kostenaufwand ist
der Mietpreis für die Wohnungen ein verschiedener in den einzelnen Blocks;
maßgebend ist dafür der Grundsatz, daß jeder Block das für seine Errichtung
aufgewendete Kapital — dessen Höhe eben nach dem Bodenpreis und der Aus¬
stattung der Häuser variiert — verzinsen muß. Eine Limitierung dieser Ver¬
zinsung ergibt sich daraus, daß die Gesellschaft an ihre Aktionäre nur 3l/s Proz.
9 Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 1 u. 2
der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.
248 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
des Aktienbetrags auszahlt. Für die Ausstattung der Häuser selbst aber ist ma߬
gebend, daß die Gesellschaft — im Gegensatz zu anderen in Frankfurt wirkenden
gemeinnützigen Baugesellschaften, die sich mit der Beschaffung von Wohnungen
für relativ besser situierte Arbeiter befassen — erstrebt, unter Anpassung des
Mietpreises an den durchschnittlichen Arbeitslohn ihre Wohnungen an solche,
insbesondere an kinderreiche Familien abzugeben, welchen die Möglichkeit fehlt,
einen so hohen Teil des Arbeitslohns des Mannes für die Miete aufzuwenden, wie
er den Herstellungskosten für in kleine Häuser zerstreute Wohnungen in der
Außenstadt entspricht, oder wie er sich aus den hohen Bodenpreisen dichter be¬
bauter Stadtteile ergeben würde. Die Wohnungen selbst bestehen aus 1 — 4 Räumen,
von welchen einer als Wohnküche oder als Küche dient; in der Mehrzahl sind
sie Zweizimmerwohnungen mit oder ohne Küche. Wo keine Küche ist, besteht
ein Spülraum neben dem Wohnküchenzimmer; jede Wohnung hat ihr eigenes
Klosett, ein Kellerabteil und einen Mansardenraum. Die Heizung erfolgt durch
Kohlenöfen; ergänzt durch Gasapparate zum Kochen. Letztere werden durch
Vermittlung von Gasautomaten gespeist, die zugleich das Leuchtgas liefern.
Mit der fortschreitenden Entwicklung der Gesellschaft hat sich auch die
Ausgestaltung der Wohnungen verbessert; deren Flächeninhalt, bei den ältesten
33 qm für die zweiräumige Wohnung ohne Küche, ist bei dem zuletzt der Ver¬
mietung übergebenen neuesten Typ auf 53, bei dreiräumigen Wohnungen auf 70 qm
gewachsen. Die Mehrzahl der Wohnungen hat einen kleinen verandaartigen Vor¬
raum; außerdem ist ein kleiner Platz zum Anbau von Blumen oder Gemüsen
jeder Wohnung zugeteilt. Jedes einzelne Haus hat eine Waschküche, in der ein
Bad aufgestellt ist; beide stehen in regelmäßigem Turnus den Bewohnern zur
Verfügung. Der Mietspreis für diese Wohnungen stellt sich durchschnittlich
25 — 30 Proz. niedriger als für die entsprechenden Wohnungen der Privatvermieter
in den gleichen örtlichen Verhältnissen.
Daß die Wohnungen der Aktienbaugesellschaft nach manchen Richtungen
ihren Bewohnern mehr leisten als die ihnen sonst zugänglichen, ergibt sich aus
diesen Daten; die Ausnützung des dem Erwerb dienenden Privathauses ist mit
einer Hergabe von nutzbarem Areal zu Veranden, Gartenbauflächen usw. nicht
zu vereinigen. Aber damit sind die Vorteile, welche die Wohnungen der Gesell¬
schaft ihren Mietern bieten, nicht erschöpft. Vor allem sind es gewisse, von dem
Gründer der Gesellschaft, Stadtrat Flesch, als Wohnungsergänzungen bezeich-
nete Einrichtungen, welche hier in Betracht kommen. Ein Teil dessen, was dem
besser situierten Bewohner größerer Wohnungen durch die Mehrzahl der Räume
zur Verfügung steht, soll durch der gemeinsamen Benutzung dienende, den ein¬
zelnen Blocks angegliederte Einrichtungen ersetzt werden: In jedem der größeren,
neueren Blocks befindet sich ein „Vereinshaus“, 'in welchem ein Lesesaal mit
Zeitungen, Büchern und Spielen ausgestattet, den Mietern einen behaglichen,
kostenlosen Aufenthalt ohne Wirtshauszwang außerhalb ihrer überfüllten Wohn-
und Schlafräume bietet. Damit verbunden ist ein Versammlungssaal, in dem Vor¬
lesungen, gesellschaftliche Vereinigungen der Blockbewohner usw. stattfinden
können. In den meisten Blocks ist eine Verkaufsstätte des Konsumvereins ein¬
gerichtet. Es besteht in jedem eine kleine eigene Bibliothek oder eine Filiale
der Volksbibliothek. Für die Kinder sind vor dem Getriebe des Fährverkehrs
gesicherte Spielplätze ausgespart. In einigen der Blocks befinden sich Krippen
und Kinderhorte, zu deren Aufnahme die Gesellschaft an die sich damit befassenden
Vereine die Räumlichkeiten besonders billig vermietet hat Der Erleichterung
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 249
der Lebenshaltung dienen weitere Einrichtungen zum gemeinsamen Bezug von
Kohlen und Kartoffeln in der Weise, daß mit Hilfe eines von Aktionären ge¬
stifteten Fonds der Einkauf im großen bewirkt wird, wonach die Mieter ihr
jeweils benötigtes Quantum im Laufe des Jahres in kleineren Mengen zum Gro߬
preis abholen. Der Gasautomaten wurde bereits gedacht. Zur Erleichterung des
Gasbezuges haben die Mieter der Gesellschaft einen Einheitspreis von 15 Pf.
pro Kubikmeter für das von ihnen benutzte Gas an Stelle des Sondertarifs für
Leucht- und Heizgas in der Stadt (18 bzw. 12 Pf.), der, da ja doch über¬
wiegend Leuchtgas benutzt wird, eine nicht unbedeutende Verbilligung darstellt.
Dem Belieben der Einwohner ist endlich der Beitritt zu der „Hauspflegekasse“
anheimgestellt: in Verbindung mit dem Hauspflegeverein, dem ältesten seiner
Art in Deutschland, hat die Aktienbaugesellschaft die Einrichtung getroffen, daß
gegen einen monatlichen Beitrag von 30 Pfennig die sich an der Kasse be¬
teiligenden Bewohner das Recht erwerben, bei Krankheit und Wochenbett der
Hausfrei für eine gewisse Zeit eine unter Kontrolle des Vereins stehende Pflege¬
frau gestellt zu bekommen, der sie außer ihrer Verköstigung täglich 10 Pfennige
bezahlen:1) das Mehr des Tagelohnes (1,80 — 2,00 M.) trägt der Verein, dem die
Gesellschaft dazu einen festen jährlichen Zuschuß gewährt. Etwa ein Viertel
der Familien macht von dieser Einrichtung Gebrauch. Die Beteiligung wäre
vermutlich größer, wenn nicht die Hauspflege ohnehin jedem zugänglich wäre,
allerdings in den Aktienhäusern nur als Armenunterstützung eben um die Selbst¬
hilfe durch Beteiligung an der Kasse zu fördern.
Der Mietspreis für die Wohnungen muß monatlich vorausbezahlt werden.
Nichtzahlung ist der einzige Grund, aus dem seitens der Gesellschaft das Miets¬
verhältnis gelöst wird, selbstverständlich unter den Umständen angepaßter Rück¬
sichtnahme auf etwaige durch Krankheit oder Arbeitslosigkeit entstandene Not¬
lagen. Eine Kündigung aus anderen Gründen kann allerdings auch erfolgen,
dann nämlich, wenn ein Ausschuß, den die Mieter jedes Blocks selbst wählen, sie
ausspricht. Es ist damit die Möglichkeit gegeben, störende Elemente, z. B. ruhe¬
störende Trinker, zu entfernen, wenn sie von den Mietern selbst, d. h. von ihres¬
gleichen, als solche empfunden worden sind; die Gesellschaft und die Verwalter
mischen sich nicht ein. Zu den sonstigen Vorteilen, welche die Bewohner der
Aktienhäuser genießen, kommt also die Sicherheit vor unberechtigten Erhöhungen
der Miete und vor Kündigung.
Über die allgemeinen gesundheitlichen Verhältnisse der Bewohnerschaft der
hier geschilderten Wohnungen gibt Tabelle 1 Aufschluß, welche den Jahres¬
berichten der Gesellschaft unter Ergänzung einiger Daten aus dem Jahresbericht
des Frankfurter ärztlichen Vereins wiedergegebenen Mitteilungen des städtischen
statistischen Amtes zusammengestellt ist.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Man sieht aus dieser Tabelle zunächst, daß die Sterbeziffer sämtlicher Jahr¬
gänge für die Aktienhäuser eine erheblich niedere ist als für die Gesamt¬
bevölkerung der Stadt.
Es ist nun nicht angängig, aus den Tatsachen, welche uns hier entgegen¬
treten, einfach die Folgerung zu ziehen, daß die günstigere Sterblichkeit ein
Produkt besserer Wohnungsverhältnisse sei. Schon die Größe der Differenz —
x) Es ist bemerkenswert, daß diese kleine Zuzahlung sich als genügender
Schutz gegen übermäßige Ausbeutung der Pflege bewährt hat.
250 Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
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Tabelle 1.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 251
8.9 pro tausend und Jahr in den Aktienhäusern gegen 15,5 in der Stadt über¬
haupt im Durchschnitt der 11 Jahre — läßt es nicht als wahrscheinlich erscheinen,
daß die bloße Tatsache des besseren Wohnens als solche den Unterschied bedinge.
Schließlich handelt es sich doch in einer größtenteils modern gebauten Stadt mit
relativ wenig Resten einer engstraßigen, winkligen Altstadt für die überwiegende
Mehrheit der Bewohnerschaft nicht um so weitgehende Unterschiede in der Be¬
schaffenheit der Wohnungen. Auch die Privatindustrie liefert heute in Frankfurt
überwiegend gutgebaute Wohnstätten, für deren Herstellung ja genau dieselbe
Bauordnung maßgebend ist, wie für die Aktienhäuser. Was in den letzteren vom
Standpunkt der Hygiene besser ist, die größere Kargheit der Raumverhältnisse,
wird dadurch ausgeglichen, daß grundsätzlich die Wohnungen der Gesellschaft
in erster Linie an kinderreiche Familien abgegeben werden ; das wird später noch
zu besprechen sein. Dadurch handelt es sich eben auch in den Aktienhäusern
um überfüllte Proletarierwohnungen.
Welche Ursachen bewirken, daß deren Einwohnerschaft so viel günstiger
gestellt ist als die Durchschnittsbevölkerung, wird erst festzustellen sein, wenn
die Qualität dieser Einwohnerschaft, deren sonstige Lebensverhältnisse, genügend
bekannt sind. Aber auch schon vorher — wir werden auf die Prüfung jener
anderen Faktoren zurückzukommen haben — zeigt sich aus der Tabelle mancherlei
Interessantes.
Zunächst fällt auf, daß die Mortalität der Gesamtbevölkerung und der Be¬
wohner der Aktienhäuser gleichsinnig, — und zwar im Sinne abnehmender Sterb¬
lichkeit im Laufe der 11 Beobachtungsjahre — aber keineswegs parallel verlaufen.
Es ist nämlich die Sterblichkeitsabnahme bei den Bewohnern der Aktienhäuser
weit erheblicher als bei der Durchschnittsbevölkerung; bei letzterer sinkt die
Jahresziffer von 16,6 auf 13,8, also um rund 3 Proin., in den Aktienhäusern von
12.9 auf 6,0, also um rund 6 Prom. Die Erklärung hierfür ist vermutlich darin
zu suchen, daß die Bewohner der Aktienhäuser seßhafter sind; wer das Glück
gehabt hat, hier unterzukommen — die Zahl der Bewerber übersteigt die der
frei werdenden Wohnungen um das dreifache — bleibt so lange als möglich ; die
Kinder wachsen heran ; allmählich läßt der Nachwuchs nach, damit auch die Sterb¬
lichkeit, deren Höhe ja gerade in den jugendlichen Altern am größten ist. Weiter
erscheint die Sterblichkeit der Aktienhäuser stärker gezackt; die Schwankungen
sind also größer. Unzweifelhaft kann das zum Teil auf Rechnung der kleineren
Zahlen kommen, aus welchen sich die Kurve der Aktienhäuser ableitet. Aber
die Schwankungen sind nicht nur qualitativ, sondern auch der Richtung nach
von den Jahresschwankungen bei der Gesamtbevölkerung verschieden. Von 1901
auf 1902 sinkt bei letzterer die Sterblichkeit um 0,8 Prom.; in den Aktienhäusern
aber steigt sie gleichzeitig um 2,3 Prom.; sie bleibt danach allerdings immer
noch um 4,3 Prom. gegen die Sterbeziffer der Gesamtbevölkerung zurück. Der
Grund ergibt sich aus der Betrachtung der Bevölkerungsbewegung in den Aktien¬
wohnungen: in jener Zeit war durch Eröffnung eines neuen Wohnungsblocks mit
über 1100 Menschen ein Nachschub aus den weniger günstigen Verhältnissen
der früheren Wohnungen erfolgt. Die Ursachen, welche die größere Sterblichkeit
der Durchschnittsbevölkerung beherrschen, sind noch nicht überwunden; je länger
die Leute in den besseren Verhältnissen der neuen Wohnungen leben, desto mehr
vollzieht sich der Ausgleich in der Richtung besserer Gesundheitsverhältnisse.
Die Tatsache eines günstigen Einflusses der Übersiedlung in die Aktienhäuser
252 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
wird dadurch nur unterstrichen. Welche Faktoren aber dabei wirksam sind, geht
aus der Tabelle noch nicht hervor.
Es wäre zu prüfen, ob vielleicht das in den Aktienhäusern vereinte Menschen¬
material besonders günstige hygienische Bedingungen bietet. Das ist nun zwar
innerhalb gewisser Grenzen unleugbar der Fall; fraglich ist aber, ob die hierbei
maßgebenden Verhältnisse derart wirkungsvoll sind, daß sich die Mortalität einer
doch keineswegs unbeträchtlichen Zahl von Angehörigen der arbeitenden Be¬
völkerungsschicht durch sie soweit wie hier unter den Durchschnitt der Gesamt¬
bevölkerung einer ohnehin besonders günstige hygienische Bedingungen bietenden
Stadt herabdrücken läßt. Im großen und ganzen entstammt die Bewohnerschaft
der Aktienhäuser aus den mindestbemittelten Kreisen; und aus diesen wieder
wird bei der Besiedelung das relativ ungünstigste Material, nämlich die kinder¬
reichsten Familien, ausgewählt. Ziffermäßig findet das einen Ausdruck in der
auf eine Wohnung entfallenden Kopfzahl: in der ganzen Stadt nach der Zählung
von 1905 bei einer Bevölkerung von 321289 Einwohnern in 72046 Wohnungen
4,39, in den Häusern der Gesellschaft bei 4924 Einwohnern in 1030 Wohnungen
4,78 Köpfe pro Wohnung (nach dem Bericht für 1909 bei 5677 Einwohnern 1201
Wohnungen mit 4,72 Köpfen). Zur richtigen Beurteilung dieser Zahlen darf
übrigens nicht übersehen werden, daß die Kopfzahl in mehreren, und zwar gerade
der größeren Häusergruppen erheblich höher ist (1909 Erbbaublock mit 1250 Ein¬
wohnern 4,78, Nordenblock mit 2180 Bewohnern 5,17, Galluswartenblock mit 510
Bewohnern 5,20). — Auch die Berufszugehörigkeit der Bewohner der Aktien¬
häuser kann nicht als günstiges Moment geltend gemacht werden : die Zusammen¬
stellungen, welche darüber vorliegen, zeigen, daß alle möglichen Berufe vertreten
sind ohne Bevorzugung etwa hygienisch besser gestellter Arbeiter ; beispielsweise
enthält die Liste der Haushalts Vorstände in den zuletzt besiedelten Wohnungen
des „Erbbaublocks“ auf 261 Wohnungen 29 Tagelöhner.
xiber auch gewisse günstige Momente lassen sich nicht übersehen. Vor allem
ist in Betracht zu ziehen, daß in der Bevölkerung der Aktienhäuser die unehe¬
lichen Geburten in Wegfall kommen oder doch nur in verschwindender Zahl
gegenüber der Gesamtbevölkerung mitzählen können. Ziffern darüber fehlen.
Aber selbst angenommen, daß überhaupt keine unehelichen Geburten in der Be¬
völkerung von fünf- bis sechstausend Menschen vorgekommen seien, wird damit
die große Differenz der Mortalitätsziffern für Stadt und Aktiengesellschaftskäuser
zwar verkleinert aber keineswegs beseitigt. Ein Beispiel möge das erläutern.
1907 — dem letzten Jahr, für das die betreffende Ziffer schätzungsweise ermittelt
worden ist — fallen auf die jugendlichen Alter unter 15 Jahren in den Aktien¬
häusern 11,5 Prom. Todesfälle, auf die städtische Bevölkerung dieser Altersperiode
20,0 Prom. Lassen wir nun hier die Sterbefäl leder unehelich Geborenen — 391 —
ganz außer Betracht, so berechnen sich noch immer auf die Gesamtzahl der
Lebenden, also einschließlich der überlebenden Unehelichen 13,6 Prom. Todesfälle
gegenüber 11,53 Prom. in den Aktiengesellschaftshäusern.
(Fortsetzung folgt.)
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’sclien
Verfahrens.
Von Stabsarzt Meinshausen, Frankfurt a. 0.
In der Ausgabe vom 28. März dieser Zeitschrift widmet Simon
der Pignet’schen Formel eine längere Arbeit. Als Grundlage
seiner Untersuchungen dienen die Musterungsbefunde von annähernd
10000 zwanzigjährigen Badenern der Jahresklasse 1881. Er kommt
in seiner Arbeit zu einer sehr günstigen Beurteilung des Verfahrens,
indem er es nicht nur im Einvernehmen mit Schwiening, Ott
und Seyffarth als Maßstab zu vergleichenden Massenunter¬
suchungen verwendbar hält, sondern es auch im Gegensätze zu
diesen als Maßstab der Tauglichkeit bei Einzeluntersuchungen ver¬
wendet wissen will. Er erklärt es für ein praktisches Hilfsmittel
zur Beurteilung von Grenzfällen der Tauglichkeit bei der Muste¬
rung und Aushebung. Entstehen Zweifel, ob ein Mann noch als
tauglich anzusehen oder als zu schwächlich auszumustern ist, so
soll die Pignet’sche Formel zu Rate gezogen werden. Hohe
Indexzahlen, etwa von 35 an, sollen in solchen Fällen den Aus¬
schlag für Untauglichkeit geben.
Nun ist es ja richtig, daß von den Gestellungspflichtigen nur
ein geringer Prozentsatz mit einem über 35 hinausgehenden Index
zur Einstellung gelangt. Ott fand 0,25 Proz., bei den von mir
beurteilten 10000 Leuten sind es 0,5 (einschließlich Ökonomiehand¬
werker). Simon fand in seinem Bataillon überhaupt keinen,
Seyffarth 0,07 Proz. Dies darf man als Beweis dafür ansehen,
daß es sich hier wirklich um schwächliche Leute handelt. Aber
um sie herauszuflnden, bedarf man nicht der Pi gn et ’schen Formel.
Das geschulte militär ärztliche Auge wird sie ohne weiteres als
untauglich erkennen. — Hinwieder in den Fällen, in denen der
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 17
254
Meinshausen,
Untersuchende in seinem Urteile schwankt, ob noch tauglich oder
zu schwächlich, gibt uns die Formel keinen genügenden Anhalt.
Das sind, natürlich abgesehen von körperlichen Fehlern, die Leute
mit einem Index um 30 herum, etwa von 25 — 30 und darüber
hinaus, die Pignet als „schwach und sehr schwach“ bezeichnet.
Von den von Simon begutachteten Leuten sind dies immerhin
36 Proz. — Hier wird nichts den geübten militärärztlichen Blick
ersetzen können, der, wie Dannehl — in seinem Aufsatze „Die
Pignet ’s che Formel“ in der deutschen Militärärztl. Zeitschrift
vom 20. März 1912, S. 216 — sehr richtig sagt, neben dem Me߬
baren auch das Nichtmeßbare erfaßt und den Bau und Allgemein¬
zustand des Untersuchten sicherer und rascher beurteilt als die
Pignet’sche Formel dies gestattet. — Daher kann ich mich nur
dem Urteile der Übrigen anschließen, daß kein Bedürfnis zur Ver¬
wendung des Pignet’schen Verfahrens bei der Musterung und
Aushebung vorliegt und es auch für die Beurteilung im Einzel falle
nicht verwertbar ist.
Anders ist es mit seiner Verwendung als Vergleichsmaßstab
bei Massenuntersuchungen. Sollte es wirklich geeignet sein, in
einfacher Weise ein einigermaßen sicheres Urteil über die Körper¬
beschaffenheit größerer Massen von Untersuchten zu bilden, so
würde das weitgehende Bedeutung haben. Denn wir hätten dann
ein Mittel, um verschiedene Aushebungsbezirke miteinander ver¬
gleichen, verschiedene Gegenden und Industriezweige, Stadt und
Land, nach ihrem Einfluß auf die Wehrfähigkeit der Bevölkerung
gegeneinander abwägen zu können. Ein solches Mittel fehlt uns
bisher. Denn die übliche Beurteilung nach der Anzahl der Taug¬
lichen, die ein Bezirk oder eine Provinz hervorbringt, kann als ein
einwandfreies Verfahren nicht bezeichnet werden.
Als Beispiel hierfür sei die Landwehrinspektion Berlin ange¬
führt. In den Zeitungen finden sich im Anschluß an die jährlich
vom Kriegsministerium veröffentlichten Ergebnisse der Aushebung
im Deutschen Reiche häufig Betrachtungen über den Einfluß des
Großstadt- und Landlebens auf die Körperentwicklung der Ge¬
stellungspflichtigen. Als ein Beispiel des schädlichen Einflusses
des Großstadtlebens wird dabei stets der geringe Anteil der von
Berlin gestellten Tauglichen hervorgehoben. Nach der Täglichen
Rundschau vom 9. April d. J. zum Beispiel verwies Oberst Jung
in einer Versammlung zu Zwecken des Jung-Deutschland-Bundes
„auf die geringe Wehrtüchtigkeit der Berliner Bevölkerung. Während
in Berlin kaum 28 v. H. der jungen Leute als militärtauglich be-
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’scken Verfahrens. 255
funden werden, sind es in Ostpreußen 64 v. H., und in Posen mehr
als 62 v. H. (Hört! Hört!).“
Sollte hierin wirklich ausschließlich der Einfluß des Gro߬
stadtlebens zum Ausdrucke kommen, so würde dies bei der noch
andauernden Tendenz zum Anwachsen der Großstädte und der
dauernden Abwanderung der ländlichen Bevölkerung, namentlich
des Ostens, in die Städte und Industriebezirke des Westens für die
Zukunft des deutschen Volkes allerdings ein sehr ernstes Problem
bedeuten.
Nun liegt aber hier ohne Zweifel ein Trugschluß vor, wie aus
folgendem ersichtlich ist. Von den 19 100 Mann, die 1911 bei der
Landwehrinspektion Berlin zur endgültigen Beurteilung vorgestellt
wurden, war bei 42 Proz. als Wohnort der Eltern und Geburtsort
Berlin angegeben, während die übrigen 58 Proz. aus der Provinz
stammten, sowohl vom Lande als aus Provinzstädten. Nach meiner
E eststellung sind nun von den in Berlin Geborenen 20 P r o z. ,
von den Zugezogenen 22 Proz. tauglich befunden
worden. — Von den Provinzlern ist ohne Zweifel der weitaus
größte Teil erst nach der Schulzeit in die Großstadt gekommen,
da die Angehörigen ja noch in der Provinz ansässig sind; die
meisten wohl erst wenige Jahre vor der Militärpflicht. Sie haben
also den Hauptteil ihrer Entwicklungsjahre nicht in der Großstadt
zugebracht. Immerhin könnte man aber zugestehen, daß auch
dieser verhältnismäßig kurze Aufenthalt in der Großstadt einen
entwicklungshemmenden Einfluß auf die aus der Provinz zuge¬
zogenen Leute ausüben konnte, daß also das obige Verhältnis
20 Proz. zu 22 Proz. den Unterschied in der Wehrtüchtigkeit der
Berliner zum Provinzersatze nicht richtig zum Ausdrucke bringt.
Den Schluß darf man aber aus diesen Zahlen ziehen, daß der
Unterschied bei weitem nicht so groß ist, wie er aus der Zusammen¬
stellung des Kriegsministeriums gefolgert wird. Ferner den, daß
der geringe Anteil der Tauglichen in Berlin durch besondere Um¬
stände verursacht sein muß.
Und diese besonderen Umstände sind vorhanden, wie jeder
weiß, der einmal in Berlin gemustert oder sich mit diesen Ver¬
hältnissen beschäftigt hat. Infolge des dauernden Zustroms von
Wehrpflichtigen aus der Provinz, die in der großen Industriestadt
leichtere und mannigfaltigere Erwerbsmöglichkeit, wohl auch größere
Lebensfreude erhoffen, ist die Zahl der Gestellungspflichtigen hier
so groß, daß zur Deckung des Rekrutenbedarfs eine viel engere
Auswahl getroffen werden kann, als es in anderen Bezirken mög-
17*
256
Meinshausen,
lieh ist. Dadurch wird natürlich der Prozentsatz der Tauglichen
herabgedrückt und der der anscheinend Untauglichen vergrößert.
Der Überfluß an Rekrutenmaterial, den wir haben, kommt hier am
deutlichsten zum Ausdruck. Ähnliche Verhältnisse werden aber
wohl auch in den übrigen Großstädten und Hauptindustriegebieten
herrschen.
In den dünn bevölkerten Provinzen des Ostens dagegen, dessen
Überschuß dauernd nach dem Westen abwandert, muß ein größerer
Prozentsatz der Gestellungspflichtigen ausgehoben werden, um den
Rekrutenbedarf zu decken. Und dies ist angängig, da die vorwiegend
ländliche Bevölkerung dieser Provinzen einen erheblich besseren
Ersatz liefert als die Industriebevölkerung, was durch obige Aus¬
führungen nicht bestritten werden sollte. Doch sind die hohen
Prozentzahlen der östlichen Provinzen an Tauglichen ohne Zweifel
hauptsächlich durch die geringere Bevölkerungsdichte zu erklären.
Jedenfalls ist nicht einzusehen, aus welchen Gründen die ländlichen
Bezirke des Ostens einen besseren und reichlicheren Ersatz liefern
sollten als z. B. die Landbezirke der dichter bevölkerten Provinz
Brandenburg, die zum Teile einen sehr kräftigen Ersatz hat, aber
einen erheblich geringeren Anteil an Tauglichen stellt als die Ost¬
provinzen.
Der Schluß von der Anzahl der gestellten Tauglichen auf die
körperliche Tüchtigkeit einer Gegend bringt also die tatsächlichen
Verhältnisse nicht richtig zum Ausdrucke. Dies ist auch schon
wegen des Anwachsens unserer Bevölkerung nicht möglich. Denn
bei einer jährlichen Zunahme um etwa 800000 und gleichbleibendem
Rekrutenkontingente muß natürlich die Prozentzahl der als taug¬
lich Eingestellten von Jahr zu Jahr sinken, am meisten natürlich
wieder in den dichtest bewohnten Gegenden. Dies könnte zu dem
Trugschlüsse Veranlassung geben, daß die Wehrtüchtigkeit unseres
Volkes in der Abnahme begriffen sei.
Hätten wir aber ein Mittel, das lins ermöglichte, die körper¬
liche Tüchtigkeit einer Gegend mit genügender Zuverlässigkeit
zahlenmäßig zum Ausdrucke zu bringen, so würde dies folgende
große Bedeutung haben. Es ließe sich übersehen, ob der von
den einzelnen Bezirken gestellte Ersatz gleichmäßig ist. Ferner
ließe sich bestimmen, wieviel Prozent Taugliche bestimmte
Bezirke mehr stellen könnten als bisher. Dies würde bei
künftigen Heeresvermehrungen die Grundlage bilden können,
um den Ersatz gleichmäßiger zu verteilen, insbesondere den
Überschuß an Tauglichen der Großstädte und Industriebezirke
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.
257
zu verwerten. Ferner würde dieses Mittel es ermöglichen, den
günstigen Einfluß der besseren Körperpflege, der zunehmenden
Freude an der Natur und am Sporte, sowie der Jugendbewegung
auf die Körperentwicklung der männlichen Jugend zu verfolgen.
Sodann würde es zur Prüfung einer Frage verwertet werden können,
deren Dringlichkeit in letzter Zeit von namhaften Nationalökonomen
betont wird. Ob nämlich durch das dauernde Abströmen der länd¬
lichen Bevölkerung in die Städte, und zwar des unternehmungs¬
lustigeren also tüchtigeren Teiles derselben und durch das Verbleiben
vieler gedienter Soldaten nach der Entlassung in den Städten, nicht
auch eine Verschlechterung der ländlichen Bevölkerung eintritt.
Eine Frage, die von hervorragender Wichtigkeit für die Zukunft
des deutschen Volkes sein könnte.
Wir sehen also, daß ein Mittel wie das Pignet’sche Ver¬
fahren auf das lebhafteste zu begrüßen wäre, vorausgesetzt, daß es
als Vergleichsmaßstab für Massenuntersuchungen genügende Zu¬
verlässigkeit besitzt. Dieser Nachweis der genügenden Zuverlässig¬
keit ist aber bisher noch nicht erbracht worden. Schwiening,
der als einziger bisher Untersuchungen in großem Maßstabe
hierüber angestellt hat, und zwar an 52 000 Einjährig - Frei¬
willigen, hebt folgenden ihm anhaftenden Fehler hervor. Mit
zunehmender Körpergröße lasse seine Zuverlässigkeit nach, bei
großen Leuten brauche auch ein hoher Index kein einigermaßen
sicheres Zeichen für einen besonders schwächlichen Körperbau zu
sein. Denn mit zunehmender Körpergröße bleiben Brustumfang
und Gewicht in zunehmendem Maße hinter derselben zurück. Je
größer die Leute, desto mehr seien von ihnen trotz hohem Index
als kräftig und diensttauglich anzusehen.
Nun ist es sehr fraglich, ob die von Schwiening an den
Einjährig-Freiwilligen gefundenen Verhältnisse ohne .weiteres auf
die Gestellungspflichtigen übertragen werden dürfen. Denn die
Grundsätze, nach denen beide zur Einstellung gelangen, sind erheb¬
lich voneinander verschieden. Daher ist die Nachprüfung an einer
größeren Masse von Gestellungspflichtigen durchaus erforderlich,
insbesondere, ehe es als zuverlässiger Maßstab für wichtige statistische
Untersuchungen verwendet wird. Diese Nachprüfung wird dann
auch einen Vergleich der Wehrtüchtigkeit der Einjährig-Frei¬
willigen und Gestellungspflichtigen zulassen.
In folgendem habe ich das Verfahren an 10000 Gestellungs¬
pflichtigen nachgeprüft, . Zur Verwendung kamen die Vorstellungs¬
listen des Jahrgangs 1911 der Ersatzkommissionen II und III
258 Meinshausen.
Berlin und des Land Wehrbezirks Marienburg (Westpr.). Ferner die
des Jahrgangs 1910 der Landwehrbezirke Brandenburg a. H.,
Kottbus und Guben. In diesen Listen sind alle Gestellungspflichtigen
enthalten, über die endgültig von der Oberersatzkommission zu
entscheiden war. Nicht verwertet wurden also die zeitig Zurück¬
gestellten. Es liegt somit dasselbe Material zugrunde wie bei den
Untersuchungen Schwieni n g ’s. Nicht verwertet sind ferner die
in den Listen geführten Passanten; die Einjahrig-Freiwilligen, über
die endgültig zu entscheiden war; die zur Disposition der Ersatz¬
behörden Entlassenen und die beim Oberersatzgeschäfte Fehlenden,
über die also ein endgültiges Urteil nicht vorhanden war. Sodann
mußte eine ganze Anzahl unberücksichtigt bleiben, bei denen eins der
drei Maße nicht angegeben war. Da diese sich aber auf Taugliche
und Untaugliche verteilen, wird eine erhebliche Fehlerquelle hier¬
durch kaum entstehen. — Die Leute mit Mindermaß sind, um sie
verwerten zu können, mit 152 cm Größe verrechnet. Bei deren
verhältnismäßig geringer Zahl wird auch dies keine erhebliche
Fehlerquelle ergeben. — Es sind gesondert behandelt 1. die Taug¬
lichen, 2. die wegen ungenügender Körper- und Brustentwicklung
nach Anl. IC— El, 46 und 47 und nach § 8, 3 der Wehrordnung
Beurteilten, 3. die wegen anderweitiger Fehler Untauglichen. Stadt-
und Landersatz sind gesondert behandelt, und zwar sind im Stadt¬
ersatz enthalten die Industrieorte: Berlin II und III, Spandau,
Brandenburg, Rathenow, Guben, Forst, Kottbus, Elbing; im Land¬
ersatze die Ersatzbezirke Ost- und West-Havelland ohne Stadt
Rathenow, Landkreis Guben, Kottbus, Marienburg, Stuhm, Elbing.
Es kam zunächst darauf an, das Verhältnis von Körpergröße,
Brustumfang und Gewicht zueinander bei ansteigender Körpergröße
zu prüfen. Zu diesem Zwecke sind nach Schwiening’s Vorbild
Seite 75-86 seiner Arbeit nach der Körpergröße Rubriken von 5
zu 5 cm gebildet, in denen der Durchschnitt der Größe, des Brust¬
umfangs und Gewichts einzeln berechnet ist. (S. Tabelle I. u. II.)
Man sieht aus Tabelle I Reihe 3 bei den Tauglichen ein Auf¬
steigen der durchschnittlichen Größe von 158,5—182,7, also um
24,2 cm. Der Brustumfang dagegen, Reihe 4, steigt nur von 82,1
auf 87, also um 4,9 cm, und bleibt hinter der zunehmenden Größe
um 19,3 cm zurück. Diese Differenz wird aber größtenteils durch
Zunahme des Gewichts ausgeglichen, das von 58,3 auf 72,6 kg, also
um 14,3 kg ansteigt. C -j- P bleiben somit hinter L um 5 cm
zurück. — Dies kommt beim Pignet’schen Index in Reihe 6 zum
Ausdrucke, der von 18,4 auf 23,1 ansteigt. Der durchschnittliche
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens
259
Tabelle L
Landersatz.
Größe
Taugliche
Nichttaugliche
Schwächliche
Sonstige
abs.
Proz.
L
C
P
Index
abs.
Proz.
L
C
P
Index
abs.
Proz.
—160
186
34,4
158,5
82,1
58,3
18,4
197
36,4
157,3
76,6
51,3
29,4
158
29,2
161—65
479
48
163.5
83,1
61.6
18,7
245
24,5
163,3
78,5
55,3
29,7
275
27,5
166—70
624
53,2
168,1
84
64,2
19,9
216
18,4
168
79,8
58,1
30,1
333
28,4
171—75
357
47,3
172,8
85
67,6
20,2
137
18,1
172,7
80,6
61,1
31
261
34,6
176—80
113
47,7
177,5
86,3
71,4
19,8
48
18,1
177,3
81,7
63,9
31,7
76
32,1
über 180
17| 33,3
182,7
87
72,6
23,1
16
20,2
182,8 82,4
67,3
33,1
18
35,3
Summa
1776
47,3
167,5
83,9
64,1
19,5
859
31,4
165,7
78,9
56,7
30,1
1121
29,8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Tabelle II.
Stadtersatz.
9
Nichttaugliche
Taugliche
Größe
Schwächliche
Sonstige
.
N
N
ts3
X
<X>
N
abs.
O
L
C
P
o
S-H
abs.
o
L
C
P
rö
abs.
o
Pm
Ph
PH
«
—160
198
22,2
158,1
81,9
58,6
17,6
501
56,1
157,2
77,1
51,6
28,5
194
21.7
16 1 — 65
555
32,4
163,4
83
61,6
19
800
46 6
163.8
78,4
55,1
30,3
360
21
166—70
592
33.4
168
83,8
64,3
19,9
708
40
168,2
79,3
58,1
30,8
473
26,6
171—75
405
32,4
172,8
84,8
68
20
534
43,8
172,9
79,9
60,8
32,2
311
24,8
176-80
133
28,0
177,5
86
71,3
20,2
203
42,8
177,6
80,7
63,8
33,1
136
29,2
über 180
23
21,7
183,3
88,6
75,2
19,3
44
41,5
183,2
80,4
66
36,8
39 36,8
Summa
1906
30,7
167,5
83,3
64,3
19,4
2790
44,9
166,7
78,8
57,1
30,8
1513
24,4
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
Index sämtlicher Tauglichen beträgt 19.5. Die bis 165 cm Großen,
37 Proz. , haben einen etwas niedrigeren Index als der Durch¬
schnitt, die 166 — 180 cm Großen, 62 Proz., entsprechen ihm un¬
gefähr, und die über 180 cm Großen, 0,9 Proz., übersteigen ihn.
Ein erhebliches Ansteigen des Index mit zunehmender Größe findet
also nur bei den wenigen über 180 cm Großen, 17 von 1776 Taug¬
lichen, statt, während es bis 180 cm Größe nur 1,8 beträgt, also
gering ist.
260
Meinshausen,
Aus Reihe 2 ersieht man ferner, daß die Größe 166 — 170 cm
den größten Anteil an Tauglichen liefert, während dies bei den
Einjährig -Freiwilligen nach Schwiening’s Feststellungen die
Größe 170—175 cm ist. Erhebliche Abweichungen von dem Durch¬
schnitte der Tauglichen, 47,3 Proz., sind bei der Größe 161 — 180
nicht vorhanden. Dagegen liefern die kleinen Leute, bis 160 cm,
und die über 180 cm Großen, erheblich weniger Taugliche.
Die Tabelle II, Stadtersatz, ergibt bei den Tauglichen ähnliche
Verhältnisse, Die meisten Tauglichen liefert wieder die Größe
166 — 170 cm. Von 161 — 175 cm Größe ist die Zahl der Tauglichen
ungefähr gleich, von 176 — 180 cm etwas geringer, in den Rubriken
— 160 und über 180 cm erheblich geringer als der Durchschnitt.
Der Index, Reihe 6, steigt mit zunehmender Größe um 2,6 cm.
Die Größenrubriken 161 bis über 180 cm haben ungefähr gleichen,
und nur die kleinen Leute, unter 160 cm, etwas niedrigeren Index.
Zusammenfassend ist somit zu bemerken, daß Schwiening’s
und Ott’s Annahme, der Index müsse mit zunehmender Größe zu¬
nehmen, da die Differenz zwischen Größe, Brustumfang und Ge¬
wicht immer mehr ansteige, zutrifft, daß diese Zunahme des Index
aber, abgesehen von den wenigen ganz großen Leuten gering ist.
— Bemerkenswert ist ferner, daß abgesehen von den
17 über 180 cm Großen in Tabelle 1, der Index der
Tauglichen in beiden Tabellen durchschnittlich der
Pignet’schen Rubrik 15 — 20 entspricht, die einen
„guten“ Ersatzbezeichnensoll. Die 17 über 180 cm Großen
entsprechen der Rubrik „mittelgut“. — Anders bei den wegen
Körper schwäche Untauglichen (Reihe 12). Hier steigt
der Index von 28,5—36,8 an und entspricht denPignet-
sehen R u b r i k e n „s c h w a c h“, „s e h r s c h w a c h“ und „völlig
u n genüge n d“. Man muß demnach zu geben, daß bei
der Zusammenstellung größerer Massen in diesen
Tabellen derPignet’schelndex, trotz des Ansteigens
mit zunehmender Größe, die tatsächlichen Verhält¬
nisse im allgemeinen richtig zum Ausdrucke bringt.
Bei den Schwächlichen ist im einzelnen folgendes zu erwähnen:
Der Index steigt mit zunehmender Größe stetig an, und zwar beim
Stadtersatze stärker als beim ländlichen. Die höheren Indexzahlen
gegenüber den Tauglichen entstehen durch geringeren Brustumfang
und geringeres Gewicht, das Ansteigen derselben bei zunehmender
Größe durch immer weiteres Zurückbleiben, namentlich des Brust¬
umfangs, aber auch des Gewichts. Dies tritt besonders deutlich
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 281
beim Stadtersatze hervor. Der Brustumfang nimmt hier nur um
3.3 cm zu gegenüber einer Größenzunahme von 26 cm. — Die ganz
kleinen Leute, die am wenigsten Taugliche liefern, haben am
meisten Schwächliche. Letztere nehmen mit zunehmender Größe
bis zur Rubrik 171 — 175 cm beim Landersatz und 166 — 170 cm
beim Stadtersatz ab. Dann erfolgt mit zunehmender Größe auch
eine Zunahme der Schwächlichen. — Der Index des Stadtersatzes
ist erheblich höher, also schlechter, als der des Landes. — Die
Schwächlichen des Landersatzes sind kleiner, haben aber größeren
Brustumfang als die des Stadtersatzes. Hierin kommt zum Aus¬
drucke, daß der schmalbrüstige, langaufgeschossene Typus durch
das Stadtleben begünstigt wird und daß das Landleben auf die
Entwicklung des Brustkorbes günstig einwirkt.
Der Anteil der Schwächlichen beträgt beim Landersatze 22,9 Proz.,
beim Stadtersatze dagegen 44,9 Proz. ; der wegen sonstiger Fehler Un¬
tauglichen bei ersteren 29,8, bei letzteren dagegen 24,4 Proz. Der An¬
teil der letzterwähnten ist bei den größeren Körpermaßen größer als
bei den kleineren, was zum Teile darauf zurückzuführen ist, daß viele
Fehler am größeren Körper deutlicher hervortreten, wie Verkrüm¬
mungen der Wirbelsäule und der unteren Gliedmaßen. Dann aber
besonders darauf, daß der längere und schwerere Körper eine
größere Disposition zu diesen und anderen Fehlern hat, wie z. B.
zur Plattfuß- und Krampfaderbildung, Herzfehlern. — Übrigens
zeigen die Einjährig-Freiwilligen hierin eine Abweichung; bei ihnen
nehmen die sonstigen Fehler mit zunehmender Körperlänge ab, die
ganz Großen stellen am wenigsten Untaugliche in diesen Fehler¬
gruppen.
Nunmehr ist zu untersuchen, wie sich Taugliche und Untaug¬
liche auf die einzelnen Indexgruppen verteilen. Hierzu sind
Sch wiening ’s Tabellen benutzt, mit einigen Änderungen in der
Zusammenstellung. S. Tabelle III und IV, S. 262.
Aus Reihe 2 sieht man, daß der Hauptteil der Gesamtzahl,
sowohl beim Stadt- als beim Landersatze, dßr Indexgruppe 21— 30
angehört, die nach Pignet der Bezeichnung „mittelgut“ und
„schwach“ entspricht. Von dieser Guppe aus fallen die Zahlen
nach oben und unten ab. Der nächstgrößte Anteil entfällt auf die
Gruppe 11 — 20. — Bis hierher entspricht der Ersatz den Einjährig-
Freiwilligen. In den Prozentzahlen der einzelnen Gruppen bestehen
dann aber Abweichungen. Die Einjährig-Freiwilligen haben einen
262
Meinshausen
Tabelle III.
Landersatz.
Gesamt-
Taugliche
•
Uutai
igliche
zahl
Schwächliche
Sonstige
Index
CD
Ph
r-H
ÖD
CD
o
Sh •
cj
CD
Ph
J— i
o
abs.
Proz.
abs.
Proz.
Grup
tsj 53
O c3
abs.
Proz.
Grup
N £
2 p-
abs.
Proz.
Grup
^ .pc
N 1»
O 212
Sh S5
■ö
rö
rÖ
r-j
Phm
17
0,5
4
23,5
0,2
13
76,5
1,2.
0-
-10
214
5,7
141
66
8
4
1,8
0,5
69
32,2
6,1
11-
-20
1245
33,1
844
67,8
47,5
51
44
5,9
350
28.1
31,2
21-
-30
1686
44,9
748
44,3
42,1
403
23,9
46.9
535
31,8
47.8
31-
-35
385
10,2
34
8,8
1,9
241
62,8
28.1
110
28,4
9,7
über
35
209
5,6
5
2,4
0,3
160
76,5
18,6
44
21,1
4
Summa
3756
100
1776
47,3
100
859
22,9
100
1121
29,8
100
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Tabelle IV.
Stadtersatz.
Iudex
Gesa
za
abs.
b; 3
Proz. ^
r
abs.
Proz. ö
d. Gruppe
O
re
p p
P-i H
hö
Sc
abs
iiwächh
CD
Ph
N ^
O P
PnO
Uutan
iche
§ p3
° P
Sh CG
PhH
r
[gliche
abs.
CO
Proz. §
d. Gruppe &
- - - aT
CD
Proz. der
Sonstigen
+
75
1,2
24
32
1.3
2
2,7
0,1
49
65,3
3.2
0-10
289
4,6
164
56,7
8,6
17
5,9
0,6
108
37,4
7.1
11—20
1415
22,8
839
59.3
44
155
10,9
5,5
421
29,8
27,8
21—30
2683
43,2
799
29.8
41,9
1234
46
44,2
650
24,2
43
31—35
1041
16.8
65
6,2
3,4
789
75,8
28,3
187
18
12,4
über 35
706
11,4
15
2.1
0,8
593
84
21,3
98
13,9
6.5
Summa
6209
100
1906
30,7
100
2790
44,9
100
1513
24,4
100
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
bedeutend höheren Anteil an der Gruppe mit positivem Index. Die
Zahlen sind :
Landersatz 0,5 Proz.
Stadtersatz 1,2
Ein j. -Frei w. 4,4
der Gesamtzahl.
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.
268
Wie Sch wienin g und Ott schon hervorhoben, ist dies durch
eine größere Zahl der Fettleibigen verursacht, bedingt durch
mehr sitzende Lebensweise und weniger körperliche Betätigung
bei besserer Ernährung und zum Teile höherem Lebensalter. Aber
auch noch an der Gruppe 0 — 10 sind die Einjährig-Freiwilligen
stärker beteiligt. Die Zahlen sind:
Stadtersatz 4,6 Proz.
Landersatz 5,7 „
Einj.-Freiw. 9,6 „
Auch dies ist wohl durch größeren Fettansatz und nicht durch
kräftigere Körperbildung bedingt. Wenigstens sinkt der Anteil
der Einjährig-Freiwilligen im Verhältnisse zu den übrigen Leuten
in den nächsten Gruppen ganz bedeutend. In der Gruppe 11 — 20
steht er zwischen Land- und Stadtersatz, näher zu letzterem. Die
Zahlen sind:
Stadtersatz 22,8 Proz.
Einj.-Freiw. 26,2 „
Landersatz 33,1
7 n
In der Gruppe 21—30 sinkt er noch 6 Proz. unter den Stadtersatz.
Einj.-Freiw. 37,6 Proz.
Stadtersatz 43,2 ,,
Landersatz 44,9 ,,
In den Gruppen über 30 steht er wieder zwischen Stadt- und Land¬
ersatz, aber näher zu ersterem.
Stadtersatz 28,2 Proz.
Einj.-Freiw. 22,2 „
Landersatz 15,8 „
Zu den Gruppen, die Pignet als „sehr schwach“ und „völlig
ungenügend“ bezeichnet, liefert der Stadtersatz einen bedeutend
höheren Anteil, 12.4 Proz. mehr, als der Landersatz, zu den als
kräftiger bezeichneten Gruppen unter 30 dementsprechend weniger.
Das Pignet’sche Verfahren würde also den Stadtersatz als er¬
heblich schlechter bezeichnen als den Landersatz, was durchaus
den Erfahrungen entspricht. Es liefert somit auch hier ein im
allgemeinen zuverlässiges Ergebnis. — Will man ihm einen Ver¬
gleichswert zusprechen, so würden die Einjährig-Freiwilligen in ihrer
körperlichen Tüchtigkeit zwischen Land- und Stadtersatz stehen, aber
264
Meinskausen,
näher zu diesem. Dies dürfte den Tatsachen entsprechen. Denn der
weitaus größte Teil der Einjahrig-Freiwilligen bringt infolge des
Schulbesuchs die Hauptentwicklungszeit in der Stadt zu, ja ein
großer Teil mit kurzen Unterbrechungen die ganze Zeit bis zum
Militärjahre. Daher wird ihr Durchschnitt sich dem schmalbrüstigeren
aber größeren städtischen Typus mehr nähern als dem kleineren,
aber kräftigeren Landersatz. Infolge der besseren Lebensweise
und Ernährung wird er aber auch wieder höher stehen als der
Durchschnitt des Stadtersatzes. Daß unter den Einjährigen die
großen Leute zahlreicher sind als unter den sonstigen Militär¬
pflichtigen, hob schon Schwiening hervor.
Zu den Tauglichen liefert beim Ersatz und den Einjährig-
Freiwilligen den größeren Anteil die Gruppe 11 — 20 (Reihe 4). Von
hier aus fällt der Anteil nach oben und unten ab. Nur um ein
geringes zurück steht die Gruppe 0—10 und bei den Einjährig-
Freiwilligen die Gruppe 21—60, während diese bei den übrigen
Gestellungspflichtigen erheblich weniger Taugliche liefert. Auf¬
fallend ist, daß die Einjährig-Freiwilligen in sämtlichen Gruppen
bedeutend mehr Taugliche stellen als die Gestellungspflichtigen.
Dies ersieht man aus folgender Zusammenstellung:
Tabelle V.
Taugliche.
Index
Einjährig-
Freiwillige
Land
Stadt
-j~
66,1
23,5
32
0-10
75,2
66
56,7
11—20
76,9
67,8
59,3
21—30
71,2
44,3
29,8
31—35
48,5
8.8
6,2
über 35
18,2
2,4
2,1
Summa
65,2
47,3
30,7
Da die Einjährig-Freiwilligen, wie wir oben sahen, im Durch¬
schnitte zwischen Land- und Stadtersatz stehen, unter Annäherung an
letzteren, müßte man erwarten, daß bei Gleichwertigkeit die Taug¬
lichen dasselbe Verhältnis zeigen. Besonders auffallend sind die
hohen Prozentzahlen der tauglichen Einjährigen in der positiven
Gruppe, in der die Fettleibigen enthalten sind, und in den nach
Pignet ungünstigen Gruppen über 30, während die übrigen Ge¬
stellungspflichtigen in diesen Gruppen sehr wenig Taugliche stellen.
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 265
Dies läßt nur die eine Deutung zu, die auch in Schwiening’s
Arbeit S. 10—11 ausgeführt ist, daß von den Einjahrig-Freiwilligen
ein erheblich größerer, daher zum Teile schwächerer Anteil zur Ein¬
stellung gelangt als von den übrigen Gestellungspflichtigen. Was
dadurch bedingt ist, daß jeder taugliche Einjährig-Freiwillige auch
eingestellt werden muß, während bei den übrigen Leuten infolge
der größeren Auswahl, und weil nur eine bestimmte Anzahl Rekruten
gestellt zu werden braucht, höhere Ansprüche gestellt werden
können. Ferner dadurch, daß nach der D. A. Mdf. Nr. 37 bei den
Einjährig-Freiwilligen die „zulässig geringsten körperlichen An¬
forderungen“ gestellt werden dürfen. Die hohen Indexzahlen über
30 würden also angeben, daß von dieser Bestimmung in erheb¬
lichem Maße Gebrauch gemacht wird.
Die geringere Qualität der Einjährigen tritt noch deutlicher
aus folgender Zusammenstellung hervor, die den Anteil der ein¬
zelnen Indexgruppen an der Summe der Tauglichen enthält.
Tabelle VI.
Taugliche.
Index
Einjährig-
Freiwillige
Stadt
Land
+
4,4
1,3
0,2
0—10
9,6
8,6
8
11—20
26,2
44
47,5
21—30
37,6
41,9
42,1
31—35
13,4
3,4
1,9
über 35
8,8
0,8
0,3
Summa |
100
100
100
Aus dieser Zusammenstellung ersieht man, daß von den Taug¬
lichen des Landersatzes 97,6 Proz. den günstigeren Gruppen 0—30
angehören und nur 2,2 Proz. einen Index über 30 haben. Beim
Stadtersatze sind diese Zahlen etwas ungünstiger, 94,4 Proz. und
4,4 Proz., bei den Einjährig-PTeiwilligen aber 73,4 und 22,2 Proz. Dabei
sind die Zahlen beim Stadtersatze noch zu ungünstig, weil bei diesen
in den Gruppen über 30 der größte Teil der Ökonomiehandwerker
enthalten ist, an deren Tauglichkeit die denkbar geringsten An¬
forderungen gestellt werden dürfen. Wenigstens waren von den
34 Tauglichen mit einem Index über 30 von den im Stadtersatz
enthaltenen 3645 Berlinern 12 Ökonomiehandwerker, die zum Teile
nach Anl. 1 DHO. beurteilt waren. — Den größten Teil der Taug-
266
Meinskausen
liehen stellt beim allgemeinen Ersatz die Gruppe 11 — 20, bei den
Einjährig-Frei willigen aber die Gruppe 21 — 30, was gleichfalls für
eine geringere Qualität spricht.
Die geringeZahl der beim allgemeinen Ersätze mit
einem Index über 30 Tauglichen bestätigt den Befund
der Tabellen I und II Bei he 14, daß diese hohen Index-
zahlen einen schwächlichen Körperbau anzeigen. An¬
dererseits berechtigt die große Zahl der trotz hoher Indexzahlen
tauglichen Einjährig-Freiwilligen zu dem Schlüsse, daß ein großer
Teil derselben bedeutend schwächer ist als die Tauglichen der
übrigen Gestellungspflichtigen. Hieraus muß man aber auch die
weitere Folgerung ziehen, daß die bei den Einjährigen gewonnenen
Resultate nicht ohne weiteres auf die übrigen Gestellungspflichtigen
übertragen werden dürfen.
Die bisherigen Ergebnisse werden weiter durch den Befund
an den Schwächlichen bestätigt.
Tabelle VII.
Schwächliche. '
Iudex
Einjährig-
Frei willi ge
Stadt
Land
+
0,43
2,7
0—10
1,2
5,9
1,8
11—20
2,1
10,9
4,1
21-30
9,2
46
23,9
31 — 35
30,5
75,8
62,8
über 35
68,4
84'
76,5
Summa
14,2
44,9
22,9
Bei Einjährig-Freiwilligen, Stadt- und Landersatz stellen die
günstigen Gruppen bis Index 20 einen sehr geringen, aber stetig an¬
steigenden, die Gruppe 21 — 30 schon einen erheblich höheren Anteil
an Schwächlichen. In den Gruppen über 30 findet dann ein sehr starkes
Ansteigen statt, der Stadtersatz hat in der Gruppe über 35 an Schwäch¬
lichen 84,1 Proz. Auch das bestätigt, daß ein niedrigerer Index
einen kräftigeren, ein hoher dagegen einen schwächlichen Körper
anzeigt. — Auffallend ist der bedeutend geringere Anteil der Ein¬
jährigen an sämtlichen Gruppen gegenüber den übrigen Gestellungs- •
pflichtigen, besonders in den ungünstigen Gruppen. In Gruppe
21 — 30 stehen 9,2 Proz. Einjähriger, 46 Proz. vom Stadtersatz und
23,9 Proz. vom Landersatze gegenüber; in Gruppe 31 — 35 30,5 Ein-
Weitere Beiträge zur Wertung’ des Pignet’schen Verfahrens.
267
jähriger, 75,8 Proz. vom Stadt- und 62,8 Proz. vom Landersatz. Aber
auch an den wegen sonstiger Fehler Untauglichen ist der Anteil
der Einjährig-Freiwilligen in sämtlichen Gruppen geringer. Dies
ist ja durch die bedeutend höhere Zahl der von ihnen tauglich Be¬
fundenen erklärlich, läßt aber nur die Deutung zu, daß ein hoher
Prozentsatz von Leuten, die bei den übrigen Gestellungspflichtigen
als schwächlich befunden wurden, bei den Einjährig-Freiwilligen
tauglich erklärt sind.
Bemerkenswert ist ferner, daß der Stadtersatz in sämtlichen
Gruppen, besonders aber in den günstigeren von 0—30, einen er¬
heblich höheren Anteil zu den als schwächlich Bezeichneten stellt
als der Landersatz. Besonders hoch ist der Anteil des Stadt¬
ersatzes in Gruppe 21 — 30 und beträgt hier, wie übrigens auch in
den anderen günstigen Gruppen, das Doppelte des Landersatzes.
Dies dürfte darin eine Erklärung finden, daß von den über die
Hälfte des Stadtersatzes ansmachenden Berlinern ein erheblicher
Anteil von verhältnismäßig kräftigen Leuten nicht zur Einstellung
gelangte. Die höheren Zahlen in den ungünstigen Gruppen über
30 aber zeigen an, daß der Stadtersatz einen höheren Anteil an
schwächlichen Leuten enthält. Dies wurde bereits an den Tabellen I
und II erläutert.
/
Nunmehr bleibt noch das Verhalten des Pignet’schen Index
bei zunehmender Größe an den von Schwiening benutzten Ta¬
bellen zu prüfen, um auch hierin einen Vergleich zwischen Ein¬
jährig-Freiwilligen und den übrigen Gestellungspflichtigen ziehen
zu können. Stadt- und Landersatz sind zur besseren Übersicht
zusammengenommen. S. Tabelle VIII, S. 268.
Schwiening fand bei den Einjährig-Freiwilligen, daß die
Tauglichkeit mit der Größe zunahm. Es waren tauglich:
Bis 160 cm Größe 49,9 Proz.
161—170 „ „ 64,2 „
171—180 „ „ 67,2 „
über 180 „ ., 66,4 .,r.
Bei den übrigen Gestellungspflichtigen trifft dies nicht zu, wie
schon aus der Tabelle I und II hervorging. Die kleinen Leute unter
160 und die über 180 cm großen liefern bedeutend weniger, die
Größen 161 — 180 erheblich mehr, und von diesen die Größe 161
bis 170 den größten Anteil an Tauglichen. Dies ist aus den
268
Meinshausen,
Sa.
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?rrrr+ w
02 02 02 CO 1—
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Tabelle VIII.
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.
269
Reihen 4 ersichtlich. Es findet also mit zunehmender Größe keine
Zunahme der Tauglichkeit statt. Den größten Anteil an Taug¬
lichen stellt, wie aus Reihe 4 ersichtlich, die Indexgruppe 11 — 20,
bei den 171 — 180 cm großen die Gruppe 0—10.
Bei den Schwächlichen findet man, übereinstimmend mit den
Einjährig-Freiwilligen , mit zunehmender Größe eine Abnahme,
wenigstens in den Indexgruppen von 11 — 20 an. Diese ist aber
zum großen Teile durch Zunahme der wegen sonstiger Fehler Un¬
tauglichen bedingt.
Betrachtet man nun die Reihen 5, in denen der Anteil der
•einzelnen Indexgruppen an der Summe der Tauglichen berechnet
ist, so sieht man, daß von den Leuten bis 170 cm Größe die
meisten der Indexgruppe 11—20 angehören, bei den über 170 cm
großen aber der Indexgruppe 21 — 30. Ferner findet in der Gruppe
11 — 20 mit zunehmender Größe eine Abnahme des Prozentsatzes
der Tauglichen, von Gruppe 21 — 30 an aber eine Zunahme statt.
Es würden also die kräftigeren Leute unter den Taug¬
lichen mit zunehmender Größe ab-, die schwächeren
aber zunehmen. Dies steht aber im Widerspruche mit
obigem Befunde, daß die Tauglichkeit mit zuneh¬
mender Größe nicht abnimmt. Hier liegt also ein
Fehler im Pignet’schen Verfahren vor, der dadurch
bedingt ist, daß dieDifferenz zwischen B rustumfang
-{-Gewicht und Kör pergröße mitZunahme der letzteren
auch zunimmt. Dieser Fehler wurde bereits an den Tabellen I
und II erläutert und ist von Schwiening eingehend gewürdigt
worden.
Bei den Schwächlichen (Reihe 8) findet in den Gruppen bis
Index 30 mit zunehmender Größe ebenfalls eine Abnahme, in den
Gruppen über 30 aber eine Zunahme statt. Es würden also mit
zunehmender Größe die kräftigeren Leute unter den wegen
Schwächlichkeit Untauglichen ebenfalls ab-, die schwächlichen aber
zunehmen. Oder: Je größer schwächliche Leute, desto weniger
sind sie tauglich. — Dagegen ist wohl nichts einzuwenden, so¬
lange nur kräftige Leute eingestellt werden. Stellt man aber ge¬
ringere Ansprüche an die Tauglichkeit, so muß dies naturgemäß
den Fehler des P ign et ’schen Verfahrens größer erscheinen lassen.
Wir beobachteten dies an den Einjährig-Freiwilligen, von denen
37,1 Proz. der Leute mit einem Index über 30 tauglich wraren.
Trotzdem kam Schwiening nicht zu einer Ablehnung des
Verfahrens, sondern er erkannte ihm den Wert zu, daß dort, wo
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 18
270
Meinshausen,
viele Leute mit hohen Differenzen vorhanden sind, auch die Zahl
der schwächlicheren Personen eine größere sein wird, als bei dem
Vorwiegen der mittleren und niedrigen Indexgruppen (S. 112 seiner
Arbeit).
Bei den übrigen Gestellungspflichtigen ist der Fehler aber er¬
heblich geringer, hatten von den dieser Untersuchung zugrunde
liegenden Tauglichen doch nur 3,2 Proz. einen Index über 30.
Und von diesen 129 Leuten hatten 34 Mann eine Größe bis 170 cm
und nur 45 waren größer. — Die Höhe des Fehlers kann man
übrigens aus den Tabellen I und II in Verbindung mit Tabelle VIII
feststellen. Die Summe der Tauglichen bis 170 cm Größe beträgt
2633 von 3689 = 71 Proz., die der über 170 cm großen 1056 =
29 Proz. Von den 119 Tauglichen mit einem Index über 30 aber
sind 74 = 62 Proz. unter 170 cm und 45 = 38 Proz. größer. Die
über 170 cm großen Tauglichen enthalten also an Leuten mit
einem Index über 30 9 Proz. von 129 = 11 Mann zu viel. — Dem¬
entsprechend kann man aus den Tabellen der Schwiening’schen
Arbeit S. 78 und 108 feststellen, daß der Fehler bei den Einjährig-
Freiwilligen 13 Proz. beträgt.
Es fragt sich nun, ob durch diesen Fehler die Verwertbarkeit
des Verfahrens in Frage gestellt wird. Ich denke nein. Denn
dieselbe Fehlerquelle wird bei jedem Ersätze mehr oder weniger
vorhanden sein, da jeder Aushebungsbezirk große und kleine Leute
gemischt enthält. Nur könnte man den Einwand erheben, daß der
Fehler in einer Gegend mit besonders großem Menschenschlag auch
größer sein werde. Das scheint aber nicht durchaus notwendig
zu sein, wenigstens nicht bei einem Vergleiche der Aushebungs¬
bezirke Marienburg, Stuhm, Elbing Land mit den übrigen ver¬
werteten Bezirken. In dem Bezirk Elbing Land und zum Teile
auch im Marienburger Bezirke hat sich als Nachkommenschaft der
vom Deutschen Orden in der entwässerten Weichselniederung an¬
gesiedelten Friesen, Holländer und Angehöriger anderer germa¬
nischer Stämme ein hochwüchsiger, schlanker Menschenschlag er¬
halten, der, begünstigt durch gute Lebensbedingungen, einen sehr
brauchbaren Ersatz liefert. Man sollte nun annehmen, daß hier
infolge der vielen großen Leute der Fehler des Verfahrens be¬
sonders deutlich hervortreten müßte, zumal ein sehr hoher Prozent¬
satz, nach meiner Berechnung annähernd 65 Proz., tauglich be¬
funden wurde. Das ist aber nicht der Fall. Von den 659 Taug¬
lichen waren 472 = 72 Proz. bis 170 cm groß und 187 = 28 Proz.
größer. Von den 16 Tauglichen mit einem Index von über 30 aber
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens.
271
waren 12 = 75 Proz. bis 170 cm groß und 4 = 25 Proz. größer.
Der Fehler ist also hier überhaupt nicht vorhanden. — Doch
können erst in größerem Umfang angestellte Untersuchungen über
die Größe des Fehlers bei großer und kleinerer Bevölkerung Aus¬
kunft geben. Vorerst muß man sich damit behelfen, bei
der Anwendung des Verfahrens zum Vergleiche ver¬
schiedener Massen kleine Differenzen nicht als aus¬
schlaggebend für die Beurteilung anzusehen.
Nun fragt es sich, in welcher Weise das Verfahren praktisch
am besten zu verwerten ist. Die von Pignet getroffene Einteilung
von 5 zn 5 cm erscheint für ein bei Massenuntersuchungen anzu¬
wendendes Mittel zu kompliziert. Auch bringt es die tatsächlichen
Verhältnisse nicht richtig zum Ausdrucke. Denn in der an erster
Stelle seines Systems stehenden positiven Gruppe bis Index 10, die
also einen erstklassigen Ersatz enthalten müßte, sind die Fett¬
leibigen mit enthalten, die zum größten Teile untauglich sind.
Dann sehen wir, daß mit zunehmender Größe eine Verschiebung
in den einzelnen Gruppen nach der ungünstigen Indexseite zu
stattfand, so daß auch der Unterschied zwischen den Rubriken
11 — 35 nicht zuverlässig ist. Ferner sind von den Leuten mit
einem Index über 30 noch 5 Proz. tauglich, so daß man auch
einen Index über 30 nicht unbedingt als ein Zeichen der Untaug¬
lichkeit ansehen kann. Dieselben Fehler haften der von Schwie-
ning verwendeten Einteilung an. — Am besten läßt man daher
diese Einteilung ganz fallen und urteilt nur danach, wieviel Pro¬
zent einer zu beurteilenden Masse einen niedrigen und wie viele
einen hohen Index haben. Als Vergleichszahl nimmt man am
besten die Indexzahl 30 und stellt fest, wieviel Prozent einen
Index unter 30 und wieviel einen höheren haben. Als Beispiel
habe ich folgende Tabelle zusammengestellt.
(Tabelle siehe nächste Seite.)
Nach Reihe 3 dieser Zusammenstellung würden die branden-
burger Landbezirke den besten Ersatz haben, da nur 8,8 Proz.
der Gestellungspflichtigen einen Index über 30 haben. Dann folgen
Kottbus Land und die Marienburger Landbezirke mit 12 Proz. In
weitem Abstand erst, noch hinter den meisten Industrieorten, folgt
Guben Land mit 27,3 Proz. Diese hohe Differenz bringt unzweifel¬
haft den für eine Landbevölkerung sehr schlechten Ersatz von
18*
272
Meinshausen,
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Ge¬
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Index
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Cottbus
Land
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94
12
2
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190
27,5
40,9
34,1
25
Marienburg
Land
1017
123
12
16
13
894
72
8
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16
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Guben
Land
1 114
304
27,3
13
4,3
810
94
11.6
30,7
24,3
45
Brandenburg
Städte
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222
19,7
24
10,8
925
183
19,8
48
30,7
21,3
Einjährig-
Freiwillige
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11512
22,2
4225
37,1
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2165
5,3
65,2
14,2
20,6
Elbing
Stadt
390
91
23,3
11
12
299
23
7,7
55,1
24,4
20,5
Cottbus
Stadt
309
74
23,9
1
1,4
235
78
33,4
34
45,6
20,4
Berlin
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3 645
1099
30,1
34
3,1
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41,4
23,2
53,8
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Stadt
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4,2
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16,2
25,3
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41,2
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
Guben Land zum Ausdrucke. — Von den Industrieorten haben
Brandenburg, Spandau, Rathenow mit 19,7 Proz. den besten Ersatz.
Dann folgen Elbing und Kottbus, in größerem Abstande Berlin II
und III und in weitem Abstande Guben und Forst. — Diese Zahlen
bringen wieder zum Ausdrucke, daß die Stadtbevölkerung im allge¬
meinen einen erheblich schlechteren Ersatz liefert als die Land¬
bevölkerung. Ferner, daß der Ersatz des Landwehrbezirks Guben
außerordentlich schlecht ist. Dies ist wohl durch die dort seit
langer Zeit heimische Webereiindustrie bedingt. — Die Einjährig-
Freiwilligen entsprechen ungefähr dem besseren Stadtersatze.
Die Körperbeschaffenheit des Durchschnitts der tauglich Be¬
fundenen ist nach der Prozentzahl der mit einem Index über 30
Tauglichen zu beurteilen. Denn je mehr von diesen schwächeren
Leuten ein Ersatz enthält, desto schwächer wird er im allgemeinen
*
sein. Nach Reihe 5 wäre bei Kottbus Stadt und Land die beste
Auswahl getroffen. Dann folgen Berlin und Guben Stadt und Land.
Am meisten Schwächliche unter den Tauglichen würden enthalten:
In erster Linie die Einjährig-Freiwilligen mit 37,1 Proz., Elbing
Stadt und Land mit 13,2 und 13 Proz. Dies ist erklärlich aus der
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 273
hohen Zahl der tauglich Befundenen, die aus Reihe 9 ersichtlich ist.
Bei den Einjährigen sind es 65,2 Proz., bei Elbing Land 64,8 Proz.
und Elbing Stadt 55,1 Proz.
Die Reihen 7 und 8 enthalten die trotz niedrigem, also günstigen
Index wegen Schwächlichkeit untauglich Befundenen. Da diese
Zahlen desto größer sein werden, je höhere Ansprüche an die
Tauglichkeit gestellt werden, und desto kleiner, je weiter mit diesen
Ansprüchen heruntergegangen wird, so ermöglichen sie ein Urteil,
wieviel Leute in bestimmten Bezirken im Vergleiche zu anderen
mehr hätten ausgehoben werden können. Für Berlin z. B. beträgt
die Zahl 41 Proz, für Elbing Stadt aber nur 7,7 Proz. Hieraus
darf man schließen, daß in Berlin II und III bei gleichen Ansprüchen
an die Tauglichkeit wie in Elbing ungefähr 41 — 7,7 = 33,3 Proz.
der trotz niedrigen Index als schwächlich Bezeichnet en tauglich
gewesen sein würden. Das sind etwa 350 Leute. — Auch Kottbus
Stadt und Land enthalten unter den als schwächlich bezeichneten
noch einen hohen Prozentsatz von Leuten mit niedrigem Index.
In Reihen 9—11 sind zur Kontrolle die Prozentzahlen der Taug¬
lichen, der wegen Schwächlichkeit und wegen sonstiger Fehler
Untauglichen zusammengestellt. Diese Zahlen werden allerdings
mit den amtlichen nicht ganz genau übereinstimmen, da wie an¬
fangs erwähnt, nicht alle in den Vorstellungslisten geführten Leute
für diese Untersuchungen verwendet werden konnten.
Man ersieht aus der Zusammenstellung, daß ein Vergleich von
verschiedenen Bezirken, Provinzen, von Stadt- und Landbevölkerung,
nach dieser Methode sehr gut durchführbar ist. Sie ist gewiß über¬
sichtlicher als die Einteilung nach Pignet’schen Rubriken. —
Ebenso kann man mit ihr die körperliche Entwicklung der An¬
gehörigen verschiedener Berufszweige prüfen. In folgender Tabelle
ist dies veranschaulicht, die unter Zugrundelegung der Simon’schen
Zusammenstellung S. 178 seiner Arbeit die einzelnen Berufsgruppen
nach ihrem Anteil an Leuten mit einen Index über 30 ordnet.
Es haben einen Index über. 30:
1. Metzger
4,6
Proz.
2. Bäcker
9
n
3. Schmiede
10,7
11
5. Maurer und Schlosser
15,6
11
6. Landwirte
17,5
11
7. Taglöhner
17,8
11
8. Zimmerer
18
11
9. Zigarrenarbeiter
18,4
11
274
Meinshausen,
10.
Fabrikarbeiter
19,5
Proz.
11.
Knechte
20
55
12.
Maler
20,9
55
13.
Mechaniker
23
55
14.
Gold- u. Silberarbeiter
23,6
55
15.
Textilarbeiter
24
55
16.
Schreiner
25,2
55
17.
Arbeiter
29,2
55
18.
Seminaristen
31,2
55
19.
Häusl. Bedienstete
32,6
55
20.
Friseure
40
55
21.
Kaufleute
40,8
55
Diese Zusammenstellung gibt m. E. ein anschauliches Bild von
dem Einflüsse des Berufs auf die Körperentwicklung, oder wenn
man Prinzing’s und Bindewald’s Ansicht folgen will, von dem
Einflüsse der Körperentwicklung auf die Berufswahl. Beide Einflüsse
werden wohl Geltung haben. Die Reihenfolge entspricht ungefähr
dem allgemeinen Eindrücke, den wir bei der Musterung von der
körperlichen Tüchtigkeit der einzelnen Berufe gewinnen. Die
Metzger, Bäcker und Schmiede haben die beste Körperentwicklung,
Dann folgen Maurer, Schlosser, Landwirte, Taglöhner, Zimmerer.
Auffallend ist nur die verhältnismäßig günstige Beurteilung der
Zigarrenarbeiter, deren Beruf als besonders ungesund gilt. Viel¬
leicht sprechen hier aber besondere, nur für Baden maßgebende
Verhältnisse mit. — Auffallen könnte auch, daß die Kauf¬
leute die schlechteste Körperentwicklung aufweisen, schlechter noch
als die Friseure. Dies findet aber darin seine Erklärung, daß die
Schreiber unter den Kaufleuten mitgezählt sind, die meist wegen
Schwächlichkeit diesen Beruf wählen, der ihrem Körper auch zur
Fortentwicklung keine Gelegenheit gibt. Die Schreiber stellen bei
der Mustung und Aushebung ohne Zweifel den jämmerlichsten Er¬
satz. Bei Nachprüfungen wird es sich daher empfehlen, Hand¬
lungsgehilfen und Schreiber gesondert zu beurteilen.
Untersuchungen über Zu- oder Abnahme der Wehrfähigkeit
verschiedener Bezirke, Gegenden, Provinzen, oder des ganzen Volkes
sind zurzeit noch nicht möglich, da die Eintragung des Gewichts
der untersuchten Leute bei manchen Bezirkskommandos überhaupt
noch nicht, bei den übrigen erst seit wenigen Jahren stattfindet.
Es ist dringend zu wünschen, daß die Feststellung des Gewichts
bei der Musterung zur Pflicht gemacht wird. Dann ist es in
Weitere Beiträge zur Wertung des Pignet’schen Verfahrens. 275
späteren Jahren möglich, durch in bestimmten Abständen, vielleicht
alle fünf Jahre, vorgenommene Nachprüfungen, hierüber Unter¬
suchungen anzustellen.
Die gewonnenen Resultate fasse ich in folgenden Schlußsätzen
nochmals zusammen.
1. Die Pignet’sche Formel ist. geeignet, als Vergleichsmaßstab
für Massenuntersuchungen verwendet zu werden.
2. Es haftet ihr allerdings der Fehler an, daß ihre Zuverlässigkeit
mit zunehmender Körpergröße nachläßt.
3. Diesen Fehler kann man dadurch zum großen Teile aus¬
schalten, daß man die P i g n e t ’sche Rubrikeneinteilung fallen läßt.
4. Als Vergleichsmaßstab verwendet man anstatt dessen am
besten den Anteil an schwachen Leuten, der in den zu vergleichenden
Bezirken vorhanden ist.
5. Als Vergleichszahl eignet sich am besten die Indexzahl 30.
6. Den dann noch vorhandenen geringen Fehler des Verfahrens
schaltet man aus, indem man geringen Differenzen bei der Be¬
urteilung kein ausschlaggebendes Gewicht beilegt.
7. Die Pignet’sche Formel erhöht den Wert des in der Aus¬
hebungslisten ruhenden statistischen Materials, da dessen Be¬
arbeitung zu sozialstatistischen Zwecken mit Hilfe der Formel ver¬
hältnismäßig einfach ist.
Zunahme des Alkohol Verbrauchs in Indien.
Von Dr. Ernst Scbultze in Hamburg-Großborstel.
Jahrtausende hindurch haben sich die Bewohner Vorderindiens
fast stets als sehr nüchtern gezeigt. Zwar kannte man bereits
zur Zeit der Veden, der berühmten heiligen Bücher der Inder,,
berauschende Getränke. Eines der beliebtesten und bekanntesten
Gedichte aus dem „Rigveda“ stellt ein Selbstgespräch des be¬
trunkenen Gottes Indra dar, dessen kurze Verse regelmäßig mit
dem Kehrreim enden: „Ist’s denn, daß ich vom Soma trank?“
Indessen ist doch wahrscheinlich weder damals noch zu späteren
Zeiten im indischen Volke Alkohol getrunken worden. Auch als am
Hofe des Großmoguls in Delhi trotz der Verbote der moham¬
medanischen Religion gegen den Alkohol berauschenden Getränken
stark zugesprochen wurde, blieb das Volk als solches nüchtern.
Nicht nur seine Armut veranlaßte es dazu; denn diese stellt be¬
kanntlich durchaus kein sicheres Mittel gegen den regelmäßigen
Genuß von Alkohol, ja gegen regelmäßige Trunkenheit dar.
Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Nüchternheit des in¬
dischen Volkes in schwere Gefahr gebracht worden. Zunächst hat
dazu der Einfluß der Europäer und der in Indien lebenden
Engländer auf die Eingeborenen, insbesondere auf deren höhere
Klassen, und auf die in Europa studierenden Inder beigetragen.
Auf den Colleges und Universitäten sehen die letzteren zunächst,,
wie die weißen Studenten trinken, und folgen nach einiger Zeit
ihrem Beispiel.
Ein gewichtiger Grund ist wahrscheinlich darin zu suchen,,
daß die Politik der englischen Regierung in Indien darauf
ausgegangen ist, aus den Steuern auf geistige Getränke
Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien.
277
möglichst hohe Erträge zu erzielen. Wird es doch immer
schwieriger, das indische Budget im Gleichgewichte zu halten, so daß
man stets wieder versucht, neue Einnahmequellen zu eröffnen. Auch
gegenwärtig, wo der hohe Gewinn aus dem Opiumhandel mit China
fortzufallen droht, sieht man sich gezwungen, nach neuen Einnahme¬
quellen Ausschau zu halten.
Wie stark der Ertrag der Steuer auf geistige Getränke ge¬
wachsen ist, mag das Beispiel einer einzigen Provinz zeigen. Im
Pundschab betrug die Regierungseinnahme aus dieser Quelle im
Fiskaljahre 1900 — 01 2 601184 Rupien. Sie hob sich alsdann bis
zum Jahre 1904—05 auf 3162 955 und bis 1907-08 auf 4 259 983
Rupien. Ähnlich schnell und stark ist die Steigerung im ganzen
Lande gewesen. Beträgt doch die Einnahme der indischen Regie¬
rung aus der Alkoholsteuer heute das Vierfache dessen, was
1875 eingenommen wurde.
Diese Zahlen haben der Eingeborenenpresse Anlaß gegeben,,
die englische Regierung scharf anzugreifen. Trotz des Aufruhr¬
gesetzes, unter dem die Presse steht, wollen die scharfen Angriffe
gerade nach dieser Richtung hin nicht verstummen. Es scheint
auch, als wenn sie mindestens zum großen Teile berechtigt sind.
Gewiß kann die englische Regierung darauf hinweisen, daß die
Einnahmen sich deshalb haben erhöhen müssen, weil man erst all¬
mählich die gesamte Herstellung von Alkohol der Steuer unter¬
worfen hat. Indessen kann das eine so starke Zunahme nicht er¬
klären. Auch würde diese Entschuldigung für die genannten Zahlen
in der Provinz Pundschab nicht zutreffen. Selbst ein Anwachsen
der Bevölkerung kann hier nicht ins Feld geführt werden — ganz
im Gegenteile sind ja im Pundschab gerade im letzten Jahrzehnte
durch Pest und Malaria so viele Menschen zugrunde gegangen, daß
eine Abnahme der Bevölkerung zu verzeichnen war.
Ebenso kann eine Steigerung des Volkswohlstandes die Zu¬
nahme des Alkoholverbrauchs nicht erklären. Von einer solchen
ist, wie von vielen maßgebenden Seiten behauptet wird, in Indien
nicht die Rede. Außerdem würde es ein Zeichen innerer Gesund¬
heit des Volkes sein, wenn es trotz steigenden Reichtums seine
Alkoholausgaben nicht vermehrte. Solche Verhältnisse haben wir
in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise z. B. in Deutschland
gehabt, wo die Ausgaben für den Kopf der Bevölkerung zwar für
Getreide, Fleisch und andere Nahrungsmittel sich fast verdoppelt
haben, während für Alkohol und Tabak eine Steigerung der Aus¬
gaben auf den Kopf der Bevölkerung nicht zu beobachten war.
278
Ernst Sckultze, Zunahme des Alkoholverbrauchs in Indien.
Wie es scheint, sind viele, wenn nicht alle Bevöl¬
kerung sklassen in Indien von dieser Steigerung des
Alkoholverbrauchs betroffen. So hat kürzlich ein hervor¬
ragender Rajput in einem Aufsatze, der in Indien viel bemerkt
wurde, behauptet, daß die männlichen Charaktereigenschaften
seiner Rasse, die durch ihre heroische Tapferkeit hochberühmt
war, durch das Übel des Trinkens jetzt schwer gelitten habe.
Auch in den Ar beiter kreisen hat sich ein steter Alkohol¬
verbrauch eingenistet. Es läßt tief blicken, wenn der Vorsitzende
Her Fabrikantenvereinigung in Bombay (Bombay Mill-Owners Asso¬
ciation) kürzlich in einer Ansprache an diese Vereinigung sagte:
„Während der jüngst vorgenommenen Untersuchungen des Likwa-
Committee, das seine Sitzungen in Bombay abhielt, ist bewiesen
worden, daß die Fabrikarbeiter mehr Geld für Alkohol ausgeben
als für ihre Nahrung oder für ihre Kleider.“ —
Es scheint fast, als wenn die Inder, obwohl sie nun schon
weit länger als ein Jahrhundert unter der Herrschaft der Eng¬
länder stehen, jetzt zu guter Letzt noch eine der übelsten Unsitten
des europäischen Lebens annehmen wollten — eine Unsitte, gegen
die unter den meisten europäischen Völkern in den letzten Jahr¬
zehnten ein energischer Kampf geführt wird, und die infolgedessen
auch in England sich wesentlich hat zurückdrängen lassen. Unter
den mancherlei Übeln, die die Weißen neben dem mancherlei Guten,
das sie ihnen brachten, auf fremde Völker übertragen haben,
ist die Trunksucht eines der schlimmsten. Manchen Stamm eines
farbigen Volkes hat sie zerstört, indem sie zunächst die moralische
Widerstandskraft wie überhaupt alle sittlichen Begriffe untergrub
und damit auch wirtschaftlich, militärisch und politisch die Kraft
•des betreffenden Volkes vernichtete. In auffallendster Weise tritt
dieser üble Einfluß des Alkohols bei den nordamerikanischen In¬
dianern hervor, die man daher notgedrungen durch Gesetzgebung
und Verwaltung vor dem Alkohol zu schützen suchte. Die eng¬
lische Regierung in Indien würde moralisch gut und politisch klug
handeln, wenn sie einer Zunahme des Alkoholverbrauchs energisch
•entgegenträte, um sich den bitteren Vorwurf zu ersparen, daß sie
nun, wo sie durch die Unterdrückung des Opiumhandels in China
•eine wichtige Einnahmequelle verliert, eine neue, kaum weniger
unsaubere Quelle in der Zunahme des Alkohol Verbrauchs unter den
•eingeborenen Indern für sich zu erschließen suche.
Ein amerikanischer Kniturfortschritt.
Von Dr. Ernst Schultze in Hamburg-Großborstel.
Seit Jahren schämte sich der beste Teil der Nordamerikaner
über die ungeheuren Opfer, die der größte Nationalfeiertag des
Landes an Menschenleben erforderte. Denn der „Fourtli of July“,
der Tag, an dem im Jahre 1776 die Unabhängigkeitserklärung
der 13 Kolonien von dem Mutterlande erlassen wurde, ist mehr
und mehr in einer so lärmenden und unvorsichtigen Weise be¬
gangen worden, daß der 4. Juli nicht mehr ein Freudentag, sondern
ein Tag der Trauer für das ganze Land zu werden drohte. Be¬
trug doch die Zahl der an diesem größten Nationalfeier¬
tage der Vereinigten Staaten durch Unvorsichtig¬
keit Getöteten und Verwundeten im Jahre 1909 die kaum
glaubliche Ziffer von 2405. Es ist das Verdienst insbesondere der
in Chicago erscheinenden Zeitung „Tribüne“, auf diese Schäden
immer wieder mit solchem Nachdrucke hingewiesen zu haben, daß sich
nun endlich eine Besserung eingestellt hat. Insbesondere wurde
durch das Abbrennen von Feuerwerk, durch das Lösen von
Böllerschüssen, durch Frösche und andere Feuerwerkskörper und
durch das Abschießen von Pistolen eine solche Fülle von Unglück
angerichtet, daß z. B. im Jahre 1909 die Zahl der Toten 44, die der
Verwundeten 2361 betrug. Man hat berechnet, daß innerhalb eines
Jahrzehnts der 4. Juli den Vereinigten Staaten mehr Menschen
gekostet habe wie der ganze Unabhängigkeitskrieg gegen England !
