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Full text of "Archiv für soziale Hygiene und Demographie"

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ARCHIV 

FÜR 

SOZIALE  HYGIENE 

MIT  BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG  DER 

GEWERBEHYGIENE  UND 
MEDIZINALSTATISTIK. 

NEUE  FOLGE  DER  ZEITSCHRIFT  FÜR  SOZIALE  MEDIZIN. 

IN  VERBINDUNG  MIT 

Gewerberat  Dr.  BENDER  Stadtrat  Dr.  GOTTSTEIN 

CHARLOTTENBURG  CHARLOTTENBURG 

Ober-Med.-Rat  Prof.  Dr.  v.  GRUBER  Prof.  Dr.  HAHN  Gewerbeinspektor  HAUCK 
MÜNCHEN  FREIBURG  WIEN 

Prof.  Dr.  LEHMANN  San.-Rat  Dr.  PRINZING  Prof.  Dr.  PRAUSNITZ 

WÜRZBURG  ULM  GRAZ 

Privatdozent  Dr.  TELEKY  San.-Rat  Dr.  WEINBERG 

WIEN  STUTTGART 

HERAUSGEGEBEN  VON 

Geh.  Ober-Medizinalrat  Prof.  Dr.  DIETRICH 
Priv.-Doz.  Dr.  med.  A.  GROTJAHN  Prof.  Dr.  med.  J.  KAUP 

Stadtrat  Dr.  phil.  F.  KRIEGEL 

SIEBENTER  BAND. 


LEIPZIG. 

VERLAG  VON  F.  C.  W.  VOGEL. 

1912. 


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Inhaltsverzeichnis  des  siebenten 

Bandes. 


Erstes  Heft. 

Seite 


Kölsch,  Entwicklung’,  Wege  und  Ziele  des  ge  werbeärztlichen  Dienstes  .  .  1 

Prinzing,  Krebs  und  Beruf . 32 

Hanssen,  Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  beim  Über¬ 
gang  in  einen  Industrieort . 46 

Schultze,  Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase . 66 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 


statistik  in  Berlin  ( Sommer ,  Die  Psychiatrie  in  den  Vorentwürfen  d 
neuen  Strafgesetzbücher  in  Deutschland  und  Österreich.  S.  84.  —  Heller 
Vergleichende  Morbiditätsstatistik  der  weiblichen  kaufmännischen  An 
gestellten  und  der  Dienstboten.  S.  103.) 


Zweites  Heft. 

Peiper,  Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern  .  .  .  109 

Simon,  Untersuchungen  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  nach  dem 

Pignet’schen  Verfahren . 138 

Kaup,  Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen  .  .  191 

Kadestock,  Die  internationale  Hygieneausstellung  Dresden  1911  und  die  in 
sozialhygienischer  Hinsicht  bemerkenswerten  statistischen  Darstellungen 
auf  derselben . 237 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin  ( Flesch ,  Hygienische  Ergebnisse  der  Aktienbau¬ 
gesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in  Frankfurt  a.  M.  S.  247.) 


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Inhaltsverzeichnis. 


IV 


Drittes  Heft. 

Seite 


Meinshausen,  Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens  253 

Scliultze,  Zunahme  des  Alkoholverbrauchs  in  Indien . 276 

Schnitze,  Ein  amerikanischer  Kulturfortschritt . 279 

Liehe,  Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheil¬ 
stätten  . 281 

Fischer,  Der  Frauenüberschuß . 301 

Aus  (1er  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin  ( Flesch ,  Hygienische  Ergebnisse  der  Aktienbau¬ 


gesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in  Frankfurt  a.  M.  S.  329.  — 
Buttermilch ,  Über  den  Wert  einer  zentralisierten  kommunalen  Säuglings¬ 
fürsorge.  S.  335.  —  Gottstein,  Beeinflussung  von  Volksseuchen  durch 
die  Therapie,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Epidemiologie  der  Krätze.  S.  345. 
—  Schaeffer ,  Das  statistische  Erhebungsformular  der  Heilanstalten  in 
Preußen.  S.  354.) 


Viertes  Heft. 

Haussen,  Die  Abnahme  der  Geburtenzahlen  in  den  verschiedenen  Be¬ 
völkerungsklassen  und  ihre  Ursachen.  Nachuntersuchungen  in  Schleswig- 
Holstein  . 365 

Fehlinger,  Die  Erwerbsunfähigenversicherung  in  Großbritannien  und  Irland  400 

Unger,  Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  in  bevölkerungsstatistischer 

und  sanitärer  Beziehung  (Mit  10  Kurven) . 419 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinal¬ 
statistik  in  Berlin  ( Guradze  Statistik  und  Kausalität.  S.  443.  — 
Crzellitzer ,  Die  Berliner  städtischen  Familien-Stammbücher  und  ihre 
Ausgestaltung  für  die  Zwecke  der  Vererbungsforschung  und  der  sozialen 
Hygiene.  S.  448.  —  Juliusburger ,  Die  soziale  Bedeutung  der  Psychiatrie. 
S.  456.  —  Biesalski  Die  Entwicklung  der  neueren  Krüppelfürsorge. 
S.  466.) 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen 

Dienstes. 

Von  Dr.  Feanz  Koelsch,  K.  bayr.  Landesgewerbearzt. 

Vortrag,  gehalten  beim  Kurs  für  Unfallheilung  und  Gewerbekrankheiten  in 
Frankfurt  a.  M.  am  3.  und  4.  Oktober  1911. 

Meine  Herren!  Dem  Thema,  welches  ich  vor  Ihnen  zu  be¬ 
sprechen  die  Ehre  habe,  dürfte  ein  aktuelles  Interesse  wohl  nicht 
abzusprechen  sein.  Sind  doch  gerade  in  den  letzten  Jahren  fast 
in  allen  Kulturstaaten  die  Beziehungen  des  ärztlichen  Standes  zur 
praktischen  Gewerbehygiene,  zum  Gewerbeaufsichtsdienste, 
Gegenstand  vielfacher  Diskussionen  und  z.  T.  auch  legislatorischer 
Maßnahmen  geworden,  nicht  zuletzt  in  unserem  deutschen  Vaterlande, 
wo  die  Erwägungen  für  und  wider  nicht  mehr  zur  Buhe  kommen 
wollen,  voraussichtlich  auch  nicht  mehr  sich  beruhigen  werden  bis 
zu  einer  den  modernen  sozialhygienischen  Erkenntnissen  ent¬ 
sprechenden  Regelung.  Nach  dieser  Richtung  hin  dürften  sich 
begreiflicherweise  meine  Ausführungen  von  einer  gewissen  Tendenz 
nicht  ganz  freihalten.  Andererseits  glaubte  ich  mich  auf  Grund 
einer  nunmehr  fast  3  jährigen  Tätigkeit  als  „Gewerbearzt“  berech¬ 
tigt  und  verpflichtet,  mit  meinen  Erfahrungen  nicht  zurückzuhalten 
und  meine  darauf  basierenden  Anschauungen  vor  ihrem  kompe¬ 
tenten  Kreise  zu  entwickeln. 

Die  Beziehungen  zwischen  Arzt  und  Gewerbehygiene  sind 
uralt.  Von  den  frühen  Zeiten  ab,  als  die  einzelnen  Berufe  begannen 
sich  zu  differenzieren  und  so  charakteristische  krankhafte  Störungen 
bei  den  Berufszugehörigen  hervorzurufen,  bis  auf  den  heutigen  Tag 
verdankt  die  Gewerbepathologie  und  Berufshygiene  der  ärzt- 

i 

liehen  Wissenschaft  ihre  Existenz  und  Weiterentwicklung.  Die 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  1 


2 


Franz  Koelsch, 


von  den  römischen  Satyrikern  Martial,  Juvenal,  Plautus  u.  a.  scherz¬ 
haftgebrauchten  Termini  vom  „triefäugigen  Schmied“,  vom  „hinkenden 
Schneider“,  vom  „engbrüstigen  Bäcker“,  vom  „varicosus  haruspex“ 
u.  dgl.  waren  den  griechischen  und  römischen  Heilkünstlern  ebenso 
geläufig  wie  die  Berufshygiene  der  Ringkämpfer,  der  Boten  oder 
der  Schifter.  Und  Hippokrates  bemerkt  u.  a.:  „Es  gibt  viele 
Handwerke  und  Künste,  die  denjenigen,  welche  sie  ausüben,  manche 
Plagen  und  Leiden  verursachen“.  Er  berichtet  weiterhin  von  ver¬ 
schiedenen  spezifischen  Erkrankungen,  so  der  Bergleute,  Lastträger, 
Tuchwalker,  Gärtner,  Reiter,  Schiffer  usw.  Ähnliche  Beobachtungen 
überlieferte  auch  Galen. 

Ebenso  liegen  uns  von  mittelalterlichen  Ärzten  eine  Reihe 
kasuistischer  Mitteilungen,  später  (etwa  von  der  Zeit  der  Renaissance 
ab)  auch  monographische  Arbeiten  über  gewerbliche  Gesundheits¬ 
schädigungen  und  deren  Bekämpfung  vor.  Die  Staubarbeit  war 
bereits  in  ihrer  unheilvollen  Wirkung  bekannt,  nicht  minder  die 
Beschäftigung  mit  Blei,  Quecksilber,  Arsen  und  anderen  Stoffen 
berüchtigt.  Die  Berufshygiene  der  Bergleute  und  Hüttenarbeiter, 
der  Schiffer  und  Drogenhändler,  der  Alchymisten  und  Chemiker 
wurde  eingehend  erörtert.  Andere  Ärzte  schrieben  über  die  Berufs¬ 
krankheiten  der  Soldaten  (Morbi  castrenses),  der  Gelehrten  und 
Studierenden,  der  Ratsherren,  sogar  der  Hof  beamten. 

Im  Jahre  1700  erschien  sodann  das  berühmte  Werk  „De  morbis 
artificum  diatribe“  des  Professors  der  Medizin  zu  Padua  B er nar- 
dino  Ramazzini,  des  „Vaters  der  Gewerbehygiene“  Ramazzini 
darf  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  die  bisher  überall  zer¬ 
streuten  Daten  gesammelt  und  gesichtet  zu  haben ;  er  hat  dieselben 
durch  zahlreiche  eigene  Beobachtungen  ergänzt  und  so  erstmals 
systematisch  die  Berufskrankheiten  dargestellt,  gleichzeitig  aber 
auch  kulturhistorische  und  therapeutische  Gesichtspunkte  ausgiebig 
berücksichtigt. 

Er  schildert  unter  anderen  die  berufliche  Blei-  und  Queck¬ 
silbervergiftung,  die  Wirkung  des  Arsens  und  anderer  chemischer 
Stoffe,  die  Folge  des  Staubes  für  die  Atmungsorgane,  des  Sitzens 
und  Stehens  auf  die  Blutzirkulation;  bei  Behandlung  der  Fein¬ 
arbeiter  finden  wir  eine  treffliche  Darstellung  der  physiologischen 
Optik  u.  dgl. 

Ramazzinis  Werk  fand  eine  außergewöhnliche  Beachtung 
und  durfte  sich  einer  stattlichen  Reihe  von  Auflagen,  Übersetzungen 
und  Umarbeitungen  erfreuen;  gleichzeitig  aber  gab  es,  begünstigt 
durch  die  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  einsetzende  mechanisch- 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


3 


industrielle  Betätigung ,  besonders  bei  den  englischen  und  fran-  - 
zösischen  Ärzten  Anlaß  zur  Entwicklung  einer  bodenständigen : 
gewerbehygienischen  Forschung  und  Literatur. 

In  Deutschland  beschränkte  sich  allerdings  die  wissenschaft¬ 
liche  Gewerbehygiene  dieser  Zeitperiode  bis  gegen  Mitte  des 

•  • 

19.  Jahrhunderts  im  wesentlichen  auf  Überarbeitungen  des 
Ramazzinischen  Werkes,  ohne  wesentlich  Neues,  Selbständiges 
hervorzubringen.  Erst  mit  dem  1845  in  Berlin  erschienenen  Werke 
des  Arztes  Haifort:  „Entstehung,  Verlauf  und  Behandlung  der 
Krankheiten  der  Künstler  und  Gewerbetreibenden“  wurde  auch  im 
deutschen  Sprachgebiete  eine  neue  Ära  eingeleitet.  1872/78  er¬ 
schien  das  groß  angelegte  Werk  von  Dr.  Hirt- Breslau,  welcher 
damit  die  moderne  wissenschaftliche  Gewerbehygiene  be¬ 
gründete.  Die  jüngste,  mächtig  aufstrebende  Fortbildung  unserer 
Wissenschaft  dürfte  Ihnen  wohl  selbst  genügend  bekannt  sein.. 
Ebenso  bekannt  ist  es  aber  auch,  daß  es  —  wie  es  ja  in  der  Natur 
der  Materie  liegt  —  fast  ausschließlich  ärztliche  Forschungen 
und  Beobachtungen  gewesen  sind,  welchen  die  gewerbehygienische 
Wissenschaft  ihre  heutige  stolze  Entwicklung  verdankt.  Ich  möchte 
jedoch  nicht  anstehen,  auch  die  mannigfachen  wertvollen  Anregungen 
und  Berichte  der  Gewerbeaufsichtsbeamten  aus  der  jüngsten  Zeit 
rühmend  hervorzuheben. 

Gleichzeitig  mit  der  Entwicklung  der  wissenschaftlichen 
Gewerbehygiene  wandte  sich  auch  das  Augenmerk  der  öffent¬ 
lichen  Organe  auf  die  im  Gefolge  der  industriellen  Entwick¬ 
lung  auftretenden  gesundheitlichen  Mißstände  und  Körperschädi¬ 
gungen.  Besonders  seitdem  die  „Arbeitsmaschine“  ihren  Sieges¬ 
lauf  begonnen  hatte  (Mitte  bis  Ende  des  18.  Jahrhunderts),  drängten 
sich  die  Probleme  des  Arbeiterschutzes  immer  aufdringlicher  in 
den  Vordergrund  des  allgemeinen  Interesses.  Wurde  doch  in  dem 
Geburtslande  der  modernen  Großindustrie,  in  England,  zu  Anfang 
des  19.  Jahrhunderts  die  Arbeitszeit  auf  14,  16,  selbst  18.  Stunden 
ausgedehnt,  in  vielen  Fabriken  wurde  ununterbrochener  Betrieb 
mit  Tag-  und  Nachtschichten  eingerichtet,  nicht  selten  mußten 
die  Arbeiter  30  und  40  Stunden  hintereinander  die  Maschinen 
bedienen.  Frauen  und  Kinder  bis  zum  zartesten  Alter  herab 
wurden  herangezogen ,  um  die  Maschine  nicht  stillestehen 
lassen  zu  müssen;  im  Jahre  1839  wurden  unter  419560  Fabrik¬ 
arbeitern  nur  96569  Männer  über  18  Jahre,  hingegen  192  887 
männlicher  Arbeiter  unter  18  Jahren  und  242  296  weib¬ 
liche  Arbeitskräfte  gezählt.  Und  ähnlich  standen  damals  .die 

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4  Franz  Koelsch, 

Verhältnisse  auch  in  den  benachbarten  französischen  und  deutschen 
Industriebezirken.  Die  Folgen  dieser  Ausbeutung  der  menschlichen 
Arbeitskraft  und  der  Auflösung  der  Familie  durch  die  Frauen-  und 
Kinderarbeit  zeigten  sich  gar  bald  in  grauenvoller  Weise.  In 
England  starben  (etwa  in  den  30  er  Jahren  des  19.  Jahrhunderts) 
in  den  Fabrikdistrikten  ebensoviele  Menschen  vor  dem  20.  Lebens¬ 
jahre  wie  anderswo  vor  dem  40.  Lebensjahre.  Während  bei  der 
übrigen  Bevölkerung  Englands  3  Generationen  kamen  und  gingen, 
schwanden  in  der  gleichen  Zeit  bei  den  Textilarbeitern  9  Gene¬ 
rationen  (n.  Zadek). 

Die  weitere  industrielle  Entwicklung  brachte  durch  Einfüh¬ 
rung  der  Dampfkraft  und  Elektrizität,  durch  Herstellung  und  Ver¬ 
wendung  zahlreicher  giftiger  oder  explosibler  Stoffe,  durch  die 
zwecks  Lohneinsparungen  immer  wieder  versuchte  Bevorzugung 
der  Frauen-  und  Kinderarbeit,  durch  die  im  internationalen  Kon¬ 
kurrenzkämpfe  so  intensiv  gesteigerte  Produktionstätigkeit  eine 
große  Keihe  neuer  Gesundheitsschädigungen  mit  sich. 

So  wurden  alle  Kulturstaaten  genötigt  zum  Erlasse  von  Ver¬ 
ordnungen,  durch  welche  nach  Möglichkeit  die  gewerblichen 
Schädigungen  hintangehalten  und  die  Existenzbedingungen  der 
arbeitenden  Bevölkerung  gehoben  werden  sollten.  Den  ersten  dies¬ 
bezüglichen  Schritt  machte  England  im  Jahre  1802.  Bezeich¬ 
nend  ist  übrigens,  daß  die  gewerbehygienischen  Mißstände  in  Eng¬ 
land  den  Anstoß  zu  „öffentlicher  Hygiene“  überhaupt  abgaben; 
denn  die  Schädigungen  der  Arbeiter  selbst  wie  die  Belästigungen 
dar  Nachbarschaft,  das  kolossale  Zusammenströmen  der  Arbeiter 
in  die  Fabrikstädte,  die  ungesunden  Wohnungs-  und  Ernährungs¬ 
bedingungen,  die  Gefahren  der  Seuchen  Verschleppung  und  Ähnliches 
veranlaßten  die  dortigen  Behörden  zu  eingreifenden  Sanierungs¬ 
maßnahmen.  Auf  dem  Kontinent  folgte  als  erster  Staat  P  r  e  u  ß  e  n 
1824,  dann  Bayern  1825.  In  der  Folgezeit,  etwa  von  der  Mitte 
des  19.  Jahrhunderts  ab,  treffen  wir  bereits  bei  den  meisten 
Kulturstaaten  mehr  oder  minder  weitgehende  gesetzliche  Be¬ 
stimmungen  über  Arbeitsvertrag,  Regelung  der  Arbeitszeit,  Sonn¬ 
tagsarbeit,  Beschränkung  der  Frauen-  und  Kinderarbeit,  Unfall¬ 
schutz  und  hygienische  Maßnahmen,  dann  Sonderverfügungen  für 
besonders  gefährliche  Betriebe  u.  dgl. 

Es  würde  zu  weit  gehen,  an  dieser  Stelle  Entwicklung  und 
Inhalt  der  internationalen  Arbeiterschutzgesetzgebnng zu  skizzieren; 
nur  in  aller  Kürze  sollen  die  einschlägigen  Deutschen  Verord¬ 
nungen  gestreift  werden.  In  der  Entwicklung  der  deutschen 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


5 


Arbeiterschutzbestrebungen  bildet  einen  Markstein  das  Jahr  1869, 
in  welchem  der  Norddeutsche  Bund  eine  Gewerbeordnung  aufstellte, 
•  die  dann  nach  der  Reichsgründung  in  allen  Bundesstaaten  zur  Ein¬ 
führung  gelangte.  Im  Jahre  1878  wurde  unter  anderen  die  Ge¬ 
werbeaufsicht  an  bestimmte,  von  den  Landesregierungen  zu  er¬ 
nennende  Beamte  übertragen.  Eine  Reihe  von  Nachträgen  sollten 
dazu  dienen,  die  Gewerbeordnung  den  Fortschritten  der  Industrie 
und  der  sozialen  Erkenntnis  anzupassen ;  die  letzte  dieser  Novellen 
ist  bekanntlich  am  1.  Januar  1910  in  Kraft  getreten. 

Die  Hauptziele  der  Gewerbeordnung  sind,  wie  be¬ 
reits  angedeutet:  Schutz  des  Arbeitsvertrages  und  der  Ent¬ 
lohnung  —  dann  Schutz  für  Leben,  Gesundheit  und  Sittlich¬ 
keit.  Diesen  letztgenannten,  wichtigsten  Teil  der  Gewerbe¬ 

ordnung  behandeln  die  einschneidenden  Bestimmungen  der 
§§  135 — 139  gesetzliche  Regelung  der  Arbeitszeit, 

§  137  V.  Wöchnerinnenschutz, 

§  105  a — h  Sonntagsruhe, 

§  120  a — e  Unfallverhütung  und  Gewerbehygiene. 

Auf  Grund  des  §  120  e  und  139  a  ergingen  weiterhin  seitens 

des  Bundesrates  und  verschiedener  oberer  Verwaltungsbehörden 

spezielle  Verordnungen,  von  denen  bes.  die  Bundesrats  Verordnungen 

über  verschiedene  gesundheitsgefährliche  Betriebe  ärztliches 

Interesse  verdienen.  Für  Betriebe  unter  Tag  (Bergwerke  und. 

unterirdische  Gruben)  bestehen  besondere  landespolizeiliche  Sicher- 

•  • 

heits-  und  Fürsorgegesetze.  Liber  die  Durchführung  der  gewerb¬ 
lichen  Schutzgesetze  wachen  in  Deutschland  rund  500  Beamte, 
darunter  etwa  20  weibliche  —  während  ca.  120  Aufsichtspersonen 
den  Gesetzesvollzug  in  unterirdischen  Betrieben  beaufsichtigen. 

Nun,  meine  Herren,  läge  es  doch  recht  nahe,  anzunehmen,  daß 
beim  Vollzüge  der  Arbeiterschutzgesetze,  dieser  eminent  prak¬ 
tischen  sozialhygienischen  Betätigung,  überall  der  berufene  Hygie¬ 
niker,  derArzt,  in  erster  Linie,  beigezogen  worden  wäre.  Dreht 
sich  doch  die  ganze  Arbeiterschutzgesetzgebung  in  ihrer  Haupt¬ 
sache  um  Schutz  vor  Krankheit  und  Unfall,  um  Erhaltung  und 
Förderung  der  Gesundheit  des  Einzelindividuums  wie  des  arbei¬ 
tenden  Volkes  im  ganzen,  lauter  Probleme,  zu  deren  Überwachung 
und  Lösung  der  Arzt  als  der  berufenste  Vertreter  erscheint. 

Leider  sind  —  um  dies  gleich  vorweg  zu  sagen  —  die  Ver¬ 
hältnisse  in  der  Praxis  anders  gelagert;  wir  finden  als  Aufsichts¬ 
beamte  Männer  aus  den  verschiedensten  Berufen  vertreten,  vor¬ 
wiegend  Techniker  und  Chemiker;  nur  in  ganz  geringem 


6 


Franz  Koelsch, 


Umfange  wurde  von  der  ärztlichen  Mitarbeit  Gebrauch  gemacht; 
teilweise  wurde  letztere  sogar  direkt  refüsiertals  unnötig 
und  unzweckmäßig. 

Ich  möchte  mir  erlauben,  in  kurzen  Zügen  die  diesbezüglichen 
Verhältnisse  bei  den  einzelnen  Kulturstaaten  anzuführen,  soweit 
mir  Material  zugängig  war.  Ganz  ohne  Arzt  ist  kein  Staat 
bisher  durchgekommen;  Umfaug  und  Art  der  ärztlichen  Mitwirkung 
bewegen  sich  jedoch  in  außerordentlich  weiten  Grenzen. 

Einer  besonderen  Bevorzugung  erfreut  sich  die  ärztliche  Mit¬ 
arbeit  in  England.  Vielleicht  mag  die  geschichtliche  Entwick¬ 
lung  zu  dieser  intensiven  Inanspruchnahme  mit  beigetragen  haben; 

* 

denn  da  durch  ein  Gesetz  des  Jahres  1833  für  Kinder  und  Jugend¬ 
liche  eine  verkürzte  Arbeitszeit  festgesetzt  worden  war,  Geburts¬ 
register  jedoch  damals  noch  nicht  geführt  wurden,  aus  welchen 
das  Alter  der  Betreffenden  hätte  festgestellt  werden  können, 
wurden  eben  die  Ärzte  benötigt,  um  durch  persönliche  Unter¬ 
suchung  die  erforderlichen  Alterszeugnisse  auszustellen.  Hieraus 
entwickelte  sich  das  Institut  der  Untersuchungsärzte, 
welches  heute  in  ausgedehntem  Umfange  noch  besteht. 

Zunächst  finden  wir  an  der  Zentrale  der  Gewerbeinspektion 
2  Medizinalinspektoren,  einen  1.  Beamten  (Dr.  Legge)  und 
dessen  Stellvertreter,  die  beide  in  London  wohnen  und  deren 
Tätigkeit  sich  über  das  ganze  Königreich  erstreckt.  Sie  haben  die 
erforderlichen  Untersuchungen  anzustellen,  nach  Ermessen  den  ge¬ 
meldeten  Vergiftungsfällen  nachzugehen,  die  Gewerbeinspektoren 
zu  beraten,  ferner  besonders  jene  Orte  und  Spitäler  zu  besuchen, 
wo  Gewerbekrankheiten  häufig  Vorkommen.  Dem  ersten  Medizinal¬ 
inspektor  untersteht  auch  die  Anstellung  oder  Absetzung  der  er¬ 
wähnten  Untersuchungsärzte,  praktische  Ärzte  mit  be¬ 
stimmten  amtlichen  Funktionen.  Zurzeit  sind  über  2000  derartiger 
.*  •  • 

Arzte  angestellt.  Ihnen  obliegt  innerhalb  des  ihnen  zugeteilten 
Amtsbezirkes : 

1.  die  Untersuchung  der  Jugendlichen  unter  16  Jahren  und 
Kinder  und  Ausfertigung  der  Tauglichkeitszeugnisse  für  bestimmte 
Betriebe, 

2.  die  Unfallanzeige  und  -Untersuchung  nach  bestimmten  Nor¬ 
men  (Formular), 

3.  die  Meldung  gewerblicher  Vergiftungen  durch  Blei,  Phosphor, 
Quecksilber,  Arsen  und  Milzbrand, 

4.  die  Beaufsichtigung  der  Arbeiten  in  gefährlichen  Be- 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlicken  Dienstes.  7 

trieben,  periodische  Untersuchung  bestimmter  Arbeitergruppen, 
Beratung  über  Schutzeinrichtungen  usw., 

5.  auf  Anordnung :  Ausführung  von  Sondererhebungen  und  Be¬ 
richten,  dann  regelmäßiger  Jahresbericht  u.  a. 

Innerhalb  des  Amtsbezirkes  steht  dem  Untersuchungsarzt  das 
Recht  des  Gewerbeinspektors  zu,  insofern  als  er  jederzeit  jeden 
Betrieb  besuchen  kann;  Strafanträge  sind  an  den  zuständigen  Ge¬ 
werbeinspektor  zu  stellen.  Die  Honorierung  erfolgt  nach  Tarif, 
teils  vom  Unternehmer  (für  Tauglichkeitsatteste),  teils  vom  Staate 
(für  die  sonstigen  Amtshandlungen).  Außerdem  ist  auch  jeder 
Arzt  in  England  insofern  zur  gewerbehygienischen  Mitarbeit  an¬ 
gehalten,  als  er  nach  §  73  des  englischen  Fabrik-  und  Werk¬ 
stättengesetzes  zur  Anzeige  verpflichtet  ist,  wenn  er  glaubt,  daß 
sein  Patient  an  Milzbrand  leidet  oder  sich  bei  der  Arbeit  eine 
Blei-,  Quecksilber-,  Phosphor-  oder  Arsenvergiftung  zugezogen  hat. 
Er  erhält  für  jede  dieser  Anzeigen  eine  Prämie  von  2,50  M.,  hat 
jedoch  bei  schuldhafter  Unterlassung  bis  40  M.  Strafe  zu  zahlen, 

Einige  Funktionen  gewerbehygienischen  Charakters  fallen  auch 
dem  ordentlichen,  von  der  Sanitätsbehörde  angestellten  Medi¬ 
zinalbeamten  zu,  so  die  baulichen  Einrichtungen  der  Fabriken 
und  Werkstätten,  Einfluß  der  Beschäftigung  auf  die  Volksgesund¬ 
heit,  Arbeiterwohnungen,  Kontrolle  der  Heimarbeit,  Bäckereien  usw. 

Endlich  bestehen  zwecks  Vorbereitung  neuer  Verordnungen 
gemischte  Kommissionen,  denen  auch  der  Medizinalinspektor 
angehört,  so  eine  zum  Studium  der  Ventilationsverhältnisse  und 
Luftfeuchtigkeit  —  eine  andere  zur  Untersuchung  der  Glasurfrage 
—  der  Frauen-  und  Kinderarbeit  (Bericht  1909). 

In  Holland  wurde  1903  ein  medizinischer  Berater  ernannt: 
„m edical  adviseu r“  (Dr.  W i n t g e n s).  Seine  Tätigkeit  umfaßt 
das  ganze  Land,  er  steht  in  direktem  Verkehr  mit  dem  Ministerium 
und  berichtet  diesem  jedes  Halbjahr  über  seine  Tätigkeit.  Seine 
wichtigsten  Obliegenheiten  sind :  Ausfertigung  von  Gesundheits¬ 
zeugnissen  für  bestimmte  Arbeiter  (Heringsräuchereien,  Ziegeleien), 
2  monatliche  Untersuchung  der  Frauen  und  Jugendlichen  in  den 
Kerambetrieben,  soweit  sie  mit  Bleiglasuren  arbeiten,  die  Über¬ 
wachung  des  Caissongesetzes;  außerdem  obliegt  ihm  neben  den 
Gewerbeinspektoren  auch  die  Aufsicht  über  die  Durchführung  der 
einschlägigen  Arbeiterschutzgesetze.  Dr.  Wintgens  hat  über  die 
Bleivergiftung ,  besonders  über  Blutveränderung  bei  den  Keram- 
arbeitern  und  Diamantschleifern  Untersuchungen  veröffentlicht. 


3  Franz  Koelsch, 

Außerdem  finden  wir  auch  in  Holland  Privatärzte  für  be¬ 
stimmte  gewerbehygienische  Zwecke  zeitweilig  autorisiert. 

Belgien  hat  seit  22.  Oktober  1895  einen  Arzt  in  die 
Zentralverwaltung  aufgenommen,  dem  noch  4Kollegen  in 
der  Provinz  zur  Seite  stehen.  Das  Königreich  ist  in  4  Arzt¬ 
distrikte  geteilt.  Die  Tätigkeit  beschränkte  sich  anfangs  nur  auf 
Untersuchungen  über  gewerbliche  Gesundheitsschädigungen. 

Eine  Königl.  Verordnung  vom  31.  Januar  1898  überwies  diesen 
Ärzten  außerdem  die  Hygiene  der  Arbeitsräume,  die  bisher  den 
Technikern  überlassen  war;  ein  Dekret  vom  3.  Oktober  1898 
weiterhin  die  Überwachung  der  gefährlichen ,  ungesunden  und 
lästigen  Betriebe  (Zündholz-,  Bleiweißfabriken,  Lumpensortierereien) 

sowie  die  Sicherung  der  ersten  Hilfe  bei  Unfällen. 

•  • 

Uber  die  Revision  genannter  Betriebe  werden  entsprechende 
'Formblätter  geführt,  die  der  Zentrale  eingesandt  werden  müssen; 
die  Zahl  dieser  eingesandten  Protokolle  betrug  im  Jahre  1908 
1108.  Die  Gewerbeinspektoren  sind  gehalten,  besondere  Beob¬ 
achtungen  über  neue  Formen  von  Giftarbeit,  verdächtige  Er¬ 
krankungen,  Mängel  der  Wasserversorgung  usw.  den  betreffenden 
Gewerbeärzten  mitzuteilen. 

Außerdem  sind  zur  Unterstützung  der  Gewerbeärzte  Mede- 
cins  aggrees  vorgesehen,  d.  h.  prakt.  Ärzte,  die  von  der  Re¬ 
gierung  zur  Vornahme  bestimmter  Amtshandlungen,  im  vorliegenden 
Falle  zu  periodischen  Untersuchungen  der  Arbeiter,  autorisiert  sind. 
Sie  haben  dritter  Seite  gegenüber  ihre  dienstlichen  Wahrnehmungen 
streng  geheim  zu  halten;  wissenschaftliche  Veröffentlichungen 
hierüber  sind  nur  mit  ministerieller  Erlaubnis  zulässig.  Ihre 
Tätigkeit  ist  durch  Dekret  vom  17.  Juni  1902  geregelt. 

Die  Untersuchungsgebühr  beträgt  für  das  erste  Dutzend  der 
Arbeiter  5  Fr.,  für  jedes  folgende  Dutzend  1  Fr.;  bei  Bleiwei߬ 
fabrikarbeitern  2  Fr. 

Sie  sind  außerdem  verpflichtet,  alle  wissenswerten  Beob¬ 
achtungen  gewerbehygienischen  Inhalts  zu  melden.  Besonders  ein¬ 
gehend  ist  die  periodische  Untersuchung  der  Bleiarbeiter.  Mit 
Rücksicht  darauf,  daß  die  Symptomatologie  der  chronischen  Blei¬ 
vergiftung  z.  T.  schwierig,  z.  T.  variabel  ist,  wurde  nur  eine  Ein¬ 
tragung  der  einzelnen  Symptome  in  die  Formblätter  vorgesehen, 
welch  letztere  dem  Chefarzt  einzusenden  sind  (Portofreiheit!).  Die 
Untersuchung  beschränkt  sich  nicht  nur  auf  die  üblichen  Merk¬ 
male  des  Saturnismus,  umfaßt  vielmehr  eine  sehr  genaue  Blut- 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


9 


analyse  mit  Hämoglobinbestimmung,  Feststellung  basophiler  Granu-^ 
lationen,  der  Leukocytose,  Polychromasie  usw. 

Derartigen  Untersuchungen  auf  Saturnismus  wurden  z.  B.  im 
Jahre  1908  903  Arbeiter  unterworfen  an  3348  monatlichen  Ter¬ 
minen;  hierbei  wurden  bei  94  Arbeitern  Bleisymptome  gefunden. 
Die  Zahl  der  Bleikranken  hat  sich  als  Folge  dieser  Prophylaxe 
naturgemäß  im  Laufe  der  Jahre  wesentlich  vermindert;  im  Jahre 
1903  wurden  unter  1030  Arbeitern  noch  332  Bleikranke  festge¬ 
stellt,  während  493  Arbeiter  geringere  Symptome  zeigten.  In  ähn¬ 
licher  Weise  ist  auch  die  Beaufsichtigung  der  Phosphorbetriebe 
geregelt,  in  welchen  z.  B.  im  Jahre  1908  1521  Arbeiter  in  11024 
Untersuchungen  ärztlich  kontrolliert  wurden;  73  Arbeiter  wurden 
wegen  Zahndefekte  oder  Anämie  beanstandet  (im  Jahre  1903  noch 
387  Arbeiter). 

Wir  verdanken  den  belgischen  Gewerbeärzten  eine  ganze  Reihe 
größerer  wissenschaftlicher  Arbeiten.  So  wurden  seitens  der  Zentrale 
bemerkenswerte  Erhebungen  in  Gerbereien  und  Fellzurichtereien, 
über  die  Spiegelfabrikation,  Mühlen,  Leinenindustrie,  Lumpenhandel 
angestellt.  —  Deffernez  arbeitete  über  Katarakt  und  Lues  bei 
Glasmachern,  über  die  Quecksilbervergiftung  bei  Spiegelbelegern, 
über  die  Arbeitsbedingungen  in  der  keramischen  Industrie  —  B  u  y  s  e 
über  Chlorvergiftung  u.  a. 

Neuerdings  wurden  von  Glibert  wertvolle  Untersuchungen 
über  die  chronische  Blei-  und  Schwefelkohlenstoffvergiftung  ver¬ 
öffentlicht,  weiterhin  über  die  Leinenindustrie  sowie  über  die  bei 
den  dortigen  Arbeiterinnen  beobachtete  Kindersterblichkeit,  ebenso 
über  die  Woll-  und  Lumpenindustrie;  andere  Spezialerhebungen 
beschäftigten  sich  mit  den  gesundheitlichen  Verhältnissen  in  Zünd¬ 
holzfabriken,  Bierbrauereien,  Blei  weiß  und  Gummiwarenfabriken, 
Mühlen  usw.  und  gaben  die  Grundlagen  für  diesbezügliche  gesetz¬ 
liche  Arbeiterschutzmaßnahmen.  Die  Anchylostomiasis,  die  Milz¬ 
brandfrage,  die  hygienischen  Verhältnisse  in  Zinkhütten,  Glas¬ 
hütten,  Parfümfabriken,  bei  Caissonarbeiten  wurden  untersucht, 
Studien  über  die  Kohlenoxyd-  und  Quecksilbervergiftung  angestellt, 
Blutbilder,  Hämoglobingehalt  und  Blutdruckverhältnisse  bei  ver¬ 
schiedenen  Arbeitergruppen  studiert. *)  Wiederholte  Auslandsreisen 
nach  England,  Holland,  Frankreich,  Deutschland  und  Italien  gaben 

9  Wir  verdanken  Gli b  e rt  auch  einige  technische  Neuerungen,  so  bezüglich 
der  Kohlenoxydbestimmung  in  Arbeitsräumen,  bezüglich  der  mikroskopischen  und 
bakteriologischen  Luftanalyse ,  bezüglich  eines  Kraftmessers  zum  Messen  der 
Muskelkraft  der  Hand  bei  Bleiarbeitern. 


10  Franz  Koelsch, 

dem  Chefarzt  Gelegenheit,  die  dortigen  Arbeitsverhältnisse  und 
Schutzmaßnahmen  persönlich  kennen  zu  lernen. 

Neuerdings  finden  eingehende  Erhebungen  über  die  hygienischen 

Verhältnisse  der  Bergbaubetriebe  (unter  Tag)  statt,  umfassend  die 

Arbeitszeiten,  Luft  und  Feuchtigkeit,  Krankheit,  Invalidität  und 

Sterblichkeit  u.  a.,  wozu  von  der  Kammer  (19.  Januar  1910)  eine 

•  • 

Spezialkommission  eingesetzt  wurde,  bestehend  aus  4  Ärzten 
(3  Universitätsdozenten  und  1  prakt.  Arzt)  und  2  Technikern  mit 
konsultativen  Stimmen,  unter  dem  Vorsitze  des  Gewerbechefarztes. 

Was  die  einschlägigen  Verhältnisse  in  Frankreich  betrifft, 

so  finden  sich  dort  unter  128  Gewerbeaufsichtsbeamten  zurzeit 
•  • 

2  Arzte,  die  jedoch  ohne  besondere  Absicht  eingestellt  wurden  und 
mit  keiner  spezifischen  Aufgabe  betraut  sind;  es  sind  eben  reine 
Aufsichtsbeamte.  Für  gewerbehygienische  Fragen  war  die 
gelegentliche  Mitwirkung  von  Ärzten  vorgesehen.  Die 
Anstellung  eigentlicher  Gewerbeärzte  wurde  seit  dem  Jahre  1874 
wiederholt  gefordert  und  diskutiert;  aber  erst  am  22.  Juli  1907 
wurde  auf  Antrag  des  Direktors  des  Arbeitsbureaus  ein  Arzt 
(Di*.  Heim)  vom  Arbeitsminister  mit  der  ständigen  wissen¬ 
schaftlichen  Mitarbeit  betraut  und  ihm  ein  Kollegium  von 
Fachleuten  zugestanden.  Heim  wählte  sich  5  Mitarbeiter  für 
klinische  Medizin,  Blutuntersuchungen,  Physiologie  und  Pathologie, 
Hautkrankheiten  und  Chemie. 

Bisher  wurden  auf  diese  Weise  die  Gipsfabrikation,  die  Borsten- 
und  Haarindustrie,  das  graphische  Gewerbe,  die  Wirkung  der  Ofen¬ 
gase,  der  Schwaden  in  Färbereien,  die  gewerbliche  Schwefelkohlen¬ 
stoff-  und  Quecksilbervergiftung  studiert. 

Dieser  ständige  ärztliche  Beirat  zum  Studium  der 
Gewerbepathologie  wurde  kürzlich  (1911)  gesetzlich  festgelegt. 

Daneben  finden  wir  wiederum  für  bestimmte  gefährliche  Be¬ 
rufe  (Blei-  und  Caissonarbeit)  beauftragte  Untersuchungs¬ 
ärzte.  Bei  den  Bleiarbeitern  ist  gefordert  ein  Zeugnis  über  Fehlen 
von  Saturnismus  beim  Eintritt  in  die  Beschäftigung,  eine  weitere 
Untersuchung  zunächst  nach  1  Monat,  dann  periodische  Nachunter¬ 
suchungen  alle  3  Monate.  Der  ärztliche  Überwachungsdienst  bei 
den  Caissonarbeitern  umfaßt  die  Aufnahmeuntersuchung,  dann  die 
Kontrolluntersuchung  zunächst  nach  14  Tagen,  von  da  ab  ein¬ 
monatlich.  Unfälle  der  Caissonarbeiter  und  Erkrankungen,  von 
letzteren  auch  die  leichtesten,  müssen  registriert  werden. 

Spanien  führte  1906  lokale  Korporationen  ein,  die  „Juntas 
locales  de  reformas  sociales“,  die  unter  dem  Präsidium  des 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


11 


Bürgermeisters  (alcade)  stehen  und  vom  Institut  für  Sozialreform 
beim  Ministerium  des  Innern  abhängen.  Diesen  „Juntas“  obliegt 
unter  anderen  auch  die  Besichtigung  und  Begutachtung  der  hygie¬ 
nischen  Verhältnisse  in  den  Fabriken  und  sonstigen  Gewerbe¬ 
betrieben;  sie  setzen  sich  zusammen  aus  je  6  Arbeitgebern  und 
Arbeitern.  1  Kurator  und  1  Arzt.  Allerdings  soll  dieser  gut¬ 
gemeinten  sozialhygienischen  Institution  ein  durchgreifender  Erfolg 
bisher  noch  nicht  beschieden  worden  sein.  Außerdem  ist  den 
Aufsichtsbeamten  die  gelegentliche  Beiziehung  von 
Ärzten  in  besonderen  Fällen  gestattet. 

Bei  Italien  müssen  wir  von  vorneherein  hervorheben,  daß 
die  bisherigen  Arbeiterschutzgesetze  nur  einen  provisorischen  Cha¬ 
rakter  tragen  und  erst  in  der  Entwicklung  begriffen  sind.  Ein 
Gesetz  des  Jahres  1888  überwies  den  Gesundheitsschutz  in  unge¬ 
sunden  Betrieben  den  Gemeinden.  Demzufolge  übertrug  z.  B. 
die  Stadt  Turin  die  hygienische  Überwachung  der  Minderjährigen 
und  der  betreffenden  Betriebe  den  Armenärzten;  nachdem  dies  zu 
Unzuträglichkeiten  führte,  stellte  die  Stadt  einen  eigenen  „Medico 
ispettore  degli  opifici  industriali“  auf,  dessen  Tätigkeit 
1908  durch  ein  mustergültiges  Regulativ  geregelt  wurde.  Dieser 
Arzt  nahm  (1908)  455  Inspektionen  vor,  untersuchte  4894  Frauen 
und  Jugendliche,  erließ  110  Anordnungen  betreffs  Betriebs¬ 
einrichtungen  usw.  Im  Jahre  1909  folgte  auch  Mailand  mit 
einem  ärztlichen  Überwachungsdienst,  Aufnahme-  und  periodischer 
Untersuchung  für  Giftbetriebe,  obligatorischer  Anzeige  der  Syphilis 
und  Tuberkulose.  Von  den  übrigen  italienischen  Städten  liegen 
allerdings  keinerlei  Mitteilungen  vor. 

Bei  Besetzung  von  Fabrikinspektoren  in  der  Schweiz  wird 
in  der  Regel  technische  oder  medizinische  Vorbildung  ver¬ 
langt;  wurde  doch  gerade  durch  einen  Arzt,  Dr.  Fridolin 
Schüler,  welcher  im  Jahre  1878  in  den  Inspektionsdienst  eintrat, 
die  erste  mustergültige  Organisation  des  Gewerbeaufsichtsdienstes 
auf  dem  Kontinent  geschaffen.  Wie  nachhaltig  Schuler’s  Wirken 
in  der  Schweiz  gewürdigt  wird,  mag  daraus  hervorgehen,  daß  dessen 
„Gesammelte  Schriften“  im  Schweizer  Haus  der  Internationalen 
Hygieneausstellung  ausgelegt  wurden.  Seither  waren  noch  2  Arzte 
(Weg  mann  und  Vogelsänger)  tätig.  Für  besondere 
Fälle  ist  zurzeit  die  Mitwirkung  des  Professors  der  Hygiene  am 
Polytechnikum  in  Zürich  (Roth)  vorgesehen.  Für  bestimmte  peri¬ 
odische  Untersuchungen  (z.  B.  in  Phosphorbetrieben)  sind  Unter¬ 
such  u  n  g  s  ä  r  z  t  e  aufgestellt,  welche  vom  Staate  honoriert  werden, 


12  Franz  Koelsch, 

der  seinerseits  von  den  Unternehmern  entsprechende  Gebühren 
einhebt. 

In  Österreich  wurde  bisher  nur  gelegentlich  die  ärztliche 
Mitarbeit  in  Anspruch  genommen.  Zwar  war  1870  für  bestimmte 
gefährliche  Industrien  eine  ärztliche  Aufsicht  vorgesehen, 
jedoch  erst  1889  tatsächlich  durch  Aufstellung  bestimmter  (nicht¬ 
amtlicher)  Ärzte  durchgeführt  worden.  Das  Jahr  1910  brachte 
die  Aufstellung  eines  k.  k.  Sanitätskonsulenten  für  den 
Gewerbeinspektionsdienst  im  k.  k.  Handelsministerium 
(Dr.  vonWunschheim).  Derselbe  ist  aktiver  Staatsbeamter  und  zur 
Dienstleistung  dem  Zentral-  Gewerbeinspektorat  zugeteilt.  Die  Dienst¬ 
obliegenheiten  des  Sanitätskonsulenten  erstrecken  sich  auf  ganz 
Österreich  und  bestehen  in  Erledigung  der  Akten  gewerbehygienischer 
Natur,  Erstattung  von  Referaten,  Revision  von  Betrieben.  Er  fun¬ 
giert  als  fachwissenschaftlicher  Berater  der  Zentralstelle.  Eine 
definitive  Dienstinstruktion  ist  noch  nicht  erlassen. 

Ungarn  hat  unter  seinen  (zurzeit  64)  Gewerbeaufsichtsorganen 
1  Arzt  angestellt,  dessen  Obliegenheiten  zwar  nicht  speziell  sta¬ 
tuiert  sind,  dem  jedoch  hauptsächlich  hygienische  Aufgaben  zuge¬ 
wiesen  werden.  Insbesondere  ist  er  gehalten,  den  von  den  anderen 
Gewerbeinspektoren  beobachteten  hygienischen  Mißständen  nach¬ 
zugehen.  Außerdem  steht  den  Inspektoren  die  gelegentliche 
Beiziehung  der  Amtsärzte  zu. 

In  Dänemark  finden  wir  nur  gelegentliche  Inan¬ 
spruchnahme  bestimmter  Ärzte  zur  Ausstellung  der  erforder¬ 
lichen  Zeugnisse  für  Kinder  und  Wöchnerinnen,  eventuell  auch 
zur  sachverständigen  Beratung  der  Inspektoren. 

In  Schweden  ist  zunächst  fallweise  die  Inanspruch¬ 
nahme  der  Amtsärzte  vorgesehen.  Außerdem  befindet  sich 
seit  ca.  4  Jahren  1  Arzt  unter  den  Gewerbeinspektoren,  dem 
besonders  hygienische  Aufgaben  anvertraut  sind.  Neuerdings  wurde 
den  Landeshauptmännern  nahegelegt,  für  alle  größeren  industriellen 
Betriebe  die  Aufstellung  besonderer  Fabrikinspektionsärzte 
durchzusetzen,  welche  die  Beachtung  der  gesetzlichen  Vorschriften 
über  die  Beschäftigung  der  Minderjährigen  und  Frauen  zu  kon¬ 
trollieren  und  bei  ihren  Besichtigungen  etwa  vorhandene  Kassen- 

•  • 

ärzte  zur  Teilnahme  einzuladen  haben.  Uber  die  Revisionstätigkeit 
ist  regelmäßiger  Bericht  an  den  Landeshauptmann  zu  erstatten. 

Norwegen  sieht  nur  eine  gelegentliche  ärztliche 
Mitwirkung  vor ;  außerdem  bestehen  lokale  Sanitätskommis-: 
s  i  o  n  e  n  (deren  Tätigkeit  auch  auf  die  Arbeiterhygiene  sich  erstreckt), 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


13 


welche  von  den  Kommunen  gewählt  sind  und  aus  4  Mitgliedern, 
darunter  1  Arzt,  bestehen. 

In  Rußland  gehen  die  bisherigen  Institutionen  auf  dem  Ge¬ 
biete  des  Arbeiterschutzes  kaum  über  die  primitivsten  Anfänge 
•  • 

hinaus.  Ärztliche  Inspektoren  fehlen,  doch  sind  die  Fabrikanten, 
falls  eine  gewisse  Arbeiterzahl  erreicht  ist,  gesetzlich  verpflichtet, 
auf  eigene  Kosten  „Fabrikärzte“  anzustellen,  denen  auch  die 
gesundheitliche  Beaufsichtigung  des  Betriebes  obliegt.  Allerdings 
ist  bei  der  Abhängigkeit  dieser  Fabrikärzte  vom  Unternehmer 
eine  gedeihliche  prophylaktische  Tätigkeit  von  vornherein  in  Frage 
gestellt.  Außerdem  sind  die  Semstwo-Medizinalbeamten 
mit  der  hygienischen  Überwachung  der  Fabriken  und  Werkstätten 
betraut. 

In  Finnland  sind  die  Provinzial-,  Stadt-  und  Kommunalärzte 
gehalten,  den  Fabrikinspektoren  auf  Verlangen  sachverstän¬ 
digen  Beirat  zu  geben. 

Von  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  hat 
lediglich  der  Staat  New  York  seit  1907  einen  ärztlichen  In¬ 
spektor  (Dr.  C.  T.  Graham  Rogers)  aufgestellt,  welcher  seither 
eine  sehr  umfassende  Tätigkeit  entwickelte.  So  wurden  untersucht 
die  hygienischen  Verhältnisse  in  der  Damenkonfektion  und  Hand- 
schuhfabrikation,  bei  der  Herstellung  von  Kunstblumen,  Federn, 
Strohhüten,  in  Wäschereien  und  Zeugdruckereien,  in  der  Tabak-, 
keramischen  und  graphischen  Industrie,  in  Knopfdrehereien  und 
Kürschnereien,  in  Alkali-,  Ultramarin-,  Blei  weiß-,  Gummifabriken  usw. 
Besonders  Temperatur,  Feuchtigkeit,  Beleuchtung,  Staubbelästigung 
wurden  teilweise  mit  Unterstützung  von  Spezialtechnikern  ein¬ 
gehend  untersucht.  Anläßlich  der  Erhebung  in  Zeugdruckereien 
wurden  in  136  Lokalen  430  Kohlensäurebestimmungen  ausgeführt. 
Weiterhin  dürfte  dem  ärztlichen  Inspektor  auch  die  im  neuen 
Caissongesetz  vorgesehene  ärztliche  Überwachung  zukommen. 

Unter  Mitwirkung  mehrerer  Sachverständiger  wurden  Form¬ 
blätter  ausgearbeitet,  die  den  Untersuchungen,  bzw.  Revisionen 
zur  Unterlage  dienen  sollen,  so  für  die  Betriebsrevision  im  allge¬ 
meinen,  für  Luftuntersuchungen,  ferner  Gesundheitsbögen  für  die 
eintretenden  Kinder. 

In  Australien  war  1896  bereits  ein  Arzt  im  Gewerbe¬ 
aufsichtsdienst  beschäftigt.  Neuerdings  wurde  seitens  des 
Ministeriums  eine  (in  Sydney  approbierte)  Ärztin  der  Gewerbe¬ 
inspektion  beigegeben. 

In  Deutschland  besteht  zwar  als  Reichsgesetz  die  „Gewerbe- 


14  Franz  Koelsch, 

Ordnung“,  der  Aufsichtsdienst,  die  Ernennung  und  Honorierung  der 
Beamten,  deren  Zahl,  Vorbildung  und  Dienstanweisung  isVjedoch 
den  einzelnen  Bundesstaaten  überlassen.  Wir  finden  daher  diese 
Materie  nicht  einheitlich  geregelt,  ebensowenig  einheit-  * 
lieh  aber  auch  die  ärztliche  Mitwirkung  beim  Gewerbe¬ 
aufsichtsdienst.  .  Die  Frage  an  sich  ist  ja  in  Deutschland  seit 
Jahren  vielfach  diskutiert  worden,  sowohl  in  ärztlichen  wie  in 
parlamentarischen  und  Arbeiterkreisen.  Bereits  im  Jahre  1896 
beschäftigte  sich  der  Verein  für  öffentliche  Gesundheitspflege  auf 
seiner  Tagung  in  Kiel  mit  diesem  Probleme,  und  hier  stellte  der 
Referent,  Obermedizinalrat  von  M er kel- Nürnberg,  bekanntlich 
einer  der  Vorkämpfer  auf  gewerbehygienischem  Gebiete,  die  1.  These 
auf:  „Eine  gedeihliche  Entwicklung  der  Gewerbehygiene  ist  ohne 
Mitwirkung  der  Ärzte  undenkbar.“  Und  weiterhin  bemerkte  Referent 
treffend:  „In  unserer  Gewerbeordnung  stand  bisher  die  ärztliche 
Mitwirkung  fast  zwischen  jeder  Zeile;  sie  muß  aber  auf  die 
Zeile  kommen.“ 

Leider  mußten  noch  viele  Jahre  vergehen,  bis  diese  an  sich 

selbstverständliche  Forderung  —  wenn  auch  nur  teilweise  —  reali- 

•  • 

siert  wurde;  ja  es  mag  uns  deutsche  Arzte  eine  gewisse  Resignation 
überkommen,  wenn  wir  hören,  . daß  in  unserem  fortgeschrittenen 
deutschen  Industriestaate  versucht  wurde,  den  Arzt  bei  der  prak¬ 
tischen  Arbeiterhygiene,  also  beim  Gewerbeaufsichtsdienste,  unter 
geradezu  unglaublichen  Motivierungen  als  unnötig  und  unzweck¬ 
mäßig  auszuschalten.  Allerdings  blieben  diese  Bestrebungen 
auf  die  Territorien  nördlich  der  Mainlinie  beschränkt.  In 
Preußen,  Sachsen  und  den  kleineren  Bundesstaaten  obliegt  dem 
Kreisarzt  neben  seinen  sonstigen  zahlreichen  Dienstgeschäften 
die  ärztliche  Überwachung  der  gewerblichen  Betriebe  und  der 
Heimarbeit  sowie  die  gelegentliche  Beratung  der  Gewerberäte. 

Ein  wesentlich  intensiverer  Einfluß  wurde  dem  Arzt  in  den 
süddeutschen  Bundesstaaten  eingeräumt.  Hier  machte  den 
ersten  Schritt  Württemberg,  indem  im  Jahre  1905  der  bis¬ 
herige  gewerbehygienische  Referent  des  Medizinalkollegiums  (Prof. 
Dr.  Scheurlen)  den  Gewerbeaufsichtsbeamten  als  ständiger 
Berater  beigeordnet  wurde.  Die  Inspektoren  können  jederzeit 
direkt  mit  ihm  verkehren;  derselbe  nimmt  nach  Bedarf  an  den 
Revisionen  teil  (ca.  40—50  im  Jahr),  kann  in  besonderen  Fällen 
auch  die  Mitwirkung  anderer  Spezialisten  (z.  B.  Chemiker  usw.) 
in  Anspruch  nehmen.  Ein  Bericht  über  seine  Tätigkeit  ist  nicht 
verlangt. 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


15 


In  Baden  wurde  1906  ein  Arzt  (Dr.  Holtzmann)  als 
Gewerbeinspektor  angestellt,  der  zunächst  den  allgemeinen 
Revisionsdienst  wie  die  übrigen  Beamten  zu  besorgen  hat,  daneben 
als  medizinischer  Berater  der  Badischen  Fabrikinspektion  waltet. 
Wir  verdanken  dem  badischen  Kollegen  u.  a.  Untersuchungen  über 
die  Borstendesinfektion,  Vergiftungen  durch  nitrose  Gase  und  durch 
Benzolverbindungen. 

In  Elsaß  -  Lothringen  bestand  seit  1905  ein  Landes¬ 
gesundheitsinspektor,  der  dem  Ministerium  als  hygienischer  Be¬ 
amter  zugeteilt  war  und  mit  Aufgaben  aus  dem  Gesamtgebiete  der 
Hygiene,  besonders  mit  der  Seuchenbekämpfung  (organisierte 
Typhusbekämpfung  im  Südwesten  des  Reiches)  betraut  war.  Seit 
Anfang  1906  wurde  seine  Dienstanweisung  dahin  geändert,  daß  ihm 
hauptsächlich  die  Gewerbehygiene  zugewiesen  wurde.  Es  ob¬ 
liegt  ihm  (Dr.  Holtzmann)  die  Begutachtung  über  die  nach  §  16  GO. 
konzessionspflichtigen  Betriebe,  die  Vornahme  von  Betriebsrevisionen, 
die  medizinische  Beratung  der  Gewerbeaufsichtsbeamten.  Er  hat 
auf  Anordnung  des  Ministeriums  oder  auf  Ersuchen  der  Aufsichts¬ 
beamten  bestimmte  Erhebungen  zu  pflegen,  er  bearbeitet  das  bei 
den  Revisionen  gesammelte  Beobachtungsmaterial.  Daneben  kann 
er  allerdings  noch  zu  andersartigen  sanitätspolizeilichen  Aufgaben 
seitens  des  Ministeriums  mit  herangezogen  werden.  Zur  Erfüllung 
genannter  gewerbehygienischer  Aufgaben  waren  z.  B.  im  Vorjahre 
etwa  120  Reisetage  nötig. 

In  Bayern  wurde  am  1.  Januar  1909  ein  „Landes¬ 
gewerbearzt“  im  Hauptamte  angestellt,  dessen  Wirkungskreis 
sich  auf  das  ganze  Land  und  alle  Betriebe  erstreckt,  welche  den 
Gewerbeaufsichtsbeamten  und  Berginspektoren  unterstehen.  Er  ist 
sachverständiger  Beirat  der  Zentrale  und  gehört  als  solcher  dem 
Ministerium  des  Äußern  an,  dann  Berater  der  Aufsichtsbeamten 
und  des  K.  Arbeitermuseums.  Ihm  obliegen  gewerbehygienische 
Untersuchungen,  Sammlung  und  Verarbeitung  des  anfallenden 
Materials  über  gewerbliche  Gesundheitsschädigungen,  x4ufklärung 
in  Ärzte-  und  Arbeiterkreisen  usw. 

Über  die  Tätigkeit  mögen  einige  Daten  aus  dem  letzten 
Jahresbericht  Auskunft  geben:  Gutachten  48,  Sprechstunden¬ 
beratungen  11,  Vorträge  22,  Führungen  durch  das  Arbeiter¬ 
museum  8,  Revisionen  135,  Reisetage  91.  —  Größere  Abhand¬ 
lungen  wurden  bisher  publiziert:  Über  die  Perlmutterknopfindustrie 
—  über  Arbeit-  und  Tuberkulose-Erhebungen  im  Malergewerbe  auf 
Grund  von  5000  Untersuchungen  —  über  Milzbrandtherapie  — 


16 


Franz  Koelsch, 


über  Augenschutz  in  Glashütten,  über  Ramazzini,  den  Vater  der 
Gewerbehygiene  usw.  Populäre  Presseartikel  erschienen  über  die 
Berufswahl,  über  giftige  Hölzer,  über  die  Bleivergiftung.  Hierzu 
kommen  noch  Arbeiten  im  Laboratorium  (Farb-Glasuranalysen,  Ver¬ 
suche  mit  Häutedesinfektion,  Blutuntersuchungen,  Tierversuche  mit 
Amylacetatdämpfen  u.  dgl.). 

Meine  Herren!  Wir  können  demnach  verschiedene  Systeme 
der  ärztlichen  Mitwirkung  im  Gewerbeaufsichtsdienste  unterscheiden : 
Zunächst  a)  die  nur  nebenamtliche  Mitwirkung  und  gelegent¬ 
liche  Inanspruchnahme  der  Amtsärzte  oder  sonstiger 
Ärzte  für  besondere  Fragen:  Norddeutsche  Bundesstaaten,  Ru߬ 
land,  Dänemark,  Norwegen,  Spanien,  z.  T.  Italien,  oder  in  engerer 
Verbindung  stehende  ständige  wissenschaftliche  Berater 
und  Kommissionen:  Württemberg,  Frankreich;  dann  b)  die 
Einstellung  von  Ärzten  als  reguläre  Gewerbeaufsichts¬ 
beamte  (ärztliche  Inspektoren,  z.  T.  als  Berater  der  übrigen  Be¬ 
amten):  Baden,  Schweiz,  Ungarn,  Schweden,  Australien;  c)  endlich 
die  Aufstellung  eigener  Gewerbeärzte  im  Hauptamte  mit 
rein  ärztlich -  hygienischer  Betätigung,  für  das  ganze 
Land  oder  größere  Bezirke:  England,  Holland,  Belgien,  Bayern, 
Elsaß,  Österreich,  im  Staate  New  York. 

Daneben  sind  in  fast  allen  Industriestaaten  noch  sog.  Unter¬ 
suchungsärzte  aufgestellt  zur  Vornahme  der  für  gefährliche 
Betriebe  gesetzlich  vorgeschriebenen  Aufnahme-  und  Zwischen¬ 
untersuchungon. 

Welches  System  verdient  nun  den  Vorzug? 

Bevor  wir  in  die  Kritik  dieser  3  Systeme  eintreten,  dürfte  es 
zweckmäßig  erscheinen,  zunächst  die  Aufgaben  des  Gewerbe¬ 
arztes  und  dessen  Arbeitsgebiet  näher  zu  besprechen;  denn  nur 
auf  diese  Weise  werden  wir  beurteilen  können,  inwieweit  die  bis¬ 
herigen  Verhältnisse  den  zu  stellenden  Anforderungen  entsprechen. 

Über  die  Art  der  Betätigung  mögen  die  Anschauungen 
geteilt  sein,  je  nachdem  die  Grenzen  enger  oder  weiter  gezogen 
werden.  Unserer  bisherigen  Erfahrung  nach  dürfte  das  nach¬ 
stehende  Programm  den  gewerbeärztlichen  Dienst  ziemlich  er¬ 
schöpfend  umfassen.  Selbstredend  sei  nicht  gesagt,  daß  jeder  Ge¬ 
werbearzt  das  ganze  große  Programm  gleichzeitig  in  Angriff 
nehmen  und  erledigen  muß.  Es  soll  vielmehr  nur  gezeigt  werden, 
in  welcher  Weise  etwa  sich  der  Gewerbearzt  betätigen  kann. 

Die  Programm  punkte  sind: 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


17 


1.  Sachverständigentätigkeit  für  die  Zentralstelle 
und  für  die  Außenbeamten. 

2.  Durchführung  der  Arbeiter schutzgesetze: 

a)  Revisionen,  Sammlung  und  Bearbeitung  des  anfallenden 
Materials, 

b)  Organisation  und  Kontrolle  der  TJntersuchungsärzte, 

c)  Fürsorge  für  1.  Hilfe, 

d)  hygienische  Untersuchungen  als  Basis  für  das  Vorgehen  der 
Aufsichtsbeamten. 

3.  Selbständige  wissenschaftliche  Arbeiten: 

a)  Statistik, 

b)  Serienuntersuchungen, 

c)  experimentelle  Arbeiten  im  Laboratorium, 

d)  klinische  Beobachtungen. 

4.  Aufklärende  Tätigkeit  (Referate,  Vorträge)  für  Auf- 

•  •  _ 

sichtsbeamte,  Arzte,  Arbeiter  usw.;  in  Fortbildungsschulen  und 
Sprechstunden. 

5.  Förderung  verschiedener  sozial  hygienisch  er 
Bestrebungen  und  Probleme. 

Hierzu  einige  aufklärende  Bemerkungen!  Beim  ersten  Pro¬ 
grammpunkte,  die  Gutachtertätigkeit  betreffend,  dürfte  zur 
Erläuterung  wenig  zu  sagen  sein. 

Zu  Punkt  2  seien  einige  Bemerkungen  gestattet: 

a)  Die  Revisionen,  besonders  in  gesundheitsgefährlichen  Betrie¬ 
ben,  werden  am  besten  in  Begleitung  der  zuständigen  Aufsichtsbeamten 
vorgenommen.  Letzteren  werden  eventuelle  Beanstandungen  zwecks 
Abstellung  mitgeteilt.  Das  Augenmerk  richtet  sich  auf  alle  in 
gesundheitlicher  Beziehung  maßgebende  Einrichtungen  und  Vor¬ 
gänge.  Um  über  die  vorkommenden  Gesundheitschädigungen  nach 
Art  und  Ort  orientiert  zu  sein,  muß  die  Mitwirkung  der 
praktizierenden  Kollegen  gesichert  werden;  denn  diese  sind 
in  der  Lage,  durch  vertrauliche  Mitteilungen  auf  manche  sonst 

verborgen  bleibende  Erkrankungen  oder  Mißstände  hinzuweisen. 

•  • 

„Die  Arzte  müssen  die  Gesandten  sein,  korrespondierende  Mit¬ 
glieder,  Lieferanten  von  Fällen,  von  Beobachtungen  und  Problemen 
für  das  Studium“,  wie  Professor  Devoto-Mailand  anläßlich  der 
Grundsteinlegung  seiner  Klinik  für  Arbeiterkrankheiten  richtig  be¬ 
merkte. 

Besonders  muß  auch  auf  die  Mitwirkung  der  Kranken¬ 
kassen  und  Krankenanstalten,  dann  aber  auch  der  Ar¬ 
beiterorganisationen  Wert  gelegt  werden ;  diese  müssen  ver- 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  2 


18  '  Franz  Koelscli, 

anlaßt  werden,  ihre  Erfahrungen  über  gewerbliche  Erkrankungen 
und  hygienische  Mißstände  umgehend-  dem  Gewerbearzt  ‘  zu  be¬ 
richten. 

r'  ' "  ‘  ’  ‘  A 

Radikaler  wirkt  natürlich  die  gesetzliche  A  n  z  e  i  g  e  p  f  1  i  c  h  t 
für  gewerbliche  Erkrankungen,  bzw.  Vergiftungen.  Die¬ 
selbe  wurde  seit  einet  Reihe  von  Jahren  schon  von  namhaften  Ge¬ 
werbehygienikern  gefordert  (S  ommerfeld,  «Sternberg, Le -w  in, 
Kaup  u.  a.),  seitens  der  Internationalen  Vereinigung  für  gesetz¬ 
lichen  Arbeiterschutz  in  Basel  durch  Eingabe  bei  allen  Kultur¬ 
staaten  (Mai  1906)  offiziell  in  Anregung  gebracht  ,.als  der  einzige 
Weg  zur  sicheren  Feststellung  der  Quelle  und  der  Größe  der  ge¬ 
werblichen  Vergiftungsgefahren“.  Wie  oben  angedeutet,  besteht 
eine  derartige  Anzeigepflicht  bereits  in  England,  indem  jeder 
Arzt  zur  Anzeige  verpflichtet  ist,  „sofern  er  zu  einem  Kranken 
gerufen  wurde,  von  dem  er  glaubt,  daß  er  an  Blei-,  Phosphor-, 
Arsenik-  oder  Quecksilbervergiftung  oder  an  Milzbrand  leidet  und 
daß  er  sich  diese  Krankheit  in  einer  Fabrik  oder  Werkstätte 

!*•  ■  r 

zugezogen  hat.“  Der  Staatssekretär  ist  befugt,  diese  Anzeigepflicht 
ev.  auch  auf  andere  Berufskrankheiten  auszudehnen.  Weiterhin 
ist  auch  der  Zivilstandsbeamte  verpflichtet,  dem  Chefinspektors  eine 
Kopie  des  Sterbezettels  zu  übersenden,  falls  der  Tod  durch  der¬ 
artige  Erkrankungen  erfolgt  war. 

Eine  Anzeigepflicht  finden  wir  ferner  in  der  Schweiz,  aller¬ 
dings  auf  anderer  Basis;  dort  besteht  nämlich  die  Haftpflicht  des 
Unternehmers  für  Schäden,  welche  die  Arbeiter  durch  bestimmte 
gefährliche  Arbeiten  erleiden.  Derzeitig  sind  34  Gifte  inkl.  Er¬ 
krankung  an  Milzbrand,  Rotz  und  Pocken  in  die  Liste  dieser  ent¬ 
schädigungspflichtigen  Gewerbekrankheiten  aufgenommen.  Die  An¬ 
zeige  erfolgt  durch  den  Unternehmer.  Sonst  besteht  eine  An¬ 
zeigepflicht  meines  Wissens  nur  in  Sachsen  insofern,  als  seitens 
der  Kreishauptmannschaft  die  Krankenkassen  zur  Anzeige  gewerb¬ 
licher  Erkrankungen  binnen  3  Tagen  nach  Beginn  der  Erkrankung 
angehalten  werden  können.  Der  Erfolg  dieser  Verfügung  war 
eklatant:  Während  1903  der  Gewerbeinspektor  keine  ernsteren 
Erkrankungen  an  Bleivergiftung  verzeichnen  konnte,  kamen  im 
folgenden  Jahre,  also  nach  Inkrafttreten  der  Anzeigepflicht,  im 
Stadtbezirke  Leipzig  allein  nicht  weniger  als  293  Fälle  zur  amt¬ 
lichen  Kenntnis,  i.  J.  1907  in  ganz  Sachsen  491  Fälle. 

Meine  Herren!  Auch  ich  selbst- habe  nicht  versäumt,  gleich 
nach  meinem- Dienstantritte  meiner  Vorgesetzten  Stelle  eine  kurze 

.  v  ^  _  **  >  r  r  .« 

Denkschrift  über  die  Notwendigkeit  der  Anzeigepflicht 


Entwicklung',  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes.  19 

in  Bayern  nebst  entsprechendem  Antrag  vorzulegen,  derart,  daß 
etwa  10,  in  ihrer  Wirkungsweise  gut  charakterisierte,  praktisch- 
wuchtige  Gifte  unter  die  Anzeigepflicht  fallen  sollen,  natürlich  auch 
Milzbrand,  Kotz  und  Pocken.  Durch  äußere  Umstände  wurde  die 
Normierung  dieser  Anzeigepflicht  im  Polizeistrafgesetzbuche  bisher 
hinausgeschoben,  kommt  aber  noch  in  dieser  Landtagssession  zur 
Vorlage.  Vielleicht  dürfte  in  absehbarer  Zeit  diese  für  Bayern  seit 
einigen  Jahren  vorbereitete  Anzeigepflicht  durch  Reichsgesetz  über¬ 
holt  werden;  denn  im  März  heurigen  Jahres  wurde  im  Reichs¬ 
tage  eine  Resolution  Albrecht  und  Genossen  eingebracht  des  In-  , 
halts,  es  möchten  alle  gewerblichen  Vergiftungen,  insbesondere 
solche,  die  bei  Gewinnung  und  Verarbeitung  von  Teerabkömm¬ 
lingen,  Arsen,  Blei,  Chlor,  Chrom,  Schwefel,  Stickstoffverbindungen, 
Quecksilber  und  Phosphor  Vorkommen,  einer  ärztlichen  Anmelde¬ 
pflicht  unterstellt  werden.  Über  den  weiteren  Verlauf  dieser  An¬ 
gelegenheit  wird  also  die  nächste  Zukunft  entscheiden. 

Die  Voraussetzung  für  einen  Erfolg  der  Anzeigepflicht  w7äre  natür¬ 
lich  die  völligeUnabhängigkeitderbetr.  Ärzte  vom  Unter¬ 
nehmer,  die  Ausschaltung  von  Kollisionen  zwischen  Pflicht  und  Privat¬ 
rücksichten.  Es  hat  nicht  an  Stimmen  gefehlt,  welche  mit  Rücksicht 
auf  diese  schwer  ausschaltbaren  Momente  der  Anzeigepflicht  wenig 
Vertrauen  entgegenbrachten.  Richtig  ist  ja,  w7ie  Teleky  hervor¬ 
hebt,  daß  eine  mangelhaft  durchgeführte  Anzeigepflicht  eher  schäd¬ 
lich  wirken  kann  insofern,  als  durch  die  geringe  Zahl  gemeldeter 
Fälle  den  Gegnern  der  Arbeiterschutzgebung  eine  gewichtige  Waffe 
in  die  Hand  gegeben  wird. 

Ich  möchte  aber  gleichwohl  an  der  Notwendigkeit  der  An¬ 
zeigepflicht  unbedingt  festhalten,  da  wir  nur  auf  diese  Weise  ein 
annähernd  richtiges  Bild  bekommen  von  Umfang,  Art  und  Ort  der 
wuchtigsten  gewerblichen  Erkrankungen  —  und  damit  auch  eine 
Hauptgrundlage  für  die  weitere  gewerbeärztliche  Tätigkeit. 

b)  Ein  sehr  wichtiger  Teil  des  gewerbeärztlichen  Dienstes 
besteht  in  der  Organisation  und  Kontrolle  der  Tätig¬ 
keit  der  sog.  Untersuchungsärzte.  Wie  bereits  angedeutet, 
sind  durch  verschiedene  Verordnungen  Untersuchungen  der  Arbeiter 
vorgesehen  teils  vor  Eintritt  in  den  Betrieb,  teils  peri¬ 
odisch  während  derArbeit.  Zu  ersteren  zählen :  die  Arbeiter 
in  Quecksilber-Spiegelbelegereien,  Bleifarben-  und  Bleizuckerfabriken, 
Alkalichromat-  und  Akkumulatorenfabriken,  Zinkhütten  und  Thomas¬ 
schlackenmühlen,  die  Arbeiterinnen  in  Steinkohlenbergwerken,  Zink- 

und  BleierzbergwTerken  und  Kokereien  im  Regierungsbezirke  Oppeln, 

2* 


20 


Franz  Koelsch, 


die  Arbeiterinnen  und  Jugendlichen  in  Glashütten,  Walz-  und 
Hammerwerken,  die  Jugendlichen  in  Steinkohlenbergwerken.  Zu 
letzteren  zählen  die  Spiegelbelegeanstalten,  Bleifarben-  und  Blei¬ 
zuckerfabriken,  Alkalichromat-,  Akkumulatorenfabriken,  Thomas¬ 
schlackenmühlen,  Vulkanisierungsanlagen,  Blei-Zinkhütten,  Maler 
und  Lackierer  —  auch  die  Caissonarbeiter  bei  höherem  Druck. 

Nach  dieser  Richtung  liegt  nach  vielfachen  Erfahrungen  noch 
manches  im  argen,  sei  es  daß  die  Untersuchungen  nicht  zur  vor¬ 
geschriebenen  Zeit  oder  nicht  in  entsprechender  Weise  oder  mit 
der  nötigen  Genauigkeit  vorgenommen  werden.  Es  dürfte  daher 
durchaus  empfehlenswert  sein,  den  Untersuchungsärzten  ähnlich  wie 
in  Belgien,  ein  einheitliches  Formblatt  hinauszugeben,  um  sie 
an  der  Hand  des  Vordrucks  auf  die  im  vorliegenden  Falle  in  Be¬ 
tracht  kommenden  Symptome  und  Details  hinzuweisen.  Von  Zeit 
zu  Zeit  wird  der  Gewerbearzt  selbst  den  Untersuchungen  anwohnen 
und  die  Tätigkeit  der  Untersuchungsärzte  kontrollieren. 
Überhaupt  muß  die  periodische  Untersuchung  mehr  vertieft 
werden;  wir  dürfen  uns  z.  B.  bei  der  Bleiarbeiteruntersuchung 
nicht  auf  Saum  und  Obstipation,  ev.  Kolik  beschränken,  müssen 
vielmehr  versuchen,  auf  Grund  genauer  Blutbild-,  Blutdruck-, 
Hämoglobinbestimmungen  und  minutiöser  persönlicher  Unter¬ 
suchung  möglichst  frühzeitig  die  Fälle  von  Saturnismus  zu 
eruieren.  Ähnliche  Verhältnisse  gelten  für  die  Schwefelkohlenstoff-, 
Chromatbetriebe  u.  a.  Gleichzeitig  soll  eine  entsprechende  kurze 
Belehrung  der  betr.  Arbeiter  stattfinden. 

Begreiflicherweise  müssen  wir  darauf  bedacht  sein,  die  er¬ 
krankten  Arbeiter  möglichst  frühzeitig  zu  entdecken  und 
von  der  gefährlichen  Arbeit  zu  entfernen,  bei  einer  anderen,  harm¬ 
loseren  Arbeit  unterzubringen  oder  krank  zu  melden.  Allerdings 
setzt  diese  wohltätige  Prophylaxe  voraus,  daß  dem  Arbeiter  hier¬ 
durch  eine  finanzielle  Einbuße  nicht  erwächst;  es  müssen  seitens 
der  Kranken-  oder  Wohlfahrtskassen  Mittel  bereitgestellt  werden, 
welche  den  bei  der  Kontrolluntersuchung  suspendierten  Arbeitern 
die  Lohndifferenz  vergütet. 

Natürlich  muß  auch  die  Unabhängigkeit  dieserUnter- 

suchungsärzte  gewahrt  bleiben ;  zweckmäßig  sollen  daher  nicht 

die  betreffenden  Kassenärzte,  der  Hausarzt  des  Fabrikanten  usw. 

hierfür  anerkannt  werden,  vielmehr  möglichst  der  heimischen 

•  •  •  • 

Privatpraxis  entrückte  Arzte,  Amts-  oder  Militärärzte,  Arzte  aus 
dem  Nachbarorte  oder  einem  anderen  Stadtteil  usw.  Die  Auf¬ 
stellung  und  Absetzung  dieser  Untersuchungsärzte  muß  offiziell 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlicken  Dienstes. 


21 


durch  die  zuständige  Behörde  erfolgen  (Regierung,  Zentralstelle  im 
Ministerium)  nach  Rücksprache  mit  dem  Gewerbearzt.  Die  Hono¬ 
rierung  soll  nach  bestimmtem  Tarif  erfolgen;  die  Taxen  sind  vom 
Steueramte  oder  von  der  Gemeinde  einzuziehen  und  vom  Amte 
an  den  Arzt  hinauszuzahlen. 

Auf  diese  Weise  wird  es  sich  ermöglichen  lassen,  der  bisher 
vielfach  nur  formalen  Untersuchung  die  Bedeutung  zu  geben,  welche 
ihr  zukommen  soll,  die  Autorität  und  Unabhängigkeit  des  Unter¬ 
suchungsarztes  zu  wahren,  die  Arbeitgeber  und  -nehmer  periodisch 
auf  die  große  Bedeutung  der  gesundheitlichen  Prophylaxe  hinzu¬ 
weisen. 

Die  Resultate  der  Untersuchung  werden  umgehend  dem  Ge¬ 
werbearzt  übersandt,  der  seinerseits  das  Weitere  veranlaßt  und 
die  Ergebnisse  verarbeitet. 

c)  Dem  Gewerbearzt  obliegt  weiterhin  die  Fürsorge  für  das 
Rettungswesen,  für  Bereitstellung  von  Verbandsmitteln  und 
deren  richtige  Anwendung  durch  eingeübte  Personen,  für  Bereit¬ 
stellung  von  Sauerstoffapparaten,  Tragbahren  usw. 

d)  Endlich  muß  der  Gewerbearzt  als  Amtshygieniker  in  der 
Lage  sein,  die  experimentellen  Grundlagen  zu  geben, 
auf  die  sich  die  oft  ziemlich  eingreifenden  Sanierungsmaßnahmen 
der  Aufsichtsbeamten  stützen  können.  Bisher  war  der  Aufsichts¬ 
beamte  in  den  meisten  Fällen  auf  die  Spekulation  und  auf  die 
Güte  seiner  Sinnesorgane  angewiesen,  um  z.  B.  den  Grad  der  Luft¬ 
verunreinigung  durch  Gase,  durch  Staub  usw.,  die  Giftigkeit  eines 
Stoffes,  die  Lichtreize  und  Beleuchtungsmängel  festzustellen.  Und 
doch  wäre  es  in  vielen  Fällen  notwendig,  exakte  Begriffe  vom 
Grade  der  in  Betracht  kommenden  Luftverunreinigung  oder  der 
Giftwirkung  eines  Stoffes  zu  bekommen,  besonders  um  eventuell 
den  Reklamationen  des  renitenten  Unternehmers  mit  Nachdruck 
entgegentreten  zu  können.  Denn  nichts  schädigt  die  Autorität  des 
Aufsichtsbeamten  mehr,  als  wenn  seine  Auflage  in  höherer  Instanz 
zurückgewiesen  oder  eingeschränkt  werden  muß.  Liegt  aber  eine 
vorherige  exakte  Untersuchung  vor,  so  vermag  kein  Gegengutachten 
mehr  den  Unternehmer  von  der  manchmal  finanziell  ziemlich  be¬ 
lastenden  Auflage  zu  befreien. 

Hier  wären  also  anzuführen:  Analysen  verdächtiger  Farben 
und  Glasuren,  quantitative  und  morphologische  Untersuchungen 
über  die  Gefährlichkeit  einer  Staubart,  über  die  Menge  eines  Gift¬ 
stoffes  in  der  Atmungsluft  oder  im  Staube  der  Räume,  Kontrolle 
der  Desinfektion  milzbrandverdächtigen  Materials  (Probeentnahme, 


22 


Franz  Koelsch, 


Einlegen  von  Sporen  und  Maximalthermometern) ,  Helligkeits¬ 
prüfungen,  eventuell  sogar  Trinkwasser-  und  Abwässeruntersuchung, 
dann  ärztliche  Untersuchung  einzelner  Arbeiter  wegen  verdächtiger 
Symptome,  Blutarmut,  Hautausschläge  u.  dgl.  m. 

Voraussetzung  für  die  Vornahme  der  genannten  Untersuchungen 
ist  natürlich  die  entsprechende  ins  t  rum  enteile  Ausrüstung. 
Abgesehen  von  ärztlich-diagnostischen  Hilfsmitteln  sind  Ohren-, 
Nasen-,  Kehlkopfspiegel,  Apparate  zur  Hämoglobin-  und  Blutdruck¬ 
bestimmung,  Mikroskop,  Thermometer,  Hygrometer,  Helligkeits¬ 
prüfer,  Apparate  zur  Luftanalyse  auf  gas-  und  staubförmige  Ver¬ 
unreinigungen,  photographischer  Apparat  usw.,  das  für  jeden  Ge¬ 
werbearzt  unbedingt  notwendige  Handwerkszeug,  das  je  nach 
Arbeitsgebiet  noch  durch  andere  Apparate  ergänzt  werden  muß. 
Notwendigerweise  ist  zur  Aufbewahrung  der  Apparate  und  Reagen- 
tien,  zur  Vornahme  verschiedener  Analysen,  eventuell  von  Tier¬ 
versuchen  ein  Arbeitsraum,  einLaboratorium  erforderlich, 
ln  London,  Brüssel,  München,  meines  Wissens  auch  im  Haag  sind 
derartige  gewerbeärztliche  Laboratorien  bereits  eingerichtet,  in 
Straßburg  für  die  nächste  Zeit  geplant;  auch  für  Österreich  wurde 
die  Errichtung  einer  gewerbehygienischen  Versuchsstation  bereits 
mehrfach  gefordert.  Zum  Teile  verdankt  ja  auch  unsere  Gastgeberin, 
das  Institut  für  Gewerbehygiene  in  Frankfurt,  diesen  Überlegungen 
und  Bedürfnissen  seine  Entstehung. 

3.  Ein  unerschöpfliches  Arbeitsgebiet  erschließt  sich  dem  Ge¬ 
werbearzt  in  der  selbständigen  wissenschaftlichen 
Untersuchung  der  zahllosen  gewerbehygienischen  Fragen.  Die 
Statistik,  Serienuntersuchungen  in  einzelnen  Berufsklassen  und 
deren  Arbeitsstätten,  experimentelle  Arbeiten  im  Laboratorium, 
klinische  Beobachtung  interessanter  gewerblicher  Krankheitsbilder 
—  alle  diese  Methoden  bieten  so  reiche  Ausbeutungsmöglichkeiten, 
daß  sie  in  einer  Lebensarbeit  kaum  erschöpft  werden. 

Gestatten  Sie  mir,  meine  Herren,  daß  ich  in  aller  Kürze  noch 
auf  die  genannten  Arbeitsmethoden  näher  eingehe.  In  welch  ansehn¬ 
lichem  Umfange  dieselben  von  den  wenigen,  bis  jetzt  existierenden 
Gewerbeärzten  bereits  geübt  wurden,  zeigen  die  bereits  oben  mit¬ 
geteilten  Arbeiten  der  genannten  Herren. 

a)  Zunächst  einige  Worte  über  die  Statistik.  Der  hohe 
Wert  einer  zuverlässigen  beruflichen  Morbiditäts-  und  Mortalitäts¬ 
statistik  ist  unbestritten.  Die  richtig  durchgeführte  Statistik  allein 
gibt  den  wahren  Maßstab  dafür,  wo  Verbesserungen  nötig  sind,  ob 
etwas,  was  und  wieviel  erreicht  wurde  und  wo  die  Hebel  zu  neuer 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


23 


Tätigkeit  angesetzt  werden  müssen.  „Eine  richtige  Methodik  der 
Berufsstatistik  ist  das  Fundament  der  Gewerbehygiene“,  sagt 
Rosen feld.  —  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  über  diese  Methodik, 
über  die  Schwierigkeiten,  Fehlerquellen  und  Fehlschlüsse  der  beruf¬ 
lichen  Morbiditäts-  und  Mortalitätsstatistik  Ausführliches  zu  sagen. 
Jedenfalls  darf  sich  der  Gewerbearzt  statistischen  Arbeiten  nicht 
entziehen,  da  sie  die  Grundlage  gewerbehygienischen  Wissens  und 
Handelns  abgeben. 

b)  Ebenso  kommt  den  Serienuntersuchungen  in  den  ver¬ 
schiedensten  Berufsarten  wesentliche  praktische  Bedeutung  zu, 
einerseits  um  über  die  gesundheitlichen  Verhältnisse  einzelner  Be¬ 
rufe  und  Betriebe  einwandfreie  Kenntnis  zu  bekommen,  andererseits 
um  die  grundlegenden  Normal  zahlen  zu  eruieren,  die  für  die 
hygienischen  Verhältnisse  der  einzelnen  Berufsarten  maßgebend 
sein  müssen.  Bisher  basierten  unsere  Normen  für  die  Temperaturen, 

Feuchtigkeit,  Belichtung,  Staub-  und  Gasbelästigung  usw.  eigentlich 

•  • 

mehr  oder  minder  nur  auf  theoretischen  Überlegungen  und  Labora¬ 
toriumserfahrungen,  Leider  ist  in  der  gewerbeärztlichen  Praxis 
mit  diesen  Normalzahlen  oft  relativ  wenig  anzufangen;  wir  werden 
diese  Zahlen  gelegentlich  merklich  überschritten  finden,  ohne  daß 
wir  in  der  Lage  sind,  irgendwelche  Gesundheitsschädigungen  wahr¬ 
zunehmen.  Viel  richtiger  ist  es  daher,  diese  Normalzahlen  aus 
der  betreffenden  Industriegruppe  selbst  zu  entnehmen. 
Wir  stellen  dabei  in  einer  Reihe  von  Betrieben  der  gleichen  Gruppe 
mit  normalen  Gesundheitsverhältnissen  die  eben  in  Betracht 
kommenden  Zahlen  (Temperaturen,  Feuchtigkeit,  Helligkeit,  Luft¬ 
verunreinigungen  usw.,  eventuell  Fälle  von  Vergiftungen)  fest  und 
nehmen  hiervon  den  Durchschnitt;  bleibt  ein  Betrieb  erheblich  über 
diesem  „Betriebsgruppen- Index“,  so  haben  wir  das  Recht 
und  die  Pflicht,  mit  allen  Mitteln  die  baldige  Sanierung  zu  fordern. 
Das  Bedürfnis  nach  einem  bestimmten,  zahlenmäßig  festzulegenden 
Maßstabe  hat  bei  verschiedenen  Staaten  bereits  zur  Aufstellung 
derartiger  Standardzahlen  geführt  (England,  Frankreich),  die 
dem  revidierenden  Beamten  einen  Anhalt  bei  seiner  Dienstestätig¬ 
keit  geben.  AVenn  auch  das  persönliche  Ermessen  des  Beamten 
hierdurch  durchaus  nicht  ausgeschaltet  werden  soll,  so  dürften  doch 
besonders  bei  Beanstandungen  —  derartige  der  Praxis  ent¬ 
nommene  Grundsätze  eine  wertvolle  Unterstützung  abgeben  und  in 
strittigen  Fällen  kaum  entbehrt  werden  können. 

Außerordentlich  begrüßenswert  würde  ich  es  erachten,  wenn 
in  den  verschiedenen  Staaten  nach  dieser  Richtung  gleich- 


24  Franz  Koelsch, 

mäßig,  nach  gleichen,  vorher  besprochenen  Gesichtspunkten  und 
mit  gleichen  Methoden  vorgegangen  würde.  Der  sogenannte  „Be- 
triebsgruppen-Index“  würde  bei  derartigem  internationalem  Vor¬ 
gehen  außerordentlich  an  Wert  gewinnen. 

c)  Zu  dem  Punkte  „experimentelle  Arbeiten“  dürften  sich 
weitere  Ausführungen  erübrigen.  Noch  harren  Dutzende  der  be¬ 
deutungsvollsten  Fragen  der  wissenschaftlichen  Forschung  und  Er¬ 
klärung:  das  Problem  der  Ermüdung,  die  Physiologie  der  Arbeit 
überhaupt,  die  Wirkung  zahlreicher  Giftstoffe,  die  Resorptions-  und 
Toleranzgrenzen  für  gewisse  Stoffe  —  von  zahlreichen  kasuistischen 
Themen  ganz  zu  schweigen.  Hierin  den  Weg  gewiesen  zu  haben 
ist  unvergängliches  Verdienst  Lehmann ’s  (Wiirzburg)  und 
seiner  Schule;  gleichwohl  bleibt  für  jeden  Gewerbearzt  noch  für 
unabsehbare  Zeit  Material  genug  zu  eigener  exakter  Forschung 
übrig. 

d)  Schließlich  dürfte  sich  jedem  Gewerbearzt  auch  das 
klinische  Studium  gewerbepathologischer  Symptome  von  selbst 
aufdrängen.  Es  ist  durchaus  kein  Zufall,  daß  neuerdings  Spezi al- 
kliniken  für  Ar  beit  er  kr  ankh  eiten  geschaffen  wurden;  die 
Errichtung  der  Mailänder  Klinik,  das  Projekt  der  Bndapester 
Anstalt,  das  Teleky’sche  Ambulatorium  in  Wien  stellen  nur 
eine  neue  Phase  in  der  Entwicklung  unserer  Materie  dar,  die 
von  selbst  zur  Beobachtung  und  Therapie  des  Berufskranken  hin¬ 
überleitet.  Die  Erfolge  dieser  neuen  Form  gewerbeärztlicher  Tätig¬ 
keit  liegen  bereits  vor  uns  in  Gestalt  der  vielseitigen  Arbeiten  aus 
dem  Mailänder  Institut  sowie  der  Wiener  Mitteilungen  aus  dem 
Gebiete  der  Sozialen  Medizin  von  Teleky. 

Wenn  auch  aus  naheliegenden  Gründen  nicht  allerorts  der¬ 
artige  Kliniken  oder  Ambulatorien  entstehen  können,  so  dürfte  das 
Bedürfnis  nach  ärztlicher  Beobachtung  gewerbepathologischer  Er¬ 
scheinungen  sich  mit  Hilfe  der  Krankenkassen  und  Kassenärzte 
überall  leicht  befriedigen  lassen,  etwa  derart,  daß  ambulante 
Patienten  seitens  der  Kassenverwaltungen  usw.  regelmäßig  zu 
einem  Termin  vorgeladen  werden,  interessante  bettlägerige  Patienten 
in  den  betreffenden  Krankenanstalten  besucht  werden.  Im  übrigen 
dürften  die  weiteren  Erfahrungen  besonders  der  Mailänder  Klinik 
abzu warten  sein. 

4.  Ein  weiteres  Arbeitsgebiet  betrifft  die  Aufklärung. 
Nachdem  eine  Gefahr  nur  dann  wirksam  vermieden  werden  kann, 
wenn  sie  nach  Art  und  Wirkungsweise  genau  bekannt  ist,  ist  die 
Aufklärung  über  die  wichtigsten  gewerblichen  Schäd- 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


25 


liclikeiten  und  ihre  Verhütung  eine  zwingende  Notwendig¬ 
keit.  Tatsächlich  dürften  Sie,  meine  Herren,  kaum  ein  dankbareres 
Publikum  linden  als  die  Arbeiterschaft  bei  Besprechung  gewerbe¬ 
hygienischer  Fragen,  bes  wenn  der  Vortrag  —  was  eigentlich 
selbstverständlich  sein  soll  —  mit  Demonstrationen,  Lichtbildern 
usw.  wirksam  aufgeputzt  ist.  Auch  populäre  Artikel  in  der 
Tagespresse  vermögen  hierbei  viel  Nutzen  zu  stiften.  Aber 
auch  die  Ärzte,  Gewerbeaufsichtsbeamten,  die  Verwaltungsbeamten 
und  andere  Interessentengruppen  bedürfen  gelegentlicher  Aufklä¬ 
rung  über  aktuelle  Fragen,  sei  es  in  Form  von  Vorträgen,  oder 
von  Referaten  in  der  einschlägigen  Literatur. 

Vielleicht  dürfte  es  nicht  indiskutabel  erscheinen,  wenn  der 
Gewerbearzt  auch  den  gewerbehygienischen  Unterricht  in  den 
Fortbildungsschulen  selbst  übernimmt,  soweit  seine  übrigen 
Dienstesaufgaben  dies  zulassen. 

Endlich  wäre  die  Beratung  des  Publikums  in  bekanntgegebenen 
Sprechstunden  nicht  zu  vergessen;  jedermann  soll  sich  vom 
Gewerbearzte  Rat  erholen  können,  sei  es  über  Berufswahl  und  Be¬ 
rufswechsel,  Schutzmaßnahmen  (Brillen,  Respiratoren  usw.),  ver¬ 
dächtige  Krankheitssymptome,  Verbesserung  von  Betriebseinrich¬ 
tungen  usw.  Besonders  die  Beratung  bei  der  Berufswahl  ist 
bekanntlich  eine  Betätigung  von  weittragender  sozialer  Bedeutung, 
der  sich  der  Gewerbearzt  nicht  entziehen  darf. 

5.  Unter  dem  letzten  Punkte  müssen  wir  die  Förderung  der 
Arbeiterwohlfahrt  .im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
subsumieren ,  sei  es  nun  Alkohol-  und  Tuberkuloseprophylaxe, 
Säuglingsschutz ,  Errichtung  von  Stillstuben,  Konsumanstalten, 
Arbeiterwohnungen  u.  dgl.  Eine  wenn  auch  flüchtige  Kenntnis 
der  hierbei  in  Betracht  kommenden  Grundsätze  ist  für  den  Ge¬ 
werbearzt  unerläßlich;  je  nach  Zeit  und  Vorliebe  bleibt  ein  ge¬ 
naueres  Studium  dieser  sozialhygienischen  Einrichtungen  dem  ein¬ 
zelnen  Vorbehalten.  Ganz  besonders  bedürfen,  wie  dies  Kaup 
hervorgehoben  hat,  die  Probleme  der  Jugendlichen-  und  Frauenarbeit 
eingehenden  Studiums  im  Hinblick  auf  die  tiefgreifende  Rück¬ 
wirkung  dieser  Erscheinungen  auf  das  Volkswohl,  auf  Wehrfähig¬ 
keit  und  Erzeugung  lebentüchtiger  Nachkommenschaft.  Mehr  wie 
bisher  müßten  künftig  unsere  Schutzbestrebungen  von  derartigen 
großen  Gesichtspunkten  geleitet  werden. 

Meine  Herren!  Ich  habe  versucht,  Ihnen  mit  meinen  Ausfüh¬ 
rungen  ein  Bild  zu  zeichnen  von  den  vielseitigen  und  wich¬ 
tigen  Aufgaben,  welche  des  „Gewerbearztes“  harren.  Ich 


26 


Franz  Koelsch, 


habe  bewußt  den  Kreis  seiner  Tätigkeit  möglichst  weit  um¬ 
schrieben  ;  das  Gebiet  ist  aber  auch  tatsächlich  so  vielseitig,  durch 
so  viele  gesetzliche,  technische  und  sozialhygienische  Momente 
kompliziert,  daß  eine  engherzige  Auffassung  das  Institut  des  Ge¬ 
werbearztes  nur  diskreditieren  könnte. 

Wenn  wir  nun,  nachdem  wir  über  die  vielseitigen  Aufgaben 
orientiert  sind,  welche  des  Gewerbearztes  harren,  uns  in  eine 
Kritik  der  oben  erwähnten,  bisher  bei  den  einzelnen  Industrie¬ 
staaten  geübten  ärztlichen  Mitwirkung  einlassen,  so  mag  es  zu¬ 
nächst  jedermann  einleuchtend  erscheinen,  daß  die  nur  gelegentliche 
Beiziehung  der  beamteten  Ärzte  oder  die  nebenamtliche  Tätigkeit 
einzelner  Medizinalpersonen  doch  kaum  derartigen  Anforderungen 
entsprechen  kann.  Zunächst  sind  die  Amtsärzte  mit 
Arbeiten  aller  Art  so  reichlich  versehen,  daß  sie  kaum  Zeit  finden 
dürften,  mit  entsprechendem  Eifer  detaillierten  gewerbehygienischen 
Fragen  nachzugehen.  Andererseits  aber  ist  es  den  Amtsärzten  bei 
nur  gelegentlicher  Inanspruchnahme  kaum  möglich,  das  umfang¬ 
reiche  Gebiet  der  Arbeiterhygiene  vollkommen  zu  beherrschen,  die 
Wechsel  vollen  technischen  Neuerungen  und  die  große  Literatur 
ständig  zu  verfolgen,  sich  mit  den  einschlägigen  Untersuchungs¬ 
methoden  und  deren  Technik  vertraut  zu  machen.  Die  Materie 
hat  eben  bereits  einen  Umfang  angenommen,  der  eine  Speziali¬ 
sierung  notwendig  macht.  Außerdem  sei  darauf  hingewiesen, 
daß  dem  Amtsärzte  nicht  einmal  der  Zutritt  zu  einem  Betriebe 
jederzeit  so  frei  steht,  wie  dies  zu  einer  ersprießlichen  Tätigkeit 
notwendig  wäre. 

Etwas  zweckmäßiger  erscheint  die  Ans  t  e  1 1  u  n  g  v  o  n  Ä  r  z  t  en 
als  Fabrikinspektoren,  nachdem  hierdurch  wenigstens  die 
Möglichkeit  gegeben  ist,  sowohl  innerhalb  des  Dienstbezirkes  als 
auch  durch  Beratung  der  Kollegen  das  ärztlich- hygienische  Moment 
mehr  zur  Geltung  zu  bringen.  Als  Mißstand  dürfte  wohl  der 
durch  die  übrigen  Amtsgeschäfte  bedingte  Zeitaufwand  anzusprechen 
sein,  der  für  die  rein  hygienischen  Arbeiten  verloren  geht.  Zweifel¬ 
los  lassen  sich  aber  auch  auf  diesem  Wege,  bes.  bei  entsprechender 
Organisation,  doch  schon  Erfolge  erzielen. 

Die  beste  Lösung  erscheint  die  Beiziehung  von  Ärzten 
nach  dem  Beispiele,  das  zunächst  England,  dann  in  noch  glück¬ 
licherer  Ausbildung  Belgien  gegeben  hat,  ähnlich  der  Stellung, 
welche  der  Landesgewerbearzt  in  Bayern,  der  Gewerbearzt  in 
Elsaß,  der  Sanitätskonsulent  in  Österreich  bekleidet.  Denn 
das  große  Arbeitsgebiet  verlangt  eine,  durch  die  formellen  Arbeiten 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlicken  Dienstes. 


27 


des  regulären  Gewerbeaufsichtsdienstes  nicht  beeinträchtigte  Kon¬ 
zentration  auf  die  hygienisch-sozialen  Fragen  —  ganz  abgesehen 
davon,  daß  die  über  das  ganze  Land  und  über  alle  Betriebe  gleich¬ 
mäßig  ausgedehnte  Tätigkeit  ein  mehr  abgerundetes,  dabei  doch  wieder 
vielseitigeres  Bild  abgibt  als  die  Tätigkeit  im  umgrenzten  kleinen 
Dienstbezirke.  Ich  möchte  daher  diesen  grundsätzlichen  Unter¬ 
schied  zwischen  „ä r z 1 1  i c h e m  I n s p e k t o r“  und  „Gewerbearz t“ 
ausdrücklich  betonen  und  meine  Ausführungen  lediglich  auf  letzteren, 
den  eigentlichen  Gewerbearzt,  bezogen  wissen. 

Selbstredend  muß  der  Gewerbearzt  die  Berechtigung  zur 
jederzeitigen  Revision  eines  jeden  Betriebes  besitzen,  weiter¬ 
hin  auch  das  Recht  mit  den  Aufsichtsbeamten,  Unternehmern  und 
Arbeitern,  Ärzten  und  ^Krankenkassen,  kurz  mit  allen  in  Betracht 
kommenden  Faktoren  in  direkten  Verkehr  zu  treten.  Eine 
derartige  Bewegungsfreiheit  ist  m.  E.  für  eine  ersprießliche  Tätig¬ 
keit  des  Gewerbearztes  unerläßliche  Vorbedingung. 

Natürlich  ist  selbst  für  einen  kleinen  Staat  ein  einziger  Arzt 
zu  w e n i g.  Die  vielseitige  Tätigkeit,  z.  T.  auf  auswärtigen  Dienst¬ 
reisen,  insbesondere  der  für  alle  experimentellen  Arbeiten  erforder¬ 
liche  große  Zeitaufwand,  erfordert  m.  E.  selbst  für  kleinere  Ge¬ 
biete  die  Anstellung  mehrerer  Ärzte,  mindestens  von  2,  die  sich 
gegenseitig  unterstützen  und  vertreten  können. 

Die  Mitwirkung  der  Amtsärzte  soll  jedoch  nicht  völlig  aus¬ 
geschaltet  werden ;  sie  soll  sich  erstrecken  auf  die  gewerbehygienischen 
Beobachtungen  im  Rahmen  der  allgemeinen  Hygiene,  auf  einfache, 
lokale  Mißstände,  Schutz  der  Umgebung  der  Arbeitsstätten,  Kon- 
zessionierung  u.  dgl. 

Meine  Herren !  Die  Nützlichkeit  des  gewerbeärzt¬ 
lichen  Dienstes,  die  Bedeutung  für  die  weitestenBe- 
völke rungsschichten  glaube  ich  durch  meine  Ausführungen  in 
extenso  dargetan  zu  haben  Daraus  resultiert  aber  auch  der  Schluß,  in 
den  noch  ausständigen  Industriestaaten  dem  Institut  der  Gewerbeärzte 
sich  nicht  länger  zu  verschließen.  —  Ersprießliches  ist  aber  nur  vom 
eigentlichen  Gewerbearzte  zu  erwarten,  in  dem  von  mir  ver¬ 
tretenen  Sinne,  nicht  in  der  verwässerten  Form,  welche  vor  einiger 
Zeit  von  Kähler  (Soz.  Praxis  XIX.  Nr.  li/13)  für  die  Norddeutschen 
Bundesstaaten  in  Vorschlag  gebracht  wurde.  Kähler  wollte  For¬ 
schung  und  Gewerbeaufsichtsdienst  getrennt  wissen,  indem  das 
Institut  f.  Gewerbehygiene  in  Frankfurt  entsprechend  ausgebaut 
und  durch  Zuteilung  ärztlicher  Kräfte  zu  gewerbehygienischen 
Forschungen  in  großem  Umfange  befähigt  würde;  durch  Kurse  für 


28  Franz  Koelsch, 

Kreisärzte  und  Aufsichtsbeamte  sollen  diese  Ergebnisse  dann  für 
die  Praxis  verwertet  werden.  —  Meine  Herren!  Auch  ich  würde 
lebhaft  dafür  plaidieren,  das  Frankfurter  Institut  zu  einer  deut¬ 
schen  wissenschaftlichen  Zentrale  für  gewerbehygienische  For¬ 
schung  mit  Laboratorien  usw.  auszubauen,  ev.  sogar  in  Verbindung 
mit  einer  kleinen  Klinik  für  Gewerbekrankheiten.  Ein  derartiges 
Zentralinstitut  würde  für  das  ganze  Reich  von  weittragender  Be¬ 
deutung  werden.  Hingegen  möchte  ich  den  übrigen  Vorschlägen 
Kählers  entschieden  entgegentreten ,  da  sie  nur  Halbheiten 
bleiben,  welche  den  an  eine  ersprießliche  gewerbeärztliche  Tätig¬ 
keit  zu  stellenden  Anforderungen  in  keiner  Weise  entsprechen 
und  insbesondere  den  größten  Vorteil  des  Gewerbearztes,  nämlich 
die  Zugehörigkeit  zum  Aufsichtsdienste  und  die  jederzeitige  Voll¬ 
macht  zu  Betriebsrevisionen,  überhaupt  den  Konnex  mit  der  täg¬ 
lichen  Praxis,  von  vorneherein  preisgeben.  Wir  benötigen  viel¬ 
mehr  Gewerbeärzte  im  Hauptamte,  wie  ich  bereits  oben  aus¬ 
geführt  habe  —  und  der  Ruf  nach  derartigen  gewerbehygienischen 
Beamten  und  Spezialisten  entspringt  nicht  nur  wohlbegründeten 
Erwägungen,  sondern  auch  sittlichen  Pflichten.  Denn 
stetig  wächst  die  Bevölkerungsmasse,  deren  Wohl  und  Wehe  von 
ihrer  Hände  Arbeit  abhängt,  deren  Gesundheit  täglich  von  viel¬ 
fachen  beruflichen  Schädigungen  bedroht  ist.  Warum  sollten  die 
Ärzte,  die  berufenen  Vertreter  der  Hygiene  und 
Wächter  der  Volksgesundheit,  gerade  bei  diesen  eminent 
sozialen  Aufgaben  im  Hintergründe  bleiben  müssen?  —  Prägnant 
nimmt  hiergegen  Professor  D  e  v  o  t  o ,  der  verdienstvolle  Leiter  der 
Mailänder  Klinik  für  Arbeiterkrankheiten,  Stellung,  indem'  er  sagt : 
„Das  Recht  der  Medizin,  sich  (um  den  Gewerbeaufsichtsdienst) 
zu  bewerben,  entsteht  in  dem  Augenblicke,  in  welchem  die  Arbeit 
eine  Ursache  der  Erkrankung  bildet;  die  Pflicht  der  ärztlichen 
Mitbeteilung  entspringt  aus  der  Notwendigkeit  der  Abwehr,  der 
Prophylaxe  und  der  Krankenfürsorge.“ 

•  • 

Ich  darf  vielleicht  daran  erinnern,  daß  Arzte  sogar  mit  an¬ 
erkanntem  Erfolg  die  Oberleitung  der  Gewerbeinspektion  inne 
hatten;  Namen  wie  Baker,  Hawer,  Schüler,  Redgrafe  u.  a. 
haben  heute  noch  in  der  Gewerbehygiene  einen  guten  Klang. 

Es  liegt  uns  jedoch  völlig  ferne,  den  Techniker  aus  dem 
Gewerbeaufsichtsdienste  irgendwie  verdrängen  zu  wollen;  ich  möchte 
auch  nicht,  wenigstens  nicht  verallgemeinert,  unserm  verdienst¬ 
vollen  Kollegen  Caro  zzi- Mailand  beipflichten,  wenn  er  vom  Ban¬ 
krott  des  bisherigen  Systems  spricht,  welches  die  Techniker  nur 


Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen  Dienstes. 


29 


mit  einem  dünnen  Firnis  hygienischen  Wissens  herausputze!  Ich 
habe  im  Gegenteile  vielfach  gefunden,  daß  sich  die  betreffenden 
Herren  mit  großem  Eifer  und  Verständnisse  der  ihnen  etwas 
ferne  liegenden  Materie  annehmen.  Gleichwohl  muß  das  bis¬ 
herige  einseitige  System  der  nichtärztlichen  Beamten  eine 
•  • 

Änderung  erfahren. 

Denn  daß  für  die  im  Vorgehenden  skizzierten  vielseitigen,  im 
Interesse  einer  gedeihlichen  Gewerbehygiene  aber  unerläßlichen 
Arbeiten  der  reguläre  Gewerbeaufsichtsbeamte  nicht  ganz  die 
geeignete  Persönlichkeit  ist,  dürfte  unbestritten  sein.  Zunächst 
fehlt  ihm  für  derartige  Aufgaben  die  reichlich  notwendige  Zeit. 
Schon  bisher  konnte  im  Laufe  eines  Jahres  nur  ein  Teil  der  vor¬ 
handenen  Betriebe  revidiert  werden;  ohne  entsprechende  Personal¬ 
vermehrung  ist  —  selbst  bei  intensivster  Tätigkeit  —  die  wünschens¬ 
werte  Revisionszahl  kaum  zu  erreichen.  Weiterhin  können  der¬ 
artige  ärztlich-hygienische  Arbeiten  von  den  Aufsichtsbeamten 
auch  wegen  des  in  der  Vorbildung  begründeten  Mangels  an 
medizinischen  Kenntnissen  nicht  erwartet  werden;  die  Aufsichts¬ 
beamten  sind  eben  nach  dieser  Richtung  Laien,  bei  denen  medi¬ 
zinisches  Denken  und  Wissen  nicht  vorausgesetzt  werden  kann. 
Wie  soll  z.  B.  —  um  ein  ganz  aktuelles  Beispiel  zu  wrählen  — 
eine  Erhebung  über  die  hygienischen  Verhältnisse  in  den  Zement¬ 
fabriken  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Beziehungen  zwischen 
Zementindustrie  und  Tuberkulose  gepflogen  werden  von  technisch- 
vorgebildeten  Aufsichtsbeamten  ohne  ärztliche  Mitwirkung?  Jeder¬ 
mann,  der  die  komplizierten  Verbreitungsbedingungen  der  Tuber¬ 
kulose  kennt,  muß  einer  derartigen  Laienarbeit  von  vorneherein 
recht  gewichtige  Bedenken  entgegenbringen.  Solche  Fragen  lassen 
sich  eben  nur  lösen  nach  persönlicher  ärztlicher  Untersuchung 
der  in  Betracht  kommenden  Arbeiter,  nach  eingehenden,  auf  Jahre 
sich  zurück  erstreckenden  Erhebungen  über  die  Tuberkulose  unter 
der  übrigen  Bevölkerung  der  Gegend,  unter  Berücksichtigung  aller 
einschlägigen  medizinalstatistischen  Erfahrungen.  Die  Lösung  sol¬ 
cher  Fragen  muß  lediglich  ärztlichem  Wissen  Vorbehalten  bleiben, 
wrenn  wirklich  ein  brauchbares  Resultat  erwartet  werden  soll. 

Dem  Techniker  (Chemiker  us w.),  also  der  Haupt¬ 
sache  nach  die  formelle  Aufsichtstätigkeit  und  der 
Unfallschutz,  dem  Gewerbearzte  die  spezifische 
Gewerbehygiene  in  dem  bezeichneten  Umfange! 
Nicht  rivalisieren  wollen  wir  miteinander,  sondern  gemeinsam 
Zusammenarbeiten  und  Schulter  an  Schulter  das  Ganze  fördern. 


30 


Franz  Koelsch, 

„Das  Gebäude  der  Gewerbehygiene  wird  eben  auf  dem  Grenz¬ 
gebiete  zwischen  medizinischer  und  technischer  Wissenschaft  er¬ 
richtet;  wenn  der  Bau  gefördert  werden  soll,  müssen  die  Bausteine 
auf  getrennten  Wegen,  von  Ärzten  und  Technikern,  herbeigeschafft 
werden.“  Daß  dies  der  richtige  Weg  ist,  dafür  spricht  die  Er¬ 
fahrung  der  Staaten,  in  denen  bisher  Ärzte  beigezogen  wurden, 
wo  nicht  nur  die  vorurteilsfreien  technischen  Beamten  selbst  die 
ärztliche  Mitwirkung  schätzen  gelernt  haben,  sondern  auch  das 
Publikum.  Und  gerade  letzteres  ist  bei  dieser  Frage  durchaus 
nicht  uninteressiert.  Ist  es  doch  psychologisch  sehr  naheliegend, 
daß  Arbeiter  wie  Unternehmer  in  hygienischen  Fragen  einem 
Arzte  mehr  Glauben  schenken  und  größeres  Vertrauen  entgegen¬ 
bringen  als  einem  andersartig  vorgebildeten  Aufsichtsbeamten. 
Und  auch  von  den  Kassenärzten  dürfte  der  Gewerbearzt  dank 
seiner  kollegialen  Beziehungen  manchmal  viel  mehr  erfahren  als 
der  nichtärztliche  Aufsichtsbeamte. 

Zum  Schlüsse  noch  einige  W orte  über  die  Vorbildung 
des  Gewerbearztes. 

Abgesehen  von  der  Prüfung  für  den  ärztlichen  Staatsdienst 
würde  ich  zunächst  eine  mehrjährige  praktische  Tätigkeit, 
besonders  in  der  Kassenpraxis,  für  erforderlich  erachten.  Die 
hierbei  gewonnenen  Eindrücke,  das  Eindringen  in  Ideenkreis  und 
Denkweise  des  Arbeiters,  die  Einblicke  in  die  Arbeitsbedingungen, 
Ernährungs-  und  Unterkunftsverhältnisse,  dies  alles  dürfte  für  die 
spätere  gewerbeärztliche  Tätigkeit  nicht  ohne  Bedeutung  sein. 
Nach  der  Anstellung  erscheint  zunächst  eine  mehrmonatliche  Be¬ 
schäftigung  im  gewöhnlichen  Aufsichtsdienste  zweck¬ 
mäßig,  um  sich  mit  den  gesetzlichen,  formalen,  z.  T.  auch  tech¬ 
nischen  Details  vertraut  zu  machen.  Außerdem  ist,  vorher  oder 
nachher,  die  experimentelle  Schulung  nicht  zu  übersehen 
durch  Arbeiten  in  einem  klinischen,  toxikologischen  oder  hygie¬ 
nischen  Laboratorium.  Zur  späteren  Weiterbildung  käme  vielleicht 
auch  einmal  ein  längerer  Aufenthalt  an  einer  Klinik  für  Arbeiter¬ 
krankheiten  in  Betracht. 

Meine  Herren!  Vielleicht  ist  es  mir  gelungen,  die  nicht  un¬ 
wichtige  Frage  des  Gewerbearztes  Ihnen  näher  zu  bringen 
und  Ihr  Interesse  hierfür  wachzurufen.  Gerade  bei  uns  in  Deutsch¬ 
land  ist  in  dieser  Richtung  noch  manches  gut  zu  machen.  Die 
Propaganda  für  den  „Gewerbearzt“  kommt  ja  in  erster 
Linie  der  arbeitenden  Bevölkerung  zugute,  für  welche  die  Ge¬ 
sundheit  das  einzige  Kapital  bedeutet,  das  ihnen  im  schweren 


Entwicklung',  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztliclien  Dienstes. 


31 


wirtschaftlichen  Kampfe  zur  Verfügung-  steht.  Schließlich  stehen 
aber  auch  noch  höhere  nationale  Interessen  im  Spiele.  Be¬ 
völkerungszunahme  und  Militärtauglichkeit  gestalten  sich  mit  der 
steigenden  Industrialisierung  Deutschlands  zusehends  ungünstiger. 
Diese  Tatsache  allein  schon  berechtigt  zur  Forderung,  daß  der 
Arzt  als  hygienischer  Berater  nicht  vor  den  Fabrik toren 
Halt  machen  darf,  hinter  denen  die  Mehrzahl  unserer  Volks¬ 
genossen  oft  unter  recht  unhygienischen  Bedingungen  sein  Leben 
dahinbringt.  Das  Problem  der  Arbeit  ist  heute  nicht  mehr 
ein  kleines  Ding  für  sich,  sondern  hat  sich  zu  einem  der  kompli¬ 
ziertesten  Themen  entwickelt,  an  dessen  Lösung  die  verschiedensten 
Disziplinen  sich  beteiligen  müssen;  ich  nenne  nur  die  Beziehungen: 
Arbeit  und  Technik,  Arbeit  und  Lohn,  Arbeit  und  Volkswirtschaft, 
ganz  besonders  wichtig  „Arbeit  und  Volksgesund  hei  t“.  Die 
medizinische  Wissenschaft,  die  Pfadfinderin  und  Führerin  auf  dem 
Gebiete  der  wissenschaftlichen  Gewerbehygiene,  darf  und 
muß  fordern,  daß  ihre  Vertreter  auch  bei  der  praktischen 

Gewerbehygiene,  d.  h.  beim  Gewerbeaufsichtsdienste,  nicht  beiseite 

•  • 

gesetzt  werden  —  daß  den  Ärzten  auch  offiziell  die  Ge¬ 
legenheit  geboten  wird,  Schulter  an  Schulter  mit 
den  Technikern  an  diesem  großen  Probleme  mitzu- 
ar  beiten. 


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Krebs  und  Beruf. 

Von  Dr.  F.  Pbinzing,  Ulm. 

In  jüngster  Zeit  sind  verschiedene  Arbeiten  über  den  Einfluß 
des  Berufs  auf  die  Häufigkeit  des  Krebses  erschienen,  in  denen 
einige  Schlußfolgerungen  mit  ziemlicher  Sicherheit  gezogen  worden 
sind;  eine  nähere  Prüfung  derselben  erscheint  angezeigt. 

Daß  alle  diejenigen  Arbeiten  ausscheiden  müssen,  die  sich  nur 
auf  die  Prozentsätze  der  Krebsfälle  unter  den  Gestorbenen  beziehen, 
bedarf  an  dieser  Stelle  keiner  weiteren  Ausführung.  Erfreulicher¬ 
weise  trifft  man  nur  noch  selten  auf  diese  fehlerhafte  statistische 
Methode,  wenn  sie  auch  dann  und  wann  immer  wieder,  manchmal 
in  naivem  Tone  fester  Überzeugung,  in  Anwendung  .gebracht  wird. 

Viel  weniger  dagegen  wird  der  weitere  Grundsatz  beachtet, 
daß  alle  Morbiditäts-  und  Mortalitätsziffern  für  Berufsarten  nahezu 
wertlos  sind,  wenn  sie  sich  nur  auf  die  Gesamtheit  der  Berufsange¬ 
hörigen  beziehen,  ohne  daß  eine  Trennung  nach  Altersklassen  statt¬ 
findet.  In  jedem  statistischen  Handbuch,  in  jeder  guten  Arbeit 
über  Berufsmorbidität  und  -mortalität  findet  man  diesen  Satz;  noch 
kürzlich  hat  Mayet  in  dem  großen  Werke  „Die  Krankheits-  und 
Sterblichkeitsverhältnisse  in  der  Ortskrankenkasse  für  Leipzig  und 
Umgegend“  energisch  darauf  hingewiesen  —  aber  immer  wieder 
findet  man  einen  Rückfall  in  den  alten  Fehler. 

Man  ist  sich  anscheinend  oft  nicht  bewußt,  wie  bedeutend  die 
Altersunterschiede  bei  den  einzelnen  Berufsarten  sind.  Beim  Militär 
und  bei  den  Dienstboten,  bei  den  Rentiers  und  Privatiers  ist  die 
Höhe  der  Sterblichkeit  so  ersichtlich  nur  durch  die  Altersbesetzung 
bedingt,  daß  es  jedem  einleuchtet,  daß  Sterbeziffern  für  die  Gesamt¬ 
heit  dieser  Berufe  berechnet  kein  Ausdruck  der  Lebensgefährdung 
durch  dieselben  sein  können. 


Krebs  und  Beruf. 


33 


Aber  auch  bei  anderen  Berufen,  bei  denen  es  nicht  so  sehr  in 
die  Augen  fällt,  findet  man  die  Bedingtheit  der  Sterbeziffer  durch 
die  Altersgliederung.  Nach  der  deutschen  Berufszählung  von  1907 
hatten  z.  B.  von  100  männlichen  Erwerbstätigen  über  60  Jahre 


alte  Personen 

Landwirtschaft,  Gärtnerei  und  Tierzucht  12,0  Proz. 

Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  6,2  „ 

Baugewerbe  5,0  „ 

Industrie  der  Steine  und  Erden  3,6  „ 

Metallverarbeitung  3,2  „ 

polygraphisches  Gewerbe  2,4  „ 

Bergbau,  Hütten-  und  Salinenwesen  1,7  „ 


Daß  schon  allein  aus  diesem  Grunde  bei  der  Landwirtschaft 
und  bei  der  Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe  eine  ganz  erheb¬ 
lich  höhere  allgemeine  Sterblichkeit  herauszurechnen  ist,  ist  natür¬ 
lich.  Da  für  Deutschland  die  nötigen  Ziffern  nicht  zu  Gebote 
stehen,  mag  ein  Beispiel  aus  der  Schweiz  gewählt  werden.  Dort 
standen  im  Mittel  der  Jahre  1888  und  1890  von  100  Berufstätigen 


im  Alter  von 

Landwirtschaft 

Lehrer 

15—20  Jahren 

13,9 

2,9 

20-30 

20,5 

32,0 

30—40 

16,7 

26,7 

40 — 50  „ 

17,0 

18,4 

50-60 

15,8 

12,2 

60—70 

11,2 

6,5 

70  u.  mehr  „ 

4,9 

1,3 

Die  starke  Besetzung  der  höheren  Altersklassen  bei  der  Land¬ 
wirtschaft  bringt  es  mit  sich,  daß  die  Gesamtsterblichkeit  bei  derselben 
höher  ist  als  bei  den  Lehrern.  Sie  war  1879 — 1890  in  der  Schweiz 
bei  ersterer  21,2,  beim  Lehrerstand  18,9.  Es  wäre  aber  ganz  ver¬ 
fehlt,  aus  diesen  Zahlen  zu  schließen,  daß  die  Lebensbedrohung  bei 
der  Landwirtschaft  größer  wTäre  als  bei  den  Lehrern.  Tatsächlich 
ist  in  allen  Altersklassen  das  Umgekehrte  der  Fall.  Auf  1000 
Lebende  jeden  Alters  starben 


beim  Alter  von 

Landwirtschaft 

Lehrer 

15—20 

Jahren 

3,4 

5,4 

20—30 

5,5 

7,0 

30—40 

7,6 

8J 

40—50 

r, ) 

12,1 

12,7 

50—60 

V) 

21,6 

24,9 

60—70 

46,0 

64,7 

70—80 

n 

126,3 

275,0 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VIT. 


3 


F.  Prinzing, 


Werden  so  schon  bei  der  Mortalität  überhaupt  durch  die  Alters¬ 
gliederung  die  Sterbeziffern  ungemein  stark  beeinflußt,  so  muß  dies 
noch  viel  mehr  geschehen,  wenn  Krankheiten  in  Frage  kommen, 
die  gewisse  Altersklassen  fast  ausschließlich  befallen  wie  der  Krebs. 
Leider  ist  dem  fast  nirgends  in  den  neueren  krebsstatistischen 
Arbeiten  Rechnung  getragen. 

In  einer  großen  Arbeit  hat  kürzlich  Behla1)  die  Frage  nach 
dem  preußischen  Material  behandelt.  Die  preußische  Statistik  eignet 
sich  wenig  zu  Untersuchungen  über  die  Berufsmortalität,  wie  Behla 
(a.  a.  0.  S.  123)  selbst  anführt.  Die  Sterbefälle  werden  nach  einer 
großen  Anzahl  von  Berufsarten  ausgezählt,  doch  fehlt  die  Trennung 
nach  Altersklassen.  Ungemein  störend  wirkt  die  bei  den  Sterbe¬ 
fällen  so  große  Gruppe  „Lohnarbeit  wechselnder  Art“,  in  welche 
bei  der  Berufszählung  nur  wenige  Personen  eingereiht  werden; 
1907  waren  bei  der  Zählung  von  den  erwerbstätigen  Männern  0,7, 
bei  der  Erhebung  der  Sterbefälle  dagegen  4,7  Proz.  zu  dieser  Gruppe 
gezogen.  Die  Personen  derselben  gehörten  vorher  größtenteils  zu 
Industrie,  Gewerbe  und  Handel.  Außerdem  sind  der  Gruppe  „ohne 
Beruf  und  Berufsangabe“  sehr  viele  Sterbefälle  zugeteilt;  1907  ge¬ 
hörten  hierzu  unter  den  erwerbstätigen  Männern  bei  der  Zählung 
8,1  Proz.,  bei  den  Gestorbenen  dagegen  28  Proz.  Dies  hängt  damit  zu¬ 
sammen,  daß  viele  Gestorbenen  infolge  ihrer  Erkrankung  den  Beruf 
aufgeben  mußten  und  daher  beim  Tode  ohne  Beruf  waren.  Von 
den  11329  Krebstodesfällen  erwerbstätiger  Männer  im  Jahre  1907 
kamen  allein  auf  diese  zwei  unbestimmten  Gruppen: 

Lohnarbeit  wechselnder  Art  669 

Ohne  Beruf  und  Berufsangabe  2684 

zusammen  3353  =  29,6  Proz. 

Bei  der  Berufszählung  waren  nur  8,8  Proz.  zu  den  beiden 
Gruppen  gezogen,  es  fehlt  also  für  etwa  ein  Fünftel  aller  Krebs¬ 
todesfälle  der  erwerbstätigen  Männer  die  richtige  Berufsangabe. 
Nimmt  man  die  ganze  Bevölkerung,  so  wird  das  Mißverhältnis 
zwischen  Berufszählung  und  Statistik  der  Sterbefälle  noch  viel 
krasser. 

Trotz  der  Schwierigkeiten,  die  in  dem  der  Untersuchung  zu 
Gebote  stehenden  Material  liegen  und  die  nicht  beseitigt  werden 
können,  hat  es  Behla  unternommen  Zahlen  der  Krebssterblichkeit 

9  B.  Behla,  Krebs  und  Tuberkulose  in  beruflicher  Beziehung,  vom  Stand¬ 
punkt  der  vergleichenden  internationalen  Statistik.  Med.-stat.  Nachr.  1910,  Bd.  2r 
S.  114. 


Krebs  und  Beruf. 


35 


nach  dem  Beruf  in  Preußen  für  die  Jahre  1907  und  1908  zu  be¬ 
rechnen  und  dabei  sehr  bestimmte  Schlußfolgerungen  gezogen.  „Die 
Tatsache,  daß  die  Landwirtschaft  mehr  Krebs  hat  als  die  Industrie, 
sagt  er,  ist  unbestreitbar.  Als  krebsarme  Berufsgruppen  und  -arten 
treten  immer  wieder  hervor:  Bergbau,  Steine  und  Erden,  Chemie, 
Metallindustrie,  polygraphische  Gewerbe,  Versicherungsgewerbe, 
Militär  und  Marine,  Buchdrucker,  Graveure,  Schriftsetzer,  Glaser, 
Steinmetze  usw.,  dagegen  als  krebsreiche:  Landwirte,  Gärtner,  Bau¬ 
gewerbe,  Holz-,  Textil-,  Bekleidungs-,  Reinigungsindustrie,  Gast¬ 
un  d  Schankwirte,  Maurer,  Tischler,  Zimmerer,  Schmiede,  Schorn¬ 
steinfeger,  Gasarbeiter,  Heizer,  Kohlenträger,  Wirte,  Tapezierer  usw. 
Der  Einwand,  daß  für  diese  Unterschiede  nur  das  in  der  Krebs¬ 
ätiologie  so  wichtige  Alter  verantwortlich  gemacht  werden  kann, 
ist  nicht  zutreffend.“ 

Daß  dieser  Einwand  doch  zutreffend  ist,  beweist  die  Arbeit 
Kolbs,  der  dasselbe  Thema  für  Bayern  methodisch  richtig  be¬ 
handelt1).  Kolb  hat  die  Krebssterbefälle  der  Jahre  1905— 1908  in 
Bayern  nach  Berufen  ermittelt  und  die  Ziffern  auf  die  Berufszäh¬ 
lung  von  1907  bezogen,  mit  Unterscheidung  von  zehnjährigen  Alters¬ 
klassen.  Wie  in  der  preußischen  Statistik  decken  sich  auch  in 
Bayern  verschiedene  Berufspositionen  bei  der  Berufszählung  und 
bei  den  Sterbefällen  nicht.  So  kommen  auf  1362  „Fabrikarbeiter 
ohne  nähere  Bezeichnung“  374  und  auf  10569  im  „Hausdienst  und 
Lohnarbeit  wechselnder  Art“  beschäftigte  Personen  395  Sterbefälle 
an  Krebs.  Kolb  hat  sich  nun  in  der  Weise  geholfen,  daß  er  die 
in  den  Leichenscheinen  als  Fabrikarbeiter  bezeichneten  Gestorbenen 
auf  die  Berufsgruppen,  die  vorwiegend  Fabrikbetrieb  haben,  im 
Verhältnis  zur  Zahl  der  männlichen  Erwerbstätigen  verteilte.  Von 
der  Gruppe  „Hausdienst  und  Lohnarbeit  wechselnder  Art“  wurden 
die  als  Taglöhner  und  Arbeiter  bezeichneten  342  Gestorbenen  ab¬ 
getrennt  und  auf  die  Berufsgruppen  der  Gärtnerei,  der  Industrie, 
des  Handels  und  der  Gastwirtschaft  verteilt.  Mögen  dabei  auch 
einigen  Berufsgruppen  zu  wenig  oder  zu  viel  Krebssterbefälle  zu¬ 
fallen,  darin  muß  man  Kolb  sicher  recht  geben,  daß  diese  un¬ 
sicheren  Berufspositionen  der  Industrie  und  dem  Handel  zugerechnet 
werden  müssen.  Kolb  kommt  dann  zu  folgenden  Ziffern;  auf  10000 
erwerbstätige  Männer  kommen  Sterbefälle  an  Krebs  beim  Alter  von 


9  K.  Kolb,  Der  Einfluß  des  Berufs  auf  die  Häufigkeit  des  Krebses.  Zeit¬ 
schrift  f.  Krebsforschung.  Bd.  9,  1910,  S.  445. 


3* 


36 


F.  Prinzing, 


30—40  J. 

40-50  J. 

50—60  J. 

über  60  J. 

überhaupt 

Landwirtschaft  2,0 

7,7 

26,5 

83,6 

15,2 

Industrie  2,1 

10,3 

35,1 

124,7 

11,2 

Handel  3,1 

10,7 

34,2 

84,6 

15,2 

Gastwirtschaft  3,6 

17,5 

57,1 

188,4 

21,3 

Freie  Berufe  1,7 

10,2 

34,8 

137,8 

11,8 

Alle  Erwerbstätigen  2,1 

9,4 

32,2 

108,2 

14,2 

Daraus  geht  hervor,  daß  die  Landwirtschaft  die  kleinste  Krebs¬ 
sterblichkeit  hat.  Man  darf  nun  nicht  annehmen,  daß  sich  hierbei 
Bayern  anders  verhält  als  Preußen;  denn  die  Gesamtsterbeziffer 
an  Krebs  war  auch  in  Bayern  bei  der  Landwirtschaft  größer  als 
bei  der  Industrie.  Die  Ziffern  Kolb’s  zeigen  jedoch,  daß  dies  einzig 
und  allein  durch  die  stärkere  Besetzung  der  höheren  Altersklassen 
bei  der  Landwirtschaft  bedingt  ist.  Dies  gilt  zweifellos  auch  für 
alle  die  Länder,  in  denen  bei  der  letzteren  eine  höhere  Krebssterb¬ 
lichkeit  als  bei  anderen  Berufen  gefunden  wurde.  Eine  Trennung 
nach  Altersklassen  gibt  nur  noch  die  englische  Statistik  der  Berufs¬ 
sterblichkeit.1)  In  England  wird  seit  50  Jahren  im  Anschluß  an 
die  Volkszählungen,  die  alle  10  Jahre  stattfinden,  für  die  anliegen¬ 
den  Jahre  die  Sterblichkeit  nach  dem  Beruf  berechnet,  bis  1891 
nur  für  die  Berufstätigen,  1900—02  erstmals  auch  mit  Einschluß 
derer,  die  sich  vom  Berufe  zurückgezogen  haben.  Auf  10000  Be¬ 
rufsangehörige  kommen  1900 — 02  Sterbefälle  an  bösartiger  Neu- 


bildung 

beim  Alter  von 

Landwirtschaft 

alle  Männer 

25 — 35  Jahren 

0.8 

1,0 

3o — 4o  „ 

3,2 

4,0 

45 — 55  „ 

10,4 

14,5 

55-65 

27,5 

36,2 

über  65  „ 

62,9 

63,8 

Die  Tatsache  ist  demnach  sicher,  daß  bei  der  Landwirtschaft 
der  Krebs  nicht  häufiger  ist  als  bei  anderen  Berufen;  man  wird  ja 

*)  Supplement  to  the  65.  Annual  Report  of  births,  deaths  and  marriages. 
Part.  II,  London  1908.  —  Bei  der  von  Dollinger  geleiteten  Zählung  der  Krebs¬ 
kranken  in  Ungarn  wird  ebenfalls  eine  Trennung  nach  Beruf  und  Alter  für  die 
1901 — 04  an  Krebs  Gestorbeneu  vorgenommen.  Daraus  lassen  sich  aber  keine 
brauchbaren  Verhältnisziffern  berechnen,  da  bei  einem  großen  Teil  der  Gestorbenen 
von  über  7  Jahren  (1901 — 04  bei  39,7  Proz.)  die  Todesursache  nicht  ärztlich  be¬ 
zeugt  ist.  Die  Gestorbenen,  bei  denen  dies  nicht  der  Fall  ist,  wurden  nicht  mit 
einbezogen,  die  einzelnen  Berufsarten  verhalten  sich  dabei  natürlich  ganz  ver¬ 
schieden  (J.  Dollinger,  Statistik  der  Krebskranken  in  den  Ländern  der  ungar. 
h.  Krone.  Budapest  1908). 


Krebs  und  Beruf. 


37 


zugeben,  daß  auf  dem  Lande  mehr  Krebssterbefälle  der  Beobach¬ 
tung  entgehen  als  in  den  Städten,  aber  die  Unterschiede  sind  so 
bedeutend,  daß  die  kleinen  Zahlen  bei  der  Landwirtschaft  durch 
diese  übersehenen  Fälle  kaum  ausgeglichen  werden.  Daß  anderer¬ 
seits  die  Landwirtschaft  keinen  Schutz  gegen  Erkrankung  an  Krebs 
abgibt,  geht  daraus  hervor,  daß  das  Gebiet  hoher  Krebssterblichkeit, 
das  das  südliche  Deutschland  und  die  angrenzenden  schweizerischen 
und  österreichischen  Bezirke  umfaßt,  zum  großen  Teil  eine  agrarische 
Bevölkerung  hat.  Stadt  und  Land  weisen  in  diesen  Gebieten  hohe 
Zahlen  auf. 

Auch  der  Holzindustrie  schreibt  B e h  1  a  eine  hohe  Krebs¬ 
sterblichkeit  zu.  Nach  Kolb  kamen  in  Bayern  auf  10000  erwerbs¬ 
tätige  Männer  Sterbefälle  an  Krebs 


beim  Alter  von 

Holzindustrie 

Industrie  überhaupt  alle 

Erwerb 

30 — 40  J  ahren 

2,7 

2,1 

2,1 

40—50 

13,2 

10,3 

9,4 

50—60 

44,8 

35,1 

32,2 

über 60  „ 

107,5 

124,7 

108,2 

Nach  der  englischen  Statistik  ist  die  Krebssterblichkeit  nur 
bei  einem  Teil  der  in  der  Holzindustrie  Beschäftigten  höher,  bei 
den  Kunstschreinern,  bei  den  Drechslern  und  Küfern,  bei  welch 
letzteren  zugleich  der  Alkoholismus  eine  Rolle  spielt.  Auf  10000 
männliche  Berufsangehörige  kamen  in  England  1900—02  Sterbefälle 
an  bösartiger  Neubildung 


02 

1  . 

■ 

P  <D 

beim  Alter 
von 

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1  £ 
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25 

-35 

Jahren 

1,2 

35 

—45 

99 

3,9 

45 

—55 

99 

13,5 

55 

-65 

99 

35,4 

über  65 

99 

69,7 

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02 

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1,1 

1,7 

0,9 

2,8 

2,9 

3,6 

18,8 

8,4 

22,0 

40,5 

31,6 

44,9 

79,9 

68,3 

73,0 

02 

i»  i  i  H 

Wagner 

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02  S 

W  s 

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t/2  CC 

02  Ö 
•rS  N 

alle 

Männer 

1,8 

1,2 

1,0 

1,2 

3,4 

4,0 

9,7 

14,6 

14,5 

21,5 

34,4 

36,2 

63,7 

71,0 

63,8 

Die  englischen  Grundzahlen  sind  nur  für  die  Zimmerleute  und 
Schreiner  groß  genug;  bei  diesen  hat  die  Berechnung  für  1890—92 
das  gleiche  Ergebnis,  daß  die  Krebssterblichkeit  kleiner  ist  als  bei 
der  Gesamtheit.  Bei  den  übrigen  Berufen  sind  die  Erfahrungen 
von  1890 — 92  zum  Teil  andere :  so  war  sie  bei  den  Sägern  1890 — 92 
über  dem  Mittel,  während  sie  jetzt  unter  demselben  ist;  bei  den 
Kunstschreinern  ist  sie  jetzt  hoch,  1890—92  war  sie  niedrig.  Da 


38 


F.  Prinzing, 

für  die  letztere  Periode  die  Ziffern  nur  für  die  erwerbstätigen 
Männer  mitgeteilt  sind,  so  müssen  auch  1900—02  die  Zahlen  der 
letzteren  allein  zum  Vergleich  genommen  werden;  die  amtliche  Ver¬ 
öffentlichung  enthält  dieselben.  Nimmt  man  die  fünf  Berufsarten 
alle  zusammen,  so  erhält  man  große  Zahlen,  mit  denen  sich  ver¬ 
trauenswerte  Verhältnisziffern  berechnen  lassen;  nach  diesen  sind 
die  Holzarbeiter  bis  zum  65.  Lebensjahre  etwas  weniger  belastet, 
als  die  übrigen  Männer.  Daß  die  Krebssterblichkeit  der  Gesamt¬ 
heit  der  Altersklassen  bei  der  Holzindustrie  groß  sein  muß.  geht 
aus  dem  hohen  Prozentsatz  der  betagten  Personen  in  derselben 
hervor. 

Weiter  soll  nach  Belila  der  Krebs  bei  den  Gärtnern  häufig 
sein.  Nach  Kolb  ist  er  in  Bayern  bei  ihnen  etwas  häufiger,  die 
Zahlen  sind  aber  sehr  klein  (im  ganzen  53  Sterbefälle),  so  daß 
Kolb  selbst  in  seinen  weiteren  Ausführungen  nicht  näher  darauf 
eingeht.  In  England  ist  der  Krebs  bei  den  Gärtnern  selten.  Auf 
10000  männliche  Berufsangehörige  kamen  Sterbefälle  an  bösartiger 
Neubildung 


beim  Alter  von 

Gärtner 

alle  Männer 

25 — 35  Jahren 

1,3 

1,0 

35—45 

3,8 

4,0 

45 — 55  „ 

9,6 

14,5 

55 — 65  „ 

25,8 

36,2 

über  65  „ 

62,5 

63,8 

Auch  für  die  Jahre  1890—92  ergibt  sich  in  England  eine  sehr 
geringe  Krebssterblichkeit  der  Gärtner.  Nach  Lotli1)  ist  der 
Krebs  in  Erfurt  mit  seinem  ausgedehnten  Gartenbau  nicht  häufig; 
seit  Jahren  sei  dort  in  der  Betriebskrankenkasse  der  Gärtner  und 
in  den  beiden  Erfurter  Krankenhäusern  bei  Gärtnern  oder  Garten¬ 
arbeitern  kein  Krebs  beobachtet  worden. 

Für  eine  Anzahl  von  Berufen  nimmt  Behla  eine  kleine  Krebs¬ 
sterblichkeit  an.  Bei  den  Bergleuten  ist  nach  ihm  der  Krebs  selten, 
eine  Angabe,  die  auch  andererseits  gemacht  wird.  Nach  Kolb 
kamen  in  Bayern  auf  10000  erwerbstätige  Männer  Sterbefälle  an 
Krebs 


beim  Alter  von 

Bergbau 

alle  Erwerbstätigen 

30 — 40  Jahren 

1,8 

2J 

40—50 

7,3 

9,4 

50—60 

28,8 

32,2 

über  60  „ 

315,9 

108,2 

l)  Die  Krankheiten  der  Gärtner  in  Th.  Weyl’s  Handb.  d.  Arbeiterkrank¬ 
heiten.  Jena  1908,  S.  625  f. 


Krebs  und  Beruf. 


39 


Danach  ist  der  Krebs  anscheinend  nicht  häufig  bis  znm  60.  Jahre. 
Nach  diesem  ist  die  Zahl  sehr  hoch;  es  handelt  sich  dabei  um  41, 
bzw.  (nach  der  Korrektur)  um  47  Sterbefälle.  Kolb  ist  der  An¬ 
sicht,  daß  hierbei  Unstimmigkeiten  bestehen,  insofern  die  pensio¬ 
nierten  Bergleute  zu  der  Gruppe  „Ohne  Beruf“  hätten  gerechnet 
werden  müssen.  Aus  der  englischen  Statistik  ergibt  sich  ebenfalls 
eine  kleine  Krebsterblichkeit  bei  den  Bergleuten;  wie  bei  den 
anderen  Berufen  gelten  hier  die  Zahlen  auch  für  diejenigen,  welche 
nicht  mehr  erwerbstätig  sind.  Auf  10000  Berufsangehörige  kamen 
Sterbefälle  an  bösartiger  Neubildung 


beim  Alter  von 

Kohlenbergleute  d.  and.  Bergleute  alle  Bergleute 

alle  Männer 

25 — 35  Jahren 

1,1 

0,9 

1,1 

1,0 

35 — 45  „ 

3,3 

3,6 

3,3 

4,0 

45 — 55  „ 

10,4 

9,6 

10,4 

14,5 

55 — 65  „ 

28,5 

33,8 

28,9 

36,2 

über 65  „ 

54,8 

74,4 

56,4 

63,8 

In  den  Jahren  1890 — 92  war  die  Krebssterblichkeit  bei  den 
Bergleuten  ebenfalls  sehr  klein. 

Behla  und  Kolb  finden  eine  niedere  Krebssterblichkeit  bei 
der  Industrie  der  Steine  und  Erden.  Nach  Kolb  starben  in  Bayern 
auf  10000  erwerbstätige  Männer  an  Krebs 


beim  Alter  von 

Industrie  d.  Steine  u.  Erden 

alle  Erwerbstätigen 

30 — 40  Jahren 

1,3 

2,1 

40—50 

8,1 

9,4 

50—60 

27,6 

32,2 

über  60  „ 

101,7 

108,2 

Demnach  ist  allerdings  der  Krebs  bei  der  Industrie  der  Steine 
und  Erden  weniger  häufig.  Nun  sind  aber  bei  dieser  ganz  ver¬ 
schiedenartige  Gewerbebetriebe  vereinigt:  Steinhauer,  Steinbruch¬ 
arbeiter,  Gewinnung  von  Kies  und  Sand,  Zement-  und  Kalkfabriken, 
Ziegeleien,  Tonwarenfabriken,  Töpfereien,  Glasindustrie  usw.  In 
England  sind  die  Grundziffern  für  einige  dieser  Berufsarten  gegeben. 
Auf  10000  männliche  Berufsangehörige  starben  dasselbst  1900 — 02 
an  bösartiger  Neubildung 


Schiefer-, 

Ziege¬ 

Töpferei, 

Glas¬ 

Diese 

alle 

beim  Alter  von 

Steinbruch¬ 

leien 

Tonwaren¬ 

fabri¬ 

Berufe 

Männer 

arbeiter 

fabriken 

ken 

zusammen 

25 — 35  Jahren 

0,4 

1,2 

1,0 

2,0 

1,0 

1,0 

35 — 45  „ 

3,7 

3,6 

4,0 

2,3 

3,5 

4,0 

45 — 55  „ 

10,6 

15,7 

16,0 

15,3 

13,5 

14,5 

55—65  „ 

34,0 

22,0 

41,2 

40,4 

32,4 

36,2 

über 65  „ 

66,0 

63,9 

48,1 

75,0 

63,8 

63,8 

40 


F.  Prinzing, 


Die  Unterschiede  zwischen  Industrie  der  Steine  und  Erden  und 
zwischen  allen  Männern  sind  hier  nur  gering;  die  einzelnen  Berufs¬ 
zweige  verhalten  sich  verschieden,  bei  der  Kleinheit  der  Zahlen 
läßt  sich  zunächst  nichts  Endgültiges  über  dieselben  feststellen. 
Bei  der  am  zahlreichsten  besetzten  Gruppe,  den  Steinbrucharbeitern, 
die  1900—02  eine  ziemlich  unter  dem  Mittel  liegende  Krebssterb¬ 
lichkeit  haben,  war  sie  1890 — 92  sehr  über  dem  Mittel ;  die  Ziegeleien 
und  Töpfereien  usw.  verhalten  sich  in  beiden  Beobachtungsperioden 
gleich.  Nimmt  man  alle  Berufe  zusammen,  so  erhält  man  genügend 
große  Zahlen;  aus  diesen  geht  hervor,  daß  in  England  der  Krebs 
in  der  Industrie  der  Steine  und  Erden  etwas  weniger  häufig  ist, 
aber  nicht  in  dem  Maße,  daß  man  von  einem  besonderen  Schutz 
vor  Krebs  in  dieser  Berufsgruppe  reden  könnte. 

Aus  der  englischen  Statistik  sollen  noch  einige  Ziffern  mit¬ 
geteilt  werden.  Auf  10000  Berufszugehörige  kamen  1900—02  Sterbe¬ 
fälle  an  bösartiger  Neubildung 


:  -  -  ;  ■, 

25—35 

35 — 45 

45 — 55 

55 — 65 

über  65 

Geistliche,  Lehrer,  Richter,  Ärzte 

0,3 

2,9 

11,8 

32,3 

60,6 

Ladeninhaber 

0,8 

3,2 

14,1 

31,0 

61,2 

Maurer 

0,7 

3,8 

12,3  . 

32,9 

79,1 

Eisen-  und  Stahlindustrie 

0,7 

4,4 

14,6 

36,3 

83,2 

Schmiede 

1,3 

3,7 

15,3 

37,2 

68,7 

Handelsgehilfen,  Versicherung 

0,7 

3,7 

15,9 

41,3 

71,9 

Textilindustrie 

1J 

4,7 

14,8 

39,3 

84,7 

Schuhmacher 

1,1 

3,9 

15,7 

38,1 

68,0 

Bäcker 

1,1 

4,7 

14,4 

41,4 

65,7 

Metzger 

0,7 

3,3 

15,2 

45,0 

79,0 

Schneider 

0,8 

4,4 

15,5 

44,5 

71,9 

Alle  Männer 

1,0 

4,0 

14,5 

36,2 

63,8 

Die  Krebssterblichkeit  ist  danach  bei  den  gelehrten  Berufen, 
Ladeninhabern  und  Maurern  unter  dem  Mittel,  bei  der  Eisen-  und 
Stahlindustrie  und  bei  den  Schmieden  in  der  Mitte,  bei  den  Handels¬ 
gehilfen  und  bei  der  Textilindustrie  etwas  über  derselben,  auffallend 
ist  es,  daß  dies  für  die  vier  angeführten  Gewerbe  Schuhmacher, 
Bäcker,  Metzger  und  Schneider  ebenfalls  gilt.  Da  die  Beobach¬ 
tungszeit  nur  drei  Jahre  beträgt,  so  darf  darauf,  daß  die  Zahlen 
der  einzelnen  Altersklassen  bei  diesen  Berufsarten  nicht  ganz 
gleichmäßig  über  oder  unter  dem  Mittel  sind,  kein  besonderer  Wert 
gelegt  werden. 

Eines  geht  aus  der  englischen  Statistik  und  aus  derjenigen 
Kolb’s  mit  Sicherheit  hervor,  daß  die  Gewerbe,  die  mit  der  Her¬ 
stellung  und  dem  Verkauf  alkoholischer  Getränke  sich  befassen, 


Krebs  und  Beruf. 


41 


sehr  viel  Krebs  aufweisen,  aus  der  englischen  Statistik  außerdem, 
daß  dies  auch  für  alle  die  Berufe,  bei  denen  der  Alkoholismus  häufig 
ist,  gilt.  Die  Zitfern  Kolb’s  für  das  Wirtsgewerbe  sind  oben  an¬ 
geführt.  Die  Berufszweige,  die  in  England  höhere  Krebsziffern  auf¬ 
weisen  und  zugleich  so  viele  Berufszugehörige  haben,  daß  die  Zahlen 
hinreichende  Sicherheit  gewähren,  sind  in  der  folgenden  Tabelle 
angeführt.  Die  beigesetzten  Standardziffern  geben  an,  wie  hoch  die 
Krebssterblichkeit  der  einzelnen  Berufe  wäre,  wenn  sie  die  gleiche 
Altersbesetzung  hätten  wie  die  ganze  männliche  Bevölkerung,  und 
wenn  die  Krebssterblichkeit  der  letzteren  =  100  wäre. 


Gastwirte 

110 

Privatkutscher,  Pferdeknechte 

149 

Musiker 

119 

Matrosen,  Bootsleute  usw. 

154 

Ausgänger,  Dienstmänner 

119 

Bierbrauer 

175 

Gummiindustrie 

124 

Tagelöhner 

182 

Hausierer 

137 

Schornsteinfeger 

224 

Außer  bei  den  Privatkutschern  und  Arbeitern  in  Gummiwaren- 
fabriken  sind  bei  allen  diesen  Berufen  sehr  zahlreiche  Sterbefälle 
an  Alkoholismus  vorgekommen.  Wir  geben  die  Ziffern  der  Krebs¬ 
sterblichkeit  nach  Altersklassen,  sehen  dabei  aber  von  den  Hau¬ 
sierern  und  Tagelöhnern  ab,  die  zwar  sehr  hohe  Krebsziffern  haben, 
bei  denen  es  aber  doch  zweifelhaft  ist,  ob  nicht  bezüglich  der  Zu¬ 
teilung  bei  der  Zählung  und  bei  den  Sterbefällen  Ungleichheiten 
herrschen.  Auf  10000  männliche  Berufszugehörige  starben  in  Eng¬ 
land  1900 — 02  an  bösartiger  Neubildung 


25—35 

35—45 

45—55 

55—65 

über  65 

Musiker 

0,5 

7,1 

16,8 

42,1 

71,0 

Ausgänger,  Dienstmänner 

1,6 

4,3 

20,8 

38,8 

62,9 

Matrosen,  Bootsleute  usw. 

2,0 

7,5 

24,0 

51,0 

90,7 

Bierbrauer 

— 

8,4 

28,4 

62,2 

91,4 

Gastwirtschaft 

0,9 

4,2 

15,0 

44,0 

98,3 

Schornsteinfeger 

2,4 

11,7 

28,3 

83,6 

174,2 

Alle  Männer 

1,0 

4,0 

14,5 

36,2 

63,8 

Wird  die  Sterblichkeit  aller  Männer  an  Alkoholismus  =  100 
gesetzt,  so  war  sie  unter  Berücksichtigung  der  Altersverschieden¬ 
heiten  bei  den  Matrosen  usw.  163,  bei  den  Ausgängern  und  Dienst¬ 
männern  213,  bei  den  Musikern  244,  bei  den  Bierbrauern  294,  bei 
den  Schornsteinfegern  300,  beim  Gastwirtsgewerbe  700. 

Von  den  genannten  sechs  Berufen  hatten  die  Musiker,  Aus¬ 
gänger  und  Dienstmänner  1890 — 92  eine  mittlere,  die  anderen  eben¬ 
falls  eine  hohe  Krebssterblichkeit,  so  daß  von  einem  Zufallsergebnis 
hier  nicht  die  Kede  sein  kann.  Die  Grundziffern  sind  mit  Aus- 


42 


F.  Prinzing, 

nähme  der  Schornsteinfeger  bei  diesen  Berufen  zu  Verhältnisbe¬ 
rechnungen  groß  genug.  Bei  den  letzteren  war  die  Krebssterblich¬ 
keit  1890 — 92  (unter  Beschränkung  auf  die  Berufstätigen)  auf  10000 
Lebende  beim  Alter  von 

35 — 45  Jahren  12,4  55 — 65  Jahren  79,1 

45 — 55  „  53,2  über  65  „  141,6 

Die  Ziffern  der  ganzen  männlichen  Bevölkerung  waren  damals 
für  die  vier  Altersklassen  8,7,  11,8,  27,65,  45,2.  Inwieweit  hier  der 
Schornsteinfegerkrebs  mit  in  Frage  kommt,  muß  bei  dem  Mangel 
speziell  hierauf  gerichteter  Untersuchungen  zweifelhaft  bleiben. 

Das  muß  man  nach  den  vorliegenden  Zahlen  als  sicher  an¬ 
nehmen,  daß  der  Alkoholismus  die  Entstehung  des  Krebses  be¬ 
günstigt,  selbstverständlich  nur  in  der  Weise,  daß  er  in  den  ver¬ 
schiedensten  Organen,  vor  allem  im  Magendarmkanal,  chronische 
Reizzustände  schafft.  Bedauerlicherweise  fehlen  bei  dem  großen 
und  guten  englischen  Material  Untersuchungen  über  die  Lokalisation 
des  Krebses  bei  den  einzelnen  Berufs  arten. 

Kolb  hat  mit  dem  bayrischen  Material  für  1905—08  die  236 
Sterbefälle  der  Wirte  nach  den  befallenen  Organen  ausgezählt;  die 
Zahlen  sind  für  endgültige  Schlußfolgerungen  nicht  groß  genug.  Bei 
der  Krebszählung  in  Ungarn  sind  die  Sterbefälle  der  Jahre  1901 
bis  1904  in  der  Kombination  von  Beruf  und  Sitz  des  Krebses  aus¬ 
gezählt,  es  starben  in  diesen  Jahren  176  Wirte  an  Krebs.1)  Bei  je 
100  an  Krebs  gestorbenen  Personen  waren  die  folgenden  Organe 
befallen: 

Bayern  Ungarn 


Wirtsgewerbe 

alle  Männer 

Wirtsgewerbe 

alle  Männer 

Magen,  Leber,  Pankreas 

58,9 

65,7 

63,1 

62,1 

Darm 

17,8 

11,4 

9,7 

8,4 

Speiseröhre 

6,4 

2,8 

2,6 

Bauchfell 

0,8 

2J 

— 

0,1 

andere  Organe 

16,1 

16,1 

24,4 

26,8 

F.  A.  Theilhaber2)  hat  aus  dem  Jahre  1909  die  Sterbefälle 
an  Krebs  des  Magens  und  Mastdarms  in  Bayern  ausgezählt;  er 
gibt  nur  die  ganzen  Zahlen  ohne  Beziehung  auf  die  Lebenden. 
Damit  ist  nicht  viel  anzufangen.  Er  fand  viel  Mastdarmkrebs  bei 
den  Beamten,  viel  Magenkrebs  bei  der  bäuerlichen  Bevölkerung. 

1)  Dollinger,  a.  a.  0.  S.  138 ff. 

2)  Ergebnisse  der  Krebsstatistik  des  Kgr.  Bayerns.  Münch,  med.  Wocli. 
1911,  S.  409. 


m'eos  und  Beruf. 


43 


Abgesehen  von  dem  genannten  Mangel  sind  die  Zahlen  eines  Jahres 
viel  zu  klein,  so  daß  man  keine  weittragenden  Schlüsse  daraus 
ziehen  darf.  Die  ungarische  Statistik  scheint  allerdings  die  An¬ 
nahme  Theilhaber’s  zu  bestätigen.  In  den  Jahren  1901—04  war 
dort  unter  100  Krebstodesfällen  der  Sitz  des  Krebses 


Öffentlicher  Dienst, 

alle 

* 

freie  Berufe 

Männer 

Kehlkopf 

6,9 

3,3 

Lippen 

0,8 

1,5 

Mundhöhle 

2,5 

1,9 

Zunge 

5,4 

3,0 

Speiseröhre 

3,5 

2,6 

Bauchfell 

0,4 

0,1 

Magen 

34,9 

51,0 

Dickdarm 

0,6 

0,3 

Mastdarm 

4,2 

1,9 

Darm  im  allgemeinen 

9,6 

6,2 

Leber 

13,6 

10,4 

Gallenblase,  Pankreas,  Milz 

1,0 

0,7 

Blase 

4,2 

3,7 

Kopfhaut 

2,5 

3,7 

übrige  Haut 

0,6 

0,7 

anderer  Sitz 

4,9 

3.2 

Sitz  nicht  angegeben 

4,4 

5,8 

Beim  Vergleich  der  beiden  Reihen  muß  man  sich  daran  erinnern, 
daß  in  Ungarn  nur  die  Sterbefälle  gezählt  sind,  bei  welchen  die 
Todesursache  ärztlich  beglaubigt  ist.  Bei  den  Beamten  usw.  ist 
anzunehmen,  daß  sie  alle  in  ärztlicher  Behandlung  waren;  die  Krebs¬ 
sterblichkeit  ist  daher  bei  ihnen  scheinbar  viel  größer  (11,5  gegen  5,2). 

Noch  wären  die  eigentlichen  Berufskrebse  zu  erwähnen. 
Hierher  gehört  der  Schorn  stein  fege  r  krebs,  ein  Epithelial¬ 
krebs  des  Skrotums,  der  infolge  der  chronischen  Reizung  durch 
Steinkohlenruß  und  der  darin  enthaltenen  ätzenden  Stoffe  auftritt. 
Jedes  Lebensalter  wird  von  ihm  in  gleicher  Weise  bedroht.  Schon 
Hirt1)  erwähnt,  daß  er  früher  in  England  häufiger  gewesen  sei, 
in  den  70  er  Jahren  aber  nur  noch  selten  beobachtet  wurde.  J. 
Wolf  gibt  ebenfalls  an,  daß  er  heute  kaum  mehr  gesehen  werde.2) 
Nach  der  englischen  Statistik  ist  der  Krebs  bei  den  Schornstein¬ 
fegern  noch  sehr  häufig,  auch  ist  er  bei  jugendlichen  Individuen 
zahlreicher  als  bei  irgendeinem  anderen  Beruf.  Es  wäre  von 


9  Die  Krankheiten  der  Arbeiter.  2.  Abt.  Leipzig’  1878,  S.  48. 

2)  Die  Lehre  von  der  Krebskrankbeit.  Bd.  II,  1911,  S.  145. 


44 


F.  Prinzing, 


Wert  hierüber  aus  England  nähere  Aufklärung  zu  bekommen. 
Ähnliche  Krebse  werden  bei  Petroleumraffineuren,  bei  Teer-  und 
Paraffinarbeitern  auch  an  den  Händen,  Armen  und  Beinen  beo¬ 
bachtet.  Der  Krebs  entsteht  hier  auf  dem  Boden  vernacfiläßigter, 
durch  Unreinlichkeit  verschlimmerter  Ekzeme. 

Neuerdings  wurde  mehrfach  der  Röntgen  krebs  beobachtet.  Bei 
längerer  Bestrahlung  entsteht  zunächst  eine  Dermatitis ;  aus  dieser 
entwickeln  sich  Geschwüre,  die  allmählich  einen  krebsartigen 
Charakter  annehmen. 

Ob  diese  durch  äußere  Veranlassung  entstandenen  bösartigen 
Geschwürsbildungen  tatsächlich  Krebse  sind,  ist  doch  fraglich.  Dem 
histologischen  Bau  nach  sind  sie  dies  allerdings,  aber  sie  unterscheiden 
sich  dadurch,  daß  sie  keine  Metastasen  machen.  Man  hat  daraus, 
daß  Röntgenbestrahlung  unter  Umständen  Veranlassung  zur  Krebs¬ 
bildung  geben  kann,  den  Schluß  ziehen  wollen,  daß  der  Krebs  keine 
parasitäre  Erkrankung  sein  könne,  da  die  Röntgenstrahlen  direkt 
antiparasitär  wirken.  Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  die  Röntgen¬ 
bestrahlung  nur  die  Dermatitis  hervorruft  und  daß  die  Krebs¬ 
bildung  erst  lange  nach  der  Geschwürsbildung  beginnt.  Außer¬ 
dem  ist  es,  wie  eben  erwähnt  wurde,  immerhin  noch  fraglich,  ob 
es  sich  dabei  um  echtes  Karzinom  handelt. 

Endlich  wäre  noch  der  bösartigen  Blasentumoren,  die  bei  Anilin¬ 
arbeitern  beobachtet  werden,  zu  gedenken. 

Sieht  man  von  den  letztgenannten  Krebsen  ab,  die  als  eigent¬ 
liche  Berufskrebse  zu  bezeichnen  sind,  so  ist  wenig  über  den  Ein¬ 
fluß  des  Berufs  auf  die  Erkrankung  an  Krebs  bekannt.  Das  geht 
aus  unserer  Untersuchung  mit  Sicherheit  hervor,  daß  die  Krebs¬ 
sterblichkeit  bei  der  Landwirtschaft  nicht  höher  ist  als  bei  der 
übrigen  Bevölkerung,  wahrscheinlich  niederer.  Die  Bergleute  und  die 
Arbeiter  in  Steinbrüchen  haben  eine  kleine  Krebssterblichkeit.  Die 
Erwerbstätigen  bei  der  Herstellung  und  dem  Verkauf  alkoholischer 
Getränke,  überhaupt  bei  den  Berufen,  bei  denen  der  Alkoholismus 
häufig  ist,  haben  hohe  Krebszahlen.  Einen  näheren  Einblick  in 
diese  Verhältnisse  können  wir  nur  erhalten,  wenn  auch  die  Lokali¬ 
sationen  des  Krebses  mit  zur  Untersuchung  kommen.  Dabei  sprechen 
wir  den  Wunsch  aus,  daß  die  Veröffentlichung  aller  Arbeiten,  die 
dem  Verhältnis  von  Krebshäufigkeit  und  Beruf  gewidmet  sind,  unter¬ 
bleiben  möchte,  wenn  nicht  zugleich  die  Beziehung  zu  den  ver¬ 
schiedenen  Altersklassen  der  Lebenden  möglich  ist. 

Aus  dem  Vorherrschen  eines  bestimmten  Berufs  in  einem  Gebiet 
darf  auf  eine  Beeinflussung  der  Krebshäufigkeit  desselben  durch 


Krebs  und  Beruf. 


45 


diesen  Beruf  nicht  geschlossen  werden.  Da,  wo  der  Krebs  häufig 
ist,  sind  alle  Berufe  der  erhöhten  Gefahr  an  Krebs  zu  erkranken 
ausgesetzt.  Ist  in  einem  solchen  Bezirk  ein  Beruf  stark  vertreten 
und  wird  der  letztere  mit  einem  anderen  Beruf  verglichen,  der  zu¬ 
fällig  in  einem  Gebiet  kleiner  Krebssterblichkeit  ausgeübt  wird, 
so  wäre  es  ein  grober  Fehlschluß,  diese  Verschiedenheiten  der 
Krebshäufigkeit  einem  Einfluß  des  Berufs  zuzuschreiben;  nicht  dieser 
ist  hier  Ursache;  sie  liegt  vielmehr  in  jenen  Bedingungen,  die  an 
gewissen  Örtlichkeiten  die  Entstehung  des  Krebses  befördern,  die 
uns  aber  bisher  nahezu  vollständig  unbekannt  sind. 


•  • 


Uber  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Land¬ 
gemeinde  beim  Übergang  in  einen  Industrieort. 


Von  Dr.  Hanssen,  Kiel. 

Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  den  größeren  Städten  be¬ 
richten  eine  große  Zahl  von  Autoren.  Über  die  Verhältnisse  in 

•  • 

Berlin  z.  B.  Finkeistein,  Neumann  und  Tugendreich.  Uber 
Frankfurt  kürzlich  Hanaue r.  Die  Säuglingssterblichkeit  in  Dresden 
ist  durch  die  Aufsehen  erregenden  Untersuchungen  von  Mein  er  t 
ausführlich  behandelt  worden.  Meinert’s  Untersuchungen  haben 
noch  kürzlich  durch  Rietschel  eine  Würdigung  erfahren.  Die 
Säuglingssterblichkeit  in  Hamburg  erfuhr  eine  genaue  Bearbeitung 
in  der  Festgabe  zur  Naturforscherversammlung  (1901). 

Soweit  mir  bekannt  ist,  hat  kaum  jemand  die  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  in  einer  ländlichen  Gemeinde  untersucht.  Nur  Marie 
Baum  untersuchte  die  Lebensbedingungen  und  Sterblichkeit  der 
Säuglinge  in  den  Kreisen  Mors  und  Geldern.  Untersuchungen,  die 
sich  in  gewisser  Weise  mit  den  meinigen  vergleichen  lassen,  zumal 
von  den  beiden  Kreisen  der  eine  —  Geldern  —  fast  völlig  in  der 
alten  Art  verharrt  ist,  während  der  andere  —  Mörs  —  durch  Aus¬ 
breitung  der  linksrheinischen  Kohlengruben  und  die  in  deren  Ge¬ 
folge  einwandernden  Industrien  in  seiner  südlichen  Hälfte  sehr 
wesentliche  Umgestaltungen  erfahren  hat.  Landwirtschaft  und  Vieh¬ 
zucht  ernähren  in  Geldern  die  größere  Hälfte  der  Bevölkerung, 
während  in  Mörs,  wo  1895  noch  die  gleiche  Verteilung  herrschte, 
sich  diese  Verhältnisse  außerordentlich  stark  verschoben  haben. 
Dementsprechend  fand  Marie  Baum  auch  die  Säuglingssterblich¬ 
keit  in  Mörs  etwas  größer  und  stellte  in  den  letzten  Jahren  ein 
leises,  aber  anhaltendes  Steigen  fest.  Auch  zeigte  sich  im  Kreise 
Geldern  durchweg  größere  Gleichmäßigkeit  als  im  Kreise  Mörs. 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw.  47 

Ich  hielt  es  für  keine  undankbare  Aufgabe  in  einer  ländlichen 
Gemeinde  die  Säuglingssterblichkeit  festzustellen  in  einem  Ort, 
dessen  Verhältnisse  mir  sehr  genau  bekannt  waren,  da  ich  16  Jahre 
dort  als  Arzt  tätig  war.  Es  handelt  sich  um  den  Fabrikort  Läger¬ 
dorf  in  Schleswig-Holstein,  gelegen  in  der  ländlichen  Gemeinde 
Münsterdorf  bei  Itzehoe.  Die  Aufgabe  erschien  mir  um  so  lohnen¬ 
der,  als  ich  aus  den  Kirchenbüchern  die  Sterblichkeitsverhältnisse 
der  Gemeinde  bis  zum  Jahre  1764  zurückverfolgen  konnte.  Auch 
solche  Untersuchungen  der  Säuglingssterblichkeit  in  früheren  Jahr¬ 
hunderten  liegen  nur  sehr  wenige  vor.  Soweit  mir  bekannt,  nur 
aus  Breslau.  In  dieser  Stadt  sind  nach  Rietschel  die  Sterbe¬ 
register  seit  1585  fortlaufend  geführt.  In  Hamburg  gehen  die 
Register  nur  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  zurück.  Trotz¬ 
dem  manche  Angaben  fehlten,  ergab  sich  doch  über  die  Verhält¬ 
nisse  in  der  Gemeinde  Münsterdorf  ein  ziemlich  übersichtliches  Bild, 
da  die  Angaben  sich  über  einen  sehr  großen  Zeitraum  erstrecken. 
Besonders  interessant  wurden  die  Verhältnisse  dadurch,  daß  in  der 
rein  ländlichen  Gemeinde  durch  das  Auffinden  von  Kreide  in  dem 
in  der  Gemeinde  belegenen  Orte  Lägerdorf  eine  ausgesprochen  in¬ 
dustrielle  Bevölkerung  geschaffen  wurde  und  zwar  in  sehr  kurzer 
Zeit.  Durch  das  Aufblühen  der  Zementindustrie  in  Lägerdorf  er- 
erfuhr  dieser  vorher  ländliche  Ort  eine  fast  an  amerikanische  Ver¬ 
hältnisse  erinnernde  Entwicklung.  Die  Bevölkerung  wuchs  bei  dem 
Fortschreiten  der  Industrie  sehr  schnell  an  und  versechsfachte  sich 
im  Laufe  von  30  Jahren.  Das  schnelle  Wachsen  der  Bevölkerung 
kennzeichnen  am  besten  folgende  Zahlen.  Nach  den  Volkszählungs¬ 
ergebnissen  betrug  die  Einwohnerzahl  Lägerdorfs: 


1871 

696 

1875 

798 

1880 

906 

1885 

1308 

1890 

2543 

1895 

2908 

1900 

3797 

1905 

3866 

Dieses  Anwachsen  der  Bevölkerung  beruht  natürlich  zum  aller¬ 
größten  Teil  auf  Einwanderung.  Die  ursprüngliche  ländliche  ein¬ 
heimische  Bevölkerung  blieb  im  Orte  wohnen,  wandte  sich  aber 
zum  größten  Teil  ebenfalls  der  Industrie  zu  oder  übte  Gewerbe  aus 
im  Dienste  der  Zugewanderten,  wie  Handel,  Wirtschaftsgewerbe 
und  die  verschiedenen  Handwerke.  Die  große  Zahl  der  Zuge¬ 
wanderten  verschaffte  dem  Orte  bald  eine  internationale  Bevölke¬ 
rung.  Nicht  nur  wurden  in  dem  Orte  Arbeiter  aus  ganz  Deutsch¬ 
land,  besonders  aus  dem  Osten  ansässig,  auch  Italiener,  Russen  und 


48 


Haussen, 


Galizier  ließen  sich  dort  nieder.  So  entstand  eine  gemischte  In¬ 
dustriebevölkerung  mit  allen  Fehlern  und  Nachteilen  einer  solchen. 
Besonders  wurde  in  den  Zeiten  des  glänzenden  Geschäftsganges  bei 
sehr  hohen  Löhnen  der  Arbeiter  in  hohem  Maße  dem  Alkohol  ge¬ 
huldigt.  Daß  diese  Verhältnisse  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  der  Gemeinde  blieben,  will  ich  unten  näher  aus¬ 
einandersetzen. 

Um  nicht  durch  lange  Zahlenreihen  zu  ermüden,  habe  ich  die 
Säuglingssterblichkeit  von  10  zu  10  Jahren  zusammengefaßt  und 
habe  dabei  gefunden,  daß  sich  ein  sehr  gleichmäßiges  Bild  bietet 
in  dem  Zeitraum  von  1764—1869.  Die  Säuglingssterblichkeit  ist 
in  diesen  Jahren  eine  sehr  geringe  und  dabei  sehr  gleichmäßige. 


Zusammengefaßt  sind  die  Zahlen  folgende: 
Vom  Jahre  1764 — 1869. 


Jan. 

Febr. 

März 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

Aug. 

Sept. 

Okt. 

Nov. 

Dez 

50 

64 

53 

64 

61 

42 

50 

34 

35 

41 

31 

36 

Vo 

n  1870 

—1908. 

86 

96 

76 

76 

74 

81 

99 

135 

86 

83 

60 

74 

Auf  die  einzelnen  Dezennien  verteilt  sich  die  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  folgendermaßen : 


Jahr-Dezennien 

Januar 

Februar 

März 

April 

Mai 

Juni 

Juli 

August 

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Oktober 

Nov. 

Dez. 

1764—1769 

4 

7 

8 

0 

5 

0 

2 

1 

4 

4 

5 

3 

1770-1779 

4 

8 

4 

6 

5 

5 

5 

4 

4 

6 

5 

4 

1780—1789 

9 

4 

4 

10 

8 

2 

3 

6 

4 

4 

4 

1 

1790-1799 

1 

5 

10 

11 

2 

8 

5 

2 

2 

5 

2 

2 

1800—1809 

1 

10 

7 

3 

8 

7 

10 

4 

3 

4 

0 

3 

1810—1819 

10 

4 

2 

12 

2 

4 

6 

3 

2 

5 

3 

3 

1820-1829 

2 

4 

5 

3 

8 

5 

6 

2 

3 

2 

4 

3 

1830-1839 

5 

6 

5 

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3 

3 

2 

1840—1849 

1850—1859 

5 

6 

3 

6 

5 

7 

6 

5 

2 

4 

4 

5 

1860—1869 

9 

10 

5 

8 

10 

2 

7 

5 

7 

4 

1 

10 

1870—1879 

8 

16 

8 

10 

12 

10 

8 

17 

12 

15 

5 

8 

1880—1889 

16 

25 

24 

14 

6 

20 

18 

22 

15 

11 

11 

13 

1890-1899 

27 

22 

25 

18 

23 

17 

36 

51 

32 

29 

18 

25 

1900-1908 

35 

33 

19 

24 

33 

34 

37 

45 

27 

28 

26 

28 

Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


49 


Das  ändert  sich  nach  dem  Jahre  1870,  wo  die  Säuglingssterblich¬ 
keit  relativ  und  absolut  stark  ansteigt.  Es  liegt  nahe  an  einen 
Zusammenhang  dieser  Zunahme  mit  der  Entwicklung  Lägerdorfs 
zum  Industrieorte  zu  denken.  Außerdem  zeigt  sich  aber  eine  sehr 
auffallende  Tatsache.  Während  nämlich  in  den  Jahren  bis  zum 
Jahre  1870  die  Säuglingssterblichkeit  am  höchsten  in  den  5  ersten 
Monaten  des  Jahres  war  (anscheinend  sind  unter  den  ländlichen 
Verhältnissen  in  den  Winter-  und  Frühlingsmonaten  die  meisten 
Säuglinge  an  Erkältungskrankheiten  zugrunde  gegangen),  tritt  nach 
dem  Jahre  1870  die  Säuglingssterblichkeit  im  Winter  sehr  zurück 
gegen  das  Sterben  in  den  Sommermonaten,  besonders  der  August 
zeichnet  sich  jetzt  durch  eine  enorm  hohe  Sterblichkeit  aus,  die 
doppelt  so  hoch  ist,  wie  im  Winter  und  Frühling.  Wohnungsver¬ 
hältnisse  können  dabei  keine  Rolle  spielen,  denn  der  Ort  Läger-  ■ 
dorf  behielt  trotz  der  Ausdehnung  durch  die  wachsende  Bevölke¬ 
rung  durchaus  seinen  ländlichen  Charakter,  die  Arbeiter  wohnten 
in  Häusern  mit  höchstens  einem  Stockwerk,  unter  durchaus  günstigen 
Verhältnissen.  Von  einem  Zusammendrängen  in  ungünstigen  heißen 
Wohnungen  im  Sommer  konnte  keine  Rede  sein,  zumal  die  größte 
Zahl  der  Arbeiter  in  von  den  Fabriken  zur  Verfügung  gestellten 
teilweise  sehr  freundlichen  und  geräumigen  Behausungen  unterge¬ 
bracht  war.  Bei  der  Ausschaltung  von  ungünstigen  Wohnungsver¬ 
hältnissen  können  nur  Gewohnheiten,  wie  sie  einer  Industriebevöl¬ 
kerung  eigentümlich  sind,  für  die  Steigerung  der  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  herangezogen  werden.  Unter  diesen  neuen  Verhältnissen 
spielt  ganz  besonders,  das  kann  nicht  genug  betont  werden,  der 
Ersatz  der  natürlichen  Ernährung  durch  die  künstliche  eine  Rolle. 
Unter  dem  Einfluß  der  künstlichen  Ernährung  konnten  dann  alle 
ungünstigen  Faktoren,  wie  z.  B.  Steigerung  der  Geburtenzahl  und 
die  damit  verbundene  geringere  Aufmerksamkeit,  welche  dem  ein¬ 
zelnen  Kinde  gewidmet  werden  kann,  erst  zur  Wirkung  kommen. 
Weiterhin  Nachlässigkeit  und  Vergnügungssucht  sowie  das  Ent¬ 
stehen  ungünstiger  Lebensbedingungen  unter  dem  Einfluß  über¬ 
mäßigen  Alkoholgenusses  von  seiten  des  Ernährers  oder  wie  es 
mir  in  polnischen  Familien  nicht  selten  begegnet  ist,  beider  Eltern. 
Daß  diese  ungünstigen  Verhältnisse  auf  natürlich  ernährte  Kinder 
von  geringem  oder  gar  keinem  Einflüsse  sind,  hat  erst  Tugend¬ 
reich  nachgewiesen,  während  man  früher  annahm,  daß  alle  Säug¬ 
linge  durch  diese  Ungunst  der  Verhältnisse  in  Mitleidenschaft  ge¬ 
zogen  würden,  was  sicher  nicht  richtig  ist. 

In  dem  Zeiträume  bis  1870  hat  der  November  die  geringste 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  4 


50 


Hanssen, 


Sterblichkeit  mit  Bl  Todesfällen  in  105  Jahren,  die  zweitniedrigste 
der  August.  Die  höchste  Februar  und  April  mit  je  64.  In  der 
Zeit  nach  1870  steht  der  August  mit  135  Todesfällen  bei  weitem 
oben  an,  dann  folgt  der  Juli  mit  99.  Am  niedrigsten  ist  der 
November  mit  60  Todesfällen.  Es  tritt  also  in  dieser  Statistik  der 
Einfluß  der  Sommermonate  auf  die  Säuglingssterblichkeit  deutlich 
hervor,  genau  wie  in  den  Großstädten,  ohne  daß  in  einem  länd¬ 
lichen  Bezirk,  wie  hier  die  übermäßige  Erhitzung  der  Wohnung 
und  ungünstige  Wohnungsverhältnisse  als  Ursache  beschuldigt 
werden  können.  Ich  habe  nun  zum  Vergleich  mit  der  Säuglings¬ 
sterblichkeit  in  der  ländlichen  Gemeinde  Lägerdorf  die  Verhältnisse 
herangezogen,  wie  sie  die  Großstadt  Hamburg  bietet.  Die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  in  Hamburg  ist  sehr  eingehend  behandelt  in  „Die 
Gesundheits Verhältnisse  Hamburgs  im  19.  Jahrhundert“,  Festgabe 
der  73.  Versammlung  deutscher  Naturforscher  und  Ärzte.  Hamburg 
eignet  sich  wegen  der  Nähe  und  der  Ähnlichkeit  des  Klimas,  sowie 
auch  deshalb,  weil  die  Statistik  bis  zum  Jahre  1820  zurückgeht, 
ganz  besonders  zum  Vergleiche. 

Wenn  ich  zunächst  mit  der  Kurve  der  Säuglingssterblichkeit 
bis  zum  Jahre  1870  die  mittlere  Jahreskurve  der  Sterblichkeit  an 
entzündlichen  Brustkrankheiten  auf  Seite  150  vergleiche,  so  stimmt 
diese  mit  meiner  Kurve  ziemlich  gut  überein,  wenn  auch  in  Ham¬ 
burg  die  größte  Zahl  der  Todesfälle  auf  die  Monate  April  und  Mai 
fällt.  Aber  auch  in  Hamburg  sterben  sehr  viele  Säuglinge  im 
Februar  an  entzündlichen  Brustkrankheiten,  am  wenigsten  sterben 
an  diesen  Krankheiten  in  den  Sommermonaten  und  damit  stimmt 
meine  Kurve  vollkommen  überein.  Ich  glaube  dadurch  den  Beweis 
erbracht  zu  haben,  daß  vor  dem  Jahre  1870  in  Lägerdorf  die  größte 
Zahl  der  Säuglinge  an  entzündlichen  Brustkrankheiten  in  den  rauhen 
Wintermonaten  starben,  während  die  Darmkrankheiten  an  Häufig¬ 
keit  und  Gefährlichkeit  sehr  zurücktraten.  Nach  dem  Jahre  1870 
war  das  Verhältnis  gerade  umgekehrt.  Da  fiel  das  Maximum  auf 
den  August  und  ich  gehe  wohl  nicht  fehl,  wenn  ich  diese  Steige¬ 
rung  auf  Rechnung  der  Magen-  und  Darmkrankheiten  setze,  die 
nach  der  Umwandlung  der  Bevölkerung  in  eine  industrielle  aus 
den  oben  angegebenen  Gründen  sehr  viel  häufiger  geworden  waren. 
Die  Kurve  der  Säuglingssterblichkeit  nach  dem  Jahre  1870  zeigt 
nur  zwei  Gipfel,  einen  im  Februar  und  einen  im  August.  Das  ent¬ 
spricht  durchaus  der  Regel.  Die  winterliche  Hochflut  akuter  Er¬ 
krankungen  der  Atmungsorgane  ist  in  hervorragendem  Maße  mit¬ 
bedingt  durch  die  Beteiligung  der  Kinder  an  diesen  Erkrankungen. 


51 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 

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Die  Jahreskürve  der  Säuglingssterblichkeit  zeigt  dementsprechend 
einen  energischen  Anstieg  in  der  rauhen  Jahreszeit  und  wenn  dieser 
auch  hinter  dem  durch  die  Darmkatarrhe  erzeugten  Sommergipfel 
sichtlich  zurückbleibt,  so  ist  er  doch  hoch  genug,  um  den  Respira¬ 
tionskrankheiten  den  zweiten  Platz  in  der  Liste  der  Todesursachen 
zu  sichern  (vgl.  Finkeistein,  Säuglingskrankheiten,  S.  1).  Die 
Kurve  der  Säuglingssterblichkeit  nach  einzelnen  Monaten  vor  dem 
Jahre  1870  zeigt  den  Gipfel  der  Säuglingssterblichkeit  für  den 
Winter  für  den  Monat  Februar  ebenfalls;  dann  einen  zweiten  Gipfel 
für  April,  dann  fällt  sie  langsam,  außer  zwei  geringen  Erhebungen 
im  Juli  und  Oktober  bis  Ende  des  Jahres  ab.  Dieses  Fehlen  des 
Sommergipfels  finden  wir  noch  jetzt  in  England,  z.  B.  Manchester. 
Keller  (Säuglingsfürsorge  und  Kinderschutz  in  England  und  Schott¬ 
land)  führt  dies  auf  einen  Einfluß  des  Klimas  zurück.  Nach 
Hanauer  (Säuglingssterblichkeit  in  Frankfurt  a.  M.)  waren  um 
das  Jahr  1850  herum  auch  in  Frankfurt  die  Monate  April  und  Mai 
die  ungesundesten  Monate  des  Jahres,  einen  Sommergipfel  kannte 
man  auch  damals  in  Frankfurt  nicht,  dieser  findet  sich  aber  nach 
Gottstein  (Beiträge  zur  Geschichte  der  Kindersterblichkeit,  Medi¬ 
zinische  Reform  1906  Nr.  5)  bereits  im  17.  Jahrhundert  in  Breslau 
er  schließt  daraus,  daß  schon  damals  die  künstliche  Ernährung  sehr 
floriert  haben  muß. 

Eine  tiefe  Senkung  zeigt  jetzt  der  November,  fast  ebenso 
günstig  stehen  März  und  Januar  dar.  Nach  dem  Jahre  1870  ist 
bis  1900  die  Säuglingssterblichkeit  stets  ungünstiger  geworden,  be¬ 
sonders  im  Monat  August.  Nach  1900  ist  dann  eine  geringe  Besse¬ 
rung  eingetreten,  wie  sie  auch  an  anderen  Orten  in  Deutsch¬ 
land  beobachtet  wurde.  Nach  1870  ist  bis  1900  der  Augustgipfel 
immer  steiler  geworden.  Von  1900  an  ist  dagegen  der  Wintergipfel 
wieder  gestiegen,  der  1890 — 1899  niedrig  war.  Vor  dem  Jahre  1870 
sind  dann  unter  den  ländlichen  Verhältnissen  im  Orte  ganz  andere 
Bedingungen  eingetreten  tür  die  Sterblichkeit  der  Säuglinge,  wie 
zu  der  Zeit  der  industriellen  Blüte.  Dieses  Verhalten  stellt  die 
Kurve  I  dar  in  der  unteren  Reihe.  Würde  ich  für  die  einzelnen 
Jahrzehnte  vor  1870  ebenfalls  Einzelkurven  angelegt  haben,  so 
würde  man  den  allmählichen  Abfall  des  Augustgipfels  und  dement¬ 
sprechend  das  Steigen  des  Wintergipfels  ebensogut  verfolgen 
können,  wie  in  der  Tafel  II  das  umgekehrte  Verhalten  nach  1870. 

In  einer  zweiten  Kurve  habe  ich  die  vier  Jahrzehnte  von 
1870  an  noch  gesondert  dargestellt.  Aus  diesen  vier  Kurven  er¬ 
gibt  sich,  daß  die  Jahre  1890—1899,  die  Jahre  der  Hochkonjunktur 

4* 


52  •  Hanssen, 

der  Zementindustrie ,  fast  allein  den  hohen  Augustgipfel  bewirkt 

haben  ( - gezeichnet).  Der  Wintergipfel  in  diesem  Jahrzehnte  fällt 

auf  den  Monat  Januar,  ein  weniger  hoher  auf  März  und  Dezember. 


In  den  Jahren  1900 — 1908  ist  der  Augustgipfel  ebenfalls  noch  vor¬ 
handen,  aber  lange  nicht  so  steil,  wie  in  dem  Jahrzehnt  vorher. 
Der  Wintergipfel  im  Januar  ist  fast  ebenso  hoch;  der  März  ist  der 
günstigste  Monat  in  bezug  auf  die  Säuglingssterblichkeit.  Die 
Jahre  1880 — 1889  zeigen  schon  eine  recht  gleichmäßige  Kurve.  Ein 
Augustgipfel  ist  zwar  noch  vorhanden,  doch  ist  schon  der  Winter¬ 
gipfel  im  Februar  höher.  Am  günstigten  ist  die  Mortalität  im 
Monat  Mai.  Die  Kurve  des  Jahrzehnts  1870 — 1879  hat  einen  sehr 
gleichmäßigen  Verlauf.  (Durch  einen  dicken  Strich  bezeichnet, 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


53 


während  die  Kurve  von  1880—1889  durch  einen  dünnen  Strich 
angegeben  wird.)  Der  Augustgipfel  ist  deutlich  und  der  höchste 
von  allen  Monaten,  dann  erfolgt  der  Höhe  nach  eine  Erhebung  im 
Februar,  Mai  und  Oktober.  Diese  Monate  stehen  ungefähr  gleich 


hoch.  Betrachtet  man  die  umstehende  Tabelle  (Nr.  III)  der 
Geburten  und  Sterbefälle,  so  ergeben  sich  manche  auffallende  Tat¬ 
sachen.  In  den  Jahren  von  1764—1779  ist  auffallend  die  große 
Zahl  der  Totgeborenen.  Es  steht  auch  im  Kirchenbuch  bemerkt 
bei  dem  Jahr  1772 :  unter  den  30  Toten  sind  wieder  4  totgeborene 
Kinder.  Bis  zum  Jahr  1820  ist  die  Zahl  der  Sterbefälle  meist 
so  groß  wie  die  der  Geborenen ;  das  hatte  verschiedene  Ur¬ 
sachen,  so  war  das  Jahr  1773  ein  Masernjahr.  Von  1780—1789 
war  die  Zahl  der  Sterbefälle  höher  als  die  Zahl  der  Geburten, 
denn  das  Jahr  1785  war  ein  Blatternjahr.  1788  herrschten 
die  Frieseln  (daher  die  große  Sterblichkeit  von  72  Säuglingen  in 
diesem  Jahrzehnt.  Im  Jahr  1799  herrschten  anscheinend  viele 
Darmkatarrhe).  Das  Jahr  1800  war  wieder  ein  Blattern jahr,  es 
starben  an  dieser  Krankheit  allein  7  Personen.  Auch  1801  hielten 
die  Blattern  noch  an;  von  1800  —  1809  war  die  Zahl  der  Gestorbenen 
fast  so  groß  wie  die  der  Geborenen.  Von  1810—1819  war  die  Zahl 


Hanssen 


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Uber  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


55 


der  Sterbefälle  sogar  wieder  größer,  als  die  Zahl  der  Geburten. 
Von  da  an  übertrifft  die  Zahl  der  Geburten  die  der  Gestorbenen. 
Von  1850—1859  übertrifft  die  Zahl  der  Geburten  die  der  Gestor¬ 
benen  annähernd  um  das  Doppelte.  Von  1870—1879  steigt  die  Zahl 
der  Todesfälle  wieder  an,  besonders  unter  dem  Einfluß  des  Jahres 
1873,  das  ein  Keuchlmstenjahr  war.  Es  starben  einmal  7  Kinder 
innerhalb  3  Monaten  an  dieser  Krankheit.  Auch  1880— 1889  war 
die  Sterblichkeit  wieder  ziemlich  hoch,  denn  1884  herrschte  eine 
Masernepidemie.  1885  wieder  Keuchhusten.  Wie  mörderisch  die 
Masern  in  Lägerdorf  auftreten  können,  habe  ich  selber  noch  be- 


2400 


2000 


1600 


1200 


800 


400 

Fälle 


Kurve  über  die  Zahl  der  Sterbefälle  (erste  Reihe). 

Darunter  Säuglinge  (zweite  Reihe). 
Darunter  Totgeborene  (dritte  Reihe). 
Zahl  der  Geburten  (vierte  Reihe)  in  den  einzelnen  Jahrzehnten. 

Kurve  III. 


■ 

□ 

Q 


obachtet,  da  in  einer  Epidemie  über  40  Kinder,  an  den  Komplika¬ 
tionen  der  Masern  zugrunde  gingen.  Die  meisten  an  einem  sehr 
akut  verlaufenden  Croup,  der  sich  an  eine  Stomatitis  aphthosa  an¬ 
schloß,  daneben  starben  auch  viele  Kinder  an  Lungenentzündung, 
so  allein  in  einer  Familie  3  vorher  ganz  gesunde  und  kräftige 
Kinder,  teilweise  schon  im  schulpflichtigen  Alter.  Diese  Epidemie 
war  von  Essen  aus  eingeschleppt.  Vom  Jahre  1890  an  steigt  die 
Zahl  der  Geburten  sehr  beträchtlich  an  und:  übertrifft  in  den  letzten 
Jahren  die  Zahl  der  Gestorbenen  um  das  Doppelte.  Als  besonders 


56 


Hanssen, 


interessant  erwähne  ich  noch  die  im  Jahre  1878  erfolgte  Geburt 
von  Fünflingen  bei  dem  Schuhmacher  Kay  —  ich  kann  diese  Tat¬ 
sache  auf  Grund  der  urkundlichen  Eintragung  in  das  Kirchenbuch 
bestätigen.  Die  Kinder  starben  alle  kurze  Zeit  nach  der  Geburt. 
1889  wurden  Vierlinge  angezeigt,  die  alle  totgeboren  waren.  Eine 
Übersicht  der  Zahl  der  Todesfälle  in  der  ganzen  Gemeinde  Münster¬ 
dorf,  die  Totgeborenen,  die  Todesfälle  der  Säuglinge,  die  Zahl  der 
Geburten,  darunter  der  Unehelichen  ergibt  Tabelle  V.  Von  1901 
an,  sind  die  Zahlen  auch  für  den  Industrieort  Lägerdorf  allein  an¬ 
gegeben.  Die  Säuglingssterblichkeit  in  Läger dorf  ist  beständig 
etwas  höher,  als  in  der  ganzen  übrigen  Gemeinde.  Daß  sie  in  der 
zum  größten  Teil  ländlichen  Gemeinde  nicht  erheblich  geringer 
war,  als  in  dem  Industrieort  Lägerdorf,  kommt  daher,  daß  in  den 
Zeiten  der  Blüte  der  Zementindustrie  die  Industriearbeiter  sich 
auch  in  den  umliegenden  Dörfern  (Münsterdorf  und  Dägeling)  an¬ 
siedelten  und  die  Säuglingssterblichkeit  dadurch  auch  in  diesen 
Orten  ungünstig  beeinflußt  wurde. 

Die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  war  in  dem  Industrieorte 
größer  als  in  der  Gemeinde  als  ganzer,  z.  B.  1908 — 11  auf  168  in 
Lägerdorf.  In  der  ganzen  Gemeinde  nur  14  auf  233  Geburten. 

Was  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  betrifft,  so  ist  dieselbe 
nach  der  Festschrift  des  König!,  preußischen  statistischen  Bureaus 
(1905  S.  29)  für  unsere  Provinz  folgende:  unter  1000  Geborenen 
waren  unehelich 

1875 — 1900  in  den  Städten  —  110 
auf  dem  Lande  —  81 

Von  1000  Lebendgeborenen  bei  den  ehelichen  141  Mortalität 

bei  den  unehelichen  298  „ 

Meine  Zahlen  sind  folgende: 

Die  unehelichen  Geburten  waren  unter  den  ländlichen  Verhält- 
nissen  ziemlich  niedrige.  In  den  ersten  sechs  Jahren  (1764 — 1769) 
nur  3  auf  276  Geburten.  Um  1800  etwa  25  auf  380.  Später  sogar 
nur  1860 — 1869  39  auf  722.  In  den  Zeiten  der  Hochkonjunktur 
der  Industrie  dagegen  105  uneheliche  Geburten  auf  2452  Geburten 
überhaupt.  Vergleicht  man  damit  die  Kieler  Verhältnisse,  so  be¬ 
trug  in  Kiel  der  Prozentsatz  der  unehelichen  Geburten 

1906  15,51 

1907  14,51 

1908  14,92 

Die  unehelichen  Geburten  haben  also  in  Kiel  in  geringem 
Grade  abgenommen. 


Übersicht  über  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten,  Totgeborenen  und  die  Säuglingssterblichkeit  in  der 
Gemeinde  Münsterdorf  überhaupt  und  in  dem  Industrieort  Lägerdorf  gesondert. 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw.  57 


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2543 

2908 

3797 

3866 

Jahr 

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4031 

4315 

5544 

5837 

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« 


58  Haussen, 

Was  den  Einfluß  der  Lolmverhältnisse  auf  die  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  anbetrifft,  so  gelang  es  mir,  einen  Einfluß  derselben  auf 
die  Sterblichkeit  festzustellen.  Die  Lolmverhältnisse  der  Arbeiter 
ergeben  sich  in  den  einzelnen  Jahren  aus  der  beifolgenden  Liste, 
der  durchschnittliche  Tagelohn  war  mit  2,956  M.  im  Jahre  1894 
am  niedrigsten.  Im  Jahre  1895  war  die  Säuglingssterblichkeit  mit 


47  Fällen  im  Jahr  hoch  und  zeigte  eine  Kurve  nach  oben;  sie  fiel 
1896,  als  die  Lohnverhältnisse  bessere  wurden.  Von  1895—1899 
besserten  sich  die  Lohnverhältnisse  langsam,  indem  der  durchschnitt¬ 
liche  Tagelohn  auf  3,457  anstieg.  Die  Säuglingssterblichkeit  stieg 
langsam  vom  Jahre  1896  an,  hielt  sich  aber  in  mäßigen  Grenzen. 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw.  59 


Vom  Jahre  1899  fiel  der  Tagelohn  bis  1902  auf  3,123  M.  Die 
Säuglingssterblichkeit  stieg  sehr  steil  an  bis  auf  72  Fälle  im  Jahr 
1901,  fiel  dann  langsam  ab  bis  1907  wo  sie  niedriger  war,  als  1895. 
Der  Lohn  stieg  dann  bis  1907,  sehr  schnell  an  auf  3,907  M.  In 
diesem  Jahre  des  höchsten  Tagelohnes  war  die  Säuglingssterblich¬ 
keit  seit  1898  mit  45  Fällen  im  Jahr  am  niedrigsten. 

Der  Tagelohn  fiel  dann  bis  zum  Jahre  1909  auf  3,669  M.  Die 
Kurve  der  Säuglingssterblichkeit  machte  einen  leichten  Anstieg. 


Auf  100 
Lebendgeborene 
starben  in  der 
Gemeinde 
Säuglinge 

Totgeborene 

Uneheliche 

Geburten 

darunter 

Geburten 
in  der 
Gemeinde 

Jahr 

\ 

Durch¬ 

schnittlicher 

Tageslohn 

25,0 

53 

15 

184 

1893 

3,208 

18,94 

50 

17 

227 

94 

2,956 

23,93  1 

53 

15 

198 

95 

3,061 

14,65 

44 

10 

191 

96 

3,176 

13,17 

43 

8 

213 

97 

3,265 

14,01 

49 

11 

214 

98 

3,339 

15,57 

46 

9 

204 

99 

3,457 

25,47 

83 

8 

263 

1900 

3,241 

27,48 

63 

9 

272 

01  ^ 

3,207 

17,80 

62 

11 

267 

02 

3,123 

20,57 

53 

16 

277 

03 

3,183 

19,80 

63 

8 

248 

04 

3,225 

23,20 

54 

7 

237 

05 

3,326 

23,52 

45 

14 

221 

06 

3,523 

19,82 

58 

17 

227 

07 

3,907 

21,03 

42 

14 

233 

08 

3,607 

— 

— 

— 

09 

3,669 

— 

— 

— 

10 

Was  den  Einfluß  der  Lohnverhältnisse  auf  den  Alkoholver¬ 
brauch  der  Bevölkerung  betrifft,  so  konnte  ich  mit  größter  Sicher¬ 
heit  nach  weisen,  daß  er  am  höchsten  war  im  Jahre  des  höchsten 
Lohnes.  Er  betrug  84000  Liter  Branntwein  bei  einer  Bevölkerungs¬ 
zahl  von  etwa  4000  Einwohnern,  dazu  kamen  noch  2570  hl  Bier. 

Als  der  Lohn  im  Jahr  1910  niedriger  geworden  war,  fiel  der 
Alkoholverbrauch  auf  74000  1,  der  Bierkonsum  auf  2410  hl.  Im 
Vergleich  dazu  betrug  1899  der  Alkoholkonsum  bei  einem  Lohn 
von  3,457  M.  65000  1,  der  Bierkonsum  2330  hl.  Die  Bevölkerungs¬ 
zahl  betrug  ungefähr  3800  Einwohner.  Der  Einfluß  der  Lohnver¬ 
hältnisse  auf  die  Säuglingssterblichkeit  ist  natürlich  schwer  fest¬ 
zustellen  und  auch  in  meiner  Statistik  vielleicht  ein  zufälliger,  da 
schlechte  Lohnverhältnisse  doch  oft  erst  nach  1—2  Jahren  ihren 


60  Hanssen, 

Einfluß  auf  die  Lebenshaltung  geltend  machen.  Ein  gewisser  Zu¬ 
sammenhang  scheint  aber  doch  zu  bestehen. 


Jahr 

hl 

Bier¬ 

konsum 

1 

Brannt¬ 

wein 

darunter 

Eigen¬ 

tums¬ 

vergehen 

davon 

gericht¬ 

liche 

Be¬ 

strafung 

darunter 

wegen 

Eigentums¬ 

vergehen 

Zahl  der 
polizeilichen 
Anzeigen 

Jahr 

1893 

1620 

38  000 

_ 

_ 

80 

1893 

— 

— 

— 

!  - 

— 

_ 

66 

94 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

102 

95 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

112 

96 

— 

— 

— 

— 

'  - 

— 

107 

97 

'*  - 

— 

— 

— 

— 

— 

106 

98 

1899 

2330 

65  000 

— 

— 

— 

161 

99 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

155 

1900 

— 

— 

— 

— 

- - 

— 

129 

01 

— 

— 

— 

13 

50 

38 

95 

02 

— 

— 

— 

28 

90 

46 

127 

03 

— 

•  - 

— 

17 

71 

37 

90 

04 

— 

— 

— 

22 

68 

48 

122 

05 

— 

— 

— 

17 

60 

52 

140 

06 

1907 

2570 

84  000 

25 

81 

50 

133 

07 

— 

— 

— 

39 

106 

80 

128 

08 

— 

— 

— 

30 

88 

52 

136 

09 

1910 

2410 

74  000 

22 

70 

70 

141 

10 

Marie  Baum  konnte  den  Einfluß  günstiger  wirtschaftlicher 
Lage  sowohl  bei  Brust-  wie  bei  Flaschenkindern  beobachten,  bei 
letzteren  jedoch  in  unverhältnismäßig  größerem  Maße.  Im  Kreise 
Geldern  zeigte  sich  für  die  ehelichen  künstlich  genährten  Kinder, 
deren  Väter  ein  Einkommen  von  weniger  als  1500  M.  besaßen,  eine 
Sterblichkeit  von  16,7  Proz.,  bei  denen,  deren  Väter  mehr  als  1500  M. 
versteuerten  von  5,7  Proz.  Im  Kreise  Mors  dagegen  waren  die 
Sterblichkeitsziffern  der  künstlich  genährten  fast  die  gleichen,  ob 
der  Vater  ein  höheres  oder  niedriges  Einkommen  aufzuweisen  hatte, 
und  zwar  fand  sich  das  gleiche  Verhältnis,  sowohl  bei  den  Kindern 
des  ersten  wie  des  zweiten,  dritten  und  vierten  Vierteljahres. 
Marie  Baum  gibt  im  allgemeinen  an,  daß  mit  dem  wachsenden 
Wohlstand  immer  häufiger  zur  unnatürlichen  Ernährung  gegriffen 
wird. 

Meiner  Ansicht  nach  wirkt  die  Lohnhöhe  nur  dann  auf  die 
Säuglingssterblichkeit  günstig  ein,  wenn  es  sich  um  Eltern  von 
moralischem  Hochstande  handelt,  wenn  es  sich  aber  um  Eltern 
handelt,  die  moralisch  tief  stehen,  wird  oft  gerade  der  hohe  Lohn 
zum  Alkoholmißbrauch  auffordern  und  anstatt  nützlich  zu  wirken, 
der  günstigen  Lebenshaltung  einer  Arbeiterfamilie  im  Wege  stehen. 


Uber  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


61 


Dagegen  gelang  es  mir  einen  deutlichen  Zusammenhang  der 
Zahl  der  Bestrafungen  und  der  Säuglingssterblichkeit  festzustellen. 
Die  Säuglingssterblichkeit  stieg  vom  Jahre  1896—1900  sehr  steil 
an,  ebenso  die  Zahl  der  Bestrafungen  vom  Jahre  1894  mit  66  Fällen 
auf  161  und  155  Fälle  in  den  Jahren  1899  und  1900.  —  Von  da 
an  nahm  die  Zahl  der  Betrafungen  bis  1904  ab;  in  diesem  Jahre 
war  die  Zahl  derjenigen  der  Bestraften  nur  90.  In  demselben  Jahr 
war  auch  die  Zahl  der  gestorbenen  Säuglinge  mit  49  Todesfällen 
ziemlich  niedrig.  Vom  Jahre  1905  an  nahm  die  Kriminalität  der 
Bevölkerung  wieder  zu  und  auch  die  Säuglingssterblichkeit  zeigte 
wieder  leichte  Zacken  nach  oben.  Die  Kriminalität  stieg  übrigens 
auffallend  der  Höhe  der  Löhne  entsprechend.  Im  Jahre  1894,  in 
welchem  der  niedrigste  Tagelohn  gezahlt  wurde,  war  die  Krimi¬ 
nalität  mit  90  Fällen  bei  weitem  am  niedrigsten.  1899,  als  der 
Lohn  einen  Anstieg  auf  3,457  M.  zeigte,  war  die  Kriminalität  mit 
161  Fällen  am  höchsten.  Als  1907  der  Tageslohn  auf  fast  4  M. 
gestiegen  war,  zeigte  auch  die  Kriminalität  einen  steilen  Anstieg,  der 
allerdings  nicht  die  Höhe  des  Gipfels  von  1899  erreichte.  Dieses 
Ansteigen  und  Fallen  der  Kriminalität  entsprechend  dem  Ansteigen 
und  Fallen  des  durchschnittlichen  Tagelohnes  hängt  mit  ziemlicher 
Sicherheit  mit  der  großen  Zahl  der  Vergehen  zusammen,  die  unter 
dem  Einfluß  des  Alkohols  begangen  werden,  besonders  also  Be¬ 
drohung  und  Körperverletzung.  Je  mehr  also  die  Höhe  des  Tage¬ 
lohnes  zum  Mißbrauch  des  Alkohols  auffordert,  um  so  mehr  solcher 
Vergehen  werden  verübt  werden. 

Vielleicht  spielt  auch  das  Verhalten  des  Milchverkehrs 
eine  Ko  Ile.  Unter  den  rein  ländlichen  Verhältnissen  wurde  die 
Milch  meist  direkt  von  der  Kuh  an  die  Konsumenten  abgegeben. 
Nach  dem  Anwachsen  der  Bevölkerung  kamen  auch  Milchwagen 
in  den  Verkehr,  welche  die  Milch  erst  nach  einem  längeren  Trans¬ 
port  von  auswärts  an  die  Konsumenten  verabfolgen  konnten. 

Flügge  (Aufgaben  und  Leistungen  der  Milchsterilisierung, 
Zeitschrift  für  Hygiene  Bd.  17  S.  262)  betont  diesen  Unterschied 
in  der  Milchversorgung  zwischen  Dörfern  und  Städten  sehr  und 
mißt  ihm  große  Bedeutung  bei.  In  einer  saub er en  Ar b eit er- 
wohnungwird  auch  nicht  ganz  einwandfreie  Milch  bei 
zweckmäßiger  Behandlung  nicht  schlechter,  während 
auch  gute  Milch  in  den  Händen  einer  unsauberen  und  nachlässigen 
Mutter  für  das  Kind  gefährlich  werden  kann. 

Mir  ist  es  nicht  gelungen,  einen  Unterschied  in  der  Milchver- 


62> 


Hanssen, 


sorgung,  ob  Milchwagen  oder  direkte  Abgabe  von  der  Kuh  an  die 
Familien,  in  bezug  auf  die  Säuglingssterblichkeit  festzustellen. 

Es  erübrigt  sich  noch,  den  Einfluß  der  Wärme  der  Sommer¬ 
monate  auf  die  Säuglingssterblichkeit  festzustellen.  Wenn  Meiner t 
für  Dresden  (Säuglingssterblichkeit  und  Wohnungsfrage)  angibt, 
daß  während  der  heißen  Jahreszeit  gegenüber  der  Cholera  infantum 
sich  auch  die  minderwertigen  Wohnungen  gefahrenfrei  erwiesen, 
wenn  sie  in  freistehende  Häuser  eingebaut  waren  (Haus’mann’s 
Wohnungen),  so  kann  ich  diese  Ansicht  nicht  bestätigen,  denn  in 
Lägerdorf  war  auch  kein  einziges  Wohnhaus  der  Arbeiter  nicht 
freistehend.  Keine  geschlossene  Straße  war  vorhanden,  auch  nicht, 
als  sich  die  Industriearbeiter  in  dem  Ort  angesiedelt  hatten.  Trotz 
der  Industrialisierung  der  Bevölkerung  des  Ortes  war  die  Bebauung 
eine  durchaus  ländliche  geblieben,  da  genügend  Bauland  vorhanden 
war,  um  auch  für  die  größer  gewordene  Bevölkerung  genügend  ländlich 
freistehende  Wohnhäuser  zu  schaffen.  Trotzdem  in  dieser  Beziehung 
der  ländliche  Charakter  des  Ortes  gewahrt  blieb,  starben  unter 
den  industriellen  Verhältnissen  eine  sehr  große  Zahl  von  Kindern 
und  zwar  genau  wie  in  den  Großstädten  im  August,  nicht  wie  vor¬ 
her  unter  den  ländlichen  Verhältnissen  die  meisten  Säuglinge  an 
Erkältungskrankheiten  im  Winter. 

Die  Monate  der  größten  Säuglingssterblichkeit  in  den  ver¬ 
schiedenen  Sommern  der  letzten  20  Jahre  ergeben  sich  aus  folgen¬ 
der  Tabelle. 


Jahr 

Juli 

August 

. 

September 

1891 

9 

1893 

— 

- . 

8 

1894 

— 

9 

— 

1900 

— 

8 

— 

1901 

7 

10 

8 

1903 

12 

5 

— 

Es  hatte  also  die  höchste  Säuglingssterblichkeit  der  Juli  1903. 
Dabei  hatte  er  nur  ein  Monatsmittel  der  Temperatur  von  16,5 0  C 
(nach  Mitteilung  der  Kaiserl.  Seewarte  in  Hamburg)  und  gehörte 
nicht  zu  den  acht  heißesten  Monaten  Juli  in  diesen  20  Jahren. 
Der  wärmste  Monat  war  der  Juli  1901  mit  einer  mittleren  Tem¬ 
peratur  von  19,3  °.  Die  Säuglingssterblichkeit  war  mit  7  Fällen 
im  Monat  wohl  hoch,  aber  doch  nicht  so  hoch  wie  1903.  Der 
zweitheißeste  Juli  war  im  Jahre  1900.  Die  Säuglingssterblichkeit 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


63 


mit  vier  Fällen  niedrig-.  1894  und  1899  .stellt  der  Juli  mit  18,3° 
an  dritter  Stelle.  Die  Säuglingssterblichkeit  betrug  in  beiden 
Jahren  sechs  Fälle,  war  zwar  mittelhoch,  aber  niedriger,  als  in 
anderen  Jahren.  Der  wärmste  August  mit  18,2 0  im  Mittel  war 
der  des  Jahres  1897.  Die  Säuglingssterblichkeit  war  mit  4  Fällen 
niedrig.  Der  zweitwärmste  August  im  Jahr  1898  (17,9 0  C).  Die 
Säuglingssterblichkeit  mit  5  Fällen  nur  mittelgroß.  Der  wärmste 
September.  1895  (15,5  °) ,  die  Säuglingssterblichkeit  betrug  nur 
3  Fälle.  Der  zweitwärmste  September  war  der  des  Jahres  1891 
(14,9°),  die  Säuglingssterblichkeit  war  mit  4  Fällen  kaum  mittel¬ 
hoch.  Dagegen  starben  im  September  1893  und  1901  je  acht 
Säuglinge.  Daüei  war  die  Temperatur  des  September  1901  die 
dritte  in  der  Reihe  der  September  mit  14,6°.  Der  September  1893 
aber  mit  12,4°  unter  dem  Mittel. 


Die  wärmsten  Monate.  1891—1910. 


In  Celsius. 


1901 

1900 

1894 

1899 

1905 

1908 

1896 

1904 


!  Juli  19,3° 

1897  S  August  18,2 0 

1895  ; 

Juli  18,4° 

1898 

August  17,9  0 

1891 

Juli  18,3° 
Juli  18,3° 

1892 

August  17,4  0 

1901 

Juli  18,1° 

1893 

August  17,2  0 

1898 

Juli  17,9° 

1906 

August  17,1  0 

1900 

Juli  17,5° 

1895 

August  17,0° 

1903 

Juli  17,5° 

1901 

August  17,0° 

September  15,5  9 
September  14,9° 

September  14,6° 

September  14,5° 
September  14,8° 

September  14,2  0 


Ich  kann  auf  Grund  meiner  Untersuchung  keinen  Einfluß  der 
Temperatur  im  Sommer  nachweisen,  soweit  sie  aus  dem  Monats¬ 
mittel  berechnet  ist  und  ich  kann  den  Rat  Finkeistein ’s  ver¬ 
stehen,  die  Tageskurve  anstatt  dessen  in  Betracht  zu  ziehen.  Ich 
bezweifle  allerdings,  daß  ich  auch  bei  diesem  Vorgehen  greifbare 
Resultate  erzielt  hätte. 

Ich  fasse  die  Resultate  meiner  Untersuchungen  zusammen: 

In  einer  vorher  ländlichen  Gemeinde  sind  nach 
dem  Entstehen  einer  Industriebevölkerung  die  vor  - 
her  normalen  Sterblichkeitsverhältnisse  der  Säug¬ 
linge,  mit  einem  geringenWintergipfel,  ganz  andere 
geworden:  Es  ist  ein  typischer  hoher  Sommergipfel 
entstanden,  dieser  ist  weder  durch  Witterungs-,  noch 
durch  Wohnungsverhältnisse  bedingt.  Die  Wohnungs¬ 
verhältnisse  waren  vor  1868  wie  nachher  genau  dieselben;  keine 
Reihenhäuser,  sondern  Hausmannswohnungen.  Dieser  Sommergipfel 
der  Säuglingssterblichkeit  ist  an  erster  Stelle  durch  das  Aufgeben 
der  natürlichen  Ernährung  entstanden,  dann  durch  die  Nachlässig- 


64 


Hanssen, 


keit  und  Gleichgültigkeit,  mit  welcher  in  Industriearbeiterkreisen 
Kinder  erzeugt  und  aufgezogen  werden..  Oft  fehlen  unseren  jung¬ 
heiratenden  Arbeitern  und  Arbeiterinnen  die  Mittel  und  Erfahrung, 
für  ihre  Nachkommen  zu  sorgen.  Je  kinderreicher  eine  Familie 
ist,  desto  mehr  Kinder  sterben  in  derselben.  Ich  habe  diese  Er¬ 
fahrung  oft  gemacht;  so  könnte  ich  verschiedene  solcher  Familien 
angeben,  in  welchen  der  Reihe  nach  Säuglinge  starben.  (Vgl. 
St  ölte,  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde,  Februar  1911.)  Meist 
konnte  ich  in  solchen  Fällen  den  Alkoholmißbrauch 
des  Ernährers  als  Ursache  nachweisen.  Eine  heredi¬ 
täre  Belastung  war  nach  meinen  Erfahrungen  als 
Hausarzt  nicht  vorhanden.  Die  Trunksucht  des  Ernährers 
und  die  dadurch  bedingte  mangelhafte  Lebenshaltung  bewirkte  oft 
bei  der  Ehefrau  eine  gewisse  Nachlässigkeit  und  Gleichgültigkeit. 
Oft  war  das  Verhalten  aber  auch  umgekehrt,  indem  eine  schmutzige, 
untüchtige  Hausfrau  den  vorher  ordentlichen  Mann  ins  Wirtshaus 
trieb.  In  solchen  Fällen  würde  die  Statistik  versagen.  Die  Statistik 
würde  (vgl.  Li efm an n)  einen  hohen  Lohn  des  Ernährers  ergeben, 
wo  tatsächlich  durch  das  Potatorium  desselben  die  Ernährungsver¬ 
hältnisse  seiner  Familie  mangelhafte  waren.  Vergleiche  auch  die 
Tabellen  XII  und  XI  bei  Dr.  Marie  Baum,  (Ernährungsstand 
der  ehelichen  Säuglinge  nach  dem  Einkommen  des  Vaters,  Zeit¬ 
schrift  für  Säuglingsfürsorge,  Bd.  IV,  1910). 

