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PROLEGOMENA
ZUR
GESCHICHTE ISRAELS.
VON
J. WELLHAUSEN.
ZWEITE AUSGABE
DER
GESCHICHTE ISRAELS, BAND I.
BERLIN.
DRÜCK UND VERLAG VON G. REIMER.
1883.
PS
1-2-1
• W4-5"
\g83
Vorwort.
Der erste Band der Geschichte Israels , - in sich ein abgeschlossenes
und vollständiges Werk, erscheint, nun so auch auf dem Titel, weil es
unsicher ist, wann der zweite hinzukommt. Dass meine Kritik die Sub-
struction zu einem positiven Aufbau ist, glaube ich auch für die, welche
es ihr selber nicht anmerken, durch eine in der Encyclopaedia Britannica
veröffentlichte Skizze gezeigt zu haben; umgekehrt hat August Köhler,
unbewusst aber gründlich, von neuem dargethan, dass sich von den Vor-
aussetzungen der traditionellen Kritik zu einer geschichtlichen Anschauung
und Darstellung nicht gelangen lässt.
Einen Erfolg habe ich ohne Zweifel gehabt, den, dass die Graf sehe
Hypothese — der Name befriedigt nicht, aber man lasse es dabei, denn
die anderen Namen sind nicht besser, und Vatke- George -Reuss kann
man doch nicht sagen — auch in Deutschland, wo sie bis dahin in den
massgebenden Kreisen unbekannt geblieben und dementsprechend mit
vornehmer Geringschätzung behandelt war, durch mein Buch auf die
Tagesordnung gekommen ist. Die deutschen Fachgenossen sind durch
mich aufgerüttelt worden; diese Thatsache wird dadurch nicht abge-
schwächt, dass sie plötzlich Alles längst gewusst haben wollen, was sie
von mir gelernt haben. Es gibt kaum einen schriftstellernden Hebräer
oder Theologen, der nicht seit 1878 zu der neuen Zeit- und Streitfrage
Stellung zu nehmen sich gedrungen gefühlt hätte. Steinschneider in
Berlin erklärt, für ihn bleibe es , beim Alten, und citiert zur Begründung
Ryssel; Kneucker in Ziegelhausen dagegen ist geneigt, nunmehr der
Graf sehen Hypothese sich anzuschliessen. Als ob es sich um Sammlung
von Voten für oder wider ein Dogma handle! Vorwiegend laut sind be-
greiflicherweise die Gegner; sie selber glauben freilich übertäubt zu
werden, aber in der Beziehung unterschätzen sie sich. Einer helfen sie
dem anderen, ihre wankenden Idole zu halten und zu befestigen; einer
berufen und stützen sie sich auf den anderen; sie trösten und stärken
sich selber mit ihren Argumenten, denn für Übelwollende sind dieselben
IV Vorwort.
offenbar nicht bestimmt. Wenn aber ein gewisses Mistrauen auf den bis-
herigen Erfolg ihrer vereinten Anstrengungen sie beschleichen will, so
verweisen sie auf zukünftige Leistungen. „Ere long more than one effective
reply will be forthcoming", lässt sich ein schottischer Interviewer von Zöckler
und Delitzsch versichern. Leider können sie im schlimmsten Falle auf
einen stillen Socius recurrieren, der noch dazu die grösste lebende Auto-
rität auf dem Gebiete der semitischen Philologie und Geschichte ist, auf
den ihnen sonst sehr wenig geistesverwandten Theodor Nöldeke. Er hat
zwar die Graf sehe Hypothese mit Freuden begrüsst und selber geholfen
ihr die Wege zu bahnen, andererseits aber doch versucht einen Ausweg
. zu zeigen, durch den man ihren Consequenzen entgehen kann, und da-
durch ihren Bestreitern den erheblichsten Dienst geleistet.
Die Kunst der Gegner besteht im Ausweichen. So weit es geht,
lehnen sie die Forderung ab", die Schichten des Pentateuchs — sämtlich
und nicht bloss eine oder die andere — nach historischen Gründen anzu-
setzen, indem sie sich* zurückziehen auf die Annahme sei es göttlicher
sei es schriftstellerischer Velleitäten, die keine innere Beziehung zu einem
bestimmten Zeitalter und keine geschichtliche Realität haben. Geht das
aber nicht, so befriedigen sie jene Forderung in der Weise, dass sie
selber die historischen Verhältnisse schaffen, die sie zu haben wünschen,
statt sich an die gegebenen und bezeugten zu halten, die ihnen unbequem
sind. Die jerusalemische Priesterschaft muss schon seit Salomo eine
ähnliche Stellung gehabt haben wie nach dem Exil, die Hierokratie muss
bis zu Mose hinaufreichen, der Hohepriester muss von jeher an der Spitze
der Gemeinde- gestanden haben. Allerdings, wenn der Priestercodex so
alt ist: es muss dann sogar der König im Cultus nichts zu sagen gehabt
und überhaupt in der Gemeinde eine höchst überflüssige Figur gemacht
haben, es »muss Israel schon damals eine Kirche und kein Staat gewesen
sein. Bezeugt ist aber überall das Gegenteil, dass der König an der
Spitze des Cultus stand, dass der Tempel ein Teil seiner Burg war, dass
die Priester von ihm geschaffen wurden, in seinem Auftrage amtierten
und nach seinen Befehlen handelten. Durch den Hinweis auf 2. Reg. 18,
4.22 wird dieser Sachverhalt in keiner Weise widerlegt. Die Stelle
könnte höchstens lehren, dass das Bestreben den Gottesdienst im Tempel
von Jerusalem zu concentrieren schon zur Zeit Hizkia's sich regte: ein
Centralisationsbestreben aber zeigt sich im Priestercodex nirgends, es
wird vielmehr die Centralisation vorausgesetzt, als selbstverständliche
Thatsache und in all ihre Consequenzen entwickelt. Höchstens das
Deuteronomium könnte man nach 2. Reg. 18, 4. 22 ansetzen; freilich geht
auch das nicht, weil man doch unmöglich mit dieser Notiz gegen den
Bericht von 2. Reg. 22. 23 ankämpfen kann, wonach das Deuteronomium
achtzig Jahre später aufgefunden und damals zuerst in Wirksamkeit ge-
Vorwort. V
setzt ist. Demgemäss habe ich, in der Anmerkung auf S. 49, die Ansicht
ausgesprochen und begründet, es sei auf 2. Reg. 18, 4. 22 wenig zu
geben. Da drehen nun aber die nicht hyperkritischen Kritiker den Spiess
um und werfen mir vor, dass ich mir die Grundlage, von der ich aus-
gehe, erst- selber zurecht mache, durch willkürliche Behandlung des
Textes, durch beliebige Streichungen und Veränderungen. Ich entscheide
a potiori und suche darnach das Gewicht der einzelnen Instanz abzu-
schätzen, sie verfahren umgekehrt — das ist der Unterschied.. Im Übri-
gen habe ich eben gezeigt, dass ihre Position durch 2. Reg. 18, 4. 22
nicht befestigt und meine dadurch nicht erschüttert wird. Ich könnte
so gut wie Graf auch ohne Textkritik und ohne Annahme einer durch-
gehenden judaistischen Überarbeitung der Bibel auskommen und doch
beweisen was ich wollte: wenn es mir darauf ankäme meinen Wider-
sachern keine Blosse zu geben. Mein Zweck ist aber kein so ephemerer;
es kommt mir gar nicht darauf an geschickt zu fechten, sondern die Wahr-
heit zu finden und zu sagen, unbekümmert um den Schein des Willkür-
lichen und Neuerungsüchtigen. Ob es mir helfen könnte das Niveau
tiefer zu nehmen, mögen Unbefangene aus folgendem Beispiel abnehmen.
Ich habe gezeigt, dass das Kapitel Jud. 1 in Wahrheit keine Fortsetzung
des Buches Josua sei, sondern eine Parallele dazu, die sachlich an den
Pentateuch anschliesse und wohl die Eroberung des ostjordanischen Lan-
des voraussetze, aber nicht die des westjordanischen, diese vielmehr erst
selber erzähle und zwar ganz anders als wie es im Buch Josua geschieht.
Auf Grund dieses Nachweises habe ich dann weiter gesagt, also passe
die Einleitungsformel „und es geschah nach dem Tode Josua's" (Jud. 1, 1)
nicht zu dem Inhalte des Stücks, sie rühre wie die gleichlautende For- *
mel Jos. 1, 1 erst von dem Deuteronomisten her und müsse sachgemässer
heissen: es geschah nach dem Tode Moses. Das sieht der Königliche
Professor des Hebräischen in Oxford, S. R. Driver, für eine Art Ge-
schichtsfälschung an, indem er die Sache so vorstellt (Acad. 1882 XXI.
p. 131), als ob ich zunächst in Jud. 1, 1 zum Vergnügen Mose für Josua
setzte und dann die Aussagen des folgenden Zusammenhangs meinen
Wünschen gemäss gestaltete. Natürlich denke ich in diesem Falle gar
nicht einmal daran, die deuteronomistische Formel zu ändern.
Die Säulen der schon nicht mehr ganz herrschenden Meinung sind
Dillmann und Delitzsch. Unter Berufung auf alle gesunden Principien
weist Oillmann die Aufstellungen, die er nicht annimmt, kurzer Hand
ab, in erregter Weise, als hätte er Grund die Graf sehe Hypothese per-
sönlich übel zu nehmen: da indessen sein Commentar zum Hexateuch
übrigens recht brauchbar ist, so lässt man sich den strafenden Ton
gefallen und bedauert nur die Gereiztheit nicht widerlegen zu können. De-
litzsch geht in seinen pentateuchkritischen Studien (Luthardts Zeitschr,
VI Vorwort.
für kirchl. Wissenschaft 1880) tiefer in die Diskussion ein; vermutlich ut
aliquid fecisse videatur. Mag "er immerhin durch das was er vorbringt
seine Gläubigen einigermassen beruhigen, obwohl auch das bei seiner
eigenen Unruhe und Haltlosigkeit zweifelhaft erscheint — für Mitarbeit
an einem gemeinsamen Problem kann ich seine Gegnerschaft nicht gelten
lassen. Unerträglich ist die Sprache, die er führt. Mit hamitischer
Freude über die Blosse Noä soll ich den A r erfasser der Chronik, der
allerdings Geschichte im Geiste seiner Zeit und seines Standes schreibe,
schimpflichst heruntersetzen ; wo es gelte biblische Geschichtsschreiber
zu kritisieren, sei mir die niedrigste Vorstellung, der gemeinste Aus-
druck der liebste; aber es sei ja so bei den Fortschritten in Wissen-
schaft und Kunst, dass sie in Sünden empfangen und geboren würden
(a. 0. S. 116. 625. 224). Mir ekelt vor dieser Art; rein aus ästhetischen
Gründen, denn die persönliche Kränkung ertrage ich mit Gelassenheit.
Was ich mir aber selbst von Delitzsch nicht gefallen lasse, sind Vorr
schlage zu Verbesserungen meiner Ausdrücke. Ich habe (Jahrbb. für
deutsche Theol. 1877 S. 436) gesagt, dass der priesterliche Redaktor seine
Erzählung Lev. 24, 10—14. 23 aus dem Gesetz 24, 15—22 entnehme um
einen geschichtlichen Rahmen dazu nachzuliefern, so wie es Lukas mit
den evangelischen Reden zu machen pflege; ich habe dabei bezeichnend
gefunden, dass er aus den verschiedenartigen Geboten (24, 15 — 22) nur
das eine, welches sich auf Cultus und Religion bezieht, herausgreife und
dazu eine Geschichte mache. In der Hauptsache stimmt nun Delitzsch
mir bei, aber daran, dass der Bearbeiter mit dem durchaus auf diese
Stelle berechneten Zusatz auch die Geschichte gemacht habe, nimmt er
schweren Anstoss und klagt mich an, ich lasse mich durch das Bewusst-
sein der Verantwortlichkeit unserer Worte nicht stören. „Er könnte
sagen: der priesterliche Bearbeiter gibt zu dem Gebote eine überlieferte
Geschichte, aber nein: er hat dazu eine Geschichte gemacht." Soll ich
denn das Gegenteil von dem sagen, was ich meine? Ich weiss was ich
sage; mir bedeutet überlieferte und gemachte Geschichte nicht gleichviel;
und gerade wegen des Bewusstseins der Verantwortlichkeit unserer Worte
sage ich gemacht und nicht überliefert. Ebenso ernstlich verbitte ich
mir authentische Interpretationen meiner Worte von unbefugter Seite. Ich
habe in der 1. Ausg. S. 427 geschrieben, in Wahrheit sei Mose etwa in
dem gleichen Sinne der Urheber der mosaischen Verfassung, wie unser
Herr Jesus Christus der Stifter der Mederhessischen Kirchenordnung.
Dazu bemerkt der Licentiat Bestmann (Geschichte der ehr. Sitte S. 234):
„Der Witzgehalt dieser barocken Bemerkung ist beiläufig bemerkt ein
ziemlich schwacher. Bekanntlich hat man vor einiger Zeit erst die Mar-
burger Kirchenordnung von 1528 wieder entdeckt. Also schon die Pa-
rallele zum Deuteronomium wäre unendlich gesucht. u Ich besitze nicht
Vorwort. VII
die bekanntliche Gelehrsamkeit des Licentiaten, ich bin aber etwas älter
als er und kann mich noch der Zeit erinnern, wo die Hessischen Reni-
tenten sich auf den unbeweglichen Rechtsbestand ihrer Kirchenordnung
(wenn ich nicht irre von 1657) beriefen, welche sie mittelbar von unserem
Herrn Jesus Christus selber ableiteten. Letzteres war mir frappant, weil
es zeigte, dass noch in unserer Zeit, bona fide, geschehen kann, was vor
drittehalb tausend Jahren bei den alten Juden vorgekommen ist Den
Witz, dessen Gehalt Bestmann schwach findet, hat er selbst gemacht.
So tief er auch in das innerste Wesen meines Geistes, durch reine In-
tuition, eingedrungen ist, so bloss und entdeckt das ganze geheime Ge-
triebe meiner Gedanken vor seinen Augen liegt — ich mag ihn doch
nicht zu meinem Propheten haben.
Die kirchliche Wissenschaft 1 ) scheint im Alten Testamente die Auf-
gabe zu haben, fünfzig Jahre lang eine neue Entdeckung zu widerlegen,
darnach aber einen mehr oder minder geistreichen Gesichtspunkt aufzu-
finden, unter welchem dieselbe ins Credo aufgenommen werden kann. Aus
diesem Grunde habe ich es nicht für nötig und nützlich gehalten, in der
zweiten Ausgabe dieses Buches auf alle die Einwürfe einzugehen, die
gegen die erste gemacht sind. Ich habe im Gegenteil noch allerlei Po-
lemik gestrichen, weil ich glaube, dass es überhaupt am besten ist, ein-
fach seine Meinung und die Gründe dafür vorzutragen, oder wie Ewald
sich ausdrückte, immer gleich das Richtige zu sagen. Im ganzen ist
diese zweite Ausgabe wenig verändert; nur das achte Kapitel habe ich
völlig umarbeiten müssen, weil ich zu der künstlichen Confusion, in
welcher es sich präsentierte, inzwischen selber den Schlüssel verloren
hatte.
] ) Gegen die Polemik, die vom Boden der kirchlichen Praxis aus gegen mich
geführt wird, habe ich an sich nichts einzuwenden. In Bezug auf den
Artikel der N. Ev. KZ. 1879 S. 84 möchte ich mir* jedoch drei Bemer-
kungen erlauben. Erstens was die Worte betrifft : „Wie ist der liebe
David noch in seinem hohen Alter so emsig gewesen, wie hat er sich so
nahe zum Tempelbau hingemacht als es nur möglich war! Das ist so
artig bei David: er hat sich so nahe zu den Leviten hingemacht als sich
nur immer es thun Hess, als wäre er einer ihres gleichen, und hat doch
keinen Eingriff gethan" (1. Ausg. S. 189), so stammen dieselben nicht
von mir, sondern von J. A. Bengel (Beiträge zu J. A. Bengels Schrifter-
klärung, mitgetheilt von Wächter 1865 S. 17). Zweitens was den ge-
waltigen Unterschied betrifft, der zwischen meiner Bearbeitung von Bleek
(N. Ev. KZ. 1878 S. 352) und zwischen der Geschichte Israels Band I ge-
macht wird, so ist derselbe unbegründet. Drittens erkenne ich der N.
Ev. KZ. nicht das Recht zu, zu sagen, es leuchte ein, dass mein Buch
von unhistorischer Auffassung diktiert sei. Ich habe nichts dagegen,
dass sie David sich lieber nach der. Chronik und nach den Psalmen vor-
stellt als nach den Büchern Samuelis, ebenso wie sie Calvin lieber im
Lichte der Legende sieht als in dem der Urkunden (1869 S. 526, Kamp-
schulte S. 485 ff.), aber der kirchliche Standpunkt ist nicht der historische.
VIII Vorwort.
Dass man in dem Streben das Richtige zu sagen sich irrt, kommt
vor. Ich habe auf S. 105 der Zusammenstellung des Passah mit dem
Feste von Mekka das Wort geredet, aus Gründen, die man dort nach-
sehen kann. Durch Professor Robertson Smith bin ich indessen jetzt
anderer Meinung geworden. In einem Briefe an mich vom 21. März 1883
tritt er für seine bereits früher geäusserte Meinung (Prophetsp. 383 sq.)
ein, dass Ewald Recht habe, die im Scholion zu Hariths Muallaka 68 be- ^
zeugte Opferung der Erstgeburten im heiligen Monate Ragab dem Passah-
feste gleich zu setzen. Er leugnet nicht, dass zur Zeit Muhammeds der
Dhulhigga und nicht der Ragab mit dem Passah coincidiere. Aber er
verweist einerseits darauf, dass das mekkanische Fest in der Gestalt, in
welcher wir es kennen, nicht alt sei, wie sich aus Kalammas (== Kalendas,
Kalendermacher) und anderen Spuren ergebe, andererseits darauf, dass
die Namen der Monate verraten, dass sie einst ganz anders gelegen haben
als zur Zeit Muhammeds. Der Ragab könne wohl ursprünglich in den
Frühling gefallen sein.
Ich muss meinem Freunde Smith Recht geben. Die alten Araber
hatten keine Monatsnamen, sondern nur Namen für Jahreszeiten und zwar
für ziemlich kurze Jahreszeiten. Wenn noch jetzt Rabi und Gumada
jeder zwei Monate umfassen, so besagt das doch eben, dass sie ursprüng-
lich keine Monatsnamen sind; denn ein Monatsname muss auch eben
einen Monat decken. Vor Rabi und Gumada liegt der Safar: wir hören
von Ihn Duraid (bei Gauhari), dass derselbe ursprünglich ebenfalls einen
Zeitraum von zwei Monaten ausgefüllt hat und dass erst später, angeb-
lich erst seit dem Islam, seine erste Hälfte Muharram benannt worden
ist. Abu Dhuaib redet von den beiden Monaten des Safar '), und im alten
Urkundenstil erscheint wohl noch der Safar und nicht der Muharram als
Anfang des Jahres oder der einen Jahreshälfte. 2 )
Damit haben wir ein vollständiges Semester: Safar, Rabi, Gumada.
Es handelt sich nun darum zu bestimmen, ob dies das Winter- oder das
Sommersemester gewesen ist. Das gelingt sehr leicht; denn bei den alten
Dichtern und überhaupt in der alten Sprache bedeuten die Namen noch
immer lediglich Jahreszeiten. So z. B. der Safar bei Nabigha 11, 1 (ed.
Ahlw.). Der Safar liegt zwischen Kaitz und Schitä, er deckt sich noch
') Der auch in anderer Beziehung interessante Vers steht im Tag alArus III
345,2; der Ausdruck die beiden Monate Safar stammt natürlich erst
aus einer Zeit, wo die alten Jahreszeitnamen schon zur Monatsbezeich-
nung wohl oder übel dienten.
*) Als Semesteranfänge kommen Safar und Ragab noch vor in dem Vertrage
Muhammeds mit den Christen von Nagran (Baladh. 64, 3 vgl. Vakidi a. 0.
S. 20 S. 405 Anm. 2). Das Semester scheint bei den alten Arabern fast
wie bei den deutschen Studenten eine ähnlich wichtige Einheit gewesen
zu sein wie das Jahr, wie schon Ewald bemerkt hat.
Vorwort. IX
teilweise mit dem Charif, und fällt ungefähr um die Herbstnachtgleiche. l )
Der Gumada kommt sehr häufig in der ältesten Literatur vor und be-
zeichnet immer die schlimmste Winterkälte, im Januar und Februar. Da
nun Rabi in der Mitte steht, so muss er zwischen Oktober und Januar
fallen. Das ist die Hauptregenzeit in Arabien, wo nach langer Dürre
wieder mehr Gras und Kraut wächst. Für diese Hauptregen- und Weide-
zeit wird auch Rabi immer im alten Arabisch gebraucht, daher das Deno-
minativum Tarabbu = auf die Weide gehen. Man übersetzt Rabi gewöhn-
lich mit Frühling, und das ist auch nicht gerade unrichtig; nur muss man
bedenken, dass das Analogon unseres Frühlings in Arabien in das erste
Winter Vierteljahr fällt. Freilich haben schon die Araber selbst, wenigstens
in späterer Zeit, als sie ihr Hauptquartier nicht mehr in ihrer alten
Heimat hatten, den Namen Rabi auch auf unseren Frühling übertragen,
so dass dadurch ein Schwanken des Sprachgebrauchs eintritt. Das selbe
Sehwanken findet sich auch bei den Syrern, wie Theodor Nöldeke, dessen
milde Hand ich angesprochen habe, mir mitteilt und mit vielen Beispielen
beweist (Herbst DMZ. 1861 S. 651,5, vgl. Opusc. Nest. ed. Hoffmann
83, 3, Joel 2, 23, Hos. 3, 6 Hex.; Frühling als häufige Übersetzung von
ü/)pbc> Regen schlechthin lob 37,6 wie es scheint}. Dadurch wird
aber daran nichts geändert, dass dor richtige und ursprüngliche Rabi bei
den Arabern in das erste Wintervierteljahr fällt und dass von diesem
Rabi die Monatsbezeichnung im mekkanischen Kalender hergenommen ist
Da nun also Safar Rabi Gumada das Winterhalbjahr ist, Septem-
ber/Oktober bis Februar/März, so folgt, dass das Semester, welches mit Ra-
gab beginnt, eigentlich das Sommerhalbjahr ist, und dass also der Ragab
unserem Frühlingsanfang und dem Passahmonat entspricht. Damit wird
die Frage, die uns beschäftigt, zu Gunsten von Ewald und Smith ent-
schieden. Weiter zu untersuchen, wie und wann (jedenfalls nicht erst
seit dem Islam) aus den altarabischen Jahreszeiten die mekkanischen
Monate gemacht sind, ist nicht dieses Ortes. Der Verdacht späterer Ein-
schiebung richtet sich naturgemäss auf die Schuhur alHagg; der Dhulhigga
kommt bei den Himjariten vor, die seit alters nach zwölf Monaten ge-
rechnet zu haben scheinen (DMZ. 1875 S. 603); andere Spuren weisen
auf jüdischen oder nabatäischen Einfluss. Die Beobachtung Dozy's, dass
Reiche Beispiele im Tag alArus III 345. 346; es werden Pflanzen, Tiere,
Regenfälle nach dieser Jahreszeit benannt. Sehr genau in der Abgrenzung
ihrer Jahreszeiten sind die alten Araber nicht, sie lassen sie in einander
laufen und haben gewöhnlich auch mehrere Bezeichnungen dafür. Die
Angabe, Safar reiche vom Suhail bis zum Simäk oder zum Dhira , sieht
nach Gelehrsamkeit aus ; wertvoller scheint eine andere, es seien 40 Tag-
nächte mit abwechselnder Hitze und Kälte, die (darum) die mu tadilät
heissen, die sich das Gleichgewicht halten. Dieser Name könnte auch auf
die Tag- und Nachtgleiche gehen.
Wellhausen, Prolegomctm. *
X Vorwort.
die meisten technischen Ausdrücke des mekkanischen Fest- und Kalender-
wesens sich nicht aus dem Arabischen erklären lassen, scheint sich von
allen Seiten zu bestätigen.
Noch in einem anderen Punkte wünsche ich mich hier zu corrigieren.
Auf S. 327 habe ich geäussert, wenn der Jehovist sich mit der babylo-
nischen Version der Sündflutgeschichte näher berühre als der Priester-
codex, so sei dies ein Zeichen davon, dass sich bei ihm der internationale
Charakter dieser Ursagen noch treuer erhalten habe. Es kann aber sein,
dass im Exil und später directe Zuflüsse von Babylon eingedrungen sind.
Der haggadische Zug, dass Noah beim Bau der Arche ausgelacht wird,
rindet sich schon in dem keilschriftlichen Berichte. So scheint auch der
Asphalt, der in Q beim Bau der Arche verwandt wird, direct aus Baby-
lonien entlehnt zu sein, worauf E. Süss aufmerksam macht. Beim Jeho-
visten findet sich indessen eine Spur, wonach er die babylonischen Stoffe
nicht von Babylonien bezogen hat Nimrod ist, wegen der Form des
Wortes, den Hebräern von den Syrern zugekommen; noch in späterer
Zeit hatten die Harranier einen gleichbedeutenden, wenn auch nicht ganz
gleichnamigen Gott Marri den Jägersmann. Vgl. Bibl. Or. I 327 : der Satan
führte Harran irre. durch Sin und Beelsemin und Barnemre und Marri mit
den Hunden, und durch die Göttinnen Atargate und Gadallät.
Ich will nicht schliessen ohne ein Wort des Dankes an die Freunde,
die mir das vorliegende Buch doch auch erworben oder neu verbunden
hat. Besonders lebhaft haben mir klassische Philologen ihre Zustimmung
geäussert; nach K. D. Ilgen und Ph. Buttmann zu schliessen prädisponiert
die Kenntnis des griechischen Altertums einigermassen für die Auffassung
des Alten Testaments, welche ich für die richtige halte.
Halle am 17. Mai 1883.
Wellhausen.
Das Thema
des vorliegenden Buches ist die geschichtliche Stellung des
mosaischen Gesetzes, und zwar handelt es sich darum, ob
dasselbe der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten
Israel oder für die Geschichte des Judentums, d.h. der re-
ligiösen Gemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern ver-
nichtete Volk überlebte.
1. Es ist eine verbreitete Ansieht, dass die Bücher des Alten
Testaments, im ganzen und grossen, sich nicht bloss auf die
vorexilische Periode beziehen, sondern auch aus ihr stammen.
Es sind die Reste, meint man, welche die Juden aus der Lite-
ratur des alten Israel retteten, das Erbe der Vergangenheit, von
dem sie in Ermangelung eigenen geistigen Lebens zehrten. Auch
wenn man nicht grade mit der Dogmatik das Judentum einfach
als ein Vacuum betrachtet, über welches hinweg das Alte Testa-
ment ins Neue mündet, hält man doch insgemein daran fest,
dass dasselbe an der Hervorbringung der Schriften, welche es
in die heilige Sammlung aufnahm, nur ausnahmsweise einen
Anteil gehabt habe. Aber die Ausnahmen, die man in der
jüngsten und in der mittleren Schicht des Kanons zugibt, sind
nicht so ganz geringfügig. Von den Hagiographen ist bei weitem
der grösste Teil erweislich nach exilisch, erweislich vorexilisch
dagegen nichts; der Daniel reicht hinunter bis zu den makka-
bäischen Kriegen, Esther vielleicht noch tiefer. Auch die pro-
phetischen Schriften fallen durchaus nicht alle noch in die
Königszeit, sondern zu einem sehr beträchtlichen Teile über-
schreiten sie diese Grenze; die im Kanon damit unter gleichem
Namen zusammengefassten Historienbtieher sind, wie wir sie
Well hausen, Prolegomena. 1
2 Das Thema.
haben, nach dem Tode des gefangenen Königs Jeehonia verfasst,
der noch eine Weile über das Jahr 560 hinaus gelebt haben
muss. Bringt man nun auch die älteren Quellen in Anschlag,
welche in den Büchern der Richter Samuelis und der Könige
vielfach benutzt und meist wörtlich aufgenommen sind, so be-
läuft sich doch die vorexilische Literatur, die uns im Alten
Testamente abzüglich des Pentateuchs erhalten ist, auf nicht viel
mehr als die Hälfte vom Umfange des Ganzen. Das Uebrige
gehört der späteren Periode an; darunter nicht bloss kümmer-
licher Nachwuchs aus halb erstorbenen Trieben von ehemals,
sondern auch so wertvolle und originelle Erzeugnisse wie Isa.
40-66 oder Ps. 73.
Wir kommen zum Gesetze. Ausdrückliche Angaben über
den Verfasser und die Abfassungszeit fehlen, wie gewöhnlich;
um uns ungefähr zu orientiren, sind .wir darajif angewiesen, aus
der Analyse des Inhalts passende Daten zu gewinnen und sie
zu dem, was wir anderweit vom Verlaufe der israelitischen Ge-
schichte wissen, in Beziehung zu setzen. Hier aber pflegt man
den zu vergleichenden historischen Zeitraum von vornherein so
abzustecken, dass das babylonische Exil als eine ebenso untiber-
schreitbare Grenze nach unten gilt wie der Auszug aus Ägypten
nach oben. Verleiht etwa die Geschichte des Kanons ein Recht
dazu? Es könnte so scheinen. Das Gesetz ist am frühesten
kanonisch geworden, durch Ezra und Nehemia; die Propheten
sind beträchtlich später hinzugekommen, am spätesten die Ha-
giographen. Es liegt nun nahe, aus der Stufenfolge der Kano-
nisirung dieser Schriften auf eine ungefähre Stufenfolge ihres
Alters zu schliessen und demgemäss nicht nur die Propheten
den Hagiographen, sondern auch die fünf Bücher Mosis den Pro-
pheten voranzustellen: wenn schon diese zum grösseren . Teile
der vorexilischen Zeit angehören, wie viel mehr jene! Aber so
zulässig eine derartige Vergleichung zwischen der mittleren und
der jüngsten Schicht des Kanons sein mag, so unzulässig ist sie
zwischen der ersten Schicht und den beiden anderen. Nämlich
der Begriff des Kanons haftet an der Thora und ist von da erst
auf die Übrigen Bücher tibertragen; den letzteren wuchs allmäh-
lich und unter der Hand ein gewisser Anteil an der Geltung
zu, welche die Thora durch einen öffentlichen und ganz for-
mellen Akt erlangt hatte, wodurch sie als die Magna Charta der
Das Thema. 3
jüdischen Gemeinde eingeführt wurde (Nehem. 8—10). Bei jenen
gehört der kanonische d. h. gesetzliche Charakter nicht zur
Sache, sondern ist erst nachträglich hinzugetreten; da muss ein
längerer, kann ein sehr langer Zeitraum zwischen der Entstehung
und der Sanktionierung gelegen haben. Dagegen der Thora ist
der kanonische Charakter in der Tat viel wesentlicher; die An-
nahme birgt Schwierigkeiten, dass das mosaische Gesetz im vor-
exilischen Altertum entstanden sei und dann erst viele Jahr-
hunderte später unter total veränderten Umständen Gesetzeskraft
erlangt habe. Wenigstens kann daraus, dass es die öffentliche
Geltung als Gemeindebuch, die es beansprucht, früher gewonnen
hat als Schriften , die darauf in keinerlei Weise angelegt sind,
gewiss nicht gefolgert werden, dass es älteren Ursprungs sei
als jene.
Somit lässt sich die Möglichkeit, dass das Gesetz des Juden-
tums auch das Product des Judentums sei, nicht gleich vor der
Thüre abweisen, und es gibt dringende Gründe, sie in nähere
Erwägung zu ziehen. Vielleicht schickt es sich, hier persönliche
Erfahrung reden zu lassen. Im Anfange meiner Studien ward
ich angezogen von den Erzählungen von Saul und- David, über
Elias und Ahab, und ergriffen von den Reden eines Arnos und
Jesaia; ich las mich in die prophetischen und geschichtlichen
Bücher des Alten Testaments hinein. An der Hand der mir zu-
gänglichen Hülfsmittel glaubte ich sie zwar leidlich zu verstehen,
hatte aber dabei ein schlechtes Gewissen, als ob ich beim Dache
statt beim Fundamente anfinge; denn ich kannte das Gesetz
nicht, von dem ich sagen hörte, es sei die Grundlage und Vor-
aussetzung der Literatur. Endlich fasste ich mir Mut und ar-
beitete mich hindurch durch Exodus Leviticus und Numeri und
sogar durch Knobel's Commentar dazu. Aber vergebens wartete
ich auf das Licht, welches von hieraus auf die geschichtlichen
und prophetischen Bücher sich ergiessen sollte. Vielmehr ver-
darb mir das Gesetz den Genuss jener Schriften; es brachte
sie mir nicht näher, sondern drängte sich störend ein, wie ein
Gespenst, das zwar rumort, aber nicht sichtbar, nicht wirksam
wird. Wo sich Berührungen fanden, da waren Differenzen da-
mit verbunden und ich konnte mich nicht entschliessen, auf
Seiten des Gesetzes das Ursprüngliche zu sehen; dunkel empfand
ich einen allgemeinen Abstand zweier verschiedenen Welten.
4 Das Thema.
Jedoch zu einer klaren Anschauung gelangte ich keineswegs,
sondern nur zu einer unbehaglichen Confusion, die durch Ewald's
Erörterungen im zweiten Bande seiner Geschichte des Volkes
Israel nur vermehrt wurde. Da erfuhr ich bei einem gelegent-
lichen Besuche in Göttingen im Sommer 1867 durch Ritschi, dass
Karl Heinrich Graf dem Gesetze seine Stelle hinter den Pro-
pheten anweise, und beinah ohne noch die Begründung seiner
Hypothese zu kennen, war ich für sie gewonnen: ich durfte mir
gestehen, dass das hebräische Altertum ohne das Buch der Thora
verstanden werden könne.
Die Hypothese, die man nach Graf zu benennen pflegt,
stammt nicht von ihm, sondern von seinem Lehrer Eduard Reuss.
Am richtigsten wäre sie aber zu benennen nach Leopold George
und Wilhelm Vatke; denn sie haben dieselbe zuerst literarisch
vertreten, unabhängig von Reuss und unabhängig von einander.
Ihrerseits sind alle diese Männer von Martin Lebrecht de Wette
ausgegangen, dem epochemachenden Eröffner der historischen
Kritik auf diesem Gebiete 1 ). Zu einer festen Position ist frei-
l ) W. M. L. de Wette, Beiträge zur Einleitung in das A. T., Bd. I: Kri-
tischer Versuch über die Glaubwürdigkeit der Bücher der Chronik, Bd. II :
Kritik der Mosaischen Geschichte; Halle 1806. 1807. J. F. L. George,
die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pen-
tateuch; Berlin 1835 (Vorrede vom 12. Oktob.). W. Vatke, die biblische
Theologie wissenschaftlich dargestellt; Berlin 1835 (Vorrede v. 18. Oktob.,
nur der erste Teil des ersten Bandes ist erschienen). K. H. Graf, die
geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, Leipzig 1866. Dass Graf,
ebenso wie J. Orth (Nouv. Revue de Theol. III. 384ff., IV. 350ff., Paris
1859. 1860), die Anregung zu seiner Kritik von seinem Strassburger
Lehrer empfangen habe, war nicht unbekannt; wie gross aber Reuss'
Anteil an der Graf 'sehen Hypothese gewesen sein muss, hat sich erst
im Jahre 1879 gezeigt durch die Veröffentlichung gewisser Thesen, die er
schon 1833 formulirt, damals aber dem grossen theologischen Publicum ge-
druckt vorzulegen Bedenken getragen hatte. Die Thesen, auf die es ankommt,
lauten (L'Histoire Sainte et la Loi, Paris 1879 S. 23. 24): 1. L'element
historique du Pentateuque peut et doit etre examine ä part et ne pas
etre confondu avec l'element legal. 2. L'un et l'autre ont pu exister
sans redaction ecrite. La mention, chez d'anciens ecrivains, de certaines
traditions patriarcales ou mosaiques, ne prouve pas l'existence du Pen-
tateuque, et une nation peut avoir un droit coutumier sans code ecrit.
3. Les traditions nationales des Israelites remontent plus haut que
les lois du Pentateuque et la redaction des premieres est anterieure ä
celle des secondes. 4. L'interet prineipal de l'historien doit porter sur
la date des lois, parce que sur ce terrain il a plus de chance d'arriver
. ä des resultats certains. II faut en consequence proceder ä l'interroga-
toire des temoins. 5. L'histoire racontee dans les livres des Juges et de
Samuel , et meme en partie celle comprise dans les livres des Rois, est
en contradiction avec des lois dites mosaiques; donc celles-ci etaient in-
Das Thema. 5
lieh de Wette nicht gelangt, aber er hat zuerst die Kluft deut-
lich empfunden und nachgewiesen, welche sich zwischen dem
angeblichen Ausgangspunkte der israelitischen Geschichte und
ihr selber aufthut. Das in der Wüste auf so breiter Grundlage
errichtete Gebäude der religiösen Gemeinde, mit ihrem heiligen
Mittelpunkt und ihrer uniformen Organisation, verschwindet
spurlos, seit Israel landsässig und ein eigentliches Volk gewor-
den ist. Die Richterperiode stellt sich uns dar als ein buntes
Chaos, aus dem allmählich eine zusammenfassende Ordnung her-
vorgeht, unter dem Druck der äusseren Umstände, aber auf eine
höchst natürliche Weise und ohne jegliche Reminiscenz an eine
einheitliche heilige Verfassung, die einst zu Recht bestanden
hätte. Hierokratische Neigungen hat das hebräische Altertum
gar nicht; die Macht ist lediglich bei den Geschlechts- und Fa-
milienhäuptern und bei den Königen, sie verfügen auch über
den Gottesdienst und setzen die Priester ein und ab. Der Ein-
fluss, den die letzteren besitzen, ist bloss ein moralischer; die
Thora Gottes ist nicht ein ihre eigene Stellung garantirendes
Dokument in ihren Händen, sondern eine Unterweisung für an-
dere in ihrem Munde; sie hat wie das Wort der Propheten nur
göttliche Autorität, gilt nur so weit als sie freiwillig anerkannt
wird. Was endlich die Literatur betrifft, die uns aus der Königs-
zeit überliefert ist, so wird es dem besten Willen schwer, ein
paar zweideutige Anklänge an's Gesetz aufzustöbern, die gar
nichts bedeuten, wenn man bedenkt, was Homer für die Griechen
gewesen ist.
Um das Befremden auf die Spitze zu treiben, kommt nun
noch hinzu, dass im nachexilischen Judentum der bis dahin
connues ä l'epoque de la redaetion de ces livres, ä plus forte raison elles
n'ont pas existe dans les temps qui y sont decrits. 6. Les prophetes
du 8e et du 7e siecle ne savent rien du code mosaique. 7. Jeremie est
le premier prophete qui connaisse une loi ecrite et ses citations rappor-
tent au Deuteronome. 8. Le Deuteronome (4,45—28,69) est le livre que
les pretres pretendaient avoir trouve dans le temple, du temps du roi
Josias. Ce code est la partie la plus ancienne de la legislation (redigee)
comprise dans le Pentateuque. 9. L'histoire des Israelites, en tant qu'il
s'agit du developpement national determine par des lois ecrites, se divi-
sera en deux periodes, avant et apres Josias. 10. Ezechiel est anterieur
ä la redaetion du code rituel et des lois qui ont definitivement organise
la hierarchie. 11. Le livre de Josue n'est pas, tant s'en faut, la partie
la plus recente de l'ouvrage entier. 12. Le redacteur du Pentateuque se
distingue clairement de Fanden prophete Moyse.
6 Das Thema.
latente Mosaismus plötzlich überall zum Vorschein kommt. Da
haben wir das Buch als Grundlage des geistigen Lebens, „die
Leute der Schrift" wie der Koran sagt; da haben wir das Hei-
ligtum, die Priester und Leviten im Mittelpunkt und das Volk
als Gemeinde darum gelagert, da haben wir den Cultus, die
Brand- und Stindopfer, die Beinigungen und Enthaltungen, die
Feste und Sabbathe genau nach der Vorschrift des Gesetzes, als
die Hauptsache des Daseins. Man nehme die Gemeinde des
zweiten Tempels und vergleiche sie mit dem alten Volke Israel,
so hat man auch den Abstand dieses letzteren vom sogenannten
Mosaismus. Die Juden selbst haben diesen Abstand sehr wohl
empfunden. Die gegen Ende des # babylonischen Exils unternom-
mene Bearbeitung der Bücher der Richter Samuelis und der Könige,
die weit stärker eingreift als man gewöhnlich annimmt, ver-
dammt die ganze * Königszeit als häretisch. Später gestaltete
man die mehr und mehr mit einem gewissen Nimbus umgebene
Vergangenheit lieber einfach ins Legitime um, als dass man sie
verurteilte: die Chronik zeigt, wie sich die Geschichte des
Altertums ausnehmen müsste unter der Voraussetzung, dass die
mosaische Hierokratie ihr Grundinstitut gewesen sei.
2. Diese kurzen Bemerkungen haben nur den Zweck zu zei-
gen, dass es kein eingebildetes, sondern ein wirkliches und unab-
weisbares Problem ist, um das wir uns bemühen. Dasselbe soll
damit 4iur eingeleitet werden, zu erledigen ist es nicht so leicht,
im Gegenteil schwierig genug. So schlechthin lässt sich die
Frage überhaupt gar nicht* aufwerfen, welche geschichtliche
Stellung das Gesetz einnehme. Denn das Gesetz, wenn wir
darunter den ganzen Pentateuch verstehen, ist keine literarische
Einheit und keine einfache geschichtliche Grösse. Seit Peyre-
rius und Spinoza hat die Kritik den complicirten Charakter
dieses merkwürdigen Schriftwerkes erkannt und seit Jean Astruc
sich mit Erfolg bemüht, die ursprünglichen Bestandteile aus
ihrer Verschlingung zu lösen; sie ist gegenwärtig zu einer An-
zahl von Ergebnissen gelangt, die als gesichert gelten können.
Folgende sind darunter die vornehmsten. Die fünf Bücher Mosis
gehören mit dem Buche Josua zusammen, indem nicht der Tod
Mose's, sondern vielmehr die Eroberung des verheissenen Lan-
des den wahren Abschluss zu der Erzvätergeschichte der Aus-
führung aus Ägypten und der Wüsten Wanderung bildet: man
Das Thema. 7
redet also literarisch richtiger vom Hexateuch als vom Penta-
teuch. Aus diesem Ganzen löst sich am einfachsten das Deute-
ronomium ab, als ein von Haus aus selbständiges Gesetzbuch.
Im Uebrigen tritt am markiertesten die s. g. Grundschrift hervor,
ehedem auch, wegen der Anwendung des Gottesnamens Elohim
bis auf Mose, als der Elohist, von Ewald, nach der regelmässi-
gen Form der Kapitelüberschriften in der Genesis, als das Buch
der Ursprünge bezeichnet. Sie zeichnet sich aus durch ihre
Neigung zu Zahl und Mass, überhaupt zum Schema y durch ihre
starre pedantische Sprache, durch die beständige Wiederholung
gewisser Ausdrücke und Wendungen, die sich im älteren Hebrais-
mus sonst nicht finden : sie hat die ausgesprochensten Charakter-
ztige und ist daher am leichtesten und sichersten zu erkennen.
Ihr Grundstock ist der Leviticus nebst den verwandten Teilen
der angrenzenden Bücher, Exod. 25 — 40 mit Ausnahme von
Kap. 32-34, und Num. 1—10. 15-19. 25-36 mit geringen
Ausnahmen. Sie enthält demnach vorzugsweise Gesetzgebung,
und zwar bezieht sich selbige wesentlich auf den Cultus der
Stiftshütte und was damit zusammenhängt. Historisch ist nur
die Form, sie dient dem gesetzlichen Stoff als Rahmen um ihn
anzuordnen, oder als Maske um ihn zu verkleiden. Gewöhnlich
ist der Faden der Erzählung sehr dünn und häufig nur dazu da,
der Zeitrechnung als Vehikel zu dienen, die von Erschaffung
der Welt an bis zum Auszug aus Ägypten lückenlos fortgeführt
wird; nur wo die anderweitigen Interessen einspielen, schwillt
sie an, wie in der Genesis bei den drei Vorstufen des mosaischen
Bundes, die sich an die Namen Adam Noah und Abraham
knüpfen. Scheidet man nun ausser dem Deuteronomium auch
diese Gfundsehrift aus, so bleibt das jehovistische Geschichts-
buch übrig, welches im Gegensatz zu jenen beiden wesentlich
erzählender Natur ist und den Ueberlieferungsstöff recht mit
Behagen ausbreitet. Die Patriarch engeschichte, die ihr beinah
ganz angehört, charakterisiert diese Schrift am besten; dieselbe
erscheint hier nicht als kurz abzumachende Einleitung für das
Wichtigere, was kommen soll, sondern als eine ausführlichst
zu behandelnde Hauptsache. Legislative Elemente finden sich
nur an einer Stelle aufgenommen, wo sie in den historischen
Zusammenhang hineingehören, nämlich bei der Gesetzgebung auf
dem Sinai (Exod. 20-23. 34).
3 Das Thema.
Lange Zeit hat man sich mit dieser Zweiteilung des nicht-
deuteronomischen Hexateuchs begnügt, bis Hupfeld in gewissen
Stücken der Genesis, die man bis dahin teils der Grundschrift
teils dem Jehovisten zugewiesen hatte, eine dritte zusammen-
hängende Quelle aufwies, den s. g. jüngeren Elohisten. Der
Name ist darum gewählt, weil auch hier Elohim die regel-
mässige Bezeichnung der Gottheit ist, ebenso wie es in der Grund-,
schrift bis Exod. 6 der Fall ist; doch bleibt der Zusatz der
jüngere Elohist besser weg, da er ein unberechtigtes Präjudiz
enthält und zur Unterscheidung von der Grundschrift nicht mehr
nötig ist, seit für sie der in der That unpassende Name Elohist
aufgegeben worden ist. Hupfeld nahm nun an, dass die drei
Quellen neutral neben einander hergelaufen seien, bis ein Spä-
terer sie allesammt zugleich zu einem Ganzen vereinigt habe.
Aber dies ist eine unhaltbare Vorstellung, der Elohist ist nicht
bloss im Stoffe und in der Anschauung dem Jehovisten nächst-
verwandt, sondern er ist uns nur als ein Ingrediens der jeho-
vistischen Schrift erhalten; was zuerst Nöldeke erkannt hat 1 ).
Dann bleibt es also, trotz Hupfeld's Entdeckung, dennoch bei
der alten Zweiteilung in zwei grosse Schichten; und man hat
alle Ursache, diesen Hauptgegensatz als Grundlage der histori-
schen Untersuchung festzuhalten, trotzdem sich mehr und mehr
herausstellt, dass nicht bloss der Jehovist, sondern auch die
Grundschrift complicierte Gebilde sind, und dass daneben noch
zwitterhafte oder posthume Elemente vorkommen, die sich nicht
einfach der einen oder der anderen Schicht zuweisen lassen 2 ).
*) Hermann Hupfeld, die Quellen der Genesis und die Art ihrer Zusam-
mensetzung; Berlin 1853. Theodor Nöldeke, die s. g. Grundschrift
des Pentateuehs (in den Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments,
Kiel 1869).
2 ) J. Wellhausen, die Oomposition des Hexateuchs, in den Jahrbüchern
für Deutsche Theologie 1876 S. 392—450, S. 531—602. 1877 S. 407—479.
Einzelheiten gebe ich preis; in der allgemeinen Betrachtungsweise des li-
terarischen Processes, wodurch der Pentateuch entstanden ist, glaube ich
der Forschung die richtige Bahn gewiesen zu haben. Wesentlich corri-
girt bin ich bis jetzt nur durch Kuenen, in den seit 1877 in der Leidener
Theologischen Tijdschrift von ihm veröffentlichten Bijdrägen tot de cri-
tiek van Pentateuch en Jozua; aber diese Correctur ist von der ange-
nehmen Art, dass sie meine eigene Grundanschauung befreit von hangen
gebliebenen Resten des alten Sauerteiges der mechanischen Quellenschei-
dung. Kuenen zeigt namentlich, dass gewisse Elemente, die ich dem
Elohisten zugewiesen habe, nicht Fragmente eines einst selbständigen
Zusammenhanges sind, sondern eingeschaltete Nachträge, die sich para-
sitisch einem anderweitigen Zusammenhange angesetzt haben. Von wel-
Das Thema. 9
Das Gesetz nun, nach dessen geschichtlicher Stellung wir
fragen, ist die s. g. Grundschrift, die nach ihrem Inhalt und
Ursprung der Priestercodex zu heissen verdient und so auch hin-
fort genannt werden soll. Der Priestercodex prävaliert nicht
bloss in Umfang, sondern auch in Geltung über die anderwei-
tige Gesetzgebung, er gibt in allen Hauptsachen Mass und Aus-
schlag. Nach seinem Muster haben die Juden unter Ezra ihre
heilige Gemeinde eingerichtet und stellen auch wir uns die mo-
saische Theokratie vor: mit der Stiftshütte im Centrum, dem
Hohenpriester als Haupt, den Priestern und Leviten als Or-
ganen, dem legitimen Cultus als ihrer regelmässigen Funktion.
Dies Gesetz im eminenten Sinne ist es nun auch grade, welches
in jene Schwierigkeiten verwickelt, die unser Problem begrün-
den. Und nur hier herrscht der grosse Zwiespalt über die Ent-
stehungszeit. Bei der jehovistischen Schrift ist man in erfreu-
licher Weise darüber einverstanden, dass sie, ihrem Hauptbe-
stande nach, durch Sprache Gesichtskreis und übrige Voraus-
setzungen, der goldenen Periode der hebräischen Literatur zuge-
wiesen wird, aus der die schönsten Stücke der Bücher der Kichter
Samuelis und der Könige und die ältesten der uns erhaltenen pro-
phetischen Schriften herrühren, der Zeit der Könige und Pro-
pheten, die der Auflösung der beiden israelitischen Reiche durch
die Assyrer vorhergeht. Ueber den Ursprung des Deuterono-
miums herrscht noch weniger Zweifel; in allen Kreisen, wo
überhaupt auf Anerkennung wissenschaftlicher Resultate zu
rechnen ist, wird anerkannt, dass es in der Zeit verfasst ist,
in der es entdeckt und der Reformation des Königs Josia zu
Grunde gelegt wurde: diese letztere ward etwa eine Generation
vor der Zerstörung Jerusalems durch die Chaldäer durchgeführt.
Nur beim Priestercodex gehen die Ansichten weit auseinander.
Derselbe sucht nemlich mit Fleiss das Kostüm der mosaischen
Zeit einzuhalten und seine eigene, so viel es immer geht, zu
chem Einfluss dieser Nachweis auf die Beurteilung des Elohisten selber
sein wird, lässt sich zur Zeit noch nicht absehen. — Ich bezeichne das
jehovistische Geschichtsbuch tnit JE, die Elohimquelle desselben mit E,
die Jahvequelle mit J; für den Kern der Grundschrift, der sich durch
seine historische Systematik auszeichnet und in der Genesis rein hervor-
tritt, wende ich die Sigle Q und die Bezeichnung Vierbundesbuch an,
für die Grundschrift im Ganzen die Sigle RQ und die Bezeichnung
Priestercodex.
10 Das Thema.
maskieren. Das Deuteronomium tut dies bei weitem nicht in dem
Grade, lässt vielmehr die wirkliche Situation, die Periode, wo
nach der Zerstörung Samariens nur das Reich Juda allein noch
fortbestand, sehr deutlich durch die angenommene hindurch-
scheinen (12,8. 19,8). Der Jehovist nun gar will kein mosaisches
Gesetz, sondern ein simples Geschichtsbuch sein; der Abstand
der Gegenwart von der Vergangenheit, über die gehandelt wird,
wird nicht im mindesten verdeckt; hier finden sich alle jene
Bemerkungen, die zuerst Abenezra's und später Spinoza's Auf-
merksamkeit erregten, wie Gen. 12,6: damals wohnten nämlich
die Kanaaniter im Lande; Gen. 36,31: das sind die Könige,
welche in Edom herrschten, ehe die Kinder Israel einen König
hatten; Num. 12,6.7. Deut. 34,10: es stand fürder kein Prophet
in Israel auf, der Mose gleich gekommen wäre. Dahingegen
der Priester codex hütet sich vor jeder Hinweisung auf die spätere
Zeit, auf das ansässige Leben im Lande Kanaan, welches so-
wohl im jehovistischen Bundesbuch (Exod. 21 — 23) wie im Deu-
teronomium die ausgesprochene Basis der Gesetzgebung ist; er
hält sich formell streng innerhalb der Situation der Wüsten-
wanderung und will allen Ernstes eine Wüstengesetzgebung sein.
Es ist ihm wirklich gelungen, mit dem beweglichen Tabernakel
mit dem Wanderlager und dem übrigen archaistischen Schein
seine wahre Abfassungszeit so zu verschleiern, dass die vielen
materiellen Widersprüche gegen das uns anderweit bekannte
vorexilische Altertum, die er enthält, nur als Zeichen davon
aufgefaßt werden, wie er über alle historische Zeit weit hinaus-
rage und vor lauter Unvordenklichkeit kaum noch in einer
Berührung damit stehe. Der Priestercodex also gibt uns das
Bätsei auf.
3. Es war ein richtiger Instinct, dass die Kritik von dem
zuerst in de Wette's Geist aufgestiegenen und bestimmter von
George und Vatke erfassten geschichtlichen Probleme vorläufig
Abstand nahm und zunächst mit der Composition des Penta-
teuchs einigermassen ins Beine zu kommen suchte. Es war
aber ein Irrtum, dass man mit dem Ausscheiden der Quellen —
wobei man ganz sachgemäss die Hauptaufmerksamkeit auf die
Genesis richtete — bei Wege zugleich jene grosse historische
Frage erledigt zu haben glaubte. In Wahrheit hatte man sie
nur in Schlaf gesungen: es ist Grafs Verdienst, nach einer lan-
Das Thema. 11
gen Zeit sie wiedererweckt zu haben. Seinerseits ignorierte er
dabei freilieh, nicht zu seinem Vorteil, den Fortschritt der Secir-
arbeit und verwickelte sich dadurch in eine Verlegenheitsau-
nahme, die völlig unhaltbar war, indessen auch gar nicht mit
der eigentlichen Hypothese zusammenhing und auf dem Stande,
zu dem Hupfeld inzwischen die Quellenkritik gefördert hatte,
von selbst wegfiel. Graf folgte nämlich anfangs der älteren, be-
sonders durch Friedrich Tuch vertretenen Meinung, dass der
Priestercodex in der Genesis, mit seinem so nackt hervortreten-
den Skelett, die Grundschrift sei, der Jehovist aber der Ergänzer
und als solcher natürlich jünger; da er nun die Cultusgesetz-
gebung der mittleren Bücher umgekehrt für weit jünger hielt
als den Jehovisten, so musste er dieselbe wohl oder übel von
ihrer Einleitung in der Genesis losreissen und das eng Zusam-
mengehörige durch einen Zeitraum von einem halben Jahrtau-
send trennen. Aber längst hatte Hupfeld zur Anerkennung ge-
bracht, dass der Jehovist kein Ergänzer sei, sondern Verfasser
eines vollkommen selbständigen Schriftwerks, und dass die Stücke,
die, wie Gen. 20 — 22, vorzugsweise als Beispiele jehovistischer
Ueberarbeitung der Grundschrift vorgeführt wurden, in Wirklich-
keit einer ganz anderen Quelle, dem Elohisten, angehörten. Da-
durch war der Anstoss, über den Graf gestrauchelt war, bereits
im Voraus beseitigt, eine unerwartete Bundesgenossin hatte ihm
die Wege geebnet. Dem Winke A. Kuenens folgend, zögerte
er nicht ihre Hand anzunehmen, er widerrief die gewaltsame
Zersplitterung des Priestercodex und zog nun unbehindert aus
den Ergebnissen, die er für den gesetzlichen Hauptteil gewonnen
hatte, die Consequenz auch für den erzählenden Teil in. der
Genesis ').
J ) K. H. Graf, die s. g. , Grundschrift des Pentateuchs, in Merx' Archiv
1869 S. 466—477. Schon in einem Schreiben an Kuenen vom 12. Nov.
1866 hatte er geäussert: vous me faites pressentir une Solution de cette
enigme c'est que les parties elohistiques de la Genese seraient
posterieures aux parties jehovistiques. Vgl. Kuenen, Theol. Tijdschrift
1870 S. 412. Graf war auch in dieser Hinsicht Reuss gefolgt, welcher
letztere a. 0. S. 24 von sich sagt: Le cote faible de ma critique a ete
que, ä l'egard de tout ce qui ne rentrait pas dans les points enumeres
ci-dessus, je restais dans Forniere tracee par mes devanciers, admettant
sans plus ample examen que le Pentateuque etait l'ouvrage de Phisto-
rien elohiste, complete par l'historien jehoviste, et ne me rendant pas
compte de la maniere dont Pelement legal, dont je m'etais occupe exclu-
sivement, serait venu se joindre ä l'element historique.
12 Das Thema.
Damit war der Grund gelegt; zur weiteren Ausgestaltung
der Hypothese hat hernach Kuenen das Meiste beigetragen 1 ).
Die Inhaber der herrschenden Meinung nun wehrten sich, so gut
sie vermochten, sie waren aber vom langen Besitze her ein
wenig erstarrt auf ihren Hefen. Sie erhüben gegen den Grund-
stürzer eine Reihe von Einwänden, die alle mehr oder weniger
an dem Fehler litten, dass sie das erschütterte Fundament zur
Basis hatten. Stellen aus Arnos und Hosea wurden vorgebracht,
welche Bekanntschaft mit dem Priestercodex verraten sollten;
wer aber diesen für jünger hielt als jene, auf den konnten sie
keinen Eindruck machen. Fast ungeberdig stellte man sich
darüber, dass die Cultusgesetzgebung nun unter das Deutero-
nomium hinabgedrückt war: man berief sich darauf, dass letzte-
res erstere ja benutze. Aber die Spuren erwiesen sich als
äusserst problematisch, während umgekehrt die totale Abhän-
gigkeit des Deuteronomiums vom Jehovisten mit der grössten
Klarheit hervortrat. Man wies auf die letzte Redaktion des
hexateuchischen Gesammtwerkes hin , die anerkanntermassen
deuteronomistisch sei — es stellte sich aber heraus, dass die
deuteronomistische Redaktion bei den zum Priestercodex ge-
hörigen Stücken nirgend aufzuspüren war. Auch die Sprach-
geschichte musste gegen Graf herhalten; sie war es leider ge-
wohnt wie weiches Wachs behandelt zu werden. Kurz die Ar-
gumente, die ins Feld geführt wurden, entlehnten insgemein ihre
Kraft der moralischen Überzeugung, dass die Cultusgesetzgebung
alt sein müsse und nicht erst in der Periode des Judentums
niedergeschrieben sein könne: wenn sie vorher nicht wirksam,
ja unter den vorexilischen Verhältnissen unausführbar gewesen
sei, so könne sie ja darum doch vorher existiert haben. Diese
Überzeugung war um so unerschütterlicher, je weniger sie auf
Gründen beruhte.
Von der Stelle, wo das Feuer angelegt war, hielt sich die
Löschmannschaft fern. Ich meine das Gebiet der gottesdienst-
lichen Antiquitäten und der herrschenden Religionsideen, in dem
ganzen Umfange, wie Vatke es in seiner biblischen Theologie
J ) A. Kuenen, de Godsdienst van Israel; Haarlem 1869. 1870. Derselbe,
de priesterlijke Bestanddeelen van Pentateuch en Jozua, Theol. Tijd-
schrift 1870 S. 391—426 (Bleek's Einl. in das Alte Testament 1878
S. 153-169).
Das Thema. 13
behandelt hat. Nur hier aber, wo der Kampf eigentlich ent-
brannt ist, kann er zum Austrage .gebracht werden. Indem ich
dazu gegenwärtig den Versuch mache, gehe ich aus von der
Vergleichung der drei Schichten des Hexateuchs, des Priester-
codex des Deuteronomiums und des Jehovisten. Allerdings ent-
halten die ersteren beiden, wie wir gesehen haben, Gesetzgebung,
der letztere Erzählung; t aber wie der Dekalog (Exod. 20), das
Zweitafelgesetz (Exod. 34), und das Bundesbuch (Exod. 21 — 23)
zeigen, fehlt dem Jehovisten das legislative Element nicht ganz,
und in noch weit stärkerem Masse ist das historische im Priester-
codex und im Deuteronomium vertreten. Ausserdem spiegelt
sich immer in der Darstellung der Geschichte der gesetzliche,
in der Darstellung der Gesetze der geschichtliche Standpunkt
ab: an directen und indirecten Vergleich ungspunkten mangelt es
also in keiner Weise. Dass nun die drei Schichten erheblich
von einander abstehen, ist anerkannt; es fragt sich, wie sie fol-
gen. Das Deuteronomium steht sowol dem Jehovisten als dem
Priestercodex näher, der Unterschied zwischen den beiden
letzteren ist der weiteste, so weit, dass aus diesem Grunde
Ewald es bereits im Jahre 1831 (Stud. und Krit. S. 604) für un-
möglich erklärt hat, dass eins zur Ergänzung des anderen ge-
schrieben sei. Nehmen wir hinzu, dass der Jehovist unbestritten
dem Deuteronomium vorangeht, so würde sich ergeben, dass der
Priestercodex ans Ende der Reihe gehöre. Aber diese Betrach-
tung, wenngleich, so weit mir bewusst, von Zugestandenem aus-
gehend, hat keinen Wert, so lange sie sich so im Allgemeinen
hält. Es kommt darauf an, die Folge der drei Schichten im
Einzelnen aufzuweisen und sie daneben mittelst eines unabhängigen
Masses zugleich zu erproben und zu fixieren, nämlich mittelst des
inneren Ganges der israelitischen Geschichte, sowie er uns aus
anderweitigen unverdächtigen Zeugnissen bekannt ist.
Es ist eine literargeschichtliche Untersuchung umfassender
und schwieriger Art, die wir beginnen. Sie zerfällt in drei Teile.
Im ersten, grundlegenden, werden die auf die sakralen Alter-
tümer bezüglichen Data gesammelt und in der Weise disponiert,
dass man sieht, wie im Pentateuch die Schichten ebenso auf
und aus einander folgen, wie in der Geschichte nachweisbar die
Entwicklungsstufen. Nicht gegen, aber ohne die anfängliche
Absicht ist eine Art Geschichte des Cultus daraus geworden.
14 Das Thema.
Freilich durch Schuld des Materials eine farblose und grobe;
denn es handelt sich immer bloss, ir* erster Linie, um den Ge-
gensatz von vorexilisch und nachexilisch , in zweiter, um den
von deuteronomisch und vordeuteronomisch. Ein Vorteil ist in-
dessen bei den ausgedehnten Perioden: sie müssen sich greifbar
unterscheiden, es muss bei geschichtlichen und gar bei gesetz-
lichen Werken zu erkennen sein, ob sie vor oder nach dem Exil
geschrieben sind. Der zweite Teil, in mancher Hinsicht ab-
hängig vom ersten, weist den Einfluss der jeweils herrschenden
Vorstellungen und Tendenzen auf die Gestaltung der historischen
Tradition nach und verfolgt die verschiedenen Phasen in der
Auffassung und Darstellung derselben; er enthält |o zu sagen
eine Geschichte der Überlieferung. Der dritte Teil resumirt
den kritischen Ertrag der beiden anderen, mit Hinzufügung
einiger weiteren Entscheidungsgründe, und schliesst mit einer
allgemeineren Ausschau.
Die Voraussetzungen, die ich mache, werden im Laufe der
Untersuchung immer wieder neu gerechtfertigt; die beiden vor-
nehmsten sind, dass das jehovistische Werk, seinem Grund-
stocke nach, vor die assyrische Periode fällt, das Deuteronomium
an den Schluss derselben. Für so sicher ich übrigens die Da-
tirung des letzteren nach 2. Reg. 22 auch halte, benutze ich
diese Position doch nicht in dem Masse wie Graf, um meine
Hebel anzusetzen. Das Deuteronomium ist der Ausgangspunkt
nicht in dem Sinne, dass ohne es nichts zu machen wäre, son-
dern nur in dem Sinne, dass seine Ansetzung nach historischen
Gründen die notwendige Forderung nach sich zieht, auch den
Priestercodex nach historischen Gründen anzusetzen. Meine
Untersuchung ist breiter angelegt als die Grafs und nähert sich
der Art Vatke's, von welchem letzteren ich auch das Meiste und
das Beste gelernt zu haben bekenne.
I.
Geschichte des Cultus.
Legem non habentes natura faciunt legis opera.
Rom. 2.
Erstes Kapitel.
Der Ort des Gottesdienstes.
Wie aus dem Evangelium bekannt ist, stritten sich zur Zeit
Jesu Juden und Samariter über die richtige Stätte, wo man an-
beten solle; dass es nur eine einzige geben könne, das war
ihnen so ausgemacht, wie die Einheit Gottes selber. Die Juden
sagten , es sei der Tempel zu Jerusalem , und seit er zerstört
war, hörten sie auf zu opfern. Allein nicht von jeher hat diese
Einheit des Heiligtums in Israel thatsächlich bestanden noch
rechtlich gegolten, sie hat sich erst allmählich im Laufe der
Zeit herausgebildet. Die Überlieferung des Alten Testaments
gestattet noch ganz wohl zu verfolgen, auf welchem Wege. Meh-
rere Stadien lassen sich dabei unterscheiden: es wird sich fra-
gen, ob die drei Schichten des Pentateuchs eine Beziehung zu
einem oder dem anderen Stadium aufweisen, ob und wie sie
sich in den Verlauf des geschichtlichen Processes fügen, dem
wir an der Hand der historischen und prophetischen Bücher
seit der Riehteraeit nachgehen können.
I.
1. Für die älteste Periode der israelitischen Geschichte, vor
dem Tempelbau, lässt sich von einem ausschliesslich berechtigten
Heiligtume nicht die Spur auffinden. In den Büchern der Rich-
ter und Samuelis wird kaum ein Ort erwähnt, an dem nicht
auch, wie sich bei Wege ergibt, ein Altar steht und geopfert
wird. Zum grossen Teil gehörte diese Vielheit der Heiligtümer
Wellhau son, Prolegomena. 2
18 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
schon zur kanaanitisehen Erbschaft der Hebräer; wie in die
Städte und überhaupt in die Kultur der alten Bewohner, so
wuchsen sie auch in ihre Cultusstätten hinein. Das Institut der
Höhen (Bamoth) mit dem dazu gehörigen Apparat ist ohne
Zweifel von Haus aus kanaanitisch (Deut. 12, 2. 30. Num. 33, 52.
Exod. 34, 12 f.), hinterher findet es sich ganz allgemein bei den
Hebräern. Bei Sichern und Gibeon vollzieht sich der Übergang
beinah im vollen Licht der Geschichte ; einige andere alt-israeli-
tische Cultusorte, die hinterdrein zum Teil zu Levitenstädten
gemacht worden sind, verraten wenigstens durch ihre Namen
ihren Ursprung, wi'e Bethsemes oder Ir-heres d. i. Sonnenstadt,
Astharoth Karnaim d. i. die zweigehörnte Astarte. Auch in dem
Volksgedächtnis ist die Erinnerung daran, dass man manche der
später angesehensten Opferstätten schon bei der Einwanderung
vorgefunden hatte, nicht ausgestorben. Sichern Bethel Beerseba
gelten in der Genesis als Stiftungen der Patriarchen, andere
gleich wichtige Heiligtümer nicht — - der Grund dafür kann nur
in dem Bewusstsein ihres jüngeren Alters liegen; jene hatte man
bei der Einwanderung vorgefunden, diese hatte man selbst ge-
gründet. Denn natürlich, wenn sich die Hebräer nicht scheuten,
die alten Landesheiligtümer sich anzueignen, so trugen sie auch
kein Bedenken neue zu stiften. In Gilgal und Silo, in den
festen Lagern, wo sie zuerst im eigentlichen Palästina festen
Fuss gefasst haben, entstehen alsbald bedeutende Centra des
Gottesdienstes, ebenso an anderen Orten von politischem Belang,
auch an solchen, die nur zeitweilig in den Vordergrund rücken,
wie Ophra, Rama, Nob bei Gibea. Und neben den grösseren
fundirten Stätten, mit mehr oder weniger regelmässigem Dienste,
ist es durchaus gestattet, überall wo ein Anlass sich bietet, ex
tempore einen Altar zu errichten und Opfer zu bringen. Als
nach der Schlacht von Michmas das Volk, müde und hungrig,
über erbeutetes Vieh herstürzte und anfing das Fleisch im Blute
zu verzehren (d. h. ohne das Blut am Altare zu vergiessen),
Hess Saul einen grossen Stein herwälzen und befahl, jeder solle
dort sein Rind oder Schaf schlachten. Das sei der erste Altar,
den Saul dem Jahve gebaut habe, fügt der Berichterstatter hinzu,
gewiss nicht um ihm einen Vorwurf zu machen oder auch nur
um sein Handeln als etwas auffallendes und ausnahmsweises zu
bezeichnen. Das Beispiel ist um so lehrreicher, weil es zeigt,
Der Ort des Gottesdienstes. 19
wie das Verbot, Fleisch zu essen ohne das Blut Gott zurückzu-
erstatten, in einer Zeit wo das Volk nicht auf ganz engem
Räume zusammengedrängt wohnte, notwendigerweise die Frei-
heit voraussetzt, überall zu opfern — oder zu schlachten, denn
beides ist ursprünglich ganz gleichbedeutend.
Es versteht sich, die Opferstätten, auch abgesehen von den
improvisierten, standen sich nicht gleich an Ansehen und Fre-
quenz, neben rein lokalen gab es auch solche, zu denen man
von weit und breit wallfahrtete. Gegen Ende der Richterzeit
scheint Silo eine vielleicht über die Grenzen des Stammes Joseph
hinausreichende Bedeutung gewonnen zu haben. Den Späteren
galt der dortige Tempel sogar als der Vorgänger des salomo-
nischen, d.h. als der einzig legitime Cultusort, dem Jahve alle
Brandopfer der Kinder Israel verliehen habe (Jerem. 7, 12.
1. Sam. 2,27 — 36). In Wahrheit aber, wenn ein wohlhabender
Mann aus Ephraim oder Benjamin beim Jahreswechsel zum
fröhlichen Feste nach Silo pilgerte, so that er das nicht, weil in
seiner Heimat zu Rama oder Gibea keine Gelegenheit gewesen
wäre, vor Jahve zu essen und zu trinken. Eine strenge Cen-
tralisation ist für jene Zeit ein unmöglicher Gedanke, auf dem
Gebiete des Gottesdienstes nicht minder, wie auf jedem andern.
So zeigt sich denn auch, dass die Zerstörung des Hauses von
Silo, dessen Priesterschaft wir später zu Nob wiederfinden, auf
den dermaligen Charakter und Zustand des Cultus nicht den
geringsten Einfluss ausübt; dasselbe verschwindet stillschweigend
vom Schauplatz und taucht nicht wieder auf, bis wir von Jere-
mia erfahren, dass es, mindestens seit der Gründung des salo-
monischen Tempels, in Trümmern lag.
Für die Periode, wo der Tempel von Jerusalem noch nicht
stand, lässt auch die letzte Bearbeitung der historischen Bücher,
die vielleicht nicht bei allen von der selben Hand, aber aus
der selben Zeit (des babylonischen Exils) und aus dem selben
Geiste stammt, die Vielheit der Altäre und heiligen Orte unbe-
anstandet. Kein nachsalomonischer König kommt ohne Rüge
davon, dass er die Höhen geduldet habe, aber Samuel darf in
eigener Person einem Opferfeste auf der Bama seiner Vater-
stadt vorstehen, Salomo im Anfange seiner Regierung ein sol-
ches auf der grossen Bama zu Gibeon anrichten, ohne dass es
getadelt wird. Der anstössige Name wird 1. Sam. 9. 10 mehr-
20 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
fach in harmlosester Weise gebraucht und die Redaction lässt
ihn ohne Anstand passieren. Der Grundsatz, von dem sie sich
bei diesem wie es scheint ungleiehmässigen Verhalten leiten
lässt, erhellt aus 1. Reg. 3,2: das Volk opferte auf den
Höhen, denn bis dahin war noch kein Haus dem Namen
Jahve's gebaut. Erst seit das Haus dem Namen Jahve's ge-
baut war, das ist die Meinung, kam das Gebot in Kraft, keine
anderen Anbetungsstätten zu haben neben ihm 1 ). Von dem sa-
lomonischen Tempelbau, der ja auch als chronologische Haupt-
epoche gilt, wird also ein neuer Abschnitt in der Cultusge-
schichte datirt. In gewisser Weise mit Recht. Das Königtum
in Israel verdankte seine Entstehung dem notgedrungenen Er-
wachen des Bedürfnisses, die bis dahin nur sehr lose verbun-
denen Stämme und Geschlechter der Hebräer zu der Einheit
eines Volkes und Reiches zusammenzufassen; es hatte eine aus-
gesprochene centralisirende Tendenz, die sich sehr natürlich
auch des Cultus als eines geeigneten Mittels zu dem politischen
Zwecke bemächtigte. Schon der erste, der beinah König ge-
worden wäre, Gideon stiftete ein kostbares Heiligtum in seiner
Stadt Ophra; David liess die Lade Jahve's in seine Burg auf
dem Sion holen und legte Wert darauf, den Erben der alten
Familie, welche ehedem zu Silo sie gehütet hatte, zum Priester
zu haben; auch Salomo's Tempel sollte die Anziehungskraft
seiner Residenz erhöhen helfen. Unzweifelhaft aber gab auf
diese Weise die politische Centralisation den Antrieb zu einer
grösseren Centralisation auch des Gottesdienstes, und dieser
Antrieb wirkte * fort nach der Spaltung, in Israel ein wenig an-
ders als in Juda. Die königlichen Priester, die grossen Reichs-
tempel, die Festversammlungen des ganzen Volks und die unge-
heuren Opfer — das waren die Züge, wodurch der früher wie
es scheint sehr einfache Cultus jetzt die Signatur einer neuen
Zeit erhielt. Noch eins ist bezeichnend: die häuslichen Dienste,
die noch zu Davids Zeit allgemein gewesen sein müssen, kamen
allmählich ab, versteckten sich und verloren ihre Bedeutung,
Vgl. 1. Reg. 8, 16. Nach Deut. 12, 10 f. wird die lokale Einheit des Cultus
Gesetz von der Zeit an, wo die Israeliten zur Ruhe (Menucha) gekommen
sind. Vergleicht man damit 2. Sam. 7, 11. 1. Reg. 5, 18, so seheint die
Menucha erst zur Zeit Davids und Salomo's eingetreten zu sein. Die
Richterperiode müsste dann viel kürzer vorgestellt" sein, als es nach der
jetzigen Chronologie den Anschein hat.
Der Ort des Gottesdienstes. 21
weil die Kreise der Gemeinschaft sich erweiterten und das Leben
öffentlicher wurde.
Aber diese Betrachtungsweise der Bedeutung des Königtums
für die Geschichte des Cultus ist nicht die des Verfassers der
♦Königsbücher. Er beurteilt den Tempel Salomo's als ein Werk;
lediglich unternommen im Interesse des reinen Gottesdienstes
und aus einer ganz anderen Wurzel entsprungen als die heiligen
Bauten der israelitischen Könige, denen er darum nicht gleich,
sondern entgegen steht wie das Echte dem Falschen. Er ist
seiner Natur nach einzigartig und von vornherein in der Absicht,
dass nun alle anderen Opferstätten aufhören sollten, angelegt
worden: in einer religiösen Absicht, die von der Politik unab-
hängig ist und nichts mit ihr zu schaffen hat. Diese Auffassung
nun ist ungeschichtlich und überträgt die Bedeutung, die der
Tempel kurz vor dem Exil in Juda erlangt hat, in die Zeit und
in die Absicht seiner Gründung. In Wahrheit ist er nicht
gleich anfangs gewesen, was er nachgehends geworden ist. Er
wirkte durch seine eigene Schwere, aber nicht durch ein Mo-
nopol Salomo's. Nirgends hören wir davon, dass dieser als ein
Vorläufer Josia's seinem neuen Heiligtum zu lieb die übrigen
habe abschaffen wollen; von einem so unvorbereiteten gewalt-
samen Einschnitte in die bisherigen Verhältnisse des Gottes-
dienstes findet sich nicht die geringste geschichtliche Spur. Nicht
einmal die auf das kleine Juda beschränkten Nachfolger Salo-
mo's machten den hier vielleicht durchführbaren und gewiss in
ihrem Interesse gelegenen Versuch, den öffentlichen Cultus in
ihrem Tempel zu vereinigen, so eigenmächtig sie sonst auf die-
sem Gebiete schalteten. Die Höhen wurden nicht beseitigt —
so wird regelmässig bei allen constatiert. Für das eigentliche
Israel war Jerusalem erst recht nicht der Ort, den Jahve er-
wählt hatte — vollends nach der Spaltung des Reichs. Scharen-
weise pilgerten die Ephraimiten durch die ganze Länge des
Stidreichs hindurch nach Beerseba und gemeinschaftlich mit den
Judäern nach dem an der Grenze gelegenen Gilgal; nach Jeru-
salem gingen sie nicht. Im eigenen Lande dienten sie dem
Jahve zu Bethel und Dan, zu Sichern und Samarien, zu Penuel
und Mispa und an vielen anderen Orten; jede Stadt hatte ihre
Bama, in der alten Zeit meist frei auf dem Berge gelegen, auf
dessen halber Höhe die Menschen wohnten. Der grosse Eiferer
22 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
für den reinen Gottesdienst, Elias, nahm so wenig an den Höhen
und an der Vielheit der Altäre Jahve's Anstoss, dass ihn ihre
Zerstörung als die Spitze des Frevels erbitterte und er mit
eigener Hand den verfallenen Altar auf dem Karmel wieder
aufbaute. Und dass auch das improvisierte Opfer bei ausseror-
dentlichen Gelegenheiten nicht ausser Brauch gekommen war,
zeigt Elisa's Beispiel, der als er hinter dem Pfluge weg berufen
wurde, seine Rinder auf der Stelle zerstückte und opferte. In
dieser Hinsicht blieb also auch nach Salomo's Tempelbau Alles
beim Alten.
Wenn Volk und Richter oder Könige, Priester und Propheten,
Männer wie Samuel und Elias ungescheut opferten, wo sie An-
lass und Gelegenheit hatten, so hatte offenbar in jener ganzen
Zeit Niemand arg davon, dass dies ketzerisch und verboten sei.
Wenn eine Theophanie dem Josua die Heiligkeit Gilgals kund
that, Gideon und Manoah veranlasste in ihrer Heimat Altäre zu
gründen, David auf die Tenne Arauna's aufmerksam machte, so
galt darnach Jahve selbst als der eigentliche Stifter aller dieser
Heiligtümer, und zwar nicht bloss dem Zeitalter der Richter, son-
dern viel gewisser noch dem Zeitalter des Erzählers dieser Le-
genden. Durch eine gnädige Offenbarung belohnte er Salomo's'
erstes Opfer auf der grossen Bama zu Gibeon, er konnte also
kein Misfallen daran haben. Nach alle dem ist es absurd, von
einer Illegitimität des faktischen Bestandes zu reden, in der
ganzen älteren Zeit der israelitischen Geschichte ist die Be-
schränkung des Cultus auf einen einzigen auserwählten Ort auch
als fromme Forderung Keinem bewusst gewesen. Wohl glaubte
man in Bethel oder in Jerusalem Gott näher zu sein als an
einer beliebigen anderen Stätte, aber solcher Pforten des Himmels
gab es mehrere und es überwog doch immer die Vorstellung,
die sich am greifbarsten 2. Reg. 5,17 ausspricht, dass Palästina
als Ganzes Jahve's Haus, sein Grund und Boden sei. Nicht
ausserhalb Jerusalems, sondern ausserhalb Kanaans weilte man
fern von seinem Angesicht, unter der Herrschaft und — cuius
regio eius religio — im Dienste fremder Götter, die Heiligkeit
des Landes floss nicht aus der Heiligkeit des Tempels, sondern
eher umgekehrt 1 ).
l ) Gen. 4, 13. 16: indem ]£am aus dein Lande (Kanaan) vertrieben wird,
wird er .vom Angesichte Jahve's (Jon. 1, 3. 11) vertrieben. 46, 4: Jakob
Der Ort des Gottesdienstes. 23
2. Eine Änderung hierin bereitet sieh erst seit jener denk-
würdigen Epoche der israelitischen Religionsgeschichte vor, welche
durch den Sturz Samariens und das demselben entsprechende
Auftreten der Propheten bezeichnet wird. Arnos und Hosea
setzen den Zustand voraus wie er eben beschrieben worden:
tiberall in den Städten, auf den Bergen, unter grünen Bäumen,
eine Menge von Heiligtümern und Altären, wo dem Jahve ge-
dient wird, in gutem Glauben, nicht um ihn zu ärgern, sondern
um sein Wohlgefallen zu erwerben. Es war eine unerhörte Sprache,
welche jene Männer führten, wenn sie verkündigten, Gilgal und
Bethel und Beerseba, Jahve's Lieblingsstätten, seien ihm ein
Greuel, die Opfer und Gaben, womit man ihn dort ehre, reizen
seinen Zorn statt ihn zu beschwichtigen, unter den Trümmern
seiner Tempel, wo es Schutz und Zuflucht suche, solle Israel
begraben werden (Am. 9). Was wollten sie sagen? Man würde
die Propheten falsch verstehen zu meinen, sie haben an den
heiligen Stätten — die noch Arnos Bamoth nennt (7,9) und zwar
ohne Spott, im höchsten Pathos — an und für sich Anstoss ge-
nommen, wegen ihrer Pluralität und weil es nicht die richtigen
seien. Sie eifern nicht gegen die Orte, sondern gegen den Cul-
tus, der daselbst getrieben wird, und zwar nicht bloss gegen
seine falsche Art, weil allerlei Missbräuche sich darin finden,
sondern beinah mehr gegen ihn selber, gegen seine falsche Wert-
soll sieh nicht scheuen nach Ägypten auszuwandern, denn Jahve will, in
ausnahmsweiser Gnade, seinen Wohnsitz mit ihm wechseln. Exod. 15,
17: du brachtest dein Volk zum Berge deines Erbes, zum
Orte, den du dir zur Wohnung bereitet hattest; die folgende
Erklärung zum Heiligtum, das deine Hände gegründet hatten,
fällt aus der Situation, der Berg des Erbes kann nichts anders sein als
das gebirgige Land Palästina. 1. Sam. 26, 19: David, durch Saul in die
Fremde getrieben, wird dadurch aus der Familiengemeinschaft am Erbe
Jahve's losgerissen und gezwungen, fremden Göttern zu dienen. Hos. 8, 1 :
ein Adl er gl eicher s tos st auf Jahve's Haus, d. h. der Assyrer auf
Jahve's Land; 9,15: aus meinem Hause will ich sie vertreiben,
d. h. die Israeliten aus ihrem Lande. Am deutlichsten redet Hos. 9, 3 — 5 :
Sie bleiben nicht wohnen in Jahve's Lande, Ephraim muss wieder
nach Ägypten und in Assur müssen sie Unreines essen: sie spenden
Jahve keinen Wein mehr und schichten ihm keine Opfer ; wie Trauerbrot
ist ihr Brot, wer davon isst wird unrein, denn ihr Brot wird nur für den
Hunger sein, kommt nicht in Jahve's Haus — was wollt ihr gar machen
zur Zeit der Versammlung und am Tage des Festes Jahve's ! Vgl. Jer. 16,
13. Ezech. 4, 13. Mal. 2, 11. 2. Reg. 17, 25 f. Möglich auch, dass der
grosse Zorn 2. Reg. 3, 27 nicht sowohl als Zorn Jahve's , wie als Zorn
Kamos' vorgestellt wird, in dessen Lande sich das israelitische Heer
befindet.
24 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
Schätzung. Die gemeine Meinung war: wie Moab sich als des
Kamos Volk beweist, weil es dem Kamos seine Opfer und Gaben
darbringt, so Israel als Jahve's Volk, weil es dem Jahve seinen
Cultus widmet, und es ist seiner um so sicherer, je glänzender
und eifriger es ihn verehrt: in Zeiten der Gefahr und Not, wo
man seines Beistandes besonders bedurfte, verdoppelten und ver-
dreifachten sich die Anstrengungen. Das ist es, wogegen die
Propheten opponieren, indem sie ganz andere Leistungen fordern,
worin sich das Verhältnis Israels zu Jahve lebendig erweisen
müsse. Das ist der Grund, warum sie dem Cultus so feind
waren ; von da stammte ihr Hass gegen die grossen Heiligtümer,
wo der abergläubische Eifer sich selber überbot, ihr Zorn auf
die Vielheit der Altäre, die auf dem Boden des falschen Ver-
trauens tippig hervorwuchsen. Dass die Stätten abgeschafft wür-
den, der Cultus selbst aber wie bisher die Hauptsache in der
Frömmigkeit bliebe, nur zusammengedrängt an einen einzigen Ort,
das war keineswegs, was sie wünschten. Aber mit durch ihre
Predigt kam es in der Tat dahin, dass alle übrigen Bamoth der
von Jerusalem das Feld räumten. Dazu wirkten freilich die
äusseren Umstände auf das wesentlichste mit.
So lange das nördliche Reich bestand, pulsirte dort der
Hauptstrom israelitischen Lebens; man braucht bloss einen Blick
in die Königsbücher oder in den Arnos zu werfen, um das zu
erkennen. Zwar waren in Jerusalem die Tage Davids und Sa-
lomo's unvergessen, sie wurden zurückgesehnt und grosse An-
sprüche daraus hergeleitet, aber der Wirklichkeit entsprachen
diese Ansprüche gar wenig. Da fiel Samarien, Israel schrumpfte
auf Juda zusammen, Juda allein blieb als das Volk Jahve's übrig.
Dadurch ward für Jerusalem das Feld frei. Die Residenz hatte
immer ein erdrückendes Uebergewicht über das kleine Land ge-
habt, in ihr selbst aber trat die Stadt zurück gegen den Tempel.
Aus den wenigen von Juda handelnden Erzählungen gewinnt
man fast den Eindruck, als gebe es dort keine andere Angelegen-
heiten als die des Tempels, und namentlich die Könige scheinen
dieser Ansicht gewesen zu sein und die Sorge um ihr Palast-
heiligtum für ihre allerwichtigste Aufgabe gehalten zu haben 1 ).
l ) Beinah alle judäischen Erzählungen im Buche der Könige drehen sich um
den Tempel und um die Massnahmen der Regenten in diesem ihrem
Heiligtume.
Der Ort des Gottesdienstes. 25
So kam die Bedeutung, welche dem Hause Juda durch den Fall
Samariens zuwuchs, in erster Linie der Hauptstadt und ihrem
Heiligtume zu gut, zumal überhaupt der Gewinn mehr ein geistiger
als ein politischer war und mehr in der Steigerung des religiösen
Selbstbewusstseins als in der der äusseren Macht bestand. Hatte
schon immer das grosse Gotteshaus auf dem Sion die übrigen
judäischen weit überragt, so stand es nun ohne gleichen in ganz
Israel. Um aber dies Resultat des Verlaufs der Dinge recht zu
würdigen, dazu gaben die Propheten die Anleitung. Sie hatten,
der Zeit gemäss, bisher vorzugsweise das Nordreich, seinen
drohenden Sturz und die Heillosigkeit seiner Bewohner im Auge
gehabt, und so auch namentlich über die dortigen Cultusstätten
ihren Zorn entladen: Juda beurteilten sie aus persönlichen und
sachlichen Gründen günstiger, und hofften, dass es erhalten bleibe,
für Jerusalem verleugneten sie ihre Sympathien nicht (Am. 1,2).
Unter dem Eindruck ihrer Rede wurde nun der Untergang Sa-
mariens aufgefasst als ein Gottesgericht gegen das sündige König-
reich zu Gunsten der verfallenen Hütte Davids, und die Zerstö-
rung der israelitischen Heiligtümer galt als eine unmissverständ-
liche Kundgebung Jahve's gegen seine älteren Sitze zu Gunsten
seiner Lieblingswohnung auf dem Sion.
Vollends der Umstand, dass Jerusalem aus der Gefahr, der
die stolze Nebenbuhlerin erlegen war, zwanzig Jahre später
triumphierend hervorging, dass im kritischen Augenblicke die
Assyrer unter Senaherib plötzlich abziehen mussten, steigerte die
Verehrung des Tempels auf den höchsten Grad. Mit Recht pflegt
man dabei die prophetische Wirksamkeit Jesaia's besonders in
Anschlag zu bringen, dessen Vertrauen, dass der Fels Sions fest
gegründet sei, unerschütterlich wurde, als derselbe unheimlich zu
wanken anfing. Nur darf man nicht vergessen, dass für Jesaia
die Bedeutung Jerusalems nicht am Tempel Salomo's hing, son-
dern daran, dass es die Stadt Davids und der Inbegriff seines
Reiches war, der Mittelpunkt nicht des Cultus, sondern der
Herrschaft Jahve's über sein Volk. Der heilige Berg war ihm
die ganze Stadt, als politisches Gemeinwesen mit ihren Bürgern,
Räten und Richtern (11,9); sein Glaube an den festen Grundstein,
auf dem Sion stehe, war weiter nichts als der Glaube an die
lebendige Gegenwart Jahve's im Lager Israels. Aber anders ver-
standen die Zeitgenossen den Sinn der Ereignisse und die Worte
26 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
des Propheten. Für sie wohnte Jahve deshalb zu Sion, weil er
dort sein Haus hatte, der Tempel war es, der durch die Ge-
schichte als sein wahrhaftiger Sitz erprobt worden, und die Un-
antastbarkeit des Tempels verbürgte nun die Unzerstörbarkeit
des Volkes selber. Ganz allgemein verbreitet war dieser Glaube
zur Zeit Jeremia's, wie die höchst lebendige Schilderung in
Kap. 7 seines Buches zeigt, aber schon zur Zeit Mieha's, im
ersten Drittel des siebenten Jahrhunderts, muss der Tempel als
ein Gotteshaus ganz eigener Art gegolten haben, so dass es
paradox war, ihn mit den Bamoth Juda's gleich zu stellen, und
unerhört, an seine Verwüstung zu glauben.
Indessen so überaus hoch und allgemein der Tempel ver-
ehrt wurde, so blieben die anderen Heiligtümer vorerst doch
neben ihm bestehen. Zwar soll der König Hizkia schon damals
einen Versuch gemacht haben sie abzuschaffen, der aber ganz
spurlos verlaufen und darum zweifelhafter Natur ist. Sicher ist,
dass der Prophet Jesaia nicht auf die Beseitigung der Bamöth
hingearbeitet hat. In einer seiner spätesten Reden erwartet er
von der Zeit der Gerechtigkeit und der Gottesfurcht, die nach
der assyrischen Krisis anbricht: „dann werdet ihr den Überzug
eurer silbernen Schnitzwerke und den Beschlag eurer goldenen
Gussbilder verunehren, verabscheuen wie Unflat; hinaus! werdet
ihr dazu sagen 44 (30,22). Hofft er also auf eine Säuberung der
Anbetungsstätten Jahve's von abergläubischem Wust, so ist klar,
dass er sie nicht selber abgetan wissen will. Erst etwa ein Jahr-
hundert nach der Zerstörung Samariens ward in Wirklichkeit
der Schritt gewagt, aus dem Glauben an die Einzigartigkeit des
jerusalemischen Tempels die praktische Consequenz zu ziehen.
Natürlich geschah dies nicht der blossen Folgerichtigkeit wegen,
sondern in einer anderweiten heilsamen Absicht. Mit der weg-
werfenden Art, womit die früheren Propheten bisweilen im Eifer
ihrer Opposition vom Cultus sprachen, war praktisch nichts aus-
zurichten; es kam nicht darauf an ihn abzuschaffen, sondern ihn
zu reformieren, und daz usollte seine Concentration in der Haupt-
stadt als Mittel dienen. Propheten und Priester scheinen ge-
meinschaftlich die Sache betrieben zu haben. Der Hohepriester
Hilkia machte zuerst auf das gefundene Buch aufmerksam, wel-
ches der Aktion zu Grunde gelegt werden solLte, die Prophetin
Hulda bekräftigte dessen göttlichen Inhalt, die Priester und Pro-
Der Ort des Grottesdienstes. 27
pheten bildeten einen hervorragenden Bestandteil der Versamm-
lung, worin das neue Gesetz veröffentlicht und beschworen wurde.
Da nun ein enges Verhältnis der beiden leitenden Stände über-
haupt im Wesen der geistigen Entwicklung in Juda begründet
und für dieselbe characteristisch erscheint 1 ), so wird man an-
nehmen dürfen, dass das bei dieser Gelegenheit hervortretende
Einvernehmen nicht lediglich zu Zwecken der Inscenierung ge-
stiftet war, sondern dass darauf schon der Gedanke einer der-
artigen Umgestaltung des Cultus beruhte. In der Tat entsprach
diese auch dem beiderseitigen Interesse, sowohl dem des Tempels,
wie von selbst einleuchtet, als auch dem der prophetischen Re-
formpartei. Für die letztere musste die Beschränkung des Opfer-
dienstes an sich als ein Vorteil gelten ; dieselbe hat hernach am
meisten zu seiner Beseitigung beigetragen, und etwas von dem
späteren Erfolg hat ohne Zweifel in der ursprünglichen Absicht
gelegen. Dazu kam, dass nur zu leicht der Jahve von Hebron
als verschieden von dem zu Bethsemes oder zu Bethel angesehen
wurde, und dass darum aus dem streng monarchischen Gottes-
begriff die Folgerung floss, dass auch die Stätte seiner Wohnung
und seiner Anbetung nur eine einzige sein könne; allenthalben
bei den Schriftstellern der chaldäischen Periode fällt der enge
Zusammenhang auf, in dem der Monotheismus mit der Einheit
des Cultus gedacht wird (Jerem. 2,28. 11,13). Die Wahl des
Ortes aber konnte natürlich nicht zweifelhaft sein, der Mittel-
punkt des Reiches musste auch der Mittelpunkt des Gottes-
dienstes werden. Mochte Jerusalem und das Haus Jahve's da-
selbst auch selber der Reinigung nicht unbedürftig sein, den
Vorzug vor den Winkelaltären verdiente es doch. Es war der
Sitz der geistlichen Bildung, unter den Augen der Propheten
belegen, dem Licht und der Luft, der Reform und der Controle viel
leichter zugänglich. Ausserdem mochte der kanaanitische Ur-
sprung der meisten Bamoth, der z. B. dem Deuteronomium nicht
*) Während Hosea, der Nordisraelit, häufig die Pfaffen seiner Heimat an-
greift und ihnen die Hauptschuld an der Versunkenheit und Verblendung
des Volkes beimisst, sagt Jesaia auch in der zornigsten Standrede gegen
den abergläubischen Gottesdienst* der Menge kein Wort gegen die Priester,
mit deren Oberhaupte Uria er hingegen auf sehr vertrautem Fusse steht.
Namentlich aber aus Jeremia's Buche, dem besten Spiegel der damaligen
jüdischen Verhältnisse, lässt sich der enge Zusammenhang zwischen
Priestern und Propheten erkennen. . Sie teilten sich gewissermassen beide
in den Besitz des Heiligtums, vgl. Lament. 2, 20.
28 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
unbekannt ist, zu ihrer Disereditierung beitragen, während die
Gründung Jerusalems zu den stolzesten Erinnerungen der israeli-
tischen Geschichte gehörte und die Lade, die dem dortigen Tem-
pel den Ursprung gegeben hatte, mit einem gewissen Recht als
das einzige echt mosaische Heiligtum gelten konnte 1 ).
Im 18. Jahre Josia's, 621 v. Chr., fiel der erste schwere
Schlag gegen die lokalen Opferstätten. Wie gewaltsam der
König verfuhr, wie neu die Massregel war und wie tief sie in's
Fleisch schnitt, lehrt der Bericht 2. Reg. 23. Welche Lebens-
kraft hatten doch noch immer die grünen Bäume auf den hohen
Bergen! Sie wurden auch jetzt nur gekappt und nicht ent-
wurzelt. Nach Josia's Tode sehen wir die Bamoth allenthalben,
nicht bloss in der Landschaft sondern auch in der Hauptstadt
selber, wieder auftauchen; so viel Städte, so viel Altäre in Juda,
muss Jeremia klagen. Was von der reformatorischen Partei er-
reicht war, war einzig die feste Position eines geschriebenen
und feierlich von allem Volk beschworenen Gesetzes, das noch
immer von Gottes wegen zu Rechte bestand. Aber dasselbe
wieder in Kraft zu setzen und durchzuführen war nicht leicht,
und alleine den Anstrengungen der Propheten, eines Jeremia
und Ezechiel, wäre es wohl nicht gelungen.
3. Wären die Judäer ruhig in ihrem Lande geblieben, so
wäre die josianische Reformation schwerlich im Volke durch-
gedrungen, weil die Fäden zu stark waren, welche die Gegen-
wart mit der Vergangenheit verbanden. Um die Bamoth, an die
sich von den Vätern her die heiligsten Erinnerungen knüpften,
die wie Hebron und Beerseba durch Abraham und Isaak selber
gestiftet waren, in den Ruf abgöttischer und ketzerischer Greuel-
stätten zu bringen, dazu bedurfte es eines vollständigen Durch-
schneidens der natürlichen Tradition des Lebens, des Zusammen-
hangs mit den ererbten Zuständen. Dies ward bewirkt durch
das babylonische Exil, wodurch die Nation gewaltsam aus ihrem
Mutterboden losgerissen wurde und für ein halbes Jahrhundert
von demselben getrennt blieb — ein Einschnitt in die geschicht-
! ) Luther an den deutschen Adel räth zum zwanzigsten: dass die wilden
Capellen und Feldkirchen würden verstöret, als des Teufels Gespenst, das
er treibet, den Geiz zu stärken, falsche erdichtete Glauben aufzurichten,
Pfarrkirchen zu schwächen, Tabernen und Hurerei zu mehren, unnütz
Geld und Arbeit zu verlieren und nur das arme Volk mit der Nasen
umzuführen (Niemeyer's Neudruck S. 54).
Der Ort des Gottesdienstes. 29
liehe Continuität, wie er kaum grösser gedacht werden kann.
Die neue Generation hatte kein natürliches, sondern nur noch
ein künstliches Verhältnis zu der Vorzeit, die so fest eingewur-
zelten Gewächse des alten Ackers, Dornen in den Augen der
Frommen, waren ausgerissen, der Neubruch bereit für neuen
Samen. Es ist allerdings nicht an dem, dass eine allgemeine
Bekehrung im Sinne der Propheten damals das ganze Volk er-
griffen hätte. Vielleicht die Mehrzahl gab die Vergangenheit
überhaupt preis, verlor sich aber eben dadurch unter den Heiden
und kam für die Zukunft nicht mehr in Betracht. Nur die
Frommen, die zitternd Jahve's Worte folgten, blieben der Rest;
sie allein hatten die Kraft, in dem Völkergewoge, in dem sie um-
hertrieben, die jüdische Besonderheit zu bewahren. Aus dem
Exil kehrte nicht die Nation zurück, sondern eine religiöse Sekte,
diejenigen, welche sich mit Leib und Seele den reformatorischen
Ideen ergeben hatten. Es ist kein Wunder, dass diesen Leuten,
die sich noch dazu bei ihrer Heimkehr alle in der nächsten Um-
gebung Jerusalems ansiedelten, nicht der Gedanke kam, die
lokalen Culte herzustellen. Es kostete sie keine Kämpfe, die
zerstörten Bamoth in Trümmern liegen zu lassen, ihnen war es
völlig in Fleisch und Blut übergegangen, dass der eine Gott
auch nur eine Anbetungsstätte habe, und seitdem galt das für
alle Folgezeit als eine selbstverständliche Sache.
IL
Dies war der faktische Verlauf der Centralisation des Cultus,
diese drei Stadien kann man unterscheiden. Lässt sich nun eine
Correspondenz zwischen den Phasen des wirklichen Hergangs
und denen der Gesetzgebung in diesem Punkte aufzeigen? Die
drei Schichten der Gesetzgebung enthalten sämmtlich Bestim-
mungen über den Opferdienst und die Opferstätten. Es ist an-
zunehmen, dass dieselben irgendwie in der Geschichte wurzeln
und nicht völlig ausser oder über dem Boden der Wirklichkeit
in der Luft schweben.
1. Das jehovistische Hauptgesetz, das sogenannte Bundes-
buch, enthält Exod. 20,24—26 folgende Verordnung; „einen Altar
von Erde sollst du mir machen und darauf deine Voll- und
Schlachtopfer, deine Schafe und Rinder opfern; an jedem Orte,
wo ich meinen Namen ehren lasse, will ich zu dir kommen und
30 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
dich segnen. Oder wenn du mir einen Altar von Steinen machen
willst, so sollst du nicht mit behauenen bauen; denn hast du
dein Eisen darüber geschwungen, so hast du sie entweiht. Und
nicht auf Stufen sollst du zu meinem Altar aufsteigen, damit
nicht deine Scham vor ihm entblösst werde." Ohne Zweifel ist
hier nicht der Altar der Stiftshütte, der aus Holz gezimmert und
mit Erz überzogen war, oder der des salomonischen Tempels,
der an seiner Ostseite eine Treppe *) und rings herum auf halber
Höhe einen Umgang hatte, als der einzig wahre beschrieben.
Dahingegen gilt augenscheinlich eine Vielheit von Altären nicht
bloss als zulässig, sondern als selbstverständlich. Denn es wird
gar kein Wert darauf gelegt, immer die gleiche sei es stehende
oder gar überallhin mitzuschleppende Opferstätte zu haben; Erde
und unbehauene Feldsteine 2 ) findet man allerwegen, und sie
zerfallen ebenso leicht als sie zusammengeschichtet werden.
Auch wird zweierlei Material zur Wahl gestellt, nach der ur-
sprünglichen Meinung doch wohl zum Bau verschiedener Altäre;
und nicht an dem Orte, sondern an jedem Orte, wo er seinen
Namen ehren lässt, will Jahve zu seinen Anbetern kommen und
sie segnen. Das in Rede stehende Gesetz steht also im Ein-
klänge mit Sitte und Brauch der ersten geschichtlichen Periode,
wurzelt darin und sanctioniert sie. Allerdings scheint die Freiheit
überall zu opfern etwas beschränkt zu werden durch den Zusatz:
überall, wo ich meinen Namen ehren lasse. Aber das hat weiter
nichts zu bedeuten als dass man die Stätte, wo der Verkehr
zwischen Himmel und Erde vor sich ging, nicht gerne als will-
*) Der Altar des zweiten Tempels hatte keine Stufen, sondern einen schrä-
gen Aufgang, ebenso nach der Meinung der Juden auch der der Stifts-
hütte. Der Grund übrigens, weshalb Exod. 20, 26 die Stufen verboten
werden, fällt hinweg, wenn die Priester Hosen hatten (Exod. 28, 42).
2 ) Der Plural der Steine ist vielleicht bemerkenswert. Es gab auch Opfer-
stätten aus einem grossen Steine 1. Sam. 14, 33. 6,14.15. 2. Sam. 20,8.
Jud. 6, 20. 13, 19. 20. 1. Reg. 1, 9; dahin gehört wol ursprünglich auch die
Tenne Arauna's 2. Sam. 24, 21, vgl. Esdr. 3, 3 mi^lDO bV- Da aber
solche einzelne heilige Felsen leicht in eine mythologische Beziehung zur
Gottheit traten, so nahm man Anstoss daran, wie aus dem Nachtrag
Jud. 6,22—24 erhellt, worin der Felsaltar, der als Sitz der Theophanie
gedachte Stein unter der Eiche, auf dem Gideon opfert und aus dem
die Flamme schlägt (6, 19—21), in einen Altar auf dem Felsen verbessert
wird. Die Masseboth werden Exod. 24, 4 vom Altar unterschieden, an-
derswo jedoch offenbar damit gleichgesetzt Gen. 33, 20 und überall mehr
oder weniger mit der Gottheit identificirt Gen. 28.
Der Ort des Gottesdienstes. 31
kürlich gewählt gelten Hess, sondern als irgendwie durch die
Gottheit selbst zu ihrem Dienste ausersehen betrachtete.
Mit dem jebovistischen Gesetze stimmt die jehovistische Er-
zählung des Pentateuchs vollkommen tiberein, wie namentlich
die Patriarchengeschichte in J und E sehr deutlich lehrt. Über-
all, wo sie wohnen oder vorübergehend sich aufhalten, gründen
hiernach die Erzväter Altäre, richten Malsteine auf, pflanzen
Bäume, graben Brunnen. Das geschieht nicht an gleichgiltigen
zufälligen Orten, sondern zu Sichern und Bethel in Ephraim, zu
Hebron und Beerseba in Juda, zu Mispa Mahanaim Penuel in
Gilead: an lauter berühmten altheiligen Cultusstätten. Daran
hängt das Interesse solcher Angaben, es sind keine antiquarischen
Notizen, sondern voll der lebendigsten Bedeutung für die Gegen-
wart der Erzähler. Der Altar, den Abraham zu Sichern gebaut
hat, ist eben der, auf dem noch immer geopfert wird, und trägt
„bis auf den heutigen Tag" den Namen, den ihm der Patriarch
gegeben; wo er zu Hebron den Jahve zum ersten Male bewirtet
hat, da wird diesem seither beständig der Tisch bereitet; wie
Isaak so schwören seine Söhne noch immer (Am. 7,14. Hos. 4,15)
bei dem heiligen Brunnen von Beerseba, den er gegraben und
opfern dort auf dem Altar, den er gebaut, unter der Tamariske,
die er gepflanzt hat; den Ölstein Jakobs zu Bethel salbt noch
das lebende Geschlecht und bezahlt den Zehnten, den jener
einst dem dortigen Gotteshause gelobte. Darum sind auch die
Stellen dieser Reliquien dem Berichterstatter so wohl bekannt
und werden auf den Punkt genau angegeben, trotz der 400 Jahre
des ägyptischen Aufenthalts, welche die Wiederauffindung sonst
einigermassen erschwert haben würden. Der 41tar, den Abraham
zu Bethel errichtete, liegt auf dem Berge östlich von der Stadt,
zwischen Bethel im Westen und Ai im Osten; andere sind durch
einen Baum oder eine Quelle fixirt, wie der von Sichern oder
Beerseba 1 ). Natürlich aber war es nicht die Absicht, den
] ) Das richtige Verständnis bei Ewald, Gesch. des V. 1. 1 3 S. 436 f. A.Bern-
stein (Ursprang der Sagen -von Abraham u. s. w. ; Berlin 1871) bringt die
Politik hinein, in garstiger Weise. „Er betritt zwar nicht Sichern und
Bethel selber — dies sind Stätten, die Jehuda feindlich sind — aber in
echt jehudäischer Demonstration erbaut er in ihrer Nähe Altäre und ruft
an den Namen JehovaV (S. 22). Er baut vielmehr die Altäre genau an
den Stellen, wo sie später nachweislich standen; sie standen nicht inner-
halb der Städte! In Gen. 18 wird auch die Eiche Mamre nicht gebraucht,
32 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
Cultus der Gegenwart dadurch zu verun ehren, dass man seine
Einrichtung den Erzvätern zuschrieb. Diese Legenden glorificieren
vielmehr den Ursprung der Stätten, an denen sie haften, und
umgeben sie mit dem Nimbus altersgrauer Weihe. Um so mehr,
als die Patriarchen ihre Altäre in der Kegel nicht nach eigenem
Gutdünken errichten, wo es ihnen beliebt; sondern eine Theo-
phanie macht sie aufmerksam auf die Heiligkeit des Ortes oder
bestätigt dieselbe wenigstens nachträglich. Jahve erscheint dem
Abraham bei Sichern, da erbaut jener den Altar „dem ihm er-
schienenen Jahve"; er isst bei ihm unter der Eiche Mamre, das
ist der Ursprung des Opferdieustes daselbst; er zeigt ihm den
Ort, wo er seinen Sohn darbringen soll, da steht noch heute die
Stätte. In der ersten Nacht, wo Isaak auf dem heiligen Boden
von Beerseba schläft (26, 24), erhält er den Besuch des dort
wohnenden Numen und baut in Folge davon den Altar; über-
rascht von profanen Blicken wirkt Jahve vernichtend, aber frei-
willig weist er selbst seinen Lieblingen die Orte, wo er sich
schauen lassen will; und wo Menschen ihn gesehen haben und
lebendig geblieben sind, da bezeichnet ein Heiligtum den offen
stehenden Zugang zu ihm. Der Inhalt der Offenbarung ist dabei
verhältnismässig gleichgiltig: ich bin die Gottheit; das Wichtige
ist die Theophanie an sich, ihr Erfolgen an dem betreffenden
Orte. Man darf sie nicht als ein vereinzeltes Factum ansehen,
sondern vielmehr als den eklatanten Anfang eines an dieser
Stelle fortzusetzenden Verkehrs (nirp ^D nfcO) zwischen Gott und
Mensch, gleichsam als die erste und stärkste Äusserung der
Heiligkeit des Bodens. In grösster Klarheit und mit unver-
gleichlicher Anmut tritt uns diese Vorstellungsweise in dem Be-
richte über die Himmelsleiter entgegen, welche Jakob zu Bethel
sah. „Ihn träumte, da war eine Leiter, die stand auf der Erde
und ihre Spitze rührte an den Himmel, und siehe die Engel
Gottes stiegen daran auf und nieder. Und er fürchtete sich und
sprach: wie schauerlich ist diese Stätte, dies ist nichts anderes
als ein Haus Gottes und dies ist die Pforte des Himmels."
Die Leiter steht an dieser Stätte nicht bloss in diesem Augen-
blick, sondern immer und gleichsam von Natur; Bethel — das
den Wohnsitz Abrahams, sondern den Ort der Erscheinung Jahve's zu
fixieren.
Der Ort des Gottesdienstes. 33
erkennt Jakob daraus — ist ein Ort, wo Himmel und Erde sieh
berühren, wo die Engel auf und niedersteigen, um den an diesem
Thore von Gott gestifteten Verkehr zwischen Himmel und Erde
zu vermitteln.
Dies Alles ist nur zu verstehen als eine Verklärung der
Verhältnisse und Einrichtungen des Cultus, wie wir sie etwa in
den ersten Jahrhunderten des geteilten Reiches antreffen. Alles
was einer späteren Zeit anstössig und heidnisch erscheint, wird
hier durch Jahve selbst und seine Lieblinge geweiht und auto-
risiert, die Höhen, die Malsteine (Masseboth), die Bäume, die
Brunnen 1 ). Zwischen dem jehovistischen Gesetze, welches die
bestehenden Cultusstätten sanctioniert , und der jehovistischen
Erzählung herrscht wesentliche Übereinstimmung, die letztere
ist ihrem Fundamente nach vielleicht noch etwas älter. Beide
gehören augenscheinlich der vorprophetischen Periode an —
eine spätere Bearbeitung der Erzählung in prophetischem Sinne
hat das Wesen ihres Kernes nicht geändert. Es ist undenkbar,
dass Arnos und Hosea oder ein ähnlich gesonnener Mann mit
so teilnehmender Liebe und gläubiger Ehrfurcht sich in Ge-
schichten versenken konnte, die nur dazu dienten, dem bestehen-
den Gottesdienst, wie ihn das Volk auf den Höhen Isaaks als
seine heiligste Angelegenheit trieb, noch mehr Nimbus und
grösseres Ansehen zu verleihen.
2. Das jehovistische Bundesbuch liegt zwar dem Deutero-
nomium zu Grunde, aber in einem Punkte differieren sie beträcht-
lich, und das ist grade der, der uns hier angeht. Wie dort,
so eröffnet auch hier eine Verordnung über den Altardienst die
eigentliche Gesetzgebung (Deut. 12), aber hier hält nun Moses
seinen Israeliten folgende Rede: „Wenn ihr in das Land Kanaan
kommt, so sollt ihr alle daselbst vorfindlichen Cultusstätten zer-
stören und nicht in der Weise wie die Heiden ihre Götter ver-
ehren, ebenso thun dem Jahve eurem Gotte. Vielmehr nur an
dem Orte, den Jahve aus allen euren Stämmen sich zur Woh-
nung erwählen wird, sollt ihr ihn suchen und dort eure Opfer
und Gaben darbringen und dort vor ihm essen und euch freuen.
Aber nur der öffentliche Cultus, namentlich an gewissen Hauptstätten,
wird glorificiert ; dagegen der häusliche Penatencultus, an dem besonders
die Weiber hängen, schon von Jakob (in E) gemisbilligt. Ascheren wer-
den nicht erwähnt, Gussbilder verworfen, namentlich von E. Vielleicht hat
hier schon in JE eine Correctur der alten Sage statt gefunden.
Well hau sen, Prolegomena. . 3
34 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
Gegenwärtig thun wir so wie es jedem gut dünkt, aber wenn ihr
zu festen Sitzen und zur Ruhe vor den Feinden gelangt seid,
so soll der Ort, den Jahve sich in einem eurer Stämme zur
Wohnung erwählen wird, der einzige sein, wohin ihr eure Opfer
und Gaben bringt. Hütet euch, an einem beliebigen Orte zu
opfern, ihr dürft nicht in jeder Stadt eure heiligen Abgaben ver-
zehren, sondern nur an der Stätte, die Jahve erwählen wird."
Das Gesetz wird nicht müde, die Forderung der lokalen
Einheit des Gottesdienstes immer und immer zu wiederholen.
Es tritt damit dem „was wir gegenwärtig zu thun gewohnt sind 4 '
bewusst entgegen und bekämpft die bestehende Sitte, es hat
durch und durch polemischen, reformatorischen Charakter. Mit
Recht wird es darum von der geschichtlichen Kritik in die Zeit
der Angriffe der jerusalemischen Reformpartei gegen die Bamoth
gesetzt. Wie das Bundesbuch und überhaupt das ganze jeho-
vistische Schriftwerk die erste vorprophetische Periode der Cultus-
geschichte reflectiert, so ist das Deuteronomium der gesetzliche
Ausdruck der zweiten Periode des Kampfes und des Überganges
— dieses historische Nacheinander ist um so sicherer, da die
literarische Abhängigkeit des Deuteronomiums von den jeho-
vistischen Gesetzen und Erzählungen ohnedies erwiesen und an-
erkannt ist. Nahe liegt es daher auch zu glauben, dass das
Buch, dessen Auffindung dem König Josias den Antrieb zur Zer-
störung der lokalen Heiligtümer gegeben hat, eben das Deute-
ronomium gewesen sei, welches ursprünglich selbständig und in
einer kürzeren Gestalt existiert haben muss. Wenigstens bringt
von allen Büchern des Pentateuchs nur dieses die Beschränkung
des Opferdienstes auf den einen erwählten Ort so gebieterisch
zum Ausdruck, nur hier macht sich die Forderung in ihrer
aggressiven Neuheit so fühlbar und beherrscht die ganze Ten-
denz des Gesetzgebers. Das alte Material, welches er sonst,
benutzt, gestaltet er überall nach dieser Rücksicht um, nach allen
Seiten geht er den Consequenzen der Massregel nach; um ihre
Durchführung zu ermöglichen ändert er frühere Einrichtungen,
erlaubt was verboten, verbietet was erlaubt war; fast immer
steht bei seinen übrigen Neuerungen diese im Hintergrunde.
So, wenn er gestattet zu schlachten ohne zu opfern und zwar
an jedem Orte, wenn er, um nicht mit den Altären zugleich die
Asyle (Exod. 21, 13. 14. 1. Reg. 2,28) abzuschaffen, besondere
Der Ort des Gottesdienstes. 35
Zufluchtsstädte für unschuldig Verfolgte einrichtet, wenn er für
die Priester der aufgehobenen Heiligtümer sorgt, den Provinzialen
empfiehlt bei ihren Opferwallfahrten sie mitzunehmen, und ihnen
das Recht gibt, im Tempel zu Jerusalem zu amtieren, so gut wie
der dort erbgesessene Clerus. Auch übrigens dominiert der be-
regte Gesichtspunkt, z. B. werden hauptsächlich ihm zu liebe
die alten Verordnungen und Bräuche betreffend die Abgaben
und die Feste dargestellt, wie sie sich nun ausnehmen müssen.
Ein so lebendiges Gesetz, das sich überall an der Wirklichkeit
reibt, gegen das Hergebrachte kämpft, durch Abrechnung mit
den Bedürfnissen der Praxis sich Bahn bricht, ist keine Velleität,
kein Hirngespinnst eines müssigen Kopfes, sondern ebenso ent-
standen aus geschichtlichem Anlass, wie- in den Verlauf des ge-
schichtlichen Processes wirksam einzugreifen bestimmt. Ein
sachgemässes Urteil kann demselben dahetnur einen geschicht-
lichen Platz anweisen, in der Reformbewegung, die durch den
König Josias zum Siege gebracht worden ist.