So haben denn verschiedene Stadtverwaltungen —
denn in den Städten pflegten die Unglücksfälle infolge der Zu-
sammendrängung von Menschenmassen am größten zu sein — das
Ab brennen von Feuerwerk ganz verboten, so z. B. die
Städte Atlanta, Birmingham, Cleveland, Columbus, Kansas City,
Los Angeles, Minneapolis, San Francisco und Washington. Die
280
Ernst Schnitze, Ein amerikanischer Kulturfortschritt.
Folge ist nun gewesen, daß am 4. Juli 1911 in diesen Städten nicht
ein einziger Todesfall infolge des Abbrennens von Feuerwerk mehr
vorkam, und daß auch die Zahl der Verwundungen überaus gering
geworden ist; alle diese Städte wiesen keine Verwundungen mehr
auf, mit Ausnahme von San Francisco und Washington, in denen
je 2 vorkamen. Unmittelbar vor dem 4. Juli hatten noch manche
andere Städte ebenfalls den Beschluß gefaßt, daß kein Feuerwerk
abgebrannt werden dürfe, so daß die Gesamtzahl dieser Städte 50
betrug. Man wollte eben nicht, daß das nordamerikanische Volk,
um seinen größten Festtag zu feiern, eine schwere Steuer an Blut
und Leben entrichten sollte.
Gewiß ist der Lärm gerade in Nordamerika nicht nur kenn¬
zeichnend, sondern fast Vorbedingung der Freude, insbesondere
der Freude größerer Volksmassen. Aber man wird eben lernen
müssen, die Freude auch weniger geräuschvoll auszudrücken oder
sich wenigstens auf die Machtmittel der menschlichen Stimme zu
beschränken, nicht aber Pistole und Feuerwerk zu Hilfe zu nehmen.
Der Erfolg der „Freiheitsbeschränkungen“, denen man sich
endlich nun auch im „Lande der Freiheit“ im Interesse des Lebens
und der Gesundheit seiner Mitmenschen in wachsendem Maße unter¬
worfen hat, ist ein recht günstiger gewesen. 1908 waren am
4. Juli 56 Menschen getötet worden, 1909 noch 44, 1910 nur noch 28.
Die Zahl der Verwundeten, die 1909 noch 2361 ausgemacht hatten,
ging 1910 auf 1785 und 1911 auf 881, also auf die Hälfte der
letzteren Ziffer, den dritten Teil der ersteren zurück.
Indessen wird man sich bei diesen Erfolgen noch nicht be¬
ruhigen dürfen. Denn auch jetzt hat der Nationalfeiertag doch an
Toten und Verwundeten immerhin noch 905 Menschen gekostet —
mehr, als in den meisten Schlachten zwischen Italienern und
Türken in Tripolis verzeichnet wurden. Auch die Verluste, die
durch Brandschäden infolge Unvorsichtigkeiten am 4. Juli hervor¬
gerufen werden, sind noch keineswegs stark genug eingeschränkt
worden. 1909 hatte diese Verlustsumme 724515 Dollars, also fast
3 Millionen Mark betragen — 1910 war sie auf 591815 Dollars
gesunken — 1911 machte sie noch 344 350 Dollars aus. Das sind
noch immer lx/4 Millionen Mark — eine Ziffer, die sich zweifellos
noch wesentlich vermindern ließe. Die denkenden Leute in Amerika
und die Führer der dortigen Kulturbewegung werden bei diesen
Ziffern nicht stehen bleiben wollen, sondern keine Anstrengung
scheuen, um eine weitere Verminderung zu erstreben, um so ihr
Land von einem schweren Makel möglichst ganz zu befreien.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten
und Lungenheilstätten.
Von Dr. Geobg Liebe, Waldhof Elgershausen.
Wenn man die Verwendung des Alkohols in den im Titel
genannten Anstalten untersuchen und ihre Berechtigung prüfen
will, so hat man zuerst die Frage aufzustellen und zu beantworten,
als was und mit welcher Absicht der Alkohol daselbst verwendet
wird. Zuerst jedenfalls einer alten, noch ungebrochenen Über¬
lieferung nach als Diätetikum. Schwere Biere werden als Nahrungs¬
und Mastmittel gegeben. Dabei ist der Kalorienwert der bei ver¬
nünftigem Gebrauch in Betracht kommenden Mengen sehr gering,
es sind, wie Martius sagt, unter der Schwelle der Schädigung
liegende Mengen ohne Wert. Abgesehen davon, daß wir namentlich
in Krankenhäusern uns bemühen müssen, die Ernährung nicht auf
den mechanischen Kalorienwert aufzubauen, sondern auch ihren
Energiewert in Betracht zu ziehen, ist der Alkohol überhaupt kein
Nahrungsmittel. Er verbrennt im Körper, gewiß, aber wie das
geschieht und mit welchem Erfolge, darüber wird noch so eifrig
gestritten, daß man darauf seine Verwendung als Nahrungsmittel
nicht bauen kann, und das triviale Beispiel besagt nicht zuviel :
wenn man alles, was im Körper verbrennt, als Nahrungsmittel
betrachten will, so ist auch Glyzerin ein solches, genau so wie
dann, wenn alles, was im Ofen unter Entwicklung von Wärme
verbrennt, als Heizmittel betrachtet wird, das Dynamit ein solches
ist. Es gibt im Krankenhause Fälle, in denen man eine Mastkur
für nötig halten kann. Aber diese kann man sicher durch andere
Mittel viel besser herbeiführen, durch Mittel, die nicht zugleich
Gift sind, und die nicht eine bloße Aufschwemmung wie das Bier
erzeugen. Wenn wir, um das noch zu erwähnen, auch noch den
282
Georg Liebe,
Wein heranziehen, so darf man es wohl als einen ausgesprochenen
Unsinn bezeichnen, diesen als „Blutwein“, d. h. als Blutbildner, zu
geben. Etwa weil der Rotwein dem Blute ähnlich sieht?
Fieberkranken zur Stillung des Durstes und zur Herabsetzung
der Temperatur Alkohol zu geben, ist ebenfalls nicht mehr zeit¬
gemäß. Der Alkohol setzt nach Binz die Temperatur um 0,4°
herab. Die ihm deshalb zuteil gewordene Empfehlung stammt aber
aus der Chininzeit. Wir haben jetzt wahrlich eine reiche Auswahl
anderer Mittel, selbst wenn man das beste und unschädlichste,
Aqua fontana frigida, nicht anwenden will.
Über die sonstige Verwendung des Alkohols als Arzneimittel
zu sprechen, ist heutigen Tages noch nicht ganz einfach. Aber
wir dürfen schon deshalb nicht so stillschweigend daran vorüber¬
gehen, weil vielfach die Grenze zwischen Diätetikum und Medikament
gar nicht scharf zu ziehen ist. Es muß aber doch mit der Zeit
auch in diese rein ärztliche Verwendung des Alkohols hinein¬
geleuchtet werden, nachdem es erwiesen ist, daß man große
Krankenhäuser mit dem besten Erfolge alkoholfrei führen kann.
Hier müssen namentlich die Krankenkassenärzte helfend zur Seite
stehen. r)
Die Holitscher’sche Korrespondenz berichtete vor einiger Zeit:
• • • •
„Uber Aufforderung des Vereins für freie Arzte wähl in Stuttgart
hat Professor Dr. Romberg in Tübingen vor kurzem ein Gutachten
über die Verordnung von Wein, Champagner und Kognak an Mit¬
glieder von Krankenkassen abgegeben, dessen hauptsächliche Ge¬
danken in folgendem wiedergegeben sind.
Es ist zu empfehlen, die genannten Getränke nur als Medikament,
nie als Genuß- oder Kräftigungsmittel auf Rechnung von Kassen
zu verwenden.
Bei diesem Vorgehen genügen geringe Mengen. In der Tübinger
med. Klinik wurden bei 35 000 Verpflegstagen 700 Liter Wein und
gar kein Champagner abgegeben. Von Kognak in 17 000 Ver¬
pflegstagen der letzten drei Monate ein halber Liter.
Zur Begründung führt Prof. R o m b e r g an, daß es den Kassen
nicht zugemutet werden könne, Genußmittel, mögen sie dem Kranken
auch subjektive Annehmlichkeiten bieten, zu liefern; mit dem¬
selben Rechte könnte den Kassen die Beistellung z. B. von Tabak
zugemutet werden. Auch als Kräftigungsmittel können die Alko-
0 Vgl. E. Hirt, München: Alkohol und Krankenkassen. Die Alkoholfrage.
7. Jahrg., Heft 3.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 285-
holiker, da der Alkohol infolge rascher Verbrennung trotz seines
Kalorienwertes wenig für den Haushalt des Organismus leiste, mit
Vorteil für den Kranken durch eine passende Kostverordnnng er¬
setzt werden.“
Der Züricher Akademische Abstinenten -Verein Libertas hat
ein recht brauchbares Flugblatt herausgegeben, in dem er die
therapeutische Verwendung von Alkohol einer scharfen Kritik
unterzieht. Für das Herz : Alkohol vermehrt nicht den Blutdruck,
er erhöht nur die Pulszahl durch Erregung des Herzens, er ver¬
schlechtert seine Erholungsfähigkeit, er erhöht die innere Reibung
(Viskosität) und vermehrt somit die Arbeit des Herzens, er setzt
die Digitaliswirkung herab. Bei Infektion ist er eher schädlich
als nützlich, was bei Pneumonie und Puerperalfieber nachgewiesen
ist. Abstinenzdelirien sind nicht sicher bewiesen, sondern werden
von den meisten Klinikern in Abrede gestellt. Jedenfalls bedarf
die Frage der arzneilichen Verwendung noch sehr der Diskussion
und Aufklärung, weil auch hier manches alte Vorurteil zu be¬
seitigen ist.
Man hält es aber auch vielfach gar nicht für erforderlich, der
Alkoholdarreichung ein diätetisches oder therapeutisches Mäntelchen
umzuhängen, sondern sagt ungeschminkt, daß man ihn in der auch
für Kranke nötigen Geselligkeit und zum Verbessern der Stimmung,,
also doch nur als Genußmittel, nicht entbehren könne. Dagegen
ist zu sagen, daß dort, wo eine Menge Kranker der weniger be¬
mittelten Stände Aufnahme findet, nach meinen Erfahrungen der
Alkohol zum Heben der Stimmung nicht erforderlich ist, ja, daß
man sogar meist im Gegenteile stimmungsdämpfend ein wirken mußr
und daß beispielsweise in den Lungenheilstätten Sonntags am Abend
„aus unerklärlichen Gründen“ ein ganz anderer Lärm herrscht als
Wochentags. Gebildete aber sollen ihn erst recht nicht nötig haben,,
denn die Geselligkeit des Alkohols ist nach jeder Hinsicht wertlos.
Man soll auch für Kranke das ethische und psychische Moment
dieser Frage nie vergessen und ihnen nicht wie dem schreienden
Kinde einen „geistigen Saugpfropfen“ geben. *) Es ist auch für
Kranke durchaus nicht gleichgültig, wenn durch Alkohol das Urteil
gelähmt und so der Leichtsinnige geradezu zu Torheiten verführt
wird. Wie leicht ist es möglich, durch ein leichtfertiges Hinaus-
x) Bieling, Über die Notwendigkeit den Alkohol in ärztlich geleiteten
Heilanstalten in die Apotheke zu verbannen und über die Durchführbarkeit dieser
Maßregel. Zeitschr. f. Krankenpflege. Nr. 10, 1905.
•284
Georg Liebe,
laufen in die Kälte ohne die nötige Schutzkleidung einen Erfolg
wieder einzureißen, oder wie leicht bringt auch der mäßige Alkohol¬
genuß eine bei manchen Kranken nur mühsam zurückgehaltene
sexuelle Erregung in gefährlicher Weise zur Explosion. Die Kranken
sollen auch frohe Tage haben, und das Bestreben des Arztes muß
es sein, ihnen so oft und so gut als möglich über trübe Gedanken
hinwegzuhelfen. Aber dazu bedarf es nicht des Alkohols. Man
kann eine sehr fidele Bowle, ein frohes Sommerfest und eine recht
lustige laute Silvesterfeier veranstalten, ohne daß in den recht
wohlschmeckenden Getränken auch nur ein Tropfen des angeblich
so nötigen Spiritus ist.
Ganz bedenklich, weil geradezu unmoralisch, ist es, wenn in
einer dem Wolile von Kranken dienenden Anstalt Alkohol aus
Gründen gegeben wird, die nicht den Wissensschätzen des Arztes,
sondern teils dem Geldbeutel der einen, teils der Unkenntnis irgend¬
welcher Vorgesetzter Laien entspringt. Es wird, wie mir einmal
ein gar nicht alkoholfreundlicher Arzt einer Privatanstalt sagte,
zu viel am Weine verdient, als daß man ihn ohne weiteres weg¬
lassen könnte. Nun könnte man ja den unangenehmen Trinkzwang
auch zum Genuß alkoholfreier Getränke ausüben. Aber es wird
an diesen vielleicht nicht so viel verdient, und dann ist ja aus
naheliegenden Gründen mit der prinzipiellen Verdrängung des
Alkohols meist auch der Grundsatz der Freiheit in bezug auf das
Trinken eingeschlossen, salus aegroti suprema lex. Man glaubt
aber gar nicht, wenn in einer Heilanstalt die Leute nicht trinken
müssen, wie oft sie dann das Trinken überhaupt lassen. Nun
stehen wir auf dem Standpunkte, daß zum Besten des Kranken
dieser Verlust getragen werden muß. Der alte Peter Reimers in
„Helmut Harringa“ bringt auch ein lockendes hohes Gehalt seiner
Überzeugung zum Opfer, trotzdem er dadurch vielleicht seinem
Sohne manchen Zuschuß zur Ausbildung versagen muß. Es gibt
freilich noch nicht allzuviel solche Männer. Aber der Arzt darf
nicht Helfer des Alkoholgewerbes werden . . Die ganze Alkohol¬
frage spitzt sich immer mehr auf einen Kampf gegen die Tyrannei
des Alkoholkapitals zu. Und der Arzt gehört einem freien Beruf
an, der sich nur von seinem WTissen und Gewissen, aber nicht von
derartigen Geldbeutelinteressen leiten lassen darf. Die Ärzteschaft
steht wahrhaftig jetzt in einem harten Kampfe und muß alles ver¬
meiden, was irgendeinen Fleck auf sie spritzt. x) In einer großen
x) Um so schlimmer, daß sogar Universitätslehrer sich zu Eednern im Inter¬
esse der Brauer usw. hergeben.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 285
Lungenheilanstalt scheiterten die Versuche des äußerst tüchtigen und
ehrenhaften, in der wissenschaftlichen Welt hoch angesehenen
Arztes, den bis dahin üblichen Kognakverbrauch einzuschränken,
an dem eisernen ^Villen der Aktionäre. In Delbrück’s Rund¬
fragen über die Irrenanstalten x) erklärte ein Arzt, daß die Vor¬
gesetzte Behörde es nicht zugelassen habe, daß er aus der Anstalt
den Alkohol entferne, trotzdem er ihn für gefährlich hielt. Was
hat sich der Vorgesetzte, wohl ein Jurist, der von dieser Frage
anscheinend gar nichts verstand, da hinein zu mengen? Wissen¬
schaftliche Gründe waren hier sicher nicht maßgebend. Wie anders
klingt es, wenn aus dem städtischen Krankenhause in Stettin eine
ständige Abnahme des Alkoholverbrauchs gemeldet wird1 2) mit dem
Zusatze: „Der Rückgang ist lediglich auf die zielbewußte Ver¬
ständigung zwischen der Verwaltung und den ärztlichen Direktoren
zurückzuführen“. Dr. Briegleb erzählt, daß er eine verwandte
Person in einer Lungenheilanstalt gehabt und besucht habe, und
daß er dort selbst beobachtete, wie ein Patient eines Abends eine
Kognakrechnung von 15 M. machte, und wie ein andermal die
Patienten nach einem Sektgelage mit den Flaschen und dem Sekt¬
kühler Kegel spielten. Rosenfeld3) macht sehr richtig darauf
aufmerksam, daß aus solchen Anstalten Frauen und Kinder, bei
denen vorher an Alkoholgenuß nicht zu denken war, als ausgemachte
Trinker zurückkommen.
Umgekehrt soll jede Krankenanstalt ein Vorbild sein, auch in
bezug auf Lebensweise und Ernährung, was für Lungenheilstätten
ganz besonders gilt. Wir werden darauf noch zurückkommen.
Gerade auf dem Gebiete der Krankenanstalten spielt doch die
volkswirtschaftliche Seite unserer Frage eine große Rolle. Und
zwar nicht nur die unmittelbaren Kosten des gegebenen Alkohols
selbst, über die noch zu sprechen sein wird, sondern auch die
Kosten, die zum großen Teile durch den Alkohol für Kranken¬
häuser, Irrenanstalten, Heilstätten und hierzu zu zählende Gefäng¬
nisse, Armenanstalten, Siechen- und Arbeitshäuser entstehen.
1) Die Abstinenz in Irrenanstalten. Psychiatrisch-Neurologische Wochenschr.
Nr. 50—51, Jahrg. 1905.
2) Mäßigkeitsblätter Oktober 1911.
3) Rosenfeld, Der Einfluß des Alkohols auf den Organismus. Wiesbaden
1901, S. 255.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
19
286
Georg Liebe,
Irrenanstalten.
**
Der Alkohol wirkt schädigend auf das Nervensystem. Diese
alte Binsenwahrheit muß man hier voranstellÄ. Nach Rosen¬
feld gleichen seine Wirkungen den Bildern, die wir Tabes,
Landrysche Paralyse, quere Myelitis, Paralyse u. a. nennen, ge¬
radezu „zwillingsbrüderlich“. Wir finden periphere Neuritis, Ischias,
Erkrankung der Hirnnerven, besonders der Optici, alle Gruppen
von Lähmungen. Der bekannte Einfluß des Alkohols auf die
Tätigkeit des Gehirns, die geistige Arbeit der Kinder, Berufsarbeit
der Schriftsetzer, der Maschinen Schreiber usw. kann hier nur flüchtig
erwähnt werden.* 1) Betreffs der pathologisch-anatomischen Ver¬
änderungen, über die sich wohl Widerspruch bisher noch nicht
erhoben hat, ist bei Rosenfeld (a. a. 0.) S. 97 — 101 u. 115 — 119
oder bei Hoppe2) nachzulesen. Über den Zusammenhang der
wirklichen Geisteskrankheiten mit Alkohol 3) seien nur einige
Zahlen gesagt. W right4) schiebt 75 Proz. der Dementia paraly-
tica auf den Alkohol. Kraepelin5) fand bei den geisteskranken
Männern, die 1893 in Herzberge aufgenommen wurden, in 70 Proz.
Alkohol als Ursache. In Dalldorf waren am 1. April 1905 von
2072 Männern und 1661 Frauen 357 = 14,8 Proz. und 30 = 1,8 Proz.
Alkoholisten. Und das waren nur die direkten alkoholischen
Störungen, während der Alkohol noch in einer viel größeren Anzahl
mitgewirkt hatte.6) Denn Sn eil sagte zur Versammlung der
Irrenärzte in Hannover7) sehr richtig: „Wir müssen uns in den
meisten Fällen auf die Angaben des Kreisphysikus verlassen, der
das Gutachten für die Aufnahme des Kranken in die Anstalt
liefert; der Kreisphysikus muß sich oft auf die Angaben der Ver¬
wandten verlassen. Nach der Meinung der Angehörigen sind nun
die meisten Geisteskrankheiten durch psychische Einflüsse ver¬
ursacht, und es ist merkwürdig, wie schwere Folgen oft einem
• •
geringen Schreck oder Arger zugeschoben werden.“ Andere Ur¬
sachen, darunter besonders der Alkoholismus, dessen man sich mit
*
1) Helenius, Die Alkoholfrage. Jena 1903, S. 185.
2) Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol. 3. Aufl., Berlin 1904, S. 138 ff.
3) Zahlen bei Hoppe, S. 274 ff. Auch Bär, Der Alkoholismus. Berlin 1878,.
S. 362 ff.
4) Helenius, S. 187.
5) Helenius, S. 191.
6) Jahresbericht 1905/6.
7) Helenius, S. 184.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 287
eigenem schlechtem Gewissen schämt, werden verschwiegen. Dazu
kommt noch die offene Frage: was ist überhaupt Alkoholismus?
Wir haben in den lungenärztlichen Spezialschriften darüber eine
Fehde gehabt. YVolff fand unter seinen Privatkranken 12 Proz.,
unter den Arbeitern (!) nur 7 Proz. solcher, die er als Alkoholisten be¬
zeichnen zu müssen glaubte, während ich selbst einen Prozentsatz von
67 herausfand. So verwunderlich das klingen mag, so habe ich doch
nicht zuviel gesagt, denn eine Mittelzahl, die ich aus den Berichten
von 12 Autoren und Anstalten zusammenstellte, ergab 61,84 Proz.
Dabei bezeichnen wir als Alkoholisten im ärztlichen Sinne jeden, der
täglich gewohnheitsmäßig Alkohol trinkt; außerdem natürlich auch
die Trinker. Die Wissenschaft kennt ja auch eine große Reihe
von Alkoholpsychosen,1) Dipsomanie, pathologische Rauschzustände,
Delirium, akute und chronische alkoholische Verrücktheit, alkoho¬
lische Paralyse und Pseudoparalyse, Epilepsie.2) Ist hiervon das
Delirium am bekanntesten, so ist vielleicht die Epilepsie am wich¬
tigsten, denn sie kommt nach neuen Anschauungen viel mehr vor,
als wie sie sich durch ausgesprochene Anfälle unverhüllt zeigt.
In den Londoner Irrenhäusern fanden sich im Jahre 1906/07
327 Fälle von Epilepsie. Bei diesen war in 26 Proz. Alkoholismus
der Eltern, in 16 Proz. der Kranken selbst nachzuweisen. Alkoho¬
lismus tritt nun entweder zu Epilepsie hinzu — die gefährlichste
Verbindung in dieser Psychochemie — oder er löst sie aus der
vorhandenen Disposition aus. Als Bindeglied wird vielfach auch
die ihm zugeschriebene Arteriosklerose betrachtet.3) Wir brauchen
nur an die bei Epileptischen vorkommende Trübung des Bewußt¬
seins zu denken, die ja übrigens der Alkoholismus auch ohne Epi¬
lepsie hervorbringt, um über die Behauptung nicht zu erschrecken,
daß ein großer Teil der Selbstmorde vom Alkoholismus herrührt.
Im Jahre 1908 waren von 8231 in Preußen vorgekommenen Selbst¬
morden 779 = 9,5 Proz. unmittelbar unter der Wucht des Alko¬
hols geschehen, während die Zahl derer, bei denen sich der
Alkoholismus in Lebensüberdruß, geistiger Umnachtung, Trauer,
Reue usw. verbarg, natürlich viel höher war. Ebenso steht es mit
den Verbrechen. 130 Alkoholiker in der Irrenanstalt Frankfurt a. M.
hatten zusammen Hunderte von Jahren Strafen erlitten. Irrfahrten
0 Rosenfeld, S. 222 ff.
2) Vgl. Sichel, Der Alkohol als Ursache der Belastung. Neurologisches
Zentralbl., Bd. 29, 1910, S. 738—740.
3) Vgl. Dr. E. Herrn. Müller, Epilepsie und Alkohol. Internationale
Monatsschr., 1910, S. 358.
19*
288
Georg Liebe,
und planlose Taten, „intrapsychische Sejunktionen“, die derartige
Kranke mit dem Strafrichter in Berührung bringen, ferner der
Eifersuchtswahn gehören vielfach auf das Schuldkonto des Alkohols,
letzterer nach Puppe’s sicher noch zu niedrig gegriffenen Zahl
in 11 von 50 Fällen, also 22 Proz.
In einem Vortrage: „Pathogenese und Therapie der
Epilepsie und Hysterie“1) kommt Binswanger in Jena
auf diesen Zusammenhang des Alkoholismus mit der Epilepsie zu.
sprechen. Der Alkoholismus ist hiernach jedenfalls ein wesent¬
licher ätiologischer Faktor der Epilepsie und kann selbst nach
jahrelangem Stillstände des Leidens wieder neue Anfälle auslösen.
Bei der reinen Alkoholepilepsie ist die kausale Therapie: absolute
Abstinenz. Diese reine Alkoholepilepsie findet man oft schon nach
kurzem Bestehen des Alkoholismus, z. B. bei Studierenden im 1.
oder 2. Semester, die nachweislich vor der Studienzeit äußerst mäßig
gelebt hatten. Unter der Abstinenz schwindet auch die Epilepsie,
während bei der habituellen Epilepsie der Trinker die Anfälle trotz
Abstinenz fortbestehen. In dieser zweiten Gruppe chronischer Trinker
sind auch die durch den Alkoholmißbrauch verursachten körper¬
lichen und geistigen Verfallssymptome viel deutlicher vorhanden.
Nicht selten schließen sich bei ihnen die epileptischen Anfälle an
Delirium tremens an oder folgen diesem nur wenige Tage nach.
So steht es mit den Insassen der Irrenanstalten, und es fragt
sich nun, darf man in Irrenanstalten den Kranken Alkohol geben ?
Da ist zuerst mit ausnahmsloser Bestimmtheit zu sagen, daß Alko¬
holiker durchaus alkoholfrei gehalten werden müssen. Sie haben
gegen die geringste Menge von Alkohol eine hohe Empfindlichkeit,
die zu den schlimmsten Folgen führt. Holitscher berichtet in
seiner Korrespondenz: „Folgende Begebenheit, die einen schlagenden
Beweis dafür liefert, wie gefährlich dem gewesenen Trinker jeder
Tropfen Alkohol werden kann, verdient wegen der ernsten Lehre,
die sie enthält, weiteste Verbreitung. Ein früherer Trinker, der
durch seine Trunksucht in die Irrenanstalt geführt worden war,
wurde von Kraepelin geheilt und zum Anschlüsse an den Gut¬
templerorden bewogen. Zwei Jahre lang lebte er vollständig ab¬
stinent, war ein eifriges Mitglied der Loge, begeisterter Agitator
und felsenfest überzeugt; die Ordensbrüder glaubten Häuser auf
ihn bauen zu können. Eines Tages bekam er Zahnschmerzen; ein
*) Zeitschrift f. ärztl. Fortbildung 1911, Nr. 17. Nach einem Referate Ton
Dr. Gutzeit-Neidenburg.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 289
guter Freund riet ihm, sich den Mund mit Kognak auszuspülen ;
er tat es, spuckte das erstemal aus, spülte nochmals und schluckte.
Dies genügte, um die Alkoholsucht in ihm zu erwecken. Er trank
mehrere Tage ununterbrochen bis zur völligen Bewußtlosigkeit,
bis er eines alten, längst geheilten Blasenleidens wegen, das durch
den Alkohol „genuß“ wieder zum Ausbruche gekommen war, ins
Krankenhaus eingeliefert wurde. Nach seiner Entlassung aus dem
Krankenhause wurde er wieder in die Loge aufgenommen und hat
sich bisher tadellos geführt ; die Brüder meinen, daß er durch diese
_ * • •
Erfahrung endgültig geheilt sein wird. Für die Arzte möge dieser
Vorfall eine Mahnung sein, den Angehörigen der geheilten Trinker
mit der größtmöglichen Eindringlichkeit die Gefahr zu schildern,
die jeder, auch der allergeringste Alkoholgenuß für Alkoholintole¬
rante mit sich bringen kann.“ a)
Und wie steht es mit anderen Kranken? Dietz1 2) nennt
sieben Gruppen von Kranken, denen keine alkoholischen Getränke
gegeben werden dürfen. Von 472 Fällen waren:
Strenge alkoholische Geistesstörungen
4
Proz.
Alkoholismus mit Geistesstörung
15
Epileptische Alkoholiker
1
Epileptiker
8
Arteriosklerotische Erkrankungen
0,5
Paralyse
3
Junge (bisher abstinente) Idioten
8
40
Proz.
Dazu kommen von den anderen Kranken schwer verblödete
und im Bette behandelte 27 Proz. Also 67 Proz. oder 2/3 aller
Insassen der Irrenhäuser sind nach Dietz medizinisch alkoholfrei
zu behandeln. Daraus ergibt sich aber für eine gut geleitete
Irrenanstalt, daß auch das letzte Drittel alkoholfrei gehalten wird.
Denn nicht nur müssen oft Umquartierungen aus einer in die
andere Abteilung vorgenommen werden, sondern es erregt auch
den Neid und die Gier der Alkoholiker, wenn sie merken (oft
schon durch das Vorfahren des Bierwagens), daß andere Kranke
das so heiß ersehnte Bier bekommen. Die Sucht, endlich frei zu
werden und wieder trinken zu können, wird dadurch geradezu ge-
1) Andere Fälle bei Bleuler, Der Alkohol in öffentlichen Anstalten. Verlag
des Alkoholgegnerbunds, S. 1 — 8.
2) Dietz, Ist der Verzicht auf Alkohol als Genußmittel in der Irrenanstalt
wünschenswert? Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie und psychisch-gerichtliche
Medizin, Bd. 62.
290
Georg- Liebe,
weckt. Wir müssen also mit Dietz für Irrenanstalten die Forde¬
rung aufstellen, daß gar kein Patient Alkohol bekommt und müssen
• •
aus gleichem Grunde für die Arzte und das Personal, die immer
für die Kranken als Vorbild wirken, in der Anstalt Enthaltsamkeit
vom Alhohol verlangen.3)
Wie steht es nun in der Tat mit dieser Frage in den Irren¬
anstalten. Dietz teilt mit, daß in Württemberg strenge Abstinenz
durchgeführt sei, ebenso in Egelfing bei München mit 1200 Betten
(vielleicht durch Kraepelin’s Einfluß), in Goddelau, wo Dietz
bisher war, auch auf der Männerabteilung, ebenso in Alzey, Weins¬
berg, Johannisthal-Süchteln, in Mauer-Oehling, in Valduna, in Heidel¬
berg seit 1893 ohne Schwierigkeit.* 2) In Frankfurt hält man die
Alkoholiker und Epileptiker frei, in Hoch Weitzschen nur die letz¬
teren,3) in Kaiserswerth ist der Alkohol auf ein Minimum be¬
schränkt,4) Alt-Strelitz und Münsingen schränken den bisherigen
Fest- Alkohol ein, Andernach hält die Männer fast, die Frauen
ganz alkoholfrei. Wie Chefarzt Dr. Ernst Beyer in einem zu
Bonn gehaltenen Vortrage mitteilte, ist aus der mit einem Kosten-
aufwande von 1000000 M. für 145 Kranke neuerbauten ersten
rheinischen Volksheilstätte für Nervenkranke in Roderbirken bei
Leichlingen der Alkohol vollständig verbannt. Dr. Beyer erklärt,
bisher gut damit durchgekommen zu sein. An Getränken gibt es
Milch ad libitum, Kaffee, d. h. zur Hälfte Malzkaffee, ev. Kakao
und im übrigen — aqua pura. Auch Tee ist nicht eingeführt.5)
Delbrück verschickte 173 Fragebogen und bekam 136 Ant¬
worten. 30 antworteten mit nein, 14 mit ja, 92 gaben Alkohol in
9 Medizinalpraktikant E. Jeske hat (nach Med. Klinik 35, 1911) folgendes
festgestellt :
Im Laufe des Jahres 1910 wurde in Breslau in der psychiatrischen Klinik
und in der Städtischen Heilanstalt eine auffällige Abnahme der Aufnahmeziffer
der Erkrankungen an Delirium tremens beobachtet. Es hat sich ergeben,
daß der Sturz der Häufigkeit der alkoholistischen Geistesstörungen zeitlich zu¬
sammenfällt mit zwei für die Bekämpfung des Alkoholismus bedeutsamen Tat¬
sachen, nämlich dem sozialdemokratischen Schnapsboykott und der letzten Brannt-
weinsteuergesetzgebun g.
2) Deiters, Dritter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. Psychiatr.-
Neurolog. Wochenschr., 1904, Nr. 36 (3. Dez.) bis 1905, Nr. 43 (21. Jan.).
3j Deiters, Der Stand des Irrenwesens innerhalb des deutschen Sprach¬
gebiets im Jahre 1900 — 1901. Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr., 1902, Nr. 16
(19. VII.) bis Nr. 21 (23. VIII.).
4) Deiters, Zweiter Bericht über die Fortschritte des Irrenwesens. Psychiatr.-
Neurolog. Wochenschr., 1903, Nr. 10 (6. VI.) bis Nr. 13 (27. VII.).
5) Zentralbl, f. allgem. Gesundheitspflege, 26. Jahrg., 2. Heft.
Der Alkohol in Krankenhäusern. Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 291
Beschränkung. Also 17 Proz. der antwortenden Anstalten sind als
abstinent zu bezeichnen, 2 — 3 deutsche haben abstinente Ärzte.
Nur in Zürich und Münsterlingen sind alle Ärzte abstinent. Nur
8 haben abstinente Pfleger, nur 10 haben einen abstinenten Koch,
und ganz und gar alkoholfrei von oben bis unten sind überhaupt
nur 2. Dietz teilt aus Goddelau interessante Zahlen mit:
Bier Wein Mineralwasser Goldblondchen
Männer: 0 1 0,75 1 35 Fl. , 8 Fl.
Frauen: 31,8 1 2,30 1 23 Fl. 13 Fl.
Hierzu ist zu bemerken, daß, wie schon erwähnt, die Männer¬
station einen abstinenten Oberarzt hatte, die weibliche einen solchen
trinkenden. Der Direktor aber enthielt sich der Entscheidung!
Der Posten von 0,75 1 Wein in der Männerstation setzte sich zu¬
sammen aus einem alten nicht, mehr besserungsfähigen Pensionär
und den ärztlichen Verordnungen in der Apotheke.
Noch ein paar Worte über das Ausland: Steinhof bei Wien
mit 2 — 3000 Betten, Salzburg, Klosterneuburg sind abstinent. Eng¬
land gibt wenig, und auch dieses ist in der Abnahme begriffen.
Die schon mehrfach genannte „Korrespondenz“ berichtet: „Bei
einem Stande von 17 000 Pfleglingen und einem Personale von bei¬
nahe dritth alb tausend Köpfen ist der Bierverbrauch der Londoner
Irrenanstalten nicht ganz 55 Hektoliter. Demgegenüber muß es
wahrlich eigentümlich berühren, wenn eine einzige deutsche Irren¬
anstalt itfit einem Belage von 640 Betten und einem aus 100 Köpfen
bestehenden Personale in einem Jahre nicht weniger als 650 Hekto¬
liter Bier verbraucht. Die Provinzialheilanstalt Aplerbeck in West¬
falen schreibt unter den zu liefernden Wirtschaftsbedürfnissen für
das Jahr 1907/8 auch die Lieferung von 65000 Liter Bier aus,
also 12 mal so viel, als die Londoner Anstalten mit 26 mal so viel
Menschen brauchen.“ Aus alledem ergibt sich für uns die unbe¬
dingte Forderung: volle Abstinenz für alle Kranken der Irren-
• •
anstalten, und ebenso für alle Arzte und das gesamte Personal
wenigstens „im Dienste“, d. h. auch in den Wohnungen, soweit sie
in der Anstalt liegen. Daß das praktisch beinahe völliger Ent¬
haltsamkeit gleichkommt, ist kein Fehler.1)
9 Vgl. Disput zwischen Schloß und Hoppe. Schloß, Zur Frage der
Alkoholabstinenz in Irrenanstalten. Psychiatr.-Neurolog. Wochenschr., 1902, Nr. 5
(3. V.). Gegen Hoppe, ebenda 1901, Nr. 34 (16. XI.) und 1902, Nr. 52 (22. III.).
Dann: Hoppe, Noch einmal die Alkoholabstinenz in Irrenanstalten, 1903, Nr. 15
(11. VII.).
292
Georg Liebe,
Lungenheilstätten.
Manches von dem über Irrenanstalten Gesagten hat auch auf
die Lungenheilstätten Bezug, weshalb wir uns hier einigermaßen
kürzer fassen können. Wir müssen voranstellen, daß Alkohol die
Tuberkulose mit herbeiführt und zum mindesten befördert, daß er
dazu disponiert, und daß ein Stoff, der diese Wirkung hat, unbe¬
dingt aus den Heilstätten entfernt werden muß. Die Tuberkulose
ist eine Infektionskrankheit, d. li. sie wird erzeugt durch den Ba¬
zillus, sofern er mit der Disposition zusammentrifft. Diese Disposi¬
tion wird aber unter anderem ganz entschieden auch vom Alkohol
erzeugt. Denn er macht alle Organe krank, die man braucht, um
eine Infektion zu überwinden. Er verursacht Rachen- und Kehl¬
kopfkatarrh, er schädigt den Magen, ebenso die sicher giftfeindlich
wirkende Leber sehr stark, das Herz in seiner Arbeit (Gefahr der
Blutungen!), er schädigt das Nervensystem (die Psycho-Pathologie
der Tuberkulösen unterliegt jetzt erst dem besonderen Studium).
Wir wissen ferner, daß er in der feinen Konstruktion des Proto¬
plasmas Änderungen herbeiführt, daß er die phagozytären Schutz¬
kräfte schwächt. Achard und Gaillard teilten auf dem Tuber¬
kulosekongresse zu Paris mit, daß sie die Angaben von Mir coli,
Servino und Ross nachgeprüft und gefunden hätten, daß mit
Tuberkulose infizierte Tiere ohne Alkohol 174 Tage lebten, solche,
denen man Alkohol subkutan beigebracht 63, Tage und die ihn per
os bekamen 76 Tage. Laitinen teilte schon 1905 und wieder 1909
in Stockholm mit, daß durch 0,1 ccm Alkohol pro Kilo Tier die
hämolytische Fähigkeit des Kaninchenblutes benachteiligt und das
bakterizide Blutvermögen herabgesetzt werde. Diese Befunde wurden
von Walter Kern bestätigt.1) Hunt in Washington fand, daß
die Ursache der Alkoholtoleranz mancher Menschen auf erhöhter
Fähigkeit beruht, ihn zu oxydieren. Damit ist aber verbunden
eine erhöhte Empfindlichkeit gegen andere Gifte. Das wirft auf
die Befunde von Laitinen ein helles Licht. Er teilt auch mit,
daß die Menge der Ätherschwefelsäure im Urin (die ein Zeichen
von hoher Darmfäulnis ist) durch Alkohol bei Mäusen von 8—9
auf 25 mg stieg. Man muß aber trotz mancher entgegenstehender
Beobachtung und Behauptung der neueren Verdauungslehre immer¬
hin annehmen, daß erhöhte Darmfäulnis im Sinne einer Wider-
*) Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. 66, H. 3. Keferat,
Münch, med. Wochenschr. 1910, Nr. 42.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 293
Standsfähigkeit des Körpers ungünstig einwirkt.1) Schließlich sei
noch an die Opsonine erinnert. Immunität ist das Zusammenwirken
von Blutserum und Phagocyten. Diese vernichten die Bakterien
aber nur dann, wenn das Blutserum sie durch Opsonine vorbereitet.
Die Zahl, die die Kraft dieser Opsonine anzeigt, ist der opsonische
Index, und dieser Index wird durch Alkohol erniedrigt. Stewart
fand durch 56 g Portwein den Tuberkelbazillenindex um 37 Proz.
erniedrigt, den des Streptokokkus um 42 Proz., und bei der gleichen
Menge Schnaps waren die Zahlen 88 und 36 Proz., und Park in- '
son fügte die Beobachtung hinzu, daß schon kleine Mengen diese
Wirkung haben. Daraus erklärt sich auch die große Sterblichkeit
der Alkoholberufe an Tuberkulose. Es kann indessen darauf, wie
auch auf manche andere Beziehung zwischen diesen beiden
Menschenfeinden hier nicht näher eingegangen werden.
Was ergeben sich daraus für die Lungenheilstätten für Folge¬
rungen? Wie schon erwähnt, die, daß der die Tuberkulose fördernde
Alkohol nicht in eine gegen die Tuberkulose gerichtete Heilanstalt
gehört. Dagegen wird vor allem gesagt, daß man wohl in einer
geschlossenen Irrenanstalt die Kranken abstinent halten könne,
daß aber die Lungenheilanstalten eine ziemliche Bewegungsfreiheit
gestatten, und daß deshalb die Kranken doch Mittel und Wege
finden, außerhalb der Anstalt zu trinken. Also: laissez faire,
laissez boire. Das ist an sich wahr. Man könnte hier wohl ein
Kapitel über Ethik, Charakterfestigkeit, Vernunft usw. des Volkes
einfügen, wenn es hier an der Zeit wäre. Die Leute kommen zur
Kur, d. h. um sich ihre Gesundheit und Arbeitsfähigkeit wieder
zu holen. Weib und Kind befinden sich oft im Elende, wie
Briefe zeigen, die an den Arzt gerichtet werden, oder die den
Kranken zum Abbruche der Kur veranlassen. Und doch benutzen
die meisten die Dorfkneipe, ja man merkt nicht selten, daß sie sich
von der Frau ab und zu Geld schicken lassen.
Nicht in einer, sondern wohl in den meisten Anstalten werden
hier und da Betrunkene erwischt. Der Sonntagabend zeigt im Ge¬
gensätze zu den anderen Wochentagen einen absonderlichen Lärm
und führt bei Vermahnungen zu frechen Auftritten, so daß man da
schon so viel als möglich die Ohren zustopft. Das „Die cur hic“
steht den wenigsten vor Augen. Und wenn sie fort sind, schreiben
sie von der nächsten Umsteigestation eine bierselige Karte und
ahnen nicht, daß sie sich damit ihrem größten Feinde wieder in
l) Siehe das Züricher Flugblatt und Kosenfei d, S. 145—149.
294
Georg Liebe,
die Arme geworfen haben. Und trotzdem ist es richtig und nötig,
in der Lungenheilanstalt gar keinen Alkohol zu geben. „Das ge¬
schieht ans pädagogischen Gründen. Die Heilanstalt soll eine
theoretische und praktische Schule der Gesundheitspflege sein,
was man dort bekommt, soll gat sein und daher nachahmenswert.
Darauf beruht ein grober Teil der Tätigkeit des Heilstättenarztes.
Wir belehren unsere Kranken theoretisch, durch Vorträge, bei der Auf¬
nahme und Untersuchung, gelegentlich beim Rundgange usw. über Er¬
nährung, Kleidung, Wohnung, Körperpflege und dergl. Ich belehre sie
auch über die Alkoholfrage. Wir zeigen ihnen praktisch, wie eine ge¬
sunde, einfache, bürgerliche Ernährung beschaffen ist, daß Milch
ein gutes Nahrungsmittel als Beigabe zur sonstigen Kost ist. Wie
man sich kleidet, wäscht, abreibt, hustet und spuckt, für Stuhlgang
sorgt (ich erinnere an Dettweiler’s Beobachtungen bis ins
kleinste!). Wir bringen sie in luftige und gelüftete Wohnungen,
die wir im Winter nicht überhitzen, lassen diese täglich feucht
wischen und sauber halten usw. Alles dieses sollen die Leute, so¬
weit möglich, später nachmachen. Auch die Beköstigung. Alles,
was sie bekommen, ist gut, empfehlenswert, nachahmenswert. Hier
paßt der Alkohol nicht hinein. Denn wenn er (es ist hier wohl
nur von Bier die Rede) gegeben wird, so wird er eben auch als
gut, empfehlenswert, nachahmenswert, als zu einer Musterernährung
gehörig hingestellt, und dadurch werden die Leute angefeuert, von
diesem Guten später auch wieder möglichst viel zu sich zu nehmen.
Gut muß es doch sein, sonst würden wir es ja in der Anstalt nicht
bekommen haben. Das ist ein einfaches logisches Argument, gegen
das gar keiner angehen kann und wohl auch nicht wird. Wenn
die Kranken jetzt doch noch Alkohol trinken, aus dem Schranke
oder in der Kneipe, so wissen sie wenigstens: nach Ansicht unse¬
res Arztes ist das nicht gut, ja schädlich. Aber wir sind leicht¬
sinnig und tun es doch.“ x) In der Tat ist die Abstinenz in
Lungenheilstätten jetzt über meine früher einzige alkoholfreie An¬
stalt Waldhof Elgershausen hinausgewachsen. Die der Landes¬
versicherungsanstalt für die Rheinprovinz gehörige Heilstätte
Ronsdorf ist alkoholfrei und hat sogar ganz alkoholfreies Personal.
In anderen Anstalten versuchen die auf dem gleichen Standpunkte
stehenden Ärzte den Alkohol mehr und mehr herauszudrängen. Von
seiten der Versicherungsanstalten wird neuerdings mit größtem
b Liebe, Der Alkohol als Heilstättenstreitfrage. Mediz. Reform 1906, Nr. 49.
Liebe, Alkohol und Tuberkulose. Zentralbl. f . allgem. Gesundheitspflege, 30. Jahrg.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 295
Verständnisse dieser scharfe alkoliolfeindliclie Standpunkt mehr
und mehr eingenommen, die Namen der Landesräte S ch eil m ann
in Düsseldorf, Hansen in Kiel, Kraß in Münster und des Ge¬
heimrat Dietz in Darmstadt sind jedem auf dem Gebiete Ar¬
beitenden bekannt. Andere Versicherungsanstalten dulden die
Alkoholfreiheit, wenn auch von mancher Seite noch eine Reihe von
Bedenken dagegen erhoben werden. Von einer allgemeinen
Einführung in Lungenheilstätten oder gar in privaten Lungenheil¬
anstalten und Sanatorien kann noch gar nicht die Rede sein.
Und doch ist auch hier die scharfe Forderung nach Freiheit
dieser Krankenanstalten vom Alkohol zu stellen, und es ist auch
vom Arzte aus vorbildlichen Gründen die Enthaltsamkeit zu
wünschen. Jedenfalls sollen Arzt und Personal dort sich alkohol¬
frei halten, wo sie mit den Kranken zusammen sind, selbst bei
Festen und auf Ausflügen. Meine streng durchgeführte Abstinenz
ist immer wirksamer gewesen als Vorträge und Belehrungen. Ich
darf auf Briefe von früheren Patienten verweisen, von denen ich
eine Anzahl veröffentlicht habe. x) Jetzt müssen wir noch immer
auf das vorbildliche Ausland sehen, die Schweiz, Schweden-Norwegen,
Dänemark, auch die Anstalt von Trudeau in Amerika ist alkoholfrei.
Krankenhäuser.
Auch aus diesem Abschnitte mußte notgedrungen schon manches
im vorigen vorausgenommen werden. Ich wiederhole ganz allgemein :
Alkohol macht krank; alle Organe leiden unter ihm. Denken wir
beispielsweise an das vorhin nicht erwähnte und für die Verdauung
so ungemein wichtige Pankreas. Im Jahre 1904 litt im Charlotten¬
burger Krankenhause auf der Station von Prof. Grawitz jeder
dritte Mann über 30 Jahren an den Folgen des Alkohols. Fern et
führte in den Pariser Krankenhäusern 1/3 aller Todesfälle auf den
Alkohol zurück und zwar 1I10 auf ihn als einzige Ursache, 2/30 als
Nebenursache. 2) Betreffs weiterer Zahlen kann man auf sämtliche
bekannte Werke über den Alkoholismus verweisen. Und da diese
Voraussetzung feststeht, so ergibt sich auch hier unweigerlich die
Forderung: heraus mit dem Alkohol aus den Krankenhäusern. Auf
diesem Gebiete ist uns England in musterhafter Weise vorangegangen.
„Aus sieben großen Londoner Krankenhäusern (St. Bartholomew’s,
1) Liebe, Alkohol und Tuberkulose. Brauer’s Beiträge, V. Bd., H
2) Münch, med. Wochenschr. 1903, Nr. 4, S. 204
296
Georg Liebe,
Guy’s, Middleser, St. George’s, St. Mary’s, University College, West-
minster) liegen die Ausgaben für geistige Getränke und für Milch
in den Jahren 1862 — 1902 vor. Diese betrugen:
Ausgabe für geistige
Ausgabe
Jahr
Bettenzahl
Getränke
für Milch
£
£
1862
2254
7712
3026
1872
2361
7974
4237
1882
2354
5090
7795
1892
2275
3740
7362
1902
2300
2925
9035
Unter diesen Ausgaben sind die für Kranke und Personal ver¬
standen; sie beleuchten besser als dicke Bücher den Wechsel in
den Anschauungen der englischen Ärzte über den Wert des Alkohols
als Heilmittel.“ x)
Wenn wir die Zahlen in Mark umrechnen und den Verbrauch
im Jahre 1862 und 1902 vergleichen (154 240 M. und 58500 M.),
so ergibt sich im letzteren Jahre ein Gewinn von 95 740 M. Milch
kostete 1862 60520 M., 1902 180700 M. Trotz dieser Verdreifachung
des Milchverbrauchs aber ist gegen 1862 doch noch ein Gewinn
von 24440 M. festzustellen. Dagegen haben Ungarns Kranken¬
häuser im Jahre 1905 323333,81 K für Alkohol ausgegeben. In
der Schärr’schen Zeitschrift „Mehr Licht“2) wird folgendes mit¬
geteilt. „Dem soeben erschienenen Verwaltungsberichte des Bürger¬
spitals Basel pro 1908 entnehmen wir, daß die Verabfolgung von
alkoholischen Getränken, speziell Wein und Bier, an Patienten und
Dienstpersonal immer noch nicht im Abnehmen begriifen ist, trotz¬
dem andererseits die medizinische Wissenschaft sich größtenteils
nicht nur gegen den Mißbrauch, sondern auch gegen den Gebrauch
der geistigen Getränke als Genußmittel ausgesprochen hat. Es
sind verausgabt worden:
1907
1908
Für Fleisch
132 149,26
140 792,75
„ Eier, Butter, Käse
35 996,01
35 974,84
„ Brot und Weggli
36 920,11
41 213,56
„ Mehlwaren, Kartoffeln, Gemüse
39 341,00
33 024,73
„ Milch
81 868,66
87 175,60
„ Wein und Bier
32 841,08
35 619,00
„ Zucker, Kaffee, Spezereien
14 088,77
15 523,26
1) Holey and Stnrge, Alcohol and the human body, p. 6.
2) 1911, H. 3, 3. März.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 297
Solche Zahlen scheinen den Schlüssel zu dem Geheimnisse zu
bilden, weshalb ein so großer Prozentsatz Bückfälliger sich auf
ärztliche Verordnungen, Alkohol genießen zu müssen, stützt, um das
Nichthalten der Abstinenzverpflichtung einigermaßen entschuldigen
zu können. Sie sind aber auch ein Grund, der die Arbeit der
Trinkerrettung zu einer sehr schwierigen gestaltet und damit der
Verbreitung der Enthaltsamkeitssache nicht jene Wege ebnet, die
ihr auf Grund ihrer gesundheitlichen und ethischen Bedeutung zu
wünschen wäre.“
Dietz berichtet a. a. 0. aus seiner Männerabteilung, daß im
Jahre 1903 täglich ausgegeben wurden an Bier 27,20 M., Wein
2,28 M., Milch 14,40 M. Im Jahre 1905 Bier 5,60 M. (für das
Personal) Wein 0, Milch 21,60 M. Es ergab sich also für das Jahr
trotz des Mehrverbrauchs an Milch ein Gewinn von 5978,70 M.
und das Sonntagsbier dazu gerechnet mit 1164,80 M. ein solcher
von 7143,50 M. Da auf der Weiberabteilung noch 2900 M. ver¬
braucht wurden, würde die Beseitigung des Alkohols in dieser
einen Irrenanstalt 10000 M., bei 20 Anstalten also 200000 M. aus¬
machen.
Es ist für diesen Fall als ganz günstig zu betrachten, daß in
diese Verhältnisse hier und da die Krankenkassen gewichtig hinein¬
reden dürfen. Die Korrespondenz von Hol it scher schreibt: „In
einer ,Die x4ufgaben der Krankenkassen im Kampfe gegen den
Alkoholismus* betitelten Schrift bespricht Dr. med. Hugo Deutsch
in Brünn sehr ausführlich einerseits die große Belastung der
Krankenkassen durch den Alkoholgenuß ihrer Mitglieder, anderer¬
seits alle schon zur Anwendung gekommenen oder empfehlenswerten
Vorbeugungsmaßregeln der Kassen gegen die ihre Mittel so sehr
in Anspruch nehmende Trinksitte. Er kommt zu dem Ergebnisse,
daß ca. 20 Proz. aller Krankheitsfälle der Kassenmitglieder direkt
oder indirekt dem Alkohol zur Last zu legen sind, ein Fünftel, d. i.
etwas mehr als durch Tuberkulose erkranken, bedeutend mehr als
durch Unfälle arbeitsunfähig werden (14,9 Proz.). Unter den vor¬
beugenden Maßregeln bespricht der Verfasser nicht nur die Auf¬
klärungsarbeit durch Flugschriften, Vorträge, Plakate, Merkblätter
u. dgl., sondern auch die Aufgabe, die den Kassenbeamten und vor
allem den Kassenärzten zufällt, die Verordnung von geistigen Ge¬
tränken auf Kassenkosten, die Förderung des Genusses alkohol¬
freier Getränke, die Bevorzugung abstinenter Mitglieder, die Be¬
handlung Alkoholkranker, die Errichtung von Fürsorgestellen usw.
Er kommt zu dem Schlüsse, daß die Krankenkassen durch ihre
298
Georg’ Liebe,
Tätigkeit in dieser Hinsicht viel zur Hebung der Arbeiterschaft
in hygienischer, sozialer und geistiger Beziehung beitragen könnten.“
Sagt man hiergegen, das sei nur Österreich, so kann sofort auch
etwas aus Deutschland angeführt werden. In dem Geschäfts¬
berichte der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kauf¬
leute, Handelsleute und Apotheker zu Berlin für das Jahr 1908
heißt es auf Seite 8: „Die Zahlen der Krankheitsursachen
lassen ersehen, wTelch bedeutende Kolle die bekannten Volksseuchen
für die Krankenkassen spielen. Wenn dabei der Alkoholismus eine
verhältnismäßig geringfügige Kolle spielt, so müssen wir immer
wieder darauf verweisen, dass es vorerst, wenn der Kranke nicht
selbst mitteilsam ist, noch außerordentlich schwer ist, den Alkohol¬
genuß als Krankheitsursache festzustellen; zweifellos ist es aber
trotzdem, daß eine große Zahl von Magen- und Darmkrankheiten
wie von Nervenleiden auf den Genuß von alkoholhaltigen Getränken
zurückzuführen ist.“ Bei der am 24. Februar v. .1. abgehaltenen
Generalversammlung der Krankenkasse „Germania“ in Hamburg
besprach der Hauptkassierer Herr August Wessel die Alkohol¬
frage und meinte: „Im Interesse der Krankenkassen sollten die
• •
Arzte angewiesen werden, sich des Alkohols zu enthalten, damit
sie besser imstande wären, die Krankheiten festzustellen und im
Umgänge mit den Kassenpatienten den Alkoholgenuß eher bemerken
und ihn nach Kräften zu inhibieren suchen, denn der Alkoholgenuß
verursacht und verlängert jegliche Kranhheit. Auch die Angestellten
der Krankenkassen, besonders aber die Krankenkassenkontrolleure,
sollen sich des Alkoholgenusses enthalten, um bei Patienten etwaigen
Alkoholgenuß zu bemerken und Maßnahmen zu treffen.“ *) Wenn
es erst einmal an den Geldbeutel geht, so macht doch mancher die
Augen auf, der sich sonst für diese Frage nicht interessiert hätte.
Und es geht, es geht in allen Krankenhäusern. Lassen wir uns
aus London und Amerika folgendes mitteilen: „Das London
Temperance Hospital, das im Jahre 1873 eröffnet worden ist, soll
demnächst durch einen auf 25000 £ veranschlagten Zubau be¬
deutend erweitert werden. Seit der Eröffnung wurden 28538 Patienten
in dem 100 Betten fassenden Krankenhause verpflegt. Von
diesen haben nur 81 Alkohol bekommen. Über diese Fälle wurden
genaue Protokolle in den Jahresberichten veröffentlicht. Die Sterb¬
lichkeit im London Temperance Hospital betrug 7,6 Proz., und das
Spital steht damit in der ersten Reihe unter den Londoner Kranken-
9 Hamburger Ärztekorrespondenz, Nr. 10, S. 96.
Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten und Lungenheilstätten. 299
häusern. Das New-Yorker Rote-Kreuz-Hospital , im Jahre 1895
von einer Deutschen, Frl. Bettine Hof fke — seit 1897 Frau
Monae-Lesser — gegründet, im Jahre 1907 ein neues, nach den
neuesten Grundsätzen modernen Spitalwesens erbautes Heim er¬
halten. Den Baugrund hat Herr Ward well, Schatzmeister der
Standard Oil Company, geschenkt und im Schenkungsbriefe die
Bedingung gestellt, daß, soweit durchführbar, Alkohol weder als
Medikament noch als Nahrungsmittel verwendet werden dürfe, daß
bei gleicher Qualifikation bei der Auswahl von Ärzten für das
Hospital solche, die sich des Alkohols enthalten, den Vorzug er¬
halten und nur solche für leitende Posten wählbar sein sollen.
In einem Schreiben an die Direktoren des New-Yorker Roten-Kreuz-
Hospitales begründet er diese Forderung auf folgende Weise: ,Seit
mehreren Jahren Mitglied des Kollegiums der Direktoren des
New-Yorker Roten-Kreuz-Hospitales habe ich Gelegenheit gehabt,
wahrzunehmen, daß die günstigen Resultate in dem Hospitale bei
Behandlung der Krankheiten den streng wissenschaftlichen Methoden
der Ärzte zuzuschreiben waren. Diese günstigen Erfolge sind er¬
reicht worden, während Alkohol vom innerlichen Gebrauche aus¬
geschlossen war. Der Ausschluß von Alkohol beruht nicht auf
moralischen Gründen, sondern stützt sich einzig auf wissenschaft¬
liche Beobachtungen und Erfahrungen; es wurde festgestellt, daß
Alkohol nicht nur unnötig, sondern daß er nachteilig auf den
menschlichen Organismus wirkt. Die Erfahrungen in diesen Be¬
ziehungen, die in dem Spitale gemacht wurden, haben die Ansichten
hervorragender Physiologen und Männer von hoher wissenschaft¬
licher Bedeutung — in Amerika sowohl als auch in Europa —
bestätigt. Überzeugt von der Wichtigkeit der Behandlung ohne
Alkohol, wünsche ich, soweit es in meinen Kräften steht, diese zu
befürworten, damit sie mehr und mehr Anerkennung findet/ Tat¬
sächlich schreibt der erste Paragraph der für Behandlung der
Kranken im Roten-Kreuz-Hospital festgesetzten Normen alkohol¬
freie Medikation und Diät vor. Daß die Erfolge bei dieser Methode
günstig sind, geht daraus hervor, daß die ersten 100 Operationen
in serösen Höhlen (Gelenke, Brust, Bauch, Schädelhöhle) ohne Todes¬
fall verliefen. Unter 256 im ersten Jahre behandelten internen
Fällen (das Hospital hat 60 Betten) waren 5 Sterbefälle und diese
betrafen Patienten, die im letzten Stadium — chronische Nephritis,
Karzinom, Meningitis — sich befanden, als sie aufgenommen wurden.“
Und was in England und Amerika möglich ist, nicht nur not¬
dürftig, sondern glänzend zum Heile der Kranken, muß bei uns
300 Georg1 Liebe, Der Alkohol in Krankenhäusern, Irrenanstalten usw.
auch gehen.1) Wir lassen uns nicht mehr mit leeren Redensarten
das Gegenteil vorspiegeln, sondern wir, die wir die Gefährlichkeit
des Feindes erkannt haben, fordern, daß der Alkohol aus allen
Krankenhäusern entfernt werde. Und dabei dürfen wir eins nicht
vergessen: auch aus der Küche. Die Krankenküche liegt noch
sehr im argen. Noch findet sich fast in allen diätetischen Koch¬
büchern Alkohol in allen Formen. Und dabei ist die feinste und
beste Küche ohne Alkohol möglich. Gerade beim Kochen spricht
ja ganz und gar nichts dagegen, alkoholfreie Säfte zu verwenden.
Der Geschmack ist mindestens ebenso gut, und eine Narkose will
doch gewiß niemand mit Weinsuppen, Cremes usw. bezwecken.
Es ist ja noch gewaltig viel Arbeit zu leisten, und man darf
vielleicht nach dieser Hinsicht manche Hoffnung auf die Fürsorge¬
anstalten setzen. Aber es würde sich empfehlen, hier nicht so
getrennt zu marschieren, hier eine Fürsorgestelle für Tuberkulose,
dort eine solche für Trinker usw. zu errichten. Ja, ich meine
sogar, eine Fürsorgestelle für das Volk müßte sich mit dem, was
sich jetzt schon an ähnlichen Stätten, pädagogischen und wirt¬
schaftlichen Auskunftsstellen (vgl. Arbeitersekretariate) vorfindet,
vereinigen lassen. Es gehört dazu freilich ein gut Teil Idealismus,
weshalb wir diese Ausführungen auch mit den Worten eines
Idealisten schließen wollen: „Alle, alle wollten Hilfe, — der Rat,
jener Liebe, dieser Brot, jener Arbeit, einer sein Recht, ein anderer
Aufklärung oder einen handfesten Rippenstoß in die Seele, daß er
aufwachte. Und ich gab, was ich hatte, und was ich wußte.“2)
1) Die Zahl der Krankenhäuser und Heilanstalten, die zu alkoholfreier Ver¬
pflegung übergehen, ist in erfreulicher Zunahme begriffen. Die Bonner Provinzial-
Heil- und Pflegeanstalt (Prof. Dr. Westphal) hat die Gewährung von Bier an
ihre Kranken seit einigen Jahren eingestellt. Nur die mit landwirtschaftlichen
Arbeiten beschäftigten Insassen erhalten solche in kleinsten Mengen. Die Dr.
Hertzsche Privat-Heil- und Pflegeanstalt (Prof. Dr. Thomsen) in Bonn, die
früher beim Frühstück und Abendessen ein Glas Wein reichte, hat dieses Getränk
gestrichen. (Hygienische Kundschau 1911, Nr. 17.)
2) Bonne, Im Kampfe um die Ideale. München 1910.
Der Frauenüberschuß.
Eine sozial hygienische Studie.
Von Dr. med. Alfons Fischer (Karlsruhe).
Wenn man die Bevölkerungsstatistiken, die sich auf das
Deutsche Reich beziehen, betrachtet, so fällt die eigentümliche Tat¬
sache auf, daß, obwohl alljährlich auch bei uns beträchtlich mehr
Knaben als Mädchen geboren werden, dennoch sehr viel mehr Per¬
sonen weiblichen als männlichen Geschlechtes bei den Volkszäh¬
lungen festgestellt werden. Man hat sich mit dieser Erscheinung
bisher nur sehr wenig beschäftigt, offenbar weil man meinte, sie
sehr leicht erklären zu können; man sab, daß im ersten Lebens¬
jahre bereits die Knaben eine viel stärkere Sterblichkeit aufweisen
als die Mädchen, und daß dann die Berufsarbeit in weit größerem
Umfange zu Gesundheitsschädigungen bei den Männern als bei
dem weiblichen Geschlechte führt; es schien mithin ganz selbstver¬
ständlich zu sein, daß mehr Frauen Zurückbleiben und so den
Frauenüberschuß erzeugen.
Gegen diese Schlußfolgerungen und Erklärungen wird man
jedoch Bedenken hegen, wenn man die statistischen Verhältnisse
sowohl innerhalb der einzelnen deutschen Bundesstaaten als auch in
den ausländischen Staaten eingehender betrachtet und Vergleiche
zwischen den gegenwärtigen und vergangenen Zuständen anstellt.
Indessen — die Probleme, wie der Frauenüberschuß entstanden
ist, warum er zu- oder abnimmt, weichesozialhygienisch eBe-
d e u t u n g dem Vorhandensein des Frauenüberschusses
und dann wieder seinem Sinken zuzuschreiben ist,
sind bisher viel zu wenig untersucht worden. Denn abgesehen von
den jetzt als veraltet anzusehenden Darlegungen der Statistiker
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 20
302 Alfons Fischer,
ans früheren Zeiten — schon Süß milch hatte sich mit diesen:
Problemen, allerdings in einer teleologischen Art, befaßt — , haben
nur Bücher (siehe: Allgemeines Statistisches Archiv 1892) und
dann Friedrich N aumann („Hilfe“ 1910 Nr. 34) der Frage des
Frauenüberschusses besondere Betrachtungen gewidmet; sonst haben
die Bevölkerungsstatistiker nur gelegentlich in ihren Lehrbüchern,,
z. B. G. v. Mayr in seiner „Statistik und Gesellschaftslehre“'
(Bd. II, Freiburg 1897) und J. Conrad in seinem „Grundriß der
politischen Ökonomie“ (Vierter Teil; dritte Auflage, Jena 1910),.
unser Problem berührt. Aber das Material, auf das sich Bücher
vor 20 Jahren stützen konnte, liegt schon zu weit zurück, und die
Naumann’schen Ausführungen über diese Probleme sind nicht
eingehend genug, wiewohl sein Artikel sehr wertvolle Anregungen
enthält. So dürfte es wohl von Nutzen sein, sich einmal an¬
der Hand der neuesten amtlichen Statistiken ein Urteil über den
Umfang des Frauenüberschusses zu bilden, zu untersuchen, in
welchen Gebieten er vorhanden ist und in welchen er fehlt, zu
erörtern, wie er entstanden ist, und warum er jetzt in Deutschland
sinkt; vor allem aber wollen wir prüfen, was er für die Volks¬
gesundheit bedeutet und wie seine Abnahme zu bewerten
ist, und schließlich ob, bezw. welche Maßnahmen gegen dieses
Sinken erforderlich erscheinen.
Betrachten wir zunächst unsere Tabelle1) 1; wir erkennen so¬
gleich, daß im Deutschen Reich bei der Volkszählung im Jahre 1910
rund 837 000 weibliche Personen mehr als männliche festgestellt
wurden; wir sehen jedoch ferner, daß nicht in allen Landesgebieten
die Frauen überwiegen; in den preußischen Provinzen Schleswig-
Holstein, Hannover, Westfalen, Rheinland, ferner im Großherzogtum
Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, auch im Fürstentum Schaumburg-
Lippe, vor allem aber in Elsaß-Lothringen ist das männliche Ge¬
schlecht zahlreicher vertreten.
Die Tabelle2) 2 belehrt uns weiter darüber, daß der Frauen¬
überschuß bereits bei der Reichsgründung vorhanden war, daß er
dann bis zum Jahre 1885 (bei steigender Einwohnerzahl) gewachsen,
daß er aber von da ab bis jetzt, der absoluten Zahl nach, ununter¬
brochen gesunken ist, obwohl auch seit 1885 die Bevölkerung sehr
stark — nämlich von 41,0 bis 64,9 Millionen — zugenommen hat.
0 Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1911, I.
2) Berechnet und zusammengestellt nach den Angaben des „Statistischen.
Handbuches für das Deutsche Beich“. Berlin 1907, Carl Heymann’s Verlag.
Der Frauenüberschuß.
303
Tabelle 1.
Ortsanwesende Bevölkerung
Staaten und Landesteile
am 1. Dezember 1910
(vorläufiges Ergebnis)
Provinz Ostpreußen .
„ Westpreußen .
Stadt Berlin .
Provinz Brandenburg .
„ Pommern .
„ Posen .
„ Schlesien .
„ Sachsen .
„ Schleswig- Holstein . .
„ Hannover. . . . . . .
„ Westfalen .
„ Hessen-Nassau .
„ Rheinland .
Hohenzollern . . .
Königreich Preußen .
Bayern rechts des Rheins .
Bayern links des Rheins (Pfalz) . . .
Königreich Bayern .
„ Sachsen . .
„ Württemberg .
Großherzogtum Baden .
„ Hessen .
„ Mecklenburg-Schwerin
„ Sachsen .
„ Mecklenburg-Strelitz .
„ Oldenburg .
Herzogtum Braunschweig .
„ Sachsen-Meiningen . . .
„ Sachsen-Altenburg . . .
„ Sachsen-Coburg-Gotha . .
„ Anhalt .
Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen
„ Schwarzburg-Rudolstadt .
„ Waldeck .
„ Reuß älterer Linie . . .
„ Reuß jüngerer Linie . .
„ Schaumburg-Lippe . . .
„ Lippe .
Freie und Hansestadt Lübeck . . .
Freie Hansestadt Bremen .
Freie und Hansestadt Hamburg. . .
Reichsland Elsaß-Lothringen
Deutsches Reich .
männlich
1 003 379
837 338
994 086
1 992 844
843 981
1010 873
2 513 001
1519 005
830 045
1 482 976
2 116 216
1 084 784
3 584 899
34 461
19 847 888
2 912 099
463 130
3 375 229
2 322 185
1 191 383
1 059 137
639 214
317 884
204 409
53 523
243 825
242 739
136 687
106 385
125 353
161 171
44194
49 350
30 541
34 695
74 264
23 396
73 230
56 888
148 419
505 935
964 043
82 031 967
weiblich
1060 989
865 704
1 076 609
2 100 163
872 500
1 089 171
2 713 310
1 569 773
789 628
1 459 570
2 009 688
1 136 172
3 535 620
36 548
20 315 445
3 028 828
472 440
3 501 268
2 480 300
1 244 228
1 082 695
643 005
321995
212 757
52 824
238 605
251 648
142 105
109 928
131 855
169 876
45 790
51 362
31 182
37 921
78 501
23 254
77 519
59 645
150 317
509 772
907 659
32 871 456
20*
304
Alfons Fischer,
Tabelle 2.
Der Frauenüberschuß betrug’:
754 824
863 195
988 396
966 806
957 401
892 684
871 916
839 489
Auch in den meisten anderen europäischen Staaten1) finden
wir einen Frauenüberschuß, so in Österreich, Ungarn, Rußland,
Italien, Spanien, Portugal, Schweiz, Frankreich, Belgien, Nieder¬
lande, Dänemark, Großbritannien, Norwegen, Schweden; dagegen
wurden mehr Männer als Frauen festgestellt in Serbien, Rumänien,
Bulgarien, Griechenland und Luxemburg. Die großen, in kultureller
Hinsicht am meisten fortgeschrittenen Länder Europas zeigen also
ein Überwiegen der Frauen.
Anders ist das Bild in den Kulturstaaten außerhalb Europas.
Die Vereinigten Staaten besaßen (nach der Zählung vom Jahre
1900) 38968 689 männliche und 37 243479 weibliche Personen.
Ferner weisen Kuba, Kanada, Brasilien einen Männerüberschuß
auf. In Ägypten kommen auf 5667 074 Männer nur 5620285
Frauen, in Transvaal überwiegen die Männer um rund 126000
Personen. In Britisch - Indien beläuft sich der Männerüberschuß
auf 4x/2 Millionen. In Japan zählte man (im Jahre 1908) 26 254925
Männer und nur 25486 928 Frauen. Ebenso sind in den britischen
Besitzungen in Australien sowie in Neuseeland die Frauen in der
Minderheit.
Ungemein wichtig für unseren Gegenstand ist die in Tabelle 3
wiedergegebene Übersicht, die wir dem französischen Jahrbuch2)
der Statistik entnehmen. Hier finden wir Angaben über das
Zahlenverhältnis der beiden Geschlechter in den europäischen und
einigen außereuropäischen Staaten, wobei die Personen in drei
Altersklassen geteilt sind. Auf diese Tabelle werden wir unten
noch zu sprechen kommen. Hier sei jedoch schon darauf hinge¬
wiesen, daß (von geringfügigen Abweichungen abgesehen) in den¬
jenigen Ländern, in denen ein Männerüberschuß vorhanden ist,
also in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, in Australien
und Neuseeland, sowie in Japan, ferner in Griechenland, Bulgarien
Im Jahre 1871
* „ 1880
„ „ 1885
„ * 1890
„ „ 1895
„ „ 1900
* „ 1905
„ „ 1910
9 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich. 1911 bzw. 1910.
2) Annuaire Statistique de la France. Paris 1910, p. 159*.
Der Frauenüberschuß.
305
und Serbien, das männliche Geschlecht zumeist in allen drei
Altersklassen überwiegt; von Elsaß-Lothringen wird noch besonders
zu reden sein; in den anderen Staaten, in denen, wie schon hervor¬
gehoben wurde, mehr Frauen als Männer gezählt wurden, trifft
man aber dennoch in der Altersklasse von 0 bis 19 Jahren das
männliche Geschlecht — im allgemeinen — in der Mehrzahl. Wie
kommt nun der Frauenüberschuß zustande, und aus welchen Gründen
fehlt er in manchen Staaten? (Tabelle 3 siehe S. 306 u. 307.)
Das Naturgemäße wäre offenbar, daß in allen Ländern ein
Männerüberschuß vorhanden ist; denn in allen Staaten werden
mehr Knaben als Mädchen geboren, was offenbar auf einem, uns
vorläufig allerdings völlig unerklärbaren Naturgesetz l) beruht. Wie
allgemein in ganz Europa diese Erscheinung sich darbietet, ersieht
man aus folgender Zusammenstellung : 2)
Tabelle 4.
Auf 100 Mädchen kommen Knaben:
Deutsches Reich
1872-80
106,3
Österreich
1871-80
106,7
Ungarn
1876-80
105,4
Schweiz
1871-80
106,3
Italien
1872—80
107,1
Spanien
1861—70
106,8
Frankreich
1872-80
106,2
Belgien
1871-80
105,8
Niederlande
1871-80
106,3
Dänemark
1871-80
105.8
Schweden
1871—80
106,0
Norwegen
1871-80
106,1
Finnland
1878-80
106,4
Rumänien
1871-80
110,9
x) Mit Recht betont Gottstein (Zeitschr. f. soziale Efygiene, Bd. II), daß
die Erscheinung des Knabenüberschusses auf einem durch die Statistik erkannten
Naturgesetz beruht. Es sei hierbei aber auf eine ungemein interessante Arbeit
(Statistique demographique des grandes Villes du monde. Premiere partie. Amster¬
dam 1911) des Amsterdamer Statistischen Amtes verwiesen; dies hat
kürzlich eine Übersicht über die Bevölkernngsvorgänge in allen europäischen
Großstädten für jedes der Jahre in der Epoche 1880 — 1900 geboten. In keiner
der Weltstädte, wo es sich also um sehr große Ziffern handelt, wurde jemals ein
Mädchenüberschuß bei den Neugeborenen festgestellt; wohl aber finden sich bei
einigen Großstädten mit einer weniger hohen Einwohnerziffer vorüb er gebend
Ausnahmen vor; in Karlsruhe z. B. kamen einmal auf 100 Knaben 107,8 Mädchen.
Ohne Zweifel handelt es sich hierbei um Zufälle, wie man sie oft bei kleinem
Zahlenstoff antrifft. ' Aber eine Erscheinung dürfte doch wohl als eine Aus¬
nahme von dem erwähnten Naturgesetz zn betrachten sein; in Neapel wurden
nämlich innerhalb von 26 Jahren in 24 Jahren stets mehr Mädchen als Knaben
geboren; hier kann also wohl von Zufall keine Rede mehr sein.
2) Entnommen aus Prinzing: „Medizinische Statistik“. Jena 1906.
306
Alfons Fischer,
Tabelle 3.
/
Population par sexe et par äge des principaux Etats
Pays
Date
0 a 1
masculin
9 ans
feminin
20 ä
masculin
59 ans
feminin
Angieterre et Pays de Galles .
1 avril 1901
6 872 846
6 919 036
7 784 248
8 543 287
Ecasse .... ....
31 mars 1901
986 315
964 822
1 043 765
1 135 135
Irl an de .
idem
922 492
903 497
1 037 347
1 107 363
Boyaume-Uni .
1901
8 781 653
8 787 355
9 865 360
10 785 785
Dänemark .
1 fevr. 1901
537 003
529 206
543 445
592 951
Norvege .
3 dec. 1900
506 105
492 843
447 651
529 863
Suede . ,
31 dec. 1900
1 093 644
1 057 876
1 138 756
1 234 055
Finlande .
idem
605 011
595 157
637 978
651 761
Rnssie d’Europe .
9 fevr. 1897
22 436 272
23 031032
20 172 964
21 238 805
Autriche .
31 dec. 1900
5 718 817
5 773 010
6 145 799
6 389 283
Hongrie .
idem
4 379 925
4 412 923
4 482 786
4 516 730
Autriche-Hongrie .
idem
10 098 742
10 185 933
10 628 585
10 906 013
Suisse .
idem
674 081
669 869
812 089
851 837
Empire allemand .
1 dec,. 1900
12 496 839
12 437 182
13 258 020
13 778 270
Prusse .
idem
7 795 091
7 713 314
8002 603
8 352 606
Ba viere .
idem
1 318 277
1 334 580
1 463 633
1 527 311
Saxe .
idem
921563
943 247
1 002 868
1 054 400
Wnrtemberg .
idem
464 756
472 318
498 606
539 005
Bade .
idem
399 804
395 782
455 108
462 173
Alsace-Lorraine ....
idem
343 351
388 388
463 847
413 289
Pays-Bas .......
31 dec. 1899
1 138 897
1 124 903
1 161614
1 206 653
Luxembourg ....
1 dec. 1900
49 689
48 050
61 185
55 002
Belgique .
31 dec. 1900
1 389 301
1 377 976
1 639 116
1 653 156
France ....
24 mars 1901
6 639 510
6 642 345
10 009 334
10 274 190
Portugal .
1 dec. 1900
1 179 860
1 163 544
1 179 054
1370 981
Espagne .
31 dec. 1900
3 898 901
3 803 342
4 388 420
4 755 211
Italie .
9 fevr. 1901
7 443 015
7 292 297
7 174 387
7 447 430
Grece .
27 oct. 1907
—
—
—
—
Bulgarie .
31 dec. 1900
969 611
945 565
773 132
741 407
Serbie .
idem
679 833
659 591
541 398
502 512
Ptoumaine .
dec. 1899
1 484 410
1 492 457
1 457 686
1 387 187
Etats-Uni ....
1 juin 1900
16 946 50016 734 574
19 269 940
17 971 116
Australie et Nouvelle Zelande .
31 mars 1901
1 031 733
1 012 714
1 178 963
1 023 215
Japon .
31 dec. 1903
10 095 400
9 835 472
11 702 505
11252 165
Der Frauenüberschuß.
307
de l’Europe d’apres les recensements effeetues yers 1900.
60 ans
et plus
Chiffres proportionnels
par 3000 habitants
ropuiation totale
0 ä 19 ans
20 a 59 ans
60 ans et
plus
masculin
feminin
masculin
feminin
ensemble
masc.
fern.
masc.
fern.
masc.
fern.
1 071 519
1336 907
15 728 613 16 799 230
32 527 843
211
213
239
263
33
41
143 675
198 391
2 173 755
2 298 348
4 472 103
221
216
233
254
32
44
240 201
247 875
2 200040
2 275 735
4 458 775
207
203
233
248
54
55
1 455395
1 783 173
20 102 408
21 356 313
41 458 721
212
212
238
260
35
43
109 859
130 986
1 193 448
1 256 092
2 449 540
220
217
222
243
45
53
110 779
130 841
1 066 693
1 154 784
2 221 477
228
222
202
239
50
59
274 036
338 074
2 506 436
2 630 005
5136 441
213
206
222
240
53
66
99 093
123 562
1 342 082
1370 480
2 712 562
223
219
235
240
37
46
3 124 191
3 408012
45 749 575
47 693 289
93 442 864
240
247
216
227
33
37
988 077
1 135 722
12 852 693
13 298 015
26 150 708
219
221
235
244
38
43
718 589
742 123
9 582 152
9 672 407
19 254 559
229
228
234
234
37
38
1 706 666
1 877 845
22 434 845
22 970 422
45 405 267
223
224
234
240
38
41
140 855
166 712
1 627 025
1688 418
3 315 443
201
202
245
257
42
50
1 982 388
2 414 479
27 737 247
28 629 931
56 367 178
222
221
235
244
35
43
1173 731
1 435 164
16 971 425
17 501 084
34 472 509
226
224
232
242
34
42
246 190
286 066
3 028 100
3147 957
6176 057
214
216
237
247
40
46
118 717
161421
2 043148
2 159 068
4 202 216
219
225
239
251
28
38
89 407
105 388
1 052 769
1116 711
2 169 480
214
218
230
248
41
49
71367
. 83 712
926 277
941 667
1 867 994
214
212
244
247
88
45
73 239
87 356
880 437
839 033
1 719 470
200
197
269
240
43
51
•220 041
251 918
2 520 602
2 583 535
5 104 137
223
220
228
287
43
49
10 719
11309
121 593
114 361
235 954
211
204
259
233
45
48
296 410
337 581
3 324 834
3 368 714
6 693 548
208
206
245
247
44
50
2 216 194
i 2 550 449
18 916 889
19 533 899
38 450 788
173
173
261
268
58
67
226 937
290637
2 591 600
2 831 532
5 423132
218
215
218
253
42
54
789 693
871821
9 087 821
950 265
18 618 086
210
209
236
256
42
47
1 537 155
1 579 527
16 155 130
16 320 123
32 475 253
229
225
221
229
47
49
—
—
1 324 942
1 307 010
2 631 952
—
—
—
—
—
—
166 481
147 490
1 909 567
1 834 716
3 744 283
259
253
206
198
45
39
60 047
49 501
1 281 278
1 211 604
2 492 882
272
265
217
202
24
20
52 800
37 980
2 994 896
2 917 624
5 912 520
251
253
246
235
9
6
2 472 585
2 389 276
38 816 448
37 178 127
75 994 575
223
221
254
237
33
32
163 189
122 845
2 383 920
1 162 600
4 546 520
228
223
260
226
36
27
1 801 736
2 042 650
23 600 931
23 131 207
46 732 138
216
210
250
241
39
44
308 Alfons Fischer,
Nun wäre es freilich denkbar, daß der Überschuß an männ¬
lichen Geburten durch eine höhere Sterblichkeit unter den Männern
ausgeglichen und sogar in sein Gegenteil verwandelt wird. Diese
Annahme entspricht jedoch nicht den ziffernmäßigen Feststellungen,
obwohl von manchen, so z. B. von Tugendreich1), mit ihr
gleich einer sicheren Tatsache rechnen. Es sei hierzu folgendes
bemerkt: In Deutschland2) übertrifft im Jahre 1908 die Zahl der
Knabengeburten die Ziffer der Mädchengeburten um rund 61000..
In dem gleichen Jahre ist in allen Altersklassen zusammen die
Sterbeziffer bei dem männlichen Geschlecht um rund 45000 höher
als bei dem weiblichen; es bleibt mithin immer noch ein Überschuß
auf der männlichen Seite übrig. Und wie in dem genannten Jahrer
so ist es — von geringfügigen Abweichungen abgesehen — auch
in den früheren Perioden gewesen. In Deutschland kann also der
Frauenüberschuß nicht dadurch zustande gekommen sein und einen
solchen Umfang erreicht haben, daß der Geburtenüberschuß bei
dem weiblichen Geschlecht größer ist, als bei dem männlichen;
denn wir sehen ja das Gegenteil hiervon. Für die Entstehung des-
Frauenüberschusses müssen also andere Gründe maßgebend sein.
Wie in Deutschland, so ist auch in anderen europäischen
Staaten, in denen die Frauen an Zahl überwiegen, der Geburten¬
überschuß auf der männlichen Seite größer, als auf der weiblichen.
In Österreich3) übertreffen im letzten Berichtsjahr (1907) die
Knabengeburten die Mädchengeburten um 25000; es starben ins¬
gesamt in dem genannten Jahre 23000 männliche Personen mehr
als weibliche. Ähnlich ist das Verhältnis in Ungarn und in anderen
Staaten. Eine Ausnahme macht hierbei nur Frankreich.4) Zwar
überwiegen auch in Frankreich die männlichen Geburten; da aber
die Ziffer der Geburten sehr gering ist, so ist auch die absolute
Zahl, welche die Differenz zwischen männlichen und weiblichen
Geburten angibt, nur klein. Es wurden im letzten Berichtsjahr (1906)
nur 15 000 Knaben mehr als Mädchen geboren, während in dem
genannten Jahre die Gesamtsterblichkeit der männlichen Personen
die der weiblichen um 32 000 überragt. Indessen, diese Ergebnisse
zeigen sich erst seit dem Kriege 1870/71 und bzw. seit dem starken
Geburtenrückgang ; früher — diese Statistik läßt sich bis auf das
9 Tugendreich: in seinem Handbuch der „Mutter- und Säuglingsfürsorge“.
Stuttgart 1910.
-) Statistik des Deutschen Reiches. Bd. 227.
3) Österreichisches Statistisches Jahrbuch. Wien 1910.
4) Annuaire Statistique de la France. Paris 1910, p. 10* und 11*.
Der Frauenüberschuß.