Ein  Einfluß  der  Lohnverhältnisse  auf  die  Säuglingssterblichkeit 
scheint  vorhanden  zu  sein,  je  höherderLohn,destoge  ringer 
die  Säuglingssterblichkeit.  Leider  gilt  aber  auch  die  Regel : 
Je  höher  der  Lohn,  desto  größer  der  Alkoholver¬ 
brauch.  Für  die  arbeitende  Klasse  und  das  Gedeihen  ihrer 
Familie  scheint  ein  mittelhoher  Lohn  der  günstigste  zu  sein. 

Die  mehr  oder  minder  große  Vergnügungssucht  der 
Mütter  scheint  ohne  Einfluß  auf  die  Säuglingssterblichkeit  zu  sein. 

Die  Kriminalität  der  arbeitenden  Bevölkerung  scheint  in  einem 
Zusammenhang  mit  der  Säuglingssterblichkeit  zu  stehen:  je  mehr 
Bestrafungen,  desto  höher  dieSäuglingssterblichkeit. 

Die  Wärme  des  Sommers  hat  nach  meiner  Statistik 
keinen  Einfluß  auf  die  Säuglingssterblichkeit  in  einem  länd¬ 
lichen  Orte. 

Zum  Schlüsse  meiner  Arbeit  kann  ich  es  mir  nicht  versagen, 

• » 

folgenden  Herren  für  ihre  Unterstützung  und  Überlassung  von 
Material  meinen  Dank  auszusprechen:  Dem  Königl.  Landrate  des 


Über  die  Säuglingssterblichkeit  in  einer  Landgemeinde  usw. 


65 


Kreises  Steinburg,  Herrn  Pahlke  zu  Itzehoe,  Herrn  Pastor 
Herrn b erg  in  Münsterdorf,  Herrn  Hauptlehrer  Hansen,  Herrn 
Gemeindevorsteher  Schilling  und  Herrn  Prokurist  Lange  in 
Lägerdorf.  Der  Kaiserl.  Seewarte  und  dem  physikalischen  Institut 
in  Kiel  bin  ich  ebenfalls  zu  Dank  verpflichtet. 

Herrn  Dr.  Eff ler  in  Danzig  danke  ich  ganz  besonders  für 
die  zahlreichen  Ratschläge  bei  der  Fertigstellung  meiner  Arbeit. 

Literaturangabe. 

Baum,  Marie.  Lebensbedingungen  und  Sterblichkeit  der  Säuglinge  in  den 
Kreisen  Mörs  und  Geldern.  Zeitschr.  f.  Säuglingsfürsorge.  Bd.  IV,  1910. 
Dieselbe.  Ernährungszustand  der  ehelichen  Säuglinge  nach  dem  Einkommen 
des  Vaters.  Zeitschr.  f.  Säuglingsfürsorge.  Bd.  IV,  1910. 

Einkelstein.  Lehrbuch  der  Säuglingskrankheiten.  S.  1. 

Flügge.  Aufgaben  und  Leistungen  der  Milchsterilisierung.  Zeitschr.  f.  Hygiene. 
Bd.  17,  S.  262. 

Gesundheitsverhältnisse.  —  Die  G.  Hamburgs  im  19.  Jahrhundert.  Hamburg  1901. 
Gottstein.  Beiträge  zur  Geschichte  der  Kindersterblichkeit.  Medizinische 
Reform  1906,  Nr.  5. 

Hanauer.  Säuglingssterblichkeit  in  Frankfurt  a.  M.  Ergebnisse  der  Säuglings¬ 
fürsorge.  Heft  VII. 

Keller.  Säuglingsfürsorge  und  Kinderschutz  in  England  und  Schottland.  Er¬ 
gebnisse  der  Säuglingsfürsorge.  Heft  XI. 

Lief  mann.  Die  Bedeutung  sozialer  Momente  für  die  Säuglingssterblichkeit. 
Zeitschr.  f.  Hygiene.  Bd.  LXII,  1908. 

Meinert.  Säuglingssterblichkeit  und  Wohnungsfrage.  Archiv  f.  Kinderheil¬ 
kunde.  XLIV,  Heft  1/3. 

Reich ,  das  Deutsche  —  in  gesundheitlicher  und  demographischer  Beziehung. 

Festschr.  des  K.  Gesundheitsamts  und  K.  statistischen  Amts.  Berlin  1907. 
Rietschel.  Sommersterblichkeit  der  Säuglinge.  Ergebnisse  der  inneren  Medizin 
und  Kinderheilkunde.  Bd.  VI,  S.  375. 

Stolze.  Über  das  frühzeitige  Sterben  zahlreicher  Kinder  einer  Familie.  Jahr¬ 
buch  für  Kinderheilkunde.  Februar  1911,  S.  164. 

Tagendreich.  Mutter-  und  Säuglingsfürsorge,  Handbuch  der  — . 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


5 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 

Von  Gewerbeinspektor  ScHULTZE-Fulda. 

(Mit  6  Abbildungen.) 

Einen  Überblick  über  die  Gefährdungen  durch  nitrose  Gase 
geben  die  Jahresberichte  der  Königlich  Preußischen  Regierungs¬ 
und  Gewerberäte.  Besondere  Mitteilungen  über  Erkrankungen  sind 
in  folgenden  Berichten  enthalten:  1897  S.  352;  1899  S.  124;  1901 
S.  54;  1909  S.  81;  zahlreiche  Todesfälle  sind  mitgeteilt:  1895  S.  106, 
122  und  136;  1896  S.  81;  1897  S.  114;  1899  S.  161;  1901  S.  54; 
1903  S.  67,  433;  1906  S.  200  und  375;  1907  S.  100;  1908  S.  94. 

Der  in  dem  Jahresbericht  1897  S.  114  mitgeteilte  Unfall  hat, 
wie  später  gezeigt  wird,  ein  besonderes  Interesse.  Die  Mitteilung 
darüber  lautet:  Leider  ist  über  Unfälle  zu  berichten,  welche  zwar 
nicht  Fabrikarbeiter,  aber  eine  große  Zahl  von  Feuerwehrleuten 
betroffen  haben,  die  beim  Löschen  eines  Fabrikbrandes  nitrose  Gase 
einatmeten.  Die  chemische  Fabrik  auf  Aktien  stellte  auf  ihrem  in 
Berlin,  Fennstraße,  gelegenen  Grundstück  in  den  Grenzen  der  ihr 
erteilten  Konzession  Kollodium  dar  und  benötigte  zu  dieser  Fabri¬ 
kation  größerer  Mengen  Salpetersäure,  welche  sie  in  den  üblichen 
Glasballons  von  außerhalb  bezog.  Der  Schuppen,  in  welchem  die 
Ballons  aufbewahrt  wurden,  geriet  zu  einer  Zeit,  in  der  nicht  mehr 
gearbeitet  wurde,  in  Brand.  Der  Ausbruch  des  Feuers  ist  sehr 
wahrscheinlich  auf  das  Zerspringen  eines  Säureballons  zurück¬ 
zuführen.  Die  aus  dem  Ballon  aussickernde  Säure  setzte  infolge 
der  starken  Oxydations wärme  das  Verpackungsstroh  und  das  Ge¬ 
flecht  des  Korbes,  in  dem  der  Ballon  verpackt  war,  in  Brand.  In¬ 
folge  des  Brandes  zersprangen  noch  andere  Ballons.  Die  aus  ihnen 
fließende  Salpetersäure  vergaste  bei  der  Hitze  und  wurde  von  den 
zum  Löschen  herbeigeeilten  Feuerwehrleuten  eingeatmet.  Es  er- 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


67 


krankten  3  Offiziere,  57  Oberfeuerwehrmänner  und  Feuerwehrmänner, 
von  denen  1  Oberfeuerwehrmann  nach  6  Stunden  starb.  Viele 
andere  waren  lange  Zeit  krank  und  dienstunfähig.  Der  behandelnde 
Arzt  ist  zu  der  Ansicht  gekommen,  daß  die  eingeatmeten  nitrosen 
Gase  infolge  einer  Blutzersetzung  Störungen  des  Zentralnerven¬ 
systems  hervorrufen,  also  wie  Vergiftungen  wirken,  welche  unter 
Umständen  einen  schnellen  Tod  herbeifuhren.  Um  ähnlichen  Un¬ 
fällen  in  der  an  anderer  Stelle  inzwischen  errichteten  Fabrikanlage 
vorzubeugen,  werden  die  Säureballons  jetzt  unter  einem  nach  allen 
Seiten  offenen  Schuppen,  nicht  in  einem  geschlossenen  Raume  oder 
gar  in  einem  Keller  aufbewahrt.  Die  Ballons  stehen  auf  einem 
Rost,  welcher  über  einem  geneigten,  betonierten  Fußboden  liegt. 
Der  Fußboden  hat  Gefälle  nach  einem  tieferliegenden  Graben,  dessen 
Inhalt  so  bemessen  ist,  daß  er  die  ganze  Menge  der  gelagerten 
Säure  fassen  kann  und  noch  eine  Verdünnung  der  Säure  durch 
Wasser  gestattet.  Die  einzelnen  Reihen  von  Säureballons  sollen 
durch  zwischengestellte  Eisenbleche  voneinander  getrennt  werden, 
damit  ein  Brand  sich  nicht  leicht  über  das  ganze  Lager  ausbreiten 
kann. 

Besonders  erwähnenswert  sind  ferner  drei  tödliche  Vergiftungs¬ 
fälle  aus  den  Jahren  1907  und  1908,  weil  an  ihnen  eine  gericht¬ 
liche  Sektion  vorgenommen  wurde.  Holtz  mann  -Karlsruhe  be¬ 
richtet  darüber: 

1.  Fall.  In  einem  Kellerraume  befanden  sich  fünf  große 
eiserne  Fässer  eines  Gemischs  von  Schwefelsäure  und  Salpetersäure. 
Eines  Morgens  wurde  bemerkt,  daß  eines  der  Fässer  undicht  ge¬ 
worden  war.  Die  Direktion  ließ  die  vorhandenen  Rauchmasken 
herbeiholen  und  wollte  die  Säure  herauspumpen  lassen.  Zur  Mon¬ 
tierung  der  Pumpe  stiegen  zwei  Schlosser  in  den  Keller  und  ver¬ 
weilten  dort  ungefähr  25  Minuten.  Zum  Schutze  gegen  die  Dämpfe 
hielten  sie  sich  Putzwolle  und  das  Taschentuch  vor,  die  Maske 
hatten  sie  sich  nicht  aufgesetzt.  Der  eine  Schlosser  erkrankte  nur 
leicht  an  Husten,  während  der  andere  noch  am  selben  Abend  an 
schwerer  Atemnot  starb.  Die  Sektion  ergibt  eine  starke  Schwellung 
der  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  und  der  Stimmbänder.  Die  Liga¬ 
menta  ary-epiglottica  sind  polsterartig  vorgetrieben.  Der  obere 
Teil  der  Luftröhre  ist  entzündet.  Der  Unterlappen  der  linken 
Lunge  fühlt  sich  etwas  fester  als  rechts  und  enthält  etwas  reich¬ 
licher  Blut,  die  Lungen  sind  durchweg  noch  lufthaltig.  Von  einer 
Verfärbung  des  Blutes  ist  nichts  bemerkt.  Der  Verstorbene  wird 
als  untersetzter,  dicker  Mann  bezeichnet.  Er  war  38  Jahre  alt. 

5* 


68 


Schultz  e, 


Die  beiden  anderen  Arbeiter  waren  in  der  Nitrierlialle  be¬ 
schäftigt.  woselbst  das  Nitriergut  der  Nitrierflüssigkeit  (Schwefel¬ 
und  Salpetersäure)  zugegeben  wird,  die  längere  Zeit  darauf  ein  wirkt. 

2.  Fall.  Ein  Arbeiter  war  am  27.  Mai  in  die  Fabrik  einge¬ 
treten,  schon  nach  wenigen  Stunden  klagte  er  über  Brustschmerzen 
und  Schwindel,  am  29.  Mai  starb  er.  Von  ihm  ist  bekannt,  daß 
er  schon  vorher  an  Lungenerweiterung  und  chronischer  Bronchitis 
gelitten  hat.  Er  war  43  Jahre  alt. 

Die  Sektion  ergibt  Blähung  und  Vergrößerung  der  Lungen 
nebst  starkem  Blutgehalt.  Das  Lungengewebe  ist  sehr  saftreich, 
auf  Druck  entleert  sich  schleimige  Flüssigkeit.  Die  Bronchien  und 
Bronchiolen  sind  bis  in  die  feinsten  Äste  hinein  mit  Schleim  und 
Eiter  verstopft.  Die  Luftröhrenschleimhaut  ist  entzündet,  ebenso 
die  Magenschleimhaut,  was  jedenfalls  durch  Verschlucken  säure¬ 
haltigen  Speichels  verursacht  war.  Erwähnt  wird  besonders  die 
auffallend  schwärzliche  Färbung  des  Blutes  in  den  großen  Gefäßen 
und  die  stark  braune  Färbung  der  Organe. 

3.  Fall.  Ein  anderer  Arbeiter  war  am  15.  Juli  in  die  Fabrik 
eingetreten  und  ist  am  16.  Juli  nachmittags  gestorben,  nachdem  er 
nur  3  Stunden  dort  gearbeitet  hatte.  Er  war  40  Jahre  alt  und 
soll  bereits  vorher  krank  gewesen  sein.  Die  Sektion  ergibt  starke 
Rötung  und  Schwellung  des  Kehldeckels,  des  Kehlkopfes  und  der 
Luftröhre  bis  hinein  in  die  kleinsten  Verzweigungen.  Die  Lungen 
sind  groß  und  rot,  aus  beiden  Lungen  entleert  sich  schaumige 
Flüssigkeit  in  sehr  großer  Menge.  Die  übrigen  Organe  sind  braun¬ 
rot,  das  Blut  dunkelrot,  fast  schwärzlich.  Erwähnt  sei  noch,  daß 
die  Patienten  bei  der  Aufnahme  ins  Hospital  öfter  eine  gelbliche 
Verfärbung  des  Bartes,  der  Augenbrauen,  des  Zahnfleisches  und 
der  Zähne  zeigen,  die  auf  Bildung  Xantroproteinsäure  zurück¬ 
zuführen  sei. 

Von  den  bei  den  gerichtlichen  Erhebungen  vernommenen  Meistern 
und  Mitarbeitern  wurde  besonders  angegeben,  daß  während  der 
ganzen  Zeit  der  Beschäftigung  der  beiden  verstorbenen  Säurearbeiter 
kein  Topf  „gebrannt“  habe.  Mit  dieser  Bezeichnung  belegen  die 
Arbeiter  das  Entweichen  der  rotbraunen  untersalpetersauren  Dämpfe, 
auf  deren  Gefährlichkeit  jeder  Arbeiter  bei  seinem  Eintritte  hin¬ 
gewiesen  wird  mit  der  Anweisung,  beim  etwaigen  Auftreten  dieser 
Dämpfe  sofort  die  Halle  zu  verlassen.  Die  Fälle  zeigen  also,  daß 
nicht  nur  diese  Dämpfe,  die  ja  schon  durch  ihre  Sichtbarkeit  warnen, 
gefährlich  werden  können. 

Im  ersten  hier  aufgeführten  Falle  ist  der  Tod  auf  die  heftig 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


69 


entzündliche  Schwellung  des  Kehlkopfes  der  Stimmbänder  und  der 
oberen  Luftwege,  hervorgerufen  durch  den  ätzenden  Reiz  der  Säure, 
zurückzuführen.  Eine  Alteration  der  Lunge  hatte  erst  begonnen, 
Veränderungen  im  Blute  waren  noch  nicht  wahrzunehmen.  In  den 
beiden  letzten  Fällen  war  der  Tod  durch  Lungenödem  verursacht. 
Dabei  war  aber  bereits  eine  Alteration  des  Blutes  nachweisbar. 
Die  dunkle  Blutfärbung  ist  nach  Schmieden  ein  konstanter  Befund, 
der  freilich  spektroskopisch  noch  nicht  genügend  geklärt  ist. 

Eine  bedeutende  Unkenntnis  herrscht  bei  den  Unternehmern, 
Betriebsbeamten  und  Arbeitern  auch  über  die  Vergiftungsgefahren 
durch  Verschütten  der  Salpetersäure.  Diese  Gefahren  sind  durch 
die  Unüberlegtheit  der  Arbeiter  oft  bis  zur  Lebensgefahr  gesteigert. 
Die  Arbeiter  suchen  die  verschüttete  Säure  durch  Sägemehl  oder 
Sägespäne  aufzusaugen.  Bei  Anwesenheit  dieser  organischen  Stoffe 
geht  nach  Holtzmann  die  Salpetersäure  Zersetzungen  in  ihren 
niedrigen  Oxydationsstufen  ein,  in  salpetrige  Säure  (NOaH), 
Untersalpetersäure  und  Stickoxyd  (NO).  Die  Untersalpetersäure 
ist  aufgelöst  in  der  sogenannten  rauchenden  Salpetersäure  vorhanden. 
Sie  bildet  wegen  ihrer  Giftigkeit  die  so  gefürchteten  braunroten 
Dämpfe.  Im  Augenblick  der  Einatmung  wird  aus  der  Untersalpeter¬ 
säure  durch  das  Hinzukommen  von  Wasser  salpetrige  Säure.  Erstere 
ist  als  das  eigentliche  schädliche  Agens  anzusehen.  Wie  häufig 
die  so  hervorgerufenen  Todesfälle  sind,  hat  die  Berufsgenossenschaft 
der  chemischen  Industrie  nachgewiesen.  Von  32  Todesfällen  durch 
Vergiftungen  infolge  Einatmung  nitroser  Gase  entfielen  13,  also 
mehr  als  ein  Drittel,  auf  die  Beseitigung  verschütteter  oder  aus¬ 
gelaufener  Salpetersäure. 

Zwei  hierfür  besonders  charakteristische  Todesfälle  aus  dem 
Jahre  1910  teilt  der  Gewerbeinspektor  Ulrichs -Köln  mit: 

1.  Eine  galvanische  Anstalt  wurde  verlegt.  Eine  aus  der  alten 
Anlage  mitgenommene  Korbflasche  mit  etwa  30  Liter  Salpetersäure 
wurde  vorübergehend  im  ersten  Stocke  der  neuen  Anlage  auf  den 
mit  Zementbelag  versehenen  Fußboden  gestellt.  Da  sie  bei  der  Auf¬ 
stellung  von  Apparaten  im  Wege  stand,  wurde  sie  von  einem  Lehr¬ 
ling  an  eine  andere  Stelle  gebracht,  wobei  sie  wahrscheinlich  in¬ 
folge  zu  heftigen  Aufsetzens  auf  den  Fußboden  zerbrach.  Ein 
Arbeiter,  der  schon  länger  in  galvanischen  Anstalten  und  Metall¬ 
brennereien  tätig  war,  gab  den  Rat,  man  solle  Sägemehl,  das  ja 
in  galvanischen  Anstalten  immer  vorrätig  ist,  über  die  ausgelaufene 
Salpetersäure  streuen,  um  Beschädigungen  des  Fußbodens  und  des 
darunter  befindlichen  Arbeitsraumes  zu  vermeiden.  Das  Sägemehl 


70 


Schnitze, 


wurde  auch  über  die  Salpetersäure  gestreut  und  dann  von  dem 
Lehrling  und  einem  33  Jahre  alten,  anscheinend  kräftigen,  gesunden 
Arbeiter  sorgfältig  zusammengekehrt  und  auf  den  Hof  geschafft. 

r  Der  Lehrling  wurde  schon  während  der  Arbeit  von  Übelkeit 
befallen,  erholte  sich  aber  bald  wieder.  Der  erwachsene  Arbeiter 
war  am  selben  Tage  noch  5  Stunden  im  Betriebe  tätig,  ohne  Be¬ 
schwerden  zu  haben,  erkrankte  aber  am  Abend  und  starb  am 
folgenden  Tage  infolge  der  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 

2.  In  einer  Walzenfabrik  wird  Salpetersäure  zum  Ätzen  von 
Stahlwalzen  benutzt.  Die  Säure  wurde  früher  in  Korbflaschen  von 
etwa  50  Liter  Inhalt  bezogen  und  in  einem  Keller  gelagert,  dessen 
Fußboden  aus  gestampfter  Erde  besteht.  In  einer  durch  einen 
Lattenverschlag  getrennten  Nebenabteilung  des  Kellers  wurde  der 
Ölvorrat  in  Fässern  aufbewahrt.  Am  Tage  des  Unfalls  sollten 
5  Korbflaschen  von  2  Arbeitern  über  die  etwas  steile  Treppe  in 
den  Keller  getragen  werden.  Dem  vorn  gehenden,  schon  von  früher 
her  als  unzuverlässig  bekannten  Arbeiter  war  das  Tragen  zu  un¬ 
bequem,  er  zog  die  einzelnen  Korbflaschen  hinter  sich  her  die  Treppe 
herab.  Infolge  dieser  leichtsinnigen  Beförderung  zerbrach  eine 
Flasche  und  ihr  Inhalt  ergoß  sich  in  den  Keller. 

Der  sofort  herbeigerufene  kaufmännisch  gebildete  Teilinhaber 
der  Fabrik  (der  technisch  gebildete  Teilinhaber  war  verreist)  ließ 
Sägespäne  aus  der  Tischlerei  der  Fabrik  auf  den  mit  Säure  ge¬ 
tränkten  Fußboden  des  Kellers  streuen,  und  als  keine  Späne  mehr 
vorhanden  waren,  Müll  und  Asche  aufschütten.  Inzwischen  fing 
ein  von  der  Salpetersäure  getroffenes  Holzgestell  an  zu  brennen. 
Erst  jetzt  kam  man  auf  den  richtigen  Gedanken,  Wasser  in  den 
Keller  zu  schütten.  Nachdem  das  Feuer  erstickt  war,  glaubte  der 
Teilhaber,  die  Feuersgefahr  von  dem  Öllager  am  besten  dadurch 
abzuhalten,  daß  er  das  Gemisch  von  Säure  und  Spänen,  Asche  und 
Wasser  aus  dem  Keller  tragen  ließ.  An  diesen  Arbeiten,  die  etwa 
2  Stunden  in  Anspruch  nahmen,  beteiligten  sich  der  Teilhaber  und 
7  Arbeitnehmer.  Diese  Personen  wurden  zum  Teil  sofort,  zum 
Teile  erst  nach  einigen  Stunden  von  Übelkeit,  Brustschmerzen  und 
Atemnot  befallen.  Keiner  hielt  es  aber  für  nötig,  sofort  ärztliche 
Hilfe  in  Anspruch  zu  nehmen.  In  der  folgenden  Nacht  starben  der 
Teilhaber  und  ein  Arbeiter,  und  im  Laufe  der  nächsten  Woche 
zwei  weitere  Arbeiter,  letztere  trotz  Krankenhausbehandlung.  Ferner 
mußten  von  den  an  den  Aufräumungsarbeiten  beteiligten  Personen 
1  Meister  und  3  Arbeiter  die  Arbeit  bis  zu  einer  Woche  aussetzen, 
ohne  jedoch  dauernden  Schaden  zu  erleiden.  Der  Nachtwächter 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


71 


der  Fabrik  hatte  in  der  auf  den  Unfall  folgenden  Nacht  den  Keller 
mehrmals  betreten,  um  sich  zu  überzeugen,  ob  die  Feuersgefahr 
beseitigt  sei.  Erst  2  Tage  später  stellten  sich  bei  ihm  Hals¬ 
schmerzen  ein ;  trotz  Krankenhausbehandlung  starb  er  nach  2  Wochen. 
Hier  war  aber  die  Einatmung  der  nitrosen  Gase  wahrscheinlich 
nicht  die  einzige  Ursache  des  Todes,  da  der  Nachtwächter  bereits 
Invalide  war.  Wiederholt  wurden  in  anderen  Betrieben  Arbeiter, 
die  seit  Jahren  Salpetersäure  verwenden,  gefragt,  was  sie  beim 
Auslaufen  von  Salpetersäure  tun  würden.  In  der  Regel  antworteten 
sie,  sie  würden  Späne  oder  Sägemehl  darauf  streuen.  Nur  selten 
dachten  sie  daran,  die  Säure  mit  Wasser  zu  verdünnen  und  fort¬ 
zuspülen. 

Die  schädliche  Wirkung  der  nitrosen  Gase  auf  den  mensch¬ 
lichen  Körper  schildert  Holtzmann: 

Bei  Prüfung  der  Frage,  wie  die  Schädigung  des  Körpers 
durch  die  Einatmung  dieser  giftigen  Gase  zustande  kommt,  stehen 
sich  2  Anschauungen  gegenüber.  Die  einen  nehmen  eine  lokale 
Reizung  durch  die  Säure  an  und  bezeichnen  die  stets  gefundene 
entzündliche  Schwellung  der  oberen  Luftwege  und  der  Bronchien 
als  die  eigentliche  Ursache  der  Erkrankung,  die  unter  den  Er¬ 
scheinungen  des  Lungenödems  häutig  zum  Tode  führt.  Andere 
nehmen  eine  entfernte  Ursache  an,  eine  Allgemeinvergiftung  des 
Blutes  durch  die  in  den  Lungen  absorbierten  giftigen  Gase. 

Eulenberg  in  seiner  Monographie  über  die  schädlichen  und 
giftigen  Gase  gibt  an,  daß  die  salpetrigsauren  Dämpfe  schnell  in 
das  Blut  übertreten  und  durch  Veränderung  der  Blutbeschaffenheit 
zur  eigentlichen  Todesursache  werden.  Ähnlich  spricht  sich 
Heinzerling  in  Weyl’s  Handbuch  der  Hygiene  aus.  Auch  Roth 
gibt  an,  daß  die  salpetrige  Säure  durch  Methämoglobinbildung 
(Methämoglobin  ist  das  erste  Zersetzungsprodukt  des  normalen 
Sauerstoffhämoglobins)  und  Wirkung  auf  das  Zentralnervensystem 
tödlich  wirke.  Aus  den  Veröffentlichungen  der  letzten  Jahre  wäre 
hier  der  Fall  von  Künne  zu  erwähnen,  der  von  einer  Massen¬ 
vergiftung  durch  Dämpfe  aus  geplatzten  Ballons  rauchender  Salpeter¬ 
säure  berichtet  und  ausdrücklich  betont,  daß  die  Veränderung  der 
Blutbeschaffenheit  das  wesentliche  Moment  bei  der  Vergiftung  bilde, 
während  die  entzündliche  Affektion  der  Bronchien  den  geringsten 
Anteil  daran  habe. 

Auch  Manouvrier,  der  Vergiftungen  durch  Erhitzung  eines 
Düngemittels  beschreibt,  das  aus  einer  Mischung  von  Salpeter, 
schwefelhaltiger  Braunkohle  und  Wollab fällen  bestand,  spricht  von 


72  Schnitze, 

einer  vollständigen  Durchdringung  des  Blutes  durch  die  Säure¬ 
dämpfe,  die  zur  Todesursache  werde. 

Demgegenüber  betont  schon  Lewin  in  seinem  Lehrbuche, 
daß  die  Aufnahme  der  salpetrigsauren  Dämpfe  in  das  Blut  nur  in 
geringem  Maße  statthabe.  Kunkel  spricht  die  entzündliche 
Schwellung  der  Bronchien  bis  in  die  feinsten  Verzweigungen  hinein 
als  die  primäre  Todesursache  an,  die  eine  wässerige  Durchtränkung 
der  Lunge  (Lungenödem)  hervorrufe  und  zum  Erstickungstode 
führe.  Schmieden  berichtet  über  den  Fall  eines  Arbeiters,  der 
in  die  ausgelaufene  Flüssigkeit  eines  geplatzten  Salpetersäureballons 
Sägespäne  ausstreute.  Hierdurch  kam  es  zu  einer  stürmischen 
Entwicklung  von  salpetriger  Säure.  Der  Tod  trat  durch  Lungen¬ 
ödem  ein.  Konkel  veröffentlicht  einen  ähnlichen  Fall.  Auf 
Grund  seiner  Tierversuche  spricht  er  sich  dahin  aus,  daß  die 
salpetrige  Säure  lokal  auf  die  Lungen  ohne  erhebliche  Allgemein¬ 
vergiftung  wirke.  Die  entzündliche  Schwellung  verhindert  den 
normalen  Gasaustausch  des  Blutes  in  den  Lungen,  das  Blut  gerinnt 
in  den  kleinen  Gefäßen  (thrombosiert),  hierdurch  treten  wieder 
Rückstauungen  im  ganzen  Körper  auf,  es  kommt  zur  Exsudation 
(Durchtritt  des  Blutserums  durch  die  Gefäße),  die  ihrerseits  wieder 
die  Atemnot  erhöht  und  so  zum  Erstickungstode  führt.  Diese  Er¬ 
fahrungen  am  Menschen  scheinen  auch  die  durch  Tierexperiment 
gewonnenen  Resultate  Lassar’s  zu  bestätigen;  er  führt  aus,  daß 
die  Salpetersäure  zu  den  wirklich  irrespirablen  Gasen  gehöre  (d.  h. 
daß  sie  nicht  von  dem  Körperkreislauf  aufgenommen  werde),  da 
sie  in  den  Harnausscheidungen  nicht  nachweisbar  sei. 

Vielfach,  auch  in  den  Fällen  von  Künne,  wird  darauf  hin¬ 
gewiesen,  daß  zwischen  der  Zeit  der  Einatmung  der  Dämpfe,  wobei 
sich  Husten  und  Beengungsgefühle  einstellen,  die  aber  bald  ver¬ 
schwinden,  und  dem  Einsetzen  schwerer  Krankheitssymptome  ein 
mehrstündiges  freies  Intervall  läge,  während  dessen  die  Patienten 
sich  völlig  wohl  fühlten.  Dies  war  in  unseren  Fällen  nicht  einwand¬ 
frei  nachzuweisen,  da  die  Leute  bis  zum  Auftreten  schwerer  Reiz¬ 
erscheinungen  in  der  säuregeschwängerten  Atmosphäre  arbeiten. 
Wohl  aber  wurde  mir  über  diese  Erscheinung  von  einer  anderen 
chemischen  Fabrik  berichtet,  die  sich  mit  der  Herstellung  von 
Salpetersäure  befaßt.  Beim  Platzen  eines  Säureballons  treten  bei 
den  dort  arbeitenden  Leuten  erst  nach  Stunden,  wenn  sie  zu  Hause 
sind,  Krankheitserscheinungen  auf.  Todesfälle  sind  nicht  vorge¬ 
kommen.  Vielleicht  hängt  diese  Späterkrankung  mit  der  Blut¬ 
alteration  zusammen. 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


73 


Nach  dem  Befand  in  unseren  Fällen  muß  es  als  feststehend 
erscheinen,  daß  bei  einer  länger  dauernden  starken  Einwirkung 
salpetrigsaurer  Dämpfe  eine  Ätzung  der  Luftwege  zustande  kommt, 
besonders  bei  Individuen  mit  bestehender  Erkrankung  des  Atmungs¬ 
apparates  und  des  Herzens,  die  primär  zum  Tode  führen  kann. 
Daneben  findet  aber  auch  eine  allmähliche  Veränderung  des  Blutes 
statt.  Durch  Lassar’s  oben  erwähnte  Versuche  ist  auch  nach¬ 
gewiesen,  daß  die  Säure  bzw.  das  Salz  nicht  unverändert  den 
tierischen  Organismus  passiert.  Die  Stickstoffverbindung  ver¬ 
schwindet  im  Stoffwechsel.  Lassar  selbst  erschienen  auch  seine 
Resultate,  was  die  Salpetersäure  anlangt,  nicht  beweisend.  Er 
schreibt:  „Von  der  Salpetersäure  mußte  es  von  vornherein  ungewiß 
erscheinen,  ob  die  entstehende  Nitroverbindung  als  salpetersaures 
Salz  im  Harne  auftreten  werde.“  In  der  Tat  wäre  es  ja  sonderbar, 
wenn  von  den  durch  Nase  und  Rachen  in  die  Luftwege  einge¬ 
drungenen  salpetrigsauren  Dämpfen,  die  auch  noch  durch  Speichel 
in  den  Magen  gelangen  können  (vgl.  Fall  2),  gar  nichts  resorbiert 
würde.  Die  Säure  mag  zunächst  als  salpetrigsaures  Natron  im 
Körper  auftreten,  dessen  zersetzende  Wirkung  auf  das  Blut  unter 
Methämoglobinbildung  bekannt  ist. 

Sehr  wünschenswert  ist  es,  daß  bei  frischen  Fällen  von 
Salpetrigsäurevergiftung  spektroskopische  Blutuntersuchungen  vor¬ 
genommen  werden,  um  die  noch  nicht  ganz  gelöste  Frage  des 
Grundes  der  schwarzen  Blutfärbung  zu  erklären.  Von  der  Unter¬ 
suchung  des  Leichenbluts  ist  nicht  viel  zu  erwarten,  da  Methämo- 
globin  als  das  erste  Zersetzungsprodukt  des  Oxyhämoglobins  sich 
in  dem  Blute  jeder  Leiche  nach  kurzer  Zeit  findet. 

Zur  Verhütung  der  Vergiftung  finden  sich  in  den  Jahres¬ 
berichten  der  Königlich  Preußischen  Regierungs-  und  Gewerberäte 
praktisch  bewährte  Dunstabzüge  an  folgenden  Stellen  mitgeteilt 
1890  S.  216,  1897  S.  113,  1903  S.  68.  Von  diesen  seien  hier  mit¬ 
geteilt: 

1.  1897  S.  113,  Len  hoff’ sehe  Metallbrenne  (Fig.  1  u.  2).  Die 
Säuregefäße  stehen  unter  einem  Überfang  erhöht,  so  daß  sich  die 
Arbeiter  beim  Eintauchen  der  abzubrennenden  Gegenstände  nicht 
über  die  Gefäße  zu  bücken  brauchen.  Die  schweren  nitrosen  Gase 
werden  durch  Öffnungen,  weiche  unmittelbar  hinter  den  Säure¬ 
gefäßen  in  der  Wand  angebracht  sind  und  bis  zum  Fußboden 
reichen,  abgesogen.  Diese  Anordnung  ist  sehr  wichtig.  Die  Zug¬ 
wirkung  wird  durch  ein  etwa  25  m  hohes  Tonrohr  hervorgebracht, 
in  welches  auch  die  Heizgase  der  Glühöfen  eingeleitet  werden.  Zur 


74 


Schnitze, 


Fi  g-  1- 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


75 


Verstärkung  des  Zuges  ist  außerdem  ein  Korb  mit  brennendem 
Koks  in  den  Fuchs  eingesetzt.  Die  Wirkung  dieser  Einrichtung 
ist  sehr  gut.  Der  Brennraum  ist  auch  bei  starker  Benutzung  so 
frei  von  Säuredämpfen,  daß  selbst  empfindliche  Personen  keine 
Reizung  mehr  verspüren. 

2.  1903  S.  68.  Die  Brenngefäße  sind  in  einem  pultartigen 
Digestorium  aufgestellt,  dessen  obere  Fläche  verglast  ist.  Der 
Arbeiter  kann  somit  den  Verlauf  des  Brennens  genau  beobachten, 


ohne  durch  die  aufsteigenden  Dämpfe  gefährdet  zu  sein.  Diese 
werden  durch  Schornstein  und  Lockflamme  oder  dgl.  mit  Sicherheit 
abgeleitet,  weil  sie  verhindert  sind,  sich  zu  verbreiten,  und  der 
Schornstein  innerhalb  des  engen  Raumes  des  Pults  einen  kräftigen 
Luftstrom  zu  erzeugen  vermag.  Die  Ventilation  wird  noch  wesent¬ 
lich  durch  Dampfstrahlen  verstärkt,  welche  aus  einer  Abdampfleitung 
dicht  über  dem  Rande  der  Säuregefäße  austreten,  die  Gase  ver- 


76  Schnitze, 

dünnen,  erwärmen  und  sie  nach  dem  Schornstein  treiben.  Die 
stärkste  und  somit  gefährlichste  Gasentwicklung  geht  beim  Ansetzen 
der  frischen  Säuren  vor  sich.  Bei  dieser  Arbeit  werden  die  Klappen 
an  der  Stirnseite  des  Pults  geschlossen  und  damit  ein  vollständiger 
Abschluß  der  Brenngefäße  erzielt. 

Hinsichtlich  der  für  die  Prophylaxe  vorgeschlagenen  Mittel 
seien  unter  anderen  erwähnt:  Holtzmann  kommt  zu  dem  Schlüsse, 
daß  in  jeder  Fabrik,  in  der  Arbeiter  den  Dämpfen  der  Salpeter¬ 
säure  ausgesetzt  sind,  vorher  eine  ärztliche  Untersuchung  der 
Arbeiter  stattfindet.  Es  soll  verhindert  werden,  daß  Arbeiter  mit 
Erkrankungen  der  Lunge  und  des  Herzens  eingestellt  werden, 
weil  sie  besonders  leicht  durch  Einatmung  der  Dämpfe  erkranken. 
Daneben  wäre  noch  nach  dem  Vorschläge  Kunkel’s  ein  Spray¬ 
apparat  mit  doppeltkohlensaurem  Natron  bereit  zu  halten,  wodurch 
die  eingeatmete  Säure  neutralisiert  und  ein  Weiterschreiten  der 
Erkrankung  verhindert  wird.  Dr.  Seyfferth,  Direktor  der 
Rheinisch -Westfälischen  Sprengstoff- A.-G.  in  Troisdorf  bei  Köln,  hat 
die  innerliche  Anwendung  von  Chloroform  im  Betriebe  erprobt. 
Es  werden  3 — 5  Tropfen  in  einem  Glase  Wasser  alle  16  Minuten 
genommen ;  auch  Krankenkassenärzte  der  Fabrik  haben  das  Mittel 
schon  mit  Erfolg  angewandt.  Juri  sch  empfiehlt,  an  jeder  Arbeits¬ 
stätte  einen  genügenden  Vorrat  von  Ammoniakfläschchen  bereit  zu 
halten,  um  Ammoniak  zum  Schutze  gegen  Erkrankungen  gegebenen 
Falles  einatmen  zu  können. 

Von  den  gesetzlichen  Maßnahmen  zur  Verhütung  von  Ver¬ 
giftungsfällen  sind  zu  erwähnen:  Der  Polizeipräsident  zu  Berlin 
hat  am  21.  November  1890  eine  Polizeiverordnung  über  die  Ein¬ 
richtung  und  den  Betrieb  von  Metallbrennen  erlassen  und  diese 
später  durch  Grundsätze  für  die  Aufbewahrung  von  Salpeter¬ 
säure  ergänzt. 

Der  oben  mitgeteilte  Fabrikbrand  infolge  Auslaufens  von 
Salpetersäure,  bei  welchem  60  Mitglieder  der  Berliner  Feuerwehr 
erkrankten,  hat  die  Berufsgenossenschaft  der  chemischen  Industrie 
veranlaßt,  besondere  Vorschriften  zum  Schutze  gegen  die  Wirkung 
salpetriger  (nitroser)  Gase  und  im  Zusammenhang  damit  speziell 
für  den  Verkehr  mit  Salpetersäure  zu  erlassen.  Diese  sind  ge¬ 
nehmigt  vom  Reichsversicherungsamte  am  22.  Juli  1899  und  16.  Mai 
1903,  veröffentlicht  im  Reichsanzeiger  vom  31.  Juli  1899  und  19. 
Juni  1903. 

Die  Gewerbeaufsichtsbeamten  sind  durch  Erlaß  des  Ministers 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


77 


für  Handel  und  Gewerbe  B.  11.  267  vom  2.  Januar  1900  angewiesen, 
die  Durchführung  dieser  Vorschriften  zu  fördern. 

Um  auch  den  Arbeitern  in  Betrieben,  welche  der  chemischen 
Berufsgenossenschaft  nicht  angehören,  über  die  Vergiftungsgefahren 
aufzuklären,  schlägt  der  Gewerbeinspektor  Ullrichs -Köln  vor,  in 
allen  Betrieben,  in  denen  Salpetersäure  verwendet  oder  gelagert 
wird,  nicht  nur  in  Metallbrennereien,  die  Verteilung  eines  Merk¬ 
blattes  in  folgender  Fassung: 

Salpetersäure  Vorsicht! 

Gefahr:  Vergiftung  durch  nitrose,  rotbraune  Dämpfe,  die  beim 
Verarbeiten  der  Säure  und  ihrer  Mischungen  und  beim  Verschütten 
der  Säure  auf  Metalle,  Holz,  Sägespäne,  Sägemehl,  Stroh,  Erde  usw. 
entstehen. 

Übelkeit,  Halsschmerzen,  Brustschmerzen,  Atemnot,  Be¬ 
klemmungen  oft  erst  stundenlang  nach  dem  Einatmen.  Häufig  Tod 
sofort  oder  erst  nach  Wochen. 

Feuersgefahr  bei  der  Berührung  von  Säure  mit  brennbaren 
Stoffen. 

Beförderung  der  Säurebehälter  nur  durch  erfahrene,  gewissen¬ 
hafte  Arbeiter,  nicht  Lehrlinge. 

Aufbewahrung:  vor  Sonne  geschützt,  am  besten  zu  ebener 
Erde  auf  säurefestem,  wasserundurchlässigen  Fußboden  aus  Fliesen, 
Steinplatten,  Asphalt  usw.,  nicht  Holz  oder  Zement. 

Möglichst  kleiner  Vorrat. 

Kippvorrichtungen  oder  Abfüllvorrichtungen. 

Näheres  bei  der  Gewerbeinspektion. 

Verwendung:  Einatmen  der  Dämpfe  vermeiden.  Gute  Dunst¬ 
abzüge  über  den  Beizgefäßen  der  Metallbrennereien. 

Näheres  bei  der  Gewerbeinspektion. 

Zerbrechen  der  Gefäße: 

Verschütten  der  Säure:  Am  verkehrtesten  Aufstreuen  von 
Sägespänen,  Sägemehl,  Asche,  unreiner  Erde  usw. 

Am  besten  Verdünnen  und  Fortspülen  mit  viel  Wasser  (auch 
wohl  Aufstreuen  von  ganz  reinem  ausgeglühtem  Sande  der  später 
mit  Kalk,  Ammoniak  oder  dgl.  abzustumpfen  ist).  Alle  Fenster 
öffnen  und  den  Raum  so  bald  wie  möglich  verlassen. 

Arzt  aufsuchen,  sobald  giftige  Dämpfe  eingeatmet  sind  oder 
Beschwerden  auftreten.  Gegenmittel  an  wenden. 

Lungen-  oder  Herzkranke  sind  besonders  gefährdet  und  sollen 


78 


Schultze, 


die  Beschäftigung  mit  Salpetersäure  überhaupt  vermeiden.  Des¬ 
halb  ärztliche  Untersuchung  vor  Beginn  der  Beschäftigung. 

In  der  allerjüngsten  Zeit  hat  der  Minister  für  Handel  und 
Gewerbe  die  königlich-technische  Deputation  für  Gewerbe  veranlaßt, 
allgemeine  Gesichtspunkte  über  die  Einrichtung  und  den  Betrieb 
von  Metallbrennereien  auszuarbeiten.  Diese  sind  durch  Erlaß  des 
Ministers  für  Handel  und  Gewerbe  III.  579  vom  8.  Februar  1911 
den  Gewerbeinspektoren  als  Anhalt  bei  der  Durchführung  der  Be¬ 
stimmungen  der  Gewerbeordnung  §§  120a  ff.  mitgeteilt  und  lauten: 

Grundsätze  für  die  gewerbepolizeiliche  Überwachung  der 
Metallbeizereien  (Metallbrennen). 

1.  Metallbeizereien  (Metallbrennen)  zum  Beizen  von  Metallen 
mit  Salpetersäure  müssen  von  den  sonstigen  Arbeits-  und  von 
Wohnräumen  durch  dichte  Wände  abgetrennt  und  so  angeordnet 
sein,  daß  keine  schädlichen  Gase  in  andere  Arbeits-  und  in  Wolin- 
räume  gelangen  können.  Verbindungsöffnungen  mit  anderen 
Arbeits-  und  mit  Wohnräumen  sind  durch  selbsttätig  zufallende, 
dicht  schließende  Türen  geschlossen  zu  halten. 

2.  Der  Fußboden  der  Beizerei  ist  aus  säurebeständigem  Stoff 
(Steinplatten,  harten  Klinkern,  Asphalt  u.  dgl.)  nicht  Zement,  un¬ 
durchlässig  und  so  herzustellen,  daß  Säure  und  säurehaltige  Spül¬ 
wässer  nach  Sinklöchern  ablaufen  müssen.  Der  Anschluß  des  Fu߬ 
bodens  an  die  Umfassungswände  ist  säurefest  und  so  herzustellen, 
daß  letztere  von  Säure  nicht  zerstört  werden  können.  Der  Fu߬ 
boden  und  die  Seiten  wände  müssen  durch  Abspritzen  mit  Wasser 
dauernd  sauber  gehalten  werden.  Die  Sinklöcher  sind  durch  säure¬ 
beständige  Rohrleitungen  (glasierte  Tonröhren  u.  dgl.,  nicht  Zement¬ 
röhren)  mit  einem  ebenfalls  säurebeständigen  Sammelbehälter  zu 
verbinden,  in  welchem  sie  vor  weiterer  Ableitung  durch  Kalk  oder 
auf  andere  Weise  neutralisiert  werden. 

3.  Die  zum  Beizen  benutzten  Säuregefäße  müssen  auf  säure¬ 
festem  Untergrund  und,  wenn  nicht  auf  andere  Weise  für  den 
Schutz  der  Arbeiter  gesorgt  ist,  so  hoch  aufgestellt  werden,  daß 
die  x4rbeiter  durch  die  Säure  und  die  Dämpfe  möglichst  wenig 
gefährdet  werden. 

4.  Metallbeizereien  müssen  durch  Tageslicht  und  bei  Dunkel¬ 
heit  durch  künstliche  Beleuchtung  so  gut  erhellt  sein,  wie  es  die 
Sicherheit  des  Betriebes  erfordert. 

5.  Die  Säuredämpfe  sind  an  der  Entstehungsstelle  in  wirksamer 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


79 


Weise  abzufangen  und  so  abzuführen,  daß  sie  nicht  in  Wohn-  oder 
Arbeitsräume  dringen  können. 

6.  Das  Ansetzen  der  Säure  darf  nur  unter  einem  gut  wirkenden 
Abzug  erfolgen.  Bei  Nichtbenutzung  der  Beizerei  sind  die  Säure¬ 
gefäße  dicht  abzudecken. 

7.  In  der  Beizerei  selbst  dürfen  organische  Stoffe,  wie  Papier, 
Holz,  Stroh,  Kohlen,  Gewebe  u.  dgl.  nicht  aufbewahrt  werden. 

8.  Jugendliche  Arbeiter  dürfen  in  der  Beizerei  nicht  beschäftigt 
werden.  Den  Beizarbeitern  sind  Schutzmittel  wie  Gummihandschuhe 
oder  dgl.  zur  Verfügung  zu  stellen. 

9.  Der  Genuß  von  Branntwein  ist  in  der  Beizerei  zu  untersagen. 
Personen,  die  zu  übermäßigem  Genüsse  von  Spirituosen  neigen,  sind 
von  der  Beschäftigung  in  der  Beizerei  auszuschließen. 

10.  Als  Gegenmittel  gegen  Einatmung  von  nitrosen  Dämpfen 
ist  Chloroformwasser  bereit  zu  halten  und  die  Möglichkeit  der 
Sauerstoffatmung  vorzusehen.  Wo  Einrichtungen  der  letztbezeich- 
neten  Art  nicht  vorhanden  sind,  ist  durch  Anschlag  auf  die  Sauer¬ 
stoffapparate  und  Brat’schen  Wiederbelebungsapparate  der  nächsten 
Feuerwache  hinzuweisen. 

11.  In  jeder  Beizerei  ist  auf  die  Gefahr  der  Vergiftung  durch 
Einatmung  nitroser,  rotbrauner  Dämpfe  mittels  auffallenden  An¬ 
schlags  eindringlich  aufmerksam  zu  machen  und  anzuraten,  nach 
Einatmung  größerer  Mengen  dieser  Dämpfe,  auch  bei  scheinbarem 
Wohlbefinden,  sofort  den  Arzt  aufzusuchen  und  Gegenmittel  anzu¬ 
wenden. 

12.  Für  den  Anschlag  wird  folgender  Wortlaut  empfohlen: 

„Vorsicht! 

Die  Dämpfe  der  Salpetersäure,  besonders  die  rotbraunen,  sind 
giftig.  Es  ist  lebensgefährlich,  sie  einzuatmen,  da  sie  die  Lunge 
angreifen. 

Nicht  unter  die  Abzugshaube  beugen! 

Wer  Säuredämpfe  in  größerer  Menge  eingeatmet  hat,  suche, 
auch  wenn  er  sich  scheinbar  wohlbefindet,  sofort  den  Arzt  auf. 

Auslaufende  Säure  ist  sofort  mit  viel  Wasser  zu  verdünnen 
und  fortzuspülen.“ 

13.  Eine  nachahmenswerte  Einrichtung  zum  Schutze  der 
Arbeiter  gegen  nitrose  Gase,  die  sich  allerdings  nur  für  größere 
Betriebe  eignen  wird,  ist  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  Deutscher 
Ingenieure,  Jahrgang  1910,  Seite  1279  ff.  beschrieben. 


80  Schultze, 

Die  in  Ziffer  13  erwähnte  Einrichtung  ist  in  dem  Kabelwerk 
Ob  er  spree  der  Allgemeinen  Elektrizitätsgesellschaft  ausgeführt. 
Dr.  Bender  beschreibt  sie: 

Nach  der  von  Dr.  Fr.  Adler  gegebenen  Beschreibung  ist  im 
Beizraum  ein  Gerüst  aus  Eisen  mit  Laufschienen  errichtet,  auf  dem 
die  Laufkatze  a  mittels  des  Kettentriebes  b  durch  den  ganzen 
Baum  gefahren  werden  kann.  Mit  der  durch  Hebel  c  bewegten 
Winde  hebt  der  Arbeiter  den  gefüllten  Beizkorb  d  aus  Aluminium 
in  die  Höhe,  führt  ihn  bis  über  die  Aluminiumhaube  e,  öffnet  deren 
Deckel  f1?  der  sich  über  dem  Säuregefäße  befindet,  durch  Druck 
auf  den  Tritthebel  und  senkt  den  Kopf  in  das  Beizgefäß  nieder. 


Fig.  4. 

Innenansicht. 

Metallbrenne  des  Kabelwerks  Oberspree  der  Allgemeinen  Elektrizitätsgesellschaft. 

Der  Deckel  f,  hat  sich  inzwischen  durch  Gesichtsbelastung  wieder 
selbsttätig  geschlossen.  Nachdem  die  Beize  die  Oxydschichten  von 
den  Metallteilen  abgelöst  hat,  hebt  der  Arbeiter  den  Beizkorb  aus 
der  Säure  in  den  Bereich  der  Aluminiumhaube  hinauf,  fängt  mit 
dem  schwingbaren  Hebel  h  die  Hängestange  i  aus  Aluminium  ab 
und  schüttelt  durch  Hin-  und  Herstoßen  des  Hebels  h  die  an¬ 
haftenden  Säuretropfen  vom  Beizkorb  ab.  Alsdann  führt  er  den 
Beizkorb  in  das  Wassergefäß  über,  spült  durch  schnelles  Hin-  und 
Herdrehen  der  Windenkurbel  die  Teile  in  dem  kalten  Wasser  gut 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 


81 


ab  und  hebt  den  Korb  durch  die  selbsttätige  Klappe  nunmehr  ganz 
aus  der  Haube  e  heraus. 

Die  gesamte  Gasentwicklung  spielt  sich  also  in  einem  völlig 
von  der  Aluminiumhaube  umschlossenen  Raume  ab,  der  nur  einen 
schmalen  Längsschlitz  für  den  Durchgang  der  Hängestange  hat. 
Diese  Haube  ist  durch  eine  Tonleitung  und  zwei  Tontöpfe  an  einen 
tönernen  Exhaustor  1  angeschlossen,  der  die  Abgase  aus  der  Haube 
kräftig  absaugt  und  in  einen  Sternplattenturm  m  hineindrückt. 
Die  Absaugung  geschieht  so  gründlich,  daß  zu  keinem  Zeitpunkte 
des  Arbeitsvorganges  Stickstoffdioxyde  in  den  freien  Raum  austreten. 


Qneran  sicht. 

Metallbrenne  des  Kabelwerks  Oberspree  der  Allgemeinen  Elektrizitätsgesellschaft. 

Das  Beizgut  wandert  mit  Hilfe  des  Kranes  in  das  benachbarte 
Heißwassergefäß,  das  aus  zwei  Steinzeugtrögen  mit  Aluminium¬ 
haube  besteht.  Die  unter  der  Haube  entstehenden  Wasserdämpfe 
werden  durch  natürlichen  Zug  des  Schornsteins  über  Dach  entführt. 
Aus  dem  Heißwasser  ausgehoben,  trocknet  das  Beizgut  durch  die 
Eigenwärme  schnell  ab  und  wird  in  bereitstehende  Förderkästen 
entleert. 

Der  Exhaustor  leistet  mit  1,5  PS.  und  1500  Umläufen  in  der 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  ß 


82 


Schnitze, 


Minute  40  cbm  bei  einem  größten  Widerstande  von  70  mm  Wasser¬ 
säule.  Das  Flügelrad  hat  einen  Durchmesser  von  400  mm;  es  ist 
unmittelbar  mit  einem  Elektromotor  q  gekuppelt,  der  außerhalb  des 
Gebäudes  Aufstellung  gefunden  hat. 

Exhaustor  und  Sternplattenturm  sind  von  den  Deutschen  Ton- 
und  Steinzeugwerken  Aktiengesellschaft  hergestellt  worden.  Das 
Aluminiumrohr,  welches  das  Kaltwasser  dem  Spülbottich  unter  der 
Haube  e  zuführt,  ist  als  Schnecke  in  den  Beizbottich  eingelegt  und 
kühlt  dadurch  die  Beize.  Je  kühler  aber  in  gewissen  Grenzen 
diese  Beize  ist,  desto  geringer  ist  auch  die  Abgasentwicklung. 

Auf  diese  Weise  kommt  der  Arbeiter  mit  den  Abgasen  gar 
nicht  in  Berührung.  Um  aber  auch  eine  Benetzung  des  Arbeiters 
mit  der  Säureflüssigkeit  oder  mit  dem  Spülwasser  zu  vermeiden, 
sind  die  Felder  des  Krangeriists  durch  eine  Aluminiumwand  ge¬ 
schlossen.  Die  Vorgänge  hinter  dieser  Wand  sind  dem  Arbeiter 
bequem  durch  die  eingelegte  Fensterreihe  sichtbar.  Als  seitliche 
Begrenzung  dienen  gleichfalls  Aluminiumwände  mit  Türen. 


Metallbrenne  des  Kabelwerks  Oberspree  der  Allgemeinen  Elektrizitätsgesellschaft. 

Der  Fußboden  der  ganzen  Halle  ist  mit  säurefesten  Steinen 
ausgelegt  und  wird  täglich  mehrmals  aus  zwei  Hydranten  abge¬ 
spült.  Die-  Wände  sind  nach  dem  Streichen  mit  Farbe  noch  mit 
einem  heißen  Überzüge  von  Paraffin  versehen  worden.  Der  Baum 
wird  durch  eine  lange  Rinne  w  und  drei  Gullys  nach  einer  alka¬ 
lischen  Grube  entwässert.  Zur  Schonung  der  Leitungen  ist  ein 


Beitrag  zur  Vergiftung  durch  nitrose  Gase. 

Rührgefäß  x  angebracht,  das  dauernd  Kalkmilch  in  die  Leitungen 
befördert. 

Die  Salpetersäure  im  Beizbottich  wird  täglich  durch  Nach- 
f üllen  neuer  Säure  aufgefrischt.  Dies  geschieht  in  der  Weise,  daß 
der  Gasballon  a,  der  in  einen  Korb  eingebettet  ist,  auf  den  ab¬ 
nehmbaren  Holztisch  b  des  Kaltwassergefäßes  n  gehoben  und  mit 
der  Holzhaube  c  überdeckt  wird,  die  Schutz  gewähren  soll,  falls 
etwa  beim  Platzen  eines  Ballons  Säure  herausspritzt.  Alsdann 
wird  der  Aluminiumheber  d  eingesetzt  und  seine  Röhre  durch  ein 
Kolbenspiel  mit  der  Säure  gefüllt,  die  darauf  selbsttätig  in  den 
Beizbottich  überströmt.  An  Stelle  des  Saughebers  wird  neuerdings 
eine  Luftdruckpumpe  benutzt,  mit  dem  Vorteile,  daß  der  Gasballon 
nicht  überhöht  aufgestellt  zu  werden  braucht. 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  5.  November  1910. 

Herr  E.  S o mm er-Gießen  trägt  vor  über  wl)ie  Psychiatrie  in  den  Yor- 
entwiirfen  für  die  neuen  Strafgesetzbücher  in  Deutschland  und  Österreich1**. 

Nachdem  in  kurzer  Aufeinanderfolge  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1909  die 
Vorentwürfe  für  die  neuen  Strafgesetzbücher  in  Deutschland  und  Österreich  er¬ 
schienen  sind,  liegt  es  nahe,  diese  Entwürfe  untereinander  und  mit  den  zurzeit 
noch  geltenden  Gesetzbüchern  zu  vergleichen  und  zu  sehen,  welche  Entwicklungs¬ 
richtungen  sich  in  den  Entwürfen  zeigen,  und  wie  diese  vom  kriminalpsycho¬ 
logischen  und  psychiatrischen  Standpunkt  aus  zu  beurteilen  sind.  Dabei  be¬ 
schränke  ich  mich  hier  ausschließlich  auf  die  psychiatrische  Seite  der  Sache 
mit  einigen  Ausblicken  in  das  allgemeine  kriminalpsychologische  Gebiet.  Wir 
wollen  unter  Ausschaltung  einer  Eeihe  von  anderen  Bestandteilen  hier  der  Be¬ 
urteilung  folgende  Punkte  unterziehen:  I.  Ausschluß  der  Strafe  infolge  von 
Geistesstörung,  II.  Die  Behandlung  der  sog.  Gemindert-Zurechnungsfähigen,  III. 
Die  Behandlung  der  Jugendlichen,  IV.  Die  Behandlung  der  Alkoholisten,  V.  Die 
Sicherungsmaßregeln  im  allgemeinen,  VI.  Die  Behandlung  der  Sittlichkeitsver¬ 
brecher,  besonders  der  Homosexuellen. 

Wir  wenden  uns  zunächst  zu:  I.  Ausschluß  der  Strafe  infolge  Geistesstörung 
(vgl.  zu  dem  folgenden  meinen  Aufsatz  in  „Der  Staatsbürger“  vom  Juni  1910 
Seite  203  u.  f.).  „Um  die  psychiatrischen  Begriffe  im  Vorentwurf  des  neuen 
deutschen  Strafgesetzbuches  zu  beurteilen,  empfiehlt  es  sich,  von  dem  geltenden 
Eecht  auszugehen,  die  alten  und  neuen  Bestimmungen  miteinander  zu  vergleichen 
und  sie  vom  Standpunkte  der  psychiatrischen  Erfahrung  zu  betrachten.  Dabei 
beschränken  wir  uns  hier  auf  den  Ausschluß  von  Strafe  infolge  von  geistiger 
Störung.  Der  §  51  des  jetzigen  deutschen  Eeichsstrafgesetzbuches  lautet:  „Eine 
strafbare  Handlung  ist  nicht  vorhanden,  wenn  der  Täter  zur  Zeit  der  Begehung 
der  Handlung  sich  in  einem  Zustande  von  Bewußtlosigkeit  oder  krankhafter 
Störung  der  Geistestätigkeit  befand,  durchweichen  seine  freie  Willensbestimmung 
ausgeschlossen  war.“  In  dieser  Fassung  kommt  der  Begriff  des  „Zurechnens“ 
oder  der  „Zurechnungsfähigkeit“  überhaupt  nicht  vor,  sondern  es  wird  gesagt: 

ö  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  31  u.  32 
der  „Medizinischen  Eeform“,  1910,  herausg.  von  E.  Lennhoff. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  85 

„Eine  strafbare  Handlung  ist  nicht  vorhanden,  wenn  .  .  .“  Die  Anwendung  des 
Ausdrucks  „Zurechnungsfähigkeit“  geht  also  im  Grunde  übe^  diesen  Wortlaut 
hinaus.  Es  ist  daher  vor  Gericht  zweckmäßig,  sich  streng  an  die  Fassung  des 
Gesetzes  zu  halten. 

Wesentlich  in  der  Fassung  dieses  Paragraphen  sind  folgende  Punkte :  I.  Es 
steht  zur  Beurteilung,  in  welchem  Zustande  der  Täter  zur  Zeit  der  Begehung 
der  Handlung  gewesen  ist.  Der  Psychiater  wird  zwar  immer  von  dem  Zustande 
des  Täters  zur  Zeit  seiner  Beobachtung  ausgehen,  muß  aber  dann  versuchen,  aus 
dieser  und  aus  dem  Gesamtinhalt  der  Akten,  eventuell  auch  aus  neuen  von  ihm 
veranlaßten  Erhebungen,  rückwärts  zu  schließen,  wie  der  Zustand  zur  Zeit  der 
Handlung  war.  II.  Die  psychiatrischen  Leitbegriffe  des  §  51  des  Beichsstraf- 
gesetzbuches  sind :  „Bewußtlosigkeit  oder  krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit.“ 
Jede  Bewußtlosigkeit  ist,  wenn  man  von  dem  normalen  Schlaf  ab  sieht,  eine  krank¬ 
hafte  Störung  der  Geistestätigkeit,  so  daß  die  besondere  Hervorhebung  des  Be¬ 
griffes  überflüssig  erscheinen  könnte.  Sie  ist  im  wesentlichen  geschichtlich  ver¬ 
ständlich,  da  vorübergehende  Bewußtlosigkeit  erst  allmählich  als  krankhafte 
Störung  der  Geistestätigkeit  erkannt  wurde  und  es  nötig  erschien,  diese  neue 
Erkenntnis  besonders  auszudrücken.  Nachdem  sich  die  Erkenntnis  jetzt  in  den 
Anschauungen  der  Arzte  und  Juristen  sowie  weiterer  Kreise  gefestigt  hat,  wäre 
ihre  Hervorhebung  eigentlich  nicht  mehr  nötig.  Im  jetzigen  Gesetz  steht  neben 
der  Bewußtlosigkeit:  „krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit“,  also  ein  allge¬ 
meiner  Begriff,1)  nicht  —  wie  in  einer  Beihe  von  älteren  Gesetzbüchern  —  eine 
besondere  psychiatrische  Gruppe. 

III.  Der  Zustand  von  Bewußtlosigkeit  oder  krankhafter  Störung  der  Geistes¬ 
tätigkeit  wird  in  §  51  des  Beichsstrafgesetzbuches  durch  den  Belativsatz  einge¬ 
schränkt:  .  .  .„durch  welchen  seine  (des  Täters)  freie  Willensbestimmung  ausge¬ 
schlossen  war“.  Dieser  Zusatz  soll  die  Bechtspflege  vor  Ausschreitungen  der 
Psychiatrie  bewahren  und  wird  in  diesem  Sinne  vor  Gericht  angewendet,  bedingt 
aber  sehr  oft  völlig  nutzlose  Streitigkeiten.  Der  Zusatz  gibt  im  Grunde  weder 
einen  psychiatrischen  noch  einen  juristischen,  sondern  einen  rein  philosophischen 
Begriff,  ruft  so  außerordentlich  viele  Zweifel  und  Widersprüche  hervor,  und  ver¬ 
wirrt  die  gerichtliche  Psychiatrie  mehr,  als  er  sie  klärt.  Ich  habe  in  dem  Buche 
über  Kriminalpsychologie  eingehend  über  die  Frage  gehandelt  und  die  Unnötig- 
keit  des  Zusatzes  nachgewiesen.  Das  Strafrecht  wird  durch  ihn  auf  den  schwan¬ 
kenden  Boden  der  philosophischen  Spekulation  gestellt,  während  es  fest  auf  der 
Grundlage  praktischer  und  psychologischer  Erfahrung  stehen  soll. 

Wie  verhält  sich  nun  zu  diesen  Punkten  die  Fassung  im  neuen  Entwurf? 
Sie  lautet:  (§  63)  „Nicht  strafbar  ist,  wer  zur  Zeit  der  Handlung  geisteskrank, 
blödsinnig  oder  bewußtlos  war,  so  daß  dadurch  seine  freie  Willensbestimmung 
ausgeschlossen  wurde“. 

Es  ergibt  sich  folgender  Vergleich.  Die  einleitende  Formel :  „Eine  strafbare 
Handlung  ist  nicht  vorhanden“  ist  verändert  in  „Nicht  strafbar  ist,  wer  .  .  .“ 
Im  übrigen  zeigt  sich  folgendes: 

Zu  I,  Der  Hinweis  auf  die  Zeit  der  Handlung  ist  festgehalten,  was  durch¬ 
aus  zu  billigen  ist.  Es  liegt  hier  eine  bestimmte  praktisch  wichtige  Forderung 
für  die  Begutachtung  vor. 


1 )  Vgl.  die  Motive  zu  dem  Entwurf  eines  Strafgesetzbuches  für  den  Nord¬ 
deutschen  Bund.  Berlin  1869,  zu  §  46,  S.  100. 


86  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

II.  Die  psychiatrischen  Begriffe  sind  zum  Teil  festgehalten,  zum  Teil  modifi¬ 
ziert,  zum  Teil  vermehrt.  Geblieben  ist  die  Hervorhebung  der  Bewußtlosigkeit. 
Modifiziert  ist  der  Ausdruck:  „Krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit“  in 
„Geisteskrankheit“.  Hinzugekommen  ist  der  Begriff:  „Blödsinn“.  Neben  der 
Hervorhebung  der  Bewußtlosigkeit  erscheint  der  Begriff  „Geisteskrankheit“  all¬ 
gemein  genug,  um  über  die  Art  der  Störung  nichts  im  voraus  zu  bestimmen, 
auch  ist  er  zugleich  als  Anpassung  an  den  psychiatrischen  Sprachgebrauch  an¬ 
nehmbar.  Dagegen  erweckt  der  neue  Ausdruck  „Blödsinn“  lebhafte  Bedenken. 
Geschichtlich  bedeutet  er  eine  Wiederaufnahme  der  in  dem  geltenden  Beeilt  be¬ 
seitigten  früheren  Gesetzgebung,  in  welcher  „Blödsinn“  neben  „Wahnsinn“  als 
Strafausschließungsgrund  genannt  war.  Prüft  man  ihn  vom  Standpunkte  der 
klinischen  Erfahrung  und  Ausdrucksweise,  so  ergibt  sich  folgendes:  Wir  reden 
z.  B.  von  paralytischem  oder  epileptischem  Blödsinn,  auch  von  Verblödungs¬ 
prozessen,  womit  besonders  die  Verlaufsart  des  sogenannten  primären  Schwachsinns 
(dementia  präcox)  bezeichnet  wird.  In  allen  diesen  Fällen  ist  Blödsinn  eine  be¬ 
sondere  symptomatische  Gruppe  innerhalb  der  Geisteskrankheit,  so  daß  im  neuen 
Entwurf  durch  die  Zusammenstellung:  Geisteskrankheit,  Blödsinn  usw.  nach  dem 
Ganzen  ein  Teil  genannt  wird,  was  als  unlogische  Gleichstellung  erscheint.  Dies 
gilt  auch  für  den  Fall,  daß  unter  „Blödsinn“  entgegen  dem  in  der  modernen 
Psychiatrie  herrschenden  Sprachgebrauch  angeborener  Schwachsinn  verstanden 
werden  sollte,  da  auch  in  diesem  Falle  durch  das  Wort  Blödsinn  nur  eine  be¬ 
sondere  Gruppe  von  Geisteskrankheiten  hervorgehoben  werden  würde.  Der  Aus¬ 
druck  hätte  nur  einen  Zweck,  wenn  er  einen  geringeren  Grad  von  Geisteskrank¬ 
heit,  d.  h.  Geistesschwäche  im  Sinne  des  BGB.  ausdrücken  könnte,  was  nicht  der 
Fall  ist.  Somit  ist  er  in  jeder  Beziehung  falsch  und  wird  praktisch  die  größten 
Mißverständnisse  hervorrufen,  da  er  mit  den  Ausdrücken  des  psychiatrischen 
Unterrichts  in  völligem  Widerspruche  steht. 

Nach  den  Motiven  zu  dem  Vorentwurf  haben  die  Verfasser  anscheinend  den 
zweiten  der  eben  genannten  Fälle  im  Sinne  gehabt,  was  aus  den  Bemerkungen 
zu  §  63,  S.  227,  hervorgeht.  Die  betreffende  Stelle  lautet: 

„Unter  Vermeidung  des  Ausdrucks  „Unzurechnungsfähigkeit“  bezeichnet  der 
Entwurf  als  die  erwähnten  abnormen  Zustände,  welche  die  Zurechnungsfähigkeit 
ausschließen  können,  „Geisteskrankheit“,  „Blödsinn“  und  „Bewußtlosigkeit“.  Diese 
Fassung  ist  bereits  von  ärztlicher  Seite  gebilligt.  Zugleich  ist  von  beachtens¬ 
werter  juristischer  Seite  auf  ihre  Einfachheit  und  Gemeinverständlichkeit  hinge¬ 
wiesen  worden.  Der  bisher  im  Gesetz  enthaltene  Ausdruck  „krankhafte  Störung 
der  Geistestätigkeit“  ist  in  Wegfall  gekommen.  Er  wurde  gewählt,  um  nicht  nur 
die  eigentlichen  Geisteskrankheiten,  sondern  auch  Entwicklungshemmungen,  wie 
Blödsinn  oder  geistige  Entartungszustände,  oder  mit  geistigen  Störungen  ver¬ 
bundene  körperliche  Leiden,  wie  Fieberdelirien,  Nervenkrankheiten,  zu  umfassen. 
Alle  diese  Krankheitszustände  fallen,  mögen  sie  chronisch  oder  vorübergehend 
sein,  unter  eine  der  gewählten  drei  allgemeinen  Bezeichnungen.  Unter  den  Be¬ 
griff  der  Bewußtlosigkeit  können  insbesondere  auch  hypnotische  Suggestion  und 
Trunkenheit  fallen.  Insoweit  bejaht  also  der  Entwurf  die  Frage,  ob  die  Trunken¬ 
heit  als  ein  Zustand  der  Unzurechnungsfähigkeit  angesehen  werden  kann.“  Nach 
obigen  Ausführungen  ist  jedoch  zu  erwarten,  daß  der  Begriff  „Blödsinn“  neben 
„Geisteskrankheit“  vor  Gericht  verwirrend  wirken  wird,  so  daß  er  besser  wegge¬ 
lassen  wird.  Auch  eine  besondere  Hervorhebung  des  „angeborenen  Schwachsinns“ 
ist  unnötig,  da  dieser  ebenfalls  nur  einen  Teil  der  Geisteskrankheit  darstellt. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  87 

IV.  Der  Zusatz  betr.  die  freie  Willensbestimmung  ist  beibehalten,  obgleich 
diese  Fassung-,  wie  bisher,  auch  in  Zukunft  nutzlose  Streitigkeiten  hervorrufen 
wird.  Will  man  den  tatsächlichen  Kern  der  Sache  ausdrücken,  so  müßte  der  Zu¬ 
satz  lauten:  „durch  welchen  (Zustand)  die  Handlung  bedingt  ist.“  Hierdurch 
würden  die  Gutachter  nochmals  dringlich  auf  die  Untersuchung  der  Handlung, 
ihrer  Motive,  ihre  Besonderheiten,  ihrer  Bedingungen  hingewiesen,  während  zur¬ 
zeit  noch  manche  psychiatrische  Gutachten  gerade  dadurch  einen  Fehler  begehen, 
daß  sie  zu  allgemein  die  Frage  der  Geisteskrankheit  behandeln,  ohne  die  straf¬ 
rechtlich  doch  in  erster  Linie  wichtige  Handlung  selbst  gründlich  vom  psycho¬ 
logischen  Standpunkte  zu  betrachten.“  —  Vergleichen  wir  nun  mit  dem  deutschen 
Gesetzentwurf  die  entsprechenden  österreichischen  Bestimmungen,  so  gehört  zu¬ 
nächst  hierher  der  §  2  ÖBStrGB.,  welcher  folgendermaßen  lautet: 

„Daher  wird  die  Handlung  oder  Unterlassung  nicht  als  Verbrechen  zuge¬ 
rechnet: 

a)  wenn  der  Täter  des  Gebrauches  der  Vernunft  ganz  beraubt  ist, 

b)  wenn  die  Tat  bei  abwechselnder  Sinnenverrückung  zu  derZeit,  da  die  Ver¬ 
rückung  dauerte,  oder 

c)  in  einer  ohne  Absicht  auf  das  Verbrechen  zugezogenen  vollen  Berauschung 
(§§  226  und  523)  oder  einer  anderen  Sinnenverwirrung,  in  welcher  der 
Täter  sich  seiner  Handlung  nicht  bewußt  war,  begangen  worden, 

d)  wenn  der  Täter  noch  das  vierzehnte  Jahr  nicht  zurückgelegt  hat  (§§  237 
und  269)  usw.  — 

Die  Leitbegriffe  in  diesen  Bestimmungen  sind  folgende: 

1.  des  Gebrauches  der  Vernunft  beraubt  sein, 

2.  abwechselnde  Sinnenverrückung, 

3.  Berauschung,  wenn  diese  ohne  Absicht  auf  das  Verbrechen  zugezogen  ist, 

4.  Sinnenverwirrung,  in  welcher  der  Täter  sich  seiner  Handlung  nicht  be¬ 
wußt  war. 

Es  ist  psychiatrisch  erkennbar,  daß  die  Bestimmungen  unter  b  und  c  sozu¬ 
sagen  eine  Kasuistik  oder  besser  eine  Hervorhebung  mehrerer  Einzel  gruppen 
bedeutet,  die  in  dem  deutschen  Gesetze  unter  dem  allgemeinen  Begriffe  der  Be¬ 
wußtlosigkeit  zusammengefaßt  sind.  Im  übrigen  erscheint  der  Leitbegriff  des 
deutschen  Gesetzes:  „Krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit“  viel  allgemeiner 
als  der  im  österreichischen  Gesetz  enthaltene  Begriff  des  Gebrauchs  der  Vernunft 
beraubt  sein“.  Letzterer  bedeutet  nur  einen  besonderen  Fall  innerhalb  des 
größeren  Gebietes,  das  in  dem  deutschen  Gesetz  durch  die  krankhafte  Störung 
der  Geistestätigkeit  bezeichnet  wird.  Diese  Feststellungen  entsprechen  dem  Gang 
der  geschichtlichen  Entwicklung  in  diesem  Gebiet  der  gerichtlich-psychiatrischen 
Begriffe.  In  den  früheren  Gesetzgebungen  waren  in  der  Begel  nur  bestimmte 
psychiatrische  Einzelfälle  genannt,  bei  denen  eine  Zurechnung  der  Handlung 
als  strafbar  nicht  erfolgte.  Die  Bildung  eines  allgemeinen  Begriffs:  „Krank¬ 
hafte  Störung  der  Geistestätigkeit“  oder  „Geisteskrankheit“  ist  eine  spätere  Er¬ 
scheinung.  In  meinem  Buch  über  Kriminalpsychologie  habe  ich  in  dem  Kapitel 
über  die  psychiatrischen  Begriffe  in  einer  ganzen  Reihe  von  deutschen  Strafgesetz¬ 
büchern  diese  eigentümliche  Entwicklung  von  den  besonderen  Ausnahmefällen  zu 
dem  zusammenfassenden  Begriff  nachgewiesen. 

Vom  Standpunkte  der  vergleichenden  Begriffsgeschichte  erscheint  daher  die 
geltende  österreichische  Bestimmung  von  vornherein  älter  als  die  des  geltenden 
deutschen  Rechtes.  Untersucht  man  die  Entstehung  der  beiden  Gesetzbücher,  so 


88  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

bestätigt  sich  diese  Auffassung  als  richtig.  Das  österreichische  Gesetz  ist  gültig 
vom  27.  Mai  1852,  erscheint  jedoch  sachlich  nur  als  eine  wenig  veränderte  und 
zum  Teil  ergänzte  neue  Auflage  des  älteren  Strafgesetzbuches,  das  unter  Kaiser 
Franz  II.  im  Jahre  1803  zur  Herrschaft  kam.  Geschichtlich  entsprechen  die 
kasuistischen  Gruppen  psychiatrischer  Art  dem  damaligen  Zustand  der  Psychiatrie 
im  allgemeinen.  Das  geltende  deutsche  Strafgesetzbuch  stammt  scheinbar  vom 
Jahre  1870,  war  aber  in  Wirklichkeit  schon  vorher  im  Norddeutschen  Bunde 
gültig  und  entspricht  im  wesentlichen  dem  im  Jahre  1867  geschaffenen  Gesetz. 
Es  liegt  also  zwischen  den  Bestimmungen  des  österreichischen  und  deutschen  Ge¬ 
setzes  ein  Zeitraum  von  mehr  als  60  Jahren.  Dies  erklärt,  wenn  man  die  unter¬ 
dessen  weiter  fortgeschrittene  Entwicklung  der  Psychiatrie  betrachtet,  die  Ver¬ 
schiedenheit  der  Begriffe  sehr  gut. 

Von  vornherein  hatte  also  Österreich  bei  seinem  Vorentwurf  eine  längere 
Periode  von  psychiatrischer  Begriffsbildung  in  Form  eines  Gesetzes  nachzuholen, 
als  der  deutsche  Vorentwurf,  der  ungefähr  43  Jahre  nach  der  eigentlichen  Ent¬ 
stehung  des  jetzigen  DRStrGB.  zustande  gekommen  ist. 

Es  fragt  sich  nun,  welcher  von  den  beiden  Entwürfen  dem  gegenwärtigen 
Zustand  der  psychiatrischen  Forschung  am  besten  entspricht.  Der  §  3  des  ÖE., 
der  sich  unter  der  Überschrift  „Zurechnungsfähigkeit“  findet,  lautet:  „Nicht  strafbar 
ist,  wer  zur  Zeit  der  Tat  wegen  Geistesstörung,  Geistesschwäche  oder  Bewußt¬ 
seinsstörung  nicht  die  Fähigkeit  besaß,  das  Unrecht  seiner  Tat  einzusehen  oder 
seinen  Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen.“ 

Hier  finden  sich  die  psychiatrischen  Leitbegriffe  Geistesstörung,  Geistes¬ 
schwäche,  und  bzw.  oder  Bewußtseinsstörung.  Es  stimmt  demnach  diese  Fassung 
in  zwei  Begriffen,  nämlich  „Geistesstörung“  und  „Bewußtseinsstörung“ 
mit  dem  geltenden  deutschen  Recht  und  auch  dem  deutschen  Vorentwurf  im 
wesentlichen  überein,  da  sich  in  diesen  die  Ausdrücke  „Krankhafte  Störung  der 
Geistestätigkeit“  in  §  51  des  RStrGB.  und  „Geisteskrankheit“  im  deutschen  Vor¬ 
entwurf  §  63  finden,  ebenso  wie  der  Ausdruck  „Bewußtlosigkeit“  in  letzterem  an 
dritter  Stelle. 

Einen  wesentlichen  Unterschied  zeigen  die  Vorentwürfe  in  bezug  auf  den 
an  zweiter  Stelle  genannten  Ausdruck:  im  DE.  „Blödsinn“,  im  ÖE.  „Geistes¬ 
schwäche“.  Aus  der  oben  durchgeführten  kritischen  Behandlung  des  DE.  ist  zu 
erkennen,  daß  der  Ausdruck  „Blödsinn“  vom  Standpunkt  der  psychiatrischen 
Wissenschaft  entschieden  abzulehnen  ist,  da  er  bei  seiner  eventuellen  Einführung 
Verwirrung  stiften  würde,  so  daß  es  jedenfalls  besser  wäre,  nur  „Geisteskrank¬ 
heit“  und  „Bewußtlosigkeit“  zu  nennen.  Nun  steht  in  dem  österreichischen  Ent¬ 
wurf  noch  der  Begriff  der  Geistesschwäche,  den  wir  oben  als  geeignet  bezeichnet 
haben,  um  die  geringeren  Grade  von  Geistesstörung  entsprechend  der  Bedeutung 
des  §  6  Ziffer  1  des  Bürgerlichen  Gesetzbuches  für  das  Deutsche  Reich  auszu¬ 
drücken.  Wenn  der  Ausdruck  in  diesem  Sinne  verstanden  wird,  wäre  es  sehr 
zweckmäßig,  ihn  in  das  deutsche  Gesetz  aufzunehmen.  Wenn  ferner  der  Begriff 
der  Geistesschwäche  im  §  3  des  österreichischen  Entwurfs  entsprechend  definiert 
würde,  so  wäre  dadurch  im  wesentlichen  eine  völlige  Übereinstimmung 
der  deutschen  und  österreichischen  Gesetzgebung  in  diesem 
fundamentalen  psychiatrischen  Punkte  erreicht. 

Allerdings  ist  noch  ein  Unterschied  des  §  63  des  deutschen  Entwurfs  und 
des  «j  3  des  österreichischen  Entwurfs  vorhanden.  In  dem  ersteren  ist  der  Zusatz 
gemacht:  „So  daß  dadurch  seine  freie  Willensbestimmung  ausgeschlossen  wurde“. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  89 

Im  letzteren  kommt  der  Zusatz:  „Nicht  die  Fähigkeit  besaß,  das  Unrecht  seiner 
Tat  einzusehen,  oder  seinen  Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen“.  Ver¬ 
gleichen  wir  zunächst  die  psychologische  Bedeutung  dieser  Zusätze ,  so  ist  er¬ 
sichtlich,  daß  der  Zusatz  im  geltenden  deutschen  Hecht  und  im  deutschen  Ent¬ 
wurf  mit  seiner  metaphysischen  Hypothese  der  „freien  Willensbestimmung“  sehr 
geeignet  ist,  Verwirrung  zu  stiften,  wie  dies  bisher  unter  der  Herrschaft  des 
geltenden  Rechtes  in  reichlichem  Maße  geschehen  ist.  Der  Zusatz  im  öster¬ 
reichischen  Entwurf  vermeidet  diese  unklare  spekulative  Ausdrucksweise  und  gibt 
bestimmte  Kriterien  an,  die  vorhanden  sein  müssen,  verfährt  dabei  also  ent¬ 
schieden  mehr  im  empirisch-psychologischen  Sinne,  indem  er  zwei  Fälle  hervor-  ' 
hebt:  nämlich  die  Fähigkeit  1.  das  Unrecht  einer  Tat  einzusehen,  oder  2.  den 
Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen.  Es  ist  klar,  daß  im  Hinblick  auf 
die  psychiatrische  Erfahrung  hiermit  einerseits  intellektuelle  Störung,  andererseits 
Störungen  der  Willenssphäre,  wie  wir  sie  z.  B.  bei  katatonischen  Handlungen, 
ferner  bei  Zwangszuständen,  sowie  in  dem  großen  Gebiet  des  Schwachsinns  finden, 
berührt  sind.  Von  den  beiden  Fassungen  des  Zusatzes  im  deutschen  und  öster¬ 
reichischen  Entwurf  ist  entschieden  der  in  letzterem  gegebene  praktisch  brauch¬ 
barer,  weil  er  die  theoretischen  Streitigkeiten  zwischen  Staatsanwälten  und  Sach¬ 
verständigen  ansschließt  und  klare  psychologische  Kriterien  gibt.  Der  öster¬ 
reichische  Entwurf  leidet  andererseits  daran,  daß  der  betr.  Zusatz  nur  bestimmte 
Einzelmomente  psychologischer  Art  hervorhebt,  die  eigentlich  im  einzelnen  Fall 
nichts  anderes  sind,  als  Symptome  der  Krankheit,  neben  denen  ebensogut 
andere  Symptome  hervorgerufen  werden  könnten.  Ich  kann  daher  eine  psychia¬ 
trische  Notwendigkeit,  einen  solchen  Zusatz  zu  machen,  überhaupt  weder  für  den 
deutschen  noch  für  den  österreichischen  Entwurf  anerkennen,  und  empfehle,  ihn 
aus  beiden  Entwürfen  völlig  zu  entfernen.  Ich  komme  daher  aus  dieser  weiteren 
Vergleichung  zu  dem  gleichen  Schluß,  wie  oben  bei  der  Beurteilung  des  deutschen 
Gesetzes  und  deutschen  Entwurfes,  und  schlage  für  beide  Strafgesetze  die  folgende 
Fassung  vor:  „Die  Handlung  ist  nicht  strafbar,  wenn  sie  durch  einen  Zustand  von 
Geisteskrankheit,  Geistesschwäche  oder  Bewußtlosigkeit  bedingt  war.“ 

Nachdem  in  den  letzten  Jahrzehnten  der  Begriff  der  verminderten  Zu¬ 
rechnungsfähigkeit  vielfach  erörtert  worden  ist,  erscheint  es  erklärlich,  daß  der¬ 
selbe  nunmehr  anfängt,  in  die  Entwürfe  der  neuen  Strafgesetzbücher  einzudringen. 
Allerdings  handelt  es  sich  dabei  im  Grunde  um  das  Wiederauftauchen  von  Vor¬ 
stellungen,  die  in  der  früheren  Psychiatrie  zum  Teil  schon  vorhanden  waren, 
jedoch  noch  nicht  eine  solche  Klarheit  und  Sicherheit  erlangt  hatten,  um  in  die 
Strafgesetzgebung  der  60er  Jahre  einzudringen.  Daraus  erklärt  es  sich,  daß  eine 
Bestimmung  im  deutschen  RStGB.  in  dieser  Beziehung  völlig  fehlt,  während  in 
dem  viel  älteren  österreichischen  RStGB.  wenigstens  schon  Andeutungen  vorhanden 
sind.  Der  Keim  des  Begriffes  ist  eigentlich  schon  in  den  alten  Bestimmungen 
über  Milderungsumstände  gegeben,  soweit  diese  subjektiver  Natur  sind,  d.  h. 
in  dem  Geisteszustand  des  Täters  beruhen.  Sehr  interessant  sind  in  dieser  Be¬ 
ziehung  die  Milderungsgründe  aus  der  Beschaffenheit  des  Täters,  die  im  §  46  des 
österreichischen  RStGB.  vorhanden  sind.  Dieser  lautet:  „Milderungsumstände, 
welche  auf  die  Person  des  Täters  Beziehung  haben,  sind:  a)  wenn  der  Täter  in 
inem  Alter  unter  20  Jahren,  wenn  er  schwach  an  Verstand,  oder  seine  Erziehung 
sehr  vernachlässigt  worden  ist;  b)  wenn  er  vor  dem  Verbrechen  eines  untadel¬ 
haften  Wandels  gewesen;  c)  wenn  er  auf  den  Antrieb  eines  Dritten,  aus  Furcht 
oder  Gehorsam  das  Verbrechen  begangen  hat;  d)  wenn  er  in  einer  aus  dem  ge- 


90  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


wohnlichen  Menschengefühle  entstandenen  heftigen  Gemütsbewegung  sich  zu  dem 
Verbrechen  hat  hinreißen  lassen;  e)  wenn  er  mehr  durch  die  ihm  aus  fremder 
Nachlässigkeit  aufgestoßene  Gelegenheit  zum  Verbrechen  angelockt  worden  ist, 
als  sich  mit  vorausgefaßter  Absicht  dazu  bestimmt  hat;  f)  wenn  er  von  drücken¬ 
der  Armut  sich  zu  dem  Verbrechen  hat  verleiten  lassen;  g)  wenn  er  den  ver¬ 
ursachten  Schaden  gut  zu  machen,  oder  die  weiteren  Folgen  zu  verhindern,  mit 
tätigem  Eifer  sich  bestrebt  hat;  h)  Avenn  er,  da  er  leicht  entfliehen  oder  unent- 
deckt  hätte  bleiben  können,  sich  selbst  angegeben  und  das  Verbrechen  bekannt; 
i)  wenn  er  andere  verborgene  Verbrecher  entdeckt  und  zu  ihrer  Einbringung 
Gelegenheit  und  Mittel  an  die  Hand  gegeben  hat;  k)  wenn  er  wegen  der  ohne 
sein  Verschulden  verlängerten  Untersuchung  durch  längere  Zeit  verhaftet  war.“ 

In  dieser  Zusammenstellung  ist  der  kasuistische  Charakter,  der  auch  die 
psychiatrischen  Bestimmungen  im  §  2  dieses  Gesetzes  (Gründe,  die  den  bösen 
Vorsatz  ausschließen)  beherrscht,  deutlich  erkennbar.  In  vorliegendem  Zusammen 
hang  kommen  für  uns  besonders  die  Bestimmungen  des  §  46  a,  b,  c,  d  in  Be¬ 
tracht.  Bei  a  handelt  es  sich  um  die  Voraussetzung  eines  Alters  von  unter  20 
Jahren,  um  Schwäche  des  Verstandes  und  Vernachlässigung  der  Erziehung;  bei 
b  um  den  Widerspruch  der  Tat  mit  dem  früheren  untadelhaften  .Wandel,  ein 
Kriterium,  das  vielfach  auf  das  Auftreten  von  psychopathischen  Zügen  deutet; 
bei  c  und  d  um  bestimmte  Arten  von  starken  Affekten.  Bei  e  wird  in  praktisch 
sehr  bedeutungsvoller  Weise  der  Fall  behandelt,  daß  die  äußeren  Momente  einen 
Menschen  zum  Verbrechen  anlocken,  während  es  sich  bei  dieser  Gelegenheit 
eigentlich  um  fremde  Nachlässigkeit  und  nicht  um  eine  vorausgefaßte  Absicht 
handelt. 

Es  ist  erkennbar,  daß  es  sich  in  diesen  Bestimmungen  um  eine  ganze  Reihe 
von  empirisch-psychologischen  Beobachtungen  im  Gebiet  der  Kriminalistik  handelt, 
die  ihre  eigentliche  Wurzel  in  der  Erfahrungsseelenlehre  am  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  haben.  Wie  diese  im  allgemeinen  Gebiet  der  Psychologie  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  vorigen  Jahrhunderts  immer  mehr  von  spekulativen 
Momenten  überwuchert  und  in  den  Hintergrund  gedrängt  worden  ist,  so  hat  auch 
die  Psychologie  der  mildernden  Umstände,  soAveit  es  sich  um  subjektive 
Momente  handelt,  im  Laufe  des  vorigen  Jahrhunderts  eigentlich  eine  Rück¬ 
bildung  erfahren.  Es  ergibt  sich  daraus  der  merkwürdige  Tatbestand,  daß  in 
dieser  Beziehung  das  alte  österreichische  Gesetz,  das  aus  dem  Anfang  des  vorigen 
Jahrhunderts  stammt,  und  in  dem  sich  eine  Reihe  von  psychologischen  Beobach¬ 
tungen  der  vorangegangenen  Jahrzehnte  niedergeschlagen  hat,  in  dieser  Beziehung 
entschieden  inhaltsreicher  ist,  als  das  in  den  psychiatrischen  Grundbegriffen  weiter 
vorgeschrittene  deutsche  RStGB.,  dessen  eigentliche  Entstehung  in  den  60  er  Jahren 
liegt.  In  diesem  eigenartigen  sozusagen  gekreuzten  Verhältnis  ist  die  Beziehung 
der  Strafgesetzbücher  zu  der  allgemeinen  psychologischen  Entwicklung  deutlich 
ersichtlich,  was  uns  ein  Beispiel  für  die  Abhängigkeit  der  kriminalpsychologischen 
Entwicklung  von  dem  Werdegang  der  wissenschaftlichen  Psychologie  und  Psycho¬ 
pathologie  bietet.  Geschichtlich  ist  der  Zusammenhang  so,  daß  sich  aus  der  Er¬ 
kenntnis  der  subjektiven  Momente  immer  mehr  Einsichten  in  eine  Reihe  von 
Geisteszuständen  geboten  haben,  die  eine  Mittelstufe  zwischen  der  ausgeprägten 
Geisteskrankheit  und  der  Geistesgesundheit  darstellen. 

Im  Hinblick  auf  die  strafrechtliche  Bewertung  ist  diese  Gruppe  von  Geistes¬ 
zuständen  in  den  letzten  Jahrzehnten  dann  namentlich  unter  dem  Begriff  der 
„geminderten  Zurechnungsfähigkeit“  zusammengefaßt  Avorden.  Da  ich  ein  er- 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  91 

klärter  Anhänger  derjenigen  Bestrebungen  bin,  die  auf  eine  Anerkennung  dieser 
Mittelzustände  zwischen  Geisteskrankheit  und  Geistesgesundheit  in  den  Straf¬ 
gesetzbüchern  hinausarbeiten,  so  werde  ich  hoffentlich  nicht  mißverstanden,  wenn 
ich  den  sprachlichen  Ausdruck  „geminderte  Zurechnungsfähigkeit“  hier 
nochmals  entsprechend  meinen  Ausführungen  in  dem  Buch  über  Kriminalpsycho¬ 
logie  (vgl.  S.  276)  kritisch  betrachte.  Ursprünglich  kommt  in  den  alten  Gesetz¬ 
büchern  der  Ausdruck  vor ,  „jemandem  eine  Handlung  als  strafbar  zurechnen“ ; 
der  Zurechnende  ist  also  der  Richter,  und  der  Ausdruck  Zurechnungsfähigkeit 
bedeutet  sprachlich  und  logisch  eigentlich  die  Fähigkeit,  jemandem  eine  Handlung 
zuzurechnen.  Nur  durch  eine  völlig  unlogische  Verwechslung  von  Subjekt  und 
Objekt  ist  der  Ausdruck  auf  den  Täter  übergegangen,  dem  eine  Handlung  zuge¬ 
rechnet  oder  nicht  zugerechnet  wird,  und  bedeutet  in  diesem  übertragenen  Sinn 
die  subjektive  Voraussetzung,  d.  h.  die  Art  des  Geisteszustandes,  die  es  be¬ 
dingt,  daß  man  ihm  die  Handlung  zurechnet,  oder  nicht.  Die  verminderte  Zu¬ 
rechnungsfähigkeit  als  sprachlicher  Ausdruck  ist  daher  völlig  zu  verwerfen, 
während  sie  inhaltlich  in  bezug  auf  die  gemeinten  Geisteszustände  durchaus  für 
viele  Fälle  zu  Recht  besteht.  Psychologisch  und  psychiatrisch  erscheint  es  viel 
richtiger  und  wünschenswert,  die  gemeinten  Geisteszustände  ihrer  eigentlichen 
Natur  nach  zu  bezeichnen,  wie  dies  prinzipiell  für  die  ausgeprägten  Zustände  von 
Geisteskrankheit  im  §  51  des  deutschen  RStGB.  und  im  §  63  des  deutschen  Ent¬ 
wurfs  geschieht.  Vergleichen  wir  damit  die  Fassung  des  §  63,  soweit  sie  sich 
auf  die  Erörterung  über  die  sog.  verminderte  Zurechnungsfähigkeit  bezieht. 

Der  §  63  enthält  über  die  Fassung  des  jetzigen  §  51  hinaus  zwei  sein- 
wichtige  Zusätze,  in  denen  der  Fortschritt  der  strafrechtlichen  Anschauungen  in 
psychiatrischer  und  sozialer  Richtung  zutage  kommt.  Sie  lauten:  „War  die  freie 
Willensbestimmung  durch  einen  der  vorbezeichneten  Zustände  zwar  nicht  ausge¬ 
schlossen,  jedoch  in  hohem  Grade  vermindert,  so  finden  hinsichtlich  der  Bestrafung 
die  Vorschriften  über  den  Versuch  (§  76)  Anwendung.  Zustände  selbstverschul¬ 
deter  Trunkenheit  sind  hiervon  ausgenommen. 

Freiheitsstrafen  sind  an  den  nach  Abs.  2  Verurteilten  unter  Berücksichtigung 
ihres  Geisteszustandes  und  soweit  dieser  es  erfordert,  in  besonderen,  für  sie  aus¬ 
schließlich  bestimmten  Anstalten  oder  Abteilungen  zu  vollstrecken.“ 

Hier  wird,  unter  Hindeutung  auf  den  nicht  ausgesprochenen  Begriff  ,  der 
„geminderten  Zurechnungsfähigkeit“  von  einer  „Verminderung  der  freien  Willens¬ 
bestimmung“  gehandelt.  Während  diese  Bestimmung  inhaltlich  einen  großen 
Fortschritt  bedeutet,  ist  sie  sprachlich  ebenfalls  nicht  zu  empfehlen,  trotz  ihres 
Anklanges  an  den  vielfach  verwendeten  Ausdruck  der  gemindeiten  Zurechnungs¬ 
fähigkeit.  Ich  habe  bei  der  Stuttgarter  Versammlung  der  internationalen  krimi¬ 
nalistischen  Vereinigung  vorgeschlagen,  für  diese  zu  setzen  „Geistige  Schwäche“ 
in  dem  Sinne,  wie  der  Begriff  in  §  6,  1  des  BGB.  betr.  Entmündigung  vorkommt. 
Es  wäre  dann  eine  außerordentlich  wünschenswerte,  klare  Beziehung  zwischen 
Strafgesetzbuch  und  BGB.  gegeben,  so  daß  bei  eventuellem  Freispruch  oder  ge¬ 
ringerer  Bestrafung  wegen  „Geistesschwäche“  die  Frage  der  Entmündigung 
gerichtlich  geprüft  werden  könnte.  Dies  erscheint  mir  gerade  bei  den  vielen 
Imbecillen,  die  unter  die  Bestimmung  der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit 
bzw.  Verminderung  der  freien  Willensbestimmung  fallen  werden,  durchaus  nötig. 
Übrigens  würde  sich  dadurch  eine  sehr  wünschenswerte  Übereinstimmung  mit  der 
Fassung  des  österreichischen  Entwurfs  ergeben,  der  lautet:  §  3.  Nicht  strafbar  ist, 
wer  zur  Zeit  der  Tat  wegen  Geistesstörung,  Geistesschwäche  oder  Bewußtseins- 


92  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Störung  nicht  die  Fähigkeit  besaß,  das  Unrecht  seiner  Tat  einzusehen,  oder  seinen 
Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen.“  Jedenfalls  bedeuten  die  genannten 
Zusätze  ihrem  Inhalte  nach  eine  wesentliche  Verschiebung  des  jetzigen  Stand¬ 
punktes  im  Sinne  einer  psychiatrischen  Auffassung  der  geistesschwachen  Bechts- 
brecher. 

Was  nach  der  eventuellen  Einführung  des  Begriffes  der  Geistesschwäche  als 
Strafausschließungsgrund  von  dem  Sammelbegriff  der  geminderten  Zurechnungs¬ 
fähigkeit  bleibt,  würde  am  besten  unter  Anknüpfung  an  die  alte  empirisch¬ 
psychologische  Kasuistik  im  §  46  des  österreichischen  BStGB. ,  im  Sinne  einer 
weiteren  Ausbildung  der  mildernden  Umstände  in  subjektiver  Hinsicht,  in 
der  Form  eines  allgemeinen  Begriffes  unter  den  Ausdruck  der  mildernden  Um¬ 
stände  gebracht.  Der  Haupteinwurf,  den  man  gegen  diesen  Ausdruck  erheben 
konnte,  lag  darin,  daß  der  Ausdruck  zu  unklar  und  vieldeutig  sei.  Geschichtlich 
liegt  jedoch  das  Verhältnis  so,  wie  dies  aus  dem  österreichischen  BStGB.  hervor¬ 
geht,  daß  der  Ausdruck  Milderungsumstände  infolge  der  beigegebenen 
Kasuistik  einen  ausgeprägt  praktischen  Inhalt  gehabt  hat,  der  nur  in  der  Straf¬ 
gesetzgebung  allmählich,  was  die  subjektive  Seite  der  Sache  betrifft,  immer 
mehr  verloren  gegangen  ist,  bis  der  sehr  dehnbare  und  unbestimmte  Begriff  der 
mildernden  Umstände  im  jetzigen  deutschen  BStGB.  daraus  wurde.  Es  wird  aber 
sicher  möglich  sein,  den  alten  und  völlig  klaren  Begriff,  der  sich  seiner  Fassung 
nach  auf  die  Milderung  der  Strafe  bezieht,  auch  in  subjektiver  Beziehung 
zu  reformieren  und  dadurch  wieder  brauchbar  zu  machen.  Man  trenne  also  das 
sprachlich  und  psychologisch  unklare  Gebiet  der  verminderten  Zurechnungs¬ 
fähigkeit  in  zwei  Teile,  in  den  ersten,  der  das  Mittelgebiet  zwischen 
Geisteskrankheit  und  Geistesgesundheit  unter  dem  Ausdruck  der 
Geistesschwäche  umfaßt,  die  ebenso  wie  Geisteskrankheit  und  Bewußtlosig¬ 
keit  als  Strafausschließungsgrund  gelten  soll,  und  den  zweiten,  straf¬ 
rechtlichen  Teil,  welcher  unter  dem  Ausdruck  der  mildernden  Umstände  in 
subjektiver  Beziehung  die  Geisteszustände  umfaßt,  die  eine  mildere  Strafe 
bedingen,  während  im  übrigen  eine  psychiatrische  Behandlung  nicht  er¬ 
forderlich  ist.  Dadurch  würde  die  zurzeit  in  dem  Begriff  der  verminderten  Zu¬ 
rechnungsfähigkeit  gegebene  Zweideutigkeit  vermieden,  die  darin  beruht,  daß  ein 
Täter  wegen  seines  Geisteszustandes  einerseits  milder  bestraft,  andererseits 
psychiatrisch  behandelt  werden  soll.  Es  kann  dies  leicht  in  der  Praxis 
zu  einer  völligen  Verwirrung  von  Psychiatrie  und  Strafjustiz  führen.  Durch  die 
von  mir  vertretene  Auflösung  des  Gebietes  in  eine  psychiatrische  und 
strafrechtliche  Gruppe  würde  für  die  Bechtsprechung  meines  Erachtens  eine 
viel  klarere  Grundlage  gegeben  sein,  als  durch  den  Begriff  der  verminderten 
Zurechnungsfähigkeit  oder  der  Verminderung  der  freien  Willens¬ 
best  i  m  mung. 

Vergleichen  wir  damit  die  Fassung  des  österreichischen  Entwurfes.  In  diesem 
lautet  der  betreffende  §  4:  „War  die  Fähigkeit  des  Täters,  das  Unrecht  seiner 
Tat  einzusehen,  oder  seinen  Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen,  zur  Zeit 
der  Tat  infolge  eines  andauernden  krankhaften  Zustandes  wesentlich  vermindert, 
so  ist  an  Stelle  der  Todesstrafe  auf  lebenslangen  Kerker  zu  erkennen.  Hat  der 
Täter  eine  Freiheitsstrafe  verwirkt,  deren  Vollzug  in  ihrer  regelmäßigen  Art  seinen 
Zustand  verschlimmern  würde,  so  ordnet  das  Gericht  an,  daß  die  Strafe  nach  den 
der  Eigenart  solcher  Personen  angepaßten  Vorschriften  vollzogen  werde.  Der 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  93 

Vollzug  solcher  Strafen  findet  in  einer  besonderen  Strafanstalt  oder  in  einer  be¬ 
sonderen  Abteilung  einer  Strafanstalt,  oder  eines  Gefangenhauses  statt.“ 

Hier  wird  also  ebenfalls,  wie  im  deutschen  Entwürfe,  nicht  von  verminderter 
Zurechnungsfähigkeit  gesprochen,  sondern  von  einer  Verminderung  der  Fähigkeit 
das  Unrecht  der  Tat  einzusehen,  oder  den  Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  be¬ 
stimmen.  Diese  Begriffsbestimmung  steht  in  klarer  Beziehung  zu  der  Fassung 
des  §  3,  ebenso  wie  im  deutschen  Entwürfe  die  Ausdrucksweise  des  §  63  Absatz  2 
zu  der  Fassung  des  §  63  Absatz  1  in  Beziehung  steht.  Die  oben  gegebene  Ver¬ 
gleichung  der  Begriffe  trifft  also  auch  für  diese  verschiedenartigen  Formulierungen 
der  verminderten  Zurechnungsfähigkeit  zu.  Im  deutschen  Entwürfe  herrscht  der 
Ausdruck:  freie  Willensbestimmung,  im  österreichischen  Entwürfe  der 
Doppel- Ausdruck :  Fähigkeit,  das  Unrecht  einzu sehen  oder  seinen 
Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen.  Aus  obiger  Darstellung 
ergibt  sich  demgemäß  folgendes:  Wenn  man  im  §  63  des  deutschen  Entwurfes 
den  Zusatz  betr.  freie  Willensbestimmung  streicht  und  dementsprechend  im 
österreichischen  Entwurf  den  Zusatz  betr.  Fähigkeit  des  Täters,  das  Unrecht 
seiner  Tat  einzusehen  oder  seinen  Willen  dieser  Einsicht  gemäß  zu  bestimmen, 
so  fehlt  dementsprechend  im  §  63  Absatz  2  des  deutschen  Entwurfes  und  im  §  4 
des  österreichischen  Entwurfes  die  Voraussetzung  zu  der  dort  gegebenen  Formu¬ 
lierung.  In  beiden  neuen  Gesetzen  wäre  im  Sinne  unserer  Ausführungen,  nach 
dem  der  Begriff  der  Geistesschwäche  im  deutschen  Gesetz  eventuell  auf  ge¬ 
nommen  ist,  nur  auszudrücken,  daß,  wenn  bestimmte  psychische  Momente  als 
mildernde  Umstände  angerechnet  werden,  auf  eine  geringere  Strafe  erkannt 
werden  kann.  Im  Sinne  dieser  Auffassung  ist  die  in  den  beiden  Vorentwürfen 
gegebene  Weiterbehandlung  dieser  Verhältnisse  dann  völlig  logisch,  da  nach  dem 
deutschen  Entwürfe  Absatz  2  in  diesem  Falle  die  Vorschriften  über  den  Versuch 
Anwendung  finden. 

Diese  Art  der  Behandlung  ist  vom  Standpunkte  der  geringeren  Be¬ 
strafung  durchaus  folgerichtig,  während  sie  bei  Behandlung  von  Fällen,  die 
psychiatrisch  unter  den  Begriff  der  Geistesschwäche  fallen,  praktisch  zu  den 
größten  Fehlern  führen  würde.  — 

Im  deutschen  BStGB.  ist  die  Behandlung  der  Jugendlichen  durch  §  55  und 
56  geregelt. 

Diese  Paragraphen  lauten:  §  55.  „Wer  bei  Begehung  der  Handlung  das 
12.  Lebensjahr  nicht  vollendet  hat,  kann  wegen  derselben  nicht  strafrechtlich  ver¬ 
folgt  werden. 

Gegen  denselben  können  jedoch  nach  Maßgabe  der  landesgesetzlichen  Vor¬ 
schriften  die  zur  Besserung  und  Beaufsichtigung  geeigneten  Maßregeln  getroffen 
werden.  Insbesondere  kann  die  Unterbringung  in  einer  Erziehungs-  oder  Besserungs¬ 
anstalt  erfolgen,  nachdem  durch  Beschluß  der  Vormundschaftsbehörde  die  Begehung 
der  Handlung  festgestellt  und  die  Unterbringung  für  zulässig  erklärt  ist. 

’  §  56.  Ein  Angeschuldigter,  welcher  zu  einer  Zeit,  als  er  das  12.,  aber  nicht 

das  18.  Lebensjahr  vollendet  hatte,  eine  strafbare  Handlung  begangen  hat,  ist 
freizusprechen,  wenn  er  bei  Begehung  derselben  die  zur  Erkenntnis  ihrer  Straf¬ 
barkeit  erforderliche  Einsicht  nicht  besaß.“ 

Somit  ist  die  Altersgrenze  der  Strafbarkeit  am  Ende  des  12.  Lebensjahres. 
Diese  Begrenzung  ist  seit  langer  Zeit  von  vielen  Seiten  als  zu  niedrig  betrachtet 
worden,  da  die  allgemeine  Erfahrung  lehrt,  daß  auch  noch  darüber  hinaus  die 
nötige  Verstandesreife  und  Charakterentwicklung  nicht  vorhanden  ist.  Prinzipiell 


94  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

liegt  die  ganze  weitere  Entwicklung  der  Kriminalpolitik  in  den  unter  Ziffer  2 
gegebenen  Zusätzen  vorgebildet,  wonach  die  zur  Besserung  und  Beaufsichtigung 
erforderlichen  Maßregeln  getroffen  werden  können.  In  diesem  Punkte  setzt  die 
neuere  Eürsorgegesetzgebung  ein,  die  praktisch  von  der  größten  Tragweite  ist. 
Die  ganze  Weiterentwicklung  der  Strafjustiz,  wie  sie  in  wesentlichen  Punkten  in 
den  neuen  Entwürfen  vorliegt,  beruht  im  Grunde  auf  einer  Anwendung  der  bei 
der  Behandlung  der  Jugendlichen  unter  12  Jahren  durch  geführten  Grund¬ 
sätze  auf  bestimmte  Gruppen  von  Erwachsenen.  Man  kann  das  Verhältnis  so 
ausdrücken,  daß  diese  in  den  neuen  Strafgesetzbüchern  gewissermaßen  als  infantil 
behandelt  werden,  derart,  daß  man  nicht  Strafe,  sondern  Sicherheitsmittel  gegen 
sie  an  wendet.  Während  das  Verfahren  des  §  55  Ziffer  2  im  Prinzip  als  richtig 
erscheint,  erweckt  die  Behandlung  der  Jugendlichen  im  Alter  vom  12.  bis  zum 
18.  Jahr  nach  §  56  eine  Beihe  von  Bedenken.  Zunächst  ist  die  untere  Alters¬ 
grenze  zu  tief  angesetzt  und  muß  jedenfalls,  wie  dies  auch  in  dem  neuen  deutschen 
Entwürfe  vorgesehen  ist,  auf  14  Jahre  angenommen  werden;  sodann  hat  die 
Formulierung  des  Kriteriums,  bei  welchem  freizusprechen  ist,  einen  groben  Fehler. 
Dasselbe  bezieht  sich  lediglich  auf  die  zur  Erkenntnis  der  Strafbarkeit 
erforderliche  Einsicht.  Diese  ist,  wie  vergleichende  Untersuchungen  er¬ 
geben  haben,  einerseits  hei  ausgeprägt  Geisteskranken,  andererseits  bei  Jugend¬ 
lichen,  die  im  übrigen  eine  Reihe  von  psychopathischen  Zügen  haben,  ohne  aus¬ 
geprägt  geisteskrank  zu  sein,  oft  vorhanden,  erscheint  also  unter  keinen  Um¬ 
ständen  als  sicherer  Beweis  geistiger  Gesundheit.  Im  Gegenteil  sind  unter  der 
Herrschaft  dieses  Gesetzes  sicher  eine  große  Zahl  von  Jugendlichen  verurteilt 
worden,  die  zweifellos  viel  richtiger  in  einer  Besserungs-  oder  Erziehungsanstalt, 
oder  sogar  in  einer  Heilanstalt  für  psychische-  und  Nervenkrankheiten  aufgehoben 
gewesen  wären.  Ich  rechne  hierzu  vor  allem  die  mit  psychogenen  (hysterischen), 
epileptischen  oder  anderen  nervösen  Zuständen  behafteten  Jugendlichen,  die  trotz 
bestehender  Einsicht  in  die  Strafbarkeit  der  Handlung  entschieden  zu  den 
Psychopathen  gehören.  Ich  halte  es  für  unbestreitbar,  daß  die  Anwendung 
des  jetzigen  §  56  des  deutschen  RStGB.  eine  große  Zahl  von  Jugendlichen  in  das 
Gefängnis  führt,  die  dort  erst  auf  die  Bahn  des  Verbrechens  geraten,  während 
eine  andere,  oben  angedeutete  Behandlung  sie  in  das  soziale  Gleis  hätte  bringen 
können.  Durch  die  an  sich  vorzügliche  Einrichtung  der  Jugendgerichte  mag 
das  Verfahren  nach  §  56  im  einzelnen  gemildert  sein,  aber  man  darf  sich  nicht 
darüber  täuschen,  daß  der  Hauptfehler  in  der  Fassung  des  §  56  selbst  liegt,  in 
welchem  das  einseitige  intellektuelle  Kriterium  der  zur  Erkenntnis  der 
Strafbarkeit  erforderlichen  Einsicht  die  richtige  Beachtung  des  gesamten  Geistes¬ 
zustandes  bei  den  Jugendlichen  direkt  verhindert.  Praktisch  kommt  in  manchen 
Fällen  dadurch  ein  milderer  Zug  in  die  Rechtsprechung,  daß  in  neuerer  Zeit  die 
Jugendlichen  öfter  nicht  nur  streng  im  Sinne  des  §  56  in  bezug  auf  die  zur  Er¬ 
kenntnis  der  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht  geprüft  werden,  sondern  das  mehr 
allgemeine  Merkmal  der  Verstandesreife  in  den  Vordergrund  gerückt  wird, 
so  daß  sich  eine  veränderte  Auffassung  in  psychologischer  Beziehung  schon  auf 
diesem  Wege  zum  Teile  vollzogen  hat.  Jedoch  auch  dieser  entschieden  weitere 
Begriff  der  mangelnden  Verstandesreife  ist  nicht  ausreichend,  um  die 
psychologischen  und  psychopathischen  Momente  bei  jugendlichen  Rechtsbrechern 
zu  umfassen.  Es  wäre  daher  in  diesem  Sinne  viel  richtiger,  einen  allgemeineren 
Begriff  einzuführen,  der  auszudrücken  hätte,  daß  die  Jugendlichen  freizusprechen 
sind,  wenn  trotz  Abwesenheit  ausgeprägter  Formen  von  Geistesstörungen  psycho- 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  95 

pathische  Züge  bei  der  Handlung  wesentlich  bestimmend  waren.  Selbstver¬ 
ständlich  würde  auch  bei  dieser  Formulierung  entsprechend  dem  Verfahren  bei 
Jugendlichen  bis  zum  12.  Jahr  der  Zusatz  bestehen  bleiben,  daß  die  zur  Besse¬ 
rung  und  Beaufsichtigung  geeigneten  Maßregeln  ergriffen  werden  können.  Hierzu 
müßte  noch  die  gesetzliche  Möglichkeit  kommen,  daß  ans  solchen  Gründen  frei¬ 
gesprochene  Jugendliche  speziell  bei  hysterischen,  epileptischen  und  anderen  An¬ 
lagen  zur  Behandlung  in  eine  Anstalt  für  Psychischnervöse  (nicht  in  eine  Irren¬ 
anstalt)  eingewiesen  werden  können.  Vergleichen  wir  mit  diesen  Ausführungen 
die  Fassungen  des  deutschen  Entwurfs,  so  zeigt  sich  folgendes:  Es  kommen 
außer  dem  Vorentwurf  wesentlich  in  Betracht  die  §§  68  bis  70,  die  folgender¬ 
maßen  lauten: 

㤠 68.  Nicht  strafbar  ist,  wer  bei  der  Begehung  der  Handlung  das  14. 
Lebensjahr  nicht  vollendet  hat. 

§  69.  Hatte  der  Täter  zur  Zeit  der  Tat  das  18.  Lebensjahr  nicht  vollendet, 
so  sind  hinsichtlich  der  Bestrafung  die  Vorschriften  über  den  Versuch  (§  76)  an¬ 
zuwenden,  doch  darf  auf  lebenslängliches  Zuchthaus  nicht  erkannt  werden.  Ist 
die  danach  bestimmte  Strafe  Zuchthaus,  so  tritt  Gefängnisstrafe  von  gleicher 
Dauer  an  ihre  Stelle.  Auf  Verschärfung  des  Strafvollzugs  (§  18),  Arbeitshaus 
(§  42),  Verlust  der  bürgerlichen  Ehrenrechte  (§§  46  bis  49)  und  Aufenthalts¬ 
beschränkung  (§  53)  ist  nicht  zu  erkennen. 

Erscheint  die  Tat  hauptsächlich  als  Folge  mangelhafter  Erziehung,  oder  ist 
sonst  anzunehmen,  daß  Erziehungsmaßregeln  erforderlich  sind,  um  den  Täter  an 
ein  gesetzmäßiges  Leben  zu  gewöhnen,  so  kann  das  Gericht  neben  oder  an  Stelle 
einer  Freiheitsstrafe  seine  Überweisung  zur  staatlich  überwachten  Erziehung  an¬ 
ordnen.  Die  Art  und  Dauer  der  Erziehungsmaßregeln  bestimmen  sich  nach  den 
hierfür  bestehenden  Gesetzen,  doch  kann  das  Gericht  die  Unterbringung  in  eine 
Erziehungs-  oder  Besserungsanstalt  vorschreiben. 

§  70.  Die  Freiheitsstrafen  gegen  Jugendliche  sind  in  besonderen,  für  sie 
ausschließlich  bestimmten  Anstalten  oder  Abteilungen  zu  vollstrecken.  Dabei  sind 
die  vollzurechnungsfähigen  Jugendlichen  von  vermindert  Zurechnungsfähigen  voll¬ 
ständig  abzusondern.  Freiheitsstrafen  gegen  vermindert  zurechnungsfähige 
Jugendliche  können  auch  in  staatlich  überwachten  Erziehungs-,  Heil-  oder  Pflege¬ 
anstalten  vollzogen  werden  — Das  Wesentliche  in  diesen  Bestimmungen  ist 
folgendes: 

1.  Die  Altersgrenze  ist  auf  den  Schluß  des  14.  Lebensjahres  hinaufgesetzt. 
2.  Die  Freiheitsstrafen  gegen  die  Jugendlichen  sind  in  einer  Weise  geregelt,  die 
dem  bisher  üblichen  Verfahren  gegenüber  wesentliche  Fortschritte  bedeutet.  Vor 
allem  ist  dabei  die  Trennung  der  Jugendlichen  in  vollzurechnungsfähige  und  ver¬ 
mindert  zurechnungsfähige  Jugendliche  von  Bedeutung,  wobei  die  vermindert 
Zurechnungsfähigen  sich  zum  Teil  mit  den  oben  angedeuteten  Gruppen  der 
Hysterischen,  Epileptoiden  usw.  decken.  Dazu  kommt,  daß  die  Freiheitsstrafen 
gegen  vermindert  zurechnungsfähige  Jugendliche  in  staatlich  überwachten  Er¬ 
ziehungs-,  Heil-  oder  Pflegeanstalten  vollzogen  werden  können.  Es  entsteht  da¬ 
durch  eine  ganz  eigentümliche  Verknüpfung  von  Strafjustiz  und  Heilbehandlung, 
weil  die  in  den  Heilanstalten  untergebrachten  vorher  zuerst  zu  Freiheits¬ 
strafen  verurteilt  werden,  während  sie  dann  erst  der  Heilanstalt  im  Straf¬ 
vollzug  überwiesen  werden.  Denkt  man  sich  bestimmte  Heilanstalten,  die  eine 
Reihe  von  derartigen  zu  Freiheitsstrafen  verurteilten  Jugendlichen  aufnehmen, 
so  ist  zu  erwarten,  daß  solche  Heilanstalten  von  dem  Volke  in  absehbarer  Zeit 


96  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

überhaupt  nicht  mehr  als  Heilanstalt,  sondern  als  Strafanstalt  betrachtet  werden. 
Es  liegt  also  eine  praktisch  bedenkliche  Verbindung  von  Strafjustiz 
mit  Psychiatrie  vor.  Viel  richtiger  wäre  es,  durch  die  Fassung  des  Gesetzes 
zu  ermöglichen,  daß  die  sog.  vermindert  zurechnungsfähigen  Jugendlichen  von 
vornherein  wegen  ihres  Geisteszustandes  überhaupt  freigesprochen  werden, 
während  für  diese  Fälle  ihre  Unterbringung  in  einer  Heilanstalt  gesetzlich  er¬ 
möglicht  werden  müßte.  Nur  dadurch,  daß  man  schon  im  Moment  der  Recht¬ 
sprechung  diese  vermindert  zurechnungsfähigen  Jugendlichen  ausgliedert,  und 
sie  einer  entsprechenden  Behandlung  überweist,  kann  man  die  durch  den  §  70 
gegebene  Verwirrung  beseitigen.  Immerhin  muß  ich  zugeben,  daß  trotz  dieser 
Bedenken  der  §  70  im  Verhältnis  zu  dem  jetzigen  durch  §  56  gegebenen  Rechts- 
'  zustand  einen  wesentlichen  Fortschritt  bedeutet. 

Leider  kann  dies  für  das  im  §  69  enthaltene  Kriterium  der  Strafbarkeit  bei 
Jugendlichen  nicht  in  diesem  Grad  behauptet  werden.  Ich  verweise  hierbei  auf 
das  oben  zur  Kritik  der  zur  Erkenntnis  der  Strafbarkeit  erforderlichen  Einsicht 
Vorgebrachte.  Im  §  69  des  deutschen  Entwurfes  wird  lediglich  auf  den  Fall 
hingewiesen,  daß  die  Tat  als  Folge  mangelhafter  Erziehung  erscheint  oder  daß 
sonst  anzunehmen  ist,  daß  Erziehungsmaßregeln  erforderlich  sind,  um  den  Täter 
an  ein  gesetzmäßiges  Leben  zu  gewöhnen.  Auch  diese  Formulierung  schenkt 
ebenso  wie  die  des  jetzt  geltenden  §  56  des  deutschen  RStGB.  den  psychiatrischen 
Erfahrungen  über  Jugendliche  nicht  genügende  Beachtung  und  sollte  in  obigem 
Sinn  verändert  werden. 

In  dem  österreichischen  RStGB.  ist  das  Verfahren  gegen  Jugendliche  durch 
folgende  Bestimmungen  geregelt:  §  2.  Daher  wird  die  Behandlung  oder  Unter¬ 
lassung  nicht  als  Verbrechen  zugerechnet;  d)  wenn  der  Täter  noch  das  14.  Jahr 
nicht  zurückgelegt  hat. 

Ferner  durch  §§  237  und  269.  Diese  lauten: 

§  237.  Die  strafbaren  Handlungen,  die  von  Kindern  bis  zu  dem  vollendeten 
10.  Jahre  begangen  werden,  sind  bloß  der  häuslichen  Züchtigung  zu  überlassen: 
aber  von  dem  abgehenden  11.  bis  zu  dem  vollendeten  14.  Jahre  werden  Hand¬ 
lungen,  die  nur  wegen  Unmündigkeit  des  Täters  nicht  als  Verbrechen  zugerechnet 
werden  (§  2,  lit.  d),  als  Übertretung  bestraft  (§§  269  und  270). 

§  269.  Unmündige  können  auf  zweifache  Art  schuldig  werden: 

a)  durch  strafbare  Handlungen,  welche  nach  ihrer  Eigenschaft  Verbrechen 
wären,  aber,  wenn  sie  Unmündige  begehen,  nach  §  237  nur  als  Übertretungen 
bestraft  werden: 

b)  durch  solche  strafbaren  Handlungen,  welche  schon  an  sich  nur  Vergehen 
oder  Übertretungen  sind. 

In  diesen  Bestimmungen  ist  wesentlich  die  Hinaufrückung  der  Altersgrenze 
auf  14  Jahre.  Hier  haben  wir  die  eigentümliche  Erscheinung  vor  uns,  daß  in  dem 
älteren  aus  dem  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts  stammenden  österreichischen 
StGB,  in  bezug  auf  die  Altersgrenze  eine  mildere  Auffassung  herrschte, 
als  in  dem  späteren  deutschen  RStGB.,  und  daß  bei  der  Umformung  des  deutschen 
RStGB.  in  dem  vorhandenen  Vorentwurf  inhaltlich  auf  den  Zustand  des  viel 
älteren  österreichischen  StGB,  zurückgegriffen  wird.  Allerdings  bedeutet  die  Be¬ 
stimmung  des  §  237  des  österreichischen  StGB.,  wonach  von  dem  11.  bis  zum 
vollendeten  14.  Jahre  Handlungen,  die  nur  wegen  Unmündigkeit  des  Täters  nicht 
als  Verbrechen  zugerechnet  werden,  als  Übertretung  bestraft  werden  sollen, 
wiederum  eine  Verschärfung,  die  praktisch  in  vielen  Fällen  zu  einer  härteren 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  97 

Behandlung  von  Jugendlichen  führen  konnte,  als  dies  nach  dem  §  56  des  deutschen 
BStGB.  möglich  war.  Im  übrigen  ist  die  Bestrafung  der  Jugendlichen  im  öster¬ 
reichischen  Gesetz  im  3.  Hauptstück  von  der  Bestrafung  der  Unmündigen  durch 
§  270  bis  273  geregelt.  In  diesen.  Bestimmungen  sind  schon  Ansätze  vorhanden, 
die  in  den  Bestimmungen  des  deutschen  Entwurfs  in  der  dargestellten  Weise  ent¬ 
wickelt  worden  sind. 

In  dem  österreichischen  Entwurf  finden  sich  die  betr.  Bestimmungen  in 

o 

folgenden  Paragraphen : 

§  5.  „Wer  zur  Zeit  der  Tat  das  14.  Jahr  nicht  vollendet  hat,  ist  nicht  strafbar. 
Der  Unmündige  wird  der  Fürsorgeerziehung  überwiesen,  sofern  die  häusliche  Zucht 
nicht  ausreicht.“ 

§  6.  „Wer  zur  Zeit  der  Tat  im  Alter  vom  vollendeten  14.  bis  zum  vollendeten 
18.  Lebensjahre  stand  (Jugendlicher),  ist  nicht  strafbar,  wenn  er  wegen  zurück¬ 
gebliebener  Entwicklung  oder  mangels  der  geistigen  Beife  nicht  die  Fähigkeit 
besaß,  das  Unrecht  seiner  Tat  einzusehen,  oder  seinen  Willen  dieser  Einsicht  ge¬ 
mäß  zu  bestimmen. 

Ein  Jugendlicher,  der  aus  diesem  Grunde  nicht  strafbar  ist,  wird  der  Für¬ 
sorgeerziehung  überwiesen,  sofern  die  häusliche  Zucht  nicht  ausreicht.“ 

Diese  Fassung  stimmt  in  bezug  auf  die  Altersgrenze  mit  dem  deutschen 
Entwurf  überein.  Auch  die  Überweisung  in  Fürsorgeerziehung  stimmt  im  wesent¬ 
lichen  mit  dem  deutschen  Entwurf,  dagegen  enthält  der  §  6,  welcher  die  eventuelle 
Bestrafung  vom  14.  bis  zum  18.  Jahre  regelt,  Bestimmungen,  die  von  der  Fassung 
des  deutschen  Entwurfs  wesentlich  abweichen.  Der  Jugendliche  ist  nicht  strafbar, 
wenn  er  wegen  zurückgebliebener  Entwicklung  oder  mangels  geistiger  Beife  nicht 
die  Fähigkeit  besaß,  das  Unrecht  seiner  Tat  einzusehen  oder  seinen  Willen  dieser 
Einsicht  gemäß  zu  bestimmen.  In  letzteren  Ausdrücken  kehren  die  Begriffe 
wieder,  die  sich  im  §  3  des  österreichischen  Entwurfs  finden.  Außerdem  werden 
aber  psychologische  Kriterien  genannt,  die  den  Ausschluß  von  Strafe  bedingen; 
die  Begriffe:  „zurückgebliebene  Entwicklung  und  Mangel  an  Geistesreife“  sind 
viel  umfassender  als  die  Bestimmungen  des  geltenden  deutschen  Bechtes  (§  56: 
„Die  zur  Erkenntnis  der  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht“)  und  des  deutschen 
Entwurfs  §  69,  in  welchem  lediglich  von  mangelnder  Erziehung  ge¬ 
sprochen  wird. 

Ich  halte  die  österreichische  Fassung,  soweit  sie  die  psychologischen  Kenn¬ 
zeichen  betrifft,  bei  welchen  Jugendliche  nicht  bestraft  werden  sollen,  für  besser, 
als  die  bisher  gültigen  Fassungen  des  österreichischen  und  deutschen  Gesetzes, 
und  auch  des  deutschen  Entwurfs.  In  diesem  Punkte  scheint  mir  also  der  öster¬ 
reichische  Entwurf  relativ  mehr  empfehlenswert  zu  sein,  als  der  deutsche,  wenn 
ich  vom  psychiatrischen  Standpunkt  auch  lieber  die  Bestimmung  im  Sinne  der 
obigen  Fassung  erweitert  sehen  möchte,  welche  die  psychopathischen  Züge 
bei  Jugendlichen  im  allgemeinen  berücksichtigt. 

Im  deutschen  BStGB.  ist  eine  besondere  Strafbestimmung,  die  sich  auf  den 
Alkoholismus  bezöge,  nicht  vorhanden,  so  daß  man  im  einzelnen  Fall  auf  die 
Fassung  des  §  51  angewiesen  ist.  Dabei  handelt  es  sich  in  der  Begel  um  die 
Frage,  ob  im  Sinne  des  §  51  ein  Zustand  von  Bewußtlosigkeit  vorhanden 
war  oder  nicht.  In  der  Begel  sind  auf  diesen  Begriff  hin  oder  auf  den  noch 
allgemeineren  der  Schwerbetrunkenheit  die  an  die  Zeugen  gerichteten 
Fragen  formuliert,  und  in  der  Begel  tritt,  wenn  nicht  ein  Zustand  völliger  Be¬ 
trunkenheit  nachgewiesen  werden  kann,  Verurteilung  ein.  Die  dabei  als  Zeichen 
Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VIT.  ? 


98  -^ns  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

der  völligen  Betrunkenheit  in  der  Hegel  gemeinten  Symptome  (starkes  Schwanken 
beim  Gehen,  lallende  Sprache,  starke  Störung  des  logischen  Zusammenhangs)  sind 
zu  eng,  um  die  verschiedenen  Formen  von  Geistesstörungen  zu  umfassen,  die  durch 
Alkohol  z.  B.  bei  alkohol-intoleranten  Menschen  manchmal  durch  nur  kleine  Dosen 
von  alkoholischen  Getränken  ausgelöst  werden  können.  Für  diese  Fälle  kann  also 
das  Gutachten  den  viel  allgemeineren  Begriff  der  krankhaften  Störung  der  Geistes¬ 
tätigkeit  aus  dem  §  51  heranziehen,  in  der  Regel  wird  der  Psychiater  aber  gar 
nicht  gefragt,  wenn  es  sich  um  die  Folgen  des  Alkoholismus  handelt.  Die  Zahl 
der  Fälle,  in  denen  bei  Alkoholdelikten  ein  psychiatrischer  Sachverständiger  über¬ 
haupt  vor  Gericht  erscheint,  ist  sicher  relativ  nur  sehr  gering. 

Vor  allem  fehlt  in  dem  bisherigen  deutschen  Gesetz  auch  jede  Bestimmung 
über  Behandlung  der  chronischen  Alkoholisten.  Nun  ist  allerdings  durch  die  Be¬ 
stimmungen  über  die  Entmündigung  nach  §  6,3  des  BGB.  eine  vollkommen  neue 
Bahn  für  die  soziale  Behandlung  der  Alkoholisten  gegeben.  Diese  Bestimmung 
lautet : 

§  6.  „Entmündigt  kann  werden: 

1.  Wer  infolge  von  Geisteskrankheit  oder  von  Geistesschwäche  seine  Ange¬ 
legenheiten  nicht  zu  besorgen  vermag. 

2.  Wer  durch  Verschwendung  sich  oder  seine  Familie  der  Gefahr  des  Not¬ 
standes  aussetzt. 

3.  Wer  infolge  von  Trunksucht  seine  Angelegenheiten  nicht  zu  besorgen 
vermag  oder  sich  oder  seine  Familie  der  Gefahr  des  Notstandes  aussetzt  oder  die 
Sicherheit  anderer  gefährdet.  Die  Entmündigung  ist  wieder  aufzuheben,  wenn 
der  Grund  der  Entmündigung  wegfällt.“ 

Es  ist  sicher,  daß  besonders  durch  die  Bestimmung  über  die  Entmündigung 
der  Alkoholisten,  die  die  Sicherheit  anderer  gefährden,  der  Strafjustiz  eine  Reihe 
von  Fällen  auf  diesem  Wege  eutzogen  und  in  geeigneter  Weise  untergebracht 
werden  können,  die  sonst  vergeblich  mit  Strafe  belegt  worden  wären.  Somit  ist 
das  BGB.  gewissermaßen  stellvertretend  für  den  strafrechtlichen  Einfluß  einge¬ 
treten.  Im  neuen  deutschen  Entwurf  finden  wir  dagegen  mehrere  Bestimmungen, 
in  denen  die  Alkoholisten  besonders  genannt  sind.  Zunächst  sind  in  §  63,2  bei 
dem  Abschnitt  über  Verminderung  der  freien  Willensbestimmung  ausdrücklich  die 
Zustände  selbstverschuldeter  Trunkenheit  ausgenommen,  dementsprechend  ist  im 
§  64  folgende  besondere  Bestimmung  gegeben: 

„War  der  Grund  der  Bewußtlosigkeit  selbstverschuldete  Trunkenheit  und 
hat  der  Täter  in  diesem  Zustand  eine  Handlung  begangen,  die  auch  bei  fahr¬ 
lässiger  Begehung  strafbar  ist,  so  tritt  die  für  die  fahrlässige  Begehung  ange¬ 
drohte  Strafe  ein.“ 

Schließlich  werden  die  Alkoholisten  im  §  65  in  einem  besonderen  Zusatz  be¬ 
handelt,  der  lautet:  „Wird  jemand  auf  Grund  des  §  63  Abs.  1  freigesprochen, 
oder  außer  Verfolgung  gesetzt,  oder  auf  Grund  des  §  63  Abs.  2  zu  einer  milderen 
Strafe  verurteilt,  so  hat  das  Gericht,  wenn  es  die  öffentliche  Sicherheit  erfordert, 
seine  Verwahrung  in  einer  öffentlichen  Heil-  oder  Pflegeanstalt  anzuordnen.  War 
der  Grund  der  Bewußtlosigkeit  selbstverschuldete  Trunkenheit, 
so  finden  auf  den  Freigesprochenen  oder  außer  Verfolgung  Ge¬ 
setzten  außerdem  die  Vorschriften  des  §  43  über  die  Unterbrin¬ 
gung  in  eine  Trinkerheilanstalt  entsprechende  Anwendung.“ 

Somit  ist  nach  der  vielfachen  literarischen  Behandlung  der  Gemeingefährlich¬ 
keit  der  Alkoholisten  in  den  Entwurf  des  neuen  Gesetzes  eine  ganze  Reihe  von 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  99 

neuen  Bestimmungen  hineingekommen,  die  entsprechend  den  Bestrebungen  im  BGB. 
auf  eine  richtige  Unterbringung  der  Alkoholisten  hinzielen. 

Vergleichen  wir  hiermit  die  Fassung  des  österreichischen  StGB.,  so  ergibt 
sich  folgendes: 

Es  findet  sich  hier  im  §  2  c  eine  ausdrückliche  Bestimmung  über  die  Be¬ 
handlung  der  alkoholistischen  Geistesstörungen.  Es  heißt  dort  im  §  2c:  „Daher 
wird  die  Handlung  oder  Unterlassung  nicht  als  Verbrechen  zugerechnet,  wenn  sie 
c)  in  einer  ohne  Absicht  anf  das  Verbrechen  zugezogenen  völligen  Berauschung 
(§  236  und  523)  oder  anderen  Sinnverwirrung,  in  welcher  der  Täter  sich  seiner 
Handlung  nicht  bewußt  war,  begangen  worden.“ 

Die  damit  in  Beziehung  stehenden  §§  236  und  523  lauten  folgendermaßen: 

„§  236.  Obgleich  Handlungen,  die  sonst  Verbrechen  sind,  in  einer  zufälligen 
Trunkenheit  verübt,  nicht  als  Verbrechen  angesehen  werden  können  (§  2  lit.  c) 
so  wird  in  diesem  Falle  dennoch  die  Trunkenheit  als  eine  Übertretung  bestraft 
(§  523). 

§  523.  Trunkenheit  ist  an  demjenigen  als  Übertretung  zu  bestrafen,  der  in 
der  Berauschung  eine  Handlung  ausgeübt  hat,  die  ihm  außer  diesem  Zustande 
als  Verbrechen  zugerechnet  würde  (236).  Die  Strafe  ist  Arrest  von  einem  bis  zu 
drei  Monaten.  War  dem  Trunkenen  aus  Erfahrung  bewußt,  daß  er  in  der  Be¬ 
rauschung  heftigen  Gemütsbewegungen  ausgesetzt  sei,  so  soll  der  Arrest  ver¬ 
schärft,  bei  größeren  Übeltaten  aber  auf  strengeren  Arrest  bis  zu  sechs  Monaten 
erkannt  werden.“  — 

Es  ist  vom  geschichtlichen  Standpunkt  ersichtlich,  daß  in  dem  geltenden 
österreichischen  KStGB.,  das  viel  älter  ist,  als  das  geltende  deutsche  Gesetz,  viel 
ausführlichere  Bestimmungen  über  die  Behandlung  der  Alkoholisten  vorhanden 
sind,  als  in  dem  geltenden  deutschen  Gesetz.  Es  ist  also  in  diesem,  wovon  man 
sich  überzeugen  kann,  eine  Reihe  von  Gesichtspunkten  verloren  gegangen,  die  in 
dem  österreichischen  Gesetz  schon  vorhanden  waren.  Begriffsgeschichtlich  hängt 
dies  offenbar  damit  zusammen,  daß  infolge  der  Schaffung  eines  allgemeinen  Be¬ 
griffes  „krankhafte  Störung  der  Geistestätigkeit“  im  geltenden  deutschen  Gesetz¬ 
buch  eine  Reihe  von  Einzelbestimmungen,  speziell  auch  die  über  die  Betrunken¬ 
heit,  zunächst  weggefallen  sind.  Der  neue  deutsche  Entwurf  greift 
also  merkwürdigerweise  in  diesem  Punkt  wieder  auf  einen 
früheren  Zustand  zurück.  Über  den  Wert  dieses  Verfahrens  vom  Stand¬ 
punkt  der  psychiatrischen  Begriffsbildung  wollen  wir  hier  nicht  streiten.  Jeden¬ 
falls  entspricht  die  Einführung  besonderer  Bestimmungen  über  die  Alkoholisten 
den  gegenwärtigen  in  psychiatrischen  und  juristischen  Kreisen  wohl  überall  vor¬ 
handenen  Neigungen,  offenbar,  weil  die  Bestimmungen  des  §  51  tatsächlich  für 
viele  Fälle  von  alkoholistischen  Straftaten  Unklarheit  gelassen  haben,  und  weil 
besonders  für  die  praktische  Behandlung  der  chronischen  Alkoholisten  keine  ge¬ 
eigneten  Maßregeln  getroffen  waren.  Dementsprechend  finden  sich  auch  in  dem 
österreichischen  Entwurf  besondere  Bestimmungen;  allerdings  beziehen  sich  diese 
nicht  auf  eine  Änderung  des  §  3  über  die  Zurechnung,  sondern  auf  eine  weitere 
Entwicklung  der  schon  in  dem  geltenden  österreichischen  Gesetz  vorgesehenen 
Sicherungsmittel  gegen  die  Alkoholisten. 

Es  kommt  hier  besonders  der  §  36  des  österreichischen  Entwurfs  in  Betracht, 
der  folgendermaßen  lautet:  „Ein  Geisteskranker  oder  Trunksüchtiger,  der 
eine  strenger  als  mit  sechs  Monaten  Freiheitsstrafe  bedrohte  Tat  begangen  hat 
und  wegen  Zurechnungsunfähigkeit  zur  Zeit  der  Tat  nicht  verfolgt  oder  nicht 

7* 


100  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

verurteilt  werden  kann,  wird  an  eine  staatliche  Anstalt  für  verbrecherische  Irre 
abgegeben,  wenn  er  wegen  seines  kranken  Zustandes  und  mit  .Rücksicht  auf  seinen 
Lebenswandel  und  die  Eigenart  seiner  Tat  als  besonders  gefährlich  für  die  Sitt¬ 
lichkeit,  oder  für  die  Sicherheit  der  Person  oder  des  Vermögens  (gemeingefährlich) 
anzusehen  ist.  Der  Kranke  bleibt  in  der  Anstalt,  so  lange  seine  Gemeingefähr¬ 
lichkeit  dauert.  Die  Entlassung  kann  endgültig  oder  auf  Widerruf  erfolgen. 

Ausländer  sind  nur  so  lange  zu  verwahren,  bis  sie  an  den  Heimatstaat  ab¬ 
gegeben  werden  können.“ 

Ferner  kommt  in  Betrecht  Art.  55  Seite  169  der  Einführungsbestimmungen, 
welcher  lautet:  „Die  baulichen  Herstellungen,  die  zur  Durchführung  der  Vor¬ 
schriften  der  §§  36  bis  38  und  243  StGB,  über  die  Verwahrung  gemeingefähr¬ 
licher  Geisteskranker,  Trunksüchtiger  und  geistesminderwertiger  Personen  und 
gemeingefährlicher  Verbrecher  notwendig  sind,  werden  innerhalb  fünf  Jahren  nach 
der  Kundmachung  des  Gesetzes  ausgeführt. 

Bis  zu  ihrer  Vollendung  sind  gemeingefährliche  Geisteskranke,  Trunk¬ 
süchtige  und  geistigminderwertige  Personen  in  den  bestehenden  öffentlichen 
Irrenanstalten  und  in  besonders  eingerichteten  Abteilungen  von  Strafanstalten  und 
gerichtlichen  Gefangenhäusern  zu  verwahren.  Die  Kosten  der  Verwahrung  in 
öffentlichen  Irrenanstalten  sind  zwischen  dem  Staat  und  den  Ländern  oder  Körper¬ 
schaften,  denen  sie  unterstehen,  zu  vereinbaren  und  vom  Staate  zu  tragen. 

Können  nicht  alle  Personen  in  dieser  Art  verwahrt  werden ,  so  kann  der 
Justizminister  die  Anwendung  der  Bestimmungen  der  §§  36  und  37  und  243  StGB, 
innerhalb  des  im  ersten  Absatz  angegebenen  Zeitraums  örtlich  oder  zeitlich  außer 
Wirksamkeit  setzen  oder  anordnen,  daß  nur  bestimmte  Kategorien  dieser  Personen 
zu  verwahren  sind.“ 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  die  Tendenz  des  deutschen  Entwurfs 
dem  im  geltenden  österreichischen  Kecht  und  in  dem  neuen  österreichischen  Ent¬ 
wurf  enthaltenen  Bestrebungen  durchaus  Rechnung  trägt,  so  daß  eine  einheitliche 
Fassung  des  deutschen  und  österreichischen  Entwurfs  in  diesen  Punkten  sicher 
leicht  zu  erreichen  sein  würde. 

V.  Durch  die  Behandlung  der  Alkoholisten  sind  wir  schon  speziell  in  das 
allgemeine  Gebiet  der  Sicherungs  maßregeln  übergegangen,  deren  Vermehrung 
und  weitere  Ausbildung  den  charakteristischen  Zug  der  neuen  Bestrebungen  Im 
Gebiete  der  Strafgesetzgebung  bildet.  In  diesem  Punkte  haben  sich  die  sämtlichen 
Bestrebungen,  die  sich  einerseits  bei  den  Psychiatern  durch  das  Studium  der 
psychopathischen  Anlage  und  der  chronischen  Abnormitäten,  andererseits  bei  den 
Juristen  durch  das  Studium  der  Bückfälligkeit  ergeben  haben,  verdichtet.  Hierin 
ist  der  Hauptumschwung  der  ganzen  Strafgesetzgebung  am  klarsten  ersichtlich. 
An  Stelle  von  Einzelstrafen  tritt  immer  mehr  die  Methode  der  allgemeinen 
Abwehr  gegen  bestimmte  zum  Rechtsbuch  neigende  Individuen  und 
Gruppen  von  Individuen.  Vom  geschichtlichen  Standpunkt  betrachtet,  liegt 
hier  eine  staatliche  Rezeption  der  Bestrebungen  vor,  die  scheinbar  zu  einer  Opposi¬ 
tion  gegen  das  bestehende  Strafrecht,  in  Wirklichkeit  zu  einer  fortschreiten¬ 
den  Beschränkung  der  persönlichen  Freiheit  von  sozial  schäd¬ 
lichen  Menschen  führen. 

Dabei  läßt  sich  erkennen,  daß  die  Sicherungsmaßregeln,  die  in  dem  geltenden 
deutschen  Gesetz  schon  für  die  Jugendlichen  vorgesehen  sind,  falls  die  Straf¬ 
taten  bis  zum  vollendeten  12.  Jahr  geschehen,  ferner  für  solche  Jugendliche,  die 
bei  einem  Alter  vom  vollendeten  12.  bis  zum  vollendeten  18.  Lebensjahre  die  zur 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  101 

Erkenntnis  der  Strafbarkeit  erforderliche  Einsicht  nicht  besitzen,  in  erweiterter 
Form  immer  mehr  auch  auf  bestimmte  Arten  von  erwachsenen  Kechts- 
b  rech  er n  ausgedehnt  werden.  Auf  die  Einzelheiten  kann  ich  bei  der  beschränkten 
Zeit  des  Vortrages  nicht  eingehen. 

Im  deutschen  RStGB.  kommen  in  bezug  auf  die  Sittlichkeitsver¬ 
brechen  die  £§  171  bis  184  in  Betracht.  Hiervon  haben  eine  ganze  Reihe  keine 
direkte  psychiatrische  Beziehung,  da  es  sich  um  Bestimmungen  handelt,  die  z.  B. 
den  Schutz  der  Ehe  (§171  und  172)  oder  den  sexuellen  Verkehr  von  Verwandten 
bestimmten  Grades  betreffen  (§  178)  oder  den  Schutz  von  Kindern,  Schülern,  Zög¬ 
lingen,  Anstaltsinsassen  bezwecken.  In  unserem  Zusammenhang  kommt  haupt¬ 
sächlich  in  Betracht  der  §  175,  der  lautet:  „Die  widernatürliche  Unzucht,  welche 
zwischen  Personen  männlichen  Geschlechts  oder  von  Menschen  mit  Tieren  begangen 
wird,  ist  mit  Gefängnis  zu  bestrafen;  auch  kann  auf  Verlust  der  bürgerlichen 
Ehrenrechte  erkannt  werden.“ 

In  diesem  Paragraphen  wird  unter  dem  Begriff  der  widernatürlichen  Unzucht 
einerseits  die  homosexuelle  Betätigung  zwischen  Personen  männlichen  Ge¬ 
schlechts,  andererseits  der  Verkehr  des  Menschen  mit  Tieren  (Bestialität)  zu- 
sammenbehandelt.  Schon  diese  Verbindung  von  zwei  Arten  von  Delikten,  die 
nach  der  psychologischen  Erfahrung  aus  völlig  verschiedenen  Geisteszuständen 
entspringen  können,  erscheint  durchaus  ungerechtfertigt.  Jedenfalls  sollten  diese 
beiden  Fälle  gesondert  behandelt  werden.  Dabei  ist  erkennbar,  daß  im  Gebiet 
der  Homosexualität  nur  der  mannmännliche  Verkehr  betroffen  wird,  während 
das  weibliche  Geschlecht  dabei  frei  ausgeht. 

Praktisch  deutet  sich  eine  mildere  Auffassung  der  homosexuellen  Beziehungen 
schon  dadurch  an,  daß,  wie  in  der  Anmerkung  der  Ausgabe  von  Julius  von 
Staudinger  zu  diesem  Paragraphen  gesagt  ist,  unter  widernatürlicher  Unzucht 
nur  die  eigentliche  Päderastie  (coitus  per  anum)  verstanden  wird,  während  z.  B. 
die  mutuelle  Onanie  davon  nicht  betroffen  wird.  Diese  Auslegung  des  Gesetzes 
bedeutet  im  geschichtlichen  Zusammenhang  eine  Milderung.  Im  Hinblick  auf 
die  vielfachen  Bestrebungen  zur  Aufhebung  dieser  ganzen  Bestimmung,  die  viel¬ 
leicht  in  einer  etwas  zu  sehr  übertriebenen  Weise  hervorgetreten  sind,  ist  es  von 
Interesse,  die  Fassung  des  deutschen  Entwurfs  zu  vergleichen.  In  diesem  lautet 
der  §  250  folgendermaßen: 

„§  250.  Die  widernatürliche  Unzucht  mit  einer  Person  gleichen  Geschlechts 
wird  mit  Gefängnis  bestraft. 

Ist  die  Tat  unter  Mißbrauch  eines  durch  Amts-  oder  Dienstgewalt  oder  in 
ähnlicher  Weise  begründeten  Abhängigkeitsverhältnisses  begangen,  so  tritt  Zucht¬ 
haus  bis  zu  fünf  Jahren,  bei  mildernden  Umständen  Gefängnis  nicht  unter  sechs 
Monaten  ein. 

Dieselbe  Strafe  trifft  denjenigen,  der  aus  dem  Betrieb  der  widernatürlichen 
Unzucht  ein  Gewerbe  macht. 

Die  Strafe  des  Abs.  1  findet  auch  auf  die  widernatürliche  Unzucht  mit  Tieren 
Anwendung.“ 

Es  ist  daraus  ersichtlich,  daß  zunächst  die  „Lücke“,  die  in  dem  bisher  gelten¬ 
den  Gesetz  in  bezug  auf  die  Homosexualität  der  Frauen  vorhanden  war,  ausge¬ 
füllt  worden  ist,  während  eine  Aufhebung  oder  Milderung  des  bestehenden  Gesetzes 
nicht  geschehen  ist.  Somit  haben  sich  in  diesem  Punkte  die  bisherigen  Bestrebungen 
als  völlig  erfolglos  erwiesen.  Ich  habe  mich  an  den  Agitationen  zur  völligen  Auf¬ 
hebung  von  §  175  des  deutschen  RStGB.  nicht  beteiligt,  weil  sie  mir  zu  weit  zu 


102  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

gehen  und  besonders  keinen  genügenden  Schutz  gegen  Verleitung  von  Jugend¬ 
lichen,  wenigstens  in  der  häufig  hervortretenden  Form  dieser  Bestrebungen,  zu 
bieten  schienen.  Andererseits  halte  ich  diese  völlige  Ignorierung  der  in  den 
letzten  Jahrzehnten  gemachten  Erfahrungen  über  die  sehr  häufige  psycho¬ 
pathische  Grundlage  der  Homosexualität  für  zu  weitgehend  und  spreche 
mich  dafür  aus,  daß  diesen  Momenten  in  der  Fassung  des  neuen  Gesetzes  Rechnung 
getragen  wird. 

Aus  dem  österreichischen  Entwurf  kommen  in  Betracht  die  §§  259  bis  283, 
wobei  die  Homosexualität  in  dem  §  269  behandelt  ist.  Dieser  lautet: 

㤠 269.  Wer  mit  einer  Person  desselben  Geschlechts  Unzucht  treibt,  wird 
mit  Gefängnis  von  einer  Woche  bis  zu  einem  Jahre  bestraft  (usw.).“ 

Diese  Bestimmungen  entsprechen  im  wesentlichen  denen  des  deutschen  Vor¬ 
entwurfs,  nur  ist  eine  Bestimmung  betr.  Bestialität  weder  hier  noch  in  einem 
sonstigen  Paragraphen  enthalten,  worüber  die  Erläuterungen  Auskunft  geben. 

Obige  Kritik  gilt  also  im  wesentlichen  auch  für  den  österreichischen 
Entwurf.  — 

Ohne  die  sexuellen  speziell  homosexuellen  Delikte  hier  weiter  zu  behandeln, 
möchte  ich  als  allgemeines  Resultat  der  Vergleichung  bezeichnen,  daß  sich  auf 
dem  Boden  der  Psychopathologie  eine  Übereinstimmung  des  deutschen  und  öster¬ 
reichischen  Strafgesetzes  erreichen  ließe.  Überblickt  man  die  nebeneinander  ge¬ 
stellten  Bestimmungen  des  deutschen  und  des  österreichischen  Gesetzes,  sowie  der 
vorliegenden  Vorentwürfe,  so  ist  erkennbar,  daß  sich  eine  Reihe  von  Erscheinungen 
zeigen,  die  sich  nur  aus  der  allgemeinen  Geschichte  der  psychiatrischen 
Begriffe  und  aus  der  kriminalpsychologischen  Entwicklung  vom 
Ende  des  18.  bis  zum  Anfang  des  20.  Jahrhundert  erklären.  Die 
psychiatrischen  Vorstellungen,  die  in  das  Strafgesetzbuch  eindringen,  sind  im 
Grunde  Niederschläge  der  vorher  in  der  psychiatrischen  Fachentwicklung  und  in 
der  juristisch-psychiatrischen  Diskussion  herauskristallisierten  Ideen.  Je  klarer 
man  dieses  begriffsgeschichtliche  Verhältnis  erkennt,  desto  deutlicher  treten  die 
Grundzüge  der  ganzen  Strafrechtsentwicklung,  soweit  sie  besonders  von  psych¬ 
iatrischen  und  kriminalpsychologischen  Erkenntnissen  bedingt  sind,  hervor.  Die 
Strafgesetzgebung  einer  Zeit  wird  um  so  richtiger  sein,  je  mehr  sie  den  wirk¬ 
lichen  Inhalt  von  Erfahrungstatsachen  aus  diesem  empirisch-psychologischen  Ge¬ 
biet  berücksichtigt  und  dabei  die  angepaßten  Formen  des  sozialen  Schutzes  gegen 
gemeinschädliche  Handlungen  findet.  Sicher  ist,  daß  im  Gegensatz  zu  dem  lange 
Zeit  geltenden  Grundsatz  der  Bestrafung  einzelner  Handlungen  immer 
mehr  der  Gedanke  einer  Behandlung  der  Gesamtpersönlichkeit  des 
Täters  in  den  Entwürfen  zum  Vorschein  kommt.  Die  von  vielen  in  Beginn 
dieser  Bewegung  befürchteten  Schädigungen  der  Staatsordnung  durch  die  modernen 
anthropologischen  und  psychiatrischen  Auffassungen  sind  nicht  erfolgt,  sondern  es 
hat  sich  im  Gegenteil  das  Eingreifen  der  Staatsgewalt  in  das  ganze  Leben  von 
Personen,  die  vermöge  ihrer  Geistesbeschaffenheit  zum  Rechtsbruch  neigen,  in  viel 
stärkerem  Maße  vollzogen,  als  dieses  bisher  unter  der  Herrschaft  einer  ein¬ 
seitigen  Strafidee  der  Fall  war.  Bei  der  weiteren  Behandlung  der  Vorent¬ 
würfe  ist  es  vor  allem  nötig,  daß  in  möglichst  weitgehendem  Maße  der  durch 
psychiatrische  und  kriminalpsychologische  Studien  herausgestellte  Tatbestand  über 
das  Zustandekommen  von  Straftaten  eingehend  berücksichtigt  wird  und  als  Ma߬ 
stab  bei  der  Behandlung  der  Vorentwürfe  in  dieser  Beziehung  zur  Geltung  kommt. 


Aus  der  Gesellschaft  für.  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  103 


Sitzung  vom  1.  Dezember  1910. 

Herr  J.  Heller  trägt  vor  über  „Vergleichende  Morbiditätsstatistik  der 
weiblichen  kaufmännischen  Angestellten  und  der  Dienstboten44.  Die  soge¬ 
nannte  „Frauenbewegung“  hat  einen  vollen  Sieg  errungen,  die  meisten  Berufe 
sind  der  Frau  zugängig;  jede  Volks-  und  Berufszählung  weist  die  zunehmende 
„Industrialisierung“  der  Frau  nach;  die  letzte  statistische  Angabe  ergibt  bereits 
972  Millionen  berufstätiger  Frauen.  Freilich  die  Fülle  des  Segens,  die  mit  diesem 
Fortschritt  verbunden  sein  sollte,  ist  bisher  nicht  recht  zutage  getreten.  Ernst 
weisen  Volkswirte  und  Politiker  auf  die  rapide  fallende  Geburtenzahl  hin;  betonen 
Nervenärzte  die  Zunahme  der  Nervosität,  warnen  Hygieniker  vor  Verschlechterung 
der  Rasse.  Selbst  die  Vertreter  der  Industrialisierung  der  Frauen  beginnen  das 
Problem:  Ehe  und  Beruf  in  seiner  vollen  Bedeutung  und  Schwierigkeit  zu  er¬ 
fassen.  Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  haben  Untersuchungen  über  die  Morbidi¬ 
tätsverhältnisse  der  berufstätigen  Frauen  ihren  Wert.  In  meinen  1904  und  1905 
erschienenen  Arbeiten  l)  habe  ich  Vergleiche  an  gestellt  zwischen  den  Gesundheits¬ 
verhältnissen  der  kaufmännischen  Angestellten  und  denen  der  Dienstboten.  Ich 
wählte  die  ersteren  als  Typus  eines  vorwiegend  geistige  Arbeit  erfordernden  Be¬ 
rufes,  dessen  Angehörige  zahlreich  genug  sind,  um  Zufälligkeiten  der  Statistik 
auszuschließen  und  letztere,  weil  ihre  Arbeit  die  der  Hausfrau  ist,  mit  dem  einzigen 
unwesentlichen  Unterschiede,  daß  diese  Arbeit  für  einen  fremden  Haushalt  aus¬ 
geführt  wird. 

Ich  berücksichtige  aus  den  Zahlen  der  Krankenkasse  des  kaufmännischen 
Verbandes  für  weibliche  Angestellte  nur  die  über  14  Tage  Arbeitsunfähigkeit  be¬ 
dingenden  Krankheitsfälle,  weil  diese  allein  volkswirtschaftlich  eine  Rolle  spielen. 
Erfahrungsgemäß  werden  Krankenkassenmitglieder  wegen  ganz  unbedeutender 
Affektionen  1 — 2  Wochen  „krank  geschrieben“.  Da  aber  über  14  Tage  dauernde 
Arbeitsunfähigkeit  häufig  zu  Verlust  der  Stellung  führt,  kann  man  aus  dieser 
langen  erzwungenen  Untätigkeit  auf  eine  Krankheit  schließen,  die  gesundheitliche 
Bedeutung  hat.  Da  für  die  in  Privathäusern  tätigen  Dienstboten  eine  Morbiditäts¬ 
statistik  fehlt,  so  nahm  ich  an,  eine  Krankheit  eines  Dienstboten,  die  zur  Kranken¬ 
hausbehandlung  zwingt,  ist  gleichzusetzen  einer  über  14  Tage  Arbeitsunfähigkeit 
erfordernden  Affektion  einer  kaufmännischen  Angestellten.  Für  die  Dienstboten 
ergab  der  Abonnementsverein  der  Dienstherrschaft  für  erkrankte  Dienstboten  die 
brauchbaren  Zahlen.  Alle  Zahlenreihen  bezogen  sich  auf  Groß-Berlin. 

Es  ergaben  sich  nun  folgende  Verhältniszahlen  für  die  drei  wichtigsten 
Krankheitsgruppen  (akute  Infektionskrankheiten  usw.  wurden  nicht  berücksichtigt). 


Krankheiten  der  Atmungsorgane  und  Tuberkulose  und 

Influenza . 

Nervenkrankheiten . 

Krankheiten  der  Verdauungsorgane  und  Chlorose,  Magen¬ 
geschwür  usw . 


Weibl. 

Dienstboten  kaufm. 

Angestellte 

6,1  14,4 

1,8  6,1 

9,6  10,7 


7  J.  Heller,  Eignet  sich  die  Frau  gesundheitlich  für  den  kaufmännischen 
Beruf?  Berlin  1904.  Hirschwald,  II.  Auf!.,  Hamburg  1905. 


104  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


Meine  Zahlen  wurden  vielfach  angezweifelt;  die  Berechtigung  meiner  Statistik 
wurde  in  Abrede  gestellt;  freilich  waren  sich  alle  Beobachter,  die  über  Material 
verfügten,  einig,  daß  der  kaufmännische  Beruf  große  Schädigungen  für  den  weib¬ 
lichen  Organismus  bedingt.  Man  wollte  nur  durch  Anwendung  kleiner  Mittel 
(Sitzgelegenheit ,  Beschränkung  der  Arbeitszeit ,  Recht  auf  Urlaub  usw.)  diesen 
Schädigungen  entgegenwirken.  Ich  brauche  wohl  nicht  zu  versichern,  daß  ich 
als  Arzt  alle  diese  „kleinen  Mittel“  begrüße,  wenn  ich  auch  an  ihre  Wirksamkeit 
nicht  glaube. 

In  neuester  Zeit  ist  nun  vom  kaiserlich  statistischen  Bureau  eine  Statistik 
der  Ortskrankenkassen  Leipzig  und  Umgebung  herausgegeben,  die  eine  Nach¬ 
prüfung  meiner  Angaben  gestattet.  Das  großartige  Werk  wird  sicher  noch  für 
viele  Fragen  der  sozialen  Medizin  von  ausschlaggebender  Bedeutung  sein.  Für 
unsere  Frage  ist  es  um  so  wichtiger,  weil  es  unter  Zugrundelegung  sehr  großer 
Zahlen  die  Gesundheitsverhältuisse  der  weiblichen  kaufmännischen  Angestellten 
und  der  Dienstboten  behandelt. 

Die  Frage  erscheint  zunächst  nicht  in  dem  von  mir  vertretenen  Sinne  ge¬ 
löst,  wenn  man  die  Morbiditätszahlen  für  sich  allein  betrachtet. 

Von  259582  weiblichen  Personen  (86  Proz.  unter  35  Jahre)  berichtet  die 
Statistik : 

Auf  1000  Personen  erkrankten  überhaupt  (arbeitsunfähig)  418  =  10303  Tage. 
Es  kommen  auf  diese  Erkrankungen  5,32  Todesfälle.  Im  einzelnen  verhalten  sich 
auf  1000  versicherte  Standesangehörige  berechnet: 


Bureau-  und 
Ladenpersonal 
275  Fälle 

6722  Krankheitstage 
3,06  Todesfälle 


Dienstmädchen 
im  Gewerbebetrieb 
263  Fälle 

7744  Krankheitstage 
4,81  Todesfälle 


Köchinnen 
323  Fälle 

8932  Krankheitstage 
3,40  Todesfälle 


Von  den  Dienstmädchen  sind  88  Proz.,  von  dem  Bureaupersonal  und  den 
Köchinnen  86  Proz.  unter  35  Jahre. 

Nach  dieser  Aufstellung  ist  die  Morbidität  der  Bureaubeamtinnen  und  des 
Ladenpersonals  weit  günstiger  als  die  der  Dienstboten.  Nun  ist  aber  in  der  oben 
skizzierten  wirtschaftlich-nationalen  Hinsicht  die  Morbidität  als  solche  von  geringer 
Bedeutung.  Außere  unbedeutende  Erkrankungen,  Verletzungen,  Rheumatismus 
können  für  kürzere  Zeit  ein  Individuum  im  Sinne  des  Krankenkassengesetzes 
arbeitsunfähig  machen,  ohne  die  Gesundheit  des  Kranken  wesentlich  zu  beein¬ 
trächtigen.  Es  kommen  z.  B.  folgende  Krankheitstage  auf  1000  Personen  der  3 


Kategorien. 

Laden-  und 

Dienst- 

Bureau- 

mädchen 

Köchinnen 

Muskel-Rheumatismus . 

personal 
.  .  160 

i  Gew.-Betr. 
538 

688 

Verletzungen . 

.  .  120 

565 

647 

Unfälle . 

.  .  10 

114 

76 

Krankheiten  der  äußeren  Bedeckung 

.  .  130 

991 

1505 

420 

2218 

2916 

Reduziert  man  die  Krankheitstage  um  diese  Zahlen,  was  man  um  so  eher 
darf,  als  nur  beim  Rheumatismus  der  Dienstboten  0,05  Todesfälle  auf  1000  Personen 
vermerkt  sind,  so  ergibt  sich 


Alis  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  105 

Bureaupersonal  Dienstmädchen  Köchinnen 

6722—420  =  6302  7744— 2218  =  5526  8934—2916  =  6018 

Es  verhalten  sich  demnach  für  die  übrigen  Krankheiten  die  Dienstmädchen 
und  Köchinnen  gesundheitlich  günstiger  als  das  Bureau-  und  Ladenpersonal. 

Es  ist  nun  von  Interesse  für  die  in  meiner  früheren  Arbeit  aufgestellten 
Kategorien  von  Krankheiten  die  Zahlen  anzugeben.  Freilich  sind  die  aus  der 
Leipziger  Krankenkassenstatistik  gewonnenen  nicht  ohne  weiteres  mit  meinen  zu 
vergleichen.  Ich  habe  seinerzeit,  wie  erwähnt,  nur  die  Krankheitsfälle  berück¬ 
sichtigt,  die  eine  über  14  Tage  dauernde  Arbeitsunfähigkeit  bedingten.  Ich  habe 
ferner  Kritik  an  den  Diagnosen  geübt  und  habe  z.  B.  die  über  14  Tage  Arbeits¬ 
unfähigkeit  bedingenden  Influenzafälle  den  Lungenerkrankungen  zugerechnet. 
Ferner  habe  ich  die  meist  bei  jungen  Frauen  auf  Magenerkrankung  beruhenden 
oder  letztere  auslösenden  Chlorosen  (es  handelt  sich  immer  um  Fälle,  die  über  14 
Tage  Arbeitsunfähigkeit  bedingen)  den  Magenaffektionen  zugerechnet.  Diese 
Sichtungen  konnten  bei  der  Statistik  der  Leipziger  Ortskrankenkasse  nur  zum 
Teil  gemacht  werden.  f 

Es  muß  ferner  berücksichtigt  werden,  daß  in  der  Leipziger  Ortskrankenkasse 
nur  Dienstmädchen  im  Gewerbebetriebe  als  Pflichtmitglieder  versichert  sind.  Es 
ist  ohne  weiteres  verständlich,  daß  der  Gesundheitszustand  der  Dienstmädchen  in 
Gastwirts-  und  Hotelbetrieben,  in  Fabriken  und  gewerblichen  Betrieben  ungünstiger 
ist  als  der  jener  Dienstboten,  die  in  den  Häusern  der  wohlhabenden  Kreise  Berlins 
als  Hausangestellte  leben.  Es  darf  aber  wohl  widerspruchslos  behauptet  werden, 
daß  in  Groß-Berlin  vorwiegend  wohlhabende  Familien  Dienstboten  halten  be¬ 
ziehungsweise  die  Prämie  für  die  Versicherung  beim  Abonnementverein  für 
Dienstherrschaften  bezahlen. 

Für  die  drei  von  mir  berücksichtigten  Hauptgruppen  von  Krankheiten  er¬ 
geben  sich  folgende  Zahlen  bei  den  versicherungspflichtigen  weiblichen  Mitgliedern 
der  Leipziger  Ortskrankenkasse.  Auf  1000  Personen  berechnet  litten  an: 


Bureau-  u.  Laden¬ 
personal 

Dienstmädchen 

Köchinnen 

Krankheiten  des 
Nervensystems 

f  13,1  Fälle 

<  418  Tage 

{  0,12  Todesfälle 

7,1  Fälle 

269  Tage 

0,29  Todesfälle 

10,3  Fälle 

311  Tage 

0,0  Todesfall 

Kraukheiten  der 
Atmungsorgane  und 
Tuberkulose 

\  32- 

I  907- 
l  0,44  H 

Tuberkulose 

-  3,3  Fälle 

-  279  Tage 

-  0,99  Todesf. 

Tuberkulose 

23,6  +  2X» 
883  +  172  Tage 
0,68  +  1,02  Todesf. 

Tuberkulose 

23,3  +  1,9  Fälle' 
706  +  108  Tage 
0,50  +  0  Todesf. 

Krankheiten  der 

V  erdauungsorgane 
und  Blutarmut 

f  57,9- 
|  1059  - 
l  0,23  H 

Blutarmut 

-62,1  Fälle 

-  1649  Tage 

-  0,06  Todesf. 

Blutarmut 

39,1+22,3  Fälle' 
677  +  737  Tage 
0,58  —  0,05  Todesf. 

Blutarmut 

45,9  +  30^Fäii? 
1203  +  983  Tage 
0,76  +  0  Todesf. 

Von  einigem  Interesse  ist  noch  die  Trennung  von  Bureau-  und  Ladenpersonal 
(auf  1000  Personen). 


106  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


j  Bureaupersonal 

Ladenpersonal 

Nervenkrankheiten 

(  14,7  Fälle 

x  504  Tage 

{  —  Todesfälle 

12,3  Fälle 

372  Tage 

0,8  Todesfälle 

Krankheiten 
der  x4.tmungsorgane 
und  Tuberkulose 

{  30,0  +  4,1  Fälle 

870  +  308  Tage 
{  0,25  +  0,91  Todesfälle 

33,2  +  2,8  Fälle 

927  +  264  Tage 

0,54  +  1,04  Todesfälle 

Krankheiten 
der  Verdauungsorgane 
und  Chlorose 

(  49.1  +  53,1  Fälle 

879 +  1316  Tage 
(  0  +  0,08  Todesfälle 

62,5  +  67  Fälle 

1157 +  1830  Tage 

0,36  +  0,05  Todesfälle 

Die  Tabelle  ergibt  ein  Überwiegen  der  Nervenkrankheiten  und  der  Tuber¬ 
kulose  bei  dem  Bureaupersonal,  ein  Überwiegen  der  Verdauungs-  und  Atmungs¬ 
organkrankheiten  bei  dem  Ladenpersonal. 

Von  den  freiwilligen  Mitgliedern  der  Krankenkasse  waren  1181  (885  bis  35 
Jahre  alt)  zum  Ladenpersonal  gehörend,  3636  (2029  bis  35  Jahre  alt)  waren  Dienst¬ 
mädchen  in  Privathäusern.  Die  Morbidität  auf  1000  Standesangehörige  be¬ 
rechnet  war: 


•  Ladenpersonal 

Dienstboten 

Nervenkrankheiten 

/  50.0  Fälle 

\  2835  Tage 

25,6  Fälle 

1135  Tage 

Krankheiten  der  Atmungs¬ 
organe  und  Tuberkulose 

(  86,4  +  16,9  Fälle 

\  4000 +1487  Tage 

61.1  +  10,5  Fälle 

2849  +  611  Tage 

Krankheit,  d.  Verdauungs¬ 
organe  und  Chlorose 

f  103,3  +  199  Fälle 

V  3759  +  6623  Tage 

73,2  +  42,9  Fälle 

2285  +  1627  Tage 

Aus  diesen  Zahlen  sollen  nur  einige  hervorgehoben  werden: 

Doppelt  so  viel  zum  Bureaupersonal  gehörende  Frauen  erkranken  an  Nerven¬ 
aff  ektionen  als  Dienstboten  (14,7  :  7,0  auf  1000).  Auch  bei  dem  freiwillig  ver¬ 
sicherten  Ladenpersonal  ist  die  entsprechende  Zahl  50  zu  25,6  bei  den  Dienstboten. 
Die  durch  Lungenkrankheiten  und  Tuberkulosen  bedingten  Krankheitstage  des 
freiwillig  versicherten  Ladenpersonals  zu  der  entsprechenden  Zahl  der  Dienstboten 
verhält  sich  wie  100:63.  Die  Zahlen  für  die  durch  Verdauungskrankheiten  und 
Chlorose  der  freiwillig  versicherten  Ladnerinnen  und  Dienstboten  hervorgerufenen 
Krankheitsfälle  verhalten  sich  sogar  wie  100 : 37,6.  Fast  doppelt  so  groß  ist  die 
Tuberkulosemorbidität  der  Bureauangestellten  3,3  wie  die  der  Köchinnen  (1,9);  sie 
ist  auch  um  33  Proz.  größer  als  die  der  Dienstmädchen. 

Die  Summe  der  Krankheitstage  des  Bureaupersonals,  der  Dienstboten,  der 
Köchinnen  an  den  drei  Krankheitskategorien  sind  4312,  2914,  2311.  Nimmt  man 
für  den  Dienstbotenberuf,  zu  dem  doch  Köchinnen  auch  gehören,  den  Durchschnitt, 
so  ergibt  sich  2612,  d.  h.  die  Morbidität  der  kaufmännischen  Angestellten  verhält 
sich  zu  der  des  Hausgesindes  wie  5:3.  Für  die  freiwillig  Versicherten  betragen 
dieselben  Zahlen  etwa  20  :  9. 

Es  ist  zwecklos,  auf  Einzelheiten  einzugehen,  da  die  Statistik,  wie  oben  er¬ 
wähnt,  durch  eine  Beihe  Faktoren  beeinflußt  wird,  die  ich  in  meiner  eigenen 
Arbeit  mehr  berücksichtigt  habe.  (Einfluß  der  kurz  dauernden  Krankheitsfälle, 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  107 


ungünstiges  Material  der  in  Gewerbebetrieben  beschäftigten  Dienstboten,  geringe 
Brauchbarkeit  der  Zahlen  der  freiwillig  Versicherten  usw.)  Die  Statistik  ergibt 
aber  zweifellos,  das  gesundheitlich  in  den  drei  Krankheitsgruppen,  Nervenkrank¬ 
heiten,  Atmungsorgankrankheiten  und  Tuberkulose,  Verdauungsorgankrankheiten 
und  Chlorose,  das  weibliche  Bureau-  und  Ladenpersonal  wesentlich  ungünstiger 
sich  verhält  als  die  Dienstboten. 

Das  Material  der  Leipziger  Ortskrankenkasse  hat  also  die  von  mir  gefundenen 
Zahlen  durchaus  bestätigt.  Sie  hat  auch  die  von  mir  betonte  Zunahme  der 
Morbidität  speziell  des  Nervensystems  mit  dem  zunehmenden  Alter  ergeben.  Es 
verhalten  sich  für  die  Krankheiten  des  Nervensystems: 

Altersklassen  Alle  Berufe  Bureau-  und 

Kontorpersonal 

15—34  0,16  0,20 

35—53  0,84  1,01 

55—74  3,36  6.33 


Daß  die  hier  gegebenen  Zahlen  sich  auf  Männer  und  Frauen  beziehen  ist 
für  unsere  Frage  belanglos. 

Im  Anschluß  an  die  Morbiditätsverhältnisse  des  weiblichen  kaufmännischen 
Personals  und  der  Dienstboten  soll  noch  einer  anderen  oft  ventilierten  Frage  ge¬ 
dacht  werden. 

Man  hat  (z.  B.  Wolf  Becher  und  D.  Munter  in  der  Diskussion  meines 
Vortrages)  das  Eindringen  der  Frauen  in  den  kaufmännischen  Beruf  als  ein  soziales 
Emporsteigen  bezeichnet.  Es  mag  die  Richtigkeit  dieser  Behauptung  dahingestellt 
bleiben.  Ob  ein  Mädchen  aus  gutem  Haus,  das  eine  Reihe  von  Jahren  Erzieherin 
fremder  Kinder  gewesen  ist,  sozial  unter  einer  Stenotypistin  steht,  erscheint  mir 
zweifelhaft.  Eine  Köchin,  die  heiratet,  kann  z.  B.  als  Frau  eines  Gastwirts  ihre 
Kenntnisse  ebensogut  verwerten,  wie  eine  Warenhauskassiererin.  Die  „soziale 
Bewertung“  ist  ein  stets  wechselnder  Faktor;  man  denke  an  die  verschiedene 
Bewertung,  die  1860  und  1910  ein  Arzt,  ein  Richter,  ein  Industrieller  gehabt 
haben.  Man  hat  aber  auch  als  Zeichen  des  niedrigen  moralischen  Standes  der 
Dienstboten  auf  die  Häufigkeit  der  unehelichen  Geburten  hingewiesen.  Es  ist  ja 
eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Dienstmädchen  zu  der  Zahl  der  unehelichen 
Mütter  einen  sehr  großen  Kontingent  steilen.  Ich  habe  aber  schon  in  einer  Ver¬ 
sammlung  der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten 
darauf  hingewiesen,  daß  man  aus  der  Zahl  der  unehelichen  Geburten  keinen 
Schluß  auf  die  Unmoralität  machen  darf.  Hier  kann  nur  der  praktizierende  Arzt, 
nicht  der  Statistiker  die  Wahrheit  kennen.  In  einem  höheren  Sinne  spricht  näm¬ 
lich  eine  große  Zahl  von  unehelichen  Geburten  gerade  für  die  Moralität,  d.  h.  für 
die  Moralität,  die  in  der  Austragung  eines  lebenden  Kindes  liegt.  Es  ist  ja  be¬ 
kannt,  daß  nur  ein  kleiner  Teil  der  Aborten  zur  ärztlichen  Kenntnis  kommt. 
Trotzdem  ist  die  Zahl  der  Aborte  im  Verhältnis  zur  Zahl  der  Entbindungen  ein 
gewisser  Gradmesser. 

Die  Leipziger  Ortskrankenkasse  gibt  nun  einige  bemerkenswerte  Zahlen. 

Es  wird  über  7852  Köchinnen  und  19  840  Dienstmädchen,  also  27  692  zum 
Dienstbotenstande  gehörende  Personen  berichtet,  auf  die  428  Wochenbette  und  91 
Aborte  kamen.  Die  Zahl  der  Aborte  verhielt  sich  zur  Zahl  der  Entbindungen  wie 
21 : 100  oder  wie  1 :  5. 

Auf  33  889  zum  Bureau-  und  Kontorpersonal  gehörende  Frauen  kamen  230 
Entbindungen  und  69  Aborte. 


108  Aus  <lei’  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Die  Zahl  der  Aborte  verhielt  sich  zur  Zahl  der  Entbindungen  wie  30 :  100, 
oder  wie  1:3. 

Für  das  Kontor-  und  Bureaupersonal  sind  die  Zahlen  34,3:100;  für  das 
Ladenpersonal  28,1  :  100. 

Man  darf  wohl  annehmen,  daß  die  Zahl  der  verheirateten  versicherungs¬ 
pflichtigen  Mitglieder  beider  Stände  gleich  gering  ist,  daß  die  Zahl  der  nicht  zur 
ärztlichen  Kenntnis  gekommenen  Aborte  mindestens  für  beide  Stände  gleich  groß 
ist.  Man  kann  sogar  behaupten,  daß  die  in  unabhängiger  Stellung  befindlichen 
kaufmännischen  weiblichen  Angestellten  öfter  Gelegenheit  gehabt  haben,  bei 
Aborten  auf  die  Hilfe  der  Krankenkasse  zu  verzichten.  Man  darf  wohl  auch  be¬ 
tonen,  daß  eigentlich  die  größere  körperliche  Anstrengung  gerade  die  Dienstboten 
mehr  zum  Abort  disponiert,  als  das  Bureaupersonal.  Die  Zahlen  beweisen  aber 
stringent,  daß  man  aus  der  Zahl  der  unehelichen  Geburten  allein  nicht  auf  die 
Moralität  eines  Standes  schließen  darf. 

Allgemeine  Schlüsse  möchte  ich  aus  dem  beigebrachten  Material  nicht  ziehen; 
zweifellos  beweisen  die  Zahlen  der  Leipziger  Ortskrankenkasse,  daß  die  von  mir 
in  meinen  früheren  Arbeiten  gefundenen  Morbiditätsziffern  keine  aus  willkürlicher 
Gruppierung  und  Sichtung  sich  ergebende  zufällige  Werte  waren.  Selbstverständ¬ 
lich  kann  auch  die  Leipziger  Statistik  gewisse  Einwände  nicht  widerlegen: 
zweifellos  stammt  der  größte  Teil  des  weiblichen  kaufmännischen  Personals  aus 
der  Großstadt,  des  Dienstpersonals  aus  der  Kleinstadt  resp.  vom  Lande.  Es  soll 
hier  nicht  erörtert  werden,  ob  die  Großstadtbevölkerung  für  die  konstitutionellen 
Krankheiten  so  viel  mehr  disponiert  ist,  als  die  ländliche.  Ist  es  aber  der  Fall, 
so  sind  doch  die  für  die  Krankheiten  disponierenden  Berufe  gewiß  ungeeignet. 
Vielfach  wurde  behauptet,  daß  sich  vorwiegend  schwache  und  zu  konstitutionellen 
Krankheiten  disponierte  Frauen  dem  kaufmännischen  Beruf  zuwenden;  statistisch 
läßt  sich  die  Behauptung  natürlich  nicht  widerlegen.  Ich  möchte  aber  betonen, 
daß  die  von  mir  früher  gewonnenen  Zahlen  der  Krankenkasse  des  kaufmännischen 
Verbandes  entstammen;  die  freie  Hilfskasse  nimmt  nur  solche  Mitglieder  auf,  die 
bei  einer  vertrauensärztlichen  Untersuchung  als  gesund  befunden  worden  sind.  Die 
allgemeine  ärztliche  Erfahrung  spricht  auch  dagegen,  daß  kränkliche  Individuen 
den  Kaufmannsberuf  ergreifen,  und,  was  noch  wichtiger  ist,  beibehalten.  Sie 
werden  aus  der  großen  körperliche  Anforderungen  stellenden  Tätigkeit  sehr  bald 
eliminiert. 

Wer  in  der  Frau  nicht  nur  ein  gewerbstätiges  Individuum,  sondern  die 
Mutter  der  nächsten  Generation  sieht,  wird  die  zunehmende  Morbidität  der  Frauen 
an  konstitutionellen  Krankheiten  infolge  der  Industrialisierung  als  eine  für  unsere 
nationale  Zukunft  hochernste  Tatsache  ansehen.  Ob  heute  noch  Abhilfe  geschaffen 
werden  kann,  scheint  sehr  zweifelhaft.  Eine  gewaltige  Flut  einzudämmen,  nach¬ 
dem  einmal  die  schützenden  Deiche  durchstochen  und  abgetragen  sind,  geht  über 
Menschenkräfte;  niemand  vermag  heute  zu  sagen,  ob  die  Heilkräfte,  die  jeder 
gesunde  Volksorganismus  —  und  nur  ein  solcher  kann  überhaupt  bestehen  —  be¬ 
sitzt,  die  angedeuteten  Schädigungen  überwinden  können.  Bis  dahin  kann  ver¬ 
sucht  werden,  durch  die  kleinen  Mittel  der  prophylaktischen  Hygiene  die  Schäden 
für  das  Individuum  nach  Möglichkeit  zu  vermindern.  Je  wirksamer  aber  all 
♦diese  Mittel  sind,  desto  mehr  setzten  sie  die  wirtschaftliche  Konkurrenzfähigkeit 
der  Frau  herab,  verringern  damit  die  Löhne  und  führen  neue  Schädigungen  herbei. 
Ich  glaube,  wir  müssen  offen  auf  diesem  wichtigen  Gebiet  bekennen:  Wir  haben 
die  Krankheit  erkannt,  eine  Therapie  kennen  wir  nicht. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend 

in  Pommern. 


Von  Professor  Dr.  Erich  Peiper, 

Direktor  der  Kgl.  Univers.-Kinderklinik  in  Greifswald. 

1 

Im  November  1907  richteten  die  Zentralstelle  für  Volks  Wohl¬ 
fahrt  und  der  deutsche  Verein  für  ländliche  Wohlfahrts-  und  Heimats¬ 
pflege  eine  Eingabe  an  die  Staatsregierungen  sämtlicher  Bundes¬ 
staaten  betreffend  die  Unterernährung  auf  dein  Lande  und  deren 
Folgeerscheinungen.  In  dieser  Eingabe  wurde  darauf  hingewiesen, 
daß  im  Gegensatz  zu  der  Hebung  der  sozialen  Lage  der  städtischen 
Arbeiterfamilien  und  der  Besserung  in  den  Ernährungsverhältnissen 
derselben  durch  die  moderne  Entwicklung  der  Landwirtschaft  ein 
Bückgang  in  derErnährung  und  in  der  körperlichen  Entwicklung 
der  ländlichen  Bevölkerung  sich  anbahne.  Die  erhebliche  Zunahme 
des  Geldverkehrs  auf  dem  Lande  habe  dazu  geführt,  daß  der  Land¬ 
mann  zum  Nachteil  der  Befriedigung  seines  eigenen  Bedarfs  die 
Bodenerzeugnisse,  Schlachtvieh,  Milch  und  Butter  nach  den  in 
steter  numerischer  Zunahme  befindlichen  Städten  verkaufe. 

Die  „Entmilchung“  des  Landes,  d.  h.  der  Verkauf  der  verfüg¬ 
baren  Vollmilch,  berücksichtige  nicht  mehr  das  Bedürfnis  des  eigenen 
Haushaltes,  der  Genuß  gehaltsarmer  Magermilch  oder  minderwertiger 
Surrogate  werde  aber  durch  den  jetzigen  landwirtschaftlichen 
Betrieb  gefördert.  Im  Hinblick  auf  die  in  der  Schweiz  gemachten 
Erfahrungen  wird  in  der  Eingabe  der  Befürchtung  Ausdruck  ge¬ 
geben,  daß  durch  den  Kückgang  kräftiger  Milchnahrung  auch  eine 
Abnahme  der  Wehrkraft  des  deutschen  Volkes  herbeigeführt  werde. 

Diese  Gefahr  muß  besonders  in  den  Landesteilen  zum  Ausdruck 
kommen,  in  denen  die  normale  Grundlage  für  das  körperliche  und 
geistige  Gedeihen  der  Kinder  fehlt,  d.  h.  die  natürliche  Ernährung 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  8 


110 


Erich  Peiper, 


der  Säuglinge  an  der  Mutterbrust  in  mehr  oder  minder  starker 
Abnahme  begriffen  ist.  Denn  hier  gerade  besteht  die  hohe  Gefahr, 
daß  durch  minderwertige  Ersatzmittel,  die  in  marktschreierischer 
Weise  als  der  beste  Ersatz  der  Muttermilch  angepriesen  wTerden, 
der  Säugling  an  Leben  und  Gesundheit  schwer  geschädigt  wird. 
Die  Säuglingssterblichkeit  wie  die  Sterblichkeit 
der  Kinder  bis  zum  10.  Lebens j  ahre  geht  parallel  der 
künstlichen  Ernährung.1) 

Der  Einfluß  der  minderwertigen  Ernährung  kommt  aber  auch 
weiterhin  zum  Ausdruck  bei  dem  Musterungsgeschäfte  des  Heeres. 
Die  Untersuchungen  von  Prinz  in  g,  der  die  Tauglichkeitsziffern 
der  Rekrutierungsbezirke  der  verschiedenen  deutschen  Armeekorps 
mit  der  Säuglingssterblichkeit  verglich,  haben  zur  Genüge  erwiesen, 
daß  Kindersterblichkeit  üb  er  und  Tauglichkeit  unter  dem  Mittel 
mit  überraschender  Gesetzmäßigkeit  zusammentrifft.  Auch  v.  Vogl 
kommt  in  seiner  Arbeit  „Die  wehrpflichtige  Jugend  Bayerns“  zu  dem 
Ergebnis:  „Das  Gebiet  niederer  Tauglichkeit  ist  in  Bayern  durch¬ 
aus  eingeschlossen  in  das  der  höchsten  Kindersterblichkeit.  Bezirke 
mit  besonders  hoher  Tauglichkeit  liegen  in  Bayern  im  Gebiete  der 
geringsten  Kindersterblichkeit.“  Mit  diesem  Nachweise,  wird  in  der 
Eingabe  hervorgehoben,  ist  nicht  bloß  der  Zuzamrnenhang  zwischen 
Säuglingssterblichkeit ,  Still  wert  und  Militärtauglichkeit,  sondern 
auch  die  unheilvolle  Beziehung  zwischen  Milchmangel  und  geringer 
Militärtauglichkeit  gegeben. 

Sollte  es  sich  tatsächlich  ergeben,  daß  die  Volksernährung 
durch  die  Entmilchung  des  Landes  und  durch  andere  gleich  ver¬ 
hängnisvolle  Einwirkungen  auf  die  Menge  und  Auswahl  der  Nahrungs¬ 
mittel  gelitten  hat,  so  sind  die  in  der  obigen  Eingabe  befürchteten 
Schädigungen  der  Volksgesundheit  in  ihrem  Einflüsse  auf  die 
Wehrkraft  unseres  Volkes  von  außerordentlicher  Bedeutung. 

Diese  Ausführungen  der  Zentralstelle  für  Volks  Wohlfahrt 
sind  der  Anlaß  zu  einem  Erlasse  des  Ministers  des  Innern  und 
des  Ministers  der  geistlichen-,  Unterrichts-  und  Medizinalan¬ 
gelegenheiten  (M.  d.  I.  II  b.  2538.  M.  d.  g.  A.  M.  9501/07)  unter 
dem  16.  Juni  1908  an  die  Regierungspräsidenten  geworden,  Er¬ 
mittelungen  anzustellen  „über  die  angeblichen  Mängel  in  der  Er¬ 
nährung  auf  dem  platten  Lande  infolge  der  Entziehung  von  Milch 
und  Butter  aus  dem  ländlichen  Haushalte,  sowie  über  die  damit 


9  Kuzuya,  Der  Einfluß  der  Säuglingssterblichkeit  auf  die  Wertigkeit  der 
Überlebenden.  München  1910.  Inaug.-Diss.  aus  der  Greifswalder  Kinderklinik. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


111 


zusammenhängende  Herabsetzung  der  körperlichen  Entwicklung 
der  Landbewohner.“ 

Eine  Reihe  von  Behörden,  die  Landräte,  Kreisärzte  etc.  insbe- 
•  •  •  • 

sondere  auch  die  Ärztekammern  sind  zu  gutachtlichen  Äußerungen 
über  die  in  Rede  stehende  wichtige  Frage  aufgefordert  worden. 
Ich  habe  das  Resultat  nach  den  Berichten  der  Ärztekammern  an 
anderer  Stelle1)  dahin  zusammengefaßt,  daß  von  den  Ärzten  in 
allen  Provinzen  vielfach,  wenn  auch  keineswegs  übereinstimmend, 
eine  Abnahme  des  Milchkonsums  auf  dem  Lande  für  vorliegend  er¬ 
achtet  wird.  Zum  Teil  ist  diese  Erscheinung  schon  vor  dem  Auf¬ 
schwünge  des  Molkereibetriebes  beobachtet,  teilweise  ist  dieselbe 
anscheinend  durch  die  Molkereien  gefördert  worden.  An  Stelle 
der  Milch  kommen  oft  minderwertige  Surrogate  im  Haushalte  zur 
Verwendung.  Nur  vereinzelt  erscheint  aber  die  Milchbeschaffung 
erschwert  zu  sein. 

„Vergnügungssucht,  Putzsucht,  Alkohol-  und  Tabakmißbrauch, 
frühzeitige  schwere  Arbeit  der  Kinder,  der  Wegzug  der  kräftigen 
Leute  nach  den  Städten  oder  industriellen  Zentren,  schlechte  Er¬ 
nährung  und  Überarbeitung  des  weiblichen  Geschlechtes  werden 
neben  der  minderwertigen  Ernährung  als  Gründe  für  die  auf  dem 
Lande,  wenn  auch  nicht  überall,  so  doch  vielfach  beobachtete 
Unterernährung  und  für  das  Zurückgehen  der  körperlichen  Ent¬ 
wicklung  geltend  gemacht.“  x) 

Es  ist  ungemein  schwer,  sich  ohne  statistisches  Grundmaterial 
nur  nach  persönlichen  Anschauungen  oder  gelegentlichen  Beobach¬ 
tungen  über  diese  für  die  Volksgesundheit  so  überaus  wichtige  Frage 
gutachtlich  zu  äußern.  Wir  Ärzte  werden  überhaupt  kaum  in  die 
Lage  kommen,  die  rein  wirtschaftliche  Seite  der  Frage,  ob  eine 
Entmilchung  des  Landes,  im  Sinne  der  Entziehung  der  für  den 
Haushalt  notwendigen  Kuhmilch,  eingetreten  ist  oder  einzutreten 
droht,  richtig  beurteilen  zu  können.  Vom  ärztlichen  Standpunkte 
aus  sind  wir  aber  recht  wohl  in  der  Lage,  der  wichtigen  Frage 
näher  zu  treten:  Ist  im  Säuglingsalter ,  zu  derjenigen  Zeit  also, 
wo  durch  eine  richtige  Ernährung  die  Grundlagen  für  Gesundheit 
und  Kraft  der  Menschen  gelegt  werden,  die  Säuglingsernährung 
und  Pflege  so  beschaffen,  daß  eine  Gefährdung  der  A^olksgesundheit 
nicht  zu  befürchten  ist?  Die  Beantwortung  muß  hervorgehen  aus 
der  Feststellung  des  Stillwertes  sowie  derjenigen  Maßnahmen, 
welche  die  Bevölkerung  eines  bestimmten  Gebietes  für  eine  rich- 


3)  Concordia  Nr.  1,  1911. 


8* 


112 


Erich  Peiper 


tige  Kindespflege  trifft.  Auch  die  zweite  Frage,  ob  eine  Unterer¬ 
nährung  tatsächlich  eingetreten  und  zu  einem  Rückgänge  der 
körperlichen  Entwicklung  geführt  hat,  läßt  sich  nur  an  der  Hand 
eines  größeren,  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  hin  gewonnenen 
Materials,  der  Entscheidung  näher  bringen. 

Als  geignetes  Arbeitsfeld  wählte  ich  mir  die  Provinz  Pommern. 
Dank  der  arbeitsfreudigen  Mitarbeit  der  pommerschen  Impfärzte 
—  nur  4  Kreise  schlossen  sich  aus  —  gelang  es,  den  Stillwert 
der  einzelnen  Kreise  der  Provinz  Pommern  festzustellen.  Das  Ver¬ 
fahren,  den  Stillwert  durch  Befragen  der  Mütter  bei  den  Impfter¬ 
minen  festzustellen,  ist  ohne  Zweifel  ein  brauchbares.  Fehlerquellen 
begegnen  wir  freilich  auch  hier  und  zwar  besonders  in  den  Ortschaften 
und  Kreisen,  wo  hohe  Säuglingssterblichkeit  viele  Opfer  fordert. 
Da  die  Mütter  der  dahingerafften  Kinder  nicht  befragt  werden 
können,  erscheint  der  Stillwert  in  Kreisen  mit  hoher  Säuglings¬ 
sterblichkeit  dementsprechend  relativ  höher,  als  dort,  wo  in  Folge 
geringeren  Sterbens  fast  alle  Mütter  bei  den  Impfterminen  erscheinen. 

Im  ganzen  wurden  im  Sommer  1909  auf  den  Stillwert  12317 
Säuglinge  untersucht.  Es  erhielten  im  Bezirk  Stettin  (ohne  Stadt¬ 
kreis  Stettin)  von  5448  Säuglingen  60,9  Proz.,  im  Bezirk  Köslin 
von  4671  Kindern  77,4  und  im  Bezirk  Stralsund  von  2198  Säug¬ 
lingen  57,7  Proz.  die  Mutterbrust.  Im  Bezirk  Stettin  und  Stral¬ 
sund  mit  hoher  Säuglingssterblichkeit  (24,6  bezw.  22,8  Proz.)  ist  die 
Zahl  der  nichtstillenden  Mütter  fast  doppelt  so  groß  als  im  Bezirk 
Köslin,  wo  die  Säuglingssterblichkeit  eine  wesentlich  geringere, 
nämlich  nur  17,2  Proz.  beträgt. 

Die  nachfolgende  Tabelle  ergibt  den  Stillwert  der  einzelnen 
Kreise.  In  denjenigen  Kreisen,  in  welchen  die  Höhe  des  Zahlen¬ 
materials  einen  Vergleich  des  Still  wertes  in  Stadt  und  Land  zuließ, 
wird  derselbe  für  Stadt  und  Land  noch  gesondert  angeführt. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

In  denjenigen  Kreisen  Pommerns,  in  welchen  die  natürliche 
Ernährung  an  der  Mutterbrust  eine  verbreitete  ist,  zeigt  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  einen  wesentlich  tieferen  Stand  als  in  den  Kreisen, 
in  welchen  der  Stillwert  ein  geringer  ist.  An  anderer  Stelle1) 
habe  ich  des  weiteren  darauf  hingewiesen,  daß  die  Abnahme  der 
natürlichen  Ernährung  Hand  in  Hand  geht  mit  einer  Verminderung 
der  Stilldauer.  In  denjenigen  Kreisen  der  Provinz,  in  denen  noch 


9  Peiper-Pauli,  Die  Säuglingssterblichkeit  in  Pommern,  ihre  Ursachen 
und  ihre  Bekämpfung.  Klinisches  Jahrbuch,  XXIII.  Bd. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


113 


Von  100  Erstimpflingen  hatten  im  Sommer  1909  erhalten: 


Kreis 

Brust 

in  Stadt 

Flasche 

u.  Land 

Bn 

Stadt 

ist 

Land 

Säugling 
keit  ! 

Stadt 

ssterblich- 
L  901/05 

Land 

Demmin 

75,3 

Bezirk 

24,7 

Stettin : 

25,7 

21,1 

Anclam 

57,1 

42,8 

— 

— 

27,8 

21,5 

Usedom 

— 

— 

— 

— 

23,4 

23,3 

Ueckermünde 

56,8 

43,1 

— • 

— 

27,9 

25,4 

Bandow 

55,3 

44,7 

— 

— 

26,2 

28,2 

Stettin 

— 

— 

— 

— 

27,8 

Greifenhagen 

54,6 

45,4 

62,0 

51,8  9 

25,9 

26,1 

Pyritz 

68,5 

31,5 

64,3 

69,7 

27,0 

24,1 

Saatzig 

55,3 

44,7 

64,3 

60,0  b 

22,4 

18,3 

Naugard 

61,0 

39,0 

— 

22,3 

22,2 

17,9 

Kammin 

63,8 

36,2 

— 

— 

19,8 

Greifenberg 

68,2 

31,3 

68,7 

69,0 

24,3 

19,7 

Begenwalde 

85,1 

14,9 

92,3 

83,2  b 

20,3 

15,6 

Schivelbein 

Bezirk 

Köslin: 

19,5 

14,6 

Dramburg 

76,6 

23,4 

— 

— 

19,4 

15,2 

Neustettin 

80,5 

19,5 

74,8 

81,9 

21,1 

21,6 

14,2 

Belgard 

83.4 

16,6 

77,1 

73,3 

87,8 

16.3 

Kolb  erg 

71,9 

28,1 

68,8  b 

23,5 

16,7 

Köslin 

59,8 

40,2 

— 

20,9 

18,7 

Bublitz 

77,8 

22,2 

76,9 

78,0 

21,7 

15,8 

Schlawe 

— 

— 

— 

— 

21,4 

16,7 

Bummelsburg 

82,2 

17,8 

— 

— 

16,2 

14,6 

Stolp 

76,0 

24,0 

70,0 

82,8 

20,9 

16,4 

Lauenburg 

83,2 

16,8 

77,6 

84,3 

19,9 

14,5 

Biitow 

86,0 

14,0 

— 

— 

18,9 

15,8 

Bügen 

57,4 

Bezirk  S 
42,6 

tralsund : 

61,4 

54,5  b 

22,8 

20,5 

24,1 

Stralsund 

78,5 

21,4 

58,0 

63,3 

— 

Franzburg 

58,1 

41.8 

— 

— 

23,2 

21,9 

26,3 

Greifswald 

67,0 

33,0 

70,7 

63,2  b 

21,2 

25,7 

Grimmen 

29,8 

70,2 

— 

— 

23,8 

9  Der  Stillwert  ist  anf  dem  Lande  geringer  als  in  der  Stadt. 


im  letzten  Quartal  des  1.  Lebensjahres  die  Mutterbrusternährung 
einen  hohen  Stand  zeigt,  ist  die  Säuglingssterblichkeit  eine  niedrige. 
Kreise  mit  kurzer  Stilldauer  zeigen  hohe  Säuglingssterblichkeit. 

Im  allgemeinen  hat  in  der  Stadtbevölkerung  die  Ausbreitung 
der  natürlichen  Ernährung  an  Umfang  erheblicher  abgenommen 
als  auf  dem  Lande.  Jedoch  ist  schon  in  den  Kreisen  Greifenhagen, 
Regenwalde,  Saatzig,  Rügen  und  Greifswald  auf  dem  Lande  ein 
Tiefstand  der  natürlichen  Ernährung  gegenüber  den  Stadtgemein- 


114  Erich  Peiper, 

den  bemerkbar.  Gleichzeitig  ist  die  Stilldauer  in  diesen  Kreisen 
wesentlich  verkürzt. 

Eine  Kundfrage,  welche  ich  betreffs  der  Säuglingsernährung 
und  anderer  diesbezüglichen  Fragen  an  die  Ärzte  der  Provinz 
richtete,  ergibt  zur  Evidenz,  daß  nicht  die  Stillfähigkeit 
sondern  die  Stillhäufigkeit  abgenommen  hat. 

Es  war  bei  der  Durchsicht  der  Stilllisten  besonders  auffällig 
der  Umstand,  daß  sehr  oft  in  einzelnen  Ortschaften  desselben 
Kreises  die  Ausbreitung  einer  bestimmten  Ernährungsart  die  ab¬ 
solut  vorherrschende  war,  während  in  benachbarten  die  entgegen¬ 
gesetzte  Kinderernährung  sich  weit  verbreitet  zeigte.  Derartige 
ganz  auffällige  Unterschiede  lassen  sich  nicht  durch  Kasseneigen¬ 
tümlichkeiten  der  Bevölkerung,  nicht  durch  etwaige  degenerative  Pro¬ 
zesse  in  der  Drüsenentwicklung  der  weiblichen  Brustdrüse,  sondern 
nur  durch  das  Vorhandensein  bestimmter  örtlicher  Einflüsse,  tradi¬ 
tioneller  Anschauungen  und  Gewohnheiten,  vor  allem  durch  das  Vor¬ 
handensein  oder  Fehlen  sachkundiger  Beratung  in  Fragen  der 
Kinderernährung  erklären. 

Das  Daniederliegen  der  Kenntnisse  der  Grundgesetze  der  Kindes¬ 
ernährung  und  Pflege,  im  besonderen  der  Stilltechnik,  die  Unkennt¬ 
nis  des  Wertes  der  Mutterbrusternährung,  die  Gleichstellung 
oder  geradezu  Überschätzung  der  Flaschenkost,  die  Reklame,  welche 
mit  den  künstlichen  Nährmittelfabrikaten  getrieben  wird,  unzweck¬ 
mäßige  Beratung  durch  Unerfahrene  werden  zumeist  als  Ursache 
des  Rückganges  der  natürlichen  Ernährung  angegeben.  Hinzu 
kommt  der  Mangel  an  Pflichtgefühl  und  die  Gleichgültigkeit  vieler 
Mütter,  die,  wie  es  in  der  Antwort  eines  Arztes  heißt,  „lieber 
ihre  Kinder  umkommen  lassen,  als  ihnen  die  Brust  zu  geben“.  Ge¬ 
nußsucht,  Bequemlichkeit  und  Faulheit  werden  als  die  landläufigen 
Ursachen  für  die  geradezu  epidemische  Ausbreitung  der  künstlichen 

Ernährung  angeführt. 

•  •  •  • 

übereinstimmend  wird  von  den  Ärzten,  die  sich  über  diese  Frage 
geäußert  haben,  angegeben,  daß  nicht  die  Betätigung  in  landwirt¬ 
schaftlichen  oder  industriellen  Betrieben  die  Mütter  von  der  Brust¬ 
ernährung  abhält,  sondern  die  Überschätzung  der  mit  vielen  Zeug¬ 
nissen  versehenen  Kindermehle  als  „bester  Ersatz  der  Muttermilch,“ 
die  bequeme  Gummischlauchflasche,  welche  mit  einem  halben  oder 
ganzen  Liter  Kuhmilch  zum  beliebigen  Gebrauch  dem  Säuglinge  in 
den  Mund  gesteckt  wird,  wie  die  völlige  Unkenntnis  der  Grundsätze 
einer  geordneten  Kinderpflege.  Nicht  der  Mangel  an  Kuh¬ 
milch,  sondern  das  hohe  Vertrauen,  welches  die  Pro- 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


115 


dukte  der  Molkereien  bei  der  Bevölkerung  genießen, 
sind  ganz  allgemein  die  Ursache  des  Bück  ganges  der 
Brusternährung,  der  damit  verbundenen  hohen  Säug¬ 
lingssterblichkeit,  derVerschlechterungdes  Gesund¬ 
heitszustandes  und  der  geringeren  Widerstands¬ 
fähigkeit  unserer  Kinderwelt  gegenüber  krank¬ 
machenden  Einflüssen. 

Gebiete  mit  hoher  Säuglingssterblichkeit  zeigen  auch  in  den 
nächstfolgenden  Jahren  eine  höhere  Lebensbedrohung  als  nach 
den  allgemeinen  gesundheitlichen  Verhältnissen  zu  erwarten  wäre. 
Unter  Anderen  hat  Kuzuya  den  Einfluß  der  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  auf  die  körperliche  Wertigkeit  der  Überlebenden  unter 
Berücksichtigung  der  Wanderungen  in  den  einzelnen  preußischen 
Provinzen  während  der  Jahre  1881 — 1890  bis  zum  15.  Lebensjahre 
hin  verfolgt.  Wir  stellen  aus  den  dortigen  Tabellen  die  Säuglings¬ 
und  Kindersterblichkeit  aus  3  bezüglich  der  Sterblichkeit  un¬ 
günstigen  Provinzen  gegenüber  3  Provinzen  mit  niederer  Säug¬ 
lingssterblichkeit. 


Von  1000  Lebendgeborenen  starben  im: 


2. 


3. 


5.  6 


7. 


8.  9. 


10. 


11. 12. 13.14.115. 


Lebensjahre 


Provinzen  mit  hoher  Säuglingssterblichkeit: 


in  Ostpreußen 
„  Westpreußen 


„  Pommern 


Knaben 

246,9 

83,4 

48,5 

32,9 

24,4 

15,1 

11,3 

8,7 

6,9 

4,9 

4,4 

3,6 

3,5 

3,2 

Mädchen 

219,8 

80,8 

46,2 

32,7 

23,6 

15,8 

11,2 

8,4 

6,5 

5,4 

4,4 

3,6 

3,9 

3,6 

Knaben 

255,9 

69,2 

38,0 

27,2 

18,7 

12.8 

9,4  6,4 

5,5 

4,5 

3,7 

3,0 

3,0 

2,6 

Mädchen 

224,6 

67,4 

36,5 

25,9 

19,5 

12,7 

9,5 

7,2 

5,6 

4,7 

4,0 

3,7 

3,2 

3,2 

Knaben 

228,0 

59,5 

31,4 

29,1 

19,3 

12,610,1 

7,7 

5,4 

4,3 

4,0 

3,4 

3,0 

3,2 

Mädchen 

199,5 

58,2 

30,2 

27,1 

17,6 

12,9  10,4 
’  1 

7,4 

6,1 

4,7 

4,1 

3,7 

3,2 

3,3 

3,4 

3,3 

2,9 

3,0 


2,4 

3,3 


Provinzen  mit  geringer  Säuglingssterblichkeit: 


„  Schleswig-Holstein 


„  Hannover 
„  Westfalen 


Knaben 

171,6 

44,7 

20.5 

15,1 

11,8 

9,0 

7,5 

5,8 

4,6 

3,8 

2,9 

2,9 

2,5 

2,2 

Mädchen 

147,2 

43,4 

21,2 

14,5 

11,2 

9J 

7,1 

6,4 

4,5 

3,5 

3,1 

2,7 

2,7 

2,8 

Knaben 

166,9 

53,3 

26,1 

16,8 

12,7 

9,3 

7,2 

5,6 

4,4 

3,6 

3,0 

3,1 

2,3 

2,3 

Mädchen 

141,0 

51,9 

26,5 

17,1 

12,6 

9,3 

7,5 

5,5 

5,0 

3,6 

3,1 

3,0 

2,9 

3,0 

Knaben 

163,8 

62,2 

30,5 

19,4 

13,9 

9,8 

7,0 

5,4 

4,2 

3,6 

3,2 

2,9 

2,7 

2,5 

Mädchen 

139,3 

59,7 

30,8 

20,0 

14,1 

10,0 

7.6 

9,7 

4,6 

4,1 

3,5 

3,2 

3,3 

3,4 

2,4 

2,4 

2,6 

3,0 

3,2 

3,6 


Es  ist  von  vornherein  wenig  wahrscheinlich,  daß  ein  Volk  bei 
hoher  Säuglingssterblichkeit  im  Nachwuchs  dadurch  gesünder  und 
kräftiger  wird,  daß  im  ersten  Lebensjahre  ein  erheblicher  Teil  der 


116 


Erich  Peiper, 


Schwächlinge  den  Säuglingskrankheiten  zum  Opfer  fällt.  Die 
obigen  Zahlen  lehren  zur  Genüge,  daß  die  durch  die  allgemeinen 
ungünstigen  Gesundheitsverhältnisse  gelichteten  Reihen  der  Säug¬ 
linge  auch  in  den  nachfolgenden  Lebensjahren  noch  weiter  dezimiert 
werden  trotz  besserer  Gesundheitsbedingungen  und  trotz  der  schär¬ 
feren  Auslese.  Die  häufigste  Säuglingskrankheit,  die  durch  die 
unnatürliche  Ernährung  zumeist  mit  Kuhmilch  oder  Mehlpräparaten 
hervorgerufenen  Verdauungs-  und  Ernährungsstörungen,  tötet  nicht 
nur  die  schwächlichen  Kinder,  auch  die  anscheinend  gesündesten 
und  kräftigsten  sterben  dahin  oder  erleiden  eine  Einbuße  an  ihrer 
Gesundheit,  Nach  den  interessanten  Untersuchungen  des  Landrates 
Ra  de  mach  er  im  Kreise  Westerburg  starben 


im  ersten  im  zweiten 


Lebensjahre 


von  den  mit  Muttermilch  ernährten 
n  »  ohne  „  „ 


8,53  Proz.  2,77  Proz. 

20,04  „  5,52  „ 


Auch  Ko  epp  e1)  kommt  in  seinen  Untersuchungen  zu  dem  Schluß, 
daß  schon  früh  im  1.  Lebensjahre  einsetzende  Fürsorge  im  2.  und  3.  Le¬ 
bensjahre  sich  segensreich  bemerkbar  macht  und  reiche  Zinsen  an 
der  Gesundheit  und  im  Wohlergehen  in  Aussicht  stellt.  Bis  zum  10. 
Lebensjahre  und  selbst  darüber  hinaus  ist  die  Zahl  der  den  Kinder¬ 
krankheiten  zum  Opfer  fallenden  Kinder  in  den  Provinzen  mit 
hoher  Säuglingssterblichkeit  eine  höhere  als  in  den  Gebieten,  wo 
im  ersten  Lebensjahre  durch  richtige  Ernährung  und  Pflege  die 
Grundlagen  für  spätere  Kraft  und  Gesundheit  gelegt  werden. 

Bahnt  sich  tatsächlich,  wie  in  der  eingangs  erwähnten  Denk¬ 
schrift  behauptet  wird,  ein  Rückgang  der  körperlichen  Entwicklung 
insbesondere  der  ländlichen  Bevölkerung  an,  so  liegt  in  erster 
Linie  die  Ursache  in  der  falschen  Ernährung  im  Säuglingsalter, 
die  geradezu  epidemisch  verbreitet  ist.  Wie  maßgebend  für  die 
ganze  körperliche  Entwicklung  die  im  Säuglingsalter  durchgeführte 
Ernährung  ist,  lehren  in  unzweideutiger  Weise  die  Untersuchungen 
Rußow’s  2)  an  Petersburger  Kindern.  In  der  nachfolgenden  Tabelle 
bedeutet  A  natürliche  Ernährung  B.  Flaschenkost.  Am  Schlüsse 
wogen  durchschnittlich : 


x)  Koeppe,  Säuglingsmortalität  und  Auslese  im  Darwinschen  Sinne.  Münch, 
med.  Woch.,  Nr.  32,  1905  und  Nr.  5,  1906. 

2)  Jahrbuch  für  Kinderheilkunde  Bd.  XVI,  S.  86 


Die  körperliche  Entwicklung:  der  Schuljugend  in  Pommern. 


117 


im 

1. 

Jahre 

A. 

Kinder 

9,9 

kg 

Körperlänge  75 

cm 

B. 

55 

7,4 

55 

„  66 

55 

im 

2. 

Jahre 

A. 

55 

11,1 

55 

„  83 

55 

B. 

55 

8,6 

55 

„  75 

55 

im 

3. 

Jahre 

A. 

55 

12,6 

55 

„  89 

55 

B. 

55 

10,5 

55 

„  83 

55 

im 

4. 

Jahre 

A. 

55 

14,2 

55 

„  93 

55 

B. 

55 

12 

y, 

87 

55 

im 

5. 

Jahre 

A. 

55 

15,3 

55 

„  100 

55 

B. 

55 

13,4 

55 

98 

55 

im 

6. 

Jahre 

A. 

55 

17 

55 

„  106 

55 

B. 

55 

15,7 

55 

„  102 

55 

im 

7. 

Jahre 

A. 

n 

18,2 

55 

„  110 

55 

B. 

55 

15,9 

55 

105 

55 

im 

8. 

Jahre 

A. 

55 

20,7 

y 

„  116 

55 

B. 

55 

18,3 

55 

„  H3 

55 

Die  Grundlage  für  eine  gute  körperliche  Entwicklung  wird 
in  die  Schule  mitgebracht  und  erhält  sich  hier  trotz  des  Ein¬ 
flusses  der  Schule. 