3. Über den Priestercodex ist die Meinung verbreitet, dass
er sich in dieser Sache ziemlich indifferent verhalte, weder die
Vielheit der Opferstätten erlaube noch auf die Einheit Gewicht
lege, und dass ihm dieser Haltung wegen die Priorität vor dem
Deuteronomium zukomme J ). Diese Meinung ist, gelinde gesagt,
oberflächlich in hohem Grade. Die Voraussetzung der Concen-
trierung des Gottesdienstes auf einen einzigen Mittelpunkt durch-
dringt den Priestercodex ganz und gar. Wer sich um sie zu
erweisen auf Lev. 17 oder auf Jos. 22 beruft, der zeigt, dass er
Exod. 25 bis Lev. 9 von Anfang bis zu Ende nicht verstanden
hat. Ehe noch irgend eine die Materie des Cultus betreffende
Verordnung gegeben werden kann — das ist der Sinn jenes
grossen Abschnitts — - muss erst der rechte einige Ort desselben
') De Wette, Habilitationsschrift über das Deuteronomium (Jena 1805) unter
5) : de hoc unico . cultus sacri loco . . . priores libri nihil onmino habent.
De sacrificiis tantum unice ante tabernaculum conventus offerendis lex
quaedam exstat. Sed in legibus de diebus festis, de primitiis et decimis,
tarn saepe repetitis, nihil omnino monitum est de loco unico, ubi cele-
brari et offerri debeant (Opusc. theol. S. 163 -—165). Vgl. Jahrbb. für
Deutsche Theologie 1877 S. 423: Es ist ein höchst verwunderlicher
Irrtum, zu meinen, dass abgesehen von Lev. 17 im Priestercodex von
Einheit des Cultusortes nichts zu finden sei; die Stiftshütte ist ja doch
die Basis des Ganzen, ohne welche es zusammenbräche, und sie hat keine
andere Bedeutung als eines Gesetzes der Cultuseinheit in historischer
Form.
36 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
vorhanden sein. Die Stiftshütte ist nicht bloss Historie, sondern
wie alle Historien in jenem Buch ist sie zugleich Gesetz, sie
drückt die gesetzliche Einheit des Cultus als geschichtliche That-
sache aus, die von Anfang an, seit dem Auszuge aus Ägypten,
in Israel bestanden habe. Ein Gott, ein Heiligtum — das ist
ihre Meinung. Mit ihrer Einrichtung, die den Inhalt der gött-
lichen Offenbarung auf den Sinai ausmacht, wurde die Theo-
kratie begründet; wo si& ist, da ist jene. Ihre Beschreibung
steht darum ebenso an der Spitze des Priestercodex, wie die des
Tempels an der Spitze der Gesetzgebung Ezechiels. Sie ist die
Grundlage und der unentbehrliche Boden, ohne den alles Andere
in der Luft stünde; erst muss die Stätte der. göttlichen Gegen-
wart auf Erden da sein, ehe die heilige Gemeinde ins Leben
und der Cultus in Kraft treten kann. Glaubt man, die Stifts-
hütte dulde noch andere Heiligtümer neben sich? Wozu dann
aber das Lager der zwölf Stämme um sie herum, das keine
kriegerische, sondern rein geistliche Bedeutung hat und seinen
ganzen Sinn von dem heiligen Mittelpunkte aus empfängt? wo-
her diese Concentration des ganzen Israels zu einer einzigen
grossen Gemeinde (my> btlp), die nirgends im Alten Testamente
ihres gleichen hat? Vielmehr es gibt nur diesen einen Ort, wo
Gott wohnt und sich schauen lässt, nur diesen einen, wo der
Mensch sich ihm nahen und mit Opfern und Gaben sein Antlitz
suchen kann. Diese Anschauung durchzieht die ganze Ritual-
gesetzgebung des mittleren Pentateuchs wie etwas das sich gar
nicht anders denken lässt. Bezeichnend dafür ist besonders das
überall beiläufig eingestreute iyiD bn$ ^zh (vor der Stiftshütte),
namentlich in der Opferordnung.
Was folgt nun hieraus für die geschichtliche Eingliederung
des Priestercodex, wenn man eine solche überhaupt für nötig
hält? Er kann nicht in die erste Periode verlegt werden, eonse-
quenterweise so wenig wie das Deuteronomium, Aber in welchem
Verhältnis steht er zu diesem? Im Deuteronomium wird die Ein-
heit des Cultus gefordert, im Priestercodex wird sie voraus-
gesetzt. Stillschweigend liegt sie ihm allenthalben zu Grunde,
aber mit ausdrücklichem Anspruch macht sie sich nirgend gel-
tend '), sie ist nichts Neues, sondern etwas ganz Selbstverständ-
*) abgesehen von Lev. 17, aber das kleine Corpus Lev. 17 — 26 bildet auch
erst den Übergang vom Deuteronomium zum Priestercodex.
Der Ort des Gottesdienstes. 37
liches. Was folgt daraus für unsere Frage? Mich dünkt: das,
dass der Priestercodex auf dem Resultate fusst, welches das
Deuteronomium anstrebt. Dieses steht mitten im Kampf und
in der Bewegung, deutlich spricht es seine reformatorische Ab-
sicht aus, seinen Gegensatz gegen das Hergebrachte „was wir
gegenwärtig zu thun pflegen' 4 ; jener steht ausser und über dem
Streit, das Ziel ist erreicht und sicherer Besitz geworden. Auf
Grund des Priestercodex wäre nie eine Reformation erfolgt, kein
Josias hätte daraus gemerkt, dass der dermalige Zustand ver-.
kehrt sei und umgestaltet werden müsse; es wird ja gethan, als
sei Alles seit je in bester Ordnung. Und auch nur im Deutero-
nomium sieht man hinein in die Wurzel der Sache und erkennt
ihi-jen Zusammenhang mit der . Sorge für einen strengen Mono-
theismus und für die Entfernung volkstümlich-heidnischer Ele-
mente aus dem Gottesdienste, also mit einem tieferen und wirk-
lich wertvollen Zwecke; im Priestercodex beruht die Ratio der
an sich doch keineswegs rationellen Einrichtung auf ihrer eigenen
„Legitimität", wie alles Thatsächliche für die Gewohnheit natür-
lich erscheint und unbedürftig der Motivierung. Nirgends tritt
hier hervor, dass die Abschaffung der Bamoth mitsamt Ascheren
und Malsteinen der eigentliche Zweck ist, diese Institute sind
kaum noch bekannt, und was nur als negative und polemische
Massregel sich begreifen lässt, wird als in sich sinnvoll ange-
sehen.
Die Idee als Idee ist älter wie die Idee als Geschichte. Im
Deuteronomium trägt sie ihre angeborene Farbe, tritt fordernd
und aggressiv der Wirklichkeit entgegen. Nur insofern aller-
dings als sie dem Moses in den Mund gelegt wird, geschieht ein
Schritt sie geschichtlich einzukleiden; aber dieser Anfang hält
sich in bescheidenen Grenzen. Moses stellt nur das Gesetz auf; es
auszuführen, macht er weder für seine eigene Zeit Anstalten
noch verlangt er es von der nächsten Zukunft. Vielmehr soll
dasselbe erst in Kraft treten, wenn das Volk mit der Eroberung
des Landes fertig und zur Ruhe gelangt ist. Es ist oben ver-
mutet, dass der letztere Termin die Giltigkeit des Gesetzes bis
auf die Tage Davids und Salomos (1. Reg. 8, 16) hinausrücke.
Dies ist um so wahrscheinlicher, da zu seiner Ausführung „der
Ort, den Jahve erwählen wird" gehört, womit nur die judäische
Hauptstadt gemeint sein kann. Davon also, dass das was sein
38 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
soll, auch von jeher geschichtlich dagewesen sei, weiss das
Deuteronomium gar nichts; bis auf den salomonischen Tempel
hat die Cultuseinheit eigentlich nicht einmal zu Rechte bestanden,
und dass sie von da ab auch mehr eine fromme, als "eine
praktische Forderung gewesen sei, steht unverkennbar zwischen
den Zeilen. Dahingegen der Priestercodex kann so wenig von
ihr abstrahieren, dass er sich Israel ohne sie in keinem Augen-
blicke vorstellen kann, dasg er ihr thatsächliches Vorhan-
densein bis in den Anfang der Theokratie hinaufrückt und dem-
gemäss die alte Geschichte völlig umgestaltet. Die Grundlage
der Concentration des Gottesdienstes, der Tempel, der in Wirk-
lichkeit erst von Salomo gebaut wurde, gilt hier auch für die
unruhige Zeit der Wanderung, die der Sesshaftigkeit vorherging,
als so unentbehrlich, dass er tragbar gemacht und als Stiftshütte
in die Urzeit versetzt wird. Denn diese ist in Wahrheit nicht
das Urbild, sondern die Copie des jerusalemischen Tempels. Die
beiderseitige Ähnlichkeit ist bekannt 1 ), aber mit nichten wird
1. Reg* 6 berichtet, dass Salomo das ältere Muster benutzt und
seinen tyrischen Meistern befohlen habe, sich daran zu halten.
Näher erhellt die Posteriorität des mosaischen Baues aus folgen-
den zwei von Graf (S. 60 ff.) hervorgehobenen Punkten. Erstens
ist bei der Beschreibung der Stiftshütte wiederholt von ihrer
Süd- Nord- und Westseite die Rede, ohne vorhergehende An-
ordnung einer bestimmten und stets gleichen Orientierung der-
selben: diese wird stillschweigend vorausgesetzt, weil sie vom
Tempel hergejiommen ist, der ein festes Gebäude war und
seinen Platz nicht wechselte. Zweitens ist der eherne Altai-
eigentlich als ein hölzerner beschrieben, der nur mit Erz über-
zogen ist: für einen Herd grössten Umfangs, auf dem beständig
ein gewaltiges Feuer brennt, eine völlig widersinnige Construction,
die nur aus dem Bestreben erklärlich ist, den ehernen Altar, den
Salomo gegossen hatte (2. Reg. 16, 4), dadurch transportabel zu
machen, dass man seinen Kern in Zimmerwerk verwandelte.
Die Hauptsache bleibt indessen, dass die Stiftshütte des Priester-
codex ihrer Bedeutung nach nicht ein einfaches provisorisches
Obdach "der Lade auf dem Marsche ist, sondern das einzige
*) Sap. Sal. 9,8 heisst der Tempel ein fAifXTjfxa axYjvT); dtyi'a?. Josephus sagt
Ant. III 6, 1 von der Hütte: V] 8' o6Sev (xeTacpepofjtevou xal au[A7rspivocfToüvTo;
vaou St^cpeps.
Der Ort des Gottesdienstes. . 39
legitime Heiligtum der Gemeinde der zwölf Stämme vor Salomo
und darum also eine Projection des späteren Tempels 1 ). Wie
bescheiden und fast verlegen nimmt sich gegen diese dreiste
Thatsaehe einer von Anfang an gegebenen Grundlage der Cen-
tralisation der deuteronomische Hinweis auf den zukünftigen Ort
aus, den Jahve erwählen werde! Hier ist gewissermassen nur
die Idee in des Gesetzgebers Geiste vorhanden und beansprucht
erst für eine weit spätere Zeit reale Wirksamkeit, dort hat sich
die mosaische Idee auch einen mosaischen Körper nach-
wachsen lassen, mit dem sie gleich von Anfang an leibhaftig in
die Welt tritt 2 ).
Auf demselben einfachen historischen Wege, wie der Priester-
codex das Centralheiligtum in die vorsalomonische Zeit hinein-
pflanzt, schafft er die anderweitigen Cultusstätten aus der Luft.
Seine aehtundvierzig Levitenstädte sind zum grossen Teil nach-
weislich eine zeitgemässe Metamorphose der alten Bamoth. Der
Altar, den Jos, 22 die ostjordanischen Stämme bauen, soll bei
Leibe nicht in der Absicht ihn zu gebrauchen errichtet sein,
sondern nur so zum Andenken an jrgend etwas. Sogar die vor-
mosaische Zeit wird in dieser Weise purificiert. Weil die Patri-
archen keine Stiftshütte haben, so haben sie überhaupt keinen
Cultus, sie bauen nach dem Priestercodex keine Altäre, bringen
keine Opfer und halten sich sorgfältig von allem fern, wodurch
sie dem Privileg des einzig wahren Heiligtums irgendwie vor-
greifen könnten. Diese Gestaltung der Erzvätergeschichte ist
nur die äusserste Consequenz des Strebens, gleichsam das Semper
ubique et ab Omnibus der gesetzlichen Cultuseinheit geschicht-
lich durchzuführen.
Also im Deuteronomium liegt die Institution in den Geburts-
wehen und hat im Kampf mit der Praxis der Gegenwart sich
durchzuringen, im Priestercodex trägt sie Sorge für ihre uralte
*) Als solche wird sie empfunden, wenn sie mehrfach in der Chronik unwill-
kürlich mit dem Tempel confundiert wird; Graf S. 55. In m. Zebachim
14,4 heisst es: antequam erectum esset tabernaeulum , fuerunt excelsa
licita; postquam erectum est tabernaeulum, prohibita fuerunt excelsa.
Nach dem deuteronomischen Verse 1. Reg". 3, 3 tritt erst mit der Erbauung
des Tempels das Verbot der Bamoth in Kraft.
2 ) Es entspricht dem genau, wenn der deuteronom. Bearbeiter de% Königs-
buchs zwar seit dem Tempelbau das Gesetz als zu Recht bestehend an-
sieht, aber das constante Abweichen der Praxis anerkennt, dagegen der
Chronist die jüdische Geschichte der Regel nach ins Gesetz umdichtet.
40 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
Legitimität und gestaltet die Vergangenheit nach sich um, offen-
bar deshalb, weil dies für die Gegenwart nicht mehr nötig ist
— die Zurücktragung des Neuen in die alte Zeit pflegt später
zu geschehen als die Geburt des Neuen selber. Das Deutero-
nomium steht in der geschichtlichen Krisis mitten drin und noch
im engen Zusammenhang mit der älteren Cultusperiode, deren
Zustände es bekämpfen, aber nicht ignorieren oder gar sie ab-
leugnen kann. Kein Fortleben der früheren Sitte in der Gegen-
wart verhindert dagegen den Priestercodex, sich ein Bild der
alten Zeit wie sie sein muss zu entwerfen; unbeengt durch noch
vorhandene Anschauung und wirkliche Tradition kann er sie
nach Herzenslust idealisieren. Er hat demnach seine Stelle
hinter dem Deuteronomium , und zwar in der dritten, naeh-
exilischen Periode der Cultusgeschichte, wo einerseits die Einheit
der Opferstätte eine vollendete von niemand und durch nichts
angefochtene Thatsache war, und wo andrerseits das Exil das
natürliche Band zwischen der Gegenwart und dem Altertum so
durchschnitten hatte, dass einer künstlichen Repristination des
letzteren, von der Idee aus, ^kein Hindernis im Wege stand.
III.
Das gewöhnliche Urteil ist umgekehrt. Im Deuteronomium,
meint man, kommen deutliche Beziehungen zur Königszeit vor,
der Priestercodex passe mit seinen geschichtlichen Voraussetzun-
gen in keine Situation derselben und sei deshalb älter. Wenn,
wie bei Ezechiel, der Cultus auf dem Fundamente des salomo-
nischen Tempels ruht, so erkennt jedermann die spätere Zeit;
wenn er aber auf die Stiftshütte gegründet ist, so ist das eine
andere Sache. Man beweist das hohe Alter der priesterlichen
Gesetzgebung damit, dass man sie in eine von ihr selbst aus
ihren gesetzlichen Prämissen geschaffene historische Sphäre ver-
setzt, die in der wirklichen Historie nirgend zu finden ist und
darum ihr voraufgehen muss. So hält sie sich am eigenen Schopf
über dem Boden in der Schwebe.
1. Es mag jedoch scheinen, als sei bisher nur behauptet
worden, dass die Stiftshütte auf einer historischen Fiktion be-
ruhe. In Wahrheit ist es zwar bewiesen, indessen mag noch
einiges hinzugefügt werden, was zwar längst gesagt, aber noch
immer nicht recht beherzigt ist. Es handelt sich, wie ich voraus-
Der Ort des Gottesdienstes. 41
schicke, um die Stiftshütte des Priester codex. Denn irgend ein
Zelt für die Lade mag es wohl gegeben haben, Zelte waren in
der That in Palästina die ältesten Obdächer der Idole (Hos. 9, 6),
woraus erst später feste Häuser wurden; und auch die jehovistische
Überlieferung (jedoch nicht J) kennt ein heiliges Zelt 1 ) beim
mosaischen Lager und zwar ausserhalb desselben, wie die älteren
Höhen meist frei vor der Stadt lagen. Es handelt sich aber um
das bestimmte Zelt, welches Exod. 25 ff. nach Gottes Anweisung
als der Grundstein der Theokratie errichtet wird, das vorsalo-
monische Centralheiligtum, welches auch äusserlich das Gegen-
bild des Tempels ist. Schon dessen blosse Möglichkeit ist be-
streitbar. Ganz wundersam contrastiert dieser Prachtbau, zu
dem das kostbarste Material beigesteuert und in der kunstvollsten
Weise des Morgenlandes verarbeitet wird, gegen den Boden, auf
dem er sich erhebt, in der Wüste unter den urwüchsigen hebrä-
ischen Wanderstämmen, die ihn doch ohne fremde Beihülfe in
kurzer Frist hergestellt haben sollen. Der Gegensatz ist früh
aufgefallen und hat zuerst Voltaire Anlass zu Zweifeln gegeben.
Diese Zweifel mögen auf sich beruhen; es genüge, dass die
hebräische Überlieferung, selbst für die Zeit der Richter und der
ersten Könige, für welche doch die mosaische Stiftshütte eigens
bestimmt ist, nichts von derselben weiss.
Man sollte das freilich nicht denken, wenn man sieht, wie
viel manch einer heute von ihr zu erzählen weiss, der das Buch
der Chronik geschickt zu benutzen versteht. Nämlich 2. Chron.
1, 3 ff. heisst es, Salomo habe seinen Regierungsantritt mit einem
grossen Opferfeste zu Gibeon gefeiert, denn dort habe die Stifts-
hütte und der eherne Altar Mose's gestanden. Dem entsprechend
wird 1. Chron. 21,29- gesagt, David habe zwar auf der Tenne
Arauna's ein Opfer gebracht, aber die Wohnung Jahve's und
der rechtmässige Altar sei in jener Zeit zu Gibeon gewesen;
und weiter 16, 39, dort in Gibeon habe der legitime Hohepriester
Sadok fungiert. Hievon ausgehend haben schon die Rabbinen
und neuerdings besonders Keil und Movers eine systematische
Geschichte der Stiftshütte bis auf den Tempelbau ausgesponnen.
*) Es wird aber nirgend zu gesetzgeberischen Zwecken benutzt, sondern ist
einfaches Obdach für die Lade, steht ausserhalb des Lagers, wie die
ältesten Heiligtümer ausserhalb der Städte, und wird von Josua als Aedi-
tuus bewacht, der auch darin schläft; wie Samuel, der Aedituus Eli's.
42 Geschichte des Oultus, Kap. 1.
Unter David und Salomo, so lange die Lade auf dem Sion sich
befand, war sie in Gibeon, wie auch daraus zu ersehen, dass
dort (2. Sam. 21,6. 9) Opfer vor Jahve gebracht werden. Vorher
zu Nob, wo Ephod und Schaubrode erwähnt werden (1. Sam. 2.1);
ursprünglich ziu Silo, seitJosua. Aber dies waren nur ihre stän-
digen Wohnorte, daneben hielt sie sich vorübergehend bald hier
bald dort auf und rettete durch ihre allgegenwärtige Geschwindig-
keit die Einheit des Cultus, trotz der verschiedenen und weit
auseinander liegenden Stätten, an welchem derselbe ausgeübt
wurde. Überall, wo von einem Erscheinen und Opfern vor Jahve
die Rede ist, muss die Stiftshütte stillschweigend ergänzt werden *).
Wie dogmatisch dies Verfahren ist und zu welch absurden Con-
sequenzen es führt, braucht nicht noch gezeigt zu werden; die
Hauptsache ist, dass der Ausgangspunkt nichts weniger als
fest ist. Denn die Angabe der Chronik, Salomo habe sein An-
trittsopfer auf dem Altar der Stiftshütte zu Gibeon dargebracht,
steht in Widerspruch zu der älteren Parallele 1. Reg. 3,1—4.
„Diese sagt nicht nur nichts von der mosaischen Stiftshütte, die
zu Gibeon gestanden habe, sondern sie sagt ausdrücklich, dass
Salomo auf einer Höhe (als solcher) geopfert, und entschuldigt
ihn deswegen 44 damit, dass bis dahin noch kein Haus dem
Namen Jahve's gebaut worden sei. Dass der Verfasser der
Chronik von dieser Relation abhängig ist, ist aus allgemeinen
Gründen gewiss und ergibt sich speciell daraus, dass er die
Stiftshütte zu Gibeon mit dem Namen Bama bezeichnet, eine
contradictio in adjecto, die nur aus dem Bestreben authentischer
Interpretation „der grossen Bama zu Gibeon 44 1. Reg. 3 zu er-
klären ist. Hier wie sonst conformiert er die Geschichte dem Ge-
setze: der junge fromme Salomo kann sem Opfer doch nur an
der gesetzlichen Stätte gebracht haben, welche also jener Höhe
zu Gibeon untergelegt werden muss. Mit 2. Chron. l,3ff. fallen
auch die zwei anderen Notizen 1. Chron. 16, 39 und 21, 29, die
beide von jener Hauptstelle abhängig sind, wie der wieder-
kehrende Ausdruck „die Bama von Gibeon 44 deutlich verrät.
Sonst kommt die Stiftshütte in der Chronik nicht weiter vor, sie
] ) LXX Jos. 24, 33 : nach Josua's und Eleazars Tode Xaßovxe? ol ulol Ispa?)),
ty]v xtßtüTov xou $eoo itepie^ipoaav iv eauTOtc. Nach Jo. Buxtorf und Sal.
van Til (Ugol. Bd. 8) ist dann diese Theorie besonders von Movers aus-
gebildet worden. Dagegen de Wette, Beiträge S. 108 ff., Vatke a. 0.
S. 316 Anm.
Der Ort des Gottesdienstes. 43
hat noch nicht ihre Consequenzen gezogen und die historische
Anschauung des Verfassers noch nicht durchdrungen. Dieser
würde gewiss durch die Frage, ob sie vorher in Nob gestanden
habe, in einige Verlegenheit geraten sein, da er Gewicht legt
auf die Verbindung des rechtmässigen Heiligtums mit dem recht-
mässigen Priestergeschlecht Sadok-Eleazar, welche allenfalls für
Silo, aber nicht für Nob anzunehmen möglich ist 1 ).
Dass die Chronik die israelitische Geschichte dem Priester-
codex gemäss darstellt, hat zwar gewöhnlich unwillkürlich dazu
veranlasst, ihre principielle Auffassung derselben zu Grunde zu
legen, dürfte aber doch wohl eher dazu bewegen, sie aus dem
Spiel zu lassen, wenn es sich um Ermittlung der wirklichen und
echten Tradition handelt. Die Bücher der Richter und Samuelis
thun zwar vieler Heiligtümer Erwähnung, darunter aber nicht des
allerwichtigsten, des Tabernakels. Denn die einzige Stelle, wo
der Name Ohel Moed vorkommt, 1. Sam. 2, 22, ist schlecht be-
zeugt und inhaltlich verdächtig 2 ). Von dem Vorhandensein der
Lade Jahve's allerdings finden sich gegen Ende der Richter-
zeit deutliche Spuren, (1. Sam. Kap. 4—6). Bürgt nun die Lade
für das Tabernakel? Vielmehr ist ihre Geschichte bis zur Unter-
bringung im Tempel Salomo's ein Beweis dafür, dass „sie ganz
unabhängig von einem ihr besonders geweihten Zelte gedacht
wurde". Das hebt aber den Begriff der mosaischen Stiftshütte
auf, denn nach dem Gesetz gehören beide Stücke notwendig zu
einander, eins darf nicht ohne das andere sein, eins ist so
wichtig wie das andere. Das Tabernakel muss das Symbol
seiner Gegenwart überall begleiten, das Dunkel des Allerhei-
ligsten ist gleichsam das Lebenselement cler Bundeslade; nur
notgedrungen und auch dann nur unter der Hülle der Vorhänge
verlässt sie ihre Wohnung während des Marsches, um sie sofort
wieder zu beziehen, wenn Station gemacht wird. Nun aber
zieht 1. Sam. 4ff. lediglich die Lade zu Felde, sie allein fällt
den Philistern in die Hände, vom Tabernakel und vollends von
dem notwendig dazu gehörenden Altar ist auch in Kap. 5, wo
das Symbol Jahve's im Tempel Dagons zu Asdod aufgestellt
J ) Von der Priesterschaft zu Nob entrann nur Abiathar dem Blutbade
1. Sam. 22; also war Sadok nicht dabei.
2 ) Die Septuaginta liest die Stelle nicht, und überall sonst in k Sam. 1—3
ist das Heiligtum von Silo ein Hekal, d. h. sicher kein Zelt.
44 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
wird, keine Rede ; ebensowenig in Kap. 6, obwohl hier die Feinde
deutlich ihren gesammten Raub am Heiligtume herausgeben.
Man nimmt an, die Behausung der. Lade sei in Silo zurückge-
blieben. Sehr glaublich, aber das war dann nicht die mosaische
Stiftshütte, die unzertrennliche Begleiterin der Lade. In der That
redet der Erzähler von einem festen Hause zu Silo, mit Pfosten
und Thüren ; möglich, dass dies ein Anachronismus l ) — obgleich
warum? — , aber so viel folgt jedenfalls, dass er von der Stifts-
hütte keine Idee hat, die ja mit in den Krieg hätte* ziehen
müssen. Wäre gerade diesmal eine illegale Ausnahme gemacht,
warum ward denn die Lade nicht wenigstens nach ihrer Heraus-
gabe wieder mit der Wohnung vereinigt, die sie ja eigentlich
gar nicht hätte verlassen, dürfen ? Statt dessen kommt sie nach
Bethsemes und bringt Unheil, weil — die Leute sie sich neu-
gierig besehen. Dann nach Kiriathjearim, wo sie lange Jahre
im Hause eines Privatmannes bleibt. Von da lässt sie David
nach Jerusalem holen — natürlich, sollte man auf Grund der
aus dem Pentateuch und der Chronik fliessenden Vorstellung
denken, um sie der ebenfalls nach Jerusalem zu bringenden
Hütte wiederzugeben. Aber daran kommt ihm nicht der Gedanke,
so nahe er gelegen hätte. Zuerst will er die Lade zu sich auf
die Burg nehmen, wird jedoch davon abgeschreckt, und aus
Verlegenheit, sie anderswo unterzubringen, stellt er sie schliess-
lich in das Haus eines seiner Hauptleute, des Obed Edom von
Gath. Hätte er etwas von dem Tabernakel gewusst, hätte er
geahnt, dass es leer in Gibeon stehe, ganz in der Nähe, es
hätte ihm aus aller Not geholfen. Da nun die Lade dem Hause
Obed Edoms Segen bringt — man denke: die Lade im Hause
.eines Soldaten, eines Philisters, und trotzdem kein Zorn, son-
dern Segen 2 ) — f so wird der König ermutigt, nun doch sein
ursprüngliches Vorhaben auszuführen und sie in seiner Burg auf-
1 ) Vgl. ähnlich Jos. 6, 19. 24. 9, 27, wo gerade der Anachronismus beweist,
dass die Vorstellung der Stiftshütte dem Vf. unbekannt war. Dass übri-
gens in Wirklichkeit zu Silo damals ein festes Haus stand, folgt daraus,
dass Jeremias (7, 12) auf seine Trümmer verweist. Denn er kann nur ein
vorsalomonisches Heiligtum als Vorgänger Jerusalems- betrachten; ausser-
dem gibt es auch von einem bedeutenderen Tempel, zu Silo seit der
Königszeit nicht die geringste Spur mehr.
2 ) Die Chronik hat gute Gründe, Ihn zum Leviten zu machen. Aber Gath
an sich, namentlich bei David, ist das pkilisthäische, und Obed Edom
\q V gehört* zu der Leibwache? die vorwiegend aus Fremden und Philistern
^^ ' besfan3rr~^ussefc[eiQ ist sein Name schwerlich israelitisch.
Der Ort des Gottesdienstes. 45
zustellen. Und zwar unter einem Zelte, welches er für sie hatte
machen lassen (2. Sam. 6, 17); dies Zelt Davids auf dem Sion
blieb ihr Aufenthalt bis zum Tempelbau.
Unumgänglich war die Stiftshütte, falls es sie gab, zu er-
wähnen als der Tempel an ihre Stätte trat. Dass sie ihm nicht
als Vorbild diente, ist bereits gesagt. Wenigstens wäre es doch
aber zu erwarten, dass in dem Bericht über den Bau des neuen
Heiligtumes ein Wort über den Verbleib des alten einflösse.
Das scheint nun auch 1. Reg. 8, 4 zu geschehen: nach Vollen-
dung des Tempels brachte man ausser der Lade den Ohel
Moed und alle darin befindlichen heiligen Geräte
hinein. Die Ausleger schwanken, ob sie unter dem Ohel
Moed das Zelt der Lade auf dem Sion verstehen sollen, von
dem bisher allein die Rede gewesen (1. Reg. 1, 39. 2, 28—30),
oder das mosaische Zelt, das nach der Chronik in Gibeon stand,
von dem aber das Buch der Könige nichts berichtet und auch
nichts weiss (3, 2 — 4). Dem Verfasser des Verses 8, 4 wird
wahrscheinlich beides in einander geflossen sein, wir aber sind
vor folgende Alternative gestellt. Entweder steht die Notiz im
Zusammenhange der Erzählung des Buchs, dann kann der Ohel
Moed nur das Zelt auf dem Sion sein — oder der Ohel Moed
8,4 ist die mosaische Stiftshütte, die von Gibeon in den salo-
monischen Tempel übergeführt wurde: dann steht die Angabe
ausserhalb des Zusammenhangs und geht nicht von den Prä-
missen aus, die dieser an die Hand gibt, dann ist sie mit an-
dern Worten von einem Späteren eingeschoben. Die erstere
Möglichkeit ist unwahrscheinlich, denn der Name Ohel Moed
kommt abgesehen von der Interpolation 1. Sam. 2,22 b in den
Büchern der Richter Samuelis und der Könige überhaupt nicht
vor und insonderheit nicht für das Zelt Davids auf dem Sion;
dasselbe war auch zu wenig durch das Alter geheiligt und nach
2. Sam. 7 zu unansehnlich und provisorisch , um der Aufbewah-
rung im Tempel gewürdigt zu werden. Wenn aber der Ohel
Moed hier wie immer die Stiftshtitte ist, worauf auch die heili-
gen Geräte führen, so ist der Vers eben auch Interpolation.
Die Veranlassung einer solchen ist leicht zu begreifen; der selbe
Anstoss, von dem wir oben ausgingen, musste es einem Juden,
der von pentateuchischen Gedanken ausging, nahe legen, an
dieser Stelle die Stiftshtitte zu suchen und wenn er sie nicht
46 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
fand, zu ergänzen. Doch auch die Interpolation beseitigt die
Schwierigkeiten nicht. Wo bleibt der mosaische Brandopfer-
altar? er war ebenso wichtig und heilig als das Tabernakel
selber, wird auch in der Chronik ausdrücklich stets daneben
aufgeführt und verdiente nicht, dass man ihn in Gibeon ver-
kommen Hess — was andrerseits auch der Einheit des Opfer-
dienstes sehr gefährlich war. Ferner, wenn die heiligen Geräte
aus der Hütte in den Tempel übertragen wurden, warum goss
denn Salomo nach 1. Reg. 7 alles neu? *) Kostbar genug waren
auch die alten Geräte, zum Teil noch kostbarer als die neuen,
dazu durch ihren alten Gebrauch geheiligt. Es ist klar, dass
zur Zeit Salomo's weder Stiftshütte noch heilige Geräte noch
eherner Altar Mose's existierten.
So wie es nun aber zur Zeit der letzten Richter und ersten
Könige keine Stiftshütte gab, so war sie auch in der ganzen
früheren Periode nicht vorhanden. Das folgt aus 2. Sam. 7,
einem Abschnitt, auf dessen Geschichtlichkeit es nicht ankommt,
der aber jedenfalls die Auffassung eines vor exilischen Schrift-
stellers wiedergibt. Nachdem David, wird erzählt, vor seinen
Feinden Ruhe hatte, gedachte er der Lade ein würdiges Obdach
zu bauen und sprach seinen Entschluss gegen den Propheten
Nathan mit den Worten aus: „ich wohne in einem Cederhause
und die Lade Gottes unter einem Zelte". Er kann nach 6, 17
nur das Zelt meinen, das er errichtet hatte, also nicht das mo-
saische, das auch nach der Beschreibung Exod. 25 ff. nicht füg-
lich einem Holzbau entgegengesetzt werden, noch weniger für
eine ärmliche, am allerwenigsten für eine Gottes unwürdige Be-
hausung gelten konnte und in Bezug auf Pracht mit Salomo's
Tempel zum mindesten wetteiferte. Nathan billigt anfangs die
Absicht des Königs, verwirft sie aber nachträglich, Gott wolle
es jetzt nicht anders haben als wie er es sonst gehabt habe.
„Ich habe in keinem Hause gewohnt, seit ich die Kinder Israel
aus Ägypten geführt habe, vielmehr bin ich in Zelt und Obdach
herumgewandert. 4 ' Natürlich hat auch Nathan nicht das mo-
] ) Der eherne Altar, den Salomo goss (1. Reg. 8, 64. 2. Reg. 16, 14. 15), wird
jetzt in der Aufzählung der Teinpelgeräte 1. Reg. 7 vermisst. Ursprüng-
lich kann er nicht gefehlt haben, denn er ist ja grade das wichtigste Ge-
rät. Er ist also gestrichen worden, ans Gründen, die man nach der obi-
gen Erörterung leicht verstehen wird. Diese Streichung ist das negative
Gegenstück zur Interpolation der Stiftshütte 1. Reg. 8, 4.
Der Ort des Gottesdienstes. » 47
saische *Zelt als gegenwärtige Wohnung der Lade vor Augen,
sondern das Davids auf dem Sion. Er sagt nun nicht, die Lade
sei früher immer in der Stiftshütte gewesen und ihr jetziges Not-
dach sei darum höchst illegitim, sondern gerade der jetzige Zu-
stand sei der rechte, in einem ähnlichen simplen und unansehn-
lichen Obdach habe die Lade bisher stets gehaust. Da Davids
Zelt nicht bis zum Auszug aus Ägypten «hinaufreicht, so redet
Nathan notwendigerweise von wechselnden Zelten und Wohnun-
gen, die Lesart der Parallelstelle in der Chronik (1 17, 5) beruht
darum auf einem ganz richtigen Verständnis. Der Vorstellung
des Pentateuchs kann nichts principieller entgegenlaufen als diese
Worte: die Lade hat nicht ein bestimmtes einziges heiliges Pracht-
zelt zum Correlat, sondern ist gegen ihr Obdach ganz gieichgiltig,
hat damit häufig gewechselt, aber nie ein besonders schönes ge-
habt. Und so ist es seit Moses gewesen 1 ).
So steht es um die Stiftshütte: will man das Alter des
Priestercodex an diesen Faden hängen, so habe ich nichts da-
wider. Ihre Vorstellung ist erwachsen in Anlehnung an die
früh bezeugte heilige Lade, die zur Zeit Davids und auch schon
eher unter einem Zelte gestanden hat, aus der Wurzel des
salomonischen Tempels. Von diesem hat sie sowohl ihr inneres
Wesen, die centrale Bedeutung für den Cultus, als auch ihre
äussere Form.
2. Einen eigentümlichen Standpunkt nimmt Theodor Nöl-
deke ein. Er gibt die Prämisse zu, dass die Stiftshütte eine
Fiction sei mit dem Zwecke, den Tempel Und die Einheit des
Cultus präexistent zu machen, leugnet aber die Folgerung, dass
der Priestercodex in diesem Falle die Einheit des Cultus in seiner
Gegenwart als schon bestehend voraussetze und darum später
sei als das Deuteronomium. Er sagt in den Untersuchungen zur
l ) 2. Sam. 7 war für die landläufige historisch-kritische Einleitungswissenschaft
der locus probans classicus dafür, dass bis zum Tempel die mosaische
Stiftshütte fungiert habe. Für die Stumpfheit ihres Blickes kann es kaum
einen schlagenderen Beweis geben. Richtig ist nur, dass hier geleugnet
wird, es habe vor dem Tempelbau die Lade je in einem Hause gewohnt.
Aber diese allgemeine und bestimmt veranlasste Betrachtung verdient
weniger Glauben als die .gelegentlichen Einzelangaben, woraus erhellt,
dass die Lade lange Jahre im Hause Abinadabs stand und dass der
Tempel von Silo ein Haus war. Unser Verfasser scheint besonders den
Krieg im Auge zu haben, und die -Lade war allerdings ursprünglich ein
kriegerisches Heiligtum, zunächst des Stammes Joseph (Josua's), sodann
Davids (2. Sam. 11,11. 15,24).
48 Geschichte des Oultus, Kap. 1.
Kritik des Alten Testaments S. 127 f.: „Ein starker DrsPog nach
Einheit des Cultus musste entstehen, sobald' Salomo's Tempel
erbaut war. Gegen dies glänzende Heiligtum mit seinem bild-
losen Cultus am Mittelpunkte des judäischen Reichs mussten
die alten heiligen Stätten immer mehr zurücktreten, und zwar
nicht bloss in den Augen des Volks , sondern ganz besonders
auch in denen der -Besten und geistig am meisten Vorge-
schrittenen (vgl. Arnos 4, 8. 8, 14). Wenn schon Hizkia die
Einheit in Juda ziemlich durchführte, so muss das Streben da-
nach doch recht alt sein; denn man wird sich nicht leicht ent-
schlossen haben, alte heilige Gebräuche gewaltsam zu unter-
drücken, wenn dies nicht die Theorie schon lange gefordert
hatte. Die Priester in Jerusalem mussten ganz besonders früh
auf den Gedanken kommen, dass ihr Tempel mit der heiligen
Lade und dem grossen Altar der einzig wahre Ort der Gottes-
verehrung wäre, und dieses für die Reinheit der Religion gewiss
sehr förderliche Streben hat unser Verfasser in die Form eines
freilich in seiner Strenge ganz unausführbaren Gesetzes gekleidet
(Lev. 17, 4ff.), das daher auch später vom Deuteronomiker für
die Praxis modificiert ward. 44
Was geschehen musste, darauf kommt es weniger an als
auf das was wirklich geschah. Nöldeke stützt sich einzig auf
die Nachricht 2. Reg. 18, 4. 22, dass Hizkia die Bamoth und
Altäre Jahve's beseitigt und zu Juda und Jerusalem gesagt
habe: vor diesem Altar sollt ihr anbeten in Jerusalem. Gegen
dieselbe sind bereits oben Zweifel erhoben worden. Welchen
Eclat machte später die gleiche Massregel Josia's! und diese,
obwohl die frühere, soll so ganz ruhig abgelaufen sein? und
so spurlos, dass ihre Wiederaufnahme nach siebzig oder achtzig
Jahren in Wirklichkeit nicht im mindesten an sie anknüpft,
sondern sich in jeder Beziehung als ein neuer erster Schritt ge-
berdet, auf einer bisher völlig unbetretenen Bahn? und so ganz
beiläufig ist davon die Rede, während doch sonst der Gegen-
stand das bevorzugte Hauptthema des Buchs der Könige ist?
Dazu kommt nun noch das besondere gleichfalls oben schon
geltend gemachte Bedenken, dass der Mann, von dem Hizkia
nach Lage der Dinge die Anregung zu seinem Vorgehen er-
halten haben muss, der Prophet Jesaia, in einer seiner spätesten
Reden ausdrücklich nur eine Reinigung der Cultusstätten von
Der Ort des Gottesdienstes. 49
Schnitz- und Gussbildern in der messianischen Zeit fordert, also
nicht ihre völlige Aufhebung wünscht. Das steht allewege fest, dass
w^nn an der in Rede stehenden Angabe überhaupt etwas ist 1 ),
Hizkia nur einen schwachen und gänzlich erfolglosen Versuch
in dieser Richtung gemacht und auf keine Weise „die Einheit
in Juda ziemlich durchgeführt 44 hat. Gleichwohl könnte man
sogar dies letztere zugestehen , ohne dass daraus irgend etwas
für die Annahme folgt, auf die Nöldeke hinaus will.
Diese ist nämlich, dass das Streben nach der Einheit gerade
in den jerusalemischen Priesterkreisen seinen alten und ursprüng-
lichen Sitz gehabt habe. Wenn der Priestercodex älter ist als
das Deuteronomium, so muss allerdings die prophetische Agi-
tation für die Cultusreform, aus der das Deuteronomium hervor-
gewachsen ist, nur das Nachspiel einer älteren priesterlichen sein.
Von dieser erfahren wir aber lediglich nichts, während wir
jene von ihren idealen Anfängen an bis zu ihrem praktischen
Ausgange leidlich verfolgen können. Arnos Hosea Jesaia sind
es, welche die Bewegung gegen den alten volkstümlichen Gottes-
dienst auf den Höhen eingeleitet haben, sie gehen dabei durch-
') Auf 2. Reg. 22 ist wenig zu geben; die Erzählung über die assyrische
Belagerung Jerusalems ist nicht gleichzeitig, wie im allgemeinen aus der
völligen Unbestimmtheit der Nachrichten über deii plötzlichen Abzug der
Assyrer und seine Gründe, im besonderen aus 19, 7 (36. 37) erhellt. Denn
die Meinung ist hier jedenfalls die, dass Senaherib bald nach dem ver-
geblichen Feldzuge im Jahre 701 ermordet worden sei; in Wahrheit hat
er aber bis 684 oder 681 regiert (Smith, Assyrian Eponym Canon S. 90.
170). Der Erzähler hat also nicht bloss zwanzig Jahre nach den Ereig-
nissen geschrieben, sondern noch um so viel später als erforderlich ist,
damit sich jene zwanzig Jahre so stark verkürzen konnten; er steht
wahrscheinlich schon unter dem Einflüsse des Deuteronomium s. Schwerer
als 2. Reg. 18, 22 wiegt allerdings 2. Reg. 18, 4. Indessen so authentische
Nachrichten uns auch in der Epitome des Buchs der Könige erhalten
sind, so haben dieselben doch alle nicht bloss die Auswahl, sondern auch
die Bearbeitung des deuterono mischen Redactors passiert, und es ist gar
leicht möglich, dass dieser sich zu einer Generalisierung berechtigt
glaubte, wodurch die von Jesaia . angeregte und durch Hizkia ausgeführte
Reinigung (zunächst des Tempels zu Jerusalem) von Idolen in eine Be-
seitigung der Bamoth samt Masseben und Ascheren verwandelt wurde.
Wie wenig die späteren Schriftsteller Zeitunterschiede und Grade in der
Ketzerei des ungesetzlichen Cultus anerkennen, ist bekannt; sie gehen
immer gleich aufs Ganze. In Wirklichkeit aber hat sich die Reformation /
ohne Zweifel stufenweise vollzogen. Zuerst rindet sich bei Hosea und l$*j> £/"*,
Jesaia die Polemik gegen geschnitzte und gegossene Bilder, darauf bei \*p^r**
Jeremia die Polemik gegen Holz und Stein, d. h. gegen Masseben und l<rvrjf~
* Ascheren: von den Propheten ist die Bewegung ausgegangen, auf ihr j *Ä— —
authentisches Zeugnis ist das grösste, ja das einzige Gewicht zu legen.! Z1L' •
Vgl. den Artikel Israel in der Encyclopaedia Brit. S. 413 Note 1.
Wellhausen, Prolegomena. 4
50 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
aus nicht von einer eingewurzelten Vorliebe für den Tempel von
Jerusalem aus, sondern von sittlichen Motiven, die in ihnen zu-
erst urwüchsig entstanden sind, ja vor .unsern Augen entstehen;
ihre Äusserungen, wenn auch aus geschichtlichen Gründen durch
die nordisraelitischen Heiligtümer veranlasst, lauten doch völlig
allgemein und richten sich gegen den Cultus überhaupt. Von
der Einwirkung eines. Gesichtspunktes, der mit einem priester-
lichen auch nur verwandt wäre, dass nämlich der Gottesdienst
an dem und dem besonderen Orte mehr wert sei als an allen
anderen und darum allein fortzubestehen verdiene, findet sich
bei ihnen nichts; ihre Polemik ist eine rein prophetische, d. h.
individuelle, theopneuste in dem Sinn, dass sie von allen her-
gebrachten und vorgefassten Menschenmeinungen unabhängig ist.
Von diesem absolut originellen Anfange ist aber nun die fol-
gende Entwicklung abhängig, und diese läuft nicht auf den
Priestercodex aus, sondern auf das Deuteronomium, ein Buch,
das bei aller billigen Rücksichtnahme für die Priester (freilich
für die jerusalemischen nicht mehr als für die anderen) doch
seinen prophetischen Ursprung nicht verleugnet und vor allen
Dingen von all und jeder hierokratischen Neigung vollkommen
frei ist. Und das Deuteronomium endlich ist es gewesen, wel-
ches den geschichtlichen Erfolg der Reformation Josia's gehabt
hat. Also die historische Bewegung auf diesem Gebiete, soweit
sie wirksam und uns dadurch bekannt geworden ist, ist von
Haus aus und wesentlich prophetisch, wenn auch zu Ende
priesterliche Einflüsse secundiert haben mögen; und sie kann
nicht bloss, sondern sie muss aus sich heraus verstanden
werden. Eine ältere oder selbständig nebenhergehende
priesterliche Bewegung in derselben Richtung ist wenigstens
völlig resultatlos geblieben, darum auch gänzlich unbezeugt.
Uns kommt es vielleicht so vor, als hätten die jerusalemischen
Priester doch selbst zuerst das Ziel ins Auge fassen müssen,
dessen Verwirklichung ihnen* später so viel Gewinn brachte,
aber es scheint nicht, dass sie von vornherein so klug waren,
wie wir es nachträglich sind. Wenigstens gibt es weiter keine
Gründe für die Hypothese eines seit alter Zeit latent vorhandenen
Centralisationsbestrebens der jerusalemischen Priesterschaft als
die Präsumption, dass der Priestercodex nicht bloss dem Deute-
ronomium , sondern auch den Propheten zeitlich vorangehen
Der Ort des Gottesdienstes. 51
müsse. Zu diesem Behuf wird eine ganz abstraete — und als
solche unwiderlegliche — Möglichkeit eonstruiert, durch deren
Pforte man der historischen Wahrscheinlichkeit entschlüpft, über
die hinaus wir's ja nicht bringen können.
Wie vollständig unbekannt der Priestercodex noch bis mitten
ins Exil hinein gewesen ist, ersieht man aus den Büchern der
Könige, welche ihre gegenwärtige Gestalt nicht vor Nebukad-
nezar's Tode erhalten haben können. Der Redaktor, der das
deuteronomisehe Gesetz citiert und beständig darnach urteilt,
hält, wie wir aus 1. Reg. 3, 2 gelernt haben, die Bamoth vor
dem Tempelbau Salomo's für erlaubt; die Stiftshütte hat also in
seiner Vorstellung nicht existiert. Der etwa um eine Generation
ältere Jeremias kennt sie gleichfalls nicht, sondern er betrachtet
— der Lade wegen, jedoch nicht notwendig in Übereinstimmung
mit hergebrachter Meinung — das Gotteshaus von Silo, dessen
Ruinen damals wie es scheint noch zu sehen waren, als den
Vorgänger des j'erusalemischen Tempels, und darin folgt ihm die
anonyme Weissagung 1. Sam. 2,27—36, deren späteres Alter
aus der Sprache (2, 33) und aus dem Umstände erhellt, dass sie
der folgenden Drohung in Kap. 3 vorgreift. Bei allen diesen
Schriftstellern, besonders auch beim Deuteronomiker selber, der
in Kap. 12 die Einheit des Cultus faktisch erst von der Wahl
Jerusalems abhängig macht, ist es doch höchst auffallend, wenn
damals der Priestercodex längst vorhanden war, dass sie ein so
bedeutendes einschlägiges Buch nicht gekannt haben; es zu über-
sehen machte die alte hebräische Litteratur nicht ganz so leicht
als in einem ähnlichen Fall unsere heutige. Und wie kommt
es nun, dass in der aus dem dritten Jahrhundert stammenden
Chronik der Priestercodex auf einmal nicht mehr scheintot ist,
sondern seinen Einfluss auf die Betrachtungsweise überall nur
zu lebendig und deutlich äussert? Für diese Schwierigkeiten ist
Nöldeke unempfindlicher als billig ist. Er scheint der Ansicht
zu sein, dass die nachexilische Zeit nicht gewagt haben würde,
eine so durchgreifende Umbildung, ja Neugestaltung der Tradition
vorzunehmen, wie die Prädatierung des salomonischen Tempels
durch die Stiftshütte sie mit sich bringt *). Es ist jedoch gerade
') Jahrbb. für prot. Theol. I. S. 352: Und nun möchte ich fragen, ob eine
derartige Schrift, welche uns von Geschichte Landverteilung und Opfer-
gebrauch des gesamten Israel ein so vielfach von der Wirklichkeit ab-
4*
52 Geschichte des Cultus, Kap. 1.
umgekehrt das Kennzeichen der nachexilischen Schriftsteller,
dass sie von ihren Ideen aus auf s freieste mit den Einrichtungen
des israelitischen Altertums schalten, mit welchem ihre Zeit durch
kein lebendiges Band mehr verbunden war. Wozu steht sonst
die Chronik im Kanon, als um uns dies zu lehren?
Wenn Nöldeke aber die Unbekanntheit der Stiftshütte damit
entschuldigt, dass sie eben ein blosses Gedankending sei 1 ), so
lässt er einstweilen ausser Acht, dass hinter ihr die sehr reale
Idee der Cultuseinheit steckt, um deren willen sie z. B. dem
Deuteronomiker, auch als blosse Vorstellung, sehr willkommen
sein musste. Nur das Gerüst der Stiftshütte ist Phantasie, ihre
Idee wurzelt in geschiehtlicliem Boden, und bei dieser lässt sie
sich fassen. Und wenn Nöldeke schliesslich für die Priorität
des Priestercodex in diesem Punkte das geltend macht, dass er
trotz der Beschränkung des Opferns auf einen einzigen Ort
dennoch die alte Bestimmung, dass jede Schlachtung Opfer sein
müsse , aufrecht erhalte , während das Deuteronomium , einen
Schritt weiter gehend, sie fallen lasse, so hält das ebenfalls ganz
und gar nicht Stich.
Es heisst nämlich Lev. 17: „Wer immer vom Hause Israel
Kind oder Schaf oder Ziege schlachtet, im Lager oder ausser-
halb des Lagers, und es nicht vor die Stiftshütte führt um Jahve
eine Darbringung darzubringen vor der Wohnung Jahve's, dem
soll es als Blutschuld gelten, Blut hat er vergossen und er soll
ausgerottet werden aus seinen Verwandten. Auf dass die Kinder
Israel ihre Opfer, die sie auf dem Felde opfern, dem Jahve
bringen vor die Stiftshütte zum Priester und sie opfern als Dank-
opfer dem Jahve . . . und nicht mehr den Feldteufeln, denen sie
nachhuren, ihre Opfer opfern! 44 Das Absehen dieser Vorschrift
ist einzig und allein darauf gerichtet, die Alleinberechtigung der
einzig legitimen Opferstätte sicher zu stellen; nur um deswillen,
wie man sieht, wird auch die profane Schlachtung ausserhalb
Jerusalems verboten, welche das Deuteronomium gestattet hatte.
Offenbar verstand der gemeine Mann nicht recht den Unterschied
weichendes Bild darbietet, § in eine Zeit gehört, in der sich Israel in
ängstlicher Scheu an das Überlieferte anklammerte.
l ) Unters. S. 130: Man muss sich immer vor Augen halten, dass der Vf.
in seinen Berichten wie in seinen Gesetzen nicht thatsächliche Verhält-
nisse, sondern zunächst seine» Theorieen und Ideale schildert. Dahin ge-
hört die Verherrlichung der Stiftshütte u. s. w.
* Der Ort des Gottesdienstes. 53
zwischen dem religiösen und profanen Acte, der ja neu gemacht
und bisher ganz unbekannt war; und wenn er, was er ja durfte,
zu Hause schlachtete, so beobachtete er dabei doch, halb un-
willkürlich vielleicht, den alten heiligen Ritus des Opfers. Daraus
erwuchs die Gefahr, dass sich unter der Hand eine Vielheit der
Altäre wieder einschlich, und einer solchen Gefahr wird in
Lev. 17 begegnet, freilich in völlig unpraktischer, unausführbarer
Weise. Bemerkenswert ist dabei, wie sehr dieses im Übrigen
auf dem Deuteronomium fussende Gesetz in der Beschränktheit
legitimistischer Betrachtungsweise fortgeschritten ist. Das Deute-
ronomium erkennt noch durchaus an, dass die Opfer ausserhalb
Jerusalems doch auch dem Jahve dargebracht werden; für den
Verfasser von Lev. 17 ist das eine unmögliche Vorstellung, er
sieht diese Opfer schlechtweg an als Opfer für die Feldteufel 1 ).
Ich lasse mir nicht einreden, dergleichen sei für jemand möglich
gewesen, der noch vor der deuteronomischen Reformation, oder
auch nur vor dem Exil in den alten Verhältnissen lebte.
Übrigens gehört Lev. 17 bekanntlich zu einer eigenartigen
kleinen Gesetzsammlung, die zwar in den Priestercodex aufge-
nommen ist, aber mehrfach von ihm abweicht und so auch gerade
hinsichtlich des Verbots der profanen Schlachtungen. Für den
Priestercodex im Ganzen trifft die Behauptung Nöldeke's gar
nicht zu. Derselbe erlaubt vielmehr die Schlachtung ohne Opfer
schon in den Noachischen Geboten, die nicht bloss für alle Welt,
sondern auch für die Juden Giltigkeit haben. Später wiederholt
er diese Erlaubnis zwar nicht ausdrücklich, er sieht sie aber als
selbstverständlich un. Nur darum kann er das Dankopfer so
ganz als Nebensache ansehen und die Opfermahrzeit beinah
ignorieren; auch gibt er in Lev. 7,22—27 geradezu Regeln über
das Verfahren beim Schlachten solcher Tiere, die nicht geopfert
werden 2 ). Also auch hier zeigt sich wieder das Verhältnis, dass
') Vgl. zu diesen Feldteufeln meine Anmerkung zu Vakidi's Maghazi (Ber-
lin 1882) S. 113. Etwas ähnliches, wenngleich nicht dasselbe ist es, wenn
die Muslime sagen, die alten Araber hätten ihren Gottesdienst den Ginnen
gewidmet — und was dergleichen mehr von Degradierung der Gottheiten
zu Gespenstern vorkommt.
2 ) Dass in Lev. 7, 22—27 nicht längst und ausführlich gegebene Bestim-
mungen über das Dankopfer wiederholt, sondern neue über die Schlach-
tung nachgetragen werden sollen, erhellt aus: das Vieh wovon man
dem Jahve Opfer bringen kann v. 25 und aus: in allen euren
Wohnsitzen v. 26, desgleichen aus der Praxis des Judentums.
54 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
was im Deuteronomium als Neuerung auftritt, im Priestercodex
als längst und schon seit Noah bestehende Sitte vorausgesetzt
wird. Mithin ist dieser auf dem Boden erwachsen, welcher
durch jenes präpariert ist.
Zweites Kapitel.
Die Opfer.
Wie dem ganzen Altertum, so ist auch den Hebräern das
Opfer die Hauptsache im Cultus. Es fragt sich, ob derselbe
nicht auch in dieser wichtigsten Hinsicht eine Geschichte durch-
gemacht hat, deren Stadien sich im Pentateuch widerspiegeln.
* Nach den bereits gewonnenen Ergebnissen muss dies als von
vornherein wahrscheinlich gelten, aber um nun wirklich den
Process zu verfolgen oder auch nur seine beiden Pole festzu-
stellen, dazu scheinen die uns erhaltenen Quellen nicht auszu-
reichen.
I.
1. Geflissentlich beschäftigt sich mit dem Gegenstande nur
der Priestercodex, der eine genaue Classificierung der verschie-
denen Arten des Opfers und Beschreibung des Verfahrens bei
ihnen enthält. Er liefert darum auch den neueren Darstellungen
das massgebende Schema, worin sich die übrigen gelegentlichen
Angaben des Alten Testaments wohl oder übel fügen müssen.
Damit ist nun sogleich für die Charakteristik des Buches in
diesem Punkte ein wichtiger Zug gewonnen. Das Opferritual
ist hier ein Bestandteil der mosaischen Gesetzgebung und zwar
ein sehr wesentlicher; es ist nicht als alter Brauch von Urväter
Zeiten her durch die lebendige Praxis den Israeliten überliefert,
sondern erst Mose hat ihnen die Theorie davon gegeben und
zwar gleich eine sehr ausgebildete, und diesen hat Gott selber
darin unterwiesen (Exod. 25 ff. Lev. lff.). Auf die der Theorie
Die Opfer. 55
entsprechende Technik des Opfers, sowohl auf das wann, wo
und durch wen, als auch besonders auf das wie, wird darum
ein ganz unverhältnismässiger Nachdruck gelegt. Dadurch erhält
dasselbe seinen specifischen Wert; man könnte glauben, auch
wenn es einem anderen Gotte dargebracht würde, würde es durch
den legitimen Ritus an sich gleichsam jahvistisch von Natur sein.
Durch seine Form wird der israelitische Cultus wesensverschieden
von allen anderen, ein unterscheidendes und constituierendes Merk-
mal der heiligen Gemeinde. Mit ihm fängt die Theokratie an
und er mit der Theokratie, letztere ist weiter nichts als die An-
stalt um ihn in der gottgewollten Weise zu betreiben. Darum
gehört auch das Ritual, das nur die Priester anzugehen scheint,
in ein Gesetzbuch, welches für die ganze Gemeinde bestimmt ist;
sie müssen doch alle, um am Leben der Theokratie teilnehmen
zu können, über ihr Wesen Bescheid wissen, und zu diesem ge-
hört in erster Linie die Theorie des Opferdienstes.
Auch die jehovistische Schicht des Pentateuchs kennt keine
andere Art der Gottesverehrung als den Opferdienst und hält
ihn nicht für weniger wichtig als der Priestercodex. Aber dass
sich das israelitische Opfer durch eine besondere dem Mose ge-
offenbarte Form, die es allein legitim macht, vor allen anderen
auszeichnet, davon ist hier nicht viel zu merken. Opfer ist
Opfer — wird es dem Baal dargebracht, so ist es heidnisch,
wird es dem Jahve dargebracht, so ist es israelitisch. Im Bundes-
buch und in den beiden Dekalogen wird geboten, vor allem,
keinem anderen Gotte als Jahve zu dienen, ihm aber auch wirk-
lich zur rechten Zeit Erstlinge und Gaben zu opfern. Negative
Bestimmungen, die zumeist irgend eine heidnische Absonderlich-
keit ausschliessen, kommen vor, aber positive Verordnungen über
das Ritual finden sich nicht; wie man es machen muss zu opfern,
wird als bekannt vorausgesetzt und erscheint nirgend als Gegen-
stand der Gesetzgebung, die es vielmehr mit ganz anderen Dingen
zu thun hat. Was Bundesbuch und Dekaloge vielleicht noch
zweifelhaft lassen, wird aus der jehovistischen Erzählung voll-
kommen klar. Hier ist weit mehr von Opfern die Rede als dort,
und schon dies kann man bezeichnend finden: im Priestercodex
ist das Verhältnis umgekehrt. Besonders wichtig jedoch ist es,
dass nach der jehovistischen Geschichte die Praxis des Opfers,
und zwar des rechtmässigen und gottgefälligen, weit über die
56 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
mosaische Gesetzgebung hinausreicht und eigentlich so alt ist
wie die Welt selber. Ein Opferfest, das sie in der Wüste feiern
wollen, ist die Veranlassung des Auszugs der Israeliten, schon
zu Eaphidim (Exod. 17) baut Mose einen Altar, und noch vor
der Bundschliessung auf dem Sinai wird bei Gelegenheit von
Jethro's Besuch (Exod. 18) ein feierliches Mahl vor Jahve ver-
anstaltet. Aber der Brauch ist noch viel älter, Abraham Isaak
und Jakob haben ihn gekannt und geübt, Noah, der Vater der
gesamten Menschheit, hat nach der Flut den ersten Altar er-
richtet, und lange vor ihm haben Kain und Abel in derselben
Weise geopfert, wie es Jahrtausende später in Palästina zu ge-
schehen pflegte. Der Aramäer Bileam versteht es so gut wie
jeder Israelit, dem Jahve Opfer darzubringen, die ihre Wirkung
auf ihn nicht verfehlen. Daraus ergibt sich mit aller nur
wünschenswerten Deutlichkeit die Vorstellung, dass das Opfer
eine aus grauer Vorzeit überkommene und ganz allgemeine
Weise die Gottheit zu verehren ist, und dass das israelitische
.Opfer nicht durch das Wie, sondern durch das Wem sich unter-
scheidet, dadurch, dass es dem Gotte Israels dargebracht wird.
Mose hat nach dieser Vorstellung das Verfahren beim Opfer-
dienste ebenso der hergebrachten Praxis überlassen wie das Ver-
fahren beim Gebet; wenn man überhaupt an bestimmte Urheber
die des israelitischen Cultus denken kann, so sind es am ehesten
die Patriarchen, aber auch sie haben das Ritual nicht erfunden,
sondern nur die Stätten gegründet, wo die Israeliten den ge-
meinen Gebrauch aller Welt dem Jahve widmeten. Der Gegen-
satz gegen den Priestercodex ist höchst auffallend, denn es ist
bekannt, dass dieser keinen Opferakt vor Mose erwähnt, weder
in der Genesis noch im Exodus, obwohl seit Noah die Schlach-
tung erlaubt ist. Das Fest der Darbringung von Schafen und
Rindern als die Veranlassung des Auszugs aus Ägypten fällt
hier weg, und aus dem Opfer der Erstgeburten wird das Passah-
lamm, welches ohne Altar ohne Priester und nicht vor Jahve
geschlachtet und gegessen wird 1 ).
Zu meinen, dass der Cultus auf vormosaischen Gebrauch
zurückgehe, ist ohne Frage naturgemässer als zu meinen, dass
er das Hauptstück der sinaitischen Gesetzgebung sei; es ist ein
] ) Das Deuteronomium steht in Bezug auf die Opfer noch ganz auf dem
selben Standpunkt, wie JE.
Die Opfer. 57
wunderlicher Gedanke, dass Gott oder Mose plötzlich das richtige
Opferritual sollte erfunden und eingeführt haben. Indessen daraus
ergibt sich nicht der Schluss, dass der Priestercodex jüngerer
Zeit angehöre. Ebenso folgt dies auch nicht aus der hier schon
sehr entwickelten Technik des Verfahrens, denn die mag bei
den grossen Heiligtümern schon recht früh vorhanden gewesen
sein, ohne freilich darum gerade als echt mosaisch zu gelten.
Dagegen fällt es allerdings schwer ins Gewicht, dass die aus-
schliessliche Legitimität einer so bestimmten Opferordnung, wie
sie im Priestercodex als die einzig mögliche in Israel gilt, eine
Vorstellung ist, die sich nur in Folge der Centralisation des
Cultus zu Jerusalem ausgebildet haben kann. Doch dadurch
würde die Entscheidung über unsre Frage auf das im vorigen
Kapitel gefundene Resultat zurückgeschoben, und wünschenswert
wäre es jedenfalls, sie selbständig zu erledigen, damit nicht der
Tragkraft eines einzigen Pfeilers zu viel anvertraut werde.
2. Auch hier können die Gründe der Entscheidung nur
den geschichtlichen Documenten aus der vorexilischen Zeit ent-
nommen werden, den Büchern der Richter Samuelis und der
Könige auf der einen, den Schriften der Propheten auf der an-
deren Seite. Was die ersteren betrifft, so ^erscheint hier der
Cultus und das Opfer bei allen Gelegenheiten als eine grosse
Hauptsache im Leben des Volks und des Einzelnen. Aber wenn
auch nicht anzunehmen ist, dass auf das rite gar nichts sollte
gegeben sein, so liegt doch darauf keinesfalls der Nachdruck;
der Gegensatz ist nicht: rite und nicht rite, sondern: dem
Jahve und den fremden Göttern —. umgekehrt wie im
Priestercodex. Neben glänzenden Opfern wie die königlichen,
die vermutlich nach allen Regeln der Kunst dargebracht wer-
den, kommen auch höchst einfache und primitive vor, z. B. das
Sauls 1. Sam. 14, 35 und Elisa's 1. Reg. 19, 21 : richtig sind sie
beide, wenn sie nur dem richtigen Gotte gewidmet sind. Ab-
gesehen von der exilischen Bearbeitung des Buchs der Könige,
welche den Cultus ausserhalb Jerusalems für ketzerisch hält,
trifft man nirgend die Vorstellung an, dass ein Opfer dem Gotte
Israels geweiht und doch illegitim sein könne. Naeman (2. Reg.
5,17) wird seinen heimischen syrischen Ritus befolgt haben ; das
thut der Wohlgefälligkeit seines Opfers keinen Eintrag. Zu
einer Beschreibung des Ritus findet sich erklärlicher Weise selten
58 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
Anlass; kommt aber einmal eine solche vor, so lässt sie sich
nur mit Gewalt in das gesetzliche Schema hineinzwängen. Am
meisten frappiert das Verfahren Gideons Judic. 6, 19—21, womit
offenbar zugleich das zu Ophra noch zur Zeit des Erzählers
übliche beschrieben wird. Gideon kocht einen Ziegenbock und
bäckt ungesäuerte Aschenkuchen, thut darauf das Fleisch in
einen Korb und die Brühe in einen Topf, und dann wird das
so zubereitete Mahl der Flamme des Altars übergeben. Doch
mag auch Übereinstimmung mit der Regel des Pentateuchs vor-
gekommen sein, das Wichtige ist aber, dass der Begriff des Le-
gitimen und des Ketzerischen ganz fehlt. Man vergleiche nur
die Chronik, so merkt man den Unterschied.
Den Eindruck, den man aus den geschichtlichen Büchern
gewinnt, vervollständigen die Propheten. Es ist wahr, indem
sie gegen die Verwechslung des Cultus mit der Religion kämpfen,
lassen sie erkennen, dass derselbe zu ihrer Zeit auf das eifrigste
und glänzendste betrieben wird und in der höchsten Wert-
schätzung steht. Aber diese Wertschätzung gründet sich nicht
auf die Meinung, dass der Cultus seiner Materie nach auf Mose
oder Jahve selbst zurückgehe, der Theokratie den unterschei-
denden Charakter gebe und eben das übernatürliche Priester-
amt Israels unter den Völkern ausmache, sondern einfach auf
den Glauben, dass Jahve von seinen Anhängern ebenso müsse
geehrt werden wie die anderen Götter von ihren Unterthanen,
durch Opfer und Gaben, als die natürlichen und, ebenso wie das
Gebet, allgemein üblichen Äusserungen der religiösen Huldigung.
Je mehr die Quantität und je schöner die Qualität, desto besser;
dass das Verdienst bei der Darbringung von der genauen Beob-
achtung der Etikette, als des Gesetzes Jahve's, abhänge, tritt
nicht hervor. Daher können die Propheten fragen, ob denn
Jahve befohlen habe, sich mit dergleichen Leistungen für ihn
anzustrengen, in der Voraussetzung, dass ein solcher Befehl
nicht existiere und dass niemand von einer Thora rituellen In-
halts etwas wisse. Arnos, ihr Chorführer, sagt 4, 4f.: „Kommt
nach Bethel zu sündigen, nach Gilgal noch mehr zu sündigen,
und bringt alle Morgen eure Opfer,* alle drei Tage eure Zehnten
— ■ so liebt ihr es ja, ihr Kinder Israel!" In dem wegwerfenden
Urteil über den Wert des Cultus widerspricht er dem Glauben
seiner Zeit, aber wäre die Meinung verbreitet gewesen, grade
Die Opfer. 59
der Cultus sei die Stiftung Jahve's in Israel, so könnte er nicht
sagen: so liebt ihr es ja. Ihr, nicht Jahve; es ist eitel selbst
gewählter Gottesdienst. Noch deutlicher spricht er sich 5, 21ff.
aus: „Ich hasse, verschmähe eure Feste und rieche nicht an
eure Feiertage; bringt ihr mir Vollopfer und eure Gaben dar,
ich mag sie nicht, und euren Dank an Mastkälbern sehe ich
nicht an. Fort von mir mit dem Lärm deiner Lieder, dein
Harfenspiel will ich nicht hören ; es quille aber wie Wasser das
Eecht hervor und Gerechtigkeit wie ein unversieglicher Bach.
Habt ihr mir Opfer und Gaben in der Wüste dargebracht, die
vierzig Jahre, Haus Israels?" Schwerlich fürchtet Arnos mit
der Behauptung dieser letzten Frage auf irgend welchen Wider-
spruch zu stossen, er folgt darin im Gegenteil der allgemeinen
Annahme. Seine Polemik ist gegen die Praxis seiner Zeitge-
nossen gerichtet, er basiert sie aber hier auf eine theoretische
Grundlage, in der sie mit ihm übereinstimmen, nämlich darauf,
dass der Opferdienst nicht mosaischen Ursprungs sei. Wenn
endlich die Stelle 2, 4 echt wäre, so würde sie das selbe lehren.
Unter der Thora Jahve's, welche die Judäer verachtet haben,
kann Arnos nichts verstehen, was mit einer Ritualgesetzgebung
die entfernteste Ähnlichkeit hat. Sollte er sich aber von der
Thora seinen besonderen Privatbegriff gemacht haben? wie wäre
er dann vom Volke verstanden worden, wie hätte er auf das
Volk wirken können! Das jedenfalls kann man dem Hirten
von Thekoa am wenigsten zutrauen, dass er unter dem Einfluss
prophetischer Tradition — den er ja so weit von sich weist —
die Thora für etwas ganz anderes angesehen hätte, als was sie
wirklich war.
An Arnos, schliessen sich Hosea Jesaia und Micha an. Der
erster e führt 4, 6 ff. bittere Klage darüber, dass die Priester statt
der Thora die Opfer cultivieren. Die Thora, die Jahve ihrem
Stande anvertraut, giebt ihnen den Beruf, die Kenntnis Got-
tes in Israel zu verbreiten, dass er Treue und Liebe Recht und
Billigkeit fordert und keine Geschenke, aber aus niedriger
Selbstsucht befördern sie den Hang des Volkes zum Cultus, in
dessen Überschätzung sein Aberglaube seine Sünde und sein
Verderben besteht. „Mein Volk geht unter aus Mangel der Er-
kenntnis, denn ihr selbst (ihr Priester!) verachtet die Erkenntnis,
so will auch ich euch verachten, dass ihr mir nicht Priester sein
60 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
sollt; ihr habt die Thora eures Gottes vergessen, so will ich
auch euer vergessen. So viel sie sind, so sündigen sie gegen
'mich, ihre Ehre vertauschen sie gegen die Schande. Meines
Volkes Sünde essen sie und nach seiner Verschuldung tragen
sie Verlangen." Daraus sieht man, wie thöricht es ist zu glau-
ben, die Propheten haben „das Gesetz 44 bekämpft; sie kämpfen
für die Priesterthora, aber diese hat es nicht mit dem Cultus
zu thun, sondern mit dem Recht und der Sitte. An einem an-
deren Orte (8, llff.) heisst es: „Ephraim hat sich viele Altäre
. gebaut, zu sündigen, die Altäre sind ihm da, zu sündigen. Mag
ich ihm noch so viel meiner Weisungen (thorothai) vorschreiben,
sie werden geachtet wie die eines Fremden. 44 Diese Stelle hat
das unverdiente Missgeschick, als Beweis dafür dienen zu müssen,
dass Hosea umfangreiche Aufzeichnungen ähnlichen Inhalts wie
unser Pentateuch kenne. Das allein ergibt sich aus dem Gegen-
satz statt meine Thoroth zu befolgen opfern sie — denn
das ist der Sinn — , dass dem Propheten die Möglichkeit gar
nicht in den Sinn kam, dass man auch den Cultus zum Gegen-
stand der Weisungen Jahve's machen könnte. Aus Jesaia's
Reden gehört hierher die bekannte Stelle des ersten Kapitels;
„Wozu mir eure vielen Opfer, sagt *Jahve; ich bin der ver-
brannten Widder und des Fettes der Mastkälber satt, und das
Blut von Rindern und Schafen mag ich nicht. Wenn ihr kommt,
mein Angesicht zu schauen, wer verlangt das von eurer Hand?
— meine Vorhöfe zu zertreten! 44 Über diese Äusserung hat man
sich von Alters her Sorge gemacht und allerdings hätte der
Prophet sie nicht thun können, wenn der Opferdienst, nach
irgend welcher Tradition, für specifisch mosaisch gegolten hätte.
Das Wort Thora gebraucht Jesaia von der prophetischen und
nicht von der priesterlichen Weisung (1, 10. 2, 3. 5, 24. 8, 16.
20.30,9); da beide einer gemeinsamen Quelle entspringen
und der eigentliche Weiser Jahve ist (30,20), so erklärt sich
das leicht und ist andererseits für den Begriff sehr lehrreich:
der Inhalt des Priestercodex passt schlecht in die Thora von
1, 10. Von hervorragender Bedeutung ist endlich noch Micha's
Antwort auf die Frage des Volkes, wie man sich die Gunst des
zürnenden Gottes wieder erwerben könne 6, 6 ff. „Soll ich mit
Brandopfern ihm entgegen kommen, mit jährigen Kälbern? hat
er Gefallen an Tausenden von Widdern, an unendlichen Ölströ-
Die Opfer. 61
men? soll ich meinen Erstgeborenen für meine Sünde geben,
meines Leibes Frucht als Sühne meiner Seele? Es ist dir
gesagt, Mensch, was frommt und was Jahve von dir fordert:
vielmehr Recht pflegen und Liebe üben und demütig wandeln
vor deinem Gott." Obwohl die schroffe Entgegensetzung von
Cultus und Religion gewiss eigentümlich prophetisch ist, so kann
sich Micha doch darauf berufen:, es ist dir gesagt, Mensch,
was Jahve fordert. Es ist nichts Neues, sondern eine bekannte
Sache, dass die Opfer nicht der Inhalt der Thora Jahve's sind.
Dass aus diesen Aussprüchen der älteren Propheten nicht
zu viel geschlossen ist, erhellt aus ihrer Fortsetzung durch Jere-
mia, der kurze Zeit vor dem babylonischen Exil lebte. Wie er
6, 19 f. die Thora dem Cultus entgegensetzt, so lässt er sich
7, 21 ff. also vernehmen: „Eure Brandopfer fügt zu euren Dank-
opfern und esset Fleisch! Denn ich habe euren Vätern nichts
gesagt und ihnen nichts befohlen, als ich sie aus Ägyptenland
führte,* in Betreff von Brand- und Dankopfern. Sondern das
habe ich ihnen befohlen: höret auf meine Stimme, so will ich
euch Gott und ihr sollt mir Volk sein, und gehet auf dem Wege,
den ich euch immer weisen werde, damit es euch wohl gehe. 44
Es ist zwar keine uralte Anschauung, dass die Propheten —
denn diese sind nach dem Zusammenhange die stets lebendige
Stimme, auf welche Israel hören soll — die eigentliche Seele
der Theokfatie seien, das Organ, wodurch Jahve in ihr wirkt
und sie regiert. Aber an dem Positiven liegt nichts; genug,
dass Jeremia jedenfalls die mosaische Gesetzgebung, wie sie im
Priestercodex enthalten ist, nicht kennt. Geflissentlich ignoriert
hat er sie nicht, denn von Hass gegen den Cultus war er fern
(17, 26). Als Priester und Prophet, der beständig im Tempel
zu Jerusalem sich aufhielt, häjte er sie aber kennen müssen,
wenn sie vorhanden und gar codificiert war. Es wird schwer
sein daran vorbeizukommen.
Also geben die geschichtlichen Zeugen, insbesondere die
Propheten den Ausschlag zu Gunsten der jehovistischen Tra-
dition. Nach der allgemeinen Meinung der vorexilischen Zeit
ist der Cultus zwar alter und dem Volke sehr heiliger Brauch,
aber nicht mosaische Einrichtung, das Ritual ist nicht die Haupt-
sache daran und auf keine Weise Gegenstand der Thora *). Mit
*) Dass die Priester nicht eitel rechtliche und moralische, sondern auch
62 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
anderen Worten, man findet keine Spur der Bekanntschaft mit
dem Priestercodex, dagegen aber recht deutliche der Unbekannt-
schaft mit seinen Vorstellungen.
3. Den Übergang von der vorexilischen zur nachexilischen
Zeit macht hier nicht der Deuteronomiker, sondern Ezechiel, der
Priester im Prophetenmantel, welcher unter den ersten Verbannten
sich befand. Er steht in einem merkwürdigen Gegensatze zu
seinem älteren Zeitgenossen Jeremia. In dem von ihm im Jahre
573 entworfenen Zukunftsbilde Israels Kap. 40 — 48, worin wohl
auf Jahve phantastische Hoffnungen gesetzt, an die Menschen
aber keine unerfüllbaren Ansprüche gemacht werden, nimmt der
Tempel und der Cultus eine centrale Stellung ein. Woher kommt
diese plötzliche Wendung? etwa weil jetzt auf einmal der Priester-
codex nach langem Schlafe zum Leben aufwachte und den Ezechiel
inspirierte? In einem solchen Zufall liegt die Erklärung wohl nicht,
sondern einfach in den geschichtlichen TJmständen. So lange
der Opferdienst als Praxis bestand, übte man ihn eifrig aus, be-
schäftigte sich aber nicht theoretisch damit und hatte gar keinen
Anlass ihn zu codificieren. Nun war der Tempel zerstört, der
Cultus vorbei, das Personal ausser Dienst: es ist begreiflich,
dass die heilige Praxis von ehemals nun zum Gegenstand der
Theorie und der Schrift gemacht wurde, damit sie nicht verloren
ging, und dass ein verbannter Priester den Anfang machte, das
Rild von ihr, das er in seiner Erinnerung trug, aufzuzeichnen
und es als Programm für die zukünftige Herstellung der Theo-
kratie zu veröffentlichen. Begreifen lässt es sich auch, wenn
Einrichtungen, die solange sie lebendig waren einfach als natür-
lich galten, seit ihrer Abolition in einem verklärenden Lichte
erschienen und durch das ihnen gewidmete Studium auf eine
künstliche Weise noch mehr im Werte stiegen. Diese durch
das Exil gegebenen Bedingungen reichen hin, den Übergang von
Jeremia auf Ezechiel und die Genesis von Ezech. 40 — 48 zu
verstehen. Die Mitwirkung des Priestercodex ist dabei nicht
nur völlig tiberflüssig, sondern auch störend. Die Abweichungen
rituelle Belehrung, z.B. über Reinheit und Unreinheit, erteilten, soll
damit natürlich nicht geleugnet werden. Zu behaupten ist nur, dass im
vorexilischen Altertum nie die eigene Praxis der Priester (am Altare)
den Inhalt ihrer Thora bildete, sondern dass ihre Thora stets eine Unter-
weisung für die Laien war. Wer den Unterschied verstehen will, ver-
steht ihn. Gegen Dillmann, Exodus und Lev. S. 386, 19 ff.
Die Opfer. 63
Ezechiels vom Ritual des Pentateuehs lassen sich nicht als ab-
sichtliche Änderungen des Originals verstehen, dazu sind sie zu
zufällig und unbedeutend. Der Prophet hat ferner das Autor-
recht für den Schluss seines Buchs so gut wie für die übrigen
Teile, er hat es ebenso auf sein Zukunftsbild wie die früheren
Propheten auf die ihrigen. Endlich erwäge man das Gewicht
der einfachen Thatsache, dass ein exilierter Priester sich veran-
lasst sieht, eine solche Skizze des Tempelcultus zu entwerfen.
Wozu wäre sie nötig gewesen, wenn das ausgeführte Bild existiert
hätte, welches durchaus seinen Absichten entsprach und die Ge-
fahr gar nicht aufkommen Hess, dass der Cultus durch sein that-
sächliches Pausieren erlöschen würde, da er im Buche stand?
Der Ausweg einer leblosen Existenz des Gesetzes bis auf
Ezra's Zeit steht auch hier wieder offen. Es ist aber unberech-,
tigt, dieselbe dann nicht von Mose zu datieren, sondern von*
irgend einem mittleren Punkte der israelitischen Geschichte.
Ausserdem ist doch gerade beim Opferritual die Annahme einer
Codification, die entweder vor aller Praxis oder unabhängig
neben ihr hergeht, äusserst schwierig, da es auf der Hand liegt,
dass dieselbe nur der endliche Niederschlag eines alten und reich
entwickelten Usus und nicht Erfindung eines müssigen Kopfes
sein kann. Aus diesem Grunde ist ebenso die Ausflucht einer
gesetzwidrigen Praxis unmöglich und die Legitimität des faktisch
Bestehenden nicht anzufechten.
II.
Zu allen Zeiten also hat der Opferdienst in Israel bestanden
und grosse Bedeutung gehabt, aber in der älteren Zeit gründete
er sich auf den ererbten Brauch der Väter, in der nachexilischen
auf das Gesetz Jahve's durch Mose. Früher war er naiv : auf
die Menge und Güte der Gaben kam es vorzugsweise an; später
ward er legal: auf die scrupulose Ausführung des Gesetzes, d. i.
des Ritus, ward vor allem gesehen. War denn nun, abgesehen
davon, ein eigentlich materieller Unterschied nicht vorhanden?
Um darauf zu antworten, muss etwas weiter ausgeholt und zuvor
einiges Allgemeine zui: Orientierung bemerkt werden.
1. Im Pentateuch wird wohl der Ritus der Opfer weitläufig
beschrieben, nirgend aber im Alten Testament wird ihre Bedeu-
tung förmlich auseinandergesetzt, sondern diese gilt im Ganzen
64 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
als selbstverständlich und aller Welt bekannt. Der allgemeine
Begriff des Opfers ist im Priestercodex Korban, im übrigen
Alten Testament Minha 1 ), d. h. Gabe; die entsprechenden Verba
sind hakrlb und hagglsch, d. h. nahe bringen. Beide Nomina
und Verba stehen ursprünglich von dem Darbringen eines Ge-
schenks an den König (oder die Grossen), um ihm zu huldigen,
ihn gnädig zu stimmen, eine Bitte zu unterstützen (Jud. 3, 17f.
1. Sam. 10,27. 1. Beg. 5, 1); von da also sind sie auf den höch-
sten König übertragen (Mal. 1, 8). A&pa &eok rafftet, S&p atöofouc
ßaatXTJas. Die Gabe darf nicht zur Unzeit und nicht täppisch
aufgedrungen werden, nicht wenn der König im hellen Zorn ist,
und nicht von einem, dessen Anblick ihm verhasst ist.
Gegen den Inhalt ist der Begriff des Opfers an sich gleich-
giltig, wenn es nur überhaupt einen Wert hat und Eigentum
des Darbringers ist. Korban und Minha umfasst auch das, was
die Griechen Anathema nennen. Die heiligen Abgaben, die
hinterher an die Priester fallen, sind ohne Zweifel ursprünglich
regelmässige Opfer gewesen, darunter befindet sich auch Wolle
und Flachs (Deut. 18, 4. Hos. 2, 7. 11). Jedoch entspricht es der
Naivetät des Altertums, dass sowie an die Menschen, so an Gott
vorzugsweise Essbares geschenkt wird — wobei noch hinzukam,
dass man auf diese Weise zurückgab, was er hatte wachsen lassen.
Die regelmässige Form ist dabei die, dass man ein Mahl ihm zu
Ehren veranstaltet, woran der Mensch als Gast Gottes teilnimmt.
Das Opfer schlechthin ist stets ein Ess- oder Trinkopfer. Darum
wird der Altar auch Tisch genannt, deshalb gehört zum Fleische
Salz, zu Mehl und Brot Öl, zu beiden Wein; darum kommt das
Fleisch regelrecht zerstückt und in alter Zeit gekocht auf den
Altar, das Korn gemahlen oder gebacken. Daher auch der
Name Brot Jahve's für das Opfer (Lev. 21. 22). Allerdings
„hat der gebildete Hebräer im Opfer keine Speisung Jahve's
gefunden 44 , aber der gebildete Protestant ist auch nicht mass-
gebend für den ursprünglichen Charakter des Protestantismus.
Die Art, wie die Gott zufallenden Stücke ihm appliciert
') Gen. 4, 3—5. Num. 16, 15. 1. Sam. 2, 17. 29. 26, 19. Jes. 1, 13. Mal. 1, 10
bis 13. 2, 12 f. 3, 3 f. Im Priestercodex ist Minha ausschliesslich termi-
nus technicus für das Mehlopfer. Der allgemeine Name in der Sept. und
im Neuen Testament ist Swpov (Matth. 5, 23 f. 8,4. 15,5. 23, 18f.). Vgl.
Spencer III 2 de ratione et orig. sacrinciorum, bei weitem das Beste, was
über den Gegenstand geschrieben ist.
Die Opfer. 65
werden, ist verschieden. Die primitivste ist das blosse Hin-
stellen ("py struere) und Ausschütten ("]Dt^ fundere) bei den
Schaubroden und Trankopfern — dem würde einfaches Essen
und Trinken entsprechen. Die üblichste aber ist das Verbrennen
oder, wie die Hebräer sich ausdrücken, das Räuchern (^fcDpn)
— dem entspricht die feinere Genussform des Riechens. Ur-
sprünglich jedoch verzehrt Gott selber, was die Flamme ver-
zehrt. Jedenfalls ist das Verbrennen ein Applicieren, nicht
etwa, wie man aus dem „süssen Duft u (DITO ITH Gen. 8, 21)
schliessen könnte, ein Zubereiten. Denn in alter Zeit brieten
die Hebräer das Fleisch nicht, sondern sie kochten es, in dem
nachweislich ältesten Ritus (Jud. 6, 19) wird auch das Opfer
gekocht der Altarflamme übergeben; ausserdem wird ja nicht
bloss das Fleisch, sondern auch das Brot und das Mehl verbrannt.
Was den Unterschied von nichtblutigen und blutigen Opfern
betrifft, so werden bekanntlich die letzteren im Alten Testa-
ment vorgezogen, eigentlich aber haben die ersteren den selben
Wert und die selbe Wirkung. Das Weihrauchopfer erscheint
als Sühnmittel (Lev. 16. Num. 17, 12) und ebenso die unend-
lichen Olströme mitten zwischen den Tausenden von Widdern
und dem Menschenopfer (Mich. 6). Dass das vegetabilische
Opfer immer nur das tierische begleite, trifft nicht zu, weder bei
den Schaubroten noch bei der täglichen Minha des Hohen-
priesters (Lev. 6, 13. Neh. 10, 34). Nur das Trankopfer tritt
nicht selbständig auf und hat überhaupt nicht die Bedeutung
wie bei den Griechen.
Bei der Schlachtung besteht das Opfer nicht im Blute, son-
dern im Fleische, in den essbaren Teilen. Nur diese können
als Brot Jahve's bezeichnet werden, auch werden nur die ess-
baren Haustiere dargebracht. Aber allerdings hat sich bei den
blutigen Opfern mit der ursprünglichen Idee der Gabe ein neues
Motiv verbunden. Das Leben, als dessen Substanz das Blut
angesehen wurde (2. Sam. 23, 17), hatte für die alten Semiten
etwas Mysteriöses, Göttliches; es zu vernichten trugen sie eine
religiöse Scheu. Fleisch essen war ihnen ein seltenes Fest und
sie assen es mit anderen Empfindungen wie Früchte oder Milch.
Eine so gleichgiltige bloss präparatorische Massregel wie etwa
die Reinigung und Zubereitung des Kornes war das Schlachten
also nicht, vielmehr wagte man nur so das Blut zu vergiessen,
W e 1 1 h a u s e ii , Prolegomena. 5
f>6 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
dass man es der Gottheit, der Quelle des Lebens, zurückgab.
So ward zwar keineswegs jede Mahlzeit, wohl aber jede Schlach-
tung ein Opfer. Zunächst handelte es sich dabei um eine blosse
Zurückgabe ihres Eigentums an die Gottheit, jedoch ergab sich
leicht eine Combination mit dem Opferbegriff, wodurch dieser
selbst eigentümlich modificiert wurde. Die sühnende Wirkung
der Gabe fing man an vorzugsweise dem Blute und der stellver-
tretenden Kraft des getöteten Lebens zuzuschreiben. Das Blut-
ausgiessen und -sprengen war bei allen Opfern ein Ritus von
hervorragender Wichtigkeit und auch die Schlachtung selber bei
einigen und gerade den geschätztesten ein heiliger Akt.
2. In diesen Umriss fügen sich die Züge der verschiedenen
Quellen. Der Priestercodex lässt nun einige Besonderheiten er-
kennen, wodurch er sich in Hinsicht auf das Opferwesen von
der vorexilischen Literatur unterscheidet.
Zunächst zeichnet er sich bei den unblutigen Opfern durch
eine gewisse Verfeinerung des Materials aus. So will er zu den
Mehlopfern nicht HEp far angewandt wissen, sondern rhu si-
mila. In der vorexilischen Literatur findet sich das letztere
überhaupt nur an drei Stellen, nie aber beim Opfer, wo viel-
mehr das gewöhnliche Mehl gebraucht wird (Jud. 6, 19. 1. Sam.
1,24). Dass dies kein Zufall ist, folgt einerseits daraus, dass
in der späteren Literatur seit Ezechiel HDp als Opfermehl ver-
schwindet und statt dessen stets rhu erscheint, andererseits
daraus, dass die Septuaginta oder ihre hebräische Vorlage an
dem ungesetzlichen Material 1. Sam. 1,24 Anstoss nimmt und
es in gesetzliches verbessert 1 ).
Dahin gehört ferner, dass der Weihrauch in auffallender
Weise bevorzugt wird. Mit jedem Mehlopfer gelangt Weihrauch
auf den Altar; im inneren Heiligtum wird eine eigentümliche
Mischung von Spezereien verwandt, deren genau angegebenes
Receptjfttr den Privatgebrauch nicht nachgemacht werden darf.
Das Räucheropfer ist das Vorrecht der höchsten Priester, in dem
Ritus des grossen Versöhnungstages, dem einzigen bei dem
Aharon in Person fungieren muss, nimmt es eine hervorragende
Stellung ein. Es ist von einer ganz gefährlichen Heiligkeit,
*) Ezech. 16, 13. 19. 46, 14. 1. Chron. 9, 29. 23, 29. Sirac. 35, 2. 38, 11. 39, 32.
Sept. zu Isa. 1, 13. QG, 3. Im Priestercodex kommt n*?D über vierzig
mal vor.
Die Opfer. 67
Aharons eigene Söhne starben, weil sie sieh nicht der richtigen
Kohlen bedient hatten. Den nicht dazu berechtigten Leviten
der Rotte Korah bringt es Tod und Verderben, während es als-
bald darauf, in der Hand des legitimen Hohenpriesters, das
Mittel ist den ausgebrochenen Zorn Jahve's zu beschwichtigen
und der Plage Einhalt zu.thira. Von diesem Opfer nun, das
mit einem solchen Glanz der Heiligkeit ausgestattet ist, weiss
die ältere Literatur des jüdischen Kanons, bis auf die Propheten
Jeremia und Sephania, lediglich nichts. Das Verbum ItSp heisst
da immer nur das Fett oder Mehl verbrennen und es dadurch
Gott zu einem wohlgefälligen Geruch machen, nicht aber
Weihrauch opfern; das Substantivum rntöp als Opferterminus
hat den ganz allgemeinen Sinn des auf dem Altar Ver-
brannten 1 ). In Aufzählungen, wo die Propheten Alles erschöpfen,
was an Gaben und liturgischen Leistungen existiert, wo sie in
dem Bedürfnis die Reihe zu verlängern sich auch vor Wieder-
holungen nicht scheuen, ist von Weihrauchopfer keine Rede,
weder bei Arnos (4, 4f. 5, 21ff.), noch bei Jesaia (1,11 ff.), noch
bei Micha (6, 6 f.). Sollten sie es durch Zufall allesammt ver-
gessen oder auf Verabredung ignoriert haben? — denn wenn
') Das Verbum wird von den alten Schriftstellern im Piel gebraucht, im
Priestercodex (Chronik) im Hiphil, in der Übergangszeit vom Verfasser
des Buchs der Könige promiscue. Wenigstens ist dies so, wo man die
^^^ Formen sicher unterscheiden kann, im Perfectum Imperativ und Infinitiv;
WwF der Unterschied zwischen ^ftpi und *V>tOp% *1t0pD und TtOpD beruht
~-n bekanntlich nicht auf gesicherter Oberlieferung. Vgl. z.B. katter jak-
1^ tirun 1. Sam. 2,16: die Abschreiber und die Punctatoren bevorzugen
unter dem Einfluss des Pentateuchs das Hiphil. — Im Priestercodex
(Chronik) hat *"^fcOpn beide Bedeutungen neben einander, doch steht es
hier absolute meist vom Weihräuchern, vom Verbrennen gewöhnlich mit
dem Zusatz nrDTJOn d. h« ai *f dem Altar, auf dem nämlich das eigent-
r> ./ üche Räucheropfer nicht dargebracht wurde. — Das Substantivum
j .'MM»* f^£p ist in der Bedeutung Weihranchopfer, in der es im Priester-
^fi Tt^codex ausschliesslich und sehr häufig vorkommt, zuerst nachweisbar bei
Ezechiel v& 11. 16, 18. 23,41), dann oft in der Chronik, im übrigen Alten
Testamente nur Prov. 27, 9, aber im profanen Sinne. Sonst nie, nicht
einmal in so späten Stellen wie 1. Sam. 2,28 Ps. 66,15. 141,2. Bei
sicher vorexilischen Schriftstellern findet sich das Wort nur zwei mal,
beide mal in ganz allgemeinem Sinne? Isa. 1,13: bringt mir nicht mehr
vergebliche Opfergabe, greuliches Räucherwerk ist mir das. Deut. 33, 10 :
die Leviten bringen Räucherwerk (== das Fett der Dankopfer) in deine
Nase und Vollopfer auf deinen Altar. — Der Name T\Xzh thus kommt
zuerst bei Jeremia vor 6,20. 17,26. 41,5; übrigens nur im Priestercodex
(9 mal), Jes. 40—66 (3 mal), Nehemia und Chron. (3 mal), und Canticum
(3 mal). Vgl. Sophon. 3, 10. 1. Reg. 9, 25.
5*
68 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
es vorhanden und von so grosser Wichtigkeit war, so hätte es
doch wenigstens einer von ihnen erwähnen müssen. Ebenso
wenig findet sich sonst eine Erwähnung desselben weder in der
jehovistischen Schicht des Hexateuchs, noch in den geschicht-
lichen Büchern, abgesehen von der Chronik, noch bei den Pro-
pheten — bis auf Jeremia, welcher 6, 20 gerade das Weihrauch-
opfer hervorhebt, als etwas Rares, Weithergeholtes: wozu mil-
der Weihrauch von Saba her und das edle Rohr aus fernem
Lande! Von da ab erwähnen es Ezechiel, Jesaia 40— 66, Nehe-
mia, die Chronik; die Zeugnisse reissen nicht ab. Die Einfüh-
rung hängt natürlich zusammen mit gesteigertem Luxus; man
könnte geneigt sein zu vermuten, dass der Gebrauch erst von
einem feiner entwickelten fremden Cultus aus in den Jahve-
dienst eingedrungen wäre. Zu welcher Bedeutung derselbe aber
in der Ritualgesetzgebung des Pentateuchs gelangt ist, geht vor
Allem daraus hervor, dass er hier zu der Neubildung eines
eigenen hochheiligen Gerätes geführt hat, nämlich des goldenen
Altars im Inneren der Stiftshütte, den die Geschichte nicht
kennt und der sogar dem Kerne des Priestercodex selbst
fremd ist.
Wir erwarten den Räucheraltar in Exod. 25 — 29, wir finden
ihn statt dessen nachträglich zu Anfang von Exod. 30. Warum
erst an dieser Stelle, warum getrennt von den übrigen Geräten
des inneren Heiligtums, warum sogar nach der Verordnung über
den Priesterornat und die Inauguration des Gottesdienstes? Der
Grund, warum der Verfasser von Kap. 25 — 29 an der Stelle,
wo er die innere Einrichtung der Hütte, bestehend in Lade
Tisch und Leuchter, beschreibt, den goldenen Räucheraltar nicht
mit aufführt, ist, dass er von letzterem nichts weiss. Vergessen
kann er ihn nicht haben — so bleibt keine weitere Möglich-
keit 1 ). Hinterher wiederholt sich die Erscheinung, dass der
] ) Insbesondere ist es verkehrt, den Anstoss dadurch zu beseitigen, dass
man ihn auf gleiche Stufe mit anderen angeblichen Wunderlichkeiten der
Anordnung setzt, z. B. damit dass die Geräte des Tabernakels (Kap. 25)
vor diesem selber (Kap. 26) angeordnet werden. Dies ist ganz sachge-
mäss, im Befehl kommt erst der Zweck und dann das Mittel, in der Aus-
führung umgekehrt erst das Mittel und dann der Zweck. Ebenso ist es
durchaus nicht auffallend, wenn untergeordnete Apparate wie die Schlacht-
bänke oder das Waschbecken, die keine Bedeutung für den eigentlichen
Cultus haben, entweder überhatipt nicht aufgeführt oder nachgetragen
werden. Das lässt sich damit gar nicht vergleichen, dass das wichtigste
Die Opfer. . 69
Räucheraltar mir in gewissen Stücken des Priestercodex vor-
kommt, in anderen aber fehlt, wo er nicht fehlen könnte, wäre
er bekannt gewesen. Der Ritus des feierlichsten Sttndopfers
geht zwar in Lev. 4 am goldenen Altar vor sich, aber in Exod. 29.
Lev. 8. 9 ohne denselben. Auffallender noch ist es, dass in
Stellen, wo es sich um das heiligste Räucheropfer selber han-
delt, von dem betreffenden Altar keine Spur zu entdecken ist.
So namentlich in Lev. 16. Um im Heiligtume zu räuchern,
nimmt Aharon eine Pfanne, füllt sie mit Kohlen vom Brand-
opferaltar (v. 12. 18 — 20) und thut im Adyton den Weihrauch
darauf. Ebenso wird Lev. 10 Num. 16. 17 auf Pfannen ge-
räuchert, deren jeder Priester eine besitzt. Die Kohlen werden
vom Brandopferaltar genommen (Num. 17, 11), der mit den
Pfannen der korahitischen Leviten überzogen ist (17,3.4); wer
das Feuer anderswoher nimmt, ist des Todes (Lev. 10, lflf.). Der
Räucheraltar ist hier überall unbekannt, der Brandopferaltar ist
der alleinige Altar und heisst auch immer schlechthin der
Altar, z. B. sogar Exod. 27, wo es doch besonders nötig ge-
wesen wäre die unterscheidende Bestimmung hinzuzusetzen. Nur
in gewissen jüngeren Partieen des Priestercodex kommt der
Name Brandopferaltar vor, eben in denen, die den Räucher-
altar kennen. Charakteristisch in dieser Beziehung ist der Ver-
gleich des Befehls Exod. 27 mit der Ausführung Exod. 38.
Der goldene Altar im Heiligen ist ursprünglich nichts an-
deres als der goldene Tisch, der Wechsel des Ausdrucks hat
zur Verdoppelung der Sache geführt. Ezechiel unterscheidet
nicht zwischen dem Tisch und dem Altar im Naos, sondern setzt
beides gleich. Denn er sagt 41, 21 f.: „Vor dem Adyton stand
etwas, aussehend wie ein hölzerner Altar, drei Ellen hoch, zwei
Ellen lang und breit, und hatte vorstehende Ecken, und sein
Gestell und seine Wände waren von Holz: das ist der Tisch,
der vor Jahve steht. 44 Demgemäss bezeichnet er den Dienet der
Priester im inneren Heiligtum al§ den Dienst am Tisch 44, 16 :
Tisch ist der Name, Altar der Zweck 1 ). In 1. Reg. 7, 48 werden
allerdings goldener Altar und goldener Tisch neben einander
aufgeführt. Es fällt jedoch auf, dass die Schlussübersicht in
Gerät des Heiligen an der Stelle, wo es notwendig hingehört, über-
gangen wird.
Umgekehrt nennt Maleachi den s. g. Brandopferaltar Tisch.
70 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
diesem Falle ein Gerät — und zwar ein so wichtiges Gerät —
mehr nennt, als die vorhergehende Einzelbeschreibung; denn in
der letzteren ist nur von der Verfertigung des goldenen Altars
die Rede, nicht von der des goldenen Tisches (6, 20—22). Wie
die Umstände liegen, ist nichts wahrscheinlicher, als dass irgend
ein späterer den goldenen Tisch 7, 48 eingeschoben hat, weil er
ihn auf Grund des Pentateuchs für verschieden von dem goldenen
Altare ansah und darum seine Erwähnung vermisste. Dass der
Text des ganzen Capitels vielfach corrupt und interpoliert ist,
steht auch aus anderen Gründen fest.
Wenn es im nachexilischen Tempel einen goldenen Altar
und einen goldenen Tisch nebeneinander gegeben hat, so ist
das kein Wunder. Wir hören (1. Macc. 1,21 f. 4,49), dass der eine
und der andere von Antiochus IV fortgeschleppt und beim Tempel-
weihfest neugemacht sei. Aber es befremdet nicht wenig, dass
die Römer bei der Zerstörung Jerusalems nur Tisch und Leuchter
vorgefunden und erbeutet haben — wo sollte wohl inzwischen
der goldene Räucheraltar geblieben sein, da Jeremia ihn ja auch
nicht versteckt hatte (2. Macc. 2, 5)? Und bemerkenswert ist
ferner, dass in der Septuaginta die Stelle Exod. 37, 25 — 29 fehlt,
der Räucheraltar also zwar wohl befohlen, aber nicht ausgeführt
wird. Unter diesen Umständen ist endlich auch die schwankende
Ortsangabe Exod. 30, 6 und der vermeintliche Irrtum des Ver-
fassers des Hebräerbriefes wichtig und begreiflich.
Soviel über das Räucheropfer und den Räucheraltar. Eben-
falls als eine Art Verfeinerung, die freilich mehr geistiger Natur
ist, darf es betrachtet werden, dass das Opferfleisch im Priester-
codex nicht gekocht, sondern roh der Altarflamme übergeben
wird. Die alte Sitte ist dies nicht, wie nicht bloss aus dem be-
reits angeführten Beispiele Gideons (Jud. 6), sondern auch aus
dem 1. Sam. 2 beschriebenen Verfahren zu Silo erhellt, wo die
Söhne» Eli's nicht warten wollen, bis das Opferfleisch gekocht
und die Altarstücke „geräuchert 44 sind, sondern ihren Anteil roh
zum Braten verlangen. Der Gottheit wird das Mahl, das sie mit
den Menschen teilt, in derselben Weise wie den Menschen zu-
bereitet. Diese Naivetät ist der fortgeschrittenen Bildung ge-
wichen, und zwar wohl nicht erst in ganz später Zeit. Dabei
mag noch eine andere Ursache mitgewirkt haben. Die alte und
auch späterhin im Volk allgemein übliche Sitte, das Fleisch zu-
Die Opfer. 71
zubereiten, war das Kochen. Das Wort bt5>2 (im Wasser sieden)
kommt äusserst häufig, dagegen r6ä (braten) nur noch Exod. 12, 8
und Jes. 44, 16. 19 vor. Alles Opferfleisch (nhw2) ward gekocht
und anderes gab es nicht ! ). Aber bei vornehmen Leuten muss
schon früh das Braten daneben aufgekommen sein. „Gib dem
Priester das Fleisch zum Braten, er will es nicht gesotten von/ -ktdTmm*
dir haben, sondern roh" — sagt 1. Sani. 2, 15 der Diener der 1 *;
Söhne Eli's. Es mag also auch das zum Wegfall des alten Ci*M*~> *
Brauchs, die Stücke gekocht zu opfern, beigetragen haben, dass z £* /#*
inzwischen das Kochen überhaupt mehr aus der Mode gekommen
war. Jedenfalls erklärt es sich daraus, dass das Osteropfer,
welches ebenso wie alle anderen ehedem gesotten wurde, nach
der ausdrücklichen Verordnung des Priestercodex nur gebraten
genossen werden sollte 2 ).
In dieselbe Kategorie gehört es, dass das Mehl im Gesetze
vorzugsweise roh, in früherer Zeit aber, selbst als Zuthat zum
Brandopfer, gebacken dargebracht wird. Wenigstens ist dies
Jud. 6, 19 der Fall, und darnach wird man auch die Angabe
1. Sam. 1,24 aufzufassen haben: der Opfernde bringt Mehl mit,
um es an Ort und Stelle zu Massa zu verbacken (Ezech. 46, 20).
Er bringt aber etwa auch gewöhnliche, d. h. gesäuerte Brote
mit (1. Sam. 10,3); diese scheinen keineswegs von jeher, so wie
Lev. 2, 11, als nicht opferbar gegolten zu haben. Schon die
Auflegung der Schaubrote würde sich unter dieser Bedingung
nicht verstehen lassen, und sicher sind doch auch die Pfingst-
brote ursprünglich richtige Opfer gewesen, nicht blosse Abgaben
an die Priester. Nach Arnos 4, 5 wurde gerade bei einem be-
sonders festlichen Opfer Gesäuertes verwandt, und eine Kemi-
niscenz an diese Sitte ist sogar Lev. 7, 13 erhalten, ohne dass
ihr freilich praktische Bedeutung gegeben wird 3 ). Übrigens be-
1 ) Darnach wird man auch nt#JJ vom Kochen verstehen müssen Jud. 6, 19.
Vgl. die Hochhäuser des Tempels noch . bei Ezechiel 46,20.24. In 1. Sam. y&k> ü %#
1,9 sprich beschela statt beschilo und tilge das folgende iiriNI
2 ) Vgl. die polemische Bestimmung Exod. 12, 9 mit Deut. 16, 7.
3 ) Die Brote werden Lev. 7, 29 f. totgeschwiegen , trotzdem gerade hier die
Darbringung von Seiten der Opfernden näher beschrieben wird. Und
wenn es heisst: 7,12 wenn er das Opfer als Thoda bringt, so soll er
dazu mit Öl angemachte Mazzenkuchen und mit Öl bestrichene Mazzen-
blätter und mit Öl gemengtes Semmelmehl (LXX) darbringen; 7, 13 [auf]
gesäuerte Brotkuchen soll er als Gabe darbringen zu dem Bankopfer der
72 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
deutet auch Massa eigentlich nur das eilig und in primitivster
Weise für den augenblicklichen Genuss bereitete Gebäck und
enthält ursprünglich keinen Gegensatz zu der Säure, son-
dern nur zu der künstlicheren und langsameren Herstellung
der gewöhnlichen Brote 1 ). Im Priestercodex sind die Stoffe
feiner, aber sie werden möglichst roh belassen: beides ist ein
Fortschritt.
3. Eine andere und weit bedeutendere Differenz besteht
bei dem Tieropfer. Von diesem kennt die ältere Praxis nur
zwei Arten, abgesehen von ausserordentlichen Varietäten, die
nicht in Betracht kommen. Diese beiden Arten sind das Brand-
opfer, Ola, und das Dankopfer, Schelem, Zebah, Zebah-sche-
lamim. Bei dem ersteren kommt das ganze Tier auf den Altar,
bei dem anderen bekommt Gott, ausser dem Blut, nur ein Ehren-
teil, während übrigens das Fleisch von den Opfergästen verzehrt
wird. Nun ist es bemerkenswert, wie selten das Brandopfer
alleine vorkommt. Nur beim Menschenopfer versteht sich das
von selbst (Gen. 22, 2 ff. Jud. 11, 31. 2. Reg. 3, 27. Jer. 19,5),
sonst aber ist der Fall ungewöhnlich (Gen. 8, 20. Num. 23, 1 ff.
Jud. 6, 20. 26. 13, 16. 23. 1. Sam. 7, 9 f. 1. Eeg. 3, 4. 18, 34. 38)
— noch dazu sind alle diese Opfer ausserordentlich oder my-
thisch, was für Bezeugung der Sitte an sich gl eich giltig sein mag,
nicht aber für die Statistik ihrer Häufigkeit 2 ). In der Regel kommt
die Ola nur in Verbindung mit Zebahim vor, die letzteren sind
dabei in der Überzahl und stehen immer im Plural, während
daneben das erstere mehrfach im Singular 3 ). Sie ergänzen sich
Thoda — , so ist der -Verdacht äusserst nahe gelegt, dass v. 12 eine vor-
aufgeschickte authentische Interpretation ist, die den Anstoss des v. 13
zum voraus beseitigt, und dass ebenso das erste h]) in v. 13, das sich mit
dem zweiten keineswegs gut verträgt, eine spätere Correctur ist. An v. 11
schliesst sich v. 13 besser an als an v. 12. — Exod. 34, 25.
') Vgl. Gen. 18,6 mit 19,3.
s ) Vermutlich erwartete Jephthah Jud. 11,31, dass ihm ein Mensch aus sei-
nem Hause entgegenkäme (Tabari I 10631). — Bei der obigen Aufzählung
ist abgesehen von dem sacriflcium iuge 2. Reg. 16, 15. Die Angabe
1. Reg. 3,4 gehört vielleicht mit 3, 15 zusammen: glaubwürdiger wird sie
freilich auch dadurch nicht. Selbstverständlich sind hier überall nur die
Stellen zu berücksichtigen, wo von wirklich dargebrachten Opfern erzählt
wird, nicht allgemeine Aussagen über eine oder mehrere Opferarten. Die
letzteren können natürlich die Ola alleine ins Auge fassen, ohne dass
daraus für die Praxis irgend etwas erhellt.
3 ) Exod. 10.25. 18,12. 24,5. 32,6. Jos. 8,31. Jud. 20,26. 21,4. 1. Sam. 6,
14f. 10,8. 13,9—12. 2. Sam. 6, 17 f. 24,23—25. 1. Reg. 3, 15. 8, 63 f.
Die Opfer. 73
also wie zwei zusammenpassende Hälften; die 01a ist, wie ihr
Name sagt, eigentlich weiter nichts als der auf den Altar ge-
langende Teil eines grossen Opfers. Man könnte darum auch
das, was von einem einzelnen Tiere der Gottheit geweiht wird,
01a nennen; dies geschieht jedoch nicht, weder vom Blute
noch vom Fette (ItOp) gebraucht man das Verbum rbytlj sondern
bloss von den Fleischstücken, von denen bei dem kleinen Opfer
nichts verbrannt wird. Aber ein principieller Unterschied
existiert nicht, sondern nur ein gradueller: ein kleines Zebah,
vergrössert und gesteigert, wird zu 01a und Zebahim; auf eine
gewisse Anzahl geschlachteter Tiere, welche die Opfergesellschaft
verzehrt, kommt eins, welches für Gott bestimmt und ganz der
Flamme übergeben wird. Übrigens hat man zu bedenken, dass
es in der Regel nur grosse Opferfeste sind, über welche die
historischen Bücher Anlass nehmen zu berichten, und dass in
Folge davon das Brandopfer doch noch mehr hervortritt, als es
durchschnittlich im gewöhnlichen Leben der Fall gewesen sein
wird. Für gewöhnlich kamen gewiss keine andeneu als Dank-
opfer vor — notwendigerweise, wenn jede Schlachtung beim
Altare zu geschehen hatte. Wo in den Büchern Samuelis und
der Könige von einem simplen Opfer die Rede ist, versteht es
sich von selbst, dass es ein Dankopfer ist. Namentlich die Stelle
1. Sam. 2, 12ff. ist auch in dieser Beziehung lehrreich.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass nach der Praxis der
älteren Zeit mit dem Opfer fast immer ein Mahl verbunden war.
Es war die Regel, dass bloss Blut und Fett auf den Altar kam,
die Menschen aber das Fleisch verzehrten ;„ nur bei sehr grossen
Opferfesten bekam Jahve ein ganzes Tier oder mehrere. Wo
geopfert ward, da ward auch gegessen und getrunken (Exod. 32, 6.
Jud. 9, 27. 2. Sam. 15, llf. Arnos 2, 7); kein Opfer ohne Mahl
und auch kein Mahl ohne Opfer (1. Reg. 1, 9), auf keiner bedeu-
tenderen Bama fehlte wohl die Unterkunft, die Lesche, in wel-
2. Reg. 5, 17. 10, 24. 25. — Das Zeugma Jud. 20, 26. 21, 4 verstösst gegen
den älteren Sprachgebrauch. — Der eigentliche Name für das holocaustum
scheint ^^ zu sein Deut. 33, 10. 1. Sam. 7,9, nicht rbV- ~ °*> die
Opferabgabe von allen Arten des Zebah gleich gewesen ist, lässt sich
nicht entscheiden; wahrscheinlich ist es nicht. Vermutlich sind die Sche-
lamim feierlichere Opfer als das einfache Zebah. Das Wort Fett wird
Gen. 4, 4. Exod. 23,18 in einem sehr allgemeinen Sinne gebraucht. Was
unter dem Segnen des Zebah 1. Sam. 9, 13 gemeint ist, ist nicht ganz klar;
vermutlich eine Art Gratias.
74 Geschichte des Cailtus, Kap. 2.
eher Samuel den Saul, Jeremia die Rekabiten traktierte (1. Sana.
9,22. Jerem. 85,2). Sich freuen, essen und trinken vor Jahve,
ist eine bis auf das Deuteronomium übliche Redeweise; noch
Ezechiel nennt den Höhencultus ein Essen auf den Bergen
(1. Sam. 9, 13. 19ff.) und bei Zacharia haben die Kochtöpfe im
Tempel eine besondere Heiligkeit (14, 20). Durch das Mahl bei
Jahve wird eine Bundesgemeinschaft einerseits zwischen ihm
und den Gästen, andererseits zwischen den Gästen unter einander
gestiftet, welche für die Opferidee wesentlich ist und von der die
Schelamim ihren Namen haben. Vgl. Exod. 18, 12. 24, 11. Bei
den gewöhnlichen Schlachtungen wird diese Vorstellung abge-
schwächt sein, bei den feierlicheren Opfern war sie lebendig.
Gott ladet ein, denn sein ist das Haus, sein ist auch die Gabe,
die ihm von dem Darbringer ganz vor den Altar geführt werden
muss und die er erst darauf zum grössten Teil seinen Gästen
abtritt; diese essen also gewissermassen an Gottes Tisch und
müssen sich dazu vorbereiten, heiligen 1 ). Auch bei uns höchst
unpassend scheinenden Gelegenheiten fehlt doch das Mahl nicht
(Jud. 20, 26. 21, 4. 1. Sam. 13, 9—12). Dass es nicht immer ganz
säuberlich dabei herging, lässt sich von vornherein annehmen
und wird durch Isa. 28, 8 sogar in Beziehung auf den Tempel
von Jerusalem bezeugt: alle Tische sind voll unflätigen Gespeies,
kaum Platz! Daher war auch Elfs Verdacht gegen Hanna nahe-
liegend und nicht so entrüstend, wie er uns vorkommt.
Wie verschieden von diesem Bilde ist die Vorstellung, welche
der Priestercodex erweckt! Dass zu jedem Opfer ein Mahl ge-
hört, merkt man hier nicht, das Essen vor Jahve, noch im Deu-
teronomium schlechthin der Ausdruck für Opfern, kommt nirgend
vor und ist jedenfalls kein Stück des Gottesdienstes. Schlach-
tung und Opfer fällt nicht mehr zusammen, das Dankopfer, wo-
l ) Um vor Jahve zu treten, putzt man sich mit Kleidern und Schmuck
Exod. 3,22. 11, 2f. 12, 35 f. Hos. 2,15. Ezech. 16, 13 (vgl. Sur. 20, 61),
heiligt sich 1. Sam. 16,5 (Num. 11, 18) und wird geheiligt 1. Sam. 16, 5.
Exod. 19, 10.14. Das Opfermahl gilt als Kodesch, denn nicht bloss die
Priester essen Kodesch, sondern alle Geheiligten 1. Sam. 21, 5f. Über
den Sinn der Heiligung gibt 1. Sam. 21,5. 2. Sam. 11, 2 Aufschluss. Vgl.
50^ Fpn Vföb N*? J° d - 13 , 16. Lev. 7,20 und Matth. 22, 11 — 13. —
Jahve ladet die Heere der Völker zu seinem Opfer ein, zu welchem er
irgend ein anderes Volk ihnen preisgibt, und nennt die Meder, denen er
Babel darbietet, seine Geheiligten d. h. seine Gäste. Sophon. 1, 7 f. Jer.
46,10. Ezech. 39, 17. Isa. 13,3.