309
Jahr 1801 zurückverfolgen — war das Verhältnis auch in Frankreich
das gleiche, wie in den übrigen europäischen Staaten. Immerhin
sind die besonderen französischen Zustände wohl dazu geeignet,
daß in diesem Lande der männliche Geburtenüberschuß durch die
höhere Sterblichkeit der Männer so weit ausgeglichen wurde, daß
dadurch der Frauenüberschuß während der letzten Jahrzehnte ent¬
standen sein kann.
Worin liegt nun der Grund für die Entstehung des Frauen¬
überschusses bei uns und in anderen europäischen Ländern, von
Frankreich abgesehen? Die Antwort hierauf bieten uns die Statistiken
über den Wanderungsverlust, bzw. -gewinn. Über den zahlenmäßigen
Umfang der Wanderungsverhältnisse liegen zwar keine direkten
Angaben vor, man erhält aber ein brauchbares Material durch
Rechnung, wenn man nämlich die aus den Geburtenüberschüssen
zu erwartende Bevölkerungszunahme mit dem tatsächlichen Be¬
völkerungszuwachs, den man durch die Volkszählungen feststellt,
vergleicht. Auf diese Weise ist man zu der folgenden, auf das
ganze Deutsche Reich sich erstreckenden Zusammenstellung *) ge¬
langt:
Tabelle 5.
Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich
Gewinn (+) oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der
Zählungsperiode :
1871/75
1875/80
1880/85
1885/90
1890/95
1895/1900
1900/05
1905/10
männlich
weiblich
zusammen
— 1,93
— 1,89
— 1,91
— 2,07
— 1.40
— 1,73
— 4,85
— 3,69
— 4,26
— 1,36
— 1,39
— 1,38
— 1,91
— 1,63
— 1,77
+ 0,61
+ 0,09
+ 0,35
+ 0,16
+ 0,20
+ 0,18
— 0,60
— 0,42
— 0,51
Aus der Tabelle 5 entnimmt man, daß bereits in der Periode
1871/75 der männliche Wanderungs Verlust größer ist als der weib¬
liche, daß diese Differenz zuungunsten des männlichen Geschlechts
in dem nächsten Jahrfünft noch zunimmt und in dem Zeitraum
1880/85 den Höhepunkt erreicht; von da an ist der Unterschied
bei den Ziffern der beiden Geschlechter nur gering; in der Periode
1895/1900 ist aber eine beträchtliche Differenz zugunsten des männ¬
lichen Geschlechts zu konstatieren.
b Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1908, H. I, ergänzt -
durch das H. IV des Jahrg. 1911.
310 Alfons Fischer,
Um das Bild noch etwas anschaulicher zu gestalten, seien
einige absolute Ziffern1) genannt: In dem für das männliche Ge¬
schlecht so ungünstigen Jahrfünft 1880/85 betrug der Wanderungs¬
verlust 546 681 männliche und 433 534 weibliche Personen; man
sieht, welche enormen Verluste an Menschen das Deutsche Beich
damals in einem einzigen Jahrfünft erlitten hat, man erkennt aber
zugleich, daß in der genannten Periode der männliche Wanderungs¬
verlust denjenigen der Frauen um über 100 000 Personen überragt.
In den beiden folgenden Jahrfünften ist der Wanderungs Verlust
dann bald auf der weiblichen, bald auf der männlichen Seite etwas
größer. In dem Jahrfünft 1895/9000 aber, in dem sich ein Wande¬
rungsgewinn ergeben hat, zeigt sich eine für das männliche Ge¬
schlecht günstige, erhebliche Differenz; es wurden 81481 männ¬
liche, aber nur 12 644 weibliche Personen gewonnen.
Vergleichen wir nun noch die Tabellen 2 und 5 miteinander:
Wir haben aus der Tabelle 2 erkannt, daß der Frauenüberschuß
im Jahre 1880 einen sehr großen und im Jahre 1885 einen noch
größeren Anstieg zeigt; die Tabelle 5 hat uns gelehrt, daß in den
diesen beiden Jahren vorangegangenen Perioden die Differenz zwi¬
schen dem männlichen und weiblichen Wanderverlust sehr groß und
zwar zuungunsten des männlichen Geschlechts war. Vom Jahrfünft
1885/90 an wendet sich das Blatt in den Wanderungsverhältnissen,
und genau im Jahre 1890 sinkt, wie Tabelle 2 zeigt, zum ersten¬
mal der Frauenüberschuß. Ganz besonders stark ist die Abnahme
des Frauenüberschusses im Jahre 1900; und gerade in dem diesem
Jahre vorangehenden Jahrfünft tritt zum erstenmal ein Wande¬
rungsgewinn, und zwar weit erheblicher zugunsten des männlichen,
als zugunsten des weiblichen Geschlechts auf.
Diese Parallelen zwischen Steigen und Sinken des Frauen¬
überschusses einerseits und den Wanderungs Verhältnissen anderer¬
seits sind so auffallend, daß man wohl berechtigt ist zu behaupten:
der Frauenüberschuß steigt in der Hauptsache dadurch, daß mehr
Männer als Frauen durch die Wanderungsverhältnisse verloren
gehen, er sinkt, sobald diese Ursache fortfällt, er sinkt um so
stärker, sobald mehr Männer als Frauen durch die Wanderungen
gewonnen werden.
Wir haben bis jetzt, wie uns dünkt, mit hinreichender Exakt¬
heit, gezeigt, aus welcher Ursache heraus der Frauenüberschuß in
9 Statistisches Handbuch für das Deutsche Reich. 1907, p. 41.
Der Frauenüberschuß.
311
Deutschland gestiegen, bzw. gesunken ist. Aber wie ist er ent¬
standen?
Diese Frage vermögen wir nicht mit der gleichen Genauigkeit
zu beantworten. Aus der Tabelle 2 erkannten wir, daß der Frauen¬
überschuß im Jahre 1871 bereits 754824 Personen betrug. Wir
können nach den obigen Darlegungen nur behaupten, daß der jetzt
vorhandene Frauenüberschuß nicht, weil während der letzten Jahre
die Frauen eine günstigere Mortalität aufwiesen, entstanden ist; der
j etzige Frauenüberschuß ist auch nicht durch größere männliche
Wanderungsverluste erzeugt worden; er ist überhaupt nicht ein Pro¬
dukt der letzten Jahre, sondern der früheren Jahrzehnte; die
Zustände der Gegenwart verringern ihn, aber noch nicht in dem
Maße, daß er in den nächsten Jahren zu beseitigen wäre. Darüber,
wie der Frauenüberschuß vor dem Jahre 1871 entstanden ist, ver¬
mag ich ziffernmäßige Belege nicht zu erbringen. Gewiß haben
damals die Kriege die Erscheinung des Frauenüberschusses be¬
günstigt. Ohne Zweifel wurden jedoch auch schon vor dem
Jahre 1871 beträchtliche Wanderungsverluste erlitten. Nach
Adolf Wagner1) wird geschätzt, daß während der Jahre 1820
bis 1900 rund 6 Millionen aus Deutschland ausgewandert sind,
darunter 4 Millionen allein nach den Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika. Und daß unter diesen Auswanderern im allgemeinen mehr
Männer als Frauen gewesen sind, ist nach den obigen statistischen
Angaben mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen.
Leider fehlten mir die erforderlichen amtlichen Statistiken,
um den Nachweis zu führen, daß auch im Auslande, wie bei uns,
der Frauenüberschuß im wesentlichen ein Produkt der Wanderungs¬
verluste darstellt. Um aber meine Behauptung hinsichtlich der
Entstehung des Frauenüberschusses in Deutschland noch eingehender
zu begründen, wollen wir die Verhältnisse in einigen deutschen
Landesgebieten einer besonderen Betrachtung unterwerfen. Wir
werden hierbei noch mancherlei Interessantes über die Entstehung
des Frauenüberschusses erfahren.
Der Frauenüberschuß wird nämlich nicht immer durch einen
größeren Wanderungsverlust auf der Seite des männlichen Ge¬
schlechts verursacht, sondern in gewissen Gebieten auch durch
einen stärkeren Wanderungsgewinn bei dem weiblichen Geschlecht.
Wir haben aus der Tabelle 1 ersehen, daß in der Stadt Berlin
und in der Provinz Brandenburg die Frauen in der Mehrzahl vor-
b Adolf Wagner: Agrar- und Industriestaat. Jena 1902, p. 57.
312
Alfons Fischer,
»
lianden sind; wie dies zustande gekommen ist, darüber belehrt
uns folgende Zusammenstellung : 5)
Tabelle 6.
Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn
oder Verlust ( — ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:
1871 —
1875
1875-
1880
1880—
1885
1885-
1890
1890—
1895
1895—
1900
1900—
1905
1905—
1910
c, Tj r f männlich
Stadt Berlin j
29,02
29,63
9,59
22,60
20,74
22,47
26,21
25,20
— 0,42
4,20
15,35
13,23
8,83
5,57
— 6,45
— 3,68
Provinz f männlich
Brandenburg \ weiblich
5,34
1,17
— 3,42
— 3,42
— 5,10
-3,82
5,37
4,51
8.15
9.15
6,14
8,25
14,83
15,20
17,62
20,15
Aus der Tabelle 6 entnehmen wir mithin, daß nach Berlin,
namentlich in der Periode 1875/80, aber auch 1880/85 und be¬
sonders 1 890/ 95 weit mehr Frauen als Männer eingewandert sind;
in der Provinz Brandenburg kam der Frauenüberschuß dadurch
zustande, daß zunächst in der Periode 1880/85 weniger Frauen aus-
und dann von 1890 an bis 1910 mehr Frauen eingewandert sind
als Männer.
Nun hat uns aber die Tabelle 1 gezeigt, daß in einigen deutschen
Landesgebieten kein Frauen- sondern ein Männerüberschuß zur¬
zeit vorhanden ist. Welche Ursachen haben sich geltend gemacht,
um diese Ausnahmeerscheinungen zustande kommen zu lassen?
Aufschluß hierüber gewähren uns folgende Zusammenstellungen : x)
Tabelle 7.
Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn
oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:
1871 —
1875
1875—
1880
1880-
1885
1885—
1890
1890-
1895
1895-
1900
1900-
1905
1905—
1910
Provinz
Westfalen
f männlich
i weiblich
6,52
3,43
— 2,87
— 1,43
0,77
- 0,82
4,31
2,29
3,27
2,30
15,08
8,94
2,87
3,28
4,26
3,58
Provinz
Rheinland
\ männlich
l weiblich
2,11
1,07
— 1,82
— 0,81
-0,90
-0,52
2,38
1,75
0,70
0,75
8,45
4,91
4,37
3,61
2,64
2,46
Wie man sieht, sind in den Provinzen Westfalen und Rhein¬
land Wanderungsverluste nur in 2 von 8 Perioden zu konstatieren,
0 Viertel jahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. 1908, H. I, ergänzt.
Der Frauenüberschuß.
313
lind diese Verluste sind nur sehr geringfügig gegenüber den starken
Wanderungsgewinnen in den übrigen Jahrfünften; die Wanderungs¬
gewinne sind aber im Rheinland stets, in Westfalen mit einer
geringfügigen Ausnahme immer auf der männlichen Seite stärker,
als auf der weiblichen. Diese Tatsache werden wir also wohl als
Ursache dafür anzusehen haben, daß in den beiden genannten Pro¬
vinzen der Frauenüberschuß fehlt.
Statt des Frauenüberschusses zeigt sich der Männerüberschuß
jedoch noch aus einem anderen Grunde, nämlich wenn aus dem
betreffenden Landesgebiet mehr Frauen als Männer auswandern.
Dies trifft für die Provinz Schleswig-Holstein sowie für Mecklen-
burg-Strelitz und Elsaß-Lothringen zu, wie uns folgende Zusammen¬
stellung1) zeigt:
Tabelle 8.
Auf 1000 der mittleren Bevölkerung durchschnittlich jährlich Gewinn
oder Verlust (— ) durch Wanderungen in der Zählungsperiode:
1871 —
1875
1875—
1880
1880-
1885
1885—
1890
1890-
1895
1895 —
1900
1900-
1905
1905—
1910
Prov. Schles- [männlich
wig- Holstein [weiblich
— 8,76
— 4,87
— 3,23
— 4,19
— 8,19
— 8,09
1,38
— 2,66
— 3,70
— 2,53
0,48
— 1,40
3,55
— 0,81
1,84
— 0,92
Mecklenburg- [männlich
Strelitz [weiblich
-13,16
—12,92
-0.18
- 3,34
-13,20
—12,30
—10.65
-10,22
— 1,38
— 4,59
— 7,71
— 8,13
-6,71
- 7,13
— 0,78
— 4,94
Elsaß- [männlich
Lothringen [ weiblich
—14,38
- 8,26
— 2,39
- 5,19
- 7,30
— 6,92
1,48
- 4,79
— 1,48
- 4,09
1,20
— 2,02
1,98
— 0^65
— 3.24
— 3,08
Wir sehen also, daß in den deutschen Landesgebieten das Ver¬
hältnis der männlichen Bevölkerungsziffer zu der weiblichen haupt¬
sächlich von der Art der Wanderungen abhängt, daß aber sowohl der
Frauen- wie der Männerüberschuß durch mehrere Formen des Wände-
rungsgewinnes bzw. -Verlustes bedingt sein können. Ist die Differenz
der Bevölkerungszahlen bei den beiden Geschlechtern nicht sehr
groß, dann kann schon eine geringe Änderung in den Wanderungs¬
verhältnissen einen Frauenüberschuß in einen Männerüberschuß
umgestalten, und umgekehrt. Wir sehen daher bei den einzelnen
Volkszählungen in verschiedenen Landesgebieten einen sehr häufigen
Wechsel, so daß in manchen Staaten in den verschiedenen Jahren
bald ein Männer-, bald ein Frauenüberschuß festgestellt wurde;
hierüber belehrt uns folgende Statistik:2)
1) Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Eeiches. 1908, H. I, ergänzt.
2) Statistik des Deutschen Eeiches. Bd. 150, p. 54*.
314
Alfons Fischer,
Tabelle 9.
Die Geschlechtsgliederung der Bevölkerung in den Bundesstaaten.
Staaten und Landesteile
Auf
1900
ICO m
1895
ännlich
ier Vol
1890
e käme
kszählu
1885
n weib
ng von
1880
Liehe nach
|
1875 ■ 1871
1
Provinz Ostpreußen .
107,7
107,9
109,3
109,1
108,4
108,6
108,1
„ Westpreußen ....
103,6
103,2
104,1
104,7
104,1
104,0
104,2
Stadt Berlin .
109.2
110,4
107,8
108,2
106,8
99,1
98,0
Provinz Brandenburg ....
104,1
102,9
102,3
102,5
101,6
101,2
102,7
„ Pommern .
104,4
104,4
105,1
104,2
103,0
103,4
104,6
„ Posen .
109,3
107,6
108,6
108,0
107,1
107,4
106,6
„ Schlesien .
109,7
110,5
111,3
110,6
110,0
109,3
109,2
„ Sachsen .
104,1
103,5
102,6
102,0
101,7
102,2
102,2
„ Schleswig-Holstein . .
97,8
98,4
97,5
99,5
99,5
100,1
100,8
„ Hannover .
99,7
99,4
100,4
100,3
99,9
100,2
101,3
„ Westfalen .
93,7
95,7
95,8
96,5
96,9
95,9
96,7
„ Hessen-Nassau . . .
105,5
105,7
105,7
105,9
105,5
104,4
106,1
„ Pheinland .
98,7
100,0
99,8
99,8
99,4
98,6
98,6
Hohenzollern .
109,0
110,2
110,0
109,6
108,4
108,9
107,0
Königreich Preußen .
103,1
103,6
103,7
103,8
103,3
102,8
102,9
Bayern rechts des Rheins . .
104,3
104,7
105,2
105,5
105,0
104,9
105,7
Bayern links des Rheins (Pfalz)
101,5
102,3
102,6
104,2
104,1
104,8
106,5
Königreich Bayern .
104,0
104,4
104,9
105,4
104,9
104,9
105,3
Königreich Sachsen .
105,7
106,0
105,9
106,5
105,7
104,1
104,7
„ Württemberg . . .
106,1
106,6
107.4
107,7
107,1
107,4
107,6
Baden .
101,7
103,6
104,5
104,8
105,2
105,1
105,1
Hessen .
100,6
101,2
101,7
101.9
101,4
102.3
102,2
Mecklenburg-Schwerin ....
102,4
101,2
102,9
102,3
102,8
104;5
lu5,l
Sachsen- Weimar .
104.9
106,0
106,5
106,5
104,9
105,5
105,4
Mecklenburg-Strelitz ....
101,8
102,1
104,2
104,5
104,0
105,7
106,1
Oldenburg .
101,3
100,8
101,7
102,0
101,1
101,7
102,1
Braunschweig .
101,6
101.2
100,5
100,1
100,5
100,6
100,7
Sachsen-Meiniugen .
103,8
104,5
105,5
104,5
104,2
104,0
104,1
Sachsen-Altenburg .
103,2
105.5
105,8
105.5
104,6
105,2
105,2
Sachsen-Coburg-Gotha ....
107,0
106,9
107,0
108,1
106,5
106,6
106,6
Anhalt .
103,7
103,4
102,8
102,3
102,1
102,4
103,7
Schwarzburg-Sondershausen . .
104.8
105,6
105,9
105,0
105,1
106,1
105,7
Schwarzburg-Rudolstadt . . .
105,6
106,1
106,6
105,8
105,1
105.8
105,0
Waldeck .
107,3
106,8
108,8
110,3
109,8
113,0
113,1
Reuß älterer Liuie .
110,3
105,5
105,8
104,7
103,3
103,3
102,8
Reuß jüngerer Linie ....
108,8
106,3
107,0
105,0
104,4
104,5
104,9
Schaumburg-Lippe .
101,1
99,2
101,5
ICO, 4
99,5
99,6
101,6
Lippe .
107,0
103,8
104,0
102,7
100,7
102,5
103,4
Lübeck .
102.5
106,9
104,1
107,0
105,2
103,7
107,8
Bremen .
102,6
104,1
104,7
108,0
107,3
105,3
106,3
Hamburg .
104,5
105,0
101,8
105,1
104,9
103,1
105,1
Elsaß-Lothringen .
95,3
97,0
.98,9
102,8
103,4
105,6
103,9
Deutsches Reich .
103,2
103,7
104,0
104,3
103,9
103,6
103,7
Der Frauenüberschuß.
315
Mit meinen bisherigen Darlegungen meine ich erwiesen zu
haben, daß Zu- und Abnahme des Frauenüberschusses in unmittel¬
barer Abhängigkeit von den Wanderungsverhältnissen stehen. Diese
Tatsache ist den Nationalökonomen freilich nicht unbekannt geblieben.
Allein, sie ist von ihnen nicht zahlenmäßig bewiesen worden. Manche
haben sogar das Gegenteil behauptet, indem sie den Einfluß der
Wanderungsverhältnisse auf die Entstehung des Frauenüberschusses
in Abrede stellten oder als Nebensache bezeichneten. So schreibt
Conrad (1. c.): „Die Verminderung des Frauenüberschusses ist
wohl auf die geringere Auswanderung zurückzuführen.“ Man be¬
achte das Wörtchen „wohl“. Den Beweis für die Abhängig¬
keit des Frauenüberschusses von den Wanderungsverhältnissen
führt er nicht. Nach G. v. Mayr (1. c.) sind für die Gestaltung
des wirklichen Geschlechtsverhältnisses der Lebenden die ver¬
schiedenen Absterbeverhältnisse der beiden Ge¬
schlechter maßgebend. „Die Unterschiede hierin, die teils auf
natürlichen, teils auf sozialen Ursachen (insbesondere Berufsge¬
fahren und sittlichen Gefahren, z. B. Alkoholismus, Kriminalität)
beruhen, sind größer als die Urdifferenzen des Geschlechtsverhält-
nisses bei den Geborenen.“ Genau die gleiche Ansicht äußert
Naumann (1. c.). Und auch Bücher (1. c.) sieht „in der ver¬
schiedenen Sterblichkeit der beiden Geschlechter im Deutschen
Reich die dauernde Ursache des Frauenüberschusses, wenn auch
• /
die konkrete Höhe des letzteren zeitweilig durch andere Ursachen
maßgebend bestimmt werden mag“. — Man erkennt leicht den
Unterschied zwischen den Ansichten der genannten National¬
ökonomen einerseits und meiner Auffassung andererseits. Ich hoffe,
deutlich gezeigt zu haben, daß für die Entstehung des
Frauenüberschusses nicht die Verschiedenheit zwi¬
schen den Sterblichkeitsverhältnissen der beiden
Geschlechter, sondern die früher stärkeren Wande¬
rungsverluste auf der männlichen Seite maßgebend
waren.
Wenden wir uns nun der Frage zu, welche sozial hygie¬
nische Bedeutung der Erscheinung des Frauenüberschusses zu¬
kommt. Das Naturgemäße wäre offenbar, wie schon erwähnt wurde,
daß nicht nur kein Frauenüberschuß, sondern vielmehr ein Männer¬
überschuß obwaltet. Denn in allen Staaten ist, wie wir gezeigt
haben, die Ziffer der männlichen Geburten erheblich höher als die
der weiblichen und nirgends — außer in Frankreich - — wird dieser
Vorsprung des männlichen Geschlechts durch die geringere Mor-
316
Alfons Fischer,
talität bei dem weiblichen Geschlecht völlig ausgeglichen. Der
Frauenüberschuß ist also et was Natur widriges. Auch
in Frankreich verdient er diese Bezeichnung, denn auch dort ist
er, soweit er nicht ebenfalls durch die Wanderungsverhältnisse be¬
günstigt wurde, nur durch die naturwidrige Konzeptionsbeschrän¬
kungen, welche die Ursache der niedrigen Geburtenziffer und
dadurch des geringen Knabenüberschusses ist, hervorgerufen worden.
Ist der Frauenüberschuß aber im offenbaren Gegensatz zu der
Natur entstanden, so darf man von vornherein hiervon wohl kaum
einen sozialhygienischen Nutzen erwarten.
Der Sozialhygieniker wird dem Frauenüberschuß immer mit
Besorgnis gegenüberstehen. Diese Bevölkerungserscheinung be¬
wirkt stets in dem betreffenden Gebiet, daß viele Mädchen, die
unter normalen Zuständen heiraten würden, keine Männer finden,
und daß viele Männer sich der Verehelichung entziehen, weil sie
wissen, daß für die Befriedigung ihrer geschlechtlichen Bedürfnisse
genug Mädchen, die sich nicht verheiraten konnten, vorhanden
sind. So vermag der Frauenüberschuß sehr wohl der Zunahme
der unehelichen Geburten, der Verbreitung der Prostitution und der
Geschlechtskrankheiten Vorschub zu leisten. Freilich kann man
bei der Kompliziertheit der hier in Betracht kommenden Verhält¬
nisse, für diese theoretischen Schlußfolgerungen den exakten Be¬
weis ziffernmäßig nicht erbringen, aber niemand wird die Berech¬
tigung der hier geäußerten sozialhygienischen Bedenken gegen den
Frauenüberschuß bestreiten können.
Nun scheint mir aber der Frauenüberschuß noch in einer
anderen Kichtung als ein ungemein wichtiges, bisher wohl kaum
beachtetes Symptom für die Beurteilung der sozialhygienischen Zu¬
stände verwendbar zu sein. Wir haben gezeigt, daß der Frauen¬
überschuß durch die Wanderungsverhältnisse hervorgerufen wird.
Wir müssen aber jetzt hinzufügen, daß er im gewissen Umfange
dadurch gefördert wird, daß die weibliche Mortalität zumeist ge¬
ringer ist, als die männliche, wenn sie auch nicht so gering ist,
daß hierdurch der Frauenüberschuß entsteht, wie manche meinen.
Wie kommt es nun, daß die Sterblichkeit bei dem weiblichen
Geschlecht im allgemeinen niedriger ist als beim männlichen?
Manche, wie z. B. G. v. Mayr und Naumann, sind, wie erwähnt
wurde, der Ansicht , daß hieran die schwere . Erwerbsarbeit der
Männer, die Trinksitten usw. schuld seien. Untersuchen wir, wie •
•es hiermit steht, und betrachten wir zu diesem Zwecke zunächst
«ine auf das Jahr 1908 bezügliche, das Deutsche Reich betreffende
Der Frauenüberschuß.
317
Statistik,1) die uns über die Mortalität bei den beiden Ge¬
schlechtern mit Unterscheidung der verschiedenen Altersklassen
unterrichtet.
Tabelle 10.
Altersklassen
der Gestorbenen
]
Gestorbene
(ohne
Totgeborene)
nn Jahre 1906
Männliche
Gestorbene
1
Weibliche
Gestorbene
Von 0 bis
1 Jahr .
359 022
200 260
158 761
„ 1
5 J ahre .
103 305
52 754
50 551
» 5
n
10
55
26 054
12 991
13 063
„ io
15
55
15138
7 307
7 831
„ 15
55
20
55 *
21 426
11 188
10 238
„ 20
55
30
55
51654
25 795
25 859
„ 30
55
40
55
57 365
28 856
28 509
„ 40
55
50
55
66 509
38 354
28 215
„ 50
55
60
55
91 445
51374
40 071
„ .60
55
70
55
134 212
67 106
67106
„ 70
55
80
55
140 383
64 816
75 567
80
55
90
55
63 588
27 538
36 050
Über 90 Jahre
5040
1974
3 066
Unbekannt
.
289
227
62
Zusammen
1 135 490
590 540
544 949
Man erkennt aus der Tabelle 10, daß im ersten Lebensjahr
die Sterblichkeit bei den Knaben sehr erheblich größer ist, als bei
den Mädchen, und daß diese Erscheinung, freilich in weit kleinerem
Maße, sich auch noch vom 1. — 5. Lebensjahr zeigt. Diese Fest¬
stellung kann nicht weiter verwundern, da mehr Knaben (und
unter ihnen eben auch mehr schon Von Geburt an schwächlichere
männliche Kinder) geboren werden als Mädchen. Vom 5.— 40.
Lebensjahr sind die Unterschiede bei den beiden Geschlechtern
belanglos. Dann aber ist vom 40. — 60. Lebensjahr die Sterblich¬
keit unter den Männern größer, während in dem gleichen Maße
vom 70. — 90. Lebensjahr die Mortalität unter den Frauen stärker ist.
Aus diesen Tatsachen wird mancher die Schlußfolgerung
zu ziehen geneigt sein, daß, weil in den Altersklassen von
40-60 Jahren die Mortalität bei den Männern überwiegt, die Er¬
werbsarbeit, an der die Männer mehr als die Frauen beteiligt sind,
die höhere Sterblichkeit der Männer erzeugt, und daß also in der
männlichen Berufsarbeit eine Förderung oder gar die Hauptursache
für die Entstehung des Frauenüberschusses liege.
: - — — - ■ ' ' • r I
x) Statistik des Deutschen Reiches. Bd, 227, pr. 31*. r
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
318
Alfons Fischer,
Es ist nun ohne Zweifel, daß insbesondere die von den Männern
zu verrichtende schwere Arbeit die Körperkräfte sehr stark und
schnell abnutzt; einen deutlichen Beweis hierfür findet man in dem
amtlichen Werke x) über die „Krankheits- und Sterblichkeitsverhält¬
nisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung“. Aber daß
hierdurch der Frauenüberschuß her vorgerufen worden ist, wird,
wie ich hoffe, nach den obigen Darlegungen niemand mehr meinen.
Es fragt sich nun, ob die Erwerbsarbeit der Männer überhaupt einen
nennenswerten Einfluß auf den Umfang des Frauenüberschusses aus¬
üben kann, in Anbetracht der Tatsache, daß das weibliche Geschlecht
durch die Menstruationen, Schwangerschaften und Wochenbetten stark
beeinträchtigt wird. Die aus der Tabelle 10 zu entnehmenden Tat¬
sachen scheinen die Frage bejahen zu wollen. Allein, hierbei ist
doch zu bedenken, daß die bei den Männern im Alter von 40 — 60
Jahren zu beobachtende höhere Sterblichkeit nicht nur durch die
schweren Schädigungen bei der Berufsarbeit hervorgerufen zu sein
braucht; die schlechteren Mortalitäts Verhältnisse bei
den Männern dieser Jahresklassen können sehr wohl
auch daraus resultieren, daß in früheren Perioden
mehr Männer als Frauen ausgewandertsind, und daß
sich unter den Ausgewanderten, wrie man wohl anzu¬
nehmen berechtigt ist, vorzugsweise gesunde und
kräftigePersonen sich befundenhaben, was zur Folge
hatte, daß der Prozentsatz der Schwächlichen unter
jenen, die zurückblieben, bei den Männern größer ist
als bei den Frauen; wenn jetzt mehr Männer als Frauen im
Alter von 40—60 Jahren sterben, so kann dies zum Teil wohl
daher kommen, daß vor etwa 25 Jahren von den damals 20—35
Jahre alten Personen mehr kräftige Männer als Frauen aus¬
gewandert sind.
Ohne mithin den gesundheitsschädigenden Einfluß der von den
Männern zu leistenden Erwerbsarbeit verkennen zu wollen, meine
ich doch behaupten zu dürfen, daß diese Tätigkeit auf die Höhe
der Mortalität keinen größeren Einfluß ausübt als die für das
weibliche Geschlecht bestehenden sexuellen Beeinträchtigungen.
Und weiter glaube ich zu der Behauptung berechtigt zu sein, daß
der Frauenüberschuß nicht durch die höhere Mortalität bei den
Männern erzeugt oder auch nur nennenswert gefördert wird, sondern
0 „Krankheits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für
Leipzig und Umgebung.“ Berlin 1910, Verlag von Carl Hey mann
Der Frauenüberschuß.
319
daß die gleichen Ursachen, die in Deutschland den Frauenüberschuß
hervorgerufen haben, d. h. die Wanderungsverhältnisse, gewisser¬
maßen durch eine für das männliche Geschlecht ungünstige „Aus¬
lese“ bewirkt haben, daß bei uns mehr Männer als Frauen sterben.
Ist meine Ansicht, daß die höhere Männermortalität in Deutsch¬
land (wenigstens zum großen Teil) die Folge jener durch die Wande¬
rungsverluste entstandenen Auslese sei, richtig, dann muß in Ländern
mit Männerüberschuß die Sterblichkeit der Frauen überwiegen;
trifft aber die Meinung, daß die stärkere Männermortalität bei uns
auf die Erwerbsarbeit zurückzuführen sei, zu, dann muß in den
Ländern, in denen im Gegensatz zu unseren Verhältnissen mehr
Männer als Frauen vorhanden sind, die männliche Sterblichkeit
erst recht höher sein als die weibliche.
Um hierüber Klarheit zu erhalten, betrachten wir die Zustände
in Japan, x) das, wie oben gezeigt wurde, einen Männerüberschuß
aufw^eist. In diesem Staate wurden im Jahre 1908 gezählt
männliche Personen 25045506 — 505,1 Prom.
weibliche „ 24542025 = 494,9 „
Gestorben sind im Jahre' 1908 512110 männliche Personen
508 681 weibliche „
Die Differenz ist also äußerst klein. Man vergleiche hiermit den
Unterschied in den Sterblichkeitsziffern der beiden Geschlechter
in Deutschland (Tabelle 10). Zudem muß betont werden, daß, da
auch in Japan mehr Knaben als Mädchen geboren werden — im
Jahre 1908 wurden 763 784 Knaben und 727 730 Mädchen geboren,
so daß also auf 100 Mädchen 104,95 Knaben kamen — die Sterblich¬
keit unter den männlichen Säuglingen größer sein muß, als unter
den weiblichen; es starben im Jahre 1908 von den Untereinjährigen
130983 männlichen und 113 315 weiblichen Geschlechts. Subtra¬
hiert man die Säuglingssterblichkeit von der allgemeinen Mortalität,
so zeigt sich in der Tat, daß die Sterblichkeit bei dem weiblichen
Geschlecht in Japan überwiegt. Sehr beachtenswert sind dann
auch die Sterblichkeitsverhältnisse der beiden Geschlechter inner¬
halb bestimmter Altersklassen. Hierüber erhalten wir ein Bild
aus dem Vergleich der beiden folgenden Zusammenstellungen1):
0 Kesume Statistique de l’Empire du Japon. Tokio 1911.
320 Alfons Fischer,
Tabelle 11.
Am 31. Dezember 1908 wurden in Japan gezählt
Im Alter von
Männliche
Personen
Weibliche
Personen
20—25 Jahren
2 089 453
2 042 114
25-30
2 003 650
1 948 566
30-35
1 875 258
1 812 818
35-40
1 473 866
1 406 845
40—45 „
1 445 064
1 362 932
45—50
1 114 485
1 061 447
50 — 55 „
1 176 711
1121511
55—60 „
1008 039
987 939
Tabelle 12.
Es starben im Jahre 1907 in Japan:
Im Alter von
Männliche
Personen
Weibliche
Personen
20—25 Jahren
18 252
21659
25—30
15 955
20 026
30 — 35 „
13 996
17 796
35—40
12 875
•15 097
40—45
14 922
14 275
45 — 50 „
16 522
13 379
50 — 55 „
23 074
17 468
55 — 60 „
28 055
21 253
Wie die Tabelle 11 zeigt, sind die Männer in den angeführten
Altersklassen durchweg zahlreicher vertreten als die weiblichen
Personen. Trotzdem sterben in den Klassen von 20 bis 40 Jahren
erheblich mehr Frauen. In der Altersklasse von 40 bis 45 Jahren
ist die Mortalität bei den Männern um ein Geringes höher; von
da an sterben weniger Frauen als Männer bis zum 70. Lebensjahre;
jenseits des 70. Lebensjahres ist die Sterblichkeit dann wieder bei
den Frauen stärker.
Aus diesen Feststellungen schließe ich, daß die Frauen in
Japan während des 25. bis 40. Lebensjahres infolge von Men¬
struationen und Schwangerschaften allein oder im Zusammenhang
mit der Erwerbstätigkeit mehr dem Tode ausgesetzt sind, als die
Männer infolge der Berufsarbeit. In der Altersklasse von 40 bis
45 Jahren sind die Chancen für beide Geschlechter fast gleich;
vom 45. Lebensjahre an, wo die durch das Geschlechtsleben hervor¬
gerufenen gesundheitlichen Gefahren für das weibliche Geschlecht
gewöhnlich gewichen sind, für die Männer aber die Schädigungen
Der Frauenüberschuß.
321
durch die Berufsarbeit weiter bestehen, werden die Sterblichkeits-
Verhältnisse für das männliche Geschlecht entsprechend ungünstiger.
So bieten sich die Zustände in einem Staate mit einer nor¬
malen, d. h. dem eingangs erwähnten Naturgesetz entsprechenden
Bevölkerungszusammensetzung dar. Vergleichen wir hiermit die
Verhältnisse in Deutschland, dessen männliche Bevölkerung unter
der durch die Wanderungsverluste hervorgerufenen Auslese zu
leiden hat. In Deutschland entfielen — nach der Sterbetafel1) für
die Jahre 1891 bis 1900 — auf 100000 auf ein Jahr beobachtete
Personen Todesfälle:
Tabelle 13.
In der Alters¬
klasse
Männlich
Weiblich
Männliche
weniger ( — )
25—29
30-34
608
715
634
736
— 26
— 21
In den beiden Altersklassen von 25 bis 29 und 30 bis 34 Jahren
steht mithin auch in Deutschland die weibliche Sterblichkeit un¬
günstiger da als die männliche. In allen anderen Altersklassen,
so auch in den von 35 bis 39 und 40 bis 45 Jahren üb er wiegt
aber — im Gegensatz zu Japan — die Mortalität der Männer.
Betrachten wir an dieser Stelle noch einmal die Tabelle 3.
Wir finden dort, daß in den Staaten mit Frauenüberschuß das
männliche Geschlecht zumeist in der Altersklasse von 0 bis 19 Jahren
stärker vertreten ist, daß aber in der Klasse von 20 bis 59 Jahren
stets mehr Frauen gezählt wurden. Anders in den Ländern mit
Männerüberschuß, d. h. in Japan, Australien und Neuseeland, in
den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Bulgarien, Serbien,
Griechenland und in Elsaß-Lothringen, als dem einzigen deutschen
Bundesstaat ; in diesen Ländern befinden sich ohne Ausnahme auch
in der Altersklasse von 20 bis 59 Jahren die Männer in der Mehr¬
zahl, woraus man wohl schließen darf, daß auch jenseits des
35. Lebensjahres in diesen Staaten die Männer zum mindesten
keine stärkere Mortalität darbieten als die Frauen, während es
in den Ländern mit der männlichen „Auslese“, wie z. B. in Deutsch¬
land, umgekehrt ist.
9 Die Angaben sind dem amtlichen Werk: „Krankheits- und Sterblichkeits-
Verhältnisse in der Ortskrankenkasse für Leipzig und Umgebung1' entnommen.
322 Alfons Fischer,
Von besonderem Interesse sind für die Erörterung unserer
Probleme die Zustände in Elsaß-Lothringen, denen wir nun noch
einige Betrachtungen widmen wollen.
ln Elsaß-Lothringen J), bzw. in seinen drei Bezirken beobachtete
man bei den Volkszählungen folgendes Verhältnis zwischen den
Ziffern der beiden Geschlechter:
Tabelle 14.
Bezirke
Land
Auf 1000 männliche Personen der
Zivilbevölkerung
Gesamt¬
bevölkerung
kommen weibliche
Unter-Elsaß
1037,62
987,13
Ober-Elsaß
1059,32
1020,61
Lothringen
958,63
828,31
Elsaß-Lothringen
1905
1028,15
939,04
1900
1046,72
952,97
1895
1071,69
969,56
1890
1079,73
989,49
1885
1088,42
1028,28
1880
1089.61
1034.33
1875
1105,09
1056,45
1871
1084,61
1038,61
Aus der Tabelle 14 erkennt man, daß auch noch bei der Volks¬
zählung im Jahre 1905, wenn man nur die Zivilbevölkerung in
Betracht zieht, in Elsaß-Lothringen ein Frauenüberschuß, aller¬
dings ein sehr geringfügiger vorliegt. Betrachtet man aber in den
Reichslanden die Gesamtbevölkerung, so erkennt man, daß bereits
vom Jahre 1890 an ein Männerüberschuß festgestellt wurde. Hieraus
ist ohne weiteres ersichtlich, daß in Elsaß-Lothringen das numerische
Übergewicht der männlichen Personen auf die Verlegung großer
Truppenkörper in dieses Landesgebiet zurückzuführen ist. Auch
in allen anderen deutschen Staaten* 2) spielt bei dem Verhältnis
zwischen den Ziffern der beiden Geschlechter die Anzahl der Sol¬
daten eine Rolle; der Einschluß des Militärs bedeutet für das
männliche Geschlecht eine Begünstigung, die (nach der Volkszäh¬
lung des Jahres 1900) für Preußen 2,24, für Bayern 2,15 und im
Höchstfälle, nämlich in Hessen 3,52 Proz. beträgt. In Elsaß-Loth¬
ringen beläuft sich die entsprechende Differenz auf 9,37 Proz.
a) Statistisches Jahrbuch für Elsaß-Lothringen. Dritter Jahrg. Straßburg
1909.
2) Statistik des Deutschen Reiches. Bd. 150, p. 55*
Der Frauenüberschuß.
323
Nun zeigt aber die Tabelle 14, daß im Bezirk Lothringen im
Jahre 1905 auch bei der Zivilbevölkerung ein Männerüberschuß
festgestellt wurde. Diese Tatsache ist für die Lösung unserer
Probleme, wie ich sogleich zeigen werde, von Bedeutung.
Es fragt sich nun, wie sich die Sterblichkeitsverhältnisse bei den
beiden Geschlechtern in der Gesamtbevölkerung von Elsaß-Lothringen
bzw. in seinen einzelnen Bezirken gestaltet haben. Es starben im Jahre
1908 von den männlichen Personen 18 380, von den weiblichen 17 462,
also von den ersteren 918 mehr. Im Jahre 1908 wurden aber 1388
mehr Knaben- als Mädchengeburten gezählt; die Folge hiervon ist,
daß die Sterblichkeit unter den männlichen Säuglingen die Mor¬
talität der weiblichen um 875 überragt. Unter Berücksichtigung
dieser Feststellungen ist die Sterblichkeit der beiden Geschlechter
in Elsaß-Lothringen so gut wie gleich. Diese Erscheinung stellt
schon eine Differenz dar gegenüber den Feststellungen in den
Ländern mit Frauenüberschuß.
Ein ganz besonders bemerkenswertes Ergebnis erhält man
aber, wenn man die Sterblichkeitsverhältnisse der beiden Ge¬
schlechter im Bezirk Lothringen mit den Vorgängen in anderen
Landesgebieten vergleicht. Zum Zwecke des Vergleiches wollen
wir folgende Zusammenstellung *) betrachten :
Tabelle 15.
Im Zeitraum v. 1. Dez, 1900
bis 30. Nov. 1905 starben durch-
Staat und Landesteil
schnittlich jährlich auf 1000 Ein-
wohner der mittl. Bevölkerung
beim m. Geschl.
beim w. Geschl.
Ostpreußen
25,43
22,00
Stadt Berlin
19,41
16,10
Schleswig-Holstein
18J6
16,60
Hanuover
18,69
17.26
Westfalen
20,34
18,65
Rheinland
20,78
18,63
Königreich Preußen
22,11
19,48
Königreich Bayern
25,39
22,60
Bezirk Unter-Elsaß
20,62
20,57
Bezirk Ober-Elsaß
22,27
20,48
Bezirk Lothringen
18.89
20,79
Reichsland Elsaß-Lothringen
20,47
20,61
Deutsches Reich
22,28
19,77
l) Deutsche Vierteljahrshefte zur Statistik des Deutschen Reiches. 1 906,
H. IV, p. 802 und 303. ' •
324 Alfons Fischer,
Die Tabelle 15 zeigt uns, daß allein in Elsaß-Lothringen mehr
Frauen als Männer sterben, der Unterschied ist freilich sehr gering;
im Bezirk Lothringen aber ist die Differenz zuungunsten des
weiblichen Geschlechts groß. So stellen sich die Ergebnisse dar in
diesem Bezirke, der einen ansehnlichen Männerüberschuß aufweist.
In allen anderen Landesteilen ergibt sich eine Ungunst für die
Männer; jedoch in denjenigen Gebieten, in denen ebenfalls ein
— wenn auch geringer — Männerüberschuß vorliegt, wie in Rheinland,
Westfalen, Hannover, Schleswig-Holstein, ist der Unterschied zu¬
ungunsten des männlichen Geschlechts geringer, als im Durchschnitt
des Deutschen Reiches und besonders als in den Gebieten mit
starkem Frauenüberschuß, wie Ostpreußen oder Stadt Berlin.
Wir haben also die paradox erscheinenden Tatsachen festge¬
stellt, daß in denjenigen Gebieten, in denen mehr Frauen als
Männer vorhanden sind, weniger Frauen als Männer sterben, und
umgekehrt, daß ein numerisches Überwiegen der Männer mit einer
geringeren Sterblichkeit auf der männlichen Seite verbunden ist.
Diese Erscheinungen, die dem naturgemäßen Verlauf direkt zu¬
wider sind, können gar nicht anders erklärt werden, als damit,
daß dort, wo die Männer in der Minderzahl vorhanden sind, die
größere Mortalität auf der männlichen Seite durch die ungünstige
„Auslese“ infolge der Wanderungsverluste hervorgerufen wird. Wir
meinen daher zu der Behauptung — im allgemeinen — berechtigt zu
sein, daß das Vor h an den s ein ei nesFrauen über Schusses
die relative physische Minderwertigkeit der in dem
betreffenden Landesgebiet vorhandenen männlichen
Bevölkerung dar tut. Nicht weil mehr Männer sterben, ent¬
steht der Frauenüberschuß, sondern weil durch die Wanderungs¬
verluste mehr kräftige Männer als Frauen verloren gegangen sind,
weil also ein Frauenüberschuß künstlich hervorgerufen wurde, ist
die Sterblichkeit unter der verhältnismäßig schwächlicheren männ¬
lichen Bevölkerung, die in der Heimat zurückgeblieben ist, ver¬
größert worden.
Wir haben nun dargelegt, daß der Frauenüberschuß vom sozial¬
hygienischen Standpunkte aus nicht zu begrüßen ist, wir haben
ferner gezeigt, daß der Frauenüberschuß ein schlechtes Symptom
für die körperliche Konstitution der männlichen Bevölkerung dar¬
stellt. Wie ist nun das Sinken des Frauenüberschusses, das wir
in Deutschland seit dem Jahre 1895 ununterbrochen wahrnehmen,
vom Sozialhygieniker zu bewerten?
Soweit die Abnahme des Frauenüberschusses auf die Ver-
Der Frauenüberschuß.
325
minderung der Wanderungen bei beiden Geschlechtern und insbe¬
sondere auf die Verringerung oder Beseitigung der männlichen
Wanderungsverluste zurückzufühlen ist, kann vom sozialhygienischen
Standpunkte aus das Sinken nur als willkommen bezeichnet werden.
Der Frauenüberschuß kann aber auch noch aus einem anderen
Grunde kleiner geworden sein.
Wir meinen nachgewiesen zu haben, daß der Frauenüberschuß
die Folge davon ist, daß bei den starken Wanderungsverlusten
mehr Männer als Frauen eingebüßt wurden; wir stellten jedoch
nicht in Abrede, daß die gesundheitlichen Schädigungen, denen
die Männer bei der Erwerbsarbeit ausgesetzt sind, den Umfang
des Frauenüberschusses gefördert haben, wenngleich dieser Beein¬
trächtigung wiederum auf der weiblichen Seite die mit dem Ge¬
schlechtsleben verbundenen Nachteile das Gleichgewicht halten
dürften. Diese mit der Berufstätigkeit verknüpften Schädigungen
sind aber bei dem weiblichen Geschlecht besonders groß. Hierüber
belehrt uns das bereits zitierte amtliche Werk x) über die „Krank-
heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Ortskrankenkasse für
Leipzig und Umgebung“, aus dem wir folgende Zusammenstellung
wiedergeben wollen:
Tabelle 16.
Es starben unter 100000 beobachteten Kassenmitgliedern:
In der Alters¬
klasse
Männliche Weibliche
versicherungspflichtige
Mitglieder
Männliche
weniger ( — )
mehr (-[-)
gleichviel (=)
unter 15
94
94
_
15-19
274
307
— 33
20—24
463
493
— 30
25—29
492
601
— 109
30—34
587
657
— 70
Vergleichen wir die Tabellen 13 und 16, so finden wir, daß
in der Gesamtbevölkerung die Sterblichkeit beim weiblichen Ge¬
schlecht nur in den Altersklassen von 25 bis 34 Jahren etwas
größer ist als bei den Männern, daß aber bei der erwerbstätigen
Bevölkerung, wie sie die Mitglieder der nach Millionen Personen
zählenden Ortskrankenkasse in Leipzig und Umgebung darstellt,
die weibliche Mortalität auch in den Altersklassen von 15 bis 19.
x) „Krankheits- und Sterblichkeitsverkältnisse in der Ortskrankenkasse für
Leipzig und Umgebung.“ Berlin 1910. Verlag von Carl Heymann.
326 Alfons Fischer,
sowie von 20 bis 24 Jahren etwas, und in den Altersklassen von
25 bis 34 Jahren erheblich stärker ist als die männliche. Die
Ergebnisse bei der Leipziger Krankenkasse werden nun aber mit
Recht im Hinblick auf die gewaltige Ziffer der Kassenmitglieder
als typisch für ganz Deutschland angesehen; man darf also
annehmen, daß auch sonst in deutschen Landen sich diese
Sterblichkeitsverhältnisse bei der erwerbstätigen Bevölkerung
finden. Wenn man nun weiter berücksichtigt, wie sehr nach
den Resultaten der letzten Berufszählung die Ziffer der erwerbs¬
tätigen Mädchen und Frauen in den letzten Jahren gewachsen
ist, so wird man annehmen müssen, daß die Sterblichkeitsverhältnisse
beim weiblichen Geschlecht durch die zunehmende Frauenarbeit
immer mehr verschlechtert worden sind, und daß zum Teil auch
hierauf der Rückgang des Frauenüberschusses beruhen kann. So
sehr wir, nach den obigen Darlegungen, die Verminderung des
Frauenüberschusses wünschen müssen, so wenig werden wir es
begrüßen dürfen, daß er infolge der in der Verbindung von Erwerbs¬
arbeit und Mutterschaft liegenden Beeinträchtigungen sinkt.
Lassen sich nun Maßnahmen gegen die von uns geschilderten
sozialhygienischen Mißstände ergreifen? Gibt es Mittel, um den
Frauenüberschuß zu beseitigen oder zu verringern? Wir haben
den Frauenüberschuß als eine Folgeerscheinung der starken Wande¬
rungsverluste erkannt. Alle Mittel, die dazu dienen, die starken Aus¬
wanderungen zu verhüten, werden auch bewirken, daß die Entstehung
des Frauenüberschusses hintangehalten wird. Wo die Wanderungs¬
verluste fehlen, wird ein Männerüberschuß sich zeigen, denn die
Natur bewirkt ja, daß mehr männliche als weibliche Kinder ge¬
boren werden, und wenn auch mehr Knaben infolgedessen sterben,
so bleibt bei normalen Zuständen doch die männliche Mortalität
hinter der weiblichen Sterblichkeit zurück, da den Schädigungen
durch den größeren Umfang der Erwerbsarbeit bei den Männern
die Nachteile durch das Geschlechtsleben bei den Frauen gegen¬
überstehen. Sobald also dafür gesorgt ist, daß die Wanderungs¬
verluste unterbleiben, sind anderweitige Mittel zur Verminderung
des unerwünschten Frauenüberschusses wohl kaum mehr anzu¬
wenden. Dagegen darf man nicht achtlos an der Tatsache vorüber¬
gehen, daß das Sinken des Frauenüberschusses durch die weitere
Ausdehnung der weiblichen Erwerbsarbeit hervorgerufen wird; den
Schädigungen, die aus der Verbindung von Berufstätigkeit und
Mutterschaft resultieren, muß man durch wirksame und umfassende
Der Frauenüberschuß.
327
Maßnahmen auf dem Gebiete des Mutterschutzes und der
Mutterschaftsversicherung begegnen.
Fassen wir nun noch einmal kurz die hauptsächlichsten Er¬
gebnisse unserer Darlegungen zusammen. Wir sind uns wohl
dessen bewußt, die Probleme auf diesem bisher kaum bearbeiteten
Gebiete noch nicht endgültig gelöst zu haben ; dazu reicht schon
das uns zur Verfügung stehende Material nicht aus; es wäre daher
dringend wünschenswert, daß die hier erörterten Fragen einerseits
an einem umfassenderen, internationalen Untersuchungsstoff geprüft
und andererseits durch genau detaillierte Forschungen auf kleinen,
beschränkten Landesgebieten ergänzt werden würden.
Immerhin läßt sich folgendes auf Grund unserer Darlegungen
behaupten: Der Frauenüberschuß in Deutschland ist nicht die
Folge von Vorgängen der letzten, sondern früherer Jahrzehnte; er
ist dadurch entstanden, daß mehr Männer als Frauen ausgewandert
sind. Vom sozialhygienischen Standpunkte aus ist der Frauen¬
überschuß als ein schlechtes Symptom für die körperliche Kon¬
stitution der männlichen Bevölkerung zu betrachten; im allgemeinen
sterben in den Gebieten, in denen die Frauen in der Mehrzahl
vorhanden sind, mehr Männer, und umgekehrt, wo ein Männer¬
überschuß besteht, mehr Frauen, während man gerade das Gegen¬
teil erwarten sollte. Zur Beseitigung oder Verminderung des
Frauenüberschusses muß dafür gesorgt werden, daß die Wande¬
rungsverluste vermieden werden. Das Sinken des Frauenüber¬
schusses ist zu begrüßen; soweit aber diese Abnahme auf der
stärkeren Ausdehnung der weiblichen Erwerbsarbeit beruht, muß
durch Ausbau der Mutterschaftsversicherung Abhilfe beschafft
werden.
Nachtrag bei der Korrektur.
Nachträglich sind mir einige Feststellungen in inzwischen
erschienenen amtlichen Publikationen bekannt geworden, die für
meine Behauptungen weitere Belege enthalten. Hiervon sei folgendes
noch mitgeteilt:
Auf Grund der Volkszählung vom 1. XII. 1910 wurden be¬
rechnet, daß auf 100 männliche Personen weibliche kommen:
328 Alfons Fischerr Der Frauenüberschuß.
im Deutschen Reich 102,64
im Reg.-Bez. Breslau 111,18
„ „ Aurich 92,58
„ „ Stade 96,61
„ „ Trier 96,25
Nun ergibt sich aber aus dem „Gesundheitswesen des Preußi¬
schen Staates“ 1909 (erschienen 1911), daß von allen Bezirken nur
Aurich eine geringere Mortalität beim männlichen Geschlecht auf¬
weist; im Bezirk Stade ist die Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern
gleich; im Bezirk Tier starben nur sehr unerheblich mehr männ¬
liche Personen als weibliche. In allen anderen preußischen Be¬
zirken überwiegt die Mortalität beim männlichen Geschlecht; in
keinem Regierungsbezirk ist aber die Differenz bei der Sterblich¬
keit zuungunsten der Männer so groß, wie im Bezirk Breslau, der
den höchsten Frauenüberschuß auf weist.
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 1. Dezember 1910.
Herr Max Flesch (Frankfurt a. M.) trägt vor über „Hygienische Ergeb¬
nisse der Aktienbaugesellschaft für kleine Wohnungen in Frankfurt a. M.“
(Vgl. S. 252, VII. Bd., 2. Heft dieser Zeitschrift.)
Als weiteres günstiges Moment schließt sich daran die unzweifelhafte Tat¬
sache, daß sich hei der Bevölkerung der Aktienwohnungen eine gewisse Auslese
besseren Menschenmaterials vollzieht : die Vorausbezahlung der Miete ist eine
Forderung, der sich nur solide Leute unterordnen können. Und nach anderer
Seite minderwertige Elemente werden durch den Mieterausschuß bald eliminiert,
so daß in gewissem Sinne eine Elite unter ihresgleichen, unter den durch geringen
Lohn und große Kinderzahl ungünstig gestellten Arbeitern sich in den Aktien¬
häusern vereint. Es wird wohl nicht bezweifelt werden können, daß in diesen
Tatsachen wesentliche Faktoren zur Herbeiführung günstiger hygienischer Ver¬
hältnisse gelegen sind. Aber ausschlaggebend sind sie sicher nicht. Denn ehe
diese Leute in die Wohnungen der Aktienbaugesellschaft gelangt sind, waren
sie doch vermutlich nicht minder frei von unehelichen Geburten, nicht minder
solid, nicht minder gewissenhaft in der Zahlung der Miete usw. Gleichwohl waren
ihre hygienischen Verhältnisse keine anderen als die der Durchschnittsbevölkerung.
Noch bei der Übersiedlung in die Aktienhäuser und während des ersten Jahres
ihres dortigen Wohnens haben sie ja die alte größere Sterblichkeitsziffer, derart,
daß — wie wir gezeigt haben — jeder Nachschub bei Eröffnung einer neuen
Wohnungsgruppe in deren relativ größeren Mortalität zum Ausdruck kommt.
Also muß doch das Gelangen in die neuen Wohnungsverhältnisse von Einfluß sein.
Dieser Einfluß zeigt sich nun nicht nur in der Sterblichkeitsziffer der alle
Altersstufen einschließenden Gesamtbewohnerschaft der Aktienhäuser. Er zeigt sich
auch in der Sterbeziffer der Jugendlichen und vor allem der Säuglinge.
Was die jugendlichen Individuen unter 15 Jahren betrifft, beschränken wir
uns auf den Hinweis auf die oben mitgeteilte Tabelle. Sie zeigt da ein ähn-
*) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 1, 2, 3, 4 u. 6
der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.
330 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
liches Gesicht, wie bei der Gesamtbewohnerschaft : die Differenz zwischen der in
Prozenten ausgedrückten Mortalität der entsprechenden Gruppe in der Stadt und
in den Aktienhäusern ist aber noch größer. Leider fehlen die Ziffern für die
Stadt aus den beiden letzten Berichtsjahren; auch können die Zahlen nicht den
gleichen Anspruch auf Exaktität erheben, wie die der vorigen Gruppe, weil die
Ziffern für die jugendliche Bevölkerung der Stadt nicht auf Zählung und Fort¬
schreibung seitens des statistischen Amts beruhen, sondern auf Fehler nicht aus¬
schließenden Approximativberechnungen. Immerhin beweist die Größe der Differenz,
daß gerade das jugendliche Alter unter den Verhältnissen der Wohnung in den
Aktienhäusern seine Bechnung findet, das Alter also, in welchem, weil Berufs¬
schädigungen und Alkoholismus noch nicht von Einfluß sind, die sonstigen Ver¬
hältnisse am reinsten zum Ausdruck kommen.
Ein ganz besonderes Interesse bietet die vergleichende Betrachtung der
Sterblichkeit des ersten Lebensjahres. Darüber stehen zwar nur die Ziffern der
sechs letzten Jahrgänge zur Verfügung; aber diese sind charakteristisch genug,
auch wenn es sich nur um relativ kleine Zahlen bei der Aktienbaugesellschaft
handeln kann. Im Gegensatz zu der Mortalitätsziffer der Jugendlichen ist die
des ersten Lebensjahres von der der Gesamtbevölkerung der Stadt nicht immer
weit verschieden; in einem Jahre — 1906 — weisen sogar die Aktienhäuser für
diese Altersstufe eine nicht unerheblich größere Sterblichkeit auf, als die sonstige
Bevölkerung (20,7 Proz. gegen 16,5 Proz.). Die Vergleichung ergibt, wenn man
Anfang und Ende ins Auge faßt, wie bei der Gesamtsterblichkeit eine Abnahme
(von 16,0 Proz. auf 12,37 Proz. in der Stadt, von 16,4 Proz. auf 8,0 Proz. in den
Aktienhäusern). Auch darin stehen sich die Verhältnisse gleich, daß das Ab¬
sinken der Kurve für die Aktienhäuser ein stärkeres ist als für die Stadt. Aber
es erhellt aus der Betrachtung der Kurve auch ohne weiteres, daß für deren Ge¬
staltung andere Faktoren als die für die Gesamtmortalität maßgebende Bedeutung
erhalten haben. Die Ausschläge für die einzelnen Jahrgänge sind unverhältnis¬
mäßig größer bei den Insassen der Aktienhäuser als bei der Gesamtbevölkerung;
außerdem aber sind die Ausschläge in mehreren Jahren entgegengesetzt gerichtet:
Also ist nicht nur die relative Kleinheit der Zahlen zur Erklärung der größeren
Schwankungen anzuführen. Es müssen andere Faktoren hier im Spiel sein. Es
fällt nämlich die Höhe der Sterblichkeitskurve für die Bewohner der Aktienhäuser
mit einer ungewöhnlich großen Geburtenziffer zusammen (140 gegen 130 bzw. 107
in 1905 bzw. 1907). Auch für die Stadt überhaupt hat aber das Jahr 1906 eine
relativ große Geburtenziffer (1905 9439, 1906 10069, 1907 9831). Das Plus ist
sogar relativ größer als bei der Aktienbaugesellschaft (28,7 Geburten auf tausend
Lebende in der Stadt gegen 27,9 in den Aktienhäusern). Gleichwohl hat die Ge¬
samtsterblichkeit in der Stadt kaum eine besondere Höhe erreicht (16,01). Die
Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebensjahr ist sogar eine relativ geringe
(1415 auf 10069 gegen 1577 auf nur 9439 in 1905 und 1278 auf 9831 in 1907).
Der die ungewöhnlich große Kindersterblichkeit im ersten Lebensjahr für die
Aktienhäuser bedingende Grund muß also irgendwie in diesen bzw. in deren Ein¬
wohnerschaft lokalisiert sein. Und zwar gibt uns die Tabelle selbst nach dieser
Richtung einen Fingerzeig: Auch die Sterblichkeit der Jugendlichen bis zum
15. Jahr ist in den Aktienhäusern in 1906 eine ungewöhnlich hohe: 16,22 Prom.
gegen 12,52 im vorhergehenden, 11,53 im folgenden Jahre, während gleichzeitig
in der Stadt die entsprechenden Altersstufen keinerlei Zunahme aufweisen; im
Gegenteil fügt sich die Ziffer pro 1906 (21,66) nach einem kleinen Anstieg im
r
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 331
Vorjahre ganz regelrecht in den absteigenden Gang der Sterbeziffern ein. Damit
ist ein allgemeiner Grund ausgeschlossen. Die Prüfung der Todesursachen klärt
diesen Grund auf: das Jahr 1906 zeichnet sich durch eine größere Zahl von
Todesfällen an Darmkatarrhen aus. 14 gegenüber je 3 im vorangegangenen und
im folgenden, 9 in dem bis dahin ungünstigsten Jahre seit dem Beginn der
Statistik. Leider ist aus den Berichten nicht mehr zu ermitteln, ob es sich bei
diesen Fällen um eine auf einen Häuserblock beschränkte Endemie handelt. In
der Stadt weist das Jahr 1906 kein Mehr von Todesfällen an Cholera nostras und
Mo gendarmkrankh eiten auf. Da nicht weniger als 12 von den 14 Todesfällen an
Brechdurchfall und Magendarmkatarrh das erste Lebensjahr betreffen, so ist viel¬
leicht irgendeine Zufälligkeit in der Milchversorgung für die Säuglinge ausschlag¬
gebend geworden. Auf statistischem Wege ist bei der kleinen Zahl der Todes¬
fälle in diesem Punkt nicht weiterzukommen. Von besonderer Bedeutung für
uns ist immerhin noch die Feststellung, daß gerade in den Altern, in welchen
die Sterblichkeit der unehelichen ihre größte Bolle spielt, im ersten Lebensjahre,
die Differenz zwischen der Stadt und den Aktienhäusern, in welchen fast keine
unehelichen Geburten Vorkommen, eine relativ kleine ist. Dem ungünstigen
Moment der unehelichen Geburt hält also der Kinderreichtum in den Aktien¬
häusern annähernd die Wage.
Aus demselben Grunde ist auch von einem Eingehen auf die einzelnen
Sterblichkeitsursachen nicht allzuviel zu erwarten. Immerhin bietet die folgende
Tabelle 2, in welcher die Ziffern der wichtigsten Gruppen der Todesursachen im
Vergleich mit der Einwohnerzahl der Aktienhäuser zusammengefaßt sind, genug
des Interessanten. Das Material der Jahresberichte ist allerdings in diesem Punkt
recht dürftig, so daß insbesondere bei der Kleinheit der Ziffern bei der Verwertung
große Vorsicht geboten ist. Aus diesem Grunde lohnt es sich auch nicht, hier
wieder Vergleichstabellen mit dem Material der Stadt aufzustellen. Das würde
auch deshalb schon schwer werden, weil die Bubrizierung der Todesursachen in
den Berichten des städtischen statistischen Amtes seit einigen Jahren geändert
worden ist, so daß innerhalb der Berichte des Amtes selbst die Basis wechselt,
daß dann wiederum das Schema der Bezeichnung der Todesursachen in den Be¬
richten der Gesellschaft nicht mit dem der amtlichen Berichte übereinstimmt.
Vielleicht wird in künftigen Jahren die Statistik sich unter Zugrundelegung des
auch in den letzteren gebrauchten Formulars aufnehmen lassen.
In den Zahlen der Tabelle 2 kommt wieder die im allgemeinen günstige
Mortalität bei der Bewohnerschaft der Aktienhäuser zum Ausdruck. Am
schlagendsten wird sie bei der Proletarierkrankheit, der Tuberkulose, erwiesen.
Gerade allerdings bezüglich dieser Todesursache sind die Berichte ergänzungs¬
bedürftig, insofern bei der Bubrizierung keine Trennung zwischen tuberkulöser
und sonstiger Hirnhautentzündung vorgenommen ist. Aber selbst wenn ich sämt¬
liche Fälle von Meningitis als tuberkulöse Erkrankungen zurechne — in der
Tabelle ist das bei den eingeklammerten Zahlen geschehen — steht sich die
Tuberkulosesterblichkeit der Aktienhäuser niedriger als die der Stadt. Selbst
wenn wir ein verhältnismäßig ungünstiges Vergleichsjahr wählen — ich greife
1908 heraus, mit relativ viel (10) Tuberkulose bei den Bewohnern der Aktien¬
häuser, relativ wenig bei der städtischen Bevölkerung (775) — bleibt die Tuber¬
kulosesterblichkeit in den Aktienhäusern mit 1,85 Prom. nicht unerheblich hinter
der Stadt mit 2,15 Prom. zurück. Daß das Verhältnis noch wesentlich besser
wäre, wenn die Hirnhautentzündungsfälle der Gesellschaftshäuser nicht willkürlich
332 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Tabelle 2.
Jahrgang
1899
1900
1901
1902
1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
Bewohner¬
zahl
1360 b
2803
3042
4155
4303
4654
4924
5008
5365
5351
5677
Sterbefälle
an Tuber¬
kulose
2
1
2
8(10)* 2)
7(8)
3(5)
8(10)
7(10)
3
8(10)
9(10)
Epidemische
Krankheiten
1
1
4
2
6
2
1
1
2
4
2
Brechdurch-
fall u. Magen-
darmkatarrh
0
3
3
5
8
9
3
14
3
4
2
als Tuberkulose gezählt werden, ist klar. Scheinbar etwas ungünstiger als hei
der städtischen Bevölkerung stehen sich die Bewohner der Aktienhäuser bezüglich
der epidemischen Krankheiten. Berechnet man den Prozentsatz der daran Ge¬
storbenen, so erscheint ein Mehr bei letzteren, das um so größer ist, je mehr man
die Vergleichung auf die einzelnen Infektionskrankheiten beschränkt. Gruppen¬
erkrankungen an Diphtherie oder Scharlach sind hier die Ursache ; denn an sich
ist der Boden für epidemische Krankheiten offenbar in den Aktienhäusern kein
fördernder. Es fehlt unter den Todesursachen fast ganz der Keuchhusten, die
Infektionskrankheit also, die in der Stadt sonst am meisten Opfer fordert ; ebenso
Masern und Influenza. Das sind aber die Infektionskrankheiten, welche in un¬
günstigen Ernährungs- und Wohnungsverhältnissen nach den sonstigen Er¬
fahrungen am schlimmsten wirken. Es sind Gruppenerkrankungen an Diphtherie,
welche eine verhältnismäßig hohe Mortalität an Infektionskrankheiten bewirken.
Hier kommt wohl zur Geltung, daß die Bewohnerschaft der Aktienhäuser sich
aus den kopfreichsten Familien zusammensetzt; Diphtherie ist eine vergleichs¬
weise Dichtigkeitskrankheit. — Umgekehrt steht es wieder bezüglich der Mortalität
an Brechdurchfall und Magenkatarrh. Sie hat für uns ein besonderes Interesse,
weil sie für die Sterblichkeit im ersten Lebensjahre ausschlaggebend ist. Die
Schwankungen sind allerdings hier, wie bei dem Aufbau der Statistik für die
Aktienhäuser auf kleinere Zahlen zu erwarten ist, größere als in der Stadt. Mit
Ausnahme des Jahres 1906 mit seiner ganz ungewöhnlichen Sterblichkeit an diesen
Krankheiten ergibt sich aber wieder ein Minus zugunsten der Aktienhäuser, z. B.
1908 bei 4 Todesfällen 0,95 gegen 1,55 Prom. in der Stadt.
Fassen wir die sich aus den Zahlen ergebenden Tatsachen zusammen, so
kommen wir zu der Feststellung, daß unzweifelhaft die hygienischen Verhältnisse
der Bewohner der Aktienhäuser, soweit sich aus den Sterblichkeitsziffern ein
Schluß ziehen läßt, günstigere sind, als bei der umgebenden Bevölkerung. Die
b Die im letzten Quartal hinzugezogenen Bewohner sind nicht mitgezählt
(vgl. Tabelle 1) doch hat bei ihnen kein Todesfall an Tuberkulose stattgefunden.
2) Die in Klammern geschlossenen Zahlen ergeben sich aus dar Zuzählung
der Todesfälle an Hirnhautentzündung im jugendlichen Alter unter der Annahme,
daß es sich um Tuberkulose handle.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 335
günstigere Mortalität zeigt sich als wesentlich bedingt durch eine erheblich ge¬
ringere Sterblichkeit in den jugendlichen Altersperioden. Dabei ist das erste
Lebensjahr zwar mitbeteiligt, doch in geringerem Maße als die folgenden Jahre.
Die günstige Mortalität der Bewohner der Aktienliäuser ist nicht etwa ein Aus¬
druck einer von vornherein besonders günstigen Beschaffenheit des die Einwohner¬
schaft zusammensetzenden Menschenmaterials, sondern eine Folge der in diesen
Häusern gebotenen Wohnungsbedingungen.
Einer besonderen Ausführung bedarf aus diesen Sätzen die Feststellung, daß
die günstigen hygienischen Verhältnisse der Bewohner der Aktienhäuser nicht
an diesen selbst haften, sondern ihnen erst durch ihr Wohnen zuteil werden.
Wir haben früher betont, daß es sich bei ihnen um eine relative Elite unter
ihresgleichen handelt. So könnte man auf den Gedanken kommen, daß ihre
günstige Mortalität der Ausdruck ihres günstigen sozialen wirtschaftlichen und
ethischen Verhaltens sein könne. Indessen stehen den günstigen Momenten auch
ungünstige genug gegenüber. Handelt es sich auf der einen Seite vielleicht um
besonders sparsame und solide Leute, die ja an sich gewiß manchen Schädigungen
relativ wenig ausgesetzt sein mögen, so muß andererseits der große Kinderreichtum
nach der ungünstigen Seite in Betracht gezogen werden. Nach der Volkszählung
von 1905 kamen in der ganzen Stadt Frankfurt bei 321 289 Einwohnern auf eine
Wohnung 4,39 Personen — eine Zahl, die, beiläufig bemerkt, wahrscheinlich seit¬
dem eher kleiner geworden sein dürfte. Demgegenüber kommen in den Aktien¬
häusern noch 1909 auf eine Wohnung 4,72 Personen, erheblich mehr also als in
der Stadt, noch mehr als in den Wohnungen verwandter Institutionen, der ge¬
meinnützigen Baugesellschaft mit 3,77, des Bau- und Sparvereins mit 4,02 Köpfen.
Daß aber die Bewohner der Aktienhäuser nicht zu aller Zeit die günstige Mortalität
aufweisen, die ihnen dort zuteil wird, geht einfach daraus hervor, daß sie diese
günstige Mortalität erst nach einiger Zeit erlangen; so oft neue Bewohner zu¬
ziehen, bewirkt das eine vorübergehende Steigerung der Sterblichkeit, wie oben
bei dem Hinweis auf die höhere Sterblichkeit im Jahre 1902, nach Neubesiedelung
einer besonders großen Zahl von Wohnungen.
So kommen wir zu der Frage, was denn eigentlich die günstigen Gesund¬
heitsverhältnisse in den Aktienhäusern bewirkt. Eine Beihe von Faktoren wirkt
da sicher zusammen, hygienische im engeren Sinne ebenso wie wirtschaftliche.
Zu ersteren rechne ich die bessere Bauweise, gegenüber manchen namentlich
älteren Stadtteilen, die Ausstattung der Wohnungen mit Badegelegenheit, Spiel-
und Bleichplätzen, Einzelgärten usw., und die durchschnittlich solidere Lebens¬
haltung. Aber all dies könnte kaum als genügende Erklärung für die große
Differenz zwischen der allgemeinen Mortalität der Stadt und der Aktienhäuser
gelten. Die Mortalität war schon in den älteren Bauten der Gesellschaft erheblich
günstiger als in der Stadt in einer Zeit, in der die Wohnungen noch recht viel
zu wünschen übrig ließen; es wurden sogar vor der Genehmigung der späteren
Bauten in der Stadtverordnetenversammlung recht schwere Angriffe gegen die
Bauart, besonders die Anordnung der Klosetts u. a. m. gerade von ärztlicher
Seite erhoben. Und daß die Lebensweise der Bewohner nicht alles bewirkt, zeigt
die größere Mortalität im ersten Jahre des Zuzuges. Es ist doch nicht an¬
zunehmen, daß die Leute erst nach dem Beziehen der neuen Wohnung solid ge¬
worden sein sollen; sie werden wohl vorher dieselben gewesen sein, wie später
in der neuen Wohnung. Unverkennbar ist aber der wirtschaftliche Fortschritt
bei dem Beziehen des neuen Heims, der sich, wie wir gezeigt haben, nicht nur
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
334 A11S der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene nnd Medizinalstatistik.
im Mietspreis, sondern durch die günstigen Einkaufgelegenheiten und andere?
Wohnungsergänzungen einstellt. Was an Miete gespart Avird, kommt der Er¬
nährung zugute; und das allerdings ganz besonders hei einem durch die Bereit-
Avilligkeit zum Vorauszahlen der Miete als sparsam und solid gekennzeichneten
Menschenmaterial.
Führen Avir so die Besserung der Gesundheitsverhältnisse in erster Linie
auf die Avirtschaftliche Bessergestaltung zurück, so dürfen Avir dann auch die
Rückwirkung sozialer Einflüsse anderer Art nicht übersehen. Die EinAvohner-
schaft der Aktienhäuser ist aus früher erörterten Gründen eine seßhaftere als die
■anderer Wohnungen. Das hat aber naturgemäß zur Folge, daß die jugendlichen
Altersstufen eine Beschränkung erfahren.1) Mit der Zeit hört der GeburtenzuAvachs
in den einzelnen Familien auf; das am meisten gefährdete Säuglingsalter kommt
damit in Wegfall. Es kommt zu einem relativen ÜberAAÜegen der eine geringere
Sterblichkeit aufAveisenden Lebensperioden. Das erklärt uns das gegenüber der Stadt
stärkere Sinken der Mortalitätskurve in den späteren Jahren, in Avelchen überdies
durch vorübergehende Erschwerung der Fortsetzung der Bauten neue Ansiedler
nur in geringer Zahl zufließen. Wenn dann überdies in den älteren Blocks die
BeAvohnerzahl dadurch abnimmt, daß die herangewachsenen Kinder, selbständig
geworden, aus der elterlichen Wohnung verziehen, wird eine Abnahme der Kopf¬
zahl in den Wohnungen ein weiteres günstiges Moment schaffen, das allerdings-
zurzeit erst in einem der kleineren Wohnungsblocks zur Geltung kommt.
Ein anderes nicht zu übersehendes soziales Moment für die zunehmende-
Besserung der Gesundheitszustände ergibt sich Avieder aus der Verbesserung der
Lebenshaltung durch Ersparung an Ausgabe für Miete in der Weise, daß die
Frauen darauf verzichten können, als Zugehefrauen eine Nebeneinnahme zu er¬
werben. Sie ziehen es vor, im eigenen Haushalt zu arbeiten; mancherlei Avird
dabei erspart, so daß der Ausfall nicht einmal ganz zur Geltung kommt. Um so
mehr von Wert ist die größere Sorgfalt, die nun den Kindern durch bessere Be¬
aufsichtigung und Reinhaltung zuteil Avird. Am meisten ist das in dem am
Aveitesten von der Innenstadt entfernten „Erbbau“-Block geschehen, dessen Be-
Avohnerinnen einen so großen Weg zu den Arbeitsgelegenheiten als Monatsfrauen¬
zurücklegen mußten, daß der Ertrag kein rechtes Äquivalent mehr Avar. Dort
konnte die ursprünglich vorgesehene Krippe eingehen, Aveil tatsächlich trotz der
großen Kinderzahl das Bedürfnis fehlte.
Es kann schließlich gleich sein, Avelcher der genannten Faktoren den größten
Einfluß geübt hat. Die Tatsache, die aus dem großen hygienischen Experiment
der Ansiedelung eines erheblichen Bevölkerungsteils einer Stadt in hygienisch
günstige Wohnungen zu mäßigem Mietspreis hervorgeht, ist unanfechtbar. Im
Anschluß an die Besserung der Wohnungsverhältnisse sinkt die Mortalität der
Bewohner so sehr, daß dem kein anderes Ergebnis hygienischer Maßnahmen auf
einzelnen Gebieten die Wage halten kann. Ist doch bei so manchem Versuch
hygienischer Verbesserungen das Ergebnis so geringfügig, daß seine Existenz
überhaupt in Frage steht. Von der unzählige Beamte und Ämter zum ZAveck
der Eindämmung der Geschlechtskrankheiten in Bewegung setzenden Reglemen¬
tierung der Prostitution ist ein zahlenmäßiger Erfolg überhaupt bestritten. Der
Auf Bitten der Bewohner einzelner Blocks haben dort auch Belehrungen
über Beschränkung der Kinderzahl stattgefunden, die nicht ohne Einfluß geblieben,
sind, Avie der Abfall der Geburtenziffer 1906/7 zeigt.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 335
Kampf gegen die Verheerungen des Alkoholismus hat kaum zu einem Stillstand,
geschweige denn zu einer merklichen Minderung geführt. Die unzweifelhaft ja
nachweisbare Abnahme der Tuberkulose ist, gegenüber den Riesenaufwendungen
für den Bau unzähliger Volksheilstätten eine geringe, nach wenigen Prozenten
zu berechnende.
Die Erfolge der Stillprämien und Säuglingsberatungsstellen, so warm be¬
fürwortet von allen Seiten, sind vorläufig noch weit mehr Gegenstand lebhafter
Wünsche als nachgewiesener Wirksamkeit. Das Experiment der Aktienbaugesell¬
schaft greift hier weiter, als die speziellen Bestrebungen. Sowohl die Schwind¬
suchtssterblichkeit als die Kindersterblichkeit einer inmitten eines großen Gemein¬
wesens lebenden, die Einwohnerschaft einer kleinen Stadt repräsentierenden
Menschengruppe, heben sich innerhalb ihrer Umgebung dermaßen vorteilhaft ab,
als ob die Schaffung der neuen Wohnungen nur ihre Bekämpfung zum Ziel ge¬
habt hätte. Nicht als ob man daraus schließen dürfte, nun müßte alle Hygiene
in Wohnungsbau aufgehen. Daß aber Kanalisation, Wasserversorgung und
Wohnungsbeschaffung die Grundpfeiler der Hygiene sind, steht außer Zweifel.
Und daß es sich unter allen Umständen lohnen wird, gute billige Wohnungen
als Vorbeugung der Tuberkulose, als Sicherung der heranwachsenden Jugend vor
frühem Säuglingstod, vor späterer skrofulöser Schwächung zu begründen, wird
durch das Experiment, dessen Ergebnisse wir hier zu schildern versucht haben,
unzweideutig bewiesen.
Sitzung vom 15. Dezember 1910.
••
Herr W. Butt er milch -Berlin trägt vor über „Uber den Wert einer zen¬
tralisierten kommunalen Säuglingsfürsorge.“ Kein Zweig der sozialen Hygiene
hat in den letzten Jahren zu sovielen theoretischen Erwägungen und zu so zahl¬
reichen praktischen Einrichtungen geführt, wie die Mutter- und Säuglings¬
fürsorge. So verschieden auch die Wege sind, die man beschritten hat, das
Endziel, nach dem alle strebten, war das gleiche: Den jüngsten Erdenbürgern
die „ihnen durch die Natur gegebene geringste Sterblichkeit zu verschaffen“.
Wenn man der historischen Entwicklung nachgeht, so sieht man, daß, wie bei
fast allen in den Dienst der Humanität gestellten Einrichtungen, in früherer Zeit
zunächst die private Wohlfahrtspflege die Hauptstütze auch der sozialen Säuglings¬
fürsorge war. Doch bald hat man einsehen gelernt, daß in Anbetracht der ganz
außerordentlich schwierigen Aufgaben, die es zu lösen gilt, und der großen mate¬
riellen Opfer, die dies Problem erfordert, nur mit großen Mitteln, die Staats-,
Kommunalverbände und Privatwohltätigkeit zur Verfügung stellen, etwas Gutes
und Durchgreifendes zu erreichen ist. Was aber immer geschehen sein mag seit
der Zeit, da man aufgehört hat, vor der excessio hohen Säuglingssterblichkeit wie
vor einem unabänderlichen Geschick zu resignieren, vras man auch immer Großes
und Bedeutendes geschaffen hat, es fehlt an den meisten Stellen noch an
einer systematischen Zusammenarbeit und planmäßigen Ausge¬
staltung, die man kurz mit dem Namen Zentralisation bezeichn et.
Nach den Berichten, die gerade in letzter Zeit aus verschieden Teilen Deutsch¬
lands über die offene und geschlossene Säuglingsfürsorge veröffentlicht worden
sind, ersieht man jedoch, daß man jetzt in einigen ländlichen Bezirken dazu
übergeht, die mannigfachen Teile der sozialen Säuglingshygiene fester zusammen¬
zufassen und die Ausführung der notwendigen Maßnahmen einem Zentralorgan
22*
336 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
zn übertragen. Nur beim Zusammenschluß der einzelnen Faktoren, nur, wenn
man dem Feind yon allen Seiten in einem geordneten Angriff entgegentritt, darf
man berechtigte Hoffnung haben, ihn zu schlagen. Durch Verzettelung oder Zer-
spliterung der Kräfte erringt man wohl kleine Einzelerfolge ; ein ganzer Sieg
wird es wohl niemals werden. Mit Recht betont deshalb Tugendreich am
Schlüsse seines Handbuches, in dem er alle Maßnahmen der offenen und ge¬
schlossenen Mutter- und Säuglingsfürsorge auf das Eingehendste abhandelt : „Wich¬
tiger noch als die Gründung neuer Einrichtungen scheint daher gegenwärtig die
Zusammenfassung, die Zentralisation des Bestehenden, damit endlich geordnete
Zweckmäßigkeit in dem Fürsorgechaos Platz greift. Die Fürsorge der Großstädte
« leidet unter der Zerrissenheit und Amateurhaftigkeit der sozialen Fürsorge. Jeder
Faktor spinnt seine Fäden unbekümmert um den Nachbar.“
Wenn ich nun dazu übergehe, über Institutionen zu berichten, wie sie in
der Gemeinde Weißensee seit einigen Jahren, beinahe seit derZeit, da man
die ersten Einrichtungen in der sozialen Säuglingsfürsorge geschaffen hat, existieren,
so will ich zunächst in wenig Worten auf die Arbeit von P e i s e r eingehen, die
vor einigen Wochen in der Medizinischen Reform unter dem Titel „Der Erfolg
der Säuglingsfürsorge in Arbeitervierteln“ erschienen ist. P eis er verglich die
Sterblichkeitsverhältnisse der Säuglinge in den vier östlichen Vorortgemeinden
Groß-Berlins : Boxhagen-Rummelsburg, Lichtenberg, Friedrichsfelde und W eißensee.
Er greift gerade diese Gemeinden zum Vergleich heraus, weil sie ungefähr die
gleichen hygienischen und sozialen Verhältnisse bieten und weil von allen vier
Orten nur Weiße nsee über eine kommunale Säuglingsfürsorge verfügt. Das
Resultat dieser vergleichenden Studien ist folgendes : Weiße nsee zeigt von
allen vier genannten Vorortgemeinden den stärksten Abfall der
Säuglingssterblichkeit, mag man die Gesamtzahl der Gestorbenen beziehen
auf 100 Lebendgeborene oder 1000 Einwohner oder in ein Verhältnis setzen zur
Gesamtzahl der Verstorbenen. Aus der vergleichenden Statistik kommt P eis er
zu dem Schluß , daß eine systematische Fürsorge imstande ist,
auch in wirtschaftlich ungünstigeren Bevölkerungskreisen die
Säuglingssterblichkeit herabzusetzen.
Im Anschluß an die vorliegenden Tabellen, für die ich die Zahlen teils dem
Weißenseer Wohlfahrtsamt, teils der Charlottenburger Statistik vom Mai d. J.
über die Säuglingssterblichkeit entnommen und berechnet habe, seien mir nur
noch einige kurze statistische Bemerkungen gestattet, wenn auch derartige Ver¬
gleiche nicht immer einwandfrei sind.
Betrachten Avir die Tabelle I, so sehen wir, daß die Gesamtsterblichkeit in
den Jahren 1906, 1907, 1908 in Weißensee ungefähr dieselbe geblieben, die
Tabelle I.
Mortalität
in Weißensee
Jahr
Zahl der
Sterbefälle
Totgeburten
Insgesamt
Davon Kinder
unter 1 Jahr
m.
w.
m.
w.
m.
w.
m.
w.
1905
493
390
38
19
531
409
221
183
1906
431
352
19
20
450
372
214
156
1907
392
369
30
23
422
397
144
131
1908
414
377
25
20
439
397
149
130
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 337
Tabelle II.
Gemeindebezirk
Sterbefälle im 1. Lebensjahre
auf 100 Lebendgeborene
Die Abnahme der
Mortalität im
1. Lebensjahr betrug
von 1905 — 1909
1905
1906
1907
1908
9109
absolut
Proz.
Berlin .
Groß-Berlin ....
Rixdorf .
Weißensee ....