Der  günstige  Einfluß  der  natürlichen  Ernährung  auf  die  Kör¬ 
perkonstitution  des  späteren  Kindesalters  muß  sich  statistisch  zum 
Ausdruck  bringen  lassen  durch  einen  Vergleich  der  körperlichen 
Wertigkeit  der  Schulkinder  aus  Bezirken  und  Kreisen  mit  hohem 
Stillwert  gegenüber  solchen  Gebieten,  in  welchen  die  unnatürliche 
Ernährung  im  Säuglingsalter  vorherrscht.  Fast  aus  allen  Kreisen 
Pommerns  war  mir  der  Stillwert  dorfweise  bekannt.  Ich  suchte 
bei  den  Kegierungspräsidenten  der  drei  pommerschen  Begierungs- 
bezirke  die  Erlaubnis  nach,  die  Normalmaße  der  Körperkonstitution : 
Körpergewicht,  Länge  und  Brustumfang  durch  die  Lehrerschaft  be¬ 
stimmen  lassen  zu  dürfen.  Mit  ministerieller  Genehmigung  wurde 
mir  dieselbe  erteilt. 

Das  wissenschaftlich  interessante  und  praktisch  wichtige  Ge¬ 
biet  der  Körperkonstitutionsstatistik  ist  noch  keineswegs  erschlossen. 
Für  vergleichende  Untersuchungen  fehlt  vor  allem  eine  einheitliche 
Methodik,  Vornahme  einer  ausreichenden  Zahl  von  Nacktwägungen, 
jährliche  Wiederholung  der  Wägungen  bei  denselben  Kindern,  Be¬ 
rücksichtigung  der  Ernährung,  wie  der  sozialen  und  wirtschaft¬ 
lichen  Verhältnisse. 

Bei  den  nachstehenden  Untersuchungen  kam  es  darauf  an,  die 
körperliche  Wertigkeit  einer  größeren  Beilie  von  Schulknaben  aus 
Kreisen  mit  geringer  Säuglingssterblichkeit  der  Schuljugend  aus 


118 


Erich  Peiper, 


Kreisen  mit  hoher  Säuglingssterblichkeit  gegenüberzustellen.  Die 
Resultate  der  Körpermessungen  aus  den  Kreisen  des  Bezirkes 
Köslin  mit  der  geringsten  Säuglingssterblichkeit  sollten  sodann  mit 
den  diesbezüglichen  Untersuchungen  aus  den  ungünstigsten  Kreisen 
des  Bezirkes  Stettin  (Demmin,Anklam,  Ueckermünde,  Stettin,  Randow. 
Greifenhagen)  und  den  annährend  ebensowenig  günstigen  vorpommer- 
schen  Kreisen  (Rügen,  Stralsund,  Franzburg,  Greifswald,  Grimmen) 
zum  Vergleich  gebracht  werden. 

Im  Bezirke  Köslin  hatte  auf  meine  Veranlassung  mit  Geneh¬ 
migung  der  Vorgesetzten  Behörden  die  Lehrerschaft  im  Sommer 
1910  Körpermessungen  aber,  nur  bei  7  und  12jährigen  Knaben 
vorgenommen,  deren  Resultate  ich  an  anderer  Stelle x)  veröffentlicht 
habe.  Die  damals  erhaltenen  Resultate  stimmen  annährend  mit 
den  im  Jahre  1911  erhaltenen  überein.  Die  vorjährigen  Unter¬ 
suchungen  waren  jedoch  der  Anlaß  zu  der  Bitte,  die  Zeitbestimmung 
für  die  Messungen  in  eine  genau  begrenzte  Zeit,  auf  den  22. — 27. 
Mai  zu  legen,  die  Altersbestimmung  nach  Geburtstagen  wie  eine 
genaue  Bestimmung  des  Durchschnittsgewichtes  der  Kleider  bei 
den  diesjährigen  Messungen  besonders  zu  beachten. 

Nach  Schmid-Monnard  erfolgt  die  Gewichtszunahme  aus¬ 
schließlich  in  den  Monaten  August  bis  Oktober,  während  sie  vom 
Februar  bis  Ende  Juni  fast  stillsteht.  Es  schien  daher  zweck¬ 
mäßig,  die  Durchführung  der  Messungen  in  den  Mai  zu  legen.  Für 
die  Altersbestimmung  wurde  die  Bezeichnung  zwischen  6—7  Ge¬ 
burtstage  usw.  gemacht,  um  möglichst  sorgfältig  die  einzelnen 
Altersklassen  von  einander  zu  trennen.  Schließlich  wurden  die 
einzelnen  Untersucher  gebeten,  bei  je  3  Schulknaben  das  Gewicht 
von  Hemd  und  Hose,  mit  denen  die  Knaben  bei  den  Wägungen 
bekleidet  waren,  zu  bestimmen.  Auf  diesem  Wege  war  es  möglich, 
das  Durchschnittsgewicht  dieser  Kleidungsstücke  bei  mehreren 
Tausend  Schulknaben,  die  im  Alter  von  6,  10  und  12  Jahren 
standen,  zu  gewinnen.  Es  war  notwendig,  diesen  WTeg  einzuschlagen, 
da  ausdrücklich  bestimmt  worden  war,  Nacktwägungen,  ebenso 
Wägungen  bei  Mädchen,  möglichst  zu  vermeiden. 

Die  vorliegenden  Resultate  der  Wägungen  des  Kleidergewichtes, 
die  ich  hierorts  noch  durch  zahlreiche  Nachwägungen  kontrolliert  habe, 
ergaben,  daß  das  durchschnittliche  Kleidergewicht  im  7.  Lebens¬ 
jahre  rund  500,0,  im  10.  Lebensjahre  650,0,  im  12.  Lebensjahre 


9  Ein  Beitrag  zur  Frage  der  körperlichen  Entwicklung  der  Schuljugend. 
Zeitschr.  der  Zentrale  für  Volks  Wohlfahrt  „Concordia“,  Nr.  1,  1911. 


Die  körperliche  Entwicklung“  der  Schuljugend  in  Pommern. 


119 


750,0,  im  13.  und  14.  Lebensjahre  zwischen  800,0  bis  900,0  betrug. 
Um  eine  einheitliche  Gewichtsskala  durchzuführen,  habe  ich 'vom 
7.  Jahre  aufwärts  das  Gewicht  von  Hose  und  Hemd  von  Jahr  zu 
Jahr  um  50  g  zunehmen  lassen  und  von  den  erhaltenen  Körper¬ 
gewichten  abgezogen.  Dieses  Vorgehen  war  nicht  zu  vermeiden, 
da  Nacktwägungen ,  die  allein  die  Fehlerquellen  nach  dieser 
Kichtung  hin  ausschließen,  ausgeschlossen  waren. 

Für  die  Ausführung  der  Messungen  habe  ich  folgende  An¬ 
leitung  jeder  Liste  beigelegt. 

Anleitung 

zur  Vornahme  der  Körperwägungen  und  Messungen  an  Schulknaben. 

1.  Die  Wägungen  sind  auf  einer  Dezimal-  oder  Brückenwage  auszu¬ 
führen,  Schuhe  und  Strümpfe  sind  auszuziehen.  Die  Knaben  sind  mit  Hemd  und 
Hose  bekleidet.  Die  Hosentaschen  sind  zu  entleeren. 

Die  Messungen  sind  möglichst  auf  die  Turnstunden  in  die  Zeit  zwischen  dem 
22.-27.  Mai  zu  legen. 

Das  Gewicht  ist  in  Grammen  anzugeben. 

Wünschenswert  ist  die  Bestimmung  des  Gewichts  von  Hemd  und  Hose  (leere 
Tasche)  bei  einem  Knaben  von  6,  10  und  12  Jahren. 

2.  Die  Bestimmung  der  Körperlänge  geschieht  ebenfalls  ohne  Schuhe  und 
Strümpfe.  Die  Länge  ist  durch  ein  am  Türpfosten  befestigtes  Zentimetermaß  zu 
bestimmen. 

3.  Der  Brustumfang  wird  mit  einem  Zentimetermaße  auf  entblößtem  Ober¬ 
körper,  in  der  Höhe  der  Brustwarze  bei  mittelstarker  Atmung,  horizontal  seitwärts 
gehobenen  Armen  bestimmt.  Das  Maßband  ist  mittelstark  anzuziehen.  Es  ist  zu 
achten,  daß  dasselbe  horizontal  liegt. 

Die  Atmungsphase  ist  nicht  berücksichtigt  worden,  weil  es,  wie  auch  Lands¬ 
berger  betont,  im  Kindesalter  unzweckmäßig  ist,  durch  das  Kommando  des  Ein- 
und  Ausatmens  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  anzuspannen. 

Die  Anfang  Mai  1911  versandten  Listen  kamen  Ende  Mai  und 
Anfang  Juni  zurück.  42528  Scliulknaben  sind  untersucht  worden 
und  zwar 

im  Bezirk  Stettin  Köslin  Stralsund 

Stadt  3119  8  659  2  416 

Land  3  348 _ 21  747 _ 3  239 

6  467  30  406  5  655 

Die  Listen  trugen  folgenden  vorgedruckten  Kopf: 

Welche  Betätigung  der  Bevölkerung  liegt  vor?  Landwirtschaftlich  .  .  .  . 
Industriell  ....  Dorf .  Kreis .  Bezirk . 

Die  Messungen  beziehen  sich  auf  Knaben,  welche  standen  zwischen  dem 
6. — 7.  Geburtstage  7. — 8.  Geburtstage  usw.  13. — 14.  Geburtstage 

Gewicht  Länge  Umfang  Gewicht  Länge  Umfang  Gewicht  Länge  Umfang 


120 


Erich  Peiper, 


In  den  einzelnen  Kreisen  wurden  untersucht: 


Bezirk  Stettin. 

Stadt  Land 


Demmin 

1202 

Demmin 

466 

Anclam 

215 

Anclam 

328 

Ueckermünde 

240 

Ueckermünde 

970 

Stettin 

746 

Randow 

1354 

Greifenhagen 

716 

Greifenhagen 

230 

Summa: 

3119 

Summa 

:  3348 

Bezirk 

Köslin: 

Schivelbein 

224 

Schivelbein 

868 

Dramburg 

582 

Dramburg 

1234 

Neustettin 

1230 

Neustettin 

3205 

Belgard 

78 

Belgard 

1784 

Kolberg 

1646 

Kolberg 

2289 

Köslin 

713 

Köslin 

1360 

Bublitz 

240 

Bublitz 

1027 

Schlawe 

831 

Schlawe 

2678 

Rummelsburg 

436 

Rummelsburg 

1549 

Stolp 

2059 

Stolp 

2982 

Lauenburg 

297 

Lauenburg 

1495 

Bütow 

323 

Bütow 

1276 

Summa : 

8659 

Summa : 

21747 

Bezirk  Stralsund: 

Rügen 

368 

Rügen 

664 

Stralsund 

333 

Franzburg 

788 

Franzburg 

195 

Greifswald 

928 

Greifswald 

1170 

Grimmen 

859 

Grimmen 

350 

Summa 

:  3239 

Summa : 

2416 

Demnach  wurden  in  den  Städten  bei  14194,  auf  dem  Lande 
bei  283B4  Knaben  die  Körperkonstitution  nach  Gewicht,  Länge 
und  Brustumfang  bestimmt.  Soweit  mir  bekannt,  ist  das  vorlie¬ 
gende  Material  das  reichste,  welches  bisher  zur  Verwertung  kam. 
Es  ist  mir  mehr  wie  eine  Pflicht,  wenn  ich  an  dieser  Stelle  der 
Lehrerschaft  Pommerns  für  ihre  unendliche  Mühe  besonders  aber 
auch  für  die  Sorgfalt,  welche  von  ihr  auf  die  Messungen  verwandt 
wurde,  meinen  herzlichen  Dank  auszusprechen.  Die  Messungen 
haben  den  Untersuchern  eine  unendliche  Zeit  und  Mühe  gekostet. 

Die  nachstehenden  Tabellen  geben  eine  Übersicht  über  die  in 
den  einzelnen  Kreisen  vorgenommenen  Messungen. 


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Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern.  121 


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130.2  63,5 

132.9  63,0 

133,1  63,4 

132,6  |  63,3 

Knaben 

131,0  63,1 

130,8  63,0 

132,6  63,3 

26,75  131,2  63,1 

1706  Knaben 

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:niqq9^g  ^iizag  suiisp^;  ^Jiz9g  :  punsjmi^g  *z9g 

Fortsetzung  der  Tabelle 


122 


Erich  Peiper, 


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.  Lebensjahr  7.-8.  Lebensjahr  8. — 9.  Lebensjahr  9. — 10.  Lebensjahr  10. — 11.  Lebensjahr 


Die  körperliche 


Entwicklung  der  Schuljugend 


in  Pommern. 


123 


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Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


125 


Sämtliche  Messungen  betreffen  nur  Schüler  der  Volksschulen. 
Sie  lassen  sich  daher  nicht  ohne  weiteres  vergleichen  mit  den 
sonst  in  der  Literatur  niedergelegten  Resultaten,  welche  Kinder  aus 
den  verschiedensten  Volkskreisen  aus  dem  Westen  oder  Osten,  oder  bei 
verschiedenen  Volksrassen  betreffen.  Bekannt  ist,  daß  die  Pommern 
ein  kräftiger  Menschenschlag  sind.  Die  pommersche  Bevölkerung 
ist  wohl  durchwegs,  etwa  abgesehen  vom  Kreise  Bütow  mit  einer 
polnischen  Beimengung,  eine  rein  deutsche. 

Auf  die  physiologischen  Eigenarten  der  Wachstumsverhältnisse 
soll  später  eingegangen  werden.  Hier  seien  nur  folgende  allgemeine 
Daten  hervorgehoben. 

Das  Durchschnittsgewicht  der  zwischen  dem  7.— 14.  Jahre 
stehenden  Knaben  aus  Stadt  und  Land  steht 

im  7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  14.  Jahre 

iu  Pommern  auf  19,02  20,93  22,88  24,95  26,47  29,59  32,38  35,40  kg 

während  andere  Autoren  Qu  et  eiet,  Beneke,  Landois  u.  A. 
höhere  Werte  angeben,  so 

Qu  et  eiet  19,10  20,76  22,65  24,52  27,10  29,82  34,38  38,76  kg 

Beneke  19,70  21,70  23,50  25,50  27,50  36,00  33,00  37,50  „ 

Landois  20,16  22,26  24,09  26,12  27,85  31,00  35,32  40,50  „ 

Nach  Stadt  und  Land  getrennt  beträgt  das  Gewicht  der  Schul¬ 
knaben  in  Pommern 

Stadt  18,87  20,53  22,30  24,60  26,75  29,32  32,30  35,29 

Land  19,13  21,12  23J6  25,13  26,84  29,93  32,40  35,46 

Das  Gewicht  der  Schulknaben  steht  den  von  Quetelet  er¬ 
haltenen  Werten  aus  der  belgischen  Bevölkerung  am  nächsten. 
Das  stärkere  Gewicht  der  Landknaben  ist  ohne  Zweifel  abhängig 
von  den  günstigeren  alimentären  und  hygienischen  Bedingungen  unter 
denen  die  Landbevölkerung  aufwächst.  Dieselben  sind  schon  im 
ersten  Lebensjahre  bezüglich  der  Säuglingsernährung,  wie  wir  oben 
dargetan  haben,  im  allgemeinen  bessere  als  in  den  Stadtgemeinden. 
Es  bestehen  in  den  Wohnungsverhältnissen,  in  der  körperlichen 
Beschäftigung ,  in  der  Mitarbeit  bei  landwirtschaftlichen  Ver¬ 
richtungen,  besonders  aber  in  dem  stetigen  oder  doch  längeren 
Aufenthalte  in  der  freien  Luft,  bei  der  Arbeit,  auf  den  Schulwegen 
und  beim  Spiel,  in  der  Ungebundenheit  des  Landlebens,  wesentlich 
günstigere  sanitäre  Verhältnisse  als  in  der  Stadt.  Sie  kommen 
zum  Ausdruck  in  der  besseren  körperlichen  Entwicklung. 

Die  von  Schmidt-Monnard  hervorgehobenen  Schwankungen 

in  der  Gewichtszunahme  während  der  Schulzeit  treten  auch  in 

9 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


126 


Erich  Peiper, 


unseren  Untersuchungen  hervor.  Nach  Schmid t-Monnard  er¬ 
folgt  ,  vielleicht  infolge  des  einsetzenden  Schulunterrichtes ,  im 
7.  Lebensjahre  die  geringste  Gewichtszunahme  mit  1,5  kg.  In 
runden  Zahlen  angegeben  beträgt  die  Gewichtszunahme  der  Hal¬ 
lenser  Schulkinder  nach 


Schmidt-Monnard 


im  6. — 7. 

7.-8. 

8.-9. 

9.— 10. 

10.— 11. 

11.— 12. 

12.— 13. 

13. — 14.  Jahre 

1,5 

2,9 

2,0 

2,0 

2,3 

2,7 

2,8 

4,6 

Pom-  fStadt  — 

1,7 

1,7 

2,3 

2,1 

2,5 

3,0 

3,0 

mern  \Land  — 

2,0 

2,0 

2,0 

1,7 

2,9 

2,7 

3,0 

Die  größere  Kraftentwicklung,  die  bei  den  Hallenser  Kindern 
nach  dem  10.  Lebensjahre  deutlich  im  Gewicht  zum  Ausdruck 
kommt,  tritt  bei  den  pommerschen  Knaben  ebenfalls  hervor,  ist 
aber  im  14.  Lebensjahre  noch  nicht  so  erheblich,  w7ie  in  Halle 
vorhanden. 

Mit  der  Körpergewichtszunahme  hält  annähernd  gleichen  Schritt 
die  Zunahme  der  Körperlänge 


Körperlänge  in  Zentimetern: 
im  7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  14.  Jahre 

Quetelet  110,4  116,2  121,8  127,3  132,5  137,5  142,3  146,9 

Schmidt-Monnard  115,9  119,5  123,8  127,8  132,9  137,8  142,0  147,3 

Camerer  115  120  125  130  135  140  145  '  151 

Pommern-Stadt  112,8  116,8  121,2  126  131,2  135,2  141,0  145,8 

„  Land  112,1  117  122,1  126,8  131,4  136,2  140,3  145,6 

Unsere  Ziffern  nähern  sich  den  von  Quetelet  für 
gische  Bevölkerung  angegebenen. 

Wesentliche  Differenzen  bestehen  gegenüber  den  Zahlen 
Camerer’s.  Das  Verhältnis  zwischen  Körpergewicht  und  Körper¬ 
länge  wird  nach  Cartier  durch  einen  Bruch  ausgedrückt,  dessen 
Zähler  das  Gewicht,  dessen  Nenner  die  Länge  ist.  Es  kommen, 
auf  1  cm  Länge  nach 

im  7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  14.  Jahre 

Schmidt-Monnard  171g  180  g  190  g  201g  209  g  221g  237  g  260  g 

Pommern-Stadt  167  „  177  „  181  „  195  „  203  „  217  „  231  „  243  „ 

„  Land  170  „  180  „  189  „  198  „  204  „  219  „  233  „  248  „ 


Jährlicher 
Zuwachs 
d.  Körper¬ 
länge 

4,5  cm 
3,9  „ 

4,5  „ 

4.1  „ 

4.2  „ 

die  bel- 


l)  Nach  Fertigstellung  des  Manuskriptes  ist  mir  vom  Kreisarzt  Dr.  Ascher 
in  Hamm  (Westf.)  eine  sehr  interessante  Arbeit  „Über  das  Messen  und  Wägen 
der  Schulkinder“  im  Kreise  Hamm  zugegangen.  Ascher  hat  in  seinem  Wirkungs¬ 
kreise  ebenfalls  Messungen  bei  Schulkindern  vornehmen  lassen  und  auf  Grund  der- 


Die  körperliche  Entwicklung'  der  Schuljugend  in  Pommern.  127 


Jahr: 

6.-7. 

7.-8. 

8.-9. 

9.— 10. 

10.— 11. 

11.— 12. 

12.— 13. 

13.— 14 

1 

Stettin 

18,45 

20,90 

22,57 

25,67 

26,92 

28,94 

33,06 

34,22 

Stadt 

Köslin 

18,26 

20,53 

22,81 

26,06 

27,07 

28,94 

32,20 

35,03 

1 

Stralsund 

18,25 

20,90 

23,30 

26,06 

27,19 

28,54 

32,62 

34,36 

i 

Stettin 

18,04 

20,53 

22,69 

25,67 

26,92 

29,21 

32,91 

34,22 

Land  l 

Köslin 

18,92 

21,35 

23,05 

25,93 

27,19 

29,61 

33,49 

34,64 

\ 

Stralsund 

18,37 

21,35 

22,93 

25,67 

27,55 

29,21 

33,35 

34,18 

Pom-  ( 

Stadt  und 

mern  \ 

Land 

18,59 

21,00 

22,81 

25,80 

27,06 

29,13 

33,35 

34,50 

Kreis  Hamm 

19,80 

21,80 

24,00 

26,00 

27,40 

3068 

34,42 

37,13 

Der  Vergleich  der  einzelnen  Zahlenreihen  ergibt,  daß  die  körperliche  Wertig¬ 
keit  der  Schuljugend  in  den  Volksschulen  in  Pommern  hinter  der  der  schulpflichtigen 
Knaben  aus  dem  Kreise  Hamm  zurücksteht.  Wie  weit  diese  Differenzen  sich 
durch  Rasse,  Säuglingsernährung,  wirtschaftliche  Lage  der  Eltern  usw.  erklären 
lassen,  bleibt  dahingestellt. 

Unsere  Werte  nähern  sich  demnach  den  von  Qu  et  eiet  ange¬ 
gebenen.  Das  Verhältnis  des  Körpergewichtes  zur  Körperlänge 
nimmt  mit  dieser  zu,  bleibt  aber  bei  den  pommerschen  Schulknaben 
hinter  den  sonstigen  Angaben  zurück. 


selben  eine  Tabelle  aufgestellt,  in  der  er  fiir  jedes  Geschlecht  und  für  jede  Alters¬ 
stufe  das  Durchschnittsgewicht  und  die  Durchschnittslänge  berechnete  und  hieraus, 
wie  oben,  das  auf  1  cm  Länge  fallende  Gewicht  durch  Division  bestimmt.  Dann 
wurde  durch  Multiplikation  von  einer  großen  Reihe  Längenmaße  mit  diesem 
Zentimetergewicht  ein  Sollgewicht  für  jede  Körpergröße  und  durch  Abzug  von 
10  Proz.  ein  Minussollgewicht  bestimmt.  Mit  Hilfe  dieser  Tabellen  ermittelte 
Ascher  diejenigen,  die  10  Proz.  unter  dem  Sollghwicht  blieben,  —  die  „zu  ge¬ 
ringen“.  Bei  einer  Wiederholung  der  Körperbestimmungen  in  anderen  Kreisen 
wird  es  sich  empfehlen,  diese  Berechnung  ebenfalls  durchzuführen,  da  es  mit  Hilfe 
derselben  möglich  ist,  die  körperliche  Wertigkeit  der  Schuljugend  verschiedener 
Gegenden  miteinander  zu  vergleichen.  Von  direkt  praktischer  Bedeutung  ist 
dieser  Modus  aber  auch  dadurch,  daß  die  Schwächlichen  „zum  Zwecke  der  Besse¬ 
rung,  also  der  Fürsorge  durch  Schularzt,  Schule  und  Elternhaus“  erkannt  und 
durch  Arzt  und  Eltern  überwacht  werden  können. 

Für  uns  bieten  die  Ascher  sehen  Durchschnittszahlen  die  Möglichkeit  eines 
Vergleiches,  indem  wir  im  Nachfolgenden  die  auf  1  cm  Länge  fallenden  Gewichte 
auf  die  As  eher  sehen  Mittelzahlen  berechneten  und  so  einen  direkten  Vergleich 
mit  denselben  ermöglichten. 

Während  der  Korrektur  erhalte  ich  von  Herrn  Kollegen  Dr.  Ascher  die 
Mitteilung,  daß  die  Kinder  im  Kreise  Hamm  nur  nach  Ablage  des  Schuhzeuges, 
also  bekleidet,  gewogen  wurden.  Wenn  man  entsprechende  Werte  für  die  Klei¬ 
dung  bei  den  Hammer  Kindern  in  Abzug  bringt,  vermindert  sich  die  Differenz 
erheblich. 

Die  Säuglingssterblichkeit  im  Kreise  Hamm  beträgt  nach  Ascher  18  Proz., 
die  Stillfähigkeit  98  Proz. 


9* 


128 


Erich  Peiper, 


Als  dritter  wichtiger  Faktor  in  der  Bewertung  der  Körper¬ 
konstitution  ist  der  Brustumfang  zu  nennen.  Hierüber  die  Angaben 
der  Autoren  zu  vergleichen,  ist  um  so  schwerer,  als  andere  zumeist 
den  Brustumfang  nach  anderen  Methoden,  als  wir,  gemessen  haben. 
Eine  Gegenüberstellung  der  von  mehreren  Autoren  mitgeteilten 
Resultate  ergibt 


7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14  Jahre 

Landsberger1) 

55,4 

58 

60,2 

61,9 

63,7 

65 

— 

— 

Quetelet 

56,4 

58,5 

60,6 

63 

— 

67,5 

— 

— 

S  e  i  t  z  2) 

56 

58 

60 

61 

62 

66 

68 

72 

Pommern  - Stadt 

55,4 

57,5 

59,2 

61 

63,1 

65,1 

66,9 

69,8 

„  Land 

57 

58,9 

60,8 

62,8 

64,5 

66,5 

68,7 

71,2 

Die  Durchschnittszahlen  stimmen  ziemlich  überein.  Lands¬ 
berger  hatte  deutsche  Kinder  aus  der  Stadt  Posen  als  Unter¬ 
suchungsmaterial  und  bediente  sich  derselben  Methode  bei  der  Messung, 
die  ich  auch  für  die  zweckmäßigste  hielt  und  an  wandte.  Während 
der  Schulperiode  steigt  der  Brustumfang  pro  Jahr  um  2  cm.  Dieses 
Resultat  stimmt  mit  den  sonstigen  Erfahrungen  überein.  Auch  in 
einem  weiteren  Punkte  besteht  bei  meinen  Untersuchungen  mit 
den  von  Landsberger  Übereinstimmung.  Ein  Vergleich  des 
Brustumfanges  mit  der  halben  Körperlänge- ergibt,  daß  auch  bei 
den  pommer sehen  Schulknaben  (siehe  die  beiden  letzten 
im  Text  angegebenen  Tabellen:  Pommern  Stadt  und  Land)  der 
Brustumfang  sich  der  halben  Körper  länge  nähert. 

Als  Gesamtresultat  unserer  Untersuchungen  ergibt  sich:  Das 
Körpergewicht  und  die  Körperlänge  der  pommerschen  Schulknaben 
steht  absolut  hinter  den  Ziffern  anderer  Beobachter  zurück.  Die 
Gewichtszunahme  folgt  den  sonst  bekannten  Schwankungen.  Das 
Verhältnis  des  Längenwachstumes  gegenüber  der  Gewichtszunahme 
vollzieht  sich  in  gesetzmäßiger  Folge.  Die  Größe  des  Brustum¬ 
fanges  und  die  Zunahme  desselben  entspricht  den  bekannten  Zahlen. 
In  Gewicht  und  Länge  besteht  aber  bei  den  pommerschen  Knaben  eine 
Minusdifferenz  gegenüber  den  allgemein  gültigen  Zahlen.  Inwie¬ 
weit  hier  die  Verschiedenheiten  des  Untersuchungsmaterials  nach 
Abstammung,  Heimat,  Beschäftigung  und  Ernährung  von  Einfluß 
sind,  steht  dahin.  Immerhin  ist  es  auffällig,  daß  gerade  bei  den 
unzweifelhaft  den  geringsten  Fehlerquellen  ausgesetzten  Ziffern, 
ein  Zurückbleiben  hinter  den  sonstigen  bekannten  Zahlen  zu  kon¬ 
statieren  ist.  Wie  gewissenhaft  die  Lehrerschaft  vorgegangen  ist 

b  Das  Wachstum  im  Alter  der  Schulpflicht.  Archiv  f.  Anthropol.  XVII.  Bd. 

2)  Lehrbuch  d.  Kinderheilkunde,  III.  Heft. 


Die  körperliche  Entwicklung1  der  Schuljugend  in  Pommern.  129 

bei  ihren  Untersuchungen,  habe  ich  bei  der  Zusammenstellung 
immer  und  immer  wieder  konstatieren  können.  Die  Resultate  aus 
den  einzelnen  Kreisen  zeigen  eine  ganz  auffällige  Übereinstimmung, 
die  keine  Zufälligkeit  sein  kann. 

Kehren  wir  nun  zu  der  früher  gestellten  Frage  zurück:  Wie 
verhält  sich  die  körperliche  Entwicklung  der  Schulknaben  in  Pom¬ 
mern  bzw.  in  den  Bezirken  und  Kreisen  der  Provinz? 

Körperliche  Wertigkeit  in  Stadt  und  Land. 


Bezirk 

7 

8 

9 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

1 

Gewicht  Länge 

1 

Um¬ 

fang 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Stettin  .  . 

18  626 

111,8 

56,0 

20  496 

116,4 

58,0 

22  700 

121,7 

59.9 

Köslin  .  . 

19  234 

113,0 

56,4 

20  845 

117,1 

58,5 

22  871 

121,7 

60,6 

Stralsund 

18  728 

112,5 

56,4 

20163 

116,9 

58,5 

23  067 

122,1 

60,7 

Bezirk 

10 

11 

12 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Stettin  .  . 
Köslin  .  . 
Stralsund 

24  858 
24  977 
24  967 

126.5 

126.6 
126,6 

61,7 

62,2 

62,6 

25  552 

26  936 

27  699 

131,3 

133,8 

132,0 

63,7 

64,0 

63,2 

29630 
29  638 
29  920 

136,1 

135,6 

136,5 

65,9 

66,0 

66,5 

Bezirk 

13 

14 

Still  wert 

1909 

Säuglings¬ 

sterblichkeit 

1901—1905 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Gewicht 

Länge 

Um¬ 

fang 

Stettin  .  . 

31928 

140,0 

67,3 

35  202 

145,6 

69,9 

60,9 

24,6 

Köslin  .  . 

32  407 

142,6 

67,2 

35  351 

145,9 

70,6 

77,4 

17,2 

Stralsund 

32  301 

141,5 

68,2 

35  66 8 

146,7 

70,7 

57,7 

22,8 

Die  Annahme,  daß  die  körperliche  Wertigkeit  in  den  einzelnen 
pommerschen  Bezirken  sich  verschieden  verhält,  findet  in  den 
obigen  Zahlen  eine  Bestätigung. 

Es  war  kaum  anzunehmen,  daß  die  zu  erwartenden  Unter¬ 
schiede  mit  mathematischer  Genauigkeit  hervortreten  würden. 
Immerhin  sind  die  erhaltenen  Resultate  in  unserem  Sinne  völlig 
zu  verwerten. 

Die  körperliche  Entwicklung  ist  im  Bezirk  Köslin  durch¬ 
schnittlich  die  günstigste.  Es  folgt  der  Bezirk  Stralsund,  hier 


130 


Erich  Peiper, 


nähern  sich  vom  9.  Schuljahre  an  die  Werte  den  Kösliner  Zahlen, 
die  sie  sogar  in  mehreren  Jahren  direkt  übertreffen.  Die  geringsten 
Werte  fallen  auf  den  Bezirk  Stettin. 

Eine  Gegenüberstellung  der  Durchschnittswerte  von  Stadt  und 
Land  aller  3  Bezirke  ergibt  bezüglich  des  Körpergewichtes 

7.  8.  9.  10.  11.  12.  13.  14.  Jahr 

Stadt  18  856  g  20  537  g  22  309  g  24  608  g  26  752  g  29  321  g  32188  g  35  900  g 
Land  19  132  „  21 128  „  23  163  „  25  130  „  26  937  „  29  732  „  32  418  „  35  112  „ 

Die  ländliche  Jugend  ist  in  Gewicht,  Körperlänge  und  Brust¬ 
umfang  durchwegs  kräftiger  entwickelt  als  die  Stadtknaben.  Auf¬ 
fallend  ist  das  Ergebnis,  daß  beim  Vergleich  der  Stadtjugend  der 
verschiedenen  Bezirke  die  von  Köslin  erhaltenen  Werte  zum  Teil 
hinter  Stettin  und  zumeist  auch  hinter  denen  von  Stralsund  Zu¬ 
rückbleiben. 

Erheblich  aber  übertreffen  in  der  Entwicklung  der  Körper¬ 
konstitution  die  Landknaben  des  Bezirkes  Köstlin  die  der  andern 
beiden  Kreise.  Die  ländliche  Jugend  des  Bezirkes  Stralsund  steht 
zwischen  Köslin  und  Stettin.  Von  Interesse  ist  es,  daß  die  Resul¬ 
tate  in  Stadt  und  Land  mit  der  Zunahme  des  Schulalters  sich 
einander  nähern. 

Es  ist  ungemein  schwierig,  das  Zahlengewirr  der  einzelnen 
Kreise  miteinander  zu  vergleichen.  Ich  suchte  daher  nach 
einem  Ein heits wert  der  alle  8  Altersklassen  für  einen  Kreis 
—  Stadt  und  Land  getrennt  —  umfaßt.  Ich  glaube  denselben  da¬ 
durch  gefunden  zu  haben,  daß  ich  für  jeden  Kreis  Gewicht,  Länge 
und  Umfang  aller  Altersklassen  zusammenaddierte  und  durch  die 
Zahl  der  Schuljahre  dividierte.  Damit  wurde  für  jeden  Kreis  ein 
Schulknabe  geschaffen,  dessen  Gewicht,  Länge  und  Breitenmaß  den 
Konstitutionswert  der  Schulknaben  des  Kreises  repräsentiert. 

Es  würde  verwirrend  wirken,  die  einzelnen  Kreise  bezüglich 
ihrer  körperlichen  Wertigkeit  mit  der  Höhe  der  daselbst  herr¬ 
schenden  Säuglingssterblichkeit  zu  vergleichen.  Das  Bild  über  den 
Einfluß  der  letzteren  auf  die  körperliche  Entwicklung  wird  ungleich 
klarer,  wenn  man  die  Kreise  mit  Ziffern  niederer  oder  umgekehrt 
mit  hoher  körperlicher  Wertigkeit  der  daselbst  konstatierten  Säug¬ 
lingssterblichkeit  gegenüberstellt. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


131 


Kreise  mit  geringen  körperlichen  Werten,  hoher  Säuglingssterb¬ 
lichkeit,  niederem  Stillwert: 


' 

Ge¬ 

wicht 

in  g 

Länge 

in  cm 

Um¬ 

fang 

in  cm 

Säuglings¬ 
sterblich¬ 
keit 
o  / 

Io 

Stillwert 

o/ 

Io 

Bezirk  Stettin 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Greifenhagen  .... 

25  637 

127,1 

62,0 

25,9 

62,0 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Stettin . 

25  952 

128,6 

62,0 

27,8 

unbekannt 

Landgemeinden  im  Kreise 
Ueckermünde  .... 

25  835 

128,5 

63,6 

25,4 

f  (aus 
56(  Stadtu. 
{  Land; 

57,1  (do.) 

Landgemeinden  im  Kreise 
Anclam . 

25  974 

128,3 

63,8 

21,5 

Bezirk  Köslin 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Kolberg . 

25  675 

127,6 

60,2 

23,5 

63,3  (do.) 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Schlawe . 

25  785 

127,5 

63,7 

21,4 

unbekannt 

Bezirk  Stralsund 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Rügen . 

25  416 

126,3 

62,3 

22,8 

61,4 

Stadtgemeinden  im  Kreise 
Eranzburg  . 

25  996 

127,9 

62,8 

26,3 

58,0 

Kreise  mit  höheren  körperlichenWerten,mitniedererSäuglings- 

sterblichkeit,  hohem  Stillwert: 


Bezirk  Köslin 

Stadtgemeinden  im  Kreise 

Lauenburg  . 

Stadtgemeinden  im  Kreise 

Bütow . 

Landgemeinden  im  Kreise 

Kolberg . 

Landgemeinden  im  Kreise 

Stolp . 

Landgemeinden  im  Kreise 

Köslin . 

Landgemeinden  im  Kreise 

Belgard . 

Landgemeinden  im  Kreise 
Dramburg . 


27  314 

131,4 

64,6 

19,9 

77,6 

27  526 

130,1 

63,7 

18,9 

86,0 

27  624 

129,4 

64,9 

16,7 

68,8 

27  035 

129,9 

64,0 

16,4 

82,8 

(  (aus 

27  279 

130,3 

64,5 

18,0 

59,8  st£dt 

(Land) 

26  964 

129,4 

63,8 

16,3 

87,8 

26  917 

129,8 

64,1 

15,2 

76,6  l) 

J)  Wenn  man  die  Durchschnittszahlen  aus  den  Tabellen  von  Ascher  für 
das  schulpflichtige  Alter  nach  unserem  Modus  berechnet,  so  erhält  man  auf  129  cm 
Länge  27,64  Kilo.  Eine  Umrechnung  unserer  Werte  auf  das  As  eher  sehe  Längen¬ 
gewicht  ergibt  für: 

Kreise  mit  geringeren  körperlichen  Werten:  Greifenhagen  25,92,  Stettin 
25,92,  Ueckermünde  25,92,  Anclam  26,05,  Kolberg  25,92,  Schlawe  26,05,  Bügen 
25,92,  Eranzburg  26,18. 

Kreise  mit  hohen  körperlichen  Werten:  Lauenburg  26,70,  Bütow  27,21,  Kol¬ 
berg  27,47,  Stolp  27,73,  Köslin  26,96,  Belgard  26,83,  Dramburg  26,70. 


132 


Erich  Peiper, 


Das  Resultat  ist  das  erwartete:  In  Kreisen  mit  einem  Hoch¬ 
stand  der  Säuglingssterblichkeit  und  gleichzeitigen  niederem  Still¬ 
wert  ist  die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  eine  geringere, 
als  in  Kreisen  mit  niederer  Säuglingssterblichkeit  und  hohem 
Stillwert. 

Es  ist  von  Interesse,  daß  zwei  benachbarte,  aber  in  ihrer 
wirtschaftlichen  Betätigung  völlig  verschiedene  Kreise  im  Zentrum 
der  pommerschen  Säuglingssterblichkeit  liegen.  Die  Bevölkerung 
des  Kreises  Randow  ist  stark  industriell,  die  vom  Kreise  Greifen¬ 
hagen  durchwegs  landwirtschaftlich  beschäftigt. 

Gewicht  Länge  Umfang  Säuglingssterblichkeit  Stillwert 
Randow  26  073  g  128,3  cm  62,6  cm  28,2  %  55,3  °/o 

Greifenhagen  26  068  „  127,6  „  63,7  „  26,1  „  51,8  „ 

In  beiden  Kreisen  ist  der  Still  wert  ein  niedriger,  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  eine  hohe.  Der  Rückgang  der  Brusternährung 
ist  sicherlich  nicht  vornehmlich  bedingt  durch  die  industrielle  oder 
landwirtschaftliche  Betätigung  der  Frauen.  Beiden  Kategorien 
von  Müttern  bleibt  Zeit  und  Möglichkeit  offen,  wenn  sie  nur  ernst¬ 
lich  wollten,  ihren  Kindern  die  natürliche  Ernährung  zu  teil  werden 
zu  lassen.  Lokale  Sitten  und  Gebräuche,  die  von  Mutter  zu  Mutter 
übergehen,  Unkenntnis  des  Wertes  der  Muttermilch,  Überschätzung 
der  sogenannten  „künstlichen“  Ernährung  und  Bequemlichkeit  be¬ 
dingen  die  Ausbreitung  einer  Ernährungsweise  der  Säuglinge,  die 
contra  naturam  geht  und  Leben  und  Gesundheit  der  Kinder¬ 
welt  schwer  bedroht.  Sieht  man  die  Technik  dieser  unnatürlichen 
Ernährung,  dann  muß  man  sich  wundern,  daß  nicht  noch  viel  mehr 
Kinder  dahinsterben. 

Die  von  der  Zentralstelle  für  Volkswohlfahrt  und  vom  Verein 
für  ländliche  AVohlfarts-  und  Heimatspflege  der  Staatsregierung 
ausgesprochene  Befürchtung,  daß  sich  ein  Rückgang  der  körper¬ 
lichen  Entwicklung  der  Bevölkerung  anbahne,  verdient  für  unsere 
pommersche  Schuljugend  volle  Beachtung. 

Von  besonderem  Interesse  sind  für  unsere  Frage  die  Ergeb¬ 
nisse  des  Heeresersatzgeschäftes.*  Nach  den  Kaup’schen1)  Unter¬ 
suchungen  macht  es  den  Eindruck,  als  ob  in  den  Jahren  1894  bis 
1901  für  das  zweite  (pommersche)  Armeekorps  ein  nicht  unbeträcht¬ 
licher  Rückgang  der  Militärtauglichkeit  eingetreten  ist.  Die  von 
Kaup  über  die  Militärtauglichkeit  nach  Herkunft  und  Beschäftigung 


0  Kaup,  Ernährung  und  Lebenskraft  der  ländlichen  Bevölkerung.  Schriften 
der  Zentralstelle  für  Volkswohlfahrt.  Heft  6,  N.  E. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern.  133 

aufgestellten  Zahlen  lassen  für  das  ganze  Armeekorps  im  allge¬ 
meinen  ein  Absinken  der  Tauglichkeit  der  männlichen  Jugend  in 
Stadt  und  Land  erkennen.  Im  Laufe  von  7  Jahren  ist  im  Jahre 
1902/03  gegen  1907/08  ein  Rückgang  von  60,3  auf  57,7  Proz.  ein¬ 
getreten.  „Dieser  Rückgang  ist  sehr  bedeutend  und  stärker  als 
der  Rückgang  von  31/«  Proz.  für  sämtliche  Korps.  Dieser  Rück¬ 
gang  ist  für  die  Landgeborenen  und  Stadtgeborenen  allerdings  in¬ 
soweit  verschieden,  als  er  für  die  Stadtgeborenen  fast  doppelt  so 
groß  ist  wie  für  die  Landgeborenen  .  . .  Die  Stellung  des  zweiten 
Armeekorps  innerhalb  aller  Korps  hat  sich  durch  diesen  starken 
Rückgang  der  Tauglichkeit  der  in  Stadt  und  Land  geborenen 
ziemlich  verändert.  Während  in  den  Jahren  1902/03  Pommern 
gegenüber  dem  Reichsmittel  eine  um  2,5  Proz.  höhere  Tauglichkeit 
aufwies,  ist  jetzt  die  Tauglichkeit  nur  mehr  um  1  Proz.  höher. 
Auch  für  Pommern  ist  im  allgemeinen  zu  konstatieren,  daß  der 
Rückgang  der  Tauglichkeit  mit  der  Abnahme  der  Sterbeziffern  in 
den  einzelnen  Altersklassen  und  namentlich  in  den  jüngeren  Alters¬ 
klassen  im  Widerspruch  steht.  Es  werden  daher  die  allgemeinen 
Erscheinungen,  die  auf  die  Konstitution  und  Schädigung  derselben 
von  Einfluß  sein  könnten,  besondere  Aufmerksamkeit  erfordern. 

Statistik  und  ärztliche  Erfahrung  lehren,  daß  die  Höhe  der 
Säuglingssterblichkeit  parallel  geht  der  Ausbreitung  der  künstlichen 
Ernährung,  durch  welche  die  häufigsten  Säuglingskrankheiten,  die 
Magendarmerkrankungen ,  bedingt  werden.  Hohe  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  legt  den  Keim  bei  den  Überlebenden  zu  Krankheit  und 
Siechtum.  Minderwertige  Ernährung  im  Säuglings-  und  Kindesalter 
bildet  die  Grundlage  für  die  englische  Krankheit,  für  Skrofulöse 
und  Tuberkulose.  „Nähr kraft  ist  Wehrkraft.“ 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  nachstehenden  Notizen  aus 
„Zum  Säuglingssclmtz  in  der  Ostmark“1).  Der  Pole  denkt  nicht  nur 
daran,  seinen  Landsleuten  dadurch  ein  wirtschaftliches  Übergewicht 
zu  geben,  daß  er  sie  unter  anderem  zur  Alkoholabstinenz  bzw. 
Alkoholmäßigkeit  erzieht,  nein,  er  ist  auch  dafür  besorgt,  daß  ihm 
ein  gesunder  und  kräftiger  Nachwuchs  entsteht.  Der  Träger  dieser 
Kulturbestrebungen  ist  in  erster  Linie  der  polnische  Geistliche.  . . . 
Er  ist  ernstlich  darum  besorgt,  die  auch  hierzulande  schon  auf¬ 
tretenden  Geburtenpräventionen  zu  verhindern,  vor  allem  aber 
hält  er  die  Mütter  streng  dazu  an,  ihre  Kinder  selbst  zu  stillen.  . . . 
Auf  2  selbststillende  polnische  Mütter  fand  S  o  1  b  r  i  g  durchschnittlich. 


l)  So  Ihrig,  Zeitschrift  für  Säuglingsschutz  1911,  Heft  2. 


134 


Erich  Peiper, 


1  Deutsche.  Bei  den  Impfterminen  ist  die  Zahl  der  atrophischen 
Kinder  bei  den  deutschen  Müttern  dementsprechend  eine  größere 
als  bei  den  polnischen.  Es  heißt  Ostmarkenpolitik  treiben,  wenn 
diese  interessanten  Beobachtungen  durch  Hebung  der  Säuglings¬ 
fürsorge  auch  unter  der  deutschen  Bevölkerung  in  der  Ostmark 
praktisch  verwertet  werden. 

Es  wäre  einseitig,  die  fehlende  Muttermilchernährung  als 
die  einzige  Ursache  für  die  minderwertige  Entwicklung  betrachten 
zu  wollen.  So  manches  Kind  gedeiht,  sorgfältige  Beachtung  der 
Ernährungsregeln  vorausgesetzt,  auch  bei  Kuh-  oder  Ziegen¬ 
milch.  Ein  Wagnis  ist  aber  immer  mit  der  sogenannten  künst¬ 
lichen  Ernährung  verbunden,  denn  die  Mehrzahl  der  künstlich 
ernährten  Säuglinge  trägt  den  Keim  zur  Erkrankung  in  sich. 
Jedenfalls  steht  aber  der  Mutter,  der  es  versagt  ist,  ihr  Kind 
selbst  zu  nähren,  hier  in  Pommern  —  von  vereinzelten  Fällen 
abgesehen  —  kein  Mangel  an  Kuhmilch  entgegen.  Die  Provinz 
Pommern  gehört  nach  K au p  zu  denjenigen  Landesteilen,  in  denen 
die  Milchverhältnisse  für  die  Bevölkerung  mit  am  günstigsten 
liegen.  An  Stelle  der  Milch  aber,  die  noch  im  2.  Lebensjahre  das 
Hauptnahrungsmittel  bilden  soll  und  muß,  treten  schon  früh  minder¬ 
wertige  Surrogate.  Mehlsuppen,  Kaffee,  Zichorienbrühe  oder  andere 
angesüßte  Getränke.  Margarine,  Schmalz  oder  Talg  ersetzen  die 
Butter.  Gemüse,  Obst,  Eier  werden  verkauft,  ohne  daß  der  eigene 
Haushalt  berücksichtigt  wird.  Sicherlich  wird  in  der  Ernährungs¬ 
frage  der  Kinder  auf  dem  Lande  meist  aus  Unverstand,  wohl 
selten  aus  Not,  viel  gesündigt. 

Einer  größeren  körperlichen  Tüchtigkeit  entspricht  auch  eine 
erhöhte  geistige  Leistungsfähigkeit.  Mens  sana  in  corpore 
sano  ist  kein  bloßes  Schlagwort,  es  entspricht  den  Erfahrungen, 
welche  Ärzte  und  Lehrer  täglich  machen.  Die  interessanten  Unter¬ 
suchungen  von  Schmidt  und  Lessenich1)  an  4260  Bonner  Schul¬ 
kindern  lehren,  daß  ein  gesundes,  körperlich  gut  sich  entwickelndes 
Kind  die  größere  Gewähr  bietet  für  eine  normale  geistige  Leistungs¬ 
fähigkeit,  wie  sie  sich  im  regelrechten  Schulerfolge  ausspricht. 
Nicht  die  Schule  ist  es,  die  die  Kinder  blutarm,  nervös  und  unfähig 
zu  geistiger  Arbeit  macht;  die  Grundlage  hierzu  ist  zumeist  viel 
früher  erworben.  Im  ersten  Lebensjahre  muß  durch  richtige  Er¬ 
nährung  und  Pflege  der  Grund  für  die  spätere  körperliche  und 


b  E.  A.  Schmidt  u.  Lessenich,  Zeitschr.  für  Schulgesundheitspflege, 
1903,  Nr.  1. 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern. 


135 


geistige  Gesundheit  gelegt  werden.  Die  Kinder  werden  dann, 
sonstige  richtige  Erziehung  vorausgesetzt,  immer  seltener  werden, 
welche  an  der  sogenannten  Überbürdung  leiden  d.  h.  unfähig  sind, 
die  von  der  Schule  vorschriftsmäßig  gestellten  Aufgaben  zu  erledigen. 

Man  ist  von  jeher  gewöhnt,  die  Schule  für  die  Entwicklung 
körperlicher  Fehler  und  Gebrechen  zu  belasten.  In  der  Tat  zwingt 
die  Schule  ihre  Schüler,  bei  mehr  oder  minder  angestrengter  geistiger 
Tätigkeit  in  einer  bestimmten  Körperhaltung,  in  schlechter  Luft  täglich 
viele  Stunden  8 — 9  Jahre  hindurch  zuzubringen.  Es  ist  nicht  in  Ab¬ 
rede  zu  stellen,  daß  durch  die  Schule  die  Ausbreitung  ansteckender 
Krankheiten,  die  Kurzsichtigkeit,  die  Verkrümmungen  der  Wirbel¬ 
säule  und  andere  Krankheitsanlagen  gefördert  werden.  Die  Schul¬ 
hygiene  ist  bemüht,  die  nicht  vermeidbaren  ungünstigen  Ein¬ 
wirkungen  zu  mildern.  So  manches  ist  schon  erreicht,  vieles  muß 
aber  noch  geschehen.  Wir  wissen,  daß  die  Schulaufsichtsbehörden 
bemüht  sind,  nach  Kräften  auf  die  Beseitigung  bestehender  Mi߬ 
stände  zu  dringen. 

Die  segensreiche  Institution  der  Schulärzte  hat  gezeigt,  daß 
wenigstens  für  die  Volksschüler  das  Elternhaus  von  der  gesund¬ 
heitlichen  Seite  aus  von  größerer  Bedeutung  als  die  Schule  ist. 
Licht  und  Luft  sind  die  Losungsworte  für  die  in  Stadt  und  Land 
durchzuführende  Wohnungsreform.  Die  Notwendigkeit  einer  solchen, 
die  insbesondere  auch  auf  die  Schuljugend  nach  der  sittlichen  wie 
gesundheitlichen  Seite  hin  gleich  bessernd  wirken  wird,  steht  unter 
den  lebhaft  diskutierten  Tagesfragen.  Die  Lösung  derselben  wird 
den  Volksseuchen  insbesondere  der  Tuberkulose  die  Brutstätte 
vernichten. 

Hand  in  Hand  mit  der  sanitären  Umgestaltung  der  Wohnungen 
geht  die  Förderung  der  Reinlichkeitspflegc,  der  besten  Prophylaxe 
gegen  ansteckende  Krankheiten.  Die  Tuberkulose  ist  direkt  als 
Schmutzkrankheit  zu  bezeichnen.  Daß  der  Sinn  für  Sauberkeit  in 
in  der  Wohnung  und  am  eigenen  Körper  in  unserer  pommerschen 
Bevölkerung  gehoben  werden  muß,  ist  eine  notwendige  kulturelle 
Forderung.  Mit  welchen  Schmutzschichten  bedeckt  kommen  Er¬ 
wachsene  wie  Kinder  in  die  ärztliche  Behandlung!  Die  Worte 
Hufeland ’s,  daß  die  meisten  Menschen  außer  dem  Bade  der 
heiligen  Taufe  in  ihrem  ganzen  Leben  die  Wohltat  des  Badens 
nicht  wieder  empfinden,  wird  besonders  in  wasserarmen  Gegenden 
oftmals  zutreffen.  Selbst  in  Greifswald,  wo  uns  die  benachbarte 
See  reichlich  Badegelegenheit  bietet,  hatten  im  Sommer  1902  von 
den  Volksschülern  kalt  gebadet  50  Proz.,  von  den  Mädchen  nur 


136 


Erich  Peiper, 


7,5  Proz.  Tm  Winter  hatten  2,1  Proz.  Knaben,  26,7  Proz.  Mädchen 
warm  gebadet.  Bei  den  beschränkten  Wohnungs  Verhältnissen  ist 
unter  warmem  Baden  übrigens  meist  nur  eine  warme  Abwaschung  in  der 
Waschbalge  zu  verstehen.  Ein  für  geistige  und  körperliche  Ent¬ 
wicklung  unserer  Kinder  hochwichtiges  Organ  liegt  unter  einer 
Schmutzschicht  begraben.  Wie  leicht  läßt  sich  mit  beschränkten 
Mitteln  besonders  bei  Schulneubauten  ein  Brausebad  anbringen! 
Die  Brausestrahlen  werden  sicherlich  auch  über  die  Schule  hinaus 
zum  Nutzen  der  Kinder  in  die  elterliche  Wohnung  wirken  und  den 
Sinn  für  Ordnung  und  Peinlichkeit  wecken. 

In  den  Verhandlungen  der  pommerschen  Ärztekammer,  die 
sich  mit  der  Erstattung  eines  diesbezüglichen  Berichtes  zu  befassen 
hatte,  wird  für  die  Herabsetzung  der  körperlichen  Entwicklung 
der  Schuljugend  auch  die  frühzeitige  schwere  Arbeit  der  Kinder 
als  ursächliches  Momement  angeführt.  Diese  Erfahrung  wider¬ 
spricht  theoretisch  den  Bestimmungen  des  Kinderschutzgesetzei? 
vom  30.  März  1905,  welches  die  Kinderarbeit  in  schweren  Betrieben 
bis  zum  12.  Jahre  gänzlich  verbietet,  später  wesentlich  einschränkt. 
Die  eigenen  Kinder  dürfen  für  eigene  Arbeit  des  Familienober¬ 
hauptes  im  Alter  bis  zu  10  Jahren  abwärts  beschäftigt  werden. 
Wenn  es  zutrifft,  was  Hanauer  anführt,  daß  im  Osten  der  Monarchie 
Kinder  täglich  eine  15 — 16  ständige  Arbeitszeit  inkl.  einiger  Schul¬ 
stunden  hinter  sich  haben  so  wird  es  sich  sicherlich  nur  um  ekla¬ 
tante  Ausnahmen  handeln.  Im  allgemeinen  ist  die  landwirtschaft¬ 
liche  Betätigung  bei  richtiger  Auswahl  dem  Kindesalter  zuträglicher,, 
als  die  den  Stadtschülern  sich  bietende  Arbeit. 

Der  vermehrten  Geistesarbeit  gegenüber  hat  die  Schule  die 
positive  Aufgabe  die  Kräftigung  des  Körpers  durch  systematische 
Leibesübungen  zu  fördern.  Wenn  32  Stunden  geistiger  Arbeit 
3  Turnstunden  gegenüber  stehen,  so  ist  dies  unzureichend.  Im 
allgemeinen  haben  die  Stadtschüler  in  der  Pflege  der  Leibesübungen 
einen  wesentlichen  Vorteil  vor  den  Landschülern  voraus.  Auf 
dem  Lande  fällt  im  Winter  der  Turnunterricht  zumeist,  das  Mädchen¬ 
turnen,  von  vereinzelten  Ausnahmen  abgesehen,  überhaupt  aus. 
Und  doch  handelt  es  sich  um  eine  der  wichtigsten  hygienischen 
Maßregeln,  welche  die  Schule  für  die  Gesundheit  ihrer  Zöglinge 
zu  treffen  hat. 

Die  Bedeutung  des  Turnunterrichtes  beleuchtet  eine  Verfügung 
der  Breslauer  Regierung  aus  dem  Jahre  1860:  „Es  ist  eine  ganz 
irrtümliche  Ansicht,  wenn  angenommen  wird,  daß  die  körperliche 
Anstrengungen ,  welche  die  Kinder  der  Dorfbewohner  häufig  zu 


Die  körperliche  Entwicklung  der  Schuljugend  in  Pommern.  137 

ertragen  haben,  sowie  überhaupt  die  vielfachen  körperlichen  Be¬ 
wegungen,  welche  ihre  Lebensweise  mit  sich  bringt,  ohne  weiteres 
auch  zu  denjenigen  Eigenschaften  führen,  welche  als  die  Frucht 
der  gymnastischen  Übungen  bezeichnet  werden  können.  Im 
Gegenteil  zeigt  die  Erfahrung,  daß  je  mehr  der  Landjugend  das 
Joch  der  Arbeit  und  Anstrengung  auferlegt  wird,  desto  mehr  die 
dem  jugendlichen  Alter  von  Natur  eigentümliche  Elastizität  und 
Gewandtheit  verloren  geht;  sie  wird  unbeholfener,  langsamer,  schwer¬ 
fälliger.  Dieser  einseitige  Einfluß  körperlicher  Anstrengungen  bei 
der  ländlichen  Jugend  erhält  gerade  durch  die  gymnastischen 
Übungen  ein  heilsames  Gegengewicht,  welches,  indem  es  das  har¬ 
monische  Wirken  der  Kräfte  fördert,  den  Körper  elastisch,  ge¬ 
wandt  und  zu  leichten,  schwungvollen  Bewegungen  geschickt  macht, 
sowie  jene  Schwerfälligkeit,  Unbehilflichkeit  und  Trägheit  über¬ 
windet  und  beseitigt.“ 

Die  Zeiten,  in  welchen  das  Turnen,  Schwimmen,  Baden  und 
der  Eissport  als  gefährliche  Übungen  oder  unnütze  Spielereien 
angesehen  wurden,  sind  vorüber.  Der  Schulluft  und  dem  Schul¬ 
staub,  der  Körper  und  Geist  ermüdenden  Arbeit  wird  durch  das 

•  • 

Turnen  und  sonstige  Leibesübungen  ein  gründliches  Äquivalent 
entgegengesetzt.  Die  Schule  wird  sich  durch  dieselben  ein  gesundes, 
frisches,  für  die  Geistesarbeit  aufnahmefähiges  Schulkind  erhalten. 

Es  ist  absolut  falsch,  die  Säuglingsfürsorge  für  eine  Aufgabe 
der  privaten  Wohltätigkeit,  für  eine  ephemere  Erscheinung  auf¬ 
zufassen.  Die  Erkenntnis  hat  sich  immer  mehr  Bahn  gebrochen, 
daß  die  Ziele  der  Säuglingsfürsorge  rein  nationale  sind.  Es  gilt, 
durch  zielbewußte  Maßnahmen  die  Ursachen  der  hohen  Säuglings¬ 
sterblichkeit,  welche  der  Volksgesundheit  alljährlich  schwere  Wunden 
schlägt  und  damit  die  Wehrkraft  unseres  Volkes  herabsetzen,  zu  be¬ 
seitigen  oder  doch  abzuschwächen.  Die  öffentliche  Gesundheitspflege 
hat  in  Deutschland  die  wichtige  Aufgabe,  durch  umfassende  Ma߬ 
nahmen  noch  vielmehr  als  bisher  fürsorgend  für  den  Nachwuchs 
der  Nation  einzutreten.  Das  Fundament,  auf  der  sich  die  neuer¬ 
dings  in  erfreulichem  Aufschwünge  begriffene  Jugendfürsorge  auf- 
zubauen  hat,  besteht  in  umfassenden  Maßnahmen  insbesondere  der 
staatlichen  und  kommunalen  Behörden  für  die  Durchführung  einer 
^ielbewußten  Säuglingsfürsorge. 


Untersuchungen  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern 
nach  dem  Pignet’schen  Verfahren. 

Von  Dr.  Gebhard  Simon, 

Stabsarzt  u.  Bataillonsarzt  des  1.  Bataillons  Badischen  Fußartillerieregiments  Nr.  14.. 

I. 

Wie  bekannt  hat  die  französische  Armee  eine  hohe  Tuberkulose- 
Sterblichkeit.  Als  Hauptgegenmaßnahme  betrachtet  man  wie  bei  uns  die 
Fernhaltung  aller  Schwächlichen,  als  der  am  meisten  zur  Tuberkulose 
disponierten,  vom  Heeresdienst.  Bei  dem  Rekrutenmangel  in  Frank¬ 
reich  ist  die  Durchführung  dieser  Maßnahme  nicht  so  großzügig 
wie  bei  uns  möglich.  Es  geht  deshalb  in  Frankreich  das  Bestrebeu 
dahin,  unter  den  Schwächlichen  die  Schlechtesten  herauszufindeu 
und  man  meinte,  es  müsse  sich  aus  den  drei  Maßen:  Körpergröße, 
Brustumfang  und  Körpergewicht  ein  Index  finden  lassen,  der  diese 
wirklich  unbrauchbaren  Tuberkulosekandidaten  kennzeichne,  wie 
überhaupt  die  Beurteilung  der  Körperbeschaffenheit  der  Wehr¬ 
pflichtigen  erleichtere. 

Pignet,1)  ein  französischer  Militärarzt,  nahm  diese  Anregung 
auf  und  stellte  folgende  Überlegung  an:  Es  gibt  für  jede  Körper¬ 
größe  sogenannte  Normalmaße,  so  auch  einen  Normalbrustumfang 
und  ein  Normalkörpergewicht.  Jedes  dieser  Maße  allein  in  Be- 
ziehung  zur  Körpergröße  versetzt,  gestattet,  wie  die  Erfahrung 
gelehrt  hat,  keine  Beurteilung  der  körperlichen  Beschaffenheit. 
Da  aber  beide  Maße  zur  Körpergröße  in  einem  bestimmten  Ver¬ 
hältnis  stehen,  so  müßte  auch  die  Summe  beider  Maße  von  der 

v)  Pignet,  Du  coefficient  de  Robusticite.  Nouveau  mode  d’appreciation  de 
la  force  physique  de  l’homme  au  moyen  d’un  indice  numerique  tire  des  trois 
mensurations:  taille,  perimetre  et  poids.  Bulletin  medical,  No.  33,  27.  avril  1901. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  139 

Körpergröße  abgezogen ,  stets  eine  konstante  Differenz  geben. 
Diese  konstante  Differenz  repräsentiere  gewissermaßen  den  physio¬ 
logischen  Wert  des  Individuums  und  könne  sein  Kräftigkeitskoeffizient 
genannt  werden.  Pignet  stellte  also  folgende  Formel  auf: 

H  —  (B  -f-  K)  =  x, 

H  =  cm  Zahl  der  Körpergröße, 

B  =  cm  Zahl  des  Ausatmungs-Brustumfangs, 

K  =  kg  Zahl  des  Körpergewichts, 
x  —  numerischer  Index, 

z.  B.  172  —  (87  +  73)  =  12,  oder  169  —  (86  +  64)  =  19, 

oder  165  —  (83  +  61)  =  21. 

Die  sich  ergebende  Differenz  x  war  bei  Zugrundelegung  der 
Normalmaße  in  der  Tat  eine  konstante  Zahl,  die  mit  zunehmender 
Körpergröße  in  ganz  bestimmtem  Verhältnis  wächst.  Diese  Differenz 
beträgt  für  die  Körpergrößen 

155 — 175  cm  rund  21, 

176—180  „  „  22, 

181—185  „  „  23, 

186—190  „  „  24. 

Für  die  Größenklasse  155 — 175  cm  bezeichnet  also  die  Zahl  21 
den  Kräftigkeitskoeffizienten;  für  die  Größenklassen 

176 — 180  cm  die  Zahl  22, 

181—185  „  „  „  23, 

186-190  „  „  „  24. 

Pignet  stellte  nun  zunächst  den  numerischen  Index  bei  den 
Mannschaften  seines  Regiments  fest.  Der  Index  war,  wie  zu  er¬ 
warten,  in  den  meisten  Fällen  eine  positive  Zahl,  also  eine  wirk¬ 
liche  Differenz.  Diese  Zahl  war  groß  bei  schlechter  Körper¬ 
beschaffenheit  des  Mannes,  klein  bei  guter  Körperbeschaffenheit. 
Vergleiche  des  erhaltenen  numerischen  Index  mit  der  Körper¬ 
beschaffenheit  der  Mannschaften  veranlaßten  ihn,  folgende  Index¬ 
klassen  aufzustellen: 


Index 

1—10 

Constitution 

tres  forte, 

11—15 

77 

forte, 

16—20 

77 

bonne, 

• 

77 

21—25 

77 

bonne  moyenne 

77 

26—30 

77 

faible, 

77 

31—35 

77 

tres  faible, 

77 

über  35 

77 

tres  mediocre. 

140 


Gerhard  Simon, 


In  einem  geringen  Prozentsatz  war  Brustumfang  plus  Körper¬ 
gewicht  größer  als  Körpergröße';  die  Subtraktion  ergab  eine  negative 
Zahl.  Da  ein  solcher  Zustand  eine  gewisse  Überentwicklung  dar¬ 
stellt,  nannte  Pignet  in  diesem  Falle  den  Index  positiv.  Noch 
seltener  fand  er  die  dritte  mathematische  Möglichkeit:  Brustumfang 
-f-  Körpergewicht  =  Körpergröße,  der  Index  also  Null.  Die  Fälle 
mit  positivem  Index  und  Index  zero  faßte  er  in  eine  Klasse  zu¬ 
sammen,  die  er  mit  -f-  bezeichnet,  so  daß  Pignet  also  8  Index¬ 
klassen  zur  Bezeichnung  der  verschiedenen  Grade  der  Körper¬ 
beschaffenheit  vom  Überentwickelten  bis  zum  Schwächling  auf¬ 
stellte.  Den  Index  35  nahm  Pignet  auf  Grund  seiner  ver¬ 
gleichenden  Untersuchungen  als  den  Grenzwert  militärischer  Brauch¬ 
barkeit  an.  Weiter  ergaben  die  bei  seinem  Regiment  vorgenom¬ 
menen  Untersuchungen,  daß  der  aus  den  Normalmaßen  berechnete 
Kräftigkeitskoeffizient  21  nicht  die  besten  Leute,  sondern  die  Grenze 
der  guten  von  den  mittelmäßigen  bezeichnet. 

Dieses  Pignet’sche  Verfahren  ist  in  Deutschland  erst  durch 
•Schwiening l)  bekannt  geworden,  der  es  bei  einer  Zählkarten¬ 
statistik  über  die  Körperbeschaffenheit  von  52066  zum  einjährig- 
freiwilligen  Dienst  berechtigten  Wehrpflichtigen  unter  den  ver¬ 
schiedensten  Gesichtspunkten  geprüft  hat.  Schwiening  ordnet 
den  numerischen  Index,  wie  aus  Tabelle  I  ersichtlich,  in  6  Klassen, 
Die  Bezeichnung  der  einzelnen  Klassen  ergibt  Rubrik  3. 


Tabelle  I. 


1 

2 

3 

4. 

I. 

Klasse 

positiver  Index 

\ 

4- 

II. 

55 

1—10 

|  besonders  kräftig 

A 

III. 

55 

11—20 

kräftig 

B 

IV. 

55 

21—30 

schwach 

C 

V. 

55 

31—35 

sehr  schwach 

D 

VI. 

» 

über  35 

völlig  dienstuntauglich 

E 

Um  Vergleichsmaterial  für  meine  Untersuchungen  zu  haben, 
mußte  ich  mich  dieser  Einteilung  anschließen.  Die  6  Indexgruppen 
benenne  ich,  wie  Rubrik  4  obiger  Tabelle  lehrt,  der  Kürze  halber, 
mit  -j-  A,  B,  C,  D,  E,  und  bezeichne  die  Klassen  kurz  als  A,  B, 
C,  D,  E- Klasse  und  spreche  von  A,  B,  C,  D,  E-Leuten. 


b  Schwiening-,  Über  die  Körperbeschaffenheit  der  zum  einjährig- frei¬ 
willigen  Dienst  berechtigten  Wehrpflichtigen  Deutschlands.  Veröffentlichungen 
aus  dem  Gebiete  des  Militär-Sanitätswesens.  Heft  40,  1909. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  141 


Schwiening  kommt  zu  dem  Urteil,  daß  das  Pignet’sche 
Verfahren  zur  Beurteilung  des  Einzelindividuums  sich  nicht  eignet, 
aber  zur  Beurteilung  ganzer  Bevölkerungsgruppen  „ein  verwend¬ 
bares  Mittel  darzustellen  scheint“. 

Dann  hat  Ott1)  es  einmal  praktisch  bei  der  Aushebung  an¬ 
gewandt,  um  zu  kontrollieren,  inwieweit  er  selbst  hinsichtlich  der 
Anforderungen  an  die  Kräftigkeit  des  Körperbaues  das  Richtige 
getroffen  hat. 

Ott  bezeichnet  die  Anwendung  des  Pign et ’schen  Verfahrens 
als  ein  willkommenes  Hilfsmittel,  sich  rasch  über  die  Beschaffen¬ 
heit  des  Körperbaues  größerer  Massen  von  Untersuchten  zu  unter¬ 
richten,  für  den  Einzelfall  es  anzuwenden,  liege  kein  Bedürfnis 
vor:  „dazu  genüge  die  Feststellung  der  3  Maße  mit  einem  durch 
Übung  geschärften  Blick“. 

Bei  Abschluß  der  Arbeit  erschien  noch  die  Abhandlung  von 
Seyffarth,2)  der  das  Pignet’sche  Verfahren  beim  diesjährigen 
Musterungsgeschäft  im  Landwehrbezirk  Gumbinnen  angewendet 
hat.  Leider  teilt  Seyffarth  nur  die  Ergebnisse  bei  den  Taug¬ 
lichen  und  einem  Teile  der  Untauglichen  mit.  Dann  hat  Seyffarth 
noch  den  Index  bei  den  letzten  10  Jahrgängen  des  III/41  berechnet. 
Sein  Urteil  stimmt  mit  dem  Schwiening ’s  dahin  überein,  daß  es 
sich  hauptsächlich  nur  zu  vergleichenden  Untersuchungen  größerer 
Massen  eignet.  „Keinen  sicheren  Anhalt  bietet  das  Verfahren 
gerade  dort,  wo  es  am  wünschenswertesten  wäre,  nämlich  bei  Be¬ 
urteilung  der  zahlreichen  Leute,  die  den  Grenzwert  der  Schwachen 
aufweisen“  (S.  841). 

Der  Pignet’sche  Index  ist  wegen  der  ihm  zugrunde  liegenden 
3  Körpermaße  lediglich  ein  Konstitutionsmaß  und  hat  demgemäß 
für  die  Beurteilung  des  Körperbaues  des  Einzelindividuums  weniger 
Bedeutung. 

Seine  Brauchbarkeit  für  militärärztliche  Zwecke  ist  besonders 
von  Schwiening  und  Ott  von  den  verschiedensten  Gesichts¬ 
punkten  untersucht  worden.  Für  die  Praxis  scheint  mir  beson¬ 
ders  der  von  Ott  gemachte  Vorschlag  beachtenswert,  den  durch 
§  10  H.  0.  vorgeschriebenen  Berichten  über  die  Körperbeschaffen- 
heit  der  Wehrpflichtigen  eine  nach  dem  Pignet’schen  Verfahren 
hergestellte  Tabelle  zur  Ermöglichung  eines  raschen  und  mit  den 

0  Ott,  Das  Pign  et ’sche  Verfahren  bei  der  Aushebung.  Deutsche  Militär¬ 
ärztliche  Zeitschr.  1911. 

2)  Seyffarth,  Beitrag  zur  Verwertbarkeit  des  Pignet’schen  Verfahrens. 
Ebenda. 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


10 


142 


Gerhard  Simon, 


bereits  genannten  Einschränkungen  zuverlässigen  Überblicks  über 
die  Beschaffenheit  des  Körperbaues  der  Untersuchten  beizufügen 
(p.  120). 

Den  Wert  des  Pi gn et’ sehen  Index  gewissermaßen  als  Selbst¬ 
kontrolle  nach  täglich  beendetem  Musterungs-,  bzw.  Aushebungsge¬ 
schäft  habe  ich  selbst  ausprobiert  und  kann  ihn  zu  diesem  Zweck 
nur  empfehlen.  Ergänzend  möchte  ich  noch  hinzufügen,  daß  man 
sich  des  Pi  gn  et’ sehen  Verfahrens  mit  Vorteil  bedienen  wird,, 
um  objektive  x4nhaltspunkte  über  die  allgemeine  Körperbeschaffen¬ 
heit  seines  Truppenteils  wie  der  einzelnen  Jahrgänge  zu  haben. 
Bisher  war  man  in  dieser  Beziehung  hauptsächlich  auf  subjektive 
Momente  angewiesen.  Man  wird  mittels  dieses  Verfahrens  auch 
die  so  häufig  von  der  Truppe  gestellte  Frage  nach  der  Güte  des 
einzelnen  Jahrgangs  im  Vergleich  zu  früheren  objektiv  beantworten 
können.  Schließlich  könnte  man  das  Verfahren  auch  zur  Erklärung 
von  Unterschieden  des  Gesundheitszustandes  einzelner  Truppen¬ 
teile  heranziehen. 

Zur  Beurteilung  des  Einzelindividuums  wird  dem  Verfahren 
von  den  3  oben  genannten  Nachuntersuchern  jeder  Wert  abge¬ 
sprochen.  Man  darf  aber  nicht  die  Motive  vergessen,  die  P  i  g  n  e  t 
zur  Aufstellung  seiner  Formel  geführt  haben,  die  leichtere  Heraus¬ 
findung  der  noch  Tauglichen  unter  den  ganz  Schwachen.  Haupt¬ 
sächlich  für  diese  Grenzfälle  hat  P  i  g  n  e  t  seine  Formel  angegeben  und 
den  Index  35  als  Grenze  militärischer  Brauchbarkeit  sonst  gesunder 
Individuen  bezeichnet. 

Selbstverständlich  soll  der  numerische  Index  die  bisher  ma߬ 
gebenden  Anhaltspunkte,  den  allgemeinen  Eindruck,  den  das  In¬ 
dividuum  macht,  in  Verbindung  mit  Erfahrung  und  Blick  nicht  er¬ 
setzen,  denn  sonst  würde  die  P  i  g  n  et’  sehe  Formel  zu  einem  einfachen 
mechanischen  Hilfsmittel  herabsinken,  das  handwerksmäßig  ohne 
Arzt  angewendet  werden  könnte.  Es  würde  auch  ein  solches  Ver¬ 
fahren  eine  Verkennung  des  allgemeinen  Wertes  solcher  anthro- 
pometrischen  Formeln  bedeuten. 

Was  leistet  nun  das  Verfahren  in  dieser  Hinsicht?  Man  be¬ 
achte  die  nächste  Tabelle. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  143 

Tabelle  II. 


Klasse 

Einjährig- 
Freiwillige  b 

0/ 

Io 

Junge 
Bayern*  2) 

0/ 

Io 

35.  Franz. 
A.-B. 3) 

o  / 

Io 

I.  Bataillon 

Bad.  Fuß-A.-R. 

14 

0/ 

1 0 

III/41 4) 

0/ 

Io 

+ 

4.5 

1  7  ÖK 

15=  2,3 

33=  6,0 

30=  1,1 

A 

11,6 

1 '  •  .Ot) 

90  =  17,6 

153  =  28,6 

406  =  14,9 

B 

30,9 

40,56 

234  =  45,8 

277  =  51,1 

1522  =  55,8 

C 

41,1 

49,53 

146  =  28,6 

77  =  14,2 

740  =  27.1 

D 

9,9 

1,77 

20=  3.9 

2=  0,4 

28=  1,03 

E 

2,5 

0,29 

5=  0,9 

0=  0,0 

2=  0,07 

Da  sehen  wir,  daß  der  Proz.-Anteil  schon  in  der  D-Klasse  mit 
Ausnahme  der  E.  Fr.  außerordentlich  klein  ist  und  in  der  E-Klasse 
unter  1  Proz.  sinkt,  bei  dem  1/14  die  E-Klasse  gar  nicht,  bei 
III/41  in  10  Jahrgängen  nur  mit  0,07  Proz.<  vertreten  ist.  —  Die 
verhältnismäßig  großen  Zahlen  in  der  D  und  E  Klasse  bei  den 
Einj .-Freiwilligen  sind  dadurch  zu  erklären,  daß  bekanntlich  an 
ihre  Körperbeschaffenheit  die  geringsten  Anforderungen  gestellt 
werden  können.  Die  Einj.-Freiw.  scheiden  also  für  die  gewöhn¬ 
lichen  Fälle  der  Praxis  aus.  Mit  dieser  Einschränkung  können 
wir  doch  auf  Grund  obiger  Tabelle  dem  Pignet’schen  Verfahren 
einen  gewissen  praktischen  Nutzen  zur  Beurteilung  solcher  Grenz¬ 
fälle  nicht  absprechen.  Mit  dem  Index  35  als  Grenzwert  mili¬ 
tärischer  Brauchbarkeit  scheint  Pignet  so  ziemlich  das  Richtige 
getroffen  zu  haben. 

Die  schon  oben  angeführte  Ansicht  Ott’s,  es  werde  sich  im 
Einzelfall  das  Verfahren  anzuwenden  kein  Bedürfnis  einstellen, 
dazu  genüge  die  Feststellung  der  drei  Maße  mit  einem  durch 
Übung  geschärften  Blick,  mag  für  den  geübten  Militärarzt  gelten, 
wenn  er  allein  und  in  Ruhe  untersuchen  kann,  z.  B.  Freiwillige  beim 
Truppenteil  nicht  bei  der  Musterung,  wo  der  Militärvorsitzende 
das  ausschlaggebende  Urteil  fällt,  und  es  gilt,  ihm  die  Ansicht  des 
Militärarztes  beizubringen.  Diese  Herren  wollen  nach  meiner 
mehrjährigen  Erfahrung  für  ihr  Urteil  eine  objektive  Unterlage 
haben.  Sie  bietet  sich  nach  meiner  Erfahrung  bei  Grenzfällen  in 
einfachster  Weise  in  Aufstellung  der  Pignet’schen  Formel,  die  über¬ 
zeugender  wirkt,  als  Worte  es  vermögen.  Wenn  demnach  das 

0  Schwiening  1.  c. 

2)  Ott  1.  c. 

3)  Pignet  1.  c. 

4)  Seiffarth  1.  c. 


10* 


144 


Gerhard  Simon, 


Pi gn et’ sehe  Verfahren  für  militärische  Zwecke  nur  von  unterge¬ 
ordneter  Bedeutung  ist,  so  läßt  es  sich  doch  namentlich  bei  der 
Musterung  und  Aushebung  unter  Berücksichtigung  der  militärischen 
Verhältnisse  gut  als  Hilfsmittel  zur  Beurteilung  von  Grenzfällen 
der  Tauglichkeit  und  zur  Unterstützung  der  ärztlichen  Ansicht 
gebrauchen. 

Meine  Ausführungen  möchte  ich  kurz  in  den  Satz  zusammen¬ 
fassen  : 

Das  Pignet’ sc  he  Verfahren  ist  ein  praktisches 
Hilfsmittel  zur  Beurteilung  von  Grenzfällen  bei  der 
Musterung  und  Aushebung. 

II. 

Der  Pignet’ sehe  Index  als  Konstitutionsmaß  findet  natur¬ 
gemäß  sein  Hauptanwendungsgebiet  bei  Massenuntersuchungen  zu 
anthropologischen  oder  sozialhygienischen  Zwecken. 

Hier  verspricht  das  Verfahren  wegen  seiner  objektiven  Grund¬ 
maße,  besonders  die  Indexklasseneinteilung  recht  interessante  Er¬ 
gebnisse. 

Es  schien  mir  nach  obigen  Betrachtungen  aussichtsvoll,  und 
bei  dem  Interesse,  welches  man  jetzt  solchen  Massenuntersuchungen 
entgegenbringt,  auch  zeitgemäß,  mittels  des  Pignet’ sehen  Ver¬ 
fahrens  die  ganze  wehrpflichtig  gewordene  Jahresklasse  eines 
Landes  zu  untersuchen.  Bei  der  vorjährigen  Musterung  im  Badischen 
Seekreis  kam  ich  auf  den  Gedanken,  für  meine  Untersuchungen 
den  jüngsten  Jahrgang  Badens  wehrpflichtig  gewordener  Jugend, 
die  Jahresklasse  1891  zu  wählen. 

Ich  stellte  mir  die  Aufgabe,  mittels  dieses  Verfahrens  fest¬ 
zustellen  : 

1.  Die  Körperbeschaflenheit  des  Jahrganges  im  allgemeinen. 

2.  In  den  einzelnen  Bezirksämtern. 

3.  In  einzelnen  Berufsgruppen. 

4.  In  einzelnen  Berufen. 

Als  Grundlage  für  meine  Untersuchungen  habe  ich  mit  behörd¬ 
licher  Genehmigung  die  alphabetischen  Listen  der  53  Bezirksämter 
benutzt.  Von  jedem  einzelnen  untersuchten  Wehrpflichtigen  wurde 
Beruf,  Größe,  Brustumfang  und  Gewicht  den  Listen  entnommen, 
die  Leute  nach  dem  Bezirksamt  ihres  Geburtsortes  geordnet  und 
dann  von  jedem  einzelnen  der  Pignet’ sehe  Index  berechnet,  die 
drei  Körpermaße  der  zu  mehrjährig  freiwilligem  Dienst  angenom¬ 
menen  und  der  bereits  eingestellten  Leute  wurden  von  den  Truppen- 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  145 


teilen  bzw.  Bezirkskommandos  erbeten.  Die  znm  einj.-freiw.  Dienst 
berechtigten  jungen  Leute  wurden  bei  den  Untersuchungen  nicht 
mit  berücksichtigt. 

Im  folgenden  gebe  ich  einen  solchen  Auszug  wieder. 


Bezirksamt  Konstanz-Land. 


Schlosser 
Fabrikarbeiter 
Kaufmann 
Hufschmied 
Landwirt 

Buchbinder 
Landwirt 
Schlosser 
Maurer 
Kaufmann 
Gärtner 
Dienstknecht 
Zimmermann 
Gärtner 
Fabrikarbeiter 
Maurer 
Taglöhner 
Fabrikarbeiter 
Eisendreher 
Landwirte 
Landwirtschaftliche  Arbeiter 

55  55 

55  55 

Zimmermann 


172  —  (84  -j-  61)  =  27 
163,5  —  (80  -f  56)  =  27 

170  — (75 +  62)  =  33 

163  —  (87  +  58)  =  18 

172  — (89  +  77)=  6 

171  —  (79  +  64)  =  28 

Mindermaß 

165  — (79 +  57)  =  27 
162  —  (84  +  66)  =  12 

166  — (81  +  62)  =  23 
161  — (79  +  84)  =  +  2 

157  —  (79  +  52)  =  32 
155  —  (78  +  48)  =  29 

164  — (81 +  59)  =  24 

158  — (80 +  56)  =  22 

164  —  (79  +  58)  =  27 
169  —  (81  +  63)  =  25 
171  — (75 +  58)  =  40 
169  — (79 +  56)  =  34 
169  — (82 +  56)  =  31 
174  —  (87  +  68)  =  19 

173  — (85 +  61)  =27 
Mindermaß 

165  — (83 +  60)  =  22 

166  —  (82  +  62)  =  22 


Im  ganzen  konnte  ich  diese  fünf  Angaben  von  9980  im  Jahre 
1891  geborenen  Badenern  aus  den  alphabetischen  Listen  erhalten. 

Es  wurden  1891  im  Großherzogtum  Baden  bei  einer  Bevöl¬ 
kerung  von  1656817  Einwohnern  56  826  Kinder  geboren,  darunter 
28  797  Knaben.  Meine  9980  Mann  repräsentieren  55.5  Proz.  der 
im  Jahre  1891  geborenen  jetzt  noch  lebenden  Badener,  da  auf 
Grund  der  neuesten  deutschen  Sterbetafeln  rund  18000  der  im 
Jahre  1891  geborenen  28  797  noch  am  Leben  sein  würden.  Daß 
ich  nur  über  9980  Mann  berichten  kann,  liegt  in  erster  Linie  da¬ 
ran,  daß  eine  Anzahl  Bezirksämter  die  erforderlichen  Maße  nicht 
bei  jedem  Gemusterten  eingetragen  hat  und  außerdem  das  Unter¬ 
suchungsergebnis  der  zu  mehrj.-freiw.  Dienst  bereits  Eingetretenen 
oder  Angenommenen  leider  nicht  vollständig  zu  erhalten  war. 


146 


Gerhard  Simon, 

1. 

Über  die  Wehrpflichtigen  Badens  existieren  sehr  ausführliche 
Arbeiten. 

Die  erste  stammt  von  dem  verstorbenen  Freiburger  Anatomen 
A.  Ecker1 2 3 4 5)  und  behandelt  die  Größe  der  badischen  Rekruten. 
Vor  allem  ist  aber  hier  Otto  Ammon2-5)  zu  nennen,  der  auf 
eine  Anregung  Rudolf  Virchow’s  hin  zusammen  mit  Wils  er 
genaue  anthropologische  Untersuchungen  in  den  Jahren  1886 — 1894 
beim  Ersatzgeschäft  angestellt  hat.  Die  Arbeiten  boten  willkom¬ 
menes  Vergleichsmaterial  für  die  drei  Einzelmaße:  Größe,  Brust¬ 
umfang,  Gewicht.  Ich  muß  deshalb  auf  jedes  Maß  kurz  eingehen. 


Größe. 

Bei  Aufstellung  der  Größentabellen  bin  ich  mit  Ammon,  Jo¬ 
hannes  Ranke6),  dem  bekannten  Münchener  Anthropologen,  ge¬ 
folgt  nur  mit  dem  Unterschiede,  daß  die  Mindermaßigen  entsprechend 
der  jetzt  geltenden  Heerordnung  nicht  bis  zu  157  cm.  sondern  nur 
bis  zu  153  cm  einschließlich  reichen.  Die  einzelnen  Größenklassen 
und  die  Verteilung  der  9980  Mann  auf  sie  gibt  Tabelle  III. 


Tabelle  III. 


Größenklasse  Mindermaßige 
„  I.  Kleine 

„  II.  Mittlere 

„  III.  Große 

„  IV.  Übergroße 


— 153  cm 
154—161  „ 
162—169  „ 
170—175  „ 


201=  2,0  % 
1751=  17,54  „ 
4866=  48,76  „ 
2223=  22,29  „ 


176  u.  darüber  939=  9,4  „ 


9980  =  100,0  °|0 


b  A.  Ecker,  Zur  Statistik  der  Körpergröße  im  Großherzogtum  Baden. 
Archiv  für  Anthropologie,  Bd.  9,  1876. 

2)  0.  Ammon,  Anthropologische  Untersuchungen  der  Wehrpflichtigen  in 
Baden.  Virchow-Holzendorf’s  Sammlung  gemeinverständlicher  wissenschaftlicher 
Vorträge;  Heft  101,  1890. 

3)  Derselbe,  Die  natürliche  Auslese  beim  Menschen.  Jena  1893. 

4)  Derselbe,  Die  Körpergröße  der  Wehrpflichtigen  im  Großherzogtum 
Baden  in  den  Jahren  1840 — 1864.  Beiträge  zur  Statistik  des  Großherzogtum 
Baden.  N.  F.,  5.  Heft  1894. 

5)  Derselbe,  Zur  Anthropologie  der  Badener.  Jena  1899.  707  Seiten. 

6)  J.  Banke,  Zur  Statistik  und  Physiologie  der  Körpergröße  der  bayerischen 
Militärpflichtigen  in  den  7  rechts-rheinischen  Begierungsbezirken  nach  den  Vor¬ 
stellungslisten  der  Kgl.  Ober-Ersatzkommissionen  vom  Jahre  1875.  Beiträge  zur 
Anthropologie  und  Urgeschichte  Bayerns.  Bd.  4,  1881. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  147 


Ein  Vergleich  dieser  Zahlen  mit  denen  aus  den  Jahren 
1840—1864  und  1886— 1894 x)  ergibt 


Tab 

eile  IV. 

Kleine 

Große 

1840- 

-1864 

39  o/o 

15,6  % 

1886- 

-1894 

27,6  „ 

23,5  „ 

1911 

19,54  „ 

31,61  „ 

Wir  konstatieren  eine  bedeutende  Abnahme  der  Kleinen  und 
•eine  fast  ebenso  hohe  Zunahme  der  Großen  in  den  letzten  70  Jahren. 
Es  gibt  jetzt  mehr  Große,  als  Kleine. 

Nach  der  jetzt  geltenden  Ansicht  der  Anthropologen  haben 
wir  diese  Verschiebung  in  den  einzelnen  Größenklassen  des  Jahr¬ 
gangs  1911  als  Ausdruck  schnelleren  Wachstums  infolge  besserer 
Lebensbedingungen  anzusehen,  in  jeder  Beziehung  ein  sehr  erfreu¬ 
licher  Fortschritt. 


Brustumfang. 

Ammon  konnte  bei  seinen  ausgedehnten  Untersuchungen  fest¬ 
stellen,  daß  der  Umfang  der  leeren  Brust  nur  bei  den  reifen  Leuten 
unter  den  Kleinen  und  Mindermaßigen  die  Hälfte  der  Körpergröße 
übersteigt.* 2)  Nach  meinen  Untersuchungen  hat  sich  in  dieser 
Beziehung  nichts  geändert. 


Gewicht. 

Bezüglich  des  Körpergewichtes  konnte  Ammon  s.  Z.  nur  er¬ 
fahren,  wer  von  den  Wehrpflichtigen  65  kg  und  mehr,  wer  unter 
65  kg  wiegt.  Der  fehlende  Eintrag  des  Gewichtes  in  vielen  alpha¬ 
betischen  Listen  des  Jahrganges  1891  ist  auch  bei  mir  der 
Hauptgrund,  warum  ich  nicht  über  eine  größere  Zahl  berichten 
kann.  Tabelle  V  gibt  das  Gewicht  der  Wehrpflichtigen  von 
1886 — 1894  und  der  Wehrpflichtigen  von  1911. 

Tabelle  V. 


-f-  65  kg 
1886— 1894....  15,7  % 
1911 ....  23,03  „ 


—  65  kg 
84,3  o/o 
76,97  „ 


x)  0.  Ammon. 

2)  0.  Ammon,  Zur  Anthropologie  der  Badener,  p.  248  u.  256. 


148 


Gerhard  Simon, 


Meine  Zahlen  sind  nur  aus  den  Bezirken  berechnet,  wo  bei 
jedem  Gemusterten  das  Körpergewicht  eingetragen  war.  Wie  nach 
der  Größenstatistik  zu  erwarten,  sehen  wir  eine  Zunahme  der 
schweren,  eine  Abnahme  der  leichten  Leute. 

Dies  erfreuliche  Ergebnis  dürfte  wohl  unbestritten  auf  die 
besser  gewordenen  Lebensbedingungen  zurückzuführen  sein. 

Nach  dieser  erfreulichen  Tatsache  war  ich  nun  sehr  auf  das 
Bild  gespannt,  welches  die  Einteilung  des  Jahrgangs  in  die  6  Index¬ 
klassen  bieten  würde.  Tabelle  VI  bringt  das  Ergebnis. 


Tabelle  VI. 

Klasse  +  38  =  0,3  % 

„  A  440  =  4,4  „ 

„  B  2705  =  28,0  „ 

„  C  4460=  45,6  „ 

„  D  1338=  13,6  „ 

„  E  798=  8,1  „ 

9779%=  100% 


Tabelle  VII. 


03 


Tabelle  VII  soll  es 
Der  erste  Eindruck  ist 
Besonders  fällt  die  hohe 
Klasse  auf.  Freilich  sind 
und  A  m  m  o  n  hat  mittels 
suchungsmethoden  fest¬ 
jungen  Badener  nach  dem 
Ich  muß  mir  hier  leider 
Ammon  ’schen  Befunde 
die  Gelegenheit  benutzen, 
zeichnete  anthropologi- 
Aber  das  Lebensalter 
klärung  dieser  hohen 
faßt  bei  Schwiening 
Index  von  21 — 30,  während 


+  A  B  C  D  E 


4A 


28C. 


136 


1 


ai 


% 


■ff 


besser  veranschaulichen, 
der  einer  Überraschung. 
Prozentzahl  in  der  C- 
es  20jälirige  junge  Leute 
anthropologischer  Unter¬ 
gestellt,  daß  3/4  der 
20.  Jahre  noch  wachsen, 
versagen,  näher  auf  die 
einzugehen,  möchte  aber 
nochmal  auf  diese  ausge- 
sche  Arbeit  hinzuweisen, 
genügt  nicht  zur  Er- 
Zahl.  Die  Klasse  C  um- 
die  Leute  mit  einem 


sie  bei  P  i  g  n  e  t  2  Klassen  bilden. 
21 — 25,  die  er  mittelgut  bezeichnet,  und  26 — 30,  die  er  schwächlich 
nennt.  Diese  Einteilung  scheint  mir  nach  meinem  persönlichen 
Eindruck  bei  der  Musterung  auch  besser  zu  sein,  weil  die  Über¬ 
gänge  von  kräftiger  zu  schwacher  Konstitution  so  fließend  sind,  daß 
man  sehr  wohl  noch  eine  Kategorie  „mittelkräftig“  einfügen  kann. 


0  201  sind  Mindermäßige,  über  die  in  den  Listen  nähere  Angaben  fehlen. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  149’ 


Man  hätte  dann  3  Abstufungen  für  die  kräftige  wie  für  die  schwache 
Konstitution. 

Außerdem  ist  ja,  wie  Pignet  selbst  hervorhebt,  allerdings 
ohne  sich  danach  zu  richten,  erst  der  Index  21  die  Grenze  der 
Kräftigen  von  den  Mittelkräftigen.  Die  Mittelkräftigen  fangen 
also  beim  Index  22  an.  Von  der  Klasse  C  können  wir  daher  die 
eine  Hälfte  als  mittelkräftig  und  die  andere  als  schwächlich  be¬ 
zeichnen.  Das  würde  schon  ein  ganz  anderes  Bild  geben.  Von 
rein  statistischem  Standpunkt  weisen  die  Asymetrie  der  Kurve 
und  die  außerordentlich  großen  Zahlen  der  C-Klasse,  die  doch  ge¬ 
sunde  20jährige  Menschen  darstellt,  auf  das  gekünstelte  dieser 
Einteilung  hin.  Leider  habe  ich  diese,  mir  erst  später  durch  Litte- 
raturstudium  recht  zum  Bewußtsein  gekommene  Erkenntnis  nicht 
mehr  berücksichtigen  können.  Will  man  die  Klasse  C  beibehalten^ 
konnte  man  sie  meines  Erachtens,  im  Hinblick  auf  ihr  Lebensalter 
als  die  „noch  nicht  genügend  Entwickelten“  bezeichnen. 

Die  besonders  Kräftigen,  Klasse  A,  bilden  4,4  Proz. 

Die  Kräftigen  „  B,  „  28,0  „ 

Die  -f-  Klasse  weist  nur  38  =  0,3  Proz.  auf.  Ich  möchte  die 
Angehörigen  dieser  Klasse  als  die  Überentwickelten  bezeichnen. 
Also  noch  nicht  einmal  1/3  des  Jahrganges  besitzt  kräftige  Kon¬ 
stitution. 

Die  Schwachen,  Klasse  D,  sind  mit  13,6  Proz. 

Klasse  E,  deren  Angehörige  ich  die  besonders  Schwachen  be¬ 
nennen  möchte,  ist  mit  8,1  Proz.  vertreten. 

Ein  ganzes  Fünftel  der  20  jährigen  Badener  weist  also  nach 
dem  Index  eine  schwächliche  Konstitution  auf  und  fast  die  Hälfte 
des  Jahrganges  ist  noch  nicht  genügend  entwickelt.  Unwillkürlich 
drängt  es  uns  weiter  nach  einer  Erklärung  dieser  ungewohnten 
Erscheinung.  Nächst  dem  Lebensalter  kommt  die  Rasseneigentüm¬ 
lichkeit  in  Frage,  welche  Wuchs  und  Statur  bedingt.  Da  ist  zu 
bemerken,  daß  der  Badener  einen  Mischlingstyp  darstellt ;  der  Anteil 
des  Homo  europaeus  beträgt  in  Baden  nach  Ammon  67  Proz.  nach 
Fürst  69  Proz.,  das  andere  V3  stammt  vom  Homo  alpinus.1)  So 
erklären  sich  auch  die  vielen  Mittelgroßen  in  Baden. 

Bei  der  engen  Beziehung  zwischen  Körpergröße  und  Körper¬ 
entwicklung  ist  es  wichtig,  die  Wechselwirkung  zwischen  Körper¬ 
größe  und  Indexklasse  kennen  zu  lernen. 

9  0.  Ammon,  Altes  und  Neues  über  die  Menschenrassen  in  Europa.  Zeit¬ 
schrift  für  Sozialwissenschaft  Bd.  6,  1903. 


150 


Gerhard  Simon, 


Hierüber  geben  folgende  Tabellen  Aufschluß: 


Tabelle  VIII. 


Größenklasse 

Mm  -f- 

4- 

A 

ab¬ 

solut 

. 

0/ 

10 

B 

ab¬ 

solut 

0/ 

Io 

C 

ab¬ 

solut 

0/ 

Io 

D 

ab¬ 

solut 

0/ 

Io 

E 

ab¬ 

solut 

Ol 

Io 

Mm 

201 

I 

— 

9 

66 

8,7 

473 

27.0 

868 

49,5 

227 

12,9 

108 

6,0 

II 

— 

17 

207 

4,2 

1414 

29.0 

2194 

45,0 

690 

14,1 

344 

7,1 

III 

— 

6 

120 

5,3 

590 

26,5 

1005 

45,2 

285 

12,8 

217 

9,8 

IV 

— 

6 

47 

5,0 

228 

24,2 

393 

41,8 

136 

14,4 

129 

13,6 

1  - 

38 

440 

-1 

2705 

— 

4460 

- 

1338 

- 

798 

— 

Tabelle  IX. 


Indexklasse 

I 

absolut 

01 

Io 

I 

absolut 

i 

0/ 

Io 

II 

absolut 

I 

0/ 

Io 

11 

absolut 

7 

Ol 

Io 

A 

66 

15.0 

207 

47,05 

120 

27,27 

47 

10,68 

440 

B 

473 

17,5 

1414 

52,3 

590 

21,8 

228 

8,4 

2705 

C 

868 

24.9 

2194 

49,2 

1005 

22,5 

393 

8,8 

4460 

[D 

227 

16,9 

690 

51,5 

285 

21,3 

136 

10,1 

1338 

E 

108 

13,5 

344 

44,2 

217 

27,2 

129 

16,1 

798 

Die  größten  Leute  haben  prozentual  die  meisten  Kräftigsten 
h  Proz.,  aber  auch  die  meisten  Schwachen  14,4  Proz.  und  meisten 
besonders  Schwachen  13,6  Proz. 

Die  Mittelgroßen  haben  die  meisten  Kräftigen  29  Proz. 

Die  Kleinen  haben  die  meisten  Mittelkräftigen  49,5  „ 

Wie  bei  Schwiening  nehmen  mit  steigender  Körpergröße 
die  A-  D-  und  E-Leute  zu,  letztere  schneller.  Die  Übergroßen 
haben  doppelt  soviel  besonders  Schwache  wie  die  Kleinen.  Die 
beiden  übrigen  Klassen  zeigen  mit  zunehmender  Körpergröße  eine 
steigende  Abnahme.  Sie  beträgt  in  Klasse  B  3  Proz.  in  Klasse  C 
8  Proz.  Ein  näherer  Vergleich  obiger  Zahlen  mit  denen  Sch  wie¬ 
nin  g’s  ist  wegen  der  verschiedenen  Größeneinteilung  nicht  möglich. 
Seine  Tabelle  bietet  im  großen  und  ganzen  dasselbe  Bild. 

Außer  diesen  angeführten  Gründen  kommen  für  die  Körper¬ 
konstitution  aber  noch  andere  Einflüsse  in  Betracht:  Herkunft, 
Beruf,  Wohnung,  Arbeitsverdienst,  Arbeitsort,  Körperpflege,  Lebens 
haltung,  allgemeine  Schädlichkeiten. 

Alle  diese  und  andere  Faktoren  hier  zu  behandeln,  liegt  nicht 
im  Ramen  der  Arbeit.  Anführen  möchte  ich  bloß,  daß  in  den 
alphabethischen  Listen  bei  726  =  7,4  Proz.  schlechte  Zähne  und  bei 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  151 


1105  =  11,3  Proz.  Kropfbildung  verzeichnet  ist.  Das  ist  um  so 
mehr  von  Bedeutung,  als  bei  Untersuchung  des  jüngsten  Jahrgangs 
nur  die  auffallendsten  Fehler  vermerkt  werden. 

Nun  hört  man  jetzt  viel  von  Entartung  unserer  Rasse  reden. 
Wenn  wir  unseren  Jahrgang  daraufhin  prüfen,  so  könnte  wohl  der 
erste  Eindruck  obiger  Tabelle  ähnliche  Befürchtungen  aufkommen 
lassen.  Aber  die  statistisch  nachgewiesene  Zunahme  der  Körper¬ 
größe  und  des  Gewichts,  sowie  die  Abnahme  der  Kleinen  seit  1840 
zerstreuen  sicher  alle  schwarzen  Gedanken.  Wie  Kruse1)  ganz 
allgemein  aus  den  Ergebnissen  der  Sterblichkeits-,  Tauglichkeits-, 
Erkrankungsstatistik,  Schwiening2)  aus  der  Tauglichkeitsstatistik 
der  Jahre  1894 — 1903  nachgewiesen  haben,  kann  bei  uns  in 
Deutschland  von  Entartung  keine  Rede  sein. 

Über  die  Ergebnisse  der  Militärtauglichkeit  kann  ich  keine 
sicheren  Angaben  machen,  da  ich  mit  der  Arbeit  nicht  bis  nach 
Beendigung  des  Oberersatzgeschäftes  warten  konnte.  Im  Durch¬ 
schnitt  der  Jahre  1894 — 1903  war  nur  der  nördliche  Teil  Badens 
Odenwald,  Bauland,  Taubergrund  schlechter  als  der  allgemeine 
Durchschnitt  von  57,3  Proz.  der  Tauglichkeitsquote  zum  Dienst 
mit  der  Waffe.  In  Mittelbaden  betrug  die  Tauglichkeitsquote 
57 — 60  Proz.,  in  Südbaden  sogar  62—65  Proz.  (Schwiening).2) 
So  wird  auch  der  Jahrgang  1911  nicht  schlechter  sein. 

Vergleiche  mit  anderen  Gegenden  sind  hier  besonders  er¬ 
wünscht. 

Als  Vergleichsmaterial  habe  ich  nur  die  Einj.  -  Freiw. 
S  c  h  w  i  e  n  i  n  g’  s. 

Tabelle  X  bringt  eine  Gegenüberstellung  der  Prozentanteile 
in  den  einzelnen  Indexgruppen  bei  meinen  jungen  Badenern  und 
den  Einj. -Freiw. 

Tabelle  X. 

20 jährige  Badener 
Klasse  -j-  =  0,3  °/0 

r>  A  =  4,4  „ 

*  B  =  28,0  „ 

„  0  =  45,6  „ 

„  D  =  13,6  „ 

„  E  =  8J  „ 


1)  W.  Kruse,  Entartung.  Zeitschrift  für  Sozialwissenschaft,  Bd.  6,  1903. 

2)  Schwiening,  Beiträge  zur  Kekrutierungsstatistik.  Klinisches  Jahrbuch, 
Bd.  18,  1908. 


Einjährig-Freiwillige 
4,4  % 

9,6  „ 

26,2  ,. 

37,6  „ 

13,4  „ 

8,8  „ 


152 


Gerhard  Simon, 


Wegen  des  verschiedenen  Menschenmaterials  muß  beim  Ver¬ 
gleich  obiger  Zahlen  von  vornherein  mit  Verschiedenheiten  gerechnet 
werden.  Trotzdem  muß  auffallen: 

1.  Klasse  -f-  ist  bei  den  Einj.-Freiw.  14  mal  so  stark  be¬ 
setzt  wie  bei  den  Badenern.  Da  sich  unter  diesen  4,4  Proz.  viel 
Fettleibige  befinden,  ist  dieser  Unterschied  wie  schon  angeführt,, 
nicht  als  Vorteil  anzusehen. 

2.  Klasse  A  weist  bei  den  Einj.-Freiw.  doppelt  soviel  Ver¬ 
treter  auf,  wohl  ein  Ausdruck  der  besseren  sozialen  Stellung; 
dann  ist  zu  bedenken,  worauf  Ott  hinweist,  daß  die  zum  einjährig¬ 
freiwilligen  Dienst  Berechtigten  größtenteils  in  einem  späteren 
Alter  als  die  übrigen  Militärpflichtigen  zur  Untersuchung  kommen* 
Die  körperliche  Entwicklung  ist  vollendet.  Fettansatz  bereits  da. 

3.  Klasse  B  ist  dagegen  bei  den  Badenern  mit  2  Proz.  mehr 
besetzt,  ein  sehr  gutes  Zeichen. 

4.  Klasse  C  hat  bei  den  Einj.-Freiw.  ebensoviel  weniger,  als 
die  beiden  ersten  Klassen  mehr.  Bei  Klasse  C  gilt,  was  bei  Klasse 
A  ausgeführt,  daß  die  Eiuj.-Freiw.  10  Jahrgänge  umfassen,  unter 
ihnen  also  mehr  ausgewachsene  Leute  sind,  als  bei  meinen  20  jährigen 
Badenern. 

Klasse  D  und  E  sind  auf  beiden  Seiten  fast  gleich.  Die  auf¬ 
fallende  Übereinstimmung  des  so  verschiedenen  Menschenmaterials 
in  Klasse  D  und  E  könnte  man  wohl  unter  Berücksichtigung  des 
eben  Gesagten  dahin  erklären,  daß  mit  zunehmendem  Alter  unter 
den  besonders  Schwachen  eine  Besserung  nicht  mehr  zu  erwarten 
ist.  Kurz  gesagt,  wer  im  ersten  Gestellungsjahr  schwächlich  ist, 
bleibt  es  die  zwei  anderen  Jahre  auch. 

Die  Jahresklasse  1911  der  Badener  steht  also  dem  Pignet- 
schen  Index  nach  etwas  schlechter  als  die  Einj.-Freiw.  Das  kann 
weiter  nicht  wundern.  Viel  bedeutungsvoller  wären  Vergleiche  mit 
der  20jährigen  Jungmannschaft  anderer  Gegenden  und  Länder  nach 
dem  Ergebnis  des  Pign et’ sehen  Verfahrens. 

Nach  der  Tauglichkeitsskala  steht  Baden  J)  an  17.  Stelle  unter 
den  23  deutschen  Aushebungsbezirken. 

2. 

Um  die  Körperbeschaffenheit  in  den  einzelnen  Gegenden  Ba¬ 
dens  kennen  zu  lernen,  wurde  in  den  Bezirksämtern,  deren  alpha- 

9  Fr.  Prinzing,  Der  Prozentsatz  der  Militärtauglichen  als  Maßstab  der 
körperlichen  Entwicklung  einer  Bevölkerungsgruppe.  Zeitschrift  für  Sozialwissen¬ 
schaft,  Bd.  4,  1908. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  153 


betische  Listen  die  drei  Maße:  Größe,  Brustumfang  und  Gewicht 
enthielten,  die  Wehrflpichtigen  nach  Größen  und  Indexklassen  ge¬ 
ordnet.  Leider  fanden  sich  die  drei  nötigen  Maße  nur  in  33 
Bezirksämtern  bei  jedem  Untersuchten  verzeichnet.  Das  Ergebnis 
dieser  Untersuchungen  bringen  die  nächsten  Tabellen. 


Tabelle  XI. 
Bezirksamt  Lahr. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

I 

— 

— 

1 

6 

25 

10 

3 

— 

45 

II 

— 

— 

7 

39 

69 

28 

14 

157 

III 

— 

— 

1 

19 

38 

6 

5 

— 

69 

IV 

— 

— 

1 

4 

15 

3 

3 

— 

26 

Sa. 

1- 

10 

68 

147 

47 

25 

- 

297 

Tabelle  XIII. 
Bezirksamt  Wolfacli. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

I 

8 

— 

2 

29 

9 

4 

8 

44 

II 

— 

— 

— 

16 

44 

7 

10 

— 

77 

III 

— 

— 

1 

11 

15 

7 

4 

— 

38 

IV 

— 

— 

— 

2 

3 

5 

1 

— 

11 

Sa. 

1  8 

— 

1 

31 

91 

28 

19 

- 

178 

Tabelle  XV. 
Bezirksamt  Oberkirch. 


M 

m 

i 

X 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

6 

6 

I 

— 

1 

7 

28 

5 

2 

43 

II 

— 

— 

5 

14 

44 

13 

11 

87 

III 

— 

— 

— 

7 

16 

3 

1 

— 

27 

IV 

— 

— 

2 

6 

1 

1 

10 

Sa. 

1  6 

— 

6 

30 

94 

22 

15 

- 

173 

Tabelle  XII. 
Bezirksamt  Offenburg. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

- 

Sa. 

M 

m 

8 

— 

— 

— 

— 

— 

8 

I 

— 

6 

22 

32 

13 

7 

80 

II 

— 

1 

6 

42 

79 

25 

7 

— 

160 

III 

— 

7 

22 

31 

10 

5 

— 

75 

IV 

— 

1 

2 

7 

15 

3 

3 

31 

Sa. 

1  8 

2 

21 

93 

157 

71 

22 

- 

354 

Tabelle  XIV. 
Bezirksamt  Kehl. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

3 

3 

I 

— 

— 

1 

10 

20 

6 

— 

— 

37 

II 

2 

— 

39 

36 

10 

3 

— 

90 

III 

— 

4 

16 

15 

2 

2 

— 

39 

IV 

— 

1 

10 

10 

1 

— 

22 

Sa. 

3 

2 

6 

75 

81 

18 

6 

- 

191 

Tabelle  XVI. 
Bezirksamt  Säckingen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

1 

1 

I 

— 

— 

— 

6 

9 

4 

— 

— 

19 

II 

- - 

— 

1 

24 

34 

10 

2 

— 

71 

III 

— 

— 

12 

13 

5 

4 

— 

34 

IV 

— 

1 

3 

9 

1 

1 

15 

Sa. 

1 

— 

2 

45 

65 

20 

- 

140 

154 


Gerhard  Simon, 


Tabelle  XVII. 
Bezirksamt  Breisach. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

1 

1 

I 

— 

— 

1 

3 

12 

7 

1 

— 

24 

II 

— 

— 

1 

22 

28 

3 

9 

— 

63 

III 

— 

— 

1 

8 

11 

4 

4 

— 

28 

IV 

— 

— 

— 

3 

7 

1 

2 

— 

13 

Sa. 

1 

: — 

3 

36 

58 

15 

16 

- 

129 

Tabelle  XIX. 
Bezirksamt  Ettenheim. 


M 

m 

~b 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

2 

2 

I 

— 

— 

6 

12 

3 

— 

— 

21 

II 

— 

2 

16 

31 

4 

2 

— 

55 

III 

— 

— 

1 

5 

14 

6 

2 

28 

IV 

— 

— 

— 

4 

9 

3 

2 

— 

18 

Sa. 

2 

— 

3 

31 

66 

16 

6 

124 

Tabelle  XXI. 
Bezirksamt  Freiburg  (Land). 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

4 

4 

I 

— 

— 

1 

11 

13 

5 

1 

— 

31 

II 

— 

1 

2 

14 

43 

22 

11 

— 

93 

III 

— 

— 

2 

7 

25 

5 

14 

— - 

53 

IV 

— 

— 

— 

3 

7 

2 

3 

15 

Sa. 

4 

1 

5 

35 

88 

34 

29 

196 

Tabelle  XXIII. 


Bezirksamt  Waldkirch. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

3 

3 

I 

— 

— 

2 

6 

20 

9 

6 

43 

II 

— 

— 

1 

17 

39 

22 

14 

93 

III 

— 

— 

3 

3 

14 

5 

3 

28 

IV 

— 

— 

1 

4 

5 

3 

— 

13 

Sa. 

3 

— 

6 

27 

77 

41 

26 

- 

o 

00 

r-H 

Tabelle  XVIII. 
Bezirksamt  Emmendingen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

10 

10 

I 

— 

— 

1 

19 

40 

7 

9 

76 

II 

— 

— 

5 

69 

92 

30 

10 

206 

III 

— 

2 

3 

20 

40 

16 

8 

89 

IV 

— 

— 

4 

10 

13 

5 

4 

36 

Sa. 

10 

•2 

kti 

13 

118  185 

58 

31 

- 

417 

Tabelle  XX. 

Bezirksamt  Freiburg  (Stadt). 


M 

m 

+ 

A 

B 

c 

D 

E 

Sa. 

M 

Hl 

4 

4 

I 

— 

1 

1 

10 

15 

8 

9 

— 

44 

II 

— 

— 

3 

37 

66 

24 

34 

164 

III 

— 

— 

2 

12 

22 

13 

18 

67 

IV 

— 

— 

— 

5 

8 

12 

8 

— 

33 

Sa. 

|4 

1 

6 

64 

111 

57 

69 

—  |  312 

Tabelle  XXII. 
Bezirksamt  Staufen. 


M 

m 

+ 

A 

i - 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

1 

1 

I 

— 

— 

— 

5 

4 

3 

— 

12 

II 

— 

-  2 

18 

27 

11 

2 

— 

60 

III 

— 

— 

4 

13 

14 

1 

3 

35 

IV 

— 

1 

8 

7 

6 

2 

— 

24 

Sa. 

i 

_ 

7 

44 

52 

21 

7 

-1 

132 

Tabelle  XXIV. 


Bezirksamt  Lörrach. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa.. 

M 

m 

2 

2 

I 

— 

1 

9 

17 

6 

— 

— 

33 

II 

1 

10 

45 

68 

16 

17 

157 

III 

8 

17 

32 

11 

10 

— 

78 

IV 

— 

— 

3 

5 

10 

2 

5 

— 

25 

Sa. 

2 

2 

21 

76 

127 

35 

32 

-1 

295 

Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  155 


Tabelle  XXV. 
Bezirksamt  Müllheim. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

1 

• 

1 

I 

— 

1 

— 

8 

15 

2 

2 

— 

28 

II 

— 

— 

6 

16 

28 

9 

6 

— 

65 

III 

— 

— 

2 

16 

14 

5 

4 

— 

41 

VI 

— 

— 

— 

6 

11 

4 

3 

— 

24 

Sa. 

l-i 

1 

8 

46 

j  68 

20 

15 

159 

Tabelle  XXVII. 


Bezirksamt  Schopfheim. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

3 

— 

— 

— 

— 

— 

3 

I 

— 

2 

9 

12 

2 

— 

25 

II 

5 

38 

50 

11 

2 

— 

106 

III 

— 

1 

1 

17 

18 

5 

3 

— 

45 

IV 

— 

— 

4 

4 

10 

2 

1 

— 

21 

Sa. 

3 

1 

12 

68 

90 

20 

6 

-1 

200 

Tabelle  XXIX. 


Bezirksamt  Konstanz  (Stadt). 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

2 

2 

I 

— 

— 

2 

12 

9 

6 

29 

II 

— 

1 

2 

17 

34 

14 

10 

— 

78 

III 

— 

1 

4 

18 

8 

8 

39 

IV 

— 

— 

1 

5 

9 

4 

3 

— 

22 

Sa. 

1 

4 

28 

73 

35 

27 

-1 

170 

Tabelle  XXXI. 


Bezirksamt  Stockach. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

5 

5 

I 

— 

— 

2 

8 

8 

3 

1 

22 

II 

— 

— 

5 

28 

34 

12 

5 

84 

III 

— 

— 

2 

14 

20 

2 

2 

40 

IV 

— 

— 

— 

3 

7 

6 

2 

18 

Sa. 

5 

— 

9 

53 

69 

23 

10 

- 

169 

Tabelle  XXVI. 
Bezirksamt  Schönau. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

2 

2 

I 

— 

— 

— 

1 

6 

2 

— 

9 

II 

— 

— 

6 

12 

32 

14 

4 

68 

III 

— 

— 

2 

0 

18 

5 

— 

30 

IV 

— 

— 

— 

2 

2 

2 

— 

6 

Sa. 

1-2 

— 

8 

20 

58 

23 

4 

- 

115 

Tabelle  XXVIII. 
Bezirksamt  Überlingen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

3 

3 

I 

— 

— 

— 

9 

21 

7 

2 

— 

39 

II 

— 

— 

7 

21 

54 

18 

5 

105 

III 

— 

— 

2 

8 

31 

7 

4 

— 

52 

IV 

— 

1 

2 

9 

16 

4 

5 

— . 

37 

Sa. 

3 

1 

11 

47 

122 

36 

16 

- 

236 

Tabelle  XXX. 


Bezirksamt  Konstanz  (Land). 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

6 

6 

I 

1 

— 

15 

34 

9 

3 

62 

II 

— 

— 

3 

28 

80 

30 

14 

155 

III 

— 

— 

3 

18 

38 

14 

11 

84 

IV 

— 

— 

9 

11 

2 

7 

29 

Sa. 

6 

1 

6 

70 

163 

55 

35 

336 

Tabelle  XXXII. 


Bezirksamt  Engen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

4 

4 

I 

— 

— 

1 

6 

18 

5 

1 

31 

II 

— 

— 

2 

24 

42 

12 

6 

— 

88 

III 

— 

— 

2 

9 

13 

5 

1 

30 

IV 

— 

— 

— 

4 

5 

3 

4 

— 

16 

Sa. 

5 

— 

5 

43 

78 

25 

12 

- 

167 

156 


Gerhard  Simon, 


Tabelle  XXXIII. 
Bezirksamt  Meßkirch. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

in 

3 

3 

I 

— 

— 

2 

8 

13 

3 

— 

— 

26 

II 

— 

— 

2 

21 

20 

7 

6 

— 

56 

III 

— 

— 

3 

7 

11 

4 

2 

— 

27 

IV 

— 

— 

1 

2 

3 

3 

— 

9 

Sa. 

*3 

— 

7 

37 

46 

17 

11 

- 

121 

Tabelle  XXXV. 


Bezirksamt  Ettlingen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

4 

4 

I 

— 

— 

6 

19 

19 

5 

1 

— 

50 

II 

— 

2 

9 

47 

45 

11 

2 

— 

110 

III 

— 

— 

2 

10 

18 

7 

3 

— 

40 

IV 

— 

— 

2 

2 

7 

4 

2 

17 

Sa. 

4 

2 

19 

78 

89 

27 

8 

— 

227 

Tabelle  XXXVII. 


Bezirksamt  Karlsruhe  (Land). 


• 

M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

7 

7 

I 

— 

— 

2 

13 

29 

7 

3 

— 

54 

II 

— 

8 

39 

70 

16 

8 

— 

141 

III 

— 

— 

6 

12 

13 

4 

2 

37 

IV 

1 

1 

5 

14 

1 

2 

24 

Sa. 

7 

i 

17 

69 

126 

28 

15 

- 

263 

I  i  I 

Tabelle  XXXIX. 


Bezirksamt  Pforzheim. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

8 

8 

I 

— 

8 

25 

48 

14 

7 

102 

II 

2 

7 

62 

122 

50 

21 

- - 

264 

III 

— 

2 

21 

75 

20 

13 

131 

IV 

— 

— 

5 

11 

24 

10 

11 

— 

61 

Sa. 

! 8 

2 

22 

119 

269 

94 

52 

- 

566 

Tabelle  XXXIV. 
Bezirksamt  Pfullendorf. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

I 

— 

1 

— 

7 

9 

2 

1 

— 

20 

II 

— 

— 

11 

10 

9 

1 

— 

31 

III 

— 

1 

5 

6 

3 

2 

— 

17 

IV 

— 

— 

8 

2 

— 

— 

— 

10 

Sa. 

1- 

1 

1 

31 

27 

14 

4 

- 

78 

Tabelle  XXXVI. 


Bezirksamt  Karlsruhe  (Stadt). 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

10 

10 

I 

— 

— 

2 

15 

49 

16 

6 

— 

88 

II 

— 

1 

10 

55 

103 

45 

21 

— 

235 

III 

— 

— 

5 

23 

35 

9 

20 

— 

92 

IV 

— 

— 

3 

11 

28 

8 

19 

— 

69 

Sa. 

10 

1 

20 

104 

215 

78 

66 

- 

494 

Tabelle  XXXVIII. 


Bezirksamt  Durlach. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

I 

— 

— 

2 

19 

20 

K 

0 

4 

50 

II 

— 

— 

9 

41 

51 

19 

4 

— 

124 

III 

— 

1 

8 

12 

32 

10 

7 

70 

IV 

1 

— 

7 

10 

4 

4 

_ 

26 

Sa. 

— 

2 

19 

79 

113 

38 

19 

- 

270 

I  i 

Tabelle  XL. 


Bezirksamt  Bretten. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E  i 

Sa. 

M 

m 

2 

— 

— 

— 

— 

— 

2 

I 

— 

— 

4 

12 

1 

2 

19 

II 

— 

2 

7 

39 

39 

3 

3 

— 

93 

III 

— 

1 

1 

13 

26 

8 

2 

51 

IV 

— 

— 

— 

7 

4 

2 

2 

15 

Sa. 

2 

3 

8 

63 

81 

14 

9 

- 

o 

00 

Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  157 


Tabelle  XLI. 
Bezirksamt  Bruchsal. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

ni 

5 

5 

I 

— 

1 

3 

27 

43 

10 

2 

— 

86 

II 

— 

— 

16 

72 

109 

42 

7 

246 

III 

— 

1 

4 

36 

50 

13 

6 

110 

IV 

3 

3 

18 

5 

6 

35 

Sa. 

1 6 

2 

26 

138 

220 

70 

21 

— 

482 

Tabelle  XLIII. 
Bezirksamt  Bühl. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

10 

10 

I 

— 

— 

1 

12 

31 

8 

7 

— 

59 

II 

— 

— 

2 

37 

59 

27 

13 

— 

138 

III 

— 

5 

17 

20 

5 

4 

— 

51 

IV 

— 

— 

1 

5 

7 

2 

— 

— 

15 

Sa. 

10 

— 

9 

71 

117 

42 

24 

- 

273 

Tabelle  XLY. 
Bezirksamt  Rastatt. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

12 

12 

I 

— 

4 

33 

59 

8 

6 

— 

110 

II 

— 

1 

11 

74 

97 

39 

14 

236 

III 

10 

30 

47 

4 

8 

99 

IV 

— 

6 

10 

16 

2 

— 

34 

Sa. 

|l2 

1 

31 

147 

219 

53 

28 

— 

491 

Tabelle  XLII. 
Bezirksamt  Achern. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

3 

3 

I 

— 

— 

1 

8 

21 

7 

4 

— 

41 

II 

— 

1 

5 

33 

56 

15 

5 

— 

115 

III 

— 

— 

3 

21 

20 

5 

4 

53 

IV 

— 

— 

2 

8 

7 

3 

3 

— 

23 

Sa. 

3 

1 

11 

70 

104 

30 

16 

— 

235 

Tabelle  XLIV. 
Bezirksamt  Baden. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

I) 

E 

Sa. 

M 

m 

5 

5 

I 

— 

— 

2 

13 

24 

9 

2 

— 

50 

II 

— 

— 

7 

31 

44 

16 

13 

— 

111 

III 

— 

— 

2 

14 

23 

8 

6 

— 

53 

IV 

— 

— 

— 

2 

6 

6 

6 

— 

20 

Sa. 

1* 

— 

11 

60 

97 

39 

27 

— 

239 

Tabelle  XL VI. 
Bezirksamt  Eppingen. 


M 

m 

+ 

A 

B 

C 

D 

E 

Sa. 

M 

m 

I 

1 

2 

4 

9 

2 

18 

II 

— 

1 

4 

19 

29 

9 

3 

— 

65 

III 

— 

— 

— 

6 

14 

4 

1 

— 

25 

IV 

— 

— 

— 

— 

2 

3 

— 

5 

Sa. 

1- 

2 

6 

29 

54 

18 

4 

- 

113 

Die  Güte  einer  Rasse  beurteilt  man  gewöhnlich  nach  dem 
Prozentanteil  der  Besten  und  Schlechtesten.  In  Tabelle  XLVII 
ist  deshalb  der  Prozentsatz  der  A-  und  E-Leute  in  den  33  Bezirks¬ 
ämtern  berechnet  worden. 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


11 


158 


Gerhard  Simon, 

Tabelle  XL VII. 


Bezirksämter  nach  Kreisen 
geordnet 

Gesamtzahl 

A-Kla 

absolut 

sse 

0/ 

Io 

E-Klasse 

absolut  % 

Kreis  Offenbar g. 

Bezirksamt  Lahr 

297 

10 

3,4 

25 

8,4 

„  Offenburg 

354 

21 

5,9 

22 

6,2 

Wolf  ach 

178 

1 

0,6 

19 

10,7 

„  Kehl 

191 

6 

3,2 

6 

3,2. 

„  Oberkirch 

173 

6 

3,5 

15 

9,0 

Kreis  Waldshut. 

Bezirksamt  Säckingen 

140 

2 

1,4 

7 

5,0' 

Kreis  Freiburg. 

Bezirksamt  Breisach 

129 

3 

2,3 

16 

12,4 

„  Emmendingen 

417 

13 

3,1 

31 

7,4 

„  Ettenheim 

124 

3 

2,4 

6 

4,9 

„  Freiburg,  Stadt 

312 

6 

1,9 

69 

22,1 

^  ^  Land 

196 

5 

2,5 

29 

14,8 

„  Staufen 

132 

7 

5,3 

7 

5,3 

„  Waldkirch 

180 

6 

3,4 

26 

14,4 

Kreis  Lörrach. 

Bezirksamt  Lörrach 

295 

21 

7,1 

32 

10, & 

„  Müllheim 

159 

8 

5,1 

15 

9,4 

„  Schönau 

115 

8 

7,0 

4 

3,5 

„  Schopfheim 

200 

12 

6,0 

6 

3,0 

Kreis  Konstanz. 

Bezirksamt  Überlingen 

236 

11 

4,7 

16 

6,8 

„  Konstanz,  Stadt 

170 

4 

2,3 

27 

15,8 

„  „  Land 

336 

6 

1,8 

35 

10,4 

„  Stockach 

169 

9 

5,3 

10 

5,9 

„  Engen 

167 

5 

2.9 

12 

7,2 

„  Meßkirch 

121 

7 

5,7 

11 

9,0 

„  Pf  ullendorf 

78 

1 

1,3 

4 

5,1 

Kreis  Karlsruhe. 

Bezirksamt  Ettlingen 

227 

19 

8,3 

8 

3,6 

„  Karlsruhe,  Stadt 

494 

20 

4,1 

66 

13,7 

„  „  Land 

263 

17 

6,5 

15 

5,9 

„  Durlach 

270 

19 

7,0 

19 

7.0 

„  Pforzheim 

566 

22 

3,9 

52 

9;5 

„  Bretten 

180 

8 

4,4 

9 

5,0 

Kreis  Baden. 

Bezirksamt  Bruchsal 

482 

26 

5,3 

21 

4,3 

„  Achern 

235 

11 

4,7 

16 

6j8 

„  Bühl 

*  273 

9 

3,3 

24 

8,8 

„  Baden 

239 

11 

4,5 

27 

11,3 

„  Bastatt 

491 

31 

6,3 

28 

5,7 

Kreis  Heidelberg. 

Bezirksamt  Eppingen 

113 

6 

5,3 

4 

3,5 

Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  159 

Der  höchste  Prozentanteil  für  die  besonders  Kräftigen  ist 
8,6  Proz.,  er  übersteigt  also  den  allgemeinen  Durchschnitt  um  fast 
das  Doppelte.  Von  den  33  berechneten  Bezirksämtern  haben  18 
Bezirksämter  mehr  als  4,4  Proz.,  soviel  beträgt  der  allgemeine 
Durchschnitt,  A-Leute. 

Die  meisten  Besten  haben  also  die  Bezirksämter. 

Ettlingen  mit  8,3  Proz. 

Durlach,  Lörrach,  Schönau  „  7 — 8  „ 

Schopfheim,  .Rastatt,  Karlsruhe,  Land  „  6 — 7  „ 

In  der  Rheinebene  und  dem  Hügelland  wohnen  die  kräftigsten 
jungen  Leute.  Die  wenigsten  A-Leute  hatte  das  Bezirksamt  Wol- 
fach  mit  0,6  Proz.  Wolfach  liegt  im  hohen  Schwarz wald,  hat  auch 
von  jeher  die  meisten  Minderwertigen  gehabt. 

Abstammung  (kleiner  Schwarzwaldtyp)  und  mangelnder  Ver¬ 
dienst  bewirken  die  schlechte  Körperentwicklung. 

Der  höchste  Prozentanteil  für  die  besonders  Schwachen  ist 

22.1  Proz.;  er  übersteigt  den  Prozentanteil  des  Jahrgangs  von 

8.1  Proz.  fast  um  das  Dreifache.  15  Bezirksämter  stehen  bezüglich 
der  E- Leute  schlechter  als  der  allgemeine  Durchschnitt.  Die 
meisten  E-Leute  hatten: 

Freiburg  Stadt  mit  21,2  Proz. 

Konstanz  Stadt  „  15,8  „ 

Freiburg  Land  „  14,8  „ 

Bezirksamt  Waldkircli  „  14,4  „ 

„  Karlsruhe  Stadt  „  13,7  „ 

Städter  und  Bewohner  des  hohen  Schwarzwaldes! 

3. 

Um  mittels  des  Pignet’schen  Verfahrens  einen  Einblick  in 
die  Körperbeschaffenheit  der  vertretenen  Berufsgruppen  und  Berufs¬ 
klassen  zu  gewinnen  war  zunächst  eine  Berufsstatistik  nötig. 

Als  Muster  habe  ich  die  anläßlich  der  Berufs-  und  Betriebs¬ 
zählung  im  Deutschen  Reiche  am  12.  6.  1907  aufgestellte  Ein¬ 
teilung1)  benutzt  und  nach  diesem  Muster  die  folgende  Tabelle 
aufgestellt,  in  welcher  die  20  jährige  Mannschaft  nach  Berufsgruppen, 
Berufen,  Größen  und  Indexklassen  eingeteilt  ist. 


x)  Statistik  des  Deutschen  Reiches,  Bd.  205,  1907.  Statistische  Mitteilungen 
über  das  Großherzogtum  Baden.  N.  F.,  Bd.  1,  1908. 


11* 


160 


Gerhard  Simon, 


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Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  161 


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03 


Berufsgruppen  und  Berufe 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  165 


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166 


Gerhard  Simon, 


Das  nähere  Studium  dieser  Tabelle  muß  ich  dem  Leser  über¬ 
lassen.  Aus  ihr  leiten  sich  alle  folgenden  Tabellen  ab,  zunächst 
Tabelle  XLIX,  welche  die  26  Berufsgruppen  und  die  Verteilung 
der  Angehörigen  dieser  Berufsgruppen  auf  die  einzelnen  Index¬ 
klassen  wieder  gibt.  Die  einzelnen  Berufsgruppen: 


Tabelle  XLIX. 


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A 

B 

C 

D 

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I.  Landwirtschaft 

67 

6 

110 

764 

1327 

328 

162 

2764 

IL  Forstwirtschaft 

— 

— 

3 

25 

39 

8 

10 

85 

III.  Bergbau 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

— 

1 

IV.  Industrie  der  Steine  und  Erden 

2 

1 

6 

25 

46 

7 

6 

93 

V.  Metallverarbeitung 

16 , 

6 

54 

302 

503 

139 

68 

1088 

VI.  Industrie  der  Maschinen,  Instru¬ 
mente  und  Apparate 

4 

2 

10 

101 

146 

46 

26 

335 

VII.  Chemische  Industrie 

— 

— 

— 

2 

2 

6 

8 

18 

VIII.  Forstwirtschaftliche  Nebenpro¬ 
dukte 

1 

1 

2 

IX.  Textilindustrie 

1 

1 

5 

36 

82 

28 

12 

165 

X.  Papierindustrie 

3 

— 

— 

6 

20 

16 

7 

52 

XI.  Lederindustrie 

3 

2 

3 

32 

36 

14 

10 

100 

XII.  Industrie  der  Holz-  und  Schnitz¬ 
stoffe 

9 

15 

94 

186 

70 

26 

400 

XIII.  Industrie  der  Nahrungs-  und 
Genußmittel 

24 

6 

66 

271 

355 

80 

25 

827 

XIV.  Bekleidungsgewerbe 

13 

1 

7 

56 

77 

23 

22 

199 

XV.  Beinigungsgewerbe 

3 

— 

1 

16 

43 

30 

13 

106 

XVI.  Baugewerbe 

4 

1 

45 

195 

312 

69 

39 

665 

XVII.  Polygraphisches  Gewerbe 

4 

— 

2 

16 

39 

25 

20 

106 

XVIII.  Künstliches  Gewerbe 

1 

— 

1 

5 

14 

8 

8 

37 

XIX.  Fabrikarbeiter 

23 

3 

37 

236 

385 

102 

92 

878 

XX.  Handelsgewerbe 

10 

7 

9 

106 

255 

146 

124 

657 

XXL  Versicherungsgewerbe 

— 

— 

1 

1 

3 

2 

3 

10 

XXII.  Verkehrsgewerbe 

— 

1 

13 

50 

51 

16 

10 

141 

XXIII.  Gast-  und  Schankwirtschaft 

1 

— 

4 

16 

,  31 

7 

8 

67 

XXIV.  Häusliche  Dienste,  Lohnarbeit 
wechselnder  Art 

11 

1 

34 

232 

310 

92 

53 

733 

XXV.  Staatsdienst,  freie  Berufe 

— 

— 

5 

29 

72 

24 

14 

144 

XXVI.  Ohne  Beruf 

2 

— 

9 

84 

125 

55 

32 

307 

201 

38 

440 

2705 

4460 

1338 

798 

9980 

Die  Haupterwerbszweige  bilden  nach  diesen  beiden  Tabellen 
folgende  Berufsgruppen : 

1.  Gruppe  I.  Die  Landwirtschaft 

2.  „  V.  Die  Metallverarbeitung. 

(Pforzheimer  Edelmetallindustrie  und  Ma¬ 
schinenfabriken.) 

3.  ,,  XIX.  Die  Fabrikarbeit. 

4.  ,,  XXIV.  Die  Lohnarbeit. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Baclnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  167 


5.  Gruppe 


6. 

7. 


XIII.  Die  Nahrungs-  und  Genußmittelindustrie. 

(Lalirer  Zigarren-Industrie.) 

XVI.  Das  Baugewerbe. 

XX.  Das  Handelsgewerbe. 


Es  haben  der  Reihenfolge  nach  die  meisten 


besonders  Kräftigen 
Gruppe  I  Landwirtschaft  mit  110 
„  XIII  Industrie  der 
Nahrungs-und 
Genu  fl  mittel  ,,  66 

„  V  Metallverarbeitung  „  54 

„  XVI  Baugewerbe  „  45 

„  XIX  Fabrikarbeit  „  37 

„  XXIV  Tagelohn  „  34 


besonders  Schwachen. 

Gruppe  I  Landwirtschaft  mit  162 
,,  XX Handelsgewerbe  .,  124 
„  XIX  Fabrikarbeit  „  92 

„  V  Metallverarbeitung  „  68 

„  X^IV  Tagelohn  „  53 

„  XVI  Baugewerbe  „  39 


Bei  der  Gesamtzahl  von  9980  erhält  man,  wenn  man  sich  das 
Komma  2  Stellen  nach  links  gerückt  denkt,  mit  den  absoluten, 
zugleich  die  Prozentzahlen  der  Gesamtbeteiligung  in  den  einzelnen 
Klassen. 

Die  Landwirtschaft  liefert  uns  also  von  der  Gesamtmannschaft 
die  meisten  „besonders  Kräftigen“  und  die  meisten  „besonders 
Schwachen“.  Die  anderen  5  Hauptgruppen  finden  wir  unter  den 
6  besten  und  6  schlechtesten  Gruppen  auch  wieder  und  zwar  in 
beiden  Klassen. 

I.  Landwirtschaft. 

V.  Metallverarbeitung. 

XVI.  Baugewerbe. 

XIX.  Fabrikarbeit. 

XXIV.  Tagelohn. 

Unter  den  besonders  Kräftigen  allein  Gruppe  XIII. 

Unter  den  besonders  Schwachen  allein  Gruppe  XX. 

Aus  dem  gemeinsamen  Vorkommen  der  erwähnten  Gruppen  in 
der  E-  und  A-Klasse  können  wir  schließen,  daß  sie  weder  nach 
der  guten  noch  nach  der  schlechten  Seite  an  erster  Stelle  stehen. 
Vermutlich  wird  bezüglich  der  körperlichen  Entwickelung  am  besten 
zu  bewerten  sein: 

Gruppe  XIII,  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel, 

am  schlechtesten:  Gruppe  XX,  Handelsgewerbe. 

Wollen  wir  die  Körperbeschaffenheit  in  den  einzelnen  Gruppen 
näher  kennen  lernen,  muß  prozentual  das  Verhältnis  der  einzelnen 
Indexklassen  in  den  Berufsgruppen  berechnet  werden.  Aus  sta¬ 
tistischen  Gründen  hat  die  Berechnung  nur  bei  den  Gruppen  statt¬ 
gefunden,  die  über  100  Vertreter  aufweisen,  das  sind  die  17  in 
folgender  Tabelle  aufgeführten. 


168 


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B 

B2 

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cd 


-;  r 


,  | 


Tabelle  L. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  169 

Die  Prozentbeteiligung  der  einzelnen  Berufsgruppen  in  den 
Indexklassen  ist  zur  besseren  Veranschaulich ung  noch  einmal  in  fünf 
Säulentabellen  wiedergegeben.  Siehe  Anlage  1. 

Die  Plusklasse  ist  wegen  ihrer  zahlenmäßigen  Unbedeutend¬ 
heit  nicht  mit  aufgeführt. 

Die  Berufsgruppen  sind  in  jeder  Tabelle  nach  der  Höhe  des 
Prozentanteils  geordnet.  Die  7  Hauptberufsgruppen  sind  punktiert 
gezeichnet.  Die  schwarze  Senkrechte  in  jeder  Tabelle  zeigt  die 
Stelle,  an  welcher  der  Jahrgang  in  der  Reihenfolge  stehen  würde. 

Wir  betrachten  an  der  Hand  der  Tabellen x)  in  jeder  Indexklasse: 

1.  Das  Verhältnis  der  einzelnen  Berufsgruppen  zum  Prozent¬ 
anteil  des  Jahrgangs. 

2.  Den  Unterschied  zwischen  niedrigstem  und  höchstem  Pro¬ 
zentsatz. 

3.  Die  Reihenfolge  der  Berufsgruppe,  besonders  Anfang  und  Ende. 


Indexklasse  A. 

Besonders  Kräftige. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  beträgt  4,4  Proz.  Nur  5 
Berufsgruppen  haben  einen  höheren  Prozentsatz  sehr  kräftiger  Leute: 
Gruppe  XXIV  Tagelohn  mit  4,6  Proz. 

j;  V  Metallverarbeitung  mit  5  Proz. 

„  XVI  Baugewerbe  mit  6,8  Proz. 

,,  XIII  Industrie  der  Nahrungs-  u.  Genußmittel  mit  8  Proz. 


r~ 

g  fteimqungsqewerbe  ßg 

'3:  Handelsqewerbe  ^3 

gs 

iS  Polyqraphisch. Gewerbe  § 

sä 

ö  Ohne  Beruf  M 

■o  Maschinen-Jndustrie  c3 

RsSj 

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<-*  Lederindustrie  W 

KS  

^Textilindustrie  W 

of  Staatsdienst  M 

Bekleidunqsqewerbe  üa 

oo  Holzindustrie  0 

m 

•S  Landwirtschaft 

m 

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nj  Fabrikarbeiter  PF 

Häusliche  Dienste 

VXv:-::! 

Metallindustrie  •=> 

§  Bauqewerbe  Eä 

J 

o  Nahrunqsmittelindust  § 

LS  VerKehrsqewerbe  M 

> 

25 

DJ 

C/t 

V) 

ro 


Am  höchsten  Gruppe  XXII,  das  VerkehrsgewTerbe,  mit  9,2  Proz., 
also  über  das  Doppelte  des  Prozentanteils  des  Jahrgangs.  Die 
Gruppe  XXII  setzt  sich  zusammen  aus  Packern,  Magazinern,  Fuhr¬ 
leuten,  Bahn-  und  Telegraphenarbeitern;  alles  gut  bezahlte  Leute, 
die  hauptsächlich  im  Freien  arbeiten. 

x)  Vergleiche  auch  die  auf  beigegebener  Tafel  vereinigten  einzelnen  graphi¬ 
schen  Darstellungen. 


170  Gerhard  Simon, 

Erfreulich  ist,  daß  unter  den  5  besten  Berufsgruppen  4  Haupt¬ 
berufsgruppen  sind,  leider  und  auffallenderweise  nicht  die  größte 
Berufsgruppe,  die  Landwirtschaft.  12  Gruppen  bleiben  hinter  dem 
Prozentanteil  des  Jahrgangs  zurück,  darunter  auch  die  Landwirte, 
es  sind  also  nur  5  von  17  Gruppen  =  29,5  Proz.  besser  als  der  Ge¬ 
samtdurchschnitt,  70,5  Proz.  schlechter. 

Die  wenigsten  sehr  Kräftigen  hat  das  Reinigungsgewerbe,  es 
bleibt  hinter  Gruppe  XXII  um  über  das  Zehnfache  zurück. 

Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  geordnet, 
lautet : 


Berufsgruppe 

XV  Reinigungsgewerbe 

0,9 

Proz, 

» 

XX  Handelsgewerbe 

1,4 

55 

n 

XVII  Polygraphisches  Gewerbe 

1,9 

55 

5, 

XXVI  ohne  Beruf 

2,3 

55 

55 

VI  Maschinenindustrie 

3,0 

55 

55 

XI  Lederindustrie 

3,0 

55 

55 

IX  Textilindustrie 

3,0 

55 

55 

XXV  Staatsdienst 

3,5 

55 

55 

XIV  Bekleidungsgewerbe 

3,5 

55 

55 

XII  Holzindustrie 

3,8 

55 

55 

I  Landwirtschaft 

4,0 

55 

ftft 

XIX  Fabrikarbeit 

4,2 

55 

•  • 

yj 

XXIV  Häusliche  Bedienstete 

4,6 

55 

•  • 

V  Metallindustrie 

5,0 

55 

55 

XVI  Baugewerbe 

6,8 

55 

•  ft 

XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Ge¬ 

nußmittel 

8,0 

,5 

55 

XXII  Verkehrsgewerbe 

9,2 

55 

Indexklasse  B. 


Kräftige. 


Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
28  Proz.  Einen  höheren  Anteil  weisen  7  Gruppen  auf. 


Gruppe 


55 


» 


55 

55 


XIV  Bekleidungsgewerbe  28,2  Proz. 

XVI  Baugewerbe  29,5  „ 

VI  Maschinenindustrie  31,1  „ 

XXIV  Häusliche  Bedienstete  31,6  ,, 

XI  Lederindustrie  32,0  „ 


XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel  32,8 
XXII  Verkehrsgewerbe  35,5 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  171 


darunter  nur  3  Hauptberufsgruppen.  Die  Landwirtschaft  erreicht 
auch  hier  nicht  die  Anteilsquote  des  Jahrgangs,  trotzdem  7  Gruppen 
gegen  5  in  der  A-Klasse  mehr  Kräftige  als  der  Jahrgang  im 
ganzen  haben. 


Der  Unterschied  des  Prozentanteils  in  den  einzelnen  Gruppen 
ist  lange  nicht  so  groß  und  verhält  sich  zwischen  der  mit  dem 
niedrigsten  Anteil,  auch  hier  wieder  Gruppe  XV,  dem  Reinigungs¬ 
gewerbe,  zu  der  mit  dem  höchsten  Anteil,  auch  hier  wieder,  wie  in 
Indexklasse  A,  dem  Verkehrsgewerbe  wie  3 : 7. 

Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 


Berufsgruppe  XI  Reinigungsgewerbe 

„  XVII  Polygraphisches  Gewerbe 

„  XX  Handelsgewerbe 

.  „  XXV  Staatsdienst 

„  IX  Textilindustrie 

„  XII  Holzindustrie 

,,  XXVI  ohne  Beruf 

,,  I  Landwirtschaft 

„  V  Metallindustrie 

„  XIV  Bekleidungsgewerbe 

,,  XVI  Baugewerbe 

„  VI  Maschinenindustrie 

„  XXIV  Häusliche  Bedienstete 

„  XI  Lederindustrie 

„  XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Ge¬ 

nußmittel 

„  XXII  Verkehrsgewerbe 


15,1  Proz.. 

15.1  „ 

16.1  „ 

20,1  „ 
21,8  „ 
27,0  „ 

27.4  „ 

27.5  „ 

27.8  „ 
28,2  „ 

29.5  „ 

30,1  „ 

31.6  „ 

32,0  „ 

32.8  „ 


Wie  in  der  A-Klasse  stehen  auch  hier  am  Anfang  das  Keini- 
gungs-  und  das  Handelsgewerbe,  die  also  die  wenigsten  sehr 
kräftigen  und  kräftigen  Leute  haben,  und  am  Ende  der  Keihe  die 


172 


Gerhard  Simon, 


Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel,  und  das  Verkehrsge- 
werbe,  die  also  die  meisten  sehr  Kräftigen  und  Kräftigen  haben. 

Indexklasse  C. 

Noch  nicht  genügend  Entwickelte. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
45,6  Proz.  Über  diesen  Prozentsatz  sind  in  dieser  Klasse  6  Gruppen 


vertreten : 

Berufsgruppe  Y  Metallindustrie  46,2  Proz. 

„  XII  Holzindustrie  46,5  „ 

„  XVI  Baugewerbe  46,9  „ 

„  I  Landwirtschaft  48,8  „ 

„  IX  Textilindustrie  49,7  „ 

„  XXV  Staatsdienst  50,0  „ 


Da  in  dieser  Indexklasse,  wie  schon  ausgeführt,  2  Körperkon¬ 
stitutionen,  die  Mittelkräftigen  und  die  etwas  Schwächlichen  ver¬ 
treten  sind,  läßt  sich  ohne  weiteres  nicht  sagen,  ob  diese  den 
Jahrgangsanteil  übertreffenden  Zahlen  der  5  Berufsgruppen  mehr 
einen  Vorteil  oder  Nachteil  für  sie  darstellen.  In  dem  Umstand, 
daß  unter  diesen  6  Berufsgruppen  4,  darunter  auch  die  Landwirt¬ 
schaft  sind,  welche  nur  wenig  sehr  kräftige  und  kräftige  Leute 
aufweisen,  kann  man  wohl  kein  günstiges  Zeichen  erblicken.  Daß 
das  Baugewerbe,  welches  in  bezug  auf  den  Prozentanteil  der 
sehr  Kräftigen  und  Kräftigen  den  Jahrgangsanteil  übertrifft,  ebenso 
wie  die  Metallindustrie,  die  auch  sehr  Kräftige  über,  den  Jahr¬ 
gangsanteil  liefert,  hier  vertreten  ^ind,  läßt  wohl  auf  eine  körper¬ 
lich  wie  sozial  verschieden  zu  bewertende  Zusammensetzung  der 
unter  diesen  Berufsgruppen  zusammengefaßten  Berufe  schließen. 

Für  die  von  mir  vorgeschlagene  Bezeichnung  dieser  Klasse, 
als  der  noch  nicht  genügend  Entwickelten,  führe  ich  die  48,3  Proz. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  173 


der  Landwirtschaft  an,  einer  Berufsgruppe  die  nach  den  anthro¬ 
pologischen  Untersuchungen  Ammon’s1)  unter  ihren  20jährigen 
Vertretern  die  meisten  körperlich  noch  nicht  Reifen  aufweist,  ferner 
die  sehr  viel  niedrigere  Prozentzilfer  bei  den  Einjährig- Frei¬ 
willigen  Schwienings  mit  nur  37,6  Proz. 

Der  Prozentanteil  der  einzelnen  Gruppen  verläuft  in  einer 
viel  gleichmäßiger  ansteigenden  Kurve,  wie  bei  den  besonders 
Kräftigen  und  Kräftigen. 

Der  Unterschied  zwischen  der  Gruppe  mit  höchster  und  der 
mit  niedrigster  Beteiligung  beträgt  nur  3 : 4. 

Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 


Berufsgruppe  XI  Lederindustrie 

„  XXII  Verkehrsgewerbe 

„  XVII  Polygraphisches  Gewerbe 

„  XIV  Bekleidungsgewerbe 

„  XX  Handelsgewerbe 

„  XV  Reinigungsgewerbe 

„  XXVI  ohne  Beruf 

„  XXIV  Häusliche  Bedienstete 

„  XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Ge¬ 

nußmittel 

„  XIX  Fabrikarbeit 

„  V  Metallindustrie 

XII  Holzindustrie 
„  XVI  Baugewerbe 

„  I  Landwirtschaft 

„  IX  Textilindustrie 

„  XXV  Staatsdienst 


36,0  Proz. 

36.2  „ 

36,8  „ 

38.7  „ 

38.8  „ 

40.6  „ 

40.7  „ 

42.3  „ 

43.6  „ 

43.8  „ 

46.2  „ 

46,5  „ 

46.9  „ 

48.3  „ 

49.7  „ 

50,0  „ 


Indexklasse  D. 

Schwache. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
13,6  Proz.  Während  in  den  vorhergehenden  3  Klassen  immer  nur 
ein  kleiner  Bruchteil  über  die  Prozentzahl  des  Jahrgangs  sich  er¬ 
hob,  sind  es  hier  mehr  als  die  Hälfte,  9  Berufsgruppen. 

Berufsgruppe  VI  Maschinenindustrie  mit  13,7  Proz. 

„  XI  Lederindustrie  „  14,0  „ 

„  XXV  Staatsdienst  „  16,7  „ 


.  9  1.  c. 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


12 


174 


Gerhard  Simon, 


Berufsgruppe  IX  Textilindustrie 

„  XII  Holzindustrie 

„  XXVI  ohne  Beruf 

„  XX  Handelsgewerbe 

„  XVII  Polygraphisches  Gewerbe 

„  XV  Reinigungsgewerbe 


mit  17,0  Proz. 


„  17,5 
„  17,9 
„  22,2 
„  24,5 
„  28,3 


5? 


)• 


?* 


Nahrunqsmitteljndusr  j 


1  Baugewerbe 


Verkehrsqewerbe 


C,  Bekleidungsgewerbe l 


■S  Fabrikarbeiter 


O 


CU 

(/) 

W 

n> 


ejo 


Landwirtschaft 


-SS  Häusl. Bedienstete 


eS  Metall  ^Industrie 


eä  Maschinen-Jndustrie  “ 


Textilindustrie 


;  Staatsdienst 


i  Textilindustrie 


i  Holzindustrie 


:  Ohne  Beruf 


Handlunqsgewerb?. 


I  Polygraphisch  Gewerbe 


ejj  Reimqunqsqewerbe  fei 


PT 


Da  diese  Klasse  die  Leute  mit  schwacher  Körperkonstitution 
darstellt,  ist  dieses  kein  günstiges  Zeichen,  und  zwar  um  so  weniger, 
als  der  Prozentanteil  zwischen  den  Berufsgruppen  mit  den  wenigsten 
und  den  mit  den  meisten  Schwachen  um  das  Dreifache  differiert.  Er¬ 
freulich  ist  nur,  daß  sich  unter  den  Berufsgruppen  mit  hohem  Pro¬ 
zentsatz  an  Schwachen  bloß  eine  der  7  Hauptberufsgruppen,  das 
Handelsgewerbe,  sich  befindet. 

Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 
Berufsgruppe  XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Ge¬ 


nußmittel  9,6  Proz» 

XVI  Baugewerbe  10,4  „ 

XXII  Verkehrsgewerbe  11,3  „ 

XIV  Bekleidungsgewerbe  11,5  „ 

XIX  Fabrikarbeit  11,6  „ 

I  Landwirtschaft  11,8  „ 

XXIV  Häusliche  Bedienstete  Tagelöhner  12,6  „ 

V  Metallindustrie  12,8  ,, 

VI  Maschinenindustrie  13,7  „ 

XI  Lederindustrie  14,0  „ 

XXV  Staatsdienst  16,7  „ 

IX  Textilindustrie  17,0  „ 

XII  Holzindustrie  17,5  „ 

XXVI  ohne  Beruf  17,9  „ 

XX  Handelsgewerbe  22,2  „ 

XVII  Polygraphisches  Gewerbe  24,5  „ 

XV  Reinigungsgewerbe  28,3  „ 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  175 

Am  Anfang  der  Reihenfolge  stehen  die  Berufsgruppen  XIII, 
XVI,  XXII,  welche  in  der  A-  und  B-Klasse  am  Ende  standen. 
Diese  Berufsgruppen  haben  also  nicht  nur  die  meisten  sehr  Kräftigen 
und  Kräftigen,  sondern  auch  die  wenigsten  Schwachen. 

Umgekehrt  finden  wir  die  in  dieser  Klasse  am  Ende  der 
Reihenfolge  stehenden  3  Berufsgruppen  XX,  XVII,  XV  in  Klasse 
A  und  B  am  Anfang.  Es  haben  also  diese  3  Berufsgruppen  nicht 
nur  die  wenigsten  besonders  Kräftigen  und  Kräftigen,  sondern  un¬ 
günstigerweise  auch  noch  die  meisten  schwachen  Leute. 


Indexklasse  E. 


Besonders  Schwache. 


Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
8,1  Proz.  und  leider  erheben  sich  fast  die  Hälfte,  8  Berufsgruppen, 
über  diese  unerfreuliche  Höhe.  Es  sind  dies  folgende  Berufsgruppen : 


Berufsgruppe  XXV  Staatsdienst 

„  XI  Lederindustrie 

„  XXVI  ohne  Beruf 

„  XIX  Fabrikarbeit 

„  XIV  Bekleidungsgewerbe 

XV  Reinigungsgewerbe 
XVII  Polygraphisches  Gewerbe 
XX  Handelsgewerbe 


mit  9,7  Proz. 
„  10,0  „ 

»  10,4  „ 

„  10,5  ,, 

»  11,1  „ 

12,3  „ 

»  18,8  ,, 

„  18,9  „ 


m  i 

-g  Nahrunqsmiltel-Jndust 

i£  Landwirtschaft  — 

iS  Bauaewerbe 

M 

S  Metall'Jndustrie 

<3 

S  Holz-Jndustrie 

Üf 

m 

1^2  Verkehrsqewerbe  ü| 

fä  Häusl. Bedienstete 

"X 

Ö  Textil-Jndustrie 

N 

y 

So  Maschinen-Jndusfrie 

üf 

ö7 

<5  Staatsdienst 

1r£ 

C/l 

-S  Leder-Jndustrie 

oi 

|-S  Ohne  Beruf 

n> 

|f§  Fabrik  rbeiter 

i 

1*3  Bekleidungsgewerbe  öl 

lö  Reiniqunqsqewerbe 

§ 

SS! 

|g§  Polvqraphisch.Gewerbeg 

|-?S  Mancllunqsqewerbe 

<3^ 


Von  den  Hauptberufsgruppen  sind  2,  darunter  die  Fabrik¬ 
arbeiter  und  wiederum  das  Handelsgewerbe,  die  sogar  den  aller¬ 
höchsten  Anteil  stellen,  6  mal  mehr  wie  Gruppe  XIII,  die  Industrie 
der  Nahrungs-  und  Genußmittel.  Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe 
des  Prozentanteils  ist: 


12* 


176 


Gerhard  Simon, 


Berufsgruppe 

XIII  Industrie  der  Nahrungs-  und  Ge¬ 
nußmittel 

3,0 

Proz. 

5?  * 

I  Landwirtschaft 

5,9 

ii 

n 

XVI  Baugewerbe 

5,9 

ii 

11 

V  Metallindustrie 

6,3 

5, 

55 

XII  Holzindustrie 

6,5 

55 

11 

XXII  Verkehrsgewerbe 

7,1 

55 

11 

XXIV  Häusliche  Bedienstete,  Taglöhner 

7,2 

55 

55 

IX  Textilindustrie 

7,3 

11 

11 

VI  Maschinenindustrie 

7,8 

11 

V 

XXV  Staatsdienst 

9,7 

11 

11 

XI  Lederindustrie 

10,0 

11 

11 

XXVI  ohne  Beruf 

10,4 

11 

11 

XIX  Fabrikarbeit 

10,5 

11 

11 

XIV  Bekleidungsgewerbe 

11,1 

11 

11 

XV  Reinigungsgewerbe 

12,3 

11 

•>1 

XVII  Polygraphisches  Gewerbe 

18,8 

11 

11 

XX  Handelsgewerbe 

18,9 

11 

Am  Anfang  der  Reihenfolge  steht  auch  hier  wieder  Gruppe 
XIII,  Industrie  der  Nahrungs-  und  Genußmittel.  Dann  erfolgt 
gegen  die  vorige  Klasse  eine  Verschiebung  insofern,  als  Gruppe  I, 
die  Landwirtschaft,  an  2.  Stelle  tritt.  Das  ist  insofern  erfreulich, 
als  diese  bei  weitem  größte  Gruppe  in  den  4  vorstehenden  Index¬ 
klassen  kein  besonders  günstiges  Bild  zeigt.  Wenn  die  Landwirt¬ 
schaft  auch  mit  die  wenigsten  Minderwertigen  hat,  so  überragen 
sie  immer  noch  die  besonders  Kräftigen  um  1,9  Proz. 

Nur  3  Berufsgruppen  haben  mehr  A-  wie  E-Leute. 

Berufsgruppe  XXII  sehr  Kräftige  9,2%  gegen  7,1  %  Minderwertige 

„  XIII  „  „  8,0%  „  3,0  % 

„  XVI  „  „  6,8  %  „  5,6% 

Die  3  Berufsgruppen  stehen  also  bezüglich  der  Körperbeschaffen¬ 

heit  an  der  Spitze  des  Jahrgangs.  Von  den  übrigen  16  Berufs¬ 
gruppen,  die  alle  mehr  besonders  schwache,  wie  besonders  kräftige 
Leute  haben,  will  ich  nur  2  hervorheben. 

Berufsgruppe  XVII  mit  1,9%  besonders  Kräftigen  und  18,8  %  besonders  Schwachen 
„  XX  „  1,4%  „  ,,  „  18,9%  „ 

die  also  bezüglich  der  Güte  der  Körperkonstitution  ihrer  An¬ 
gehörigen  sehr  erheblich  gegen  die  obigen  3  Klassen  zurückstehen. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  177 


4.  Die  einzelnen  Berufe. 


Bei  der  allgemeinen  Berufszählung  im  Deutschen  Reiche  ist  die 
Aufstellung  der  Berufsgruppen  wohl  lediglich  vom  wirtschaftlichen 
Standpunkt  aus  erfolgt.  Sozialhygienisch  sind  aber  die  Berufe  in 
den  einzelnen  Berufsgruppen  ganz  verschiedenartig  zu  bewerten. 
Ich  brauche  nur  auf  die  große  Sammelgruppe  „Baugewerbe“  hinzu¬ 
weisen.  Eine  Berechnung  des  Prozentanteils  der  einzelnen  Berufs¬ 
gruppen  an  den  einzelnen  Indexklassen  wird  also  recht  verschiedene 
Resultate  ergeben. 

Aus  statistischen  Gründen  hat  diese  Berechnung  nur  in  den 
Berufen,  die  mehr  als  100  Vertreter  aufweisen,  stattgefunden.  Es 
sind  dies  die  in  folgender  Tabelle  aufgeführten  21  Berufe. 


(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 


Zur  besseren  Veranschaulichung  des  Prozentanteils  der  21  Berufe 
in  den  Indexklassen  A-E  ist  auch  hier  eine  Säulentabelle  angelegt. 
Anlage  2. 

Die  +  Klasse  ist  auch  hier  wegen  ihrer  zahlenmäßigen  Un¬ 
bedeutenheit  nicht  mit  aufgeführt. 

Die  Berufe  sind  in  jeder  Tabelle  nach  der  Höhe  des  Prozent¬ 
anteils  geordnet,  die  5  Hauptberufe  sind  wie  die  Hauptberufsgruppen 
in  der  vorigen  Säulentabelle  punktiert  gezeichnet.  Die  schwarze 
Senkrechte  in  jeder  Tabelle  zeigt  die  Stelle,  an  welcher  der  Jahr¬ 
gang  stehen  würde.  Es  sollen  an  der  Hand  dieser  Tabellen  wie  bei 
den  Berufsgruppen  in  jeder  Indexklasse  betrachtet  werden. 

1.  Das  Verhältnis  der  einzelnen  Berufe  zum  Prozentanteil 
des  Jahrgangs, 

2.  Der  Unterschied  zwischen  niedrigstem  und  höchstem  Prozentsatz^ 

3.  Die  Reihenfolge  der  Berufe  besonders  Anfang  und  Ende. 


Indexklasse  A. 


Besonders  Kräftige. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt  4,4. 
Von  den  21  Berufen  haben  8  mehr  besonders  Kräftige: 


die  Zigarrenarbeiter 
Schlosser 
„  Taglöhner 
„  Maurer 
„  Schmiede 


178  Gerhard  Simon, 


Tabelle  LI. 


Min. 

A 

B 

C 

D 

E 

abs. 

°/o 

abs. 

% 

abs. 

% 

abs. 

0/ 

Io 

abs. 

Ol 

Io 

abs. 

°/o 

abs. 

Ol 

Io 

I.  Berufsgruppe 

| 

1.  Landwirte 

37 

1,8 

3 

0,1 

77 

3,7 

581 

28,1 

1005 

48,6 

241 

11,7 

125 

6,0 

2069 

2.  Knechte 

28 

4,4 

3 

0,5 

19 

3,0 

171 

26,8 

290 

45,4 

94 

14,7 

33 

5,2 

638 

Y.  Berufsgruppe 

3.  Gold-  und  Silber- 

arbeiter 

7 

2,1 

1 

0,3 

13 

3,8 

67 

20,9 

167 

47,6 

52  16,4 

30 

8,9 

347 

4.  Schlosser 

3 

0,8 

1 

0,2 

19 

4,8 

123 

31,7 

183 

46,8 

40 

10,2 

22 

5,6 

391 

5.  Schmiede 

— 

— 

1 

0,6 

12 

7,6 

64 

40,5 

64 

40,5 

15 

9,5 

2 

1,3 

158 

VI.  Berufsgruppe 

6.  Mechaniker 

1 

0,6 

1 

0,6 

4 

2,3 

47 

26,8 

82 

46,9 

23 

13,1 

17 

9,7 

175 

IX.  Berufsgruppe 

7.  Textilarbeiter 

— 

1 

0,7 

4 

2,7 

32 

21,9 

74 

50,7 

24 

16,5 

11 

7,5 

146 

XII.  Berufsgruppe 

8.  Schreiner 

6 

2,4 

— 

— 

10 

4,1 

66 

26,8 

102 

41,5 

46 

18,7 

16 

6,5 

246 

XIII.  Berufsgruppe 

9.  Bäcker 

15 

6,5 

2 

0,9 

25 

10,8 

79 

34,0 

90 

38,8 

15 

6,5 

6 

2,0 

232 

10.  Metzger 

1 

0,8 

1 

0,8 

18 

13,7 

53 

40,4 

52 

39,7 

6 

4,6 

— 

131 

11.  Zigarrenarbeiter 

6 

1,6 

1 

0,3 

17 

4,5 

98 

26,1 

185 

49,2 

55 

14,6 

14 

3,7 

376 

XV.  Berufsgruppe 

- 

12.  Friseure 

3 

3,8 

— 

1 

0,9 

16 

15,2 

43 

40,9 

29 

27,6 

13 

12,4 

105 

XVI.  Berufsgruppe 

* 

13.  Maurer 

1 

0,4 

— 

17 

7,0 

86 

35,4 

101 

41,6 

25 

10,3 

13 

5,3 

243 

14.  Zimmerer 

— 

— 

— 

13 

10,9 

25 

21,1 

60 

50,4 

13 

10,0 

8 

6,7 

119 

15.  Maler 

3 

1,9 

1 

0,6 

2 

1,3 

47 

29,7 

72 

45,6 

19 

12,0 

14 

8,9 

158 

XIX.  Berufsgruppe 

• 

16.  Fabrikarbeiter 

17 

2,6 

3 

0,5 

28 

4,3 

184 

28,3 

290 

44,7 

64 

9,9 

63 

9,7 

649 

17.  Arbeiter 

6 

2,6 

— 

— 

9 

3,9 

52 

22,7 

95 

41,5 

38 

16,6 

29 

12,7 

229 

XX.  Berufsgruppe 

18.  Kaufleute 

5 

0,9 

6 

1,1 

6 

1,1 

91 

16,6 

21839,6 

124 

22,5 

100 

18,2 

550 

XXIV.  Berufsgruppe 

19.  Häusl.  Bedienstete 

— 

— 

2 

1,4 

38 

26,9 

55 

39,0 

30 

21,3 

16 

11,4 

141 

20  Taglöhner 

9 

1,7 

1 

0,2 

36 

6,6 

168 

30,8 

234 

42,9 

60 

11,0 

37 

6,8 

545 

XXVI.  Berufs  gruppe 

21.  Seminaristen 

1 

0,7 

— 

— 

2 

1,5 

39 

28,2 

53 

38,4 

24 

17,4 

19 

13  8 

138 

Die  Hauptberufe  sind  also:  Landwirte  mit  2069  Mann 

Fabrikarbeiter  „  649  „ 

landwirtsch.  Knechte  „  638  „ 

Kaufleute  „  550  „ 

Taglöhner  „  545  „ 


4451  Mann 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren. 


179 


die  Bäcker 
.,  Zimmerer 
„  Metzger 


10.8  Proz. 

10.9 

13,7  „ 


3  '  “  1 

g  Friseure 

v 

-ec  Kaufleute 

Maler 

r?  Häusl. Bedienstete  g 

ä 

Ct  Seminaristen  gg 

1 

L  

ö  Mechaniker 

et 

Cd  Textilarbeiter 

F3 

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lö  Knechte  '  — ■ 

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M 

|€3  Landwirte 

— • 

1  oo  Go!d-S  Silber-Arbeiter  -=s 

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Fabrikarbeiter 

ZK 

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«3 

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•< 

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! 

§  Zimmerer 

W 

Sä 

Metzger  M 

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Die  letzteren  haben  also  3  mal  mehr  als  der  ganze  Jahrgang. 
Einer  dieser  8  Berufe  (Taglöhner)  gehörte  zu  den  Hauptberufen. 
Auffallenderweise  befinden  sich  nicht  die  Landwirte  unter  diesen 
8  Berufen.  Während  von  den  17  Berufsgruppen  nur  29,5  Proz. 
besser  als  der  Jahrgang  waren,  sind  es  bei  den  21  Berufen  38  Proz. 
3  Berufe,  die  Bäcker,  Zimmerer  und  Metzger,  haben  sogar  über 
10  Proz.  besonders  Kräftige.  Die  wenigsten  haben  die  Friseure, 
die  zugleich  Berufsgruppe  XV  darstellen. 

Der  Unterschied  zwischen  ihnen  und  den  Metzgern  beträgt  das 
Vierzehnfache. 


Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 


1. 

Berufsgruppe 

XV 

Friseure 

0,9  Proz. 

2. 

_!> 

XX 

Kaufleute 

1,1 

3. 

5* 

XVI 

Maler 

1,3 

4. 

U 

XXIV 

Häusliche  Bedienstete 

1,4 

n 

5. 

» 

XXVI 

Seminaristen 

1,5 

55 

6. 

V 

VI 

Mechaniker 

2,3 

7. 

b 

IX 

Textilarbeiter 

2,7 

J, 

8. 

V 

I 

Landwirtschaftliche  Knechte 

3,0 

>> 

9. 

V 

I 

Landwirte 

3,7 

5J 

10. 

>? 

V 

Gold-  und  Silberarbeiter 

3,8 

V 

11. 

XIX 

Arbeiter 

3,9 

J) 

12. 

V 

XII 

Schreiner 

4,1 

?? 

13. 

V 

XIX 

Fabrikarbeiter 

4,3 

JJ 

14. 

XIII 

Zigarrenarbeiter 

4,5 

15. 

V 

Schlosser 

4,8 

180  Gerhard  Simon, 


16.  Berufsgruppe  XXIV  Taglöhner  6,6  Proz. 

17.  „  XVI  Maurer  7,0  „ 

18.  „  V  Schmiede  7,6  „ 

19.  „  XIII  Bäcker  10,8  „ 

20.  „  XVI  Zimmerer  10,9  „ 

21.  „  XIII  Metzger  13,7  „ 


Wir  sehen  also  aus  der  Reihenfolge,  wie  große  Unterschiede 
in  der  Körperbeschaifenheit  der  einzelnen  Berufe  und  der  Berufe 
einer  und  derselben  Berufsgruppe  vorhanden  sind.  Vergleiche  die 
zur  Berufsgruppe  XVI  gehörenden  Maler,  Maurer  und  Zimmerer 
mit  1,3-7,0-10,9  Proz. 


Indexklasse  B. 


Kräftige. 


Der  Prozentanteil  des  J ahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt  28  Proz. 
Von  den  Berufgsruppen  haben  7  einen  höheren  Prozentsatz,  von  den 
Berufen  aber  10,  nahezu  50  Proz. 

Landwirte  28,1  Proz. 

Seminaristen  28,2  „ 


Fabrikarbeiter  28,3  „ 

Maler  29,7  ., 

Taglöhner  30,8  „ 

Schlosser  31,7  „ 

Bäcker  34,0  „ 

Maurer  35,4  „ 

Metzger  40,4  „ 

Schmiede  40,5  „ 


co 

X 

DJ 

W 

l/> 

n> 


Bei  den  Berufsgruppen  war  die  höchste  Prozentzahl  35,5;  die 
Metzger  und  die  Schmiede  haben  mit  40,4  bzw.  40,5  sogar  noch 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  181 

5  Proz.  mehr.  Der  Unterschied  zwischen  niedrigstem  Prozentsatz 
15,2  Proz.,  den  auch  hier  wieder  die  Friseure  haben,  und  dem 
höchsten  Prozentsatz  40,5  bei  den  Schmieden,  ist  auch  hier  nicht 
so  groß  wie  in  Indexklassee  A  und  verhält  sich  wie  1 : 2,6. 

Die  Reihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 


1.  Berufsgruppe 

XV  Friseure 

15,2  Proz. 

2. 

V 

XX  Kaufleute 

16,6 

3. 

V 

V  Gold-  und  Silberarbeiter 

20,9 

4. 

XVI  Zimmerer 

21,1 

5. 

V 

IX  Textilarbeiter 

21,9 

»• 

6. 

?? 

XIX  Arbeiter 

22,7 

V 

7. 

9  • 

XIII  Zigarrenarbeiter 

26,1 

r 

8. 

V 

I  Landwirtschaftliche  Knechte 

26,8 

r 

9. 

5? 

VI  Mechaniker 

26,8 

10. 

V 

XII  Schreiner 

26,8 

V 

11. 

XXIV  Häusliche  Bedienstete 

26,9 

,* 

12. 

•  , 

I  Landwirte 

28,1 

13. 

r 

XXVI  Seminaristen 

28,2 

«  « 

14. 

r 

XIX  Fabrikarbeiter 

28,3 

V 

15. 

V 

XVI  Maler 

29,7 

«• 

16. 

XXIV  Taglöhner 

30,8 

5? 

17. 

V  Schlosser 

31,7 

?* 

18. 

V 

XIII  Bäcker 

34,0 

?? 

19. 

XVI  Maurer 

35,0 

1') 

20. 

r 

XIII  Metzger 

40,4 

:: 

21. 

V  Schmiede 

40,5 

V 

Friseure  und  Kaufleute  stehen  in  der  A-  und  B-Klasse  am 
Anfang  der  Reihe  mit  einer  im  Verhältnis  zu  den  anderen  Berufen 
auffallend  niedrigen  Anteilziffer.  Die  Landwirte,  welche  man  ge¬ 
wiß  unter  den  Besten  vermutet  hat,  stehen  in  der  A-Klasse  in  der 
schlechteren  Hälfte,  in  der  B-Klasse  am  Anfang  der  besseren 
Hälfte;  sie  zeichnen  sich  also  keineswegs  durch  einen  besonders 
hohen  Anteil  guter  Leute  vor  den  übrigen  Berufsgruppen  aus, 
bleiben  sogar  weit  hinter  ihnen  zurück. 

Indexklasse  C. 

Noch  nicht  genügend  Entwickelte. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
45,6  Proz. 


182  Gerhard  Simon, 

Mit  einem  höheren  Anteil  sind  7  Berufe  vertreten  =  33  l/8  Proz. 


der  21  Berufe. 

Schlosser  46,8  Proz. 

Mechaniker  46,9  „ 

Gold-  und  Silberarbeiter  47,6  „ 

Landwirte  48,6  ,; 

Zigarrenarbeiter  49,2  „ 

Zimmerer  50,4  „ 

Textilarbeiter  50,7  „ 


während  es  bei  den  Berufsgruppen  6  =  35  Proz.  sind. 


Am  wenigsten  C-Leute  haben  mit  38,4  Proz.  die  Seminaristen, 
aber  immer  noch  mehr  als  die  Einjährigen  Schwienings  mit 
37,6  Proz. 

Die  Beihenfolge  des  Prozentanteils  ist: 


1. 

Berufsgruppe  XXVI 

Seminaristen 

38,4  Proz. 

2. 

XIII 

Bäcker 

38,8 

55 

3. 

55 

XXIV 

Häusliche  Bedienstete 

39,0 

55 

4. 

•  • 

XX 

Kaufleute 

39,6 

55 

5. 

>5 

XIII 

Metzger 

39,7 

55 

6. 

55 

V 

Schmiede 

40,5 

55 

-  7. 

55 

XV 

Friseure 

40,9 

55 

8. 

55 

XII 

Schreiner 

41,5 

55 

9. 

55 

XIX 

Arbeiter 

41,5 

55 

10. 

55 

XVI 

Maurer 

41,6 

55 

11. 

1« 

/  / 

XXIV 

Taglöhner 

42,9 

55 

12. 

55 

XIX 

Fabrikarbeiter 

44,7 

55 

13. 

55 

I 

Landwirtschaftliche  Knechte 

45,4 

55 

14. 

55 

XVI 

Maler 

45,6 

55 

15. 

55 

V 

Schlosser 

46,8 

55 

16. 

55  ‘ 

VI 

Mechaniker 

46,9 

'  55 

Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  183 


17.  Berufsgruppe 

V 

18. 

I 

19. 

XIII 

20. 

XVI 

21. 

IX 

Gold-  und  Silberarbeiter 

Landwirte 

Zigarren  arbeit  er 

Zimmerer 

Textilarbeiter 


47.6  Proz. 

48.6  „ 
49,2  „ 
50,4  ., 

50.7  „ 


Auch  hier  läßt  sich  wohl  aus  der  Reihenfolge  und  dem  hohen 
Prozentsätze  von  Berufen  wie  Zimmerer,  Schlosser,  die  prozentual 
sehr  viel  besonders  Kräftige  und  Kräftige  haben,  die  Berechtigung 
der  Benennung  der  Klasse  als  noch  nicht  genügend  Entwickelte 
herleiten,  während  andererseits  aus  einem  Vergleich  der  Reihenfolge 
der  Textilarbeiter,  Gold-  und  Silberarbeiter,  Mechaniker  in  der 
A-  B-  und  C  Klasse  abzuleiten  ist,  daß  in  dieser  Klasse  2  Körper¬ 
konstitutionen  Mittelkräftige  und  Schwächliche  zusammengefaßt  sind. 


Indexklasse  D. 

Schwache. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
13,6  Proz.,  den  10  Berufe,  also  fast  die  Hälfte  und  zum  Teil  sehr 


erheblich  überschreiten. 

Zigarrenarbeiter  14,6  Proz. 

Landwirtschaftliche  Knechte  14,7  ,, 

Gold-  und  Silberarbeiter  16,4  „ 

Textilarbeiter  16,5  „ 

Arbeiter  16,6  ., 

Seminaristen  17,4  „ 

Schreiner  18,7  „ 

Häusliche  Bedienstete  21,3  „ 

Kaufleute  22,5  ,, 

Friseure  27,0  „ 


184 


Gerhard  Simon, 


Der  Unterschied  zwischen  den  Berufen  mit  den  wenigsten  nnd 
den,  mit  den  meisten  Schwachen,  beträgt  das  6  fache.  Leider  sind 
unter  den  Berufen  mit  den  meisten  Schwachen  zwei  Hauptberufe  — 
die  Landwirtschaftlichen  Knechte  und  die  Kaufleute.  Die  Reihen¬ 
folge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 


1. 

Berufsgruppe 

XIII 

Metzger 

4,6  Proz, 

2. 

V 

XIII 

Bäcker 

6,5 

3. 

V 

Schmiede 

9,5 

4. 

V 

XIX 

Fabrikarbeiter 

9,9 

V 

5. 

?? 

V 

Schlosser 

10,2 

r* 

6. 

XVI 

Maurer 

10,3 

V 

7. 

V 

XVI 

Zimmerer 

10,9 

8. 

V 

XXIV 

Taglöhner 

11,0 

9. 

» 

I 

Landwirte 

11,7 

10. 

?? 

XVI 

Maler 

12,5 

11. 

?? 

VI 

Mechaniker 

13,1 

12. 

XIII 

Zigarren  arbeiter 

14,6 

13. 

I 

Landwirtschaftliche  Knechte 

14,7 

14. 

V 

Gold-  und  Silberarbeiter 

16.4 

15. 

IX 

Textilarbeit 

16,5 

V 

16. 

:•> 

XIX 

Arbeiter 

16,5 

V 

17. 

?? 

XXVI 

Seminaristen 

17,4 

V 

18. 

5? 

XII 

Schreiner 

18,7 

19. 

V 

XXIV 

Häusliche  Bedienstete 

21,3 

V 

20. 

» 

XX 

Kaufleute 

22,5 

V 

21. 

” 

XV 

Friseure 

27,0 

?? 

Am  Anfang  der  Reihe  stehen  mit  nur  4,6  Proz.  die  Metzger, 
welche  in  der  A-  und  B-Klasse  am  Ende  stehen.  Umgekehrt  finden 
wir  in  der  D-Klasse  am  Ende  die  Kaufleute  und  die  Friseure  mit 
22,5  und  27  Proz.,  welche  in  der  A-  und  B-Klasse  am  Anfang  stehen. 
Diese  beiden  Berufe  haben  also  nicht  nur  die  wenigsten  besonders- 
Kräftigen  und  Kräftigen  sondern  ungünstigerweise  auch  die  meisten 
schwachen  Leute. 


Indexklasse  E. 

Besonders  Schwache. 

Der  Prozentanteil  des  Jahrgangs  in  dieser  Klasse  beträgt 
8,1  Proz.  9  Berufe  von  den  21  =  43  Proz.  haben  noch  mehr  be¬ 
sonders  Schwache 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  185 


Gold-  und  Silberarbeiter 
Maler 

Mechaniker 

Fabrikarbeiter 

Häusliche  Bedienstete 

Friseure 

Arbeiter- 

Seminaristen 

Kaufleute 


8,9  Proz. 
8,9  „ 
9,7  „ 
9,7  „ 

11.4  „ 

12.4  „ 

12.7  , 

13.8  „ 
18,2  „ 


Metzoer 


g  Schmiede 


Bäcker 


Ziqarrenarbeiter 


Knechte 


Maurer 


Schlosser 


m 

Q) 

W 

C/) 

cd 


Landwirte 


Schreiner 


Zimmerer 


g  Taqlöhner 


!  Textilarbeiter 


Gold-&5ilber-Arbeiter  •< 


Maler 


Mechaniker 


Fabrikarbeiter 


Häusl. Bedienstete 


•3  Friseure 


-9  Arbeiter 


Seminaristen 


,9  Kaufleute 


Auch  hier  finden  sich  unter  dem  schlechteren  Teil  2  Haupt¬ 
berufe  die  Fabrikarbeiter  mit  9,7  und  wieder  die  Kaufleute,  hier 
sogar  mit  dem  enorm  hohen  Anteil  von  18,2  Proz.!  Am  besten 
stehen  die  Metzger,  welche  überhaupt  keine  Minderwertigen,  und 
dann  die  Schmiede,  welche  nur  1,3  Proz.  haben.  Der  Unterschied 
zwischen  den  Berufen  mit  niedrigster  und  höchster  Beteiligung  ist 
so  groß  wie  in  keiner  Indexklasse. 

Die  Beihenfolge  nach  der  Höhe  des  Prozentanteils  ist: 

1.  Berufsgruppe  XIII  Metzger  0  Proz. 


2. 

5, 

V 

Schmiede 

1,3 

,5 

3. 

„ 

XIII 

Bäcker 

2,6 

V 

4. 

XIII 

Zigarren  arbeitet’ 

3,7 

5. 

I 

Landwirtschaft.  Knechte 

5,2 

6. 

M 

XVI 

Maurer 

5,3 

V 

7. 

V 

Schlosser 

5,6 

V 

8. 

V 

I 

Landwirte 

6,0 

„ 

9. 

„ 

XII 

Schreiner 

6,5 

V 

10. 

XVI 

Zimmerer 

6,7 

11. 

5> 

XXIV 

Taglöhner 

6,8 

12. 

?, 

IX 

Textilarbeiter 

7,5 

186 

13.  Berufsgruppe 

V 

Gerhard  Simon,  • 

Gold-  und  Silberarbeiter 

8,9  Proz. 

14. 

5, 

XVI 

Maler 

8,9 

55 

15. 

55 

VI 

Mechaniker 

V 

55 

16. 

55 

XIX 

Fabrikarbeiter 

9,7 

5, 

17. 

55 

XXIV 

Häusliche  Bedienstete 

11,4 

55 

18. 

,5 

XV 

Friseure 

12,4 

55 

19. 

55 

XIX 

Arbeiter 

12,7 

55 

20. 

55 

XXVI 

Seminaristen 

13,8 

55 

21. 

55 

XX 

Kaufleute 

18,2 

55 

Die 

Sechs  Berufe 
Metzger 

haben  mehr  A-  wie  E-Leute. 
bes.  Kräftige  13,7  Proz.,  bes.  Schwache  0  Proz. 

5? 

Zimmerer 

V 

10  9 

55  ,,  ,, 

6,7 

55 

55 

Bäcker 

55 

10  8 

.,  IV/,  o  .,  „  „ 

2,0 

5, 

Schmiede 

55 

7  6 

55  *5^  55  55  55 

1,3 

55 

,5 

Maurer 

55 

70 

55  '  5V  55  55  55 

5,3 

55 

55 

Zigarrenarb. 

., 

4  o 

55  55  55  55 

[> 

CO 

55 

Keiner  von  den  Hauptberufen  ist  unter  dieser  Reihe.  Am  günstigsten 
bezüglich  der  Körperbeschaffenheit  stehen  also  die  Metzger  und 
die  Bäcker  da. 

Die  übrigen  15  Berufe  haben  alle  mehr  besonders  Schwache 
als  besonders  Kräftige.  Am  größten  ist  die  Differenz  bei  den  Kauf¬ 
leuten  :  besonders  Kräftige  1,1  Proz.,  besonders  Schwache  18,2  Proz.. 
den  Seminaristen  besonders  Kräftige  1,5  Proz.,  besonders  Schwache 
13,8  Proz.  Der  Kaufmannsstand  hat  also  unter  den  21  Berufen 
das  schlechteste  Menschenmaterial.  Das  ist  um  so  bedeutungs¬ 
voller,  als  er  zu  den  5  Hauptberufen  gehört.  Das  2.  schlechteste 
Menschenmaterial  weisen  die  Seminaristen  auf,  die  in  der  Tauglich¬ 
keitsskala  der  höheren  Schulen  an  3.  bester  Stelle  stehen.1) 

Wir  haben  durch  diese  Untersuchungen  einen  Einblick  in  die 
Körperbeschaffenheit  20 jähriger  junger  Leute  erhalten,  wie  er  so¬ 
weit  ins  einzelne  gehend  durch  andere  statistische  Untersuchungen 
bisher  nicht  zu  erhalten  wär. 

Ich  möchte  meine  Untersuchungsergebnisse  kurz  in  den 
2.  Schlußsatz  zusammenfassen. 

Das  Pignet’sche  Verfahren  ermöglicht  eine  an¬ 
schauliche  zahlenmäßige  Darstellung  der  Körper¬ 
besch  affen  heit  einer  Bevölkerungsgruppe. 

5  y.  Schjerning,  Sanitätsstatistische  Betrachtungen  über  Volk  und  Heer. 
Bibliothek  v.  Coler-v.  Schjerning,  Bd.  28,  1910. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  187 


III. 

Überraschend  war  die  mittels  des  Pignet’schen  Verfahrens 
festgestellte  geringe  Zahl  besonders  Kräftiger  und  die  hohe  Zahl 
besonders  Schwacher  beim  ganzen  Jahrgang,  in  den  33  Bezirks¬ 
ämtern,  17  Berufsgruppen  und  21  Berufen;  ferner  die  ganz  erheb¬ 
lichen  Unterschiede  der  besonders  Kräftigen  wie  der  besonders 
Schwachen  in  den  33  Bezirksämtern,  17  Berufsgruppen  und  21  Be¬ 
rufen.  Es  erscheint  verlockend,  diese  statistischen  Ergebnisse  er¬ 
klären  zu  wollen,  aber  mangels  vorhandener  Kontrollen  und  wegen 
der  viel  zu  kleinen  Zahl  verzichte  ich  auf  eine  Auslegung  meiner 
Ergebnisse.  Nur  soviel  kann  man  wohl  behaupten  und  unein¬ 
geschränkt  gelten  lassen,  daß  da  wo  hohe  Differenzen  zwischen 
besonders  Kräftigen  und  besonders  Schwachen  vorhanden  sind,  wie 
wir  sie  vor  allen  in  einzelnen  Berufen  und  Gegenden  festgestellt 
haben,  gesundheitliche  Schäden  und  Mängel  bestehen  müssen. 
Maßgebend  für  die  Körpergestaltung  sind  in  erster  Linie  Herkunft 
und  Abstammung.  Sie  allein  können  aber  unmöglich  die  Vor¬ 
gefundenen  großen  körperlichen  Unterschiede  in  den  untersuchten 
Berufen  erklären.  Man  denkt  bei  dem  Alter  unseres  Jahrganges 
unwillkürlich  an  einen  schädigenden  Einfluß  des  Berufes.  Prin- 
zing,1)  Bindewald2)  und  andere  sind  zwar  der  Ansicht,  daß: 

1.  die  körperliche  Beschaffenheit  die  Berufswahl  beeinflußt; 

2.  die  Zeit  vom  Eintritt  in  den  Beruf  bis  zur  Musterung  zu 
kurz  ist,  um  Schädlichkeiten  größeren  Umfangs  zu  erzeugen; 

3.  die  Tauglichkeitsziffer  nur  ein  Fingerzeig  für  die  Bevor¬ 
zugung  gewählter  Berufe  durch  körperlich  kräftige  Leute  oder 
Schwache  ist. 

Ziffer  1  zugegeben;  Ziffer  2  und  3  kann  nach  meinen  Ergeb¬ 
nissen  zur  Erklärung  der  vielen  besonders  Schwachen  und  wenigen 
besonders  Kräftigen  in  einzelnen  Berufen  als  nichtausreichend  an¬ 
gesehen  werden. 

Mit  Abelsdorff3)  und  Wellmann4)  bin  ich  vielmehr  der 
Ansicht,  daß  6  Jahre  in  manchem  Betrieb  große  schädigende  Ein- 

x)  Prinzing,  Handbuch  der  Medizinischen  Statistik  1906. 

2)  Bindewald,  Die  Wehrfähigkeit  der  ländlichen  und  städtischen  Be¬ 
völkerung.  Jahrbuch  für  Gesetzgebung,  Verwaltung  und  Volkswirtschaft  im 
Deutschen  Beiche. 

3)  Abelsdorff,  Die  Wehrfähigkeit  zweier  Generationen.  Berlin  1905. 

4)  Wellmann,  Abstammung,  Beruf  und  Heeresersatz  in  ihren  gesetzlichen 
Zusammenhängen,  1907. 


188 


Gerhard  Simon, 


flüsse  auf  einen  wachsenden  Körper  ausüben  können,  ja  ausüben 
müssen.  Zwei  gleichkräftige  14jährige  Burschen,  von  denen  der  eine 
Schneider,  der  andere  Metzger  wird,  dürften  bei  der  Musterung 
doch  große  Unterschiede  zeigen.  Die  Richtigkeit  dieser  Ansicht 
wird  ja  jetzt  auch  wie  die  überall  geschallenen  Organisationen  zur 
besseren  Körperpflege  der  schulentlassenen  Jugend  (Jugendwehr 
und  Pfadfinderklub)  zeigen,  allgemein  bestätigt.  In  der  letzten 
Thronrede  zur  Eröffnung  des  Preußischen  Landtages  am  10.  Januar 
1911  ist  aus  der  gleichen  Erkenntnis  heraus  auf  die  planmäßige 
Ausgestaltung  der  Jugendpflege  hingewiesen  worden. A)  Im  Gro߬ 
herzogtum  Baden  ist  die  Stadt  Pforzheim  wegen  ihrer  muster¬ 
gültigen  Jugendorganisation  bekannt  geworden. 

Vermöge  seiner  objektiven  Grundlagen  ermöglicht  uns  das 
Pignet’sche  Verfahren  also  auch,  gesundheitliche  Schäden  und 
Mängel  zuverlässig  nachzuweisen. 

Es  erfüllt  damit  die  der  medizinischen  Statistik  nach  Prin¬ 
zin  g  zufallende  Aufgabe :  die  exakte  zahlenmäßige  Darstellung 
der  pathologischen  Erscheinungen  der  menschlichen  Gesellschaft. 

Ich  komme  damit  zu  dem  3.  Schlußsatz: 

Das  Pignet’sche  Ver fahren  muß  als  eine  wertvolle 
Bereicherung  der  Untersuchungsmethoden  der  medi¬ 
zinischen  Statistik  angesehen  werden. 

IV. 

Die  weitere  Bedeutung  des  Heeresersatzgeschäftes  als  wichtige 
Kontrolle  für  die  Volksgesundheit  ist  lange  noch  nicht  genügend 
allgemein  bekannt  und  gewürdigt.  Welch  vielsagende  Schlüsse 
sich  allein  aus  Vergleichen  der  Größe  und  des  Gewichts  einzelner 
Jahrgänge  ziehen  lassen,  habe  ich  am  Anfang  der  Arbeit  gezeigt. 
Freilich  ließe  sich  der  Wert  des  in  den  alphabetischen  Listen  der 
Wehrpflichtigen  aufgespeicherten  Materials  noch  beträchtlich  er¬ 
höhen,  wenn  von  jedem  Untersuchten  die  3  Maße  Körpergröße, 
Brustumfang,  Körpergewicht  regelmäßig  eingetragen  würden.  Der 
aus  diesen  3  Maßen  berechnete  Pignet’sche  Index  als  Einheits¬ 
maß  ermöglichte  dann  neben  der  Tauglichkeitsstatistik,  die  in 
erster  Linie  ja  nur  für  die  Heeresverwaltung  von  Bedeutung  ist, 
auch  eine  Statistik  über  die  allgemeine  Körperbeschaffenheit  des 
Jahrgangs,  welche  mehr  von  allgemein  staatlichem  Interesse  wäre 

9  Bassenge,  Die  Heranziehung  und  Erhaltung  einer  wehrfähigen  Jugend. 
Veröffentlichungen  aus  dem  Gebiete  des  Militärsanitätswßsens,  Heft  49,  1911. 


Unters,  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  n.  d.  Pignet’schen  Verfahren.  189 


und  in  unserer  heutigen  Zeit  mit  ihrem  sozialen  Tagesinteresse 
ganz  besondere  Beachtung  finden  dürfte  wieder  zu  Nutz  und 
Frommen  der  ganzen  Einrichtung.  Schon  Rudolf  Virchow1) 
hatte  im  Jahre  1863  in  seinem  Vorträge:  „Über  Rekrutierungs¬ 
statistik“  auf  dem  internationalen  statistischen  Kongreß  in  Berlin 
gefordert,  die  Ergebnisse  des  Rekrutierungsgeschäftes  nicht  bloß 

seinem  nächsten  Zweck  dem  des  Heeresersatzes,  sondern  noch  mehr 

/ 

dem  weiteren  und  höheren  Zwecke  des  Staates  überhaupt  nutzbar 
zu  machen.  Denn  die  militärpflichtige  Jugend  der  Nation,  so  führte 
Virchow  aus,  muß  in  physischer  Beziehung  ein  Spiegelbild  dessen 
sein,  was  die  Nation  in  ihrer  Gesamtheit  an  körperlicher  Kraft  zu 
leisten  vermag.  Durch  die  Rekrutierungsstatistik  gewonnene  An¬ 
haltspunkte  für  die  öffentliche  Gesundheitspflege  haben  den  großen 
Vorzug,  daß  sie  zu  einer  Zeit  des  Lebens  gewonnen  sind,  wo  über¬ 
haupt  ein  segensreiches  fruchtbringendes  Eingreifen  noch  möglich 
ist.“  Zur  besseren  Erfüllung  dieses  Zweckes  hielt  Virchow  ein 
Einheitsmaß  für  notwendig. 

Ich  meine,  der  numerische  Index  Pignet’s  könnte  als  solches 
Einheitsmaß  im  Sinne  Virchow’s  angesehen  werden.  Es  ließen 
sich  mit  ihm  die  alphabetischen  Listen  noch  mehr  wie  bisher  zur 
Lösung  strittiger  Tagesfragen  z.  B.  Einfluß  von  Industrie  und 
Landwirtschaft  auf  die  allgemeine  Körperbeschaffenheit,  Nachweis 
eingetretener  Entartung  oder  Besserung  der  Volksrasse  heranziehen. 

Die  militärärztliche  Tätigkeit  könnte  gleichzeitig  damit  im 
Sinne  des  Herrn  Generalstabsarztes  der  preußischen  Armee,  Exz. 
v.  Schj  ern ing,2)  das  Band  zwischen  Volk  und  Heer  noch  enger 
gestalten. 

Meine  Ausführungen  fasse  ich  in  den  4.  Schlußsatz  zusammen : 

Das  Pigne t’sche  Verfahren  erscheint  geeignet,  die 
soziale  Bedeutung  des  Heeresergänzungsgeschäftes 
zu  erhöhen. 

Die  Bedeutung  und  Anwendung  des  Pign  et’schen  Verfahrens 
ist  mit  meinen  Ausführungen  keineswegs  erschöpfend  behandelt. 

Seine  Anwendung  ist  wegen  der  dazu  nötigen  Maße  im  größeren 
Maßstabe  in  Deutschland  vorläufig  nur  auf  unsere  Wehrpflichtigen 
beschränkt,  von  denen  die  3  Maße:  Größe,  Gewicht,  Brustumfang 


*)  R.  Virchow,  Über  Rekrutierungsstatistik.  Gesammelte  Abhandlungen, 
Bd.  I,  1873. 

2)  y.  Schjerning,  Sanitätsstatistische  Betrachtungen  über  Volk  und  Heer. 
Bibliothek  v.  Coler  —  v.  Schjerning,  Bd.  XXVIII. 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


13 


190  Gerhard  Simon,  Untersuchungen  an  wehrpflichtigen  jungen  Badnern  usw. 


in  den  alphabetischen  Listen  oder  den  Freiwilligen -Listen  zu 
finden  sind. 

Dem  angestrebten  anthropometrischen  Amt  muß  es  überlassen 
bleiben,  weitere  Erfahrungen  mit  diesem  Maße  zu  sammeln. 

Zum  Schluß  möchte  ich  nicht  unterlassen,  besonders  den  Herrn 
Amtsvorständen  der  Großherzoglich  Badischen  Bezirksämter  für 
die  liebenswürdige  Unterstützung  meiner  Arbeit  durch  die  bereit¬ 
willige  Erfüllung  meiner  Bitte  um  Einsendung  der  alphabetischen 
Listen  meinen  verbindlichsten  Dank  auszusprechen,  ebenso  Herrn 
Oberstabsarzt  Prof.  Dr.  Schwiening  für  gütige  Übersendung 
einer  Abschrift  der  mir  sonst  nicht  zugänglichen  Arbeit  Pi gnet’s. 

Schlußsätze. 

1.  Das  Pignet’sche  Verfahren  ist  ein  praktisches  Hilfsmittel 
zur  Beurteilung  von  Grenzfällen  bei  der  Musterung  und  Aushebung. 

2.  Das  Pignet’sche  Verfahren  ermöglicht  eine  anschauliche 
zahlenmäßige  Darstellung  der  Körperbeschaffenheit  einer  Bevölke¬ 
rungsgruppe. 

3.  Das  Pignet’sche  Verfahren  muß  als  eine  wertvolle  Be¬ 
reicherung  der  Untersuchungsmethoden  der  medizinischen  Statistik 
angesehen  werden. 

4.  Das  Pignet’sche  Verfahren  erscheint  geeignet,  die  soziale 
Bedeutung  des  Heeresergänzungsgeschäftes  zu  erhöhen. 


Archiv  für  Sozial 


Simon,  Untersuchu 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  Bd.  VII 


A.  Klasse 

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A.  Klasse 


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Simon,  Untersuchungen. 


Verlag  von  F.  C.  W.  Vogel  in  Leipzig 


Tafel  I 


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E. Klasse 


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8,9 


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9,7  11,412,412,7138182% 


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D  Klasse 


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13, 7 


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14,0 167  170 175 


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1179  22,2245283% 


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Richard  Hahn  (H.  Otto),  Lelpz'g 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche 

Erkrankungen. 

Von  Prof.  Dr.  med.  J.  Kaup,  Charlottenburg. 

Vortrag,  gehalten  im  Kursus  für  Unfallheilung  und  Gewerbekrankheiten  des 
Instituts  für  Gewerbehygiene  zu  Frankfurt  a.  M.  (25.  und  26.  September  1911). 

Gewerbliche  Erkrankungen  und  hiermit  im  Zusammenhänge 
Todesfälle  auf  Grund  beruflicher  Schädigungen  lassen  sich  im  Ge¬ 
samtbilde  der  Medizinalstatistik  nicht  ohne  weiteres  erkennen. 
Gewährt  doch  die  Mortalitätsstatistik  der  einzelnen  Staaten  und 
Völker  ohne  Unterscheidung  nach  Altersgruppen  und  Geschlecht 
zunächst  fast  ein  gleichartig  erfreuliches  Bild.  Es  ist  bei  dem 
wachsenden  Interesse  der  Öffentlichkeit  für  nationalbiologische  Tat¬ 
sachen  ja  fast  allgemein  bekannt,  daß  in  Deutschland  die  Sterbe¬ 
ziffern  innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte  von  28  Prom.  (1874 — 75) 
auf  19,9  Prom.  (1901—05)  und  18,7  (1905—07),  also  um  38  Proz. 
gesunken  sind.  Andere  Staaten  zeigen  in  derselben  Zeitperiode 
ein  ähnliches  Absinken.  Bis  auf  die  Jahre  1907  und  1908  aus¬ 
gedehnt,  verminderten  sich  die  Sterbeziffern  seit  der  ersten  Hälfte 
der  70  er  Jahre  am  stärksten  in  den  Niederlanden  und  Sachsen  um 
38  Proz.,  in  Württemberg  um  36  Proz.,  in  Preußen  und  Baden  um 
33  Proz.,  während  England  und  die  Schweiz  mit  31  Proz.  folgen 
und  Frankreich  nächst  Irland  mit  nur  10  Proz.  Abnahme  an  letzter 
Stelle  stehen. 

Die  Ursachen  dieser  Erfolge  sind  vorwiegend  in  der  Besserung 
der  sozialen  und  hygienschen  Verhältnisse  der  Bevölkerung,  nament¬ 
lich  der  städtischen,  gelegen,  während  auf  dem  Lande  vielfach  ge¬ 
sundheitliche  Einrichtungen  der  öffentlichen  Hygiene  fehlen,  obgleich 
die  Sterbeziffern  auch  hier  zurückgegangen  sind.  Die  Fortschritte 
auf  dem  Gebiete  der  Städtehygiene  (Wasserversorgung,  Kanalisation, 

13* 


192 


J.  Kaup, 


Müllabfuhr,  Besserung  der  Wohnungs-  und  Ernährungsverhältnisse 
sind  jedoch  allen  Kulturstaaten  gemeinsam:  ebenso  ist  allen  Staaten 
gemeinsam  die  gleichmäßige  Bekämpfung  der  Infektionskrankheiten 
auf  Grund  einer  genauen  Kenntnis  der  Infektionserreger.  Während 
jedoch  die  allgemeinen  hygienischen  Fortschritte  für  alle  Altersklassen 
gleichmäßig  eine  Besserung  der  Gesundheitsverhältnisse  und  hiermit 
eine  Abnahme  der  Sterbeziffern  veranlaßt  haben  dürften,  hatte  das 
Kindesalter  von  der  Bekämpfung  der  Infektionskrankheiten  höheren 
Gewinn  als  das  erwerbstätige  Alter.  So  ist  innerhalb  der  Jahre 
1893—1908,  nachdem  seit  1892  in  Deutschland  durch  eine  neue 
Todesursachenstatistik  die  Sterblichkeitsverhältnisse  besser  beurteilt 
wrerden  können,  die  Zahl  der  Verstorbenen  z.  B.  an  Diphtherie  und 
Croup  bis  zum  Alter  von  15  Jahren  von  74000  auf  14  909  zurück¬ 
gegangen  und  sind  hierdurch  allein  die  Sterbeziffern  in  diesen 
12  Jahren  um  mehr  als  1  Prom.  herabgedrückt  worden.  In  ähnlicher 
Weise  hat  auch  der  Rückgang  anderer  Infektionskrankheiten  haupt¬ 
sächlich  dem  Kindesalter  genützt,  und  nur  für  den  Typhus  gilt  es, 
daß  durch  dessen  Abnahme  von  etwa  5000  auf  etwa  3000  Fälle 
auch  das  erwerbstätige  Alter  einen  namhaften  Nutzen  hatte.  Der  Rück¬ 
gang  der  Tuberkulose  (von  86000  auf  rund  76500)  für  die  Altersklassen 
vom  15. — 60.  Lebensjahr  und  zwar  eigentlich  nur  der  Lungentuber¬ 
kulose  wird  wohl  hauptsächlich  auf  die  besseren  hygienischen  Ver¬ 
hältnisse  in  den  letzten  10—15  Jahren  zurückzuführen  sein,  wenn 
auch  den  Lungenheilstätten  ein  bestimmtes  Verdienst  hierbei  nicht 
abgesprochen  werden  kann.  Andere  Todesursachen,  wie  z.  B. 
Magen-  und  Darmkatarrhe,  Neubildungen,  haben  im  erwerbstätigen 
Alter  zugenommen.  Diese  Hinweise  lassen  bereits  die  Notwendigkeit 
erkennen,  die  allgemeinen  Sterbeziffern  nach  den  einzelnen  Alters¬ 
gruppen  in  die  verschiedenen  Komponenten  zu  zerlegen.  Führt  man 
diese  Trennung  für  das  Deutsche  Reich  nach  dem  Säuglingsalter, 
dem  Kindesalter  bis  zum  15.  Lebensjahre,  der  erwerbstätigen  Lebens¬ 
periode  vom  15.— 60.  Lebensjahr  und  dem  Alter  der  Invalidität 
über  60  Jahre  durch,  so  ergibt  sich  die  interessante  Tatsache,  daß 
innerhalb  der  Jahre  1893—96  und  1905—07  die  Sterbeziffern  für 
das  Säuglingsalter  um  33  Proz.,  für  das  Kindesalter  um  36,  für  die 
eigentlichen  erwerbstätigen  Altersklassen  vom  15. — 60.  Lebensjahre 
um  12  Proz.,  für  das  Greisenalter  nur  um  4  Proz.  zurückgegangen 
sind.  Die  Erfolge  unseres  Kampfes  gegen  die  hohe  Säuglingssterblich¬ 
keit  und  die  Infektionskrankheiten  des  Kindesalters  lassen  sich  klar 
erkennen,  während  die  geringen  Veränderungen  im  ökonomisch¬ 
produktiven  und  im  Greisenalter  auf  verschiedene  Ursachen,  wie 


Der  Einfluß  (1er  Gesetzgebung’  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  193 

Kranken-  und  Invalidenversicherung,  sozialhygienische  Fortschritte 
anderer  Art  zurückgeführt  werden  können. 

Immerhin  sind  für  einzelne  Staaten  im  allgemeinen,  wie  für 
bestimmte  Altersgruppen  nicht  unbeträchtliche  Unterschiede  zu  er¬ 
kennen.  In  Preußen  ist  innerhalb  der  Jahre  1880  —  82  und  1900—02 
die  Sterblichkeitsziffer  für  das  männliche  Geschlecht  um  17,5  Proz. 
zurückgegangen,  in  England  und  Wales  hingegen  in  derselben  Zeit¬ 
periode  nur  um  8  Proz.  Für  die  einzelnen  Lebensabschnitte  sind 
Unterschiede  in  der  Abnahme  insoweit  zu  finden  als  die  jüngeren 
Altersgruppen  eine  stärkere  Verminderung  der  Sterbeziffer  zeigen 
wie  die  älteren.  Fast  für  alle  Altersgruppen  ist  der  Rückgang  in 
Preußen  stärker  als  in  England.  Nur  die  männlichen  Jugendlichen 
im  Alter  von  15—20  Jahren  zeigen  in  England  innerhalb  dieser 
20  Jahre  eine  Verminderung  der  Sterbeziffer  um  24  Proz.,  in  Preußen 
hingegen  nur  um  18  Proz.  Mit  dem  Eintritt  in  die  erwerbstätige 
Lebensperiode  scheinen  für  die  männliche  Jugend  Preußens  wie 
auch  der  anderen  Bundesstaaten  ungünstige  Einflüsse  am  Werke 
zu  sein. 

In  Anbetracht  der  Wichtigkeit,  gerade  für  die  erwerbstätige 
Lebensperiode  einen  besseren  Einblick  in  die  Gesundheitsverhältnisse 
zu  erhalten,  sind  wir  daher  genötigt,  die  Gesamtheit  der  in  diesem 
Alter  stehenden  Personen  in  die  einzelnen  großen  Berufsgruppen 
aufzulösen.  Die  Ergebnisse  der  Berufszählungen  müssen  zu  dem 
Zwecke  herangezogen  werden.  Hierbei  wollen  wir  nur  hervor¬ 
heben,  daß  von  30  Millionen  im  Jahre  1907  überhaupt  erwerbstätigen 
Personen  mehr  als  8  y2  Millionen  als  unselbständige  Arbeiter,  Ge¬ 
hilfen  und  Lehrlinge  allein  in  Industrie  und  Bergbau  erwerbs¬ 
tätig  waren,  während  im  Jahre  1895  diese  Zahl  kaum  6  Millionen 
betrug.  Von  den  7  J/3  Millionen  unselbständigen  Arbeitern  in  der 
Landwirtschaft  und  2  Millionen  im  Handel  und  Verkehr  wollen 
wir  hierbei  völlig  absehen.  Auch  haben  wir  unberücksichtigt  ge¬ 
lassen,  daß  von  den  8 1j2  Millionen  Lohnarbeitern  im  engeren  Sinne 
etwas  über  1  x/2  Millionen  auf  das  weibliche  Geschlecht  entfallen. 

In  der  Zahl  der  gewerblichen  Lohnarbeiter  steht  Deutschland 
von  allen  Kulturstaaten  an  der  Spitze  und  übertrifft  selbst  Groß- 
britanien  und  die  Vereinigten  Staaten.  Betrachtet  man  die  Berufs¬ 
gliederung  in  den  einzelnen  Städten  des  Reiches,  so  ist  festzustellen, 
daß  bis  zu  90  Proz.  der  Männer  in  verschiedenen  Städten  in  In¬ 
dustrie  und  Handel  erwerbstätig  sind  und  daher  der  Gesundheits¬ 
zustand  der  Bevölkerung  dieser  Städte  von  dem  körperlichen  Zu¬ 
stand  dieser  Erwerbsgruppen  abhängig  ist.  Es  wäre  nun  von 


194 


J.  Kaup, 


vornherein  anzunehmen,  daß  durch  unsere  Krankenversicherung* 
gute  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung  der  Konstitution  und  Lebens¬ 
kraft  der  Lohnarbeiter  gegeben  sind.  Sind  doch  in  sämtlichen 
Kassenarten  im  Jahre  1909  über  9  Millionen  männliche  und  fast 
3  1/2  Millionen  weibliche  Mitglieder  gezählt  worden.  Besonders  die 
beiden  verbreitetsten  Kassenarten,  die  Ortskrankenkassen  und  Be¬ 
triebskrankenkassen  böten  hierzu  gute  Gelegenheit.  (Ortskranken¬ 
kassen  4  */2  Millionen  männliche  und  über  2  Millionen  weibliche 
Mitglieder,  Betriebskrankenkassen  2  */2  Millionen  männliche  und 
fast  3/4  Millionen  weibliche  Mitglieder.)  Hierzu  eignen  sich  jedoch 
die  Krankenkassenstatistiken  nicht,  da  nur  die  Todesfälle  innerhalb 
der  satzungsmäßigen  Dauer  der  Krankenunterstützung  registriert 
und  daher  die  späteren  Todesfälle  früherer  Mitglieder  nicht  gezählt 
werden.  Eine  eigentliche  Mortalitätsstatistik  nach  Berufen  besitzen 
wir  im  allgemeinen  nicht,  wenn  auch  vor  kurzem  für  Preußen  eine 
Feststellung  für  das  Jahr  1907  unternommen  wurde.  Der  Ge¬ 
werbehygieniker  ist  daher  immer  noch  genötigt,  auf  englische 
Statistiken  zurückzugreifen.  Auch  für  die  Schweiz  und  für 
Österreich  liegen  nur  für  einzelne  Jahre  Sterbestatistiken  nach 
Berufen  vor. 

Die  englische  Sterblichkeitsstatistik  nach  Berufen  gestattet 
nun,  die  Entwicklung  der  Sterbeziffern  für  die  einzelnen  Berufs¬ 
gruppen  zu  studieren.  Die  folgende  Übersicht  soll  Anhaltspunkte 
für  die  Hauptberufe  geben. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

In  dieser  Tabelle  sind  nur  die  Berechnungen  für  die  Jahres¬ 
gruppen  1880— 82,  1890 — 92,  1900—02  aufgenommen,  auch  ist  nicht 
die  ganze  erwerbstätige  Lebensperiode  vom  15.  bis  etwa  65.  Jahre 
einbezogen,  sondern  nur  die  zwei  Hauptaltersklassen  vom  25.  bis 
45.  und  vom  45.  bis  65.  Lebensjahre.  Unter  berufstätigen  Männern 
sind  hier  nicht  etwa  nur  die  Lohnarbeiter  verstanden,  sondern 
sämtliche  im  Berufsleben  stehenden  Männer,  gleichgültig  ob  sie 
selbständig  oder  unselbständig,  ob  sie  einem  gewerblichen,  künst¬ 
lerischen,  industriellen  oder  freien  Berufe  angehören.  Zu  den  be¬ 
rufslosen  Männern  sind  vermutlich  zugerechnet:  die  Arbeiter  mit 
wechselnder  Beschäftung,  die  große  Schar  der  Arbeitsinvaliden,  die 
in  irgendeiner  Form  der  Öffentlichkeit  zur  Last  fallen.  Die  Sterb¬ 
lichkeitszahlen  dieser  Gruppe  sind  außerordentlich  hoch  und  ein 
Fortschritt  innerhalb  dieser  20  Jahre  nicht  zu  erkennen;  im 
Gegenteile  macht  es  den  Eindruck,  als  ob  durch  die  intensivere 
Berufsbetätigung  und  durch  Heranziehung  auch  der  minderen  Arbeits- 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  195 


Sterblichkeitsrate  männlicher  Berufstätiger  im  Alter  von  25 — 45 
und  45— 65  Jahren  in  den  Zeitabschnitten  1900 — 02,  1890—92  und 

1880-82. 

Durchschnittliche  Sterblichkeitsrate  auf  1000  Lebende. 


Berufe 

Im 

25. — 45.  Jahre 

Im 

45. — 65.  Jahre 

1900—02 

1890—92 

1880—82 

1900-02 

1890—92 

1880—: 

Alle  Männer 

8,38 

9,99 

10,16 

25,03 

28,30 

25,27 

Berufstätige  Männer 

7,84 

9,52 

9,71 

22,73 

26,69 

24,63 

Berufslose  Männer 

36,31 

31,36 

32,43 

57,01 

51,10 

36,20 

Farmer,  Vieh¬ 

züchter  usw. 