Die Opfer. 75
von die Brust und die rechte Keule zu weihen sind, ist etwas
anderes als das alte einfache Zebah. Aber gerade darum hat
es seine frühere breite Bedeutung eingebtisst. Der Mizbäah,
d. h. der Ort wo die Zebahim darzubringen sind, hat sich in
einen Mizbah ha-ola verwandelt. Das Brandopfer ist ganz
selbständig und unabhängig geworden und tritt durchaus in den
Vordergrund; die nicht mit einem Mahl verbundenen Opfer über-
haupt dominieren so sehr, dass bekanntlich Theophrast behaupten
konnte, andere gäbe es gar nicht bei den Juden, die sich auf
diese Weise von den übrigen Völkern unterschieden *). Wo ehe-
dem ein Dankopfer, das man vor Jahve verzehrte, wir können
deutlicher sagen ein Mahlopfer vorgeschrieben war, hat der
Priestercodex, wie wir später sehen werden, einfache Abgaben
an die Priester daraus gemacht, z. B. bei den Erstgeburten und
Erstlingen. Nur darin gibt auch er noch der alten Sitte ein un-
willkürliches Zeugnis, dass er die Namen Thoda Neder und
Nedaba, von denen namentlich die beiden letzteren notwendig
einen ganz allgemeinen Sinn haben müssen (Lev. 22, 18. Ezech.
46, 12), ausschliesslich auf das Dankopfer bezieht, wie denn auch
Milluim und Pas sah nur Abarten desselben sind.
4. Was das Dankopfer verloren hat, ist dem Sund- und
Schuldopfer zugewachsen; das freiwillige Privatopfer, welches
der Darbringer in fröhlicher Gesellschaft an heiliger Stätte ver-
zehrte, ist dem notwendigen gewichen, von dem er nichts be-
kommt und das überhaupt den Charakter des heiligen Mahles
ganz abgestreift hat. Das Brandopfer ist doch noch ein Mahl,
wenn auch nur ein einseitiges für Gott; beim Sündopfer aber
wird Alles fern gehalten, was an ein Mahl erinnern könnte, z. B.
die Zuthaten Mehl und Wein, Öl und Salz; vom Fleisch gelangt
nichts auf den Altar, sondern es fällt als Busse ganz an den
Priester. Von dieser für den Priestercodex so überaus wichtigen
Opferart findet sich nun vor Ezechiel im übrigen Alten Testament
keine Spur, weder beim Jehovisten und Deuteronomiker, noch
in den geschichtlichen und prophetischen Büchern 2 ). Ola und
Zebah ist die Zusammenfassung der tierischen, Ola und Minha,
') Porphyrius de abstin. 2, 26. Vgl. Joseph, contra Ap. IL 13: outot euxovxat
2 ) Wie verschieden ist Deut. 21, 1—9, wie fem liegt hier überhaupt der
Opfergedanke !
76 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
oder Zebah und Minha die Zusammenfassung aller Opfer, nir-
gends kommt eine eigene Opferart für die Sühne vor (1. Sam.
3,14). Allerdings sagt Hosea (4, 8): „die Sünde meines Volkes
essen sie und nach seiner Verschuldung sind sie gierig" — aber
das Verständnis, als ob hier den Priestern vorgeworfen werde,
sie veranlassen das Volk zunächst selber zur Veruntreuung der
heiligen Abgaben, um diese hinterher mit dem Zins der Sünd-
und Schuldopfer wieder einzuheimsen, ist doch allzu fein wo
nicht allzu plump 1 ). Mit grösserem Rechte wird man die fünf
goldenen Mäuse und die fünf goldenen Pestbeulen, mit denen
die Philister die geraubte Lade zurückerstatten und die 1. Sam.
6,3. 4. 8 als Asch am bezeichnet werden, namentlich aber die
Schuld- und Sündgelder, die nach 2. Reg. 14, 17 den jerusalemi-
schen Priestern zufielen, mit dem gleichnamigen Schuld- und
Sündopfer des Pentateuchs zusammenstellen. Nur sind eben, auch
an der zweiten' Stelle, Ascham und Chattath keine Opfer, son-
dern, dem ursprünglichen Wortsinn entsprechender, einfache
Bussen und zwar Geldbussen. Umgekehrt hat dahingegen die
Mich. 6, 7 gemeinte Chattath nichts mit einer Priesterabgabe zu
schaffen, sondern bedeutet einfach die Schuld, die eventuell
ein Anderer auf sich nimmt. Selbst Isa. 53, 10, in einer aller-
dings späten Stelle, muss Ascham nicht in dem technischen Sinne
der Cultusgesetzgebung genommen werden, sondern einfach wie
bei Micha als Schuld, die von dem Unschuldigen für die Schul-
digen getragen wird. Mit Fug und Recht ist Gramberg zur Er-
klärung dieser Prophetenstelle auf die Erzählung 2. Sam. 21,
1—14 zurückgegangen. „Auf Saul und seinem Hause liegt eine
Blutschuld, weil er die Gibeoniten getötet hat u — wird dem
David als Grund einer dreijährigen Hungersnot mitgeteilt. Von
ihm befragt, womit er sühnen solle, antworten die Gibeoniten:
„es handelt sich uns gegen Saul und sein Haus nicht um Silber
und Gold; man gebe uns aber sieben Mann von seiner Familie,
dass wir sie dem Jahve aufhängen in Gibea Sauls auf dem
l ) Die Sünde und die Verschuldung ist der Opferdienst überhaupt wie er
vom Volke getrieben wird (8,11. Arnos 4,4); in dem ganzen Abschnitt
begründet der Prophet den hier scharf zugespitzten Vorwurf .gegen die
Priester, dass sie die Thora vernachlässigen und dem Hange des Volkes
zu abergläubischem und unzüchtigem Cultus Vorschub leisten. Was ent-
hielte übrigens nach dem Pentateuch der erste Satz von 4, 8 für einen
Vorwurf? und der zweite redet von DJIJ? im( l nicht von DE&'ft-
Die Opfer. 77
Berge Jahve's". Das geschah, und sie hingen sie auf vor Jahve
alle sieben.
Ascham und Chattath als Opfer finden sich zuerst bei Ezechiel
und scheinen nicht lange Zeit vor ihm an die Stelle der früheren
Geldbussen (2-. Reg. 12, 17), die vielleicht schon immer auch in
gleichwertigen Naturalabgaben geleistet werden konnten, getreten
zu sein; wohl im siebenten Jahrhundert, welches für das Mysterium
der Sühne und des Blutvergiessens sehr empfänglich und in der
Einführung neuer Cultusgebräuche recht fruchtbar gewesen zu
sein scheint 1 ). Ihren Ursprung aus den Bussen und Wrogen
sieht man auch den Sund- und Schuldopfern des Pentateuchs
noch an ; es sind keine Gaben an Gott, nicht einmal symbolische,
sondern Strafabgaben an 'die Priester, zum Teil von bestimmtem
Taxwerte (Lev. 5, 15). Mit dem Opfer haben sie, abgesehen von
dem mechanischen Verbrennen des Fettes, nur das Blutvergiessen
gemein, ein ursprünglich secundäres Moment, welches hier dann
zur Hauptsache geworden ist. Auch das beweist wiederum für
unsere Behauptung. Der Ritus des einfachen Opfers hat drei Akte:
4) die Vorführung des lebenden Tieres vor Jahve und die Hand-
auflegung als Zeichen der manumissio von Seiten des Darbrin-
gers, 2) die Schlachtung und die Ausschüttung des Blutes an
den Altar, 3) die wirkliche oder scheinbare Uebergabe der Opfer-
stticke an die Gottheit und das Mahl der Menschen. Beim
Brandopfer fällt im dritten Akt das Mahl der Menschen fort,
im zweiten tritt die Schlachtung als bedeutungsvoll und heilig
hervor, da sie, wie stets ausdrücklich bemerkt wird, vor Jahve
zu geschehen hat, an der Nordseite des Altars. Beim Stind- und
Schuldopfer verschwindet der dritte Akt völlig und die ganze
Bedeutung der Handlung fällt dadurch auf die Schlachtung, die
natürlich ebenfalls vor dem Altare stattfindet, und auf die Blut-
sprengung, die sich hier in besonderer Weise ausgebildet hat.
Man sieht, wie die Veränderung der Gabe und des Mahles zur
blutigen Sühne sich steigert und in dieser letzten Opferart gipfelt.
Die Neuheit derselben scheint sich sogar innerhalb des Prie-
stercodex selber durch ein gewisses Schwanken zu verraten. In
x ) Man erwäge das Grassieren des Kinderopfers gerade in dieser Zeit, die
Einführung des Weihrauchs, die neuen Moden, die der König Manasse
aufbrachte und von denen gewiss manches haften blieb, was der Zeit-
stimmung entsprach und mit dem Jahvedienst vereinbar war oder gar
dessen Würde und Ernst zu erhöhen schien.
78 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
dem darin recipierten Corpus Lev. 17 — 26 werden noch die Opfer
insgesamt unter der Zwieteilung rat und nbv begriffen 17, 8.
22, 18. 21; andere gibt es nicht. Zwar kommt 19, 21 f. das
Ascham vor, aber anerkanntermassen in einem Zusatz der Be-
arbeitung; dagegen wird dasselbe 22,14 nicht gefordert 1 ), wo es
nach Lev. 5 und Num. 5 hätte geschehen müssen. Und auch
abgesehen von Lev. 17—26 herrscht in diesem Punkt zwischen
dem Kern des Priestercodex und den Novellen keine Überein-
stimmung. Einmal besteht eine Differenz hinsichtlich des Ritus
des feierlichsten Sündopfers zwischen Exod. 29. Lev. 9 auf der
einen und Lev. 4 auf der anderen Seite; sodann aber, was wich-
tiger ist, kommt das Schuldopfer nie in den primären, sondern
nur in den secundären Stücken vor, Lev. 4 — 7. Kap. 14. Num.
5, 7. 8. 6, 1. 18, 9. Auch in den letzteren ist übrigens der Unter-
schied zwischen Ascham und Chattath nicht sehr deutlich und
nur die Absicht klar, einen solchen zu machen — vielleicht weil
er in der alten Praxis zwischen niNton v\02 und Dtt>N P]DD> und
bei Ezechiel zwischen HKEn und DttfN wirklich vorhanden ge-
wesen war 2 ).
J ) Genauer muss man vielleicht sagen, dass hier das Ascham, bei Zurück-
erstattimg widerrechtlichen Besitzes, einfach das Aufgeld von einem Fünf-
teil des Wertes ist, und nicht das Widderopfer, welches Lev. 5 obendrein
gefordert wird. Auch Num. 5 wird eben dies Fünfteil Ascham genannt.
2 ) Die drei Stücke Lev. 4, 1—35 (Chattath),^ 5, 1—13 (Chattath-Aseham), 5, 14
bis 26 (Ascham) sind von Haus aus nicht coordinirte Teile eines Ganzen,
sondern selbständige Aufsätze aus der selben Schule. Denn 5, 1 — 13 ist
keine Fortsetzung oder Nachtrag zu 4, 27—35, sondern eine völlig unab-
hängige Darstellung "der selben Materie, mit erheblichen Unterschieden
der Form. An die Stelle der allgemeinen Systematik des Kap. 4 tritt
hier der einzelne bestimmte Fall und seine Analogie, der Ritus wird we-
niger genau angegeben, die hierarchische Rangordnung kommt bei dem
Vergehen nicht in Betracht. Auch wechseln in diesem Stück Ascham und
Chattath mit einander in gleicher Bedeutung. In dem dritten Stück wird
für den selben Fall ein Widder als Ascham gefordert 5, 17 — 19, für den
im ersten ein Bock resp. eine Ziege als Chattath vorgeschrieben ist 4, 22.
27. Mit dem mittleren hat das dritte Stück zwar formell grössere Ähn-
lichkeit, aber als wahre Ergänzung desselben lässt es sich schon deshalb
nicht ansehen, weil jenes nicht zwischen Chattath und Ascham unter-
scheidet. — Wenn man sich nach Lev. 5, 13 — 16. 20 — 26 richtet und
v. 17 — 19 nicht in Betracht zieht, so tritt das Ascham nur ein bei frei-
williger Erstattung widerrechtlich zurückbehaltenen oder angeeigneten Be-
sitzes, namentlich der heiligen Abgaben. Die Sachen müssen dem Eigen-
tümer mit einem Aufgelde von einem Fünfteil ihres Wertes erstattet wer-
den, als Ascham kommt ein Widder dazu, der ans Heiligtum fällt. In
Num. 5, 5 — 10 ist die Sache zwar ebenso, aber der Sprachgebrauch anders,
denn hier wird das zurückerstattete Eigentum Ascham genannt und der
Widder heisst Q^gon bw- Vgl. ^ev. 22 > 14 -
Die Opfer. ' 79
III.
Die Krisis in der Geschichte des Opferwesens ist die Refor-
mation Josia's, ihre Consequenzen sind es, die im Priestercodex
zur Reife gediehen sind. Gerade bei den charakteristischen Diffe-
renzen des Opfergesetzes von der alten Opferpraxis lässt es sich
verspüren, dass sie, wenn auch nicht alle geradezu durch die
Centralisation des Cultus verursacht, doch beinah alle irgendwie
damit zusammenhängen.
In der alten Zeit erzeugte sich der Gottesdienst aus dem
Leben und war aufs engste damit verwachsen. Das Opfer
Jahve's war ein Mahl der Menschen, bezeichnend für das Fehlen
des Gegensatzes von geistlichem Ernst und weltlicher Fröhlich-
keit. Ein Mahl bedingt einen abgeschlossenen Kreis von Gästen:
so verband das Opfer die Angehörigen der Familie, die Glieder
der Corporation, die Genossen des Heeres und jedweder dauern-
den oder vorübergehenden Vereinigung. Es sind irdische Be-
ziehungen, denen dadurch die Weihe gegeben wird; ihnen ent-
sprechen natürliche Anlässe der Feier, wie sie das bunte Leben
bietet. Von Jahr zu Jahr kehrte. die Obstlese, die Kornernte,
die Schafschur wieder und vereinigte die Hausgenossen, vor
Jahve zu essen und zu trinken; daneben fehlte es nicht an we-
niger regelmässigen Vorkommnissen, die in wechselnden Kreiseu
gefeiert wurden. Kein Kriegszug, der nicht auf diese Weise
eingeleitet, keine Verabredung, die nicht dadurch perfekt wurde,
kein irgend wichtiges Unternehmen ohne Opfer 1 ). Wenn ein
angesehener Gast kommt, so schlachtet man ihm ein Kalb —
nicht ohne der Gottheit Blut und Fett darzubringen. Der dem
Leben entnommene Anlass ist also von der heiligen Handlung
unabtrennbar und gibt ihr erst Inhalt und Charakter, ein der
Situation entsprechender Zweck steckt immer dahinter. Daher
darf auch das Gebet nicht fehlen. Das Verbum Tnpn „räuchern"
(Fett und Minha) bedeutet schlechthin flehen, umgekehrt
mrv nN ttfpa „den Jahve suchen" faktisch nicht selten opfern.
Zur Unterstützung der Bitte oder Frage, zur Bezeugung des
Dankes dient die Gabe, das Gebet gehört als Interpretation dazu.
Dies erhellt freilich mehr gelegentlich, als dass es ausdrücklich
gesagt würde (Hos. 5, 6. Isa. 1, 15. Jerem. 14, 12. 1. Reg. 8, 27 ff.
2 ) Vorwand ist das Opfer 1. Sam. 16, lff. 1. Reg. l,9ff.; vgl. Prov. 7,14.
SO Geschichte des Cultus, Kap. 2.
Prov. 15, 8); nur für die Darbringung der Festgabe haben wir
in Deut. 26, 3 ff. das Muster eines Gratias; bei der einfachen
Schlachtung wird ein Segen gesprochen (1. Sam. 9, 13). Es ver-
steht sich, dass das Gebet weiter nichts ist als der Ausdruck
der Stimmung des Anlasses und dass es ebenso mannigfach
variiert wie dieser. Hervorgegangen aus den Antrieben und ge-
richtet auf die Zwecke des Lebens spiegeln somit die Opfer
dessen bunte Mannigfaltigkeit in sich ab. Unsere Hochzeiten
Taufen Leichenschmäuse auf der einen, alle Arten von Zweck-
essen auf der anderen Seite würden sich noch am ersten zur
Vergleichung herbeiziehen lassen, wenn nicht auch hier der
Zwist zwischen Geistlich und Weltlich die Naivetät störte. Der
Gottesdienst war im hebräischen Altertum Natur, er war die
Blüte des Lebens und dessen Höhen und Tiefen zu verklären
war sein Sinn.
Durch das Gesetz, welches alle Opferstätten mit Einer Aus-
nahme aufhob, wurde diese Verbindung durchschnitten. Das
Deuteronomium beabsichtigt zwar eine solche Wirkung nicht.
Im merkwürdigen Gegensatz zum Priestercodex ist hier noch das
Essen und sich Freuen vor Jahve die stehende Bezeichnung des
Opferns: die Meinung ist, es handle sich bei der Zusammen-
legung des Cultus nach Jerusalem bloss um einen Ortswechsel,
der das Wesen der Sache unverändert lasse. Aber das war ein
Irrtum. Es war ein anderes Ding, ob man die Feier der. Wein-
lese in den heimischen Bergen oder in Jerusalem beging, ob
man einen sich zufällig darbietenden Anlass zu einem Opfermahl
an Ort und Stelle benutzen konnte oder vorher erst eine Reise
unternehmen musste. Und es war auch etwas anderes, ob man
bei sich zu Hause vor Jahve erschien oder an der allgemeinen
Stätte unter der grossen Gemeinde verschwand. Wie das Leben
im Lokal wurzelt, so wurzelte auch der alte Cultus im Lokal;
durch die Verpflanzung aus seinem ursprünglichen Boden ward
er seiner natürlichen Nahrungssäfte beraubt. Es musste eine
Scheidung zwischen ihm und dem Leben eintreten, eine Schei-
dung, welche das Deuteronomium selber vorbereitet hatte' durch
die Erlaubnis der profanen Schlachtung. Man lebte in Hebron,
man opferte in Jerusalem, Leben und Gottesdienst fielen ausein-
ander. Die Folgen, die im Gesetz des Deuteronomiums schlum-
mern, haben sich im Priestercodex entwickelt.
Die Opfer. 81
Von daher rührt es, dass das Mahlopfer, ehedem bei weitem
die Hauptsache, jetzt gänzlich zurücktrat. Fleisch essen konnte
man zu Hause, in Jerusalem war das Geschäft der Gottesdienst.
Man bevorzugte also solche Opfer, bei denen der gottesdienst-
liche Charakter abstract, d. h. möglichst rein und ohne natür-
liche Beimischung hervortrat, von denen Gott Alles und der
Mensch nichts hatte: Brand- Sund- und Schuldopfer.
War früher das Opfer gefärbt durch die Qualität seines An-
lasses, so hatte es jetzt wesentlich einen und denselben Zweck:
Mittel des Cultus zu sein. Der warme Pulsschlag des Lebens
zitterte nicht mehr beseelend darin nach, es war nicht mehr die
Blüte und Frucht von all dessen Trieben, es hatte seinen Sinn
für sich selber. Es symbolisierte den Gottesdienst: damit gut.
Die Seele war entwichen, die Schale geblieben, und auf deren
Ausbildung ward nun alle Kraft verwandt. Die Mannigfaltigkeit
der Riten trat an die Stelle der individualisierenden Anlässe;
die Technik ward Hauptsache, die vorschriftsmässige Ausführung
nach den Regeln der Kunst.
Der Cultus war ehedem spontan, jetzt wird er Statut. Die
Befriedigung, die er gewährt, liegt eigentlich ausser ihm, in dem
moralischen Vergnügen der Gewissenhaftigkeit, mit der man die
ritualen Gebote erfüllt, die Gott nun einmal seinem Volke be-
fohlen hat. Es ist zwar das freiwillige Opfer nicht verboten,
aber eigentlicher Wert wird nur den vorgeschriebenen beigelegt
und diese überwiegen durchaus. Und auch beim freiwilligen
Opfer muss sich Alles streng in die Grenzen der Satzung fügen:
hätte jemand im Drang seines Herzens bei einem Zebah Schela-
mim mehr Fleischstücke dargebracht als der Ritus forderte, —
es wäre ihm übel bekommen.
Sonst stiftete das Mahlopfer eine besondere Beziehung zwi-
schen der Gottheit und einer geschlossenen Gesellschaft von
Gästen; die natürliche Opfergesellschaft war die Familie oder
das Geschlecht (1. Sam. 1, lff. 16, Iff. 20, 6). Jetzt verlieren sich
die kleinen Sakralgemeinschaften, die bunten Kreise des Lebens
verschwinden in dem Schatten der universalen Gemeinde
(my, hilp). Der Begriff derselben ist dem hebräischen Altertum
fremd, durchdringt aber den Priestercodex von vorn bis hinten.
Wie der Gottesdienst selber, so wurde auch sein Subject abstract,
eine geistliche Grösse, die durch nichts anderes als eben durch
Wel l hause n, Prolegomena. 6
82 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
den Gottesdienst zusammengehalten wurde. Da nun die Teil-
nahme der Gemeinde „der Söhne Israels" am Opfer doch eigent-
lich immer nur eine ideale war, so trug auch dies dazu bei, dass
die heilige Handlung wesentlich durch sich selbst perfect ward,
dadurch dass sie der Priester verrichtete, wenn auch niemand
dabei war. Daher dann später die Notwendigkeit einer beson-
deren Opferdeputation, der Ansehe Maamad. Wie endlich alles
dies zusammenhängt mit der judaistischen Fernrückung Gottes
vom Menschen, ist klar 1 ).
Zwei Einzelheiten verdienen hier noch besonders hervor-
gehoben zu werden. Das wichtigste Opfer ist im Priestercodex
das Brandopfer, d. h. thatsächlich das Thamid, das holocaustum
iuge, bestehend in zwei jährigen Lämmern, die täglich auf dem
„Brandopferaltare" verbrannt werden, eins des Morgens und eins
des Abends. Die Sitte, täglich zu bestimmter Zeit ein festes
Opfer zu bringen, bestand zwar, in einfacherer Form 2 ), schon
.*) Es soll nicht behauptet werden, dass der vorgesetzliche Cultus. (dessen
Schattenseiten aus Arnos und Hosea bekannt sind) dem gesetzlichen vor-
zuziehen, sondern nur, dass er ursprünglicher sei — der Maassstab ist nicht
die Moral, sondern die Idee, der ursprüngliche Sinn des Cultus. Es
soll ferner nicht bestritten werden, dass der Glaube, es hänge der ftrfolg
des Opfers und der übrigen heiligen Handlungen ab von der peinlich
genauen Befolgung der hergebrachten und vorgeschriebenen Riten, bei
gewissen Völkern schon im höchsten Altertum vorkommt. Aber bei den
Israeliten war das, nach dem Zeugnis der historischen und prophetischen
Bücher, eben durchschnittlich nicht der Fall, so wenige wie bei den alten
Griechen; es gab da keine Brahmanen und Magier. Übrigens muss man
wohl beachten, dass im Priestercodex keineswegs noch die kindliche
Wertschätzung des Cultus besteht wie etwa im Rigveda, und dass nicht
etwa deshalb die genauen Vorschriften gemacht und eingehalten werden,
weil nur damit der Geschmack der Gottheit getroffen wird — der Gottes-
begriff ist hier sogar auffallend wenig anthropomorphisch und der ganze
Cultus weiter nichts als eine Übung in der Gottseligkeit, die nun ein-
mal so vorgeschrieben ist, ohne dass sie irgend einem zu Gute kommt.
2 ) Kuenen, Godsdienst van Israel II, 271. Nach 2. Reg. 16, 15 ward zu
Ahaz' Zeit im Tempel von Jerusalem täglich eine n^J? zu Morgen und
eine HPüD zu Abend geopfert. Auch Ezechiel redet 46, 13—15 nur von
der Morgenola. Vgl. noch Esdr. 9, 4. Neh. 10, 33. Im Priestercodex ist
die Abendminha zu einer zweiten Ola gesteigert; daneben hat sie sich
aber doch in der täglichen Minha des Hohenpriesters erhalten und auch
auf den Morgen ausgedehnt Lev. 6,12 — 16. — Die tägliche Minha scheint
älter zu sein als die tägliche Ola. Denn während es nahe lag, der Gott-
heit regelmässig ein Mahl zu bereiten, waren die Kosten einer täglichen
Ola für eine einfache Opferstätte zu gross, und es entsprach auch nicht
der menschlichen Sitte, alle Tage Fleisch zu essen. Die Darbringung
der täglichen Minha wird schon 1. Reg. 18, 29. 36 als Zeitbestimmung für
den Nachmittag angewandt, und diese Bezeichnung pflanzt sich fort bis
in die späteste Zeit, während nie das Thamid d. h. die Ola zu gleichem
Die Opfer. 83
im vorexilischen Altertum, aber daneben nahmen damals die
freien Privatopfer doch eine viel wichtigere Stellung und einen
weit grösseren Raum ein. Im Gesetz ist das Thamid faktisch
das Grundelement des Gottesdienstes, denn auch die Sabbath-
und Festopfer sind nur eine numerische Steigerung desselben
(Num. 28. 29). Wenn es nachher im Buche Daniel heisst das
Thamid ward abgeschafft, so ist damit gesagt, der Cujtus
ward abgeschafft (8, 11 — 13. 11, 31. 12, 11). Nun aber bedeutet
das Dominieren des täglichen, sabbathlichen, und festlichen Tha-
mid, dass der Opferdienst eine ganz feste Form angenommen
hatte, die von jedem besonderen Motiv und von jeder Spon-
taneität unabhängig war, und ferner (was nahe damit zusammen-
hängt), dass er von Gemeinde wegen geschah, Gemeinde in dem
technischen Sinne des Gesetzes genommen. Daher die Notwen-
digkeit der allgemeinen Tempelsteuer, deren Vorbild in dem
halben Sekel als Kopfsteuer für den Gottesdienst der Stiftshütte
Exod. 30, 11 ff. gegeben ist. Vor dem Exil bezahlten die jüdi-
schen Könige das regelmässige Opfer, noch bei Ezechiel trägt
der Monarch die Kosten nicht allein des Sabbath- und Festopfers
45, 17 ff., sondern auch des Thamid 46, 13 — 15 1 ). Es ist auch
ein Zeichen der Zeit, dass nach Exod. 30 die Kosten des Tempel-
dienstes direct aus der Kopfsteuer der Gemeinden bestritten wer-
den, und es erklärt sich nur daraus, dass es keinen König mehr
gab. So sehr ward im Judentum das Opfer Sache der Gesamt-
heit, dass das freiwillige Korban des Einzelnen sich in eine
Geldabgabe verwandelte, als Beitrag zu den Kosten des allge-
meinen Gottesdienstes (Marc. 7,11. 12, 42 f. Matth. 27,6).
Der zweite Punkt betrifft Folgendes. In dem Masse wie
die speziellen Anlässe und Zwecke der Opfer wegfallen, tritt
ein gleicher allgemeiner Anlass hervor, die Sünde, und ein glei-
cher allgemeiner Zweck, die Sühne. Im Priestercodex ist bei
allen Tieropfern das eigentliche Mysterium die Sühne durch das
Blut; am reinsten ausgebildet erscheint dieselbe bei den Sünd-
und Schuldopfern, welche ebensowohl für den Einzelnen, als für
Zweck benutzt wird. Die älteste Sitte war aber wohl auch die tägliche
Minha nicht, sondern die Schaubrote, die dem selben Zwecke dienten,
aber nicht alle Tage frisch aufgelegt wurden.
') Vgl. die Sept. Der masorethische Text hat die auf den Fürsten bezüg-
liche dritte Person in die zweite corrigiert, als Anrede an den Priester,
die aber im Ezechiel gänzlich unmöglich ist.
6*
84 Geschichte des Cultus, Kap. 2.
die Gemeinde und für ihr Haupt dargebracht werden. In dem
grossen Versöhnungstage gipfelt in gewisser Hinsicht der ganze
Gottes- und Opferdienst, dem bei aller Verschiedenheit der Riten
eine obligate Beziehung auf die Sünde gemeinsam ist. Hievon
lassen nun die alten Opfer wenig merken. Wohl suchte man
ehedem durch reiche Gaben auf die zweifelhafte oder drohende
Stimmung der Gottheit einzuwirken und ihr Angesicht zu glätten,
aber die Gabe hatte dann naturgemäss den Charakter des tasten-
den Versuchs (Mich. 6, 6). Der Gedanke lag fern, dass eine be-
stimmte Schuld durch ein vorgeschriebenes Opfer gesühnt wer-
den müsse und könne. Wenn im Gesetz zwischen solchen Sün-
den, die durch ein Opfer gedeckt werden, und solchen, die un-
nachsichtlich den Zorn nach sich ziehen, unterschieden wird, so
ist diese Unterscheidung durchaus nicht antik ; für das hebräische
Altertum war der Zorn Gottes etwas völlig Unberechenbares,
man kannte nie seine Ursachen, geschweige dass man im voraus
die Sünden hätte angeben können, die ihn erregen und nicht
erregen 1 ). Im allgemeinen fand eine obligate Beziehung der
Opfer zur Sünde durchaus nicht statt. Sie waren durchweg fröh-
licher Natur, ein sich Freuen vor Jahve, bei Sang und Klang,
unter Pauken Flöten und Saitenspiel (Hos. 9, 1 ff. Arnos 5, 23.
8,3. Isa. 30,32). Kein grösserer Gegensatz hiezu, als der mo-
notone Ernst des sogenannten mosaischen Cultus. Nojxo* itapst-
arikftev fva TuXsovacrfl to 7rapairra)(xa.
In dieser Weise zeigt sich im Priestercodex die mit der
Centralisierung gleichlaufende Vergeistlichung des Gottesdienstes.
Er erhält so zu sagen einen abstract gottesdienstlichen Cha-
rakter, er scheidet sich zunächst vom Leben und absorbiert es
sodann, indem er das eigentliche Geschäft desselben wird. Das
ist für die Zukunft von folgenschwerer Bedeutung geworden. Die
mosaische Gemeinde ist die Mutter der christlichen Kirche;
die Juden sind es, die den Begriff geschaffen haben.
In der alten Zeit ist der Cultus dem grünen Baume zu ver-
l ) Wenn sich der Zorn nach den Regeln „des Bundes" richtet, so ist der
ursprüngliche Begriff vollständig alteriert: der spottet der Abmachung.
Gerade dass man sich auf keine Weise davor in Acht nehmen und nichts
dagegen machen konnte , . gab der Sache ihr unheimliches Grauen. —
Unter dem Druck des Zornes Jahve's unterliess man nicht nur das
Opfern, sondern vermied es sogar seinen Namen zu nennen, um seine
Aufmerksamkeit nicht auf sich zu lenken. Hos. 3,4. 9,4. Arnos 6, 10.
Die Feste. 85
gleichen, der aus dem Boden wächst wie er will und kann,
hinterher ist er zurecht gehauenes Holz, das mit Zirkel und
Winkelmass immer künstlicher ausgestaltet wird. Ersichtlich
hängt mit dem qualitativen Gegensatz, der soeben entwickelt
worden, der formale von Brauch und Gesetz, von dem wir zu
Anfang ausgegangen sind, enge zusammen. Zwischen dem na-
turaliter ea quae legis sunt facere und dem secundum legem
agere besteht doch ein mehr als äusserlicher Unterschied. Wenn
wir am Ende des ersten Abschnittes das unabhängige Neben-
einander der alten Praxis und des Gesetzes Mosis gerade auf
diesem Gebiet unwahrscheinlich gefunden haben, so steigert sich
die Unwahrscheinlichkeit dadurch, dass das letztere mit einem
ganz anderen Geiste erfüllt ist, der nur als Zeitgeist aufgefasst
werden kann. Es ist nicht die Luft des alten Reichs, sondern
der Gemeinde des zweiten Tempels, in der der Priestercodex
atmet. Damit stimmt, dass seine Opferordnung in ihrem posi-
tiven Inhalt vom Altertum ebenso vollständig ignoriert, als von
der nachexilischen Zeit genau befolgt wird.
Drittes Kapitel.
Die Feste.
Die Feste gehören genau genommen noch in's vorige Ka-
pitel, denn sie sind ursprünglich nichts als regelmässige Opfer-
anlässe. Die Ergebnisse der vorhergehenden Untersuchung wie-
derholen sich denn auch hier, aber mit einer so präcisen Deut-
lichkeit, dass es sich lohnt, diesen Punkt für sich in's Auge zu
fassen. Zunächst und hauptsächlich wird uns die Geschichte der
solaren Feste in Anspruch nehmen, d. h. derjenigen, die sich
nach den Jahreszeiten richten.
I.
1. In dem jehovistisch-deuteronomischen Teile des Penta-
teuchs herrscht ein .Turnus von drei grossen Festen, die allein
86 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
mit dem eigentlichen Namen Hag bezeichnet werden. „Dreimal
sollst du mir Fest feiern im Jahr, dreimal im Jahr sollen alle
deine Männer vor dem Herrn Jahve, dem Gotte Israels, er-
scheinen" (Exod. 23, 14. 34, 23 = 23, 17. Deut. 16, 16). „Das Fest
der ungesäuerten Brote (Massoth) sollst du feiern, sieben Tage
Massoth essen, wie ich dir befohlen habe, zur Zeit des Monats
Abib, denn da bist du ausgezogen aus Ägypten, und nicht er-
scheint man vor mir mit leeren Händen; und das Fest des
Schneidens (Kasir) der Erstlinge deiner Erzeugnisse, die du säest
auf dem Felde; und das Fest der Lese (Asiph) am Ausgange
des Jahres, beim Einherbsten deiner Erzeugnisse vom Felde. 4 '
So verordnet das Bundesbuch Exod. 23, 15. 16. Ähnlich das
Zweitafelgesetz Exod. 34, 18 ff.: „Das Fest der ungesäuerten
Brote sollst du feiern, sieben Tage Massoth essen, wie ich dir
befohlen habe, zur Zeit des Monats Abib, denn im Monat Abib
bist du ausgezogen aus Ägypten. Aller erste Wurf ist mein,
alles männliche Vieh, der erste Wurf von Rind und Schaf; den
ersten Wurf vom Esel sollst du lösen mit einem Schafe oder
sonst ihm das Genick brechen, alle Erstgeburt deiner Söhne
sollst du lösen, und nicht erscheint man vor mir mit leeren
Händen. Sechs Tage sollst du arbeiten und am siebenten Tage
ruhen, auch in der Saat- und Erntezeit sollst du ruhen. Und
das Wochenfest (Schabuoth) sollst du dir halten, der Erstlinge
des Weizenschnittes, und das Fest der Lese (Asiph) beim Jahres-
wechsel." Ausführlicher dagegen und von einer etwas anderen
Art sind die Bestimmungen im 16. Kap. des Deuteronomiums.
„Achte auf den Monat Abib und halte das Passah dem Jahve
deinem Gott, denn im Monat Abib hat dich Jahve dein Gott
aus Ägypten geführt bei der Nacht ; und opfere als Passah dem
Jahve deinem Gott Kleinvieh und Rinder, an dem Orte, den
Jahve erwählen wird zur Wohnung seines Namens. Du sollst
nichts Gesäuertes dabei essen, sieben Tage sollst du dabei
Massoth essen, Brot des Elends, denn in ängstlicher Eile bist
du. aus Ägyptenland gezogen , damit du des Tages deines Aus-
zugs aus Ägyptenland all dein Lebetag gedenkest. Es soll
sieben Tage in deinem ganzen Lande kein Sauerteig zu sehen
sein, und von dem Fleische, welches du am Abend am ersten
Tage opferst, soll über Nacht kein Rest bleiben bis zum andern
Morgen. Du darfst das Passah nicht in einem beliebigen deiner
Die Feste. 87
Thore, die Jahve dein Gott dir gibt, opfern, sondern an dem Orte,
den Jahve dein Gott zum Wohnsitz seines Namens erwählen
wird, sollst du das Passah opfern am Abend nach Sonnenunter-
gang, zur Zeit deines Auszugs aus Ägypten, und sollst es kochen
und essen an dem Orte, den Jahve dein Gott erwählen wird,
und am andern Morgen wieder heimgehen. Sechs Tage sollst
du Massoth essen und am siebenten Tage ist die Schlussfeier
für Jahve deinen Gott, da sollst du keine Arbeit thun (v. 1 — 8).
Sieben Wochen von da sollst du dir abzählen, von dem Anhieb
der Sichel in die Saat sollst du anfangen sieben Wochen zu
zählen und dann das Wochenfest (Schabuoth) dem Jahve deinem
Gott halten, auf Grund freiwilliger Gaben deiner Hand, in dem
Masse wie dich Jahve dein Gott segnet; und sollst dich freuen
vor Jahve deinem Gott, du und dein Sohn und deine Tochter
und dein Knecht und deine Magd und der Levit in deinen Thoren
und der Fremdling und die Waise und die Witwe in deiner
Mitte, an dem Orte, den Jahve dein Gott zur Wohnung seines
Namens erwählen wird. Und denke daran, dass du Knecht ge-
wesen bist in Ägypten, und halte und thue diese Gebote (v.9— 12).
Das Laubhüttenfest (Sukkoth) sollst du dir halten sieben Tage
lang, beim Einherbsten von deiner Tenne und von deiner Kelter,
und sollst dich freuen an deinem Feste, du und dein Sohn und
deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und der Levit
und der Fremdling und die Waise und die Witwe in deinen
Thoren. Sieben Tage sollst du feiern dem. Jahve deinem Gott
an dem Orte, den Jahve erwählen wird, dafür dass Jahve dein
Gott dich segnet in allem Ertrage und in aller Arbeit deiner
Hände, und sollst ganz Freude sein. Dreimal im Jahr sollen
alle deine Männer vor Jahve deinem Gott erscheinen, an dem
Orte, den er erwählt, am Fest der ungesäuerten Brote, der
Wochen, und der Laubhütten (Hag ha-Massoth, -Schabuoth, -Suk-
koth) ; und man soll nicht leer vor mir erscheinen, jeder so viel
er geben kann, nach dem Masse des Segens, den Jahve dein
Gott dir gegeben hat (v. 13—17)."
Hinsichtlich des Wesens der beiden letzten Feste herrscht
hier Übereinstimmung. Die Sukkoth des Deuteronomiums und
das Asiph der jehovistischen Gesetzgebung fallen nicht bloss der
Zeit nach zusammen , sondern sind in der That dasselbe Fest,
das herbstliche Einheimsen des Weins und Öles von der Kelter,
88 Geschiebte des Cultus, Kap. 3.
aber auch des ausgedroschenen Korns von der Tenne. Der
Name Asiph geht zunächst auf die Trauben- und Olivenlese,
und auf diese scheint sich auch der Name Sukkoth zu beziehen,
der sich am einfachsten aus der Sitte erklärt, mit Alt und Jung
in die Weinberge zu ziehen und dort die Zeit des Herbstens
über im Freien zu campieren, unter improvisiertem Zweigdach
(Jes. 1, 8). Kasir und Schabuoth sind gleichfalls nur verschie-
dene Namen für dieselbe Sache, nämlich für das Fest des Korn-
oder genauer des Weizenschnittes, welcher in den Anfang des
Sommers fällt. Diese beiden Feste haben also einen rein natür-
lichen Anlass; dagegen wird das Frühlingsfest, welches immer
die Reihe eröffnet, geschichtlich motiviert, und zwar wird ihm
der Auszug aus Ägypten zur Grundlage gegeben, in der ausge-
sprochensten Weise vom Deuteronomium. Aber der Cyklus
scheint doch die ursprüngliche Gleichartigkeit seiner Glieder
vorauszusetzen und zu fordern. Nun deutet der doppelte Ritus
des Passah und der Massoth auf ein zwiespältiges Wesen dieses
Festes. Das eigentliche Hag heisst nicht Hag ha-Pesah, 1 )
sondern Hag ha-Massoth, nur das letztere wird den beiden
anderen Haggim coordiniert; der Name Pesah findet sich über-
haupt erst im Deuteronomium, obwohl allerdings schon im
Zweitafelgesetz das Erstgeburtsopfer mit dem Fest der unge-
säuerten Brote zusammengelegt zu werden scheint. Es folgt,
dass für die Vergleichung mit Kasir und Asiph nur die Massoth
in Betracht kommen können. Über deren eigentliche Bedeutung
die Zeitgenossen zu belehren findet die jehovistisehe Gesetz-
gebung nicht nötig, dieselbe verrät sich aber im Deuteronomium.
Hier ist das Schneidefest in eine bestimmte zeitliche Beziehung
zum Massothfeste gesetzt: es soll sieben Wochen später gefeiert
werden. Dies ist keine neue Verordnung, sondern auf alter
Sitte beruhend, denn der Name Wochenfest findet sich schon
Exod. 34 (vgl. Jerem. 5, 24). Sieben Wochen nach Ostern (Deut.
16, 9) wird aber weiterhin genauer dahin erklärt: sieben Wochen
nach dem Anhieb der Sichel in die Saat. Mithin ist das Massoth-
fest der Anhieb der Sichel in die Saat, und es fällt dadurch
Licht auf seine feste Beziehung zu Pfingsten. Pfingsten feiert
l ) Die originale Form des Spruches Exod. 34, 25 ist Exod. 23, 18 (ijpj, nicht
nDSn 3n) erhalten. Im Deuteronomium heisst es, obschon das HDD
mehr hervortritt, dennoch HI^DH 3n 16, 1^.
Die Feste. , 89
das Ende der Mahd, die mit der Gerste beginnt und mit dem
Weizen schliesst, Ostern den Anfang „im Ährenmonat", dazwischen
liegt die auf sieben Wochen bemessene Dauer der Kornernte.
Dieses ganze tempus clausum ist eine von den beiden Festen
eingerahmte grosse Freudenzeit. Weitere Aufklärung gewinnen
wir aus Lev. 23, 9—22 ] ). Der Ostertermin ist hier wie im Deu-
terönomium der Anfang des Schneidens, er wird aber genauer
bestimmt auf den Tag nach dem ersten Sabbath, der in die
Erntezeit fällt, und darnach richtet sich dann auch die Rechnung
der Pentekoste. Der eigentümliche Osterritus aber ist die Dar-
bringung einer Gerstengarbe — vorher darf niemand vom neuen
Getreide kosten; der entsprechende Pfingstritus ist die Darbrin-
gung gewöhnlicher Weizenbrote. Mit der Gerste beginnt, mit dem
Weizen schliesst die Kornernte; zu Anfang wird die Aparche
roh als Garbe dargebracht, wie auch die Menschen das frische
Gewächs als geröstete Ähren verspeisen (Lev. 23, 14. Jos. 5, 11),
zu Ende zubereitet als ordentliches Brot. Nun werden auch die
Massoth verständlich. Es sind dies, wie bereits gesagt, nicht
eigentlich süsse, sondern in der Eile gebackene Notbrote (1. Sam.
28, 24); sie werden insofern ganz richtig mit der Eile des Aus-
zugs motiviert und als Elendbrot bezeichnet. Zuerst lässt man"
sich nicht Zeit, das Neue vom Jahre noch lange zu säuern zu
kneten und zu backen, sondern man macht daraus ge-
schwindeine Art Aschenkuchen : das sind die richtigen Massoth.
Sie stehen in dem selben Gegensatz zu den Pfingstlaiben,
wie die Garbe und die gerösteten Ähren, welche letzteren
nach Jos. 5, 11 an ihrer statt gegessen werden dürfen, sie
sind ursprünglich gewiss nicht bloss die Osterspeise der Men-
schen, sondern auch Gottes gewesen, so dass die Garbe in die
Kategorie der geistigen Verfeinerungen des Opfermaterials ge-
hören würde.
Also ist Ostern die Anfangs- und Pfingsten die Schlussfeier
l ) Man könnte dagegen freilich erinnern, dass dies Stück gegenwärtig dem
Priestercodex angehört. Aber die Sammlung Lev. 17 — 26 ist bekanntlich
von diesem nur überarbeitet und recipiert, ursprünglich aber ein selb-
ständiges Corpus, welches auf dem Übergänge vom Deuteronomium zum
Priestercodex steht, bald diesem bald jenem sich nähernd; und die volle
Berechtigung Lev. 23, 9 — 22 in diesem Zusammenhange zu verwerten,
folgt daraus, dass die dort beschriebenen Riten nur auf diese Weise Leben
und Bedeutung gewinnen.
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l\ ~s
90 Geschichte des Culttis, Kap. 3.
oder, was das selbe sagen will, die Asereth 1 ) der sieben-
wöehentlichen „Freude des Schneidens"; und das Frühlingsfest
hat nun keine befremdliche Stellung mehr in dem Cyklus der
drei Jahresfeste. Aber wie steht es mit dem Passah? Was der
Name bedeutet, ist nicht klar; wie wir gesehen haben, kommt
er erst im Deuteronomium vor, und dort wird auch die Zeit der
Feier bestimmt auf den Abend und die Nacht des ersten Massoth-
tages, von Sonnenuntergang an bis an den folgenden Morgen.
r Der Sache nach läuft das Passah hinaus auf das Erstgeburts-
opfer (Exod. 34, 18 f. 13, 12ff. Deut 15, 19 ff. 16,1 ff.), und an
diesem Punkte vornehmlich hängt der historische Charakter des
ganzen Festes. Weil Jahve die ägyptische Erstgeburt geschlagen
und die hebräische verschont hat, deswegen wird ihm seitdem
die letztere geheiligt. So heisst es nicht bloss im Priestercodex,
sondern auch Exod. 13, llff. Aber in ihren beiden Quellen
kennt die jehovistische Tradition diese Vorstellung nicht. „Lass
mein Volk, dass mir's ein Fest feiere in der Wüste, mit Opfern
von Rindern und Schafen 44 — das ist von anfang an die For-
derung an Pharao, und um sich zu diesem von vornherein in's
Auge gefassten Zwecke wie sichs gehört zu putzen, borgen die
Ausziehenden Feierkleider und Schmuck von den Ägyptern.
Weil Pharao nicht zugeben will, dass die Hebräer ihrem Gott
die ihm gebührenden Erstlinge des Viehs darbringen, deshalb
nimmt Jahve sich selbst mit Gewalt von jenem die Erstgeburt
der Menschen. • Also gilt nicht der Auszug als Veranlassung des
Festes, sondern das Fest als Veranlassung, wenn auch nur als
Vor wand, des Auszugs. Wenn nun in Exod. 13 das Verhältnis
umgekehrt ist, so gehört das Stück eben nicht den Quellen der
jehovis tischen Tradition an, sondern der Bearbeitung, und zwar,
wie aus anderen Gründen für den ganzen Abschnitt 13, 1 — 16
gewiss ist, einer deuteronomistischen Bearbeitung. Damit ge-
langen wir zu dem Ergebnis, dass die geschichtliche Motivierung
des Passah erst vom Deuteronomium vollzogen ist, wenn auch
vielleicht schon vorher eine gewisse Neigung dazu sich con-
statieren lässt, ebenso wie bei den Massoth (Exod. 12, 34). Sie
ist augenscheinlich veranlasst, durch das schon von der älteren
Überlieferung angenommene Zusammenfallen des Frühlingsfestes
l ) Haneberg Altertümer 2. Aufl. S. 656. Im Deut, dauert Pfingsten als Ase-
reth nur einen Tag, während Ostern und Laubhütten eine Woche,
Die Feste. . 9t
und des Auszugs aus Ägypten, wobei sich das Verhältnis von
Ursache und Wirkung im Laufe der Zeit umkehrte. Der Natur
der Dinge entspricht es einzig, die Sitte des israelitischen Erst-
lingsopfers als Mutter der Erzählung von der Tötung der ägyp-
tischen Erstgeburt anzusehen ; ohne Voraussetzung der Sitte
würde die Erzählung unerklärlich und die sonderbare Auswahl,
welche die Pest unter den Menschen trifft, völlig unmotiviert
sein.
Das Opfer der Erstgeburten — der männlichen , denn die
weiblichen wurden wie bei uns aufgezogen — erklärt sich auch
ohne geschichtliche Grundlage und zwar auf eine recht simple
Weise: es ist der Dank, welcher" der Gottheit von den Erzeug-
nissen der Viehzucht entrichtet wird. Wenn auf die mensch-
liche Erstgeburt ebenfalls Anspruch erhoben wird, so ist das
weiter nichts als eine nachträgliche Generalisierung, welche am
Ende doch • nur auf eine Lösung durch Schlachtvieh und also
auf eine Vergrösserung des ursprünglichen Opfers hinausläuft.
In Exod. 22, 28. 29 und 34, 19 scheint diese Consequenz noch
nicht gezogen, ja noch nicht einmal als möglich geahnt, und in
34,20 erst nachgetragen zu sein; am ausgesprochensten tritt
sie in der spätesten Stelle 13, 12 auf, denn da ist Dm ItOD dem
"\M *N3D entgegengesetzt und für das erstere der Ausdruck
TZWn gebraucht, der für das Kinderopfer zu Jeremia's und
Ezechiel's Zeit technisch ist. Die Ansicht von einigen Gelehrten,
meistens Streifzüglern auf Alttestamentlichem Gebiete, als sei die
Schlachtung der erstgeborenen Knäblein ursprünglich gerade die
Hauptsache beim Passah, verdient kaum Widerlegung. Wie die
anderen Feste, so hat auch dieses, abgesehen von der Auffassung
des Priestercodex, einen durchaus fröhlichen Charakter (Exod.
10,9. Deut. 16,7 vgl. Isa. 30,29). Historisch ist die Hingabe
des einzigen oder des wertesten Kindes wohl in einigen Bei-
spielen bezeugt, aber stets als freiwillige und ganz exorbitante
That; die Stelle Hos. 13,2 beweist nicht das Gegenteil 1 ). Eine
l ) „Sie machen sich Gussbilder aus ihrem Silber, nach ihrer Phantasie Öl-
götzen, zu denen reden sie, opfernde Menschen küssen Kälber". Men-
schenopfer würde der Prophet schwerlich nur so beiläufig, mehr im Spott
als in der Entrüstung, tadeln; er würde das Empörende, Scheussliche
der That viel mehr hervorheben als das Widersinnige. Also bedeutet
D1K TD! wohl: Opfernde aus dem Genus Mensch. Indessen, wenn es
auch Menschenschlächter bedeutete, so würde daraus für das regelmässige
Kinderopfer doch nichts folgen.
92 Geschichte des Cultus, Kap. .3.
regelmässige und geforderte Abgabe ist in der alten Zeit das
menschliche Erstgeburtsopfer auf keinen Fall gewesen, es finden
sich von einem so enormen Blutzoll keine Spuren, desto mehrere
von einer grossen Bevorzugung der ältesten Söhne. Erst kurz
vor dem Exil kam mit vielen anderen Neuerungen das Kinder-
verbrennen im grossen Stil auf, das man dann auch mit einer
strengen Interpretation der Forderung der Erstgeburten stützte
(Jer. 7, 31. 19, 5. Ezech. 20, 26). Dazu stimmt es, dass das Ge-
setz Exod. 13, 3 — 16 von der Hand des jüngsten Bearbeiters des
jehovistischen Geschichtswerks herrührt.
2. „Abel war ein Hirt und Kain war ein Ackersmann.
Und einmal, da brachte Kain von der Frucht des Ackers dem
Jahve eine Gabe dar, und Abel brachte auch ein Opfer von den
Erstgeburten seiner Schafe. 44 Die einfachsten natürlichsten und
allgemeinsten Opfer, die Erstlinge von den Erzeugnissen des
Ackerbaues und der Viehzucht, deren Anlässe sich regelmässig
mit den Jahreszeiten wiederholen — aus denen sind die Feste
geworden. Passah entspricht den Erstgeburten Abels des Hir-
ten, die anderen drei den Feldfrüchten Kains des Ackersmannes;
abgesehen von diesem Unterschiede ist das Wesen und Funda-
ment aller dieser Feste das gleiche. Ihr Zusammenhang mit
den Aparchen der Jahreszeit wird freilich in der jehovistischen
und deuteronomischen Gesetzgebung mehr vorausgesetzt als aus-
gesprochen. Doch heisst es Exod. 23, 17—19. 34, 23—26: „Drei-
mal im Jahre sollen alle deine Männer vor dem Herrn Jahve
erscheinen — du sollst nicht mit Saurem das Blut meines
Opfers vermischen und das Fett meines Festes nicht bis zum
anderen Morgen übrig lassen, das Beste der ersten Feldfrüchte
sollst du zum Hause deines Gottes bringen, du sollst das Böck-
chen nicht in der Milch seiner Mutter kochen. 44 Man erscheint
nicht leer vor Jahve: daraus ergibt sich die Beziehung, welche
zwischen dem vorangestellten allgemeinen Satze und den#folgen-
den speciellen waltet. Unter diesen könnte sich der erste
vielleicht auf das Passahfest beziehen; er gilt zwar ohne Zweifel
von allen Tieropfern, aber faktisch wurden solche vom Volke
eben vorwiegend zu dem grossen Schlachtefest dargebracht, wenn
die Rinder und Schafe geworfen hatten. Die übrigen Sätze be-
ziehen sich dann auf das Ernte- und Lesefest, deren Basierung
auf den Ertrag des Feldes ohnehin klar ist. Was das Deute-
Die Feste. 93
ronomium anbelangt, so wird auch hier einerseits gefordert, man
solle die Abgaben von Feldfrüehten und Vieh persönlich in Je-
rusalem darbringen und dort fröhliche Opfermahlzeiten davon
veranstalten, andererseits, man solle dreimal in Jerusalem er-
scheinen, zu Ostern Pfingsten und Laubhütten, und nicht mit
leeren Händen. Das lässt sich nur so vereinigen, dass die Ab-
gaben eben zu den Festen den Stpff lieferten. Ersichtlich fällt
im Deut, alles drei zusammen, Opfer, Abgaben, Feste; es ist
kaum von anderen Opfern die Rede als von denen, die von den
Abgaben veranstaltet werden, um sich vor Jahve am Feste zu
freuen; die Abgaben sind eigentlich weiter nichts als die von
der Volkssitte vorgeschriebenen, darum festen und festlichen
Opfer, von denen allein das Gesetz Veranlassung hat zu han-
deln 1 ). Es macht sich von selber so, dass der Dank für den
Segen Jahve' s gemeinsam dargebracht wird ; besonderes Gewicht
wird nicht gerade darauf gelegt. Namentlich das Erstgeburts-
opfer steht ge wissermassen noch auf dem Übergänge zum Feste.
Das Bundesbuch gebietet Exod. 22, 29, das Junge sieben Tage
seiner Mutter zu lassen und es am achten dem Jahve zu geben;
hier ist, wie es scheint, das grosse Schlachtefest unbekannt.
Dagegen wird es in der jehovistischen Erzählung des Auszugs
und wohl auch im Zweitafelgesetz Exod. 34, 19. 25 vorausgesetzt.
Da die Erstgeburten der Heerdentiere in den Frühling zu fallen
pflegen, so erklärt es sich, dass man die Opferung derselben
zusammenzulegen anfing; doch ist die Sitte wahrscheinlich lokal
verschieden gewesen. Entschiedener haben sich die Ernte-
aparchen zu Festen ausgebildet, wie es ja in der Natur der
Dinge liegt, dass die Feldfrüchte ihre Zeit regelmässiger inne-
halten als die Kälber und Lämmer. Indessen ist es auch hier
in Exod. 23. 34 noch durchaus nicht zu festen Terminen gekom-
men, so dass man von einer im strengen Sinn gemeinschaftlichen
Feier kaum reden kann und eher von Festzeiten als von Fest-
12, 6 f. llf. 14,23. 26. 16, 7. 11. 14. In dem Abschnitt 14, 22—16, 17
werden Abgaben und Feste zusammengefasst. In der ersten Hälfte 14,
22—15,18 findet ein stufenmässiger Fortschritt statt von den Leistungen,
die innerhalb eines einzelnen Jahres sich wiederholen, zu denen, die alle
drei und endlich alle sieben Jahr fällig sind; in der zweiten Hälfte 15,
19 — 16, 17 wird noch einmal auf die hauptsächlichen, d. h. die jahreszeit-
lichen Abgaben zurückgegangen und zunächst über die Erstgeburten und
das Passahfest, sodann, über die beiden anderen Feste gehandelt, denen
der Fruchtzehnte entspricht.
94 Geschichte des Oultus, Kap. 3.
tagen. Ostern wird im Monat Abib gefeiert, wenn die Saat in
Ähren steht (Exod. 9, 31. 32), Pfingsten, wenn der Weizen ge-
schnitten ist, das Herbstfest, wenn die Lese beendet ist: ziem-
lieh weite und variable Bestimmungen. Das Deuteronomium
thut einen Sehritt zu grösserer Fixierung der Termine und der
Fristen, was natürlich mit der Centralisierung des Cultus in
Jerusalem aufs engste zusammenhängt. Aber ein Gesammtfest-
opfer der Gemeinde findet sich auch hier nicht, sondern nur
vereinigte Privatopfer der Einzelnen.
Dem entsprechend ist das Mass der Gaben noch so ziem-
lich dem guten Willen tiberlassen. Nur die Erstgeburten sind
eine bestimmte Forderung. Die im Deuteronomium gestattete
Ablösung durch Geld, wofür man in Jerusalem anderes Opfer-
vieh kauft, hat für die frühere Zeit keinen rechten Sinn; doch
mag auch damals der Darbringer sich in einzelnen Fällen die
Freiheit des Umtauschs genommen haben, da ja doch seine
Gabe, als Mahlopfer, wesentlich ihm selber zu gut kam (Exod.
23,18. Gen. 4,4: jrrabriDI). Für die Erstlinge der Feldfrüchte
wird im Exodus gar kein Mass vorgeschrieben, das Deuterono-
mium verlangt den Zehnten von Korn Most und Öl, der aber
nicht mathematisch streng zu verstehen ist, da er zu Opfermahl-
zeiten verwandt, nicht an einen Anderen entrichtet und also
auch nicht nachgezählt wird. Und zwar wird der Zehnte, wie
aus Deut. 26 erhellt, zum Herbst d. h. zu Laubhütten darge-
bracht 1 ); dies ist das eigentliche Erntedankfest, nicht bloss für
den Ertrag der Kelter, sondern auch der Tenne (16, 13) ; es nimmt
sieben Tage in Anspruch, die alle in Jerusalem gefeiert werden
müssen, während bei den Massoth bloss der erste. Übrigens
versteht es sich von selbst, dass man sich nicht auf den Genuss
der. vegetabilischen Gaben beschränkt, sondern auch Fleischopfer
hinzunimmt, die vielleicht mit aus dem Verkauf des Zehnten be-
stritten wurden. Dadurch konnte sich der besondere Charakter
der Feste und ihr Zusammenhang mit den ihnen eigentümlichen
Aparchen leicht verwischen, ein Fall, der in der That im Deute-
ronomium und vielleicht schon früher eingetreten zu sein scheint.
J ) Nach einem Zusätze der Sept. brachte Elkana den Zehnten am Herbst-
feste nach Silo. Hieron. zu Ezech. 1, 3 : Apud orientales populos post
collectionem frugum et toreularia, quando ^ecimae deferebantur in tem-
plum, October erat primus mensis et Ianuarius quartus.
Die Feste. 95
Dass uns Vieles unklar vorkommt, was den Zeitgenossen selbst-
verständlich sein musste, ist nicht zu verwundern ; es wird eben
auch im Deuteronomium das Meiste der bestehenden Sitte tiber-
lassen und nur immer die eine Hauptsache eingeschärft, dass
man den Gottesdienst und also auch die Feste nur in Jerusalem
feiern dürfe.
Im Ganzen und Grossen kann es nicht zweifelhaft sein, dass
nicht nur in der jehovistischen, sondern auch in der deuterono-
mischen Gesetzgebung die Feste auf dem Ackerbau fussen *), der
die Grundlage wie des Lebens so der Religion ist. Das Land,
das fruchtbare Land ersetzt beides, Himmel und Hölle, zugleich.
Jahve gibt das Land und sein Vermögen, er empfängt das Beste
vom Ertrage zum Dank, den Zehnten als Anerkennung seines
Besitzrechtes. Indem er seinem Volke das Land zu Lehen ge-
geben hat, ist überhaupt das Verhältnis zwischen beiden erst
fertig geworden; es wird beständig warm gehalten dadurch, dass
von Jahve Wetter und Fruchtbarkeit abhängt. Im Deuterono-
mium sieht man die ersten stärkeren Spuren einer Vergeschicht-
lichurig der Religion und des Cultus, die sich. aber noch in be-
scheidenen Grenzen hält Das historische Ereignis, worauf zurück-
gegangen wird, ist immer die Ausführung aus Ägypten, und dies
ist insofern bezeichnend, als die Ausführung aus Ägypten zu-
sammenfällt mit der Einführung in Kanaan, d. h. mit der Land-
gabe, und also die geschichtliche Motivierung doch wieder ein-
mündet in die natürliche. Darum kann man sagen, dass von der
Herbringung nach Kanaan nicht bloss das Osterfest, sondern
alle Feste abhangen, und dies tritt wirklich • deutlich in dem Ge-
bete Deut. 26 hervor, womit zu Laubhütten der Anteil, der dem
Priester von den Festgaben zufiel, der Gottheit übergeben wurde.
Es wird ein Körbchen mit Früchten auf den Altar gesetzt und
Folgendes dazu gesprochen. „Ein irrender Aramäer war mein
Vater und ging hinab nach Ägypten und weilte dort wenige
Männer stark, und ward dort zu einem grossen starken und
zahlreichen Volke. Die Ägypter aber mishandelten und drückten
sie und legten ihnen harten Dienst auf, da riefen wir zu Jahve
dem Gott unserer Väter und er hörte unsere Stimme und sah
unser Elend und Leid und unsere Drangsal. Und Jahve führte
l ) Nur das Passah fusst vielmehr auf der Viehzucht.
96 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
uns &us Ägypten mit starker Hand und ausgestrecktem Arm
und grosser Majestät unter Zeichen und Wundern, und brach'te
uns an diesen Ort und gab uns dies Land, ein Land,
wo Milch und Honig fliesst: nun also bringe ich das
Beste der Früchte des Landes, welches du mir gege-
ben hast." Man beachte, worauf hier die Heilsthat hinausläuft,
durch die Israel gegründet wurde.
IL
Mit diesem Befunde der jehovistisch-deuteronomischen Ge-
setzgebung stimmt die vorexilische Sitte, soweit sie verfolgbar
und in den geschichtlichen und prophetischen Büchern be-
zeugt ist.
1. Altisraelitische Feste müssen — wenn dies überhaupt
möglich ist — das Hirtenleben zur Basis gehabt haben. Es
ist insofern consequent, wenn das Fest, welches dem Auszuge
aus Ägypten als Veranlassung untergelegt wird, als ein in der
Wüste zu feierndes und als ein Schlachtefest gilt, welches mit
dem Fruchtlande und der Ernte nichts zu schaffen hat. Ein
mit am frühesten und zwar für das schafzüchtende Juda be-
zeugtes Fest ist die Schur (1. Sam. 25, 2 ff. Gen. 38, 12); sie
scheint sich aber nicht zu einer regelmässigen und selbständigen
Feier entwickelt zu haben. Aparchen von Wolle und Flachs
kommen bei Hosea vor (2, 7. 11), wie von der Wolle allein im
Deuteronomium (18, 4).
Die Agricültur haben die Hebräer von den Kanaanitern ge-
lernt, in deren Lande sie sich niederliessen und mit denen ver-
schmelzend sie in der Richterzeit zum ansässigen Leben über-
gingen. Ehe sie die Metamorphose von Hirten zu Bauern durch-
gemacht hatten, konnten sie unmöglich die auf den Ackerbau
bezüglichen Feste haben. Es müsste mit sonderbaren Dingen
zugehen, wenn sie dieselben nicht ebenfalls von den Kanaanitern
übernommen hätten. Jene verdankten dem Baal das Land und
seine Früchte und bezahlten ihm dafür den Tribut; sie dem
Jahve. Der Inhalt der Handlung an sich. war weder heidnisch
noch israelitisch, eines und das andere wurde sie erst durch
die dativische Beziehung. Der Übertragung der Feste von Baal
auf Jahve stand somit nichts entgegen, im Gegenteil musste sie
als Bekenntnis des Glaubens gelten, dass nicht in dem heidnischen,
Die Feste. 97
sondern dem israelitischen Gott das Land und sein Ertrag, und
damit die ganze Grundlage der Volksexistenz, verdankt werde.
Am höchsten hinauf reicht die Bezeugung des Herbstfestes
der Weinlese. Und zwar zunächst als einer Sitte der kanaani-
tischen Bevölkerung von Sichern. In der alten und inhaltreichen
Geschichte von Abimelech, dem Sohne Jerubbaals, wird über die
Bürger von Sichern berichtet (Jud. 9,26): sie gingen hinaus aufs
Feld und hielten Weinlese und kelterten und feierten Hillulim
und kamen ins Haus ihres Gottes und assen und tranken und
fluchten dem Abimelech. Ziemlich früh muss sich aber diese
Feier dann auch bei den Israeliten eingebürgert haben. Zu Silo
soll nach Jud. 21, 19ff. von Jahr zu Jahr in den Weinbergen dem
Jahve ein Fest begangen sein, wobei die Mädchen draussen zum
Reigen antraten. Wenn auch die Erzählung Jud. 19 ff. im Ganzen
höchst unglaubwürdig ist, so berührt das doch diesen beiläufigen
Zug nicht notwendig, zumal er- durch 1. Sam. 1 bestätigt wird.
Hier ist nämlich abermals von einem Feste zu Silo die Rede,
welches am Ende des Jahres, d. i. im Herbst zur Zeit des Asiph *),
stattfindet und w T ozu auch die Nachbarschaft wallfahrtet. Er-
sichtlich kommt das Fest nicht allenthalben zugleich auf, son-
dern an bestimmten einzelnen Orten (in Ephraim), die dann
auch auf die Umgegend wirken. Die Sache hängt zusammen
mit der Entstehung grösserer Heiligtümer gegen Ende der Richter-
zeit, beziehungsweise mit ihrer Übernahme von den alten Ein-
wohnern; z. B. nachdem Sichern eine israelitische Stadt geworden
war, werden die Hillulim so wenig abgeschafft worden sein wie
das Gotteshaus.
Bedeutenden Einfluss müssen dabei die grossen königlichen
Tempelbauten ausgeübt haben. Sowohl zu Jerusalem als zu
Bethel wurde seit Salomo und Jerobeam das Fest gefeiert, das-
selbe wie zu Sichern und Silo, dort im September, hier vielleicht
etwas später 2 ). Dies war damals die einzige wirkliche Pane-
gyris. Die Feste zu Anfang des Sommers mögen zwar auch
schon begangen sein (Isa. 9, 2), aber in kleineren lokalen Kreisen.
1 ) D^OVl H&pnb (= im neuen Jahr) 1. Sani. 1, 20. Exod. 34, 22. • Darnach
ist auch DD^ffl QV^D J u( *- 21, 19. 1. Sam. 1, 3 zu verstehen, vgl.
Zach. 14, 16. #
2 ) 1. Reg. 12,32 ist freilich sehr unzuverlässig. 1. Reg. 8, 2 ist mit 6, 38
nicht gut zu reimen, wenn die Deutung von Bul und Ethanim richtig ist.
W e 1 1 h a u s e n , Prolegomena. 7
98 Geschichte des Cultns, Kap. 3.
Man erkennt diesen Unterschied noch im Deuteronomium, denn
obwohl hier die Laubhütten theoretisch nicht den Vorrang haben,
so werden doch faktisch nur sie von Anfang bis zu Ende beim
Centralheiligtum, Ostern dagegen im Ganzen zu Hause und nur
am ersten Tage in Jerusalem gefeiert; noch dazu wird die ge-
ringere Forderung viel nachdrücklicher eingeschärft als die
grössere, so dass die erstere scheint Neuerung, die letztere aber
ältere Sitte gewesen zu sein. Arnos und Hosea, wie sie einen
glänzenden Cultus und grosse Opferstätten voraussetzen, kennen
ohne Zweifel auch mehrere Feste, aber sie haben keinen Anlass,
irgend eins bei Namen zu nennen. Bestimmtere Angaben finden
sich bei Jesaia. Die Drohung, dass man binnen Jahresfrist die
Assyrer im Lande haben werde, drückt er 29,1 so aus: „Fügt
Jahr zu Jahr, lasst die Feste kreisen, dann bedränge ich Jerusa-
lem 44 , und am Ende der selben Rede lässt er sich 32, 9 ff. so ver-
nehmen: „Ihr leichtsinnigen Weiber, auf, höret meine Stimme,
ihr sorglosen Mädchen merkt auf meine Worte: in Jahr und Tag
werdet ihr Sorglosen zittern, denn ein Ende hat's da mit der
Lese und das Herbsten fällt aus; auf die Brüste werdet ihr euch
schlagen ob der lieblichen Gefilde, ob des reichtragenden Wein-
stocks 44 . Wenn die beiden Stellen zusammengehalten werden,
so geht daraus hervor, dass Jesaia, der allgemeinen Sitte der
Propheten bei grossen Volksversammlungen aufzutreten folgend,
hier zur Zeit des Herbstfestes redet, an dem sich auch die
Weiber lebhaft beteiligten (Jud. 21, 19 ff.). Dieses Herbstfest
aber, dessen fröhlicher und natürlicher Charakter unverkennbar
durchscheint, fällt bei ihm an den Jahreswechsel, wie man aus
dem Vergleich von ispr 29, 1 mit nspn Exod. 34, 22. 1. Sam.
1, 20 abnehmen darf, und schliesst einen hier zuerst erwähnten
Cyklus von Festen ab.
Der selbe Jesaia erwähnt zuerst eine Pannychis als einleitende
Festfeier 30,29, offenbar die Vigiliennacht Exod. 12,42. Es
wird kaum zufällig sein, dass sich gerade bei diesem spezifisch
jerusalemischen Propheten der Turnus so bei einander findet.
Das Passah kommt unter diesem Namen nur 2. Eeg. 23, 21 ff.
vor, wo erzählt wird, im 18. Jahr des Königs Josia sei es nach
der Vorschrift des Gesetzes (Deut. 16) begangen und zwar da-
mals zum erstenmal, bisher nie seit den Tagen der Richter.
Wenn hier die Neuheit der Institution so sehr hervorgehoben
Die Feste. 99
wird, so bezieht sich das einmal natürlich nicht auf die Massoth,
und auch bei dem Passah weniger auf die Sache, als auf den
Modus der deuteronomischen Vorschrift. Diese macht daraus
eine in Jerusalem zu feiernde Panegyris, als welche bis dahin
nur das Herbstfest hergebracht war, und indem sie zugleich den
Ersatz der männlichen Erstgeburten durch andere Opfertiere ge-
stattet, verwischt sie vollends einen wichtigen Zug der alten Sitte.
Das wird es sein, was als Neuerung empfunden wurde.
2. Nach dieser Übersicht scheint es nun freilieb mit der
behaupteten Congruenz des jehovistischen Gesetzes und der
älteren Praxis nicht ganz wohl bestellt zu sein. Namen lassen
sich überall nicht nachweisen, der Sache nach ist nur das Herbst-
fest gut bezeugt, aber wie es scheint als das einzige, als das
Fest. Ohne Zweifel ist es auch das älteste und wichtigste ge-
wesen, wie es immer das abschliessende blieb. Was glücklich
vollendet ist, begeht man mit dem meisten Recht; der Abschluss
der Ernte, sowohl des Drusches als der Kelterung, eignet sich
auch deshalb am besten zu einer grossen Gesammtfeier, weil
hier der Termin nicht so wie bei der Freude des Schneidens
von der Natur abhängt, sondern eher in des Menschen Hand
steht und von ihm geregelt werden kann. Doch müssen schon
in der älteren Königszeit die Vorfeste daneben bestanden haben
(Isa. 29, 1). Die Einzigkeit der Laubhütten wäre dann darauf
zu beschränken, dass es weiter kein allgemeines Fest zu Jeru-
salem und zu Bethel gab; lokale Feiern „auf allen Korntennen"
— das heisst auf allen Bamoth — werden dadurch nicht ausge-
schlossen (Hos. 9, 1). Die jehovistische Gesetzgebung aber macht
dazwischen keinen Unterschied, denn sie will von den grossen
Tempeln nichts wissen J )- Übrigens mag sie auch wohl die noch
unbestimmtere Sitte etwas systematisieren; der Übergang von
den Aparchen zum Feste war vielleicht in der Praxis noch
fliessender. Von Übereinstimmung in der Hauptsache dennoch
zu reden, ist man, bei der Dürftigkeit des positiven Materials,
darum berechtigt, weil der Begriff der Feste hier und dort der-
selbe ist. Sehr lehrreich in dieser Hinsicht sind zwei Abschnitte
aus Hosea, Kap. 2 und Kap. 9, so dass sie verdienen ausführlich
mitgeteilt zu werden.
*) Exod. 20, 24—26 nimmt sich beinah aus wie ein Protest gegen die Ein-
richtungen des salomonischen Tempels, namentlich v. 26.
7*
100 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
In der einen wird Israel als Frau vorgestellt, die von ihrem
Manne, d. h. der Gottheit, den Unterhalt bekommt: dies ist die
Basis des Treueverhältnisses. Sie irrt sieh aber in dem, der ihr
Speise Trank und Kleidung gibt, meinend es seien die Idole,
"während es Jahve ist. „Sie hat gesagt: ich will meinen Buhlen
nachlaufen, die mein Brod und Wasser, meine Wolle und Flachs,
mein Öl und mein Getränke spenden. Weiss sie denn nicht,
dass ich (Jahve) ihr das Korn und den Most und das Ol gegeben
habe und Silber in Menge und Gold — daraus sie Götzen macht?
Darum will ich mein Korn wieder an mich nehmen zu seiner
Zeit und meinen Most zu seiner Frist, und meine Wolle und
meinen Flachs wegholen, die ihr zur Kleidung dienen ; und dann
will ich ihre Blosse vor den Augen ihrer Buhlen aufdecken und
niemand soll sie meiner Hand entreissen. Und ich mache all
ihrer Freude ein Ende, ihren Festen Neumonden und Sabbathen
und all ihren Feiertagen. Und ich verwüste ihre Reben und
Feigen, von denen *sie sagte: Buhllohn ist's für mich, den meine
Buhlen mir gegeben haben ; und ich mache dieselben zur Wildnis
und die Tiere des Feldes sollen sie fressen. So strafe ich an
ihr die Tage der Götzen, da sie ihnen räucherte und ihren
Schmuck und Kleinodien anlegte und ihren Buhlen nachlief und
mich vergass, spricht Jahve. Darum so will ich sie locken und
sie in die Wüste führen und ihr dort ihre Weinberge anweisen;
da wird sie fügsam wie in ihrer Jugend und wie zur Zeit da
sie aus Agyptenland zog. Darnach verlobe ich dich mir aufs
neue für immer, um Recht und Gerechtigkeit und um Liebe und
Erbarmen. Jenes Tages will ich, spricht Jahve, dem Himmel
willfahren, und der wird der Erde willfahren, und die Erde
wird dem Korn Most und Ol willfahren, und sie werden Israel
willfahren" (2,7 — 24). Der Segen des Landes ist hier das Ziel
der Religion, und zwar ganz allgemein sowohl der falschen heid-
nischen, als auch der wahren israelitischen 1 ). Sie hat keine
historischen Heilsthaten, sondern die Natur zur Grundlage, welche
*) Yg]. Zach. 14, 16 ff. Die Übriggebliebenen von den Völkern, die gegen
Jerusalem gezogen sind, werden von Jahr zu Jahr wallfahrten zu huldigen
dem Jahve Sebaoth und das Laubhüttenfest zu feiern. Welche aber nicht
mit wallfahrten von den Geschlechtern der Erde nach Jerusalem zu hul-
digen dem Jahve Sebaoth, für die wird der Regen ausbleiben. Die
Ägypter aber — die wegen des Nils keines Regens bedürfen — werden
auf andere Weise gestraft, wenn sie nicht zum Laubhüttenfeste kommen.
Die Feste. 101
jedoch nur als Domanium der Gottheit und als Arbeitsfeld der
Menschen betrachtet und keineswegs selbst vergöttert wird. Das
Land ist das Haus Jahve's (8, 1. 9, 15), worin er der Nation
Wohnung und Unterhalt gibt; im Lande und durch das Land
wird Israel erst Jahve's Volk, wie die Ehe dadurch geschlossen
wird, dass das Weib in des Mannes Haus aufgenommen und dort
sustentiert wird. Und wie die Scheidung die Verweisung des
Weibes aus dem Hause ist, so löst Jahve seine Beziehung zu
Israel, indem er das Land zur Wüste macht oder zuletzt das
Volk geradezu daraus in die Wüste vertreibt; er knüpft sie andrer-
seits wieder an, indem er es aufs neue „einsät im Lande 4 ', den
Himmel regnen und . die Erde tragen lässt, und dadurch den
Namen Gott gesät für Israel wieder zu Ehren bringt (2,25).
Demgemäss ist der Gottesdienst weiter nichts als der schuldige
Dank für die Gaben des Bodens, der Lehenstribut für den Haus-
herrn, der diesen und jene gegeben hat. Er fällt von selbst fort,
wenn Korn und Wein ausbleibt, in der Wüste ist er undenkbar;
denn wenn Gott nichts beschert, so kann man sich auch nicht
freuen, und der Gottesdienst ist lauter Freude über den be-
scherten Segen. Derselbe hat somit durchgehends und allgemein
den Charakter, den in der jehovistischen Gesetzgebung die Feste
tragen, in denen er sich auch nach der Beschreibung Hosea's
gipfelt und concentriert. Denn die Tage der Götzen, an denen
man sich putzte und opferte, sind eben die Feste, und zwar die
Feste Jahve's, den aber das Volk unter Bildern verehrte, welche
dem Propheten schlechterdings als heidnisch gelten.
Ebenso instructiv ist die andere Stelle 9, 1—7. „Freue dich
nicht zu laut, Israel, wie die Heiden, dass du hurst gegen deinen
Gott, Buhllohn gern hast auf allen Getreidetennen. Tenne und
Kelter wird sie nicht laben und der Most wird sie trügen —
sie werden im Lande Jahve's nicht bleiben, Ephraim muss wie-
der nach Ägypten und in Assur müssen sie Unreines essen. Dann
spenden sie nicht mehr Wein für Jahve und schichten ihm keine
Opfer; wie Trauerbrot ist ihr Brot 1 ), alle die davon essen werden
unrein, denn ihr Brot wird nur für ihren Hunger sein, kommt
nicht in Jahve's Haus. Was wollt ihr erst machen zur Feierzeit
und für den Tag des Festes Jahve's? Denn siehe nachdem sie
*) Für irnp 9, 4 lies )^y\ und ODPlb für qh^j s - Kuenen, Volksreli-
gion und Weltreligion (Berlin 1883) S. 310f.
102 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
aus Trümmern ausgezogen, wird Ägypten sie festhalten, Memphis
sie begraben, ihre silbernen Lieblinge wird die Nessel beerben,
der Dornbusch in ihren Zeiten". Es braucht uns nicht zu stören,
dass der Prophet hier wieder den Cultus, der der Absicht nach
ersichtlich dem Jahve gelten soll, mit dem in der That äusser-
lich wohl wenig verschiedenen Cultus der Heiden gleichsetzt,
weil er die silbernen Lieblinge der Zelte auf den Höhen nicht
für Symbole Jahve's, sondern für Götzen und ihren Dienst für
Hurerei erkennen muss. Genug, dass abermals erhellt, wie der
volkstümliche Gottesdienst in Israel damals beschaffen war.
Tenne und Kelter, Korn und Most sind seine Motive, laute
Freude, rauschender Jubel sein Ausdruck. Alle Lust des Lebens
drängt sich zusammen in Jahve's Hause, bei den Freuden-
mahlen zum Anbruch der Gaben seiner milden Güte; kein
schrecklicherer Gedanke, als dass man sein Brot wie unreine
Speise, wie Trauerbrot essen muss, ohne die Aparchen (zum
Feste) dargebracht zu haben ! ). Dieser Gedanke ist es, der der
gedrohten Exilierung den Stachel gibt; denn Opfer und Feste
hängen von dem Lande ab, der nährenden Mutter und dem
wohnlichen Hause der Nation, der Grundlage ihrer Existenz und
ihres Cultus.
Dass dies vollständig mit dem Wesen des Gottesdienstes
und der Feste im Bundesbuch Zweitafelgesetz und Deuterono-
mium übereinstimmt, ist an sich klar, wird aber noch deutlicher
durch die Vergleichung des Priestercodex, wozu wir nunmehr
übergehen.
III.
Über den Festcyklus handeln hier die Abschnitte Lev*. 23
und Num. 28. 29, von denen der erstere einen dem Kern des
Priestercodex nicht ganz homogenen Bestandteil (23, 9—22 und
zum Teil v. 39—44) mit einem völlig homogenen verbindet. Die
drei grossen Feste kommen auch in diesen beiden Aufzählungen
vor, aber mit beträchtlicher Veränderung ihres Wesens.
*) Trauerzeiten sind gewisserraassen Interdicte, in denen die Gemeinschaft
zwischen Gott und Mensch pausiert. Übrigens ass man überhaupt nichts
als wovon zuerst die Gottheit ihren Anteil bekommen hatte, nicht bloss
kein anderes Fleisch, sondern auch keine anderen Vegetabilien ; denn die
Aparchen von Korn und Wein galten als Anbruch des Jahresertrags und
heiligten den ganzen. Alles andere war unrein; vgl. Ezech. 4,13.
Die Feste. 103
1. Die eigentliche Feier wird durch vorgeschriebene Ge-
samtopfer erschöpft. Es werden dargebracht: in der Oster-
woche und ebenso am Pfingsttage, ausser dem Thamid, täglich
2 Farren 1 Widder 7 Lämmer als Brand- und 1 Ziegenbock
als Sündopfer; zu Laubhütten vom ersten bis zum siebten Tage
2 Widder 14 Lämmer und in absteigender Linie 13—7 Farren,
am achten Tage 1 Farre 1 Widder 7 Lämmer als Brand-, ausser-
dem tagtäglich 1 Ziegenbock als Sündopfer. Hinzukommende
freiwillige Leistungen der Einzelnen werden nicht ausgeschlossen,
sind aber Nebensache. Sonst ist, sowohl in der älteren Praxis
(1. Sam. 1, 4 ff.) als im Gesetz (Exod. 23, 18), gerade das Festopfer
stets ein Mahl-, also ein Privatopfer. Im Deuteronomium hat
man nur deshalb die fröhlichen Mahlzeiten vor Jahve auffallend
finden können, weil man das Alte Testament nur aus der Per-
spective des Priestercodex kennt; eigentümlich ist hier höchstens
eine gewisse humane Ausbeutung der Festopfer, dass man näm-
lich die Armen und Grundbesitzlosen seiner Bekanntschaft dazu
einladen soll. Das ist aber eine Fortbildung, die der alten Opfer-
idee der Communio zwischen Gott und Menschen weit näher
liegt als jene selbstgenugsamen Generalkirchenopfer. Nur das
Passah ist auch im Priestercodex ein Mahlopfer geblieben und
die Teilnahme daran auf die Familie oder eine geschlossene Ge-
sellschaft beschränkt. Aber dieser letzte Rest der alten Sitte
erscheint hier als sonderbare Ausnahme, auch hat die Feier im
Hause, statt vor Jahve, etwas ganz Zwitterhaftes und macht das
Opfer fast ganz zu einer profanen Schlachtung — bis auf den
Ritus der Entsündigung, der charakteristischer Weise beibehalten
wird (Exod. 12, 7 vgl. Ezech. 45, 19).
Dem geht zur Seite, dass die Aparchen der Jahreszeit sich
noch mehr, als es schon ohnehin der Fall war, von den Festen
gelöst haben. Während sie im Deuteronomium noch zu den drei
grossen Mahlzeiten vor Jahve verwandt werden, sind sie im
Priestercodex überhaupt keine Opfer mehr und also auch keine
Festopfer, sondern nüchterne Abgaben an die Priester, die teil-
weise von diesen selber eingesammelt werden und allesamt nicht
vor den Altar gelangen. Damit verlieren die Feste vollends ihre
eigentlichen Charakteristica, ihre beseelenden und unterscheiden-
den Anlässe; durch das Einerlei der ewigen Brand- und Sünd-
opfer der Gesamtgemeinde werden sie alle einander gleich
104 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
gemacht, ihrer Naturwüehsigkeit entkleidet und zu Exercitien der
Religion degradiert. Nur ganz leise Spuren bezeugen noch,
gleichsam verräterischer Weise, den Ausgangspunkt der Ent-
wicklung, nämlich die Riten der Gerstengarbe der Weizenbrote
und der Laubhütten (Lev. 23). Aber es sind dies eben blosse
Riten, versteinerte Reste der alten Sitte; die wirklichen Erstlinge
der Grundeigentümer heimsen die Priester ein, ihr Schatten
bleibt dem Feste erhalten in der von der ganzen Gemeinde dar-
gebrachten symbolischen Garbe, die nun ein ganz vereinzelter
und unverstandener Zug geworden ist. Wenn somit in Wahrheit
die Abstattung des Dankes für die Früchte des Feldes nichts
mehr mit den Festen zu thun hat, so fängt auch selbst der
Schein an zu schwinden, denn die Riten Lev. 23 sind aus einer
älteren Gesetzgebung übernommen und werden Num. 28. 29
mehrenteils mit Stillschweigen übergangen. — Das Passah ist
auch hier wieder seinen eigenen Weg gegangen. Schon früher
konnte es mit den Erstgeburtsopfern, nachdem dieselben auf ein
Fest verlegt waren, nicht mehr so genau genommen werden;
Ersatz durch andere Rinder und Schafe war gestattet. Im Prie-
stercodex nun werden die Erstgeburten zwar strenge gefordert,
aber als blosse Abgaben, nicht als Opfer; das Passah, immer
ein jähriges Schaf- oder Ziegenlamm, hat weder der Sache noch
der Zeit nach damit etwas zu schaffen, sondern steht gesondert
daneben. Da dasselbe jedoch gestiftet sein soll, damit die mensch-
liche Erstgeburt der Hebräer, beim Würgen der ägyptischen, ver-
schont bleibe, so verrät sich durch diesen Zusammenhang, dass
die jährigen Lämmer doch nur ein Ersatz sind für die Erstlinge
alles schlachtbaren Viehs, aber in Vergleich zu den Rindern und
Schafen der jehovistischen Tradition und des Deuteronomiums
ein sekundärer und in seiner Gleichförmigkeit unmotivierter Er-
satz, und dass wenn nun die Erstlinge noch ausserdem an die
Priester gesteuert werden, dies einer Verdoppelung gleichkommt,
welche auf Grund zunächst einer gänzlichen Verdunkelung, so-
danü einer künstlichen Erneuerung der ursprünglichen Sitte er-
möglicht ist.
Ein weiteres hierher gehöriges Symptom ist die Fixierung
der Erntefesttermine nach Monatstagen, die sich ausschliesslich
im Priestercodex findet. Ostern fällt auf den 15., d. h. auf
den Vollmond des ersten, Laubhütten auf den selben Tag des
Die Feste. 105
siebeuten Monats, Pfingsten, in Num. 28 merkwürdiger Weise
unbestimmt gelassen, fällt nach Lev. 23 sieben Wochen nacli
Ostern. Diese bestimmte Datierung weist nicht bloss auf eine
feste einheitliche Regelung des Cultus, sondern auch auf eine
inhaltliche Veränderung. Denn es ist nicht gleichgiltig, dass
nach der jehovistisch-deuteronomischen Gesetzgebung Ostern im
Ährenmonat begangen wird, beim Anhieb der Sichel in die Saat,
Pfingsten nach der Weizenernte, Laubhütten nach dem Herbsten;
als Erntefeste richten sie sich von Haus aus nach dem Stande
der Früchte. Thun sie das nicht, werden sie an den Mondwechsel
gebunden, so ist das ein Zeichen , dass sich ihr Zusammenhang
mit dem natürlichen Anlass verwischt. Ohne Zweifel steht die
genaue Bestimmung des Termins in Beziehung dazu, dass die
Feste nicht mehr an beliebigen Stellen zerstreut, sondern vom
ganzen Volke vereint an einer einzigen Stelle begangen werden.
Es ist darum glaublich, dass sich dieselbe bei der Herbstfeier
zuerst vollzog, weil diese zuerst den lokalen Charakter abstreifte
und sich auch am leichtesten ein paar Wochen verschieben Hess.
Am schwersten war das dagegen beim Massothfeste möglich:
der Anhieb der Sichel in die Saat lässt sich nur sehr unbequem
verlegen. Hier aber scheint das Passah eingewirkt zu haben.
Das Passah, das einzige Fest, welches die Hebräer aus dem
Hirtenleben der Wüste mitgebracht haben können, war eine
Pannychis und wurde als solche höchst wahrscheinlich in einer
Mondnacht, in der Vollmondszeit des Frühlings, gefeiert: wohl
mit Recht hat es Snouck Hurgronje mit dem mekkanischen
Feste zusammengestellt *).
Die positive Gegenprobe für die behauptete Denaturalisation
der Feste im Priestercodex liegt darin, dass die schon von der
jehovistischen Tradition vorbereitete geschichtliche Deutung der-
2 ) Het Mekkaansche Feest (Leiden 1880) S. 46. 65. Nach Sur. 22, 29 liegt
es nahe, das grosse Opfer- und Schlachtefest von Mekka auf die Darbrin-
gung der Aparchen des Viehes zurückzuführen. Aus dem Leben Mubam-
meds geht mit genügender Sicherheit hervor, dass vor der Einrichtung
des muslimischen Mondjahrs der Dhulhigga bei den Arabern auf den An-
fang des Frühling gefallen ist; es stimmt also auch die Zeit zum Passab.
Vgl. Vakidi's Maghazi (Berlin 1882) S. 17 ff., Nöldeke's Tabari S. 303
Anm. 1. Allerdings wenn Dozy recht hat, so wäre die Übereinstimmung
des Hagg mit dem Passah kein Wunder. — Die Erstlinge der Früchte
gaben die Araber auch (Sur. 6, 142); daraus scheinen sich aber bei ihnen
keine Feste entwickelt zu haben.
106 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
selben hier ihre Spitze erreicht hat. Denn sind dieselben ihres
ursprünglichen Inhalts verlustig gegangen und zu. vorgeschrie-
benen Formen des Gottesdienstes herabgesunken, so steht nichts
im Wege, die leeren Schläuche nach dem Geschmack des Zeit-
alters neu anzufüllen. So werden nun auch die Laubhütten
(Lev. 23) ein historisches Fest, eingesetzt zum Andenken an die
Obdächer, unter denen sich das Volk während des 40jährigen
Wüstenzuges behelfen musste. Bei Ostern wird über die bereits
im Deuteronomium und in Exod. 13, 3 ff. sich findende Motivie-
rung durch den Auszug aus Ägypten noch ein Schritt hinaus
gethan. Im Priestercodex ist nämlich dies Fest, das gerade
wegen seines eminent geschichtlichen Charakters hier als das
bei weitem wichtigste von allen gilt, noch mehr als bloss Nach-
hall einer göttlichen Heilsthat, es ist selber Heilsthat. Nicht
weil Jahve die Erstgeburt Ägyptens geschlagen, wird in der
Folge das Passah gefeiert, sondern vorher, im Moment des Aus-
zugs, wird es gestiftet, damit er die Erstgeburt Israels ver-
schone. Die Sitte wird also nicht bloss geschichtlich motiviert,
sondern in ihrem Anfange selber zu einem geschichtlichen Faktum
potenziert und durch ihren eigenen Anfang begründet; der
Schatten, den sonst doch nur ein anderweitiges historisches Er-
eignis wirft, wird hier verkörpert und wirft sich selber. Sehr
ähnlich verhält sich die Sache mit den ungesäuerten Broten.
Statt dass sie durch den Umstand, dass die in der Mitternacht
Ausziehenden in der Eile ihren Teig ungesäuert wie er ist mit-
nehmen, veranlasst sind, und bestimmt das Andenken an diesen
Zug zu erhalten (Exod. 12, 34), werden sie im Priestercodex
ebenfalls schon vorher (12, 15ff.) befohlen und hinterdrein zum
Andenken an sich selber gefeiert, also nicht bloss durch die
Geschichte motiviert, sondern selbst vergeschichtlicht. Darum
wird denn auch das Ostergesetz ganz aus dem Zusammenhange
der Stiftshütten-gesetzgebung herausgehoben (Exod. 12, 1 ff.), und
die Schwierigkeit, dass nun beim Passah von dem sonst im
Priestercodex unentbehrlichen Heiligtume abstrahiert werden
muss, durch möglichstes Abstreifen des Opfercharakters um-
gangen 1 ). Einzig beim Pfingstfest zeigt sich noch kein Ansatz
*) Das Absehen vom Heiligtum ist nur beim ersten Passah begründet und
soll vielleicht nur für dieses gelten. Der Unterschied zwischen dem
P'HHC flCD imcl clem niTnn riDS ist notwendig, schon weil jenes
Die Feste. 107
zur historischen Deutung; hier ist dieselbe dem späteren Juden-
turne vorbehalten geblieben, welches darin, auf Grund der Chro-
nologie des Buches Exodus, eine Erinnerung an die sinaitische
Gesetzgebung erkennt. Man sieht aber, wohin der Zug der spä-
teren Zeit geht.
Es ist schon im Vorhergehenden angedeutet, dass für diese
Entwickelung die Centralisation des Cultus epochemachend ge-
wesen ist. Die Centralisation ist mit Generalisierung und Fixierung
gleichbedeutend; und das sind die äusseren Züge, wodurch sich
das Festwesen des Priestercodex von dem früheren unterscheidet.
Ich verweise auf die vorgeschriebenen Gemeinde- statt der spon-
tanen Privatopfer, auf die festen Termine am 15. des Monats,
auf die reinliche Sonderung von Opfern und Abgaben, auf die
Uniformierung des Passah: nichts frei und naturwüchsig, nichts
undeutlich und noch im Werden, alles statutarisch, klipp und
klar. Aber auch an der inneren Umwandlung der Feste ist die
Centralisation des Cultus nicht zum wenigsten schuld. Erst
werden die Gaben der Jahreszeit von den einzelnen Häusern
geopfert wie es sich jedem passt, sodann werden sie zusammen-
gelegt und es entstehen Feste, zuletzt treten die vereinigten
Einzelopfer zurück gegen die einheitlichen Gesamtopfer der
ganzen Gemeinde. Je mehr Gewicht auf die Gemeinsamkeit und
Gleichförmigkeit der Feier gelegt wird, desto mehr löst sie sich
von ihrer Wurzel, desto abstrakter wird sie. Dass sie dann
gern einen historischen Inhalt annimmt, wird zum Teil auch
dem Umstände zugeschrieben werden dürfen, dass die Geschichte
nicht, wie die Ernte, ein Erlebnis der einzelnen Haushaltungen
ist, sondern vielmehr ein Erlebnis des Volkes im Ganzen. Man
sieht freilich, dass die — ja immer in gewissem Grade centrali-
stischen — Feste an sich die Neigung haben sich von ihren
individuellen Trieben zu entfernen ; aber nirgends haben sie sich
so weit davon entfernt wie im Priestercodex. Während sie doch
sonst noch überall, wie wir sahen, in deutlicher Beziehung zu
dem Lande und seinem Segen stehen und gleichsam die grossen
Huldigungs- und Tributtage für den Lehnsherrn und Verleiher
des Landes sind, so tritt dieser Zusammenhang hier völlig zu-
ein historisches Faktum, dieses eine Erinnerungsfeier daran ist. Dagegen
ist nicht zn kämpfen, wenn für die Ursprünglichkeit des Passah-ritus im
Priestercodex damit eingetreten wird, dass dieser allein den Bedingungen
des ägyptischen Aufenthalts entspreche.
108 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
rück. Wie man im Gegensatz zum Bundesbuch und Deutero-
nomium, ja selbst zu dem Corpus, welches Lev. 17 — 26 zu
Grunde liegt, den ganzen Priestercodex als Wüstengesetzgebung
charakterisieren kann, insofern er von den natürlichen Bedin-
gungen und Motiven des wirklichen Volkslebens im Lande Ka-
naan abstrahiert und auf der tabula rasa der Wüste, der Negation
der Natur, aus kahlen Statuten des absoluten Willens die Hiero-
kratie aufbaut, so sind auch die Feste, bei denen sich die Ab-
hängigkeit des Cultus vom Ackerbau am stärksten zeigt, so
viel es angeht, hier zu Wüstenfesten geworden, allerdings am
meisten das Osterfest, das aber das wichtigste von allen gewor-
den ist.
2. Mit der Centralisation des Cultus, deren umgestaltender
Einfluss sich im Priestercodex zeigt, macht das Deuter onomium
den Anfang. Jener fusst auf diesem und zieht die hier noch
nicht geahnten Consequenzen. Dies Verhältnis bewährt sich
auch in Einzelheiten. Zunächst in den Namen der Feste, welche
beiderorts die gleichen sind, Pesah, Schabuoth, Sukkoth. Es
ist das nicht ohne innere Bedeutung, denn Asiph hätte der ge-
schichtlichen Umdeutung viel grössere Hindernisse in den Weg
gelegt als Sukkoth. Sodann in der Bevorzugung des Passah,
eines vorher nirgend erwähnten Festes, welche im Priestercodex
noch weit auffallender ist als im Deuteronomium. Ferner in der
Dauer der Feier. Während das Deuteronomium allerdings die
Anfangstermine noch nicht gleichmässig fixiert, thut es doch
darin einen Schritt über die jehovistische Gesetzgebung hinaus,
dass es Ostern und Laubhütten auf eine Woche, Pfingsten auf
einen Tag normiert. Damit, sowie auch mit der zeitlichen Be-
ziehung von Pfingsten zu Ostern, stimmt der Priestercodex im
Ganzen überein, doch sind seine Bestimmungen im Einzelnen
ausgebildeter. Das Passah, im ersten Monat am Abend des
14., eröffnet zwar auch hier das Fest, zählt aber nicht wie Deut.
16,4.8 als erster Tag der Osterwoche, sondern diese beginnt
erst mit dem 15. und schliesst mit dem 21., vgl. Lev. 23, 6.
Num. 28, 17. Exod. 12, 18. Da nun der Anfang der Festwoche
besonders ausgezeichnet wird, so entsteht dadurch nicht bloss
ein gewöhnlicher, sondern ein ausserordentlicher Feiertag mehr,
der Tag nach dem Passah, an dem nach den Bestimmungen des
Deuteronomiums bereits in der Frühe die Pilger von Jerusalem
Die Feste, 109
in die Heimat zurückkehren sollten 1 ). Eine andere Steigerung
bestellt darin, dass nicht bloss das Passah, wie im Deuterono-
mium, oder ausserdem der hinzugekommene erste Festtag, son-
dern auch der siebente, der nach Deut. 16, 8 nur durch Ruhe aus-
zuzeichnen ist, als Mikra Kodesch in Jerusalem gefeiert wer-
den muss. Mit anderen Worten sind die nicht ganz in der
Nähe wohnenden Wallfahrer gezwungen die ganze Woche dort
zuzubringen: eine Anforderung, die den Fortschritt der Centra-
lisierung erkennen lässt, den weit massigeren Ansprüchen des
Deuteronomiums gegenüber. Die Laubhüttenwoche wird auch
in dem letzteren Gesetze von Anfang bis zu Ende in Jerusalem
begangen, aber der Priestercodex hat hier abermals einen achten
Tag zuzulegen verstanden, als eine Asereth zum Hauptfeste, die
freilich in dem älteren Bestände von Lev. 23 noch zu fehlen
scheint. Nach alle dem unterliegt es keinem Zweifel, dass der
Priestercodex zunächst mit dem Deuteronomium zu vergleichen ist
und in der selben Richtung darüber herausgeht, wie dieses
selbst über die jehovistische Gesetzgebung. Auf jeden Fall
nimmt das Deuteronomium die mittlere Stellung in der Reihen-
folge ein, und wenn man dieselbe mit dem Priestercodex be-
ginnt, so gelangt man consequenter Weise dazu, sie mit dem
sinaitischen Bundesbuch (Exod. 20, 23 ff.) zu schliessen.
Nachdem der König Josia das Deuteronomium publiciert
und es durch feierliche Verpflichtung des Volkes zum Bundes-
buch gemacht hatte (a. 621), befahl er allem Volke: begehet
Passah dem Jahve eurem Gotte, wie es vorgeschrieben ist in
diesem Bundesbuche — ein solches Passah war nicht begangen
seit den Tagen der Richter und während der ganzen Königszeit
(2. Reg. 23, 21. 22). Und als der Schriftgelehrte Ezra den Pen-
tateuch, wie er uns gegenwärtig vorliegt, als Grundgesetz der
') Dadurch, dass im Priestercodex der Tag vom Abend an gerechnet wird,
lässt sich diese Differenz nicht ausgleichen, denn erstens hat dies keinen
praktischen Einfluss, da die Datierung dennoch mit dem Morgen beginnt
und der dem 15. voraufgehende Abend immer der 14. des Monats heisst
(Lev. 23, 27. 82); zweitens ist der erste Festtag im Deut, eben der Tag,
an dessen Abend das Passah fällt und es folgen dann nicht noch sieben,
sondern sechs Tage, während im Priestercodex die Feier vom 14. bis zum
21. des Monats sich ausdehnt Exod. 12, 18. — Wenn die rOtPH DiriD
nicht wie Jos. 5, 11 als der auf den 14., sondern wie in der jüdischen
Tradition (LXX zu Lev. 23, 11) als der auf den 15. Nisan folgende Tag
gedeutet wird, so tritt zum 14. und 15. auch noch der 16. Nisan als be-
sonderer Festtag hinzu.
HO Geschichte des Cultus, Kap. ?>.
Gemeinde des zweiten Tempels einführte (a. 444), da fanden sie
geschrieben in der Thora, welche Jahve durch Mose befohlen
hatte, dass die Kinder Israel am Feste im siebenten Monat in
Hütten wohnen und dazu Laubzweige von Oliven und Myrten
und Palmen gebrauchen sollten; und dementsprechend ging das
Volk hin und machte sich Hütten: das war nicht geschehen seit
den Tagen Josua's des Sohnes Nun bis auf diesen Tag (Nehem.
8, 14ff.). Dass sich das Passah Josia's auf Deut. 16 und nicht
auf Exod. 12 gründet, muss man schon deshalb annehmen, weil
die Festfeier im Zusammenhange steht mit der neuen Cultus-
einheit und zur Erprobung derselben dienen soll, während die
Vorschrift von Exod. 12, wörtlich befolgt, nur zur Erschütterung
derselben hätte dienen können. Auf der anderen Seite ist es,
trotz kleiner Incongruenzen, klar, dass die Laubhüttenfeier unter
Ezra auf Lev. 23 zurückgeht. Es trifft sich also, dass die zwei
so wichtigen und einander so ähnlichen Gesetzespublicierungen
beide in die Zeit eines Festes fallen, die eine in den Frühling,
die andere in den Herbst; und es ergibt sich bei dieser Gele-
genheit, dass die Festsitte des Priestercodex erst beinah 200
Jahre später anfing ins Leben zu treten und Geltung zu ge-
winnen, als die deuteronomische. Es gibt dafür noch einen an-
deren Beweis. Der Verfasser des Buchs der Könige weiss nur
von einer siebentägigen Dauer der Laubhütten (1. Eeg. 8, 66):
am achten Tage entlässt Salomo das Volk. Dagegen in der
Parallelstelle der Chronik (II 7, 9) hält der König am achten
die Asereth und entlässt das Volk erst am folgenden, dem 23.
des Monats. Es wird also hier der deuteronomischen Sitte,
welcher der ältere Schriftsteller und der ihm etwa gleichzeitige
Ezechiel (45, 25) folgt, von dem jüngeren die seit Ezra (Nehem.
8, 18) herrschende des Priestercodex übercorrigiert. Im späteren
Judentum kam es bekanntlich, durch die Neigung gerade das
Anfechtbare am festesten zu behaupten, dahin, dass der achte
Tag des Festes als der herrlichste von allen angesehen wurde
(Joh. 7, 37).
Am nächsten steht dem Priestercodex auch auf diesem Ge-
biete Ezechiel, der (45, 21 — 25) folgende Verordnung gibt. „Im
1. Monat am 14. sollt ihr das Passahfest feiern, eine Woche
Massoth essen ; an selbigem Tage soll der Fürst für sich und das
ganze Volk einen Stindfarren bringen und während der sieben
Die Feste. 111
Tage regelmässig* als Brandopfer 7 Farren und 7 Widder, als
Sündopfer einen Ziegenbock, als Mehlopfer ein Epha für jeden
Farren und Widder, und Öl ein Mass auf das Epha — im
7. Monat am 15., am Feste, soll er dasselbe darbringen, 7 Tage,
hinsichtlich der Sund- Brand- und Mehlopfer und des Öles."
Im Einzelnen deckt sich hier allerdings beinah nichts mit den
Bestimmungen des Ritualgesetzes Lev. 23. Num. 28 f. Abgesehen
davon, dass der — vom masorethischen Texte durch eine alberne
Correctur in v. 21 restituierte — Pfingsttag übergangen wird,
weicht zunächt die Dauer der Feste ab, beide währen sieben
und nicht acht Tage und das Passah gilt als der erste Ostertag,
wie im Deuteronomium. Ferner differieren die Opfer, sowohl
durch ihre stets gleich bleibende Zahl als durch ihre Qualität;
insbesondere ist vom Passahlamm keine Rede, sondern von einem
Sündfarren als Generalopfer. Bei der Minha fehlt der Wein,
doch das darf man nicht in Anschlag bringen, da Ezechiel die-
sen grundsätzlich aus dem Cultus verbannt. . Endlich bringt
nicht die Gemeinde die Opfer, sondern der Fürst, für sich
und das Volk. Aber trotz aller Differenzen leuchtet doch die
allgemeine Gleichartigkeit durch; es wird an ihnen gewisser-
massen nur anschaulich, dass man hier zum ersten male etwas
hat, was man auf allen Punkten mit dem Priestercodex zusam-
menstellen kann, mit dem die jehovistische Gesetzgebung ganz
und die deuteronomische halb unvergleichbar ist. Beiderorts
findet sich der nach dem Monatstage datierte Termin, das fest
vorgeschriebene Gesammt- Brand- und Stindopfer, die Abstraction
von Aparchen und Ackerbau, die Ausgleichung der natürlichen
Unterschiede zu einer allgemein -kirchlichen Feier. Schwerlich
nun hatte Ezechiel einen Grund, Lev. 23 und Num. 28 f. zu re-
producieren, noch weniger aber, sich dabei eine Menge völlig
zweckloser Variationen zu erlauben. Man beachte, dass er in
keiner Einzelheit dem Deuteronomium widerspricht und doch
dem Priestercodex so unendlich viel näher steht: die Verwandt-
schaft ist eine unwillkürliche, die in der Zeit liegt. Ezechiel
ist der Vorläufer des priesterlichen Gesetzgebers im Pentateuch,
sein Fürst und Volk die noch einigermassen von der vergan-
genen Königszeit gefärbte Vorstufe der Gemeinde der Stifts-
hütte und des zweiten Tempels. Dieser Annahme steht nichts
im Wege und sie ist darum die rationelle, weil nicht Ezechiel,
112 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
sondern der Priestercodex die Sitte der späteren Zeit nor-
miert hat.
Denn sowie das Festwesen des Priestercodex sich in die
Art des älteren Cultus, wie wir ihn z. B. aus Hos. 2. 9 kennen,
schlechterdings nicht schicken will, so ist dasselbe für die Praxis
des nachexilischen Judentums, und darum auch für unsere von
daher entnommene Anschauung, in jeder Hinsicht massgebend.
Niemand denkt im Neuen Testament an eine andere Passah-
feier als die von Exod. 12 und an ein anderes Opfer als das
dort vorgeschriebene Passahlamm. Man darf vielleicht die Ver-
mutung wagen, dass wenn in jener Wüsten gesetzgebung der
Ackerbau überhaupt nicht als die Grundlage des Lebens empfun-
den wird, die er noch im Deuteronomium und selbst in dem
Kerne von Lev. 17 — 26 ist, auch dies ein Beweis für ihren Zu-
sammenhang mit den Zuständen weniger einer sehr alten als
einer sehr jungen Zeit ist und nicht sowohl als ein Noch
nicht, sondern viel eher als ein Nicht mehr aufgefasst wer-
den muss. Durch die babylonische Gefangenschaft haben die
Juden ihre Sesshaftigkeit verloren und sind ein Handelsvolk
geworden.
3. Eine Erscheinung, wodurch sich der Priestercodex aus-
zeichnet, ist bisher übergangen, dass nämlich hier der drei-
gliedrige Cyklus der Feste erweitert und durchbrochen ist. In
der nach der Zeitfolge geordneten Aufzählung Lev. 23. Num. 28.
29 sind zwischen Pfingsten und Laubhütten zwei andere Feier-
tage eingesetzt, Neujahr am 1. des 7. Monats und der grosse
Versöhnungstag am 10. des selben Monats. Wie sehr die drei,
ursprünglich zu einander gehörigen, Erntefeste abgeblasst sind,
sieht man daraus, dass diese beiden heterogenen Tage mitten
dazwischen erscheinen, der Jörn Kippurim in gleicher Reihe
mit den alten Haggim, d. h. Tänzen, die lauter Lust und
Freude waren und mit einem Trauerfasten nicht an einem Tage
zu nennen. Im Einzelnen ist Folgendes zu bemerken.
Der Jahreswechsel fiel in der Königszeit auf den Herbst;
das Herbstfest bezeichnete den Abschluss des Jahres und der
Feste (Exod. 23, 16. 34, 22. 1. Sam. 1, 20. 21. Isa. 29, 1. 32, 10).
Das Deuteronomium wurde im 18. Jahre Josia's aufgefunden und
noch im selben Jahre Ostern nach Vorschrift dieses Gesetzes
begangen — das war nur möglich bei Jahresanfang im Herbst.
Die Feste. 113
Hiernach richtet sich nun auch im Priestercodex die kirch-
liche Neujahrsfeier 1 ). Der Jörn Therua (Lev. 23, 24f. Num.
29, Iff.) fällt auf den ersten Neumond des Herbstes, und es
folgt aus der durch her. 25, 9 f. beglaubigten Tradition, dass
dieser Tag als nwn BWl? als Neujahr begangen wird. Er wird *
nun aber immer als der erste des siebenten Monats bezeichnet.
Also hat sich das bürgerliche Neujahr von dem kirchlichen
getrennt und auf den Frühling verlegt; das kirchliche kann nur
als Rest von früher her aufgefasst werden und verrät schlagend
die Priorität der Sitte, wie sie in der älteren Königszeit herrschte.
Erst durch den Einfluss der Babylonier scheint dieselbe abge-
kommen zu sein, welche die Frühlingsära hatten 2 ). Denn die
mit dem Gebrauch der Frühlingsära zusammenfallende Bezeich-
nung der Monate durch Zahlen statt durch die althebräisch eu
Namen (Abib Ziv Bul Ethanim) findet sich, abgesehen vom
Priestercodex und dem letzten Eedactor des Pentateuchs (Deut.
1,3), noch nicht im Deuteronomium (16,1), sondern erst bei
Schriftstellern des Exils. Zuerst bei Jeremia, aber nur in solchen
Teilen seines Buchs, die nicht von ihm aufgeschrieben oder
doch von späterer Hand redigiert sind 3 ); sodann bei Ezechiel und
dem Verfasser des Buchs der Könige, der die Namen seiner
Quelle durch Zahlen erklärt (1. Reg. 6, 37. 38. 8,2), ferner bei
Haggai und Zacharia; zuletzt noch in der Chronik, aber hier
beginnen schon die zunächst vom Hebräischen ferngehaltenen
babylonisch -syrischen Monatsnamen einzudringen (Nehem. 1, 1.
2, 1. Zach. 1, 7), die im Buche Esther den Zahlen immer bei-
gegeben und im Makkabäerbuch ausschliesslich gebraucht wer-
den. Wollte man diese seit dem Exil nachweisbare Änderung
des Kalenderwesens aus der zufällig jetzt beginnenden Einwir-
') Dabei kommt freilich Laubhütten nicht vorher, sondern .nachher zu stehen
— was wahrscheinlich mit der bestimmteren Datierung (auf den 15. Mo-
natstag) zusammenhängt, der alten Sitte und dem Sinne des Festes aber
durchaus widerspricht.
2 ) In Exod. 12,2 wird dieser. Wechsel der Ära förmlich durch Mose ange-
ordnet: dieser Monat (der Ostermonat) soll euch der Anfang der Monate
sein, der erste sei er euch von den Monaten des Jahres. Nach George Smith
(the Assyrian eponym canon S. 19) begann das assyrische Jahr mit der
Frühbbigsnachtgleiche ; die assyrische Sitte hängt vo-n der babylonischen
ab. Trotz der entgegenstehenden Annahme Idelers war ich von dem
Frühlingsanfang des babylonischen Jahres fest überzeugt, lange bevor
ich die Ergebnisse der Assyriologie in dieser Beziehung kannte.
3 ) Kuenen, historisch-kritisch Onderzoek II (1863) S. 197. 214.
Well hausen, Prolegomena. 8
1 14 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
kung. des bisher scheintoten Priestercodex erklären, statt aus
allgemeinen in den Zeitumständen liegenden Gründen, unter deren
Einfluss eben auch dieser stand und die überhaupt damals einen
Umschwung — allgemeinere Anwendung und grössere Genauig-
keit — in der Zeitrechnung zur Folge hatten, so würde das
absurd genannt werden müssen. — Eine ähnliche Erscheinung
zeigt sich bei dem Gewichtswesen. Der „heilige Sekel", der
oft im Priestercodex und nur hier vorkommt, kann unmöglich
eher so benannt sein, als bis auch die natürlichsten altisraelitischen
Dinge, weil abhanden gekommen, in einem wundersamen Nim-
bus erschienen. Er hat zum Gegensatz den „Stein des Königs",
der 2. Sam. 14, 26 in einer Glosse erwähnt wird; der König ist
kein anderer als der Grosskönig von Babylon. Interessant ist
es, dass der heilige Sekel des Priestercodex dem Ezechiel noch
der gewöhnliche ist; vgl. Exod. 30, 13 mit Ezech. 44, 12.
Während des Exils scheint das kirchliche Neujahr nicht am
1., sondern am 10. des 7. Monats gefeiert zu sein (Lev. 25, 9.
Ezech. 40, 1) — ganz begreiflich, nachdem es überhaupt einmal
von dem wirklichen Jahresanfang sich getrennt hatte 1 ). Schon
daraus würde erhellen, wie jung der grosse Versöhnungstag
Lev. 16 ist, der später auf diesen Termin begangen wurde; denn
obwohl derselbe als Generalreinigungsceremonie mit Fug am
Jahreswechsel steht, so passt doch der fröhliche Lärm der
Neujahrsposaunen nicht in seine stille Feier, wie denn der
nynn OV im Priestercodex in der That auf den 1. des 7. Monats
gelegt ist. Trotz seiner überragenden Wichtigkeit ist der Ver-
söhnungstag weder im jehovistisch-deuteronomischen Teile des
Pentateuchs, der nur ein dreimaliges Erscheinen vor Jahve for-
dert, noch in den historischen und prophetischen Büchern be-
kannt. Seine ersten embryonischen Keime zeigen sich im Exil.
Ezechiel verordnet* (45, 18— 20) zwei grosse Entsündigungen zu
Anfang der beiden Jahreshälften; denn 45,20 ist nach der Sep-
tuaginta ISHrD ^JOt&O „im 7. Monat am Neumond" zu lesen. Die
zweite von diesen, im Herbst, ist mit der des Priestercodex zu
, 3 ) Dass bei Ez. der 10. als rutü/TI tW"l genau zu nehmen ist, folgt nicht
1 bloss daraus,- dass diese Bezeichnung nur in diesem Sinne vorkommt,
£**>» J*4**» | sondern auch daraus, dass es nicht zufällig ist, wenn der Prophet gerade
~l iAJ ■ I zu Neujahr ^ as Neue Jerusalem schaut. Dann aber ist nach Lev. 25, 9
* fc *|**<* der siebente Monat gemeint, an dessen 10. Tage die Posaunen zum An-
• * brach des Jobeljahres geblasen werden.
W><r*
Die Feste. 115
vergleichen, nur dass sie auf den ersten und Neujahr (40, 1) auf
den zehnten fällt, während dort umgekehrt Neujahr auf den
ersten und die Entsündigung auf den zehnten; auch ist der Eitus
weit einfacher. Zacharia, gegen Ende des sechsten Jahrhunderts,
sieht auf zwei seit 70 Jahren, d. h. seit dem Anfange des Exils,
bestehende regelmässige Fasttage im 5. und 7, Monate zurück
(7, 5), denen er (8, 19) noch zwei andere im 4. und 10. Monate
zufügt. Sie beziehen sich, nach Ch. B. Michaelis' unzweifelhaft
richtiger Erklärung, auf die geschichtlichen Unglückstage, welche
dem Exil vorhergingen. Am 9. des 4. Monats ward Jerusalem
eingenommen (Jer. 39, 2), am 7. des 5. ward die Stadt und der
Tempel verbrannt (2. Reg. 25, 8), im 7. Monat wurde Gedalia er-
schlagen und der Rest des jüdischen Staats vernichtet (Jer. 41),
im 10. hatte die Belagerung der Stadt durch Nebukadnezar be-
gonnen (2. Reg. 25, 25). Den grossen Versöhnungstag von Levit. 16
kennt mithin auch dieser Prophet noch nicht, sondern erwähnt
nur neben anderen das Fasten im 7. Monat als seit 70 Jahren
bestehend. Derselbe ist sogar bis a. 444, dem Jahre der Publi-
cation des Pentateuchs durch Ezra, noch nicht in Kraft getreten.