20,60
20,19
22,31
32,96
17,71
17,67
19,50
27,31
16,28
15,72
15,49
22,40
16,77
16,72
18,41
23,30
15,63
15.14
16,29
19.15
4,97
5,05
6,02
13,81
24,1
25,01
27,0
41,90
Charlottenburg . .
Frankfurt a. M. . .
15,62
17,27
14,16
14,51
12,57
13,42
12,79
13,90
12,11
12,37
3,51
4,90
22,5
28,4
Stettin .
26,35
24,08
21,75
24,32
21,28
5,07
19,2
Tabelle III.
Jahr
Gestorbenen
überhaupt
Darunter im 1.
überhaupt
Lebensjahre
Proz. der Ge¬
storbenen
Die Großstädte des Deutschen Reiches
1905
163 731
57 049
34,84
1906
159 327
53 713
33,71
1907
159 412
48 946
30.72
1908
162 089
49 465
S0,52
1909
156 728
44 686
28,51 !)
Groß-Berlin
1905
47 412
14 796
31,21
1906
45 919
13 849
30,16
1907
45 906
12 438
27.09
1908
47 324
13115
27,71
1909
46 262
11342
24,52* 2)
Weißensee
1905
883
404
45,75
1906
783
370
47,12
1907
761
275
36,39
1908
791
279
35,27
1909
738
233
31,57 3)
Mortalität der Säuglinge jedoch stark zur lick gegangen ist. Der
Anteil der Gestorbenen im 1. Lebensjahre an der Gesamtmortalität ist sowohl in
Groß-Berlin wie in den deutschen Großstädten als auch ganz besonders in Weißensee,
wie ein Blick auf Tabelle III lehrt, in den Jahren 1905 bis 1909 in stetigem
Sinken begriffen, so in Groß-Berlin von 31,21 Proz. im Jahre 1905 bis auf 24,52
im Jahre 1909. Das bedeutet eine absolute Differenz von 6,69 oder 21,43 Proz.
In den deutschen Großstädten ist die Säuglingssterblichkeit in diesen Jahren von
34,84 Proz. bis auf 28,51 Proz. gesunken. Das ergibt eine Differenz von 6,33
also ein Rückgang um 6,33 oder 18,16 Proz.
2) also ein Rückgang um 6,69 oder 21,43 Proz.
3) also ein Rückgang um 14,18 oder 30,99 Proz.
338 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
oder 18,16 Proz., während die Säuglingsmortalität in Weihensee von 45,75 im
Jahre 1905 auf 31,57 Proz« (1909), also absolut um 14,18 oder 31 Proz. zurück¬
gegangen ist. Berechnet man die Sterbefälle im 1. Lebensjahr auf 100 Leben d-
geboreüe, wie dies in der Tabelle II geschehen ist, so ergibt sich, daß Weißensee
seit dem Jahre 1905 einen Rückgang um 13,81, d. h. um 41,90 Proz. zu ver¬
zeichnen hat, während z. B. die Säuglingssterblichkeit in Rixdorf nur um 6,02,
d. h. um 27 Proz., in Berlin und Groß-Berlin nur um etwa 25 Proz. gesunken ist.
Wenn es auffallend erscheint, daß Weißensee immer noch eine höhere
Sterblichkeitsziffer zeigt als Groß-Berlin, so ist hierbei außer der ungünstigen
sozialen Lage eines großen Teiles der Bevölkerung noch der Umstand in Rech¬
nung zu ziehen, daß sich auf Weißenseer Gebiet eine private Entbindungsanstalt,
Betli-Elim, befindet, die, abgesehen von den übrigen ortsfremden Kindern, allein
schon mit etwa 10 Proz. an der Gesamtsäuglingssterblichkeit beteiligt ist, so
daß man gerade hier von einem nennenswerten Einfluß der Sterbefälle von nicht
ortsangehörigen Kindern auf die Gesamtsäuglingsmortalität sprechen darf.
Wie sich die Verhältnisse in Städten mit besserer oder gar vorwiegend guter
Bevölkerung stellen, ersieht man aus den zum Vergleich herangezogenen Städten
Charlottenburg und Frankfurt a. M., wo die Säuglingssterblichkeit nur um 22,5
bzw. 28,4 Proz. gesunken ist, die aber beide mit 12,11 Proz. bzw. 12,37 Proz.
fast die niedrigste Sterblichkeitsziffer der deutschen Großstädte aufweisen. In
Stettin dagegen ist die Sterblichkeit nur um 19,2 Proz. gesunken, und ist absolut
immer noch höher als in der Gemeinde Weißensee.
Ein Maßstab dafür, ob und in welchem Umfange eine geordnete Fürsorge
imstande ist, die Säuglingssterblichkeit in günstiger Weise zu beeinflussen, bieten
vor allem drei Faktoren : 1. der Rückgang der Sterbefälle unehelicher
Säuglinge, 2. die Abflachung des sogenannten Sommer gipfels,
d. h. des bedeutenderen Anstiegs im 3. Jahresquartal, die fast identisch ist mit
der Einschränkung der Todesfälle an Verdauungsstörungen, 3. die Abnahme
der Motalität im 1. Lebensmonat.
Die beiden ersten Faktoren sind in Weißensee in den beiden letzten Jahren,
wenn auch langsam, so doch deutlich in die Erscheinung getreten. In der gra¬
phischen Darstellung wird die Säuglingssterblichkeit in Berlin mit der in 2 Vor¬
orten und 2 entsprechenden Stadtbezirken verglichen. Besonders fällt auf, daß
1908 in SO, NO und Boxhagen-Rummelsburg die Gesamtmortalität und die an
Verdauungsstörungen hochschnellt, in Weißensee erstere wenig, letztere gar nicht.
Was den 3. Punkt betrifft, so ergibt der Vergleich der einzelnen Jahresquartale
von 1906 — 1909, daß die Säuglingssterblichkeit in den einzelnen Jahren im
1. Jahresquartal folgendermaßen zurückgegangen ist: 1906 • — 27, 1907 — 27,
1908 — 17, 1909 — 14, im 3. Jahresquartal 1906 — 28, 1907 — 24, 1908 —
25, 1909 — 19, so daß auch hierbei ein Sinken der Sterblichkeit konstatiert
werden kann, wenn es immerhin auch nur kleine Zahlen sind. Aber wie ein
Blick auf Tabelle IV lehrt, hat sich auch die Abnahme der Chorlottenburger
Säuglingsmortalität nur auf die Zeit vom 2. Lebensmonat bis zum Ablauf des
1. Lebensjahres beschränkt, während die Sterblichkeitsverhältnisse im 1. Lebens¬
monat eine wesentliche Besserung nicht erfahren haben. Das zeigt sich ganz
ganz besonders, wenn die beiden ungünstigen Momeute, nämlich das früheste
Lebensalter und die Sommerzeit mit ihrer ganz besonders hohen Säuglingssterb¬
lichkeit Zusammentreffen. Schon im 2. Lebensmonat fällt die Sterblichkeitsziffer
auf die Hälfte und dann allmählich bis zum Ende des Jahres ganz bedeutend ab.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 339
Dieses Moment ist von so hervorragender Bedeutung für die sozialen Fürsorge¬
einrichtungen, daß ich später noch einmal zurückkommen muß.
Tabelle IV.
Beziehung des Sterblichkeitskoeffizienten zur Jahreszeit und zum Lebensalter.
Von 1000 Kindern nebenstehenden Alters starben
Alter
im Jahre
insbesondere im
Monat
1906
Juli
August
September
Juli-September
0-
-1
58,99
62,68
77,70
67,95
69,44
1-
-2
23,07
29,83
49,86
33,20
37,63
2-
-3
20,64
33,85
43,10
28,99
35,31
3-
-4
18,10
28,44
41,88
28,31
32,88
4-
-5
15.24
22,92
43,75
16,97
27,88
5-
—6
13,23
19,31
31,31
14,46
21,69
6-
-7
12,13
26,92
29,73
16,33
24.33
7-
-8
10,31
16,90
20,91
10,23
16,03
8-
-9
9.64
11,63
19,62
11,35
14.20
.9-
-10
8,49
10.78
15,95
8,41
11,71
10-
-11
7,30
9,23
14,57
6,98
10,13
11-
-12
7,30
8,55
12,67
5,28
8,86
Ist die Statistik auch von gewissen Imponderabilien abhängig, die mit zu
dem Bückgange der Sterblichkeit beitragen, so sind wir doch vollauf berechtigt,
•eine Erklärung für die auffallende Besserung der Mortalitäts Verhältnisse darin zu
suchen, daß in Weißensee im Anschluß an die Gründung der Berliner Säuglings¬
klinik, die nach mühsamen Vorarbeiten von uns als erste in Groß-Berlin ge¬
schaffen wurde, schon vor einigen Jahren von Bürgermeister Woelck unter Mit¬
wirkung von Bitter ganz besonders wertvolle Maßnahmen sozialer
Säuglingsfiir sorge getroffen wurden, die um so bemerkenswerter sind, als
man hier einem ganz besonders großen Säuglings elend gegenüberstand.
Zwar decken sich in vielem die einzelnen Einrichtungen mit denen, die auch
an anderen Orten geschaffen wurden, jedoch sind hier alle in Frage kommenden
Institutionen so planvoll zusammengefaßt, daß sie stets an wichtigen Punkten
Ineinandergreifen und sich ergänzen. Diese Organisation verhindert, daß sich die
Fürsorge auf der einen Seite nutz- und planlos an mehreren Stellen häuft, auf
der anderen Seite lückenhaft und ungenügend bleibt. Gerade in Kommunen, die
nicht mit allzu reichen Mitteln ausgestattet sind, ist eine solche zusammenfassende
Organisation eine dringende Notwendigkeit, da sie durch nicht zu starke Be¬
lastung des Etats dem Prinzip eines sparsamen Haushalts entspricht. Nur aus
•der zielbewußten Zusammenarbeit der einzelnen, möglichst lückenlosen Fürsorge¬
faktoren werden Erfolge herausspringen, die man bisher infolge einer noch vor¬
handenen Unzweckmäßigkeit und Planlosigkeit an den meisten Stellen vermißt.
So wird man auch in materieller und ideeller Beziehung gewinnbringend arbeiten,
da auf der einen Seite kein Geld unnütz verschwendet wird und auf der anderen
Seite für die Gesamtheit der Kleinen am schnellsten, also am besten gesorgt wird.
Die Zentralstelle für die praktische Fürsorgetätigkeit in der Gemeinde
Weißensee bildet das Wohlfahrtsamt. (Leitung: Wesen er.)
Das Wohlfahrtsamt befindet sich im Verwaltungsgebäude, in dem die
Fäden der gesamten Fürsorge der Gemeinde zusammenlaufen und die einzelnen
Einrichtungen auch räumlich miteinander in enger Verbindung stehen zum Zwecke
einer systematischen Mitarbeit der an den Fürsorgeinstitutionen tätigen Kinder¬
ärzte und des Gemeindearztes. Die Fürsorgetätigkeit umfaßt folgende Leistungen :
340 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
A. bei gesunden Kindern:
1. die Beaufsichtigung der Halte- und Pflegekinder,
2. die Überwachung von Säuglingen armer Eltern in der Fürsorgestelle-
durch Kinderärzte und den Gemeindearzt,
3. Gewährung von Stillprämien und Nährpräparaten,
4. Lieferung von einwandsfreier Rohmilch oder trinkfertigen Portionen
gegen ein geringes Entgelt resp unentgeltlich an mittellose Mütter;
B. bei kranken Kindern:
1. Aufnahme und Behandlung in der Säuglingsklinik,
2. Beobachtung von Kindern in der Rekonvaleszenz.
Einen wichtigen Teil der Fürsorge bildet die Beobachtung und Beauf¬
sichtigung der unehelichen Kinder, das Haltekinder- und Pflegekinder -
wesen.
Bis zum Jahre 1905 hat eine Prüfung der angemeldeten Pflegestellen für
Haltekinder, d. h. solche, die von der Mutter oder sonstigen Verpflichteten gegen
Entgelt in Kost und Pflege gegeben werden, nur durch die Polizeiorgane statt¬
gefunden. Die Kontrolle der Stellen wurde mit sehr geringem Verständnis vor¬
genommen, so daß die Haltefrauen sich mehr oder weniger selbst überlassen waren.
Erst die Anstellung einer von der Gemeinde besoldeten Aufsichtsdame, die
an einem längeren Kursus in der Säuglingspflege unter ärztlicher Aufsicht teil¬
genommen hat, ermöglicht eine gewissenhafte Beobachtung. Die Erlaubnis zur
Aufnahme eines Halte kindes wird von dem Gemeinde Vorstand erteilt, nachdem die
Verhältnisse der Antragsteller zunächst durch die Polizeibehörde, alsdann durch
die Aufsichtsdame selbst nach Ermittelung in der Wohnung, betr. Größe, Sauber¬
keit und Art der Pflege hinreichend geprüft sind. Das Resultat dieser Recherchen
überreicht die Aufsichtsdame in Form eines kurzen Berichtes dem Wohlfahrtsamt,,
das über jede Pflegestelle einen Kontrollbogen anlegt, in welchem die je nach
Bedarf, mindestens aber zweimal im Monat stattgehabten Kontrollbesuche mit/
allen ihren Ergebnissen eingetragen werden. Ähnlich liegen die Verhältnisse bei,
den Pflegekindern, d. h. solchen, die auf Kosten der Gemeinde in geeignete Pflege¬
stellen gegeben und von einer Schwester beaufsichtigt werden, die lange Zeit in
der Säuglingsfürsorgestelle praktisch tätig war und sich dabei ein sicheres Ver¬
ständnis für die Säuglingsernährung und Säuglingspflege angeeignet hat, Sn
stehen alle diese Kinder, die größtenteils illegitim sind, unter ständiger ärztlicher
und pflegerischer Überwachung. Die Schwestern sorgen nach Möglichkeit dafür,
daß sie in der Fürsorgestelle vorgestellt werden und durch die regelmäßigen Haus¬
besuche in engster Fühlung mit den Ärzten bleiben.
Schwieriger ist es, wie allgemein bekannt, eheliche Mütter zum regen
Besuche der Beratungsstelle heranzuziehen. Da aber alle Wohlfahrtseinrichtungen
nur Kindern von Müttern schlechten sozialen Standes zugute kommen sollten,
so ist es von fundamentaler Bedeutung für die Fürsorgetätigkeit der Ge¬
meinde Weißensee, daß an den Mutterberatungsstunden neben dem Für¬
sorgearzt auch der Gemeindearzt, der gleichzeitig Armenarzt ist, teil¬
nimmt, dem die ärztliche Behandlung der Säuglinge der Armenbevölkerung obliegt.
Auf diese Weise steht ein großer Teil der Fürsorge bedürftigen Kinder unter
ständiger Beobachtung. Die Fürsorgestelle dient auch bei uns in allererster
Reihe der vorbeugenden Überwachung gesunder Säuglinge, und als unsere
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 341
höchste Pflicht betrachten wir es, daß Mutter und Kind nicht ohne zwingende
Gründe voneinander getrennt werden. Von diesem ethischen Gesichtspunkte
aus ist die V erbindung zwischen Säuglingsfürsorgestelle und Säuglings¬
klinik, die nebeneinander liegen und dadurch direkt und unmittelbar Zusammen¬
hängen, von hervorragendem Werte, da wir auch bei schweren Fällen durch Ab¬
gabe einer nur von der Säuglingsklinik zur Verfügung gestellten Ammenmilch
häufig eine Katastrophe zu verhüten imstande sind. Hie Bedeutung dieser Ver¬
bindung wird der ermessen können, der fast täglich die Erfahrung machen muß,
daß es erst allmählich und auch noch nicht völlig gelungen ist, den Müttern den
Grundbegriff einer Beratungsstelle klarzumachen. Immer und immer wieder
werden uns kranke und zum Teil sogar sehr schwer geschädigte Säuglinge zu¬
geführt. Ist man nicht in der Lage, sie sofort aufzunehmen, sondern gezwungen,
sie einem Krankenhause zu überweisen, von denen die meisten, namentlich im
Sommer, überlegt sind, so ist ein solcher Zeitverlust häufig von verhängnisvollster
Bedeutung. Dieser enge Konnex zwischen Fürsorge und Klinik hat
sich uns als unentbehrlich erwiesen. Zu jeder Sprechstunde, an der
außer dem Fürsorgearzt und Gemeindearzt auch die Schwestern der Fürsorge und
Säuglingsklinik teilnehmen, stehen für die Fürsorgekinder mehrere Betten
zum Zweck von Aufnahmen zur Verfügung. Eine solche Aufnahme vollzieht
sich in dringenden Fällen so schnell, daß das Kind schon nach wenigen Minuten
aufgenommen ist und neben geeigneten Maßnahmen zur Hebung der Herztätig¬
keit Frauenmilch enthält, die ja doch oft die einzige Heilnahrung ist, die noch
zum Ziele führt. Die Verbindung der offenen und geschlossenen
Säuglingsfürsorge ist von so hervorragender Bedeutung, daß sie
überallda, wo die Beratungsstellen auch von Müttern mit kranken
Kindern aufgesucht werden, geschaffen werden sollte. Nur da¬
durch kann man dem Vorwurf begegnen, daß man die Kleinen in
bedenklichstem Zustande hat abweisen müssen, die durch Ver¬
meidung des Zeitverlustes bei sofortiger Aufnahme hätten er¬
halten bleiben können. Zahlreiche Fälle, in denen die Kinder
vonBerlinerFürsorgen haben abgewiesen werden müssen, haben
uns das Bedenkliche, das in der Trennung der offenen und ge-^
schlossenen Fürsorge liegt, bewiesen. Ist zwar dadurch das Prinzip
der rein prophylaktischen Behandlung durchbrochen, so soll es gewiß auch
unsere Aufgabe sein, eine wenn auch verhältnismäßig kleine Zahl von Säuglingen
von einem sicheren Tode zu retten; sind sich doch die meisten Fürsorgeärzte
darüber einig, daß eine gewöhnlich nur diätetische Behandlung in der Fürsorge¬
stelle wenigstens auf leichte akute und chronische Ernährungsstörungen ausgedehnt
werden muß. Dadurch kommt auch die Fürsorge für die ehelichen Kinder, denen
vielfach die Wohlfahrtseinrichtungen nicht so zugute kommen, wie den unehe¬
lichen, mehr zu ihrem Becht, denn durch die Verbindung zwischen Armenamt
und Säuglingsklinik wird es den Müttern aus der unbemittelten Bevölkerung
leicht gemacht, durch Abzahlung die Kosten für die Verpflegung in der Klinik
aufzubringen. Zuweilen sind wir schon nach kurzer Zeit imstande, die Kinder
wieder aus der Klinik zu entlassen und zur weiteren Beachtung der Fürsorge¬
stelle zu überweisen.
In einigen anderen Punkten unterscheidet sich unsere Beratungsstelle nur
wenig von denen anderer Orte. Auch wrir legen selbstverständlich auf die natür¬
liche Ernährung und ihre Verbreitung das größte Gewicht, indem wir die Still-
342 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
lust und Stillfreudigkeit durch Gewährung von Stillprämien, allerdings nur in
Horm von Naturalien (Milch und Nährpräparate) unterstützen. Bedürftige Mütter,
die ihre Kinder künstlich ernähren, erhalten aus der Milchküche der Säuglings¬
klinik zu ermäßigten Preisen oder kostenlos einwandsfreie rohe Milch oder nach
Vorschrift bereitete Milchmischungen in trinkfertigen Portionen, je nach der
Sauberkeit und Zuverlässigkeit der Frauen. Von Merkblättern haben wir so gut
wie ganz abgesehen, da wir durch Prüfungen an Müttern, für deren Aufklärung
wir zum Teil durch Merkblätter zum Teil durch Belehrung gesorgt haben, fest¬
gestellt, daß nur durch eine unmittelbare mündliche Beratung eine nachhaltige
Wirkung erzielt wird.
Nur wenn die Kinder möglichst frühzeitig der Fürsorge zu geführt werden,
ist eine geordnete und erfolgreiche Stillpropaganda möglich. Deshalb ist man,
solange man nicht über Entbindungsanstalten und Wöchnerinnenheime verfügt,
genötigt, sich nach anderer Hilfe umzusehen. Da lag es nahe, die Hebammen,
die gerade bei dem Teil der Bevölkerung, der unserer Fürsorge am dringendsten
bedarf, in der ersten und gefährlichsten Zeit des kindlichen Lebens die einzigen
Beraterinnen der Mutter in Ernährungsfragen sind, als Helferinnen in den Kampf
gegen die Säuglingssterblichkeit heranzuziehen. Ich will hier nicht den ganzen
Streit um diese Frage aufrollen. Trotzdem man die Hilfe von dieser Seite nicht
unterschätzt, will man doch von einer regulären Ausbildung der Hebammen in
der Säuglingspflege und Säuglingsernährung im allgemeinen nichts wissen, und
das mit Kecht. Es würde dadurch nur zu der gefürchteten Halbbildung kommen,
die mehr Schaden anrichten als nützen kann. Wir haben den Mittelweg einge-
sclilagen und einer von den Hebammen des Kreises an uns ergangenen Bitte,
unsere Fürsorgeeinrichtungen kennen lernen zu dürfen, gern Folge gegeben. Bei
solcher Gelegenheit kommen wir in die Lage, immer wieder den Wert des Selbst¬
stillens, die Möglichkeit seiner Durchführung und die große Seltenheit der Still¬
unfähigkeit zu betonen, gegen den noch immer allgemein verbreiteten Aber¬
glauben in der Kinderstube ein kräftiges Wort zu reden, auf den Wert der Ein¬
haltung langer Pausen hinzuweisen und auf schwere Fehler, die bei der künst¬
lichen Ernährung, z. B. durch Überfütterung u. a. m., gemacht werden. In diesem
Sinne haben wir uns der Hebammenunterstützung mit gutem Erfolge bedient.
Diese Unterstützung ist wohl nicht ganz ohne Einfluß auf die Mortalität der be¬
sonders gefährdeten Kinder im ersten Lebensmonat geblieben. Es sind im Jahre
1906 im ersten Lebensmonat 93 Kinder gestorben, im Jahre 1909 nur 67, im
vorigen Jahre, mit Ausschluß des Monats Dezember, in dem im Durchschnitt der
letzten Jahre 7 Kinder starben, nur Ö9.
Wenn man zusammenfassend die ineinandergreifenden Einrichtungen, die
ich bisher geschildert, überschaut, so entsprechen sie der Forderung, die von
einigen Fürsorgeärzten, z. B. Neumann,1) auf gestellt worden sind. Neumann
propagiert die Errichtung von kommunalen Ziehämtern als Zentralstelle für die
sogenannten Ziehkinder, die in Deutschland meist von Polizeiorganen beaufsichtigt
wrerden; am besten sollen sie in ihrer Verbindung mit dem Berufsvormund
stehen. Auch ist in Weißensee, wie wir gesehen haben, die andere Forderung
Neumanns erfüllt, daß die Armen Verwaltung die Säuglingsfürsorgeange¬
stellten zur ärztlichen Überwachung der armenunterstützten Säuglinge benutzen
sollen, und sein berechtigter Vorwurf, daß dieser organische Zusammenhang in
x) Neu mann, Ergebnisse der Säuglingsfürsorge, Heft 5, S. 90.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 343
den meisten Gemeinden fehle, trifft für Weißensee nicht zu, wo ein gemeinsames
Band die wichtigsten Institutionen miteinander verbindet. Ist auch dadurch noch
nicht die ganze schwere Frage der hygienischen Versorgung der Halte- und
Pflegekinder als gelöst zu betrachten, da noch immer ein Teil der Kinder, z. B.
die, welche unentgeltlich bei Verwandten oder auch bei Fremden untergebracht
sind, der Beaufsichtigung und Beratung entzogen wird, so ist doch durch dieses
Ineinanderarbeiten der Organe ein bedeutender Schritt vorwärts getan.
Als trauriges Gegenstück dazu teilt Marie Heller zum Beweis dafür, daß
an manchen Orten die Kostkinder noch öffentlich versteigert werden, folgende
Anzeige aus dem Straubinger Tagblatt vom Jahre 1902 mit:
Am Sonntag, den 8. Juni er., nachmittags 2 Uhr, werden in Maria Posching
Kostkinder an den Meistbietenden versteigert.
Gemeindeverwaltung Maria Posching.
Wenn ich jetzt auf den Besuch und die Erfolge der Beratungsstelle sowie
auf die Belegung der Klinik und die Mortalität in derselben eingehe, so will ich
nur die wichtigsten Daten erwähnen. Im Jahre 1909 suchten 463 Mütter mit
474 Kindern, darunder 11 Zwillingspaaren, die Säuglingsfürsorgestelle auf, das
sind 40 Proz. aller in diesem Jahre geborenen Kinder. Von den 474 Säuglingen
standen 216, das sind 45,57 Proz., im Alter von 1 — 6 Wochen. Das weitere
Schicksal aller dieser Kinder ist uns bekannt. Nach sorgfältiger Erkundigung,
auch nach denen, die der Fürsorge ferngeblieben sind, sind einschließlich der in
die Klinik aufgenommenen Säuglinge 35, d. h. 7,38 Proz., gestorben, also ein
auffallend geringer Prozentsatz gegenüber den Kindern, die
nicht in die Beratungsstelle gebracht worden sind. In die Säuglings¬
klinik sind im Jahre 1909 116 Kinder aufgenommen worden, davon sind 14 oder
12,07 Proz. gestorben. In diesem Jahre sind von 118 Aufgenommenen 13, d. h.
11 Proz. gestorben. Von diesen 118 Kindern sind 68 aus der Fürsorge der Klinik
überwiesen worden.
Zwei Einrichtungen, die im Kampfe gegen die Säuglingssterblichkeit auch
einen Platz für sich fordern dürfen, fehlen zwar bisher noch, werden aber aller
Voraussicht nach trotz mancher Schwierigkeiten noch geschaffen werden. Es
sind dies: Die Stillst üben und in Verbindung damit die Krippe. Über die
Erfahrungen, die das Wohlfahrtsamt mit seinen Bemühungen wegen Er¬
richtung von Stillstuben gewonnen, seien hier einige Angaben gemacht. Ent¬
sprechend der ablehnenden Haltung, die auch an anderen Orten die kommunalen
Behörden erfahren haben, hatte das Bundschreiben an die Fabrikherren zunächst
wenig Erfolg. So ist ja auch auf die Aufforderung, die das preußische Ministerium
des Innern im Jahre 1908 an die Kommunen gerichtet hat, sich wegen Einrichtung
von Stillstuben mit den einzelnen Fabriken in Verbindung zu setzen, keine Ant¬
wort eingegangen. Der Widerstand gegen diese Institution ist ebenso groß bei
den Arbeitgebern wie bei den Arbeiterinnen, die dadurch in eine größere Ab¬
hängigkeit von ihrem Fabrikherrn zu kommen fürchten. Die Arbeiterinnenzahl
in den Weißenseer Fabriken ist überhaupt nicht groß; nur in einer einzigen sind
über 100 Arbeiterinnen tätig, sonst viel weniger. Die Mindestzahl beträgt 8.
Die Zahl der in Fabriken arbeitenden Mütter, welche ihr Kind selbst stillen, ist
gering. Daran würde wohl die Errichtung von Stillstuben, wie die Erfahrungen
an anderen Orten, z. B. Linden oder Wernstadt in Böhmen, lehren, manches
ändern. Auf ein nochmaliges Bundschreiben des Wohlfahrtsamtes an 36 Fabriken
344 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
sind 28 Antworten eingegangen. Das Wohlfahrtsamt hat zwei Vorschläge ge¬
macht: 1. Errichtung von Stillstuben in den Fabriken selbst; 2. die Gemeinde
mietet Räume in einer zentralen Lage von den Fabriken, stellt die sachgemäße
Aufsicht, sowie die notwendigen Einrichtungen (Körbe, Kinderwage usw.) zur
Verfügung. Die Fabrikherren gewähren den Müttern durch Verlängerung der
Pausen die zum Stillen erforderliche Zeit ohne Lohnabzug.
Mit dem Vorschlag unter Nr. 1 ist nur eine Fabrik einverstanden, dagegen
haben sich von den 28 Fabrikherren 20 bereit erklärt, entsprechend dem 2. Modus
Pausen ohne Lohnabzug zu gewähren. 6 Fabriken wollen sich an den Kosten
beteiligen. Man sieht daraus jedenfalls, daß das Entgegenkommen ein größeres
ist als an vielen anderen Orten. Käme der Plan zur Ausführung, der noch in
anderen Städten bisher vergebens angestrebt wurde, so wäre es wertvoll, damit
die Einrichtung einer Krippe zu verbinden, die dann aber reichlich Gelegenheit
bieten muß, die Kinder ins Freie zu bringen. Über die Stellung der Krippen in
der modernen Säuglingsfürsorge hat Neumann1) seine Meinung dahin ausge¬
sprochen, daß man „meistens nur eine saubere Kinderstube sieht, nicht eine An¬
stalt, die nach modernen Anschauungen geleitet, die hygienischen Verpflichtungen
erfüllt, die sich aus jeder Ansammlung von Individuen ergeben. Die Krippen
müssen von der Fürsorgestelle ärztlich überwacht und mit sachgemäßer Nahrung
versorgt werden“. Ohne solche Vorsichtsmaßregeln können sie aus
einer sozialen eine durchaus unsoziale Einrichtung werden, denn
an und für sich bedeuten sie keine Förderung des Selbststillens und sind deshalb
um so gefährlicher, je früher sie sich den Kindern öffnen. Würde manche Mutter
durch Ermahnungen und durch eigene Einsicht zum Stillen gebracht werden,
durch die Aussicht, ihr Kind in einer Krippe unterzubririgen, wird sie direkt zur
künstlichen Ernährung gedrängt. Darum hat eine Krippe nur einen Wert, wenn
die Anmeldung über die Beratungsstelle geht, dann erst wird es möglich sein,
die Mütter solange wie möglich zum Stillen anzuhalten. Auch muß dafür gesorgt
werden, daß die beiden Heilfaktoren, die bisher nicht in der Weise gewürdigt
worden sind, wie es wünschenswert wäre, mehr zu ihrem Recht kommen: Licht
und Luft! Wir haben ja gerade in den letzten Jahren erkennen gelernt, daß
die Frage der Säuglingssterblichkeit zum großen Teil eine Wohnungsfrage ist,
und daß die Hitze in den schlecht durchlüfteten Proletarierwohnungen ein nicht
zu vernachlässigendes krank machendes Moment darstellt. Hat doch eine Wohnungs¬
statistik erwiesen, daß von 1000 Menschen 640 in Wohnungen von höchstens 2
Räumen leben. Deshalb wird man auch der Frage der Freiluft- oder Wald¬
krippen näher treten müssen, weil sie eng mit den Maßnahmen zur Verhütung
und zur Bekämpfung der Säuglingskrankheiten Zusammenhängen.
Damit ist der Kreis so ziemlich geschlossen, der alle sozialen Einrichtungen
der Säuglingsfürsorge umfaßt. Ist auch noch manches des weiteren Ausbaues
bedürftig, manche kleine Lücke noch auszufüllen, damit die Vorteile, die eine
solche Zentralisation zeitigt, noch größer und bedeutender werden, so ist doch
der ganze Plan deshalb von so außerordentlichem Werte, weil er
zeigt, wie eine zweckmäßige und durchgreifende Fürsorge auch mit nicht so
großen Mitteln organisiert und zur Durchführung gebracht werden kann.
Kann man auch nicht ohne weiteres die Verhältnisse der einen Kommune auf
d'ie einer anderen übertragen, so können die hier gewonnenen Erfahrungen doch
Neumann, Zeitschrift für Säuglingsschutz 1910, Heft 10.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 345
vielleicht für andere Gemeinden außerordentlich wertvoll sein. Wenn in letzter
Zeit die Zentralisation für einen ganzen Kreis gefordert wird, so bietet
vielleicht das große Säuglingskrankenhaus, das im nächsten Jahre in Weißensee
eröffnet wird, hierzu die erwünschte Gelegenheit. Dann wird noch ein
größerer Teil der fürsorgebedürftigen Säuglinge in gesunden
Tagen sachgemäßen Kat und fachmännische Aufsicht, in Krank¬
heitsfällen Heim und Heil finden, und das nicht im Sinne einer
Wohltätigkeit, sondern im Sinne unserer hohen sozialen Auf¬
gaben gegenüber den hilfsbedürftigsten des Volkes.
Sitzung vom 12. Januar 1911.
Herr A. Gottstein (Charlottenburg) trägt vor über „Beeinflussung von
Volksseuchen durch die Therapie, zugleich ein Beitrag zur Epidemiologie
der Krätze“. Wie so mancher Redner muß ich meine Ausführungen mit einer
Enschuldigung beginnen. Der Wortlaut des Titels meines heutigen Vortrages ist
ohne meine Absicht einigermaßen irreführend. Sie konnten erwarten, daß ich
Ihnen positive Mitteilungen über die Beeinflussung der Morbidität einer Krank¬
heit unter spezifischer Behandlung machen würde. Eine solche Theorie ist in der
Tat vor kurzem von anderer Seite aufgestellt worden. Mein Gedankengang ist
ein etwas anderer. Als ich an eine Prüfung dieser Theorie heranging in dem
festen Glauben, daß sie sich bestätigen würde, kam ich zu dem Ergebnis, daß
sie nur unter ganz bestimmten Einschränkungen zutrifft; und da diese Ein¬
schränkungen in unser besonderes Arbeitsgebiet fallen, hielt ich es für zulässig,
in kurzen Ausführungen die Ergebnisse meiner Untersuchungen vorzutragen.
Den Anlaß zu meinem heutigen kurzen Vortrag haben mir die Erörterungen
über die Wirkung des neuen Ehrlichschen Heilmittels auf den Verlauf
der Syphilis gegeben. Es ist bezeichnend für die Fortschritte sozialmedi-
zinischer Denkweise, daß diese Erörterungen bald über die Frage der Heilwirkung
im Einzelfalle hinausgingen und sich sofort dem Problem zuwandten, welchen
Einfluß ein neues, schnell wirkendes Heilmittel auf das Verhalten der Syphilis
als Volksseuche haben müsse. Es ist viel darüber geschrieben worden, welche
Änderungen wirtschaftlicher, kultureller und sozialhygienischer Art eintreten
müssen, wenn durch das neue Mittel die Zeit der Erkrankung und Behandlung
eine wesentliche Abkürzung erfährt. Es wurde von berufener und weniger be¬
rufener Seite viel über die Herabsetzung der privaten und allgemeinen Kosten
der Behandlung und deren Einfluß auf die wirtschaftliche Lage der Patienten
und auf die Einnahmen der Spezialärzte geschrieben: es wurde ferner die Mög¬
lichkeit zunehmender sittlicher Verwahrlosung der Bevölkerung bei Abnahme
der Furcht vor der Gefahr behauptet. Auf diese beiden Fragen gehe ich hier
nicht ein. Für uns ist vor allem die sozialhygienische Behauptung von Interesse :
Wenn durch Verkürzung der Behandlungsdauer der Zeitraum der Ansteckungs¬
fähigkeit des Erkrankten erheblich herabgesetzt wird, wenn die Aussicht auf
dauernde Heilung gesteigert wird, wenn diese Möglichkeiten namentlich bei
den Prostituierten als den Hauptquellen der Ansteckung durch Zwangsbehandlung
in großem Umfange zur Wirklichkeit werden, so muß der Erfolg des neuen
Heilmittels weit über die Wirkung im Einzelfalle hinaus in der Abnahme der
Syphilis als Volksseuche zahlenmäßig zum Ausdruck kommen.
Als Beweis für die Tatsache, daß solche Erwägungen ziemlich früh hervor-
346 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
traten, führe ich hier nur zwei Äußerungen an. So erklärte Prof. A. Ne iß er
auf der Naturforscherversammlung in Königsberg am 20. September 1910: l) „Die
Tatsache, daß Avir dies (nämlich Beseitigung von Erscheinungen, die durch ihre
Kontagiosität gefährlich sind) bedeutend schneller und bequemer — meist
wirklich durch eine Injektion oder wenigstens durch eine nur wenige Tage in
Anspruch nehmende Kur — als bisher erreichen können, scheint mir bis jetzt die
wichtigste Errungenschaft der Ehrlich sehen Entdeckung. Richtig ausgenutzt
muß durch Beseitigung einer unendlich großen Anzahl von Infektionsherden und
Infektionsquellen eine Abnahme der Syphilis die Folge sein“. „Ja, sogar
die Hoffnung, die Hauptquelle aller Syphiliserkrankungen, die Prostitution
zu sanieren, muß als berechtigt angesehen werden.“ „Was dem einzelnen
Kranken geleistet wird, um ihn schneller von der Krankheit zu befreien und sie
milder zu gestalten, das dient natürlich der Allgemeinbekämpfung der
Syphilis als Volksseuche und sozialer Kalamität. Je eher, je schneller und je
bequemer wir den einzelnen Kranken ungefährlich, nicht ansteckend machen
können, um so geringer wird die Zahl der Infektionsquellen. Und damit wird
nicht nur die Zahl der Syphilitischen sinken, sondern auch die Zahl derjenigen,
welche jetzt zu Tausenden und Abertausenden den schweren Nachkrankheiten
und einem vorzeitigen Tod verfallen.“ Utopische Hoffnungen schränkt Ne iß er
allerdings durch folgenden Satz ein: „Freilich wird die Indolenz und die Un¬
wissenheit der Menschen dafür sorgen, daß die Syphilis auch in Zukunft nicht
aussterben wird.“
Kürzer und etwas weniger zurückhaltend gibt Professor v. Notthaft im
Ärztlichen Vereinsblatt vom 22. November 1910 der Meinung vieler Ärzte Aus¬
druck, wenn er sagt: „Darüber kann schon jetzt kein Zweifel sein, daß mit seiner
(d. h. des Ehrlich sehen Mittels) Einführung die Morbiditätskurve der
Syphilis wie eine Ordinate herabstürzen muß. In wenigen Jahren
wird die Syphilis, hoffe ich, eine relativ seltene Krankheit sein, gleichviel, ob
man mit Ehrlich 606 auf die Dauer, oder auch nur für eine kurze Zeit die Syphilis
„heilen“ kann.“
Die Frage der Beeinflussung einer Volksseuche durch die Behandlung, wie
sie hier für die Syphilis formuliert ist, bietet ein so weitgehendes Interesse, daß
sie eine Besprechung verdient, ganz abgesehen davon, ob die in die Heilwirkung
des Ehrlich sehen Mittels gesetzten Hoffnungen von der Zukunft ganz bestätigt
werden sollten oder nur in geringerem Umfange.
Theoretisch ist die Sachlage die folgende. Eine neue erfolgreiche Methode
der Behandlung kann im allgemeinen direkt nur den Ausgang einer Er¬
krankung und dessen Verhältnis zur Zahl der Erkrankungen ändern, also den
Prozentsatz der Genesenden erhöhen und bei tödlichen Krankheiten die Letalität
herabsetzen; sie ist aber direkt ohne Einfluß auf die Zahl der Erkrankungen
selbst. Andererseits wirken erfolgreiche Maßnahmen der Vorbeugung direkt
nur auf die Zahl der Erkrankungen, die Morbidität, nicht aber auf deren
Ausgang. Allgemein ausgedrückt lautet der Satz : Hygienische und therapeutische
Erfolge vermindern beide die Mortalität, d. h. das Verhältnis der Todesfälle
zur Zahl der Lebenden. Die ersteren aber vermindern die Morbidität, die
letzteren die Letalität. So setzen Schutzvorrichtungen an Maschinen die Zahl
der industriellen Verletzungen herab, so haben die Verbesserungen der Wund-
') Deutsche med. Wochenschrift 1910 Nr. 41.
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 347
behandlungsmethoden die Lebensgefahr ganz beträchtlich und zahlenmäßig nach¬
weisbar vermindert. Etwas komplizierter liegt die Frage für die kontagiösen
Erkrankungen, für welche eine indirekte Einwirkung der individuellen Be¬
handlung nicht nur auf die Dauer und den Ausgang des einzelnen Krankheits¬
falles, sondern auch auf die Morbidität der Seuche selbst theoretisch zuge¬
standen werden muß. Wird hier durch ein neues Heilverfahren die Zeitdauer
der Ansteckungsfähigkeit herabgesetzt, so muß trotz gleichbleibender Zahl der
Angesteckten in der Zeiteinheit deren Gesamtzahl abnehmen. Zu dieser Annahme
bedarf es aber noch zweier weiterer Voraussetzungen. Erstens muß durch die
Behandlung nicht nur die Krankheit verkürzt oder geheilt, sondern auch deren
Ansteckungsstoff im Körper selbst vernichtet werden. Zur Zeit der Einführung
des Diphtherieserums durch Behring wurde ernsthaft die Frage erörtert, ob
nicht durch dieses Serum sogar die Morbidität gesteigert werden könne, da das
Serum die Bazillen im Körper nicht abtöte. Die späteren Erfahrungen über die
Verbreitung der Krankheit durch gesunde oder genesende Bazillenträger hat dieser
Auffassung nicht ganz unrecht gegeben. Zweitens muß der belebte Krankheits¬
erreger ein echter Parasit des Menschen sein, d. h. ganz oder nahezu aus¬
schließlich mit seinen Lebensbedingungen an den Menschen angepaßt sein. Die
Malaria als Individualerkrankung wird in ihrem V erl auf durch die Chinin¬
behandlung günstig beeinflußt; die Wirkung der Individualtherapie auf die Malaria
als Volks seuche ist zwar insofern nicht ganz belanglos, als die Zwischen wirte
in geringerem Maße Gelegenheit haben, durch Blutsangen den Ansteckungsstoff
aufzunehmen: immerhin aber ist hier die Vorbeugung durch Vernichtung der
Zwischenwirte aussichtsreicher. Noch klarer würde sich dies für die Pest heraus¬
steilen, wenn wir für diese mörderische Krankheit überhaupt ein sicheres Heil¬
mittel besäßen. Dieses Heilmittel könnte nur die Zahl derjenigen Erkrankungen
vermindern, welche durch Übertragung von Mensch zu Mensch entstehen, nicht
aber die direkte oder indirekte Übertragung vom Nagetier auf den Menschen.
Diese theoretische Erörterung wird nicht gegenstandslos, wenn man sich selbst
auf den Standpunkt stellen wollte, daß es einer Prophylaxe, einer Verminderung
der Morbidität dann überhaupt nicht bedarf, sobald es gelingt, eine lebensgefähr¬
liche Krankheit durch ein schnell und sicher wirkendes Heilmittel in ein harm¬
loses Leiden umzuwandeln.
Alle eben genannten Voraussetzungen treffen nun in der Tat für die Syphilis
zu; sie verbreitet sich ausschließlich direkt oder indirekt von dem erkrankten
Menschen durch Ansteckung auf den Gesunden, das neue Heilmittel wirkt nach
der heutigen Annahme gerade durch außerordentlich schnelle Vernichtung des
lebenden Ansteckungskeims im Körper selbst, und diese Ansteckungskeime be¬
sitzen außerhalb des menschlichen Körpers keine Existenzfähigkeit; der An¬
steckungsstoff kann gelegentlich an unbelebten Gegenständen so lange existenz¬
fähig bleiben, um die Übertragbarkeit auch durch Gebrauchsgegenstände und
Instrumente als Ausnahmen möglich machen, er kann auch experimentell auf
einige Tierarten übertragen werden, wirkliche Zwischenwirte aber sind bisher
nicht bekannt.
Somit sind theoretisch alle Bedingungen erfüllt, welche dem so sicher vor¬
getragenen Schluß vorausgehen mußten, daß die neue Behandlung der Syphilis
auch die Morbidität der Volksseuche im erheblichen Maße vermindern werde.
Aber man darf nicht vergessen, daß es sich bisher mir um eine Deduktion
handelt, welche erst dann Anspruch an Anerkennung hat, wenn sie durch das.
348 A.us der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Experiment oder die Beobachtung gestützt wird. Ehe die Beobachtung ins
Feld geführt werden kann, dürfte eine längere Zeit dahin gehen, als Notthaft
heute annimmt. Den Wert des Experiments aber muß der Vergleich mit einer
anderen Volksseuche haben, bei welcher dieselben Bedingungen erfüllt sind, wie
bei der Syphilis heute und bei welcher ein genügend langer Zeitraum verflossen
ist, um die in Frage stehende Wirkung zu studieren. Es müssen folgende Be¬
dingungen erfüllt sein. Genaue genügend lange Kenntnis des Parasiten und des
ursächlichen Zusammenhanges zwischen Kontagium vivum und Krankheit; aus¬
schließliche oder fast ausschließliche Übertragungsweise von Mensch zu Mensch
ohne tierischen Zwischenwirt oder ohne Existenzfähigkeit außerhalb des Menschen,
und jahrzehntelang bewährte schnelle und sicher wirkende Heilungsmethoden.
Von allen Volksseuchen erfüllt nur eine einzige in nahezu vollkommener
Weise diese Forderungen, nämlich die Krätze.
Das Kontagium vitum, eine Milbe, für Geübte mit bloßem Auge sichtbar,
ist seit Jahrhunderten bekannt und der Zusammenhang zwischen Krankheits¬
ursache und Krankheitswesen hat in komisch übereinstimmender Weise alle Phasen
durchgemacht, wie die Lehre von den mikroparasitären Krankheitserregern.
Schon Guy de Chauliac hat im 14. Jahrhundert die Milbe beschrieben und
Ambroise Pa re erwähnt die Möglichkeit, die Krankheit durch Ausgraben der
tierischen Krankheitserreger mit der Nadel zu heilen, eine Methode, die in Frank¬
reich und Deutschland zu seiner Zeit viel geübt wurde, er selbst aber empfiehlt
■als wirksamer die Tötung der Parasiten durch Salben und Kräuter. Später ging
die Kenntnis der rein parasitären Ursache der Krätze durch lange Zeit verloren,
die Überwanderung des Hautleidens auf innere Organe spielte eine große Bolle
in der Krankheitslehre. Erst seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts
wurde die genauere Pathogenese des Hautleidens und die Tatsache, daß die Ver¬
nichtung der Milben allein zur Heilung ausreiche, sichergestellt.
Nicht ganz so eindeutig ist die Ausschließlichkeit der Übertragung von
Mensch zu Mensch. Noch ist es strittig, ob die Milben mancher Tierräuden
identisch mit denen des Menschen oder von ihnen verschieden sind. Für die Ver¬
breitung der Krankheit aber würden selbst in positivem Falle diese Tierkrank¬
heiten eine untergeordnete Bedeutung besitzen. Ob und wie lange die Milben
in der Außenwelt existenzfähig sind, darüber fehlen absolut sichere Angaben.
Die Übertragbarkeit durch Bettlager ist jedenfalls bewiesen; eine solche durch
Kleider wird von Hebra und anderen durchaus bestritten, sie wäre nur durch
die Beschmutzung mit Eiern denkbar, während die Milben in Kleidungsstücken
und Gebrauchsgegenständen sich nicht lange lebensfähig halten. Jedenfalls spielt
die Übertragung durch unbelebte Gegenstände keine größere Rolle als bei der
Syphilis.
Was die Behandlung betrifft, so ist schon erwähnt, daß Ambroise Pare
erfolgreich Salbenbehandlung anwandte und daß mit der leicht möglichen Ver¬
nichtung der Milben die schnelle Heilung der Krankheit gewährleistet ist. Ich
widerstehe der Arersuchung, aus der Geschichte Material anzuhäufen; die inter¬
essante Tatsache, daß bei erhöhter Körpertemperatur die Milben die Haut ver¬
lassen, hat in Zeiten, in denen man die Krankheitsursache nicht kannte, er¬
fahrungsmäßig Schwitzprozeduren als wirksam erscheinen lassen; aber es gab
mich andere Behandlungsmethoden. In einem Werk aus dem Jahr 1746 über die
Krankheiten, welche in Breslau zu Ende des 17. Jahrhunderts herrschten, einem
Werke, zu dem Alb recht Haller die Vorrede schrieb, gibt der anonyme Ver-
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 349
fasser als das Mittel, welches ihm gegen das Jucken bei Krätze die beste Hilfe
leistet, folgendes an: „Repetita purgatio et sanguinis missio sola curavit pruritus,
ut eg o saepissime sum expertus“, also ganz nach Moliere. Dafür erwähnt er
einen Fall von Krätze, die 9 Jahre bestanden haben soll.
Mit der sicheren Kenntnis von der Ursache der Krankheit und den Lebens¬
eigenschaften ihrer Erreger entstand zugleich eine absolut zuverlässige und
schnelle Behandlungsmethode und nachdem erst die Schwefelsalben eine große
Rolle gespielt hatten, erfuhr durch Einführung des Perubalsams und Styrax die
Behandlung der Krankheit eine solche Sicherheit, daß es in einigen Tagen ge¬
lingt, nicht nur das Leiden zu heilen, sondern auch dessen Erreger sicher ab¬
zutöten. Der Zeitraum seit der Einführung dieses schnellen und sicheren Ver¬
fahrens, bei dem die Erfahrung auch die zuverlässigste Form der Anwendung
erprobt hat, beträgt fast ein halbes Jahrhundert, also eine genügend lange Spanne
Zeit, um die Wirkung der Individualbehandlung auf die Erkrankungsziffer dieser
Volksseuche zu studieren.
Wenn diese Theorie, welche jetzt über den Einfluß des Ehrlich sehen
Mittels auf die Syphilismorbidität aufgestellt wurde, lückenlos ist, so muß die
Zahl der Krätzekranken im Verlauf eines halben Jahrhunderts abgesunken sein,
steil wie eine Ordinate, um mit Notthaft zu reden.
Was ergibt nun die Medizinalstatistik? Zunächst interessiert diese sich
nur für Krankheiten mit tödlichem Verlauf, die reine Morbiditätsstatistik muß
erst noch geschaffen werden. Weder in Prinzings Handbuch, noch in Wester-
gaards Werk über Morbidität und Mortalität, noch in dem großen amtlichen
französischen Werk „Statistique internationale du mouvement de la population“
kommt das Wort Krätze überhaupt vor. Man muß schon zu einem Umwege in
der Beweisführung greifen, indem man die Krankenhausstatistik und die Heeres¬
statistik heranzieht. Die erstere ist nicht absolut für Schlüsse verwertbar. Die
Zahl der einem Krankenhause wegen Krätze zugeführten Patienten hängt von
einer Menge der verschiedensten Umstände ab, der Beschaffenheit des Bevölkerungs¬
materials, der Zahl und Erreichbarkeit der Krankenhäuser, der Aufbringung der
Kosten, dem größeren oder geringeren Entgegenkommen bei der Aufnahme der
leicht Erkrankten, der größeren oder geringeren Zahl von Ärzten usw. Es ist
daher müßig und wertlos, aus den absoluten und relativen Zahlen der Tabelle I
vergleichende Schlüsse über die Verbreitung der Krätze in den einzelnen Pro¬
vinzen Preußens und Ländern Deutschlands zu ziehen etwa schließen zu wollen,
daß in Posen die wirkliche Zahl der Krätzekranken eine viel geringere sei als in
Rheinland und Westfalen. Die plötzliche Steigerung in den letzten beiden Pro¬
vinzen hängt wohl mit der zunehmenden Industrialisierung und der systematischen
ärztlichen Durchuntersuchung der arbeitenden Bevölkerung aus Anlaß der Wurm¬
krankheit zusammen. Brauchbar und wesentlich ist nur der eine einzige Schluß,
daß von einer Abnahme der Erkrankungsziffer, soweit die Krankenhans-
behandlung in Betracht kommt, ganz und gar keine Rede ist. Berücksichtigung
verdient noch die bekannte Tatsache, daß in dem betrachteten Zeitraum die Zahl
der Krankenhausbetten eine außerordentliche Steigerung erfahren hat, so groß,
daß hierdurch die relative Zunahme der im Krankenhaus behandelten Krätz-
kranken gegenüber den absoluten Werten beeinflußt wird. Welche Bedeutung
die Krätze aber als Objekt der Krankenhausbehandlung auch heute noch besitzt,
das lehrt die Tabelle II aus den letzten Berichtsjahren 1908 und 1909. Ich
habe hier die für die Krankenhausbehandlung in Betracht kommenden wichtigsten
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 23
350 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Tabelle I,
Die Verbreitung der Krätze im Deutschen Reich und in den einzelnen
Bundesstaaten. Erkrankungsfälle an Krätze in den öffentlichen
Krankenhäusern.
1886
bis
1888
1889
bis
1891
überbau
1892
bis
1894
Lpt
1895
bis
1897
1898
bis
1901
pro Ta
1886
bis
1888
us. dei
1889
bis
1891
Erkrankun
. 1892 1895
bis bis
1894 1 1897
gsfälle
1898
bis
1901
Ostpreußen ....
1293
1269
1266
1 153
I 1 180
35,0
29.0
23,5
i 17,9
10,4
Westpreußen . . . .
1631
1519
1693
1409
1515
37,2
31.0
32.2
24,8
16,9
Berlin .
1741
1 794
4 806
3 675
3 239
11,3
9,3
21,7
15.5
9,0
Brandenburg ....
1273
1 399
3 779
2 537
2 336
25,40
23,5
51,0
31,3
16.0
Pommern .
1625
1828
2 833
2 454
2 565
38.6
39,1
51.9
40.9
26,2
Posen .
998
665
754
663
720
31,7
20,0
20,1
15,7
10,5
Schlesien .
6 428
4 337
7 650
6 657
7127
31,5
21,7
35,0
27,5
18,7
Sachsen .
2 770
3 288
6 613
5 742
5 469
43,9
40,0
64.3
52,8
30,3
Schleswig-Holstein . .
4 331
5 515
9 831
7 540
6 194
99,6
103,6
151,5
121, t
66,9
Hannover .
4 806
6 592
13 327
12 275
10413
74,8
83,3
134,4
114,6
60,2
Westfalen .
6 707
9 956
23 598
25 648
26 201
78,4
90,6
153.8
142,9
88,6
Hessen-Nassau . . .
2 767
3 257
6 892
6 888
6 407
49,0
44,6
72,9
72,0
40,7
Rheinprovinz ....
10 627
16 974
35 599
35 185
39 926
61.0
75,1
125,7
114,1
75,1
Hohenzollern ....
13
23
57
97
59
14,1
17/2
35,6
55,4
23,8
Preußen .
47 010
58 416
118 698
111923
113 351
44,7
46,8
78,5
68.0
42,1
Bayern .
8 469
10 252
18 386
17 424
14 414
28,2
30.3
51,2
45,1
25,5
Sachsen .
5 210
4 588
7 674
7 001
7 093
55,7
41,9
58,5
47,0
28,7
Württemberg ....
2 639
2 500
6 282
5 120
2 900
30,1
21,7
46,4
37,6
15,3
Baden .
2 958
4 287
8 405
6 286
4 030
37,1
40,0
66,7
46,4
18,6
Hessen-Darmstadt . .
1537
2 368
4123
3 165
3 140
44,9
53.6
69,2
49,1
29,9
Mecklenburg-Schwerin .
2 274
2 403
4 387
4 393
3 397
119,1
108,4
159,5
164,3
88,6
Sachsen- Weimar . . .
439
497
1037
822
678
77,0
63,2
113,8
83,6
42,7
Mecklenburg-Strelitz .
439
331
571
595
434
95,4
71,5
108,6
103,5
57,1
Oldenburg .
734
891
2 012
1 799
1486
59.2
56,9
94,4
77,2
46,3
Braunschweig . . .
1 209
1 568
2 227
1697
1 615
86,2
85,2
102,6
73,1
40,4
Sachsen-Meiningen . .
153
144
381
403
319
43,5
36,4
92,0
82,7
38,8
Sachsen- Altenburg . .
1487
1 275
1291
1 343
1 570
511.0
297,9
261,0
271,3
240,8
Sachsen-Koburg-Gotha .
245
215
603
475
372
68,1
54,8
116,9
85,4
45,1
Anhalt .
483
620
985
671
690
64,7
67.3
97,9
66,1
46,7
Schwarzburg -Sondersh.
44
83
178
148
186
39,6
68,6
93,2
68,5
64,6
Schwarzburg-Rudolst. .
113
40
114
86
47
47,9
17,6
42.9
28,9
12,6
Waldeck .
38
48
118
101
93
65,5
41,4
73.3
46,5
25,1
Reuß ältere Linie . .
87
129
149
103
66
86,1
103.2
108,0
81,1
44.0
Reuß jüngere Linie
174
207
358
287
206
66.2
67,8
111,5
84,4
44,6
Schaumburg-Lippe . .
19
28
42
51
101
35,9
53,8
74,9
63.0
59,8
Lippe-Detmold . . .
79
98
336
281
196
66,4
71.5
128,7
104,5
55,4
Lübeck .
344
351
709
653
383
80^3
67,9
110,4 |
107.6
38,7
Bremen .
1234
1873
2 971
2 062
1499
78/2
87,3
115,2
lo,8
32,1
Hamburg .
3418
4 096
5 687
4 281
3 455
43,4
42,2
50,1
35,9
18,7
Elsaß-Lothringen . .
528
788
2 093
2 728
1 775
11,0
14,2
31,9
37,6
15,5
Deutsches Reich . , .
81 364
98 096
189 817
1
173 898
1
163 396
43,3
43,7
71,4
i
60,5
35,8
Quelle: Medizinische Mitteilungen des Kaiserlichen Gesundheitsamtes.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 351
Tabelle II.
Die in sämtlichen allgemeinen Heilanstalten Preußens
Behandelten. (Zugang.)
1907
1908
Absolut
in Prom.
Absolut
in Prom.
An allen Erkrankungen . . .
1 014418
1000
1 056 656
1000
Diphtherie und Kroup ....
14 563
13.94
16 583
15,69
Unterleibstyphus .
7 873
7,54
8 233
7,79
Tuberkulose der Lungen . .
58 222
55,75
64 381
60,93
Gonorrhoe .
19 120
18,31
20 911
19,79
Syphilis .
15211
14,56
16 700
15,81
Lungenentzündung .
18 596
17,80
17 562
16,62
Blinddarmentzündung ....
18 097
17,32
21 475
20,32
Karzinom und andere bösartige
Geschwülste .
22 838
21.87
22 605
21,39
Krätze .
39 369
37,69
45 276
42,85
Krankheiten auf geführt. Einzig und allein die Tuberkulose der Lungen zeigt
höhere Zahlen als die Krätze, und das wohl auch nur, weil in dieser Zahl die
Insassen der Lungenheilstätten mit eingerechnet sind; die anderen verbreitetsten
Volksseuchen bleiben . um mehr als das Doppelte oder — wie Typhus und
Diphtherie — noch erheblich weiter hinter der Krätze zurück.
Die theoretische Deduktion hat also eine große Lücke. Trotzdem alle
Bedingungen erfüllt sind, deren es zu bedürfen schien, um die Volksseuche durch
die Behandlung zu vermindern, ist auch heute noch die Krätze eine außerordent¬
lich verbreitete, eine der allerhäufigsten Erkrankungen. Trotzdem wir seit
50 Jahren bequeme, absolut zuverlässige, schnell und billig wirkende Heilmethoden
besitzen, ist von einem Absinken der Erkrankungsziffer nicht das geringste zu
bemerken. Es muß also in der Deduktion ein Fehler stecken. Um den Faktor
zu entdecken, der übersehen worden ist, gibt schon die Tabelle III, die Heeres¬
statistik, einen Hinweis. Hier ist die theoretisch vorausgesetzte Abnahme der
Morbidität, wenn auch nicht ganz stetig, so doch mit großer Intensität nach¬
weisbar. Wir schließen wohl kaum falsch, wenn wir den Grund in der syste¬
matischen ärztlichen Überwachung des Beobachtungsmaterials suchen. Eine
weitere Aufklärung geben die einzelnen Jahrgänge über das Gesundheitswesen
des preußischen Staates.
Ich begnüge mich, aus den Berichten der Begierungsmedizinalräte einige
Stellen aufzuführen. So heißt es in dem Bericht für das Jahr 1911: „Reg.-Bez. B.
Bei der großen Unsauberkeit, die in den niedrigsten Schichten der Bevölkerung
sowohl in Stadt wie Land anzutreffen ist, hält sich die Krätzekrankheit noch
immer in gleicher Höhe. Die Indolenz und Gleichgültigkeit, mit welcher
hier körperliche Schäden und Beschwerden ertragen werden, bringt es mit sieb,
daß ärztliche Hilfe gegen Krätze erst dann nachgesucht wird, wenn nach wochen-
oder gar monatelangem Bestehen alle Familienmitglieder davon ergriffen sind.
Es wird daher trotz der schnellen und sicheren Heilung an eine Aus¬
rottung dieser Krankheit nicht so bald zu denken sein.“ Im letzten Bericht aus
dem Jahre 1910 für das Jahr 1908 heißt es: „Fast alle Bezirksberichte klagen
') Einschließlich der Heilstätten.
352 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Tabelle III.
Verbreitung der Krätze in der Koni gl. Preußischen, Königl.
Sächsischen und Königl. Württem her gischen Armee. 1882 — 1908.
(1. Oktober bis 30. September.)
Jahr
Erkrankungs¬
fälle
Da
überhaupt
runter an Kri
insbesond(
der
Erkran¬
kungen
Ltze
irs Promille
des durch¬
schnittlichen
Istbestandes
1882—1883
324 703
4255
13,1
11,1
1883—1884
317 951
3664
11,5
9,6
1884—1885
326 286
3905
12,0
10,2
1885-1886
325 463
3230
9,9
8,4
1886-1887
312 418
2577
8.2'
6,7
1887—1888
335 405
2853
8.5
6,8
1888—1889
318 978
2749
8,6
6,5
1889—1890
375 849
2605
6,9
6,2
1890 -1891
348 916
2716
7,8
6,2
1891-1892
363 537
3996
11,0
7,1
1892-1893
348 693
2658
76
6,1
1893—1894
405 239
2895
7,1
6,1
1894—1895
414 245
2989
7,2
5,9
1895—1896
385 334
2741
7,1 *
5,3
1896—1897
374 143
2511
6,7
4,9
1897—1898
351 179
2017
5,7
3,9
1898—1899
355 446
1705
4,8
3,3
1899—1900
358 869
1374
3,8
2,6
1900—1901
343 173
1119
3,3
2,1
1901—1902
326 417
1190
3,6
2,2
1902—1903
326 399
1398
4,3
2,7
1903—1904
320 237
1360
4,2
2,6
1904—1905
331 599
1374
4,1
2,6
1905—1906
314 807
1793
5,7
3,4
1906—1907
322 300
1710
5,3
3,2
1907—1908
318 217
2298
7,2
4,2
Quelle: Sanitätsberichte der Königl. Preußischen, der Königl. Sächsischen
und Württembergischen Armeekorps.
über die unverändert starke Verbreitung der Krätze und die geringen Aussichten,
die Krankheit mit Erfolg einzudämmen. Als Grund dafür, daß die Krätze eher
zu- als abnimmt, wird übereinstimmend neben der mangelhaften Behandlung der
Erkrankten die immer erneute Einschleppung und Weiterverbreitung durch die
ausländischen Arbeiter aus Rußland, Galizien und Italien angegeben. Die Krätze-
kranken lassen sich vielfach ärztlich nicht behandeln; die so erstrebenswerte
Krankenhausbehandlung tritt, abgesehen von den dicht bevölkerten Gegenden im
Westen und von den Großstädten, überhaupt nicht in nennenswertem Umfange
ein. Zur Kenntnis der Kreisärzte kommt die Krätze meist nur gelegentlich der
Schulbesichtigungen, wenn Schulkinder mit dieser Krankheit behaftet sind.“ Ich
erspare mir unter Hinweis auf den reichen Inhalt der angegebenen Quelle weitere
Zitate. Aus den Berichten geht hervor, daß Wanderarbeiter und die verwahrlosten
Schichten der Bevölkerung in Stadt und Land die Hauptträger und Haupt-
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 353
Verbreiter der Krankheit sind. Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Leichtsinn, Armut
lassen die Krankheit einnisten und offenbar ist sie viel verbreiteter in den ge¬
nannten Kreisen, als aus den Krankenhauszahlen hervorgeht. Da aber im wirt¬
schaftlichen Leben alle Schichten der Bevölkerung in inniger Berührung stehen,
und die Milbe selbst, ehe sie überwandert, weder nach dem Steuerzettel noch
nach dem Schulzeugnis fragt, sind auch kulturell höher stehende Schichten immer
von neuem bedroht, und so meldet, um nur ein Beispiel zu erwähnen, der Bericht
der Berliner Schulärzte vom Jahre 1905/1906, daß in mehreren Klassen eine
größere Anzahl von Kindern mit Krätze vorgefunden wurde. „Es wurde darüber
geklagt, daß in manchen Fällen die Behandlung Schwierigkeiten mache, da die
Eltern die verordneten Medikamente nicht bezahlen wollten.“
Trotzdem also seit fast einem halben Jahrhundert bei der Krätze alle medi¬
zinisch-hygienischen Bedingungen erfüllt sind, um sie zu einer seltenen Krankheit
zu machen, sind alle Fortschritte der Wissenschaft erfolglos gewesen, die Krätze
ist noch heute ebenso verbreitet, wie vor 20 Jahren, hat in einigen Gegenden
sogar zugenommen. Daß sie zahlenmäßig selbst in ärztlich überwachten Kreisen
nicht einmal hinter der Syphilis nennenswert zurückbleibt, beweisen die Angaben
in dem großen May et sehen Werke über die Krankheits- und Sterblichkeits¬
verhältnisse der Leipziger Ortskrankenkasse. Dort kamen auf 100000 männliche
versicherungspflichtige Mitglieder zur Behandlung an Syphilis aller Grade 118,
an Krätze 99. Bei den freiwilligen männlichen Mitgliedern ist der Unterschied
allerdings wesentlich größer: 350:130.
Wir sind also über den großen Umweg der wissenschaftlichen mit Statistiken
belegten Erörterungen zu einem Schluß gekommen, den der gesunde Menschen¬
verstand von selbst zieht, daß nämlich die glänzendsten Entdeckungen der Heil¬
kunde wirkungslos sind, wenn die von der betreffenden Yolksseuche befallenen
Schichten zu unwissend, zu unkultiviert, zu arm sind, um dieser Behandlung
sich zu unterziehen. Neu aber und wichtig ist die weitere Tatsache, daß für die
Krätze diese Faktoren der Unkultur mächtig genug gewesen sind, um alle Fort¬
schritte der Wissenschaft vollkommen wirkungslos zu machen.
Nun liegt es mir fern, die Erfahrungen bei der Krätze rein quantitativ auf
die Syphilis übertragen zu wollen. Aber qualitativ beansprucht der Faktor der
Unkultur auch hier, wie ja schon Ne iß er andeutet, die ernsteste Beachtung.
Auch bei dieser Krankheit ist selbst hier in Berlin und selbst in gebildeten
Kreisen die Indolenz eine erstaunlich große. Ich selbst habe in meiner ärztlichen
Tätigkeit in den letzten Jahren eine nicht ganz kleine Zahl von Syphilisfällen
gelegentlich entdeckt, auch bei Patienten der gebildeten Stände, welche mich
wegen eines Rheumatismus, wegen Kopfschmerzen usw. aufsuchten, welche von
ihren Roseolen überhaupt noch nichts wußten und ihre Primärsklerose nicht für
der Beobachtung wert gehalten hatten. Ich habe in gut situierten Familien bei
dem Kindermädchen, welches das jüngste Kind auf dem Arm trug, bloß weil mir
die belegte Stimme auffiel, die als akuter Katarrh galt, frische Syphilis gefunden,
und jeder Arzt in diesem Kreise wird ähnliche Fälle beobachtet haben. Die Be¬
richte der Berliner Schulärzte melden in jedem Jahre Fälle von frischen vernach¬
lässigten syphilitischen Erkrankungen der Schulkinder, welche ohne das Ein¬
greifen der Schulärzte vielleicht überhaupt nicht entdeckt worden wären. Trotz
der Volkstümlichkeit des Ehrlich sehen Mittels sollte man also auch hier recht
pessimistisch denken.
Für mich und wohl auch für den Kreis meiner Hörer war meine ganze
354 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene lind Medizinalstatistik.
Betrachtung außerdem noch von grundsätzlicher Bedeutung. Die Bolle des
sozialen Faktors in der Ursachenkette der Krankheiten, schon von unserem Ehren¬
mitglied S. Neu mann scharf betont, wird jetzt auch von der Klinik anerkannt.
Der vorliegende Fall beweist zwingend die Bedeutung des sozialen Faktors auch
für den Erfolg aller therapeutisch-hygienischen Maßnahmen. Alle die schönen
Errungenschaften der biologischen Hygiene und der experimentellen Therapie
bleiben Theorie, wenn sie nicht die sozialen Faktoren mit ins Bereich ihrer prak¬
tischen Maßnahmen ziehen. Der Erzieher und Lehrer des Volkes ist neben dem
Forscher im Laboratorium ein unentbehrlicher Helfer im „Kampf gegen die
Volksseuche“. Zu ihrer Eindämmung genügt nicht die Tätigkeit des einzelnen
Arztes, so vollkommen er mit dem modernen Büstzeug ausgestattet sein mag,
denn er tritt ja nur dann in Tätigkeit, sobald es dem Kranken beliebt ihn auf¬
zusuchen. Für den Arzt bleibt der an einer Volksseuche leidende Patient nur
ein Einzelfall von rein individualtherapeutischem Interesse. Das Wirken des
Arztes bedarf für die Volksseuchen notwendig der Ergänzung durch die Ma߬
nahmen der Gesundheitsfürsorge , welche von einer höheren sozialen Einheit
organisiert und von dieser mit Hilfsmitteln ausgestattet wird und welche das
Becht und die Pflicht hat, werbend aufzutreten, also nicht nur diejenigen
Leidenden zu behandeln, welche freiwillig die Fürsorgestätten aufsuchen, sondern
ganze Kreise und Schichten der Bevölkerung heranzuziehen, ihre gesundheitlichen
Verhältnisse zu durchforschen, sie zu beraten und ihre Behandlung zu erzwingen.
Es liegt nahe, aus meinen Auseinandersetzungen und unter dem Eindruck
der zahlreichen Veröffentlichungen über die schnelle Heilwirkung des Ehrlich-
scheu Salvarsans Folgerungen auf die Bekämpfung dieser Volksseuche durch die
Behandlung zu ziehen. Der Vorschlag liegt auf der Hand, nunmehr nach
Art der Fürsorgestellen für Tuberkulöse solche für Syphilitische zu errichten, um
durch die Heranziehung derjenigen schon erkrankten Bevölkerungsschichten,
welche sich bisher dieser rechtzeitigen Behandlung entzogen, der Volksseuche
ihre Gefahr zu nehmen. Ich erkenne die Notwendigkeit an, die moderne soziale
Gesundheitsfürsorge auch auf die Geschlechtskrankheiten auszudehnen. Ich er¬
kenne auch die weitere Notwendigkeit an, für schnelle und erfolgreiche Behand¬
lung der schon Erkrankten werbend zu wirken. Gerade bei der Syphilis aber
darf wegen dieser Forderung einer indirekten Bekämpfung der Volksseuche durch
Fürsorge für die Erkrankten die Hauptaufgabe durch neue therapeutische
Erfolge nicht in den Hintergrund gedrängt werden, mit allen Mitteln der Auf¬
klärung und Fürsorge dahin zu wirken, daß die Gefahr überhaupt zu erkranken
verringert wird.
Welcher Weg in der Wirklichkeit mehr Erfolg verspricht, ist zuletzt eine
rein praktische Frage, über welche die Erfahrung zu entscheiden haben wird.
Wahrscheinlich wird es nötig sein, beide Maßnahmen, diejenige der Vorbeugung
und der Behandlung, gleichzeitig zu treffen.
Sitzung vom 16. Februar 1911.
Herr B. Schaeffer trägt vor über „Das statistische Erhelmngsformular
der Heilanstalten in Preußen44. Seit dem Jahre 1877 wird in Preußen all¬
jährlich eine Statistik angefertigt, welche über Zahl, Art, Heilung oder Tod der
in den Heilanstalten aufgenommenen Kranken Aufschluß gibt. Welche ge¬
waltige Zahlen hier nach einheitlichen Gesichtspunkten verarbeitet werden müssen,
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 355
ersieht man. wenn man erfährt, daß die Zahl der in Betracht kommenden An¬
stalten im Jahre 1806 = 3106 in Preußen betrug (gegen 1145 im Jahre 1877),
daß sich darunter 2410 allgemeine Anstalten und Abteilungen befanden, daß
allein in diesen 138016 Betten zur Verfügung standen, und daß die 1036161 hier
Verpflegten 31957 756 Verpflegungstage absorbierten.1)
Dieses Material wird gewonnen durch Erhebungsformular, welches all¬
jährlich von jeder Heilanstalt auszufüllen ist, und welches für die allgemeinen
Heilanstalten ein einheitliches ist, während für die Irren- und Entbindungs¬
anstalten besondere Formulare bestehen.
Zum Verständnis der folgenden Ausführungen sei nur das Formular für
diese allgemeinen Krankenhäuser in seinen wesentlichen Punkten wieder¬
gegeben.
Auf der ersten Seite befinden sich die allgemeinen Angaben:
1. Krankenbetten.
2. Verpflegte männliche Kranke.
3. Verpflegte weibliche Kranke.
4. Verpflegungstage der männlichen Kranken.
5. Verpflegungstage der weiblichen Kranken.
Das Formular selbst weist nachfolgendes Schema auf Seite 356 auf.
Endlich finden sich eine Eeihe von „Bemerkungen“ dem Formular auf¬
gedruckt, welche gewisse Zweifelfälle einheitlich entscheiden sollen. Unter diesen
'„Bemerkungen“ scheint mir Nr. 4 der kritischen Beleuchtung wert zu sein.
Nr. 4 lautet:
„Jeder verpflegte Kranke ist nur bei derjenigen Krankheit, welche
von dem behandelnden Arzte als Hauptkrankheit betrachtet wird, in
Bestand, Zugajrg und Abgang zu zählen. Die Nebenkrankheiten bleiben
unberücksichtigt. Wurden in unmittelbarer Aufeinanderfolge mehrere
Krankheiten nacheinander durchgemacht, so soll der Verpflegte doch
nur bei der als Hauptkrankheit zu betrachtenden Krankheit gezählt
werden . . .“
Wiewohl es nun eigentlich überflüssig ist, möchte ich doch ausdrücklich
betonen, daß auch ich davon überzeugt bin, daß dieser Modus der statistischen
Zusammenfassung, nämlich nicht die Zahl der Krankheiten, sondern der
Kranken auszurechnen, von seiten der sachverständigen Männer, die diese
mühevolle Statistik geschaffen haben, mit Vorbedacht und auf Grund eifriger Er¬
wägungen gewählt worden ist. Trotzdem halte ich im medizinisch-wissen¬
schaftlichen Interesse dieses Vorgehen entschieden für bedauerlich.
Das medizinisclustatistische Ideal wäre es natürlich, überhaupt jeden
in der ganzen Bevölkerung vorkommenden Krankheitsfall (zunr mindesten jeden
ärztlich behandelten) statistisch erfassen zu können. Daß dies unmöglich ist,
*) Preußische Statistik. (Kgl. Preußisches statistisches Landesamt in Berlin,
Nr. 212. Die Heilanstalten im Preuß. Staate 1906. Berlin 1908. Verlag des
Kgl. Preuß. statist. Landesamtes.) Für das letzte veröffentlichte Jahr (1907)
lauten die Zahlen: 3136 Heilanstalten überhaupt, darunter 2440 allgemeine Heil¬
anstalten mit 1 111458 Verpflegten und 33688109 Verpflegungstagen. (Vgl.
Medizinalstatistische Nachrichten. Herausgegeb. vom Kgl. Preuß. Statist. Landes¬
amt, Erster Jahrgang 1909. Verlag des Kgl. Statist. Landesamtes Berlin 1910.)
Lfd
356 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Formular.
Namen
der
Krankheiten
Be¬
stand
am
1. Ja¬
nuar
Zu¬
gang
im
Jahre
Abgang im Jahre
Davon durch Tod
über¬
haupt
an der
in
Spalte 2
genann¬
ten
Krank¬
heit
an einer
anderen
Krank¬
heit und
an
welcher ?
Be¬
stand
am
31. De¬
zember
6
8
m. w.
m.
r- I
w. m.
w.
m.
w.
m.
w. m. w.
I. Eutwickliings-
krankheiten.
1. Angeborene Lehens¬
schwäche (erster Mo¬
nat) ......
2. Angeborene Mißbil¬
dungen .
3. Altersschwäche (über
60 Jahre) . . . .
4. Andere Entwicklungs¬
krankheiten . . .
a) Menstruationsano¬
malien . . . .
b) Schwangerschafts¬
anomalien (Fehl¬
geburten, Blu¬
tungen usw.) . .
c) Geburts- und
Wochenbettano¬
malien (ausschlie߬
lich 19) ... .
d) Andere Entwick¬
lungskrankheiten .
Bei den folgenden Krankheiten ist der Baumersparnis halber obiges Schema
fortgelassen.
II. Infektions- und parasitäre
Krankheiten.
5. Pocken.
6. Varicellen.
7. Scharlach.
8. Masern und Böteln.
9. Diphtherie und Krupp.
10. Keuchhusten.
11. Mumps (Parotitis epidemica).
12. Flecktyphus.
13. Bückfallfieber.
14. Unterleibstyphus.
15. Genickstarre.
16. Bose (Erysipel).
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 357
17. Trismus und Tetanus.
18. Pyämie, Septychämie, Hospital¬
brand.
19. Kindbettfieber.
20. Lepra,
21. Skrofulöse.
22. Tuberkulose der Lungen.
23. ,, anderer Organe.
24. Lungenentzündung (kruppöse).
25. Influenza (Grippe).
26. Akuter Gelenkrheumatismus.
27. Malaria.
28. Asiatische Cholera.
29. Brechdurchfall (Cholera nostras).
30. Buhr (Dysenterie).
31. Gonorrhoe.
32. Weicher Schanker.
33. Syphilis.
34. Milzbrand.
35. Botzkrankheit.
36. Tollwut (Lyssa).
37. Trichinose.
38. Bandwurm.
39. Andere Infektions- und parasitäre
Krankheiten (ausschl. Krätze).
III. Sonstige allgemeine Krank¬
heiten.
40. Bleichsucht und Blutarmut (Chlorose
und Anämie).
41. Leukämie und Pseudoleukämie.
42. Bachitis und Osteomalacie.
43. Zuckerruhr.
44. Gicht.
45. Skorbut.
46. Alkoholismus und Säuferwahnsinn.
47. Andere Vergiftungen.
48. Hitzschlag.
49. Andere allgemeine Krankheiten.
Anhang: Neubildungen und
Geschwülste.
50. Karzinom.
51. Andere bösartige Neubildungen.
52. Gutartige Neubildungen und Ge¬
schwülste (ausschl. 79).
IV. Örtliche Krankheiten.
A. Krankheiten des Nerven¬
systems.
53. Geisteskrankheiten.
54. Gehirn- und Hirnhautentzündung
(ausschl. 15, 23).
55. Gehirnschlag.
56. Andere Krankheiten des Gehirns.
57. Epilepsie.
58. Eklampsie.
59. Chorea.
60. Tabes.
61. Andere Bückenmarkskrankheiten.
62. Andere Krankheiten des Nerven¬
systems überhaupt.
B. Krankheiten der Atmungs¬
organe.
63. Krankheiten der Nase und der
Adnexa.
64. Kehlkopfkrankheiten (ausschl. 9, 23).
65. Akuter Katarrh der Luftröhre und
der Bronchien.
66. Chronischer Katarrh der Luftröhre
und der Bronchien sowie Emphysem.
67. Lungenentzündung (ausschl. 24).
68. Brustfellentzündung.
69. Andere Krankheiten der Atmungs¬
organe.
C. Krankheiten der Kreislauf¬
organe.
70. Herz- und Herzbeutelentzündung.
71. Klappenfehler und andere Herz¬
krankheiten.
72. Pulsadergeschwulst.
73. Arteriosklerose und Brand der Alten.
74. Krampfadern u. Venenentzündung.
75. Lymphgefäß- und Lymphdrüsen¬
entzündung (ausschl. der zu 21, 31,
32, 33 gehörigen).
D. Krankheiten der Verdau¬
ungsorgane.
76. Krankheiten der Zähne und der
Organe der Mundhöhle.
77. Mandel- und Bachenentzündung
(ausschl. 9).
358 A11S der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
78. Krankheiten der Speiseröhre.
79. Krankheiten der Schilddrüse (aus-
schl. 50, 51).
80 Akuter Magen- und Darmkatarrh
sowie Atrophie der Kinder (ausschl.
23).
81. Magengeschwür.
82. Andere chronische Magenkrank¬
heiten.
83. Chronische Darmkrankheiten.
84 a. Bauchfellentzündung (Peritonitis).
84 b. Blinddarmentzündung (Perityphli¬
tis, Appendicitis).
85 Brüche (Hernien),
a) eingeklemmte,
b) nicht eingeklemmte.
86. Innerer Darmverschluß.
87. Lebercirrhose.
88. Andere Krankheiten der Leber und
ihrer Ausführungsgänge.
88 a. Andere Krankheiten der Verdau¬
ungsorgane.
E. Krankheiten der Harn- und
Geschlechtsorgane (ausschl. 31,
32, 33).
89. Krankheiten der Nieren.
90. „ „ Blase.
91. Steinkrankheit.
92. Krankheiten der männlichen Ge¬
schlechtsorgane.
93. Krankheiten der Gebärmutter.
94. „ „ anderen weiblichen
Geschlechtsorgane.
Es folgt eine Wiederholung
F. Krankheiten der äußeren
Bedeckungen.
95. Krätze.
96. Hautausschläge (ausschl. 5 — 8, 12,
16).
97. Zellgewebsentzündung (einschl.
Panaritium, Furunkel und Kar¬
bunkel (ausschl. 34).
98. Andere Krankheiten der äußeren
Bedeckungen.
G. Krankheiten derBewegungs-
organe.
99. Krankheiten der Knochen und
Knochenhaut (ausschl. 23).
100. Krankheiten der Gelenke (ausschl.
23, 26, 44).
101. Krankheiten der Muskeln, Sehnen
und Schleimbeutel.
102. Muskelrheumatismus.
H. Krankheiten des Ohres.
103. Krankheiten des äußeren Ohres.
104. „ „ Mittelohres.
105. „ „ inneren Ohres.
I. Krankheiten der Augen.
106. Ansteckende Augenkrankheiten.
107. Andere Augenkrankheiten:
a) Verletzungen der Augen,
b) andere Augenkrankheiten.
K. Verletzungen.
108—122.
der einzelnen Hauptgruppen.
braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Der einzige Anhaltspunkt, den wir
daher zur Beurteilung der Häufigkeit der einzelnen Krankheiten haben (die
meldepflichtigen Infektionskrankheiten ausgenommen), ist die Heilanstaltsstatistik.
Derselben liegt aber darum ein so großer Wert bei, weil hier die Diagnosen mit
ungleich größerer Sicherheit gestellt sind, als es in der freien Praxis möglich ist.
Ich hoffe, die Herren Kollegen werden darin keine Bemängelung ihrer diagnosti¬
schen Fähigkeiten erblicken. Die Krankenhausdiagnose ist darum der der privaten
Tätigkeit so überlegen, weil ihr nicht nur die sämtlichen Untersuchungsmittel
und stets bereite Untersuchungs kr äfte zur Verfügung stehen, sondern besonders
darum, weil der Kranke dauernd unter Beobachtung steht und der Arzt nicht
verpflichtet ist, sich gleich am ersten Tage den Angehörigen gegenüber auf eine
bestimmte Diagnose festzulegen: Erst bei der Entlassung oder der Sektion braucht
die endgültige Diagnose gestellt zu werden.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 359
Diese relativ ausgezeichnete Sicherheit der Krankenhausdiagnose legt aber
gerade den dringenden Wunsch nahe, die sich darauf aufbauende Statistik
nicht nur im verwaltungstechnischen, sondern auch im medizinischen
Sinne venverten zu können.
Selbstverständlich sind nun die in der Heilanstaltenstatistik niedergelegten
Zahlen nicht so ohne weiteres auf die Krankheitsverhältnisse der ganzen Be¬
völkerung zu übertragen. Während sich die Zahl der Fälle z. B. von Pocken
oder Cholera in den Krankenhäusern wohl so ziemlich mit den im ganzen Staate
überhaupt zur Beobachtung gelangten Pocken- oder Cholerafällen decken werden,
wird die Zahl der Fälle z. B. von Zuckerruhr (Nr. 43) oder der Luftröhrenkatarrhe
(Nr. 66) oder der Magendarmkatarrhe (Nr. 80) nur einen minimalen Anteil an
den in der ganzen Bevölkerung vorgekommenen derartigen Erkrankungen dar¬
stellen. Für jede einzelne Erkrankung werden da besondere Erwägungen an¬
zustellen sein. Wenn wir aber in der „Preußischen Statistik“ vom Jahre 1906
lesen, daß von allen an Appendicitis im Jahre 1904 — 1906 gestorbenen Personen
84 Proz. in Krankenhäusern gestorben sind, so ersehen wir daraus, daß in bezug
auf manche Krankheiten die Krankenbewegung in den Krankenhäusern doch einen
recht guten Maßstab für die Beurteilung der Verhältnisse dieser Krankheit in
der ganzen Bevölkerung ergibt.