4,81 

5,64 

6,09 

14,82 

17,19 

16,53 

Landarbeiter 

4,81 

7,10 

7,13 

14,08 

18,74 

17,68 

Metallindustrie 

7,48 

10,25 

8,80 

24,83 

32,58 

25,93 

Masch.-Kesselbauer 

6,38 

9,42 

8,23 

22,15 

30,79 

23,89 

Werkzeug-,  Scheren-, 

Feilenarbeiter 

9,61 

12,95 

11,71 

32,10 

41,48 

34,42 

Messerschmiede 

11,84 

14,22 

12,30 

37,59 

44,01 

34,94 

Bleiarbeiter,  Maler, 

Glaser 

8,28 

10,47 

11,07 

26,08 

31,70 

32,49 

Maurer,  Steinmetz, 

Bauarbeiter 

7,01 

9,86 

9,25 

21,81 

28,60 

25,59 

Schiffsbauer 

6,28 

7,11 

6,95 

19,48 

20,01 

21,29 

W  ollmanuf  aktur 

6,81 

9,10 

— 

24,72 

29,25 

— 

Seidenmanufaktur 

6,25 

8,35 

7,81 

26,25 

29,27 

22,79 

Baumwollmanufaktur  7,22 

9,39 

— ■ 

27,11 

34,11 

— 

Färber,  Bleicher, 

Drucker.  Appreteur  7,74 

12,97 

9,46 

27,95 

39,22 

27,08 

Porzellanmanufaktur 

> 

Töpfer 

9,01 

12,98 

13,70 

39,12 

52,78 

51,39 

Kohlenbergleute 

6,01 

7,77 

7,64 

21,50 

27,69 

25,11 

Drucker 

7,89 

11,14 

11,12 

21,99 

28,38 

26,60 

Suppl.  to  the  65.  Annual  Report  England  Births,  Deaths  and  Marriages.  1908. 


tauglichen  der  verbleibende  Best  von  Individuen  im  steigenden 
Maße  lebensschwach  geworden  sei.  Durch  diese  Gruppe  kommt  es 
zustande,  daß  die  Sterblichkeitsziffern  der  berufstätigen  Männer 
niedriger  sind  als  die  der  Männer  überhaupt.  Bei  den  einzelnen 
Gruppen  von  fast  ausschließlich  Industriearbeitern,  die  wir  hier 
ausgewählt  haben,  ist  innerhalb  dieser  20  Jahre  die  Sterblich¬ 
keit  beträchtlich  gesunken,  besonders  stark  bei  Berufen  mit  ur¬ 
sprünglich  sehr  hoher  Sterblichkeit,  wie  z.  B.  bei  den  Bleiarbeitern 
und  Töpfern.  Für  die  beiden  großen  Altersgruppen  sind  einige 
Unterschiede  zu  konstatieren,  auf  die  wir  jedoch  nicht  näher  ein¬ 
geh  en  wollen.  Für  einen  Vergleich  der  einzelnen  Berufe  unter- 


196 


J.  Kaup, 


einander  eignet  sich  besser  eine  Standard-Betrachtung,  wie  sie  in 
den  englischen  Statistiken  üblich  ist. 


Vergleichende  Mortalitätsstatistik  für  das  erwerbstätige  Alter  ver¬ 
schiedener  Berufsangehöriger  innerhalb  der  Jahre  1890  —  92  und 

1900-02. 


Berufe 

1900—02 

1890—92 

Alle  Männer 

1,000 

1,155 

Berufstätige  Männer 

0,925 

1,102 

Berufslose  Männer 

2,884 

2,566 

Farmer,  Viehzüchter  usw. 

0,562 

0,651 

Landarbeiter 

0,551 

0,770 

Metallindustrie 

0,973 

1,303 

Maschinen-Kesselbauer 

0,866 

1,244 

Werkzeug-,  Scheren-,  Feilenarbeiter 

1,231 

1,633 

Messerschmiede 

1,460 

1,752 

Bleiarbeiter  (Röhren),  Maler,  Glaser 

1,041 

1,295 

Maurer,  Steinmetz,  Bauarbeiter 

0,862 

1,157 

Schiffsbauer 

0,765 

0,836 

W  ollmanufaktur 

0,927 

1,153 

Seidenmanufaktur 

0,892 

1,064 

Baumwollmanufaktur 

1,053 

1,358 

Färber,  Bleicher,  Drucker,  Appreteur 

1,066 

1,585 

Porzellanmanufaktur,  Töpfer 

1,420 

1,970 

Kohlenbergleute 

0,846 

1,081 

Drucker  (Buchdrucker) 

0,935 

1,267 

to  the  65.  Annual  Report  England  Births,  Deaths, 

Marriages.  1908. 

Die  mannigfachen  Unterschiede  innerhalb  der  einzelnen  Be¬ 
rufsgruppen  treten  hier  genauer  in  die  Erscheinung.  Vor  allem 
ist  in  der  obersten  Reihe  der  Rückgang  der  Sterblichkeit  für  die 
Gesamtheit  der  Männer  innerhalb  der  10  Jahre  deutlich  zu  er¬ 
kennen.  Ein  ähnlicher  Rückgang  findet  sich  bei  den  berufstätigen 
Männern.  Auch  bei  den  einzelnen  Berufsgruppen  ist  durchweg  die 
Vergleichszahl  tür  die  Jahre  1900  —  02  niedriger  als  für  10  Jahre 
vorher.  Freiluftberufe,  wie  Farmer,  Landarbeiter,  aber  auch  zum 
Teile  Bauarbeiter  haben  eine  geringere  Sterblichkeit  als  der  Durch¬ 
schnitt  aller  Männer.  Jedoch  auch  einzelne  Berufsklassen  der 
Arbeiter  der  Metallindustrie  im  weiteren  Sinne,  sowie  der  Textil¬ 
industrie,  des  Kohlenbergbaus,  sterben  während  der  Berufstätigkeit 
weniger  häufig  als  der  Durchschnitt.  Ungünstigere  Verhältnisse 
zeigen  hingegen  die  Gruppen  der  Werkzeugarbeiter,  der  Kessel¬ 
schmiede,  der  Bleiarbeiter,  auf  die  wir  noch  näher  eingehen  werden, 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  197 


der  Baumwoll-  und  Porzellanmanufaktur  und  der  Färber.  Auffallend 
ist  jedoch  gerade  bei  diesen  letzterwähnten  Berufsklassen  die 
starke  Verminderung  der  Vergleichszahlen  innerhalb  dieser  10 
Jahre. 

Ein  besonderer  Wert  dieser  Statistik  liegt  darin,  daß  für  die 
einzelnen  Berufe  die  Todesursachen  genau  angegeben  sind.  Hier¬ 
bei  zeigt  es  sich  nun,  daß  in  einigen  Berufen,  wie  z.  B.  bei  den 
Messerschmieden,  Werkzeug-,  Feilen-  und  Scherenverfertigern,. 
Bleiwarenarbeitern  usw.  einzelne  Todesursachen  doppelt  und  drei¬ 
mal  so  häufig  Vorkommen,  als  sie  im  Durchschnitte  festzustellen 
waren.  So  sind  noch  in  den  Jahren  1900—02  auf  1000  Todesfälle 
186  Todesfälle  an  Tuberkulose  im  Durchschnitt  ermittelt  worden, 
bei  den  erwähnten  Berufen  jedoch  300 — 500,  oder  man  fand  auf 
1000  Todesfälle  nur  einmal  Bleivergiftungen  als  Ursache,  bei  den 
Feilenhauern  jedoch  56,  bei  den  Bleiwarenarbeiten  102  usw.  und 
bei  denselben  Berufen  wurden  statt  35  Todesfällen  an  Nierenent¬ 
zündungen  (Bright’scher  Krankheit)  154  und  160  gefunden. 

Diese  beruflichen  Sterbestatistiken  für  England,  deren  Ergeb¬ 
nisse  namentlich  durch  die  Ogle’schen  Veröffentlichungen  weiteren 
Kreisen  bekannt  wurden,  trugen  wesentlich  dazu  bei,  die  Frage 
der  Gesundung  gesundheitsgefährlicher  Industrien  in  Fluß  zu 
bringen.  So  wurden  im  Jahre  1883  vorwiegend  auf  Grund  der  Tat¬ 
sachen  der  Sterbestatistik  für  einzelne  Berufsgruppen  Enqueten 
für  bestimmte  Beschäftigungsarten  veranstaltet,  als  deren  Ergeb¬ 
nis  gemäß  dem  englischen  Fabrik-  und  W7erkstättengesetze  von 
1883  mehrere  Spezialverordnungen  für  gesundheitsgefährliche  Be¬ 
triebe  erschienen. 

An  diesen  Enqueten  haben  stets  Ärzte  hervorragenden  Anteil 
genommen.  In  den  Rahmen  meiner  beiden  Vorträge  ist  es  natür¬ 
lich  unmöglich,  auf  die  Symptomatologie  und  Wirkungsweise  der 
einzelnen  gewerblichen  Vergiftungen,  auf  deren  Beziehungen  zu 
anderen  Krankheiten,  Zahl  der  in  Frage  kommenden  Betriebe  und 
Arbeiter  auch  nur  flüchtig  einzugehen.  Zur  Erforschung  gewerb¬ 
licher  Vergiftungen  ist  auch  von  deutscher  Seite  viel  geleistet 
worden.  Es  sei  nur  auf  Eulenberg’s  „Handbuch  der  Gewerbe¬ 
hygiene  auf  experimenteller  Grundlage“  vom  Jahre  1876,  auf  die 
Hirtli’schen  Arbeiten  in  den  80er  Jahren  verwiesen  —  Arbeiten, 
die  unermüdlich  insbesondere  von  Lehmann  fortgesetzt  werden. 
Auch  an  den  Bemühungen  der  Internationalen  Vereinigung  für  ge¬ 
setzlichen  Arbeiterschlitz  nach  Aufstellung  einer  Liste  der  gewerb¬ 
lichen  Gifte  haben  auf  deutscher  Seite  Sommerfeld,  Fischer 


198 


J.  Kaup, 


maßgebend  mitgearbeitet.  Ebenso  ist  es  unmöglich,  die  Gesund- 
heitsschädigungen  gewerblicher  Arbeiter  durch  Infektionserreger, 
durch  Veränderungen  und  Verunreinigungen  der  Atmungsluft  in  den 
Arbeitsräumen,  durch  exzessive  Temperaturen,  Überanstrengungen, 
Zwangsstellungen  usw.  auch  nur  anzudeuten.  Andere  Kollegen 
werden  vermutlich  auf  einzelne  Gebiete  gewerblicher  Erkrankungen 
ausführlich  e ingehen. 

Die  einzelnen  englischen  Kommissionen  namentlich  für  die 
Bleibetriebe  hatten  an  der  Todesursachen  Statistik  für  die  gefähr¬ 
deten  Berufe  gute  Anhaltspunkte.  Eine  Verordnung  wurde  im 
Jahre  1883  sofort  herausgegeben,  8  erschienen  im  Jahre  1892  und 
andere  in  den  nächsten  Jahren.  Diese  Verordnungen  bezogen  sich 
auf : 

1883  Bleiweißfabriken. 

1892  Fabrikation  doppeltchromsaurer  Salze. 

1896  Verfüllen  von  kohlensäurehaltigen  Wassern. 

1896  Mischen  und  Gießen  von  Messing  und  anderen  Le¬ 
gierungen. 

1898  Herstellung  von  Bleiglasuren  auf  Ziegeln. 

1892  Chemische  Fabriken. 

1892  und  1898  Töpfereiwaren  und  Porzellanfabrikation. 

1892  Emaillieren  von  Eisenplatten  mit  Blei,  Antimon  und  Arsen. 

1894  Fabrikation  elektrischer  Akkumulatoren. 

1892  Sprengstoffabriken,  in  denen  Dinitrobenzol  verwendet  wird, 

1894  Flachsspinnereien  und  Webereien. 

1894  Bleirot-  und  -Orangefabriken. 

1892  Bleigelbfabriken. 

1894  Bleischmelzhütten. 

1895  Fabrikation  von  gelbem  Bleichromat. 

1892  Zündholzfabriken. 

1892  Fabrikation  von  Farben  und  Arsenextrakt. 

1898  Lumpen-  und  Hadersortiereien. 

1894  Verzinnen  und  Emaillieren  von  Eisenhohlwaren. 

1894  Verzinnen  und  Emailieren  von  Eisemnetall. 

1898  Steindruckereien  zum  Schmuck  von  Porzellan  etc. 

1896  Vulkanisieren  von  Gummi. 

1896  Wollsortierereien. 

1899  Wollkämmereien. 

Diese  Verordnungen  umfassen  Betriebe,  in  denen  giftige  oder 
infizierende  Stoffe  verwendet  oder  hergestellt  werden  und  weiters 
Betriebe,  bei  deren  Fabrikationsverfahren  Staub  oder  schädliche 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  199 

Dämpfe  entstehen:  die  Mehrzahl  dieser  Verordnungen  behandelt 
jedoch  Bleibetriebe.  Nach  Angaben  von  Wood  sind  in  England 
in  diesen  Betrieben  Ende  der  90  er  Jahre  mehr  als  eine  J/4  Million 
Arbeiter,  darunter  75000  Arbeiterinnen  in  etwa  12000  Betrieben 
beschäftigt  gewesen.  Die  Vorschriften  befassen  sich  mit  bestimmten 
Forderungen  für  die  einzelnen  Fabrikationsprozesse,  Verbot  der 
Frauenarbeit  für  einzelne  Beschäftigungen,  Beistellung  von  Garde¬ 
roben,  Waschräumen,  Eßzimmern,  Bädern,  Getränken,  wöchentliche 
ärztliche  Untersuchung  durch  einen  behördlich  bevollmächtigten 
praktischen  Arzt,  Führung  eines  Gesundheitsverzeichnisses  für  die 
Bleiarbeiter  als  Leistungen  der  Unternehmer,  andererseits  werden 
jedoch  auch  die  Arbeiter  verpflichtet,  von  diesen  Reinhaltungsein¬ 
richtungen  und  Verhaltungsmaßregeln  Gebrauch  zu  machen  uud  die 
die  Vorschriften  genau  zu  beobachten.  In  ähnlicher  Weise  sind 
auch  die  Vorschriften  für  andere  gesundheitsgefährliche  Betriebe 
der  chemischen  Industrie  gehalten.  Im  wesentlichen  beziehen  sich 
diese  Vorschriften  auf  ein  Beschäftigungsverbot  für  Jugendliche 
und  Kinder,  oder  Mädchen  und  Frauen  für  einzelne  Arbeitsprozesse 
oder  es  wird  ein  Beschäftigungswechsel  oder  eine  Einschränkung 
der  Beschäftigungsdauer  vorgeschrieben.  Die  Verhaltungsvor¬ 
schriften  und  Reinhaltungseinrichtungen  sind  ähnlich  gehalten  wie 
bei  den  Bleibetrieben.  Wichtig  ist  die  Bestimmung,  daß  jeder 
praktische  Arzt,  der  zur  Behandlung  eines  Patienten  zugezogen 
wird,  verpflichtet  ist,  den  Fall  dem  Chief  Inspector  of  Factories 
anzuzeigen.  Für  die  Erstattung  einer  solchen  Anzeige  hat  er  x4n- 
recht  auf  eine  Gebühr  von  einer  halben  Krone,  die  aus  dem  Kredit 
des  Home  Office  zu  zahlen  ist.  Unterläßt  er  die  Anzeige  eines 
Krankheitsfalles,  so  verfällt  er  einer  Geldstrafe  bis  zu  2  Lstl. 
Hinsichtlich  der  Wertung  von  Gewerbekrankheiten  in  der  eng¬ 
lischen  Arbeiterschutzgesetzgebung  ist  eine  neue  Etappe  durch  die 
Workmens  Compensationsakt  von  1907  eingetreten,  nach  der  alle  spe¬ 
zifischen  gewerblichen  Krankheiten,  wie  Unfälle  entschädigungs¬ 
pflichtig  sind.  Zu  diesen  entschädigungspflichtigen  Krankheiten 
wurden  die  eigentlichen  gewerblichen  Vergiftungen ,  für  die  eine 
Anzeigepflicht  statuiert  ist,  gerechnet.  Bald  nach  dem  Erscheinen 
des  Gesetzes  wurden  jedoch  noch  weitere  gewerbliche  Erkrankungs¬ 
arten  einbezogen,  wie  Vergiftungen  durch  Nitro-  und  Amidoderivate, 
durch  Karbonbisulphit,  Nickelkarbonyl,  Nitrosedämpfe,  Chrom  Ver¬ 
giftungen,  Nystagmus  und  Caissonkrankheiten. 

Von  großer  Bedeutung  ist  nun  die  Frage,  ob  die  englischen 
Vorschriften  von  Erfolgen  begleitet  waren.  Der  Wert  der  Anzeige- 


200 


J.  Kaup, 


pflicht  namentlich  fiir  Bleivergiftungen  käme  in  der  Beantwortung 
dieser  Frage  zum  Ausdruck.  Nach  den  Ausweisen  des  Medikal- 
inspektors,  der  sämtliche  Anzeigen  sammelt  und  häuft,  war  die 
Zahl  der  Bleivergiftungsfälle  in  den  Jahren  1898:  1270,  1899:  1258; 
seitdem  ist  die  Zahl  ständig  gesunken,  wie  aus  der  nächsten 
Tabelle  ersichtlich  ist. 


Stand  und  Entwicklung  der  Bleivergiftungen  in  den  gewerblichen 

Betrieben  Englands. 

a)  Erkrankungen.  b)  Todesfälle. 


1903 

1904 

1905 

1906 

1907 

1908 

1909 

1910 

Blei  und  Zinkhütten 

a)  37 

b)  2 

33 

1 

24 

1 

38 

1 

28 

2 

70 

2 

66 

5 

34 

5 

Setzer 

a)  13 

b)  2 

15 

19 

4 

16 

2 

26 

3 

30 

2 

21 

1 

33 

4 

Bleiweißfabriken 

'  a)  109  * 
b)  2 

116 

2 

90 

1 

108 

7 

71 

79 

3 

32 

2 

34 

1 

Keramische  Industrie 

a)  97 

b)  3 

106 

4 

84 

3 

107 

4 

103 

9 

117 

12 

58 

5 

77 

11 

Akkumulatorenfabriken 

a)  23 

b)  - 

33 

27 

1 

26 

21 

25 

1 

27 

2 

31 

Farbenfabriken 

a)  39 

b)  1 

32 

1 

57 

1 

37 

35 

1 

25 

39 

2 

17 

Maler  im  Schiffs-  und 
Wagenbau 

a)  144 

b)  7 

124 

7 

137 

7 

148 

11 

141 

6 

132 

4 

164 

7 

142 

11 

Hausmaler 

a)  201 

b)  39 

227 

39 

163 

28 

181 

36 

174 

39 

239 

44 

241 

47 

232 

35 

Andere  Industrien 

a)  152 

b)  2 

138 

11 

154 

5 

152 

.8 

153 

5 

168 

8 

146 

6 

137 

5 

Summe 

a)  815 

b)  58 

824 

65 

755 

51 

813 

69 

752 

65 

885 

76 

794 

77 

737 

73 

Der  stärkste  Rückgang  zeigt  sich  bei  den  Bleiweißarbeitern, 
ähnlich  stark  auch  in  der  keramischen  Industrie,  geringer  in  den 
Bleihütten.  Feilenhauereien,  Farbenfabriken,  im  Wagen-  und  Schiffbau. 
Keine  Veränderung,  eher  eine  Erhöhung  der  Vergiftungszahlen  ist  im 
Gewerbe  der  Hausmaler  eingetreten,  das  noch  nicht  mit  Vorschriften 
bedacht  ist.  Auffallend  ist  allerdings  die  noch  immer  hohe  Zahl 
von  Todesfällen.  Auch  ist  einer  Arbeit  von  Legge  zu  entnehmen, 
daß  z.  B.  die  Zahl  der  Bleilähmungen  in  allen  gewerblichen  Be¬ 
trieben  in  den  Jahren  1904  und  1905  118,  bzw.  114  betrug,  in  den 
Jahren  1908  hingegen  157,  1909  147.  Der  Einwand  Teleky’s, 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  201 

daß  in  England  anscheinend  nur  die  schweren  Fälle  von  Bleiver¬ 
giftung  zur  Anzeige  kommen,  hat  daher  etwas  Berechtigung. 
Andererseits  gibt  es  für  den  Erfolg  der  Vorschriften  noch  weitere 
einwandfreie  Belege  und  zwar  durch  Vergleich  der  Todesursachen¬ 
statistik  für  die  bleigefährdeten  Berufe  auf  Grund  der  Berufs- 
Mortalitätsstatistik  für  die  Triennien  1890—1892  und  1900—1902. 


Sterblichkeitsverhältmsse  der  Bleiarbeiter  in  England  nach  der 
Statistik  für  die  Jahre  1890 — 92  und  1900—02. 

a)  1890-92.  b)  1900—02. 

Auf  1000  Todesfälle  kommen  im  Durchschnitte  Fälle  von 


Sterblich- 

Blei- 

keit 

krankh 

Alle  erwerbstätigen 

a) 

100 

1 

Männer 

b) 

100 

1 

Bleiarbeiter 

a) 

b) 

187 

150 

211 

102 

E  eilenkauer 

a) 

b) 

190 

173 

75 

56 

Spengler,  Maler  u. 

a) 

118 

39 

Glaser 

b) 

113 

23 

Töpfer 

a) 

b) 

179 

154 

17 

10 

Glasfabrikation 

a) 

b) 

156 

130 

12 

8 

Kupferschmiede 

a) 

b) 

145 

113 

8 

3 

Wagen-  u.  Waggon¬ 

a) 

109 

7 

maler 

b) 

84 

8 

Gasinstallateure, 

a) 

97 

6 

Schlosser 

b) 

96 

3 

Drucker 

a) 

b) 

115 

101 

3 

2 

Krankh.d.  Krankh. 


Urogen.- 

systems 

d.  Nerven¬ 
systems 

Gicht 

Phthysis 

41 

82 

2 

185 

52 

103 

2 

187 

161 

232 

_ 

148 

160 

134 

— 

165 

104 

212 

4 

402 

160 

225 

— 

387 

164 

263 

22 

397 

94 

133 

8 

213 

63 

123 

1 

333 

53 

131 

— 

285 

63 

155 

9 

295 

69 

131 

4 

283 

60 

85 

_ 

294 

45 

104 

3 

162 

68 

105 

7 

189 

53 

113 

4 

129 

50 

108 

5 

223 

77 

113 

6 

224 

52 

89 

4 

326 

57 

111 

3 

300 

Fast  bei  allen  bleigefährdeten  Berufen  ist  ein  namhafter  Rück¬ 
gang  der  Bleiintoxikationstodesfälle,  aber  auch  der  Todesfälle  an 
Erkrankungen  des  Urogenitalsystems,  des  Nervensystems,  an 
Lungenschwindsucht,  Erkrankungen  der  Zirkulationsorgane  und 
der  Atmungsorgane  ersichtlich.  Die  Verminderung  der  mit  Blei 
zusammenhängenden  Todesursachen  hat  aber  auch  ein  Herabsinken 
der  Mortalitätsziffer  überhaupt  bewirkt. 


202 


J.  Kaup, 


Es  scheint  demnach  keinem  Zweifel  zu  unterliegen,  daß  in 
England  in  der  Bekämpfung  gewerblicher  Bleivergiftungen  schöne 
Erfolge  erzielt  wurden.  Ob  auch  in  anderen  gesundheitsgefähr¬ 
lichen  Betrieben  namentlich  der  chemischen  Industrie  gesundheit¬ 
liche  Fortschritte  zu  bemerken  sind,  wollen  wir  unerörtert  lassen. 

Für  Deutschland  sind  zum  Schutze  der  Arbeiter  vor  gewerb¬ 
lichen  Erkrankungen  bereits  in  der  Gewerbeordnung  des  Nord¬ 
deutschen  Bundes  vom  Jahre  1869  einige  Anhaltspunkte  gegeben. 

„Jeder  Gewerbeunternehmer  ist  verpflichtet,  auf  seine  Kosten 
alle  diejenigen  Einrichtungen  herzustellen  und  zu  unterhalten, 
welche  mit  Rücksicht  auf  die  besondere  Beschaffenheit  des  Ge¬ 
werbebetriebes  und  der  Betriebsstätte  zu  tunlichster  Sicherung 
der  Arbeiter  gegen  Gefahren  für  Leben  und  Gesundheit  notwen¬ 
dig  sind.“ 

Diese  Fassung  gibt  noch  keine  genaueren  Anhaltspunkte. 
Große  Fortschritte  nach  dieser  Richtung  weist  die  Gewerbeordnungs¬ 
novelle  von  1891  auf. 

Die  entscheidenden  Punkte  sind  im  §  120  ab  und  c  enthalten. 

„Die  Gewerbeunternehmer  sind  verpflichtet,  die  Arbeitsräume, 
Betriebs  Vorrichtungen,  Maschinen  und  Gerätschaften  so  einzurichten 
und  zu  unterhalten  und  den  Betrieb  so  zu  regeln,  daß  die  Arbeiter 
gegen  Gefahren  für  Leben  und  Gesundheit  soweit  geschützt  sind, 
wie  es  die  Natur  des  Betriebes  gestattet.“ 

„Insbesondere  ist  für  genügendes  Licht,  ausreichenden  Luft¬ 
raum  und  Luftwechsel,  Beseitigung  des  bei  dem  Betriebe  entstehen¬ 
den  Staubes,  der  dabei  entwickelten  Dünste  und  Gase,  sowie  der 
dabei  entstehenden  Abfälle  Sorge  zu  tragen.“ 

Durch  Beschluß  des  Bundesrats  können  Vorschriften  darüber 
erlassen  werden,  welchen  Anforderungen  in  bestimmten  Arten  von 
Anlagen  zur  Durchführung  der  in  den  §  120  a  bis  e  enthaltenen 
Grundsätze  zu  genügen  ist.  Soweit  solche  Vorschriften  durch  Be¬ 
schluß  des  Bundesrats  nicht  erlassen  sind,  können  dieselben  durch 
Anordnungen  der  Landeszentralbehörden  oder  durch  Polizeiver¬ 
ordnungen  der  zum  Erlasse  solcher  berechtigten  Behörden  er¬ 
lassen  werden. 

Zunächst  Bundesratsvorschriften  zur  Bekämpfung  gewerblicher 
Bleivergiftungen : 

1.  Bekanntmachung  des  Bundesrats,  betr.  die  Einrichtung  und 
den  Betrieb  der  Bleifarben-  und  Bleizuckerfabriken  1893 — 1903. 

2.  Bekanntmachung  des  Bundesrats,  betr.  die  Einrichtung  und 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  203 

4 

den  Betrieb  von  Buchdrucker  eien  und  Schriftgießereien  1897 
bis  1907. 

3.  Bekanntmachung  des  Bundesrates,  betr.  die  Einrichtung 
und  den  Betrieb  von  Anlagen  zur  Herstellung  elektrischer  Akku¬ 
mulatoren  aus  Blei  und  Bleiverbindungen  1897 — 1907. 

4.  Bekanntmachung  des  Bundesrates,  betr.  die  Einrichtung 
und  den  Betrieb  von  Zinkhütten  1900. 

5.  Bekanntmachung  des  Bundesrates,  betr.  die  Einrichtung  und 
den  Betrieb  von  Bleihütten  1904. 

6.  Bekanntmachung  des  Bundesrates,  betr.'  die  Einrichtung  und 
den  Betrieb  von  Malerbetrieben  1905. 

Bevor  wir  auf  die  Genesis  und  die  Wirkungen  der  einzelnen 
deutschen  Bleiverordnungen  zu  sprechen  kommen,  seien  einige 
allgemeine  Bemerkungen  über  die  Häufigkeit  gewerblicher  Blei¬ 
vergiftungen  in  den  deutschen  Bundesstaaten  vorausgeschickt. 
Da  die  Krankenkassen  nicht  wie  in  Österreich  zur  Führung  einer 
eingehenden  Krankheitsstatistik  verhalten  sind  und  auch  eine  An¬ 
zeigepflicht  für  gewerbliche  Vergiftungen  durch  die  behandelnden 
Arzte  und  Krankenanstalten  wie  in  England  nicht  existiert,  so 
sind  nur  zufällige  Angaben  zu  finden.  Einige  Bleiweißfabriken 
des  Cölner  Aufsichtsbezirkes  und  auch  die  Blei-  und  Zinkhütten 
Oberschlesiens  haben  ziemlich  regelmäßig  Statistiken  geführt,  auch 
mehrere  Ortskrankenkassen  machen  ständig  Angaben.  Eine  Sta¬ 
tistik  über  die  in  den  90  er  Jahren  in  preußischen  Krankenanstalten 
behandelten  Bleivergiftungen  von  Hey  mann  blieb  mangels  einer 
Schilderung  der  gewerbehygienischen  Zusammenhänge  so  gut  wie 
unbekannt.  Diese  Quelle  ist  jedoch  noch  die  verläßlichste.  Aller¬ 
dings  kommen  nur  die  schweren  Fälle  von  Bleivergiftungen  in  den 
Krankenanstalten  in  Behandlung,  aber  Vergleiche  in  verschiedenen 
Städten,  wie  z.  B.  Paris,  Wien  und  Berlin  ergaben,  daß  etwa  1li 
bis  1I*>  aller  an  Bleivergiftung  erkrankten  Personen  Krankenhäuser 
aufsuchen. 

Zur  Bestätigung  dieser  Annahme  sei  auf  folgende  Tabelle 
verwiesen,  die  die  metallischen  Intoxikationen  der  Mitglieder  des 
Berliner  Gewerkskrankenvereins  für  einige  Jahre  zur  Darstellung 
bringt. 


204 


J.  Kaup, 


Metallische  Intoxikationen  in  den  zum  Gewerkskrankenverein  Berlin 

gehörigen  Kassen  1903 — 07. 


Gewerbe 

1903 

1904 

Fälle 

1905 

1906 

1907 

Kupferschmiede,  G  elb-  u.  Zinngießer 

13 

11 

17 

12 

18 

Schlosser 

21 

'  31 

28 

18 

17 

Mechaniker 

147 

173 

115 

115 

81 

Maler  und  Lackierer 

570 

617 

527 

471 

444 

Tischler 

15 

8 

6 

4 

6 

Steindrucker 

16 

20 

21 

12 

8 

Verschiedene  Gewerbe 

8 

19 

34 

21 

18 

zusammen 

790 

879 

748 

653 

592 

Bleivergiftungsfälle,  die  in  den 

Krankenanstalten  des  Landes- 

polizeibezirks  Berlin  zur  Be- 

handlung  kamen: 

178 

167 

151 

146 

1  :  5 

1:4 

1:4 

1:4 

Die  hier  ausgewiesenen 

Fälle 

von 

Intoxikationen 

sind  fast 

ausschließlich  Fälle  voii  Bleierkrankungen,  andere  Intoxikationen 
spielen  kaum  eine  Bolle,  namentlich  nicht  bei  den  Malern  und 
Lackierern,  die  hinsichtlich  der  Häufigkeit  von  Intoxikationen  von 
allen  Gruppen  von  Berufsarbeitern  Berlins  weitaus  an  erster  Stelle 
stehen.  Abgesehen  von  dem  Bück  gange  der  Bleivergiftungen  seit 
dem  Jahre  1904,  der  auch  in  dieser  Tabelle  gut  zum  Ausdrucke 
kommt,  wollen  wir  an  dieser  Stelle  nur  auf  die  unten  angegebenen 
Bleivergiftungsfälle ,  die  in  den  Krankenanstalten  des  Landes¬ 
polizeibezirks  Berlin  zur  Behandlung  kamen,  verweisen.  Die  Gegen¬ 
überstellung  der  überhaupt  zur  Kenntnis  der  Krankenkassen  ge¬ 
brachten  Fälle  und  der  Bleierkrankungen  in  den  Krankenanstalten 
ergibt  für  die  Jahre  1904 — 1907  ein  Verhältnis  von  fast  durch¬ 
weg  1 : 4. 

Die  genaueren  Ergebnisse  und  Berechnungen  auf  Grund  der 
Krankenzettel  der  preußischen  Krankenanstalten  habe  ich  in  einem 
besonderen  Aufsatze  mit  dem  Titel  „Der  Stand  der  Bleivergiftungen 
in  den  Gewerbebetrieben  Preußens“  veröffentlicht.  Hier  sollen 
nur  die  wesentlichen  Ergebnisse  dieser  Berechnungen  in.  einer  be¬ 
sonderen  Tabelle  dargestellt  und  einige  Materialien  einbezogen 
werden,  die  in  der  letzten  Zeit  gewonnen  werden  konnten. 


9  Archiv  für  soziale  Hygiene.  6.  Bd.,  Heft  1,  September  1910. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen,  205 


Bleivergiftungen  in  den  wichtigsten  Berufsgruppen  nach  den 
Materialien  der  preußischen  Krankenanstalten. 


1904 

1905 

1906 

1907 

1908 

Preußen  insgesamt 

a) 

1050 

1  103 

898 

920 

900 

(alle  Berufe) 

b) 

27  943 

26  965 

22  855 

23  586 

21 150 

in 

a) 

134 

157 

160 

177 

172 

Preußen 

b) 

2  871 

3  675 

3  742 

4180 

3  950 

Arbeiter  der 
Bleiweiß-  u. 
Bleifarben¬ 

im  Beg.-Bez. 

a) 

125 

137 

156 

175 

167 

Cöln 

b) 

2  615 

3  262 

3  688 

4123 

3  856 

fabriken 

nach  Angaben 
der  deutschen 
Bleiweißfabr. 

a) 

b) 

264 

5  205 

191 

3  079 

239 

3  807 

214 
3  570 

Blei  u.  Zink¬ 

f  in 

a) 

121 

163 

115 

120 

121 

Preußen 

b) 

2  418 

3  212 

2  172 

2  792 

2  951 

hütten¬ 

arbeiter 

im  Beg.-Bez. 

a) 

110 

150 

97 

101 

97 

[  Oppeln 

b) 

2167 

3  008 

1915 

2  374 

2  479 

Maler, 

[  in 

a) 

391 

390 

286 

283 

259 

Anstreicher, 
Lackierer,  < 

Preußen 

b) 

12  246 

109 

10  183 

7  709 

6  629 

6  211 

Weißtüncher 

in 

a) 

109 

91 

88 

69 

u.  a. 

Berlin 

b) 

2  636 

2192 

1957 

2  017 

1584 

a)  Krankheitsfälle,  b)  Krankheitstage. 

9  1909:  197  Fälle  und  3816  Tage;  1910:  203  Fälle  und  4081  Tage. 

Das  richtige  Verständnis  für  die  Bleierkrankungsfälle  in  den 
Krankenanstalten  Preußens  insgesamt  wird  erst  gewonnen,  wenn 
man  sich  der  Angaben  Heymann’s1)  erinnert.  Hey  mann  be¬ 
rechnete  für  die  Jahre: 


1895 

1020i 

1899 

1601 

Bleivergiftungsfälle 

1900 

1510 

>  für 

1901 

1359 

Preußen. 

1902 

1202, 

Der  Abstand  der  Höchstziifer  für  1899  und  der  niedrigsten  im 
Jahre  1906  ergibt  einen  Rückgang  von  rund  36  Proz.  Ob  ein  ähn¬ 
licher  Rückgang  auch  hinsichtlich  der  Krankheitstage  eingetreten 
ist,  kann  nicht  angegeben  werden,  da  Hey  mann  die  Zahl  der 
Krankheitstage  nicht  besonders  angeführt  hat.  In  unserer  Tabelle 
sind  nur  die  drei  Berufsgruppen  der  Bleiweißfabrik-,  der  Blei- 
und  Zinkhüttenarbeiter  und  der  Maler  besonders  angegeben.  Diese 
engere  Auswahl  bringt  die  hauptsächlich  gefährdeten  Arbeiter¬ 
gruppen  zum  Ausdrucke,  da  rund  60  Proz.  sämtlicher  in  den 

9  Zeitschrift  des  Kgl.  Preuß.  Statist.  Landesamtes.  1905. 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


14 


206 


J.  Kaup, 


Krankenanstalten  ausgewiesenen  Bleivergiftungsfälle  auf  diese  drei 
Berufe  entfallen.  Die  Zahlen  für  die  Bleivergiftungen  in  Bleiweiß- 
und  Bleifarbenfabriken  für  Preußen  überhaupt  und  im  besonderen 
für  den  Regierungsbezirk  Cöln  lassen  zunächst  erkennen,  daß  in 
den  anderen  Provinzen  Preußens  nur  verschwindend  wenige  Ver¬ 
giftungen  in  solchen  Betrieben  Vorkommen. 

Eine  Verordnung  ist  für  Blei weißfabriken  bereits  im  Jahre 
1893  erschienen  und  10  Jahre  später  neuerdings  etwas  ver¬ 
schärft  den  Gewerbeaufsichtsbeamten  in  Erinnerung  gebracht 
worden.  In  den  neunziger  Jahren  hat  Hey  mann  etwa  rund 
310  Bleivergiftungsfälle  in  Bleiweißfabriken  berechnet.  Im 
Jahre  1900  waren  es  360,  1901:  282  und  1902:  327.  Mit 
der  neuerlichen  Erinnerung  der  Verordnung  für  Bleiweißfabriken 
im  Jahre  1903  ist  dann  ein  starker  Rückgang  der  Vergiftungs¬ 
fälle  eingetreten,  der  leider  nicht  bis  zu  den  Jahren  1907 — 08  an¬ 
gehalten  hat.  In  den  Angaben  des  Verbandes  deutscher  Blei¬ 
weißfabrikanten  kommt  diese  Erscheinung  nicht  zur  Geltung.  Nach 
diesen  Zahlen  könnte  man  annehmen,  daß  die  Vergiftungsfälle 
innerhalb  der  Jahre  1907 — 1910  mit  etwa  200  ziemlich  stationär 
geblieben  seien;  die  Zahl  der  Krankentage  ist  allerdings  im  Jahre 
1910  mit  4081  Tagen  bei  203  Fällen  auffallend  hoch.  Immerhin 
ist  noch  zu  berücksichtigen,  daß  die  Krankheitsziffern  des  Ver¬ 
bandes  nur  wenig  höher  sind,  als  die  der  Krankenanstalten  für 
den  Regierungsbezirk  Cöln  oder  für  Preußen.  Diese  Erscheinung 
ist  wohl  darin  begründet,  daß  der  Verband  nur  die  Bleivergiftungs¬ 
fälle  der  Stammarbeiter  angibt,  die  häufigen  Intoxikationen  der 
nur  vorübergehend  beschäftigten  und  zu  bestimmten  gefährlichen 
Arbeiten  herangezogenen  Hilfsarbeiter  unberücksichtigt  läßt.  Man 
wird  auch  hier  annehmen  können,  daß  die  Ziffern  für  Preußen  oder 
für  den  Regierungsbezirk  Cöln  mit  4  multipliziert  werden  können, 
um  die  vermutlich  richtigen  Zahlen  von  Bleivergiftungsfällen  in 
den  Bleiweiß-  und  Bleifarbenfabriken  anzudeuten. 

Die  nächste  Gruppe  behandelt  die  Bleivergiftungen  in  den 
Blei-  und  Zinkhütten  Preußens  und  des  Regierungsbezirks  Oppeln, 
der  das  Zentrum  für  die  Blei-  und  Zinkproduktion  Preußens  ist. 
Nach  Hey  mann  wurden  unter  den  Blei-  und  Zinkhüttenarbeitern 
beobachtet : 


im  Jahre  1895 


1899 

1900 

1901 

1902 


>5 


200  Fälle 
250 
176 
186 
151 


V 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  207 

Die  Differenz  zwischen  der  höchsten  Zahl  im  Jahre  1899  mit 
250  und  der  niedrigsten  im  Jahre  1906  mit  115  ergibt  wieder 
einen  überaus  starken  Rückgang  von  mehr  als  50  Proz.  Hier 
kommen  zwei  Verordnungen  in  Betracht:  die  Zinkhüttenverordnung 
von  1900  und  die  Bleihüttenverordnung  vom  Jahre  1904.  Die  Zink¬ 
hüttenverordnung  hat  offenbar  den  starken  Rückgang  seit  1899  zu¬ 
stande  gebracht,  während  die  Wirkung  der  Bleihüttenverordnung 
weniger  leicht  zu  erkennen  ist.  Gerade  für  die  Blei-  und  Zinkhütten 
des  Regierungsbezirks  Oppeln  sind  in  den  Berichten  der  Gewerbe¬ 
aufsichtsbeamten  gute  Statistiken  enthalten,  deren  Angaben  für  die 
einzelnen  Jahre  in  besonderen  Tabellen  zusammengefaßt  sind.  Zu¬ 
nächst  bringen  wir  eine  Tabelle  über  die  Erkrankungen  der  Zink¬ 
öfenarbeiter  Oberschlesiens  für  die  Jahre  1902 — 1910.  Die  Röster 
sind  wesentlich  weniger  gefährdet,  so  daß  eine  Zusammenstellung 
der  spärlichen  Bleivergiftungsfälle  für  diese  Arbeitergruppe  über¬ 
flüssig  erscheint. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

In  dieser  Tabelle  sind  nicht  nur  die  schweren  Bleivergiftungen 
(Bleikolik  und  Lähmungen)  sondern  auch  andere  Erkrankungen 
angegeben,  die  mehr  oder  weniger  häufig  einer  Bleieinwirkung 
ihre  Entstehung  verdanken.  Hier  zeigt  sich  das  merkwürdige 
Ergebnis,  daß  unmittelbar  nach  der  Zinkhüttenverordnung  von 
1900  an  ein  starker  Rückgang  der  Bleivergiftungen  eingetreten 
ist,  daß  jedoch  seit  den  Jahren  1902  und  1903  wieder  ein  kon¬ 
stantes  Steigen  gerade  der  schweren  Vergiftungsfälle  bis  zum 

Jahre  1910  beobachtet  werden  kann.  Diese  Erscheinung  zeigt 
•  • 

eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  unserer  Wahrnehmung  bezüglich  der 
Bleiweißfabriken  des  Regierungsbezirkes  Cöln.  Hier  wie  dort  un¬ 
mittelbar  nach  der  Herausgabe  der  Verordnung  ein  starkes  Ab¬ 
sinken  der  Vergiftungsfälle,  hernach  aber  wieder  ein  allmähliches 
Ansteigen.  Dieselbe  Erscheinung  ist  auch  für  die  anderen  Er¬ 
krankungen,  die  zum  großen  Teile  auf  bleiische  Einflüsse  zurück¬ 
zuführen  sind,  wie  für  Nierentzündungen,  Magen-  und  Darmkatarrhen, 
zu  beobachten.  Namentlich  die  Zahl  der  Krankheitstage  ist  für 
alle  bleiischen  Erkrankungen  innerhalb  der  letzten  acht  Jahre  an¬ 
gestiegen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  für  die  Bleihütten  Oberschlesiens  etwa 
ähnliches  festzustellen  ist.  Hierüber  gibt  die  folgende  Tabelle 
Aufschluß. 


(Tabelle  siehe  Seite  209.) 


14* 


208 


J.  Kaup, 


Gesundheitsverhältnisse  der  Arbeiter  der  Zinkhütten 

Oberschlesiens. 

Zinköfenarbeiter. 


Erkrankungsfälle  a),  Prozente  b)  u.  Krankheitstage  c)  bei 


Jahr 

Arb.-  Bleikolik  und 

Nieren¬ 

Magen-  und 

Kheumatis- 

sonstigen 

zahl 

Lähmung 

entzündung 

Darmkatarrh 

mus 

Krankheiten 

a) 

29 

18 

137 

448 

285 

1902 

4417  b) 

0,7 

0,4 

3,1 

10,1 

6,5 

c) 

535 

527 

2007 

7075 

4625 

a) 

28 

21 

151 

470 

111 

1903 

4587  b) 

0,6 

0,5 

3,2 

10,2 

2,4 

0 

652 

624 

2153 

8168 

2496 

a) 

44 

23 

181 

596 

91 

1904 

4677  b) 

0,9 

0,5 

3,9 

12,7 

1,8 

c) 

970 

698 

2706 

9982 

1654 

a) 

50 

18 

223 

612 

70 

1905 

4789  b) 

1,0 

0,4 

4.7 

12,8 

1,4 

c) 

2217 

952 

2580 

10207 

1150 

a) 

43 

20 

223 

560 

67 

1906 

4693  b) 

1,0 

0,4 

4,8 

11,9 

1,4 

c) 

1053 

370 

2838 

8920 

1531 

a) 

51 

33 

197 

562 

72 

1907 

4692  b) 

1,1 

0,7 

4,2 

12,0 

1,5 

c) 

1073 

1362 

2441 

9547 

921 

a) 

57 

22 

239 

686 

212 

1908 

4933  b) 

1,2 

0,5 

4,8 

13,9 

4,3 

c) 

972 

567 

2531 

10691 

2834 

a) 

66 

16 

257 

704 

88 

1909 

4859  b) 

1,3 

0,3 

5,4 

14,4 

1,8 

c) 

1240 

420 

3386 

10686 

1376 

a) 

69 

37 

197 

686 

1910 

5169  b) 

1,3 

0,7 

3,8 

13,2 

unbekannt 

C 

1778 

1140 

2221 

12043 

Ein  Blick  auf  diese  Tabelle  läßt  sofort  ein  wesentlich  anderes 
Bild  erkennen:  vor  der  Herausgabe  der  Verordnung  (1904)  von 
1902  an  ein  Ansteigen  der  Bleivergiftungsfälle  von  90  auf  125  im 
Jahre  1904  und  sogar  177  im  Jahre  1905.  Seitdem  ein  sturzähn¬ 
licher  Rückgang  bis  auf  37  Fälle  im  Jahre  1906  und  ein  weiteres 
Sinken  bis  in  die  letzten  Jahre.  Andere  bleiische  Erkrankungen 
scheinen  zum  Unterschiede  von  den  Zinkh litten arbeitern  bei  den 
Bleihüttenarbeitern  eine  geringere  Rolle  zu  spielen.  Für  die  Blei¬ 
hüttenarbeiter  Oberschlesiens  ist  somit  ein  sehr  guter  Erfolg  der 
Bleihütten  Verordnung  festzustellen ,  der  einstweilen  noch  anhält. 
Den  weitgehenden  Sanierungsarbeiten  in  der  Kgl.  Friedrichhütte 
zu  Tarnowitz  dürfte  wohl  an  diesem  Rückgänge  der  Hauptanteil 
zuzuschreiben  sein. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  209 


Gesundheitsverhältnisse  der  Arbeiter  der  Bleihütten 

Oberschlesiens. 


Erkrankungsfälle  a),  Prozente  b),  u.  Krankheitstage  c)  bei 

Jahr  Arb.-  a)  Bleikolik  und  Nieren-  Magen-  und  Rkeuinatis-  sonstigen 
zahl  b)  Lähmung  entzündung  Darmkatarrh  mus  Krankheiten 


1902  906 


a) 

1903  875  b) 

c) 

a) 

1904  912  b) 

c) 

a) 

1905  999  b) 

c) 

a) 

1906  897  b) 

c) 

a) 

1907  828  b) 

0 

a) 

1908  829  b) 

c) 

a) 

1909  834  b) 

c) 

a) 

1910  803  b) 

0 


90 

10,0 

1588 

142 

15.7 
2724 

125 

13,9 

2642 

177 

17.7 
3056 

37 

4,1 

786 

16 

2,0 

181 

23 

2,9 

356 

11 

1.3 

217 

19 

2.3 
350 


nicht  angegeben 


6  28  47 

0,6  3,1  5,2 

314  486  1067 

3  49  52 

0,3  5,4  5,8 

47  834  1090 

2  37  31 

0,2  3,7  3,1 

157  579  747 

6  31  37 

0,7  3,4  4,1 

384  376  1064 

1  34  45 

0,1  4,2  5,6 

9  422  927 

2  39  47 

0,2  4,9  5,9 

65  609  1053 

3  40  38 

0,4  5,0  4,7 

167  744  989 

3  59  38 

0,3  7,3  4,7 

350  775  587 


117 

13,0 

2443 

92 

10,2 

2393 

82 

8,2 

2358 

79 

8,8 

2573 

69 

8,6 

1538 

34 

4,2 

691 

14 

1,7 

149 


nicht 

angegeben 


Die  soeben  durchgeführte  Trennung  der  Vergiftungsfälle  in 
Blei-  und  Zinkhütten  zeigt  wieder,  wie  notwendig  es  ist,  Gesamt- 
resultate  in  die  Komponenten  zu  zerlegen,  da  nur  dadurch  ein 
richtiger  Einblick  in  die  ursächlichen  Zusammenhänge  geboten 
wird.  Die  Zunahme  der  Vergiftungsfälle  in  den  Zinkhütten  und 
die  besonders  starke  Abnahme  in  den  Bleihütten  Oberschlesiens 
kommt  in  der  Gesamtstatistik  der  Haupttabelle  nicht  zum  Aus¬ 
druck. 

Die  größte  Zahl  von  Bleivergiftungen  bei  gewerblichen  Ar¬ 
beitern  findet  sich  jedoch  bei  den  Malern.  Auf  die  Angehörigen  dieses 
Berufes  entfällt  fast  ein  Drittel  aller  in  Krankenanstalten  vorkom¬ 
menden  Bleivergiftungsfälle.  Im  untersten  Teile  der  Haupttabelle 
sind  die  Zahlen  für  Krankheitsfälle  und  Krankheitstage  sowohl  für 
Preußen  wie  auch  als  Beispiel  für  Berlin  angegeben.  Die  Bekannt-, 


210 


J.  Kaup, 


machung  des  Bundesrats  betreffend  die  Einrichtung  und  den  Betrieb 
von  Malerbetrieben  trat  am  1.  Januar  1906  in  Kraft.  Die  Ver¬ 
ordnung  erschien  bereits  im  Frühsommer  1905,  so  daß  die  Gewerbe¬ 
aufsichtsbeamten  wie  die  Interessenten  bereits  im  Sinne  dieser 
Verordnung  tätig  sein  konnten.  Vor  dem  Erscheinen  hielt  sich  die 
Zahl  der  Bleivergiftungen  bei  den  Malern,  Anstreichern  und  Lackierern 
etwa  in  der  Höhe  von  400  Fällen.  Im  Jahre  1895  waren  es  347,  1899 
460,  1900  378,  1902  399,  und  in  den  Jahren  1904 — 05  391,  bzw. 
390.  Im  Jahre  1906  jedoch  ist  bereits  ein  Kückgang  von  mehr  als 
100  Fällen  ein  getreten,  der  auch  in  den  Jahren  1907  und  1908  anhielt. 
Dieselbe  Erscheinung  ist  auch  für  die  Maler  Berlins  zu  finden. 
Allerdings  ist  hier  der  Rückgang  im  Jahre  1906  noch  gering,  ver¬ 
größert  sich  jedoch  in  den  folgenden  Jahren.  Wenn  auch  nicht 
etwa  wie  in  Bleiweißfabriken,  in  Blei-  und  Zinkhütten  das  Maler¬ 
gewerbe  in  irgendeinem  Bezirk  oder  einer  Stadt  zusammen¬ 
geballt  ist  und  Berlin  nur  etwa  den  dritten  Teil  aller  Bleiver¬ 
giftungsfälle  bei  Malern  aufweist,  so  ist  doch  auch  durch  den 
Verlauf  der  Fälle  in  Berlin  ein  guter  Einblick  geboten;  denn  in 
anderen  Bezirken,  wie  z.  B.  Potsdam,  Hessen-Nassau,  Wiesbaden 
und  Rheinprovinz  ist  vom  Jahre  1905  an  ein  ganz  ähnlicher  Rück¬ 
gang  der  Vergiftungsfälle  zu  konstatieren. 

In  Österreich  ist  eine  Malerverordnung  seit  dem  Jahre  1908 
in  Kraft.  In  Wien  ereigneten  sich  seit  jeher  weitaus  die  meisten 
Bleivergiftungsfälle  bei  Malern.  Hier  sind  gute  Angaben  in  den 
Ausweisen  der  Genossenschaftskrankenkasse  der  Maler  und  An¬ 
streicher  zu  finden  gewesen.  In  einer  besonderen  Tabelle  ist  der  Ver¬ 
such  gemacht,  die  Erkrankungsverhältnisse  der  Maler,  Anstreicher 
und  Lakierer  in  Berlin  und  Wien  vergleichend  darzustellen. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

In  den  Jahren  1904 — 05  ist  die  Zahl  der  Bleivergiftungsfälle 
für  die  Berliner  Maler  mit  610,  bzw.  523  (in  den  Krankenan¬ 
stalten  je  109)  außerordentlich  hoch  gewesen.  Seit  dem  Jahre 
1906,  bzw.  eigentlich  schon  1905  ist  ein  gleichmäßiger  Rückgang 
zu  finden,  der  namentlich  innerhalb  der  Jahre  1907  und  1908  fast 
100  Fälle  betrug.  Vergleicht  man  wieder  Maximum  und  Minimum, 
so  kann  für  die  Berliner  Maler  berechnet  werden,  daß  der  Prozent¬ 
satz  der  Bleivergiftungen  auf  100  Mitglieder  von  rund  10  Proz. 
auf  ungefähr  5  Proz.,  also  um  50  Proz.  gesunken  ist.  In  Wien 
war  die  Zahl  der  Bleivergiftungsfälle  jetzt  etwas  geringer,  auch 
hier  ist  der  Prozentsatz  von  etwa  6  auf  3,5,  also  auch  beinahe  um 
die  Hälfte,  abgesunken.  Allerdings  sind  die  Verordnungen  für 


Erkrankungsverhältnisse  der  Maler,  Anstreicher  und  Lackierer  in  Berlin  und  Wien. 

(a  =  Krankheitsfälle,  b  =  Krankheitstage.) 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  211 


a 

03 

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a 

a 

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a 

7t 

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Sh 

03 

a 

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a 

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03 

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a 

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a 

03 


Sh 

03 

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Wien 

03  CO 
C-  rH 
03 

00  70 
70  t>- 
t>* 

106 

1386 

82 

1102 

96 

1343 

119 

2016 

113 

1415 

128 

1431 

a 

03  O 

03  03 

sO  O- 

70  00 

00  70 

O  CO 

sO  CO 

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•  pH 

03  70 

i— 1  70 

rH  lO 

rH  t-H 

rH  lO 

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03  C- 

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rH  70 

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rH  rH 

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rH  D- 

03 

CO 

03 

03 

03 

CO 

03 

CO 

Sh 

05 

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•  pH 

'S) 

•  pH 

k-H 

Wien 

5,1 

105,7 

t>*  1-^ 

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03 
t-H 

5,3 

101,6 

6,9 

155,8 

5,5 

129,9 

t>  so 
rHOf 

o 

rH 

3,9 

82,6 

3,5 

80,9 

o 

o 

a 

•  pH 

C-  03 

03  CO 

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CO  o 

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03 

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rH 


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03  70 

rH  r- 

co 


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sO  O 
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sO 


00  03 
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03  03 
rH 


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CO 


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03 


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X  X 

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03  03 

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X 

X 

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rH 

rH 

rH 

rH 

rH 

rH 

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rH 

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X 

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rH 

212 


J.  Kaup, 


Deutschland-Preußen  und  für  Österreich-Wien  erst  so  kurze  Zeit 
in  Kraft,  daß  man  noch  nicht  behaupten  kann,  daß  dieser  Rückgang 
als  bleibender  anzusehen  ist.  Die  Wahrnehmungen  bei  den  Blei¬ 
weißfabrikarbeitern  und  Zinkhüttenarbeitern  mahnen  zur  Vor¬ 
sicht.  Manche  Erfahrungen  lassen  die  Anschauung  gerechtfertigt 
erscheinen,  daß  es  oft  mehr  auf  die  Einsicht  der  Betriebsleitungen 
als  auf  den  Wortlaut  einer  Verordnung  ankommt,  um  gewerbliche 
Vergiftungen  dauernd  auf  einem  Minimum  zu  erhalten.  Der  frühere 
Hinweis  auf  die  Tätigkeit  der  Kgl.  Friedrichshütte  in  Tarnowitz 
ist  ein  Beweis  hierfür. 

Ein  ähnliches  Beispiel  liegt  für  die  große  Akkumulatorenfabrik 
in  Hagen  vor.  Eine  besondere  Bekanntmachung  des  Bundesrates 
vom  Jahre  1897  regelte  die  Einrichtung  und  den  Betrieb  von  An¬ 
lagen  zur  Herstellung  elektrischer  Akkumulatoren  aus  Blei-  und 
Bleiverbindungen.  Die  Hagener  Fabrik  ist  nicht  nur  das  größte 
Etablissement  dieser  Art  in  Deutschland,  sondern  überhaupt  in  der 
Welt.  Die  Erkrankungsverhältnisse  und  namentlich  die  Häufigkeit 
von  Bleivergiftungen  in  diesem  Betriebe  sei  hier  in  einer  besonderen 
Tabelle  zur  Darstellung  gebracht. 


Gesundheitsverhältnisse  der  Arbeiter  einer  großen 

Akkumulatorenfabrik. 


Gesamtzahl  der  Arbeiter 

Es 

kamen  auf  100 

Jahr 

die  mit  Blei- 

Arbeiter  überhaupt 

Bleiarbeiter 

überhaupt 

Produkten  zu 

Er- 

Bleier- 

Bleier= 

tun  haben 

krankungen 

krankungen 

krankungen 

1897 

664 

189 

59,00 

21,11 

10,20 

1898 

648 

237 

49,64 

7,83 

4,27 

1899 

967 

316 

52,95 

2,95 

1,56 

1900 

971 

298 

47,47 

2,01 

1,30 

1901 

915 

237 

43,50 

1,26 

0,75 

1902 

926 

216 

42,22 

2,31 

1,27 

1903 

1040 

263 

40,76 

1,74 

1,18 

1904 

1470 

374 

44.96 

2,14 

1,21 

1905 

2270 

419 

42,91 

1,91 

0,80 

1906 

2588 

465 

40,22 

1,52 

0,67 

1907 

2851 

461 

43,63 

1,30 

0,48 

1908 

2914 

426 

50,58 

1,17 

0,34 

Im  Jahre  1897,  in  dem  die  Verordnung  erschien,  wurden  40 
Bleivergiftungsfälle  mit  724  Krankheitstagen  gezählt.  Im  folgenden 
Jahre  1898  waren  es  nurmehr  18  Fälle  mit  272  Tagen  und  seitdem 
ist  die  Zahl  der  Vergiftungsfälle  im  Durchschnitt  etw^a  7  mit  kaum 
100  Krankheitstagen.  Fortlaufende  ärztliche  Untersuchungen  und 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  213 

eine  genaue  Kontrolle  der  gefährdeten  Arbeiterschaft  sichern  hier 
einen  bleibenden  Erfolg. 

Ein  Teil  von  Betrieben ,  in  denen  Bleivergiftungsfälle  in 
größerer  Häufigkeit  vorzukommen  pflegen,  gehört  zur  chemischen 
Industrie.  Auf  einige  Betriebsgruppen  der  chemischen  Industrie 
wollen  wir  noch  näher  eingehen.  Die  besondere  Gefährlichkeit 
einiger  Produktionsprozesse  hat  auch  den  Bundesrat  auf  Grund 
der  Gewerbeordnung  zur  Herausgabe  besonderer  Vorschriften  ver¬ 
anlaßt.  Im  Jahre  1902  erschien  eine  Bekanntmachung  betr.  die 
Einrichtung  und  den  Betrieb  gewerblicher  Anlagen  zur  Vulkani¬ 
sierung  von  Gummiwaren,  im  Jahre  1807  betr.  die  Einrichtung  in 
Betrieben  von  Anlagen  zur  Herstellung  von  Alkalichromaten  und 
im  Jahre  1909  betr.  die  Einrichtung  und  den  Betrieb  gewerblicher 
Anlagen,  in  denen  Thomasschlacke  gemahlen  oder  Thomasschlacken¬ 
mehl  gelagert  wird  und  schließlich  im  Jahre  1911  vom  Reichsamt 
des  Innern  Grundsätze  über  die  Herstellung  und  Verarbeitung  ge¬ 
sundheitsschädlicher  Nitro-  und  Amidoverbindungen.  Zum  Teile 
gehören  hierher  auch  die  Vorschriften  über  die  x4nlage  und  den 
Betrieb  von  Schwarzpulverfabriken,  zur  Herstellung  gelatinierten 
rauchschwachen  Pulvers,  von  Nitroglyzerin-hältigen  Sprengstoffen 
und  Prikinsäurefabriken  und  von  Acethylenfabriken. 

Hinsichtlich  des  Erfolges  der  Bekanntmachung  für  Gummi- 
warenfabriken  liegen  besondere  Statistiken  nicht  vor.  Einen  be¬ 
stimmten  Einblick  gewähren  Angaben  in  der  Publikation  über  die 
Leipziger  Ortskrankenkassenstatistik.  Die  Ergebnisse  dieser  Be¬ 
rechnungen  für  die  Arbeitspersonen  in  Gummiwarenfabriken,  von 
denen  gerade  in  Leipzig  eine  große  Zahl  zu  finden  ist,  sind  in  der 
folgenden  Tabelle  dargestellt. 


Arbeiter  in  Gummiwarenfabriken. 
(Nach  der  Leipziger  O.-Kr.-K.-Statistik.) 


Auf  100  Mitglieder  entfallen 

Mitglieder  Krankheitsfälle  Krankheitstage  Todesfälle 


Alter : 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

Insges. 

2228 

2292 

46,7 

59,6 

1028 

1494 

0,9 

0,8 

unter  15 

33 

8 

48,5 

37,5 

1154 

550 

— 

— 

15—24 

1042 

1383 

53,9 

53,9 

998 

1182 

0,5 

0,5 

24—34 

760 

714 

40.9 

73,8 

934 

2099 

1,2 

1,1 

35-44 

294 

164 

35,7 

48,2 

1126 

1399 

0,7 

0,6 

45 — 54 

73 

23 

48,0 

60,9 

1522 

2439 

4,1 

13,0 

55—64 

12 

— 

33,3 

— 

1608 

— 

— 

— 

65—74 

9 

— 

66,7 

— 

1944 

— 

11,1 

— 

75  usw. 

5 

— 

40,0 

— 

4640 

— 

— 

* 


214 


J.  Kaup, 


Die  Tabelle  zeigt  zunächst,  daß,  ähnlich  wie  in  der  Textil¬ 
industrie  in  dieser  Industrie  die  Frauenarbeit  vorherrscht;  namentlich 
in  der  Altersgruppe  vom  15. — 24.  Lebensjahre  überwiegen  weitaus 
weibliche  Arbeiter.  Die  Erkrankungshäufigkeit  gerade  für  diese 
Altersgruppe  ist  bei  Männer  und  Frauen  gleich  hoch.  In  der 
nächsten  Altersgruppe  vom  25.-34.  Lebensjahre  ist  sie  bei  den 
Frauen  beträchtlich  höher  und  in  den  folgenden  Altersgruppen 
bietet  sich  dasselbe  Bild.  Ein  noch  größerer  Unterschied  ist  hin¬ 
sichtlich  der  Krankheitstage  zu  finden.  Es  ergibt  sich  hier  wieder 
die  Erscheinung,  daß  in  allen  Betrieben  mit  gesundheitsgefährlichen 
Verrichtungen  Frauen  ungleich  leichter  geschädigt  werden  können 
als  Männer.  Im  allgemeinen  ist  das  Erkrankungsprozent  wie  die 
Zahl  der  Krankentage  für  Männer  und  Frauen  ziemlich  beträcht¬ 
lich  höher  als  im  Mittel  industrieller  Arbeiter.  Da  die  Leipziger 
Statistik  die  Materialien  für  etwa  17  Jahre  zusammenfaßt  (1885 
bis  1903)  so  konnte  in  dieser  Krankheitsstatistik  ein  Erfolg  der 
Bundesratsverordnung  nicht  zum  Ausdrucke  kommen. 

Bessere  Anhaltspunkte  sind  für  die  Arbeiter  von  Betrieben, 
in  denen  Alkalichromate  hergestellt  werden,  vorhanden.  Über  die 
Gesundheitsschädigungen  in  diesen  Betrieben  ist  vor  kurzem  eine 
Arbeit  von  R.  Fischer  erschienen.1) 

F.  hat  durch  eine  Reihe  von  Einzeluntersuchungen  für  ver¬ 
schiedene  Betriebe  die  Ursachen  der  einzelnen  Krankheitsfälle  mit 
der  Einrichtung  und  Arbeitsweise  in  Beziehung  gebracht,  und  nach 
dem  Grundsätze,  daß  nur  von  Jahr  zu  Jahr  fortgesetzte  Vergleiche 
des  Gesundheitszustandes  der  Arbeiterschaft  ein  und  desselben  Be¬ 
triebes  eine  gute  Unterlage  für  eine  erfolgreiche  Bekämpfung  der 
etwaigen  Mängel  geben  könne,  genauere  statistische  Zusammen¬ 
stellungen  versucht.  Zahlreiche  Detailtabellen  eignen  sich  nicht 
zur  Wiedergabe.  Die  wesentlichsten  Resultate,  namentlich  hin¬ 
sichtlich  eines  Vergleiches  der  Chromatarbeiter  großer  chemischer 
Betriebe  mit  verhältnismäßig  wenig  gefährdeten  Hofarbeitern  und 
Professionisten  dieser  Betriebe  sind  in  der  folgenden  Tabelle 
zusammengefaßt. 


0  Die  industrielle  Herstellung  und  Verwendung  der  Chrom  Verbindungen,  die 
dabei  entstehenden  Gesundheitsgefahren  für  die  Arbeiter  und  die  Maßnahmen  zu 
ihrer  Bekämpfung.  Berlin,  A.  Seydel,  1911.  Schriften  %des  Instituts  für  Gewerbe¬ 
hygiene.  Frankfurt  a.  M. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  215 


Gesundheitsverhältnisse  in  mehreren  Chromatbetrieben 

(nach  Fischer). 


Jahr 

Auf  100  Arbeiter  entfielen 

Hautleiden 

Innere  Erkrankungen 

Erkrankungen 

insgesamt 

bei  den  Hof¬ 
arbeitern  und 
Handwerk. 

bei  den  Chro¬ 
mat  arb  eitern 

bei  den  Hofarbeitern 
und  Handwerkern 

bei  den  Chromat¬ 
arbeitern 

bei  den  Hof¬ 

arbeitern  und 
Handwerk. 

bei  den  Cliro- 

matarbeitern 

Fälle 

Tage 

Fälle 

Tage 

1899—1900 

7,5 

35,0 

34,1 

500 

68,7 

705 

41,6 

103,7 

1900—01 

8,3 

48,0 

37,6 

546 

75,0 

1005 

45,9 

123,0 

1901-02 

21,0 

30,0 

587 

29,0 

328 

37,4 

50,0 

1902—03 

5,1 

19,6 

40,4 

536 

59,0 

660 

45,4 

78,6 

1903—04 

4,5 

31,5 

25,9 

399 

78,5 

1259 

30,4 

110,0 

1904—05 

6,6 

11,6 

35,9 

464 

50  0 

540 

42,5 

61,6 

1905—06 

7,3 

34,7 

27,2 

439 

67,4 

1219 

34,5 

102,1 

1906-07 

7,8 

34,5 

40,5 

638 

52,8 

990 

48,3 

87,3 

1907—08 

10,3 

51,0 

53,0 

724 

74,5 

940 

63,3 

125,5 

1908-09 

4,0 

28,0 

32,5 

637 

73,5 

1200 

36,5 

101,5 

Durchschn. 

6,9 

31,5 

35,6 

547,1 

62,8 

887,7 

42,5 

94,3 

Die  Summe  der  inneren  und  äußeren  Erkrankungen  für  die 
Chromatarbeiter  ist  für  die  einzelnen  Jahrgänge  ganz  wesentlich 
höher  als  für  die  ungefährdeten  Arbeiter  —  mehr  als  doppelt  so 
hoch.  —  Vergleicht  man  im  speziellen  die  Erkrankungszitfern  für 
äußere  Erkrankungen,  so  sind  diese  bei  den  Chromatarbeitern  etwa 
fünfmal  so  hoch,  während  der  Unterschied  für  innere  Krankheiten 
wesentlich  geringer  ist.  Chromatarbeiter  haben  etwa  80  Proz. 
höhere  Erkrankungsziffern  für  innere  Krankheiten  als  die  weniger 
gefährdeten  Hofarbeiter  und  Professionisten.  Das  wichtigste  Er¬ 
gebnis  dieser  Tabelle  liegt  darin,  daß  innerhalb  dieser  letzten  zehn 
Jahre  trotz  der  beiden  Verordnungen  ein  Rückgang  der  Erkrankungs¬ 
ziffern  kaum  eingetreten  ist.  Innere  Erkrankungen  haben  sogar 
etwas  zugenommen.  Vergleicht  man  noch  die  Zahl  der  Kranken¬ 
tage  an  inneren  Erkrankungen  für  Chromatarbeiter  und  unge¬ 
fährdete  Arbeiter,  so  sind  diese  Zahlen  für  100  Arbeiter  mit  im 
Mittel  888  gegenüber  etwa  547  bei  den  ungefährdeten  Arbeitern 
um  etwa  60  Proz.  höher.  Hinsichtlich  der  Zahl  der  Krankheits¬ 
tage  macht  es  jedoch  den  Eindruck,  als  wenn  deren  Zahl  von 
Jahr  zu  Jahr  höher  geworden  wäre.  So  betrug  dieselbe  für  die 
Chromatarbeiter  an  inneren  Erkrankungen  allein  in  den  Jahren 
1899 — 02  579  und  in  den  Jahren  1906—09  1073;  also  fast  doppelt 
soviel,  während  die  Zunahme  der  Krankheitstage  für  die  ungefähr¬ 
deten  Hofarbeiter  und  Professionisten  eine  wesentlich  geringere  ist. 


216 


J.  Kaup, 


In  besonderen  Tabellen  hat  F.  jedoch  auch  die  einzelnen  Er¬ 
krankungsformen  für  innere  Krankheiten  für  die  verschiedenen 
in  Betracht  kommenden  Gruppen  verglichen  und  hierbei  fest¬ 
gestellt,  daß  z.  B.  von  den  Chromatarbeitern  im  Mittel  dieser 
10  Jahre  21  Proz.  durch  Erkrankungen  der  Atmungsorgane  er¬ 
werbsunfähig  wurden,  hingegen  von  den  ungefährdeten  Arbeitern 
nur  11  Proz.  In  ähnlicher  Weise  wurde  auch  an  Erkrankungen 
der  Verdauungsorgane  für  die  Chromatarbeiter  eine  Erkrankungs¬ 
häufigkeit  von  20  Proz.,  für  die  Hofarbeiter  und  Professionisten 
eine  solche  von  11  Proz.  festgestellt.  Einen  Vergleich  der  Er¬ 
krankungshäufigkeit  der  Chromatarbeiter  mit  anderen  gefährdeten 
Arbeitergruppen  werden  wir  später  noch  ziehen  können.  F.  gibt 
in  seinen  Tabellen  jedoch  auch  eine  Beihe  von  besonderen  Erkran¬ 
kungsarten  an,  so  über  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  von  Per¬ 
forationen  der  Nasenscheidewand  (bei  etwa  70  Proz.  der  Arbeiter 
in  Chromatbetrieben)  Verbrennungen,  Verätzungen  durch  Chromate, 
Chromgeschwüre  usw.  Für  mehrere  Chromgerbereien  mit  im  Durch¬ 
schnitte  2800  männlichen  Arbeitern  wurden  folgende  Erkrankungs¬ 
ziffern  nach  den  F.’schen  Einzelangaben  für  die  letzten  Jahre  berechnet. 

Gesundheitsverhältnisse  in  einer  großen  Chromgerberei 

(nach  Fischer). 


Jahr 

Durchschnitt¬ 
liche  Mit¬ 
gliederzahl 
(männliche) 
der  Betriebs^ 
krankenkasse 

Erkrankung! 

Fälle 

Auf  100  Arbe 

3n  insgesamt 

Tage 

iter  entfallen 

Chromater] 
der  Hände 

Fälle 

irankungen 
und  Arme 

Tage 

1904 

2792 

67,47 

1414,43 

3,01 

19,02 

1905 

2830 

70,07 

1334,52 

5,12 

115,48 

1906 

2780 

59,35 

1058.20 

1,97 

35,87 

1907 

2792 

64,11 

1327,76 

1,18 

17,19 

1908 

2787 

67,20 

1660,35 

0,86 

12,89 

Durchschnitt 

2796 

65,64 

1359,05 

2,43 

40,09 

Auch  hier  ist  vor  allem  das  Erkrankungsprozent  mit  im 
Mittel  66  Proz.  und  1359  Krankheitstagen  außerordentlich  hoch. 
Auch  läßt  sich  keine  Verbesserung  in  den  letzten  Jahren  kon¬ 
statieren.  Der  Anteil  der  Chromaterkrankungen  der  Hände  und 
Arme  in  diesen  Gesamterkrankungen  ist  allerdings  gering.  Doch 
ist  hier  die  Bemerkung  berechtigt,  daß  dieser  Anteil  nur  durch 
genaueste  ärztliche  Feststellungen  und  durch  einwandfreie  Ver¬ 
gleichszahlen  sicher  berechnet  werden  kann.  Einstweilen  ist  die 
Tatsache  einer  hohen  Erkrankungshäufigkeit  der  Arbeiter  in  Chrom- 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  217 

gerbereien  maßgebend.  Auch  der  Hinweis  F.’s,  daß  in  anderen 
Chromgerbereien  die  Chromatarbeiter  kaum  wesentlich  mehr  Er¬ 
krankungen  an  Haut-  und  Nierenleiden  aufweisen  als  sämtliche 
Arbeiter  einer  Gerberei,  läßt  eine  sichere  Schlußziehung  nicht  zu. 

Über  die  Gesundheitsverhältnisse  in  Tliomassclilackeiimülilen 
bringen  die  Gewerbeaufsichtsbeamten  seit  mehreren  Jahren  krank¬ 
heitsstatistische  Angaben,  die  in  der  nachfolgenden  Tabelle  für  die 
Kegierungsbezirke  Arnsberg  und  Düsseldorf  übersichtlich  zusammen¬ 
gestellt  sind. 


Erkrankungsverhältnisse  in  sechs  größeren  Thomasschlackenmühlen. 

(Nach  deu  preuß.  Gewerbeaufsichtsberichteu.) 


Regierungs¬ 

bezirk 

Betrieb 

Jahr 

Durch¬ 

schnittliche 

Arbeiterzahl 

Im  Durchschnitt  entfielen  auf  100  Arbeiter 

im  ganzen  Kranken- 

Erkrankungen  der 
Atmungsorgane 

Todesf .  an 

Lungen- 

entzündg. 

Fälle 

Tage 

Fälle 

Tage 

' 

T 

1910 

53 

53 

1340 

26 

999 

1 

1909 

50 

28 

460 

16 

326 

__ 

Arnsberg 

TT 

1910 

84 

96 

2257 

58 

1636 

1 

n 

1909 

73 

70 

1425 

30 

505 

— 

1910 

92 

104 

1832 

32 

474 

3 

1909 

102 

97 

1341 

33 

547 

1 

III 

1908 

92 

51 

551 

27 

284 

— 

1907 

76 

67 

752 

29 

447 

1 

1906 

80 

64 

1110 

24 

549 

1 

1910 

161 

61 

1183 

11 

228 

7 

1909 

157 

85 

1278 

30 

396 

7 

IV 

1908 

165 

71 

858 

21 

360 

0,5 

1907 

162 

134 

1692 

54 

827 

6 

1906 

133 

138 

1355 

54 

582 

2 

Düsseldorf 

1910 

98 

160 

1705 

73 

929 

1 

T  7 

1909 

99 

123 

1401 

52 

530 

2 

V 

1908 

108 

110 

1439 

61 

842 

1 

1907 

75 

74 

861 

29 

364 

4 

1906 

110 

77 

733 

42 

398 

2 

1910 

130 

52 

1055 

14 

381 

1 

1909 

72 

68 

1094 

13 

393 

4 

VI 

1908 

68 

85 

711 

11 

111 

— 

1907 

82 

70 

704 

10 

90 

4 

1906 

65 

66 

603 

9 

77 

4 

Die  Erkrankungshäufigkeit  ist  in  allen  diesen  sechs  Betrieben 
auch  noch  in  den  letzten  Jahren  recht  hoch  gewesen,  und  namentlich 
war  die  Zahl  der  Krankentage  sehr  bedeutend.  Die  Entwicklung  ist 
in  den  einzelnen  Betrieben  eine  sehr  verschiedene.  Im  Betriebe  II 


218 


J.  Kaup, 


eine  hohe  Erkrankungshäufigkeit  in  den  zwei  letzten  Jahren, 
namentlich  im  Jahre  1910  und  insbesondere  eine  sehr  hohe  Zahl 
von  Krankheitstagen.  Im  Betriebe  III  scheinen  die  Gesundheits- 
Verhältnisse  von  Jahr  zu  Jahr  schlechter  geworden  zu  sein.  Ebenso 
im  Betriebe  V,  in  dem  der  Anteil  an  Erkrankungen  der  Atmungs¬ 
organe  am  höchsten  ist;  hingegen  ist  im  Betriebe  IV  seit  den 
Jahren  1907,  allerdings  mehr  nach  der  Erkrankungshäufigkeit  als 
nach  der  Zahl  der  Krankentage  eine  fortschreitende  Besserung 
ersichtlich.  Auch  die  Erkrankungen  der  Atmungsorgane  haben 
hier  wesentlich  abgenommen.  Der  Betrieb  VI  hat  in  den  letzten 
fünf  Jahren  ungefähr  die  gleiche  Erkrankungshäufigkeit,  doch  eine 
zunehmende  Zahl  von  Krankheitstagen  auch  hinsichtlich  der 
Erkrankungen  der  Atmungsorgane  gezeigt.  Wie  bereits  erwähnt, 
sind  im  Jahre  1909  schärfere  Bestimmungen  über  Thomasschlacken¬ 
mühlen  erlassen  worden.  Die  Erfolge  dieser  Bekanntmachung  können 
auf  Grund  der  Krankheitsangaben  nur  für  1910  noch  nicht  be¬ 
urteilt  werden. 

Für  verschiedene  gesundheitsgefährliche  Produktionsprozesse 
in  der  chemischen  Industrie  sind  erst  wenig  zusammenfassende 
Arbeiten  vorhanden. 

Eine  sehr  instruktive  Arbeit  nach  dieser  Richtung  liegt  von 
Leymann1)  vor.  Die  wesentlichsten  Ergebnisse  der  Leymann- 
schen  Betrachtungen  und  Zusammenstellungen  sind  der  Kürze 
halber  in  einer  besonderen  Tabelle  dargestellt. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Um  die  Entwicklung  der  Gesundheitsverhältnisse  beurteilen 
zu  können,  wurden  mit  I  und  II  die  Jahresgruppen  1894—99  und 
1899—1904  gebildet.  Von  den  einzelnen  Abteilungen  dieser  Gro߬ 
betriebe  wurden  die  Abteilungen  mit  weniger  gefährlichen  Arbeiten 
in  der  Gruppe  a  zusammengestellt  und  dann  noch  mit  den  Gruppen 
b,  c,  d  und  e  die  Hauptabteilungen  hervorgehoben.  Die'  Er¬ 
krankungshäufigkeit  in  den  einzelnen  Abteilungen  ist  recht  ver¬ 
schieden:  Am  geringsten  stets  in  der  Abteilung  a,  am  höchsten  in 
den  Abteilungen  d  und  e  (Anilinbetriebe  und  Trinitrophenolbetriebe). 
Leider  zeigt  sich  nirgends  innerhalb  der  beiden  Jahresgruppen 
eine  Verbesserung  der  Gesundheitsverhältnisse.  Die  Erkrankungs¬ 
häufigkeit  in  den  beiden  letzterwähnten  besonders  gesundheits¬ 
gefährlichen  Abteilungen  ist  sogar  außerordentlich  hoch  und  bis 


0  Erkrankungsverhältnisse  in  einigen  chemischen  Betrieben.  Concordia  1906. 
Carl  Heymann’s  Verlag.  Berlin. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  219 


Erkrankungsverhältnisse  in  einem  Betriebe  der  chemischen 

Großindustrie 

(nach  Leymann). 


Zeitab- 

Arb.  aller 

Arbeiter  in  den 

Betrieben 

schnitt 

Betriebe 

a 

b 

c 

d 

e 

Durchschnitt!  Arbeiterzahl 

I 

1515 

782 

136 

41 

95 

23 

pro  Jahr 

II 

1609 

660 

168 

53 

166 

42 

Gesamterkrankungen 

I 

72,5 

50,4 

63,7 

81,9 

122,5 

115,0 

(auf  100  Arbeiter) 

II 

83,5 

70,7 

72,5 

125,4 

128,2 

196,4 

Gesamtkrankentage 

I 

992,4 

700,1 

887,8 

1374,0 

1639,6 

1635,0 

(auf  100  Arbeiter) 

II 

1167,3 

1002,8 

1111,1 

1647,7 

1525,4 

2307,5 

Innere 

K  r  a  n  k  h 

eiten 

Fälle  (auf  100  Arbeiter) 

1 

II 

36,2 

45,1 

21,0 

35,1 

36,8 

41,1 

45,2 

63,1 

89,8 

79,4 

76,7 

129,7 

Tage  (auf  100  Arbeiter) 

I 

II 

523.8 

655^2 

351.8 

546,0 

499,5 

607,4 

845,2 

818,4 

1177,3 

971,8 

1209,2 

1538,7 

Bespirationsorgane 

Digestionsorgane 

Intoxikationen 

Fälle  (auf  100  Arbeiter) 
Tage  (auf  100  Arbeiter) 

Verbrennungen 
Andere  Verletzungen 
Bewegungsorgane 
Haut 


darunter  Fälle  (Proz.): 


I 

9,9 

5,5 

10,1 

15,5 

11,9 

22.8 

II 

12,4 

9,1 

14,3 

18,7 

12,9 

44,0 

I 

14,9 

9,5 

14,9 

14,4 

34,7 

41,9 

II 

16,4 

12,9 

12,4 

17,2 

34,6 

48,8 

I 

2,3 

0,1 

— 

30,7 

— 

II 

1,6 

0,2 

— 

— 

13.7 

3,6 

Äußere  Krankheiten 


I 

36,3 

29,4 

26,9 

36,7 

32,7 

38,4 

II 

38,4 

35,6 

31,4 

62,3 

48,8 

66,7 

I 

468,6 

348,3 

388,4 

528,8 

462,3 

425,8 

II 

512,1 

456,8 

503,7 

829,3 

553,6 

768,8 

darunter  Fälle  (Proz.) 


I 

3,4 

1,0 

6  6 

6,7 

4,8 

6,7 

II 

2,4 

0,8 

6,1 

14,4 

2,7 

9,5 

I 

13,7 

13,0 

7,5 

7,2 

12.8 

15,2 

II 

12,8 

15,5 

10,1 

14,8 

11,2 

14,5 

I 

10,6 

7,9 

8,2 

14,4 

5,5 

8,5 

II 

11.0 

10,9 

10,3 

12,5 

7,1 

3,6 

I 

7,2 

5.9 

3,5 

8,3 

8.2 

7,6 

II 

9,3 

6,7 

3,4 

16,3 

24,8 

35,7 

Betriebsgruppe  a)  umfaßt:  Tagelöhner,  Schreiner,  Schlosser,  Schmiede, 

Heizer  u.  ä. ; 

b)  Schwefel-  und  Salpetersäurebetrieb; 

c)  Chromatbetrieb; 

d)  Anilinbetrieb; 

e)  Trinitrophenolbetrieb. 

Die  Zeitperiode  I  umfaßt  die  Jahre  1894 — 1899, 

II  „  „  „  1899—1904. 

Die  Zeitperiode  II  in  der  Gruppe  e)  umfaßt  nur  die  Jahre  1899 — 1901. 


220 


J.  Kaup, 


zu  den  Jahren  1899 — 1904  noch  weiter  gestiegen.  Ebenso  ist 
namentlich  die  Zahl  der  Krankentage  in  der  Abteilung  e  in  der 
späteren  Jahresgruppe  höher  geworden,  in  der  Abteilung  d  hin¬ 
gegen  etwas  niedriger.  In  den  anderen  Abteilungen  zeigt  sich 
ebenso  eine  Zunahme  der  Zahl  der  Krankentage.  An  dieser  Ver¬ 
schlechterung  der  Gesundheitsverhältnisse  in  den  einzelnen  Ab¬ 
teilungen  des  chemischen  Großbetriebes  nehmen  sowohl  innere 
Krankheiten,  wie  äußere  ziemlich  gleichmäßigen  Anteil.  Hinsicht¬ 
lich  der  Erkrankungshäufigkeit  ist  der  Prozentsatz  ebenso  wie  für 
die  Zahl  der  Krankentage  für  innere  Erkrankungen  in  der  Ab¬ 
teilung  d  bis  zu  den  Jahren  1899 — 04  geringer  geworden.  Die 
Tabelle  gibt  auch  Aufschluß  über  die  hauptsächlichsten  inneren  Er¬ 
krankungen  (Erkrankungen  der  Respirations-  und  Digestionsorgane 
und  Intoxikationen)  und  auch  äußeren  Erkrankungen. 

Im  Anilinbetriebe  ist  der  Prozentsatz  der  Intoxikationen  er¬ 
freulicherweise  gesunken.  Bei  Betrachtung  der  einzelnen  äußeren 
Krankheiten  fällt  die  starke  Zunahme  des  Erkrankungsprozents 
auf  für  Erkrankungen  der  Haut  in  den  Abteilungen  d  und  e,  aber 
auch  bei  c.  Leymann  verdanken  wir  noch  eine  besondere  Dar¬ 
stellung  der  „Er.krankungsverhältnisse  in  einer  Anilinfarben¬ 
fabrik“.  *)  Auch  aus  dieser  Arbeit  sind  die  wichtigsten  Ergebnisse 
in  einer  Tabelle  zusammengestellt. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Die  Trennung  der  einzelnen  Arbeitergruppen  war  hier  eine 
einfachere,  da  nur  die  eigentlichen  Fabrikarbeiter  von  den  Hof¬ 
arbeitern,  Handwerkern  und  Lagerarbeitern  getrennt  werden 
mußten.  Hier  wurden  die  Zahlen  für  je  drei  Jahre  und  zwar  für 
die  Jahresgruppen  1899  —  1902  und  1903—06  zusammengefaßt.  Im 
oberen  Teile  der  Tabelle  sind  die  durchschnittlichen  Arbeiterzahlen 
für  die  einzelnen  Abteilungen  und  für  die  Gesamtheit  die  Er¬ 
krankungsprozente  und  die  Zahl  der  Kranken  tage  angegeben.  Das 
Resultat  ist  hier  günstiger:  für  die  Gesamtheit  der  Fabrikarbeiter 
innerhalb  der  beiden  Jahresgruppen  ein  geringer  Rückgang, 
wenn  auch  für  die  späteren  Jahresgruppen  das  Erkrankungsprozent 
mit  66,3  noch  recht  hoch  ist.  Leider  zeigte  es  sich  jedoch,  daß 
die  Gesundheitsverhältnisse  der  Arbeiter  in  den  Mühlen  und  Lager¬ 
räumen  ganz  beträchtlich  schlechter,  die  der  eigentlichen  Fabrik¬ 
arbeiter  mindestens  nicht  besser  geworden  sind.  Auch  die  Zahl 
der  Krankentage  für  die  einzelnen  Personen  hat  zugenommen. 


9  Concordia,  Nr.  17,  1910. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen. 


991 

i-lUi  J- 


Erkrankungsverhältnisse  in  einer  Anilinfarbenfabrik. 

(Nach  Leymann.) 


Zeit¬ 

abschnitt 

Fabrik¬ 

arbeiter 

insgesamt 

Hand¬ 

werker 

Hof¬ 

arbeiter 

Arbeiter, 

Mühlen, 

Lager 

Eigentl. 

Fabrik¬ 

arbeiter 

Durchschnittliche 
Arbeiterzahl  pro 
Jahr 

1899- 

1903- 

-02 

-06 

2068 

2171 

398 

383 

413 

532 

300 

293 

907 

953 

Krankheitsfälle  in 

1899- 

-02 

69 

61.1 

79 

55,6 

72,0 

Proz. 

1903- 

-06 

66,3 

58,4 

55,4 

76,4 

72,3 

Krankheitstage  pro 

1899- 

-02 

9,5 

8,9 

11,0 

8,2 

9,6 

Arbeiter 

1903- 

-06 

9,7 

8,6 

8,5 

11,1 

10,4 

Ii 

mere  Kr 

ankh  eit 

en. 

Krankheitsfälle  in 

Proz. 

1899- 

-02 

37,6 

40,8 

60,2 

42,1 

51,9 

darunter : 

1903- 

-06 

36,7 

39,9 

40,9 

59,6 

52,2 

der  Atmungsorgane 

1899- 

1903- 

02 

-06 

12,6 

10,3 

9,1 

7,8 

14,0 

7,0 

10,8 

12,5 

*  13,9 
12,4 

der  Verdauungs- 

1899- 

-02 

17,0 

13,6 

21,2 

14,8 

17.3 

organe 

1903- 

-06 

16,8 

11,9 

16,0 

19,4 

18,9 

Vergiftungen 

1899- 

-02 

0,15 

0,1 

0,06 

0,08 

0,2 

1903- 

-06 

0,10 

0,06 

0,08 

0,18 

Äußere  Kr 

ankheit 

en. 

Krankheitsfälle  in 

1899- 

-02 

18,9 

20,2 

18,9 

13,4 

20,1 

Proz. 

1903- 

-06 

18,0 

18,4 

14,5 

16,9 

20,2 

Verbrennungen 

1899- 

1903- 

-02 

-06 

1,8 

1,5 

2,1 

1,0 

1,8 

0,7 

0,3 

0,7 

2,1 

2,2 

Andere  Verletzun- 

1899- 

-02 

5,1 

7,7 

6,0 

4,2 

3,8 

gen 

1903- 

-06 

5,8 

8,3 

4,8 

4,4 

5,9 

der  Beweguugs- 

1899- 

-02 

1,7 

1,6 

1,5 

1,5 

1,8 

organe 

1903- 

-06 

1,9 

2,0 

1,4 

2,4 

2,1 

Hautkrankheiten 

1899- 

1903- 

-02 

-06 

7.5 

6.5 

6,6 

5,4 

7,1 

5,6 

5,3 

6,6 

8,8 

7,3 

An  diesen  Erscheinungen  tragen  für  die  einzelnen  Fabrikarbeiter 
die  erhöhte  Zahl  an  Erkrankungen  der  Verdauungsorgane  und  für 
die  Mühlen-  und  Lagerarbeiter  ebenfalls  diese  Erkrankungsformen 
und  die  Erkrankungen  der  Atmungsorgane  die  Schuld.  Hinsicht¬ 
lich  der  äußeren  Krankheiten  sind  die  Unterschiede  geringer. 
Immerhin  scheinen  die  Gesundheitsverhältnisse  gerade  in  dieser 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  lü 


222 


J.  Kaup, 


Anilinfarbenfabrik  noch  ziemlich  gut  zu  sein;  denn  nach  Fischer 
konnte  für  die  Anilinabteilung  mehrerer  Großbetriebe  für  die 
( Jahresgruppen  1899 — 1902  ein  Erkrankungsprozent  von  141,  für 
die  Jahresgruppe  1906 — 1909  erfreulicherweise  von  113  Proz.  be¬ 
rechnet  werden.  Für  diese  Betriebe  ist  wenigstens  ein  deutlicher 
Rückgang  zu  verzeichnen,  wenn  auch  das  Erkrankungsprozent 
selbst  noch  überaus  hoch  ist. 

In  den  letzten  Monaten  ist  eine  Zusammenstellung  erschienen,, 
in  der  Curschmann1)  für  einen  Teil  der  Arbeiter  der  chemischen 
Industrie  die  Erkrankungsverhältnisse  für  die  Jahre  1909 — 10 
ziffermäßig  darzustellen  sucht.  Leider  ist  in  dieser  Statistik  kaum 
ein  Viertel  der  gesamten  Arbeiterzahl  (im  Jahre  1910:  222530  Voll¬ 
arbeiter,  bei  C.  nur  50  761)  der  chemischen  Industrie  einbezogen, 
C.  hat  ähnlich  wie  Leymann  die  Arbeiterschaft  in  sieben  Gruppen 
geteilt  und  die  hauptsächlich  gefährdeten  Arbeiter  unterschieden 
in  die  Arbeiter  in  anorganischen  Betrieben  und  in  organischen  Be¬ 
trieben.  Auch  sind  die  beiden  Geschlechter  getrennt.  Ein  Mangel 
der  Statistik  liegt  in  dem  Fehlen  einer  Trennung  der  Erkrankungen 
für  die  einzelnen  Altersgruppen,  da  der  Altersaufbau  der  Handwerker 
und  der  eigentlichen  Fabrikarbeiter  ein  recht  verschiedener  ist.  C. 
hat  nur  Krankheitsfälle  mit  einer  Erwerbsunfähigkeit  von  mehr  als 
3  Tagen  und  einer  Krankheitsdauer  bis  zu  26  Wochen  mit  Aus¬ 
schluß  der  Sonn-  und  Feiertage  statistisch  verwendet.  Auf  diese 
Weise  berechnet  er  für  die  Jahre  1909—1910  eine  Krankheits¬ 
häufigkeit  von  54,9  Proz.  und  eine  Krankheitswahrscheinlichkeit 
(Zahl  der  Krankheitstage  pro  Jahr  auf  100  Arbeiter)  von  955 
Krankheitstagen.  Von  den  eigentlichen  „chemischen“  Arbeitern  der 
organischen  und  anorganischen  Betriebe  erkrankten  in  diesen 
beiden  Jahren  57,9  Proz.,  von  den  ungefährlicheren  Abteilungen 
47,4  Proz.  und  von  den  weiblichen  Arbeitern  65  Proz.  Auch  die 
Zahl  der  Krankheitstage  war  mit  1050  für  die  eigentlich  ge¬ 
fährdeten  Arbeiter  wesentlich  größer  als  die  der  anderen  Gruppen 
mit  761.  Die  Frauen  hatten  allerdings  1068  Krankheitstage  auf¬ 
zuweisen.  Aus  diesen  statistischen  Angaben  zieht  C.  im  Vergleiche 
mit  den  Zahlen  der  Leipziger  Ortskrankenkasse  folgenden  Schluß: 
„Jedoch  entspricht  dies  (das  Erkrankungsprozent  nach  Cursch¬ 
mann)  durchaus  Zahlen,  wie  sie  sonst  in  Deutschland  und  Öster- 

9  Krankenstatistik  der  deutschen  chemischen  Industrie  für  die  Jahre  1909 
und  1910.  Bearbeitet  im  Aufträge  der  Berufsgenossenschaft  der  chemischen 
Industrie.  Verwaltungsbericht  der  Berufsgenossenschaft  der  chemischen  In¬ 
dustrie  1910. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  223 

reich  gefunden  worden  sind,  ja  sie  bleiben  in  ihrem  Durchschnitt 
noch  vielfach  hinter  diesen  zurück.“  C.  glaubt  sogar  hinsichtlich 
der  Erkrankungshäufigkeit  und  der  Erkrankungswahrscheinlichkeit 
der  einzelnen  Arbeitergruppen  annehmen  zu  können:  „daß  er¬ 
hebliche  Unterschiede  in  der  Erkrankungshäufigkeit  bei  chemischen 
Arbeitern,  Handwerkern  und  Hofarbeitern  nicht  bestehen,  und  daß 
demnach  die  Beschäftigung  mit  chemischen  Stoffen  an  sich  keine 
Erhöhung  der  Erkrankungsziffern  bedingt.“  Diese  Schlußfolgerung 
entspricht  nicht  den  Tatsachen,  die  er  selbst  gefunden  hat  und  noch 
weniger  den  Tatsachen  für  einzelne  Betriebsgruppen  der  chemischen 
Industrie,  die  wir  vorher  vorgeführt  haben.  Auch  gibt  C.  selbst 
an,  daß  die  Betriebshandwerker  ebenfalls  gewerblichen  Erkran¬ 
kungen  in  hohem  Grade  ausgesetzt  sind  und  daß  die  Hofarbeiter 
vielfach  halbinvalide  Personen  sind.  Trotz  dieser  ungenügenden 
Trennung  gesundheitsgefährdeter  und  ungefährdeter  Arbeitergruppen 
sind  in  der  Erkrankungshäufigkeit  und  in  der  Erkrankungs Wahr¬ 
scheinlichkeit  Unterschiede  zuungunsten  der  eigentlichen  chemischen 
Arbeiter  vorhanden. 

Für  die  von  C.  statistisch  erfaßten  Arbeitergruppen  konnte  er 
für  100  Arbeiter  nur  in  0,34  Fällen  und  für  5,9  Krankheitstage 
gewerbliche  Erkrankungen  feststellen.  Eigentliche  Vergiftungen 
wurden  auf  100  Arbeiter  nur  0,21  beobachtet;  C.  glaubt  aus  diesen 
Zahlen  annehmen  zu  können,  daß  es  kaum  ein  Gewerbe  unter  allen 
als  gesundheitsschädlich  bezeiclineten  gibt,  das  so  wenig  Berufs¬ 
erkrankungen  aufweist  wie  die  chemische  Industrie.  Auch  diese 
Behauptung  steht  mit  unseren  zusammenfassenden  Angaben  über 
die  chemische  Industrie  recht  erheblich  im  Widerspruch.  Ley- 
mann  hatte  für  die  Gesamtarbeiterschaft  eines  chemischen  Gro߬ 
betriebes  auf  100  Arbeiter  1,3  Vergiftungen  berechnet,  für  die 
Anilinbetriebe  jedoch  15,7,  dagegen  Erkrankungen  der  Haut  8,1  Proz. 
für  die  Gesamtheit  und  16  Proz.  für  die  Anilinbetriebe,  so  daß 
sich  hierdurch  die  Gesamtzahlen  für  gewerbliche  Erkrankungen 
ungleich  höher  als  nach  C.  berechnen  lassen.  Selbst  nach  der 
letzten  Arbeit  von  Leymann  vom  Jahre  1910  ist  der  Prozent¬ 
satz  gewerblicher  Erkrankungen  ganz  wesentlich  höher.  Die 
geringen  Werte  von  C.  sind  zu  verstehen,  wenn  man  bedenkt,  daß 
die  Gesamtheit  der  Bleivergiftungen  bei  den  von  seiner  Statistik 
erfaßten  chemischen  Arbeitern  nur  13  Fälle  betrug,  während  die 
deutschen  Bleifärbenfabrikanten  in  der  früher  erwähnten  Statistik 
für  den  Durchschnitt  der  letzten  5  Jahre  selbst  221  Bleiver¬ 
giftungsfälle  mit  3926  Krankheitstagen  pro  Jahr  ausgewiesen 

15* 


224 


J.  Kaup, 


hatten.  Es  ist  daher  anzunehmen,  daß  durch  die  C  ursch  mann  - 
sehe  Statistik  im  allgemeinen  nur  chemische  Betriebe  erfaßt  wurden, 
die  sich  durch  eine  geringere  Gesundheitsgefährlichkeit  auszeichnen. 
Schlußfolgerungen  aus  Zahlen,  die  für  einen  Teil  der  chemischen 
Großindustrie  gewonnen  wurden,  können  daher  m.  E.  für  die  Ge¬ 
samtheit  der  Industrie  nicht  gezogen  werden. 

Eine  Durchsicht  der  englischen  Sterblichkeitsstatistik  nach  Be¬ 
rufen  ergibt  auch  ziffernmäßig,  daß  in  einigen  Berufen  Todesfälle  durch 
Verunglückungen  besonders  häufig  Vorkommen.  Wird  für  alle  er¬ 
werbstätigen  Männer  als  Standardzahl  der  Todesfälle  durch  Unfälle 
100  angenommen,  so  ergibt  sich,  daß  auf  der  einen  Seite,  abgesehen 
von  Lehrern  und  Geistlichen,  Berufsgruppen  wie  die  Buchdrucker, 
Schuhmacher,  Schreiner,  Schneider,  Bäcker,  das  Kontor-  und  Laden¬ 
personal  34—45  Todesfälle  als  Unfälle  aufwiesen,  hingegen  die 
Arbeiter  der  Maschinen-  und  Glasindustrie  bereits  etwas  über  100, 
Dachdecker  238,  und  Bergleute  sogar  241  Unfalltodesfälle.  Aber 
auch  von  den  Erkrankungen  im  allgemeinen  kommt  in  den  ein¬ 
zelnen  Berufsgruppen  ein  namhafter  Prozentsatz  den  Unfallerkran¬ 
kungen  zu.  Nach  der  Leipziger  Krankenkassenstatistik  entfielen 
bei  den  männlichen  versicherungspflichtigen  Mitgliedern  198  Krank¬ 
heitstage  von  1000  auf  Verletzungen  und  andere  äußere  Einwir¬ 
kungen,  bei  den  weiblichen  Mitgliedern  hingegen  nur  55.  Die 
ungleiche  Verteilung  der  Zahl  der  Krankentage  auf  Unfallver¬ 
letzungen  nach  Berufen  ist  in  der  folgenden  Tabelle  ersichtlich 
gemacht. 

t 

Betriebs-Unfall-Krankentage  auf  1000  ein  Jahr  lang  beobachtete 
versicherungspflichtige  männliche  Personen. 


(Aus 

dem  Tabellenwerke  des  Kaiserlichen  Statistischen  Amtes 

der  Leipziger  Ortskrankenkasse.) 

über 

das  Material 

Im  Durchschnitte  aller  Berufsgruppen 

In  den  Berufsgruppen: 

938  Krankentage 

1. 

Bureau-  und  Kontorpersonal 

52 

2. 

Bekleidung  und  Reinigung 

143 

3. 

Beherbergung  und  Erquickung 

236 

4. 

Polygraphische  Gewerbe 

354 

5. 

Hilfsgewerbe  des  Handels 

413 

6. 

Industrie  der  Häute,  Felle  und  Haare 

414 

7. 

Lederindustrie  und  Industrie  lederartiger  Stoffe 

482 

8. 

Papierindustrie 

694 

9. 

Glas-,  Porzellanerzeugung,  Töpferei 

694 

10. 

Verfertigung  musikalischer  Instrumente 

854 

11. 

Gärtnerei,  Land-  und  Forstwirtschaft 

924 

Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche 

Erkrankungen. 

225 

12. 

Nahrungs-  und  Genußmittelindustrie 

950  Krankentage 

13. 

Industrie  der  Holz-  und  Schnitzstoffe 

1046 

55 

14. 

Textilindustrie 

1133 

55 

15. 

Steinbearbeitung 

1156 

55 

16. 

Industrie  der  Fette,  Öle,  Lacke,  Firnisse 

1327 

55 

17. 

Maschinisten  und  Heizer 

1346 

55 

18. 

Baugewerbe 

1360 

55 

19. 

Chemische  Industrie 

1411 

55 

20. 

Zement-  und  Kalkindustrie 

1518 

55 

21. 

Metallverarbeitung 

1586 

55 

22. 

Arbeiter  in  Gasanstalten 

1824 

>5 

23. 

V  erkehrsgewerbe 

1972 

55 

Die  Unterschiede  sind  außerordentlich  groß. 

Behufs  Verminderung  von  Unfällen  in  Betrieben  sind  die  Un¬ 
fallversicherung  und  die  mit  deren  Einrichtung  vorgesehenen  Organi¬ 
sationen  höchst  segensreich  gewesen.  Während  bei  Herausgabe 
des  Unfallversicherungsgesetzes  im  Jahre  1884  nur  etwa  3  Millionen 
Personen  versicherungspflichtig  waren,  ist  diese  Zahl  bis  zum 
Jahre  1909  auf  9  Millionen  angestiegen.  Außerordentlich  be¬ 
deutungsvoll  für  die  Unfallverhütung  wurde  die  Schaffung  von  Be¬ 
rufsgenossenschaften  für  die  einzelnen  Berufsgruppen,  deren  Organe 
(Revisionsingenieure)  im  Vereine  mit  dem  zuständigen  Gewerbe¬ 
aufsichtsbeamten  am  besten  in  der  Lage  waren,  den  Ursachen  der 
einzelnen  Unfälle  nachzugehen  und  durch  Herausgabe  besonderer 
Verhütungs Vorschriften  eine  Besserung  anzustreben.  Die  deutschen 
Berufsgenossenschaften  konnten  vor  kurzem  auf  eine  25  jährige 
Tätigkeit  zurückblicken.  Die  Hauptergebnisse  sind  in  der  folgenden 
Tabelle  wiedergegeben. 


Häufigkeit  und  Folgen  von  Unfallverletzungen. 


'S  Ö 

Folgen  der  Verletzungen 

P  CD 
cö  ö 

dauernde  voll. 

dauernde  teilw. 

vorübergeh. 

Ver- 

O 

m 

Tod 

Erwerbs- 

Erwerbs- 

Erwerbs- 

Jahr 

sicherte 

N  qj 
'S  PL, 

Unfähigkeit 

Unfähigkeit 

Unfähigkeit 

Personen 

auf 

auf 

auf 

auf 

< v  O 

im 

1000 

im 

1000 

im 

1000 

im 

1000 

ganzen 

Fers. 

ganzen 

Pers. 

ganzen 

Pers. 

ganzen 

Pers. 

1885 

2  986  248 

0,30 

226 

0,08 

1890 

4  926  672 

5,36 

3597 

0,73 

1784 

0,36 

16194 

3,30 

4  828 

0,89 

1895 

5  409  218 

6,24 

3644 

0,66 

780 

0,14 

19  312 

3,57 

9  992 

1,87 

1900 

6  928  894 

7,46 

5108 

0,73 

592 

0,08 

24  790 

3,56 

21  207 

3,09 

1905 

8  195  732 

8,34 

5154 

0,62 

572 

0,07 

29  423 

3,59 

33  211 

4,06 

1908 

8  917  772 

8,36 

5939 

0,66 

566 

0,06 

29114 

3,26 

38  962 

4,38 

226 


J.  Kaup, 


Berufsgenossenschaft  der  Chemischen  Industrie 


V  ersicherte 

Verletzte 
auf  1000 

1885 

78  428 

Personen 

3,54 

1890 

98  391 

6,37 

1895 

115  713 

6,48 

1900 

154  479 

8.31 

1905 

192  381 

8,71 

1908 

216  751 

9,20 

Knappschafts-Berufsgenossenschaft 

Verletzte  Tödi.  Unfälle 


Versicherte 

- 

auf  1000 

auf  1000 

Personen 

Personen 

(1886) 

343  709 

1886 

6.60 

2,55 

1890 

8,54 

2,23 

(1896) 

446  342 

1895 

11,39 

2,26 

1900 

12,19 

2,14 

(1906) 

689  248 

1905 

15,55 

2,01 

1908 

ie;o3 

2,62 

Rheinisch- westfälische  Hütten-  und  Walzwerks-Berufsgenossenschaft 


Verletzte 

tödl.  Aus¬ 

dauernd 

dauernd  vorüber¬ 

Versicherte 

auf  1000 

gang  (auf 

völlige 

teilweise  gehende 

Personen 

1000  Pers.) 

Erwerbsunfähigk.  a.  10U0  Pers. 

1906 

163  507 

16,1 

1,23 

1.17 

10,8  2,89 

1908 

165  368 

16,5 

1.21 

0,95 

11,5  2,82 

1910 

177  836 

14,6 

1,07 

1,12 

9,5  2,88 

Im  allgemeinen  ist  eine  Zunahme  der  entschädigungspflichtigen 
Verletzungen  ein  getreten,  hingegen  eine  kleine  Abnahme  der  Un¬ 
falltodesfälle,  eine  größere  der  Unfälle  mit  völliger  Erwerbsunfähig¬ 
keit,  ein  Gleichbleiben  teilweiser,  und  eine  Zunahme  vorübergehen¬ 
der  Erwerbsunfähigkeit.  Die  besonderen  Angaben  für  die  chemische 
Industrie,  den  Bergbau  und  die  Hiittenbetriebe  zeigen  eine  etwas 
abweichende  Entwicklung.  Namentlich  im  Bergbau  hat  der  Pro¬ 
zentsatz  der  Unfallverletzten  stark  zugenommen. 

Daß  die  Erfolge  nicht  größer  sind,  wird  zurückgeführt  auf 
den  Aufschwung  der  Industrie,  besonders  auf  die  Vermehrung  der 
Großbetriebe  und  die  Akkordarbeit,  auf  die  Zunahme  der  Frauen¬ 
arbeit,  auf  den  stärkeren  Zuzug  fremder  Arbeiter  ohne  Kenntnis 
der  Schutzmaßnahmen,  auf  die  steigende  Verwendung  von  Ma¬ 
schinen  an  Stelle  der  Handarbeit,  auf  die  immer  größer  werdenden 
Maschinengeschwindigkeiten  und  auch  auf  die  Leichtsinnigkeit 
der  Arbeiter. 

In  dieser  Darstellung  ist  jedoch  auch  darauf  verwiesen,  daß 
durch  die  Rechtsprechung  des  Reichsversicherungsamts  vielfach 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung-  auf  gewerbliche  Erkrankungen. 


227 


■eine  Erweiterung  des  Begriffs  „Unfall“  eingetreten  sei.  Nach  der 
ständigen  Rechtsprechung  des  Amtes  hat  man  unter  Unfall  eine 
körperliche  Schädigung  eines  Menschen  zu  verstehen,  die  auf  ein 
plötzliches  oder  wenigstens  zeitlich  genau  bestimmbares,  von  ihm 
nicht  beabsichtigtes  Ereignis  zurückzuführen  ist.  Tm  versicherungs¬ 
rechtlichen  Sinne  stellt  hiernach  nicht  das  schädigende  äußere 
Ereignis,  das  in  der  Sprache  des  gewöhnlichen  Lebens  als  Unfall 
bezeichnet  wird,  sondern  der  dadurch  herbeigeführte  Schaden  den 
Unfall  dar.  Nach  dieser  Auffassung  werden  Gewerbekrankheiten 
nicht  als  Unfälle  angesehen,  denn  sie  sind  körperliche  Schädigungen, 
-die  bei  vielen  Gewerbetätigkeiten  als  das  Endergebnis  der  eine 
längere  Zeit  andauernden,  der  Gesundheit  entweder  durch  Ver¬ 
wendung  von  Giften  oder  durch  Einfluß  von  Zugluft,  Feuchtig¬ 
keit,  Luftverschlechterung,  nachteiligen  Betriebsweise  beobachtet 
werden.  Hier  ist  nicht  genau  zu  bestimmen,  zu  welcher  Zeit  das 
äußere  Ereignis  eingetreten  ist,  das  zu  der  körperlichen  Schädigung 
führte.  Die  Ursache  eines  Unfalls  und  einer  Gewerbekrankheit 
kann  die  gleiche  z.  B.  ein  chemisches  Gift  sein.  Ob  es  sich  um 
■einen  Unfall  oder  um  eine  Gewerbekrankheit  handelt,  wird  nach 
der  zeitlichen  Einwirkung  dieser  Ursache  entschieden.  Aber  der 
selbst  vorsichtig  wägende  Sozialpolitiken  Mugdan  will  es  nicht 
völlig  von  der  Hand  weisen,  daß  auch  gewerbliche  Vergiftungen 
nach  der  deutschen  Rechtsprechung  als  Unfälle  angesehen  werden 
könnten,  da  sie  sich  als  Endergebnis  einer  Reihe  aufeinander¬ 
folgender  zeitlich  bestimmbarer  Vergiftungen,  also  als  ein  Ausdruck 
gehäufter  Unfälle  darstellen.  Die  Frage  ist  für  die  Betroffenen 
selbst  aus  dem  Grunde  von  großer  Bedeutung,  da  chronisch  er¬ 
krankte,  bzw.  invalid  gewordene  Personen  nur  Anspruch  auf  eine 
Invalidenrente  haben,  die  jedoch  nicht  unbeträchtlich  geringer 
ist  als  die  Unfallrente.  Auf  dem  8.  Internationalen  Arbeiter¬ 
versicherungskongreß  in  Rom  im  Jahre  1908  ist  die  Frage  der 
Versicherung  der  Berufskrankheiten  eingehend  besprochen  worden. 
Eine  Reihe  von  Referenten  besonders  Teleky  kommt  zu  dem 
Schlüsse,  daß  die  sogenannten  spezifischen  Berufskrankheiten  Un¬ 
fällen  gleich  betrachtet  werden  sollten.  Zu  diesen  spezifischen  Be¬ 
rufskrankheiten  werden  im  Sinne  der  englischen  Kompensations¬ 
akte  von  1906  alle  Erkrankungen  gerechnet,  die  wegen  der  Plötz¬ 
lichkeit  des  Entstehens  den  Charakter  des  Unfalls  tragen,  also 
akute  Intoxikationen  und  auch  gewerbliche  Infektionskrankheiten; 
somit  Vergiftungen  mit  Blei,  Quecksilber,  Phosphor,  Arsenik,  Mangan 
und  deren  Verbindungen,  den  Nitro-  und  Amidoderivaten  des  Ben- 


I 


228  J-  Kaup, 

zins,  und  mit  Schwefelkohlenstoff;  ferner  Chromgeschwüre  und 
deren  Folgen ,  der  Teerkrebs  (mit  dem  Schornsteinfegerkrebs), 
durch  Teer  veranlaßte  Augenentzündungen,  Ankylostomiasis  und 
Nystagmus  der  Bergleute,  grauer  Star  der  Glasarbeiter,  Telegra¬ 
phistenkrampf,  Perlmutterostitis.  Da  Deutschland  und  Österreich 
eine  staatliche  Kranken-  und  Unfallversicherung  besitzen,  wTäre 
von  einer  Haftpflicht  der  Unternehmer  für  im  Betrieb  erworbene 
gewerbliche  Erkrankungen  der  vorerwähnten  Art  wie  in  der 
Schweiz  und  in  England  abzusehen,  es  sollten  vielmehr  einfach  die 
spezifischen  Berufskrankheiten  den  Unfällen  der  Unfallversicherung 
gleichgestellt  werden. 

Gewerbliche  Erkrankungen  kommen  jedoch  auch  durch  Staub- 
einwirkung  zustande. 

Es  ist  in  diesem  Kreise  überflüssig,  auf  die  Zusammenhänge- 
zwischen  Staubeinatmung,  Erkrankungen  der  Atmungsorgane  und 
Tuberkulose  näher  einzugehen.  Auch  wollen  wir  nicht  den  Einfluß 
des  Alkoholmißbrauchs,  schlechter  Körperhaltung  und  verdorbener 
Luft  auf  die  Entstehung  der  Tuberkulose  erörtern.  Die 
Reichsregierung  hat  sich  im  Sinne  des  §  120  der  G.O.  vielfach 
mit  Staubbetrieben  beschäftigt.  So  wurden  im  Jahre  1902  eine 
Bekanntmachung  betreffend  die  Beschäftigung  von  Arbeiterinnen 
und  jugendlichen  Arbeitern  in  Glashütten,  Glasschleifereien  und 
Glasbeizereien  sowie  Sandbläsereien,  1909  betreffend  die  Einrichtung 
und  den  Betrieb  von  Steinbrüchen  und  Steinhauereien  verlaut¬ 
bart.  Das  preußische  Ministerium  für  Handel  und  Gewerbe  hat 
bereits  im  Jahre  1894  bestimmte  Anforderungen  bei  Errichtung 
von  Arbeitsräumen  in  Spinnereien  gestellt ;  einige  Regierungspräsi¬ 
denten  haben  besondere  Erlässe  für  Metallschleifereien  herausgegeben. 
Wir  wollen  uns  lediglich  mit  der  Häufigkeit  des  Vorkommens  von 
Tuberkulose  bei  Lohnarbeitern  und  auch  mit  der  Frage  beschäftigen,, 
ob  die  Tuberkulose  als  Berufskrankheit  zu-  oder  abgenommen 
habe.  Vor  allem  ist  zu  bemerken,  daß  die  Gefahr  einer  Staubeinatmung 
fast  bei  jeder  beruflichen  Betätigung  in  mehr  oder  minder  hohem 
Grade  vorhanden  ist.  Immerhin  sind  es  einige  Berufsgruppen,  die 
unter  der  Staubgefahr  besonders  zu  leiden  haben,  wie  die  Berg- 
und  Hüttenleute,  die  Arbeiter  der  keramischen  Industrie,  der 
Metallverarbeitung,  der  chemischen  Industrie  und  Textilindustrie,, 
des  Bekleidungs-  und  Baugewerbes,  die  Holzarbeiter,  das  poly¬ 
graphische  Gewerbe,  aber  auch  die  Personen  der  Gast-  und  Schank¬ 
wirtschaften.  Hinsichtlich  der  Häufigkeit  von  Todesfällen  an  Tuber¬ 
kulose  für  die  einzelnen  Berufe  sind  die  Angaben  der  englischen 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  229’ 


Mortalitätsstatistik  vor  allem  heranzuziehen.  Nach  der  Statistik 
für  die  Jahre  1900 — 02  zeigen  von  den  größeren  Berufsgrnppen 
das  Gast-  und  Schankwirtschaftsgewerbe  mit  246 — 660  Todesfälle 
an  Lungentuberkulose  auf  die  Mittelzahl  von  1000  Todesfällen  für 
den  Durchschnitt  die  höchsten  Ziffern,  dann  folgen  das  polygraphische 
Gewerbe  mit  240 — 290,  die  Lederindustrie  mit  314,  das  Bekleidungs¬ 
gewerbe  mit  246  mit  den  nächst  höheren  Ziffern.  Nimmt  man 
einzelne  Berufsarten  heraus,  so  stehen  nach  dieser  Statistik  an  der 
Spitze  die  Arbeiter  des  Zinnbergbaus  mit  830,  das  niedere  Hotel¬ 
personal  mit  660,  Gelegenheitsarbeiter  mit  560  und  Hausierer  mit 
516  Todesfällen  an  Lungentuberkulose  auf  1000  Todesfälle  als 
Standardzahl.  Berechnet  man  den  Prozentsatz  der  Todesfälle  an 
Lungentuberkulose  auf  100  Todesfälle  für  die  einzelnen  Berufe,  so 
stehen  an  der  Spitze  ebenfalls  die  Zinnminenarbeiter  mit  38  Proz.f 
dann  folgen  die  Messer-  und  Scherenmacher  mit  34  Proz. ,  das 
Hotelpersonal  mit  30  Proz.,  die  Hausierer  mit  29  Proz.,  die  Buch¬ 
binder  und  Buchdrucker  ebenfalls  mit  30  Proz.,  während  von  den 
eigentlichen  Arbeiterberufen,  abgesehen  von  der  Landwirtschaft, 
das  Transportgewerbe  mit  10  und  19  die  niedrigsten  Ziffern  zeigen. 

Für  deutsche  Verhältnisse  liegen  seit  den  letzten  Jahren 
eine  Reihe  wertvoller  Statistiken  vor.  Abgesehen  von  den  älteren 
Sommerfeld’schen  Arbeiten,  die  sich  auf  die  ungenauen  Sterb¬ 
lichkeitsziffern  der  Krankenkassen  stützen,  sind  nunmehr  Angaben 
für  die  einzelnen  Berufe  für  Württemberg,  Bayern  und  seit  einigen 
Monaten  auch  für  Preußen  zu  finden.  Nach  einer  württembergischen 
Statistik  entfallen  von  100  Todesfällen  der  unselbständigen  Arbeits¬ 
kräfte  zwischen  50  und  54,4  Proz.  auf  die  Bäcker,  Buchdrucker, 
Schneider  und  Buchbinder  aber  auch  auf  die  Strickerinnen  und 
Näherinnen,  mit  49,5  Proz.  kommen  dann  die  Steinhauer  und  46,4  Proz. 
die  Schuhmacher  usw.  Auch  nach  dieser  Statistik  haben  die 
niedrigsten  Prozentsätze  die  Arbeiter  des  Eisenbahn-  und  Postbe¬ 
triebes  und  des  Frachtfuhrwerks  mit  19 — 21  Proz.  Der  Bearbeiter 
der  württembergischen  Statistik  Dr.  Elben  hat  jedoch  den  ver¬ 
schiedenen  Altersaufbau  der  einzelnen  Berufsangehörigen  berück¬ 
sichtigt  und  berechnet,  wieviel  Personen  auf  100  mit  Berücksichtigung 
des  Lebensalters  erwarteten  Todesfällen  an  Lungentuberkulose  tat¬ 
sächlich  gestorben  sind.  Auch  nach  dieser  Berechnung  fand  er  die 
niedrigsten  Ziffern  beim  Frachtfuhrwerk,  im  Eisenbahn-  und  Post¬ 
betriebe,  bei  den  Ziegel-  und  Sandarbeitern  also  bei  den  vorwiegend 
Freiluftarbeitern  mit  65—80  Todesfällen,  die  höchsten  Ziffern  mit 
222  bei  den  Kellnern,  mit  167  bei  den  Steinmetzen,  160  bei  den 


230 


J.  Kaup, 


Buchdruckern,  150  bei  den  Buchbindern,  während  Schmiede,  Müller, 
Gerber  und  Fleischer  etwa  die  erwartete  Todeshäufigkeit  von  100 
zeigen.  Bei  einem  Vergleiche  der  englischen  Statistik  zeigt  sich 
eine  ziemliche  Übereinstimmung,  wenn  auch,  namentlich  nach  den 
vorerwähnten  Prozentzahlen  der  Anteil  der  Lungentuberkulose  an 
den  gesamten  Todesfällen  besonders  in  einigen  Berufen  in  Württem¬ 
berg  wesentlich  größer  zu  sein  scheint.  Diese  Wahrnehmung  ist 
besonders  von  Wichtigkeit,  weil  die  Statistik  dieselben  Jahre  um¬ 
faßt.  Für  Preußen1)  und  Bayern2)  habe  ich  die  Ergebnisse  in  einer 
besonderen  Tabelle  zusammengestellt. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Der  Altersaufbau  der  einzelnen  Berufsangehörigen  ist  nicht 
berücksichtigt.  Für  Preußen  sind  nur  Angaben  für  die  großen 
Berufsgruppen  gemacht.  Das  Bekleidungsgewerbe  und  die  Ange¬ 
hörigen  der  Gast-  und  Schankwirtschaft  weisen  die  höchste  Sterb¬ 
lichkeit  an  Tuberkulose  auf.  Für  Bayern  gewährt  die  weitgehende 
Gliederung  sehr  instruktive  Einblicke.  Steinarbeiter,  Schreiner 
und  andere  Holzarbeiter  sind  im  außerordentlichen  Maße  durch  die 
Staubwirkung  von  der  Tuberkulose  betroffen.  In  Ergänzung  dieser 
Tabelle  muß  jedoch  erwähnt  werden,  daß  ähnlich  wie  für  England  auch 
für  Preußen  und  Bayern  die  höchste  Tuberkulosesterblichkeit  mit 
5,7  Prom.  für  Preußen  und  mit  4,3  Prom.  für  Bayern  für  die  Beruf¬ 
losen  und  Angehörigen  mit  wechselnden  Berufen  (für  Bayern  aber  nur 
Männer)  gefunden  wurden.  Für  Preußen  sind  für  die  männlichen  An¬ 
gehörigen  des  künstlerischen  Gewerbes  mit  6,4  Todesfällen  auf  1000 
Lebende  noch  höhere  Ziffern  gefunden.  Ganz  außerordentlich  hoch 
ist  die  Todeshäufigkeit  an  Tuberkulose  mit  12,7  Proz.  für  Bayern 
für  die  weiblichen  Angehörigen  der  Gruppe  sonstiger  Berufe  und 
Berufslose,  Die  preußische  Statistik  gibt  auch  den  Prozent¬ 
satz  der  Tuberkulosefälle  auf  100  Gestorbene  an,  wonach  ebenfalls 
das  künstlerische  Gewerbe  mit  40  Proz.  an  der  Spitze  steht,  das 
Reinigungsgewerbe  mit  34  Proz.,  das  polygraphische  Gewerbe 
mit  33  Proz.  folgen.  Den  niedrigsten  Prozentsatz  zeigt,  abgesehen 
von  der  Land-  und  Forstwirtschaft,  der  Bergbau,  die  chemische 
Industrie  und  das  Baugewerbe  mit  15 — 18  Proz.  Für  Bayern  sind 
auch  die  einzelnen  Staubberufe  hinsichtlich  der  vorherrschenden 
Staubart  voneinander  geschieden  und  hierbei  berechnet,  daß  die 

0  Behla,  Krebs  und  Tuberkulose  in  beruflicher  Beziehung  vom  Standpunkte 
der  internationalen  vergleichenden  Statistik.  Medizinalstatistische  Nachrichten. 
II.  Jahrg.,  1910,  I.  Heft,  Berlin  1910,  S.  114ff. 

2)  Kölsch,  Arbeit  und  Tuberkulose.  Arch.  f.  Soziale  Hygiene,  Bd.  VI,  4L  1. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen.  231 
Tuberkulosesterblichkeit  nach  Berufen  in  Preußen  und  Bayern. 


Ton  1000  erwerbstätigen  Männern  nachstehender  Erwerbszweige  starben  im  Jahre 

1908  an  Tuberkulose: 


Erwerbszweig 

Preußen 

Bayern 

Erwerbszweig 

Preußen 

Bayern 

1.  Landwirtschaft,  Gärt- 

10.  Holz-  u.  Schnitzstoffe 

2,80 

nerei,  Tierzucht 

1,60 

Drechsler 

5,19 

Gärtner 

3,37 

Holzarbeiter 

10,06 

Landwirtsch.  Arbeiter 

1,82 

Kammacher 

5,46 

Tierzüchter 

15,63 

Korbmacher 

4,60 

3.  Bergbau,  Hütten-, 

Schreiner 

13,37 

Salinenwerke,  Torf 

1,54 

13.  Nahrungs-  u.  Genuß- 

Bergleute 

4,17 

mittel 

2,06 

Hüttenarbeiter 

0,60 

Bäcker  u.  Konditoren 

2,80 

Torfgräber 

0,51 

Brauer 

3,25 

4.  Steine  und  Erden 

1,64 

Käser  u.  Schweizer 

4,88 

Glasarbeiter 

3,81 

Mälzer 

3,56 

Hafner 

7,21 

Metzger 

4,07 

Kalkbrenner 

2,46 

Müller 

4,69 

Porzellanarbeiter 

4,06 

Tabakarbeiter 

3,26 

Steinschleifer  u.  Hauer 

26,85 

14.  Bekleidungsgewerbe 

3,05 

Zementarbeiter 

3,16 

Handschuhmacher 

3,26 

Ziegeleiarbeiter 

0,93 

Hutmacher 

5,79 

5.  Metallverarbeitung 

2,24 

Kürschner 

4,57 

Blechwarenarbeiter 

5,29 

Sattler 

4.10 

Ciseleure 

7,11 

Schneider 

4,94 

Drahtgewerbe 

7,13 

Schuhmacher 

3,63 

Eisengießer 

0,95 

Tapezierer 

3,76 

Feilenhauer 

5,73 

16.  Baugewerbe 

2,00 

Glockengießer 

2.91 

Bauunternehmer 

0,35 

Gürtler 

1,05 

Dachdecker 

4,45 

Kupferschmiede 

3,90 

Maurer 

10,23 

Schlosser 

8,03 

Tüncher,  Maler 

7,28 

Schmiede 

6,09 

Zimmerer 

5,20 

Zinngießer 

5,61 

17.  Polygraphisches  Ge- 

6.  Maschinen,  Instrumente 

1,48 

werbe 

2,55 

Gasanstaltsarbeiter 

3,25 

Buchdrucker 

4,90 

Mechaniker 

1,28 

Lithographen 

3,22 

Schuß  waffenverfertig. 

4,06 

20.  Handelsgewerbe 

2,65 

Uhrmacher 

3,25 

Händler  u.  Krämer 

7,88 

W  agner 

2,80 

Hausierer 

8,11 

7.  Chemische  Industrie 

1,14 

Kaufleute  u.  Reisende 

2,97 

9.  Textilindustrie 

1,95 

22.  Verkehrsgewerbe 

1,89 

Baumwollspinner 

0,96 

Bahnbedienstete 

2,46 

Hechler 

1,50 

Postbedienstete 

2,99 

Posamentierer 

4,46 

Kutscher 

5,64 

Seiler 

2,57 

23.  Gast-  u.Schankwirtsch. 

3,01 

Stricker 

4,06 

Gastwirte  \ 

7  45 

Weber 

1,72 

Kellner  j 

Berufe  mit  Mineralstaub  mit  einer  durchschnittlichen  Sterblichkeit 
von  4,6  auf  1000  Lebende  die  ungünstigsten  Verhältnisse  zeigen  und 
dann  die  Berufe  mit  vegetabilischem  Staub  mit  4,3,  mit  gemischtem 
Staub  mit  4,  mit  Metallstaub  mit  3,7  folgen,  während  die  staub- 


\ 


232  J.  Kanp, 

freien  Berufe  nur  eine  Tuberkulosemortalität  von  2,1  auf  1000 
aufweisen. 

Überblickt  man  diese  Ergebnisse,  so  ergibt  sich  als  feststehende 
'  Tatsache,  daß,  abgesehen  von  allen  Einflüssen  der  Lebenshaltung, 
der  Wohnung  und  anderer  Faktoren  für  viele  Berufe  die  Tuber¬ 
kulosesterblichkeit  auf  Grund  der  in  der  Berufstätigkeit  liegenden 
Gefahr  noch  abnorm  hoch  ist,  denn  anders  können  die  großen  Unter¬ 
schiede  bei  sozial  annähernd  gleich  gestellten  Berufen  nicht  erklärt 
werden. 

Die  deutschen  Statistiken  sind  erst  in  den  letzten  Jahren  ent¬ 
standen,  so  daß  ein  Nachweis,  ob  sich  zahlenmäßig  für  einzelne 
Berufe  eine  Zu-  oder  Abnahme  der  Tuberkulosesterblichkeit  ergibt, 
nicht  zu  erbringen  ist.  Es  kann  jedoch  angenommen  werden, 
daß  die  für  einzelne  Gewerbe  vorhandenen  Staubverhütungs Vor¬ 
schriften,  die  rastlose  Tätigkeit  der  Gewerbeinspektoren  nach  dieser 
Richtung  und  die  vorbeugende  Behandlung  der  Initialfälle  an 
Lungentuberkulose  in  den  Heilanstalten  der  Versicherungsanstalten 
eine  gute  Wirkung  entfaltet  haben.  Ob  für  Deutschland  die  noch 
mangelhafte  Isolierung  von  Bazillenträgern,  die  vielfach  noch  ihrem 
Berufe  nachgehen  können,  eine  besondere  Rolle  für  die  Verbreitung 
der  Tuberkulose  an  der  Arbeitsstätte  spielt,  ist  eine  offene  Frage. 
Eine  bestimmte  Gefahr  liegt  trotz  des  Spuckverbotes  gewiß  noch  vor. 

Die  englische  Statistik  hingegen  gestattet  den  strikten  Be¬ 
weis,  daß  für  eine  Reihe  von  Berufen  innerhalb  der  Jahre  1890 — 92 
und  1900 — 02  die  Tuberkulosesterblichkeit  zurückgegangen  ist.  Hier 
ist  die  Statistik  ein  Fingerzeig,  für  welche  Berufe  besondere  Ge¬ 
fahren  vorliegen,  bzw.  in  welchen  Berufen  mit  besonderem  Eifer 
eine  Verminderung  der  Tuberkulososterblichkeit  angestrebt  werden 
muß.  Für  Deutschland  wird,  abgesehen  von  allen  gewerbe¬ 
hygienischen  Bestrebungen,  die  Erweiterung  der  Versicherungs¬ 
pflicht  auf  die  Personen  mit  wechselnder  Lohnarbeit,  auf  die  Per¬ 
sonen  in  häuslichen  Diensten  und  in  der  Heimarbeit  von  guter 
Wirkung  sein.  Andererseits  ist  jedoch  die  Staubgefahr  in  vielen 
Betriebsgruppen  noch  so  groß,  daß  nur  durch  besondere  den  Be¬ 
triebsprozessen  angepaßte  Vorschriften  eine  wesentliche  Besserung 
erzielt  werden  könnte. 

Mit  dieser  flüchtigen  Besprechung  der  Betriebsgruppen,  die 
gewerbliche  Gifte  erzeugen  oder  verwenden,  wobei  die  Gefahren 
durch  Quecksilber,  Zink,  Arsen,  Mangan,  Chrom,  Chlor  u.  a. ,  ferner 
durch  Milzbrand  gar  nicht  berührt  werden  konnten,  und  der  Staub¬ 
berufe  sind  die  Möglichkeiten  gewerblicher  Erkrankungen  nicht 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung-  auf  gewerbliche  Erkrankungen. 


233 


erschöpft.  Die  großen  Betriebsgruppen  des  Bergbaus,  der  Eisen¬ 
großindustrie  mit  ihren  besonderen  Gefahren  für  die  Arbeiter 
müssen  unerwähnt  bleiben. 

In  der  letzten  Zeit  sind  zwei  weitere  bedeutungsvolle  Fragen  in 
den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt.  1.  Sind  durch  die  Art  und 
den  Umfang  beruflicher  Betätigung  jugendlicher  noch  im  Ent¬ 
wicklungsalter  stehenden  Personen  (14 — 18  Jahre)  Schädigungen 
von  Leben  und  Gesundheit  eingetreten  und  2.  Ist  durch  die  so 
stark  zunehmende  außerhäusliche  Frauenarbeit  eine  Gefährdung 
der  generativen  Kraft  der  Frauen  und  damit  eine  Verschlechterung 
des  Nachwuchses  zu  erwarten? 

Die  erste  Frage  suchte  ich  in  einer  kleinen  Schrift  für  die 
Gesellschaft  für  Soziale  Reform1)  zu  beantworten.  Einige  Tatsachen 
seien  nur  hervorgehoben: 

Das  Gleichbleiben  der  Sterbeziffern  für  die  männlichen  Jugend¬ 
lichen  der  Altersklasse  vom  15. — 20.  Lebensjahre  in  den  preußischen 
Städten  innerhalb  der  Jahre  1900 — 1901  und  1905 — 06  mit  4,3  Prom., 
in  den  Großstädten  sogar  eine  Zunahme  von  4,0  auf  4,3  Prom., 
während  in  den  90er  Jahren  ein  starker  Rückgang  wahrzunehmen  war. 
Ebenso  ist  bei  den  weiblichen  Jugendlichen  nur  ein  verschwinden¬ 
der  Rückgang  eingetreten.  Das  Stationärbleiben  der  Todesquoten 
an  Tuberkulose  für  die  männlichen  Jugendlichen  seit  dem  Ende 
der  90er  Jahre,  während  bei  den  weiblichen  Jugendlichen  seit 
diesen  Jahren  sogar  eine  Erhöhung  der  Todesziffern  eingetreten 
ist,  die  noch  für  die  Altersgruppe  vom  20. — 25.  Lebensjahr 
anhält.  Eine  höhere  Erkrankungshäufigkeit  und  auch  eine 
größere  Zahl  von  Krankheitstagen  für  die  männlichen  Jugendlichen 
gegenüber  den  folgenden  Altersklassen  in  vielen  Berufen,  wie 
Metallarbeiten,  polygraphisches  Gewerbe,  Textilindustrie  nach  der 
Leipziger  Statistik  und  nach  der  bekannten  Frankfurter  wie  auch  der 
österreichischen  Statistik,  und  last  not  least  die  abnehmende  Taug¬ 
lichkeit  der  gestellungspflichtigen  jungen  Männer  vorwiegend  in 
den  Städten ;  so  der  hauptsächlich  gewerblich  tätigen  stadtgeborenen 
jungen  Männer  von  53,8  auf  49,7  Proz.  (4,1  Proz.)  innerhalb  der  Jahre 
1902 — 03  und  1907 — 08,  der  landgeborenen,  jedoch  in  den  Städten 
berufstätigen  Jünglinge  von  59,7  auf  57,2  Proz.  (2,5  Proz.)  Hin¬ 
sichtlich  der  2.  Frage,  die  durch  den  Hinweis  der  zunehmenden 
Tuberkulosesterblichkeit  der  Mädchen  bereits  gestreift  wurde,  sei 
nur  hervorgehoben,  daß  in  allen  Berufen,  in  denen  beide  Ge- 

J)  Heft  3  des  IV.  Bandes:  „Schädigungen  von  Lehen  und  Gesundheit  der 
Jugendlichen“.  Jena  1911,  G.  Fischer. 


234 


J.  Kaup, 


schlechter  annähernd  gleiche  Arbeit  verrichten,  z.  B.  Textilindustrie, 
Bekleidungs-  und  Handelsgewerbe  die  einzelnen  Altersgruppen  der 
Frauen  eine  höhere  Erkrankungshäufigkeit  und  Zahl  der  Krank¬ 
heitstage  aufweisen  als  die  gleichaltrigen  Männer.  Diese  Er¬ 
scheinung  ist  namentlich  für  die  jugendlichen  Arbeiterinnen  bei 
Ausschaltung  von  Einflüssen  der  Mutterschaft  eindeutig.  Der 
weibliche  Organismus  ist  den  bestehenden  Anforderungen  der  Be¬ 
rufstätigkeit  nicht  voll  gewachsen.  Die  daran  zu  knüpfenden 
Schlußfolgerungen,  werden  noch  die  Gesetzgebung  und  die  Öffent¬ 
lichkeit  viel  beschäftigen. 

Die  offenkundig  vorhandene  Überanstrengung  und  Gefährdung 
der  Jugendlichen  beiderlei  Geschlechts  in  vielen  Berufen  durch 
Art  und  Umfang  der  Arbeit  und  auch  anderer  ungünstiger  Lebens¬ 
bedingungen  hat  jedoch  anläßlich  der  Ausarbeitung  der  vorerwähnten 
Schrift  zu  einer  Reihe  von  sozialhygienischen  Vorschlägen  angeregt, 
von  denen  ich  nur  folgende  hervorhebe:  Vollständige  Fernhaltung 
aller  Jugendlichen  bis  zu  18  Jahren  von  allen  gesundheitsgefähr¬ 
lichen  Betrieben  im  Sinne  der  Gewerbeordnungsnovelle  von  1891. 
Bisher  nur  einzelne  Arbeitsverbote.  Hier  heißt  es  hinsichtlich  der 
Jugendlichen  ausdrücklich,  daß  Arbeiter  unter  18  Jahren  gegen 
die  Gefahren  geschützt  werden  sollen,  die  ihnen  in  Hinsicht  auf 
ihr  jugendliches  Alter  und  den  in  der  Entwicklung  begriffenen 
Organismus  bei  der  gewerblichen  Arbeit  sowohl  in  Gestalt  von 
Unfällen  als  durch  allmählich  wirkende  Beeinträchtigung  der  Ge¬ 
sundheit  drohen.  Einführung  eines  regelmäßigen  ärztlichen  Be- 
lehrungs-  und  Untersuchungsdienstes  fiir  alle  erwerbstätigen 
Jugendlichen. x) 

Das  Ergebnis  unserer  Betrachtungen  kann  etwa 
folgendermaßen  zusammengefaßt  werden: 

Die  Ar  beit  er  Schutzgesetzgebung  insonderheit 
die  besonderen  Vorschriften  für  bestimm  teBetriebs- 
gruppen  haben  in  Deutschland  ebenso  wie  in  England 
die  Gesundheitsgefährdung  der  Arbeiter  in  den  in 
Frage  stehenden  Betriebsgruppen  zum  Teile  nicht  un¬ 
bedeutend  vermindert:  Über  die  Erfolge  sind  jedoch 
nur  selten  einwandfreie  Anhaltspunkte  zu  finden. 

Folgende  Tatsachen  zwingen  im  Interesse  einer 
rationellen  Volksökonomie  zu  einer  vollständigeren 

b  Eine  eingehende  Begründung  dieser  und  anderer  Vorschläge  ist  zu  finden 
in  der  Schrift  „Sozialhygienische  Vorschläge  zur  Ertüchtigung  unserer  Jugend¬ 
lichen“.  C.  Heymanns  Verlag,  Berlin  1911. 


Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen. 


235 


Durchführung  der  einzelnen  Forderungen  der  Gewerbe¬ 
ordnungsno  veile  und  zu  einem  weiteren  Ausbau  der 
Ar  beiter  Schutzgesetzgebung: 

1.  Hinsichtlich  gewerblicher  Vergiftungen:  Die  noch  immer 
hohe  Zahl  von  Bleivergiftungen  in  vielen  Betriebsgruppen  nament¬ 
lich  in  Bleiweißfabriken,  bei  Malern  und  Zinkhüttenarbeitern,  die 
Verminderung  der  Vergiftungen  unmittelbar  nach  der  Herausgabe 
einer  Verordnung  und  später  die  abermalige  Zunahme  trotz  kost¬ 
spieliger  technisch-hygienischer  Einrichtungen,  im  Zusammenhänge 
hiermit  auch  eine  Zunahme  des  Erkrankungsprozents  und  der 
Morbiditätsziffer,  in  vielen  chemischen  Betrieben  mit  Giftstoffen  bei 
noch  immer  abnorm  hohen  Erkrankungsziffern. 

Diese  Tatsachen  lassen  folgende  Vorschläge  notwendig  er¬ 
scheinen:  Im  Sinne  der  Eingaben  der  internationalen  Vereinigung 
für  gesetzlichen  Arbeiterschutz: 

a)  Anzeigepflicht  gewerblicher  Vergiftungen  seitens  der  be¬ 
handelnden  Ärzte  und  Krankenanstalten  an  die  Amtsärzte  der  zu¬ 
ständigen  sanitären  Aufsichtsbehörden,  bzw.  an  die  besonderen 
Gewerbeärzte1),  Verständigung  der  Gewerbeinspektoren  durch  die¬ 
selben  behufs  gemeinsamen  Vorgehens; 

b)  Regelmäßige  ärztliche  Belehrung  und  Untersuchung  aller 
mit  Giftstoffen  in  Berührung  kommenden  Arbeiter  durch  unab¬ 
hängige  Kassenärzte,  wenn  irgend  möglich  durch  Gewerbeärzte 
oder  Kreisärzte  (Bezirksärzte); 

c)  Gleichstellung  spezifischer  Gewerbekrankheiten  mit  Unfällen; 

d)  Verbesserung  bestehender  und  Herausgabe  neuer  Spezial¬ 
vorschriften  für  einzelne  Betriebsgruppen  durch  Bundesrat  und 
Landeszentralbehörden. 

2.  Hinsichtlich  der  besonderen  Gesundheitsgefährdung  im  Berg¬ 
bau,  in  Eisenhütten,  Walz-  und  Hammerwerken,  wie  in  Staubbetrieben 
überhaupt : 

a)  Weiterer  Ausbau  und  strenge  Benutzungskontrolle  der 
technisch-hygienischen  Einrichtungen  behufs  Verminderung  der 
Unfall-  und  Staubgefahr; 

b)  Regelmäßige  technische  und  ärztliche  Belehrung  der  Arbeiter 
über  die  Gefahren  des  Berufs; 

c)  Herausgabe  von  Spezialvorschriften  für  besonders  gesund¬ 
heitsgefährliche  Betriebsgruppen. 

3.  Hinsichtlich  der  offenkundigen  Überanstrengung  und  Ge- 

b  Vgl.  F.  Kölsch:  „Entwicklung,  Wege  und  Ziele  des  gewerbeärztlichen 
Dienstes.“  Archiv  für  Soziale  Hygiene  Bd.  VII,  H.  1,  Nr.  1911. 


236  J-  Kaup,  Der  Einfluß  der  Gesetzgebung  auf  gewerbliche  Erkrankungen. 

fährdung  jugendlicher  Arbeiter  beiderlei  Geschlechts  (und  auch 
der  erwachsenen  Frauen). 

Durchführung  der  in  den  vorerwähnten  Jugendlichen-Schriften 
vorgeschlagenen  Maßnahmen. 

4.  Behufs  richtiger  Beurteilung  aller  Gewerbekrankheiten  und 
der  Erfolge  ihrer  Bekämpfung: 

a)  Schaffung  einer  verläßlichen  Mortalitätsstatistik  nach  Be¬ 
rufen,  Altersklassen  und  Geschlecht  auf  Grund  der  Totenscheine  und 
Ergebnisse  der  Berufszählungen  durch  die  statistischen  Landesämter; 

b)  Gewinnung  einer  guten  Morbiditätsstatik  nach  Berufen, 
Altersklassen  und  Geschlecht  auf  Grund  eines  Berufs-Morbiditäts¬ 
schemas  durch  die  Krankenkassen  und  Sammlung  dieser  Materialien 
an  Zentralstellen ; 

c)  Einführung  eines  geregelten  ärztlichen  Dienstes  für  alle 
gesundheitsgefährlichen  Betriebe  und  gefährdeten  Berufe  auf  Grund 
einer  Erweiterung  der  Dienstinstruktion  der  Kreis-,  bzw.  Bezirks¬ 
ärzte,  Bestellung  besonderer  Gewerbeärzte  in  Industriezentren  und 
bei  den  Zentralbehörden; 

d)  Fallweise  Einsetzung  von  Kommissionen  zum  Studium 
aktueller  Fragen  der  Arbeitergesundheit. 

Die  Kosten  für  die  Ausführung  dieser  Vorschläge  sind  begründet 
durch  die  wirtschaftlichen  Vorteile  einer  besseren  Menschenökonomie: 

Die  ökonomisch-produktive  Kraft  der  einzelnen  Individuen  ist 
im  Interesse  des  Staates  und  der  Familien  zu  erhöhen:  durch 
Schonung  des  Menschenmaterials  in  der  letzten  Phase  des  Ent¬ 
wicklungsalters  bei  guter  Ausbildung,  Belehrung  und  körperlicher 
Ertüchtigung,  durch  kräftige  Ausnützung  der  Leistungsfähigkeit 
erwachsener  Personen  bei  Abwehr  aller  vermeidbaren  beruflichen 
Gesundheitsgefahren  und  Beschneidung  rentenhysterischer  An¬ 
wandlungen.  Die  steigenden  Ausgaben  an  Kranken-  und  Unfall¬ 
kosten  für  das  Einzelindividuum,  die  zunehmenden  Jahresraten  des 
Heeres  der  Invalidenrentner,  die  bei  zunehmender  Rentenbezugs¬ 
dauer  ein  höheres  ökonomisch-produktives  Lebensalter  Vortäuschen, 
die  geringe  und  abnehmende  Militärtauglichkeit  der  erwerbstätigen 
Stadtjugend  können  nur  durch  derartige  Maßnahmen  vermindert 
werden.  Auch  können  nur  dadurch  die  Renten  für  die  Hinterbliebenen 
nach  vorzeitigem  Tode  der  Ernährer,  die  Ausgaben  der  Städte  für 
verwaiste  und  arbeitsunfähige  Personen  und  vor  allem  die  in  der 
Arbeiterversicherung  zusammengetragenen  ungeheuren  Aufwen¬ 
dungen  der  Arbeitgeber  und  Arbeitnehmer  sowie  des  Staates  auf 
ein  erträgliches  Maß  gebracht  werden. 


Die  Internationale  Hygieneausstellnng  Dresden  1911 
und  die  in  sozialhygienischer  Hinsicht  bemerkens¬ 
werten  statistischen  Darstellungen  auf  derselben. 

Von  Dr.  med.  G.  Radestock, 

Wissenschaftlichem  Hilfsarbeiter  im  K.  S.  Statistischen  Landesamt  zu  Dresden. 

Außer  vielen  zur  Belehrung  über  den  Bau,  die  Verrichtungen 
und  die  Pflege  des  menschlichen  Körpers  bestimmten  Gegenständen, 
welche  in  der  populären  Halle  „Der  Mensch“  etwra  4x/2  Millionen 
Besuchern,  darunter  zahlreichen  vom  Staate  wie  von  Arbeitgebern 
oder  Privatleuten  mit  Freikarten  bedachten  Arbeitern  vorgeführt 
wurden,  beleuchtete  die  glänzend  verlaufene  Ausstellung  mit  Hilfe 
eines  großen  Teils  der  insgesamt  etwa  4000  graphischen  Darstel¬ 
lungen  wichtige  Fragen  aus  dem  Gebiete  der  sozialen  Hygiene  und 
Arbeiterfürsorge.  Manche  dieser  statistischen  Darstellungen  waren 
weniger  für  das  große  Publikum  als  für  den  Fachmann  bestimmt, 
z.  B.  die  ziemlich  verwickelten  Diagramme  über  Vererbungsfragen, 
die  meisten  zeichneten  sich  aber  durch  große  Übersichtlichkeit  und 
Verständlichkeit  aus.  Beispielsweise  befand  sich  in  Halle  53  (Beruf 
und  Arbeit)  eine  sehr  klare  graphische  Darstellung  in  Gestalt 
mehrerer  Kurven.  Letztere  zeigten,  daß  im  Jahre  1910  die  Gesamt¬ 
sterblichkeit  der  Schleifer  (und  Instrumentenmacher)  in  Shef¬ 
field  30,4  gegenüber  9,3  Promille  in  Solingen  betrug  und  daß 
an  Tuberkulose  von  den  Sheffielder  Schleifern  15,4,  von  den 
Solinger  nur  4,4  Promille  starben.  Noch  im  Jahre  1884  hatte,  wie 
die  bis  dahin  zurückreichende  Kurve  zeigte,  auch  die  Sterblichkeits¬ 
ziffer  der  Solinger  Schleifer  eine  Höhe  von  20,6  Promille,  von  da 
ab  —  nach  Einführung  der  Arbeiterversicherung  —  ist  sie  rasch 
auf  die  jetzige  Ziffer  (9,3  Promille)  gesunken.  Eine  weitere  Kurve 
zeigte,  daß  die  Gesamtbevölkerung  der  Stadt  Solingen  1884  eine 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  16 


238 


G.  Radestock, 

Tuberkulosesterblichkeit  von  54  Promille,  1910  eine  solche  von 
18  Promille  hatte.  Bei  aller  Einfachheit  und  Knappheit  der  Dar- 
stellungsweise  drangen  diese  leicht  verständlichen  Kurven,  denen 
übrigens  noch  erläuternde  Zahlenübersichten  beigegeben  waren, 
tief  in  die  Grundlagen  der  Erscheinungen  ein  und  beleuchteten 
die  Wirkung  der  Arbeiterversicherung  klarer  und  treff¬ 
licher  als  manche  weitschweifigere  graphische  Darstellung  in  der 
Gruppe  Arbeiterversicherung  (Halle  10).  - 

In  der  wissenschaftlichen  Abteilung  waren  zur  Gruppe  Tuber¬ 
kulose  äußerst  lehrreiche  Gegenstände  zu  finden,  einmal  Wachs¬ 
nachbildungen  menschlicher  Körperteile,  an  denen  gezeigt  wurde, 
welche  gewaltigen  Fortschritte  man  in  der  Diagnose  dieser  Krank¬ 
heit  gemacht  hat  insofern,  als  heute  das  Bestreichen  der  Haut  mit 
Tuberkulinsalbe  oder  das  leichte  Einimpfen  von  Tuberkulin  genügt, 
um  das  Vorhandensein  von  tuberkulöser  Erkrankung  des  mensch¬ 
lichen  Körpers  mit  Sicherheit  festzustellen  oder  auszuschließen; 
daneben  waren  graphische  Darstellungen  in  Kurvenform,  welche 
anschaulich  nachwiesen,  daß  die  Tuberkulosesterblichkeit  nicht  nur 
in  den  deutschen  Großstädten,  sondern  auch  in  allen  zivilisierten 
europäischen  Staaten  von  Jahr  zu  Jahr  geringer  wird  und  gegen¬ 
wärtig  bereits  auf  einem  verhältnismäßig  niedrigen  Stande  ange¬ 
langt  ist.  Zweifellos  dürfen  sowohl  die  staatliche  wie  die  städtische, 
als  auch  die  private  Hygiene,  namentlich  die  Vereine  für  Tuber¬ 
kulosebekämpfung  ihr  Verdienst  um  den  Rückgang  der  Tuberkulose¬ 
sterblichkeit  mit  Recht  geltend  machen  und  darin  einen  Ansporn 
zu  weiterer  segensreicher  Tätigkeit  erblicken,  indes  im  Lichte 
nüchterner  statistischer  Auffassung  kann  man  doch  die  Erschei¬ 
nung,  daß  die  Tuberkulosesterblichkeit  beispielsweise  im  König¬ 
reich  Sachsen  eine  geringere  als  im  Großherzogtum  Baden  ist,  von 
einem  anderen  Gesichtspunkte  aus  betrachten.  Hält  man  nämlich 
neben  die  Kurve  der  Tuberkulosesterblichkeit  die  Kurve  der  Säug¬ 
lingssterblichkeit  in  den  verschiedenen  Bundesstaaten,  so  erkennt 
man,  daß  die  Säuglingssterblichkeit  in  Sachsen  erheblich 
größer  als  in  Baden  ist.  Dies  dürfte  den  Schluß  nahelegen,  daß 
die  Tuberkulosesterblichkeit  im  Königreich  Sachsen  deshalb  eine 
geringere  als  in  Baden  ist,  weil  in  Sachsen  viele  infolge  Abstam¬ 
mung,  Lebenshaltung  und  Umgebung  für  Tuberkulose  empfängliche 
Kinder  bereits  im  ersten  Lebensjahre  an  angeborener  Lebens¬ 
schwäche,  Atrophie,  Krämpfen,  Magen-  und  Darmkatarrh  oder 
sonstigen  Todesursachen  absterben,  bevor  sie  mit  Tuberkulose  an¬ 
gesteckt  sind. 


Die  Internationale  Hygieneausstellung'  Dresden  1911  usw.  239 

übrigens  gaben  zahlreiche  Kurven  über  Säuglingssterblichkeit 
in  Stadt  und  Land  beachtenswerte  Anhaltepunkte  für  die  Reform¬ 
bedürftigkeit  der  Säuglingsfürsorge  im  allgemeinen  und  der  länd¬ 
lichen  insbesondere.  Im  Anschluß  hieran  sei  erwähnt,  daß  der  Rat 
der  Stadt  Leipzig  sehr  eingehende  graphische  Darstellungen  zur 
Milchversorgung  der  Stadt  Leipzig  ausgestellt  hatte.  Sie  zeigten 
nicht  nur  den  gewaltigen  Umfang  der  Milchzufuhr  auf  den  Land¬ 
straßen  sowie  mittels  der  Eisenbahn,  sondern  auch  auf  einer  großen 
Karte  der  weiteren  Umgebung  Leipzigs  einschließlich  Sachsen- 
Altenburg  und  der  Grenzgebiete  Preußens  sämtliche  Produktions¬ 
orte  der  am  28.  September  1910  nach  Leipzig  eingeführten  Milch 
und  die  von  den  Produktionsorten  gelieferten  Milchmengen.  Diese 
Karte  zeigte  recht  anschaulich,  wie  weit  der  milchentziehende 
Einfluß  einer  Großstadt  auf  das  Land  hinaus,  ja  in  benach¬ 
barte  Staaten  hinein  sich  erstreckt  und  zwar  wohl  zum  Nachteil 
der  Dorfkinder,  zumal  der  Ziehkinder  auf  dem  Lande.  Wie  große 
Erfolge  durch  eine  gute  Ziehkinderkontrolle  erreichbar  sind, 
zeigte  eine  von  Privatdozent  Dr.  S  c  h  e  1  b  1  e  in  Halle  56  (Nahrungs¬ 
und  Genußmittel)  ausgestellte  graphische  Darstellung.  Eine  blaue 
Kurve  veranschaulichte  die  prozentuale  Sterblichkeit  der  ehelichen 
Säuglinge,  eine  rote  die  der  (kontrollierten)  unehelichen  Ziehkinder 
in  der  Stadt  Freiburg  i.  B.  während  der  Jahre  1901  bis  1910.  Es 
mußte  jedem  Beobachter  in  die  Augen  fällen,  daß  die  rote  Kurve 
im  Vergleich  mit  der  blauen  viel  steiler  abfiel,  was  einzig  und 

allein  auf  die  Erfolge  der  Ziehkinderkontrolle  zurückzuführen  ist. 
•  • 

Überhaupt  ist  die  Säuglingssterblichkeit  statistisch  mit  großer 
Sorgfalt  behandelt  worden.  Ein  vom  Kgl.  Sächs.  Statistischen 
Landesamt  ausgestelltes  Kartogramm  (in  Halle  7)  zeigte  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  in  Sachsen  während  der  Jahre  1901  bis  1905  für 
die  einzelnen  (1205)  Standesamtsbezirke  in  achtfacher 
gradueller  Abtönung.  Diese  Originalkarte,  deren  graphische  Her¬ 
stellung  allein  300  M.  Kosten  verursacht  hatte,  dürfte  sehr  lehrreich 
für  die  staatlichen  und  städtischen  Verwaltungsbehörden  gewesen 
und  als  Vorbild  künftiger  Darstellungen  über  Säuglingssterblichkeit 
zu  betrachten  sein.  Auch  würde  dieses  Kartogramm,  der  oben¬ 
erwähnten  Milchversorgung  Leipzigs  nach  milchliefernden  Ort¬ 
schaften  gegenübergestellt,  Handhaben  für  eine  Erörterung  liefern, 
inwieweit  der  milchentziehende  Einfluß  der  Großstadt  auf  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit  der  Dörfer  einwirkt. 

Eine  nicht  minder  eingehende  graphische  Darstellung  in  der¬ 
selben  Halle  hatte  die  Tuberkulosesterblichkeit  im  Staate  Baden 

16* 


240 


G.  Radestock 


nach  Gemeinden  zum  Gegenstand.  Gleich  daneben  befand  sich 
eine  für  den  Fachmann  wie  für  den  Laien  gleich  interessante,  im 
Statistischen  Bureau  der  Hygieneausstellung  (Dr.  E.  Rösle)  her¬ 
gestellte  Tafel,  welche  die  mit  der  Höhenlage  abnehmende  Tuber¬ 
kulosesterblichkeit  für  Sachsen  auf  die  Jahre  1904  bis  1907  nach¬ 
wies.  Sie  zeigte  für  41  sächsische ,  Städte,  beginnend  mit  Riesa, 
endigend  mit  Falkenstein,  die  mit  zunehmender  Höhenlage 
abnehmende  Sterbeziffer  an  Tuberkulose  auf  je  10000 
Einwohner  mittels  vertikaler  linearer  Säulen,  unter  letzteren  — 
der  Reihenfolge  der  41  Städte  entsprechend  —  ein  von  der  Tief¬ 
ebene  bei  Riesa  bis  zum  Gebirgskamm  bei  Falkenstein  ansteigendes 
ideales  Landschaftsbild,  in  welches  auch  etwaige  Bewaldung  hinein¬ 
gezeichnet  war.  Dieser  Beitrag  zur  Tuberkulosestatistik  war  recht 
geeignet,  die  vielfach  verbreitete  irrige  Annahme  zu  widerlegen, 
daß  die  ärmliche  Bevölkerung  des  sächsischen  Erz-  und  Elster¬ 
gebirges  infolge  kärglicher  Ernährungsweise  weniger  widerstands¬ 
fähig  gegen  Krankheiten,  besonders  Tuberkulose,  sei. 

Sehr  eingehend  wurde  auch  in  zahlreichen,  zum  Teil  plastischen 
Diagrammen  die  berufliche  Zusammensetzung  der  Bevölkerung  in 
den  einzelnen  Großstädten  sowie  verschiedenen  Bundesstaaten  be¬ 
treffs  der  Berufszugehörigkeit  nach  den  Berufszählungsjahren  1882, 
1885  und  1907  in  Verbindung  mit  der  zeitlichen  Entwicklung  der 
Geburtenhäufigkeit  sowie  der  Säuglings-  und  Tuberkulosesterblich¬ 
keit  behandelt.  Eine  vom  Statistischen  Bureau  der  Ausstellung 
ausgeführte  demographische  Darstellung,  welche  die  Sterblichkeit 
in  den  einzelnen  deutschen  Großstädten  nach  5jährigen  Alters¬ 
klassen,  getrennt  nach  Geschlecht  einerseits  und  nach  den  Zeit¬ 
perioden  1885/86  und  1905/06  andererseits  behandelte,  bestand  für 
jede  einzelne  Großstadt  aus  je  vier  aus  Pappe  ausgeschnittenen 
pyramidenförmigen,  hintereinander  aufgestellten  Diagrammen,  die 
eine  rasche  Orientierung  darüber  gewährten,  wie  die  Sterblichkeit 
sowohl  in  den  Geschlechtern,  als  in  den  Altersklassen  der  ver¬ 
schiedenen  großstädtischen  Bevölkerungen  abgenommen  hat.  Eine 
weitere,  die  Bevölkerungsbewegung  in  den  Städten  Chemnitz, 
Dresden,  Leipzig  behandelnde  Tafel  verfolgte  die  Eheschließungen, 
Geburten  und  Sterbefälle  bis  in  das  17.  Jahrhundert  zurück.  Hierzu 
seien  einige  Zahlenangaben  gebracht.  Auf  1000  verheiratete  Frauen 
zwischen  15  und  50  Jahren  entfielen: 


im  Deutschen  Reiche 


in  Sachsen 


1876—85 

1886—95 


268 

258 


293 

286 


Die  Internationale  Hygieneausstellung  Dresden  1911  usw. 


241 


eheliche  Kinder  derselben. 

Demgegenüber 

betrug  die  allgemeine 

Sterblichkeitsziffer : 

im  Deutschen  Reiche 

in  Sachsen 

Prom. 

Prom. 

1871—80 

27,2 

30,9 

1881—90 

25,1 

29,6 

1891—00 

22,2 

25,3 

1901—04 

19,6 

21,1 

also  ein  Rückgang  der  Sterblichkeit,  der  einerseits  auf  die 
Fortschritte  der  Medizin,  andererseits  auf  die  Verbesserung  der 
Wohnung,  Ernährung  und  Körperpflege  zurückzuführen  ist.  Da¬ 
gegen  ist  die  Säuglingssterblichkeit  keineswegs  stetig  gesunken, 
denn  von  1000  Lebendgeborenen  starben  im  ersten  Lebensjahre  in : 


Preußen 

Sachsen 

1871—75 

224 

268 

1876-80 

205 

278 

1881—85 

209 

282 

1886—90 

208 

282 

1891—95 

205 

280 

1896—00 

201 

265 

1901—04 

188 

243 

Ferner  kamen  auf 

1000  Köpfe  der  mittleren 

Bevölkerung  Ehe- 

Schließungen  in : 

Deutschland 

Sachsen 

1861—70 

8,5 

8,9 

1871-80 

8,6 

9,4 

1881-90 

7,8 

9,1 

1891-00 

8,2 

9J 

1901-04 

8,0 

8,3 

Dabei  waren  von  1000  Heiratenden  in  Sachsen: 

1876-80 

,  (  m.  851,5 

led‘g  1  w.  908,4 

verwitwet  j  w  79;0 

Der  Anteil  der  Ledigen  unter  den  Eheschließenden  ist  dem¬ 
nach  stark  gewachsen  und  von  100  männlichen  Personen  heirateten 
im  Alter  von  Jahren : 


20—25 

25—30 

1881—85 

38,3 

35,9 

1886—90 

39,0 

36,7 

1891—95 

38,6 

37,6 

1896-00 

42,9 

35,8 

1901—04 

40,5 

37,9 

1901—04 

880,7 

925,2 

102,4 

56,4 


242 


G.  Kadestock, 


Weitere  demographische  Diagramme  zeigten,  daß  Sachsen  vom 
Jahre  1871  bis  zum  Jahre  1905  eine  Bevölkerungszunahme  von 
1  952  357  Köpfen  erfahren  hat,  wovon  der  Geburtengewinn  —  d.  i. 
nach  Abzug  der  Sterblichkeit  —  mit  1  711  492  Köpfen,  also  mit 
87,7  Proz.  der  Bevölkerungszuuahme  beteiligt  ist,  während  der 
Rest  von  240  865  Personen,  also  12,3  Proz.  als  Wanderungs¬ 
gewinn  zu  betrachten  ist,  auf  den  das  industrielle  Sachsen  stark 
angewiesen  ist,  obwohl  seine  überseeische  Auswandererzahl  als 
unbeträchtlich  angesehen  werden  kann. 

Durch  das  in  allen  zivilisierten  Staaten  nachweisbare  starke 
Sinken  der  Sterbeziffer  wurden  die  Erfolge  auf  dem  Gebiet  der 
Seuchenbekämpfung  trefflich  beleuchtet.  Das  Kaiserliche 
Gesundheitsamt  hatte  treffliche  Darstellungen,  insbesondere  zur 
Diphtherie-  und  Typhusbekämpfung,  gestellt,  im  Hinblick  auf  letztere 
ein  großes  Kartogramm  über  die  Trinkwasserversorgung  in 
den  deutschen  Städten  ausgestellt.  In  der  Halle  54  (Ansiedelung 
und  Wohnung)  brachte  die  Großherzoglich  Badische  Oberdirektion 
für  Wasser-  und  Straßenbau  einige  sehr  eingehende  graphische 
Darstellungen  über  die  Entwicklung  der  Wasserversorgung  des 
Staates  Baden  mit  Rohrleitungswasser  in  den  Jahren  1878 — 1910. 
Lineare  farbige  Säulen  zeigten  a)  die  Zahl  der  mit  Wasser  aus 
staatlichen  Leitungen  versorgten  Einwohner,  b)  die  Länge  der  bis 
1910  angelegten  öffentlichen  Leitungen,  c)  den  Kostenaufwand  hier¬ 
für  in  Millionen  Mark.  Danach  waren  im  Jahre  1910  unter  Mit¬ 
wirkung  der  technischen  Staatsbehörden  825  000  Einwohner  Badens 
mit  Trinkwasser  aus  Leitungen  von  insgesamt  4200  km  Länge  ver¬ 
sorgt,  deren  Anlage  43  Mill.  M.  Kosten  verursacht  hatten.  Eine 
weitere  Tafel  zeigte,  daß  ohne  Mitwirkung  der  technischen  Staats¬ 
behörden  die  Wasserleitungen  für  die  zehn  größeren  Städte,  d.  i. 
für  520  000  Bewohner  gebaut  wurden,  so  daß  am  Schlüsse  des 
Jahres  1910  1  350  000  oder  67  Proz.  der  badischen  Gesamtbevölke¬ 
rung  mit  Trinkwasser  aus  Leitungen  versorgt  waren,  indes  mit 
erheblichen  Unterschieden  zwischen  den  verschiedenen  11  Kreisen ; 
beispielsweise  waren  im  Kreise  Konstanz  83,  im  Kreise  Offenburg 
nur  33  Proz.  der  Einwohner  mit  Leitungswasser  versehen. 

Ebenso  reichhaltig  wie  die  Frage  von  der  Trinkwasser¬ 
versorgung  wurde  das  Kapitel  Alkoholismus  statistisch  behandelt, 
leider  nicht  immer  mit  einwandfreien  Unterlagen,  mitunter  auch 
von  unzuständigen  Autoren.  Bemerkenswert  waren  indes:  1.  Eine 
vom  sächsischen  Landesverband  der  Enthaltsamkeitsvereine  zu¬ 
sammengestellte  Übersicht,  aus  der  hervorging,  daß  89  Proz.  der 


Die  Internationale  Hygieneausstellnng  Dresden  1911  nsw. 


243 


geretteten  sächsischen  Trinker  und  80  Proz.  der  geretteten 
Trinkerinnen  der  Arbeiterversicherung  angehören.  2.  Eine  Zu¬ 
sammenstellung  der  Leipziger  Ortskrankenkasse  über  den  Zusammen¬ 
hang  zwischen  Alkohol,  Krankheit,  Sterblichkeit  und  Unfällen,  nach 
Untergruppen  bzw.  Krankheitsformen  und  Arten  der  Verunglückung 
berechnet  auf  1000  Personen  a)  der  Allgemeinheit,  b)  der  Trinker. 
3.  Krankheits-  und  Sterbeziffern  der  (ärztlich  ermittelten)  Trinker 
in  der  Leipziger  Ortskrankenkasse  nach  Altersklassen.  Besser  und 
nachhaltiger  als  alle  graphischen  Darstellungen  dieser  Art  wirkte 
aber  auf  die  große  Menge  der  Besucher  das  plastische  Kunstwerk 
eines  französischen  Bildhauers  ein,  La  Paye  (der  Zahltag),  welches 
darstellt,  wie  ein  gut  gekleideter  jüngerer  Arbeiter  in  der  Gosse 
neben  der  zerbrochenen  großen  Schnapsflasche  liegend  von  seiner 
abgehärmten  Frau  und  seinen  beiden  Kindern  sinnlos  betrunken 
aufgefunden  wird. 

In  engem  Zusammenhang  mit  dem  Alkoholismus  wurden  die 
Vererbungsfragen  behandelt,  leider  in  einer  für  die  meisten 
Laien  kaum  verständlichen  Darstellungsweise.  Wenn  beispielsweise 
der  Direktor  der  Heil-  und  Pflegeanstalt  Illenau,  Geheimrat  Schüle, 
und  dessen  Assistent  F.  Römer  auf  21  umfangreichen  und  etwa 
20  qm  Wandfläche  einnehmenden  Tafeln  die  entartende  Wirkung 
des  Alkohols  und  daneben  zugleich  den  die  Nachkommenschaft 
schädigenden  Einfluß  der  Inzucht,  d.  i.  des  Heiratens  unter  Bluts¬ 
verwandten,  an  12  Stammbäumen  von  Familien  aus  zwei  badischen 
Wein-  und  Schnapsbrennereiorten  nachzuweisen  suchten,  so  war  dies 
methodologisch  und  rassenbiologisch  zweifellos  sehr  interessant, 
aber  zu  unübersichtlich  und  für  den  Laien  fast  unverständlich, 
abgesehen  davon,  daß  gleichzeitig  zwei  rassenschädigende  Momente, 
Alkohol  und  Inzucht  zur  Untersuchung  gelangten,  so  daß  eine  klare 
Trennung  beider  Faktoren  unmöglich  war.  Eine  kurze  tabellarische 
Übersicht  über  die  Endergebnisse  der  mühsamen  Untersuchung 
wäre  für  die  Mehrzahl  der  Ausstellungsbesucher  vielleicht  zweck¬ 
mäßiger  gewesen. 

Es  erübrigt  noch  auf  diejenigen  Ausstellungsgegenstände,  ins¬ 
besondere  statistischen  Darstellungen  einzugehen,  welche,  abgesehen 
von  einigen  schon  oben  erwähnten,  sich  eingehender  mit  sächsi¬ 
schen  Verhältnissen  auf  dem  Gebiete  der  sozialen  Hygiene 
und  verwandten  Gegenständen  beschäftigen.  Bei  der  hohen  in¬ 
dustriellen  Entwicklung  Sachsens  ist  es  nicht  überraschend,  daß 
mehr  als  300  graphische  Darstellungen  in  der  Hygieneausstellung 
sich  allein  auf  Sachsen  oder  die  sächsischen  Städte  bezogen,  wo- 


244 


G.  Radestock, 


durch  zweifellos  auch  der  sozialen  Hygiene  einige  Förderung  zu¬ 
teil  geworden  ist.  Nicht  unerwähnt  soll  bleiben,  daß  die  gra¬ 
phischen  Darstellungen  zur  Wohnungsfrage  u.  a.  trefflich  erläutert 
wurden  durch  Musterbauten  von  richtigen  Arbeiterhäusern  in  Holz 
und  Stein,  die  mit  gefälligem  und  praktischem  Mobiliar  bis  aufs 
kleinste  ausgestattet,  gewiß  nicht  nur  den  die  Ausstellung  be¬ 
suchenden  Arbeitern,  als  auch  Architekten,  Fabrikanten,  Bauver¬ 
einigungen  und  Behörden  eine  Fülle  von  Anregungen  boten.  Be¬ 
merkenswert  war  eine  vom  K.  S.  Statistischen  Landesamt  darge¬ 
botene  Darstellung  über  Berufsverteilung  und  Wohnungs Ver¬ 
hältnisse  der  Bevölkerung  in  30  sächsischen  Städten  (mit 
Unterscheidung  der  Wohnungen  mit  1,  2,  3,  4  und  mehr  heizbaren 
Zimmern),  ergänzt  durch  3  weitere  Diagramme:  a)  Die  Säuglings¬ 
sterblichkeit  in  Beziehung  zur  Verteilung  der  Bevölkerung  auf  die 
Wohnungen  mit  nicht  mehr  als  2  heizbaren  Zimmern  einerseits 
und  zu  ihrer  Zugehörigkeit  zur  Industrie  andererseits  in  30 
sächsischen  Städten,  b)  die  übervölkerten  Schlafräume  in  Beziehung 
zur  Wohndichtigkeit  in  27  sächsischen  Städten  auf  Grund  der 
Wohnungserhebung  vom  1.  Dezember  1905,  c)  die  Gäufigkeit  der 
Abortanlagen  in  27  sächsischen  Städten,  dargestellt  in  27  liegenden 
linearen  Säulen,  welche  zeigten,  wieviele  unter  100  Wohnungen 
eigene  Aborte  hatten  und  wieviele  den  Abort  mit  den  Insassen 
anderer  Wohnungen  teilen  mußten.  Daran  reihte  sich  eine  Kur¬ 
vendarstellung  über  die  Art  der  Erkrankung  der  in  die  sächsischen 
allgemeinen  öffentlichen  Krankenhäuser  1891 — 1908  aufgenomme¬ 
nen  Personen,  sehr  anschaulich  die  mit  der  Bevölkerungszunahme 
einhergehende  Vermehrung  der  Betten  erläuternd,  auch  ein  Diagramm 
über  die  Ausdehnung  und  Leistungen  der  Krankenversicherung  in 
Sachsen,  Kurven  zum  Vergleich  der  absoluten  und  relativen  Zahl 
der  Mitglieder  mit  der  Gesamtbevölkerung  jedes  Geschlechts,  so¬ 
wie  der  auf  ein  Mitglied  kommenden  Beiträge  und  Ausgaben. 

Übrigens  war  auch  das  Ergebnis  der  in  dieser  Zeitschrift, 
Jahrgang  1910,  Seite  450  veröffentlichten  Arbeit  über  die  Ab¬ 
hängigkeit  der  plötzlichen  Todesfälle  an  Altersschwäche  oder  an 
Herzschlag  bzw.  Gehirnschlag  von  Luftdruckschwankungen  unter 
den  vom  sächsischen  Statistischen  Landesamt  ausgestellten  Dar¬ 
stellungen  als  sehr  anschaulich  wirkendes  Kreisdiagramm  vorhanden. 

Betreffs  der  Gewerbeaufsicht  war  besonders  bemerkens¬ 
wert  die  vom  K.  Sächs.  Ministerium  des  Innern  ausgestellte  Dar¬ 
stellung  der  in  Sachsen  beaufsichtigten  gewerblichen  Betriebe,  eine 
Tafel  von  120X100  cm,  mit  verschiedenen  Kurven,  nicht  nur  über 


Die  Internationale  Hygieneausstellung’  Dresden  1911  usw. 


245 


die  Zahl  der  revidierten  Betriebe,  sondern  auch  über  die  Zahl  der 
in  ihnen  beschäftigten  Arbeiter  im  Vergleich  mit  der  Gesamtbe- 
völkerung,  über  Geschlecht,  Alterszusammensetzung  der  Arbeiter  und 
deren  Verteilung  auf  die  verschiedenen  Berufsgruppen.  Obwohl 
diese  Darstellung  auch  für  den  Laien  verständlich  erscheinen 
mußte,  war  ihr  fürsorglicherweise  noch  eine  gedruckte  20spaltige 
Tabelle  beigegeben,  welche  außer  den  durch  ihre  Höhe  bemerkens¬ 
werten  absoluten  Zahlen  nicht  weniger  als  6  Spalten  Verhältnis¬ 
zitfern  für  etwaige  in  Verhältnisberechnungen  ungeübte  Leser 
enthielt.  In  materieller  Beziehung  waren  auf  sozialhygienischem 
Gebiete  besonders  lobenswert:  Eine  graphische  Darstellung  über 
den  günstigen  Einfluß  der  rechtzeitigen  Arbeitsunter¬ 
brechung  auf  Geburt  und  Wochenbett  nach  Berechnungen 
der  Ortskrankenkasse  für  Leipzig  und  Umgebung  (Vergleichung 
der  prozentualen  Häufigkeit  von  Fehlgeburt,  Frühgeburt,  Eklampsie 
und  sonstigen  Zufällen  in  der  Schwangerschaft,  Todesfälle  bei 
und  nach  der  Entbindung  bei  ruhenden  und  weiterarbeitenden 
Schwangeren  bzw.  Entbundenen),  ferner  ein  Diagramm  über  die 
größere  Säuglingssterblichkeit  in  den  Industriebezirken  Sachsens, 
vorwiegend  industrielle  Amtshauptmannschaften  (z.  B.  Chemnitz, 
Glauchau,  Ölsnitz,  Zwickau)  und  Industrieorte  in  Vergleich  stellend 
zu  vorwiegend  landwirtschaftlichen  Bezirken  (Amtshauptmann¬ 
schaften  Bautzen,  Kamenz  usw.),  berechnet  auf  die  Jahre  1891 — 1900, 
weiter  eine  Tafel  über  die  Unfallhäufigkeit  bei  verschiedenen 
Berufsgenossenschaften  im  Jahre  1907,  berechnet  auf  1000  Voll¬ 
arbeiter  nach  20  Berufsgruppen  (nach  dem  Statist.  Jahrb.  f.  d. 
Kgr.  Sachsen  1909),  auch  eine  Übersicht  über  Blutuntersuchungen 
bei  an  Bleivergiftungen  erkrankten  erwerbsunfähigen  Mit¬ 
gliedern  der  Leipziger  Ortskrankenkasse,  ausgeführt  im  hygienischen 
Institut  der  Universität  Leipzig  (10  Berufsarten). 

Weiterhin  hatte  die  Sektion  VII  der  Knappschaftsbe¬ 
rufsgenossenschaft  wertvolle  Beiträge  zur  Unfallstatistik  im 
Braunkohlen-,  Steinkohlen-  und  sonstigen  Bergbau  Sachsens  auf  die 
Jahre  1885 — 1909  geliefert. 

Besonders  beachtenswert  waren  auch  2  graphische  Darstellungen 
von  der  Stadt  Leipzig,  deren  eine  die  Tuberkulose to de s fälle 
nach  Höhenlage  (Stockwerken)  der  Wohnungen  der  Verstorbenen, 
deren  andere  die  prozentuale  Häufigkeit  (auf  100  Grundstücke)  der 
Tuberkulosetodesfälle  nach  8  Graden  in  den  einzelnen  Stadtbezirken 
auf  die  Jahre  1880—1904  behandelte.  In  Zusammenhang  mit  die¬ 
ser  Frage  standen  die  Diagramme  über  die  Zunahme  der  Grün- 


246  G.  Radestock,  Die  Internationale  Hygieneausstellung  Dresden  1911  usw. 

an  läge  n  (d.  i.  der  großstädtischen  Lungen)  in  den  Städten  Leipzig, 
Dresden,  Chemnitz  seit  1870  sowie  die  Darstellungen  über  die  Luft¬ 
verschlechterung  durch  Rauch  und  Ruß,  u.  a.  ein  Stadtplan  von 
Dresden  1 : 10  000  mit  örtlicher  Einzeichnung  der  Heizflächen  der 
Hochdruckdampfkessel  nach  dem  Stande  von  1911.  Der  allgemeine 
Mietbewohnerverein  Dresden  suchte  durch  eine  graphische  Dar¬ 
stellung  über  R^formbestrebungen  im  Kleinwohnungsbau  nachzu¬ 
weisen,  daß,  je  niedriger  der  Bodenspekulationsgewinn  sei,  desto 
höher  die  Volksgesundheit  und  Volkswohlfahrt  steige. 

Das  Statistische  Amt  der  Stadt  Schöneberg  erläuterte  an  Bei¬ 
spielen  von  16  sächsischen  Mittel-  und  Kleinstädten  das  Verhältnis 
zwischen  Einkommen  und  Miete  nach  19  Einkommensklassen 
und  nach  Zahl  der  Wohnungen. 

Der  Rat  der  Stadt  Chemnitz  wies  an  einem  Stadtplane  die  in 
den  Jahren  1907 — 1910  behördlicherseits  vorgenommene  Woh¬ 
nungskontrolle  nach,  woraus  zu  ersehen  war,  daß  gerade  in 
den  von  Arbeitern  bevorzugten  Stadtbezirken  eine  gewissenhafte 
Überwachung  der  Wohnungsverhältnisse  stattgefunden  hat. 

Sehr  lehrreich  war  ferner  eine  von  der  Stadt  Dresden  gelie¬ 
ferte  graphische  Darstellung  über  die  Mengen  und  Beschaffenheit 
(nach  7  Arten)  des  Dresdner  Hausmülls  a)  nach  Jahreszeiten 
bzw.  Monaten,  b)  nach  der  Wohlhabenheit  (Mietzins)  der  Bewohner. 

Vorstehende  aus  der  großen  Menge  von  Ausstellungsobjekten 
herausgegriffeneBeispiele  dürften  zur  Genüge  zeigen,  welche  trefflichen 
Beiträge  staatliche  wie  städtische  Behörden,  wissenschaftliche  In¬ 
stitute  und  einzelne  Gelehrte  auf  dem  Gebiete  der  sozialen  Hygiene 
geliefert  haben. 


Ans  der  Gesellschaft  fiir  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  1.  Dezember  1910. 

Herr  Max  Fl  e sch  (Frankfurt  a.  M.)  trägt  vor  über  „Hygienische  Ergeb¬ 
nisse  der  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in  Frankfurt  a.  M.“ 

Als  das  Ergebnis  eines  großzügigen  hygienischen  Experimentes  könnte  man  die 
Feststellungen  ansehen,  die  sich  aus  der  Prüfung  der  Sterblichkeitsverhältnisse 
in  den  Häusern  der  Frankfurter  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  und 
aus  deren  Vergleich  mit  den  entsprechenden  Ermittelungen  über  die  Gesamt¬ 
bevölkerung  der  Stadt  entnehmen  lassen.  Im  Rahmen  der  Einwohnerschaft  einer 
schnell  wachsenden  Großstadt  sehen  wir  eine  etwa  l3/4  Proz.  davon  bildende 
Gruppe  von  Menschen,  die  in  den  von  der  Aktiengesellschaft  errichteten  Häusern 
zusammengefaßt  sind,  in  jahrelanger  Beobachtung  durch  so  überraschend  günstige 
Sterblichkeitsziffern  ausgezeichnet,  daß  ein  Spiel  des  Zufalls  ausgeschlossen  er¬ 
scheint.  Ob  zwischen  diesen  günstigen  Sterblichkeitsziffern  und  den  Wohnungs¬ 
verhältnissen  ein  ursächlicher  Zusammenhang  besteht,  soll  hier  einer  Prüfung 
unterstellt  werden. 

Als  Unterlage  für  die  Wertschätzung  der  später  mitzuteilenden  statistischen 
Ergebnisse  wird  es  nötig  sein,  hier  einiges  über  die  Eigenart  des  Untersuchungs¬ 
objektes  voranzuschicken.  Die  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in 
Frankfurt  a.  M.  ist  vor  20  Jahren  gegründet  worden.  Seit  der  Fertigstellung  der 
ersten  7  Häuser  mit  86  Wohnungen  im  Mai  1891  ist  der  Besitz  der  Gesellschaft 
auf  1201  Wohnungen,  in  welchen  5677  Menschen  wohnen,  gewachsen.  Die  Bauten 
der  Gesellschaft  sind  in  6  Blocks  verteilt,  die  sich  teils  inmitten  dichter  be¬ 
völkerter  Quartiere  in  der  Innenstadt,  teils  in  Außenvierteln,  einer  vorläufig  ganz 
peripher  außerhalb  des  anderweitig  schon  zur  Bebauung  benutzten  Areals  befinden. 
Je  nachdem  für  die  Erstellung  der  Häuser  nötig  gewordenen  Kostenaufwand  ist 
der  Mietpreis  für  die  Wohnungen  ein  verschiedener  in  den  einzelnen  Blocks; 
maßgebend  ist  dafür  der  Grundsatz,  daß  jeder  Block  das  für  seine  Errichtung 
aufgewendete  Kapital  —  dessen  Höhe  eben  nach  dem  Bodenpreis  und  der  Aus¬ 
stattung  der  Häuser  variiert  —  verzinsen  muß.  Eine  Limitierung  dieser  Ver¬ 
zinsung  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Gesellschaft  an  ihre  Aktionäre  nur  3l/s  Proz. 

9  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  1  u.  2 
der  „Medizinischen  Reform“,  1911,  herausg.  von  R.  Lennhoff. 


248  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

des  Aktienbetrags  auszahlt.  Für  die  Ausstattung  der  Häuser  selbst  aber  ist  ma߬ 
gebend,  daß  die  Gesellschaft  —  im  Gegensatz  zu  anderen  in  Frankfurt  wirkenden 
gemeinnützigen  Baugesellschaften,  die  sich  mit  der  Beschaffung  von  Wohnungen 
für  relativ  besser  situierte  Arbeiter  befassen  —  erstrebt,  unter  Anpassung  des 
Mietpreises  an  den  durchschnittlichen  Arbeitslohn  ihre  Wohnungen  an  solche, 
insbesondere  an  kinderreiche  Familien  abzugeben,  welchen  die  Möglichkeit  fehlt, 
einen  so  hohen  Teil  des  Arbeitslohns  des  Mannes  für  die  Miete  aufzuwenden,  wie 
er  den  Herstellungskosten  für  in  kleine  Häuser  zerstreute  Wohnungen  in  der 
Außenstadt  entspricht,  oder  wie  er  sich  aus  den  hohen  Bodenpreisen  dichter  be¬ 
bauter  Stadtteile  ergeben  würde.  Die  Wohnungen  selbst  bestehen  aus  1 — 4  Räumen, 
von  welchen  einer  als  Wohnküche  oder  als  Küche  dient;  in  der  Mehrzahl  sind 
sie  Zweizimmerwohnungen  mit  oder  ohne  Küche.  Wo  keine  Küche  ist,  besteht 
ein  Spülraum  neben  dem  Wohnküchenzimmer;  jede  Wohnung  hat  ihr  eigenes 
Klosett,  ein  Kellerabteil  und  einen  Mansardenraum.  Die  Heizung  erfolgt  durch 
Kohlenöfen;  ergänzt  durch  Gasapparate  zum  Kochen.  Letztere  werden  durch 
Vermittlung  von  Gasautomaten  gespeist,  die  zugleich  das  Leuchtgas  liefern. 

Mit  der  fortschreitenden  Entwicklung  der  Gesellschaft  hat  sich  auch  die 
Ausgestaltung  der  Wohnungen  verbessert;  deren  Flächeninhalt,  bei  den  ältesten 
33  qm  für  die  zweiräumige  Wohnung  ohne  Küche,  ist  bei  dem  zuletzt  der  Ver¬ 
mietung  übergebenen  neuesten  Typ  auf  53,  bei  dreiräumigen  Wohnungen  auf  70  qm 
gewachsen.  Die  Mehrzahl  der  Wohnungen  hat  einen  kleinen  verandaartigen  Vor¬ 
raum;  außerdem  ist  ein  kleiner  Platz  zum  Anbau  von  Blumen  oder  Gemüsen 
jeder  Wohnung  zugeteilt.  Jedes  einzelne  Haus  hat  eine  Waschküche,  in  der  ein 
Bad  aufgestellt  ist;  beide  stehen  in  regelmäßigem  Turnus  den  Bewohnern  zur 
Verfügung.  Der  Mietspreis  für  diese  Wohnungen  stellt  sich  durchschnittlich 
25 — 30  Proz.  niedriger  als  für  die  entsprechenden  Wohnungen  der  Privatvermieter 
in  den  gleichen  örtlichen  Verhältnissen. 

Daß  die  Wohnungen  der  Aktienbaugesellschaft  nach  manchen  Richtungen 
ihren  Bewohnern  mehr  leisten  als  die  ihnen  sonst  zugänglichen,  ergibt  sich  aus 
diesen  Daten;  die  Ausnützung  des  dem  Erwerb  dienenden  Privathauses  ist  mit 
einer  Hergabe  von  nutzbarem  Areal  zu  Veranden,  Gartenbauflächen  usw.  nicht 
zu  vereinigen.  Aber  damit  sind  die  Vorteile,  welche  die  Wohnungen  der  Gesell¬ 
schaft  ihren  Mietern  bieten,  nicht  erschöpft.  Vor  allem  sind  es  gewisse,  von  dem 
Gründer  der  Gesellschaft,  Stadtrat  Flesch,  als  Wohnungsergänzungen  bezeich- 
nete  Einrichtungen,  welche  hier  in  Betracht  kommen.  Ein  Teil  dessen,  was  dem 
besser  situierten  Bewohner  größerer  Wohnungen  durch  die  Mehrzahl  der  Räume 
zur  Verfügung  steht,  soll  durch  der  gemeinsamen  Benutzung  dienende,  den  ein¬ 
zelnen  Blocks  angegliederte  Einrichtungen  ersetzt  werden:  In  jedem  der  größeren, 
neueren  Blocks  befindet  sich  ein  „Vereinshaus“,  'in  welchem  ein  Lesesaal  mit 
Zeitungen,  Büchern  und  Spielen  ausgestattet,  den  Mietern  einen  behaglichen, 
kostenlosen  Aufenthalt  ohne  Wirtshauszwang  außerhalb  ihrer  überfüllten  Wohn- 
und  Schlafräume  bietet.  Damit  verbunden  ist  ein  Versammlungssaal,  in  dem  Vor¬ 
lesungen,  gesellschaftliche  Vereinigungen  der  Blockbewohner  usw.  stattfinden 
können.  In  den  meisten  Blocks  ist  eine  Verkaufsstätte  des  Konsumvereins  ein¬ 
gerichtet.  Es  besteht  in  jedem  eine  kleine  eigene  Bibliothek  oder  eine  Filiale 
der  Volksbibliothek.  Für  die  Kinder  sind  vor  dem  Getriebe  des  Fährverkehrs 
gesicherte  Spielplätze  ausgespart.  In  einigen  der  Blocks  befinden  sich  Krippen 
und  Kinderhorte,  zu  deren  Aufnahme  die  Gesellschaft  an  die  sich  damit  befassenden 
Vereine  die  Räumlichkeiten  besonders  billig  vermietet  hat  Der  Erleichterung 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  249 

der  Lebenshaltung  dienen  weitere  Einrichtungen  zum  gemeinsamen  Bezug  von 
Kohlen  und  Kartoffeln  in  der  Weise,  daß  mit  Hilfe  eines  von  Aktionären  ge¬ 
stifteten  Fonds  der  Einkauf  im  großen  bewirkt  wird,  wonach  die  Mieter  ihr 
jeweils  benötigtes  Quantum  im  Laufe  des  Jahres  in  kleineren  Mengen  zum  Gro߬ 
preis  abholen.  Der  Gasautomaten  wurde  bereits  gedacht.  Zur  Erleichterung  des 
Gasbezuges  haben  die  Mieter  der  Gesellschaft  einen  Einheitspreis  von  15  Pf. 
pro  Kubikmeter  für  das  von  ihnen  benutzte  Gas  an  Stelle  des  Sondertarifs  für 
Leucht-  und  Heizgas  in  der  Stadt  (18  bzw.  12  Pf.),  der,  da  ja  doch  über¬ 
wiegend  Leuchtgas  benutzt  wird,  eine  nicht  unbedeutende  Verbilligung  darstellt. 
Dem  Belieben  der  Einwohner  ist  endlich  der  Beitritt  zu  der  „Hauspflegekasse“ 
anheimgestellt:  in  Verbindung  mit  dem  Hauspflegeverein,  dem  ältesten  seiner 
Art  in  Deutschland,  hat  die  Aktienbaugesellschaft  die  Einrichtung  getroffen,  daß 
gegen  einen  monatlichen  Beitrag  von  30  Pfennig  die  sich  an  der  Kasse  be¬ 
teiligenden  Bewohner  das  Recht  erwerben,  bei  Krankheit  und  Wochenbett  der 
Hausfrei  für  eine  gewisse  Zeit  eine  unter  Kontrolle  des  Vereins  stehende  Pflege¬ 
frau  gestellt  zu  bekommen,  der  sie  außer  ihrer  Verköstigung  täglich  10  Pfennige 
bezahlen:1)  das  Mehr  des  Tagelohnes  (1,80 — 2,00  M.)  trägt  der  Verein,  dem  die 
Gesellschaft  dazu  einen  festen  jährlichen  Zuschuß  gewährt.  Etwa  ein  Viertel 
der  Familien  macht  von  dieser  Einrichtung  Gebrauch.  Die  Beteiligung  wäre 
vermutlich  größer,  wenn  nicht  die  Hauspflege  ohnehin  jedem  zugänglich  wäre, 
allerdings  in  den  Aktienhäusern  nur  als  Armenunterstützung  eben  um  die  Selbst¬ 
hilfe  durch  Beteiligung  an  der  Kasse  zu  fördern. 

Der  Mietspreis  für  die  Wohnungen  muß  monatlich  vorausbezahlt  werden. 
Nichtzahlung  ist  der  einzige  Grund,  aus  dem  seitens  der  Gesellschaft  das  Miets¬ 
verhältnis  gelöst  wird,  selbstverständlich  unter  den  Umständen  angepaßter  Rück¬ 
sichtnahme  auf  etwaige  durch  Krankheit  oder  Arbeitslosigkeit  entstandene  Not¬ 
lagen.  Eine  Kündigung  aus  anderen  Gründen  kann  allerdings  auch  erfolgen, 
dann  nämlich,  wenn  ein  Ausschuß,  den  die  Mieter  jedes  Blocks  selbst  wählen,  sie 
ausspricht.  Es  ist  damit  die  Möglichkeit  gegeben,  störende  Elemente,  z.  B.  ruhe¬ 
störende  Trinker,  zu  entfernen,  wenn  sie  von  den  Mietern  selbst,  d.  h.  von  ihres¬ 
gleichen,  als  solche  empfunden  worden  sind;  die  Gesellschaft  und  die  Verwalter 
mischen  sich  nicht  ein.  Zu  den  sonstigen  Vorteilen,  welche  die  Bewohner  der 
Aktienhäuser  genießen,  kommt  also  die  Sicherheit  vor  unberechtigten  Erhöhungen 
der  Miete  und  vor  Kündigung. 

Über  die  allgemeinen  gesundheitlichen  Verhältnisse  der  Bewohnerschaft  der 
hier  geschilderten  Wohnungen  gibt  Tabelle  1  Aufschluß,  welche  den  Jahres¬ 
berichten  der  Gesellschaft  unter  Ergänzung  einiger  Daten  aus  dem  Jahresbericht 
des  Frankfurter  ärztlichen  Vereins  wiedergegebenen  Mitteilungen  des  städtischen 
statistischen  Amtes  zusammengestellt  ist. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Man  sieht  aus  dieser  Tabelle  zunächst,  daß  die  Sterbeziffer  sämtlicher  Jahr¬ 
gänge  für  die  Aktienhäuser  eine  erheblich  niedere  ist  als  für  die  Gesamt¬ 
bevölkerung  der  Stadt. 

Es  ist  nun  nicht  angängig,  aus  den  Tatsachen,  welche  uns  hier  entgegen¬ 
treten,  einfach  die  Folgerung  zu  ziehen,  daß  die  günstigere  Sterblichkeit  ein 
Produkt  besserer  Wohnungsverhältnisse  sei.  Schon  die  Größe  der  Differenz  — 

x)  Es  ist  bemerkenswert,  daß  diese  kleine  Zuzahlung  sich  als  genügender 
Schutz  gegen  übermäßige  Ausbeutung  der  Pflege  bewährt  hat. 


250  Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


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Tabelle  1. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  251 

8.9  pro  tausend  und  Jahr  in  den  Aktienhäusern  gegen  15,5  in  der  Stadt  über¬ 
haupt  im  Durchschnitt  der  11  Jahre  —  läßt  es  nicht  als  wahrscheinlich  erscheinen, 
daß  die  bloße  Tatsache  des  besseren  Wohnens  als  solche  den  Unterschied  bedinge. 
Schließlich  handelt  es  sich  doch  in  einer  größtenteils  modern  gebauten  Stadt  mit 
relativ  wenig  Resten  einer  engstraßigen,  winkligen  Altstadt  für  die  überwiegende 
Mehrheit  der  Bewohnerschaft  nicht  um  so  weitgehende  Unterschiede  in  der  Be¬ 
schaffenheit  der  Wohnungen.  Auch  die  Privatindustrie  liefert  heute  in  Frankfurt 
überwiegend  gutgebaute  Wohnstätten,  für  deren  Herstellung  ja  genau  dieselbe 
Bauordnung  maßgebend  ist,  wie  für  die  Aktienhäuser.  Was  in  den  letzteren  vom 
Standpunkt  der  Hygiene  besser  ist,  die  größere  Kargheit  der  Raumverhältnisse, 
wird  dadurch  ausgeglichen,  daß  grundsätzlich  die  Wohnungen  der  Gesellschaft 
in  erster  Linie  an  kinderreiche  Familien  abgegeben  werden ;  das  wird  später  noch 
zu  besprechen  sein.  Dadurch  handelt  es  sich  eben  auch  in  den  Aktienhäusern 
um  überfüllte  Proletarierwohnungen. 

Welche  Ursachen  bewirken,  daß  deren  Einwohnerschaft  so  viel  günstiger 
gestellt  ist  als  die  Durchschnittsbevölkerung,  wird  erst  festzustellen  sein,  wenn 
die  Qualität  dieser  Einwohnerschaft,  deren  sonstige  Lebensverhältnisse,  genügend 
bekannt  sind.  Aber  auch  schon  vorher  —  wir  werden  auf  die  Prüfung  jener 
anderen  Faktoren  zurückzukommen  haben  —  zeigt  sich  aus  der  Tabelle  mancherlei 
Interessantes. 

Zunächst  fällt  auf,  daß  die  Mortalität  der  Gesamtbevölkerung  und  der  Be¬ 
wohner  der  Aktienhäuser  gleichsinnig,  —  und  zwar  im  Sinne  abnehmender  Sterb¬ 
lichkeit  im  Laufe  der  11  Beobachtungsjahre  —  aber  keineswegs  parallel  verlaufen. 
Es  ist  nämlich  die  Sterblichkeitsabnahme  bei  den  Bewohnern  der  Aktienhäuser 
weit  erheblicher  als  bei  der  Durchschnittsbevölkerung;  bei  letzterer  sinkt  die 
Jahresziffer  von  16,6  auf  13,8,  also  um  rund  3  Proin.,  in  den  Aktienhäusern  von 

12.9  auf  6,0,  also  um  rund  6  Prom.  Die  Erklärung  hierfür  ist  vermutlich  darin 
zu  suchen,  daß  die  Bewohner  der  Aktienhäuser  seßhafter  sind;  wer  das  Glück 
gehabt  hat,  hier  unterzukommen  —  die  Zahl  der  Bewerber  übersteigt  die  der 
frei  werdenden  Wohnungen  um  das  dreifache  —  bleibt  so  lange  als  möglich ;  die 
Kinder  wachsen  heran ;  allmählich  läßt  der  Nachwuchs  nach,  damit  auch  die  Sterb¬ 
lichkeit,  deren  Höhe  ja  gerade  in  den  jugendlichen  Altern  am  größten  ist.  Weiter 
erscheint  die  Sterblichkeit  der  Aktienhäuser  stärker  gezackt;  die  Schwankungen 
sind  also  größer.  Unzweifelhaft  kann  das  zum  Teil  auf  Rechnung  der  kleineren 
Zahlen  kommen,  aus  welchen  sich  die  Kurve  der  Aktienhäuser  ableitet.  Aber 
die  Schwankungen  sind  nicht  nur  qualitativ,  sondern  auch  der  Richtung  nach 
von  den  Jahresschwankungen  bei  der  Gesamtbevölkerung  verschieden.  Von  1901 
auf  1902  sinkt  bei  letzterer  die  Sterblichkeit  um  0,8  Prom.;  in  den  Aktienhäusern 
aber  steigt  sie  gleichzeitig  um  2,3  Prom.;  sie  bleibt  danach  allerdings  immer 
noch  um  4,3  Prom.  gegen  die  Sterbeziffer  der  Gesamtbevölkerung  zurück.  Der 
Grund  ergibt  sich  aus  der  Betrachtung  der  Bevölkerungsbewegung  in  den  Aktien¬ 
wohnungen:  in  jener  Zeit  war  durch  Eröffnung  eines  neuen  Wohnungsblocks  mit 
über  1100  Menschen  ein  Nachschub  aus  den  weniger  günstigen  Verhältnissen 
der  früheren  Wohnungen  erfolgt.  Die  Ursachen,  welche  die  größere  Sterblichkeit 
der  Durchschnittsbevölkerung  beherrschen,  sind  noch  nicht  überwunden;  je  länger 
die  Leute  in  den  besseren  Verhältnissen  der  neuen  Wohnungen  leben,  desto  mehr 
vollzieht  sich  der  Ausgleich  in  der  Richtung  besserer  Gesundheitsverhältnisse. 
Die  Tatsache  eines  günstigen  Einflusses  der  Übersiedlung  in  die  Aktienhäuser 


252  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

wird  dadurch  nur  unterstrichen.  Welche  Faktoren  aber  dabei  wirksam  sind,  geht 
aus  der  Tabelle  noch  nicht  hervor. 

Es  wäre  zu  prüfen,  ob  vielleicht  das  in  den  Aktienhäusern  vereinte  Menschen¬ 
material  besonders  günstige  hygienische  Bedingungen  bietet.  Das  ist  nun  zwar 
innerhalb  gewisser  Grenzen  unleugbar  der  Fall;  fraglich  ist  aber,  ob  die  hierbei 
maßgebenden  Verhältnisse  derart  wirkungsvoll  sind,  daß  sich  die  Mortalität  einer 
doch  keineswegs  unbeträchtlichen  Zahl  von  Angehörigen  der  arbeitenden  Be¬ 
völkerungsschicht  durch  sie  soweit  wie  hier  unter  den  Durchschnitt  der  Gesamt¬ 
bevölkerung  einer  ohnehin  besonders  günstige  hygienische  Bedingungen  bietenden 
Stadt  herabdrücken  läßt.  Im  großen  und  ganzen  entstammt  die  Bewohnerschaft 
der  Aktienhäuser  aus  den  mindestbemittelten  Kreisen;  und  aus  diesen  wieder 
wird  bei  der  Besiedelung  das  relativ  ungünstigste  Material,  nämlich  die  kinder¬ 
reichsten  Familien,  ausgewählt.  Ziffermäßig  findet  das  einen  Ausdruck  in  der 
auf  eine  Wohnung  entfallenden  Kopfzahl:  in  der  ganzen  Stadt  nach  der  Zählung 
von  1905  bei  einer  Bevölkerung  von  321289  Einwohnern  in  72046  Wohnungen 
4,39,  in  den  Häusern  der  Gesellschaft  bei  4924  Einwohnern  in  1030  Wohnungen 
4,78  Köpfe  pro  Wohnung  (nach  dem  Bericht  für  1909  bei  5677  Einwohnern  1201 
Wohnungen  mit  4,72  Köpfen).  Zur  richtigen  Beurteilung  dieser  Zahlen  darf 
übrigens  nicht  übersehen  werden,  daß  die  Kopfzahl  in  mehreren,  und  zwar  gerade 
der  größeren  Häusergruppen  erheblich  höher  ist  (1909  Erbbaublock  mit  1250  Ein¬ 
wohnern  4,78,  Nordenblock  mit  2180  Bewohnern  5,17,  Galluswartenblock  mit  510 
Bewohnern  5,20).  —  Auch  die  Berufszugehörigkeit  der  Bewohner  der  Aktien¬ 
häuser  kann  nicht  als  günstiges  Moment  geltend  gemacht  werden :  die  Zusammen¬ 
stellungen,  welche  darüber  vorliegen,  zeigen,  daß  alle  möglichen  Berufe  vertreten 
sind  ohne  Bevorzugung  etwa  hygienisch  besser  gestellter  Arbeiter ;  beispielsweise 
enthält  die  Liste  der  Haushalts  Vorstände  in  den  zuletzt  besiedelten  Wohnungen 
des  „Erbbaublocks“  auf  261  Wohnungen  29  Tagelöhner. 

xiber  auch  gewisse  günstige  Momente  lassen  sich  nicht  übersehen.  Vor  allem 
ist  in  Betracht  zu  ziehen,  daß  in  der  Bevölkerung  der  Aktienhäuser  die  unehe¬ 
lichen  Geburten  in  Wegfall  kommen  oder  doch  nur  in  verschwindender  Zahl 
gegenüber  der  Gesamtbevölkerung  mitzählen  können.  Ziffern  darüber  fehlen. 
Aber  selbst  angenommen,  daß  überhaupt  keine  unehelichen  Geburten  in  der  Be¬ 
völkerung  von  fünf-  bis  sechstausend  Menschen  vorgekommen  seien,  wird  damit 
die  große  Differenz  der  Mortalitätsziffern  für  Stadt  und  Aktiengesellschaftskäuser 
zwar  verkleinert  aber  keineswegs  beseitigt.  Ein  Beispiel  möge  das  erläutern. 
1907  —  dem  letzten  Jahr,  für  das  die  betreffende  Ziffer  schätzungsweise  ermittelt 
worden  ist  —  fallen  auf  die  jugendlichen  Alter  unter  15  Jahren  in  den  Aktien¬ 
häusern  11,5  Prom.  Todesfälle,  auf  die  städtische  Bevölkerung  dieser  Altersperiode 
20,0  Prom.  Lassen  wir  nun  hier  die  Sterbefäl  leder  unehelich  Geborenen  —  391  — 
ganz  außer  Betracht,  so  berechnen  sich  noch  immer  auf  die  Gesamtzahl  der 
Lebenden,  also  einschließlich  der  überlebenden  Unehelichen  13,6  Prom.  Todesfälle 
gegenüber  11,53  Prom.  in  den  Aktiengesellschaftshäusern. 


(Fortsetzung  folgt.) 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’sclien 

Verfahrens. 

Von  Stabsarzt  Meinshausen,  Frankfurt  a.  0. 

In  der  Ausgabe  vom  28.  März  dieser  Zeitschrift  widmet  Simon 
der  Pignet’schen  Formel  eine  längere  Arbeit.  Als  Grundlage 
seiner  Untersuchungen  dienen  die  Musterungsbefunde  von  annähernd 
10000  zwanzigjährigen  Badenern  der  Jahresklasse  1881.  Er  kommt 
in  seiner  Arbeit  zu  einer  sehr  günstigen  Beurteilung  des  Verfahrens, 
indem  er  es  nicht  nur  im  Einvernehmen  mit  Schwiening,  Ott 
und  Seyffarth  als  Maßstab  zu  vergleichenden  Massenunter¬ 
suchungen  verwendbar  hält,  sondern  es  auch  im  Gegensätze  zu 
diesen  als  Maßstab  der  Tauglichkeit  bei  Einzeluntersuchungen  ver¬ 
wendet  wissen  will.  Er  erklärt  es  für  ein  praktisches  Hilfsmittel 
zur  Beurteilung  von  Grenzfällen  der  Tauglichkeit  bei  der  Muste¬ 
rung  und  Aushebung.  Entstehen  Zweifel,  ob  ein  Mann  noch  als 
tauglich  anzusehen  oder  als  zu  schwächlich  auszumustern  ist,  so 
soll  die  Pignet’sche  Formel  zu  Rate  gezogen  werden.  Hohe 
Indexzahlen,  etwa  von  35  an,  sollen  in  solchen  Fällen  den  Aus¬ 
schlag  für  Untauglichkeit  geben. 

Nun  ist  es  ja  richtig,  daß  von  den  Gestellungspflichtigen  nur 
ein  geringer  Prozentsatz  mit  einem  über  35  hinausgehenden  Index 
zur  Einstellung  gelangt.  Ott  fand  0,25  Proz.,  bei  den  von  mir 
beurteilten  10000  Leuten  sind  es  0,5  (einschließlich  Ökonomiehand¬ 
werker).  Simon  fand  in  seinem  Bataillon  überhaupt  keinen, 
Seyffarth  0,07  Proz.  Dies  darf  man  als  Beweis  dafür  ansehen, 
daß  es  sich  hier  wirklich  um  schwächliche  Leute  handelt.  Aber 
um  sie  herauszuflnden,  bedarf  man  nicht  der  Pi gn  et ’schen  Formel. 
Das  geschulte  militär ärztliche  Auge  wird  sie  ohne  weiteres  als 
untauglich  erkennen.  —  Hinwieder  in  den  Fällen,  in  denen  der 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  17 


254 


Meinshausen, 


Untersuchende  in  seinem  Urteile  schwankt,  ob  noch  tauglich  oder 
zu  schwächlich,  gibt  uns  die  Formel  keinen  genügenden  Anhalt. 
Das  sind,  natürlich  abgesehen  von  körperlichen  Fehlern,  die  Leute 
mit  einem  Index  um  30  herum,  etwa  von  25  —  30  und  darüber 
hinaus,  die  Pignet  als  „schwach  und  sehr  schwach“  bezeichnet. 
Von  den  von  Simon  begutachteten  Leuten  sind  dies  immerhin 
36  Proz.  —  Hier  wird  nichts  den  geübten  militärärztlichen  Blick 
ersetzen  können,  der,  wie  Dannehl  —  in  seinem  Aufsatze  „Die 
Pignet ’s  che  Formel“  in  der  deutschen  Militärärztl.  Zeitschrift 
vom  20.  März  1912,  S.  216  —  sehr  richtig  sagt,  neben  dem  Me߬ 
baren  auch  das  Nichtmeßbare  erfaßt  und  den  Bau  und  Allgemein¬ 
zustand  des  Untersuchten  sicherer  und  rascher  beurteilt  als  die 
Pignet’sche  Formel  dies  gestattet.  —  Daher  kann  ich  mich  nur 
dem  Urteile  der  Übrigen  anschließen,  daß  kein  Bedürfnis  zur  Ver¬ 
wendung  des  Pignet’schen  Verfahrens  bei  der  Musterung  und 
Aushebung  vorliegt  und  es  auch  für  die  Beurteilung  im  Einzel  falle 
nicht  verwertbar  ist. 

Anders  ist  es  mit  seiner  Verwendung  als  Vergleichsmaßstab 
bei  Massenuntersuchungen.  Sollte  es  wirklich  geeignet  sein,  in 
einfacher  Weise  ein  einigermaßen  sicheres  Urteil  über  die  Körper¬ 
beschaffenheit  größerer  Massen  von  Untersuchten  zu  bilden,  so 
würde  das  weitgehende  Bedeutung  haben.  Denn  wir  hätten  dann 
ein  Mittel,  um  verschiedene  Aushebungsbezirke  miteinander  ver¬ 
gleichen,  verschiedene  Gegenden  und  Industriezweige,  Stadt  und 
Land,  nach  ihrem  Einfluß  auf  die  Wehrfähigkeit  der  Bevölkerung 
gegeneinander  abwägen  zu  können.  Ein  solches  Mittel  fehlt  uns 
bisher.  Denn  die  übliche  Beurteilung  nach  der  Anzahl  der  Taug¬ 
lichen,  die  ein  Bezirk  oder  eine  Provinz  hervorbringt,  kann  als  ein 
einwandfreies  Verfahren  nicht  bezeichnet  werden. 

Als  Beispiel  hierfür  sei  die  Landwehrinspektion  Berlin  ange¬ 
führt.  In  den  Zeitungen  finden  sich  im  Anschluß  an  die  jährlich 
vom  Kriegsministerium  veröffentlichten  Ergebnisse  der  Aushebung 
im  Deutschen  Reiche  häufig  Betrachtungen  über  den  Einfluß  des 
Großstadt-  und  Landlebens  auf  die  Körperentwicklung  der  Ge¬ 
stellungspflichtigen.  Als  ein  Beispiel  des  schädlichen  Einflusses 
des  Großstadtlebens  wird  dabei  stets  der  geringe  Anteil  der  von 
Berlin  gestellten  Tauglichen  hervorgehoben.  Nach  der  Täglichen 
Rundschau  vom  9.  April  d.  J.  zum  Beispiel  verwies  Oberst  Jung 
in  einer  Versammlung  zu  Zwecken  des  Jung-Deutschland-Bundes 
„auf  die  geringe  Wehrtüchtigkeit  der  Berliner  Bevölkerung.  Während 
in  Berlin  kaum  28  v.  H.  der  jungen  Leute  als  militärtauglich  be- 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’scken  Verfahrens.  255 

funden  werden,  sind  es  in  Ostpreußen  64  v.  H.,  und  in  Posen  mehr 
als  62  v.  H.  (Hört!  Hört!).“ 

Sollte  hierin  wirklich  ausschließlich  der  Einfluß  des  Gro߬ 
stadtlebens  zum  Ausdrucke  kommen,  so  würde  dies  bei  der  noch 
andauernden  Tendenz  zum  Anwachsen  der  Großstädte  und  der 
dauernden  Abwanderung  der  ländlichen  Bevölkerung,  namentlich 
des  Ostens,  in  die  Städte  und  Industriebezirke  des  Westens  für  die 
Zukunft  des  deutschen  Volkes  allerdings  ein  sehr  ernstes  Problem 
bedeuten. 

Nun  liegt  aber  hier  ohne  Zweifel  ein  Trugschluß  vor,  wie  aus 
folgendem  ersichtlich  ist.  Von  den  19 100  Mann,  die  1911  bei  der 
Landwehrinspektion  Berlin  zur  endgültigen  Beurteilung  vorgestellt 
wurden,  war  bei  42  Proz.  als  Wohnort  der  Eltern  und  Geburtsort 
Berlin  angegeben,  während  die  übrigen  58  Proz.  aus  der  Provinz 
stammten,  sowohl  vom  Lande  als  aus  Provinzstädten.  Nach  meiner 
E eststellung  sind  nun  von  den  in  Berlin  Geborenen  20  P r o z. , 
von  den  Zugezogenen  22  Proz.  tauglich  befunden 
worden.  —  Von  den  Provinzlern  ist  ohne  Zweifel  der  weitaus 
größte  Teil  erst  nach  der  Schulzeit  in  die  Großstadt  gekommen, 
da  die  Angehörigen  ja  noch  in  der  Provinz  ansässig  sind;  die 
meisten  wohl  erst  wenige  Jahre  vor  der  Militärpflicht.  Sie  haben 
also  den  Hauptteil  ihrer  Entwicklungsjahre  nicht  in  der  Großstadt 
zugebracht.  Immerhin  könnte  man  aber  zugestehen,  daß  auch 
dieser  verhältnismäßig  kurze  Aufenthalt  in  der  Großstadt  einen 
entwicklungshemmenden  Einfluß  auf  die  aus  der  Provinz  zuge¬ 
zogenen  Leute  ausüben  konnte,  daß  also  das  obige  Verhältnis 
20  Proz.  zu  22  Proz.  den  Unterschied  in  der  Wehrtüchtigkeit  der 
Berliner  zum  Provinzersatze  nicht  richtig  zum  Ausdrucke  bringt. 
Den  Schluß  darf  man  aber  aus  diesen  Zahlen  ziehen,  daß  der 
Unterschied  bei  weitem  nicht  so  groß  ist,  wie  er  aus  der  Zusammen¬ 
stellung  des  Kriegsministeriums  gefolgert  wird.  Ferner  den,  daß 
der  geringe  Anteil  der  Tauglichen  in  Berlin  durch  besondere  Um¬ 
stände  verursacht  sein  muß. 