Ezra beginnt die Vorlesung des Gesetzes am Anfang des 7. Mo-
nats, darnach wird am 15. Laubhütten begangen: von einer
Sühnfeier am 10. des Monats wird in der genauen und gerade
für Liturgisches interessierten Erzählung nichts berichtet, sie wird
dagegen am 24. nachgeholt (Nehem. 8. 9). Dies testimonium e
silentio ist vollgültig — bis dahin bestand der grosse Tag des
Priestercodex nicht, der erst jetzt eingeführt wurde 1 ). Sein
Termin wird teilweise im Anschluss an Ezechiel durch das alte
Neujahr (Lev. 25, 9) bedingt sein, teilweise im Anschluss an
Zacharia durch das Fasten Gedalia's, welches freilich später
dann doch noch besonders gefeiert wurde.
Auch vor dem Exil kamen wohl allgemeine Fasttage vor,
aber sie wurden besonders angesagt und waren immer ausser- .
ordentlich veranlasst, wenn eine Schuld zum öffentlichen Be-
] ) „Wenn Lev. 16 'zum ursprünglichen Bestand der Priesterschrift gehört
uod im Jahr 444 der gesamte Pentateuch von Ezra publiciert wurde
und doch damals der Tag nicht gefeiert wurde, so wird ja eben damit
zugegeben, dass es Gesetze geben kann, ohne dass sie ausgeführt wer-
den." So Dillmann in der Einleitung zu Lev. 16 (1880 S. 525); es wird
ihm jeder zugeben, dass das Gesetz, ehe es öffentliche Geltung gewinnen
konnte, zuvor geschrieben und promulgiert sein musste.
116 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
wusstsein kam oder der göttliche Zorn drohte, namentlich bei
Landescalamitäten (1. Reg. 21, 9. 12. Jerem. 14, 12. 36, 6. 9. Joel
1, 14. 2, 12. 15). Im Exil begannen sie regelmässige Sitte zu
werden Isa. 58, ohne Zweifel zunächst in Erinnerung an die er-
lebten dies atri und gewissermassen als ein der Situation ent-
sprechender Ersatz für die nur im heiligen Lande möglichen
fröhlichen Volksversammlungen zu Ostern Pfingsten und Laub-
hütten 1 ). Endlich traten sie den Festen selber zur Seite und
wurden ein förmlicher und sehr wichtiger Bestandteil des ordent-
lichen Gottesdienstes. Im Priestercodex ist das grosse Fasten
am 10. des. 7. Monats der heiligste Tag des ganzen Jahres. Nichts
ist so bezeichnend für den Gegensatz des neuen Cultus zum
alten: wie er überall auf die Sünde und die Sühne sein Absehen
richtet, so läuft er auch in ein grosses Sündensühnfest als in
seine Spitze aus. Es ist als ob die Stimmung des Exils auch
nach der Befreiung, wenigstens während der ersten Jahrhunderte,
im Judentum stehen geblieben wäre; als ob man sich nicht bloss
momentan wie die frühere Zeit bei einem besonderen Anlass,
sondern unaufhörlich unter dem bleiernen Druck der Sünde und
des Zorns gefühlt hatte. Ich habe kaum nötig ausdrücklich hin-
zuzufügen, dass auch hinsichtlich des Versöhnungstages als des
Festes aller Feste der Priestercodex für die nachexilische Zeit
massgebend geworden ist. „Ritus und Opfer sind durch das
Misgeschick der Zeiten untergegangen, aber dieselbe Heiligkeit
ist ihm geblieben; wer sich noch nicht ganz losgesagt hat vom
Judentum, hält diesen Tag, mag er auch sonst gegen alle Ge-
bräuche und Feste desselben gleichgiltig sein."
IV.
Zum Schluss noch ein Wort über die Mondfeste, d. h. über
Neumond und Sabbath. Dass beides zusammengehört, lässt sich
allerdings aus dem Pentateuch nicht sehen, wohl aber annähernd
aus Arnos 8, 5 und 2. Reg. 4, 22f. Bei Arnos sagen die über jede
Unterbrechung ihres Wuchers ungeduldigen Kornhändler: wann
wird der Neumond vorübergehen, dass wir Getreide verkaufen
und der Sabbath, dass wir Korn aufthun! An der anderen Stelle
') Auch nach der zweiten Zerstörung Jerusalems, durch Titus, nahm das
Fastenwesen einen solchen Aufschwung, dass die Tage verzeichnet werden
mussten, an denen das Fasten verboten war.
Die Feste. 117
wird die Sunamitin, da sie ihren Mann um einen Esel und einen
Knecht bittet um den Propheten Elisa zu besuchen, von diesem
gefragt, wie sie denn dazu komme, jetzt einen solchen Ausflug
zu unternehmen, da es ja doch „kein Neumond und kein Sab-
bath", d. h. wie wir sagen würden, kein Sonntag sei. Wahr-
scheinlich hat sich der Sabbath ursprünglich nach den Phasen
des Mondes gerichtet und ist also immer der 7. 14. 21. (28.) Tag
des Monats gewesen, den Neumond als ersten gerechnet: eine
Ratio muss er gehabt haben, und eine andere lässt sich nicht
auffinden 1 ). Denn dass die Woche durch die sieben Planeten
bedingt sein soll, erscheint sehr wenig glaublich. Erst nachdem
man die sieben Tage hatte, kam man darauf sie nach den sieben
Planeten zu benennen ; die Siebenzahl ist das einzige Band zwi-
schen ihnen. Ohne Zweifel ist die Woche älter als die Namen
ihrer Tage.
Die Mondfeste sind wohl überhaupt älter als die Erntefeste,
und sicher sind sie es bei den Hebräern. In vorhistorischer Zeit
muss der Neumond so vorzugsweise gefeiert sein, dass von einer
alten Benennung desselben, welche im biblischen Hebraismus
nicht mehr vorkommt, sogar das allgemeine Wort für den Fest-
jubel abgeleitet ist, welches sich schon Jud. 9,27 für die Feier
der Weinlese gebraucht findet 2 ). Aber auch noch aus historischen
Zeugnissen lässt sich constatieren , dass die Neumondsfeier in
*) George Smith, the Assyrian Eponym Canon S. 19f: Among the Assy-
rians the first twenty-eight days of every month were divided into
four weeks of seven days each, the seventh, fourteenth, twenty-flrst, and
twenty - eighth days, respectively , being sabbaths; and there was a ge-
neral prohibition of work on tbese days. Ferner Hyde, hist. relig. vet.
Pers. S. 239. Bei den Syrern bedeutet N2# n i cnt den siebenten Tag,
sondern die Woche, ebenso bei den Arabern &»*..*.«** und XJCx-U* (Plur«
<ojLU«, Dem. &C^J*w) einen Zeitabschnitt (Lagarde, Fs. Hier. S. 158),
und zwar nach den Lexikographen einen längeren. Aber in dem ein-
zigen Beispiele, welches der Tag al'Arüs anführt, bedeutet es vielmehr
eine kurze Frist: »JUXmi ...l^&/x. uAxÄJI (statt Ol*) \o Lo = was ist .
die Jugend? der Anfang einer Sanbata; d.i. etwa: der Sonntag einer
Woche. Darnach wäre der Sabbath ursprünglich die Woche selber ge-
wesen und erst hinterdrein der Wochenfesttag geworden. Die Identität
des syrischen Wortes (xd adßßaxa im N.T.) mit dem hebräischen wird
durch die doppelte Form des arabischen verbürgt.
2 ) Mit Recht haben Sprenger (Leben Moh. III. 527) und Lagarde das hebräische
hallel mit arab. aha IIa (Labbaika rufen, z.B. Abulf. 1180 p) zusam-
mengestellt. Über die Ableitung des ahalla von hiläl (Neumond) waltet A*% - 9
aber gar kein Zweifel. Vgl. Vakidi's Maghazi S. 421 Anm. 1: die Mekkaner JL-r
ah all u (nahmen den Ihräm an), wenn sie den hiläl sahen. -""^
118 Geschichte des Ciiltus, Kap. 3.
alter Zeit mindestens auf gleicher Linie mit der Sabbathsfeier
gestanden hat; vgl. 1. Sam. 20, 5. 6. 2. Reg. 4, 23. Arnos 8, 5. Isa.
1, 13. Hos. 2, 13. In der jehovistisehen und deuteronomischen
Gesetzgebung jedoch wird dieselbe vollkommen ignoriert und
wenn sie in der priesterlichen und ezechielischen etwas mehr
hervortritt — ohne entfernt mit der Sabbathfeier sich messen
zu können — , so hängt das vielleicht damit zusammen , dass
sich hier die grossen Feste nach dem Neumond richten und des-
halb seine Beobachtung von Wichtigkeit ist. Es mag einesteils
bewusste Absicht gewesen sein, welche die Neumondsfeier, wegen
allerhand heidnischen Aberglaubens, der sich leicht daran an-
setzte, verdrängt hat, andernteils ist wohl auch das unwillkür-
liche Übergewicht des Sabbaths daran schuld gewesen, zitfolge
dessen dieser seine eigenen Wege ging und in regelmässigen
siebentägigen Intervallen weiter gerechnet wurde, unbekümmert
um den Neumond, mit dem er nun colli dierte, statt wie früher
durch ihn gestützt zu werden. •
Als Mondfest reichte ohne Zweifel auch der Sabbath in sehr
hohes Alter hinauf. Bei den Israeliten aber bekam dieser Tag
eine ganz eigentümliche Bedeutung, wodurch er sich von allen
anderen Festen unterschied-, er wurde der Ruhetag kat' exochen.
Ursprünglich ist die Ruhe nur eine Consequenz der Feier, z. B.
der Erntefeste nach der sauren Arbeitszeit; auch die Neumonde
wurden dadurch ausgezeichnet (Arnos 8, 5; 2. Reg. 4, 23). Sie ist
auch beim Sabbath eigentlich nur die Folge davon, dass er der
Feier- und Opfertag der Woche ist (Isa. 1, 13. Ezech. 46, IE),
an dem die Schaubrote aufgelegt werden; für ihn aber wurde
sie, wohl wegen der Regelmässigkeit, mit der er die Alltags-
arbeit alle acht Tage unterbrach, allmählich die wesentliche
Eigenschaft. Am Ende wurde dann auch sein Name so gedeutet,
als sei er vom Ruhen hergenommen. Als Ruhetag kann nun
der Sabbath nicht so uralt sein; in dieser Eigenschaft setzt er
vielmehr den Ackerbau und ein ziemlich angestrengtes Werk-
tagsleben voraus. Dazu stimmt es, dass sich im Laufe der Ge-
schichte eine Steigerung der Sabbathsruhe bei den Israeliten
nachweisen lässt. Am höchsten ausgebildet, bis zur Veränderung
der Qualität, erscheint dieselbe im Priestercodex.
Nach 2. Reg. 4, 22f. hat man am Sabbath Zeit zu nicht all-
täglichen Beschäftigungen; Knecht und Esel können abkommen,
Die Feste. 119
zu einer Reise, die weiter ist als ein Sabbatherweg. Hos. 2, 13
heisst es: „ich mache all ihrer Freude ein Ende, ihren Festen
Neumonden und Sabbathen u ; diese letzteren teilen also mit den
ersteren die lustige Fröhlichkeit, die sich im Exil, mit dem Jahve
droht, von selbst verbietet. Beim Jehovisten und Deuteronomisten
ist der Sabbath, der freilich schon Arnos 8, 5 auf den Handel aus-
gedehnt wird, eine Einrichtung speciell für den Ackerbau; er ist
der Erholungstag für die Leute und das Vieh und wird mithin
in ähnlicher Weise wie die Opfermahle zu socialen Zwecken
benutzt (Exod. 20. 10. 23, 12. 34, 21. Deut. 5, 13. 14). Obwohl
diese moralische Wendung echt israelitisch und nicht ursprüng-
lich ist, so ist die Ruhe doch auch hier noch ein Fest, ein Ver-
gnügen für die arbeitenden Klassen; denn was zur Pflicht ge-
macht wird — den israelitischen Herren nämlich, an welche
die Gesetzgebung sich richtet — ist weniger, dass sie ruhen, als
dass sie ruhen lassen. Im Priestercodex dagegen ist die Sab-
bathsruhe schlechterdings nicht mit dem fröhlichen Aufatmen
von der Last des Lebens bei den Festen gleichartig, sondern
eine Sache für sich, die den Sabbath nicht bloss von den
Wochentagen sondern auch von den Festen unterscheidet und
einer ascetischen Leistung weit näher kommt als einer lässigen
Erholung. Sie wird hier ganz abstract genommen, nicht als
Ruhe von der gewöhnlichen Arbeit, sondern als Ruhe schlecht-
hin. Man darf am heiligen Tage nicht aus dem Lager gehen,
um Manna oder Holz zu sammeln (Exod. 16. Num. 15), nicht
einmal Feuer anzünden und kochen (Exod. 35, 3): diese Ruhe
ist in Wahrheit ein Opfer der Enthaltsamkeit von aller Be-
schäftigung, worauf man sich schon den Tag vorher präparieren
muss (Exod. 16). In der That könnte vom Sabbath des Priester-
codex nicht gesagt werden, er sei um des Menschen willen da
(Marc. 2,27), er ist vielmehr ein mit der Starrheit eines Natur-
gesetzes auftretendes Statut, das sich selbst zum Grunde hat
und auch für Gottes Schaffen gilt. Der ursprüngliche Schöpfungs-
bericht, wonach Gott am siebenten Tage die Welt vollendete
und ihn darum heiligte, ist dahin verbessert, dass er in sechs
Tagen fertig wurde und am siebenten Tage ruhete 1 ).
Ansätze zu einer solchen Überspannung der Sabbathsruhe
*) Es ist ein unzweifelhafter Widerspruch , wenn es in Gen. 2, 2 zunächst
heisst: er machte die Arbeit am siebenten Tage fertig, und sodann: er
120 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
iüs Absolute finden sich seit der chaldäischen Zeit. Während
Jesaia, den Sabbath rein als Opfertag betrachtend, sagt: „ihr sollt
nicht mehr nichtsnutziges Opfer darbringen, ekelhafte Räucherei
ist es mir; Neumond und Sabbath, Tempelversammlung — ich
mag nicht Gräuel und Feiertag", so ist Jeremia der erste unter
den Propheten, welcher umgekehrt für streugere Heiligung des
siebenten Tages eintritt, denselben aber lediglich als Ruhetag
auffasst 17, 19ff.: „tragt keine Last am Sabbathstag, weder hinein
in die Thore Jerusalems noch hinaus aus euren Häusern, und be~
. sorgt keinerlei Geschäft an ihm". Er fügt hinzu, dass dies Gebot
zwar schon den Vätern gegeben, bisher aber nicht gehalten sei;
hergebracht scheint also nur die Enthaltung von der Feldarbeit
und vielleicht von der professionellen Hantierung gewesen zu
sein. Ebenso wie Jeremia verhalten sich in dieser Hinsicht seine
exilischen Nachfolger, nicht bloss Ezechiel (20,16. 22,26), son-
dern auch der grosse Unbekannte (Is. 56, 2. 58, 13), der sonst
keine ausgesprochene Vorliebe für den Cultus zeigt. Während
nach Hos. 2, 13 und sogar nach Thren. 2, 6 der Sabbath ausser- J^-.
halb des heiligen Landes, wie der übrige Gottesdienst, aufhören T~?
muss, gewann er thatsächlich im Exil ausserordentlich an Be- 6s.
deutung, indem er nicht bloss vom Ackerbau, sondern nament-
lich auch vom Opfercultus sich ganz unabhängig und als heilige
Ruhefeier völlig selbständig machte. Dergestalt wurde er neben
der Beschneidung das zusammenhaltende Symbol der jüdischen
Diaspora, wie schon im Priestercodex beide Institute die allge-
meinen religiösen Erkennungszeichen (niN Gen. 17, 11. 10 Exod.
31, 13) sind, welche auch unter Umständen bestehen, wo ähnlich
wie im Exil die Bedingungen des mosaischen Cultus nicht vor-
handen sind (Gen. 2, 3. 17, 12 f.). Welche Mühe inzwischen noch
die Constitutoren der Gemeinde des zweiten Tempels hatten, mit
den neuen strengen Anforderungen durchzudringen, erhellt aus
Neh. 13, 15ff. Aber es gelang schliesslich. Die Sabbathfeier
des Judentums hat sich ^,uf Grund der priesterlichen Gesetz-
gebung consequent weiter entwickelt, immer mehr dem Ideal
der absoluten Ruhe sich nähernd, so dass für die strengste Rich-
tung der Pharisäer die Vorbereitung auf den heiligen Tag die
feierte am siebenten Tage von der Arbeit. Handgreiflich ist der letztere
Satz eine authentische Interpretation, aus sehr deutlichem Motive nach-
Die Feste. 121
ganze Woche in Anspruch nahm und also womöglich das halbe
Menschenleben um seinetwegen da war. „Vom Sonntag an denk
an den Sabbath", sagt Schammai. Hervorgehoben zu werden ver-
dient die Unterscheidung zwischen Jörn tob und Schabbath,die
mit der puritanischen zwischen Fest- und Sonntag zu vergleichen
ist, und die Discussion über das Brechen des Sabbaths durch
den Gottesdienst; zwei Einzelheiten, welche die durch den Prie-
stercodex angezeigte Richtung erkennen lassen, in der sich die
spätere Sitte vom Ursprünglichen entfernt.
2. Mit dem Sabbath steht das Sabbathjahr in Verbindung.
Im Bundesbuche wird gefordert, einen Hebräer, den man zum
Knechte kauft, nach sechs Jahren des Dienstes im siebenten frei
zu geben, wenn er anders nicht selber zu bleiben wünscht (Exod.
21, 2 — 6). Ebendaselbst wird an einer anderen Stelle geboten,
sechs Jahre das Land und die Obstgärten zu bestellen und die
Ernte einzuheimsen, aber im siebenten dieselbe preiszugeben
(£Dt£>), damit die Armen sie essen und, was sie übrig lassen, die
Tiere des Feldes (23, 10. 11). Von einem Sabbathjahr ist hier
keine Rede. Die Freigebung des hebräischen Knechts erfolgt
sechs Jahr nach dem Kauf, also an einem relativen Termin.
Ebenso ist in der anderen Verordnung ein absolutes siebentes Jahr
durch nichts indiciert; auch handelt es sich nicht um einen Sab-
bath, d. h. eine Brache, für das Land, sondern um eine Preis-
gabe der Ernte.
Das erste Gebot wird im Deuteronomium wiederholt, ohne
sachliche Abweichungen, teilweise wörtlich (15, 12 — 18). Das
andere hat wenigstens ein Analogon in Deut. 15, 1—6: „am Ende
von sieben Jahren sollst du eine Preisgabe (ntOD£>) machen und
folgende Bewandtnis hat es mit der Preisgabe: kein Gläubiger
soll wegen einer Forderung seinen Bruder drängen, denn man
hat eine Preisgabe ausgerufen dem Jahve; den Fremden magst
du drängen, aber was dir dein Bruder schuldet, sollst du preis-
geben". Dass diese Verordnung mit Exod. 23, 10. 11 zu ver-'
gleichen ist, beweist der Name nteüW, aber derselbe bekommt
eine andere Bedeutung, die offenbar als neu eingeführt wird.
Es handelt sich hier nicht um Grund und Boden, sondern um
Geld, und preisgegeben werden soll nicht bloss, wie die Ernte
des Feldes, so die Zinsen der Forderung, sondern das Capital
selbst — der letzte Satz lässt kein anderes Verständnis zu, so
122 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
zweckwidrig die Massregel ist. Ein Schritt auf das Sabbaths-
jahr zu ist darin zu erkennen, dass der Termin des siebenten
Jahres nicht ein für die einzelnen Schuldverhältnisse, je nach
dem Datum ihrer Contraction, verschiedener ist — dann könnte
es sich einfach um Verjährung handeln — , sondern ein für alle
gleicher und gemeinsamer, den man öffentlich ansagt; ein abso-
luter also, kein relativer. Jedoch umfasst er nicht das ganze
siebente Jahr, tritt nicht am Ende von sechs Jahren ein wie im
Exodus, sondern am Ende von sieben: die Preisgabe der Ernte
nimmt eben das ganze Jahr in Anspruch, der Schuldenerlass
vergleichsweise nur einen Moment.
Das Sabbathjahr ist dem Priestercodex eigentümlich, oder
genauer der von ihm recipierten und überarbeiteten Gesetzsamm-
lung, welche in Lev. 17 — 26 zu Grunde Hegt. Es heisst in
Lev. 25, 1 — 7: „wenn ihr in das Land kommt, welches ich euch
geben werde, so soll das Land dem Jahve einen Sabbath feiern;
sechs Jahre sollst du dein Feld säen und deinen Weinberg be-
stellen und die Ernte einheimsen, und im siebenten Jahre soll
das Land einen Ruhesabbath feiern dem Jahve, dein Feld sollst
du nicht säen und deinen Weinberg nicht bestellen, das freige-
wachsene Korn sollst du nicht mähen und die Trauben der nicht
geputzten Reben nicht schneiden, ein Ruhejahr soll das Land
haben, und der Sabbath des Landes soll euch zur Nahrung sein,
dir und deinem Knechte und deiner Magd und deinen Heuerleuten
und deinem Vieh und dem Wilde soll all sein Ertrag zur Nah-
rung sein 44 . Die Ausdrücke lassen keinen Zweifel darüber, dass
Exod. 23, 10. 11 die Grundlage dieser Verordnung ist, aber es
ist etwas Anderes daraus gemacht. Das dort relative siebente
Jahr ist hier ein festes geworden, nicht verschieden für die ver-
schiedenen Acker, sondern gemeinsam für das ganze Land, ein
Sabbathjahr nach der Ähnlichkeit des Sabbathtages. Dies kommt
einer gewaltigen Erschwerung der Sache gleich, denn es ist ein
anderes Ding, ob sich der Verzicht auf die Ernte über sieben
Jahre verteilt oder auf das je siebente zusammendrängt. Glei-
cherweise zeigt sich die Steigerung der Anforderung darin, dass
im siebenten Jahre nicht bloss einzuheimsen, sondern auch zu
säen und zu bestellen verboten wird. In dem originalen Gebote
ist das nicht der Fall, hier fällt nur die Ernte im siebenten
Jahre nicht dem Eigentümer des Feldes zu, sondern ist publici
Die Feste. 123
iuris — vielleicht ein Rest der Gemeinwirtschaft. Durch ein
blosses Misverständnis des Verbalsuffixes Exod. 23, 11, wie Hup-
feld vermutet hat, ist aus dem Liegenlassen des Ertrags des
Landes ein Liegenlassen des Landes selbst, eine allgemeine
Brache desselben gemacht Lev. 25, 4. Das Misverständnis ist
aber nicht zufällig, sondern überaus charakteristisch. In Exod. 23
ist die Einrichtung für die Menschen da, eine Beschränkung der
Privateigentümer des Grundbesitzes zum Besten der Gesamtheit,
d. h. faktisch der Besitzlosen, die im siebenten Jahr den Niess-
brauch haben sollen; in Lev. 25 ist die Einrichtung wegen des Lan-
des da, damit es wenn nicht am siebenten Tage doch im siebenten
Jahre ruhe, und wegen des Sabbaths, damit er seine Herrschaft
auch über die Natur ausdehne. Natürlich setzt dies die extreme
Sabbathfeier durch absolute Ruhe voraus und ist nur als Aus-
wuchs davon zu begreifen. Übrigens ist eine allgemeine Brache
nur unter Verhältnissen möglich, die schon von der eigenen land-
wirtschaftlichen Production ziemlich unabhängig sind: vor dem Exil
hätte schwerlich auch nur der Gedanke daran kommen können.
Zu dem Sabbathjahre kommt nun im Priestercodex als Er-
gänzung noch das Jobeljahr hinzu (Lev. 25, 8 ff.). Wie jenes dem
siebenten, so ist dieses dem fünfzigsten, d. i. dem Pfingsttag
nachgebildet, wie schon aus dem Parallelismus von Lev. 25, 8
mit Lev. 23, 15 zu erkennen ist. Wie der 50. Tag nach den
sieben Sabbathtagen als Schlussfeier der 49tägigen Periode ge-
feiert wird, so das 50. Jahr nach den sieben Sabbathjahren als
Schlussstein der 49jährigen; die sieben in die Ernte fallenden
Sabbathe, die besonders gezählt zu werden pflegen (Luc. 6, 1),
haben eben dadurch, dass sie die Erntearbeit unterbrechen, eine
besondere Ähnlichkeit mit den Jahrsabbathen, die den Ackerbau
überhaupt unterbrechen. Jobel ist also eine künstliche Einrich-
tung, aufgebaut auf den Brachjahren als Erntesabbathen, nach
der Analogie des Pfingstfestes. Seine beiden Funktionen scheinen
ursprünglich auch dem Sabbathjahr angehört zu haben und aus
den beiden entsprechenden Bestimmungen des Deuteronomiums
über das siebente Jahr abgeleitet zu sein, so dass also Exod. 23
die Basis von Lev. 25, 1 — 7 und Deut. 15 die von 25, 8 ff. wäre. Die
Freilassung des hebräischen Sklaven sollte zuerst im siebenten
Jahre des Kaufes, sodann vermutlich im siebenten Jahre schlecht-
hin geschehen : von da ist sie aus praktischen Gründen auf das
124 Geschichte des Cultus, Kap. 3.
fünfzigste verlegt worden. Analog ist auch wohl das andere
Element des Jobel, der Eückfall des verpfändeten Grundbesitzes
an den Erbeigentümer , erwachsen aus dem Schuldenerlasse der
Deut. 15 für das Ende des siebenten Jahres gefordert wird ; denn
beides hängt sachlich eng mit einander zusammen, wie Lev.
25, 23 ff. zeigt.
Was die Bezeugung aller dieser Einrichtungen betrifft, so
werden die des Bundesbuchs gleichmässig vom Deuteronomium
und vom Priestercodex vorausgesetzt. Auf die Anregung des
Deuteronomiums scheint es zurückzugehen, dass gegen Ende der
Regierung Sedekia's Ernst gemacht wurde mit der Freilassung
der hebräischen Sklaven; die Ausdrücke Jer. 34, 14 weisen auf
Deut. 15, 12 und nicht auf Exod. 21, 2. Da sie bisher nicht
praktisch geworden war, ward in diesem Falle die Massregel
von Allen zu gleicher Frist durchgeführt; in der That musste
dies immer geschehen, wenn sie als ausserordentliche Neuerung
in die Welt trat: vielleicht hängt es damit zusammen, dass aus
einem relativen ein fixes siebentes Jahr ward. Das Sabbathjahr
ist nach der eigenen Aussage des Gesetzgebers in der ganzen
vorexilischen Zeit nicht gehalten worden. Denn nach Lev. 26,
34f. soll die Desolation des Landes während der Dauer des
Exils eine nachträgliche Erstattung der früher nicht eingehaltenen
Brachjahre sein: „dann wird das Land seine Sabbathe bezahlen
alle Tage der Verödung, w T enn ihr im Lande eurer Feinde seid,
dann wird das Land feiern und seine Sabbathe bezahlen; alle
Tage der Verödung wird es nachfeiern, was es früher nicht ge-
feiert hat, solange ihr darin wohntet". Der Vers wird 2. Chr.
36, 22 als ein Wort Jeremia's citiert und das ist ein richtiger und
unbefangener Eindruck seines exilischen Ursprungs. Da nun aber
der Verfasser von Lev. 26 auch der von Lev. 25, 1 — 7 ist, d. h.
der Gesetzgeber des Sabbathjahres, so folgt daraus die Jugend
dieser Einrichtung. Das Jobeljahr, auf alle Fälle vom Sabbath-
jahr abgeleitet, ist noch jünger als dieses. Jeremia (34, 14) ahnt
nichts davon, dass die Freilassung der Knechte nach dem „Ge-
setz 44 im 50. Jahre erfolgen soll. Den Namen 1111, welchen
Lev. 25, 10 das Jobel trägt, gebraucht er vom siebenten Jahre,
und das ist auch für Ezech. 46, 17 entscheidend: das Grundstück,
welches der König einem seiner Diener schenkt, bleibt nur bis
zum siebenten Jahre in dessen Besitz.
Die Priester und Leviten. 125
Viertes Kapitel.
Die Priester und Leviten.
I.
1. Das Problem, um das es sich hier handelt, erscheint
mit besonderer Schärfe in einem prägnanten Beispiele, das wohl
an die Spitze gestellt zu werden verdient. Das mosaische Ge-
setz, d. h. der Priestercodex, scheidet bekanntlich zwischen den
zwölf weltlichen Stämmen und Levi, andererseits innerhalb des
geistlichen Stammes selber zwischen den Söhnen Aharons und
den schlechthin so genannten Leviten. Der erstere Unterschied
wird anschaulich in der Lagerordnung Num. 2, in der Levi einen
schützenden Ring um das Heiligtum bildet, gegen die unmittel-
bare Berührung der übrigen Stämme; im ganzen gilt er jedoch
als selbstverständlich und wird nicht besonders hervorgehoben
(Num. 18, 22). Der andere wird mit ungleich grösserem Nach-
druck eingeschärft. Bloss Aharon und seine Söhne sind Priester,
zum Opferdienst und zum Räuchern befähigt, die Leviten sind
Hierodulen (3. Esdr. 1, 3) , die zur Besorgung der niederen
Dienste an die Aharoniden geschenkt worden (Num. 3, 9). Zwar
sind sie deren Stammgenossen, aber nicht wegen seiner Zuge-
hörigkeit zu Levi ist Aharon erwählt und sein Priestertum nicht
etwa die Spitze und Blüte des allgemeinen Berufs seines Stam-
mes. Er war vielmehr Priester, lange bevor die Leviten ge-
heiligt wurden; während der Cultus längst eingerichtet und im
Gange ist, sind die letzteren noch geraume Zeit nicht vorhan-
den: im ganzen dritten Buche nicht, das seinem Namen Levi-
ticus insofern keine Ehre macht. Genau genommen gehören
sogar die Leviten gar nicht zum Klerus, sie werden nicht von
Jahve berufen, sondern von den Kindern Israel an das Heiligtum
gewidmet; an Stelle der Erstgeborenen, aber nicht als Priester
— weder Num. 3. 4. 8 noch sonst im Alten Testament kommt
von einem Priestertum der Erstgeborenen eine Spur vor * —
sondern als Abgabe an die Priester, als welche sie sogar die
übliche Schwingung vor dem Altar, d. h. das scheinbare Werfen
126 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
in die Opferflamme durchzumachen haben (Num. 8). Die Ver-
wandtschaft zwischen Aharon und Levi und dass gerade dieser
Stamm als Lösung der Erstgeborenen dem Heiligtum abgetreten
wird, erscheint somit fast als zufällig, erklärt sich aber jeden-
falls nicht daraus, dass Aharon auf den Schultern Levi's in die
Höhe gestiegen, sondern dass Levi an Aharon heraufgerankt
ist, dessen Priestertum durchaus als das Prius gilt. Von Gleich-
artigkeit zwischen beiden ist nicht die Rede, das Amt und auch
das Blut scheidet sie mehr, als dass es sie verbindet.
Nun hat sich der Prophet Ezechiel in dem Plan des neuen
Jerusalem, welchen er im Jahr 573 entwarf, auch mit der Neu-
gestaltung der Verhältnisse des Tempelpersonals beschäftigt und
er sagt in dieser Beziehung 44, 6 — 16: „So spricht der Herr
Jahve. Lasst es genug sein all eurer Greuel, Haus Israel! —
dass ihr Ausländer, unbeschnittenen Herzens und unbeschnittenen
Fleisches, habt eingehen lassen zu sein in meinem Heiligtum,
es zu entweihen, wenn ihr mein Brot, das Fett und Blut, dar-
brachtet, und habt meinen Bund gebrochen 1 ) durch all eure
Greuel und meinen heiligen Dienst nicht gewahrt, indem ihr
jene 1 ) zu Besorgern meines Dienstes in meinem Heiligtum ge-
macht habt. Darum 1 ) spricht der Herr Jahve also: kein Aus-
länder, unbeschnittenen Herzens und unbeschnittenen Fleisches,
soll in mein Heiligtum hineinkommen, keiner von allen, welche
unter den Kindern Israel leben; sondern die Leviten, welche
sich entfernt haben von mir, da Israel von mir abirrte hinter
seinen Götzen her, die sollen ihre Schuld büssen, und sollen in
meinem Heiligtum Dienstlanger sein, Wachen an den Thoren
des Hauses und Diener des Hauses, sie sollen das Brandopfer
schlachten und das Dankopfer den Leuten und vor ihnen stehen
sie zu bedienen. Weil sie ihnen gedient haben vor ihren
Götzen und dem Hause Israel ein Anstoss zur Sünde geworden
sind, darum erhebe ich meine Hand gegen sie, spricht der Herr
Jahve, dass sie ihre Schuld büssen sollen; sie sollen sich mir
nicht nahen, mir zu priestern und all meinem Heiligen zu
nahen, sondern ihre Schande und Greuel büssen, die sie verübt
haben; und ich will sie zu Besorgern des Hausdienstes machen,
aller Arbeit daran und alles dessen, was darin zu geschehen
Für «nevi v. 7 1. n&rvi» für no^m v - 8 üid^iu für d:^ v. s p^,
alles nach der Septuaginta. '
Die Priester und Leviten. 127
hat Aber die Priester, die Leviten Söhne Sadoks, welche den
Dienst meines Heiligtums gewahrt haben in der Zeit da die
Kinder Israel von mir abirrten, die sollen zu mir nahen mich
zu bedienen und sollen vor mir stehen, mir Fett und Blut dar-
zubringen, spricht der Herr Jahve; sie sollen eingehen in mein
Heiligtum und treten an meinen Tisch, mich zu bedienen, und
sollen meinen Dienst bewahren."
Hieraus ist zweierlei zu lernen. Einmal, dass die systema-
tische Absperrung des Heiligen vor profaner Berührung nicht
von jeher bestand, dass man im salomonischen Tempel sogar
Heiden (Zach. 14, 21), wahrscheinlich Kriegsgefangene, zu den
Hierodulendiensten verwendete, welche nach dem Gesetz die
Leviten hätten verrichten müssen und später auch wirklich ver-
richteten. Freilich hält Ezechiel diese Sitte für einen abscheu-
lichen Misbrauch, man könnte sie also für einen Ungehorsam
ausgeben, den die jerusalemischen Priester gegen ihre eigenen
Forderungen sich zu Schulden kommen Hessen, und würde es
dadurch vermeiden, sie der Unbekanntschaft mit ihrem Gesetz
zu zeihen. Dahingegen schliesst eine zweite Thatsache, die aus
unserer Stelle erhellt, das Vorhandensein des Priestercodex für
Ezechiel und seine Zeit zweifellos aus. An die Stelle der heid-
nischen Tempelsklaven sollen künftig die Leviten treten. Bisher
besassen diese das Priestertum, und zwar nicht zufolge eigen-
mächtiger Anmassung, sondern vermöge ihres guten Rechtes.
Denn es ist keine blosse Zurückweisung in die Schranken ihres
Standes, wenn sie nicht mehr Priester, sondern Tempeldiener
sein sollen, keine Herstellung eines Status quo ante, dessen Be-
fugnisse sie ungesetzlicher Weise überschritten haben, sondern
ausgesprochener Massen eine Degradation, eine Entziehung ihres
Rechtes, welche als eine Strafe erscheint und als verdiente ge-
rechtfertigt werden muss: sie sollen ihre Schuld büssen.
Sie haben ihr Priestertum dadurch verwirkt, dass sie es mis-
braucht haben, um dem Cultus der Höhen vorzustehen, der dem
Propheten als Götzendienst gilt und ihm in tiefster Seele ver-
hasst ist. Natürlich sind diejenigen Leviten von der Strafe aus-
genommen, welche an der legalen Stelle amtiert haben; das sind
die Leviten die Söhne Sadok zu Jerusalem, welche nun
einzig Priester bleiben und über ihre bisherigen Standesgenossen,
mit denen sie Ezechiel noch unter dem selben Gemeinnameu
128 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
zusammenfasst, emporrückeu, indem diese zu ihren Handlangern
und Hierodulen erniedrigt werden.
Es ist eine wunderliche Gerechtigkeit, dass die Priester der
abgeschafften Bamoth dafür bestraft werden, dass sie Priester
der abgeschafften Bamoth gewesen sind, und umgekehrt die
Priester des jerusalemischen Tempels dafür belohnt, dass sie
Priester des Tempels gewesen sind: die Schuld jener und das
Verdienst dieser besteht in ihrer Existenz. Mit anderen Worten
hängt Ezechiel bloss der Logik der Thatsachen einen morali-
schen Mantel um. Aus der Abschaffung der volkstümlichen
Heiligtümer in der Provinz zu Gunsten des königlichen von
Jerusalem folgte mit Notwendigkeit die Absetzung der provin-
cialen Priesterschaften zu Gunsten der Söhne Sadok am Tempel
Salomo's. Zwar will der Urheber der Centralisierung, der deu-
teronomische Gesetzgeber, dieser Consequenz vorbeugen, indem
er auch den auswärtigen Leviten das Recht gibt in Jerusalem
zu opfern so. gut wie ihre dort erbgesessenen Brüder; aber es
war nicht möglich in dieser Weise das Schicksal der Priester
von dem ihrer Altäre zu trennen. Die Söhne Sadok Hessen es
sich wohl gefallen, dass in ihrem Tempel alle Opfer sich ver-
einigten, aber dass sie ihr Erbe nun mit der Priesterschaft der
Höhen theilen sollten, leuchtete ihnen nicht ein und es ward nicht
durchgesetzt (2. Reg. 23, 9). Für diese Abweichung vom Gesetz
findet Ezechiel, jerusalemisches Vollblut wie er ist, einen mora-
lischen Ausdruck, der indes die Thatsache nicht motiviert, son-
dern nur umschreibt.
Von der Grundlage des Deuteronomiums aus ist es leicht
möglich, die Verordnung Ezechiels zu verstehen, von der Grund-
lage des Priestercodex aus ist es ganz und gar unmöglich. Was
er als das ursprüngliche Recht der Leviten betrachtet, den
Priesterdienst zu verrichten, betrachtet dieser als eine bodenlose
und höchst bösartige Anmassung, die einmal in der Urzeit der
Rotte Korah den Untergang brachte; was jener als nachträgliche
Entziehung ihres Rechtes, als Degradierung zur Strafe einer
Schuld ansieht, sieht dieser als ihre erbliche Naturbestimmung
an. Der Unterschied zwischen Priester und Levit, den Ezechiel
als eine Neuerung einführt und rechtfertigt, besteht nach dem
Priestercodex seit ewigen Zeiten, was dort als Anfang erscheint,
ist hier seit Mose immer so gewesen, ein Gegebenes, nichts Ge-
Die Priester und Leviten. 129
machtes oder Gewordenes *). Dass nun der Prophet vom priester-
lichen Gesetz, mit dessen Tendenzen er von Herzen überein-
stimmt, nichts weiss, kann nur daher kommen, dass es nicht
vorhanden war. Seine eigenen Verordnungen sind nur als Vor-
stufe desselben zu verstehen.
2. Nöldeke jedoch deutet den Vergleich der Söhne Aha-
rons mit den Söhnen Sadoks zu Gunsten der Priorität des
Priestercodex, der doch noch nicht ganz so exclusiv sei wie
Ezechiel 2 ). Nun ist dies zunächst ein untergeordnetes Moment,
die Hauptsache ist, dass Ezechiel den Unterschied zwischen
Priestern und Leviten erst selber machen muss, der im Priester-
codex ein längst gegebener ist. Dem gegenüber, dass jener
die Sonderung neu einführt, die dieser voraussetzt, ist
der Grad derselben hier und dort vollkommen gleich-
giltig. Ferner aber kann man mit dem selben Rechte wie die
Söhne Aharons im Vergleich zu den Söhnen Sadoks, so auch
die Stiftshütte im Vergleich zum jerusalemischen Tempel für
einen Beweis höheren Alters ausgeben. Jene nämlich sind die
Priester der Stiftshütte, diese die des Tempels ; wie aber faktisch
kein anderer Unterschied zwischen dem mosaischen und dem
wirklichen Centralheiligtum besteht, als der zwischen Körper
und Schatten, so auch kein anderer zwischen der mosaischen
und der wirklichen Centralpriesterschaft. Nur darum ist im
Priestercodex der altersgraue Name an die Stelle des geschicht-
lichen gesetzt, um den Schein der mosaischen Zeit aufrecht zu
erhalten: soll diese Verschleierung ein Zeichen seines früheren
Ursprungs sein, so ist es wohl auch ähnlich zu beurteilen, dass
in ihm Herkunft und Wesen der Leviten gänzlich unklar ist,
während man es bei Ezechiel mit Händen greift, dass sie die
ausser Dienst gestellten Priester der abgeschafften Bamoth sind,
die notgedrungen sich unter die vornehmen Standesgenossen zu
Jerusalem haben unterordnen müssen. In Wahrheit ist es
l ) „Wenn die Leviten kraft ihrer Geburt unmöglich Priester werden konn-
ten, so würde es mehr als sonderbar sein, ihnen das Priestertum zu ent-
ziehen auf Grund ihrer Übertretungen — ebenso sonderbar als wenn je-
mand Bürgern als Strafe androht, sie sollten künftig in einer Versamm-
lung von Edelleuten nicht mehr Sitz und Stimme haben." Kuenen, Theol.
Tijdschr. III 463.
a ) Jahrbb. für Prot. Th. 1875 S. 351: „Dass er die Aaroniden allein als
wahre Priester betrachtet, hat sein Gegenbild im Ezechiel, welcher noch
viel exclusiver bloss "die Söhne Sadok's als Priester anerkennt."
Well li a u scn, l'rolegomv.na. 9
130 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
gerade umgekehrt ein Beweis der nachexilischen Abfassung des
Priestercodex, dass er die Priester des Centralheiligtums — das
sind auch nach dem traditionellen Verständnis (2. Chr. 13, 10),
direct oder indirect, die jerusalemischen — zu Söhnen Aharons
macht. Er führt dadurch ihren Ursprung hinauf bis zur Stif-
tung der Theokratie und lässt sie als die legitimen seit je er-
scheinen. Diese Meinung nun konnte vor dem Exil nicht ge-
wagt werden. Denn damals war es zu wohl bekannt, dass das
Priestertum des jerusalemischen Geschlechts sich nicht über die
Zeit Davids verfolgen Hess, sondern erst von Sadok datierte,
der unter Salomo die erbberechtigte Familie Eli aus der Stel-
lung verdrängte, welche dieselbe schon seit lange, erst zu Silo
und zu Nob, und dann zu Jerusalem an dem jeweils hervor-
ragendsten Heiligtume Israels eingenommen hatte.
In einer deuteronomisch gefärbten Stelle, die nicht lange
vor dem Exil geschrieben sein kann, heisst es in einer Weis-
sagung an Eli über den Sturz seines Hauses durch Sadok: „Ich
habe zwar gesagt, spricht Jahve der Gott Israels, dein und
deines Vaters Haus sollen vor mir w r andeln in Ewigkeit, aber
jetzt sage ich: das sei ferne von mir, denn die mich ehren, die
ehre ich, und meine Verächter werden zu schänden — siehe es
kommen Tage, da zerschmettere ich deinen und deines Ge-
schlechtes Arm, und erwecke mir einen verlässigen Priester, der
nach meinem Herzen handelt, und baue ihm ein verlässiges Haus,
dass er vor meinem Könige wandeln soll immerdar" (1. Sam. 2,
27 — 36). Also ist Eli's Haus und Vatershaus das in Ägypten er-
wählte rechtmässige Priestergeschlecht; gegen das Erbrecht und
gegen die Verheissung ewigen Bestandes wird es abgesetzt, weil
die Gerechtigkeit vorgeht. Der an die Stelle tretende ver lässige
Priester ist Sadok, nicht bloss weil es 1. Reg. 2,27 ausdrück-
lich gesagt wird, sondern auch weil kein anderer als er das
verlässige Haus gehabt hat und als Ahn und Inhaber des-
selben vor den jüdischen Königen gewandelt ist alle Zeit. Dieser
Sadok also gehört weder dem Hause noch dem Vatershause Eli's
an, sein Priestertum reicht nicht bis in die Stiftungszeit der Theo-
kratie und ist kein im eigentlichen Sinne legitimes; er hat es
vielmehr erlangt durch den Bruch des gewissermassen ver-
fassungsmässigen Privilegs, für das kein weiterer Erbe existierte
als Eli's Familie und Geschlecht. Man sieht, er gilt nicht als
Die Priester und Leviten. 131
Mittelglied der Linie Aharons, sondern als der Anfänger einer
absolut neuen Linie; die jerusalemischen Priester, deren Ahnherr
er ist, sind Emporkömmlinge aus dem Anfange der königlichen
Zeit, mit denen das alte mosaische Sacerdotium nicht fortgesetzt
wird, sondern abbricht, Wenn dieselben nun im Priestercodex
Söhne Ah arons heissen, mindestens unter den Söhnen Aharons
mit einbegriffen sind, denen sie in Wahrheit nur entgegengesetzt
werden können, so ist das ein sicheres Merkmal, dass die Fäden
der Tradition aus der vorexilischen Zeit hier vollkommen ab-
gerissen sind, was in Ezechiels Tagen noch nicht der Fall war ! ).
Das hiemit dargestellte Verhältnis der priesterlichen Gesetz-
gebung zu Ezechiel gibt nun Ziel und Richtung für die folgende
Darstellung an, in welcher der Versuch gemacht wird, die ein-
zelne Erscheinung in ihren allgemeinen Zusammenhang zu stellen.
IL
1. Die Absonderung eines ganzen geistlichen Stammes aus
dem übrigen Volk und der schroffe Rangunterschied innerhalb
der Klassen desselben setzen einen sehr systematischen Gegen-
satz von Heilig und Profan und einen gewaltigen Apparat des
Cultus voraus. In der That sind, nach der Darstellung des Prie-
stercodex, die Israeliten von Anfang an als Hierokratie organisiert
gewesen, mit dem Klerus als Skelett, dem Hohenpriester als
Haupt und der Stiftshütte als Herz. Aber so plötzlich wie diese
Hierokratie ausgebildet vom Himmel in die Wüste herabgefahren
ist, so plötzlich ist sie im Lande Kanaan spurlos wieder ver-
schwunden. Wie weggeblasen sind, in der Zeit der Richter,
Priester und Leviten mitsamt der „Gemeinde der Kinder Israel",
welche sich um jene schart; kaum ein Volk Israel gibt's, nur
einzelne Stämme, die sich nicht einmal zu den dringendsten Not-
sachen vereinigen, geschweige denn auf gemeinsame Kosten ein
nach Tausenden zählendes Cultuspersonal mit Weib und Kind
unterhalten. Statt der Kirchengeschichte des Hexateuchs setzt
mit einem mal im Buch der Richter die Weltgeschichte ein, der
l ) In der Chronik wird, um des Pentateuehes willen, durch künstliche Gene-
alogien nachgewiesen, wie sich die Söhne Sadoks in ununterbrochener
Folge von Aharon und Eleazar ableiten. Vgl. meine Pharis. und Sadd.
S. 48 f. Die Sache ist zuerst entdeckt von Vatke S. 344 f., sodann von
Kuenen, Theol. Tijdschr. III S. 463—509, zuletzt von mir, Text der Bb.
Sam. S. 48—51.
9*
132 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
geistliche Charakter ist völlig abgestreift. Der Hohepriester, nach
der Absicht des Priestercodex die centrale Obrigkeit von Gottes
Gnaden, mag sehen wo er bleibt, denn die wirklich eingreifenden
Volkshäupter sind die Richter, Leute von ganz anderem Schlage,
nicht gestützt auf ein Amt, sondern auf ihre Person und das Be-
dürfnis der Umstände, selten über die Grenzen ihres Stammes
hinaus von Einfluss. Und offenbar sehen wir hier nicht die
traurigen Reste einer einst unter Mose und Josua vorhandenen,
dann aber total zerfallenen kirchlich -politischen Ordnung, son-
dern die ersten naturwüchsigen Anfänge staatlicher Autorität,
die sich weiter und weiter entwickelnd schliesslich zum König-
tum geführt haben.
Im Kern des Richterbuches Jud. 3—16 kommt nirgends
eine Person vor, die den Cultus als Profession betreibt. Zwei-
mal wird ein Opfer dargebracht, von Gideon und Manoah; ein
Priester gilt dabei nicht für nötig. In einer Glosse zu 1. Sam.
6, 13 f. macht sich die Divergenz der späteren Sitte Luft. Als
die Lade Jahve's auf einem Kuhwagen aus ihrem philisthäischen
Exil zurückkehrte, blieb sie in der Feldmark von Bethsemes bei
dem grossen Steine stehen ; die Bethsemesiten aber, die eben bei
der Weizenernte waren, spalteten das Holz des Wagens und ver-
brannten die Kühe auf dem Stein. Nachdem sie nun fertig sind, ;
kommen v. 15 die Leviten im Plusquamperfectum, und thun als ,. j:
ob nichts geschehen wäre, heben die Lade von dem gar nicht"
mehr vorhandenen Wagen und setzen sie auf den Stein, auf /5fl
dem bereits das Opfer brennt: natürlich nur um das Gesetz zu er-
füllen, dessen Anforderungen die ursprüngliche Erzählung ignoriert.
Ehe nicht der Cultus einigermassen centralisiert ist, haben die
Priester keinen Boden. Denn wenn jeder für sich und sein Haus
opfert, an einem Altar, den er wo möglich für das augenblick-
liche Bedürfnis improvisiert, wozu braucht's solcher Leute, deren
Geschäft und Begriff es ist, für andere zu opfern? Wenn sie
also in der frühesten Periode der israelitischen G'eschichte so
wenig von sich merken lassen, so hängt das damit zusammen,
dass es noch wenige grosse Heiligtümer gibt. Sobald dagegen
solche auftauchen, finden sich auch die Priester ein. So Eli und
seine Söhne bei dem alten Gotteshause des Stammes Ephraim
zu Silo. Eli nimmt eine sehr angesehene Stellung ein, seine
Söhne werden als übermüthige Menschen geschildert, die nicht
Die Priester und Leviten. 133
direct, sondern durch einen Diener mit den Opfernden verkehren
und ihren Pflichten gegen Jahve mit vornehmer Lässigkeit nach-
kommen. Das Amt ist erblich, die Priesterschaft schon recht
zahlreich. Wenigstens zur Zeit Sauls, nachdem sie von Silo,
wegen der Zerstörung des dortigen Tempels durch die Philister,
nach Nob tibergesiedelt war, zählte sie über fünfundachtzig Män-
ner, die indessen nicht gerade lauter Blutsverwandte Eli's ge-
wesen zu sein brauchen, wenn sie sich auch zu dessen Geschlechte
rechneten 1. Sam. 22, ll 1 ). Noch ein anderes Heiligtum wird
gegen Ausgang der Richterperiode erwähnt, das zu Dan an den
Quellen des Jordans. Ein reicher Ephraimit, Micha, hatte dem
Jahve ein silberüberzogenes Bild gestiftet uud dasselbe in einem
ihm gehörigen Gotteshause aufgerichtet. Zunächst stellte er einen
seiner Söhne dabei als Priester an, darauf den Jonathan ben
Gerson ben Mose, einen heimatlosen Leviten von Bethlehem
Juda, den er sich glücklich schätzte gegen ein Jahrgeld von
zehn Silberlingen nebst Kleidung und Unterhalt festzuhalten.
Als jedoch die Daniten durch die Philister gedrängt aus ihren
alten Sitzen aufbrachen, um sich im Norden an den Abhängen
des Antilibanus eine neue Heimat zu gründen, raubten sie unter-
wegs das Gottesbild und den Priester Mieha's; veranlasst durch
ihre Kundschafter, welche vordem bei Micha geherbergt und
dort ein Orakel eingeholt hatten. So kam Jonathan nach Dan
und ward der Begründer des Geschlechtes, welches bei dieser
späterhin so wichtigen Cultusstätte bis zur Fortführung der Da-
niten in die assyrische Gefangenschaft das Priestertum inne hatte
(Jud. 17. 18). Seine Stellung erscheint sehr verschieden von der
des Eli. Nur darin herrscht Gleichheit, dass sie beide Erbpriester,
s. g. Leviten sind und sich vom Geschlechte Mose's ableiten:
darüber wird unten des näheren zu reden sein. Während aber
Eli ein vornehmer Mann ist, vielleicht der Besitzer des Heilig-
tums, jedenfalls ganz unabhängig und das Haupt eines grossen
Hauses, ist Jonathan ein einsamer fahrender Levit, der bei dem
Eigentümer eines Gotteshauses gegen Kost und Lohn in Dienst
tritt, von diesem seinem Brotherrn zwar wie ein Sohn gehalten,
*) Freilich ist 1. Sam. If. nur immer von Eli und seinen zwei Söhnen und
von einem Knecht die Rede; und noch David und Salomo scheinen an
dem Haupttempel nur einen oder zwei Priester gehabt zu haben. Sollte
Doeg 85 Männer alleine haben hinrichten können ?
134 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
von den Daniten aber keineswegs mit sonderlicher Hochachtung
behandelt wird.
Der letztere Fall stellt vermutlich eher die Kegel dar als
der erste. Ein selbständiges und angesehenes Priestertum konnte
sich nur an grösseren und öffentlichen Cultusstätten ausbilden,
die zu Silo scheint aber die einzige dieser Art gewesen zu sein.
Die übrigen Gotteshäuser, von denen wir aus der Übergangsperiode
zur Königszeit hören, sind nicht bedeutend und befinden sich im
Privatbesitz, entsprechen also dem des Micha auf dem Gebirge
Ephraim. Das zu Ophra gehört dem Gideon und das zu Kiriath-
jearim dem Abinadab. Namentlich scheint es, dass Micha, indem
er für Geld einen Diener des Heiligtums anstellt, einer allge-
meineren Sitte gefolgt ist. Denn der Ausdruck 1T tihft, welcher
als technischer Terminus auch später für die Ordination der
Priester beibehalten worden ist als diese längst ganz unabhängig
ausgestattet waren, kann ursprünglich in dieser Anwendung nichts
anderes als ein Füllen der Hand mit Geld oder Gut bedeutet
haben; das Priesteramt wird also in älterer Zeit ein bezahltes,
vielleicht das einzige bezahlte gewesen sein. Wen er anstellen
will, steht im Belieben des Eigentümers; hat er sonst niemand,
so beauftragt er einen seiner Söhne (Jud. 17, 5. 1. Sam. 7, 1): von
einem character indelebilis ist dabei natürlich nicht die Rede,
wie man aus dem ersteren Beispiel ersehen kann, wo Micha's
Sohn nach kurzer Frist vom Dienst zurücktritt. David, als er
die Lade überführte, vertraute sie zunächst dem Hause Obed-
edoms an und machte diesen seinen Hauptmann, einen Philister
aus Gath, zu ihrem Wächter. Ein Berufspriester, ein Levit, ist
nach Jud. 17, 13 für ein gewöhnliches Heiligtum eine grosse
Seltenheit. Auch zu Silo, wo übrigens die Verhältnisse ausser-
ordentlich sind, ist das Privilegium der Söhne Eli's nicht exclusiv;
Samuel, der nicht zur Familie gehörte, wird doch zum Priester
angenommen. Der Dienst, wozu man einen ständigen Beamten
nötig hatte, war nicht das Opfern; das geschah nicht so regel-
mässig, dass man es nicht auch selber hätte besorgen können.
Für einen einfachen Altar bedarf es keines Priesters, sondern
nur für ein Haus, worin ein Gottesbild befindlich ist 1 ); dieses
*) Dv6fc* n^D Grotteshaus ist nie etwas anderes als das Haus eines Bil-
des. Ephod ist ausserhalb des Priestercodex das Gottesbild, Ephod Bad
das Priesterkleid.
Die Priester und Leviten. 135
muss bewacht und bedient werden (1. Sam. 7, 1) — ein Ephod
wie das Gideons oder Micha's (Jud. 8, 26 f. 17, 4) war in der That
sehr stehlenswert und die Gotteshäuser lagen gewöhnlich frei
(Exod. 33, 7). Noch in späterer Zeit sind von daher die Aus-
drücke 1Dt£> und mt£> für den heiligen Dienst beibehalten worden,
und während jedermann zu opfern versteht, ist die Kunst, mit
dem Ephod umzugehen und ihm Orakel zu entlocken, von jeher
nur das Geheimnis des Priesters. Ausnahmsweise ist bisweilen
der Wärter nicht der Priester selber, sondern sein Lehrling, der
die Anwartschaft hat. So hat Mose den Josua als seinen Aedituus *)
neben sich (Exod. 33, 11), der nicht aus dem Zelte Jahve's weicht,
so ferner Eli den Samuel, der Nachts im Inneren des Tempels
bei der Bundeslade schläft: wenn auch die Jugendgeschichte
Samuels den wirklichen Verhältnissen zu Silo vielleicht nicht
ganz gerecht wird, so reicht sie doch jedenfalls zur Bezeugung
anderweit vorhandener Sitte vollkommen aus. Man vergleiche
mit diesen einfachen Zuständen, dass im Priestercodex den Söhnen
Aharons etwa die Hälfte von 22000 Leviten als Wächter und
Diener des Heiligtums zur Seite stehen.
Schlachten und opfern darf jedermann (1. Sam. 14, 34f.), und
auch da wo Priester vorhanden sind, ist von systematischer Ab-
sonderung des Heiligen und von einer Scheu es zu berühren
nichts zu spüren. Wenn David „in das Haus Gottes eingeht
und die Schaubrote isst, welche nur die Priester essen dürfen,
und auch seinen Leuten davon gibt" (Marc. 2, 26), so gilt dies
1. Sam. 21 in dem Falle gar nicht für unerlaubt, dass die Essen-
den geheiligt sind, d. h. sich Tags zuvor von Weibern enthalten
haben. Verfolgte Flüchtlinge erfassen das Hörn des Altars, ohne
dass dies als Profanierung desselben gilt. Ein Weib, wie die
Hanna, tritt vor Jahve, d. h. vor den Altar, um zu beten; die
von der Sept. gegebenen Worte " ^%b D^Jini (1. Sam. 1, 9) sind
für den Zusammenhang notwendig und vom masorethischen Text
als anstössig ausgelassen. Sie wird dabei von dem Priester
beobachtet, der wie er pflegt gemütlich in der Tempelttir auf
seinem Stuhle sitzt. Namentlich die Geschichte der Lade, wie
Vatke mit Recht bemerkt S. 317. 332, bietet mehrfache Beläge
dafür, dass der Begriff der Unnahbarkeit des Heiligen unbekannt
war; ich will nur den auffallendsten hervorheben. Samuel der
l ) nWft mt^E, genauer JHDH tWß ^Ö n« " HN "D 1. Sam. 2, 11.
136 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
Ephraimit schläft von Amts wegen jede Nacht bei der Lade
Jahve's, wohin nach Lev. 16 nur einmal im Jahr der Hohepriester
eingehen darf und auch er nicht anders als nach der strengsten
Vorbereitung und unter den ceremoniösesten Sühngebräuchen.
Der Widerspruch der Empfindungsweise ist so gross, dass
ihn noch niemand sich klar zu machen gewagt hat.
2. Mit der beginnenden Königszeit treten alsbald auch die
Priester, im Anschluss an die Könige, stärker hervor; die Stei-
gerung der Centralisation und der Öffentlichkeit des Lebens
macht sich auch auf dem Gebiete des Cultus bemerklich. Im
Anfange der Regierung Sauls finden wir die angesehene ephra-
imitische Priesterschaft, das Haus Eli's, nicht mehr in Silo, son-
dern zu Nob, in der Nähe des Königs, und gewissermassen im
Bunde mit ihm; denn ihr Haupt, der Priester Ahia, ist gleich
bei der ersten Schilderhebung gegen die Philister in seiner
nächsten Umgebung, teilt mit ihm die Gefahr und befragt für
ihn das Ephod. Hinterher trübte sich das Einvernehmen, Ahia
u$d seine Brüder fielen der Eifersucht des Königs zum Opfer
und damit ward dem einzigen Ansatz eines selbständigen Priester-
tums von Bedeutung, welcher sich in der alten israelitischen
Geschichte findet, für immer ein Ende gemacht. Abiathar, der
allein dem Blutbad von Nob (1. Sam. 22) entkam, floh mit dem
Ephod zu David, er gelangte zum Dank dafür später zu hohen
Ehren, aber alles was er geworden ist, ward er als Diener
Davids. Unter David begann das königliche Priestertum sich
zu der Bedeutung zu entwickeln, die es fortab behalten hat.
Er verfügte mit voller Freiheit wie über das Heiligtum der Lade,
welches in seiner Burg stand, so über die Einsetzung der Priester,
welche lediglich seine Beauftragten waren. Neben Abiathar
stellte er den Sadok (später noch den Ira) neu an, ausserdem
auch einzelne seiner Söhne. Denn wenn es 2. Sam. 8, 18 heisst
die Söhne Davids waren Priester, so dürfen diese Worte
nicht dem Pentateuch zu liebe anders gedreht werden als wie
sie lauten. Auch den Sohn des Propheten Nathan treffen wir
1. Beg. 4,5 als Priester, umgekehrt dagegen den des Sadok in
einem hohen weltlichen Amte (v. 2); die spätere Grenze zwischen
heiligen und nichtheiligen Personen existierte eben noch nicht.
Was unter David der Institution des königlichen Cultus und der
königlichen Priester noch fehlte, ein fester Mittelpunkt, kam
Die Priester und Leviten. 137
durch den Tempelbau seines Nachfolgers hinzu. Zu Anfang der
Regierung Salomo's gab es noch keine, grösseren Bedürfnissen
genügende, israelitische Opferstätte; er war gezwungen, seinen
Antritt auf der grossen Bama zu Gibeon zu feiern, einer damals
noch ganz kanaanitischen wenn auch schon länger unterworfenen
Stadt in der Nähe Jerusalems. Jetzt sorgte er dafür, dass seine
ungeheuren Feste auch in seinem eigenen Heiligtum gefeiert
werden konnten. Er machte daran den Sadok zum Priester,
nachdem er bereits früher den greisen Abiathar, der aus vor-
nehmem und echtem Priesterblute entsprossen war, wegen seiner
Parteinahme für den rechtmässigen Thronfolger abgesetzt und
auf sein Landgut nach Anathoth, einem Dorfe bei der Haupt-
stadt, verbannt hatte, damit das 1. Sam. 2 angedrohte Geschick
der einst so stolzen und mächtigen Familie Eli's erfüllend. Dem
Geschlechte Sadoks werden sich allmählich andere Priester an-
geschlossen haben, die sich späterhin ebenso seine Söhne nannten,
wie die Rechabiten den Jonathan ben Rechab oder die Pro-
phetenkinder den oder jenen grossen Propheten als ihren Vater
Wenn diese ersten Könige, ganz ebenso wie es in dem
classischen Beispiel Jud. 17. 18 Micha thut, ihre Heiligtümer als
ihr Privateigentum betrachten und in der Ein- und Absetzung
der Beamten daran ganz umumschränkt verfahren, so scheuen
sie sich natürlich auch nicht, selber die Rechte auszuüben, die
von ihnen emanierten und auf andere übertragen wurden. Von
Saul, der freilich noch Alles selber und wenig durch Andere
that, wird mehrfach gemeldet, dass er in eigener Person geopfert
habe; und es ist deutlich, dass ihm das in 1. Sam. 14 und
Kap. 15 nicht zum Vorwurf gemacht wird. David opferte; als er
die Lade glücklich nach Jerusalem heraufgeholt hatte; dass er
dabei selbst fungierte, geht daraus hervor, dass er den linnenen
Priesterrock trug, das Ephod Bad, und dass er nach vollbrachtem
Opfer den Segen sprach (2. Sam. 6, 14. 18). Nicht minder voll-
zog Salomo selber die Einweihung des Tempels, er trat vor den
Altar und betete dort auf den Knieen mit ausgestreckten Armen,
dann erhub er sich und segnete das Volk (1. Reg. 8, 22. 54. 55),
ohne Zweifel wird er auch eigenhändig das erste Opfer darge-
bracht haben. Nur zur Befragung des Orakels vor dem Ephod
ist die Technik des Priesters nötig (1. Sam. 14, 18).
138 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
3. Die Geschichte des Priestertums nach der Teilung des
Reichs ist die Fortsetzung dieser Anfänge. Jerobeam I., der Be-
gründer des israelitischen Reichs, gilt dem Geschichtsschreiber
auch als der Begründer des israelitischen Cultuswesens, sofern
dieses sich von dem judäischen Ideal unterschied; „er machte
die beiden goldenen Kälber und stellte sie auf zu Bethel und
zu Dan, er machte die Bamothhäuser und stellte Priester mitten
aus dem Volke an, die nicht zu den Söhnen Levi's gehörten und
feierte Fest im achten Monat und stieg auf den Altar um zu
räuchern" (1. Reg. 12, 28ff. 13,33). Hier wird zwar in der be-
kannten Weise der frommen Pragmatik dem deuteronomischen
Gesetze, das erst dreihundert Jahre später in Geltung kam, rück-
wirkende Kraft verliehen und also nach einem historisch unzu-
lässigen Massstabe geurteilt; auch werden die dem Urteil zu
Grunde liegenden Fakta einesteils zu sehr verallgemeinert, an-
dernteils zu ausschliesslich dem Jerobeam zur Last gelegt. Der
erste König trägt die Cultus-Stinden aller seiner Nachfolger und
des ganzen Volks. Aber die Anerkennung des souveränen Prie-
stertums des Herrschers, des bestimmenden Einflusses, den er auf
den Cultus ausgeübt hat, ist richtig. Die bedeutendsten Tempel
waren königlich und königlich auch die Priesterschaft daran
(Arnos 7, 10ff.). Als darum Jehu das Haus Ahabs stürzte, da er-
würgte er nicht bloss alle seine Angehörigen, sondern mit seinen
Beamten und Höflingen auch seine Priester; das sind ebenfalls
königliche Diener und Vertrauenspersonen (2. Reg. 10, 11. vgl.
1. Reg. 4, 5). Die Angabe, dass dieselben nach Belieben von dem
Könige ausgewählt wurden, wird dahin zu verstehen sein, dass
sie, wie in der Zeit Davids und Salomo's, so auch später beliebig
ausgewählt werden konnten und durften ; denn thatsächlich blieb
wenigstens in Dan das heilige Amt seit der Richterzeit bis zur
assyrischen Gefangenschaft in der Familie Jonathans erblich.
Ausserdem hat man sich gewiss nicht vorzustellen, dass sämmt-
liche Bamothhäuser und sämmtliche Priesterstellen 1 ) königlich
gewesen seien; so tief konnte die Regierurig unmöglich in diese
Angelegenheiten eingreifen. Öffentlich waren in dieser Periode
*) Der Parallelismus von Bamothhäusern und Priesteranstellung 1. Reg. 12, 31
scheint nicht zufällig zu sein. Während eine Bama ein einfacher Altar
sein kann, setzt ein Bamothhaus ein Gottesbild voraus und macht einen
aedituus notwendig.
Die Priester imrl Leviten, 139
wohl die meisten Heiligtümer, aber darum noch nicht königlich,
und so gab es ohne Zweifel auch zahlreiche Priester, die nicht
königliche Diener waren. Dem Übergewicht des officiellen Cultus
und des officiellen Cultuspersonals stand gerade im Nordreich
der häufige Wechsel der Dynastien und der ungebundene Parti-
cularismus der Stämme gegenüber; die Verhältnisse werden sich
sehr bunt und individuell gestaltet, erbliche und nichterbliche,
unabhängig ausgestattete und arme Priester neben einander be-
standen haben; die Verschiedenartigkeit und das gleiche Recht
der Verschiedenartigen ist die Signatur der Zeit.
Im allgemeinen aber hat sich die Priesterschaft gegen
früher entschieden consolidiert und wie an Zahl so auch an
Einfluss nicht wenig zugenommen; sie ist eine wichtige Macht
im öffentlichen Leben geworden, ohne welche sich das Volk
nicht mehr denken lässt. Auf Grund der kurzen und unzu-
länglichen Notizen des Königsbuchs, welches vorzugsweise das
ausserordentliche Eingreifen der Propheten in den Gang der
israelitischen Geschichte hervorhebt, wäre es vielleicht etwas
kühn dies zu behaupten, aber andere und authentischere Zeug-
nisse berechtigen dazu. Zuerst der Segen Mosis, ein unabhängig
für sich stehendes, nordisraelitisches Dokument. Darin wird ge-
sagt: „Deine Urim und Thummim gehören dem Manne deiner
Freundschaft, den du erprobt hast zu Massa, für ihn gestritten
an den Wassern von Meriba; der spricht von Vater und Mutter:
ich habe sie nie gesehen, und seine Brüder nicht kennt und um
seine Kinder sich nicht kümmert — denn sie bewahren dein
Wort und dein Gesetz behüten sie, sie lehren Jakob deine
Rechte und Israel deine Weisungen, sie bringen Fettduft in deine
Nase und Vollopfer auf deinen Altar; segne, Jahve, seinen
Wohlstand und lass dir seiner Hände Werk gefallen, zer-
schmettre seinen Gegnern die Lenden und seinen Hassern dass
sie sich nicht erheben 4 ' (Deut. 33, 8 — 11). Die Priester erscheinen
hier als ein festgeschlossener Stand, so sehr, dass sie nur aus-
nahmsweise als Plural auftreten, meist aber zu einem singu-
larischen Collectivum zusammengefasst werden, zu einer orga-
nischen Einheit, die nicht bloss die gleichzeitigen, sondern auch
die ascendierenden Glieder umfasst und ihr Leben mit Mose,
dem Freunde Jahve's, beginnt, welcher als Anfang ebenso mit
der Fortsetzung zusammenfällt, wie der Mann mit dem Kinde
140 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
aus dem er erwachsen ist. Die Geschichte Mose's ist zugleich
die Geschichte der Priester, die Urim und Thummim gehören,
man weiss nicht recht, ob jenem oder diesen, aber das ist das
selbe: jeder Priester, dem die Hut eines Ephod anvertraut war,
befragt vor demselben das heilige Los.* Der erste auf Mose
bezügliche Relativsatz geht ohne Subjects Wechsel über in einen
auf die Priester bezüglichen, darnach fällt der Singular unver-
mittelt in den Plural und der Plural zurück in den Singular.
Jedoch beruht diese so sehr hervortretende Solidarität des Stan-
des keineswegs auf der natürlichen Grundlage der Geschlechts-
oder Familieneinheit; den Priester macht nicht das Blut, sondern
im Gegenteil die Verleugnung des Blutes, wie mit grossem
Nachdruck betont wird. Er muss um Jahve's willen thun, als
habe er nicht Vater und Mutter, Brüder und Kinder. Die blinde
Befangenheit in den Vorstellungen des Judaismus hat bis jetzt
das Verständnis dieser Worte verhindert, sie sind aber durchaus
unmisverständlich. Indem man sich dem Dienste Jahve's widmet,
besagen sie, tritt man heraus aus den natürlichen Verhältnissen
und reisst sich los von den Banden der Familie; es hat also mit
der Brüderschaft der Priester in Nordisrael ganz ähnliche Be-
wandtnis wie mit den ebenfalls dort heimischen religiösen Gil-
den der Prophetensöhne, der Rechabiten und wohl auch der
Naziräer (Arnos 2, llf.). Wer wollte (oder: wen er wollte), den
machte Jerobeam zum Priester, drückt sich der deuteronomische
Bearbeiter des Königsbuch aus (1. Reg. 13, 33). Ein historisches
Beispiel dazu liefert der junge Samuel, wie er in der jedenfalls
auf ephraimitischen Zuständen der Königszeit fussenden Jugend-
geschichte 1. Sam. 1 — 3 erscheint. Aus einer wohlhabenden
bürgerlichen Familie zu Rama in der Landschaft Suph' Ephraim
gebürtig ist er von seiner Mutter schon vor der Geburt dem
Jahve versprochen und dann sobald es irgend möglich dem
Heiligtum zu Silo übergeben, und zwar nicht etwa zum Naziräer
oder Nathinäer im Sinne des Pentateuchs, sondern zum Priester,
denn als m&'D trägt er den linnenen Priesterrock, das Ephod
Bad und sogar das Pallium 1. Sam. 2, 18 1 ). Sehr deutlich er-
hellt dabei, dass es als eine Verzichtleistung auf die Rechte der
*) Vgl. Bochari in der Bulaker unvocalisierten Ausgabe I. 70, 16 f.:
Die Priester und Leviten. 141
Familie betrachtet wird, wenn die Mutter den Knaben, der eigent-
lich ihr gehört, des Gelübdes wegen dem Heiligtum abtritt und
ihn wie sie sich ausdrückt für immer dem Jahve leiht (1. Sam.
1,28 hx)KW = ^NtfiOlD). Dass Samuel von seinen Eltern ge-
widmet wird und sich nicht selber widmet, begründet natürlich
keinen erheblichen Unterschied; das eine steht auf gleicher
Linie mit dem anderen und wird neben dem anderen vorgekom-
men sein, wenngleich seltener. Umgekehrt ist es aber auch
schwerlich die Regel gewesen, dass jemand nicht bloss Eltern
und Brüder, sondern auch Weib und Kinder dahinten Hess, um
der Priesterschaft beizutreten; das wird Deut. 33, 9 nur als extre-
mes Beispiel der Aufopferungsfähigkeit angeführt. Auf keinen
Fall darf man daraus auf gefordertes Cölibat schliessen, sondern
nur darauf, dass das Priestertum häufig kaum den Mann, ge-
schweige denn eine Familie ernährte.
So fest und bedeutend, so selbständig und abgeschlossen
muss in der Entstehungszeit des Segens Mosis der Priesterstand
gewesen sein, dass er eine eigene Stelle neben den Stämmen
des Volks einnimmt, gleichsam selbst ein Stamm, aber nicht
durch das Blut, sondern durch geistige Interessen verbunden.
Seine Bedeutung erhellt auch aus der Opposition, die er findet
und die zu einer so lebhaften Verwünschung seiner Gegner An-
lass gibt, dass man glauben sollte, wer sie niederschrieb, sei
wohl selbst ein Priester gewesen. Worauf die Feindschaft be-
ruht, wird nicht gesagt; es scheint aber als richte sie sich ein-
fach gegen die Existenz eines berufsmässigen und fest organi-
sirten Klerus und gehe von Laien aus, welche die Rechte der
alten priesterlosen Zeit festhalten.
Neben dem Segen Mosis enthalten die Reden Hosea's das
wichtigste Material für die Würdigung des nordisraelitischen
Priestertums. Die grosse Bedeutung desselben für das öffent-
liche Leben geht auch aus seinen Äusserungen hervor. Die
Priester sind die geistigen Leiter des Volkes; der Vorwurf, dass
sie ihren hohen Beruf nicht erfüllen, beweist zunächst, dass sie
ihn haben. Ausgeartet sind sie allerdings, sie erscheinen bei
Hosea in einem ähnlichen Lichte wie die Söhne Eli's nach der
Beschreibung 1. Sam. 2, 12 ff., zu der vermutlich der Verfasser
die Farben aus Verhältnissen entlehnt hat, die ihm näher lagen
als die der Richterzeit. Die Priester von Sichern werden von
142 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
dem Propheten sogar offenen Strassenraubes bezichtigt (6, 9),
und alle mit einander klagt er sie an, dass sie ihr Amt in
schnöder Gewinnsucht ausbeuten, dessen heiligste Pflichten ver-
nachlässigen und auf diese Weise an dem Ruin des Volks die
Hauptschuld tragen. „Hört Jahve's Wort, ihr Kinder Israel,
denn Jahve hat zu hadern mit den Landesinsassen; denn es ist
keine Treue und Liebe und Gotteskenntnis im Lande. 2. Schwö-
ren und lügen und morden und stehlen und ehebrechen,
sie üben Gewalt und reihen Mord an Mord! 3. Darum trauert
das Land und welkt Alles was darin wohnt, bis auf das Wild
des Feldes und die Vögel des Himmels, und auch die Fische
des Meeres werden hingerafft. 4. Doch schelte und tadle nur
niemand, denn das Volk machts wie seine Pfaffen. 5. Darum
werdet ihr (Priester) straucheln jenes Tags und auch die Pro-
pheten mit euch jene Nacht und ich rotte aus eure Sippe.
6. Mein Volk geht unter aus Mangel der Kenntnis, denn ihr selbst
verachtet die Kenntnis, so will auch ich euch verachten, dass
ihr mir nicht Priester sein sollt, ihr habt der Lehre eures
Gottes vergessen, so will auch ich euer vergessen! 7. So viel
sie sind, so sündigen sie gegen mich, ihre Ehre vertauschen sie
gegen Schande; 8. meines Volkes Sünde essen sie und nach
seiner Verschuldung tragen sie Verlangen, 9. so soll es wie dem
Volke auch den Priestern ergehen, ich ahnde an ihnen ihren
Wandel und vergelte ihnen ihre Thaten; 10. sie sollen essen
und nicht satt werden, huren und sich nicht mehren, weil sie
dem Jahve zu dienen abgelassen haben 44 Hos. 4, 1— 10 1 ). Kaum
l ) Im Eingang wird das Volk aufgefordert zu hören, worüber Jahve es an-
klage; die Sünde herrsche derart, dass der völlige Untergang des Landes
nicht ausbleiben könne v. 1 — 3. Mit dem Doch an der Spitze des fol-
genden Verses ändert der Prophet seine Gedankenrichtung, vom Volke
geht er über zu den Priestern: die Wurzel des allgemeinen Verderbens
sei der Mangel der Gotteskenntnis (nämlich: Liebe will ich und nicht
Opfer, vgl. Jerera. 22, 16) und daran seien die Priester schuld, die die
Aufgabe hätten „die Kenntnis" zu verbreiten, statt dessen aber in selbst-
süchtigem Interesse dem Hange des Volkes, durch Opfer statt durch Ge-
rechtigkeit Jahve's Gnade zu erlangen, Vorschub leisten. Wenn nämlich
zugestanden ist, dass von v. 6 an die Priester angeredet werden, so ist
nicht ersichtlich, wartim zwischen v. 5 und v. 6 ein Wechsel in der An-
rede statt finden soll, zumal die Coordination von Priestern und Pro-
pheten berechtigter ist als die von Propheten und Volk v. 5. Da nun
auf diese Weise v. 4 zwischen die Anklage gegen das Volk v. 1—3 und
die Anklage gegen die Priester v. 5 — 10 in die Mitte zu stehen kommt,
so muss darin der Übergang vom Einen zum Andern gemacht werden,
Die Priester und Leviten. 143
geringer scheint hienach auch im Nordreiche der geistige Ein-
fluss der Priester auf das Volk gewesen zu sein, als der der
Propheten, und wenn wir in deh historischen Berichten weniger
davon hören 1 ), so erklärt sich das daraus, dass sie still und
regelmässig in kleinen Kreisen wirkten, unpolitisch und der ge-
gebenen Ordnung unterthan, und dass sie darum nicht so viel
Aufsehen und weniger von sich reden machten, als die Pro-
pheten, die durch ihr ausserordentliches und oppositionelles Ein-
greifen Israel aufregten, wie Elias und Elisa.
4. In Juda war der Ausgangspunkt der Entwickelung der
gleiche wie in Israel. Die Meinung hier hahe sich das echte
mosaische Priestertum von Gottes Gnaden erhalten, dort da-
gegen sich ein schismatisches Priestertum von des Königs und
der Menschen Gnaden eingedrängt, ist die der späteren Judäer,
die das letzte Wort und darum Recht behielten. Die B'ne Sadok
von Jerusalem waren gegenüber den B'ne Eli, die sie ver-
drängten, ursprünglich illegitim — wenn man diesen in jener
Zeit völlig unbekannten Begriff anwenden darf — und hatten
der durch das Doch angezeigt ist. Hosea bricht von dem vorherigen
Schelten gegen das Volk ab : doch schelte und tadle nur niemand;
warum nicht, das müssen die folgenden Worte besagen. Es muss in
v. # ein Umstand genannt werden , der das Volk entschuldigt und zu-
gleich den Zorn auf die Priester ableitet, die im Folgenden daran kom-
men. Der zu erwartende Gedanke ist durch diese Erwägungen ganz not-
wendig bestimmt, nämlich: denn das Volk folgt nur seinen
Priestern. Diesen Sinn trifft die Conjectur THDDD *>Dyi (statt:
ÜPIftDDD}?!) : mein Volk macht's wie seine Pfaffen, vgl. v. 9. Das übrig
bleibende jfi^ wird man streichen müssen. — Die gewöhnliche Auf-
fassung von v. 4 ist kaum der Widerlegung wert. Das HDI^ *?X v * ^
soll im Sinne des Volkes geredet sein. Die Leute verbitten sich Rüge
und Tadel des Propheten, während — so wird dann v. 4 b gedeutet — sie
selbst sich kein Gewissen daraus machen, sogar mit dem Priester zu
hadern. Sogar — denn Mangel an Unterwürfigkeit gegen den Priester
gelte als besonders bösartig. Aber der Prophet Hosea würde es kaum
als Capitalsünde betrachtet haben, wenn auch das Volk den Priestern
die Achtung versagte, die sie "nach seinen Äusserungen so ganz und
gar nicht verdienten. Ausserdem lässt jede Auslegung, die in v. 4 einen
Vorwurf gegen das Volk findet, unklar, wo der Übergang vom Schelten
gegen das Volk zum Schelten gegen die Priester sich vollzieht.
J ) Nach 2. Reg. 17, 27. 28 wurden die von den Assyrern nach dem ent-
völkerten Samarien eingeführten fremden Colonen zuerst von Löwen ge-
fressen, weil sie die richtige Verehrungs weise des Landesgottes nicht
kannten. In Folge dessen sandte Esarhaddon einen der exilierten sama-
risehen Priester hin, der seinen Sitz zu Bethel, dem alten Hauptheiligtum,
aufschlug und die Ansiedler in der Religion des Landesgottes unterwies
(rmo) ^ as se ^ z t einen geschlossenen Priesterstand voraus, der sich
sogar in der Verbannung längere Zeit erhielt.
144 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
ihr Kecbt nicht von den Vätern her, sondern von David und
Salomo. Sie blieben immer in dieser Abhängigkeit, sie wan-
delten, wie es 1. Sam. 2, 35 ausgedrückt wird, vor dem Ge-
salbten Jahve's allezeit, als dessen Diener und Beamte. Den
Königen war der Tempel ein Teil ihres Palastes, der wie
1. Reg. 7 und 2. Reg. 11 lehrt auf dem selben Hügel lag und
unmittelbar daran stiess; sie legten ihre Schwelle neben Jahve's
Schwelle und setzten ihre Pfosten neben die seinigen, so dass
nur die Wand zwischen Jahve und ihnen lag (Ezech. 43, 8). Den
officiellen Cultus gestalteten sie ganz nach ihrem Belieben und
hielten seine Bewirtschaftung, wie es wenigstens nach der Epi-
tome des Königsbuches scheint, für das Hauptgeschäft ihrer Re-
gierung. Sie führten neue Gebräuche ein und schafften alte ab,
die Priester fügten sich .dabei stets ihrem Willen und waren
nur ihre ausführenden Organe '). Dass sie auch opfern durften,
versteht sich, sie thaten es jedoch nur ausnahmsweise, etwa zur
Einweihung eines neuen Altars (2. Reg. 16, 12. 13). Noch für
Jeremia, der im Allgemeinen das Opfern und Nahen zu Jahve
(Num. 16, 5) nicht mehr für jedermanns Sache hält, ist doch der
König als solcher auch der oberste Priester; denn im Anfang
des Exils und der Fremdherrschaft hofft er von der Zukunft:
Israels Fürst wird aus ihm selber stammen und ich will ihn mir
nahen lassen, dass er vor mich trete — wer hätte sonst das
Herz, vor mich zu treten, spricht Jahve (30, 21). Erst Ezechiel
protestiert gegen die Behandlung des Tempels als einer könig-
lichen Dependenz, bei ihm ist die Prärogative des Fürsten dahin
zusammengeschrumpft, dass er den öffentlichen Cultus auf seine
Kosten unterhalten muss.
Der Unterschied zwischen dem judäischen und israelitischen
Priestertum war nicht von Anfang an vorhanden, sondern ent-
stand erst durch den Verlauf der Geschichte. Den äusseren
und inneren Unruhen, dem raschen aufgeregten Treiben im
Nordreich steht das geschützte Stillleben des Kleinstaats im
Süden gegenüber. Dort warf der geschichtliche Strudel ausser-
ordentliche Persönlichkeiten aus der Tiefe hervor, Usurpatoren
und Propheten, hier befestigten sich die Institutionen, die auf
das Bestehende gegründet und von den bestehenden Mächten
l ) Vgl. z. B. 2. Reg. 12, 5 ff. Joas zu Jojada, 16^ 10 ff. Ahaz zu Uria, und zu-
letzt noch Kap. 22 Josia zu Hilkia.
Die Priester und Leviten. 145
abhängig waren 1 ). Am meisten kam natürlich die Stabilität
dem Königtum selber zu gut. Der königliche Cultus, der im
Reiche Samarien nicht im Stande war den volkstümlichen und
unabhängigen zu verdrängen, bekam in dem kleinen Juda schon
früh ein fühlbares Übergewicht; die königliche Priesterschaft,
welche dort gelegentlich in den Sturz der Dynastie verwickelt
wurde, erstarkte hier zur Seite des Hauses David — schon
Aharon und Amminadab waren nach dem Priestercodex ver-
schwägert wie in Wirklichkeit Jojada und Ahazia. Auf diese
Weise ward schon früh der Uniformierung vorgearbeitet, wo-
durch Josia den königlichen Cultus zum alleinigen und officiellen
machte. Als begleitende Folge seiner Massregel ergab sich
natürlich die ausschliessliche Berechtigung der königlichen
Priesterschaft zu Jerusalem. Jedoch war die Erblichkeit auch
bei den übrigen priesterlichen Familien schon so durchgedrungen,
dass ihnen der Übergang zu profanem Berufe nicht zugemutet
wurde. Der deuteronomische Gesetzgeber hatte ihnen das Recht
gegeben, ihr Amt zu Jerusalem fortzusetzen und dort für jeden,
der ihre Dienste in Anspruch nahm, zu fungieren; aber diese
Bestimmung erwies sich, dem Widerstreben der B'ne Sadok
gegenüber, im ganzen als undurchführbar (2. Reg. 23, 9), wenn
auch einzelne fremde Elemente damals Aufnahme in den Tempel-
adel gefunden haben mögen. Die Masse der ausser Dienst ge-
setzten Höhenpriester musste, da sie ihren geistlichen Charakter
schon nicht mehr los werden konnten, sich zur Degradierung
unter ihre jerusalemischen Brüder und zu einer untergeordneten
Teilnahme am Dienste des Heiligtums bequemen, vgl. 1. Sam.
2, 36. So entstand am Ausgange der vorexilischen Geschichte
der Unterschied von Priester und Leviten, den Ezechiel sich
bemüht gesetzlich zu sanctionieren.
III.
1. Mit den erkennbaren Stufen der historischen Entwicke-
lung die Schichten des Pentateuchs in Parallele zu stellen, ge-
lingt hier im Ganzen leicht. In der jehovistischen Gesetzgebung
J ) Die Rekabiten, die im Nordreiche entstanden, erhielten sich in Juda,
und Jeremia weissagte ihnen, es solle ihnen nie fehlen an einem priester-
lichen Haupte aus der Familie des Stifters (35, 19).
Wellhausen, Prolegomena. 10
146 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
(Exod. 20—23. Kap. 34) ist von Priestern nicht die Rede, und
auch solche Gebote wie: du sollst nicht auf Stufen zu jneinem
Altare heraufgehen, damit nicht deine Scham davor sich ent-
blösse (20, 26), werden an das allgemeine Du, d. h. an das Volk,
gerichtet. Dem entspricht, dass bei der feierlichen Bund-
schliessung am Sinai (Exod. 24, 3 — 8) junge Männer aus den Kin-
dern Israel als Opferer fungieren. Anderswo im Jehovisten gel-
ten Aharon (Exod. 4, 14. 32, lff.) und Mose (33, 7—11. Deut. 33,
8) als die Anfänger des Klerus. Zweimal (Exod. 19, 22. 32, 29)
werden noch andere Priester neben ihnen genannt; aber Exod.
32, 29 steht auf dem Boden des Deuteronomiums, und auch
Exod. 19, 22 gehört schwerlich zum ursprünglichen Bestände einer
der jehovistischen Quellen.
2. Im Deuteronomium nehmen die Priester neben dem
Richter und den Propheten eine sehr hervorragende Stellung
ein (16, 18 — 18, 22) und bilden einen in zahlreichen Familien
erblichen Klerus, dessen Privilegium nicht bestritten wird und
darum auch nicht geschützt zu werden braucht. Hier nun tritt
zuerst mit Regelmässigkeit der Name Leviten für die Priester
auf, dessen bisher aufgeschobene Besprechung bei dieser Gele-
genheit nachgeholt werden soll.
In der vorexilischen Literatur ausserhalb des Hexateuchs
findet er sich sehr selten. Bei den Propheten zuerst ein einziges
Mal im Buche Jeremia (33, 17 — 22), in einer Stelle, die jeden-
falls später ist als die chaldäische Eroberung Jerusalems und
gewiss nicht von Jeremia herrührt 1 ). Gesichert ist der Gebrauch
des Namens bei Ezechiel (a. 573), und nun reisst derselbe bei
den späteren Propheten nicht ab, zum Zeichen, dass das frühere
Fehlen nicht als Zufall zu erklären ist, zumal bei Jeremia, der
so häufig von den Priestern spricht 2 ). In den historischen Büchern
kommen Leviten, abgesehen von 1. Sam. 6, 15. 2. Sam. 15, 24
und 1. Reg. 8, 4. 12, 31 3 ), nur vor in den beiden Anhängen zum
') In der Septuaginta fehlt 33, 14 — 26. Auffallend ist der Parallelismus von
v. 17 — 22 mit v. 23—26. Es scheint, als seien David und Levi Misver-
ständnis der beiden Geschlechter von v. 24, nämlich Juda's und Ephraims.
Jedenfalls ist ~\)"]) v. 26 interpoliert.
2 ) Ezech. 40, 46. 43, 19. 44, 10. 15. 45,5. 48,11—13.22.31. Isa. 66,21.
Zach. 12, 13. Mal. 2, 4. 8. 3, 3.
3 ) Über 1. Sam. 6, 15 ist auf S. 145 und über 1. Reg. 8,4 auf S. 32 das
Nötige bemerkt worden. Dass 1. Reg. 12, 31 von dem deuteronomistischen
Die Priester und Leviten. 147
Richterbuche (Kap. 17. 18 und Kap. 19. 20), von denen jedoch
der letztere unhistorisch und spät ist und nur der erstere ohne
Zweifel vorexilisch. Hier aber handelt es sieh nicht wie sonst
um die Leviten, sondern um einen Leviten, der als grosse
Rarität gilt und vom Stamme Dan, der keinen hat, geraubt
wird.
Dieser Jonathan nun, der Ahnherr des Priestergeschlechtes
von Dan, wird, obgleich judäischen Geschlechts, von Gerson dem
Sohne Mose's abgeleitet (Jud. 18, 30). Das andere alte Priester-
geschlecht, das in die Richter zeit hinaufreicht, das ephraimi-
tische von Silo, scheint gleichfalls mit Mose in Verbindung ge-
bracht zu werden; wenigstens wird in der allerdings nach-
deuteronom. Stelle 1. Sam. 2,27, wenn Jahve sich dem Vatershause
Eli's in Ägypten geoffenbart und dadurch zu der Begabung des-
selben mit dem Priestertum den Grund gelegt haben soll, doch
wohl an Mose als den Empfänger der Offenbarung gedacht. Mit
historischer Wahrscheinlichkeit lässt sich die Familie auf Pinehas
zurückführen, der in der frühen Richterzeit Priester der Lade
war und von dem das Erbgut auf dem Gebirge Ephraim und
ebenso der zweite von Eli's Söhnen den Namen hatte: es ist
nicht anzunehmen, dass er nur der Schatten seines jüngeren Na-
mensgenossen sei, weil der letztere noch vor dem Vater starb
und neben demselben keine Bedeutung hatte. Pinehas aber ist
nicht nur im Priestercodex, sondern auch Jos. 24, 33 (E) der Sohn
Eleazars, und dieser ist zwar nach der massgebenden Tradition
ein Sohn Aharons, jedoch in der Aussprache Eliezer neben Gerson
ein Sohn Mose's. Zwischen Aharon und Mose ist im jehovisti-
schen Pentateuch kein grosser Unterschied; wenn Aharon im
Gegensatz zu seinem Bruder als derLevit charakterisiert wird
(Exod. 4, 14), so führt andererseits Mose den priesterlichen Stab,
ist der Herr des Heiligtums und hat dabei den Josua zur Seite
wie Eli den Samuel (Exod. 33, 7 — 11). Er hat offenbar die älteren
Ansprüche; in der jehovistischen Hauptquelle, in J, kommt Aharon
ursprünglich überhaupt nicht vor 2 ), wie auch Deut. 33, 8 nicht an
Bearbeiter herrührt, der nicht vor der zweiten Hälfte des Exils gesehrieben
hat, bedarf keines Beweises. Die totale Corruption von 2. Sam. 15, 24
habe ich im Text der Bücher Samuelis (Göttingen 1871) nachgewiesen.
l ) Am besten lässt es sich in Exod. 7 — 10 nachweisen, dass Aharon in J
nicht ursprünglich, sondern erst durch den Bearbeiter, der J und E zu
10*
148 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
ihn gedacht wird. Noch in den Genealogien des Priestercodex
heisst der eine Hauptast des Stammes Levi Gerson wie der älteste
Sohn Mose's, und ein anderer wichtiger Zweig heisst geradezu
Muschi, der Mosaische. •
Nicht unmöglich, dass wirklich in der Familie Mose's das
heilige Amt sich fortpflanzte, und sehr wahrscheinlich, dass die
beiden ältesten Erbgeschlechter zu Dan und zu Silo im Ernst
den Anspruch machten, von ihm abzustammen. Hinterher ver-
ehrten, wie uns Deut. 33, 8 ff. gelehrt hat, alle Priester in Mose
ihren Vater, nicht als das Haupt ihres Geschlechtes, sondern als
den Begründer ihres Standes. In Juda geschah das selbe, aber
hier bildete sich die Erblichkeit des Klerus heraus, der Stand
verwandelte sich in eine Art Geschlecht. Levit, bis dahin Be-
rufsname, ward nun zugleich Gentile und alle Leviten zusammen
bildeten eine Blutsverwandtschaft ] ), einen Stamm, der zwar kein
eigenes Land, dafür aber das Priestertum zum Erbteil empfangen
hatte. Seit dem Anfange der israelitischen Geschichte sollte
dieser Erbklerus bestanden haben, und zwar schon damals nicht
beschränkt auf Mose und Aharon, sondern gleich als ein zahl-
reiches Geschlecht. So ist die Vorstellung bei den späteren
Schriftstellern, seit dem Deuteronomium; doch wird im letzteren
meist von dem Leviten in den jüdischen Provinzialstädten und
von den Priestern den Leviten in Jerusalem geredet, von
Gesamtlevi nicht häufig (10, 8f. 18, l) 2 ).
Dass man es hier mit Prädatierung einer erst in der späteren
Königszeit entstandenen Erblichkeit zu thun hat, ist bereits nach-
gewiesen, namentlich an dem Beispiele der Söhne Sadok von
JE verband, hineingebracht ist. Der Befehl Jahve's, vor Pharao zu
treten, ergeht nämlich in J immer an Mose allein (7,14. 26. 8, 16. 9, 1.
13. 10,1); nur im weiteren Verlauf erscheint daneben viermal Aharon,
nämlich immer in dem Falle, wenn Pharao in der Not Mose und
Aharon holen lässt, um ihre Fürbitte in Anspruch zu nehmen. Merk-
würdigerweise aber wird hinterher wieder Aharon völlig ignoriert, Mose
antwortet allein, redet nur in seinem, nicht zugleich in Aharon's Namen
(8, 5. 22. 25. 9, 29), und obwohl er selbander gekommen, geht er doch im
Singular wieder fort und bittet im Singular (8, 8. 26. 9, 33. 10,18): der
Wechsel des Numerus in 10, 17 ist unter diesen Umständen verdächtig
genug. Es scheint als ob der jehovistische Bearbeiter gerade bei der
Fürbitte die Assistenz Aharon's für angemessen gehalten habe.
*) Wie leicht der Übergang war, ersieht man aus dem Beispiele der Bne
Rekab.
2 ) Über Deut. 27 vgl. Kuenen, Theol. Tijdschr. 1878 S. 297.
Die Priester und Leviten. 149
Jerusalem, die zuerst Parvenüs und hernach die legitimsten der
legitimen waren. Aber höchst sonderbar ist es, wie diese künst-
liche Bildung eines geistlichen Stammes, die an sich durchaus
nichts rätselhaftes hat, dadurch nahegelegt und begünstigt wurde,
dass es in grauer Vorzeit einmal einen wirklichen Stamm Levi
gegeben hat, der schon vor der Entstehung des Königstums unter-
gegangen ist. Er gehört zu der Gruppe der vier ältesten Söhne
Lea's, Rüben Simeon Levi Juda, die immer in dieser Reihenfolge
zusammen aufgezählt werden und zu beiden Seiten des toten
Meeres sich ansiedelten, gegen die Wüste zu. Merkwürdiger
Weise hat sich von ihnen allen nur Juda zu behaupten gewusst,
die anderen lösten sich unter den Wüstenbewohnern oder unter
ihren Volksgenossen auf. Am frühesten erlitten die beiden
Gen. 49 zu einer Einheit zusammengefassten Stämme Simeon
und Levi dieses Schicksal, in Folge einer Katastrophe, die sie
in der Richterzeit betroffen haben muss. „Simeon und Levi sind
Brüder, Mordwaffen ihre Hirtenstäbe; meine Seele komme nicht
in ihre Gesellschaft, meine Ehre sei fern von ihrer Rotte, denn
im Zorn erwürgten sie Männer und zur Lust zerhieben sie Rin-
dern die Sehnen: verflucht sei ihr Zorn, so heftig, und ihre Wut,
so grausam — ich will sie verteilen in Jakob und zerstreuen über
Israel!" (Gen. 49,5 — 7). Die hier gestrafte Unthat Simeons und
Levi's kann nicht gegen Israeliten gerichtet gewesen sein, denn
in diesem Falle würde der Gedanke gar nicht entstehen können,
der hier mit Nachdruck zurückgewiesen wird, dass Jakob d. i.
Gesamtisrael mit ihnen gemeinsame Sache machen könnte. Es
handelt sich also um einen Frevel gegen die Kanaaniten, höchst
wahrscheinlich um den selben, der in Gen. 34 den beiden Brüdern
zur Last gelegt wird und von dem auch dort (v. 30) Jakob nichts
wissen will, dass sie nämlich trotz eines mit Sichern abge-
schlossenen Friedensvertrages die Stadt treulos überfallen und
ihre Bewohner niedergemacht haben. In Jud. 9 wird erzählt,
dass Sichern, bis dahin eine blühende Stadt der Kanaaniten, mit
denen sich übrigens schon israelitische Elemente zu mischen be-
gannen, von Abimelech erobert und zerstört sei ; damit kann man
jedoch die Zerstörung durch Simeon und Levi auf keine Weise
zusammenbringen, dieselbe muss früher stattgefunden haben,
wenngleich auch in der Richterperiode. Die Folgen ihrer That,
die Rache der Kanaaniten, haben die beiden Stämme allein zu
150 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
tragen gehabt; Israel hat sieh nach der Andeutung Gen. 49, 6
34, 30 nicht bewogen gefühlt für sie einzutreten und gemein-
schaftliche Sache mit ihnen zu machen. So sind sie zersprengt
und haben sich aufgelöst, und damit ist ihnen nach der Meinung
ihres eigenen Volkes ganz recht geschehen. In den geschicht-
lichen Büchern ist von ihnen nie mehr die Rede.
Es ist eine baare Unmöglichkeit, diesen Levi der Genesis,
den Bruder Simeons, als einen blossen Reflex der Kaste anzu-
sehen, welche gegen Ende der Königszeit aus den verschiedenen
Priesterfamilien Juda's zusammengewachsen ist. Der Spruch
Gen. 49, 5 — 7 setzt die beiden Brüder völlig gleich und legt
ihnen einen sehr weltlichen blutdürstigen Charakter bei. Keine
Ahnung von dem heiligen Berufe Levi's und seiner dadurch be-
dingten Zerstreuung, dieselbe ist ein Fluch und kein Segen, eine
Vernichtung und keine Stabilierung seiner Besonderheit. Ebenso
unmöglich aber ist es, die Kaste aus dem Stamme abzuleiten,
es existiert kein realer Zusammenhang zwischen beiden. Es
fehlen alle Mittelglieder, der Stamm ist früh untergegangen und
die Kaste sehr spät entstanden, nachweisbar aus freien Anfängen.
Unter sotanen Umständen ist nun aber die Übereinstimmung des
Namens höchst rätselhaft: Levi der dritte Sohn Jakobs, vielleicht
einfach das Gentile seiner Mutter Lea 1 ), und Levi der Berufs-
priester. Wenn es anginge, den letzteren Sprachgebrauch aus
der appellativischen Bedeutung der Wurzel herzuleiten, natürlich
mit Evidenz, so würde man an Zufall glauben können; aber das
ist nicht möglich. Man ist darum auf den Ausweg verfallen, die
gewaltsame Auflösung des Stammes in der Richterzeit habe die
einzelnen Leviten, die nun kein Land mehr hatten, dazu veran-
lasst, sich ihren Unterhalt durch Verwaltung des Opferdienstes
zu erwerben; dies habe sich ihnen darum nahe gelegt und sei
ihnen deshalb gelungen, weil einst Mose der Mann Gottes zu
ihnen gehört und ihnen ein gewisses Vorzugsrecht auf das hei-
lige Amt vererbt habe. Aber es gab damals keine Menge von
unbesetzten Priesterstellen und ein solcher Massenübergang der ,
Leviten zum Dienste Jahve's in jener alten Zeit ist bei der Selten-
heit grösserer Heiligtümer eine sehr schwierige Annahme. Richtig
*) Vgl. (^J Demin. von ^ (BHish. 534, 14) = ^j&^yti jjÜ\ Agh. X
13, 29. Auch Agh. VII. 101 f. und Wüstenfelds Register S. 273,
Die Priester und Leviten. 151
ist es vielleicht, dass Mose wirklich aus Levi stammt und dass
von ihm aus die spätere Bedeutung des Namens Levit zu er-
klären ist. In der That scheint derselbe zunächst nur auf die
Nachkommen und Verwandten Mose's angewandt und erst später
auf die Priester überhaupt übertragen zu sein, die dem Blute
nach nichts mit ihm zu thun hatten, aber alle mit ihm als ihrem
Haupte in Zusammenhang stehen wollten. Über Vermutungen
wird man hier nie hinauskommen.
3. Während im Deuter onomium der geistliche Stamm des
Leviten (10, 8 f. 18,1. Jos. 13,14. 33) noch bescheiden auftritt,
wird im Priestercodex massiver Ernst damit gemacht"; der
Stamm Levi (Num. 1, 47. 49. 3, 6. 17,3. 18,2) wird von den
übrigen Stämmen dem Heiligtum übergeben, nach dem genea-
logischen System seiner Familien katalogisiert, zählt 22000 männ-
liche Mitglieder und erhält sogar auch eine Art Stammgebiet,
die 48 Levitenstädte (Jos. 21). Einen mit dieser Verbreiterung
des Klerus zusammenhängenden, aber noch viel bedeutenderen
Schritt vorwärts, den der Priestercodex thut, haben wir bereits
am Anfange des Kapitels besprochen: während es sich bisher
immer nur erst um die Scheidung des Klerus von den Laien
handelt, wird hier jene grosse innere Zwieteilung desselben ein-
geführt, in Aharoniden und Leviten. Nicht bloss im Deutero-
nomium, sondern überall im Alten Testament abgesehen von
Ezra Nehemia und Chronik ist Levit der Ehrentitel des Prie-
sters 1 ) — Aharon selber wird in der öfters angeführten Stelle
Exod. 4, 14 so genannt und zwar um dadurch seinen Beruf, nicht
seine Familie zu bezeichnen, denn die letztere hat er mit Mose
gemein, von dem er doch durch das Beiwort dein Bruder der
Levit unterschieden werden soll. Im Deuteronomium aber fällt
es auf, dass mit einer absichtlichen Emphase die gleiche Berechti-
gung aller Leviten zum Opferdienste in Jerusalem statuiert wird:
„die Priester die Leviten, der ganze Stamm Levi, sollen nicht
Teil noch Erbe haben mit Israel, die Opfer Jahve's und sein
Erbteil sollen sie essen — und wenn ein Levit aus irgend einer
Exod. 4, 14. Deut. 33,8. Jud. 17 f. — Exod. 32, 26—28. Deut. 10, 8f. 12,
12. 18f. 14, 27. 29. 16, 11. 14. 17, 9. 18. 18, 1—8. 24, 8. 27, 9. 14. 31, 9.
25. Jos. 3, 3. 13,14.33. 14, 3 f. 18, 7. Jud. 19 f. 1. Sam. 6, 15. I. Reg.
12, 31. Jer. 33, 17—22. Ezeeh. 44, 8 ff. Isa. 66, 21. Zach. 12, 13. Mal. 2,4.
8. 3, 3. — Nur die Glossen 2. Sam. 15,24 und 1. Reg. 8,4 (vgl. jedoch
2. Chron. 5, 5) mögen auf den Priestercodex beruhen.
152 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
Stadt von ganz Israel, wo er wohnt, kommt zu dem Orte, den
Jahve erwählen wird, so darf er im Namen Jahve's seines Gottes
fungieren so gut wie die Leviten, die daselbst vor Jahve stehen"
(18, 1. 6. 7). Der Gesetzgeber hat hiebei seine Hauptmassregel
vor Augen, nämlich die Abschaffung aller Cultusstätten bis auf
den Tempel Salomo's; die bisherigen Priester derselben durften
damit nicht brotlos werden. Darum legt er es auch so oft und
dringend den Provinzialen ans Herz, sie sollten bei ihren Opfer-
wallfahrten nach Jerusalem den Leviten ihres Orts nicht ver-
gessen und ihn mitnehmen. Dies ist nun für das Verständnis
der folgenden Entwickelung insofern sehr wichtig, als man sieht,
wie durch die Centralisierung des Gottesdienstes die nichtjerusa-
lemischen Leviten in ihrer Stellung bedroht waren. Thatsächlich
erwies sich die gute Absicht des Deuteronomikers als undurch-
führbar, mit den Bamoth fielen auch die Priester der Bamoth.
Sofern sie überhaupt noch am heiligen Dienste teilnahmen,
mussten sie sich eine Unterordnung unter die Söhne Sadoks
gefallen lassen (2. Reg. 23, 9). Mit Recht vielleicht hat hierauf
Graf die Weissagung 1. Sam. 2, 36 bezogen, dass dermaleinst zu
dem festgegründeten königlichen Priester die Nachkommen des
gestürzten Hauses Eli kommen würden, ihn um ein Almosen
anzugehen oder zu sagen: füge mich ein in eine der Priester-
schaften um ein Stück Brot zu essen; dass geschichtlich die ab-
gesetzten Leviten mit jenen alten Schicksalsgenossen nicht allzu
nahe zusammenhingen, kann gegen diese Deutung bei einem
nachdeuteronomischen Schriftsteller keine Bedenken erregen. Auf
diesem Wege entstand, als eine gesetzwidrige Folge der Refor-
mation Josia's, der Unterschied von Priestern und Leviten. Für
Ezechiel ist derselbe noch eine Neuerung, die gerechtfertigt und
sanktioniert zu werden bedarf; für den Priestercodex „eine ewige
Satzung", obwohl doch noch nicht so ganz unangefochten, wie
aus seiner Version der Erzählung von der Rotte Korah erhellt 1 ).
Für das Judentum seit Ezra und dadurch für die christliche
Tradition ist auch hier der Priestercodex massgebend geworden.
Statt der deuteronomischen Formel die Priester die Leviten
heisst es fortab die Priester und die Leviten, namentlich in
*) Verfärbte Anklänge an die historische Wahrheit finden sich auch in
Num. 17, 25 und 18, 23, welche Stellen ohne Ezech. 44 nicht zu verstehen
sind. Vgl. Kuenen, Theol. Tijdschr. 1878 S. 138 ff.
Die Priester und Leviten. 153
der Chronik 1 ); und in den Übersetzungen wird der alte Sprach-
gebrauch mehrfach corrigiert 2 ).
Der Schlussstein des heiligen Gebäudes, welches die Gesetz-
gebung des mittleren Pentateuchs aufrichtet, ist der Hohepriester.
x ) Ausgenommen 2. Chr. 5, 5. 30, 27. Über die handschriftliche Bezeugung
dieser und ähnlicher Stellen handelt Curtiss, the Levitical Priests
(Edinb. 1877), angezeigt von Baudissin in Schürer's Theol. Literaturz.
1879 S. 343.
2 ) Z. B. Septuag. Jos. 3,3. Isa. 66,21; Hieron. Deut. 18, 1. Jud. 17, 13; Syr.
an vielen Stellen. Über die Durchführung der neuen Organisation
des Tempelpersonals nach dem Exil vgl. Vatke S. 568, Graf in Merx'
Archiv I S. 225 ff. und Kuenen, Godsdienst II S. 104f. Mit Zerubabei
und Josua kehrten a. 538 vier Priestergeschlechter aus Babylon zurück,
zusammen 4289 Köpfe stark (Esdr. 2, 36 — 39), mit Ezra kamen a. 458
noch zwei Geschlechter hinzu, deren Zahl nicht angegeben wird (8, 2).
Von Leviten zogen das erstemal 74 mit (2, 40), das zweitemal befand sich
unter den 1500 Männern, die sich auf dem von Ezra bestimmten Sammel-
platz eingefunden hatten um die Reise durch die Wüste anzutreten, an-
fangs kein einziger Levit und erst auf dringende Vorstellungen des
Schriftgelehrten wurden endlich noch einige dreissig bewogen, sich anzu-
schliessen (8, 15—20). Wie ist dies Übergewicht der Priester über die
Leviten zu erklären, das auch dann noch auffallend bleibt, wenn man die
Posten nicht für genau vergleichbar hält? Sicherlich nicht auf Grund eines
tausendjährigen Bestehens der Verhältnisse, wie sie im Priestercodex und
in der Chronik erscheinen. Dahingegen verschwindet das Rätselhafte,
wenn die Leviten die degradierten Priester der judäischen Bamoth waren.
Diese waren wohl überhaupt nicht zahlreicher als das jerusalemische Col-
legium, und auf keinen Fall konnte die Aussicht, in der Heimat fortab
nicht mehr opfern, sondern nur schlachten und waschen zu sollen, für
sie sehr verlockend sein; man kann es ihnen nicht verdenken, dass sie
keine Lust hatten, sich freiwillig zu Handlangern der Söhne Sadoks zu
erniedrigen. Ausserdem wird man annehmen dürfen, dass doch auch
manche ursprünglich nicht dazu gehörige (namentlich levitische) Elemente
es damals verstanden sich in die salomonische Priesterschaft einzudrän-
gen; dass es nicht allen gelang (Esdr. 2, 61), beweist, dass es manche
versuchten, und bei der Leichtigkeit, mit der man damals altersgraue
Stammbäume schuf und anerkannte, wird auch nicht jeder Versuch mis-
glückt sein.
Wie ist es denn aber nun zugegangen, dass in der Folgezeit, wie
man aus den Angaben der Chronik schliessen muss, das Verhältnis der
Leviten zu den Priestern der gesetzlichen Proportion wenn auch nicht
ganz, so doch mehr entsprach? Einfach durch LMitisierun^^remder Ge-
schlechter. Zu Anfang wurden~m der Gemeinde des zweiten Tempels™
die Leviten noch unterschieden von den Sängern Thorwächtern und Ne-
thinim (Esdr. 2, 41 — 58), Innungen, die schon von vornherein weit zahl-
reicher waren und schnell wuchsen (Neh. 11,17.19.36. 12, 28f. 1. Chr. 9,
16. 22. 25). Aber der Unterschied hatte in der Gegenwart keine faktische
Basis mehr, nachdem einmal die Leviten auch zu Tempeldienern degra-
diert und zu Nethinim der Priester geworden waren (Num. 3, 9). Wo
daher der Chronist, der zugleich der Verfasser der Bücher Ezra und
Nehemia ist, nicht ältere Quellen wiedergibt, sondern frei schreibt, da
betrachtet er auch die Sänger und die Thorw r ächter als Leviten. Durch
künstliche Genealogieen sind die drei Sängergeschlechter Heman Asaph
und Ethan von den alten levitischen Geschlechtern Kehath Gerson und
154 Geschichte des Cultus, Kap. 4.
Wie über den Leviten die Aharoniden, so erhebt sieh Aharon
selber über seinen Söhnen; in seiner Person gipfelt die uni-
tarische Ausgestaltung des Cultus, wie sie durch das Deutero-
nomium und Josia angebahnt worden ist. Eine Figur von so
unvergleichlicher Bedeutung ist dem übrigen Alten Testamente
fremd, selbst Ezechiel kennt noch keinen Hohenpriester mit
eminenter Heiligkeit. Schon vor dem Exil war allerdings der
Tempeldienst zu Jerusalem so grossartig und das Personal so
zahlreich, dass eine geregelte Amterteilung und abgestufte Rang-
ordnung eine Notwendigkeit war. Zur Zeit Jeremia's bildeten
die Priester eine in Classen oder Geschlechter eingeteilte Ge-
nossenschaft, mit Altesten als Vorstehern; der oberste Priester
hatte in der Anstellung seiner niederen Gollegen einen bedeuten-
den Einfluss (1. Sam. 2, 36) ; neben ihm standen der zweite Prie-
ster, die Schwellenhüter, der Wachtoberst als vornehme Chargen *).
Aber im Gesetz nimmt Aharon keine bloss oberste, sondern eine
einzigartige Stellung ein, wie der römische Pontifex gegenüber
den Bischöfen; seine Söhne fungieren unter seiner Aufsicht (Num.
3,4), der einzige vollberechtigte Priester ist nur er, die Con-
centration des Heiligen in Israel. Er allein trägt die Urim und
Thummim und das Ephod: der Priestercodex weiss zwar nicht
Merari abgeleitet (1. Chron. 6, lff.), wobei mit dem Material nicht gerade
wählerisch verfahren wird, s. Graf a. 0. S. 231, Ewald III S. 380f. In
wie weit der Unterschied der Net hin im gegen die Leviten späterhin
aufrecht erhalten wurde (Jos. 9, 21. 3 Esdr. 1, 3. Esdr. 8, 20), ist nicht klar.
Es wäre nicht übel, wenn die Absicht Ezechiels , die Ausländer aus dem
Tempel zu verbannen, in der Weise erfüllt wäre, dass diese heidnischen
Hierodulen, die Meunäer Nephisäer Salmäer und wie die fremdartigen
Namen Esdr. 2, 43 ff. sonst noch lauten, auf dem beliebten genealogischen
Wege in den Stamm Levi Aufnahme gefunden hätten. Ein eigentüm-
liches Schlaglicht auf die Richtung, in der sich die Dinge entwickelten,
wirft die Thatsache, dass die Sänger, die zur Zeit Ezra's noch nicht ein-,
mal Leviten waren, später sich schämten es zu sein und wenigstens
äusserlich den Priestern gleichgestellt werden wollten. Sie baten den
König Agrippa II, ihnen vom Synedrium die Befugnis zu erwirken, dass
sie das weisse Priestergewand tragen dürften.
*) Der Kohen ha-Rosch findet sich zuerst 2. Sam. 15, 27, aber hier stammt
ttWin ( so statt nNlin) von dem Interpolator des v. 24. Sodann '^/-j
^-tfn 2. Reg. 12, 11, aber 2. Reg. 12 stammt vom Verfasser von 2. Reg.
16, 10 ff. und Kap. 22 f. Sonst einfach der Priester. — Vgl. übrigens
2. Reg. 19, 2. Jer. 19, 1. 2. Reg. 23, 4. 25, 18. Jer. 20, 1. 29, 25. 26. In
1. Sam. 2, 36 muss HjrO Priesterschaft, Priesterorden bedeuten,
wegen ^flÖD gliedre mich ein. Wegen ^ ist es merkwürdig, dass
j-jDD mit n*6 parallel steht Isa. 14, 1.