Diesem berechtigten ärztlichen Bedürfnis, aus der Krankenhausstatistik ein
Verständnis für Häufigkeit und Ausgang der Krankheiten zu gewinnen, wider¬
spricht nun ’ entschieden der vorher angeführte § 4 der „Bemerkungen“, welcher
vorschreibt, daß jeder Kranke nur einmal, mit seiner „Hauptkrankheit“,
aufgeführt werden darf.
Um nur ein Beispiel, das beliebig vervielfältigt werden könnte, zu nennen,
so darf die Krätze (Nr. 95) nur angeführt werden, wenn sie als Haupt-
krankheit im Krankenhause angesehen wurde. Wenn es aber überhaupt ein
Interesse hat, zu wissen, wieviel Leute im Jahre in den Krankenhäusern an
Krätze litten, so sollte jeder Fall von Krätze aufgeführt werden und nicht
diejenigen (vielleicht nicht minder zahlreichen) unter den Tisch fallen, bei welchen
als Hauptkrankheit vielleicht ein Fußgeschwür, eine Verletzung oder eine Lungen¬
entzündung bestand.
Vom statistisch-technischen oder bureaukratischen Standpunkte aus (wobei
dem Worte keine üble Nebenbedeutung beigelegt werden soll) mag es vielleicht
wichtig sein, gerade die Hauptkrankheit festzustellen und jeden Kranken nur
einmal zu zählen. Vom ärztlichen und wissenschaftlichen Standpunkte aber
interessiert uns ganz wesentlich die Krankheit als solche und nicht der zufällige
Umstand, ob sie als Haupt- oder Nebenkrankheit aufgefaßt wurde.
Mit anderen Worten: Es müssen die Krankheiten und nicht
die Kranken gezählt werden; es muß eine Dopp elzählung * ge¬
stattet sein. Eine Heilanstalt also, welche 1000 Kranke im Jahre verpflegt,
müßte dann also vielleicht 1500 Krankheiten im Formular buchen.
Daß dies bei der statistischen Verarbeitung gewisse Schwierigkeiten bietet,
mag ohne weiteres zugegeben werden. Viel wichtiger aber erscheint es, daß nur
so eine Beurteilung der Kr ankh ei ts Verhältnisse ermöglicht wird.
Diese ungenügende Verwendbarkeit der Krankenhausstatistik zur Beurteilung
von Häufigkeit und Art der Krankheiten tritt nun aber auch im Formular selbst
hervor.
Zunächst sei auf die Rubrizierung eingegangen.
360 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Hubrum I behandelt die Entwicklungskrankheiten. Nr. 4 lautet:
Andere Entwicklungskrankheiten:
a) Menstruationsanomalien.
Zu den Menstruationsanomalien gehören die Störungen bei Eintritt der
Pubertät, die man gewiß vielfach als Entwicklungsstörungen auffassen kann.
Aber es gehören darunter auch — und diese sind viel häufiger — die Anomalien
der Periode, welche sich um die Zeit der Wechseljahre einstellen. Diese Störungen
aber zu den Entwicklungskrankheiten zu rechnen, hätte dieselbe Berechtigung,
als wenn man jede andere im Laufe des Lebens sich entwickelnde Krankheit,
z. B. Herzkrankheit, hierunter rubrizieren wollte. Was hat es außerdem für
einen Wert, zwei voneinander gänzlich unabhängige, ihrer Bedeutung nach gänz¬
lich verschiedene Krankheitszustände in einer Nummer zusammenzufassen? Irgend¬
ein ärztlich-wissenschaftlicher Schluß läßt sich aus dieser zusammengefaßten Zahl
gar nicht machen.
b) Schwangerschaftsanomalien (Fehlgeburten, Blutungen usw.).
Hier ist es direkt unverständlich, wie Fehlgeburten und Blutungen als
Entwicklungsstörung aufgefaßt werden können. Die Annahme, daß die Ent¬
wicklungsstörung des Fötus für diese Rubrizierung maßgebend gewesen
sei, ist doch wohl — weil es ein schlechter Spaß wäre - von vornherein ab¬
zulehnen. Die allein dann übrigbleibende Annahme, daß Fehlgeburten auch nur
meist auf Entwicklungsstörung der Mutter beruhen, entspricht aber einem
medizinischen Standpunkte, der vor länger als 50 Jahren vielleicht Berechtigung
hatte, heut aber als vollkommen verkehrt gelten muß. Auch hier ist die Zu¬
sammenfassung aller Schwangerschaftsanomalien in eine Nummer bedauerlich,
weil sie die Zahl der Unterarten (z. B. Hyperemesis gravidarum) nicht er¬
kennen läßt. In erhöhtem Maße gilt dies bei
c) Geburts- und Wochenbettsanomalien (ausschließlich Nr. 19:
Kindbettfieber).
Die Krankenhausstatistik vom Jahre 1906 verzeichnet hierunter 3072 Fälle
mit 157 Todesfällen. Aber niemand wird sich eine Vorstellung machen können,
was das denn eigentlich für Krankheiten waren und namentlich, welche Ent¬
wicklungsstörungen denn den tödlichen Ausgang in 157 Fällen
herbeigeführt haben. Das enge Becken, welches zweifellos eine Ent¬
wicklungskrankheit ist, führt doch als solches nie zum Tode. Die Eklampsie
ist keine Entwicklungskrankheit, außerdem ist sie (merkwürdigerweise unter den
Krankheiten des Nervensystems, wo sie kein Geburtshelfer vermutet) unter Nr. 58
noch besonders aufgeführt; sie scheidet hier also aus. Die fieberhaften
Wochenbettserkrankungen scheiden auch aus, da sie unter Nr. 19 gehören.
Komplikationen des Wochenbetts und der Geburt durch Herz-, Lungen-
und andere 0 r g a n erkrankungen müssen natürlich unter letzteren verzeichnet
werden. Es bleibt eigentlich nur die Placenta praevia, die man doch un¬
möglich als Emvicklungskrankheit auffassen kann. Wie bedauerlich ist es, daß
wir nicht durch präzisere Fragestellung über Häufigkeit und Ausgang dieser
hochwichtigen geburtshilflichen Anomalie unterrichtet werden.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 361
Diese ganze Nummer 4 ist — von welchem Standpunkt wir sie auch be¬
trachten — unglücklich und unzweckmäßig gefaßt.
Die hier unter a bis c aufgeworfenen Fragen gehören zu den örtlichen
Krankheiten (IV des Formulars) und unter E (Krankheiten der Geschlechtsorgane).
Eine viel eingehendere Einteilung in Untergruppen wäre erforderlich, um einen
wissenschaftlichen Nutzen daraus ziehen zu können.
Auch im folgenden sollen nur die den Gynäkologen interessierenden Krank¬
heiten einer Kritik unterzogen werden, da ich nur auf diesem Gebiete Er¬
fahrungen habe.
Nr. 19 lautet Kindbettfieber. In der Preußischen Krankenhausstatistik
des Jahres 1906 finden wir 1158 Zugänge von Kindbettfieber mit 506 Todesfällen,
d. h. eine Mortalität von 43 Proz.1) Diese Mortalität Avird nur von der Genick¬
starre und dem Tetanus übertroffen, bei denen sie ca. 55 Proz. beträgt.
Selbst Pocken, Milzbrand, Diphtherie, Fleck- und Unterleibs¬
typhus haben nur eine Mortalität, die sich zwischen 11 und 25 Proz. bewegt.
Daß das Kindbett- oder Wochenbettfieber in Wirklichkeit eine so erschreckend
hohe Mortalität haben soll, wird kein Arzt von einiger Erfahrung zugeben
können. Diese Mortalität von 43 Proz. (46 Proz.) kann nur dadurch zustande
gekommen sein, daß diese Diagnose reserviert wurde für diejenigen aller¬
schwersten Fälle, bei denen dem Arzte die Chance des Durchkommens zur Chance
des Sterbens etwa wie 1:1 erschien. Die sehr viel zahlreicheren Fälle
von Fieber im Wochenbett im Anschluß an den Geburtsverlauf
und aus genitaler Ursache (das ist die ein zig mögliche Definition
des Wochenbett- oder Kindbettfiebers!) sind einfach aus der
Statistik verschwunden, weil das Formular es unterlassen hat, durch
Schaffung von Unterabteilungen diese Fälle statistisch zu erfassen.
Ein näheres Eingehen auf diese auch die polizeiliche Meldepflicht des
„Kindbettfiebers“ betreffenden Verhältnisse würde den Kähmen dieser Arbeit weit
übersteigen.
Nr. 31 lautet: Gonorrhoe. Es ist klar, daß hier nur diejenigen Kranken
gezählt werden dürfen, die wegen der Gonorrhoe als solcher Aufnahme
gefunden haben. Die sehr viel zahlreicheren Kranken aber, die wegen einer
Folgekrankheit der Gonorrhoe (gonorrhoischer Eileiter-, Eierstocks-, Gelenk¬
entzündung) die Krankenhausbehandlung nötig hatten, müssen natürlich als
Organerkrankungen gebucht werden. Daran wird auch nichts dadurch geändert,
daß unter der Überschrift IV. E in Klammer steht: ausschließlich Nr. 31 . . .,
denn eine gonorrhoische Eileiterentzündung ist und bleibt eine Eileiterentzündung,
also eine Organerkrankung. Ich selbst konnte unter 400 Aufnahmen in meiner
Klinik nur fünfmal die Gonorrhoe verzeichnen, während in 130 Fällen auf
Gonorrhoe beruhende gynäkologische Folgeerkrankungen Vorlagen. Um über die
Verbreitung der Gonorrhoe ein Urteil zu gewinnen, müßte unter 31a die Frage:
„Auf Gonorrhoe beruhende Krankheiten“ eingeschoben werden und
natürlich eine Doppelzählung gestattet sein.
Nr. 50 Karzinom.
Nr. 51 Andere bösartige Neubildungen.
x) Für 1907 lauten die Zahlen: Zugänge 1186, Todesfälle 545, d. h. eine
Mortalität von 46 Proz.
362 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Nr. 52 Gutartige Neubildungen und Geschwülste (ausschließlich 79 = Krank¬
heiten der Schilddrüse).
Zunächst ist es auch hier überaus bedauerlich, daß alle Karzinome und alle
gutartigen Geschwülste, mag ihr Sitz sein, welcher er wolle, in je eine Rubrik
zusammengefaßt sind. Welche Fülle von Betrachtungen und Schlüssen ließen
sich ziehen, weun wir im einzelnen erführen, an welchen Organen sich die
7863 Karzinome bei Männern und die 11 633 Karzinome bei Frauen fanden, welche
im Jahre 1906 in den preußischen Heilanstalten zur Beobachtung kamen! Zum
mindesten die wichtigsten Organe, wie Magen, Leber, Mamma, Uterus, Ovarium
sollten einzeln festgestellt werden. Ebenso ist die Zusammenfassung der „gut¬
artigen Geschwülte und Neubildungen“ in eine Rubrik wissenschaftlich gar nicht
verwertbar, da hier nach Bedeutung und Prognose ganz differente Krankheiten
in einen Topf geworfen werden: einfache Atherome, Bartholinische Cysten,
Knochengeschwülste, Ovarialtumoren, Myome und alle nur denkbaren Neu¬
bildungen, ja auch die entzündlichen Geschwülste werden hier zusammengezählt.
Irgendeinen wissenschaftlichen Wert hat eine so gewonnene Zahl nicht mehr,
Schlußfolgerungen lassen sich daraus nicht ziehen.
Aber noch etwas anderes fällt auf.
Unter den 19496 Karzinomen des Jahres 1906 endeten 5750 mit dem Tode.
Unter den 3807 männlichen und 12294 weiblichen Kranken, die wegen gut¬
artiger Geschwülste im Jahre 1906 in preußischen Heilanstalten Aufnahme fanden,
erfolgte — nach eben dieser Statistik — kein Todesfall!
Ebenso waren von den in den Universitätskliniken aufgenommenen
1465 weiblichen Karzinomatösen 276 Todesfälle unter den 1635 Frauen, die an
gutartigen Geschwülsten litten, ebenfalls kein Todesfall!
Daß hier irgend etwas nicht richtig sein kann, wird jedem klar, der be¬
denkt, daß in Preußen alljährlich etwa 1060 Uterusmyome operiert werden und
daß, wenn wir die Mortabilität auch nur auf 5 Proz. ansetzen, etwa 50 Todesfälle
allein auf Rechnung der Myomoperation kommen.
Alle diese und ähnliche Todesfälle werden aber, wie die obigen Zahlen klar
erweisen, als wenn eine Verabredung unter den Heilanstalten bestände, grund¬
sätzlich nicht unter den gutartigen Neubildungen gebucht (die Neubildung als
solche ist ja auch nie Todesursache), sondern unter Lungenentzündung, Herz¬
schlag oder Sepsis, was ja natürlich auch die unmittelbare Todesursache ist. Die
Fragestellung des Formulars führt also hier direkt zu einer Verschleierung.
Es müßte sowohl bei Nr. 50 und 51 wie 52 die Unterrubrik eingeführt werden:
„Davon wurden operiert: (wurden geheilt entlassen — starben)“.
Dann würden auch die Todesfälle hier erscheinen.1)
Die wissenschaftliche Verwendung des gewaltigen Materials wird des
weiteren fast unmöglich gemacht durch die Kürze, mit der die Spezial-
x) An diesen Ausführungen wird nichts geändert durch den Umstand, daß
in der Statistik des Jahres 1907 einige Todesfälle unter den gutartigen Neu¬
bildungen gebucht sind. Unter den 16054 gutartigen Geschwülsten in Allgemein¬
heilanstalten endeten 11 mit dem Tode. Unter den 2056 gutartigen Geschwülsten,
welche 1907 in den Universitätskliniken behandelt wurden, ist — 1 Todesfall
verzeichnet!
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 3(33
krankkeiten abgehandelt werden. Sämtliche gynäkologischen Erkrankungen
müssen — mit Ausnahme der oben bereits erwähnten — untergebracht werden in
Nr. 93 Krankheiten der Gebärmutter, und
Nr. 94 Krankheiten der anderen weiblichen Geschlechtsorgane.
Warum existiert keine Kubrik für die Ketroflexio uteri, für Krank¬
heiten der Eileiter, Eierstöcke, und besonders warum nicht für Extra¬
uterinschwangerschaft, deren Häufigkeit, Operationsfrequenz und Prognose
an großen Zahlen festzustellen hochbedeutsam wäre.
Ein Blick in die Verwaltungsberichte unserer großen Berliner städtischen
Krankenhäuser zeigt, welche Fülle von interessanten Feststellungen sich aus
einer genaueren und eingehenderen Fragestellung ziehen läßt.
Nun kann allerdings scheinbar mit Beeilt eingewendet werden, daß die Be¬
lästigung, die den einzelnen Krankenanstalten aus zu detaillierter Fragestellung
erwüchse, bei diesen Widerspruch erregen würde, und daß eine Statistik um so
zuverlässiger wird, je einfacher die Fragestellung gehalten ist.
Einerseits würden aber die oben angedeuteten Unterabteilungen oft die Unter¬
bringung des Falles direkt erleichtern. Andererseits Aväre es nur erwünscht,
daß nach einer anderen Kichtung hin eine Erleichterung der nicht unerheb¬
lichen Arbeit der jährlichen Zusammenstellung angebahnt würde.
Wenn Sie das Schema des Erhebungsformulars betrachten, so wird verlangt,
daß der Bestand von dem Zugang für jede einzelne Krankheit ge¬
trennt aufgeführt wird.
Es gehört ja nun selbstverständlich zu einer geordneten Listenführung, daß
der Gesamtbestand vom vergangenen Jahr, der Zugang und der in das
nächste Jahr zu übertragende Gesamtbestand in jeder Heilanstalt
gebucht und angeführt wird. Auch für jede einzelne Abteilung einer Heilanstalt
ist das wünschenswert. Welchen Wert es aber hat, zu wissen, daß z. B. 50 Fälle
von angeborener Lebensschwäche am 1. Januar Bestand waren, daß 700 Zugänge
waren und z. B. 60 Fälle am 31. Dezember Bestand blieben, und so fort bei
jeder einzelnen Erkrankung besonders, ist mir nicht verständlich. Es ist
dies im höchsten Maße gleichgültig, erlaubt keinerlei Schlüsse und erschwert die
Arbeit der Zusammenstellung außerordentlich.
Die Kolumne 7 des Schemas, welche die Angabe „einer anderen Krank¬
heit und welcher“ (an der der Tod erfolgt ist) verlangt, erhebt eine —
wenigstens für größere Anstalten — technisch unausführbare Forderung. Wenn
z. B. 30 Todesfälle bei dem Karzinom gebucht werden sollen, von denen 10 an
Folgeerkrankungen (Lungenentzündung, Sepsis, Verblutung, Herzschlag usw.)
erfolgt sind, so gestattet der nur 1 qcm große Kaum des Schemas eine Eintragung
der betreffenden 10 Nummern nicht. Wichtiger aber ist, daß es auch recht
gleichgültig ist, ob der Tod, welcher sich nach einer Infektionskrankheit, nach
einer Verletzung, bei Karzinom oder einer beliebigen sonstigen Erkrankung
wegen dieser Krankheit erfolgt, oder ob sich eine Lungenentzündung oder
der — für die Statistik sehr beliebte — Herzschlag dazwischen schiebt. Gerade
die Einführung dieser Kolumne hat die Verschleierung, auf welche bei den „gut¬
artigen Neubildungen“ hingewiesen wurde, erst ermöglicht.
Wir sehen also, daß das Formular in seiner Breite (Zahl der Kolumnen)
wesentlich eingeschränkt werden könnte, daß es aber in seiner Länge, d. h.
Zahl der Krankheitsrubriken, vermehrt werden müßte. Nur durch Schaffung
364 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
von zahlreichen Unter rubriken und durch Zählung der Krank¬
heiten anstatt der Kranken kann die Heilanstaltsstatistik den
wissenschaftlichen hohen Wert erhalten, der ihr kraft der Größe
des Materials und der darin niedergelegten sorgfältigen Be¬
obachtung innewohnt und zukommt.
Zu einer Neubearbeitung des Erhebungsformulars sollten nicht nur Statistiker,
sondern auch im Krankenhausdienst und in den verschiedenen Sonderdisziplinen
erfahrene Arzte hinzugezogen werden.
Die Abnahme der Geburtenzahlen in den ver¬
schiedenen Bevölkerungsklassen und ihre Ursachen.
Nach Untersuchungen in Schleswig-Holstein.
Von Dr. med. Hanssen, Kinderarzt in Kiel.
Die Bedeutung des Geburtenrückgangs für das Volksleben.
Es ist klar, daß die Gefahr des Geburtenrückgangs für ein
Volk in dem Herabgehen seiner Wehrkraft liegt. In der
Debatte über das Kriegsbudget am 19. Juni 1912 mußte der
französische Kriegsminister Millerand zum ersten Mal offen zu¬
geben, daß uns Frankreich nicht mehr an Menschenmaterial die
Stange halten könne, daß Deutschland bei einer Kriegserklärung
den etwa 500000 aktiven Franzosen (ohne die Reserven) etwa
700000 aktive Soldaten gegenüberstellen könne und daß Frank¬
reich mangels Menschenmaterials im Effektivbestand die Jagd
hinter Deutschland aufgeben müsse. Ebenso steht es in England
mit dem Effektivbestand der Flotte, wie Admiral Biresford nach¬
wies. So wird die Frage der Zahl der Geburten zu der wichtigsten,
wenn es gilt, die Stärke eines Volkes einzuschätzen und zu be¬
urteilen im Vergleich mit anderen Völkern in bezug auf Kriegs¬
bereitschaft und Bündnisfähigkeit. Es fragt sich, ob dieser Mangel
an Zahl im Menschenmaterial nicht durch die bessere Qualität
ausgeglichen wird. Gewiß ist es, daß nach dem Satze, wo viel
Leben entsteht, auch viel Leben zugrunde geht, bei einer geringen
Zahl von Geburten dem einzelnen Kinde auch größere Sorgfalt
entgegengebracht werden kann, der Vergleich der Zahl der ge¬
storbenen Säuglinge in wohlhabenden und ärmeren Familien ist
dafür ein sprechender Beweis. Ob dadurch allerdings die Qualität
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 24
366
Hanssen,
gehoben wird, muß zweifelhaft erscheinen, die Abnahme der Größe
bei den zum Militärdienst eingestellten Rekruten in Frankreich
würde das Gegenteil beweisen. Andererseits wird sicher bei einer
kleineren Zahl von Kindern der einzelne, zumal das einzige Kind
• •
eher verzärtelt werden. Uber diese falsche Erziehung und ihre
Fehler in bezug auf Charakter und körperliche und geistige Wider¬
standsfähigkeit gibt am besten das Buch von Neter „das einzige
Kind und seine Erziehung“ Auskunft. Ebenso wichtig wie die
Zahl der Geburten für einen Staat ist die mehr oder minder hohe
Zahl der Kinder für den einzelnen von Bedeutung. Es ist
sowohl für die Kinder einer Familie nicht gleich, ob sie sich in
Konkurrenz mit zwei oder vier Geschwistern befinden. Die Eltern
andererseits haben es leichter, wenn sie nur für zwei als wenn sie
für vier oder sechs Kinder zu sorgen haben. Viel eher wird in
einer großen Reihe von Kindern sich ein mißgeratenes finden als
in einer Familie, in welcher das einzelne Kind in seinem Tun und
Treiben genau überwacht werden kann. Andererseits hat man
doch auch Beispiele, daß in kinderreichen Familien alle Kinder es
zu etwas bringen, während aus bessergestellten Familien, in welchen
weder die Erziehung noch die Ausbildung für den Beruf den Eltern
irgendwelche Schwierigkeiten machte, keine Kinder hervorgingen,
die sich auszeichneten. Für diesen Punkt wäre auch die große
Zahl von bedeutenden Männern, die aus kinderreichen Familien
hervorgingen heranzuziehen, besonders die bedeutenden Sprößlinge
der kinderreichen Pastorenfamilien wären dafür ein sprechendes
Beispiel (von hervorragenden Ärzten erinnere ich nur an B i 1 1 r o t h
und Bergmann). Zu betrachten wäre noch die Frage, ob eine will¬
kürliche Abnahme der Geburten elektiv im Sinne Darwin’s auf die
Entwicklung der Rasse wirkt, das Gegenteil scheint der Fall zu
sein, ich erinnere wieder an die Abnahme der Körpergröße in Frank¬
reich. Andererseits scheint die Auswahl doch auf die geistige Ent¬
wicklung eines Volkes von günstigem Einfluß zu sein, denn an¬
scheinend ist die Abnahme der Geburtenzahl doch ein Zeichen der
fortschreitenden Kultur, wenn auch in gewisser Weise der Überkultur.
So wiegen sich auf beiden Seiten Vorteile und Nachteile auf, so
daß es schwer ist, ein Urteil zu fallen, was besser oder was schlechter
ist. Für ein Volk als Gesamtheit scheinen allerdings die Nachteile
vorzu wiegen, andererseits wird ein Volk, das vielleicht in einem
solchen Falle unterliegen würde, gezwungen sein, in der Zukunft
alle Kräfte anzuspannen, um die Nachteile einer Niederlage wieder
auszuwetzen und alle Kraft an seine Vermehrung zu verwenden.
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 367
Eine Erscheinung im Völkerleben wie sie Preußen nach Jena
durchmachte.
Daß die öffentliche Meinung sich fortgesetzt mit dem Geburten¬
rückgang beschäftigt, zeigen z. B. die Verhandlungen des deutschen
Landwirtschaftsrates am 15. Februar 1912 in Berlin. Professor
Dr. Oldenberg hielt hier ein eingehendes Referat über den
Rückgang der Geburtenziffern und ihre Beschränkung, er verlangte
einen erhöhten Schutz der ländlichen Bevölkerung und eine Gesetz¬
gebung auf allen Gebieten im Interesse der Bevölkerungszunahme.
„Die ländliche Fruchtbarkeit garantiert allein unsere nationale
Dauer.“ Professor S eh ring stimmte Oldenberg vollkommen
bei und betonte auch die Wichtigkeit, die Landbevölkerung zu er¬
halten. „Solange es unserer Landwirtschaft nicht gelingt, die
Massen ihrer Bevölkerung auf dem Lande in dem Maße fest¬
zuhalten, daß wenigstens kein Rückgang eintritt, solange ist sie
unserer Nation noch großes schuldig. Wir müssen unserem Volke
ein rein agrarisches Fundament erhalten.“ Vgl. dazu Olden b erg
und die Polemik Oldenberg-Mombert. Oldenberg erblickt
in der städtischen Entwicklung die Hauptursache des Geburten^
rückgangs. „Daß aber die ländliche Fruchtbarkeit überhaupt
nirgends zurückgehe, ist mir nicht eingefallen zu behaupten.“
Zwischen Stadt und Land sind keine prinzipiellen Unterschiede
vorhanden.
Auch im Reichstag wurde diese wichtige Frage in der Sitzung
vom 22. März 1912 behandelt, die Abgeordneten Heyn und
P aas che waren hier die Berichterstatter. Heyn verglich den
Bevölkerungsrückgang mit einem „raschen Selbstmord“.
In einer Sitzung des erweiterten Medizinalausschusses be¬
richteten die Geheimräte Pi stör und Dietrich über diesen
Gegenstand (Vierteljahrschrift für gerichtliche Medizin und öffent¬
liches Sanitätswesen).
Pistor hob besonders die willkürliche Beschränkung hervor,
Dietrich betonte die Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit (die
bei uns besonders in Flensburg deutlich zutage tritt).
Der Umfang des Geburtenrückgangs in anderen Ländern.
Seit einer Reihe von Jahren beschäftigt man sich schon in
Frankreich mit dieser Frage, die mehr und mehr eine brennende
wird. So schlimm ist es allerdings noch nicht gewesen wie im
Jahre 1911, in welchem zuerst die Bevölkerung Frankreichs ab-
24*
368
Hanssen,
genommen hat und zwar nicht so ganz wenig, fast um 0,1 Proz.
Die Geburtenzahl hat noch nie einen so tiefen Stand erreicht wie
im verflossenen Jahr. Der bekannte französische Nationalist
Franc- Nohain spricht sogar im „Echo de Paris“ von dem
„sterbenden Frankreich“: „Es ist unmöglich, daß ein normal
denkendes Gehirn, die große Gefahr verkennt, die in diesen Zahlen
zum Ausdruck kommt. 38 Millionen Franzosen laufen die größte
Gefahr, eines Tages die Sklaven von 70 Millionen Germanen zu
werden.“ Oder wie der offizielle Bericht sagt, „so verschlechtert
sich die Lage Frankreichs inmitten der an Bevölkerung weiter zu¬
nehmenden Staaten unaufhörlich, denn der Überschuß an Geburten
beträgt auf 10000 Einwohner in Italien 112, in England 115 und
in Deutschland 141“. „Deutschland hat seit 1896 um 13 Millionen
zugenommen, Frankreich nur um l3/4 Million.“
Die französischen Politiker stehen vor sehr schwierigen, viel¬
leicht unlösbaren Problemen. Aus diesem Bestreben ist also auch
das Bemühen Frankreichs nach der Aufnahme von neuen kräftigen
Volksstämmen in den Staat zu suchen. Während unsere Kolonial¬
politik aus dem Gesichtspunkt entstand, dem in der Gründungs¬
periode bestehenden Bevölkerungsüberschuß einen Aderlaß nach
unseren Kolonien zu verschaffen, herrscht in Frankreich das Be¬
streben vor, neue, von der Kultur unberührte Völker in den
französischen Staat einzuverleiben.
Auch *in England steht es nicht viel besser, hier fängt man
an, über die Verminderung der Bemannung für die Flotte zu klagen,
die Mittelmeerflotte mußte schon aus diesem Grunde zurückgezogen
werden, weil es an Bemannung für die Schiffe fehlte. Es handelt
sich um 5000 Köpfe für augenblickliche und noch viel mehr für
besondere Zwecke. Nach der Münchener Medizinischen Wochen¬
schrift ist im vereinigten Königreich die jährliche Geburtenziffer
von 32,1 Proz. (1881—1885) auf 27,7 Proz. in den Jahren 1901 — 1905
zurückgegangen , also eine Abnahme von 4,4 Proz. in zwanzig
Jahren.
Auch in Ländern, die noch keine so fortgeschrittene Kultur
haben wie die Industriestaaten, nimmt die Geburtenzahl ab, ich
führe dafür als Beispiel Schweden an. Nach den' amtlichen
statistischen Mitteilungen hatte Schweden im Jahre 1911 nur einen
Zuwachs von 39000 Personen, die geringste Zahl seit 1905. Eine
so niedrige prozentuale Geburtsziffer wie 1911 ist seit Mitte des
18. Jahrhunderts nicht beobachtet worden (vgl. bei uns Hamburg
und Frankfurt), auch die Anzahl der geschlossenen Ehen ist die
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkernngsklassen usw. 369
niedrigste der letzten 5 Jahre. Andererseits hat man allerdings
in Schweden noch nie einen so niedrigen Prozentsatz von Todes¬
fällen feststellen können. Dieselbe Erscheinung, die auch bei uns
beobachtet wird.
Wenn wir diesen Geburtenrückgang in anderen Ländern wie
in England und Frankreich betrachten, so entlocken sie uns viel¬
leicht ein Achselzucken und wir meinen mit Recht, daß Frankreich
mit seiner abnehmenden Bevölkerung ein niedergehendes Land ist,
das sich selbst langsam, aber sicher aus der Zahl der Großstaaten
streicht. Wenn wir dasselbe aber auch in Ländern wie in Schweden
beobachten, so sollte uns doch ein solches Verhalten veranlassen,
auch bei uns zum Vergleich diesen Verhältnissen Beobachtung zu
schenken und zu betrachten, wie weit bei uns sich eine Abnahme
der Geburtenzahl bemerklich macht. Diese ist in der Tat schon
sehr deutlich in Erscheinung getreten und nimmt auch bei uns
noch weiter zu und es lohnt sich wohl einmal statistisch in einem
kleineren Bezirk dieser Frage näher zu treten, ich habe für
diesen Zweck die Verhältnisse in Schleswig-Holstein einer Unter¬
suchung unterzogen. Schleswig-Holstein zeichnet sich durch sehr
genaue Zahlen aus und durch weiter zurückliegende als in anderen
Provinzen. Besondere Beachtung schenkte ich den Verhältnissen
in den Städten.
Die Zahlen der Geburten in Schleswig-Holstein lassen sich
schon in Zeiten verfolgen, aus welchen von anderen Gegenden
noch keine Vergleichszahlen vorliegen, weil erstens die Kirchen¬
bücher nicht genau genug geführt sind und wenn dies der Fall
ist, zum Vergleich die Zahlen der Einwohner nicht bekannt sind.
Dank der genau geführten Listen im Amte Segeberg kann ich
schon aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts zuverlässige Zahlen
angeben, auch nach meinen aus den Kirchenbüchern der Gemeinde
Münsterdorf berechneten Zahlen könnte ich wohl die Geburten¬
zahlen angeben, doch fehlen hier für größere Zeiträume die Zahlen
der Einwohner, so daß man Prozentzahlen nicht berechnen kann.
Her mb erg gibt für 1709 die Zahl 38,2 Prom. an. In Hamburg
und Frankfurt fangen die Zahlen erst etwa von 1820 an zu¬
verlässig zu werden. Meine Zahlen nach Hensler sind folgende
(Tabelle 1):
370
Haussen,
Tabelle la.
Lebendgeboren im Kirchspiel Segeberg.
1742
192
1754
181
43
188
55
199
44
181
56
166
45
176
57
170
46
166
58
174
47
170
59
178
48
196
60
207
49
157
61
181
50
. 159
62
197
51
181
63
189
52
168
64
245
53
178
65
201
In 12 Jahren
2112
66
228
In 13 Jahren 2506
Summe 4618 in 25 Jahren. Durchschnitt 184,7 Geburten — auf
1000 Lebende = 38,87.
Einwohner: 5010.
Die Zahl schwankte also von etwa 31,3 im Jahre 1749 auf
48,2 Prom. im Jahre 1764. Im Durchschnitt war sie ähnlich in
Münsterdorf 1709 nach Hermberg 38,2 auf 1000 der mittleren
Bevölkerung.
Tabelle 1 b.
Auf 1000 Einwohner kamen Geburten in Frankfurt.
1811
29,8
1817
27,0
1823
23,5
1837
20,0
1840
20,7
1843
20,7
1846
19,8
1849
18,6
Preußen 1816 — 20
42,5
Tabelle 1 c.
Verhältnis zm
aller Geborenen
wie 1 zu
Bevölkerung
der Lebend¬
geborenen allein
wie 1 zu
Preußen 1844 — 53
25,47
26,50
Dänemark 1845 — 54
30,83
32,28
Schleswig-Holstein 1845 — 54
32,8
auf 1000 Einwohner
ohne Totgeborene
Verhältnis der Geburten
30,5
Die ÄDnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 371
Aus älterer Zeit gebe ich noch einige Zahlen aus Frankfurt
(Tabelle lb) und Preußen (Tabelle lc). Zu beachten sind besonders
die auffallend niedrigen Prozentzahlen von 19,8 und 18,6 Prom. in
den Jahren 1846 und 1849 in Frankfurt. Diese niedrigen Zahlen
sind zum Vergleich mit der Jetztzeit sehr zu beachten. Bemerkens¬
wert sind in Segeberg noch die geringen Zahlen für die un¬
ehelichen Geburten, meist unter 2 Proz., ebenso wie ich sie in
Münsterdorf beobachten konnte. Aus Segeberg sind auch die Zahlen
der Eheschließungen bekannt. Sogar die Zahl der aus einer Ehe
hervorgegangenen Kinder gibt Hensler an. Danach gaben 1687
bis 1729 10 Ehen 35 Kinder, von da an bis 1766 aber 36.
Zahlen für die ganze Provinz stehen mir erst in den letzten
tTahren vor der Mitte des vorigen Jahrhunderts zur Verfügung, sie
finden sich bei Oester len angegeben (Tabelle lc). Zum Ver¬
gleich dazu Preußen und Dänemark.
Aus der Provinz gibt Bocken da hl dann von 1867 an Zahlen,
dieselben sind folgende:
Tabelle 2.
Jahr
Auf 1000 Einwohner wer
Schleswig Holstein
den gehören
Provinz
Auf 1000 Geborene waren unehelich
Schleswig j Holstein Provinz
1867
28.6
33,4
31,4
65,1
121,2
99,7
68
29,3
32,8
31,4
71,4
116,9
96,4
69
28,1
33,1
31,0
68,2
108,9
93,9
70
31.3
33,3
31,7
65,4
110,1
93,0
71
27,4
30,2
29,0
57,8
107;6
88,8
72
30,4
34,4
32,9
65,6
102,0
88,3
73
29,8
34,7
32,7
66,3
108,4
93,0
74
30,1
36,0
33,6
61,9
104,5
89,1
Von 1872 an lassen sich dann auch die Zahlen für die einzelnen
Kreise verfolgen, meist sogar für Stadt und Land gesondert. Diese
Zahlen finden sich auf der Tafel 10. Zum Vergleich habe ich die
Jahre 1883, 1893 und 1910 herangezogen. Es ergibt sich so eine
Übersicht über größere Zeiträume, aus welchen man Schlüsse ziehen
' kann, da sie fast ein halbes Jahrhundert umfassen. Für die ganze
Provinz betreffen die Zahlen sogar einen Zeitraum von 70 Jahren.
Was die Geburtenzahl in diesen Jahren (1867 — 1874) anbelangt,
so stand die Provinz damals denjenigen der alten Provinzen nach.
Die höchste Geburtenzahl lag zwischen 30,3 — 33,6, dagegen zeigten
Preußens alte Provinzen 1844 — 1853 37,7 Prom. und selbst der
dünnstbevölkerte Regierungsbezirk Köslin zeigte in dem weniger
günstigen Jahre 1873 mehr als 39 Prom. In Köslin wohnten 2213,
in Schleswig-Holstein 3197 Menschen auf der ReichsDMeile. Dort
372
Haussen,
waren von der Einwohnerschaft nicht ganz ein Drittel (1:3.37),
hier fast ein Dritteil (1 : 3,05) Stadtbewohner. Aber das Land zeigte
dort im Jahre 1873 39,5 Prom., hier nnr 31,0 Prom., die Städte
dort 37,5, bei uns 36,2 Prom. Lebendgeborene. In Schleswig-
Holstein hatten die Städte mit weniger als 10 000 Einwohner eine
größere Geburtenzahl als das Land (33,1 : 31,0). Die größeren Städte
mit mehr als 10000 Einwohnern (Altona, Kiel, Flensburg, Schleswig,
Rendsburg) hatten 163477 Einwohner, ihre Fruchtbarkeit war
39,2 Prom. Altona hatte eine sehr hohe Ziffer; niedrige Ziffern
der Geburten aber die Kreise Flensburg, Steinburg, Hadersleben,
Kendsburg, Sonderburg und Tondern. Die Hamburger Zahlen habe
• •
ich von 1820 an in meiner Arbeit (Uber die Säuglingssterblichkeit
in früheren Jahrhunderten) verglichen mit der Säuglingssterblich¬
keit und verschiedenen sozialen Faktoren. Von 1872 an sind die
Zahlen nach den Berichten des Medizinalinspektorats folgende:
Tabelle 3.
Stadt
Land
1872
37,71
1901
28,86
31,55
73
37,91
02
28,00
29,92
74
39,48
03
26,91
29,17
75
39,56
04
26,87
29,23
76
40,77
05
26,65
28,51
77
40,79
06
26,63
28,37
78
40,02
07
26,03
27,30
79
40,14
08
26,52
26,67
80
39,79
09
25,20
24,66
81
37,85
1910
23,95
24,55
82
38,05
11
22,65
23,66
83
37,17
Stadt
Land
84 36,46
85 35,81
86 34,85
87 34,68
88 35,28
89 36,84
90 36,94
91 36,87
92 35,11
93 36,87
94 35,84
95 34,52
96 34.52
97 32,92
98 32,06
99 30,46
1900 29,19
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 373
Zu beachten ist der stetige allmähliche Rückgang, die hohen
Zahlen 1876 — 1879, die Differenz zwischen Stadt und Land mit
einem geringen Plus zugunsten des Landes, das aber ebenso wie
die Stadt den stetigen langsamen Rückgang sehr auffallend zeigt.
Für die übrigen Nachbarprovinzen kommen die Zahlen von
Hannover (Tabelle 5), Pommern (Tabelle 6) und Mecklenburg
(Tabelle 4) in Betracht. Sie ergeben im großen und ganzen das¬
selbe Bild wie in Schleswig-Holstein. Siehe die Tafeln. Vergleiche
auch Lübeck S. 14. Die Zahlen für ganz Deutschland finden sich
bei Tugendreich S. 59.
Tabelle 4.
Zahl der Geburten in Mecklenburg-Schwerin nach Brüning.
(Prom. der Einwohner.)
Bostock
eheliclm unehel.
Schwerin
eheliche unehel.
Wismar
eheliche unehel.
Güstrow
eheliche unehel.
1876-80
81-85
86-90
91-95
96-00
1901—05
26,24
24,04
25,64
25,38
25,59
24,91
3,96
4,12
4,39
4,57
4,38
4,28
28,29
26.41
25,66
21.42
23,07
22,31
3,92
3,52
3,29
2.88
2,98
2,36
28,79
25.72
25,40
25,35
25,91
25,60
4,49
4,26
4,23
3,91
3,63
3,12
26,75
25.80
26,51
26,72
26,19
24,18
4,72
4,59
4.17
3,88
3,74
3,41
Durchschn. j
25,3
4,28
25,03
3,16
26,13
3,94
26,25
4,1
W*
eheliche
iren
unehel.
Malchin
eheliche unehel.
Par<
eheliche
ühim
unehel.
Ludw
eheliche
igslust
unehel.
1876—80
81—85
86-90
91—95
96—00
1901-05
31,65
27,21
28,62
29,20
28,42
27,91
5,44
4,93
5,09
4,60
4,17
3,37
29,94
28,71
28,56
28,30
27,36
26,38
4,43
4,11
3.92
3,95
3,42
3,09
27,68
25,62
27,08
25,41
23,34
22,70
4,06
3,92
3,97
3.76
3;29
3,24
28,74
25,25
26,12
24,88
24,91
24,66
4,86
4,09
3,88
3,93
3,42
3,22
Durchschn.
28,84
4,60
28,21
3,82
25,31
3,71
25,76
3,90
Eil
eheliche
mitz
unehel.
Grevesmühlen
eheliche unehel.
Hag
eheliche
enow
unehel.
1876-80
81—85
86-90
91—95
96—00
1901—05
26,59
25,14
25,26
25,46
27,21
25,99
3,73
3,69
3,44
2,87
3,00
2,58
24,40
24,17
22.90
22,82
23.90
24,03
4,50
4,62
4.58
4,56
4,38
3.59
30,90
27,33
27,81
27,02
25,25
24,55
4,17
3,85
3,93
3,63
3,47
2,99
Durchschn. |
23,94
3,22 | 23,70
4,44
27,14
3,67
374 Hanssen,
Wir haben mit Ausnahme der Aushebungsbezirke Rostock,
Grevesmühlen und Ribnitz, in welchen die Unterschiede nicht sehr
auffallend sind, bei allen übrigen eine Abnahme der Gesamtgeburten
zu verzeichnen, und zwar sind die Unterschiede wie z. B. in
Schwerin mit rund 33 Prom. und 25 Prom. ganz eklatante, ebenso
in Hagenow 36 — 28 Prom. Wir beobachten ferner auch in den
Aushebungsbezirken Schwerin, Wismar, Güstrow und Malchin eine
deutliche, in den übrigen eine weniger deutliche Abnahme der
Lebendgeburten.
Die unehelichen Geburten haben in Rostock zugenommen, sonst
überall abgenommen, oft sehr beträchtlich in Schwerin, Wismar,
Güstrow, Waren usw.
Tabelle 5.
Geburtenziffern in Hannover.
Reg.-Bez.
1901
1902
1903
1904
1905
1906
1907
1908
1909
1910
Hannover
32,73
31,33
29,77
29,67
28,59
28,35
27,98
27,59
26,54
25,42
Stade
33,91
33,67
33,33
37,52
32,62
33.40
32,47
32,86
31,38
30,64
Lüneburg
30,75
29,98
29,15
29,59
28,67
28,70
28,53
28,55
27,77
27,73
Hildesheim
32,52
31,59
30,63
30,73
29,34
29,53
28.35
28,51
27,61
26,59
Osnabrück
34,15
34,58
33,43
33,05
33,09
33,20
34,09
32,73
33,58
32,81
Aurich
32,07
32,34
31,13
31,26
30,98
31,34
31,57
31,66
31,05
30,10
Auch in Hannover zeigt sich dasselbe Bild.
Tabelle 6.
Geburtenziffern in Pommern nach P ei per.
Stadt Land
Kreis
1881-85
1901—05
1881—85
1901—05
Stettin
33,8
33,3
36,8
36,5
Anklam
33,8
32,9
34,6
33,7
Usedom
36,4
29,8
40,0
33,7
Uckermünde
36,9
33,0
43,2
41,7
Randow
43,7
34.9
46,7
42,0
Stettin
38,6
34,2
—
—
Greifenhagen
38,2
29,1
39,6
35,1
Pyritz
35,0
30,5
38,3
37,4
Saatzig
37,4
28,5
38,7
31,1
Naugard
36,3
32,2
36,9
31,3
Kammin
33,9.
29,3
38,4
34,3
Greifenberg
33,7
35,5
36,4
34,9
Regenwalde
37,7
33,0
38,8
35,3
Schiebelbein
37,5
31,9
37,1
33,9
Dramburg
37,0
33,5
38,1
32,4
Neu Stettin
36,6
34.8
42,9
37,1
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 375
Stadt Land
Kreis
1881—85
1901—05
1881—85
1901—05
Belgrad
36,0
34,7
40,8
38,0
Kolberg
35,2
32,6
40,2
38,0
Köslin
34,2
30,4
38,5
34,9
Bublitz
42,7
35,4
44,3
37,8
Schlawe
36,7
33,4
37,1
36,5
Rnmmelsburg
89,4
32,8
43,3
38,4
Stolp
37,9
35,1
38,2
35,9
Lauenburg
34,1
37,7
41,1
40,1
Bütow
38,8
34,1
42,6
41,5
Rügen
28,3
31,2
33,8
35,1
Stralsund
28,1
26,4
—
—
Franzberg
31,8
30,5
37,2
36,3
Greifswald
34,1
35,0
37,0
31,0
Grimmen
36,3
40,8
38,5
37,7
Also nach Peiper ein Rückgang der Geburtenziffer in allen
3 Regierungsbezirken Pommerns, besonders auf dem Lande trotz
Zunahme der Eheschließungen.
„Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß wir in Pommern
nicht mehr und mehr zu dem Zweikindersystem hinsteuern, sondern
daß wir schon mitten darin sind.“
Tabelle 7.
Geburtenzahlen Hamburgs auf 1000 Einwohner einschließlich
Totgeborene.
1820
29,83
1830
31,73
1840
32,54
1850
28,35
1860
30,66
1872
37,71
1877
40,77
1880
39,79
1890
’ 36,94
1893
36,87
1901
29,08
1902
28,16
1903
27,10
1904
27,06
1905
26,80
1906
26,77
1907
26,13
1908
26,54
1909
25,16
1910
24,00
1911
22,73
auf 1000 Einwohner
Lebendgeborene
einschließlich
Totgeborene
A
376
Haussen,
In Hamburg kann man auch dank der genauen Listenführung
die Zahl der Geburten in den einzelnen Bezirken schon von 1870
an verfolgen, für die Jahre 1893 — 1900 hatte die höchste Zahl der
Geburten der Bezirk Billwärder-Ausschlag, also ein reiner Arbeiter¬
bezirk = 46,4 Prom. Vergleicht man in Hamburg die verschiedenen
Bezirke ihrer Wohlhabenheit nach, so kann man deutlich nach-
weisen, daß schon vor zehn Jahren die Geburtenzahlen in den
reicheren Bezirken sehr niedrige waren, in Harvestehude z. B.
1900 nur 17,7 Prom. Im Durchschnitt am niedrigsten war aber
die Zahl der Geburten im Bezirk Rotherbaum, dem zweithöchst-
besteuerten in Hamburg. Abgenommen hatten aber die Geburten
auch in den Arbeitervierteln, beispielsweise in dem Distrikt Bill¬
wärder-Ausschlag von 51,2 Prom. auf 39,9 Prom. (1893 — 1900). In
Winterhude hatte die Zahl sogar 1893 53,2 Prom. betragen (die
höchste Zahl in Hamburg). In Hamm und Horn waren die ent¬
sprechenden Zahlen im Durchschnitt 1893 — 1900 38,5 und 37,6 Prom.
gewesen. In der Uhlenhorst waren die Geburten noch 1893 50,1 Prom.
hoch gewesen, 1900 betrugen sie nur noch 37,2 Prom. Also in
manchen Stadtteilen, auch denen mit Arbeiterbevölkerung, ein sehr
erheblicher Abfall in verhältnismäßig kurzer Zeit.
Lübeck.
Eheschließungen
Geburten
Eheschließungen
auf 1000 Einw.
Geburten
auf 1000 Einw.
1911
744
2177
7,50
21,95
1910
696
2394
7,10
24,43
1909
799
2559
8.3
25,96
Tabelle 8.
Die Vergleichszahlen der Geburten zwischen Schleswig-Holstein
und den Nachbarländern sind also folgende:
1872
Schleswig-Holstein 34,0
Städte
Land
Altona 1904 =
Kiel 1904 =
Flensburg
Segeberg 1742 — 1753
1883 1893 1910 1867 1874
32,0 34,5 27,96 28,6 30,1
33,2 36,1
31,1 33,6
28,53 22,88
32,89 25,17
22,9
38,87 Münsterdorf 1707 = 38,2
Mecklenburg — 1881 — 85 1891 — 96 —
Rostock ebel. 24,04 unebel. 4,12 25,38—4,57
1901 1910
1880 1909
34,5 28,82
1908
29,87
32,73 25,42
33,91 30,04
30,75 27,73
Hannover
Stade
Lüneburg
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 377
Pommern
1881—85 1901—05
Stettin Stadt
33,8
33,3
Stettin Land
36,8
36,5
Stettin
38,6
34,2
1901 1910
Preußen
36,52 30,83
mit Totgeb.
mit Totgeb.
1872
1893 1910
Hamburg
37,71
36,87 24,00
Stadt
22,65
Land
23,66
Deutschland
Lebendgeb.
Prom. der Einwohner
1876—80
39,2
1881—85
37,0
1886-90
36,5
1891—95
36,3
1896-00
36,0
1901—05
34,3
Lübeck
Lebendgeb,
1911
21,95
Was die Zahl der Geburten in Preußen betrifft, so hat sie
auch hier seit 1901 meist eine Abnahme erfahren, nur die Jahre
1904 und 1906 machten davon eine Ausnahme. 1901 wurden 36,5,
1903 34,7 gezählt ; 1904 waren es wieder 35,0; 1906 34,0 Proz.,
dagegen 1905 nur 33,8 Proz., 1907 zeigte nur mehr 33,2 Proz.,
1908 weiter abnehmend 33,0, 1909 32,0 und 1910 nur noch 30,8 Proz.
Geburten auf 1000 Einwohner.
In Schleswig-Holstein lassen sich die Zahlen schon von 1872
(Tabelle 9 und 10) an sehr genau verfolgen und zwar, was sehr
wichtig ist, für Stadt und Land gesondert. Ich habe für die
Jahre 1872, 1883, 1893 und 1910 die betreffenden Zahlen aus¬
gerechnet.
Sehr hohe Geburtenzahlen hatten 1872 Wandsbek mit 51,5 Prom.,
ähnlich Gaarden, Liitjenburg und Preetz, sehr niedrige Krempe,
Augustenburg und besonders Christiansfeld (bemerkenswert durch
seine Herrnhuter Kolonie). Auch Blankenese wies niedrige Zahlen
auf. 1883 zeigten dagegen die Städte des Kreises Hadersleben
niedrige Zahlen, auch Augustenburg, Norburg und Sonderburg
hatten niedrige Zahlen aufgewiesen. Ebenso Nortorf und Rends¬
burg. Hohe Geburtszahlen auf dem Lande hatten die Kreise Süder-
Dithmarschen , Plön und Kiel-Land, ebenso Stormarn. Niedrige
Zahlen hatte neben den Städten auch das Land im Kreise Sonder¬
burg, etwas günstigere Apenrade und Steinburg. 1893 war be-
378
Hanssen,
Tabelle 9.
Geburtenzahlen der
Auf 100 Gehurten
Auf 1000 Einwohner
Jahr
Provinz
unehelich
lebendgeboren
Staat
Stadt
i
Land ! Summe
1
Stadt
Land
Sa.
Stadt
Land
Sa.
1880
13 485
23 059
36 544
34,5
1883
13 701
22 759
36 460
11,5
8,0
9,3
33,2
31,1
32,0
36,9
1884
13 998
23 364
36 362
11,5
8,6
9,7
33,4
32,1
32,6
37,4
1885
14 199
23 087
37 286
11,1
8,2
9,3
33,5
31,8
32,4
37,4
1892
17 352
23 622
40 974
10,8
8,0
9,2
36,1
32,0
33,6
37,0
1893
17 369
23 926
41 195
10,6
8,1
9,2
36,1
33,6
34,6
38,6
1894
17 512
23 453
40 965
11,2
8,4
9,2
36,4
33,2
34,3
—
1898
44 225
33,3
33.3
33,3
38,6
1899
32,7
32,4
32,5
38,3
1908
21058
26 878
47 936
»Alle K
reise in
meinem
29,87
32,93
1909
20 490
26 390
46 880
IBuche über die Saug-
/ lingssterblichkeit in
28,82
31,92
1910
44 832
} Schleswig-Holstein.
27,92
30,2
Geburtenziffern auf 1000 am 1. I. Lebende.
1902
31,96
1906
30,14
1903
31,10
1907
29,74
1904
31,75
1908
29,93
1905
30,26
1909
28,87
1876
34,9
sonders die Zahl der Geburten in den Städten Kiel und Neumünster
gestiegen, eine Folge des wirtschaftlichen Aufschwunges in Kiel
durch die Entwicklung der Marine. Diese Steigerung hatte sich
auch auf den Kreis Neumünster erstreckt, besonders auf den länd¬
lichen Teil desselben (Gaarden!). Hoch waren die Geburtenzahlen
auch im Kreise Süder-Dithmarschen auf dem Lande. Besonders
niedrig waren sie dagegen auf dem Lande im Kreise Sonderburg
und Eiderstedt sowie im Kreise Hadersleben. Das Jahr 1910 zeigte
dagegen eine sehr erhebliche Abnahme der Geburten in allen
Städten, im Kreise Flensburg-Land betrug die Zahl der Geburten
sogar nur mehr 8,2 Prom., in Lauenburg 18,1 Prom., in Tondern
und Plön sowie in Norder-Dithmarschen nur wenig über 20 Prom.
Durchgehend machte sich in den Städten eine starke Abnahme
bemerklich. Aber im Vergleich der Jahre 1872 und 1910 haben
die Geburten auch auf dem Lande in Schleswig-Holstein ab¬
genommen. Sehr erheblich sogar im Kreise Pinneberg und Stormarn,
hier ist allerdings das Ausscheiden von Wandsbek zu beachten.
Zugenommen haben dagegen die Geburten in den Kreisen Tondern,
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 379
Tabelle 10.
Lebende Geburten auf 1000 Einwohner.
Stadt
Land
1872 1883
Altona
Ottensen
Apenrade
Eckernförde
Garding
Tönning
Flensburg
Glücksburg (Fl.
Christiansfeld
Hadersleben
Bredstedt
Husum
Kiel
Neumünster
Heide
We>selburen
Burg
Heiligenhafen
Neustadt
Oldenburg
Barmstedt
Elmshorn
Klostersande
Pinneberg
Ütersen
Yorm Stegen
Wedel
Blankenese
Lütjenburg
Plön
Preetz
Dorf Gaarden
Nortorf
Rendsburg
Arnis
Friedrichstadt
Kappeln
Schleswig
Bramstedt
Segeberg
Augustenburg
Nor bürg
Sonderburg
Glückstadt
Itzehoe
Kellinghusen
Krempe
Wilster
Horst
Oldesloe
Reinfeld
Wandsbek
Meldorf
Hoyer
Lygumkloster
Tondern
Wyk
Lauenburg
Städte
Provinz
Land
39,2 \
)
Land)
33,2
26,6
31.1
36.8
31,0
27.9
34.6
10.2
29.1
32,3
32.2
38.5
36.3
3H,5
40,0
30.7
39.4
34.1
33.9
32.2
29.6
36.1
28.7
30.7
36.4
39.6
24.3
40.9
29,0
40,0
46.3
29.7
25.7
28.9
30.1
30.5
26.9
36.7
31.1
15.6
29.7
25.3
28.3
30‘9
29.3
22.5
28.5
36.4
26.4
24.6
51.5
27.8
26.5
26.8
27,0
31,0
34,0
37,1
26,8
29,9
)30.1
)33,3
U
/
26,6
1 30,0
36,8
36.6
}31,9
129.6
31,8
|32,t
36,6 + N.
}27,6
I
/
^ 23,5
)28,0
i
I
23,8
|28,6
^38,0
)
[30,1
)
30,9
33,2
32,0
31,1
1893
1910
1883
1893
1910
37,2
22,88
—
—
—
30,2
28,9
27,8
29,7
32,9
33,4
39,8
32,7
33,0
16,91
29,7
20,5
30,2
27,8
26,5
33,7
30,6
22,9
8,21
}29,3
31,3
26,2
24,4
22,6
30,7
27,6
32,2
35,5
28,4
28,8
30,8
28,9
44,9
25,17
_
—
—
47,8+ 28,9
34,0
35,9
K. L. 29,8
35,1
20,8
33,2
35,0
33,8
30,1
26,4
33,3
34,3
31,3
36,6
26,3
31,7
35,6
27,4
33,3
20,8
34,4
35,0
28,9
—
—
—
35,9+
—
32,0
24.9
32,5
35,9
30,0
27,1
22,8
29,5
30,2
30,8
26,0
26,7
30,0
33,8
30,6
27,2
23,7
25,6
26,9
31,1
35,3
24,7
27,9
36,3
31,8
_
_
—
—
—
'35,4
)26,4
cp
39,8
)29,9
1
27,6
—
32,9
\
29,1
32,9
40,2
32,4
29,5
20,8
29,5
32,2
32,8
)
26,9
18,1
26,9
32,2
26,6
36,1
—
—
—
34,5
27,96
34,5
—
—
33,6
—
31,1
33,6
—
380 Hanssen,
Steinburg, Sonderburg, Segeberg, Schleswig, Norder-Dithmarschen,
Hadersleben und Husum. Man kann also sagen, daß das Land
bis jetzt noch weniger an der Abnahme der Geburten beteiligt
ist als die Städte, ob es allerdings auf die Dauer den erheblichen
Ausfall der Städte wettmachen kann , erscheint zweifelhaft.
Immerhin kann bis heute noch das Land als die Quelle des Lebens
angesehen werden. Das Land liefert die meisten Geburten, die
meisten Soldaten, die kräftigsten Menschen, auch fallen in ihm die
wenigsten Säuglinge einem vorzeitigen Tode zum Opfer. Mit der
Vermehrung der städtischen Bevölkerung, mit der Landflucht und
dem Strömen der Landbewohner nach den großen Städten wird
mit der Zeit dieser Quell versiegen. Dieser Landflucht durch
Schaffung günstiger Arbeitsgelegenheit und Herstellung guter
Wohnungen besonders bei den Landarbeitern entgegen zu wirken,
muß die Hauptaufgabe der ländlichen Besitzer sein. Die Zer¬
streuungen, welche die Stadt bietet, zu schaffen, die den Haupt¬
anziehungspunkt der Städte darstellen, wird allerdings wohl schwer
halten. Immerhin kann auf dem Lande durch Halten von Vor¬
trägen seitens der gemeinnützigen Vereine, durch Errichtung von
Volksbibliotheken, Abhaltung von Lichtbilderabenden einige Zer¬
streuung geschaffen werden.
Eine eingehendere Behandlung erheischt die Abnahme der
Geburten in den größeren Städten. Ich bin hier in der Lage,
diesen für den Staat und sein Bestehen wichtigen Faktor mit der
allgemeinen Lage, den Steuern, Sparkasseneinlagen, Zwangsver¬
steigerungen, unehelichen Geburten und anderen Gradmessern der
allgemeinen Geschäftslage in Vergleich zu bringen. Vergleiche
hierzu die Zahlen des statistischen Amts der Stadt München über
die Geburtenzahlen in deutschen Groß- und Mittelstädten. Hier
ließe sich die Beamtenstadt Potsdam (1907) mit 18,5 Proz. mit
Schleswig vergleichen.
Danach ergibt sich für die Gesamtheit der Städte 1893 — 1907
ein Rückgang der Geburtenziffer um 5,2 Prom.
1907 stand am höchsten Königshütte mit 48,9 Prom., Borbek
hatte 48,4. Am niedrigsten die Stadt Potsdam 18,5, ebenso Char¬
lottenburg 21,5; Schöneberg 21,9; Berlin mit 24,3 Prom. Fast
überall fand sich ein Rückgang. Über 10 Prom. Rückgang fand
sich in Altona und Hamburg usw.
(1891 — 1906 in Hamburg von 36,6 auf 25,2 Prom.)
Nur in wenigen Städten war die Geburtenziffer gestiegen, so
in Frankfurt 1906 von 28,3 auf 28,7 Prom.
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 381
Über die Verhältnisse in ganz Deutschland (1902) gibt eine
Karte bei Tugend reich eine übersichtliche Darstellung. Die
Verhältnisse in Bayern sind in verschiedenen Nummern der M. M. W.
geschildert. In Württemberg sind seit 1830 nicht so wenig Ge¬
burten vorgekommen wie 1911 (29,25 Prom.). 1898 — 1902 war die
höchste Geburtenziffer in Deutschland im Landkreis Beuthen ge¬
wesen = 58,7 Prom., eine sehr hohe Prozentzahl.
Lebendgeburten Altonas und der größeren Städte.
1903
1909
davon
Ehe¬
davon
Ehe¬
uneheliche
schließungen
uneheliche
schließungen
Altona
4666
586
1774
4252
635
1777
Kiel
4536
634
1187
5503
885
1380
Flensburg
1619
96
409
1482
128
436
Wandsbek
949
107
278
978
106
314
Neumünster
1124
112
244
946
91
266
Provinzialsteuer.
• •
Wie sich aus der nachfolgenden Übersicht, aus der auch die
Verteilung auf die einzelnen Kreise ersichtlich ist, ergibt, stellt
sich die Provinzialsteuer auf insgesamt 3 280 788 M.
Wir hatten schon gesehen, daß in Kiel in den Jahren der
Entwicklung Kiels zur Großstadt die Zahlen der Geburten einen
starken Ruck nach oben gemacht hatten, ähnlich wie in Hamburg
1876—1879. Umgekehrt bemerken wir in den letzten Jahren, in
welchen sich in Kiel ein Stillstand des geschäftlichen Lebens und
teilweise sogar ein Rückschritt bemerklich macht, nicht nur eine
prozentuale Abnahme der Geburten, sondern sogar eine absolute.
Dieselbe Erscheinung können wir in allen größeren Städten der
Provinz bemerken, wie sich aus der Liste ergibt. Daneben tritt
ein Zunehmen der unehelichen Geburten unliebsam in die Er¬
scheinung. In Kiel läßt sich eine Abnahme des Wohlstandes deut¬
lich erkennen aus dem Rückgang der Sparkasseneinlagen (in Altona
läßt sich allerdings das Gegenteil nachweisen). Hier sind auch
die Zahlen der niedrig besteuerten gefallen, während entsprechend
viele Zensiten von den niedrigen in die höheren Stufen eingerückt
sind (vgl. Mombert). Die Steuerkraft der Provinz und ihrer ver¬
schiedenen Kreise ergibt sich aus der Liste in Tafel 11. Am
meisten Steuern bezahlen Altona, Kiel (Tabelle 11) und der Kreis
Pinneberg. Die Einwohnerzahlen zum Vergleich finden sich in
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 25
382 Haussen,
Tabelle 11.
Es zahlten
Staatssteuern
Kreis
M.
Stadtkreis Altona
2 934 337
Apenrade
236 446
Bordesholm
322 039
Eckernförde
449 957
Eiderstedt
320 796
Stadtkreis Flensburg
754 616
Landkreis Flensburg
337 221
Hadersleben
535 518
Husum
424 843
Stadtkreis Kiel
2 803 192
Stadtkreis Neumünster
364 189
Norder-Dithmarschen
479 169
Oldenburg
563 318
Pinneberg
1 402 588
Plön
523 704
Rendsburg
465 447
Schleswig
580 259
Segeberg
348 880
Sonderburg
379 088
Steinburg
890 745
Stormarn
702 449
Süder-Dithmarschen
510 960
Tondern
548 471
Stadtkreis Wandsbek
389 064
Summa 17 267 306
der Liste bei den Eheschließungen (Tafel 18). In Altona konnte
ich ebenso wie in Kiel die Zahlen der Geburten in den einzelnen
• • • •
Bezirken nach den Übersichten der statistischen Ämter ebenso die
Zahlen der unehelichen Geburten in diesen Bezirken und die
Schwankungen dieser Zahlen untersuchen. Die Zahlen der Ge¬
burten haben, wie schon gesagt, in Altona sehr erheblich ab¬
genommen trotz der wachsenden Bevölkerung. Die Eheschließungen
(Tabelle 13) haben absolut zugenommen, relativ aber abgenommen.
Die Zahlen der unehelichen Geburten haben prozentual sehr er¬
heblich zugenommen (Tafel 13). Die Kriminalität hat zugenommen,
die Leihhausdarlehen haben abgenommen, die Zwangsversteigerungen
sehr erheblich zugenommen. Die Zahl der in einem Bezirk wohnenden
Arbeiter berechnete ich aus der Zahl der in dem Bezirk abgegebenen
sozialistischen Stimmen (Tabelle 14). Ich fand so in den Bezirken,
in denen die meisten sozialistischen Stimmen abgegeben wurden,
meist die höchsten Geburtenzahlen für das Jahr 1911. Verglich
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 383
ich aber die Jahre 1890 und 1891 damit, so konnte ich auch in
diesen Bezirken ebenso wie in den wohlhabenden eine sehr er¬
hebliche Abnahme der Geburtenzahlen nachweisen (vgl. Funke
in Bremen). Ebenso in Hamburg. Der Bezirk XI, welcher die
meisten sozialistischen Stimmen abgegeben hatte, zählte 1890 noch
39,0 Geburten auf 1000 Einwohner, 1911 nur mehr 28,4 Prom.
Tabelle 12.
Altona. Zahl der Geburten nach Stadtteilen.
1911
1909
1910
Auf 10(
1911
) Gebürter
unehelich
1909
waren
1910
Bezirk
Süderteil <|
102
104
114
24,51
13,46
13,16
I
60
89
74
15,00
17,98
16,22
II
l
164
170
194
17,68
17,65
15,98
III
Süd- West-Teil
51
62
40
58
47
46
11,76
12,90
5,00 |
12,07
8.51
6.52
IV
V
l
90
121
112
25,56
28.92
25.89
VI
{
86
120
90
17,44
20.00
27,78 .
VII
Osterteil •!
80
59
121
60
98
78
12,50
27,12
25.62
30,00
29,59
16,67
VIII
IX
1
88
78
79
26,14
25,64
29,11
X
(
291
274
279
20,62
15,69
24,01
XI
183
167
155
26,32
23,35
20,00
XII
Norderteil {
355
402
384
17,18
17,16
13,36
XIII
171
171
186
15,79
16,37
18,82
XIV
. 1
68
81
87
27,72
7,41 |
5,75 ||
XX
/
101
112
114
15,45
27,68
21,05
XV
110
143
156
15,00
15,38
14,74
XVI
Nord-West-Teil
120
157
125
20,42
10,19
8,00
XVII
240
253
264
13,29
16,21
15,15
XVIII
158
193
177
4,411
13,99
13,56
XIX
■
121
146
147
9,92
13.01
7; 48
XXI
122
143
134
15,57
13,99
14,93
XXII
Ottensen
245
309
271
7,85 I
9,06
7,01
XXIII
112
99
106
10,71
11,11
12,26
XXIV
252
255
259
11,90
10,98
11,97
XXV
288
245
258
6,251
7,35 |
9,43 |
XXVI
Bahrenfeld
144
211
170
2,781
7,11 |
6,47 |
Bahrenfeld
Othmarschen
28
29
23
3,571
6,90 |
- 1
Othmarschen
Oevelgönne
13
7
19
—
—
10,53
Oevelgönne
Summa
3987
4404
4328
15,83
15,37
15,18
Dieser Bezirk XI hatte allerdings 1911 noch die meisten Ge¬
burten hervorgebracht. Ebenso war in ihm die Zahl der Geburten
die zweitgrößte nach der Zahl der Stimmberechtigten (diese Zahl
gibt einen Anhalt für die Zahl der heiratsfähigen Männer). Niedrige
Geburtenzahlen hatten dagegen in den Vergleichsjahren die Be-
25*
884
Hanssen,
Tabelle 18.
Altona
Ehe¬
schließungen
überhaupt
Auf 1000
mittlere
Bevölkerung
ö i
Lebend¬
geburten
überhaupt
Geburten
auf 1000
mittlere
Bevölkerung
Es waren
von 100
G eburten
unehelich
Säuglings¬
sterblichkeit
eheliche unehel.
1904
1861
11,26
4717
28,53
13,19
15,93
35,19
1905
1859
11,11
4171
27,30
14,20
16,32
28,24
1906
2022
11,88
4657
27,37
14,28
16,39
32,36
1907
1942
11,28
4360
26,38
14,89
14,84
27,75
1908
1894
10 98
4542
27,19
15,65
16,16
26,80
1909
1776
10.35
4254
25,66
15,37
13,91
26,71
1910
1825
10,59
4168
25,12
15,18
13,20
31,43
1911
1914
10,98
3840
22,88
15,83
18,10
29,73
Durchschnitt
1902—11
11,03
26,07
14,44
15,36
30,34
Ver¬
haftungen
Straf¬
mandate
Spar¬
einlagen
Leihhaus-
Darlehn
Zwangs¬
versteige¬
rungen
Armen¬
anstalt- Ver-
pflegungs-
tage
1907
9 955
19 285
8 306 672
129 269
25
256 206
1908
10 989
14 589
8 120844
138 774
41
249 979
1909
10 687
18 736
9 187 311
134 586
46
261 203
1910
10 805
21563
10 722 713
112 933
49
261 493
1911
11817
22 071
13 153 596
107 955
94
241 032
i
Zahl der Zensiten zur Gemeindeeinkommensteuer der Einkommen von :
660-
-900
M.
900-
1050 M.
1500-
-1800 M.
1200-
-1500 M.
1909
12 260
—
510
9 681
— 258
3900
+
376
8 829
+
192
1910
13 193
+
933
10 020
+ 339
4295
+
395
9 256
+
427
1911
11 024
—
2169
8 720
— 1240
5698
+ :
1403
11009
+ :
1753
Von
100
Zensiten entfielen
auf
die
Stufe
•
1909
218
172
68
157
1910
243
185
79
170
1911
195
155
101
195
zirke Othmarschen und Oevelgönne, Bezirke mit meistens wohl¬
habender Bevölkerung, wie auch aus der geringen Zahl der sozia¬
listischen Stimmen hervorgeht. Ebenso waren in diesen Bezirken
die Zahlen der unehelichen Geburten sehr niedrige, in dem Bezirk
Oevelgönne (Tafel 12) fehlten sie sogar in den beiden Jahren, in
Othmarschen in einem. Auch im Bezirk IV waren die sozialistischen
Stimmen niedrig ausgefallen, ebenso die Zahlen der Geburten in
den Jahren des Vergleichs absolut niedrig und prozentual 1911
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkernngsklassen usw. 385
noch stark gefallen von 21,1 auf 15,3 Proz. Erhebliche Abnahmen
fanden sich aber auch in Bezirken, die der Zahl der sozialistischen
Stimmen nach zu den hauptsächlich von Arbeitern bewohnten ge¬
zählt werden müssen. Danach wäre es mit Einschränkung richtig,
wenn Wolff die These aufstellt, daß die Geburtenabnahme mit der
Ausbreitung der Sozialdemokratie Schritt halte.
Man kann also in Altona sagen, daß alle Kreise der Be¬
völkerung an der Abnahme der Geburten beteiligt sind, die Arbeiter¬
kreise allerdings weniger als die wohlhabenden, aber doch auch
nicht unerheblich. Zahlen wie 15,3, 13,3 und 13,9 Prom. müssen
als so niedrige bezeichnet werden, daß man die ernstesten Be¬
denken für die weitere Entwicklung unseres Volkes hegen muß.
Um so mehr, als sich in Altona dieser Übelstand auch bei den
Arbeitern bemerklich macht und ebenfalls aus dem Grunde, daß
hier steigender Wohlstand zu einer Abnahme der Geburtenzahlen
geführt hat. Erwähnen möchte ich noch die hohen Geburtszahlen
im Jahre 1890 von 52,1 im Bezirk XXV.
Ich gehe jetzt näher auf die Kieler Verhältnisse ein. Auch
hier ergibt sich dasselbe Bild mit Ausnahme des wachsenden Wohl¬
standes der Bevölkerung.
In Kiel konnte ich auch die Nahrungsmittelpreise (Tabelle 15)
zum Vergleich heranziehen und fand hier nur beim Ochsenfleisch
eine erhebliche Steigerung der Preise, alle anderen wichtigen
Nahrungsmittel hatten, die letzten Jahre allein betrachtet, im Preise
abgenommen. Nur Roggenmehl war etwas im Preise gestiegen.
Die Zahl der Arbeitssuchenden hatte sich vermindert, bei den
Obdachslosen hatte sich sogar eine sehr starke Verminderung be¬
merklich gemacht. Die Eheschließungen haben prozentual ab¬
genommen, absolut aber zugenommen. Die Geburtenzahlen sind
ebenso seit 1907 stark gefallen, prozentual von 32,9 im Jahre 1904
auf 25,2 im Jahre 1911. Dabei waren die Zahlen der unehelichen
Geburten gestiegen.
Was die Zahl der Geburten betrifft, so konnte ich auch hier
dadurch einen gewissen Anhaltspunkt in ihrer Verteilung auf ver¬
schiedene Klassen gewinnen, weil in Kiel eine ziemlich scharfe
Trennung der wohlhabenden und arbeitenden Bevölkerung besteht,
indem in Gaarden meist Arbeiter wohnhaft sind und zum Ver¬
gleich in den Bezirken VI und VII meist wohlhabende Bewohner
sich angesiedelt haben. Eine Zunahme der unehelichen Geburten
war besonders im Bezirk XI zu bemerken, eine Abnahme im
Bezirk VI (in ihm liegt die Frauenklinik). Die ehelichen Geburten
386
Hanssen,
t
Tabelle
Altona 1911. Geburten nach Stadtbezirken
Bezirk
Sozialistische Stimmen
in Proz. der Stimmen
Von 100
Geborenen
waren
unehelich
1890—91 1911
I
74,3
76,9
102
6,2
II
70,0
85,4
60
10,3
III
79,9
82,4
69,2
164
9,2
IV
26,4
36,1
51
2,7
V
24.4
66,8
62
4,2
VI
55,0
76,9
90
6,5
VII
82,0
82,3
86
9,7
VIII
68,9
63,1
80
7,9
IX
72,4
68,7
59
9,9
X
89,4
80,9
88
15,8
XI
77,7
78,6
90,9
87,3
90,7
291
9,9
XII
77,9
74,3
43,6
133
8,9
XIII
63,4
70,0
64,6
73,2
49,5
44,0
355
8,4
XIV
44.2
17,5
171
8,7
XV
80,5
68;2
36,4
101
11,1
XVI
83,9
85,9
110
5,6
XVII
82,2
82,7
78,5
120
5.3
XVIII
63,2
48,4
24,7
40,7
240
10,5
XIX
74,4
73,0
83,4
85.8
158
7,9
XX
59,9
62,7
54,0
63,3
68
8.9
XXI
38,5
56,8
24,9
■
121
3,3 ||
XXII
62,1
66,0
122
7,0
XXIII
40,3
45,7
77,3
55,7
245
5,1
XXIV
65,9
77,9
112
9,6
Unterbezirk
1
2
3
4
5
6
XXV
86,5
75,8
84,4
•
252
6,3
XXVI
64,1
67,6
74,3
59,0
288
9,4
Bahrenfeld
39,0
76,7
52,1
5,9
144
5,0
Othmarschen
33,5
28
—
Oeyelgönne
13,2
13
—
Zusammen
59,3
24,51 \
15,00 /
17,68 1
11,76 (
12,90 |
25,56 J
17.44 )
12,50 (
27,12 (
26, U )
20,62 )
26,32 |
17,18 (
15,79 )
24,72
15.45
15,00
20,42
13,29
4,411 Zu Norderteil
9,92 |
Süderteil
Südwestteil
Osterteil
Norderteil
und XX
Nordwestteil
15,57
7,351 1
10,71
Ottensen
Unterbezirk
^6 25l} Ottensen
2,781 Bahrenfeld
3.571 Othmarschen
— Oeyelgönne
15,83
haben nur im Bezirk VI und VIII zugenommen, sonst überall ab¬
genommen.
Nur kurz gehe ich auf die Flensburger Zahlen (Tabelle 16)
ein, die im großen und ganzen dasselbe Bild bieten, auch hier eine
erhebliche Abnahme der Geburten, dabei eine Zunahme des Prozent¬
satzes der unehelichen, eine Abnahme bei den ehelichen Geburten,
also ein höchst unerfreuliches Bild.
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 387
14
und sozialdemokratische Stimmen 1912.
*
Wahlberechtigte
am 12. Januar 1912
1
Wahl¬
berechtigte
Summe
Geburten auf i
1000 Wahl¬
berechtigte
1912
Einwohner¬
zahlen
1911
Auf 1000
Einwohner
geboren
1911
Auf 1000
Einwohner
geboren
1890—91
537
493
1
1030
9,9
4 012
25,4
40,4
463
404
867
7,0
3 052
19,7
39,6
580
486
447
1513
18,5
5 858
23,9
38,7
401
407
808
6,3
3 387
15,3 1
21,1 I
364
410
774
8,0
3131
20,1
30,1
485
464
949
9,5
4 082
22,5
31,2
458
431
889
9,7
3 039
28,8
40,4
470
544
1014
7,9
3 941
20,6
33,3
452
211
663
9,0
2 749
21,8
38,5
450
369
819
10,7
3 015
29,2
36,8
795
646
486
406
399
2732
16,5
9 937
28,4
39,0
595
596
539
1730
7,7
6 805
19,6
40,3
645
563
726
641
691
648
3914
9.0
15 666
23,3
38,7
606
420
1026
1616
6 958
26,1
29,2
792
500
478
1770
6,5
3 628
27,8
44,2
347
600
947
11,6
4 817
22,8
41,3
432
329
400
1161
10,3
8 846
13,7 I
29,6 1
463
640
568
621
2292
14,7
9 352
25,6
40,9
570
742
766
375
2453
6,4
11 235 x)
14,1 16,5
25,1 I
572
630
573
428
2203
3,11
3 774 2)
18,0 19,1
30,2
613
838
394
1845
6,6
7 351
16,0 1
38,1
497
687
1184
10.3
4 673
26,1
43,9
804
774
700
745
3023
8,0
11 809
20,1
44,4
413
604
1017
11,0
3 978
28,2
45,2
1
2
3
4
5‘
6
333
782
668
1
•
1783
14,1
7 813
32,1
52,1
840
736
561
392
2529
11,4
8 882
31,3
46,6
402
671
524
371
1968
7,3
7 875
18,3 1
36,5
430
430
6,51
2 026
13,31
19,7 I
168
168
8,01
1
704
18,51
19,6 I
l) Davon 1664 Militär. 2) 209 Militär.
Zahl der Eheschließungen.
In Preußen ist seit 1906 eine andauernde Abnahme der Ehe¬
schließungen und der ehelichen Fruchtbarkeit zu verfolgen, in
diesem Jahr heirateten noch von 1000 Lebenden 8,3 Prom., 1907
nur mehr 8,12, 1908 8,0; 1909 nur 7,9; 1910 7,85. Trotz der ver¬
minderten Eheschließungen lieferte das Jahr 1810 wegen der ver¬
minderten Sterbeziffern noch günstige Ergebnisse in der Volks¬
vermehrung.
388
Hanssen,
Tabelle 15.
Kiel
Ehe¬
schließungen
_
Auf Prom.
mittlere Ein¬
wohnerzahl
Lebend¬
geburten
Prom. der
mittleren
Bevölkerung j
Proz. der
unehelichen
Geburten
Sterblichkeit
der
unehelichen
Säuglinge
Sterblichkeit
der
ehelichen
Säuglinge
1904
1250
8,26
4975
32,89
14,51
29,1
15,5
1905
1811
8,36
5126
32,70
14,44
32,6
16,2
1906
1398
8,46
5482
33,16
15,51
28,6
16.69
1907
1430
8,04
5433
30,56
14,30
26,38
13,83
1908
1451
7,78
5522
29,59
14,60
25,68
14,80
1909
1380
7,19
5511
28,70
16,1
24,29
11,28
1910
1413
6,98
5570
27,50
15,7
25,11
11,70
1911
1621
7,55
5403
25,17
15,9
23,09
15,22
100 Kilo Nahrungsmittelpreise
1911
1910
1909
Weizenmehl
40
40
39
Koggenmehl
34
28
30
Bindfleisth
186
170
158
Eßkartoffeln
8,05
7,07
8,48
Schweinefleisch 151 162
Arbeitsuchende
162
1911
1910
1909
29 851
29 487
Sparkassenrückzahlungen
30 709
1911
1910
1909
23 360 842
21 904 220
19 008 269
— 836 798
— 421 900
Obdachlose
-f 557 741
1911
1910
1909
11572
13 022
26 738
Bezirk
ül
1911
) e r h a u
1910
Geb1
pt
1909
urtenzah
1911
Kiel
len nach Stadtte
ehelich
1910 1909
ilen
u n e h e 1 i (
1911 1910
;h
1909
1.
57
77
87
39
54
72
18
23
15
2.
158
158
165
104
115
121
54
43
44
3.
306
306
334
253
253
281
53
53
53
4.
163
183
219
130
147
170
33
36
49
5.
448
477
502
• 365
372
395
83
105
107
6.
385
373
420
135
108
120
250 I
265
300
7.
267
299
302
237
270
273
30
29
29
8.
234
221
209
217
200
192
17
21
17
9.
490
526
581
450
481
533
40
45
48
10.
366
419
498
336
388
463
30
31
35
11.
930
967
1096
827
873
1005
103
94
91
12.
846
944
1098
760
855
1001
86
89
97
13.
151
127
142
121
9
6
14.
239
187
219
172
20
15
15.
13
12
12
11
1
1
16.
204
164
180
153
24
11
17.
146
130
135
121
11
6
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 389
Tabelle 16.
Flensburg
Lebend^
ehelich
gebürten
unehelich
Säuglingssterblichkeit
eheliche uneheliche
Auf 100 Ge¬
burten mit
Totgeburten
uneheliche
1904
1554
127
11,78
33,9
7,69
1905
1519
124
17,31
29,8
7,57
1906
1461
117
13,62
21,4
7,54
1907
1430
112
12,73
19,6
7,42
1908
1436
115
14,07
25,2
7.72
1909
1349
129
10,53
21,7
8,91
1910
1247
121
11,47
23,9
8,89
1911
1268
148
13,33
85,14
10,66
In Schleswig- Holstein liegen die Verhältnisse so, daß nur an
10 Stellen (Tafel 18) (die Städte für sich gerechnet) die Ehe¬
schließungen zugenommen haben, dagegen in 28 Bezirken ab¬
genommen, gleichgeblieben ist sie an 5 Stellen. Am höchsten war
die Zahl der Eheschließungen 1903 im Kreise Stormarn gewesen
(Wandsbek gehörte seit 1901 nicht mehr zum Kreise) = 15,5 Prom.,
ebenfalls hoch in den Städten des Kreises Segeberg und in Altona,
auch die Städte des Kreises Norder-Dithmarschen zeigten Zahlen
der Eheschließungen von über 10 Prom. der Bevölkerung. Er¬
heblich gestiegen ist die Zahl der Eheschließungen nur in den
Städten des Kreises Hadersleben und im Kreise Sonderburg (als
Folge der Marineanlagen), dann auch in den Städten des Kreises
Süder-Dithmarschen. Die niedrigsten Zahlen der Eheschließungen
zeigten dagegen in beiden Vergleichsjahren die Städte des Kreises
Flensburg-Land (= Glücksburg). Sehr erheblich abgenommen haben
die Eheschließungen im Kreise Eiderstedt überhaupt und besonders
in den Städten. Ebenfalls die Städte des Kreises Oldenburg zeigten
eine starke Abnahme, auch in Bendsburg, ebenso in den Städten
in Segeberg und im Kreise Stormarn. Weitere Zahlen ergeben
sich aus der Tabelle.
1903 hatte die Provinz 8,6 auf 1000 Einwohner Eheschließungen
gehabt, 1909 = 8,5 Prom. Die Städte hatten 1903 noch 9,5; 1909
nur mehr 9,2 gehabt. Die Zahl der Eheschließungen hat auf dem
Lande zugenommen von 8,0 auf 8,3 Prom. In der Zeit nach dem
30jährigen Krieg gibt Hensler zum Vergleich folgende Zahlen
für die Eheschließungen an (Tafel 17):
390
Hanssen,
Tabelle 17.
Eheschließungen im Amte Segeberg 1668 — 1766.
1668-1683
Geborene
1791
Eheschließungen
1684—1699
1648
480
1700—1709
1361
371
1710—1719
1386
434
1720-1729
1474
388
1687—1729
5869
1673
1730—1766
6615
1825
Von 1687 — 1729 gaben 10 Ehen nur 35 Kinder, von da bis
1766 aber 36.