Und  diese  besonderen  Umstände  sind  vorhanden,  wie  jeder 
weiß,  der  einmal  in  Berlin  gemustert  oder  sich  mit  diesen  Ver¬ 
hältnissen  beschäftigt  hat.  Infolge  des  dauernden  Zustroms  von 
Wehrpflichtigen  aus  der  Provinz,  die  in  der  großen  Industriestadt 
leichtere  und  mannigfaltigere  Erwerbsmöglichkeit,  wohl  auch  größere 
Lebensfreude  erhoffen,  ist  die  Zahl  der  Gestellungspflichtigen  hier 
so  groß,  daß  zur  Deckung  des  Rekrutenbedarfs  eine  viel  engere 

Auswahl  getroffen  werden  kann,  als  es  in  anderen  Bezirken  mög- 

17* 


256 


Meinshausen, 

lieh  ist.  Dadurch  wird  natürlich  der  Prozentsatz  der  Tauglichen 
herabgedrückt  und  der  der  anscheinend  Untauglichen  vergrößert. 
Der  Überfluß  an  Rekrutenmaterial,  den  wir  haben,  kommt  hier  am 
deutlichsten  zum  Ausdruck.  Ähnliche  Verhältnisse  werden  aber 
wohl  auch  in  den  übrigen  Großstädten  und  Hauptindustriegebieten 
herrschen. 

In  den  dünn  bevölkerten  Provinzen  des  Ostens  dagegen,  dessen 
Überschuß  dauernd  nach  dem  Westen  abwandert,  muß  ein  größerer 
Prozentsatz  der  Gestellungspflichtigen  ausgehoben  werden,  um  den 
Rekrutenbedarf  zu  decken.  Und  dies  ist  angängig,  da  die  vorwiegend 
ländliche  Bevölkerung  dieser  Provinzen  einen  erheblich  besseren 
Ersatz  liefert  als  die  Industriebevölkerung,  was  durch  obige  Aus¬ 
führungen  nicht  bestritten  werden  sollte.  Doch  sind  die  hohen 
Prozentzahlen  der  östlichen  Provinzen  an  Tauglichen  ohne  Zweifel 
hauptsächlich  durch  die  geringere  Bevölkerungsdichte  zu  erklären. 
Jedenfalls  ist  nicht  einzusehen,  aus  welchen  Gründen  die  ländlichen 
Bezirke  des  Ostens  einen  besseren  und  reichlicheren  Ersatz  liefern 
sollten  als  z.  B.  die  Landbezirke  der  dichter  bevölkerten  Provinz 
Brandenburg,  die  zum  Teile  einen  sehr  kräftigen  Ersatz  hat,  aber 
einen  erheblich  geringeren  Anteil  an  Tauglichen  stellt  als  die  Ost¬ 
provinzen. 

Der  Schluß  von  der  Anzahl  der  gestellten  Tauglichen  auf  die 
körperliche  Tüchtigkeit  einer  Gegend  bringt  also  die  tatsächlichen 
Verhältnisse  nicht  richtig  zum  Ausdrucke.  Dies  ist  auch  schon 
wegen  des  Anwachsens  unserer  Bevölkerung  nicht  möglich.  Denn 
bei  einer  jährlichen  Zunahme  um  etwa  800000  und  gleichbleibendem 
Rekrutenkontingente  muß  natürlich  die  Prozentzahl  der  als  taug¬ 
lich  Eingestellten  von  Jahr  zu  Jahr  sinken,  am  meisten  natürlich 
wieder  in  den  dichtest  bewohnten  Gegenden.  Dies  könnte  zu  dem 
Trugschlüsse  Veranlassung  geben,  daß  die  Wehrtüchtigkeit  unseres 
Volkes  in  der  Abnahme  begriffen  sei. 

Hätten  wir  aber  ein  Mittel,  das  lins  ermöglichte,  die  körper¬ 
liche  Tüchtigkeit  einer  Gegend  mit  genügender  Zuverlässigkeit 
zahlenmäßig  zum  Ausdrucke  zu  bringen,  so  würde  dies  folgende 
große  Bedeutung  haben.  Es  ließe  sich  übersehen,  ob  der  von 
den  einzelnen  Bezirken  gestellte  Ersatz  gleichmäßig  ist.  Ferner 
ließe  sich  bestimmen,  wieviel  Prozent  Taugliche  bestimmte 
Bezirke  mehr  stellen  könnten  als  bisher.  Dies  würde  bei 
künftigen  Heeresvermehrungen  die  Grundlage  bilden  können, 
um  den  Ersatz  gleichmäßiger  zu  verteilen,  insbesondere  den 
Überschuß  an  Tauglichen  der  Großstädte  und  Industriebezirke 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens. 


257 


zu  verwerten.  Ferner  würde  dieses  Mittel  es  ermöglichen,  den 
günstigen  Einfluß  der  besseren  Körperpflege,  der  zunehmenden 
Freude  an  der  Natur  und  am  Sporte,  sowie  der  Jugendbewegung 
auf  die  Körperentwicklung  der  männlichen  Jugend  zu  verfolgen. 
Sodann  würde  es  zur  Prüfung  einer  Frage  verwertet  werden  können, 
deren  Dringlichkeit  in  letzter  Zeit  von  namhaften  Nationalökonomen 
betont  wird.  Ob  nämlich  durch  das  dauernde  Abströmen  der  länd¬ 
lichen  Bevölkerung  in  die  Städte,  und  zwar  des  unternehmungs¬ 
lustigeren  also  tüchtigeren  Teiles  derselben  und  durch  das  Verbleiben 
vieler  gedienter  Soldaten  nach  der  Entlassung  in  den  Städten,  nicht 
auch  eine  Verschlechterung  der  ländlichen  Bevölkerung  eintritt. 
Eine  Frage,  die  von  hervorragender  Wichtigkeit  für  die  Zukunft 
des  deutschen  Volkes  sein  könnte. 

Wir  sehen  also,  daß  ein  Mittel  wie  das  Pignet’sche  Ver¬ 
fahren  auf  das  lebhafteste  zu  begrüßen  wäre,  vorausgesetzt,  daß  es 
als  Vergleichsmaßstab  für  Massenuntersuchungen  genügende  Zu¬ 
verlässigkeit  besitzt.  Dieser  Nachweis  der  genügenden  Zuverlässig¬ 
keit  ist  aber  bisher  noch  nicht  erbracht  worden.  Schwiening, 
der  als  einziger  bisher  Untersuchungen  in  großem  Maßstabe 
hierüber  angestellt  hat,  und  zwar  an  52  000  Einjährig  -  Frei¬ 
willigen,  hebt  folgenden  ihm  anhaftenden  Fehler  hervor.  Mit 
zunehmender  Körpergröße  lasse  seine  Zuverlässigkeit  nach,  bei 
großen  Leuten  brauche  auch  ein  hoher  Index  kein  einigermaßen 
sicheres  Zeichen  für  einen  besonders  schwächlichen  Körperbau  zu 
sein.  Denn  mit  zunehmender  Körpergröße  bleiben  Brustumfang 
und  Gewicht  in  zunehmendem  Maße  hinter  derselben  zurück.  Je 
größer  die  Leute,  desto  mehr  seien  von  ihnen  trotz  hohem  Index 
als  kräftig  und  diensttauglich  anzusehen. 

Nun  ist  es  sehr  fraglich,  ob  die  von  Schwiening  an  den 
Einjährig-Freiwilligen  gefundenen  Verhältnisse  ohne  .weiteres  auf 
die  Gestellungspflichtigen  übertragen  werden  dürfen.  Denn  die 
Grundsätze,  nach  denen  beide  zur  Einstellung  gelangen,  sind  erheb¬ 
lich  voneinander  verschieden.  Daher  ist  die  Nachprüfung  an  einer 
größeren  Masse  von  Gestellungspflichtigen  durchaus  erforderlich, 
insbesondere,  ehe  es  als  zuverlässiger  Maßstab  für  wichtige  statistische 
Untersuchungen  verwendet  wird.  Diese  Nachprüfung  wird  dann 
auch  einen  Vergleich  der  Wehrtüchtigkeit  der  Einjährig-Frei¬ 
willigen  und  Gestellungspflichtigen  zulassen. 

In  folgendem  habe  ich  das  Verfahren  an  10000  Gestellungs¬ 
pflichtigen  nachgeprüft, .  Zur  Verwendung  kamen  die  Vorstellungs¬ 
listen  des  Jahrgangs  1911  der  Ersatzkommissionen  II  und  III 


258  Meinshausen. 

Berlin  und  des  Land  Wehrbezirks  Marienburg  (Westpr.).  Ferner  die 
des  Jahrgangs  1910  der  Landwehrbezirke  Brandenburg  a.  H., 
Kottbus  und  Guben.  In  diesen  Listen  sind  alle  Gestellungspflichtigen 
enthalten,  über  die  endgültig  von  der  Oberersatzkommission  zu 
entscheiden  war.  Nicht  verwertet  wurden  also  die  zeitig  Zurück¬ 
gestellten.  Es  liegt  somit  dasselbe  Material  zugrunde  wie  bei  den 
Untersuchungen  Schwieni n g ’s.  Nicht  verwertet  sind  ferner  die 
in  den  Listen  geführten  Passanten;  die  Einjahrig-Freiwilligen,  über 
die  endgültig  zu  entscheiden  war;  die  zur  Disposition  der  Ersatz¬ 
behörden  Entlassenen  und  die  beim  Oberersatzgeschäfte  Fehlenden, 
über  die  also  ein  endgültiges  Urteil  nicht  vorhanden  war.  Sodann 
mußte  eine  ganze  Anzahl  unberücksichtigt  bleiben,  bei  denen  eins  der 
drei  Maße  nicht  angegeben  war.  Da  diese  sich  aber  auf  Taugliche 
und  Untaugliche  verteilen,  wird  eine  erhebliche  Fehlerquelle  hier¬ 
durch  kaum  entstehen.  —  Die  Leute  mit  Mindermaß  sind,  um  sie 
verwerten  zu  können,  mit  152  cm  Größe  verrechnet.  Bei  deren 
verhältnismäßig  geringer  Zahl  wird  auch  dies  keine  erhebliche 
Fehlerquelle  ergeben.  —  Es  sind  gesondert  behandelt  1.  die  Taug¬ 
lichen,  2.  die  wegen  ungenügender  Körper-  und  Brustentwicklung 
nach  Anl.  IC— El,  46  und  47  und  nach  §  8,  3  der  Wehrordnung 
Beurteilten,  3.  die  wegen  anderweitiger  Fehler  Untauglichen.  Stadt- 
und  Landersatz  sind  gesondert  behandelt,  und  zwar  sind  im  Stadt¬ 
ersatz  enthalten  die  Industrieorte:  Berlin  II  und  III,  Spandau, 
Brandenburg,  Rathenow,  Guben,  Forst,  Kottbus,  Elbing;  im  Land¬ 
ersatze  die  Ersatzbezirke  Ost-  und  West-Havelland  ohne  Stadt 
Rathenow,  Landkreis  Guben,  Kottbus,  Marienburg,  Stuhm,  Elbing. 

Es  kam  zunächst  darauf  an,  das  Verhältnis  von  Körpergröße, 
Brustumfang  und  Gewicht  zueinander  bei  ansteigender  Körpergröße 
zu  prüfen.  Zu  diesem  Zwecke  sind  nach  Schwiening’s  Vorbild 
Seite  75-86  seiner  Arbeit  nach  der  Körpergröße  Rubriken  von  5 
zu  5  cm  gebildet,  in  denen  der  Durchschnitt  der  Größe,  des  Brust¬ 
umfangs  und  Gewichts  einzeln  berechnet  ist.  (S.  Tabelle  I.  u.  II.) 

Man  sieht  aus  Tabelle  I  Reihe  3  bei  den  Tauglichen  ein  Auf¬ 
steigen  der  durchschnittlichen  Größe  von  158,5—182,7,  also  um 
24,2  cm.  Der  Brustumfang  dagegen,  Reihe  4,  steigt  nur  von  82,1 
auf  87,  also  um  4,9  cm,  und  bleibt  hinter  der  zunehmenden  Größe 
um  19,3  cm  zurück.  Diese  Differenz  wird  aber  größtenteils  durch 
Zunahme  des  Gewichts  ausgeglichen,  das  von  58,3  auf  72,6  kg,  also 
um  14,3  kg  ansteigt.  C  -j-  P  bleiben  somit  hinter  L  um  5  cm 
zurück.  —  Dies  kommt  beim  Pignet’schen  Index  in  Reihe  6  zum 
Ausdrucke,  der  von  18,4  auf  23,1  ansteigt.  Der  durchschnittliche 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens 


259 


Tabelle  L 
Landersatz. 


Größe 


Taugliche 


Nichttaugliche 


Schwächliche 


Sonstige 


abs. 

Proz. 

L 

C 

P 

Index 

abs. 

Proz. 

L 

C 

P 

Index 

abs. 

Proz. 

—160 

186 

34,4 

158,5 

82,1 

58,3 

18,4 

197 

36,4 

157,3 

76,6 

51,3 

29,4 

158 

29,2 

161—65 

479 

48 

163.5 

83,1 

61.6 

18,7 

245 

24,5 

163,3 

78,5 

55,3 

29,7 

275 

27,5 

166—70 

624 

53,2 

168,1 

84 

64,2 

19,9 

216 

18,4 

168 

79,8 

58,1 

30,1 

333 

28,4 

171—75 

357 

47,3 

172,8 

85 

67,6 

20,2 

137 

18,1 

172,7 

80,6 

61,1 

31 

261 

34,6 

176—80 

113 

47,7 

177,5 

86,3 

71,4 

19,8 

48 

18,1 

177,3 

81,7 

63,9 

31,7 

76 

32,1 

über  180 

17|  33,3 

182,7 

87 

72,6 

23,1 

16 

20,2 

182,8  82,4 

67,3 

33,1 

18 

35,3 

Summa 

1776 

47,3 

167,5 

83,9 

64,1 

19,5 

859 

31,4 

165,7 

78,9 

56,7 

30,1 

1121 

29,8 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

Tabelle  II. 
Stadtersatz. 


9 

Nichttaugliche 

Taugliche 

Größe 

Schwächliche 

Sonstige 

. 

N 

N 

ts3 

X 

<X> 

N 

abs. 

O 

L 

C 

P 

o 

S-H 

abs. 

o 

L 

C 

P 

rö 

abs. 

o 

Pm 

Ph 

PH 

« 

—160 

198 

22,2 

158,1 

81,9 

58,6 

17,6 

501 

56,1 

157,2 

77,1 

51,6 

28,5 

194 

21.7 

16 1 — 65 

555 

32,4 

163,4 

83 

61,6 

19 

800 

46  6 

163.8 

78,4 

55,1 

30,3 

360 

21 

166—70 

592 

33.4 

168 

83,8 

64,3 

19,9 

708 

40 

168,2 

79,3 

58,1 

30,8 

473 

26,6 

171—75 

405 

32,4 

172,8 

84,8 

68 

20 

534 

43,8 

172,9 

79,9 

60,8 

32,2 

311 

24,8 

176-80 

133 

28,0 

177,5 

86 

71,3 

20,2 

203 

42,8 

177,6 

80,7 

63,8 

33,1 

136 

29,2 

über  180 

23 

21,7 

183,3 

88,6 

75,2 

19,3 

44 

41,5 

183,2 

80,4 

66 

36,8 

39  36,8 

Summa 

1906 

30,7 

167,5 

83,3 

64,3 

19,4 

2790 

44,9 

166,7 

78,8 

57,1 

30,8 

1513 

24,4 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

Index  sämtlicher  Tauglichen  beträgt  19.5.  Die  bis  165  cm  Großen, 
37  Proz. ,  haben  einen  etwas  niedrigeren  Index  als  der  Durch¬ 
schnitt,  die  166 — 180  cm  Großen,  62  Proz.,  entsprechen  ihm  un¬ 
gefähr,  und  die  über  180  cm  Großen,  0,9  Proz.,  übersteigen  ihn. 
Ein  erhebliches  Ansteigen  des  Index  mit  zunehmender  Größe  findet 
also  nur  bei  den  wenigen  über  180  cm  Großen,  17  von  1776  Taug¬ 
lichen,  statt,  während  es  bis  180  cm  Größe  nur  1,8  beträgt,  also 
gering  ist. 


260 


Meinshausen, 


Aus  Reihe  2  ersieht  man  ferner,  daß  die  Größe  166 — 170  cm 
den  größten  Anteil  an  Tauglichen  liefert,  während  dies  bei  den 
Einjährig -Freiwilligen  nach  Schwiening’s  Feststellungen  die 
Größe  170—175  cm  ist.  Erhebliche  Abweichungen  von  dem  Durch¬ 
schnitte  der  Tauglichen,  47,3  Proz.,  sind  bei  der  Größe  161 — 180 
nicht  vorhanden.  Dagegen  liefern  die  kleinen  Leute,  bis  160  cm, 
und  die  über  180  cm  Großen,  erheblich  weniger  Taugliche. 

Die  Tabelle  II,  Stadtersatz,  ergibt  bei  den  Tauglichen  ähnliche 
Verhältnisse,  Die  meisten  Tauglichen  liefert  wieder  die  Größe 
166 — 170  cm.  Von  161 — 175  cm  Größe  ist  die  Zahl  der  Tauglichen 
ungefähr  gleich,  von  176 — 180  cm  etwas  geringer,  in  den  Rubriken 
— 160  und  über  180  cm  erheblich  geringer  als  der  Durchschnitt. 
Der  Index,  Reihe  6,  steigt  mit  zunehmender  Größe  um  2,6  cm. 
Die  Größenrubriken  161  bis  über  180  cm  haben  ungefähr  gleichen, 
und  nur  die  kleinen  Leute,  unter  160  cm,  etwas  niedrigeren  Index. 

Zusammenfassend  ist  somit  zu  bemerken,  daß  Schwiening’s 
und  Ott’s  Annahme,  der  Index  müsse  mit  zunehmender  Größe  zu¬ 
nehmen,  da  die  Differenz  zwischen  Größe,  Brustumfang  und  Ge¬ 
wicht  immer  mehr  ansteige,  zutrifft,  daß  diese  Zunahme  des  Index 
aber,  abgesehen  von  den  wenigen  ganz  großen  Leuten  gering  ist. 
—  Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  abgesehen  von  den 
17  über  180  cm  Großen  in  Tabelle  1,  der  Index  der 
Tauglichen  in  beiden  Tabellen  durchschnittlich  der 
Pignet’schen  Rubrik  15 — 20  entspricht,  die  einen 
„guten“  Ersatzbezeichnensoll.  Die  17  über  180  cm  Großen 
entsprechen  der  Rubrik  „mittelgut“.  —  Anders  bei  den  wegen 
Körper  schwäche  Untauglichen  (Reihe  12).  Hier  steigt 
der  Index  von  28,5—36,8  an  und  entspricht  denPignet- 
sehen  R  u  b  r  i  k  e n  „s  c  h  w  a  c  h“,  „s  e  h r  s  c  h  w  a  c h“  und  „völlig 
u n genüge n d“.  Man  muß  demnach  zu  geben,  daß  bei 
der  Zusammenstellung  größerer  Massen  in  diesen 
Tabellen  derPignet’schelndex,  trotz  des  Ansteigens 
mit  zunehmender  Größe,  die  tatsächlichen  Verhält¬ 
nisse  im  allgemeinen  richtig  zum  Ausdrucke  bringt. 

Bei  den  Schwächlichen  ist  im  einzelnen  folgendes  zu  erwähnen: 
Der  Index  steigt  mit  zunehmender  Größe  stetig  an,  und  zwar  beim 
Stadtersatze  stärker  als  beim  ländlichen.  Die  höheren  Indexzahlen 
gegenüber  den  Tauglichen  entstehen  durch  geringeren  Brustumfang 
und  geringeres  Gewicht,  das  Ansteigen  derselben  bei  zunehmender 
Größe  durch  immer  weiteres  Zurückbleiben,  namentlich  des  Brust¬ 
umfangs,  aber  auch  des  Gewichts.  Dies  tritt  besonders  deutlich 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens.  281 

beim  Stadtersatze  hervor.  Der  Brustumfang  nimmt  hier  nur  um 
3.3  cm  zu  gegenüber  einer  Größenzunahme  von  26  cm.  —  Die  ganz 
kleinen  Leute,  die  am  wenigsten  Taugliche  liefern,  haben  am 
meisten  Schwächliche.  Letztere  nehmen  mit  zunehmender  Größe 
bis  zur  Rubrik  171 — 175  cm  beim  Landersatz  und  166 — 170  cm 
beim  Stadtersatz  ab.  Dann  erfolgt  mit  zunehmender  Größe  auch 
eine  Zunahme  der  Schwächlichen.  —  Der  Index  des  Stadtersatzes 
ist  erheblich  höher,  also  schlechter,  als  der  des  Landes.  —  Die 
Schwächlichen  des  Landersatzes  sind  kleiner,  haben  aber  größeren 
Brustumfang  als  die  des  Stadtersatzes.  Hierin  kommt  zum  Aus¬ 
drucke,  daß  der  schmalbrüstige,  langaufgeschossene  Typus  durch 
das  Stadtleben  begünstigt  wird  und  daß  das  Landleben  auf  die 
Entwicklung  des  Brustkorbes  günstig  einwirkt. 

Der  Anteil  der  Schwächlichen  beträgt  beim  Landersatze  22,9  Proz., 
beim  Stadtersatze  dagegen  44,9  Proz. ;  der  wegen  sonstiger  Fehler  Un¬ 
tauglichen  bei  ersteren  29,8,  bei  letzteren  dagegen  24,4  Proz.  Der  An¬ 
teil  der  letzterwähnten  ist  bei  den  größeren  Körpermaßen  größer  als 
bei  den  kleineren,  was  zum  Teile  darauf  zurückzuführen  ist,  daß  viele 
Fehler  am  größeren  Körper  deutlicher  hervortreten,  wie  Verkrüm¬ 
mungen  der  Wirbelsäule  und  der  unteren  Gliedmaßen.  Dann  aber 
besonders  darauf,  daß  der  längere  und  schwerere  Körper  eine 
größere  Disposition  zu  diesen  und  anderen  Fehlern  hat,  wie  z.  B. 
zur  Plattfuß-  und  Krampfaderbildung,  Herzfehlern.  —  Übrigens 
zeigen  die  Einjährig-Freiwilligen  hierin  eine  Abweichung;  bei  ihnen 
nehmen  die  sonstigen  Fehler  mit  zunehmender  Körperlänge  ab,  die 
ganz  Großen  stellen  am  wenigsten  Untaugliche  in  diesen  Fehler¬ 
gruppen. 


Nunmehr  ist  zu  untersuchen,  wie  sich  Taugliche  und  Untaug¬ 
liche  auf  die  einzelnen  Indexgruppen  verteilen.  Hierzu  sind 
Sch wiening ’s  Tabellen  benutzt,  mit  einigen  Änderungen  in  der 
Zusammenstellung.  S.  Tabelle  III  und  IV,  S.  262. 

Aus  Reihe  2  sieht  man,  daß  der  Hauptteil  der  Gesamtzahl, 
sowohl  beim  Stadt-  als  beim  Landersatze,  dßr  Indexgruppe  21— 30 
angehört,  die  nach  Pignet  der  Bezeichnung  „mittelgut“  und 
„schwach“  entspricht.  Von  dieser  Guppe  aus  fallen  die  Zahlen 
nach  oben  und  unten  ab.  Der  nächstgrößte  Anteil  entfällt  auf  die 
Gruppe  11 — 20.  —  Bis  hierher  entspricht  der  Ersatz  den  Einjährig- 
Freiwilligen.  In  den  Prozentzahlen  der  einzelnen  Gruppen  bestehen 
dann  aber  Abweichungen.  Die  Einjährig-Freiwilligen  haben  einen 


262 


Meinshausen 


Tabelle  III. 
Landersatz. 


Gesamt- 

Taugliche 

• 

Uutai 

igliche 

zahl 

Schwächliche 

Sonstige 

Index 

CD 

Ph 

r-H 

ÖD 

CD 

o 

Sh  • 

cj 

CD 

Ph 

J— i 

o 

abs. 

Proz. 

abs. 

Proz. 

Grup 

tsj  53 

O  c3 

abs. 

Proz. 

Grup 

N  £ 

2  p- 

abs. 

Proz. 

Grup 

^  .pc 

N  1» 

O  212 

Sh  S5 

■ö 

rö 

rÖ 

r-j 

Phm 

17 

0,5 

4 

23,5 

0,2 

13 

76,5 

1,2. 

0- 

-10 

214 

5,7 

141 

66 

8 

4 

1,8 

0,5 

69 

32,2 

6,1 

11- 

-20 

1245 

33,1 

844 

67,8 

47,5 

51 

44 

5,9 

350 

28.1 

31,2 

21- 

-30 

1686 

44,9 

748 

44,3 

42,1 

403 

23,9 

46.9 

535 

31,8 

47.8 

31- 

-35 

385 

10,2 

34 

8,8 

1,9 

241 

62,8 

28.1 

110 

28,4 

9,7 

über 

35 

209 

5,6 

5 

2,4 

0,3 

160 

76,5 

18,6 

44 

21,1 

4 

Summa 

3756 

100 

1776 

47,3 

100 

859 

22,9 

100 

1121 

29,8 

100 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

Tabelle  IV. 
Stadtersatz. 


Iudex 

Gesa 

za 

abs. 

b;  3 

Proz.  ^ 

r 

abs. 

Proz.  ö 

d.  Gruppe 

O 

re 

p  p 

P-i  H 
hö 

Sc 

abs 

iiwächh 

CD 

Ph 

N  ^ 

O  P 

PnO 

Uutan 

iche 

§  p3 
°  P 

Sh  CG 

PhH 

r 

[gliche 

abs. 

CO 

Proz.  § 

d.  Gruppe  & 

- - -  aT 

CD 

Proz.  der 

Sonstigen 

+ 

75 

1,2 

24 

32 

1.3 

2 

2,7 

0,1 

49 

65,3 

3.2 

0-10 

289 

4,6 

164 

56,7 

8,6 

17 

5,9 

0,6 

108 

37,4 

7.1 

11—20 

1415 

22,8 

839 

59.3 

44 

155 

10,9 

5,5 

421 

29,8 

27,8 

21—30 

2683 

43,2 

799 

29.8 

41,9 

1234 

46 

44,2 

650 

24,2 

43 

31—35 

1041 

16.8 

65 

6,2 

3,4 

789 

75,8 

28,3 

187 

18 

12,4 

über  35 

706 

11,4 

15 

2.1 

0,8 

593 

84 

21,3 

98 

13,9 

6.5 

Summa 

6209 

100 

1906 

30,7 

100 

2790 

44,9 

100 

1513 

24,4 

100 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

bedeutend  höheren  Anteil  an  der  Gruppe  mit  positivem  Index.  Die 
Zahlen  sind  : 


Landersatz  0,5  Proz. 
Stadtersatz  1,2 
Ein j. -Frei w.  4,4 


der  Gesamtzahl. 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens. 


268 


Wie  Sch  wienin g  und  Ott  schon  hervorhoben,  ist  dies  durch 
eine  größere  Zahl  der  Fettleibigen  verursacht,  bedingt  durch 
mehr  sitzende  Lebensweise  und  weniger  körperliche  Betätigung 
bei  besserer  Ernährung  und  zum  Teile  höherem  Lebensalter.  Aber 
auch  noch  an  der  Gruppe  0 — 10  sind  die  Einjährig-Freiwilligen 
stärker  beteiligt.  Die  Zahlen  sind: 

Stadtersatz  4,6  Proz. 

Landersatz  5,7  „ 

Einj.-Freiw.  9,6  „ 

Auch  dies  ist  wohl  durch  größeren  Fettansatz  und  nicht  durch 
kräftigere  Körperbildung  bedingt.  Wenigstens  sinkt  der  Anteil 
der  Einjährig-Freiwilligen  im  Verhältnisse  zu  den  übrigen  Leuten 
in  den  nächsten  Gruppen  ganz  bedeutend.  In  der  Gruppe  11  —  20 
steht  er  zwischen  Land-  und  Stadtersatz,  näher  zu  letzterem.  Die 
Zahlen  sind: 

Stadtersatz  22,8  Proz. 

Einj.-Freiw.  26,2  „ 

Landersatz  33,1 

7  n 

In  der  Gruppe  21—30  sinkt  er  noch  6  Proz.  unter  den  Stadtersatz. 

Einj.-Freiw.  37,6  Proz. 

Stadtersatz  43,2  ,, 

Landersatz  44,9  ,, 

In  den  Gruppen  über  30  steht  er  wieder  zwischen  Stadt-  und  Land¬ 
ersatz,  aber  näher  zu  ersterem. 

Stadtersatz  28,2  Proz. 

Einj.-Freiw.  22,2  „ 

Landersatz  15,8  „ 

Zu  den  Gruppen,  die  Pignet  als  „sehr  schwach“  und  „völlig 
ungenügend“  bezeichnet,  liefert  der  Stadtersatz  einen  bedeutend 
höheren  Anteil,  12.4  Proz.  mehr,  als  der  Landersatz,  zu  den  als 
kräftiger  bezeichneten  Gruppen  unter  30  dementsprechend  weniger. 
Das  Pignet’sche  Verfahren  würde  also  den  Stadtersatz  als  er¬ 
heblich  schlechter  bezeichnen  als  den  Landersatz,  was  durchaus 
den  Erfahrungen  entspricht.  Es  liefert  somit  auch  hier  ein  im 
allgemeinen  zuverlässiges  Ergebnis.  —  Will  man  ihm  einen  Ver¬ 
gleichswert  zusprechen,  so  würden  die  Einjährig-Freiwilligen  in  ihrer 
körperlichen  Tüchtigkeit  zwischen  Land-  und  Stadtersatz  stehen,  aber 


264 


Meinskausen, 


näher  zu  diesem.  Dies  dürfte  den  Tatsachen  entsprechen.  Denn  der 
weitaus  größte  Teil  der  Einjahrig-Freiwilligen  bringt  infolge  des 
Schulbesuchs  die  Hauptentwicklungszeit  in  der  Stadt  zu,  ja  ein 
großer  Teil  mit  kurzen  Unterbrechungen  die  ganze  Zeit  bis  zum 
Militärjahre.  Daher  wird  ihr  Durchschnitt  sich  dem  schmalbrüstigeren 
aber  größeren  städtischen  Typus  mehr  nähern  als  dem  kleineren, 
aber  kräftigeren  Landersatz.  Infolge  der  besseren  Lebensweise 
und  Ernährung  wird  er  aber  auch  wieder  höher  stehen  als  der 
Durchschnitt  des  Stadtersatzes.  Daß  unter  den  Einjährigen  die 
großen  Leute  zahlreicher  sind  als  unter  den  sonstigen  Militär¬ 
pflichtigen,  hob  schon  Schwiening  hervor. 

Zu  den  Tauglichen  liefert  beim  Ersatz  und  den  Einjährig- 
Freiwilligen  den  größeren  Anteil  die  Gruppe  11 — 20  (Reihe  4).  Von 
hier  aus  fällt  der  Anteil  nach  oben  und  unten  ab.  Nur  um  ein 
geringes  zurück  steht  die  Gruppe  0—10  und  bei  den  Einjährig- 
Freiwilligen  die  Gruppe  21—60,  während  diese  bei  den  übrigen 
Gestellungspflichtigen  erheblich  weniger  Taugliche  liefert.  Auf¬ 
fallend  ist,  daß  die  Einjährig-Freiwilligen  in  sämtlichen  Gruppen 
bedeutend  mehr  Taugliche  stellen  als  die  Gestellungspflichtigen. 
Dies  ersieht  man  aus  folgender  Zusammenstellung: 


Tabelle  V. 
Taugliche. 


Index 

Einjährig- 

Freiwillige 

Land 

Stadt 

-j~ 

66,1 

23,5 

32 

0-10 

75,2 

66 

56,7 

11—20 

76,9 

67,8 

59,3 

21—30 

71,2 

44,3 

29,8 

31—35 

48,5 

8.8 

6,2 

über  35 

18,2 

2,4 

2,1 

Summa 

65,2 

47,3 

30,7 

Da  die  Einjährig-Freiwilligen,  wie  wir  oben  sahen,  im  Durch¬ 
schnitte  zwischen  Land-  und  Stadtersatz  stehen,  unter  Annäherung  an 
letzteren,  müßte  man  erwarten,  daß  bei  Gleichwertigkeit  die  Taug¬ 
lichen  dasselbe  Verhältnis  zeigen.  Besonders  auffallend  sind  die 
hohen  Prozentzahlen  der  tauglichen  Einjährigen  in  der  positiven 
Gruppe,  in  der  die  Fettleibigen  enthalten  sind,  und  in  den  nach 
Pignet  ungünstigen  Gruppen  über  30,  während  die  übrigen  Ge¬ 
stellungspflichtigen  in  diesen  Gruppen  sehr  wenig  Taugliche  stellen. 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens.  265 

Dies  läßt  nur  die  eine  Deutung  zu,  die  auch  in  Schwiening’s 
Arbeit  S.  10—11  ausgeführt  ist,  daß  von  den  Einjahrig-Freiwilligen 
ein  erheblich  größerer,  daher  zum  Teile  schwächerer  Anteil  zur  Ein¬ 
stellung  gelangt  als  von  den  übrigen  Gestellungspflichtigen.  Was 
dadurch  bedingt  ist,  daß  jeder  taugliche  Einjährig-Freiwillige  auch 
eingestellt  werden  muß,  während  bei  den  übrigen  Leuten  infolge 
der  größeren  Auswahl,  und  weil  nur  eine  bestimmte  Anzahl  Rekruten 
gestellt  zu  werden  braucht,  höhere  Ansprüche  gestellt  werden 
können.  Ferner  dadurch,  daß  nach  der  D.  A.  Mdf.  Nr.  37  bei  den 
Einjährig-Freiwilligen  die  „zulässig  geringsten  körperlichen  An¬ 
forderungen“  gestellt  werden  dürfen.  Die  hohen  Indexzahlen  über 
30  würden  also  angeben,  daß  von  dieser  Bestimmung  in  erheb¬ 
lichem  Maße  Gebrauch  gemacht  wird. 

Die  geringere  Qualität  der  Einjährigen  tritt  noch  deutlicher 
aus  folgender  Zusammenstellung  hervor,  die  den  Anteil  der  ein¬ 
zelnen  Indexgruppen  an  der  Summe  der  Tauglichen  enthält. 


Tabelle  VI. 
Taugliche. 


Index 

Einjährig- 

Freiwillige 

Stadt 

Land 

+ 

4,4 

1,3 

0,2 

0—10 

9,6 

8,6 

8 

11—20 

26,2 

44 

47,5 

21—30 

37,6 

41,9 

42,1 

31—35 

13,4 

3,4 

1,9 

über  35 

8,8 

0,8 

0,3 

Summa  | 

100 

100 

100 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ersieht  man,  daß  von  den  Taug¬ 
lichen  des  Landersatzes  97,6  Proz.  den  günstigeren  Gruppen  0—30 
angehören  und  nur  2,2  Proz.  einen  Index  über  30  haben.  Beim 
Stadtersatze  sind  diese  Zahlen  etwas  ungünstiger,  94,4  Proz.  und 
4,4  Proz.,  bei  den  Einjährig-PTeiwilligen  aber  73,4  und  22,2  Proz.  Dabei 
sind  die  Zahlen  beim  Stadtersatze  noch  zu  ungünstig,  weil  bei  diesen 
in  den  Gruppen  über  30  der  größte  Teil  der  Ökonomiehandwerker 
enthalten  ist,  an  deren  Tauglichkeit  die  denkbar  geringsten  An¬ 
forderungen  gestellt  werden  dürfen.  Wenigstens  waren  von  den 
34  Tauglichen  mit  einem  Index  über  30  von  den  im  Stadtersatz 
enthaltenen  3645  Berlinern  12  Ökonomiehandwerker,  die  zum  Teile 
nach  Anl.  1  DHO.  beurteilt  waren.  —  Den  größten  Teil  der  Taug- 


266 


Meinskausen 


liehen  stellt  beim  allgemeinen  Ersatz  die  Gruppe  11 — 20,  bei  den 
Einjährig-Frei  willigen  aber  die  Gruppe  21 — 30,  was  gleichfalls  für 
eine  geringere  Qualität  spricht. 

Die  geringeZahl  der  beim  allgemeinen  Ersätze  mit 
einem  Index  über  30  Tauglichen  bestätigt  den  Befund 
der  Tabellen  I  und  II  Bei  he  14,  daß  diese  hohen  Index- 
zahlen  einen  schwächlichen  Körperbau  anzeigen.  An¬ 
dererseits  berechtigt  die  große  Zahl  der  trotz  hoher  Indexzahlen 
tauglichen  Einjährig-Freiwilligen  zu  dem  Schlüsse,  daß  ein  großer 
Teil  derselben  bedeutend  schwächer  ist  als  die  Tauglichen  der 
übrigen  Gestellungspflichtigen.  Hieraus  muß  man  aber  auch  die 
weitere  Folgerung  ziehen,  daß  die  bei  den  Einjährigen  gewonnenen 
Resultate  nicht  ohne  weiteres  auf  die  übrigen  Gestellungspflichtigen 
übertragen  werden  dürfen. 

Die  bisherigen  Ergebnisse  werden  weiter  durch  den  Befund 
an  den  Schwächlichen  bestätigt. 


Tabelle  VII. 
Schwächliche.  ' 


Iudex 

Einjährig- 
Frei  willi  ge 

Stadt 

Land 

+ 

0,43 

2,7 

0—10 

1,2 

5,9 

1,8 

11—20 

2,1 

10,9 

4,1 

21-30 

9,2 

46 

23,9 

31 — 35 

30,5 

75,8 

62,8 

über  35 

68,4 

84' 

76,5 

Summa 

14,2 

44,9 

22,9 

Bei  Einjährig-Freiwilligen,  Stadt-  und  Landersatz  stellen  die 
günstigen  Gruppen  bis  Index  20  einen  sehr  geringen,  aber  stetig  an¬ 
steigenden,  die  Gruppe  21 — 30  schon  einen  erheblich  höheren  Anteil 
an  Schwächlichen.  In  den  Gruppen  über  30  findet  dann  ein  sehr  starkes 
Ansteigen  statt,  der  Stadtersatz  hat  in  der  Gruppe  über  35  an  Schwäch¬ 
lichen  84,1  Proz.  Auch  das  bestätigt,  daß  ein  niedrigerer  Index 
einen  kräftigeren,  ein  hoher  dagegen  einen  schwächlichen  Körper 
anzeigt.  —  Auffallend  ist  der  bedeutend  geringere  Anteil  der  Ein¬ 
jährigen  an  sämtlichen  Gruppen  gegenüber  den  übrigen  Gestellungs- • 
pflichtigen,  besonders  in  den  ungünstigen  Gruppen.  In  Gruppe 
21 — 30  stehen  9,2  Proz.  Einjähriger,  46  Proz.  vom  Stadtersatz  und 
23,9  Proz.  vom  Landersatze  gegenüber;  in  Gruppe  31 — 35  30,5  Ein- 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung’  des  Pignet’schen  Verfahrens. 


267 


jähriger,  75,8  Proz.  vom  Stadt-  und  62,8  Proz.  vom  Landersatz.  Aber 
auch  an  den  wegen  sonstiger  Fehler  Untauglichen  ist  der  Anteil 
der  Einjährig-Freiwilligen  in  sämtlichen  Gruppen  geringer.  Dies 
ist  ja  durch  die  bedeutend  höhere  Zahl  der  von  ihnen  tauglich  Be¬ 
fundenen  erklärlich,  läßt  aber  nur  die  Deutung  zu,  daß  ein  hoher 
Prozentsatz  von  Leuten,  die  bei  den  übrigen  Gestellungspflichtigen 
als  schwächlich  befunden  wurden,  bei  den  Einjährig-Freiwilligen 
tauglich  erklärt  sind. 

Bemerkenswert  ist  ferner,  daß  der  Stadtersatz  in  sämtlichen 
Gruppen,  besonders  aber  in  den  günstigeren  von  0—30,  einen  er¬ 
heblich  höheren  Anteil  zu  den  als  schwächlich  Bezeichneten  stellt 
als  der  Landersatz.  Besonders  hoch  ist  der  Anteil  des  Stadt¬ 
ersatzes  in  Gruppe  21 — 30  und  beträgt  hier,  wie  übrigens  auch  in 
den  anderen  günstigen  Gruppen,  das  Doppelte  des  Landersatzes. 
Dies  dürfte  darin  eine  Erklärung  finden,  daß  von  den  über  die 
Hälfte  des  Stadtersatzes  ansmachenden  Berlinern  ein  erheblicher 
Anteil  von  verhältnismäßig  kräftigen  Leuten  nicht  zur  Einstellung 
gelangte.  Die  höheren  Zahlen  in  den  ungünstigen  Gruppen  über 
30  aber  zeigen  an,  daß  der  Stadtersatz  einen  höheren  Anteil  an 
schwächlichen  Leuten  enthält.  Dies  wurde  bereits  an  den  Tabellen  I 
und  II  erläutert. 

/ 


Nunmehr  bleibt  noch  das  Verhalten  des  Pignet’schen  Index 
bei  zunehmender  Größe  an  den  von  Schwiening  benutzten  Ta¬ 
bellen  zu  prüfen,  um  auch  hierin  einen  Vergleich  zwischen  Ein¬ 
jährig-Freiwilligen  und  den  übrigen  Gestellungspflichtigen  ziehen 
zu  können.  Stadt-  und  Landersatz  sind  zur  besseren  Übersicht 
zusammengenommen.  S.  Tabelle  VIII,  S.  268. 

Schwiening  fand  bei  den  Einjährig-Freiwilligen,  daß  die 
Tauglichkeit  mit  der  Größe  zunahm.  Es  waren  tauglich: 

Bis  160  cm  Größe  49,9  Proz. 

161—170  „  „  64,2  „ 

171—180  „  „  67,2  „ 

über  180  „  .,  66,4  .,r. 

Bei  den  übrigen  Gestellungspflichtigen  trifft  dies  nicht  zu,  wie 
schon  aus  der  Tabelle  I  und  II  hervorging.  Die  kleinen  Leute  unter 
160  und  die  über  180  cm  großen  liefern  bedeutend  weniger,  die 
Größen  161 — 180  erheblich  mehr,  und  von  diesen  die  Größe  161 
bis  170  den  größten  Anteil  an  Tauglichen.  Dies  ist  aus  den 


268 


Meinshausen, 


Sa. 

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Index 

1 

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0 

2716 

1 

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Tabelle  VIII. 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens. 


269 


Reihen  4  ersichtlich.  Es  findet  also  mit  zunehmender  Größe  keine 
Zunahme  der  Tauglichkeit  statt.  Den  größten  Anteil  an  Taug¬ 
lichen  stellt,  wie  aus  Reihe  4  ersichtlich,  die  Indexgruppe  11 — 20, 
bei  den  171 — 180  cm  großen  die  Gruppe  0—10. 

Bei  den  Schwächlichen  findet  man,  übereinstimmend  mit  den 
Einjährig-Freiwilligen ,  mit  zunehmender  Größe  eine  Abnahme, 
wenigstens  in  den  Indexgruppen  von  11 — 20  an.  Diese  ist  aber 
zum  großen  Teile  durch  Zunahme  der  wegen  sonstiger  Fehler  Un¬ 
tauglichen  bedingt. 

Betrachtet  man  nun  die  Reihen  5,  in  denen  der  Anteil  der 
•einzelnen  Indexgruppen  an  der  Summe  der  Tauglichen  berechnet 
ist,  so  sieht  man,  daß  von  den  Leuten  bis  170  cm  Größe  die 
meisten  der  Indexgruppe  11—20  angehören,  bei  den  über  170  cm 
großen  aber  der  Indexgruppe  21 — 30.  Ferner  findet  in  der  Gruppe 
11 — 20  mit  zunehmender  Größe  eine  Abnahme  des  Prozentsatzes 
der  Tauglichen,  von  Gruppe  21 — 30  an  aber  eine  Zunahme  statt. 
Es  würden  also  die  kräftigeren  Leute  unter  den  Taug¬ 
lichen  mit  zunehmender  Größe  ab-,  die  schwächeren 
aber  zunehmen.  Dies  steht  aber  im  Widerspruche  mit 
obigem  Befunde,  daß  die  Tauglichkeit  mit  zuneh¬ 
mender  Größe  nicht  abnimmt.  Hier  liegt  also  ein 
Fehler  im  Pignet’schen  Verfahren  vor,  der  dadurch 
bedingt  ist,  daß  dieDifferenz  zwischen  B rustumfang 
-{-Gewicht  und  Kör  pergröße  mitZunahme  der  letzteren 
auch  zunimmt.  Dieser  Fehler  wurde  bereits  an  den  Tabellen  I 
und  II  erläutert  und  ist  von  Schwiening  eingehend  gewürdigt 
worden. 

Bei  den  Schwächlichen  (Reihe  8)  findet  in  den  Gruppen  bis 
Index  30  mit  zunehmender  Größe  ebenfalls  eine  Abnahme,  in  den 
Gruppen  über  30  aber  eine  Zunahme  statt.  Es  würden  also  mit 
zunehmender  Größe  die  kräftigeren  Leute  unter  den  wegen 
Schwächlichkeit  Untauglichen  ebenfalls  ab-,  die  schwächlichen  aber 
zunehmen.  Oder:  Je  größer  schwächliche  Leute,  desto  weniger 
sind  sie  tauglich.  —  Dagegen  ist  wohl  nichts  einzuwenden,  so¬ 
lange  nur  kräftige  Leute  eingestellt  werden.  Stellt  man  aber  ge¬ 
ringere  Ansprüche  an  die  Tauglichkeit,  so  muß  dies  naturgemäß 
den  Fehler  des  P ign et ’schen  Verfahrens  größer  erscheinen  lassen. 
Wir  beobachteten  dies  an  den  Einjährig-Freiwilligen,  von  denen 
37,1  Proz.  der  Leute  mit  einem  Index  über  30  tauglich  wraren. 

Trotzdem  kam  Schwiening  nicht  zu  einer  Ablehnung  des 
Verfahrens,  sondern  er  erkannte  ihm  den  Wert  zu,  daß  dort,  wo 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  18 


270 


Meinshausen, 


viele  Leute  mit  hohen  Differenzen  vorhanden  sind,  auch  die  Zahl 
der  schwächlicheren  Personen  eine  größere  sein  wird,  als  bei  dem 
Vorwiegen  der  mittleren  und  niedrigen  Indexgruppen  (S.  112  seiner 
Arbeit). 

Bei  den  übrigen  Gestellungspflichtigen  ist  der  Fehler  aber  er¬ 
heblich  geringer,  hatten  von  den  dieser  Untersuchung  zugrunde 
liegenden  Tauglichen  doch  nur  3,2  Proz.  einen  Index  über  30. 
Und  von  diesen  129  Leuten  hatten  34  Mann  eine  Größe  bis  170  cm 
und  nur  45  waren  größer.  —  Die  Höhe  des  Fehlers  kann  man 
übrigens  aus  den  Tabellen  I  und  II  in  Verbindung  mit  Tabelle  VIII 
feststellen.  Die  Summe  der  Tauglichen  bis  170  cm  Größe  beträgt 
2633  von  3689  =  71  Proz.,  die  der  über  170  cm  großen  1056  = 
29  Proz.  Von  den  119  Tauglichen  mit  einem  Index  über  30  aber 
sind  74  =  62  Proz.  unter  170  cm  und  45  =  38  Proz.  größer.  Die 
über  170  cm  großen  Tauglichen  enthalten  also  an  Leuten  mit 
einem  Index  über  30  9  Proz.  von  129  =  11  Mann  zu  viel.  —  Dem¬ 
entsprechend  kann  man  aus  den  Tabellen  der  Schwiening’schen 
Arbeit  S.  78  und  108  feststellen,  daß  der  Fehler  bei  den  Einjährig- 
Freiwilligen  13  Proz.  beträgt. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  durch  diesen  Fehler  die  Verwertbarkeit 
des  Verfahrens  in  Frage  gestellt  wird.  Ich  denke  nein.  Denn 
dieselbe  Fehlerquelle  wird  bei  jedem  Ersätze  mehr  oder  weniger 
vorhanden  sein,  da  jeder  Aushebungsbezirk  große  und  kleine  Leute 
gemischt  enthält.  Nur  könnte  man  den  Einwand  erheben,  daß  der 
Fehler  in  einer  Gegend  mit  besonders  großem  Menschenschlag  auch 
größer  sein  werde.  Das  scheint  aber  nicht  durchaus  notwendig 
zu  sein,  wenigstens  nicht  bei  einem  Vergleiche  der  Aushebungs¬ 
bezirke  Marienburg,  Stuhm,  Elbing  Land  mit  den  übrigen  ver¬ 
werteten  Bezirken.  In  dem  Bezirk  Elbing  Land  und  zum  Teile 
auch  im  Marienburger  Bezirke  hat  sich  als  Nachkommenschaft  der 
vom  Deutschen  Orden  in  der  entwässerten  Weichselniederung  an¬ 
gesiedelten  Friesen,  Holländer  und  Angehöriger  anderer  germa¬ 
nischer  Stämme  ein  hochwüchsiger,  schlanker  Menschenschlag  er¬ 
halten,  der,  begünstigt  durch  gute  Lebensbedingungen,  einen  sehr 
brauchbaren  Ersatz  liefert.  Man  sollte  nun  annehmen,  daß  hier 
infolge  der  vielen  großen  Leute  der  Fehler  des  Verfahrens  be¬ 
sonders  deutlich  hervortreten  müßte,  zumal  ein  sehr  hoher  Prozent¬ 
satz,  nach  meiner  Berechnung  annähernd  65  Proz.,  tauglich  be¬ 
funden  wurde.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Von  den  659  Taug¬ 
lichen  waren  472  =  72  Proz.  bis  170  cm  groß  und  187  =  28  Proz. 
größer.  Von  den  16  Tauglichen  mit  einem  Index  von  über  30  aber 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens. 


271 


waren  12  =  75  Proz.  bis  170  cm  groß  und  4  =  25  Proz.  größer. 
Der  Fehler  ist  also  hier  überhaupt  nicht  vorhanden.  —  Doch 
können  erst  in  größerem  Umfang  angestellte  Untersuchungen  über 
die  Größe  des  Fehlers  bei  großer  und  kleinerer  Bevölkerung  Aus¬ 
kunft  geben.  Vorerst  muß  man  sich  damit  behelfen,  bei 
der  Anwendung  des  Verfahrens  zum  Vergleiche  ver¬ 
schiedener  Massen  kleine  Differenzen  nicht  als  aus¬ 
schlaggebend  für  die  Beurteilung  anzusehen. 


Nun  fragt  es  sich,  in  welcher  Weise  das  Verfahren  praktisch 
am  besten  zu  verwerten  ist.  Die  von  Pignet  getroffene  Einteilung 
von  5  zn  5  cm  erscheint  für  ein  bei  Massenuntersuchungen  anzu¬ 
wendendes  Mittel  zu  kompliziert.  Auch  bringt  es  die  tatsächlichen 
Verhältnisse  nicht  richtig  zum  Ausdrucke.  Denn  in  der  an  erster 
Stelle  seines  Systems  stehenden  positiven  Gruppe  bis  Index  10,  die 
also  einen  erstklassigen  Ersatz  enthalten  müßte,  sind  die  Fett¬ 
leibigen  mit  enthalten,  die  zum  größten  Teile  untauglich  sind. 
Dann  sehen  wir,  daß  mit  zunehmender  Größe  eine  Verschiebung 
in  den  einzelnen  Gruppen  nach  der  ungünstigen  Indexseite  zu 
stattfand,  so  daß  auch  der  Unterschied  zwischen  den  Rubriken 
11 — 35  nicht  zuverlässig  ist.  Ferner  sind  von  den  Leuten  mit 
einem  Index  über  30  noch  5  Proz.  tauglich,  so  daß  man  auch 
einen  Index  über  30  nicht  unbedingt  als  ein  Zeichen  der  Untaug¬ 
lichkeit  ansehen  kann.  Dieselben  Fehler  haften  der  von  Schwie- 
ning  verwendeten  Einteilung  an.  —  Am  besten  läßt  man  daher 
diese  Einteilung  ganz  fallen  und  urteilt  nur  danach,  wieviel  Pro¬ 
zent  einer  zu  beurteilenden  Masse  einen  niedrigen  und  wie  viele 
einen  hohen  Index  haben.  Als  Vergleichszahl  nimmt  man  am 
besten  die  Indexzahl  30  und  stellt  fest,  wieviel  Prozent  einen 
Index  unter  30  und  wieviel  einen  höheren  haben.  Als  Beispiel 
habe  ich  folgende  Tabelle  zusammengestellt. 

(Tabelle  siehe  nächste  Seite.) 

Nach  Reihe  3  dieser  Zusammenstellung  würden  die  branden- 
burger  Landbezirke  den  besten  Ersatz  haben,  da  nur  8,8  Proz. 
der  Gestellungspflichtigen  einen  Index  über  30  haben.  Dann  folgen 
Kottbus  Land  und  die  Marienburger  Landbezirke  mit  12  Proz.  In 
weitem  Abstand  erst,  noch  hinter  den  meisten  Industrieorten,  folgt 
Guben  Land  mit  27,3  Proz.  Diese  hohe  Differenz  bringt  unzweifel¬ 
haft  den  für  eine  Landbevölkerung  sehr  schlechten  Ersatz  von 

18* 


272 


Meinshausen, 


Land  Wehr¬ 
bezirk 

Ge¬ 

samt¬ 

zahl 

Index 
über  30 

abs.  1  Proz. 

Davon 

tauglich 

abs.  |  Proz. 

Index 

unter 

30 

abs. 

Davon 

untauglich 

wegen 

Schwäch¬ 

lichkeit 

i 

abs.  Proz. 

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Proz. 

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Oi 

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• 

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GO 

Proz. 

Brandenburg 

Land 

933 

96 

10,3 

8 

8,3 

837 

110 

13 

52,7 

20 

27,3 

Cottbus 

Land 

784 

94 

12 

2 

2,8 

690 

190 

27,5 

40,9 

34,1 

25 

Marienburg 

Land 

1017 

123 

12 

16 

13 

894 

72 

8 

64,8 

16 

19,2 

Guben 

Land 

1  114 

304 

27,3 

13 

4,3 

810 

94 

11.6 

30,7 

24,3 

45 

Brandenburg 

Städte 

1  147 

222 

19,7 

24 

10,8 

925 

183 

19,8 

48 

30,7 

21,3 

Einjährig- 

Freiwillige 

52  066 

11512 

22,2 

4225 

37,1 

40  554 

2165 

5,3 

65,2 

14,2 

20,6 

Elbing 

Stadt 

390 

91 

23,3 

11 

12 

299 

23 

7,7 

55,1 

24,4 

20,5 

Cottbus 

Stadt 

309 

74 

23,9 

1 

1,4 

235 

78 

33,4 

34 

45,6 

20,4 

Berlin 

II.  u.  III. 

3  645 

1099 

30,1 

34 

3,1 

2  546 

1053 

41,4 

23,2 

53,8 

23,1 

Guben,  Forst 
Stadt 

626 

236 

37,7 

10 

4,2 

390 

63 

16,2 

25,3 

33,5 

41,2 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

Guben  Land  zum  Ausdrucke.  —  Von  den  Industrieorten  haben 
Brandenburg,  Spandau,  Rathenow  mit  19,7  Proz.  den  besten  Ersatz. 
Dann  folgen  Elbing  und  Kottbus,  in  größerem  Abstande  Berlin  II 
und  III  und  in  weitem  Abstande  Guben  und  Forst.  —  Diese  Zahlen 
bringen  wieder  zum  Ausdrucke,  daß  die  Stadtbevölkerung  im  allge¬ 
meinen  einen  erheblich  schlechteren  Ersatz  liefert  als  die  Land¬ 
bevölkerung.  Ferner,  daß  der  Ersatz  des  Landwehrbezirks  Guben 
außerordentlich  schlecht  ist.  Dies  ist  wohl  durch  die  dort  seit 
langer  Zeit  heimische  Webereiindustrie  bedingt.  —  Die  Einjährig- 
Freiwilligen  entsprechen  ungefähr  dem  besseren  Stadtersatze. 

Die  Körperbeschaffenheit  des  Durchschnitts  der  tauglich  Be¬ 
fundenen  ist  nach  der  Prozentzahl  der  mit  einem  Index  über  30 
Tauglichen  zu  beurteilen.  Denn  je  mehr  von  diesen  schwächeren 

Leuten  ein  Ersatz  enthält,  desto  schwächer  wird  er  im  allgemeinen 

* 

sein.  Nach  Reihe  5  wäre  bei  Kottbus  Stadt  und  Land  die  beste 
Auswahl  getroffen.  Dann  folgen  Berlin  und  Guben  Stadt  und  Land. 
Am  meisten  Schwächliche  unter  den  Tauglichen  würden  enthalten: 
In  erster  Linie  die  Einjährig-Freiwilligen  mit  37,1  Proz.,  Elbing 
Stadt  und  Land  mit  13,2  und  13  Proz.  Dies  ist  erklärlich  aus  der 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens.  273 

hohen  Zahl  der  tauglich  Befundenen,  die  aus  Reihe  9  ersichtlich  ist. 
Bei  den  Einjährigen  sind  es  65,2  Proz.,  bei  Elbing  Land  64,8  Proz. 
und  Elbing  Stadt  55,1  Proz. 

Die  Reihen  7  und  8  enthalten  die  trotz  niedrigem,  also  günstigen 
Index  wegen  Schwächlichkeit  untauglich  Befundenen.  Da  diese 
Zahlen  desto  größer  sein  werden,  je  höhere  Ansprüche  an  die 
Tauglichkeit  gestellt  werden,  und  desto  kleiner,  je  weiter  mit  diesen 
Ansprüchen  heruntergegangen  wird,  so  ermöglichen  sie  ein  Urteil, 
wieviel  Leute  in  bestimmten  Bezirken  im  Vergleiche  zu  anderen 
mehr  hätten  ausgehoben  werden  können.  Für  Berlin  z.  B.  beträgt 
die  Zahl  41  Proz,  für  Elbing  Stadt  aber  nur  7,7  Proz.  Hieraus 
darf  man  schließen,  daß  in  Berlin  II  und  III  bei  gleichen  Ansprüchen 
an  die  Tauglichkeit  wie  in  Elbing  ungefähr  41 — 7,7  =  33,3  Proz. 
der  trotz  niedrigen  Index  als  schwächlich  Bezeichnet en  tauglich 
gewesen  sein  würden.  Das  sind  etwa  350  Leute.  —  Auch  Kottbus 
Stadt  und  Land  enthalten  unter  den  als  schwächlich  bezeichneten 
noch  einen  hohen  Prozentsatz  von  Leuten  mit  niedrigem  Index. 

In  Reihen  9—11  sind  zur  Kontrolle  die  Prozentzahlen  der  Taug¬ 
lichen,  der  wegen  Schwächlichkeit  und  wegen  sonstiger  Fehler 
Untauglichen  zusammengestellt.  Diese  Zahlen  werden  allerdings 
mit  den  amtlichen  nicht  ganz  genau  übereinstimmen,  da  wie  an¬ 
fangs  erwähnt,  nicht  alle  in  den  Vorstellungslisten  geführten  Leute 
für  diese  Untersuchungen  verwendet  werden  konnten. 

Man  ersieht  aus  der  Zusammenstellung,  daß  ein  Vergleich  von 
verschiedenen  Bezirken,  Provinzen,  von  Stadt-  und  Landbevölkerung, 
nach  dieser  Methode  sehr  gut  durchführbar  ist.  Sie  ist  gewiß  über¬ 
sichtlicher  als  die  Einteilung  nach  Pignet’schen  Rubriken.  — 
Ebenso  kann  man  mit  ihr  die  körperliche  Entwicklung  der  An¬ 
gehörigen  verschiedener  Berufszweige  prüfen.  In  folgender  Tabelle 
ist  dies  veranschaulicht,  die  unter  Zugrundelegung  der  Simon’schen 
Zusammenstellung  S.  178  seiner  Arbeit  die  einzelnen  Berufsgruppen 
nach  ihrem  Anteil  an  Leuten  mit  einen  Index  über  30  ordnet. 

Es  haben  einen  Index  über.  30: 


1.  Metzger 

4,6 

Proz. 

2.  Bäcker 

9 

n 

3.  Schmiede 

10,7 

11 

5.  Maurer  und  Schlosser 

15,6 

11 

6.  Landwirte 

17,5 

11 

7.  Taglöhner 

17,8 

11 

8.  Zimmerer 

18 

11 

9.  Zigarrenarbeiter 

18,4 

11 

274 


Meinshausen, 


10. 

Fabrikarbeiter 

19,5 

Proz. 

11. 

Knechte 

20 

55 

12. 

Maler 

20,9 

55 

13. 

Mechaniker 

23 

55 

14. 

Gold-  u.  Silberarbeiter 

23,6 

55 

15. 

Textilarbeiter 

24 

55 

16. 

Schreiner 

25,2 

55 

17. 

Arbeiter 

29,2 

55 

18. 

Seminaristen 

31,2 

55 

19. 

Häusl.  Bedienstete 

32,6 

55 

20. 

Friseure 

40 

55 

21. 

Kaufleute 

40,8 

55 

Diese  Zusammenstellung  gibt  m.  E.  ein  anschauliches  Bild  von 
dem  Einflüsse  des  Berufs  auf  die  Körperentwicklung,  oder  wenn 
man  Prinzing’s  und  Bindewald’s  Ansicht  folgen  will,  von  dem 
Einflüsse  der  Körperentwicklung  auf  die  Berufswahl.  Beide  Einflüsse 
werden  wohl  Geltung  haben.  Die  Reihenfolge  entspricht  ungefähr 
dem  allgemeinen  Eindrücke,  den  wir  bei  der  Musterung  von  der 
körperlichen  Tüchtigkeit  der  einzelnen  Berufe  gewinnen.  Die 
Metzger,  Bäcker  und  Schmiede  haben  die  beste  Körperentwicklung, 
Dann  folgen  Maurer,  Schlosser,  Landwirte,  Taglöhner,  Zimmerer. 
Auffallend  ist  nur  die  verhältnismäßig  günstige  Beurteilung  der 
Zigarrenarbeiter,  deren  Beruf  als  besonders  ungesund  gilt.  Viel¬ 
leicht  sprechen  hier  aber  besondere,  nur  für  Baden  maßgebende 
Verhältnisse  mit.  —  Auffallen  könnte  auch,  daß  die  Kauf¬ 
leute  die  schlechteste  Körperentwicklung  aufweisen,  schlechter  noch 
als  die  Friseure.  Dies  findet  aber  darin  seine  Erklärung,  daß  die 
Schreiber  unter  den  Kaufleuten  mitgezählt  sind,  die  meist  wegen 
Schwächlichkeit  diesen  Beruf  wählen,  der  ihrem  Körper  auch  zur 
Fortentwicklung  keine  Gelegenheit  gibt.  Die  Schreiber  stellen  bei 
der  Mustung  und  Aushebung  ohne  Zweifel  den  jämmerlichsten  Er¬ 
satz.  Bei  Nachprüfungen  wird  es  sich  daher  empfehlen,  Hand¬ 
lungsgehilfen  und  Schreiber  gesondert  zu  beurteilen. 

Untersuchungen  über  Zu-  oder  Abnahme  der  Wehrfähigkeit 
verschiedener  Bezirke,  Gegenden,  Provinzen,  oder  des  ganzen  Volkes 
sind  zurzeit  noch  nicht  möglich,  da  die  Eintragung  des  Gewichts 
der  untersuchten  Leute  bei  manchen  Bezirkskommandos  überhaupt 
noch  nicht,  bei  den  übrigen  erst  seit  wenigen  Jahren  stattfindet. 
Es  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  die  Feststellung  des  Gewichts 
bei  der  Musterung  zur  Pflicht  gemacht  wird.  Dann  ist  es  in 


Weitere  Beiträge  zur  Wertung  des  Pignet’schen  Verfahrens.  275 

späteren  Jahren  möglich,  durch  in  bestimmten  Abständen,  vielleicht 
alle  fünf  Jahre,  vorgenommene  Nachprüfungen,  hierüber  Unter¬ 
suchungen  anzustellen. 


Die  gewonnenen  Resultate  fasse  ich  in  folgenden  Schlußsätzen 
nochmals  zusammen. 

1.  Die  Pignet’sche  Formel  ist. geeignet,  als  Vergleichsmaßstab 
für  Massenuntersuchungen  verwendet  zu  werden. 

2.  Es  haftet  ihr  allerdings  der  Fehler  an,  daß  ihre  Zuverlässigkeit 
mit  zunehmender  Körpergröße  nachläßt. 

3.  Diesen  Fehler  kann  man  dadurch  zum  großen  Teile  aus¬ 
schalten,  daß  man  die  P  i  g  n  e  t  ’sche  Rubrikeneinteilung  fallen  läßt. 

4.  Als  Vergleichsmaßstab  verwendet  man  anstatt  dessen  am 
besten  den  Anteil  an  schwachen  Leuten,  der  in  den  zu  vergleichenden 
Bezirken  vorhanden  ist. 

5.  Als  Vergleichszahl  eignet  sich  am  besten  die  Indexzahl  30. 

6.  Den  dann  noch  vorhandenen  geringen  Fehler  des  Verfahrens 
schaltet  man  aus,  indem  man  geringen  Differenzen  bei  der  Be¬ 
urteilung  kein  ausschlaggebendes  Gewicht  beilegt. 

7.  Die  Pignet’sche  Formel  erhöht  den  Wert  des  in  der  Aus¬ 
hebungslisten  ruhenden  statistischen  Materials,  da  dessen  Be¬ 
arbeitung  zu  sozialstatistischen  Zwecken  mit  Hilfe  der  Formel  ver¬ 
hältnismäßig  einfach  ist. 


Zunahme  des  Alkohol  Verbrauchs  in  Indien. 


Von  Dr.  Ernst  Scbultze  in  Hamburg-Großborstel. 

Jahrtausende  hindurch  haben  sich  die  Bewohner  Vorderindiens 
fast  stets  als  sehr  nüchtern  gezeigt.  Zwar  kannte  man  bereits 
zur  Zeit  der  Veden,  der  berühmten  heiligen  Bücher  der  Inder,, 
berauschende  Getränke.  Eines  der  beliebtesten  und  bekanntesten 
Gedichte  aus  dem  „Rigveda“  stellt  ein  Selbstgespräch  des  be¬ 
trunkenen  Gottes  Indra  dar,  dessen  kurze  Verse  regelmäßig  mit 
dem  Kehrreim  enden:  „Ist’s  denn,  daß  ich  vom  Soma  trank?“ 

Indessen  ist  doch  wahrscheinlich  weder  damals  noch  zu  späteren 
Zeiten  im  indischen  Volke  Alkohol  getrunken  worden.  Auch  als  am 
Hofe  des  Großmoguls  in  Delhi  trotz  der  Verbote  der  moham¬ 
medanischen  Religion  gegen  den  Alkohol  berauschenden  Getränken 
stark  zugesprochen  wurde,  blieb  das  Volk  als  solches  nüchtern. 
Nicht  nur  seine  Armut  veranlaßte  es  dazu;  denn  diese  stellt  be¬ 
kanntlich  durchaus  kein  sicheres  Mittel  gegen  den  regelmäßigen 
Genuß  von  Alkohol,  ja  gegen  regelmäßige  Trunkenheit  dar. 

Erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  ist  die  Nüchternheit  des  in¬ 
dischen  Volkes  in  schwere  Gefahr  gebracht  worden.  Zunächst  hat 
dazu  der  Einfluß  der  Europäer  und  der  in  Indien  lebenden 
Engländer  auf  die  Eingeborenen,  insbesondere  auf  deren  höhere 
Klassen,  und  auf  die  in  Europa  studierenden  Inder  beigetragen. 
Auf  den  Colleges  und  Universitäten  sehen  die  letzteren  zunächst,, 
wie  die  weißen  Studenten  trinken,  und  folgen  nach  einiger  Zeit 
ihrem  Beispiel. 

Ein  gewichtiger  Grund  ist  wahrscheinlich  darin  zu  suchen,, 
daß  die  Politik  der  englischen  Regierung  in  Indien  darauf 
ausgegangen  ist,  aus  den  Steuern  auf  geistige  Getränke 


Zunahme  des  Alkoholverbrauchs  in  Indien. 


277 


möglichst  hohe  Erträge  zu  erzielen.  Wird  es  doch  immer 
schwieriger,  das  indische  Budget  im  Gleichgewichte  zu  halten,  so  daß 
man  stets  wieder  versucht,  neue  Einnahmequellen  zu  eröffnen.  Auch 
gegenwärtig,  wo  der  hohe  Gewinn  aus  dem  Opiumhandel  mit  China 
fortzufallen  droht,  sieht  man  sich  gezwungen,  nach  neuen  Einnahme¬ 
quellen  Ausschau  zu  halten. 

Wie  stark  der  Ertrag  der  Steuer  auf  geistige  Getränke  ge¬ 
wachsen  ist,  mag  das  Beispiel  einer  einzigen  Provinz  zeigen.  Im 
Pundschab  betrug  die  Regierungseinnahme  aus  dieser  Quelle  im 
Fiskaljahre  1900 — 01  2  601184  Rupien.  Sie  hob  sich  alsdann  bis 
zum  Jahre  1904—05  auf  3162  955  und  bis  1907-08  auf  4  259  983 
Rupien.  Ähnlich  schnell  und  stark  ist  die  Steigerung  im  ganzen 
Lande  gewesen.  Beträgt  doch  die  Einnahme  der  indischen  Regie¬ 
rung  aus  der  Alkoholsteuer  heute  das  Vierfache  dessen,  was 
1875  eingenommen  wurde. 

Diese  Zahlen  haben  der  Eingeborenenpresse  Anlaß  gegeben,, 
die  englische  Regierung  scharf  anzugreifen.  Trotz  des  Aufruhr¬ 
gesetzes,  unter  dem  die  Presse  steht,  wollen  die  scharfen  Angriffe 
gerade  nach  dieser  Richtung  hin  nicht  verstummen.  Es  scheint 
auch,  als  wenn  sie  mindestens  zum  großen  Teile  berechtigt  sind. 
Gewiß  kann  die  englische  Regierung  darauf  hinweisen,  daß  die 
Einnahmen  sich  deshalb  haben  erhöhen  müssen,  weil  man  erst  all¬ 
mählich  die  gesamte  Herstellung  von  Alkohol  der  Steuer  unter¬ 
worfen  hat.  Indessen  kann  das  eine  so  starke  Zunahme  nicht  er¬ 
klären.  Auch  würde  diese  Entschuldigung  für  die  genannten  Zahlen 
in  der  Provinz  Pundschab  nicht  zutreffen.  Selbst  ein  Anwachsen 
der  Bevölkerung  kann  hier  nicht  ins  Feld  geführt  werden  —  ganz 
im  Gegenteile  sind  ja  im  Pundschab  gerade  im  letzten  Jahrzehnte 
durch  Pest  und  Malaria  so  viele  Menschen  zugrunde  gegangen,  daß 
eine  Abnahme  der  Bevölkerung  zu  verzeichnen  war. 

Ebenso  kann  eine  Steigerung  des  Volkswohlstandes  die  Zu¬ 
nahme  des  Alkoholverbrauchs  nicht  erklären.  Von  einer  solchen 
ist,  wie  von  vielen  maßgebenden  Seiten  behauptet  wird,  in  Indien 
nicht  die  Rede.  Außerdem  würde  es  ein  Zeichen  innerer  Gesund¬ 
heit  des  Volkes  sein,  wenn  es  trotz  steigenden  Reichtums  seine 
Alkoholausgaben  nicht  vermehrte.  Solche  Verhältnisse  haben  wir 
in  den  letzten  Jahrzehnten  glücklicherweise  z.  B.  in  Deutschland 
gehabt,  wo  die  Ausgaben  für  den  Kopf  der  Bevölkerung  zwar  für 
Getreide,  Fleisch  und  andere  Nahrungsmittel  sich  fast  verdoppelt 
haben,  während  für  Alkohol  und  Tabak  eine  Steigerung  der  Aus¬ 
gaben  auf  den  Kopf  der  Bevölkerung  nicht  zu  beobachten  war. 


278 


Ernst  Sckultze,  Zunahme  des  Alkoholverbrauchs  in  Indien. 


Wie  es  scheint,  sind  viele,  wenn  nicht  alle  Bevöl¬ 
kerung  sklassen  in  Indien  von  dieser  Steigerung  des 
Alkoholverbrauchs  betroffen.  So  hat  kürzlich  ein  hervor¬ 
ragender  Rajput  in  einem  Aufsatze,  der  in  Indien  viel  bemerkt 
wurde,  behauptet,  daß  die  männlichen  Charaktereigenschaften 
seiner  Rasse,  die  durch  ihre  heroische  Tapferkeit  hochberühmt 
war,  durch  das  Übel  des  Trinkens  jetzt  schwer  gelitten  habe. 

Auch  in  den  Ar  beiter  kreisen  hat  sich  ein  steter  Alkohol¬ 
verbrauch  eingenistet.  Es  läßt  tief  blicken,  wenn  der  Vorsitzende 
Her  Fabrikantenvereinigung  in  Bombay  (Bombay  Mill-Owners  Asso¬ 
ciation)  kürzlich  in  einer  Ansprache  an  diese  Vereinigung  sagte: 
„Während  der  jüngst  vorgenommenen  Untersuchungen  des  Likwa- 
Committee,  das  seine  Sitzungen  in  Bombay  abhielt,  ist  bewiesen 
worden,  daß  die  Fabrikarbeiter  mehr  Geld  für  Alkohol  ausgeben 
als  für  ihre  Nahrung  oder  für  ihre  Kleider.“  — 

Es  scheint  fast,  als  wenn  die  Inder,  obwohl  sie  nun  schon 
weit  länger  als  ein  Jahrhundert  unter  der  Herrschaft  der  Eng¬ 
länder  stehen,  jetzt  zu  guter  Letzt  noch  eine  der  übelsten  Unsitten 
des  europäischen  Lebens  annehmen  wollten  —  eine  Unsitte,  gegen 
die  unter  den  meisten  europäischen  Völkern  in  den  letzten  Jahr¬ 
zehnten  ein  energischer  Kampf  geführt  wird,  und  die  infolgedessen 
auch  in  England  sich  wesentlich  hat  zurückdrängen  lassen.  Unter 
den  mancherlei  Übeln,  die  die  Weißen  neben  dem  mancherlei  Guten, 
das  sie  ihnen  brachten,  auf  fremde  Völker  übertragen  haben, 
ist  die  Trunksucht  eines  der  schlimmsten.  Manchen  Stamm  eines 
farbigen  Volkes  hat  sie  zerstört,  indem  sie  zunächst  die  moralische 
Widerstandskraft  wie  überhaupt  alle  sittlichen  Begriffe  untergrub 
und  damit  auch  wirtschaftlich,  militärisch  und  politisch  die  Kraft 
•des  betreffenden  Volkes  vernichtete.  In  auffallendster  Weise  tritt 
dieser  üble  Einfluß  des  Alkohols  bei  den  nordamerikanischen  In¬ 
dianern  hervor,  die  man  daher  notgedrungen  durch  Gesetzgebung 
und  Verwaltung  vor  dem  Alkohol  zu  schützen  suchte.  Die  eng¬ 
lische  Regierung  in  Indien  würde  moralisch  gut  und  politisch  klug 
handeln,  wenn  sie  einer  Zunahme  des  Alkoholverbrauchs  energisch 
•entgegenträte,  um  sich  den  bitteren  Vorwurf  zu  ersparen,  daß  sie 
nun,  wo  sie  durch  die  Unterdrückung  des  Opiumhandels  in  China 
•eine  wichtige  Einnahmequelle  verliert,  eine  neue,  kaum  weniger 
unsaubere  Quelle  in  der  Zunahme  des  Alkohol  Verbrauchs  unter  den 
•eingeborenen  Indern  für  sich  zu  erschließen  suche. 


Ein  amerikanischer  Kniturfortschritt. 

Von  Dr.  Ernst  Schultze  in  Hamburg-Großborstel. 

Seit  Jahren  schämte  sich  der  beste  Teil  der  Nordamerikaner 
über  die  ungeheuren  Opfer,  die  der  größte  Nationalfeiertag  des 
Landes  an  Menschenleben  erforderte.  Denn  der  „Fourtli  of  July“, 
der  Tag,  an  dem  im  Jahre  1776  die  Unabhängigkeitserklärung 
der  13  Kolonien  von  dem  Mutterlande  erlassen  wurde,  ist  mehr 
und  mehr  in  einer  so  lärmenden  und  unvorsichtigen  Weise  be¬ 
gangen  worden,  daß  der  4.  Juli  nicht  mehr  ein  Freudentag,  sondern 
ein  Tag  der  Trauer  für  das  ganze  Land  zu  werden  drohte.  Be¬ 
trug  doch  die  Zahl  der  an  diesem  größten  Nationalfeier¬ 
tage  der  Vereinigten  Staaten  durch  Unvorsichtig¬ 
keit  Getöteten  und  Verwundeten  im  Jahre  1909  die  kaum 
glaubliche  Ziffer  von  2405.  Es  ist  das  Verdienst  insbesondere  der 
in  Chicago  erscheinenden  Zeitung  „Tribüne“,  auf  diese  Schäden 
immer  wieder  mit  solchem  Nachdrucke  hingewiesen  zu  haben,  daß  sich 
nun  endlich  eine  Besserung  eingestellt  hat.  Insbesondere  wurde 
durch  das  Abbrennen  von  Feuerwerk,  durch  das  Lösen  von 
Böllerschüssen,  durch  Frösche  und  andere  Feuerwerkskörper  und 
durch  das  Abschießen  von  Pistolen  eine  solche  Fülle  von  Unglück 
angerichtet,  daß  z.  B.  im  Jahre  1909  die  Zahl  der  Toten  44,  die  der 
Verwundeten  2361  betrug.  Man  hat  berechnet,  daß  innerhalb  eines 
Jahrzehnts  der  4.  Juli  den  Vereinigten  Staaten  mehr  Menschen 
gekostet  habe  wie  der  ganze  Unabhängigkeitskrieg  gegen  England ! 

So  haben  denn  verschiedene  Stadtverwaltungen  — 
denn  in  den  Städten  pflegten  die  Unglücksfälle  infolge  der  Zu- 
sammendrängung  von  Menschenmassen  am  größten  zu  sein  —  das 
Ab  brennen  von  Feuerwerk  ganz  verboten,  so  z.  B.  die 
Städte  Atlanta,  Birmingham,  Cleveland,  Columbus,  Kansas  City, 
Los  Angeles,  Minneapolis,  San  Francisco  und  Washington.  Die 


280 


Ernst  Schnitze,  Ein  amerikanischer  Kulturfortschritt. 


Folge  ist  nun  gewesen,  daß  am  4.  Juli  1911  in  diesen  Städten  nicht 
ein  einziger  Todesfall  infolge  des  Abbrennens  von  Feuerwerk  mehr 
vorkam,  und  daß  auch  die  Zahl  der  Verwundungen  überaus  gering 
geworden  ist;  alle  diese  Städte  wiesen  keine  Verwundungen  mehr 
auf,  mit  Ausnahme  von  San  Francisco  und  Washington,  in  denen 
je  2  vorkamen.  Unmittelbar  vor  dem  4.  Juli  hatten  noch  manche 
andere  Städte  ebenfalls  den  Beschluß  gefaßt,  daß  kein  Feuerwerk 
abgebrannt  werden  dürfe,  so  daß  die  Gesamtzahl  dieser  Städte  50 
betrug.  Man  wollte  eben  nicht,  daß  das  nordamerikanische  Volk, 
um  seinen  größten  Festtag  zu  feiern,  eine  schwere  Steuer  an  Blut 
und  Leben  entrichten  sollte. 

Gewiß  ist  der  Lärm  gerade  in  Nordamerika  nicht  nur  kenn¬ 
zeichnend,  sondern  fast  Vorbedingung  der  Freude,  insbesondere 
der  Freude  größerer  Volksmassen.  Aber  man  wird  eben  lernen 
müssen,  die  Freude  auch  weniger  geräuschvoll  auszudrücken  oder 
sich  wenigstens  auf  die  Machtmittel  der  menschlichen  Stimme  zu 
beschränken,  nicht  aber  Pistole  und  Feuerwerk  zu  Hilfe  zu  nehmen. 

Der  Erfolg  der  „Freiheitsbeschränkungen“,  denen  man  sich 
endlich  nun  auch  im  „Lande  der  Freiheit“  im  Interesse  des  Lebens 
und  der  Gesundheit  seiner  Mitmenschen  in  wachsendem  Maße  unter¬ 
worfen  hat,  ist  ein  recht  günstiger  gewesen.  1908  waren  am 
4.  Juli  56  Menschen  getötet  worden,  1909  noch  44,  1910  nur  noch  28. 
Die  Zahl  der  Verwundeten,  die  1909  noch  2361  ausgemacht  hatten, 
ging  1910  auf  1785  und  1911  auf  881,  also  auf  die  Hälfte  der 
letzteren  Ziffer,  den  dritten  Teil  der  ersteren  zurück. 

Indessen  wird  man  sich  bei  diesen  Erfolgen  noch  nicht  be¬ 
ruhigen  dürfen.  Denn  auch  jetzt  hat  der  Nationalfeiertag  doch  an 
Toten  und  Verwundeten  immerhin  noch  905  Menschen  gekostet  — 
mehr,  als  in  den  meisten  Schlachten  zwischen  Italienern  und 
Türken  in  Tripolis  verzeichnet  wurden.  Auch  die  Verluste,  die 
durch  Brandschäden  infolge  Unvorsichtigkeiten  am  4.  Juli  hervor¬ 
gerufen  werden,  sind  noch  keineswegs  stark  genug  eingeschränkt 
worden.  1909  hatte  diese  Verlustsumme  724515  Dollars,  also  fast 
3  Millionen  Mark  betragen  —  1910  war  sie  auf  591815  Dollars 
gesunken  —  1911  machte  sie  noch  344  350  Dollars  aus.  Das  sind 
noch  immer  lx/4  Millionen  Mark  —  eine  Ziffer,  die  sich  zweifellos 
noch  wesentlich  vermindern  ließe.  Die  denkenden  Leute  in  Amerika 
und  die  Führer  der  dortigen  Kulturbewegung  werden  bei  diesen 
Ziffern  nicht  stehen  bleiben  wollen,  sondern  keine  Anstrengung 
scheuen,  um  eine  weitere  Verminderung  zu  erstreben,  um  so  ihr 
Land  von  einem  schweren  Makel  möglichst  ganz  zu  befreien. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten 

und  Lungenheilstätten. 

Von  Dr.  Geobg  Liebe,  Waldhof  Elgershausen. 

Wenn  man  die  Verwendung  des  Alkohols  in  den  im  Titel 
genannten  Anstalten  untersuchen  und  ihre  Berechtigung  prüfen 
will,  so  hat  man  zuerst  die  Frage  aufzustellen  und  zu  beantworten, 
als  was  und  mit  welcher  Absicht  der  Alkohol  daselbst  verwendet 
wird.  Zuerst  jedenfalls  einer  alten,  noch  ungebrochenen  Über¬ 
lieferung  nach  als  Diätetikum.  Schwere  Biere  werden  als  Nahrungs¬ 
und  Mastmittel  gegeben.  Dabei  ist  der  Kalorienwert  der  bei  ver¬ 
nünftigem  Gebrauch  in  Betracht  kommenden  Mengen  sehr  gering, 
es  sind,  wie  Martius  sagt,  unter  der  Schwelle  der  Schädigung 
liegende  Mengen  ohne  Wert.  Abgesehen  davon,  daß  wir  namentlich 
in  Krankenhäusern  uns  bemühen  müssen,  die  Ernährung  nicht  auf 
den  mechanischen  Kalorienwert  aufzubauen,  sondern  auch  ihren 
Energiewert  in  Betracht  zu  ziehen,  ist  der  Alkohol  überhaupt  kein 
Nahrungsmittel.  Er  verbrennt  im  Körper,  gewiß,  aber  wie  das 
geschieht  und  mit  welchem  Erfolge,  darüber  wird  noch  so  eifrig 
gestritten,  daß  man  darauf  seine  Verwendung  als  Nahrungsmittel 
nicht  bauen  kann,  und  das  triviale  Beispiel  besagt  nicht  zuviel : 
wenn  man  alles,  was  im  Körper  verbrennt,  als  Nahrungsmittel 
betrachten  will,  so  ist  auch  Glyzerin  ein  solches,  genau  so  wie 
dann,  wenn  alles,  was  im  Ofen  unter  Entwicklung  von  Wärme 
verbrennt,  als  Heizmittel  betrachtet  wird,  das  Dynamit  ein  solches 
ist.  Es  gibt  im  Krankenhause  Fälle,  in  denen  man  eine  Mastkur 
für  nötig  halten  kann.  Aber  diese  kann  man  sicher  durch  andere 
Mittel  viel  besser  herbeiführen,  durch  Mittel,  die  nicht  zugleich 
Gift  sind,  und  die  nicht  eine  bloße  Aufschwemmung  wie  das  Bier 
erzeugen.  Wenn  wir,  um  das  noch  zu  erwähnen,  auch  noch  den 


282 


Georg  Liebe, 


Wein  heranziehen,  so  darf  man  es  wohl  als  einen  ausgesprochenen 
Unsinn  bezeichnen,  diesen  als  „Blutwein“,  d.  h.  als  Blutbildner,  zu 
geben.  Etwa  weil  der  Rotwein  dem  Blute  ähnlich  sieht? 

Fieberkranken  zur  Stillung  des  Durstes  und  zur  Herabsetzung 
der  Temperatur  Alkohol  zu  geben,  ist  ebenfalls  nicht  mehr  zeit¬ 
gemäß.  Der  Alkohol  setzt  nach  Binz  die  Temperatur  um  0,4° 
herab.  Die  ihm  deshalb  zuteil  gewordene  Empfehlung  stammt  aber 
aus  der  Chininzeit.  Wir  haben  jetzt  wahrlich  eine  reiche  Auswahl 
anderer  Mittel,  selbst  wenn  man  das  beste  und  unschädlichste, 
Aqua  fontana  frigida,  nicht  anwenden  will. 

Über  die  sonstige  Verwendung  des  Alkohols  als  Arzneimittel 
zu  sprechen,  ist  heutigen  Tages  noch  nicht  ganz  einfach.  Aber 
wir  dürfen  schon  deshalb  nicht  so  stillschweigend  daran  vorüber¬ 
gehen,  weil  vielfach  die  Grenze  zwischen  Diätetikum  und  Medikament 
gar  nicht  scharf  zu  ziehen  ist.  Es  muß  aber  doch  mit  der  Zeit 
auch  in  diese  rein  ärztliche  Verwendung  des  Alkohols  hinein¬ 
geleuchtet  werden,  nachdem  es  erwiesen  ist,  daß  man  große 
Krankenhäuser  mit  dem  besten  Erfolge  alkoholfrei  führen  kann. 
Hier  müssen  namentlich  die  Krankenkassenärzte  helfend  zur  Seite 
stehen. r) 

Die  Holitscher’sche  Korrespondenz  berichtete  vor  einiger  Zeit: 
•  •  •  • 

„Uber  Aufforderung  des  Vereins  für  freie  Arzte  wähl  in  Stuttgart 
hat  Professor  Dr.  Romberg  in  Tübingen  vor  kurzem  ein  Gutachten 
über  die  Verordnung  von  Wein,  Champagner  und  Kognak  an  Mit¬ 
glieder  von  Krankenkassen  abgegeben,  dessen  hauptsächliche  Ge¬ 
danken  in  folgendem  wiedergegeben  sind. 

Es  ist  zu  empfehlen,  die  genannten  Getränke  nur  als  Medikament, 
nie  als  Genuß-  oder  Kräftigungsmittel  auf  Rechnung  von  Kassen 
zu  verwenden. 

Bei  diesem  Vorgehen  genügen  geringe  Mengen.  In  der  Tübinger 
med.  Klinik  wurden  bei  35  000  Verpflegstagen  700  Liter  Wein  und 
gar  kein  Champagner  abgegeben.  Von  Kognak  in  17  000  Ver¬ 
pflegstagen  der  letzten  drei  Monate  ein  halber  Liter. 

Zur  Begründung  führt  Prof.  R  o  m  b  e  r  g  an,  daß  es  den  Kassen 
nicht  zugemutet  werden  könne,  Genußmittel,  mögen  sie  dem  Kranken 
auch  subjektive  Annehmlichkeiten  bieten,  zu  liefern;  mit  dem¬ 
selben  Rechte  könnte  den  Kassen  die  Beistellung  z.  B.  von  Tabak 
zugemutet  werden.  Auch  als  Kräftigungsmittel  können  die  Alko- 


0  Vgl.  E.  Hirt,  München:  Alkohol  und  Krankenkassen.  Die  Alkoholfrage. 
7.  Jahrg.,  Heft  3. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  285- 

holiker,  da  der  Alkohol  infolge  rascher  Verbrennung  trotz  seines 
Kalorienwertes  wenig  für  den  Haushalt  des  Organismus  leiste,  mit 
Vorteil  für  den  Kranken  durch  eine  passende  Kostverordnnng  er¬ 
setzt  werden.“ 

Der  Züricher  Akademische  Abstinenten -Verein  Libertas  hat 
ein  recht  brauchbares  Flugblatt  herausgegeben,  in  dem  er  die 
therapeutische  Verwendung  von  Alkohol  einer  scharfen  Kritik 
unterzieht.  Für  das  Herz :  Alkohol  vermehrt  nicht  den  Blutdruck, 
er  erhöht  nur  die  Pulszahl  durch  Erregung  des  Herzens,  er  ver¬ 
schlechtert  seine  Erholungsfähigkeit,  er  erhöht  die  innere  Reibung 
(Viskosität)  und  vermehrt  somit  die  Arbeit  des  Herzens,  er  setzt 
die  Digitaliswirkung  herab.  Bei  Infektion  ist  er  eher  schädlich 
als  nützlich,  was  bei  Pneumonie  und  Puerperalfieber  nachgewiesen 
ist.  Abstinenzdelirien  sind  nicht  sicher  bewiesen,  sondern  werden 
von  den  meisten  Klinikern  in  Abrede  gestellt.  Jedenfalls  bedarf 
die  Frage  der  arzneilichen  Verwendung  noch  sehr  der  Diskussion 
und  Aufklärung,  weil  auch  hier  manches  alte  Vorurteil  zu  be¬ 
seitigen  ist. 

Man  hält  es  aber  auch  vielfach  gar  nicht  für  erforderlich,  der 
Alkoholdarreichung  ein  diätetisches  oder  therapeutisches  Mäntelchen 
umzuhängen,  sondern  sagt  ungeschminkt,  daß  man  ihn  in  der  auch 
für  Kranke  nötigen  Geselligkeit  und  zum  Verbessern  der  Stimmung,, 
also  doch  nur  als  Genußmittel,  nicht  entbehren  könne.  Dagegen 
ist  zu  sagen,  daß  dort,  wo  eine  Menge  Kranker  der  weniger  be¬ 
mittelten  Stände  Aufnahme  findet,  nach  meinen  Erfahrungen  der 
Alkohol  zum  Heben  der  Stimmung  nicht  erforderlich  ist,  ja,  daß 
man  sogar  meist  im  Gegenteile  stimmungsdämpfend  ein  wirken  mußr 
und  daß  beispielsweise  in  den  Lungenheilstätten  Sonntags  am  Abend 
„aus  unerklärlichen  Gründen“  ein  ganz  anderer  Lärm  herrscht  als 
Wochentags.  Gebildete  aber  sollen  ihn  erst  recht  nicht  nötig  haben,, 
denn  die  Geselligkeit  des  Alkohols  ist  nach  jeder  Hinsicht  wertlos. 
Man  soll  auch  für  Kranke  das  ethische  und  psychische  Moment 
dieser  Frage  nie  vergessen  und  ihnen  nicht  wie  dem  schreienden 
Kinde  einen  „geistigen  Saugpfropfen“  geben. *)  Es  ist  auch  für 
Kranke  durchaus  nicht  gleichgültig,  wenn  durch  Alkohol  das  Urteil 
gelähmt  und  so  der  Leichtsinnige  geradezu  zu  Torheiten  verführt 
wird.  Wie  leicht  ist  es  möglich,  durch  ein  leichtfertiges  Hinaus- 


x)  Bieling,  Über  die  Notwendigkeit  den  Alkohol  in  ärztlich  geleiteten 
Heilanstalten  in  die  Apotheke  zu  verbannen  und  über  die  Durchführbarkeit  dieser 
Maßregel.  Zeitschr.  f.  Krankenpflege.  Nr.  10,  1905. 


•284 


Georg  Liebe, 


laufen  in  die  Kälte  ohne  die  nötige  Schutzkleidung  einen  Erfolg 
wieder  einzureißen,  oder  wie  leicht  bringt  auch  der  mäßige  Alkohol¬ 
genuß  eine  bei  manchen  Kranken  nur  mühsam  zurückgehaltene 
sexuelle  Erregung  in  gefährlicher  Weise  zur  Explosion.  Die  Kranken 
sollen  auch  frohe  Tage  haben,  und  das  Bestreben  des  Arztes  muß 
es  sein,  ihnen  so  oft  und  so  gut  als  möglich  über  trübe  Gedanken 
hinwegzuhelfen.  Aber  dazu  bedarf  es  nicht  des  Alkohols.  Man 
kann  eine  sehr  fidele  Bowle,  ein  frohes  Sommerfest  und  eine  recht 
lustige  laute  Silvesterfeier  veranstalten,  ohne  daß  in  den  recht 
wohlschmeckenden  Getränken  auch  nur  ein  Tropfen  des  angeblich 
so  nötigen  Spiritus  ist. 

Ganz  bedenklich,  weil  geradezu  unmoralisch,  ist  es,  wenn  in 
einer  dem  Wolile  von  Kranken  dienenden  Anstalt  Alkohol  aus 
Gründen  gegeben  wird,  die  nicht  den  Wissensschätzen  des  Arztes, 
sondern  teils  dem  Geldbeutel  der  einen,  teils  der  Unkenntnis  irgend¬ 
welcher  Vorgesetzter  Laien  entspringt.  Es  wird,  wie  mir  einmal 
ein  gar  nicht  alkoholfreundlicher  Arzt  einer  Privatanstalt  sagte, 
zu  viel  am  Weine  verdient,  als  daß  man  ihn  ohne  weiteres  weg¬ 
lassen  könnte.  Nun  könnte  man  ja  den  unangenehmen  Trinkzwang 
auch  zum  Genuß  alkoholfreier  Getränke  ausüben.  Aber  es  wird 
an  diesen  vielleicht  nicht  so  viel  verdient,  und  dann  ist  ja  aus 
naheliegenden  Gründen  mit  der  prinzipiellen  Verdrängung  des 
Alkohols  meist  auch  der  Grundsatz  der  Freiheit  in  bezug  auf  das 
Trinken  eingeschlossen,  salus  aegroti  suprema  lex.  Man  glaubt 
aber  gar  nicht,  wenn  in  einer  Heilanstalt  die  Leute  nicht  trinken 
müssen,  wie  oft  sie  dann  das  Trinken  überhaupt  lassen.  Nun 
stehen  wir  auf  dem  Standpunkte,  daß  zum  Besten  des  Kranken 
dieser  Verlust  getragen  werden  muß.  Der  alte  Peter  Reimers  in 
„Helmut  Harringa“  bringt  auch  ein  lockendes  hohes  Gehalt  seiner 
Überzeugung  zum  Opfer,  trotzdem  er  dadurch  vielleicht  seinem 
Sohne  manchen  Zuschuß  zur  Ausbildung  versagen  muß.  Es  gibt 
freilich  noch  nicht  allzuviel  solche  Männer.  Aber  der  Arzt  darf 
nicht  Helfer  des  Alkoholgewerbes  werden  .  .  Die  ganze  Alkohol¬ 
frage  spitzt  sich  immer  mehr  auf  einen  Kampf  gegen  die  Tyrannei 
des  Alkoholkapitals  zu.  Und  der  Arzt  gehört  einem  freien  Beruf 
an,  der  sich  nur  von  seinem  WTissen  und  Gewissen,  aber  nicht  von 
derartigen  Geldbeutelinteressen  leiten  lassen  darf.  Die  Ärzteschaft 
steht  wahrhaftig  jetzt  in  einem  harten  Kampfe  und  muß  alles  ver¬ 
meiden,  was  irgendeinen  Fleck  auf  sie  spritzt. x)  In  einer  großen 

x)  Um  so  schlimmer,  daß  sogar  Universitätslehrer  sich  zu  Eednern  im  Inter¬ 
esse  der  Brauer  usw.  hergeben. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  285 


Lungenheilanstalt  scheiterten  die  Versuche  des  äußerst  tüchtigen  und 
ehrenhaften,  in  der  wissenschaftlichen  Welt  hoch  angesehenen 
Arztes,  den  bis  dahin  üblichen  Kognakverbrauch  einzuschränken, 
an  dem  eisernen  ^Villen  der  Aktionäre.  In  Delbrück’s  Rund¬ 
fragen  über  die  Irrenanstalten x)  erklärte  ein  Arzt,  daß  die  Vor¬ 
gesetzte  Behörde  es  nicht  zugelassen  habe,  daß  er  aus  der  Anstalt 
den  Alkohol  entferne,  trotzdem  er  ihn  für  gefährlich  hielt.  Was 
hat  sich  der  Vorgesetzte,  wohl  ein  Jurist,  der  von  dieser  Frage 
anscheinend  gar  nichts  verstand,  da  hinein  zu  mengen?  Wissen¬ 
schaftliche  Gründe  waren  hier  sicher  nicht  maßgebend.  Wie  anders 
klingt  es,  wenn  aus  dem  städtischen  Krankenhause  in  Stettin  eine 
ständige  Abnahme  des  Alkoholverbrauchs  gemeldet  wird1  2)  mit  dem 
Zusatze:  „Der  Rückgang  ist  lediglich  auf  die  zielbewußte  Ver¬ 
ständigung  zwischen  der  Verwaltung  und  den  ärztlichen  Direktoren 
zurückzuführen“.  Dr.  Briegleb  erzählt,  daß  er  eine  verwandte 
Person  in  einer  Lungenheilanstalt  gehabt  und  besucht  habe,  und 
daß  er  dort  selbst  beobachtete,  wie  ein  Patient  eines  Abends  eine 
Kognakrechnung  von  15  M.  machte,  und  wie  ein  andermal  die 
Patienten  nach  einem  Sektgelage  mit  den  Flaschen  und  dem  Sekt¬ 
kühler  Kegel  spielten.  Rosenfeld3)  macht  sehr  richtig  darauf 
aufmerksam,  daß  aus  solchen  Anstalten  Frauen  und  Kinder,  bei 
denen  vorher  an  Alkoholgenuß  nicht  zu  denken  war,  als  ausgemachte 
Trinker  zurückkommen. 

Umgekehrt  soll  jede  Krankenanstalt  ein  Vorbild  sein,  auch  in 
bezug  auf  Lebensweise  und  Ernährung,  was  für  Lungenheilstätten 
ganz  besonders  gilt.  Wir  werden  darauf  noch  zurückkommen. 
Gerade  auf  dem  Gebiete  der  Krankenanstalten  spielt  doch  die 
volkswirtschaftliche  Seite  unserer  Frage  eine  große  Rolle.  Und 
zwar  nicht  nur  die  unmittelbaren  Kosten  des  gegebenen  Alkohols 
selbst,  über  die  noch  zu  sprechen  sein  wird,  sondern  auch  die 
Kosten,  die  zum  großen  Teile  durch  den  Alkohol  für  Kranken¬ 
häuser,  Irrenanstalten,  Heilstätten  und  hierzu  zu  zählende  Gefäng¬ 
nisse,  Armenanstalten,  Siechen-  und  Arbeitshäuser  entstehen. 


1)  Die  Abstinenz  in  Irrenanstalten.  Psychiatrisch-Neurologische  Wochenschr. 
Nr.  50—51,  Jahrg.  1905. 

2)  Mäßigkeitsblätter  Oktober  1911. 

3)  Rosenfeld,  Der  Einfluß  des  Alkohols  auf  den  Organismus.  Wiesbaden 
1901,  S.  255. 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


19 


286 


Georg  Liebe, 


Irrenanstalten. 

** 

Der  Alkohol  wirkt  schädigend  auf  das  Nervensystem.  Diese 
alte  Binsenwahrheit  muß  man  hier  voranstellÄ.  Nach  Rosen¬ 
feld  gleichen  seine  Wirkungen  den  Bildern,  die  wir  Tabes, 
Landrysche  Paralyse,  quere  Myelitis,  Paralyse  u.  a.  nennen,  ge¬ 
radezu  „zwillingsbrüderlich“.  Wir  finden  periphere  Neuritis,  Ischias, 
Erkrankung  der  Hirnnerven,  besonders  der  Optici,  alle  Gruppen 
von  Lähmungen.  Der  bekannte  Einfluß  des  Alkohols  auf  die 
Tätigkeit  des  Gehirns,  die  geistige  Arbeit  der  Kinder,  Berufsarbeit 
der  Schriftsetzer,  der  Maschinen  Schreiber  usw.  kann  hier  nur  flüchtig 
erwähnt  werden.* 1)  Betreffs  der  pathologisch-anatomischen  Ver¬ 
änderungen,  über  die  sich  wohl  Widerspruch  bisher  noch  nicht 
erhoben  hat,  ist  bei  Rosenfeld  (a.  a.  0.)  S.  97 — 101  u.  115 — 119 
oder  bei  Hoppe2)  nachzulesen.  Über  den  Zusammenhang  der 
wirklichen  Geisteskrankheiten  mit  Alkohol 3)  seien  nur  einige 
Zahlen  gesagt.  W right4)  schiebt  75  Proz.  der  Dementia  paraly- 
tica  auf  den  Alkohol.  Kraepelin5)  fand  bei  den  geisteskranken 
Männern,  die  1893  in  Herzberge  aufgenommen  wurden,  in  70  Proz. 
Alkohol  als  Ursache.  In  Dalldorf  waren  am  1.  April  1905  von 
2072  Männern  und  1661  Frauen  357  =  14,8  Proz.  und  30  =  1,8  Proz. 
Alkoholisten.  Und  das  waren  nur  die  direkten  alkoholischen 
Störungen,  während  der  Alkohol  noch  in  einer  viel  größeren  Anzahl 
mitgewirkt  hatte.6)  Denn  Sn  eil  sagte  zur  Versammlung  der 
Irrenärzte  in  Hannover7)  sehr  richtig:  „Wir  müssen  uns  in  den 
meisten  Fällen  auf  die  Angaben  des  Kreisphysikus  verlassen,  der 
das  Gutachten  für  die  Aufnahme  des  Kranken  in  die  Anstalt 
liefert;  der  Kreisphysikus  muß  sich  oft  auf  die  Angaben  der  Ver¬ 
wandten  verlassen.  Nach  der  Meinung  der  Angehörigen  sind  nun 
die  meisten  Geisteskrankheiten  durch  psychische  Einflüsse  ver¬ 
ursacht,  und  es  ist  merkwürdig,  wie  schwere  Folgen  oft  einem 

•  • 

geringen  Schreck  oder  Arger  zugeschoben  werden.“  Andere  Ur¬ 
sachen,  darunter  besonders  der  Alkoholismus,  dessen  man  sich  mit 

* 

1)  Helenius,  Die  Alkoholfrage.  Jena  1903,  S.  185. 

2)  Hoppe,  Die  Tatsachen  über  den  Alkohol.  3.  Aufl.,  Berlin  1904,  S.  138 ff. 

3)  Zahlen  bei  Hoppe,  S.  274 ff.  Auch  Bär,  Der  Alkoholismus.  Berlin  1878,. 
S.  362  ff. 

4)  Helenius,  S.  187. 

5)  Helenius,  S.  191. 

6)  Jahresbericht  1905/6. 

7)  Helenius,  S.  184. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  287 


eigenem  schlechtem  Gewissen  schämt,  werden  verschwiegen.  Dazu 
kommt  noch  die  offene  Frage:  was  ist  überhaupt  Alkoholismus? 
Wir  haben  in  den  lungenärztlichen  Spezialschriften  darüber  eine 
Fehde  gehabt.  YVolff  fand  unter  seinen  Privatkranken  12  Proz., 
unter  den  Arbeitern  (!)  nur  7  Proz.  solcher,  die  er  als  Alkoholisten  be¬ 
zeichnen  zu  müssen  glaubte,  während  ich  selbst  einen  Prozentsatz  von 
67  herausfand.  So  verwunderlich  das  klingen  mag,  so  habe  ich  doch 
nicht  zuviel  gesagt,  denn  eine  Mittelzahl,  die  ich  aus  den  Berichten 
von  12  Autoren  und  Anstalten  zusammenstellte,  ergab  61,84  Proz. 
Dabei  bezeichnen  wir  als  Alkoholisten  im  ärztlichen  Sinne  jeden,  der 
täglich  gewohnheitsmäßig  Alkohol  trinkt;  außerdem  natürlich  auch 
die  Trinker.  Die  Wissenschaft  kennt  ja  auch  eine  große  Reihe 
von  Alkoholpsychosen,1)  Dipsomanie,  pathologische  Rauschzustände, 
Delirium,  akute  und  chronische  alkoholische  Verrücktheit,  alkoho¬ 
lische  Paralyse  und  Pseudoparalyse,  Epilepsie.2)  Ist  hiervon  das 
Delirium  am  bekanntesten,  so  ist  vielleicht  die  Epilepsie  am  wich¬ 
tigsten,  denn  sie  kommt  nach  neuen  Anschauungen  viel  mehr  vor, 
als  wie  sie  sich  durch  ausgesprochene  Anfälle  unverhüllt  zeigt. 
In  den  Londoner  Irrenhäusern  fanden  sich  im  Jahre  1906/07 
327  Fälle  von  Epilepsie.  Bei  diesen  war  in  26  Proz.  Alkoholismus 
der  Eltern,  in  16  Proz.  der  Kranken  selbst  nachzuweisen.  Alkoho¬ 
lismus  tritt  nun  entweder  zu  Epilepsie  hinzu  —  die  gefährlichste 
Verbindung  in  dieser  Psychochemie  —  oder  er  löst  sie  aus  der 
vorhandenen  Disposition  aus.  Als  Bindeglied  wird  vielfach  auch 
die  ihm  zugeschriebene  Arteriosklerose  betrachtet.3)  Wir  brauchen 
nur  an  die  bei  Epileptischen  vorkommende  Trübung  des  Bewußt¬ 
seins  zu  denken,  die  ja  übrigens  der  Alkoholismus  auch  ohne  Epi¬ 
lepsie  hervorbringt,  um  über  die  Behauptung  nicht  zu  erschrecken, 
daß  ein  großer  Teil  der  Selbstmorde  vom  Alkoholismus  herrührt. 
Im  Jahre  1908  waren  von  8231  in  Preußen  vorgekommenen  Selbst¬ 
morden  779  =  9,5  Proz.  unmittelbar  unter  der  Wucht  des  Alko¬ 
hols  geschehen,  während  die  Zahl  derer,  bei  denen  sich  der 
Alkoholismus  in  Lebensüberdruß,  geistiger  Umnachtung,  Trauer, 
Reue  usw.  verbarg,  natürlich  viel  höher  war.  Ebenso  steht  es  mit 
den  Verbrechen.  130  Alkoholiker  in  der  Irrenanstalt  Frankfurt  a.  M. 
hatten  zusammen  Hunderte  von  Jahren  Strafen  erlitten.  Irrfahrten 


0  Rosenfeld,  S.  222 ff. 

2)  Vgl.  Sichel,  Der  Alkohol  als  Ursache  der  Belastung.  Neurologisches 
Zentralbl.,  Bd.  29,  1910,  S.  738—740. 

3)  Vgl.  Dr.  E.  Herrn.  Müller,  Epilepsie  und  Alkohol.  Internationale 
Monatsschr.,  1910,  S.  358. 

19* 


288 


Georg  Liebe, 

und  planlose  Taten,  „intrapsychische  Sejunktionen“,  die  derartige 
Kranke  mit  dem  Strafrichter  in  Berührung  bringen,  ferner  der 
Eifersuchtswahn  gehören  vielfach  auf  das  Schuldkonto  des  Alkohols, 
letzterer  nach  Puppe’s  sicher  noch  zu  niedrig  gegriffenen  Zahl 
in  11  von  50  Fällen,  also  22  Proz. 

In  einem  Vortrage:  „Pathogenese  und  Therapie  der 
Epilepsie  und  Hysterie“1)  kommt  Binswanger  in  Jena 
auf  diesen  Zusammenhang  des  Alkoholismus  mit  der  Epilepsie  zu. 
sprechen.  Der  Alkoholismus  ist  hiernach  jedenfalls  ein  wesent¬ 
licher  ätiologischer  Faktor  der  Epilepsie  und  kann  selbst  nach 
jahrelangem  Stillstände  des  Leidens  wieder  neue  Anfälle  auslösen. 
Bei  der  reinen  Alkoholepilepsie  ist  die  kausale  Therapie:  absolute 
Abstinenz.  Diese  reine  Alkoholepilepsie  findet  man  oft  schon  nach 
kurzem  Bestehen  des  Alkoholismus,  z.  B.  bei  Studierenden  im  1. 
oder  2.  Semester,  die  nachweislich  vor  der  Studienzeit  äußerst  mäßig 
gelebt  hatten.  Unter  der  Abstinenz  schwindet  auch  die  Epilepsie, 
während  bei  der  habituellen  Epilepsie  der  Trinker  die  Anfälle  trotz 
Abstinenz  fortbestehen.  In  dieser  zweiten  Gruppe  chronischer  Trinker 
sind  auch  die  durch  den  Alkoholmißbrauch  verursachten  körper¬ 
lichen  und  geistigen  Verfallssymptome  viel  deutlicher  vorhanden. 
Nicht  selten  schließen  sich  bei  ihnen  die  epileptischen  Anfälle  an 
Delirium  tremens  an  oder  folgen  diesem  nur  wenige  Tage  nach. 

So  steht  es  mit  den  Insassen  der  Irrenanstalten,  und  es  fragt 
sich  nun,  darf  man  in  Irrenanstalten  den  Kranken  Alkohol  geben  ? 
Da  ist  zuerst  mit  ausnahmsloser  Bestimmtheit  zu  sagen,  daß  Alko¬ 
holiker  durchaus  alkoholfrei  gehalten  werden  müssen.  Sie  haben 
gegen  die  geringste  Menge  von  Alkohol  eine  hohe  Empfindlichkeit, 
die  zu  den  schlimmsten  Folgen  führt.  Holitscher  berichtet  in 
seiner  Korrespondenz:  „Folgende  Begebenheit,  die  einen  schlagenden 
Beweis  dafür  liefert,  wie  gefährlich  dem  gewesenen  Trinker  jeder 
Tropfen  Alkohol  werden  kann,  verdient  wegen  der  ernsten  Lehre, 
die  sie  enthält,  weiteste  Verbreitung.  Ein  früherer  Trinker,  der 
durch  seine  Trunksucht  in  die  Irrenanstalt  geführt  worden  war, 
wurde  von  Kraepelin  geheilt  und  zum  Anschlüsse  an  den  Gut¬ 
templerorden  bewogen.  Zwei  Jahre  lang  lebte  er  vollständig  ab¬ 
stinent,  war  ein  eifriges  Mitglied  der  Loge,  begeisterter  Agitator 
und  felsenfest  überzeugt;  die  Ordensbrüder  glaubten  Häuser  auf 
ihn  bauen  zu  können.  Eines  Tages  bekam  er  Zahnschmerzen;  ein 


*)  Zeitschrift  f.  ärztl.  Fortbildung  1911,  Nr.  17.  Nach  einem  Referate  Ton 
Dr.  Gutzeit-Neidenburg. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  289 

guter  Freund  riet  ihm,  sich  den  Mund  mit  Kognak  auszuspülen  ; 

er  tat  es,  spuckte  das  erstemal  aus,  spülte  nochmals  und  schluckte. 

Dies  genügte,  um  die  Alkoholsucht  in  ihm  zu  erwecken.  Er  trank 

mehrere  Tage  ununterbrochen  bis  zur  völligen  Bewußtlosigkeit, 

bis  er  eines  alten,  längst  geheilten  Blasenleidens  wegen,  das  durch 

den  Alkohol  „genuß“  wieder  zum  Ausbruche  gekommen  war,  ins 

Krankenhaus  eingeliefert  wurde.  Nach  seiner  Entlassung  aus  dem 

Krankenhause  wurde  er  wieder  in  die  Loge  aufgenommen  und  hat 

sich  bisher  tadellos  geführt ;  die  Brüder  meinen,  daß  er  durch  diese 
_  *  •  • 

Erfahrung  endgültig  geheilt  sein  wird.  Für  die  Arzte  möge  dieser 
Vorfall  eine  Mahnung  sein,  den  Angehörigen  der  geheilten  Trinker 
mit  der  größtmöglichen  Eindringlichkeit  die  Gefahr  zu  schildern, 
die  jeder,  auch  der  allergeringste  Alkoholgenuß  für  Alkoholintole¬ 
rante  mit  sich  bringen  kann.“  a) 

Und  wie  steht  es  mit  anderen  Kranken?  Dietz1 2)  nennt 
sieben  Gruppen  von  Kranken,  denen  keine  alkoholischen  Getränke 
gegeben  werden  dürfen.  Von  472  Fällen  waren: 


Strenge  alkoholische  Geistesstörungen 

4 

Proz. 

Alkoholismus  mit  Geistesstörung 

15 

Epileptische  Alkoholiker 

1 

Epileptiker 

8 

Arteriosklerotische  Erkrankungen 

0,5 

Paralyse 

3 

Junge  (bisher  abstinente)  Idioten 

8 

40 

Proz. 

Dazu  kommen  von  den  anderen  Kranken  schwer  verblödete 
und  im  Bette  behandelte  27  Proz.  Also  67  Proz.  oder  2/3  aller 
Insassen  der  Irrenhäuser  sind  nach  Dietz  medizinisch  alkoholfrei 
zu  behandeln.  Daraus  ergibt  sich  aber  für  eine  gut  geleitete 
Irrenanstalt,  daß  auch  das  letzte  Drittel  alkoholfrei  gehalten  wird. 
Denn  nicht  nur  müssen  oft  Umquartierungen  aus  einer  in  die 
andere  Abteilung  vorgenommen  werden,  sondern  es  erregt  auch 
den  Neid  und  die  Gier  der  Alkoholiker,  wenn  sie  merken  (oft 
schon  durch  das  Vorfahren  des  Bierwagens),  daß  andere  Kranke 
das  so  heiß  ersehnte  Bier  bekommen.  Die  Sucht,  endlich  frei  zu 
werden  und  wieder  trinken  zu  können,  wird  dadurch  geradezu  ge- 

1)  Andere  Fälle  bei  Bleuler,  Der  Alkohol  in  öffentlichen  Anstalten.  Verlag 
des  Alkoholgegnerbunds,  S.  1 — 8. 

2)  Dietz,  Ist  der  Verzicht  auf  Alkohol  als  Genußmittel  in  der  Irrenanstalt 
wünschenswert?  Allgemeine  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  und  psychisch-gerichtliche 
Medizin,  Bd.  62. 


290 


Georg-  Liebe, 


weckt.  Wir  müssen  also  mit  Dietz  für  Irrenanstalten  die  Forde¬ 
rung  aufstellen,  daß  gar  kein  Patient  Alkohol  bekommt  und  müssen 

•  • 

aus  gleichem  Grunde  für  die  Arzte  und  das  Personal,  die  immer 
für  die  Kranken  als  Vorbild  wirken,  in  der  Anstalt  Enthaltsamkeit 
vom  Alhohol  verlangen.3) 

Wie  steht  es  nun  in  der  Tat  mit  dieser  Frage  in  den  Irren¬ 
anstalten.  Dietz  teilt  mit,  daß  in  Württemberg  strenge  Abstinenz 
durchgeführt  sei,  ebenso  in  Egelfing  bei  München  mit  1200  Betten 
(vielleicht  durch  Kraepelin’s  Einfluß),  in  Goddelau,  wo  Dietz 
bisher  war,  auch  auf  der  Männerabteilung,  ebenso  in  Alzey,  Weins¬ 
berg,  Johannisthal-Süchteln,  in  Mauer-Oehling,  in  Valduna,  in  Heidel¬ 
berg  seit  1893  ohne  Schwierigkeit.* 2)  In  Frankfurt  hält  man  die 
Alkoholiker  und  Epileptiker  frei,  in  Hoch  Weitzschen  nur  die  letz¬ 
teren,3)  in  Kaiserswerth  ist  der  Alkohol  auf  ein  Minimum  be¬ 
schränkt,4)  Alt-Strelitz  und  Münsingen  schränken  den  bisherigen 
Fest- Alkohol  ein,  Andernach  hält  die  Männer  fast,  die  Frauen 
ganz  alkoholfrei.  Wie  Chefarzt  Dr.  Ernst  Beyer  in  einem  zu 
Bonn  gehaltenen  Vortrage  mitteilte,  ist  aus  der  mit  einem  Kosten- 
aufwande  von  1000000  M.  für  145  Kranke  neuerbauten  ersten 
rheinischen  Volksheilstätte  für  Nervenkranke  in  Roderbirken  bei 
Leichlingen  der  Alkohol  vollständig  verbannt.  Dr.  Beyer  erklärt, 
bisher  gut  damit  durchgekommen  zu  sein.  An  Getränken  gibt  es 
Milch  ad  libitum,  Kaffee,  d.  h.  zur  Hälfte  Malzkaffee,  ev.  Kakao 
und  im  übrigen  —  aqua  pura.  Auch  Tee  ist  nicht  eingeführt.5) 

Delbrück  verschickte  173  Fragebogen  und  bekam  136  Ant¬ 
worten.  30  antworteten  mit  nein,  14  mit  ja,  92  gaben  Alkohol  in 

9  Medizinalpraktikant  E.  Jeske  hat  (nach  Med.  Klinik  35,  1911)  folgendes 
festgestellt : 

Im  Laufe  des  Jahres  1910  wurde  in  Breslau  in  der  psychiatrischen  Klinik 
und  in  der  Städtischen  Heilanstalt  eine  auffällige  Abnahme  der  Aufnahmeziffer 
der  Erkrankungen  an  Delirium  tremens  beobachtet.  Es  hat  sich  ergeben, 
daß  der  Sturz  der  Häufigkeit  der  alkoholistischen  Geistesstörungen  zeitlich  zu¬ 
sammenfällt  mit  zwei  für  die  Bekämpfung  des  Alkoholismus  bedeutsamen  Tat¬ 
sachen,  nämlich  dem  sozialdemokratischen  Schnapsboykott  und  der  letzten  Brannt- 
weinsteuergesetzgebun  g. 

2)  Deiters,  Dritter  Bericht  über  die  Fortschritte  des  Irrenwesens.  Psychiatr.- 
Neurolog.  Wochenschr.,  1904,  Nr.  36  (3.  Dez.)  bis  1905,  Nr.  43  (21.  Jan.). 

3j  Deiters,  Der  Stand  des  Irrenwesens  innerhalb  des  deutschen  Sprach¬ 
gebiets  im  Jahre  1900 — 1901.  Psychiatr.-Neurolog.  Wochenschr.,  1902,  Nr.  16 
(19.  VII.)  bis  Nr.  21  (23.  VIII.). 

4)  Deiters,  Zweiter  Bericht  über  die  Fortschritte  des  Irrenwesens.  Psychiatr.- 
Neurolog.  Wochenschr.,  1903,  Nr.  10  (6.  VI.)  bis  Nr.  13  (27.  VII.). 

5)  Zentralbl,  f.  allgem.  Gesundheitspflege,  26.  Jahrg.,  2.  Heft. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern.  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  291 


Beschränkung.  Also  17  Proz.  der  antwortenden  Anstalten  sind  als 
abstinent  zu  bezeichnen,  2 — 3  deutsche  haben  abstinente  Ärzte. 
Nur  in  Zürich  und  Münsterlingen  sind  alle  Ärzte  abstinent.  Nur 
8  haben  abstinente  Pfleger,  nur  10  haben  einen  abstinenten  Koch, 
und  ganz  und  gar  alkoholfrei  von  oben  bis  unten  sind  überhaupt 
nur  2.  Dietz  teilt  aus  Goddelau  interessante  Zahlen  mit: 

Bier  Wein  Mineralwasser  Goldblondchen 

Männer:  0  1  0,75  1  35  Fl.  ,  8  Fl. 

Frauen:  31,8  1  2,30  1  23  Fl.  13  Fl. 

Hierzu  ist  zu  bemerken,  daß,  wie  schon  erwähnt,  die  Männer¬ 
station  einen  abstinenten  Oberarzt  hatte,  die  weibliche  einen  solchen 
trinkenden.  Der  Direktor  aber  enthielt  sich  der  Entscheidung! 
Der  Posten  von  0,75  1  Wein  in  der  Männerstation  setzte  sich  zu¬ 
sammen  aus  einem  alten  nicht,  mehr  besserungsfähigen  Pensionär 
und  den  ärztlichen  Verordnungen  in  der  Apotheke. 

Noch  ein  paar  Worte  über  das  Ausland:  Steinhof  bei  Wien 
mit  2 — 3000  Betten,  Salzburg,  Klosterneuburg  sind  abstinent.  Eng¬ 
land  gibt  wenig,  und  auch  dieses  ist  in  der  Abnahme  begriffen. 
Die  schon  mehrfach  genannte  „Korrespondenz“  berichtet:  „Bei 
einem  Stande  von  17  000  Pfleglingen  und  einem  Personale  von  bei¬ 
nahe  dritth  alb  tausend  Köpfen  ist  der  Bierverbrauch  der  Londoner 
Irrenanstalten  nicht  ganz  55  Hektoliter.  Demgegenüber  muß  es 
wahrlich  eigentümlich  berühren,  wenn  eine  einzige  deutsche  Irren¬ 
anstalt  itfit  einem  Belage  von  640  Betten  und  einem  aus  100  Köpfen 
bestehenden  Personale  in  einem  Jahre  nicht  weniger  als  650  Hekto¬ 
liter  Bier  verbraucht.  Die  Provinzialheilanstalt  Aplerbeck  in  West¬ 
falen  schreibt  unter  den  zu  liefernden  Wirtschaftsbedürfnissen  für 
das  Jahr  1907/8  auch  die  Lieferung  von  65000  Liter  Bier  aus, 
also  12  mal  so  viel,  als  die  Londoner  Anstalten  mit  26  mal  so  viel 
Menschen  brauchen.“  Aus  alledem  ergibt  sich  für  uns  die  unbe¬ 
dingte  Forderung:  volle  Abstinenz  für  alle  Kranken  der  Irren- 

•  • 

anstalten,  und  ebenso  für  alle  Arzte  und  das  gesamte  Personal 
wenigstens  „im  Dienste“,  d.  h.  auch  in  den  Wohnungen,  soweit  sie 
in  der  Anstalt  liegen.  Daß  das  praktisch  beinahe  völliger  Ent¬ 
haltsamkeit  gleichkommt,  ist  kein  Fehler.1) 


9  Vgl.  Disput  zwischen  Schloß  und  Hoppe.  Schloß,  Zur  Frage  der 
Alkoholabstinenz  in  Irrenanstalten.  Psychiatr.-Neurolog.  Wochenschr.,  1902,  Nr.  5 
(3.  V.).  Gegen  Hoppe,  ebenda  1901,  Nr.  34  (16.  XI.)  und  1902,  Nr.  52  (22.  III.). 
Dann:  Hoppe,  Noch  einmal  die  Alkoholabstinenz  in  Irrenanstalten,  1903,  Nr.  15 
(11.  VII.). 


292 


Georg  Liebe, 


Lungenheilstätten. 

Manches  von  dem  über  Irrenanstalten  Gesagten  hat  auch  auf 
die  Lungenheilstätten  Bezug,  weshalb  wir  uns  hier  einigermaßen 
kürzer  fassen  können.  Wir  müssen  voranstellen,  daß  Alkohol  die 
Tuberkulose  mit  herbeiführt  und  zum  mindesten  befördert,  daß  er 
dazu  disponiert,  und  daß  ein  Stoff,  der  diese  Wirkung  hat,  unbe¬ 
dingt  aus  den  Heilstätten  entfernt  werden  muß.  Die  Tuberkulose 
ist  eine  Infektionskrankheit,  d.  li.  sie  wird  erzeugt  durch  den  Ba¬ 
zillus,  sofern  er  mit  der  Disposition  zusammentrifft.  Diese  Disposi¬ 
tion  wird  aber  unter  anderem  ganz  entschieden  auch  vom  Alkohol 
erzeugt.  Denn  er  macht  alle  Organe  krank,  die  man  braucht,  um 
eine  Infektion  zu  überwinden.  Er  verursacht  Rachen-  und  Kehl¬ 
kopfkatarrh,  er  schädigt  den  Magen,  ebenso  die  sicher  giftfeindlich 
wirkende  Leber  sehr  stark,  das  Herz  in  seiner  Arbeit  (Gefahr  der 
Blutungen!),  er  schädigt  das  Nervensystem  (die  Psycho-Pathologie 
der  Tuberkulösen  unterliegt  jetzt  erst  dem  besonderen  Studium). 
Wir  wissen  ferner,  daß  er  in  der  feinen  Konstruktion  des  Proto¬ 
plasmas  Änderungen  herbeiführt,  daß  er  die  phagozytären  Schutz¬ 
kräfte  schwächt.  Achard  und  Gaillard  teilten  auf  dem  Tuber¬ 
kulosekongresse  zu  Paris  mit,  daß  sie  die  Angaben  von  Mir  coli, 
Servino  und  Ross  nachgeprüft  und  gefunden  hätten,  daß  mit 
Tuberkulose  infizierte  Tiere  ohne  Alkohol  174  Tage  lebten,  solche, 
denen  man  Alkohol  subkutan  beigebracht  63,  Tage  und  die  ihn  per 
os  bekamen  76  Tage.  Laitinen  teilte  schon  1905  und  wieder  1909 
in  Stockholm  mit,  daß  durch  0,1  ccm  Alkohol  pro  Kilo  Tier  die 
hämolytische  Fähigkeit  des  Kaninchenblutes  benachteiligt  und  das 
bakterizide  Blutvermögen  herabgesetzt  werde.  Diese  Befunde  wurden 
von  Walter  Kern  bestätigt.1)  Hunt  in  Washington  fand,  daß 
die  Ursache  der  Alkoholtoleranz  mancher  Menschen  auf  erhöhter 
Fähigkeit  beruht,  ihn  zu  oxydieren.  Damit  ist  aber  verbunden 
eine  erhöhte  Empfindlichkeit  gegen  andere  Gifte.  Das  wirft  auf 
die  Befunde  von  Laitinen  ein  helles  Licht.  Er  teilt  auch  mit, 
daß  die  Menge  der  Ätherschwefelsäure  im  Urin  (die  ein  Zeichen 
von  hoher  Darmfäulnis  ist)  durch  Alkohol  bei  Mäusen  von  8—9 
auf  25  mg  stieg.  Man  muß  aber  trotz  mancher  entgegenstehender 
Beobachtung  und  Behauptung  der  neueren  Verdauungslehre  immer¬ 
hin  annehmen,  daß  erhöhte  Darmfäulnis  im  Sinne  einer  Wider- 

*)  Zeitschrift  für  Hygiene  und  Infektionskrankheiten,  Bd.  66,  H.  3.  Keferat, 
Münch,  med.  Wochenschr.  1910,  Nr.  42. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  293 

Standsfähigkeit  des  Körpers  ungünstig  einwirkt.1)  Schließlich  sei 
noch  an  die  Opsonine  erinnert.  Immunität  ist  das  Zusammenwirken 
von  Blutserum  und  Phagocyten.  Diese  vernichten  die  Bakterien 
aber  nur  dann,  wenn  das  Blutserum  sie  durch  Opsonine  vorbereitet. 
Die  Zahl,  die  die  Kraft  dieser  Opsonine  anzeigt,  ist  der  opsonische 
Index,  und  dieser  Index  wird  durch  Alkohol  erniedrigt.  Stewart 
fand  durch  56  g  Portwein  den  Tuberkelbazillenindex  um  37  Proz. 
erniedrigt,  den  des  Streptokokkus  um  42  Proz.,  und  bei  der  gleichen 
Menge  Schnaps  waren  die  Zahlen  88  und  36  Proz.,  und  Park  in-  ' 
son  fügte  die  Beobachtung  hinzu,  daß  schon  kleine  Mengen  diese 
Wirkung  haben.  Daraus  erklärt  sich  auch  die  große  Sterblichkeit 
der  Alkoholberufe  an  Tuberkulose.  Es  kann  indessen  darauf,  wie 
auch  auf  manche  andere  Beziehung  zwischen  diesen  beiden 
Menschenfeinden  hier  nicht  näher  eingegangen  werden. 

Was  ergeben  sich  daraus  für  die  Lungenheilstätten  für  Folge¬ 
rungen?  Wie  schon  erwähnt,  die,  daß  der  die  Tuberkulose  fördernde 
Alkohol  nicht  in  eine  gegen  die  Tuberkulose  gerichtete  Heilanstalt 
gehört.  Dagegen  wird  vor  allem  gesagt,  daß  man  wohl  in  einer 
geschlossenen  Irrenanstalt  die  Kranken  abstinent  halten  könne, 
daß  aber  die  Lungenheilanstalten  eine  ziemliche  Bewegungsfreiheit 
gestatten,  und  daß  deshalb  die  Kranken  doch  Mittel  und  Wege 
finden,  außerhalb  der  Anstalt  zu  trinken.  Also:  laissez  faire, 
laissez  boire.  Das  ist  an  sich  wahr.  Man  könnte  hier  wohl  ein 
Kapitel  über  Ethik,  Charakterfestigkeit,  Vernunft  usw.  des  Volkes 
einfügen,  wenn  es  hier  an  der  Zeit  wäre.  Die  Leute  kommen  zur 
Kur,  d.  h.  um  sich  ihre  Gesundheit  und  Arbeitsfähigkeit  wieder 
zu  holen.  Weib  und  Kind  befinden  sich  oft  im  Elende,  wie 
Briefe  zeigen,  die  an  den  Arzt  gerichtet  werden,  oder  die  den 
Kranken  zum  Abbruche  der  Kur  veranlassen.  Und  doch  benutzen 
die  meisten  die  Dorfkneipe,  ja  man  merkt  nicht  selten,  daß  sie  sich 
von  der  Frau  ab  und  zu  Geld  schicken  lassen. 

Nicht  in  einer,  sondern  wohl  in  den  meisten  Anstalten  werden 
hier  und  da  Betrunkene  erwischt.  Der  Sonntagabend  zeigt  im  Ge¬ 
gensätze  zu  den  anderen  Wochentagen  einen  absonderlichen  Lärm 
und  führt  bei  Vermahnungen  zu  frechen  Auftritten,  so  daß  man  da 
schon  so  viel  als  möglich  die  Ohren  zustopft.  Das  „Die  cur  hic“ 
steht  den  wenigsten  vor  Augen.  Und  wenn  sie  fort  sind,  schreiben 
sie  von  der  nächsten  Umsteigestation  eine  bierselige  Karte  und 
ahnen  nicht,  daß  sie  sich  damit  ihrem  größten  Feinde  wieder  in 


l)  Siehe  das  Züricher  Flugblatt  und  Kosenfei d,  S.  145—149. 


294 


Georg  Liebe, 


die  Arme  geworfen  haben.  Und  trotzdem  ist  es  richtig  und  nötig, 
in  der  Lungenheilanstalt  gar  keinen  Alkohol  zu  geben.  „Das  ge¬ 
schieht  ans  pädagogischen  Gründen.  Die  Heilanstalt  soll  eine 
theoretische  und  praktische  Schule  der  Gesundheitspflege  sein, 
was  man  dort  bekommt,  soll  gat  sein  und  daher  nachahmenswert. 
Darauf  beruht  ein  grober  Teil  der  Tätigkeit  des  Heilstättenarztes. 
Wir  belehren  unsere  Kranken  theoretisch,  durch  Vorträge,  bei  der  Auf¬ 
nahme  und  Untersuchung,  gelegentlich  beim  Rundgange  usw.  über  Er¬ 
nährung,  Kleidung,  Wohnung,  Körperpflege  und  dergl.  Ich  belehre  sie 
auch  über  die  Alkoholfrage.  Wir  zeigen  ihnen  praktisch,  wie  eine  ge¬ 
sunde,  einfache,  bürgerliche  Ernährung  beschaffen  ist,  daß  Milch 
ein  gutes  Nahrungsmittel  als  Beigabe  zur  sonstigen  Kost  ist.  Wie 
man  sich  kleidet,  wäscht,  abreibt,  hustet  und  spuckt,  für  Stuhlgang 
sorgt  (ich  erinnere  an  Dettweiler’s  Beobachtungen  bis  ins 
kleinste!).  Wir  bringen  sie  in  luftige  und  gelüftete  Wohnungen, 
die  wir  im  Winter  nicht  überhitzen,  lassen  diese  täglich  feucht 
wischen  und  sauber  halten  usw.  Alles  dieses  sollen  die  Leute,  so¬ 
weit  möglich,  später  nachmachen.  Auch  die  Beköstigung.  Alles, 
was  sie  bekommen,  ist  gut,  empfehlenswert,  nachahmenswert.  Hier 
paßt  der  Alkohol  nicht  hinein.  Denn  wenn  er  (es  ist  hier  wohl 
nur  von  Bier  die  Rede)  gegeben  wird,  so  wird  er  eben  auch  als 
gut,  empfehlenswert,  nachahmenswert,  als  zu  einer  Musterernährung 
gehörig  hingestellt,  und  dadurch  werden  die  Leute  angefeuert,  von 
diesem  Guten  später  auch  wieder  möglichst  viel  zu  sich  zu  nehmen. 
Gut  muß  es  doch  sein,  sonst  würden  wir  es  ja  in  der  Anstalt  nicht 
bekommen  haben.  Das  ist  ein  einfaches  logisches  Argument,  gegen 
das  gar  keiner  angehen  kann  und  wohl  auch  nicht  wird.  Wenn 
die  Kranken  jetzt  doch  noch  Alkohol  trinken,  aus  dem  Schranke 
oder  in  der  Kneipe,  so  wissen  sie  wenigstens:  nach  Ansicht  unse¬ 
res  Arztes  ist  das  nicht  gut,  ja  schädlich.  Aber  wir  sind  leicht¬ 
sinnig  und  tun  es  doch.“ x)  In  der  Tat  ist  die  Abstinenz  in 
Lungenheilstätten  jetzt  über  meine  früher  einzige  alkoholfreie  An¬ 
stalt  Waldhof  Elgershausen  hinausgewachsen.  Die  der  Landes¬ 
versicherungsanstalt  für  die  Rheinprovinz  gehörige  Heilstätte 
Ronsdorf  ist  alkoholfrei  und  hat  sogar  ganz  alkoholfreies  Personal. 
In  anderen  Anstalten  versuchen  die  auf  dem  gleichen  Standpunkte 
stehenden  Ärzte  den  Alkohol  mehr  und  mehr  herauszudrängen.  Von 
seiten  der  Versicherungsanstalten  wird  neuerdings  mit  größtem 


b  Liebe,  Der  Alkohol  als  Heilstättenstreitfrage.  Mediz.  Reform  1906,  Nr.  49. 
Liebe,  Alkohol  und  Tuberkulose.  Zentralbl.  f .  allgem.  Gesundheitspflege,  30.  Jahrg. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  295 

Verständnisse  dieser  scharfe  alkoliolfeindliclie  Standpunkt  mehr 
und  mehr  eingenommen,  die  Namen  der  Landesräte  S ch  eil m ann 
in  Düsseldorf,  Hansen  in  Kiel,  Kraß  in  Münster  und  des  Ge¬ 
heimrat  Dietz  in  Darmstadt  sind  jedem  auf  dem  Gebiete  Ar¬ 
beitenden  bekannt.  Andere  Versicherungsanstalten  dulden  die 
Alkoholfreiheit,  wenn  auch  von  mancher  Seite  noch  eine  Reihe  von 
Bedenken  dagegen  erhoben  werden.  Von  einer  allgemeinen 
Einführung  in  Lungenheilstätten  oder  gar  in  privaten  Lungenheil¬ 
anstalten  und  Sanatorien  kann  noch  gar  nicht  die  Rede  sein. 

Und  doch  ist  auch  hier  die  scharfe  Forderung  nach  Freiheit 
dieser  Krankenanstalten  vom  Alkohol  zu  stellen,  und  es  ist  auch 
vom  Arzte  aus  vorbildlichen  Gründen  die  Enthaltsamkeit  zu 
wünschen.  Jedenfalls  sollen  Arzt  und  Personal  dort  sich  alkohol¬ 
frei  halten,  wo  sie  mit  den  Kranken  zusammen  sind,  selbst  bei 
Festen  und  auf  Ausflügen.  Meine  streng  durchgeführte  Abstinenz 
ist  immer  wirksamer  gewesen  als  Vorträge  und  Belehrungen.  Ich 
darf  auf  Briefe  von  früheren  Patienten  verweisen,  von  denen  ich 
eine  Anzahl  veröffentlicht  habe. x)  Jetzt  müssen  wir  noch  immer 
auf  das  vorbildliche  Ausland  sehen,  die  Schweiz,  Schweden-Norwegen, 
Dänemark,  auch  die  Anstalt  von  Trudeau  in  Amerika  ist  alkoholfrei. 

Krankenhäuser. 

Auch  aus  diesem  Abschnitte  mußte  notgedrungen  schon  manches 
im  vorigen  vorausgenommen  werden.  Ich  wiederhole  ganz  allgemein : 
Alkohol  macht  krank;  alle  Organe  leiden  unter  ihm.  Denken  wir 
beispielsweise  an  das  vorhin  nicht  erwähnte  und  für  die  Verdauung 
so  ungemein  wichtige  Pankreas.  Im  Jahre  1904  litt  im  Charlotten¬ 
burger  Krankenhause  auf  der  Station  von  Prof.  Grawitz  jeder 
dritte  Mann  über  30  Jahren  an  den  Folgen  des  Alkohols.  Fern  et 
führte  in  den  Pariser  Krankenhäusern  1/3  aller  Todesfälle  auf  den 
Alkohol  zurück  und  zwar  1I10  auf  ihn  als  einzige  Ursache,  2/30  als 
Nebenursache. 2)  Betreffs  weiterer  Zahlen  kann  man  auf  sämtliche 
bekannte  Werke  über  den  Alkoholismus  verweisen.  Und  da  diese 
Voraussetzung  feststeht,  so  ergibt  sich  auch  hier  unweigerlich  die 
Forderung:  heraus  mit  dem  Alkohol  aus  den  Krankenhäusern.  Auf 
diesem  Gebiete  ist  uns  England  in  musterhafter  Weise  vorangegangen. 
„Aus  sieben  großen  Londoner  Krankenhäusern  (St.  Bartholomew’s, 


1)  Liebe,  Alkohol  und  Tuberkulose.  Brauer’s  Beiträge,  V.  Bd.,  H 

2)  Münch,  med.  Wochenschr.  1903,  Nr.  4,  S.  204 


296 


Georg  Liebe, 


Guy’s,  Middleser,  St.  George’s,  St.  Mary’s,  University  College,  West- 
minster)  liegen  die  Ausgaben  für  geistige  Getränke  und  für  Milch 
in  den  Jahren  1862  —  1902  vor.  Diese  betrugen: 


Ausgabe  für  geistige 

Ausgabe 

Jahr 

Bettenzahl 

Getränke 

für  Milch 

£ 

£ 

1862 

2254 

7712 

3026 

1872 

2361 

7974 

4237 

1882 

2354 

5090 

7795 

1892 

2275 

3740 

7362 

1902 

2300 

2925 

9035 

Unter  diesen  Ausgaben  sind  die  für  Kranke  und  Personal  ver¬ 
standen;  sie  beleuchten  besser  als  dicke  Bücher  den  Wechsel  in 
den  Anschauungen  der  englischen  Ärzte  über  den  Wert  des  Alkohols 
als  Heilmittel.“  x) 

Wenn  wir  die  Zahlen  in  Mark  umrechnen  und  den  Verbrauch 
im  Jahre  1862  und  1902  vergleichen  (154  240  M.  und  58500  M.), 
so  ergibt  sich  im  letzteren  Jahre  ein  Gewinn  von  95  740  M.  Milch 
kostete  1862  60520  M.,  1902  180700  M.  Trotz  dieser  Verdreifachung 
des  Milchverbrauchs  aber  ist  gegen  1862  doch  noch  ein  Gewinn 
von  24440  M.  festzustellen.  Dagegen  haben  Ungarns  Kranken¬ 
häuser  im  Jahre  1905  323333,81  K  für  Alkohol  ausgegeben.  In 
der  Schärr’schen  Zeitschrift  „Mehr  Licht“2)  wird  folgendes  mit¬ 
geteilt.  „Dem  soeben  erschienenen  Verwaltungsberichte  des  Bürger¬ 
spitals  Basel  pro  1908  entnehmen  wir,  daß  die  Verabfolgung  von 
alkoholischen  Getränken,  speziell  Wein  und  Bier,  an  Patienten  und 
Dienstpersonal  immer  noch  nicht  im  Abnehmen  begriifen  ist,  trotz¬ 
dem  andererseits  die  medizinische  Wissenschaft  sich  größtenteils 
nicht  nur  gegen  den  Mißbrauch,  sondern  auch  gegen  den  Gebrauch 
der  geistigen  Getränke  als  Genußmittel  ausgesprochen  hat.  Es 
sind  verausgabt  worden: 


1907 

1908 

Für  Fleisch 

132  149,26 

140  792,75 

„  Eier,  Butter,  Käse 

35  996,01 

35  974,84 

„  Brot  und  Weggli 

36  920,11 

41  213,56 

„  Mehlwaren,  Kartoffeln,  Gemüse 

39  341,00 

33  024,73 

„  Milch 

81  868,66 

87  175,60 

„  Wein  und  Bier 

32  841,08 

35  619,00 

„  Zucker,  Kaffee,  Spezereien 

14  088,77 

15  523,26 

1)  Holey  and  Stnrge,  Alcohol  and  the  human  body,  p.  6. 

2)  1911,  H.  3,  3.  März. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  297 

Solche  Zahlen  scheinen  den  Schlüssel  zu  dem  Geheimnisse  zu 
bilden,  weshalb  ein  so  großer  Prozentsatz  Bückfälliger  sich  auf 
ärztliche  Verordnungen,  Alkohol  genießen  zu  müssen,  stützt,  um  das 
Nichthalten  der  Abstinenzverpflichtung  einigermaßen  entschuldigen 
zu  können.  Sie  sind  aber  auch  ein  Grund,  der  die  Arbeit  der 
Trinkerrettung  zu  einer  sehr  schwierigen  gestaltet  und  damit  der 
Verbreitung  der  Enthaltsamkeitssache  nicht  jene  Wege  ebnet,  die 
ihr  auf  Grund  ihrer  gesundheitlichen  und  ethischen  Bedeutung  zu 
wünschen  wäre.“ 

Dietz  berichtet  a.  a.  0.  aus  seiner  Männerabteilung,  daß  im 
Jahre  1903  täglich  ausgegeben  wurden  an  Bier  27,20  M.,  Wein 
2,28  M.,  Milch  14,40  M.  Im  Jahre  1905  Bier  5,60  M.  (für  das 
Personal)  Wein  0,  Milch  21,60  M.  Es  ergab  sich  also  für  das  Jahr 
trotz  des  Mehrverbrauchs  an  Milch  ein  Gewinn  von  5978,70  M. 
und  das  Sonntagsbier  dazu  gerechnet  mit  1164,80  M.  ein  solcher 
von  7143,50  M.  Da  auf  der  Weiberabteilung  noch  2900  M.  ver¬ 
braucht  wurden,  würde  die  Beseitigung  des  Alkohols  in  dieser 
einen  Irrenanstalt  10000  M.,  bei  20  Anstalten  also  200000  M.  aus¬ 
machen. 

Es  ist  für  diesen  Fall  als  ganz  günstig  zu  betrachten,  daß  in 
diese  Verhältnisse  hier  und  da  die  Krankenkassen  gewichtig  hinein¬ 
reden  dürfen.  Die  Korrespondenz  von  Hol it scher  schreibt:  „In 
einer  ,Die  x4ufgaben  der  Krankenkassen  im  Kampfe  gegen  den 
Alkoholismus*  betitelten  Schrift  bespricht  Dr.  med.  Hugo  Deutsch 
in  Brünn  sehr  ausführlich  einerseits  die  große  Belastung  der 
Krankenkassen  durch  den  Alkoholgenuß  ihrer  Mitglieder,  anderer¬ 
seits  alle  schon  zur  Anwendung  gekommenen  oder  empfehlenswerten 
Vorbeugungsmaßregeln  der  Kassen  gegen  die  ihre  Mittel  so  sehr 
in  Anspruch  nehmende  Trinksitte.  Er  kommt  zu  dem  Ergebnisse, 
daß  ca.  20  Proz.  aller  Krankheitsfälle  der  Kassenmitglieder  direkt 
oder  indirekt  dem  Alkohol  zur  Last  zu  legen  sind,  ein  Fünftel,  d.  i. 
etwas  mehr  als  durch  Tuberkulose  erkranken,  bedeutend  mehr  als 
durch  Unfälle  arbeitsunfähig  werden  (14,9  Proz.).  Unter  den  vor¬ 
beugenden  Maßregeln  bespricht  der  Verfasser  nicht  nur  die  Auf¬ 
klärungsarbeit  durch  Flugschriften,  Vorträge,  Plakate,  Merkblätter 
u.  dgl.,  sondern  auch  die  Aufgabe,  die  den  Kassenbeamten  und  vor 
allem  den  Kassenärzten  zufällt,  die  Verordnung  von  geistigen  Ge¬ 
tränken  auf  Kassenkosten,  die  Förderung  des  Genusses  alkohol¬ 
freier  Getränke,  die  Bevorzugung  abstinenter  Mitglieder,  die  Be¬ 
handlung  Alkoholkranker,  die  Errichtung  von  Fürsorgestellen  usw. 
Er  kommt  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Krankenkassen  durch  ihre 


298 


Georg’  Liebe, 


Tätigkeit  in  dieser  Hinsicht  viel  zur  Hebung  der  Arbeiterschaft 
in  hygienischer,  sozialer  und  geistiger  Beziehung  beitragen  könnten.“ 
Sagt  man  hiergegen,  das  sei  nur  Österreich,  so  kann  sofort  auch 
etwas  aus  Deutschland  angeführt  werden.  In  dem  Geschäfts¬ 
berichte  der  Ortskrankenkasse  für  den  Gewerbebetrieb  der  Kauf¬ 
leute,  Handelsleute  und  Apotheker  zu  Berlin  für  das  Jahr  1908 
heißt  es  auf  Seite  8:  „Die  Zahlen  der  Krankheitsursachen 
lassen  ersehen,  wTelch  bedeutende  Kolle  die  bekannten  Volksseuchen 
für  die  Krankenkassen  spielen.  Wenn  dabei  der  Alkoholismus  eine 
verhältnismäßig  geringfügige  Kolle  spielt,  so  müssen  wir  immer 
wieder  darauf  verweisen,  dass  es  vorerst,  wenn  der  Kranke  nicht 
selbst  mitteilsam  ist,  noch  außerordentlich  schwer  ist,  den  Alkohol¬ 
genuß  als  Krankheitsursache  festzustellen;  zweifellos  ist  es  aber 
trotzdem,  daß  eine  große  Zahl  von  Magen-  und  Darmkrankheiten 
wie  von  Nervenleiden  auf  den  Genuß  von  alkoholhaltigen  Getränken 
zurückzuführen  ist.“  Bei  der  am  24.  Februar  v.  .1.  abgehaltenen 
Generalversammlung  der  Krankenkasse  „Germania“  in  Hamburg 
besprach  der  Hauptkassierer  Herr  August  Wessel  die  Alkohol¬ 
frage  und  meinte:  „Im  Interesse  der  Krankenkassen  sollten  die 
•  • 

Arzte  angewiesen  werden,  sich  des  Alkohols  zu  enthalten,  damit 
sie  besser  imstande  wären,  die  Krankheiten  festzustellen  und  im 
Umgänge  mit  den  Kassenpatienten  den  Alkoholgenuß  eher  bemerken 
und  ihn  nach  Kräften  zu  inhibieren  suchen,  denn  der  Alkoholgenuß 
verursacht  und  verlängert  jegliche  Kranhheit.  Auch  die  Angestellten 
der  Krankenkassen,  besonders  aber  die  Krankenkassenkontrolleure, 
sollen  sich  des  Alkoholgenusses  enthalten,  um  bei  Patienten  etwaigen 
Alkoholgenuß  zu  bemerken  und  Maßnahmen  zu  treffen.“  *)  Wenn 
es  erst  einmal  an  den  Geldbeutel  geht,  so  macht  doch  mancher  die 
Augen  auf,  der  sich  sonst  für  diese  Frage  nicht  interessiert  hätte. 
Und  es  geht,  es  geht  in  allen  Krankenhäusern.  Lassen  wir  uns 
aus  London  und  Amerika  folgendes  mitteilen:  „Das  London 
Temperance  Hospital,  das  im  Jahre  1873  eröffnet  worden  ist,  soll 
demnächst  durch  einen  auf  25000  £  veranschlagten  Zubau  be¬ 
deutend  erweitert  werden.  Seit  der  Eröffnung  wurden  28538  Patienten 
in  dem  100  Betten  fassenden  Krankenhause  verpflegt.  Von 
diesen  haben  nur  81  Alkohol  bekommen.  Über  diese  Fälle  wurden 
genaue  Protokolle  in  den  Jahresberichten  veröffentlicht.  Die  Sterb¬ 
lichkeit  im  London  Temperance  Hospital  betrug  7,6  Proz.,  und  das 
Spital  steht  damit  in  der  ersten  Reihe  unter  den  Londoner  Kranken- 


9  Hamburger  Ärztekorrespondenz,  Nr.  10,  S.  96. 


Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  und  Lungenheilstätten.  299 

häusern.  Das  New-Yorker  Rote-Kreuz-Hospital ,  im  Jahre  1895 
von  einer  Deutschen,  Frl.  Bettine  Hof fke  —  seit  1897  Frau 
Monae-Lesser  —  gegründet,  im  Jahre  1907  ein  neues,  nach  den 
neuesten  Grundsätzen  modernen  Spitalwesens  erbautes  Heim  er¬ 
halten.  Den  Baugrund  hat  Herr  Ward  well,  Schatzmeister  der 
Standard  Oil  Company,  geschenkt  und  im  Schenkungsbriefe  die 
Bedingung  gestellt,  daß,  soweit  durchführbar,  Alkohol  weder  als 
Medikament  noch  als  Nahrungsmittel  verwendet  werden  dürfe,  daß 
bei  gleicher  Qualifikation  bei  der  Auswahl  von  Ärzten  für  das 
Hospital  solche,  die  sich  des  Alkohols  enthalten,  den  Vorzug  er¬ 
halten  und  nur  solche  für  leitende  Posten  wählbar  sein  sollen. 
In  einem  Schreiben  an  die  Direktoren  des  New-Yorker  Roten-Kreuz- 
Hospitales  begründet  er  diese  Forderung  auf  folgende  Weise:  ,Seit 
mehreren  Jahren  Mitglied  des  Kollegiums  der  Direktoren  des 
New-Yorker  Roten-Kreuz-Hospitales  habe  ich  Gelegenheit  gehabt, 
wahrzunehmen,  daß  die  günstigen  Resultate  in  dem  Hospitale  bei 
Behandlung  der  Krankheiten  den  streng  wissenschaftlichen  Methoden 
der  Ärzte  zuzuschreiben  waren.  Diese  günstigen  Erfolge  sind  er¬ 
reicht  worden,  während  Alkohol  vom  innerlichen  Gebrauche  aus¬ 
geschlossen  war.  Der  Ausschluß  von  Alkohol  beruht  nicht  auf 
moralischen  Gründen,  sondern  stützt  sich  einzig  auf  wissenschaft¬ 
liche  Beobachtungen  und  Erfahrungen;  es  wurde  festgestellt,  daß 
Alkohol  nicht  nur  unnötig,  sondern  daß  er  nachteilig  auf  den 
menschlichen  Organismus  wirkt.  Die  Erfahrungen  in  diesen  Be¬ 
ziehungen,  die  in  dem  Spitale  gemacht  wurden,  haben  die  Ansichten 
hervorragender  Physiologen  und  Männer  von  hoher  wissenschaft¬ 
licher  Bedeutung  —  in  Amerika  sowohl  als  auch  in  Europa  — 
bestätigt.  Überzeugt  von  der  Wichtigkeit  der  Behandlung  ohne 
Alkohol,  wünsche  ich,  soweit  es  in  meinen  Kräften  steht,  diese  zu 
befürworten,  damit  sie  mehr  und  mehr  Anerkennung  findet/  Tat¬ 
sächlich  schreibt  der  erste  Paragraph  der  für  Behandlung  der 
Kranken  im  Roten-Kreuz-Hospital  festgesetzten  Normen  alkohol¬ 
freie  Medikation  und  Diät  vor.  Daß  die  Erfolge  bei  dieser  Methode 
günstig  sind,  geht  daraus  hervor,  daß  die  ersten  100  Operationen 
in  serösen  Höhlen  (Gelenke,  Brust,  Bauch,  Schädelhöhle)  ohne  Todes¬ 
fall  verliefen.  Unter  256  im  ersten  Jahre  behandelten  internen 
Fällen  (das  Hospital  hat  60  Betten)  waren  5  Sterbefälle  und  diese 
betrafen  Patienten,  die  im  letzten  Stadium  —  chronische  Nephritis, 
Karzinom,  Meningitis  —  sich  befanden,  als  sie  aufgenommen  wurden.“ 
Und  was  in  England  und  Amerika  möglich  ist,  nicht  nur  not¬ 
dürftig,  sondern  glänzend  zum  Heile  der  Kranken,  muß  bei  uns 


300  Georg1  Liebe,  Der  Alkohol  in  Krankenhäusern,  Irrenanstalten  usw. 

auch  gehen.1)  Wir  lassen  uns  nicht  mehr  mit  leeren  Redensarten 
das  Gegenteil  vorspiegeln,  sondern  wir,  die  wir  die  Gefährlichkeit 
des  Feindes  erkannt  haben,  fordern,  daß  der  Alkohol  aus  allen 
Krankenhäusern  entfernt  werde.  Und  dabei  dürfen  wir  eins  nicht 
vergessen:  auch  aus  der  Küche.  Die  Krankenküche  liegt  noch 
sehr  im  argen.  Noch  findet  sich  fast  in  allen  diätetischen  Koch¬ 
büchern  Alkohol  in  allen  Formen.  Und  dabei  ist  die  feinste  und 
beste  Küche  ohne  Alkohol  möglich.  Gerade  beim  Kochen  spricht 
ja  ganz  und  gar  nichts  dagegen,  alkoholfreie  Säfte  zu  verwenden. 
Der  Geschmack  ist  mindestens  ebenso  gut,  und  eine  Narkose  will 
doch  gewiß  niemand  mit  Weinsuppen,  Cremes  usw.  bezwecken. 

Es  ist  ja  noch  gewaltig  viel  Arbeit  zu  leisten,  und  man  darf 
vielleicht  nach  dieser  Hinsicht  manche  Hoffnung  auf  die  Fürsorge¬ 
anstalten  setzen.  Aber  es  würde  sich  empfehlen,  hier  nicht  so 
getrennt  zu  marschieren,  hier  eine  Fürsorgestelle  für  Tuberkulose, 
dort  eine  solche  für  Trinker  usw.  zu  errichten.  Ja,  ich  meine 
sogar,  eine  Fürsorgestelle  für  das  Volk  müßte  sich  mit  dem,  was 
sich  jetzt  schon  an  ähnlichen  Stätten,  pädagogischen  und  wirt¬ 
schaftlichen  Auskunftsstellen  (vgl.  Arbeitersekretariate)  vorfindet, 
vereinigen  lassen.  Es  gehört  dazu  freilich  ein  gut  Teil  Idealismus, 
weshalb  wir  diese  Ausführungen  auch  mit  den  Worten  eines 
Idealisten  schließen  wollen:  „Alle,  alle  wollten  Hilfe,  —  der  Rat, 
jener  Liebe,  dieser  Brot,  jener  Arbeit,  einer  sein  Recht,  ein  anderer 
Aufklärung  oder  einen  handfesten  Rippenstoß  in  die  Seele,  daß  er 
aufwachte.  Und  ich  gab,  was  ich  hatte,  und  was  ich  wußte.“2) 

1)  Die  Zahl  der  Krankenhäuser  und  Heilanstalten,  die  zu  alkoholfreier  Ver¬ 
pflegung  übergehen,  ist  in  erfreulicher  Zunahme  begriffen.  Die  Bonner  Provinzial- 
Heil-  und  Pflegeanstalt  (Prof.  Dr.  Westphal)  hat  die  Gewährung  von  Bier  an 
ihre  Kranken  seit  einigen  Jahren  eingestellt.  Nur  die  mit  landwirtschaftlichen 
Arbeiten  beschäftigten  Insassen  erhalten  solche  in  kleinsten  Mengen.  Die  Dr. 
Hertzsche  Privat-Heil-  und  Pflegeanstalt  (Prof.  Dr.  Thomsen)  in  Bonn,  die 
früher  beim  Frühstück  und  Abendessen  ein  Glas  Wein  reichte,  hat  dieses  Getränk 
gestrichen.  (Hygienische  Kundschau  1911,  Nr.  17.) 

2)  Bonne,  Im  Kampfe  um  die  Ideale.  München  1910. 


Der  Frauenüberschuß. 

Eine  sozial  hygienische  Studie. 

Von  Dr.  med.  Alfons  Fischer  (Karlsruhe). 

Wenn  man  die  Bevölkerungsstatistiken,  die  sich  auf  das 
Deutsche  Reich  beziehen,  betrachtet,  so  fällt  die  eigentümliche  Tat¬ 
sache  auf,  daß,  obwohl  alljährlich  auch  bei  uns  beträchtlich  mehr 
Knaben  als  Mädchen  geboren  werden,  dennoch  sehr  viel  mehr  Per¬ 
sonen  weiblichen  als  männlichen  Geschlechtes  bei  den  Volkszäh¬ 
lungen  festgestellt  werden.  Man  hat  sich  mit  dieser  Erscheinung 
bisher  nur  sehr  wenig  beschäftigt,  offenbar  weil  man  meinte,  sie 
sehr  leicht  erklären  zu  können;  man  sab,  daß  im  ersten  Lebens¬ 
jahre  bereits  die  Knaben  eine  viel  stärkere  Sterblichkeit  aufweisen 
als  die  Mädchen,  und  daß  dann  die  Berufsarbeit  in  weit  größerem 
Umfange  zu  Gesundheitsschädigungen  bei  den  Männern  als  bei 
dem  weiblichen  Geschlechte  führt;  es  schien  mithin  ganz  selbstver¬ 
ständlich  zu  sein,  daß  mehr  Frauen  Zurückbleiben  und  so  den 
Frauenüberschuß  erzeugen. 

Gegen  diese  Schlußfolgerungen  und  Erklärungen  wird  man 
jedoch  Bedenken  hegen,  wenn  man  die  statistischen  Verhältnisse 
sowohl  innerhalb  der  einzelnen  deutschen  Bundesstaaten  als  auch  in 
den  ausländischen  Staaten  eingehender  betrachtet  und  Vergleiche 
zwischen  den  gegenwärtigen  und  vergangenen  Zuständen  anstellt. 
Indessen  —  die  Probleme,  wie  der  Frauenüberschuß  entstanden 
ist,  warum  er  zu-  oder  abnimmt,  weichesozialhygienisch  eBe- 
d e u t u n g  dem  Vorhandensein  des  Frauenüberschusses 
und  dann  wieder  seinem  Sinken  zuzuschreiben  ist, 
sind  bisher  viel  zu  wenig  untersucht  worden.  Denn  abgesehen  von 
den  jetzt  als  veraltet  anzusehenden  Darlegungen  der  Statistiker 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  20 


302  Alfons  Fischer, 

ans  früheren  Zeiten  —  schon  Süß  milch  hatte  sich  mit  diesen: 
Problemen,  allerdings  in  einer  teleologischen  Art,  befaßt  — ,  haben 
nur  Bücher  (siehe:  Allgemeines  Statistisches  Archiv  1892)  und 
dann  Friedrich  N  aumann  („Hilfe“  1910  Nr.  34)  der  Frage  des 
Frauenüberschusses  besondere  Betrachtungen  gewidmet;  sonst  haben 
die  Bevölkerungsstatistiker  nur  gelegentlich  in  ihren  Lehrbüchern,, 
z.  B.  G.  v.  Mayr  in  seiner  „Statistik  und  Gesellschaftslehre“' 
(Bd.  II,  Freiburg  1897)  und  J.  Conrad  in  seinem  „Grundriß  der 
politischen  Ökonomie“  (Vierter  Teil;  dritte  Auflage,  Jena  1910),. 
unser  Problem  berührt.  Aber  das  Material,  auf  das  sich  Bücher 
vor  20  Jahren  stützen  konnte,  liegt  schon  zu  weit  zurück,  und  die 
Naumann’schen  Ausführungen  über  diese  Probleme  sind  nicht 
eingehend  genug,  wiewohl  sein  Artikel  sehr  wertvolle  Anregungen 
enthält.  So  dürfte  es  wohl  von  Nutzen  sein,  sich  einmal  an¬ 
der  Hand  der  neuesten  amtlichen  Statistiken  ein  Urteil  über  den 
Umfang  des  Frauenüberschusses  zu  bilden,  zu  untersuchen,  in 
welchen  Gebieten  er  vorhanden  ist  und  in  welchen  er  fehlt,  zu 
erörtern,  wie  er  entstanden  ist,  und  warum  er  jetzt  in  Deutschland 
sinkt;  vor  allem  aber  wollen  wir  prüfen,  was  er  für  die  Volks¬ 
gesundheit  bedeutet  und  wie  seine  Abnahme  zu  bewerten 
ist,  und  schließlich  ob,  bezw.  welche  Maßnahmen  gegen  dieses 
Sinken  erforderlich  erscheinen. 

Betrachten  wir  zunächst  unsere  Tabelle1)  1;  wir  erkennen  so¬ 
gleich,  daß  im  Deutschen  Reich  bei  der  Volkszählung  im  Jahre  1910 
rund  837  000  weibliche  Personen  mehr  als  männliche  festgestellt 
wurden;  wir  sehen  jedoch  ferner,  daß  nicht  in  allen  Landesgebieten 
die  Frauen  überwiegen;  in  den  preußischen  Provinzen  Schleswig- 
Holstein,  Hannover,  Westfalen,  Rheinland,  ferner  im  Großherzogtum 
Mecklenburg-Strelitz,  Oldenburg,  auch  im  Fürstentum  Schaumburg- 
Lippe,  vor  allem  aber  in  Elsaß-Lothringen  ist  das  männliche  Ge¬ 
schlecht  zahlreicher  vertreten. 

Die  Tabelle2)  2  belehrt  uns  weiter  darüber,  daß  der  Frauen¬ 
überschuß  bereits  bei  der  Reichsgründung  vorhanden  war,  daß  er 
dann  bis  zum  Jahre  1885  (bei  steigender  Einwohnerzahl)  gewachsen, 
daß  er  aber  von  da  ab  bis  jetzt,  der  absoluten  Zahl  nach,  ununter¬ 
brochen  gesunken  ist,  obwohl  auch  seit  1885  die  Bevölkerung  sehr 
stark  —  nämlich  von  41,0  bis  64,9  Millionen  —  zugenommen  hat. 


0  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Eeiches.  1911,  I. 

2)  Berechnet  und  zusammengestellt  nach  den  Angaben  des  „Statistischen. 
Handbuches  für  das  Deutsche  Beich“.  Berlin  1907,  Carl  Heymann’s  Verlag. 


Der  Frauenüberschuß. 


303 


Tabelle  1. 


Ortsanwesende  Bevölkerung 


Staaten  und  Landesteile 


am  1.  Dezember  1910 
(vorläufiges  Ergebnis) 


Provinz  Ostpreußen . 

„  Westpreußen . 

Stadt  Berlin . 

Provinz  Brandenburg . 

„  Pommern . 

„  Posen . 

„  Schlesien . 

„  Sachsen  . 

„  Schleswig- Holstein  .  . 

„  Hannover.  .  .  .  .  .  . 

„  Westfalen . 

„  Hessen-Nassau . 

„  Rheinland . 

Hohenzollern . .  . 

Königreich  Preußen . 

Bayern  rechts  des  Rheins . 

Bayern  links  des  Rheins  (Pfalz) .  .  . 

Königreich  Bayern . 

„  Sachsen  .  . 

„  Württemberg . 

Großherzogtum  Baden . 

„  Hessen . 

„  Mecklenburg-Schwerin 

„  Sachsen . 

„  Mecklenburg-Strelitz  . 

„  Oldenburg  . 

Herzogtum  Braunschweig . 

„  Sachsen-Meiningen  .  .  . 

„  Sachsen-Altenburg  .  .  . 

„  Sachsen-Coburg-Gotha  .  . 

„  Anhalt . 

Fürstentum  Schwarzburg-Sondershausen 
„  Schwarzburg-Rudolstadt  . 

„  Waldeck . 

„  Reuß  älterer  Linie  .  .  . 

„  Reuß  jüngerer  Linie  .  . 

„  Schaumburg-Lippe  .  .  . 

„  Lippe . 

Freie  und  Hansestadt  Lübeck  .  .  . 

Freie  Hansestadt  Bremen . 

Freie  und  Hansestadt  Hamburg.  .  . 

Reichsland  Elsaß-Lothringen 
Deutsches  Reich . 


männlich 


1  003  379 
837  338 
994  086 

1  992  844 
843  981 

1010  873 

2  513  001 
1519  005 

830  045 
1 482  976 
2  116  216 

1  084  784 

3  584  899 

34  461 
19  847  888 

2  912  099 
463  130 

3  375  229 
2  322  185 
1 191  383 
1  059  137 

639  214 
317  884 
204  409 
53  523 
243  825 
242  739 
136  687 
106  385 
125  353 
161 171 
44194 
49  350 
30  541 
34  695 
74  264 
23  396 
73  230 
56  888 
148  419 
505  935 
964  043 
82  031  967 


weiblich 


1060  989 
865  704 

1  076  609 

2  100  163 
872  500 

1  089  171 

2  713  310 
1  569  773 

789  628 

1  459  570 

2  009  688 
1 136  172 

3  535  620 

36  548 
20  315  445 

3  028  828 
472  440 
3  501  268 
2  480  300 
1  244  228 
1  082  695 
643  005 
321995 
212  757 
52  824 
238  605 
251  648 
142  105 
109  928 
131  855 
169  876 
45  790 
51  362 
31 182 

37  921 
78  501 
23  254 
77  519 
59  645 

150  317 
509  772 
907  659 
32  871  456 


20* 


304 


Alfons  Fischer, 


Tabelle  2. 

Der  Frauenüberschuß  betrug’: 

754  824 
863  195 
988  396 
966  806 
957  401 
892  684 
871  916 
839  489 

Auch  in  den  meisten  anderen  europäischen  Staaten1)  finden 
wir  einen  Frauenüberschuß,  so  in  Österreich,  Ungarn,  Rußland, 
Italien,  Spanien,  Portugal,  Schweiz,  Frankreich,  Belgien,  Nieder¬ 
lande,  Dänemark,  Großbritannien,  Norwegen,  Schweden;  dagegen 
wurden  mehr  Männer  als  Frauen  festgestellt  in  Serbien,  Rumänien, 
Bulgarien,  Griechenland  und  Luxemburg.  Die  großen,  in  kultureller 
Hinsicht  am  meisten  fortgeschrittenen  Länder  Europas  zeigen  also 
ein  Überwiegen  der  Frauen. 

Anders  ist  das  Bild  in  den  Kulturstaaten  außerhalb  Europas. 
Die  Vereinigten  Staaten  besaßen  (nach  der  Zählung  vom  Jahre 
1900)  38968  689  männliche  und  37  243479  weibliche  Personen. 
Ferner  weisen  Kuba,  Kanada,  Brasilien  einen  Männerüberschuß 
auf.  In  Ägypten  kommen  auf  5667  074  Männer  nur  5620285 
Frauen,  in  Transvaal  überwiegen  die  Männer  um  rund  126000 
Personen.  In  Britisch  -  Indien  beläuft  sich  der  Männerüberschuß 
auf  4x/2  Millionen.  In  Japan  zählte  man  (im  Jahre  1908)  26  254925 
Männer  und  nur  25486  928  Frauen.  Ebenso  sind  in  den  britischen 
Besitzungen  in  Australien  sowie  in  Neuseeland  die  Frauen  in  der 
Minderheit. 

Ungemein  wichtig  für  unseren  Gegenstand  ist  die  in  Tabelle  3 
wiedergegebene  Übersicht,  die  wir  dem  französischen  Jahrbuch2) 
der  Statistik  entnehmen.  Hier  finden  wir  Angaben  über  das 
Zahlenverhältnis  der  beiden  Geschlechter  in  den  europäischen  und 
einigen  außereuropäischen  Staaten,  wobei  die  Personen  in  drei 
Altersklassen  geteilt  sind.  Auf  diese  Tabelle  werden  wir  unten 
noch  zu  sprechen  kommen.  Hier  sei  jedoch  schon  darauf  hinge¬ 
wiesen,  daß  (von  geringfügigen  Abweichungen  abgesehen)  in  den¬ 
jenigen  Ländern,  in  denen  ein  Männerüberschuß  vorhanden  ist, 
also  in  den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  in  Australien 
und  Neuseeland,  sowie  in  Japan,  ferner  in  Griechenland,  Bulgarien 


Im  Jahre  1871 

*  „  1880 

„  „  1885 

„  *  1890 

„  „  1895 

„  „  1900 

*  „  1905 

„  „  1910 


9  Statistisches  Jahrbuch  für  das  Deutsche  Reich.  1911  bzw.  1910. 

2)  Annuaire  Statistique  de  la  France.  Paris  1910,  p.  159*. 


Der  Frauenüberschuß. 


305 


und  Serbien,  das  männliche  Geschlecht  zumeist  in  allen  drei 
Altersklassen  überwiegt;  von  Elsaß-Lothringen  wird  noch  besonders 
zu  reden  sein;  in  den  anderen  Staaten,  in  denen,  wie  schon  hervor¬ 
gehoben  wurde,  mehr  Frauen  als  Männer  gezählt  wurden,  trifft 
man  aber  dennoch  in  der  Altersklasse  von  0  bis  19  Jahren  das 
männliche  Geschlecht  —  im  allgemeinen  —  in  der  Mehrzahl.  Wie 
kommt  nun  der  Frauenüberschuß  zustande,  und  aus  welchen  Gründen 
fehlt  er  in  manchen  Staaten?  (Tabelle  3  siehe  S.  306  u.  307.) 

Das  Naturgemäße  wäre  offenbar,  daß  in  allen  Ländern  ein 
Männerüberschuß  vorhanden  ist;  denn  in  allen  Staaten  werden 
mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren,  was  offenbar  auf  einem,  uns 
vorläufig  allerdings  völlig  unerklärbaren  Naturgesetz  l)  beruht.  Wie 
allgemein  in  ganz  Europa  diese  Erscheinung  sich  darbietet,  ersieht 
man  aus  folgender  Zusammenstellung : 2) 

Tabelle  4. 


Auf  100  Mädchen  kommen  Knaben: 


Deutsches  Reich 

1872-80 

106,3 

Österreich 

1871-80 

106,7 

Ungarn 

1876-80 

105,4 

Schweiz 

1871-80 

106,3 

Italien 

1872—80 

107,1 

Spanien 

1861—70 

106,8 

Frankreich 

1872-80 

106,2 

Belgien 

1871-80 

105,8 

Niederlande 

1871-80 

106,3 

Dänemark 

1871-80 

105.8 

Schweden 

1871—80 

106,0 

Norwegen 

1871-80 

106,1 

Finnland 

1878-80 

106,4 

Rumänien 

1871-80 

110,9 

x)  Mit  Recht  betont  Gottstein  (Zeitschr.  f.  soziale  Efygiene,  Bd.  II),  daß 
die  Erscheinung  des  Knabenüberschusses  auf  einem  durch  die  Statistik  erkannten 
Naturgesetz  beruht.  Es  sei  hierbei  aber  auf  eine  ungemein  interessante  Arbeit 
(Statistique  demographique  des  grandes  Villes  du  monde.  Premiere  partie.  Amster¬ 
dam  1911)  des  Amsterdamer  Statistischen  Amtes  verwiesen;  dies  hat 
kürzlich  eine  Übersicht  über  die  Bevölkernngsvorgänge  in  allen  europäischen 
Großstädten  für  jedes  der  Jahre  in  der  Epoche  1880 — 1900  geboten.  In  keiner 
der  Weltstädte,  wo  es  sich  also  um  sehr  große  Ziffern  handelt,  wurde  jemals  ein 
Mädchenüberschuß  bei  den  Neugeborenen  festgestellt;  wohl  aber  finden  sich  bei 
einigen  Großstädten  mit  einer  weniger  hohen  Einwohnerziffer  vorüb  er  gebend 
Ausnahmen  vor;  in  Karlsruhe  z.  B.  kamen  einmal  auf  100  Knaben  107,8  Mädchen. 
Ohne  Zweifel  handelt  es  sich  hierbei  um  Zufälle,  wie  man  sie  oft  bei  kleinem 
Zahlenstoff  antrifft.  '  Aber  eine  Erscheinung  dürfte  doch  wohl  als  eine  Aus¬ 
nahme  von  dem  erwähnten  Naturgesetz  zn  betrachten  sein;  in  Neapel  wurden 
nämlich  innerhalb  von  26  Jahren  in  24  Jahren  stets  mehr  Mädchen  als  Knaben 
geboren;  hier  kann  also  wohl  von  Zufall  keine  Rede  mehr  sein. 

2)  Entnommen  aus  Prinzing:  „Medizinische  Statistik“.  Jena  1906. 


306 


Alfons  Fischer, 


Tabelle  3. 


/ 

Population  par  sexe  et  par  äge  des  principaux  Etats 


Pays 

Date 

0  a  1 

masculin 

9  ans 

feminin 

20  ä 

masculin 

59  ans 

feminin 

Angieterre  et  Pays  de  Galles  . 

1  avril  1901 

6  872  846 

6  919  036 

7  784  248 

8  543  287 

Ecasse  ....  .... 

31  mars  1901 

986  315 

964  822 

1  043  765 

1 135  135 

Irl  an  de . 

idem 

922  492 

903  497 

1  037  347 

1  107  363 

Boyaume-Uni . 

1901 

8  781  653 

8  787  355 

9  865  360 

10  785  785 

Dänemark . 

1  fevr.  1901 

537  003 

529  206 

543  445 

592  951 

Norvege . 

3  dec.  1900 

506  105 

492  843 

447  651 

529  863 

Suede . , 

31  dec.  1900 

1  093  644 

1  057  876 

1  138  756 

1  234  055 

Finlande . 

idem 

605  011 

595  157 

637  978 

651  761 

Rnssie  d’Europe . 

9  fevr.  1897 

22  436  272 

23  031032 

20  172  964 

21  238  805 

Autriche . 

31  dec.  1900 

5  718  817 

5  773  010 

6  145  799 

6  389  283 

Hongrie . 

idem 

4  379  925 

4  412  923 

4  482  786 

4  516  730 

Autriche-Hongrie . 

idem 

10  098  742 

10  185  933 

10  628  585 

10  906  013 

Suisse . 

idem 

674  081 

669  869 

812  089 

851  837 

Empire  allemand . 

1  dec,.  1900 

12  496  839 

12  437  182 

13  258  020 

13  778  270 

Prusse . 

idem 

7  795  091 

7  713  314 

8002  603 

8  352  606 

Ba  viere . 

idem 

1  318  277 

1  334  580 

1  463  633 

1  527  311 

Saxe . 

idem 

921563 

943  247 

1  002  868 

1  054  400 

Wnrtemberg . 

idem 

464  756 

472  318 

498  606 

539  005 

Bade . 

idem 

399  804 

395  782 

455  108 

462  173 

Alsace-Lorraine  .... 

idem 

343  351 

388  388 

463  847 

413  289 

Pays-Bas  ....... 

31  dec.  1899 

1 138  897 

1  124  903 

1  161614 

1  206  653 

Luxembourg  .... 

1  dec.  1900 

49  689 

48  050 

61 185 

55  002 

Belgique . 

31  dec.  1900 

1  389  301 

1  377  976 

1  639  116 

1  653  156 

France  .... 

24  mars  1901 

6  639  510 

6  642  345 

10  009  334 

10  274  190 

Portugal . 

1  dec.  1900 

1  179  860 

1  163  544 

1  179  054 

1370  981 

Espagne . 

31  dec.  1900 

3  898  901 

3  803  342 

4  388  420 

4  755  211 

Italie . 

9  fevr.  1901 

7  443  015 

7  292  297 

7  174  387 

7  447  430 

Grece . 

27  oct.  1907 

— 

— 

— 

— 

Bulgarie . 

31  dec.  1900 

969  611 

945  565 

773  132 

741  407 

Serbie . 

idem 

679  833 

659  591 

541  398 

502  512 

Ptoumaine . 

dec.  1899 

1  484  410 

1  492  457 

1  457  686 

1  387  187 

Etats-Uni  .... 

1  juin  1900 

16  946  50016  734  574 

19  269  940 

17  971  116 

Australie  et  Nouvelle  Zelande  . 

31  mars  1901 

1  031  733 

1  012  714 

1  178  963 

1  023  215 

Japon  . 

31  dec.  1903 

10  095  400 

9  835  472 

11  702  505 

11252  165 

Der  Frauenüberschuß. 


307 


de  l’Europe  d’apres  les  recensements  effeetues  yers  1900. 


60  ans 

et  plus 

Chiffres  proportionnels 
par  3000  habitants 

ropuiation  totale 

0  ä  19  ans 

20  a  59  ans 

60  ans  et 
plus 

masculin 

feminin 

masculin 

feminin 

ensemble 

masc. 

fern. 

masc. 

fern. 

masc. 

fern. 

1  071  519 

1336  907 

15  728  613  16  799  230 

32  527  843 

211 

213 

239 

263 

33 

41 

143  675 

198  391 

2  173  755 

2  298  348 

4  472  103 

221 

216 

233 

254 

32 

44 

240  201 

247  875 

2  200040 

2  275  735 

4  458  775 

207 

203 

233 

248 

54 

55 

1  455395 

1  783  173 

20  102  408 

21  356  313 

41  458  721 

212 

212 

238 

260 

35 

43 

109  859 

130  986 

1  193  448 

1  256  092 

2  449  540 

220 

217 

222 

243 

45 

53 

110  779 

130  841 

1  066  693 

1  154  784 

2  221  477 

228 

222 

202 

239 

50 

59 

274  036 

338  074 

2  506  436 

2  630  005 

5136  441 

213 

206 

222 

240 

53 

66 

99  093 

123  562 

1  342  082 

1370  480 

2  712  562 

223 

219 

235 

240 

37 

46 

3  124  191 

3  408012 

45  749  575 

47  693  289 

93  442  864 

240 

247 

216 

227 

33 

37 

988  077 

1  135  722 

12  852  693 

13  298  015 

26  150  708 

219 

221 

235 

244 

38 

43 

718  589 

742  123 

9  582  152 

9  672  407 

19  254  559 

229 

228 

234 

234 

37 

38 

1  706  666 

1  877  845 

22  434  845 

22  970  422 

45  405  267 

223 

224 

234 

240 

38 

41 

140  855 

166  712 

1  627  025 

1688  418 

3  315  443 

201 

202 

245 

257 

42 

50 

1  982  388 

2  414  479 

27  737  247 

28  629  931 

56  367  178 

222 

221 

235 

244 

35 

43 

1173  731 

1  435  164 

16  971  425 

17  501  084 

34  472  509 

226 

224 

232 

242 

34 

42 

246  190 

286  066 

3  028  100 

3147  957 

6176  057 

214 

216 

237 

247 

40 

46 

118  717 

161421 

2  043148 

2  159  068 

4  202  216 

219 

225 

239 

251 

28 

38 

89  407 

105  388 

1  052  769 

1116  711 

2  169  480 

214 

218 

230 

248 

41 

49 

71367 

.  83  712 

926  277 

941  667 

1  867  994 

214 

212 

244 

247 

88 

45 

73  239 

87  356 

880  437 

839  033 

1  719  470 

200 

197 

269 

240 

43 

51 

•220  041 

251  918 

2  520  602 

2  583  535 

5  104  137 

223 

220 

228 

287 

43 

49 

10  719 

11309 

121  593 

114  361 

235  954 

211 

204 

259 

233 

45 

48 

296  410 

337  581 

3  324  834 

3  368  714 

6  693  548 

208 

206 

245 

247 

44 

50 

2  216  194 

i  2  550  449 

18  916  889 

19  533  899 

38  450  788 

173 

173 

261 

268 

58 

67 

226  937 

290637 

2  591  600 

2  831  532 

5  423132 

218 

215 

218 

253 

42 

54 

789  693 

871821 

9  087  821 

950  265 

18  618  086 

210 

209 

236 

256 

42 

47 

1  537  155 

1  579  527 

16  155  130 

16  320  123 

32  475  253 

229 

225 

221 

229 

47 

49 

— 

— 

1  324  942 

1  307  010 

2  631  952 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

166  481 

147  490 

1  909  567 

1  834  716 

3  744  283 

259 

253 

206 

198 

45 

39 

60  047 

49  501 

1  281  278 

1  211  604 

2  492  882 

272 

265 

217 

202 

24 

20 

52  800 

37  980 

2  994  896 

2  917  624 

5  912  520 

251 

253 

246 

235 

9 

6 

2  472  585 

2  389  276 

38  816  448 

37  178  127 

75  994  575 

223 

221 

254 

237 

33 

32 

163  189 

122  845 

2  383  920 

1 162  600 

4  546  520 

228 

223 

260 

226 

36 

27 

1  801  736 

2  042  650 

23  600  931 

23  131  207 

46  732  138 

216 

210 

250 

241 

39 

44 

308  Alfons  Fischer, 

Nun  wäre  es  freilich  denkbar,  daß  der  Überschuß  an  männ¬ 
lichen  Geburten  durch  eine  höhere  Sterblichkeit  unter  den  Männern 
ausgeglichen  und  sogar  in  sein  Gegenteil  verwandelt  wird.  Diese 
Annahme  entspricht  jedoch  nicht  den  ziffernmäßigen  Feststellungen, 
obwohl  von  manchen,  so  z.  B.  von  Tugendreich1),  mit  ihr 
gleich  einer  sicheren  Tatsache  rechnen.  Es  sei  hierzu  folgendes 
bemerkt:  In  Deutschland2)  übertrifft  im  Jahre  1908  die  Zahl  der 
Knabengeburten  die  Ziffer  der  Mädchengeburten  um  rund  61000.. 
In  dem  gleichen  Jahre  ist  in  allen  Altersklassen  zusammen  die 
Sterbeziffer  bei  dem  männlichen  Geschlecht  um  rund  45000  höher 
als  bei  dem  weiblichen;  es  bleibt  mithin  immer  noch  ein  Überschuß 
auf  der  männlichen  Seite  übrig.  Und  wie  in  dem  genannten  Jahrer 
so  ist  es  —  von  geringfügigen  Abweichungen  abgesehen  —  auch 
in  den  früheren  Perioden  gewesen.  In  Deutschland  kann  also  der 
Frauenüberschuß  nicht  dadurch  zustande  gekommen  sein  und  einen 
solchen  Umfang  erreicht  haben,  daß  der  Geburtenüberschuß  bei 
dem  weiblichen  Geschlecht  größer  ist,  als  bei  dem  männlichen; 
denn  wir  sehen  ja  das  Gegenteil  hiervon.  Für  die  Entstehung  des- 
Frauenüberschusses  müssen  also  andere  Gründe  maßgebend  sein. 

Wie  in  Deutschland,  so  ist  auch  in  anderen  europäischen 
Staaten,  in  denen  die  Frauen  an  Zahl  überwiegen,  der  Geburten¬ 
überschuß  auf  der  männlichen  Seite  größer,  als  auf  der  weiblichen. 
In  Österreich3)  übertreffen  im  letzten  Berichtsjahr  (1907)  die 
Knabengeburten  die  Mädchengeburten  um  25000;  es  starben  ins¬ 
gesamt  in  dem  genannten  Jahre  23000  männliche  Personen  mehr 
als  weibliche.  Ähnlich  ist  das  Verhältnis  in  Ungarn  und  in  anderen 
Staaten.  Eine  Ausnahme  macht  hierbei  nur  Frankreich.4)  Zwar 
überwiegen  auch  in  Frankreich  die  männlichen  Geburten;  da  aber 
die  Ziffer  der  Geburten  sehr  gering  ist,  so  ist  auch  die  absolute 
Zahl,  welche  die  Differenz  zwischen  männlichen  und  weiblichen 
Geburten  angibt,  nur  klein.  Es  wurden  im  letzten  Berichtsjahr  (1906) 
nur  15  000  Knaben  mehr  als  Mädchen  geboren,  während  in  dem 
genannten  Jahre  die  Gesamtsterblichkeit  der  männlichen  Personen 
die  der  weiblichen  um  32  000  überragt.  Indessen,  diese  Ergebnisse 
zeigen  sich  erst  seit  dem  Kriege  1870/71  und  bzw.  seit  dem  starken 
Geburtenrückgang ;  früher  —  diese  Statistik  läßt  sich  bis  auf  das 

9  Tugendreich:  in  seinem  Handbuch  der  „Mutter-  und  Säuglingsfürsorge“. 
Stuttgart  1910. 

-)  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  Bd.  227. 

3)  Österreichisches  Statistisches  Jahrbuch.  Wien  1910. 

4)  Annuaire  Statistique  de  la  France.  Paris  1910,  p.  10*  und  11*. 


Der  Frauenüberschuß. 


309 


Jahr  1801  zurückverfolgen  —  war  das  Verhältnis  auch  in  Frankreich 
das  gleiche,  wie  in  den  übrigen  europäischen  Staaten.  Immerhin 
sind  die  besonderen  französischen  Zustände  wohl  dazu  geeignet, 
daß  in  diesem  Lande  der  männliche  Geburtenüberschuß  durch  die 
höhere  Sterblichkeit  der  Männer  so  weit  ausgeglichen  wurde,  daß 
dadurch  der  Frauenüberschuß  während  der  letzten  Jahrzehnte  ent¬ 
standen  sein  kann. 

Worin  liegt  nun  der  Grund  für  die  Entstehung  des  Frauen¬ 
überschusses  bei  uns  und  in  anderen  europäischen  Ländern,  von 
Frankreich  abgesehen?  Die  Antwort  hierauf  bieten  uns  die  Statistiken 
über  den  Wanderungsverlust,  bzw.  -gewinn.  Über  den  zahlenmäßigen 
Umfang  der  Wanderungsverhältnisse  liegen  zwar  keine  direkten 
Angaben  vor,  man  erhält  aber  ein  brauchbares  Material  durch 
Rechnung,  wenn  man  nämlich  die  aus  den  Geburtenüberschüssen 
zu  erwartende  Bevölkerungszunahme  mit  dem  tatsächlichen  Be¬ 
völkerungszuwachs,  den  man  durch  die  Volkszählungen  feststellt, 
vergleicht.  Auf  diese  Weise  ist  man  zu  der  folgenden,  auf  das 
ganze  Deutsche  Reich  sich  erstreckenden  Zusammenstellung *)  ge¬ 
langt: 


Tabelle  5. 

Auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  durchschnittlich  jährlich 
Gewinn  (+)  oder  Verlust  (— )  durch  Wanderungen  in  der 

Zählungsperiode : 


1871/75 

1875/80 

1880/85 

1885/90 

1890/95 

1895/1900 

1900/05 

1905/10 

männlich 

weiblich 

zusammen 

—  1,93 

—  1,89 

—  1,91 

—  2,07 

—  1.40 

—  1,73 

—  4,85 

—  3,69 

—  4,26 

—  1,36 

—  1,39 

—  1,38 

—  1,91 

—  1,63 

—  1,77 

+  0,61 
+  0,09 

+  0,35 

+  0,16 
+  0,20 
+  0,18 

—  0,60 

—  0,42 

—  0,51 

Aus  der  Tabelle  5  entnimmt  man,  daß  bereits  in  der  Periode 
1871/75  der  männliche  Wanderungs Verlust  größer  ist  als  der  weib¬ 
liche,  daß  diese  Differenz  zuungunsten  des  männlichen  Geschlechts 
in  dem  nächsten  Jahrfünft  noch  zunimmt  und  in  dem  Zeitraum 
1880/85  den  Höhepunkt  erreicht;  von  da  an  ist  der  Unterschied 
bei  den  Ziffern  der  beiden  Geschlechter  nur  gering;  in  der  Periode 
1895/1900  ist  aber  eine  beträchtliche  Differenz  zugunsten  des  männ¬ 
lichen  Geschlechts  zu  konstatieren. 


b  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Eeiches.  1908,  H.  I,  ergänzt  - 
durch  das  H.  IV  des  Jahrg.  1911. 


310  Alfons  Fischer, 

Um  das  Bild  noch  etwas  anschaulicher  zu  gestalten,  seien 
einige  absolute  Ziffern1)  genannt:  In  dem  für  das  männliche  Ge¬ 
schlecht  so  ungünstigen  Jahrfünft  1880/85  betrug  der  Wanderungs¬ 
verlust  546  681  männliche  und  433  534  weibliche  Personen;  man 
sieht,  welche  enormen  Verluste  an  Menschen  das  Deutsche  Beich 
damals  in  einem  einzigen  Jahrfünft  erlitten  hat,  man  erkennt  aber 
zugleich,  daß  in  der  genannten  Periode  der  männliche  Wanderungs¬ 
verlust  denjenigen  der  Frauen  um  über  100  000  Personen  überragt. 
In  den  beiden  folgenden  Jahrfünften  ist  der  Wanderungs Verlust 
dann  bald  auf  der  weiblichen,  bald  auf  der  männlichen  Seite  etwas 
größer.  In  dem  Jahrfünft  1895/9000  aber,  in  dem  sich  ein  Wande¬ 
rungsgewinn  ergeben  hat,  zeigt  sich  eine  für  das  männliche  Ge¬ 
schlecht  günstige,  erhebliche  Differenz;  es  wurden  81481  männ¬ 
liche,  aber  nur  12  644  weibliche  Personen  gewonnen. 

Vergleichen  wir  nun  noch  die  Tabellen  2  und  5  miteinander: 
Wir  haben  aus  der  Tabelle  2  erkannt,  daß  der  Frauenüberschuß 
im  Jahre  1880  einen  sehr  großen  und  im  Jahre  1885  einen  noch 
größeren  Anstieg  zeigt;  die  Tabelle  5  hat  uns  gelehrt,  daß  in  den 
diesen  beiden  Jahren  vorangegangenen  Perioden  die  Differenz  zwi¬ 
schen  dem  männlichen  und  weiblichen  Wanderverlust  sehr  groß  und 
zwar  zuungunsten  des  männlichen  Geschlechts  war.  Vom  Jahrfünft 
1885/90  an  wendet  sich  das  Blatt  in  den  Wanderungsverhältnissen, 
und  genau  im  Jahre  1890  sinkt,  wie  Tabelle  2  zeigt,  zum  ersten¬ 
mal  der  Frauenüberschuß.  Ganz  besonders  stark  ist  die  Abnahme 
des  Frauenüberschusses  im  Jahre  1900;  und  gerade  in  dem  diesem 
Jahre  vorangehenden  Jahrfünft  tritt  zum  erstenmal  ein  Wande¬ 
rungsgewinn,  und  zwar  weit  erheblicher  zugunsten  des  männlichen, 
als  zugunsten  des  weiblichen  Geschlechts  auf. 

Diese  Parallelen  zwischen  Steigen  und  Sinken  des  Frauen¬ 
überschusses  einerseits  und  den  Wanderungs  Verhältnissen  anderer¬ 
seits  sind  so  auffallend,  daß  man  wohl  berechtigt  ist  zu  behaupten: 
der  Frauenüberschuß  steigt  in  der  Hauptsache  dadurch,  daß  mehr 
Männer  als  Frauen  durch  die  Wanderungsverhältnisse  verloren 
gehen,  er  sinkt,  sobald  diese  Ursache  fortfällt,  er  sinkt  um  so 
stärker,  sobald  mehr  Männer  als  Frauen  durch  die  Wanderungen 
gewonnen  werden. 

Wir  haben  bis  jetzt,  wie  uns  dünkt,  mit  hinreichender  Exakt¬ 
heit,  gezeigt,  aus  welcher  Ursache  heraus  der  Frauenüberschuß  in 


9  Statistisches  Handbuch  für  das  Deutsche  Reich.  1907,  p.  41. 


Der  Frauenüberschuß. 


311 


Deutschland  gestiegen,  bzw.  gesunken  ist.  Aber  wie  ist  er  ent¬ 
standen? 

Diese  Frage  vermögen  wir  nicht  mit  der  gleichen  Genauigkeit 
zu  beantworten.  Aus  der  Tabelle  2  erkannten  wir,  daß  der  Frauen¬ 
überschuß  im  Jahre  1871  bereits  754824  Personen  betrug.  Wir 
können  nach  den  obigen  Darlegungen  nur  behaupten,  daß  der  jetzt 
vorhandene  Frauenüberschuß  nicht,  weil  während  der  letzten  Jahre 
die  Frauen  eine  günstigere  Mortalität  aufwiesen,  entstanden  ist;  der 
j etzige  Frauenüberschuß  ist  auch  nicht  durch  größere  männliche 
Wanderungsverluste  erzeugt  worden;  er  ist  überhaupt  nicht  ein  Pro¬ 
dukt  der  letzten  Jahre,  sondern  der  früheren  Jahrzehnte;  die 
Zustände  der  Gegenwart  verringern  ihn,  aber  noch  nicht  in  dem 
Maße,  daß  er  in  den  nächsten  Jahren  zu  beseitigen  wäre.  Darüber, 
wie  der  Frauenüberschuß  vor  dem  Jahre  1871  entstanden  ist,  ver¬ 
mag  ich  ziffernmäßige  Belege  nicht  zu  erbringen.  Gewiß  haben 
damals  die  Kriege  die  Erscheinung  des  Frauenüberschusses  be¬ 
günstigt.  Ohne  Zweifel  wurden  jedoch  auch  schon  vor  dem 
Jahre  1871  beträchtliche  Wanderungsverluste  erlitten.  Nach 
Adolf  Wagner1)  wird  geschätzt,  daß  während  der  Jahre  1820 
bis  1900  rund  6  Millionen  aus  Deutschland  ausgewandert  sind, 
darunter  4  Millionen  allein  nach  den  Vereinigten  Staaten  von  Nord¬ 
amerika.  Und  daß  unter  diesen  Auswanderern  im  allgemeinen  mehr 
Männer  als  Frauen  gewesen  sind,  ist  nach  den  obigen  statistischen 
Angaben  mit  ziemlicher  Sicherheit  anzunehmen. 

Leider  fehlten  mir  die  erforderlichen  amtlichen  Statistiken, 
um  den  Nachweis  zu  führen,  daß  auch  im  Auslande,  wie  bei  uns, 
der  Frauenüberschuß  im  wesentlichen  ein  Produkt  der  Wanderungs¬ 
verluste  darstellt.  Um  aber  meine  Behauptung  hinsichtlich  der 
Entstehung  des  Frauenüberschusses  in  Deutschland  noch  eingehender 
zu  begründen,  wollen  wir  die  Verhältnisse  in  einigen  deutschen 
Landesgebieten  einer  besonderen  Betrachtung  unterwerfen.  Wir 
werden  hierbei  noch  mancherlei  Interessantes  über  die  Entstehung 
des  Frauenüberschusses  erfahren. 

Der  Frauenüberschuß  wird  nämlich  nicht  immer  durch  einen 
größeren  Wanderungsverlust  auf  der  Seite  des  männlichen  Ge¬ 
schlechts  verursacht,  sondern  in  gewissen  Gebieten  auch  durch 
einen  stärkeren  Wanderungsgewinn  bei  dem  weiblichen  Geschlecht. 
Wir  haben  aus  der  Tabelle  1  ersehen,  daß  in  der  Stadt  Berlin 
und  in  der  Provinz  Brandenburg  die  Frauen  in  der  Mehrzahl  vor- 


b  Adolf  Wagner:  Agrar-  und  Industriestaat.  Jena  1902,  p.  57. 


312 


Alfons  Fischer, 


» 


lianden  sind;  wie  dies  zustande  gekommen  ist,  darüber  belehrt 
uns  folgende  Zusammenstellung : 5) 

Tabelle  6. 


Auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  durchschnittlich  jährlich  Gewinn 
oder  Verlust  ( — )  durch  Wanderungen  in  der  Zählungsperiode: 


1871 — 
1875 

1875- 

1880 

1880— 

1885 

1885- 

1890 

1890— 

1895 

1895— 

1900 

1900— 

1905 

1905— 

1910 

c,  Tj  r  f  männlich 

Stadt  Berlin  j 

29,02 

29,63 

9,59 

22,60 

20,74 

22,47 

26,21 

25,20 

—  0,42 
4,20 

15,35 

13,23 

8,83 

5,57 

—  6,45 

—  3,68 

Provinz  f  männlich 
Brandenburg  \  weiblich 

5,34 

1,17 

—  3,42 

—  3,42 

—  5,10 
-3,82 

5,37 

4,51 

8.15 

9.15 

6,14 

8,25 

14,83 

15,20 

17,62 

20,15 

Aus  der  Tabelle  6  entnehmen  wir  mithin,  daß  nach  Berlin, 
namentlich  in  der  Periode  1875/80,  aber  auch  1880/85  und  be¬ 
sonders  1 890/ 95  weit  mehr  Frauen  als  Männer  eingewandert  sind; 
in  der  Provinz  Brandenburg  kam  der  Frauenüberschuß  dadurch 
zustande,  daß  zunächst  in  der  Periode  1880/85  weniger  Frauen  aus- 
und  dann  von  1890  an  bis  1910  mehr  Frauen  eingewandert  sind 
als  Männer. 

Nun  hat  uns  aber  die  Tabelle  1  gezeigt,  daß  in  einigen  deutschen 
Landesgebieten  kein  Frauen-  sondern  ein  Männerüberschuß  zur¬ 
zeit  vorhanden  ist.  Welche  Ursachen  haben  sich  geltend  gemacht, 
um  diese  Ausnahmeerscheinungen  zustande  kommen  zu  lassen? 
Aufschluß  hierüber  gewähren  uns  folgende  Zusammenstellungen : x) 


Tabelle  7. 

Auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  durchschnittlich  jährlich  Gewinn 
oder  Verlust  (— )  durch  Wanderungen  in  der  Zählungsperiode: 


1871 — 
1875 

1875— 

1880 

1880- 

1885 

1885— 

1890 

1890- 

1895 

1895- 

1900 

1900- 

1905 

1905— 

1910 

Provinz 

Westfalen 

f  männlich 
i  weiblich 

6,52 

3,43 

—  2,87 

—  1,43 

0,77 
-  0,82 

4,31 

2,29 

3,27 

2,30 

15,08 

8,94 

2,87 

3,28 

4,26 

3,58 

Provinz 

Rheinland 

\  männlich 
l  weiblich 

2,11 

1,07 

—  1,82 
—  0,81 

-0,90 

-0,52 

2,38 

1,75 

0,70 

0,75 

8,45 

4,91 

4,37 

3,61 

2,64 

2,46 

Wie  man  sieht,  sind  in  den  Provinzen  Westfalen  und  Rhein¬ 
land  Wanderungsverluste  nur  in  2  von  8  Perioden  zu  konstatieren, 


0  Viertel  jahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  1908,  H.  I,  ergänzt. 


Der  Frauenüberschuß. 


313 


lind  diese  Verluste  sind  nur  sehr  geringfügig  gegenüber  den  starken 
Wanderungsgewinnen  in  den  übrigen  Jahrfünften;  die  Wanderungs¬ 
gewinne  sind  aber  im  Rheinland  stets,  in  Westfalen  mit  einer 
geringfügigen  Ausnahme  immer  auf  der  männlichen  Seite  stärker, 
als  auf  der  weiblichen.  Diese  Tatsache  werden  wir  also  wohl  als 
Ursache  dafür  anzusehen  haben,  daß  in  den  beiden  genannten  Pro¬ 
vinzen  der  Frauenüberschuß  fehlt. 

Statt  des  Frauenüberschusses  zeigt  sich  der  Männerüberschuß 
jedoch  noch  aus  einem  anderen  Grunde,  nämlich  wenn  aus  dem 
betreffenden  Landesgebiet  mehr  Frauen  als  Männer  auswandern. 
Dies  trifft  für  die  Provinz  Schleswig-Holstein  sowie  für  Mecklen- 
burg-Strelitz  und  Elsaß-Lothringen  zu,  wie  uns  folgende  Zusammen¬ 
stellung1)  zeigt: 

Tabelle  8. 


Auf  1000  der  mittleren  Bevölkerung  durchschnittlich  jährlich  Gewinn 
oder  Verlust  (— )  durch  Wanderungen  in  der  Zählungsperiode: 


1871 — 
1875 

1875— 

1880 

1880- 

1885 

1885— 

1890 

1890- 

1895 

1895 — 
1900 

1900- 

1905 

1905— 

1910 

Prov.  Schles- [männlich 
wig- Holstein  [weiblich 

—  8,76 

—  4,87 

—  3,23 

—  4,19 

—  8,19 

—  8,09 

1,38 
—  2,66 

—  3,70 

—  2,53 

0,48 
—  1,40 

3,55 
—  0,81 

1,84 
—  0,92 

Mecklenburg-  [männlich 
Strelitz  [weiblich 

-13,16 

—12,92 

-0.18 
-  3,34 

-13,20 

—12,30 

—10.65 

-10,22 

—  1,38 

—  4,59 

—  7,71 

—  8,13 

-6,71 
-  7,13 

—  0,78 

—  4,94 

Elsaß-  [männlich 

Lothringen  [  weiblich 

—14,38 
-  8,26 

—  2,39 

-  5,19 

-  7,30 

—  6,92 

1,48 
-  4,79 

—  1,48 

-  4,09 

1,20 
—  2,02 

1,98 
—  0^65 

—  3.24 

—  3,08 

Wir  sehen  also,  daß  in  den  deutschen  Landesgebieten  das  Ver¬ 
hältnis  der  männlichen  Bevölkerungsziffer  zu  der  weiblichen  haupt¬ 
sächlich  von  der  Art  der  Wanderungen  abhängt,  daß  aber  sowohl  der 
Frauen-  wie  der  Männerüberschuß  durch  mehrere  Formen  des  Wände- 
rungsgewinnes  bzw.  -Verlustes  bedingt  sein  können.  Ist  die  Differenz 
der  Bevölkerungszahlen  bei  den  beiden  Geschlechtern  nicht  sehr 
groß,  dann  kann  schon  eine  geringe  Änderung  in  den  Wanderungs¬ 
verhältnissen  einen  Frauenüberschuß  in  einen  Männerüberschuß 
umgestalten,  und  umgekehrt.  Wir  sehen  daher  bei  den  einzelnen 
Volkszählungen  in  verschiedenen  Landesgebieten  einen  sehr  häufigen 
Wechsel,  so  daß  in  manchen  Staaten  in  den  verschiedenen  Jahren 
bald  ein  Männer-,  bald  ein  Frauenüberschuß  festgestellt  wurde; 
hierüber  belehrt  uns  folgende  Statistik:2) 

1)  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Eeiches.  1908,  H.  I,  ergänzt. 

2)  Statistik  des  Deutschen  Eeiches.  Bd.  150,  p.  54*. 


314 


Alfons  Fischer, 


Tabelle  9. 

Die  Geschlechtsgliederung  der  Bevölkerung  in  den  Bundesstaaten. 


Staaten  und  Landesteile 

Auf 

1900 

ICO  m 

1895 

ännlich 
ier  Vol 

1890 

e  käme 
kszählu 

1885 

n  weib 
ng  von 

1880 

Liehe  nach 

| 

1875  ■  1871 

1 

Provinz  Ostpreußen . 

107,7 

107,9 

109,3 

109,1 

108,4 

108,6 

108,1 

„  Westpreußen  .... 

103,6 

103,2 

104,1 

104,7 

104,1 

104,0 

104,2 

Stadt  Berlin . 

109.2 

110,4 

107,8 

108,2 

106,8 

99,1 

98,0 

Provinz  Brandenburg  .... 

104,1 

102,9 

102,3 

102,5 

101,6 

101,2 

102,7 

„  Pommern . 

104,4 

104,4 

105,1 

104,2 

103,0 

103,4 

104,6 

„  Posen . 

109,3 

107,6 

108,6 

108,0 

107,1 

107,4 

106,6 

„  Schlesien . 

109,7 

110,5 

111,3 

110,6 

110,0 

109,3 

109,2 

„  Sachsen  . 

104,1 

103,5 

102,6 

102,0 

101,7 

102,2 

102,2 

„  Schleswig-Holstein  .  . 

97,8 

98,4 

97,5 

99,5 

99,5 

100,1 

100,8 

„  Hannover . 

99,7 

99,4 

100,4 

100,3 

99,9 

100,2 

101,3 

„  Westfalen . 

93,7 

95,7 

95,8 

96,5 

96,9 

95,9 

96,7 

„  Hessen-Nassau  .  .  . 

105,5 

105,7 

105,7 

105,9 

105,5 

104,4 

106,1 

„  Pheinland . 

98,7 

100,0 

99,8 

99,8 

99,4 

98,6 

98,6 

Hohenzollern . 

109,0 

110,2 

110,0 

109,6 

108,4 

108,9 

107,0 

Königreich  Preußen . 

103,1 

103,6 

103,7 

103,8 

103,3 

102,8 

102,9 

Bayern  rechts  des  Rheins  .  . 

104,3 

104,7 

105,2 

105,5 

105,0 

104,9 

105,7 

Bayern  links  des  Rheins  (Pfalz) 

101,5 

102,3 

102,6 

104,2 

104,1 

104,8 

106,5 

Königreich  Bayern . 

104,0 

104,4 

104,9 

105,4 

104,9 

104,9 

105,3 

Königreich  Sachsen . 

105,7 

106,0 

105,9 

106,5 

105,7 

104,1 

104,7 

„  Württemberg  .  .  . 

106,1 

106,6 

107.4 

107,7 

107,1 

107,4 

107,6 

Baden . 

101,7 

103,6 

104,5 

104,8 

105,2 

105,1 

105,1 

Hessen . 

100,6 

101,2 

101,7 

101.9 

101,4 

102.3 

102,2 

Mecklenburg-Schwerin  .... 

102,4 

101,2 

102,9 

102,3 

102,8 

104;5 

lu5,l 

Sachsen- Weimar . 

104.9 

106,0 

106,5 

106,5 

104,9 

105,5 

105,4 

Mecklenburg-Strelitz  .... 

101,8 

102,1 

104,2 

104,5 

104,0 

105,7 

106,1 

Oldenburg  . 

101,3 

100,8 

101,7 

102,0 

101,1 

101,7 

102,1 

Braunschweig . 

101,6 

101.2 

100,5 

100,1 

100,5 

100,6 

100,7 

Sachsen-Meiniugen . 

103,8 

104,5 

105,5 

104,5 

104,2 

104,0 

104,1 

Sachsen-Altenburg . 

103,2 

105.5 

105,8 

105.5 

104,6 

105,2 

105,2 

Sachsen-Coburg-Gotha  .... 

107,0 

106,9 

107,0 

108,1 

106,5 

106,6 

106,6 

Anhalt . 

103,7 

103,4 

102,8 

102,3 

102,1 

102,4 

103,7 

Schwarzburg-Sondershausen  .  . 

104.8 

105,6 

105,9 

105,0 

105,1 

106,1 

105,7 

Schwarzburg-Rudolstadt  .  .  . 

105,6 

106,1 

106,6 

105,8 

105,1 

105.8 

105,0 

Waldeck . 

107,3 

106,8 

108,8 

110,3 

109,8 

113,0 

113,1 

Reuß  älterer  Liuie . 

110,3 

105,5 

105,8 

104,7 

103,3 

103,3 

102,8 

Reuß  jüngerer  Linie  .... 

108,8 

106,3 

107,0 

105,0 

104,4 

104,5 

104,9 

Schaumburg-Lippe . 

101,1 

99,2 

101,5 

ICO, 4 

99,5 

99,6 

101,6 

Lippe  . 

107,0 

103,8 

104,0 

102,7 

100,7 

102,5 

103,4 

Lübeck . 

102.5 

106,9 

104,1 

107,0 

105,2 

103,7 

107,8 

Bremen . 

102,6 

104,1 

104,7 

108,0 

107,3 

105,3 

106,3 

Hamburg . 

104,5 

105,0 

101,8 

105,1 

104,9 

103,1 

105,1 

Elsaß-Lothringen . 

95,3 

97,0 

.98,9 

102,8 

103,4 

105,6 

103,9 

Deutsches  Reich . 

103,2 

103,7 

104,0 

104,3 

103,9 

103,6 

103,7 

Der  Frauenüberschuß. 


315 


Mit  meinen  bisherigen  Darlegungen  meine  ich  erwiesen  zu 
haben,  daß  Zu-  und  Abnahme  des  Frauenüberschusses  in  unmittel¬ 
barer  Abhängigkeit  von  den  Wanderungsverhältnissen  stehen.  Diese 
Tatsache  ist  den  Nationalökonomen  freilich  nicht  unbekannt  geblieben. 
Allein,  sie  ist  von  ihnen  nicht  zahlenmäßig  bewiesen  worden.  Manche 
haben  sogar  das  Gegenteil  behauptet,  indem  sie  den  Einfluß  der 
Wanderungsverhältnisse  auf  die  Entstehung  des  Frauenüberschusses 
in  Abrede  stellten  oder  als  Nebensache  bezeichneten.  So  schreibt 
Conrad  (1.  c.):  „Die  Verminderung  des  Frauenüberschusses  ist 
wohl  auf  die  geringere  Auswanderung  zurückzuführen.“  Man  be¬ 
achte  das  Wörtchen  „wohl“.  Den  Beweis  für  die  Abhängig¬ 
keit  des  Frauenüberschusses  von  den  Wanderungsverhältnissen 
führt  er  nicht.  Nach  G.  v.  Mayr  (1.  c.)  sind  für  die  Gestaltung 
des  wirklichen  Geschlechtsverhältnisses  der  Lebenden  die  ver¬ 
schiedenen  Absterbeverhältnisse  der  beiden  Ge¬ 
schlechter  maßgebend.  „Die  Unterschiede  hierin,  die  teils  auf 
natürlichen,  teils  auf  sozialen  Ursachen  (insbesondere  Berufsge¬ 
fahren  und  sittlichen  Gefahren,  z.  B.  Alkoholismus,  Kriminalität) 
beruhen,  sind  größer  als  die  Urdifferenzen  des  Geschlechtsverhält- 
nisses  bei  den  Geborenen.“  Genau  die  gleiche  Ansicht  äußert 
Naumann  (1.  c.).  Und  auch  Bücher  (1.  c.)  sieht  „in  der  ver¬ 
schiedenen  Sterblichkeit  der  beiden  Geschlechter  im  Deutschen 

Reich  die  dauernde  Ursache  des  Frauenüberschusses,  wenn  auch 

•  / 

die  konkrete  Höhe  des  letzteren  zeitweilig  durch  andere  Ursachen 
maßgebend  bestimmt  werden  mag“.  —  Man  erkennt  leicht  den 
Unterschied  zwischen  den  Ansichten  der  genannten  National¬ 
ökonomen  einerseits  und  meiner  Auffassung  andererseits.  Ich  hoffe, 
deutlich  gezeigt  zu  haben,  daß  für  die  Entstehung  des 
Frauenüberschusses  nicht  die  Verschiedenheit  zwi¬ 
schen  den  Sterblichkeitsverhältnissen  der  beiden 
Geschlechter,  sondern  die  früher  stärkeren  Wande¬ 
rungsverluste  auf  der  männlichen  Seite  maßgebend 
waren. 

Wenden  wir  uns  nun  der  Frage  zu,  welche  sozial  hygie¬ 
nische  Bedeutung  der  Erscheinung  des  Frauenüberschusses  zu¬ 
kommt.  Das  Naturgemäße  wäre  offenbar,  wie  schon  erwähnt  wurde, 
daß  nicht  nur  kein  Frauenüberschuß,  sondern  vielmehr  ein  Männer¬ 
überschuß  obwaltet.  Denn  in  allen  Staaten  ist,  wie  wir  gezeigt 
haben,  die  Ziffer  der  männlichen  Geburten  erheblich  höher  als  die 
der  weiblichen  und  nirgends  —  außer  in  Frankreich  - —  wird  dieser 
Vorsprung  des  männlichen  Geschlechts  durch  die  geringere  Mor- 


316 


Alfons  Fischer, 

talität  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  völlig  ausgeglichen.  Der 
Frauenüberschuß  ist  also  et  was  Natur  widriges.  Auch 
in  Frankreich  verdient  er  diese  Bezeichnung,  denn  auch  dort  ist 
er,  soweit  er  nicht  ebenfalls  durch  die  Wanderungsverhältnisse  be¬ 
günstigt  wurde,  nur  durch  die  naturwidrige  Konzeptionsbeschrän¬ 
kungen,  welche  die  Ursache  der  niedrigen  Geburtenziffer  und 
dadurch  des  geringen  Knabenüberschusses  ist,  hervorgerufen  worden. 
Ist  der  Frauenüberschuß  aber  im  offenbaren  Gegensatz  zu  der 
Natur  entstanden,  so  darf  man  von  vornherein  hiervon  wohl  kaum 
einen  sozialhygienischen  Nutzen  erwarten. 