Die Priester und Leviten. 155
mehr was es mit jenen Losen für eine Bewandtnis hat und er
confundiert das Ephod Zahab mit dem Ephod Bad, das über-
zogene Gottesbild mit dem Priesterüberzug; aber die trüben Re-
miniscenzen dienen dazu, Aharons majestätischen Ornat noch
magischer zu gestalten. Er allein darf ins Allerheiligste ein-
dringen und dort das Räucheropfer bringen ; der sonst unnahbare
Zugang (Neh. 6, 10. 11) steht ihm am grossen Versöhnungstage
offen. Nur in ihm berührt sich Israel unmittelbar, in einem
Punkte und in einem Momente, mit Jahve, die Spitze der Py-
ramide ragt an den Himmel.
Der Hohepriester erscheint auf seinem Gebiete völlig sou-
verän. Bis auf das Exil, haben wir gesehen, war das Heiligtum
Besitz des Königs und der Priester sein Diener; sogar bei
Ezechiel, der im Übrigen auf Emancipation hinarbeitet, hat doch
der Fürst noch eine sehr grosse Bedeutung für den Tempel, an
ihn werden die Abgaben des Volkes entrichtet und er unterhält
dafür den Opferdienst. Dagegen im Priestercodex werden die
Abgaben direct an das Heiligtum entrichtet, der Cultus ist voll-
kommen autonom und gibt sich seine eigene Spitze von Gottes
Gnaden.. Und nicht bloss die Autonomie des Heiligen reprä-
sentiert der Hohepriester, sondern auch die Herrschaft desselben
über Israel. Das Scepter und das Schwert führt er nicht, nir-
gends, wie Vatke S. 539 treffend bemerkt, wird ein Versuch ge-
macht, ihm weltliche Macht zu vindicieren. Aber eben nach seiner
geistlichen Würde, als oberster Priester, ist er das Oberhaupt
der Theokratie, und so sehr, dass ein anderes neben ihm nicht
Platz hat, ein theokratischer König ihm zur Seite nicht denkbar
ist (Num. 27, 21). Er allein ist der verantwortliche Vertreter
der Gesamtheit, die Namen der zwölf Stämme sind ihm auf
Herz und Schultern geschrieben; sein Fehltritt zieht Verschul-
dung des ganzen Volkes nach sich und wird gesühnt- wie der
des ganzen Volkes, während die Fürsten durch ihre Sündopfer
sich ihm gegenüber als Privatleute charakterisieren (Lev. 4, 3.
13. 22. 9, 7. 16, 6). Sein Tod begründet eine Epoche; nicht wenn
der König stirbt, sondern wenn der Hohepriester stirbt, tritt für
den flüchtigen Amnestie ein (Num. 35, 28). Er empfängt bei der
Investitur die Salbung wie ein König und heisst darnach der
gesalbte Priester, er ist mit dem Diadem und dem Kopfbund
(Ezech. 21, 31) geschmückt wie ein König, er trägt wie ein König
156 Geschichte des Cultus, Kap. 4. .
den Purpur, das unpriesterlichste Gewand von der Welt, das
er darum auch ausziehen muss, wenn er ins Allerheiligste ein-
geht .(Lev. 16, 4). Was bedeutet es nun, dass die Spitze des
Cultus — eben als solche und nur als solche, ohne daneben mit
politischen Befugnissen ausgestattet zu sein und in die Regierung
einzugreifen — zugleich die Spitze der Nation ist? Was anders,
als dass die weltliche Herrschaft dieser Nation genommen und
nicht mehr ihre eigene Sache ist, dass sie nur noch eine geist-
liche kirchliche Existenz führt? Vor der Anschauung des Priester-
codex steht Israel in der That nicht als Volk, sondern als Ge-
meinde; weltliche Angelegenheiten liegen derselben fern und wer-
den von dieser Gesetzgebung nie berührt, ihr Leben geht auf im
Dienste des Heiligen. Es ist die Gemeinde des zweiten Tempels,
es ist die jüdische Hierokratie, mit der Fremdherrschaft als
Voraussetzung ihrer Möglichkeit, die uns hier entgegen tritt.
Zwar pflegt man, was man in der geschichtlichen Realität Hie-
rarchie nennt, im Gesetz mit dem idealen d. h. blinden Namen
Theokratie zu bezeichnen: aber wer damit einen Unterschied
der Sache gewonnen zu haben glaubt, der belügt sich selber.
Wer das fertig bringt, dem gelingt es dann auch weiter, die
hierokratische Gemeindeverfassung in die mosaische Zeit zu ver-
setzen, weil sie das Königtum ausschliesst, und dann entweder
die Geheimhaltung derselben während der ganzen Richter- und
Königszeit zu behaupten oder mit dem Hebel der Fiktion die ge-
samte überlieferte Geschichte aus den Angeln zu heben.
Für einen einigermassen mit der Geschichte Vertrauten ist
es nicht nötig nachzuweisen, dass die sogenannte mosaische
Theokratie, die in die Verhältnisse der früheren Zeit nirgends
hinein passt und von der die Propheten, auch in ihren idealsten
Schilderungen des israelitischen Staates wie er sein soll, nicht
die leiseste Spur einer Vorstellung haben, dem nach exilischen
Judentum so zu sagen auf den Leib geschnitten ist und nur da
Wirklichkeit gehabt hat. Damals hatten die fremden Herrscher
den Juden die Sorge für die weltlichen Geschäfte abgenommen,
sie konnten und mussten sich rein den heiligen widmen, in denen
man ihnen volle Freiheit Hess. So ward der Tempel der aus-
schliessliche Mittelpunkt des Lebens und der Tempelfürst das
Haupt des geistlichen Gemeinwesens, dem auch die Verwaltung
der politischen Angelegenheiten, so weit solche etwa noch der
Die Priester und Leviten. 157
Nation überlassen wurden, von selbst zufiel, weil es überhaupt
keine andere Spitze gab *). Der Chronist lässt den zwei mal zwölf
Generationen zu vierzig Jahren, welche man von der Befreiung
aus Ägypten bis zum Tempelbau Salomo's und von da wiederum
bis zur Befreiung aus Babylonien annahm, ebenso viele Hohe-
priester zur Seite gehen; die Amtsdauer dieser Hohenpriester von
denen die Geschichte freilich nichts weiss, ist an die Stelle der
Regierung der Richter und Könige getreten, wonach ehedem ge-
rechnet wurde (1. Chron. 5, 29 ff.). Wie man in dem Ornate Aha-
rons, an dem übrigens die Urim und Thummim fehlten (Neh. 7, 65),
gewissermassen die dem Volke Gottes zum Trost für die ver-
lorene irdische Hoheit gebliebene transcendente Majestät ver-
ehrte, erhellt aus Sirac. 50 und aus mehreren Angaben des Jo-
sephus, z. B. Antiq. 18 4, 3. 20 1, 11. Unter der griechischen
Herrschaft ward der Hohepriester Ethnarch und Präsident des
Synedriums; nur durch das Pontifikat konnten die Hasmonäer
zur Herrschaft gelangen, aber indem sie dasselbe mit der vollen
weltlichen Souveränetät verbanden, schufen sie ein Dilemma, an
dessen Folgen sie untergingen.
Fünftes Kapitel.
Die Ausstattung des Klerus.
Die Macht und Unabhängigkeit des Klerus läuft parallel
mit seiner materiellen Ausstattung, hier wie dort lässt sich daher
die gleiche Entwickelung verfolgen. Ihre Stufen spiegeln sich
schon in der Sprache ab, in der graduellen Abstumpfung des
eigentlichen Sinnes der Formel die Hand füllen, welche zu
allen Zeiten für die Ordination gebraucht worden ist. Ursprüng-
lich kann dieselbe nichts anderes bedeutet haben als die Hand
J ) Sehr interessant und lehrreich ist die von Ewald erwiesene Correktur von
Zachar. 6, 9— 15. Ebenso waren und sind gegenüber den Chalifen und
Sultanen die Patriarchen die naturgemässen Häupter der griechischen und
orientalischen Christen auch in weltlichen Angelegenheiten.
158 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
mit Gelde oder Gute füllen; wir haben gesehen, dass der Prie-
ster einst von dem Besitzer des Heiligtums gegen Lohn angestellt
wurde und nicht unabhängig von einem bestimmten Herrn seine
Existenz auf die Gefälle gründen konnte, die von seinen Opfer-
kunden eingingen. Als nun aber in dem jüdischen Reich der
späteren Zeit das levitische Erbpriestertum aufkam, da füllte
ihnen nicht mehr ein Anderer die Hand, der das Recht hatte sie
ein- und abzusetzen, sondern sie füllten sich auf Gottes Ge-
heiss selber die Hand; oder vielmehr sie hatten das zur Zeit
Mose's ein für alle mal gethan, wie in dem mit dem Deuterono-
mium gleichstehenden Einsätze Exod. 32, 26 — 29 gesagt wird.
Dass dies bei Lichte besehen ein Widersinn ist, sich aber erklärt
aus dem Streben, das Eingreifen des fremden Subjects zu ent-
fernen, liegt auf der Hand 1 ). Hier indessen wird doch noch
immer die Etymologie insoweit empfunden, dass sie unwillkür-
lichen Anstoss erregt und zur Abänderung der Construction führt;
zuletzt aber ist sie vollständig abgeblasst und verschwunden: die
Hand anfüllen bedeutet dann einfach einweihen. Bei Ezechiel
wird nicht nur dem Priester, sondern sogar dem Altare die Hand
gefüllt (43, 26); im Priestercodex ist hauptsächlich das Ab-
stractum milluim in Gebrauch, mit ausgelassenem Subject und
Object, als Name einer blossen Inaugurationsceremonie , die
mehrere Tage dauert (Lev. 8, 33. Exod. 29, 35) , wesentlich in
der Darbringung eines Opfers von Seiten des Einzuweihenden
besteht und mit der wirklichen Handfüllung auch nicht im lose-
sten Zusammenhange mehr steht (2. Chr. 13,7 vgl. 29,31). Das
Verbum bedeutet dann nichts mehr und nichts weniger als diese
Ceremonie vollziehen, und das Subject ist dabei ganz gleich-
gültig (Lev. 16,32. 21, 10 Num. 3,3); nicht von der den Ritus
ausführenden Person hängt die Einsetzung ab, sondern von dem
Ritus selber, von der Salbung Investitur und den übrigen For-
malitäten (Exod. 29, 29).
Dieser Wandel im Sprachgebrauch ist das Echo der realen
Veränderungen in der äusseren Lage des Klerus, die nunmehr
näher ins Auge zu fassen sein werden.
J ) In dem arabischen *jvXj Xo ist allerdings das Nominalsuffix immer
reflexiv, aber die Redensart wird auch ganz anders angewandt, in dem
Sinne sich die Hände mit Beute füllen (auch abs. Harn. 296,8,
und die Waffen zur Hand nehmen, mit UJ der Waffe.
Die Ausstattung des Klerus. 159
L
1. Von den Opfern widmete man in alter Zeit einiges der
Gottheit, das meiste verwandte man zu heiligen Mahlzeiten, an
denen man, wenn ein Priester vorhanden war, natürlich auch
diesen in irgend einer Weise teilnehmen Hess. Aber einen ge-
setzlichen Anspruch auf bestimmte Fleischabgaben scheint der-
selbe nicht gehabt zu haben. „Eli's Söhne waren nichtsnutzige
Leute und kümmerten sich nicht um Jahve noch um Recht und
Pflicht der Priester gegen das Volk; so oft jemand opferte, so
kam der Knecht des Priesters — das sind hier die 22000 Le-
viten — , wenn das Fleisch kochte, mit einer dreizinkigen Gabel
in der Hand und stach in den Kessel oder in den Topf, und alles
was die Gabel heraufbrachte, nahm der Priester — so thaten sie
allen Israeliten, die dort nach Silo hinkamen. Sogar bevor das
Fett geräuchert war, kam der Knecht des Priesters und sprach
zu dem Opfernden: gib Fleisch zum Braten her für den Priester,
er will kein gekochtes von dir haben, sondern rohes, und sagte
jener dann zu ihm: erst soll das Fett geräuchert werden und
dann nimm dir wie du willst, so sprach er: nein, jetzt gleich
sollst du es geben, sonst nehme ich's mit Gewalt" 1. Sam. 2,
12—16. Die Abgabe roher Fleischstücke vor der Räucherung des
Fettes gilt hier als eine unverschämte Forderung, welche geeignet
ist das Opfer Jahve's in Verachtung zu bringen (v. 17) und den
Untergang der Söhne Eli's zur verdienten Folge hat. Erträg-
licher ist es, aber auch schon ein Misbrauch, dass sich die Prie-
ster gekochtes Fleisch aus dem Topfe holen lassen, dabei nicht
einmal das beste sich aussuchend sondern die Wahl dem Zufall
tiberlassend; sie sollen abwarten, was man ihnen gibt, oder sich
damit begnügen, dass man sie zur Mahlzeit einlade. Dagegen
ist es nun im Deuteronomium „das Recht der Priester an das QiU%**
Volk" (18,3 = 1. Sam. 2, 12), dass ihnen ein Vorderbein die ^
Kinnladen und der Magen des Opfertieres zukommen; und dies /
ist noch bescheiden gegenüber den Ansprüchen, die sie nach
dem Priestercodex haben, auf die rechte Keule und den Bug
(Lev. 7, 34). Wohin der Lauf geht, sieht man; natürlich ist
für das Judentum der Priestercodex massgebend geworden.
Bei den Opfern galt seine Forderung; jedoch um alle Gerechtig-
keit zu erfüllen, hielt man daneben auch die des Deuteronomiums
160 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
aufrecht, indem man sie, gegen die klare Meinung und aleo
gewiss erst in Folge späterer schriftgelehrter Rigorosität, nicht
auf die Opfer, sondern auf die profanen Schlachtungen be-
zog und auch von diesen den Priestern einen Teil gab, die
Kinnladen (nach Hieronymus zu Mal. 2,3) einschliesslich der
Zunge: also harmonistische Verdoppelung der Leistung 1 ).
In einer älteren Zeit bekamen die- Priester zu Jerusalem Geld
{ von ihren Kunden (Deut. 18, 8), hatten dafür aber die Pflicht
'»'t**-den Tempel in Stand zu halten; man sieht daraus, dass dies
r ii Geld eigentlich an das Heiligtum gezahlt und nur bedingungs-
weise dessen Dienern tiberlassen wurde. Da sie die Bedingung
nicht hielten, ward ihnen von König Joas auch das Geld ent-
zogen (2. Reg. 12, 7 ff.).
Die Mahlopfer sind im Priestercodex Nebensache, und was
den Priestern hievon zufällt, ist geringfügig im Vergleich zu
ihrer Einnahme aus den übrigen Opfern. Das Mehl, wovon nur
eine Handvoll auf den Altar gestreut wird, die Gebäcke und
überhaupt die Minha bekommen sie ganz, ebenso die so häufig
geforderten Sund- und Schuldopfer, von denen Gott nur das
Blut und Fett, der Darbringer aber gar nichts erhält; vom
Brandopfer fällt wenigstens das Fell für sie ab (Ezech. 44, 29).
Diese Gefälle jedoch,, in ihrer bestimmten Form allesamt nicht
als alt nachzuweisen und zum Teil nachweislich nicht alt, wer-
den schon in der früheren Zeit Analoga gehabt haben, so dass
sie nicht schlechthin als Steigerung des Einkommens betrachtet
werden dürfen. Zur Zeit Josia's waren die Massoth eine Haupt-
nahrung der Priester (2. Reg. 23, 9): sie rührten doch wohl
grossenteils von der Minha her. Statt der Sund- und Schuld-
opfer, die noch dem Deuteronomium unbekannt sind, gab es
früher Sund- und Schuldbussen als Geldzahlungen an die Priester,
die freilich gewiss nicht so regelmässig gewesen sein werden
(2. Reg. 12, 17). Es ist als ob die blossen Geldzahlungen dem
Gesetze zu profan seien, es muss bei der Sühne Blut vergossen
werden. Dass von der Ola die nicht opferbare Haut dem
Priester zufällt, ist eine so natürliche Sitte, dass man sie für
neu zu halten nicht geneigt sein wird, obwohl Ezechiel von
dieser doch nicht wertlosen Gebühr stillschweigt (44, 28—31).
Soweit sich also in den Opfergefällen des Priestercodex
*) Philo de praemiis sacerdotum § 3. Joseph. Ant. III. 9, 2. IV 4, 4.
Die Ausstattimg des Klerus. 161
Abweichungen gegen den früheren Gebrauch constatieren lassen,
sind sie zwar keinesfalls für bloss lokale Verschiedenheiten
auszugeben, aber auch im Ganzen und Grossen nicht gerade
eine bedeutende Erhöhung der Taxe. Indessen, die Opfergefälle
sind hier auch nur ein ziemlich untergeordneter Teil des Ein-
kommens der Priester. Im Deuteronomium sind die letzteren
darauf angewiesen, sie leben vom Opfer (18, 1) und von der Ein-
ladung zu " den heiligen Mahlzeiten (12, 12. 18 f.); sie müssen
hungern, wenn sie nicht fungieren (1. Sam. 2, 36). Dahingegen,
die Aharoniden des Priestercodex brauchen gar nicht zu opfern
und haben doch ihr Brot, denn ihre Haupteinnahme besteht in den
reichen Naturalsteuern, welche ihnen geleistet werden müssen.
2. Die Abgaben, welche nach dem Gesetze an die Priester
fallen, waren allesamt ursprünglich Opfer, nämlich die regel-
mässigen Opfer, welche zu den Festen gebracht werden mussten;
und allesamt dienten dieselben ursprünglich zu heiligen Mahl-
zeiten, von denen die Priester weiter nichts als den auch sonst
üblichen Anteil bekamen. Dies gilt zunächst von den männ-
lichen Erstgeburten des Viehs. Wie wir in dem Kapitel über
die Feste gesehen haben, werden sie in dem jehovistischen Ge-
setze ebenso wie in der jehovistischen Erzählung über den Aus-
zug und über Abel geopfert und zwar als Mahlopfer, wie alle
von Privaten dargebrachten Opfer in alter Zeit. Wenn es Exod.
22, 29 heisst, sie sollen dem Jahve gegeben werden, so bedeutet
das nicht, sie sollen den Priestern gegeben werden; von sol-
chen wird im Bundesbuch nirgend etwas erwähnt. Ebenso stehen
die Sachen im Wesentlichen auch noch im Deuteronomium: „du
sollst sie dem Jahve heiligen und nicht pflügen mit der
Erstgeburt deines Rindes noch die Erstgeburt deines Schafes
scheren, vor Jahve sollst du sie verzehren alle Jahr an
dem Ort den er erwählt; wenn aber ein Fehl daran ist, so sollst
du sie nicht opfern dem Jahve deinem Gott 44 (15, 19f.). Dem
Jahve heiligen, vor Jahve essen, dem Jahve opfern — sind hier
ganz gleichwertige Begriffe. Wenn nun nach Num. 18, *ib ff. aller
erste Wurf ohne Umschweife dem Priester zugesprochen und
daneben dann noch ein besonderes Passahopfer eingesetzt wird,
so kann das nur als die letzte Phase der Entwickelung verstanden
werden, teils weil überhaupt der Begriff der Abgabe im Vergleich
zu dem des Opfers etwas Abgeleitetes ist, teils weil der gewaltige
Wellhausen, Prolegomena. 11
162 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
Zuwachs in der Einnahme der Priester auf hierftkratische Maeht-
entfaltung hinweist. Ezechiel zählt die Erstgeburten noch nicht
unter den Einkünften des Klerus auf (44, 28—31); dagegen richtet
sich die Praxis des Judentums wie gewöhnlich nach der Norm
des Priestercodex; seit Nehem. 10,37.
Auch der Zehnte ist ursprünglich Gott gegeben und ebenso
wie die anderen Opfer behandelt, d. h. nicht von den Priestern,
sondern von den Darbringern in heiligen Mahlzeiten verzehrt.
In der jehovistischen Gesetzgebung kommt er nicht vor, aber
Jakob widmet ihn (Gen. 28, 22) dem Gott von Bethel, wobei trotz-
dem dass w das Ganze Projection aus späterer Zeit ist, es doch
schwerlich im Sinne des Erzählers sein würde, an Priester da-
selbst zu denken. Der Prophet Arnos, der in gleiche Linie ge-
stellt werden darf, sagt: „kommt nach Bethel zu sündigen, nach
Gilgal noch mehr zu sündigen, und bringt jeden Morgen eure
Opfer, alle drei Tage eure Zehnten, und bringt auf Brot Fleisch-
stücke dar zur Flamme und rufet Freigaben laut aus — so liebt
ihres ja, Haus Israel!" (4, 4 f.). Ironisch empfiehlt er ihnen, in
ihren bisherigen Anstrengungen zur Ehre Gottes fortzufahren und
sie zu verdoppeln, täglich zu opfern,, statt wie es Sitte war
(1. Sam. 1) jährlich an dem Hauptfeste, jeden dritten Tag zu
zehnten, statt wie man pflegte, alle drei Jahre. Man sieht, dass
der Zehnte hier in einer Reihe mit Zebah Thoda und Nedaba
steht; er ist ein Freudenopfer und ein glanzvolles Stück des
öffentlichen Cultus, keine blosse Abgabe an die Priester. Auch
in diesem Punkte nun hat das Deuteronomium die alte Sitte im
Ganzen unverändert gelassen. Nach 14, 22 — 29 soll der Zehnte
des Feldwuchses, oder auch der Erlös desselben in Gelde, von
Jahr zu Jahr zum Heiligtume gebracht und daselbst vor Jahve,
also als Mahlopfer, verzehrt werden; nur in jedem dritten Jahre
soll er nicht in Jerusalem geopfert, sondern als Almosen an die
des Grundbesitzes entbehrenden Ortsangehörigen gespendet wer-
den zu denen namentlich die Leviten gehören. Die letztere Ver-
wendung ist eine Neuerung, die einerseits mit der Abschaffung
der lokalen Cultusstätten zusammenhängt, andererseits mit der
Tendenz des Deuteronomikers, die Festfreude zu humanen
Zwecken zu benutzen *). Das ist aber noch nichts dagegen, dass
! ) Anlehnung an eine ältere Sitte , wie wir sie für Arnos 4, 4 voraussetzen
müssen, ist trotzdem möglieh, vgl. 26,12 das Jahr des Zehnten.
Die Ausstattung des Klerus. 163
nun im Priestercodex endlich der ganze Zehnte zu einer blossen
von den Leviten einzusammelnden (Neh. 10, 38) Steuer an den
Klerus geworden ist, dessen Ausstattung dadurch wiederum sehr
beträchtlich verbessert wird. Ezechiel schweigt auch hierüber
(44, 28 — 31), aber so wie der Zehnte ini Buche Numeri (18, 21 ff.)
gefordert wird, hat ihn seit Nehemia (10, 38 f.) die Gemeinde des
zweiten Tempels gegeben. Späterhin fügte man dazu dann noch,
um der abweichenden Forderung des Deuteronomiumszu genügen,
den sogenannten zweiten Zehnten hinzu, der für gewöhnlich zu
Jerusalem verzehrt und im dritten Jahr an die Armen gegeben
wurde (so Sept. zu Deut. 26, 12), und am Ende entrichtete man
sogar den Armenzehnten als dritten zu dem ersten und zweiten
obendrauf (Tobith 1, 7. 8. Jos. Ant. 4 8, 22).
Wahrhaft unerhört ist es, dass der Zehnte, der sich der Natur
der Sache nach nur von Gegenständen festen Masses, von Korn
Most und Öl versteht (Deut. 14,23), im Priestercodex auch auf
das Vieh ausgedehnt wird, so dass neben den männlichen Erst-
geburten auch noch das zehnte Stück von Rindern und Schafen
an die Priester gezahlt werden muss. Jedoch findet sich diese
Forderung noch nicht Num. 18 und ebenfalls noch nicht Neh.
10, 38. 39, sondern erst in der Novelle Lev. 27, 32 (1. Sam. 8, 17).
Ob sie in der Praxis des Judentums durchgedrungen ist, erscheint
fraglich; 2. Chron. 31, 6 wird der Viehzehnte zwar erwähnt, aber
dafür die Erstgeburten nicht; in der vorrabbinischen Literatur
sind keine Spuren zu entdecken, insbesondere nicht bei Philo
der nur den an die Leviten zu entrichtenden gewöhnlichen, aber
nicht den an die Priester zu entrichtenden Viehzehnten kennt
(de praem. sacerd. § 6).*
Mit dem Fruchtzehnten sind die Erstlinge in der Wurzel
identisch, sie sind durch ersteren nur nachträglich auf ein be-
stimmtes Mass gebracht. Dies wird der Grund sein, warum in
der jehovistischen Gesetzgebung nicht beides neben einander ge-
fordert wird, sondern nur eine dem freien Ermessen anheimge-
stellte Gabe des Ersten und Besten von Korn Most und Öl,
welche mit der Erstgeburt der Rinder und Schafe zusammenge-
stellt wird (Exod. 22, 28. 34, 26. 23, 19). In ganz gleichet Be-
deutung steht im Deuteronomium neben den Erstgeburten des
Viehs der Zehnte des Feldes (14,22f. 15,19ff.). Aber auch
die Reschith, die man durch Erstlinge zu verdeutschen pflegt,
11*
164 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
kommt im Deuteronomium vor, sie zwar als Abgabe an die Prie-
ster, von Korn Most Öl und Wolle (18, 4) ; eine Kleinigkeit, ein
Korb voll, wird davon vor den Altar gebracht und mit einer
sinnvollen Liturgie übergeben (26, lff.). Es scheint, dass sie von
dem Zehnten abgenommen wird, wie aus 26, 12 ff. als Fortsetzung
von v. 1 — 11 gefolgert werden könnte; ausnahmsweise bricht
26, 2 der allgemeinere Sprachgebrauch durch, wonach die Reschith
die geheiligte Frucht überhaupt bedeutet, welche im Ganzen von
den Darbringern vor Jahve verzehrt wird und von welcher die
Priester nur einen Teil erhalten. Im Priestercodex aber wird
nicht nur der ganze Zehnte als Abgabe an den Klerus gefordert,
sondern ebenso daneben noch die Reschith (Num. 18, 12), und
dieselbe wird dadurch vervielfacht, dass sie nicht bloss von der
Tenne, sondern auch vom Backtrog gefordert wird: bei jeder
Säuerung gebührt die Halla dem Jahve (15, 20). Damit aber
nicht genug, sondern zu der Reschith (18, 12) kommen noch die
Bikkurim (18, 13) als etwas Besonderes hinzu. Sonst findet sich
der Unterschied nicht (Exod. 34, 26); es handelt sich immer bloss
um präparierte Früchte, um den Ertrag der Tenne und Kelter,
wovon man den Vorlauf weihen sollte, „die Fülle und den Über-
fluss a . Das Fett von Ol Most und Korn ist auch in Num. 18
die Hauptsache und heisst Reschith (v. 12) oder Theruma (v. 27);
aber die Bikkurim (v. 13) scheinen doch davon getrennt zu wer-
den, und wenn dies wirklich der Fall ist, so müssen diejenigen
rohen Früchte damit gemeint sein, die am frühesten reif gewor-
den sind. Das Judentum, welches sich hier abermals im Wesent-
lichen durchaus nach der Vorschrift des Priestercodex richtet,
hat in der That diese Distinktion gemächt; seit der Publikation
des Gesetzes durch Ezra verpflichtete sich die Gemeinde, die
Bikkurim jährlich hinaufzubringen zum Hause Jahve's, die Re-
schith aber in die Tempelzellen abzuliefern (Neh. 10, 36. 38).
Jenes war eine mit Processionen verbundene religiöse Feier, bei
der man Deut. 26 als Ritual benützte, dieses mehr eine simple
Naturalsteuer — ein Unterschied, der vielleicht mit den ver-
schiedenen Ausdrücken sie sollen bringen (Num, 18,13) und
sie sollen geben (18, 12) zusammenhängt. Die Septuaginta
hält äizapyri un ^ ^pwtoYsvv^fxata genau auseinander, ebenso Philo
de praem. sac. § 1. 2 und Josephus Ant. 4 4, 4. 8, 22.
3. Es ist unglaublich, was am Ende alles abgegeben werden
Die Ausstattung des Klerus. 165
muss. Was ursprünglich neben einander hergelaufen war, wird
zusammengehäuft, was frei und unbestimmt gewesen, wird auf
Mass gebracht und vorgeschrieben. Die Priester bekommen alle
Sund- und Schuldopfer, den grössten Teil der vegetabilischen
Zugaben, die Haut vom Brand-, Keule und Bug vom Mahlopfer.
Ausserdem die Erstgeburten, sodann Zehnten und Erstlinge in
doppelter Form, kurz alle Kodaschim, die früher bloss als regel-
mässige Mahlopfer gefordert (Deut. 12, 26 = v. 6. 7 u. a.) und
freilich an heiliger Stätte und von geheiligten Gästen, aber nicht
von dem Priester verzehrt wurden. Trotzdem wird dafür nicht
etwa dem Klerus (wie von Ezechiel dem Fürsten, der dort die
Abgaben bezieht 45, 13 ff.) zugemutet den öffentlichen Gottesdienst
auf seine Kosten zu bestreiten, sondern dazu dient die Kopf-
steuer, die im Kern des Priestercodex noch nicht angeordnet,
aber seit Neh. 10, 33 in der Höhe von einem drittel Seckel ge-
leistet und in einer Novelle des Gesetzes (Exod. 30, 16) in der
Höhe eines halben Seckels gefordert wird.
IL
1. Zu der Ausstattung des Klerus im Priestercodex gehören
endlich noch die achtundvierzig Städte, welche ihm nach Mose's
Anordnung von Josua zugewiesen worden sind (Num. 35. Jos. 21).
Die Stämme geben sie gutwillig her, der kleine wenig, der grosse
mehr (Num. 35, 8). In vier Abteilungen losen die Aharoniden
und die drei Geschlechter der Leviten darum, jene treffen
13 Städte in Juda, diese 10 in Ephraim-Manasse, 13 in Galiläa
und 12 im Ostjordanlande- Nicht etwa bloss die Wohnberechti-
gung, sondern, trotz allem apologetischen Rationalismus, den
vollen Besitz erhalten sie an denselben (Jos. 21, 12), einschliess-
lich einer als Gemeinde-anger dienenden Feldmark von 2000 Ellen
im Quadrat — Quadrat im ganz eigentlichen Sinne gefasst
(Num. 35, 5).
Die sachliche Unmöglichkeit dieser Einrichtung hat nach
Grambergs Vorgange Graf mit schlagenden Gründen erwiesen
(Merx Archiv I S. 83). Die 4x12 oder statt dessen 13+ 10+13+12
Städte, von denen trotz Num. 35, 8 gewöhnlich vier auf je einen
der zwölf Stämme fallen, reichen schon hin den Verdacht künst-
licher Mache zu begründen; vollends die Bestimmung, dass ein
quadratischer Bezirk von 2000 Ellen Seitenlänge rings um die
166 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
Stadt, die dabei (Num. 35, 4) rein als Punkt betrachtet wird, zur
Viehtrift für die Leviten abgemessen werden solle, Hesse sich,
um mit Graf zu reden, wohl etwa in einer südrussischen Steppe
oder bei neu zu gründenden Städten im Westen Nordamerika^,
nicht aber in dem gebirgigen Palästina ausführen, wo ein solcher
geometrisch abzumessender Raum gar nicht vorhanden ist und
es keineswegs von willkürlichen Gesetzesbestimmungen abhängt,
welche Grundstücke sich zu Viehweiden und welche sich zu
Feld- und Gartenbau eignen, wo auch die Städte schon bestan-
den, das Land schon bebaut war, als die Israeliten es im Laufe
der Jahrhunderte eroberten. Geschichtliche Spuren von dem
Vorhandensein der Levitenstädte finden sich denn auch seit
Josua nirgend. Eine ganze Anzahl derselben war noch in den
Tagen der Richter und bis in die erste Königszeit im Besitz
der Kanaaniten, so Gibeon Sichern Gezer Thaanach, einige
mögen sogar stets darin verblieben sein. Die aber in die Hand
der Israeliten übergingen, gehörten zu keiner Zeit den Leviten.
Sichern Hebron Ramoth waren die Metropolen von Ephraim
Juda und Gilead, ebenso Gibeon Gezer Hesbon wichtige und
keineswegs geistliche Städte. In der deuteronomischen Periode
lebten die Leviten in der Weise über Juda verstreut, dass jeder
Ort die seinigen und den seinigen hatte, nirgends wohnten sie
abgeschlossen in compakten Massen zusammen, da sie sich ja
vom Opfern für andere nährten und ohne Gemeinde ihren Be-
ruf nicht ausüben konnten. Einzelne hatten wohl Land und
Erbe; wie einst die silonische Familie zu Gibeath-Pinehas Amasia
zu Bethel und Abiathar zu Anathoth, so in späterer Zeit Jeremia
gleichfalls zu Anathoth. Aber eine Priesterstadt im Sinne von
Jos. 21 war z. B. Anathoth darum noch nicht, Jeremia hatte dort
sein Grundstück als Bürger und nicht als Priester und teilte
nicht mit den Priestern, sondern mit dem Volke (37,12). Als
Stamm unterschied sich Levi eben dadurch von den anderen
Stämmen, dass er kein Land hatte und seine Glieder meist nur
als Inquilinen den angesessenen Bürgern und Bauern sich an-
schlössen (Deut. 10, 9. 18, 1).
Auch nach dem Exil ward es freilich in dieser Beziehung
nicht anders als es vorher gewesen war. Ab excidio templi
prioris sublatum est Levitis ius suburbiorum, sagt R. Nachman
(b. Sota 48 b ), und das Schweigen von Neh. 10 gibt ihm Recht.
* Die Ausstattung des Klerus. 167
Man verschob die Ausführung des Gesetzes wahrscheinlich auf
die Zeit des Messias, sie stand in der That nicht in der Men-
schen Macht und kann vom Priestercodex selbst nicht im Ernst
gefordert sein, da er ein rein ideales Israel mit idealen Grenzen
dabei vor Augen hat und von der Wirklichkeit so weit abstrahiert,
dass er Jerusalem, den geschichtlichen Hauptsitz der Priester,
aus archaistischen Gründen gar nicht mit aufführt.
Dieser Umstand nun, dass nämlich diese Städte in partibus
infidelium lagen, scheint sie als Handhabe für die Altersbestim-
mung des Priestercodex unbrauchbar zu machen. Man kann
wie Bleek die geschichtliche Transcendenz als Mosaicität aus-
legen, dagegen ist nicht anzukämpfen. Man kann aber auch in
der Weise Nöldeke's geltend machen, eine so kühne Erfindung
lasse sich dem Geiste der exilischen und nachexilischen Zeit
nicht zutrauen, der überall nur ängstlich an das Alte sich an-
klammern und es zu restaurieren beflissen sei ; dies verdient und
gestattet eher eine Widerlegung. Es ist nämlich nicht an dem,
dass die Juden der Restauration vor ihrer alten Geschichte Re-
spect gehabt hätten, sie verurteilten vielmehr die ganze frühere
Entwickelung und Hessen nur die mosaische Zeit nebst ihrem
davidischen Abglanz gelten, d. h. also nicht die Geschichte, son-
dern die Idee. Die theokratische Idee stand seit dem Exil im
Mittelpunkt alles Denkens und Strebens, und sie vernichtete den
objectiven Wahrheitssinn, die Achtung und das Interesse für den
überlieferten Sachverhalt. Es ist bekannt, dass es nie dreistere
Geschichtsmacher gegeben hat als die Rabbinen. Die Chronik
aber liefert hinreichende Proben, dass diese schlimme Disposition
in sehr frühe Zeit hinaufreicht, wie denn ihre Wurzel, der do-
minierende Einfluss des Gesetzes, die Wurzel des Judaismus selber
ist. Der Judaismus also ist für ein solches Kunstgewächs, wie
die achtundvierzig Priester und Levitenstädte sind, gerade der
geeignete Boden. Einem Autor, der in der Königszeit, noch in
der Continuität der alten Geschichte lebte, würde es schwer ge-
fallen sein, so gänzlich von allen Bedingungen der damaligen
Wirklichkeit zu abstrahieren, er würde dadurch auf seine Zeit-
genossen keinen anderen Eindruck gemacht haben als dass sie
ihn für nicht recht klug gehalten hätten. Nachdem aber durch
das Exil das alte Israel vernichtet und der natürliche Zusammen-
hang mit den Zuständen des Altertums gewaltsam und gründlich
168 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
durchschnitten war, stand nichts im Wege, die tabula rasa in
Gedanken beliebig anzupflanzen und auszustaffieren, etwa so wie
es die Geographen mit den Landkarten zu machen pflegen, so
lange die Gegenden unbekannt sind.
Weiter nun ist bekanntlich keine Phantasie reine Phantasie,
einer jeden liegen irgendwelche reale Elemente zu Grunde, bei
denen sie sich fassen lässt, seien es auch nur gewisse herr-
schende Vorstellungen eines Zeitalters. Es ist klar, wenn dem
Klerus ein eigenes Gebiet zugesprochen wird, so ist die Vor-
stellung von dem geistlichen Stamm, die im Deuteronomium eben
anfängt Wurzel zu schlagen, hier bis zu dem Grade ausge-
wachsen und erstarkt, dass auch der letzte und ausschlag-
gebende Unterschied fortgeschafft wird, welcher die wirklichen
Stämme gegenüber den Leviten auszeichnet, die communale
Selbständigkeit und die Dichtigkeit der Consistenz, welche in
abgeschlossenen Sitzen zum Ausdruck gelangt. Denn dass es
trotzdem im Priestercodex heisst, Aharon und Levi sollen kein
Teil und Erbe haben in Israel (Num. 18, 20. 23), das ist nur eine
aus dem Deuteronomium beibehaltene Redensart und zugleich
eine unwillkürliche Concession an die Wirklichkeit: was sollen
denn diese achtundvierzig Städte, hätte es sie wirklich gegeben
anders sein als ein Los, als ein Landgebiet und zwar ein ver-
gleichsweise sehr bedeutendes? Lässt sich insoweit die allge-
meine Basis erkennen, welche der historischen Fiktion zur Vor-
aussetzung dient, so kann man auch einen näheren Einblick in
das concrete Material derselben gewinnen. Die Priester- und
Levitenstädte hängen mit den sogenannten Freistädten zusam-
men. Diese werden nun auch im Deuteronomium angeordnet
(Kap. 19), nur noch nicht namentlich aufgeführt — denn Deut. 4,
41 — 43 kann nicht als genuin in Betracht kommen. Ursprüng-
lich waren die Altäre Asyle (Exod. 21, 14. 1. Reg. 2,28), einige
in höherem Grade als andere (Exod. 21, 13). Um nun nicht mit
den Altären zugleich auch die Asyle abzuschaffen, wollte der
deuteronomische Gesetzgeber einzelne heilige Orte als Zufluchts-
städte fortbestehen lassen, vorläufig drei für Juda, zu denen
wenn sich das Gebiet des Reichs erweiterte noch drei andere
hinzukommen sollten. Der Priestercodex nimmt diese Einrich-
tung herüber und nennt drei bestimmte Städte diesseit und drei
jenseit des Jordans (Num. 35. Jos. 20) — vier davon sind nach-
Die Ausstattung des Klerus. 169
weislich berühmte alte Cultusstätten , nämlich die sämtlichen
drei westlichen und von den östlichen Kamoth d. i. Mispa
(Gen. 31. Jud. 11, 11). Alle diese Asyle sind nun aber zugleich
Priester- und Leviten städte: die Vermutung liegt nähe, dass die-
sen auf eine ähnliche Weise alte Heiligtümer mögen zu Grunde
gelegen haben. Es soll damit nur das Nachklingen einer allge-
meinen Erinnerung behauptet werden, dass es einst in Israel
viele heilige Orte und Sitze von Priesterschaften gegeben hatte,
nicht gerade, dass jeder einzelnen der Jos. 21 aufgeführten
Städte wirklich ein altes Heiligtum entspreche. Vielfach lässt
sich dies jedoch allerdings nachweisen 1 ), obwohl einige der be-
rühmtesten oder für den späteren Standpunkt berüchtigsten Ba-
moth, wie Bethel Dan Gilgal und Beerseba, wahrscheinlich mit
Absicht übergangen sind.
Indessen ist vielleicht der nächste Ausgangspunkt für diese
Gebietsabgabe an die Leviten bei dem Propheten Ezechiel zu
suchen, in dem Bilde, welches er zum Schluss von dem zukünf-
tigen Israel entwirft. Ausführlich beschäftigt er sich da auch
mit der Absteckung der Grenzen des Volkes und der Stämme,
wobei er ganz frei zu Werke geht und gewissermassen nach
der Elle zuschneidet. Während er das Land östlich vom Jordan
den Saracenen überlässt, teilt er das westliche in 13 parallele
Querstreifen; in der Mitte des (übrigens dem Fürsten zugewie-
senen) dreizehnten, der zwischen Juda und Benjamin sich er-
streckt , treten die zwölf Stämme ein Quadrat von 25000 Ellen
als heilige Abgabe an Jahve ab. Dieses wird in drei von West
nach Ost laufende und somit in dieser Richtung 25000 Ellen
lange Oblonga zerlegt, davon umfasst das südliche, 5000 E. breit,
die Reichsstadt nebst Gemarkung, das mittlere, 10000 E. breit,
den Tempel und das Gebiet der Priester, das nördliche, gleich-
*) Bei Hebron Gibeon Sichern Ramoth Mahanaim und Thabor (Hos. 5, 1)
durch geschichtliche Nachrichten, bei Bethsemes Astharoth Kedes, vielleicht
auch Rimmona, durch die Namen. Consequente historische Treue wird
man freilich auch hier dem Priestercodex nicht zutrauen dürfen. Was
Hos. 5, 1. 2 angeht, so scheint der ursprüngliche Sinn zu sein: „ein Fall-
strick seid ihr geworden für Mispa und ein ausgebreitetes Netz auf dem
Thabor und die Fallgrube von Sittim (c^ül^H DnttO haben sie tief ge-
macht". Sittim ist als Lagerstätte unter Mose und Josua sicher ein
Heiligtum, so gut wie Kades, Gilgal und Silo; der Prophet führt solche
Stätten an, an denen nach seiner Meinung der Uultus besonders ver-
lockend und seelenmörderisch ist; den Vorwurf macht er den Priestern,
die das Subject der Aussagen sind.
170 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
falls 1000Ö E. breit, das Erbe und die Städte der Leviten 1 ).
Also ebenfalla eine Landabgabe von Seiten der Stämme an den
Klerus; die Vergleichung mit Jos. 21 ist nicht abzuweisen, um
so weniger, da sonst im Alten Testament sich nirgend Ähnliches
findet. Ezechiel nun ist ganz durchsichtig und aus sich zu ver-
stehen. Damit der Tempel in seiner Heiligkeit aufs beste ge-
schützt werde, kommt er in die Mitte des Priestergebietes zu
liegen, welches seinerseits wieder von der Stadt im Süden und
von den Leviten im Norden gedeckt wird. Zugleich soll auch
das Cultuspersonal selber möglichst abgeschieden auf eigenem
Grund und Boden wohnen, derselbe soll ihnen dienen zu
abgesonderten Häusern sie zu heiligen, wie es für die
Priester 45, 4 ausdrücklich bemerkt wird und in abgestuftem
Mass natürlich auch für die Leviten ihnen zur Seite gilt. Vom
Tempel geht hier Alles aus und erklärt sich Alles. Sein
Original ist unverkennbar der salomonische; er liegt bei der
Hauptstadt, im Centrum der heiligen Mitte des Landes zwischen
Juda und Benjamin, dort haben die Söhne Sadoks ihren Sitz
und daneben die Leviten, welche Josia aus dem ganzen Lande
nach Jerusalem tibergeführt hatte. Man sieht, hier liegen die
Motive auf der Hand. Dahingegen im Priestercodex, der nicht
in der Lage war die Zukunft frei von der Gegenwart aus zu
gestalten, sondern gezwungen, sich archaistisch zu verbrämen,
sind dieselben historisch verdeckt und fast paralysiert. Die
Wirkung ist geblieben, nämlich der abgeschlossene Landbesitz
des Klerus, aber die Ursache oder der Zweck, durch die Ab-
straction vom Heiligtum, nicht mehr zu erkennen. Jerusalem
und der Tempel, die eigentlich treibende Kraft der ganzen Ein-
richtung, werden mit einer höchst auffallenden Geflissentlichkeit
in Stillschweigen begraben, und dagegen, in Eeminiscenz der
früher überall an den israelitischen Bamoth zerstreuten Priester-
schaften, achtundvierzig anderweitige Levitenstädte creirt, denen
aber ihr eigentlicher Mittelpunkt, nämlich ein Heiligtum, entzogen
ist. Nur darin, dass die Aharoniden sich zufällig gerade die
dreizehn jüdisch -benjaminitischen Städte erlosen, bricht denn
doch unwillkürlich der Einfluss Jerusalems durch.
*) Für rOts6 D'HW 45, 5 lies mit LXX rQt&6 D'H W- Thore zu wohnen.
Vgl. Sept. 42, 3 die gleiche Umstellung der Buchstaben. Der Ausdruck
Thore für Städte ist durch das Deuteronomium veranlasst.
Die Ausstattung des Klerus. 171
2. Abgesehen von dieser historischen Fiktion sind die
übrigen Ansprüche betreffs der Ausstattung des Klerus, so exor-
bitant sie sind, doch ausführbar und ernst gemeint. Man steht
ihnen gegenüber, was die Umstände ihrer Genesis betrifft, vor
zwei Möglichkeiten. Entweder die Priester forderten, was sie
zu erlangen hoffen konnten; dann hatten sie thatsächlich die
Herrschaft über das Volk. Oder sie stellten Forderungen, die
zu ihrer Zeit weder berechtigt noch überhaupt möglich waren:
dann waren sie zwar nicht bei Sinnen, zugleich aber doch so
prophetisch nüchtern, dass Jahrhunderte später ihre geträumten
Einkünfte in wirkliche sich verwandelten. Soll etwa Mose seinem
in der Wüste notdürftig da's Leben fristendem Volke zugemutet
haben, für eine übermässig reiche Dotierung des Klerus zu sor-
gen? oder glaubt man, in der Richterperiode, wo die einzelnen
israelitischen Stämme und Geschlechter, nachdem sie sich zwi-
schen die Kanaaniter eingedrängt, Mühe hatten ihre Position zu
behaupten und sich in den neuen Wohnsitzen und Verhältnissen
einigermassen einzuwurzeln, sei der Gedanke aufgetaucht, der-
gleichen Steuern zu erheben von einem Volke, das erst zusam-
menwuchs, zu einem Zweck, der ihm durchaus ferne lag? welche
Gewalt hätte denn damals, wo jeder that was ihm recht schien,
den Einzelnen vermögen sollen zu bezahlen? Als aber wirklich
unter dem Druck der Umstände eine politische Organisation,
welche die sämtlichen Stämme umfasste, zu stände gekommen
war, auch da konnten die Priester schwerlich darauf verfallen,
den weltlichen Arm als Mittel zu benutzen, um sich selber eine
souveräne Stellung zu geben; und ohne den König konnten
sie, bei ihrer völligen Abhängigkeit von ihm, noch weniger die
Rechnung machen. Kurzum die Ansprüche, welche sie im Ge-
setz erheben, würden sich in der vorexilischen Zeit im eigent-
lichen Sinne utopisch ausgenommen haben; sie erklären sich
nur aus den Verhältnissen, wie sie seit der chaldäischen und
noch mehr seit der persischen Fremdherrschaft sich anliessen
zur Ausbildung einer Hierokratie, der das Volk als der wahrhaft
nationalen und dazu auch göttlichen Obrigkeit freiwilligen Ge-
horsam entgegenbrachte und der auch die Perser Rechte ein-
räumten, die sie der Familie Davids nicht verstatten mochten.
Gleich im Anfange des Exils beginnt Ezechiel die Einkünfte der
Priester zu steigern (44,28—30); doch hält er sich im ganzen
172 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
noch an das Mass des Deuteronomiums und erwähnt nichts von
Zehnten und Erstgeburten. Von den Forderungen des Priester-
codex im vollen Umfange hören wir geschichtlich zum ersten
male in Neh. 10; da wird berichtet, dass sie von Männern, welche
die Autorität des Artaxerxes hinter sich hatten, durchgesetzt
wurden. Es ist dies mit das schwerste und zugleich wichtigste
Stück in der Arbeit, welche Ezra und Nehemia bei der Ein-
führung des Pentateuchs als Gesetzes der jüdischen Gemeinde
hatten; darum ist so speciell und so ausführlich davon die Rede.
Hier liegt offenbar die materielle Basis der Hierokratie, von wo
aus ihr Haupt schliesslich auf den Königsthron gelangte.
Denn alle diese Abgaben, abgesehen von den Opfergefällen,
flössen in eine gemeinsame Casse und kamen denen zu gut, die
über letztere zu verfügen hatten, d. h. dem Pfiesteradel zu Jeru-
salem, dem sie zu einer wahrhaft fürstlichen Stellung verhalfen.
Die gewöhnlichen Priester und gar die Leviten hatten nichts
davon. Die letzteren sollten zwar nach dem Gesetz den Zehnten
bekommen und davon nur wiederum den Zehnten an die Aharo-
niden abtreten, aber wie überhaupt die Richtung der Zeit dahin
ging, sie herabzudrücken, so ward ihnen allmählich auch dieses
gesetzliche Einkommen entzogen und von den Priestern ange-
eignet. Weiterhin nahmen dann die Erzpriester den Zehnten
für sich allein in Beschlag, während ihre niederen Standesge-
nossen bitteren Mangel und selbst Hunger litten (Jos. Ant. 20
8, 8. 9, 2).
Zum Schluss sei noch ein Einwurf erwähnt, der neuerdings
auf Grund der eben angegebenen Differenz der späteren Praxis
vom Gesetz gegen die Ansetzung desselben in der babylonisch-
persischen Periode gemacht worden ist. „Ein anderes Zeugnis
der Überlieferung schliesst Abfassung der elohistischen Thora
(d. h. des Priestercodex) durch Ezra geradezu aus. Es ist be-
kanntlich die elohistische Thora, welche das Verhältnis der
Priester und Leviten zu einander geflissentlich ordnet, während
das Deuteronomium beides ohne den Unterschied hervorzuheben
zusammenfasst. Jene ist es, welche den Leviten den Zehnten
zuweist, sie jedoch verpflichtend den Zehnten von ihrem Dienst-
zehnten als Hebe an die Priester abzugeben. So war auch bald
nach dem Exil [d. h. 100 Jahre später Neh. 7, 5] die Praxis . . .
(Neh. 10, 38 ff.). Weiterhin aber kam die Entrichtung des Zehn-
Die Ausstattung des Klerus. 173
ten an die Leviten ganz ausser Brauch, man entrichtete den
Zehnten unmittelbar und nur an die Priester, so dass Jose ben
Chanina geradezu bekennt: wir geben den Zehnten nicht nach
Gottes Anordnung (Sota 47 b ). Überall aber führt der Thalmud
diese Praxis auf Ezra zurück. Ezra soll es gewesen sein,
welcher die Leviten durch Entziehung des Zehnten strafte und
zwar weil sie nicht aus Babel heimgekehrt waren (Jebam. 86 \
Chullin 131 b ). Wir constatieren , dass Ezra eine Vorschrift der
elohistischen Thora nach traditionellem Zeugnis antiquiert hat,
indem er sich dabei vielleicht auf die deuteronomische Thora
stützte." So Delitzsch in der Zeitschr. für luth. Theol. 1877
S. 448 f. Dass Ezra nicht der Verfasser des Priestercodex ist,
soll bereitwilligst zugestanden werden — : nur nicht auf dies
Argument hin. Wenn die Überlieferung, die mit Recht diesen
edlen Namen verdient, den Ezra ausdrücklich als Einführ er
des Levitenzehntens gerade nach der Vorschrift des Gesetzes
nennt (Neh. 10, 38 ff.), welcher gewissenhafte Mensch darf dann
etwas darauf geben, dass der Thalmud es besser weiss?
Aber nehmen wir an , die von der gesetzlichen Vorschrift
differierende Praxis reiche wirklich bis auf Ezra zurück, was
würde daraus gegen den nachexilischen Ursprung des Priester-
codex folgen? denn auf diesen kommt es an, nicht auf die Ab-
fassung durch Ezra, die nur von der durchsichtigen Angriffs-
taktik jenes Theologen zur Hauptsache gemacht wird. Die
Forderungen des Priestercodex, die vor dem Exil nachweislich
weder gestellt noch irgendwie erfüllt worden sind, erlangten
100 Jahre nach der Rückkehr aus Babylon Gesetzeskraft
(Neh. 10), das ganze Abgabensystem des Judentums basierte
allezeit darauf — soll das gar nichts besagen in Vergleich zu
der Kleinigkeit, dass der Zehnte zwar auch durchaus in Über-
einstimmung mit dem Priestercodex und im Widerspruch zu der
alten Sitte an den Klerus abgegeben wurde, aber nicht dem
niederen, sondern dem höheren zu gute kam?
Besser in der That als diese hätte jede andere Differenz
der jüdischen Praxis vom Gesetz gegen die Thesis Grafs geltend
gemacht werden können, z. B. das Fehlen der Urim und Thummim
(Neh. 7, 65) oder der achtundvierzig Levitenstädte, die Gemeinde
der zurückgekehrten Exulanten statt der Gemeinde der zwölf
Stämme Israels, der zweite Tempel statt der Stiftshütte, Ezra
174 Geschichte des Cultus, Kap. 5.
statt Mose, die Söhne Sadoks statt der Söhne Aharons, item die
Abwesenheit der übrigen Merkmale der Mosaicität. Denn mit
jenem Punkte wird gerade die Achillesferse des Priestercodex
berührt. Wenn die Leviten späterhin noch weiter unter die
Priester herabgedrückt und gegen sie benachteiligt werden, so
setzt das doch den Unterschied zwischen beiden voraus: weise
man also erst nach, dass dieser dem genuinen Alten Testament
bekannt ist und dass insonderheit Ezechiel ihn nicht als neu,
sondern als uranfänglich gegeben einführt. Oder bedeutet die
primäre Thatsache, dass die Kluft zwischen Priestern und Leviten
nur im Priestercodex und im Judentum aufgerichtet und in ihrer
Genesis seit Josia mit Sicherheit verfolgbar ist, weniger als die
sekundäre, dass dieselbe in der weiteren Entwickelung des
Judentums sich noch etwas verbreitert hat? ist denn nicht die
Consequenz Folge des Princips? Aber — ganz zutraulich stellt
Delitzsch den Satz an die Spitze: „es ist bekanntlich die elo-
histische Thora, welche das Verhältnis der Priester und Leviten
zu einander geflissentlich ordnet, während das Deuteronomium
beides ohne den Unterschied hervorzuheben zusammenfasst",
und auf dem Grunde dieser vorsichtigen Harmlosigkeit wirbelt
er dann, um den Baum an der Wurzel zu treffen, einen Stein
in den Wipfel, der auf ihn selber zurück fällt.
II.
Geschichte der Tradition.
Hesiod. Operae 40.
Sechstes Kapitel.
Die Chronik.
Unter dem Einfluss des Zeitgeistes ist der gleiche, ursprüng-
lich aus Einer Quelle geflossene Überlieferungsstoff sehr ver-
schieden aufgefasst und geformt worden, anders im neunten und
achten Jahrhundert, anders im siebenten und sechsten, anders
im fünften und vierten. In der selben Ordnung nun, wie die
Schichten der Gesetzgebung, folgen sich auch die Schichten der
Tradition. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Tradi-
tion sagenhaft oder historisch ist, ob sie vorgeschichtliche oder
geschichtliche Zeiten betrifft: der Wechsel der herrschenden
Ideen prägt sich gleichmässig hier wie dort aus. Dies für den
Hexateuch nachzuweisen ist allerdings unsere Hauptabsicht; aber
den Anfang machen wir vielmehr mit den eigentlich historischen
Büchern. Denn aus verschiedenen Gründen können wir hier
mit grösserer Gewissheit behaupten: dies Ansehen hatte die Ge-
schichte in dieser, jenes in jener Periode, diese und jene Ein-
flüsse herrschten hier und dort.
Wo die Sache am klarsten liegt, setzt die Untersuchung
ein, nämlich bei der Chronik. Die Chronik, mit den Büchern
Ezra und Nehemia eigentlich zusammengehörig, geht im Stoff
vollkommen den Büchern Samuelis und der Könige parallel,
und wir sind hier in der günstigen Lage, die Vergleichungs-
objecte nicht erst wie gewöhnlich durch Quellenscheidung ge-
winnen zu müssen, sondern sie von vornherein, sicher begrenzt,
vor uns zu haben. Was aber mehr ist, wir können sie auch
ziemlich sicher datieren. Die Bücher Samuelis und der Könige
Well hau sen, Prolegomena. 12
178 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
sind im babylonischen Exil redigiert, die Chronik dagegen ist
wohl 300 Jahre später verfasst, nach dem Untergange des per-
sischen Reichs, schon mitten aus dem Judaismus heraus. Es
soll nun gezeigt werden, dass es lediglich der Zeitunterschied
ist, welcher die abweichende Darstellung des selben Gegenstan-
des auf der früheren und auf der späteren Stufe erklärt, und
dass der Unterschied im Geist der Zeiten beruht auf dem in-
zwischen eingetretenen Einfluss des Priestercodex. Ich fusse
durchgehends auf de Wette's kritischem Versuch über die Glaub-
würdigkeit der Bücher der Chronik (Beiträge J 1806) ; diese Ab-
handlung ist von Graf (Gesch. Bücher des Alt. Test. S. 114ff.)
nicht verbessert, denn die Schwierigkeit ist hier nicht, die
Einzelheiten aufzutreiben, sondern einen Gesammteindruck zu
geben und des überreichen Stoffes Herr zu werden. Und das
hat de Wette viel besser verstanden.
1. Nachdem Jahve den Saul getötet hatte, so beginnt die
Erzählung der Chronik, wandte er das Königreich dem David
ben Isai zu; ganz Israel versammelte sich zu ihm nach Hebron
und salbten ihn zum Könige nach dem Worte Jahve's durch
Samuel (1. Chron. 10, 1— 11, 3). Wie einfach und glatt, wie
ganz ohne menschliches Zutun hat sich darnach die Sache ge-
macht! Anders in der Relation des Buches Samuelis. Diese
enthält zwar wörtlich auch den Bericht der Chronik, aber noch
einiges mehr, wodurch die Sache ein ganz anderes Aussehen
gewinnt. Auf der untersten Stufe zum Königtum ist David hier
der Bandenführer in der Wüste Juda, der schliesslich durch
Sauls Verfolgungen gezwungen wird auf philisthäisches Gebiet
überzutreten und dort unter dem Schutz der Feinde seines Volks
sein Freibeuterleben fortsetzt. Nach der Schlacht von Gilboa
benutzt er die Auflösung des Reichs, um als Vasall der Phi-
lister im Süden ein Partikularfürstentum zu errichten: er wird
nicht erwählt, sondern mit 600 Mann hinter sich kommt er und
trägt sich den Ältesten Juda's an, die er schon früher durch
allerlei Gefälligkeiten und Geschenke sich verbunden hat. In-
zwischen erhält Sauls Vetter, Abner, vom Reich was zu erhalten
ist, nicht für sich, sondern für den rechtmässigen Erben Isbaal;
von Gilead aus, wohin er nach der grossen Katastrophe die
Die Chronik. 179
Regierung verlegt hat, erobert er allmählich das Westjordanland
zurück und trachtet darnach, auch das losgerissene Juda wieder
zu gewinnen. So kommt es zu langwierigen Kämpfen zwischen
Abner und David, worin das Glück mehr auf Seiten des letzteren
ist; doch tritt er nicht aus der Defensive heraus und erwirbt
nicht etwa im Kampfe die Herrschaft über Israel. Sie wird
ihm vielmehr durch Verrat in die Hände gespielt. Abner selbst,
über den Undank seines königlichen Neffen erzürnt, bietet dem
Nebenbuhler die Krone an und tritt dieserhalb mit ihm in
Unterhandlung, aber da er gleich darauf der Blutrache zum
Opfer fällt, so wird nichts daraus, bis Isbaal heimtückisch im
Schlaf von zweien seiner Hauptleute ermordet wird: da erst
kommen die Altesten von Israel nach Hebron und da erst wird
David König über das Reich Sauls. Wie viel Zeit gebrauchen
die Dinge, wie natürlich entwickeln sie sich, wie viel Mensch-
liches läuft mit unter, List und Verrat und Krieg und Mord!
Der Chronik ist das Alles zwar wohl bekannt, wie aus gelegent-
lichen Äusserungen in Kap. 11 und Kap. 12 erhellt, aber es wird
verschwiegen. Unmittelbar nach seines Vorgängers Tode wird
der Sohn Isai's von ganz Israel aus freien Stücken zum Könige
gemacht, nach dem Worte Jahve's durch Samuel. Anders lässt
sich die Folge von 10, 13. 14. 11, 1 nicht verstehen, anders ist
sie auch nicht verstanden — denn es ist dadurch wirklich ge-
lungen, wenigstens das Königtum Isbaals aus der traditionellen
biblischen Geschichte so ziemlich herauszubringen: auf Saul,
sagt man, folgt David. Es liegt also eine beabsichtigte und in
ihren Gründen sehr durchsichtige Verstümmlung der originalen
Relation vor, die uns im Buche Samuelis erhalten ist.
Wie ganz Israel den David zum Nachfolger Sauls gemacht
hat und ganz Israel dann mit ihm auf die Eroberung Jerusalems
ausgezogen ist (11,4) — in 2. Sam. 5, 6 ist bloss von den
Männern Davids die Rede — , so werden nun alsbald die edelsten
Repräsentanten aus allen Stämmen Israels, die schon bevor er
König geworden, mit dem Herzen und auch in der That auf
seiner Seite gestanden haben, an dieser Stelle mit Namen und
Zahlen aufgeführt, in drei Verzeichnissen (11, 10 — 12, 40), welche
zwischen die Mitteilung von 2. Sam. 5, 1—10 und 5, 11 ff. einge-
schoben sind. Das erste (11,10 — 47: dies sind die Helden, die
ihm beistanden in Gemeinschaft mit ganz Israel ihn zum Könige
12*
180 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
zu machen) ist das von 2. Sam. 23, welches der Chronist, wie
er in Kap. 20. 21 verrät, an jener Stelle gekannt hat und hier
höchst verfrüht mitteilt; denn es sind meistens Krieger aus
Davids späteren Kämpfen, die aufgezählt werden *). Das zweite
Verzeichnis (12, 1 — 22: dies sind die nach Siklag zu David Ge-
kommenen, als er noch verbannt war vor Saul) ist nicht aus
dem B. Samuelis entnommen, man merkt aber auch den Unter-
schied: neben alten und echten höchst gewöhnliche Namen,
kaum ein einziger nur hier vorkommender; die in Kap. 11 so
specielle Angabe der Herkunft mangelt fast immer, und statt
vor unseren Augen volkstümliche Thaten zu verrichten, ein
Gerstenfeld vorm Feind zu retten, einen Trunk Wasser mit Blut
zu bezahlen, einen Löwen im Brunnen zu erlegen, bekommen
die Helden allerlei Epitheta ornantia (12, 1—3) und Ehrentitel
(12, 14. 20), und führen gelegentlich eine recht geistliche Sprache
(12, 17. 18). Was vollends die historische Situation betrifft,
welche Unmöglichkeit, dass zu David als philisthäischem Lehns-
manne in Siklag sich ein grosses israelitisches Heer gesammelt
haben soll (12, 22), mit einer Menge von Hauptleuten über Hun-
derte und über Tausende! Offenbar ist der verbannte Flüchtling
für diese Vorstellung der glänzende König und der erlauchte
Ahnherr der legitimen Dynastie; daher auch die naive Bemer-
kung v. 29. Nicht besser steht es mit dem dritten Verzeichnis
(12, 23 — 40: dies sind die Häupter der Gerüsteten, welche zu
David nach Hebron kamen). Man beachte die regelrechte Auf-
zählung der zwölf Stämme, die in den älteren geschichtlichen
Büchern nirgends vorkommt und überall künstlich ist, sodann
die ungeheuren Zahlen, die hier nichts gleichgiltiges, sondern
die Hauptsache sind und den ganzen Inhalt ausmachen, endlich
die 4000 Leviten und 3700 Priester, die auch mit in dem krie-
gerischen Zuge auftreten und fortab die eigentliche Garde des
Königs bilden: der Chronik ist der Unterschied zwischen welt-
lichen und geistlichen Soldaten nicht ganz klar. Specialia kom-
*) Die durch Textverderbnisse im 2. Sam. 23 verwischte Einteilung in eine
Gruppe von drei und in eine andere von dreissig Helden (Text der Bb.
Sam. S. 213—216) hat der Chronist nicht verstanden und ganz unkennt-
lich gemacht. Darum hat er am Schluss (11, 42 — 47) noch eine Reihe
anderer Namen hinzufügen können, die über die Zahl Dreissig hinaus-
schiessen. In v. 42 verrät sich deutlich sein Stil, die Elemente wird er
irgendwo vorgefunden haben.
Die Chronik. 181
men wenig vor; die Bemerkung 12, 32 hängt vielleicht mit
2. Sam. 20, 18 zusammen, Jojada der Fürst des Hauses Aharon,
d. h. der Hohepriester, eine neben der historisch gesicherten
Folge Eli Pinehas Ahitub Ahia (Ahimelech) Abiathar vollkom-
men unmögliche Person, ist ein Reflex des Jojada von 2. Reg.
11. 12, und die Angabe, Sadok an der Spitze von 22 Erzpriestern
sei damals zu David gestossen, ist ein wenig glaubwürdiger Er-
satz der Nachricht des B. Samuelis, wonach Abiathar, dessen
ältere Ansprüche den B'ne Sadok und den Späteren nicht ge-
nehm waren, derjenige Priester gewesen ist, der es von vorn-
herein mit David gehalten; die 22 Erzpriester scheinen den
Häuptern der 22 nachexilischen Priesterfamilien zu entsprechen
(Neh. 12, 1—7. 12—21. 10, 3-9. 1. Chron. 24, 7—18). Doch es
bedarf kaum so weitläufiger Untersuchungen des Inhalt« dieser
Verzeichnisse, da die Absicht, in welcher sie hier stehen,
zum Schlüsse ohne Umschweif angegben wird v. 38: „alle
diese Kriegsleute, in Heeresordnung, kamen von ganzem Her-
zen gen Hebron, David zum König über ganz Israel zu
machen, und auch alles andere Israel war eines Herzens, dass
man David zum Könige machte; und waren daselbst bei David
drei Tage, assen und tranken — denn es war eine Freude in
Israel".
Nach dieser an recht verkehrter Stelle eingeschobenen Ex-
plicierung des Begriffs Gesamt -Israel wird mit der Wiedergabe
von 2. Sam. 5—7 fortgefahren. Davids erste That, nach der Er-
oberung der Feste Jebus, ist in der Chronik die, dass er sie,
durch Überführung der Lade Jahve's, zur heiligen Stadt macht
(13, lff.). Es hat den Anschein, als solle der Palastbau und
der Philisterkrieg 2. Sam. 5,11 — 25 ausgelassen werden, aber
nachdem die Erzählung 2. Sam. 6,1 ff. bis zu dem Punkte und
die Lade Gottes blieb im Hause Obed-edoms drei Mo-
nate (1. Chron. 13, 14 = 2. Sam. 6, 11) gegeben ist, wird diese
vierteljährige Pause benutzt, um das Übergangene nachzuholen
(14, 1—17 = 2. Sam. 5, 11—25), und dann der Bericht über die
Lade zu Ende gebracht. Dadurch wird zwar das Zusammen-
gehörige auseinandergerissen, aber zugleich das weltliche Ge-
schäft, welches nach der älteren Relation das nächste und an-
gelegenste ist, zu einer blossen Episode des heiligen herabge-
drückt. Dass Hausbau und Philisterkrieg in den drei Monaten,
182 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
die so praktisch zu [ihrer Einschaltung dienen, keinen Platz
haben, ist Nebensache.
Was nun näher die heilige Angelegenheit betrifft, die Über-
führung der Lade auf den Sion, so findet sich beinah Alles was
2. Sam. 6 steht, wörtlich auch 1. Chron. 13. 15. 16. 17, 1. Zwei
Züge nur fehlen in der Chronik, aber beidemal nicht zum Besten
des Zusammenhangs. Davids Weib Michal, heisst es 2. Sam.
6, 16. 20—23 , da sie den König in der Proeession tanzen und
springen sah, verachtete ihn in ihrem Herzen; hinterher als er
zu Hause kam, sagte sie ihm über sein unwürdiges Benehmen
die Meinung. Die erstere Bemerkung findet sich auch in der
Chronik (15, 29), aber die letztere ist (bis auf den abgerissenen
Ansatz 16, 43 = 2. Sam. 6, 20) ausgelassen — obwohl sie die
Hauptsache enthält, denn die Äusserung der Verachtung ist
das historische Ereignis, nicht die psychologische Motivierung
derselben: ein Weib durfte dem David nicht so etwas bieten.
Ganz ähnlich steht es mit dem anderen Fall. Wegen des Un-
glücks, das den Führer der Lade betroffen hat, wagt David zu-
erst nicht sie in seine Burg zu nehmen, sondern bringt sie unter
im Hause seines Hauptmanns Obed-edom; da aber Jahve das
Haus Obed-edoms segnet, so fasst er Mut, sie zu sich zu holen
(2. Sam. 6, 10 — 12). Dass Jahve Obed-edoms Haus gesegnet
habe, teilt auch die Chronik mit (13,4), aber dem wird keine
Folge gegeben, wir haben wieder die Ursache ohne die Wirkung.
Statt dessen wird ein anderer Pragmatismus beliebt: David er-
kannte, dass jener Unfall beim Transport der Lade davon ge-
kommen sei, weil sie nicht, nach der Vorschrift des Gesetzes,
von den Leviten getragen worden; nun sollten die Leviten sie
tragen, dann sei keine Gefahr dabei (15, 1. 13 — 15). Dass dies
dem älteren Berichte völlig widerspricht, liegt auf der Hand;
und da die Chronik in Kap. 13 denselben copiert, so widerspricht
sie sich auch selber (13, 10), und zwar in um so auffallenderem
Masse, als sie durch den Zusatz 13,2 die Fahrt der Lade auf
dem Kuh wagen von den nebenherziehenden Klerikern still-
schweigend approbieren lässt. Nachdem ihnen so ihre gebüh-
rende Beteiligung an dem heiligen Zuge gesichert ist, wird
1. Chr. 15 in Priestern und Leviten, von denen 2. Sam. 6 kein
Wörtlein zu lesen ist, förmlich geschwelgt, auch alsbald eine
Art musikalischer Gottesdienst von David höchstselber vor der
Die Chronik. 183
Lade eingerichtet und eine von ihm aus nachexilischen Psalmen
zusammengesetzte Festcantate aufgeführt Kap. 16. Aus der
ursprünglichen Relation, deren zerrissene Glieder sich nun sehr
sonderbar in dem neuen Zusammenhange ausnehmen, ist dadurch
etwas ganz anderes geworden. „Dort ist alles frei, bloss Sache
des Königs und des Volks, hier ist es Priesterceremoniel, dort
jauchzet und tanzet fröhlich das Volk mit seinem Könige vor
der Lade her, hier sind die Leviten Musiker und Sänger in
festgesetzter Ordnung. Beide Erzählungen vereinigen zu wollen,
ist ganz gegen die Gesetze historischer Interpretation. Wäre
die erste kurz und gedrängt, so wäre eine Vereinigung eher mög-
lich, allein specieller und anschaulicher kann nicht erzählt wer-
den, und nur von den Leviten, wenn sie eine so wichtige Rolle
gespielt hätten, sollte nichts gesagt sein? Der Vf. der Chronik
konnte sie nur hineinbringen, indem er sein Original entstellte
und verstümmelte und mit sich selbst in Widerspruch geriet. Er
kann nichts ohne Leviten geschehen lassen, und die Bundeslade
sollte ohne sie nach Jerusalem geschafft worden sein? Das Ge-
setz sollte auch das zweitemal unter dem frommen König David
unterlassen worden sein? Dies schien ihm unmöglich. Veran-
lassung mag ihm gegeben haben, dass Uzza bei der ersten Ab-
holung der Lade umkam , und dass 2. Sam. 6, 13 die Lade das
zweitemal — wo es sich um einen ganz kurzen Weg handelt
— getragen wird. Der combinationsreiche Verfasser benutzte
diesen Wink." So sagt mit Recht de Wette, Beiträge I, 88—91.
Nachdem der Bericht 2. Sam. 6 mit der ersten Hälfte von
v. 19 (1. Chron. 16,3) abgebrochen ist, wird nach Einschiebung
von 16, 4 — 42 die andere Hälfte des Verses und der Anfang des
folgenden nachgebracht (16, 43) und dann das Kapitel 2. Sam. 7
angeschlossen, welches 1. Chron. 17 im ganzen wörtlich wieder-
gegeben wird: der Entschluss Davids, der Lade ein Haus zu
bauen und was für einen Bescheid darauf ihm Jahve durch Na-
than gegeben. Der Sinn der Rede des Propheten hängt 2. Sam. 7
an dem Gegensatze: „du willst mir ein Haus bauen? vielmehr
ich will dir ein Haus bauen"; das Haus Davids ist natürlich
die Dynastie der Davididen. Aber schon in den Samuelistext
ist eine Interpolation eingedrungen 7, 13, welche die Antithese
so fasst: du willst mir ein Haus bauen? nein, dein Sohn soll
mir ein Haus bauen. Die Chronik nun, der David lediglich als
184 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
der eigentliche Gründer des salomonischen Tempels in Betracht
kommt, nimmt gerade wegen dieser Interpolation die Erzählung
2. Sam. 7 auf, wie aus 22, 9. 10 erhellt, sie «erweitert das Mis-
verständnis, indem sie in einem Zusätze (17, 14) darauf zurück-
kommt, und verdirbt von vornherein den originalen Gegensatz
durch die unschuldige Änderung: „du sollst mir das Haus nicht
bauen" (17,4) statt: du willst mir ein Haus bauen? Das Haus
kann hier nur heissen das notwendige und längst von Gott und
Menschen ins Auge gefasste, das jedenfalls gebaut werden muss,
nur nicht von David, sondern von Salomo; es ist unzweideutig
der Tempel und enthält nicht wie ein Haus die Möglichkeit
des Doppelsinns, worauf die ursprüngliche Pointe beruht. Inter-
essant ist auch der Vergleich von 2. Sam. 7, 12 mit 1. Chron.
17, 13. „Ich will deinem Samen Vater und er soll mir Sohn
sein; wenn er fehlt, so will ich ihn mit Menschenrute
züchtigen und mit menschlichen Schlägen, aber meine
Gnade soll nicht von ihm weichen. 44 Die gesperrten Worte
fehlen in. der Chronik, der Sinn, dass Jahve der judäischen
Dynastie im Ganzen seine Gnade nicht entziehen wolle, wenn
auch einzelne ihrer Glieder Strafe verdienen würden, wird da-
durch zerstört und in einen abstracten Idealismus verflüchtigt,
welcher zeigt, dass dem Verfasser das davidische Königsge-
schlecht nur als Nebelbild bekannt ist und nicht aus historischer
Erfahrung wie dem Verfasser von 2. Sam. 7.
In Kap. 18 — 20 scheint sich die Chronik an einer kleinen
Abwechselung zu erholen, indem sie die äusseren Kriege Davids
erzählt, nach der Reihenfolge von 2. Sam. 8. 10. 11, 1. 12, 30.
31. 21, 18— -22. Aber sie hat dabei doch ihren Zweck im Auge,
der auf David als Stifter des jerusalemischen Gottesdienstes ge-
richtet ist; diese Kriege brachten ihm das viele Geld ein, das
zum Tempelbau nötig war. Alles dagegen, was über die inneren
Vorgänge jener Zeit im Buche Samuelis so ausführlich und
schön erzählt ist, wird weggelassen, da es doch nicht viel zur
Verherrlichung des Königs beiträgt. So die Geschichte von Me-
ribaal und Siba Kap. 9, von Bathseba und Uria Kap. 11. 12,
von Thamar und Amnon Kap. 13. 14, vom Aufstande Absaloms
Kap. 15—20 und von der Opferung der Söhne Sauls 21, 1 — 14.
Wie mechanisch und roh dabei die Angaben über äussere Kriege
aus dem Zusammenhange mit häuslichen Begebenheiten, worin
Die Chronik. 185
sie in der älteren Relation stehen, herausgerissen werden, zeigt
1. Chron. 20, 1.2 verglichen mit 2. Sam. 11, 1. 12, 30. Die Notiz
David blieb in Jerusalem als das Heer gegen Rabba
ausrückte bereitet 2. Sam. 11 den Ehebruch mit dem Weibe
eines im Felde stehenden Hauptmanns vor, hat aber 1. Chron.
20, 1 keinen Sinn und verwickelt in Widerspruch mit v. 2, wo
David dennoch im Lager zu Rabba erscheint, obwohl der Über-
gang, dass er dem Heere nachgezogen, zusammen mit dem gan-
zen Zwischenspiel von Bathseba und Uria ausgelassen ist
(de Wette S. 19. 20. 60). Wie weit das Zudecken der Schande
der Heiligen getrieben wird, möge noch daraus abgenommen
werden, dass auch von den äusseren Kämpfen Davids, die sonst
allesamt mitgeteilt sind, einer verschwiegen wird, den David
nicht ganz mit Ehren bestanden haben soll, der mit dem Riesen
Jisbobenob (2. Sam. 21, 15 — 17). Bemerkenswert ist endlich
noch die Änderung 1. Chron. 20, 5. Elhanan, der Sohn Jairs
von Bethlehem, heisst es 2. Sam. 21, 19, habe den Goliath von
Gath getötet, dessen Speerschaft so dick gewesen sei wie ein
Webebaum. Aber David von Bethlehem hatte doch nach 1. Sam.
17 den Riesen Goliath erlegt, dessen Speerschaft so dick war
wie ein Webebaum? Also erschlägt Elhanan in der Chronik
den Bruder des veritablen Goliath.
2. Die letzten Kapitel des B. Samuelis II 21—24 sind be-
kanntlich ein Nachtrag von sehr eigentümlicher Structur. Der
Faden von 21, 1—14 wird mit 24, 1—25 fortgesetzt, in die Mitte
aber ist 21, 15 — 23, 39 geraten, auf eine sehr irrationelle und
vielleicht rein zufällige Weise. In diesem Zwischenstücke selber
gehören wiederum die ganz gleichartigen Verzeichnisse 21,
15 — 22 und 23, 8 — 39 eng zusammen; die beiden Lieder also
22, 1—51. 23, 1 — 7 sind ein Einschiebsel im Einschiebsel. Dieser
Unordnung folgt nun auch der Verfasser der Chronik, indem er
2. Sam. 23, 8—39 als gesondert von 21, 15—22 behandelt und
2. Sam. 24 an der letzten Stelle mitteilt, welche es nicht aus
sachlichen Gründen einnimmt, sondern nur deshalb, weil es
nachträglich angehängt und noch dazu von seiner ursprünglichen
Verbindung mit 21, 1—14 durch eine grosse Interpolation los-
gerissen ist.
Im ganzen ist 1. Chr. 21 (die Pest als Strafe für Davids
Volkszählung und die Theophanie als Veranlassung des Altar-
186 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
baues auf der Tenne Arauna) eine Copie von 2. Sam. 24, jedoch
mit Auslassung der genauen und interessanten geographischen
Angaben v. 5 ff. und mit Anbringung mehrfacher Verbesserungen.
So 21, 1 : und der Satan stand auf wider Israel und reizte David
— statt: und Jahve zürnte nochmals auf Israel und reizte David
(2. Sam. 24, 1). Desgleichen 21,6: Levi und Benjamin zählte
Joab nicht mit, da des Königs Befehl ihm ein Greuel war —
ein Zusatz, der sich einesteils aus Num. 1,49 und andernteils
daraus erklärt, dass im Gebiete Benjamins die heilige Stadt lag.
Sodann 21, 16. 27: David sah den Engel stehen zwischen Him-
mel und Erde und sein Schwert gezückt in seiner Hand, aus-
gereckt gegen Jerusalem — verglichen mit 2. Sam. 24, 16.
(1. Chr. 21,15): der Engel streckte seinen Arm aus Jerusalem
zu verderben und er war bei der Tenne Arauna; nach der
älteren Anschauung haben die Engel keine Flügel (Gen. 28).
Ferner 21, 25: David gab dem Arauna für seine Tenne 600Sekel
Goldes — dagegen 2. Sam. 24, 16: nur 50 Sekel Silber; dem
Verfasser der Chronik kostete es nichts den König königlich be-
zahlen zu lassen. Seine bedeusamste Zuthat endlich ist das
Feuer vom Himmel, welches das Opfer verzehrt (21,26); dadurch
soll der Altar auf der Tenne Arauna, d, h. der des jerusalemi-
schen Heiligtums, dem Altar der Stiftshütte, seinem Vorgänger,
gleichgestellt werden, dessen Feuer ebenfalls vom Himmel ent-
zündet wurde (Lev. 9, 24). Wer die Geschichten von den Altar-
bauten der Erzväter, Josua's (5, 15) Gideons und Manoahs be-
griffen hat, wird zugeben, dass der Verfasser der Chronik die
Meinung von 2. Sam. 24, der zufolge hier die göttliche Inaugu-
ration der jerusalemischen Cultusstätte berichtet werden soll,
ganz richtig verstanden hat; aber was dort, ebenso wie in den
ähnlichen älteren Sagen von Anzeigung geweihter Stätten durch
eine Theophanie, für geistesverwandte Zeitgenossen nur ange-
deutet wird, das muss er stark retouchieren, damit die Epigonen
es merken; und doch hat er die Pointe dadurch halb verdorben,
dass er den Engel nicht bei der Tenne Arauna auf dem heiligen
Boden stehen, sondern ihn in der Luft schweben lässt.
2. Sam. 24 = 1. Chron. 21 dient nun weiter zum Ausgangs-
punkte für die freie Ausführung 1. Chron. 22 — 29. Dass im letzten
Kapitel des Buchs Samuelis David den Altar zu Jerusalem grün-
det, wird dabin erweitert, dass er im letzten Jahre seiner Re-
Die Chronik. 187
gierung den salomonischen Tempelbau in allen Stücken bis aufs
kleinste vorbereitet habe. Unbeengt von der historischen Über-
lieferung bewegt sich hier der Verfasser in freien Regionen, in
seinem richtigen Fahrwasser. Was bis dahin an der Hand der
älteren Quelle über den König gesagt ist, das Alles ist durch
Zusätze und Auslassungen zugestutzt zu einer blossen Einleitung
für das eigentliche Werk seines Lebens, welches jetzt recht con
amore beschrieben wird. Er selber hat leider dem Jahve das
Haus nicht bauen dürfen, weil er viel Blut vergossen und grosse
Kriege geführt hat (22, 8. 28, 3), aber das Verdienst an der Sache
nimmt er doch noch im letzten Jahre seiner Regierung (23, 1.
26, 31) seinem Nachfolger vorweg. Mein Sohn Salomo, sagt er,
ist jung und schwach, das Haus aber, das dem Jahve gebaut
werden soll, muss gross und herrlich werden, da will ich's ihm
bereiten (22, 5). So beschafft er denn zum voraus die Hand-
werker und Künstler, wozu er namentlich die nichtisraelitische
Bevölkerung aufbietet, er beschafft das Material, Steine und Holz
und Erz und Eisen und Gold und Silber und Juwelen ohne Zahl,
er liefert auch den Plan oder erhält ihn vielmehr direct von
Jahve, und zwar schriftlich, schwarz auf weiss (28, 19), während
Mose die Stiftshütte doch nur nach der Erinnerung an das himm-
lische Urbild baut, welches er auf dem Sinai hat schauen dürfen.
Vor allem aber bestellt er das Personal für den Dienst des Tem-
pels, die Priester Leviten Thorwächter und Sänger, teilt ihre Tau-
sende in Classen ein und weist ihnen durchs Los ihre Ämter
zu; mit besonderer Vorliebe nimmt er sich dabei natürlich der
Musik an, indem er die Instrumente erfindet (23,4) und selber
als oberster Dirigent fungiert (25, 2. 6). Und da er doch nun ein-
mal König ist, so nimmt er zum Schluss auch noch ein Inventar
seines weltlichen Staates auf, nachdem er zuvor den geistlichen
geordnet. Dies Alles thut er für die Zukunft, für seinen Sohn
und Nachfolger; nicht in Wirklichkeit, sondern bloss nach dem
Plane werden z. B. die Thorwächter auf ihre Posten gestellt
(26, 12 ff.), nichtsdestoweniger mit genauester Angabe und Benen-
nung der Lokalitäten des dereinstigen Tempels — und zwar des
zweiten! Wie er fertig ist mit den Vorbereitungen, beruft David
eine grosse Versammlung der Prälaten und Notabein (23, 1. 28, 1),
lässt Salomo zum Könige und Sadok zum Priester salben (29, 22)
und übergiebt in langer Predigt dem ersteren mit dem Reich
188 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
zugleich die Aufgabe seiner Regierung, nämlich die Ausführung
dessen, was er selber vorbereitet und angeordnet hat; bei dieser
Gelegenheit werden dann noch mehr köstliche Steine und edle
Metalle, darunter Gold von Ophir und persische Dariken, von
David und von den Fürsten zum heiligen Bau gespendet. Der
ganze Abschnitt 1. Chron. 22—29 ist ein abschreckendes Beispiel
der statistischen Phantasie der Juden, die sich ergötzt an unge-
heuren Geldsummen auf dem Papier (22, 14), an künstlich einge-
teilten Regimentern von Namen und Zahlen (Kap. 23 — 27), an der
Aufzählung von lauter Subjecten ohne Prädikat, die in Parade
neben einanderstehen und nichts zu thun und zu bedeuten haben.
Nur durch gesalbte Reden wird zuweilen die Monotonie unter-
brochen, aber keineswegs in erquicklicher Weise. Man lese die
Kapitel durch, wenn man es fertig bringt.
Nach 1. Reg. 1. 2 war der König David in seinen alten
Tagen krank und schwach an Leib und Seele, und durchaus
nicht in der Verfassung, kurz vor seinem Tode seinem Nach-
folger in dieser Weise vorzuarbeiten, ihm das Brot so weit fertig
zu machen, dass jener es nur in den Ofen zu schieben brauchte.
Von seiner Absicht, dem Jahve ein Haus zu bauen, ist allerdings
auch 2. Sam. 7, in Anlass von 6, 17, die Rede; sie wird aber in
Folge der Ablehnung Jahve's, nicht der Mensch baue der Gottheit,
sondern die Gottheit dem Menschen ein Haus, definitiv aufgegeben.
Wunderlich contrastiert gegen diese Motivierung die der Chronik,
David sei ein Kriegsmann und habe viel Blut vergossen, darum
dürfe er den Tempel nicht errichten: dass er die Kriege Jahve's
geführt, dass der Herr durch seine Hand Sieg gegeben, wäre
der älteren kriegsgewohnten Zeit wahrhaftig nicht als Grund
wider, sondern nur als Grund für seine Würdigkeit zu diesem
Werke erschienen. Am schlimmsten collidiert jedoch die feier-
liche in allen Formen des Rechts und der Öffentlichkeit ge-
schehende Einsetzung Salomo's zum Könige und Sadoks zum
Priester, wie sie 1. Chron. 28. 29 vgl Kap. 22. 23, 1 erzählt wird,
mit der älteren Relation 1. Reg. 1. 2. Nach der letzteren war
es vielmehr eine gewöhnliche Palastintrigue, durch die es einer
Partei am Hofe gelang, dem altersschwachen Könige die Sanktion
der Nachfolge Salomo's abzulocken. Bis dahin hatte Adonia
als präsumtiver Thronerbe gegolten, bei David selbst, bei ganz
Israel und bei den Hauptwürdenträgern des Reichs, Joab und
Die Chronik. 189
Abiathar; in die Entscheidung fttr Salomo fiel vor allen Dingen
das Gewicht der 600 Prätorianer Benaja's, einer furchtbaren
Macht unter den Umständen der damaligen Zeit. Ganz harmlos
glaubt der Verfasser der Chronik allen Schwierigkeiten zu ent-
gehen, indem er die von ihm berichtete Krönung Salomo's für
die zweite ausgiebt (29,22); eine Bezugnahme auf 1. Reg. 1. 2,
die den Widerspruch nicht beseitigt, sondern nur verrät.
Doch dies besagt nichts gegenüber der Disharmonie des
Gesamtbildes. Was hat die Chronik aus David gemacht! Der
Gründer des Reichs ist zum Gründer des Tempels und des Gottes-
dienstes geworden, der König und Held an der Spitze seiner
Waffengenossen zum Kantor und Liturgen an der Spitze eines
Seh warmes von Priestern und Leviten, seine so scharf gezeichnete
Figur zu einem matten Heiligenbilde, umnebelt von einer Wolke
von Weihrauch. Dass es vergeblich ist, die grundverschiedenen
Bilder stereoskopisch zusammenzuschauen, leuchtet ein; histori-
schen Wert hat nur die Tradition der älteren Quelle. In der
Chronik ist dieselbe dem Geschmack der nachexilischen Zeit
gemäss vergeistlicht, welche für nichts mehr Sinn hatte als fin-
den Cultus und die Thora, welche daher der alten Geschichte,
die doch die heilige sein sollte, fremd gegenüber stand, wenn
sie sie nicht ihren Begriffen assimilierte und zur Kirchengeschichte
umgestaltete. So wie das durch Ezra zur Grundlage des Juden-
tums gemachte Gesetz als das Werk Mose's angesehen wurde,
so ward, was sich auf dieser Grundlage noch nach Mose aus-
bildete — und das war namentlich die heilige Musik und die
Ordnung des Tempelpersonals — , auf den König David zurück-
geführt, den lieblichen Sänger Israels, der nun seine Muse in
den Dienst des Cultus stellen und in Gemeinschaft mit Asaph
Heman und Jeduthun, den levitischen Sängergeschlechtern, Psal-
men dichten musste.
3. Bei Salomo entfernt sich die Chronik (II Kap. 1 — 9) nir-
gend sehr weit von dem Leitfaden des Buches der Könige. Da
die Erzählung 1. Reg. 1. 2, die nicht erbaulich ist und dem Be-
richte 1. Chron. 22—29 unbarmherzig ins Gesicht schlägt , aus-
gelassen werden muss , so wird mit 1. Reg. 3 angefangen , mit
dem Antrittsopfer Salomo's auf der grossen Bama zu Gibeon
und der Offenbarung Jahve's, die ihm darauf im Traume zu teil
wurde. Die letztere ist mit geringen Änderungen abgeschrieben,
190 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
aber am Anfang findet sich eine charakteristische Differenz.
„Salomo liebte den Jahve zu wandeln [in den Sitten seines
Vaters David, nur opferte und räucherte er auf den Höhen (denn
es war bis dahin dem Namen Jahve's noch kein Haus gebaut);
und der König ging nach Gibeon, dort zu opfern, denn da ist
die grosse Bama, tausend Brandopfer opferte er auf jenem Al-
tare; und Jahve erschien ihm im Traume: bitte was ich dir
geben soll." So 1. Reg. 3, 3 ff. Die Chronik umgibt den König
zunächst in ihrer Weise mit einer grossen Versammlung von
Hauptleuten über Hunderte und Tausende, von Richtern und
Fürsten und Familienhäuptern, mit lauter pentateuchischen
Grössen, und fährt dann fort: „und Salomo und die ganze Ge-
meinde mit ihm gingen zur Höhe in Gibeon, denn dort war die
Stiftshütte Gottes, die Mose der Knecht Jahve's in der Wüste
gemacht hatte; aber die Lade Gottes hatte David aus Kiriath-
jearim heraufgeholt dahin, wo er ihr die Stätte bereitet hatte,
denn er hatte ihr ein Zelt aufgeschlagen in Jerusalem; und der
eherne Altar, den Besaleel ben Uri ben Hur gemacht hatte,
stand dort vor der Wohnung Jahve's, den besuchte Salomo und
die Gemeinde; und Salomo opferte dort auf dem ehernen Altar
vor Jahve, bei der Stiftshütte opferte er 1000 Brandopfer und
Gott erschien ihm im Traume: bitte was ich dir geben soll"
2. Chron. 1, 3 ff. In der älteren Relation steht nichts von der
Stiftshtitte; unter der Voraussetzung derselben würde die Ent-
schuldigung dafür, dass Salomo auf einer Höhe geopfert habe,
weder nötig noch möglich sein. Die Chronik, in ihren Vor-
stellungen vom Altertum durch den Priestercodex beherrscht,
hat sie vermisst und nach jener Norm ergänzt; der junge fromme
König konnte doch unmöglich sein feierliches Antrittsopfer, wozu
er sich express von Jerusalem wegbegab, an einem anderen als
dem gesetzlich vorgeschriebenen Orte dargebracht, widrigenfalls
noch unmöglicher Jahve ihm dazu seinen Segen gegeben haben.
Es kennzeichnet die Gebundenheit und die Kühnheit des Ver-
fassers, dass er den 1. Reg. 3, 3 gebrauchten Ausdruck Höhe
beibehält und mit Stiftshütte gleichsetzt, obwohl derselbe das
gerade Gegenteil davon bedeutet. Lehrreich aber ist es zu sehen,
wie hinderlich ihm nun bei anderen Gelegenheiten sein ad hoc
in die Geschichte eingeführtes mosaisches Centralheiligtum zu
Gibeon wird. Nach 1. Chron. 16 ist David im besten Zuge, bei
Die Chronik. 191
der Lade Jahve's, die er auf den Sion übergeführt hat, auch
einen Opferdienst einzurichten; aber er darf nicht, denn der mo-
saische Altar steht zu Gibeon, und muss sich mit einem musika-
lischen Surrogat begnügen (v. 37—42). Ähnlich wird die Er-
zählung 1. Chron. 21, dass David durch die Theophanie auf der
Tenne Arauna's veranlasst sei, dort einen Altar zu bauen und
darauf ein vom Himmel acceptiertes Opfer zu bringen, zum
Schluss noch geknickt und verdorben durch die auf 2. Chron. 1
vorblickende Bemerkung: freilich sei das mosaische Heiligtum
und der Brandopferaltar damals noch auf der Höhe zu Gibeon
gewesen, aber der König habe nicht die Kraft gehabt sich dort-
hin zum Opfer zu begeben, weil ihm der Schrecken vor dem
Engel mit dem gezückten Schwert in die Glieder gefahren. So
muss denn auch das Opfer, welches Salomo gleich nach der
Rückkehr von Gibeon vor der Bundeslade zu Jerusalem darge-
bracht haben soll, ebenfalls ignoriert werden (2. Chron. 1, 13),
weil es den Zweck der vorangegangenen Interpretation der Bama
zu Gibeon vernichten würde. Also der Schatten raubt dem
Körper die Luft. An anderen Stellen wird bezeichnender Weise
die Stiftshütte mit dem jerusalemischen Tempel confundiert (Graf
S. 56), im Ganzen ist sie jedoch eine ziemlich wirkungslose Vor-
stellung geblieben, die nur .an unserer Stelle (2. Chron. 1) ge-
wissermassen ex machina benutzt wird, um den Salomo von
schwerem Vorwurf zu reinigen.
Auf den letzten feierlichen Gottesdienst bei dem mosaischen
Heiligtum folgt nun, mit Übergehung von 1. Reg. 3, 16—5, 14,
gleich der Tempelbau (1, 18— 7, 11). Doch werden inzwischen
ein paar kurze Züge zur Schilderung des Reichtums Salomo's
gegeben (1,14—17), die im Buche der Könige erst 10,26—29
stehen und an dieser weit schicklicheren Stelle auch in der
Chronik wiederholt werden (9, 25 ff.); vgl. Sept. zu 1. Reg. 3.
Die Vorbereitungen zum heiligen Bau hat zwar eigentlich David
dem Nachfolger abgenommen, aber letzterer scheint davon nicht
befriedigt (2, 16) und besorgt sie noch einmal (1, 18—2, 17). Ein
Vergleich mit Esdr. 3 (Zurüstung des zweiten Tempels) lehrt,
dass die Erzählung ein Elaborat unseres Verfassers ist, jedoch
nach Motiven von 1. Reg. 5, 16 ff. und mit Beibehaltung mancher
wörtlichen Reminiscenzen. Während Hiram und Salomo nach
dem älteren Bericht sich gleichstehen und einen Contrakt machen,
192 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
der auf Leistung und Gegenleistung beruht, ist hier der tyrische
König der untertänige Diener des israelitischen und liefert ihm,
was er verlangt, als Tribut; statt sieh wie dort mündlieh bereit
zu erklären, schreibt er hier einen Brief, worin er nicht bloss offen
seinen Glauben an Jahve den Gott Israels, der Himmel und
Erde gemacht hat, bekennt, sondern auch eine seltsame Kennt-
nis des pentateuchischen Priestercodex verrät. Der Erzgiesser,
den Salomo aus Tyrus kommen lässt (1. Reg. 7, 13. 14), wird
2, 13 als ein wahrer Dädalus und Tausendkünstler beschrieben,
ganz in der Weise Besaleels (Exod. 31, 2 ff.); dass derselbe zum
Sohne eines Weibes von Dan statt einer Witwe von Naphthali
gemacht wird, gibt den Auslegern Stoff zur Ausspinnung eines
kleinen Familienromans *), hat aber nicht mehr auf sich, als dass
das Sandelholz (2, 7) vom Libanon bezogen wird. Die Angabe
1. Reg. 5, 27 (11,28. 12,4), dass Israel in starkem Masse zum
Frohndienste des Königs herangezogen sei, ersetzt der Chronist
durch die an einem anderen Orte (1. Reg. 9, 21) vorkommende,
dass nur die kanaanitischen Hörigen dazu benutzt seien: die
Summe derselben berechnet er gleichwohl aus den 1. Reg. 5, 29f.
aufgeführten Zahlen. Charakteristisch ist endlich noch, wie
Salomo (2, 2) dem Hiram versichert, er werde den Gottesdienst
in dem neuen Hause ganz legitim nach der Ordnung des Priester-
codex einrichten; solche Bemerkungen, aus denen die ununter-
brochene Ausübung des mosaischen Cultus nach den Regeln
des Gesetzes erhellt, werden dann von Zeit zu Zeit wiederholt
(8, 12— 16. 13, 11).
In Kap. 3. 4 gibt der Verfasser die Beschreibung des Tem-
pels 1. Reg. 6. 7 wieder, mit Auslassung dessen, was sich auf
Profanbauten bezieht. Den gegenwärtig sehr corrupten Text hat
er vielleicht an einer Stelle (1. Reg. 7, 23) noch besser vorge-
funden, im Übrigen ihn entweder liederlich excerpiert oder wört-
lich abgeschrieben, mit Zuthat einiger Extravaganzen und späterer
Einrichtungen, z. B. der Specification des Goldes (3, 4ff. 8. 9),
der zehn goldenen Tische und hundert goldenen Schalen (4, 8),
der erzüberzogenen Thüren der Aussenthore (4, 9), des Vorhofs der
Priester (4, 9), des Vorhangs zwischen Heiligem und Allerheilig-
*) „Sie war von Geburt eine Danitin, heiratete in den Stamm Naphthali,
ward Witwe, als Witwe aus dem Stamme Naphthali ward sie das Weib
des tyrisehen Mannes." So Bertheau z. d. St.
Die Chronik. 193
stem (3, 14). Zu leugnen, dass in 1. Reg. 6. 7 das Original erhal-
ten sei, auf das an manchen Stellen zum Verständnis recurriert
werden muss, dazu gehört ein übel angebrachter Mut, zumal da
geradeso wie 1. Reg. 7,40—51, auch 2. Chr. 4, 11—5, 1 das sum-
marische Verzeichnis auf die* Beschreibung des Einzelnen folgt.
Während die concreten und sachlichen Angaben von 1. Reg.
6. 7 nur unvollständig und flüchtig mitgeteilt werden, wird da-
gegen der Aktus der Einweihung und die dabei von Salomo ge-
haltene Rede genau und ausführlich nach 1. Reg. 8 wiedergegeben
(5,2—7,10); die vorkommenden Zusätze und Auslassungen sind
allesamt geflissentlich. Die Priester und Leviten spielen 1. Reg. 8
bei einer Gelegenheit, die sie so nahe anging, nicht die ihnen
gebührende Rolle und machen namentlich gar nicht die bei einer
solchen Feier doch ganz unentbehrliche Musik. Also schiebt
der Chronist ad vocem Priester in der Mitte der auseinander
gerissenen Glieder von 1. Reg. 8, 10. 11 folgendes ein: „denn alle
Priester, so viel ihrer waren, hatten sich geheiligt ohne Unter-
schied der Klassen, und die Leviten, die Sänger, allesamt stan-
den in weissen Kleidern mit Cymbeln und Harfen und Zithern
östlich vom Altare und bei ihnen hundertundzwanzig Priester
mit Posaunen; und wie auf einmal die Posaunenbläser und Sän-
ger zusammen den Lobgesang Jahve's anstimmten und die Musik
begann mit Posaunen und Cymbeln und Begleitinstrumenten und
dem Lobgesang: Preis dem Jahve, denn er ist freundlich und
seine Güte währet ewiglich, da füllte sich das Haus mit Rauch"
(5, 11 — 13). Weiterhin wird die Angabe 1. Reg. 8, 22, Salomo
sei vor den Altar getreten und habe dort gebetet, zwar zunächst
copiert (6, 12), sodann aber einer authentischen Interpretation
unterworfen, der König habe nämlich nicht etwa wirklich vor
dem Altar gestanden (was nur die Priester durften), sondern auf
einer improvisierten Kanzel im inneren Vorhof, auf einem um-
gestülpten ehernen Kessel (6, 13) — ein ausgezeichneter Ge-
danke, der denn auch die verdiente Approbation der Ausleger
gefunden hat. Der Schluss von Salomo's Gebet (1. Reg. 8, 49 bis
53) wird, vielleicht um 8, 50 los zu werden, verkürzt (6, 39. 40)
und dafür ein Epilog eigener Fabrik gegeben (6, 41. 42), der an
nachexilische Psalmen erinnert. Darauf folgt eine grössere Aus-
lassung, nämlich von 1. Reg. 8, 54 — 61, die sich aus dem Anstoss
erklärt, dass der König hier doch nicht auf dem Kessel, sondern
W eil hau sen, Prolßgomena. 13
194 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
vor dem Altare kniet und steht und segnet wie ein Priester;
als Ersatz wird dann in 7, 1—3 berichtet, wie der Altar durch
Feuer vom Himmel eingeweiht sei, das zwar schon einmal auf
ihn herabgefallen (I. 21, 26), aber wie es scheint unverantwort-
licher Weise ausgegangen ist. Mit 7, 4 erreicht der Verfasser
wieder den Anschluss an 1. Reg. 8, 62 ff., spickt indessen auch
hier seine Vorlage, wo sie ihm zu mager dünkt, mit posaunen-
den Priestern und musicierenden Leviten (7, 6) und lässt zum
Schluss die Entlassung des Volks statt am achten Tage des
Laubhüttenfestes (1. Reg. 8, 66) vielmehr erst am neunten ge-
schehen (7, 10), auf Grund der Vorschrift Num. 29, 35.
Der Rest der Geschichte Salomo's (7, 11 — 9, 28) ist aus
1. Reg. 9. 10 übertragen. Dabei ist die Nachricht 1. Reg. 9,
10 — 18, dass Salomo dem Hiram zwanzig galiläische Städte ver-
handelte, in ihr Gegenteil umgedichtet, dass nämlich Hiram dem
Salomo die Städte abgetreten und dieser darin Israeliten ange-
siedelt habe (8,1.2), und ähnlich ist die schon 1. Reg. 9, 24
verdunkelte Notiz von der Übersiedelung der ägyptischen Ge-
mahlin Salomo's aus der Burg Davids in seinen neuen Palast *),
verändert und in ein ganz falsches Licht gesetzt: „die Tochter
Pharao's brachte Salomo aus der Burg Davids in das Haus,
welches er ihr hatte bauen lassen, denn er sprach: im Hause
Davids soll mir kein Weib wohnen, denn es ist heilig, weil dort
die Lade Jahve's hingebracht ist" (8, 11). Über 8, 12 — 16
(1. Reg. 9, 25) thut nicht weiter not zu reden; mehr gleichmü-
tiger Art sind der Zusatz 7, 12—15, aus lauter Reminiscenzen
zusammengesetzt, die Ausschmückung 8, 3 — 6, entsponnen aus
1. Reg. 9, 17—19, die Variationen 8, 17 f. 9,21, misverstanden
aus 1. Reg. 9, 26 ff. 10, 22. Das Schlusskapitel über Salomo's
Regierung (1. Reg. 11), worin der König sich nicht von der glän-
zenden Seite zeigt, wird aus den selben Gründen mit Still-
schweigen übergangen wie die beiden Anfangskapitel.
Nach dem selben Plan und mit gleichen Mitteln wie die
Geschichte des Vaters ist also auch die Geschichte des Sohnes
bearbeitet, nur fügt sich hier der Gegenstand leichter der Ab-
sicht der Bearbeitung. Das alte Bild ist in der Weise retouchiert,
dass alle dunklen und hässlichen Züge getilgt und dafür neue
l ) Vgl. 1. Reg. 3, 1. In 9, 24 ist mindestens zu sprechen bethö ascher
bana lö, aber vielleicht kommt man damit nicht aus.
Die Chronik. 195
und glänzende Farben aufgesetzt sind, nicht im Stil des Origi-
nals sondern im Geschmack der Zeit: Priester und Leviten und
Feuer vom Himmel und Erfüllung aller Gerechtigkeit des Ge-
setzes und viel Musik, dazu noch allerlei harmlose legendarische
Anachronismen und Übertreibungen. Der überlieferte Stoff er-
scheint gebrochen durch ein fremdartiges Medium, den Geist des
nachexilischen Judentums.
IL
1. Seit Salomo's Tode wird die Geschichte Israels in der
Chronik nur durch das Reich Jahve's in der Hand der Söhne
Davids fortgesetzt und Alles beiseite gelassen, was sich auf die
Zehn Stämme bezieht. Denn nach den Begriffen der judaisti-
schen Periode ist Israel die Gemeinde des rechtmässigen Gottes-
dienstes, dieser aber ist an den Tempel zu Jerusalem geknüpft
und am Tempel zu Jerusalem haben natürlich die Samarier
keinen Anteil. Abia von Juda macht dem Könige Jerobeam I
und seinem Heere diesen Standpunkt klar, in einer Rede vom
Berge Semaraim herab, womit er die Schlacht eröffnet. „Ihr
denkt zu bestehen vor dem Reiche Jahve's in der Hand der
Söhne Davids, da ihr ein grosser Haufe seid und die goldenen
Kälber auf eurer Seite habt, die euch Jerobeam zu Göttern
gemacht hat? habt ihr nicht die Priester Jahve's, die Söhne
Aharons, und die Leviten vertrieben und wie die Heiden euch
selber Priester gemacht, so dass jeder, der kömmt seine Hand
zu füllen mit einem Farren und sieben Widdern, Priester wird
für die Götzen? Wir aber haben den Jahve unsern Gott nicht
verlassen und unsere Priester dienen dem Jahve, die Söhne
Aharons und die Leviten zur Dienstleistung, und räuchern dem
Jahve Brandopfer alle Morgen und Abend und bringen Weih-
rauch dar und Schaubrote auf den reinen Tisch ; denn wir
haben den Dienst Jahve's unseres Gottes bewahrt und ihr habt
ihn verlassen. Und siehe mit uns sind an der Spitze Gott und
seine Priester und die Lärmposaunen zu lärmen gegen euch:
Israeliten, kämpft nicht gegen Jahve den Gott eurer Väter, denn
es wird euch nicht gelingen!" (13, 8—12, vgl. 11, 13—17).
In Wahrheit war das Reich, welches den Namen Israel
führte, in alter Zeit auch thatsächlich das eigentliche Israel, und
Juda eine Art Anhang dazu. Als Amasia von Juda nach der
13*
196 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
Bezwingung der Edomiter den König Joas von Samarien zum
Kampfe herausforderte, dessen Land damals durch die ewigen
Syrerkriege aufs äusserste gelitten hatte, Hess der ihm sagen:
„die Distel auf dem Libanon sandte zur Ceder auf dem Li-
banon: gib deine Tochter meinem Sohne zum Weibe — da lief
das Wild darüber hin und zertrat die Distel; du hast Edom ge-
schlagen und bist stolz geworden, geniesse deinen Ruhm und
bleib zu Hause" (2. Reg. 14, 9); und da der andere nicht hören
wollte, strafte er ihn wie einen unartigen Knaben und Hess ihn
laufen. Dem Verhältnis der politischen und historischen ent-
sprach so ziemlich das der religiösen Bedeutung. Israel war
die Wiege des Prophetentums, Samuel Elias und Elisa wirkten
dort; welche ähnliche Gestalt wäre ihnen gleichzeitig aus Juda
an die Seite zu setzen? sicher würde sie der Verfasser des
Buchs der Könige nicht vergessen haben, der von ganzem Her-
zen Jude ist und doch durch den Stoff selber gezwungen wird,
sich vorzugweise für das Nordreich zu interessieren. Noch zum
Schluss war es der drohende Untergang Samariens, welcher eine
neue Phase der Prophetie erweckte; ihr Eröffner, der Judäer
Arnos von Thekoa, ward nicht an Juda, sondern an Israel ge-
sandt, dessen Geschichte als die des Volkes Jahve's von ihm
in tiefster Seele mit- und vorausempfunden wurde. Erst Jesaia
stellte Jerusalem in den Mittelpunkt seiner Schau und wandte
sich von Israel ab; denn als er zuerst auftrat, brannte der Krieg
zwischen den Brudervölkern, und als er auf der Höhe seiner
Wirksamkeit stand, war es aus mit dem Nordreiche, und alle
Hoffnung musste sich an den Rest halten, an die verfallene
Hütte Davids. Hinsichtlich des Cultus allerdings mochten die
Dinge, wenigstens in dem letzten Jahrhundert vor der assyri-
schen Gefangenschaft, in Israel etwas ungünstiger liegen als in
Juda, aber von vornherein bestand kein wesentlicher Unter-
schied. Hüben und drüben ward Jahve als der eigentliche Gott
des Volks an zahlreichen Stätten verehrt, dem Höhendienste
mangelte es weder hier noch dort an heiligen Bäumen Pfählen
und Steinen, an goldenen und silbernen Bildern (Isa. 2, 8 ff.
17, 8. 31, 22. Micha 5, 12). Ob in der Zeit vor Hizkia der
Reichscultus zu Jerusalem sich so sehr vor dem zu Bethel und
Dan ausgezeichnet habe, ist die Frage — den goldenen Käl-
bern Jerobeams steht die eherne Schlange Mose's und die Lade
Die Chronik. 197
Jahve's selber gegenüber, die im Altertum ein Idol war (1. Sam.
4—6) und zu einer Lade des Bundes d. i. Gesetzes erst ideali-
siert wurde, als sie wahrscheinlich gar nicht mehr vorhanden
war. Was aber die prophetische Reaction gegen den volkstüm-
lichen Cultus betrifft, so beweist das Beispiel Hosea's, dass sie
sich gerade so früh und so stark innerhalb Israels regte wie
innerhalb Juda's. Sogar noch nach der Reformation Josia's
klagt Jeremia, die bis dahin verschonte Schwester sei um nichts
besser als die vor hundert Jahren dem Assyrer zum Opfer ge-
fallene (3, 6 — 10) , und der Verfasser des Buches der Könige,
obwohl er, auf dem Deuteronomium fussend, grundsätzlich Juda
und Jerusalem vorzieht, verändert doch nicht seinem Urteil zu
lieb die Thatsachen, welche beweisen, dass das alte Israel den
Anforderungen jenes Gesetzes nicht eben schlechter entsprochen
habe als das alte Juda.
Die Chronik dagegen legt das Gesetz — und zwar im
vollen Umfange das ganze pentateuchische Gesetz, namentlich
aber den darin dominierenden Priestercodex — nicht bloss ihrem
Urteil über die Vergangenheit zu Grunde, sondern dichtet auch
die Thatsachen in jene von jeher gültige Norm um und denkt
sich das alte hebräische Volk genau nach dem Muster der spä-
teren jüdischen Gemeinde, als einheitlich gegliederte Hierokratie,
mit einem streng centralisierten Cultus von genau vorgeschrie-
bener Form an der heiligen Stätte zu Jerusalem. Wenn also
die Zehn Stämme alle die Kennzeichen des Reiches Gottes ver-
missen lassen so bedeutet das ihren Abfall vom wahren Israel;
sie haben die Böcke und Kälber zu ihren Göttern gemacht, die
Priester und Leviten verjagt, überhaupt sich losgesagt von den
Einrichtungen, die in Juda seit Josia sich ausbildeten und durch
Ezra ihren Abschluss gewannen 1 ). Sie kommen darum wie an-
dere Heiden nur so weit für die heilige Geschichte in Betracht,
als sie mit dem eigentlichen Volke Jahve's, dem Israel im Lande
Juda (2. Chron. 28, 2), in freundliche oder feindliche Berührung
treten, wobei dann immer in geflissentlichster und unverholenster
Weise für Juda Partei genommen wird, sogar von den Be-
] ) Freilich kann der Verfasser der Chronik auch bei diesen Schismatikern
nicht von seinen gesetzlichen Vorstellungen abstrahieren, wie es sich in
einer fast komischen Weise darin zeigt, dass die Priester Jerobeams ihre
Ketzereien ganz nach Vorschrift des Priestercodex begehen nnd ihre
Handfüllung mittelst eines grossen Opfers besorgen (13, 9).
198 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
wohnerri des Nordreichs selber 1 ). Macht man Ernst mit dem
Pentateuch als mosaischem Gesetze, so ist diese Ausschliessung
der Zehn-Stämme in der That eine notwendige Consequenz,
denn die blosse Thatsache ihrer Zugehörigkeit zum Volke Jahve's
zerstört dessen Grundvoraussetzung, die Einheit und Legitimität
des Gottesdienstes als Basis der Theokratie, die Priester und
Leviten als ihre wichtigsten Organe „als die Sehnen und Mus-
keln des Volksleibes, welche den Gliederbau zu einem lebens-
kräftigen und beweglichen Ganzen zusammenhalten".
2. Die Kehrseite ist natürlich die Idealisierung Juda's vom
legitimen Cultus aus, in einer Weise, die man sich nach den bei
David und Salomo abgelegten Proben vorstellen kann. Die
Priester und Leviten, die aus Israel ausgewandert sind, haben
das südliche Reich gestärkt (11, 17) und bilden hier das eigent-
lich herrschende, die Geschichte tragende Element. Um ihret-
willen sind die Könige da, als die Schirmherren und Vögte des
Cultus, in dessen innere Angelegenheiten sie sich aber nicht
mischen dürfen (26, 16 ff.); Predigten zu halten und geistliche
Feste — welche als die Höhenpunkte der Historie erscheinen
— zu ordnen gehört zu den Hauptpflichten ihres Regiments 2 ).
Die guten unter ihnen begreifen ihre Aufgabe und sind unzer-
trennlich von den heiligen Dienern Jahve's, so namentlich Jo-
saphat Hizkia und Josia. Von dem ersteren wird berichtet, er
habe im dritten Jahr seines Königreichs eine Commission von
Notabein Priestern und Leviten abgeordnet um mit dem Gesetz-
buch umherzuziehen und zu lehren in den Ortschaften Juda's
(17, 7 — 9); in den grösseren Orten, in den Festungen, habe er
demnächst Richtercollegia bestellt und über ihnen ein höchstes
Tribunal zu Jerusalem eingesetzt, gleichfalls bestehend aus Prie-
stern und Leviten und Notabein, unter dem Vorsitz des Hohen-
priesters für die geistlichen und des Fürsten von Juda für die
weltlichen Sachen (19, 5 — 11). Im Buche der Könige steht davon
nichts, obwohl weniger Wichtiges bemerkt wird (I. 22, 47); der
Verfasser der Chronik meldet es in seiner eigenen Sprache, die
namentlich in den frommen Reden unverkennbar ist. Wahr-
scheinlich ist es die Justizorganisation seiner Gegenwart, die
J ) Vgl. 11, 16. 15, 9. 30, 6. 19, 2. 20, 35ff. 25, 7. 28, 9ff.