Der Rückgang der Eheschließungen hat die verschiedensten
Ursachen, zunächst dürfte die zunehmende Ehescheu bei den besseren
Bevölkerungsklassen ihren Ursprung in dem stark materiellen Zug,
welcher dem männlichen Geschlecht in unserer Zeit eigen ist,
haben. Viele Mitglieder desselben wollen lieber auf eine Ehe
verzichten, als die Ungebundenheit ihres Junggesellenlebens
aufgeben und sich nicht belasten mit den Sorgen für den
Unterhalt einer Familie. Manche junge Männer leben auch
mit einer Geliebten, welche ihnen die Freuden des ehelichen
Lebens gewährt, ohne ihnen Sorgen zu bringen. Es liegt nicht
in der Absicht der jungen Leute, daß aus dem geschlechtlichen
Verkehr Folgen erwachsen und jeden Tag kann das Verhältnis
gelöst werden, wenn es einem der beiden Teile gefällt. In den
gebildeten Kreisen ist es heutzutage auch oft schwer, sich eine
auskömmliche Stellung in jüngeren Jahren zu verschaffen, dann
kostet der junge Mann erst einmal die Freuden des ungebundenen
Lebens aus und wird älter und älter, bis er in ein Alter kommt,
in dem er sich schwer zu einer Heirat noch entschließt. Um¬
gekehrt hat das zunehmende Erwerbsleben der gebildeten Mädchen
diesen auch oft Selbständigkeit verschafft, so daß auch sie lieber
eine selbständige Stellung in ihrem Beruf bekleiden, als daß sie
sich in der Ehe der Herrschaft des Mannes fügen wollen, um noch
womöglich Entbehrungen sich aufzuerlegen, die ihnen als Mädchen
unbekannt waren. Dabei ist eine Steigerung der Ansprüche nament¬
lich im geselligen Leben eingetreten, daß ohne eine Mitgift von
seiten der Frau oder von Vermögen seiten des Mannes das Schließen
der Ehe unmöglich ist, soll nicht Sorge und Not in eine neu¬
gegründete Familie einziehen. Auch die Arbeiterkreise machen
in bezug auf Wohnung und Genüsse wie Theater und Vergnügungen
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 391
Kreise
1903
Ehen E^n'
wohner
1909
Ehen wohner
Eheschließungen
auf 1000 Einw.
1903 | 1909
Hadersleben
390
57 215
433
60 133
6,8
7,2
~b
davon Städte
70
9 773
78
9 906
7,2
7,9
+
Apenrade
243
29 324
216
30 322
8,3
7,1
davon Städte
54
6 619
47
7 032
8,3
6,7
-
Sonderburg
285
32 868
324
35 307
8,7
9,2
+
davon Städte
70
7 324
79
9 019
9,6
8,4
Flensburg (Stadt)
409
48 922
436
53 771
8,5
8,1
—
„ (Land)
349
41951
357
45 721
8,3
7,8
—
davon Städte
5
1390
9
1551
3,6
4,2
+
Schleswig
521
66 603
545
69 551
8,0
7,0
davon Städte
145
23 125
156
24 716
6,2
6.3
+
Eckernförde
385
42 041
352
43 635
9,1
8,7
davon Städte
47
6 719
48
7 088
7,0
6,8
—
Eiderstedt
134
15 762
119
16 297
* 8,5
7,0
—
davon Städte
58
5 209
44
6 057
11,1
7,1
—
Husum
290
38 486
301
39 714
8,0
7,6
—
davon Städte
84
10 604
82
11483
8,0
8,0
+0
Tondern
424
56 561
446
57 083
7,7
7,8
~b
davon Städte
71
7 777
96
10 513
9,1
9,1
+0
Oldenburg
309
43 932
312
43 321
7,3
7,2
—
davon Städte
111
12 442
90
12 529
9,0
7,2
—
Plön
476
52 749
471
54 651
9,0
8,6
—
davon Städte
84
11091
76
11012
7,6
6,9
—
Kiel (Stadt)
1187
121 824
1380
163 772
9,8
8,4
—
Neumünster (Stadt)
244
27 335
266
31 439
8,9
8.5
—
Kiel (Land)
326
38 861
354
45 089
8,3
7,8
—
Rendsburg
539
61 700
543
65 317
8,7
8.3
—
davon Städte
160
17 009
153
18 062
9,4
8,5
—
Nord. - Dithmarschen
303
37 515
341
32178
8,0
8,7
+
davon Städte
122
10 752
99
11410
11,5
8,7
Süd. - Dithmarschen
394
48 526
501
50 301
8,1
10,0
~b
davon Städte
49
6 961
52
7 259
7,2
7,2
+0
St ein bürg
597
78 836
670
79 839
7,6
8,4
~b
davon Städte
318
33 551
366
33 426
9,5
10,9
+
Segeberg
1 324
39 724
353
46 696
8,2
8,5
+
davon Städte
75
6 572
61
6 892
11,4
9,0
Wandsbek (Stadt)
278
27 966
314
31 563
10,0
10.0
+0
Stormarn
622
68 103
643
76 464
9,0
8,4
—
davon Städte
93
6011
90
6 675
15,5
13,5
—
Pinneberg
804
97 830
936
108 945
8,1
8,1
+0
davon Städte
237
30 321
300
36 106
7,6
8,3
—
Altona (Stadt)
1774
161 501
1777
168 320
11,1
10,5
—
Lauenburg
422
51883
410
52 679
8,1
7,1
—
davon Städte
104
13 953
97
13 991
7,4
7,0
—
Städte davon [
5849
61 821
6192
693 753
9,5
9,2
Summe <
12029
1 387 968
12800
1 504 248
8,6
8,5
_ \
i
Land davon [
6180
773 147
6708
! 810 425
8,0
8,3
+ 1
ähnliche Ansprüche wie die gebildeten Kreise, so daß auch hier
dieselben Verhältnisse mitspielen wie in den wohlhabenden Be¬
völkerungsklassen. Das Schließen einer Ehe ist entschieden in
hohem Grade von besseren oder schlechteren Verhältnissen ab-
Provinz
392 Hanssen,
hängig, wie man sie in Hamburg durch fast ein Jahrhundert ver¬
folgen kann. (Vgl. dazu meine Arbeit über Säuglingssterblichkeit
in früheren Jahrhunderten nach den Listen in Hamburg.) So spielt
die pekuniäre Seite bei der Schließung einer Ehe eine sehr hervor¬
tretende Rolle und die Jagd nach Mitgift ist eine der unerquick¬
lichsten Erscheinungen dieser x4rt, aber leider ist sie nicht zu um¬
gehen, denn nichts bedroht leichter das Glück einer Ehe als Ge¬
fährdung der Existenz, erhöhte Ausgaben durch Krankheit und
Verluste pekuniärer Natur. Auch der Arbeiter will nicht durch
Schließen einer Ehe seine Lage verschlechtern (vgl. L ö w e n f e 1 d).
Ein Dienstmädchen oder eine Köchin aus vornehmem Hause tut
es sehr oft, jedenfalls in dem Punkt der Ernährung und Bequem¬
lichkeit.
Um die Zahl der Eheschließungen zu heben, wäre das beste
Mittel die Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage
durch Verbilligung der Lebensmittel anzustreben. Die Eheschließung
befördern würde auch eine Junggesellensteuer und die Unterstützung
der Eheschließung, wie es in Australien geschehen soll, durch Ge¬
währung einer Prämie für jede Ehe. Diese Prämie könnte nach
dem Vorschlag des früheren Kriegsministers Messimy in Frank¬
reich in eine jährlich steigende Rente bei einer größeren Zahl von
Kindern, die aus einer Ehe hervorgegangen sind, verwandelt werden.
Zu solchen Mitteln muß man schon in Frankreich greifen, will man
die Zahl der Eheschließungen steigern, sie haben unter dem Ein¬
fluß dieser Mittel schon zugenommen, leider aber auch die Ehe¬
scheidungen.
fc.
Die Ursachen für den Rückgang der Geburten.
Einige dieser Ursachen wurden bei den Eheschließungen und
der Landflucht schon besprochen und brauchen hier nicht wieder¬
holt zu werden, voran stehen hier vor allem wirtschaftliche Ver¬
hältnisse, die auch dann, wenn eine Ehe schon geschlossen ist und
ihren Zweck durch Erzeugung von Kindern erfüllen soll, wieder
in den Vordergrund treten. Der Rückgang der wirtschaftlichen
Verhältnisse tritt besonders in Kiel in dieser Beziehung zutage,
während in Altona trotz steigenden Wohlstandes die Geburten¬
zahlen abgenommen haben, ebenso scheint es in Flensburg zu sein.
Ich gehe jetzt auf die verschiedenen Mittel ein, welche an¬
gewandt werden, die Fruchtbarkeit einer Ehe zu vermindern und
möglichst auf zwei Kinder einzuschränken. Malthus war es zuerst,
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkenmgsklassen nsw. 393
welcher in höchst pessimistischer Weise die zunehmende Be¬
völkerung und die entsprechende Zunahme der Nahrungsmittel ver¬
glich und ein Mißverhältnis zwischen beiden festzustellen glaubte.
Malthus empfahl als Hauptmittel die Enthaltung vom Geschlechts¬
verkehr, um der Übervölkerung vorzubeugen.
Die Lehre von der Verhütung der Schwangerschaft entwickelte
sich dann weiter zum Neomalthusianismus d. h. der Lehre von der
Verhütung der Empfängnis und der Einschränkung der Kinderzahl.
Die absolute Verurteilung dieser Lehre ist sicher nicht berechtigt,
denn wenn man als Arzt manche Frauen sieht, die viele Kinder
gehabt haben, kann man nicht sagen, daß sie an Schönheit und
Gesundheit gewonnen hätten. Gr über und He gar haben diese
Verhältnisse genauer dargestellt. Grub er betont, daß vom vierten
Kinde an die Kraft der in einer Ehe hervorgebrachten Kinder
abnimmt, er stellt „Massentod“ neben „Massenerzeugung“. Vgl. den
Abschnitt 27 bei Bloch (Neomalthusianismus, sexueller Präventiv¬
verkehr usw.) und das 10. Kapital „Neomalthusianismus“ bei Grub er
mit verschiedenen Tafeln über Fruchtbarkeit und Wohlstand in
verschiedenen Ländern (S. 158). Über die eheliche Fruchtbarkeit
in Dänemark, geschieden nach Stadt und Land, berichtet Tugend-
reich (S. 38).
Heutzutage ist selbst in die Arbeiterkreise die Anwendung der
Mittel gedrungen, um die Schwangerschaft zu verhüten und sie ge¬
gebenenfalls zu unterbrechen. In meiner früheren Praxis in einem
Fabrikort sind mir im Laufe von 4—5 Jahren etwa 12 Fälle von Unter¬
brechung der Schwangerschaft durch Anwendung einer Uterindouche
bekannt geworden. Solche Mittel wurden teils von Arbeiterfrauen an¬
gewandt, welche schon mehrere Kinder hatten oder in höherem
Alter noch schwanger wurden oder vorher schwere Entbindungen
durchgemacht hatten und Angst vor einer erneuten Schwanger¬
schaft hatten. Eine Frau hatte ein solches Mittel angewandt,
nachdem sie durch Geschlechtsverkehr mit einem Einlogierer
schwanger geworden war; diese Frau wandte das Mittel mehrfach
an und ging schließlich, wie ich erfahren habe, bei dem vierten
Versuch zugrunde. Eine andere Frau starb, nachdem sie sich
durch Anwendung einer solchen Douche eine Infektion zugezogen
hatte, an den Folgen der Erkrankung. Die Uterindouche wurde
durch einen Mann in Frauenkleidern vertrieben und nicht selten
gekauft. Nicht nur in Arbeiterkreisen, auch bei Schiffern und
Handwerkern fand ich den Apparat. Von anderen Mitteln zur
Verhütung der Schwangerschaft ist besonders der Coitus inter-
394 Hanssen,
ruptus bekannt und in einigen Gegenden bei der bäuerlichen Be¬
völkerung in Angeln der Coitus per anum. Die Anpreisung von
Mitteln zur Verhütung der Schwangerschaft findet besonders durch
Berliner Zeitungen, weniger durch die lokalen statt. Hebammen,
deren Annoncen der Unterbrechung der Schwangerschaft verdächtig
sind, findet man in Hamburger Blättern angegeben. Ab und zu
findet man auch die Anwendung von Schwämmchen zur Verhütung
der Konzeption.
Beim Coitus unter unverheirateten Mitgliedern des Arbeiter¬
standes in jugendlichem Alter muß auch von solchen Mitteln Ge¬
brauch gemacht werden, weil sonst viel öfter Schwangerschaft die
Folge wäre von diesem Verkehr. Ist wirklich durch solchen Ver¬
kehr ein Mädchen schwanger geworden, so erfolgt in den meisten
Fällen Heirat von seiten des Liebhabers. Ein Mädchen, das mit
mehreren Liebhabern verkehrt hat, gibt meist den von ihr be¬
vorzugten Mann als den Vater des Kindes an. Anscheinend sind
auch in unserer Provinz die unehelichen Geburten, wie es auch
in Pommern beobachtet wurde, in dauernder Zunahme begriffen, so¬
wohl in der Stadt als auf dem Lande (vgl. die Zahlen aus Kiel,
Altona und Flensburg).
Die Zunahme der unehelichen und entsprechende Abnahme
der ehelichen Geburten muß entschieden als eine Ausgleichs¬
erscheinung angesehen werden, und nicht wenig uneheliche Kinder
werden durch verheiratete Männer gezeugt sein, die in der Ehe
wegen des Präventivverkehrs keine Befriedigung fanden.
Eine Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit annehmen zu wollen,
ist meiner Meinung nach verfehlt, in früheren Jahren kamen in
unserer Provinz nach Hensler auf eine Ehe 3,5— 3,6 Kinder.
1906 — 1910 betrug die Fruchtbarkeitsziffer auf 1000 ehefähige
Frauen 136,52 Lebendgeborene. 1891 — 1895 noch 157,96.
Einen Umstand möchte ich noch für die Abnahme der Kinder¬
zahl verantwortlich machen, auf den meines Erachtens wenig oder
gar nicht hingewiesen wird, das ist die Zunahme des Stillens und
dementsprechend Abnahme der Säuglingssterblichkeit besonders
durch die Ausdehnung der Stillung auf längere Zeiträume. Da¬
durch würde der Verlust, den das Heer durch die Abnahme der
Geburten auf die Dauer erleiden muß, durch Verbesserung des
Materials ausgeglichen.
Wenn der allgemeine Druck und die Höhe der Nahrungs¬
mittelpreise für die Abnahme der Geburtenzahlen verantwortlich
gemacht werden, so ist das ohne Einschränkung nicht richtig,
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. B95
denn in Altona sind die Sparkasseneinlagen sehr erheblich ge¬
stiegen, die Zahl der Darlehen im Leihhaus hat abgenommen, aus
den niederen Steuerklassen sind sehr viele Zensiten in die höheren
übergegangen, die Zahl der Zwangsversteigerungen hat allerdings
zugenommen. In den letzten Jahren haben die Preise der wichtig¬
sten Nahrungsmittel außer Ochsenfleisch keine nennenswerten Ver¬
änderungen erfahren.
Anders allerdings in Kiel, dort muß der Druck der Verhält¬
nisse sehr fühlbar sein, denn die Sparkassenrückzahlungen wiegen
in den letzten Jahren sehr vor, auch die Zahl der Zwangsver¬
steigerungen hat eine erhebliche Zunahme erfahren.
Wenn die Landflucht als Ursache der Geburtenabnahme be¬
schuldigt wird, so hat in Schleswig-Holstein die Verteilung der
Land- und Stadtbevölkerung eine starke Verschiebung erfahren.
Nach den Zahlen meines Buches über die Säuglingssterblichkeit
hatten wir 1871 noch 67 Landbewohner und 33 Stadtbewohner,
jetzt nur mehr 54 Land- und 46 Stadtbewohner auf 100 Ein¬
wohner. Nach Groth ist in Bayern der Geburtenrückgang fast
ausschließlich auf die Städte beschränkt. Sowohl in der Stadt als
auf dem Lande wird die Schwangerschaft sehr häufig durch die
verschiedensten Mittel unterbrochen.
In Kiel konnte ich bei einer großen Krankenkasse annähernd
die Zahl der Aborte im Verhältnisse zu den Geburten feststellen,
• •
die Arzte behandelten im Jahr etwa 50 Entbindungen und wurden
bei 240 Aborten zugezogen, es kamen also auf jeden zehnten ver¬
heirateten Mann in jedem Jahre ein Abort (die Kasse hatte 2400
verheiratete Mitglieder).
Eine Hebamme in Gaarden hatte in einem Jahr 181 Ent¬
bindungen und 35 Aborte behandelt in allen Kreisen der Be¬
völkerung. Diese Zahl der Aborte ist anscheinend im Verhältnis
eine niedrige. In Kiel ist, wie mir von Frauenärzten versichert
wird, die künstliche Unterbrechung der Schwangerschaft so häufig,
daß die Tätigkeit mancher Hebammen in dieser Richtung oft so
ausgebreitet ist wie ihre geburtshilfliche. Die Hebammen legen
• •
auch Uterinpessare ein. Auch manche Arzte sind sehr leicht mit
dem Uterinpessar bei der Hand, in den Großstädten sind dem
Publikum ganz bestimmte Frauenärzte bekannt, die ohne Wahl
einer Indikation ein Uterinpessar einlegen. Vom Lande kommen
die Frauen zu diesem Zweck in die Stadt, da 'sie -so sicherer sind,
daß die Sache Geheimnis bleibt. Die Anzeige antikonzeptioneller
Mittel geschieht in den Zeitungen oft unter ganz harmlosen
396 Hanssen,
Reklamen wie „Versandhaus“ oder „hygienisches Versandhaus“.
Man bekommt auf Anfrage einen sehr reichhaltigen Katalog, in
welchem Kondome, Schwämmchen, Mensinga- und Uterinpessare,
Menstruationspulver usw. angezeigt werden und manche Mittel,
welche der künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft sehr
verdächtig sind. Eine genaue Gebrauchsanweisung liegt bei.
Teilweise wurden die Intrauterindouchen so schamlos in den Schau¬
fenstern solcher Handlungen ausgestellt, daß sich die medizinische
Gesellschaft in Kiel zum Einschreiten veranlaßt sah. Manche
Annoncen von Personen, welche sich Masseurin nennen und da¬
neben Frauenkrankheiten behandeln, sind mir auch auf Unter- *
brechung der Schwangerschaft sehr verdächtig, auch manche An¬
zeigen von Hebammen, welche Frauen diskrete Unterkunft in
Fällen, wo Schwangerschaft eingetreten ist, gewähren, fallen in
dieses Gebiet. Die Auswahl ist also recht groß und mancherlei
Mittel stehen dem Publikum zur Verfügung, die Schwangerschaft
zu verhüten und gegebenenfalls zu unterbrechen.
Welche Mittel kann der Staat ergreifen, um dem zunehmenden
Rückgang der Geburten vorzubeugen? Der Staat hat nicht die
Macht, die Zahl der Eheschließungen und der aus diesen hervor¬
gehenden Kinder zu steigern, sehr wohl kann er aber durch
Gewährung von Steuerermäßigung die Staatsbürger begünstigen,
welche eine größere Zahl von Kindern ihr eigen nennen und zur
Vermehrung unserer nationalen Kraft beigetragen haben. Schon
vor der eingetretenen Entbindung kann der Staat durch Gründung
von Mutterschaftsversicherungskassen für das entstehende Leben
vorbeugend sorgen. Die Reichsversicherungsordnung wird in der
Beziehung größere Erweiterungen bieten. Manche größere Kranken¬
kassen sorgen schon jetzt durch Gewährung von Wöchnerinnen- -
Unterstützung für die schwangere und frisch entbundene Mutter.
Die Kieler Ortskrankenkasse bezahlte 1911 über 15000 M. Unter¬
stützung an Wöchnerinnen und Schwangere. Leider hat die R.V. 0.
nicht alle Hoffnungen in der Beziehung erfüllt. Meiner Meinung
nach wäre für diesen Zweck eine Junggesellensteuer sehr am Platz,
damit größere Mittel für die Mütter bereit wären. Auch der un¬
liebsamen Vermehrung der unehelichen Geburten wäre so in wirk¬
samer Weise vorgebeugt. Stillprämien vom Staate gegeben, nicht
wie bis jetzt von der Privatwohltätigkeit, könnten auch sehr
günstig wirken. Ebenso wäre die Gewährung von unentgeltlich
von den Kommunen gewährte Milch ein Mittel, ärmeren Familien
die Aufziehung ihrer Kinder zu erleichtern. Auch die Gewährung
Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 397
von Milch an ärmere Schüler fällt in dieses Gebiet. Das sind
aber nur alles Mittel, die Vermehrung des Nachwuchses zu unter¬
stützen. Die Verbilligung wichtiger Nahrungsmittel und Beseitigung
drückender Steuern sollte angestrebt werden und nicht manche
Kreise des Staates auf Kosten der Allgemeinheit begünstigt werden.
"Würde der Wettbewerb im Rüsten zwischen den Staaten ein¬
gestellt, so könnten große Mittel für die Aufzucht des Nachwuchses
durch den Staat freigemacht werden, doch sind das alles Zu¬
kunftsträume (vgl. Pistor). Das eine aber kann der Staat tun,
daß er verhindert, daß Leben, das zur Vermehrung des Volkes
entstanden ist, nicht wieder verloren geht, wie es jetzt gang und
• •
gäbe ist. Arzte und Hebammen, welche allzu leichtfertig mit der
Empfehlung antikonzeptioneller Mittel sind, könnten einen kleinen
Denkzettel erhalten. Eine Indicatio socialis für Unterbrechung
der Schwangerschaft gibt es nicht (vgl. Baiser im Kreise Mainz).
Daß Arzte leichtfertig mit dem Uterinpessar Vorgehen, könnte
durch die Bestimmung verhindert werden, daß zu einem solchen
• •
Vorgehen die Anwesenheit zweier Arzte nötig wäre, wie bei der
künstlichen Unterbrechung der Schwangerschaft. Den Hebammen
sollte das Einlegen der Pessare überhaupt verboten werden. Ganz
besonders könnte aber der schamlosen Ausstellung und Empfehlung
antikonzeptioneller Mittel in den Zeitungen und Schaufenstern ent¬
gegengearbeitet werden, indem eine solche Reklame von der Polizei
einmal unter die Lupe genommen würde, das ist sehr wohl mög¬
lich. Würde den Hebammen einmal eine Anzeige aller iVborte zur
Pflicht gemacht, so würde man Wunder schauen über die Zahl
derselben. Das Verbot, in den Zeitungen die Aufgebote bekannt
zu machen, wie es in Düsseldorf geschieht, ist vielleicht auch eine
wirksame Maßregel gewissen Offerten entgegenzuarbeiten. Geht
die Abnahme der Geburten so weiter wie jetzt, so müssen wir mit
ernster Sorge in die Zukunft sehen. Wenn es wahr ist, daß die
Abnahme der Geburten von Osten nach Westen zunimmt, so würde
uns einst Rußland durch die erdrückende Zahl seiner Bewohner
ein Gegenstand ernster Sorge werden. Dem entgegenzuwirken,
müssen wir mit allen Kräften bemüht sein. Der Staat aber hat
die Pflicht, alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden,
damit das Zweikindersystem nicht ähnlich wie in Frankreich bei
uns in allen Kreisen der Bevölkerung Mode wird und auch wir
einem sterbenden Volke gleichen werden, das seinen Untergang
vor sich sieht.
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
26
398
Hansseu,
Liter atu rau gäbe.
Altona. Statistische Jahres- und Monatsübersichten.
— , Gemeindeverwaltung’ der Stadt Altona, 1863 — 1900, 2. Teil, Altona 1906. Mit
zahlreichen Tafeln nach Stadtteilen getrennt.
Bertheau, Generalberichte über das öffentliche Gesundheitswesen der Provinz
Schleswig-Holstein, 1895—1910. Nicht gedruckt.
Bockendahl, Dasselbe. 1870 — 1894.
Baiser, Ärztliches und Bechtliches über die Verminderung der Geburtenzahl.
Münchn. med. Wochenschr. 1911, S. 1892.
Behla, Medizinalstatistische Mitteilungen, 1912, S. 318.
Bloch, Das Sexualleben unserer Zeit. S. 759. Neomalthusianismus usw.
Bockendahl-Joens, Kiels Einrichtungen usw. Festschrift 1896.
Brüning, Säuglingssterblichkeit in Mecklenburg-Schwerin.
Dietrich, Keferat. Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentlichem
Sanitätswesen. 43. Bd., 1912.
Funke, Kinderzahl nach sozialem Stande. Zeitschr. f. Säuglingsschntz, 1912, S. 179.
v. Grub er, Fortpflanzung und Vererbung. S. 164. „Neomalthusianismus“.
Hamburg. Berichte des Medizinalrats, 1901 — 1911. Mit verschiedenen Tafeln über
die Geburtenzahlen.
- — , Die Gesundheitsverhältnisse Hamburgs im 19. Jahrhundert. Hamburg 1901.
Festgabe. Mit Tafeln.
Hanauer, Säuglingssterblichkeit in Frankfurt a. M.
Hansseu, Die Säuglingssterblichkeit in Schleswig-Holstein und die Mittel zu
ihrer Abhilfe. Kiel 1912. L. Handorff’s Verlag. Mit 45 Tafeln und Karten.
— , Abnahme der Geburtenzahlen in Schleswig-Holstein. Kieler Zeitung, 1912,.
Nr. 252.
— , Die Säuglingssterblichkeit in früheren Jahrhunderten. Zeitschr. f. Säuglings¬
schutz, 1912, Mai.
Hensler, Beitrag zur Geschichte des Lebens und zur Fortpflanzung des Menschen.
Altona 1767.
Her mb erg, Wirtschaft und Bevölkerung des Kirchspiels Münsterdorf (im Manu¬
skript benutzt).
Heyn, Beichstagverhandlungen vom 22. März 1912. Kieler Zeitung.
Kiel. Statistische Jahres- und Monatsberichte. Kiel.
Löwenfeld, Über das eheliche Glück. München, Bergmann’s Verlag.
Lehrbücher der Geburtshilfe über Abort.
Lehrbücher der gerichtlichen Medizin über kriminellen Abort. Münch, medic.
Wochenschr. 1903, S. 1576.
— , 1907. Geburten und Sterbefälle in deutschen Groß- und Mittelstädten. S. 1909.
— , 1908. Briefe aus England. S. 2562.
— , 1909. Groth, Die Erhaltung der Volkskraft und Volksgesundheit. Keferat
auf der 7. Hauptversammlung des Deutschen Medizinalbeamten -Vereins.
Jena 1909.
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Mittelhäuser, Säuglingssterblichkeit, ihre Ursachen und ihre Bekämpfung.
Zeitschr. f. Säuglingsschutz 2/3, 1912.
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Die Abnahme d. Geburtenzahlen in d. verschied. Bevölkerungsklassen usw. 399
Mombert, Polemik gegen Oldenberg. Arch. f. Sozialwissenschaft, Bd. 34, H. 3,
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N e t e r, Das einzige Kind und seine Erziehung.
Oldenberg, Referat auf der Tagung des deutschen Landwirtschaftsrats. 1912.
Itzehoer Nachrichten Nr. 41. 15. 2. 1912.
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Oesterlen, Medizinische Statistik.
P aas che, Reichstagsverhandlungen vom 22. März 1912. Kieler Zeitung.
Peiper-Pauli, Säuglingssterblichkeit in Pommern. Klin. Jahrb. 1911.
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Redder, Blätter für das Flensburger Armenwesen. 1911.
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Statistisches Amt der Stadt München. Berichte.
Tugendreich, Handbuch der Mutter- und Säuglingsfürsorge. .S. 59. Mit einer
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Preußen. Bearbeitet vom K. Pr. St. L. Berlin 1911.
Wolff, J.. Die Volkswissenschaft der Gegenwart und Zukunft. 1912.
— , Bevölkerungssorgen. Kieler Neueste Nachrichten. 12. Juli 1912.
26*
Die Erwerfosunfähigenversicherung in Gro߬
britannien und Irland.
Von H. Fehlin ger.
Am 15. Juli 1912 trat in Großbritannien und Irland das
„nationale Versicherungsgesetz“ in Kraft, dessen erster Teil die
Versicherung gegen Krankheit und Invalidität betrifft, während
der zweite Teil die Arbeitslosenversicherung regelt, die vorläufig
auf einige wenige Wirtschaftszweige beschränkt ist. Die obli¬
gatorische xArbeitslosenversicherung durch den Staat wurde bisher
noch in keinem Lande durchzuführen versucht, und man darf auf
die Ergebnisse dieses Experiments gespannt sein. Auch die Er-
werbsunfäliigenversicherung weicht in Großbritannien -Irland in
mancher Beziehung von der in den Staaten des kontinentalen
Europa befolgten Praxis ab, obwohl sich die Urheber des neuen
Gesetzes besonders die Erfahrungen Deutschlands in weitgehendem
Maße zunutze machten.
Der Bereich der obligatorischen Erwerbsunfäliigenversicherung
— die amtlich Heath Insurance oder „Gesundheitsversicherung“
bezeichnet wird — umfaßt alle in einem Arbeits- oder Dienst¬
verhältnis stehenden Personen im Alter von 16 Jahren aufwärts.
Die Ausnahmen sind zahlreich, aber zumeist unbedeutend. Von
der Versicherungspflicht ausgenommen sind alle Personen, welche
bei Eintritt in eine versicherungspflichtige Beschäftigung das
65. Lebensjahr bereits überschritten haben; Personen, die auf
andere Weise als durch Handarbeit jährlich über 160 £ (3200 M.)
verdienen; Personen, die eine jährliche Pension oder ein anderes von
ihrer persönlichen Tätigkeit unabhängiges Einkommen von min¬
destens 26 £ (520 M.) beziehen; öffentliche Angestellte und Privat¬
beamte, für die anderweitig und mindestens ebenso gut wie auf
Die Erwerbsmifähigenversickeruug in Großbritannien und Irland. 401
Grund des Gesetzes vorgesorgt ist; Angehörige der Armee und
Marine; Schullehrer; Agenten, die Provision bekommen oder sonst¬
wie am Geschäftsertrag Anteil haben; Mannschaften von Fischerei¬
schiffen, die am Ertrag teilhaben; Personen, die aus dem Arbeits¬
oder Dienstverhältnis nur ein Nebeneinkommen beziehen ; Personen,
deren Lebensunterhalt für gewöhnlich und in der Hauptsache von
anderen Personen bestritten wird; landwirtschaftliche Arbeiter
ohne Barlohn; von den Arbeitsanwendern („Arbeitgebern“) be¬
schäftigte eigene Kinder und von den Arbeitsanwendern erhaltene
fremde Personen, wenn sie keinen Lohn bekommen; Gelegenheits¬
arbeiter, die nicht für die Zwecke des Gewerbes oder Geschäftes
ihrer Arbeitsanwender, noch bei Spielen, sportlichen Veranstaltungen
u. dgl. beschäftigt werden; als Heimarbeiterinnen tätige Ehefrauen
versicherter Männer, wenn sie in der Hauptsache nicht auf ihren
eigenen Erwerb angewiesen sind; beim Ehegatten in Arbeit
stehende Personen. Welche Beschäftigungsarten als nicht ver¬
sicherungspflichtiger Nebenerwerb zu betrachten sind, wird im
Verordnungswege bestimmt. Die Versicherungspflicht gilt für
britische Untertanen und für Angehörige fremder Staaten in
gleicher Weise. Die Zahl der Versicherungspflichtigen wird auf
etwa zwölf Millionen geschätzt. Dazu kämen noch an zwei
Millionen Personen, welchen die freiwillige Versicherung gestattet
ist; das sind alle nicht versicherungspflichtigen Personen, die einen
regelmäßigen Beruf ausüben und ihren Lebensunterhalt von dieser
Berufstätigkeit beziehen, sowie Personen, die mindestens fünf
Jahre lang obligatorisch versichert waren. Es kann sich also
niemand gar so leicht wie in Deutschland die billigen Dienste der
Krankenkasse sichern. Das Jahreseinkommen freiwillig versicherter
Personen darf in keinem Fall 160 £ übersteigen.
Die Mittel zur Gewährung der im Gesetz vorgesehenen Leistungen
der Erwerbsunfähigenversicherung und zur Bestreitung der Ver¬
waltungskosten werden durch den Staat, die versicherten Personen
und deren Arbeitsanwender aufgebracht. Die Beitragsleistung
ist sehr kompliziert. In der Regel schießt der Staat zu den Kosten
der Versicherung männlicher Personen zwei Neuntel und zu
den Kosten der Versicherung weiblicher Personen ein Viertel
zu. Der Rest ist durch gemeinsame Beiträge der Arbeiter und
Arbeitsanwender aufzubringen. Die gemeinsamen Beiträge betragen
pro Woche: In Großbritannien für männliche Personen 7 d
(59 Pf.) und- für weibliche Personen 6 d (50 Pf.); in Irland für
männliche Personen 5 1 /2 d (46 Pf.) und für weibliche Personen
402
H. Fehlinger,
4V2 d (38 Pf.). Der Arbeitsanwender zahlt gewöhnlich von jedem
Beitrag in Großbritannien 3 d (25 Pf.), in Irland 2 1/2 d (21 Pf.).
Aber bei gering entlohnten über 21 Jahre alten Ver¬
sicherten, die nicht Kost und Quartier beim Arbeitsanwender
haben, erhöht sich dessen Beitragsanteil und der Staat gewährt
ihnen zum Teil einen Extrazuschuß.
Die Verteilung des Wochenbeitrags der über 21 Jahre alten
gering entlohnten Versicherten gestaltet sich wie folgt:
Durchschnittlicher Tagelohn
Beitrag
der
versicherten
Person
in Pence
santeil
des Arbeits¬
anwenders
in Pence
Extraznschuß
des Staates
in Pence
a) Männliche
Versicherte:
Großbritannien.
lx/2 Schilling oder weniger
—
6
1
über 172 bis 2 Schilling
1
5
1
über 2 bis 2l/2 Schilling
3
4
— ■
Irland.
P/2 Schilling oder weniger
—
472
1
über I72 bis 2 Schilling
72
4
1
über 2 bis 2l/2 Schilling
2
372
—
b) Weibliche Versicherte:
Großbritannien.
P/2 Schilling oder weniger
—
5
1
über 172 bis 2 Schilling
1
4
1
Irland.
P/2 Schilling oder weniger
—
372
1
über ll/2 bis 2 Schilling
3
1
Der gewöh liehe Staatszuschuß, den auch die mit über
2 Schilling im Tag entlohnten Versicherten erhalten, wird in Gro߬
britannien nicht ganz 2 d (17 Pf.) pro Person und Woche betragen,
denn er wird nicht nach den Beitrags e i n n a h m en, sondern nach
den Kosten der Versicherung berechnet, die wegen der Anhäufung
von Reservefonds immer geringer sein werden als die Einnahmen.
Ausländer erhalten keinen Staatszuschuß, außer
wenn sie am 4. Mai 1911 seit mindestens fünf Jahren einer Organi¬
sation angehörten, die als Versicherungsverein anerkannt wird,
oder wenn mit einer fremden Regierung ein diesbezüglicher Ver¬
trag abgeschlossen wird. Am 4. Mai 1911 wurde der Entwurf
des Gesetzes dem Parlament vorgelegt. Durch empfindliche Be¬
nachteiligung der Ausländer soll dieser Tag allen in der Erinnerung
bleiben !
Die Erwerbsunfähigen Versicherung in Großbritannien und Irland. 403
Wenn eine versicherte Person das 70. Lebensjahr vollendet,
so hört ihre Beitragsleistung und zugleich der Anspruch auf Kranken-
und Invalidengeld auf. Vom 70. Jahre an haben nämlich britische
Untertanen auf Altersrenten Anspruch, vorausgesetzt, daß ihr durch¬
schnittliches Jahreseinkommen nicht 31 £ 10 s (630 M.) übersteigt,
daß sie innerhalb der letzten 20 Jahre ihren dauernden Wohnsitz
12 Jahre hindurch in Großbritannien und Irland hatten, daß sie nicht
wegen einer gerichtlichen Verurteilung vom Bezugsrecht aus¬
geschlossen sind usw. Das Ausmaß der Altersrente bewegt sich, je
nach dem sonstigen Einkommen, zwischen 1 Schilling und 5 Schilling
in der Woche. Die über 70 Jahre alten Personen, die aus der Ver¬
sicherung ausscheiden, haben weiterhin Anspruch : Im ganzen König¬
reich auf Anstaltsbehandlung und in Großbritannien auch auf freie
Arzthilfe und Heilmittel, soweit sie überhaupt gewährt werden.
Neben den bereits erwähnten Zuschüssen gewährt der Staat
zur Bestreitung der Kosten der Anstaltsbehandlung einen jährlichen
Beitrag von 1 d (S1/2 Pf.) für jede versicherte Person. Für diesen
Zweck ist von den Beiträgen der Versicherten und der Arbeits¬
anwender ein Betrag von 1 s 3 d (1,25 M.) pro Person und Jahr zu
reservieren. Wenn die Kosten der ärztlichen Behandlung und der
Heilmittel ein gewisses Maximum übersteigen, so trägt der Staat
die Hälfte der Mehrkosten.
Die freiwillig versicherten Personen, die sich bis
zum 15. Januar 1913 anmeldeten und das 45. Lebensjahr noch
nicht überschritten hatten, zahlen dieselben Beiträge, die für obli¬
gatorisch versicherte Personen zu entrichten sind, nämlich in Gro߬
britannien Männer 7 d und Frauen 6 d, in Irland Männer d
und Frauen 4% d. Für ältere Personen, die innerhalb derselben
Frist beitraten, wurden mit Verordnung vom 1. Mai 1912 höhere
Sätze bestimmt. Eine andere Verordnung schreibt vor, daß vom
15. Januar 1913 an nur weniger als 18 Jahre alte Jugendliche zu
den gewöhnlichen Sätzen in die freiwillige Versicherung auf¬
genommen werden. Für 18— 24jährige männliche Personen beträgt
der Wochenbeitrag in Großbritannien schon 7 1/2 d und er steigt
nach und nach bis auf 1 s 5 d (1,42 M.) in der Altersklasse 62
bis nicht ganz 65 Jahre; 65jährige oder ältere Personen werden
nicht mehr aufgenommen. In Irland steigt der Beitrag der frei¬
willig versicherten Männer von 6 d in der Altersklasse 18 — 25 Jahre
auf 1 s 2 d in der Altersklasse 60 bis nicht ganz 65 Jahre. Die
Beiträge der freiwillig versicherten weiblichen Personen sind etwas
niedriger.
404
H. Fehlinger,
Jeder Unternehmer ist für die richtige Zahlung der Bei¬
träge verantwortlich. Er darf sich den Beitragsanteil der ver¬
sicherten Person von deren Lohn abziehen, aber nur bei der Aus¬
zahlung des Lohnes und immer nur für die letzte Lohnperiode.
Wenn die versicherte Person keinen Barlohn erhält, so hat der
Arbeitsanwender den ganzen Beitrag zu zahlen.
Jede versicherte Person erhält ein Mitgliedsbuch und eine
Beitragskarte von dreizehnwöchentlicher Gültigkeit, in welche die
Beitragsmarken eingeklebt werden. Zur Nachzahlung von Bei¬
tragsresten dient eine besondere Karte, die nach jeder Zahlung*
sofort dem Versicherungsverein zurückzugeben ist. Die beiden
anderen Legitimationen hat die versicherte Person selbst auf¬
zubewahren und dem Arbeitsanwender auf Verlangen vor¬
zuzeigen.
In der Zeit der Arbeitslosigkeit kann die versicherte
Person die Beiträge weiter zahlen, und zwar den eigenen, sowie
den Arbeitsanwenderbeitrag. Dadurch vermeidet sie, wegen
Restierens in ihren Ansprüchen verkürzt zu werden, oder des
Rechtes auf Unterstützung ganz verlustig zu gehen. In der
Arbeitslosenzeit ist der Beitrag am ersten Tage in jeder Woche
fällig, außer wenn die versicherte Person an diesem Tage krank
oder invalid ist. In dem Fall sind die Beiträge am ersten Tag
der auf die Beendigung der Erwerbsunfähigkeit folgenden Woche
fällig. Das Gesetz selbst bestimmt, daß die anerkannten Ver¬
sicherungsvereine befugt sind, ihren Mitgliedern die Nachzahlung
von Beitrags resten zu erlassen. Durch Verordnung wurde
jedoch verfügt, daß solche erlassene Beitragsreste bei Feststellung
der Unterstützungsberechtigung nicht als wirklich geleistete Bei¬
träge gelten dürfen. Nur hinsichtlich des Unterstützungsausmaßes
kommen die nachgelassenen Beiträge in Anrechnung.
Die Beitragsmarken, welche in die Mitgliedsausweise geklebt
werden, sind bei allen Postanstalten käuflich.
Alle Einnahmen an Beiträgen, Staatszuschüssen usw. fließen
den Landesversicherungsfonds zu, die von den Landesversicherungs¬
ämtern verwaltet werden.1) Alle Gelder, die nicht an die an¬
erkannten Vereine ausgezahlt, für sie angelegt, oder zur Begleichung
ihrer Verbindlichkeiten benötigt werden, sind zum Zweck der In-
]) Das Gesetz enthält hier einen Widerspruch; denn an anderer Stelle heißt
es, daß die Gelder der Postversicherung von den lokalen Versicherungsausschüssen
verwaltet werden.
Die Erwerbsunfähigenyersicherung in Großbritannien und Irland. 405
vestierung an die Nationalschuldkommission auszuzahlen. Von
jedem Wochenbeitrag einer durch einen anerkannten Verein ver¬
sicherten männlichen Person werden 1 5/9 Pence und von jedem
Beitrag einer weiblichen Person werden 1 V2 Penny für die Bildung von
„Reservewerten“ zurückgehalten und den betreffenden Personen
wird dafür ein nach dem Alter variierender Betrag gutgeschrieben.
Von dem verbleibenden Rest des Beitrags fließen im Fall männ¬
licher Personen vier Siebentel und im Fall weiblicher Personen
die Hälfte dem anerkannten Verein zu, welchem die Person an¬
gehört.
Vor dem 15. Januar 1913 besteht nur auf Heilstättenbehand¬
lung bei Tuberkulose Anspruch; im Gesetz ist vorgesehen, daß
auch bei anderen Krankheiten, die das Lokalverwaltungsamt zu
bezeichnen hat, Anstaltsbehandlung gewährt werden kann. Vom
15. Januar 1913 an erhalten die versicherten Personen beim Ein¬
tritt von Erwerbsunfähigkeit Geldunterstützung; die Bezugsdauer
währt nach mindestens 26 Beitragswochen bis zu 26 Wochen und
nach mindestens 104 Beitragswochen so lange, als die Erwerbs¬
unfähigkeit besteht. Weibliche Versicherte und die nicht ver¬
sicherten Ehefrauen versicherter Männer haben auf Mutterschafts¬
unterstützung Anspruch. In Großbritannien werden außerdem
freie Arzthilfe und Heilmittel gewährt. In Irland sind diese
Leistungen nicht obligatorisch, aber die anerkannten Vereine
können sie als „Zusatzunterstützungen“ einführen. In den ersten
26 Bezugswochen wird die Geldunterstützung als Krankengeld und
weiterhin wird sie als Invalidengeld bezeichnet. Die Gewährung
von Kranken- und Invalidengeld obliegt den anerkannten Vereinen
oder den Postanstalten, die Gewährung von Arzthilfe, Heilmitteln
und Anstaltsbehandlung hingegen den örtlichen Versicherungs¬
ausschüssen. Jede erwerbsunfähige versicherte Person hat also
gleichzeitig mit zwei Organen der Versicherung zu tun.
Das Höchstausmaß der Geldunterstützung beträgt für männ¬
liche Personen im A 1 1 e r von 21 Jahren aufwärts und für
männliche Jugendliche, die verheiratet sind oder Angehörige zu
versorgen haben, 10 Schilling (ebensoviel Mark) in der Woche, für
erwachsene weibliche Personen und weibliche Jugendliche, die ver¬
heiratet sind oder Angehörige zu versorgen haben, Schilling
in der Woche. Diese Unterstützungsbeträge werden 26 Wochen
lang gezahlt; bei längerer Dauer der Erwerbsunfähigkeit erhalten
die eben erwähnten Personen ohne Unterschied des Geschlechts
wöchentlich 5 Schilling.
406
H. Fehlinger,
Unverheiratete männliche Minderjährige, die keine An¬
gehörigen zu versorgen haben, erhalten in den ersten 13 Wochen
je 6 Schilling, dann 5 Schilling; unverheiratete weibliche Minder¬
jährige erhalten in den ersten 13 Wochen je 5 Schilling und hierauf
4 Schilling wöchentlich.
Die Personen, die nach Ablauf des ersten Jahres der Geltung
des Gesetzes zum erstenmal versicherungspflichtig werden, aber
beim Eintritt der Versicherungspflicht schon über 17 Jahre
alt sind, erhalten in den ersten 26 Wochen der Erwerbsunfähigkeit
eine verkürzte Unterstützung, die erst von den Versicherungs¬
ämtern festzusetzen ist, keinesfalls aber weniger als 5 Schilling in
der Woche betragen darf. Um eine höhere Unterstützung zu be¬
kommen, kann die betreffende Person verlangen, daß ihr Beitritt
vom Tage der Vollendung ihres 17. Lebensjahres datiert wird,
und daß die zwischen diesem Tag und dem Tag des tatsächlichen
Eintritts in die Versicherung liegenden Wochen als E es t wo che n
behandelt werden (s. S. 408). Nicht in ihrem Unterstützungsbezug
verkürzt werden jene Personen, die den Nachweis erbringen, daß
sie die Zeit zwischen der Vollendung ihres 17. Lebensjahrs und
dem Eintritt der Versicherungspflicht in der Schule oder sonst mit
ihrer Ausbildung verbrachten, oder die selbst die Differenz zwischen
dem Beitrag für obligatorische und für freiwillige Versicherung
daraufzahlen, oder die beim Versicherungsamt eine Summe hinter¬
legen, die hinreicht, um ihnen die volle Unterstützung gewähren
zu können.
Jedem, der mit den britischen Verhältnissen nicht vertraut ist,
werden die eben erwähnten Bestimmungen unerklärlich, wenn
schon nicht unsinnig, erscheinen. Die Benachteiligung defl
Personen, die erst nach Vollendung des 17. Jahres versicherungs¬
pflichtig werden soll — gegen die Massenfaulenzerei der Jugend¬
lichen ankämpfen helfen; ihren Zweck wird sie freilich kaum er¬
füllen und die jungen Leute werden, wie bisher, sehr häufig
zwischen dem Schulaustritt und dem Beginn des Erwerbslebens
ein paar Jahre süßen Nichtstuns einschalten. Schuld darin ist
hauptsächlich, daß die Berufslehre spät beginnt, so daß die 14-
und 15jährigen Knaben förmlich zum Faulenzen und dem nahe¬
verwandten Straßenhandel, wie ähnlichen Beschäftigungsarten, ge¬
zwungen werden. Dabei kommen sie nur allzuoft auf die schiefe
Bahn, die unaufhaltsam abwärts führt und schließlich im „Arbeits¬
haus“ endet.
Bei den gegenwärtigen Zuständen wirkt das Hinausschieben
Die Erwerbsimfäkigenversicheruiig in Großbritannien und Irland. 407
der Möglichkeit regelmäßiger Beschäftigung verderblich. Schöne
Reden über das Fernhalten schwacher Jungen von anhaltender
und anstrengender Arbeit nutzen nichts, und man kann den armen
Eltern nicht zumuten, daß sie die Lasten der Schule bis etwa zum
16. oder 17. Lebensjahr tragen.
Die Bestimmungen über Daraufzahlen der Differenz zwischen
den Beiträgen für obligatorische und freiwillige Versicherung und
über Hinterlegung von Geldsummen beziehen sich hauptsächlich
auf alte Leute.
Für Personen, die im ersten Jahre der Geltung des Gesetzes
versicherungspflichtig wurden, aber bereits über 50 Jahre alt waren
und vor der Erkrankung noch nicht mindestens 500 Wochenbeiträge
gezahlt hatten, gelten folgende Unterstützungssätze: Beim Eintritt
in die Versicherung über 50 — 60 Jahre alt gewesene Männer
bekommen in den ersten 26 Wochen der Erwerbsunfähigkeit je
7 Schilling und dann 5 Schilling. Frauen, bei welchen dieselben
Verhältnisse zutreffen, haben in den ersten 26 Wochen auf je
6 Schilling und dann auf 5 Schilling Anspruch. Beim Eintritt in
die Versicherung über 60 Jahre alte Personen beiderlei
Geschlechts werden in den ersten 13 Wochen je 6 Schilling und
dann 5 Schilling in der Woche gezahlt.
Das Krankengeld wird vom vierten Tag der Erwerbsunfähig¬
keit an gewährt.
Wiederholte Erkrankung einer versicherten Person im
Verlauf von zwölf aufeinander folgenden Monaten wird für den
Zweck der Feststellung der Unterstützungsberechtigung und des
Unterstützungsausmaßes als ein Krankheitsfall betrachtet, auch
wenn die Art der Krankheit jedesmal eine andere ist. Diese Vor¬
schrift bewirkt, daß chronisch kranke Personen vielfach nur einmal
auf das Höchstausmaß der Unterstützung Anrecht haben werden
und bei allen folgenden Erkrankungen immer nur 5 Schilling in
der Woche bekommen.
In keinem Fall darf das Unterstützungsausmaß einer ver¬
sicherten Person mehr als zwei Drittel ihres gewöhnlichen Lohnes
betragen.
Wenn eine versicherte Person Unfallentschädigung be¬
zieht, deren wöchentliches Ausmaß dem des Kranken- oder Invaliden¬
geldes gleichkommt oder höher als dieses ist, so hat die betreffende
Person auf Kranken- oder Invalidengeld keinen Anspruch; ist das
Ausmaß der Unfallunterstützung geringer, so haben die anerkannten
Vereine oder die Postanstalten die Differenz daraufzuzahlen.
408
H. Feklinger,
Sehr nachteilig für die nicht ständig beschäftigten Arbeiter
sind die Vorschriften über Beitragsreste. Wenn eine ver¬
sicherte Person nicht mindestens 49 Wochenbeiträge im Jahres¬
durchschnitt entrichtet hat, so wird ihr nämlich der Unterstützungs¬
anspruch verkürzt. Wenn die durchschnittliche Zahl der Beitrags¬
reste 4 — 13 beträgt, so wird entweder das Unterstützungsausmaß
bei männlichen Personen um je 1/2 Schilling und bei weiblichen
Personen um je */4 Schilling pro Beitragsrest herabgesetzt, um
welchen die Zahl der Reste drei übersteigt, oder es wird der Be¬
ginn des Unterstützungsbezuges um je einen Tag pro Beitragsrest
hinausgeschoben.
Versicherte Personen, die mehr als 13 Beitragsreste pro Jahr
aufweisen, erhalten keine Geldunterstützung, und bei mehr als
26 Beitragsresten pro Jahr erlischt auch der Anspruch auf alle
anderen Unterstützungen. Doch sind diese Personen, solange sie
in Arbeit stehen, zur Beitragsleistung verpflichtet.
Nicht gerechnet werden die während der Krankheit oder
Invalidität entstandenen Beitragsreste. Wenn Beitragsreste zurück¬
gezahlt werden und im Verlaufe eines Monats bei der betreffenden
Person Arbeitsunfähigkeit eintritt, so gelten die Reste als noch
nicht bezahlt.
Die Masse der „Gelegenheitsarbeiter“, die es in Großbritannien
überall gibt, nicht nur in den großen Industriestädten, ist zweifellos
weniger als 39 Wochen im Jahr beschäftigt. Ihnen kommt das
neue Gesetz so gut wie gar nicht zustatten.
Als Mutterschaftsunterstützung erhalten Wöchnerinnen
einen Beitrag von 30 Schilling zu den Kosten der Geburtshilfe.
Versicherten Ehefrauen wird nach der Entbindung überdies die
gewöhnliche Erwerbsunfähigenunterstützung gezahlt. Unverheiratete
weibliche Personen können erst vier Wochen nach der Entbindung
Erwerbsunfähigenunterstützung beziehen. In einer Zeit, da fast
allgemein die Notwendigkeit des Schutzes der unehelichen Mütter
und ihrer Kinder anerkannt wird, ist diese Ausnahmegesetzgebung
gegen die unehelichen Mütter ungerechtfertigt , und es ist un¬
begreiflich, daß die Gesetzgeber sich den Wünschen gewisser Sitt¬
lichkeitsapostel unterordneten.
Für weibliche Personen, die durch Eheschließung und
Aufgabe der versicherungspflichtigen Beschäftigung aus der Ver¬
sicherungspflicht ausscheiden, sind besondere Bestimmungen ge¬
troffen. Sie können ohne weitere Bedingung in die freiwillige Ver¬
sicherung eintreten und haben gegen Zahlung eines Wochenbeitrags
Die Erwerbsunfähi gen Versicherung in Großbritannien und Irland. 409
von 3 d (25 Pf.) Anspruch auf freie Arzthilfe, Heilmittel und Geld¬
unterstützung von 5 Schilling in den ersten dreizehn Wochen und
3 Schilling während der weiteren Dauer der Krankheit oder
Invalidität. Ehefrauen, die sich nicht innerhalb eines Monats nach
Auf hören der obligatorischen zur freiwilligen Versicherung melden,
können später die freiwillige Versicherung nicht mehr eingehen.
Doch werden ihnen zwei Drittel des auf sie treffenden „Reserve¬
wertes“ (s. S. 405) gutgeschrieben und sie haben so lange auf Ent¬
bindungsbeiträge und Erwerbsunfähigenunterstützung Anspruch, bis
ihr Guthaben erschöpft ist.
Verheiratete Frauen können nur in der oben bezeichneten
Weise die freiwillige Versicherung eingehen; Frauen, die vorher
nicht in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung tätig waren,
werden als freiwillige Mitglieder nicht aufgenommen und weibliche
Personen, die vor der Eheschließung freiwillig versichert waren,
scheiden durch die Eheschließung aus der Versicherung aus. Diese
Vorschriften werden die Durchführung der Versicherung ungemein
umständlich machen und vom Standpunkt der sozialen Hygiene
sind sie zu verwerfen.
Solange eine versicherte Person in einem Krankenhaus, Irren¬
haus, Asyl, Rekonvaleszentenheim oder Armenhaus untergebracht
ist, erhält sie keine Kranken- oder Invalidenunterstützung; dabei
ist es gleichgültig, ob die Anstalt aus öffentlichen oder privaten
Mitteln erhalten wird. Die Beträge, die sonst an Kranken- oder
Invalidengeld zu zahlen gewesen wären, sind ganz oder teilweise
zur Unterstützung von Angehörigen der in der Anstalt befind¬
lichen Person zu verwenden; hat die Person keine bedürftigen
Angehörigen, so fließen die Gelder der betreffenden Anstalt oder
dem örtlichen Versicherungsausschuß zu.
Personen, die nicht britische Untertanen sind, dürfen
von den anerkannten Versicherungsvereinen als Mitglieder auf¬
genommen werden. (Im Entwurf des Gesetzes war die Aufnahme
von Ausländern verboten.) Doch darf ihnen nur eine verkürzte
Unterstützung gezahlt werden, und zwar männlichen Per¬
sonen sieben Neuntel und weiblichen Personen drei Viertel der für
Inländer gültigen Unterstützungssätze. Von den Staatszuschüssen
darf kein Teil verwendet werden, um Ausländern Arzthilfe, Heil¬
mittel oder Anstaltsbehandlung zu gewähren. Jeder anerkannte
Verein, der Ausländer aufnimmt, hat nach Ablauf jedes Jahres
den örtlichen Versicherungsausschüssen die von ihnen für Aus¬
länder ausgegebenen Beträge voll zurückzuerstatten. „Reserve-
410
H. Feklinger,
werte“ werden den Ausländern nicht gutgeschrieben. — Die Sonder¬
vorschriften über Ausländer würden die anerkannten Vereine nötigen,
über inländische und ausländische Mitglieder gesondert Buch zu
führen. Es ist unwahrscheinlich, daß sie sich dieser Mühe unter¬
ziehen und in der Praxis werden die Ausländer auf die Post¬
versicherung (S. 412) angewiesen sein. So wollte es doch Herr
David Lloyd George auch! Witwen und geschiedene Frauen von
Ausländern, die vor ihrer Verehelichung britische Untertaninnen
waren, gelten als solche für die Zwecke des Gesetzes.
Aktive Angehörige der Armee und Marine erhalten keine
Unterstützungen auf Grund dieses Gesetzes, abgesehen davon, daß
ihre Frauen auf Mutterschaftsunterstützung Anspruch haben. Vom
Sold jedes Mannes wird ein Betrag von lx/2 d pro Woche ab¬
gezogen und den gleichen Betrag schießt die Militär- oder Marine¬
verwaltung zu. Die auf diese Weise aufgebrachten Geldmittel
werden zum Teil beim Dienstaustritt oder Übertritt in die Reserve
den betreffenden Personen als „Transferierungswerte“ (S. 413) gut¬
geschrieben und zum Teil zur Bildung von Reservewerten sowie
zur Schaffung eines „Armee- und Marineversicherungsfonds“ ver¬
wendet; aus diesem Fond werden alle jene ehemaligen Angehörigen
der Armee und Marine unterstützt, die wegen ihres Gesundheits¬
zustandes von keinem anerkannten Verein aufgenommen werden
(bei der Postversicherung aber nur ganz geringfügige Unter¬
stützungen erhalten würden). Der Armee- und Marineversicherungs¬
fond zahlt dieselben Unterstützungen wie die anerkannten Ver¬
eine und zwei Neuntel seiner Ausgaben trägt der Staat.
Die Organe der Erwerbsunfähigen Versicherung sind:
1. Die anerkannten Vereine;
2. die Postämter;
3. die örtlichen Versicherungsausschüsse;
4. die Landesversicherungsämter;
5. das Reichsversicherungsamt.
Jeder Verein, dessen Statuten den Vorschriften des Gesetzes
entsprechen, kann zum Zweck der Beteiligung an der Versicherung
von den Versicherungsämtern anerkannt werden. Die Vereine können
für die Zwecke der Versicherung auch besondere Sektionen ein¬
richten; in diesem Fall gelten die Bestimmungen des Gesetzes
nicht für den ganzen Verein, sondern nur für seine Versicherungs¬
sektion. Damit sollte namentlich den Gewerkschaften ein Gefallen
Die Erwerbsunfähigen Versicherung in Großbritannien und Irland. 411
getan und vermieden werden, daß sie ihre ganze Gebarung der
Regierungsaufsicht unterstellen müssen, falls sie sich an der Durch¬
führung des Gesetzes beteiligen wollen. Andererseits wurde damit
den geschäftsmäßigen Versicherungsunternehmungen die Teilnahme
an der Durchführung der Arbeiterversicherung ermöglicht; denn
die erste Bedingung der Anerkennung ist, daß ein Verein — oder
die Arbeiterversicherungssektion eines Vereines — nicht um Ge¬
winn tätig sein darf.
Die Angelegenheiten eines anerkannten Vereines müssen der
uneingeschränkten Kontrolle seiner Mitglieder, soweit sie versicherte
Personen sind, unterstehen. Die Mitglieder, oder von ihnen be¬
stimmte Delegierte, erwählen den Vereinsvorstand. Nur hinsicht¬
lich der Betriebskassen, für deren Solvenz der Unternehmer garan¬
tiert, läßt das Gesetz eine Ausnahme zu: Ein Viertel der Vor¬
standsstimmen dieser Kassen hat der Unternehmer.
Die Mitgliedschaft bei einer Betriebskasse darf nicht zur Be¬
dingung der Aufnahme in die Arbeit gemacht werden. Jedem
Mitglied einer Betriebskasse muß der Übertritt in einen anderen
anerkannten Verein freistehen. Die Betriebskasse ist verpflichtet,
jede aus dem Betrieb ausscheidende versicherungspflichtige Person,
die wegen ihres Gesundheitszustandes von keinem anderen aner¬
kannten Verein aufgenommen wird, weiterhin als Mitglied zu be¬
halten.
Hiervon abgesehen, steht den anerkannten Vereinen die Wahl
ihrer Mitglieder vollkommen frei. Jeder anerkannte Verein ist
berechtigt, in Gemäßheit mit sein en Vorschriften Mitgliedschafts¬
kandidaten aufzunehmen oder abzuweisen und Mitglieder auszu¬
schließen. Nur wegen des Alters allein darf kein Mitgliedschafts¬
kandidat abgewiesen werden. Die Folge davon wird sein, daß die
großen Hilfsgesellschaften (Friendly Societies), die für die Aufnahme
von Mitgliedern ärztliche Gesundheitszeugnisse vorschreiben, alle
schlechten Risiken ab weisen. Zu häufiger Erkrankung
neigende Personen werden den Gewerkschaften zufallen, soweit
nicht auch diese die ärztliche Untersuchung vorschreiben, oder sie
müssen sich der Postversicherung anschließen und mit all deren
Nachteilen zufrieden sein.
Doppelversicherung ist verboten. Jede versicherungspflichtige
Person darf nur einem anerkannten Verein oder der Postversiche¬
rung angehören. Da bisher ein großer Teil — wohl die Mehrzahl —
der Gewerkschaftsmitglieder auch Hilfsgesellschaften angehörten,
so müssen sie aus einer der beiden Organisationen ausscheiden. Eine
412
«
H. Fehlinger,
Ausnahme findet nur dann statt, wenn eine der beiden Organisa¬
tionen nicht selbst die Anerkennung als Versieh erungsverein er¬
langte, sondern eine Versiclierungssektion bildete, was die bisher
„anerkannten“ Gewerkschaften zumeist taten. Die großen Hilfs¬
gesellschaften sind dagegen alle direkt anerkannt, sie haben keine
besonderen Sektionen ins Leben gerufen.
Wenn es ihre Finanzlage zuläßt, so können die anerkannten
Vereine außer den hier angegebenen Mindestleistungen noch ge¬
wisse Zusatzunterstützungen einführen. Mit Genehmigung des zu¬
ständigen Versicherungsamts können die Vereine die Kranken- und
Invalidenunterstützung anders gestalten, als im Gesetz vor¬
geschrieben ist, und sie können auch eine oder beide dieser Unter¬
stützungsarten ganz fallen lassen und dafür Leistungen einführen,
die sonst als Zusatzunterstützungen gelten. Die Vereine sind be¬
fugt, wegen Vergehens gegen ihre Satzungen Geldstrafen zu ver¬
hängen, die für das erste Vergehen 10 Schilling und für wieder¬
holte Vergehen 20 Schilling nicht übersteigen dürfen, oder die
Mitglieder bis zur Dauer eines Jahres von allen oder gewissen
Unterstützungen auszuschließen. Kein Mitglied darf bestraft werden,
weil es sich weigert, eine chirurgische Operation oder die Impfung
an sich vornehmen zu lassen. Die Krankenkontrolle haben die
Vereine selbst zu regeln, doch dürfen weibliche Mitglieder nur
durch weibliche Personen kontrolliert werden.
Versicherungspflichtige Personen, die von keinem anerkannten
Verein aufgenommen werden, oder die einem solchen Verein nicht
beitreten wollen, müssen die Versicherung durch ein Post¬
amt bewerkstelligen. Ihre Beiträge fließen in einen besonderen
Fond, der als „Postamtsfond“ bezeichnet wird. Jeder Postver¬
sicherte kann nur so viel Unterstützung erhalten, als sein eigenes
Beitragsguthaben beträgt; bei britischen Untertanen kommt hierzu
der Staatszuschuß. Die Gewährung ärztlicher Hilfe und die Ab¬
gabe von Heilmitteln darf jedoch keinem Postversicherten im Laufe
eines Verwaltungsjahres eingestellt werden; das ist nur am Jahres¬
schluß zulässig. Von den Beitragsguthaben dieser Versicherten
werden alljährlich bestimmte Abzüge für Ärztehonorar, Heilmittel
und Verwaltungskosten gemacht. Wenn nach Vornahme der Ab¬
züge kein hinreichendes Guthaben verbleibt, so ist die betreffende
Person während des ganzen Jahres zu keiner Unterstützung be¬
rechtigt. Die örtlichen Versicherungsausschüsse können Ausnahmen
von dieser Regel gestatten.
Beim Ableben eines Postversicherten erhalten seine Erben das
Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien und Irland. 413
aus seinem Beitragsanteil stammende Guthaben ausbezahlt. Das
aus den Unternelimerbeiträgen stammende Guthaben wird zurück¬
behalten.
Die Bestimmungen über die Postversicherung gelten nur bis
zum 1. Januar 1915. Was dann an ihre Stelle treten soll, ist noch
unentschieden. Im Gesetzentwurf war die Postversicherung als
dauernde Einrichtung gedacht.
Beim Übertritt eines Versicherten von der Postversicherung
in einen anerkannten Verein, oder umgekehrt, oder von einem an¬
erkannten Verein in einen anderen, wird auch ein Geldbetrag über¬
wiesen, der als „Transferier ungs wert“ bezeichnet wird. Die
Berechnung des Transferierungswertes geschieht auf Grund von
Tabellen, welche das Reichsversicherungsamt aufstellt.
Für jeden Verwaltungsbezirk wird ein Versicherungs¬
ausschuß eingesetzt, der aus 40—80 Mitgliedern besteht. Drei
Fünftel der Mitglieder werden von dem zuständigen Landesver¬
sicherungsamt als Vertreter der versicherten Personen des
Bezirkes ernannt. Die anerkannten Vereine und etwa be¬
stehende Organisationen der Postversicherten haben das Recht,
dem Versicherungsamt die Personen vorzuschlagen, welche die Ver¬
sicherten vertreten. Ein Fünftel der Mitglieder ernennt der Be¬
zirksrat. Zwei Mitglieder werden von den Ärzten des Bezirkes,
oder wenn sie eine Organisation haben, von ihrer Organisation
gewählt; dazu kommen noch 1 — 3 ärztliche Mitglieder, welche
der Bezirksrat ernennt. Die übrigen Mitglieder werden gleichfalls
vom Landesversicherungsamt ernannt; davon müssen mindestens
zwei Mitglieder Frauen und mindestens ein Mitglied muß Arzt sein.
Unter den vom Bezirksrat ernannten Mitgliedern müssen ebenfalls
mindestens zwei Frauen sein. Wenn die Bezirksräte zu den Kosten
der Arzthilfe und Heilmittel, oder der Anstaltsbehandlung, Beiträge
leisten, so steigt die Zahl ihrer Vertreter im Versicherungsausschuß
und die Vertretung der versicherten Personen wird entsprechend
vermindert. In Bezirken, wo es erforderlich ist, sind Subkomitees
der Versicherungsausschüsse einzusetzen, deren Zusammensetzung
durch Verordnung des Versicherungsamtes bestimmt wird.
Den Versicherungsausschüssen obliegt vor allem die Gewährung
von Arzthilfe, Heilmitteln und Anstaltsbehandlung.
Jeder Versicherungsausschuß hat eine Liste der Ärzte zu ver¬
öffentlichen, die sich zur Behandlung versicherter Personen bereit
erklärten. Jeder qualifizierte Arzt ist berechtigt, in die Liste auf-
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 27
414
/
H. Fehlinger,
genommen zu werden1). Aber wenn das Versicherungsamt findet,
daß die Beibehaltung eines Arztes für die Versicherten nachteilig
wäre, so wird er von der Liste gestrichen. Jeder Versicherte hat
das Recht, sich den Arzt zu wählen, von dem er behandelt werden
will; der Arzt kann ebenso die Behandlung jedes Versicherten ab¬
lehnen. Ein Wechsel des Arztes ist nur zu den vorgeschriebenen
Zeitpunkten gestattet. In der Zwischenzeit muß sich der Ver¬
sicherte von dem Arzt behandeln lassen, den er aus der Liste
wählte.
Jene Versicherten, die sich selbst keinen Arzt wählten, werden
von den Versicherungsausschüssen bestimmten Ärzten zugewiesen,
ebenso jene, deren Behandlung der auserwählte Arzt ablehnt.
Wenn das Versicherungsamt meint, daß die in eine Liste auf¬
genommenen Ärzte keinen zureichenden ärztlichen Dienst gewähr¬
leisten, so kann es den Versicherungsausschuß veranlassen, daß für
den betreffenden Bezirk von der Regel abgegangen und auf andere
Weise für entsprechende ärztliche Hilfe gesorgt wird. In solchen
Fällen kann auch das Recht der Versicherten auf ärztliche Be¬
handlung aufgehoben werden.
Durch Verordnung des Versicherungsamtes können Personen,
deren Einkommen eine gewisse (örtlich verschiedene) Grenze über¬
steigt, von der Gewährung freier Arzthilfe ausgenommen werden;
auch kann Versicherten durch Anordnung des Versicherungsamtes
gestattet werden, sich auf eigene Kosten ärztliche Hilfe und Heil¬
mittel zu beschaffen.
Jeder Versicherungsausschuß hat Vorkehrungen zur Beschaffung
geeigneter und genügender Drogen, Medikamente und sonstiger
vorgeschriebener Heilmittel zu treffen, und zwar wird für jeden
Bezirk eine Liste der Personen oder Körperschaften aufgestellt,
welche die Heilmittel auf ärztliche Verschreibung an die ver-
L Wegen der Festsetzung des Ärztehonorars kam es zwischen der British
Medical Association und Herrn David Lloyd George zum Konflikt. Der Finanz¬
minister bot den Ärzten für Behandlung und Beschaffung von Medikamenten
6 Schilling pro Person und Jahr, während die British Medical Association
11 V2 Schilling forderte. Der Finanzminister schätzte im Lauf der Verhandlungen
den Honorarsatz auf 8 ]/2 Schilling, wovon 6 l/2 Schilling auf die Behandlung und
der Rest auf Medikamente entfallen. Als die Ärzte damit noch nicht zufrieden
waren, wurde ihnen die Einrichtung eines amtsärztlichen Versicherungsdienstes
in Aussicht gestellt. Daraufhin empfahl anfangs November die B.M.A. die ver¬
suchsweise Annahme der Bedingungen der Regierung. Es ist kaum zweifel¬
haft, daß die ärztlichen Bezirksversammlungen diesen Vorschlag annehmen werden.
Die Erwerbsunfähigen Versicherung- in Großbritannien und Irland. 415
sicherten Personen zu den vom Versicherungsausschuß festgesetzten
Preisen liefern. Jede Firma, Person usw., welche die fraglichen
Mittel zum Verkauf hat, ist zur Aufnahme in die Liste berechtigt;
die Streichung kann wegen unbefriedigender Leistung erfolgen.
In keiner Weise darf aber gegen die Vorrechte verstoßen werden,
die durch die Gesetze von 1815 (!), 1868 und 1908 den Apothekern
eingeräumt wurden.
Zum Zwecke der Anstaltsbehandlung versicherter Personen
haben die Versicherungsausschüsse mit Anstalten, Personen und
Lokalbehörden — ausgenommen den Armenbehörden — Ab¬
machungen zu treffen. Die Anstaltsbehandlung kann auf An¬
gehörige der versicherten Personen ausgedehnt werden; die Ver¬
sicherungsausschüsse sind dabei nur insoweit an die Zustimmung
des Versicherungsamtes gebunden, als die ihnen zur Verfügung
stehenden Mittel nicht hinreichen und Zuschüsse für die Anstalts¬
behandlung der Angehörigen verlangt werden.
Die Versicherungsausschüsse haben vom Versicherungsamt im
Einvernehmen mit dem Lokalverwaltungsamt vorgeschriebene Be¬
richte über die Gesundheitsverhältnisse der versicherten Personen
ihrer Bezirke zu erstatten und von ihnen verlangte statistische
Erhebungen usw. durchzuführen. Außerdem haben sie über Ge¬
sundheitsfragen Vorträge zu veranstalten und Schriften zu ver¬
öffentlichen, wobei sie gemeinsam mit Universitäten, lokalen Unter¬
richtsbehörden usw. Vorgehen können.
Wenn eine versicherte Person von einem Unfall betroffen wird
und nicht selbst ein Verfahren zur Erlangung von Entschädigung
einleitet, so hat dies der Versicherungsausschuß zu tun. Die Ver¬
sicherungsausschüsse haben ferner Bezirkspfleger zu ernennen,
welche die versicherten Personen besuchen. Diesen Ausschüssen
obliegt auch die Verwaltung der Fonds der Postversicherung.
Zur Bestreitung der Anstaltsbehandlung, die vorläufig auf
Tuberkulöse beschränkt ist, erhalten die Versicherungsausschüsse
für jede versicherte Person 1 Schilling 4 Pence im Jahr. Jeder
anerkannte Verein kann mit jedem ‘Versicherungsausschuß über die
Höhe der Arzt- und Heilmittelkosten besondere Abmachungen treffen.
(Nachdem den Ärzten auf ihr Verlangen ein einheitlicher
Honorarsatz zugestanden wurde, ist diese Bestimmung wohl als
gegenstandslos zu betrachten. Durch sie wäre die Verwaltung
kompliziert gemacht worden und die rein bureaukratische Tätig¬
keit hätte die Oberhand gewonnen.) Für die administrativen Aus-
27*
416
H. Fehlinger,
lagen erhält jeder Versicherungsausschuß von jeder versicherten
Person seines Bezirks 1—2 d pro Jahr.
Die Versicherungsausschüsse — ebenso wie die anerkannten
Vereine — sind berechtigt, bei außergewöhnlich hoher Er-
krankungshäufigkeitErsatz der Mehrkosten der Ver¬
sicherung von jenen Personen, Korporationen usw. zu fordern,
die nach ihrer Meinung an der gesteigerten Erkrankungshäufigkeit
die Schuld tragen. Kommt es zwischen dem Versicherungsorgan,
das die Anschuldigung erhebt, und der vermeintlich schuldigen
Person, Korporation usw. zu keiner Einigung — was wohl die
Regel sein wird — so kann sich das Versicherungsorgan an den
Staatssekretär (des Innern ?) oder an das Lokal verwaltungsamt mit
dem Ersuchen um Vornahme einer öffentlichen Erhebung
über die Angelegenheit wenden. Die erwähnten Ministerien können
dem Verlangen entsprechen, doch sind sie in keiner Weise ge¬
bunden. W enn eine Erhebung stattfindet, und wenn es sich dabei
herausstellt, daß in den drei vorausgegangenen Jahren, oder beim
Ausbruch einer Epidemie während irgendeines kürzeren Zeit¬
abschnittes, die Erkrankungshäufigkeit um mehr als 10 Proz. höher
war als die normalerweise zu erwartende, und daß diese gesteigerte
Erkrankungshäufigkeit auf das Verschulden von Unternehmern,
Hausbesitzern, Wasserversorgungsanstalten usw. zurückzuführen ist,
so haben die betreffenden Personen, Korporationen usw. die von
dem Versicherungsausschuß oder anerkannten Verein geforderten
Mehrkosten der Versicherung zu zahlen. Nach dem Wortlaut des
Gesetzes ist es zweifellos, daß auch Behörden, die ihre Pflichten
auf dem Gebiet der öffentlichen Gesundheitspflege nicht ganz er¬
füllen, zum Ersatz der Kosten gesteigerter Erkrankungshäufigkeit
verhalten werden können. Freilich werden sich die zuständigen
Behörden nicht allzuleicht zur Vornahme der entscheidenden öffent¬
lichen Erhebungen herbeilassen, denn solche Veranstaltungen sind
in Großbritannien gar kostspielig.
Für England, Wales, Schottland und Irland besteht je ein
Landesversicherungsamt, dem die Verwaltung des Ver¬
sicherungsfonds und die Erledigung aller jener Verwaltungs¬
angelegenheiten obliegt, die nur das eine Land betreffen. Vor¬
schriften über die Zusammensetzung der Landesversicherungsämter
enthält das Gesetz nicht; es bestimmt nur, daß ihre Mitglieder
vom Finanzminister ernannt werden. Das englische Landes-
Die Erwerbsunfäkigenversicherung in Großbritannien und Irland. 417
versicherungsamt bestellt aus acht Mitgliedern, die drei anderen
Landesversicherungsämter haben nur fünf Mitglieder, einschließlich
des als Sekretär fungierenden Hauptregistrars der Hilfsgesell¬
schaften. Jedem Landes versicherungsamt gehört ein Arzt an und
nur unter den Mitgliedern des Landes Versicherungsamts für Wales
befindet sich keine Dame.
Jedes Versicherungsamt ernennt alle Beamten und Diener,
die zur Durchführung des Gesetzes erforderlich sind. Außerdem
ernennt sich jedes Versicherungsamt einen Beirat, der aus Ver¬
tretern der anerkannten Vereine und der Unternehmerverbände,
qualifizierten Ärzten, mindestens zwei Frauen und anderen Mit¬
gliedern besteht. Diesen Beiräten widmet das Gesetz neun Zeilen.
Ihr Einfluß wird entsprechend sein!
Das Reichsversicherungsamt besteht aus Mitgliedern
der Landesversicherungsämter und nicht mehr als drei anderen
Personen, wovon eine der Vorsitzende ist. Die Ernennungen er¬
folgen durch den Finanzminister. Das Reichsversicherungsamt ist
nur in versicherungstechnischen Fragen und solchen anderen An¬
gelegenheiten zuständig, bei welchen „Einheitlichkeit der Praxis
im ganzen Königreich als wesentlich betrachtet wird“. In Sachen,
wo nicht absolute Einheitlichkeit, wohl aber eine gewisse Über¬
einstimmung erforderlich ist, entscheidet das Reichsversicherungs¬
amt gemeinsam mit den Landesversicherungsämtern. Auch das
Reichsversicherungsamt hat seinen besonderen „Beirat“.
Streitigkeiten zwischen den Versicherten und den anerkannten
Vereinen sind in erster Linie in Gemäßheit mit den statutarischen
Bestimmungen der Vereine zu schlichten, doch ist Berufung an
das Landesversicherungsamt zulässig. Streitigkeiten zwischen den
Versicherten und den lokalen Versicherungsausschüssen werden vom
Landesversicherungsamt ausgetragen, das zu diesem Zweck Schieds¬
richter ernennt.
Wer durch wissentlich falsche Angaben für sich oder eine
andere Person eine Leistung auf Grund des Gesetzes zu erlangen
sucht, wird im summarischen Verfahren mit Gefängnis bis zu drei
Monaten, mit oder ohne Zwangsarbeit, bestraft. Bei anderen Vergehen
gegen das Versicherungsgesetz, sowie die dazugehörigen Durch¬
führungsvorschriften und Verordnungen, ist die Höchststrafe eine
Geldbuße von 10 £ (200 M.). Wie bereits bemerkt, können über¬
dies die anerkannten Vereine empfindliche Strafen gegen ihre Mit¬
glieder verhängen.
418 H. Fehlinger, Die Erwerbsunfähigenversicherung in Großbritannien u. Irland.
Es ist nicht zweifelhaft, daß das Gesetz geeignet ist, die
Volksgesundheit ganz bedeutend zu fördern und das materielle
Elend in Krankheits- und Invaliditätsfällen zu mildern. Aber es
enthält Härten, die weder vom Standpunkt der Sozialhygiene noch
der Sozialpolitik berechtigt sind. Überdies ist der Verwaltungs¬
apparat zu kompliziert und die Verwaltungskosten werden trotz
der Übernahme eines Teils der Geschäfte durch die Hilfsgesell¬
schaften und andere Vereine ungebührlich hoch sein.
c
Die Entwicklung der Stadt Perleberg in
be völ kcr un gsstatis ti scher und sanitärer Beziehung.
Von Stadtsekretär Unger, Perleberg.
Der moderne Wettstreit der Städte um den Ruhm, eine be¬
sondere Stadt in mannigfacher Beziehung zu sein, läßt leider
häufig den wichtigsten Punkt in den Hintergrund treten, die Stadt¬
hygiene, überhaupt die Gesundheitsverhältnisse. Wollte man einmal
in dieser Beziehung „sieben“, da würde gar manche sonst hoch-
berühmte Stadt hinter vielen weniger bekannten Städten zurück¬
stehen. Das Bestreben, die „Perle der Prignitz“, das Städtchen
Perleberg, eingehender zu studieren, hat mir solch erfreuliche
Resultate in bevölkerungsstatistischer wie sanitärer Beziehung ge¬
bracht, daß ich glaube, weitere Kreise dafür interessieren zu
dürfen.
Perleberg ist eine Stadt von noch nicht ganz 10000 Ein¬
wohnern, liegt inmitten prachtvoller Waldungen im Herzen der
Prignitz. Fast jedes Haus hat seinen Garten; überall sind freie
Plätze, die durch gärtnerischen Schmuck zu Anlagen nmgewandelt
sind. Ein klares, gesundes Flüßchen, das die Stadt in 2 Armen
durchfließt, bringt malerische Szenerien. Viele Straßen sind mit
Bäumen bepflanzt. Sucht man nach rauchenden Schloten — nur
wenige davon findet man, die sich bescheiden, fast möchte man
sagen: beschämt ihres Wölkchens Rauch entledigen. Das ist der
Boden zu meinen Untersuchungen, die nun verständlicher sein
werden. Perleberg ist eine der Städte, die schon seit 1874 die
obligatorische ärztliche Leichenschau hat und in den sorgfältig
aufbewahrten Totenscheinen einen kostbaren Schatz besitzt. Dies
ist neben den standesamtlichen Unterlagen sowie den Verwaltungs¬
berichten des Magistrats die Quelle, aus der ich schöpfte.
420
Unger,
Meine Untersuchungen umfassen den Zeitraum von 1875 bis
1911; sie auf frühere Zeiten auszudehnen, hielt ich nicht für nötig,
da einerseits erst seit dem Inkrafttreten des Personenstands¬
gesetzes wirklich zuverlässige Grundlagen über die Bevölkerungs¬
verhältnisse vorhanden sind, andererseits alle Einrichtungen auf
hygienischem Gebiete, die irgendwie entscheidend auf die Sterb¬
lichkeit der Einwohner einwirken könnten, den letzten Dezennien
an gehören.
Die Einwohnerzahl Perlebergs betrug nach den Volks¬
zählungen in den Jahren:
1875 = 7587
1880 = 7673
1885 = 7698
1890 = 7565
1895 = 8180
1900 = 8456
1905 = 9502
1910 = 9665
In 35 Jahren ist die Einwohnerzahl Perlebergs hiernach um
21,5 Proz. gestiegen.
Die Zahl der
Geburten
ergab im 5jährigen Durchschnitt folgendes:
Auf 1000 Einwohner kamen an Geburten
in den
Jahren
in Perleberg
in Preußen
1875-
-1880
31,0
41,0
1881-
-1885
31,2
38,9
1886-
-1890
30,3
38,7
1891-
-1895
26,9
38,2
1896-
-1900
27,4
37,7
1901-
-1905
27,2
36,0
1906-
-1910
26,3
33,3.
In die allgemeine Klage über einen Rückgang der Geburten¬
ziffer müssen wohl oder übel auch wir Perleberger einstimmen.
Allerdings nehmen bei uns die Geburten nicht gar so rapide ab,
als in Preußen. Leider läßt aber gerade der Vergleich mit Preußen
die bedauerliche Tatsache erkennen, daß die Geburtenziffer Perle¬
bergs nicht ein einziges Mal an den preußischen Durchschnitt
heranreicht.
Sucht man nach den Ursachen der niedrigen Geburtenziffer
Perlebergs, so findet man eine Art Erklärung dafür in dem Um¬
stande, daß Perleberg — horribile dictu — kein Eldorado für
Heiratslustige ist. Es ist mir ja nicht gerade angenehm, daß ich
als Standesbeamter es sagen muß: „Es wird in Perleberg verhält¬
nismäßig zu wenig geheiratet,“ Aber es ist so.
Auf 1000 Einwohner kamen eheschließende Personen:
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
421
in den Jahren in Perleberg in Preußen
1875—1880 15,2 16,3
1881—1885 15,5 15,8
1886—1890 14,1 16,2
1891—1895 14,1 16,1
1896—1900 15,0 16,9
1901—1905 14,0 16,2
1906—1910 14,3 16,0
Auf 1000 Einwohner kommen Geburten:
Perleberg : — Preußen :
Die Heiratslust der Perleberger erreicht also niemals den
preußischen Durchschnitt. Verhältnismäßig am meisten geheiratet
wurde in Perleberg im Jahre 1875, am wenigsten 1877.
422 Unger,
Auf 1000 Einwohner kommen eheschließende Personen in
Perleberg: — Preußen:
Hiermit sind die weniger erfreulichen Resultate beendet.
Die Sterblichkeit
ist ja schließlich doch der Maßstab, nach dem nicht nur der Ein¬
heimische, sondern auch der Fremde eine Stadt beurteilt. Das
Bestreben, Perleberg denjenigen bekannt zu machen, die als
Pensionär oder Rentier einen gesunden Ort sich zum dauernden
Aufenthalte suchen, findet zweifellos darin eine wesentliche Unter¬
stützung, daß man mit gutem Gewissen sagen kann: „In Perleberg
kann man nicht nur alt werden, nein, es ist erwiesen, daß man
hier tatsächlich alt wird!“
An Gesamttodesfällen kamen auf 1000 Einwohner:
in den Jahren
in Perleberg
in Preußen
1875-1880
25,4
27,2
1881—1885
28,8
26,9
1886-1K90
23,9
25,4
1891—1895
21,2
24,0
1896—1900
19,8
22,2
1901—1905
19,9
20,7
1906—1910
16,8
18,3
Man sieht hier deutlich, daß beim fünfjährigen Durchschnitt
Perleberg bezüglich der Sterblichkeit stets günstiger dasteht
als Preußen und daß das Sinken der Sterblichkeitszilfern ungefähr
gleichen Schritt hält. Tatsächlich übertrifft die Sterblichkeits-
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
423
Ziffer Perlebergs nur in wenigen Jahren den prenßischen Durch¬
schnitt, in den weitaus meisten Jahren nähert sie sich ihm nicht
einmal. Und in diesen wenigen Jahren sind es besondere
Epidemien (Scharlach und Diphtherie) die die Behauptung
rechtfertigen, daß diese hohe Sterblichkeit einzelner Jahre eben
Auf 1000 Einwohner kommen Gesamttodesfälle:
Perleberg: — Preußen: —
immer doch nur die Ausnahme bleibt. Das Jahr 1883 war mit
247 Todesfällen das ungünstigste, dem das Jahr 1893 mit 236 sich
anschließt. Es liegt auf der Hand, daß diese hohe Sterblichkeit
eine Ausnahme ist, wenn man in Betracht zieht, daß im Jahre 1883
30 Personen an Diphtherie (12,1 Proz. aller Todesfälle) und 31 an
Scharlach (12,4 Proz. aller Todesfälle) starben. Im Jahre 1893
424
Unger,
forderte die Diphtherie nicht weniger als 62 Todesopfer
(25,4 Proz. aller Todesfälle). Im Jahre 1905 war es die Säug¬
lingssterblichkeit, die ungünstig auf das Bild ein wirkte. — Das Jahr
1909 war bezüglich der Sterblichkeit für Perleberg das günstigste.