Der  Sozialhygieniker  wird  dem  Frauenüberschuß  immer  mit 
Besorgnis  gegenüberstehen.  Diese  Bevölkerungserscheinung  be¬ 
wirkt  stets  in  dem  betreffenden  Gebiet,  daß  viele  Mädchen,  die 
unter  normalen  Zuständen  heiraten  würden,  keine  Männer  finden, 
und  daß  viele  Männer  sich  der  Verehelichung  entziehen,  weil  sie 
wissen,  daß  für  die  Befriedigung  ihrer  geschlechtlichen  Bedürfnisse 
genug  Mädchen,  die  sich  nicht  verheiraten  konnten,  vorhanden 
sind.  So  vermag  der  Frauenüberschuß  sehr  wohl  der  Zunahme 
der  unehelichen  Geburten,  der  Verbreitung  der  Prostitution  und  der 
Geschlechtskrankheiten  Vorschub  zu  leisten.  Freilich  kann  man 
bei  der  Kompliziertheit  der  hier  in  Betracht  kommenden  Verhält¬ 
nisse,  für  diese  theoretischen  Schlußfolgerungen  den  exakten  Be¬ 
weis  ziffernmäßig  nicht  erbringen,  aber  niemand  wird  die  Berech¬ 
tigung  der  hier  geäußerten  sozialhygienischen  Bedenken  gegen  den 
Frauenüberschuß  bestreiten  können. 

Nun  scheint  mir  aber  der  Frauenüberschuß  noch  in  einer 
anderen  Kichtung  als  ein  ungemein  wichtiges,  bisher  wohl  kaum 
beachtetes  Symptom  für  die  Beurteilung  der  sozialhygienischen  Zu¬ 
stände  verwendbar  zu  sein.  Wir  haben  gezeigt,  daß  der  Frauen¬ 
überschuß  durch  die  Wanderungsverhältnisse  hervorgerufen  wird. 
Wir  müssen  aber  jetzt  hinzufügen,  daß  er  im  gewissen  Umfange 
dadurch  gefördert  wird,  daß  die  weibliche  Mortalität  zumeist  ge¬ 
ringer  ist,  als  die  männliche,  wenn  sie  auch  nicht  so  gering  ist, 
daß  hierdurch  der  Frauenüberschuß  entsteht,  wie  manche  meinen. 

Wie  kommt  es  nun,  daß  die  Sterblichkeit  bei  dem  weiblichen 
Geschlecht  im  allgemeinen  niedriger  ist  als  beim  männlichen? 
Manche,  wie  z.  B.  G.  v.  Mayr  und  Naumann,  sind,  wie  erwähnt 
wurde,  der  Ansicht  ,  daß  hieran  die  schwere  .  Erwerbsarbeit  der 
Männer,  die  Trinksitten  usw.  schuld  seien.  Untersuchen  wir,  wie  • 
•es  hiermit  steht,  und  betrachten  wir  zu  diesem  Zwecke  zunächst 
«ine  auf  das  Jahr  1908  bezügliche,  das  Deutsche  Reich  betreffende 


Der  Frauenüberschuß. 


317 


Statistik,1)  die  uns  über  die  Mortalität  bei  den  beiden  Ge¬ 
schlechtern  mit  Unterscheidung  der  verschiedenen  Altersklassen 
unterrichtet. 


Tabelle  10. 


Altersklassen 

der  Gestorbenen 

] 

Gestorbene 

(ohne 

Totgeborene) 

nn  Jahre  1906 

Männliche 

Gestorbene 

1 

Weibliche 

Gestorbene 

Von  0  bis 

1  Jahr  . 

359  022 

200  260 

158  761 

„  1 

5  J  ahre  . 

103  305 

52  754 

50  551 

»  5 

n 

10 

55 

26  054 

12  991 

13  063 

„  io 

15 

55 

15138 

7  307 

7  831 

„  15 

55 

20 

55  * 

21  426 

11 188 

10  238 

„  20 

55 

30 

55 

51654 

25  795 

25  859 

„  30 

55 

40 

55 

57  365 

28  856 

28  509 

„  40 

55 

50 

55 

66  509 

38  354 

28  215 

„  50 

55 

60 

55 

91  445 

51374 

40  071 

„  .60 

55 

70 

55 

134  212 

67  106 

67106 

„  70 

55 

80 

55 

140  383 

64  816 

75  567 

80 

55 

90 

55 

63  588 

27  538 

36  050 

Über  90  Jahre 

5040 

1974 

3  066 

Unbekannt 

. 

289 

227 

62 

Zusammen 

1  135  490 

590  540 

544  949 

Man  erkennt  aus  der  Tabelle  10,  daß  im  ersten  Lebensjahr 
die  Sterblichkeit  bei  den  Knaben  sehr  erheblich  größer  ist,  als  bei 
den  Mädchen,  und  daß  diese  Erscheinung,  freilich  in  weit  kleinerem 
Maße,  sich  auch  noch  vom  1. — 5.  Lebensjahr  zeigt.  Diese  Fest¬ 
stellung  kann  nicht  weiter  verwundern,  da  mehr  Knaben  (und 
unter  ihnen  eben  auch  mehr  schon  Von  Geburt  an  schwächlichere 
männliche  Kinder)  geboren  werden  als  Mädchen.  Vom  5.— 40. 
Lebensjahr  sind  die  Unterschiede  bei  den  beiden  Geschlechtern 
belanglos.  Dann  aber  ist  vom  40. — 60.  Lebensjahr  die  Sterblich¬ 
keit  unter  den  Männern  größer,  während  in  dem  gleichen  Maße 
vom  70. — 90.  Lebensjahr  die  Mortalität  unter  den  Frauen  stärker  ist. 

Aus  diesen  Tatsachen  wird  mancher  die  Schlußfolgerung 
zu  ziehen  geneigt  sein,  daß,  weil  in  den  Altersklassen  von 
40-60  Jahren  die  Mortalität  bei  den  Männern  überwiegt,  die  Er¬ 
werbsarbeit,  an  der  die  Männer  mehr  als  die  Frauen  beteiligt  sind, 
die  höhere  Sterblichkeit  der  Männer  erzeugt,  und  daß  also  in  der 
männlichen  Berufsarbeit  eine  Förderung  oder  gar  die  Hauptursache 
für  die  Entstehung  des  Frauenüberschusses  liege. 

: - — — -  ■  '  '  •  r  I 

x)  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  Bd,  227,  pr.  31*.  r 
Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


318 


Alfons  Fischer, 


Es  ist  nun  ohne  Zweifel,  daß  insbesondere  die  von  den  Männern 
zu  verrichtende  schwere  Arbeit  die  Körperkräfte  sehr  stark  und 
schnell  abnutzt;  einen  deutlichen  Beweis  hierfür  findet  man  in  dem 
amtlichen  Werke x)  über  die  „Krankheits-  und  Sterblichkeitsverhält¬ 
nisse  in  der  Ortskrankenkasse  für  Leipzig  und  Umgebung“.  Aber  daß 
hierdurch  der  Frauenüberschuß  her  vorgerufen  worden  ist,  wird, 
wie  ich  hoffe,  nach  den  obigen  Darlegungen  niemand  mehr  meinen. 
Es  fragt  sich  nun,  ob  die  Erwerbsarbeit  der  Männer  überhaupt  einen 
nennenswerten  Einfluß  auf  den  Umfang  des  Frauenüberschusses  aus¬ 
üben  kann,  in  Anbetracht  der  Tatsache,  daß  das  weibliche  Geschlecht 
durch  die  Menstruationen,  Schwangerschaften  und  Wochenbetten  stark 
beeinträchtigt  wird.  Die  aus  der  Tabelle  10  zu  entnehmenden  Tat¬ 
sachen  scheinen  die  Frage  bejahen  zu  wollen.  Allein,  hierbei  ist 
doch  zu  bedenken,  daß  die  bei  den  Männern  im  Alter  von  40 — 60 
Jahren  zu  beobachtende  höhere  Sterblichkeit  nicht  nur  durch  die 
schweren  Schädigungen  bei  der  Berufsarbeit  hervorgerufen  zu  sein 
braucht;  die  schlechteren  Mortalitäts Verhältnisse  bei 
den  Männern  dieser  Jahresklassen  können  sehr  wohl 
auch  daraus  resultieren,  daß  in  früheren  Perioden 
mehr  Männer  als  Frauen  ausgewandertsind,  und  daß 
sich  unter  den  Ausgewanderten,  wrie  man  wohl  anzu¬ 
nehmen  berechtigt  ist,  vorzugsweise  gesunde  und 
kräftigePersonen  sich  befundenhaben,  was  zur  Folge 
hatte,  daß  der  Prozentsatz  der  Schwächlichen  unter 
jenen,  die  zurückblieben,  bei  den  Männern  größer  ist 
als  bei  den  Frauen;  wenn  jetzt  mehr  Männer  als  Frauen  im 
Alter  von  40—60  Jahren  sterben,  so  kann  dies  zum  Teil  wohl 
daher  kommen,  daß  vor  etwa  25  Jahren  von  den  damals  20—35 
Jahre  alten  Personen  mehr  kräftige  Männer  als  Frauen  aus¬ 
gewandert  sind. 

Ohne  mithin  den  gesundheitsschädigenden  Einfluß  der  von  den 
Männern  zu  leistenden  Erwerbsarbeit  verkennen  zu  wollen,  meine 
ich  doch  behaupten  zu  dürfen,  daß  diese  Tätigkeit  auf  die  Höhe 
der  Mortalität  keinen  größeren  Einfluß  ausübt  als  die  für  das 
weibliche  Geschlecht  bestehenden  sexuellen  Beeinträchtigungen. 
Und  weiter  glaube  ich  zu  der  Behauptung  berechtigt  zu  sein,  daß 
der  Frauenüberschuß  nicht  durch  die  höhere  Mortalität  bei  den 
Männern  erzeugt  oder  auch  nur  nennenswert  gefördert  wird,  sondern 


0  „Krankheits-  und  Sterblichkeitsverhältnisse  in  der  Ortskrankenkasse  für 
Leipzig  und  Umgebung.“  Berlin  1910,  Verlag  von  Carl  Hey  mann 


Der  Frauenüberschuß. 


319 


daß  die  gleichen  Ursachen,  die  in  Deutschland  den  Frauenüberschuß 
hervorgerufen  haben,  d.  h.  die  Wanderungsverhältnisse,  gewisser¬ 
maßen  durch  eine  für  das  männliche  Geschlecht  ungünstige  „Aus¬ 
lese“  bewirkt  haben,  daß  bei  uns  mehr  Männer  als  Frauen  sterben. 

Ist  meine  Ansicht,  daß  die  höhere  Männermortalität  in  Deutsch¬ 
land  (wenigstens  zum  großen  Teil)  die  Folge  jener  durch  die  Wande¬ 
rungsverluste  entstandenen  Auslese  sei,  richtig,  dann  muß  in  Ländern 
mit  Männerüberschuß  die  Sterblichkeit  der  Frauen  überwiegen; 
trifft  aber  die  Meinung,  daß  die  stärkere  Männermortalität  bei  uns 
auf  die  Erwerbsarbeit  zurückzuführen  sei,  zu,  dann  muß  in  den 
Ländern,  in  denen  im  Gegensatz  zu  unseren  Verhältnissen  mehr 
Männer  als  Frauen  vorhanden  sind,  die  männliche  Sterblichkeit 
erst  recht  höher  sein  als  die  weibliche. 

Um  hierüber  Klarheit  zu  erhalten,  betrachten  wir  die  Zustände 
in  Japan, x)  das,  wie  oben  gezeigt  wurde,  einen  Männerüberschuß 
aufw^eist.  In  diesem  Staate  wurden  im  Jahre  1908  gezählt 

männliche  Personen  25045506  —  505,1  Prom. 
weibliche  „  24542025  =  494,9  „ 

Gestorben  sind  im  Jahre' 1908  512110  männliche  Personen 

508  681  weibliche  „ 

Die  Differenz  ist  also  äußerst  klein.  Man  vergleiche  hiermit  den 
Unterschied  in  den  Sterblichkeitsziffern  der  beiden  Geschlechter 
in  Deutschland  (Tabelle  10).  Zudem  muß  betont  werden,  daß,  da 
auch  in  Japan  mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren  werden  —  im 
Jahre  1908  wurden  763  784  Knaben  und  727  730  Mädchen  geboren, 
so  daß  also  auf  100  Mädchen  104,95  Knaben  kamen  —  die  Sterblich¬ 
keit  unter  den  männlichen  Säuglingen  größer  sein  muß,  als  unter 
den  weiblichen;  es  starben  im  Jahre  1908  von  den  Untereinjährigen 
130983  männlichen  und  113  315  weiblichen  Geschlechts.  Subtra¬ 
hiert  man  die  Säuglingssterblichkeit  von  der  allgemeinen  Mortalität, 
so  zeigt  sich  in  der  Tat,  daß  die  Sterblichkeit  bei  dem  weiblichen 
Geschlecht  in  Japan  überwiegt.  Sehr  beachtenswert  sind  dann 
auch  die  Sterblichkeitsverhältnisse  der  beiden  Geschlechter  inner¬ 
halb  bestimmter  Altersklassen.  Hierüber  erhalten  wir  ein  Bild 
aus  dem  Vergleich  der  beiden  folgenden  Zusammenstellungen1): 


0  Kesume  Statistique  de  l’Empire  du  Japon.  Tokio  1911. 


320  Alfons  Fischer, 


Tabelle  11. 

Am  31.  Dezember  1908  wurden  in  Japan  gezählt 


Im  Alter  von 

Männliche 

Personen 

Weibliche 

Personen 

20—25  Jahren 

2  089  453 

2  042  114 

25-30 

2  003  650 

1  948  566 

30-35 

1  875  258 

1  812  818 

35-40 

1  473  866 

1  406  845 

40—45  „ 

1  445  064 

1  362  932 

45—50 

1  114  485 

1  061  447 

50 — 55  „ 

1  176  711 

1121511 

55—60  „ 

1008  039 

987  939 

Tabelle  12. 

Es  starben  im  Jahre  1907  in  Japan: 


Im  Alter  von 

Männliche 

Personen 

Weibliche 

Personen 

20—25  Jahren 

18  252 

21659 

25—30 

15  955 

20  026 

30 — 35  „ 

13  996 

17  796 

35—40 

12  875 

•15  097 

40—45 

14  922 

14  275 

45 — 50  „ 

16  522 

13  379 

50 — 55  „ 

23  074 

17  468 

55 — 60  „ 

28  055 

21  253 

Wie  die  Tabelle  11  zeigt,  sind  die  Männer  in  den  angeführten 
Altersklassen  durchweg  zahlreicher  vertreten  als  die  weiblichen 
Personen.  Trotzdem  sterben  in  den  Klassen  von  20  bis  40  Jahren 
erheblich  mehr  Frauen.  In  der  Altersklasse  von  40  bis  45  Jahren 
ist  die  Mortalität  bei  den  Männern  um  ein  Geringes  höher;  von 
da  an  sterben  weniger  Frauen  als  Männer  bis  zum  70.  Lebensjahre; 
jenseits  des  70.  Lebensjahres  ist  die  Sterblichkeit  dann  wieder  bei 
den  Frauen  stärker. 

Aus  diesen  Feststellungen  schließe  ich,  daß  die  Frauen  in 
Japan  während  des  25.  bis  40.  Lebensjahres  infolge  von  Men¬ 
struationen  und  Schwangerschaften  allein  oder  im  Zusammenhang 
mit  der  Erwerbstätigkeit  mehr  dem  Tode  ausgesetzt  sind,  als  die 
Männer  infolge  der  Berufsarbeit.  In  der  Altersklasse  von  40  bis 
45  Jahren  sind  die  Chancen  für  beide  Geschlechter  fast  gleich; 
vom  45.  Lebensjahre  an,  wo  die  durch  das  Geschlechtsleben  hervor¬ 
gerufenen  gesundheitlichen  Gefahren  für  das  weibliche  Geschlecht 
gewöhnlich  gewichen  sind,  für  die  Männer  aber  die  Schädigungen 


Der  Frauenüberschuß. 


321 


durch  die  Berufsarbeit  weiter  bestehen,  werden  die  Sterblichkeits- 
Verhältnisse  für  das  männliche  Geschlecht  entsprechend  ungünstiger. 

So  bieten  sich  die  Zustände  in  einem  Staate  mit  einer  nor¬ 
malen,  d.  h.  dem  eingangs  erwähnten  Naturgesetz  entsprechenden 
Bevölkerungszusammensetzung  dar.  Vergleichen  wir  hiermit  die 
Verhältnisse  in  Deutschland,  dessen  männliche  Bevölkerung  unter 
der  durch  die  Wanderungsverluste  hervorgerufenen  Auslese  zu 
leiden  hat.  In  Deutschland  entfielen  —  nach  der  Sterbetafel1)  für 
die  Jahre  1891  bis  1900  —  auf  100000  auf  ein  Jahr  beobachtete 
Personen  Todesfälle: 


Tabelle  13. 


In  der  Alters¬ 
klasse 

Männlich 

Weiblich 

Männliche 
weniger  ( — ) 

25—29 

30-34 

608 

715 

634 

736 

—  26 
—  21 

In  den  beiden  Altersklassen  von  25  bis  29  und  30  bis  34  Jahren 
steht  mithin  auch  in  Deutschland  die  weibliche  Sterblichkeit  un¬ 
günstiger  da  als  die  männliche.  In  allen  anderen  Altersklassen, 
so  auch  in  den  von  35  bis  39  und  40  bis  45  Jahren  üb  er  wiegt 
aber  —  im  Gegensatz  zu  Japan  —  die  Mortalität  der  Männer. 

Betrachten  wir  an  dieser  Stelle  noch  einmal  die  Tabelle  3. 
Wir  finden  dort,  daß  in  den  Staaten  mit  Frauenüberschuß  das 
männliche  Geschlecht  zumeist  in  der  Altersklasse  von  0  bis  19  Jahren 
stärker  vertreten  ist,  daß  aber  in  der  Klasse  von  20  bis  59  Jahren 
stets  mehr  Frauen  gezählt  wurden.  Anders  in  den  Ländern  mit 
Männerüberschuß,  d.  h.  in  Japan,  Australien  und  Neuseeland,  in 
den  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika,  Bulgarien,  Serbien, 
Griechenland  und  in  Elsaß-Lothringen,  als  dem  einzigen  deutschen 
Bundesstaat ;  in  diesen  Ländern  befinden  sich  ohne  Ausnahme  auch 
in  der  Altersklasse  von  20  bis  59  Jahren  die  Männer  in  der  Mehr¬ 
zahl,  woraus  man  wohl  schließen  darf,  daß  auch  jenseits  des 
35.  Lebensjahres  in  diesen  Staaten  die  Männer  zum  mindesten 
keine  stärkere  Mortalität  darbieten  als  die  Frauen,  während  es 
in  den  Ländern  mit  der  männlichen  „Auslese“,  wie  z.  B.  in  Deutsch¬ 
land,  umgekehrt  ist. 

9  Die  Angaben  sind  dem  amtlichen  Werk:  „Krankheits-  und  Sterblichkeits- 
Verhältnisse  in  der  Ortskrankenkasse  für  Leipzig  und  Umgebung1'  entnommen. 


322  Alfons  Fischer, 

Von  besonderem  Interesse  sind  für  die  Erörterung  unserer 
Probleme  die  Zustände  in  Elsaß-Lothringen,  denen  wir  nun  noch 
einige  Betrachtungen  widmen  wollen. 

ln  Elsaß-Lothringen  J),  bzw.  in  seinen  drei  Bezirken  beobachtete 
man  bei  den  Volkszählungen  folgendes  Verhältnis  zwischen  den 
Ziffern  der  beiden  Geschlechter: 


Tabelle  14. 


Bezirke 

Land 

Auf  1000  männliche  Personen  der 

Zivilbevölkerung 

Gesamt¬ 

bevölkerung 

kommen  weibliche 

Unter-Elsaß 

1037,62 

987,13 

Ober-Elsaß 

1059,32 

1020,61 

Lothringen 

958,63 

828,31 

Elsaß-Lothringen 

1905 

1028,15 

939,04 

1900 

1046,72 

952,97 

1895 

1071,69 

969,56 

1890 

1079,73 

989,49 

1885 

1088,42 

1028,28 

1880 

1089.61 

1034.33 

1875 

1105,09 

1056,45 

1871 

1084,61 

1038,61 

Aus  der  Tabelle  14  erkennt  man,  daß  auch  noch  bei  der  Volks¬ 
zählung  im  Jahre  1905,  wenn  man  nur  die  Zivilbevölkerung  in 
Betracht  zieht,  in  Elsaß-Lothringen  ein  Frauenüberschuß,  aller¬ 
dings  ein  sehr  geringfügiger  vorliegt.  Betrachtet  man  aber  in  den 
Reichslanden  die  Gesamtbevölkerung,  so  erkennt  man,  daß  bereits 
vom  Jahre  1890  an  ein  Männerüberschuß  festgestellt  wurde.  Hieraus 
ist  ohne  weiteres  ersichtlich,  daß  in  Elsaß-Lothringen  das  numerische 
Übergewicht  der  männlichen  Personen  auf  die  Verlegung  großer 
Truppenkörper  in  dieses  Landesgebiet  zurückzuführen  ist.  Auch 
in  allen  anderen  deutschen  Staaten*  2)  spielt  bei  dem  Verhältnis 
zwischen  den  Ziffern  der  beiden  Geschlechter  die  Anzahl  der  Sol¬ 
daten  eine  Rolle;  der  Einschluß  des  Militärs  bedeutet  für  das 
männliche  Geschlecht  eine  Begünstigung,  die  (nach  der  Volkszäh¬ 
lung  des  Jahres  1900)  für  Preußen  2,24,  für  Bayern  2,15  und  im 
Höchstfälle,  nämlich  in  Hessen  3,52  Proz.  beträgt.  In  Elsaß-Loth¬ 
ringen  beläuft  sich  die  entsprechende  Differenz  auf  9,37  Proz. 

a)  Statistisches  Jahrbuch  für  Elsaß-Lothringen.  Dritter  Jahrg.  Straßburg 

1909. 

2)  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  Bd.  150,  p.  55* 


Der  Frauenüberschuß. 


323 


Nun  zeigt  aber  die  Tabelle  14,  daß  im  Bezirk  Lothringen  im 
Jahre  1905  auch  bei  der  Zivilbevölkerung  ein  Männerüberschuß 
festgestellt  wurde.  Diese  Tatsache  ist  für  die  Lösung  unserer 
Probleme,  wie  ich  sogleich  zeigen  werde,  von  Bedeutung. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  sich  die  Sterblichkeitsverhältnisse  bei  den 
beiden  Geschlechtern  in  der  Gesamtbevölkerung  von  Elsaß-Lothringen 
bzw.  in  seinen  einzelnen  Bezirken  gestaltet  haben.  Es  starben  im  Jahre 
1908  von  den  männlichen  Personen  18  380,  von  den  weiblichen  17  462, 
also  von  den  ersteren  918  mehr.  Im  Jahre  1908  wurden  aber  1388 
mehr  Knaben-  als  Mädchengeburten  gezählt;  die  Folge  hiervon  ist, 
daß  die  Sterblichkeit  unter  den  männlichen  Säuglingen  die  Mor¬ 
talität  der  weiblichen  um  875  überragt.  Unter  Berücksichtigung 
dieser  Feststellungen  ist  die  Sterblichkeit  der  beiden  Geschlechter 
in  Elsaß-Lothringen  so  gut  wie  gleich.  Diese  Erscheinung  stellt 
schon  eine  Differenz  dar  gegenüber  den  Feststellungen  in  den 
Ländern  mit  Frauenüberschuß. 

Ein  ganz  besonders  bemerkenswertes  Ergebnis  erhält  man 
aber,  wenn  man  die  Sterblichkeitsverhältnisse  der  beiden  Ge¬ 
schlechter  im  Bezirk  Lothringen  mit  den  Vorgängen  in  anderen 
Landesgebieten  vergleicht.  Zum  Zwecke  des  Vergleiches  wollen 
wir  folgende  Zusammenstellung  *)  betrachten : 


Tabelle  15. 


Im  Zeitraum  v.  1.  Dez,  1900 

bis  30.  Nov.  1905  starben  durch- 

Staat  und  Landesteil 

schnittlich  jährlich  auf  1000 Ein- 

wohner  der  mittl.  Bevölkerung 

beim  m.  Geschl. 

beim  w.  Geschl. 

Ostpreußen 

25,43 

22,00 

Stadt  Berlin 

19,41 

16,10 

Schleswig-Holstein 

18J6 

16,60 

Hanuover 

18,69 

17.26 

Westfalen 

20,34 

18,65 

Rheinland 

20,78 

18,63 

Königreich  Preußen 

22,11 

19,48 

Königreich  Bayern 

25,39 

22,60 

Bezirk  Unter-Elsaß 

20,62 

20,57 

Bezirk  Ober-Elsaß 

22,27 

20,48 

Bezirk  Lothringen 

18.89 

20,79 

Reichsland  Elsaß-Lothringen 

20,47 

20,61 

Deutsches  Reich 

22,28 

19,77 

l)  Deutsche  Vierteljahrshefte  zur  Statistik  des  Deutschen  Reiches.  1 906, 
H.  IV,  p.  802  und  303.  '  • 


324  Alfons  Fischer, 

Die  Tabelle  15  zeigt  uns,  daß  allein  in  Elsaß-Lothringen  mehr 
Frauen  als  Männer  sterben,  der  Unterschied  ist  freilich  sehr  gering; 
im  Bezirk  Lothringen  aber  ist  die  Differenz  zuungunsten  des 
weiblichen  Geschlechts  groß.  So  stellen  sich  die  Ergebnisse  dar  in 
diesem  Bezirke,  der  einen  ansehnlichen  Männerüberschuß  aufweist. 
In  allen  anderen  Landesteilen  ergibt  sich  eine  Ungunst  für  die 
Männer;  jedoch  in  denjenigen  Gebieten,  in  denen  ebenfalls  ein 
—  wenn  auch  geringer  —  Männerüberschuß  vorliegt,  wie  in  Rheinland, 
Westfalen,  Hannover,  Schleswig-Holstein,  ist  der  Unterschied  zu¬ 
ungunsten  des  männlichen  Geschlechts  geringer,  als  im  Durchschnitt 
des  Deutschen  Reiches  und  besonders  als  in  den  Gebieten  mit 
starkem  Frauenüberschuß,  wie  Ostpreußen  oder  Stadt  Berlin. 

Wir  haben  also  die  paradox  erscheinenden  Tatsachen  festge¬ 
stellt,  daß  in  denjenigen  Gebieten,  in  denen  mehr  Frauen  als 
Männer  vorhanden  sind,  weniger  Frauen  als  Männer  sterben,  und 
umgekehrt,  daß  ein  numerisches  Überwiegen  der  Männer  mit  einer 
geringeren  Sterblichkeit  auf  der  männlichen  Seite  verbunden  ist. 
Diese  Erscheinungen,  die  dem  naturgemäßen  Verlauf  direkt  zu¬ 
wider  sind,  können  gar  nicht  anders  erklärt  werden,  als  damit, 
daß  dort,  wo  die  Männer  in  der  Minderzahl  vorhanden  sind,  die 
größere  Mortalität  auf  der  männlichen  Seite  durch  die  ungünstige 
„Auslese“  infolge  der  Wanderungsverluste  hervorgerufen  wird.  Wir 
meinen  daher  zu  der  Behauptung  —  im  allgemeinen  —  berechtigt  zu 
sein,  daß  das  Vor  h  an  den  s  ein  ei  nesFrauen  über  Schusses 
die  relative  physische  Minderwertigkeit  der  in  dem 
betreffenden  Landesgebiet  vorhandenen  männlichen 
Bevölkerung  dar  tut.  Nicht  weil  mehr  Männer  sterben,  ent¬ 
steht  der  Frauenüberschuß,  sondern  weil  durch  die  Wanderungs¬ 
verluste  mehr  kräftige  Männer  als  Frauen  verloren  gegangen  sind, 
weil  also  ein  Frauenüberschuß  künstlich  hervorgerufen  wurde,  ist 
die  Sterblichkeit  unter  der  verhältnismäßig  schwächlicheren  männ¬ 
lichen  Bevölkerung,  die  in  der  Heimat  zurückgeblieben  ist,  ver¬ 
größert  worden. 

Wir  haben  nun  dargelegt,  daß  der  Frauenüberschuß  vom  sozial¬ 
hygienischen  Standpunkte  aus  nicht  zu  begrüßen  ist,  wir  haben 
ferner  gezeigt,  daß  der  Frauenüberschuß  ein  schlechtes  Symptom 
für  die  körperliche  Konstitution  der  männlichen  Bevölkerung  dar¬ 
stellt.  Wie  ist  nun  das  Sinken  des  Frauenüberschusses,  das  wir 
in  Deutschland  seit  dem  Jahre  1895  ununterbrochen  wahrnehmen, 
vom  Sozialhygieniker  zu  bewerten? 

Soweit  die  Abnahme  des  Frauenüberschusses  auf  die  Ver- 


Der  Frauenüberschuß. 


325 


minderung  der  Wanderungen  bei  beiden  Geschlechtern  und  insbe¬ 
sondere  auf  die  Verringerung  oder  Beseitigung  der  männlichen 
Wanderungsverluste  zurückzufühlen  ist,  kann  vom  sozialhygienischen 
Standpunkte  aus  das  Sinken  nur  als  willkommen  bezeichnet  werden. 
Der  Frauenüberschuß  kann  aber  auch  noch  aus  einem  anderen 
Grunde  kleiner  geworden  sein. 

Wir  meinen  nachgewiesen  zu  haben,  daß  der  Frauenüberschuß 
die  Folge  davon  ist,  daß  bei  den  starken  Wanderungsverlusten 
mehr  Männer  als  Frauen  eingebüßt  wurden;  wir  stellten  jedoch 
nicht  in  Abrede,  daß  die  gesundheitlichen  Schädigungen,  denen 
die  Männer  bei  der  Erwerbsarbeit  ausgesetzt  sind,  den  Umfang 
des  Frauenüberschusses  gefördert  haben,  wenngleich  dieser  Beein¬ 
trächtigung  wiederum  auf  der  weiblichen  Seite  die  mit  dem  Ge¬ 
schlechtsleben  verbundenen  Nachteile  das  Gleichgewicht  halten 
dürften.  Diese  mit  der  Berufstätigkeit  verknüpften  Schädigungen 
sind  aber  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  besonders  groß.  Hierüber 
belehrt  uns  das  bereits  zitierte  amtliche  Werk  x)  über  die  „Krank- 
heits-  und  Sterblichkeitsverhältnisse  in  der  Ortskrankenkasse  für 
Leipzig  und  Umgebung“,  aus  dem  wir  folgende  Zusammenstellung 
wiedergeben  wollen: 

Tabelle  16. 

Es  starben  unter  100000  beobachteten  Kassenmitgliedern: 


In  der  Alters¬ 
klasse 

Männliche  Weibliche 

versicherungspflichtige 

Mitglieder 

Männliche 
weniger  ( — ) 
mehr  (-[-) 
gleichviel  (=) 

unter  15 

94 

94 

_ 

15-19 

274 

307 

—  33 

20—24 

463 

493 

—  30 

25—29 

492 

601 

—  109 

30—34 

587 

657 

—  70 

Vergleichen  wir  die  Tabellen  13  und  16,  so  finden  wir,  daß 
in  der  Gesamtbevölkerung  die  Sterblichkeit  beim  weiblichen  Ge¬ 
schlecht  nur  in  den  Altersklassen  von  25  bis  34  Jahren  etwas 
größer  ist  als  bei  den  Männern,  daß  aber  bei  der  erwerbstätigen 
Bevölkerung,  wie  sie  die  Mitglieder  der  nach  Millionen  Personen 
zählenden  Ortskrankenkasse  in  Leipzig  und  Umgebung  darstellt, 
die  weibliche  Mortalität  auch  in  den  Altersklassen  von  15  bis  19. 


x)  „Krankheits-  und  Sterblichkeitsverkältnisse  in  der  Ortskrankenkasse  für 
Leipzig  und  Umgebung.“  Berlin  1910.  Verlag  von  Carl  Heymann. 


326  Alfons  Fischer, 

sowie  von  20  bis  24  Jahren  etwas,  und  in  den  Altersklassen  von 
25  bis  34  Jahren  erheblich  stärker  ist  als  die  männliche.  Die 
Ergebnisse  bei  der  Leipziger  Krankenkasse  werden  nun  aber  mit 
Recht  im  Hinblick  auf  die  gewaltige  Ziffer  der  Kassenmitglieder 
als  typisch  für  ganz  Deutschland  angesehen;  man  darf  also 
annehmen,  daß  auch  sonst  in  deutschen  Landen  sich  diese 
Sterblichkeitsverhältnisse  bei  der  erwerbstätigen  Bevölkerung 
finden.  Wenn  man  nun  weiter  berücksichtigt,  wie  sehr  nach 
den  Resultaten  der  letzten  Berufszählung  die  Ziffer  der  erwerbs¬ 
tätigen  Mädchen  und  Frauen  in  den  letzten  Jahren  gewachsen 
ist,  so  wird  man  annehmen  müssen,  daß  die  Sterblichkeitsverhältnisse 
beim  weiblichen  Geschlecht  durch  die  zunehmende  Frauenarbeit 
immer  mehr  verschlechtert  worden  sind,  und  daß  zum  Teil  auch 
hierauf  der  Rückgang  des  Frauenüberschusses  beruhen  kann.  So 
sehr  wir,  nach  den  obigen  Darlegungen,  die  Verminderung  des 
Frauenüberschusses  wünschen  müssen,  so  wenig  werden  wir  es 
begrüßen  dürfen,  daß  er  infolge  der  in  der  Verbindung  von  Erwerbs¬ 
arbeit  und  Mutterschaft  liegenden  Beeinträchtigungen  sinkt. 

Lassen  sich  nun  Maßnahmen  gegen  die  von  uns  geschilderten 
sozialhygienischen  Mißstände  ergreifen?  Gibt  es  Mittel,  um  den 
Frauenüberschuß  zu  beseitigen  oder  zu  verringern?  Wir  haben 
den  Frauenüberschuß  als  eine  Folgeerscheinung  der  starken  Wande¬ 
rungsverluste  erkannt.  Alle  Mittel,  die  dazu  dienen,  die  starken  Aus¬ 
wanderungen  zu  verhüten,  werden  auch  bewirken,  daß  die  Entstehung 
des  Frauenüberschusses  hintangehalten  wird.  Wo  die  Wanderungs¬ 
verluste  fehlen,  wird  ein  Männerüberschuß  sich  zeigen,  denn  die 
Natur  bewirkt  ja,  daß  mehr  männliche  als  weibliche  Kinder  ge¬ 
boren  werden,  und  wenn  auch  mehr  Knaben  infolgedessen  sterben, 
so  bleibt  bei  normalen  Zuständen  doch  die  männliche  Mortalität 
hinter  der  weiblichen  Sterblichkeit  zurück,  da  den  Schädigungen 
durch  den  größeren  Umfang  der  Erwerbsarbeit  bei  den  Männern 
die  Nachteile  durch  das  Geschlechtsleben  bei  den  Frauen  gegen¬ 
überstehen.  Sobald  also  dafür  gesorgt  ist,  daß  die  Wanderungs¬ 
verluste  unterbleiben,  sind  anderweitige  Mittel  zur  Verminderung 
des  unerwünschten  Frauenüberschusses  wohl  kaum  mehr  anzu¬ 
wenden.  Dagegen  darf  man  nicht  achtlos  an  der  Tatsache  vorüber¬ 
gehen,  daß  das  Sinken  des  Frauenüberschusses  durch  die  weitere 
Ausdehnung  der  weiblichen  Erwerbsarbeit  hervorgerufen  wird;  den 
Schädigungen,  die  aus  der  Verbindung  von  Berufstätigkeit  und 
Mutterschaft  resultieren,  muß  man  durch  wirksame  und  umfassende 


Der  Frauenüberschuß. 


327 


Maßnahmen  auf  dem  Gebiete  des  Mutterschutzes  und  der 
Mutterschaftsversicherung  begegnen. 

Fassen  wir  nun  noch  einmal  kurz  die  hauptsächlichsten  Er¬ 
gebnisse  unserer  Darlegungen  zusammen.  Wir  sind  uns  wohl 
dessen  bewußt,  die  Probleme  auf  diesem  bisher  kaum  bearbeiteten 
Gebiete  noch  nicht  endgültig  gelöst  zu  haben ;  dazu  reicht  schon 
das  uns  zur  Verfügung  stehende  Material  nicht  aus;  es  wäre  daher 
dringend  wünschenswert,  daß  die  hier  erörterten  Fragen  einerseits 
an  einem  umfassenderen,  internationalen  Untersuchungsstoff  geprüft 
und  andererseits  durch  genau  detaillierte  Forschungen  auf  kleinen, 
beschränkten  Landesgebieten  ergänzt  werden  würden. 

Immerhin  läßt  sich  folgendes  auf  Grund  unserer  Darlegungen 
behaupten:  Der  Frauenüberschuß  in  Deutschland  ist  nicht  die 
Folge  von  Vorgängen  der  letzten,  sondern  früherer  Jahrzehnte;  er 
ist  dadurch  entstanden,  daß  mehr  Männer  als  Frauen  ausgewandert 
sind.  Vom  sozialhygienischen  Standpunkte  aus  ist  der  Frauen¬ 
überschuß  als  ein  schlechtes  Symptom  für  die  körperliche  Kon¬ 
stitution  der  männlichen  Bevölkerung  zu  betrachten;  im  allgemeinen 
sterben  in  den  Gebieten,  in  denen  die  Frauen  in  der  Mehrzahl 
vorhanden  sind,  mehr  Männer,  und  umgekehrt,  wo  ein  Männer¬ 
überschuß  besteht,  mehr  Frauen,  während  man  gerade  das  Gegen¬ 
teil  erwarten  sollte.  Zur  Beseitigung  oder  Verminderung  des 
Frauenüberschusses  muß  dafür  gesorgt  werden,  daß  die  Wande¬ 
rungsverluste  vermieden  werden.  Das  Sinken  des  Frauenüber¬ 
schusses  ist  zu  begrüßen;  soweit  aber  diese  Abnahme  auf  der 
stärkeren  Ausdehnung  der  weiblichen  Erwerbsarbeit  beruht,  muß 
durch  Ausbau  der  Mutterschaftsversicherung  Abhilfe  beschafft 
werden. 


Nachtrag  bei  der  Korrektur. 

Nachträglich  sind  mir  einige  Feststellungen  in  inzwischen 
erschienenen  amtlichen  Publikationen  bekannt  geworden,  die  für 
meine  Behauptungen  weitere  Belege  enthalten.  Hiervon  sei  folgendes 
noch  mitgeteilt: 

Auf  Grund  der  Volkszählung  vom  1.  XII.  1910  wurden  be¬ 
rechnet,  daß  auf  100  männliche  Personen  weibliche  kommen: 


328  Alfons  Fischerr  Der  Frauenüberschuß. 

im  Deutschen  Reich  102,64 
im  Reg.-Bez.  Breslau  111,18 

„  „  Aurich  92,58 

„  „  Stade  96,61 

„  „  Trier  96,25 

Nun  ergibt  sich  aber  aus  dem  „Gesundheitswesen  des  Preußi¬ 
schen  Staates“  1909  (erschienen  1911),  daß  von  allen  Bezirken  nur 
Aurich  eine  geringere  Mortalität  beim  männlichen  Geschlecht  auf¬ 
weist;  im  Bezirk  Stade  ist  die  Sterblichkeit  bei  beiden  Geschlechtern 
gleich;  im  Bezirk  Tier  starben  nur  sehr  unerheblich  mehr  männ¬ 
liche  Personen  als  weibliche.  In  allen  anderen  preußischen  Be¬ 
zirken  überwiegt  die  Mortalität  beim  männlichen  Geschlecht;  in 
keinem  Regierungsbezirk  ist  aber  die  Differenz  bei  der  Sterblich¬ 
keit  zuungunsten  der  Männer  so  groß,  wie  im  Bezirk  Breslau,  der 
den  höchsten  Frauenüberschuß  auf  weist. 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  1.  Dezember  1910. 

Herr  Max  Flesch  (Frankfurt  a.  M.)  trägt  vor  über  „Hygienische  Ergeb¬ 
nisse  der  Aktienbaugesellschaft  für  kleine  Wohnungen  in  Frankfurt  a.  M.“ 

(Vgl.  S.  252,  VII.  Bd.,  2.  Heft  dieser  Zeitschrift.) 

Als  weiteres  günstiges  Moment  schließt  sich  daran  die  unzweifelhafte  Tat¬ 
sache,  daß  sich  hei  der  Bevölkerung  der  Aktienwohnungen  eine  gewisse  Auslese 
besseren  Menschenmaterials  vollzieht :  die  Vorausbezahlung  der  Miete  ist  eine 
Forderung,  der  sich  nur  solide  Leute  unterordnen  können.  Und  nach  anderer 
Seite  minderwertige  Elemente  werden  durch  den  Mieterausschuß  bald  eliminiert, 
so  daß  in  gewissem  Sinne  eine  Elite  unter  ihresgleichen,  unter  den  durch  geringen 
Lohn  und  große  Kinderzahl  ungünstig  gestellten  Arbeitern  sich  in  den  Aktien¬ 
häusern  vereint.  Es  wird  wohl  nicht  bezweifelt  werden  können,  daß  in  diesen 
Tatsachen  wesentliche  Faktoren  zur  Herbeiführung  günstiger  hygienischer  Ver¬ 
hältnisse  gelegen  sind.  Aber  ausschlaggebend  sind  sie  sicher  nicht.  Denn  ehe 
diese  Leute  in  die  Wohnungen  der  Aktienbaugesellschaft  gelangt  sind,  waren 
sie  doch  vermutlich  nicht  minder  frei  von  unehelichen  Geburten,  nicht  minder 
solid,  nicht  minder  gewissenhaft  in  der  Zahlung  der  Miete  usw.  Gleichwohl  waren 
ihre  hygienischen  Verhältnisse  keine  anderen  als  die  der  Durchschnittsbevölkerung. 
Noch  bei  der  Übersiedlung  in  die  Aktienhäuser  und  während  des  ersten  Jahres 
ihres  dortigen  Wohnens  haben  sie  ja  die  alte  größere  Sterblichkeitsziffer,  derart, 
daß  —  wie  wir  gezeigt  haben  —  jeder  Nachschub  bei  Eröffnung  einer  neuen 
Wohnungsgruppe  in  deren  relativ  größeren  Mortalität  zum  Ausdruck  kommt. 
Also  muß  doch  das  Gelangen  in  die  neuen  Wohnungsverhältnisse  von  Einfluß  sein. 

Dieser  Einfluß  zeigt  sich  nun  nicht  nur  in  der  Sterblichkeitsziffer  der  alle 
Altersstufen  einschließenden  Gesamtbewohnerschaft  der  Aktienhäuser.  Er  zeigt  sich 
auch  in  der  Sterbeziffer  der  Jugendlichen  und  vor  allem  der  Säuglinge. 

Was  die  jugendlichen  Individuen  unter  15  Jahren  betrifft,  beschränken  wir 
uns  auf  den  Hinweis  auf  die  oben  mitgeteilte  Tabelle.  Sie  zeigt  da  ein  ähn- 


*)  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  1,  2,  3,  4  u.  6 
der  „Medizinischen  Reform“,  1911,  herausg.  von  R.  Lennhoff. 


330  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

liches  Gesicht,  wie  bei  der  Gesamtbewohnerschaft :  die  Differenz  zwischen  der  in 
Prozenten  ausgedrückten  Mortalität  der  entsprechenden  Gruppe  in  der  Stadt  und 
in  den  Aktienhäusern  ist  aber  noch  größer.  Leider  fehlen  die  Ziffern  für  die 
Stadt  aus  den  beiden  letzten  Berichtsjahren;  auch  können  die  Zahlen  nicht  den 
gleichen  Anspruch  auf  Exaktität  erheben,  wie  die  der  vorigen  Gruppe,  weil  die 
Ziffern  für  die  jugendliche  Bevölkerung  der  Stadt  nicht  auf  Zählung  und  Fort¬ 
schreibung  seitens  des  statistischen  Amts  beruhen,  sondern  auf  Fehler  nicht  aus¬ 
schließenden  Approximativberechnungen.  Immerhin  beweist  die  Größe  der  Differenz, 
daß  gerade  das  jugendliche  Alter  unter  den  Verhältnissen  der  Wohnung  in  den 
Aktienhäusern  seine  Bechnung  findet,  das  Alter  also,  in  welchem,  weil  Berufs¬ 
schädigungen  und  Alkoholismus  noch  nicht  von  Einfluß  sind,  die  sonstigen  Ver¬ 
hältnisse  am  reinsten  zum  Ausdruck  kommen. 

Ein  ganz  besonderes  Interesse  bietet  die  vergleichende  Betrachtung  der 
Sterblichkeit  des  ersten  Lebensjahres.  Darüber  stehen  zwar  nur  die  Ziffern  der 
sechs  letzten  Jahrgänge  zur  Verfügung;  aber  diese  sind  charakteristisch  genug, 
auch  wenn  es  sich  nur  um  relativ  kleine  Zahlen  bei  der  Aktienbaugesellschaft 
handeln  kann.  Im  Gegensatz  zu  der  Mortalitätsziffer  der  Jugendlichen  ist  die 
des  ersten  Lebensjahres  von  der  der  Gesamtbevölkerung  der  Stadt  nicht  immer 
weit  verschieden;  in  einem  Jahre  —  1906  —  weisen  sogar  die  Aktienhäuser  für 
diese  Altersstufe  eine  nicht  unerheblich  größere  Sterblichkeit  auf,  als  die  sonstige 
Bevölkerung  (20,7  Proz.  gegen  16,5  Proz.).  Die  Vergleichung  ergibt,  wenn  man 
Anfang  und  Ende  ins  Auge  faßt,  wie  bei  der  Gesamtsterblichkeit  eine  Abnahme 
(von  16,0  Proz.  auf  12,37  Proz.  in  der  Stadt,  von  16,4  Proz.  auf  8,0  Proz.  in  den 
Aktienhäusern).  Auch  darin  stehen  sich  die  Verhältnisse  gleich,  daß  das  Ab¬ 
sinken  der  Kurve  für  die  Aktienhäuser  ein  stärkeres  ist  als  für  die  Stadt.  Aber 
es  erhellt  aus  der  Betrachtung  der  Kurve  auch  ohne  weiteres,  daß  für  deren  Ge¬ 
staltung  andere  Faktoren  als  die  für  die  Gesamtmortalität  maßgebende  Bedeutung 
erhalten  haben.  Die  Ausschläge  für  die  einzelnen  Jahrgänge  sind  unverhältnis¬ 
mäßig  größer  bei  den  Insassen  der  Aktienhäuser  als  bei  der  Gesamtbevölkerung; 
außerdem  aber  sind  die  Ausschläge  in  mehreren  Jahren  entgegengesetzt  gerichtet: 
Also  ist  nicht  nur  die  relative  Kleinheit  der  Zahlen  zur  Erklärung  der  größeren 
Schwankungen  anzuführen.  Es  müssen  andere  Faktoren  hier  im  Spiel  sein.  Es 
fällt  nämlich  die  Höhe  der  Sterblichkeitskurve  für  die  Bewohner  der  Aktienhäuser 
mit  einer  ungewöhnlich  großen  Geburtenziffer  zusammen  (140  gegen  130  bzw.  107 
in  1905  bzw.  1907).  Auch  für  die  Stadt  überhaupt  hat  aber  das  Jahr  1906  eine 
relativ  große  Geburtenziffer  (1905  9439,  1906  10069,  1907  9831).  Das  Plus  ist 
sogar  relativ  größer  als  bei  der  Aktienbaugesellschaft  (28,7  Geburten  auf  tausend 
Lebende  in  der  Stadt  gegen  27,9  in  den  Aktienhäusern).  Gleichwohl  hat  die  Ge¬ 
samtsterblichkeit  in  der  Stadt  kaum  eine  besondere  Höhe  erreicht  (16,01).  Die 
Sterblichkeit  der  Kinder  im  ersten  Lebensjahr  ist  sogar  eine  relativ  geringe 
(1415  auf  10069  gegen  1577  auf  nur  9439  in  1905  und  1278  auf  9831  in  1907). 
Der  die  ungewöhnlich  große  Kindersterblichkeit  im  ersten  Lebensjahr  für  die 
Aktienhäuser  bedingende  Grund  muß  also  irgendwie  in  diesen  bzw.  in  deren  Ein¬ 
wohnerschaft  lokalisiert  sein.  Und  zwar  gibt  uns  die  Tabelle  selbst  nach  dieser 
Richtung  einen  Fingerzeig:  Auch  die  Sterblichkeit  der  Jugendlichen  bis  zum 
15.  Jahr  ist  in  den  Aktienhäusern  in  1906  eine  ungewöhnlich  hohe:  16,22  Prom. 
gegen  12,52  im  vorhergehenden,  11,53  im  folgenden  Jahre,  während  gleichzeitig 
in  der  Stadt  die  entsprechenden  Altersstufen  keinerlei  Zunahme  aufweisen;  im 
Gegenteil  fügt  sich  die  Ziffer  pro  1906  (21,66)  nach  einem  kleinen  Anstieg  im 


r 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  331 

Vorjahre  ganz  regelrecht  in  den  absteigenden  Gang  der  Sterbeziffern  ein.  Damit 
ist  ein  allgemeiner  Grund  ausgeschlossen.  Die  Prüfung  der  Todesursachen  klärt 
diesen  Grund  auf:  das  Jahr  1906  zeichnet  sich  durch  eine  größere  Zahl  von 
Todesfällen  an  Darmkatarrhen  aus.  14  gegenüber  je  3  im  vorangegangenen  und 
im  folgenden,  9  in  dem  bis  dahin  ungünstigsten  Jahre  seit  dem  Beginn  der 
Statistik.  Leider  ist  aus  den  Berichten  nicht  mehr  zu  ermitteln,  ob  es  sich  bei 
diesen  Fällen  um  eine  auf  einen  Häuserblock  beschränkte  Endemie  handelt.  In 
der  Stadt  weist  das  Jahr  1906  kein  Mehr  von  Todesfällen  an  Cholera  nostras  und 
Mo gendarmkrankh eiten  auf.  Da  nicht  weniger  als  12  von  den  14  Todesfällen  an 
Brechdurchfall  und  Magendarmkatarrh  das  erste  Lebensjahr  betreffen,  so  ist  viel¬ 
leicht  irgendeine  Zufälligkeit  in  der  Milchversorgung  für  die  Säuglinge  ausschlag¬ 
gebend  geworden.  Auf  statistischem  Wege  ist  bei  der  kleinen  Zahl  der  Todes¬ 
fälle  in  diesem  Punkt  nicht  weiterzukommen.  Von  besonderer  Bedeutung  für 
uns  ist  immerhin  noch  die  Feststellung,  daß  gerade  in  den  Altern,  in  welchen 
die  Sterblichkeit  der  unehelichen  ihre  größte  Bolle  spielt,  im  ersten  Lebensjahre, 
die  Differenz  zwischen  der  Stadt  und  den  Aktienhäusern,  in  welchen  fast  keine 
unehelichen  Geburten  Vorkommen,  eine  relativ  kleine  ist.  Dem  ungünstigen 
Moment  der  unehelichen  Geburt  hält  also  der  Kinderreichtum  in  den  Aktien¬ 
häusern  annähernd  die  Wage. 

Aus  demselben  Grunde  ist  auch  von  einem  Eingehen  auf  die  einzelnen 
Sterblichkeitsursachen  nicht  allzuviel  zu  erwarten.  Immerhin  bietet  die  folgende 
Tabelle  2,  in  welcher  die  Ziffern  der  wichtigsten  Gruppen  der  Todesursachen  im 
Vergleich  mit  der  Einwohnerzahl  der  Aktienhäuser  zusammengefaßt  sind,  genug 
des  Interessanten.  Das  Material  der  Jahresberichte  ist  allerdings  in  diesem  Punkt 
recht  dürftig,  so  daß  insbesondere  bei  der  Kleinheit  der  Ziffern  bei  der  Verwertung 
große  Vorsicht  geboten  ist.  Aus  diesem  Grunde  lohnt  es  sich  auch  nicht,  hier 
wieder  Vergleichstabellen  mit  dem  Material  der  Stadt  aufzustellen.  Das  würde 
auch  deshalb  schon  schwer  werden,  weil  die  Bubrizierung  der  Todesursachen  in 
den  Berichten  des  städtischen  statistischen  Amtes  seit  einigen  Jahren  geändert 
worden  ist,  so  daß  innerhalb  der  Berichte  des  Amtes  selbst  die  Basis  wechselt, 
daß  dann  wiederum  das  Schema  der  Bezeichnung  der  Todesursachen  in  den  Be¬ 
richten  der  Gesellschaft  nicht  mit  dem  der  amtlichen  Berichte  übereinstimmt. 
Vielleicht  wird  in  künftigen  Jahren  die  Statistik  sich  unter  Zugrundelegung  des 
auch  in  den  letzteren  gebrauchten  Formulars  aufnehmen  lassen. 

In  den  Zahlen  der  Tabelle  2  kommt  wieder  die  im  allgemeinen  günstige 
Mortalität  bei  der  Bewohnerschaft  der  Aktienhäuser  zum  Ausdruck.  Am 
schlagendsten  wird  sie  bei  der  Proletarierkrankheit,  der  Tuberkulose,  erwiesen. 
Gerade  allerdings  bezüglich  dieser  Todesursache  sind  die  Berichte  ergänzungs¬ 
bedürftig,  insofern  bei  der  Bubrizierung  keine  Trennung  zwischen  tuberkulöser 
und  sonstiger  Hirnhautentzündung  vorgenommen  ist.  Aber  selbst  wenn  ich  sämt¬ 
liche  Fälle  von  Meningitis  als  tuberkulöse  Erkrankungen  zurechne  —  in  der 
Tabelle  ist  das  bei  den  eingeklammerten  Zahlen  geschehen  —  steht  sich  die 
Tuberkulosesterblichkeit  der  Aktienhäuser  niedriger  als  die  der  Stadt.  Selbst 
wenn  wir  ein  verhältnismäßig  ungünstiges  Vergleichsjahr  wählen  —  ich  greife 
1908  heraus,  mit  relativ  viel  (10)  Tuberkulose  bei  den  Bewohnern  der  Aktien¬ 
häuser,  relativ  wenig  bei  der  städtischen  Bevölkerung  (775)  —  bleibt  die  Tuber¬ 
kulosesterblichkeit  in  den  Aktienhäusern  mit  1,85  Prom.  nicht  unerheblich  hinter 
der  Stadt  mit  2,15  Prom.  zurück.  Daß  das  Verhältnis  noch  wesentlich  besser 
wäre,  wenn  die  Hirnhautentzündungsfälle  der  Gesellschaftshäuser  nicht  willkürlich 


332  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


Tabelle  2. 


Jahrgang 

1899 

1900 

1901 

1902 

1903 

1904 

1905 

1906 

1907 

1908 

1909 

Bewohner¬ 

zahl 

1360  b 

2803 

3042 

4155 

4303 

4654 

4924 

5008 

5365 

5351 

5677 

Sterbefälle 
an  Tuber¬ 
kulose 

2 

1 

2 

8(10)*  2) 

7(8) 

3(5) 

8(10) 

7(10) 

3 

8(10) 

9(10) 

Epidemische 

Krankheiten 

1 

1 

4 

2 

6 

2 

1 

1 

2 

4 

2 

Brechdurch- 

fall  u.  Magen- 
darmkatarrh 

0 

3 

3 

5 

8 

9 

3 

14 

3 

4 

2 

als  Tuberkulose  gezählt  werden,  ist  klar.  Scheinbar  etwas  ungünstiger  als  hei 
der  städtischen  Bevölkerung  stehen  sich  die  Bewohner  der  Aktienhäuser  bezüglich 
der  epidemischen  Krankheiten.  Berechnet  man  den  Prozentsatz  der  daran  Ge¬ 
storbenen,  so  erscheint  ein  Mehr  bei  letzteren,  das  um  so  größer  ist,  je  mehr  man 
die  Vergleichung  auf  die  einzelnen  Infektionskrankheiten  beschränkt.  Gruppen¬ 
erkrankungen  an  Diphtherie  oder  Scharlach  sind  hier  die  Ursache ;  denn  an  sich 
ist  der  Boden  für  epidemische  Krankheiten  offenbar  in  den  Aktienhäusern  kein 
fördernder.  Es  fehlt  unter  den  Todesursachen  fast  ganz  der  Keuchhusten,  die 
Infektionskrankheit  also,  die  in  der  Stadt  sonst  am  meisten  Opfer  fordert ;  ebenso 
Masern  und  Influenza.  Das  sind  aber  die  Infektionskrankheiten,  welche  in  un¬ 
günstigen  Ernährungs-  und  Wohnungsverhältnissen  nach  den  sonstigen  Er¬ 
fahrungen  am  schlimmsten  wirken.  Es  sind  Gruppenerkrankungen  an  Diphtherie, 
welche  eine  verhältnismäßig  hohe  Mortalität  an  Infektionskrankheiten  bewirken. 
Hier  kommt  wohl  zur  Geltung,  daß  die  Bewohnerschaft  der  Aktienhäuser  sich 
aus  den  kopfreichsten  Familien  zusammensetzt;  Diphtherie  ist  eine  vergleichs¬ 
weise  Dichtigkeitskrankheit.  —  Umgekehrt  steht  es  wieder  bezüglich  der  Mortalität 
an  Brechdurchfall  und  Magenkatarrh.  Sie  hat  für  uns  ein  besonderes  Interesse, 
weil  sie  für  die  Sterblichkeit  im  ersten  Lebensjahre  ausschlaggebend  ist.  Die 
Schwankungen  sind  allerdings  hier,  wie  bei  dem  Aufbau  der  Statistik  für  die 
Aktienhäuser  auf  kleinere  Zahlen  zu  erwarten  ist,  größere  als  in  der  Stadt.  Mit 
Ausnahme  des  Jahres  1906  mit  seiner  ganz  ungewöhnlichen  Sterblichkeit  an  diesen 
Krankheiten  ergibt  sich  aber  wieder  ein  Minus  zugunsten  der  Aktienhäuser,  z.  B. 
1908  bei  4  Todesfällen  0,95  gegen  1,55  Prom.  in  der  Stadt. 

Fassen  wir  die  sich  aus  den  Zahlen  ergebenden  Tatsachen  zusammen,  so 
kommen  wir  zu  der  Feststellung,  daß  unzweifelhaft  die  hygienischen  Verhältnisse 
der  Bewohner  der  Aktienhäuser,  soweit  sich  aus  den  Sterblichkeitsziffern  ein 
Schluß  ziehen  läßt,  günstigere  sind,  als  bei  der  umgebenden  Bevölkerung.  Die 


b  Die  im  letzten  Quartal  hinzugezogenen  Bewohner  sind  nicht  mitgezählt 
(vgl.  Tabelle  1)  doch  hat  bei  ihnen  kein  Todesfall  an  Tuberkulose  stattgefunden. 

2)  Die  in  Klammern  geschlossenen  Zahlen  ergeben  sich  aus  dar  Zuzählung 
der  Todesfälle  an  Hirnhautentzündung  im  jugendlichen  Alter  unter  der  Annahme, 
daß  es  sich  um  Tuberkulose  handle. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  335 

günstigere  Mortalität  zeigt  sich  als  wesentlich  bedingt  durch  eine  erheblich  ge¬ 
ringere  Sterblichkeit  in  den  jugendlichen  Altersperioden.  Dabei  ist  das  erste 
Lebensjahr  zwar  mitbeteiligt,  doch  in  geringerem  Maße  als  die  folgenden  Jahre. 
Die  günstige  Mortalität  der  Bewohner  der  Aktienliäuser  ist  nicht  etwa  ein  Aus¬ 
druck  einer  von  vornherein  besonders  günstigen  Beschaffenheit  des  die  Einwohner¬ 
schaft  zusammensetzenden  Menschenmaterials,  sondern  eine  Folge  der  in  diesen 
Häusern  gebotenen  Wohnungsbedingungen. 

Einer  besonderen  Ausführung  bedarf  aus  diesen  Sätzen  die  Feststellung,  daß 
die  günstigen  hygienischen  Verhältnisse  der  Bewohner  der  Aktienhäuser  nicht 
an  diesen  selbst  haften,  sondern  ihnen  erst  durch  ihr  Wohnen  zuteil  werden. 
Wir  haben  früher  betont,  daß  es  sich  bei  ihnen  um  eine  relative  Elite  unter 
ihresgleichen  handelt.  So  könnte  man  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  ihre 
günstige  Mortalität  der  Ausdruck  ihres  günstigen  sozialen  wirtschaftlichen  und 
ethischen  Verhaltens  sein  könne.  Indessen  stehen  den  günstigen  Momenten  auch 
ungünstige  genug  gegenüber.  Handelt  es  sich  auf  der  einen  Seite  vielleicht  um 
besonders  sparsame  und  solide  Leute,  die  ja  an  sich  gewiß  manchen  Schädigungen 
relativ  wenig  ausgesetzt  sein  mögen,  so  muß  andererseits  der  große  Kinderreichtum 
nach  der  ungünstigen  Seite  in  Betracht  gezogen  werden.  Nach  der  Volkszählung 
von  1905  kamen  in  der  ganzen  Stadt  Frankfurt  bei  321 289  Einwohnern  auf  eine 
Wohnung  4,39  Personen  —  eine  Zahl,  die,  beiläufig  bemerkt,  wahrscheinlich  seit¬ 
dem  eher  kleiner  geworden  sein  dürfte.  Demgegenüber  kommen  in  den  Aktien¬ 
häusern  noch  1909  auf  eine  Wohnung  4,72  Personen,  erheblich  mehr  also  als  in 
der  Stadt,  noch  mehr  als  in  den  Wohnungen  verwandter  Institutionen,  der  ge¬ 
meinnützigen  Baugesellschaft  mit  3,77,  des  Bau-  und  Sparvereins  mit  4,02  Köpfen. 
Daß  aber  die  Bewohner  der  Aktienhäuser  nicht  zu  aller  Zeit  die  günstige  Mortalität 
aufweisen,  die  ihnen  dort  zuteil  wird,  geht  einfach  daraus  hervor,  daß  sie  diese 
günstige  Mortalität  erst  nach  einiger  Zeit  erlangen;  so  oft  neue  Bewohner  zu¬ 
ziehen,  bewirkt  das  eine  vorübergehende  Steigerung  der  Sterblichkeit,  wie  oben 
bei  dem  Hinweis  auf  die  höhere  Sterblichkeit  im  Jahre  1902,  nach  Neubesiedelung 
einer  besonders  großen  Zahl  von  Wohnungen. 

So  kommen  wir  zu  der  Frage,  was  denn  eigentlich  die  günstigen  Gesund¬ 
heitsverhältnisse  in  den  Aktienhäusern  bewirkt.  Eine  Beihe  von  Faktoren  wirkt 
da  sicher  zusammen,  hygienische  im  engeren  Sinne  ebenso  wie  wirtschaftliche. 
Zu  ersteren  rechne  ich  die  bessere  Bauweise,  gegenüber  manchen  namentlich 
älteren  Stadtteilen,  die  Ausstattung  der  Wohnungen  mit  Badegelegenheit,  Spiel- 
und  Bleichplätzen,  Einzelgärten  usw.,  und  die  durchschnittlich  solidere  Lebens¬ 
haltung.  Aber  all  dies  könnte  kaum  als  genügende  Erklärung  für  die  große 
Differenz  zwischen  der  allgemeinen  Mortalität  der  Stadt  und  der  Aktienhäuser 
gelten.  Die  Mortalität  war  schon  in  den  älteren  Bauten  der  Gesellschaft  erheblich 
günstiger  als  in  der  Stadt  in  einer  Zeit,  in  der  die  Wohnungen  noch  recht  viel 
zu  wünschen  übrig  ließen;  es  wurden  sogar  vor  der  Genehmigung  der  späteren 
Bauten  in  der  Stadtverordnetenversammlung  recht  schwere  Angriffe  gegen  die 
Bauart,  besonders  die  Anordnung  der  Klosetts  u.  a.  m.  gerade  von  ärztlicher 
Seite  erhoben.  Und  daß  die  Lebensweise  der  Bewohner  nicht  alles  bewirkt,  zeigt 
die  größere  Mortalität  im  ersten  Jahre  des  Zuzuges.  Es  ist  doch  nicht  an¬ 
zunehmen,  daß  die  Leute  erst  nach  dem  Beziehen  der  neuen  Wohnung  solid  ge¬ 
worden  sein  sollen;  sie  werden  wohl  vorher  dieselben  gewesen  sein,  wie  später 
in  der  neuen  Wohnung.  Unverkennbar  ist  aber  der  wirtschaftliche  Fortschritt 
bei  dem  Beziehen  des  neuen  Heims,  der  sich,  wie  wir  gezeigt  haben,  nicht  nur 
Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


334  A11S  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  nnd  Medizinalstatistik. 

im  Mietspreis,  sondern  durch  die  günstigen  Einkaufgelegenheiten  und  andere? 
Wohnungsergänzungen  einstellt.  Was  an  Miete  gespart  Avird,  kommt  der  Er¬ 
nährung  zugute;  und  das  allerdings  ganz  besonders  hei  einem  durch  die  Bereit- 
Avilligkeit  zum  Vorauszahlen  der  Miete  als  sparsam  und  solid  gekennzeichneten 
Menschenmaterial. 

Führen  Avir  so  die  Besserung  der  Gesundheitsverhältnisse  in  erster  Linie 
auf  die  Avirtschaftliche  Bessergestaltung  zurück,  so  dürfen  Avir  dann  auch  die 
Rückwirkung  sozialer  Einflüsse  anderer  Art  nicht  übersehen.  Die  EinAvohner- 
schaft  der  Aktienhäuser  ist  aus  früher  erörterten  Gründen  eine  seßhaftere  als  die 
■anderer  Wohnungen.  Das  hat  aber  naturgemäß  zur  Folge,  daß  die  jugendlichen 
Altersstufen  eine  Beschränkung  erfahren.1)  Mit  der  Zeit  hört  der  GeburtenzuAvachs 
in  den  einzelnen  Familien  auf;  das  am  meisten  gefährdete  Säuglingsalter  kommt 
damit  in  Wegfall.  Es  kommt  zu  einem  relativen  ÜberAAÜegen  der  eine  geringere 
Sterblichkeit  aufAveisenden  Lebensperioden.  Das  erklärt  uns  das  gegenüber  der  Stadt 
stärkere  Sinken  der  Mortalitätskurve  in  den  späteren  Jahren,  in  Avelchen  überdies 
durch  vorübergehende  Erschwerung  der  Fortsetzung  der  Bauten  neue  Ansiedler 
nur  in  geringer  Zahl  zufließen.  Wenn  dann  überdies  in  den  älteren  Blocks  die 
BeAvohnerzahl  dadurch  abnimmt,  daß  die  herangewachsenen  Kinder,  selbständig 
geworden,  aus  der  elterlichen  Wohnung  verziehen,  wird  eine  Abnahme  der  Kopf¬ 
zahl  in  den  Wohnungen  ein  weiteres  günstiges  Moment  schaffen,  das  allerdings- 
zurzeit  erst  in  einem  der  kleineren  Wohnungsblocks  zur  Geltung  kommt. 

Ein  anderes  nicht  zu  übersehendes  soziales  Moment  für  die  zunehmende- 
Besserung  der  Gesundheitszustände  ergibt  sich  Avieder  aus  der  Verbesserung  der 
Lebenshaltung  durch  Ersparung  an  Ausgabe  für  Miete  in  der  Weise,  daß  die 
Frauen  darauf  verzichten  können,  als  Zugehefrauen  eine  Nebeneinnahme  zu  er¬ 
werben.  Sie  ziehen  es  vor,  im  eigenen  Haushalt  zu  arbeiten;  mancherlei  Avird 
dabei  erspart,  so  daß  der  Ausfall  nicht  einmal  ganz  zur  Geltung  kommt.  Um  so 
mehr  von  Wert  ist  die  größere  Sorgfalt,  die  nun  den  Kindern  durch  bessere  Be¬ 
aufsichtigung  und  Reinhaltung  zuteil  Avird.  Am  meisten  ist  das  in  dem  am 
Aveitesten  von  der  Innenstadt  entfernten  „Erbbau“-Block  geschehen,  dessen  Be- 
Avohnerinnen  einen  so  großen  Weg  zu  den  Arbeitsgelegenheiten  als  Monatsfrauen¬ 
zurücklegen  mußten,  daß  der  Ertrag  kein  rechtes  Äquivalent  mehr  Avar.  Dort 
konnte  die  ursprünglich  vorgesehene  Krippe  eingehen,  Aveil  tatsächlich  trotz  der 
großen  Kinderzahl  das  Bedürfnis  fehlte. 

Es  kann  schließlich  gleich  sein,  Avelcher  der  genannten  Faktoren  den  größten 
Einfluß  geübt  hat.  Die  Tatsache,  die  aus  dem  großen  hygienischen  Experiment 
der  Ansiedelung  eines  erheblichen  Bevölkerungsteils  einer  Stadt  in  hygienisch 
günstige  Wohnungen  zu  mäßigem  Mietspreis  hervorgeht,  ist  unanfechtbar.  Im 
Anschluß  an  die  Besserung  der  Wohnungsverhältnisse  sinkt  die  Mortalität  der 
Bewohner  so  sehr,  daß  dem  kein  anderes  Ergebnis  hygienischer  Maßnahmen  auf 
einzelnen  Gebieten  die  Wage  halten  kann.  Ist  doch  bei  so  manchem  Versuch 
hygienischer  Verbesserungen  das  Ergebnis  so  geringfügig,  daß  seine  Existenz 
überhaupt  in  Frage  steht.  Von  der  unzählige  Beamte  und  Ämter  zum  ZAveck 
der  Eindämmung  der  Geschlechtskrankheiten  in  Bewegung  setzenden  Reglemen¬ 
tierung  der  Prostitution  ist  ein  zahlenmäßiger  Erfolg  überhaupt  bestritten.  Der 


Auf  Bitten  der  Bewohner  einzelner  Blocks  haben  dort  auch  Belehrungen 
über  Beschränkung  der  Kinderzahl  stattgefunden,  die  nicht  ohne  Einfluß  geblieben, 
sind,  Avie  der  Abfall  der  Geburtenziffer  1906/7  zeigt. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  335 

Kampf  gegen  die  Verheerungen  des  Alkoholismus  hat  kaum  zu  einem  Stillstand, 
geschweige  denn  zu  einer  merklichen  Minderung  geführt.  Die  unzweifelhaft  ja 
nachweisbare  Abnahme  der  Tuberkulose  ist,  gegenüber  den  Riesenaufwendungen 
für  den  Bau  unzähliger  Volksheilstätten  eine  geringe,  nach  wenigen  Prozenten 
zu  berechnende. 

Die  Erfolge  der  Stillprämien  und  Säuglingsberatungsstellen,  so  warm  be¬ 
fürwortet  von  allen  Seiten,  sind  vorläufig  noch  weit  mehr  Gegenstand  lebhafter 
Wünsche  als  nachgewiesener  Wirksamkeit.  Das  Experiment  der  Aktienbaugesell¬ 
schaft  greift  hier  weiter,  als  die  speziellen  Bestrebungen.  Sowohl  die  Schwind¬ 
suchtssterblichkeit  als  die  Kindersterblichkeit  einer  inmitten  eines  großen  Gemein¬ 
wesens  lebenden,  die  Einwohnerschaft  einer  kleinen  Stadt  repräsentierenden 
Menschengruppe,  heben  sich  innerhalb  ihrer  Umgebung  dermaßen  vorteilhaft  ab, 
als  ob  die  Schaffung  der  neuen  Wohnungen  nur  ihre  Bekämpfung  zum  Ziel  ge¬ 
habt  hätte.  Nicht  als  ob  man  daraus  schließen  dürfte,  nun  müßte  alle  Hygiene 
in  Wohnungsbau  aufgehen.  Daß  aber  Kanalisation,  Wasserversorgung  und 
Wohnungsbeschaffung  die  Grundpfeiler  der  Hygiene  sind,  steht  außer  Zweifel. 
Und  daß  es  sich  unter  allen  Umständen  lohnen  wird,  gute  billige  Wohnungen 
als  Vorbeugung  der  Tuberkulose,  als  Sicherung  der  heranwachsenden  Jugend  vor 
frühem  Säuglingstod,  vor  späterer  skrofulöser  Schwächung  zu  begründen,  wird 
durch  das  Experiment,  dessen  Ergebnisse  wir  hier  zu  schildern  versucht  haben, 
unzweideutig  bewiesen. 


Sitzung  vom  15.  Dezember  1910. 

•• 

Herr  W.  Butt  er  milch -Berlin  trägt  vor  über  „Uber  den  Wert  einer  zen¬ 
tralisierten  kommunalen  Säuglingsfürsorge.“  Kein  Zweig  der  sozialen  Hygiene 
hat  in  den  letzten  Jahren  zu  sovielen  theoretischen  Erwägungen  und  zu  so  zahl¬ 
reichen  praktischen  Einrichtungen  geführt,  wie  die  Mutter-  und  Säuglings¬ 
fürsorge.  So  verschieden  auch  die  Wege  sind,  die  man  beschritten  hat,  das 
Endziel,  nach  dem  alle  strebten,  war  das  gleiche:  Den  jüngsten  Erdenbürgern 
die  „ihnen  durch  die  Natur  gegebene  geringste  Sterblichkeit  zu  verschaffen“. 
Wenn  man  der  historischen  Entwicklung  nachgeht,  so  sieht  man,  daß,  wie  bei 
fast  allen  in  den  Dienst  der  Humanität  gestellten  Einrichtungen,  in  früherer  Zeit 
zunächst  die  private  Wohlfahrtspflege  die  Hauptstütze  auch  der  sozialen  Säuglings¬ 
fürsorge  war.  Doch  bald  hat  man  einsehen  gelernt,  daß  in  Anbetracht  der  ganz 
außerordentlich  schwierigen  Aufgaben,  die  es  zu  lösen  gilt,  und  der  großen  mate¬ 
riellen  Opfer,  die  dies  Problem  erfordert,  nur  mit  großen  Mitteln,  die  Staats-, 
Kommunalverbände  und  Privatwohltätigkeit  zur  Verfügung  stellen,  etwas  Gutes 
und  Durchgreifendes  zu  erreichen  ist.  Was  aber  immer  geschehen  sein  mag  seit 
der  Zeit,  da  man  aufgehört  hat,  vor  der  excessio  hohen  Säuglingssterblichkeit  wie 
vor  einem  unabänderlichen  Geschick  zu  resignieren,  vras  man  auch  immer  Großes 
und  Bedeutendes  geschaffen  hat,  es  fehlt  an  den  meisten  Stellen  noch  an 
einer  systematischen  Zusammenarbeit  und  planmäßigen  Ausge¬ 
staltung,  die  man  kurz  mit  dem  Namen  Zentralisation  bezeichn  et. 
Nach  den  Berichten,  die  gerade  in  letzter  Zeit  aus  verschieden  Teilen  Deutsch¬ 
lands  über  die  offene  und  geschlossene  Säuglingsfürsorge  veröffentlicht  worden 
sind,  ersieht  man  jedoch,  daß  man  jetzt  in  einigen  ländlichen  Bezirken  dazu 
übergeht,  die  mannigfachen  Teile  der  sozialen  Säuglingshygiene  fester  zusammen¬ 
zufassen  und  die  Ausführung  der  notwendigen  Maßnahmen  einem  Zentralorgan 

22* 


336  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

zn  übertragen.  Nur  beim  Zusammenschluß  der  einzelnen  Faktoren,  nur,  wenn 
man  dem  Feind  yon  allen  Seiten  in  einem  geordneten  Angriff  entgegentritt,  darf 
man  berechtigte  Hoffnung  haben,  ihn  zu  schlagen.  Durch  Verzettelung  oder  Zer- 
spliterung  der  Kräfte  erringt  man  wohl  kleine  Einzelerfolge ;  ein  ganzer  Sieg 
wird  es  wohl  niemals  werden.  Mit  Recht  betont  deshalb  Tugendreich  am 
Schlüsse  seines  Handbuches,  in  dem  er  alle  Maßnahmen  der  offenen  und  ge¬ 
schlossenen  Mutter-  und  Säuglingsfürsorge  auf  das  Eingehendste  abhandelt :  „Wich¬ 
tiger  noch  als  die  Gründung  neuer  Einrichtungen  scheint  daher  gegenwärtig  die 
Zusammenfassung,  die  Zentralisation  des  Bestehenden,  damit  endlich  geordnete 
Zweckmäßigkeit  in  dem  Fürsorgechaos  Platz  greift.  Die  Fürsorge  der  Großstädte 
«  leidet  unter  der  Zerrissenheit  und  Amateurhaftigkeit  der  sozialen  Fürsorge.  Jeder 
Faktor  spinnt  seine  Fäden  unbekümmert  um  den  Nachbar.“ 

Wenn  ich  nun  dazu  übergehe,  über  Institutionen  zu  berichten,  wie  sie  in 
der  Gemeinde  Weißensee  seit  einigen  Jahren,  beinahe  seit  derZeit,  da  man 
die  ersten  Einrichtungen  in  der  sozialen  Säuglingsfürsorge  geschaffen  hat,  existieren, 
so  will  ich  zunächst  in  wenig  Worten  auf  die  Arbeit  von  P  e  i  s  e  r  eingehen,  die 
vor  einigen  Wochen  in  der  Medizinischen  Reform  unter  dem  Titel  „Der  Erfolg 
der  Säuglingsfürsorge  in  Arbeitervierteln“  erschienen  ist.  P  eis  er  verglich  die 
Sterblichkeitsverhältnisse  der  Säuglinge  in  den  vier  östlichen  Vorortgemeinden 
Groß-Berlins :  Boxhagen-Rummelsburg,  Lichtenberg,  Friedrichsfelde  und  W eißensee. 
Er  greift  gerade  diese  Gemeinden  zum  Vergleich  heraus,  weil  sie  ungefähr  die 
gleichen  hygienischen  und  sozialen  Verhältnisse  bieten  und  weil  von  allen  vier 
Orten  nur  Weiße nsee  über  eine  kommunale  Säuglingsfürsorge  verfügt.  Das 
Resultat  dieser  vergleichenden  Studien  ist  folgendes :  Weiße  nsee  zeigt  von 
allen  vier  genannten  Vorortgemeinden  den  stärksten  Abfall  der 
Säuglingssterblichkeit,  mag  man  die  Gesamtzahl  der  Gestorbenen  beziehen 
auf  100  Lebendgeborene  oder  1000  Einwohner  oder  in  ein  Verhältnis  setzen  zur 
Gesamtzahl  der  Verstorbenen.  Aus  der  vergleichenden  Statistik  kommt  P  eis  er 
zu  dem  Schluß ,  daß  eine  systematische  Fürsorge  imstande  ist, 
auch  in  wirtschaftlich  ungünstigeren  Bevölkerungskreisen  die 
Säuglingssterblichkeit  herabzusetzen. 

Im  Anschluß  an  die  vorliegenden  Tabellen,  für  die  ich  die  Zahlen  teils  dem 
Weißenseer  Wohlfahrtsamt,  teils  der  Charlottenburger  Statistik  vom  Mai  d.  J. 
über  die  Säuglingssterblichkeit  entnommen  und  berechnet  habe,  seien  mir  nur 
noch  einige  kurze  statistische  Bemerkungen  gestattet,  wenn  auch  derartige  Ver¬ 
gleiche  nicht  immer  einwandfrei  sind. 

Betrachten  Avir  die  Tabelle  I,  so  sehen  wir,  daß  die  Gesamtsterblichkeit  in 
den  Jahren  1906,  1907,  1908  in  Weißensee  ungefähr  dieselbe  geblieben,  die 


Tabelle  I. 


Mortalität 

in  Weißensee 

Jahr 

Zahl  der 
Sterbefälle 

Totgeburten 

Insgesamt 

Davon  Kinder 
unter  1  Jahr 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

m. 

w. 

1905 

493 

390 

38 

19 

531 

409 

221 

183 

1906 

431 

352 

19 

20 

450 

372 

214 

156 

1907 

392 

369 

30 

23 

422 

397 

144 

131 

1908 

414 

377 

25 

20 

439 

397 

149 

130 

Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  337 

Tabelle  II. 


Gemeindebezirk 

Sterbefälle  im  1.  Lebensjahre 
auf  100  Lebendgeborene 

Die  Abnahme  der 
Mortalität  im 

1.  Lebensjahr  betrug 
von  1905 — 1909 

1905 

1906 

1907 

1908 

9109 

absolut 

Proz. 

Berlin . 

Groß-Berlin  .... 

Rixdorf . 

Weißensee  .... 

20,60 

20,19 

22,31 

32,96 

17,71 

17,67 

19,50 

27,31 

16,28 

15,72 

15,49 

22,40 

16,77 

16,72 

18,41 

23,30 

15,63 

15.14 
16,29 

19.15 

4,97 

5,05 

6,02 

13,81 

24,1 

25,01 

27,0 

41,90 

Charlottenburg  .  . 

Frankfurt  a.  M.  .  . 

15,62 

17,27 

14,16 

14,51 

12,57 

13,42 

12,79 

13,90 

12,11 

12,37 

3,51 

4,90 

22,5 

28,4 

Stettin  . 

26,35 

24,08 

21,75 

24,32 

21,28 

5,07 

19,2 

Tabelle  III. 


Jahr 


Gestorbenen 

überhaupt 


Darunter  im  1. 


überhaupt 


Lebensjahre 

Proz.  der  Ge¬ 
storbenen 


Die  Großstädte  des  Deutschen  Reiches 


1905 

163  731 

57  049 

34,84 

1906 

159  327 

53  713 

33,71 

1907 

159  412 

48  946 

30.72 

1908 

162  089 

49  465 

S0,52 

1909 

156  728 

44  686 

28,51 !) 

Groß-Berlin 

1905 

47  412 

14  796 

31,21 

1906 

45  919 

13  849 

30,16 

1907 

45  906 

12  438 

27.09 

1908 

47  324 

13115 

27,71 

1909 

46  262 

11342 

24,52*  2) 

Weißensee 

1905 

883 

404 

45,75 

1906 

783 

370 

47,12 

1907 

761 

275 

36,39 

1908 

791 

279 

35,27 

1909 

738 

233 

31,57  3) 

Mortalität  der  Säuglinge  jedoch  stark  zur  lick  gegangen  ist.  Der 
Anteil  der  Gestorbenen  im  1.  Lebensjahre  an  der  Gesamtmortalität  ist  sowohl  in 
Groß-Berlin  wie  in  den  deutschen  Großstädten  als  auch  ganz  besonders  in  Weißensee, 
wie  ein  Blick  auf  Tabelle  III  lehrt,  in  den  Jahren  1905  bis  1909  in  stetigem 
Sinken  begriffen,  so  in  Groß-Berlin  von  31,21  Proz.  im  Jahre  1905  bis  auf  24,52 
im  Jahre  1909.  Das  bedeutet  eine  absolute  Differenz  von  6,69  oder  21,43  Proz. 
In  den  deutschen  Großstädten  ist  die  Säuglingssterblichkeit  in  diesen  Jahren  von 
34,84  Proz.  bis  auf  28,51  Proz.  gesunken.  Das  ergibt  eine  Differenz  von  6,33 


also  ein  Rückgang  um  6,33  oder  18,16  Proz. 

2)  also  ein  Rückgang  um  6,69  oder  21,43  Proz. 

3)  also  ein  Rückgang  um  14,18  oder  30,99  Proz. 


338  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

oder  18,16  Proz.,  während  die  Säuglingsmortalität  in  Weihensee  von  45,75  im 
Jahre  1905  auf  31,57  Proz«  (1909),  also  absolut  um  14,18  oder  31  Proz.  zurück¬ 
gegangen  ist.  Berechnet  man  die  Sterbefälle  im  1.  Lebensjahr  auf  100  Leben  d- 
geboreüe,  wie  dies  in  der  Tabelle  II  geschehen  ist,  so  ergibt  sich,  daß  Weißensee 
seit  dem  Jahre  1905  einen  Rückgang  um  13,81,  d.  h.  um  41,90  Proz.  zu  ver¬ 
zeichnen  hat,  während  z.  B.  die  Säuglingssterblichkeit  in  Rixdorf  nur  um  6,02, 
d.  h.  um  27  Proz.,  in  Berlin  und  Groß-Berlin  nur  um  etwa  25  Proz.  gesunken  ist. 

Wenn  es  auffallend  erscheint,  daß  Weißensee  immer  noch  eine  höhere 
Sterblichkeitsziffer  zeigt  als  Groß-Berlin,  so  ist  hierbei  außer  der  ungünstigen 
sozialen  Lage  eines  großen  Teiles  der  Bevölkerung  noch  der  Umstand  in  Rech¬ 
nung  zu  ziehen,  daß  sich  auf  Weißenseer  Gebiet  eine  private  Entbindungsanstalt, 
Betli-Elim,  befindet,  die,  abgesehen  von  den  übrigen  ortsfremden  Kindern,  allein 
schon  mit  etwa  10  Proz.  an  der  Gesamtsäuglingssterblichkeit  beteiligt  ist,  so 
daß  man  gerade  hier  von  einem  nennenswerten  Einfluß  der  Sterbefälle  von  nicht 
ortsangehörigen  Kindern  auf  die  Gesamtsäuglingsmortalität  sprechen  darf. 

Wie  sich  die  Verhältnisse  in  Städten  mit  besserer  oder  gar  vorwiegend  guter 
Bevölkerung  stellen,  ersieht  man  aus  den  zum  Vergleich  herangezogenen  Städten 
Charlottenburg  und  Frankfurt  a.  M.,  wo  die  Säuglingssterblichkeit  nur  um  22,5 
bzw.  28,4  Proz.  gesunken  ist,  die  aber  beide  mit  12,11  Proz.  bzw.  12,37  Proz. 
fast  die  niedrigste  Sterblichkeitsziffer  der  deutschen  Großstädte  aufweisen.  In 
Stettin  dagegen  ist  die  Sterblichkeit  nur  um  19,2  Proz.  gesunken,  und  ist  absolut 
immer  noch  höher  als  in  der  Gemeinde  Weißensee. 

Ein  Maßstab  dafür,  ob  und  in  welchem  Umfange  eine  geordnete  Fürsorge 
imstande  ist,  die  Säuglingssterblichkeit  in  günstiger  Weise  zu  beeinflussen,  bieten 
vor  allem  drei  Faktoren :  1.  der  Rückgang  der  Sterbefälle  unehelicher 
Säuglinge,  2.  die  Abflachung  des  sogenannten  Sommer gipfels, 
d.  h.  des  bedeutenderen  Anstiegs  im  3.  Jahresquartal,  die  fast  identisch  ist  mit 
der  Einschränkung  der  Todesfälle  an  Verdauungsstörungen,  3.  die  Abnahme 
der  Motalität  im  1.  Lebensmonat. 

Die  beiden  ersten  Faktoren  sind  in  Weißensee  in  den  beiden  letzten  Jahren, 
wenn  auch  langsam,  so  doch  deutlich  in  die  Erscheinung  getreten.  In  der  gra¬ 
phischen  Darstellung  wird  die  Säuglingssterblichkeit  in  Berlin  mit  der  in  2  Vor¬ 
orten  und  2  entsprechenden  Stadtbezirken  verglichen.  Besonders  fällt  auf,  daß 
1908  in  SO,  NO  und  Boxhagen-Rummelsburg  die  Gesamtmortalität  und  die  an 
Verdauungsstörungen  hochschnellt,  in  Weißensee  erstere  wenig,  letztere  gar  nicht. 
Was  den  3.  Punkt  betrifft,  so  ergibt  der  Vergleich  der  einzelnen  Jahresquartale 
von  1906 — 1909,  daß  die  Säuglingssterblichkeit  in  den  einzelnen  Jahren  im 
1.  Jahresquartal  folgendermaßen  zurückgegangen  ist:  1906  • —  27,  1907  —  27, 
1908  —  17,  1909  —  14,  im  3.  Jahresquartal  1906  —  28,  1907  —  24,  1908  — 
25,  1909  —  19,  so  daß  auch  hierbei  ein  Sinken  der  Sterblichkeit  konstatiert 
werden  kann,  wenn  es  immerhin  auch  nur  kleine  Zahlen  sind.  Aber  wie  ein 
Blick  auf  Tabelle  IV  lehrt,  hat  sich  auch  die  Abnahme  der  Chorlottenburger 
Säuglingsmortalität  nur  auf  die  Zeit  vom  2.  Lebensmonat  bis  zum  Ablauf  des 
1.  Lebensjahres  beschränkt,  während  die  Sterblichkeitsverhältnisse  im  1.  Lebens¬ 
monat  eine  wesentliche  Besserung  nicht  erfahren  haben.  Das  zeigt  sich  ganz 
ganz  besonders,  wenn  die  beiden  ungünstigen  Momeute,  nämlich  das  früheste 
Lebensalter  und  die  Sommerzeit  mit  ihrer  ganz  besonders  hohen  Säuglingssterb¬ 
lichkeit  Zusammentreffen.  Schon  im  2.  Lebensmonat  fällt  die  Sterblichkeitsziffer 
auf  die  Hälfte  und  dann  allmählich  bis  zum  Ende  des  Jahres  ganz  bedeutend  ab. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  339 

Dieses  Moment  ist  von  so  hervorragender  Bedeutung  für  die  sozialen  Fürsorge¬ 
einrichtungen,  daß  ich  später  noch  einmal  zurückkommen  muß. 

Tabelle  IV. 

Beziehung  des  Sterblichkeitskoeffizienten  zur  Jahreszeit  und  zum  Lebensalter. 
Von  1000  Kindern  nebenstehenden  Alters  starben 


Alter 

im  Jahre 

insbesondere  im 

Monat 

1906 

Juli 

August 

September 

Juli-September 

0- 

-1 

58,99 

62,68 

77,70 

67,95 

69,44 

1- 

-2 

23,07 

29,83 

49,86 

33,20 

37,63 

2- 

-3 

20,64 

33,85 

43,10 

28,99 

35,31 

3- 

-4 

18,10 

28,44 

41,88 

28,31 

32,88 

4- 

-5 

15.24 

22,92 

43,75 

16,97 

27,88 

5- 

—6 

13,23 

19,31 

31,31 

14,46 

21,69 

6- 

-7 

12,13 

26,92 

29,73 

16,33 

24.33 

7- 

-8 

10,31 

16,90 

20,91 

10,23 

16,03 

8- 

-9 

9.64 

11,63 

19,62 

11,35 

14.20 

.9- 

-10 

8,49 

10.78 

15,95 

8,41 

11,71 

10- 

-11 

7,30 

9,23 

14,57 

6,98 

10,13 

11- 

-12 

7,30 

8,55 

12,67 

5,28 

8,86 

Ist  die  Statistik  auch  von  gewissen  Imponderabilien  abhängig,  die  mit  zu 
dem  Bückgange  der  Sterblichkeit  beitragen,  so  sind  wir  doch  vollauf  berechtigt, 
•eine  Erklärung  für  die  auffallende  Besserung  der  Mortalitäts Verhältnisse  darin  zu 
suchen,  daß  in  Weißensee  im  Anschluß  an  die  Gründung  der  Berliner  Säuglings¬ 
klinik,  die  nach  mühsamen  Vorarbeiten  von  uns  als  erste  in  Groß-Berlin  ge¬ 
schaffen  wurde,  schon  vor  einigen  Jahren  von  Bürgermeister  Woelck  unter  Mit¬ 
wirkung  von  Bitter  ganz  besonders  wertvolle  Maßnahmen  sozialer 
Säuglingsfiir  sorge  getroffen  wurden,  die  um  so  bemerkenswerter  sind,  als 
man  hier  einem  ganz  besonders  großen  Säuglings  elend  gegenüberstand. 
Zwar  decken  sich  in  vielem  die  einzelnen  Einrichtungen  mit  denen,  die  auch 
an  anderen  Orten  geschaffen  wurden,  jedoch  sind  hier  alle  in  Frage  kommenden 
Institutionen  so  planvoll  zusammengefaßt,  daß  sie  stets  an  wichtigen  Punkten 
Ineinandergreifen  und  sich  ergänzen.  Diese  Organisation  verhindert,  daß  sich  die 
Fürsorge  auf  der  einen  Seite  nutz-  und  planlos  an  mehreren  Stellen  häuft,  auf 
der  anderen  Seite  lückenhaft  und  ungenügend  bleibt.  Gerade  in  Kommunen,  die 
nicht  mit  allzu  reichen  Mitteln  ausgestattet  sind,  ist  eine  solche  zusammenfassende 
Organisation  eine  dringende  Notwendigkeit,  da  sie  durch  nicht  zu  starke  Be¬ 
lastung  des  Etats  dem  Prinzip  eines  sparsamen  Haushalts  entspricht.  Nur  aus 
•der  zielbewußten  Zusammenarbeit  der  einzelnen,  möglichst  lückenlosen  Fürsorge¬ 
faktoren  werden  Erfolge  herausspringen,  die  man  bisher  infolge  einer  noch  vor¬ 
handenen  Unzweckmäßigkeit  und  Planlosigkeit  an  den  meisten  Stellen  vermißt. 
So  wird  man  auch  in  materieller  und  ideeller  Beziehung  gewinnbringend  arbeiten, 
da  auf  der  einen  Seite  kein  Geld  unnütz  verschwendet  wird  und  auf  der  anderen 
Seite  für  die  Gesamtheit  der  Kleinen  am  schnellsten,  also  am  besten  gesorgt  wird. 

Die  Zentralstelle  für  die  praktische  Fürsorgetätigkeit  in  der  Gemeinde 
Weißensee  bildet  das  Wohlfahrtsamt.  (Leitung:  Wesen  er.) 

Das  Wohlfahrtsamt  befindet  sich  im  Verwaltungsgebäude,  in  dem  die 
Fäden  der  gesamten  Fürsorge  der  Gemeinde  zusammenlaufen  und  die  einzelnen 
Einrichtungen  auch  räumlich  miteinander  in  enger  Verbindung  stehen  zum  Zwecke 
einer  systematischen  Mitarbeit  der  an  den  Fürsorgeinstitutionen  tätigen  Kinder¬ 
ärzte  und  des  Gemeindearztes.  Die  Fürsorgetätigkeit  umfaßt  folgende  Leistungen : 


340  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

A.  bei  gesunden  Kindern: 

1.  die  Beaufsichtigung  der  Halte-  und  Pflegekinder, 

2.  die  Überwachung  von  Säuglingen  armer  Eltern  in  der  Fürsorgestelle- 
durch  Kinderärzte  und  den  Gemeindearzt, 

3.  Gewährung  von  Stillprämien  und  Nährpräparaten, 

4.  Lieferung  von  einwandsfreier  Rohmilch  oder  trinkfertigen  Portionen 
gegen  ein  geringes  Entgelt  resp  unentgeltlich  an  mittellose  Mütter; 

B.  bei  kranken  Kindern: 

1.  Aufnahme  und  Behandlung  in  der  Säuglingsklinik, 

2.  Beobachtung  von  Kindern  in  der  Rekonvaleszenz. 

Einen  wichtigen  Teil  der  Fürsorge  bildet  die  Beobachtung  und  Beauf¬ 
sichtigung  der  unehelichen  Kinder,  das  Haltekinder-  und  Pflegekinder  - 
wesen. 

Bis  zum  Jahre  1905  hat  eine  Prüfung  der  angemeldeten  Pflegestellen  für 
Haltekinder,  d.  h.  solche,  die  von  der  Mutter  oder  sonstigen  Verpflichteten  gegen 
Entgelt  in  Kost  und  Pflege  gegeben  werden,  nur  durch  die  Polizeiorgane  statt¬ 
gefunden.  Die  Kontrolle  der  Stellen  wurde  mit  sehr  geringem  Verständnis  vor¬ 
genommen,  so  daß  die  Haltefrauen  sich  mehr  oder  weniger  selbst  überlassen  waren. 
Erst  die  Anstellung  einer  von  der  Gemeinde  besoldeten  Aufsichtsdame,  die 
an  einem  längeren  Kursus  in  der  Säuglingspflege  unter  ärztlicher  Aufsicht  teil¬ 
genommen  hat,  ermöglicht  eine  gewissenhafte  Beobachtung.  Die  Erlaubnis  zur 
Aufnahme  eines  Halte  kindes  wird  von  dem  Gemeinde  Vorstand  erteilt,  nachdem  die 
Verhältnisse  der  Antragsteller  zunächst  durch  die  Polizeibehörde,  alsdann  durch 
die  Aufsichtsdame  selbst  nach  Ermittelung  in  der  Wohnung,  betr.  Größe,  Sauber¬ 
keit  und  Art  der  Pflege  hinreichend  geprüft  sind.  Das  Resultat  dieser  Recherchen 
überreicht  die  Aufsichtsdame  in  Form  eines  kurzen  Berichtes  dem  Wohlfahrtsamt,, 
das  über  jede  Pflegestelle  einen  Kontrollbogen  anlegt,  in  welchem  die  je  nach 
Bedarf,  mindestens  aber  zweimal  im  Monat  stattgehabten  Kontrollbesuche  mit/ 
allen  ihren  Ergebnissen  eingetragen  werden.  Ähnlich  liegen  die  Verhältnisse  bei, 
den  Pflegekindern,  d.  h.  solchen,  die  auf  Kosten  der  Gemeinde  in  geeignete  Pflege¬ 
stellen  gegeben  und  von  einer  Schwester  beaufsichtigt  werden,  die  lange  Zeit  in 
der  Säuglingsfürsorgestelle  praktisch  tätig  war  und  sich  dabei  ein  sicheres  Ver¬ 
ständnis  für  die  Säuglingsernährung  und  Säuglingspflege  angeeignet  hat,  Sn 
stehen  alle  diese  Kinder,  die  größtenteils  illegitim  sind,  unter  ständiger  ärztlicher 
und  pflegerischer  Überwachung.  Die  Schwestern  sorgen  nach  Möglichkeit  dafür, 
daß  sie  in  der  Fürsorgestelle  vorgestellt  werden  und  durch  die  regelmäßigen  Haus¬ 
besuche  in  engster  Fühlung  mit  den  Ärzten  bleiben. 

Schwieriger  ist  es,  wie  allgemein  bekannt,  eheliche  Mütter  zum  regen 
Besuche  der  Beratungsstelle  heranzuziehen.  Da  aber  alle  Wohlfahrtseinrichtungen 
nur  Kindern  von  Müttern  schlechten  sozialen  Standes  zugute  kommen  sollten, 
so  ist  es  von  fundamentaler  Bedeutung  für  die  Fürsorgetätigkeit  der  Ge¬ 
meinde  Weißensee,  daß  an  den  Mutterberatungsstunden  neben  dem  Für¬ 
sorgearzt  auch  der  Gemeindearzt,  der  gleichzeitig  Armenarzt  ist,  teil¬ 
nimmt,  dem  die  ärztliche  Behandlung  der  Säuglinge  der  Armenbevölkerung  obliegt. 
Auf  diese  Weise  steht  ein  großer  Teil  der  Fürsorge  bedürftigen  Kinder  unter 
ständiger  Beobachtung.  Die  Fürsorgestelle  dient  auch  bei  uns  in  allererster 
Reihe  der  vorbeugenden  Überwachung  gesunder  Säuglinge,  und  als  unsere 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  341 

höchste  Pflicht  betrachten  wir  es,  daß  Mutter  und  Kind  nicht  ohne  zwingende 
Gründe  voneinander  getrennt  werden.  Von  diesem  ethischen  Gesichtspunkte 
aus  ist  die  V erbindung  zwischen  Säuglingsfürsorgestelle  und  Säuglings¬ 
klinik,  die  nebeneinander  liegen  und  dadurch  direkt  und  unmittelbar  Zusammen¬ 
hängen,  von  hervorragendem  Werte,  da  wir  auch  bei  schweren  Fällen  durch  Ab¬ 
gabe  einer  nur  von  der  Säuglingsklinik  zur  Verfügung  gestellten  Ammenmilch 
häufig  eine  Katastrophe  zu  verhüten  imstande  sind.  Hie  Bedeutung  dieser  Ver¬ 
bindung  wird  der  ermessen  können,  der  fast  täglich  die  Erfahrung  machen  muß, 
daß  es  erst  allmählich  und  auch  noch  nicht  völlig  gelungen  ist,  den  Müttern  den 
Grundbegriff  einer  Beratungsstelle  klarzumachen.  Immer  und  immer  wieder 
werden  uns  kranke  und  zum  Teil  sogar  sehr  schwer  geschädigte  Säuglinge  zu¬ 
geführt.  Ist  man  nicht  in  der  Lage,  sie  sofort  aufzunehmen,  sondern  gezwungen, 
sie  einem  Krankenhause  zu  überweisen,  von  denen  die  meisten,  namentlich  im 
Sommer,  überlegt  sind,  so  ist  ein  solcher  Zeitverlust  häufig  von  verhängnisvollster 
Bedeutung.  Dieser  enge  Konnex  zwischen  Fürsorge  und  Klinik  hat 
sich  uns  als  unentbehrlich  erwiesen.  Zu  jeder  Sprechstunde,  an  der 
außer  dem  Fürsorgearzt  und  Gemeindearzt  auch  die  Schwestern  der  Fürsorge  und 
Säuglingsklinik  teilnehmen,  stehen  für  die  Fürsorgekinder  mehrere  Betten 
zum  Zweck  von  Aufnahmen  zur  Verfügung.  Eine  solche  Aufnahme  vollzieht 
sich  in  dringenden  Fällen  so  schnell,  daß  das  Kind  schon  nach  wenigen  Minuten 
aufgenommen  ist  und  neben  geeigneten  Maßnahmen  zur  Hebung  der  Herztätig¬ 
keit  Frauenmilch  enthält,  die  ja  doch  oft  die  einzige  Heilnahrung  ist,  die  noch 
zum  Ziele  führt.  Die  Verbindung  der  offenen  und  geschlossenen 
Säuglingsfürsorge  ist  von  so  hervorragender  Bedeutung,  daß  sie 
überallda,  wo  die  Beratungsstellen  auch  von  Müttern  mit  kranken 
Kindern  aufgesucht  werden,  geschaffen  werden  sollte.  Nur  da¬ 
durch  kann  man  dem  Vorwurf  begegnen,  daß  man  die  Kleinen  in 
bedenklichstem  Zustande  hat  abweisen  müssen,  die  durch  Ver¬ 
meidung  des  Zeitverlustes  bei  sofortiger  Aufnahme  hätten  er¬ 
halten  bleiben  können.  Zahlreiche  Fälle,  in  denen  die  Kinder 
vonBerlinerFürsorgen  haben  abgewiesen  werden  müssen,  haben 
uns  das  Bedenkliche,  das  in  der  Trennung  der  offenen  und  ge-^ 
schlossenen  Fürsorge  liegt,  bewiesen.  Ist  zwar  dadurch  das  Prinzip 
der  rein  prophylaktischen  Behandlung  durchbrochen,  so  soll  es  gewiß  auch 
unsere  Aufgabe  sein,  eine  wenn  auch  verhältnismäßig  kleine  Zahl  von  Säuglingen 
von  einem  sicheren  Tode  zu  retten;  sind  sich  doch  die  meisten  Fürsorgeärzte 
darüber  einig,  daß  eine  gewöhnlich  nur  diätetische  Behandlung  in  der  Fürsorge¬ 
stelle  wenigstens  auf  leichte  akute  und  chronische  Ernährungsstörungen  ausgedehnt 
werden  muß.  Dadurch  kommt  auch  die  Fürsorge  für  die  ehelichen  Kinder,  denen 
vielfach  die  Wohlfahrtseinrichtungen  nicht  so  zugute  kommen,  wie  den  unehe¬ 
lichen,  mehr  zu  ihrem  Becht,  denn  durch  die  Verbindung  zwischen  Armenamt 
und  Säuglingsklinik  wird  es  den  Müttern  aus  der  unbemittelten  Bevölkerung 
leicht  gemacht,  durch  Abzahlung  die  Kosten  für  die  Verpflegung  in  der  Klinik 
aufzubringen.  Zuweilen  sind  wir  schon  nach  kurzer  Zeit  imstande,  die  Kinder 
wieder  aus  der  Klinik  zu  entlassen  und  zur  weiteren  Beachtung  der  Fürsorge¬ 
stelle  zu  überweisen. 

In  einigen  anderen  Punkten  unterscheidet  sich  unsere  Beratungsstelle  nur 
wenig  von  denen  anderer  Orte.  Auch  wrir  legen  selbstverständlich  auf  die  natür¬ 
liche  Ernährung  und  ihre  Verbreitung  das  größte  Gewicht,  indem  wir  die  Still- 


342  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

lust  und  Stillfreudigkeit  durch  Gewährung  von  Stillprämien,  allerdings  nur  in 
Horm  von  Naturalien  (Milch  und  Nährpräparate)  unterstützen.  Bedürftige  Mütter, 
die  ihre  Kinder  künstlich  ernähren,  erhalten  aus  der  Milchküche  der  Säuglings¬ 
klinik  zu  ermäßigten  Preisen  oder  kostenlos  einwandsfreie  rohe  Milch  oder  nach 
Vorschrift  bereitete  Milchmischungen  in  trinkfertigen  Portionen,  je  nach  der 
Sauberkeit  und  Zuverlässigkeit  der  Frauen.  Von  Merkblättern  haben  wir  so  gut 
wie  ganz  abgesehen,  da  wir  durch  Prüfungen  an  Müttern,  für  deren  Aufklärung 
wir  zum  Teil  durch  Merkblätter  zum  Teil  durch  Belehrung  gesorgt  haben,  fest¬ 
gestellt,  daß  nur  durch  eine  unmittelbare  mündliche  Beratung  eine  nachhaltige 
Wirkung  erzielt  wird. 

Nur  wenn  die  Kinder  möglichst  frühzeitig  der  Fürsorge  zu  geführt  werden, 
ist  eine  geordnete  und  erfolgreiche  Stillpropaganda  möglich.  Deshalb  ist  man, 
solange  man  nicht  über  Entbindungsanstalten  und  Wöchnerinnenheime  verfügt, 
genötigt,  sich  nach  anderer  Hilfe  umzusehen.  Da  lag  es  nahe,  die  Hebammen, 
die  gerade  bei  dem  Teil  der  Bevölkerung,  der  unserer  Fürsorge  am  dringendsten 
bedarf,  in  der  ersten  und  gefährlichsten  Zeit  des  kindlichen  Lebens  die  einzigen 
Beraterinnen  der  Mutter  in  Ernährungsfragen  sind,  als  Helferinnen  in  den  Kampf 
gegen  die  Säuglingssterblichkeit  heranzuziehen.  Ich  will  hier  nicht  den  ganzen 
Streit  um  diese  Frage  aufrollen.  Trotzdem  man  die  Hilfe  von  dieser  Seite  nicht 
unterschätzt,  will  man  doch  von  einer  regulären  Ausbildung  der  Hebammen  in 
der  Säuglingspflege  und  Säuglingsernährung  im  allgemeinen  nichts  wissen,  und 
das  mit  Kecht.  Es  würde  dadurch  nur  zu  der  gefürchteten  Halbbildung  kommen, 
die  mehr  Schaden  anrichten  als  nützen  kann.  Wir  haben  den  Mittelweg  einge- 
sclilagen  und  einer  von  den  Hebammen  des  Kreises  an  uns  ergangenen  Bitte, 
unsere  Fürsorgeeinrichtungen  kennen  lernen  zu  dürfen,  gern  Folge  gegeben.  Bei 
solcher  Gelegenheit  kommen  wir  in  die  Lage,  immer  wieder  den  Wert  des  Selbst¬ 
stillens,  die  Möglichkeit  seiner  Durchführung  und  die  große  Seltenheit  der  Still¬ 
unfähigkeit  zu  betonen,  gegen  den  noch  immer  allgemein  verbreiteten  Aber¬ 
glauben  in  der  Kinderstube  ein  kräftiges  Wort  zu  reden,  auf  den  Wert  der  Ein¬ 
haltung  langer  Pausen  hinzuweisen  und  auf  schwere  Fehler,  die  bei  der  künst¬ 
lichen  Ernährung,  z.  B.  durch  Überfütterung  u.  a.  m.,  gemacht  werden.  In  diesem 
Sinne  haben  wir  uns  der  Hebammenunterstützung  mit  gutem  Erfolge  bedient. 
Diese  Unterstützung  ist  wohl  nicht  ganz  ohne  Einfluß  auf  die  Mortalität  der  be¬ 
sonders  gefährdeten  Kinder  im  ersten  Lebensmonat  geblieben.  Es  sind  im  Jahre 
1906  im  ersten  Lebensmonat  93  Kinder  gestorben,  im  Jahre  1909  nur  67,  im 
vorigen  Jahre,  mit  Ausschluß  des  Monats  Dezember,  in  dem  im  Durchschnitt  der 
letzten  Jahre  7  Kinder  starben,  nur  Ö9. 

Wenn  man  zusammenfassend  die  ineinandergreifenden  Einrichtungen,  die 
ich  bisher  geschildert,  überschaut,  so  entsprechen  sie  der  Forderung,  die  von 
einigen  Fürsorgeärzten,  z.  B.  Neumann,1)  auf  gestellt  worden  sind.  Neumann 
propagiert  die  Errichtung  von  kommunalen  Ziehämtern  als  Zentralstelle  für  die 
sogenannten  Ziehkinder,  die  in  Deutschland  meist  von  Polizeiorganen  beaufsichtigt 
wrerden;  am  besten  sollen  sie  in  ihrer  Verbindung  mit  dem  Berufsvormund 
stehen.  Auch  ist  in  Weißensee,  wie  wir  gesehen  haben,  die  andere  Forderung 
Neumanns  erfüllt,  daß  die  Armen  Verwaltung  die  Säuglingsfürsorgeange¬ 
stellten  zur  ärztlichen  Überwachung  der  armenunterstützten  Säuglinge  benutzen 
sollen,  und  sein  berechtigter  Vorwurf,  daß  dieser  organische  Zusammenhang  in 


x)  Neu  mann,  Ergebnisse  der  Säuglingsfürsorge,  Heft  5,  S.  90. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  343 

den  meisten  Gemeinden  fehle,  trifft  für  Weißensee  nicht  zu,  wo  ein  gemeinsames 
Band  die  wichtigsten  Institutionen  miteinander  verbindet.  Ist  auch  dadurch  noch 
nicht  die  ganze  schwere  Frage  der  hygienischen  Versorgung  der  Halte-  und 
Pflegekinder  als  gelöst  zu  betrachten,  da  noch  immer  ein  Teil  der  Kinder,  z.  B. 
die,  welche  unentgeltlich  bei  Verwandten  oder  auch  bei  Fremden  untergebracht 
sind,  der  Beaufsichtigung  und  Beratung  entzogen  wird,  so  ist  doch  durch  dieses 
Ineinanderarbeiten  der  Organe  ein  bedeutender  Schritt  vorwärts  getan. 

Als  trauriges  Gegenstück  dazu  teilt  Marie  Heller  zum  Beweis  dafür,  daß 
an  manchen  Orten  die  Kostkinder  noch  öffentlich  versteigert  werden,  folgende 
Anzeige  aus  dem  Straubinger  Tagblatt  vom  Jahre  1902  mit: 

Am  Sonntag,  den  8.  Juni  er.,  nachmittags  2  Uhr,  werden  in  Maria  Posching 
Kostkinder  an  den  Meistbietenden  versteigert. 

Gemeindeverwaltung  Maria  Posching. 

Wenn  ich  jetzt  auf  den  Besuch  und  die  Erfolge  der  Beratungsstelle  sowie 
auf  die  Belegung  der  Klinik  und  die  Mortalität  in  derselben  eingehe,  so  will  ich 
nur  die  wichtigsten  Daten  erwähnen.  Im  Jahre  1909  suchten  463  Mütter  mit 
474  Kindern,  darunder  11  Zwillingspaaren,  die  Säuglingsfürsorgestelle  auf,  das 
sind  40  Proz.  aller  in  diesem  Jahre  geborenen  Kinder.  Von  den  474  Säuglingen 
standen  216,  das  sind  45,57  Proz.,  im  Alter  von  1 — 6  Wochen.  Das  weitere 
Schicksal  aller  dieser  Kinder  ist  uns  bekannt.  Nach  sorgfältiger  Erkundigung, 
auch  nach  denen,  die  der  Fürsorge  ferngeblieben  sind,  sind  einschließlich  der  in 
die  Klinik  aufgenommenen  Säuglinge  35,  d.  h.  7,38  Proz.,  gestorben,  also  ein 
auffallend  geringer  Prozentsatz  gegenüber  den  Kindern,  die 
nicht  in  die  Beratungsstelle  gebracht  worden  sind.  In  die  Säuglings¬ 
klinik  sind  im  Jahre  1909  116  Kinder  aufgenommen  worden,  davon  sind  14  oder 
12,07  Proz.  gestorben.  In  diesem  Jahre  sind  von  118  Aufgenommenen  13,  d.  h. 
11  Proz.  gestorben.  Von  diesen  118  Kindern  sind  68  aus  der  Fürsorge  der  Klinik 
überwiesen  worden. 

Zwei  Einrichtungen,  die  im  Kampfe  gegen  die  Säuglingssterblichkeit  auch 
einen  Platz  für  sich  fordern  dürfen,  fehlen  zwar  bisher  noch,  werden  aber  aller 
Voraussicht  nach  trotz  mancher  Schwierigkeiten  noch  geschaffen  werden.  Es 
sind  dies:  Die  Stillst  üben  und  in  Verbindung  damit  die  Krippe.  Über  die 
Erfahrungen,  die  das  Wohlfahrtsamt  mit  seinen  Bemühungen  wegen  Er¬ 
richtung  von  Stillstuben  gewonnen,  seien  hier  einige  Angaben  gemacht.  Ent¬ 
sprechend  der  ablehnenden  Haltung,  die  auch  an  anderen  Orten  die  kommunalen 
Behörden  erfahren  haben,  hatte  das  Bundschreiben  an  die  Fabrikherren  zunächst 
wenig  Erfolg.  So  ist  ja  auch  auf  die  Aufforderung,  die  das  preußische  Ministerium 
des  Innern  im  Jahre  1908  an  die  Kommunen  gerichtet  hat,  sich  wegen  Einrichtung 
von  Stillstuben  mit  den  einzelnen  Fabriken  in  Verbindung  zu  setzen,  keine  Ant¬ 
wort  eingegangen.  Der  Widerstand  gegen  diese  Institution  ist  ebenso  groß  bei 
den  Arbeitgebern  wie  bei  den  Arbeiterinnen,  die  dadurch  in  eine  größere  Ab¬ 
hängigkeit  von  ihrem  Fabrikherrn  zu  kommen  fürchten.  Die  Arbeiterinnenzahl 
in  den  Weißenseer  Fabriken  ist  überhaupt  nicht  groß;  nur  in  einer  einzigen  sind 
über  100  Arbeiterinnen  tätig,  sonst  viel  weniger.  Die  Mindestzahl  beträgt  8. 
Die  Zahl  der  in  Fabriken  arbeitenden  Mütter,  welche  ihr  Kind  selbst  stillen,  ist 
gering.  Daran  würde  wohl  die  Errichtung  von  Stillstuben,  wie  die  Erfahrungen 
an  anderen  Orten,  z.  B.  Linden  oder  Wernstadt  in  Böhmen,  lehren,  manches 
ändern.  Auf  ein  nochmaliges  Bundschreiben  des  Wohlfahrtsamtes  an  36  Fabriken 


344  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

sind  28  Antworten  eingegangen.  Das  Wohlfahrtsamt  hat  zwei  Vorschläge  ge¬ 
macht:  1.  Errichtung  von  Stillstuben  in  den  Fabriken  selbst;  2.  die  Gemeinde 
mietet  Räume  in  einer  zentralen  Lage  von  den  Fabriken,  stellt  die  sachgemäße 
Aufsicht,  sowie  die  notwendigen  Einrichtungen  (Körbe,  Kinderwage  usw.)  zur 
Verfügung.  Die  Fabrikherren  gewähren  den  Müttern  durch  Verlängerung  der 
Pausen  die  zum  Stillen  erforderliche  Zeit  ohne  Lohnabzug. 

Mit  dem  Vorschlag  unter  Nr.  1  ist  nur  eine  Fabrik  einverstanden,  dagegen 
haben  sich  von  den  28  Fabrikherren  20  bereit  erklärt,  entsprechend  dem  2.  Modus 
Pausen  ohne  Lohnabzug  zu  gewähren.  6  Fabriken  wollen  sich  an  den  Kosten 
beteiligen.  Man  sieht  daraus  jedenfalls,  daß  das  Entgegenkommen  ein  größeres 
ist  als  an  vielen  anderen  Orten.  Käme  der  Plan  zur  Ausführung,  der  noch  in 
anderen  Städten  bisher  vergebens  angestrebt  wurde,  so  wäre  es  wertvoll,  damit 
die  Einrichtung  einer  Krippe  zu  verbinden,  die  dann  aber  reichlich  Gelegenheit 
bieten  muß,  die  Kinder  ins  Freie  zu  bringen.  Über  die  Stellung  der  Krippen  in 
der  modernen  Säuglingsfürsorge  hat  Neumann1)  seine  Meinung  dahin  ausge¬ 
sprochen,  daß  man  „meistens  nur  eine  saubere  Kinderstube  sieht,  nicht  eine  An¬ 
stalt,  die  nach  modernen  Anschauungen  geleitet,  die  hygienischen  Verpflichtungen 
erfüllt,  die  sich  aus  jeder  Ansammlung  von  Individuen  ergeben.  Die  Krippen 
müssen  von  der  Fürsorgestelle  ärztlich  überwacht  und  mit  sachgemäßer  Nahrung 
versorgt  werden“.  Ohne  solche  Vorsichtsmaßregeln  können  sie  aus 
einer  sozialen  eine  durchaus  unsoziale  Einrichtung  werden,  denn 
an  und  für  sich  bedeuten  sie  keine  Förderung  des  Selbststillens  und  sind  deshalb 
um  so  gefährlicher,  je  früher  sie  sich  den  Kindern  öffnen.  Würde  manche  Mutter 
durch  Ermahnungen  und  durch  eigene  Einsicht  zum  Stillen  gebracht  werden, 
durch  die  Aussicht,  ihr  Kind  in  einer  Krippe  unterzubririgen,  wird  sie  direkt  zur 
künstlichen  Ernährung  gedrängt.  Darum  hat  eine  Krippe  nur  einen  Wert,  wenn 
die  Anmeldung  über  die  Beratungsstelle  geht,  dann  erst  wird  es  möglich  sein, 
die  Mütter  solange  wie  möglich  zum  Stillen  anzuhalten.  Auch  muß  dafür  gesorgt 
werden,  daß  die  beiden  Heilfaktoren,  die  bisher  nicht  in  der  Weise  gewürdigt 
worden  sind,  wie  es  wünschenswert  wäre,  mehr  zu  ihrem  Recht  kommen:  Licht 
und  Luft!  Wir  haben  ja  gerade  in  den  letzten  Jahren  erkennen  gelernt,  daß 
die  Frage  der  Säuglingssterblichkeit  zum  großen  Teil  eine  Wohnungsfrage  ist, 
und  daß  die  Hitze  in  den  schlecht  durchlüfteten  Proletarierwohnungen  ein  nicht 
zu  vernachlässigendes  krank  machendes  Moment  darstellt.  Hat  doch  eine  Wohnungs¬ 
statistik  erwiesen,  daß  von  1000  Menschen  640  in  Wohnungen  von  höchstens  2 
Räumen  leben.  Deshalb  wird  man  auch  der  Frage  der  Freiluft-  oder  Wald¬ 
krippen  näher  treten  müssen,  weil  sie  eng  mit  den  Maßnahmen  zur  Verhütung 
und  zur  Bekämpfung  der  Säuglingskrankheiten  Zusammenhängen. 

Damit  ist  der  Kreis  so  ziemlich  geschlossen,  der  alle  sozialen  Einrichtungen 
der  Säuglingsfürsorge  umfaßt.  Ist  auch  noch  manches  des  weiteren  Ausbaues 
bedürftig,  manche  kleine  Lücke  noch  auszufüllen,  damit  die  Vorteile,  die  eine 
solche  Zentralisation  zeitigt,  noch  größer  und  bedeutender  werden,  so  ist  doch 
der  ganze  Plan  deshalb  von  so  außerordentlichem  Werte,  weil  er 
zeigt,  wie  eine  zweckmäßige  und  durchgreifende  Fürsorge  auch  mit  nicht  so 
großen  Mitteln  organisiert  und  zur  Durchführung  gebracht  werden  kann. 
Kann  man  auch  nicht  ohne  weiteres  die  Verhältnisse  der  einen  Kommune  auf 
d'ie  einer  anderen  übertragen,  so  können  die  hier  gewonnenen  Erfahrungen  doch 


Neumann,  Zeitschrift  für  Säuglingsschutz  1910,  Heft  10. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  345 

vielleicht  für  andere  Gemeinden  außerordentlich  wertvoll  sein.  Wenn  in  letzter 
Zeit  die  Zentralisation  für  einen  ganzen  Kreis  gefordert  wird,  so  bietet 
vielleicht  das  große  Säuglingskrankenhaus,  das  im  nächsten  Jahre  in  Weißensee 
eröffnet  wird,  hierzu  die  erwünschte  Gelegenheit.  Dann  wird  noch  ein 
größerer  Teil  der  fürsorgebedürftigen  Säuglinge  in  gesunden 
Tagen  sachgemäßen  Kat  und  fachmännische  Aufsicht,  in  Krank¬ 
heitsfällen  Heim  und  Heil  finden,  und  das  nicht  im  Sinne  einer 
Wohltätigkeit,  sondern  im  Sinne  unserer  hohen  sozialen  Auf¬ 
gaben  gegenüber  den  hilfsbedürftigsten  des  Volkes. 

Sitzung  vom  12.  Januar  1911. 

Herr  A.  Gottstein  (Charlottenburg)  trägt  vor  über  „Beeinflussung  von 
Volksseuchen  durch  die  Therapie,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Epidemiologie 
der  Krätze“.  Wie  so  mancher  Redner  muß  ich  meine  Ausführungen  mit  einer 
Enschuldigung  beginnen.  Der  Wortlaut  des  Titels  meines  heutigen  Vortrages  ist 
ohne  meine  Absicht  einigermaßen  irreführend.  Sie  konnten  erwarten,  daß  ich 
Ihnen  positive  Mitteilungen  über  die  Beeinflussung  der  Morbidität  einer  Krank¬ 
heit  unter  spezifischer  Behandlung  machen  würde.  Eine  solche  Theorie  ist  in  der 
Tat  vor  kurzem  von  anderer  Seite  aufgestellt  worden.  Mein  Gedankengang  ist 
ein  etwas  anderer.  Als  ich  an  eine  Prüfung  dieser  Theorie  heranging  in  dem 
festen  Glauben,  daß  sie  sich  bestätigen  würde,  kam  ich  zu  dem  Ergebnis,  daß 
sie  nur  unter  ganz  bestimmten  Einschränkungen  zutrifft;  und  da  diese  Ein¬ 
schränkungen  in  unser  besonderes  Arbeitsgebiet  fallen,  hielt  ich  es  für  zulässig, 
in  kurzen  Ausführungen  die  Ergebnisse  meiner  Untersuchungen  vorzutragen. 

Den  Anlaß  zu  meinem  heutigen  kurzen  Vortrag  haben  mir  die  Erörterungen 
über  die  Wirkung  des  neuen  Ehrlichschen  Heilmittels  auf  den  Verlauf 
der  Syphilis  gegeben.  Es  ist  bezeichnend  für  die  Fortschritte  sozialmedi- 
zinischer  Denkweise,  daß  diese  Erörterungen  bald  über  die  Frage  der  Heilwirkung 
im  Einzelfalle  hinausgingen  und  sich  sofort  dem  Problem  zuwandten,  welchen 
Einfluß  ein  neues,  schnell  wirkendes  Heilmittel  auf  das  Verhalten  der  Syphilis 
als  Volksseuche  haben  müsse.  Es  ist  viel  darüber  geschrieben  worden,  welche 
Änderungen  wirtschaftlicher,  kultureller  und  sozialhygienischer  Art  eintreten 
müssen,  wenn  durch  das  neue  Mittel  die  Zeit  der  Erkrankung  und  Behandlung 
eine  wesentliche  Abkürzung  erfährt.  Es  wurde  von  berufener  und  weniger  be¬ 
rufener  Seite  viel  über  die  Herabsetzung  der  privaten  und  allgemeinen  Kosten 
der  Behandlung  und  deren  Einfluß  auf  die  wirtschaftliche  Lage  der  Patienten 
und  auf  die  Einnahmen  der  Spezialärzte  geschrieben:  es  wurde  ferner  die  Mög¬ 
lichkeit  zunehmender  sittlicher  Verwahrlosung  der  Bevölkerung  bei  Abnahme 
der  Furcht  vor  der  Gefahr  behauptet.  Auf  diese  beiden  Fragen  gehe  ich  hier 
nicht  ein.  Für  uns  ist  vor  allem  die  sozialhygienische  Behauptung  von  Interesse : 
Wenn  durch  Verkürzung  der  Behandlungsdauer  der  Zeitraum  der  Ansteckungs¬ 
fähigkeit  des  Erkrankten  erheblich  herabgesetzt  wird,  wenn  die  Aussicht  auf 
dauernde  Heilung  gesteigert  wird,  wenn  diese  Möglichkeiten  namentlich  bei 
den  Prostituierten  als  den  Hauptquellen  der  Ansteckung  durch  Zwangsbehandlung 
in  großem  Umfange  zur  Wirklichkeit  werden,  so  muß  der  Erfolg  des  neuen 
Heilmittels  weit  über  die  Wirkung  im  Einzelfalle  hinaus  in  der  Abnahme  der 
Syphilis  als  Volksseuche  zahlenmäßig  zum  Ausdruck  kommen. 

Als  Beweis  für  die  Tatsache,  daß  solche  Erwägungen  ziemlich  früh  hervor- 


346  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

traten,  führe  ich  hier  nur  zwei  Äußerungen  an.  So  erklärte  Prof.  A.  Ne  iß  er 
auf  der  Naturforscherversammlung  in  Königsberg  am  20.  September  1910: l)  „Die 
Tatsache,  daß  Avir  dies  (nämlich  Beseitigung  von  Erscheinungen,  die  durch  ihre 
Kontagiosität  gefährlich  sind)  bedeutend  schneller  und  bequemer  —  meist 
wirklich  durch  eine  Injektion  oder  wenigstens  durch  eine  nur  wenige  Tage  in 
Anspruch  nehmende  Kur  —  als  bisher  erreichen  können,  scheint  mir  bis  jetzt  die 
wichtigste  Errungenschaft  der  Ehrlich  sehen  Entdeckung.  Richtig  ausgenutzt 
muß  durch  Beseitigung  einer  unendlich  großen  Anzahl  von  Infektionsherden  und 
Infektionsquellen  eine  Abnahme  der  Syphilis  die  Folge  sein“.  „Ja,  sogar 
die  Hoffnung,  die  Hauptquelle  aller  Syphiliserkrankungen,  die  Prostitution 
zu  sanieren,  muß  als  berechtigt  angesehen  werden.“  „Was  dem  einzelnen 
Kranken  geleistet  wird,  um  ihn  schneller  von  der  Krankheit  zu  befreien  und  sie 
milder  zu  gestalten,  das  dient  natürlich  der  Allgemeinbekämpfung  der 
Syphilis  als  Volksseuche  und  sozialer  Kalamität.  Je  eher,  je  schneller  und  je 
bequemer  wir  den  einzelnen  Kranken  ungefährlich,  nicht  ansteckend  machen 
können,  um  so  geringer  wird  die  Zahl  der  Infektionsquellen.  Und  damit  wird 
nicht  nur  die  Zahl  der  Syphilitischen  sinken,  sondern  auch  die  Zahl  derjenigen, 
welche  jetzt  zu  Tausenden  und  Abertausenden  den  schweren  Nachkrankheiten 
und  einem  vorzeitigen  Tod  verfallen.“  Utopische  Hoffnungen  schränkt  Ne  iß  er 
allerdings  durch  folgenden  Satz  ein:  „Freilich  wird  die  Indolenz  und  die  Un¬ 
wissenheit  der  Menschen  dafür  sorgen,  daß  die  Syphilis  auch  in  Zukunft  nicht 
aussterben  wird.“ 

Kürzer  und  etwas  weniger  zurückhaltend  gibt  Professor  v.  Notthaft  im 
Ärztlichen  Vereinsblatt  vom  22.  November  1910  der  Meinung  vieler  Ärzte  Aus¬ 
druck,  wenn  er  sagt:  „Darüber  kann  schon  jetzt  kein  Zweifel  sein,  daß  mit  seiner 
(d.  h.  des  Ehrlich  sehen  Mittels)  Einführung  die  Morbiditätskurve  der 
Syphilis  wie  eine  Ordinate  herabstürzen  muß.  In  wenigen  Jahren 
wird  die  Syphilis,  hoffe  ich,  eine  relativ  seltene  Krankheit  sein,  gleichviel,  ob 
man  mit  Ehrlich  606  auf  die  Dauer,  oder  auch  nur  für  eine  kurze  Zeit  die  Syphilis 
„heilen“  kann.“ 

Die  Frage  der  Beeinflussung  einer  Volksseuche  durch  die  Behandlung,  wie 
sie  hier  für  die  Syphilis  formuliert  ist,  bietet  ein  so  weitgehendes  Interesse,  daß 
sie  eine  Besprechung  verdient,  ganz  abgesehen  davon,  ob  die  in  die  Heilwirkung 
des  Ehrlich  sehen  Mittels  gesetzten  Hoffnungen  von  der  Zukunft  ganz  bestätigt 
werden  sollten  oder  nur  in  geringerem  Umfange. 

Theoretisch  ist  die  Sachlage  die  folgende.  Eine  neue  erfolgreiche  Methode 
der  Behandlung  kann  im  allgemeinen  direkt  nur  den  Ausgang  einer  Er¬ 
krankung  und  dessen  Verhältnis  zur  Zahl  der  Erkrankungen  ändern,  also  den 
Prozentsatz  der  Genesenden  erhöhen  und  bei  tödlichen  Krankheiten  die  Letalität 
herabsetzen;  sie  ist  aber  direkt  ohne  Einfluß  auf  die  Zahl  der  Erkrankungen 
selbst.  Andererseits  wirken  erfolgreiche  Maßnahmen  der  Vorbeugung  direkt 
nur  auf  die  Zahl  der  Erkrankungen,  die  Morbidität,  nicht  aber  auf  deren 
Ausgang.  Allgemein  ausgedrückt  lautet  der  Satz :  Hygienische  und  therapeutische 
Erfolge  vermindern  beide  die  Mortalität,  d.  h.  das  Verhältnis  der  Todesfälle 
zur  Zahl  der  Lebenden.  Die  ersteren  aber  vermindern  die  Morbidität,  die 
letzteren  die  Letalität.  So  setzen  Schutzvorrichtungen  an  Maschinen  die  Zahl 
der  industriellen  Verletzungen  herab,  so  haben  die  Verbesserungen  der  Wund- 


')  Deutsche  med.  Wochenschrift  1910  Nr.  41. 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  347 

behandlungsmethoden  die  Lebensgefahr  ganz  beträchtlich  und  zahlenmäßig  nach¬ 
weisbar  vermindert.  Etwas  komplizierter  liegt  die  Frage  für  die  kontagiösen 
Erkrankungen,  für  welche  eine  indirekte  Einwirkung  der  individuellen  Be¬ 
handlung  nicht  nur  auf  die  Dauer  und  den  Ausgang  des  einzelnen  Krankheits¬ 
falles,  sondern  auch  auf  die  Morbidität  der  Seuche  selbst  theoretisch  zuge¬ 
standen  werden  muß.  Wird  hier  durch  ein  neues  Heilverfahren  die  Zeitdauer 
der  Ansteckungsfähigkeit  herabgesetzt,  so  muß  trotz  gleichbleibender  Zahl  der 
Angesteckten  in  der  Zeiteinheit  deren  Gesamtzahl  abnehmen.  Zu  dieser  Annahme 
bedarf  es  aber  noch  zweier  weiterer  Voraussetzungen.  Erstens  muß  durch  die 
Behandlung  nicht  nur  die  Krankheit  verkürzt  oder  geheilt,  sondern  auch  deren 
Ansteckungsstoff  im  Körper  selbst  vernichtet  werden.  Zur  Zeit  der  Einführung 
des  Diphtherieserums  durch  Behring  wurde  ernsthaft  die  Frage  erörtert,  ob 
nicht  durch  dieses  Serum  sogar  die  Morbidität  gesteigert  werden  könne,  da  das 
Serum  die  Bazillen  im  Körper  nicht  abtöte.  Die  späteren  Erfahrungen  über  die 
Verbreitung  der  Krankheit  durch  gesunde  oder  genesende  Bazillenträger  hat  dieser 
Auffassung  nicht  ganz  unrecht  gegeben.  Zweitens  muß  der  belebte  Krankheits¬ 
erreger  ein  echter  Parasit  des  Menschen  sein,  d.  h.  ganz  oder  nahezu  aus¬ 
schließlich  mit  seinen  Lebensbedingungen  an  den  Menschen  angepaßt  sein.  Die 
Malaria  als  Individualerkrankung  wird  in  ihrem  V erl auf  durch  die  Chinin¬ 
behandlung  günstig  beeinflußt;  die  Wirkung  der  Individualtherapie  auf  die  Malaria 
als  Volks  seuche  ist  zwar  insofern  nicht  ganz  belanglos,  als  die  Zwischen  wirte 
in  geringerem  Maße  Gelegenheit  haben,  durch  Blutsangen  den  Ansteckungsstoff 
aufzunehmen:  immerhin  aber  ist  hier  die  Vorbeugung  durch  Vernichtung  der 
Zwischenwirte  aussichtsreicher.  Noch  klarer  würde  sich  dies  für  die  Pest  heraus¬ 
steilen,  wenn  wir  für  diese  mörderische  Krankheit  überhaupt  ein  sicheres  Heil¬ 
mittel  besäßen.  Dieses  Heilmittel  könnte  nur  die  Zahl  derjenigen  Erkrankungen 
vermindern,  welche  durch  Übertragung  von  Mensch  zu  Mensch  entstehen,  nicht 
aber  die  direkte  oder  indirekte  Übertragung  vom  Nagetier  auf  den  Menschen. 
Diese  theoretische  Erörterung  wird  nicht  gegenstandslos,  wenn  man  sich  selbst 
auf  den  Standpunkt  stellen  wollte,  daß  es  einer  Prophylaxe,  einer  Verminderung 
der  Morbidität  dann  überhaupt  nicht  bedarf,  sobald  es  gelingt,  eine  lebensgefähr¬ 
liche  Krankheit  durch  ein  schnell  und  sicher  wirkendes  Heilmittel  in  ein  harm¬ 
loses  Leiden  umzuwandeln. 

Alle  eben  genannten  Voraussetzungen  treffen  nun  in  der  Tat  für  die  Syphilis 
zu;  sie  verbreitet  sich  ausschließlich  direkt  oder  indirekt  von  dem  erkrankten 
Menschen  durch  Ansteckung  auf  den  Gesunden,  das  neue  Heilmittel  wirkt  nach 
der  heutigen  Annahme  gerade  durch  außerordentlich  schnelle  Vernichtung  des 
lebenden  Ansteckungskeims  im  Körper  selbst,  und  diese  Ansteckungskeime  be¬ 
sitzen  außerhalb  des  menschlichen  Körpers  keine  Existenzfähigkeit;  der  An¬ 
steckungsstoff  kann  gelegentlich  an  unbelebten  Gegenständen  so  lange  existenz¬ 
fähig  bleiben,  um  die  Übertragbarkeit  auch  durch  Gebrauchsgegenstände  und 
Instrumente  als  Ausnahmen  möglich  machen,  er  kann  auch  experimentell  auf 
einige  Tierarten  übertragen  werden,  wirkliche  Zwischenwirte  aber  sind  bisher 
nicht  bekannt. 

Somit  sind  theoretisch  alle  Bedingungen  erfüllt,  welche  dem  so  sicher  vor¬ 
getragenen  Schluß  vorausgehen  mußten,  daß  die  neue  Behandlung  der  Syphilis 
auch  die  Morbidität  der  Volksseuche  im  erheblichen  Maße  vermindern  werde. 

Aber  man  darf  nicht  vergessen,  daß  es  sich  bisher  mir  um  eine  Deduktion 
handelt,  welche  erst  dann  Anspruch  an  Anerkennung  hat,  wenn  sie  durch  das. 


348  A.us  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Experiment  oder  die  Beobachtung  gestützt  wird.  Ehe  die  Beobachtung  ins 
Feld  geführt  werden  kann,  dürfte  eine  längere  Zeit  dahin  gehen,  als  Notthaft 
heute  annimmt.  Den  Wert  des  Experiments  aber  muß  der  Vergleich  mit  einer 
anderen  Volksseuche  haben,  bei  welcher  dieselben  Bedingungen  erfüllt  sind,  wie 
bei  der  Syphilis  heute  und  bei  welcher  ein  genügend  langer  Zeitraum  verflossen 
ist,  um  die  in  Frage  stehende  Wirkung  zu  studieren.  Es  müssen  folgende  Be¬ 
dingungen  erfüllt  sein.  Genaue  genügend  lange  Kenntnis  des  Parasiten  und  des 
ursächlichen  Zusammenhanges  zwischen  Kontagium  vivum  und  Krankheit;  aus¬ 
schließliche  oder  fast  ausschließliche  Übertragungsweise  von  Mensch  zu  Mensch 
ohne  tierischen  Zwischenwirt  oder  ohne  Existenzfähigkeit  außerhalb  des  Menschen, 
und  jahrzehntelang  bewährte  schnelle  und  sicher  wirkende  Heilungsmethoden. 

Von  allen  Volksseuchen  erfüllt  nur  eine  einzige  in  nahezu  vollkommener 
Weise  diese  Forderungen,  nämlich  die  Krätze. 

Das  Kontagium  vitum,  eine  Milbe,  für  Geübte  mit  bloßem  Auge  sichtbar, 
ist  seit  Jahrhunderten  bekannt  und  der  Zusammenhang  zwischen  Krankheits¬ 
ursache  und  Krankheitswesen  hat  in  komisch  übereinstimmender  Weise  alle  Phasen 
durchgemacht,  wie  die  Lehre  von  den  mikroparasitären  Krankheitserregern. 
Schon  Guy  de  Chauliac  hat  im  14.  Jahrhundert  die  Milbe  beschrieben  und 
Ambroise  Pa  re  erwähnt  die  Möglichkeit,  die  Krankheit  durch  Ausgraben  der 
tierischen  Krankheitserreger  mit  der  Nadel  zu  heilen,  eine  Methode,  die  in  Frank¬ 
reich  und  Deutschland  zu  seiner  Zeit  viel  geübt  wurde,  er  selbst  aber  empfiehlt 
■als  wirksamer  die  Tötung  der  Parasiten  durch  Salben  und  Kräuter.  Später  ging 
die  Kenntnis  der  rein  parasitären  Ursache  der  Krätze  durch  lange  Zeit  verloren, 
die  Überwanderung  des  Hautleidens  auf  innere  Organe  spielte  eine  große  Bolle 
in  der  Krankheitslehre.  Erst  seit  den  dreißiger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts 
wurde  die  genauere  Pathogenese  des  Hautleidens  und  die  Tatsache,  daß  die  Ver¬ 
nichtung  der  Milben  allein  zur  Heilung  ausreiche,  sichergestellt. 

Nicht  ganz  so  eindeutig  ist  die  Ausschließlichkeit  der  Übertragung  von 
Mensch  zu  Mensch.  Noch  ist  es  strittig,  ob  die  Milben  mancher  Tierräuden 
identisch  mit  denen  des  Menschen  oder  von  ihnen  verschieden  sind.  Für  die  Ver¬ 
breitung  der  Krankheit  aber  würden  selbst  in  positivem  Falle  diese  Tierkrank¬ 
heiten  eine  untergeordnete  Bedeutung  besitzen.  Ob  und  wie  lange  die  Milben 
in  der  Außenwelt  existenzfähig  sind,  darüber  fehlen  absolut  sichere  Angaben. 
Die  Übertragbarkeit  durch  Bettlager  ist  jedenfalls  bewiesen;  eine  solche  durch 
Kleider  wird  von  Hebra  und  anderen  durchaus  bestritten,  sie  wäre  nur  durch 
die  Beschmutzung  mit  Eiern  denkbar,  während  die  Milben  in  Kleidungsstücken 
und  Gebrauchsgegenständen  sich  nicht  lange  lebensfähig  halten.  Jedenfalls  spielt 
die  Übertragung  durch  unbelebte  Gegenstände  keine  größere  Rolle  als  bei  der 
Syphilis. 

Was  die  Behandlung  betrifft,  so  ist  schon  erwähnt,  daß  Ambroise  Pare 
erfolgreich  Salbenbehandlung  anwandte  und  daß  mit  der  leicht  möglichen  Ver¬ 
nichtung  der  Milben  die  schnelle  Heilung  der  Krankheit  gewährleistet  ist.  Ich 
widerstehe  der  Arersuchung,  aus  der  Geschichte  Material  anzuhäufen;  die  inter¬ 
essante  Tatsache,  daß  bei  erhöhter  Körpertemperatur  die  Milben  die  Haut  ver¬ 
lassen,  hat  in  Zeiten,  in  denen  man  die  Krankheitsursache  nicht  kannte,  er¬ 
fahrungsmäßig  Schwitzprozeduren  als  wirksam  erscheinen  lassen;  aber  es  gab 
mich  andere  Behandlungsmethoden.  In  einem  Werk  aus  dem  Jahr  1746  über  die 
Krankheiten,  welche  in  Breslau  zu  Ende  des  17.  Jahrhunderts  herrschten,  einem 
Werke,  zu  dem  Alb  recht  Haller  die  Vorrede  schrieb,  gibt  der  anonyme  Ver- 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  349 

fasser  als  das  Mittel,  welches  ihm  gegen  das  Jucken  bei  Krätze  die  beste  Hilfe 
leistet,  folgendes  an:  „Repetita  purgatio  et  sanguinis  missio  sola  curavit  pruritus, 
ut  eg o  saepissime  sum  expertus“,  also  ganz  nach  Moliere.  Dafür  erwähnt  er 
einen  Fall  von  Krätze,  die  9  Jahre  bestanden  haben  soll. 

Mit  der  sicheren  Kenntnis  von  der  Ursache  der  Krankheit  und  den  Lebens¬ 
eigenschaften  ihrer  Erreger  entstand  zugleich  eine  absolut  zuverlässige  und 
schnelle  Behandlungsmethode  und  nachdem  erst  die  Schwefelsalben  eine  große 
Rolle  gespielt  hatten,  erfuhr  durch  Einführung  des  Perubalsams  und  Styrax  die 
Behandlung  der  Krankheit  eine  solche  Sicherheit,  daß  es  in  einigen  Tagen  ge¬ 
lingt,  nicht  nur  das  Leiden  zu  heilen,  sondern  auch  dessen  Erreger  sicher  ab¬ 
zutöten.  Der  Zeitraum  seit  der  Einführung  dieses  schnellen  und  sicheren  Ver¬ 
fahrens,  bei  dem  die  Erfahrung  auch  die  zuverlässigste  Form  der  Anwendung 
erprobt  hat,  beträgt  fast  ein  halbes  Jahrhundert,  also  eine  genügend  lange  Spanne 
Zeit,  um  die  Wirkung  der  Individualbehandlung  auf  die  Erkrankungsziffer  dieser 
Volksseuche  zu  studieren. 

Wenn  diese  Theorie,  welche  jetzt  über  den  Einfluß  des  Ehrlich  sehen 
Mittels  auf  die  Syphilismorbidität  aufgestellt  wurde,  lückenlos  ist,  so  muß  die 
Zahl  der  Krätzekranken  im  Verlauf  eines  halben  Jahrhunderts  abgesunken  sein, 
steil  wie  eine  Ordinate,  um  mit  Notthaft  zu  reden. 

Was  ergibt  nun  die  Medizinalstatistik?  Zunächst  interessiert  diese  sich 
nur  für  Krankheiten  mit  tödlichem  Verlauf,  die  reine  Morbiditätsstatistik  muß 
erst  noch  geschaffen  werden.  Weder  in  Prinzings  Handbuch,  noch  in  Wester- 
gaards  Werk  über  Morbidität  und  Mortalität,  noch  in  dem  großen  amtlichen 
französischen  Werk  „Statistique  internationale  du  mouvement  de  la  population“ 
kommt  das  Wort  Krätze  überhaupt  vor.  Man  muß  schon  zu  einem  Umwege  in 
der  Beweisführung  greifen,  indem  man  die  Krankenhausstatistik  und  die  Heeres¬ 
statistik  heranzieht.  Die  erstere  ist  nicht  absolut  für  Schlüsse  verwertbar.  Die 
Zahl  der  einem  Krankenhause  wegen  Krätze  zugeführten  Patienten  hängt  von 
einer  Menge  der  verschiedensten  Umstände  ab,  der  Beschaffenheit  des  Bevölkerungs¬ 
materials,  der  Zahl  und  Erreichbarkeit  der  Krankenhäuser,  der  Aufbringung  der 
Kosten,  dem  größeren  oder  geringeren  Entgegenkommen  bei  der  Aufnahme  der 
leicht  Erkrankten,  der  größeren  oder  geringeren  Zahl  von  Ärzten  usw.  Es  ist 
daher  müßig  und  wertlos,  aus  den  absoluten  und  relativen  Zahlen  der  Tabelle  I 
vergleichende  Schlüsse  über  die  Verbreitung  der  Krätze  in  den  einzelnen  Pro¬ 
vinzen  Preußens  und  Ländern  Deutschlands  zu  ziehen  etwa  schließen  zu  wollen, 
daß  in  Posen  die  wirkliche  Zahl  der  Krätzekranken  eine  viel  geringere  sei  als  in 
Rheinland  und  Westfalen.  Die  plötzliche  Steigerung  in  den  letzten  beiden  Pro¬ 
vinzen  hängt  wohl  mit  der  zunehmenden  Industrialisierung  und  der  systematischen 
ärztlichen  Durchuntersuchung  der  arbeitenden  Bevölkerung  aus  Anlaß  der  Wurm¬ 
krankheit  zusammen.  Brauchbar  und  wesentlich  ist  nur  der  eine  einzige  Schluß, 
daß  von  einer  Abnahme  der  Erkrankungsziffer,  soweit  die  Krankenhans- 
behandlung  in  Betracht  kommt,  ganz  und  gar  keine  Rede  ist.  Berücksichtigung 
verdient  noch  die  bekannte  Tatsache,  daß  in  dem  betrachteten  Zeitraum  die  Zahl 
der  Krankenhausbetten  eine  außerordentliche  Steigerung  erfahren  hat,  so  groß, 
daß  hierdurch  die  relative  Zunahme  der  im  Krankenhaus  behandelten  Krätz- 
kranken  gegenüber  den  absoluten  Werten  beeinflußt  wird.  Welche  Bedeutung 
die  Krätze  aber  als  Objekt  der  Krankenhausbehandlung  auch  heute  noch  besitzt, 
das  lehrt  die  Tabelle  II  aus  den  letzten  Berichtsjahren  1908  und  1909.  Ich 
habe  hier  die  für  die  Krankenhausbehandlung  in  Betracht  kommenden  wichtigsten 
Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  23 


350  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


Tabelle  I, 

Die  Verbreitung  der  Krätze  im  Deutschen  Reich  und  in  den  einzelnen 
Bundesstaaten.  Erkrankungsfälle  an  Krätze  in  den  öffentlichen 

Krankenhäusern. 


1886 

bis 

1888 

1889 

bis 

1891 

überbau 

1892 

bis 

1894 

Lpt 

1895 

bis 

1897 

1898 

bis 

1901 

pro  Ta 

1886 

bis 

1888 

us.  dei 

1889 

bis 

1891 

Erkrankun 

.  1892  1895 
bis  bis 

1894  1 1897 

gsfälle 

1898 

bis 

1901 

Ostpreußen  .... 

1293 

1269 

1266 

1  153 

I  1  180 

35,0 

29.0 

23,5 

i  17,9 

10,4 

Westpreußen  .  .  .  . 

1631 

1519 

1693 

1409 

1515 

37,2 

31.0 

32.2 

24,8 

16,9 

Berlin . 

1741 

1  794 

4  806 

3  675 

3  239 

11,3 

9,3 

21,7 

15.5 

9,0 

Brandenburg  .... 

1273 

1  399 

3  779 

2  537 

2  336 

25,40 

23,5 

51,0 

31,3 

16.0 

Pommern . 

1625 

1828 

2  833 

2  454 

2  565 

38.6 

39,1 

51.9 

40.9 

26,2 

Posen . 

998 

665 

754 

663 

720 

31,7 

20,0 

20,1 

15,7 

10,5 

Schlesien . 

6  428 

4  337 

7  650 

6  657 

7127 

31,5 

21,7 

35,0 

27,5 

18,7 

Sachsen  . 

2  770 

3  288 

6  613 

5  742 

5  469 

43,9 

40,0 

64.3 

52,8 

30,3 

Schleswig-Holstein  .  . 

4  331 

5  515 

9  831 

7  540 

6  194 

99,6 

103,6 

151,5 

121, t 

66,9 

Hannover . 

4  806 

6  592 

13  327 

12  275 

10413 

74,8 

83,3 

134,4 

114,6 

60,2 

Westfalen . 

6  707 

9  956 

23  598 

25  648 

26  201 

78,4 

90,6 

153.8 

142,9 

88,6 

Hessen-Nassau  .  .  . 

2  767 

3  257 

6  892 

6  888 

6  407 

49,0 

44,6 

72,9 

72,0 

40,7 

Rheinprovinz  .... 

10  627 

16  974 

35  599 

35  185 

39  926 

61.0 

75,1 

125,7 

114,1 

75,1 

Hohenzollern  .... 

13 

23 

57 

97 

59 

14,1 

17/2 

35,6 

55,4 

23,8 

Preußen  . 

47  010 

58  416 

118  698 

111923 

113  351 

44,7 

46,8 

78,5 

68.0 

42,1 

Bayern . 

8  469 

10  252 

18  386 

17  424 

14  414 

28,2 

30.3 

51,2 

45,1 

25,5 

Sachsen  . 

5  210 

4  588 

7  674 

7  001 

7  093 

55,7 

41,9 

58,5 

47,0 

28,7 

Württemberg  .... 

2  639 

2  500 

6  282 

5  120 

2  900 

30,1 

21,7 

46,4 

37,6 

15,3 

Baden . 

2  958 

4  287 

8  405 

6  286 

4  030 

37,1 

40,0 

66,7 

46,4 

18,6 

Hessen-Darmstadt  .  . 

1537 

2  368 

4123 

3  165 

3  140 

44,9 

53.6 

69,2 

49,1 

29,9 

Mecklenburg-Schwerin . 

2  274 

2  403 

4  387 

4  393 

3  397 

119,1 

108,4 

159,5 

164,3 

88,6 

Sachsen- Weimar .  .  . 

439 

497 

1037 

822 

678 

77,0 

63,2 

113,8 

83,6 

42,7 

Mecklenburg-Strelitz  . 

439 

331 

571 

595 

434 

95,4 

71,5 

108,6 

103,5 

57,1 

Oldenburg  . 

734 

891 

2  012 

1  799 

1486 

59.2 

56,9 

94,4 

77,2 

46,3 

Braunschweig  .  .  . 

1  209 

1  568 

2  227 

1697 

1  615 

86,2 

85,2 

102,6 

73,1 

40,4 

Sachsen-Meiningen  .  . 

153 

144 

381 

403 

319 

43,5 

36,4 

92,0 

82,7 

38,8 

Sachsen- Altenburg  .  . 

1487 

1  275 

1291 

1  343 

1  570 

511.0 

297,9 

261,0 

271,3 

240,8 

Sachsen-Koburg-Gotha . 

245 

215 

603 

475 

372 

68,1 

54,8 

116,9 

85,4 

45,1 

Anhalt . 

483 

620 

985 

671 

690 

64,7 

67.3 

97,9 

66,1 

46,7 

Schwarzburg -Sondersh. 

44 

83 

178 

148 

186 

39,6 

68,6 

93,2 

68,5 

64,6 

Schwarzburg-Rudolst.  . 

113 

40 

114 

86 

47 

47,9 

17,6 

42.9 

28,9 

12,6 

Waldeck . 

38 

48 

118 

101 

93 

65,5 

41,4 

73.3 

46,5 

25,1 

Reuß  ältere  Linie  .  . 

87 

129 

149 

103 

66 

86,1 

103.2 

108,0 

81,1 

44.0 

Reuß  jüngere  Linie 

174 

207 

358 

287 

206 

66.2 

67,8 

111,5 

84,4 

44,6 

Schaumburg-Lippe  .  . 

19 

28 

42 

51 

101 

35,9 

53,8 

74,9 

63.0 

59,8 

Lippe-Detmold  .  .  . 

79 

98 

336 

281 

196 

66,4 

71.5 

128,7 

104,5 

55,4 

Lübeck . 

344 

351 

709 

653 

383 

80^3 

67,9 

110,4  | 

107.6 

38,7 

Bremen . 

1234 

1873 

2  971 

2  062 

1499 

78/2 

87,3 

115,2 

lo,8 

32,1 

Hamburg . 

3418 

4  096 

5  687 

4  281 

3  455 

43,4 

42,2 

50,1 

35,9 

18,7 

Elsaß-Lothringen  .  . 

528 

788 

2  093 

2  728 

1  775 

11,0 

14,2 

31,9 

37,6 

15,5 

Deutsches  Reich  .  ,  . 

81  364 

98  096 

189  817 

1 

173  898 

1 

163  396 

43,3 

43,7 

71,4 

i 

60,5 

35,8 

Quelle:  Medizinische  Mitteilungen  des  Kaiserlichen  Gesundheitsamtes. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  351 

Tabelle  II. 


Die  in  sämtlichen  allgemeinen  Heilanstalten  Preußens 

Behandelten.  (Zugang.) 


1907 

1908 

Absolut 

in  Prom. 

Absolut 

in  Prom. 

An  allen  Erkrankungen  .  .  . 

1  014418 

1000 

1  056  656 

1000 

Diphtherie  und  Kroup  .... 

14  563 

13.94 

16  583 

15,69 

Unterleibstyphus . 

7  873 

7,54 

8  233 

7,79 

Tuberkulose  der  Lungen  .  . 

58  222 

55,75 

64  381 

60,93 

Gonorrhoe . 

19  120 

18,31 

20  911 

19,79 

Syphilis . 

15211 

14,56 

16  700 

15,81 

Lungenentzündung . 

18  596 

17,80 

17  562 

16,62 

Blinddarmentzündung  .... 

18  097 

17,32 

21  475 

20,32 

Karzinom  und  andere  bösartige 

Geschwülste . 

22  838 

21.87 

22  605 

21,39 

Krätze . 

39  369 

37,69 

45  276 

42,85 

Krankheiten  auf  geführt.  Einzig  und  allein  die  Tuberkulose  der  Lungen  zeigt 
höhere  Zahlen  als  die  Krätze,  und  das  wohl  auch  nur,  weil  in  dieser  Zahl  die 
Insassen  der  Lungenheilstätten  mit  eingerechnet  sind;  die  anderen  verbreitetsten 
Volksseuchen  bleiben .  um  mehr  als  das  Doppelte  oder  —  wie  Typhus  und 
Diphtherie  —  noch  erheblich  weiter  hinter  der  Krätze  zurück. 

Die  theoretische  Deduktion  hat  also  eine  große  Lücke.  Trotzdem  alle 
Bedingungen  erfüllt  sind,  deren  es  zu  bedürfen  schien,  um  die  Volksseuche  durch 
die  Behandlung  zu  vermindern,  ist  auch  heute  noch  die  Krätze  eine  außerordent¬ 
lich  verbreitete,  eine  der  allerhäufigsten  Erkrankungen.  Trotzdem  wir  seit 
50  Jahren  bequeme,  absolut  zuverlässige,  schnell  und  billig  wirkende  Heilmethoden 
besitzen,  ist  von  einem  Absinken  der  Erkrankungsziffer  nicht  das  geringste  zu 
bemerken.  Es  muß  also  in  der  Deduktion  ein  Fehler  stecken.  Um  den  Faktor 
zu  entdecken,  der  übersehen  worden  ist,  gibt  schon  die  Tabelle  III,  die  Heeres¬ 
statistik,  einen  Hinweis.  Hier  ist  die  theoretisch  vorausgesetzte  Abnahme  der 
Morbidität,  wenn  auch  nicht  ganz  stetig,  so  doch  mit  großer  Intensität  nach¬ 
weisbar.  Wir  schließen  wohl  kaum  falsch,  wenn  wir  den  Grund  in  der  syste¬ 
matischen  ärztlichen  Überwachung  des  Beobachtungsmaterials  suchen.  Eine 
weitere  Aufklärung  geben  die  einzelnen  Jahrgänge  über  das  Gesundheitswesen 
des  preußischen  Staates. 

Ich  begnüge  mich,  aus  den  Berichten  der  Begierungsmedizinalräte  einige 
Stellen  aufzuführen.  So  heißt  es  in  dem  Bericht  für  das  Jahr  1911:  „Reg.-Bez.  B. 
Bei  der  großen  Unsauberkeit,  die  in  den  niedrigsten  Schichten  der  Bevölkerung 
sowohl  in  Stadt  wie  Land  anzutreffen  ist,  hält  sich  die  Krätzekrankheit  noch 
immer  in  gleicher  Höhe.  Die  Indolenz  und  Gleichgültigkeit,  mit  welcher 
hier  körperliche  Schäden  und  Beschwerden  ertragen  werden,  bringt  es  mit  sieb, 
daß  ärztliche  Hilfe  gegen  Krätze  erst  dann  nachgesucht  wird,  wenn  nach  wochen- 
oder  gar  monatelangem  Bestehen  alle  Familienmitglieder  davon  ergriffen  sind. 
Es  wird  daher  trotz  der  schnellen  und  sicheren  Heilung  an  eine  Aus¬ 
rottung  dieser  Krankheit  nicht  so  bald  zu  denken  sein.“  Im  letzten  Bericht  aus 
dem  Jahre  1910  für  das  Jahr  1908  heißt  es:  „Fast  alle  Bezirksberichte  klagen 


')  Einschließlich  der  Heilstätten. 


352  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


Tabelle  III. 

Verbreitung  der  Krätze  in  der  Koni  gl.  Preußischen,  Königl. 
Sächsischen  und  Königl.  Württem  her  gischen  Armee.  1882 — 1908. 

(1.  Oktober  bis  30.  September.) 


Jahr 

Erkrankungs¬ 

fälle 

Da 

überhaupt 

runter  an  Kri 

insbesond( 

der 

Erkran¬ 

kungen 

Ltze 

irs  Promille 

des  durch¬ 
schnittlichen 
Istbestandes 

1882—1883 

324  703 

4255 

13,1 

11,1 

1883—1884 

317  951 

3664 

11,5 

9,6 

1884—1885 

326  286 

3905 

12,0 

10,2 

1885-1886 

325  463 

3230 

9,9 

8,4 

1886-1887 

312  418 

2577 

8.2' 

6,7 

1887—1888 

335  405 

2853 

8.5 

6,8 

1888—1889 

318  978 

2749 

8,6 

6,5 

1889—1890 

375  849 

2605 

6,9 

6,2 

1890  -1891 

348  916 

2716 

7,8 

6,2 

1891-1892 

363  537 

3996 

11,0 

7,1 

1892-1893 

348  693 

2658 

76 

6,1 

1893—1894 

405  239 

2895 

7,1 

6,1 

1894—1895 

414  245 

2989 

7,2 

5,9 

1895—1896 

385  334 

2741 

7,1  * 

5,3 

1896—1897 

374  143 

2511 

6,7 

4,9 

1897—1898 

351 179 

2017 

5,7 

3,9 

1898—1899 

355  446 

1705 

4,8 

3,3 

1899—1900 

358  869 

1374 

3,8 

2,6 

1900—1901 

343  173 

1119 

3,3 

2,1 

1901—1902 

326  417 

1190 

3,6 

2,2 

1902—1903 

326  399 

1398 

4,3 

2,7 

1903—1904 

320  237 

1360 

4,2 

2,6 

1904—1905 

331  599 

1374 

4,1 

2,6 

1905—1906 

314  807 

1793 

5,7 

3,4 

1906—1907 

322  300 

1710 

5,3 

3,2 

1907—1908 

318  217 

2298 

7,2 

4,2 

Quelle:  Sanitätsberichte  der  Königl.  Preußischen,  der  Königl.  Sächsischen 
und  Württembergischen  Armeekorps. 


über  die  unverändert  starke  Verbreitung  der  Krätze  und  die  geringen  Aussichten, 
die  Krankheit  mit  Erfolg  einzudämmen.  Als  Grund  dafür,  daß  die  Krätze  eher 
zu-  als  abnimmt,  wird  übereinstimmend  neben  der  mangelhaften  Behandlung  der 
Erkrankten  die  immer  erneute  Einschleppung  und  Weiterverbreitung  durch  die 
ausländischen  Arbeiter  aus  Rußland,  Galizien  und  Italien  angegeben.  Die  Krätze- 
kranken  lassen  sich  vielfach  ärztlich  nicht  behandeln;  die  so  erstrebenswerte 
Krankenhausbehandlung  tritt,  abgesehen  von  den  dicht  bevölkerten  Gegenden  im 
Westen  und  von  den  Großstädten,  überhaupt  nicht  in  nennenswertem  Umfange 
ein.  Zur  Kenntnis  der  Kreisärzte  kommt  die  Krätze  meist  nur  gelegentlich  der 
Schulbesichtigungen,  wenn  Schulkinder  mit  dieser  Krankheit  behaftet  sind.“  Ich 
erspare  mir  unter  Hinweis  auf  den  reichen  Inhalt  der  angegebenen  Quelle  weitere 
Zitate.  Aus  den  Berichten  geht  hervor,  daß  Wanderarbeiter  und  die  verwahrlosten 
Schichten  der  Bevölkerung  in  Stadt  und  Land  die  Hauptträger  und  Haupt- 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  353 

Verbreiter  der  Krankheit  sind.  Unwissenheit,  Gleichgültigkeit,  Leichtsinn,  Armut 
lassen  die  Krankheit  einnisten  und  offenbar  ist  sie  viel  verbreiteter  in  den  ge¬ 
nannten  Kreisen,  als  aus  den  Krankenhauszahlen  hervorgeht.  Da  aber  im  wirt¬ 
schaftlichen  Leben  alle  Schichten  der  Bevölkerung  in  inniger  Berührung  stehen, 
und  die  Milbe  selbst,  ehe  sie  überwandert,  weder  nach  dem  Steuerzettel  noch 
nach  dem  Schulzeugnis  fragt,  sind  auch  kulturell  höher  stehende  Schichten  immer 
von  neuem  bedroht,  und  so  meldet,  um  nur  ein  Beispiel  zu  erwähnen,  der  Bericht 
der  Berliner  Schulärzte  vom  Jahre  1905/1906,  daß  in  mehreren  Klassen  eine 
größere  Anzahl  von  Kindern  mit  Krätze  vorgefunden  wurde.  „Es  wurde  darüber 
geklagt,  daß  in  manchen  Fällen  die  Behandlung  Schwierigkeiten  mache,  da  die 
Eltern  die  verordneten  Medikamente  nicht  bezahlen  wollten.“ 

Trotzdem  also  seit  fast  einem  halben  Jahrhundert  bei  der  Krätze  alle  medi¬ 
zinisch-hygienischen  Bedingungen  erfüllt  sind,  um  sie  zu  einer  seltenen  Krankheit 
zu  machen,  sind  alle  Fortschritte  der  Wissenschaft  erfolglos  gewesen,  die  Krätze 
ist  noch  heute  ebenso  verbreitet,  wie  vor  20  Jahren,  hat  in  einigen  Gegenden 
sogar  zugenommen.  Daß  sie  zahlenmäßig  selbst  in  ärztlich  überwachten  Kreisen 
nicht  einmal  hinter  der  Syphilis  nennenswert  zurückbleibt,  beweisen  die  Angaben 
in  dem  großen  May  et  sehen  Werke  über  die  Krankheits-  und  Sterblichkeits¬ 
verhältnisse  der  Leipziger  Ortskrankenkasse.  Dort  kamen  auf  100000  männliche 
versicherungspflichtige  Mitglieder  zur  Behandlung  an  Syphilis  aller  Grade  118, 
an  Krätze  99.  Bei  den  freiwilligen  männlichen  Mitgliedern  ist  der  Unterschied 
allerdings  wesentlich  größer:  350:130. 

Wir  sind  also  über  den  großen  Umweg  der  wissenschaftlichen  mit  Statistiken 
belegten  Erörterungen  zu  einem  Schluß  gekommen,  den  der  gesunde  Menschen¬ 
verstand  von  selbst  zieht,  daß  nämlich  die  glänzendsten  Entdeckungen  der  Heil¬ 
kunde  wirkungslos  sind,  wenn  die  von  der  betreffenden  Yolksseuche  befallenen 
Schichten  zu  unwissend,  zu  unkultiviert,  zu  arm  sind,  um  dieser  Behandlung 
sich  zu  unterziehen.  Neu  aber  und  wichtig  ist  die  weitere  Tatsache,  daß  für  die 
Krätze  diese  Faktoren  der  Unkultur  mächtig  genug  gewesen  sind,  um  alle  Fort¬ 
schritte  der  Wissenschaft  vollkommen  wirkungslos  zu  machen. 

Nun  liegt  es  mir  fern,  die  Erfahrungen  bei  der  Krätze  rein  quantitativ  auf 
die  Syphilis  übertragen  zu  wollen.  Aber  qualitativ  beansprucht  der  Faktor  der 
Unkultur  auch  hier,  wie  ja  schon  Ne  iß  er  andeutet,  die  ernsteste  Beachtung. 
Auch  bei  dieser  Krankheit  ist  selbst  hier  in  Berlin  und  selbst  in  gebildeten 
Kreisen  die  Indolenz  eine  erstaunlich  große.  Ich  selbst  habe  in  meiner  ärztlichen 
Tätigkeit  in  den  letzten  Jahren  eine  nicht  ganz  kleine  Zahl  von  Syphilisfällen 
gelegentlich  entdeckt,  auch  bei  Patienten  der  gebildeten  Stände,  welche  mich 
wegen  eines  Rheumatismus,  wegen  Kopfschmerzen  usw.  aufsuchten,  welche  von 
ihren  Roseolen  überhaupt  noch  nichts  wußten  und  ihre  Primärsklerose  nicht  für 
der  Beobachtung  wert  gehalten  hatten.  Ich  habe  in  gut  situierten  Familien  bei 
dem  Kindermädchen,  welches  das  jüngste  Kind  auf  dem  Arm  trug,  bloß  weil  mir 
die  belegte  Stimme  auffiel,  die  als  akuter  Katarrh  galt,  frische  Syphilis  gefunden, 
und  jeder  Arzt  in  diesem  Kreise  wird  ähnliche  Fälle  beobachtet  haben.  Die  Be¬ 
richte  der  Berliner  Schulärzte  melden  in  jedem  Jahre  Fälle  von  frischen  vernach¬ 
lässigten  syphilitischen  Erkrankungen  der  Schulkinder,  welche  ohne  das  Ein¬ 
greifen  der  Schulärzte  vielleicht  überhaupt  nicht  entdeckt  worden  wären.  Trotz 
der  Volkstümlichkeit  des  Ehrlich  sehen  Mittels  sollte  man  also  auch  hier  recht 
pessimistisch  denken. 

Für  mich  und  wohl  auch  für  den  Kreis  meiner  Hörer  war  meine  ganze 


354  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  lind  Medizinalstatistik. 

Betrachtung  außerdem  noch  von  grundsätzlicher  Bedeutung.  Die  Bolle  des 
sozialen  Faktors  in  der  Ursachenkette  der  Krankheiten,  schon  von  unserem  Ehren¬ 
mitglied  S.  Neu  mann  scharf  betont,  wird  jetzt  auch  von  der  Klinik  anerkannt. 
Der  vorliegende  Fall  beweist  zwingend  die  Bedeutung  des  sozialen  Faktors  auch 
für  den  Erfolg  aller  therapeutisch-hygienischen  Maßnahmen.  Alle  die  schönen 
Errungenschaften  der  biologischen  Hygiene  und  der  experimentellen  Therapie 
bleiben  Theorie,  wenn  sie  nicht  die  sozialen  Faktoren  mit  ins  Bereich  ihrer  prak¬ 
tischen  Maßnahmen  ziehen.  Der  Erzieher  und  Lehrer  des  Volkes  ist  neben  dem 
Forscher  im  Laboratorium  ein  unentbehrlicher  Helfer  im  „Kampf  gegen  die 
Volksseuche“.  Zu  ihrer  Eindämmung  genügt  nicht  die  Tätigkeit  des  einzelnen 
Arztes,  so  vollkommen  er  mit  dem  modernen  Büstzeug  ausgestattet  sein  mag, 
denn  er  tritt  ja  nur  dann  in  Tätigkeit,  sobald  es  dem  Kranken  beliebt  ihn  auf¬ 
zusuchen.  Für  den  Arzt  bleibt  der  an  einer  Volksseuche  leidende  Patient  nur 
ein  Einzelfall  von  rein  individualtherapeutischem  Interesse.  Das  Wirken  des 
Arztes  bedarf  für  die  Volksseuchen  notwendig  der  Ergänzung  durch  die  Ma߬ 
nahmen  der  Gesundheitsfürsorge ,  welche  von  einer  höheren  sozialen  Einheit 
organisiert  und  von  dieser  mit  Hilfsmitteln  ausgestattet  wird  und  welche  das 
Becht  und  die  Pflicht  hat,  werbend  aufzutreten,  also  nicht  nur  diejenigen 
Leidenden  zu  behandeln,  welche  freiwillig  die  Fürsorgestätten  aufsuchen,  sondern 
ganze  Kreise  und  Schichten  der  Bevölkerung  heranzuziehen,  ihre  gesundheitlichen 
Verhältnisse  zu  durchforschen,  sie  zu  beraten  und  ihre  Behandlung  zu  erzwingen. 

Es  liegt  nahe,  aus  meinen  Auseinandersetzungen  und  unter  dem  Eindruck 
der  zahlreichen  Veröffentlichungen  über  die  schnelle  Heilwirkung  des  Ehrlich- 
scheu  Salvarsans  Folgerungen  auf  die  Bekämpfung  dieser  Volksseuche  durch  die 
Behandlung  zu  ziehen.  Der  Vorschlag  liegt  auf  der  Hand,  nunmehr  nach 
Art  der  Fürsorgestellen  für  Tuberkulöse  solche  für  Syphilitische  zu  errichten,  um 
durch  die  Heranziehung  derjenigen  schon  erkrankten  Bevölkerungsschichten, 
welche  sich  bisher  dieser  rechtzeitigen  Behandlung  entzogen,  der  Volksseuche 
ihre  Gefahr  zu  nehmen.  Ich  erkenne  die  Notwendigkeit  an,  die  moderne  soziale 
Gesundheitsfürsorge  auch  auf  die  Geschlechtskrankheiten  auszudehnen.  Ich  er¬ 
kenne  auch  die  weitere  Notwendigkeit  an,  für  schnelle  und  erfolgreiche  Behand¬ 
lung  der  schon  Erkrankten  werbend  zu  wirken.  Gerade  bei  der  Syphilis  aber 
darf  wegen  dieser  Forderung  einer  indirekten  Bekämpfung  der  Volksseuche  durch 
Fürsorge  für  die  Erkrankten  die  Hauptaufgabe  durch  neue  therapeutische 
Erfolge  nicht  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden,  mit  allen  Mitteln  der  Auf¬ 
klärung  und  Fürsorge  dahin  zu  wirken,  daß  die  Gefahr  überhaupt  zu  erkranken 
verringert  wird. 

Welcher  Weg  in  der  Wirklichkeit  mehr  Erfolg  verspricht,  ist  zuletzt  eine 
rein  praktische  Frage,  über  welche  die  Erfahrung  zu  entscheiden  haben  wird. 
Wahrscheinlich  wird  es  nötig  sein,  beide  Maßnahmen,  diejenige  der  Vorbeugung 
und  der  Behandlung,  gleichzeitig  zu  treffen. 

Sitzung  vom  16.  Februar  1911. 

Herr  B.  Schaeffer  trägt  vor  über  „Das  statistische  Erhelmngsformular 
der  Heilanstalten  in  Preußen44.  Seit  dem  Jahre  1877  wird  in  Preußen  all¬ 
jährlich  eine  Statistik  angefertigt,  welche  über  Zahl,  Art,  Heilung  oder  Tod  der 
in  den  Heilanstalten  aufgenommenen  Kranken  Aufschluß  gibt.  Welche  ge¬ 
waltige  Zahlen  hier  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  verarbeitet  werden  müssen, 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  355 

ersieht  man.  wenn  man  erfährt,  daß  die  Zahl  der  in  Betracht  kommenden  An¬ 
stalten  im  Jahre  1806  =  3106  in  Preußen  betrug  (gegen  1145  im  Jahre  1877), 
daß  sich  darunter  2410  allgemeine  Anstalten  und  Abteilungen  befanden,  daß 
allein  in  diesen  138016  Betten  zur  Verfügung  standen,  und  daß  die  1036161  hier 
Verpflegten  31957  756  Verpflegungstage  absorbierten.1) 

Dieses  Material  wird  gewonnen  durch  Erhebungsformular,  welches  all¬ 
jährlich  von  jeder  Heilanstalt  auszufüllen  ist,  und  welches  für  die  allgemeinen 
Heilanstalten  ein  einheitliches  ist,  während  für  die  Irren-  und  Entbindungs¬ 
anstalten  besondere  Formulare  bestehen. 

Zum  Verständnis  der  folgenden  Ausführungen  sei  nur  das  Formular  für 
diese  allgemeinen  Krankenhäuser  in  seinen  wesentlichen  Punkten  wieder¬ 
gegeben. 

Auf  der  ersten  Seite  befinden  sich  die  allgemeinen  Angaben: 

1.  Krankenbetten. 

2.  Verpflegte  männliche  Kranke. 

3.  Verpflegte  weibliche  Kranke. 

4.  Verpflegungstage  der  männlichen  Kranken. 

5.  Verpflegungstage  der  weiblichen  Kranken. 

Das  Formular  selbst  weist  nachfolgendes  Schema  auf  Seite  356  auf. 

Endlich  finden  sich  eine  Eeihe  von  „Bemerkungen“  dem  Formular  auf¬ 
gedruckt,  welche  gewisse  Zweifelfälle  einheitlich  entscheiden  sollen.  Unter  diesen 
'„Bemerkungen“  scheint  mir  Nr.  4  der  kritischen  Beleuchtung  wert  zu  sein. 

Nr.  4  lautet: 

„Jeder  verpflegte  Kranke  ist  nur  bei  derjenigen  Krankheit,  welche 
von  dem  behandelnden  Arzte  als  Hauptkrankheit  betrachtet  wird,  in 
Bestand,  Zugajrg  und  Abgang  zu  zählen.  Die  Nebenkrankheiten  bleiben 
unberücksichtigt.  Wurden  in  unmittelbarer  Aufeinanderfolge  mehrere 
Krankheiten  nacheinander  durchgemacht,  so  soll  der  Verpflegte  doch 
nur  bei  der  als  Hauptkrankheit  zu  betrachtenden  Krankheit  gezählt 
werden  .  .  .“ 

Wiewohl  es  nun  eigentlich  überflüssig  ist,  möchte  ich  doch  ausdrücklich 
betonen,  daß  auch  ich  davon  überzeugt  bin,  daß  dieser  Modus  der  statistischen 
Zusammenfassung,  nämlich  nicht  die  Zahl  der  Krankheiten,  sondern  der 
Kranken  auszurechnen,  von  seiten  der  sachverständigen  Männer,  die  diese 
mühevolle  Statistik  geschaffen  haben,  mit  Vorbedacht  und  auf  Grund  eifriger  Er¬ 
wägungen  gewählt  worden  ist.  Trotzdem  halte  ich  im  medizinisch-wissen¬ 
schaftlichen  Interesse  dieses  Vorgehen  entschieden  für  bedauerlich. 

Das  medizinisclustatistische  Ideal  wäre  es  natürlich,  überhaupt  jeden 
in  der  ganzen  Bevölkerung  vorkommenden  Krankheitsfall  (zunr  mindesten  jeden 
ärztlich  behandelten)  statistisch  erfassen  zu  können.  Daß  dies  unmöglich  ist, 


*)  Preußische  Statistik.  (Kgl.  Preußisches  statistisches  Landesamt  in  Berlin, 
Nr.  212.  Die  Heilanstalten  im  Preuß.  Staate  1906.  Berlin  1908.  Verlag  des 
Kgl.  Preuß.  statist.  Landesamtes.)  Für  das  letzte  veröffentlichte  Jahr  (1907) 
lauten  die  Zahlen:  3136  Heilanstalten  überhaupt,  darunter  2440  allgemeine  Heil¬ 
anstalten  mit  1  111458  Verpflegten  und  33688109  Verpflegungstagen.  (Vgl. 
Medizinalstatistische  Nachrichten.  Herausgegeb.  vom  Kgl.  Preuß.  Statist.  Landes¬ 
amt,  Erster  Jahrgang  1909.  Verlag  des  Kgl.  Statist.  Landesamtes  Berlin  1910.) 


Lfd 


356  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Formular. 


Namen 

der 

Krankheiten 


Be¬ 

stand 

am 

1.  Ja¬ 
nuar 


Zu¬ 

gang 

im 

Jahre 


Abgang  im  Jahre 

Davon  durch  Tod 


über¬ 

haupt 


an  der 
in 

Spalte  2 
genann¬ 
ten 

Krank¬ 

heit 


an  einer 
anderen 
Krank¬ 
heit  und 
an 

welcher  ? 


Be¬ 

stand 

am 

31.  De¬ 
zember 


6 


8 


m.  w. 


m. 


r-  I 


w.  m. 


w. 


m. 


w. 


m. 


w.  m.  w. 


I.  Eutwickliings- 
krankheiten. 

1.  Angeborene  Lehens¬ 
schwäche  (erster  Mo¬ 
nat)  ...... 

2.  Angeborene  Mißbil¬ 
dungen  . 

3.  Altersschwäche  (über 
60  Jahre)  .  .  .  . 

4.  Andere  Entwicklungs¬ 
krankheiten  .  .  . 

a)  Menstruationsano¬ 
malien  .  .  .  . 

b)  Schwangerschafts¬ 

anomalien  (Fehl¬ 
geburten,  Blu¬ 
tungen  usw.)  .  . 

c)  Geburts-  und 
Wochenbettano¬ 
malien  (ausschlie߬ 
lich  19)  ...  . 

d)  Andere  Entwick¬ 
lungskrankheiten  . 


Bei  den  folgenden  Krankheiten  ist  der  Baumersparnis  halber  obiges  Schema 

fortgelassen. 


II.  Infektions-  und  parasitäre 
Krankheiten. 

5.  Pocken. 

6.  Varicellen. 

7.  Scharlach. 

8.  Masern  und  Böteln. 

9.  Diphtherie  und  Krupp. 


10.  Keuchhusten. 

11.  Mumps  (Parotitis  epidemica). 

12.  Flecktyphus. 

13.  Bückfallfieber. 

14.  Unterleibstyphus. 

15.  Genickstarre. 

16.  Bose  (Erysipel). 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  357 


17.  Trismus  und  Tetanus. 

18.  Pyämie,  Septychämie,  Hospital¬ 
brand. 

19.  Kindbettfieber. 

20.  Lepra, 

21.  Skrofulöse. 

22.  Tuberkulose  der  Lungen. 

23.  ,,  anderer  Organe. 

24.  Lungenentzündung  (kruppöse). 

25.  Influenza  (Grippe). 

26.  Akuter  Gelenkrheumatismus. 

27.  Malaria. 

28.  Asiatische  Cholera. 

29.  Brechdurchfall  (Cholera  nostras). 

30.  Buhr  (Dysenterie). 

31.  Gonorrhoe. 

32.  Weicher  Schanker. 

33.  Syphilis. 

34.  Milzbrand. 

35.  Botzkrankheit. 

36.  Tollwut  (Lyssa). 

37.  Trichinose. 

38.  Bandwurm. 

39.  Andere  Infektions-  und  parasitäre 
Krankheiten  (ausschl.  Krätze). 

III.  Sonstige  allgemeine  Krank¬ 
heiten. 

40.  Bleichsucht  und  Blutarmut  (Chlorose 
und  Anämie). 

41.  Leukämie  und  Pseudoleukämie. 

42.  Bachitis  und  Osteomalacie. 

43.  Zuckerruhr. 

44.  Gicht. 

45.  Skorbut. 

46.  Alkoholismus  und  Säuferwahnsinn. 

47.  Andere  Vergiftungen. 

48.  Hitzschlag. 

49.  Andere  allgemeine  Krankheiten. 

Anhang:  Neubildungen  und 
Geschwülste. 

50.  Karzinom. 

51.  Andere  bösartige  Neubildungen. 

52.  Gutartige  Neubildungen  und  Ge¬ 
schwülste  (ausschl.  79). 


IV.  Örtliche  Krankheiten. 

A.  Krankheiten  des  Nerven¬ 
systems. 

53.  Geisteskrankheiten. 

54.  Gehirn-  und  Hirnhautentzündung 
(ausschl.  15,  23). 

55.  Gehirnschlag. 

56.  Andere  Krankheiten  des  Gehirns. 

57.  Epilepsie. 

58.  Eklampsie. 

59.  Chorea. 

60.  Tabes. 

61.  Andere  Bückenmarkskrankheiten. 

62.  Andere  Krankheiten  des  Nerven¬ 
systems  überhaupt. 

B.  Krankheiten  der  Atmungs¬ 

organe. 

63.  Krankheiten  der  Nase  und  der 
Adnexa. 

64.  Kehlkopfkrankheiten  (ausschl.  9, 23). 

65.  Akuter  Katarrh  der  Luftröhre  und 
der  Bronchien. 

66.  Chronischer  Katarrh  der  Luftröhre 
und  der  Bronchien  sowie  Emphysem. 

67.  Lungenentzündung  (ausschl.  24). 

68.  Brustfellentzündung. 

69.  Andere  Krankheiten  der  Atmungs¬ 
organe. 

C.  Krankheiten  der  Kreislauf¬ 

organe. 

70.  Herz-  und  Herzbeutelentzündung. 

71.  Klappenfehler  und  andere  Herz¬ 
krankheiten. 

72.  Pulsadergeschwulst. 

73.  Arteriosklerose  und  Brand  der  Alten. 

74.  Krampfadern  u.  Venenentzündung. 

75.  Lymphgefäß-  und  Lymphdrüsen¬ 
entzündung  (ausschl.  der  zu  21,  31, 
32,  33  gehörigen). 

D.  Krankheiten  der  Verdau¬ 
ungsorgane. 

76.  Krankheiten  der  Zähne  und  der 
Organe  der  Mundhöhle. 

77.  Mandel-  und  Bachenentzündung 
(ausschl.  9). 


358  A11S  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 


78.  Krankheiten  der  Speiseröhre. 

79.  Krankheiten  der  Schilddrüse  (aus- 
schl.  50,  51). 

80  Akuter  Magen-  und  Darmkatarrh 
sowie  Atrophie  der  Kinder  (ausschl. 
23). 

81.  Magengeschwür. 

82.  Andere  chronische  Magenkrank¬ 
heiten. 

83.  Chronische  Darmkrankheiten. 

84  a.  Bauchfellentzündung  (Peritonitis). 

84  b.  Blinddarmentzündung  (Perityphli¬ 

tis,  Appendicitis). 

85  Brüche  (Hernien), 

a)  eingeklemmte, 

b)  nicht  eingeklemmte. 

86.  Innerer  Darmverschluß. 

87.  Lebercirrhose. 

88.  Andere  Krankheiten  der  Leber  und 
ihrer  Ausführungsgänge. 

88  a.  Andere  Krankheiten  der  Verdau¬ 
ungsorgane. 

E.  Krankheiten  der  Harn-  und 
Geschlechtsorgane  (ausschl.  31, 
32,  33). 

89.  Krankheiten  der  Nieren. 

90.  „  „  Blase. 

91.  Steinkrankheit. 

92.  Krankheiten  der  männlichen  Ge¬ 
schlechtsorgane. 

93.  Krankheiten  der  Gebärmutter. 

94.  „  „  anderen  weiblichen 

Geschlechtsorgane. 

Es  folgt  eine  Wiederholung 


F.  Krankheiten  der  äußeren 
Bedeckungen. 

95.  Krätze. 

96.  Hautausschläge  (ausschl.  5 — 8,  12, 
16). 

97.  Zellgewebsentzündung  (einschl. 
Panaritium,  Furunkel  und  Kar¬ 
bunkel  (ausschl.  34). 

98.  Andere  Krankheiten  der  äußeren 
Bedeckungen. 

G.  Krankheiten  derBewegungs- 
organe. 

99.  Krankheiten  der  Knochen  und 
Knochenhaut  (ausschl.  23). 

100.  Krankheiten  der  Gelenke  (ausschl. 
23,  26,  44). 

101.  Krankheiten  der  Muskeln,  Sehnen 
und  Schleimbeutel. 

102.  Muskelrheumatismus. 

H.  Krankheiten  des  Ohres. 

103.  Krankheiten  des  äußeren  Ohres. 

104.  „  „  Mittelohres. 

105.  „  „  inneren  Ohres. 

I.  Krankheiten  der  Augen. 

106.  Ansteckende  Augenkrankheiten. 

107.  Andere  Augenkrankheiten: 

a)  Verletzungen  der  Augen, 

b)  andere  Augenkrankheiten. 

K.  Verletzungen. 

108—122. 

der  einzelnen  Hauptgruppen. 


braucht  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden.  Der  einzige  Anhaltspunkt,  den  wir 
daher  zur  Beurteilung  der  Häufigkeit  der  einzelnen  Krankheiten  haben  (die 
meldepflichtigen  Infektionskrankheiten  ausgenommen),  ist  die  Heilanstaltsstatistik. 
Derselben  liegt  aber  darum  ein  so  großer  Wert  bei,  weil  hier  die  Diagnosen  mit 
ungleich  größerer  Sicherheit  gestellt  sind,  als  es  in  der  freien  Praxis  möglich  ist. 
Ich  hoffe,  die  Herren  Kollegen  werden  darin  keine  Bemängelung  ihrer  diagnosti¬ 
schen  Fähigkeiten  erblicken.  Die  Krankenhausdiagnose  ist  darum  der  der  privaten 
Tätigkeit  so  überlegen,  weil  ihr  nicht  nur  die  sämtlichen  Untersuchungsmittel 
und  stets  bereite  Untersuchungs kr äfte  zur  Verfügung  stehen,  sondern  besonders 
darum,  weil  der  Kranke  dauernd  unter  Beobachtung  steht  und  der  Arzt  nicht 
verpflichtet  ist,  sich  gleich  am  ersten  Tage  den  Angehörigen  gegenüber  auf  eine 
bestimmte  Diagnose  festzulegen:  Erst  bei  der  Entlassung  oder  der  Sektion  braucht 
die  endgültige  Diagnose  gestellt  zu  werden. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  359 

Diese  relativ  ausgezeichnete  Sicherheit  der  Krankenhausdiagnose  legt  aber 
gerade  den  dringenden  Wunsch  nahe,  die  sich  darauf  aufbauende  Statistik 
nicht  nur  im  verwaltungstechnischen,  sondern  auch  im  medizinischen 
Sinne  venverten  zu  können. 

Selbstverständlich  sind  nun  die  in  der  Heilanstaltenstatistik  niedergelegten 
Zahlen  nicht  so  ohne  weiteres  auf  die  Krankheitsverhältnisse  der  ganzen  Be¬ 
völkerung  zu  übertragen.  Während  sich  die  Zahl  der  Fälle  z.  B.  von  Pocken 
oder  Cholera  in  den  Krankenhäusern  wohl  so  ziemlich  mit  den  im  ganzen  Staate 
überhaupt  zur  Beobachtung  gelangten  Pocken-  oder  Cholerafällen  decken  werden, 
wird  die  Zahl  der  Fälle  z.  B.  von  Zuckerruhr  (Nr.  43)  oder  der  Luftröhrenkatarrhe 
(Nr.  66)  oder  der  Magendarmkatarrhe  (Nr.  80)  nur  einen  minimalen  Anteil  an 
den  in  der  ganzen  Bevölkerung  vorgekommenen  derartigen  Erkrankungen  dar¬ 
stellen.  Für  jede  einzelne  Erkrankung  werden  da  besondere  Erwägungen  an¬ 
zustellen  sein.  Wenn  wir  aber  in  der  „Preußischen  Statistik“  vom  Jahre  1906 
lesen,  daß  von  allen  an  Appendicitis  im  Jahre  1904 — 1906  gestorbenen  Personen 
84  Proz.  in  Krankenhäusern  gestorben  sind,  so  ersehen  wir  daraus,  daß  in  bezug 
auf  manche  Krankheiten  die  Krankenbewegung  in  den  Krankenhäusern  doch  einen 
recht  guten  Maßstab  für  die  Beurteilung  der  Verhältnisse  dieser  Krankheit  in 
der  ganzen  Bevölkerung  ergibt. 

Diesem  berechtigten  ärztlichen  Bedürfnis,  aus  der  Krankenhausstatistik  ein 
Verständnis  für  Häufigkeit  und  Ausgang  der  Krankheiten  zu  gewinnen,  wider¬ 
spricht  nun  ’ entschieden  der  vorher  angeführte  §  4  der  „Bemerkungen“,  welcher 
vorschreibt,  daß  jeder  Kranke  nur  einmal,  mit  seiner  „Hauptkrankheit“, 
aufgeführt  werden  darf. 

Um  nur  ein  Beispiel,  das  beliebig  vervielfältigt  werden  könnte,  zu  nennen, 
so  darf  die  Krätze  (Nr.  95)  nur  angeführt  werden,  wenn  sie  als  Haupt- 
krankheit  im  Krankenhause  angesehen  wurde.  Wenn  es  aber  überhaupt  ein 
Interesse  hat,  zu  wissen,  wieviel  Leute  im  Jahre  in  den  Krankenhäusern  an 
Krätze  litten,  so  sollte  jeder  Fall  von  Krätze  aufgeführt  werden  und  nicht 
diejenigen  (vielleicht  nicht  minder  zahlreichen)  unter  den  Tisch  fallen,  bei  welchen 
als  Hauptkrankheit  vielleicht  ein  Fußgeschwür,  eine  Verletzung  oder  eine  Lungen¬ 
entzündung  bestand. 

Vom  statistisch-technischen  oder  bureaukratischen  Standpunkte  aus  (wobei 
dem  Worte  keine  üble  Nebenbedeutung  beigelegt  werden  soll)  mag  es  vielleicht 
wichtig  sein,  gerade  die  Hauptkrankheit  festzustellen  und  jeden  Kranken  nur 
einmal  zu  zählen.  Vom  ärztlichen  und  wissenschaftlichen  Standpunkte  aber 
interessiert  uns  ganz  wesentlich  die  Krankheit  als  solche  und  nicht  der  zufällige 
Umstand,  ob  sie  als  Haupt-  oder  Nebenkrankheit  aufgefaßt  wurde. 

Mit  anderen  Worten:  Es  müssen  die  Krankheiten  und  nicht 
die  Kranken  gezählt  werden;  es  muß  eine  Dopp elzählung  *  ge¬ 
stattet  sein.  Eine  Heilanstalt  also,  welche  1000  Kranke  im  Jahre  verpflegt, 
müßte  dann  also  vielleicht  1500  Krankheiten  im  Formular  buchen. 

Daß  dies  bei  der  statistischen  Verarbeitung  gewisse  Schwierigkeiten  bietet, 
mag  ohne  weiteres  zugegeben  werden.  Viel  wichtiger  aber  erscheint  es,  daß  nur 
so  eine  Beurteilung  der  Kr ankh ei ts Verhältnisse  ermöglicht  wird. 

Diese  ungenügende  Verwendbarkeit  der  Krankenhausstatistik  zur  Beurteilung 
von  Häufigkeit  und  Art  der  Krankheiten  tritt  nun  aber  auch  im  Formular  selbst 
hervor. 

Zunächst  sei  auf  die  Rubrizierung  eingegangen. 


360  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Hubrum  I  behandelt  die  Entwicklungskrankheiten.  Nr.  4  lautet: 

Andere  Entwicklungskrankheiten: 

a)  Menstruationsanomalien. 

Zu  den  Menstruationsanomalien  gehören  die  Störungen  bei  Eintritt  der 
Pubertät,  die  man  gewiß  vielfach  als  Entwicklungsstörungen  auffassen  kann. 
Aber  es  gehören  darunter  auch  —  und  diese  sind  viel  häufiger  —  die  Anomalien 
der  Periode,  welche  sich  um  die  Zeit  der  Wechseljahre  einstellen.  Diese  Störungen 
aber  zu  den  Entwicklungskrankheiten  zu  rechnen,  hätte  dieselbe  Berechtigung, 
als  wenn  man  jede  andere  im  Laufe  des  Lebens  sich  entwickelnde  Krankheit, 
z.  B.  Herzkrankheit,  hierunter  rubrizieren  wollte.  Was  hat  es  außerdem  für 
einen  Wert,  zwei  voneinander  gänzlich  unabhängige,  ihrer  Bedeutung  nach  gänz¬ 
lich  verschiedene  Krankheitszustände  in  einer  Nummer  zusammenzufassen?  Irgend¬ 
ein  ärztlich-wissenschaftlicher  Schluß  läßt  sich  aus  dieser  zusammengefaßten  Zahl 
gar  nicht  machen. 

b)  Schwangerschaftsanomalien  (Fehlgeburten,  Blutungen  usw.). 

Hier  ist  es  direkt  unverständlich,  wie  Fehlgeburten  und  Blutungen  als 
Entwicklungsstörung  aufgefaßt  werden  können.  Die  Annahme,  daß  die  Ent¬ 
wicklungsstörung  des  Fötus  für  diese  Rubrizierung  maßgebend  gewesen 
sei,  ist  doch  wohl  —  weil  es  ein  schlechter  Spaß  wäre  -  von  vornherein  ab¬ 
zulehnen.  Die  allein  dann  übrigbleibende  Annahme,  daß  Fehlgeburten  auch  nur 
meist  auf  Entwicklungsstörung  der  Mutter  beruhen,  entspricht  aber  einem 
medizinischen  Standpunkte,  der  vor  länger  als  50  Jahren  vielleicht  Berechtigung 
hatte,  heut  aber  als  vollkommen  verkehrt  gelten  muß.  Auch  hier  ist  die  Zu¬ 
sammenfassung  aller  Schwangerschaftsanomalien  in  eine  Nummer  bedauerlich, 
weil  sie  die  Zahl  der  Unterarten  (z.  B.  Hyperemesis  gravidarum)  nicht  er¬ 
kennen  läßt.  In  erhöhtem  Maße  gilt  dies  bei 

c)  Geburts-  und  Wochenbettsanomalien  (ausschließlich  Nr.  19: 

Kindbettfieber). 

Die  Krankenhausstatistik  vom  Jahre  1906  verzeichnet  hierunter  3072  Fälle 
mit  157  Todesfällen.  Aber  niemand  wird  sich  eine  Vorstellung  machen  können, 
was  das  denn  eigentlich  für  Krankheiten  waren  und  namentlich,  welche  Ent¬ 
wicklungsstörungen  denn  den  tödlichen  Ausgang  in  157  Fällen 
herbeigeführt  haben.  Das  enge  Becken,  welches  zweifellos  eine  Ent¬ 
wicklungskrankheit  ist,  führt  doch  als  solches  nie  zum  Tode.  Die  Eklampsie 
ist  keine  Entwicklungskrankheit,  außerdem  ist  sie  (merkwürdigerweise  unter  den 
Krankheiten  des  Nervensystems,  wo  sie  kein  Geburtshelfer  vermutet)  unter  Nr.  58 
noch  besonders  aufgeführt;  sie  scheidet  hier  also  aus.  Die  fieberhaften 
Wochenbettserkrankungen  scheiden  auch  aus,  da  sie  unter  Nr.  19  gehören. 
Komplikationen  des  Wochenbetts  und  der  Geburt  durch  Herz-,  Lungen- 
und  andere  0  r  g  a  n  erkrankungen  müssen  natürlich  unter  letzteren  verzeichnet 
werden.  Es  bleibt  eigentlich  nur  die  Placenta  praevia,  die  man  doch  un¬ 
möglich  als  Emvicklungskrankheit  auffassen  kann.  Wie  bedauerlich  ist  es,  daß 
wir  nicht  durch  präzisere  Fragestellung  über  Häufigkeit  und  Ausgang  dieser 
hochwichtigen  geburtshilflichen  Anomalie  unterrichtet  werden. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  361 


Diese  ganze  Nummer  4  ist  —  von  welchem  Standpunkt  wir  sie  auch  be¬ 
trachten  —  unglücklich  und  unzweckmäßig  gefaßt. 

Die  hier  unter  a  bis  c  aufgeworfenen  Fragen  gehören  zu  den  örtlichen 
Krankheiten  (IV  des  Formulars)  und  unter  E  (Krankheiten  der  Geschlechtsorgane). 
Eine  viel  eingehendere  Einteilung  in  Untergruppen  wäre  erforderlich,  um  einen 
wissenschaftlichen  Nutzen  daraus  ziehen  zu  können. 

Auch  im  folgenden  sollen  nur  die  den  Gynäkologen  interessierenden  Krank¬ 
heiten  einer  Kritik  unterzogen  werden,  da  ich  nur  auf  diesem  Gebiete  Er¬ 
fahrungen  habe. 

Nr.  19  lautet  Kindbettfieber.  In  der  Preußischen  Krankenhausstatistik 
des  Jahres  1906  finden  wir  1158  Zugänge  von  Kindbettfieber  mit  506  Todesfällen, 
d.  h.  eine  Mortalität  von  43  Proz.1)  Diese  Mortalität  Avird  nur  von  der  Genick¬ 
starre  und  dem  Tetanus  übertroffen,  bei  denen  sie  ca.  55  Proz.  beträgt. 
Selbst  Pocken,  Milzbrand,  Diphtherie,  Fleck-  und  Unterleibs¬ 
typhus  haben  nur  eine  Mortalität,  die  sich  zwischen  11  und  25  Proz.  bewegt. 
Daß  das  Kindbett-  oder  Wochenbettfieber  in  Wirklichkeit  eine  so  erschreckend 
hohe  Mortalität  haben  soll,  wird  kein  Arzt  von  einiger  Erfahrung  zugeben 
können.  Diese  Mortalität  von  43  Proz.  (46  Proz.)  kann  nur  dadurch  zustande 
gekommen  sein,  daß  diese  Diagnose  reserviert  wurde  für  diejenigen  aller¬ 
schwersten  Fälle,  bei  denen  dem  Arzte  die  Chance  des  Durchkommens  zur  Chance 
des  Sterbens  etwa  wie  1:1  erschien.  Die  sehr  viel  zahlreicheren  Fälle 
von  Fieber  im  Wochenbett  im  Anschluß  an  den  Geburtsverlauf 
und  aus  genitaler  Ursache  (das  ist  die  ein  zig  mögliche  Definition 
des  Wochenbett-  oder  Kindbettfiebers!)  sind  einfach  aus  der 
Statistik  verschwunden,  weil  das  Formular  es  unterlassen  hat,  durch 
Schaffung  von  Unterabteilungen  diese  Fälle  statistisch  zu  erfassen. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  diese  auch  die  polizeiliche  Meldepflicht  des 
„Kindbettfiebers“  betreffenden  Verhältnisse  würde  den  Kähmen  dieser  Arbeit  weit 
übersteigen. 

Nr.  31  lautet:  Gonorrhoe.  Es  ist  klar,  daß  hier  nur  diejenigen  Kranken 
gezählt  werden  dürfen,  die  wegen  der  Gonorrhoe  als  solcher  Aufnahme 
gefunden  haben.  Die  sehr  viel  zahlreicheren  Kranken  aber,  die  wegen  einer 
Folgekrankheit  der  Gonorrhoe  (gonorrhoischer  Eileiter-,  Eierstocks-,  Gelenk¬ 
entzündung)  die  Krankenhausbehandlung  nötig  hatten,  müssen  natürlich  als 
Organerkrankungen  gebucht  werden.  Daran  wird  auch  nichts  dadurch  geändert, 
daß  unter  der  Überschrift  IV.  E  in  Klammer  steht:  ausschließlich  Nr.  31  .  .  ., 
denn  eine  gonorrhoische  Eileiterentzündung  ist  und  bleibt  eine  Eileiterentzündung, 
also  eine  Organerkrankung.  Ich  selbst  konnte  unter  400  Aufnahmen  in  meiner 
Klinik  nur  fünfmal  die  Gonorrhoe  verzeichnen,  während  in  130  Fällen  auf 
Gonorrhoe  beruhende  gynäkologische  Folgeerkrankungen  Vorlagen.  Um  über  die 
Verbreitung  der  Gonorrhoe  ein  Urteil  zu  gewinnen,  müßte  unter  31a  die  Frage: 
„Auf  Gonorrhoe  beruhende  Krankheiten“  eingeschoben  werden  und 
natürlich  eine  Doppelzählung  gestattet  sein. 

Nr.  50  Karzinom. 

Nr.  51  Andere  bösartige  Neubildungen. 

x)  Für  1907  lauten  die  Zahlen:  Zugänge  1186,  Todesfälle  545,  d.  h.  eine 
Mortalität  von  46  Proz. 


362  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Nr.  52  Gutartige  Neubildungen  und  Geschwülste  (ausschließlich  79  =  Krank¬ 
heiten  der  Schilddrüse). 

Zunächst  ist  es  auch  hier  überaus  bedauerlich,  daß  alle  Karzinome  und  alle 
gutartigen  Geschwülste,  mag  ihr  Sitz  sein,  welcher  er  wolle,  in  je  eine  Rubrik 
zusammengefaßt  sind.  Welche  Fülle  von  Betrachtungen  und  Schlüssen  ließen 
sich  ziehen,  weun  wir  im  einzelnen  erführen,  an  welchen  Organen  sich  die 
7863  Karzinome  bei  Männern  und  die  11 633  Karzinome  bei  Frauen  fanden,  welche 
im  Jahre  1906  in  den  preußischen  Heilanstalten  zur  Beobachtung  kamen!  Zum 
mindesten  die  wichtigsten  Organe,  wie  Magen,  Leber,  Mamma,  Uterus,  Ovarium 
sollten  einzeln  festgestellt  werden.  Ebenso  ist  die  Zusammenfassung  der  „gut¬ 
artigen  Geschwülte  und  Neubildungen“  in  eine  Rubrik  wissenschaftlich  gar  nicht 
verwertbar,  da  hier  nach  Bedeutung  und  Prognose  ganz  differente  Krankheiten 
in  einen  Topf  geworfen  werden:  einfache  Atherome,  Bartholinische  Cysten, 
Knochengeschwülste,  Ovarialtumoren,  Myome  und  alle  nur  denkbaren  Neu¬ 
bildungen,  ja  auch  die  entzündlichen  Geschwülste  werden  hier  zusammengezählt. 
Irgendeinen  wissenschaftlichen  Wert  hat  eine  so  gewonnene  Zahl  nicht  mehr, 
Schlußfolgerungen  lassen  sich  daraus  nicht  ziehen. 

Aber  noch  etwas  anderes  fällt  auf. 

Unter  den  19496  Karzinomen  des  Jahres  1906  endeten  5750  mit  dem  Tode. 

Unter  den  3807  männlichen  und  12294  weiblichen  Kranken,  die  wegen  gut¬ 
artiger  Geschwülste  im  Jahre  1906  in  preußischen  Heilanstalten  Aufnahme  fanden, 
erfolgte  —  nach  eben  dieser  Statistik  —  kein  Todesfall! 

Ebenso  waren  von  den  in  den  Universitätskliniken  aufgenommenen 
1465  weiblichen  Karzinomatösen  276  Todesfälle  unter  den  1635  Frauen,  die  an 
gutartigen  Geschwülsten  litten,  ebenfalls  kein  Todesfall! 

Daß  hier  irgend  etwas  nicht  richtig  sein  kann,  wird  jedem  klar,  der  be¬ 
denkt,  daß  in  Preußen  alljährlich  etwa  1060  Uterusmyome  operiert  werden  und 
daß,  wenn  wir  die  Mortabilität  auch  nur  auf  5  Proz.  ansetzen,  etwa  50  Todesfälle 
allein  auf  Rechnung  der  Myomoperation  kommen. 

Alle  diese  und  ähnliche  Todesfälle  werden  aber,  wie  die  obigen  Zahlen  klar 
erweisen,  als  wenn  eine  Verabredung  unter  den  Heilanstalten  bestände,  grund¬ 
sätzlich  nicht  unter  den  gutartigen  Neubildungen  gebucht  (die  Neubildung  als 
solche  ist  ja  auch  nie  Todesursache),  sondern  unter  Lungenentzündung,  Herz¬ 
schlag  oder  Sepsis,  was  ja  natürlich  auch  die  unmittelbare  Todesursache  ist.  Die 
Fragestellung  des  Formulars  führt  also  hier  direkt  zu  einer  Verschleierung. 
Es  müßte  sowohl  bei  Nr.  50  und  51  wie  52  die  Unterrubrik  eingeführt  werden: 
„Davon  wurden  operiert:  (wurden  geheilt  entlassen  —  starben)“. 
Dann  würden  auch  die  Todesfälle  hier  erscheinen.1) 

Die  wissenschaftliche  Verwendung  des  gewaltigen  Materials  wird  des 
weiteren  fast  unmöglich  gemacht  durch  die  Kürze,  mit  der  die  Spezial- 


x)  An  diesen  Ausführungen  wird  nichts  geändert  durch  den  Umstand,  daß 
in  der  Statistik  des  Jahres  1907  einige  Todesfälle  unter  den  gutartigen  Neu¬ 
bildungen  gebucht  sind.  Unter  den  16054  gutartigen  Geschwülsten  in  Allgemein¬ 
heilanstalten  endeten  11  mit  dem  Tode.  Unter  den  2056  gutartigen  Geschwülsten, 
welche  1907  in  den  Universitätskliniken  behandelt  wurden,  ist  —  1  Todesfall 
verzeichnet! 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  3(33 

krankkeiten  abgehandelt  werden.  Sämtliche  gynäkologischen  Erkrankungen 
müssen  —  mit  Ausnahme  der  oben  bereits  erwähnten  —  untergebracht  werden  in 

Nr.  93  Krankheiten  der  Gebärmutter,  und 

Nr.  94  Krankheiten  der  anderen  weiblichen  Geschlechtsorgane. 

Warum  existiert  keine  Kubrik  für  die  Ketroflexio  uteri,  für  Krank¬ 
heiten  der  Eileiter,  Eierstöcke,  und  besonders  warum  nicht  für  Extra¬ 
uterinschwangerschaft,  deren  Häufigkeit,  Operationsfrequenz  und  Prognose 
an  großen  Zahlen  festzustellen  hochbedeutsam  wäre. 

Ein  Blick  in  die  Verwaltungsberichte  unserer  großen  Berliner  städtischen 
Krankenhäuser  zeigt,  welche  Fülle  von  interessanten  Feststellungen  sich  aus 
einer  genaueren  und  eingehenderen  Fragestellung  ziehen  läßt. 

Nun  kann  allerdings  scheinbar  mit  Beeilt  eingewendet  werden,  daß  die  Be¬ 
lästigung,  die  den  einzelnen  Krankenanstalten  aus  zu  detaillierter  Fragestellung 
erwüchse,  bei  diesen  Widerspruch  erregen  würde,  und  daß  eine  Statistik  um  so 
zuverlässiger  wird,  je  einfacher  die  Fragestellung  gehalten  ist. 
Einerseits  würden  aber  die  oben  angedeuteten  Unterabteilungen  oft  die  Unter¬ 
bringung  des  Falles  direkt  erleichtern.  Andererseits  Aväre  es  nur  erwünscht, 
daß  nach  einer  anderen  Kichtung  hin  eine  Erleichterung  der  nicht  unerheb¬ 
lichen  Arbeit  der  jährlichen  Zusammenstellung  angebahnt  würde. 

Wenn  Sie  das  Schema  des  Erhebungsformulars  betrachten,  so  wird  verlangt, 
daß  der  Bestand  von  dem  Zugang  für  jede  einzelne  Krankheit  ge¬ 
trennt  aufgeführt  wird. 

Es  gehört  ja  nun  selbstverständlich  zu  einer  geordneten  Listenführung,  daß 
der  Gesamtbestand  vom  vergangenen  Jahr,  der  Zugang  und  der  in  das 
nächste  Jahr  zu  übertragende  Gesamtbestand  in  jeder  Heilanstalt 
gebucht  und  angeführt  wird.  Auch  für  jede  einzelne  Abteilung  einer  Heilanstalt 
ist  das  wünschenswert.  Welchen  Wert  es  aber  hat,  zu  wissen,  daß  z.  B.  50  Fälle 
von  angeborener  Lebensschwäche  am  1.  Januar  Bestand  waren,  daß  700  Zugänge 
waren  und  z.  B.  60  Fälle  am  31.  Dezember  Bestand  blieben,  und  so  fort  bei 
jeder  einzelnen  Erkrankung  besonders,  ist  mir  nicht  verständlich.  Es  ist 
dies  im  höchsten  Maße  gleichgültig,  erlaubt  keinerlei  Schlüsse  und  erschwert  die 
Arbeit  der  Zusammenstellung  außerordentlich. 

Die  Kolumne  7  des  Schemas,  welche  die  Angabe  „einer  anderen  Krank¬ 
heit  und  welcher“  (an  der  der  Tod  erfolgt  ist)  verlangt,  erhebt  eine  — 
wenigstens  für  größere  Anstalten  —  technisch  unausführbare  Forderung.  Wenn 
z.  B.  30  Todesfälle  bei  dem  Karzinom  gebucht  werden  sollen,  von  denen  10  an 
Folgeerkrankungen  (Lungenentzündung,  Sepsis,  Verblutung,  Herzschlag  usw.) 
erfolgt  sind,  so  gestattet  der  nur  1  qcm  große  Kaum  des  Schemas  eine  Eintragung 
der  betreffenden  10  Nummern  nicht.  Wichtiger  aber  ist,  daß  es  auch  recht 
gleichgültig  ist,  ob  der  Tod,  welcher  sich  nach  einer  Infektionskrankheit,  nach 
einer  Verletzung,  bei  Karzinom  oder  einer  beliebigen  sonstigen  Erkrankung 
wegen  dieser  Krankheit  erfolgt,  oder  ob  sich  eine  Lungenentzündung  oder 
der  —  für  die  Statistik  sehr  beliebte  —  Herzschlag  dazwischen  schiebt.  Gerade 
die  Einführung  dieser  Kolumne  hat  die  Verschleierung,  auf  welche  bei  den  „gut¬ 
artigen  Neubildungen“  hingewiesen  wurde,  erst  ermöglicht. 

Wir  sehen  also,  daß  das  Formular  in  seiner  Breite  (Zahl  der  Kolumnen) 
wesentlich  eingeschränkt  werden  könnte,  daß  es  aber  in  seiner  Länge,  d.  h. 
Zahl  der  Krankheitsrubriken,  vermehrt  werden  müßte.  Nur  durch  Schaffung 


364  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

von  zahlreichen  Unter rubriken  und  durch  Zählung  der  Krank¬ 
heiten  anstatt  der  Kranken  kann  die  Heilanstaltsstatistik  den 
wissenschaftlichen  hohen  Wert  erhalten,  der  ihr  kraft  der  Größe 
des  Materials  und  der  darin  niedergelegten  sorgfältigen  Be¬ 
obachtung  innewohnt  und  zukommt. 

Zu  einer  Neubearbeitung  des  Erhebungsformulars  sollten  nicht  nur  Statistiker, 
sondern  auch  im  Krankenhausdienst  und  in  den  verschiedenen  Sonderdisziplinen 
erfahrene  Arzte  hinzugezogen  werden. 


Die  Abnahme  der  Geburtenzahlen  in  den  ver¬ 
schiedenen  Bevölkerungsklassen  und  ihre  Ursachen. 

Nach  Untersuchungen  in  Schleswig-Holstein. 

Von  Dr.  med.  Hanssen,  Kinderarzt  in  Kiel. 

Die  Bedeutung  des  Geburtenrückgangs  für  das  Volksleben. 