2 ) 13, 7ff. 15, lOff. 20, 6ff. 29, 5ff. 30, lff. 35, lff,
Die Chronik. 199
hier auf Josaphat zurückgeführt wird, so dass wir hier wohl
das älteste Zeugnis für das Synedrium zu Jerusalem als oberste
Instanz über den provincialen Synedrien, sowie für dessen Zu-
sammensetzung und Präsidium haben. Die Unmöglichkeit einer
solchen Gerichtsverfassung im Altertum erhellt aus der Voraus-
setzung des Gesetzbuches als ihrer Grundlage, aus .der Coordi-
nation von Priestern und Leviten, und auch aus dem thatsäeh-
liehen Widerspruch gelegentlicher Angaben namentlich bei Jesaia
und den älteren Propheten (bis auf Jerem. 26), in denen es
überall als selbstverständlich gilt, dass die Machthaber zugleich
auch die geborenen Richter sind. Schon von David weiss
übrigens die Chronik Ahnliches zu erzählen wie von Josaphat
(1.23,4. 26,29 — 32); der Grund, warum vorzugsweise der
letztere zu diesem Werke ausersehen wird, liegt einfach in sei-
nem Namen Jahve ist Richter, wie er selbst mehrfach an-
deuten muss (19, 5 — 11 vgl. Joel 4, 12). Aber nicht bloss in
diesen inneren Angelegenheiten, sondern auch zum Kriege stär-
ken die Priester und. Leviten den König von Juda. Wie die
Posaunen der Priester dem Abia Mut und Sieg wider Jerobeam
von Israel verleihen, so die Leviten dem Josaphat gegen Moab
und Ammon. Nachdem er zuvor gefastet und die tröstliche
Verheissung des Sängers Schauegott anbetend entgegen genom-
men hat, rückt er am anderen Morgen mit dem Heere gegen
die Feinde aus, die Leviten voran, die im heiligen Schmuck vor
den Gerüsteten herziehen und singen: danket dem Jahve, denn
seine Güte währet ewiglich. . Er findet darnach die Kampfes-
arbeit von den Feinden selbst gethan, die sich auf das Signal
jenes Lobgesanges hin einander angefallen und allesamt aufge-
rieben haben, teilt drei Tage den Raub aus und kehrt dann um
wie er gekommen ist, die levi tische Musik voran, mit Psaltern
Harfen und Drommeten zum Hause Jahve's (20, 1 — 28). In ähn-
licher Weise wird Hizkia verherrlicht. Von der assyrischen Be-
lagerung Jerusalems und der denkwürdigen Befreiung der Stadt
wird verhältnismässig wenig Aufhebens gemacht (32, lff. vgl.
de Wette I. 75); nach der Chronik ist seine Hauptthat, dass er,
sobald er auf den Thron gelangt, im ersten Monat des Jahres
und seiner Regierung (Exod. 40, 2. Lev. 9, 1), durch die Priester
und Leviten, die er ganz väterlich als seine Kinder anredet
(30, 11), ein grosses Weihfest des angeblich von Ahaz ver-
200 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
schlossenen und verwüsteten Tempels veranstaltet, darauf im
zweiten Monat das Passah in grossartigster Weise nachfeiert,
und endlich vom dritten bis zum siebenten Monat für das genaue
Eingehen der Abgaben an den Klerus Sorge trägt; wie das alles
in dem gewohnten Stile durch drei lange Kapitel beschrieben
wird, aus denen wir für die Zeit Hizkia's nichts, wohl aber
manches für die Zeit des Verfassers lernen können, besonders
für die damalige Darbringungsweise der heiligen Abgaben (29,
1 — 31, 21). Auch bei Josia wird zwar der Bericht über seine
epochemachende Cultusreformation im ganzen nur verstümmelt
in der Chronik wiedergegeben, aber die kurze Notiz 2. Reg. 23,
21 — 23 wird zu der ausführlichsten Schilderung eines glänzen-
den Passahfestes erweitert, wobei wie immer die Priester und
vor allem die Leviten als, die Hauptpersonen figurieren. In
letzterer Beziehung ist. noch ein einzelner kleiner Zug mitteilens-
wert, dass nämlich die grosse Versammlung, worin der König
das Gesetzbuch beschwören lässt, zwar im Übrigen 2. Chron. 34,
29 f. genau so zusammengesetzt ist wie 2. Reg. 23, 1. 2, aber
statt der Priester und Propheten die Priester und Leviten
daran teilnehmen. Was das zu bedeuten habe, lehrt am besten
der Vergleich des Thargum, wo die Priester und Propheten
in Priester und Schriftgelehrte übersetzt werden.
In einen eigentümlichen Conflikt gerät nun aber der Chro-
nist durch diese Projection des im Gesetz vorgeschriebenen und
im Judaismus verwirklichten legitimen Cültus mit den Angaben
seiner Quelle, aus denen hervorgeht, dass derselbe nicht fertig
aller Geschichte vorangegangen, sondern allmählich im Laufe
der Geschichte geworden ist; er wickelt sich heraus so gut es
geht, ohne jedoch einem wunderlichen Schaukeln zwischen der
zeitlosen Anschauung, die ihm Natur ist, und der historischen
Tradition, die er benutzt und aufnimmt, zu entgehen. Die Verse
1. Reg. 14, 22. 23 die Judäer (nicht bloss Rehabeam) thaten
was Jahve übel gefällt und ärgerten ihn wie ihre
Väter und errichteten ebenfalls Höhen und Malsteine
und heilige Pfähle u. s. w., welche ebenso wie die parallelen
über Israel 12, 25 ff. an dieser Stelle von principieller Bedeutung
sind und einen derben Strich durch den angeblichen Unter-
schied der Culte des levitischen und des nichtlevitischen Reiches
ziehen, werden als gar zu unmöglich ausgelassen, obwohl der
Die Chronik. 201
ganze übrige Zusammenhang mitgeteilt ist (12, 1 — 16). Des-
gleichen ist das ungünstige Urteil über Rehabeams Nachfolger
Abia 1. Reg. 15, 3 — 5 nicht aufgenommen, weil die ersten jüdi-
schen Könige, da sie ja den rechten Gottesdienst bewahren,
gegenüber den israelitischen, die davon abgefallen sind, not-
wendig gut sein müssen. Aber wenn der Chronist zur Ehre
Juda's das Schlimme verschweigt, so mag er doch nicht die
nach 1. Eeg. 15, 12 ff. mit Asa eintretende Besserung übergehen,
obgleich man nun gar nicht weiss, wozu es derselben bedarf,
da ja schon vorher Alles in bester Ordnung gewesen ist. Ja er
übertreibt noch diese Besserung und macht den Asa zu einem
andern Josia (15, 1—15), lässt ihn auch (14,3) die Höhen ab-
schaffen und recipiert dann doch (15, 17.) die Angabe 1. Reg.
15, 14, die Höhen seien nicht abgethan. Ähnlich heisst es über
Josaphat zunächst, er habe in den anfänglichen Wegen seines
Vaters Asa gewandelt und die Höhen abgeschafft in Juda (17, 3.
6. 19, 3), in falscher Verallgemeinerung von 1. Reg. 22, 43. 47,
und hinterdrein dennoch, die Höhen seien geblieben (20, 32. 33),
wörtlich nach 1. Reg. 22, 43. 44. Es dünkt dem Verfasser einer-
seits eine Unmöglichkeit, dass der Höhendienst, der ihm trotz
33, 17 im Grunde Abgötterei ist, auch von den frommen d. i.
gesetzestreuen Königen nicht unterdrückt sein sollte, und auf der
anderen Seite copiert er doch mechanisch seine Vorlage.
Bei den notorisch misfälligen Herrschern hilft er sich damit,
dass er sie einfach zu Heiden und zu Verfolgern der Bundes-
religion macht; denn innerhalb des Jahvismus, der ja zu allen
Zeiten nach dem Gesetz normiert und mit dem exclusiven Mo-
saismus des Judentums gleichbedeutend gewesen ist, sind sie
für ihn undenkbar. So zuerst bei Joram: er macht Höhen auf
den Bergen Juda's und verführt die Bewohner Jerusalems zur
Hurerei und Juda zum Abfall (21,11), erwürgt dazu alle seine
Brüder mit dem Schwert (v. 4) — eins ergibt sich aus dem an-
deren. Seine Witwe Athalia verwüstet, durch ihre ermordeten
aber zu diesem Zweck wieder auflebenden Söhne, den Tempel
Jahve's und macht Baalsbilder aus dem geweihten Metall (24, 7);
nichtsdestoweniger geht der öffentliche Jahvedienst unter Lei-
tung des Priesters Jojada ununterbrochen fort. Am unbarm-
herzigsten wird Ahaz zugerichtet. Nach 2. Reg. 16, lOff. hat der-
selbe zu Damascus einen Altar gesehen, der ihm gefiel, und nach
202 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
dessen Muster einen ähnlichen zu Jerusalem errichten lassen,
während der eherne Altar Salomo's wahrscheinlich in die
Schmelze wanderte; Uria der Priester hat die Ausführung der
betreffenden Befehle des Königs besorgt. Man sieht, von Auto-
nomie, von unantastbarem göttlichen Recht des Heiligtums ist
keine Rede, der König befiehlt's und der Priester thut's. Dem
Chronisten ist also die Geschichte vollkommen unfassbar; was
macht er daraus? Ahaz hat den damascenischen Götzendienst
eingeführt, den Jahvedienst abgeschafft und den Tempel zuge-
schlossen (28, 23 f.). An der Person eines Menschen liegt ihm
nichts, an der unbeugsamen Einheit des mosaischen Cultus Alles,
und dessen Identität wäre ja dahin, wenn ein rechtgläubiger
Priester, ein Freund des Propheten Jesaia, die Hand dazu ge-
boten hätte, einen fremden Altar einzuführen. Um Manasse
und Amon zu reinen Götzendienern zu machen, war eine Stei-
gerung der Angaben 2. Reg. 21 kaum von nöten; ausserdem la-
gen hier besondere Gründe vor, die es verboten zu schwarz zu
zeichnen. Wunderbar ist wie auch das Volk, welches stets von
Eifer und Freudigkeit für das Gesetz beseelt ist und den from-
men Herrschern ihre Bundestreue belohnt (15, 15. 17, 5. 24, 10.
31, 10), diese bösen Könige dadurch censiert, dass es ihnen die
Ehre des königlichen Begräbnisses versagt oder verkümmert
(21, 19.20. 28,27. 33, 20) — in Widerspruch gegen 2. Reg. 9, 28.
16, 20. 21, 28.
Die periodischen Anfälle des Heidentums dienen zugleich
dazu, die darauf folgenden Besserungen zu verstehen, die sonst
das Begriffsvermögen des jüdischen Schriftgelehrten übersteigen.
Nach dem Buche der Könige trafen die Könige Joas Hizkia
und Josia lobenswerte Neuerungen im Tempelcultus, beseitigten
tief eingewurzelte und von jeher geübte Gewohnheiten und re-
formierten den officiellen Dienst Jahve's. Aus diesen Fort-
schritten innerhalb des Jahvismus, die allerdings seiner mo-
saischen Stabilität recht unbequem widersprechen, macht die
Chronik vielmehr einfache Herstellungen des reinen Gottes-
dienstes, welche auf vorübergehende gewaltthätige Abschaffung
desselben folgen. Am gründlichsten bei Hizkia. Nachdem sein
Vorgänger die heiligen Thore geschlossen, die Leuchter gelöscht
und den Gottesdienst sistiert hat, bringt er, durch die reaeti-
vierten Priester und Leviten, alles wieder in Gang; seine erste
Die Chronik. 203
und wichtigste Regierungsthat ist die Tempelweihe (Kap. 29),
daran sehliesst sich (Kap. 30. 31) die Wiedereröffnung des Passah
und die Eintreibung der Temporalien an den bisher, wie es
scheint, gesperrten Klerus. Dass die freilich ganz anderes be-
sagenden Angaben 2. Reg. 18, 1—7 der Ausgangspunkt zu diesen
Extravaganzen gewesen sind, lehrt der Vergleich von 29, 1. 2.
31, 1. 20. 21. 32, 22. Nur dass der König die eherne Schlange
Nehustan zerstörte (2. Reg. 18, 4), wird mit Stillschweigen über-
gangen, als sei es unglaublich, dass man ein solches Abbild, im
Glauben es rühre von Mose her, bis dahin sollte verehrt haben;
der nicht geringere Anstoss dagegen, dass er die Aschera um-
hieb, worunter man nur die des Tempelaltars verstehen kann
(Deut. 16, 21), wird durch Umsetzung des Singulars in den
Plural geebnet: er hieb die Ascheren um (31, 1), die sich hie
und da in Juda vorfanden, natürlich bei heidnischen Altären.
Bei Joas und Josia stehen die nicht bloss kurz das Resultat
berichtenden sondern speciell in den Hergang eingehenden Er-
zählungen der Vorlage, an die der Chronist gebunden ist 2. Reg.
11. 12. Kap. 22. 23, dem freien Fluge seiner gesetzesseligen
Phantasie entgegen. Gerade solche Geschichten, fast die einzigen
ausführlichen über das Reich Juda im Buche der Könige, die
ihrer Natur nach der Vorliebe unseres Verfassers für den Cultus
am meisten entsprechen, bringen ihn durch ihr Detail in die
grösste Verlegenheit, welches nach seinen Begriffen total unge-
setzlich ist und doch nicht anders als im günstigsten Lichte dar-
gestellt werden darf.
Dass die im Tempel spielenden und den Tempel betreffen-
den Perikopen über Joas 2. Reg. 11, 1 — 12, 17 eigentlich iden-
tisch sind mit 2. Chron. 22, 10 — 24, 14, steht ausser Zweifel.
Was zunächst 2. Reg. 11 betrifft, so kehrt der Anfang und
Schluss v. 1—3. v. 11—20 in 2. Chron. 22, 10—12. 23, 12—21
wörtlich wieder, von kleinen Alterationen abgesehen. Aber auch
in der Mitte finden sich Stellen aus 2. Reg. 11 in 2. Chron. 23
unverändert aufgenommen, nur sind sie hier im Zusammenhange
ungereimt, während dort verständlich. Denn die Meinung und
Farbe des Ganzen ist in der Chronik völlig verändert, wie fol-
gende Nebeneinanderstellung der Hauptpartie lehren mag, zu
deren Verständnis man wissen muss, dass die Regentin Athalia
alle dem Blutbade Jehu's entronnenen Glieder der davidisch§n
204
Geschichte der Tradition, Kap. 6.
Familie gemordet hat bis auf den kleinen Joas, welcher mit
Wissen des Priesters Jojada im Tempel Versteck und Schutz
gefunden hat.
2. Reg. 11, 4. Im siebenten Jahre
beschied Jojada und nahm die Haupt-
leute der Karer und Trabanten
und liess sie zu sich ins Haus Jahve's
kommen und machte mit ihnen einen
Bund und Verschwörung im Hause
Jahve's und zeigte ihnen den Königs-
sohn 5 und befahl ihnen: dies ist es
was ihr thun sollt : das Drittel von euch,
die am Sabbath heimgehen und den
Dienst im Königshause versehen [6 und
das Drittel im Thore Jesod und das
Drittel im Thore hinter den Trabanten
und ihr sollt den Dienst im Hause
versehen ] 7 und die zwei
anderen- Drittel von euch, die Sabbaths
aufziehen und den Dienst im Jahvehause
haben bei dem Könige:
8 ihr sollt den König rings umgeben,
jeder mit gezogener Waife, und wer
eindringt in die Reihen, soll getötet
werden, und ihr sollt mit dem Könige
sein, wo immer er sich hinwendet.
9 Und die Hauptleute thaten genau
wie ihnen der Priester Jojada gesagt
hatte und nahmen jeder seine Mann-
schaft, die am Sabbath Heimgehenden
und die am Sabbath Aufziehenden, und
kamen zum Priester Jojada.
2. Chron. 23, 1. Im siebenten
Jahre ermannte sich Jojada und
nahm die Hauptleute Azaria ben
Jeroham, Ismael ben Johanan, Azaria
ben Obed, Maaseja ben Adaja und
Elisaphat ben Zikri mit sich in Bund,
2 und sie zogen in Juda umher und
sammelten die Leviten aus allen Städten
Juda's und die Familienhäupter Israels
und kamen gen Jerusalem, 3 und die
ganze Gemeinde schloss einen Bund
im Hause Gottes mit dem Könige.
Und er sprach zu ihnen: siehe der
Königssohn soll herrschen wie Jahve
geredet hat über die Söhne Davids,
4 dies ist es, was ihr thun sollt:
das Drittel von euch, die am
Sabbath kommen, von Priestern
und von Leviten, soll die Schwellen
hüten, 5 und das Drittel von euch soll
sein im Hause des Königs und das
Drittel im Thore Jesod und alles Volk
in den Höfen des Hauses Jahve's;
6 und niemand soll ins Haus Jahve's
dringen als die Priester und die Dienst-
habenden von den Leviten, sie sollen
hinein, denn sie sind heilig, aber alles
Volk soll die Ordnung Jahve's ein-
halten; 7 und die Leviten' sollen
denKönig rings umgeben, jeder
mit gezogener Waffe, und wer
in den Tempel dringt, soll getötet
werden, und sie sollen mit dem
Könige sein, wo immer er sich
hinwendet. 8 Und die Leviten und
das ganze Juda thaten genau wie
ihnen der Priester Jojada be-
fohlen hatte und nahmen jeder
seine Mannschaft, die am Sab-
bath Kommenden mit den am
Sabbath Gehenden, denn der
Die Chronik.
205
10 Und der Priester gab den Haupt-
leuten die Speere und Rüstungen des
Königs David, die im Hause Jahve's
waren.
11 Und die Trabanten standen, männig-
lich mit der Waffe in der Hand, von
der Südseite des Tempels herum bis
zur Nordseite um Altar und Tempel,
rings um den König.
12 Und er führte den Königssohn her-
aus und legte ihm das Diadem und
die Armspangen an, und sie machten
ihn zum König und salbten ihn und
klatschten in die Hand und riefen: es
lebe der König!
Priester Jojada entliess die Abtheilun-
gen nicht. 9 Und der Priester Jojada
gab den Hauptleuten die Speere und
Schilder und Rüstungen des Königs
David die im Hause Gottes waren,
10 und er stellte das ganze Volk,
männiglich mit der Waffe in der
Hand, von der Südseite des Tem-
pels herum bis zur Nordseite um
Altar und Tempel, rings um den
König. 11 Und sie führten den
Königssohn heraus und legten
ihm das Diadem und die Arm-
spangen an und machten ihn
zum Könige, und es salbten ihn
Jojada und seine Söhne und spra-
chen: es lebe der König!
Die Inthronisation des Joas soll, ähnlich wie einst die Sa-
lomo's, durch die Leibwache der jüdischen Könige geschehen
sein? der Hohepriester soll mit den Hauptleuten im Hause
Jahve's eine Verschwörung gemacht und selbst die Anregung
gegeben haben jene halbheidnischen Söldlinge in den Tempel-
raum einzuführen? das wäre ja ein Greuel gegen das Gesetz,
der einem "solchen heiligen Mann nicht zuzutrauen. Warum
brauchte Jojada denn nicht seine eigene Garde, die Myriaden
von Leviten, die ihm zu Gebote standen? Das war doch das
einzig richtige und also auch das wirkliche Verfahren. „Nie-
mand soll ins Haus Jahve's dringen als die Priester und die
Diensthabenden von den Leviten 44 , nach diesem von ihm selbst
angegebenen Grundsatze (23,6; vgl. v. 7 in den Tempel statt
in die Reihen) substituiert unser frommer Geschichtschreiber
den Karern und Trabanten seine Priester und Leviten. Da-
durch rückt nun auch Jojada in die ihm gebührende Stelle als
Souverän des Heiligtums und der Gemeinde. Er braucht nun
nicht mehr insgeheim mit den Befehlshabern der Leibwache eine
Verschwörung anzustiften, sondern beruft durch seine geistlichen
Officiere die Leviten und Familienhäupter aus allen Städten
Juda's in den Tempel und lässt dort die ganze Versammlung
einen Bund mit dem jungen Könige schliessen. Die schreienden
Disharmonieen, die durch derartige Neucolorierungen einzelner
Partien des alten Bildes unvermeidlich entstehen, muss man in
206 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
den Kauf nehmen. Wenn Jojada unbeschränkt über eine solche
Macht gebietet und bei seiner Revolution mit der grossten
Öffentlichkeit verfährt, so hat er und nicht Athalia die eigent-
liche Herrschaft — wozu macht er aber dann so viel Wesens
um die Tyrannin abzusetzen? aus blosser Lust an levitischem
Pomp und solennem Verfahren? Was soll man ferner mit den
Hauptleuten, die 23, 1. 9 beibehalten und v. 14 sogar wie 2. Reg.
11, 15 (Meiere des Kriegsvolks genannt werden, anfangen,
nachdem ihnen ihre Soldaten genommen oder verwandelt sind?
Waren die Leviten militärisch organisiert und lösten sie sich,
in drei Compagnien eingeteilt, allwöchentlich im Tempeldienste
ab? Die Ausleger sind geneigt, solche Hülfsannahmen hinzuzu-
dichten; damit können sie ins Unendliche fortfahren ohne zum
Ziel zu gelangen, denn der Irrtum ist fruchtbar. Als ein be-
sonders auffallendes Beispiel, wie sich das Verfahren der Chronik
rächt, möge noch 23,8 erwähnt werden: und sie nahmen jeder
seine Mannschaft u. s. w. Die Worte sind aus 2. Reg. 11, 9 entlehnt,
haben aber dort die Hauptleute zum Subject, dagegen hier die
Leviten und alle Judäer, als ob ein jeder von diesen letzteren
seine Mannschaft gehabt hätte, die des Sabbaths an und abtrat.
Nicht viel weniger lehrreich ist der Vergleich von 2. Reg.
12, 5—17 mit 2. Chron. 24, 4 — 14. Nach 2. Reg. 12 traf Joas
die Anordnung, dass alle dem Tempel geweihten Geldgaben
künftig an die Priester fallen, diese aber dafür die Pflicht haben
sollten, das Gebäude im guten Stande zu halten. Aber sie
nahmen das Geld und vernachlässigten doch die Reparatur, und
als sie und insonderheit Jojada darum vom Könige gescholten
wurden, verzichteten sie auf die Einnahme, um die Last nicht
zu tragen. Darauf stellte 'der König eine Art Gotteskasten, eine
Truhe mit einem Loch, neben dem Altare auf, „rechts wenn
man in den Tempel will", dahinein sollten die Priester das ein-
laufende Geld werfen, mit Ausnahme der Straf- und Schuld-
gelder, die ihnen verblieben. Und so oft die Truhe voll war,
schütteten der Schreiber des Königs und der oberste Priester
das Geld aus, wogen es und übergaben es den Werkführern
zur Löhnung der Arbeiter: zur Anschaffung heiliger Geräte sollte
nichts davon verwandt werden, wie ausdrücklich (v. 14) gesagt
wird. Diese Einrichtung des Königs Joas war eine dauernde
und bestand noch zur Zeit Josia's (2. Reg. 22, 3 ff.).
Die Chronik. 207
In die autonome Hierokratie von Gottes Gnaden passte das
eigenmächtige Verfahren des Joas nicht. Nach dem Gesetze
fielen die laufenden Geldabgaben an die Priester; kein König
durfte sie ihnen nehmen und nach Gutdünken darüber befinden.
Wie konnte Jojada auf sein göttliches Recht verzichten und
eine solche Majestätsbeleidigung des Heiligen dulden! wie konnte
er für seinen anfänglichen passiven Widerstand gegen die ge-
setzwidrige Zumutung getadelt, wie konnte überhaupt der Prie-
ster in seinem eigenen Departement vom Könige zur Rede ge-
stellt werden! Die Chronik weiss es besser. Athalia, die
schlimme, hatte den Tempel verwüstet und ausgeraubt; so be-
schloss Joas ihn zu restaurieren und zu dem Zweck durch die
Leviten aus ganz Israel Geld sammeln zu lassen. Da aber diese
damit keine Eile hatten, so machte er eine Truhe und setzte
sie drausseü in das Thor zum Heiligtum: da strömte das Volk
herbei und freudigen Herzens thaten Vornehme und Geringe ihre
Gaben in die Truhe, bis sie ganz voll war. Als nun die Thor-
wache dies gemeldet hatte, kamen der Schreiber des Königs
und der Delegirte des Hohenpriesters, das Geld auszuschütten,
und der König und der Hohepriester löhnten damit die Arbeiter;
was übrig blieb, ward zu kostbaren Geräten verarbeitet (2. Chron.
24, 5 — 14). Hiernach trifft Joas nicht über die heiligen Abgaben
irgend welche Verfügung, sondern er veranstaltet eine ausser-
ordentliche Sammlung wie einst Mose zum Bau der Stiftshütte
(24, 6. 9): in Folge dessen erscheint auch alles Andere, was
2. Reg. 12 dauernde Einrichtung ist, hier als einmalige Begeben-
heit ; statt von den immer wieder nötigen Reparaturen des Tem-
pels ist von einer ausserordentlichen Restauration desselben die
Rede, und nur zu diesem vorübergehenden Zweck wird der
Gotteskasten aufgestellt, jedoch nicht beim Altar sondern am
Thor (24, 8 vgl. 2. Reg. 12, 10). An den Klerus, und zwar an die
Leviten, ist nur die Zumutung gestellt worden, die Sammlung
zu betreiben, nicht selbst von den heiligen Einkünften den Bau
zu bezahlen; in Folge dessen wird ihnen auch nicht vorgeworfen,
dass sie das Geld für sich behalten, sondern dass sie nicht recht
an die Sammlung heran wollen. Es erweist sich aber, dass sie
mit diesem Widerstreben ganz Recht gehabt haben, denn der
König braucht nur den Gotteskasten auszustellen, so fliesst er
auch über von freiwilligen Gaben des sich herzudrängenden
208
Geschichte der Tradition, Kap. ß.
Volks, so dass davon auch noch zu anderen, freilich nach 2. Keg.
12, 14 ausdrücklich ausgeschlossenen Zwecken etwas übrig bleibt
(v. 14). Den Priestern erteilt Joas überhaupt keine Befehle, und
namentlich Jojada steht ihm ganz gleichberechtigt gegenüber:
schickt der König seinen Schreiber, so erscheint auch der Hohe-
priester nicht persönlich, sondern lässt sich durch seinen Delegier-
ten vertreten (24, 11 vgl. 2. Reg. 12, 11). Auch hier passt mancher
neue Lappe nicht zum alten Kleide, wie de Wette I, 100 zeigt;
stillschweigend gibt die Chronik selber dem älteren Bericht die
Ehre, indem sie den Joas schliesslich vom Mosaismus abfallen
und die dankbare Ehrerbietung, welche er dem Hohenpriester
schuldig war, verleugnen lässt: das ist die Nachwirkung des
unangenehmen Eindrucks, den sie nicht aus ihrer eigenen Er-
zählung, sondern nur aus der des Buches der Könige, über das
unangemessene Auftreten des dennoch frommen Königs in Ange-
legenheiten des Heiligtums und der Priester, gewinnen konnte.
Die Früchte für ihre Entstellung von 2. Reg. 12 erntet die
Chronik bei der Wiedergabe der damit nahe verwandten und
eng zusammenhängenden Perikope 2. Reg. 22, 3—10. Es ist der
Mühe wert, die Parallelen noch einmal zusammenzustellen.
2. Reg. 22, 3. Und im 18. Jahre des
Königs Josia sandte der König den
Saphan ben Asalia ben Mesullam ins
Haus Jahve's sprechend: 4 geht zu
Hilkia dem Hohenpriester, und schüttet
das Silber aus, das eingegangen ist im
Hause Jahve's, welches die Schwellen-
hüter eingenommen haben von dem
Volk, 5 und gebet es den Werkführern
im Hause Jahve's, dass sie es den
Arbeitsleuten geben, welche im Hause
Jahve's mit der Reparatur beschäftigt
sind, 6 den Schmieden Zimmerleuten
und Maurern, und zum Kauf von Holz
und Bausteinen zur Ausbesserung des
Hauses, 7 doch soll über das ihnen
übergebene Geld nicht mit ihnen abge-
rechnet werden, auf Treu und Glauben
verfahren sie.
2. Chron. 34, 8. Und in seinem
18. Regierungsjahre, zu reinigen das
Land und den Tempel, sandte er den
Saphan ben Asalia und Maaseja den
Burgemeister und Joah ben Joahaz
den Kanzler, zu restaurieren das Haus
Jahve's seines Gottes. 9 Und sie ka-
men zum Hohenpriester Hilkia, und
sie gaben das im Hause Gottes ein-
gegangene Silber, welches die Leviten,
die Schwellenhüter, gesammelt hatten
von Ephraim und Manasse und dem
übrigen Israel und von ganz Juda und
Benjamin und damit heimgekehrt wa-
ren nach Jerusalem, 10 das gaben sie
den Arbeitern bestellt im Hause Jahve's,
und die Arbeiter, welche an der Re-
stauration im Hause Jahve's schafften,
11 die gaben es den Handwerkern und
Bauleuten, zu kaufen Hausteine und
Hölzer zu Decken und Balken der
Die Chronik.
209
8 Hilkia aber, der Hohepriester, sprach
zu dem Schreiber Saphan also: das
Buch der Thora habe ich im Hause
Jahve's gefunden, und er gab's dem
Saphan und der las es. 9 Und Saphan
der Schreiber kam zum Könige und er-
stattete ihm Bericht und sagte: deine
Knechte haben das im Tempel vorhan-
dene Geld ausgeschüttet und es den
Werkführern im Hause Jahve's über-
geben. 10 Und der Schreiber Saphan
erzählte dem Könige also: ein Buch
hat mir der Priester Hilkia gegeben,
und er las es dem Könige vor.
Häuser, welche die Könige Juda's ver-
derbt hatten. 12 Und die Männer
verfuhren mit Treu und Glauben bei
dem Werke, und es waren ihnen vor-
gesetzt Jahath und Obadia die Leviten
von den Söhnen Merari's und Zacharia
und Mesullam von den Kehathiten, zu
dirigieren, und die Leviten, alle die
sich auf Musikinstrumente verstanden,
13 waren über die Lastträger und
leiteten alle Arbeit bei jedem Werk,
und andere Leviten waren Schreiber
und Aufseher und Thorwächter. 14
Und da sie das im Hause Jahve's ein-
gegangene Geld ausschütteten, fand
der Priester Hilkia das Buch der Thora
Jahve's durch Mose, 15 und Hilkia hub
an und sprach zu Saphan dem Schrei-
ber: das Buch der Thora Jahve's habe
ich gefunden im Hause Jahve's; und
Hilkia gab das Buch dem Saphan.
16 Und Saphan brachte das Buch dem
Könige und erstattete ausserdem * dem
Könige Bericht also: alles was deinen
Knechten aufgetragen ist, thun sie,
17 und sie haben das im Hause Jahve's
vorhandene Geld ausgeschüttet und es
den Vorstehern und den Arbeitsleuten
übergeben. 18 Und der Schreiber
Saphan erzählte dem König also: ein
Buch hat mir der Priester Hilkia ge-
geben, und Saphan las daraus dem
Könige vor.
Die in der Einrichtung des Joas liegenden Voraussetzungen
des Anlasses, bei dem der Priester dem Saphan das Gesetz-
buch insinuiert, hat die Chronik zerstört und dafür andere er-
gänzt: unter den Vorgängern Josia's sei der Tempel verderbt,
unter ihm selber aber durch umherziehende Leviten aus ganz
Israel Geld zur Restauration gesammelt und zunächst im Gottes-
kasten deponiert. Beim Ausschütten dieses Kasten soll dann
der Priester das Buch gefunden haben (v. 14, nach Deut. 31, 26),
ungeachtet bei dieser Gelegenheit auch Saphan und die beiden
v. 8 hinzugefügten Statisten zugegen waren und den Fund hätten
Wellhausen, Prolegomena.
14
210 Geschifchte der Tradition, Kap. (>.
mitmachen müssen, was durch v. 15 (= 2. Reg. 22, 8) ausge-
schlossen ist. Andere Misverständnisse kommen hinzu, nament-
lich sind die Werkführer (muphkadim), denen nach dem
ursprünglichen Bericht das Geld zur Löhnung übergeben wird,
zu einfachen Arbeitern degradiert, von denen sie dann doch
wieder unterschieden werden: während sie 2. Reg. 22, 7 bei
der Auszahlung des Geldes auf Treu und Glauben verfahren,
verfahren sie 2. Chron. 34, 12 bei dem Werke mit Treu und
Glauben. Vielleicht ist dies indessen kein reines Misverständnis,
sondern hängt zusammen mit dem Bestreben, die profanen Hände
thunlichst vom Heiligen ferne zu halten und besonders die Lei-
tung des Baues den Leviten zu übergeben (v. 12. 13). Wie weit
die Ängstlichkeit der Späteren in diesem Punkte ging, ersieht
man aus der Angabe (Joseph. Ant. 15 11, 2), dass Herodes zum
Bau seines Tempels tausend Priester zu Maurern und Zimmerleuten
ausbilden liess. Die zwei interessantesten Änderungen der Chronik
sind ganz unscheinbar. In v. 18 sind die Worte: er las das Buch
dem Könige vor, umgewandelt zu: er las daraus dem Könige vor,
und hinter: und Hizkia gab das Buch dem Saphan (v. 15), ist der
Satz: und er las es ausgelassen. Nach 2. Reg. erscheint das
Gesetzbuch als sehr massigen Umfanges, aber der Verfasser der
Chronik stellt sich den ganzen Pentateuch [darunter vor.
Im weiteren wird zwar 2. Reg. 22, 11 — 23, 3 wörtlich wieder-
holt 2. Chron. 34, 18—32, aber der sich anschliessende unver-
hältnismässig wichtigere Abschnitt 23, 4—10, der eine detaillierte
Schilderung der gewaltsamen Reformation Josia's enthält, wird
übergangen und mit der nichtssagenden Bemerkung ersetzt, der
König habe alle Greuel aus Israel entfernt (34, 33); desto aus-
führlicher wird , dato sein Passahfest beschrieben (Kap. 35).
Wenn die Chronik auch den Bericht von der Auffindung und
Publicierung des Gesetzes mitteilt, so begreift sie doch nicht,
dass dasselbe erst seit diesem Augenblicke geschichtlich wirk-
sam und plötzlich von so grosser Bedeutung geworden sein
sollte. Es war ja seit Mose die Grundlage der Gemeinde und
bestand zu allen normalen Zeiten in Kraft und Geltung; nur
zeitweilig konnte dies Lebensprineip der Theokratie von schlech-
ten Königen niedergehalten werden, um nach dem Aufhören
des Druckes sofort wieder wirksam und mächtig zu werden.
Sobald Ahaz die Augen geschlossen hat, stellt Hizkia im ersten
Die Chronik. 211
Monat seines ersten Jahres den mosaischen Cultus wieder her;
und sobald Josia zu verständigen Jahren gekommen ist; macht
er gut was seine Väter gesündigt. Weil er bei seinem Antritt
noch zu jung ist, wird Anstands halber statt des achten Jahrs
seines Alters das achte Jahr seiner Regierung gewählt und dahin
die grosse Reformation verlegt, die er thatsächlich viel später
unternahm (34, 3—7 = 2. Reg. 23, 4—20). So verliert dieselbe
denn glücklich den geschichtlichen Anlass und der Charakter
der Neuerung erscheint vielmehr als einfaches Emporschnellen
der Feder nach Beseitigung der ihr angethanen Gewalt. Das
Gewölk weicht vor der Sonne des Gesetzes und sie scheint
wieder wie zuvor — ihr Licht macht keine Phasen durch, sie
leuchtet von Anfang an in gleicher Stärke. Was Josia gethan
hat, hat ganz ebenso vor ihm schon Asa gethan, darnach Jo-
saphat, darnach Hizkia; die Reformen sind keine Stufen einer
fortschreitenden Entwickelung, sondern haben alle den gleichen,
ewigen Inhalt. Das ist der Einfluss des transcendenten, allem
Werden und Wachsen enthobenen Mosaismus auf die historische
Anschauung, spürbar schon im Buche der Könige, aber in der
Chronik ungleich handgreiflicher.
3. Abgesehen davon, dass sie die stetige Tradition des
legitimen Cultus zu Jerusalem darstellt, hat die Geschichte
Juda's in der Chronik noch einen anderen lehrhaften Zweck.
In dem Reiche Jahve's wirkt nicht ein natürlicher und mensch-
licher, sondern der göttliche Pragmatismus. Ihn zum Ausdruck
zu bringen, dazu sind die Propheten da, die in ununterbrochener
Succession den Königen und Hohenpriestern zur Seite gehen;
sie verknüpfen die Thaten der Menschen mit den Ereignissen
des Weltlaufs und benutzen die heilige Geschichte als Thema
für ihre Predigt, als Beispielsammlung für die prompteste Wirk-
samkeit der Gerechtigkeit Jahve's. Neues und Freies verkün-
digen sie dabei nicht, sondern handhaben nur, ebenso wie Jahve
selber, die Thora Mose's, indem sie nach der Schablone Glück
oder Unglück in Aussicht stellen, je nachdem das Gesetz treulich
erfüllt oder vernachlässigt worden ist. Natürlich treffen ihre
Weissagungen immer genau ein, und es ergibt sich somit eine
ganz wunderbare Symphonie von innerem Wert und äusserem
Ergehen. Nie bleibt auf die Sünde die Strafe aus und nie man-
gelt dem Unglück die Schuld.
14*
212 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
Im 5. Jahr Rehabeams ward Juda und Jerusalem von
Pharao Sisak ausgeplündert (1. Reg. 14, 25). Nämlich drei Jahre
lang wandelten sie in den Wegen Davids und Salomo's, denn
drei Jahre lang wurden sie gestärkt und gekräftigt von den aus
dem Nordreich zugezogenen Priestern und Leviten und übrigen
Frommen (2. Chron. 11, 17); darnach aber im 4. Jahr, da das
Königreich Rehabeams gestärkt und gekräftigt war, verliess er
das Gesetz und ganz Israel mit ihm (12, 1) — und es folgte im
5. Jahre der Überfall Sisaks. Ein Prophet kündigt denselben
an, in Folge dessen demütigt sich der König mit seinem Volk
und kommt mit blauem Auge davon — weil er gewürdigt wor-
den, noch zwölf weitere Jahre zu regieren.
Asa litt im Alter an den Füssen (1. Reg. 15, 23). * Nach
2. Chron. 16, 12 starb er an der als sehr gefährlich geschilderten
Krankheit im 41. Jahre seines Königtums, nachdem er schon
vorher in der späteren Zeit seiner Regierung Unglück gehabt
hatte. Was war die Schuld? Er hatte gegen Baesa von Israel
auswärtige Hülfe statt der göttlichen angerufen. Nun lebte Baesa
nur bis zum 26. Jahre Asa's, jene böse That müsste also vorher
begangen sein. Aber dann wäre ihr Zusammenhang mit der
Strafe nicht klar geworden, die den König erst gegen Ende
seines Lebens traf. Also wird Baesa's Zug gegen Jerusalem
und der in Folge dessen von Asa veranlasste Einfall der Syrer
in Israel von der Chronik in's 36. Jahr des letzteren verlegt
(16, 1). Man hat die treffende Beobachtung gemacht, dass Baesa
damals eigentlich längst tot war, und darum die Zahl 36 in 16
verbessern wollen — ohne zu bedenken, dass die erste Hälfte
der Regierungszeit Asa's ausdrücklich als glücklich bezeichnet
wird, dags schon 15, 19 das 35. Jahr erreicht ist und dass jene
Correctur den Zusammenhäng mit dem Folgenden (16, 7ff.) zer-
stört. Nämlich in Anlass jener frevelhaften Herbeirufung der
Syrer tritt nun der übliche Prophet auf (16, 7) und verkündet
die übliche Drohung. Es ist Hanani, ein Nordisraelit (1. Reg.
16, 7), aber Asa behandelt ihn wie seinen eigenen Unterthan,
lässt ihn hart an und setzt ihn in's Stockhaus. Dadurch ver-
grössert und beschleunigt er die Strafe und erliegt ihr im
41. Jahr seiner Regierung.
Josaphat, der fromme König, beteiligte sich nach 1. Reg. 22
an dem Feldzuge des gottlosen Ähab von Israel gegen die Da-
Die Chronik. 213
mascener. Ungeahndet kann ihm das die Chronik nicht hin-
gehen lassen, also sagt ihm, da er in Frieden heimkehrt, selbi-
ger Hanani eine jedoch gnädige Strafe an (19, 1—3). Und in
der That sie ist gnädig; die Moabiter und Ammoniter fallen in's
Land, aber Josaphat trägt ohne sein Zuthun einen glänzenden
Sieg davon und macht unermessliche Beute (20, lff.). Man kann
es ihm darnach nicht verdenken, dass er sich noch einmal mit
Ahabs Nachfolger verbindet, zu einer gemeinschaftlich zu betrei-
benden Schiffahrt, die von einem Hafen des Eoten Meeres aus,
wahrscheinlich um Afrika herum, nach Tarsis (Spanien 2. Chron.
9,21) gehen soll. Diesmal aber wird er ernstlicher gestraft:
wie Eliezer ben Dodija geweissagt, scheitern die Schiffe. Vgl.
dagegen 1. Reg. 22, 49. 50: „Josaphat baute Tarsisschiffe nach
Ophir zu fahren um Gold, aber die Fahrt kam nicht zu Stande,
denn die Schiffe zerbrachen im Hafen am Roten Meere; damals
hatte Ahazia ben Ahab um Beteiligung seiner Knechte an der
Fahrt gebeten, aber Josaphat es abgeschlagen". So der Original-
bericht. Aber in der Chronik muss das Unglück moralisch be-
gründet sein und darum Josaphat sündige Gemeinschaft mit dem
Samarier machen, den er in Wahrheit abgewiesen hat, freilich
keineswegs aus religiösen Bedenken.
Joram ben Josaphat habe es sehr schlimm getrieben, heisst
es 2. Reg. 8, 18; die Chronik steigert seine Frevel und ergänzt
vor Allem den verdienten Lohn (21, 4 ff.). Elias, obwohl damals
längst gen Himmel gefahren (2. Reg. 3, 11 ff.), muss dem Sünder
einen Brief schreiben, dessen Drohungen Jahve dann pflicht-
schuldig in Erfüllung gehen lässt. Nachdem zuvor die Philister
und Araber ihn bedrängt haben, verfällt Joram in eine unheil-
bare Krankheit der Eingeweide, die ihn Jahre lang quält und
endlich in furchtbarster Weise sein Ende herbeiführt (21, 12ff.).
Dem Gottesurteil beifallend versagt das Volk dem Toten die
königlichen Ehren und begräbt ihn nicht bei seinen Vätern:
trotz 2. Reg. 8, 24.
Joas war nach 2. Reg. 12 ein frommer Herrscher, aber er
hatte Unglück; den Syrer Hazael, der Jerusalem belagerte,
musste er durch schweres Geld zum Abzüge bewegen, zuletzt
.fiel er durch Meuchelmord. Womit er dies Schicksal verdient
hat, weiss die Chronik. In dem Satze: „er that was Jahve wohl-
gefällt alle seine Tage, weil ihn der Priester Jojada unter-
214 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
wiesen hatte 44 (2. Reg. 12, 3), verändert sie den Sctiluss dahin:
alle die Tage Jojada's des Priesters (24, 2). Nämlich
nach dem Tode seines Wohlthäters ist er abgefallen und hat
ihm an seiner Familie mit schnödestem Undank gelohnt: am
Ende des selbigen Jahres tiberziehen ihn die Syrer, bei ihrem
Abzug verfällt er in eine schreckliche Krankheit, um die sein
Unglück hier noch verschlimmert wird; und in der Krankheit
wird er ermordet (24, 17 ff.).
Amasia ward von dem samarischen Könige Jehoas, den er
übermütig herausgefordert hatte, geschlagen gefangen und em-
pfindlich bestraft (2. Reg. 14, 8 ff.). Warum? weil er erbeutete
edomitische Götzen in Jerusalem aufgestellt hatte und ihnen
diente (2. Chron. 25, 14). Erbeutete Götzen eines überwundenen
Volkes zieht er in dem Augenblicke dem Jahve vor, als letzterer
jene besiegt hat! Seit diesem in der That nicht genug zu strafen-
den Abfall sollen dann auch seine Knechte sich gegen ihn ver-
schworen und ihn umgebracht haben (25, 27) — und doch wird
v. 25 nach 2. Reg. 14, 17 versichert, Amasia habe seinen Gegner
Jehoas um 15 Jahre überlebt.
Uzzia, einer der besten Könige Juda's, ward aussätzig und
musste die Regentschaft seinem Sohne Jotham übergeben (2. Reg.
15, 5). Nämlich, fügt die Chronik hinzu, „er war sehr mächtig
geworden und da erhub sich sein Herz zum Verderben, so dass
er sich an Jahve seinem Gott vergriff und in den Tempel ein-
ging, um auf den Räucheraltar zu räuchern. Und da der
Priester Azaria und achtzig seiner Genossen sich ihm wider-
setzten und sprachen: es gebührt dir nicht zu räuchern, son-
dern allein den Söhnen Aharons, die dazu geheiligt sind, so
ward er zornig und Hess das Räucherfass nicht aus der Hand.
Da fuhr der Aussatz aus an seiner Stirne und die Priester
scheuchten ihn von dannen 44 (26, 16 — 20). Nun ist die Sache
kein Rätsel mehr.
Ahaz taugte wenig und half sich doch ganz leidlich aus
der Bedrängnis, in die er durch den Einfall der verbündeten
Syrer und Israeliten geraten war, indem er sein Reich dem
Assyrer Thiglathpileser zu Lehen antrug (2. Reg. 16, lff.). So
billigen Kaufs konnte ihn die Chronik unmöglich davon kom-,
men lassen. Hier wird er dahingegeben in die Hand der
Feinde; alleine die Israeliten erschlagen 120000 Juden, darunter
Die Chronik. 215
den Sohn des Königs und seine vornehmsten Diener, und
schleppen 200000 Weiber und Kinder nebst anderweitiger grosser
Beute fort nach Samarien. Auch die Edomiter und Philister
fallen über den Ahaz her; die Assyrer aber, die er zu Hülfe
gerufen hat, misverstehen ihn und rücken in feindlicher Absicht
vor Jerusalem; sie erobern freilich die Stadt nicht, gewinnen
jedoch mühelos ihre Schätze, die ihnen der König selber aus-
liefert (28, 1—21).
Keinen schlimmeren Herrscher kennt das Buch der Könige
als Manasse; dennoch hat er, länger als irgend ein anderer,
durch 55 Jahre ungestört die Eegierung geführt (2. Reg. 22,
1 — 18). Diesen Stein des Anstosses muss die Chronik aus dem
Wege schaffen. Sie erzählt Manasse sei . von den Assyrern in
Ketten nach Babel gebracht, dort aber habe er zu Jahve gefleht,
sei von diesem wieder in sein Reich eingesetzt und habe nun
den Götzendienst aus Juda beseitigt (33, 11—20). So entgeht
er einerseits nicht der Strafe und andererseits erklärt sich doch
die lange Dauer seiner Regierung. Freilich ist man neuerdings
der Glaubwürdigkeit dieser Angaben mit einer assyrischen
Inschrift zu Hülfe gekommen, aus der hervorgeht, dass Manasse
dem Esarhaddon Tribut geleistet hat. Also, sagt man, ist er
von den Assyrern vergewaltigt, und aber also ist er gefesselt
von ihnen fortgeschleppt. Weniger geschwinde aber vielleicht
eben so richtig wäre die Folgerung, dass er als Tributzahler
auf dem Thron von Juda und nicht im Kerker zu Babylon ge-
sessen haben müsse. In Wahrheit steht die zeitweilige Ab-
setzung Manasse's ganz auf gleicher Linie mit Nebukadnezars
zeitweiligem Grasfressen. Die Ungeschichtlichkeit des in seinen
Motiven vollkommen durchsichtigen Intermezzo folgt nicht allein
aus dem Stillschweigen des Buches der Könige, welches wahr-
haftig in dieser Sache nicht leicht wiegt, sondern auch z. B.
aus Jerem. 15, 4 Denn wenn es an letzterer Stelle heisst, um
der Schuld Manasse's willen solle ganz Juda und Jerusalem der
Vernichtung preis gegeben werden, so ist die Voraussetzung
nicht, dass sie bereits von ihm selber gebüsst und gesühnt sei.
Dem Josia wird, um zu rechtfertigen, dass er bei Megiddo
Schlacht und Leben verlor, die Schuld angeheftet, dass er den
Worten Necho's aus dem Münde Gottes nicht gehorcht habe,
der ihn vom Kampf abmahnte (35, 21. 22). Umgekehrt wird
216 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
dem gottlosen Jojakim die Strafe vergrössert; er soll von dem
Chaldäer in Ketten gesehlagen und nach Babel geführt worden
sein (35, 6) — freilich war das vor der Einnahme Jerusalems
nicht wohl thunlich, die erst im dritten Monat seines Nach-
folgers gelang. Der letzte Davidide Sedekia, weil er Schwereres
als alle seine Vorgänger erlitt, muss halsstarrig und verstockt
gewesen sein (36, 12. 13), Eigenschaften, auf die er nach dem
authentischen, Zeugnisse des Propheten Jeremia in Wahrheit
am allerletzten Anspruch erheben konnte.
Man sieht, die allerconcretesten Produkte sind aus dem
Plan dieser Geschichtschreibung, wie man sich euphemistisch
auszudrücken pflegt, hervorgegangen. Man wird darum über-
haupt die Bestimmtheit der Angaben, mit denen die Chronik
allein steht, nicht für einen Beweis ihrer Thatsächlichkeit halten
dürfen. Die Erzählung von dem Athiopen Zerah (2. Chron.
14, 7 ff.) ist ebenso apokryph wie die von Kusan Risathaim
(Jud. 3, 10). Schon des Vignoles hat zwar den ersteren mit dem
Osorthon Manetho's gleichgesetzt, der als Osorkon Sohn des
Sisak, jedoch nicht als Erneuerer des Feldzugs gegen Palästina,
auf den ägyptischen Monumenten wiedergefunden ist; aber
Osorkon war ein Ägypter, Zerah ein Äthiop, und die Ähnlich-
keit ihrer Namen ist doch auch nicht allzu schlagend. Ausser-
dem — wäre Zerah in der That eine historische Person, was
hülfe dies zur Rettung des unhistorischen Zusammenhangs? Mit
einer Million zieht der König der Mohren und Libyer, Ägypten
überspringend, gegen Juda aus, Asa rückt mit 580000 Mann,
dem Aufgebot eines Landes von ungefähr sechzig Quadratmeilen,
den Feinden entgegen und schlägt sie auf der Ebene nördlich
von Maresa so, dass kein einziger am Leben bleibt. Das soll,
der genau angegebenen Lokalität wegen (wobei jedoch Maresa
statt Gath nicht eben nach alter Quelle schmeckt) glaubhaft
sein, wenigstens nach Abzug der Unglaublichkeiten? Vielmehr
nach Abzug der Unglaublichkeiten ist der Rest gleich Null. Der
Einfall des Baesa von Israel in Juda und Asa's Benehmen ihm
gegenüber (1. lieg. 15, 17ff.) ist eine vernichtende Kritik des
grossen Sieges, den er vorher über die Athiopen davon getragen
haben soll. Mit Josaphats Siege gegen die Ammoniter und
Moabiter steht es um kein Haar besser (2. Chron. 20), es liegt
hier wahrscheinlich ein Echo von 2. Reg. 3 vor, wo von der
Die Chronik. 217
Beteiligung Josaphats an einem Feldzuge gegen Moab erzählt
wird und ebenfalls der charakteristische Zug von der gegen-
seitigen Aufreibung der Feinde vorkommt, so dass dem Wider-
part nur die Arbeit des Beutemachens übrig bleibt (3, 23. 2. Chr.
20, 23). Feinde stehen dem Chronisten immer zu Gebote, wenn
er sie nötig hat, Araber zur Seite der Kuschiten (17, 11. 21, 16.
22, 1. 26, 7), Meunäer (20, 1. 26, 7), Philister (17, 11. 21, 16.
26, 6 f. 28,18), Ammoniter (20, .1. 26,8. 27,5), die sich zum
Teil schon durch ihre Namen für die alte Zeit unmöglich machen.
Nachrichten wie die, dass die Ammoniter den Königen Uzzia
und Jotham unterworfen gewesen seien (26, 8. 27, 5), werden,
bei dem vollkommenen Schweigen der glaubwürdigen Quellen,
einfach durch ihre innere Unmöglichkeit gerichtet; denn zu Ammon
war Moab die Brücke, und dies Land war jener Zeit keinesfalls
im judäischen Besitze, wie übrigens auch nicht behauptet wird.
Die Philister sind (21, 16. 28, 18) durch den Plan der Geschicht-
schreibung . als rachgierige Feinde benötigt; schon das flösst
Mistrauen ein gegen die vorhergehenden Angaben (17, 11. 26, 6f.),
dass sie von Josaphat zur Tributleistung gezwungen und von
Uzzia niedergekämpft seien; vollends unglaublich ist es, dass
der letztere die Mauer von Asdod (Arnos 1, 7) gebrochen und
Festungen in Philisthäa angelegt haben soll. Nach dem Buche
der Könige hat er Edom wieder unterworfen; Edom ist hier das
einzige Land, worauf die Davididen Ansprüche machen und wo-
gegen sie Kriege führen, während Moab und Philisthäa —
letzteres jedoch mit Ausnahme der bedeutendsten Städte —
virtuell zum Gebiete Israels gehören.
Die Triumphe, welche die Chronik ihren Lieblingen gönnt,
haben allesamt keine geschichtliche Wirkung, sondern nur die
momentane Bedeutung den Glanz ihrer Eegierung zu steigern.
Der Erfolg ist nämlich stets die Kehrseite des Verdienstes. Joram
Joas Ahaz, die als verworfen geschildert werden, bauen keine
Festungen, halten keine grossen Heere, haben nicht eine Fülle
von Weibern und Kindern; nur bei den frommen Königen, zu
denen ja auch Rehabeam und Abia gehören, äussert sich in
diesen Zeichen der Segen Gottes. Die Macht ist der Grad-
messer der Frömmigkeit und steigt und fällt mit dieser. Weiter
hat es keinen Sinn, wenn z. B. Josaphat über elf mal hundert
tausend Soldaten hat (17, 14 ff.); denn zu Kriegen werden sie
218 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
nicht gebraucht, der Sieg kommt von Gott und von der Musik
der Leviten (Kap. 20). Bei den Nachrichten über Festungs-
bauten, die sich regelmässig bei den guten Herrschern wieder-
holen *) , sind allgemeine Angaben, wie Hos. 8, 14. 2. Reg. 18, 13
in concreter Weise exemplificiert, mit Benutzung einzelner tra-
ditioneller Elemente (Lachis). Es ist nicht möglich, aber auch
wahrhaftig nicht nötig, überall die Erdichtung nachzuweisen;
nach 19, 5 scheint es, als ob einfach alle einigermassen be-
trächtlichen Städte als Festungen angesehen werden, in dem
Verzeichnis 11, 6 ff. trifft man vorzugsweise Namen, die auch in
der nachexilischen Zeit bekannt waren. Dass Abia dem Jerobeam
unter anderem Bethel abgenommen und dass Josaphat in die
von seinem Vater Asa eroberten ephraimitischen Städte Statt-
halter gesetzt habe (13, 19. 17, 2), würde Verwunderung erregen,
wenn es nicht in der Chronik stünde. Zur Beurteilung der
Familiengeschichte der Davididen leistet besonders die Mittei-
lung 13,21 nach Form und Inhalt gute Dienste: „und Abia
stärkte sich und nahm sich vierzehn Weiber und zeugte zwei-
undzwanzig Söhne und sechzehn Töchter". Man muss meinen,
dies falle in das Königtum Abia's und zwar nach dem angeb-
lichen Siege über Jerobeam; er regierte aber Alles in Allem
nur drei Jahre und binnen dieser Zeit soll einer seiner Söhne
sogar zum Manne gereift sein? In Wahrheit hat Abia nun über-
haupt keinen Sohn gehabt, denn sein Bruder ist ihm gefolgt.
Selbstverständlich ist doch auf die bestimmte und zweifelsohne
quellenmässige Nachricht, Maacha, die Frau Rehabeams, sei die
Mutter sowohl Abia's als Asa's gewesen und letzterer habe sie
aus ihrer Stellung am Hofe entfernt (1. Reg. 15, 2. 10. 13), mehr
zu geben als auf die andere verhältnismässig leicht zu erklä-
rende, wonach der Nachfolger für des Vorgängers Sohn aus-
gegeben wird (v. 8). Nach Josaphats Tode soll zunächst Joram
alle seine Brüder (21,4) gemordet haben, sodann die Araber
alle Söhne Jorams mit Ausnahme eines einzigen (22, 1): wer von
den Davididen bleibt denn da noch für Jehu übrig, der auch
ihrer zweiundvierzig abschlachtete (2. Reg. 10, 14)? Kurz die
Familiengeschichte des Hauses Davids ist von dem selben histo-
rischen Werte, wie alles Andere, was die Chronik mehr und
*) 8,3—6. 11,5—12. 13, 19. 14,5. 6. 17, 12. 19, 5. 26, 9. 10. 27, 4. 32, 5,
33,14.
Die Chronik. 219
besser weiss als die älteren kanonischen Geschichtsbücher. Auch
die Namen und Zahlen können an diesem Urteil nicht irre
machen; denn um solche Kleinigkeiten, die den Schein der
Genauigkeit erwecken, ist der Verfasser nie verlegen.
4. Die Grundlage des Buches der Könige schimmert auch
in diesem das nachsalomonische Juda behandelnden Teile der
Chronik allenthalben durch. Wo dort detailliert und ausführ-
lich erzählt wird, da gebietet auch unser Verfasser über reicheres
und sachlich interessanteres Material ; so bei den judäiseh-israeli-
tischen und bei den den Tempel betreffenden Geschichten
(Kap. 10. 18. 23 f. 25, 17—24. 33 f.). Sonst ist er an die Epitome
gebunden, die das Skelett des Buches der Könige bildet; nach
ihr richtet er sich sowohl in den Verdicten über den allgemeinen
Wert der Herrscher als auch in den chronologischen Angaben,
jedoch seinem Plane gemäss die Synchronismen für gewöhnlich
(13, 1. 25. 25) auslassend. Auch die positiven Data der Epitome
über die von diesem und jenem Könige getroffenen Cultusmass-
regeln finden sich grösstenteils wörtlich wieder und schwimmen
brockenweise und sofort unterscheidbar in dem Aufguss von
Festfeiern, Predigten, Levitenchören, Gesetz und Propheten.
Denn das ist eine wichtige Gegenprobe alles dessen, was sich
bisher ergeben hat: was in der Chronik nicht aus den Büchern
Samuelis und der Könige herrührt, gleicht sich nicht bloss in
der inneren Art, sondern auch in der unbeholfenen und häufig
unverständlichen Sprache, die offenbar einer Zeit angehört wo
das Hebräische im Aussterben begriffen war, und in der mani-
rierten Darstellungsweise, die ganz von biblischen Keminiseenzen
lebt. Es gehört nicht hierher, dies nachzuweisen; vgl. aber
Stähelin, specielle Einleitung (1862) S. 139f., Bertheau, S. XIV ff.,
Graf S. 116.
III.
1. Wo die Chronik mit den älteren kanonischen Geschichts-
büchern parallel geht, da enthält sie keine Bereicherung, son-
dern nur eine Verfärbung der Tradition durch zeitgenössische
Motive. In dem Gesamtbilde, welches sie malt, spiegelt sich
ihre eigene Gegenwart, nicht das Altertum wieder. Nicht viel
anders verhält es sich nun aber auch mit den Geschlechtsver-
zeichnissen, welche 1. Chron. 1 — 9 zur Einleitung vorangeischickt
220 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
sind; auch sie haben im ganzen nur für die Abfassungszeit Gel-
tung, sei es für deren wirkliehe Verhältnisse oder für ihre Vor-
stellungen über die Vergangenheit.
Die Vorliebe für Stammbäume und Geschlechtsregister, ge-
mischt aus genealogisch-historischen und ethnologisch-statistischen
Elementen, ist charakteristisch für den Judaismus; mit der Sache
ist auch das Wort jaches erst in späteren Zeiten aufgekom-
men. Man schreibt compendiarische Geschichte in der Form
von Tholedoth und Juchasin. Der Faden ist dünn, unanschau-
lich, und doch scheinbar fest und zusammenhangend; man be-
hauptet nicht viel und hat doch Gelegenheit allerlei Inter-
essantes anzubringen. Material findet sich; hat man erst Anfang
und Ende, so ist die Brücke leicht geschlagen. Eine andere
Aeusserung des selben Triebes ist die Neigung, alle Verbindun-
gen und Beziehungen der menschlichen Gesellschaft auf einen
genealogischen Ausdruck zu bringen, überall künstlich Familien
zu schaffen und sie in Verwandtschaft zu setzen, als gehe das
ganze öffentliche Leben in der Vetterschaft auf: bezeichnend für
die damaligen politisch stationären Zeiten. Wir hören von den
Geschlechtern der Schriftgelehrten zu Jabes, der Töpfer und
Gärtner und Byssusarbeiter, von Söhnen der Goldschmiede
Salbenhändler und Walker, welche Corporationen ganz auf
gleicher Linie mit wirklichen Familien aufgeführt werden. Die
Gliederung des Cultuspersonals ist nur die consequenteste Aus-
bildung dieses künstlichen Natursystems, welches ebenso, auf
alle anderen socialen Verhältnisse ausgedehnt wurde.
Um nun näher auf den Inhalt von 1. Chron. 1 — 9 (und an-
derer damit zusammenhängender Verzeichnisse) einzugehen, so
liegt hier, abgesehen von dem nicht weiter berücksichtigenswerten
ersten Kapitel, eine ethno - genealogische Uebersicht über die
zwölf Stämme Israels vor, welche meist an die Data des Priester-
codex (Gen. 46. Num. 26) anknüpft und sie bald mehr bald
minder beträchtlich erweitert. Nur sollen die Angaben des
Priestercodex für die mosaische, jedoch die der Chronik zugleich
für die folgende Zeit gelten, z. B. Sauls und Davids, Thiglath-
pilesers und Hizkia's. Aber schon in der Richterzeit waren in
diesen Verhältnissen sehr bedeutende Veränderungen eingetreten.
Während Dan mit Mühe sich hielt, lösten Simeon und Levi sich
gänzlich auf (Gen. 49, 7): im Segen Mosis bedeutet letzterer be-
Die Chronik. 221
reits etwas ganz anderes als einen Stamm, und ersterer wird gar
nicht erwähnt, obwohl die Aufzählung vollständig sein soll; schon
zur Zeit Davids war er in der Gegend, wo er einst Fuss gefasst
hatte, von judäisch - edomitischen Geschlechtern aufgesogen.
Ostlich vom Jordan hatte, allerdings in etwas späterer Zeit,
Lea's Erstgeborener ein ähnliches Schicksal. Nachdem er Gen. 49
des Primats verlustig gesprochen und Jud. 5 wegen seiner an-
spruchsvollen Worte, denen keine Thaten entsprachen, verspottet
ist, wird Deut. 33, 6 der kleinmütige hoffnungslose Wunsch ge-
äussert: „es lebe Rüben und sterbe nicht", und König Mesa weiss
nicht anders, als dass der Mann von Gad seit je in dem Lande
wohnte, welches eigentlich rubenitisches Erbe war. Aber in
der Chronik tauchen diese verschollenen Stämme — und zwar
nicht bloss Levi, mit dem es ja eine besondere Bewandtnis
hat, sondern auch Simeon und Rüben, die hier vorerst allein
in Betracht kommen — wieder auf und existieren al& selbständige
Zwölfteile Israels so gut wie Ephraim und Manasse durch die ganze
Königszeit hindurch bis zur Zerstörung des Reichs durch die As-
syrer 1 ). Diametral widerspricht dies aller beglaubigten Tradition-,
denn dass es sich bloss um ein Jahrhunderte langes Fortbestehen
einzelner simeonitischer und rubenitischer Geschlechter inner-
halb anderer Stämme handle, ist eine harmonistische Verlegen-
heitsannahme, und ebenso verbietet sich auch jede andere Ab-
schwächung der Thatsache, dass jene untergegangenen und halb
mythischen Tribus in der Chronik den übrigen ganz unterschiedslos
an die Seite gesetzt werden. Der historische Wert, welcher
durch diese Gleichstellung dem Ganzen genommen wird, kann
nicht durch die scheinbar objectiven Einzelheiten wieder her-
gestellt werden. Oder sollen wirklich die Kriege der Simeoniten
und Rubeniten gegen die Araber mehr zu bedeuten haben als
die tiberall aus dem Aermel geschüttelten Kriege der jüdischen
Könige gegen diese Wüsten Völker? wenn nur wenigstens die
Namen nicht wären, Söhne Harns und Meunäer und Hagarener
(4, 40 f. 5, 10)! Was ferner die Gesehleclitsregister und Stamm-
bäume betrifft, sind sie deshalb historisch, weil ihre Elemente
Vergleiche für Rüben ausser I. 5. 1—10 noch 5, 18. 11, 42. 12, 37. 26, 32.
27, 16, für Simeon ausser I. 4, 24—43 noch 12. 25. II. 15, 9. 34, 6 und
beachte, dass in den beiden letzten Stellen Simeon zum Nordreich ge-
rechnet wird, damit die zehn Stämme voll werden.
222 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
für uns undurchsichtig sind und unserer Kritik sich entziehen?
Die Sprache lässt keineswegs vermuten, dass man hier Excerpte
aus uralten Dokumenten vor sich hat (4,33. 38.41.5, 1 f . 7. 9 f.),
und Eigennamen, wie z. B. Eljoenai und andere (4, 35 f.), be-
stechen nicht durch altertümliche Originalität.
Von den übrigen Stämmen, soweit sie zu Israel und nicht
zu Juda gehören, kommen im Anschluss an Rüben zunächst
die transjordanischen an die Reihe (5, 11 — 26). Sie seien ver-
zeichnet in den Tagen Jothams von Juda und Jerobeams von
Israel, wobei sich ihre Zahl auf 44,760 Krieger belaufen habe;
sie seien zu Felde gezogen gegen die Hagarener Ituräer Na-
phisäer und Nabatäer und haben Sieg und viele Beute gewonnen,
„denn zu Gott schrieen sie und er Hess sich von ihnen erbitten
weil sie auf ihn trauten". Darnach aber seien sie abgefallen
vom Gott ihrer Väter und zur Strafe durch Phul und Tiglath-
pileser nach Armenien geschleppt an den Chabor und an den
Fluss Gozans. Abgesehen von der spätjüdischen Sprache im
erbaulichen Tone und von der Aufzählung Rüben Grad und halb
Manasse sind hier die wunderlichen und höchst dubiosen Coor-
dinationen bezeichnend: Phul. und Thiglath-pileser , Chabor und
der Fluss Gozans sind schwerlich von einander verschieden,
Jotham und Jerobeam dagegen ein so unmöglicher Synchronis-
mus, dass die Advokaten der Chronik behaupten , es solle gar
keiner sein-, freilich ohne an Hos. 1, 2 zu denken und ohne an-
zugeben, was dann Jotham von Juda hier sonst überhaupt zu
thun habe. Auch die Hagarener und Ituräer, statt etwa der
Möabiter und Ammoniter, geben zu denken, desgleichen die
geographischen Angaben, dass Gad in Basan und Manasse am
und im Libanon gewohnt habe. Was aber die Eigennamen der
Geschlechter und Häupter betrifft, so entziehen sie sich aller-
dings unserer Beurteilung; jedoch sind die Ausdrücke des
Sehema's, worin sie stehen (ansehe schemoth rasche l'beth abo-
tham, migraseh, jaches) dem Pristercodex und der Chronik
eigen, und neben alten und anderweit bezeugten Elementen
kommen andere sehr neuen Gepräges vor, z. B. 5, 24 Eliel Azriel
Jeremia Hoduja Jahdiel.
Die galiläischen Stämme nehmen in der Einleitung keine
bedeutende Stelle ein, aber in der übrigen Chronik treten sie
günstig hervor, namentlich I 12, 32—34. 40 und II 30, 10. 11. 18:
. Die Chronik. 223
es liegt nahe, besonders bei der letzteren Stelle, an die spätere
Judaisierung Galiläas zu denken. In Issachar soll es zur Zeit
Davids 87,000 Mann gegeben haben (misparam l'tholedotham
Tbeth abotham 7, 1 — 5), aus Zebuion und Naphthali sollen
wiederum genau 87,000 Mann zu David nach Hebron gekommen
sein, um ihn zu salben und sich drei Tage bewirten zu lassen;
doch heisst es vorsorglich 12, 40, sie brachten die Lebensmittel
selber mit. — Der eigentliche Kern Israels, Ephraim und Ma-
nasse, ist 7, 14—29 im Vergleich zu Simeon Rüben Gad Issachar
Äser sehr stiefmütterlich behandelt — ein sehr verdächtiges
Zeichen. Das Verzeichnis der manassitischen Geschlechter ist
eine künstliche Neucomposition aus irgendwo aufgelesenen ver-
witterten Elementen; Maacha, welche vielleicht mit Molecheth
gleichbedeutend ist, gilt sowohl als Weib wie als Schwester
Machirs, gehört aber als Gileaditin (Beth-Maaeha) gar nicht
hierher, da vom eisjordanischen Manasse die Rede ist: zur Aus-
füllung der Lücken wird kein Material verschmäht 1 ). Bei
Ephraim ist bloss eine lange und dünne Genealogie gegeben,
die v. 20. 21 beginnend und v. 25 sich fortsetzend, immer die
gleichen Namen (Thachath Thachan 1. Sam. 1, 1, Elada Ladan,
Schuthelah Thelah) wiederholt und schliesslich ihr Ziel und Ende
mit Josua erreicht, von dem die älteren Quellen nur den Vater
Nun kennen '). In die Genealogie hinein hat sich eine wunder-
liche Nachricht über die Tötung der Söhne Ephraims durch die
Männer von Gath (1. Sam. 4?) eingedrängt, die (wie 8, 6. 7) nach
der herrschenden Meinung uralt sein soll. Doch soll auch die
Notiz 4, 9 uralt sein, während sie sich offenbar auf das Auf-
blühen der Schriftgelehrtenschulen bezieht, welche sich nach 2, 55
zu Jabes befanden.
Ueberall wird vorausgesetzt, dass Israel während der ganzen
Königszeit nach den zwölf Stämmen organisiert gewesen sei
(Kap. 2—9. Kap. 12. Kap. 27); bekanntlich ist diese Voraussetzung
grundfalsch, wie z. B. aus 1. Reg. 4 zu erkennen. Ferner wird
die statistische Neigung des späteren Judaismus auf die ältere
Zeit übertragen, der Aufnahmen und Zählungen aufs äusserste
zuwider waren. Unter David sollen trotz 2. Sam. 24 wieder
und wieder Zählungen sowohl des geistlichen als der weltlichen
] ) Kuenen, Th. Tijdschr. 1877 S. 484. 488. — Derselbe, Godsclienst v. L
ßd.I S. 165.
224 Geschichte der Tradition^ Kap. 6.
Stämme vorgekommen sein; ebenso unter seinen Nachfolgern,
wie teils ausdrücklieh angegeben wird, teils aus den genauen
Angaben über die kriegsfähige Mannschaft zu schliessen ist;
immer ergeben sich dabei die ungeheuerlichsten und doch ur-
kundlich und rechnungsmässig sein sollenden Ziffern. Wir haben
es also bei den statistischen Verzeichnissen der Chronik, sofern
sie sich auf das vorexilische Altertum beziehen, mit künstlichen
Compositionen zu thun. Es mag sein und ist mitunter nach-
weislich, dass dabei einzelne Elemente benutzt sind, die auf
Tradition beruhen. Sicher eben so viele sind aber auch erdichtet,
und die Verbindung der Elemente, auf die es vor allem ankommt,
stammt, wie Form und Inhalt zeigen, aus spätester Zeit. Wer
hier geschichtliche Erkenntnis über altisraelitische Verhältnisse
sucht, muss sich darauf legen, das Gras wachsen zu hören.
2. Anders allerdings als mit den untergegangenen zehn
Stämmen, von denen bisher die Rede war, steht es mit Juda
und Benjamin und in gewisser Hinsicht mit Levi. Es lässt sich
denken, dass hier eine lebendige ethno- genealogische Tradition
die Gegenwart mit dem Altertum verbunden habe. Jedoch bei
näherem Zusehen ergiebt sich, dass das Meiste, was der Chronist
hier mitteilt, auf die nachexilische Zeit sich bezieht, und dass
die wenigen Fragmente, die höher hinaufweisen, einem Zusam-
menhange eingearbeitet sind, der im Ganzen sehr jungen Datums
ist. Am stärksten fällt es auf, dass das Verzeichnis der zu Jeru-
salem wohnenden Häupter des Volkes 9, 4 — 17 einfach mit Neh.
11, 3 — 19 identisch ist. Man erwartet an dieser Stelle, zur Ein-
leitung der Königsgeschichte Kap. 10 ff., keineswegs über die Ver-
hältnisse der Gemeinde des zweiten Tempels etwas zu hören;
aber unser Verfasser glaubt dadurch auch über die Verhältnisse
des alten Jerusalems aufzuklären; von David zu Nehemia ist für
ihn kein Sprung, er weiss von keinem Unterschied der Zeiten.
Auch für Kap. 8, wo eine ausführliche Aufzählung der benjamin.
Familien gegeben wird mit besonderer Rücksicht auf die in der
Hauptstadt sesshaften, hat Bertheau die nachexilische Beziehung
nachgewiesen; interessant ist es, dass es im späteren Jerusalem
eine ausgebreitete Familie gab, welche von Saul abstammen
wollte und ihre Ansprüche durch einen langen Stammbaum be-
gründete 8, 33 — 40 x ). Ohne Zweifel wird auf diese Weise für
J ) es 9, 35— -44$ was vielleicht die spätere Einschaltung von 9, 1—34 beweist.
Die Chronik. 225
das hohe Alter des anderen Verzeichnisses der Benjaminiten
(7, 6—11) kein allzugünstiges Vorurteil erweckt; um übrigens an
dem angeblichen Zurückgehen desselben auf verblichene Ur-
kunden zu zweifeln, braucht man nur auf die echt jüdischen
Termini in den Versen 7. 9. 11, auf Eigennamen wie Eljoenai
und auf die hier nicht leicht abtrennbaren, sondern sehr zur
Sache gehörigen Zahlangaben (22,034 + 20,200 + 17,200, zu-
sammen 59,434 Kriegsmänner) Acht zu geben.
Am meisten historischen Wert haben die auf den Stamm
Juda bezüglichen Register (2, 1 — 4, 23). Doch muss man den
Stammbaum der Davididen Kap. 3 ausnehmen, der nur von Zeru-
babel abwärts Interesse hat, sonst aber eine äusserst liederliche
Zusammenstellung des auch uns noch aus den älteren kanoni-
schen Geschichtsbüchern und aus Jeremia zugänglichen Materials
enthält. Die ersten vier der in Jerusalem geborenen Söhne
Davids sollen nach 3, 3 alle von der Bathseba stammen, die
anderen sieben werden durch ein Textversehen, welches auch
in der Septuaginta zu 2. Sam. 5, 16 vorliegt, auf neun erhöht.
Bei den Söhnen Josia's (3, 15 f.) wird Johanan d. i. Joahaz von
Sallum (Jer. 22, 11) unterschieden und, weil er zuerst seinem
Vater folgte, zum Erstgeborenen gemacht, während in Wahrheit
Jojakim älter war (2. Reg. 23, 36. 31); Sedekia, Jojakims Bruder,
wird für den Sohn Jechonia's, des Sohnes Jojakims, ausgegeben,
weil er der Nachfolger Jechonia's, des Nachfolgers Jojakims,
war. Ahnliche Dinge kommen auch im Buche Daniel vor, man
erkennt sie nicht an, weil man in der Weise von Iobs Freunden
für Gott Partei nehmen zu müssen meint. Wer Augen hat zu
sehen, kann nur den beiden grossen jüdischen Geschlechtslisten
in Kap. 2 und Kap. 4 höheren Wert zugestehen. Doch finden sich
auch hier die ungleichartigsten Elemente zusammengewürfelt und
die Spreu mit dem Waizen vermischt 1 ).
Das 2. Kapitel ist abgesehen von der Einleitung v. 1 — 8 ein
Verzeichnis der B'ne Hesron, einer Tribus, die zur Zeit Davids
noch gar nicht völlig mit Juda verschmolzen war, aber schon
damals die eigentliche Kraft dieses Stammes ausmachte und
später völlig damit verschmolz. Aus der übrigen Umgebung tritt
folgendes Schema hervor: „Die B'ne Hesron sind Jerahmeel
*) Für alles Nähere verweise ich auf meine Dissertation De gentibus et fa-
miliis Judaeis. Gotting. 1870.
Wellhausen, Prolegomena. 15
226 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
und Kelübai (Kaleb) (v. 9). Und die B'ne Jerahmeel, des Erst-
geborenen Hesrons, waren (v. 25) , . . Das waren die B'ne Jerah-
meel (v. 33). Und die B'ne Kaleb des Bruders Jerahmeel waren
(v. 42) . . . Das waren die B'ne Kaleb (v. 50 init.). 44 Was in dieser
Weise formell begrenzt und zusammengehalten wird (vgl. in letz-
terer Beziehung „Jerahmeel der Erstgeborene Hesrons' 4 , „Kaleb
der Bruder Jerahmeels 44 ), zeichnet sieh auch inhaltlich gegenüber
allem Anderen aus. Es ist der Kern des Ganzen und bezieht
sich auf die vorexilische Zeit. Schon das ungewöhnliche et
fuerunt (v. 25. 33. 50) leitet darauf hin, ausserdem bei Kaleb
die positive Thatsache, dass die Städte v. 42 — 49 alle bei Hebron
und im Negeb Juda liegen, wo nach dem Exil die Idumäer
wohnten, und bei Jerahmeel der negative Umstand, dass hier
überhaupt keine Städte unter den Geschlechtern erwähnt werden,
vielleicht mit Ausnahme von Molad (v. 29), wodurch man in den
tiefsten Süden gewiesen würde. Dieser Kern ist nun durch eine
Reihe naehexilischer Zusätze erweitert. Zuerst findet sich bei
Jerahmeel ein Anhang v. 34 — 41, der nicht ethnologischer, son-
dern rein genealogischer Natur ist und einen lögliedrigen Stamm-
baum offenbar bis nahe zur Gegenwart des Chronisten herab-
führt, der ausserdem nur in scheinbarer Verbindung mit dem
Vorhergehenden steht (vgl. v. 34 mit v. 31) und regelmässig die
Hiphilform holid gebraucht, die v. 25—33 nie und v. 42—50 nur
sporadisch vorkommt, an drei Stellen, die späterer Redaction
verdächtig sind (vgl. namentlich v. 47). Ungleich wichtiger sind
jedoch die Nachträge zu Kaleb, von denen sich der eine Teil
vorgedrängt v. 18 — 24, der andere dazu gehörige aber passender
an den Schluss gehängt hat v. 50 — 55 (anfangend mit: „und die
Söhne Hurs, des Erstgeborenen der Ephrath 44 , Kalebs zweiter Frau
v. 19). Hier erscheint Kaleb nicht mehr im tiefen Süden Juda's
und in der Nähe Jerahmeels (1. Sam. 25, 3. 27, 10. 30, 14. 29),
wo er vor dem Exil gesessen hat, sondern seine Geschlechter,
die allesamt von seinem Sohne Hur abstammen, bevölkern
Bethlehem Kiriathjearim Sor'a Esthaol und andere oben im
Norden belegene und in den Büchern Ezra und Nehemia viel
genannte Städte. Die Kalibbäer haben also in Folge des Exils
ihre alten Wohnsitze verlassen und nach der Rückkehr andere
eingenommen; diese Thatsache wird v. 19 so ausgedrückt, dem
Kaleb sei sein erstes Weib Azuba bath Jerioth (Deserta filia
Die Chronik. ' 227
Nomadum) verstorben und da habe er ein zweites genommen,
die Ephrath, mit der er den Hur zeugte — Ephrath ist der Name
der Landschaft, wo Bethlehem und Kiriathjearim liegen und
eigentlich eine blosse Nebenform von Ephraim, w T ie der Name
Ephrati beweist. Ausser diesen Zusätzen zu Jerahmeel und Kaleb
ist noch die Genealogie Davids hinzugekommen (v. 10 — 17).
Das Buch Samuelis weiss nur von seinem Vater Isai, während
dagegen Sauls Geschlecht höher hinauf verfolgt wird und kein
Grund war dies bei David zu unterlassen, wenn die Mittel zu
Gebote standen. Hier aber wird wie im Buche Ruth über Isai
Obed Boaz auf Salma zurückgegangen. Salma ist der Vater
Bethlehems (2, 54), daher der Vater Davids. Aber Salma ist der
Vater Bethlehems und benachbarter ganzer und halber Städte
nach dem Exil; er gehört zu Kaleb Abi Hur 1 ). Wenn nun
irgend etwas gewiss ist, so ist es das, dass in der alten Zeit die
Kalibbäer im Süden und nicht im Norden Juda's wohnten und
dass speciell David durch seine Geburt nicht zu ihnen, sondern
vielmehr zu dem älteren Teile Juda's gehörte, der gegen das
eigentliche Israel zu gravitierte und mit Benjamin in nächster
Verbindung stand. Von den drei ersten Gliedern der Genea-
logie sind Nahson und Amminadab die Fürsten Juda's im Prie-
stercodex, die passend als die Ahnen ihrer Nachfolger. ange-
sehen werden; Bam aber ist der Erstgeborene des Erstgeborenen
Hesrons (v. 25) und auch durch die Bedeutung seines Namens
(der Hohe) wie Abram zum Ausgangspunkt der fürstlichen Linie
qualificiert.
Während man also in Kap. 2 in der That auf einen alten
und nothwendig auf gute Tradition zurückgehenden Kern stösst,
der freilich nur um der späteren Zusätze willen erhalten zu
sein scheint, so charakterisiert sich das 4, 1 — 23 enthaltene ganz
unabhängige und parallele Verzeichnis dufch viele und deut-
liche Zeichen für jeden Sachverständigen als eine späte und
auf nachexilische Verhältnisse abzweckende Composition, worin
l ) Im Thargum werden die mit Kaleb verwandten Keniter als Salmaner be-
zeichnet, der Name kommt auch im Hohen Liede vor (1, 5: die Zelte
von Kedar, die Decken von Salma), ferner bei Plinius für eine naba-
täische Tribus. Unter den Nehem. 7, 46 — 60 aufgezählten Familien der
Nathinäer kämmen auch die B'ne Salma vor, neben mehreren anderen
Namen, die deutlich den nichtisraelitischen und ausländischen (Ezech. 44)
Ursprung dieser Tempelsklaven erkennen lassen z. B. v. 48. 52. 55. 57.
15*
228 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
* vielleicht einzelne ältere Elemente aufgenommen sein mögen, die
aber nicht mit irgend welcher Sicherheit zu erkennen sind 1 ).
Am ausführlichsten wird selbstverständlich Levi behandelt
(I 5, 27—6, 66. 9, 10 ff. Kap. 15 f. Kap. 23-27 u. s. w). Wir
wissen, dass dieser geistliche Stamm ein Kunstprodukt ist und
seine hierarchische Gliederung, wie sie im Priestercodex ausge-
bildet vorliegt, die Folge der Centralisation des Cultus in Jeru-
salem. Ferner ist oben nachgewiesen, dass in der Geschicht-
schreibung der Chronik das Streben am auffallendsten ist, die
Aharoniden und Leviten tiberall da, wo sie in den älteren histori-
schen Büchern des Kanons vermisst werden, diejenige Rolle
spielen zu lassen, auf welche sie nach dem Priestercodex An-
spruch haben. Wie unmittelbar an dieses Gesetz angeknüpft
wird, wie die Chronik in gewisser Hinsicht dasselbe fortbildet,
ersieht man z. B. daraus, dass dort Mose (Num. 4, 3 ff. 8, 23 ff.)
den Anfang des Dienstalters der Leviten von 30 Jahren in einer
Novelle auf 25 Jahre, hier David (1. Chron. 24, 3. 24) von
30 Jahren noch weiter auf 20 Jahre herabsetzt; die Dinge sind
noch einigermassen im Fluss, und die Ordnung des Tempel-
cultus durch David setzt die Gründung des Gottesdienstes der
Stiftshütte durch Mose fort. Sofern nun die Statistik des Klerus
auf Wirklichkeit zurückgeht, ist diese Wirklichkeit nachexilisch.
Es ist längst aufgefallen, wie viele der unter David und seinen
Nachfolgern agierenden Individuen (z. B. Asaph Heman Jeduthun)
mit Familien oder Innungen der späteren Zeit gleichnamig sind,
wie sogar beides beständig ineinander fliesst und man häufig
schwankt, ob mit dem Ausdruck Haupt eine einzelne Person
oder ein Geschlecht gemeint ist. Aber da der Chronist doch
nicht seine eigene, sondern die alte Zeit schildern will, so hält
er sich keineswegs streng an die Statistik der Gegenwart, son-
dern lässt zugleich seiner idealisierenden Phantasie freien Raum:
daher kommt es, dass man trotz der zahlreichen und scheinbar
genauen Angaben sich dennoch von der Organisation des Klerus,
*) Peres Hesron Karmi Hur Schobal 4, 1 ist eine genealogische descendi-
rende Reihe: man muss also notwendig Kelubai lesen statt Karmi, um so
notwendiger, da in der folgenden Ausfüllung Kelub und nicht Karmi an
dritter Stelle erscheint; denn diese, von unten aufsteigend, handelt zu-
nächst von Schobal (v. 2), sodann (v. 3 — 10) von Hur, der zu As-hur in
demselben Verhältnis steht wie Tob zu Is-tob, zu dritt (v. 11 — 15) von
Kelub oder Kaleb.
Die Chronik. 229
der Ordnung der Familien und Geschlechter, der Verteilung der
Amter durchaus kein Bild machen kann, vielmehr sich in einen
Wirrwarr von Widersprüchen verwickelt findet. Obed-edom
Jeduthun Salomith Korah stehen in den verschiedensten Verbin-
dungen, gehören bald zu dieser bald zu jener levitischen Ab-
teilung und bekleiden bald das bald jenes Amt. Natürlich sind
die Ausleger schnell bei der Hand, durch Differenzierung gleicher
und Identifizierung ungleicher Namen auszuhelfen.
Einige charakteristische Einzelheiten mögen hier noch eine
Stelle finden. Die Namen der sechs Levitenklassen Giddalthi
V'romamthi-Ezer Joschebkascha Mallothi Hothir Mahazioth sind
nach 25, 4 die zerstückten Glieder eines zusammenhängenden
Satzes: ich habe gross | und herrlich gemacht | die Hülfe dessen |,
der in Not sass, | habe Weissagungen | geredet in Fülle. Der
Wächter oder Sänger Obed-edom, der zur Zeit Davids und
Amasia's fungiert haben soll, ist kein anderer als der Hauptmann,
dem David drei Monate lang die Obhut der Lade anvertraute,
ein Philister von Gath. In höchst durchsichtiger Weise sind die
Stammbäume der Sänger componiert, namentlich der des Heman
(1. Chron. 6, 7— 12=v. 18—23). Ausser Exod. 6, 16—19 sind vor-
zugsweise dabei die Angaben über Samuels Familie (1. Sam.
1, 1. 8, 2) benutzt, der weil ihn seine Mutter zum Dienste am
Heiligtum weihte, natürlich levitischer Abstammung gewesen sein
muss. Heman ist der Sohn Joels ben Samuel b. Elkana b. Jero-
ham b. Eliab b. Thahath b. Suph — nur wird nicht wie 1. Sam.
1, 1 (Sept.) mit Ephraim geschlossen, weil ja auf Levi gekommen
werden soll; aber Suph ist eine ephraimitische Landschaft und
Thahath (Thohu Thoah Thahan Nahath) ein ephraimitisches
Geschlecht (7, 20). Weiter hinauf wiederholen sich die gleichen
Elemente vereinzelt noch öfters, Elkana im Ganzen viermal : ein-
mal kommt er schon Exod. 6, 24 vor, ohne Zweifel auch hier
aus 1. Sam. 1 entlehnt. Das Schönste ist, dass, entgegen der
Absicht der 1. Chron. 6 mitgeteilten Genealogien, wodurch die
Sängerinnungen als Leviten erwiesen werden, sich daneben (2, 6)
die Notiz findet, Heman und Ethan stammen von Zerah b. Peres
b. Juda ab. Die Ausleger in ihrem Bemühen, die Homonyme
zu differenzieren, werden zwar begünstigt durch ihre Unkenntnis
des Umstandes, dass noch z. Z. Nehemia's die Sänger nicht für
Leviten gelten, scheitern aber daran, dass nicht bloss die Söhne,
230 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
sondern auch die Väter gleichnamig sind (Ps. 88, 1. 89, 1. Ewald
III 380 f.). Historisch stammen natürlich diese Musiker des
zweiten Tempels weder yon Levi noch von den Söhnen Machols
(1. Eeg. 5, 11) ab, aber von den letzteren haben sie in der That
wenigstens ihre Namen hergenommen. Allenthalben finden sich
solche künstliche Namen bei den Leviten. Einer heisst Issachar;
man würde sich nicht wundern, einem Naphthali Sebi oder Juda
ben Jakob zu begegnen. Jeduthun ist eigentlich Bezeichnung
einer Singweise (Ps. 39, 1. 62, 1. 77, 1), daher denn auch eines
darauf eingeübten Chores. Besonders interessant sind einige
heidnische Namen, z. B. Henadad, Bakbuk und mehrere andere,
die ursprünglich bei den Hierodulen (Neh. 7, 46 ff.) heimisch,
ohne Zweifel aber mit diesen hinterher zu den Leviten überge-
gangen sind.
Mit den Priestern, deren so manche aus allen Zeiten der
israelitischen Geschichte namhaft gemacht werden, steht es, so-
weit sie nicht aus den Büchern Samuelis und der Könige ent-
lehnt sind, nicht besser als mit den niederen Leviten. Insbeson-
dere sind die 24 Priesterklassen keine Einrichtung des Königs
David, sondern der nachexilischen Zeit. Wenn Hitzig zu Ezech.
8, 16 bemerkt, dass die 25 Männer, welche zwischen dem
Tempel und dem Altar stehend ihr Gesicht gen Osten wenden
und die Sonne anbeten, die Vorsteher der 24 Priesterklassen mit
dem Hohenpriester an der Spitze gewesen seien (weil nämlich
niemand anders das Eecht gehabt zwischen Tempel und Altar
im inneren Vorhof zu stehen), so ist das für ihn selber und für
die ganze s. g. historisch -kritische Schule charakteristisch, die
ihren Scharfsinn immer von Fall zu Fall anstrengt, aber sich
nicht Zeit lässt über die Sachen im Zusammenhang nachzu-
denken, vielmehr einfach die Gesammtanschauung der Tradition
beibehält und sich nur zum Vergnügen eine Menge Ketzereien
erlaubt. Es ist beinah nicht möglich anzunehmen, dass Hitzig
als er Ezech. 8 commentierte, die Stellen Ezech. 43, 7 f. 44, 6 ff.
gelesen hatte, aus denen aufs unzweideutigste hervorgeht, dass
der vorexilischen Zeit die nachmalige Absperrung des Heiligen
für die Laien völlig unbekannt war. Wie viel die Chronik über
die vorexilische Priesterschaft wusste, verrät am deutlichsten
das Verzeichnis der 22 Hohenpriester I 5, 29 — 41. Vom 9. bis
18. Gliede lautet die Beihe: Amaria Ahitub Sadok Ahimaas
Die Chronik. 231
Azaria Johanan Azaria Amaria Ahitub Sadok. Was die ersten
fünf angeht, so war Azaria nicht der Sohn, sondern der Bruder
des Ahimaas und letzterer dem Anschein nach nicht Priester
(1. Reg. 4, 2); Ahitub aber der angebliche Vater Sadoks war viel-
mehr der Grossvater von dessen Rivalen Abiathar aus der Fa-
milie Eli (1. Sam. 14, 3. 22, 19): die ganze altberühmte Linie Eli
Pinehas Ahitub Ahimelech Abiathar, welche seit den Tagen der
Richter und noch unter David das Priestertum der Lade inne
hatte, wird totgeschwiegen, und die erst unter Salomo (1. Reg.
2, 35) an Stelle jener getretene Linie Sadok als die seit .Mose
im Besitz des vornehmsten Priestertums befindliche dargestellt.
Was ferner die vier letzten Namen der oben aufgezählten Liste
betrifft, so wiederholen sie einfach die früheren. Im Buch der
Könige kommen Azaria II Amaria Ahitub Sadok nicht vor, da-
gegen aber gleichzeitige andere Hohepriester, Jojada und Uria,
die im Verzeichnis der Chronik fehlen. Gleichwohl kann das
letztere nicht für lückenhaft erklärt werden. Denn in der jüdi-
schen Chronologie wird die alte Geschichte in zwei 480jährige
Perioden eingeteilt, deren eine vom Auszuge aus Ägypten bis
zum Tempelbau und die andere von da bis zur Gründung der
zweiten Theokratie läuft. Nun sind 480 Jahre 12 vierzigjährige
Generationen; und 1. Chron. 5 werden 12 Hohepriester auf die
tempellose Zeit gerechnet (v. 36 b hinter v. 35 a), von da aber
noch 11 bis aufs Exil, d. h. inclusive des Exils 12 Generationen.
Man kann also nicht umhin über den historischen Wert der
Genealogie 5, 29—41 den Stab zu brechen. Wusste aber die
Chronik von den Priesterfürsten der älteren Zeit nichts, so ist
ihren Angaben über die gewöhnlichen Priester erst recht nicht
zu trauen.
3. Von einer Tradition aus vorexilischer Zeit kann also in
der Chronik nicht die Rede sein, weder in I. 1 — 9 noch in
I. 10—11. 36. Schon im Jahre 1806 hatte dies der damals
26jährige de Wette bündig dargethan. Aber seitdem hat sich
mancher theologische Sisyphus bemüht, den Stein auf halbe oder
ganze Höhe wieder bergauf zu wälzen, mit besonderem Erfolge
namentlich der dem nüchternen evangelischen Kritiker an Geist
scheinbar überlegene Movers. Dieser Gelehrte verwirrte die
Frage nach dem historischen Wert der für uns eontrolierbaren
Nachrichten der Chronik mit der nach den mutmasslichen Quellen
232 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
ihrer Abweichungen von den älteren kanonischen Geschichts-
büchern. Vergebens hatte de Wette im voraus gegen ein solches
Verfahren protestiert: es sei möglich und zuzugeben, dass die
Chronik, wo sie variiere oder widerspreche, älteren Vorgängern
folge, aber die Frage bleibe nach wie vor die gleiche, auf welche
Weise sich die totale Verschiedenheit der Gesamtanschauung
und die Menge der partiellen Differenzen erkläre; die Quellen-
hypothese, wie sie vor Movers von Eichhorn vertreten war, helfe
zur Entscheidung dieser Frage nichts, man müsse eben doch bei
der kritischen Vergleichung der beiden Relationen und der Prü-
fung ihres geschichtlichen Charakters sich halten an das was
vorliege (Beiträge I. S. 24. 29. 38). Solche Grundsätze waren
einer geistreichen Zeit zu simpel; Movers imponierte, zumal da
er nicht so naiv war, sich auf authentische Urkunden wie den
Brief Hirams und Elia's zu berufen, sondern sehr kritisch ver-
fuhr. Gegenwärtig erkennt leider auch Dillmann (Herzogs RE.
II 1 S. 693. IIP S. 223) an, „dass der Chronist tiberall nach
Quellen gearbeitet hat und von absichtlicher Erdichtung oder
Entstellung der Geschichte bei ihm keine Rede sein kann 44 . Und
von der Höhe der Wissenschaft herab sieht der Verfasser des
5. Teiles des biblischen Commentars über das A. T. mitleidig
auf K. H. Graf nieder, „der so weit hinter dem gegenwärtigen
Standpunkt der ATlichen Forschung zurückgeblieben ist, dass
er die de Wette'schen Ansichten zu repristinieren versucht hat u ;
ja um die Chronik völlig auf eigene Füsse und den Büchern
Samuelis und der Könige gleich zu stellen, leugnet er überhaupt
ihre Abhängigkeit von denselben und lässt sie auch da, wo sie
wörtlich daraus abschreibt, anderweitige selbständige Quellen be-
nutzen : eine unnötige Übertreibung der Wissenschaftlichkeit, denn
z. B. das Gebet Salomo's und die Epitome hat doch der Vf. des
Buchs der Könige selber geschrieben und nicht anderswoher
entlehnt, der Chronist kann sie also, direkt oder indirekt, nur
aus seinem Werke haben.
Hiegegen kann man nur wiederholen was de Wette gesagt
hat. Es kann sein, dafcs die Chronik nicht lediglich auf eigene
Rechnung und Gefahr, sondern auf Grund schriftlicher Vorlagen
ein von der echten Tradition in Farbe und Zeichnung so ganz
abweichendes Bild des alten Israel entwirft. Dadurch verändert
sich aber ihr geschichtlicher Charakter nicht um ein Haar, sie
Die Chronik. 233
teilt ihn nun bloss mit ihren s. g. Quellen. Das 2. Makkabäer-
buch und eine Menge ähnlicher Schriften haben auch Quellen
benutzt, was hilft das zur Verbesserung des Wertes ihrer Mit-
teilungen? Der muss doch aus dem Inhalt derselben erkannt
werden, welcher nicht nach den verloren gegangenen pri-
mären, sondern nur nach den erhaltenen sekundären literarischen
Produkten beurteilt werden kann. Auf die Prüfung des histo-
rischen Gehaltes läuft mithin Alles hinaus — wir haben schon
gesehen, zu welchen Ergebnissen diese führt. Die Änderungen
und Supplemente der Chronik fliessen schliesslich alle aus dem
selben Brunnen: es ist die Judaisierung der Vergangenheit, in
welcher sonst die Epigonen ihr Ideal nicht wieder erkennen
. konnten. Nicht weil das Gesetz und die Hierokratie, und der
deus ex machina als einzig wirksamer Faktor der heiligen Ge-
schichte, in der Überlieferung vorgefunden, sondern weil sie
darin vermisst wurden, setzte man sie zu. Wenn die Aus-
lassungen aus „dem Plane" erklärt werden, warum nicht aus
der gleichen Rücksicht die Zuthaten? Die Entrüstung, mit der
sich Ewald (Jahrbb. X 261) über die Ansicht äussert , dass die
Gefangenschaft Manasse's auf jüdischer Dogmatik beruhe, „sie
sei ein verzweifelt schlechter Gedanke und zugleich ein grosses
Unrecht gegen die biblische Chronik", erinnert an Bernhard
Schäfers denkwürdiges Wort über den Prediger Salomo, dass
Gott der Herr keinen Lügner brauche, um ein kanonisches Buch
zu schreiben. Was sagt denn Ewald zu den Erzählungen im
Daniel oder im Jona? Warum muss die Umdichtung der Ge-
schichte Manasse's anders beurteilt werden, als die der Geschichte
des Ahaz, die eben so dreist ist, und als die übrigen S. 211 ff.
aufgeführten analogen Beispiele? Mit welchem Rechte gilt über-
haupt der Chronist, nachdem ihm so und so oft die Unglaub-
würdigkeit nachgewiesen ist, in einem beliebigen Einzelfalle
immer wieder für einen unverdächtigen Erzähler? Mindestens
da, wo die Beziehung zum „Plane" deutlich ist, sollte man doch
seinem Zeugnisse gegenüber mistrauisch sein; man sollte aber
zugleich bedenken, dass solche Beziehungen viel häufiger vor-
kommen werden als sie für uns, namentlich für die Blinden
unter uns, erkennbar sind. Es ist ja möglich, dass sich irgend
ein gutes Korn unter der Spreu befände, aber gewissenhafter
Weise muss man von der Möglichkeit der Ausnahme abstrahieren
234 Geschichte der Tradition, Kap. 6.
und der Wahrscheinlichkeit der Regel die Ehre geben. Denn
in dem Ausheben einer gesunden Einzelheit aus einem inficierten
Ganzen täuscht man sich gar zu leicht. Zu 2. Sam. 5, 9: und
David wohnte in der Burg (Jebus) und nannte sie die Stadt
Davids und baute sie rings von der Mauerböschung nach innen
zu — findet sich 1. Chr. 11, 8 der Zusatz: Joab aber stellte den
Rest der Stadt (Jerusalem) wieder her. Die Notiz sieht unver-
dächtig aus und findet allgemeinen Glauben. Aber das Wort
mn statt JTD2 beweist ihre Jugend, und bei näherer Überlegung
findet man auch, dass die Stadt Jebus z. Z. ihrer Eroberung
durch David sich lediglich auf die Burg beschränkte und die
Neustadt erst später hinzukam, mithin nicht von Joab wieder
aufgebaut werden konnte; das Interesse für den letzteren er-
klärt sich aus Neh. 7, 11. Vielfach pflegt man solche Angaben
anzusehen, als aus pinem noch besseren Texte der Bücher Sa-
muelis und der Könige geflossen, welcher der Chronik vor-
gelegen habe; und das ist jedenfalls die zulässigste Form ihrer
Introducierung. Aber die Textkritiker des exegetischen Hand-
buches sind dem Chronisten nur allzu congenial und greifen
immer mit beiden Händen nach seinen Glasperlen und jaach den
verwandten Erscheinungen in der Septuaginta.
Zuzugestehen ist, dass die Chronik nicht der Willkür eines
Einzelnen, sondern einer .allgemeinen Zeitrichtung ihre Ent-
stehung verdankt. Sie ist das notwendige Produkt der Über-
zeugung, dass das mosaische Gesetz der Ausgangspunkt der
israelitischen Geschichte sei und dass in ihr ein aller Analogie
entnommenes heiliges Kräftespiel wirke; diese Ueberzeugung
musste zu einer völligen Umgestaltung der alten Tradition führen.
Von gleicher Voraussetzung ausgehend könnte ein Mann wie
C. F. Keil noch heute die Chronik schreiben wenn sie nicht
schon vorhanden wäre. In dieser Hinsicht nun, um die Chronik
als den Typus der Geschichtsauffassung der Schriftgelehrten zu
würdigen, ist die Frage nach ihren „Quellen" in der That wichtig
.und interessant. Verweisungen auf anderweitige Schriften, aus
denen man sich des näheren unterrichten könne, folgen in der
Regel am Schlüsse der Regierung jedes Königs, ausgenommen
Joram Ahazia Athalia Amon Joahaz Jojachin Sedekia. Die dabei
angegebenen Titel lassen sich in zwei Gruppen bringen: a) das
Buch der Könige von Israel und Juda oder von Juda und Israel
Die Chronik. - 235
(bei Asa Amasia Jotham Ahaz Josia und Jojakim), womit das
Buch der Könige von Israel (Josaphat Manasse vgl. I 9, 1) iden-
tisch ist, da es sich ja nur um Juda handelt; b) die Worte Sa-
muels des Sehers, Nathans des Propheten und Gads des Spähers
(David I 29,29 vgl. 27, 24. Sir. 46, 13. 47, 1), die Worte Nathans
des Propheten, die Prophetie Ahia's von Silo und das Gesicht
Iddo's des Spähers über Jerobeam ben Nebat (Salomo II, 9, 29),
die Worte Semaia's des Propheten und Iddo's des Spähers (Re- /$,
habeam 12, 15), die Worte Jehu's ben Hanani, welche in's Buch
der Könige von Israel tibertragen sind (Josaphat 20, 34) , eine
Schrift Jesaia's des Propheten (Uzzia 26, 22), näher bezeichnet
als das Gesicht des Propheten Jesaia ben Arnos in dem Buche
der Könige von Juda und Israel (Hizkia 32, 32), die Worte der
Seher in den Geschichten der Könige Israels (Manasse 33, 18
vgl. auch v. 19). Nach Movers Vorgange haben Bertheau und
Andere nachgewiesen, dass -mit diesen verschiedenartigen Citaten
immer nur ein und dasselbe Buch bezeichnet ist, entweder nach
seinem Gesamttitel oder nach den conventioneilen Einzeltiteln
seiner Abschnitte 1 ). Bertheau macht darauf aufmerksam, dass
für gewöhnlich entweder die eine oder die andere Verweisung
vorkomme, und, wenn ausnahmsweise zwei zugleich, dann regel-
mässig die prophetische Schrift als ein Stück aus dem Geschichts-
buche der Könige bezeichnet werde (20, 34. 32, 32 und ganz all-
gemein 33, 18). Die eigentümliche Benennung der einzelnen Ab-
schnitte 2 ) — in einer Zeit, welche keine Kapitel und Verse kennt,
— geht davon aus, dass jede Periode der heiligen Geschichte
ihren leitenden Propheten hat (dxpißyj£ twv 7rpo<p7]Tü>v StaSo/Vj contra
Apion. 1, 8), sie involviert aber wohl auch (nach 26, 22 trotz 9, 29.
12, 15. 13, 22 I 29, 29) die Meinung, dass jeder Prophet seine
Periode selbst beschrieben habe. Offenbar ist dies der Grund
des Namens prophetae priores, den die Bücher Josua Richter
Samuelis und Könige im jüdischen Kanon tragen, und auch der
Gesichtspunkt, aus dem die Uebertragung von 2. Reg. 18ff. in
*) Auch in den Büchern Ezra und Nehemia hat der Chronist nicht so viel
Quellen benutzt als man annimmt. Die Klagelieder 2. Chron. 35, 25 nicht
für unsere Klagejieder Jeremiae zu halten hat man keinen Grund; we-
nigstens ist die falsche Beziehung derselben auf den Tod Josia's (Joseph.
Ant. 10. 5, 1) ehrlicher Weise nicht als ein solcher anzusehen.
2 ) Rom. 11, 2: Iv "Elia r( Xeyet Vj ypacpiq; das heisst: wie steht in dem Ab-
schnitte über Elias geschrieben?
236 • Geschichte der Tradition, Kap. 6.
das Buch Jesaia's zu beurteilen ist. Bei geringen historischen
Ansprüchen ward es leicht, für jeden Abschnitt den nötigen
propheta eponymus zu finden. Jehu ben Hanani, ein Nord-
israelit aus der Zeit Baesa's, muss wie für Asa so noch für Jo-
saphat. herhalten. Iddo der Späher, der gegen Jerobeam ben
Nebat geweissagt hat, ist der anonyme Prophet von 1. Reg. 13
(Jos. Ant. 8 8, 5. Hieron. zu Zachar. 1, 1); in der damaligen
Zeit wusste man auch die Namen der Weiber Kains und der
Urväter anzugeben.
Anlangend die nähere Bestimmung des der Chronik zu
Grunde liegenden Buches der Könige, so kann eine Zusammen-
arbeitung der Königsreihen von Israel und Juda erst nach dem
Abschluss beider erfolgt sein, also erst im babylonischen Exil.
Im babylonischen Exil ist nun das kanonische Buch der Könige
wirklich entstanden, und dessen Verfasser hat zum ersten n^al
die Jahrbücher von Israel und die Jahrbücher von Juda zusam-
mengearbeitet; wenigstens beruft er sich nur auf die getrennten
Werke und kennt noch keine ältere Verschmelzung derselben.
Es läge also am nächsten, die von der Chronik gemeinte Schrift
für unser im Titel gleichlautendes und im Inhalt entsprechendes
kanonisches Buch zu halten. Aber das geht nicht an, weil in
jenem Dinge gestanden haben, von denen hier nichts zu finden
ist, z. B. nach 1. Chron. 9, 1 eine Familien- und Zahlenstatistik
des gesamten Israels in der Weise von 1. Chr. 1 — 9 — welche
Kapitel zumeist daraus entnommen sein werden — und nach
2. Chron. 33, 19 das Gebet Manasse's. Aus diesen beiden An-
gaben sowie auch aus der Art der übrigen mutmasslich grossen-
teils aus dieser Quelle geflossenen Nachrichten muss man
schliessen, dass das von der Chronik citierte Buch der Könige
ein der wirklichen Tradition fern stehendes und spätes Mach-
werk ist, und sein Verhältnis zum kanonischen Buch der Kö-
nige so erklären, dass es eine apokryphe Aufputzung und Er-
weiterung desselben ist, nach der Weise der Behandlung der
heiligen Geschichte durch die Schriftgelehrten. Diesem Schlüsse
aus dem Inhalt kommt nun ein wichtiges positives Datum zu
Hülfe, nämlich die Anführung IL 24, 27: der Midrasch des
Buchs der Könige und 13,22: der Midrasch des Propheten
Iddo. Ohne Zweifel hat Ewald Recht, hierin den wahren Titel
der sonst einfach das Buch der Könige genannten Schrift zu
Richter Samuelis und Konige. 237
erkennen. Nun versteht es sich zwar von selbst, dass die Aus-
leger behaupten, das Wort Midraseh, das .nur an diesen beiden
Stellen in die Bibel hineinragt, heisse hier etwas ganz anderes
als was es sonst immer heisst — aber die wirkliche Bedeutung
passt ausgezeichnet und wir stehen mit der Chronik mitten im
Zeitalter der Schriftgelehrten inne (1. Chron. 2, 55). Der Mi-
draseh ist die Folge der Heilighaltung der Reliquien der Ver-
gangenheit, eine ganz eigene Wiedererweckung der toten Ge-
beine, auf künstlichem und zunächst auf schriftlichem Wege,
wie die Vorliebe für Listen von Namen und Zahlen zeigt. Wie
Efeu umgrünt derselbe den abgestorbenen Stamm mit fremdarti-
gem Leben, Altesund Neues in sonderbarer Vereinigung mischend.
Es ist Hochschätzung der Überlieferung, welche sich in -ihrer
Modernisierung äussert; aber dabei wird sie aufs willkürlichste
umgedeutet, verrenkt und mit fremdartigen Zuthaten versetzt.
Im Zusammenhange mit dieser Widerspiegelung der Gegenwart
im Altertum stehen sowohl Jona wie Daniel und eine Menge
von Apokryphen (2. Macc. 2, 13); das Gebet des Manasse, das
jetzt nur griechisch erhalten ist, scheint in der That, wie Ewald
vermutet, direkt aus dem Buche entlehnt zu sein, welches
2. Chron. 33, 19 angeführt wird. In dieser Sphäre, in der das
ganze Judentum sich bewegt, ist auch die Chronik entstanden.
Ob man Chronik sagt oder Midraseh des Buchs der Könige,
ist dabei ziemlich gleichgiltig, sie sind Kinder desselben Schosses
und nach Geist und Sprache auf keine Weise zu unterscheiden,
während dagegen die wörtlich aus dem kanonischen Buche der
Könige beibehaltenen Stücke in beider Hinsicht sofort auffallen.
Siebentes Kapitel.
Richter Samuelis und Könige.
In der an Unglücksfällen reichen Geschichte # der hebräischen
Literatur ist auch ein glückliches Ereignis zu verzeichnen. Die
238 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Chronik hat die ihr zu Grunde liegenden Geschichtsbücher nicht
verdrängt, sondern neben der jüngeren ist uns die ältere Dar-
stellung erhalten. Jedoch auch in den Büchern der Richter
Samuelis und der Könige liegt die Überlieferung nicht rein in
ihrer ursprünglichen Fassung vor, sondern schon hier tiberwuchert
von späteren Trieben. Neben einer älteren Relation hat sich
eine neue gebildet, formell unabhängig und für sich verständ-
lich, manchmal freilich dennoch sich vorhandenem Zusammen-
hange anschmiegend. Häufiger haben die neuen Säfte nicht
einen ganzen Stamm aus der alten Wurzel noch auch einen
ganzen Ast am alten Stamme hervorgetrieben, sondern nur
parasitische Bildungen angesetzt; kleinere unselbständige Stücke
sind einer älteren Erzählung angewachsen. Über das ganze
Geschiebe der Tradition ist endlich gleichförmig ein letztes Se-
diment gelagert, welches die Gestalt der Oberfläche bedingt.
Um dies letztere handelt es sich uns zuvörderst; seine Art fest-
zustellen, die zeugenden Kräfte zu erkennen, die darin wirken.
Darnach erst können wir versuchen, auch in der dahinter lie-
genden älteren Schichtung den Stimmungswechsel der Zeiten zu
verfolgen.
I.
1. Zur Beurteilung der Richterperiode wird man durch
folgendes Prooemium auf den richtigen Standpunkt gesetzt.
„Nach dem Tode Josua's thaten die Kinder Israel was böse ist
vor Jahve und verliessen den Gott ihrer Väter, der sie aus
Ägyptenland geführt hatte, und dienten den Göttern der Völker
ringsum, den Baalen und Astarten. Und Jahve's Zorn ent-
brannte über sie und er tibergab sie in die Hand von Räubern,
die sie ausraubten, und verkaufte sie in die Hand ihrer Feinde
ringsum; bei all ihrem Unternehmen war Jahve's Hand gegen
sie zum Bösen, wie er geredet und wie er ihnen geschworen
hatte; und sie kamen sehr in die Enge. Dann erweckte ihnen
Jahve Richter und war mit dem Richter und rettete sie aus der
Hand ihrer Feinde alle Tage des Richters, weil er sich er-
weichen Hess durch ihr Geschrei vor ihren Drängern und Pei-
nigern. Wenn aber der Richter starb, trieben sie es wieder
schlimmer als ihre Väter, fremden Göttern nachzu wandeln; sie
Richter Samuelis und Könige. 239
blieben nicht zurück hinter deren Thaten und ihrem verstockten
Wandel, so dass Jahve über Israel ergrimmte" u. s. w. Jud. 2.
Das ist der Text, es folgen die Exempel. „Und die Kinder
Israel thaten was böse ist vor Jahve und vergassen Jahve ihren
Gott und dienten den Baalen und Astarten , und JahveV Zorn
entbrannte über Israel und er verkaufte sie in die Hand des
Königs Kusan Risathaims von Aram und sie dienten ihm acht
Jahre. Und die Kinder Israel schrien zu Jahve, und Jahve er-
weckte ihnen einen Helfer, Othniel ben Kenaz, und gab den
König von Aram in seine Hand, und das Land hatte vierzig
Jahre Ruhe, da starb Othniel ben Kenaz." Die gleichen Ge-
sichtspunkte und auch ziemlich wörtlich die Ausdrücke, die bei
Othniel das ganze Cadre ausfüllen, kehren bei Ehud Debora
Gideon Jephthah und Simson wieder, bilden hier aber nur am
Anfange und am Ende der Erzählungen einen Rahmen, um an-
derweitigen und reicheren Inhalt einzufassen; selten schwellen
sie zu ausführlicheren Betrachtungen an, wie 6, 7. 10, 6. Auf
diese Weise entsteht das regelmässige Fach werk von Jud. 2—16.
Es sind jedoch bloss die sechs grossen Richter die darin unter-
gebracht sind; die sechs kleinen stehen ausserhalb und haben
ein besonderes Schema für sich, sie werden erst nachträglich
hinzugefügt sein, um die Zwölfzahl voll zu machen.
Es sind wenige und markante Züge, welche diese historische
Methodik charakterisieren. Eine fortlaufende Chronologie reiht
die Ruhezeiten und die Unterbrechungen an einander und sorgt
für die Continuität der Periode. Um dieselbe richtig zu würdi-
gen, muss man etwas über die Grenzen des Richterbuches
hinausgehen. Der Schlüssel zu ihrem Verständnis liegt in
1. Reg. 6, 1 : „im 480 Jahre des Auszugs der Kinder Israel aus
Ägyptenland, im 4. Jahre der Regierung Salomo's baute er das
Haus Jahve's". Wie Bertheau erkannt und Nöldeke weiter ver-
folgt hat, entsprechen diese 480 Jahre 12 Generationen zu je
40 Jahren. Analog werden 1. Chron. 5, 29 — 34 in diesem Zeit-
raum von Aharon bis Ahimaas 12 Hohepriester angenommen,
nach deren Successionen man in der späteren Zeit die Ge-
schlechterfolge auszumessen suchte (Num. 35, 28). Es ist nun
allerdings nicht sofort klar, wie diese Gesamtsumme mit den
Einzelposten in Harmonie zu bringen ist. Jedoch dass die Vierzig
die Grundzahl der Rechnung sei, lassen auch die Einzelposten
240 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
zur Gentige erkennen. Vierzig Jahre lang dauert der Wtistenzug,
während des die ägyptische Generation ausstirbt; je 40 Jahre
hat das Land Ruhe unter Othniel Debora und Gideon, 80 unter
Ehud; 40 Jahre währt die Herrschaft der Philister, ebensolange
die Eferrschaft Davids. Nach der notwendigen Annahme, dass
die Periode der Philister (Jud. 13, 1), die das gewöhnliche Mass
der Fremdherrschaften weit überschreitet, sich mit der Eli's
(1. Sam. 4, 18) deckt und gleichermassen die sich ergänzenden
20 Jahre Simsons (Jud. 16, 31) und 20 des Interregnums vor
Samuel (1. Sam. 7, 2) umfasst, sind hiemit 8X40 Jahre unterge-
bracht, und es bleiben noch 4x40. Davon müssen einmal die
beiden Generationen bedacht werden, für die keine Zahlen an-
gegeben sind, nämlich die Josua's und der ihn überlebenden
Zeitgenossen (Jud. 2, 7), und die Samuel-Sauls, vermutlich jede
mit den normalen 40, beide zusammen sicher mit 80 Jahren.
Von den übrigen 80 wären hauptsächlich zu bestreiten die 71
Jahre der Interregna oder Fremdherrschaften und die 70 der
kleinen Richter. Man sieht, diese beiden Abschnitte haben neben
einander nicht Platz — es sind Äquivalente, die sich gegenseitig
aussehliessen. Ich ziehe vor, die Interregna festzuhalten, weil
gegenwärtig nur sie dem eigentlichen Schema des Richterbuches
eingeordnet sind. Der noch verfügbare Rest von 9 oder 10
Jahren verteilt sich auf Jephthah mit 6 und auf Salomo (bis
zum Tempelbau) mit 3 oder 4 Jahren, resp. wenn man die
letzteren nicht mitrechnet, auf Abimelech mit 3 Jahren.