Erheblich ungünstiger als bei Berechnung der Todesfälle auf
die Einwohnerzahl liegen die Verhältnisse in Perleberg, wenn man
die Todesfälle mit den Geburten vergleicht.
An Gesamttodesfällen kamen auf 1000 Geburten:
in den Jahren
in Perleberg
in Preußen
1875-1880
826
663
1881—1885
930
692
1886—1890
787
656
1891—1895
785
629
1896—1900
734
589
1901-1905
732
577
1906—1910
640
524
Die Ursachen dieser Ungunst liegen keineswegs in der Sterb¬
lichkeit, sondern lediglich in der vorerwähnten geringen Geburten¬
ziffer. In den Jahren 1875, 1881 und 1893 übertraf die Zahl
der Gestorbenen sogar die der Lebendgeborenen. Zum Glück sind
jene Zeiten offenbar vorbei.
Wenn ich vorhin so kühn war, zu behaupten, in Perleberg würden
die Menschen alt, so findet meine Kühnheit eine Stütze in dem
Lebensalter,
das die in Perleberg Gestorbenen erreichten.
Von 100 Gestorbenen hatten ein Alter von über 70 Jahren
erreicht:
im Jahre
in Perleberg
in Preußen
1901
20,0
14,1
1903
23,0
14,8
1904
21,7
15,3
1905
20,1
15,5
1906
23,8
15,3
1907
25,3
16,9
1908
21,4
16,8
1909
29,9
16,9
1910
26,8
17,4
Perleberg steht also auch in dieser Hinsicht stets günstiger
da als Preußen. Nicht unerheblich ist hier sogar die Zahl der über
80, ja 90 Jahre alten Personen. Das Jahr 1900 hatte sogar einen
100jährigen. Dies möge als Beweis dafür dienen, daß Perleberg mit
dem Lebensalter seiner Einwohner sehr wohl zufrieden sein kann.
Mag auch in erster Linie der Beruf unserer Einwohnerschaft
wesentlich dazu beitragen, die Lebensdauer zu verlängern, da die
aufreibende Industrie hier fast gänzlich fehlt, so geht man wohl
Die Entwicklung* der Stadt Perleberg’ usw.
425
auch nicht fehl, diese günstigen Verhältnisse dem Umstande zu-
zuschreiben, daß die „Perle der Prignitz“ bezüglich seiner Ge¬
legenheiten zur Erholung im Freien wirklich eine Perle ist. Wie
ich eingangs schon erwähnte, hat fast jedes Haus sein Gärtchen.
Nach der letzten Volkszählung bewohnen — das Militär ab¬
gerechnet — nur 7,5 Personen je ein Haus, sicher auch ein
Beweis für die günstigen Lebensbedingungen der Perleberger Ein¬
wohnerschaft. Ich will als Beweis der guten Erholungsmöglich¬
keiten nur anführen, daß die städtische Forst, deren Gesamtgröße
rund 2400 ha beträgt, unmittelbar an das bebaute Stadtgebiet
grenzt. Auf die besonderen sanitären Einrichtungen und Ma߬
nahmen Perlebergs und deren teilweise greifbaren Erfolge werde
ich noch zu sprechen kommen.
Auch die überall so sehr gefürchtete
Säuglingssterblichkeit
ist in Perleberg nicht so erschreckend wie in Preußen.
An Säuglingssterbefällen kommen auf 1000 Einwohner:
Perleberg: — Preußen: —
426
Unger,
An Säuglingssterbefällen kamen auf 1000 Einwohner:
im Jahre
in Perleberg
in Preußen
1899
7,7
7,4
1900
8,2
7,6
1901
6,2
7,2
1902
5,4
6,1
1903
5,1
6,6
1904
5,4
6,4
1905
7,1
6,6
1906
6,1
5,9
1907
8,2
5,5
1908
5,4
5,6
1909
2,8
5,0
1910
3,4
4,8
An Säuglingssterbefällen kommen
auf 1000 Gesamttodesfälle:
Perleberg : — Preußen :
An Säuglingssterbefällen kommen
auf 1000 Geburten:
An Säuglingssterbefällen
todesfälle:
kamen auf 100 Gesamt-
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
427
in den Jahren
in Perleberg
in Preußen
1881—1885
28,0
30,5
1886-1890
27,0
32,4
1891-1895
26,8
33,3
1896-1900
33,6
35,0
1901
29,7
33,4
1902
28,6
30,0
1903
27,2
32,1
1904
30,3
31,5
1905
30,6
32,2
1906
30,1
31,5
1907
22,5
29,4
1908
27,8
29,9
1909
19,5
28,9
1910
21,6
28,4
Man sieht hieraus, daß auch bezüglich der Säuglingssterblich¬
keit Perleberg einen Vergleich aushalten kann.
Von 100 Geburten waren unehelich:
Perleberg: — Deutsches .Reich: —
Schließlich seien auch die
unehelichen Geburten
428
Unger,
erwähnt, die — wie auf den ersten Blick scheint — in Perleberg:
eine ungewöhnliche Höhe im Prozentsatz zeigen. Wollte man
hieraus den Schluß ziehen, daß Perleberg eine besonders unsitt¬
liche Stadt sei, so geschähe ihr bitter Unrecht. Man muß näm¬
lich in Betracht ziehen , daß hier mehrere Frauen uneheliche
Schwangere aus der ländlichen Umgebung Perlebergs aufnehmen,
die hier ihre Niederkunft abwarten. So kommt es, daß die von
diesen Personen geborenen unehelichen Kinder bei den Be¬
völkerungsstatistiken als zur Perleberger Einwohnerschaft gehörig
mitgezählt werden müssen. Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn
ich sage, daß x/4 bis x/3 der hier geborenen unehelichen Kinder auf
diese Art und Weise „importiert“ worden sind.
Von 10000 Einwohnern starben an:
Diphtherie: — Scharlach: — Typhus: - Tuberkulose:
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
429
Jetzt komme ich zu den
Gesundheitsverhältnissen
Perlebergs, denen ich die auf den ärztlichen Totenscheinen ver¬
merkten Todesursachen zugrunde gelegt habe. Von den zahlreichen
Todesursachen, denen ich meine Aufmerksamkeit gewidmet habe,
will ich hier nur einige eingehender besprechen:
Von 10000 Einwohnern starben an:
Krebs: — Lungenentzündung: — Brechdurchfall:
Diphtherie als Todesursache zeigt die höchste Ziffer im
Jahre 1893, in dem — wie bereits erwähnt — nicht weniger als
62 Diphtherietodesfälle vorkamen. Dieses Jahr war zwar das
schlimmste, aber zum Glück das letzte einer so starken Diphtherie-
Sterblichkeit. Auffallend sinkt die Zahl der Opfer dieser Krankheit
von 1893 an und erreichte nie wieder eine auch nur annnähernd
28
Archiv für Soziale Hygiene. VII.
430
Unger,
gleiche Höhe. Das Jahr 1901 ist das einzigste, in dem in Perle¬
berg niemand an Diphtherie starb.
Scharlach forderte die meisten Opfer in den Jahren 1883
und 1884, findet sich dann aber als Todesursache — von ver¬
schwindenden Ausnahmen abgesehen — fast gar nicht mehr. Nur
noch einmal im Jahre 1908 hatten wir wieder eine größere An¬
zahl von Scharlachtodesfällen.
Die Tuberkulose ist in Perleberg erfreulicherweise im
Sinken begriffen, wenn auch im Zick-Zack- Wege. Während von
10000 Einwohnern im Jahre 1876 noch 49,97 Personen an Tuber¬
kulose starben, waren es 1910 nur noch 9,29, 1906 sogar nur 6,29.
Ein Vergleich mit Preußen auch bezüglich der Tuberkulosesterbe¬
fälle zeigt, daß hier ein günstiges Klima herrscht.
Von 10000 Einwohnern starben an Tuberkulose:
im Jahre
in Perleberg
in Preußen
1901
16,16
19,54
1902
11,30
19,04
1903
7,71
19.69
1904
10,75
19,21
1905
15,79
17,26
1906
6,29
19,13
1907
7,28
17,16
1908
8,35
16,46
1909
8,27
15,59
1910
9,29
15,29
Durch Selbstmord endeten die meisten Personen im Jahre 1911,
nämlich 4,3 Proz. aller Gestorbenen.
Die Typhustodesfälle verdienen eine ganz besondere Be¬
achtung, weil sie in geradezu greifbarer Form zeigen, was hygie¬
nische Maßregeln aus Perleberg gemacht haben. Während noch in
den achtziger Jahren Typhustodeställe in Perleberg durchaus nicht
zu den Seltenheiten gehörten (im Jahre 1880 22 oder 10,3 Proz.
aller Todesfälle) verschwanden sie dann fast vollkommen. Seil
länger als 20 Jahren gilt ein Typhustodesfall hier als eine Ausnahme;
ja sogar die Typhuserkrankungen, die früher in keinem Jahre
ausblieben, sind seltener geworden, seit 1906 ist überhaupt keine
Typhuserkrankung mehr polizeilich gemeldet worden. Wo liegen
nun die Ursachen dieser auffallend günstigen Erscheinung?
Früher durchzogen die innere Stadt mehrere offene Kanäle,
die zum größten Teile des Jahres so wenig Wasser mit sich führten,
daß der dort trotz allen Verbots hineingeleitete Unrat nicht ab¬
fließen konnte und somit die Luft verpestete. Im Jahre 1892
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
431
wurden diese Krankheitserreger beseitigt und durch eine unter¬
irdische Tonrohrleitung ersetzt. Schließlich wurden auch die stets
übelriechenden Rinnsteine beseitigt und eine allgemeine Kanali¬
sation eingeführt, der sämtliche Häuser der Stadt angeschlossen
sind. Seitdem kann Perleberg den Ruhm für sich in Anspruch
nehmen, durch seine Sauberkeit und durch den vorzüglichen Ge¬
sundheitszustand seiner Einwohner ein Muster für viele kleine
Städte Preußens geworden zu sein. Hand in Hand mit dem Bau
An Tuberkulose starben von 10000 Einwohnern:
Perleberg: — Preußen: —
20 -
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der Kanalisation wurde eine große zentrale Wasserleitung ge¬
schaffen. Hierdurch konnten die meist nicht einwandfreien Brunnen
beseitigt werden, und Perleberg hat ein Trinkwasser bekommen,
das auf Grund der häufig vorgenommenen chemischen und bakterio¬
logischen Untersuchungen des Nahrungsmitteluntersuchungsamtes
in Berlin als vorzüglich bezeichnet werden muß. Auffallend
ist zweifellos das Sinken der Typhuserkrankungen bzw. -todesfälle
nach Durchführung dieser hygienischen Maßnahmen.
Hier kann noch erwähnt werden, daß Perleberg seit 1845 ein
eigenes städtisches Krankenhaus besitzt, das erst 1905 durch
28*
432
Unger,
ein neues mit 33 Betten ersetzt wurde; dieses besitzt eine Isolier¬
baracke für Infektionskranke, einen Desinfektionsapparat sowie
einen Apparat für Durchleuchtung mit Röntgenstrahlen.
Das städtische Schlachthaus verbunden mit Kühlhaus
• •
und Eiserzeugungsanlage sorgt durch Überwachung des Fleisch¬
verkaufs dafür, daß Perlebergs Einwohnerschaft nur mit gesundem
Fleisch versorgt wird.
Die städtische Flußbadeanstalt gibt Gelegenheit, in
reinem fließenden Wasser zu baden und zu schwimmen.
Seit dem I. April 1912 ist man in Perleberg auch dazu über¬
gegangen, durch Anstellung eines Schularztes die Gesundheit
der Schüler einer ständigen Überwachung anzuvertrauen. Die
beiden geräumigen neuen Volksschulen, die mit allen Vor¬
zügen moderner Schulhygiene ausgestattet sind, verdienen es auch,
zu den sanitären Einrichtungen Perlebergs gezählt zu werden.
Welche Summen die doch nicht besonders große Stadt für
hygienische Einrichtungen aufgewendet hat, mögen folgende Zahlen
zeigen :
Kanalisation (1904) 380000 M.
Wasserwerk (1904) 360000 M.
Krankenhaus (1905) 140000 M.
Schlachthaus (1892 bezw. 1911) 220000 M.
Badeanstalt (1896) 12000 M.
Diese Ausführungen dürften zur Genüge dargetan haben, daß
das kleine Perleberg es getrost wagen kann, sich bezüglich seiner
sanitären Einrichtungen an die Seite seiner größeren und be¬
kannteren Rivalinnen zu stellen.
Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
4B3
Jahr
Ein¬
wohner¬
zahl
Zahl
der •
Geburten
Zahl
der
Lebend¬
geburten
Zahl der
Tot¬
geburten
Zahl der
unehe¬
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Geburten
Zahl der
Ehe¬
schlie߬
ungen
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der
Gesamt¬
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1875
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32
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212
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7604
258
244
14
30
58
215
77
7621
234
226
8
31
42
150
78
7638
233
219
14
26
57
180
79
7655
231
223
8
32
56
192
4880
7673 -f
229
225
4
31
62
214
81
7678
224
211
13
26
69
219
82
7684
248
244
4
23
66
188
83
7689
218
209
9
24
48
247
84
7694
239
232
7
27
59
226
1885
7698 +
260
245
15
34
59
226
86
7671
227
219
8
28
48
202
87
7644
213
206
7
34
65
206
88
7617
276
259
17
34
59
196
89
7590
234
226
8
26
52
156
1890
7565 +
206
197
9
24
50
150
91
7688
215
207
8
25
57
157
92
7811
193
189
4
22
55
159
93
7934
230
225
5
25
44
236
94
8057
200
196
4
31
67
125
1895
8180 +
231
225
6
27
55
162
96
8235
211
203
8
17
50
162
97
8290
220
214
6
31
73
147
98
8345
235
225
10
25
63
160
99
8400
245
241
4
35
66
168
1900
8456 +
232
229
3
29
62
202
01
8665
256
251
5
23
63
185
02
8874
245
235
10
29
60
168
03
9083
214
209
5
25
59
169
04
9292
261
252
9
26
63
165
1905
9502 -f
262
250
12
31
73
219
06
9534
256
250
6
34
71
193
07
9566
259
252
7
21
83
138
08
9598
269
260
9
25
60
187
09
9630
241
233
8
33
67
138
1910
9665 +
238
232
6
26
62
153
11
219
213
6
34
51
184
434
Unger,
Es starben in Perleberg im Alter von
im
Jahre
unter 1 Jahr
über 1 — 5 Jahren
über 5—10 Jahren
über 10—15 Jahren
über 15 — 20 Jahren
über 20—30 Jahren
über 30 — 40 Jahren
über 40—50 Jahren
i
über 50 — 60 Jahren
•
über 60 — 70 Jahren |
i i
über 70—80 Jahren
über 80 — 90 Jahren
über 90 — 100 Jahren
—
über 100 Jahren
Insgesamt einschl.
Totgeburteu
1876
68
25
6
2
5
12
10
9
16
17
25
6
215
77
38
7
3
4
3
8
12
8
11
30
8
10
—
—
150
78
55
12
5
1
5
9
10
14
13
15
20
6
1
—
180
79
55
17
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3
14
6
7
20
18
23
7
2
—
192
1880
50
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13
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4
25
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12
16
31
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1
___
214
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11
15
10
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22
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—
219
82
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10
11
15
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—
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12
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—
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12
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—
—
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1885
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—
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—
206
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16
19
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—
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2
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6
14
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10
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17
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—
156
1890
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—
157
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—
159
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16
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—
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12
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12
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2
—
162
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2
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—
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—
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1905
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1
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—
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—
138
1910
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184
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Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
435
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Von 100 in Perleberg Gestorbenen starben im Alter von
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—
1890
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14,6
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—
92
24,5
11,3
4,4
4,4
0,6
4,4
2,5
5,0
7,7
13,2
12,6
5,0
1,9
19,5
—
93
19,5
27,1
6,7
2,9
0,4
6,7
3,4
5,9
5,9
9,3
8,9
2,5
0,4
11,8
—
94
29,6
4,8
3,2
0,8
2,4
2,4
6,4
6,4
13,6
8,0
12,0
6,4
0,8
19,2
—
1895
29.0
6,8
2,4
0,6
.
4,8
3,7
6,8
7,4
11,1
19,7
9,2
0,6
_
29,5
_
96
27.7
7.4
1,8
0,6
1,2
3,0
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3,7
7,4
14,2
14,8
4,3
1,2
20,3
—
97
30.6
7,o
1,4
—
1,4
2,7
2,7
5,5
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16,3
14,3
4,3
0,7
19,0
■ —
98
36,7
4,4
1,2
—
1,8
2,4
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5,0
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11,9
6,9
18,8
—
99
38,7
1,8
0,6
—
1,2
5,4
3,0
6,0
8,3
9,5
16,1
7,2
—
23,3
—
1900
34,2
6,9
1,5
_
_
3,5
4,0
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5.4
10,4
16,0
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—
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—
20,0
14,1
02
28,6
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1,2
0,6
3,0
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2,4
7,2
8,3
9,0
14,3
7,2
—
—
21,5
03
27.2
7,7
1,7
0.6
1,7
5,9
2,4
4,1
7,7
14,8
15,9
6,5
0,6
23,0
14,8
04
30,3
4,8
1,8
0,6
1,8
1.8
4,2
7,9
6,1
13,3
12,1
7,2
2,4
21,7
15,3
1905
30,6
6,4
0,5
0,5
2,8
4,2
3,2
7,3
6,4
12,8
13,2
6,4
0,5
20,1
15,5
06
30,1
7,2
1,5
1,5
0,5
3,1
1,5
5,7
7,2
14,5
12,9
10,9
—
23,8
15,3
07
22,5
4,4
0,7
2,2
2,8
5,8
3,6
6,5
3,6
17,4
15,9
9,4
—
25,3
16,9
08
27,8
11,2
4,3
1,6
1,6
3,2
3,2
3,8
4,8
12,3
13,9
7,0
0,5
21,4
16,8
09
19,6
9,4
0,7
2,2
1,4
4,4
4,4
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14,5
18,1
5,8
—
23,9
16,9
1910
21,6
3,3
2,6
0,7
2,6
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1,3
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15,0
13,7
n,i
2,0
26,8
17,4
11
25,0
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1,6
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4,2
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6,6
7,6
10,9
19,5
10,9
0,5
30,9
436
Unger,
im
Jahre
Auf 1000 Einwohner kommen
an
Auf 1000
Geburten
kommen
Gesamt¬
todes¬
fälle
Von 100
Geburten
waren
unehelich
in
Perleberg
Von 100
Geburten
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unehelich
im deut¬
schen
Reiche
Geburten in
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Perleberg
Preußen
Perleberg
Preußen
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Preußen
1875
29,4
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18,9
18,1
27,9
28,4
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14,3
8,6
76
33,9
42,5
15,2
17,1
28,3
27,2
881
11,6
8,6
77
30,7
41,7
11,0
16.0
19,7
27,3
664
13,2
8,7
78
30,5
40,6
14,9
15,7
23,6
27,5
822
11,2
8,7
79
30,2
40,9
14,6
15,4
25,1
26,5
853
13,8
8,8
1880
29,9
39,5
16,2
15,4
27,7
27,1
951
13,5
9.9
81
29.9
38,5
17,4
15,3
28,5
26,4
1038
11,6
9,1
82
32,3
39,1
17,2
15,7
24,5
26,9
771
9,3
9,3
88
28,3
38,5
12,5
15,9
32,1
27,1
1182
11,0
9,2
84
31,1
39,1
15,3
16,1
29,4
27,2
974
11,3
9,5
1885
35,1
39,3
15,0
16,3
29,4
27,0
922
13,1
9,5
86
39,6
39,2
12,5
16,2
26,3
27,6
922
12,3
9,5
87
27,8
39,2
17,0
16,0
26,9
25,3
1000
15,9
9,4
88
36,2
38,9
15,5
16,0
25,7
24,3
757
12,3
9,3
89
30,8
38,6
13,8
16,3
20,6
24,6
690
11,1
9,3
1890
26,9
37,9
13,2
16,4
19,8
25.3
761
11,6
9,1
91
27,9
39,0
14.8
16,3
20,4
24,1
759
11,6
9,1
92
24,8
37.4
14,1
16,1
20,4
24,6
841
11.4
9,1
93
28,9
38,6
11,1
16,1
29,8
25,4
1071
10,8
9,1
94
24,8
37,8
16,6
16.0
15,5
23,0
638
15,5
9,4
1895
28,2
38,1
13,7
16.0
19,8
23,0
756
11,7
9,1
96
25,7
38,1
12,1
16.5
19,6
22.0
798
8,1
9,4
97
26,5
37,8
17,6
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16,2
22,1
687
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9,2
98
28,4
38,0
15,1
16,9
19,2
21,3
711
10,6
9,1
99
29,2
37,5
15,7
17,0
20,9
22,6
697
14,3
9,0
1900
27,4
37,2
14,7
17,1
23,9
22,9
882
12,5
8,7
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29,6
37,4
14,5
16,6
21,4
21,7
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13.5
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11,7
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17,7
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1905
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34,5
15,4
16,2
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20,6
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11,9
8,5
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14,9
16.5
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1910
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437
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1000 Einwohner
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in
in
in
Perleberg
Preußen
Perleberg
Preußen
Perleberg
Preußen
1875
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279
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—
279
—
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s taUö
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—
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1880
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—
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—
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—
1885
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_
314
_
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—
252
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1 208
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—
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—
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—
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195
1 333
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—
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—
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—
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303
315
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185
1905
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1881
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1889
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2
14
17
8
9
30
18
4
26
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20
3
3
Scharlach
7
—
4
4
—
2
2
31
31
—
1
—
—
—
—
Typhus
3
3
2
9
22
8
14
7
8
4
3
2
—
4
2
Krebs
5
8
9
3
7
8
8
12
7
3
5
10
2
4
6
Brechdurchfall
25
6
15
13
8
18
10
14
10
28
23
18
17
18
16
Krämpfe
29
16
20
16
15
24
16
19
20
24
13
12
16
9
8
Bronchitis
7
5
3
2
9
5
5
7
6
9
6
8
18
8
7
im Kindbett
2
2
—
1
4
_
1
3
2
—
—
—
—
1
—
Tuberkulose
38
27
24
26
32
20
12
25
18
32
32
26
19
24
15
Lungenentzündung
9
6
8
12
10
13
15
11
7
22
15
7
14
6
8
andere Lungenkrankh.
11
4
7
10
9
6
4
4
8
5
2
*5
2
3
10
Gehirnkrankeiten
3
5
2
3
2
2
7
2
3
4
5
2
5
2
3
Nierenkrankheiten
4
2
3
—
1
1
1
2
2
3
—
2
3
1
1
Wassersucht
7
5
10
7
6
8
6
5
3
5
5
8
4
1
1
Schlagfluß
5
7
6
6
6
5
3
7
6
8
6
6
5
10
11
Altersschwäche
12
9
9
16
12
6
12
21
12
20
16
15
22
18
16
Keuchhusten
2
—
4
2
—
2
3
—
—
—
1
1
—
1
—
Atrophie
9
10
12
10
14
18
10
8
13
14
6
5
7
9
5
Selbstmord
—
5
4
3
5
5
1
1
2
4
2
1
1
4
1
Verunglückt
3
2
2
5
3
2
4
1
2
—
1
1
2
1
2
Herzkrankheiten
2
4
—
2
2
2
5
3
4
3
2
6
3
4
4
Folgen d. Gelenkrheum.
—
—
—
1
—
—
1
1
1
1
2
—
—
—
—
Masern
—
—
—
—
/
—
10
—
—
—
—
—
3
—
—
Skrofulöse
1
Influenza
1
Knochentuberkulose
• —
—
Sonstige u. unbekannt
13
15
20
19
26
43
25
24
36
18
22
23
16
17
20
Totgeburten
14
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14
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4
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1891
Diphtherie
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1,1
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10,2
1,9
2,0
2,5
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3,2
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2,2
2,1
—
0,9
1,1
12,4
13,7
—
0,5
—
—
—
—
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Typhus
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2,0
1,1
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10,3
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1,7
1,5
0,9
—
2,5
1,3
—
Krebs
2,3
5,3
5,0
1,6
3,3
3,6
4,3
4,9
3,1
1,3
2,5
4,8
1,0
2,5
4,0
4,4
Brechdurchfall
11,6
4,0
8,3
6,7
3,7
8,2
5,3
5,7
4,3
12,4
11,5
8,7
8.7
11,5
10,6
7,0
Krämpfe
13,5
10,6
11,1
8,3
6,9
10,9
8,5
7,7
8,8
10,6
6,4
5,8
8,1
5,7
5,3
5,7
Bronchitis
3,2
3,3
1,7
1,0
4,2
2,3
2,6
2,8
2,6
4,0
3,0
3,9
9,2
5,1
4,6
6,4
im Kindbett
0,9
1,3
—
0,5
1,9
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0,5
1,2
0,9
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0,6
—
—
Tuberkulose
17,7
18,0
13,3
13,5
14,9
9,1
6,4
10,1
7,9
14,1
16,0
12,6
9,7
15,4
10,0
7,6
Lungenent¬
zündung
4,2
4,0
4,4
6,2
4,7
5,9
7,9
4,4
3,1
9,7
7,4
3,4
7,1
3,8
5,3
10,2
andere Lungen¬
krankheiten
5,1
2,6
3,9
5,2
4,2
2.8
2,1
1,6
3,5
2,2
1,0
2,4
1,0
1,9
6,6
3,2
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heiten
1,4
3,3
1,1
1,6
0,9
0,9
3,7
0,8
1,3
1,7
2,5
0,9
2,5
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2,0
3,2
Nierenkrank¬
heiten
1,8
1,3
1,7
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0,9
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11,5
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3,6
5,7
3,3
3,8
Selbstmord
—
3,3
2,2
1,6
2,3
2,3
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—
0,5
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1,3
0.7
Herzkrankheiten
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lenkrheumat.
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441
Gestorbenen starben an:
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—
1,8
3,4
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—
2,7.
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1,7
—
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1,8
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2,8
3,6
4,4
1,6
3,6
—
1,1
1,9
1,7
0,8
1,2
0,6
2,7
0,6
1,2
1,0
0,5
—
1,2
0,6
1,4
1,5
—
0,5
2,2
1,3
2,2
3,1
0,9
1,6
2,4
1,2
0,7
1,8
0,6
1,0
2,7
1,2
1,7
1,8
0,5
0,5
2,2
1,1
3,6
1,3
2,2
8,8
5,9
5,6
9,9
7,4
9,5
10,2
8,3
8,9
8,7
11,3
9,6
5,4
7,7
7,7
13,0
6,4
10,8
11,1
9,8
110,0
6,7
14,4
13,6
12,3
6,1
6,9
11,9
12,9
10,8
7,8
6,5
10,9
10,9
H,4
13,7
8,0
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15,7
13,6
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0,4
—
1,8
—
0,7
• —
—
1,5
—
1,2
—
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1,4
—
—
1,1
—
—
—
1,2
2,5
1,6
2,4
1,8
4,8
2,4
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1,5
0,5
—
1,7
1,8
—
1,5
0,7
2,7
0,7
2,6
2.2
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0,8
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1,8
—
1,0
2,2
—
2,4
0,6
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3,3
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—
0,9
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0,6
1,8
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—
1,2
—
—
1,8
1,2
0,6
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—
—
3,7
1,3
1,6
1,8
1,8
3,4
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2,0
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3,0
5,9
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2,8
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5,8
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2,7
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—
0,8
—
—
—
—
—
—
—
0,6
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—
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—
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1,3
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—
—
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—
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—
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—
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—
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—
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0,7
—
442
Unger, Die Entwicklung der Stadt Perleberg usw.
Von 10 OOÜ Einwohnern starben in Perleberg an
im
Jahre
Diphtherie
Scharlach
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Brech¬
durchfall
Typhus
Tuber-
kulose
Lungen-
entzündung
Krebs
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9,21
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3,94
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6,62
77
1,31
— •
7,86
3,93
35,53
7,86
10,48
78
2,62
5,24
19,65
2,62
31,44
10,48
11,79
79
18,30
5,22
16,98
11,76
33,96
15,66
3,92
1880
22,16
10,42
2867
41,70
13,03
9,12
81
10,42
2,60
23,44
10,42
26,04
16,93
10,42
82
11,71
2.60
13,01
13,02
18,22
15,62
19,52
10,42
88
39,01
40,32
18,20
9.14
32,51
14,31
15,63
84
23,39
40,29
13,00
10,40
23,39
9,10
9,10
1885
5,19
0,00
36,33
5,19
41,53
28,60
3,90
86
33,89
1,33
29,98
3,91
41,71
19,55
6,52
87
53,64
23,58
2,62
34,01
7,26
13,08
88
26,26
3,93
22,31
24,94
18,41
2,63
89
3,95
—
23,73
5,27
31,63
7,90
5,27
1890
3,98
21,12
2,64
19,91
10.56
7,96
91
5,20
14,3
15,60
20,18
9,15
92
28,17
15,37
12,80
15,37
6,40
93
78,12
2,52
8,82
2,52
22,68
35,28
7,56
94
7,44
12,42
1,24
18,60
19,84
4,98
1895
4,89
19,56
18,33
11,01
12,22
96
1,21
12,10
19,98
20 57
13,31
97
1,21
2,42
25,41
10,89
14,52
8.47
98
1,19
1,19
29,79
2,39
11,91
13,11
3,58
99
1,19
1,19
32,13
1,19
10,71
9,52
10,71
1900
4,73
2,64
34,32
18,48
18,48
9,46
01
—
4,87
—
3,43
1,16
3,11
25,42
—
1,28
16,lfi
19,54
18,48
15,83
13,55
02
2,26
4,05
—
3,18
—
2.88
10,14
—
0,81
11,30
19,04
24,86
16,85
11,30
03
4,40
4,19
—
3,49
—
2,73
15,40
—
0,81
7,71
19,69
13,20
15,25
8,80
04
4,30
3,92
—
2,83
—
2,04
20,4
—
0,79
10,75
19,21
8,60
15,19
15,05
1905
1,05
2,68
_
2,08
_
2,44
33,7
_
0,65
15,79
17.26
18,94
14,14
12,63
06
6,29
3,27
■ —
2,03
4,20
1,71
25,16
—
0,74
6,29
19,13
18,96
15,45
10,49
07
1,04
2,46
—
2,24
—
1,83
9,36
1,04
0,57
7,28
17,16
8,32
15,12
8.32
08
1,04
2,55
12,50
2,20
—
1,92
21,84
—
0,54
8,35
16,46
17,71
14,96
9,38
09
1,03
2,52
2,07
2,17
4,14
1,70
10,40
—
0,49
8,27
15,59
6,21
14,55
13,50
1910
2,07
2,45
1,03
1,39
_
1,85
7,24
_
0,48
9,29
15,29
13,45
13,03
11,36
11
23,81
•
Die fettgedruckten Zahlen zeigen das Gleiche von Preußen.
Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene
und Medizinalstatistik in Berlin.1)
Sitzung vom 4. Mai 1911.
Herr Guradze trägt vor über „Statistik und Kausalität“. Die
Frage, ob die Statistik zurzeit in der Lage ist, über den Kausalzusammenhang
der wirtschaftlichen Verhältnisse zweifellosen Aufschluß zu geben, berührt an¬
scheinend das eigenste Wesen dieser Wissenschaft. Die Antwort auf diese
Frage ist nicht einfach zu erteilen. Einmal nämlich kann ein und dieselbe Ur¬
sache verschiedene Wirkungen hervorrufen; umgekehrt wiederum hängt oft ein
und dieselbe Erscheinung, als Wirkung betrachtet, von mehreren Ursachen ab,
ohne daß man weiß, welche dieser Ursachen hauptsächlich maßgebend gewesen
ist. Das Gewicht der Ursachen läßt sich schwer bestimmen, denn die wirtschaft¬
lichen Verhältnisse sind eben nun einmal in hohem Grade mannigfaltig und
kompliziert.
Hierzu kommt, daß wir zwar die endgültigen Erscheinungen des sozialen
Lebens sehen und spüren, aber ohne daß wir — wenigstens vielfach — ihre
Vorbedingungen deutlich wahrnehmen, die manchmal tief verborgen bleiben.
Welchen Nutzen leistet uns nun für die Erkenntnis des Kausalzusammenhanges
die Statistik?
Keine Wirkung ohne Ursache, so lautet in dürren Worten das Kausalitäts¬
prinzip. Zunächst beschäftigt sich die Statistik mit den Wirkungen, soweit sie
durch Zahl und Maß erfaßbar sind. Nehmen wir als Beispiel die Sterblichkeits-
statistik. Man zählt die Sterbefälle irgendeines Gebietes, sagen wir der Stadt
Berlin, in einem gewissen Zeitraum, etwa im Jahre 1910. Der Fall ist ziemlich
einfach, da ja der Tod im allgemeinen, abgesehen vom Scheintode, deutlich kon¬
statierbar und schwierig zu verheimlichen ist; man muß sich nur entscheiden,
ob man die Totgeborenen mitrechnet oder nicht.
Ohne Totgeborene starben nun in der Stadt Berlin im Jahre 1910: 30151
Menschen. Die Zahl 30151 besagt zunächst nicht viel für die Ursächlichkeit;
an Bedeutung gewinnt sie durch die Analyse, z. B. wenn man sie auf die ein¬
zelnen Kalendermonate verteilt. Man erhält dann 12 verschiedene Zahlen, die
J) Nach den Verhandlungen der Gesellschaft, abgedruckt in Nr. 10, 12 u. 23
der „Medizinischen Reform“, 1911, herausg. von R. Lennhoff.
444 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
natürlich von dem Mittelwert 30151:12 = 2513 mehr oder minder stark ab¬
weichen, besonders im Sommer, hauptsächlich wegen der Kindersterblichkeit.
Diese 12 verschiedenen Zahlen sind aber auch aus einem anderen Grunde nicht
ohne weiteres miteinander vergleichbar, nämlich wegen der verschiedenen Tages¬
zahl der Monate, die zwischen 31 und 28, also rund um 10 Proz. (!) schwankt.
Man müßte also die Sterbefälle auf den einzelnen Tag reduzieren und dann er¬
hält man, besonders für nicht große Beobachtungsgebiete und unter Berück¬
sichtigung der Geschlechter und Altersklassen zu kleine Zahlen. Die Zahlen ver¬
rinnen einem unter den Händen.
Die kleinen Zahlen nun hindern oft den Vergleich und ohne Vergleich ge¬
langt man im allgemeinen nicht zur Kausalität. Im Grunde genommen gibt es
absolute Gesetzmäßigkeiten nur in der Mathematik und in den Naturwissen¬
schaften, die mit ihr Zusammenhängen, besonders also der Physik und Chemie.
Georg v. Mayr sagt zwar im 1. Bande seiner „Statistik und Gesellschafts¬
lehre“ auf S. 121: „Der nach statistischen Gesetzmäßigkeiten Forschende hat die
Einzelbestandteile der Verursachungsgruppen unter möglichster Heranziehung
einschlägiger Massenbeobachtungen auf das zu prüfende statistische Material,
ähnlich wie der Chemiker seine Beagentien anzuwenden, und damit die Tatsache
und den Umfang der Einflüsse festzustellen, welche den verschiedenen Ver¬
ursachungsarten zukommen.“ Er gibt aber kein eigentliches Bezept dazu an.
Man kann eben hier leider nicht nach der chemischen Methode zu Werke gehen.
Wir kommen auf die Experimentierungsfrage noch zurück.
Die Fallgesetze galten, abgesehen vom luftleeren Baum, jederzeit und überall.
Das kann man von den Gesetzen, die man für die Volkswirtschaft glaubt auf¬
stellen zu können, nun gerade nicht behaupten. Hier kommt vor allem das
M alt h us sehe Bevölkerungsgesetz: „Die Menschen vermehren sich schneller als
die Lebensmittel“ in Frage. Es war im großen und ganzen richtig für die eng¬
lischen Verhältnisse zu Malthus’ Zeiten, also um 1800. Mir scheint der
Fehler hei Malthus mit darin zu liegen, daß er Bevölkerung und Nahrungs¬
mittelspielraum miteinander in Beziehung setzt, zwei schon organisch aufgefaßt
ganz verschiedene Dinge. Wir kommen auf diesen wichtigen Umstand noch
später zurück. Außerdem läßt sich nicht ahsehen, wie die Verkehrsmittel, weitere
Entdeckungen auf technischem und kulturellem Gebiet — Urbarmachung bisher
unfruchtbarer Ländereien usw. — die Lebensmittelbeschaffung und damit den
Nahrungsspielraum in Zukunft verändern. Ferner — und das scheint mir gerade
der springende Punkt zu sein : — Die Wirtschaftskräfte besitzen nicht
dieselbe Konstanz, wie die Naturgewalten. Auch lassen sich letztere
verhältnismäßig leichter beherrschen als erstere. Den Blitz der Wolken kann
man ableiten, jedoch ist man den Blitzen der wirtschaftlichen Kräfte, besonders
den Wirtschaftskrisen, gegenüber oft machtlos.
Weiter: Beschreibt der Botaniker eine Pflanze, so hat er gleichzeitig
meistens sofort eine ganze Art von Pflanzen mit beschrieben. Anders liegen die
Verhältnisse beim Menschen und seinen Eigenschaften, Handlungen, Tätigkeits¬
formen. Die sind fast immer sowohl zeitlich wie örtlich verschieden. Der Mensch
— im Grunde genommen doch ein Naturprodukt — ist eben trotz dieser seiner
Zugehörigkeit zur Natur bezüglich seiner Handlungen, die den Hauptgegenstand
der Nationalökonomie oder des Gesellschaftslebens bilden, kein Gegenstand der
beschreibenden Naturwissenschaft. Das rührt zum Teil von seinem Willen, über¬
haupt seiner Gehirntätigkeit her. Er entzieht sich kraft seines Willens dem
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 445
Experiment. Wo man aber nicht experimentieren kann, da hält es schwer, zur
Kausalität vorzudringen.
Adolf Wagner hatte nur allzu recht, als er bei der Beratung des Kultus¬
etats im Herrenhause am 7. April d. J, erklärte: „Es ist ein völliger Irrtum, daß
man glaubt, auf wirtschaftlichem Gebiete, auf dem so viele Momente zusammen¬
greifen, exakte Forschungen treiben zu können, wie in der Naturwissenschaft.
Das ist ausgeschlossen.“
Wir sind damit ganz von selbst auf die mathematische Seite unseres Pro¬
blems gekommen. Eigentlich ist es ein Wagnis, wenn man ein auf nicht mathe¬
matischem Wege gewonnenes Material mathematisch zahlenmäßig exakt ver¬
arbeitet. Man denke nur, um ein Beispiel anzuführen, an die Volkszählung.
Hier werden an Millionen von Menschen Fragebogen ausgeteilt. Freilich sind
diese Fragebogen einheitlich ab gefaßt. Aber sie werden eben nicht einheitlich
auf gefaßt. Die Schlüsse, die man aus diesem Material zieht, tragen somit
ein Moment der Unsicherheit in sich, obschon das Zählungswerk trotz dieser
Unvollkommenheit unschätzbaren, nicht hoch genug zu veranschlagenden Wert
besitzt.
Nur in der Mathematik gibt es strenge Kausalitätszusammenhänge, Mathe¬
matik natürlich auch im mathematisch-physikalischem Sinne genommen. Um aber
dennoch auch in der Statistik zu gültigen ursächlichen Zusammenhängen zu ge¬
langen, hat man hier den Versuch gemacht, durch Isolierung dem Experiment
nahezukommen. Ich meine die monographischen Beschreibungen einzelner Wirt¬
schaftskörper, z. B. Aktiengesellschaften, Fabrikbetriebe, Handelsunternehmungen;
in diesem Zusammenhänge sei das von Prof. Ehrenberg gegründete Archiv
für exakte Wirtschaftsforschung erwähnt. Man hat auch gewisse kleinere geo¬
graphische Bezirke, z. B. Rittergüter, Dörfer usw., zu schildern begonnen. Auch
die Stammbaum- oder Familienforschung sei hier rühmend hervorgehoben. Aber
man muß sich bei diesen an sich zweifellos verdienstvollen Arbeiten immer klar
bleiben, daß eine Verallgemeinerung der gefundenen Zustände und Verhältnisse
so gut wie ausgeschlossen bleibt. Das Entdeckte bezieht sich eben nur auf das
jeweilige verhältnismäßig kleine Beobachtungsfeld und entbehrt gewöhnlich der
Verallgemeinerung und des Vergleichs, worauf es doch bei Gesetzmäßigkeiten in
erster und letzter Linie ankommt.
Vergißt man das, so trifft einen fast mit Recht, möchte ich sagen, der
bittere Vorwurf, man könne mit der Statistik alles beweisen. Dieser Vorwurf
verdichtete sich vor einigen Jahren zu der im damaligen Reichstage gefallenen,
beinahe beleidigenden Äußerung: die Statistik wäre eine feile Dirne. Freilich
ist die Statistik ein subtiles Werkzeug, das in der Hand des Unkundigen viel
Unheil anrichten kann. Diese Eigenschaft teilt übrigens die Statistik mit jedem
Werkzeug, sei es körperlicher oder geistiger Beschaffenheit. Aber für die Mi߬
anwendung muß eben der unkundige Gebraucher haftbar gemacht werden und
nicht das statistische Werkzeug.
Mit der Zahl richtig umzugehen, ist und bleibt eine große Kunst; sie ist
nämlich verschiedenmäßig deutbar sowie dehnbar und läßt sich leicht so abrunden,
wie man es gern möchte.
Angenommen, irgendeine Untersuchung führt zur Relativzahl 4,46. Da
könnte einer sagen: ja 4,46, das heißt 4,5 oder abgerundet 5! So darf man
natürlich in der Regel nicht verfahren, denn darin ist in der Tat 4 = 5 oder
Archiv für Soziale Hygiene. VII. 29
446 Aus (1er Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
5 = 4, und damit läßt man 5, also ungerade, gerade sein. Das ist natürlich
wissenschaftlich unstatthaft.
So sind wir fast unmerklich zu einem Punkt gekommen, der in der wirt¬
schaftlichen oder sozialen Beweisführung, wenn ich mich kurz so ausdrücken darf,
eine nicht zu unterschätzende Rolle im Gegensatz zur rein naturwissenschaft¬
lichen Untersuchungsmethode spielt, nämlich zur Voreingenommenheit oder Partei¬
lichkeit. In der Naturwissenschaft geht man in der Regel voraussetzungsloser,,
objektiver zu Werke, als bei sozialen Problemen, abgesehen natürlich von den
individuellen Beobachtungsqualitäten, also den anatomisch-physiologischen Eigen¬
schaften des Untersuchenden. Wirtschaft und Politik sind — leider — nahe ver¬
wandt und wo die Politik anfängt, gerät die Objektivität zu leicht in Gefahr und
die Leidenschaft gewinnt unwillkürlich die Oberhand, sie, die für exakte Unter¬
suchungen geradezu oft ein Hindernis bedeutet.
Sine ira et studio, das sollte für jeden Wirtschaftsforscher die Parole sein!
Allerdings ist das nicht ganz einfach, zumal ja auch sittliche und moralische
Werturteile des einzelnen dabei in Betracht kommen. Über diese Materie hat
kürzlich Exzellenz von Schmoller in der Vereinigung für staatswissenschaft¬
liche Fortbildnng einen Vortrag gehalten. Ich möchte mich in Rücksicht darauf
hier nicht weiter darüber auslassen, sondern nur eine Bemerkung des Herrn Vor¬
tragenden wiedergeben. Die lautet etwa so: „Bei jedem großen Wirtschafts¬
problem werden wir die Kausalitätsforschung soweit als möglich zu treiben haben,
die eigene persönliche sittliche Anschauung als subjektiv, die anderer als gleich¬
wertig so lange zu betrachten haben, als nicht Kausalitätsuntersuchungen das
Gegenteil besagen.“ Leider gibt aber Herr von Schmoller keine Anweisung,,
wie man derartige Kausalitätsuntersuchungen anzustellen hat.
Weiter. In keiner Wissenschaft wird so oft und so unbewußt Ursache
und Wirkung miteinander verwechselt, wie gerade in der Nationalökonomie. Ich
habe auf diesen Punkt bereits in meinem Vortrage, der sich auf die Mitwirkung
der Arzte bei der Jugendfürsorgestatistik bezog, im vorigen Jahre hingewieseu.
Wenn man bei gewissen Berufsangehörigen bestimmte Krankheitsphänomene
findet — z. B. bei den Schneidern Schwindsucht — , so darf man nicht ohne
weiteres die Krankheit als Folge des Berufes ansprechen. Häufig ist es nämlich
gerade umgekehrt: Der Beruf ist eine Folge der Krankheit; die lungenkranken
Schneider sind oft lungenkrank, bevor sie die Schneiderei ausüben und werden
von den Eltern oder sonstigen Angehörigen diesem Berufe zugeführt, weil sie
eben wegen Defektes in anderen Stellungen schwer untergekommen wären.
Die Schlüsse, die aus der Statistik gezogen werden, ähneln teilweile dem
berühmten Reut er sehen Ausspruche: Die Armut stammt von der Pauvrete, d. h.
der Laie gelangt manchmal zu selbstverständlichen, ja sogar im Grunde genommen
nichtssagenden Ergebnissen.
Wir haben bereits erwähnt, daß zu kleine Zahlen allgemein gültige Schlüsse
verhindern. Die großen Zahlen erscheinen zunächst zur Auffindung von Gesetz¬
mäßigkeiten geeigneter. Aber sie haben einen schwerwiegenden Mangel: sie
verwischen die Eigentümlichkeiten, sie nivellieren, d. h. sie verdecken die oft
vorhandenen Ungleichheiten. Und gerade das Ungleichmäßige wird im sozialen
Leben vielfach von Bedeutung und Wichtigkeit. So befindet man sich genau
genommen in einem Dilemma: Auf der einen Seite machen die kleinen Zahlen
exakte Forschungen unmöglich, auf der anderen Seite werden durch die Massen¬
daten in ihrer Gesamtheit die Symptome verdunkelt. Man sieht oft zwar das.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 447
Ganze, aber nicht seine Zusammensetzung aus den einzelnen Teilen. Jedoch
vermag diesen Nachteil der statistische Fachmann mehr oder weniger zu beheben.
Ein weiteres Hindernis der klaren Erkenntnis des ursächlichen Zusammen¬
hanges liegt in folgendem Umstande. Man schließt sehr häufig: post hoc ergo
propter hoc. Es ist aber durchaus zweifelhaft, ob gerade die beobachtete Zeit¬
folge auch eine kausale Beziehung darstellt. Gewiß hat der Schluß etwas Be¬
stechendes: das ist dem gefolgt, also ist es wahrscheinlich so, natürlich ist es
so, gewiß ist es so. Aber er wird darum nicht zwingend. Bei den exakten
Naturwissenschaften spielt die Einzelbeobachtung eine große Bolle; da genügt
manchmal in der Tat eine gute Einzelbeobachtung. Aber in der Nationalökonomie
kann eine Einzelbeobachtung nicht ausreichen. Die Enquete, die oft angewandt
wird, ist im Grunde genommen nichts anderes, als eine ausgedehnte wissenschaft¬
liche Einzelbeobachtung. Dagegen ist wissenschaftliche Massenbeobachtung für
unser Wirtschaftsgebiet das Kichtige.
Zuzugeben sei, daß die statistischen Zahlen oft große Begelmäßigkeit auf¬
weisen, selbst bei scheinbar willkürlichen Handlungen, z. B. beim Selbstmord.
Man darf aber nie außer acht lassen, daß gerade hier meist kleine Zahlen vor¬
liegen. Derartige Zahlen können nie eine Sicherheit, sondern nur eine Wahr¬
scheinlichkeit geben. Hier spielen ja auch die Motive eine bedeutende Bolle,
und Motive richtig zu erkennen, ist für die Statistik fast ausgeschlossen. Man
sieht das ja gerade bei den Schülerselbstmorden. Wen hat man dafür nicht alles
verantwortlich gemacht! Die Lehrer, den Unterrichtsplan, das Elternhaus, die
Empfindlichkeit, überhaupt das Temperament des Schülers, seinen Entwicklungs¬
zustand, die Schundliteratur, den Verkehr in schlechter Gesellschaft usw. Könnte
man Motive erkennen, so hätte man die Wurzel vieler Übel gefunden. In diesem
Zusammenhänge sei auch die Neigung zum Verbrechen, das penchant au crime,
erwähnt. Endlich können die statistischen Begelmäßigkeiten, die sich besonders
bei Massenbeobachtungen — eben infolge der Eigenschaft der Nivellierens bei
der Masse — ergeben, wie beispielsweise die Geburten- und Sterbehäufigkeiten,
durch irgendein die Menge beeinflussendes Ereignis, wie z. B. eine Epidemie, eine
Wirtschaftskrisis, im umgekehrten Sinne auch durch eine medizinische Entdeckung,
wie Serum und dergleichen, leicht aufgehoben werden. Sie sind also nichts für
die Dauer Bestehendes.
Und nun noch eins. Gerade bei den am meisten sprechenden Gesetzmäßig¬
keiten, wie bei dem berühmten Überschuß der Knabengeburten, ist man von der
Erkenntnis der Ursachen weit entfernt. Kausalität, Gesetz und Tatsache sind
eben verschiedene Begriffe.
Müssen wir also der Statistik zurzeit die Fähigkeit absprechen, Kausal¬
zusammenhänge in der wundervollen Klarheit erkennen zu lassen, wie es die
Mathematik vermag, so haben wir unserer Zahlenwissenschaft damit noch lange
nicht das Todesurteil gesprochen. Denn einmal ist im Bereich der weltlichen
Tatsachen — im Gegensatz zum Gebiete des abstrakten Denkens — der Begriff
der Notwendigkeit umstritten, worauf besonders David Hume hingewiesen hat,
dessen auf den 26. April d. J. gefallenen 200jährigen Geburtstag ja die ganze
gebildete Welt gefeiert hat; zum anderen Male besteht ja auch die Auf¬
gabe der Statistik wesentlich darin, zu schildern, was ist und
wie es ist, nicht aber, warum oder wieso es ist. Das Schlußziehen überlassen
wir Statistiker den Konsumenten. Uns liegt nur daran, richtige Zustandszahlen
sachgemäß fortlaufend zu sammeln und zu verarbeiten, also zu produzieren. In
29*
448 Alls der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
dieser wichtigen, ja vielleicht unentbehrlichen Tätigkeit dürfen und werden wir
uns durch keine Vorwürfe der Unzulänglichkeit beirren lassen.
Sitzung vom 18. Mai 1911.
Herr A. Crzellitzer, Berlin, trägt vor über ?rDie Berliner städtischen
Eamilien-Stannnbticher und ihre Ausgestaltung für die Zwecke der Yer-
erbungsforschung und der sozialen Hygiene44. Der preußische Staatsbürger
bildet vom ersten bis zum letzten Augenblick seines Lebens unzähligen Behörden
gegenüber das Objekt eines Personal attestes. Vom Geburtsschein angefangen,
über den ersten Impfschein, den Annahmebefund des Schularztes, den zweiten
Impfschein, den Schulentlassungsschein, die Militärpapiere, den Trauschein bis
schließlich zum Totenschein gibt es so viele Formulare, daß eine stattliche Do¬
kumentenmappe mit diesen zu füllen wäre. Ist das Individuum öfters krank, so
kommen noch hinzu eventuell die Bescheinigungen der Säuglingsfürsorgestelle,
der Ferienkolonie - Annahme- und -Entlassungsschein, desgleichen von Wald¬
erholungsstätten; Entlassungsscheine aus einem Krankenhaus; Unfallmeldungen
bei beruflichen Verletzungen , Invalididätsbescheinigung ; eventuell Schein einer
Tuberkulose- oder Trinkerfürsorgestelle und andere mehr. Dabei habe ich nur die¬
jenigen Scheine erwähnt, die sich auf Personenstand und Körperzustand beziehen
und ganz beiseite gelassen alle auf die berufliche Ausbildung, auf erworbene Titel
oder Hechte bezüglichen. Ganz abgesehen davon, daß die Vielheit aller dieser
Personalpapiere ihre Aufbewahrung recht erschwert — ein Arbeiter mit karger
Habe und engem Raum wird kaum so leicht alle geordnet beisammenhalten
können — ganz davon abgesehen stellt diese „Verzettelung“ auch eine außer¬
ordentlich unpraktische Vergeudung von Zeit und Mühe der ausstellenden Be¬
hörden dar. Genau dieselben Fragen nach Geburtsort und Geburtstag, nach Stand
und Namen der Eltern, deren Geburts- und ev. Sterbedaten müssen so ziemlich von
allen Behörden immer aufs neue erkundet und aufs neue aufnotiert werden. So
und so viele andere Angaben, die nicht auf den Scheinen selbst, aber in den ent¬
sprechenden Journalen der Behörden notiert werden, sind einfach verloren und
vergraben. Wenn sich der Impfarzt eine Notiz macht, die den Fürsorgearzt der
Säuglingsfürsorgestelle höchlichst interessieren würde, bleibt sie doch diesen ewig
unbekannt, weil der nur seine eigenen Journale, aber nicht das der Impfstelle vor
Augen hat. Eine Angabe des Fürsorgearztes könnte dem Schularzt wichtige
Fingerzeige geben, aber sie ist wieder diesem unerreichbar; dasselbe gilt für die
militärärztliche Untersuchung, die nicht auf dem Schülergesundheitsschein fußen
darf, obgleich ihr das viele Mühe abnehmen könnte. Was im Totenschein des
Vaters steht, kann der den Sohn behandelnde Arzt höchstens erfahren, wenn er
den Antrag auf Einsicht in die Standesamtsregister stellt und (nach Tarif A 1)
für jeden eingesehenen Jahrgang 50 Pfg. zahlt. So arbeiten alle diese Behörden
oder Institutionen nicht m i t einander, sondern neben einander, ohne amtlich von¬
einander zu wissen, ohne aus der Existenz der andern Nutzen zu ziehen, in einer
ungeheuerlichen Verschwendung von Mühe, Papier und Tinte. Schon oft und
von verschiedenen Seiten ist auf diesen Mißstand hingewiesen und der Versuch
zu seiner Abhilfe gemacht worden.
Zweierlei ganz verschiedene Wege boten sich dar; der eine war der, all
diese jetzt von verschiedenen Behörden resp. Ärzten gemachten Erhebungen
möglichst in einer Hand, an einer Stelle, in einem Journal zu konzentrieren. So
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 449
entstand die Gott st ein sehe Idee der Gemeindebezirksärzte (vgl. Deutsche med.
Woch. Nr. 13, 1908 und Mediz., Eeform S. 517, 1908); für 40000 — 50000 Ein¬
wohner ein Bezirksarzt (mit 1—2 Assistenten und eventuell noch Volontären), der
zugleich Armenarzt, Schularzt, Ziehkinderarzt, Impfarzt, Fürsorgestellenarzt, Unter¬
sucher für Heilstätten und Ferienkolonien sein soll. Gegen diese Idee erhob
sich nicht bloß der Widerspruch der praktischen Ärzte, die in fliesen Vorschlägen
den Anfang und Keim zur Verstaatlichung ihres Standes befürchteten, sondern
auch der Einwand, daß beim Verzug aus dem Bezirk die Einheitlichkeit des Be¬
obachters doch nicht gewahrt sei und — bei der starken Binnenfluktuation unseres
Proletariates — ohne eine Mitteilung der Notizen an die Zentrale nicht auszu¬
kommen sei.
Die andere prinzipielle Abhilfemöglichkeit war die, nicht ein und den¬
selben Arzt dem Individuum mitzugeben, sondern nur ein und dasselbe Journal
resp. den „Gesundheitspaß“, in den sich die verschiedenen Behörden einzeichnen.
Der erste und zugleich radikalste Vorschlag wurde von Schallmayer
schon 1891 gemacht und in den beiden Auflagen seiner preisgekrönten Schrift
über „Vererbung und Auslese“ 1903 und 1910 wiederholt: Für jede Person
sollten von Geburt an gewisse zur Erkennung ihrer Erbanlagen dienliche Be¬
obachtungen durch ärztliche Staatsbeamte festgestellt und auf einen obligatorischen
erbbiographischen Personalbogen notiert werden.“ Die Summe dieser Angaben
„würde allmählich zu Familienstammbüchern führen, die nicht nur über Krank¬
heitsanlagen, sondern auch über nicht pathologische Eigenschaften einer Familie
Aufschluß geben“. Schall mayer setzt also für diese seine Idee die Verstaat¬
lichung des Ärztestandes als Grundlage voraus und geht im übrigen gar nicht
ein auf die so außerordentlich wichtigen technischen Fragen, wo diese seine ob¬
ligatorischen Personalbogen aufbewahrt, wie sie dem (dank der Freizügigkeit
stark fluktuierenden) Beobachtungsobjekt nachtransportiert werden, bei welchen
Anlässen die Kontrolluntersuchungen vorzunehmen seien und dergleichen mehr.
„Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Baume stoßen sich die
Sachen.“ So leicht es ist, derartige umfassende Pläne aufzustellen, so schwer
türmen sich die Hindernisse vor ihrer praktischen Verwirklichung. Bei weitem
bescheidener und daher vorläufig leichter ausführbar sind die Vorschläge, die nur
eine Verbindung zwischen wenigstens einigen der vorhin genannten Untersucher
anstreben. Den Anstoß zu einer wertvollen Diskussion gab im Kreise dieser
Gesellschaft der Vortrag, den Boas im Dezember 1907 über „Ärztliche Auskunfteien“
hielt. Er wollte allerdings hauptsächlich dem Praktiker die Möglichkeit schaffen
über einen Patienten authentisches anamnestisches Material aus der Auskunftei
zu erhalten. Daher müßten an diese (mit Bewilligung der Kranken) von allen
der Auskunftei angeschlossenen Ärzten regelmäßige Auskünfte eingesandt werden.
In der Diskussion prägte Denn hoff den wichtigen Begriff des „Gesundheits¬
nationale, das den Arbeiter begleiten solle“ und in das „Kurze Notizen über
Krankheiten usw. einzutragen wären.“ May et führte den Bo a s sehen Vorschlag
bis in seine letzteu Konsequenzen. Bei einer einheitlichen Zentralauskunftei für
ganz Deutschland würden von Hebammen, Impfärzten, Schulärzten, Waisenhaus-,
Fürsorgerziehungs-, Militär-, Krankenkassen-, Berufsgenossenschafts-, (d. h. Unfall¬
meldungen), Lebensversicherungs-, Lungenheilstätten-, Klinikassistenz-, Blinden-
anstalts-, Tanbstummenanstalts-, Entbindungsanstalts-, Wöchnerinnenheim-, G e-
fangenenanstalts-, Polizei-, Armenärzten und Leichenbeschauern im ganzen jährlich
ca. 27,3 Millionen Meldungen einlaufen; das würde bei 60 Millionen Menschen also
450 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik.
heißen, für ein Individuum ca. in zwei Jahren eine Meldung. Etwas später
schlug Fürst vor, die Schüler-Gesundheitsscheine an die Militärärzte zur Musterung
einzureichen; Hahn: außer diesen auch noch die Impfscheine nebst Bemerkungen
über die Art der Säuglingsernährung. Hugo Neumann plädierte energisch
für Inbeziehungsetzung der Säuglingsfürsorge mit der schulärztlichen Fürsorge,
den Ferienkolonien und dergleichen. Schließlich erweiterte Tugendreich (Ber¬
liner klin. Woch. 1908, Nr. 23} alle diese Vorschläge zur Forderung des Kranken¬
passes im S c h allm a y er sehen resp. L ennh off sehen Sinne, für den er aber
den wohlklingenderen Namen „Gesundheitskarte“ erfand. Auf dieser Karte
sollten alle beamteten Arzte , wie Impfärzte, Schulärzte , Militärärzte in ein¬
heitlicher Weise ihre Befunde eintragen. Wer in Säuglingsfürsorge tritt, nach
Ferienkolonien, Lungenheilstätten oder in Krankenhäusern verschickt wird, er¬
hielte dort ebenfalls einen Eintrag, Wer es wünscht, könnte schließlich von
seinem Privatarzt auch einen Eintrag erbitten. Diese Formulierung von Tugend¬
reich kommt sehr nahe an das heran, was uns allen wohl als ideale Lösung
des Problems vorschwebt. Nur einige praktische Schwierigkeiten sind es, die von
ihm nicht erörtert wurden, die aber vielleicht die Ursache sind, daß bis heute
der Vorschlag wohl nirgends verwirklicht wurde. Zunächst, wer soll diese
Gesundheitskarte kerstellen ? Soll man sie kaufen ? Das setzt einen Grad sozial-
hygienischer Einsicht voraus, der heute nicht vorhanden ist. Die Ausgabe selbst
weniger Pfennige wird von der großen Masse gescheut, weil sie nicht weiß, wo¬
zu und warum. Aus demselben Grunde würden die Karten ohne Zwang auch
nicht aufbewahrt werden ; sie gehen verloren, werden verbummelt, eventuell auch
bewußt vernichtet, wenn ihr Inhalt dem Träger nicht konveniert. Ferner, wenn
der Impfarzt z. B. wie bisher sein Journal führen soll, außerdem den Impfschein
ausstellen und dann noch die Gesundheitskarte nebenbei, so erwächst ihm eine
Mehrarbeit, die er nicht leistet, wenn sie nicht bezahlt wird; gleiches gilt für
Schulärzte. Der einzige Fehler des Tug endreich sehen Vorschlages war eben
der, daß er auf privater Initiative auf baut, wo die Voraussetzungen fehlen, nämlich
die Durchtränkung der öffentlichen Meinung mit dem Bewußtsein des Wertes
derartiger Aufzeichnungen für jeden einzelnen.
Nun haben aber derartige fortlaufende Registrierungen keineswegs nur privaten
Wert. Sie nutzen gewiß dem Individuum, aber ebensosehr und vielleicht noch
mehr der Allgemeinheit, der Hygiene, der Medizin, der Vererbungsforschung und
der Staatswissenschaft. Bei dieser Sachlage ist ein Fortschritt nur zu erhoffen,
wenn nicht private Initiative, sondern diejenige des Staates oder der Kommune
zum Ausgangspunkt genommen wird.
Sollen wir darum etwa eine besondere Behörde, etwa kommunale oder pro¬
vinzielle Gesundheitsämter vorschlagen? Mit einem riesigen Etat an Beamten,
an Papier und Porti für Korrespondenzen mit allen den Einzel-Untersuchungs¬
stellen, womöglich mit Bezahlung an diese für ihre Mehrarbeit? — Das wäre
sehr aussichtslos und würde am Widerstande verantwortlicher Finanzmänner
scheitern! Wohl aber erscheint ein gangbarer Weg anzuknüpfen an eine bereits
vorhandene Institution, die nur in einigen Stücken auszubauen wäre, um alles
zu leisten, was verlangt wird. Diese Institution sind die städtischen Familien¬
stammbücher, wie sie die Stadt Berlin im Jahre 1897 eingeführt hat. Da diese
offenbar noch nicht allzusehr bekannt sind, beschreibe ich sie zunächst, wie sie
jetzt aussehen, und zwar nicht bloß in Berlin selbst, sondern auch in einer
großen Zahl seiner Nachbargemeinden, die genau dieselben Bücher eingeführt
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 451
haben. Jedes neuvermählte Paar erhält auf Wunsch vom Standesbeamten gegen
Entrichtung von 50 Pfg. ein solches Buch, gleich versehen mit Eintragung und
Beglaubigung der Eheschließung. Es ist von Oktavformat, in festem Pappdeckel
mit der Goldprägung „Familienstammbuch“ gebunden und enthält 55 Seiten.
Nach einem Vorwort, in dem auf die urkundliche Beweiskraft des Buches für die
Zwecke des täglichen Lebens hingewiesen wird, folgen ein paar Seiten, auf denen
Namen, Stand und Wohnung der Eheschließenden, sowie ihrer Eltern, Geburts¬
tag, Geburtsort, sowie Religion der ersteren einzutragen sind. Daneben ist
Raum für die Beglaubigung des Standesbeamten, für die Eintragung des Tages
und Ortes der kirchlichen Trauung, sowie für die Beglaubigung durch den voll¬
ziehenden Geistlichen, schließlich für die Angabe von Sterbedatum, Sterbeort
und ein schmaler Raum für „sonstige Bemerkungen“. Dann folgt Teil II, betitelt
..die Kinder“; und zwar ist für zwölf Platz gelassen; für jedes einzelne ein
Streifen von ca. 7 cm. Höhe und 42 cm. Länge reserviert; auf diesen soll resp.
kann eingetragen werden: Namen, Geburtstag und -orts, Beglaubigung des Standes¬
beamten, Tag und Ort der Taufe, Religion mit Beglaubigung des vollziehenden
Geistlichen , Sterbetag und -ort mit Beglaubigung des Standesbeamten , Namen
der Taufzengen, Tag und Kirche der Konfirmation, Tag, Ort, Standesbeamte
und Kirche der Trauung und eine schmale Rubrik: sonstige Bemerkungen.
Teil III (betitelt „Großeltern der Ehegatten“) enthält auf einer Seite die
Großeltern des Bräutigams, auf der benachbarten diejenigen der Braut, und
zwar für jede dieser acht Personen Namen, Stand, Wohn- oder Sterbeort. Dann
kommt weißes Papier betitelt : „Gedenkblätter“) 11 Seiten; als Anhang schließlich
ein Auszug aus den gesetzlichen Vorschriften über die Anmeldung und Be¬
urkundung der Geburten und Sterbefälle sowie ein Gebührentarif.
T)ie ganze Einrichtung hat, wie im Vorwort angegeben, den Zweck, die An¬
gaben über Eheschließung, Eheeinsegnung, Geburten, Taufen und Sterbefälle in
amtlich beglaubigter Form für alle möglichen ZAvecke, private wie auch den Be¬
hörden gegenüber, zusammenzufassen. Nur diese Angaben werden amtlich ein¬
getragen, alle anderen Rubriken, also die Angaben betreffend Konfirmation und
Verehelichung der Kinder, sowie insbessondere diejenigen betreffend die Gro߬
eltern und Eltern des Brautpaares, bleiben der freiwilligen Selbsteintragung über¬
lassen, die allerdings warm empfohlen wird. Der Ausbau hätte meines Erachtens
nach zwei Richtungen zu erfolgen; einmal kann die Zahl der Rubriken um einige
wichtige Vordruckspalten vermehrt werden; sodann aber zweitens muß an Stelle
der fakultativen Abgabe des Buches die obligatorische an alle Brautpaare,
an Stelle des fakultativen, völlig unkontrollierten Eintrags durch die Inhaber die
obligatorische, durch die Beamten beratene Eintragung in alle Rubriken und
schließlich an Stelle des Verbleibens der Bücher in der Privathand die Rück¬
lieferung an die Behörde treten, sobald die Familie aufgehört hat, als solche zu
existieren. Was zunächst die Abgabe der Bücher anlangt, so ist der Preis von
50 Pfg. zwar sicherlich niedrig genug. Nichtsdestoweniger gibt es genug Braut¬
paare, die freiwillig das Buch nicht anschaffen. Aus einer Mitteilung im Ge¬
meindeblatt der Berliner Stadtverwaltung entnehme ich, daß im Jahre durch¬
schnittlich 22000 Ehen geschlossen, aber nur 15000 Stammbücher abgesetzt
werden, also nur 68% der Eheschließenden von der Einrichtung Gebrauch machen.
Hierzu mag beitragen, daß nicht alle Standesbeamten mit gleicher Wärme und
gleichem Eifer den Absatz propagieren. Zweckmäßigerweise hätte die Abgabe
der Bücher bereits bei der Anmeldung des Aufgebots, für die eine Gebühr von
452 Ans der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
50 Pfg. erhoben werden könnte, zu erfolgen. Es würde alsdann der Schein ver¬
mieden, daß man die Eheschließenden zwingt, ein Buch zu kaufen. Während
der Zeit bis zur Trauung hätte dann das Brautpaar Muße, die Personaldaten
betreffend Eltern und Großeltern durch Rückfragen und dergleichen zu ermitteln
und in das Buch einzutragen. Der Standesbeamte geht dann während des Trau¬
aktes die Eintragungen durch und kontrolliert ihre Rubrizierung. Eine wesentliche
Mehrarbeit für ihn bedeutet das nicht, denn er ist schon heute genötigt, für sein
Register fast alle diese Fragen zu erheben. Der beste Ansporn zu sorgfältiger
und ordnungsgemäßer Beantwortung der Personalfragen läge in dem Zwange,
das Buch ausgefüllt vorlegen zu müssen, um getraut zu werden.
Ein weiteres prinzipielles Novum bedeutet die Rücklieferung der Bücher
an die Behörde. Gewiß kann die Einrichtung, wie sie heute besteht und erst
recht, nachdem sie obligatorisch gemacht und inhaltlich bereichert ist, schon
segensreich genug wirken, auch wenn die Bücher ihrem Inhaber beliebig und
unkontrolliert überlassen bleiben. Der Familiensinn, der dem Proletariat der
Großstadt in so erschreckender Weise abhanden gekommen ist, wird zweifellos
auch durch frei überlassene Familienbücher wirksam angeregt. Alle die Er¬
leichterungen im Wirtschaftsleben, in den Fällen, wo Urkunden vorgelegt werden
müssen oder bei der Gesundheitspflege der einzelnen Familienglieder, wo es sich
darum handelt, gewissermaßen eine beglaubigte Anamnese jederzeit zur Hand zu
haben, alle diese Erleichterungen und Vorteile kommen gewiß (solange der Familen-
vater das Buch aufbewahrt !) zur Geltung. Aber es dient doch sozusagen nur der
Einzelfamilie. Die Allgemeinheit, die Wissenschaft, und zwar sowohl die Statistik,
wie die soziale Medizin, wie die Vererbungsforschung; sie gehen leer aus, solange
das in den Familienbüchern sich aufhäufende Material in tausend privaten
Schränken der Vergessenheit und der Vernichtung anheimfällt. Soll dieses Material
nicht bloß der individuellen Hygiene dienen, sondern auch der sozialen, so ist
es erforderlich, daß die Bücher zu irgendeinem Zeitpunkte an die Behörden zurück¬
fließen und so der wissenschaftlichen! Bearbeitung zugänglich werden. Das
Natürlichste ist, diesen Zeitpunkt dann anzusetzen, wenn die Familie als solche
ihren natürlichen Zusammenhalt verloren hat, d. h. wenn beide Gatten tot sind.
Im allgemeinen sind alsdann die Kinder erwachsen, eventuell verheiratet und
selbst Inhaber eigener Familienbücher geworden. Das individuelle Interesse am
Buch und seinem Inhalt ist nunmehr meistens so gering geworden, daß unbe¬
denklich bei der Sterbemeldung eines Witwers oder einer Witwe das Familien¬
buch auf dem Standesamt zurückbehalten und an die Zentrale eingesandt werden
kann. Den etwaigen Hinterbliebenen bleibt es natürlich freigestellt, vor der Rück¬
lieferung im eigenen Interesse wichtige Daten zu kopieren. Auch kann jederzeit
nachträglich, ebenso wie heute die Standesamtsregister zur Einsicht gegen mäßige
Gebühr freistehen, Einsicht in bereits erloschene Familienbücher, eventuell ein
beglaubigter Auszug aus denselben an Nachkommen oder Interessenten gewährt
werden.
Soviel über die Ausgestaltung der Familienbücher- Abgabe und -Einforderung.
Nun käme ich zur Ausgestaltung des Inhalts. Schon heute werden Gro߬
eltern und Eltern der Brautleute erfragt. Nur ist die Anordnung dieser Fragen,
resp. ihre Zerstreuung auf Teil I und Teil III nicht sehr praktisch, statt dessen
empfiehlt es sich vielleicht, diese Angaben geordnet voranzustellen, und zwar
so, daß Seite 1 und 2 der Aszendenz des Bräutigams, Seite 3 und 4 derjenigen
der Braut gewidmet sind. Ich denke hierbei an einen Vordruck, wie ich ihn
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 453
für meine Familienkarten vorgeschlagen habe, und hier können mühelos neben
dem Bräutigam, seinem Vater und seiner Mutter die Geschwister, und zwar in
der Geburtsreihenfolge eingezeichnet werden. Diese letztere Forderung wird
vielleicht heute noch auf Widerstand stoßen. Würde sie erfüllt, so wäre, neben¬
bei gesagt, für die Kinder der das Buch begründenden Gatten ohne weiteres die
Sippschaftstafel gegeben, denn eine Familienkarte stellt eine halbe Sippschafts¬
tafel dar, insofern die Gleichung besteht : Inderselben Weise enthält Seite 3 und
4 die Braut, ihre Geschwister, Brauteltern, deren Geschwister, sowie Brautgro߬
eltern. Für jede Person gebe ich ein Feld, eckig für Männer, rund für Frauen;
in dieses ist neben dem Vordruck: Vorname, Familienname, Geburtstag, Geburts¬
ort, Stand, Sterbetag, Sterbeort, die entsprechende Ausfüllung zu setzen. Ich bitte
Sie, nicht zu erschrecken über diese vielen Fragen, denn es sind genau dieselben,
wie sie heute schon in den Familienbüchern, allerdings unübersichtlich und ver¬
streut stehen. Seite 5 und 6 dient, genau wie in den vorliegenden Büchern, der
Registrierung des Eheschlusses, der Religion, der kirchlichen Trauung und der
Sterbemeldung der Ehegatten. Nur der Raum für die letztere wäre eventuell
durch Einbeziehung der jetzigen Rubrik „sonstige Bemerkungen“ zu vergrößern,
damit Raum gewonnen wird für einige der aus dem ärztlichen Totenschein zu
kopierenden Angaben, insbesondere unmittelbare Todesursache und mittelbar zum
Tode führende Krankheit. Die Schreibarbeit würde übrigens bei Sterbefällen nicht
vergrößert, sondern verkleinert werden, denn ich darf daran erinnern, daß heute
in Groß-Berlin drei Urkunden ausgefüllt werden, I. ein ärztlicher Totenschein,
II. ein Eintrag in das Standesamtsregister, III. eine standesamtliche Beschei¬
nigung, auf die hin die Beerdigung erfolgen darf. Mindestens diese letztere kann
in Fortfall kommen und durch den Eintrag in das Familienbuch ersetzt werden,
sobald dieses obligatorisch gemacht ist. Alle Fragerei und Schreiberei betr.
Eltern, Gatten und Kinder eines Verstorbenen fällt eo ipso fort bei Vorlegung
des Buches. Die Angabe der Todesursache könnte zunächst als eine Inhumanität
gegen die Hinterbliebenen und ein Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht
angesehen werden, doch halte ich gerade diese Angabe für enorm wichtig, sowohl
praktisch in Krankheitsfällen der Hinterbliebenen wie theoretisch für Erblich¬
keitsforschung und Medizinalstatistik. Eventuell könnten die Krankheiten durch
Chiffre bezeichnet werden, wie das die Militärbehörde bei der Musterung tut.
Ob für die Ehegatten außerdem noch wichtigere Krankheiten hier vermerkt
werden sollen, ist eine Frage, die ich zur Diskussion stelle, aber nicht zu ent¬
scheiden wage. Gewiß wäre es leicht möglich, in einer Spalte Raum zu lassen
für die Registrierung jedes Krankenhausaufenthaltes. Schon heute gibt jedes
Krankenhaus einen Entlassungsschein , der diverse Angaben enthält. Hier im
Familienbuch würde der Stempel des Krankenhauses, Aufnahme- und Entlassungs¬
tag und die (event. chiffrierte) Krankheitsbezeichnung genügen. Auch Heilstätten-
Fürsorgestellen könnten, wenn man will, ihren Stempel nebst Datum einfügen.
Die hygienischen Vorteile eines so vervollständigten „Gesundheitspasses“ liegen
auf der Hand. Ebenso klar sind aber auch die Widerstände, die in der Scheu
wurzeln, vor Gatten und Kindern oder gar dritten Personen gegenüber blo߬
gestellt zu werden. Von Seite 7 ab beginnt der den Kindern der Familie
gewidmete Raum, den ich insofern vergrößere, als ich für jedes der „amtlich
vorgesehenen 12“ Kinder zwei volle Seiten beanspruche. Mit dreißig gleich großen
Seiten wäre also im Ganzen auszukommen, d. h. genau derselben Seitenzahl, wie
sie jetzt für Großeltern, Eltern und Kinder vorgesehen sind — nur, daß jetzt
454 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
ein Teil der Seiten schmälere Halbseiten sind. Alle für die Kinder jetzt vor¬
gesehenen Rubriken sollen bestehen bleiben, also: Vornamen, Tag und Ort der
Geburt, Standesamtsvermerk darüber, Religion, Tag und Ort des Todes, Standes¬
amtsvermerk darüber, sowie die — als Anfänge einer Familienchronik gedachten:
Tag und Ort der Taufe, Vermerk des taufenden Geistlichen, Taufzengen, Tag
und Kirche der Konfirmation, Verheiratung (Tag, Ort, Standesamt, Kirche; Name
des Gatten). Zu diesen jetzt vorhandenen Rubriken, die bequem etwas enger
gedruckt werden könnten, schlage ich vor, folgende neue hinzuzufügen:
1. Impfvermerk durch den impfenden Arzt; Datum und Unterschrift.
Auf dem Polizeirevier, wie jetzt der Impfschein, gegengestempelt. Daneben der
Vermerk für die Wiederimpfung mit 12 Jahren. 2. Vermerk der ev. konsul¬
tierten Säuglingsfürsorgestelle, die ihren Stempel eindrückt, das Datum,
die Nummer ihres Journals und ev. wichtigere Befunde. Angabe der Still¬
dauer entweder durch den Impfarzt oder durch den Fürsorgearzt oder schließlich
durch den Schularzt. 4. Schularzt vermerk bei der Einschulung mit Angabe
der Schule, der entsprechenden Nummer in seinem Journal und eventuellen wichtigen
Angaben über bestimmte körperliche Abweichung von der Norm. 5. Vermerk der
Ferienkolonie, Walderholungstätte oder sonstigen, event. aufgesuchten
derartigen Institutionen. Immer so wenig Worte wie möglich. Stempel, Datum,
Journalnummer. 6. Abschlußvermerk des Schularztes beim Verlassen
der Schule. 7. Eintrag des Ergebnisses der militärärztlichen Unter¬
suchung bei der Gestellung (mit der Chiffre). Dem Militärarzt wird durch die
Vorlegung des Buches so viel Mühe abgenommen, daß dafür die kleine Mühe¬
waltung des Eintrages, den ja doch der Sanitätsunteroffizier aus der Stammrolle
kopieren kann, wohl beansprucht werden darf.
Ein Präzedens liegt vor in dem Erlaß betr. „Mitteilung an die unteren
Verwaltungsbehörden zur Einleitung eines Heil- oder Vorsorgeverfahrens“ vom
Jahre 1907. Dieser Erlaß galt doch nur irgendwie körperlich Defekten, denen
Heilfürsorge verschafft werden soll. Ein weit erheblicheres Interesse aber, als
an diesen, hat die Militärbehörde an der Förderung der Familienstammbücher.
Sind doch die großen und wichtigen Fragen der Tauglichkeitsstatistik , der
Differenz zwischen Stadt und Land mit Sicherheit nur dnreh Familienforschung
zu lösen. Es ist selbstverständlich, daß jedes Familienbuch eine laufende Aus¬
gabenummer bekommt; jede in Berlin geborene Person wäre dann durch die eigene
Ordnungsziffer innerhalb der Buchnummer eindeutig und für immer charakterisiert
z. B. „Kind Nr. III aus Familie 1910 Nr. 318“. Eine Eintragung dieser Familien¬
buchnummer in öffentliche Journale, Akten und Register, (wie Waisenhaus- Auf¬
nahme-Journal, Polizeiakten, Gefängnisakten etc.) würde die event . später not¬
wendig werdenden Nachforschungen sehr erleichtern, sei es für wissenschaftliche
Zwecke, sei es für praktische, z. B. die Frage, ob erbliche Belastung da ist und
in forensischen Fällen zu mildernden Umständen führen soll usw. So wünschens¬
wert es wäre, für jeden Deutschen ein derartiges Buch zu schaffen, so utopisch
wäre heute ein solcher Wunsch. Für Groß-Berlin ist es möglich, weil nichts
Neues zu schaffen, sondern nur Vorhandenes auszubauen ist. Vielleicht ginge
es sogar ohne die Umständlichkeit einer Gesetsesänderung durch bloße Verständi¬
gung zwischen den Polzeiverwaltungen , dem Oberpräsidenten und den Einzel¬
magistraten. Es ist klar, daß andere Großstädte folgen würden, wenn die Möglich¬
keit und Durchführbarkeit erst erwiesen ist. Natürlich müßte für ganz Groß-
Berlin die Aufbewahrung an einer Zentralstelle erfolgen, und zwar am besten in
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 455
streng alphabetischer Folge der Familienväter geordnet. Als Ergänzung dienen
Jahresregister, die neben der Buchnummer den Namen enthalten, so daß jeder¬
zeit aus der bloßen Nummer die Familie festzustellen ist. Bas Ganze bietet
weniger Schwierigkeiten als heute ein Einwohnermeldeamt, da ja eine größere
Anzahl von Einwohnern in einem gemeinsamen Familienbuch enthalten, also viel
weniger Bücher aufzubewahren sind, als heute Personalkarten. Ich bin am
Schlüsse. Heute wollte ich nur die Einrichtung als solche mit wenigen Strichen
skizzieren. Es ist unmöglich, auf alles das einzugehen, was durch solche Insti¬
tution geleistet und genützt werden könnte.
Heute isf fast alles, was an sozialmedizinischer Statistik bis jetzt gearbeitet
worden ist, Einzelforschung und Enquete. Nicht nur meine eigenen Erblichkeits-
Untersuchungen sind Stückwerk und dürfen nicht verallgemeinert werden, sondern
auch, was Andere auf diesem Gebiet versucht haben, bleibt zur Erfolglosigkeit
vorläufig verurteilt. Wenn z. B. vor drei Jahren Grub er in München versucht hat,
aus der Beantwortung einer Bundfrage bei dortigen Ärzten über die Gebürtigkeit
und über die eventuelle Lebensunfähigkeit der vom Lande nach der Großstadt
verpflanzten Familien Schlüsse zu ziehen, so war das eben nur Einzelforschung.
Und wenn unser Mitglied Herr W e inberg aus den Stuttgarter Familienregistern
gewiß außerordentlich wertvolle Schlüsse gezogen hat, oder wenn neuerdings ein
Buch von Schott über alte Mannheimer Familien (auf Grund alter Familien¬
karten aus den Jahren 1807 bis 1900) herausgekommen ist , so sind doch solche
Untersuchungen, ob aus München oder Stuttgart oder Mannheim , schon dadurch
stark in Nachteil gesetzt, daß aus einer solchen Stadt wie Mannheim oder Stutt¬
gart viele Familien fortzieheu und daher die ohnehin viel zu kleine Zahl dieser
Familienkarten noch stark vermindert wird;
Ganz anders liegt das aber bei Groß-Berlin. Zwar ziehen auch aus Berlin
Menschen fort, aber die Eigenart unserer Binnenwanderung bringt es mit sich,
daß die übergroße Anzahl der Menschen, die alljährlich aus dem weiten Vater¬
lande der Hauptstadt Berlin zufluten, auch hier bleibt. Bleiben sie nicht in der
Stadt Berlin, sondern wechseln sie — wie man beim Wild sagt — über die Grenze
und ziehen von Berlin S nach Bixdorf oder von Berlin N nach Beinickendorf,
so bedeutet dies keinen Unterschied für Groß-Berlin. Wenn man Groß-Berlin
im weitesten Sinne faßt oder die Provinz Brandenburg, so ist das Verhältnis der
sich der Untersuchung Entziehenden für Groß-Berlin ganz außerordentlich
besser als für andere Städte. Eine ganze Beihe von Problemen und Fragestel¬
lungen , die jetzt in der Luft liegen und unerledigt bleiben , ließe sich dann er¬
ledigen. So z. B. wird jetzt auf den rassenhygienischen Gesichtspunkt hinweisend
von den verschiedensten Seiten beim Beichstag um eine Vorschrift petitioniert,
die jeden Menschen, der sein Aufgebot beantragt, zwingen soll, ein Gesundheits¬
attest beizubringen. Diese Einrichtung ist in einigen Staaten Nordamerikas be¬
reits verwirklicht. Man hofft die Gattenwahl, die bisher durch ganz außerhalb
hygienischer Erwägungen liegende Gesichtspunkte orientiert wird, nach dieser
neuen Bichtung zu beeinflussen. Nun ist fraglos, daß eine obligatorische Führung
von solchen Familienbüchern dieses rassenhygienisch wünschenswerte Interesse
erhöhen werde. Ferner! Man diskutiert über Stillfähigkeit; ob sie dauernd ab¬
nimmt oder nicht. Ob die Langlebigeit sich vererbt, die Lebensalter der verschie¬
denen aufeinanderfolgenden Generationen abnehmen. Uber Lebensalter der ersten
Eheschließung; über die Dauer des Zeugungsalters; über Kinderzahl, heute ver¬
glichen mit den früheren usw. Einen Teil der soeben aufgeführten Probleme hat
456 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Schott vergeblich versucht zu lösen. Alles das würde aber aus dem umfang¬
reicheren Material von Groß-Berlin ohne weiteres zu beantworten sein.