Es  ist  klar,  daß  die  Gefahr  des  Geburtenrückgangs  für  ein 
Volk  in  dem  Herabgehen  seiner  Wehrkraft  liegt.  In  der 
Debatte  über  das  Kriegsbudget  am  19.  Juni  1912  mußte  der 
französische  Kriegsminister  Millerand  zum  ersten  Mal  offen  zu¬ 
geben,  daß  uns  Frankreich  nicht  mehr  an  Menschenmaterial  die 
Stange  halten  könne,  daß  Deutschland  bei  einer  Kriegserklärung 
den  etwa  500000  aktiven  Franzosen  (ohne  die  Reserven)  etwa 
700000  aktive  Soldaten  gegenüberstellen  könne  und  daß  Frank¬ 
reich  mangels  Menschenmaterials  im  Effektivbestand  die  Jagd 
hinter  Deutschland  aufgeben  müsse.  Ebenso  steht  es  in  England 
mit  dem  Effektivbestand  der  Flotte,  wie  Admiral  Biresford  nach¬ 
wies.  So  wird  die  Frage  der  Zahl  der  Geburten  zu  der  wichtigsten, 
wenn  es  gilt,  die  Stärke  eines  Volkes  einzuschätzen  und  zu  be¬ 
urteilen  im  Vergleich  mit  anderen  Völkern  in  bezug  auf  Kriegs¬ 
bereitschaft  und  Bündnisfähigkeit.  Es  fragt  sich,  ob  dieser  Mangel 
an  Zahl  im  Menschenmaterial  nicht  durch  die  bessere  Qualität 
ausgeglichen  wird.  Gewiß  ist  es,  daß  nach  dem  Satze,  wo  viel 
Leben  entsteht,  auch  viel  Leben  zugrunde  geht,  bei  einer  geringen 
Zahl  von  Geburten  dem  einzelnen  Kinde  auch  größere  Sorgfalt 
entgegengebracht  werden  kann,  der  Vergleich  der  Zahl  der  ge¬ 
storbenen  Säuglinge  in  wohlhabenden  und  ärmeren  Familien  ist 
dafür  ein  sprechender  Beweis.  Ob  dadurch  allerdings  die  Qualität 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  24 


366 


Hanssen, 


gehoben  wird,  muß  zweifelhaft  erscheinen,  die  Abnahme  der  Größe 

bei  den  zum  Militärdienst  eingestellten  Rekruten  in  Frankreich 

würde  das  Gegenteil  beweisen.  Andererseits  wird  sicher  bei  einer 

kleineren  Zahl  von  Kindern  der  einzelne,  zumal  das  einzige  Kind 

•  • 

eher  verzärtelt  werden.  Uber  diese  falsche  Erziehung  und  ihre 
Fehler  in  bezug  auf  Charakter  und  körperliche  und  geistige  Wider¬ 
standsfähigkeit  gibt  am  besten  das  Buch  von  Neter  „das  einzige 
Kind  und  seine  Erziehung“  Auskunft.  Ebenso  wichtig  wie  die 
Zahl  der  Geburten  für  einen  Staat  ist  die  mehr  oder  minder  hohe 
Zahl  der  Kinder  für  den  einzelnen  von  Bedeutung.  Es  ist 
sowohl  für  die  Kinder  einer  Familie  nicht  gleich,  ob  sie  sich  in 
Konkurrenz  mit  zwei  oder  vier  Geschwistern  befinden.  Die  Eltern 
andererseits  haben  es  leichter,  wenn  sie  nur  für  zwei  als  wenn  sie 
für  vier  oder  sechs  Kinder  zu  sorgen  haben.  Viel  eher  wird  in 
einer  großen  Reihe  von  Kindern  sich  ein  mißgeratenes  finden  als 
in  einer  Familie,  in  welcher  das  einzelne  Kind  in  seinem  Tun  und 
Treiben  genau  überwacht  werden  kann.  Andererseits  hat  man 
doch  auch  Beispiele,  daß  in  kinderreichen  Familien  alle  Kinder  es 
zu  etwas  bringen,  während  aus  bessergestellten  Familien,  in  welchen 
weder  die  Erziehung  noch  die  Ausbildung  für  den  Beruf  den  Eltern 
irgendwelche  Schwierigkeiten  machte,  keine  Kinder  hervorgingen, 
die  sich  auszeichneten.  Für  diesen  Punkt  wäre  auch  die  große 
Zahl  von  bedeutenden  Männern,  die  aus  kinderreichen  Familien 
hervorgingen  heranzuziehen,  besonders  die  bedeutenden  Sprößlinge 
der  kinderreichen  Pastorenfamilien  wären  dafür  ein  sprechendes 
Beispiel  (von  hervorragenden  Ärzten  erinnere  ich  nur  an  B  i  1 1  r  o  t  h 
und  Bergmann).  Zu  betrachten  wäre  noch  die  Frage,  ob  eine  will¬ 
kürliche  Abnahme  der  Geburten  elektiv  im  Sinne  Darwin’s  auf  die 
Entwicklung  der  Rasse  wirkt,  das  Gegenteil  scheint  der  Fall  zu 
sein,  ich  erinnere  wieder  an  die  Abnahme  der  Körpergröße  in  Frank¬ 
reich.  Andererseits  scheint  die  Auswahl  doch  auf  die  geistige  Ent¬ 
wicklung  eines  Volkes  von  günstigem  Einfluß  zu  sein,  denn  an¬ 
scheinend  ist  die  Abnahme  der  Geburtenzahl  doch  ein  Zeichen  der 
fortschreitenden  Kultur,  wenn  auch  in  gewisser  Weise  der  Überkultur. 
So  wiegen  sich  auf  beiden  Seiten  Vorteile  und  Nachteile  auf,  so 
daß  es  schwer  ist,  ein  Urteil  zu  fallen,  was  besser  oder  was  schlechter 
ist.  Für  ein  Volk  als  Gesamtheit  scheinen  allerdings  die  Nachteile 
vorzu wiegen,  andererseits  wird  ein  Volk,  das  vielleicht  in  einem 
solchen  Falle  unterliegen  würde,  gezwungen  sein,  in  der  Zukunft 
alle  Kräfte  anzuspannen,  um  die  Nachteile  einer  Niederlage  wieder 
auszuwetzen  und  alle  Kraft  an  seine  Vermehrung  zu  verwenden. 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  367 

Eine  Erscheinung  im  Völkerleben  wie  sie  Preußen  nach  Jena 
durchmachte. 

Daß  die  öffentliche  Meinung  sich  fortgesetzt  mit  dem  Geburten¬ 
rückgang  beschäftigt,  zeigen  z.  B.  die  Verhandlungen  des  deutschen 
Landwirtschaftsrates  am  15.  Februar  1912  in  Berlin.  Professor 
Dr.  Oldenberg  hielt  hier  ein  eingehendes  Referat  über  den 
Rückgang  der  Geburtenziffern  und  ihre  Beschränkung,  er  verlangte 
einen  erhöhten  Schutz  der  ländlichen  Bevölkerung  und  eine  Gesetz¬ 
gebung  auf  allen  Gebieten  im  Interesse  der  Bevölkerungszunahme. 
„Die  ländliche  Fruchtbarkeit  garantiert  allein  unsere  nationale 
Dauer.“  Professor  S  eh  ring  stimmte  Oldenberg  vollkommen 
bei  und  betonte  auch  die  Wichtigkeit,  die  Landbevölkerung  zu  er¬ 
halten.  „Solange  es  unserer  Landwirtschaft  nicht  gelingt,  die 
Massen  ihrer  Bevölkerung  auf  dem  Lande  in  dem  Maße  fest¬ 
zuhalten,  daß  wenigstens  kein  Rückgang  eintritt,  solange  ist  sie 
unserer  Nation  noch  großes  schuldig.  Wir  müssen  unserem  Volke 
ein  rein  agrarisches  Fundament  erhalten.“  Vgl.  dazu  Olden b erg 
und  die  Polemik  Oldenberg-Mombert.  Oldenberg  erblickt 
in  der  städtischen  Entwicklung  die  Hauptursache  des  Geburten^ 
rückgangs.  „Daß  aber  die  ländliche  Fruchtbarkeit  überhaupt 
nirgends  zurückgehe,  ist  mir  nicht  eingefallen  zu  behaupten.“ 
Zwischen  Stadt  und  Land  sind  keine  prinzipiellen  Unterschiede 
vorhanden. 

Auch  im  Reichstag  wurde  diese  wichtige  Frage  in  der  Sitzung 
vom  22.  März  1912  behandelt,  die  Abgeordneten  Heyn  und 
P  aas  che  waren  hier  die  Berichterstatter.  Heyn  verglich  den 
Bevölkerungsrückgang  mit  einem  „raschen  Selbstmord“. 

In  einer  Sitzung  des  erweiterten  Medizinalausschusses  be¬ 
richteten  die  Geheimräte  Pi  stör  und  Dietrich  über  diesen 
Gegenstand  (Vierteljahrschrift  für  gerichtliche  Medizin  und  öffent¬ 
liches  Sanitätswesen). 

Pistor  hob  besonders  die  willkürliche  Beschränkung  hervor, 
Dietrich  betonte  die  Abnahme  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  (die 
bei  uns  besonders  in  Flensburg  deutlich  zutage  tritt). 

Der  Umfang  des  Geburtenrückgangs  in  anderen  Ländern. 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  beschäftigt  man  sich  schon  in 
Frankreich  mit  dieser  Frage,  die  mehr  und  mehr  eine  brennende 
wird.  So  schlimm  ist  es  allerdings  noch  nicht  gewesen  wie  im 
Jahre  1911,  in  welchem  zuerst  die  Bevölkerung  Frankreichs  ab- 

24* 


368 


Hanssen, 


genommen  hat  und  zwar  nicht  so  ganz  wenig,  fast  um  0,1  Proz. 
Die  Geburtenzahl  hat  noch  nie  einen  so  tiefen  Stand  erreicht  wie 
im  verflossenen  Jahr.  Der  bekannte  französische  Nationalist 
Franc- Nohain  spricht  sogar  im  „Echo  de  Paris“  von  dem 
„sterbenden  Frankreich“:  „Es  ist  unmöglich,  daß  ein  normal 
denkendes  Gehirn,  die  große  Gefahr  verkennt,  die  in  diesen  Zahlen 
zum  Ausdruck  kommt.  38  Millionen  Franzosen  laufen  die  größte 
Gefahr,  eines  Tages  die  Sklaven  von  70  Millionen  Germanen  zu 
werden.“  Oder  wie  der  offizielle  Bericht  sagt,  „so  verschlechtert 
sich  die  Lage  Frankreichs  inmitten  der  an  Bevölkerung  weiter  zu¬ 
nehmenden  Staaten  unaufhörlich,  denn  der  Überschuß  an  Geburten 
beträgt  auf  10000  Einwohner  in  Italien  112,  in  England  115  und 
in  Deutschland  141“.  „Deutschland  hat  seit  1896  um  13  Millionen 
zugenommen,  Frankreich  nur  um  l3/4  Million.“ 

Die  französischen  Politiker  stehen  vor  sehr  schwierigen,  viel¬ 
leicht  unlösbaren  Problemen.  Aus  diesem  Bestreben  ist  also  auch 
das  Bemühen  Frankreichs  nach  der  Aufnahme  von  neuen  kräftigen 
Volksstämmen  in  den  Staat  zu  suchen.  Während  unsere  Kolonial¬ 
politik  aus  dem  Gesichtspunkt  entstand,  dem  in  der  Gründungs¬ 
periode  bestehenden  Bevölkerungsüberschuß  einen  Aderlaß  nach 
unseren  Kolonien  zu  verschaffen,  herrscht  in  Frankreich  das  Be¬ 
streben  vor,  neue,  von  der  Kultur  unberührte  Völker  in  den 
französischen  Staat  einzuverleiben. 

Auch  *in  England  steht  es  nicht  viel  besser,  hier  fängt  man 
an,  über  die  Verminderung  der  Bemannung  für  die  Flotte  zu  klagen, 
die  Mittelmeerflotte  mußte  schon  aus  diesem  Grunde  zurückgezogen 
werden,  weil  es  an  Bemannung  für  die  Schiffe  fehlte.  Es  handelt 
sich  um  5000  Köpfe  für  augenblickliche  und  noch  viel  mehr  für 
besondere  Zwecke.  Nach  der  Münchener  Medizinischen  Wochen¬ 
schrift  ist  im  vereinigten  Königreich  die  jährliche  Geburtenziffer 
von  32,1  Proz.  (1881—1885)  auf  27,7  Proz.  in  den  Jahren  1901 — 1905 
zurückgegangen ,  also  eine  Abnahme  von  4,4  Proz.  in  zwanzig 
Jahren. 

Auch  in  Ländern,  die  noch  keine  so  fortgeschrittene  Kultur 
haben  wie  die  Industriestaaten,  nimmt  die  Geburtenzahl  ab,  ich 
führe  dafür  als  Beispiel  Schweden  an.  Nach  den'  amtlichen 
statistischen  Mitteilungen  hatte  Schweden  im  Jahre  1911  nur  einen 
Zuwachs  von  39000  Personen,  die  geringste  Zahl  seit  1905.  Eine 
so  niedrige  prozentuale  Geburtsziffer  wie  1911  ist  seit  Mitte  des 
18.  Jahrhunderts  nicht  beobachtet  worden  (vgl.  bei  uns  Hamburg 
und  Frankfurt),  auch  die  Anzahl  der  geschlossenen  Ehen  ist  die 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkernngsklassen  usw.  369 

niedrigste  der  letzten  5  Jahre.  Andererseits  hat  man  allerdings 
in  Schweden  noch  nie  einen  so  niedrigen  Prozentsatz  von  Todes¬ 
fällen  feststellen  können.  Dieselbe  Erscheinung,  die  auch  bei  uns 
beobachtet  wird. 

Wenn  wir  diesen  Geburtenrückgang  in  anderen  Ländern  wie 
in  England  und  Frankreich  betrachten,  so  entlocken  sie  uns  viel¬ 
leicht  ein  Achselzucken  und  wir  meinen  mit  Recht,  daß  Frankreich 
mit  seiner  abnehmenden  Bevölkerung  ein  niedergehendes  Land  ist, 
das  sich  selbst  langsam,  aber  sicher  aus  der  Zahl  der  Großstaaten 
streicht.  Wenn  wir  dasselbe  aber  auch  in  Ländern  wie  in  Schweden 
beobachten,  so  sollte  uns  doch  ein  solches  Verhalten  veranlassen, 
auch  bei  uns  zum  Vergleich  diesen  Verhältnissen  Beobachtung  zu 
schenken  und  zu  betrachten,  wie  weit  bei  uns  sich  eine  Abnahme 
der  Geburtenzahl  bemerklich  macht.  Diese  ist  in  der  Tat  schon 
sehr  deutlich  in  Erscheinung  getreten  und  nimmt  auch  bei  uns 
noch  weiter  zu  und  es  lohnt  sich  wohl  einmal  statistisch  in  einem 
kleineren  Bezirk  dieser  Frage  näher  zu  treten,  ich  habe  für 
diesen  Zweck  die  Verhältnisse  in  Schleswig-Holstein  einer  Unter¬ 
suchung  unterzogen.  Schleswig-Holstein  zeichnet  sich  durch  sehr 
genaue  Zahlen  aus  und  durch  weiter  zurückliegende  als  in  anderen 
Provinzen.  Besondere  Beachtung  schenkte  ich  den  Verhältnissen 
in  den  Städten. 

Die  Zahlen  der  Geburten  in  Schleswig-Holstein  lassen  sich 
schon  in  Zeiten  verfolgen,  aus  welchen  von  anderen  Gegenden 
noch  keine  Vergleichszahlen  vorliegen,  weil  erstens  die  Kirchen¬ 
bücher  nicht  genau  genug  geführt  sind  und  wenn  dies  der  Fall 
ist,  zum  Vergleich  die  Zahlen  der  Einwohner  nicht  bekannt  sind. 
Dank  der  genau  geführten  Listen  im  Amte  Segeberg  kann  ich 
schon  aus  dem  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  zuverlässige  Zahlen 
angeben,  auch  nach  meinen  aus  den  Kirchenbüchern  der  Gemeinde 
Münsterdorf  berechneten  Zahlen  könnte  ich  wohl  die  Geburten¬ 
zahlen  angeben,  doch  fehlen  hier  für  größere  Zeiträume  die  Zahlen 
der  Einwohner,  so  daß  man  Prozentzahlen  nicht  berechnen  kann. 
Her  mb  erg  gibt  für  1709  die  Zahl  38,2  Prom.  an.  In  Hamburg 
und  Frankfurt  fangen  die  Zahlen  erst  etwa  von  1820  an  zu¬ 
verlässig  zu  werden.  Meine  Zahlen  nach  Hensler  sind  folgende 
(Tabelle  1): 


370 


Haussen, 


Tabelle  la. 


Lebendgeboren  im  Kirchspiel  Segeberg. 


1742 

192 

1754 

181 

43 

188 

55 

199 

44 

181 

56 

166 

45 

176 

57 

170 

46 

166 

58 

174 

47 

170 

59 

178 

48 

196 

60 

207 

49 

157 

61 

181 

50 

.  159 

62 

197 

51 

181 

63 

189 

52 

168 

64 

245 

53 

178 

65 

201 

In  12  Jahren 

2112 

66 

228 

In  13  Jahren  2506 


Summe  4618  in  25  Jahren.  Durchschnitt  184,7  Geburten  —  auf 
1000  Lebende  =  38,87. 

Einwohner:  5010. 

Die  Zahl  schwankte  also  von  etwa  31,3  im  Jahre  1749  auf 
48,2  Prom.  im  Jahre  1764.  Im  Durchschnitt  war  sie  ähnlich  in 
Münsterdorf  1709  nach  Hermberg  38,2  auf  1000  der  mittleren 
Bevölkerung. 

Tabelle  1  b. 

Auf  1000  Einwohner  kamen  Geburten  in  Frankfurt. 


1811 

29,8 

1817 

27,0 

1823 

23,5 

1837 

20,0 

1840 

20,7 

1843 

20,7 

1846 

19,8 

1849 

18,6 

Preußen  1816 — 20 

42,5 

Tabelle  1  c. 


Verhältnis  zm 

aller  Geborenen 

wie  1  zu 

Bevölkerung 

der  Lebend¬ 
geborenen  allein 
wie  1  zu 

Preußen  1844 — 53 

25,47 

26,50 

Dänemark  1845 — 54 

30,83 

32,28 

Schleswig-Holstein  1845 — 54 

32,8 

auf  1000  Einwohner 
ohne  Totgeborene 

Verhältnis  der  Geburten 

30,5 

Die  ÄDnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  371 

Aus  älterer  Zeit  gebe  ich  noch  einige  Zahlen  aus  Frankfurt 
(Tabelle  lb)  und  Preußen  (Tabelle  lc).  Zu  beachten  sind  besonders 
die  auffallend  niedrigen  Prozentzahlen  von  19,8  und  18,6  Prom.  in 
den  Jahren  1846  und  1849  in  Frankfurt.  Diese  niedrigen  Zahlen 
sind  zum  Vergleich  mit  der  Jetztzeit  sehr  zu  beachten.  Bemerkens¬ 
wert  sind  in  Segeberg  noch  die  geringen  Zahlen  für  die  un¬ 
ehelichen  Geburten,  meist  unter  2  Proz.,  ebenso  wie  ich  sie  in 
Münsterdorf  beobachten  konnte.  Aus  Segeberg  sind  auch  die  Zahlen 
der  Eheschließungen  bekannt.  Sogar  die  Zahl  der  aus  einer  Ehe 
hervorgegangenen  Kinder  gibt  Hensler  an.  Danach  gaben  1687 
bis  1729  10  Ehen  35  Kinder,  von  da  an  bis  1766  aber  36. 

Zahlen  für  die  ganze  Provinz  stehen  mir  erst  in  den  letzten 
tTahren  vor  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  zur  Verfügung,  sie 
finden  sich  bei  Oester  len  angegeben  (Tabelle  lc).  Zum  Ver¬ 
gleich  dazu  Preußen  und  Dänemark. 

Aus  der  Provinz  gibt  Bocken  da  hl  dann  von  1867  an  Zahlen, 
dieselben  sind  folgende: 


Tabelle  2. 


Jahr 

Auf  1000  Einwohner  wer 

Schleswig  Holstein 

den  gehören 

Provinz 

Auf  1000  Geborene  waren  unehelich 
Schleswig  j  Holstein  Provinz 

1867 

28.6 

33,4 

31,4 

65,1 

121,2 

99,7 

68 

29,3 

32,8 

31,4 

71,4 

116,9 

96,4 

69 

28,1 

33,1 

31,0 

68,2 

108,9 

93,9 

70 

31.3 

33,3 

31,7 

65,4 

110,1 

93,0 

71 

27,4 

30,2 

29,0 

57,8 

107;6 

88,8 

72 

30,4 

34,4 

32,9 

65,6 

102,0 

88,3 

73 

29,8 

34,7 

32,7 

66,3 

108,4 

93,0 

74 

30,1 

36,0 

33,6 

61,9 

104,5 

89,1 

Von  1872  an  lassen  sich  dann  auch  die  Zahlen  für  die  einzelnen 
Kreise  verfolgen,  meist  sogar  für  Stadt  und  Land  gesondert.  Diese 
Zahlen  finden  sich  auf  der  Tafel  10.  Zum  Vergleich  habe  ich  die 
Jahre  1883,  1893  und  1910  herangezogen.  Es  ergibt  sich  so  eine 
Übersicht  über  größere  Zeiträume,  aus  welchen  man  Schlüsse  ziehen 
'  kann,  da  sie  fast  ein  halbes  Jahrhundert  umfassen.  Für  die  ganze 
Provinz  betreffen  die  Zahlen  sogar  einen  Zeitraum  von  70  Jahren. 

Was  die  Geburtenzahl  in  diesen  Jahren  (1867 — 1874)  anbelangt, 
so  stand  die  Provinz  damals  denjenigen  der  alten  Provinzen  nach. 
Die  höchste  Geburtenzahl  lag  zwischen  30,3 — 33,6,  dagegen  zeigten 
Preußens  alte  Provinzen  1844 — 1853  37,7  Prom.  und  selbst  der 
dünnstbevölkerte  Regierungsbezirk  Köslin  zeigte  in  dem  weniger 
günstigen  Jahre  1873  mehr  als  39  Prom.  In  Köslin  wohnten  2213, 
in  Schleswig-Holstein  3197  Menschen  auf  der  ReichsDMeile.  Dort 


372 


Haussen, 


waren  von  der  Einwohnerschaft  nicht  ganz  ein  Drittel  (1:3.37), 

hier  fast  ein  Dritteil  (1 : 3,05)  Stadtbewohner.  Aber  das  Land  zeigte 

dort  im  Jahre  1873  39,5  Prom.,  hier  nnr  31,0  Prom.,  die  Städte 

dort  37,5,  bei  uns  36,2  Prom.  Lebendgeborene.  In  Schleswig- 

Holstein  hatten  die  Städte  mit  weniger  als  10  000  Einwohner  eine 

größere  Geburtenzahl  als  das  Land  (33,1 : 31,0).  Die  größeren  Städte 

mit  mehr  als  10000  Einwohnern  (Altona,  Kiel,  Flensburg,  Schleswig, 

Rendsburg)  hatten  163477  Einwohner,  ihre  Fruchtbarkeit  war 

39,2  Prom.  Altona  hatte  eine  sehr  hohe  Ziffer;  niedrige  Ziffern 

der  Geburten  aber  die  Kreise  Flensburg,  Steinburg,  Hadersleben, 

Kendsburg,  Sonderburg  und  Tondern.  Die  Hamburger  Zahlen  habe 

•  • 

ich  von  1820  an  in  meiner  Arbeit  (Uber  die  Säuglingssterblichkeit 
in  früheren  Jahrhunderten)  verglichen  mit  der  Säuglingssterblich¬ 
keit  und  verschiedenen  sozialen  Faktoren.  Von  1872  an  sind  die 
Zahlen  nach  den  Berichten  des  Medizinalinspektorats  folgende: 


Tabelle  3. 


Stadt 

Land 

1872 

37,71 

1901 

28,86 

31,55 

73 

37,91 

02 

28,00 

29,92 

74 

39,48 

03 

26,91 

29,17 

75 

39,56 

04 

26,87 

29,23 

76 

40,77 

05 

26,65 

28,51 

77 

40,79 

06 

26,63 

28,37 

78 

40,02 

07 

26,03 

27,30 

79 

40,14 

08 

26,52 

26,67 

80 

39,79 

09 

25,20 

24,66 

81 

37,85 

1910 

23,95 

24,55 

82 

38,05 

11 

22,65 

23,66 

83 

37,17 

Stadt 

Land 

84  36,46 

85  35,81 

86  34,85 

87  34,68 

88  35,28 

89  36,84 

90  36,94 

91  36,87 

92  35,11 

93  36,87 

94  35,84 

95  34,52 

96  34.52 

97  32,92 

98  32,06 

99  30,46 

1900  29,19 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  373 

Zu  beachten  ist  der  stetige  allmähliche  Rückgang,  die  hohen 
Zahlen  1876 — 1879,  die  Differenz  zwischen  Stadt  und  Land  mit 
einem  geringen  Plus  zugunsten  des  Landes,  das  aber  ebenso  wie 
die  Stadt  den  stetigen  langsamen  Rückgang  sehr  auffallend  zeigt. 

Für  die  übrigen  Nachbarprovinzen  kommen  die  Zahlen  von 
Hannover  (Tabelle  5),  Pommern  (Tabelle  6)  und  Mecklenburg 
(Tabelle  4)  in  Betracht.  Sie  ergeben  im  großen  und  ganzen  das¬ 
selbe  Bild  wie  in  Schleswig-Holstein.  Siehe  die  Tafeln.  Vergleiche 
auch  Lübeck  S.  14.  Die  Zahlen  für  ganz  Deutschland  finden  sich 
bei  Tugendreich  S.  59. 

Tabelle  4. 


Zahl  der  Geburten  in  Mecklenburg-Schwerin  nach  Brüning. 

(Prom.  der  Einwohner.) 


Bostock 

eheliclm  unehel. 

Schwerin 

eheliche  unehel. 

Wismar 

eheliche  unehel. 

Güstrow 

eheliche  unehel. 

1876-80 

81-85 

86-90 

91-95 

96-00 

1901—05 

26,24 

24,04 

25,64 

25,38 

25,59 

24,91 

3,96 

4,12 

4,39 

4,57 

4,38 

4,28 

28,29 

26.41 
25,66 

21.42 
23,07 
22,31 

3,92 

3,52 

3,29 

2.88 

2,98 

2,36 

28,79 

25.72 

25,40 

25,35 

25,91 

25,60 

4,49 

4,26 

4,23 

3,91 

3,63 

3,12 

26,75 

25.80 

26,51 

26,72 

26,19 

24,18 

4,72 

4,59 

4.17 

3,88 

3,74 

3,41 

Durchschn.  j 

25,3 

4,28 

25,03 

3,16 

26,13 

3,94 

26,25 

4,1 

W* 

eheliche 

iren 

unehel. 

Malchin 

eheliche  unehel. 

Par< 

eheliche 

ühim 

unehel. 

Ludw 

eheliche 

igslust 

unehel. 

1876—80 

81—85 

86-90 

91—95 

96—00 

1901-05 

31,65 

27,21 

28,62 

29,20 

28,42 

27,91 

5,44 

4,93 

5,09 

4,60 

4,17 

3,37 

29,94 

28,71 

28,56 

28,30 

27,36 

26,38 

4,43 

4,11 

3.92 

3,95 

3,42 

3,09 

27,68 

25,62 

27,08 

25,41 

23,34 

22,70 

4,06 

3,92 

3,97 

3.76 

3;29 

3,24 

28,74 

25,25 

26,12 

24,88 

24,91 

24,66 

4,86 

4,09 

3,88 

3,93 

3,42 

3,22 

Durchschn. 

28,84 

4,60 

28,21 

3,82 

25,31 

3,71 

25,76 

3,90 

Eil 

eheliche 

mitz 

unehel. 

Grevesmühlen 

eheliche  unehel. 

Hag 

eheliche 

enow 

unehel. 

1876-80 

81—85 

86-90 

91—95 

96—00 

1901—05 

26,59 

25,14 

25,26 

25,46 

27,21 

25,99 

3,73 

3,69 

3,44 

2,87 

3,00 

2,58 

24,40 

24,17 

22.90 
22,82 

23.90 
24,03 

4,50 

4,62 

4.58 
4,56 
4,38 

3.59 

30,90 

27,33 

27,81 

27,02 

25,25 

24,55 

4,17 

3,85 

3,93 

3,63 

3,47 

2,99 

Durchschn.  | 

23,94 

3,22  |  23,70 

4,44 

27,14 

3,67 

374  Hanssen, 

Wir  haben  mit  Ausnahme  der  Aushebungsbezirke  Rostock, 
Grevesmühlen  und  Ribnitz,  in  welchen  die  Unterschiede  nicht  sehr 
auffallend  sind,  bei  allen  übrigen  eine  Abnahme  der  Gesamtgeburten 
zu  verzeichnen,  und  zwar  sind  die  Unterschiede  wie  z.  B.  in 
Schwerin  mit  rund  33  Prom.  und  25  Prom.  ganz  eklatante,  ebenso 
in  Hagenow  36 — 28  Prom.  Wir  beobachten  ferner  auch  in  den 
Aushebungsbezirken  Schwerin,  Wismar,  Güstrow  und  Malchin  eine 
deutliche,  in  den  übrigen  eine  weniger  deutliche  Abnahme  der 
Lebendgeburten. 

Die  unehelichen  Geburten  haben  in  Rostock  zugenommen,  sonst 
überall  abgenommen,  oft  sehr  beträchtlich  in  Schwerin,  Wismar, 
Güstrow,  Waren  usw. 


Tabelle  5. 

Geburtenziffern  in  Hannover. 


Reg.-Bez. 

1901 

1902 

1903 

1904 

1905 

1906 

1907 

1908 

1909 

1910 

Hannover 

32,73 

31,33 

29,77 

29,67 

28,59 

28,35 

27,98 

27,59 

26,54 

25,42 

Stade 

33,91 

33,67 

33,33 

37,52 

32,62 

33.40 

32,47 

32,86 

31,38 

30,64 

Lüneburg 

30,75 

29,98 

29,15 

29,59 

28,67 

28,70 

28,53 

28,55 

27,77 

27,73 

Hildesheim 

32,52 

31,59 

30,63 

30,73 

29,34 

29,53 

28.35 

28,51 

27,61 

26,59 

Osnabrück 

34,15 

34,58 

33,43 

33,05 

33,09 

33,20 

34,09 

32,73 

33,58 

32,81 

Aurich 

32,07 

32,34 

31,13 

31,26 

30,98 

31,34 

31,57 

31,66 

31,05 

30,10 

Auch  in  Hannover  zeigt  sich  dasselbe  Bild. 


Tabelle  6. 

Geburtenziffern  in  Pommern  nach  P  ei  per. 

Stadt  Land 


Kreis 

1881-85 

1901—05 

1881—85 

1901—05 

Stettin 

33,8 

33,3 

36,8 

36,5 

Anklam 

33,8 

32,9 

34,6 

33,7 

Usedom 

36,4 

29,8 

40,0 

33,7 

Uckermünde 

36,9 

33,0 

43,2 

41,7 

Randow 

43,7 

34.9 

46,7 

42,0 

Stettin 

38,6 

34,2 

— 

— 

Greifenhagen 

38,2 

29,1 

39,6 

35,1 

Pyritz 

35,0 

30,5 

38,3 

37,4 

Saatzig 

37,4 

28,5 

38,7 

31,1 

Naugard 

36,3 

32,2 

36,9 

31,3 

Kammin 

33,9. 

29,3 

38,4 

34,3 

Greifenberg 

33,7 

35,5 

36,4 

34,9 

Regenwalde 

37,7 

33,0 

38,8 

35,3 

Schiebelbein 

37,5 

31,9 

37,1 

33,9 

Dramburg 

37,0 

33,5 

38,1 

32,4 

Neu  Stettin 

36,6 

34.8 

42,9 

37,1 

Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  375 


Stadt  Land 


Kreis 

1881—85 

1901—05 

1881—85 

1901—05 

Belgrad 

36,0 

34,7 

40,8 

38,0 

Kolberg 

35,2 

32,6 

40,2 

38,0 

Köslin 

34,2 

30,4 

38,5 

34,9 

Bublitz 

42,7 

35,4 

44,3 

37,8 

Schlawe 

36,7 

33,4 

37,1 

36,5 

Rnmmelsburg 

89,4 

32,8 

43,3 

38,4 

Stolp 

37,9 

35,1 

38,2 

35,9 

Lauenburg 

34,1 

37,7 

41,1 

40,1 

Bütow 

38,8 

34,1 

42,6 

41,5 

Rügen 

28,3 

31,2 

33,8 

35,1 

Stralsund 

28,1 

26,4 

— 

— 

Franzberg 

31,8 

30,5 

37,2 

36,3 

Greifswald 

34,1 

35,0 

37,0 

31,0 

Grimmen 

36,3 

40,8 

38,5 

37,7 

Also  nach  Peiper  ein  Rückgang  der  Geburtenziffer  in  allen 
3  Regierungsbezirken  Pommerns,  besonders  auf  dem  Lande  trotz 
Zunahme  der  Eheschließungen. 

„Es  ist  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  daß  wir  in  Pommern 
nicht  mehr  und  mehr  zu  dem  Zweikindersystem  hinsteuern,  sondern 
daß  wir  schon  mitten  darin  sind.“ 


Tabelle  7. 


Geburtenzahlen  Hamburgs  auf  1000  Einwohner  einschließlich 


Totgeborene. 


1820 

29,83 

1830 

31,73 

1840 

32,54 

1850 

28,35 

1860 

30,66 

1872 

37,71 

1877 

40,77 

1880 

39,79 

1890 

’  36,94 

1893 

36,87 

1901 

29,08 

1902 

28,16 

1903 

27,10 

1904 

27,06 

1905 

26,80 

1906 

26,77 

1907 

26,13 

1908 

26,54 

1909 

25,16 

1910 

24,00 

1911 

22,73 

auf  1000  Einwohner 
Lebendgeborene 


einschließlich 

Totgeborene 


A 


376 


Haussen, 


In  Hamburg  kann  man  auch  dank  der  genauen  Listenführung 
die  Zahl  der  Geburten  in  den  einzelnen  Bezirken  schon  von  1870 
an  verfolgen,  für  die  Jahre  1893 — 1900  hatte  die  höchste  Zahl  der 
Geburten  der  Bezirk  Billwärder-Ausschlag,  also  ein  reiner  Arbeiter¬ 
bezirk  =  46,4  Prom.  Vergleicht  man  in  Hamburg  die  verschiedenen 
Bezirke  ihrer  Wohlhabenheit  nach,  so  kann  man  deutlich  nach- 
weisen,  daß  schon  vor  zehn  Jahren  die  Geburtenzahlen  in  den 
reicheren  Bezirken  sehr  niedrige  waren,  in  Harvestehude  z.  B. 
1900  nur  17,7  Prom.  Im  Durchschnitt  am  niedrigsten  war  aber 
die  Zahl  der  Geburten  im  Bezirk  Rotherbaum,  dem  zweithöchst- 
besteuerten  in  Hamburg.  Abgenommen  hatten  aber  die  Geburten 
auch  in  den  Arbeitervierteln,  beispielsweise  in  dem  Distrikt  Bill¬ 
wärder-Ausschlag  von  51,2  Prom.  auf  39,9  Prom.  (1893 — 1900).  In 
Winterhude  hatte  die  Zahl  sogar  1893  53,2  Prom.  betragen  (die 
höchste  Zahl  in  Hamburg).  In  Hamm  und  Horn  waren  die  ent¬ 
sprechenden  Zahlen  im  Durchschnitt  1893 — 1900  38,5  und  37,6  Prom. 
gewesen.  In  der  Uhlenhorst  waren  die  Geburten  noch  1893  50,1  Prom. 
hoch  gewesen,  1900  betrugen  sie  nur  noch  37,2  Prom.  Also  in 
manchen  Stadtteilen,  auch  denen  mit  Arbeiterbevölkerung,  ein  sehr 
erheblicher  Abfall  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit. 

Lübeck. 


Eheschließungen 

Geburten 

Eheschließungen 
auf  1000  Einw. 

Geburten 
auf  1000  Einw. 

1911 

744 

2177 

7,50 

21,95 

1910 

696 

2394 

7,10 

24,43 

1909 

799 

2559 

8.3 

25,96 

Tabelle  8. 

Die  Vergleichszahlen  der  Geburten  zwischen  Schleswig-Holstein 
und  den  Nachbarländern  sind  also  folgende: 


1872 

Schleswig-Holstein  34,0 
Städte 
Land 

Altona  1904  = 

Kiel  1904  = 
Flensburg 

Segeberg  1742 — 1753 


1883  1893  1910  1867  1874 
32,0  34,5  27,96  28,6  30,1 

33,2  36,1 

31,1  33,6 

28,53  22,88 
32,89  25,17 
22,9 

38,87  Münsterdorf  1707  =  38,2 


Mecklenburg  —  1881 — 85  1891 — 96  — 

Rostock  ebel.  24,04  unebel.  4,12  25,38—4,57 

1901  1910 


1880  1909 

34,5  28,82 


1908 

29,87 


32,73  25,42 
33,91  30,04 
30,75  27,73 


Hannover 

Stade 

Lüneburg 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  377 


Pommern 

1881—85  1901—05 

Stettin  Stadt 

33,8 

33,3 

Stettin  Land 

36,8 

36,5 

Stettin 

38,6 

34,2 

1901  1910 

Preußen 

36,52  30,83 

mit  Totgeb. 

mit  Totgeb. 

1872 

1893  1910 

Hamburg 

37,71 

36,87  24,00 

Stadt 

22,65 

Land 

23,66 

Deutschland 

Lebendgeb. 

Prom.  der  Einwohner 

1876—80 

39,2 

1881—85 

37,0 

1886-90 

36,5 

1891—95 

36,3 

1896-00 

36,0 

1901—05 

34,3 

Lübeck 

Lebendgeb, 

1911 

21,95 

Was  die  Zahl  der  Geburten  in  Preußen  betrifft,  so  hat  sie 
auch  hier  seit  1901  meist  eine  Abnahme  erfahren,  nur  die  Jahre 
1904  und  1906  machten  davon  eine  Ausnahme.  1901  wurden  36,5, 
1903  34,7  gezählt  ;  1904  waren  es  wieder  35,0;  1906  34,0  Proz., 
dagegen  1905  nur  33,8  Proz.,  1907  zeigte  nur  mehr  33,2  Proz., 
1908  weiter  abnehmend  33,0,  1909  32,0  und  1910  nur  noch  30,8  Proz. 
Geburten  auf  1000  Einwohner. 

In  Schleswig-Holstein  lassen  sich  die  Zahlen  schon  von  1872 
(Tabelle  9  und  10)  an  sehr  genau  verfolgen  und  zwar,  was  sehr 
wichtig  ist,  für  Stadt  und  Land  gesondert.  Ich  habe  für  die 
Jahre  1872,  1883,  1893  und  1910  die  betreffenden  Zahlen  aus¬ 
gerechnet. 

Sehr  hohe  Geburtenzahlen  hatten  1872  Wandsbek  mit  51,5  Prom., 
ähnlich  Gaarden,  Liitjenburg  und  Preetz,  sehr  niedrige  Krempe, 
Augustenburg  und  besonders  Christiansfeld  (bemerkenswert  durch 
seine  Herrnhuter  Kolonie).  Auch  Blankenese  wies  niedrige  Zahlen 
auf.  1883  zeigten  dagegen  die  Städte  des  Kreises  Hadersleben 
niedrige  Zahlen,  auch  Augustenburg,  Norburg  und  Sonderburg 
hatten  niedrige  Zahlen  aufgewiesen.  Ebenso  Nortorf  und  Rends¬ 
burg.  Hohe  Geburtszahlen  auf  dem  Lande  hatten  die  Kreise  Süder- 
Dithmarschen ,  Plön  und  Kiel-Land,  ebenso  Stormarn.  Niedrige 
Zahlen  hatte  neben  den  Städten  auch  das  Land  im  Kreise  Sonder¬ 
burg,  etwas  günstigere  Apenrade  und  Steinburg.  1893  war  be- 


378 


Hanssen, 


Tabelle  9. 


Geburtenzahlen  der 

Auf  100  Gehurten 

Auf  1000  Einwohner 

Jahr 

Provinz 

unehelich 

lebendgeboren 

Staat 

Stadt 

i 

Land  !  Summe 

1 

Stadt 

Land 

Sa. 

Stadt 

Land 

Sa. 

1880 

13  485 

23  059 

36  544 

34,5 

1883 

13  701 

22  759 

36  460 

11,5 

8,0 

9,3 

33,2 

31,1 

32,0 

36,9 

1884 

13  998 

23  364 

36  362 

11,5 

8,6 

9,7 

33,4 

32,1 

32,6 

37,4 

1885 

14  199 

23  087 

37  286 

11,1 

8,2 

9,3 

33,5 

31,8 

32,4 

37,4 

1892 

17  352 

23  622 

40  974 

10,8 

8,0 

9,2 

36,1 

32,0 

33,6 

37,0 

1893 

17  369 

23  926 

41  195 

10,6 

8,1 

9,2 

36,1 

33,6 

34,6 

38,6 

1894 

17  512 

23  453 

40  965 

11,2 

8,4 

9,2 

36,4 

33,2 

34,3 

— 

1898 

44  225 

33,3 

33.3 

33,3 

38,6 

1899 

32,7 

32,4 

32,5 

38,3 

1908 

21058 

26  878 

47  936 

»Alle  K 

reise  in 

meinem 

29,87 

32,93 

1909 

20  490 

26  390 

46  880 

IBuche  über  die  Saug- 
/  lingssterblichkeit  in 

28,82 

31,92 

1910 

44  832 

}  Schleswig-Holstein. 

27,92 

30,2 

Geburtenziffern  auf  1000  am  1.  I.  Lebende. 


1902 

31,96 

1906 

30,14 

1903 

31,10 

1907 

29,74 

1904 

31,75 

1908 

29,93 

1905 

30,26 

1909 

28,87 

1876 

34,9 

sonders  die  Zahl  der  Geburten  in  den  Städten  Kiel  und  Neumünster 
gestiegen,  eine  Folge  des  wirtschaftlichen  Aufschwunges  in  Kiel 
durch  die  Entwicklung  der  Marine.  Diese  Steigerung  hatte  sich 
auch  auf  den  Kreis  Neumünster  erstreckt,  besonders  auf  den  länd¬ 
lichen  Teil  desselben  (Gaarden!).  Hoch  waren  die  Geburtenzahlen 
auch  im  Kreise  Süder-Dithmarschen  auf  dem  Lande.  Besonders 
niedrig  waren  sie  dagegen  auf  dem  Lande  im  Kreise  Sonderburg 
und  Eiderstedt  sowie  im  Kreise  Hadersleben.  Das  Jahr  1910  zeigte 
dagegen  eine  sehr  erhebliche  Abnahme  der  Geburten  in  allen 
Städten,  im  Kreise  Flensburg-Land  betrug  die  Zahl  der  Geburten 
sogar  nur  mehr  8,2  Prom.,  in  Lauenburg  18,1  Prom.,  in  Tondern 
und  Plön  sowie  in  Norder-Dithmarschen  nur  wenig  über  20  Prom. 
Durchgehend  machte  sich  in  den  Städten  eine  starke  Abnahme 
bemerklich.  Aber  im  Vergleich  der  Jahre  1872  und  1910  haben 
die  Geburten  auch  auf  dem  Lande  in  Schleswig-Holstein  ab¬ 
genommen.  Sehr  erheblich  sogar  im  Kreise  Pinneberg  und  Stormarn, 
hier  ist  allerdings  das  Ausscheiden  von  Wandsbek  zu  beachten. 
Zugenommen  haben  dagegen  die  Geburten  in  den  Kreisen  Tondern, 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  379 


Tabelle  10. 


Lebende  Geburten  auf  1000  Einwohner. 


Stadt 


Land 


1872  1883 


Altona 

Ottensen 

Apenrade 

Eckernförde 

Garding 

Tönning 

Flensburg 

Glücksburg  (Fl. 

Christiansfeld 

Hadersleben 

Bredstedt 

Husum 

Kiel 

Neumünster 

Heide 

We>selburen 

Burg 

Heiligenhafen 

Neustadt 

Oldenburg 

Barmstedt 

Elmshorn 

Klostersande 

Pinneberg 

Ütersen 

Yorm  Stegen 

Wedel 

Blankenese 

Lütjenburg 

Plön 

Preetz 

Dorf  Gaarden 
Nortorf 
Rendsburg 
Arnis 

Friedrichstadt 

Kappeln 

Schleswig 

Bramstedt 

Segeberg 

Augustenburg 

Nor  bürg 

Sonderburg 

Glückstadt 

Itzehoe 

Kellinghusen 

Krempe 

Wilster 

Horst 

Oldesloe 

Reinfeld 

Wandsbek 

Meldorf 

Hoyer 

Lygumkloster 

Tondern 

Wyk 

Lauenburg 

Städte 

Provinz 

Land 


39,2  \ 
) 


Land) 


33,2 

26,6 

31.1 

36.8 
31,0 

27.9 

34.6 

10.2 

29.1 
32,3 

32.2 

38.5 

36.3 
3H,5 
40,0 

30.7 

39.4 

34.1 

33.9 

32.2 

29.6 

36.1 

28.7 

30.7 

36.4 

39.6 

24.3 

40.9 
29,0 
40,0 

46.3 

29.7 

25.7 

28.9 

30.1 

30.5 

26.9 

36.7 

31.1 

15.6 

29.7 

25.3 

28.3 
30‘9 

29.3 

22.5 

28.5 

36.4 

26.4 

24.6 

51.5 

27.8 

26.5 

26.8 
27,0 
31,0 


34,0 


37,1 

26,8 
29,9 

)30.1 

)33,3 

U 

/ 


26,6 


1 30,0 
36,8 

36.6 

}31,9 

129.6 


31,8 


|32,t 

36,6 +  N. 
}27,6 


I 


/ 


^  23,5 
)28,0 


i 


I 


23,8 

|28,6 

^38,0 


) 


[30,1 


) 


30,9 

33,2 

32,0 

31,1 


1893 

1910 

1883 

1893 

1910 

37,2 

22,88 

— 

— 

— 

30,2 

28,9 

27,8 

29,7 

32,9 

33,4 

39,8 

32,7 

33,0 

16,91 

29,7 

20,5 

30,2 

27,8 

26,5 

33,7 

30,6 

22,9 

8,21 

}29,3 

31,3 

26,2 

24,4 

22,6 

30,7 

27,6 

32,2 

35,5 

28,4 

28,8 

30,8 

28,9 

44,9 

25,17 

_ 

— 

— 

47,8+  28,9 

34,0 

35,9 

K.  L.  29,8 

35,1 

20,8 

33,2 

35,0 

33,8 

30,1 

26,4 

33,3 

34,3 

31,3 

36,6 

26,3 

31,7 

35,6 

27,4 

33,3 

20,8 

34,4 

35,0 

28,9 

— 

— 

— 

35,9+ 

— 

32,0 

24.9 

32,5 

35,9 

30,0 

27,1 

22,8 

29,5 

30,2 

30,8 

26,0 

26,7 

30,0 

33,8 

30,6 

27,2 

23,7 

25,6 

26,9 

31,1 

35,3 

24,7 

27,9 

36,3 

31,8 

_ 

_ 

— 

— 

— 

'35,4 

)26,4 

cp 

39,8 

)29,9 

1 

27,6 

— 

32,9 

\ 

29,1 

32,9 

40,2 

32,4 

29,5 

20,8 

29,5 

32,2 

32,8 

) 

26,9 

18,1 

26,9 

32,2 

26,6 

36,1 

— 

— 

— 

34,5 

27,96 

34,5 

— 

— 

33,6 

— 

31,1 

33,6 

— 

380  Hanssen, 

Steinburg,  Sonderburg,  Segeberg,  Schleswig,  Norder-Dithmarschen, 
Hadersleben  und  Husum.  Man  kann  also  sagen,  daß  das  Land 
bis  jetzt  noch  weniger  an  der  Abnahme  der  Geburten  beteiligt 
ist  als  die  Städte,  ob  es  allerdings  auf  die  Dauer  den  erheblichen 
Ausfall  der  Städte  wettmachen  kann ,  erscheint  zweifelhaft. 
Immerhin  kann  bis  heute  noch  das  Land  als  die  Quelle  des  Lebens 
angesehen  werden.  Das  Land  liefert  die  meisten  Geburten,  die 
meisten  Soldaten,  die  kräftigsten  Menschen,  auch  fallen  in  ihm  die 
wenigsten  Säuglinge  einem  vorzeitigen  Tode  zum  Opfer.  Mit  der 
Vermehrung  der  städtischen  Bevölkerung,  mit  der  Landflucht  und 
dem  Strömen  der  Landbewohner  nach  den  großen  Städten  wird 
mit  der  Zeit  dieser  Quell  versiegen.  Dieser  Landflucht  durch 
Schaffung  günstiger  Arbeitsgelegenheit  und  Herstellung  guter 
Wohnungen  besonders  bei  den  Landarbeitern  entgegen  zu  wirken, 
muß  die  Hauptaufgabe  der  ländlichen  Besitzer  sein.  Die  Zer¬ 
streuungen,  welche  die  Stadt  bietet,  zu  schaffen,  die  den  Haupt¬ 
anziehungspunkt  der  Städte  darstellen,  wird  allerdings  wohl  schwer 
halten.  Immerhin  kann  auf  dem  Lande  durch  Halten  von  Vor¬ 
trägen  seitens  der  gemeinnützigen  Vereine,  durch  Errichtung  von 
Volksbibliotheken,  Abhaltung  von  Lichtbilderabenden  einige  Zer¬ 
streuung  geschaffen  werden. 

Eine  eingehendere  Behandlung  erheischt  die  Abnahme  der 
Geburten  in  den  größeren  Städten.  Ich  bin  hier  in  der  Lage, 
diesen  für  den  Staat  und  sein  Bestehen  wichtigen  Faktor  mit  der 
allgemeinen  Lage,  den  Steuern,  Sparkasseneinlagen,  Zwangsver¬ 
steigerungen,  unehelichen  Geburten  und  anderen  Gradmessern  der 
allgemeinen  Geschäftslage  in  Vergleich  zu  bringen.  Vergleiche 
hierzu  die  Zahlen  des  statistischen  Amts  der  Stadt  München  über 
die  Geburtenzahlen  in  deutschen  Groß-  und  Mittelstädten.  Hier 
ließe  sich  die  Beamtenstadt  Potsdam  (1907)  mit  18,5  Proz.  mit 
Schleswig  vergleichen. 

Danach  ergibt  sich  für  die  Gesamtheit  der  Städte  1893 — 1907 
ein  Rückgang  der  Geburtenziffer  um  5,2  Prom. 

1907  stand  am  höchsten  Königshütte  mit  48,9  Prom.,  Borbek 
hatte  48,4.  Am  niedrigsten  die  Stadt  Potsdam  18,5,  ebenso  Char¬ 
lottenburg  21,5;  Schöneberg  21,9;  Berlin  mit  24,3  Prom.  Fast 
überall  fand  sich  ein  Rückgang.  Über  10  Prom.  Rückgang  fand 
sich  in  Altona  und  Hamburg  usw. 

(1891 — 1906  in  Hamburg  von  36,6  auf  25,2  Prom.) 

Nur  in  wenigen  Städten  war  die  Geburtenziffer  gestiegen,  so 
in  Frankfurt  1906  von  28,3  auf  28,7  Prom. 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  381 

Über  die  Verhältnisse  in  ganz  Deutschland  (1902)  gibt  eine 
Karte  bei  Tugend  reich  eine  übersichtliche  Darstellung.  Die 
Verhältnisse  in  Bayern  sind  in  verschiedenen  Nummern  der  M.  M.  W. 
geschildert.  In  Württemberg  sind  seit  1830  nicht  so  wenig  Ge¬ 
burten  vorgekommen  wie  1911  (29,25  Prom.).  1898 — 1902  war  die 
höchste  Geburtenziffer  in  Deutschland  im  Landkreis  Beuthen  ge¬ 
wesen  =  58,7  Prom.,  eine  sehr  hohe  Prozentzahl. 

Lebendgeburten  Altonas  und  der  größeren  Städte. 


1903 

1909 

davon 

Ehe¬ 

davon 

Ehe¬ 

uneheliche 

schließungen 

uneheliche 

schließungen 

Altona 

4666 

586 

1774 

4252 

635 

1777 

Kiel 

4536 

634 

1187 

5503 

885 

1380 

Flensburg 

1619 

96 

409 

1482 

128 

436 

Wandsbek 

949 

107 

278 

978 

106 

314 

Neumünster 

1124 

112 

244 

946 

91 

266 

Provinzialsteuer. 

•  • 

Wie  sich  aus  der  nachfolgenden  Übersicht,  aus  der  auch  die 
Verteilung  auf  die  einzelnen  Kreise  ersichtlich  ist,  ergibt,  stellt 
sich  die  Provinzialsteuer  auf  insgesamt  3  280  788  M. 

Wir  hatten  schon  gesehen,  daß  in  Kiel  in  den  Jahren  der 
Entwicklung  Kiels  zur  Großstadt  die  Zahlen  der  Geburten  einen 
starken  Ruck  nach  oben  gemacht  hatten,  ähnlich  wie  in  Hamburg 
1876—1879.  Umgekehrt  bemerken  wir  in  den  letzten  Jahren,  in 
welchen  sich  in  Kiel  ein  Stillstand  des  geschäftlichen  Lebens  und 
teilweise  sogar  ein  Rückschritt  bemerklich  macht,  nicht  nur  eine 
prozentuale  Abnahme  der  Geburten,  sondern  sogar  eine  absolute. 
Dieselbe  Erscheinung  können  wir  in  allen  größeren  Städten  der 
Provinz  bemerken,  wie  sich  aus  der  Liste  ergibt.  Daneben  tritt 
ein  Zunehmen  der  unehelichen  Geburten  unliebsam  in  die  Er¬ 
scheinung.  In  Kiel  läßt  sich  eine  Abnahme  des  Wohlstandes  deut¬ 
lich  erkennen  aus  dem  Rückgang  der  Sparkasseneinlagen  (in  Altona 
läßt  sich  allerdings  das  Gegenteil  nachweisen).  Hier  sind  auch 
die  Zahlen  der  niedrig  besteuerten  gefallen,  während  entsprechend 
viele  Zensiten  von  den  niedrigen  in  die  höheren  Stufen  eingerückt 
sind  (vgl.  Mombert).  Die  Steuerkraft  der  Provinz  und  ihrer  ver¬ 
schiedenen  Kreise  ergibt  sich  aus  der  Liste  in  Tafel  11.  Am 
meisten  Steuern  bezahlen  Altona,  Kiel  (Tabelle  11)  und  der  Kreis 
Pinneberg.  Die  Einwohnerzahlen  zum  Vergleich  finden  sich  in 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  25 


382  Haussen, 


Tabelle  11. 


Es  zahlten 

Staatssteuern 

Kreis 

M. 

Stadtkreis  Altona 

2  934  337 

Apenrade 

236  446 

Bordesholm 

322  039 

Eckernförde 

449  957 

Eiderstedt 

320  796 

Stadtkreis  Flensburg 

754  616 

Landkreis  Flensburg 

337  221 

Hadersleben 

535  518 

Husum 

424  843 

Stadtkreis  Kiel 

2  803  192 

Stadtkreis  Neumünster 

364  189 

Norder-Dithmarschen 

479  169 

Oldenburg 

563  318 

Pinneberg 

1  402  588 

Plön 

523  704 

Rendsburg 

465  447 

Schleswig 

580  259 

Segeberg 

348  880 

Sonderburg 

379  088 

Steinburg 

890  745 

Stormarn 

702  449 

Süder-Dithmarschen 

510  960 

Tondern 

548  471 

Stadtkreis  Wandsbek 

389  064 

Summa  17  267  306 


der  Liste  bei  den  Eheschließungen  (Tafel  18).  In  Altona  konnte 

ich  ebenso  wie  in  Kiel  die  Zahlen  der  Geburten  in  den  einzelnen 

•  •  •  • 

Bezirken  nach  den  Übersichten  der  statistischen  Ämter  ebenso  die 
Zahlen  der  unehelichen  Geburten  in  diesen  Bezirken  und  die 
Schwankungen  dieser  Zahlen  untersuchen.  Die  Zahlen  der  Ge¬ 
burten  haben,  wie  schon  gesagt,  in  Altona  sehr  erheblich  ab¬ 
genommen  trotz  der  wachsenden  Bevölkerung.  Die  Eheschließungen 
(Tabelle  13)  haben  absolut  zugenommen,  relativ  aber  abgenommen. 
Die  Zahlen  der  unehelichen  Geburten  haben  prozentual  sehr  er¬ 
heblich  zugenommen  (Tafel  13).  Die  Kriminalität  hat  zugenommen, 
die  Leihhausdarlehen  haben  abgenommen,  die  Zwangsversteigerungen 
sehr  erheblich  zugenommen.  Die  Zahl  der  in  einem  Bezirk  wohnenden 
Arbeiter  berechnete  ich  aus  der  Zahl  der  in  dem  Bezirk  abgegebenen 
sozialistischen  Stimmen  (Tabelle  14).  Ich  fand  so  in  den  Bezirken, 
in  denen  die  meisten  sozialistischen  Stimmen  abgegeben  wurden, 
meist  die  höchsten  Geburtenzahlen  für  das  Jahr  1911.  Verglich 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  383 


ich  aber  die  Jahre  1890  und  1891  damit,  so  konnte  ich  auch  in 
diesen  Bezirken  ebenso  wie  in  den  wohlhabenden  eine  sehr  er¬ 
hebliche  Abnahme  der  Geburtenzahlen  nachweisen  (vgl.  Funke 
in  Bremen).  Ebenso  in  Hamburg.  Der  Bezirk  XI,  welcher  die 
meisten  sozialistischen  Stimmen  abgegeben  hatte,  zählte  1890  noch 
39,0  Geburten  auf  1000  Einwohner,  1911  nur  mehr  28,4  Prom. 

Tabelle  12. 

Altona.  Zahl  der  Geburten  nach  Stadtteilen. 


1911 

1909 

1910 

Auf  10( 

1911 

)  Gebürter 
unehelich 

1909 

waren 

1910 

Bezirk 

Süderteil  <| 

102 

104 

114 

24,51 

13,46 

13,16 

I 

60 

89 

74 

15,00 

17,98 

16,22 

II 

l 

164 

170 

194 

17,68 

17,65 

15,98 

III 

Süd- West-Teil 

51 

62 

40 

58 

47 

46 

11,76 

12,90 

5,00  | 
12,07 

8.51 

6.52 

IV 

V 

l 

90 

121 

112 

25,56 

28.92 

25.89 

VI 

{ 

86 

120 

90 

17,44 

20.00 

27,78  . 

VII 

Osterteil  •! 

80 

59 

121 

60 

98 

78 

12,50 

27,12 

25.62 

30,00 

29,59 

16,67 

VIII 

IX 

1 

88 

78 

79 

26,14 

25,64 

29,11 

X 

( 

291 

274 

279 

20,62 

15,69 

24,01 

XI 

183 

167 

155 

26,32 

23,35 

20,00 

XII 

Norderteil  { 

355 

402 

384 

17,18 

17,16 

13,36 

XIII 

171 

171 

186 

15,79 

16,37 

18,82 

XIV 

.  1 

68 

81 

87 

27,72 

7,41  | 

5,75  || 

XX 

/ 

101 

112 

114 

15,45 

27,68 

21,05 

XV 

110 

143 

156 

15,00 

15,38 

14,74 

XVI 

Nord-West-Teil 

120 

157 

125 

20,42 

10,19 

8,00 

XVII 

240 

253 

264 

13,29 

16,21 

15,15 

XVIII 

158 

193 

177 

4,411 

13,99 

13,56 

XIX 

■ 

121 

146 

147 

9,92 

13.01 

7; 48 

XXI 

122 

143 

134 

15,57 

13,99 

14,93 

XXII 

Ottensen 

245 

309 

271 

7,85  I 

9,06 

7,01 

XXIII 

112 

99 

106 

10,71 

11,11 

12,26 

XXIV 

252 

255 

259 

11,90 

10,98 

11,97 

XXV 

288 

245 

258 

6,251 

7,35  | 

9,43  | 

XXVI 

Bahrenfeld 

144 

211 

170 

2,781 

7,11  | 

6,47  | 

Bahrenfeld 

Othmarschen 

28 

29 

23 

3,571 

6,90  | 

-  1 

Othmarschen 

Oevelgönne 

13 

7 

19 

— 

— 

10,53 

Oevelgönne 

Summa 

3987 

4404 

4328 

15,83 

15,37 

15,18 

Dieser  Bezirk  XI  hatte  allerdings  1911  noch  die  meisten  Ge¬ 
burten  hervorgebracht.  Ebenso  war  in  ihm  die  Zahl  der  Geburten 
die  zweitgrößte  nach  der  Zahl  der  Stimmberechtigten  (diese  Zahl 
gibt  einen  Anhalt  für  die  Zahl  der  heiratsfähigen  Männer).  Niedrige 

Geburtenzahlen  hatten  dagegen  in  den  Vergleichsjahren  die  Be- 

25* 


884 


Hanssen, 


Tabelle  18. 


Altona 

Ehe¬ 

schließungen 

überhaupt 

Auf  1000 

mittlere 

Bevölkerung 

ö  i 

Lebend¬ 

geburten 

überhaupt 

Geburten 

auf  1000 

mittlere 

Bevölkerung 

Es  waren 

von  100 

G  eburten 

unehelich 

Säuglings¬ 

sterblichkeit 

eheliche  unehel. 

1904 

1861 

11,26 

4717 

28,53 

13,19 

15,93 

35,19 

1905 

1859 

11,11 

4171 

27,30 

14,20 

16,32 

28,24 

1906 

2022 

11,88 

4657 

27,37 

14,28 

16,39 

32,36 

1907 

1942 

11,28 

4360 

26,38 

14,89 

14,84 

27,75 

1908 

1894 

10  98 

4542 

27,19 

15,65 

16,16 

26,80 

1909 

1776 

10.35 

4254 

25,66 

15,37 

13,91 

26,71 

1910 

1825 

10,59 

4168 

25,12 

15,18 

13,20 

31,43 

1911 

1914 

10,98 

3840 

22,88 

15,83 

18,10 

29,73 

Durchschnitt 

1902—11 

11,03 

26,07 

14,44 

15,36 

30,34 

Ver¬ 

haftungen 

Straf¬ 

mandate 

Spar¬ 

einlagen 

Leihhaus- 

Darlehn 

Zwangs¬ 

versteige¬ 

rungen 

Armen¬ 
anstalt- Ver- 
pflegungs- 
tage 

1907 

9  955 

19  285 

8  306  672 

129  269 

25 

256  206 

1908 

10  989 

14  589 

8  120844 

138  774 

41 

249  979 

1909 

10  687 

18  736 

9  187  311 

134  586 

46 

261  203 

1910 

10  805 

21563 

10  722  713 

112  933 

49 

261  493 

1911 

11817 

22  071 

13  153  596 

107  955 

94 

241  032 

i 

Zahl  der  Zensiten  zur  Gemeindeeinkommensteuer  der  Einkommen  von : 


660- 

-900 

M. 

900- 

1050  M. 

1500- 

-1800  M. 

1200- 

-1500  M. 

1909 

12  260 

— 

510 

9  681 

—  258 

3900 

+ 

376 

8  829 

+ 

192 

1910 

13  193 

+ 

933 

10  020 

+  339 

4295 

+ 

395 

9  256 

+ 

427 

1911 

11  024 

— 

2169 

8  720 

—  1240 

5698 

+  : 

1403 

11009 

+  : 

1753 

Von 

100 

Zensiten  entfielen 

auf 

die 

Stufe 

• 

1909 

218 

172 

68 

157 

1910 

243 

185 

79 

170 

1911 

195 

155 

101 

195 

zirke  Othmarschen  und  Oevelgönne,  Bezirke  mit  meistens  wohl¬ 
habender  Bevölkerung,  wie  auch  aus  der  geringen  Zahl  der  sozia¬ 
listischen  Stimmen  hervorgeht.  Ebenso  waren  in  diesen  Bezirken 
die  Zahlen  der  unehelichen  Geburten  sehr  niedrige,  in  dem  Bezirk 
Oevelgönne  (Tafel  12)  fehlten  sie  sogar  in  den  beiden  Jahren,  in 
Othmarschen  in  einem.  Auch  im  Bezirk  IV  waren  die  sozialistischen 
Stimmen  niedrig  ausgefallen,  ebenso  die  Zahlen  der  Geburten  in 
den  Jahren  des  Vergleichs  absolut  niedrig  und  prozentual  1911 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkernngsklassen  usw.  385 

noch  stark  gefallen  von  21,1  auf  15,3  Proz.  Erhebliche  Abnahmen 
fanden  sich  aber  auch  in  Bezirken,  die  der  Zahl  der  sozialistischen 
Stimmen  nach  zu  den  hauptsächlich  von  Arbeitern  bewohnten  ge¬ 
zählt  werden  müssen.  Danach  wäre  es  mit  Einschränkung  richtig, 
wenn  Wolff  die  These  aufstellt,  daß  die  Geburtenabnahme  mit  der 
Ausbreitung  der  Sozialdemokratie  Schritt  halte. 

Man  kann  also  in  Altona  sagen,  daß  alle  Kreise  der  Be¬ 
völkerung  an  der  Abnahme  der  Geburten  beteiligt  sind,  die  Arbeiter¬ 
kreise  allerdings  weniger  als  die  wohlhabenden,  aber  doch  auch 
nicht  unerheblich.  Zahlen  wie  15,3,  13,3  und  13,9  Prom.  müssen 
als  so  niedrige  bezeichnet  werden,  daß  man  die  ernstesten  Be¬ 
denken  für  die  weitere  Entwicklung  unseres  Volkes  hegen  muß. 
Um  so  mehr,  als  sich  in  Altona  dieser  Übelstand  auch  bei  den 
Arbeitern  bemerklich  macht  und  ebenfalls  aus  dem  Grunde,  daß 
hier  steigender  Wohlstand  zu  einer  Abnahme  der  Geburtenzahlen 
geführt  hat.  Erwähnen  möchte  ich  noch  die  hohen  Geburtszahlen 
im  Jahre  1890  von  52,1  im  Bezirk  XXV. 

Ich  gehe  jetzt  näher  auf  die  Kieler  Verhältnisse  ein.  Auch 
hier  ergibt  sich  dasselbe  Bild  mit  Ausnahme  des  wachsenden  Wohl¬ 
standes  der  Bevölkerung. 

In  Kiel  konnte  ich  auch  die  Nahrungsmittelpreise  (Tabelle  15) 
zum  Vergleich  heranziehen  und  fand  hier  nur  beim  Ochsenfleisch 
eine  erhebliche  Steigerung  der  Preise,  alle  anderen  wichtigen 
Nahrungsmittel  hatten,  die  letzten  Jahre  allein  betrachtet,  im  Preise 
abgenommen.  Nur  Roggenmehl  war  etwas  im  Preise  gestiegen. 
Die  Zahl  der  Arbeitssuchenden  hatte  sich  vermindert,  bei  den 
Obdachslosen  hatte  sich  sogar  eine  sehr  starke  Verminderung  be¬ 
merklich  gemacht.  Die  Eheschließungen  haben  prozentual  ab¬ 
genommen,  absolut  aber  zugenommen.  Die  Geburtenzahlen  sind 
ebenso  seit  1907  stark  gefallen,  prozentual  von  32,9  im  Jahre  1904 
auf  25,2  im  Jahre  1911.  Dabei  waren  die  Zahlen  der  unehelichen 
Geburten  gestiegen. 

Was  die  Zahl  der  Geburten  betrifft,  so  konnte  ich  auch  hier 
dadurch  einen  gewissen  Anhaltspunkt  in  ihrer  Verteilung  auf  ver¬ 
schiedene  Klassen  gewinnen,  weil  in  Kiel  eine  ziemlich  scharfe 
Trennung  der  wohlhabenden  und  arbeitenden  Bevölkerung  besteht, 
indem  in  Gaarden  meist  Arbeiter  wohnhaft  sind  und  zum  Ver¬ 
gleich  in  den  Bezirken  VI  und  VII  meist  wohlhabende  Bewohner 
sich  angesiedelt  haben.  Eine  Zunahme  der  unehelichen  Geburten 
war  besonders  im  Bezirk  XI  zu  bemerken,  eine  Abnahme  im 
Bezirk  VI  (in  ihm  liegt  die  Frauenklinik).  Die  ehelichen  Geburten 


386 


Hanssen, 


t 

Tabelle 

Altona  1911.  Geburten  nach  Stadtbezirken 


Bezirk 


Sozialistische  Stimmen 
in  Proz.  der  Stimmen 


Von  100 
Geborenen 
waren 
unehelich 

1890—91  1911 


I 

74,3 

76,9 

102 

6,2 

II 

70,0 

85,4 

60 

10,3 

III 

79,9 

82,4 

69,2 

164 

9,2 

IV 

26,4 

36,1 

51 

2,7 

V 

24.4 

66,8 

62 

4,2 

VI 

55,0 

76,9 

90 

6,5 

VII 

82,0 

82,3 

86 

9,7 

VIII 

68,9 

63,1 

80 

7,9 

IX 

72,4 

68,7 

59 

9,9 

X 

89,4 

80,9 

88 

15,8 

XI 

77,7 

78,6 

90,9 

87,3 

90,7 

291 

9,9 

XII 

77,9 

74,3 

43,6 

133 

8,9 

XIII 

63,4 

70,0 

64,6 

73,2 

49,5 

44,0 

355 

8,4 

XIV 

44.2 

17,5 

171 

8,7 

XV 

80,5 

68;2 

36,4 

101 

11,1 

XVI 

83,9 

85,9 

110 

5,6 

XVII 

82,2 

82,7 

78,5 

120 

5.3 

XVIII 

63,2 

48,4 

24,7 

40,7 

240 

10,5 

XIX 

74,4 

73,0 

83,4 

85.8 

158 

7,9 

XX 

59,9 

62,7 

54,0 

63,3 

68 

8.9 

XXI 

38,5 

56,8 

24,9 

■ 

121 

3,3  || 

XXII 

62,1 

66,0 

122 

7,0 

XXIII 

40,3 

45,7 

77,3 

55,7 

245 

5,1 

XXIV 

65,9 

77,9 

112 

9,6 

Unterbezirk 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

XXV 

86,5 

75,8 

84,4 

• 

252 

6,3 

XXVI 

64,1 

67,6 

74,3 

59,0 

288 

9,4 

Bahrenfeld 

39,0 

76,7 

52,1 

5,9 

144 

5,0 

Othmarschen 

33,5 

28 

— 

Oeyelgönne 

13,2 

13 

— 

Zusammen 


59,3 


24,51  \ 

15,00  / 

17,68  1 
11,76  ( 

12,90  | 

25,56  J 

17.44  ) 

12,50  ( 

27,12  ( 

26, U  ) 

20,62  ) 

26,32  | 

17,18  ( 

15,79  ) 

24,72 

15.45 
15,00 
20,42 
13,29 

4,411  Zu  Norderteil 
9,92  | 


Süderteil 


Südwestteil 


Osterteil 


Norderteil 
und  XX 


Nordwestteil 


15,57 
7,351 1 
10,71 


Ottensen 


Unterbezirk 


^6  25l}  Ottensen 

2,781  Bahrenfeld 
3.571  Othmarschen 
—  Oeyelgönne 


15,83 


haben  nur  im  Bezirk  VI  und  VIII  zugenommen,  sonst  überall  ab¬ 
genommen. 

Nur  kurz  gehe  ich  auf  die  Flensburger  Zahlen  (Tabelle  16) 
ein,  die  im  großen  und  ganzen  dasselbe  Bild  bieten,  auch  hier  eine 
erhebliche  Abnahme  der  Geburten,  dabei  eine  Zunahme  des  Prozent¬ 
satzes  der  unehelichen,  eine  Abnahme  bei  den  ehelichen  Geburten, 
also  ein  höchst  unerfreuliches  Bild. 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  387 


14 

und  sozialdemokratische  Stimmen  1912. 


* 


Wahlberechtigte 
am  12.  Januar  1912 

1 

Wahl¬ 

berechtigte 

Summe 

Geburten  auf i 

1000  Wahl¬ 

berechtigte 

1912 

Einwohner¬ 

zahlen 

1911 

Auf  1000 

Einwohner 

geboren 

1911 

Auf  1000 

Einwohner 

geboren 

1890—91 

537 

493 

1 

1030 

9,9 

4  012 

25,4 

40,4 

463 

404 

867 

7,0 

3  052 

19,7 

39,6 

580 

486 

447 

1513 

18,5 

5  858 

23,9 

38,7 

401 

407 

808 

6,3 

3  387 

15,3  1 

21,1  I 

364 

410 

774 

8,0 

3131 

20,1 

30,1 

485 

464 

949 

9,5 

4  082 

22,5 

31,2 

458 

431 

889 

9,7 

3  039 

28,8 

40,4 

470 

544 

1014 

7,9 

3  941 

20,6 

33,3 

452 

211 

663 

9,0 

2  749 

21,8 

38,5 

450 

369 

819 

10,7 

3  015 

29,2 

36,8 

795 

646 

486 

406 

399 

2732 

16,5 

9  937 

28,4 

39,0 

595 

596 

539 

1730 

7,7 

6  805 

19,6 

40,3 

645 

563 

726 

641 

691 

648 

3914 

9.0 

15  666 

23,3 

38,7 

606 

420 

1026 

1616 

6  958 

26,1 

29,2 

792 

500 

478 

1770 

6,5 

3  628 

27,8 

44,2 

347 

600 

947 

11,6 

4  817 

22,8 

41,3 

432 

329 

400 

1161 

10,3 

8  846 

13,7  I 

29,6  1 

463 

640 

568 

621 

2292 

14,7 

9  352 

25,6 

40,9 

570 

742 

766 

375 

2453 

6,4 

11  235 x) 

14,1  16,5 

25,1  I 

572 

630 

573 

428 

2203 

3,11 

3  774 2) 

18,0  19,1 

30,2 

613 

838 

394 

1845 

6,6 

7  351 

16,0  1 

38,1 

497 

687 

1184 

10.3 

4  673 

26,1 

43,9 

804 

774 

700 

745 

3023 

8,0 

11  809 

20,1 

44,4 

413 

604 

1017 

11,0 

3  978 

28,2 

45,2 

1 

2 

3 

4 

5‘ 

6 

333 

782 

668 

1 

• 

1783 

14,1 

7  813 

32,1 

52,1 

840 

736 

561 

392 

2529 

11,4 

8  882 

31,3 

46,6 

402 

671 

524 

371 

1968 

7,3 

7  875 

18,3  1 

36,5 

430 

430 

6,51 

2  026 

13,31 

19,7  I 

168 

168 

8,01 

1 

704 

18,51 

19,6  I 

l)  Davon  1664  Militär.  2)  209  Militär. 


Zahl  der  Eheschließungen. 

In  Preußen  ist  seit  1906  eine  andauernde  Abnahme  der  Ehe¬ 
schließungen  und  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  zu  verfolgen,  in 
diesem  Jahr  heirateten  noch  von  1000  Lebenden  8,3  Prom.,  1907 
nur  mehr  8,12,  1908  8,0;  1909  nur  7,9;  1910  7,85.  Trotz  der  ver¬ 
minderten  Eheschließungen  lieferte  das  Jahr  1810  wegen  der  ver¬ 
minderten  Sterbeziffern  noch  günstige  Ergebnisse  in  der  Volks¬ 
vermehrung. 


388 


Hanssen, 


Tabelle  15. 


Kiel 

Ehe¬ 

schließungen 

_ 

Auf  Prom. 

mittlere  Ein¬ 

wohnerzahl 

Lebend¬ 

geburten 

Prom.  der 

mittleren 

Bevölkerung  j 

Proz.  der 

unehelichen 

Geburten 

Sterblichkeit 

der 

unehelichen 

Säuglinge 

Sterblichkeit 

der 

ehelichen 

Säuglinge 

1904 

1250 

8,26 

4975 

32,89 

14,51 

29,1 

15,5 

1905 

1811 

8,36 

5126 

32,70 

14,44 

32,6 

16,2 

1906 

1398 

8,46 

5482 

33,16 

15,51 

28,6 

16.69 

1907 

1430 

8,04 

5433 

30,56 

14,30 

26,38 

13,83 

1908 

1451 

7,78 

5522 

29,59 

14,60 

25,68 

14,80 

1909 

1380 

7,19 

5511 

28,70 

16,1 

24,29 

11,28 

1910 

1413 

6,98 

5570 

27,50 

15,7 

25,11 

11,70 

1911 

1621 

7,55 

5403 

25,17 

15,9 

23,09 

15,22 

100  Kilo  Nahrungsmittelpreise 


1911 

1910 

1909 

Weizenmehl 

40 

40 

39 

Koggenmehl 

34 

28 

30 

Bindfleisth 

186 

170 

158 

Eßkartoffeln 

8,05 

7,07 

8,48 

Schweinefleisch  151  162 

Arbeitsuchende 

162 

1911 

1910 

1909 

29  851 

29  487 

Sparkassenrückzahlungen 

30  709 

1911 

1910 

1909 

23  360  842 

21  904  220 

19  008  269 

—  836  798 

—  421  900 
Obdachlose 

-f  557  741 

1911 

1910 

1909 

11572 

13  022 

26  738 

Bezirk 

ül 

1911 

)  e  r  h  a  u 

1910 

Geb1 

pt 

1909 

urtenzah 

1911 

Kiel 

len  nach  Stadtte 

ehelich 

1910  1909 

ilen 

u  n  e  h  e  1  i  ( 

1911  1910 

;h 

1909 

1. 

57 

77 

87 

39 

54 

72 

18 

23 

15 

2. 

158 

158 

165 

104 

115 

121 

54 

43 

44 

3. 

306 

306 

334 

253 

253 

281 

53 

53 

53 

4. 

163 

183 

219 

130 

147 

170 

33 

36 

49 

5. 

448 

477 

502 

•  365 

372 

395 

83 

105 

107 

6. 

385 

373 

420 

135 

108 

120 

250  I 

265 

300 

7. 

267 

299 

302 

237 

270 

273 

30 

29 

29 

8. 

234 

221 

209 

217 

200 

192 

17 

21 

17 

9. 

490 

526 

581 

450 

481 

533 

40 

45 

48 

10. 

366 

419 

498 

336 

388 

463 

30 

31 

35 

11. 

930 

967 

1096 

827 

873 

1005 

103 

94 

91 

12. 

846 

944 

1098 

760 

855 

1001 

86 

89 

97 

13. 

151 

127 

142 

121 

9 

6 

14. 

239 

187 

219 

172 

20 

15 

15. 

13 

12 

12 

11 

1 

1 

16. 

204 

164 

180 

153 

24 

11 

17. 

146 

130 

135 

121 

11 

6 

Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  389 


Tabelle  16. 


Flensburg 

Lebend^ 

ehelich 

gebürten 

unehelich 

Säuglingssterblichkeit 

eheliche  uneheliche 

Auf  100  Ge¬ 
burten  mit 
Totgeburten 
uneheliche 

1904 

1554 

127 

11,78 

33,9 

7,69 

1905 

1519 

124 

17,31 

29,8 

7,57 

1906 

1461 

117 

13,62 

21,4 

7,54 

1907 

1430 

112 

12,73 

19,6 

7,42 

1908 

1436 

115 

14,07 

25,2 

7.72 

1909 

1349 

129 

10,53 

21,7 

8,91 

1910 

1247 

121 

11,47 

23,9 

8,89 

1911 

1268 

148 

13,33 

85,14 

10,66 

In  Schleswig- Holstein  liegen  die  Verhältnisse  so,  daß  nur  an 
10  Stellen  (Tafel  18)  (die  Städte  für  sich  gerechnet)  die  Ehe¬ 
schließungen  zugenommen  haben,  dagegen  in  28  Bezirken  ab¬ 
genommen,  gleichgeblieben  ist  sie  an  5  Stellen.  Am  höchsten  war 
die  Zahl  der  Eheschließungen  1903  im  Kreise  Stormarn  gewesen 
(Wandsbek  gehörte  seit  1901  nicht  mehr  zum  Kreise)  =  15,5  Prom., 
ebenfalls  hoch  in  den  Städten  des  Kreises  Segeberg  und  in  Altona, 
auch  die  Städte  des  Kreises  Norder-Dithmarschen  zeigten  Zahlen 
der  Eheschließungen  von  über  10  Prom.  der  Bevölkerung.  Er¬ 
heblich  gestiegen  ist  die  Zahl  der  Eheschließungen  nur  in  den 
Städten  des  Kreises  Hadersleben  und  im  Kreise  Sonderburg  (als 
Folge  der  Marineanlagen),  dann  auch  in  den  Städten  des  Kreises 
Süder-Dithmarschen.  Die  niedrigsten  Zahlen  der  Eheschließungen 
zeigten  dagegen  in  beiden  Vergleichsjahren  die  Städte  des  Kreises 
Flensburg-Land  (=  Glücksburg).  Sehr  erheblich  abgenommen  haben 
die  Eheschließungen  im  Kreise  Eiderstedt  überhaupt  und  besonders 
in  den  Städten.  Ebenfalls  die  Städte  des  Kreises  Oldenburg  zeigten 
eine  starke  Abnahme,  auch  in  Bendsburg,  ebenso  in  den  Städten 
in  Segeberg  und  im  Kreise  Stormarn.  Weitere  Zahlen  ergeben 
sich  aus  der  Tabelle. 

1903  hatte  die  Provinz  8,6  auf  1000  Einwohner  Eheschließungen 
gehabt,  1909  =  8,5  Prom.  Die  Städte  hatten  1903  noch  9,5;  1909 
nur  mehr  9,2  gehabt.  Die  Zahl  der  Eheschließungen  hat  auf  dem 
Lande  zugenommen  von  8,0  auf  8,3  Prom.  In  der  Zeit  nach  dem 
30jährigen  Krieg  gibt  Hensler  zum  Vergleich  folgende  Zahlen 
für  die  Eheschließungen  an  (Tafel  17): 


390 


Hanssen, 


Tabelle  17. 

Eheschließungen  im  Amte  Segeberg  1668 — 1766. 


1668-1683 

Geborene 

1791 

Eheschließungen 

1684—1699 

1648 

480 

1700—1709 

1361 

371 

1710—1719 

1386 

434 

1720-1729 

1474 

388 

1687—1729 

5869 

1673 

1730—1766 

6615 

1825 

Von  1687 — 1729  gaben  10  Ehen  nur  35  Kinder,  von  da  bis 
1766  aber  36. 

Der  Rückgang  der  Eheschließungen  hat  die  verschiedensten 
Ursachen,  zunächst  dürfte  die  zunehmende  Ehescheu  bei  den  besseren 
Bevölkerungsklassen  ihren  Ursprung  in  dem  stark  materiellen  Zug, 
welcher  dem  männlichen  Geschlecht  in  unserer  Zeit  eigen  ist, 
haben.  Viele  Mitglieder  desselben  wollen  lieber  auf  eine  Ehe 
verzichten,  als  die  Ungebundenheit  ihres  Junggesellenlebens 
aufgeben  und  sich  nicht  belasten  mit  den  Sorgen  für  den 
Unterhalt  einer  Familie.  Manche  junge  Männer  leben  auch 
mit  einer  Geliebten,  welche  ihnen  die  Freuden  des  ehelichen 
Lebens  gewährt,  ohne  ihnen  Sorgen  zu  bringen.  Es  liegt  nicht 
in  der  Absicht  der  jungen  Leute,  daß  aus  dem  geschlechtlichen 
Verkehr  Folgen  erwachsen  und  jeden  Tag  kann  das  Verhältnis 
gelöst  werden,  wenn  es  einem  der  beiden  Teile  gefällt.  In  den 
gebildeten  Kreisen  ist  es  heutzutage  auch  oft  schwer,  sich  eine 
auskömmliche  Stellung  in  jüngeren  Jahren  zu  verschaffen,  dann 
kostet  der  junge  Mann  erst  einmal  die  Freuden  des  ungebundenen 
Lebens  aus  und  wird  älter  und  älter,  bis  er  in  ein  Alter  kommt, 
in  dem  er  sich  schwer  zu  einer  Heirat  noch  entschließt.  Um¬ 
gekehrt  hat  das  zunehmende  Erwerbsleben  der  gebildeten  Mädchen 
diesen  auch  oft  Selbständigkeit  verschafft,  so  daß  auch  sie  lieber 
eine  selbständige  Stellung  in  ihrem  Beruf  bekleiden,  als  daß  sie 
sich  in  der  Ehe  der  Herrschaft  des  Mannes  fügen  wollen,  um  noch 
womöglich  Entbehrungen  sich  aufzuerlegen,  die  ihnen  als  Mädchen 
unbekannt  waren.  Dabei  ist  eine  Steigerung  der  Ansprüche  nament¬ 
lich  im  geselligen  Leben  eingetreten,  daß  ohne  eine  Mitgift  von 
seiten  der  Frau  oder  von  Vermögen  seiten  des  Mannes  das  Schließen 
der  Ehe  unmöglich  ist,  soll  nicht  Sorge  und  Not  in  eine  neu¬ 
gegründete  Familie  einziehen.  Auch  die  Arbeiterkreise  machen 
in  bezug  auf  Wohnung  und  Genüsse  wie  Theater  und  Vergnügungen 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  391 


Kreise 

1903 

Ehen  E^n' 
wohner 

1909 

Ehen  wohner 

Eheschließungen 
auf  1000  Einw. 

1903  |  1909 

Hadersleben 

390 

57  215 

433 

60  133 

6,8 

7,2 

~b 

davon  Städte 

70 

9  773 

78 

9  906 

7,2 

7,9 

+ 

Apenrade 

243 

29  324 

216 

30  322 

8,3 

7,1 

davon  Städte 

54 

6  619 

47 

7  032 

8,3 

6,7 

- 

Sonderburg 

285 

32  868 

324 

35  307 

8,7 

9,2 

+ 

davon  Städte 

70 

7  324 

79 

9  019 

9,6 

8,4 

Flensburg  (Stadt) 

409 

48  922 

436 

53  771 

8,5 

8,1 

— 

„  (Land) 

349 

41951 

357 

45  721 

8,3 

7,8 

— 

davon  Städte 

5 

1390 

9 

1551 

3,6 

4,2 

+ 

Schleswig 

521 

66  603 

545 

69  551 

8,0 

7,0 

davon  Städte 

145 

23  125 

156 

24  716 

6,2 

6.3 

+ 

Eckernförde 

385 

42  041 

352 

43  635 

9,1 

8,7 

davon  Städte 

47 

6  719 

48 

7  088 

7,0 

6,8 

— 

Eiderstedt 

134 

15  762 

119 

16  297 

*  8,5 

7,0 

— 

davon  Städte 

58 

5  209 

44 

6  057 

11,1 

7,1 

— 

Husum 

290 

38  486 

301 

39  714 

8,0 

7,6 

— 

davon  Städte 

84 

10  604 

82 

11483 

8,0 

8,0 

+0 

Tondern 

424 

56  561 

446 

57  083 

7,7 

7,8 

~b 

davon  Städte 

71 

7  777 

96 

10  513 

9,1 

9,1 

+0 

Oldenburg 

309 

43  932 

312 

43  321 

7,3 

7,2 

— 

davon  Städte 

111 

12  442 

90 

12  529 

9,0 

7,2 

— 

Plön 

476 

52  749 

471 

54  651 

9,0 

8,6 

— 

davon  Städte 

84 

11091 

76 

11012 

7,6 

6,9 

— 

Kiel  (Stadt) 

1187 

121  824 

1380 

163  772 

9,8 

8,4 

— 

Neumünster  (Stadt) 

244 

27  335 

266 

31  439 

8,9 

8.5 

— 

Kiel  (Land) 

326 

38  861 

354 

45  089 

8,3 

7,8 

— 

Rendsburg 

539 

61  700 

543 

65  317 

8,7 

8.3 

— 

davon  Städte 

160 

17  009 

153 

18  062 

9,4 

8,5 

— 

Nord. -  Dithmarschen 

303 

37  515 

341 

32178 

8,0 

8,7 

+ 

davon  Städte 

122 

10  752 

99 

11410 

11,5 

8,7 

Süd.  -  Dithmarschen 

394 

48  526 

501 

50  301 

8,1 

10,0 

~b 

davon  Städte 

49 

6  961 

52 

7  259 

7,2 

7,2 

+0 

St  ein  bürg 

597 

78  836 

670 

79  839 

7,6 

8,4 

~b 

davon  Städte 

318 

33  551 

366 

33  426 

9,5 

10,9 

+ 

Segeberg 

1  324 

39  724 

353 

46  696 

8,2 

8,5 

+ 

davon  Städte 

75 

6  572 

61 

6  892 

11,4 

9,0 

Wandsbek  (Stadt) 

278 

27  966 

314 

31  563 

10,0 

10.0 

+0 

Stormarn 

622 

68  103 

643 

76  464 

9,0 

8,4 

— 

davon  Städte 

93 

6011 

90 

6  675 

15,5 

13,5 

— 

Pinneberg 

804 

97  830 

936 

108  945 

8,1 

8,1 

+0 

davon  Städte 

237 

30  321 

300 

36  106 

7,6 

8,3 

— 

Altona  (Stadt) 

1774 

161  501 

1777 

168  320 

11,1 

10,5 

— 

Lauenburg 

422 

51883 

410 

52  679 

8,1 

7,1 

— 

davon  Städte 

104 

13  953 

97 

13  991 

7,4 

7,0 

— 

Städte  davon  [ 

5849 

61  821 

6192 

693  753 

9,5 

9,2 

Summe  < 

12029 

1  387  968 

12800 

1  504  248 

8,6 

8,5 

_ \ 

i 

Land  davon  [ 

6180 

773  147 

6708 

!  810  425 

8,0 

8,3 

+  1 

ähnliche  Ansprüche  wie  die  gebildeten  Kreise,  so  daß  auch  hier 
dieselben  Verhältnisse  mitspielen  wie  in  den  wohlhabenden  Be¬ 
völkerungsklassen.  Das  Schließen  einer  Ehe  ist  entschieden  in 
hohem  Grade  von  besseren  oder  schlechteren  Verhältnissen  ab- 


Provinz 


392  Hanssen, 

hängig,  wie  man  sie  in  Hamburg  durch  fast  ein  Jahrhundert  ver¬ 
folgen  kann.  (Vgl.  dazu  meine  Arbeit  über  Säuglingssterblichkeit 
in  früheren  Jahrhunderten  nach  den  Listen  in  Hamburg.)  So  spielt 
die  pekuniäre  Seite  bei  der  Schließung  einer  Ehe  eine  sehr  hervor¬ 
tretende  Rolle  und  die  Jagd  nach  Mitgift  ist  eine  der  unerquick¬ 
lichsten  Erscheinungen  dieser  x4rt,  aber  leider  ist  sie  nicht  zu  um¬ 
gehen,  denn  nichts  bedroht  leichter  das  Glück  einer  Ehe  als  Ge¬ 
fährdung  der  Existenz,  erhöhte  Ausgaben  durch  Krankheit  und 
Verluste  pekuniärer  Natur.  Auch  der  Arbeiter  will  nicht  durch 
Schließen  einer  Ehe  seine  Lage  verschlechtern  (vgl.  L  ö  w  e  n  f  e  1  d). 
Ein  Dienstmädchen  oder  eine  Köchin  aus  vornehmem  Hause  tut 
es  sehr  oft,  jedenfalls  in  dem  Punkt  der  Ernährung  und  Bequem¬ 
lichkeit. 

Um  die  Zahl  der  Eheschließungen  zu  heben,  wäre  das  beste 
Mittel  die  Verbesserung  der  allgemeinen  wirtschaftlichen  Lage 
durch  Verbilligung  der  Lebensmittel  anzustreben.  Die  Eheschließung 
befördern  würde  auch  eine  Junggesellensteuer  und  die  Unterstützung 
der  Eheschließung,  wie  es  in  Australien  geschehen  soll,  durch  Ge¬ 
währung  einer  Prämie  für  jede  Ehe.  Diese  Prämie  könnte  nach 
dem  Vorschlag  des  früheren  Kriegsministers  Messimy  in  Frank¬ 
reich  in  eine  jährlich  steigende  Rente  bei  einer  größeren  Zahl  von 
Kindern,  die  aus  einer  Ehe  hervorgegangen  sind,  verwandelt  werden. 
Zu  solchen  Mitteln  muß  man  schon  in  Frankreich  greifen,  will  man 
die  Zahl  der  Eheschließungen  steigern,  sie  haben  unter  dem  Ein¬ 
fluß  dieser  Mittel  schon  zugenommen,  leider  aber  auch  die  Ehe¬ 
scheidungen. 

fc. 

Die  Ursachen  für  den  Rückgang  der  Geburten. 

Einige  dieser  Ursachen  wurden  bei  den  Eheschließungen  und 
der  Landflucht  schon  besprochen  und  brauchen  hier  nicht  wieder¬ 
holt  zu  werden,  voran  stehen  hier  vor  allem  wirtschaftliche  Ver¬ 
hältnisse,  die  auch  dann,  wenn  eine  Ehe  schon  geschlossen  ist  und 
ihren  Zweck  durch  Erzeugung  von  Kindern  erfüllen  soll,  wieder 
in  den  Vordergrund  treten.  Der  Rückgang  der  wirtschaftlichen 
Verhältnisse  tritt  besonders  in  Kiel  in  dieser  Beziehung  zutage, 
während  in  Altona  trotz  steigenden  Wohlstandes  die  Geburten¬ 
zahlen  abgenommen  haben,  ebenso  scheint  es  in  Flensburg  zu  sein. 

Ich  gehe  jetzt  auf  die  verschiedenen  Mittel  ein,  welche  an¬ 
gewandt  werden,  die  Fruchtbarkeit  einer  Ehe  zu  vermindern  und 
möglichst  auf  zwei  Kinder  einzuschränken.  Malthus  war  es  zuerst, 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkenmgsklassen  nsw.  393 

welcher  in  höchst  pessimistischer  Weise  die  zunehmende  Be¬ 
völkerung  und  die  entsprechende  Zunahme  der  Nahrungsmittel  ver¬ 
glich  und  ein  Mißverhältnis  zwischen  beiden  festzustellen  glaubte. 
Malthus  empfahl  als  Hauptmittel  die  Enthaltung  vom  Geschlechts¬ 
verkehr,  um  der  Übervölkerung  vorzubeugen. 

Die  Lehre  von  der  Verhütung  der  Schwangerschaft  entwickelte 
sich  dann  weiter  zum  Neomalthusianismus  d.  h.  der  Lehre  von  der 
Verhütung  der  Empfängnis  und  der  Einschränkung  der  Kinderzahl. 
Die  absolute  Verurteilung  dieser  Lehre  ist  sicher  nicht  berechtigt, 
denn  wenn  man  als  Arzt  manche  Frauen  sieht,  die  viele  Kinder 
gehabt  haben,  kann  man  nicht  sagen,  daß  sie  an  Schönheit  und 
Gesundheit  gewonnen  hätten.  Gr  über  und  He  gar  haben  diese 
Verhältnisse  genauer  dargestellt.  Grub  er  betont,  daß  vom  vierten 
Kinde  an  die  Kraft  der  in  einer  Ehe  hervorgebrachten  Kinder 
abnimmt,  er  stellt  „Massentod“  neben  „Massenerzeugung“.  Vgl.  den 
Abschnitt  27  bei  Bloch  (Neomalthusianismus,  sexueller  Präventiv¬ 
verkehr  usw.)  und  das  10.  Kapital  „Neomalthusianismus“  bei  Grub  er 
mit  verschiedenen  Tafeln  über  Fruchtbarkeit  und  Wohlstand  in 
verschiedenen  Ländern  (S.  158).  Über  die  eheliche  Fruchtbarkeit 
in  Dänemark,  geschieden  nach  Stadt  und  Land,  berichtet  Tugend- 
reich  (S.  38). 

Heutzutage  ist  selbst  in  die  Arbeiterkreise  die  Anwendung  der 
Mittel  gedrungen,  um  die  Schwangerschaft  zu  verhüten  und  sie  ge¬ 
gebenenfalls  zu  unterbrechen.  In  meiner  früheren  Praxis  in  einem 
Fabrikort  sind  mir  im  Laufe  von  4—5  Jahren  etwa  12  Fälle  von  Unter¬ 
brechung  der  Schwangerschaft  durch  Anwendung  einer  Uterindouche 
bekannt  geworden.  Solche  Mittel  wurden  teils  von  Arbeiterfrauen  an¬ 
gewandt,  welche  schon  mehrere  Kinder  hatten  oder  in  höherem 
Alter  noch  schwanger  wurden  oder  vorher  schwere  Entbindungen 
durchgemacht  hatten  und  Angst  vor  einer  erneuten  Schwanger¬ 
schaft  hatten.  Eine  Frau  hatte  ein  solches  Mittel  angewandt, 
nachdem  sie  durch  Geschlechtsverkehr  mit  einem  Einlogierer 
schwanger  geworden  war;  diese  Frau  wandte  das  Mittel  mehrfach 
an  und  ging  schließlich,  wie  ich  erfahren  habe,  bei  dem  vierten 
Versuch  zugrunde.  Eine  andere  Frau  starb,  nachdem  sie  sich 
durch  Anwendung  einer  solchen  Douche  eine  Infektion  zugezogen 
hatte,  an  den  Folgen  der  Erkrankung.  Die  Uterindouche  wurde 
durch  einen  Mann  in  Frauenkleidern  vertrieben  und  nicht  selten 
gekauft.  Nicht  nur  in  Arbeiterkreisen,  auch  bei  Schiffern  und 
Handwerkern  fand  ich  den  Apparat.  Von  anderen  Mitteln  zur 
Verhütung  der  Schwangerschaft  ist  besonders  der  Coitus  inter- 


394  Hanssen, 

ruptus  bekannt  und  in  einigen  Gegenden  bei  der  bäuerlichen  Be¬ 
völkerung  in  Angeln  der  Coitus  per  anum.  Die  Anpreisung  von 
Mitteln  zur  Verhütung  der  Schwangerschaft  findet  besonders  durch 
Berliner  Zeitungen,  weniger  durch  die  lokalen  statt.  Hebammen, 
deren  Annoncen  der  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  verdächtig 
sind,  findet  man  in  Hamburger  Blättern  angegeben.  Ab  und  zu 
findet  man  auch  die  Anwendung  von  Schwämmchen  zur  Verhütung 
der  Konzeption. 

Beim  Coitus  unter  unverheirateten  Mitgliedern  des  Arbeiter¬ 
standes  in  jugendlichem  Alter  muß  auch  von  solchen  Mitteln  Ge¬ 
brauch  gemacht  werden,  weil  sonst  viel  öfter  Schwangerschaft  die 
Folge  wäre  von  diesem  Verkehr.  Ist  wirklich  durch  solchen  Ver¬ 
kehr  ein  Mädchen  schwanger  geworden,  so  erfolgt  in  den  meisten 
Fällen  Heirat  von  seiten  des  Liebhabers.  Ein  Mädchen,  das  mit 
mehreren  Liebhabern  verkehrt  hat,  gibt  meist  den  von  ihr  be¬ 
vorzugten  Mann  als  den  Vater  des  Kindes  an.  Anscheinend  sind 
auch  in  unserer  Provinz  die  unehelichen  Geburten,  wie  es  auch 
in  Pommern  beobachtet  wurde,  in  dauernder  Zunahme  begriffen,  so¬ 
wohl  in  der  Stadt  als  auf  dem  Lande  (vgl.  die  Zahlen  aus  Kiel, 
Altona  und  Flensburg). 

Die  Zunahme  der  unehelichen  und  entsprechende  Abnahme 
der  ehelichen  Geburten  muß  entschieden  als  eine  Ausgleichs¬ 
erscheinung  angesehen  werden,  und  nicht  wenig  uneheliche  Kinder 
werden  durch  verheiratete  Männer  gezeugt  sein,  die  in  der  Ehe 
wegen  des  Präventivverkehrs  keine  Befriedigung  fanden. 

Eine  Abnahme  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  annehmen  zu  wollen, 
ist  meiner  Meinung  nach  verfehlt,  in  früheren  Jahren  kamen  in 
unserer  Provinz  nach  Hensler  auf  eine  Ehe  3,5— 3,6  Kinder. 
1906 — 1910  betrug  die  Fruchtbarkeitsziffer  auf  1000  ehefähige 
Frauen  136,52  Lebendgeborene.  1891 — 1895  noch  157,96. 

Einen  Umstand  möchte  ich  noch  für  die  Abnahme  der  Kinder¬ 
zahl  verantwortlich  machen,  auf  den  meines  Erachtens  wenig  oder 
gar  nicht  hingewiesen  wird,  das  ist  die  Zunahme  des  Stillens  und 
dementsprechend  Abnahme  der  Säuglingssterblichkeit  besonders 
durch  die  Ausdehnung  der  Stillung  auf  längere  Zeiträume.  Da¬ 
durch  würde  der  Verlust,  den  das  Heer  durch  die  Abnahme  der 
Geburten  auf  die  Dauer  erleiden  muß,  durch  Verbesserung  des 
Materials  ausgeglichen. 

Wenn  der  allgemeine  Druck  und  die  Höhe  der  Nahrungs¬ 
mittelpreise  für  die  Abnahme  der  Geburtenzahlen  verantwortlich 
gemacht  werden,  so  ist  das  ohne  Einschränkung  nicht  richtig, 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  B95 

denn  in  Altona  sind  die  Sparkasseneinlagen  sehr  erheblich  ge¬ 
stiegen,  die  Zahl  der  Darlehen  im  Leihhaus  hat  abgenommen,  aus 
den  niederen  Steuerklassen  sind  sehr  viele  Zensiten  in  die  höheren 
übergegangen,  die  Zahl  der  Zwangsversteigerungen  hat  allerdings 
zugenommen.  In  den  letzten  Jahren  haben  die  Preise  der  wichtig¬ 
sten  Nahrungsmittel  außer  Ochsenfleisch  keine  nennenswerten  Ver¬ 
änderungen  erfahren. 

Anders  allerdings  in  Kiel,  dort  muß  der  Druck  der  Verhält¬ 
nisse  sehr  fühlbar  sein,  denn  die  Sparkassenrückzahlungen  wiegen 
in  den  letzten  Jahren  sehr  vor,  auch  die  Zahl  der  Zwangsver¬ 
steigerungen  hat  eine  erhebliche  Zunahme  erfahren. 

Wenn  die  Landflucht  als  Ursache  der  Geburtenabnahme  be¬ 
schuldigt  wird,  so  hat  in  Schleswig-Holstein  die  Verteilung  der 
Land-  und  Stadtbevölkerung  eine  starke  Verschiebung  erfahren. 
Nach  den  Zahlen  meines  Buches  über  die  Säuglingssterblichkeit 
hatten  wir  1871  noch  67  Landbewohner  und  33  Stadtbewohner, 
jetzt  nur  mehr  54  Land-  und  46  Stadtbewohner  auf  100  Ein¬ 
wohner.  Nach  Groth  ist  in  Bayern  der  Geburtenrückgang  fast 
ausschließlich  auf  die  Städte  beschränkt.  Sowohl  in  der  Stadt  als 
auf  dem  Lande  wird  die  Schwangerschaft  sehr  häufig  durch  die 
verschiedensten  Mittel  unterbrochen. 

In  Kiel  konnte  ich  bei  einer  großen  Krankenkasse  annähernd 

die  Zahl  der  Aborte  im  Verhältnisse  zu  den  Geburten  feststellen, 

•  • 

die  Arzte  behandelten  im  Jahr  etwa  50  Entbindungen  und  wurden 
bei  240  Aborten  zugezogen,  es  kamen  also  auf  jeden  zehnten  ver¬ 
heirateten  Mann  in  jedem  Jahre  ein  Abort  (die  Kasse  hatte  2400 
verheiratete  Mitglieder). 

Eine  Hebamme  in  Gaarden  hatte  in  einem  Jahr  181  Ent¬ 
bindungen  und  35  Aborte  behandelt  in  allen  Kreisen  der  Be¬ 
völkerung.  Diese  Zahl  der  Aborte  ist  anscheinend  im  Verhältnis 
eine  niedrige.  In  Kiel  ist,  wie  mir  von  Frauenärzten  versichert 
wird,  die  künstliche  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  so  häufig, 
daß  die  Tätigkeit  mancher  Hebammen  in  dieser  Richtung  oft  so 

ausgebreitet  ist  wie  ihre  geburtshilfliche.  Die  Hebammen  legen 

•  • 

auch  Uterinpessare  ein.  Auch  manche  Arzte  sind  sehr  leicht  mit 
dem  Uterinpessar  bei  der  Hand,  in  den  Großstädten  sind  dem 
Publikum  ganz  bestimmte  Frauenärzte  bekannt,  die  ohne  Wahl 
einer  Indikation  ein  Uterinpessar  einlegen.  Vom  Lande  kommen 
die  Frauen  zu  diesem  Zweck  in  die  Stadt,  da  'sie  -so  sicherer  sind, 
daß  die  Sache  Geheimnis  bleibt.  Die  Anzeige  antikonzeptioneller 
Mittel  geschieht  in  den  Zeitungen  oft  unter  ganz  harmlosen 


396  Hanssen, 

Reklamen  wie  „Versandhaus“  oder  „hygienisches  Versandhaus“. 
Man  bekommt  auf  Anfrage  einen  sehr  reichhaltigen  Katalog,  in 
welchem  Kondome,  Schwämmchen,  Mensinga-  und  Uterinpessare, 
Menstruationspulver  usw.  angezeigt  werden  und  manche  Mittel, 
welche  der  künstlichen  Unterbrechung  der  Schwangerschaft  sehr 
verdächtig  sind.  Eine  genaue  Gebrauchsanweisung  liegt  bei. 
Teilweise  wurden  die  Intrauterindouchen  so  schamlos  in  den  Schau¬ 
fenstern  solcher  Handlungen  ausgestellt,  daß  sich  die  medizinische 
Gesellschaft  in  Kiel  zum  Einschreiten  veranlaßt  sah.  Manche 
Annoncen  von  Personen,  welche  sich  Masseurin  nennen  und  da¬ 
neben  Frauenkrankheiten  behandeln,  sind  mir  auch  auf  Unter-  * 
brechung  der  Schwangerschaft  sehr  verdächtig,  auch  manche  An¬ 
zeigen  von  Hebammen,  welche  Frauen  diskrete  Unterkunft  in 
Fällen,  wo  Schwangerschaft  eingetreten  ist,  gewähren,  fallen  in 
dieses  Gebiet.  Die  Auswahl  ist  also  recht  groß  und  mancherlei 
Mittel  stehen  dem  Publikum  zur  Verfügung,  die  Schwangerschaft 
zu  verhüten  und  gegebenenfalls  zu  unterbrechen. 

Welche  Mittel  kann  der  Staat  ergreifen,  um  dem  zunehmenden 
Rückgang  der  Geburten  vorzubeugen?  Der  Staat  hat  nicht  die 
Macht,  die  Zahl  der  Eheschließungen  und  der  aus  diesen  hervor¬ 
gehenden  Kinder  zu  steigern,  sehr  wohl  kann  er  aber  durch 
Gewährung  von  Steuerermäßigung  die  Staatsbürger  begünstigen, 
welche  eine  größere  Zahl  von  Kindern  ihr  eigen  nennen  und  zur 
Vermehrung  unserer  nationalen  Kraft  beigetragen  haben.  Schon 
vor  der  eingetretenen  Entbindung  kann  der  Staat  durch  Gründung 
von  Mutterschaftsversicherungskassen  für  das  entstehende  Leben 
vorbeugend  sorgen.  Die  Reichsversicherungsordnung  wird  in  der 
Beziehung  größere  Erweiterungen  bieten.  Manche  größere  Kranken¬ 
kassen  sorgen  schon  jetzt  durch  Gewährung  von  Wöchnerinnen-  - 
Unterstützung  für  die  schwangere  und  frisch  entbundene  Mutter. 
Die  Kieler  Ortskrankenkasse  bezahlte  1911  über  15000  M.  Unter¬ 
stützung  an  Wöchnerinnen  und  Schwangere.  Leider  hat  die  R.V.  0. 
nicht  alle  Hoffnungen  in  der  Beziehung  erfüllt.  Meiner  Meinung 
nach  wäre  für  diesen  Zweck  eine  Junggesellensteuer  sehr  am  Platz, 
damit  größere  Mittel  für  die  Mütter  bereit  wären.  Auch  der  un¬ 
liebsamen  Vermehrung  der  unehelichen  Geburten  wäre  so  in  wirk¬ 
samer  Weise  vorgebeugt.  Stillprämien  vom  Staate  gegeben,  nicht 
wie  bis  jetzt  von  der  Privatwohltätigkeit,  könnten  auch  sehr 
günstig  wirken.  Ebenso  wäre  die  Gewährung  von  unentgeltlich 
von  den  Kommunen  gewährte  Milch  ein  Mittel,  ärmeren  Familien 
die  Aufziehung  ihrer  Kinder  zu  erleichtern.  Auch  die  Gewährung 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  397 

von  Milch  an  ärmere  Schüler  fällt  in  dieses  Gebiet.  Das  sind 
aber  nur  alles  Mittel,  die  Vermehrung  des  Nachwuchses  zu  unter¬ 
stützen.  Die  Verbilligung  wichtiger  Nahrungsmittel  und  Beseitigung 
drückender  Steuern  sollte  angestrebt  werden  und  nicht  manche 
Kreise  des  Staates  auf  Kosten  der  Allgemeinheit  begünstigt  werden. 
"Würde  der  Wettbewerb  im  Rüsten  zwischen  den  Staaten  ein¬ 
gestellt,  so  könnten  große  Mittel  für  die  Aufzucht  des  Nachwuchses 
durch  den  Staat  freigemacht  werden,  doch  sind  das  alles  Zu¬ 
kunftsträume  (vgl.  Pistor).  Das  eine  aber  kann  der  Staat  tun, 
daß  er  verhindert,  daß  Leben,  das  zur  Vermehrung  des  Volkes 

entstanden  ist,  nicht  wieder  verloren  geht,  wie  es  jetzt  gang  und 
•  • 

gäbe  ist.  Arzte  und  Hebammen,  welche  allzu  leichtfertig  mit  der 

Empfehlung  antikonzeptioneller  Mittel  sind,  könnten  einen  kleinen 

Denkzettel  erhalten.  Eine  Indicatio  socialis  für  Unterbrechung 

der  Schwangerschaft  gibt  es  nicht  (vgl.  Baiser  im  Kreise  Mainz). 

Daß  Arzte  leichtfertig  mit  dem  Uterinpessar  Vorgehen,  könnte 

durch  die  Bestimmung  verhindert  werden,  daß  zu  einem  solchen 

•  • 

Vorgehen  die  Anwesenheit  zweier  Arzte  nötig  wäre,  wie  bei  der 
künstlichen  Unterbrechung  der  Schwangerschaft.  Den  Hebammen 
sollte  das  Einlegen  der  Pessare  überhaupt  verboten  werden.  Ganz 
besonders  könnte  aber  der  schamlosen  Ausstellung  und  Empfehlung 
antikonzeptioneller  Mittel  in  den  Zeitungen  und  Schaufenstern  ent¬ 
gegengearbeitet  werden,  indem  eine  solche  Reklame  von  der  Polizei 
einmal  unter  die  Lupe  genommen  würde,  das  ist  sehr  wohl  mög¬ 
lich.  Würde  den  Hebammen  einmal  eine  Anzeige  aller  iVborte  zur 
Pflicht  gemacht,  so  würde  man  Wunder  schauen  über  die  Zahl 
derselben.  Das  Verbot,  in  den  Zeitungen  die  Aufgebote  bekannt 
zu  machen,  wie  es  in  Düsseldorf  geschieht,  ist  vielleicht  auch  eine 
wirksame  Maßregel  gewissen  Offerten  entgegenzuarbeiten.  Geht 
die  Abnahme  der  Geburten  so  weiter  wie  jetzt,  so  müssen  wir  mit 
ernster  Sorge  in  die  Zukunft  sehen.  Wenn  es  wahr  ist,  daß  die 
Abnahme  der  Geburten  von  Osten  nach  Westen  zunimmt,  so  würde 
uns  einst  Rußland  durch  die  erdrückende  Zahl  seiner  Bewohner 
ein  Gegenstand  ernster  Sorge  werden.  Dem  entgegenzuwirken, 
müssen  wir  mit  allen  Kräften  bemüht  sein.  Der  Staat  aber  hat 
die  Pflicht,  alle  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  anzuwenden, 
damit  das  Zweikindersystem  nicht  ähnlich  wie  in  Frankreich  bei 
uns  in  allen  Kreisen  der  Bevölkerung  Mode  wird  und  auch  wir 
einem  sterbenden  Volke  gleichen  werden,  das  seinen  Untergang 
vor  sich  sieht. 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


26 


398 


Hansseu, 


Liter  atu  rau  gäbe. 

Altona.  Statistische  Jahres-  und  Monatsübersichten. 

— ,  Gemeindeverwaltung’  der  Stadt  Altona,  1863 — 1900,  2.  Teil,  Altona  1906.  Mit 
zahlreichen  Tafeln  nach  Stadtteilen  getrennt. 

Bertheau,  Generalberichte  über  das  öffentliche  Gesundheitswesen  der  Provinz 
Schleswig-Holstein,  1895—1910.  Nicht  gedruckt. 

Bockendahl,  Dasselbe.  1870 — 1894. 

Baiser,  Ärztliches  und  Bechtliches  über  die  Verminderung  der  Geburtenzahl. 

Münchn.  med.  Wochenschr.  1911,  S.  1892. 

Behla,  Medizinalstatistische  Mitteilungen,  1912,  S.  318. 

Bloch,  Das  Sexualleben  unserer  Zeit.  S.  759.  Neomalthusianismus  usw. 
Bockendahl-Joens,  Kiels  Einrichtungen  usw.  Festschrift  1896. 

Brüning,  Säuglingssterblichkeit  in  Mecklenburg-Schwerin. 

Dietrich,  Keferat.  Vierteljahrsschrift  für  gerichtliche  Medizin  und  öffentlichem 
Sanitätswesen.  43.  Bd.,  1912. 

Funke,  Kinderzahl  nach  sozialem  Stande.  Zeitschr.  f.  Säuglingsschntz,  1912,  S.  179. 
v.  Grub  er,  Fortpflanzung  und  Vererbung.  S.  164.  „Neomalthusianismus“. 
Hamburg.  Berichte  des  Medizinalrats,  1901 — 1911.  Mit  verschiedenen  Tafeln  über 
die  Geburtenzahlen. 

- — ,  Die  Gesundheitsverhältnisse  Hamburgs  im  19.  Jahrhundert.  Hamburg  1901. 
Festgabe.  Mit  Tafeln. 

Hanauer,  Säuglingssterblichkeit  in  Frankfurt  a.  M. 

Hansseu,  Die  Säuglingssterblichkeit  in  Schleswig-Holstein  und  die  Mittel  zu 
ihrer  Abhilfe.  Kiel  1912.  L.  Handorff’s  Verlag.  Mit  45  Tafeln  und  Karten. 
— ,  Abnahme  der  Geburtenzahlen  in  Schleswig-Holstein.  Kieler  Zeitung,  1912,. 
Nr.  252. 

— ,  Die  Säuglingssterblichkeit  in  früheren  Jahrhunderten.  Zeitschr.  f.  Säuglings¬ 
schutz,  1912,  Mai. 

Hensler,  Beitrag  zur  Geschichte  des  Lebens  und  zur  Fortpflanzung  des  Menschen. 
Altona  1767. 

Her  mb  erg,  Wirtschaft  und  Bevölkerung  des  Kirchspiels  Münsterdorf  (im  Manu¬ 
skript  benutzt). 

Heyn,  Beichstagverhandlungen  vom  22.  März  1912.  Kieler  Zeitung. 

Kiel.  Statistische  Jahres-  und  Monatsberichte.  Kiel. 

Löwenfeld,  Über  das  eheliche  Glück.  München,  Bergmann’s  Verlag. 
Lehrbücher  der  Geburtshilfe  über  Abort. 

Lehrbücher  der  gerichtlichen  Medizin  über  kriminellen  Abort.  Münch,  medic. 
Wochenschr.  1903,  S.  1576. 

— ,  1907.  Geburten  und  Sterbefälle  in  deutschen  Groß-  und  Mittelstädten.  S.  1909. 
— ,  1908.  Briefe  aus  England.  S.  2562. 

— ,  1909.  Groth,  Die  Erhaltung  der  Volkskraft  und  Volksgesundheit.  Keferat 
auf  der  7.  Hauptversammlung  des  Deutschen  Medizinalbeamten -Vereins. 
Jena  1909. 

— ,  1909.  Geburten  usw.  S.  485. 

Mittelhäuser,  Säuglingssterblichkeit,  ihre  Ursachen  und  ihre  Bekämpfung. 

Zeitschr.  f.  Säuglingsschutz  2/3,  1912. 

Medizinalstatistische  Nachrichten. 


Die  Abnahme  d.  Geburtenzahlen  in  d.  verschied.  Bevölkerungsklassen  usw.  399 

Mombert,  Polemik  gegen  Oldenberg.  Arch.  f.  Sozialwissenschaft,  Bd.  34,  H.  3, 
1912. 

N  e  t  e  r,  Das  einzige  Kind  und  seine  Erziehung. 

Oldenberg,  Referat  auf  der  Tagung  des  deutschen  Landwirtschaftsrats.  1912. 

Itzehoer  Nachrichten  Nr.  41.  15.  2.  1912. 

— ,  Über  den  Rückgang  der  Geburten-  und  Sterbeziffer  in  Deutschland.  Arch.  f. 

Sozialwissenschaft  u.  Sozialpolitik,  Bd.  31  u.  32. 

Oesterlen,  Medizinische  Statistik. 

P  aas  che,  Reichstagsverhandlungen  vom  22.  März  1912.  Kieler  Zeitung. 
Peiper-Pauli,  Säuglingssterblichkeit  in  Pommern.  Klin.  Jahrb.  1911. 

P  ei  per,  Säuglingssterblichkeit  und  -fürsorg  e.  Berlin  1912. 

Pistor,  Referat.  Vgl.  Dietrich  1.  c. 

Preußische  Statistik.  1870 — 1910. 

Prinzin g,  Medizinische  Statistik. 

Redder,  Blätter  für  das  Flensburger  Armenwesen.  1911. 

Rohwedder,  Die  Geburts- und  Sterblichkeitsverhältnisse.  Mitteilungen  für  den 
Verein  Schleswig-Holsteinischer  Arzte.  März  1912. 

Statistisches  Amt  der  Stadt  München.  Berichte. 

Tugendreich,  Handbuch  der  Mutter-  und  Säuglingsfürsorge.  .S.  59.  Mit  einer 
großen  Karte  der  Geburtenzahlen. 

Vorläufige  Ergebnisse  der  Volkszählung  vom  1.  Dezember  1910  im  Königreich 
Preußen.  Bearbeitet  vom  K.  Pr.  St.  L.  Berlin  1911. 

Wolff,  J..  Die  Volkswissenschaft  der  Gegenwart  und  Zukunft.  1912. 

— ,  Bevölkerungssorgen.  Kieler  Neueste  Nachrichten.  12.  Juli  1912. 


26* 


Die  Erwerfosunfähigenversicherung  in  Gro߬ 
britannien  und  Irland. 

Von  H.  Fehlin ger. 

Am  15.  Juli  1912  trat  in  Großbritannien  und  Irland  das 
„nationale  Versicherungsgesetz“  in  Kraft,  dessen  erster  Teil  die 
Versicherung  gegen  Krankheit  und  Invalidität  betrifft,  während 
der  zweite  Teil  die  Arbeitslosenversicherung  regelt,  die  vorläufig 
auf  einige  wenige  Wirtschaftszweige  beschränkt  ist.  Die  obli¬ 
gatorische  xArbeitslosenversicherung  durch  den  Staat  wurde  bisher 
noch  in  keinem  Lande  durchzuführen  versucht,  und  man  darf  auf 
die  Ergebnisse  dieses  Experiments  gespannt  sein.  Auch  die  Er- 
werbsunfäliigenversicherung  weicht  in  Großbritannien -Irland  in 
mancher  Beziehung  von  der  in  den  Staaten  des  kontinentalen 
Europa  befolgten  Praxis  ab,  obwohl  sich  die  Urheber  des  neuen 
Gesetzes  besonders  die  Erfahrungen  Deutschlands  in  weitgehendem 
Maße  zunutze  machten. 

Der  Bereich  der  obligatorischen  Erwerbsunfäliigenversicherung 
—  die  amtlich  Heath  Insurance  oder  „Gesundheitsversicherung“ 
bezeichnet  wird  —  umfaßt  alle  in  einem  Arbeits-  oder  Dienst¬ 
verhältnis  stehenden  Personen  im  Alter  von  16  Jahren  aufwärts. 
Die  Ausnahmen  sind  zahlreich,  aber  zumeist  unbedeutend.  Von 
der  Versicherungspflicht  ausgenommen  sind  alle  Personen,  welche 
bei  Eintritt  in  eine  versicherungspflichtige  Beschäftigung  das 
65.  Lebensjahr  bereits  überschritten  haben;  Personen,  die  auf 
andere  Weise  als  durch  Handarbeit  jährlich  über  160  £  (3200  M.) 
verdienen;  Personen,  die  eine  jährliche  Pension  oder  ein  anderes  von 
ihrer  persönlichen  Tätigkeit  unabhängiges  Einkommen  von  min¬ 
destens  26  £  (520  M.)  beziehen;  öffentliche  Angestellte  und  Privat¬ 
beamte,  für  die  anderweitig  und  mindestens  ebenso  gut  wie  auf 


Die  Erwerbsmifähigenversickeruug  in  Großbritannien  und  Irland.  401 

Grund  des  Gesetzes  vorgesorgt  ist;  Angehörige  der  Armee  und 
Marine;  Schullehrer;  Agenten,  die  Provision  bekommen  oder  sonst¬ 
wie  am  Geschäftsertrag  Anteil  haben;  Mannschaften  von  Fischerei¬ 
schiffen,  die  am  Ertrag  teilhaben;  Personen,  die  aus  dem  Arbeits¬ 
oder  Dienstverhältnis  nur  ein  Nebeneinkommen  beziehen ;  Personen, 
deren  Lebensunterhalt  für  gewöhnlich  und  in  der  Hauptsache  von 
anderen  Personen  bestritten  wird;  landwirtschaftliche  Arbeiter 
ohne  Barlohn;  von  den  Arbeitsanwendern  („Arbeitgebern“)  be¬ 
schäftigte  eigene  Kinder  und  von  den  Arbeitsanwendern  erhaltene 
fremde  Personen,  wenn  sie  keinen  Lohn  bekommen;  Gelegenheits¬ 
arbeiter,  die  nicht  für  die  Zwecke  des  Gewerbes  oder  Geschäftes 
ihrer  Arbeitsanwender,  noch  bei  Spielen,  sportlichen  Veranstaltungen 
u.  dgl.  beschäftigt  werden;  als  Heimarbeiterinnen  tätige  Ehefrauen 
versicherter  Männer,  wenn  sie  in  der  Hauptsache  nicht  auf  ihren 
eigenen  Erwerb  angewiesen  sind;  beim  Ehegatten  in  Arbeit 
stehende  Personen.  Welche  Beschäftigungsarten  als  nicht  ver¬ 
sicherungspflichtiger  Nebenerwerb  zu  betrachten  sind,  wird  im 
Verordnungswege  bestimmt.  Die  Versicherungspflicht  gilt  für 
britische  Untertanen  und  für  Angehörige  fremder  Staaten  in 
gleicher  Weise.  Die  Zahl  der  Versicherungspflichtigen  wird  auf 
etwa  zwölf  Millionen  geschätzt.  Dazu  kämen  noch  an  zwei 
Millionen  Personen,  welchen  die  freiwillige  Versicherung  gestattet 
ist;  das  sind  alle  nicht  versicherungspflichtigen  Personen,  die  einen 
regelmäßigen  Beruf  ausüben  und  ihren  Lebensunterhalt  von  dieser 
Berufstätigkeit  beziehen,  sowie  Personen,  die  mindestens  fünf 
Jahre  lang  obligatorisch  versichert  waren.  Es  kann  sich  also 
niemand  gar  so  leicht  wie  in  Deutschland  die  billigen  Dienste  der 
Krankenkasse  sichern.  Das  Jahreseinkommen  freiwillig  versicherter 
Personen  darf  in  keinem  Fall  160  £  übersteigen. 

Die  Mittel  zur  Gewährung  der  im  Gesetz  vorgesehenen  Leistungen 
der  Erwerbsunfähigenversicherung  und  zur  Bestreitung  der  Ver¬ 
waltungskosten  werden  durch  den  Staat,  die  versicherten  Personen 
und  deren  Arbeitsanwender  aufgebracht.  Die  Beitragsleistung 
ist  sehr  kompliziert.  In  der  Regel  schießt  der  Staat  zu  den  Kosten 
der  Versicherung  männlicher  Personen  zwei  Neuntel  und  zu 
den  Kosten  der  Versicherung  weiblicher  Personen  ein  Viertel 
zu.  Der  Rest  ist  durch  gemeinsame  Beiträge  der  Arbeiter  und 
Arbeitsanwender  aufzubringen.  Die  gemeinsamen  Beiträge  betragen 
pro  Woche:  In  Großbritannien  für  männliche  Personen  7  d 
(59  Pf.)  und-  für  weibliche  Personen  6  d  (50  Pf.);  in  Irland  für 
männliche  Personen  5 1 /2  d  (46  Pf.)  und  für  weibliche  Personen 


402 


H.  Fehlinger, 


4V2  d  (38  Pf.).  Der  Arbeitsanwender  zahlt  gewöhnlich  von  jedem 
Beitrag  in  Großbritannien  3  d  (25  Pf.),  in  Irland  2 1/2  d  (21  Pf.). 
Aber  bei  gering  entlohnten  über  21  Jahre  alten  Ver¬ 
sicherten,  die  nicht  Kost  und  Quartier  beim  Arbeitsanwender 
haben,  erhöht  sich  dessen  Beitragsanteil  und  der  Staat  gewährt 
ihnen  zum  Teil  einen  Extrazuschuß. 


Die  Verteilung  des  Wochenbeitrags  der  über  21  Jahre  alten 
gering  entlohnten  Versicherten  gestaltet  sich  wie  folgt: 


Durchschnittlicher  Tagelohn 

Beitrag 

der 

versicherten 
Person 
in  Pence 

santeil 

des  Arbeits¬ 
anwenders 

in  Pence 

Extraznschuß 
des  Staates 

in  Pence 

a)  Männliche 

Versicherte: 

Großbritannien. 

lx/2  Schilling  oder  weniger 

— 

6 

1 

über  172  bis  2  Schilling 

1 

5 

1 

über  2  bis  2l/2  Schilling 

3 

4 

— ■ 

Irland. 

P/2  Schilling  oder  weniger 

— 

472 

1 

über  I72  bis  2  Schilling 

72 

4 

1 

über  2  bis  2l/2  Schilling 

2 

372 

— 

b)  Weibliche  Versicherte: 

Großbritannien. 

P/2  Schilling  oder  weniger 

— 

5 

1 

über  172  bis  2  Schilling 

1 

4 

1 

Irland. 

P/2  Schilling  oder  weniger 

— 

372 

1 

über  ll/2  bis  2  Schilling 

3 

1 

Der  gewöh liehe  Staatszuschuß,  den  auch  die  mit  über 
2  Schilling  im  Tag  entlohnten  Versicherten  erhalten,  wird  in  Gro߬ 
britannien  nicht  ganz  2  d  (17  Pf.)  pro  Person  und  Woche  betragen, 
denn  er  wird  nicht  nach  den  Beitrags e i n n a h m en,  sondern  nach 
den  Kosten  der  Versicherung  berechnet,  die  wegen  der  Anhäufung 
von  Reservefonds  immer  geringer  sein  werden  als  die  Einnahmen. 

Ausländer  erhalten  keinen  Staatszuschuß,  außer 
wenn  sie  am  4.  Mai  1911  seit  mindestens  fünf  Jahren  einer  Organi¬ 
sation  angehörten,  die  als  Versicherungsverein  anerkannt  wird, 
oder  wenn  mit  einer  fremden  Regierung  ein  diesbezüglicher  Ver¬ 
trag  abgeschlossen  wird.  Am  4.  Mai  1911  wurde  der  Entwurf 
des  Gesetzes  dem  Parlament  vorgelegt.  Durch  empfindliche  Be¬ 
nachteiligung  der  Ausländer  soll  dieser  Tag  allen  in  der  Erinnerung 
bleiben ! 


Die  Erwerbsunfähigen  Versicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  403 


Wenn  eine  versicherte  Person  das  70.  Lebensjahr  vollendet, 
so  hört  ihre  Beitragsleistung  und  zugleich  der  Anspruch  auf  Kranken- 
und  Invalidengeld  auf.  Vom  70.  Jahre  an  haben  nämlich  britische 
Untertanen  auf  Altersrenten  Anspruch,  vorausgesetzt,  daß  ihr  durch¬ 
schnittliches  Jahreseinkommen  nicht  31  £  10  s  (630  M.)  übersteigt, 
daß  sie  innerhalb  der  letzten  20  Jahre  ihren  dauernden  Wohnsitz 
12  Jahre  hindurch  in  Großbritannien  und  Irland  hatten,  daß  sie  nicht 
wegen  einer  gerichtlichen  Verurteilung  vom  Bezugsrecht  aus¬ 
geschlossen  sind  usw.  Das  Ausmaß  der  Altersrente  bewegt  sich,  je 
nach  dem  sonstigen  Einkommen,  zwischen  1  Schilling  und  5  Schilling 
in  der  Woche.  Die  über  70  Jahre  alten  Personen,  die  aus  der  Ver¬ 
sicherung  ausscheiden,  haben  weiterhin  Anspruch :  Im  ganzen  König¬ 
reich  auf  Anstaltsbehandlung  und  in  Großbritannien  auch  auf  freie 
Arzthilfe  und  Heilmittel,  soweit  sie  überhaupt  gewährt  werden. 

Neben  den  bereits  erwähnten  Zuschüssen  gewährt  der  Staat 
zur  Bestreitung  der  Kosten  der  Anstaltsbehandlung  einen  jährlichen 
Beitrag  von  1  d  (S1/2  Pf.)  für  jede  versicherte  Person.  Für  diesen 
Zweck  ist  von  den  Beiträgen  der  Versicherten  und  der  Arbeits¬ 
anwender  ein  Betrag  von  1  s  3  d  (1,25  M.)  pro  Person  und  Jahr  zu 
reservieren.  Wenn  die  Kosten  der  ärztlichen  Behandlung  und  der 
Heilmittel  ein  gewisses  Maximum  übersteigen,  so  trägt  der  Staat 
die  Hälfte  der  Mehrkosten. 

Die  freiwillig  versicherten  Personen,  die  sich  bis 
zum  15.  Januar  1913  anmeldeten  und  das  45.  Lebensjahr  noch 
nicht  überschritten  hatten,  zahlen  dieselben  Beiträge,  die  für  obli¬ 
gatorisch  versicherte  Personen  zu  entrichten  sind,  nämlich  in  Gro߬ 
britannien  Männer  7  d  und  Frauen  6  d,  in  Irland  Männer  d 
und  Frauen  4%  d.  Für  ältere  Personen,  die  innerhalb  derselben 
Frist  beitraten,  wurden  mit  Verordnung  vom  1.  Mai  1912  höhere 
Sätze  bestimmt.  Eine  andere  Verordnung  schreibt  vor,  daß  vom 
15.  Januar  1913  an  nur  weniger  als  18  Jahre  alte  Jugendliche  zu 
den  gewöhnlichen  Sätzen  in  die  freiwillige  Versicherung  auf¬ 
genommen  werden.  Für  18— 24jährige  männliche  Personen  beträgt 
der  Wochenbeitrag  in  Großbritannien  schon  7 1/2  d  und  er  steigt 
nach  und  nach  bis  auf  1  s  5  d  (1,42  M.)  in  der  Altersklasse  62 
bis  nicht  ganz  65  Jahre;  65jährige  oder  ältere  Personen  werden 
nicht  mehr  aufgenommen.  In  Irland  steigt  der  Beitrag  der  frei¬ 
willig  versicherten  Männer  von  6  d  in  der  Altersklasse  18 — 25  Jahre 
auf  1  s  2  d  in  der  Altersklasse  60  bis  nicht  ganz  65  Jahre.  Die 
Beiträge  der  freiwillig  versicherten  weiblichen  Personen  sind  etwas 
niedriger. 


404 


H.  Fehlinger, 


Jeder  Unternehmer  ist  für  die  richtige  Zahlung  der  Bei¬ 
träge  verantwortlich.  Er  darf  sich  den  Beitragsanteil  der  ver¬ 
sicherten  Person  von  deren  Lohn  abziehen,  aber  nur  bei  der  Aus¬ 
zahlung  des  Lohnes  und  immer  nur  für  die  letzte  Lohnperiode. 
Wenn  die  versicherte  Person  keinen  Barlohn  erhält,  so  hat  der 
Arbeitsanwender  den  ganzen  Beitrag  zu  zahlen. 

Jede  versicherte  Person  erhält  ein  Mitgliedsbuch  und  eine 
Beitragskarte  von  dreizehnwöchentlicher  Gültigkeit,  in  welche  die 
Beitragsmarken  eingeklebt  werden.  Zur  Nachzahlung  von  Bei¬ 
tragsresten  dient  eine  besondere  Karte,  die  nach  jeder  Zahlung* 
sofort  dem  Versicherungsverein  zurückzugeben  ist.  Die  beiden 
anderen  Legitimationen  hat  die  versicherte  Person  selbst  auf¬ 
zubewahren  und  dem  Arbeitsanwender  auf  Verlangen  vor¬ 
zuzeigen. 

In  der  Zeit  der  Arbeitslosigkeit  kann  die  versicherte 
Person  die  Beiträge  weiter  zahlen,  und  zwar  den  eigenen,  sowie 
den  Arbeitsanwenderbeitrag.  Dadurch  vermeidet  sie,  wegen 
Restierens  in  ihren  Ansprüchen  verkürzt  zu  werden,  oder  des 
Rechtes  auf  Unterstützung  ganz  verlustig  zu  gehen.  In  der 
Arbeitslosenzeit  ist  der  Beitrag  am  ersten  Tage  in  jeder  Woche 
fällig,  außer  wenn  die  versicherte  Person  an  diesem  Tage  krank 
oder  invalid  ist.  In  dem  Fall  sind  die  Beiträge  am  ersten  Tag 
der  auf  die  Beendigung  der  Erwerbsunfähigkeit  folgenden  Woche 
fällig.  Das  Gesetz  selbst  bestimmt,  daß  die  anerkannten  Ver¬ 
sicherungsvereine  befugt  sind,  ihren  Mitgliedern  die  Nachzahlung 
von  Beitrags resten  zu  erlassen.  Durch  Verordnung  wurde 
jedoch  verfügt,  daß  solche  erlassene  Beitragsreste  bei  Feststellung 
der  Unterstützungsberechtigung  nicht  als  wirklich  geleistete  Bei¬ 
träge  gelten  dürfen.  Nur  hinsichtlich  des  Unterstützungsausmaßes 
kommen  die  nachgelassenen  Beiträge  in  Anrechnung. 

Die  Beitragsmarken,  welche  in  die  Mitgliedsausweise  geklebt 
werden,  sind  bei  allen  Postanstalten  käuflich. 

Alle  Einnahmen  an  Beiträgen,  Staatszuschüssen  usw.  fließen 
den  Landesversicherungsfonds  zu,  die  von  den  Landesversicherungs¬ 
ämtern  verwaltet  werden.1)  Alle  Gelder,  die  nicht  an  die  an¬ 
erkannten  Vereine  ausgezahlt,  für  sie  angelegt,  oder  zur  Begleichung 
ihrer  Verbindlichkeiten  benötigt  werden,  sind  zum  Zweck  der  In- 


])  Das  Gesetz  enthält  hier  einen  Widerspruch;  denn  an  anderer  Stelle  heißt 
es,  daß  die  Gelder  der  Postversicherung  von  den  lokalen  Versicherungsausschüssen 
verwaltet  werden. 


Die  Erwerbsunfähigenyersicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  405 


vestierung  an  die  Nationalschuldkommission  auszuzahlen.  Von 
jedem  Wochenbeitrag  einer  durch  einen  anerkannten  Verein  ver¬ 
sicherten  männlichen  Person  werden  1 5/9  Pence  und  von  jedem 
Beitrag  einer  weiblichen  Person  werden  1 V2  Penny  für  die  Bildung  von 
„Reservewerten“  zurückgehalten  und  den  betreffenden  Personen 
wird  dafür  ein  nach  dem  Alter  variierender  Betrag  gutgeschrieben. 
Von  dem  verbleibenden  Rest  des  Beitrags  fließen  im  Fall  männ¬ 
licher  Personen  vier  Siebentel  und  im  Fall  weiblicher  Personen 
die  Hälfte  dem  anerkannten  Verein  zu,  welchem  die  Person  an¬ 
gehört. 

Vor  dem  15.  Januar  1913  besteht  nur  auf  Heilstättenbehand¬ 
lung  bei  Tuberkulose  Anspruch;  im  Gesetz  ist  vorgesehen,  daß 
auch  bei  anderen  Krankheiten,  die  das  Lokalverwaltungsamt  zu 
bezeichnen  hat,  Anstaltsbehandlung  gewährt  werden  kann.  Vom 
15.  Januar  1913  an  erhalten  die  versicherten  Personen  beim  Ein¬ 
tritt  von  Erwerbsunfähigkeit  Geldunterstützung;  die  Bezugsdauer 
währt  nach  mindestens  26  Beitragswochen  bis  zu  26  Wochen  und 
nach  mindestens  104  Beitragswochen  so  lange,  als  die  Erwerbs¬ 
unfähigkeit  besteht.  Weibliche  Versicherte  und  die  nicht  ver¬ 
sicherten  Ehefrauen  versicherter  Männer  haben  auf  Mutterschafts¬ 
unterstützung  Anspruch.  In  Großbritannien  werden  außerdem 
freie  Arzthilfe  und  Heilmittel  gewährt.  In  Irland  sind  diese 
Leistungen  nicht  obligatorisch,  aber  die  anerkannten  Vereine 
können  sie  als  „Zusatzunterstützungen“  einführen.  In  den  ersten 
26  Bezugswochen  wird  die  Geldunterstützung  als  Krankengeld  und 
weiterhin  wird  sie  als  Invalidengeld  bezeichnet.  Die  Gewährung 
von  Kranken-  und  Invalidengeld  obliegt  den  anerkannten  Vereinen 
oder  den  Postanstalten,  die  Gewährung  von  Arzthilfe,  Heilmitteln 
und  Anstaltsbehandlung  hingegen  den  örtlichen  Versicherungs¬ 
ausschüssen.  Jede  erwerbsunfähige  versicherte  Person  hat  also 
gleichzeitig  mit  zwei  Organen  der  Versicherung  zu  tun. 

Das  Höchstausmaß  der  Geldunterstützung  beträgt  für  männ¬ 
liche  Personen  im  A 1 1 e r  von  21  Jahren  aufwärts  und  für 
männliche  Jugendliche,  die  verheiratet  sind  oder  Angehörige  zu 
versorgen  haben,  10  Schilling  (ebensoviel  Mark)  in  der  Woche,  für 
erwachsene  weibliche  Personen  und  weibliche  Jugendliche,  die  ver¬ 
heiratet  sind  oder  Angehörige  zu  versorgen  haben,  Schilling 
in  der  Woche.  Diese  Unterstützungsbeträge  werden  26  Wochen 
lang  gezahlt;  bei  längerer  Dauer  der  Erwerbsunfähigkeit  erhalten 
die  eben  erwähnten  Personen  ohne  Unterschied  des  Geschlechts 
wöchentlich  5  Schilling. 


406 


H.  Fehlinger, 

Unverheiratete  männliche  Minderjährige,  die  keine  An¬ 
gehörigen  zu  versorgen  haben,  erhalten  in  den  ersten  13  Wochen 
je  6  Schilling,  dann  5  Schilling;  unverheiratete  weibliche  Minder¬ 
jährige  erhalten  in  den  ersten  13  Wochen  je  5  Schilling  und  hierauf 
4  Schilling  wöchentlich. 

Die  Personen,  die  nach  Ablauf  des  ersten  Jahres  der  Geltung 
des  Gesetzes  zum  erstenmal  versicherungspflichtig  werden,  aber 
beim  Eintritt  der  Versicherungspflicht  schon  über  17  Jahre 
alt  sind,  erhalten  in  den  ersten  26  Wochen  der  Erwerbsunfähigkeit 
eine  verkürzte  Unterstützung,  die  erst  von  den  Versicherungs¬ 
ämtern  festzusetzen  ist,  keinesfalls  aber  weniger  als  5  Schilling  in 
der  Woche  betragen  darf.  Um  eine  höhere  Unterstützung  zu  be¬ 
kommen,  kann  die  betreffende  Person  verlangen,  daß  ihr  Beitritt 
vom  Tage  der  Vollendung  ihres  17.  Lebensjahres  datiert  wird, 
und  daß  die  zwischen  diesem  Tag  und  dem  Tag  des  tatsächlichen 
Eintritts  in  die  Versicherung  liegenden  Wochen  als  E  es  t  wo  che n 
behandelt  werden  (s.  S.  408).  Nicht  in  ihrem  Unterstützungsbezug 
verkürzt  werden  jene  Personen,  die  den  Nachweis  erbringen,  daß 
sie  die  Zeit  zwischen  der  Vollendung  ihres  17.  Lebensjahrs  und 
dem  Eintritt  der  Versicherungspflicht  in  der  Schule  oder  sonst  mit 
ihrer  Ausbildung  verbrachten,  oder  die  selbst  die  Differenz  zwischen 
dem  Beitrag  für  obligatorische  und  für  freiwillige  Versicherung 
daraufzahlen,  oder  die  beim  Versicherungsamt  eine  Summe  hinter¬ 
legen,  die  hinreicht,  um  ihnen  die  volle  Unterstützung  gewähren 
zu  können. 

Jedem,  der  mit  den  britischen  Verhältnissen  nicht  vertraut  ist, 
werden  die  eben  erwähnten  Bestimmungen  unerklärlich,  wenn 
schon  nicht  unsinnig,  erscheinen.  Die  Benachteiligung  defl 
Personen,  die  erst  nach  Vollendung  des  17.  Jahres  versicherungs¬ 
pflichtig  werden  soll  —  gegen  die  Massenfaulenzerei  der  Jugend¬ 
lichen  ankämpfen  helfen;  ihren  Zweck  wird  sie  freilich  kaum  er¬ 
füllen  und  die  jungen  Leute  werden,  wie  bisher,  sehr  häufig 
zwischen  dem  Schulaustritt  und  dem  Beginn  des  Erwerbslebens 
ein  paar  Jahre  süßen  Nichtstuns  einschalten.  Schuld  darin  ist 
hauptsächlich,  daß  die  Berufslehre  spät  beginnt,  so  daß  die  14- 
und  15jährigen  Knaben  förmlich  zum  Faulenzen  und  dem  nahe¬ 
verwandten  Straßenhandel,  wie  ähnlichen  Beschäftigungsarten,  ge¬ 
zwungen  werden.  Dabei  kommen  sie  nur  allzuoft  auf  die  schiefe 
Bahn,  die  unaufhaltsam  abwärts  führt  und  schließlich  im  „Arbeits¬ 
haus“  endet. 

Bei  den  gegenwärtigen  Zuständen  wirkt  das  Hinausschieben 


Die  Erwerbsimfäkigenversicheruiig  in  Großbritannien  und  Irland.  407 


der  Möglichkeit  regelmäßiger  Beschäftigung  verderblich.  Schöne 
Reden  über  das  Fernhalten  schwacher  Jungen  von  anhaltender 
und  anstrengender  Arbeit  nutzen  nichts,  und  man  kann  den  armen 
Eltern  nicht  zumuten,  daß  sie  die  Lasten  der  Schule  bis  etwa  zum 
16.  oder  17.  Lebensjahr  tragen. 

Die  Bestimmungen  über  Daraufzahlen  der  Differenz  zwischen 
den  Beiträgen  für  obligatorische  und  freiwillige  Versicherung  und 
über  Hinterlegung  von  Geldsummen  beziehen  sich  hauptsächlich 
auf  alte  Leute. 

Für  Personen,  die  im  ersten  Jahre  der  Geltung  des  Gesetzes 
versicherungspflichtig  wurden,  aber  bereits  über  50  Jahre  alt  waren 
und  vor  der  Erkrankung  noch  nicht  mindestens  500  Wochenbeiträge 
gezahlt  hatten,  gelten  folgende  Unterstützungssätze:  Beim  Eintritt 
in  die  Versicherung  über  50 — 60  Jahre  alt  gewesene  Männer 
bekommen  in  den  ersten  26  Wochen  der  Erwerbsunfähigkeit  je 
7  Schilling  und  dann  5  Schilling.  Frauen,  bei  welchen  dieselben 
Verhältnisse  zutreffen,  haben  in  den  ersten  26  Wochen  auf  je 
6  Schilling  und  dann  auf  5  Schilling  Anspruch.  Beim  Eintritt  in 
die  Versicherung  über  60  Jahre  alte  Personen  beiderlei 
Geschlechts  werden  in  den  ersten  13  Wochen  je  6  Schilling  und 
dann  5  Schilling  in  der  Woche  gezahlt. 

Das  Krankengeld  wird  vom  vierten  Tag  der  Erwerbsunfähig¬ 
keit  an  gewährt. 

Wiederholte  Erkrankung  einer  versicherten  Person  im 
Verlauf  von  zwölf  aufeinander  folgenden  Monaten  wird  für  den 
Zweck  der  Feststellung  der  Unterstützungsberechtigung  und  des 
Unterstützungsausmaßes  als  ein  Krankheitsfall  betrachtet,  auch 
wenn  die  Art  der  Krankheit  jedesmal  eine  andere  ist.  Diese  Vor¬ 
schrift  bewirkt,  daß  chronisch  kranke  Personen  vielfach  nur  einmal 
auf  das  Höchstausmaß  der  Unterstützung  Anrecht  haben  werden 
und  bei  allen  folgenden  Erkrankungen  immer  nur  5  Schilling  in 
der  Woche  bekommen. 

In  keinem  Fall  darf  das  Unterstützungsausmaß  einer  ver¬ 
sicherten  Person  mehr  als  zwei  Drittel  ihres  gewöhnlichen  Lohnes 
betragen. 

Wenn  eine  versicherte  Person  Unfallentschädigung  be¬ 
zieht,  deren  wöchentliches  Ausmaß  dem  des  Kranken-  oder  Invaliden¬ 
geldes  gleichkommt  oder  höher  als  dieses  ist,  so  hat  die  betreffende 
Person  auf  Kranken-  oder  Invalidengeld  keinen  Anspruch;  ist  das 
Ausmaß  der  Unfallunterstützung  geringer,  so  haben  die  anerkannten 
Vereine  oder  die  Postanstalten  die  Differenz  daraufzuzahlen. 


408 


H.  Feklinger, 


Sehr  nachteilig  für  die  nicht  ständig  beschäftigten  Arbeiter 
sind  die  Vorschriften  über  Beitragsreste.  Wenn  eine  ver¬ 
sicherte  Person  nicht  mindestens  49  Wochenbeiträge  im  Jahres¬ 
durchschnitt  entrichtet  hat,  so  wird  ihr  nämlich  der  Unterstützungs¬ 
anspruch  verkürzt.  Wenn  die  durchschnittliche  Zahl  der  Beitrags¬ 
reste  4 — 13  beträgt,  so  wird  entweder  das  Unterstützungsausmaß 
bei  männlichen  Personen  um  je  1/2  Schilling  und  bei  weiblichen 
Personen  um  je  */4  Schilling  pro  Beitragsrest  herabgesetzt,  um 
welchen  die  Zahl  der  Reste  drei  übersteigt,  oder  es  wird  der  Be¬ 
ginn  des  Unterstützungsbezuges  um  je  einen  Tag  pro  Beitragsrest 
hinausgeschoben. 

Versicherte  Personen,  die  mehr  als  13  Beitragsreste  pro  Jahr 
aufweisen,  erhalten  keine  Geldunterstützung,  und  bei  mehr  als 
26  Beitragsresten  pro  Jahr  erlischt  auch  der  Anspruch  auf  alle 
anderen  Unterstützungen.  Doch  sind  diese  Personen,  solange  sie 
in  Arbeit  stehen,  zur  Beitragsleistung  verpflichtet. 

Nicht  gerechnet  werden  die  während  der  Krankheit  oder 
Invalidität  entstandenen  Beitragsreste.  Wenn  Beitragsreste  zurück¬ 
gezahlt  werden  und  im  Verlaufe  eines  Monats  bei  der  betreffenden 
Person  Arbeitsunfähigkeit  eintritt,  so  gelten  die  Reste  als  noch 
nicht  bezahlt. 

Die  Masse  der  „Gelegenheitsarbeiter“,  die  es  in  Großbritannien 
überall  gibt,  nicht  nur  in  den  großen  Industriestädten,  ist  zweifellos 
weniger  als  39  Wochen  im  Jahr  beschäftigt.  Ihnen  kommt  das 
neue  Gesetz  so  gut  wie  gar  nicht  zustatten. 

Als  Mutterschaftsunterstützung  erhalten  Wöchnerinnen 
einen  Beitrag  von  30  Schilling  zu  den  Kosten  der  Geburtshilfe. 
Versicherten  Ehefrauen  wird  nach  der  Entbindung  überdies  die 
gewöhnliche  Erwerbsunfähigenunterstützung  gezahlt.  Unverheiratete 
weibliche  Personen  können  erst  vier  Wochen  nach  der  Entbindung 
Erwerbsunfähigenunterstützung  beziehen.  In  einer  Zeit,  da  fast 
allgemein  die  Notwendigkeit  des  Schutzes  der  unehelichen  Mütter 
und  ihrer  Kinder  anerkannt  wird,  ist  diese  Ausnahmegesetzgebung 
gegen  die  unehelichen  Mütter  ungerechtfertigt ,  und  es  ist  un¬ 
begreiflich,  daß  die  Gesetzgeber  sich  den  Wünschen  gewisser  Sitt¬ 
lichkeitsapostel  unterordneten. 

Für  weibliche  Personen,  die  durch  Eheschließung  und 
Aufgabe  der  versicherungspflichtigen  Beschäftigung  aus  der  Ver¬ 
sicherungspflicht  ausscheiden,  sind  besondere  Bestimmungen  ge¬ 
troffen.  Sie  können  ohne  weitere  Bedingung  in  die  freiwillige  Ver¬ 
sicherung  eintreten  und  haben  gegen  Zahlung  eines  Wochenbeitrags 


Die  Erwerbsunfähi  gen  Versicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  409 


von  3  d  (25  Pf.)  Anspruch  auf  freie  Arzthilfe,  Heilmittel  und  Geld¬ 
unterstützung  von  5  Schilling  in  den  ersten  dreizehn  Wochen  und 
3  Schilling  während  der  weiteren  Dauer  der  Krankheit  oder 
Invalidität.  Ehefrauen,  die  sich  nicht  innerhalb  eines  Monats  nach 
Auf  hören  der  obligatorischen  zur  freiwilligen  Versicherung  melden, 
können  später  die  freiwillige  Versicherung  nicht  mehr  eingehen. 
Doch  werden  ihnen  zwei  Drittel  des  auf  sie  treffenden  „Reserve¬ 
wertes“  (s.  S.  405)  gutgeschrieben  und  sie  haben  so  lange  auf  Ent¬ 
bindungsbeiträge  und  Erwerbsunfähigenunterstützung  Anspruch,  bis 
ihr  Guthaben  erschöpft  ist. 

Verheiratete  Frauen  können  nur  in  der  oben  bezeichneten 
Weise  die  freiwillige  Versicherung  eingehen;  Frauen,  die  vorher 
nicht  in  einer  versicherungspflichtigen  Beschäftigung  tätig  waren, 
werden  als  freiwillige  Mitglieder  nicht  aufgenommen  und  weibliche 
Personen,  die  vor  der  Eheschließung  freiwillig  versichert  waren, 
scheiden  durch  die  Eheschließung  aus  der  Versicherung  aus.  Diese 
Vorschriften  werden  die  Durchführung  der  Versicherung  ungemein 
umständlich  machen  und  vom  Standpunkt  der  sozialen  Hygiene 
sind  sie  zu  verwerfen. 

Solange  eine  versicherte  Person  in  einem  Krankenhaus,  Irren¬ 
haus,  Asyl,  Rekonvaleszentenheim  oder  Armenhaus  untergebracht 
ist,  erhält  sie  keine  Kranken-  oder  Invalidenunterstützung;  dabei 
ist  es  gleichgültig,  ob  die  Anstalt  aus  öffentlichen  oder  privaten 
Mitteln  erhalten  wird.  Die  Beträge,  die  sonst  an  Kranken-  oder 
Invalidengeld  zu  zahlen  gewesen  wären,  sind  ganz  oder  teilweise 
zur  Unterstützung  von  Angehörigen  der  in  der  Anstalt  befind¬ 
lichen  Person  zu  verwenden;  hat  die  Person  keine  bedürftigen 
Angehörigen,  so  fließen  die  Gelder  der  betreffenden  Anstalt  oder 
dem  örtlichen  Versicherungsausschuß  zu. 

Personen,  die  nicht  britische  Untertanen  sind,  dürfen 
von  den  anerkannten  Versicherungsvereinen  als  Mitglieder  auf¬ 
genommen  werden.  (Im  Entwurf  des  Gesetzes  war  die  Aufnahme 
von  Ausländern  verboten.)  Doch  darf  ihnen  nur  eine  verkürzte 
Unterstützung  gezahlt  werden,  und  zwar  männlichen  Per¬ 
sonen  sieben  Neuntel  und  weiblichen  Personen  drei  Viertel  der  für 
Inländer  gültigen  Unterstützungssätze.  Von  den  Staatszuschüssen 
darf  kein  Teil  verwendet  werden,  um  Ausländern  Arzthilfe,  Heil¬ 
mittel  oder  Anstaltsbehandlung  zu  gewähren.  Jeder  anerkannte 
Verein,  der  Ausländer  aufnimmt,  hat  nach  Ablauf  jedes  Jahres 
den  örtlichen  Versicherungsausschüssen  die  von  ihnen  für  Aus¬ 
länder  ausgegebenen  Beträge  voll  zurückzuerstatten.  „Reserve- 


410 


H.  Feklinger, 


werte“  werden  den  Ausländern  nicht  gutgeschrieben.  —  Die  Sonder¬ 
vorschriften  über  Ausländer  würden  die  anerkannten  Vereine  nötigen, 
über  inländische  und  ausländische  Mitglieder  gesondert  Buch  zu 
führen.  Es  ist  unwahrscheinlich,  daß  sie  sich  dieser  Mühe  unter¬ 
ziehen  und  in  der  Praxis  werden  die  Ausländer  auf  die  Post¬ 
versicherung  (S.  412)  angewiesen  sein.  So  wollte  es  doch  Herr 
David  Lloyd  George  auch!  Witwen  und  geschiedene  Frauen  von 
Ausländern,  die  vor  ihrer  Verehelichung  britische  Untertaninnen 
waren,  gelten  als  solche  für  die  Zwecke  des  Gesetzes. 

Aktive  Angehörige  der  Armee  und  Marine  erhalten  keine 
Unterstützungen  auf  Grund  dieses  Gesetzes,  abgesehen  davon,  daß 
ihre  Frauen  auf  Mutterschaftsunterstützung  Anspruch  haben.  Vom 
Sold  jedes  Mannes  wird  ein  Betrag  von  lx/2  d  pro  Woche  ab¬ 
gezogen  und  den  gleichen  Betrag  schießt  die  Militär-  oder  Marine¬ 
verwaltung  zu.  Die  auf  diese  Weise  aufgebrachten  Geldmittel 
werden  zum  Teil  beim  Dienstaustritt  oder  Übertritt  in  die  Reserve 
den  betreffenden  Personen  als  „Transferierungswerte“  (S.  413)  gut¬ 
geschrieben  und  zum  Teil  zur  Bildung  von  Reservewerten  sowie 
zur  Schaffung  eines  „Armee-  und  Marineversicherungsfonds“  ver¬ 
wendet;  aus  diesem  Fond  werden  alle  jene  ehemaligen  Angehörigen 
der  Armee  und  Marine  unterstützt,  die  wegen  ihres  Gesundheits¬ 
zustandes  von  keinem  anerkannten  Verein  aufgenommen  werden 
(bei  der  Postversicherung  aber  nur  ganz  geringfügige  Unter¬ 
stützungen  erhalten  würden).  Der  Armee-  und  Marineversicherungs¬ 
fond  zahlt  dieselben  Unterstützungen  wie  die  anerkannten  Ver¬ 
eine  und  zwei  Neuntel  seiner  Ausgaben  trägt  der  Staat. 

Die  Organe  der  Erwerbsunfähigen  Versicherung  sind: 

1.  Die  anerkannten  Vereine; 

2.  die  Postämter; 

3.  die  örtlichen  Versicherungsausschüsse; 

4.  die  Landesversicherungsämter; 

5.  das  Reichsversicherungsamt. 

Jeder  Verein,  dessen  Statuten  den  Vorschriften  des  Gesetzes 
entsprechen,  kann  zum  Zweck  der  Beteiligung  an  der  Versicherung 
von  den  Versicherungsämtern  anerkannt  werden.  Die  Vereine  können 
für  die  Zwecke  der  Versicherung  auch  besondere  Sektionen  ein¬ 
richten;  in  diesem  Fall  gelten  die  Bestimmungen  des  Gesetzes 
nicht  für  den  ganzen  Verein,  sondern  nur  für  seine  Versicherungs¬ 
sektion.  Damit  sollte  namentlich  den  Gewerkschaften  ein  Gefallen 


Die  Erwerbsunfähigen  Versicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  411 


getan  und  vermieden  werden,  daß  sie  ihre  ganze  Gebarung  der 
Regierungsaufsicht  unterstellen  müssen,  falls  sie  sich  an  der  Durch¬ 
führung  des  Gesetzes  beteiligen  wollen.  Andererseits  wurde  damit 
den  geschäftsmäßigen  Versicherungsunternehmungen  die  Teilnahme 
an  der  Durchführung  der  Arbeiterversicherung  ermöglicht;  denn 
die  erste  Bedingung  der  Anerkennung  ist,  daß  ein  Verein  —  oder 
die  Arbeiterversicherungssektion  eines  Vereines  —  nicht  um  Ge¬ 
winn  tätig  sein  darf. 

Die  Angelegenheiten  eines  anerkannten  Vereines  müssen  der 
uneingeschränkten  Kontrolle  seiner  Mitglieder,  soweit  sie  versicherte 
Personen  sind,  unterstehen.  Die  Mitglieder,  oder  von  ihnen  be¬ 
stimmte  Delegierte,  erwählen  den  Vereinsvorstand.  Nur  hinsicht¬ 
lich  der  Betriebskassen,  für  deren  Solvenz  der  Unternehmer  garan¬ 
tiert,  läßt  das  Gesetz  eine  Ausnahme  zu:  Ein  Viertel  der  Vor¬ 
standsstimmen  dieser  Kassen  hat  der  Unternehmer. 

Die  Mitgliedschaft  bei  einer  Betriebskasse  darf  nicht  zur  Be¬ 
dingung  der  Aufnahme  in  die  Arbeit  gemacht  werden.  Jedem 
Mitglied  einer  Betriebskasse  muß  der  Übertritt  in  einen  anderen 
anerkannten  Verein  freistehen.  Die  Betriebskasse  ist  verpflichtet, 
jede  aus  dem  Betrieb  ausscheidende  versicherungspflichtige  Person, 
die  wegen  ihres  Gesundheitszustandes  von  keinem  anderen  aner¬ 
kannten  Verein  aufgenommen  wird,  weiterhin  als  Mitglied  zu  be¬ 
halten. 

Hiervon  abgesehen,  steht  den  anerkannten  Vereinen  die  Wahl 
ihrer  Mitglieder  vollkommen  frei.  Jeder  anerkannte  Verein  ist 
berechtigt,  in  Gemäßheit  mit  sein en  Vorschriften  Mitgliedschafts¬ 
kandidaten  aufzunehmen  oder  abzuweisen  und  Mitglieder  auszu¬ 
schließen.  Nur  wegen  des  Alters  allein  darf  kein  Mitgliedschafts¬ 
kandidat  abgewiesen  werden.  Die  Folge  davon  wird  sein,  daß  die 
großen  Hilfsgesellschaften  (Friendly  Societies),  die  für  die  Aufnahme 
von  Mitgliedern  ärztliche  Gesundheitszeugnisse  vorschreiben,  alle 
schlechten  Risiken  ab  weisen.  Zu  häufiger  Erkrankung 
neigende  Personen  werden  den  Gewerkschaften  zufallen,  soweit 
nicht  auch  diese  die  ärztliche  Untersuchung  vorschreiben,  oder  sie 
müssen  sich  der  Postversicherung  anschließen  und  mit  all  deren 
Nachteilen  zufrieden  sein. 

Doppelversicherung  ist  verboten.  Jede  versicherungspflichtige 
Person  darf  nur  einem  anerkannten  Verein  oder  der  Postversiche¬ 
rung  angehören.  Da  bisher  ein  großer  Teil  —  wohl  die  Mehrzahl  — 
der  Gewerkschaftsmitglieder  auch  Hilfsgesellschaften  angehörten, 
so  müssen  sie  aus  einer  der  beiden  Organisationen  ausscheiden.  Eine 


412 


« 

H.  Fehlinger, 


Ausnahme  findet  nur  dann  statt,  wenn  eine  der  beiden  Organisa¬ 
tionen  nicht  selbst  die  Anerkennung  als  Versieh erungsverein  er¬ 
langte,  sondern  eine  Versiclierungssektion  bildete,  was  die  bisher 
„anerkannten“  Gewerkschaften  zumeist  taten.  Die  großen  Hilfs¬ 
gesellschaften  sind  dagegen  alle  direkt  anerkannt,  sie  haben  keine 
besonderen  Sektionen  ins  Leben  gerufen. 

Wenn  es  ihre  Finanzlage  zuläßt,  so  können  die  anerkannten 
Vereine  außer  den  hier  angegebenen  Mindestleistungen  noch  ge¬ 
wisse  Zusatzunterstützungen  einführen.  Mit  Genehmigung  des  zu¬ 
ständigen  Versicherungsamts  können  die  Vereine  die  Kranken-  und 
Invalidenunterstützung  anders  gestalten,  als  im  Gesetz  vor¬ 
geschrieben  ist,  und  sie  können  auch  eine  oder  beide  dieser  Unter¬ 
stützungsarten  ganz  fallen  lassen  und  dafür  Leistungen  einführen, 
die  sonst  als  Zusatzunterstützungen  gelten.  Die  Vereine  sind  be¬ 
fugt,  wegen  Vergehens  gegen  ihre  Satzungen  Geldstrafen  zu  ver¬ 
hängen,  die  für  das  erste  Vergehen  10  Schilling  und  für  wieder¬ 
holte  Vergehen  20  Schilling  nicht  übersteigen  dürfen,  oder  die 
Mitglieder  bis  zur  Dauer  eines  Jahres  von  allen  oder  gewissen 
Unterstützungen  auszuschließen.  Kein  Mitglied  darf  bestraft  werden, 
weil  es  sich  weigert,  eine  chirurgische  Operation  oder  die  Impfung 
an  sich  vornehmen  zu  lassen.  Die  Krankenkontrolle  haben  die 
Vereine  selbst  zu  regeln,  doch  dürfen  weibliche  Mitglieder  nur 
durch  weibliche  Personen  kontrolliert  werden. 

Versicherungspflichtige  Personen,  die  von  keinem  anerkannten 
Verein  aufgenommen  werden,  oder  die  einem  solchen  Verein  nicht 
beitreten  wollen,  müssen  die  Versicherung  durch  ein  Post¬ 
amt  bewerkstelligen.  Ihre  Beiträge  fließen  in  einen  besonderen 
Fond,  der  als  „Postamtsfond“  bezeichnet  wird.  Jeder  Postver¬ 
sicherte  kann  nur  so  viel  Unterstützung  erhalten,  als  sein  eigenes 
Beitragsguthaben  beträgt;  bei  britischen  Untertanen  kommt  hierzu 
der  Staatszuschuß.  Die  Gewährung  ärztlicher  Hilfe  und  die  Ab¬ 
gabe  von  Heilmitteln  darf  jedoch  keinem  Postversicherten  im  Laufe 
eines  Verwaltungsjahres  eingestellt  werden;  das  ist  nur  am  Jahres¬ 
schluß  zulässig.  Von  den  Beitragsguthaben  dieser  Versicherten 
werden  alljährlich  bestimmte  Abzüge  für  Ärztehonorar,  Heilmittel 
und  Verwaltungskosten  gemacht.  Wenn  nach  Vornahme  der  Ab¬ 
züge  kein  hinreichendes  Guthaben  verbleibt,  so  ist  die  betreffende 
Person  während  des  ganzen  Jahres  zu  keiner  Unterstützung  be¬ 
rechtigt.  Die  örtlichen  Versicherungsausschüsse  können  Ausnahmen 
von  dieser  Regel  gestatten. 

Beim  Ableben  eines  Postversicherten  erhalten  seine  Erben  das 


Die  Erwerbsunfähigenversicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  413 


aus  seinem  Beitragsanteil  stammende  Guthaben  ausbezahlt.  Das 
aus  den  Unternelimerbeiträgen  stammende  Guthaben  wird  zurück¬ 
behalten. 

Die  Bestimmungen  über  die  Postversicherung  gelten  nur  bis 
zum  1.  Januar  1915.  Was  dann  an  ihre  Stelle  treten  soll,  ist  noch 
unentschieden.  Im  Gesetzentwurf  war  die  Postversicherung  als 
dauernde  Einrichtung  gedacht. 

Beim  Übertritt  eines  Versicherten  von  der  Postversicherung 
in  einen  anerkannten  Verein,  oder  umgekehrt,  oder  von  einem  an¬ 
erkannten  Verein  in  einen  anderen,  wird  auch  ein  Geldbetrag  über¬ 
wiesen,  der  als  „Transferier ungs wert“  bezeichnet  wird.  Die 
Berechnung  des  Transferierungswertes  geschieht  auf  Grund  von 
Tabellen,  welche  das  Reichsversicherungsamt  aufstellt. 

Für  jeden  Verwaltungsbezirk  wird  ein  Versicherungs¬ 
ausschuß  eingesetzt,  der  aus  40—80  Mitgliedern  besteht.  Drei 
Fünftel  der  Mitglieder  werden  von  dem  zuständigen  Landesver¬ 
sicherungsamt  als  Vertreter  der  versicherten  Personen  des 
Bezirkes  ernannt.  Die  anerkannten  Vereine  und  etwa  be¬ 
stehende  Organisationen  der  Postversicherten  haben  das  Recht, 
dem  Versicherungsamt  die  Personen  vorzuschlagen,  welche  die  Ver¬ 
sicherten  vertreten.  Ein  Fünftel  der  Mitglieder  ernennt  der  Be¬ 
zirksrat.  Zwei  Mitglieder  werden  von  den  Ärzten  des  Bezirkes, 
oder  wenn  sie  eine  Organisation  haben,  von  ihrer  Organisation 
gewählt;  dazu  kommen  noch  1 — 3  ärztliche  Mitglieder,  welche 
der  Bezirksrat  ernennt.  Die  übrigen  Mitglieder  werden  gleichfalls 
vom  Landesversicherungsamt  ernannt;  davon  müssen  mindestens 
zwei  Mitglieder  Frauen  und  mindestens  ein  Mitglied  muß  Arzt  sein. 
Unter  den  vom  Bezirksrat  ernannten  Mitgliedern  müssen  ebenfalls 
mindestens  zwei  Frauen  sein.  Wenn  die  Bezirksräte  zu  den  Kosten 
der  Arzthilfe  und  Heilmittel,  oder  der  Anstaltsbehandlung,  Beiträge 
leisten,  so  steigt  die  Zahl  ihrer  Vertreter  im  Versicherungsausschuß 
und  die  Vertretung  der  versicherten  Personen  wird  entsprechend 
vermindert.  In  Bezirken,  wo  es  erforderlich  ist,  sind  Subkomitees 
der  Versicherungsausschüsse  einzusetzen,  deren  Zusammensetzung 
durch  Verordnung  des  Versicherungsamtes  bestimmt  wird. 

Den  Versicherungsausschüssen  obliegt  vor  allem  die  Gewährung 
von  Arzthilfe,  Heilmitteln  und  Anstaltsbehandlung. 

Jeder  Versicherungsausschuß  hat  eine  Liste  der  Ärzte  zu  ver¬ 
öffentlichen,  die  sich  zur  Behandlung  versicherter  Personen  bereit 
erklärten.  Jeder  qualifizierte  Arzt  ist  berechtigt,  in  die  Liste  auf- 

Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  27 


414 


/ 


H.  Fehlinger, 


genommen  zu  werden1).  Aber  wenn  das  Versicherungsamt  findet, 
daß  die  Beibehaltung  eines  Arztes  für  die  Versicherten  nachteilig 
wäre,  so  wird  er  von  der  Liste  gestrichen.  Jeder  Versicherte  hat 
das  Recht,  sich  den  Arzt  zu  wählen,  von  dem  er  behandelt  werden 
will;  der  Arzt  kann  ebenso  die  Behandlung  jedes  Versicherten  ab¬ 
lehnen.  Ein  Wechsel  des  Arztes  ist  nur  zu  den  vorgeschriebenen 
Zeitpunkten  gestattet.  In  der  Zwischenzeit  muß  sich  der  Ver¬ 
sicherte  von  dem  Arzt  behandeln  lassen,  den  er  aus  der  Liste 
wählte. 

Jene  Versicherten,  die  sich  selbst  keinen  Arzt  wählten,  werden 
von  den  Versicherungsausschüssen  bestimmten  Ärzten  zugewiesen, 
ebenso  jene,  deren  Behandlung  der  auserwählte  Arzt  ablehnt. 

Wenn  das  Versicherungsamt  meint,  daß  die  in  eine  Liste  auf¬ 
genommenen  Ärzte  keinen  zureichenden  ärztlichen  Dienst  gewähr¬ 
leisten,  so  kann  es  den  Versicherungsausschuß  veranlassen,  daß  für 
den  betreffenden  Bezirk  von  der  Regel  abgegangen  und  auf  andere 
Weise  für  entsprechende  ärztliche  Hilfe  gesorgt  wird.  In  solchen 
Fällen  kann  auch  das  Recht  der  Versicherten  auf  ärztliche  Be¬ 
handlung  aufgehoben  werden. 

Durch  Verordnung  des  Versicherungsamtes  können  Personen, 
deren  Einkommen  eine  gewisse  (örtlich  verschiedene)  Grenze  über¬ 
steigt,  von  der  Gewährung  freier  Arzthilfe  ausgenommen  werden; 
auch  kann  Versicherten  durch  Anordnung  des  Versicherungsamtes 
gestattet  werden,  sich  auf  eigene  Kosten  ärztliche  Hilfe  und  Heil¬ 
mittel  zu  beschaffen. 

Jeder  Versicherungsausschuß  hat  Vorkehrungen  zur  Beschaffung 
geeigneter  und  genügender  Drogen,  Medikamente  und  sonstiger 
vorgeschriebener  Heilmittel  zu  treffen,  und  zwar  wird  für  jeden 
Bezirk  eine  Liste  der  Personen  oder  Körperschaften  aufgestellt, 
welche  die  Heilmittel  auf  ärztliche  Verschreibung  an  die  ver- 


L  Wegen  der  Festsetzung  des  Ärztehonorars  kam  es  zwischen  der  British 
Medical  Association  und  Herrn  David  Lloyd  George  zum  Konflikt.  Der  Finanz¬ 
minister  bot  den  Ärzten  für  Behandlung  und  Beschaffung  von  Medikamenten 
6  Schilling  pro  Person  und  Jahr,  während  die  British  Medical  Association 
11  V2  Schilling  forderte.  Der  Finanzminister  schätzte  im  Lauf  der  Verhandlungen 
den  Honorarsatz  auf  8  ]/2  Schilling,  wovon  6  l/2  Schilling  auf  die  Behandlung  und 
der  Rest  auf  Medikamente  entfallen.  Als  die  Ärzte  damit  noch  nicht  zufrieden 
waren,  wurde  ihnen  die  Einrichtung  eines  amtsärztlichen  Versicherungsdienstes 
in  Aussicht  gestellt.  Daraufhin  empfahl  anfangs  November  die  B.M.A.  die  ver¬ 
suchsweise  Annahme  der  Bedingungen  der  Regierung.  Es  ist  kaum  zweifel¬ 
haft,  daß  die  ärztlichen  Bezirksversammlungen  diesen  Vorschlag  annehmen  werden. 


Die  Erwerbsunfähigen  Versicherung-  in  Großbritannien  und  Irland.  415 

sicherten  Personen  zu  den  vom  Versicherungsausschuß  festgesetzten 
Preisen  liefern.  Jede  Firma,  Person  usw.,  welche  die  fraglichen 
Mittel  zum  Verkauf  hat,  ist  zur  Aufnahme  in  die  Liste  berechtigt; 
die  Streichung  kann  wegen  unbefriedigender  Leistung  erfolgen. 
In  keiner  Weise  darf  aber  gegen  die  Vorrechte  verstoßen  werden, 
die  durch  die  Gesetze  von  1815  (!),  1868  und  1908  den  Apothekern 
eingeräumt  wurden. 

Zum  Zwecke  der  Anstaltsbehandlung  versicherter  Personen 
haben  die  Versicherungsausschüsse  mit  Anstalten,  Personen  und 
Lokalbehörden  —  ausgenommen  den  Armenbehörden  —  Ab¬ 
machungen  zu  treffen.  Die  Anstaltsbehandlung  kann  auf  An¬ 
gehörige  der  versicherten  Personen  ausgedehnt  werden;  die  Ver¬ 
sicherungsausschüsse  sind  dabei  nur  insoweit  an  die  Zustimmung 
des  Versicherungsamtes  gebunden,  als  die  ihnen  zur  Verfügung 
stehenden  Mittel  nicht  hinreichen  und  Zuschüsse  für  die  Anstalts¬ 
behandlung  der  Angehörigen  verlangt  werden. 

Die  Versicherungsausschüsse  haben  vom  Versicherungsamt  im 
Einvernehmen  mit  dem  Lokalverwaltungsamt  vorgeschriebene  Be¬ 
richte  über  die  Gesundheitsverhältnisse  der  versicherten  Personen 
ihrer  Bezirke  zu  erstatten  und  von  ihnen  verlangte  statistische 
Erhebungen  usw.  durchzuführen.  Außerdem  haben  sie  über  Ge¬ 
sundheitsfragen  Vorträge  zu  veranstalten  und  Schriften  zu  ver¬ 
öffentlichen,  wobei  sie  gemeinsam  mit  Universitäten,  lokalen  Unter¬ 
richtsbehörden  usw.  Vorgehen  können. 

Wenn  eine  versicherte  Person  von  einem  Unfall  betroffen  wird 
und  nicht  selbst  ein  Verfahren  zur  Erlangung  von  Entschädigung 
einleitet,  so  hat  dies  der  Versicherungsausschuß  zu  tun.  Die  Ver¬ 
sicherungsausschüsse  haben  ferner  Bezirkspfleger  zu  ernennen, 
welche  die  versicherten  Personen  besuchen.  Diesen  Ausschüssen 
obliegt  auch  die  Verwaltung  der  Fonds  der  Postversicherung. 

Zur  Bestreitung  der  Anstaltsbehandlung,  die  vorläufig  auf 
Tuberkulöse  beschränkt  ist,  erhalten  die  Versicherungsausschüsse 
für  jede  versicherte  Person  1  Schilling  4  Pence  im  Jahr.  Jeder 
anerkannte  Verein  kann  mit  jedem ‘Versicherungsausschuß  über  die 
Höhe  der  Arzt-  und  Heilmittelkosten  besondere  Abmachungen  treffen. 
(Nachdem  den  Ärzten  auf  ihr  Verlangen  ein  einheitlicher 
Honorarsatz  zugestanden  wurde,  ist  diese  Bestimmung  wohl  als 
gegenstandslos  zu  betrachten.  Durch  sie  wäre  die  Verwaltung 
kompliziert  gemacht  worden  und  die  rein  bureaukratische  Tätig¬ 
keit  hätte  die  Oberhand  gewonnen.)  Für  die  administrativen  Aus- 


27* 


416 


H.  Fehlinger, 


lagen  erhält  jeder  Versicherungsausschuß  von  jeder  versicherten 
Person  seines  Bezirks  1—2  d  pro  Jahr. 

Die  Versicherungsausschüsse  —  ebenso  wie  die  anerkannten 
Vereine  —  sind  berechtigt,  bei  außergewöhnlich  hoher  Er- 
krankungshäufigkeitErsatz  der  Mehrkosten  der  Ver¬ 
sicherung  von  jenen  Personen,  Korporationen  usw.  zu  fordern, 
die  nach  ihrer  Meinung  an  der  gesteigerten  Erkrankungshäufigkeit 
die  Schuld  tragen.  Kommt  es  zwischen  dem  Versicherungsorgan, 
das  die  Anschuldigung  erhebt,  und  der  vermeintlich  schuldigen 
Person,  Korporation  usw.  zu  keiner  Einigung  —  was  wohl  die 
Regel  sein  wird  —  so  kann  sich  das  Versicherungsorgan  an  den 
Staatssekretär  (des  Innern  ?)  oder  an  das  Lokal  verwaltungsamt  mit 
dem  Ersuchen  um  Vornahme  einer  öffentlichen  Erhebung 
über  die  Angelegenheit  wenden.  Die  erwähnten  Ministerien  können 
dem  Verlangen  entsprechen,  doch  sind  sie  in  keiner  Weise  ge¬ 
bunden.  W enn  eine  Erhebung  stattfindet,  und  wenn  es  sich  dabei 
herausstellt,  daß  in  den  drei  vorausgegangenen  Jahren,  oder  beim 
Ausbruch  einer  Epidemie  während  irgendeines  kürzeren  Zeit¬ 
abschnittes,  die  Erkrankungshäufigkeit  um  mehr  als  10  Proz.  höher 
war  als  die  normalerweise  zu  erwartende,  und  daß  diese  gesteigerte 
Erkrankungshäufigkeit  auf  das  Verschulden  von  Unternehmern, 
Hausbesitzern,  Wasserversorgungsanstalten  usw.  zurückzuführen  ist, 
so  haben  die  betreffenden  Personen,  Korporationen  usw.  die  von 
dem  Versicherungsausschuß  oder  anerkannten  Verein  geforderten 
Mehrkosten  der  Versicherung  zu  zahlen.  Nach  dem  Wortlaut  des 
Gesetzes  ist  es  zweifellos,  daß  auch  Behörden,  die  ihre  Pflichten 
auf  dem  Gebiet  der  öffentlichen  Gesundheitspflege  nicht  ganz  er¬ 
füllen,  zum  Ersatz  der  Kosten  gesteigerter  Erkrankungshäufigkeit 
verhalten  werden  können.  Freilich  werden  sich  die  zuständigen 
Behörden  nicht  allzuleicht  zur  Vornahme  der  entscheidenden  öffent¬ 
lichen  Erhebungen  herbeilassen,  denn  solche  Veranstaltungen  sind 
in  Großbritannien  gar  kostspielig. 

Für  England,  Wales,  Schottland  und  Irland  besteht  je  ein 
Landesversicherungsamt,  dem  die  Verwaltung  des  Ver¬ 
sicherungsfonds  und  die  Erledigung  aller  jener  Verwaltungs¬ 
angelegenheiten  obliegt,  die  nur  das  eine  Land  betreffen.  Vor¬ 
schriften  über  die  Zusammensetzung  der  Landesversicherungsämter 
enthält  das  Gesetz  nicht;  es  bestimmt  nur,  daß  ihre  Mitglieder 
vom  Finanzminister  ernannt  werden.  Das  englische  Landes- 


Die  Erwerbsunfäkigenversicherung  in  Großbritannien  und  Irland.  417 


versicherungsamt  bestellt  aus  acht  Mitgliedern,  die  drei  anderen 
Landesversicherungsämter  haben  nur  fünf  Mitglieder,  einschließlich 
des  als  Sekretär  fungierenden  Hauptregistrars  der  Hilfsgesell¬ 
schaften.  Jedem  Landes  versicherungsamt  gehört  ein  Arzt  an  und 
nur  unter  den  Mitgliedern  des  Landes  Versicherungsamts  für  Wales 
befindet  sich  keine  Dame. 

Jedes  Versicherungsamt  ernennt  alle  Beamten  und  Diener, 
die  zur  Durchführung  des  Gesetzes  erforderlich  sind.  Außerdem 
ernennt  sich  jedes  Versicherungsamt  einen  Beirat,  der  aus  Ver¬ 
tretern  der  anerkannten  Vereine  und  der  Unternehmerverbände, 
qualifizierten  Ärzten,  mindestens  zwei  Frauen  und  anderen  Mit¬ 
gliedern  besteht.  Diesen  Beiräten  widmet  das  Gesetz  neun  Zeilen. 
Ihr  Einfluß  wird  entsprechend  sein! 

Das  Reichsversicherungsamt  besteht  aus  Mitgliedern 
der  Landesversicherungsämter  und  nicht  mehr  als  drei  anderen 
Personen,  wovon  eine  der  Vorsitzende  ist.  Die  Ernennungen  er¬ 
folgen  durch  den  Finanzminister.  Das  Reichsversicherungsamt  ist 
nur  in  versicherungstechnischen  Fragen  und  solchen  anderen  An¬ 
gelegenheiten  zuständig,  bei  welchen  „Einheitlichkeit  der  Praxis 
im  ganzen  Königreich  als  wesentlich  betrachtet  wird“.  In  Sachen, 
wo  nicht  absolute  Einheitlichkeit,  wohl  aber  eine  gewisse  Über¬ 
einstimmung  erforderlich  ist,  entscheidet  das  Reichsversicherungs¬ 
amt  gemeinsam  mit  den  Landesversicherungsämtern.  Auch  das 
Reichsversicherungsamt  hat  seinen  besonderen  „Beirat“. 

Streitigkeiten  zwischen  den  Versicherten  und  den  anerkannten 
Vereinen  sind  in  erster  Linie  in  Gemäßheit  mit  den  statutarischen 
Bestimmungen  der  Vereine  zu  schlichten,  doch  ist  Berufung  an 
das  Landesversicherungsamt  zulässig.  Streitigkeiten  zwischen  den 
Versicherten  und  den  lokalen  Versicherungsausschüssen  werden  vom 
Landesversicherungsamt  ausgetragen,  das  zu  diesem  Zweck  Schieds¬ 
richter  ernennt. 

Wer  durch  wissentlich  falsche  Angaben  für  sich  oder  eine 
andere  Person  eine  Leistung  auf  Grund  des  Gesetzes  zu  erlangen 
sucht,  wird  im  summarischen  Verfahren  mit  Gefängnis  bis  zu  drei 
Monaten,  mit  oder  ohne  Zwangsarbeit,  bestraft.  Bei  anderen  Vergehen 
gegen  das  Versicherungsgesetz,  sowie  die  dazugehörigen  Durch¬ 
führungsvorschriften  und  Verordnungen,  ist  die  Höchststrafe  eine 
Geldbuße  von  10  £  (200  M.).  Wie  bereits  bemerkt,  können  über¬ 
dies  die  anerkannten  Vereine  empfindliche  Strafen  gegen  ihre  Mit¬ 
glieder  verhängen. 


418  H.  Fehlinger,  Die  Erwerbsunfähigenversicherung  in  Großbritannien  u.  Irland. 

Es  ist  nicht  zweifelhaft,  daß  das  Gesetz  geeignet  ist,  die 
Volksgesundheit  ganz  bedeutend  zu  fördern  und  das  materielle 
Elend  in  Krankheits-  und  Invaliditätsfällen  zu  mildern.  Aber  es 
enthält  Härten,  die  weder  vom  Standpunkt  der  Sozialhygiene  noch 
der  Sozialpolitik  berechtigt  sind.  Überdies  ist  der  Verwaltungs¬ 
apparat  zu  kompliziert  und  die  Verwaltungskosten  werden  trotz 
der  Übernahme  eines  Teils  der  Geschäfte  durch  die  Hilfsgesell¬ 
schaften  und  andere  Vereine  ungebührlich  hoch  sein. 


c 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  in 
be völ  kcr un  gsstatis ti  scher  und  sanitärer  Beziehung. 

Von  Stadtsekretär  Unger,  Perleberg. 

Der  moderne  Wettstreit  der  Städte  um  den  Ruhm,  eine  be¬ 
sondere  Stadt  in  mannigfacher  Beziehung  zu  sein,  läßt  leider 
häufig  den  wichtigsten  Punkt  in  den  Hintergrund  treten,  die  Stadt¬ 
hygiene,  überhaupt  die  Gesundheitsverhältnisse.  Wollte  man  einmal 
in  dieser  Beziehung  „sieben“,  da  würde  gar  manche  sonst  hoch- 
berühmte  Stadt  hinter  vielen  weniger  bekannten  Städten  zurück¬ 
stehen.  Das  Bestreben,  die  „Perle  der  Prignitz“,  das  Städtchen 
Perleberg,  eingehender  zu  studieren,  hat  mir  solch  erfreuliche 
Resultate  in  bevölkerungsstatistischer  wie  sanitärer  Beziehung  ge¬ 
bracht,  daß  ich  glaube,  weitere  Kreise  dafür  interessieren  zu 
dürfen. 

Perleberg  ist  eine  Stadt  von  noch  nicht  ganz  10000  Ein¬ 
wohnern,  liegt  inmitten  prachtvoller  Waldungen  im  Herzen  der 
Prignitz.  Fast  jedes  Haus  hat  seinen  Garten;  überall  sind  freie 
Plätze,  die  durch  gärtnerischen  Schmuck  zu  Anlagen  nmgewandelt 
sind.  Ein  klares,  gesundes  Flüßchen,  das  die  Stadt  in  2  Armen 
durchfließt,  bringt  malerische  Szenerien.  Viele  Straßen  sind  mit 
Bäumen  bepflanzt.  Sucht  man  nach  rauchenden  Schloten  —  nur 
wenige  davon  findet  man,  die  sich  bescheiden,  fast  möchte  man 
sagen:  beschämt  ihres  Wölkchens  Rauch  entledigen.  Das  ist  der 
Boden  zu  meinen  Untersuchungen,  die  nun  verständlicher  sein 
werden.  Perleberg  ist  eine  der  Städte,  die  schon  seit  1874  die 
obligatorische  ärztliche  Leichenschau  hat  und  in  den  sorgfältig 
aufbewahrten  Totenscheinen  einen  kostbaren  Schatz  besitzt.  Dies 
ist  neben  den  standesamtlichen  Unterlagen  sowie  den  Verwaltungs¬ 
berichten  des  Magistrats  die  Quelle,  aus  der  ich  schöpfte. 


420 


Unger, 


Meine  Untersuchungen  umfassen  den  Zeitraum  von  1875  bis 
1911;  sie  auf  frühere  Zeiten  auszudehnen,  hielt  ich  nicht  für  nötig, 
da  einerseits  erst  seit  dem  Inkrafttreten  des  Personenstands¬ 
gesetzes  wirklich  zuverlässige  Grundlagen  über  die  Bevölkerungs¬ 
verhältnisse  vorhanden  sind,  andererseits  alle  Einrichtungen  auf 
hygienischem  Gebiete,  die  irgendwie  entscheidend  auf  die  Sterb¬ 
lichkeit  der  Einwohner  einwirken  könnten,  den  letzten  Dezennien 
an  gehören. 


Die  Einwohnerzahl  Perlebergs  betrug  nach  den  Volks¬ 
zählungen  in  den  Jahren: 


1875  =  7587 
1880  =  7673 
1885  =  7698 
1890  =  7565 


1895  =  8180 
1900  =  8456 
1905  =  9502 
1910  =  9665 


In  35  Jahren  ist  die  Einwohnerzahl  Perlebergs  hiernach  um 
21,5  Proz.  gestiegen. 

Die  Zahl  der 

Geburten 

ergab  im  5jährigen  Durchschnitt  folgendes: 

Auf  1000  Einwohner  kamen  an  Geburten 


in  den 

Jahren 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1875- 

-1880 

31,0 

41,0 

1881- 

-1885 

31,2 

38,9 

1886- 

-1890 

30,3 

38,7 

1891- 

-1895 

26,9 

38,2 

1896- 

-1900 

27,4 

37,7 

1901- 

-1905 

27,2 

36,0 

1906- 

-1910 

26,3 

33,3. 

In  die  allgemeine  Klage  über  einen  Rückgang  der  Geburten¬ 
ziffer  müssen  wohl  oder  übel  auch  wir  Perleberger  einstimmen. 
Allerdings  nehmen  bei  uns  die  Geburten  nicht  gar  so  rapide  ab, 
als  in  Preußen.  Leider  läßt  aber  gerade  der  Vergleich  mit  Preußen 
die  bedauerliche  Tatsache  erkennen,  daß  die  Geburtenziffer  Perle¬ 
bergs  nicht  ein  einziges  Mal  an  den  preußischen  Durchschnitt 
heranreicht. 

Sucht  man  nach  den  Ursachen  der  niedrigen  Geburtenziffer 
Perlebergs,  so  findet  man  eine  Art  Erklärung  dafür  in  dem  Um¬ 
stande,  daß  Perleberg  —  horribile  dictu  —  kein  Eldorado  für 
Heiratslustige  ist.  Es  ist  mir  ja  nicht  gerade  angenehm,  daß  ich 
als  Standesbeamter  es  sagen  muß:  „Es  wird  in  Perleberg  verhält¬ 
nismäßig  zu  wenig  geheiratet,“  Aber  es  ist  so. 

Auf  1000  Einwohner  kamen  eheschließende  Personen: 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


421 


in  den  Jahren  in  Perleberg  in  Preußen 

1875—1880  15,2  16,3 

1881—1885  15,5  15,8 

1886—1890  14,1  16,2 

1891—1895  14,1  16,1 

1896—1900  15,0  16,9 

1901—1905  14,0  16,2 

1906—1910  14,3  16,0 


Auf  1000  Einwohner  kommen  Geburten: 
Perleberg :  —  Preußen : 


Die  Heiratslust  der  Perleberger  erreicht  also  niemals  den 
preußischen  Durchschnitt.  Verhältnismäßig  am  meisten  geheiratet 
wurde  in  Perleberg  im  Jahre  1875,  am  wenigsten  1877. 


422  Unger, 

Auf  1000  Einwohner  kommen  eheschließende  Personen  in 
Perleberg:  —  Preußen: 


Hiermit  sind  die  weniger  erfreulichen  Resultate  beendet. 

Die  Sterblichkeit 

ist  ja  schließlich  doch  der  Maßstab,  nach  dem  nicht  nur  der  Ein¬ 
heimische,  sondern  auch  der  Fremde  eine  Stadt  beurteilt.  Das 
Bestreben,  Perleberg  denjenigen  bekannt  zu  machen,  die  als 
Pensionär  oder  Rentier  einen  gesunden  Ort  sich  zum  dauernden 
Aufenthalte  suchen,  findet  zweifellos  darin  eine  wesentliche  Unter¬ 
stützung,  daß  man  mit  gutem  Gewissen  sagen  kann:  „In  Perleberg 
kann  man  nicht  nur  alt  werden,  nein,  es  ist  erwiesen,  daß  man 
hier  tatsächlich  alt  wird!“ 

An  Gesamttodesfällen  kamen  auf  1000  Einwohner: 


in  den  Jahren 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1875-1880 

25,4 

27,2 

1881—1885 

28,8 

26,9 

1886-1K90 

23,9 

25,4 

1891—1895 

21,2 

24,0 

1896—1900 

19,8 

22,2 

1901—1905 

19,9 

20,7 

1906—1910 

16,8 

18,3 

Man  sieht  hier  deutlich,  daß  beim  fünfjährigen  Durchschnitt 
Perleberg  bezüglich  der  Sterblichkeit  stets  günstiger  dasteht 
als  Preußen  und  daß  das  Sinken  der  Sterblichkeitszilfern  ungefähr 
gleichen  Schritt  hält.  Tatsächlich  übertrifft  die  Sterblichkeits- 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


423 


Ziffer  Perlebergs  nur  in  wenigen  Jahren  den  prenßischen  Durch¬ 
schnitt,  in  den  weitaus  meisten  Jahren  nähert  sie  sich  ihm  nicht 
einmal.  Und  in  diesen  wenigen  Jahren  sind  es  besondere 
Epidemien  (Scharlach  und  Diphtherie)  die  die  Behauptung 
rechtfertigen,  daß  diese  hohe  Sterblichkeit  einzelner  Jahre  eben 


Auf  1000  Einwohner  kommen  Gesamttodesfälle: 
Perleberg:  —  Preußen:  — 


immer  doch  nur  die  Ausnahme  bleibt.  Das  Jahr  1883  war  mit 
247  Todesfällen  das  ungünstigste,  dem  das  Jahr  1893  mit  236  sich 
anschließt.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  diese  hohe  Sterblichkeit 
eine  Ausnahme  ist,  wenn  man  in  Betracht  zieht,  daß  im  Jahre  1883 
30  Personen  an  Diphtherie  (12,1  Proz.  aller  Todesfälle)  und  31  an 
Scharlach  (12,4  Proz.  aller  Todesfälle)  starben.  Im  Jahre  1893 


424 


Unger, 


forderte  die  Diphtherie  nicht  weniger  als  62  Todesopfer 
(25,4  Proz.  aller  Todesfälle).  Im  Jahre  1905  war  es  die  Säug¬ 
lingssterblichkeit,  die  ungünstig  auf  das  Bild  ein  wirkte.  —  Das  Jahr 
1909  war  bezüglich  der  Sterblichkeit  für  Perleberg  das  günstigste. 

Erheblich  ungünstiger  als  bei  Berechnung  der  Todesfälle  auf 
die  Einwohnerzahl  liegen  die  Verhältnisse  in  Perleberg,  wenn  man 
die  Todesfälle  mit  den  Geburten  vergleicht. 

An  Gesamttodesfällen  kamen  auf  1000  Geburten: 


in  den  Jahren 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1875-1880 

826 

663 

1881—1885 

930 

692 

1886—1890 

787 

656 

1891—1895 

785 

629 

1896—1900 

734 

589 

1901-1905 

732 

577 

1906—1910 

640 

524 

Die  Ursachen  dieser  Ungunst  liegen  keineswegs  in  der  Sterb¬ 
lichkeit,  sondern  lediglich  in  der  vorerwähnten  geringen  Geburten¬ 
ziffer.  In  den  Jahren  1875,  1881  und  1893  übertraf  die  Zahl 
der  Gestorbenen  sogar  die  der  Lebendgeborenen.  Zum  Glück  sind 
jene  Zeiten  offenbar  vorbei. 

Wenn  ich  vorhin  so  kühn  war,  zu  behaupten,  in  Perleberg  würden 
die  Menschen  alt,  so  findet  meine  Kühnheit  eine  Stütze  in  dem 

Lebensalter, 

das  die  in  Perleberg  Gestorbenen  erreichten. 

Von  100  Gestorbenen  hatten  ein  Alter  von  über  70  Jahren 
erreicht: 


im  Jahre 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1901 

20,0 

14,1 

1903 

23,0 

14,8 

1904 

21,7 

15,3 

1905 

20,1 

15,5 

1906 

23,8 

15,3 

1907 

25,3 

16,9 

1908 

21,4 

16,8 

1909 

29,9 

16,9 

1910 

26,8 

17,4 

Perleberg  steht  also  auch  in  dieser  Hinsicht  stets  günstiger 
da  als  Preußen.  Nicht  unerheblich  ist  hier  sogar  die  Zahl  der  über 
80,  ja  90  Jahre  alten  Personen.  Das  Jahr  1900  hatte  sogar  einen 
100jährigen.  Dies  möge  als  Beweis  dafür  dienen,  daß  Perleberg  mit 
dem  Lebensalter  seiner  Einwohner  sehr  wohl  zufrieden  sein  kann. 

Mag  auch  in  erster  Linie  der  Beruf  unserer  Einwohnerschaft 
wesentlich  dazu  beitragen,  die  Lebensdauer  zu  verlängern,  da  die 
aufreibende  Industrie  hier  fast  gänzlich  fehlt,  so  geht  man  wohl 


Die  Entwicklung*  der  Stadt  Perleberg’  usw. 


425 


auch  nicht  fehl,  diese  günstigen  Verhältnisse  dem  Umstande  zu- 
zuschreiben,  daß  die  „Perle  der  Prignitz“  bezüglich  seiner  Ge¬ 
legenheiten  zur  Erholung  im  Freien  wirklich  eine  Perle  ist.  Wie 
ich  eingangs  schon  erwähnte,  hat  fast  jedes  Haus  sein  Gärtchen. 
Nach  der  letzten  Volkszählung  bewohnen  —  das  Militär  ab¬ 
gerechnet  —  nur  7,5  Personen  je  ein  Haus,  sicher  auch  ein 
Beweis  für  die  günstigen  Lebensbedingungen  der  Perleberger  Ein¬ 
wohnerschaft.  Ich  will  als  Beweis  der  guten  Erholungsmöglich¬ 
keiten  nur  anführen,  daß  die  städtische  Forst,  deren  Gesamtgröße 
rund  2400  ha  beträgt,  unmittelbar  an  das  bebaute  Stadtgebiet 
grenzt.  Auf  die  besonderen  sanitären  Einrichtungen  und  Ma߬ 
nahmen  Perlebergs  und  deren  teilweise  greifbaren  Erfolge  werde 
ich  noch  zu  sprechen  kommen. 

Auch  die  überall  so  sehr  gefürchtete 

Säuglingssterblichkeit 
ist  in  Perleberg  nicht  so  erschreckend  wie  in  Preußen. 


An  Säuglingssterbefällen  kommen  auf  1000  Einwohner: 
Perleberg:  —  Preußen:  — 


426 


Unger, 


An  Säuglingssterbefällen  kamen  auf  1000  Einwohner: 


im  Jahre 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1899 

7,7 

7,4 

1900 

8,2 

7,6 

1901 

6,2 

7,2 

1902 

5,4 

6,1 

1903 

5,1 

6,6 

1904 

5,4 

6,4 

1905 

7,1 

6,6 

1906 

6,1 

5,9 

1907 

8,2 

5,5 

1908 

5,4 

5,6 

1909 

2,8 

5,0 

1910 

3,4 

4,8 

An  Säuglingssterbefällen  kommen 
auf  1000  Gesamttodesfälle: 
Perleberg :  —  Preußen : 


An  Säuglingssterbefällen  kommen 
auf  1000  Geburten: 


An  Säuglingssterbefällen 
todesfälle: 


kamen  auf  100  Gesamt- 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


427 


in  den  Jahren 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1881—1885 

28,0 

30,5 

1886-1890 

27,0 

32,4 

1891-1895 

26,8 

33,3 

1896-1900 

33,6 

35,0 

1901 

29,7 

33,4 

1902 

28,6 

30,0 

1903 

27,2 

32,1 

1904 

30,3 

31,5 

1905 

30,6 

32,2 

1906 

30,1 

31,5 

1907 

22,5 

29,4 

1908 

27,8 

29,9 

1909 

19,5 

28,9 

1910 

21,6 

28,4 

Man  sieht  hieraus,  daß  auch  bezüglich  der  Säuglingssterblich¬ 
keit  Perleberg  einen  Vergleich  aushalten  kann. 


Von  100  Geburten  waren  unehelich: 
Perleberg:  —  Deutsches  .Reich:  — 


Schließlich  seien  auch  die 

unehelichen  Geburten 


428 


Unger, 


erwähnt,  die  —  wie  auf  den  ersten  Blick  scheint  —  in  Perleberg: 
eine  ungewöhnliche  Höhe  im  Prozentsatz  zeigen.  Wollte  man 
hieraus  den  Schluß  ziehen,  daß  Perleberg  eine  besonders  unsitt¬ 
liche  Stadt  sei,  so  geschähe  ihr  bitter  Unrecht.  Man  muß  näm¬ 
lich  in  Betracht  ziehen ,  daß  hier  mehrere  Frauen  uneheliche 
Schwangere  aus  der  ländlichen  Umgebung  Perlebergs  aufnehmen, 
die  hier  ihre  Niederkunft  abwarten.  So  kommt  es,  daß  die  von 
diesen  Personen  geborenen  unehelichen  Kinder  bei  den  Be¬ 
völkerungsstatistiken  als  zur  Perleberger  Einwohnerschaft  gehörig 
mitgezählt  werden  müssen.  Ich  glaube  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn 
ich  sage,  daß  x/4  bis  x/3  der  hier  geborenen  unehelichen  Kinder  auf 
diese  Art  und  Weise  „importiert“  worden  sind. 


Von  10000  Einwohnern  starben  an: 
Diphtherie: —  Scharlach: —  Typhus: -  Tuberkulose: 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


429 


Jetzt  komme  ich  zu  den 

Gesundheitsverhältnissen 

Perlebergs,  denen  ich  die  auf  den  ärztlichen  Totenscheinen  ver¬ 
merkten  Todesursachen  zugrunde  gelegt  habe.  Von  den  zahlreichen 
Todesursachen,  denen  ich  meine  Aufmerksamkeit  gewidmet  habe, 
will  ich  hier  nur  einige  eingehender  besprechen: 


Von  10000  Einwohnern  starben  an: 

Krebs:  —  Lungenentzündung:  —  Brechdurchfall: 


Diphtherie  als  Todesursache  zeigt  die  höchste  Ziffer  im 
Jahre  1893,  in  dem  —  wie  bereits  erwähnt  —  nicht  weniger  als 
62  Diphtherietodesfälle  vorkamen.  Dieses  Jahr  war  zwar  das 
schlimmste,  aber  zum  Glück  das  letzte  einer  so  starken  Diphtherie- 
Sterblichkeit.  Auffallend  sinkt  die  Zahl  der  Opfer  dieser  Krankheit 
von  1893  an  und  erreichte  nie  wieder  eine  auch  nur  annnähernd 

28 


Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII. 


430 


Unger, 


gleiche  Höhe.  Das  Jahr  1901  ist  das  einzigste,  in  dem  in  Perle¬ 
berg  niemand  an  Diphtherie  starb. 

Scharlach  forderte  die  meisten  Opfer  in  den  Jahren  1883 
und  1884,  findet  sich  dann  aber  als  Todesursache  —  von  ver¬ 
schwindenden  Ausnahmen  abgesehen  —  fast  gar  nicht  mehr.  Nur 
noch  einmal  im  Jahre  1908  hatten  wir  wieder  eine  größere  An¬ 
zahl  von  Scharlachtodesfällen. 

Die  Tuberkulose  ist  in  Perleberg  erfreulicherweise  im 
Sinken  begriffen,  wenn  auch  im  Zick-Zack- Wege.  Während  von 
10000  Einwohnern  im  Jahre  1876  noch  49,97  Personen  an  Tuber¬ 
kulose  starben,  waren  es  1910  nur  noch  9,29,  1906  sogar  nur  6,29. 
Ein  Vergleich  mit  Preußen  auch  bezüglich  der  Tuberkulosesterbe¬ 
fälle  zeigt,  daß  hier  ein  günstiges  Klima  herrscht. 

Von  10000  Einwohnern  starben  an  Tuberkulose: 


im  Jahre 

in  Perleberg 

in  Preußen 

1901 

16,16 

19,54 

1902 

11,30 

19,04 

1903 

7,71 

19.69 

1904 

10,75 

19,21 

1905 

15,79 

17,26 

1906 

6,29 

19,13 

1907 

7,28 

17,16 

1908 

8,35 

16,46 

1909 

8,27 

15,59 

1910 

9,29 

15,29 

Durch  Selbstmord  endeten  die  meisten  Personen  im  Jahre  1911, 
nämlich  4,3  Proz.  aller  Gestorbenen. 

Die  Typhustodesfälle  verdienen  eine  ganz  besondere  Be¬ 
achtung,  weil  sie  in  geradezu  greifbarer  Form  zeigen,  was  hygie¬ 
nische  Maßregeln  aus  Perleberg  gemacht  haben.  Während  noch  in 
den  achtziger  Jahren  Typhustodeställe  in  Perleberg  durchaus  nicht 
zu  den  Seltenheiten  gehörten  (im  Jahre  1880  22  oder  10,3  Proz. 
aller  Todesfälle)  verschwanden  sie  dann  fast  vollkommen.  Seil 
länger  als  20  Jahren  gilt  ein  Typhustodesfall  hier  als  eine  Ausnahme; 
ja  sogar  die  Typhuserkrankungen,  die  früher  in  keinem  Jahre 
ausblieben,  sind  seltener  geworden,  seit  1906  ist  überhaupt  keine 
Typhuserkrankung  mehr  polizeilich  gemeldet  worden.  Wo  liegen 
nun  die  Ursachen  dieser  auffallend  günstigen  Erscheinung? 

Früher  durchzogen  die  innere  Stadt  mehrere  offene  Kanäle, 
die  zum  größten  Teile  des  Jahres  so  wenig  Wasser  mit  sich  führten, 
daß  der  dort  trotz  allen  Verbots  hineingeleitete  Unrat  nicht  ab¬ 
fließen  konnte  und  somit  die  Luft  verpestete.  Im  Jahre  1892 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


431 


wurden  diese  Krankheitserreger  beseitigt  und  durch  eine  unter¬ 
irdische  Tonrohrleitung  ersetzt.  Schließlich  wurden  auch  die  stets 
übelriechenden  Rinnsteine  beseitigt  und  eine  allgemeine  Kanali¬ 
sation  eingeführt,  der  sämtliche  Häuser  der  Stadt  angeschlossen 
sind.  Seitdem  kann  Perleberg  den  Ruhm  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  durch  seine  Sauberkeit  und  durch  den  vorzüglichen  Ge¬ 
sundheitszustand  seiner  Einwohner  ein  Muster  für  viele  kleine 
Städte  Preußens  geworden  zu  sein.  Hand  in  Hand  mit  dem  Bau 

An  Tuberkulose  starben  von  10000  Einwohnern: 

Perleberg:  —  Preußen:  — 


20  - 

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12 

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der  Kanalisation  wurde  eine  große  zentrale  Wasserleitung  ge¬ 
schaffen.  Hierdurch  konnten  die  meist  nicht  einwandfreien  Brunnen 
beseitigt  werden,  und  Perleberg  hat  ein  Trinkwasser  bekommen, 
das  auf  Grund  der  häufig  vorgenommenen  chemischen  und  bakterio¬ 
logischen  Untersuchungen  des  Nahrungsmitteluntersuchungsamtes 
in  Berlin  als  vorzüglich  bezeichnet  werden  muß.  Auffallend 
ist  zweifellos  das  Sinken  der  Typhuserkrankungen  bzw.  -todesfälle 
nach  Durchführung  dieser  hygienischen  Maßnahmen. 

Hier  kann  noch  erwähnt  werden,  daß  Perleberg  seit  1845  ein 

eigenes  städtisches  Krankenhaus  besitzt,  das  erst  1905  durch 

28* 


432 


Unger, 


ein  neues  mit  33  Betten  ersetzt  wurde;  dieses  besitzt  eine  Isolier¬ 
baracke  für  Infektionskranke,  einen  Desinfektionsapparat  sowie 
einen  Apparat  für  Durchleuchtung  mit  Röntgenstrahlen. 

Das  städtische  Schlachthaus  verbunden  mit  Kühlhaus 

•  • 

und  Eiserzeugungsanlage  sorgt  durch  Überwachung  des  Fleisch¬ 
verkaufs  dafür,  daß  Perlebergs  Einwohnerschaft  nur  mit  gesundem 
Fleisch  versorgt  wird. 

Die  städtische  Flußbadeanstalt  gibt  Gelegenheit,  in 
reinem  fließenden  Wasser  zu  baden  und  zu  schwimmen. 

Seit  dem  I.  April  1912  ist  man  in  Perleberg  auch  dazu  über¬ 
gegangen,  durch  Anstellung  eines  Schularztes  die  Gesundheit 
der  Schüler  einer  ständigen  Überwachung  anzuvertrauen.  Die 
beiden  geräumigen  neuen  Volksschulen,  die  mit  allen  Vor¬ 
zügen  moderner  Schulhygiene  ausgestattet  sind,  verdienen  es  auch, 
zu  den  sanitären  Einrichtungen  Perlebergs  gezählt  zu  werden. 

Welche  Summen  die  doch  nicht  besonders  große  Stadt  für 
hygienische  Einrichtungen  aufgewendet  hat,  mögen  folgende  Zahlen 
zeigen : 

Kanalisation  (1904)  380000  M. 

Wasserwerk  (1904)  360000  M. 

Krankenhaus  (1905)  140000  M. 

Schlachthaus  (1892  bezw.  1911)  220000  M. 

Badeanstalt  (1896)  12000  M. 

Diese  Ausführungen  dürften  zur  Genüge  dargetan  haben,  daß 
das  kleine  Perleberg  es  getrost  wagen  kann,  sich  bezüglich  seiner 
sanitären  Einrichtungen  an  die  Seite  seiner  größeren  und  be¬ 
kannteren  Rivalinnen  zu  stellen. 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


4B3 


Jahr 

Ein¬ 

wohner¬ 

zahl 

Zahl 

der  • 

Geburten 

Zahl 

der 

Lebend¬ 

geburten 

Zahl  der 

Tot¬ 

geburten 

Zahl  der 
unehe¬ 
lichen 
Geburten 

Zahl  der 
Ehe¬ 
schlie߬ 
ungen 

Zahl 

der 

Gesamt¬ 

todesfälle 

1875 

7587  -f 

223 

208 

15 

32 

72 

212 

76 

7604 

258 

244 

14 

30 

58 

215 

77 

7621 

234 

226 

8 

31 

42 

150 

78 

7638 

233 

219 

14 

26 

57 

180 

79 

7655 

231 

223 

8 

32 

56 

192 

4880 

7673  -f 

229 

225 

4 

31 

62 

214 

81 

7678 

224 

211 

13 

26 

69 

219 

82 

7684 

248 

244 

4 

23 

66 

188 

83 

7689 

218 

209 

9 

24 

48 

247 

84 

7694 

239 

232 

7 

27 

59 

226 

1885 

7698  + 

260 

245 

15 

34 

59 

226 

86 

7671 

227 

219 

8 

28 

48 

202 

87 

7644 

213 

206 

7 

34 

65 

206 

88 

7617 

276 

259 

17 

34 

59 

196 

89 

7590 

234 

226 

8 

26 

52 

156 

1890 

7565  + 

206 

197 

9 

24 

50 

150 

91 

7688 

215 

207 

8 

25 

57 

157 

92 

7811 

193 

189 

4 

22 

55 

159 

93 

7934 

230 

225 

5 

25 

44 

236 

94 

8057 

200 

196 

4 

31 

67 

125 

1895 

8180  + 

231 

225 

6 

27 

55 

162 

96 

8235 

211 

203 

8 

17 

50 

162 

97 

8290 

220 

214 

6 

31 

73 

147 

98 

8345 

235 

225 

10 

25 

63 

160 

99 

8400 

245 

241 

4 

35 

66 

168 

1900 

8456  + 

232 

229 

3 

29 

62 

202 

01 

8665 

256 

251 

5 

23 

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185 

02 

8874 

245 

235 

10 

29 

60 

168 

03 

9083 

214 

209 

5 

25 

59 

169 

04 

9292 

261 

252 

9 

26 

63 

165 

1905 

9502  -f 

262 

250 

12 

31 

73 

219 

06 

9534 

256 

250 

6 

34 

71 

193 

07 

9566 

259 

252 

7 

21 

83 

138 

08 

9598 

269 

260 

9 

25 

60 

187 

09 

9630 

241 

233 

8 

33 

67 

138 

1910 

9665  + 

238 

232 

6 

26 

62 

153 

11 

219 

213 

6 

34 

51 

184 

434 


Unger, 


Es  starben  in  Perleberg  im  Alter  von 


im 

Jahre 

unter  1  Jahr 

über  1 — 5  Jahren 

über  5—10  Jahren 

über  10—15  Jahren 

über  15 — 20  Jahren 

über  20—30  Jahren 

über  30 — 40  Jahren 

über  40—50  Jahren 

i 

über  50 — 60  Jahren 

• 

über  60 — 70  Jahren  | 

i  i 

über  70—80  Jahren 

über  80 — 90  Jahren 

über  90 — 100  Jahren 

— 

über  100  Jahren 

Insgesamt  einschl. 