Aber die Hauptsache ist nicht die Chronologie, sondern die
religiöse Verknüpfung der Begebenheiten., Beides hängt eng
zusammen, formell, wie aus dem Schema zu ersehen, und auch
durch eine innerliche Beziehung. Denn es handelt sich hier wie
dort um Zusammenfassung grosser Zeiträume, um einen fort-
gesetzten Üeberblick über die Folge und die Verkettung der
Geschlechter, wobei von dem näheren Inhalt der Ereignisse ab-
gesehen wird; die geschichtlichen Faktoren, mit denen der re-
ligiöse Pragmatismus rechnet, sind so gleichartig, dass die ein-
zelnen Perioden in der That bloss mit Jahreszahlen ausgefüllt
zu werden brauchen. Man wird an Satz Gegensatz und Ver-
mittlung erinnert, wenn man sich den einförmigen Takt in's
Ohr klingen lässt, nach dem hier die Geschichte fortschreitet
oder sich im fireise dreht. Abfall Drangsal Bekehrung Ruhe,
Richter Samuelis und Könige. 241
Abfall Drangsal Bekehrung Ruhe. Die einzigen Subjecte aller
Aussagen sind Jahve und Israel, ihr Verhältnis allein ist es was
den Weltlauf in Bewegung setzt; je nachdem in entgegenge-
setzter Richtung, so dass er schliesslich immer auf dem selben
Flecke bleibt.
„Sie thaten was böse ist vor Jahve, sie hurten den Götzen
nach" — das ist der durchklingende Grundton. Trotzdem die
Monolatrie Jahve's auch äusserlich so wirksam sich empfiehlt,
schlägt sie doch keine festen Wurzeln, verwächst nicht mit dem
Volke, sondern bleibt ihm eine transcendente Forderung. Jahr-
zehende hindurch lassen sie sich dabei festhalten, dann aber
macht sich ihr götzendienerischer Hang Luft, der nur durch die
Scheu vor dem Richter bei dessen Lebzeiten, zurückgehalten ist;
sie müssen Veränderung haben. Nun ist der Abfall zwar für
die Pragmatik ganz notwendig, weil sonst überhaupt nichts ge-
schieht; es ist die Unruhe in der Uhr, wovon alle Bewegung
abhängt. Indessen das ist natürlich kein Milderungsgrund, das
Betragen des Volkes erscheint vielmehr überaus unentschuldbar.
Die Hauptaktionen, die Thaten der Richter, sind für diese ge-
schichtliche Betrachtungsweise immer nur Beweise von Israels
Sünde und von Jahve's beschämender Gnade.
Dass dies alles nicht zum eigentlichen Inhalte der Tradition
gehört, sondern eine darüber gezogene Uniform ist, wird aner-
kannt. Numero deus impare gaudet. Man pflegt diese nach-
trägliche Bearbeitung deuteronomistisch zu nennen. Das Gesetz,
das Jahve den Vätern befohlen und dessen Bruch er schwer zu
ahnden gedroht hat 2, 15. 21, wird zwar seiner Art nach nicht
näher bestimmt, man kann jedoch nicht daran zweifeln, dass
die Quintessenz davon ist, Jahve allein und keinen anderen Gott
zu verehren. Somit kann wenigstens an den Priestercodex dabei
nicht gedacht werden, denn hier wird jene Forderung gar nicht
ausdrücklich geltend gemacht, sondern als selbstverständlich an-
gesehen. Dagegen das Deuteronomium spricht in der That keinen
Satz mit grösserem Nachdruck aus als das Höre Israel, dass
Jahve der einzige sei und fremder Dienst die Sünde aller Sünde.
Diesen Satz haben vor allem die Zeitgenossen weit lauter daraus
vernommen, als die moralischen Gebote der Menschlichkeit und
Milde, die auch darin eingeschärft werden, die aber nicht neu
sind, sondern älteren Spruch Sammlungen entnommen; nur nach
Well hausen, Prolegomena. 16
242 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
dieser Seite, sofern es den prophetischen Monotheismus auf dem
Gebiete der Volksreligion in seine praktischen Consequenzen ver-
folgt, hat das Gesetzbuch Josia's seine geschichtliche Bedeutung
gehabt, nach dieser Seite in Ezechiel und den Epigonen fort-
zeugend gewirkt. Wenn demnach überhaupt die Norm des
theokratischen Verhältnisses, die in der Bearbeitung des Richter-
buches vorausgesetzt wird, in einer schriftlichen Thora zu suchen
ist, so kann diese allerdings nur die deuteronomische sein. Die
endgültige Entscheidung der Frage hängt von der Vergleichung
des Buches der Könige ab und muss bis dahin verschoben
werden.
2. Was das Verhältnis dieses Daches zum Unterbau be-
trifft, so ist es* in erheblich verschiedenem Stile aufgeführt. Die
Bearbeitung, worin das Richterbuch Aufnahme in den Kanon
gefunden hat, ist ohne Frage judäischen Ursprungs; aber die
Geschichten selber sind nicht judäisch, ja im Liede der Debora
wird Juda gar nicht mit zu Israel gerechnet. Der einzige
judäische Richter ist Othniel; er ist aber keine Person, sondern
ein Geschlecht. Was. von ihm berichtet wird, ist vollkommen
inhaltsleer und besteht lediglich aus den schematischen Wendungen
des Bearbeiters, der also hier selbst an's Schaffen gegangen ist,
damit die Reihe durch einen Judäer eröffnet werde; die Wahl
Othniels ward durch Jud. 1, 12—15 an die Hand gegeben. Also
eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Wichtiger sind innere
Differenzen, die hervortreten. Um mit dem Allgemeinsten an-
zufangen, so ist die geschichtliche Continuität, auf welche das
Schema so viel Gewicht legt, in den einzelnen Erzählungen des
Richterbucßs mit nichts angezeigt. Ohne Rücksicht auf Zusammen-
hang und Folge stehen dieselben lose und unverbunden neben
einander, wie einzelne lichte Punkte, die hie und da aus dem
Nebel der Erinnerungslosigkeit auftauchen. Einen längeren
Zeitraum wirklich auszufüllen machen sie keinen Anspruch, für
eine Chronologie geben sie keine Anhaltspunkte. Es ist in
Wahrheit kaum der blasse Schein eines fortlaufenden Zusammen-
hangs, der durch die leeren Zeitmasse des Schemas über den
Inhalt der Tradition geworfen wird. Ferne liegt der letzteren
überhaupt die Vorstellung einer zwischen Josua und Saul liegen-
den Periode der Richter, in der diese über Israel geherrscht
und einander annähernd so regelmässig wie später die Könige
Richter Samuelis und Könige. 243
succediert haben. Man kann nicht zweifeln, dass Jud. 1 und
Jud. 17. 18 das beste Recht haben zum ursprünglichen Stock
gerechnet zu werden; von der Aufnahme in's Schema sind diese
Stücke nur deshalb ausgeschlossen, weil darin von Richtern
nichts zu lesen steht und von den allgemeinen Verhältnissen ein
Bild entworfen wird, das sehr wenig zum Plane stimmt *).
Der falschen Continuität liegt eine falsche Verallgemeinerung
zu Grunde. Aus lokalem Nebeneinander entsteht ein zeitliches
Nacheinander, indem aufs Ganze bezogen wird, was vom Teile
gilt, indem immer die Kinder Israel in corpore auf den Schau-
platz treten, von den Feinden bedrückt und von den Richtern
gerichtet werden. In Wirklichkeit treten nur die einzelnen
Stämme handelnd auf; die Richter sind Stammhelden, Ehud
von Benjamin, Barak und Debora von Issachar, Gideon von
Joseph, Jephthah von Gilead, Simson von Dan. Nur zum Kampfe
gegen Sisera haben sich mehrere Stämme vereinigt, und em-
pfangen darob ausserordentliches Lob im Liede der Debora. Es
heisst nirgends: zur Zeit da die Richter regierten, es heisst: zur
Zeit da noch kein König war über Israel und jeder that was er
wollte; die regelmässige Verfassung der Periode ist die patri-
archalische Anarchie der Familien- und Geschlechterherrschaft.
Und als die Ursache, warum es lange nicht glückte die Kanaaniter
aus den grösseren Städten zu verdrängen, scheint in Kap. 1 nicht
undeutlich die Zersplitterung und Vereinzelung hindurch; erst
als Israel stark wurde, d. h. als seine Kraft durch das König-
tum zusammengefasst wurde, da ward es anders.
Die Einheit Israels ist nun aber die Voraussetzung für das
*) Die Bearbeitung erstreckt sich bekanntlich nur über 2, 6-— 16, 31 und
schliesst 1, 1 — 2, 5 ebenso wie 17, 1 — 21, 24 atfs. Aber man sieht leicht,
wie vorzüglich das erste Stück als allgemeine Einleitung in die Periode
zwischen Mose und dem Königtum an seine Stelle passt, und wie viel
gehaltvoller und lehrreicher es in dieser Beziehung ist als der folgende
Leitartikel 2, 6 ff. Ausserdem existiert eine formelle Beziehung zwischen
1, 16 und 4, 11. Was ferner Kap. 17. 18 betrifft, so schliesst sich diese
Geschichte über den Aufbruch Dans nach Norden sichtlich an die nächst
vorhergehende an,* wo sich der Stamm noch „im Lager Dans" befindet,
aber arg bedrängt wird und auch durch Simson keine Hülfe findet. Bei
Kap. 19 — 21 freilich kann es zweifelhaft sein, ob sie von der Bearbeitung
ausgeschlossen oder noch gar nicht vorgefunden sind; indessen ist es
beachtenswert, dass auch hier Kap. 17. 18 als vorangegangen vorausgesetzt
werden. Der Levit'von Bethlehem Juda zeugt davon und namentlich die
Reminiscenz 19, 1, die wie wir sehen werden in Kap. 19 — 21 gar keinen
Boden hat. Vgl. noch 20, 18 mit 1, 1 f.
16*
244 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
theokratische Verhältnis, für den Gegensatz von Israel und
Jahve, wodurch nach dem Schema der Verlauf der Geschichte
einzig und allein bedingt wird. In der echten Überlieferung
fällt die Voraussetzung fort, und im Zusammenhange damit be-
kommt der ganze geschichtliche Process ein wesentlich anderes
und zwar natürlicheres Aussehen. Das Volk wird nicht immer
insgesamt in den gleichen inneren und äusseren Schwingungen
hin und hergezogen, und es hängt nicht alles Geschehen ledig-
lich an der Attraction und Repulsion, die Jahve ausübt. Statt
des periodischen Schaukelspiels von absoluter Ruhe und ab-
soluter Drangsal herrscht durch die ganze Zeit relative Unruhe;
hier Friede, dort Kampf und Streit. Mislingen und Gelingen
wechseln ab, aber nicht als obligate Folgen von Bundestreue
und Ungehorsam. Wenn der anonyme Prophet, der in dem
Einsätze der letzten Bearbeitung 6, 7—10 ebenso plötzlich auf-
tritt wie er abrupt verschwindet, die Midianiterplage zu einer
Strafpredigt für Israel benutzt, so wird unmittelbar darauf die
Sache mit ganz anderen Augen angesehen. Denn auf den Gruss
der Gotteserscheinung: „Jahve ist mit dir, du streitbarer Held*,
antwortet Gideon: „und ist Jahve mit uns, warum hat uns denn
alles dieses betroffen? wo sind seine Wunder, von denen unsere
Väter uns berichtet haben?" — ihm ist von einer Schuld Israels
nichts bewusst. Somit treten nun auch die Heldengestalten der
Richter aus dem Zusammenhange der Sünde und des Abfalls
heraus; sie sind der Stolz ihrer Landsleute und nicht demütigende
Erinnerungen daran, dass Jahve Unverdientermassen immer wieder
gut gemacht, was die Menschen verdorben haben. Wie künstlich
endlich die nötige Sünde erzeugt wird, erhellt gelegentlich recht
deutlich. Nachdem Gideon gestorben war, heisst es 8,33, hurten
die Kinder Israel den Baalen nach und machten sich Baal Berith
zum Gott. Indessen aus dem folgenden Kapitel erhellt, dass Baal
oder El Berith nur der Schutzgott Sichems und einiger anderer
damals noch kanaanitischer Städte gewesen ist: der Bearbeiter
verwandelt den kanaanitischen Lokalkult zum Götzendienst des
ganzen Israels. In anderen Fällen verfährt er noch einfacher;
z. B. 10, 6 ff., wo die Siebenzahl der Götter der Siebenzahl der
hinterher aufgezählten Völkerschaften entspricht. Für gewöhnlich
begnügt er sich mit Baalen und Astarten oder Ascheren, bei denen
schon der Plural zeigt, wie wenig Individuelles, Positives zu
Richter Samuelis und Könige. 245
Grunde liegt — davon zu geschweigen, dass Ascheren gar keine
Gottheiten sind.
Ku£Z, was man so eigentlich für das Theokratische in der
Geschichte Israels ausgiebt, das ist durch die Bearbeitung hinein-
gebracht. Da greifen Gnade und Sünde wie die mechanischsten
Kräfte in das Getriebe der Ereignisse ein, der Lauf der Welt
wird methodisch der Analogie entzogen, die Wunder sind nichts
ausserordentliches, sondern die regelmässige Form des Geschehens,
verstehen sich von selbst und machen gar keinen Eindruck.
Dieser pedantische Supranaturalismus, die heilige Geschichte
nach dem Recept, findet sich in den ursprünglichen Erzählungen
nicht. Israel ist da ein Volk wie andere Völker, und auch sein
Verhältnis zu Jahve wird nicht anders aufgefasst als z. B. Moabs
Verhältnis zu Kamos (11, 20). An Erscheinungen und Zeichen der
Gottheit fehlt es nicht; aber die Wunder sind so, dass man sich
wirklich darüber wundert. Sie durchbrechen hin und wieder den
irdischen Nexus, bilden jedoch kein zusammenhängendes System;
sie sind Poesie, nicht Prosa und Dogmatik. Im Ganzen aber
wird der geschichtliche Process, obwohl scheinbar krauser und
verworrener, in Wirklichkeit doch viel begreiflicher, und obwohl
scheinbar zerrissener, schreitet er in Wirklichkeit zusammen-
hängender fort. Es geht bergauf auf das Königtum zu, nicht
bergab von der Glanzzeit Mose's und Josua's (Jüd. 1, 28. 35.
13, 5. 18, 1).
Nur eine Erzählung allerdings, abgesehen von der nicht zu
rechnenden über Othniel, entspricht ganz den Anforderungen an
die heilige Geschichte, wie sie sein müsste, um in das Schema
hineinzupassen. Es ist Jud. 19 — 21. Um sie recht zu würdigen,
ist es angebracht, vorher einen Blick auf den vorhergehenden
Bericht zu werfen, über den Wanderzug des Stammes Dan nach
Norden. Die Daniten, 600 Mann stark, überfallen die kanaani-
tische Stadt Lais, nicht weil sie innerhalb der dem Volke Gottes
zugewiesene Grenzen belegen und ihre Eroberung Pflicht ist —
wenn sie auch das Orakel befragen, so liegt es ihnen doch ferne
sich auf das aus dem Buche Josua bekannte göttliche Recht zu
berufen — , sondern weil ein friedliches und nichtsahnendes
Völkchen darin wohnt, das gegenüber solch verzweifelten Ge-
sellen wehrlos ist; gegen Israeliten, wie Micha, mit der selben
Treulosigkeit zu verfahren, gilt ihnen gleich. Sie nehmen das
246 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Recht zu sein wie man ist unverkümmert in Anspruch und
kennen keine Rücksicht, weshalb sie sich Zwang anthun sollten;
die Natürlichkeit ihres Benehmens grenzt an's Unverschämte.
Dabei sind sie fromm auf ihre Art; wie viel ihnen Jahve wert
ist, beweisen sie dadurch, dass sie sein Bild aus dem Gottes-
hause stehlen und den Priester« dazu , der es hütet. Was von
gottesdienstlichen Bräuchen in den beiden Kapiteln vorkommt,
lässt es kaum an einem Greuel fehlen, den das Gesetz verbietet:
das Privatheiligtum im Besitze des Ephraimiten Micha, der
Enkel Mose's als Priester in dessen Dienst und Sold, Ephod
und Theraphim als notwendige Requisiten des Jahvecultus; und
doch wird dies Alles auch von dem Erzähler so vorgetragen,
als ob es ganz in der Ordnung und unanstössig sei, wie er denn
damit nicht zeitweilige Regelwidrigkeiten, sondern die Entstehung
bleibender Einrichtungen an einem Hauptheiligtum des alten
Israel zu berichten beabsichtigt. Man wird in eine andere Welt
versetzt, wenn man von hieraus zu der folgenden Erzählung
kommt, über die Schandthat der Benjaminiten und deren exempla-
rische Bestrafung; es gibt kaum einen grösseren und lehrreicheren
religionsgeschichtlichen Gegensatz im Alten Testamente. In Jud.
19—21 sind es nicht, wie sonst überall, die einzelnen Stämme,
welche agieren, nicht einmal das Volk Israel, sondern die Ge-
meinde des Bundes, die auf der Einheit des Cultus basiert. Was
sie zum Handeln veranlasst, ist eine in ihrer Mitte begangene
Sünde, die fortgeschafft werden muss; die Heiligkeit der Theo-
kratie bringt diese 400000 Mann in Harnisch und erfüllt sie zu-
gleich mit Salbung und mit blutiger Energie. Dieser uniformen
Masse sind die geistlichen Instincte ganz in Fleisch und Blut
übergegangen und machen sie zu einem einheitlichen Automaten,
so dass Alles was geschieht immer von Allen zugleich gethan
wird. Individuen treten nicht hervor, nicht mit Namen, ge-
schweige mit Heldenthaten; die Moral ist nichts weniger als
heroisch. Da die gottlosen Buben von Gibea dem dort über-
nachtenden Leviten an den Leib wollen, liefert er ihnen sein
Weib aus, um sich zu reiten — und ganz Israel findet an dieser
empörenden Feigheit nichts auszusetzen; vermutlich ist die Mei-
nung, der heilige Mann habe durch sein Verhalten die Frevler
vor noch schlimmerer Schuld bewahrt. „Vom mosaischen Ge-
setze kommt in diesen Kapiteln nichts vor, aber wer könnte es
.Richter Samuelis und Könige. 247
verkennen, dass der Geist, welcher seinen Ausdruck im Gesetz
gefunden hat, die so handelnde Gemeinde erfüllte! Hätten wir
mehrere Erzählungen ähnlichen Inhalts, manches Eätsel des
Pentateuchs würden wir lösen. Wo fänden wir unter den Kö-
nigen ein so einiges kräftiges ernstes, für die höchsten Güter
den schwersten Kampf so willig übernehmendes Israel!" So ur-
teilt Bertheau, richtig empfindend, dass diese Erzählung eine
völlige Ausnahmestellung einnimmt und Allem widerspricht, was
wir sonst über die Richter- und sogar noch über die Königszeit
hören. Nur kann es nicht für einen Beweis ihres historischen
Wertes gelten, wenn sie der anderweitigen Überlieferung in
den Büchern der Richter Samuelis und der Könige in's Gesicht
schlägt und dafür dem Gesetze homogen ist. Dagegen ist es
ein verräterischer Selbstwiderspruch, wenn der Verfasser, in un-
willkürlicher Erinnerung an die vorangehenden Kapitel, über
die Zerfahrenheit der damaligen Zeit klagt (19,1. 21, 25), und
uns faktisch dann doch Israel in einer geistigen Centralisation
vorführt, wie sie im Altertum nachweislich nie bestanden hat,
sondern erst in Folge des Exils aufgekommen ist und das Juden-
tum kennzeichnet.
Da diese Erzählung nicht in das deuteronomistische Schema
des Richterbuches aufgenommen ist, so kann gefragt werden, ob
sie bloss das deuteronomische oder auch das priesterliche Gesetz
voraussetze. Die meisten sprachlichen Berührungen hat sie mit
dem Deuteronomium, aber ein vorzugsweise wichtiger Ausdruck
und Begriff, der der Gemeinde der Kinder Israel, weist eher
auf den Priestercodex; desgleichen auch Pinehas ben Eleazar
ben Aharon (20, 27). Indessen kommt der letztere nur einmal
voi- und zwar in einer Glosse, die sich zwischen und die Kin-
der Israel fragten Jahve und das eng dazugehörige folgen-
de rmassen sehr störend eindrängt. Im Übrigen verdient es
Beachtung, dass mit der Stiftshtitte, die neben Mispa keinen
Platz hat (S. 268), das Hauptwahrzeiehen des Priestercodex fehlt.
Derselbe bereitet sich also nur vor, ist aber noch nicht erschie-
nen; wir stehen noch auf dem Boden des Deuteronomiums, aber
der Übergang bahnt sich an.
3. Gehen wir von der letzten Bearbeitung einen Schritt
weiter zurück, so treffen wir auf eine weniger systematische Vor-
stufe derselben in gewissen Ergänzungen und Verbesserungen,
248 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
die hie und da den ursprünglichen Erzählungen angeflickt wor-
den sind. Sofern dieselben aus einfacher Freude an der Weite-
rung oder am Reden entstanden sind, gehen sie uns hier nicht
weiter an. Teilweise aber haben sie ihren Grund darin, dass
die spätere Zeit in die religiösen Bräuche und Vorstellungen
der Väter sich nicht mehr schicken konnte. Von dieser Art
kommen in der Geschichte Gideons zwei Beispiele vor. Es
heisst 6,25 — 32, auf Jahve's Geheiss habe Gideon in der Nacht
nach seiner Berufung den Altar Baals in seiner Vaterstadt Ophra
nebst der dabei stehenden Aschera zerstört, dagegen dem Jahve
einen Altar gebaut und darauf ein jähriges Rind verbrannt, mit
dem Holz der Aschera als Feuerung. Als dann am anderen
Morgen die Leute von Ophra empört die Auslieferung des Frev-
lers verlangten um ihn zu töten, habe sein Vater sie verweigert
und gesprochen: „wollt ihr für Baal streiten oder ihr ihm bei-
stehen? wenn er Gott ist, streite Baal (hebräisch Jareb Baal)
für sich selber 44 . Und in Folge dieser Äusserung sei Gideon
Jerubbaal zubenannt. Dies collidiert mit dem Vorhergehenden.
Da hat bereits Gideon den grossen Stein unter der Eiche von
Ophra, wo er Jahve sitzen sah, zum Altar gemacht und darauf
das erste Opfer gebracht, welches durch spontan herausschlagen-
des Feuer verzehrt wird, so dass .in der Lohe die Gottheit
selber zum Himmel fährt. Wozu die zwei Altäre und die zwei
Stiftungsgeschichten dazu, um ihren Ursprung auf den Patron von
Ophra zurückzuführen? Sie vertragen sich nicht neben einander,
aber man sieht wohl, warum die zweite der ersten nachgeschickt
ist. Der Altar aus Einem Steine, die daraus hervorbrechende
Lohe, der immergrüne Baum, der schon durch seinen Namen
Ela eine natürliche Verwandtschaft mit El anzudeuten scheint '),
alles dies gilt den Späteren nicht mehr für correct, ja für Baals-
werk. Aus dem Streben nun, auf Gideons Frömmigkeit keinen
Zweifel sitzen zu lassen, ist der Nachtrag entstanden, worin er
einen Altar Jahve's an die Stelle des bisherigen Altar Baals
*) n^N ])btt> * m Aramäischen der Baum schlechthin, im Hebräischen der
immergrüne und gewöhnlich der heilige Baum (Isa. 1, 29 f.), meist ohne
Unterscheidung der Arten. Nicht bloss Eiche und Terebinthe, sondern
auch Palme wird einbegriffen. Denn der rni2"l ])htt bei Bethel heisst
anderswo *")DrV Q^K hat seinen Namen von den 70 Palmen, und von
H^M & m Rotem Meere gilt vielleicht ein gleiches.
Richter Samuelis und Könige. 249
setzt. Wie dies Streben gelungen ist, beurteilen wir am besten
aus dem damit zusammenhangenden Versuch, noch einen anderen
Anstoss zu beseitigen, der in dem Namen Jerubbaal liegt. Auf
Grund des oben referierten Anlasses wird derselbe erklärt als
bedeute er Streitebaal. Sprachlich ist diese Erklärung an den
Haaren herbeigezogen, und unmöglich in jedem Betracht; nach
einem Gott nennen sich nur Personen, die ihn verehren. Im
hebräischen Altertum wechselt Baal unterschiedslos mit El, und
es herrscht kein Bedenken, bis auf den Propheten Hosea (2, 18),
Jahve selber als den Baal, d. h. den Herrn, zu bezeichnen.
Das bezeugen vor allem eine Reihe Eigennamen aus der Familie
Sauls und Davids, Isbaal Meribaal Baaljada, zu denen nun auch
der Name Jerubbaal für den Midianiterkämpfer hinzukommt. Wenn
also der Baal an sich noch in der israelitischen Königszeit keines-
wegs schlechthin der Antipode Jahve's gewesen ist, woher denn
der feindliche Gegensatz zwischen den Gottheiten, den Jerubbaal
durch sein praktisches Verhalten voraussetzt, obwohl er durch
seinen Namen den grossen Baal preist? Auch die Meinung, dass
die Aschera sich mit dem Jahvedienste nicht vertrage, entspricht
nicht dem Glauben des Altertums; nach Deut. 16, 21 müssen diese
künstlichen Bäume häufig genug neben den Altären Jahve's ge-
standen haben. Merkwürdigerweise verrät sich sogar innerhalb
des eingelegten Abschnittes selber das Bewusstsein, dass diese
Art Eifer für den legitimen Gottesdienst das historische Niveau
überschreite. Man hat den Eindruck, dass die Bewohner von
Ophra von der Unrechtmässigkeit ihres Baalsetiltus nichts wissen,
dass Gideon denselben auch seinerseits im guten Glauben mit-
gemacht und dass es bisher einen Altar Jahve's überhaupt dort
nicht gegeben hat.
Von etwas anderer Form ist eine Correktur, die Sich am
Schlusse^ der Geschichte Gideons findet (8, 22 ff.). Nach dem
Siege über die Midianiter habe er das ihm angetragene König-
tum mit Rücksicht auf Jahve den alleinigen Herrscher abgelehnt,
sich aber die goldenen Nasenringe, die man den Feinden abge-
nommen, erbeten, daraus ein Jahvebild, ein Ephod, gemacht und
es in Ophra zur Anbetung aufgestellt. „Und ganz Israel hurte
dahinter her und es ward Gideon und seinem Hause zum Fall-
strick. 44 Aber nicht bloss ist faktisch die Handlungsweise eines
solchen Mannes in einem solchen Augenblick völlig massgebend
250 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
für den dermaligen Stand des israelitischen Gottesdienstes über-
haupt, sondern auch dem ursprünglichen Erzähler kann es nicht
zugetraut werden*, dass er seinen Helden durch den unmotivier-
testen Abfall der Gottheit habe danken, durch Götzendienst dem
Siege habe die Krone aufsetzen lassen. Es wird dies um so
unmöglicher, wenn man bedenkt, dass nach dem Zeugnisse des
Hosea Jesaia und Micha dergleichen Bildwerke noch während
der assyrischen Periode nicht bloss in Samarien sondern auch
in Juda zum regelmässigen Zubehör der Gotteshäuser gehören.
Hinzu kommt, dass. der Gegensatz des göttlichen gegen das
menschliche Königtum, wie er in diesen Versen hervortritt, auf
späterer Abstraktion beruht; worüber demnächst mehr zu sagen
sein wird 1 ). Studer wird also Recht behalten mit der Behaup-
tung, der alten Überlieferung habe es nur als ein schöner Zug
von Uneigennützigkeit und Frömmigkeit gelten können, dass
Gideon das Gold nicht für sich behält, sondern Gott weiht; wir
haben in 8, 22—27 secundäres Produkt vor uns, worin die ur-
sprünglichen Züge nach späterem Geschmack entstellt sind.
Leider hat in diesem Falle die zweite Hand die Arbeit der
ersten verdrängt. Die ältere Erzählung bricht 8, 21 mit den
Worten ab: „Gideon nahm die Zierate am Halse der Kamele
der Könige 44 . Was er damit angefangen, erfahren wir nicht
mehr; aber natürlich müssen wir annehmen, dass er aus ihnen
das Ephod gefertigt habe. Nach dem Auswüchse, der unmittel-
bar nach 8, 21 einsetzt, werden dazu verwandt die von ganz
Israel erbeuteten * goldenen Nasenringe der sämtlichen Midia-
niter, im Gewichte von 1700 Sekeln, abgesehen vom Schmucke
der Könige und ihrer Kamele. Ein ähnliches Verhältnis, wie
das der 600 Daniten in Kap. 18 zu den 25700 Benjaminiten in
Kap. 20, oder der 40000 Männer von Israel in 5, 8 zu den
400000 in 20, 2.
4. Gewisse Unterschiede der geistigen Haltung, die in der
Entwicklung der Tradition schon leise die Richtung andeuten,
welche in der bisher charakterisierten Überarbeitung und Aus-
putzung ihr Ziel gefunden hat, lassen sich endlich auch inner-
') „Die Worte Gideons erhalten erst durch die Voraussetzung Sinn, dass
Jehova's Herrschaft anderweit, durch Propheten oder Priester, repräsentiert
sei, was aber in der Richterperiode nicht der Fall war und wogegen die
eigene Geschichte Gideons zeugt" — Vatke S. 263. Uebrigens ist nach
9 7 1 f. Gideon in der That Herrscher von Ephraim und Manasse gewesen,
Richter Sanmelis und Könige. 251
halb der originalen Erzählungen selber verfolgen, namentlich
bei denen, die uns in doppelter Version erhalten sind. Letztere
sind im Richterbueh nicht häufig, doch kommen sie vor. Als
einen sehr einfachen derartigen Fall kann man Jud. 4 im Ver-
hältnis zu Jud. 5 betrachten.
Gegen die Kanaaniter, die unter ihrem Oberkönige Sisera
wieder ihr Haupt erheben und von ihren Städten in der Ebene
aus die Bergdörfer der neuen Ansiedler beunruhigen, vereinigt
Debora die hebräischen Stämme zum Kampfe. Von Nord und
Süd steigen die Kriegsscharen Jahve's vor unseren Augen gen
Jezreel hinab, die Seherin Debora an der Spitze, der Kriegs-
mann Barak ihr zur Seite. Am Bache Kison erfolgt der Zu-
sammenstoss und endet mit der Niederlage der Könige Kanaans,
Sisera selbst wird auf der Flucht von Jael, dem Weibe eines
nomadischen Keniters, erschlagen. Das der Inhalt des Liedes
Jud. 5. In der voraufgeschickten Erzählung Jud. 4 sollte man
einen historischen Commentar dazu erwarten, man findet aber
nur eine Reproduction, die die speziellen Züge verwischt und
verfälscht. Aus den Königen Kanaans wird der König von Ka-
naan, als sei Kanaan ein Reich gewesen; aus Sisera ihrem Ober-
haupt wird ein blosser Feldhauptmann; die Unterdrückung der
Hebräer wird ins Unbestimmte verallgemeinert. Jael mordet
den Sisera während er in tiefem Schlafe liegt, indem sie einen
Zeltpflock ihm durch die Schläfe und in den Boden treibt —
im Liede steht davon nichts, er trinkt als sie den Schlag führt
und ist dabei stehend gedacht, denn sonst könnte er nicht vor
ihr zusammenbrechen zu Boden stürzen und erschlagen liegen
bleiben wo er hingesunken (5, 27).
Im Liede wird das Unternehmen mit menschlichen Mitteln
vorbereitet; Verhandlungen werden geführt zwischen den Stäm-
men, bei denen Unterschiede hervortreten; die Lauheit oder die
grossen Worte der einen werden getadelt, der thatkräftige Ge-
meinsinn und der Kriegsmut der anderen gelobt. In der Er-
zählung ist dagegen die Befreiung rein Sache Jahve's, die israeli-
tischen Mannen sind Statisten, denen kein Verdienst und kein
Dank gebührt. Dafür concentriert sieh das Interesse auf die That
der Jael, die aus einer Episode zur Pointe des Ganzen anschwillt.
Als solche wird sie angekündigt, indem Debora dem Barak voi>
aussagt, nicht sein werde der Ruhm sein, sondern eines Weibeg ?
252 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
in dessen Hand der Feind werde verkauft werden: der Held,
die Mensehenkraft thut's nicht, sondern in der Schwachheit ist
Jahve mächtig. Noch sonst wird gerade dem Barak sein Anteil
am Werk verkümmert. Er wird von Debora aufgefordert, nicht
etwa in den Kampf sondern auf den heiligen Berg Thabor zu
ziehen, wo Jahve das Weitere veranlassen werde; er macht
aber Umstände und bedingt sich aus, dass die Prophetin auch
selber mitziehe. Das wird deshalb als eine Laune des Un-
glaubens angesehen, weil die Aufgabe der letzteren damit für
erschöpft gilt, dass sie den Befehl der Gottheit an das Werk-
zeug befördert hat; sie ist bloss dazu da, damit man aus ihrer
Vorhersagung erkenne, wie Jahve der einzige Efficient der Ge-
schichte sei. Im Liede ist das anders. Da wird Barak nicht
wider seinen Willen aufgerufen, sondern er hat einen persön-
lichen Anlass zum Losbrechen: „auf, Barak, und fange deine
Fänger, Sohn Abinoams ! u Und die Seherin hat nicht bloss zu
prophezeien, sondern sie wirkt psychologischer; sie gehört hinein
in den Kampf und befeuert durch ihren Gesang den Mut der
streitenden Scharen: „auf, Debora, singe das Lied! ul ). Überall
in den Varianten der prosaischen Reproduction macht es sich
fühlbar, dass das bunte Getriebe des wirklichen Hergangs ver-
blasst vor der einen allgemeinen Endursache, Jahve. Wohl
rauscht Jahve auch durch das Lied, in dem Enthusiasmus, der
die hebräischen Krieger erfüllt, in dem panischen Schrecken,
der die reisige Macht der Feinde verwirrt. Aber in der Erzäh-
lung ist der Gottheit das Mysterium abgestreift, vermittelst
mechanischer Prophetie gelingt es, ihren Anteil an der Ge-
schichte fest und nüchtern umgrenzt darzulegen. Je specieller
sie eingreift, desto ferner tritt sie; je bestimmter die Aussagen
über sie lauten, desto weniger spürt man sie.
Es gibt noch ein anderes Beispiel im Buche der Richter,
wo uns der gleiche historische Stoff in zwei verschiedenen For-
men ausgeprägt vorliegt; das ist die Geschichte von Gideon aus
dem manassitischen Hause Abiezer. Studer hat den Einschnitt
zwischen 8, 3 und 8, 4 erkannt, der zwei für sich zu verstehende
*) V. 12 ist eine Aufforderung den Kampf anzufangen: da kann Debora doch
nicht das Triumphlied singen, welches den glücklichen Ausgang dessel-
ben feiert. Aus ähnlichem Grunde ist auch die oben gegebene Über-
setzung: „fange deine Fänger" die natürlichere und richtigere,
Richter Samuelis und Könige. 253
Erzählungen trennt. Mit 8, 1 — 3 ist die erste abgeschlossen.
Vorher ist gesagt worden, wie Gideon, nachdem der erste Über-
fall der Midianiter gelungen, den Heerbann Israels zur Verfol-
gung aufgeboten, wie dann namentlich die Ephraimiten den
flüchtigen Nomaden die Furten des Jordans verlegt und bei der
Gelegenheit ihre beiden Anführer in die Gewalt bekommen ha-
ben. Nun hören wir zum Schluss (8, 1 — 3), dass die Ephraimiten
im Übermute des Erfolgs mit Gideon zu zanken anfingen; er
aber habe ihren Zorn beschwichtigt und gesagt: „was habe ich
denn jetzt gethan im Vergleich mit euch? ist nicht die Nachlese
Ephraims besser als die Ernte Abiezers? in eure Hand hat Gott
die Fürsten Midians gegeben und was habe ich dagegen zu
thun vermocht! 44 Zu einem solchen häuslichen Zwist über den
Anteil am Verdienst ist doch erst Zeit gewesen, nachdem das
Verdienst selber erworben, nachdem der Streit mit den Feinden
ausgefochten war, wie denn auch das Bild von der Ernte und
Nachlese voraussetzt, dass der Sieg vollständig und alle seine
Früchte gepflückt waren. Mit 8, 1 — 3 ist die Sache abgethan;
die folgende Erzählung ist keine Fortsetzung der vorhergehen-
den, sondern eine zweite Version, die von ganz anderen Vor-
aussetzungen ausgeht. Während nach 7, 23f. ein grosses Heer
auf den Beinen ist, hat Gideon 8, 4 ff. nur seine 300 Leute bei
sich. Während nach 8, 1 — 3 schon Lese und Nachlese gehalten
und der Kampf am Ziel ist, setzt Gideon 8, 4ff. unaufhaltsam
den Feinden nach, und da er die Bürger von Sukkoth und Pe-
nuel um Brod für seine müde und hungrige Mannschaft bittet,
fragen ihn die höhnisch, ob er denn etwa schon des Erfolges
sicher sei, so dass man Ursach habe für ihn Partei zu nehmen.
Die beiden Häuptlinge, welche dort die Fürsten Zeeb und Oreb
heissen und bereits gefangen sind, werden hier die Könige Zebah
und Salmuna genannt und sind noch nicht gefangen. Leider ist
der Anfang von 8, 4ff. nicht erhalten; in Folge dessen lässt sich
nicht ausmachen, ob der Verfolgung, auf der wir Gideon hier
treffen, schon eine Begegnung mit den Feinden voraufgegangen
sei. Unmöglich ist eine solche Annahme gerade nicht , doch
lässt der weite Vorsprung der Nomaden und ihre Sorglosigkeit
im Lager die Sachlage eher so erscheinen wie in 1. Sam. 30.
Wie dem auch sei, das Gewicht der die beiden Versionen
trennenden Momente bleibt sich gleich.
254 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Worin liegt nun die Wurzel des Unterschiedes? Das lehrt
am besten eine Vergleichung der Eingänge des einen und des
anderen Berichtes. Wie gesagt mangelt zwar dem zweiten jetzt
der Anfang, aber einigermassen lässt er sich aus dem weiteren
Verlaufe ergänzen. Nach 8, 4ff. hat Gideon es ganz speziell
auf die beiden Könige der Midianiter abgesehen, diese erscheinen
stets als seihe eigentlichen Feinde, hinter denen er her ist; die
übrigen Midianiter sind ihm mehr oder weniger gleichgiltig.
Nämlich Zebah und Salmuna, erfahren wir aus 8, 18 f., hatten
am Thabor seine leiblichen Brüder erwürgt; um dafür Rache zu
nehmen setzt er den Schuldigen nach und ruht nicht, bis sie in
seiner Hand sind. Es ist die Pflicht der Blutrache, um deren
willen er mit seiner Hausmacht sich aufmacht, unbekümmert
um das Misverhältnis gegen die Überzahl; es ist die Gewalt des
Familiensinns , die ihn in Bewegung setzt und ihn beiläufig zum
Retter Israels vor den Räubern macht. In dem ersten Berichte
(6, 11 — 8, 3) sind diese natürlichen Motive völlig verschwunden
und andere an die Stelle getreten, von ungefähr entgegen-
gesetzter Beschaffenheit. Im Voraus, ehe noch die Midianiter
ihren diesjährigen Einfall gemacht haben, wird der nichts ahnende
Gideon durch eine Theophanie zum Kampf gegen sie berufen.
Wie sie nun wirklich kommen, da ergreift ihn der Geist und
er zieht ihnen entgegen. Was an ihm Menschliches ist, hat
nichts mit der That zu thun; Fleisch und Blut sträuben sich da-
gegen. Es ist der directe Einfluss Jahve's, der ihn treibt; natür-
lich dann auch im allgemeinen Interesse Israels, gegen die Mi-
dianiter, nicht gegen die Person ihrer Fürsten. Im Zusammen-
hange damit wird weiter auf alle Weise dafür gesorgt, dass der
Mensch hinter der Gottheit in den Schatten tritt. Gideon, nach
dem zweiten Berichte ein vornehmer und königlicher Mann, ist
im ersten aus unansehnlichem Hause und Geschlechte ; während
ihn dort eine unaufhaltsame Energie kennzeichnet, erscheint er
hier bis zum letzten Augenblick zaghaft und zögernd und
wird durch immer neue Wunder ermutigt und gekräftigt. Die
32000 Mann, mit denen er in's Feld rückt, muss er auf Jahve's
Geheiss bis auf 10000 und aber bis auf 300 entlassen r „damit
Israel sich nicht gegen mich rühme und sage, seine eigene Hand
habe ihm geholfen!" Die Waffen, womit die Dreihundert den
nächtlichen Überfall ausführen, sind Fackeln Krüge und Po-
Richter Samuelis und Könige. 255
saunen; für Schwerter haben sie dann keine Hand mehr (7, 20),
und demgemäss muss das feindliche Heer sich selber auf-
reiben (7, 22).
Unter den Abweichungen der religiösen Version, von. der
natürlichen giebt es wenige undurchsichtige, wozu man nament-
lich die rechnen kann, dass der Schauplatz diesseifc des Jordans
verlegt wird. Die meisten sind sofort erkennbar als Produkte
einer verklärenden Beseelung der Tradition, die ihren Körper
verflüchtigt und sie in luftige Regionen hebt. Z. B. bilden nicht
bloss in Kap. 8, sondern auch in Kap. 7 die 300 Mann das
alleinige Gefolge Gideons bei der Hauptaction, beim Überfall
des feindlichen Lagers; aber um die Bedeutsamkeit dieser ge-
ringen Anzahl zum Eindruck zu bringen, werden sie im Kap. 7
zum letzten Residuum eines anfangs ganz ansehnlichen Heeres
gemacht und daraus entspinnt sich eine weitläufige Erzählung.
Auch das darf man wohl vergleichen, dass wie das 6. Kap. mit
der Beziehung dieses Richters zum Heiligtume seiner Vaterstadt
anhebt, so das 8. Kap. damit schliesst : hier entdeckt er durch
eine Theophanie, wie die Patriarchen der Genesis, die Heiligkeit
des Altarsteines unter der Eiche ; dort stiftet er, weit realistischer,
das Ephod aus dem goldenen Schmucke der Midianiterkönige.
Historisch kommt vorzugsweise, wenn nicht ausschliesslich, die
natürliche Version in Betracht, die in trockenem Tone die
Sachen reden lässt und in die Einfachheit des Hergangs nichts
von der Bedeutung seiner Folgen einmischt. Das Verhältnis
ist jedoch etwas anders als wie wir es zwischen Jud. 5 und 4
gefunden haben. Kap. 6 f. basiert nicht direkt auf Kap. 8,
sondern wohl auf selbständiger mündlicher Grundlage. Mit
den historischen Erinnerungen, über deren Unbestimmtheit die
lebhafte Lokalfärbung nicht täuschen darf, schalten die wuchern-
den Triebe hier viel freier und bringen weit plastischere und
naivere Gebilde hervor. Offenbar aber ist im Gebiete des Wun-
ders die Poesie älter als die Prosa.
Drängt sich bei den Geschichten, die uns in doppelter
Fassung aufbewahrt sind, der innere Abstand von selber auf,
so lässt sich ein solcher nun auch da wahrnehmen, wo keine
eigentlichen Parallelen verglichen werden können. Wie fühlbar
unterscheidet sich die Erzählung über Abimelech, etwa von der
folgenden über Jephthah, durch den Reichtum des sachlichen
256 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Gehalts, durch das objective Interesse für die Mittel- und Neben-
glieder in der Folge der Begebenheiten! Ohne Vergoldung durch
übernatürlichen Nimbus werden die Dinge schlecht und recht
vorgetragen, die Moral ergibt sich aus ihrem Verlauf von selber.
In den Sagen von Simson hinwiederum stellen sich uns so zu
sagen zwei Seelen in einem Körper vereinigt dar. So eng hier
auch der derb volkstümliche Stoff und die besonders am An-
fange und am Ende hervortretende religiös-nationale Form ver-
wachsen sind, so stehen sie doch in einem innerlichen Contraste,
und schwerlich sind die Streiche dieses absonderlichen Gottes-
manns ursprünglich im Geiste Jahve's concipiert, aus dem sie
jetzt geboren werden. Vielmehr wird der religiösen Darstellung
eine ziemlich profane zu Grunde liegen, aber gegenwärtig kann
man die ältere Stufe nicht mehr von der jüngeren sondern. Es
versteht sich übrigens, dass in diesem Falle der Gegensatz von
historisch und unhistorisch nicht angewandt werden darf, der
indessen für unsere Absicht auch nicht wesentlich ist. Nur das
gilt allgemein: je näher die Geschichtschreibung ihrem Ursprung
ist, desto profaner ist sie. In der Art der Frömmigkeit gibt
sich in den vordeuteronomischen Erzählungen der Unterschied
weniger zu erkennen als im Grade.
IL
1. Die umfassende Bearbeitung, die wir im Richterbuche
wahrgenommen haben, hat auch dem Buche Samuelis ihr Siegel
aufgedrückt. Da aber hier die Periode kurz, dagegen ihr Inhalt
überaus reich und wirklich zusammenhängend ist, so kann sich
das künstliche Fach- und Netzwerk nicht so sehr bemerklich
machen. Doch fehlt es keineswegs, wie zunächst die Zeitangaben
lehren, die wir schon oben in das System der Chronologie ein-
geordnet haben. Es verdient Beachtung, wie lose dieselben in
den Context eingefügt sind. In 1. Sam. 4, 18 f.: „und da der ,
Bote die Schreckensnachricht erzählte, fiel Eli hinterrücks vom
Stuhle und brach den Hals und starb, denn er war alt und un-
beholfen und er richtete Israel vierzig Jahre; da aber
seine Schnur, die hochschwangere Frau des Pinehas, die Kunde
vernahm u. s. w." — ist der Satz mit dem Datum zwar bei halb-
wegs passender Gelegenheit, aber doch eben deutlich bei Ge-
legenheit eingeschoben. In 2. Sam. 2, 8 — 13 heisst es: „Abner
Richter Samuelis und Könige. 257
der Feldhauptmann nahm den Sohn Sauls Isbaals und brachte
ihn über den Jordan nach Mahanaim und unterwarf ihm Gilead
und Gesur und Jezreel und Ephraim und Benjamin und ganz*
Israel, vierzig Jahre war Isbaal als er König ward und
zwei Jahre regierte er, nur Juda hielt es mit David, und
die Zeit die David König war über Juda in Hebron ist
sieben Jahr und sechs Monat, und Abner'mit den Kriegern
Isbaals zog aus von Mahanaim nach Gibeon und Joab mit den
Kriegern Davids zog ihm entgegen". Es liegt auf der Hand,
dass die gesperrten Worte den Zusammenhang sprengen; in Be-
zug auf die Daten über Isbaal ist ausserdem zu bemerken, dass
er nach allen übrigen Angaben einesteils in noch ganz unmün-
digem Alter gestanden, andernteils eben so lange zu Mahanaim
wie David zu Hebron geherrscht haben muss. Die Zweizahl
der Regierungsjahre erklärt sich bei ihm ebenso wie bei Saul
1. Sam. 13, 1: . . . Jahre alt war Saul als er König ward,
und zwei Jahre herrschte er über Israel. Wie in diesem
letzteren Verse, der der Septuaginta mangelt, die Zahl für die
Lebensjahre noch gegenwärtig fehlt, so war ursprünglich auch
die Zahl für die Regierungsjahre ausgelassen; die ganz absurde
Zwei ist aus dem folgenden Worte für Jahr herausgewachsen,
das im Hebräischen ziemlich gleich aussieht.
Hand in Hand mit der chronologischen Schematik finden
wir 1. Sam. 7, 2 — 4 die religiöse wieder. „Seitdem die Lade in
Kiriathjearim wohnte, vergingen 20 Jahre, da sammelte sich
das ganze Haus Israel hinter Jahve her. Und Samuel sprach
zum ganzen Hause Israel: wenn ihr euch von ganzem Herzen
zu Jahve bekehrt, so schafft die fremden Götter und die Astarten
aus eurer Mitte und richtet euer Herz auf Jahve und dient ihm
allein, so wird er euch von den Philistern befreien. Und die
Kinder Israel schafften die Baale und Astarten ab und dienten
dem Jahve allein." Im Vorhergehenden wird zwar von einem
Abfall nichts berichtet, und an Vertrauen auf Jahve haben es
die Israeliten nach Kap. 4 in der unglücklichen Schlacht gegen
die Philister wahrlich nicht fehlen lassen; aber die selbstver-
ständliche Annahme, dass das Joch der Fremdherrschaft zur
Strafe der Sünde auferlegt sei und dass die Sünde im Götzen-
dienst bestehe, ist bezeichnend für diese Betrachtungsweise.
Eine weitere Probe derselben haben wir in der Rede Samuels
W e 1 1 h a u s e n , Prolegomena. 17
258 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
1. Sam. 12, die als Einleitung in die Königszeit mit Jud. 2 als
Prooemium der Richtergesehiehte zu vergleichen ist. „Stellt
6ueh her, dass ich euch vor Jahve vorhalte alle die Thaten
Jahve's, durch die er euch und euren Vätern Recht geschafft
hat! Wie Jakob nach Ägypten gekommen war, schrieen eure
Väter zu Jahve, und er sandte Mose und Aharon und führte
eure Väter aus Ägypten und gab ihnen Wohnung in diesem
Lande. Aber sie vergassen Jahve ihren Gott, und er verkaufte
sie in die Hand Sisera's des Feldhauptmanns zu Hasor und in
die Hand der Philister und Moabiter, die stritten wider sie.
Da schrien sie zu Jahve und sprachen: wir haben gesündigt,
dass wir Jahve verlassen und dem Baal und der Astarte ge-
dient haben, nun errette uns von unsern Feinden, so wollen
wir dir dienen. Und Jahve sandte Jerubbaal Barak Jephthah
und Samuel und rettete euch vor euren Feinden ringsum, dass
ihr sicher wohntet. Als ihr aber sähet, dass Nahas der Ammo-
niterkönig gegen euch anzog, spracht ihr zu mir: nein, ein König
muss über uns herrschen — da doch Jahve, euer Gott, euer König
ist. Nun siehe da ist der König, den ihr gefordert habt, siehe
Jahve hat einen König über euch gesetzt. Wenn ihr Jahve
fürchtet und ihm dient und auf seine Stimme hört und seinem
Befehle nicht widerstrebt, gut! wenn ihr aber der Stimme Jahve's
ungehorsam seid und seinem Geheiss widerstrebt, so wird Jahve's
Hand gegen euch sein wie gegen eure Väter." Es ist die be-
kannte Weise: Abfall Drangsal Bekehrung Kühe; Jahve der
Grundton der Melodie, das erste Wort und das letzte. Am stoff-
lichen Detail haftet der Blick nicht, die Lücken der Tradition
werden ebenso positiv verwertet als ihr auf so wenige Punkte
concentrierter Inhalt. Das Einzelne kommt nur als Moment des
Ganzen in Betracht; in grossartiger Kevue werden die Perioden
tiberblickt und das Gesetz dargelegt, das sie verkettet. Dabei
kann Samuel eine bestimmt geformte Kenntnis der biblischen
Geschichte bei seinen Zuhörern voraussetzen, ja sogar ohne
Bedenken über seine eigene historische Bedeutung reden; auf
einen Zeitraum, in dessen lebendiger Bewegung sie selber mitten
drin stehen, müssen sie zurückblicken wie auf eine tote Ver-
gangenheit. Indem sie so zur Höhe objectiver Betrachtung über
sich und ihre Väter emporgehoben werden, tritt zum Schluss
das zu erwartende Resultat ein; sie werden sich ihrer schweren
Richter Samuelis und Konige. 259
Sünde bewusst, immer haben sie der Gottheit gegenüber das
ängstliche Gefühl, Strafe verdient zu haben.
2. Die deuteronomistische Bearbeitung macht sich zwar
nur an diesen beiden oder besser an dieser einen Stelle geltend,
aber dies ist eben die Hauptepoche in unserem Buche, der Über-
gang zum Königtum, der mit dem Namen Samuels verknüpft
ist. Und hier tritt sie um so intensiver auf, nicht bloss als ge-
schmackgebende Zuthat zur älteren Überlieferung, sondern die-
selbe von Grund aus umgestaltend. Denn was wir so eben
daraus angeführt haben, sind nur Fragmente eines bedeutenden
geschichtlichen Zusammenhanges, dessen erstes Stück 7, 2 — 17
uns zunächst in Anspruch nehmen wird. Nach der Aufforderung
zur Bekehrung 7, 2—4 beruft Samuel 7,5 eine Versammlung
der Kinder Israel nach Mispa bei Jerusalem, um für sie um
Abwendung der Philisterplage zu beten; die Massregel steht
natürlich im engsten Zusammenhange mit der vorher berichteten
Abschaffung des Götzendienstes, denn nachdem die Schuld be-
seitigt, muss auch die Strafe aufgehoben werden. Man kommt
zusammen, schöpft Wasser um es auszugiessen vor Jahve, fastet
und bekennt seine Sünden zu Mispa. Als das die Philister
hören, sind sie gleich am selbigen Tage zur Stelle und über-
fallen die betende Gemeinde. Aber Samuel opfert ein Milch-
lamm und schreit zu Jahve um Hülfe; und wie nun während
dessen der Zusammenstoss erfolgt, da donnert Jahve gewaltig
über die Philister und setzt sie in Verwirrung, dass sie weichen
müssen und bis weit hin verfolgt werden. Die Philister aber,
so lautet das Ende, wurden gedemütigt und drangen nicht wieder
in's israelitische Land ein, und die Hand Jahve's war wider die
Philister, so lange Samuel lebte; und die Städte, welche die
Philister den Israeliten abgenommen hatten, wurden wiederge-
wonnen, Ekron und Gath und ihr Gebiet entriss Israel den Phi-
listern, und es war Friede zwischen Israel und dem Amoriter.
Es gentigt den Inhalt dieser Geschichte zu referieren, um
ihre geistliche Mache und ihre innere Unmöglichkeit sofort zur
Empfindung zu bringen: was drängt sich" Alles in den Baum
dieses einen Tages zusammen! Nun aber beachte man noch
den vollendeten Widerspruch gegen alles sonst Überlieferte. In
der Folge finden wir die Herrschaft der Philister keineswegs
beseitigt: nicht bloss dringen sie, noch bei Samuels Lebzeiten,
17*
260 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
mehrfach über die Grenze, sondern sie sind im Besitz des
israelitischen Landes, einer ihrer Statthalter wohnt zu Gibea
mitten in Benjamin. Der Kampf gegen sie ist recht eigentlich
der Entstehungsgrund und die Aufgabe des Königstums, kein
Gedanke daran, dass Samuel diesem Arbeit und Verdienst vor-
weg genommen und sogar Ekron und Gath „zurückerobert" habe.
Grade zu seiner Zeit hat vielmehr das Philisterjoch am schwer-
sten auf Israel gelastet.
An der ganzen Erzählung kann kein wahres Wort sein.
Ihre Motive aber lassen sich leicht durchschauen. Samuel ist
ein Heiliger ersten Ranges (Jer. 15, 1), einem solchen Manne ge-
bührt in der Theokratie, d. h. in dem religiösen Gemeinwesen,
als welches das alte Israel nach dem Muster des Judentums vor-
gestellt wird, die Stelle an der Spitze des Ganzen. Natürlich
muss dann sein Einfluss weit genug gereicht haben, um Götzen-
dienst und Untreue gegen Jahve im Volke auszuschliessen;
im Ganzen muss der Gemeincharakter der Zeit seinem eigenen
Vorbilde entsprochen haben. Nun aber erhebt sich ein häss-
licher Anstoss. Wenn Samuels Leitung dafür bürgt, dass im
Innern Alles war wie es sein muss, wie soll dann zugleich
von aussen her so grosse Not geherrscht und sogar der Existenz
des Volkes Gefahr gedroht haben! Wenn die Menschen das
ihrige thun, wie kann es detln Jahve an sich fehlen lassen!
Man hat vielmehr zu glauben, dass der inneren Gerechtigkeit
auch die äussere Rechtschaffung entsprochen habe. Schon unter
Samuel sind die Philister mit Gottes Hülfe zu den Grenzen hin-
ausgetrieben und haben sich sein Lebetag nicht wieder sehen
lassen. Der Frömmigkeit einer betenden Versammlung hat Jahve
einen Erfolg in den Schoss fallen lassen, an dessen Erringung
sich hinterher das Schwert kriegerischer Könige lange vergeb-
lich gemüht hat.
Aber diese Geschichtskorrektur steht nicht für sich und wird
erst durch den folgenden Zusammenhang vollkommen begreiflich;
1. Sam. 7 wird durch Kap. 8, und Kap. 8 weiter durch 10, 17 bis
12, 25 fortgesetzt. Nachdem Samuel das Land von der Fremd-
herrschaft befreit, führt er bis in sein Alter ein ruhiges , und
glückliches Regiment. Da aber seine Söhne, die er sich bei-
geordnet hat, nicht in seinem Wege gehen, so nehmen die
Altesten Israels das zum Anlass, sich von ihm einen König zu
Richter Samuelis und Könige. 261
erbitten; es ist aber nur ein Vorwand für ihr Gelüste, die gott-
liche Herrschaft abzuschütteln und zu werden wie die Heiden.
Samuel ist höchst aufgebracht über die Undankbarkeit, wird
aber von Jahve angewiesen, der Forderung zu willfahren. „Sie
haben nicht deine, sondern meine Herrschaft verworfen, grade
so wie sie, seit ich sie aus Ägypten geführt, es gemacht, mich
verlassen und anderen Göttern gedient haben, so handeln sie
nun auch gegen dich." Vergebens hält ihnen Samuel ein ab-
schreckendes Verzeichnis der Rechte des Königs vor, sie gehen
von ihrem Entschlüsse nicht ab, und so beruft er (8, 22. 10, 17)
eine allgemeine Versammlung des Volkes nach Mispa. Dort
wird, nachdem die einleitende Strafpredigt gehalten ist, um
den König gelost und Saul getroffen, worauf Samuel noch das
Königsgesetz schreibt und es vor Jahve deponiert. Dann wird
das Volk entlassen, „und auch Saul ging nach Hause gen Gibea
und mit ihm die Kriegsleute, denen Gott das Herz rührte, aber
die nichtsnutzigen Buben verachteten ihn und sagten: was wird
der uns helfen! 44
Nur de iure soll damit Saul zum König gemacht sein, de
facto wird er es erst, nachdem er sich erprobt hat, Kap. 11.
Nämlich etwa nach einem Monat (10, 27 Sept.) schicken die
Bürger von Jabes, von den Ammonitern belagert und schwer
bedrängt, Boten durch ganz Israel mit der Bitte um schleunige
Hülfe, denn binnen sieben Tagen müssen sie sich den Feinden
ergeben *und sich ein jeder das rechte Auge ausstechen lassen.
Die Boten kommen auch nach der Stadt Sauls, Gibea in Ben-
jamin, und reden ihre Worte vor den Leuten; die heben ihre
Stimme auf und weinen. Indem kommt Saul mit einem Joch
Rinder vom Felde, und da er das allgemeine Weinen bemerkt,
fragt er was geschehen sei. Man erzählt's ihm, da überfällt
ihn der Geist Gottes und er gerät in sehr grossen Zorn; er
zerstttckt seine Rinder und schickt die Teile durch ganz Israel
mit dem Entbieten: wer nicht ausziehe in den Kampf, des
Rindern solle also geschehen! Und der Schrecken Jahve's
fällt auf das Volk, sie ziehen aus wie ein Mann und entsetzen
die belagerte Stadt. Darauf wird dem Saul zu Gilgal „das
Königtum erneuert 44 ; und nun erst tritt Samuel ihm die Regie-
rung ab, in der langen Rede Kap. 12, aus der oben ein grösseres
Stück mitgeteilt ist.
262 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Dass das 11. Kapitel in diese Version aufgenommen ist, er-
hellt aus 12, 12 und auch aus 11, 12 — 14 Aber ursprünglich
ist es nicht für diesen Zusammenhang berechnet. Denn von
den Kriegsmännern, die Saul nach 10, 26 begleiten, merkt man
hier nichts; die Boten von Jabes kommen nicht seinetwegen
nach Gibea. Wie der vermeintliche König vom Pflügen zu
Hause kommt, wird nicht gethan, als gehe ihn die Botschaft
näher an, niemand teilt sie ihm mit, er muss sich nach der Ur-
sache des allgemeinen Weinens erst erkundigen. Nicht kraft
seines Amtes als König, sondern in der Autorität des Geistes
bietet er den Heerbann Israels auf und findet begeisterten Ge-
horsam. Erst nachdem er seine Kraft gezeigt und die Ammo-
niter geschlagen hat, wird er 11, 15 vom Volke zum Könige
gemacht: die Renovation des Königtums 11, 14 — nach einem
Monate — ist ein durchsichtiger Kunstgriff des Verfassers von
Kap. 8. 10, 17 ff., womit er das anderswoher entlehnte Stück
seiner eigenen Relation einverleibt; die Verse 11, 12 — 14 rühren
von ihm her.
Der Zusammenhang, worin 1. Sam. 11 ursprünglich stand,
ist die andere Erzählung über Sauls Erhebung 9, 1—10, 16.
Hier wird er uns zu Anfang vorgeführt, wie er entlaufenen
Eselinnen nachgeht. Auf mehrtägiger vergeblicher Suche bis
gen Rama gelangt wendet er sich auf den Rat seines Knechtes
an einen Seher daselbst um Auskunft, eben an Samuel. Dem
ist er schon Tags zuvor durch Jahve angemeldet: „morgen werde
ich dir einen Mann aus Benjamin zusenden, den salbe zum Für-
sten über mein Volk, er soll es erretten von den Philistern" —
er hat ihn also erwartet und zum voraus ein Opferfest auf der
Bama für ihn veranstaltet. Jetzt ist Samuel, zwischen dem
sakralen Akt und der daran sich schliessenden Mahlzeit, hinab-
gegangen zur Stadt, und wie er eben zurück will zu den Gästen,
trifft er im Thore den nach ihm fragenden Saul und erkennt auf
Jahve's Zuraunung in ihm seinen Mann. Er nimmt ihn mit hin-
auf zur Bama, und nachdem er ihn über die Eselinnen beruhigt,
deutet er ihm auf der Stelle an, zu wie hohen Dingen er be-
rufen sei, und gibt ihm tiberzeugende Beweise, dass er auf ihn
als Ehrengast beim Opfermahle gerechnet habe. Darauf beher-
bergt er ihn noch die folgende Nacht und begleitet ihn am an-
dern Morgen auf den Weg. Nachdem der Knecht ein wenig
Richter Samuelis und Könige. 263
voraufgeschickt ist, bleibt Samuel stehen, salbt den Saul,
zum Zeichen dass er von Jahve zum Könige und Helfer Israels
ausersehen sei, und weist ihn zum Schlüsse an: wenn Gelegen-
heit zu handeln komme, so solle er sie in dem Bewusstsein
brauchen, dass Gott mit ihm sei. Auf dem Heimwege durch
das Eintreffen dreier ihm angekündigter Zeichen von der Zu-
verlässigkeit des Sehers versichert und dadurch im Herzen nach
und nach bis zum Überschäumen umgewandelt, kommt Saul
nach Gibea, und obwohl durch sein seltsames Wesen den Be-
kannten auffallend, verrät er zu Hause doch nicht einmal dem
nächsten Freunde, was ihm Samuel gesagt, sondern wartet der
Dinge, die da kommen sollen.
So weit sind wir 10, 16. Dass hiemit noch kein Abschluss
erreicht ist, leuchtet ein; der Same muss doch aufgehen, der
veränderte Geist zur Wirkung kommen. Dieser Forderung ge-
schieht aufs vollkommenste Genüge, wenn Kap. 11 als unmit-
telbare Fortsetzung von 10, 16 betrachtet wird. Etwa nach
einem Monate, da kommt für Saul die Gelegenheit zu handeln,
auf die ihn Samuel verwiesen hat; während die anderen über
die Schmach, die einer israelitischen Stadt von den Ammonitern
droht, weinen, tiberfällt ihn der Geist und der Zorn; er hat von
jener Unterredung her den Stachel im Herzen und thut nun,
„was seine Hand findet 4 '. Der Erfolg ist überraschend, auf die
natürlichste Weise von der Welt erfüllt sich das Seherwort.
Gehört Kap. 11 ursprünglich der Relation 9, 1 — 10, 16 an,
so ergibt sich daraus die Abhängigkeit und Posteriorität der an-
deren ohne weiteres. In welchem inneren Verhältnis stehen
nun die beiden Versionen zu einander? Hie und da berühren
sie sich in den Ideen. Dort sucht Saul die Eselinnen und findet
die Krone, hier versteckt er sich unter den Geräten und wird
als König hervorgezogen. Dort wird er vom Seher berufen,
hier wird er durch's Los eingesetzt — beide mal wirkt die gött-
liche Causalität. Aber wie wird der Gedanke auf der späteren
Stufe übertrieben und wie plump tritt er hervor! Und weit
stärker als diese Verwandtschaft in der Anschauungsweise ist
auf der anderen Seite die Abweichung des Ablegers vom Original.
Über die Richtung derselben sind wir durch das 7. Kapitel vor-
bereitet. Samuel hat seine Landsleute von den Feinden befreit
und hinterher gerecht und glücklieh über sie geherrscht —
264 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
warum verlangen sie also nach einer Veränderung in der Re-
gierungsform? Sie haben so viel und so wenig Grund dazu wie
zum Abfall von Jahve,*der ihnen ja auch nach einer Reihe
ruhiger Jahre periodisch zum Bedürfnis wird; es ist der Aus-
fluss ihres innerlich heidnischen Wesens. So nach Kap. 8 nebst
Zubehör. Ganz anders nach Kap. 9 ff. Da befindet sich Israel
am Ende der Richterzeit nicht auf der Höhe von Macht und
Glück, sondern im tiefsten Stande der Erniedrigung, und gerade
im Königtum wird das Mittel der Rettung gesehen. Mit diesem
Unterschiede hängt ein anderer eng zusammen, bestehend in der
Auffassung der Autorität Samuels. In Kap. 8 ff. ist er wie in
Kap. 7 der Reichsverweser Jahve's, mit unbeschränkter Vollmacht.
Er empfindet die Königsherrschaft als seine eigene Absetzung;
jedoch rebellieren die Israeliten nicht etwa gegen ihn, sondern
erbitten sich von ihm selber den König. Er hätte die Bitte ver-
weigern, er hätte ihnen einen Herrscher nach seinem Gutdünken
geben können, doch als korrekter Theokrat lässt er Jahve ent-
scheiden. Zum Schluss legt er feierlich die bisher von ihm ge-
führte Regierung nieder und übergibt sie seinem Nachfolger,
der nur den Titel, nicht aber die Fülle der Macht vor ihm vor-
aus hat, eher in letzterer Beziehung, als bloss weltlicher Fürst
(12, 23 f.) hinter ihm zurücksteht. Wie steht es dagegen in
Kap. 9ff.? Hier ist Samuel dem Saul selber weder dem Namen
noch dem Wohnorte nach bekannt, nur der Knecht hat von ihm
sagen hören und in seiner Heimat steht er als Seher in grosser
Achtung. Was man sich unter einem Seher von damals vorzu-
stellen habe, wird mit einiger Absichtlichkeit klar gestellt, in-
dem Samuel nach dem Verbleib entlaufener Eselinnen gefragt
und ihm dafür ein viertel Silberling angeboten wird. Steht nun
auch dieser Seher deutlich über der Masse seiner Standesge-
nossen, so bleibt doch sein geschichtliches Eingreifen völlig
innerhalb der Schranken des auch etwa einem Kalchas Mög-
lichen, und lässt von der legislativen und exekutiven Gewalt
eines Regenten der Theokratie nicht das Mindeste merken. Er
bringt nicht die Hülfe, er ersieht nur die Hülfe und den Helfer.
Gerade das Ereignis, wodurch Samuel nach Kap. 8 ff. von seiner
Stellung verdrängt und in den Hintergrund geschoben wird, be-
gründet hier einzig seine Bedeutung: das Königtum Sauls, das
zwar nicht sein Werk, aber sein Gedanke ist. Er kündigt dem
Richter Samuelis und Könige. 265
Benjaminiteli seine Bestimmung an, als Interpret von dessen
eigenen Herzensgedanken (9, 19). Damit ist seine Aufgabe er-
füllt, seinen Nachfolger in der Regierung zu ernennen hat er
keinen Auftrag und keine Gewalt. Alles Weitere tibeiiässt-er
dem Laufe der Dinge und dem Geiste Jahve's, der Saul auf
eigene Ftisse stellen werde.
Im Hintergrunde der beiden verschiedenen Berichte er-
kennen wir den geistigen Abstand zweier Zeitalter. Dem vor-
exilischen Israel ist das Königtum der Höhepunkt der Geschichte
und die grösste Segnung Jahve's. Vorher ging eine Periode
der Unruhe und Bedrfngnis, wo jeder that was er wollte und
also die Feinde leichtes Spiel hatten. Nun wohnt man sicher,
geachtet von den Nachbaren, und kann im Schutze staatlicher
Ordnung seines Feigenbaumes und seines Weinstocks froh wer-
den. Das ist das Verdienst der beiden ersten Könige, die Israel
von seinen Räubern befreit, ihm Macht und Ruhe gegeben haben.
Sie werden in dieser Hinsicht nicht verschieden beurteilt, der
eine hat das Werk angefangen, der andere es vollendet (I. 9, 16.
14, 48. IL 3, 18. 19, 10). Während man früher in harter Kampfes-
arbeit nicht zu Atem kam, ist nun Zeit auch an anderes zu
denken. Noch das Deuteronomium , das nicht lange vor dem
Exil geschrieben ist, betrachtet die vorkönigliche Periode nur
als eine vorbereitende und nicht für voll zu rechnende Über-
gangszeit: erst muss Israel selber zu festen Sitzen gelangt und
eine gesicherte Existenz gewonnen haben, dann wird auch Jahve
sich einen Sitz erwählen und Ansprüche in Bezug auf den Cultus
erheben. Nachdem aber David es dahin gebracht, dass das Volk
Raum hat und festgewurzelt ist im Boden und nicht mehr zittert
vor den Feinden, die es von Anfang an und alle Tage der
Richter in Atem gehalten haben, ist dann unter seinem Nach-
folger die Zeit gekommen, den Tempel zu bauen und sieh
höheren Aufgaben hinzugeben. Wie ferne dem hebräischen
Altertum die Vorstellung eines feindlichen Gegensatzes zwischen
dem himmlischen und dem irdischen Herrscher lag, ersieht man
aus dem Namen des Gesalbten Jahve's und aus der propheti-
schen Hoffnung, die auch für die ideale Zukunft den mensch-
lichen König nicht entbehren kann. So lebendig wie je einem
anderen Volke ist es den alten Israeliten im Bewusstsein ge-
blieben, welcher Dank den Männern und der Institution gebühre,
266 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
wodurch sie aus der Anarchie und Unterdrückung in einem ge-
ordneten uud wehrfähigen Gemeinwesen emporgehoben wurden;
die Bücher Samuelis legen davon das beredteste Zeugnis ab. *)
* In schneidendem Gegensatz dazu nimmt die Version 1. Sam.
7.8. 10, 17 ff. 12 ihren Standpunkt ein. Da ist die Errichtung
des Königtums nur eine tiefere Stufe des Abfalls. Einen Fort-
schritt über das mosaische Ideal hinaus kann es nicht geben;
je weiter man sich davon entfernt, desto grösser ist der Rück-
schritt. Die kapitale Sünde, einen menschlichen Herrscher auf
Jahve's Thron zu setzen, dient sogar der Eich terzeit, die sonst
auch grau in grau gemalt wird, zur verklärenden Folie; selbige
erscheint wegen ihres Festhaltens an der Urform der Theokratie
in hellerem Lichte, ja gerade zuletzt noch, um den Gontrast zu
erhöhen, in herrlichem Glänze. Unter Samuels Regimente war
Alles wie es sein sollte. Fragen wir nun, wie es da eigentlich
war und was es mit der theokratischen Verfassung für eine Be-
wandtnis hat, so erhalten wir darauf freilich keine genügende
Antwort. Man könnte vom Haupte auf den Körper zurück-
schliessen wollen, aber was für einen Begriff soll man sich von
Samuels Stellung machen? So wie er in diesen Kapiteln er-
scheint, ist er in den Kategorien, die etwa in Frage kommen,
durchaus nicht unterzubringen; er ist kein Richter, kein Priester,
kein Prophet, wenn wir den Worten ihre historische Bedeutung
lassen. Ein zweiter Moses ist er — nun ja, aber das macht
uns nicht klüger. Deutlich ist nur, dass die Theokratie auf
ganz anderem Fusse eingerichtet ist als die Reiche dieser Welt,
und dass es als Abfall zum Heidentum gilt, wenn die Israeliten
wie andere Völker einen König an ihre Spitze stellen, der Hof-
leute und Beamte, Officiere und Soldaten, Rosse und Wagen hält.
Sie ist demnach ein geistliches Gemeinwesen, wie denn auch
der geistliche Charakter des Regenten ausser Frage steht. Sa- <
*) In der Ausschau Bileams über die gesegnete Zukunft Israels Num. 23 f.
haftet sein Blick besonders auf dem Königtum als einem Hauptsegen.
Im Allgemeinen 23, 21: „Jahve sein Gott ist mit ihm, und Königsjubel
wird laut unter ihm". Mit besonderer Beziehung auf Saul 24,7: „und
über Agag triumphiert sein König und sein Reich steigt empor". Auf
David 24, 17: „ich sehe ihn obwohl nicht jetzt, ich schaue ihn obwohl
nicht nahe; aufgeht (n*"fl) e i n Stern aus Jakob und eine Rute aus Israel,
und zerschmettert die Schläfen Moabs und den Scheitel aller Söhne Seths,
auch Edom wird Eroberung". Die Thora und das Königtum sind nach
Deut. 33, 4. 5 die beiden grössten Gnadengaben Gottes.
Richter Samuelis und Könige. 267
muel malint das Volk vom Götzendienst w lassen, er steht dem
grossen Busstage zu Mispa vor, der in der heiligen Geschichte
Epoche bildet, seinem Bitten und Schreien vermag Jahve nichts
abzuschlagen (12, 17). „Es sei ferne von mir, sagt er noch beim
Abschiede (12, 23), dass ich ablasse für euch einzutreten und euch
auf den guten Weg zu weisen." Entsprechend haben die Bürger
der Theokratie die Aufgabe den Jahvecultus zu pflegen und sich
der Leitung des Stellvertreters der Gottheit nicht zu entziehen.
Auf Mittel sich wehrfähig zu machen brauchen sie nicht zu
denken; wenn sie fasten und beten und von ihren Sünden lassen,
so schlägt Jahve die Feinde durch seinen Blitz und Donner zu-
rück, und so lange sie fromm sind, lässt er dieselben gar nicht
in's Land kommen. All der Aufwand, wodurch ein Volk sonst
seine Existenz sichert, ist dann natürlich überflüssig. Dass diese
Vorstellung ungeschichtlich sei, versteht sich von selber; dass
sie der echten Tradition widerspricht, haben wir gesehen. Die
alten Israeliten haben nicht von Anfang an eine Kirche, sondern
zuerst ein Haus zum Wohnen gebaut; und sie sind überfroh ge-
wesen, als sie es glücklich unter Dach hatten (11, 15). Aber noch
das ist zum Schluss hinzuzufügen, dass jene Vorstellung nur in
einer Zeit entstanden sein kann, welche Israel als Volk und
Keich nicht mehr kannte und von den realen Bedingungen, die
dazu gehören, keine Erfahrung hatte — dass dieselbe mit an-
deren Worten dem exilischen oder nachexilischen Judentume
entstammt. Damals war aus der Nation eine religiöse Gemeinde
geworden, deren Glieder sich um des willen auf die Hauptsache,
den Gottesdienst und die Frömmigkeit, beschränken konnten,
weil ihnen die Sorge für die weltlichen Angelegenheiten durch
die Chaldäer oder die Perser abgenommen war. Damals
existierte also die Theokratie, und von daher wird sie ideali-
siert auf die Vorzeit übertragen. Aber so dass dabei der ma-
terielle Untergrund, worauf sie thatsächlich ruhte, nämlich die
Fremdherrschaft, ignoriert und es hingegen den alten Israeliten
als Heidentum angerechnet wird, dass sie selber für ihre äussere
Existenzfähigheit sorgen; dass sie ein Volk im vollen Sinne des
Wortes sind und sich als solches mit den Mitteln, wie sie die
gemeine Wirklichkeit erheischt, zu erhalten streben. Dass die
durch das Königtum geschaffene politische Organisation und
Centralisation die cultische erst begründet habe, dass ihre Kirche
268 Geschichte der Tradition, Kap* 7.
nur das y erklärte Überbleibsel der Nation sei, der Gedanke kam
.begreiflicher Weise den Epigonen nicht — was dem Mose gut-
geschrieben wird, wird dem Königtum entzogen.
Noch eins ist hervorzuheben. Die Kapitel 7. 8. 10, 17 ff. 12
bekunden nicht bloss durch ihre allgemeine Haltung eine nahe
Verwandtschaft mit Jud. 19 — 21, sondern auch durch einen spe-
cialen Berührungspunkt. Nur hier kommt Mispa bei Jerusalem
als Versammlungsstätte Gesamtisraels vor, sonst hören wir in
der ganzen Richter- und Königszeit nichts von dem Orte. Erst
nach der Zerstörung Jerusalems wird er erwähnt und zwar als
Mittelpunkt des neuen von den Chaldäern eingerichteten jüdi-
schen Gemeinwesens (Jer. 40ff.), als Substitut der alten Haupt-
stadt. In ähnlicher Bedeutung erscheint er noch einmal 1. Macc.
3, 46 ff., in einer Zeit, wo der jerusalemische Tempel in den
Händen der Syrer und den Juden unzugänglich war. Auf Grund
von Jer. 40ff. ist Mispa vermutlich auch in Jud. 20. 1. Sam. 7. 10
bestimmt, die Stelle Jerusalems zu vertreten, des allein legitimen,
damals aber noch nicht vorhandenen Heiligtums. Das ist ein
weiterer Beweis des nachdeuteronomisch -jüdischen Ursprungs
dieser Geschichten, zugleich aber auch ein Merkmal dafür, dass
dieselben den Priestercodex, bei aller Hinneigung zu dessen An-
schauungen, doch thatsächlich noch nicht voraussetzen. Dort
vollzieht sich nämlich die Projection Jerusalems für die vor-
salomonische Periode in ganz anderer Weise, die Stiftshütte
macht Mispa überflüssig. Übrigens ist auch der Ritus des
Wasserausgiessens 1. Sam. 7 dem Priestercodex fremd.
3. Sauls Verhältnis zu Samuel, sehr geeignet zu verall-
gemeinernder Betrachtung, hat auch sonst der Entwicklung der
Tradition zum Anhalt gedient. Gehen wir von der Auffassung
in 1. Sam. 7. 8. 12 als unterer Grenze aus, so steht ihr am näch-
sten, was 1. Sam. 13 in einer Einlage von Samuel berichtet
wird. Nachdem Saul in Gilgal von dem Volksheere, womit er
Jabes entsetzt hat, zum Könige gemacht ist, sucht er sich dar-
unter Männer aus, die mit ihm und Jonathan zu Gibea und dem
benachbarten Michmas lagern; Jonathan gibt das Signal zum
Kampfe gegen den Erzfeind, indem er den Vogt zu Gibea er-
schlägt. Die Philistef rücken vor und machen nordwärts von
Gibea Halt, nur durch ein tiefes Thal davon getrennt. Saul
aber, heisst es nun plötzlich 13, 7 (vgl. 13, 4), war noch immer
Richter Samuelis und Könige. 269
in Gilgal und wartete sieben Tage auf Samuel gemäss der Frist,
die ihm dieser gesetzt, aber Samuel kam nicht und die Kriegs 1
leute zerstreuten sich. Wie er nun eben selber das Opfer brachte,
ohne das kein Feldzug eröffnet werden konnte, da kam Samuel
und fuhr ihn an. Saul rechtfertigte sich sehr triftig: das Volk
habe sich verlaufen und Samuel sich nicht zur bestimmten Zeit
eingestellt, die Philister aber seien schon bis dicht vor Gibea
vorgerückt, so habe er nicht länger warten können das Opfer zu
bringen und ihnen entgegenzugehen. Aber Samuel hatte darauf
nur die Antwort: „du hast gefehlt, hättest du Jahve's Gebot ge-
halten, so hätte er dein Königtum bestätigt in Ewigkeit, nun
wird dein Königtum nicht bestehen ; Jahve hat sich einen Mann
nach seinem Herzen ausgesucht und ihn zum Fürsten über sein
Volk bestimmt, denn du hast nicht gehalten, was Jahve dir be-
fohlen hat". Sprach's und entfernte sich, Saul aber zog mit dem
Heere von Gilgal nach Gibea. Zu Gibea — fährt der folgende
Vers (13,16) dann fort — sassen Saul und* Jonathan und ihre
Leute, als die Philister in Michmas sich lagerten.
Dass der ganze Passus über die Begegnung des Königs mit
dem Propheten in Gilgal (13, 7 — 15) von späterer Hand einge-
setzt ist, erhellt aus dem Ortswechsel. Am Anfange der Er-
zählung befindet sich Saul in Gibea (13, 2. 3) und eben dort
suchen ihn die Philister auf, deshalb vor dem Orte Halt
machend, weil sie hier auf die Gegenwehr treffen. Plötzlich
wird 13, 7 Stillschweigens vorausgesetzt, Saul habe sich seit
der Königs wähl noch immer in Gilgal aufgehalten und sei
von da gegen die Philister gezogen, die vor Gibea auf ihn war-
teten. Aber in 13, 16 hat man wieder den Eindruck, dass Saul
mit den Seinigen längst in Gibea gestanden habe, als die
Feinde gegenüber Lager schlugen; nur so versteht sich der
Gegensatz des zuständlichen Particeps (sedentes) und des inchoa-
tiven Perfekts (castrametati sunt). Und weiterhin verrät sich in
der triumphierenden Fortsetzung der Erzählung, namentlich in
Kap. 14, keine Spur, dass jene ominöse Scene in Gilgal auf Sauls,
des Volkes, und des Schriftstellers Seele laste.
Mit den sieben Tagen, die Saul nach 13, 7—15 zu Gilgal
auf Samuel warten soll, wird zurückgegriffen auf 10, 8, wo der
Seher dem zukünftigen Könige sagt: „du sollst vor mir nach
270 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Gilgal hinabziehen und dort will ich dir Bachkommen, um die
Opfer zu bringen; sieben Tage sollst du auf mich warten, damit
ich dir ansage, was du zu thun hast". Diesem Verse spricht nicht
bloss der Zusammenhang mit 13, 7 — 15 sein Urteil. Nach 10, 1 — 7
handelt es sich dem Samuel in diesem Augenblicke nur darum,
das Mistrauen des seine Eselinnen suchenden Benjaminiten zu
dem ihm geweissagten hohen Berufe zu überwinden, ihm Glauben
und Zuversicht einzuflössen, aber nicht, ihm unverständliche Vor-
schriften darüber zu geben, was er, wenn er wirklich König ge-
worden sei, zunächst thun und wie lange er in Gilgal auf ihn
warten solle. Den schulmeisterlichen Ton von 10, 8 erwartet
man am wenigsten grade nach der unmittelbar vorangehenden
Äusserung 10, 7: wenn die drei Bürgschaften eingetroffen seien,
so solle Saul thun was seine Hand finde, denn Gott sei mit ihm.
Hiermit wird ihm doch die volle Freiheit des Handelns gegeben,
und zwar deshalb, weil Gottes Geist in ihm wirkt, der bekannt-
lich blaset wo er will und sich von keiner Autorität drein
reden lässt. 1 )
Die Einlage beruht auf einer älteren Relation über den
Bruch zwischen Samuel und Saul 1. Sam. 15, in welcher aber
auch das Opfer die Gelegenheit und Gilgal der Schauplatz ist:
nur aus letzterem Umstände erklärt es sich, dass Gilgal auch
in 13, 7— 15 # trotz aller Unmöglichkeit als der gegebene und
notwendige Ort festgehalten wird. Jahve erteilt durch Samuel
dem Könige Befehl, die Amalekiter zur Strafe für eine vor
Alters gegen Israel begangene Heimtücke zu bannen und nichts
von ihnen übrig zu lassen. Demzufolge bekriegt Saul die Amale-
kiter und schlägt sie, führt aber den Bann nicht ganz streng
aus, sondern schont des besten Viehs und des gefangenen Königs
Agag. Darüber in Gilgal, wo man den Sieg vor Jahve feiert,
von Samuel zur Rede gestellt gibt er vor, die Beute zum Opfer
Jahve's bestimmt zu haben. Damit macht er keinen Eindruck.
„Siehe Gehorsam ist besser als Opfer, Aufmerken mehr wert
als Widderfett; siehe wie Wahrsagerei ist das Widerstreben
l ) Übrigens ist es klar, dass der Verfasser von 10, 8. 13, 7 — 15 unmöglich
schon in Kap. 11 den Samuel in Gilgal vorgefunden haben kann, bevor
er ihn in Kap. 13 dorthin kommen lässt. Dass 11, 12 — 14 Nachtrag ist,
haben wir bereits gesehen; aber auch in 11, 7 muss der Name Samuels
interpoliert sein. In der That handelt 11, 15 das, Volk, d.i. das Heer,
noch im jetzigen Text Vollkommen auf eigene Hand. Daraus folgt zu-
gleich, dass 10, 8. 13, 7—15 älter ist als Kap. 7. 8. 10, 17ff. 12.
Richter Sanmelis und Könige. 271
und wie Bilder- und Götzendienst der Ungehorsam: weil du
Jahve's Wort verschmäht hast, hat er dich als König ver-
schmäht." Der König erkennt seine Schuld und will Samuel
begütigen, der aber wendet sich erzürnt, und da ihn jener fest-
halten will, reisst der Mantel. „Jahve hat das Reich Israel
heute von dir gerissen und es einem Besseren gegeben, auch
lügt der Wahrhaftige Israels nicht und ändert seinen Sinn nicht,
denn er ist kein Mensch, dass ihn etwas reue." Doch auf die
Bitte Sauls ihm wenigstens nicht öffentlich vor dem Volke die
Ehre zu versagen, nimmt Samuel am Opfer teil und eröffnet es
selber damit, dass er den Agag vor Jahve zerhaut. Dann gehen
sie auseinander um sich nie wiederzusehen, Samuel aber trägt
Leid um ihn, dass Jahve sich's hatte reuen lassen, ihn zum
König über Israel gemacht zu haben. Mit dieser Erzählung
hängt eine andere, durch Gegenstand und Behandlung, Ge-
danken und Ausdruck, aufs engste zusammen; die von der
Hexe von Endor. Als Saul kurz vor der Schlacht, in der er
fiel, das Heer der Feinde überblickte, befiel ihn Angst und
Schrecken. Er fragte Jahve, erhielt aber keine Antwort, weder
durch Träume noch durch das Ephod noch durch Propheten,
bis er durch die Not einer dunklen Zunft in die Arme getrieben
wurde, die er sonst verfolgt und ausgerottet hatte. Verkleidet
suchte er Nachts mit zwei Begleitern eine TotenbeSchwörerin in
Endor auf, und nachdem er sie über die Todesgefahr beruhigt
hatte, die ihr durch Ausübung ihrer Kunst drohte, hiess er sie
den Samuel citieren. Wie sie den Geist heraufkommen sieht,
erkennt sie, dass derjenige, dem er zu einer Unterredung ent-
gegengehe, der König selber sei; sie schreit laut auf, lässt sich
aber wieder beschwichtigen und beschreibt das Aussehen des
Toten. Saul sieht ihn nicht, er hört ihn nur reden. „Warum
hast du mich in Unruhe gesetzt und mich heraufholen lassen?
Jahve thut wie er durch mich gesagt, reisst das Reich von dir
und gibt es einem andern, weil du seiner Stimme nicht ge-
horcht und seinen grimmigen Zorn gegen Amalek nicht ausge-
richtet hast: morgen wirst du mit deinen Söhnen bei mir sein
und auch das Heer Israels wird Jahve in der Philister Hand
tibergeben." Bei den Worten schlägt Saul so lang wie er ist
zu Boden, er hatte Tags vorher und auch die Nacht nichts ge-
gessen. Mit Mühe wird. er bewogen, etwas zu sich zu nehmen;
272 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
darauf erhebt er sich mit seinen Knechten, seinem Geschick
entgegen zu gehen (1. Sam. 28, 3—25).
Vergleichen wir mit diesem Original die Copie 13, 7 — 15,
so fällt zuvörderst die Vorschiebung des Bruches auf. Kaum
König geworden wird Saul sofort abgesetzt, gleich auf dem
Fleck, zu Gilgal. Und auf was für Gründe hin? Samuel hat
ihm ganz willkürlich eine Wartezeit gesetzt, erst nachdem sie
verstrichen ist, trifft Saul Anstalten zum Abmarsch, zu dem die
Not zwingt, und darum wird er verworfen! Offenbar ist jener
von vornherein von der Stimmung gegen ihn beseelt, die der
legitime Fürst dem Usurpator gegenüber hat; er hat es darauf
angelegt einen Anlass zu finden, um sein Verhältnis zu ihm in's
Klare zu bringen. Genau genommen hat er freilich den Anlass
doch nicht gefunden, da ja die Frist eingehalten ist; aber un-
ausgesprochen steht die Meinung im Hintergrunde, dass der König
nicht bloss vor Ablauf der sieben Tage, sondern überhaupt nicht
opfern dürfe; sein Opfern wird als Raub am Heiligen angesehen.
Da taucht die autonome Theokratie vor unsern Augen auf, an
die vor Ezechiel niemand gedacht hat; wir werden erinnert an
die Erzähjungen der Chronik über Joas und Uzzia. Bei aller
Ähnlichkeit des Inhalts ist doch der Geist von 1. Sam. 15. 28
ein wesentlich anderer und älterer. Nicht mit so rasender Eile
erfolgt hier die Verwerfung, man gewinnt nicht den Eindruck,
dass Samuel sich freut, den König von der Hand schlenkern zu
können. Er ehrt ihn vielmehr vor dem Volke, er trägt Leid,
dass Jahve ihn verschmäht hat; Saul, der ihn im Leben nicht
mehr schaut, wendet sich in der höchsten Not noch an den
Toten: er hält ihn nicht für seinen bösen Feind. Während
ferner dort der König sich versündigt, indem er die Heiligkeit
des Opfers und die Unnahbarkeit des Altars für den Laien nicht
gebührend achtet, so wird ihm hier vorgeworfen, dass er dem
Opfer einen viel zu hohen Wert beilegt. Dort handelt endlich
die Gottheit und ihr Stellvertreter mit absoluter Willkür, stellt
sich mit unbegreiflichen kleinlichen Geboten schroff dem Men-
schen gegenüber, fordert ihn zum Widerspruch heraus; hier ist
das Auftreten Samuels, wenn man den Bann als Volkssitte vor-
aussetzt, motiviert, sein Wesen nicht von Geist entblösst, er be-
ruft sich nicht auf seine Unverantwortlichkeit, sondern auf die
Evidenz, dass Gehorsam besser sei als Widderfett.
Richter Samuelis und Könige. 273
Freilich gehören auch die Kapitel 15 und 28 nicht zum
Stock der Überlieferung. Bei 1. Sam. 28, 3 — 25 ist es leicht,
die Einsehiebung aufzuzeigen, denn der Faden von 28, 1. 2, her-
kommend von Kap. 27, wird 29, 1 fortgesetzt; nach 28, 4 sind die
Philister schon zu Sunem in Jezreel, nach 29, 1 noch zu Aphek
in Saron, von wo sie erst 29, 11 nach Jezreel aufbrechen.
Um in Bezug auf 1. Sam. 15 das Gleiche zu zeigen, könnte man
sich darauf berufen, dass zwischen 14, 52 und 16, 14 directer
Anschluss besteht — aber das ist etwas umständlich zu beweisen.
Es genüge also, dass in der vorhergehenden Geschichte Sauls
der Amalekiterkrieg in einem ganz andererf Lichte erscheint
(9, 1. 10, 16. 11. 13. 14 vgl. auch Num. 24). Die Veranlassung
dazu ist nach 14, 48 den Bedürfnissen der Gegenwart entnommen
und der Zweck der sehr praktische „Israel von seinen Räubern
zu befreien" ; keine Rede davon, dass der Feldzug um eines re-
ligiösen Gebotes willen unternommen sei, um die Amalekiter für
eine längst verjährte Schuld zu strafen, über die man nur aus
den Geschichtsbüchern über die mosaische Zeit Bescheid wusste.
Beide Erzählungen, Kap. 15 sowohl als Kap. 28, sind Vorspiele
der folgenden Begebenheiten. Mit Kap. 16 tritt David auf den
Schauplatz, ist sofort die Hauptperson und drängt Saul zur Seite:
in Kap. 15 wird diese Wendung prophetisch eingeleitet. Die
Thatsache war überliefert, dass Saul von Jahve zum Könige er-
sehen war. Wie ist es denn möglich , dass seine Herrschaft
trotzdem keinen Bestand hatte? Jahve, der sonst seinen Sinn
nicht ändert, hat sich in ihm geirrt; Samuel, der den König be-
rufen hat, muss zu seinem grossen Schmerz ihm nun auch das
Urteil der Verwerfung sprechen. Die Gelegenheit, bei der er es
thut, ist augenscheinlich historisch, nämlich die Siegesfeier zu
Gilgal, wobei als vornehmstes Opfer der gefangene Führer der
Amalekiter selber dargebracht ward. Das Opfer Agags, der spä-
teren Sitte völlig fremdartig, mag zu der Deutung Anlass gegeben
haben, dass Saul den König geschont, Jahve aber seinen Tod
verlangt und ihn durch Samuel am Altare habe zerhauen lassen.
Daraus lässt sich leicht das Übrige entspinnen, näher auf das
Wie einzugehen, ist überflüssig. Zu Kap. 15 verhält sich weiter
Kap. 28, wie zur ersten Stufe die zweite. Es braucht nicht nach-
gewiesen zu werden, dass hier Sauls Fall im letzten Kampf gegen
die Philister seinen prophetischen Schatten vorauswirft. Dass er
Wellhausen, Prolegomena. 18
274 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
sich an die, Hexe wendet, um den abgeschiedenen Samuel zu be-
schwören, gibt einen höchst wirksamen Eindruck von der Gott-
verlassenheit, worin er sich befindet, seit jener von ihm sich ab-
gewandt. Die allgemeine Färbung endlich wird dem Gegensatze
zwischen Samuel und Saul hier verliehen durch das Verhältnis
der Propheten zu den Königen, wie es sich besonders im Reiche
Samarien (1. Reg. 14, 7) ausgebildet haben muss. Es ist klar,
dass unsere Erzählungen in der Auffassung dieses Verhältnisses
den prophetischen Standpunkt einnehmen, wie sie denn auch
nach den lehrhaften Ideen, die darin ausgesprochen werden, als
prophetische Coneeptionen angesehen werden müssen.
4. David ist der erste judäische Held, dem wir begegnen;
er stellt sogleich alle übrigen in den Schatten. Über seine
Thaten besitzen wir zwei ausführliche und zusammenhängende
Schriften, die sich gegenseitig ergänzen. In 1. Sam. 14,52 bis
2. Sam. 8, 18 wird zunächst umständlich erzählt, auf welche
Weise David auf den Thron gelangt sei, sodann folgt seine
Hauptthat als König, die Demütigung der Philister und die Grün-
dung Jerusalems, worauf mit einer kurzen Übersicht über das
sonst noch Bemerkenswerte abgeschlossen wird. Der Bericht
ist uns vollständig erhalten, nur nicht in seiner reinen Form,
sondern vielfach durchbrochen und überarbeitet. Die zweite
Schrift 2. Sam. 9 — 2. Reg. 2 ist am Anfange verstümmelt, sonst
jedoch fast völlig intakt, wenn man 2. Sam. 21—24 heraushebt.
Sie erzählt vorzugsweise die Vorgänge am Hofe zu Jerusalem
aus den späteren Jahren des Königs und verfolgt dabei mit be-
sonderem Interesse, wie Salomo, von dessen Geburt und deren
Umständen gleich anfangs die Rede ist, über seine vor ihm stehen-
den Brüder Amnon Absalom Adonia hinweg auf den Thron ge-
langt. Beide Schriften zeichnen sich aus durch ihren wesentlich
historischen Charakter. Die Darstellung ist weit eingehender
und nicht von fern so poetisch wie in der Geschichte Sauls
1. Sam. 9 ff., Übertreibungen wie 14, 46 ff. kommen nicht vor.
Den Vorzug verdient 2. Sam. 9 ff. In den Hergang der Begeben-
heiten, die natürlichen Anlässe und menschlichen Motive der
Handlungen gewinnen wir da vielfach einen recht tiefen Einblick,
wenngleich der Standpunkt ein beschränkt jerusalemischer ist
und beispielsweise die eigentlichen Gründe des Aufstandes der
Judäer unter Absalom kaum berührt werden. Die Begeisterung
Richter Samuelis und Könige. 275
für David hat wohl auch hier die Feder geführt, aber seine
Schwächen werden nicht verschwiegen, die wenig erbaulichen
Verhältnisse seines Hofes getreu berichtet, die Palastintrigue,
durch die Salomo auf den Thron gelangte, mit einer beinah bos-
haft scheinenden Naivetät vorgetragen. Die erste Schrift 1. Sam.
16—2. Sam. 8 erzählt nicht so eingehend, gibt aber den Zu-
sammenhang nicht minder strenge und beruht auf nicht viel
schlechterer Information. Der Parteistandpunkt tritt dadurch
stärker hervor, dass David in biographischer Weise seit seinem
ersten Auftreten zum Helden der Geschichte gemacht wird,
während doch noch König Saul sie eigentlich beherrscht und
bewegt. Aber zur Umdichtung der Thatsachen hat die unver-
meidliche judäische Sympathie schwerlich geführt, überhaupt
nicht anders und nicht stärker eingewirkt, als sonst das lokale
Interesse für den Stammhelden, von dem aus ursprünglich immer
erzählt worden ist. Doch gilt dies Lob von 1. Sam. 16flf. nur,
sofern der ursprüngliche Bestand in Frage kommt. Anders steht
es mit den grade hier sehr zahlreichen Einsätzen, welche dem
älteren Zusammenhange sich anschmiegen oder auch wohl eine
Neubearbeitung an Stelle eines echten Gliedes desselben treten
lassen. Hier hat die Idealisierung des Gründers der judäischen
Dynastie schöpferisch gewirkt, hier finden wir für die Geschichte
der Tradition, in dem rohen Stil wie sie vor der Hand allein
ausführbar ist, reiche Ausbeute. Vor allem den Anfang der
ersten Schrift hat die spätere Sagenbildung überwuchert.
David, als tapferer kluger und redegewandter Mann be-
kannt, empfohlen zugleich durch sein Saitenspiel, kam an des
Königs Hof und ward sein Waffenträger (16, 14 — 23). Im Kampfe
gegen die Philister bewährte er sich so, dass Saul ihn von Stufe
zu Stufe erhob und ihm seine Tochter zum Weibe gab (18, 6-ff.)
Aber das Glück und der Ruhm des Judäers machten Saul eifer-
süchtig und in einem Anfall der Manie, der er auch nach 10, 10
ausgesetzt war, warf er nach David, der durch sein Saitenspiel
den bösen Geist zu verscheuchen suchte, mit der Lanze (19, 8 — 10).
Da jener im Einverständnis mit Jonathan es für geraten hielt zu
entweichen, so bestätigte das des Königs Argwohn, dem zunächst
die Priester von Nob zum Opfer fielen, weil ihr Oberhaupt David
mit Brod versorgt und das Orakel für ihn befragt hatte (21, 2—7.
22, 6 — 23). Den Flüchtigen selber bekam Saul nicht in die Hand,
18*
276 Geschichte der Tradition, Kap. «7.
er scharte sein Geschlecht und andere verzweifelte Gesellen um
sich und ward ihr Anführer in der Wüste Juda (22, 1—5. 23, 1—13.
25, 2 ff.). Um den sich wiederholenden Verfolgungen Sauls zu
entgehen, trat er endlich auf das Gebiet der Philister über und
erhielt von dem Fürsten Achis die judäisehe Stadt Siklag zu
Lehen (27, 1 ff.).
Dies der Anfang der Geschichte Davids nach dem einfachen
Faden der alten Erzählung. Zusatz ist zunächst die Legende
von dem Kampfe des Hirtenknaben gegen Goliath 17, 1—18, 5,
welche gleichmässig nach vorn und hinten anstösst. Denn nach
16, 14 — 23 war David, als er mit Saul in Berührung kam, nicht
ein des Waffenhandwerks unkundiger Fant, sondern, „ein streit-
barer Kriegsheld, verständiger Rede, und von stattlichem An-
sehen", und nach 18, 6 sangen die Weiber bei der siegreichen
Heimkehr des Heeres: Saul hat des Philisters Tausende ge-
schlagen und David seine Myriaden — letzterer war also neben
dem Könige der Führer Israels, ein erprobter und bekannter
Mann. Augenscheinlich muss zwischen 16, 23 und 18, 6 ur-
sprünglich etwas ganz Anderes gestanden haben. Mit der Ge-
schichte von Goliath 17, 1 — 18, 5 fällt nun aber aus ähnlichen
Gründen auch die von der Salbung Davids 16, 1—13, die von
jener abhängig (16, 12. 17, 42) ist; und auf diese Weise entsteht,
da wir Kap. 15 bereits als secundäres Erzeugnis kennen gelernt
haben, der nötige Anschluss von 14, 52 mit 16, 14. In 18, 6ff.,
wo über die Entstehung del* Eifersucht Sauls gehandelt wird,
fehlen mehrere der störendsten Erweiterungen noch der Septua-
ginta, namentlich der erste Speerwurf (18, 9 — 11) und die Ver-
lobung mit Merab (18, 17 — 19). Am buntesten kreuzen sich die
Einschläge in dem Bericht über den Ausbruch der Feindschaft
Sauls und über Davids Flucht, Kap. 19. 20. Das Stück 19, 1-7,
sehr unmotiviertes Machwerk, verrät durch die Bekanntschaft mit
Kap. 17 seinen späteren Ursprung; erst mit 19, 8 beginnt die Fort-
setzung von 18, 29 a (Sept.). Nach Sauls Speerwurf 19, 8—10 ent-
flieht David zum ersten mal, ist aber v. 11 doch noch zu Hause
und entflieht mit Hülfe weiblicher List v. 12 zum zweiten male,
zu Samuel gen Eama, um indessen in Kap. 20 nach wie vor in
Gibea zu erscheinen. Es fällt dem Könige auf, dass er nicht
zur Tafel kommt; Jonathan versichert ihn der Gewogenheit
seines Vaters, an der David allerdings zweifelt ohne jedoch
Richter Samuelis und Könige. 277
vom Gegenteil deutliche Beweise zu haben. Nachdem der tot-
liehe Hass des Königs constatiert, macht David nun endlich Ernst
mit der Flucht; in Kap. 21f. finden wir ihn auf dem Wege über
Nöb nach Juda, doch weicht er 21, 11 noch einmal von frischem
von dem Angesichte Sauls. Es versteht sich von selbst, dass in
der Wirklichkeit und in der ursprünglichen Erzählung die Flucht
nur einmal geschehen und gleich von vornherein nach der Zu-
flucht, d. h. nach Juda, gerichtet gewesen sein muss. Das ge-
nügt, um über 19, 11—24 den Stab *zü brechen; das 20. Kapitel
ist wenigstens in seiner jetzigen Gestalt im Zusammenhang un-
möglich; in Kap. 21 sind v. 8 — 10 und v. 11 — 16 auszuscheiden.
Auch in dem Abschnitte über Davids Freibeuterleben Kap. 23—27
finden sich bedeutende Nachträge; nämlich ausser 27, 7—12 be-
sonders die Begegnungen Davids mit seinen Verfolgern, in zwei
Versionen, von denen die eine 26, 1 — 25 wegen v. 19 vor Kap. 27
eingesetzt ist, die andere 23, 14—24, 23 vor Kap. 25, um eine zu
nahe Collision zu vermeiden. Da beide vielerwärts wörtlich
übereinstimmen, so wird man Recht haben, die kürzere und
motiviertere Fassung Kap. 26 für die Grundlage anzusehen. Dass
aber auch Kap. 26 nicht dem echten Stocke angehört, ergibt schla-
gend die Folge 26, 25. 27, 1. Die Einschiebung der Zusätze ist
übrigens natürlich nicht ohne allerlei Redaktionsänderungen im
älteren Stoffe abgegangen; vgl. z. B. 16, 14.
Obwohl von der selben Wurzel ausgehend, sind diese Wuche-
rungen doch keineswegs gleichartig und gleichstufig. Zum Teil
sind es volkstümliche Sagen und unabsichtliche Dichtungen. So
die Geschichte von der Michal, die es gegen ihren Vater mit
ihrem Manne hält, ihn Abends am Seil durchs Fenster lässt
und die Häscher eine Weile hinhält, indem sie vorgibt, David
sei bettlägerig, und ihnen den Hausgott vorweist, den sie aufs
Lager gepackt und unter die Decke gesteckt hat (19, 11—17).
Von etwas anderer Farbe sind die Begegnungsscenen zwischen
Saul und David; doch thut die Überzeugung, dass letzterer der
König der Zukunft sei, der Anerkennung des ersteren als des
wirklichen Königs und Gesalbten Jahve's keinen Eintrag; auch
erscheint Saul nicht bösartig, sondern verblendet. In der seeun-
dären Version 23, 14 ff. kommt, abgesehen von der ganz post-
humen Einschaltung zwischen 23, 15 und 23, 19, zu den rühren-
den Motiven ein gutmütiger Scherz hinzu, wie nämlich die beiden
278 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
um einen Berg herum Haschen spielen, der davon den Namen
hat. Als religionsgesehichtliches Kennzeichen für das Alter dieser
Erzählungen kommt einerseits die unbefangene Erwähnung des
Gottesbildes im Hause Davids in Betracht, andererseits die Äusse-
rung 26, 19: „wenn Jahve dich gegen mich reizt, so möge er
Opfer riechen, wenn es aber Menschen sind, so seien sie ver-
flucht vor Jahve, dass sie mich jetzt vertrieben haben aus der
Gemeinschaft im Lande Jahve's und mich zwingen, fremden
Göttern zu dienen." Es ist vielleicht nicht zufällig, dass letztere
Äusserung in dem Parallelbericht fehlt, und dafür eine förm-
liche Huldigung hinzugekommen ist, die Saul zum Schlüsse
seinem destinierten Nachfolger darbringt. Was die Erzählung
von Goliath anlangt, so ist sie zwar auch harmlos, aber von
einer viel spezifischeren religiösen Färbung. Bezeichnend in
dieser Hinsicht ist die Rede, mit der David dem Riesen ent-
gegen geht 17, 45ff.: „du kommst zu mir mit Schwert und Speer,
ich komme zu dir im Namen Jahve's der Heerscharen, den du
geschmäht; heute wird er dich in meine Hand tibergeben, dass
alle Welt erfahre dass Israel einen Gott hat und dass diese Ver-
sammlung (hnpn = Israel) wisse, dass nicht durch Schwert und
Speer Jahve hilft, denn sein ist der Streit." Das nähert sich der
geistlichen Sprache der nachdeuteronomischen Zeit. Nach 2. Sam.
21, 19 ist Goliath von Gath, dessen Speerschaft dick war wie ein
Webebaum *), nicht in den Philisterkriegen Sauls, sondern seines
Nachfolgers aufgetreten und nicht von einem Hirtenknaben, son-
dern von einem Krieger aus Bethlehem, namens Elhanan, erlegt
worden.
Das Thema David und Jonathan hat ohne Zweifel geschicht-
lichen Grund, findet sich jetzt aber nur in secundären Ausfüh-
rungen behandelt. Als solche hat man auch die Erzählung über
den Abschied Kap. 20 anzusehen. Jedoch scheint dieselbe auf
eine ältere Grundlage zurückzugehen, welche wohl dem Zu-
sammenhange der ursprünglichen Schrift angehört haben könnte.
Nämlich der Pfeilschuss hat nur dann Bedeutung, wenn eine
Unterredung zwischen den beiden Freunden nicht stattfinden
*) Dieser Ausdruck kommt 1. Sam. 17 wieder vor und beweist die Abhängig-
keit dieser Legende von 2. Sam. 21. 23, einer Zusammenstellung von
Heldenanekdoten aus den Philisterkriegen Davids im echten kurzen volks-
tümlichen Ton. Vgl. zu 1. Chron. 12 oben S. 180,
Richter Samuelis und Könige. 279
kann. Da sie ja aber zusammenkommen und frei heraussagen
was sie auf dem Herzen haben, so ist jenes stumme Zeichen
nicht bloss überflüssig, sondern auch unverständlich und sinnlos.
Wenn aber grade der am meisten charakteristische Zug nicht
in die gegenwärtige Physiognomie der Erzählung passt, so
heisst das mit anderen Worten, dass sie nicht in der wahren
Form erhalten ist. Ursprünglich hat Jonathan lediglich den
Pfeil abgeschossen und seinem Knaben zugerufen, wo er liege;
und David, in der Nähe des Schiessplatzes versteckt, hat aus
dem Zuruf das verabredete Signal entnommen. Mit dem Zuruf,
der Pfeil liege näher nach ihm zu oder weiter von ihm weg,
forderte Jonathan scheinbar den Knaben, in Wahrheit den
Freund auf, entweder zu ihm heranzukommen oder von ihm
weg zu gehen. Zum Zwiegespräch sind die beiden in dem
zweiten Fall, der bekanntlich in Wirklichkeit eintrat, nicht ge-
kommen; der thränenreiche Abschied fällt also fort und mit
ihm auch vorher die im gleichen Stil gehaltenen sentimentalen
Reden, in denen Jonathan seinem Vater thatsächlich Recht
gibt, doch aber auf's entschiedenste Partei nimmt für David,
dessen nicht achtend, dass dieser ihn selber vom Erbe ver-
drängen wird. 1 )
Tendenziös im schlimmen Sinne ist Kap. 18, 6ff., auch abge-
sehen von den Zusätzen des masorethischen Textes. Hier wird
die Feindschaft Sauls gegen David gleich in die ersten Anfänge
ihres Verhältnisses zurückgetragen und die Freundschaft selber
als heimlicher Hass dargestellt. Alle die Ehren, womit der
König seinen Waffenträger überschüttet, werden als Mittel den-
*) Nur in einer Hinsieht legt er seiner Selbstverleugnung Schranken an; er
lässt sich von dem künftigen Könige feierlich verbürgen, dass er seiner
Familie schonen werde. Hier liegt ein Interesse aus der Gegenwart des
Erzählers zu Grunde. Die orientalische Sitte, dass der neue Regent die
vorhergehende Dynastie ausmordet, hat David nicht systematisch befolgt
und insonderheit zu Gunsten eines hinterlassenen Sohnes des Jonathan
eine Ausnahme gemacht. „Mein ganzes Geschlecht — sagt Meribaal II
19, 29 — war meinem Herrn Könige zu Tode verfallen, du aber hast
mich an deinen Tisch gesetzt, was habe ich also für ein Recht, mich
(auch über Ungerechtigkeiten) zu beklagen!" Dieser Sohn Jonathans aber
ist der Ahn einer jerusalemischen Familie geworden, die bis über das
Exil hinaus geblüht hat. — Ältere Züge in 1. Sam. 20 sind die Wichtig-
keit des Neumondes, das Familienopfer zu Bethlehem, vielleicht der Stein
^HN |DX? m it dem es keine ganz legitime Bewandtnis zu haben scheint,
da der Name zweimal so sonderbar corrumpiert ist.
280 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
selben zu beseitigen gedeutet; zu seinem Eidam soll er ihn nur
deshalb gemacht haben, um durch den verlangten Preis für
seine Tochter, die hundert Vorhäute der Philister, ihn tötlicher
Gefahr auszusetzen. Für den Zusammenhang ist 18, 6ff. nicht
zu entbehren, aber zugleich steht fest, dass die giftige Betrach-
tungsweise Zeichen späterer Bearbeitung ist. Denn Saul begeht
hier seine Perfidien im Einverständnis mit seinen Knechten,
denen also dadurch seine Gesinnung gegen David bekannt ge-
worden sein nrasste, aber der alte Erzähler nimmt im Gegenteil
an, dass der Hass plötzlich zu Tage gekommen sei und dass bis
dahin David bei Allen für den beliebtesten der Diener des Königs
gegolten hafee. Vgl. 21, 2. 22, 14f., um von Kap. 20 abzusehen.
Nur dies entspricht auch der Natur Sauls, wie sie sonst überall
geschildert wird.
Auf der tiefsten Stufe der Corruption steht die Überlieferung
charakteristischer Weise in den beiden eingesetzten Erzählungen,
in denen Samuel in das Leben Davids hineinragt. Nach 19,
18 — 24 flieht David zu dem Alten gen Rama in die Propheten-
schule, Saul sendet ihm Häscher nach, aber wie diese in die
Nähe Samuels kommen und ihn einen Haufen ekstatischer En-
thusiasten commandieren sehen, werden sie auch von der Raserei
ergriffen, und den zweiten und dritten Boten, die Saul absendet,
ergeht es nicht besser. Saul muss endlich selber kommen, aber
auch er wird in den Wirbel gezogen, wirft die Kleider von sich
und tanzt vor Samuel und David, die allein nüchtern der bacchan-
tischen Gesellschaft zuschauen, bis er umfällt und nackt wie er
ist einen ganzen Tag und eine ganze Nacht liegen bleibt —
daher das Sprichwort: „ist auch Saul unter den Propheten?"
Aber dass David, wenn er floh, auch gleich im Ernst nach Juda
und nicht erst zum Spass gen Norden nach Rama floh, liegt
ebenso auf der Hand, wie dass es ein starker Misbrauch ist, den
Geist der Prophetie fremden Zwecken dienstbar zu machen und
ihn so bloss zum persönlichen Schutze Davids aufzubieten, der
gar nicht nötig gehabt hätte, in Rama auf Saul zu warten und
ihm dort ein Schnippchen zu schlagen. Unsere Erzählung,
welche dem Verfasser von 15, 35 noch unbekannt ist, geht
zurück auf das angeführte Sprichwort, dieses wird aber anderswo
(10, 12) in einem weit edleren Sinne erklärt, und man kann sich
des Verdachtes, hier mit einer frommen Karikatur zu thun zu
Richter Samuelis und Könige. 281
haben, um so weniger erwehren, da ja die Pointe jedenfalls die
ist, dass Samuel und David sieh an der Schande des nackten
Königs weiden. Für die allgemeine Geschichte der Tradition
ist der Umstand am interessantesten, dass Samuel hier zum
Haupt einer Prophetenschule geworden ist, deren Übungen er
leitet. Nach der ursprünglichen Vorstellung (Kap. 9. 10) tritt
er einzeln für sich auf und hat mit den Banden* der Ekstatiker,
der Nebiim nichts zu thun. Er ist Eoe, Seher, kein Nabi,
Prophet. Zwar wird in der Glosse 9, 9 behauptet, beides laufe
auf eins heraus, was gegenwärtig Nabi heisse, sei ehedem Roe
genannt. Aber das ist nicht ganz richtig. Der Verfasser von
Kap. 9. 10 kennt auch den .Namen Nabi sehr wohl, aber er
gebraucht denselben nie für Samuel, sondern nur pluralisch für
die Haufen jahvetrunkener Derwische; in einer ganz anderen
Bedeutung wie Rbe und auch in ganz anderer Bedeutung als
wie Jesaia und Jeremia den Titel Nabi führen. 1 ) Man kann
nicht daran zweifeln, dass diese Unterschiede historisch be-
gründet und erst hinterher allmählich zusammengeflossen sind,
dass also Samuel als Seher nicht zu einem der Flagellanten
zu erniedrigen ist.
Da Davids Flucht zu Samuel eine frühere Beziehung zu
ihm voraussetzt, so scheint 19, 18 ff. auf 16. 1 — 13 zurückzu-
sehen. In diesem Stück fängt David seine Laufbahn gleich
damit an, dass er als Hirtenknabe, der in der Familie noch gar
nicht mitgerechnet wird, von Jahve's wegen an Sauls statt zum
Könige gesalbt wird. Aber nachher ist davon keinem etwas
bekannt, selbst in der Erzählung von Goliath, die sonst noch
am ehesten mit 16, 1—13 auf gemeinsamem Boden steht, wissen
die älteren Brüder — hier drei, nicht sieben — nichts von der
Salbung des Jüngsten, obwohl sie dabei gewesen und selbst in
Frage gekommen sein sollen (17, 28). Ebenso ist in den Ver-
folgungsgeschichten Kap. 24. 26 nur Saul die geheiligte Persön-
lichkeit, der Gesalbte Jahve's, nicht David; der Glaube, dass
letzterer von Jahve zu hohen Dingen ersehen sei, ist etwas
anderes als die Thatsache seiner bereits vollzogenen Salbung.