Ebenso ergäben sich sichere Schlüsse über die Vererbung gewisser Anomalien
und Krankheiten. Genug für heute! Lassen Sie mich schließen mit einem Ver¬
gleich. Jeder Mensch, der heutzutage mit Familienforschung sich beschäftigt^
und zwar nicht bloß in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, ist ungefähr
in derselben unangenehmen Lage , in der sich vielleicht einstmals die Maler be¬
funden haben, als sie noch gezwungen waren, ihre Farben selbst zu reiben, ihre^
Leinwand selbst zu spannen und den Rahmen seihst zu zimmern. Wer heut¬
zutage auf irgendeinem Gebiet, sei es dem der Augenkrankheiten oder irgendeinem
andern, arbeiten will, muß sich erst den Rahmen seiner Arbeit, das Gerüst, herbei¬
schaffen. Das ist aber eine Mühe, die so groß ist, daß viele gar nicht darüber
hinauskommen. — Wenn es gelingt, durch ausgestaltete Familienbücher der
Familienforschung den Rahmen zu zimmern und die Grundlage zu bieten, auf
der sie dann weiter arbeiten kann, so ist der Zweck dieses Vortrages in vollem
Maße erfüllt!
Sitzung vom 2. November 1911.
Herr 0. Ju li usburger, Steglitz-Berlin, trägt vor über „die soziale Be¬
deutung der Psychiatrie44. In einer Zeit, zu deren Lichtseiten es gehört, die
sozialen Aufgaben der Gesellschaft immer mehr und mehr zu erkennen, und sich
der hohen Verpflichtung immer bewußter zu werden, an die tatkräftige Lösung
jener heranzugehen, dürfte es sich von selbst verstehen, Klarheit zu gewinnen
über die soziale Bedeutung der Psychiatrie. Noch in seinem klassischen „Grund¬
riß der Psychiatrie“ konnte Karl Wernicke im Jahre 1900 die bedeutsamen
Worte aussprechen: „Leider ist die Lehre von den Geisteskrankheiten zugleich
dasjenige Gebiet, welches in seiner Entwicklung zurückgeblieben ist und noch
jetzt auf einem Standpunkt steht, wie vor etwa einem Jahrhundert die gesamte
übrige Medizin.“ Freilich hat Wernicke selbst, kraft seiner Genialität, die
Psychiatrie als Wissenschaft mächtig gefördert, und ich brauche nur noch die
Namen Kräpelin, Ziehen und Sommer zuzufügen, um sofort zum Bewußt¬
sein zu bringen, welche außerordentlichen Fortschritte in den letzten Jahren die
wissenschaftliche Erkenntnis der Geistesstörungen gewonnen hat. In der Tat,
man muß Wernicke Recht geben und kann seine Ausführungen nur in dem
Sinne verstehen, daß man sich klar macht, welch außerordentlich schnelles Tempo
die Entwicklung der Psychiatrie bis zu ihrem gegenwärtigen Stande eingeschlagen
hat. Das ist wichtig festzuhalten gegenüber den zahlreichen Angriffen, welchen
gegenwärtig die Psychiatrie als Wissenschaft und ihre Vertreter ausgesetzt sind.
Freilich handelt es sich hier nicht um eine ausschließlich neuzeitliche und der
Gegenwart allein zukommende Erscheinung. Schon Wernicke sah sich ver¬
anlaßt, in seinem erwähnten Grundriß der Psychiatrie die Anfeindungen, welche
sie zu erleiden hat, zu berühren und wenigstens auf eine Kategorie der Wider¬
sacher kurz einzugehen. Auch jetzt kann man unter den Wortführern des
Kampfes gegen die Psychiatrie die von Wernicke bereits gekennzeichnete
Gruppe herausheben. Es handelt sich um Personen, welche das Unglück hatten,
geisteskrank zu werden und zu ihrer Verwahrung und Behandlung in eine
Irrenanstalt gebracht werden mußten. Nun ist es eine bekannte Tatsache, daß
etliche der Geisteskranken wieder entlassen werden können, teils soweit wieder
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 457
hergestellt, daß sie keine krankhaften Erscheinungen mehr darbieten oder nur
insofern gebessert, daß sie zwar, namentlich für den Kenner der Hinge noch
psychotische Symptome zeigen, aber durch diese nicht gehindert werden, in der
Gesellschaft zu leben, ohne diese durch antisoziales Verhalten zu stören oder zu ver¬
letzen. Beide Gruppen von Personen, welche die Irrenanstalt verlassen durften,
können aber in zahlreichen Fällen eine gemeinsame und folgenschwere Eigenschaft
besitzen, nämlich, es war ihnen nicht vergönnt, für die Zeit ihrer Aufnahme und
ihres ferneren Verbleibens in der Irrenanstalt die erforderliche Krankheitseinsicht
zu gewinnen. Von der jeweiligen Individualität und der Eigenart ihrer Tempe¬
ramente wird es abhängen, ob die mangelnde Krankheitseinsicht in ihrem Seelen¬
leben gewissermaßen eine ruhende Größe darstellt und, abgesehen von kleinen,
von ihr ausgehenden Erschütterungen des seelischen Mechanismus, keine Kraft
entfaltet, oder aber, ob der Ausfall an Krankheitseinsicht aus seiner Negativität
heraustrit und zu einer stark positiven Größe sich auswächst, welche dann zu
einer Kraftentladung drängt, durch die nicht nur das Seelenleben des Individuums
nachhaltig ergriffen und immer aufs neue verändert, sondern auch mehr oder
weniger dauernd die Gesellschaft in Mitleidenschaft gezogen wird.
Nun ist aber in der Neuzeit doch noch eine bemerkenswerte Erscheinung
hinzugetreten. Der Kreis der Widersacher der Psychiatrie beschränkt sich nicht
nur auf frühere Geisteskranke, welche mit mehr oder weniger großen Defekten
entlassen werden konnten, sondern er hat auch einen weiteren Umfang ange¬
nommen. Das Mißtrauen gegen die Psychiatrie ist gewachsen und erfüllt heut
Kreise, welche früher dem Vorurteile ferner standen. Das Laienpublikum ist
beunruhigt und auch aus den Reihen der Gebildeten erheben sich ängstliche und
kritisierende Stimmen. Wir Irrenärtzte müssen es uns zunächst offen und ehrlich
eingestehen: wir sind nicht sehr beliebt in der allgemeinen Meinung, und ins¬
besondere stehen wir mit einer ganzen Richtung der Juristen auf etwas gespanntem
Fuße. Es wäre sehr unrichtig und unklug und geradezu verhängnisvoll, wollten
die Psychiater auch fernerhin zu allem schweigen und ruhig auch weiterhin alle
Angriffe über sich ergehen lassen ; denn, wie man sofort emsehen wird, handelt
es sich eben hier nicht nur um eine individuelle Angelegenheit dieses oder jenes
Psychiaters, um eine lokale Affäre dieser oder jener Irrenanstalt, sondern die
Sache hat ihre weittragende und einschneidende soziale Bedeutung. Ich verfüge
nicht über eine statistische Aufstellung, aber das kann ich sagen und wird mir
ohne weiteres zugegeben werden: man liest in häufigen Fällen wenigstens als
einen der Gründe zum Selbstmord Angst und Scheu vor der Irrenanstalt. Unter
meinen Augen spielte sich erst jüngst folgender Fall ab: Eine Dame befand
sich wegen einer Erkrankung an Melancholie in der Anstalt. Es ließ sich mit
Sicherheit Voraussagen, daß der Fall günstig verlaufen würde. Unter den fort¬
gesetzten Angriffen der Tageszeitungen auf die Psychiater wurden die Verwandten
ängstlich und erklärten, sie wollten lieber die Kranke zu Hause weiter behandeln
lassen, damit sie nicht in der Anstalt zurückgehalten würde. Trotz meines
Einspruchs und meines energischen Hinweises auf drohenden Selbstmord wurde
ich nicht gehört. Nachmittags um drei wurde die Kranke aus der Anstalt heraus¬
genommen; um fünf bereits stürzte sie sich aus dem Fenster in ihrer Wohnung
und blieb tot liegen. — Solche traurige Fälle gehören keineswegs zu Seltenheiten,
und ich muß die Schuld an ihnen denjenigen ins Gewissen schreiben, welche
fortgesetzt die Psychiatrie zum Gegenstand ihrer Angriffe machen.
Aber liegt denn wirklich ein Grund zur Beunruhigung und Beängstigung
458 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
vor, als bildeten die Psychiater einen geheimen Eing und eine dunkle Gesellschaft,
vor deren Machenschaften man ängstlich auf der Hut sein müßte? Eine Zeitlang
hatte man fast ausschließlich die Privatanstalten aufs Korn genommen und in den
leitenden Ärzten Leute erblickt, denen nur der Geldgewinn am Herzen liegt
Es bildete sich die Meinung, daß es keine Schwierigkeiten haben könnte, wenn
man nur das nötige Geld rollen ließe, Kranke in eine Privatanstalt zu bringen
und dort sie nach Belieben festhalten zu lassen. Nun hat man auch sein Augen¬
merk auf die Staatsanstalten gerichtet. Hier, meinte man, fiele zwar das Geld¬
interesse fort, dafür aber trieben die Staatsorgane ihr unsauberes Spiel und ließen
die lästigen Menschen unter dem Vorwände, sie litten an Querulantenwahn, hinter
den Mauern der Irrenanstalt verschwinden. Das Motiv wechselt also die äußere
Form, dem Wesen nach bleibt es sich gleich. Man scheut sich nicht, über eine
ganze Kategorie von Männern, deren Beruf zu den schwersten und aufreibendsten
aller Tätigkeiten gehört, kurzerhand den Stab zu brechen. Nun aber bleibt immer
noch der Fall ab zu warten, welcher wirklich ohne Grund und also widerrechtlich
das Opfer gewissenloser Irrenärzte geworden ist.' Jedesmal hat sich herausgestellt,
daß die Dinge in Wirklichkeit ganz anders liegen, als sie zunächst durch die
Tageszeitungen der Öffentlichkeit mitgeteilt werden. Aber das tut nichts. Man
gibt sich nicht die geringste Mühe, vor Kundgebung einer neuen Affäre die be¬
treffenden Ärzte über die Lage des Falles zu befragen, sondern ungetrübt von
jeder Sachkenntnis wird eine sogenannte Irrenhausaffäre nach der andern bekannt
gegeben. Man verlangt immer lauter und stürmischer nach einem Irrengesetz,
welches die Aufnahme von Menschen in die Irrenanstalt erschweren soll. Man
will möglichst viele Kautelen schaffen, welche unmöglich machen sollen, daß
kurzerhand jemand wider seinen Willen in eine Irrenanstalt gebracht werden kann.
Es bedarf keiner Auseinandersetzung, daß Laien ganz und gar unfähig
sind, wie das vielfach verlangt wird, Geistesstörungen zu beurteilen, das kann
und soll lediglich die Aufgabe von Fachleuten sein. Wer aber auch nur einiger¬
maßen Erfahrung auf unserem Gebiete besitzt, weiß zur Genüge, daß zur Not¬
wendigkeit der Unterbringung eines Menschen wegen Geistestörung in die Irren¬
anstalt immer mehr oder weniger plötzlich sich einstellt. Es ist in fast allen
Fällen tatsächlich Gefahr im Verzüge, teils insofern, als der Kranke auf grund irgend
welcher psychotischer Erscheinungen sich gefährlich wird, teils im Hinblick
auf das antisoziale Verhalten, weches die Folge einer Seelenstörung ist. Das
Publikum kann gar nicht genug darüber aufgeklärt werden, wie gefährlich ein
Geisteskranker werden kann und eigentlich immer ist, sofern es sich nicht etwa
um Fäll ehandelt, welche die wissenschaftliche Auffassung als abgelaufen bezeichnet.
Gegenwärtig ist zur Unterbringung in die Irrenanstalt das Attest eines
Arztes und die Zustimmung des Kreisarztes bzw. des Direktors einer öffentlichen
Anstalt erforderlich. Unter besonders zwingenden Umständen kann die Aufnahme
auf Grund des Attestes eines Arztes sofort erfolgen, nur muß binnen 24, höchstens
48 Stunden der Kreisarzt den Kranken innerhalb der Anstalt gesehen haben.
Ich halte diese Maßregel für durchaus genügend und ausreichend. Jede Er¬
schwerung in dieser Dichtung dürfte einen unberechenbaren sozialen Schaden
nach sich ziehen; denn die Gefahr des Selbstmordes einerseits und die tätliche
Bedrohung der Umgebung anderseits ist immer im Auge zu behalten und kann
gar nicht scharf genug in Betracht gezogen werden. Sollte wirklich den Drängern
und Schreiern einmal nachgegeben werden, auf gesetzlichem Wege, so würde
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 459
das Publikum aus ersichtlichen Gründen einzig und allein den Schaden zu
tragen haben.
Nur in einem Punkte kann man zur Beruhigung der Gemüter etwas bei¬
tragen. Man setze dem von der Regierung zur Beaufsichtigung der Aufnahme
bestimmten Arzte einen Juristen an die Seite, welcher die Aufgabe zu erfüllen
hat, die Rechtsverhältnisse des wider seinen Willen internierten Kranken zu
prüfen und zu wahren. Dadurch kann die Angst behoben werden, es könnten
arglistige und egoistische Verwandte, um sich fremde Besitztümer anzueignen,
einen unliebsamen Angehörigen in die Irrenanstalt abschieben Will man nicht
einen dem beamteten Arzte analogen Juristen mit einer entsprechenden Tätigkeit
betrauen, so mag man die Prüfung der Rechtslage und die Ordnung der Ver¬
mögensangelegenheiten des Internierten etwa dem Vormundschaftsgericht oder einer
anderen Abteilung überweisen. Ich glaube, daß durch eine solche einfache Ma߬
nahme jede Besorgnis gehoben werden kann. Freilich ist als eine notwendige
Voraussetzung zu verlangen, daß der Jurist, welcher die Sache des Geisteskranken
und die xlngelegenheiten der Anstalt von seinem juristischen Standpunkt aus zu
prüfen und zu beurteilen hat, auch hinreichende psychiatrische Kenntnisse besitzt.
Diese lassen sich aber nicht erwerben durch das Studium eines Kompendiums
der Psychiatrie, sondern es ist dringend zu wünschen, daß unsere Juristen, sofern
sie sich an der Beurteilung von Geistesstörungen zu beteiligen haben, eine Zeit¬
lang unter der Leitung von Fachleuten an Irrenanstalten sich betätigen, um so
einen genauen Einblick in das Wesen und Treiben einer Anstalt zu gewinnen
und durch dem Umgang mit den Kranken auch Verständnis für die Seelenstörungen
sich zu verschaffen. Das dürfte auch der zweckmäßigste Weg sein, um die Spannung
zwischen Psychiatern und Juristen aufzuheben. Denn ich habe immer gefunden, daß
die Mißverständnisse zwischen diesen beiden Fakultäten sich darauf zurückführen
lassen, daß gewissermaßen zwei Sprachen gesprochen werden. Der Psychiater
wird eben nicht verstanden, weil auf der andern Seite die notwendigen Grund¬
lagen für ein Verständnis fehlen. Man kann doch nur unsern Darlegungen und
Ausführungen wirklich folgen, wenn man das nötige Wissen und vor allen Dingen
die lebendige Anschauung besitzt, welche man eben nur durch den Umgang mit
den Kranken gewinnen kann.
Die Richtigkeit meiner Ausführungen ergibt sich ohne weiteres, wenn man
diejenigen Entmündigungsrichter in Betracht zieht, welche reichlich Gelegenheit
hatten, in Verkehr mit Geisteskranken zu treten. Man sieht, wie ein solcher Richter
gleich ganz anders an den Kranken Fragen stellt und mit ihm Fühlung gewinnt.
Den Sachverständigen fällt es dann auch nicht schwer, mit dem Richter in
Einklang zu kommen; denn Beide stehen auf gleichen Boden und arbeiten auf
Grund sich nicht widerstreitender Vorstellungen vom Wesen der Sache. Hätten
schon jetzt die Strafrichter die genügende psychiatrische Kenntnis vieler Ent¬
mündigungsrichter, so würden wir nicht immer wieder erleben, daß in der Beurteilung
der Kriminellen zwischen Richter und Psychiater vor Gericht oft so scharfe
Gegensätze zum Ausdruck kommen. Würde also im Studiengang der Juristen
die Psychiatrie eine wesentlich andere Stellung finden, als sie gegenwärtig besitzt,
so würden meiner Überzeugung nach viele Stimmen aus dem Kreise der Juristen
verstummen, welche gegenwärtig sich gegen die Psychiatrie erheben.
Aber freilich, es kommt noch ein anderes wichtiges Moment hinzu. Man
hegt heute in weiten Kreisen die Meinnng, daß es wenigstens vielen Psychiatern
unter allen Umständen darum zu tun sei, namentlich wenn sie als Privatgut-
460 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
achter auftreten, den Angeklagten dem rechtmäßigen Richter zu entziehen und
vor das Forum des nur allzu leicht zur Verzeihung geneigten Arztes zu bringen.
Auch hier wieder spielt der Verdacht seine grobe Rolle, das Geld sei der
treibende Faktor, und wer es sich eben leisten könne, sich einen Gutachter zu
nehmen, der sei fein heraus, weil unbefugter Weise mit den Mitteln der Wissen¬
schaft für ihn gearbeitet werde. Nun läßt sich auch hier meiner Meinung nach
sehr leicht dem Vorurteil die Spitze abbrechen und die schweren Anschuldigungen
beseitigen, wenn man sich auf den Standpunkt stellt, den ich in meiner Arbeit
„Über die Stellung des Psychiaters zur Strafreform“ a) vertreten habe. Ich habe
nämlich die ganz allgemein gültige Forderung gestellt, daß in jedem kriminellen
Falle das Urteil eines Sachverständigen gehört werden soll. Jeder einzelne Fall
soll auf seine zugrunde liegende Seelenverfassung untersucht werden. Ich habe
ausdrücklich hervorgehoben und ich wiederhole es, daß ich keineswegs den Straf¬
richter durch den Arzt ersetzt wissen will. Ich wünsche nur, daß der zukünftige
Sachwalter des Rechts anthropologisch gründlich geschult ist, eine tüchtige Aus¬
bildung in Biologie, Gehirnphysiologie und Psychologie, sowie Soziologie sich erwirbt
und Gelegenheit erhält, in Gefägnissen und Irrenanstalten praktische Studien zu
treiben. Ich kann diese früher von mir geäußerte Ansicht nur wiederholen und
befinde mich in weitgehender Übereinstimmung mit Staatsanwalt Wulffen.
Die hier vertretene Anschauung findet aber schon Gelegenheit, aus dem
Bereich theoretischer Erwägungen in das Feld praktischer Betätigung überzugehen.
In dem bekannten Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1909 heißt es
in § 81 des achten Abschnitts über die Strafbemessung: „Bei Bemessung der
Strafe innerhalb der vom Gesetz vorgeschriebenen Grenzen sind alle für eine höhere
ödere geringere Strafe sprechenden Umstände zu berücksichtigen, insbesondere
die in der Tat hervortretende, verbrecherische Gesinnung, die Beweggründe des
Täters, der von ihm verfolgte Zweck, der zur Tat gegebene Anreiz, die persön¬
lichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters, der Grad seiner Einsicht, die
Folgen der Tat und das Verhalten des Täters, nach ihr; namentlich die bewiesene
Reue und das bewiesene Streben, die Folgen wieder gut zu machen.“
Wenn wir diese erfreulichen Ausführungen im Vorentwurf zu einem deutschen
Strafgesetzbuch recht ins Auge fassen und den Dingen auf den Grund gehen,
so müssen wir sagen, daß die von dem Gesetz vorgeschriebene Prüfung des Indi¬
viduums nur dann zweckmäßig und erschöpfend wird vorgenommen werden
können, wenn die hiermit betrauten Persönlichkeiten diejenigen Kenntnisse und
Erfahrungen besitzen, welche ich in meiner erwähnten Arbeit als notwendig hin-
gestellt habe. Hier springt ohne weiteres in die Augen, welch hohe soziale Auf¬
gaben der Psychiatrie erwachsen.
Nun aber weiter. Der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch ver-
langt in seinem § 63, dem bisherigen bekannten § 51: „Nicht strafbar ist, wer
zur Zeit der Handlung geisteskrank, blödsinnig oder bewußtlos war, so daß
dadurch seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen wurde.“
Im § 65 fügt der Vorentwurf nun die sozial höchst bedeutsame Forderung
hinzu: Wird jemand auf Grund des § 63 Abs. 1 freigesprochen oder außer Ver¬
folgung gesetzt, oder aber auf Grund des § 63, Abs. 2 — wenn nämlich die freie
Willensbestimmung des Individuums nur in hohem Grade vermindert anzusehen
*) 0. Juliusburger, Die Stellung des Psychiaters zur Strafreform, Journ.
für Psychologie und Neurologie 1908 S. 86.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 4ßf
ist — zu einer milderen Strafe verurteilt, so hat das Gericht, wenn es die öffent¬
liche Sicherheit erfordert, seine Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflege¬
anstalt anzuordnen.“
Ich habe wiederholt auf die Unhaltbarkeit der Zustände hingewiesen, die
sich daraus ergeben, daß in einer großen Anzahl von Fällen die Anwendung des
§ 51 dem Individuum keinerlei Beschränkung seiner Freiheit, keinerlei Eingriff
in seine antisoziale Persönlichkeit einträgt. Grade weil ich die rächende Strafe
grundsätzlich verwerfe, dagegen die Heilerziehung und Heilbehandlung bezüglich
Verwahrung der kriminellen Individuen beanspruche, muß ich selbst als eine
unglaubliche Verirrung ansehen, wenn bei Zubilligung des § 51 . . ., wenn auch
nur in einer gewissen Anzahl von Fällen, dem Individuum nunmehr das Hecht
zuerkannt wird, weiter ungehindert und unverändert, womöglich in denselben
Lebensverhältnissen verbleibend, zu schalten und zu walten. In diesem Gedanken¬
gange ist es auch nicht recht ersichtlich verständlich, warum mildernde Umstände
befürwortet werden sollen Man bedenke doch, daß gerade die sogenannten Psycho¬
pathen mit ihren verschiedenen Konstitutionen im hohen Maße antisozial und
sehr gefährlich für die Gesellschaft sind. Also die Absicht, nach Zubilligung des
§ 51 oder eines ihm entsprechenden Paragraphen, bezüglich bei Eintritt einer
Strafmilderung für besonders antisoziale Elemente eine nachträgliche Verwahrung
in individuell geeigneten Anstalten eintreten zu lassen, ist auf das nachhaltigste
zu unterstützen. *)
Es liegt klar auf der Hand, daß durch diese in Aussicht gestellte und sehr
zu begrüßende Meßnahme die soziale Bedeutung der Psychiatrie wiederum in ein
helles Licht gesetzt wird. Und wiederum kann der § 65 nur dann seine Ver¬
wirklichung erleben, und seine ungeschmälerte Betätigung erfahren, wenn nicht
nur ein gedeihliches Zusammenwirken von Richtern und Irrenärzten erfolgt, sondern
der Sachwalter des Rechts die oben als erforderlich hingestellte Vorbildung besitzt.
Des Ferneren enthält der § 65 des Vorentwurfs zu einem deutschen Straf¬
gesetzbuch folgende wichtige Sonderbestimmung: „War der Grund der Bewußt¬
losigkeit selbstverschuldete Trunkenheit, so finden auf den Freigesprochenen oder
außer Verfolgung Gesetzten außerdem die Vorschriften des § 43 über die Unter¬
bringung in eine Trinkerheilanstalt entsprechende Anwendung.“
Der § 43 nun bestimmt: „Ist Trunksucht festgestellt, so kann das Gericht
neben einer mindestens zAveiwöchentlichen Gefängnis- oder Haftstrafe die Unter¬
bringung des Verurteilten in eine Trinker-Heilanstalt bis zu seiner Heilung, jedoch
höchstens auf die Dauer von zwei Jahren, anordneu, falls diese Maßregel erforder¬
lich erscheint, um den Verurteilten wieder an ein gesetzmäßiges und geordnetes
Leben zu gewöhnen.“
Auch diese Bestimmungen können selbstverständlich nur dann ihren Zweck
wirklich erfüllen, wenn Richter unb Arzt auf dem gleichen Boden der An¬
schauung und Erfahrung stehen.
Nun sind in allerjüngster Zeit zwei höchst erfreuliche Maßnahmen zu ver¬
zeichnen. Im Fürstentum Lippe hat das Staatsministerium folgende, sozial außer¬
ordentlich wichtige Bestimmung getroffen: „Nach Anhörung der zuständigen
x) Juliusburger: Stellung des Psychiaters zur Strafreform, Journal für
Psychologie und Neurologie Bd. 13 S. 86, sowie Bemerkungen zu dem Vorent¬
wurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie
Bd. 67 S. 471.
Archiv lur Soziale Hygiene. VII.
30
462 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Behörden soll mit gnädigster Genehmigung des Durchlauchtigsten Fürsten in ge¬
eigneten Fällen das Pollard’sche System im hiesigen Lande versuchsweise zur
Anwendung gebracht werden, indem dem Trünke ergebenen Verurteilten, zumal
wenn die betreffende Straftat in der Trunkenheit begangen ist, die völlige Be¬
gnadigung unter der Bedingung in Aussicht gestellt wird, daß sie innerhalb der
gesetzlichen Bewegungsfrist des Alkoholgenusses sich gänzlich enthalten und in
der freien Zeit weitere Verfehlungen sich nicht zu schulden kommen lassen. Das
Staatsministerium rechnet hinsichtlich der Durchführung dieser Maßregel auf die
Unterstützung der im hiesigen Lande vorhandenen Blaukreuz-Vereine und der
hiesigen Guttempler-Loge.“
Und eine ähnliche Bestimmung hat in Hessen das Großherzogliche Ministerium
der Justiz getroffen und an sämtliche Justizbehörden die entsprechende Anweisung
gegeben. Aus den Bestimmungen hebe ich hervor: „Zur guten Führung gehört
auch, daß der Täter sich- nicht dem Trünke hingibt. Irn Falle der Gewährung
des bedingten Aufschubs mit Enthaltsamkeitsanweisung ist dem Mäßigkeitsv.erein
oder dem sonstigen auf Bekämpfung des Alkoholismus gerichteten Vereine, der
die Zuchtaufsicht zu übernehmen bereit ist, Mitteilung von dem Strafaufschub
und den Bedingungen, unter denen er gewährtist, zu machen. In den geeigneten
Fällen kann auch bei Mäßigkeitsvereinen und anderen auf Bekämpfung des Alko¬
holismus gerichteten Vereinigungen Auskunft über die Führung des Verurteilten
eingezogen werden. Es hat dies in der Regel zu geschehen, wenn dem Ver¬
urteilten die Enthaltun vom Alkoholgenuß oder vom übermäßigen Alkoholgenuß
zur Bedingung gemacht worden und der Verurteilte der Zuchtaufsicht eines Ver¬
eins der vorgenannten Art unterstellt ist.“
William Jefferson-Pollardist am Polizeigericht in der Stadt St. Louis,
im Staate Missouri (Nord- Amerika) Richter. Pollard sagt selbst: „Vor mehr
als 10 Jahren begann ich als Hilfsrichter und in den letzten 8 Jahren als ordent¬
licher Richter dieses Gerichtes fast täglich an Stelle der- Geld- oder Gefängnis¬
strafe freiwillig Unterzeichnete Ehrengelübde auf gänzliche Enthaltsamkeit ent¬
gegenzunehmen, und ich machte diese Methode zu einem Teil der Arbeit des Ge¬
richts bei Tätern, die wegen Trunkenheit oder leichter Verfehlungen, die auf
Trunkenheit beruhen, an geklagt sind. Der Täter unterzeichnet ein Gelübde, daß
er sich vom Gebrauch geistiger Getränke jeder Art und Beschaffenheit auf die
Dauer eines Jahres verpflichtet. Dieses freiwillige, vom Angeklagten nicht be¬
schworene Ehrengelübde wurde in jedem Falle durch den Richter in öffentlicher
Sitzung abgenommen, so daß der Täter dem Gericht persönlich zu berichten hatte,
sei es bei Gericht oder sonstwo, zu einer Zeit und an einem Orte, den der Richter
bestimmte, damit der Täter keine Zeit für seinen Beruf verlor. Wird das Ge¬
lübde gehalten, so wird weder Geld, noch Gefängnisstrafe vollzogen. Die Strafe
wird, obwohl zugemessen, ausgesetzt auf das Versprechen guten Verhaltens hin
das der Beschuldigte durch Unterzeichnung des Gelübdes ablegt.“
Der Gedanke Pollar ds hat in Amerika auch anderweitig Anklang ge¬
funden, und wie er selbst berichtet, wird das System auch in Holland in veränderter
Form bereits mit bestem Erfolge angewandt. Nun haben wir die Freude, daß
man auch in Deutschland versucht, ein großes Stück Strafreform zur Tat werden
zu lassen, wie es aus dem großartigen Vorgehen der Regierungen in Lippe und
Hessen erhellt. Bedeutsam ist an den deutschen Verfügungen auch, daß bestimmte
Vereine mit der Schutzaufsicht betraut werden. Dies begrüße ich um so lebhafter*
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 463
als ich bereits 1907 *) in meiner Arbeit „Zur Behandlung der forensischen Alko-
holisten“ auf die Straf reform energisch hingewiesen und die Heranziehung der
entsprechenden Vereine als notwendige Maßnahme bezeichnet habe. Es wird dem
Psychiater wiederum ein neues Stück sozialer Betätigung und Verpflichtung auf¬
erlegt; denn es wird für die erste Zeit, wo wir mit der bedingten Verurteilung
bzw. mit der bedingten Strafaussetzung Versuche machen werden, sehr darauf
ankommen, die geeigneten Fälle auszusuchen, damit das gute und gesunde Prin¬
zip nicht etwa in Mißkredit gerate. Hier ist nun scharf im Auge zu behalten
die genaue Untersuchung, ob der Alkoholismus des Täters eine primäre und allein
ausschlaggebende Bedeutung besitzt oder aber, ob der Alkoholismus des Individuums
nur eine sekundäre Bolle spielt, ein Symptom darstellt, während eine hinter dem
Alkoholismus bestehende geistige Störung die letzte Triebfeder zum antisozialen
Verhalten ahgibt. Es erhellt ohne weiteres, daß zur Feststellung dieses wich¬
tigen Tatbestandes Bichter und Irrenarzt Hand in Hand gehen müssen und dies
wieder nur dann fruchtbringend tun können, wenn die oben eingehend dar¬
gestellten Voraussetzungen zutreffen, mit anderen Worten, wenn Bichter und
Irrenarzt die genügende Sachkenntnis besitzen.
Wenn wir in Deutschland herangehen, das Pollardsystem 2) einzuführen, so
werden wir auch die bereits in gedeihlicher Entwickelung begriffenen Trinkerfür¬
sorgestellen zu berücksichtigen haben. Ich habe bereits 1910, auf der I. Deutschen
Konferenz für Trinkerfürsorgestellen in Berlin darauf hingewiesen 3), daß unseren
Fürsorgebestrebungen in der Strafreform eine große Aufgabe erwächst, insofern
auch sie es übernehmen müßten, eine Aufsicht über jene freigesprochenen Per¬
sönlichkeiten auszuüben und anderseits dafür zu sorgen, daß sie in Enthaltsam¬
keitsvereine eintreten. Wenn die Bemühungen der Trinkerfürsorge ersprießlich
wirken und gedeihen sollen, so wird es von Wichtigkeit sein, darauf zu achten,
die Fälle nicht unterschiedslos in Behandlung zu nehmen, sondern jeden Fall
genau individuell daraufhin zu untersuchen, ob der Alkoholismus als der allein
oder wenigstens ausschlaggebende Faktor anzusehen ist, welcher die fraglichen
antisozialen Handlungen erzeugte, oder aber ob der Alkoholimus nur eine sympto¬
matische Bedeutung in dem einzelnen Falle besitzt, insofern der Alkoholmißbrauch
erst seinerseits durch seelische Störungen determiniert wurde, welche als erstes
Glied in der Kausalverknüpfung anzusehen waren. Von der richtigen Diagnose
hängt natürlich auch hier die bessere Prognose des Falles ab, und es liegt auf
der Hand, daß bei fachmännischer Beratung durch den Irrenarzt mancher Irrtum
und mancher Fehlschlag sich wieder vermeiden läßt.
Nun wird man aber doch bei aller Anerkennung der Tragweite und Wert¬
schätzung der individuellen Fürsorge nicht verkennen dürfen, daß auch die Wohl¬
fahrt der Allgemeinheit über die Gegenwart hinaus in die Zukunft nicht aus dem
Augen verloren werden darf. Gerade die zuletzt berührte Frage über das Ver¬
hältnis des Alkoholismus zu den seelischen Störungen, inwieweit ihm eine primäre
oder sekundäre Bolle zugeschrieben werden kann, läßt uns ohne weiteres den
J) Juliusburger, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, Bd. 64 S. 394 u. f.
2) Siehe „Das Pollard-System und seine Einführung in Deutschland“ von
Dr. jur. Otto Bauer, Verl. f. Dtsch. Kultur und Sozial-Hygiene, Beutlingen,
sowie William Jefferson-Pollard, „Bedingte Verurteilung“, Verl. Neutraler
Guttempler, Heidelberg.
3) Siehe „Trinkerfürsorge“, Mäßigkeitsverlag, Berlin 1910.
30*
464 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Blick auf die soziale Bedeutung der Heredität werfen. Die verhängnisvolle Ein¬
wirkung des Alkoholmißbrauchs auf das Keimplasma und damit auch auf die
Nachkommenschaft ist zu bekannt, als daß ich an dieser Stelle darauf eingehen
müßte. Und nicht minder steht die Tatsache fest, daß Geistesstörungen in der
Aszendenz die Deszendenz nicht nur gefährden, sondern direkt schädigen. Ich will
auch hier nicht auf die einschlägigen Verhältnisse weiter eingehen und die
bekannten traurigen Reihen der Degeneration erwähnen, ebenso wenig die ver¬
hängnisvolle kriminelle Veranlagung im Hinblick auf die Nachkommenschaft zum
Gegenstände einer breiteren Ausführung machen. Wir müssen mit der Tatsache
rechnen, daß wir es mit Abnormen allerlei Art in bedenklichem Maße zu tun haben,
und daß wir wirklich unter den Lasten seufzen, welche uns die Strafanstalten
aller Art, die Idiotenhäuser und die Irrenanstalten fort und fort aufbürden. Da
drängt sich gebieterisch die Fragen auf, ob wir diesen unnatürlichen Steuern nicht
wenigstens in gewisser Hinsicht und bis zu einer gewissen Grenze Einhalt gebieten
können. Leider müssen wir bei dieser außerordentlich wichtigen sozialen Frage
unser Augenmerk zunächst von Deutschland weg und auf das Ausland hinlenken.
In Amerika und in der Schweiz ist man aus dem Stadium theoretischer
Erwägungen zur wirkungsvollen Tat übergegangen. In sechs Staaten von Nord¬
amerika bestehen Gesetze zur Verhinderung der Eheschließung von Geisteskranken,
Schwachsinnigen, Epileptikern und teilweise schweren Trinkern. Im Staate
Michigan bestimmt das Gesetz: „Geisteskranke, Idioten und Menschen, die an
Syphilis oder Gonorrhoe leiden und davon nicht geheilt sind, dürfen keine Ehe
eingehen. Jeder, der an Syphilis oder Gonorrhoe leidet und nicht davon
geheilt ist, der heiraten will, soll deshalb als Verbrecher mit einer Strafe von
500—1000 Dollar oder mit Gefängnis bis zu 5 Jahren oder mit Beidem zusammen
bestraft werden .... Niemand, der in einer Anstalt als epileptisch, schwach¬
sinnig oder geisteskrank verpflegt wurde, darf eine Ehe eingehen, ohne daß er
vorher ein beglaubigtes Zeugnis von zwei staatlichen Ärzten beibringt, daß er
vollständig von der Geisteskrankheit, Epilepsie oder Schwachsinn geheilt ist, und
daß keine Wahrscheinlichkeit besteht, daß eine solche Person diese Defekte oder
Krankheiten auf die Nachkommenschaft überträgt. Jede geistesgesunde Person,
die die Ehe eingehen will mit einem Geisteskranken, Blödsinnigen oder einem
Menschen, der als epileptisch, schwachsinnig oder geisteskrank in einer Anstalt
verpflegt wurde, ohne das obengenannte Zeugnis beizubringen, und die von diesen
Tatsachen wußte, und jeder Mensch, der zu einer solch verbotenen Heirat hilft,
sie unterstützt, sie verursacht oder dabei anwesend ist, der soll als Verbrecher
mit einer Strafe bis zu 1000 Dollar oder mit Gefängnis von nicht unter einem
Jahre bis zu 5 Jahren oder Beiden bestraft werden.“
Dr. Hans Maier, welcher die nordamerikanischen Gesetze gegen die Ver¬
erbung von Verbrechen nnd Geistesstörung und deren Anwendung in einer lehr¬
reichen und verdienstvollen Arbeit zusammengestellt hat, wünscht eine Ergänzung
der amerikanischen Vorschriften in folgender Art: „Wenn ein Eheverbot wegen
geistiger Krankheit oder Defektes eines Verlobten ausgesprochen werden muß,
so gilt dieses Verbot nur so lange, wie der Betreffende fortpflanzungsfähig ist.
Läßt er sich dauernd sterilisieren, so wird die Ehe gestattet, vorausgesetzt, daß
der Betreffende überhaupt die Handlungsfähigkeit zur Eingehung eines Kontraktes
besitzt.“
Der Zusatz von Dr. Maier ist zweifellos außerordentlich wichtig und zu
begrüßen, denn es liegt auf der Hand, daß das Ehegesetz, so vorzüglich es auch
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 465
ist und so sehr seine Einführung überall anzustreben ist, naturgemäß in seiner
Wirkung beschränkt bleiben wird. Die Sterilisation der Elemene, deren Fort¬
pflanzungsfähigkeit im Interesse der Gesellschaft nicht erwünscht ist, erweist
sich als eine unumgängliche und sozialnotwendige Forderung. Diese Konsequenz
hat man in Amerika auch bereits gezogen, und der Staat Indiana hat im Jahre 1907
nach den vorbereitenden Versuchen von Dr. Sharp ein derartiges Sterilisations¬
gesetz erlassen. Bisher sind so 873 Defekte, meist Verbrecher, fortpflanzungs-
unfähig gemacht worden. Bereits hat ein zweiter Staat, Connecticut, die Be¬
stimmungen von Indiana übernommen und sie, wie Dr. Maier berichtet1), von
den Klassen der schweren Verbrecher und der Schwachsinnigen auch auf gewisse
Kategorien von Geisteskranken im engeren Sinne ausgedehnt. Bereits 1909 hatte
Na ecke im Neurologischen Zentralblatt von der ersten Kastration aus sozialen
Gründen auf europäischem Boden in der Irrenanstalt des Kantons Asyles in Wyl
Mitteilungen gemacht. Naecke war in Deutschland der erste, der in wertvollen
Arbeiten mit allem Nachdruck auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, gewisse
antisoziale Elemente fortpflanzungsunfäbig zu machen. Auf dem IX. Internationalen
Kongreß gegen den Alkoholismus in Bremen 1903 hat Dr. Ernst Rüdin in seinem
Vortrage „Der Alkoholismus im Lebensprozeß der Rasse“ die Forderung auf-
gestellt, daß man einer gewissen Kategorie von Trinkern die Heirat gestatten
könne unter der Bedingung, daß sie vor Eingehung der Ehe sich der Vornahme
einer kleinen Operation zum Zwecke der Sterilisation unterzögen. Ich selbst 2)
habe auf dem XI. Internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus zu Stock¬
holm 1907 in der Diskussion zu dem Vortrage Aschaff enburgs „Alkoholismus
und Zurechnungsfähigkeit“ verlangt, daß man die unverbesserlichen Elemente
möglichst frühzeitig fortpflanzungsunfähig machen solle 3). In der Schweiz ist
seit vielen Jahren Forel für diese wichtigen Fragen auf das Entschiedenste ein¬
getreten. Nunmehr hat sich Dr. Ob er holz er4) das große Verdienst erworben,
in einer außerordentlich wertvollen Arbeit 19 Fälle zusammenzustellen von
Kastration und Sterilisation von Geisteskranken in der Schweiz. Die Fälle bieten
eine solche Fülle interessanten Materials, daß ein Studium der Schrift von Ober¬
holzer auf das dringendste anzurateh ist. Die Maßnahmen der Sterilisation
und Kastration erweisen zunächst ihre Vorzüge in sozialer Hinsicht dadurch, daß
es möglich ist, internierte Individuen früher als unter anderen Umständen zu
entlassen, da die Fortpflanzungsfähigkeit eben bei ihnen aufgehoben ist. Fälle
z. B., die wegen Kindesmord interniert werden mußten, konnten eher entlassen
werden, weil die Möglichkeit einer neuen Konzeption nicht mehr bestand. Gleich¬
zeitig verringerten sich die Kosten für Staat und Gemeinde. Die Individuen
waren ja vielfach in der Lage, außerhalb der Anstalt ihrem Broterwerb nachzu¬
gehen. Also auch in rein materieller Hinsicht stellte sich ein Erfolg nach ein¬
getretener Sterilisation ein.
Während in dieser Richtung und im Hinblick auf die Ausschaltung der ver¬
derblich wirkenden Aszendenz auf die Deszendenz der Erfolg auf der Hand liegt,
1) Maier, Verlag von Karl Marhold 1911.
2) Juliusburger, Neurologisches Zentralblatt 1909 Nr. 7.
3) Vgl. auch meine Arbeit „Zur Frage der Unzurechnungsfähigkeit und ihrer
sozialen Bedeutung“, Medizin. Klinik 1910 Nr. 14.
4) Oberholzer: Kastration und Sterilisation von Geiseskranken in der Schweiz.
Verlag von Karl Marhold J911.
466 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
ist der Nutzen in rein medizinisch individueller Hinsicht noch ein Problem. Um
hierüber ein definitives Urteil geben zu können, bedarf es erst noch ausgedehnter
Versuche. Oberholzer berichtet aber auch über Fälle, wo zweifellos für das
Individium selbst ein eklatanter Erfolg nach der Kastration erzielt wurde, inso¬
fern als durch diese Maßnahme der gefährliche und antisozial wirkende Sexual¬
trieb mit der Zeit immer schwächer wurde, wobei zugleich die Individuen ihre
antisoziale Schädlichkeit verloren. Besonders lehrreich ist ein Fall, wo nach der
Kastration aus medizinischen Gründen im Jahre 1907 ein antisoziales Individuum
tatsächlich zu einem brauchbaren Mitgliede der Gesellschaft gemacht wurde,
welches sich heute in den Dienst einer sozialen Betätigung gestellt hat. Der
Anstaltsdirektor Schiller bezeichnet im Hinblick auf diesen Fall die Operation
als eine der segensreichsten.
In der Schweiz kann die Sterilisation nur geschehen im Einverständnis mit
den zuständigen Behörden, den Eltern resp. dem Vormund und dem Kranken
selber. Es ist keine Frage, daß die Entwicklung weiter gehen wird, und die
zwangsweise Sterilisation dürfte nur eine Frage der Zeit sein. Da liegt es auf
der Hand, daß dem Irrenarzt eine neue und außerordentlich weittragende soziale
Aufgabe sich darbietet; denn in jedem Falle wird die Meinung des Irrenarztes
oder einer Kommission von Irrenärzten angehört werden müssen.
Bei einer so einschneidenden Maßnahme aber werden natürlich in der
Kommission auch Juristen ihre Stimme erhalten. Zu einem ersprießlichen Zu¬
sammenwirken von Irrenarzt und Jurist wird es aber auch dann nur wieder
kommen können, wenn beide die hinreichende Vorbildung und Sachkenntnis besitzen.
Für unsere deutschen Verhältnisse bleibt zur Zeit nichts anderes übrig, als die
Frage der Sterilisation erst aufzurollen und ihre große soziale Perspektive in das
Bewußtsein der Allgemeinheit zu rücken. Wir können zuerst nur die Diskussion
hierüber eröffnen und können nur den Wunsch aussprechen, daß Deutschland
bald dem sozial bedeutsamen Beispiel von Amerika und der Schweiz folgen möchte.
Die soziale Bedeutung der Psychiatrie ergibt sich aufs Neue und auf das Schlagendste.
Ich weiß sehr wohl, daß die Psychiatrie noch über die von mir erwähnten
Gesichtspunkte hinaus ihre soziale Mission bereits erfüllt hat und noch erfüllen
wird. Ich wollte aber an dieser Stelle keine abschließende, umfassende Arbeit über
die ganze soziale Bedeutung der Psychiatrie geben, sondern nur einige wichtige
Gebiete herausgreifen. Das Eine wird aber aus meinen Ausführungen hervor¬
gehen: Die Psychiatrie braucht sich in ihrer sozialen Betätigung nicht hinter die
anderen Wissenschaften stellen; sie kann neben und mit ihnen zum Wohle der
Gesellschaft arbeiten. Allen Anfeindungen können wir Irrenärzte getrost gegen¬
überstehen; wir überlassen das Urteil der gerecht denkenden Mitwelt und der
Nachwelt, welche die Früchte unser Arbeit genießen wird.
Sitzung vom 7. November 1911.
Herr E. Bies als ki- Berlin, trägt vor über: „Die Entwicklung der neueren
Krüppelfürsorge44. Die Krüppelfürsorge ist das jüngste Gebiet der sozialen
Medizin, das der Arzt sich erobert hat oder doch zu erobern im Begriffe steht.
Schuld daran ist der Umstand, daß diejenige ärztliche Spezialdisziplin, deren
soziale Betätigung die Krüppelfürsorge ist, erst seit Hoffa in ihren Grenzen
scharf Umrissen und zur Selbständigkeit, gleichzeitig damit aber auch zu bemerkens¬
werten Erfolgen aufgestiegen ist.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin. Hygiene und Medizinalstatistik. 467
Die geradezu glänzende Entwicklung, welche die deutsche Krüppelfürsorge
in den letzten Jahren genommen hat, ist von der im Jahre 1906 durch die
deutschen Bundesstaaten veranstalteten Statistik jugendlicher Krüppel ausge¬
gangen. Es ist mir eine persönliche Freude, daß ich die Ehre habe, vor dieser
Gesellschaft hierüber sprechen zu dürfen, denn ihr verehrter Vorsitzender, Herr
Geheimrat M a y e t , daneben auch Stadtrat Dr. Gottstein und Prof. Lennhoff
haben an der Wiege des Kindleins gestanden, und wenn nicht Herr Geheimrat
May et ihm die richtige Diät verordnet hätte, so wäre es vielleicht an Atrophie
oder Überfütterung eines frühzeitigen Todes verstorben.
Als ich den für einen jungen, an der Peripherie Berlins hausenden Doktor
ungeheuerlichen Plan faGte, eine das ganze Reich umfassende Statistik vorzu¬
schlagen, sagte ich mir, daß die zwar sehr verdienstvollen, aber doch nur örtlich
bedeutungsvollen Statistiken in einzelnen Bezirken (Rheinland, Schleswig-Holstein,
Braunschweig, Schlesien, Provinz Sachsen, nördliches Bayern), die von verdienten
Geistlichen und dem ärztlichen Vorkämpfer Dr. Leonhard Rosen feld in Nürn¬
berg veranstaltet waren, nicht auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben könnten,
daß anderseits aber zur Belebung des öffentlichen Interesses Zahlen gebracht
werden müßten, denen bei allen sonstigen Mängeln, doch nicht das eine bestritten
werden konnte, daß sie nämlich die Mindestzahlen ihres Heimatsbezirkes dar¬
stellten. Der weitschauende Gedanke hätte nicht zur Ausführung kommen können,
wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, auf drei Männer zu stoßen, die das
Bedeutungsvolle der Absicht sofort erkannten und mich nun in jeder Weise unter¬
stützten, das warHoffa mit seiner jugendlichen Begeisterungsfähigkeit, das war
Geheimrat Dietrich mit seiner klugen Einsicht und seinem weitgreifenden Ein¬
fluß, das war Geheimrat May et, der beste Sachkenner der medizinal-statistischen
Technik. Seinem wertvollen, stets hilfsbereiten Rat ist es zu danken, daß das
Werk in allen Stadien seiner Entwicklung sich gesund hielt, weil es eben auf
der richtigen Bahn blieb, und schließlich dazu brachte, die erste — cum grano
salis — vollständige und durchgearbeitete Statistik des jugendlichen Krüppeltums
einer Nation zu werden. Es ist mir eine Herzensfreude, ihm dafür heute, nach¬
dem wir in ansteigender Linie feine erfreuliche Höhe erreicht haben, noch einmal
herzlich zu danken.
Nun kann es nicht meine Aufgabe sein, hier die seit 5 Jahren bekannten Ergeb¬
nisse dieser Statistik noch einmal in extenso durchzusprechen, obwohl die intimen
statistisch-technischen Reize, der Aufbau der Einteilung, die Technik der Zählung
und ihre Organisation von unserer Berliner Zentrale bis in die kleinsten Dörfer
hinein, das Zustandekommen des Textes der Zählkarte, ihre ärztliche und büro¬
mäßige Bearbeitung, die Herstellung des Kopfes der Tabellen und vieles andere
schon genügend Reiz böte, um es gerade in dieser Gesellschaft zu erörtern und
zur Kritik zu stellen. Vielmehr will ich nur die leitenden Gedanken hervorheben,
die den Anstoß zur Entwicklung der Krüppelstatistik gegeben haben und die
für die Zukunft den Keim von Entwicklungsmöglichkeiten in sich tragen.
Das erste war der Umstand, daß allein durch die Veranstaltung der Zählung
sämtliche Behörden von der Reichskanzlei bis zum .kleinsten Ortsschulzen, vom
Ministerialdirektor bis zum Stadtsergeanten, von der Medizinialabteilung im
Ministerium bis zum Kreisarzt und durch alle Häuser, Schulen, Pastorate und
Familien mit einem schlage daß Wort „Krüppelfürsorge“ ertönte. Das war nicht
allen, aber doch sehr vielen ein Novum, es konnte nicht mehr verhallen, die
Massenwirkung hatte, wie überall in unserer Zeit, ihre Schuldigkeit getan.
468 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
Das zweite war, daß die Zählung sich nur auf Jugendliche beschränkte,
einfach darum, weil Krüppelfürsorge überhaupt nur an dem körperlich wie seelisch
leicht formbaren Kinde Erfolge erzielt und weil die Hineinbeziehung der er¬
wachsenen Krüppel, von andern z. B. technischen Schwierigkeiten der Statistik
abgesehen, uferlose Zahlen ergeben mußte, deren gräßliche Wucht jeder Fürsorge
von vornherein ein Lasciate ogni speranza zurufen mußte. Hatte doch die Kreuz-
nacher Krüppelanstalt im Jahre 1902 in der Rheinprovinz neben 8580 Krüppeln
unter 16 Jahren, 40928 Krüppel über 16 Jahren gezählt, d. h. nahezu 5 mal so¬
viel Erwachsene als Jugendliche. Das hätte für das ganze Reich mindestens
600000 Krüppel ergeben, d. h. eine Zahl, vor der auch der freigiebigste Volks¬
wirt erstarrt seinen Beutel zugezogen hätte mit der Begründung, daß es soviel
Geld überhaupt nicht gäbe, als zur Bewältigung solcher Massen nötig sei.
Ein anderes bedeutsames Moment war die Aufstellung einer neuen Begriffs¬
bestimmung und zwar neu nach 3 Seiten.
Erstlich wurde der Krüppel kurz heraus als ein Kranker bezeichnet, weil
jedes Krüppelgebrechen durch eine wohlumgrenzte und bekannte Erkrankung her¬
vorgerufen wird und weil der Arzt, will sagen der Orthopäde, inzwischen gelernt
hatte, diese Krankheit, zum Teil in. vorher ungeahnter Weise, zu bessern, ja zu
heilen; ich erinnere nur an die Einrenkung der angeborenen Hüftverrenkung, an
die Muskel-, und Nerven Verpflanzung. Diese Hervorkehrung des Krankheits¬
momentes hatte die erfreuliche Wirkung, daß die Orthopäden sich mit lebhaftem
Interesse neuen Sachlage zivwandten, sie hatte aber auch die Folge, daß die bis¬
herigen Vertreter der Krüppelfürsorge darin einen Vorwurf erblickten. Das lag*
natürlich ganz fern; die Geistlichen können in ihrer segensreichen und vor¬
bildlichen Tätigkeit auf dem Gebiet der Krüppelfürsorge von niemand mehr an¬
erkannt und gewürdigt werden, als von denen, die heute in ihren Spuren wandeln.
Als es noch keine Heilung der Krüppelgebrechen gab, konnte nichts anderes ge¬
schehen, als daß man den Krüppel pflegte, ihn ausbildete und mit soviel ärztlicher
Hilfe versorgte, als es eben gab — und das ist überall geschehen — ; als aber
eine neue Krüppelheilkunst aufkam, war es Recht und Pflicht der Arzte, an
ihrem Teile mitzuhelfen. Im übrigen sind in Deutschland Laien die Begründer
der ältesten Krüppelheime gewesen; erst viel später folgte in Norddeutschland
die innere Mission, und interessant ist, daß noch vor der 1832 begründeten
Münchener Anstalt, in Berlin ein Dr. J. G. Blömer, Spittelbrücke 2 und 3 eine
„Heilanstalt für Verwachsene“ im Oktober 1823 eröffnete, in der er schon alle
Einrichtungen eines Krüppelheims unserer Tage hatte, ärztliche Behandlung,
Unterricht durch einen besonderen Lehrer und passende Beschäftigung der Kranken J).
Das zweite entwicklungsfähige Moment in der Begriffsbestimmung war die
Hineinbeziehung der sozialen Frage. Nicht das Krüppelgebrechen allein bestimmte
die Hilfsbedürftigkeit, sondern die Wechselwirkung zwischen ihm und den sozialen
Begleitumständen oder Nebenkrankheiten, Armut, Verwaisung, Schwachsinn, Blind¬
heit u. a. Dadurch wurde die Krüppelfürsorge von den Krüppeln der Wohl¬
habenden entlastet, dafür aber die wirtschaftlich Schwachen und körperlich Elenden
herangeholt, auch wenn ihr Krüppelgebrechen an sich leicht war. Der Fabrikanten¬
sohn mit einem Arm geht uns nichts an, wohl aber der taubstumme, imbezille,
verwaiste Skoliotiker.
1 ) Literaturangabe siehe Kirmsse, Zur Geschichte der frühesten Krüppel¬
fürsorge, Zeitschrift für Krüppelfürsorge, Band IV, Heft 1.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 469
Und nun machte die Begriffsbestimmung noch eine wertvolle Unterscheidung,
nämlich die in Heimbedürftige und Nichtheimbedürftige Krüppel, wodurch wiederum
die Hälfte aus der teuren Anstaltsfürsorge ausgeschaltet und der billigen poli¬
klinischen Behandlung zugewiesen wurde — ein Vorgehen, das schließlich Zahlen
zutage brachte, über die selbst mit einem knausrigen Volkswirt zu reden war,
weil sie sich in Grenzen hielten, die mit erschwinglichen Mitteln zu bewältigen
waren.
Es gab im Jahre 1906 in Deutschland rund 100000 Krüppel unter 15 Jahren,
davon waren nach ärztlichem Urteil 56000 heimbedürftig. Auf je 10C00 Menschen
gibt es 15 Krüppelkinder, von denen 8 heimbedürftig sind und 12 ärztlicher Hilfe
bedürfen. Unter 10 000 Menschen gibt es 36 Krüppel. Diese allein standen also
zunächst zur Diskussion, und darüber ließen nun die Leute mit sich reden. Zwar
war für sie 1911 in 36 Anstalten noch nicht 5C0 Betten vorhanden, aber es boten
sich doch nun von allen Seiten hilfreiche Hände an, die mitarbeiten wollten.
Die häufigsten Leiden sind:
Lähmung mit
Tuberkulose -
Scoliose
Bachitis
Diese 4 allein machen mit 53,1 °/o schon mehr als die Hälfte aus.
Das platte Land liefert weniger Krüppel als die Städte und Industriebezirke,
Königreich Sachsen ist fast in allen Kategorien am schlechtesten dran. In dem
Maße als die Bevölkerungsdichte zunimmt, häuft sich die Rachitis. Hier hegen
Winke für die Zukunftsarbeit, die von allgemeinen hygienischen Maßnahmen,
Bodenreform u. a. abhängen.
Eine wichtige Frage, auf welche die Statistik mit Nachdruck hingewiesen
hat, ist die des Krüppeltums im vorschulpflichtigen Alter. Kein Lebensalter ist
verschont, schon unter den Säuglingen sind 457 Krüppel gezählt, dann steigt die
Kurve steil bis zum 13. Lebensjahr, um ebenso steil bis 15. auf die Hälfte ab¬
zufallen. Von 100C0 Vorschulpflichtigen sind 2 verkrüppelt, im ganzen über
15 000. Hier hätte vor allem die Aufklärung unter Hebammen, Wochenpflegerinnen,
Gemeindeschwestern zu sorgen. Die Zahl von 10000 durch Unfall verkrüppelter
Kinder weist auf die Gefährlichkeit des Verkehrs und der industriellen Kinder¬
arbeit. Komplizierend traten zum Krüppelleiden hinzu in 6556 Fällen Krämpfe,
Taubstummheit, Blindheit, Tuberkulose innerer Organe, Blutarmut und sonstige
chronische Krankheiten: davon waren allein 1153 vorschulpflichtige; nur ein
kleiner Teil befand sich in Heimpflege. Allen diesen Zahlen wohnt eine werbende
Kraft schon dadurch inne, daß ihre Nennung allein jedem Einsichtigen die Wege
erhellt, welche zur Abstellung des durch sie ausgedrückten Elends führen.
Nun lassen Sie uns weiter die großen werbenden, zur Entwicklung und zum
Ausbau drängenden Gedanken in der Krüppelfürsorge verfolgen. Das Endziel unserer
Arbeit ist, den Krüppel erwerbsfähig oder wie ich es oft gesagt habe, ihn aus
einem Almosenempfänger zu einem Steuerzahler zu machen. Dies Schlagwort
hat die Armenverwaltungen aufgerüttelt, und es ist des verstorbenen Stadtrats
Münsterberg unsterbliches Verdienst, daß er, der gesagt hatte, man könne
dem Armen nicht besser helfen, als dadurch, daß man ihn gesund mache, als
erster den ortsüblichen Krankenhaussatz für unser Berliner Heim bewilligte. Der
genannte Satz schlug umsomehr durch als die Krüppelfürsorge im Ggensatze zu
470 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
der Fürsorge an Epileptischen, Idioten, Taubstummen und Blinden, die zu-
sammengenommen so zahlreich sind als die Krüppel, ärztliche und pädagogische Kunst
viel mehr erreichen können — denn 88,6% aller Krüppel und. 97,8% der schul¬
pflichtigen sind geistig gesund.
Der älteste ärztliche Vorkämpfer der Krüppelfürsorge, mein vortrefflicher
Freund Dr. Leonhard Rosen fei d in Nürnberg, hat vor wenigen Wochen eine
umfangreiche Arbeit in der Zeitschrift für Krüppelfürsorge auf Grund einer
Rundfrage veröffentlicht, worin er über den Unterhalt der Krüppelkinder und
die von den Armenverwaltungen aufgebrachten Kosten handelt. Er hat gefunden,
daß die öffentliche Armenpflege die Krüppel bisher noch nicht ausreichend ver¬
sorgt, namentlich nicht genügend ärztlicher Behandlung zuführt (nur 15 Proz.
statt 57 Proz.) dagegen viel zu häufig zu reinen Zwecken der Versorgung unter¬
bringt (30 Proz. statt 6 Proz.). Die Versorgung in fachärztlicher Behandlung
kostet zwar 40 Proz. mehr, denn der durchschnittliche Aufwand für armenunter¬
stützte Krüppel beträgt 224 Mk., während die durchschnittlichen Anstaltskosten
sich auf 890 Mk. stellen, aber dieser Mehraufwand wird dadurch wett gemacht,
daß nach 3 Jahren ein Drittel bis die Hälfte der Krüppel als wirtschaftlich
selbsttätig aus der Anstaltsbehandlung ausscheiden.
Die Unkosten für Armenpflegen oder Anstaltsbetrieb machen nicht mehr als
jährlich 400 Mk. aus, ebensoviel kann ein erwerbsfähig gemachter Krüppel min¬
destens verdienen. Die Ersparung der einen Summe, die Neuproduktion der anderen
ergeben zusammen einen national-ökonomischen Nutzen von jährlich 44 Millionen
Mark für Deutschland. Das ist zweifellos ein Geschäft, und darauf hin können
die Armenverwaltungen jede Summe in die Krüppelfürsorge stecken, sie wird sich
immer rentieren, von den ethischen Werten ganz abgesehen. Diese Exempel sind
nunmehr überall anerkanut und haben auch die Laien zu großen Stiftungen an¬
geregt, die zwischen J/4 und 4 72 Millionen für die einzelne Anstalt schwanken.
Wie macht nun die Krüppelfürsorge ihre Pfleglinge erwerbsfähig?
Durch das Krüppelheim, das heißt einen Organismus, in dem Klinik, Schule
und Handwerkslehre gleichzeitig neben- und ineinander arbeiten. Was die Klinik
leistet, kann ich hier nicht näher auseinander setzen; es würde zu weit führen,
wenn auch die vortrefflichen Erfolge z. B. auf operativem Gebiete und im Bau
von Apparaten dazu verlockt. Dagegen bitte ich Sie, mir in die Schule zu folgen.
Hier hat sich neben der den Lehrplan einer Volksschule nachgehenden Klassen
vor allem in neuerer Zeit eine Hilfsklasse für die Schwachsinnigen und mit starken
Lücken in ihrem Wissen hereinkommenden Kinder etabliert. 6481 Krüppel waren
im Jahre 1906 schwach- oder blödsinnig, von den Heimbedürftigen 5 Proz., 6423
Krüppel hatten, obwohl schulpflichtig und bildungsfähig, überhaupt noch keinen
Unterricht erhalten. Die Krüppelschule, die in einer klinischen Anstalt arbeitet,
hat den Vorteil, daß sie die behandlungsfreie Zeit, während der ein Kind sonst
im Krankenhause oder zuhause beschäftigungslos daliegt, mit Unterricht ausfüllen
kann. Wer nicht in die Schule gehen oder gefahren werden kann, wird im Bett
unterrichtet. Dadurch wird es möglich, daß die Krüppel in einem Heim das
Schulziel zu gleicher Zeit erreichen, wie ihre gesunden Altersgenossen. Haupt¬
prinzip des Unterrichts ist heute wohl das des Werkunterrichts und der Arbeits¬
erziehung, d. h. jener Methode, die den Kindern ihr Wissen nicht nur durch
Einpauken und Auswendiglernen, sondern durch Vermittlung der Sinne durch
Nachmodellieren, Nachmalen usw. beibringt. Die Kinder „begreifen“ so in des
Worts verwegenster Bedeutung schneller, und der Lehrer kann schon früh im
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 47 1
Hinblick auf ihre spätere Erwerbsfähigkeit Beobachtungen anstellen und die
Handfertigkeit üben.
Es schließen sich an Fortbildungschulen und Fachunterricht für die Lehrlinge.
In unserer Berliner Anstalt sind wir in neuerer Zeit daran, das Leben der Kinder
außerhalb der Schule zu regeln, indem unser Erziehungsinspektor Herr Wuerz
sozusagen Betätigungsgenossenschaften unter den Kindern begründet hat. die sie
selbst verwalten müssen, und die doch im Dienste der Erziehung stehen. Ähnliches
hat Pastor PI aß in seiner Zehlendorfer Anstalt uns vorgemacht. Da ist ein
Lesekränzchen, ein Gesang-, ein Theaterverein, eine Jugendwehr, ein Turnverein
usf. Es soll dadurch vor allem die Selbständigkeit der Kinder, die namentlich
für den Krüppel von hoher Bedeutung ist, gestärkt werden. Ein weiteres Prinzip
bei uns ist die gemeinsame Erziehung der Geschlechter; nur die größeren schlafen
getrennt, sonst besteht in Unterricht, Spiel, beim Essen keine andere Trennung,
als sie die Kinder selbst vornehmen. Bisher haben wir nur gute Erfahrungen
gemacht. Überhaupt keine zwecklose Einengung ! Frohsinn und Lebensfreudigkeit,
getroste Aussicht in die Zukunft herrscht in unserem Hause; wie denn auch die
vergrämtesten Kinder, die zu Hause unter dem Mitleid der Erwachsenen und dem
Spott der Jugend gelitten haben, bei uns sich aufschließen, weil die andern es ja
noch schlimmer haben und der Vergleich kein Gefühl des Neides aufkommen läßt
— ein wichtiges und köstliches Geschenk ! Aus der Schule gehts in die Handwerks¬
stube — alle unter einem Dach, aber der Übergang ist nicht so plötzlich. Wie
die Grenzen zwischen Klinik und Schule sich verwischen, so zwischen Schule und
Handwerkslehre. Ein Junge, der insgesamt vielleicht nur 7 Finger hat und
Schneider werden soll, macht schon vor der Konfirmation eine vorbereitende
Lehrlingszeit, indem er nach den Schulstunden in die Werkstatt geht und sich
schon in den Anfangsgründen der Schneidertechnik übt. Das geht manchmal
schwer und kostet manche Träne, aber wenn er dann als Lehrling bei der Innung
eingetragen wird, kann er doch schon soviel, daß er zur gleichen Zeit, wie seine
gesunden Freunde außerhalb der Anstalt, die Gessellenprüfung besteht. An der
Spitze jeder Werkstatt steht ein Meister, der ausschließlich der Ausbildung der
Zöglinge lebt.
75 Erwerbsmöglichkeiten werden heute in deutschen Krüppelheimen gelehrt,
diese Zahl allein zeigt den riesigen Aufschwung der letzten Jahre; 1908 waren
es nur 55. Die Zahl der Fertigkeiten für Knaben ist von 33 auf 49 gestiegen,
die für Mädchen von 31 auf 26 gesunken. Immer mehr wird die alte Forderung
des Pastor Knudsen verwirklicht, daß bei der Krüppelarbeit die Qualität die
Quantität ersetzen müsse — darum tritt immer mehr, entsprechend dem ver¬
feinerten Gaschmack des Publikums, der künstlerische Wert der Arbeiten im
Korbflechten, Holzschnitzen, Buchbinderei, Weben, Klöppeln, Sticken usw. hervor.
Und wie im Handwerk, ist in allen Beziehungen ein zum Teil glänzender
Fortschritt in den Zahlen vom Jahre 1910 gegen die von 1908 zu verzeichnen.
In den in Betracht kommenden 39 Anstalten werden 35 Schulen mit 66 Klassen
unterhalten, dazu 14 Klassen für Schwachsinnige gegen 4 in 1908. Die Zahl der
Schulen ist um 6 gestiegen, die der im Hauptamt tätige Lehrer um 5, die der
geprüften Lehrerinnen um 9, die der Kindergärtnerinnen um 2. In gleichem
Maße ist die Zahl der Diakonen, Diakonissen und Theologen, die früher pädagogisch
tätig waren, gesunken.
Auch in der Krüppelklinik ist es vorwärts gegangen. Jedes Krüppelheim
hat ärztliche Versorgungen, 21 mal durch einen orthopädischen Spezialisten,
472 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
darunter 4 Professoren. 22 Anstalten haben eigne Operationssäle, davon 3 sogar
2, 13 Heime haben eigne Assistenten, 11 eigne Consiliari; die Zahl der medico-
mechanischen Einrichtungen ist von 15 auf 25, die der Röntgenlaboratorien von
4 auf 19 gestiegen, die der orthopädischen Werkstätten von 4 auf 16! Alles in
3 Jahren.
Die Zahl der Krüppelheime ist von 39 auf 50 gestiegen, ja wenn man die dem¬
selben Besitzer gehörigen Anstalten einzeln zählt auf 56. Außerdem gibt es noch
21 Vereine, die ohne Anstalt Krüppelfürsorge treiben oder eben ein Heim bauen,
d. h. es wird in Deutschland an 77 Stellen Krüppelfürsorge getrieben. Evangelisch
sind 26, katholisch 5, interkonfessionell 19.
Die Plätze haben sich von 3371 auf 4188 vermehrt; das kleinste Heim hat 6,
das größte 500 Betten, im Durchschnitt 100 Betten gegen 86 — 1908. Die evan¬
gelischen Heime haben 2819, die katholischen 425, die interkonfessionellen 944
Betten. Alle Heime nehmen Kinder jeden Bekenntnisses auf.
Auch die obere Grenze der Pflegegelder hat sich gehoben, sie schwankt
zwischen 120 Mk. jährlich und 1095, im Mittel 415 gegenüber 381 in 1908. In
einem Heim, dem Angerburger in Ostpreußen, sind sämtliche 400 Betten Freiplätze.
Leiter der Anstalt ist 21 mal ein Geistlicher, 5 mal ein Arzt, 2 mal ein
Lehrer, 11 mal ein Laie als Vorsitzender des besitzenden Vereins, 6 mal eine
Schwester.
Unsere Berliner Anstalt hat als erste einen neuen Typ aufgestellt: Leiter
ist der Chefarzt der klinischen Abteilung, für die Schule ist ein besonders vor¬
gebildeter Erziehungsinspektor angestellt, die Verwaltung leitet ein Verwaltungs¬
beamter, beide unterstehen dem ärztlichen Leiter. Das Haus ist interkonfessionell,
die Schwesternschaft eine dem Hause eigne, aus Töchtern gebildeter Stände.
Diese Organisation, die Freiheit für jede Entwicklungsmöglichkeit zuläßt, ist bisher
4 mal nachgeahmt und wird noch weitere Nachfolger finden, denn alle neuen
Heime, die im Bau sind, nehmen, soweit sie nicht von der Kirche ausgehen,
diesen Typ an.
Nun haben wir noch die große Gruppe der nichtheimbedürftigen Krüppel zu
betrachten, die im wesentlichen unter den Begriff der Prophylaxe fallen. Der
Ausbau von Fürsorge- und Beratungsstellen, verbunden mit orthopädischen Poli¬
kliniken ist der beste Weg zur Abhilfe und nimmt einen enormen Aufschwung.
Während es 1908 nur 3 solcher Stellen gab, sind es heute 18, ohne die, die
geplant oder in Bau sind. Man kann geradezu sagen, daß hier für die nächsten
Jahre der Schwerpunkt der Arbeit liegen wird, zumal wenn man sich der aus¬
sichtsreichen vorschulpflichtigen Fälle mehr als bisher annimmt. Hier sind noch
enorme Aufgaben zu lösen, ich erinnere nur an das Problem der Massenbehandlung
der Skoliose. In deutschen Schulen stecken über 3 Millionen Kinder mit Skoliose
oder Haltungsanomalien, in den Berliner Volksschulen allein über 60030! Nur vom
Boden der Krüppelfürsorge aus, wo Elternhaus, Schule, Arzt, Volkswirt, Gesetz¬
geber sich zusammenfinden, ist Besserung zu hoffen; ähnlich steht es mit der
Rachitis, dem Plattfuß, der angeborenen Hüftverrenkung usw.
Aufklärung ist Parole und Feldgeschrei für die nächste Zukunft! In erster
Reihe unter den Ärzten, von denen die älteren von orthopädischen Erkrankungen
nichts auf der Universität gelernt haben. Aber auch heute gibt es einen ortho¬
pädischen Lehrstuhl nur an 5 deutschen Universitäten, 2 in Bayern, 1 in Sachsen,
1 in Baden, 1 in dem großen Preußen.
Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik. 473
Deshalb verlangen Orthopäden und Krüppelfreunde immer wieder die Ein¬
richtung von Extraordinariaten für Orthopädie. Das ist keine rein ärztliche An¬
gelegenheit, sondern durchaus eine Frage der öffentlichen Wohlfahrtspflege; denn
erst, wenn jeder Arzt über die reichen Heilungsmöglichkeiten der Orthopädie
unterrichtet ist, wird das Krüppelelend abnehmen. Je früher ein Krüppel¬
gebrechen in die Behandlung kommt, desto mehr Aussicht hat es auf Heilung.
Deshalb muß die Aufklärung auch in die Kreise der Lehrer, Geistlichen, Beamten
und des Publikums dringen.
Die poliklinische Behandlung der Krüppel hat neben anderen die Vorteile
der Billigkeit; der Johanniterorden in Bayern hat über 90 Proz. Heilungen und
Besserungen erzielt und nur 140 Mk. pro Kopf jährlich ausgegeben. Dänemark
betrieb bis in die neueste Zeit seine ganze Krüppelfürsorge fast nur poliklinisch.
In Nürnberg haben sich alle Chirurgen und Orthopäden zu einer Art G. m. b. H.
zusammengetan. Einzelne Bundesstaaten unterhalten Landesverbände, so Kgr.
Sachsen, Baden.
Eine Frage taucht hier auf, die viel diskutiert wird, nämlich die, ob es
zweckmäßig ist, die Krüppelfürsorge zu verstaatlichen. Ich für meine Person
möchte das verneinen, weil der bureaukratisclie Schematismus da viel Schaden
anrichten kann. Aber während die Verstaatlichung in Preußen sowieso in ab¬
sehbarer Zeit ausgeschlossen ist, hat man sie in Oldenburg in diesem Jahre
eingeführt und debatiert im bayerischen Landtag stark darüber, als er plötzlich
geschlossen wurde.
Mit der Beratung und Behandlung in einer solchen Fürsorgestelle hängt
nufs engste die einer Arbeits Verteilung und einer ambulanten Krüppelschulen
zusammen.
Das Ausland ist da weiter als wir, in London, Mailand, New York werden
die Kinder morgens durch Omnibusse aus ihren Quartieren abgeholt, über Tag
unterrichtet, behandelt, gespeist und abends wieder nach Hause gebracht. Eine
Dame, die mitten in dieser Arbeit steht, sagte mir, daß in London kein Krüppel¬
kind unversorgt sei — so vortrefflich arbeitet der Apparat. In Frankreich gibt
es Arbeitshäuser, in welche die Krüppel tagsüber kommen, um dort Arbeit zu
finden und einen geringen Verdienst, der nicht durch Kundschaftsbesuch und
andere Wege geschmälert wird.
Es scheint mir, daß auch Berlin einmal vor solche Frage gestellt werden
wird, daß es sie aber wohl erst dann mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen
können, wenn die unendlich zersplitterte Wohltätigkeit zentralistisch zusammen¬
gefaßt ist. Vorderhand hat die Berliner Anstalt am Kottbuser Tor eine Fürsorge-
und Beratungsstelle eröffnet und wird dort allmählich eins nach dem anderen
versuchen.
So sind wir durch das große Gebiet schnell und flüchtig durchgewandert —
aber das wichtigste und namentlich das neueste und zukunftverheißende haben
wir gesehen. Sie werden mir recht geben, wenn ich gesagt habe: Aufklärung
ist das Wichtigste.
Um sie in weite Kreise zn tragen, hat die deutsche Vereinigung für Krüppel¬
fürsorge, welche die Trägerin der eben entwickelten Ideen ist, einen Leitfaden
der Krüppelfürsorge schreiben lassen, von dem ich einige Exemplare mit anderen
Drucksachen mir für die Bibliothek des Vereins zu überreichen gestatte.
Sie hat aber noch mehr getan, nämlich auf der Dresdener Hygieneausstellung
einen eigenen Pavillon errichtet, in dem das ganze Gebiet übersichtlich dargestellt
474 Aus der Gesellschaft für Soziale Medizin, Hygiene und Medizinalstatistik.
war. Welches Interesse dieser Pavillon erregt hat, obwohl er in der äußersten
Ecke des Ausstellungsgeländes lag, mögen Sie daraus ersehen, daß während des
Sommers über 320000 Besucher hindurchgegangen sind, an einem Sonntag 5288!
Die meisten Ausstellungsgegenstände sind nach Berlin überführt und werden
als provisorisches Museum der Krüppelfürsorge in der Bayreuther Str. 13 Auf¬
stellung finden. In 2—3 Jahren wird sich auf dem Gelände des Neubaues unseres
Berliner Krüppelheims ein eigner stattlicher Museumsbau erheben, in dem das
gesamte Anschauungsmaterial übersichtlich aufgebaut, jedem Laien eindringlich
vor Augen führen wird, was die deutsche Krüppelfürsorge will und kann.
Für diese unsere Arbeit, insonderheit aber für das Museum, möchte ich mir
das freundliche Interesse Ihres Vereins erbitten, wie ich denn überhaupt es
als eine besondere Auszeichnung betrachten würde, wenn Sie bei Gelegenheit unserer
Anstalt einen Besuch abstatten würden.
Wer einmal in dieses so schön abgerundete und so erfolgreiche Gebiet der
sozialen Medizin hinein geschaut hat, der bleibt ihm immer Freund!
Namenverzeichnis
A.
Abelsdorff 187.
Achard 292.
Adler, Fr. 80.
Ammon, Otto 146. 147. 148.
149. 173.
Aschaffenburg 465.
Ascher 126. 127.
B.
Baker 28.
Baiser 397. 398.
Bassenge 188.
Bauer, Otto 463.
Baum, Marie 46. 60. 64. 65.
Becher 107.
Behla 34. 37. 38. 39. 230.
398.
Bender 80.
Beneke 125.
Bergmann, v, 366.
Bertheau 398.
Beyer, Ernst 290.
Bieling 283.
Biesalski 466.
Billroth 366.
Bindewald 187. 274.
Binswanger 288.
Binz 282.
Biresford 365.
Bleuler 289.
Bloch 393. 398.
Blömer, J. Gr. 468.
Rfioq 4-49
Bockendahl 371. 398.
Bonne 300.
Briegleb 285.
Brigbt 197.
Brüning 398.
Bücher 302. 315.
Buttermilch, W. 335.
Buyse 9.
C.
Camerer 126.
C'arozzi 28.
Cartier 126.
Chauliac, Guy de 348.
Conrad, J. 302. 315.
Crzellitzer, A. 448. ,
Curschmann 222. 224.
1).
Dannehl 254.
Defferenz 9.
Deiters 290.
Delbrück 285. 290.
Dettweiler 294.
Deutsch 297.
Devoto 17. 28.
Dietrich 367. 398. 467.
Dietz 289. 290. 295. 297.
Dollinger 36. 42.
;• ••
E.
Ecker, A. 146.
Ehrenberg 445.
Ehrlich 345. 353.
Elben 229.
' Eulenberg 71. 197.
F.
Fehlinger 400.
Fernet 295.
Finkeistein 46. 51. 63. 65.
Fischer, Alf. 301.
Fischer, R. 197. 214. 216.
222.
Flesch, Max 247. 329.
Flügge 61. 65.
Forel 465.
Franc-Nohain 368.
Funke 383. 398.
Fürst 149. 450.
Gr»
Gaillard 292.
Glibert 9.
Gottstein 51. 65. 305. 345.
449. 467.
Grawitz 295.
I Groth 395.
Gruber 393. 398. 455.
Guradze 443.
Gutzeit 268.
H.
Hahn 450.
Haifort 3.
Haller 348.
Hanauer 46. 51. 65. 136. 398.
i Haussen 46. 295. 365.
Hausmann 62.
Hawer 28.
Hegar 393.
j Heim 10.
Heinzerling 71.
Helenius 286.
Heller, J. 103.
Heller, Marie 343.
Hensler 369 389. 394. 398.
Hermberg 398.
j Heymann 203. 206.
Heyn 367. 398.
Hirt 3, 43, 282.
Hirth 197.
Hoffa 467.
Hoftke 299.
Holey 296.
Holitscher 282. 288. 297.
Holtzm ann 15. 67. 69. 71 . 76.
, Hoppe 286. 291.
Hufeland 135.
Hume 447.
Hunt 292.
j-
Jeske, E. 290.
Joens 398.
Juliusburger 456.
Jurisch 76.
K.
Kahler 27. 28.
Kaup 18. 132. 134. 191.
Keller 51. 65.
Kern, Walter 292.
Kirmsse 468.
476
Knudsen 471.
Kolb 35. 36. 37. 38. 39.
Kölsch 1. 230. 235.
Koppe 116.
Kraepelin 286. 288. 290.
Kraß 295.
Kruse 151.
Kunkel 72. 76.
Künne 71 72.
Kuzuya 110. 115.
L.
Laitinen 292.
Landois 125.
Landsberger 128.
Lassar 72. 73.
Legge 6. 200.
Lehmann 24. 197.
Lennhoff 73. 449. 450. 467.
Lessenich 134.
Lewin 18. 72.
Leymann 218. 219. 220.
222. 223.
Liebe, Georg 281.
Lief mann 64. 65.
Loth 38.
Löwenfeld 392, 398.
M.
Maier, Hans 464.
Malthus 444.
Manouvrier 71.
Martius 281.
Mayet 353. 449. 467.
Mayr, von 302. 315. 3 16. 444.
Meinert 46. 62. 65.
Meinshausen 253.
Merkel, von 14.
Messimy 392.
Millerand 365.
Mircoli 292.
Mittelhäuser 398.
Mombert 381. 399.
Monac-Lesser 299.
Mugdan 227.
Müller, E. Herrn. 287.
Munter, D. 107.
N.
Naecke 465.
Naumann Eriedr. 302. 315.
316.
Neißer 353.
Vpf pv QQQ
Neumann 46. 342. 344. 354.
450.
Notthaft 348.
O.
Oberholzer 465. 466.
Ogle 197.
Namenverzeichnis.
Ohlenberg 367. 399.
Oesterlen 371. 399.
Ott 141. 143. 152. 253 ff.
P.
Flasche 367. 399.
Pare, Ambr. 348.
Parkinson 293.
Pauli 112. 399.
Peiper 109. 375. 399.
Peiser 336.
Pignet 138 ff. 253 ff.
Pistor 367. 397. 399.
Plaß 471.
Pollard 462.
Prinzing 32. 110. 152. 187.
274. 305. 349. 399.
Puppe 238.
Q.
Quetelet 125. 127. 128.
R.
Rademacher 116.
Radestock 237.
Ramnzzini 2.
Ranke, Joh. 146.
Redder 399.
Redgrafe 28.
Rietschel 46. 47. 65.
Roders, Dr. C. T. Graham 13.
Rohwedder 399.
Romberg 282.
Römer, F. 243.
Rosenfeld 23. 285. 286. 287.
293. 467. 470.
Rösle 240.
Ross 292.
Roth 11, 71.
Rüdin 465.
Rußow 116.
S.
Schaeffer, R 354.
Schallmayer 449.
Scharr 296.
Schelble 239.
Schellmann 295.
Scheurlen 14.
I Schiller 466.
Schjerning 186. 189.
Schloß 291.
Schmid-Monnard 118. 125.
126.
Schmidt 134.
Schmieden 72.
Schmoller, von 446.
Schule 243.
Schüler, Frid. 11. 28.
j Schultze, Ernst 66. 276. 279.
Schwiening 140. 141. 143.
148. 150. 151. 173. 182.
253 ff.
Sehring 367.
Seitz 128.
Servino 292.
Seyffarth 141. 143. 253.
Seyfferth 76.
Sharp 465.
Sichel 287.
Simon 138. 253. 254.
Snell 286.
Solbrig 133.
Sommer, R. 84.
Sommerfeld 18. 197. 229.
Sternberg 18.
Stewart 293.
Stolte 64. 65.
Sturge 296.
Süßmilch 302.
T.
Teleky 19. 24. 200. 227.
Theilhaber 42.
Thomsen 300.
Tugendreich 46. 49. 65. 308.
336. 373. 381. 393. 399.
450.
ü.
Ullrich 77.
Ulrich 69.
Unger 419.
y.
Virchow, Rud. 146. 189.
Vogelsänger 11.
Vogl, von 110.
W.
Wagner, Adolf 311. 445.
W ard well 299.
Wegmann 11.
Weinberg 455.
Wellmann 187.
Wernicke 456.
Wessel 298.
Westergaard 349.
Westphal 300.
Wilser 146.
Wintgens 7.
Wolf, J. 43.
Wolff 287. 385. 399.
Wood 199.
Wright 286.
Wulffen 460.
Wunschheim, von 12.
Z.
Zadek 4.
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