Totgeburteu 

1876 

68 

25 

6 

2 

5 

12 

10 

9 

16 

17 

25 

6 

215 

77 

38 

7 

3 

4 

3 

8 

12 

8 

11 

30 

8 

10 

— 

— 

150 

78 

55 

12 

5 

1 

5 

9 

10 

14 

13 

15 

20 

6 

1 

— 

180 

79 

55 

17 

9 

3 

3 

14 

6 

7 

20 

18 

23 

7 

2 

— 

192 

1880 

50 

21 

13 

3 

4 

25 

10 

12 

16 

31 

19 

5 

1 

___ 

214 

81 

77 

23 

5 

3 

4 

11 

15 

10 

13 

22 

16 

7 

— 

— 

219 

82 

53 

23 

4 

4 

5 

13 

10 

11 

15 

23 

14 

9 

— 

— 

188 

83 

49 

42 

26 

12 

4 

14 

12 

12 

11 

12 

30 

13 

1 

— 

247 

84 

51 

44 

22 

5 

3 

11 

6 

12 

18 

25 

16 

6 

— 

— 

226 

1885 

77 

25 

2 

_ 

6 

9 

15 

7 

14 

28 

21 

7 

_ 

_ 

226 

86 

63 

21 

9 

3 

2 

9 

9 

14 

18 

26 

13 

7 

— 

— 

202 

87 

52 

37 

9 

3 

2 

7 

5 

20 

14 

22 

20 

8 

— 

— 

206 

88 

57 

39 

5 

3 

— 

8 

6 

9 

8 

16 

19 

7 

2 

— 

196 

89 

42 

10 

2 

1 

6 

14 

8 

10 

10 

17 

16 

11 

1 

— 

156 

1890 

34 

12 

2 

2 

1 

7 

9 

11 

11 

20 

20 

9 

3 

_ 

150 

91 

49 

8 

3 

— 

2 

4 

9 

8 

10 

19 

23 

14 

— 

— 

157 

92 

39 

18 

7 

7 

1 

7 

4 

8 

12 

21 

20 

8 

3 

— 

159 

93 

46 

64 

16 

7 

1 

16 

8 

14 

14 

22 

21 

6 

1 

— 

236 

94 

37 

6 

4 

1 

3 

3 

8 

8 

17 

10 

15 

8 

1 

— 

125 

1895 

47 

11 

4 

1 

_ 

8 

6 

11 

12 

18 

32 

15 

1 

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162 

96 

45 

12 

3 

1 

2 

5 

12 

6 

12 

23 

24 

7 

2 

— 

162 

97 

45 

11 

2 

— 

2 

4 

4 

8 

13 

24 

21 

6 

1 

— 

147 

98 

59 

7 

2 

— 

3 

4 

11 

8 

10 

16 

19 

11 

— 

— 

160 

99 

65 

3 

1 

— 

2 

9 

5 

10 

14 

16 

27 

12 

— 

— 

168 

1900 

69 

14 

3 

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_ 

7 

8 

13 

11 

21 

32 

19 

1 

1 

202 

01 

55 

24 

4 

— 

— 

9 

5 

14 

11 

21 

26 

11 

— 

— 

185 

02 

48 

9 

2 

1 

5 

12 

4 

12 

14 

15 

24 

12 

— 

— 

168 

03 

46 

13 

3 

1 

3 

10 

4 

7 

13 

25 

27 

11 

1 

— 

169 

04 

50 

8 

3 

1 

3 

3 

7 

13 

10 

22 

20 

12 

4 

— 

165 

1905 

67 

14 

1 

1 

6 

9 

7 

16 

14 

28 

29 

14 

1 

219 

06 

58 

14 

3 

3 

1 

6 

3 

11 

14 

28 

25 

21 

— 

— 

193 

07 

31 

6 

1 

3 

4 

8 

5 

9 

5 

24 

22 

13 

— 

— 

138 

08 

52 

21 

8 

3 

3 

6 

6 

7 

9 

23 

26 

13 

1 

— 

187 

09 

27 

13 

] 

3 

2 

6 

6 

8 

11 

20 

25 

8 

— 

— 

138 

1910 

33 

5 

4 

1 

4 

7 

2 

3 

24 

23 

21 

17 

3 

_ 

153 

11 

46 

14 

3 

1 

8 

3 

12 

14 

20 

36 

20 

1 

184 

I 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


435 


im 

J  ahre 


Von  100  in  Perleberg  Gestorbenen  starben  im  Alter  von 


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1876 

31,6 

11,6 

2,8 

0,9 

2,3 

5,6 

4,6 

4,2 

7,4 

7,8 

11,6 

2,8 

14,4 

77 

25,3 

4,6 

2,0 

2,6 

2,0 

5,3 

8.0 

5,3 

7,3 

20,0 

5,3 

6,6 

— 

11,9 

— 

78 

30,5 

6,6 

2,8 

0,6 

2,8 

5,0 

5,5 

7,7 

7,2 

8,3 

11,1 

3,3 

0,6 

15,0 

— 

79 

28.6 

8,8 

4,7 

1,6 

1,6 

7,3 

3,2 

3,6 

10,4 

9,3 

11,9 

3,6 

1,0 

16,5 

— 

1880 

23,4 

9,7 

6,1 

1,4 

1,9 

11,7 

4.7 

5.6 

7,5 

14,5 

8,8 

2,3 

0,5 

_ 

11,6 

_ 

81 

35,2 

10,5 

2,3 

1,4 

1,« 

5,0 

6,8 

4,6 

59 

10,0 

7,3 

3,2 

— 

10,5 

— ■ 

82 

28,2 

12,2 

2,1 

2,1 

2,6 

6,9 

5,3 

5.9 

7,9 

12,2 

7,4 

4,8 

— 

— 

12,2 

— 

83 

19,8 

17,0 

10,5 

4,9 

1,6 

5,7 

4,9 

4,9 

4,4 

4,9 

12,1 

5,3 

0,4 

17,8 

— 

84 

22,5 

19,4 

9,7 

2,2 

1,3 

4,7 

2,6 

5,3 

7,9 

U,1 

4,1 

2,6 

6,7 

— 

1885 

34,1 

11,1 

0,9 

- 

26 

4,0 

6,6 

3,1 

6,2 

12,4 

9.3 

3,1 

_ 

_ 

12,4 

_ 

86 

31.2 

10,4 

4,5 

1,5 

1.0 

4,5 

4,5 

6,9 

8,9 

12,9 

6,4 

3,5 

— 

— 

9,9 

— 

87 

25;4 

13,1 

4,4 

1,5 

0.9 

3,4 

2,4 

9,7 

6,8 

10,7 

9,7 

3,9 

— 

— 

13,6 

— 

88 

29,1 

19,9 

2,5 

1,5 

— 

4,1 

3,1 

4,5 

4,1 

8.1 

9,7 

3,6 

1,0 

14,3 

— 

89 

26,9 

6,4 

1,2 

0,6 

3,8 

8,8 

5,1 

6,4 

6,4 

10,9 

10,2 

7,1 

0.6 

17,9 

— 

1890 

22,7 

8,0 

1,3 

1,3 

0,6 

4,6 

6,0 

7.3 

7,3 

13,3 

13,3 

6,0 

2,0 

21,3 

_ 

91 

31.2 

5,0 

1,9 

1,3 

2,5 

5,7 

5,0 

6,4 

12,1 

14,6 

8,8 

23,4 

— 

92 

24,5 

11,3 

4,4 

4,4 

0,6 

4,4 

2,5 

5,0 

7,7 

13,2 

12,6 

5,0 

1,9 

19,5 

— 

93 

19,5 

27,1 

6,7 

2,9 

0,4 

6,7 

3,4 

5,9 

5,9 

9,3 

8,9 

2,5 

0,4 

11,8 

— 

94 

29,6 

4,8 

3,2 

0,8 

2,4 

2,4 

6,4 

6,4 

13,6 

8,0 

12,0 

6,4 

0,8 

19,2 

— 

1895 

29.0 

6,8 

2,4 

0,6 

. 

4,8 

3,7 

6,8 

7,4 

11,1 

19,7 

9,2 

0,6 

_ 

29,5 

_ 

96 

27.7 

7.4 

1,8 

0,6 

1,2 

3,0 

7,4 

3,7 

7,4 

14,2 

14,8 

4,3 

1,2 

20,3 

— 

97 

30.6 

7,o 

1,4 

— 

1,4 

2,7 

2,7 

5,5 

8,9 

16,3 

14,3 

4,3 

0,7 

19,0 

■ — 

98 

36,7 

4,4 

1,2 

— 

1,8 

2,4 

6,9 

5,0 

6,3 

10,0 

11,9 

6,9 

18,8 

— 

99 

38,7 

1,8 

0,6 

— 

1,2 

5,4 

3,0 

6,0 

8,3 

9,5 

16,1 

7,2 

— 

23,3 

— 

1900 

34,2 

6,9 

1,5 

_ 

_ 

3,5 

4,0 

6,4 

5.4 

10,4 

16,0 

9.4 

0,5 

0,5 

26,4 

_ 

OL 

29,7 

13,0 

2,2 

— 

— 

4,8 

2,7 

7,5 

ö;9 

11.4 

14,1 

5,9 

— 

— 

20,0 

14,1 

02 

28,6 

5,3 

1,2 

0,6 

3,0 

7,2 

2,4 

7,2 

8,3 

9,0 

14,3 

7,2 

— 

— 

21,5 

03 

27.2 

7,7 

1,7 

0.6 

1,7 

5,9 

2,4 

4,1 

7,7 

14,8 

15,9 

6,5 

0,6 

23,0 

14,8 

04 

30,3 

4,8 

1,8 

0,6 

1,8 

1.8 

4,2 

7,9 

6,1 

13,3 

12,1 

7,2 

2,4 

21,7 

15,3 

1905 

30,6 

6,4 

0,5 

0,5 

2,8 

4,2 

3,2 

7,3 

6,4 

12,8 

13,2 

6,4 

0,5 

20,1 

15,5 

06 

30,1 

7,2 

1,5 

1,5 

0,5 

3,1 

1,5 

5,7 

7,2 

14,5 

12,9 

10,9 

— 

23,8 

15,3 

07 

22,5 

4,4 

0,7 

2,2 

2,8 

5,8 

3,6 

6,5 

3,6 

17,4 

15,9 

9,4 

— 

25,3 

16,9 

08 

27,8 

11,2 

4,3 

1,6 

1,6 

3,2 

3,2 

3,8 

4,8 

12,3 

13,9 

7,0 

0,5 

21,4 

16,8 

09 

19,6 

9,4 

0,7 

2,2 

1,4 

4,4 

4,4 

5,8 

7,9 

14,5 

18,1 

5,8 

— 

23,9 

16,9 

1910 

21,6 

3,3 

2,6 

0,7 

2,6 

4,6 

1,3 

2,0 

15,7 

15,0 

13,7 

n,i 

2,0 

26,8 

17,4 

11 

25,0 

7,6 

1,6 

0,5 

4,2 

1,6 

6,6 

7,6 

10,9 

19,5 

10,9 

0,5 

30,9 

436 


Unger, 


im 

Jahre 

Auf  1000  Einwohner  kommen 

an 

Auf  1000 

Geburten 

kommen 

Gesamt¬ 

todes¬ 

fälle 

Von  100 

Geburten 

waren 

unehelich 

in 

Perleberg 

Von  100 

Geburten 

waren 

unehelich 

im  deut¬ 
schen 

Reiche 

Geburten  in 

ehe- 

schließenden 
Personen  in 

Gesamt¬ 
todesfällen  in 

Perleberg 

Preußen 

Perleberg 

Preußen 

br 

Sh 

O) 

1h 

a; 

P4 

Preußen 

1875 

29,4 

42,5 

18,9 

18,1 

27,9 

28,4 

1019 

14,3 

8,6 

76 

33,9 

42,5 

15,2 

17,1 

28,3 

27,2 

881 

11,6 

8,6 

77 

30,7 

41,7 

11,0 

16.0 

19,7 

27,3 

664 

13,2 

8,7 

78 

30,5 

40,6 

14,9 

15,7 

23,6 

27,5 

822 

11,2 

8,7 

79 

30,2 

40,9 

14,6 

15,4 

25,1 

26,5 

853 

13,8 

8,8 

1880 

29,9 

39,5 

16,2 

15,4 

27,7 

27,1 

951 

13,5 

9.9 

81 

29.9 

38,5 

17,4 

15,3 

28,5 

26,4 

1038 

11,6 

9,1 

82 

32,3 

39,1 

17,2 

15,7 

24,5 

26,9 

771 

9,3 

9,3 

88 

28,3 

38,5 

12,5 

15,9 

32,1 

27,1 

1182 

11,0 

9,2 

84 

31,1 

39,1 

15,3 

16,1 

29,4 

27,2 

974 

11,3 

9,5 

1885 

35,1 

39,3 

15,0 

16,3 

29,4 

27,0 

922 

13,1 

9,5 

86 

39,6 

39,2 

12,5 

16,2 

26,3 

27,6 

922 

12,3 

9,5 

87 

27,8 

39,2 

17,0 

16,0 

26,9 

25,3 

1000 

15,9 

9,4 

88 

36,2 

38,9 

15,5 

16,0 

25,7 

24,3 

757 

12,3 

9,3 

89 

30,8 

38,6 

13,8 

16,3 

20,6 

24,6 

690 

11,1 

9,3 

1890 

26,9 

37,9 

13,2 

16,4 

19,8 

25.3 

761 

11,6 

9,1 

91 

27,9 

39,0 

14.8 

16,3 

20,4 

24,1 

759 

11,6 

9,1 

92 

24,8 

37.4 

14,1 

16,1 

20,4 

24,6 

841 

11.4 

9,1 

93 

28,9 

38,6 

11,1 

16,1 

29,8 

25,4 

1071 

10,8 

9,1 

94 

24,8 

37,8 

16,6 

16.0 

15,5 

23,0 

638 

15,5 

9,4 

1895 

28,2 

38,1 

13,7 

16.0 

19,8 

23,0 

756 

11,7 

9,1 

96 

25,7 

38,1 

12,1 

16.5 

19,6 

22.0 

798 

8,1 

9,4 

97 

26,5 

37,8 

17,6 

i6;s 

16,2 

22,1 

687 

14,1 

9,2 

98 

28,4 

38,0 

15,1 

16,9 

19,2 

21,3 

711 

10,6 

9,1 

99 

29,2 

37,5 

15,7 

17,0 

20,9 

22,6 

697 

14,3 

9,0 

1900 

27,4 

37,2 

14,7 

17,1 

23,9 

22,9 

882 

12,5 

8,7 

01 

29,6 

37,4 

14,5 

16,6 

21,4 

21,7 

737 

9,0 

8,6 

02 

27,6 

36,7 

13.5 

15,9 

18,9 

'20,3 

715 

11,8 

8,5 

03 

23,4 

35,5 

i3;o 

15,9 

18,6 

20.8 

809 

11,7 

8,3 

04 

28,1 

35,8 

13,6 

162 

17,7 

20,3 

691 

10,0 

8,4 

1905 

27,6 

34,5 

15,4 

16,2 

23,0 

20,6 

876 

11,9 

8,5 

06 

26,9 

34,8 

14,9 

16.5 

20,2 

19,0 

772 

13,3 

8,5 

07 

27,1 

340 

17,4 

te;4 

14,4 

18,8 

548 

8,1 

8,7 

08 

28.0 

33,7 

12,5 

16,0 

19,5 

18  9 

719 

9,3 

8,9 

09 

25,0 

32,7 

13,9 

15,6 

14,3 

17,9 

592 

13,7 

9,0 

1910 

24,7 

31.5 

12,8 

15,5 

15,8 

16,9 

660 

10,9 

11 

864 

15,5 

Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


437 


An  Säuglingssterbefällen  kommen  auf 

im 

1000  Einwohner 

1000  Gesamttodesfälle 

1000  Geburten 

Jahre 

in 

in 

in 

Perleberg 

Preußen 

Perleberg 

Preußen 

Perleberg 

Preußen 

1875 

274 

279 

76 

8,9 

— 

316 

— 

279 

— 

77 

5,0 

— 

253 

— 

168 

78 

7,2 

— 

306 

— 

251 

s  taUö 

79 

7,2 

— 

287 

— 

247 

— 

1880 

6,5 

_ 

234 

_ 

222 

j 

_ 

81 

10,0 

— 

352 

— 

365 

— 

82 

6,9 

— 

282 

— 

217 

— 

83 

6,4 

— 

198 

305 

234 

207 

84 

6,7 

— 

226 

— 

220 

— 

1885 

10,0 

341 

_ 

314 

_ 

86 

8,2 

312 

— 

288 

— 

87 

6,8 

252 

— 

252 

— 

88 

7,5 

291 

324 

220 

1  208 

89 

5,5 

— 

269 

— 

186 

— 

1890 

4,5 

_ 

227 

_ 

173 

. 

_ 

91 

6,4 

312 

— 

237 

— 

92 

5,0 

— 

245 

— 

206 

— 

93 

5,9 

195 

1  333 

204 

205 

94 

4,6 

_ 

296 

— 

189 

— 

1895 

5,7 

_ 

290 

_ 

209 

. 

-  * 

96 

5,4 

— 

278 

— 

222 

—  . 

97 

5,4 

— 

306 

— 

210 

— 

98 

7,1 

— 

369 

350 

262 

201 

99 

7,7 

7,4 

386 

329 

270 

119 

1900 

8,2 

7,6 

342 

334 

301 

206 

01 

6,2 

7,2 

297 

334 

219 

200 

02 

5,4 

6,1 

286 

300 

.  204 

172 

03 

5,1 

6,6 

272 

321 

220 

194 

04 

5,4 

6,4 

303 

315 

198 

185 

1905 

7,1 

6,6 

306 

322 

268 

198 

06 

6,1 

5,9 

301 

315 

252 

177 

07 

3,2 

5,5 

22£ 

294 

123 

168 

08 

5,4 

5,6 

278 

299 

200 

173 

09 

2,8 

5,0 

195 

289 

111 

164 

1910 

3,4 

4,8 

216 

284 

142 

157 

11 

. 

250 

216 

438 


Unger, 


Es  starben  in  Perleberg 


Todesursache 

1876 

1877 

1878 

1879 

o 

CO 

CO 

tH 

1881 

1882 

1883 

1884 

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CO 

CO 

T— 1 

1886 

i 

1887 

CO 

CO 

CO 

i-H 

1889 

1890 

Diphtherie 

5 

1 

2 

14 

17 

8 

9 

30 

18 

4 

26 

41 

20 

3 

3 

Scharlach 

7 

— 

4 

4 

— 

2 

2 

31 

31 

— 

1 

— 

— 

— 

— 

Typhus 

3 

3 

2 

9 

22 

8 

14 

7 

8 

4 

3 

2 

— 

4 

2 

Krebs 

5 

8 

9 

3 

7 

8 

8 

12 

7 

3 

5 

10 

2 

4 

6 

Brechdurchfall 

25 

6 

15 

13 

8 

18 

10 

14 

10 

28 

23 

18 

17 

18 

16 

Krämpfe 

29 

16 

20 

16 

15 

24 

16 

19 

20 

24 

13 

12 

16 

9 

8 

Bronchitis 

7 

5 

3 

2 

9 

5 

5 

7 

6 

9 

6 

8 

18 

8 

7 

im  Kindbett 

2 

2 

— 

1 

4 

_ 

1 

3 

2 

— 

— 

— 

— 

1 

— 

Tuberkulose 

38 

27 

24 

26 

32 

20 

12 

25 

18 

32 

32 

26 

19 

24 

15 

Lungenentzündung 

9 

6 

8 

12 

10 

13 

15 

11 

7 

22 

15 

7 

14 

6 

8 

andere  Lungenkrankh. 

11 

4 

7 

10 

9 

6 

4 

4 

8 

5 

2 

*5 

2 

3 

10 

Gehirnkrankeiten 

3 

5 

2 

3 

2 

2 

7 

2 

3 

4 

5 

2 

5 

2 

3 

Nierenkrankheiten 

4 

2 

3 

— 

1 

1 

1 

2 

2 

3 

— 

2 

3 

1 

1 

Wassersucht 

7 

5 

10 

7 

6 

8 

6 

5 

3 

5 

5 

8 

4 

1 

1 

Schlagfluß 

5 

7 

6 

6 

6 

5 

3 

7 

6 

8 

6 

6 

5 

10 

11 

Altersschwäche 

12 

9 

9 

16 

12 

6 

12 

21 

12 

20 

16 

15 

22 

18 

16 

Keuchhusten 

2 

— 

4 

2 

— 

2 

3 

— 

— 

— 

1 

1 

— 

1 

— 

Atrophie 

9 

10 

12 

10 

14 

18 

10 

8 

13 

14 

6 

5 

7 

9 

5 

Selbstmord 

— 

5 

4 

3 

5 

5 

1 

1 

2 

4 

2 

1 

1 

4 

1 

Verunglückt 

3 

2 

2 

5 

3 

2 

4 

1 

2 

— 

1 

1 

2 

1 

2 

Herzkrankheiten 

2 

4 

— 

2 

2 

2 

5 

3 

4 

3 

2 

6 

3 

4 

4 

Folgen  d.  Gelenkrheum. 

— 

— 

— 

1 

— 

— 

1 

1 

1 

1 

2 

— 

— 

— 

— 

Masern 

— 

— 

— 

— 

/ 

— 

10 

— 

— 

— 

— 

— 

3 

— 

— 

Skrofulöse 

1 

Influenza 

1 

Knochentuberkulose 

• — 

— 

Sonstige  u.  unbekannt 

13 

15 

20 

19 

26 

43 

25 

24 

36 

18 

22 

23 

16 

17 

20 

Totgeburten 

14 

8 

14 

8 

4 

13 

4 

9 

7 

15 

8 

7 

17 

8 

9 

Gesamttodesfälle 

215 

150 

180 

192 

214 

219 

188 

247 

226 

226 

202 

206 

196 

156 

150 

Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


439 


in  den  Jahren.. ..an.... 


03 

CO 

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CO 

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GO 

05 

05 

05 

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05 

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05 

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05 

05 

05 

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4 

22 

62 

6 

4 

1 

1 

1 

1 

4 

. 

2 

4 

4 

1 

6 

1 

1 

1 

2 

4 

9 

1 

4 

1 

9 

1 

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2 

1 

8 

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12 

2 

1 

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7 

5 

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10 

11 

7 

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1 

9 

10 

10 

8 

14 

12 

10 

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8 

9 

13 

11 

12 

11 

12 

7 

10 

16 

10 

21 

25 

27 

26 

22 

9 

14 

19 

32 

24 

9 

21 

10 

7 

23 

9 

13 

15 

13 

14 

20 

7 

23 

22 

19 

12 

11 

8 

9 

14 

10 

11 

13 

5 

9 

8 

10 

6 

17 

2 

10 

10 

6 

1 

1 

1 

10 

9 

8 

14 

8 

1 

10 

9 

3 

9 

1 

15 

6 

3 

9 

7 

4 

8 

12 

10 

18 

15 

15 

1 

14 

1 

9 

1 

9 

14 

l 

14 

7 

10 

6 

7 

8 

8 

9 

8 

16 

12 

28 

16 

9 

17 

12 

11 

8 

14 

16 

22 

12 

8 

18 

26 

8 

17 

6 

13 

14 

5 

4 

3 

2 

— 

3 

K 

o 

5 

5 

6 

4 

4 

4 

8 

4 

2 

— 

5 

5 

4 

5 

5 

3 

4 

— 

6 

5 

3 

5 

3 

6 

9 

7 

9 

12 

6 

7 

6 

3 

5 

— 

2 

1 

3 

4 

1 

2 

1 

4 

1 

2 

2 

1 

— 

2 

1 

3 

3 

— 

1 

3 

2 

4 

1 

5 

2 

2 

4 

2 

1 

3 

1 

2 

5 

2 

3 

3 

1 

1 

3 

2 

5 

2 

4 

11 

14 

14 

7 

16 

12 

14 

18 

14 

18 

16 

19 

16 

9 

17 

15 

18 

12 

15 

17 

18 

21 

16 

16 

18 

22 

20 

9 

11 

20 

26 

20 

13 

11 

18 

24 

22 

19 

15 

13 

24 

25 

2 

1 

1 

— 

3 

— 

1 

— 

3 

— 

2 

— 

1 

3 

— 

— 

2 

— 

— 

— 

6 

2 

6 

2 

4 

3 

7 

4 

2 

3 

1 

— 

3 

3 

— 

3 

1 

5 

1 

4 

4 

1 

1 

— 

1 

1 

2 

3 

3 

— 

2 

4 

— 

4 

1 

1 

1 

5 

1 

1 

5 

8 

1 

— 

2 

1 

1 

3 

3 

— 

2 

— 

— 

3 

2 

1 

1 

1 

2 

5 

1 

— 

— 

3 

6 

3 

2 

3 

3 

5 

7 

9 

4 

4 

5 

10 

7 

6 

7 

8 

5 

6 

7 

5 

— 

1 

O 

1 

— 

— 

9 

— 

— 

— 

1 

1 

1 

— 

1 

A 

1 

— 

1 

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2 

— 

— 

— 

£ 

1 

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— 

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— 

— 

— 

_ 

1 

1 

5 

4 

1 

1 

1 

2 

2 

1 

— 

1 

2 

— 

2 

1 

23 

— 

1 

— 

— 

3 

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— 

— 

1 

— 

1 

1 

31 

— 

1 

— 

1 

21 

1 

23 

18 

19 

17 

16 

19 

15 

18 

u 

26 

26 

29 

35 

24 

30 

19 

30 

16 

24 

8 

4 

5 

4 

6 

8 

6 

10 

4 

3 

5 

10 

5 

9 

12 

6 

7 

9 

8 

6 

6 

157 

159 

236 

125 

162 

162 

05 

o 

168 

202 

185 

168 

169 

165 

219 

193 

138 

187 

138 

153 

184 

440 


Unger, 


Von  100  i  n 


P  erleberg 


Todesursache 

1876 

1877 

1878 

1879 

1880 

t-H 

GO 

00 

1882 

1883 

1884 

1885 

9881 

1887 

1888 

1889 

1890 

1891 

Diphtherie 

2,3 

0,6 

1,1 

7,3 

7,9 

3,6 

4,8 

12,1 

7,9 

1,7 

12,8 

19,4 

10,2 

1,9 

2,0 

2,5 

Scharlach 

3,2 

— 

2,2 

2,1 

— 

0,9 

1,1 

12,4 

13,7 

— 

0,5 

— 

— 

— 

— 

— 

Typhus 

1,4 

2,0 

1,1 

4,7 

10,3 

3,6 

7,4 

2,8 

3,5 

1,7 

1,5 

0,9 

— 

2,5 

1,3 

— 

Krebs 

2,3 

5,3 

5,0 

1,6 

3,3 

3,6 

4,3 

4,9 

3,1 

1,3 

2,5 

4,8 

1,0 

2,5 

4,0 

4,4 

Brechdurchfall 

11,6 

4,0 

8,3 

6,7 

3,7 

8,2 

5,3 

5,7 

4,3 

12,4 

11,5 

8,7 

8.7 

11,5 

10,6 

7,0 

Krämpfe 

13,5 

10,6 

11,1 

8,3 

6,9 

10,9 

8,5 

7,7 

8,8 

10,6 

6,4 

5,8 

8,1 

5,7 

5,3 

5,7 

Bronchitis 

3,2 

3,3 

1,7 

1,0 

4,2 

2,3 

2,6 

2,8 

2,6 

4,0 

3,0 

3,9 

9,2 

5,1 

4,6 

6,4 

im  Kindbett 

0,9 

1,3 

— 

0,5 

1,9 

— 

0,5 

1,2 

0,9 

— 

— 

— 

— 

0,6 

— 

— 

Tuberkulose 

17,7 

18,0 

13,3 

13,5 

14,9 

9,1 

6,4 

10,1 

7,9 

14,1 

16,0 

12,6 

9,7 

15,4 

10,0 

7,6 

Lungenent¬ 

zündung 

4,2 

4,0 

4,4 

6,2 

4,7 

5,9 

7,9 

4,4 

3,1 

9,7 

7,4 

3,4 

7,1 

3,8 

5,3 

10,2 

andere  Lungen¬ 
krankheiten 

5,1 

2,6 

3,9 

5,2 

4,2 

2.8 

2,1 

1,6 

3,5 

2,2 

1,0 

2,4 

1,0 

1,9 

6,6 

3,2 

Gehirnkrank¬ 

heiten 

1,4 

3,3 

1,1 

1,6 

0,9 

0,9 

3,7 

0,8 

1,3 

1,7 

2,5 

0,9 

2,5 

1,2 

2,0 

3,2 

Nierenkrank¬ 

heiten 

1,8 

1,3 

1,7 

— 

0.5 

0,5 

0,5 

0,8 

0,9 

1,3 

_ 

0,9 

1,5 

0,6 

0,6 

0,7 

Wassersucht 

3,2 

3,3 

5,5 

3,6 

2,8 

3,6 

3,2 

2,0 

1,3 

2,2 

2,5 

3,9 

2,0 

0,6 

0,6 

0,7 

Schlagfluß 

2,3 

4,6 

3,& 

3,2 

2,8 

2,3 

1,6 

2,8 

2,6 

3,5 

3,0 

2,9 

2,5 

6,4 

7,3 

7,0 

Altersschwäche 

5,6 

6,0 

5,0 

8,3 

5,6 

2,8 

6,4 

8,5 

5,3 

8,8 

8,0 

7,3 

H,2 

11,5 

10,6 

13,4 

Keuchhusten 

0,9 

— 

2,2 

1,0 

— 

0,9 

1,6 

— 

— 

— - 

0,5 

0,5 

— 

0,6 

— 

1,3 

Atrophie 

4,2 

6,6 

6,6 

5,2 

6,5 

8,2 

5,3 

3,2 

5,7 

6,2 

3,0 

2,4 

3,6 

5,7 

3,3 

3,8 

Selbstmord 

— 

3,3 

2,2 

1,6 

2,3 

2,3 

0,5 

0,4 

0,9 

1,7 

1,0 

0,5 

0,5 

2,5 

0.6 

0,7 

Verunglückt 

1,4 

1,3 

1,1 

2,6 

1,4 

0,9 

2,1 

0,4 

0,9 

— 

0,5 

0,5 

1,0 

0,6 

1,3 

0.7 

Herzkrankheiten 

0,9 

2,6 

— 

1,0 

0,9 

0,9 

2,6 

1,2 

1,7 

1,3 

1,0 

2,9 

1,5 

2,5 

2,6 

1,9 

Folgen  des  Ge- 
lenkrheumat. 

_ 

_ 

_ 

0,5 

- 

0,5 

0,4 

0,4 

0,4 

1,0 

_ 

_ 

___ 

___ 

_ 

Masern 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

5,3 

— 

— 

— 

— 

— 

1,5 

— 

— 

— 

Skrofulöse 

0,6 

— 

Influenza 

0,6 

— 

Knochentuber¬ 

kulose 

\ 


Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


441 


Gestorbenen  starben  an: 


03 

05 

GO 

T- 1 

cc 

05 

00 

05 

CO 

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05 

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CD 

05 

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1906 

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05 

T-1 

05 

o 

05 

r—i 

o 

t-H 

CS 

t—H 

05 

rH 

13,8 

25,4 

4,8 

2,4 

0,6 

0,7 

0,6 

0,6 

2,0 

— 

1,2 

2,4 

2,4 

0,5 

3,1 

0,7 

0,5 

0,7 

1,3 

2,2 

0,6 

0,6 

1,0 

6,4 

1,4 

0,7 

— 

— 

0,9 

0,8 

— 

— 

— 

1,2 

0,6 

0,5 

— 

— 

— 

— 

0,9 

— 

0,7 

— 

— 

— 

— 

3,1 

2,5 

3,2 

6,2 

6,8 

4,8 

1,8 

5,4 

4,0 

5,4 

6,0 

4,8 

8,4 

5,6 

5,2 

5,8 

4,8 

9,4 

7,2 

6,6 

7,7 

2,9 

8,0 

9,9 

6,2 

14,3 

15,6 

16,1 

12,9 

11,9 

5,3 

8,3 

11,5 

14,6 

12,4 

6,5 

H,2 

7,2 

4,6 

12,5 

8,1 

6,3 

10,4 

8,7 

12,3 

4,8 

14,4 

13,1 

9,4 

6,5 

6,5 

4,8 

5,4 

6,4 

5,2 

7,9 

7,0 

3,6 

5,9 

4,3 

3,7 

7,2 

1,6 

6,2 

6,2 

4,0 

0,6 

5,3 

4,0 

7,5 

4,8 

5,3 

1,8 

4,2 

3,1 

2,2 

4,8 

5,1 

2,6 

4,3 

- 

0,9 

— 

— 

0,6 

0,7 

0,6 

0,6 

— 

0,5 

0,6 

— 

0,5 

6,3 

7,6 

12,0 

9,2 

8,7 

6,1 

6,3 

5,4 

6,9 

7,5 

6,0 

4,1 

6,1 

6,8 

3,1 

5,1 

4,3 

5,8 

5,9 

4,3 

7,7 

11,8 

12,8 

5,6 

10,5 

8,2 

6,9 

4,8 

6,9 

8,7 

13,1 

7,1 

4,8 

8,2 

13,5 

5,8 

9,1 

4,4 

8,5 

7,6 

2,5 

1,3 

1,6 

— 

1,8 

3,4 

3,1 

3,0 

3,0 

2,2 

2,4 

2,4 

4,8 

1,8 

1,0 

— 

2,7. 

3,6 

2,6 

2,7 

1,9 

1,7 

— 

3,7 

3,0 

2,0 

3,1 

1,8 

3,0 

4,8 

4,2 

5,3 

7,2 

2,8 

3,6 

4,4 

1,6 

3,6 

— 

1,1 

1,9 

1,7 

0,8 

1,2 

0,6 

2,7 

0,6 

1,2 

1,0 

0,5 

— 

1,2 

0,6 

1,4 

1,5 

— 

0,5 

2,2 

1,3 

2,2 

3,1 

0,9 

1,6 

2,4 

1,2 

0,7 

1,8 

0,6 

1,0 

2,7 

1,2 

1,7 

1,8 

0,5 

0,5 

2,2 

1,1 

3,6 

1,3 

2,2 

8,8 

5,9 

5,6 

9,9 

7,4 

9,5 

10,2 

8,3 

8,9 

8,7 

11,3 

9,6 

5,4 

7,7 

7,7 

13,0 

6,4 

10,8 

11,1 

9,8 

110,0 

6,7 

14,4 

13,6 

12,3 

6,1 

6,9 

11,9 

12,9 

10,8 

7,8 

6,5 

10,9 

10,9 

H,4 

13,7 

8,0 

9,4 

15,7 

13,6 

0,6 

0,4 

— 

1,8 

— 

0,7 

• — 

— 

1,5 

— 

1,2 

— 

0,6 

1,4 

— 

— 

1,1 

— 

— 

— 

1,2 

2,5 

1,6 

2,4 

1,8 

4,8 

2,4 

1,2 

1,5 

0,5 

— 

1,7 

1,8 

— 

1,5 

0,7 

2,7 

0,7 

2,6 

2.2 

0,6 

0,8 

0,6 

1,2 

2,0 

1,8 

— 

1,0 

2,2 

— 

2,4 

0,6 

0,5 

0,5 

3,6 

0,5 

0,7 

3,3 

4,3 

— 

0,9 

0,8 

0,6 

1,8 

2,0 

— 

1,2 

— 

— 

1,8 

1,2 

0,6 

0,5 

0,5 

1,4 

2,7 

0,7 

— 

— 

3,7 

1,3 

1,6 

1,8 

1,8 

3,4 

4,4 

5,4 

2,0 

2,2 

3,0 

5,9 

4,2 

2,8 

3,6 

5,8 

2,7 

4,4 

4,6 

2,7 

0,6 

— 

0,8 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

— 

0,6 

0,6 

— 

0,5 

— 

0,7 

— 

0,7 

1,3 

— 

— 

0,9 

— 

— 

— 

1,4 

— 

— 

— 

0,5 

— 

— 

— 

— 

2,1 

— 

— 

2,8 

— 

— 

■ — 

0,4 

0,6 

0,6 

2,3 

0,5 

0,7 

0,5 

1,4 

1,3 

0,5 

0,6 

0,9 

fl 

1,2 

— 

0,7 

— 

— 

1,5 

— 

— 

0,6 

— 

0,5 

— 

— 

0,5 

— 

— 

0,5 

— 

— 

— 

0,6 

— 

— 

— 

— 

1,0 

— 

— 

— 

— 

— 

0,5 

♦ 

— 

— 

— 

0,7 

— 

442 


Unger,  Die  Entwicklung  der  Stadt  Perleberg  usw. 


Von  10  OOÜ  Einwohnern  starben  in  Perleberg  an 


im 

Jahre 

Diphtherie 

Scharlach 

Masern 

Brech¬ 

durchfall 

Typhus 

Tuber- 

kulose 

Lungen- 

entzündung 

Krebs 

1876 

6,62 

9,21 

33,10 

3,94 

49,97 

11,84 

6,62 

77 

1,31 

—  • 

7,86 

3,93 

35,53 

7,86 

10,48 

78 

2,62 

5,24 

19,65 

2,62 

31,44 

10,48 

11,79 

79 

18,30 

5,22 

16,98 

11,76 

33,96 

15,66 

3,92 

1880 

22,16 

10,42 

2867 

41,70 

13,03 

9,12 

81 

10,42 

2,60 

23,44 

10,42 

26,04 

16,93 

10,42 

82 

11,71 

2.60 

13,01 

13,02 

18,22 

15,62 

19,52 

10,42 

88 

39,01 

40,32 

18,20 

9.14 

32,51 

14,31 

15,63 

84 

23,39 

40,29 

13,00 

10,40 

23,39 

9,10 

9,10 

1885 

5,19 

0,00 

36,33 

5,19 

41,53 

28,60 

3,90 

86 

33,89 

1,33 

29,98 

3,91 

41,71 

19,55 

6,52 

87 

53,64 

23,58 

2,62 

34,01 

7,26 

13,08 

88 

26,26 

3,93 

22,31 

24,94 

18,41 

2,63 

89 

3,95 

— 

23,73 

5,27 

31,63 

7,90 

5,27 

1890 

3,98 

21,12 

2,64 

19,91 

10.56 

7,96 

91 

5,20 

14,3 

15,60 

20,18 

9,15 

92 

28,17 

15,37 

12,80 

15,37 

6,40 

93 

78,12 

2,52 

8,82 

2,52 

22,68 

35,28 

7,56 

94 

7,44 

12,42 

1,24 

18,60 

19,84 

4,98 

1895 

4,89 

19,56 

18,33 

11,01 

12,22 

96 

1,21 

12,10 

19,98 

20  57 

13,31 

97 

1,21 

2,42 

25,41 

10,89 

14,52 

8.47 

98 

1,19 

1,19 

29,79 

2,39 

11,91 

13,11 

3,58 

99 

1,19 

1,19 

32,13 

1,19 

10,71 

9,52 

10,71 

1900 

4,73 

2,64 

34,32 

18,48 

18,48 

9,46 

01 

— 

4,87 

— 

3,43 

1,16 

3,11 

25,42 

— 

1,28 

16,lfi 

19,54 

18,48 

15,83 

13,55 

02 

2,26 

4,05 

— 

3,18 

— 

2.88 

10,14 

— 

0,81 

11,30 

19,04 

24,86 

16,85 

11,30 

03 

4,40 

4,19 

— 

3,49 

— 

2,73 

15,40 

— 

0,81 

7,71 

19,69 

13,20 

15,25 

8,80 

04 

4,30 

3,92 

— 

2,83 

— 

2,04 

20,4 

— 

0,79 

10,75 

19,21 

8,60 

15,19 

15,05 

1905 

1,05 

2,68 

_ 

2,08 

_ 

2,44 

33,7 

_ 

0,65 

15,79 

17.26 

18,94 

14,14 

12,63 

06 

6,29 

3,27 

■ — 

2,03 

4,20 

1,71 

25,16 

— 

0,74 

6,29 

19,13 

18,96 

15,45 

10,49 

07 

1,04 

2,46 

— 

2,24 

— 

1,83 

9,36 

1,04 

0,57 

7,28 

17,16 

8,32 

15,12 

8.32 

08 

1,04 

2,55 

12,50 

2,20 

— 

1,92 

21,84 

— 

0,54 

8,35 

16,46 

17,71 

14,96 

9,38 

09 

1,03 

2,52 

2,07 

2,17 

4,14 

1,70 

10,40 

— 

0,49 

8,27 

15,59 

6,21 

14,55 

13,50 

1910 

2,07 

2,45 

1,03 

1,39 

_ 

1,85 

7,24 

_ 

0,48 

9,29 

15,29 

13,45 

13,03 

11,36 

11 

23,81 

• 

Die  fettgedruckten  Zahlen  zeigen  das  Gleiche  von  Preußen. 


Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene 
und  Medizinalstatistik  in  Berlin.1) 

Sitzung  vom  4.  Mai  1911. 

Herr  Guradze  trägt  vor  über  „Statistik  und  Kausalität“.  Die 
Frage,  ob  die  Statistik  zurzeit  in  der  Lage  ist,  über  den  Kausalzusammenhang 
der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  zweifellosen  Aufschluß  zu  geben,  berührt  an¬ 
scheinend  das  eigenste  Wesen  dieser  Wissenschaft.  Die  Antwort  auf  diese 
Frage  ist  nicht  einfach  zu  erteilen.  Einmal  nämlich  kann  ein  und  dieselbe  Ur¬ 
sache  verschiedene  Wirkungen  hervorrufen;  umgekehrt  wiederum  hängt  oft  ein 
und  dieselbe  Erscheinung,  als  Wirkung  betrachtet,  von  mehreren  Ursachen  ab, 
ohne  daß  man  weiß,  welche  dieser  Ursachen  hauptsächlich  maßgebend  gewesen 
ist.  Das  Gewicht  der  Ursachen  läßt  sich  schwer  bestimmen,  denn  die  wirtschaft¬ 
lichen  Verhältnisse  sind  eben  nun  einmal  in  hohem  Grade  mannigfaltig  und 
kompliziert. 

Hierzu  kommt,  daß  wir  zwar  die  endgültigen  Erscheinungen  des  sozialen 
Lebens  sehen  und  spüren,  aber  ohne  daß  wir  —  wenigstens  vielfach  —  ihre 
Vorbedingungen  deutlich  wahrnehmen,  die  manchmal  tief  verborgen  bleiben. 
Welchen  Nutzen  leistet  uns  nun  für  die  Erkenntnis  des  Kausalzusammenhanges 
die  Statistik? 

Keine  Wirkung  ohne  Ursache,  so  lautet  in  dürren  Worten  das  Kausalitäts¬ 
prinzip.  Zunächst  beschäftigt  sich  die  Statistik  mit  den  Wirkungen,  soweit  sie 
durch  Zahl  und  Maß  erfaßbar  sind.  Nehmen  wir  als  Beispiel  die  Sterblichkeits- 
statistik.  Man  zählt  die  Sterbefälle  irgendeines  Gebietes,  sagen  wir  der  Stadt 
Berlin,  in  einem  gewissen  Zeitraum,  etwa  im  Jahre  1910.  Der  Fall  ist  ziemlich 
einfach,  da  ja  der  Tod  im  allgemeinen,  abgesehen  vom  Scheintode,  deutlich  kon¬ 
statierbar  und  schwierig  zu  verheimlichen  ist;  man  muß  sich  nur  entscheiden, 
ob  man  die  Totgeborenen  mitrechnet  oder  nicht. 

Ohne  Totgeborene  starben  nun  in  der  Stadt  Berlin  im  Jahre  1910:  30151 
Menschen.  Die  Zahl  30151  besagt  zunächst  nicht  viel  für  die  Ursächlichkeit; 
an  Bedeutung  gewinnt  sie  durch  die  Analyse,  z.  B.  wenn  man  sie  auf  die  ein¬ 
zelnen  Kalendermonate  verteilt.  Man  erhält  dann  12  verschiedene  Zahlen,  die 


J)  Nach  den  Verhandlungen  der  Gesellschaft,  abgedruckt  in  Nr.  10,  12  u.  23 
der  „Medizinischen  Reform“,  1911,  herausg.  von  R.  Lennhoff. 


444  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

natürlich  von  dem  Mittelwert  30151:12  =  2513  mehr  oder  minder  stark  ab¬ 
weichen,  besonders  im  Sommer,  hauptsächlich  wegen  der  Kindersterblichkeit. 
Diese  12  verschiedenen  Zahlen  sind  aber  auch  aus  einem  anderen  Grunde  nicht 
ohne  weiteres  miteinander  vergleichbar,  nämlich  wegen  der  verschiedenen  Tages¬ 
zahl  der  Monate,  die  zwischen  31  und  28,  also  rund  um  10  Proz.  (!)  schwankt. 
Man  müßte  also  die  Sterbefälle  auf  den  einzelnen  Tag  reduzieren  und  dann  er¬ 
hält  man,  besonders  für  nicht  große  Beobachtungsgebiete  und  unter  Berück¬ 
sichtigung  der  Geschlechter  und  Altersklassen  zu  kleine  Zahlen.  Die  Zahlen  ver¬ 
rinnen  einem  unter  den  Händen. 

Die  kleinen  Zahlen  nun  hindern  oft  den  Vergleich  und  ohne  Vergleich  ge¬ 
langt  man  im  allgemeinen  nicht  zur  Kausalität.  Im  Grunde  genommen  gibt  es 
absolute  Gesetzmäßigkeiten  nur  in  der  Mathematik  und  in  den  Naturwissen¬ 
schaften,  die  mit  ihr  Zusammenhängen,  besonders  also  der  Physik  und  Chemie. 

Georg  v.  Mayr  sagt  zwar  im  1.  Bande  seiner  „Statistik  und  Gesellschafts¬ 
lehre“  auf  S.  121:  „Der  nach  statistischen  Gesetzmäßigkeiten  Forschende  hat  die 
Einzelbestandteile  der  Verursachungsgruppen  unter  möglichster  Heranziehung 
einschlägiger  Massenbeobachtungen  auf  das  zu  prüfende  statistische  Material, 
ähnlich  wie  der  Chemiker  seine  Beagentien  anzuwenden,  und  damit  die  Tatsache 
und  den  Umfang  der  Einflüsse  festzustellen,  welche  den  verschiedenen  Ver¬ 
ursachungsarten  zukommen.“  Er  gibt  aber  kein  eigentliches  Bezept  dazu  an. 
Man  kann  eben  hier  leider  nicht  nach  der  chemischen  Methode  zu  Werke  gehen. 
Wir  kommen  auf  die  Experimentierungsfrage  noch  zurück. 

Die  Fallgesetze  galten,  abgesehen  vom  luftleeren  Baum,  jederzeit  und  überall. 
Das  kann  man  von  den  Gesetzen,  die  man  für  die  Volkswirtschaft  glaubt  auf¬ 
stellen  zu  können,  nun  gerade  nicht  behaupten.  Hier  kommt  vor  allem  das 
M alt h us sehe  Bevölkerungsgesetz:  „Die  Menschen  vermehren  sich  schneller  als 
die  Lebensmittel“  in  Frage.  Es  war  im  großen  und  ganzen  richtig  für  die  eng¬ 
lischen  Verhältnisse  zu  Malthus’  Zeiten,  also  um  1800.  Mir  scheint  der 
Fehler  hei  Malthus  mit  darin  zu  liegen,  daß  er  Bevölkerung  und  Nahrungs¬ 
mittelspielraum  miteinander  in  Beziehung  setzt,  zwei  schon  organisch  aufgefaßt 
ganz  verschiedene  Dinge.  Wir  kommen  auf  diesen  wichtigen  Umstand  noch 
später  zurück.  Außerdem  läßt  sich  nicht  ahsehen,  wie  die  Verkehrsmittel,  weitere 
Entdeckungen  auf  technischem  und  kulturellem  Gebiet  —  Urbarmachung  bisher 
unfruchtbarer  Ländereien  usw.  —  die  Lebensmittelbeschaffung  und  damit  den 
Nahrungsspielraum  in  Zukunft  verändern.  Ferner  —  und  das  scheint  mir  gerade 
der  springende  Punkt  zu  sein :  —  Die  Wirtschaftskräfte  besitzen  nicht 
dieselbe  Konstanz,  wie  die  Naturgewalten.  Auch  lassen  sich  letztere 
verhältnismäßig  leichter  beherrschen  als  erstere.  Den  Blitz  der  Wolken  kann 
man  ableiten,  jedoch  ist  man  den  Blitzen  der  wirtschaftlichen  Kräfte,  besonders 
den  Wirtschaftskrisen,  gegenüber  oft  machtlos. 

Weiter:  Beschreibt  der  Botaniker  eine  Pflanze,  so  hat  er  gleichzeitig 
meistens  sofort  eine  ganze  Art  von  Pflanzen  mit  beschrieben.  Anders  liegen  die 
Verhältnisse  beim  Menschen  und  seinen  Eigenschaften,  Handlungen,  Tätigkeits¬ 
formen.  Die  sind  fast  immer  sowohl  zeitlich  wie  örtlich  verschieden.  Der  Mensch 
—  im  Grunde  genommen  doch  ein  Naturprodukt  —  ist  eben  trotz  dieser  seiner 
Zugehörigkeit  zur  Natur  bezüglich  seiner  Handlungen,  die  den  Hauptgegenstand 
der  Nationalökonomie  oder  des  Gesellschaftslebens  bilden,  kein  Gegenstand  der 
beschreibenden  Naturwissenschaft.  Das  rührt  zum  Teil  von  seinem  Willen,  über¬ 
haupt  seiner  Gehirntätigkeit  her.  Er  entzieht  sich  kraft  seines  Willens  dem 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  445 

Experiment.  Wo  man  aber  nicht  experimentieren  kann,  da  hält  es  schwer,  zur 
Kausalität  vorzudringen. 

Adolf  Wagner  hatte  nur  allzu  recht,  als  er  bei  der  Beratung  des  Kultus¬ 
etats  im  Herrenhause  am  7.  April  d.  J,  erklärte:  „Es  ist  ein  völliger  Irrtum,  daß 
man  glaubt,  auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  auf  dem  so  viele  Momente  zusammen¬ 
greifen,  exakte  Forschungen  treiben  zu  können,  wie  in  der  Naturwissenschaft. 
Das  ist  ausgeschlossen.“ 

Wir  sind  damit  ganz  von  selbst  auf  die  mathematische  Seite  unseres  Pro¬ 
blems  gekommen.  Eigentlich  ist  es  ein  Wagnis,  wenn  man  ein  auf  nicht  mathe¬ 
matischem  Wege  gewonnenes  Material  mathematisch  zahlenmäßig  exakt  ver¬ 
arbeitet.  Man  denke  nur,  um  ein  Beispiel  anzuführen,  an  die  Volkszählung. 
Hier  werden  an  Millionen  von  Menschen  Fragebogen  ausgeteilt.  Freilich  sind 
diese  Fragebogen  einheitlich  ab  gefaßt.  Aber  sie  werden  eben  nicht  einheitlich 
auf  gefaßt.  Die  Schlüsse,  die  man  aus  diesem  Material  zieht,  tragen  somit 
ein  Moment  der  Unsicherheit  in  sich,  obschon  das  Zählungswerk  trotz  dieser 
Unvollkommenheit  unschätzbaren,  nicht  hoch  genug  zu  veranschlagenden  Wert 
besitzt. 

Nur  in  der  Mathematik  gibt  es  strenge  Kausalitätszusammenhänge,  Mathe¬ 
matik  natürlich  auch  im  mathematisch-physikalischem  Sinne  genommen.  Um  aber 
dennoch  auch  in  der  Statistik  zu  gültigen  ursächlichen  Zusammenhängen  zu  ge¬ 
langen,  hat  man  hier  den  Versuch  gemacht,  durch  Isolierung  dem  Experiment 
nahezukommen.  Ich  meine  die  monographischen  Beschreibungen  einzelner  Wirt¬ 
schaftskörper,  z.  B.  Aktiengesellschaften,  Fabrikbetriebe,  Handelsunternehmungen; 
in  diesem  Zusammenhänge  sei  das  von  Prof.  Ehrenberg  gegründete  Archiv 
für  exakte  Wirtschaftsforschung  erwähnt.  Man  hat  auch  gewisse  kleinere  geo¬ 
graphische  Bezirke,  z.  B.  Rittergüter,  Dörfer  usw.,  zu  schildern  begonnen.  Auch 
die  Stammbaum-  oder  Familienforschung  sei  hier  rühmend  hervorgehoben.  Aber 
man  muß  sich  bei  diesen  an  sich  zweifellos  verdienstvollen  Arbeiten  immer  klar 
bleiben,  daß  eine  Verallgemeinerung  der  gefundenen  Zustände  und  Verhältnisse 
so  gut  wie  ausgeschlossen  bleibt.  Das  Entdeckte  bezieht  sich  eben  nur  auf  das 
jeweilige  verhältnismäßig  kleine  Beobachtungsfeld  und  entbehrt  gewöhnlich  der 
Verallgemeinerung  und  des  Vergleichs,  worauf  es  doch  bei  Gesetzmäßigkeiten  in 
erster  und  letzter  Linie  ankommt. 

Vergißt  man  das,  so  trifft  einen  fast  mit  Recht,  möchte  ich  sagen,  der 
bittere  Vorwurf,  man  könne  mit  der  Statistik  alles  beweisen.  Dieser  Vorwurf 
verdichtete  sich  vor  einigen  Jahren  zu  der  im  damaligen  Reichstage  gefallenen, 
beinahe  beleidigenden  Äußerung:  die  Statistik  wäre  eine  feile  Dirne.  Freilich 
ist  die  Statistik  ein  subtiles  Werkzeug,  das  in  der  Hand  des  Unkundigen  viel 
Unheil  anrichten  kann.  Diese  Eigenschaft  teilt  übrigens  die  Statistik  mit  jedem 
Werkzeug,  sei  es  körperlicher  oder  geistiger  Beschaffenheit.  Aber  für  die  Mi߬ 
anwendung  muß  eben  der  unkundige  Gebraucher  haftbar  gemacht  werden  und 
nicht  das  statistische  Werkzeug. 

Mit  der  Zahl  richtig  umzugehen,  ist  und  bleibt  eine  große  Kunst;  sie  ist 
nämlich  verschiedenmäßig  deutbar  sowie  dehnbar  und  läßt  sich  leicht  so  abrunden, 
wie  man  es  gern  möchte. 

Angenommen,  irgendeine  Untersuchung  führt  zur  Relativzahl  4,46.  Da 
könnte  einer  sagen:  ja  4,46,  das  heißt  4,5  oder  abgerundet  5!  So  darf  man 
natürlich  in  der  Regel  nicht  verfahren,  denn  darin  ist  in  der  Tat  4  =  5  oder 
Archiv  für  Soziale  Hygiene.  VII.  29 


446  Aus  (1er  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

5  =  4,  und  damit  läßt  man  5,  also  ungerade,  gerade  sein.  Das  ist  natürlich 
wissenschaftlich  unstatthaft. 

So  sind  wir  fast  unmerklich  zu  einem  Punkt  gekommen,  der  in  der  wirt¬ 
schaftlichen  oder  sozialen  Beweisführung,  wenn  ich  mich  kurz  so  ausdrücken  darf, 
eine  nicht  zu  unterschätzende  Rolle  im  Gegensatz  zur  rein  naturwissenschaft¬ 
lichen  Untersuchungsmethode  spielt,  nämlich  zur  Voreingenommenheit  oder  Partei¬ 
lichkeit.  In  der  Naturwissenschaft  geht  man  in  der  Regel  voraussetzungsloser,, 
objektiver  zu  Werke,  als  bei  sozialen  Problemen,  abgesehen  natürlich  von  den 
individuellen  Beobachtungsqualitäten,  also  den  anatomisch-physiologischen  Eigen¬ 
schaften  des  Untersuchenden.  Wirtschaft  und  Politik  sind  —  leider  —  nahe  ver¬ 
wandt  und  wo  die  Politik  anfängt,  gerät  die  Objektivität  zu  leicht  in  Gefahr  und 
die  Leidenschaft  gewinnt  unwillkürlich  die  Oberhand,  sie,  die  für  exakte  Unter¬ 
suchungen  geradezu  oft  ein  Hindernis  bedeutet. 

Sine  ira  et  studio,  das  sollte  für  jeden  Wirtschaftsforscher  die  Parole  sein! 

Allerdings  ist  das  nicht  ganz  einfach,  zumal  ja  auch  sittliche  und  moralische 
Werturteile  des  einzelnen  dabei  in  Betracht  kommen.  Über  diese  Materie  hat 
kürzlich  Exzellenz  von  Schmoller  in  der  Vereinigung  für  staatswissenschaft¬ 
liche  Fortbildnng  einen  Vortrag  gehalten.  Ich  möchte  mich  in  Rücksicht  darauf 
hier  nicht  weiter  darüber  auslassen,  sondern  nur  eine  Bemerkung  des  Herrn  Vor¬ 
tragenden  wiedergeben.  Die  lautet  etwa  so:  „Bei  jedem  großen  Wirtschafts¬ 
problem  werden  wir  die  Kausalitätsforschung  soweit  als  möglich  zu  treiben  haben, 
die  eigene  persönliche  sittliche  Anschauung  als  subjektiv,  die  anderer  als  gleich¬ 
wertig  so  lange  zu  betrachten  haben,  als  nicht  Kausalitätsuntersuchungen  das 
Gegenteil  besagen.“  Leider  gibt  aber  Herr  von  Schmoller  keine  Anweisung,, 
wie  man  derartige  Kausalitätsuntersuchungen  anzustellen  hat. 

Weiter.  In  keiner  Wissenschaft  wird  so  oft  und  so  unbewußt  Ursache 
und  Wirkung  miteinander  verwechselt,  wie  gerade  in  der  Nationalökonomie.  Ich 
habe  auf  diesen  Punkt  bereits  in  meinem  Vortrage,  der  sich  auf  die  Mitwirkung 
der  Arzte  bei  der  Jugendfürsorgestatistik  bezog,  im  vorigen  Jahre  hingewieseu. 
Wenn  man  bei  gewissen  Berufsangehörigen  bestimmte  Krankheitsphänomene 
findet  —  z.  B.  bei  den  Schneidern  Schwindsucht  — ,  so  darf  man  nicht  ohne 
weiteres  die  Krankheit  als  Folge  des  Berufes  ansprechen.  Häufig  ist  es  nämlich 
gerade  umgekehrt:  Der  Beruf  ist  eine  Folge  der  Krankheit;  die  lungenkranken 
Schneider  sind  oft  lungenkrank,  bevor  sie  die  Schneiderei  ausüben  und  werden 
von  den  Eltern  oder  sonstigen  Angehörigen  diesem  Berufe  zugeführt,  weil  sie 
eben  wegen  Defektes  in  anderen  Stellungen  schwer  untergekommen  wären. 

Die  Schlüsse,  die  aus  der  Statistik  gezogen  werden,  ähneln  teilweile  dem 
berühmten  Reut  er  sehen  Ausspruche:  Die  Armut  stammt  von  der  Pauvrete,  d.  h. 
der  Laie  gelangt  manchmal  zu  selbstverständlichen,  ja  sogar  im  Grunde  genommen 
nichtssagenden  Ergebnissen. 

Wir  haben  bereits  erwähnt,  daß  zu  kleine  Zahlen  allgemein  gültige  Schlüsse 
verhindern.  Die  großen  Zahlen  erscheinen  zunächst  zur  Auffindung  von  Gesetz¬ 
mäßigkeiten  geeigneter.  Aber  sie  haben  einen  schwerwiegenden  Mangel:  sie 
verwischen  die  Eigentümlichkeiten,  sie  nivellieren,  d.  h.  sie  verdecken  die  oft 
vorhandenen  Ungleichheiten.  Und  gerade  das  Ungleichmäßige  wird  im  sozialen 
Leben  vielfach  von  Bedeutung  und  Wichtigkeit.  So  befindet  man  sich  genau 
genommen  in  einem  Dilemma:  Auf  der  einen  Seite  machen  die  kleinen  Zahlen 
exakte  Forschungen  unmöglich,  auf  der  anderen  Seite  werden  durch  die  Massen¬ 
daten  in  ihrer  Gesamtheit  die  Symptome  verdunkelt.  Man  sieht  oft  zwar  das. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  447 

Ganze,  aber  nicht  seine  Zusammensetzung  aus  den  einzelnen  Teilen.  Jedoch 
vermag  diesen  Nachteil  der  statistische  Fachmann  mehr  oder  weniger  zu  beheben. 

Ein  weiteres  Hindernis  der  klaren  Erkenntnis  des  ursächlichen  Zusammen¬ 
hanges  liegt  in  folgendem  Umstande.  Man  schließt  sehr  häufig:  post  hoc  ergo 
propter  hoc.  Es  ist  aber  durchaus  zweifelhaft,  ob  gerade  die  beobachtete  Zeit¬ 
folge  auch  eine  kausale  Beziehung  darstellt.  Gewiß  hat  der  Schluß  etwas  Be¬ 
stechendes:  das  ist  dem  gefolgt,  also  ist  es  wahrscheinlich  so,  natürlich  ist  es 
so,  gewiß  ist  es  so.  Aber  er  wird  darum  nicht  zwingend.  Bei  den  exakten 
Naturwissenschaften  spielt  die  Einzelbeobachtung  eine  große  Bolle;  da  genügt 
manchmal  in  der  Tat  eine  gute  Einzelbeobachtung.  Aber  in  der  Nationalökonomie 
kann  eine  Einzelbeobachtung  nicht  ausreichen.  Die  Enquete,  die  oft  angewandt 
wird,  ist  im  Grunde  genommen  nichts  anderes,  als  eine  ausgedehnte  wissenschaft¬ 
liche  Einzelbeobachtung.  Dagegen  ist  wissenschaftliche  Massenbeobachtung  für 
unser  Wirtschaftsgebiet  das  Kichtige. 

Zuzugeben  sei,  daß  die  statistischen  Zahlen  oft  große  Begelmäßigkeit  auf¬ 
weisen,  selbst  bei  scheinbar  willkürlichen  Handlungen,  z.  B.  beim  Selbstmord. 
Man  darf  aber  nie  außer  acht  lassen,  daß  gerade  hier  meist  kleine  Zahlen  vor¬ 
liegen.  Derartige  Zahlen  können  nie  eine  Sicherheit,  sondern  nur  eine  Wahr¬ 
scheinlichkeit  geben.  Hier  spielen  ja  auch  die  Motive  eine  bedeutende  Bolle, 
und  Motive  richtig  zu  erkennen,  ist  für  die  Statistik  fast  ausgeschlossen.  Man 
sieht  das  ja  gerade  bei  den  Schülerselbstmorden.  Wen  hat  man  dafür  nicht  alles 
verantwortlich  gemacht!  Die  Lehrer,  den  Unterrichtsplan,  das  Elternhaus,  die 
Empfindlichkeit,  überhaupt  das  Temperament  des  Schülers,  seinen  Entwicklungs¬ 
zustand,  die  Schundliteratur,  den  Verkehr  in  schlechter  Gesellschaft  usw.  Könnte 
man  Motive  erkennen,  so  hätte  man  die  Wurzel  vieler  Übel  gefunden.  In  diesem 
Zusammenhänge  sei  auch  die  Neigung  zum  Verbrechen,  das  penchant  au  crime, 
erwähnt.  Endlich  können  die  statistischen  Begelmäßigkeiten,  die  sich  besonders 
bei  Massenbeobachtungen  —  eben  infolge  der  Eigenschaft  der  Nivellierens  bei 
der  Masse  —  ergeben,  wie  beispielsweise  die  Geburten-  und  Sterbehäufigkeiten, 
durch  irgendein  die  Menge  beeinflussendes  Ereignis,  wie  z.  B.  eine  Epidemie,  eine 
Wirtschaftskrisis,  im  umgekehrten  Sinne  auch  durch  eine  medizinische  Entdeckung, 
wie  Serum  und  dergleichen,  leicht  aufgehoben  werden.  Sie  sind  also  nichts  für 
die  Dauer  Bestehendes. 

Und  nun  noch  eins.  Gerade  bei  den  am  meisten  sprechenden  Gesetzmäßig¬ 
keiten,  wie  bei  dem  berühmten  Überschuß  der  Knabengeburten,  ist  man  von  der 
Erkenntnis  der  Ursachen  weit  entfernt.  Kausalität,  Gesetz  und  Tatsache  sind 
eben  verschiedene  Begriffe. 

Müssen  wir  also  der  Statistik  zurzeit  die  Fähigkeit  absprechen,  Kausal¬ 
zusammenhänge  in  der  wundervollen  Klarheit  erkennen  zu  lassen,  wie  es  die 
Mathematik  vermag,  so  haben  wir  unserer  Zahlenwissenschaft  damit  noch  lange 
nicht  das  Todesurteil  gesprochen.  Denn  einmal  ist  im  Bereich  der  weltlichen 
Tatsachen  —  im  Gegensatz  zum  Gebiete  des  abstrakten  Denkens  —  der  Begriff 
der  Notwendigkeit  umstritten,  worauf  besonders  David  Hume  hingewiesen  hat, 
dessen  auf  den  26.  April  d.  J.  gefallenen  200jährigen  Geburtstag  ja  die  ganze 
gebildete  Welt  gefeiert  hat;  zum  anderen  Male  besteht  ja  auch  die  Auf¬ 
gabe  der  Statistik  wesentlich  darin,  zu  schildern,  was  ist  und 
wie  es  ist,  nicht  aber,  warum  oder  wieso  es  ist.  Das  Schlußziehen  überlassen 
wir  Statistiker  den  Konsumenten.  Uns  liegt  nur  daran,  richtige  Zustandszahlen 
sachgemäß  fortlaufend  zu  sammeln  und  zu  verarbeiten,  also  zu  produzieren.  In 

29* 


448  Alls  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

dieser  wichtigen,  ja  vielleicht  unentbehrlichen  Tätigkeit  dürfen  und  werden  wir 
uns  durch  keine  Vorwürfe  der  Unzulänglichkeit  beirren  lassen. 


Sitzung  vom  18.  Mai  1911. 

Herr  A.  Crzellitzer,  Berlin,  trägt  vor  über  ?rDie  Berliner  städtischen 
Eamilien-Stannnbticher  und  ihre  Ausgestaltung  für  die  Zwecke  der  Yer- 
erbungsforschung  und  der  sozialen  Hygiene44.  Der  preußische  Staatsbürger 
bildet  vom  ersten  bis  zum  letzten  Augenblick  seines  Lebens  unzähligen  Behörden 
gegenüber  das  Objekt  eines  Personal attestes.  Vom  Geburtsschein  angefangen, 
über  den  ersten  Impfschein,  den  Annahmebefund  des  Schularztes,  den  zweiten 
Impfschein,  den  Schulentlassungsschein,  die  Militärpapiere,  den  Trauschein  bis 
schließlich  zum  Totenschein  gibt  es  so  viele  Formulare,  daß  eine  stattliche  Do¬ 
kumentenmappe  mit  diesen  zu  füllen  wäre.  Ist  das  Individuum  öfters  krank,  so 
kommen  noch  hinzu  eventuell  die  Bescheinigungen  der  Säuglingsfürsorgestelle, 
der  Ferienkolonie  -  Annahme-  und  -Entlassungsschein,  desgleichen  von  Wald¬ 
erholungsstätten;  Entlassungsscheine  aus  einem  Krankenhaus;  Unfallmeldungen 
bei  beruflichen  Verletzungen ,  Invalididätsbescheinigung ;  eventuell  Schein  einer 
Tuberkulose-  oder  Trinkerfürsorgestelle  und  andere  mehr.  Dabei  habe  ich  nur  die¬ 
jenigen  Scheine  erwähnt,  die  sich  auf  Personenstand  und  Körperzustand  beziehen 
und  ganz  beiseite  gelassen  alle  auf  die  berufliche  Ausbildung,  auf  erworbene  Titel 
oder  Hechte  bezüglichen.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  die  Vielheit  aller  dieser 
Personalpapiere  ihre  Aufbewahrung  recht  erschwert  —  ein  Arbeiter  mit  karger 
Habe  und  engem  Raum  wird  kaum  so  leicht  alle  geordnet  beisammenhalten 
können  —  ganz  davon  abgesehen  stellt  diese  „Verzettelung“  auch  eine  außer¬ 
ordentlich  unpraktische  Vergeudung  von  Zeit  und  Mühe  der  ausstellenden  Be¬ 
hörden  dar.  Genau  dieselben  Fragen  nach  Geburtsort  und  Geburtstag,  nach  Stand 
und  Namen  der  Eltern,  deren  Geburts-  und  ev.  Sterbedaten  müssen  so  ziemlich  von 
allen  Behörden  immer  aufs  neue  erkundet  und  aufs  neue  aufnotiert  werden.  So 
und  so  viele  andere  Angaben,  die  nicht  auf  den  Scheinen  selbst,  aber  in  den  ent¬ 
sprechenden  Journalen  der  Behörden  notiert  werden,  sind  einfach  verloren  und 
vergraben.  Wenn  sich  der  Impfarzt  eine  Notiz  macht,  die  den  Fürsorgearzt  der 
Säuglingsfürsorgestelle  höchlichst  interessieren  würde,  bleibt  sie  doch  diesen  ewig 
unbekannt,  weil  der  nur  seine  eigenen  Journale,  aber  nicht  das  der  Impfstelle  vor 
Augen  hat.  Eine  Angabe  des  Fürsorgearztes  könnte  dem  Schularzt  wichtige 
Fingerzeige  geben,  aber  sie  ist  wieder  diesem  unerreichbar;  dasselbe  gilt  für  die 
militärärztliche  Untersuchung,  die  nicht  auf  dem  Schülergesundheitsschein  fußen 
darf,  obgleich  ihr  das  viele  Mühe  abnehmen  könnte.  Was  im  Totenschein  des 
Vaters  steht,  kann  der  den  Sohn  behandelnde  Arzt  höchstens  erfahren,  wenn  er 
den  Antrag  auf  Einsicht  in  die  Standesamtsregister  stellt  und  (nach  Tarif  A  1) 
für  jeden  eingesehenen  Jahrgang  50  Pfg.  zahlt.  So  arbeiten  alle  diese  Behörden 
oder  Institutionen  nicht  m  i  t  einander,  sondern  neben  einander,  ohne  amtlich  von¬ 
einander  zu  wissen,  ohne  aus  der  Existenz  der  andern  Nutzen  zu  ziehen,  in  einer 
ungeheuerlichen  Verschwendung  von  Mühe,  Papier  und  Tinte.  Schon  oft  und 
von  verschiedenen  Seiten  ist  auf  diesen  Mißstand  hingewiesen  und  der  Versuch 
zu  seiner  Abhilfe  gemacht  worden. 

Zweierlei  ganz  verschiedene  Wege  boten  sich  dar;  der  eine  war  der,  all 
diese  jetzt  von  verschiedenen  Behörden  resp.  Ärzten  gemachten  Erhebungen 
möglichst  in  einer  Hand,  an  einer  Stelle,  in  einem  Journal  zu  konzentrieren.  So 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  449 

entstand  die  Gott  st  ein  sehe  Idee  der  Gemeindebezirksärzte  (vgl.  Deutsche  med. 
Woch.  Nr.  13,  1908  und  Mediz.,  Eeform  S.  517,  1908);  für  40000 — 50000  Ein¬ 
wohner  ein  Bezirksarzt  (mit  1—2  Assistenten  und  eventuell  noch  Volontären),  der 
zugleich  Armenarzt,  Schularzt,  Ziehkinderarzt,  Impfarzt,  Fürsorgestellenarzt,  Unter¬ 
sucher  für  Heilstätten  und  Ferienkolonien  sein  soll.  Gegen  diese  Idee  erhob 
sich  nicht  bloß  der  Widerspruch  der  praktischen  Ärzte,  die  in  fliesen  Vorschlägen 
den  Anfang  und  Keim  zur  Verstaatlichung  ihres  Standes  befürchteten,  sondern 
auch  der  Einwand,  daß  beim  Verzug  aus  dem  Bezirk  die  Einheitlichkeit  des  Be¬ 
obachters  doch  nicht  gewahrt  sei  und  —  bei  der  starken  Binnenfluktuation  unseres 
Proletariates  —  ohne  eine  Mitteilung  der  Notizen  an  die  Zentrale  nicht  auszu¬ 
kommen  sei. 

Die  andere  prinzipielle  Abhilfemöglichkeit  war  die,  nicht  ein  und  den¬ 
selben  Arzt  dem  Individuum  mitzugeben,  sondern  nur  ein  und  dasselbe  Journal 
resp.  den  „Gesundheitspaß“,  in  den  sich  die  verschiedenen  Behörden  einzeichnen. 

Der  erste  und  zugleich  radikalste  Vorschlag  wurde  von  Schallmayer 
schon  1891  gemacht  und  in  den  beiden  Auflagen  seiner  preisgekrönten  Schrift 
über  „Vererbung  und  Auslese“  1903  und  1910  wiederholt:  Für  jede  Person 
sollten  von  Geburt  an  gewisse  zur  Erkennung  ihrer  Erbanlagen  dienliche  Be¬ 
obachtungen  durch  ärztliche  Staatsbeamte  festgestellt  und  auf  einen  obligatorischen 
erbbiographischen  Personalbogen  notiert  werden.“  Die  Summe  dieser  Angaben 
„würde  allmählich  zu  Familienstammbüchern  führen,  die  nicht  nur  über  Krank¬ 
heitsanlagen,  sondern  auch  über  nicht  pathologische  Eigenschaften  einer  Familie 
Aufschluß  geben“.  Schall mayer  setzt  also  für  diese  seine  Idee  die  Verstaat¬ 
lichung  des  Ärztestandes  als  Grundlage  voraus  und  geht  im  übrigen  gar  nicht 
ein  auf  die  so  außerordentlich  wichtigen  technischen  Fragen,  wo  diese  seine  ob¬ 
ligatorischen  Personalbogen  aufbewahrt,  wie  sie  dem  (dank  der  Freizügigkeit 
stark  fluktuierenden)  Beobachtungsobjekt  nachtransportiert  werden,  bei  welchen 
Anlässen  die  Kontrolluntersuchungen  vorzunehmen  seien  und  dergleichen  mehr. 
„Leicht  beieinander  wohnen  die  Gedanken,  doch  hart  im  Baume  stoßen  sich  die 
Sachen.“  So  leicht  es  ist,  derartige  umfassende  Pläne  aufzustellen,  so  schwer 
türmen  sich  die  Hindernisse  vor  ihrer  praktischen  Verwirklichung.  Bei  weitem 
bescheidener  und  daher  vorläufig  leichter  ausführbar  sind  die  Vorschläge,  die  nur 
eine  Verbindung  zwischen  wenigstens  einigen  der  vorhin  genannten  Untersucher 
anstreben.  Den  Anstoß  zu  einer  wertvollen  Diskussion  gab  im  Kreise  dieser 
Gesellschaft  der  Vortrag,  den  Boas  im  Dezember  1907  über  „Ärztliche  Auskunfteien“ 
hielt.  Er  wollte  allerdings  hauptsächlich  dem  Praktiker  die  Möglichkeit  schaffen 
über  einen  Patienten  authentisches  anamnestisches  Material  aus  der  Auskunftei 
zu  erhalten.  Daher  müßten  an  diese  (mit  Bewilligung  der  Kranken)  von  allen 
der  Auskunftei  angeschlossenen  Ärzten  regelmäßige  Auskünfte  eingesandt  werden. 
In  der  Diskussion  prägte  Denn  hoff  den  wichtigen  Begriff  des  „Gesundheits¬ 
nationale,  das  den  Arbeiter  begleiten  solle“  und  in  das  „Kurze  Notizen  über 
Krankheiten  usw.  einzutragen  wären.“  May  et  führte  den  Bo  a  s sehen  Vorschlag 
bis  in  seine  letzteu  Konsequenzen.  Bei  einer  einheitlichen  Zentralauskunftei  für 
ganz  Deutschland  würden  von  Hebammen,  Impfärzten,  Schulärzten,  Waisenhaus-, 
Fürsorgerziehungs-,  Militär-,  Krankenkassen-,  Berufsgenossenschafts-,  (d.  h.  Unfall¬ 
meldungen),  Lebensversicherungs-,  Lungenheilstätten-,  Klinikassistenz-,  Blinden- 
anstalts-,  Tanbstummenanstalts-,  Entbindungsanstalts-,  Wöchnerinnenheim-,  G  e- 
fangenenanstalts-,  Polizei-,  Armenärzten  und  Leichenbeschauern  im  ganzen  jährlich 
ca.  27,3  Millionen  Meldungen  einlaufen;  das  würde  bei  60  Millionen  Menschen  also 


450  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

heißen,  für  ein  Individuum  ca.  in  zwei  Jahren  eine  Meldung.  Etwas  später 
schlug  Fürst  vor,  die  Schüler-Gesundheitsscheine  an  die  Militärärzte  zur  Musterung 
einzureichen;  Hahn:  außer  diesen  auch  noch  die  Impfscheine  nebst  Bemerkungen 
über  die  Art  der  Säuglingsernährung.  Hugo  Neumann  plädierte  energisch 
für  Inbeziehungsetzung  der  Säuglingsfürsorge  mit  der  schulärztlichen  Fürsorge, 
den  Ferienkolonien  und  dergleichen.  Schließlich  erweiterte  Tugendreich  (Ber¬ 
liner  klin.  Woch.  1908,  Nr.  23}  alle  diese  Vorschläge  zur  Forderung  des  Kranken¬ 
passes  im  S  c  h  allm  a  y  er  sehen  resp.  L  ennh  off  sehen  Sinne,  für  den  er  aber 
den  wohlklingenderen  Namen  „Gesundheitskarte“  erfand.  Auf  dieser  Karte 
sollten  alle  beamteten  Arzte ,  wie  Impfärzte,  Schulärzte ,  Militärärzte  in  ein¬ 
heitlicher  Weise  ihre  Befunde  eintragen.  Wer  in  Säuglingsfürsorge  tritt,  nach 
Ferienkolonien,  Lungenheilstätten  oder  in  Krankenhäusern  verschickt  wird,  er¬ 
hielte  dort  ebenfalls  einen  Eintrag,  Wer  es  wünscht,  könnte  schließlich  von 
seinem  Privatarzt  auch  einen  Eintrag  erbitten.  Diese  Formulierung  von  Tugend¬ 
reich  kommt  sehr  nahe  an  das  heran,  was  uns  allen  wohl  als  ideale  Lösung 
des  Problems  vorschwebt.  Nur  einige  praktische  Schwierigkeiten  sind  es,  die  von 
ihm  nicht  erörtert  wurden,  die  aber  vielleicht  die  Ursache  sind,  daß  bis  heute 
der  Vorschlag  wohl  nirgends  verwirklicht  wurde.  Zunächst,  wer  soll  diese 
Gesundheitskarte  kerstellen  ?  Soll  man  sie  kaufen  ?  Das  setzt  einen  Grad  sozial- 
hygienischer  Einsicht  voraus,  der  heute  nicht  vorhanden  ist.  Die  Ausgabe  selbst 
weniger  Pfennige  wird  von  der  großen  Masse  gescheut,  weil  sie  nicht  weiß,  wo¬ 
zu  und  warum.  Aus  demselben  Grunde  würden  die  Karten  ohne  Zwang  auch 
nicht  aufbewahrt  werden ;  sie  gehen  verloren,  werden  verbummelt,  eventuell  auch 
bewußt  vernichtet,  wenn  ihr  Inhalt  dem  Träger  nicht  konveniert.  Ferner,  wenn 
der  Impfarzt  z.  B.  wie  bisher  sein  Journal  führen  soll,  außerdem  den  Impfschein 
ausstellen  und  dann  noch  die  Gesundheitskarte  nebenbei,  so  erwächst  ihm  eine 
Mehrarbeit,  die  er  nicht  leistet,  wenn  sie  nicht  bezahlt  wird;  gleiches  gilt  für 
Schulärzte.  Der  einzige  Fehler  des  Tug  endreich  sehen  Vorschlages  war  eben 
der,  daß  er  auf  privater  Initiative  auf  baut,  wo  die  Voraussetzungen  fehlen,  nämlich 
die  Durchtränkung  der  öffentlichen  Meinung  mit  dem  Bewußtsein  des  Wertes 
derartiger  Aufzeichnungen  für  jeden  einzelnen. 

Nun  haben  aber  derartige  fortlaufende  Registrierungen  keineswegs  nur  privaten 
Wert.  Sie  nutzen  gewiß  dem  Individuum,  aber  ebensosehr  und  vielleicht  noch 
mehr  der  Allgemeinheit,  der  Hygiene,  der  Medizin,  der  Vererbungsforschung  und 
der  Staatswissenschaft.  Bei  dieser  Sachlage  ist  ein  Fortschritt  nur  zu  erhoffen, 
wenn  nicht  private  Initiative,  sondern  diejenige  des  Staates  oder  der  Kommune 
zum  Ausgangspunkt  genommen  wird. 

Sollen  wir  darum  etwa  eine  besondere  Behörde,  etwa  kommunale  oder  pro¬ 
vinzielle  Gesundheitsämter  vorschlagen?  Mit  einem  riesigen  Etat  an  Beamten, 
an  Papier  und  Porti  für  Korrespondenzen  mit  allen  den  Einzel-Untersuchungs¬ 
stellen,  womöglich  mit  Bezahlung  an  diese  für  ihre  Mehrarbeit?  —  Das  wäre 
sehr  aussichtslos  und  würde  am  Widerstande  verantwortlicher  Finanzmänner 
scheitern!  Wohl  aber  erscheint  ein  gangbarer  Weg  anzuknüpfen  an  eine  bereits 
vorhandene  Institution,  die  nur  in  einigen  Stücken  auszubauen  wäre,  um  alles 
zu  leisten,  was  verlangt  wird.  Diese  Institution  sind  die  städtischen  Familien¬ 
stammbücher,  wie  sie  die  Stadt  Berlin  im  Jahre  1897  eingeführt  hat.  Da  diese 
offenbar  noch  nicht  allzusehr  bekannt  sind,  beschreibe  ich  sie  zunächst,  wie  sie 
jetzt  aussehen,  und  zwar  nicht  bloß  in  Berlin  selbst,  sondern  auch  in  einer 
großen  Zahl  seiner  Nachbargemeinden,  die  genau  dieselben  Bücher  eingeführt 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  451 

haben.  Jedes  neuvermählte  Paar  erhält  auf  Wunsch  vom  Standesbeamten  gegen 
Entrichtung  von  50  Pfg.  ein  solches  Buch,  gleich  versehen  mit  Eintragung  und 
Beglaubigung  der  Eheschließung.  Es  ist  von  Oktavformat,  in  festem  Pappdeckel 
mit  der  Goldprägung  „Familienstammbuch“  gebunden  und  enthält  55  Seiten. 
Nach  einem  Vorwort,  in  dem  auf  die  urkundliche  Beweiskraft  des  Buches  für  die 
Zwecke  des  täglichen  Lebens  hingewiesen  wird,  folgen  ein  paar  Seiten,  auf  denen 
Namen,  Stand  und  Wohnung  der  Eheschließenden,  sowie  ihrer  Eltern,  Geburts¬ 
tag,  Geburtsort,  sowie  Religion  der  ersteren  einzutragen  sind.  Daneben  ist 
Raum  für  die  Beglaubigung  des  Standesbeamten,  für  die  Eintragung  des  Tages 
und  Ortes  der  kirchlichen  Trauung,  sowie  für  die  Beglaubigung  durch  den  voll¬ 
ziehenden  Geistlichen,  schließlich  für  die  Angabe  von  Sterbedatum,  Sterbeort 
und  ein  schmaler  Raum  für  „sonstige  Bemerkungen“.  Dann  folgt  Teil  II,  betitelt 
..die  Kinder“;  und  zwar  ist  für  zwölf  Platz  gelassen;  für  jedes  einzelne  ein 
Streifen  von  ca.  7  cm.  Höhe  und  42  cm.  Länge  reserviert;  auf  diesen  soll  resp. 
kann  eingetragen  werden:  Namen,  Geburtstag  und  -orts,  Beglaubigung  des  Standes¬ 
beamten,  Tag  und  Ort  der  Taufe,  Religion  mit  Beglaubigung  des  vollziehenden 
Geistlichen ,  Sterbetag  und  -ort  mit  Beglaubigung  des  Standesbeamten ,  Namen 
der  Taufzengen,  Tag  und  Kirche  der  Konfirmation,  Tag,  Ort,  Standesbeamte 
und  Kirche  der  Trauung  und  eine  schmale  Rubrik:  sonstige  Bemerkungen. 
Teil  III  (betitelt  „Großeltern  der  Ehegatten“)  enthält  auf  einer  Seite  die 
Großeltern  des  Bräutigams,  auf  der  benachbarten  diejenigen  der  Braut,  und 
zwar  für  jede  dieser  acht  Personen  Namen,  Stand,  Wohn-  oder  Sterbeort.  Dann 
kommt  weißes  Papier  betitelt :  „Gedenkblätter“)  11  Seiten;  als  Anhang  schließlich 
ein  Auszug  aus  den  gesetzlichen  Vorschriften  über  die  Anmeldung  und  Be¬ 
urkundung  der  Geburten  und  Sterbefälle  sowie  ein  Gebührentarif. 

T)ie  ganze  Einrichtung  hat,  wie  im  Vorwort  angegeben,  den  Zweck,  die  An¬ 
gaben  über  Eheschließung,  Eheeinsegnung,  Geburten,  Taufen  und  Sterbefälle  in 
amtlich  beglaubigter  Form  für  alle  möglichen  ZAvecke,  private  wie  auch  den  Be¬ 
hörden  gegenüber,  zusammenzufassen.  Nur  diese  Angaben  werden  amtlich  ein¬ 
getragen,  alle  anderen  Rubriken,  also  die  Angaben  betreffend  Konfirmation  und 
Verehelichung  der  Kinder,  sowie  insbessondere  diejenigen  betreffend  die  Gro߬ 
eltern  und  Eltern  des  Brautpaares,  bleiben  der  freiwilligen  Selbsteintragung  über¬ 
lassen,  die  allerdings  warm  empfohlen  wird.  Der  Ausbau  hätte  meines  Erachtens 
nach  zwei  Richtungen  zu  erfolgen;  einmal  kann  die  Zahl  der  Rubriken  um  einige 
wichtige  Vordruckspalten  vermehrt  werden;  sodann  aber  zweitens  muß  an  Stelle 
der  fakultativen  Abgabe  des  Buches  die  obligatorische  an  alle  Brautpaare, 
an  Stelle  des  fakultativen,  völlig  unkontrollierten  Eintrags  durch  die  Inhaber  die 
obligatorische,  durch  die  Beamten  beratene  Eintragung  in  alle  Rubriken  und 
schließlich  an  Stelle  des  Verbleibens  der  Bücher  in  der  Privathand  die  Rück¬ 
lieferung  an  die  Behörde  treten,  sobald  die  Familie  aufgehört  hat,  als  solche  zu 
existieren.  Was  zunächst  die  Abgabe  der  Bücher  anlangt,  so  ist  der  Preis  von 
50  Pfg.  zwar  sicherlich  niedrig  genug.  Nichtsdestoweniger  gibt  es  genug  Braut¬ 
paare,  die  freiwillig  das  Buch  nicht  anschaffen.  Aus  einer  Mitteilung  im  Ge¬ 
meindeblatt  der  Berliner  Stadtverwaltung  entnehme  ich,  daß  im  Jahre  durch¬ 
schnittlich  22000  Ehen  geschlossen,  aber  nur  15000  Stammbücher  abgesetzt 
werden,  also  nur  68%  der  Eheschließenden  von  der  Einrichtung  Gebrauch  machen. 
Hierzu  mag  beitragen,  daß  nicht  alle  Standesbeamten  mit  gleicher  Wärme  und 
gleichem  Eifer  den  Absatz  propagieren.  Zweckmäßigerweise  hätte  die  Abgabe 
der  Bücher  bereits  bei  der  Anmeldung  des  Aufgebots,  für  die  eine  Gebühr  von 


452  Ans  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

50  Pfg.  erhoben  werden  könnte,  zu  erfolgen.  Es  würde  alsdann  der  Schein  ver¬ 
mieden,  daß  man  die  Eheschließenden  zwingt,  ein  Buch  zu  kaufen.  Während 
der  Zeit  bis  zur  Trauung  hätte  dann  das  Brautpaar  Muße,  die  Personaldaten 
betreffend  Eltern  und  Großeltern  durch  Rückfragen  und  dergleichen  zu  ermitteln 
und  in  das  Buch  einzutragen.  Der  Standesbeamte  geht  dann  während  des  Trau¬ 
aktes  die  Eintragungen  durch  und  kontrolliert  ihre  Rubrizierung.  Eine  wesentliche 
Mehrarbeit  für  ihn  bedeutet  das  nicht,  denn  er  ist  schon  heute  genötigt,  für  sein 
Register  fast  alle  diese  Fragen  zu  erheben.  Der  beste  Ansporn  zu  sorgfältiger 
und  ordnungsgemäßer  Beantwortung  der  Personalfragen  läge  in  dem  Zwange, 
das  Buch  ausgefüllt  vorlegen  zu  müssen,  um  getraut  zu  werden. 

Ein  weiteres  prinzipielles  Novum  bedeutet  die  Rücklieferung  der  Bücher 
an  die  Behörde.  Gewiß  kann  die  Einrichtung,  wie  sie  heute  besteht  und  erst 
recht,  nachdem  sie  obligatorisch  gemacht  und  inhaltlich  bereichert  ist,  schon 
segensreich  genug  wirken,  auch  wenn  die  Bücher  ihrem  Inhaber  beliebig  und 
unkontrolliert  überlassen  bleiben.  Der  Familiensinn,  der  dem  Proletariat  der 
Großstadt  in  so  erschreckender  Weise  abhanden  gekommen  ist,  wird  zweifellos 
auch  durch  frei  überlassene  Familienbücher  wirksam  angeregt.  Alle  die  Er¬ 
leichterungen  im  Wirtschaftsleben,  in  den  Fällen,  wo  Urkunden  vorgelegt  werden 
müssen  oder  bei  der  Gesundheitspflege  der  einzelnen  Familienglieder,  wo  es  sich 
darum  handelt,  gewissermaßen  eine  beglaubigte  Anamnese  jederzeit  zur  Hand  zu 
haben,  alle  diese  Erleichterungen  und  Vorteile  kommen  gewiß  (solange  der  Familen- 
vater  das  Buch  aufbewahrt  !)  zur  Geltung.  Aber  es  dient  doch  sozusagen  nur  der 
Einzelfamilie.  Die  Allgemeinheit,  die  Wissenschaft,  und  zwar  sowohl  die  Statistik, 
wie  die  soziale  Medizin,  wie  die  Vererbungsforschung;  sie  gehen  leer  aus,  solange 
das  in  den  Familienbüchern  sich  aufhäufende  Material  in  tausend  privaten 
Schränken  der  Vergessenheit  und  der  Vernichtung  anheimfällt.  Soll  dieses  Material 
nicht  bloß  der  individuellen  Hygiene  dienen,  sondern  auch  der  sozialen,  so  ist 
es  erforderlich,  daß  die  Bücher  zu  irgendeinem  Zeitpunkte  an  die  Behörden  zurück¬ 
fließen  und  so  der  wissenschaftlichen!  Bearbeitung  zugänglich  werden.  Das 
Natürlichste  ist,  diesen  Zeitpunkt  dann  anzusetzen,  wenn  die  Familie  als  solche 
ihren  natürlichen  Zusammenhalt  verloren  hat,  d.  h.  wenn  beide  Gatten  tot  sind. 
Im  allgemeinen  sind  alsdann  die  Kinder  erwachsen,  eventuell  verheiratet  und 
selbst  Inhaber  eigener  Familienbücher  geworden.  Das  individuelle  Interesse  am 
Buch  und  seinem  Inhalt  ist  nunmehr  meistens  so  gering  geworden,  daß  unbe¬ 
denklich  bei  der  Sterbemeldung  eines  Witwers  oder  einer  Witwe  das  Familien¬ 
buch  auf  dem  Standesamt  zurückbehalten  und  an  die  Zentrale  eingesandt  werden 
kann.  Den  etwaigen  Hinterbliebenen  bleibt  es  natürlich  freigestellt,  vor  der  Rück¬ 
lieferung  im  eigenen  Interesse  wichtige  Daten  zu  kopieren.  Auch  kann  jederzeit 
nachträglich,  ebenso  wie  heute  die  Standesamtsregister  zur  Einsicht  gegen  mäßige 
Gebühr  freistehen,  Einsicht  in  bereits  erloschene  Familienbücher,  eventuell  ein 
beglaubigter  Auszug  aus  denselben  an  Nachkommen  oder  Interessenten  gewährt 
werden. 

Soviel  über  die  Ausgestaltung  der  Familienbücher- Abgabe  und  -Einforderung. 

Nun  käme  ich  zur  Ausgestaltung  des  Inhalts.  Schon  heute  werden  Gro߬ 
eltern  und  Eltern  der  Brautleute  erfragt.  Nur  ist  die  Anordnung  dieser  Fragen, 
resp.  ihre  Zerstreuung  auf  Teil  I  und  Teil  III  nicht  sehr  praktisch,  statt  dessen 
empfiehlt  es  sich  vielleicht,  diese  Angaben  geordnet  voranzustellen,  und  zwar 
so,  daß  Seite  1  und  2  der  Aszendenz  des  Bräutigams,  Seite  3  und  4  derjenigen 
der  Braut  gewidmet  sind.  Ich  denke  hierbei  an  einen  Vordruck,  wie  ich  ihn 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  453 

für  meine  Familienkarten  vorgeschlagen  habe,  und  hier  können  mühelos  neben 
dem  Bräutigam,  seinem  Vater  und  seiner  Mutter  die  Geschwister,  und  zwar  in 
der  Geburtsreihenfolge  eingezeichnet  werden.  Diese  letztere  Forderung  wird 
vielleicht  heute  noch  auf  Widerstand  stoßen.  Würde  sie  erfüllt,  so  wäre,  neben¬ 
bei  gesagt,  für  die  Kinder  der  das  Buch  begründenden  Gatten  ohne  weiteres  die 
Sippschaftstafel  gegeben,  denn  eine  Familienkarte  stellt  eine  halbe  Sippschafts¬ 
tafel  dar,  insofern  die  Gleichung  besteht :  Inderselben  Weise  enthält  Seite  3  und 
4  die  Braut,  ihre  Geschwister,  Brauteltern,  deren  Geschwister,  sowie  Brautgro߬ 
eltern.  Für  jede  Person  gebe  ich  ein  Feld,  eckig  für  Männer,  rund  für  Frauen; 
in  dieses  ist  neben  dem  Vordruck:  Vorname,  Familienname,  Geburtstag,  Geburts¬ 
ort,  Stand,  Sterbetag,  Sterbeort,  die  entsprechende  Ausfüllung  zu  setzen.  Ich  bitte 
Sie,  nicht  zu  erschrecken  über  diese  vielen  Fragen,  denn  es  sind  genau  dieselben, 
wie  sie  heute  schon  in  den  Familienbüchern,  allerdings  unübersichtlich  und  ver¬ 
streut  stehen.  Seite  5  und  6  dient,  genau  wie  in  den  vorliegenden  Büchern,  der 
Registrierung  des  Eheschlusses,  der  Religion,  der  kirchlichen  Trauung  und  der 
Sterbemeldung  der  Ehegatten.  Nur  der  Raum  für  die  letztere  wäre  eventuell 
durch  Einbeziehung  der  jetzigen  Rubrik  „sonstige  Bemerkungen“  zu  vergrößern, 
damit  Raum  gewonnen  wird  für  einige  der  aus  dem  ärztlichen  Totenschein  zu 
kopierenden  Angaben,  insbesondere  unmittelbare  Todesursache  und  mittelbar  zum 
Tode  führende  Krankheit.  Die  Schreibarbeit  würde  übrigens  bei  Sterbefällen  nicht 
vergrößert,  sondern  verkleinert  werden,  denn  ich  darf  daran  erinnern,  daß  heute 
in  Groß-Berlin  drei  Urkunden  ausgefüllt  werden,  I.  ein  ärztlicher  Totenschein, 
II.  ein  Eintrag  in  das  Standesamtsregister,  III.  eine  standesamtliche  Beschei¬ 
nigung,  auf  die  hin  die  Beerdigung  erfolgen  darf.  Mindestens  diese  letztere  kann 
in  Fortfall  kommen  und  durch  den  Eintrag  in  das  Familienbuch  ersetzt  werden, 
sobald  dieses  obligatorisch  gemacht  ist.  Alle  Fragerei  und  Schreiberei  betr. 
Eltern,  Gatten  und  Kinder  eines  Verstorbenen  fällt  eo  ipso  fort  bei  Vorlegung 
des  Buches.  Die  Angabe  der  Todesursache  könnte  zunächst  als  eine  Inhumanität 
gegen  die  Hinterbliebenen  und  ein  Verstoß  gegen  die  ärztliche  Schweigepflicht 
angesehen  werden,  doch  halte  ich  gerade  diese  Angabe  für  enorm  wichtig,  sowohl 
praktisch  in  Krankheitsfällen  der  Hinterbliebenen  wie  theoretisch  für  Erblich¬ 
keitsforschung  und  Medizinalstatistik.  Eventuell  könnten  die  Krankheiten  durch 
Chiffre  bezeichnet  werden,  wie  das  die  Militärbehörde  bei  der  Musterung  tut. 
Ob  für  die  Ehegatten  außerdem  noch  wichtigere  Krankheiten  hier  vermerkt 
werden  sollen,  ist  eine  Frage,  die  ich  zur  Diskussion  stelle,  aber  nicht  zu  ent¬ 
scheiden  wage.  Gewiß  wäre  es  leicht  möglich,  in  einer  Spalte  Raum  zu  lassen 
für  die  Registrierung  jedes  Krankenhausaufenthaltes.  Schon  heute  gibt  jedes 
Krankenhaus  einen  Entlassungsschein ,  der  diverse  Angaben  enthält.  Hier  im 
Familienbuch  würde  der  Stempel  des  Krankenhauses,  Aufnahme-  und  Entlassungs¬ 
tag  und  die  (event.  chiffrierte)  Krankheitsbezeichnung  genügen.  Auch  Heilstätten- 
Fürsorgestellen  könnten,  wenn  man  will,  ihren  Stempel  nebst  Datum  einfügen. 
Die  hygienischen  Vorteile  eines  so  vervollständigten  „Gesundheitspasses“  liegen 
auf  der  Hand.  Ebenso  klar  sind  aber  auch  die  Widerstände,  die  in  der  Scheu 
wurzeln,  vor  Gatten  und  Kindern  oder  gar  dritten  Personen  gegenüber  blo߬ 
gestellt  zu  werden.  Von  Seite  7  ab  beginnt  der  den  Kindern  der  Familie 
gewidmete  Raum,  den  ich  insofern  vergrößere,  als  ich  für  jedes  der  „amtlich 
vorgesehenen  12“  Kinder  zwei  volle  Seiten  beanspruche.  Mit  dreißig  gleich  großen 
Seiten  wäre  also  im  Ganzen  auszukommen,  d.  h.  genau  derselben  Seitenzahl,  wie 
sie  jetzt  für  Großeltern,  Eltern  und  Kinder  vorgesehen  sind  —  nur,  daß  jetzt 


454  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

ein  Teil  der  Seiten  schmälere  Halbseiten  sind.  Alle  für  die  Kinder  jetzt  vor¬ 
gesehenen  Rubriken  sollen  bestehen  bleiben,  also:  Vornamen,  Tag  und  Ort  der 
Geburt,  Standesamtsvermerk  darüber,  Religion,  Tag  und  Ort  des  Todes,  Standes¬ 
amtsvermerk  darüber,  sowie  die  —  als  Anfänge  einer  Familienchronik  gedachten: 
Tag  und  Ort  der  Taufe,  Vermerk  des  taufenden  Geistlichen,  Taufzengen,  Tag 
und  Kirche  der  Konfirmation,  Verheiratung  (Tag,  Ort,  Standesamt,  Kirche;  Name 
des  Gatten).  Zu  diesen  jetzt  vorhandenen  Rubriken,  die  bequem  etwas  enger 
gedruckt  werden  könnten,  schlage  ich  vor,  folgende  neue  hinzuzufügen: 

1.  Impfvermerk  durch  den  impfenden  Arzt;  Datum  und  Unterschrift. 
Auf  dem  Polizeirevier,  wie  jetzt  der  Impfschein,  gegengestempelt.  Daneben  der 
Vermerk  für  die  Wiederimpfung  mit  12  Jahren.  2.  Vermerk  der  ev.  konsul¬ 
tierten  Säuglingsfürsorgestelle,  die  ihren  Stempel  eindrückt,  das  Datum, 
die  Nummer  ihres  Journals  und  ev.  wichtigere  Befunde.  Angabe  der  Still¬ 
dauer  entweder  durch  den  Impfarzt  oder  durch  den  Fürsorgearzt  oder  schließlich 
durch  den  Schularzt.  4.  Schularzt  vermerk  bei  der  Einschulung  mit  Angabe 
der  Schule,  der  entsprechenden  Nummer  in  seinem  Journal  und  eventuellen  wichtigen 
Angaben  über  bestimmte  körperliche  Abweichung  von  der  Norm.  5.  Vermerk  der 
Ferienkolonie,  Walderholungstätte  oder  sonstigen,  event.  aufgesuchten 
derartigen  Institutionen.  Immer  so  wenig  Worte  wie  möglich.  Stempel,  Datum, 
Journalnummer.  6.  Abschlußvermerk  des  Schularztes  beim  Verlassen 
der  Schule.  7.  Eintrag  des  Ergebnisses  der  militärärztlichen  Unter¬ 
suchung  bei  der  Gestellung  (mit  der  Chiffre).  Dem  Militärarzt  wird  durch  die 
Vorlegung  des  Buches  so  viel  Mühe  abgenommen,  daß  dafür  die  kleine  Mühe¬ 
waltung  des  Eintrages,  den  ja  doch  der  Sanitätsunteroffizier  aus  der  Stammrolle 
kopieren  kann,  wohl  beansprucht  werden  darf. 

Ein  Präzedens  liegt  vor  in  dem  Erlaß  betr.  „Mitteilung  an  die  unteren 
Verwaltungsbehörden  zur  Einleitung  eines  Heil-  oder  Vorsorgeverfahrens“  vom 
Jahre  1907.  Dieser  Erlaß  galt  doch  nur  irgendwie  körperlich  Defekten,  denen 
Heilfürsorge  verschafft  werden  soll.  Ein  weit  erheblicheres  Interesse  aber,  als 
an  diesen,  hat  die  Militärbehörde  an  der  Förderung  der  Familienstammbücher. 
Sind  doch  die  großen  und  wichtigen  Fragen  der  Tauglichkeitsstatistik ,  der 
Differenz  zwischen  Stadt  und  Land  mit  Sicherheit  nur  dnreh  Familienforschung 
zu  lösen.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  jedes  Familienbuch  eine  laufende  Aus¬ 
gabenummer  bekommt;  jede  in  Berlin  geborene  Person  wäre  dann  durch  die  eigene 
Ordnungsziffer  innerhalb  der  Buchnummer  eindeutig  und  für  immer  charakterisiert 
z.  B.  „Kind  Nr.  III  aus  Familie  1910  Nr.  318“.  Eine  Eintragung  dieser  Familien¬ 
buchnummer  in  öffentliche  Journale,  Akten  und  Register,  (wie  Waisenhaus- Auf¬ 
nahme-Journal,  Polizeiakten,  Gefängnisakten  etc.)  würde  die  event .  später  not¬ 
wendig  werdenden  Nachforschungen  sehr  erleichtern,  sei  es  für  wissenschaftliche 
Zwecke,  sei  es  für  praktische,  z.  B.  die  Frage,  ob  erbliche  Belastung  da  ist  und 
in  forensischen  Fällen  zu  mildernden  Umständen  führen  soll  usw.  So  wünschens¬ 
wert  es  wäre,  für  jeden  Deutschen  ein  derartiges  Buch  zu  schaffen,  so  utopisch 
wäre  heute  ein  solcher  Wunsch.  Für  Groß-Berlin  ist  es  möglich,  weil  nichts 
Neues  zu  schaffen,  sondern  nur  Vorhandenes  auszubauen  ist.  Vielleicht  ginge 
es  sogar  ohne  die  Umständlichkeit  einer  Gesetsesänderung  durch  bloße  Verständi¬ 
gung  zwischen  den  Polzeiverwaltungen ,  dem  Oberpräsidenten  und  den  Einzel¬ 
magistraten.  Es  ist  klar,  daß  andere  Großstädte  folgen  würden,  wenn  die  Möglich¬ 
keit  und  Durchführbarkeit  erst  erwiesen  ist.  Natürlich  müßte  für  ganz  Groß- 
Berlin  die  Aufbewahrung  an  einer  Zentralstelle  erfolgen,  und  zwar  am  besten  in 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  455 

streng  alphabetischer  Folge  der  Familienväter  geordnet.  Als  Ergänzung  dienen 
Jahresregister,  die  neben  der  Buchnummer  den  Namen  enthalten,  so  daß  jeder¬ 
zeit  aus  der  bloßen  Nummer  die  Familie  festzustellen  ist.  Bas  Ganze  bietet 
weniger  Schwierigkeiten  als  heute  ein  Einwohnermeldeamt,  da  ja  eine  größere 
Anzahl  von  Einwohnern  in  einem  gemeinsamen  Familienbuch  enthalten,  also  viel 
weniger  Bücher  aufzubewahren  sind,  als  heute  Personalkarten.  Ich  bin  am 
Schlüsse.  Heute  wollte  ich  nur  die  Einrichtung  als  solche  mit  wenigen  Strichen 
skizzieren.  Es  ist  unmöglich,  auf  alles  das  einzugehen,  was  durch  solche  Insti¬ 
tution  geleistet  und  genützt  werden  könnte. 

Heute  isf  fast  alles,  was  an  sozialmedizinischer  Statistik  bis  jetzt  gearbeitet 
worden  ist,  Einzelforschung  und  Enquete.  Nicht  nur  meine  eigenen  Erblichkeits- 
Untersuchungen  sind  Stückwerk  und  dürfen  nicht  verallgemeinert  werden,  sondern 
auch,  was  Andere  auf  diesem  Gebiet  versucht  haben,  bleibt  zur  Erfolglosigkeit 
vorläufig  verurteilt.  Wenn  z.  B.  vor  drei  Jahren  Grub  er  in  München  versucht  hat, 
aus  der  Beantwortung  einer  Bundfrage  bei  dortigen  Ärzten  über  die  Gebürtigkeit 
und  über  die  eventuelle  Lebensunfähigkeit  der  vom  Lande  nach  der  Großstadt 
verpflanzten  Familien  Schlüsse  zu  ziehen,  so  war  das  eben  nur  Einzelforschung. 
Und  wenn  unser  Mitglied  Herr  W  e inberg  aus  den  Stuttgarter  Familienregistern 
gewiß  außerordentlich  wertvolle  Schlüsse  gezogen  hat,  oder  wenn  neuerdings  ein 
Buch  von  Schott  über  alte  Mannheimer  Familien  (auf  Grund  alter  Familien¬ 
karten  aus  den  Jahren  1807  bis  1900)  herausgekommen  ist  ,  so  sind  doch  solche 
Untersuchungen,  ob  aus  München  oder  Stuttgart  oder  Mannheim ,  schon  dadurch 
stark  in  Nachteil  gesetzt,  daß  aus  einer  solchen  Stadt  wie  Mannheim  oder  Stutt¬ 
gart  viele  Familien  fortzieheu  und  daher  die  ohnehin  viel  zu  kleine  Zahl  dieser 
Familienkarten  noch  stark  vermindert  wird; 

Ganz  anders  liegt  das  aber  bei  Groß-Berlin.  Zwar  ziehen  auch  aus  Berlin 
Menschen  fort,  aber  die  Eigenart  unserer  Binnenwanderung  bringt  es  mit  sich, 
daß  die  übergroße  Anzahl  der  Menschen,  die  alljährlich  aus  dem  weiten  Vater¬ 
lande  der  Hauptstadt  Berlin  zufluten,  auch  hier  bleibt.  Bleiben  sie  nicht  in  der 
Stadt  Berlin,  sondern  wechseln  sie  —  wie  man  beim  Wild  sagt  —  über  die  Grenze 
und  ziehen  von  Berlin  S  nach  Bixdorf  oder  von  Berlin  N  nach  Beinickendorf, 
so  bedeutet  dies  keinen  Unterschied  für  Groß-Berlin.  Wenn  man  Groß-Berlin 
im  weitesten  Sinne  faßt  oder  die  Provinz  Brandenburg,  so  ist  das  Verhältnis  der 
sich  der  Untersuchung  Entziehenden  für  Groß-Berlin  ganz  außerordentlich 
besser  als  für  andere  Städte.  Eine  ganze  Beihe  von  Problemen  und  Fragestel¬ 
lungen  ,  die  jetzt  in  der  Luft  liegen  und  unerledigt  bleiben ,  ließe  sich  dann  er¬ 
ledigen.  So  z.  B.  wird  jetzt  auf  den  rassenhygienischen  Gesichtspunkt  hinweisend 
von  den  verschiedensten  Seiten  beim  Beichstag  um  eine  Vorschrift  petitioniert, 
die  jeden  Menschen,  der  sein  Aufgebot  beantragt,  zwingen  soll,  ein  Gesundheits¬ 
attest  beizubringen.  Diese  Einrichtung  ist  in  einigen  Staaten  Nordamerikas  be¬ 
reits  verwirklicht.  Man  hofft  die  Gattenwahl,  die  bisher  durch  ganz  außerhalb 
hygienischer  Erwägungen  liegende  Gesichtspunkte  orientiert  wird,  nach  dieser 
neuen  Bichtung  zu  beeinflussen.  Nun  ist  fraglos,  daß  eine  obligatorische  Führung 
von  solchen  Familienbüchern  dieses  rassenhygienisch  wünschenswerte  Interesse 
erhöhen  werde.  Ferner!  Man  diskutiert  über  Stillfähigkeit;  ob  sie  dauernd  ab¬ 
nimmt  oder  nicht.  Ob  die  Langlebigeit  sich  vererbt,  die  Lebensalter  der  verschie¬ 
denen  aufeinanderfolgenden  Generationen  abnehmen.  Uber  Lebensalter  der  ersten 
Eheschließung;  über  die  Dauer  des  Zeugungsalters;  über  Kinderzahl,  heute  ver¬ 
glichen  mit  den  früheren  usw.  Einen  Teil  der  soeben  aufgeführten  Probleme  hat 


456  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Schott  vergeblich  versucht  zu  lösen.  Alles  das  würde  aber  aus  dem  umfang¬ 
reicheren  Material  von  Groß-Berlin  ohne  weiteres  zu  beantworten  sein. 

Ebenso  ergäben  sich  sichere  Schlüsse  über  die  Vererbung  gewisser  Anomalien 
und  Krankheiten.  Genug  für  heute!  Lassen  Sie  mich  schließen  mit  einem  Ver¬ 
gleich.  Jeder  Mensch,  der  heutzutage  mit  Familienforschung  sich  beschäftigt^ 
und  zwar  nicht  bloß  in  Deutschland,  sondern  in  der  ganzen  Welt,  ist  ungefähr 
in  derselben  unangenehmen  Lage ,  in  der  sich  vielleicht  einstmals  die  Maler  be¬ 
funden  haben,  als  sie  noch  gezwungen  waren,  ihre  Farben  selbst  zu  reiben,  ihre^ 
Leinwand  selbst  zu  spannen  und  den  Rahmen  seihst  zu  zimmern.  Wer  heut¬ 
zutage  auf  irgendeinem  Gebiet,  sei  es  dem  der  Augenkrankheiten  oder  irgendeinem 
andern,  arbeiten  will,  muß  sich  erst  den  Rahmen  seiner  Arbeit,  das  Gerüst,  herbei¬ 
schaffen.  Das  ist  aber  eine  Mühe,  die  so  groß  ist,  daß  viele  gar  nicht  darüber 
hinauskommen.  —  Wenn  es  gelingt,  durch  ausgestaltete  Familienbücher  der 
Familienforschung  den  Rahmen  zu  zimmern  und  die  Grundlage  zu  bieten,  auf 
der  sie  dann  weiter  arbeiten  kann,  so  ist  der  Zweck  dieses  Vortrages  in  vollem 
Maße  erfüllt! 

Sitzung  vom  2.  November  1911. 

Herr  0.  Ju  li  usburger,  Steglitz-Berlin,  trägt  vor  über  „die  soziale  Be¬ 
deutung  der  Psychiatrie44.  In  einer  Zeit,  zu  deren  Lichtseiten  es  gehört,  die 
sozialen  Aufgaben  der  Gesellschaft  immer  mehr  und  mehr  zu  erkennen,  und  sich 
der  hohen  Verpflichtung  immer  bewußter  zu  werden,  an  die  tatkräftige  Lösung 
jener  heranzugehen,  dürfte  es  sich  von  selbst  verstehen,  Klarheit  zu  gewinnen 
über  die  soziale  Bedeutung  der  Psychiatrie.  Noch  in  seinem  klassischen  „Grund¬ 
riß  der  Psychiatrie“  konnte  Karl  Wernicke  im  Jahre  1900  die  bedeutsamen 
Worte  aussprechen:  „Leider  ist  die  Lehre  von  den  Geisteskrankheiten  zugleich 
dasjenige  Gebiet,  welches  in  seiner  Entwicklung  zurückgeblieben  ist  und  noch 
jetzt  auf  einem  Standpunkt  steht,  wie  vor  etwa  einem  Jahrhundert  die  gesamte 
übrige  Medizin.“  Freilich  hat  Wernicke  selbst,  kraft  seiner  Genialität,  die 
Psychiatrie  als  Wissenschaft  mächtig  gefördert,  und  ich  brauche  nur  noch  die 
Namen  Kräpelin,  Ziehen  und  Sommer  zuzufügen,  um  sofort  zum  Bewußt¬ 
sein  zu  bringen,  welche  außerordentlichen  Fortschritte  in  den  letzten  Jahren  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  der  Geistesstörungen  gewonnen  hat.  In  der  Tat, 
man  muß  Wernicke  Recht  geben  und  kann  seine  Ausführungen  nur  in  dem 
Sinne  verstehen,  daß  man  sich  klar  macht,  welch  außerordentlich  schnelles  Tempo 
die  Entwicklung  der  Psychiatrie  bis  zu  ihrem  gegenwärtigen  Stande  eingeschlagen 
hat.  Das  ist  wichtig  festzuhalten  gegenüber  den  zahlreichen  Angriffen,  welchen 
gegenwärtig  die  Psychiatrie  als  Wissenschaft  und  ihre  Vertreter  ausgesetzt  sind. 
Freilich  handelt  es  sich  hier  nicht  um  eine  ausschließlich  neuzeitliche  und  der 
Gegenwart  allein  zukommende  Erscheinung.  Schon  Wernicke  sah  sich  ver¬ 
anlaßt,  in  seinem  erwähnten  Grundriß  der  Psychiatrie  die  Anfeindungen,  welche 
sie  zu  erleiden  hat,  zu  berühren  und  wenigstens  auf  eine  Kategorie  der  Wider¬ 
sacher  kurz  einzugehen.  Auch  jetzt  kann  man  unter  den  Wortführern  des 
Kampfes  gegen  die  Psychiatrie  die  von  Wernicke  bereits  gekennzeichnete 
Gruppe  herausheben.  Es  handelt  sich  um  Personen,  welche  das  Unglück  hatten, 
geisteskrank  zu  werden  und  zu  ihrer  Verwahrung  und  Behandlung  in  eine 
Irrenanstalt  gebracht  werden  mußten.  Nun  ist  es  eine  bekannte  Tatsache,  daß 
etliche  der  Geisteskranken  wieder  entlassen  werden  können,  teils  soweit  wieder 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  457 

hergestellt,  daß  sie  keine  krankhaften  Erscheinungen  mehr  darbieten  oder  nur 
insofern  gebessert,  daß  sie  zwar,  namentlich  für  den  Kenner  der  Hinge  noch 
psychotische  Symptome  zeigen,  aber  durch  diese  nicht  gehindert  werden,  in  der 
Gesellschaft  zu  leben,  ohne  diese  durch  antisoziales  Verhalten  zu  stören  oder  zu  ver¬ 
letzen.  Beide  Gruppen  von  Personen,  welche  die  Irrenanstalt  verlassen  durften, 
können  aber  in  zahlreichen  Fällen  eine  gemeinsame  und  folgenschwere  Eigenschaft 
besitzen,  nämlich,  es  war  ihnen  nicht  vergönnt,  für  die  Zeit  ihrer  Aufnahme  und 
ihres  ferneren  Verbleibens  in  der  Irrenanstalt  die  erforderliche  Krankheitseinsicht 
zu  gewinnen.  Von  der  jeweiligen  Individualität  und  der  Eigenart  ihrer  Tempe¬ 
ramente  wird  es  abhängen,  ob  die  mangelnde  Krankheitseinsicht  in  ihrem  Seelen¬ 
leben  gewissermaßen  eine  ruhende  Größe  darstellt  und,  abgesehen  von  kleinen, 
von  ihr  ausgehenden  Erschütterungen  des  seelischen  Mechanismus,  keine  Kraft 
entfaltet,  oder  aber,  ob  der  Ausfall  an  Krankheitseinsicht  aus  seiner  Negativität 
heraustrit  und  zu  einer  stark  positiven  Größe  sich  auswächst,  welche  dann  zu 
einer  Kraftentladung  drängt,  durch  die  nicht  nur  das  Seelenleben  des  Individuums 
nachhaltig  ergriffen  und  immer  aufs  neue  verändert,  sondern  auch  mehr  oder 
weniger  dauernd  die  Gesellschaft  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird. 

Nun  ist  aber  in  der  Neuzeit  doch  noch  eine  bemerkenswerte  Erscheinung 
hinzugetreten.  Der  Kreis  der  Widersacher  der  Psychiatrie  beschränkt  sich  nicht 
nur  auf  frühere  Geisteskranke,  welche  mit  mehr  oder  weniger  großen  Defekten 
entlassen  werden  konnten,  sondern  er  hat  auch  einen  weiteren  Umfang  ange¬ 
nommen.  Das  Mißtrauen  gegen  die  Psychiatrie  ist  gewachsen  und  erfüllt  heut 
Kreise,  welche  früher  dem  Vorurteile  ferner  standen.  Das  Laienpublikum  ist 
beunruhigt  und  auch  aus  den  Reihen  der  Gebildeten  erheben  sich  ängstliche  und 
kritisierende  Stimmen.  Wir  Irrenärtzte  müssen  es  uns  zunächst  offen  und  ehrlich 
eingestehen:  wir  sind  nicht  sehr  beliebt  in  der  allgemeinen  Meinung,  und  ins¬ 
besondere  stehen  wir  mit  einer  ganzen  Richtung  der  Juristen  auf  etwas  gespanntem 
Fuße.  Es  wäre  sehr  unrichtig  und  unklug  und  geradezu  verhängnisvoll,  wollten 
die  Psychiater  auch  fernerhin  zu  allem  schweigen  und  ruhig  auch  weiterhin  alle 
Angriffe  über  sich  ergehen  lassen ;  denn,  wie  man  sofort  emsehen  wird,  handelt 
es  sich  eben  hier  nicht  nur  um  eine  individuelle  Angelegenheit  dieses  oder  jenes 
Psychiaters,  um  eine  lokale  Affäre  dieser  oder  jener  Irrenanstalt,  sondern  die 
Sache  hat  ihre  weittragende  und  einschneidende  soziale  Bedeutung.  Ich  verfüge 
nicht  über  eine  statistische  Aufstellung,  aber  das  kann  ich  sagen  und  wird  mir 
ohne  weiteres  zugegeben  werden:  man  liest  in  häufigen  Fällen  wenigstens  als 
einen  der  Gründe  zum  Selbstmord  Angst  und  Scheu  vor  der  Irrenanstalt.  Unter 
meinen  Augen  spielte  sich  erst  jüngst  folgender  Fall  ab:  Eine  Dame  befand 
sich  wegen  einer  Erkrankung  an  Melancholie  in  der  Anstalt.  Es  ließ  sich  mit 
Sicherheit  Voraussagen,  daß  der  Fall  günstig  verlaufen  würde.  Unter  den  fort¬ 
gesetzten  Angriffen  der  Tageszeitungen  auf  die  Psychiater  wurden  die  Verwandten 
ängstlich  und  erklärten,  sie  wollten  lieber  die  Kranke  zu  Hause  weiter  behandeln 
lassen,  damit  sie  nicht  in  der  Anstalt  zurückgehalten  würde.  Trotz  meines 
Einspruchs  und  meines  energischen  Hinweises  auf  drohenden  Selbstmord  wurde 
ich  nicht  gehört.  Nachmittags  um  drei  wurde  die  Kranke  aus  der  Anstalt  heraus¬ 
genommen;  um  fünf  bereits  stürzte  sie  sich  aus  dem  Fenster  in  ihrer  Wohnung 
und  blieb  tot  liegen.  —  Solche  traurige  Fälle  gehören  keineswegs  zu  Seltenheiten, 
und  ich  muß  die  Schuld  an  ihnen  denjenigen  ins  Gewissen  schreiben,  welche 
fortgesetzt  die  Psychiatrie  zum  Gegenstand  ihrer  Angriffe  machen. 

Aber  liegt  denn  wirklich  ein  Grund  zur  Beunruhigung  und  Beängstigung 


458  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

vor,  als  bildeten  die  Psychiater  einen  geheimen  Eing  und  eine  dunkle  Gesellschaft, 
vor  deren  Machenschaften  man  ängstlich  auf  der  Hut  sein  müßte?  Eine  Zeitlang 
hatte  man  fast  ausschließlich  die  Privatanstalten  aufs  Korn  genommen  und  in  den 
leitenden  Ärzten  Leute  erblickt,  denen  nur  der  Geldgewinn  am  Herzen  liegt 
Es  bildete  sich  die  Meinung,  daß  es  keine  Schwierigkeiten  haben  könnte,  wenn 
man  nur  das  nötige  Geld  rollen  ließe,  Kranke  in  eine  Privatanstalt  zu  bringen 
und  dort  sie  nach  Belieben  festhalten  zu  lassen.  Nun  hat  man  auch  sein  Augen¬ 
merk  auf  die  Staatsanstalten  gerichtet.  Hier,  meinte  man,  fiele  zwar  das  Geld¬ 
interesse  fort,  dafür  aber  trieben  die  Staatsorgane  ihr  unsauberes  Spiel  und  ließen 
die  lästigen  Menschen  unter  dem  Vorwände,  sie  litten  an  Querulantenwahn,  hinter 
den  Mauern  der  Irrenanstalt  verschwinden.  Das  Motiv  wechselt  also  die  äußere 
Form,  dem  Wesen  nach  bleibt  es  sich  gleich.  Man  scheut  sich  nicht,  über  eine 
ganze  Kategorie  von  Männern,  deren  Beruf  zu  den  schwersten  und  aufreibendsten 
aller  Tätigkeiten  gehört,  kurzerhand  den  Stab  zu  brechen.  Nun  aber  bleibt  immer 
noch  der  Fall  ab  zu  warten,  welcher  wirklich  ohne  Grund  und  also  widerrechtlich 
das  Opfer  gewissenloser  Irrenärzte  geworden  ist.'  Jedesmal  hat  sich  herausgestellt, 
daß  die  Dinge  in  Wirklichkeit  ganz  anders  liegen,  als  sie  zunächst  durch  die 
Tageszeitungen  der  Öffentlichkeit  mitgeteilt  werden.  Aber  das  tut  nichts.  Man 
gibt  sich  nicht  die  geringste  Mühe,  vor  Kundgebung  einer  neuen  Affäre  die  be¬ 
treffenden  Ärzte  über  die  Lage  des  Falles  zu  befragen,  sondern  ungetrübt  von 
jeder  Sachkenntnis  wird  eine  sogenannte  Irrenhausaffäre  nach  der  andern  bekannt 
gegeben.  Man  verlangt  immer  lauter  und  stürmischer  nach  einem  Irrengesetz, 
welches  die  Aufnahme  von  Menschen  in  die  Irrenanstalt  erschweren  soll.  Man 
will  möglichst  viele  Kautelen  schaffen,  welche  unmöglich  machen  sollen,  daß 
kurzerhand  jemand  wider  seinen  Willen  in  eine  Irrenanstalt  gebracht  werden  kann. 

Es  bedarf  keiner  Auseinandersetzung,  daß  Laien  ganz  und  gar  unfähig 
sind,  wie  das  vielfach  verlangt  wird,  Geistesstörungen  zu  beurteilen,  das  kann 
und  soll  lediglich  die  Aufgabe  von  Fachleuten  sein.  Wer  aber  auch  nur  einiger¬ 
maßen  Erfahrung  auf  unserem  Gebiete  besitzt,  weiß  zur  Genüge,  daß  zur  Not¬ 
wendigkeit  der  Unterbringung  eines  Menschen  wegen  Geistestörung  in  die  Irren¬ 
anstalt  immer  mehr  oder  weniger  plötzlich  sich  einstellt.  Es  ist  in  fast  allen 
Fällen  tatsächlich  Gefahr  im  Verzüge,  teils  insofern,  als  der  Kranke  auf  grund  irgend 
welcher  psychotischer  Erscheinungen  sich  gefährlich  wird,  teils  im  Hinblick 
auf  das  antisoziale  Verhalten,  weches  die  Folge  einer  Seelenstörung  ist.  Das 
Publikum  kann  gar  nicht  genug  darüber  aufgeklärt  werden,  wie  gefährlich  ein 
Geisteskranker  werden  kann  und  eigentlich  immer  ist,  sofern  es  sich  nicht  etwa 
um  Fäll  ehandelt,  welche  die  wissenschaftliche  Auffassung  als  abgelaufen  bezeichnet. 

Gegenwärtig  ist  zur  Unterbringung  in  die  Irrenanstalt  das  Attest  eines 
Arztes  und  die  Zustimmung  des  Kreisarztes  bzw.  des  Direktors  einer  öffentlichen 
Anstalt  erforderlich.  Unter  besonders  zwingenden  Umständen  kann  die  Aufnahme 
auf  Grund  des  Attestes  eines  Arztes  sofort  erfolgen,  nur  muß  binnen  24,  höchstens 
48  Stunden  der  Kreisarzt  den  Kranken  innerhalb  der  Anstalt  gesehen  haben. 
Ich  halte  diese  Maßregel  für  durchaus  genügend  und  ausreichend.  Jede  Er¬ 
schwerung  in  dieser  Dichtung  dürfte  einen  unberechenbaren  sozialen  Schaden 
nach  sich  ziehen;  denn  die  Gefahr  des  Selbstmordes  einerseits  und  die  tätliche 
Bedrohung  der  Umgebung  anderseits  ist  immer  im  Auge  zu  behalten  und  kann 
gar  nicht  scharf  genug  in  Betracht  gezogen  werden.  Sollte  wirklich  den  Drängern 
und  Schreiern  einmal  nachgegeben  werden,  auf  gesetzlichem  Wege,  so  würde 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  459 

das  Publikum  aus  ersichtlichen  Gründen  einzig  und  allein  den  Schaden  zu 
tragen  haben. 

Nur  in  einem  Punkte  kann  man  zur  Beruhigung  der  Gemüter  etwas  bei¬ 
tragen.  Man  setze  dem  von  der  Regierung  zur  Beaufsichtigung  der  Aufnahme 
bestimmten  Arzte  einen  Juristen  an  die  Seite,  welcher  die  Aufgabe  zu  erfüllen 
hat,  die  Rechtsverhältnisse  des  wider  seinen  Willen  internierten  Kranken  zu 
prüfen  und  zu  wahren.  Dadurch  kann  die  Angst  behoben  werden,  es  könnten 
arglistige  und  egoistische  Verwandte,  um  sich  fremde  Besitztümer  anzueignen, 
einen  unliebsamen  Angehörigen  in  die  Irrenanstalt  abschieben  Will  man  nicht 
einen  dem  beamteten  Arzte  analogen  Juristen  mit  einer  entsprechenden  Tätigkeit 
betrauen,  so  mag  man  die  Prüfung  der  Rechtslage  und  die  Ordnung  der  Ver¬ 
mögensangelegenheiten  des  Internierten  etwa  dem  Vormundschaftsgericht  oder  einer 
anderen  Abteilung  überweisen.  Ich  glaube,  daß  durch  eine  solche  einfache  Ma߬ 
nahme  jede  Besorgnis  gehoben  werden  kann.  Freilich  ist  als  eine  notwendige 
Voraussetzung  zu  verlangen,  daß  der  Jurist,  welcher  die  Sache  des  Geisteskranken 
und  die  xlngelegenheiten  der  Anstalt  von  seinem  juristischen  Standpunkt  aus  zu 
prüfen  und  zu  beurteilen  hat,  auch  hinreichende  psychiatrische  Kenntnisse  besitzt. 
Diese  lassen  sich  aber  nicht  erwerben  durch  das  Studium  eines  Kompendiums 
der  Psychiatrie,  sondern  es  ist  dringend  zu  wünschen,  daß  unsere  Juristen,  sofern 
sie  sich  an  der  Beurteilung  von  Geistesstörungen  zu  beteiligen  haben,  eine  Zeit¬ 
lang  unter  der  Leitung  von  Fachleuten  an  Irrenanstalten  sich  betätigen,  um  so 
einen  genauen  Einblick  in  das  Wesen  und  Treiben  einer  Anstalt  zu  gewinnen 
und  durch  dem  Umgang  mit  den  Kranken  auch  Verständnis  für  die  Seelenstörungen 
sich  zu  verschaffen.  Das  dürfte  auch  der  zweckmäßigste  Weg  sein,  um  die  Spannung 
zwischen  Psychiatern  und  Juristen  aufzuheben.  Denn  ich  habe  immer  gefunden,  daß 
die  Mißverständnisse  zwischen  diesen  beiden  Fakultäten  sich  darauf  zurückführen 
lassen,  daß  gewissermaßen  zwei  Sprachen  gesprochen  werden.  Der  Psychiater 
wird  eben  nicht  verstanden,  weil  auf  der  andern  Seite  die  notwendigen  Grund¬ 
lagen  für  ein  Verständnis  fehlen.  Man  kann  doch  nur  unsern  Darlegungen  und 
Ausführungen  wirklich  folgen,  wenn  man  das  nötige  Wissen  und  vor  allen  Dingen 
die  lebendige  Anschauung  besitzt,  welche  man  eben  nur  durch  den  Umgang  mit 
den  Kranken  gewinnen  kann. 

Die  Richtigkeit  meiner  Ausführungen  ergibt  sich  ohne  weiteres,  wenn  man 
diejenigen  Entmündigungsrichter  in  Betracht  zieht,  welche  reichlich  Gelegenheit 
hatten,  in  Verkehr  mit  Geisteskranken  zu  treten.  Man  sieht,  wie  ein  solcher  Richter 
gleich  ganz  anders  an  den  Kranken  Fragen  stellt  und  mit  ihm  Fühlung  gewinnt. 
Den  Sachverständigen  fällt  es  dann  auch  nicht  schwer,  mit  dem  Richter  in 
Einklang  zu  kommen;  denn  Beide  stehen  auf  gleichen  Boden  und  arbeiten  auf 
Grund  sich  nicht  widerstreitender  Vorstellungen  vom  Wesen  der  Sache.  Hätten 
schon  jetzt  die  Strafrichter  die  genügende  psychiatrische  Kenntnis  vieler  Ent¬ 
mündigungsrichter,  so  würden  wir  nicht  immer  wieder  erleben,  daß  in  der  Beurteilung 
der  Kriminellen  zwischen  Richter  und  Psychiater  vor  Gericht  oft  so  scharfe 
Gegensätze  zum  Ausdruck  kommen.  Würde  also  im  Studiengang  der  Juristen 
die  Psychiatrie  eine  wesentlich  andere  Stellung  finden,  als  sie  gegenwärtig  besitzt, 
so  würden  meiner  Überzeugung  nach  viele  Stimmen  aus  dem  Kreise  der  Juristen 
verstummen,  welche  gegenwärtig  sich  gegen  die  Psychiatrie  erheben. 

Aber  freilich,  es  kommt  noch  ein  anderes  wichtiges  Moment  hinzu.  Man 
hegt  heute  in  weiten  Kreisen  die  Meinnng,  daß  es  wenigstens  vielen  Psychiatern 
unter  allen  Umständen  darum  zu  tun  sei,  namentlich  wenn  sie  als  Privatgut- 


460  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

achter  auftreten,  den  Angeklagten  dem  rechtmäßigen  Richter  zu  entziehen  und 
vor  das  Forum  des  nur  allzu  leicht  zur  Verzeihung  geneigten  Arztes  zu  bringen. 

Auch  hier  wieder  spielt  der  Verdacht  seine  grobe  Rolle,  das  Geld  sei  der 
treibende  Faktor,  und  wer  es  sich  eben  leisten  könne,  sich  einen  Gutachter  zu 
nehmen,  der  sei  fein  heraus,  weil  unbefugter  Weise  mit  den  Mitteln  der  Wissen¬ 
schaft  für  ihn  gearbeitet  werde.  Nun  läßt  sich  auch  hier  meiner  Meinung  nach 
sehr  leicht  dem  Vorurteil  die  Spitze  abbrechen  und  die  schweren  Anschuldigungen 
beseitigen,  wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  stellt,  den  ich  in  meiner  Arbeit 
„Über  die  Stellung  des  Psychiaters  zur  Strafreform“  a)  vertreten  habe.  Ich  habe 
nämlich  die  ganz  allgemein  gültige  Forderung  gestellt,  daß  in  jedem  kriminellen 
Falle  das  Urteil  eines  Sachverständigen  gehört  werden  soll.  Jeder  einzelne  Fall 
soll  auf  seine  zugrunde  liegende  Seelenverfassung  untersucht  werden.  Ich  habe 
ausdrücklich  hervorgehoben  und  ich  wiederhole  es,  daß  ich  keineswegs  den  Straf¬ 
richter  durch  den  Arzt  ersetzt  wissen  will.  Ich  wünsche  nur,  daß  der  zukünftige 
Sachwalter  des  Rechts  anthropologisch  gründlich  geschult  ist,  eine  tüchtige  Aus¬ 
bildung  in  Biologie,  Gehirnphysiologie  und  Psychologie,  sowie  Soziologie  sich  erwirbt 
und  Gelegenheit  erhält,  in  Gefägnissen  und  Irrenanstalten  praktische  Studien  zu 
treiben.  Ich  kann  diese  früher  von  mir  geäußerte  Ansicht  nur  wiederholen  und 
befinde  mich  in  weitgehender  Übereinstimmung  mit  Staatsanwalt  Wulffen. 

Die  hier  vertretene  Anschauung  findet  aber  schon  Gelegenheit,  aus  dem 
Bereich  theoretischer  Erwägungen  in  das  Feld  praktischer  Betätigung  überzugehen. 
In  dem  bekannten  Vorentwurf  zu  einem  deutschen  Strafgesetzbuch  1909  heißt  es 
in  §  81  des  achten  Abschnitts  über  die  Strafbemessung:  „Bei  Bemessung  der 
Strafe  innerhalb  der  vom  Gesetz  vorgeschriebenen  Grenzen  sind  alle  für  eine  höhere 
ödere  geringere  Strafe  sprechenden  Umstände  zu  berücksichtigen,  insbesondere 
die  in  der  Tat  hervortretende,  verbrecherische  Gesinnung,  die  Beweggründe  des 
Täters,  der  von  ihm  verfolgte  Zweck,  der  zur  Tat  gegebene  Anreiz,  die  persön¬ 
lichen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Täters,  der  Grad  seiner  Einsicht,  die 
Folgen  der  Tat  und  das  Verhalten  des  Täters,  nach  ihr;  namentlich  die  bewiesene 
Reue  und  das  bewiesene  Streben,  die  Folgen  wieder  gut  zu  machen.“ 

Wenn  wir  diese  erfreulichen  Ausführungen  im  Vorentwurf  zu  einem  deutschen 
Strafgesetzbuch  recht  ins  Auge  fassen  und  den  Dingen  auf  den  Grund  gehen, 
so  müssen  wir  sagen,  daß  die  von  dem  Gesetz  vorgeschriebene  Prüfung  des  Indi¬ 
viduums  nur  dann  zweckmäßig  und  erschöpfend  wird  vorgenommen  werden 
können,  wenn  die  hiermit  betrauten  Persönlichkeiten  diejenigen  Kenntnisse  und 
Erfahrungen  besitzen,  welche  ich  in  meiner  erwähnten  Arbeit  als  notwendig  hin- 
gestellt  habe.  Hier  springt  ohne  weiteres  in  die  Augen,  welch  hohe  soziale  Auf¬ 
gaben  der  Psychiatrie  erwachsen. 

Nun  aber  weiter.  Der  Vorentwurf  zu  einem  deutschen  Strafgesetzbuch  ver- 
langt  in  seinem  §  63,  dem  bisherigen  bekannten  §  51:  „Nicht  strafbar  ist,  wer 
zur  Zeit  der  Handlung  geisteskrank,  blödsinnig  oder  bewußtlos  war,  so  daß 
dadurch  seine  freie  Willensbestimmung  ausgeschlossen  wurde.“ 

Im  §  65  fügt  der  Vorentwurf  nun  die  sozial  höchst  bedeutsame  Forderung 
hinzu:  Wird  jemand  auf  Grund  des  §  63  Abs.  1  freigesprochen  oder  außer  Ver¬ 
folgung  gesetzt,  oder  aber  auf  Grund  des  §  63,  Abs.  2  —  wenn  nämlich  die  freie 
Willensbestimmung  des  Individuums  nur  in  hohem  Grade  vermindert  anzusehen 


*)  0.  Juliusburger,  Die  Stellung  des  Psychiaters  zur  Strafreform,  Journ. 
für  Psychologie  und  Neurologie  1908  S.  86. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  4ßf 

ist  —  zu  einer  milderen  Strafe  verurteilt,  so  hat  das  Gericht,  wenn  es  die  öffent¬ 
liche  Sicherheit  erfordert,  seine  Verwahrung  in  einer  öffentlichen  Heil-  oder  Pflege¬ 
anstalt  anzuordnen.“ 

Ich  habe  wiederholt  auf  die  Unhaltbarkeit  der  Zustände  hingewiesen,  die 
sich  daraus  ergeben,  daß  in  einer  großen  Anzahl  von  Fällen  die  Anwendung  des 
§  51  dem  Individuum  keinerlei  Beschränkung  seiner  Freiheit,  keinerlei  Eingriff 
in  seine  antisoziale  Persönlichkeit  einträgt.  Grade  weil  ich  die  rächende  Strafe 
grundsätzlich  verwerfe,  dagegen  die  Heilerziehung  und  Heilbehandlung  bezüglich 
Verwahrung  der  kriminellen  Individuen  beanspruche,  muß  ich  selbst  als  eine 
unglaubliche  Verirrung  ansehen,  wenn  bei  Zubilligung  des  §  51  .  .  .,  wenn  auch 
nur  in  einer  gewissen  Anzahl  von  Fällen,  dem  Individuum  nunmehr  das  Hecht 
zuerkannt  wird,  weiter  ungehindert  und  unverändert,  womöglich  in  denselben 
Lebensverhältnissen  verbleibend,  zu  schalten  und  zu  walten.  In  diesem  Gedanken¬ 
gange  ist  es  auch  nicht  recht  ersichtlich  verständlich,  warum  mildernde  Umstände 
befürwortet  werden  sollen  Man  bedenke  doch,  daß  gerade  die  sogenannten  Psycho¬ 
pathen  mit  ihren  verschiedenen  Konstitutionen  im  hohen  Maße  antisozial  und 
sehr  gefährlich  für  die  Gesellschaft  sind.  Also  die  Absicht,  nach  Zubilligung  des 
§  51  oder  eines  ihm  entsprechenden  Paragraphen,  bezüglich  bei  Eintritt  einer 
Strafmilderung  für  besonders  antisoziale  Elemente  eine  nachträgliche  Verwahrung 
in  individuell  geeigneten  Anstalten  eintreten  zu  lassen,  ist  auf  das  nachhaltigste 
zu  unterstützen. *) 

Es  liegt  klar  auf  der  Hand,  daß  durch  diese  in  Aussicht  gestellte  und  sehr 
zu  begrüßende  Meßnahme  die  soziale  Bedeutung  der  Psychiatrie  wiederum  in  ein 
helles  Licht  gesetzt  wird.  Und  wiederum  kann  der  §  65  nur  dann  seine  Ver¬ 
wirklichung  erleben,  und  seine  ungeschmälerte  Betätigung  erfahren,  wenn  nicht 
nur  ein  gedeihliches  Zusammenwirken  von  Richtern  und  Irrenärzten  erfolgt,  sondern 
der  Sachwalter  des  Rechts  die  oben  als  erforderlich  hingestellte  Vorbildung  besitzt. 

Des  Ferneren  enthält  der  §  65  des  Vorentwurfs  zu  einem  deutschen  Straf¬ 
gesetzbuch  folgende  wichtige  Sonderbestimmung:  „War  der  Grund  der  Bewußt¬ 
losigkeit  selbstverschuldete  Trunkenheit,  so  finden  auf  den  Freigesprochenen  oder 
außer  Verfolgung  Gesetzten  außerdem  die  Vorschriften  des  §  43  über  die  Unter¬ 
bringung  in  eine  Trinkerheilanstalt  entsprechende  Anwendung.“ 

Der  §  43  nun  bestimmt:  „Ist  Trunksucht  festgestellt,  so  kann  das  Gericht 
neben  einer  mindestens  zAveiwöchentlichen  Gefängnis-  oder  Haftstrafe  die  Unter¬ 
bringung  des  Verurteilten  in  eine  Trinker-Heilanstalt  bis  zu  seiner  Heilung,  jedoch 
höchstens  auf  die  Dauer  von  zwei  Jahren,  anordneu,  falls  diese  Maßregel  erforder¬ 
lich  erscheint,  um  den  Verurteilten  wieder  an  ein  gesetzmäßiges  und  geordnetes 
Leben  zu  gewöhnen.“ 

Auch  diese  Bestimmungen  können  selbstverständlich  nur  dann  ihren  Zweck 
wirklich  erfüllen,  wenn  Richter  unb  Arzt  auf  dem  gleichen  Boden  der  An¬ 
schauung  und  Erfahrung  stehen. 

Nun  sind  in  allerjüngster  Zeit  zwei  höchst  erfreuliche  Maßnahmen  zu  ver¬ 
zeichnen.  Im  Fürstentum  Lippe  hat  das  Staatsministerium  folgende,  sozial  außer¬ 
ordentlich  wichtige  Bestimmung  getroffen:  „Nach  Anhörung  der  zuständigen 


x)  Juliusburger:  Stellung  des  Psychiaters  zur  Strafreform,  Journal  für 
Psychologie  und  Neurologie  Bd.  13  S.  86,  sowie  Bemerkungen  zu  dem  Vorent¬ 
wurf  zu  einem  deutschen  Strafgesetzbuch,  allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie 
Bd.  67  S.  471. 

Archiv  lur  Soziale  Hygiene.  VII. 


30 


462  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Behörden  soll  mit  gnädigster  Genehmigung  des  Durchlauchtigsten  Fürsten  in  ge¬ 
eigneten  Fällen  das  Pollard’sche  System  im  hiesigen  Lande  versuchsweise  zur 
Anwendung  gebracht  werden,  indem  dem  Trünke  ergebenen  Verurteilten,  zumal 
wenn  die  betreffende  Straftat  in  der  Trunkenheit  begangen  ist,  die  völlige  Be¬ 
gnadigung  unter  der  Bedingung  in  Aussicht  gestellt  wird,  daß  sie  innerhalb  der 
gesetzlichen  Bewegungsfrist  des  Alkoholgenusses  sich  gänzlich  enthalten  und  in 
der  freien  Zeit  weitere  Verfehlungen  sich  nicht  zu  schulden  kommen  lassen.  Das 
Staatsministerium  rechnet  hinsichtlich  der  Durchführung  dieser  Maßregel  auf  die 
Unterstützung  der  im  hiesigen  Lande  vorhandenen  Blaukreuz-Vereine  und  der 
hiesigen  Guttempler-Loge.“ 

Und  eine  ähnliche  Bestimmung  hat  in  Hessen  das  Großherzogliche  Ministerium 
der  Justiz  getroffen  und  an  sämtliche  Justizbehörden  die  entsprechende  Anweisung 
gegeben.  Aus  den  Bestimmungen  hebe  ich  hervor:  „Zur  guten  Führung  gehört 
auch,  daß  der  Täter  sich-  nicht  dem  Trünke  hingibt.  Irn  Falle  der  Gewährung 
des  bedingten  Aufschubs  mit  Enthaltsamkeitsanweisung  ist  dem  Mäßigkeitsv.erein 
oder  dem  sonstigen  auf  Bekämpfung  des  Alkoholismus  gerichteten  Vereine,  der 
die  Zuchtaufsicht  zu  übernehmen  bereit  ist,  Mitteilung  von  dem  Strafaufschub 
und  den  Bedingungen,  unter  denen  er  gewährtist,  zu  machen.  In  den  geeigneten 
Fällen  kann  auch  bei  Mäßigkeitsvereinen  und  anderen  auf  Bekämpfung  des  Alko¬ 
holismus  gerichteten  Vereinigungen  Auskunft  über  die  Führung  des  Verurteilten 
eingezogen  werden.  Es  hat  dies  in  der  Regel  zu  geschehen,  wenn  dem  Ver¬ 
urteilten  die  Enthaltun  vom  Alkoholgenuß  oder  vom  übermäßigen  Alkoholgenuß 
zur  Bedingung  gemacht  worden  und  der  Verurteilte  der  Zuchtaufsicht  eines  Ver¬ 
eins  der  vorgenannten  Art  unterstellt  ist.“ 

William  Jefferson-Pollardist  am  Polizeigericht  in  der  Stadt  St.  Louis, 
im  Staate  Missouri  (Nord- Amerika)  Richter.  Pollard  sagt  selbst:  „Vor  mehr 
als  10  Jahren  begann  ich  als  Hilfsrichter  und  in  den  letzten  8  Jahren  als  ordent¬ 
licher  Richter  dieses  Gerichtes  fast  täglich  an  Stelle  der-  Geld-  oder  Gefängnis¬ 
strafe  freiwillig  Unterzeichnete  Ehrengelübde  auf  gänzliche  Enthaltsamkeit  ent¬ 
gegenzunehmen,  und  ich  machte  diese  Methode  zu  einem  Teil  der  Arbeit  des  Ge¬ 
richts  bei  Tätern,  die  wegen  Trunkenheit  oder  leichter  Verfehlungen,  die  auf 
Trunkenheit  beruhen,  an  geklagt  sind.  Der  Täter  unterzeichnet  ein  Gelübde,  daß 
er  sich  vom  Gebrauch  geistiger  Getränke  jeder  Art  und  Beschaffenheit  auf  die 
Dauer  eines  Jahres  verpflichtet.  Dieses  freiwillige,  vom  Angeklagten  nicht  be¬ 
schworene  Ehrengelübde  wurde  in  jedem  Falle  durch  den  Richter  in  öffentlicher 
Sitzung  abgenommen,  so  daß  der  Täter  dem  Gericht  persönlich  zu  berichten  hatte, 
sei  es  bei  Gericht  oder  sonstwo,  zu  einer  Zeit  und  an  einem  Orte,  den  der  Richter 
bestimmte,  damit  der  Täter  keine  Zeit  für  seinen  Beruf  verlor.  Wird  das  Ge¬ 
lübde  gehalten,  so  wird  weder  Geld,  noch  Gefängnisstrafe  vollzogen.  Die  Strafe 
wird,  obwohl  zugemessen,  ausgesetzt  auf  das  Versprechen  guten  Verhaltens  hin 
das  der  Beschuldigte  durch  Unterzeichnung  des  Gelübdes  ablegt.“ 

Der  Gedanke  Pollar ds  hat  in  Amerika  auch  anderweitig  Anklang  ge¬ 
funden,  und  wie  er  selbst  berichtet,  wird  das  System  auch  in  Holland  in  veränderter 
Form  bereits  mit  bestem  Erfolge  angewandt.  Nun  haben  wir  die  Freude,  daß 
man  auch  in  Deutschland  versucht,  ein  großes  Stück  Strafreform  zur  Tat  werden 
zu  lassen,  wie  es  aus  dem  großartigen  Vorgehen  der  Regierungen  in  Lippe  und 
Hessen  erhellt.  Bedeutsam  ist  an  den  deutschen  Verfügungen  auch,  daß  bestimmte 
Vereine  mit  der  Schutzaufsicht  betraut  werden.  Dies  begrüße  ich  um  so  lebhafter* 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  463 

als  ich  bereits  1907  *)  in  meiner  Arbeit  „Zur  Behandlung  der  forensischen  Alko- 
holisten“  auf  die  Straf reform  energisch  hingewiesen  und  die  Heranziehung  der 
entsprechenden  Vereine  als  notwendige  Maßnahme  bezeichnet  habe.  Es  wird  dem 
Psychiater  wiederum  ein  neues  Stück  sozialer  Betätigung  und  Verpflichtung  auf¬ 
erlegt;  denn  es  wird  für  die  erste  Zeit,  wo  wir  mit  der  bedingten  Verurteilung 
bzw.  mit  der  bedingten  Strafaussetzung  Versuche  machen  werden,  sehr  darauf 
ankommen,  die  geeigneten  Fälle  auszusuchen,  damit  das  gute  und  gesunde  Prin¬ 
zip  nicht  etwa  in  Mißkredit  gerate.  Hier  ist  nun  scharf  im  Auge  zu  behalten 
die  genaue  Untersuchung,  ob  der  Alkoholismus  des  Täters  eine  primäre  und  allein 
ausschlaggebende  Bedeutung  besitzt  oder  aber,  ob  der  Alkoholismus  des  Individuums 
nur  eine  sekundäre  Bolle  spielt,  ein  Symptom  darstellt,  während  eine  hinter  dem 
Alkoholismus  bestehende  geistige  Störung  die  letzte  Triebfeder  zum  antisozialen 
Verhalten  ahgibt.  Es  erhellt  ohne  weiteres,  daß  zur  Feststellung  dieses  wich¬ 
tigen  Tatbestandes  Bichter  und  Irrenarzt  Hand  in  Hand  gehen  müssen  und  dies 
wieder  nur  dann  fruchtbringend  tun  können,  wenn  die  oben  eingehend  dar¬ 
gestellten  Voraussetzungen  zutreffen,  mit  anderen  Worten,  wenn  Bichter  und 
Irrenarzt  die  genügende  Sachkenntnis  besitzen. 

Wenn  wir  in  Deutschland  herangehen,  das  Pollardsystem  2)  einzuführen,  so 
werden  wir  auch  die  bereits  in  gedeihlicher  Entwickelung  begriffenen  Trinkerfür¬ 
sorgestellen  zu  berücksichtigen  haben.  Ich  habe  bereits  1910,  auf  der  I.  Deutschen 
Konferenz  für  Trinkerfürsorgestellen  in  Berlin  darauf  hingewiesen  3),  daß  unseren 
Fürsorgebestrebungen  in  der  Strafreform  eine  große  Aufgabe  erwächst,  insofern 
auch  sie  es  übernehmen  müßten,  eine  Aufsicht  über  jene  freigesprochenen  Per¬ 
sönlichkeiten  auszuüben  und  anderseits  dafür  zu  sorgen,  daß  sie  in  Enthaltsam¬ 
keitsvereine  eintreten.  Wenn  die  Bemühungen  der  Trinkerfürsorge  ersprießlich 
wirken  und  gedeihen  sollen,  so  wird  es  von  Wichtigkeit  sein,  darauf  zu  achten, 
die  Fälle  nicht  unterschiedslos  in  Behandlung  zu  nehmen,  sondern  jeden  Fall 
genau  individuell  daraufhin  zu  untersuchen,  ob  der  Alkoholismus  als  der  allein 
oder  wenigstens  ausschlaggebende  Faktor  anzusehen  ist,  welcher  die  fraglichen 
antisozialen  Handlungen  erzeugte,  oder  aber  ob  der  Alkoholimus  nur  eine  sympto¬ 
matische  Bedeutung  in  dem  einzelnen  Falle  besitzt,  insofern  der  Alkoholmißbrauch 
erst  seinerseits  durch  seelische  Störungen  determiniert  wurde,  welche  als  erstes 
Glied  in  der  Kausalverknüpfung  anzusehen  waren.  Von  der  richtigen  Diagnose 
hängt  natürlich  auch  hier  die  bessere  Prognose  des  Falles  ab,  und  es  liegt  auf 
der  Hand,  daß  bei  fachmännischer  Beratung  durch  den  Irrenarzt  mancher  Irrtum 
und  mancher  Fehlschlag  sich  wieder  vermeiden  läßt. 

Nun  wird  man  aber  doch  bei  aller  Anerkennung  der  Tragweite  und  Wert¬ 
schätzung  der  individuellen  Fürsorge  nicht  verkennen  dürfen,  daß  auch  die  Wohl¬ 
fahrt  der  Allgemeinheit  über  die  Gegenwart  hinaus  in  die  Zukunft  nicht  aus  dem 
Augen  verloren  werden  darf.  Gerade  die  zuletzt  berührte  Frage  über  das  Ver¬ 
hältnis  des  Alkoholismus  zu  den  seelischen  Störungen,  inwieweit  ihm  eine  primäre 
oder  sekundäre  Bolle  zugeschrieben  werden  kann,  läßt  uns  ohne  weiteres  den 


J)  Juliusburger,  Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  Bd.  64  S.  394  u.  f. 

2)  Siehe  „Das  Pollard-System  und  seine  Einführung  in  Deutschland“  von 
Dr.  jur.  Otto  Bauer,  Verl.  f.  Dtsch.  Kultur  und  Sozial-Hygiene,  Beutlingen, 
sowie  William  Jefferson-Pollard,  „Bedingte  Verurteilung“,  Verl.  Neutraler 
Guttempler,  Heidelberg. 

3)  Siehe  „Trinkerfürsorge“,  Mäßigkeitsverlag,  Berlin  1910. 

30* 


464  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Blick  auf  die  soziale  Bedeutung  der  Heredität  werfen.  Die  verhängnisvolle  Ein¬ 
wirkung  des  Alkoholmißbrauchs  auf  das  Keimplasma  und  damit  auch  auf  die 
Nachkommenschaft  ist  zu  bekannt,  als  daß  ich  an  dieser  Stelle  darauf  eingehen 
müßte.  Und  nicht  minder  steht  die  Tatsache  fest,  daß  Geistesstörungen  in  der 
Aszendenz  die  Deszendenz  nicht  nur  gefährden,  sondern  direkt  schädigen.  Ich  will 
auch  hier  nicht  auf  die  einschlägigen  Verhältnisse  weiter  eingehen  und  die 
bekannten  traurigen  Reihen  der  Degeneration  erwähnen,  ebenso  wenig  die  ver¬ 
hängnisvolle  kriminelle  Veranlagung  im  Hinblick  auf  die  Nachkommenschaft  zum 
Gegenstände  einer  breiteren  Ausführung  machen.  Wir  müssen  mit  der  Tatsache 
rechnen,  daß  wir  es  mit  Abnormen  allerlei  Art  in  bedenklichem  Maße  zu  tun  haben, 
und  daß  wir  wirklich  unter  den  Lasten  seufzen,  welche  uns  die  Strafanstalten 
aller  Art,  die  Idiotenhäuser  und  die  Irrenanstalten  fort  und  fort  aufbürden.  Da 
drängt  sich  gebieterisch  die  Fragen  auf,  ob  wir  diesen  unnatürlichen  Steuern  nicht 
wenigstens  in  gewisser  Hinsicht  und  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  Einhalt  gebieten 
können.  Leider  müssen  wir  bei  dieser  außerordentlich  wichtigen  sozialen  Frage 
unser  Augenmerk  zunächst  von  Deutschland  weg  und  auf  das  Ausland  hinlenken. 

In  Amerika  und  in  der  Schweiz  ist  man  aus  dem  Stadium  theoretischer 
Erwägungen  zur  wirkungsvollen  Tat  übergegangen.  In  sechs  Staaten  von  Nord¬ 
amerika  bestehen  Gesetze  zur  Verhinderung  der  Eheschließung  von  Geisteskranken, 
Schwachsinnigen,  Epileptikern  und  teilweise  schweren  Trinkern.  Im  Staate 
Michigan  bestimmt  das  Gesetz:  „Geisteskranke,  Idioten  und  Menschen,  die  an 
Syphilis  oder  Gonorrhoe  leiden  und  davon  nicht  geheilt  sind,  dürfen  keine  Ehe 
eingehen.  Jeder,  der  an  Syphilis  oder  Gonorrhoe  leidet  und  nicht  davon 
geheilt  ist,  der  heiraten  will,  soll  deshalb  als  Verbrecher  mit  einer  Strafe  von 
500—1000  Dollar  oder  mit  Gefängnis  bis  zu  5  Jahren  oder  mit  Beidem  zusammen 
bestraft  werden  ....  Niemand,  der  in  einer  Anstalt  als  epileptisch,  schwach¬ 
sinnig  oder  geisteskrank  verpflegt  wurde,  darf  eine  Ehe  eingehen,  ohne  daß  er 
vorher  ein  beglaubigtes  Zeugnis  von  zwei  staatlichen  Ärzten  beibringt,  daß  er 
vollständig  von  der  Geisteskrankheit,  Epilepsie  oder  Schwachsinn  geheilt  ist,  und 
daß  keine  Wahrscheinlichkeit  besteht,  daß  eine  solche  Person  diese  Defekte  oder 
Krankheiten  auf  die  Nachkommenschaft  überträgt.  Jede  geistesgesunde  Person, 
die  die  Ehe  eingehen  will  mit  einem  Geisteskranken,  Blödsinnigen  oder  einem 
Menschen,  der  als  epileptisch,  schwachsinnig  oder  geisteskrank  in  einer  Anstalt 
verpflegt  wurde,  ohne  das  obengenannte  Zeugnis  beizubringen,  und  die  von  diesen 
Tatsachen  wußte,  und  jeder  Mensch,  der  zu  einer  solch  verbotenen  Heirat  hilft, 
sie  unterstützt,  sie  verursacht  oder  dabei  anwesend  ist,  der  soll  als  Verbrecher 
mit  einer  Strafe  bis  zu  1000  Dollar  oder  mit  Gefängnis  von  nicht  unter  einem 
Jahre  bis  zu  5  Jahren  oder  Beiden  bestraft  werden.“ 

Dr.  Hans  Maier,  welcher  die  nordamerikanischen  Gesetze  gegen  die  Ver¬ 
erbung  von  Verbrechen  nnd  Geistesstörung  und  deren  Anwendung  in  einer  lehr¬ 
reichen  und  verdienstvollen  Arbeit  zusammengestellt  hat,  wünscht  eine  Ergänzung 
der  amerikanischen  Vorschriften  in  folgender  Art:  „Wenn  ein  Eheverbot  wegen 
geistiger  Krankheit  oder  Defektes  eines  Verlobten  ausgesprochen  werden  muß, 
so  gilt  dieses  Verbot  nur  so  lange,  wie  der  Betreffende  fortpflanzungsfähig  ist. 
Läßt  er  sich  dauernd  sterilisieren,  so  wird  die  Ehe  gestattet,  vorausgesetzt,  daß 
der  Betreffende  überhaupt  die  Handlungsfähigkeit  zur  Eingehung  eines  Kontraktes 
besitzt.“ 

Der  Zusatz  von  Dr.  Maier  ist  zweifellos  außerordentlich  wichtig  und  zu 
begrüßen,  denn  es  liegt  auf  der  Hand,  daß  das  Ehegesetz,  so  vorzüglich  es  auch 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  465 

ist  und  so  sehr  seine  Einführung  überall  anzustreben  ist,  naturgemäß  in  seiner 
Wirkung  beschränkt  bleiben  wird.  Die  Sterilisation  der  Elemene,  deren  Fort¬ 
pflanzungsfähigkeit  im  Interesse  der  Gesellschaft  nicht  erwünscht  ist,  erweist 
sich  als  eine  unumgängliche  und  sozialnotwendige  Forderung.  Diese  Konsequenz 
hat  man  in  Amerika  auch  bereits  gezogen,  und  der  Staat  Indiana  hat  im  Jahre  1907 
nach  den  vorbereitenden  Versuchen  von  Dr.  Sharp  ein  derartiges  Sterilisations¬ 
gesetz  erlassen.  Bisher  sind  so  873  Defekte,  meist  Verbrecher,  fortpflanzungs- 
unfähig  gemacht  worden.  Bereits  hat  ein  zweiter  Staat,  Connecticut,  die  Be¬ 
stimmungen  von  Indiana  übernommen  und  sie,  wie  Dr.  Maier  berichtet1),  von 
den  Klassen  der  schweren  Verbrecher  und  der  Schwachsinnigen  auch  auf  gewisse 
Kategorien  von  Geisteskranken  im  engeren  Sinne  ausgedehnt.  Bereits  1909  hatte 
Na  ecke  im  Neurologischen  Zentralblatt  von  der  ersten  Kastration  aus  sozialen 
Gründen  auf  europäischem  Boden  in  der  Irrenanstalt  des  Kantons  Asyles  in  Wyl 
Mitteilungen  gemacht.  Naecke  war  in  Deutschland  der  erste,  der  in  wertvollen 
Arbeiten  mit  allem  Nachdruck  auf  die  Notwendigkeit  hingewiesen  hat,  gewisse 
antisoziale  Elemente  fortpflanzungsunfäbig  zu  machen.  Auf  dem  IX.  Internationalen 
Kongreß  gegen  den  Alkoholismus  in  Bremen  1903  hat  Dr.  Ernst  Rüdin  in  seinem 
Vortrage  „Der  Alkoholismus  im  Lebensprozeß  der  Rasse“  die  Forderung  auf- 
gestellt,  daß  man  einer  gewissen  Kategorie  von  Trinkern  die  Heirat  gestatten 
könne  unter  der  Bedingung,  daß  sie  vor  Eingehung  der  Ehe  sich  der  Vornahme 
einer  kleinen  Operation  zum  Zwecke  der  Sterilisation  unterzögen.  Ich  selbst 2) 
habe  auf  dem  XI.  Internationalen  Kongreß  gegen  den  Alkoholismus  zu  Stock¬ 
holm  1907  in  der  Diskussion  zu  dem  Vortrage  Aschaff enburgs  „Alkoholismus 
und  Zurechnungsfähigkeit“  verlangt,  daß  man  die  unverbesserlichen  Elemente 
möglichst  frühzeitig  fortpflanzungsunfähig  machen  solle 3).  In  der  Schweiz  ist 
seit  vielen  Jahren  Forel  für  diese  wichtigen  Fragen  auf  das  Entschiedenste  ein¬ 
getreten.  Nunmehr  hat  sich  Dr.  Ob  er  holz  er4)  das  große  Verdienst  erworben, 
in  einer  außerordentlich  wertvollen  Arbeit  19  Fälle  zusammenzustellen  von 
Kastration  und  Sterilisation  von  Geisteskranken  in  der  Schweiz.  Die  Fälle  bieten 
eine  solche  Fülle  interessanten  Materials,  daß  ein  Studium  der  Schrift  von  Ober¬ 
holzer  auf  das  dringendste  anzurateh  ist.  Die  Maßnahmen  der  Sterilisation 
und  Kastration  erweisen  zunächst  ihre  Vorzüge  in  sozialer  Hinsicht  dadurch,  daß 
es  möglich  ist,  internierte  Individuen  früher  als  unter  anderen  Umständen  zu 
entlassen,  da  die  Fortpflanzungsfähigkeit  eben  bei  ihnen  aufgehoben  ist.  Fälle 
z.  B.,  die  wegen  Kindesmord  interniert  werden  mußten,  konnten  eher  entlassen 
werden,  weil  die  Möglichkeit  einer  neuen  Konzeption  nicht  mehr  bestand.  Gleich¬ 
zeitig  verringerten  sich  die  Kosten  für  Staat  und  Gemeinde.  Die  Individuen 
waren  ja  vielfach  in  der  Lage,  außerhalb  der  Anstalt  ihrem  Broterwerb  nachzu¬ 
gehen.  Also  auch  in  rein  materieller  Hinsicht  stellte  sich  ein  Erfolg  nach  ein¬ 
getretener  Sterilisation  ein. 

Während  in  dieser  Richtung  und  im  Hinblick  auf  die  Ausschaltung  der  ver¬ 
derblich  wirkenden  Aszendenz  auf  die  Deszendenz  der  Erfolg  auf  der  Hand  liegt, 


1)  Maier,  Verlag  von  Karl  Marhold  1911. 

2)  Juliusburger,  Neurologisches  Zentralblatt  1909  Nr.  7. 

3)  Vgl.  auch  meine  Arbeit  „Zur  Frage  der  Unzurechnungsfähigkeit  und  ihrer 
sozialen  Bedeutung“,  Medizin.  Klinik  1910  Nr.  14. 

4)  Oberholzer:  Kastration  und  Sterilisation  von  Geiseskranken  in  der  Schweiz. 
Verlag  von  Karl  Marhold  J911. 


466  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

ist  der  Nutzen  in  rein  medizinisch  individueller  Hinsicht  noch  ein  Problem.  Um 
hierüber  ein  definitives  Urteil  geben  zu  können,  bedarf  es  erst  noch  ausgedehnter 
Versuche.  Oberholzer  berichtet  aber  auch  über  Fälle,  wo  zweifellos  für  das 
Individium  selbst  ein  eklatanter  Erfolg  nach  der  Kastration  erzielt  wurde,  inso¬ 
fern  als  durch  diese  Maßnahme  der  gefährliche  und  antisozial  wirkende  Sexual¬ 
trieb  mit  der  Zeit  immer  schwächer  wurde,  wobei  zugleich  die  Individuen  ihre 
antisoziale  Schädlichkeit  verloren.  Besonders  lehrreich  ist  ein  Fall,  wo  nach  der 
Kastration  aus  medizinischen  Gründen  im  Jahre  1907  ein  antisoziales  Individuum 
tatsächlich  zu  einem  brauchbaren  Mitgliede  der  Gesellschaft  gemacht  wurde, 
welches  sich  heute  in  den  Dienst  einer  sozialen  Betätigung  gestellt  hat.  Der 
Anstaltsdirektor  Schiller  bezeichnet  im  Hinblick  auf  diesen  Fall  die  Operation 
als  eine  der  segensreichsten. 

In  der  Schweiz  kann  die  Sterilisation  nur  geschehen  im  Einverständnis  mit 
den  zuständigen  Behörden,  den  Eltern  resp.  dem  Vormund  und  dem  Kranken 
selber.  Es  ist  keine  Frage,  daß  die  Entwicklung  weiter  gehen  wird,  und  die 
zwangsweise  Sterilisation  dürfte  nur  eine  Frage  der  Zeit  sein.  Da  liegt  es  auf 
der  Hand,  daß  dem  Irrenarzt  eine  neue  und  außerordentlich  weittragende  soziale 
Aufgabe  sich  darbietet;  denn  in  jedem  Falle  wird  die  Meinung  des  Irrenarztes 
oder  einer  Kommission  von  Irrenärzten  angehört  werden  müssen. 

Bei  einer  so  einschneidenden  Maßnahme  aber  werden  natürlich  in  der 
Kommission  auch  Juristen  ihre  Stimme  erhalten.  Zu  einem  ersprießlichen  Zu¬ 
sammenwirken  von  Irrenarzt  und  Jurist  wird  es  aber  auch  dann  nur  wieder 
kommen  können,  wenn  beide  die  hinreichende  Vorbildung  und  Sachkenntnis  besitzen. 
Für  unsere  deutschen  Verhältnisse  bleibt  zur  Zeit  nichts  anderes  übrig,  als  die 
Frage  der  Sterilisation  erst  aufzurollen  und  ihre  große  soziale  Perspektive  in  das 
Bewußtsein  der  Allgemeinheit  zu  rücken.  Wir  können  zuerst  nur  die  Diskussion 
hierüber  eröffnen  und  können  nur  den  Wunsch  aussprechen,  daß  Deutschland 
bald  dem  sozial  bedeutsamen  Beispiel  von  Amerika  und  der  Schweiz  folgen  möchte. 
Die  soziale  Bedeutung  der  Psychiatrie  ergibt  sich  aufs  Neue  und  auf  das  Schlagendste. 

Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  die  Psychiatrie  noch  über  die  von  mir  erwähnten 
Gesichtspunkte  hinaus  ihre  soziale  Mission  bereits  erfüllt  hat  und  noch  erfüllen 
wird.  Ich  wollte  aber  an  dieser  Stelle  keine  abschließende,  umfassende  Arbeit  über 
die  ganze  soziale  Bedeutung  der  Psychiatrie  geben,  sondern  nur  einige  wichtige 
Gebiete  herausgreifen.  Das  Eine  wird  aber  aus  meinen  Ausführungen  hervor¬ 
gehen:  Die  Psychiatrie  braucht  sich  in  ihrer  sozialen  Betätigung  nicht  hinter  die 
anderen  Wissenschaften  stellen;  sie  kann  neben  und  mit  ihnen  zum  Wohle  der 
Gesellschaft  arbeiten.  Allen  Anfeindungen  können  wir  Irrenärzte  getrost  gegen¬ 
überstehen;  wir  überlassen  das  Urteil  der  gerecht  denkenden  Mitwelt  und  der 
Nachwelt,  welche  die  Früchte  unser  Arbeit  genießen  wird. 

Sitzung  vom  7.  November  1911. 

Herr  E.  Bies  als ki- Berlin,  trägt  vor  über:  „Die  Entwicklung  der  neueren 
Krüppelfürsorge44.  Die  Krüppelfürsorge  ist  das  jüngste  Gebiet  der  sozialen 
Medizin,  das  der  Arzt  sich  erobert  hat  oder  doch  zu  erobern  im  Begriffe  steht. 
Schuld  daran  ist  der  Umstand,  daß  diejenige  ärztliche  Spezialdisziplin,  deren 
soziale  Betätigung  die  Krüppelfürsorge  ist,  erst  seit  Hoffa  in  ihren  Grenzen 
scharf  Umrissen  und  zur  Selbständigkeit,  gleichzeitig  damit  aber  auch  zu  bemerkens¬ 
werten  Erfolgen  aufgestiegen  ist. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin.  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  467 

Die  geradezu  glänzende  Entwicklung,  welche  die  deutsche  Krüppelfürsorge 
in  den  letzten  Jahren  genommen  hat,  ist  von  der  im  Jahre  1906  durch  die 
deutschen  Bundesstaaten  veranstalteten  Statistik  jugendlicher  Krüppel  ausge¬ 
gangen.  Es  ist  mir  eine  persönliche  Freude,  daß  ich  die  Ehre  habe,  vor  dieser 
Gesellschaft  hierüber  sprechen  zu  dürfen,  denn  ihr  verehrter  Vorsitzender,  Herr 
Geheimrat  M a y e t ,  daneben  auch  Stadtrat  Dr.  Gottstein  und  Prof.  Lennhoff 
haben  an  der  Wiege  des  Kindleins  gestanden,  und  wenn  nicht  Herr  Geheimrat 
May  et  ihm  die  richtige  Diät  verordnet  hätte,  so  wäre  es  vielleicht  an  Atrophie 
oder  Überfütterung  eines  frühzeitigen  Todes  verstorben. 

Als  ich  den  für  einen  jungen,  an  der  Peripherie  Berlins  hausenden  Doktor 
ungeheuerlichen  Plan  faGte,  eine  das  ganze  Reich  umfassende  Statistik  vorzu¬ 
schlagen,  sagte  ich  mir,  daß  die  zwar  sehr  verdienstvollen,  aber  doch  nur  örtlich 
bedeutungsvollen  Statistiken  in  einzelnen  Bezirken  (Rheinland,  Schleswig-Holstein, 
Braunschweig,  Schlesien,  Provinz  Sachsen,  nördliches  Bayern),  die  von  verdienten 
Geistlichen  und  dem  ärztlichen  Vorkämpfer  Dr.  Leonhard  Rosen  feld  in  Nürn¬ 
berg  veranstaltet  waren,  nicht  auf  Allgemeingültigkeit  Anspruch  erheben  könnten, 
daß  anderseits  aber  zur  Belebung  des  öffentlichen  Interesses  Zahlen  gebracht 
werden  müßten,  denen  bei  allen  sonstigen  Mängeln,  doch  nicht  das  eine  bestritten 
werden  konnte,  daß  sie  nämlich  die  Mindestzahlen  ihres  Heimatsbezirkes  dar¬ 
stellten.  Der  weitschauende  Gedanke  hätte  nicht  zur  Ausführung  kommen  können, 
wenn  ich  nicht  das  Glück  gehabt  hätte,  auf  drei  Männer  zu  stoßen,  die  das 
Bedeutungsvolle  der  Absicht  sofort  erkannten  und  mich  nun  in  jeder  Weise  unter¬ 
stützten,  das  warHoffa  mit  seiner  jugendlichen  Begeisterungsfähigkeit,  das  war 
Geheimrat  Dietrich  mit  seiner  klugen  Einsicht  und  seinem  weitgreifenden  Ein¬ 
fluß,  das  war  Geheimrat  May  et,  der  beste  Sachkenner  der  medizinal-statistischen 
Technik.  Seinem  wertvollen,  stets  hilfsbereiten  Rat  ist  es  zu  danken,  daß  das 
Werk  in  allen  Stadien  seiner  Entwicklung  sich  gesund  hielt,  weil  es  eben  auf 
der  richtigen  Bahn  blieb,  und  schließlich  dazu  brachte,  die  erste  —  cum  grano 
salis  —  vollständige  und  durchgearbeitete  Statistik  des  jugendlichen  Krüppeltums 
einer  Nation  zu  werden.  Es  ist  mir  eine  Herzensfreude,  ihm  dafür  heute,  nach¬ 
dem  wir  in  ansteigender  Linie  feine  erfreuliche  Höhe  erreicht  haben,  noch  einmal 
herzlich  zu  danken. 

Nun  kann  es  nicht  meine  Aufgabe  sein,  hier  die  seit  5  Jahren  bekannten  Ergeb¬ 
nisse  dieser  Statistik  noch  einmal  in  extenso  durchzusprechen,  obwohl  die  intimen 
statistisch-technischen  Reize,  der  Aufbau  der  Einteilung,  die  Technik  der  Zählung 
und  ihre  Organisation  von  unserer  Berliner  Zentrale  bis  in  die  kleinsten  Dörfer 
hinein,  das  Zustandekommen  des  Textes  der  Zählkarte,  ihre  ärztliche  und  büro¬ 
mäßige  Bearbeitung,  die  Herstellung  des  Kopfes  der  Tabellen  und  vieles  andere 
schon  genügend  Reiz  böte,  um  es  gerade  in  dieser  Gesellschaft  zu  erörtern  und 
zur  Kritik  zu  stellen.  Vielmehr  will  ich  nur  die  leitenden  Gedanken  hervorheben, 
die  den  Anstoß  zur  Entwicklung  der  Krüppelstatistik  gegeben  haben  und  die 
für  die  Zukunft  den  Keim  von  Entwicklungsmöglichkeiten  in  sich  tragen. 

Das  erste  war  der  Umstand,  daß  allein  durch  die  Veranstaltung  der  Zählung 
sämtliche  Behörden  von  der  Reichskanzlei  bis  zum  .kleinsten  Ortsschulzen,  vom 
Ministerialdirektor  bis  zum  Stadtsergeanten,  von  der  Medizinialabteilung  im 
Ministerium  bis  zum  Kreisarzt  und  durch  alle  Häuser,  Schulen,  Pastorate  und 
Familien  mit  einem  schlage  daß  Wort  „Krüppelfürsorge“  ertönte.  Das  war  nicht 
allen,  aber  doch  sehr  vielen  ein  Novum,  es  konnte  nicht  mehr  verhallen,  die 
Massenwirkung  hatte,  wie  überall  in  unserer  Zeit,  ihre  Schuldigkeit  getan. 


468  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

Das  zweite  war,  daß  die  Zählung  sich  nur  auf  Jugendliche  beschränkte, 
einfach  darum,  weil  Krüppelfürsorge  überhaupt  nur  an  dem  körperlich  wie  seelisch 
leicht  formbaren  Kinde  Erfolge  erzielt  und  weil  die  Hineinbeziehung  der  er¬ 
wachsenen  Krüppel,  von  andern  z.  B.  technischen  Schwierigkeiten  der  Statistik 
abgesehen,  uferlose  Zahlen  ergeben  mußte,  deren  gräßliche  Wucht  jeder  Fürsorge 
von  vornherein  ein  Lasciate  ogni  speranza  zurufen  mußte.  Hatte  doch  die  Kreuz- 
nacher  Krüppelanstalt  im  Jahre  1902  in  der  Rheinprovinz  neben  8580  Krüppeln 
unter  16  Jahren,  40928  Krüppel  über  16  Jahren  gezählt,  d.  h.  nahezu  5  mal  so¬ 
viel  Erwachsene  als  Jugendliche.  Das  hätte  für  das  ganze  Reich  mindestens 
600000  Krüppel  ergeben,  d.  h.  eine  Zahl,  vor  der  auch  der  freigiebigste  Volks¬ 
wirt  erstarrt  seinen  Beutel  zugezogen  hätte  mit  der  Begründung,  daß  es  soviel 
Geld  überhaupt  nicht  gäbe,  als  zur  Bewältigung  solcher  Massen  nötig  sei. 

Ein  anderes  bedeutsames  Moment  war  die  Aufstellung  einer  neuen  Begriffs¬ 
bestimmung  und  zwar  neu  nach  3  Seiten. 

Erstlich  wurde  der  Krüppel  kurz  heraus  als  ein  Kranker  bezeichnet,  weil 
jedes  Krüppelgebrechen  durch  eine  wohlumgrenzte  und  bekannte  Erkrankung  her¬ 
vorgerufen  wird  und  weil  der  Arzt,  will  sagen  der  Orthopäde,  inzwischen  gelernt 
hatte,  diese  Krankheit,  zum  Teil  in.  vorher  ungeahnter  Weise,  zu  bessern,  ja  zu 
heilen;  ich  erinnere  nur  an  die  Einrenkung  der  angeborenen  Hüftverrenkung,  an 
die  Muskel-,  und  Nerven  Verpflanzung.  Diese  Hervorkehrung  des  Krankheits¬ 
momentes  hatte  die  erfreuliche  Wirkung,  daß  die  Orthopäden  sich  mit  lebhaftem 
Interesse  neuen  Sachlage  zivwandten,  sie  hatte  aber  auch  die  Folge,  daß  die  bis¬ 
herigen  Vertreter  der  Krüppelfürsorge  darin  einen  Vorwurf  erblickten.  Das  lag* 
natürlich  ganz  fern;  die  Geistlichen  können  in  ihrer  segensreichen  und  vor¬ 
bildlichen  Tätigkeit  auf  dem  Gebiet  der  Krüppelfürsorge  von  niemand  mehr  an¬ 
erkannt  und  gewürdigt  werden,  als  von  denen,  die  heute  in  ihren  Spuren  wandeln. 
Als  es  noch  keine  Heilung  der  Krüppelgebrechen  gab,  konnte  nichts  anderes  ge¬ 
schehen,  als  daß  man  den  Krüppel  pflegte,  ihn  ausbildete  und  mit  soviel  ärztlicher 
Hilfe  versorgte,  als  es  eben  gab  —  und  das  ist  überall  geschehen  — ;  als  aber 
eine  neue  Krüppelheilkunst  aufkam,  war  es  Recht  und  Pflicht  der  Arzte,  an 
ihrem  Teile  mitzuhelfen.  Im  übrigen  sind  in  Deutschland  Laien  die  Begründer 
der  ältesten  Krüppelheime  gewesen;  erst  viel  später  folgte  in  Norddeutschland 
die  innere  Mission,  und  interessant  ist,  daß  noch  vor  der  1832  begründeten 
Münchener  Anstalt,  in  Berlin  ein  Dr.  J.  G.  Blömer,  Spittelbrücke  2  und  3  eine 
„Heilanstalt  für  Verwachsene“  im  Oktober  1823  eröffnete,  in  der  er  schon  alle 
Einrichtungen  eines  Krüppelheims  unserer  Tage  hatte,  ärztliche  Behandlung, 
Unterricht  durch  einen  besonderen  Lehrer  und  passende  Beschäftigung  der  Kranken  J). 

Das  zweite  entwicklungsfähige  Moment  in  der  Begriffsbestimmung  war  die 
Hineinbeziehung  der  sozialen  Frage.  Nicht  das  Krüppelgebrechen  allein  bestimmte 
die  Hilfsbedürftigkeit,  sondern  die  Wechselwirkung  zwischen  ihm  und  den  sozialen 
Begleitumständen  oder  Nebenkrankheiten,  Armut,  Verwaisung,  Schwachsinn,  Blind¬ 
heit  u.  a.  Dadurch  wurde  die  Krüppelfürsorge  von  den  Krüppeln  der  Wohl¬ 
habenden  entlastet,  dafür  aber  die  wirtschaftlich  Schwachen  und  körperlich  Elenden 
herangeholt,  auch  wenn  ihr  Krüppelgebrechen  an  sich  leicht  war.  Der  Fabrikanten¬ 
sohn  mit  einem  Arm  geht  uns  nichts  an,  wohl  aber  der  taubstumme,  imbezille, 
verwaiste  Skoliotiker. 


1 )  Literaturangabe  siehe  Kirmsse,  Zur  Geschichte  der  frühesten  Krüppel¬ 
fürsorge,  Zeitschrift  für  Krüppelfürsorge,  Band  IV,  Heft  1. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  469 

Und  nun  machte  die  Begriffsbestimmung  noch  eine  wertvolle  Unterscheidung, 
nämlich  die  in  Heimbedürftige  und  Nichtheimbedürftige  Krüppel,  wodurch  wiederum 
die  Hälfte  aus  der  teuren  Anstaltsfürsorge  ausgeschaltet  und  der  billigen  poli¬ 
klinischen  Behandlung  zugewiesen  wurde  —  ein  Vorgehen,  das  schließlich  Zahlen 
zutage  brachte,  über  die  selbst  mit  einem  knausrigen  Volkswirt  zu  reden  war, 
weil  sie  sich  in  Grenzen  hielten,  die  mit  erschwinglichen  Mitteln  zu  bewältigen 
waren. 

Es  gab  im  Jahre  1906  in  Deutschland  rund  100000  Krüppel  unter  15  Jahren, 
davon  waren  nach  ärztlichem  Urteil  56000  heimbedürftig.  Auf  je  10C00  Menschen 
gibt  es  15  Krüppelkinder,  von  denen  8  heimbedürftig  sind  und  12  ärztlicher  Hilfe 
bedürfen.  Unter  10  000  Menschen  gibt  es  36  Krüppel.  Diese  allein  standen  also 
zunächst  zur  Diskussion,  und  darüber  ließen  nun  die  Leute  mit  sich  reden.  Zwar 
war  für  sie  1911  in  36  Anstalten  noch  nicht  5C0  Betten  vorhanden,  aber  es  boten 
sich  doch  nun  von  allen  Seiten  hilfreiche  Hände  an,  die  mitarbeiten  wollten. 

Die  häufigsten  Leiden  sind: 


Lähmung  mit 
Tuberkulose  - 
Scoliose 
Bachitis 


Diese  4  allein  machen  mit  53,1  °/o  schon  mehr  als  die  Hälfte  aus. 

Das  platte  Land  liefert  weniger  Krüppel  als  die  Städte  und  Industriebezirke, 
Königreich  Sachsen  ist  fast  in  allen  Kategorien  am  schlechtesten  dran.  In  dem 
Maße  als  die  Bevölkerungsdichte  zunimmt,  häuft  sich  die  Rachitis.  Hier  hegen 
Winke  für  die  Zukunftsarbeit,  die  von  allgemeinen  hygienischen  Maßnahmen, 
Bodenreform  u.  a.  abhängen. 

Eine  wichtige  Frage,  auf  welche  die  Statistik  mit  Nachdruck  hingewiesen 
hat,  ist  die  des  Krüppeltums  im  vorschulpflichtigen  Alter.  Kein  Lebensalter  ist 
verschont,  schon  unter  den  Säuglingen  sind  457  Krüppel  gezählt,  dann  steigt  die 
Kurve  steil  bis  zum  13.  Lebensjahr,  um  ebenso  steil  bis  15.  auf  die  Hälfte  ab¬ 
zufallen.  Von  100C0  Vorschulpflichtigen  sind  2  verkrüppelt,  im  ganzen  über 
15  000.  Hier  hätte  vor  allem  die  Aufklärung  unter  Hebammen,  Wochenpflegerinnen, 
Gemeindeschwestern  zu  sorgen.  Die  Zahl  von  10000  durch  Unfall  verkrüppelter 
Kinder  weist  auf  die  Gefährlichkeit  des  Verkehrs  und  der  industriellen  Kinder¬ 
arbeit.  Komplizierend  traten  zum  Krüppelleiden  hinzu  in  6556  Fällen  Krämpfe, 
Taubstummheit,  Blindheit,  Tuberkulose  innerer  Organe,  Blutarmut  und  sonstige 
chronische  Krankheiten:  davon  waren  allein  1153  vorschulpflichtige;  nur  ein 
kleiner  Teil  befand  sich  in  Heimpflege.  Allen  diesen  Zahlen  wohnt  eine  werbende 
Kraft  schon  dadurch  inne,  daß  ihre  Nennung  allein  jedem  Einsichtigen  die  Wege 
erhellt,  welche  zur  Abstellung  des  durch  sie  ausgedrückten  Elends  führen. 

Nun  lassen  Sie  uns  weiter  die  großen  werbenden,  zur  Entwicklung  und  zum 
Ausbau  drängenden  Gedanken  in  der  Krüppelfürsorge  verfolgen.  Das  Endziel  unserer 
Arbeit  ist,  den  Krüppel  erwerbsfähig  oder  wie  ich  es  oft  gesagt  habe,  ihn  aus 
einem  Almosenempfänger  zu  einem  Steuerzahler  zu  machen.  Dies  Schlagwort 
hat  die  Armenverwaltungen  aufgerüttelt,  und  es  ist  des  verstorbenen  Stadtrats 
Münsterberg  unsterbliches  Verdienst,  daß  er,  der  gesagt  hatte,  man  könne 
dem  Armen  nicht  besser  helfen,  als  dadurch,  daß  man  ihn  gesund  mache,  als 
erster  den  ortsüblichen  Krankenhaussatz  für  unser  Berliner  Heim  bewilligte.  Der 
genannte  Satz  schlug  umsomehr  durch  als  die  Krüppelfürsorge  im  Ggensatze  zu 


470  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

der  Fürsorge  an  Epileptischen,  Idioten,  Taubstummen  und  Blinden,  die  zu- 
sammengenommen  so  zahlreich  sind  als  die  Krüppel,  ärztliche  und  pädagogische  Kunst 
viel  mehr  erreichen  können  —  denn  88,6%  aller  Krüppel  und.  97,8%  der  schul¬ 
pflichtigen  sind  geistig  gesund. 

Der  älteste  ärztliche  Vorkämpfer  der  Krüppelfürsorge,  mein  vortrefflicher 
Freund  Dr.  Leonhard  Rosen  fei  d  in  Nürnberg,  hat  vor  wenigen  Wochen  eine 
umfangreiche  Arbeit  in  der  Zeitschrift  für  Krüppelfürsorge  auf  Grund  einer 
Rundfrage  veröffentlicht,  worin  er  über  den  Unterhalt  der  Krüppelkinder  und 
die  von  den  Armenverwaltungen  aufgebrachten  Kosten  handelt.  Er  hat  gefunden, 
daß  die  öffentliche  Armenpflege  die  Krüppel  bisher  noch  nicht  ausreichend  ver¬ 
sorgt,  namentlich  nicht  genügend  ärztlicher  Behandlung  zuführt  (nur  15  Proz. 
statt  57  Proz.)  dagegen  viel  zu  häufig  zu  reinen  Zwecken  der  Versorgung  unter¬ 
bringt  (30  Proz.  statt  6  Proz.).  Die  Versorgung  in  fachärztlicher  Behandlung 
kostet  zwar  40  Proz.  mehr,  denn  der  durchschnittliche  Aufwand  für  armenunter¬ 
stützte  Krüppel  beträgt  224  Mk.,  während  die  durchschnittlichen  Anstaltskosten 
sich  auf  890  Mk.  stellen,  aber  dieser  Mehraufwand  wird  dadurch  wett  gemacht, 
daß  nach  3  Jahren  ein  Drittel  bis  die  Hälfte  der  Krüppel  als  wirtschaftlich 
selbsttätig  aus  der  Anstaltsbehandlung  ausscheiden. 

Die  Unkosten  für  Armenpflegen  oder  Anstaltsbetrieb  machen  nicht  mehr  als 
jährlich  400  Mk.  aus,  ebensoviel  kann  ein  erwerbsfähig  gemachter  Krüppel  min¬ 
destens  verdienen.  Die  Ersparung  der  einen  Summe,  die  Neuproduktion  der  anderen 
ergeben  zusammen  einen  national-ökonomischen  Nutzen  von  jährlich  44  Millionen 
Mark  für  Deutschland.  Das  ist  zweifellos  ein  Geschäft,  und  darauf  hin  können 
die  Armenverwaltungen  jede  Summe  in  die  Krüppelfürsorge  stecken,  sie  wird  sich 
immer  rentieren,  von  den  ethischen  Werten  ganz  abgesehen.  Diese  Exempel  sind 
nunmehr  überall  anerkanut  und  haben  auch  die  Laien  zu  großen  Stiftungen  an¬ 
geregt,  die  zwischen  J/4  und  4  72  Millionen  für  die  einzelne  Anstalt  schwanken. 

Wie  macht  nun  die  Krüppelfürsorge  ihre  Pfleglinge  erwerbsfähig? 

Durch  das  Krüppelheim,  das  heißt  einen  Organismus,  in  dem  Klinik,  Schule 
und  Handwerkslehre  gleichzeitig  neben-  und  ineinander  arbeiten.  Was  die  Klinik 
leistet,  kann  ich  hier  nicht  näher  auseinander  setzen;  es  würde  zu  weit  führen, 
wenn  auch  die  vortrefflichen  Erfolge  z.  B.  auf  operativem  Gebiete  und  im  Bau 
von  Apparaten  dazu  verlockt.  Dagegen  bitte  ich  Sie,  mir  in  die  Schule  zu  folgen. 
Hier  hat  sich  neben  der  den  Lehrplan  einer  Volksschule  nachgehenden  Klassen 
vor  allem  in  neuerer  Zeit  eine  Hilfsklasse  für  die  Schwachsinnigen  und  mit  starken 
Lücken  in  ihrem  Wissen  hereinkommenden  Kinder  etabliert.  6481  Krüppel  waren 
im  Jahre  1906  schwach-  oder  blödsinnig,  von  den  Heimbedürftigen  5  Proz.,  6423 
Krüppel  hatten,  obwohl  schulpflichtig  und  bildungsfähig,  überhaupt  noch  keinen 
Unterricht  erhalten.  Die  Krüppelschule,  die  in  einer  klinischen  Anstalt  arbeitet, 
hat  den  Vorteil,  daß  sie  die  behandlungsfreie  Zeit,  während  der  ein  Kind  sonst 
im  Krankenhause  oder  zuhause  beschäftigungslos  daliegt,  mit  Unterricht  ausfüllen 
kann.  Wer  nicht  in  die  Schule  gehen  oder  gefahren  werden  kann,  wird  im  Bett 
unterrichtet.  Dadurch  wird  es  möglich,  daß  die  Krüppel  in  einem  Heim  das 
Schulziel  zu  gleicher  Zeit  erreichen,  wie  ihre  gesunden  Altersgenossen.  Haupt¬ 
prinzip  des  Unterrichts  ist  heute  wohl  das  des  Werkunterrichts  und  der  Arbeits¬ 
erziehung,  d.  h.  jener  Methode,  die  den  Kindern  ihr  Wissen  nicht  nur  durch 
Einpauken  und  Auswendiglernen,  sondern  durch  Vermittlung  der  Sinne  durch 
Nachmodellieren,  Nachmalen  usw.  beibringt.  Die  Kinder  „begreifen“  so  in  des 
Worts  verwegenster  Bedeutung  schneller,  und  der  Lehrer  kann  schon  früh  im 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  47 1 

Hinblick  auf  ihre  spätere  Erwerbsfähigkeit  Beobachtungen  anstellen  und  die 
Handfertigkeit  üben. 

Es  schließen  sich  an  Fortbildungschulen  und  Fachunterricht  für  die  Lehrlinge. 
In  unserer  Berliner  Anstalt  sind  wir  in  neuerer  Zeit  daran,  das  Leben  der  Kinder 
außerhalb  der  Schule  zu  regeln,  indem  unser  Erziehungsinspektor  Herr  Wuerz 
sozusagen  Betätigungsgenossenschaften  unter  den  Kindern  begründet  hat.  die  sie 
selbst  verwalten  müssen,  und  die  doch  im  Dienste  der  Erziehung  stehen.  Ähnliches 
hat  Pastor  PI  aß  in  seiner  Zehlendorfer  Anstalt  uns  vorgemacht.  Da  ist  ein 
Lesekränzchen,  ein  Gesang-,  ein  Theaterverein,  eine  Jugendwehr,  ein  Turnverein 
usf.  Es  soll  dadurch  vor  allem  die  Selbständigkeit  der  Kinder,  die  namentlich 
für  den  Krüppel  von  hoher  Bedeutung  ist,  gestärkt  werden.  Ein  weiteres  Prinzip 
bei  uns  ist  die  gemeinsame  Erziehung  der  Geschlechter;  nur  die  größeren  schlafen 
getrennt,  sonst  besteht  in  Unterricht,  Spiel,  beim  Essen  keine  andere  Trennung, 
als  sie  die  Kinder  selbst  vornehmen.  Bisher  haben  wir  nur  gute  Erfahrungen 
gemacht.  Überhaupt  keine  zwecklose  Einengung !  Frohsinn  und  Lebensfreudigkeit, 
getroste  Aussicht  in  die  Zukunft  herrscht  in  unserem  Hause;  wie  denn  auch  die 
vergrämtesten  Kinder,  die  zu  Hause  unter  dem  Mitleid  der  Erwachsenen  und  dem 
Spott  der  Jugend  gelitten  haben,  bei  uns  sich  aufschließen,  weil  die  andern  es  ja 
noch  schlimmer  haben  und  der  Vergleich  kein  Gefühl  des  Neides  aufkommen  läßt 
—  ein  wichtiges  und  köstliches  Geschenk !  Aus  der  Schule  gehts  in  die  Handwerks¬ 
stube  —  alle  unter  einem  Dach,  aber  der  Übergang  ist  nicht  so  plötzlich.  Wie 
die  Grenzen  zwischen  Klinik  und  Schule  sich  verwischen,  so  zwischen  Schule  und 
Handwerkslehre.  Ein  Junge,  der  insgesamt  vielleicht  nur  7  Finger  hat  und 
Schneider  werden  soll,  macht  schon  vor  der  Konfirmation  eine  vorbereitende 
Lehrlingszeit,  indem  er  nach  den  Schulstunden  in  die  Werkstatt  geht  und  sich 
schon  in  den  Anfangsgründen  der  Schneidertechnik  übt.  Das  geht  manchmal 
schwer  und  kostet  manche  Träne,  aber  wenn  er  dann  als  Lehrling  bei  der  Innung 
eingetragen  wird,  kann  er  doch  schon  soviel,  daß  er  zur  gleichen  Zeit,  wie  seine 
gesunden  Freunde  außerhalb  der  Anstalt,  die  Gessellenprüfung  besteht.  An  der 
Spitze  jeder  Werkstatt  steht  ein  Meister,  der  ausschließlich  der  Ausbildung  der 
Zöglinge  lebt. 

75  Erwerbsmöglichkeiten  werden  heute  in  deutschen  Krüppelheimen  gelehrt, 
diese  Zahl  allein  zeigt  den  riesigen  Aufschwung  der  letzten  Jahre;  1908  waren 
es  nur  55.  Die  Zahl  der  Fertigkeiten  für  Knaben  ist  von  33  auf  49  gestiegen, 
die  für  Mädchen  von  31  auf  26  gesunken.  Immer  mehr  wird  die  alte  Forderung 
des  Pastor  Knudsen  verwirklicht,  daß  bei  der  Krüppelarbeit  die  Qualität  die 
Quantität  ersetzen  müsse  —  darum  tritt  immer  mehr,  entsprechend  dem  ver¬ 
feinerten  Gaschmack  des  Publikums,  der  künstlerische  Wert  der  Arbeiten  im 
Korbflechten,  Holzschnitzen,  Buchbinderei,  Weben,  Klöppeln,  Sticken  usw.  hervor. 

Und  wie  im  Handwerk,  ist  in  allen  Beziehungen  ein  zum  Teil  glänzender 
Fortschritt  in  den  Zahlen  vom  Jahre  1910  gegen  die  von  1908  zu  verzeichnen. 
In  den  in  Betracht  kommenden  39  Anstalten  werden  35  Schulen  mit  66  Klassen 
unterhalten,  dazu  14  Klassen  für  Schwachsinnige  gegen  4  in  1908.  Die  Zahl  der 
Schulen  ist  um  6  gestiegen,  die  der  im  Hauptamt  tätige  Lehrer  um  5,  die  der 
geprüften  Lehrerinnen  um  9,  die  der  Kindergärtnerinnen  um  2.  In  gleichem 
Maße  ist  die  Zahl  der  Diakonen,  Diakonissen  und  Theologen,  die  früher  pädagogisch 
tätig  waren,  gesunken. 

Auch  in  der  Krüppelklinik  ist  es  vorwärts  gegangen.  Jedes  Krüppelheim 
hat  ärztliche  Versorgungen,  21  mal  durch  einen  orthopädischen  Spezialisten, 


472  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

darunter  4  Professoren.  22  Anstalten  haben  eigne  Operationssäle,  davon  3  sogar 
2,  13  Heime  haben  eigne  Assistenten,  11  eigne  Consiliari;  die  Zahl  der  medico- 
mechanischen  Einrichtungen  ist  von  15  auf  25,  die  der  Röntgenlaboratorien  von 
4  auf  19  gestiegen,  die  der  orthopädischen  Werkstätten  von  4  auf  16!  Alles  in 

3  Jahren. 

Die  Zahl  der  Krüppelheime  ist  von  39  auf  50  gestiegen,  ja  wenn  man  die  dem¬ 
selben  Besitzer  gehörigen  Anstalten  einzeln  zählt  auf  56.  Außerdem  gibt  es  noch 
21  Vereine,  die  ohne  Anstalt  Krüppelfürsorge  treiben  oder  eben  ein  Heim  bauen, 
d.  h.  es  wird  in  Deutschland  an  77  Stellen  Krüppelfürsorge  getrieben.  Evangelisch 
sind  26,  katholisch  5,  interkonfessionell  19. 

Die  Plätze  haben  sich  von  3371  auf  4188  vermehrt;  das  kleinste  Heim  hat  6, 
das  größte  500  Betten,  im  Durchschnitt  100  Betten  gegen  86 — 1908.  Die  evan¬ 
gelischen  Heime  haben  2819,  die  katholischen  425,  die  interkonfessionellen  944 
Betten.  Alle  Heime  nehmen  Kinder  jeden  Bekenntnisses  auf. 

Auch  die  obere  Grenze  der  Pflegegelder  hat  sich  gehoben,  sie  schwankt 
zwischen  120  Mk.  jährlich  und  1095,  im  Mittel  415  gegenüber  381  in  1908.  In 
einem  Heim,  dem  Angerburger  in  Ostpreußen,  sind  sämtliche  400  Betten  Freiplätze. 

Leiter  der  Anstalt  ist  21  mal  ein  Geistlicher,  5  mal  ein  Arzt,  2  mal  ein 
Lehrer,  11  mal  ein  Laie  als  Vorsitzender  des  besitzenden  Vereins,  6  mal  eine 
Schwester. 

Unsere  Berliner  Anstalt  hat  als  erste  einen  neuen  Typ  aufgestellt:  Leiter 
ist  der  Chefarzt  der  klinischen  Abteilung,  für  die  Schule  ist  ein  besonders  vor¬ 
gebildeter  Erziehungsinspektor  angestellt,  die  Verwaltung  leitet  ein  Verwaltungs¬ 
beamter,  beide  unterstehen  dem  ärztlichen  Leiter.  Das  Haus  ist  interkonfessionell, 
die  Schwesternschaft  eine  dem  Hause  eigne,  aus  Töchtern  gebildeter  Stände. 
Diese  Organisation,  die  Freiheit  für  jede  Entwicklungsmöglichkeit  zuläßt,  ist  bisher 

4  mal  nachgeahmt  und  wird  noch  weitere  Nachfolger  finden,  denn  alle  neuen 
Heime,  die  im  Bau  sind,  nehmen,  soweit  sie  nicht  von  der  Kirche  ausgehen, 
diesen  Typ  an. 

Nun  haben  wir  noch  die  große  Gruppe  der  nichtheimbedürftigen  Krüppel  zu 
betrachten,  die  im  wesentlichen  unter  den  Begriff  der  Prophylaxe  fallen.  Der 
Ausbau  von  Fürsorge-  und  Beratungsstellen,  verbunden  mit  orthopädischen  Poli¬ 
kliniken  ist  der  beste  Weg  zur  Abhilfe  und  nimmt  einen  enormen  Aufschwung. 

Während  es  1908  nur  3  solcher  Stellen  gab,  sind  es  heute  18,  ohne  die,  die 
geplant  oder  in  Bau  sind.  Man  kann  geradezu  sagen,  daß  hier  für  die  nächsten 
Jahre  der  Schwerpunkt  der  Arbeit  liegen  wird,  zumal  wenn  man  sich  der  aus¬ 
sichtsreichen  vorschulpflichtigen  Fälle  mehr  als  bisher  annimmt.  Hier  sind  noch 
enorme  Aufgaben  zu  lösen,  ich  erinnere  nur  an  das  Problem  der  Massenbehandlung 
der  Skoliose.  In  deutschen  Schulen  stecken  über  3  Millionen  Kinder  mit  Skoliose 
oder  Haltungsanomalien,  in  den  Berliner  Volksschulen  allein  über  60030!  Nur  vom 
Boden  der  Krüppelfürsorge  aus,  wo  Elternhaus,  Schule,  Arzt,  Volkswirt,  Gesetz¬ 
geber  sich  zusammenfinden,  ist  Besserung  zu  hoffen;  ähnlich  steht  es  mit  der 
Rachitis,  dem  Plattfuß,  der  angeborenen  Hüftverrenkung  usw. 

Aufklärung  ist  Parole  und  Feldgeschrei  für  die  nächste  Zukunft!  In  erster 
Reihe  unter  den  Ärzten,  von  denen  die  älteren  von  orthopädischen  Erkrankungen 
nichts  auf  der  Universität  gelernt  haben.  Aber  auch  heute  gibt  es  einen  ortho¬ 
pädischen  Lehrstuhl  nur  an  5  deutschen  Universitäten,  2  in  Bayern,  1  in  Sachsen, 
1  in  Baden,  1  in  dem  großen  Preußen. 


Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik.  473 

Deshalb  verlangen  Orthopäden  und  Krüppelfreunde  immer  wieder  die  Ein¬ 
richtung  von  Extraordinariaten  für  Orthopädie.  Das  ist  keine  rein  ärztliche  An¬ 
gelegenheit,  sondern  durchaus  eine  Frage  der  öffentlichen  Wohlfahrtspflege;  denn 
erst,  wenn  jeder  Arzt  über  die  reichen  Heilungsmöglichkeiten  der  Orthopädie 
unterrichtet  ist,  wird  das  Krüppelelend  abnehmen.  Je  früher  ein  Krüppel¬ 
gebrechen  in  die  Behandlung  kommt,  desto  mehr  Aussicht  hat  es  auf  Heilung. 
Deshalb  muß  die  Aufklärung  auch  in  die  Kreise  der  Lehrer,  Geistlichen,  Beamten 
und  des  Publikums  dringen. 

Die  poliklinische  Behandlung  der  Krüppel  hat  neben  anderen  die  Vorteile 
der  Billigkeit;  der  Johanniterorden  in  Bayern  hat  über  90  Proz.  Heilungen  und 
Besserungen  erzielt  und  nur  140  Mk.  pro  Kopf  jährlich  ausgegeben.  Dänemark 
betrieb  bis  in  die  neueste  Zeit  seine  ganze  Krüppelfürsorge  fast  nur  poliklinisch. 
In  Nürnberg  haben  sich  alle  Chirurgen  und  Orthopäden  zu  einer  Art  G.  m.  b.  H. 
zusammengetan.  Einzelne  Bundesstaaten  unterhalten  Landesverbände,  so  Kgr. 
Sachsen,  Baden. 

Eine  Frage  taucht  hier  auf,  die  viel  diskutiert  wird,  nämlich  die,  ob  es 
zweckmäßig  ist,  die  Krüppelfürsorge  zu  verstaatlichen.  Ich  für  meine  Person 
möchte  das  verneinen,  weil  der  bureaukratisclie  Schematismus  da  viel  Schaden 
anrichten  kann.  Aber  während  die  Verstaatlichung  in  Preußen  sowieso  in  ab¬ 
sehbarer  Zeit  ausgeschlossen  ist,  hat  man  sie  in  Oldenburg  in  diesem  Jahre 
eingeführt  und  debatiert  im  bayerischen  Landtag  stark  darüber,  als  er  plötzlich 
geschlossen  wurde. 

Mit  der  Beratung  und  Behandlung  in  einer  solchen  Fürsorgestelle  hängt 
nufs  engste  die  einer  Arbeits Verteilung  und  einer  ambulanten  Krüppelschulen 
zusammen. 

Das  Ausland  ist  da  weiter  als  wir,  in  London,  Mailand,  New  York  werden 
die  Kinder  morgens  durch  Omnibusse  aus  ihren  Quartieren  abgeholt,  über  Tag 
unterrichtet,  behandelt,  gespeist  und  abends  wieder  nach  Hause  gebracht.  Eine 
Dame,  die  mitten  in  dieser  Arbeit  steht,  sagte  mir,  daß  in  London  kein  Krüppel¬ 
kind  unversorgt  sei  —  so  vortrefflich  arbeitet  der  Apparat.  In  Frankreich  gibt 
es  Arbeitshäuser,  in  welche  die  Krüppel  tagsüber  kommen,  um  dort  Arbeit  zu 
finden  und  einen  geringen  Verdienst,  der  nicht  durch  Kundschaftsbesuch  und 
andere  Wege  geschmälert  wird. 

Es  scheint  mir,  daß  auch  Berlin  einmal  vor  solche  Frage  gestellt  werden 
wird,  daß  es  sie  aber  wohl  erst  dann  mit  Aussicht  auf  Erfolg  in  Angriff  nehmen 
können,  wenn  die  unendlich  zersplitterte  Wohltätigkeit  zentralistisch  zusammen¬ 
gefaßt  ist.  Vorderhand  hat  die  Berliner  Anstalt  am  Kottbuser  Tor  eine  Fürsorge- 
und  Beratungsstelle  eröffnet  und  wird  dort  allmählich  eins  nach  dem  anderen 
versuchen. 

So  sind  wir  durch  das  große  Gebiet  schnell  und  flüchtig  durchgewandert  — 
aber  das  wichtigste  und  namentlich  das  neueste  und  zukunftverheißende  haben 
wir  gesehen.  Sie  werden  mir  recht  geben,  wenn  ich  gesagt  habe:  Aufklärung 
ist  das  Wichtigste. 

Um  sie  in  weite  Kreise  zn  tragen,  hat  die  deutsche  Vereinigung  für  Krüppel¬ 
fürsorge,  welche  die  Trägerin  der  eben  entwickelten  Ideen  ist,  einen  Leitfaden 
der  Krüppelfürsorge  schreiben  lassen,  von  dem  ich  einige  Exemplare  mit  anderen 
Drucksachen  mir  für  die  Bibliothek  des  Vereins  zu  überreichen  gestatte. 

Sie  hat  aber  noch  mehr  getan,  nämlich  auf  der  Dresdener  Hygieneausstellung 
einen  eigenen  Pavillon  errichtet,  in  dem  das  ganze  Gebiet  übersichtlich  dargestellt 


474  Aus  der  Gesellschaft  für  Soziale  Medizin,  Hygiene  und  Medizinalstatistik. 

war.  Welches  Interesse  dieser  Pavillon  erregt  hat,  obwohl  er  in  der  äußersten 
Ecke  des  Ausstellungsgeländes  lag,  mögen  Sie  daraus  ersehen,  daß  während  des 
Sommers  über  320000  Besucher  hindurchgegangen  sind,  an  einem  Sonntag  5288! 

Die  meisten  Ausstellungsgegenstände  sind  nach  Berlin  überführt  und  werden 
als  provisorisches  Museum  der  Krüppelfürsorge  in  der  Bayreuther  Str.  13  Auf¬ 
stellung  finden.  In  2—3  Jahren  wird  sich  auf  dem  Gelände  des  Neubaues  unseres 
Berliner  Krüppelheims  ein  eigner  stattlicher  Museumsbau  erheben,  in  dem  das 
gesamte  Anschauungsmaterial  übersichtlich  aufgebaut,  jedem  Laien  eindringlich 
vor  Augen  führen  wird,  was  die  deutsche  Krüppelfürsorge  will  und  kann. 

Für  diese  unsere  Arbeit,  insonderheit  aber  für  das  Museum,  möchte  ich  mir 
das  freundliche  Interesse  Ihres  Vereins  erbitten,  wie  ich  denn  überhaupt  es 
als  eine  besondere  Auszeichnung  betrachten  würde,  wenn  Sie  bei  Gelegenheit  unserer 
Anstalt  einen  Besuch  abstatten  würden. 

Wer  einmal  in  dieses  so  schön  abgerundete  und  so  erfolgreiche  Gebiet  der 
sozialen  Medizin  hinein  geschaut  hat,  der  bleibt  ihm  immer  Freund! 


Namenverzeichnis 


A. 

Abelsdorff  187. 

Achard  292. 

Adler,  Fr.  80. 

Ammon,  Otto  146. 147.  148. 
149.  173. 

Aschaffenburg  465. 

Ascher  126.  127. 

B. 

Baker  28. 

Baiser  397.  398. 

Bassenge  188. 

Bauer,  Otto  463. 

Baum,  Marie  46.  60.  64.  65. 
Becher  107. 

Behla  34.  37.  38.  39.  230. 
398. 

Bender  80. 

Beneke  125. 

Bergmann,  v,  366. 
Bertheau  398. 

Beyer,  Ernst  290. 

Bieling  283. 

Biesalski  466. 

Billroth  366. 

Bindewald  187.  274. 
Binswanger  288. 

Binz  282. 

Biresford  365. 

Bleuler  289. 

Bloch  393.  398. 

Blömer,  J.  Gr.  468. 

Rfioq  4-49 

Bockendahl  371.  398. 
Bonne  300. 

Briegleb  285. 

Brigbt  197. 

Brüning  398. 

Bücher  302.  315. 
Buttermilch,  W.  335. 
Buyse  9. 

C. 

Camerer  126. 

C'arozzi  28. 


Cartier  126. 

Chauliac,  Guy  de  348. 
Conrad,  J.  302.  315. 
Crzellitzer,  A.  448.  , 

Curschmann  222.  224. 

1). 

Dannehl  254. 

Defferenz  9. 

Deiters  290. 

Delbrück  285.  290. 
Dettweiler  294. 

Deutsch  297. 

Devoto  17.  28. 

Dietrich  367.  398.  467. 
Dietz  289.  290.  295.  297. 
Dollinger  36.  42. 

;•  •• 

E. 

Ecker,  A.  146. 

Ehrenberg  445. 

Ehrlich  345.  353. 

Elben  229. 

'  Eulenberg  71.  197. 

F. 

Fehlinger  400. 

Fernet  295. 

Finkeistein  46.  51.  63.  65. 
Fischer,  Alf.  301. 

Fischer,  R.  197.  214.  216. 
222. 

Flesch,  Max  247.  329. 
Flügge  61.  65. 

Forel  465. 

Franc-Nohain  368. 

Funke  383.  398. 

Fürst  149.  450. 

Gr» 

Gaillard  292. 

Glibert  9. 

Gottstein  51.  65.  305.  345. 

449.  467. 

Grawitz  295. 


I  Groth  395. 

Gruber  393.  398.  455. 
Guradze  443. 

Gutzeit  268. 

H. 

Hahn  450. 

Haifort  3. 

Haller  348. 

Hanauer  46. 51. 65. 136. 398. 
i  Haussen  46.  295.  365. 
Hausmann  62. 

Hawer  28. 

Hegar  393. 
j  Heim  10. 

Heinzerling  71. 

Helenius  286. 

Heller,  J.  103. 

Heller,  Marie  343. 

Hensler  369  389.  394.  398. 
Hermberg  398. 
j  Heymann  203.  206. 

Heyn  367.  398. 

Hirt  3,  43,  282. 

Hirth  197. 

Hoffa  467. 

Hoftke  299. 

Holey  296. 

Holitscher  282.  288.  297. 
Holtzm  ann  15. 67. 69. 71 . 76. 

,  Hoppe  286.  291. 

Hufeland  135. 

Hume  447. 

Hunt  292. 

j- 

Jeske,  E.  290. 

Joens  398. 

Juliusburger  456. 

Jurisch  76. 

K. 

Kahler  27.  28. 

Kaup  18.  132.  134.  191. 
Keller  51.  65. 

Kern,  Walter  292. 

Kirmsse  468. 


476 


Knudsen  471. 

Kolb  35.  36.  37.  38.  39. 
Kölsch  1.  230.  235. 

Koppe  116. 

Kraepelin  286.  288.  290. 
Kraß  295. 

Kruse  151. 

Kunkel  72.  76. 

Künne  71  72. 

Kuzuya  110.  115. 

L. 

Laitinen  292. 

Landois  125. 

Landsberger  128. 

Lassar  72.  73. 

Legge  6.  200. 

Lehmann  24.  197. 

Lennhoff  73.  449.  450.  467. 
Lessenich  134. 

Lewin  18.  72. 

Leymann  218.  219.  220. 
222.  223. 

Liebe,  Georg  281. 

Lief  mann  64.  65. 

Loth  38. 

Löwenfeld  392,  398. 

M. 

Maier,  Hans  464. 

Malthus  444. 

Manouvrier  71. 

Martius  281. 

Mayet  353.  449.  467. 

Mayr,  von  302. 315. 3 16. 444. 
Meinert  46.  62.  65. 
Meinshausen  253. 

Merkel,  von  14. 

Messimy  392. 

Millerand  365. 

Mircoli  292. 

Mittelhäuser  398. 

Mombert  381.  399. 
Monac-Lesser  299. 

Mugdan  227. 

Müller,  E.  Herrn.  287. 
Munter,  D.  107. 

N. 

Naecke  465. 

Naumann  Eriedr.  302.  315. 
316. 

Neißer  353. 

Vpf pv  QQQ 

Neumann  46.  342.  344.  354. 
450. 

Notthaft  348. 

O. 

Oberholzer  465.  466. 

Ogle  197. 


Namenverzeichnis. 


Ohlenberg  367.  399. 
Oesterlen  371.  399. 

Ott  141.  143.  152.  253  ff. 

P. 

Flasche  367.  399. 

Pare,  Ambr.  348. 
Parkinson  293. 

Pauli  112.  399. 

Peiper  109.  375.  399. 
Peiser  336. 

Pignet  138  ff.  253  ff. 

Pistor  367.  397.  399. 

Plaß  471. 

Pollard  462. 

Prinzing  32.  110.  152.  187. 

274.  305.  349.  399. 
Puppe  238. 

Q. 

Quetelet  125.  127.  128. 

R. 

Rademacher  116. 
Radestock  237. 

Ramnzzini  2. 

Ranke,  Joh.  146. 

Redder  399. 

Redgrafe  28. 

Rietschel  46.  47.  65. 
Roders,  Dr.  C.  T. Graham  13. 
Rohwedder  399. 

Romberg  282. 

Römer,  F.  243. 

Rosenfeld  23.  285.  286.  287. 

293.  467.  470. 

Rösle  240. 

Ross  292. 

Roth  11,  71. 

Rüdin  465. 

Rußow  116. 

S. 

Schaeffer,  R  354. 
Schallmayer  449. 

Scharr  296. 

Schelble  239. 

Schellmann  295. 

Scheurlen  14. 

I  Schiller  466. 

Schjerning  186.  189. 

Schloß  291. 

Schmid-Monnard  118.  125. 
126. 

Schmidt  134. 

Schmieden  72. 

Schmoller,  von  446. 

Schule  243. 

Schüler,  Frid.  11.  28. 
j  Schultze,  Ernst  66. 276.  279. 


Schwiening  140.  141.  143. 
148.  150.  151.  173.  182. 
253  ff. 

Sehring  367. 

Seitz  128. 

Servino  292. 

Seyffarth  141.  143.  253. 
Seyfferth  76. 

Sharp  465. 

Sichel  287. 

Simon  138.  253.  254. 

Snell  286. 

Solbrig  133. 

Sommer,  R.  84. 
Sommerfeld  18.  197.  229. 
Sternberg  18. 

Stewart  293. 

Stolte  64.  65. 

Sturge  296. 

Süßmilch  302. 

T. 

Teleky  19.  24.  200.  227. 
Theilhaber  42. 

Thomsen  300. 

Tugendreich  46.  49. 65. 308. 
336.  373.  381.  393.  399. 
450. 

ü. 

Ullrich  77. 

Ulrich  69. 

Unger  419. 

y. 

Virchow,  Rud.  146.  189. 
Vogelsänger  11. 

Vogl,  von  110. 

W. 

Wagner,  Adolf  311.  445. 
W ard well  299. 

Wegmann  11. 

Weinberg  455. 

Wellmann  187. 

Wernicke  456. 

Wessel  298. 

Westergaard  349. 
Westphal  300. 

Wilser  146. 

Wintgens  7. 

Wolf,  J.  43. 

Wolff  287.  385.  399. 

Wood  199. 

Wright  286. 

Wulffen  460. 

Wunschheim,  von  12. 

Z. 

Zadek  4. 


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