Wenn endlich die Folge bedingt ist von der Ursache, so zieht
sich Samuel nach 15, 35 nicht bloss bis an seinen Tod von
*) Diese müssten allerdings nach dem Sprachgebrauche von 1. Sani. 9 f. eher
Eoe heissen, un<| darin liegt die Berechtigung der Glosse 9,9,
282 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Saul zurück, sondern er trägt auch Leid um ihn bis an seinen
Tod. Es ist ein harter Übergang, wenn es 15, 35 heisst:
„Samuel sah Saul nie wieder bis an seinen Tod, weil er über
ihn trauerte 44 , und dann 16, 1 fortgefahren wird: „und Jahve
sprach ^u ihm: wie lange willst du über Saul trauern, da ich
ihn doch verworfen habe 44 . Deutlich aber erhellt, dass die Ein-
setzung des Nachfolgers eine ergänzende Consequenz der Ab-
setzung des Vorgängers ist.
Zugleich ist die Salbung Davids durch Samuel das Gegen-
stück zur Salbung Sauls durch Samuel, wie das besonders der
Vergleich von 10, 6. 11, 6 „und der Geist Gottes sprang auf
Saul 44 und 16,13. 14 a „und Jahve's Geist sprang auf David und
von Saul wich er 44 lehrt. Dort nun ist die Theopneustie ein
momentanes Überschäumen, hier (trotz des Springens) eine
ruhende Eigenschaft; schon allein dieser Unterschied lässt keinen
Zweifel darüber, wo das Original und wo die Imitation zu suchen
ist. Auf eine göttliche, d. h. überraschende und ideale Weise
ist nach der alten Tradition bloss Saul König geworden, David
auf einem recht langsamen menschlichen Wege und durch viele
Zwischenstufen. Bloss von Saul erzählte man ursprünglich, dass
der plötzliche Ausbruch des Geistes, wodurch er, unberufen wie
er war, den Heerbann Israels aufbot, sich an die Spitze stellte,
die Ammoniter scfilug und König wurde, im Stillen vorbereitet
sei durch einen alten Seher, der seine grosse Bestimmung deutete
und ihm Zuversicht zu sich selber einflösste, indem er ihn
heimlich im Namen Jahve's salbte. Von David wusste man
nur, wie er sich durch eigene Kraft vom Kriegsmann zum Ban-
denführer, vom Bandenführer zum philisthäischen Lehnsfürsten
von Siklag und Juda, vom Lehnsfürsten zum unabhängigen und
mächtigen Könige Israels aufgeschwungen habe: gesalbt ward
auch er, aber nicht zum voraus von Gott, sondern hinterdrein
von den Ältesten von Juda und Israel. Diesen seinen mensch-
lichen Ursprung, seinen Abstand grade in Bezug auf göttliche
Weihe von dem Vorgänger, dessen Reich Jahve hinterdrein
faktisch doch nicht bestätigt hatte, konnte eine spätere Zeit
nicht auf ihm sitzen lassen; er musste mindestens eben so gut
wie jener die Salbung von Samuel empfangen haben. Dies ist
denn also durch die Legende 16,1—13 nachgeholt worden.
Ein Schritt weiter auf der abschüssigen Bahn ist es, dass in
Richter Samuelis und Könige. 283
der judaistischen Version 10, 16 ff. von Sauls Salbung stillge-
schwiegen wird.
Wir kommen auf Samuel zurück, von dem das Buch Sa-
muelis den Namen hat und der in der That zwar nicht für die
Geschichte selber, wohl aber für die Geschichte der Tradition
von solcher Bedeutung ist, dass seine Gestalt als Gradmesser
für den Stand derselben benutzt werden kann. Vier Stufen
lassen sich in seiner Auffassung unterscheiden. Ursprünglich
(9, 1 — 10, 16) ist er ein einfacher Seher, jedoch zugleich ein
patriotischer Israelit, dem die Not seines Volkes zu Herzen geht
und der seine Autorität als Seher benutzt, um einem Manne,
den er als geeignet erkennt, in's Ohr und in den Sinn zu setzen,
er sei zum Helfer und Führer Israels bestimmt. Diese Beziehung
zwischen Seher und Krieger ist, wenn überhaupt Samuel irgend
etwas bedeuten soll, notwendig als historisch festzuhalten; ähn-
liche Beispiele hat man in Debora und Barak aus älterer, in
Elisa und Hazael und namentlich in Elisa und Jehu aus späterer
Zeit. Samuels Grösse ist, dass er den erweckt hat, der nach
ihm kommt und grösser ist als er; er verlischt nachdem er das
Licht entzündet, welches nun in hellem Glänze brennt. Sein
meteorisches Auftauchen und Verschwinden hat aber Verwun-
derung erregt und früh zu einer Jugendgeschichte geführt, wo
er schon als Knabe den Zusammenbruch des vorköniglichen
Israels vosausverkündet (1. Sam. 1 — 3). Nachdem er das ge-
than, schlägt jedoch das Dunkel wieder über ihm zusammen;
schon in Kap. 4 ff. verlieren wir ihn völlig aus den Augen und
erst als Greis treffen wir ihn wieder. Auf der anderen Seite
hat der Umstand, dass wir auch nach der Begegnung mit
Saul nichts mehr von dem Seher hören, der Meinung Vorschub
geleistet, dass es sehr bald zu einem Bruch zwischen den beiden
gekommen sei.
Dieser Meinung begegnen wir auf der zweiten Stufe, welche
durch die prophetischen Erzählungen Kap. 15. 28 repräsentiert
wird. Erzeugt ist sie aus dem Widerspruch, dass Jahve den, den
er zum Könige ersehen, doch hinterher in seinem Königtume
nicht bestätigt und seine Dynastie stürzt. Also muss Samuel,
der Saul gesalbt hat, zu seinem Kummer ihn hinterher ver-
werfen. Er erscheint dabei schon nicht mehr als der einfache
Seher, sondern als ein Prophet im Stile Elia's und Efisa's, der
284 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
den Gesalbten Jahve's als seiner Hände Werk betrachtet und
ihm herrische Befehle gibt (15, 1), während er ihn dagegen
nach 10, 7 ausdrücklich seiner eigenen Inspiration überlässt.
Von der zweiten Stufe ist der Schritt zur dritten nicht gross.
Hier überträgt Samuel die Salbung, gleich nachdem er sie Saul
entzogen, auf David und setzt ihn als den nunmehrigen König
von Gottes Gnaden dem verworfenen Vorgänger entgegen. Sein
Ansehen hat sich inzwischen noch gesteigert ; wie er nach Beth-
lehem kommt, zittern ihm die Altesten entgegen (16, lff.); in
19^ 18 ff. hat er zauberische Gewalt über die Menschen. Noch
immer aber gilt er bisher als der intellektuelle Urheber des
Königtums. Erst der letzten exilischen oder nachexilischen
Stufe in der Entwicklung der Tradition ist es vorbehalten, ihn
umgekehrt als denjenigen darzustellen, der dem Verlangen des
Volkes einen König zu haben, so viel an ihm ist, widerstrebt.
Hier ist das vorkönigliche Israel zur Theokratie und Samuel
zum Haupt der Theokratie emporgerückt; daher erklären sich
seine Empfindungen.
Das moderne Urteil wird durch Samuels Fluch zu Gunsten
Sauls und durch Samuels Segen zu Ungunsten Davids einge-
nommen, das Bild des einen hat unter der Verdunkelung nicht
gelitten, wohl aber das Bild des anderen unter der Verklärung *).
Gewisse -in Vorurteil wie in Sachkenntnis gleich unbefangene
Kritiker verehren in Saul den Bekämpfer und verabscheuen in
David die Kreatur der geistlichen Herrschsucht, die sie in Sa-
muel verkörpert sehen. Dem letzteren gibt man dabei eine
Machtstellung dem Königtum gegenüber, die er nicht besessen
haben kann, ohne breiten Grund unter den Füssen und einen
organisierten Einfluss in weiten Kreisen zu haben. Soll er sich
nun etwa auf die Nebiim gestützt haben? Aber diese entstanden
l ) Am übelsten hat übrigens das verherrlichende Streben der Späteren dem
David mitgespielt in dem Testamente 1. Reg. 2, 1 — 12. Schon durch die
Sprache verrät es sich (v. 2—4) als nachdeuteronomischer Einsatz, der
Inhalt ist der nachfolgenden. Erzählung entnommen. Aber in dieser wird
Salomo bei seinem Verfahren gegen Adonia Abiathar Joab und Simei
keineswegs durch jenes Testament geleitet, sondern durch andere Gründe;
und die ausgesprochene Absicht des Erzählers ist die, zu zeigen, wie Sa-
lomo's Thron durch Beseitigung der ihn gefährdenden Elemente befestigt
wurde. Zudem passt die raffinierte Überlegung gar nicht zu dem Ein-
druck, den man sonst aus 1. Reg. 1. 2 von dem altersschwachen Könige
gewinnt.
Richter Samuelis und Könige. 285
damals eben erst aus einer formlosen Begeisterung, die sieh noch
nicht auf sehulmässig abgeschlossene Kreise beschränkte; ausser-
dem stand nach der alten Überlieferung wohl der König, aber
nicht der Seher mit ihnen in näherer Verbindung — der Glaube,
dass letzterer Gründer und Vorstand ihrer Gilde gewesen sei,
gründet sich auf die wertlose anachronistische Anekdote 1. Sam.
19, 18 ff. Oder conspirierte Samuel mit den Priestern zusammen
gegen Saul? Dafür beruft man sich auf 1. Samuel 21. 22, wo
Ahimelech von Nob den flüchtigen David mit Brot versieht und
zur Strafe dafür samt dem ganzen Geschlechte Eli's den Tod
erleidet. Aber erstens stehen diese Priester mit Samuel in
keinem Connex, . zweitens lässt es sich mit nichts wahrschein-
lich machen, dass sie mit David im Einverständnis waren und
von dessen« ehrgeizigen Plänen — angenommen er habe sie
schon damals gehabt — etwas wussten, drittens steht das um-
gekehrt fest, dass sie dem Könige gegenüber gar keine Macht
repräsentierten, vielmehr auf Gnade und Ungnade von ihm ab-
hingen und auf einen leisen Verdacht hin sämtlich hingerichtet
wurden ohne dass Hund und Hahn darnach krähten. Jene frei-
sinnige Auffassung von Samuels Verhältnis zu Saul und David
leidet an dem Fehler, dass sie dem Samuel die Hierokratie
als Basis seines Auftretens gegen das Königtum unterlegt. Wer
aber die Hierokratie in diese Zeiten zurückträgt, der hat zu
einem historischen Verständnis des hebräischen Altertums noch
nicht den Anfang gemacht.
III.
1. Am breitesten macht sich die letzte Bearbeitung im
Buche der Könige. Chronologische und religiöse Elemente ver-
binden sich auch hier zum Aufbau des Fachwerks; wir beginnen
damit, die ersteren auf ihren systematischen Zusammenhang zu
untersuchen.
Vom Auszuge aus Ägypten bis zum Anfange des Tempel-
baues sind 480 Jahre verflossen, von da an bis zur Zerstörung
Jerusalems, nach den Zahlen der Könige von Juda, 430, ein-
schliesslich des Exils wiederum 480 Jahre. In der Chronik fol-
gen sich von Azaria ben Ahimaas, der nach richtiger Lesart
zuerst im salomonischen Tempel amtete, bis auf Josadak, der
# in die Gefangenschaft geführt wurde, 11 Hohepriester, ein :
286 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
schliesslich des Exils also wiederum 12 Generationen zu je
40 Jahren. Die Einzelposten, aus denen sich die Gesamtsumme
zusammensetzt, sind hier krauser, teilweise gewiss aus dem
Grunde weil sich gegebene Daten darunter befinden. Doch tritt
auch hier, in den Regierungsjahren der Könige Juda's die Vierzig
als Grundelement hervor, denn von der Spaltung des Reichs
bis zur Zerstörung Samariens im 6. Hizkiä's haben Rehabeam
Abia 20, Asa41, Josaphat. Joram Ahazia Athalia 40, Joas 40,
Amasia Uzzia 81, Jotham Ahaz Hizkia 38; von der Zerstörung
Samariens bis zum letzten Datum unseres Buches (IL 25, 27)
haben Hizkia Manasse Amon 80, Josia Joahaz Jojakim Jechonia
79V 4 Jahre; dass die Posten 41+81+38 sich durch Zufall zu
40 + 80 + 40 ergänzen, glaube wer mag.
Die israelitische Königsreihe ist in Absicht auf «die Chrono-
logie von der judäischen abhängig. Nach den judäischen Zahlen
sind seit der Spaltung des Reichs bis zur babylonischen Ver-
bannung 393 Jahre verflossen; nimmt man nun mit Ezechiel (4, 4)
an, dass Samarien 150 Jahre früher als Juda untergegangen ist,
so bleiben 243 Jahre für die Dauer des nördlichen Königtumes
— auf 242 beläuft sich in der That die Summe der angegebenen
Posten. Freilich schiessen dann die von der Zerstörung Sama-
riens bis zur Zerstörung Jerusalems angenommenen 150 israeli-
tischen Jahre um 17 über die Summe der parallelen judäischen
hinaus, und um etwa ebenso viel bleiben die israelitischen Jahre
vom 1. Jerobeam bis 9. Hosea hinter dem judäischen vom 1. Re-
habeam bis 6. Hizkia zurück: synchronistische Rücksicht zwischen
den einzelnen Regierungen aus beiden Reihen ist also ursprüng-
lich nicht genommen. Die 242 Jahre des Nordreichs werden,
durch die mit 1. Jehu gemachte Epoche, in 98 + 144 zerlegt;
rundet man sie auf 240, d. h. auf die Hälfte von 480, ab, so
muss man die 98 in 96 verwandeln, d\e dann den gleichzeitigen
96 judäischen Jahren entsprechen, und zwar muss man den Ab-
zug bei der Regierung Baesa's machen. Denn dann entsteht
folgendes Spiel: Jerobeam 22, Nadab 2, Baesa 22, Ela 2, Omri 12,
Ahab 22, Ahazia 2, Joram 12. Das heisst: die acht Könige zu-
sammen haben 96, die ersten vier und die letzten vier je 48 Jahre,
zwei den Durchschnitt von 12 ; bei den übrigen sechs teilen sich
drei Paare von Vater und Sohn so in die ihnen zukommen-
den 2X12 Jahre, dass der Vater 12 + 10, der Sohn 12—10
Richter Samuelis und Könige. 287
bekommt — offenbar weil der Vater für viel wichtiger gilt als
der Sohn. 1 )
De? 1 grosse in dieser Weise abgesteckte und nach Mass und
Zahl künstlich gegliederte Zeitraum wird bei allen bedeutenden
Epochen in predigtartigen Betrachtungen überblickt und gewür-
digt, die im Buche der Könige weit häufiger sind als in den
Büchern der Richter und Samuelis. Es macht keinen Unter-
schied, ob der Schriftsteller dabei selbst das Wort führt oder
einen anderen reden lässt; jenes thut er beim Rückblick auf die
Vergangenheit II 17, dieses bei der Vorausschau auf die Zu-
kunft I. 8. 9. Einige Proben sind unerlässlich , um eine An-
schauung zu geben.
Bei der Hauptepoche, dem Tempelbau, hält König Salomo
eine grosse Weihrede, worin er Jahve bittet das Gebet derer
die ihn an dieser Stätte aufsuchen vom Himmel aus zu er-
hören, und schliesst dieselbe wie folgt. „Wenn sie an dir sün-
digen — denn niemand ist der nicht sündigt — und du auf sie
zürnst und sie in Feindes Land nah oder fern gefangen führen
lässt, wenn sie dann in sich gehen und zu dir beten: wir haben
gefehlt gesündigt sind schuldig, und wenn sie sich von ganzem
l ) Zahlen der Könige Juda's vom 4. Salomo's an: 37 + 17 + 3 + 41 + 25+8
+1+6+40+29+52 + 16+29+55+2+31 + 11 + 11 = 430 Jahre. Dabei
sind Joahaz und Jechonia nicht mitgerechnet, bringt man sie mit 1 Jahre
in Anschlag, so muss man für Salomo 36 ansetzen. Zahlen der Könige
Israels von 1. Jerobeam: 22+2+24+2+12+22+2+12+28+17+16
+ 41 + 1 + 10 + 2 + 20 + 9. Die künstlichen Zahlenverhältnisse, wie sie
oben dargelegt sind, hat Ernst Krey mir mitgeteilt. Darüber dass die
Synchronismen ursprünglich nicht dazu gehören, vgl. Jahrbb. für Deutsche
Theol. 1875 S. 607 ff. Über Ezech. 4 hat zuerst Bernhard Duhm (die
Theol. der Proph. S. 253) das Richtige veröffentlicht. Die Zahl 390, die
der MT in v. 5 für die Dauer der Gefangenschaft der Nordisraeliten an-
gibt, ist unmöglich. Denn Ezechiel kann nicht meinen, dass sie bereits
seit 350 Jahren in der Fremde sich befinden, andererseits aber die Straf-
zeit, die sie noch vor sich haben, nicht höher anschlagen als auf 40 Jahre,
denn so lange dauert das Exil der Judäer nach seiner Rechnung, und die
Restitution erfolgt bei ihm gleichzeitig für Israel und Juda, ja selbst für
Ägypten (29, 11 — 16) — offenbar weil bewirkt durch die gleiche Ursache,
den nach 40 Jahren zu erwartenden Sturz der Chaldäer. Die Zahl 390
ist in v. 5 falsch eingedrungen aus v. 7, wo es sich um etwas ganz an-
deres handelt, nicht um die Jahre des Exils, sondern um die Tage der
letzten Belagerung Jerusalems; auf einer ähnlichen Confusion beruht die
Glosse v. 13. Richtig gibt die Septuaginta für das israelitische Exil die
Jahrsumme 150 resp. 190 an, exclusive resp. inclusive der letzten 40
gemeinschaftlich mit Juda abzubüssende Straf jähre. Bemerkenswert ist,
dass 390 = 240 + 150. Vgl. noch Robertson Smith , im Journal of
Philology, Vol. X p. 209—213.
288 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Herzen und von ganzer Seele zu dir bekehren im Lande ihrer
Feinde wohin sie geschleppt sind, und zu dir beten in der Rich-
tung auf ihr Land zu das du ihren Vätern gegeben liast, auf
die Stadt die du erwählt und das Haus das du deinem Namen
gebaut hast, so höre im Himmel ihr Gebet und Flehen und
nimm dich ihrer Sache an und vergib deinem Volke seine Un-
treue und lass sie Mitleid finden bei ihren Gewalthabern, dass
sie sich ihrer erbarmen. Denn sie sind dein Volk und Erbe,
da du sie aus Ägypten, aus dem Schmelzofen, herausgeführt und
sie dir aus allen Völkern der Erde ausgesondert hast, wie du
durch deinen Knecht Mose geredet." Was Jahve darauf geant-
wortet habe, vernehmen wir in Kap. 9. „Ich habe dein Gebet und
Flehen vor mir gehört, ich habe das Haus geheiligt, meinem
Namen dort eine ewige Statt zu geben, dass mein Auge und
mein Herz allezeit dort seien. Wenn du nun vor mir wandelst
wie dein Vater David aufrichtig und ehrlich, alles zu thun was
ich dir befohlen habe, und meine Gesetze und Eechte hältst, so
will ich den Thron deiner Herrschaft über Israel in Ewigkeit
bestätigen, wie ich zu David gesagt habe: es soll dir nie fehlen
an einem Nachfolger auf dem Throne Israels. Wenn ihr und
eure Söhne aber von mir abweicht und meine Gesetze und
Rechte die ich euch geschrieben nicht haltet, und andere Götter
verehrt, so vertilge ich Israel aus dem Lande das ich ihm ver-
liehen habe, und das Haus welches ich meinem Namen geheiligt
habe schlage ich mir aus dem Gesicht; Israel wird zu Spott und
Schanden unter allen Völkern .und dies Haus zu Trümmern. Und
fragt man dann: warum hat Jahve diesem Lande und diesem
Hause solches angethan? — so wird es heissen: weil sie Jahve
ihren Gott, der ihre Väter aus Ägyptenland geführt, verlassen
und sich an andere Götter gehängt und ihnen gehuldigt und ge-
dient haben."
Das gleichfalls sehr einschneidende Ereignis der Reichsspal-
tung wird durch eine Prophetie Ahia's an den ersten Jerobeam
eingeleitet. „Siehe ich reisse das Reich von Salomo und gebe
dir die zehn Stämme, nur ein Stamm soll ihm bleiben wegen
meines Knechtes David und wegen der Stadt Jerusalem, die
ich erwählt habe; weil er mich verlassen und die Astarte von
Sidon und den Kamos von Moab und den Milkom von Ammon
angebetet hat und nicht gewandelt ist in meinen Wegen, zu
Richter Samuelis und Könige. 289
thun was mir gefällt, meine Rechte und Gebote, wie sein Vater
David. Und wenn du hörst was ich dir befehle und in meinen
Wegen gehst und thust was mir gefällt, meine Rechte und Ge-
bote, wie mein Knecht David that, so will ich mit dir sein und
dir ein festes Haus bauen wie dem David und dir Israel geben.
Und den Samen Davids will ich demütigen wie gesagt, doch
nicht für alle Zeit."
Eine Reihe regelmässig bei den Thronumwälzungen des
Nordreiches eingefügter Prophetien ähnlichen- Stiles übergehe
ich und setze nur noch das Schlusswort her, womit der Sturz
des Zehnstämmereichs (2. Reg. 17) begleitet wird. Derselbe sei
erfolgt, „weil die Kinder Israel an Jahve ihrem Gott, der sie
aus Agyptenland befreit hatte, sündigten und andere Götter
fürchteten und wandelten in den Satzungen der von ihnen ver-
triebenen Völker und in den Neuerungen der Könige Israels;
und weil die Kinder Israel Dinge, die nicht so sind, ihrem Gott
Jahve andichteten und sich Höhen bauten in all ihren Orten
vom Wachtturm an bis zur ummauerten Stadt, und sich Mal-
steine und Holzsäulen aufrichteten auf jedem hohen Hügel und
unter jedem grünen Baume und dort auf allen Höhen opferten,
wie die Völker die Jahve vor ihnen vertrieben hatte, und böse
Dinge verübten um Jahve zu reizen, und den Greueln dienten
die Jahve verboten hatte. Zwar bezeugte Jahve ihnen durch
alle Propheten und Seher: kehrt um von euren bösen Wegen
und haltet meine Gebote und Satzungen nach all der Thora,
die ich euren Vätern befohlen und durch meine Knechte, die
Propheten, entboten habe; aber sie hörten nicht, sondern ver-
härteten ihren Nacken wie ihre Väter, weil sie Jahve ihrem
Gott nicht glaubten, und sie verschmähten seine Satzungen und
seinen Bund den er mit ihren Vätern geschlossen und seine
Zeugnisse die er ihnen eingeschärft, und folgten dem Nichts
und wurden zu nicht und wandelten den Völkern ringsum nach,
denen es gleichzuthun ihnen Jahve verboten hatte. Und sie ver-
liessen alle Gebote ihres Gottes und machten sich Gussbilder
und Holzsäulen und beteten das ganze Himmelsheer an und
dienten dem Baal und Hessen ihre Kinder durch's Feuer gehen
und trieben Zauber und Wahrsagerei und waren versessen zu
thun was böse ist vor Jahve, ihn zu reizen. Und Jahve zürnte
sehr auf Israel und trieb sie fort von sich; nur der Mann von Juda
Wellhausen, Prolegomena. 19
290 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
allein blieb übrig. Aber auch die von Juda hielten die Gebote
ihres Gottes nicht und wandelten in der Weise Israels; so ver-
warf Jahve .das ganze Geschlecht Israel und demütigte sie und
gab sie in die Hand von Räubern, bis er sie fortgeworfen hatte
von seinem Angesicht." Für Juda fehlt eine besondere Schluss-
betrachtung, aber die für Israel gilt auch für Juda mit. Man
erkennt das nicht bloss aus den letzten angeführten Worten,
sondern auch daraus, dass zwei sehr charakteristische Greuel
in dem obigen Verzeichnis, die Anbetung des Himmelsheeres und
das Kinderopfer, nach dem allein massgebenden Zeugnisse der
Propheten noch nicht im achten, sondern erst im siebenten Jahr-
hundert, unter Manasse, eingerissen sind und also nicht Israel
sondern Juda zur Last fallen.
Von solchen Sammelpunkten aus, wo sich, bei den wichtigeren
Epochen, das Wasser gleichsam staut, verzweigt sich das Geäder
nach allen Seiten ! ). Wie sich die Herrscher zum reinen Gottes-
dienst gestellt, ob sie was recht oder was böse ist in den Augen
Jahve's gethan haben, ist die Frage die immer zuerst aufgeworfen
und auch bei solchen die nur acht Tage regiert haben beant-
wortet wird. Gewöhnlich muss constatiert werden, dass sie das
Böse gethan haben; rapsS AaulS xal'ECsxtou xal'Iaxjt'oo toxvtss Tzkri\k-
[AsKsiav iid7jp,[jiX7}<3av, sagt Jesus Sirach (49, 4,) nicht ganz genau
allerdings, aber doch insofern mit Recht als auch an den from-
men Königen immer noch etwas auszusetzen ist. Die Sünde
aber ist hier nicht mehr, wenigstens nicht hauptsächlich, der
Dienst fremder Götter, sondern der verkehrte Dienst Jahve's.
Es wird jetzt ein specieller und darum strengerer Massstab an-
gelegt — den Grund davon kennen wir: seit an dem Orte den
Jahve sich erwählt hat der Tempel erbaut ist, hört die bis-
herige Gemütlichkeit auf (Deut. 12, 8) und vor allem tritt nun
das Verbot der Bamoth in Kraft (1. Reg. 3, 2). Dass dieselben
*) Zusätze wie nirp niHD 1- Reg. 18, 18 (LXX richtig niiT ohne Dl^D)»
?irVO 1DW (LXX richtig TjDtJ? ohne rv*D) und weitläufigere wie
1. Reg. 18, 31. 32a. 2. Sam. 6, 2b (^ NlpJ *"ll^H) bringe ich nicht in
Anrechnung, weil sie ans verschiedenen Zeiten stammen, grösstenteils
jünger sind als die deuteronomische Bearbeitung und weniger derjiterari-
schen als der Textkritik angehören. An sich ist es freilich sehr wichtig,
diese Retouchen aufzudecken und zu beseitigen. Die ganze alte Über-
lieferung ist damit überzogen wie mit einem judaistischen Verdauungs-
schleim.
Richter Samuelis und Könige. 291
trotzdem fortbestanden, ist die ertliche allgemeine und durch-
gehende Sünde der Zeit. Verschlimmert wird sie noch da-
durch, dass mit den Bamoth sich auch allerlei ungesetzlicher
Unfug im Jahvedienste einnistete, Massehen und Ascheren und
immergrüne Bäume und die Hurer und Huren. Speciell für
Israel, welches beständig mit Juda verglichen wird, kommt als
zweite Hauptsünde hinzu die Sünde Jerobeams, d. h. die gol-
denen Kälber zu Bethel und zu Dan. Mit den chronologischen
Daten verbindet sich die religiöse Würdigung zu jenem Schema,
welches gleichmässig jede einzelne Regierung der Könige von
Israel und Juda einfasst, und zwar häufig mit reicherem Inhalt
gefüllt, nicht selten aber auch fast leer ist an historischem Stoff.
Am nacktesten tritt dasselbe hervor in Kapiteln wie I 15. 16.
II 13. 14. 15.
Dass diese Bearbeitung unseres Buchs mit derjenigen der
beiden vorangehenden Geschichtsbücher im Wesentlichen gleich-
artig ist, bedarf keines Nachweises. Nur hat sie hier einen
wärmeren, lebhafteren Ton und ein weit näheres Verhältnis zu
den Sachen. Es hängt damit zusammen, dass sie auch viel deut-
licher dpn Standpunkt erkennen lässt, von dem sie ausgeht.
Schon daraus dass der historische Stoff sich bis zur Zerstörung
Jerusalems, ja bis zum Tode des gefangenen Königs Jechonia
ausdehnt, ergibt sich, dass mit der Abfassungszeit bis in's
babylonische Exil, bis in dessen zweite Hälfte hinabgegangen
werden muss; die Chronologie, sofern sie das Exil selber mit
50 Jahren in die 480jährige Periode einrechnet, führt uns noch
etwas tiefer; doch ist es nicht unmöglich, hier eine nachträgliche
Modificierung anzunehmen, die den Gesammtcharakter nicht weiter
verändert hat. 1 ) Vom Ende aus wird hier auf die Königsperiode
J ) Krey vermutet, dass das letzte erwähnte Datum, die Befreiung Jechonia's
aus dem Kerker im 37. Jahre nach seiner Thronbesteigung, die ursprüng-
lich beabsichtigte untere Grenze der Chronologie gewesen sei, zumal die
40 jährigen Perioden, worin sich wie oben gezeigt die judäischen Posten
einteilen, gerade auf dies Datum auslaufen. Wenn dem so ist, so kann
aber nicht das 4. oder 5. Salomo's als die Anfangsepoche angesehen wer-
den; denn die 37 oder 36 daraus resultierenden Jahre lassen sich, mit
Absicht auf das 37. Jechonia's als Ziel, nicht unterbringen. Jene Epoche
ist nun auch durchaus unnatürlich, Salomo's 40 Jahre dürfen nicht so
zerrissen werden, und wenn man in jener Zeit überhaupt einen Ein-
schnitt dachen will, so muss man es bei der Spaltung des Reiches thun
als dem gegebenen Ausgangspunkt der Reihen von Israel und von Juda.
Beachtenswert ist, dass die 37 Jahre Jechonia's am Schluss der älteren
19*
292 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
zurückgeschallt wie auf einqpabgeschlossene Vergangenheit, über
welche das Urteil gesprochen ist. Schon bei der Einweihung
des Tempels lässt sich der Gedanke an seine Zerstörung nicht
zurückhalten, auch sonst steht überall die Vernichtung der Na-
tion und ihrer beiden Reiche im Hintergrunde. Das gibt dem
Ganzen die Beleuchtung: es wird gezeigt, warum es so kommen
müsste. Wegen der Untreue gegen Jahve, wegen der grund-
verkehrten Richtung, an der man trotz der Thora Jahve's und
seiner Propheten beharrlich festgehalten habe. Die Darstellung
wird gewissermassen zu einem grossen Sündenbekenntnis der
exilirten Nation über ihre Vergangenheit. Es ist die Art, nicht
bloss das gegenwärtige Geschlecht sondern die gesamte bis-
herige geschichtliche Entwicklung zu verurteilen, die wir zuerst
bei Jeremia (2, 1 ff. 4, 3) antreffen, der sich auch schon die Frage
nach den Gründen des Endes vorzulegen hatte. 1 ) Ezechiel hat
diese negative Betrachtungsweise, mit besonderer Rücksicht auf
die Greuel des älteren Cultus, weiter verfolgt (Kap. 16. 20. 23),
man findet sie gleichfalls in Isa. 40—66 (42, 24. 43, 27), obwohl
ihr hier eine positive und weit gehaltvollere ergänzend zur Seite
tritt, ferner in Deut. 28—30 und Lev. 26. Die ganz§ Vorzeit
gilt als eine ungeheure Schuld, die im Exil abgebüsst wird (Jer.
32, 29. Ezech. 18, 2. 33, 10. Isa. 40, 1); es wird sogar die Dauer
der Strafe nach der Dauer der Sünde berechnet (Lev. 26, 34).
Rechnungsweise, die vielleicht nur 40jährige Generationen, vielleicht
aber auch eine 500jährige Periode von David an (40+40+20+41+40+
40+81 +38+80+79 V4) herauszubringen suchte, den 37 Jahren Salomo's
am Anfang der jetzt durchgeführten entsprechen. — Dass man auch
späterhin an der Chronologie noch allerlei änderte und besserte, ergibt
sich aus den nachgetragenen Synchronismen der Könige Israels und Juda's,
aus den schwankenden und nebeneinander hergehenden Angaben im
Buch der Richter (z. B. Interregna und kleine Richter, die dreifache
Verrechnung der Philisterzeit), ja sogar noch aus den Varianten der
Septuaginta.
*) Der Sturz Samariens hat schon die älteren Propheten in Bezug auf das
Nordreich zu ähnlichen Betrachtungen geführt, die aber doch in der
Regel (Am. 5. Isa. 9) lange nicht so radikal und so weit her^holt sind.
Nur Hosea verfolgt allerdings die Schuld der Gegenwart hinauf bis in
den Anfang — aber er exempMciert (wie Mich. 6) vorzugsweise an der
Urgeschichte Jakobs und Mose's, in der eigentlich geschichtlichen Zeit
/ steckt er doch noch zu sehr darin um sie von so hohem Standpunkte aus
zu überschauen. Auch darin ist er der Vorläufer der Späteren, dass er
das menschliche Königtum für einen Hauptschaden Israels ansieht: er
hatte dazu in den Verhältnissen seiner Gegenwart allerdings sehr drin-
gende Veranlassung.
Richter Samuelis und Könige. 293
Auch nach der Befreiung schleppt sich diese Stimmung gegen-
über dem Altertum noch fort (Zach. 7, 8 ff. Esdr. 9, 7 ff. Neh.
9, 7 ff.).
Die Bearbeitung steht naturgemäss auf judaistischem Stand-
punkte. Ausserhalb Jerusalems ist der Jahvedienst ketzerisch,
so dass der politische Abfall der Nordisraeliten zugleich als
kirchlicher erscheint. Doch werden sie darum nicht wie in der
Chronik von der Gemeinschaft des Volkes Gottes ausgeschlossen,
so völlig sind doch die alten Traditionen noch nicht über Bord
geworfen: erst nach der assyrischen Zerstörung Samariens setzt
Juda allein die Geschichte fort. Nahezu die gleiche Verehrung
wie der Stadt und dem Tempel Jahve's wird dem David und
seinem Hause dargebracht. Das letztere hat die Verheissung
ewigen Bestandes, welche besonders gern mit den Worten Jere-
mia 33, 17 ausgedrückt zu werden pflegt. Es ist ohne Zweifel
kein Zufall, dass mit der Beffeiung des Davididen Jechonia aus
dem Kerker geschlossen wird; sie ist das Angeld des Grösseren,
was zu erwarten steht. Auch in den Worten Ahia's an Jero-
beam , dass die Demütigung des Hauses David und die Ab-
reissung der zehn Stämme doch nicht für alle Zeit dauern solle,
blitzt die messianische Hoffnung auf, die grade in und nach dem
Exil in den Gemütern sehr lebendig gewesen ist, wie wir aus
Haggai und Zacharia ersehen.
Lässt sich bei den Büchern der Richter und Samuelis viel-
leicht nicht mit völliger Bestimmtheit entscheiden, welches die
Norm sei, wonach der letzte Verfasser die Vergangenheit beur-
teilt, so ist beim Buche der Könige kein Zweifel möglich. Hier
wird nicht bloss in unbestimmten Andeutungen von dem Willen
Jahve's geredet, dem Israel gehorchen soll und widerstrebt, son-
dern auch hin und wieder (I 2, 3. II 14, 6. 17, 37) von der ge-
schriebenen Thora, worin seine Rechte und Satzungen enthalten
sind — eine Unterscheidung, worin sich immerhin ein geschicht-
liches Gefühl ausspricht. Das Gesetzbuch aber, das als Massstab
zu Grunde gelegt wird, ist dasjenige, von dessen Auffindung
unter Josia in 2. Reg. 22. 23 so ausführlich erzählt wird, das
Deuteronomium. Darauf führt, wie allseitig anerkannt wird,
sowohl die Phraseologie des Bearbeiters, als der Geist, in dem
er richtet und insbesondere diejenigen Volkssünden verdammt,
gegen welche das Deuteronomium und die Reformation des Kö-
294 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
nigs Josia gerichtet sind. Auch das einzige wörtliche Citat aus
dem Buche der Thora, welches vorkommt, ist eben dem Deu-
teronomium entnommen, 2. Reg. 14, 6. Deüt. 24, 16. Dahingegen
finden sich von der Unbekanntschaft mit dem Priestercodex sehr
deutliche Anzeichen in der Bearbeitung. Nirgend wird zwischen
Leviten und Priestern ein Unterschied gemacht; von den Aha-
roniden ist keine Rede. Desgleichen wird durch 1. Reg. 3, 2
die Vorstellung eines vorsalomonischen Centralheiligtums ausge-
schlossen. Nur in einem Abschnitt, der im hohen Grade aller-
hand Correkturen und Interpolationen ausgesetzt gewesen ist,
in der Beschreibung des Tempels und der Tempelweihe 16—8,
finden sich Spuren der Einwirkung auch des Priestercodex, na-
mentlich im masorethischen Texte, weniger in der Septuaginta.
Was es damit für eine Bewandtnis hat, ist an dem wichtigsten
Beispiel bereits oben S. 45. 46 dargelegt worden.
Wenn man darnach in vollem Masse berechtigt ist, die Be-
arbeitung deuteronopaistisch zu nennen, so darf man damit doch
keinen anderen Sinn verbinden als den, dass dieselbe unter dem
Einfluss des Deuteronomiums entstanden ist, unter dem das ganze
Jahrhundert des Exils steht. Zwischen deuteronomistisch und
deuteronomisch ist ein nicht bloss zeitlicher sondern auch inhalt-
licher Unterschied 1 ); das Deuteronomium selber sieht im Cultus
noch nicht so die Hauptaufgabe Israels und steht noch weit mehr
innerhalb des Realismus eines wirklichen Volkslebens. Eine be-
sonders greifbare einzelne Differenz liegt in der Datierungsweise.
Statt mit ihren althebräischen Namen Ziv Bul Ethanim bezeichnet
der letzte Verfasser die Monate mit Zahlen, die vom Frühling
als Jahresanfang ausgehen. Dadurch unterscheidet er sich nicht
nur von seinen älteren Quellen (16, 37 f. 8,2), sondern auch
vom Deuteronomium.
2. Es versteht sich, dass diese Bearbeitung dem über-
lieferten Stoffe fremd ist und ihm Gewalt anthut. Insbesondere
ist derselbe durch eine sehr einseitige Auswahl alteriert worden,
welche von spezifisch religiösen Gesichtspunkten ausgeht. Das
Interesse für die Propheten mischt sich darin mit dem Interesse
für den Cultus. Es ist freilich nicht gesagt, dass diese Auswahl
erst vom letzten Verfasser herrühre, so gut sie auch zu seinem
*) Nachdeuteronomiseh, aber noch aus der Königszeit sind 1. Sam. 2, 27 ff.
2. Sam. 7, lff. 2. Reg. 18, 13. 17ff. 19, lff. Kapp. 11. 12. 22. 23,
Richter Samuelis und Könige. 295
Geschmaeke passt: es war ihm wahrscheinlich in dieser Rich-
tung schon vorgearbeitet. Aber für uns ist es weder möglich
noch wichtig, in dem Sichtungsprocess, den die Überlieferung
über die Königszeit durchzumachen gehabt hat , verschiedene
Phasen zu unterscheiden.
An der Spitze des ganzen Buches steht der Tempelbau, fast
alles was von Salomo erzählt wird steht dazu in Beziehung.
Damit ist zugleich der Gesichtspunkt angegeben, der auch die
übrige judäische Geschichte beherrscht; sie ist mehr eine Ge-
schichte des Tempels als des Reiches. Die Geschicke des Heilig-
tums und seiner Schätze, die den Cultus betreffenden Einrich-
tungen und Massregeln der Könige sind so ziemlich das Einzige,
worüber wir immer auf dem Laufenden gehalten werden. Auch
die wenigen ausgeführten Erzählungen (II 11 f. 16. 22 f.) spielen
im Tempel und drehen sich um den Tempel; nur in II 18 f. wiegt
das prophetische Interesse vor.
m In Bezug auf das Reich Israel sind die Angaben über den
Cultus sehr mager und meist ziemlich vage; hier treten die pro-
phetischen Erzählungen in den Vordergrund, in der Regel solche
die vom prophetischen Standpunkte aus erzählt sind, oder doch
solche in denen die Propheten handelnd auftreten. Hie und da
wird auch über Berührungen des Nordreiches mit Juda näher
berichtet: darin äussert sich das judäische Interesse der Aus-
wahl. Das einfach Geschichtliche, das bloss Weltgeschichtliche
so zu sagen, wird im allerdürftigsten Masse mitgeteilt, häufig
nur die Aufeinanderfolge der Königsnameni Über König Omri,
den Gründer der Stadt Samarien und Neubegründer des Reichs,
der auch Juda in eine Art freundschaftlicher Abhängigkeit ge-
bracht zu haben scheint, erfahren wir fast nichts, über Jero-
beam II, den letzten grossen Herrscher, nicht mehr; in ein paar
nichtssagenden Versen wird der Zusammenstoss mit den Assyrern
und der Fall Samariens abgemacht. Zuweilen unterbricht ein
blitzendes Juwel (II 9. 10) die umgebende Nacht, aber hinterher
tappen wir wieder im Dunkeln. Die alte Überlieferung ist uns
nur, soweit sie den Späteren von religiösem Werte schien, auf-
bewahrt worden, sie hat ihren angeborenen Schwerpunkt ver-
loren und nunmehr eine Haltung angenommen, die sie ursprüng-
lich gewiss nicht hatte. In Juda mag in der That der Tempel
grössere Bedeutung gehabt haben als das Reich, aber die Ge-
296 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
schichte Israels ist ohne Zweifel nicht bloss und nicht vorzugs-
weise Geschichte der Prophetie gewesen. Von den Verlusten,
die wir zu beklagen haben, muss am stärksten die israelitische
Überlieferung betroffen sein.
Nicht so unersetzlich ist der Schaden, den die Bearbeitung
durch, ihr positives Eingreifen in den quellenmässigen Stoff ge-
stiftet hat; dochr ist er auch nicht unerheblich. Am besten lässt
sich die Verfärbung charakterisieren an den weittragenden Be-
merkungen, womit die Königsreihe von Israel eröffnet wird.
„Jerobeam sprach in seinem Herzen: nun wird das Beich wieder
an David fallen; wenn dies Volk hinaufzieht Opfer zu bringen
im Hause Jahve's zu Jerusalem, so werden die Leute sich im
Herzen zu ihrem rechten Herrn zurückwenden und mich töten
und wieder dem Behabeam von Juda unterthan werden. Da
beriet sich der König und machte zwei goldene Kälber und
sprach zu ihnen: hört nun auf nach Jerusalem zu ziehen; siehe
da deine Götter, Israel, die dich aus Ägyptenland geführt habeji.
Und er stellte eins in Bethel und das andere in Dan auf. Und
dies geriet zur Sünde und das Volk ging wie ein Mann sogar
bis Dan. Und er machte Höhentempel und nahm Priester mitten
aus dem Volk, die nicht aus den Söhnen Levi's waren: wen er
wollte, den stellte er an zum Höhenpriester 44 (1 12, 26—30. 13, 33).
Nicht ganz so verkehrt wie in der Chronik, aber doch auch
anachronistisch genug ist hier zunächst die Anschauungsweise,
die in den Erwägungen Jerobeams durchschimmert, als sei das
ephraimitische Königtum sich seines illegitimen Ursprungs be-
wusst und nur künstlich in seiner Sonderexistenz zu erhalten
gewesen. Wie man in Wahrheit in dieser Hinsicht in Nord- *
israel gedacht hat, bezeugt der Segen Jakobs und der Segen
Mosis. Dort heisst Jogeph der Gekrönte seiner Brüder, hier
wird von ihm gesagt: „sein erstgeborner Stier voll Majestät
(= der König) hat Btiffelhörner, mit denen er die Völker nieder-
stösst, das sind die Myriaden Ephraims und die Tausende Ma-
nasse's". Woher auch sonst der Zauber des Namens Ephraim
als weil er der Königsstamm (Gen. 37, 8. 9) und der vornehmste
Bepräsentant des stolzen Namens Israel ist! Von Juda aber
heisst es ebendaselbst: „Höre Jahve die Stimme Juda's und
bringe ihn zurück zu seinem Volke 44 . Über das Volk, zu dem
Juda gehört, kann man nicht im Zweifel sein; man wird Graf
Richter Samuelis und Könige. 297
darin Recht geben müssen, dass dieser Stamm hier als das ent-
fremdete Glied angesehen und seine Wiedervereinigung mit dem
grösseren Reiche sogar als sein eigener Wunsch betrachtet wird
— was nicht so sonderbar ist, wenn man bedenkt, dass der
Teil zum Ganzen und nicht das Ganze zum Teile strebt. Erst
durch lange Erfahrung lernte Juda den Segen einer festen
Dynastie und Ephraim den Fluch der ewigen Thronwechsel
kennen.
Da die Anziehungskraft Juda's für die Bewohner des Nord-
reichs in dem Cultus des salomonischen Tempels gesehen wird,
so soll Jerobeam ihr vorgebeugt haben, indem er neue Heilig-
tümer, eine neue Form Jahve zu verehren, und eine neue Art
des Priestertums geschaffen habe. Das wodurch sich der alte
samarische Gottesdienst von dem judäischen Muster unterschied,
wird für absichtliche Neuerung des ersten Königs ausgegeben,
an dessen Sünde dann die Folgezeit festgehalten habe. Aber
indem Jerobeam Bethel und Dan zu Reichstempeln erhob —
dass er die Höhenhäuser überhaupt eingerichtet habe, verdient
keine Berücksichtigung — , that er weiter nichts als was Salomo
vor ihm gethan hatte. Nur hatte er dabei festeren Boden unter
den Füssen als jener, denn, Bethel und Dan waren alte Heilig-
tümer, Jerusalem nicht. Die goldenen Stierbilder ferner, die er
aufstellte, unterschieden sich wohl durch ihr Gold aber nicht
durch ihren Zweck von den Ephoden und anderweitigen Idolen,
die tiberall in den Gotteshäusern wohnten, z. B. von der ehernen
Schlange zu Jerusalem *). Mit Fug und Recht hat schon Eich-
horn erinnert, dass wenn Elias und Elisa gegen den einge-
drungenen Dienst des tyrischen Baal eiferten, sie positiv für den
Jahve von Bethel und Dan eintraten und nicht daran dachten
gegen dessen bildliche Darstellung zu protestieren : jyoch^ Arnos
tfes^^JLJ^ßbtj erst Hosea. Was endlich die nichtlevitischeji
Priester betrifft, die der König angestellt haben soll, so ist dar-
über schon oben (S. 138 ff.) das Nötige gesagt.
*) „Wenrigleich Jerobeam sich in Ägypten aufgehalten hatte, so darf man
ebensowenig von ihm sagen, dass er den Tierdienst von dorther mitge-
bracht, als man Aharons goldenes Kalb für Nachbildung des Apis aus-
geben darf. Denn das Eigentümliche des ägyptischen Tierdienstes über-
haupt und Stierdienstes im Besonderen bestand ja darin , dass man
lebendige Tiere für heilig hielt." Vatke S. 398. Ägyptische Götter
können nicht gegen Ägypten helfen Exod. 32, 4. 1. Reg. 12, 28,
298 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Eine merkwürdige Kritik dieses Urteils über den samari-
schen Gottesdienst wird durch das bald darauf folgende Zuge-
ständnis geliefert, dass der judäische damals auch nicht anders,
jedenfalls nicht besser gewesen sei. In dem Berichte über Re-
habeams Regierung heisst es (114, 22 f.): „auch die Judäer er-
richteten sich Höhen und Malsteine auf jedem hohen Hügel und
unter jedem grünen Baume, und auch Hurerei an geweihter
Stätte ward getrieben im Lande u — damit wird ein Zustand
beschrieben, der mit einigen Schwankungen bis gegen das Exil
hin fortdauerte. -Wenn nun die Norm, nach der Samarien ge-
richtet wird, auch nicht in Juda Realität besessen hat, so ist
sie überhaupt im alten Israel nicht zu finden gewesen. Wir
wissen, es ist das Gesetzbuch Josia's; wir sehen aber, wie die
Thatsachen darnach nicht bloss beurteilt, sondern auch ge-
modelt werden.
Noch ein einzelnes Beispiel ist in dieser Hinsicht erwähnens-
wert. König Salomo, heisst es, hatte ausser der Tochter Pharao's
noch viele ausländische Weiber, aus Moab Ammon und anderen
Völkern, deren Töchter zu ehelichen Jahve verboten hatte (Deut.
17, 17). Und da er alt ward, verführten sie ihn zum Dienst
ihrer Götter, und er baute auf dem Ölberge bei Jerusalem Höhen
für Kamos von Moab und für Milkom von Ammon und für die
Götter der übrigen Weiber. Zur Strafe dafür kündigte ihm Jahve
an, dass sein Reich nach seinem Tode von ihm gerissen und
seinem Knechte verliehen werden solle, und weiter erweckte
er ihm Widersacher in dem Edomiten Hadad, der Edom befreite,
und in dem Syrer Rezon ben Eljada, der Damaskus unabhängig
machte. Zum künftigen Könige der zehn Stämme aber liess er
durch den Propheten Ahia von Silo den Ephraimiten Jerobeam
designieren, der damals die Fronarbeiten des Hauses Josephs bei
der Befestigung der Burg Davids beaufsichtigte. So wird 1. Reg.
11, 1 ff. berichtet. Nun hat sich aber Edom und wie es scheint
auch Damaskus gleich beim Thronwechsel vom Reiche Davids
losgerissen (11, 21 f. 25)-, die Befestigung der Burg, wobei Jero-
beam durch Ahia zum Aufstand angereizt wurde, fällt zwar später,
aber auch noch in die erste Hälfte von Salomo's Regierung, da
sie mit den übrigen Bauten zusammenhängt (9, 15. 24). Da nun
Salomo für eine Schuld, die er erst im Alter auf sich lud, nicht
schon in seiner Jugend zum Voraus gestraft worden sein kann,
Richter Samuelis und Könige. 299
so widerspricht dieser moralische Pragmatismus der Zeitfolge
und kann unmöglich dem ursprünglichen Erzähler zugeschrieben
werden. In der That verrät sich die deuteronomistische Bearbei-
tung in 11, 1 — 13 an jedem Wort. Zur echten Überlieferang gehört
nur die Erwähnung der vielen Weiber, jedoch ohne den daran
geknüpften Tadel, und die Angabe über den Bau der Altäre des
Kamos und Milkom und vielleicht der Astarte auf dem Ölberge,
wo sie bis auf Josia standen (II 23, 13). Die ursächliche Ver-
knüpfung beider Thatsachen aber gehört ebenso dem letzen Ver-
fasser an wie die Verallgemeinerung, dass der König für alle
unter seinen Weibern vertretenen Nationalitäten Altäre ihrer
Götter errichtet habe.
Freilich wird die Überlieferung im Buche der Könige nicht
in der Weise in's Gesetzliche umgedichtet, wie es in der Chronik
geschieht. Was noch am meisten an die Chronik erinnert, ist,
dass von Zeit zu Zeit ein Prophet eingelegt wird, der sich im
Geiste des Deuter onomiums und in der Sprache Jeremies und
Ezechiels äussert und dann verschwindet. 1 ) Dadurch wird das
Gesetz lebendig in die Geschichte eingeführt, die Propheten er-
halten es wirksam und wenden es an, nach dem auf Jerem. 7, 25.
Deut. 18,18 beruhenden Grundsatz II 17, 13: „Jahve bezeugte
ihnen durch alle Propheten und Seher: kehrt um von euren
bösen Wegen und haltet meine Gebote und Satzungen nach all
der Thora , die ich euren Vätern befohlen und durch meine
Knechte, die Propheten, entboten habe". Das krasseste Bei-
spiel dieser Art, an historischem Unwert mit Jud. 19 — 21 oder
1. Sam. 7 ff. zu vergleichen aber noch eine Stufe niedriger stehend,
ist 1. Reg. 13. Ein Mann Gottes aus Juda bedroht hier den
Altar von Bethel, vor dem gerade König Jerobeam opfert, also:
Altar Altar, siehe ein Sohn wird dem Hause Davids geboren,
*) Vgl. Kuenen, de Profeten (Leiden 1875) II S. 143. Eine dieser deutero-
nomistischen Weissagungen ist oben S. 288f. mitgeteilt. Zum Teil sind
"sie anonym z.B. II 10, 30 ff. 21, 10ff., z. T. alten Namen in den Mund
gelegt z.B. I 16. lff. Manchmal hat der Bearbeiter wohl in seinen
Quellen Anfänge vorgefunden, die er dann in seiner Weise ausgeführt
hat; so I 14, 7 ff. 21, 21 ff. II 9, 7 ff. In diesen Stellen treten zwar die
deuteronomistischen Gedanken und die jeremianisch - ezechielischen Wen- -
düngen (HlH &£OD \^n) deutlich hervor, aber einzelne Ausdrücke origi-
nalen Gepräges linden sich eingestreut, die dann freilich immer wieder-
kehren, z. B. 2))V) *l!SJy- ^di Namen wie Jehu ben Hanani sind ge-
wiss nicht fingiert: so weit sind wir noch nicht wie in der Chronik. — •
Vgl. 1. Sam. 2, 27 ff. 2. Sam. 7, lff.
300 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
mit Namen Josia, der wird die Hohenpriester auf dir opfern,
die auf dir räuchern, und wird Mensch engebeine auf dir ver-
brennen. Und zur Gewähr der Richtigkeit dieser^ erst nach
drei Jahrhunderten sich erfüllenden Weissagung gibt er das
Zeichen, dass der Altar zerbersten und die Opferasche sich
verschütten werde — welches denn auch auf der Stelle ein-
trifft. Diese Legende gehört indessen nicht eigentlich dem
Deuteronomisten an, sondern ist ein noch späterer Zusatz, wie
man leicht daraus erkennt, dass der jenem angehörige Satz
12, 31 erst 13, 33 b vollendet wird. Es verdient Beachtung, dass
in den beiden das 13. Kapitel einleitenden Versen 12, 32 f. das
Laubhtittenfest dem Priestercodex gemäss auf den 15. des 7. Monats
fixiert ist.
3. In den verarbeiteten Quellen lassen sich hier ebenfalls
noch bedeutende Abstufungen und Schattierungen wahrnehmen.
Im Buche der Könige begegnen wir zum ersten mal fortlaufenden
kurze» Daten, die durch ihren streng faktischen Inhalt und ihre
knappe Torrn sofort in der Umgebung auffallen und den An-
schein gleichzeitiger Aufzeichnungen erwecken. Trotz ihrer
losen Aufreihung sind sie es eigentlich, worauf unser zusammen-
hängendes Wissen über die Periode beruht; sie sind auch der
regelmässige Inhalt des religiös -chronologischen Schema's (z. B.
I 14—16), wegen ihrer lockeren Fügung und neutralen Haltung
vorzüglich zur Bearbeitung geeignet, die denn auch genugsam
mit ihren Zuthaten eingegriffen hat 1 ). Schon bei Salomo be-
ginnen diese wertvollen Notizen, hier freilich sind sie gegen-
wärtig stark mit anekdotenhafter Spreu untermischt. Hinterher
finden sie sich vorzugsweise, ja fast ausschliesslich in der judäi-
schen Reihe. Mehrere bestimmte Zeitangaben lassen auf anna-
listische Natur schliessen 2 ), man könnte damit auch das charak-
J ) Die oben besprochene Stelle 1. Reg. 11, 1 ff- gibt davon ein gutes Beispiel;
man erkennt sofort den nackten Satz )$) roiP IX aus der übrigen in-
haltlosen Weitschweifigkeit heraus. Sonst vgl. 11 16, 3 f. 18, 4.
2 ) 5. Rehabearas (I 14, 5), 23. Joas (II 12, 7), 14. Hizkia's (II 18, 13), 18. Jo-
sia's (II 22, 3), 4. u. 11. Salomo's (I 6, 37. 38). Allerdings kommen diese
Daten zum Teil in ausgeführten judäischen Erzählungen vor, die aber im
nächsten Verhältnis zu den kurzen Notizen stehen und auf ihnen zu be-
ruhen scheinen. Es lässt sich denken, dass solche bestimmte Zahlen,
einst in noch reicherer Fülle vorhanden, die Anhaltspunkte geliefert
haben für eine ungefähre Schätzung der Summen, aus welchen die syste-
matische Chronologie aufgebaut ist. Jedenfalls stehen diese Einzeldaten
Richter Samuelis und Könige. 301
teristisehe dazumal in Verbindung bringen, welches häufig
die kurzen Sätze einleitet und im jetzigen Zusammenhang meist
beziehungslos ist. In welchen Kreisen diese Aufzeichnungen ge-
macht sind, lässt sich kaum mutmassen. Wenn man sicher
wäre, dass die hervorragende Berücksichtigung des judäischen
Reichstempels nicht bloss auf späterer Auswahl, sondern auf
einem ursprünglichen Interesse beruhte, so läge es nahe an die
jerusalemische Priesterschaft zu denken. Der gut königliche,
vollkommen offizielle Ton würde sich damit sehr gut vertragen,
denn die Söhne Sadoks waren bis auf Josia nichts weiter als
die gehorsamen Diener der Nachkommen Davids und betrach-
teten das unbedingte Verfügungsrecht der letzteren über ihr
Heiligtum als selbstverständlich (II 16, 10 f., Kap. 12. 22 f.). In-
dessen wie wir sie haben sind diese Notizen nicht aus den Akten
selber geschöpft, sondern aus einer sekundären Zusammenstellung,
vielleicht aus den jedesmal am Schluss einer Regierung citirten
beiden Chroniken der Könige von Israel und von Juda, aus
denen jedenfalls die Reihenfolge der Herrscher entnommen zu
sein scheint. Dass diese Chroniken nicht mit den urkundlichen
Annalen gleichgesetzt werden dürfen, leuchtet ein; das Buch
der Dibre-hajamim muss von den Dibre-hajamim selber unter-
schieden werden. Ob die Chronik von Israel — aus welcher
beinah nichts mitgeteilt wird — vier früher abgefasst ist als
die (wie es scheint mit Jojakim abschliessende) Chronik von
Juda, und ob sie und die Chronik Salomo's (I 11,41) ein ganz
selbständiges Werk ist, möchte ich in Zweifel ziehen.
Die Excerpte aus den Annalen werden unterbrochen durch
grössere Ausführungen, die damit zusammengearbeitet und eben-
falls in das deuteronomistische Schema aufgenommen sind.
Unter ihnen sind die judäischen in der Minderzahl, die samari-
schen tiberwiegen, drängen sich indessen auf einen ganz kleinen
Zeitraum zusammen. Als Beispiel, um die Stimmung und den
Wechsel der Stimmung auch hier nachzuweisen, wähle ich die
wundervolle Geschichte Elia's.
Der Prophet Elias, aus Thisbe in Gilead, tritt vor König
selber ausserhalb des Systems. Das Gleiche gilt übrigens von den Alters-
angaben der judäischen Könige beim Regierungsantritt, die vielleicht auch
auf die „Annalen" zurückgehen. Das JK findet sich I 3, 16. 8, 1. 12.
9, 11. 11, 7. 16, 21. 22, 50. II 8, 22. 12, 18. 14, 8. 15, 16. 16, 5.
302 Geschichte Aler Tradition, Kap. 7.
Ahab von Samarien und spricht: beim Leben Jahve's des Gottes
Israels, dem ich diene, es soll diese Jahre nicht tauen noch
regnen ausser auf mein Wort. Der Anfang der Erzählung ist
abgebrochen; wir müssen wissen, dass Ahab auf der Königin
Izebel Betreiben die Verehrung des tyrischen Baals in Israel
verbreitet und die Propheten Jahve's zu Hunderten getötet hat
(18, 13. 22), und dass darum ihn und das Land die Strafe trifft.
Plötzlich wie er aufgetaucht ist Elias verschwunden. Wir finden
ihn wieder am Bache Krith der in den Jordan fliesst, dann im
Lande des Baal zu Sarepta bei einer Witwe: indem sein Lebens-
lauf verfolgt wird, kommt zugleich auf einfache und schöne
Weise die Schwere der Hungersnot zur Empfindung. Inzwischen
hatte Ahab seine Häscher nach ihm ausgesandt und allen Reichen,
wohin die vergebliche Suche ging, einen Eid abgenommen, dass
er nicht zu finden sei. Nun jedoch zwang ihn. die Not an andere
Dinge zu denken, er selbst mit seinem Reichsverweser musste
ausziehen um Futter zu suchen für die noch übrigen Kriegsrosse
(Am. 7, 1). In dieser demütigenden Situation ward er von dem
Geächteten überrascht — er traute seinen Augen nicht. „Bist
du es, Aufrührer Israels!" „Ich rühre Israel nicht auf, sondern
du, König, und deines Vaters Haus!" Nach dieser Begrüssung
forderte Elias den König auf, einen Zweikampf zwischen den
450 Propheten Baals und ihm, dem einzigen noch übrigen Pro-
pheten Jahve's, zu veranstalten. Eine Opferprobe vor allem
Volk fand auf dem Karmel statt; beide Parteien sollten einen
Stier zubereitet auf den Altar legen, ohne das Holz anzustecken :
welcher Gott mit Feuer antworten werde, der sei der rechte.
Die Baalspropheten, die zuerst an die Reihe kamen, suchten auf
ihre Weise ihren Gott zu erweichen. Sie schrien und sprangen
ungeberdig, verwundeten sich mit Schwertern und Lanzen bis
sie mit Blut übergössen waren, rasten ekstatisch vom Morgen
über Mittag bis gegen Abend. Derweil schaute Elias ihnen zu
und spottete: ruft recht laut, denn er ist ein Gott, er ist wohl
im Gespräch oder hat ein Geschäft, oder vielleicht schläft eP,
dass er aufwache! Endlich ging auch er an's Werk, stellte den
zerstörten Altar Jahve's her, schichtete darauf die Opferstücke
und Hess sie um das Wunder zu erhöhen zwei drei mal mit
Wasser übergiessen. Dann betete er zu Jahve — und Feuer
fiel vom Himmel und verzehrte das Opfer. Das Volk, bis dahin
Richter Samuelis und Könige. 303
geteilten Herzens, trat nun auf die Seite des Eiferers, griff die
Propheten Baals und schlachtete sie unten am Bache. Alsbald
tränkte ein überraschender Platzregen das Land.
Dieser Triumph des Elias war nur ein Vorspiel. Wie Izebel
erfuhr was geschehen, schwur sie ihm Rache, und er flüchtete
um sein Leben nach dem judäischen Beerseba, dem Heiligtume
Isaaks. Todmüde setzte er sich dort unter einem Ginsterbusch
in der Wüste nieder, und mit der Bitte: es ist genug, nimm
Jahve meine Seele! schlief er ein. Da ward er von einem
himmlischen Boten mit wunderbarer Speise gestärkt und auf
den Berg Gottes Horeb beschieden. Wie er dort nach langer
Reise angelangt in eine Höhle sich zurückgezogen hat, rauscht
es an ihm vorüber: Sturm und Beben und Blitze sind Jahve's
Vorreiter, darnach kommt er selbst im leisen Säuseln hinter
dem Gewitter. Verhüllten Hauptes tritt Elias aus der Höhle
und hört eine Stimme fragen was ihm sei. Nachdem er sein
Herz ausgeschüttet, wird ihm der göttliche Trost zu teil, dass
seine Sache mit nichten verloren sei, dass die grimmigste Rache,
deren Vollstrecker er selbst zu berufen habe, über alle Verehrer
Baals ergehen solle, und dass diejenigen Siebentausend in Israel
das Feld behaupten werden, die ihre Kniee dein Abgotte nicht
gebeugt. „Du sollst Hazael zum Könige über Damaskus salben
und Jehu ben Nimsi zum Könige über Israel und Elisa ben Sa-
phat zum Propheten an deiner statt, und wer dem Schwerte
Hazaels entrinnt, den wird Jehu, und wer dem Schwerte Jehu's
entrinnt, den wird Elisa töten." Der Berieht, wie Elias diese
Befehle ausgerichtet habe, ist gegenwärtig ausgelassen; wir
werden bald sehen aus welchem Grunde. Nur dass er den Elisa
vom Pfluge weg aufgerufen habe ihm nachzufolgen, wird zum
Schluss von Kap. 19 gemeldet. Auch von der Erfüllung des Ge-
richtes über die Baalsverehrer haben wir, in dieser Erzählungs-
gruppe, nur die Einleitung Kap. 21. Ahab wollte gern einen
Weinberg haben, der in seiner Lieblingsresidenz Jezreel neben
Ufern Palaste gelegen war; aber Naboth, der Besitzer, fand sich
nicht bereit ihn zu verkaufen oder zu vertauschen. Ärgerlich
glaubte der König dabei nichts weiter thun zu können, jedoch
Izebel, die Tyrierin, hatte andere Begriffe von Macht und Recht
und sagte: du willst die Herrschaft spielen in Israel? sei gutes
Muts, ich verschaffe dir den Weinberg! Sie schrieb einen Brief
304 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
an die Häupter der • Stadt und Hess den Naboth durch feile
Richter aus dem Wege schaffen. Wie nun Ahab eben hinging
den verfallenen Weinberg in Besitz zu nehmen, stiess der Feind
auf ihn. Der Prophet Elias, immer im richtigen Moment zur
Stelle, schleuderte ihm das Wort entgegen: „hast du gemordet
und dich auch in Besitz gesetzt? fürwahr an dem Orte, wo die
Hunde Naboths Blut geleckt haben, werden sie auch deines
lecken". Damit bricht dieser Bericht ab-, was folgt, ist nicht
die wahre Fortsetzung.
Zugleich ist hier überhaupt der Faden der Erzählung ron
Kap. 17—19. 21 abgeschnitten, ohne zu dem richtigen Ende ge-
langt zu sein. Es fehlt der Sieg Jahve's über den Baal, des
Propheten über den König; «die Geschichte Naboths wie gesagt
leitet denselben nur ein. Der Sache nach sind wir zwar ge-
nügend darüber unterrichtet, aber der Form nach entsprechen
die Berichte nicht der Ankündigung in Kap. 19 und 21 ; sie sind
anderen Quellen entlehnt. Die Syrerkriege sollen nach 19, 17
zur Rache an den Baalsverehrern, d. h. vor allem an dem götzen-
dienerischen Königshause, bestimmt sein^ aber gar nicht nach
diesem Gesichtspunkte werden sie in Kap. 20. 22. II 7. 9 erzählt.
Vielmehr behaupteten sich darnach Ahab und Joram mannhaft
und ehrenvoll gegen die Übermacht von Damaskus, erst nach
der Ausrottung des Baalsdienstes unter Jehu begann die
unglückliche Wendung; Hazael, der sie herbeiführte, ward nicht
schon von Elias, sondern erst von Elisa gesalbt (118, 7 ff.) 1 ).
Auch das Blutbad zu Jezreel, worauf die Drohung I 21, 19 geht,
muss, um den literarischen Abschluss zur Geschichte Naboths ,zu
bilden, in anderer Weise erzählt sein als es II 9. 10 geschieht.
Nach 21, 19 soll Ahabs Blut zu Jezreel fliessen, nach II 9, 25
floss dort seines Sohnes Blut zur Rache für Naboth. Zwar
wird 21, 27 — 29 die Bemerkung angehängt, da der König auf
Elia's Drohung in sich gegangen sei, so habe Jahve nachträg-
lich dem Propheten mitgeteilt, er werde dieselbe erst nach seinem
Tode an seinem Hause erfüllen — aber wer merkt hier niclfP
die Harmonistik! 2 ) Noch eine Reihe untergeordneter Differenzen
> l ) Ebenso auch Jehu II 9, 1 ff. Dies der Grund der oben bemerkten Aus-
lassung hinter I 19, 18; vgl. Thenius' Commentar.
2 ) Trotz 21, 27—29 ist in 22, 38 ein Versuch gemacht die Erfüllung von
21, 19 an Ahab selber nachzuweisen. Nachdem vorher berichtet, dass
Richter Samuelis und Könige. * 305
kommen hinzu, die beweisen, dass in II 9. 10 nicht auf die Re-
lation über den Mord Naboths zurückgesehen wird, wie sie I 21
lautet. Nach II 9, 25. 26 handelt es sich nicht um den Wein-
berg, sondern um den Acker Naboths, der eine Strecke vor der
Stadt lag; mit ihm wurde auch seine Familie hingerichtet; am
folgenden Tage, als Ahab in Begleitung Jehu's und Ben
Dekers hinausritt um den Acker einzuziehen, traf ihn das (nicht
so speciell auf seine Person gemünzte) Wort des Propheten: „für-
wahr das Blut Naboths und seiner Kinder habe ich gesehen,
gestern Abend, und zahle dir's heim auf diesem Acker! 44
Mit Hülfe dieser anderweitigen Berichte, unter denen sich
namentlich eine grössere gleichartige Gruppe volkstümlicher Er-
zählungen (I 20. 22. II 3. 6, 24—7, 20. 9, 1—10, 27) vorteilhaft
auszeichnet, lässt sich nun an der Geschichte Elia's eine Kritik*
üben, welche das für den Entwicklungsgang der Tradition lehr-
reiche Ergebnis liefert, dass der Einfluss des gewaltigen Pro-
pheten auf seine Gegenwart doch viel zu hoch angeschlagen ist.
Das negative Fundament seiner Bedeutung ist die Verbreitung
des Baalscultus in Israel: diese zunächst ist nicht wenig über-
trieben. Von einer Unterdrückung des nationalen Gottesdienstes
in damaliger Zeit kann keine Rede sein, es ist nichts mit der
Angabe, dass die Propheten Jahve's damals sämtlich ausgerottet
seien und Elias allein übrig geblieben. Die Prophetenvereine
zu Bethel Jericho und Gilgal haben ungestört fortbestanden, in
den Syrerkriegen stehen Jahvepropheten dem Ahab zur Seite,
vor seinem letzten Feldzuge sind ihrer vierhundert in der Haupt-
stadt versammelt, von denen wenigstens der eine dem Könige
längst als Unglücksseher bekannt, aber weder früher erwürgt
war noch jetzt erwürgt wurde, trotzdem er bei seiner misliebigen
Art verharrte. Ahab nannte von den Söhnen, die ihm Izebel
gebar, den einen Ahazjahu Jahve hält und den anderen Jehoram
die Knechte des in seinem Wagen erschossenen Königs seine Leiche von
Ramath Gilead nach Samarien gebracht haben um sie dort beizusetzen,
heisst es 22,38: und sie spalten den Wagen am Teiche von
Samarien und die Hunde leckten sein Blut und die Huren ba-
deten darin, nach dem Worte Jahve' s. Auf diese Weise erklärt
sich's, wie die Hunde zu Samarien das seit der Schlacht natürlich längst
eingetrocknete Blut haben lecken können! Leider ist dabei übersehen,
dass nach dem Worte Jahve' s 21, 19 die Hunde nicht zu Samarien, son-
dern zu Jezreel , dem Orte Naboths , das Blut 'Ahabs lecken sollen. Der
Vers 22, 38 ist eine Interpolation, die jüdischem Scharfsinne Ehre macht.
Well ha usen, Prolegomena. * 20
306 Geschichte der Tradition, Kap. 7.
Jahve ist erhaben: er hielt an Jahve als dem Gotte Israels
fest, trotzdem er seiner Gemahlin zu lieb der tyrischen Gottheit
in Samarien einen Tempel und einen Gottesdienst stiftete. —
Ist dem nun so, so kann auch Elia's Kampf gegen den Baal
damals nicht die Wichtigkeit gehabt haben, die ihm im Lichte
eines späteren Standpunktes beigelegt wurde. Wirklich merkt
man in der oben bezeichneten Gruppe volkstümlicher Erzäh-
lungen nichts von einer religiösen Bewegung, die Israel im
Inneren zerrissen hätte; das Volk wird ganz durch die Syrer-
kriege in Anspruch genommen. Die Augen sind auf die Könige
gerichtet, die ihre Pflicht und Schuldigkeit im Kampfe thuri,
Elias steht im Hintergrunde. Ohne viele Worte verrät sich
mehrfach die Hochachtung, die Ahab bei Freund und Feind ge-
'niesst (20, 31. 22, 32. 34 f.); auch Joram und selbst Izebel werden
durchaus nicht unsympathisch geschildert (II 6, 30. 9, 31). Von
Jehu dagegen, dem von den Propheten angestifteten Mörder
des Hauses Ahab, kann man schwerlich das Gleiche behaupten
(II 9. 10).
Thatsache ist allerdings, dass es dem Baalshass der Pro-
pheten am Ende gelungen ist die Dynastie Omri's zu stürzen.
Aber auf welche Weise! Während König Joram durch eine
Wunde von seinem im Felde stehenden Heere fern gehalten
ward, ging ein Abgesandter Elisa's in's Lager, rief den Feld-
hauptmann von einem Gelage, bei dem er ihn antraf, zu einer
heimlichen Unterredung ab und salbte ihn zum Könige. Als
Jehu zu den trinkenden Kameraden zurückkam, fragten ihn die,
was jener Verrückte gewollt habe, und da er mit ausweichenden
Antworten nicht auskam, sagte er ihnen die Wahrheit. Sofort
erhoben sie ihn auf einen improvisierten Thron und Hessen ihn
als König ausposaunen: die Sache leuchtete ihnen ein, um
, jenen Verrückten 44 scherten sie sich nicht. Mit einer unerhörten
Meisterschaft in Verrat und Blutvergiessen rechtfertigte Jehu
ihr Vertrauen, aber er verliess sich dabei lediglich auf die
Hülfsmittel seines eigenen Mordgenies. Von einer allgemeineren
Bewegung gegen die Dynastie ward er nicht getragen , das
Volk, das er misachtete (10, 9), stand starr und entsetzt vor
den Schlag auf Schlag sich folgenden Greueln; noch nach hun-
dert Jahren war der Schauder über die Blutthat von Jezreel
lebendig (Hos. 1, 4). Nachdem nun die Krone gewonnen war,
Richter Samuelis und Könige. 307
erwies- der verwegene Spieler den Fanatikern seinen Dank und
schickte den Priestern Jahve's, die er zusammen mit dem
ganzen königlichen Anhange hingeschlachtet hatte (10, 11), die
Priester und Verehrer Baals nach. Aus der Weise, wie er sie
in die Falle lockte (10, 18 ff.), geht hervor, dass niemand bisher
daran gedacht hatte in ihm den Vorkämpfer Jahve's zu er-
blicken; offenbar war auch jetzt der Eifer nur ostensibel (10, 15 ff.),
er kämpfte nicht für eine Idee. Also, das sieht man, der Baal
ist es nicht gewesen, der das Haus Ahab zu Fall gebracht
hat, sondern gemeiner Verrat; die Eiferer haben ein recht un-
heiliges Werkzeug zu ihren Zwecken aufgeboten, von dem sie
dann selbst als heiliges Mittel zu seinen Zwecken benutzt
wurden; das Volk zum Sturm gegen den Baal mit fortzureissen
ist ihnen mit nichten gelungen. Grössere Entrüstung scheint
die Hinrichtung Naboths hervorgerufen zu haben, ein mora-
lischer, kein religiöser Frevel. In der Geschichte Elia's selber
wird zugestanden, dass sein Kampf gegen den Baal trotz des
Opfersieges auf dem Karmel resultatlos verlaufen und dass erst
mit jenem Justizmorde eine andere Wendung eingetreten sei.
Aber nach II 9, 25 ist derselbe doch nicht etwa durch eine all-
gemeine Erregung, die er hervorrief, so verhängnisvoll ge-
worden, sondern vielmehr durch den zufälligen Umstand, dass
Jehu Zeuge des unvergesslichen Auftritts zwischen Ahab und
Elias war und darum den Propheten zum Vollstrecker der Drohung
geeignet schien.
Gewiss ist es richtig, dass diese grandiose Gestalt des Elias
nicht hätte gezeichnet werden können ohne aus einem ent-
sprechenden Eindrucke der Wirklichkeit concipiert zu sein. 1 ) Aber
sie ist zu sehr aus dem historischen Ensemble herausgerissen
und dadurch in's Kolossale vergrössert. Überhaupt sind in dieser
Gattung von Erzählungen die Propheten zu stark in den Vorder-
grund gerückt, als wären sie schon in ihrer Gegenwart die Haupt-
] ) Auch ist der zeitliche Abstand des Erzählers von den Sachen nicht allzu-
gross. Er ist Nordisraelit, wie sich aus rnifP^. *)t£'N 19, 3 ergibt und
aus 19,8 vgl. mit Deut. 1, 2: ein Judäer konnte sich in der Entfernung
nicht so leicht und nicht so stark vergreifen wenn man freilich auch be-
denken muss, dass der Horeb für diesen Erzähler schwerlich da lag, wo
wir seine Lage anzunehmen seit Alters gewohnt sind. Ein Zeichen des
Alters ist ferner die Unbefangenheit, womit Elias in Israel Baal bekämpft
und doch im sidonischen Lande aufs freundschaftlichste mit den Baals-
verehrern verkehrt (Luk. 4, 25 f.).
20*
308 • Geschichte der Tradition, Kap. 7.
macht der israelitischen Geschichte gewesen, als hätte das was
sie bewegte auch ihre Zeit beherrscht und ausgefüllt. Das war
nicht der Fall, für die Zeitgenossen traten sie vor den Königen
völlig in den Schatten, erst den Späteren wurden sie die Haupt-
personen. Ihre ideale Bedeutung, wodurch sie mehr auf die Zu-
kunft als auf die Gegenwart eingewirkt haben, ist ins Reale
übersetzt worden. In der Zeit Ahabs und Jehu's genossen die
Nebiim, die sich damals sehr weit ausgebreitet und in eigenen
Orden organisiert hatten, keiner grossen Achtung; durchschnittlich
waren es armselige Gesellen, die dem Könige aus der Hand
assen und in leitenden Kreisen wegwerfend behandelt wurden;
Arnos von Thekoa, der allerdings einer jüngeren Generation an-
gehörte, fühlte sich beleidigt mit ihnen zusammengestellt zu wer-
den. Elias und Elisa ragten nun zwar über ihren Stand hervor;
aber der erstere, dessen Hände rein geblieben sind, hat wohl
gelegentlich durch sein kühnes Wort imponiert, thatsächlich aber
nichts gegen den König ausgerichtet und auch das Volk keines-
wegs auf seine Seite gezogen; Elisa dagegen hat wohl etwas
ausgerichtet, jedoch mit lichtscheuen Mitteln, die eher die Schwäche
als die Macht des Prophetentums in Israel bezeugen.
4. Fassen wir zum Schluss zusammen, was wir auf un-
serer eklektischen Wanderung durch die historischen Bücher
gelernt haben. Was der gewöhnlichen Vorstellung als der spe-
zifische Charakter der israelitischen Geschichte erscheint und der-
selben vorzugsweise den Namen der heiligen Geschichte einge-
tragen hat, beruht zumeist auf nachträglicher Übermalung des
ursprünglichen Bildes. Schon früh beginnen die verfärbenden
Einflüsse. Dazu rechne ich nicht das Eindringen sagenhafter
Elemente, die schon in den ersten Anfängen zu denen wir die
Tradition zurückverfolgen können nicht fehlen, auch nicht den
unvermeidlichen Lokalton der mit Tendenz nichts gemein hat.
Ich denke nur an das gleichförmige Gepräge, welches eine prin-
cipielle Betrachtungsweise der Geschichte der Überlieferung auf-
drückt. Da lässt sich nun zuvörderst ein religiöser Einfluss
wahrnehmen, der sich in den Büchern Samuelis und der Könige
näher als prophetischer herausstellt. Die Meinung scheint mir
irrig, dass die Propheten dem hebräischen Volk seine Historie
überhaupt gegeben haben. Das Lied Jud. 5, allerdings vielleicht
das älteste geschichtliche Denkmal im Alten Testament, lässt sich
Richter Samuelis und Könige. * 309
nicht dafür anführen ; denn selbst wenn es wirklieh von Debora
gedichtet wäre, so steht doch die Seherin in keinem Zusammen-
hange mit den Propheten. Am wenigsten werden die Collegien
der B'ne Nebiim zu Gilgal und an anderen Orten als Pflanz-
schulen der Tradition zu betrachten sein; die Produkte, die aus
diesen Kreisen stammen, verraten einen ziemlich beschränkten
Gesichtskreis (2. Reg. 2, 1-25. 4, 1—6, 23). Die Propheten
haben die Überlieferung nicht zuerst geformt, sondern sind mit
ihrer eigentümlichen Beleuchtung hinterdrein gekommen. Ihr
Interesse für den geschichtlichen Stoff war nicht so gross dass
sie sich gedrungen fühlten ihn aufzuzeichnen; sie hauchten ihm
nur nachträglich ihren Geist ein.
Aber systematisch überprägt ist die Überlieferung erst, seit-
dem man einen festeren Stempel hatte als die freien Ideen der
Propheten, seitdem der Wille Gottes schriftlich formuliert war.
Da ward man allgemein des Widerstreits inne, welcher zwischen
dem idealen Anfang, den man jetzt herzustellen strebte wie er
im Buche stand, und der nachfolgenden Entwicklung klaffte.
Die alten Volksbücher, die harmlos an den verwerflichsten
Sitten und Einrichtungen vorübergingen, bedurften einer gründ-
lichen Aptierung nach der mosaischen Form, um sie für die Heue
Zeit verwertbar, verdaulich und erbaulich zu machen. Nicht
erst durch die Chronik, im Anfange der griechischen Herrschaft,
wurden sie demgemäss zusammenhängend überarbeitet, sondern,
wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, schon im babylonischen
Exil. Aber in einer etwas anderen Weise. In der Chronik wird
die Vergangenheit auf Grund des Gesetzes umgedichtet; jeweilige
Übertretungen kommen vor, aber als Ausnahmen von der Regel.
In den Büchern der Richter Samuelis und der Könige wird
die Thatsache des radikalen Abstandes der alten Praxis vom
Gesetz im ganzen nicht in Abrede gestellt. In einzelnen Fällen
zwar wird die Vergangenheit auch hier auf Grund des Ideals
umgedichtet, in der Regel aber doch nur verurteilt. Das ist der
eine Unterschied; ein anderer kommt hinzu, der ungleich wich-
tiger ist. In der Chronik ist es der Pentateuch, d. h. vor Allem
der Priestercodex, nach dessen Muster die Geschichte des
alten Israels dargestellt wird. In der Quelle der Chronik, in
'den älteren historischen Büchern, geht die Bearbeitung nicht
vom Priestercodex aus, der ihr vielmehr vollkommen unbekannt >
310 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
ist, sondern vom Deute ronomi um. Die Geschichte der Tra-
dition führt also, was die Reihenfolge der beiden grossen Ge-
setzeskörper betrifft, zu dem gleichen Ergebnis wie die Geschichte
des Cultus.
Achtes Kapitel.
Die Erzählung des Hexateuchs.
In den geschichtlichen Büchern ist die Form , in der die
Tradition weiter gebildet worden ist, die Ergänzung und Über-
arbeitung; doppelte Relationen kommen zwar hier und da vor,
aber nicht grosse parallele Zusammenhänge neben einander. Im
Hexateuch haben zwar auch Ergänzungen und Nachtragungen im
umfangreichsten Masse stattgefunden, aber vorzugsweise bedeu-
tend ist hier, dass fortlaufende Erzählungsfäden, die für sich selbst
verstanden werden können und müssen, zu einer doppelten und
dreifachen Schnur zusammengeflochten sind. Man ist nun wenn
auch nicht grundsätzlich so doch thatsächlich geneigt, die for-
melle Selbständigkeit dieser s. g. Quellenschriften des Hexateuchs
so zu deuten, als seien dieselben auch materiell unabhängig und
beziehungslos gegen einander. Dies ist nun von vornherein sehr
unwahrscheinlich. Wenn selbst bei den Propheten, die doch ihr
Wort von dem Herrn empfangen hatten, der Nachfolger den
Vorgänger kennt und auf ihm fusst, wie viel mehr muss dies
bei Erzählern der Fall sein, die es ausdrücklich mit der Über-
lieferung zu thun haben. Mit der mechanischen Zerlegung hat
die Kritik ihr Werk nicht gethan, sie muss darauf hinaus, die
ermittelten Einzelschriften in gegenseitige Beziehung zu setzen, sie
als Phasen eines lebendigen Processes begreiflich und auf diese
Weise eine stufenmässige Entwickelung der Tradition verfolgbar
zu machen.
Um so dringender liegt diese Aufgabe vor, je auffallender
.die Einzelschriften nicht bloss im Stoffe, sondern auch in der
Die Erzählung des Hexateuchs. 311
Anordnung der Erzählungen übereinstimmen. Keine Ursage hat
bekanntlich einen so geschlossenen Zusammenhang wie die
biblische, so dass es in der That kein Wunder ist, dass sie der
Eahmen für viele anderen wurde und sie verfärbte. Dieser Zu-
sammenhang aber ist in allen Hauptztigen den Quellen gemein-
sam. Der Priestercodex läuft in seinem historischen Faden dem
jehovistischen Geschichtsbuche durchaus parallel. Nur dadurch
ist es möglich gewesen, diese beiden Schriften so ineinander zu
schieben, wie sie uns gegenwärtig im Pentateuche vorliegen.
Dass es dabei nicht ohne alle Eingriffe abgegangen ist, ist we-
niger zu verwundern, als dass sich dieselben in so engen Grenzen
halten und insbesondere die Anlage der beiden Schriften fast
ganz unangetastet lassen. Das begreift sich nur aus der weit-
gehenden Uebereinstimmung derselben in diesem Punkte. Wo
es sich nun nicht um Geschichte, sondern um Sagen über die
Vorgeschichte handelt, da kann die Anordnung des Stoffes nicht*
mit dem Stoffe selber gegeben sein, sondern muss auf dem Plane
eines Darstellers beruhen; haftet ja doch selbst die Architek-
tonik der Geschlechterfolge, welche das Gerüst der Genesis
bildet, nicht etwa an den verwendeten Elementen. Aus dem
Volksmunde stammen bloss die losen und nur ganz ungefähr auf
einander bezogenen Erzählungen; ihre Verbindung zu einer festen
Einheit ist das Werk dichterischer oder schriftstellerischer For-
mung. Die Übereinstimmung der Quellen im Plane der Erzäh-
lung ist also nicht selbstverständlich, sondern höchst auffallend
und nur aus literarischer Abhängigkeit zu erklären. Die Frage,
wie das Abhängigkeitsverhältnis zu bestimmen ist, drängt sich
darum weit stärker auf, als wie man gemeiniglich annimmt. 1 )
x ) Die Übereinstimmung erstreckt sich auch weiter in's Einzelne, bis auf
die Ausdrücke. Von mabbul (Sündflut) und theba (Arche) sehe ich
ab, aber folgende Beispiele haben mich frappiert. In Q Gen. 6, 9 heisst
Noah gerecht in seinen Geschlechtern, in JE 7, 1 gerecht in
seinem Geschlechte — keine gewöhnliche Redeweise, die den Rabbi-
nern und Hieronymus viel Kopfzerbrechens verursacht. Ebenso Q Gen.
17, 21: der Sohn den dir Sara gebiert um diese Frist im künf-
tigen Jahr und JE 18,14: zur selben Frist will ich nächstes
Jahr wieder zu dir kommen und dann hat Sara einen Sohn.
Desgleichen Q Exod. 6, 12. 7. 1: (Mose) ich bin unbeschnittener
Lippen, (Jahve) siehe ich mache dich zum Gott für Pharao
und dein Bruder Aharon soll dein Prophet sein verglichen mit
JE 4, 10. 16: (Mose) ich bin schweren Mundes und schwerer
Zunge, (Jahve) Aharon soll dir als Mund dienen und du sollst
ihm für Gott sein. Vgl. Gen. 27, 46 mit 25, 22.
312 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Es ist indessen hier nicht der Ort, eine Geschichte der Eitt-
wiekelung der israelitischen Sage zu versuchen. Es soll viel-
mehr nur der Grund dazu gelegt werden durch eine Vergleichung
der Erzählung des Priestercodex mit der jehovistischen, wobei
sich herausstellen wird, dass Buttmann (Mythologus I S. 122 ff.)
gegen de Wette (Beiträge II) Recht hat mit der Behauptung,
dass die jehovistische Gestalt der Sage die ursprünglichere
sei. *)
I.
1. Mit dem Berichte des Priestercodex über die Welt-
schöpfung beginnt die Bibel. Im Anfang ist das Chaos; Dunkel,
Wasner, brütender Geist, der lebenzeugend die tote Masse be-
fruchtet. Der Urstoff enthält unterschiedslos alle Einzelwesen
in sich, aus ihm geht stufenweise die geordnete Welt hervor,
und zwar durch Entmischung, durch Ausscheidung zunächst der
grossen Elemente. Das chaotische Urdunkel weicht dem Gegen-
satze von Licht und Finsternis, das Urwasser wird durch das
Himmelsgewölbe geteilt in das himmlische, woraus die unseren
Blicken entzogene Welt jenseit des Firmaments concresciert, und
in das irdische; dies letztere endlich wird aus schlammiger
Mischung zu Meer und Land geschieden, worauf alsbald das
Land sein grünes Kleid anzieht. Die so entstandenen Elemente,
Licht Himmel Wasser Land, werden darauf, etwa in der Ordnung
wie sie geschaffen sind, mit Einzelwesen belebt; dem Licht ent-
sprechen die Leuchten der Gestirne, dem Wasser die Fische, dem
Himmel die Vögel des Himmels, dem Lande die übrigen Tiere.
Der letzte Schöpfungsakt wird bedeutungsvoll hervorgehoben.
„Und Gott sprach: lasset uns Menschen machen nach unserem
Ebenbild, dass sie herrschen über die Fische des Meeres und
die Vogel des Himmels und über das Vieh und alles Getier der
Erde und alles Gekreuch, das auf Erden kriecht. Da schuf
Gott den Menschen nach seinem Bilde, nach Gottes Bilde schuf
er ihn, und er schuf sie männlich und weiblich. Und Gott seg-
nete sie und sprach: seid fruchtbar und mehret euch und füllet
die Erde und machet sie euch unterthan, und herrschet über die
Fische des Meeres und die Vögel des Himmels und alles Getier
*) Auf Buttnianns Spur ist erst Th. Nö'ldeke wieder zurückgekommen in
seiner Abhandlung über die Grundschrift des Pentateuchs, worin er für
die richtige Würdigung ihres erzählenden- Teiles Bahn gebrochen hat.
Die Erzählung des Hexateuchs. 313
das auf Erden wimmelt. Und Gott sprach: siehe ich gebe euch
alle samentragenden Gräser auf der ganzen Erde und alle Bäume
mit Samenfrtiehten , dass sie euch zur Nahrung dienen; allen
Tieren der Erde aber und allen Vögeln des Himmels und allem
Gekreuch auf Erden, worin eine lebendige Seele ist, gebe ich
das grüne Kraut zur Nahrung." So ward Himmel und Erde ge-
schaffen und all ihr Heer, und Gott vollendete sein Werk am
siebenten Tage und segnete den siebenten Tag und heiligte ihn
(Gen. 1, 1-2, 4 a ).
Es geht die Eede, diese Erzählung verfolge nur fromme
Zwecke. Gewiss verleugnet sich der Israelit darin nicht; der
religiöse Geist womit sie durchdrungen ist tritt sogar gelegent-
lich in Widerspruch zu der Natur ihres Stoffs. Das Chaos ist
seinem Begriffe nach die unerschaflfene Materie, es ist ein merk-
würdiger Gedanke, dass es hier im Anfang von Gott geschaffen
wird. Vom Geist bebrütet ist es ferner angelegt auf Entwicke-
lung aus sich heraus, und darin dass die Schöpfung überall als
Scheidung des im Chaos schon gemischt Vorhandenen dargestellt
wird, verrät sich noch jetzt die ursprüngliche Anlage; doch in
der hebräischen Erzählung ist der immanente Geist dem trans-
cendenten Gott gewichen und das Evolutionsprincip zurückge-
drängt durch das befehlende Schöpferwort. Dennoch ist das
Interesse des Erzählers nicht hauptsächlich ein religiöses. Hätte
er bloss sagen wollen, Gott habe die Welt aus Nichts geschaffen
und er habe sie gut geschaffen, so hätte er das einfacher aus-
drücken können und zugleich deutlicher. Er will ohne Zweifel
den thatsächlichen Hergang der Entstehung der Welt naturgetreu
schildern, er will eine kosmogonische Theorie geben. Wer das
leugnet, verwechselt den Wert der Geschichte für uns und die
Absicht des Schriftstellers. Während unsere religiösen Vor-
stellungen den seinigen conform sind oder conform zu sein
scheinen, haben wir über das Werden der Welt andere Begriffe,
weil wir über die Welt selber andere Begriffe haben, im Himmel
kein Gewölbe, in den Sternen keine Leuchten und in der Erde
nicht das Fundament des Alls erblicken. Aber das darf uns
nicht abhalten, das theoretische Streben des Verfassers von
Gen. 1 anzuerkennen. Er sucht die Dinge so wie sie jetzt sind
aus einander abzuleiten; er fragt sich, wie sie wohl allmählich
aus dem Urstoff hervorgegangen sein mögen, und hat dabei
314 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
überall nicht eine mythische Welt, sondern die gegenwärtige
gewöhnliche vor Augen.
Die blasse Farbe, welche ähnlichen Erzeugnissen der ältesten
nicht mythischen Naturerklärung eigen zu sein pflegt, ist auch
für Gen. 1 charakteristisch. Zwar ist man gewohnt, dies erste
Blatt der Bibel in all dem Zauber zu sehen, den die Vereini-
gung hohen Altertums gediegenen Inhalts und kindlicher Form
zu geben vermag. Es wäre vergeblich, die erhabene Ruhe und
die einförmige Grösse zu leugnen, die der Erzählung ihren Typus
gibt. Unvergleichlich vor allem ist der Anfang: „die Welt w,ar
ein wüster Wirrwarr und Finsternis lag auf der Flut und der
Geist Gottes brütete auf dem Wasser, da sprach Gott: werde
Licht! und es ward Licht 44 . Nimmt man aber das Chaos als
gegeben, so ist von hier aus das Ganze entsponnen; alles Fol-
gende ist Reflexion, systematische Construction, der man mit
leichter Mühe nachrechnen kann. Es sind sehr einfache Erwä-
gungen, welche dazu führen, erst das Grosse und dann das
Kleine, erst das Fundament und dann das darauf Befindliche
entstehen zu lassen, das Wasser vor den Fischen, den Himmel
vor den Vögeln des Himmels, das Land und die Pflanzen vor
den Tieren. Die Anordnung der zu erklärenden Dinge gilt hier
für die Erklärung selbst, über eine vom Einfachen zum Ent-
wickelten fortschreitende Reihenfolge kommt es nicht hinaus,
kein Versuch der Phantasie, den Hergang näher zu beschreiben,
tiberall bedächtige Überlegung, die sich scheut über das Allge-
meinste hinauszugehen. Es wird eigentlich bloss das Fachwerk
der Schöpfung gegeben, das aber unausgefüllt bleibt. Daher
auch die Form des Ganzen, die durch ein Referat nicht wieder-
zugeben ist; das Schema überwuchert den Inhalt, statt anschau-
licher Schilderungen bekommen wir logische Definitionen zu
hören. Es ist die stufenmässige Ordnung in der Ausscheidung der
Einzeldinge aus dem Chaos, womit hier das Erwachen einer „natür-
lichen 44 Betrachtung der Natur und eines verständigen Nachden-
kens über sie sich ankündigt, ebenso wie in den Versuchen des
Thaies und seiner Nachfolger, die auch als Anfänge der Theorie
und eines objectiven Interesses für die Dinge der Aussen weit
merkwürdig sind, sonst aber nicht eben Begeisterung erregen. J )
l ) „Es ist eigentlich gar nichts da das den Namen der Erfindung verdiente
# als die Zeitfolge der einzelnen Schöpfungen." Buttmann a. 0, S. 133.
Die Erzählung des Hexateuchs. * 315
Den ersten Satz des jehovistisehen Berichtes über den An-
fang der Weltgeschichte hat der Redaktor abgeschnitten. [Es
war Alles trockene Wüste], als Jahve die Erde bildete, es gab
noch kein Gewächs auf dem Felde und nirgends spross das
Grün, denn Jahve hatte noch nicht regnen lassen auf diB Erde
und kein Mensch war da den Acker zu bauen. Ein Nebel (?)
aber entstieg dem Boden, der tränkte die Fläche des Ackers.
Und Jahve bildete den Menschen aus Staube vom Acker und
hauchte ihm Lebensodem in die Nase. Dann pflanzte er einen
Garten im Lande Eden fern im Osten, an der Stelle, wo die
vier Hauptflüsse der Erde aus gemeinsamem Ursprünge sich
teilen; da wachsen unter anderen schönen Bäumen der Baum
des Lebens und der Erkenntnis. In diesen Garten setzte Jahve
den Menschen, ihn zu bauen und zu pflegen und zu essen von
allen Bäumen: nur die Frucht des Baumes der Erkenntnis ver-
bot er ihm. Mutterseelenallein aber ist der Mensch in seinem
Garten, er muss Gesellschaft haben die für ihn passt. Also
bildet Jahve jetzt erst die Tiere, ob der Mensch vielleicht mit
ihnen verkehren und sich befreunden könne. Er führt sie ihm
nach einander vor, zu sehen, welchen Eindruck sie machen, wie
der Mensch sie nennen würde. Er nennt sie beim rechten Na-
men, Ochs Esel Bär, gibt also der Empfindung Ausdruck, dass
er nichts Verwandtes finde, und Jahve muss anderen Rat schaffen.
Da bildet er das Weib aus der Rippe des schlafenden Mannes
und lässt ihn erwachen. Der vergeblichen Experimente mit den
Tieren wie überdrüssig ruft der Mensch nun entzückt beim An-
blick des Weibes aus: das ist doch einmal Fleisch von meinem
Fleisch und Bein von meinem Bein, die kann man Männin
heissen. — Damit ist der Schauplatz gemalt, die auftretenden
Personen eingeführt, eine Handlung insgeheim vorbereitet: nun
spielt sich die Tragödie ab, die mit der Vertreibung des Men-
schen aus dem Garten endigt. Von der Schlange verführt streckt
der Mensch die Hand aus nach dem verbotenen Gute um zu
werden wie Gott, und isst vom Baume der Erkenntnis. Der
Anfang der Bekleidung, die erste Stufe der Civilisation, ist die
nächste Folge davon; traurigere schliessen sich alsbald an. Am
Abend hören der Mensch und sein Weib Jahve im Garten sich
ergehen, sie verstecken sich vor ihm und verraten sich eben da-
durch. An Leugnung der That ist nicht mehr zu denken, und
316 Geschichte der Tradition, Eap. 8.
indem jeder die Schuld auf den anderen wälzt, geben sieh die
Beteiligten nach einander selber an. Der Riehterspruch be-
schliesst die Untersuchung. Die Schlange soll auf dem Bauche
kriechen, Staub fressen, und im ungleichen Kampfe mit dem
Menschen zu Grunde gehen. Das Weib soll mit Schmerzen viele
Kinder gebären und nach dem Manne sich sehnen, der doch ihr
Tyrann sein wird. Der Hauptfluch trifft den Menschen d. h. den
Mann. „Verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Qual sollst
du dieh davon nähren dein Lebetag. Dorn und Distel wird er
dir tragen und sollst das Gras des Feldes essen, bis du zum
Acker zurückkehrst, davon du hergenommen bist; denn Staub
bist du und Staub wirst du wieder. 44 Nachdem so das Urteil
gesprochen, bereitet Jahve die Menschen für ihre künftigen Le-
bensverhältnisse dadurch vor, dass er ihnen Röcke aus Fellen
macht .und anzieht. „Siehe — wendet er sich dann ah seine
himmlische Umgebung — , siehe der Mensch ist geworden wie
unser ein zu erkennen Gut und Böse: nun dass er seine Hand
nicht ausstrecke und nehme auch vom Baume des Lebens und
esse und lebe ewiglich. 44 Mit diesen Worten vertreibt er den
Menschen aus dem Paradiese und lagert davor die Cherube und
das flammende Wandelschwert, zu bewahren den Weg zum Baum
des Lebens (Gen. 2, 4 b — 3, 24).
Die schwermütigste Betrachtung des Lebens, wie es gegen-
wärtig ist, liegt dieser Erzählung zu Grunde. Eitel Not und Ar-
beit, ein Frondienst sind des Menschen Tage, aussichtsloser Fron-
dienst, denn der Lohn ist, dass man wieder zur Erde wird, davon
man hergenommen. An ein Leben nach dem Tode kein Gedanke;
als eine verscherzte Möglichkeit gilt das Leben ohne Tod —
jetzt wehrt der Cherub den Zugang zum Baume des Lebens,
von dem der Mensch im Paradies hätte essen können aber nicht
gegessen hat. Dies gegenwärtige öde Erdenlos ist das eigent-
liche Problem der Erzählung. Es wird empfunden als klaffen-
der Widerspruch gegen unsere wahre Bestimmung, es kann nicht
das Ursprüngliche sein. Es ist vielmehr Verkehrung des Ur-
sprünglichen, die Strafe einer uralten Schuld lastet darin auf uns
allen. Zuerst führte der Mensch im vertrauten Umgange mit Jahve
ein glückliches und menschenwürdiges Dasein im Paradiese:
das verbotene Streben nach der Erkenntnis von Gut und Böse
bat ihn daraus vertrieben und all das Elend über ihn gebracht.
Die Erzählung des Hexateuchs. 317
Was ist die Erkenntnis von Gut und Böse? Die Ausleger
sagen, es sei das Vermögen der sittlichen Unterscheidung, also
das Gewissen. Demgemäss nehmen sie an, der Mensch im Para-
diese sei moralisch indifferent gewesen, in einem Zustande, der
ein bewusstes Handeln ausschloss und weder gut noch böse zu
nennen war. Da nun ein solcher Zustand kein Ideal ist, so
finden die einen, durch den Sündenfall sei mehr gewonnen als
verloren, und die anderen gestehen, es könne nicht die göttliche
Absicht gewesen sein, den Menschen immfcr auf dieser Stufe kind-
licher Unzurechnungsfähigkeit zurückzuhalten, und auch der Er-
zähler könne das nicht meinen.
Aber es ist deutlich, der Erzähler redet nicht von relativem
sondern von absolutem Verbot der Erkenntnis; er meint sie stehe
nur Gott zu, und wenn der Mensch die Hand darnach ausstrecke,
so überschreite er seine Schranken und wolle werden wie Gott.
Auf der anderen Seite kann er allerdings nicht meinen, das Ge-
wissen sei ein sehr zweifelhaftes Gut, dessen Besitz zu beklagen,
sei etwas, was Gott dem Menschen eigentlich versagt und nur
sich selber vorbehalten habe. Die Erkenntnis kann nicht die
sittliche sein. Was soll es heissen, dass Gott allein den Unter-
schied zwischen Gut und Böse kennen und den Menschen dies
Wissen versagen will? Dürfte man doch meinen, das Gewissen
sei eher etwas spezifisch Menschliches. Was soll es ferner
heissen, dass Adam und Eva so neugierig sind zu erfahren was
Sünde und Tugend sei? Darauf ist niemand neugierig und nie
entsteht die Sünde auf dem Wege des ethischen Experiments,
dadurch, dass man gerne wissen möchte was sie eigentlich sei.
Offenbar wird #och auch vorausgesetzt, dass die Menschen im
Paradiese wussten, dass der Gehorsam gegen Jahve gut, der
Ungehorsam böse sei. Es widerspricht endlich der gemeinsamen
Tradition aller Völker, sich den ersten Menschen als eine Art
Tier vorzustellen; nur hinsichtlich der äusseren Cultur wird er
unentwickelt gedacht. Vielmehr die Erkenntnis, die hier ver-
boten ist, ist die eigentliche, die allgemeine Erkenntnis, das
Klug werden wie es hinterdrein genannt wird. Das ist's, was
nach des Verfassers Meinung über die Schranken unserer Natur
hinausgeht: das Geheimnis der Dinge ] das Geheimnis der Welt
zu ergründen, Gott gleichsam in die Karten zu gucken, wie er
es bei seinem lebendigen Wirken anfängt, um es etwa ihm ab-
318 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
zusehen und nachzumachen. Denn Wissen ist der alten Welt
zugleich auch Können, keine blosse Metaphysik. Dieses Er-
kennen im höchsten Sinne steht nur Gott zu, der im schöpfe-
rischen Mittelpunkt der Dinge stehend das Ganze durchdringt
und überschaut, und ist dem Menschen, der sich am Einzelnen
abquält, verschlossen. Und dennoch hat das verbotene Gut den
grössten Reiz für ihn, er brennt darauf es zu erlangen, und statt
in Vertrauen und Ehrfurcht zu resignieren, versucht er das ihm
neidisch vorenthaltene *Kleinod zu rauben und dadurch Gott
gleich zu werden — sich zum Schaden.
Diese Erklärung ist nicht neu, es ist die alte und populäre,
darum auch von Goethe im Faust befolgte. Ein Einwand freilich
erhebt sich dagegen: es steht doch da nicht bloss die Erkenntnis,
sondern die Erkenntnis von Gut und Böse? Aber im Hebräischen
bedeutet Gut und Böse zunächst immer nur heilsam und schädlich;
auf Tugend und Sünde werden die Ausdrücke nur übertragen, so-
fern deren Wirkung frommt oder schadet. Mit Gut und Böse, wie
es in Gen. 2. 3 gemeint ist, ist keine Entgegensetzung der Hand-
lungen nach ihren sittlichen Unterschieden beabsichtigt, sondern
eine Zusammenfassung der Dinge nach ihren zwei polaren Eigen-
schaften, wonach sie den Menschen interessieren, ihm nützen
oder schaden: denn, wie gesagt, nicht was die Dinge metaphy-
sisch sind, sondern wozu sie gut sind, will er wissen. l ) Neben
dem ausführlichen Ausdruck kommt übrigens auch der einfache
vor, Erkenntnis schlechthin (3, 6), und zu beachten ist noch das,
dass es nicht heisst: erkennen das Gute und das Böse, sondern:
erkennen Gutes und Böses.
Wir müssen nun aber weiter diese Erkenntnis nicht indivi-
duell, sondern geschichtlich auffassen; es ist das gemeint, was
wir Kultur zu nennen pflegen. Wie das Menschengeschlecht in
der Kultur vorwärts schreitet , schreitet es in der Gottesfurcht
rückwärts. Die erste Stufe der Civilisation ist die Bekleidung;
hier ist sie die nächste Folge des Sündenfalls. Unsere Erzählung
setzt sich fort in Kap. 4: Adams Söhne fangen an Städte zu
gründen, Jubal ist der erste Musiker, Kain erfindet die älteste
und die wichtigste Kunst x das Schmieden — das Schwert ent-
steht dadurch und die blutige Rache. Weiter schliesst sich in
J ) Sur/20, 91. Hudh. 228, 10 (cod. Lugd. fol. 160r). Hamasa 292, 8. 9.
Tabari I 847, 18.
Die Erzählung des Hexateuchs. 319
der gleichen Richtung die Geschichte von der Stadt und dem
Turme zu Babel an, worin die Gründung der grossen Weltreiche
und Weltstädte vorgeführt wird, die die Menschenkraft zusammen-
fassen und damit bis zum Himmel vordringen wollen. In dem
allen entwickelt sich die Emancipation des Menschen weiter, mit
der steigenden Civilisation steigt die Entfremdung von dem höch-
sten Gute; und — das ist offenbar die stillschweigende Mei-
nung — zum Ziel gelangt der unruhige Fortschritt doch nicht,
es ist eine Sisyphusarbeit, der ewig unvollendete babylonische
Turm ist das richtige Symbol dafür. Es ist das sehnsüchtige
Lied, das durch alle Völker geht. Zu geschichtlicher Kultur
gelangt empfinden sie den Wert der Güter, die sie dagegen auf-
geopfert. 1 )
Es war nötig so ausführlich den Begriff der Erkenntnis zu
erörtern, weil das Misverständnis def Philosophen und Theo-
logen einen Schein des Modernen über unsere Geschichte ge-
worfen hat, welcher auf das Urteil über ihr relatives Alter nicht
ohne Einfluss gewesen ist. Nachdem zunächst dieser Schein be-
seitigt ist, wenden wir uns denjenigen Zügen von Gen. 2. 3 zu,
welche positiv bei der Bestimmung des Verhältnisses zu Gen. 1
in die Wagschale fallen.
Was man von Gen. 1 mit Unrecht behauptet hat, das
ist wahr von Gen. 2. 3; die jehovistische Erzählung glänzt in
der That durch das Abwesen jegliches rationellen Erklärungs-
strebens, durch die Verachtung jeglicher kosmologischen Spe-
kulation. Die Erde wird zu Anfang nicht feucht und bildsam,
sondern (wie lob. 38, 8) hart und trocken gedacht; es muss erst
regnen, damit die Wüste in eine grüne Wiese verwandelt wird,
wie noch jetzt alle Jahr durch die Frühlingsschauer; der Acker be-
darf obendrein der Bestellung durch den Menschen) damit die
Saat spriesst. Auf eine natürliche Reihenfolge der Akte wird
gar nicht Bedacht genommen ; das bedürftigste Wesen, der Mann,
entsteht zuerst und sieht sich auf die kahle Welt angewiesen,
ohne Baum und Strauch, ohne Tiere, ohne das Weib. Unver-
holen ist der Mensch der ausschliessliche Gegenstand des Inter-
esses, die übrigen Wesen werden erklärt durch ihre Bedeutung
für ihn, als ob sie nur darin ihr Existenzrecht besässen. Die
Idee erklärt den Stoff, nach der mechanischen Möglichkeit wird
*) Dillmann findet diesen Gedanken schal, Genesis (1882) S. 44.
320 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
man nicht versucht zu fragen. Es ist der Abgrund der Ge-
schmacklosigkeit, wenn dieser oder jener Gelehrte wegen Gen.
2,21 seine Rippen nachzählt, oder auch schliesst , der ursprüng-
liche Mensch sei Mann und Weib zusammen gewesen.
Stehen wir bei dem ersten Bericht in den Anfängen nüch-
ternen Nachdenkens über die Natur, so bei dem zweiten auf
dem wunderbaren Boden des Mythus. Woher zu jenem der
Stoff kam, fragen wir nicht; die allgemeine Betrachtung der
Dinge selber hat ihn geliefert. Aber zu diesem hat nicht die
Reflexion den Stoff gegeben — wenigstens so weit die Natur-
ansicht in Frage kommt, um die es sich uns hier zunächst han-
delt — sondern die farbenreiche Überlieferung der alten V.Order-
asiatischen Welt. Wir befinden uns hier in dem Zaubergarten
der Vorstellungen des echten Altertums, der frische antike Erd-
geruch weht uns entgegen. Die Hebräer atmeten in der Luft
die sie umgab; was sie sich am Jordan erzählten vom Lande
Eden und vom Sündenfall, * das erzählte man sich ganz ähnlich
am Euphrat und Tigris, am Oxus und Arius. Das wahre Land
der Erde, wo die Gottheit wohnt, das ist Eden. Es ist nicht
etwa nach dem Sündenfall entrückt, sondern noch heute vor-
handen; warum wären sonst die Cherube nötig den Eingang zu
wahren? Es sind wirkliche Flüsse, die von dort ausgehen, dem
Erzähler nach den Ländern, durch die sie fliessen, nach den Pro-
dukten, die von dort kommen, sämtlich wohlbekannt, drei
davon auch uns nicht fremd, der Nil der Euphrat und der
Tigris. Wtissten wir, wie der Verfasser sich den Lauf der vier
Flüsse denkt, so wäre es leicht zu sagen, wo ihr gemeinschaft-
licher Ursprung ist, wo also das Paradies liegt. Ähnlich be-
stimmen andere alte Völker die Lage ihres heiligen Landes; die
Ströme heissen bei ihnen anders, aber die Namen thun nichts
zur Sache. Auch an die beiden Wunderbäume im Garten zu
Eden finden sich vielfache Anklänge, bis hinein in die germa-
nische Mythologie. Ebenso ist der Glaube an die Cherube die
das Paradies hüten, weit verbreitet. Krub ist vielleicht der
selbe Name und gewiss die selbe Vorstellung wie Gry p im Grie-
chischen und Greif im Deutschen; tiberall sind diese wunderbar
aus Löwe Adler und Mensch zusammengesetzten Wesen Wächter
des Göttlichen und des Heiligen, dann auch des Goldes und der
Schätze. Ein wenig von seiner ursprünglichen Farbe scheint
Die Erzählung des Hexateuchs. 321
allerdings der Stoff unserer Erzählung unter dem Einfluss des
Monotheismus eingebüsst zu haben. Das hebräische Volk er-
zählte wohl nicht bloss vom Baume des Lebens, sondern nach
der Ortsbestimmung in der Mitte des Gartens scheint es, er
habe am Ausgangspunkt der vier Ströme gestanden, an der
Quelle des Lebens, die im Glauben des Orients so grosse Be-
deutung hatte und die zu suchen Alexander auszog. Gewiss
war ferner das Paradies ursprünglich nicht für den Menschen
gepflanzt, sondern es war die Wohnung der Gottheit selbst.
Spuren davon sind noch erkennbar. Jahve fährt hier nicht vom
Himmel hernieder, sondern lustwandelt Abends im Garten als
ob er da zu Hause wäre: im Ganzen ist aber doch der Gottes-
garten etwas naturalisiert. Eine ähnliche Abschwächung des
Mythischen hat bei der Schlange stattgefunden ; man merkt nicht
mehr recht, dass sie ein Dämon ist. Doch ist durch die Ab-
streifung des Fremdartigen an Gehalt nichts verloren, an edler
Einfalt nur gewonnen. Der mythische Hintergrund gibt der Er-
zählung ihren leuchtenden Schimmer, wir fühlen uns in der gol-
denen Zeit, wo noch der Himmel auf Erden war: dabei ist doch
der unverständliche Zauber gemieden und nirgends die Grenze
eines keuschen Helldunkels überschritten.
Bekanntlich hat das Sechstagewerk grundlegende Bedeutung
für die Entwickelung der Kosmologie und der Geologie gehabt.
Es ist kein Zufall, dass die Naturwissenschaft nicht an Gen. 2.
und 3 angeknüpft hat: Natur gibt es da kaum. Aber die Poesie hat
es zu allen Zeiten mit der Geschichte vom Paradiese gehalten.
Ob nun in der Betrachtung der Welt die mythische Poesie oder
die verständige Prosa älter sei, braucht nicht mehr gefragt und
nicht mehr entschieden zu werden.
Mit den aufgeklärten Vorstellungen über die Natur, die. wir
in Gen. 1 antreffen, hängt der „geläuterte" Gottesbegriff eng zu-
sammen. Das Wichtigste ist, dass es hier ein eigenes Wort
gibt, um lediglich die göttliche Schöpferthätigkeit zu bezeichnen
und sie dadurch aus der Ähnlichkeit menschlichen Thuns und
Bilctens herauszuheben, ein Wort, das in so exclusiver Bedeutung
weder im Griechischen, noch im Lateinischen oder im Deutschen
wiederzugeben ist. In einem jugendlichen Volke ist eine solche
theologische Abstraction unerhört, wir finden denn auch bei den
Hebräern Wort und Begriff erst seit dem babylonischen Exil
Wellhaus en, Prolegomena. * 21
322 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
mehr und mehr gebräuchlich werden: parallel mit der Hervor-
hebung der Schöpferallmacht Jahve's in Bezug auf die Natur,
die beinah plötzlich in der exilischen Literatur auftritt, im Buche
lob einen grossen Raum einnimmt und in Isa. 40—66 vielfach
in lyrischen Intermezzi eingestreut wird. In Gen. 2. 3 ist nicht
die Natur, sondern der Mensch der Anfang der Welt und der
Geschichte; ob da überhaupt eine Schöpfung aus Nichts ange-
nommen wird, ist eine Frage, deren Bejahung nur wegen der
Verstümmelung des Anfangs (vor 2, 4 b ) nicht ganz unmöglich
ist. Jedenfalls regt hier nicht der Befehl des Schöpfers die Dinge
an, dass sie sich aus dem allgemeinen Chaos zu besonderen
Arten entwickeln, sondern Jahve legt überall selber Hand an
und setzt dabei das Bestehen der Welt irn grossen und ganzen
voraus. Er pflanzt und wässert den Garten, er formt den Men-
schen und haucht ihm den Atem in die Nase, er baut das Weib
aus des Mannes Rippe, nachdem er vorher in dem Streben ihm
Gesellschaft zu verschaffen nicht das Rechte getroffen : die Tiere
sind lebendige Zeugen seiner mislungenen Experimente. Auch
sonst verfährt er wie ein Mensch. Er geht Abends wie es kühl
wird im Garten spazieren, dabei entdeckt er zufällig die Über-
tretung und führt eine Untersuchung, in welcher er von seiner
Allwissenheit nicht den mindesten Gebrauch macht. Und wenn
er sagt: „siehe der Mensch ist geworden wie unser ein zu er- .
kennen Gut und Böse: und nun — dass er seine Hand nicht
ausstrecke und nehme auch vom Baume des Lebens und esse
und lebe ewiglich", so ist das eben so wenig Ironie als wenn
er in Anlass des Baues von Babel äussert: „siehe ein Volk und
alle haben sie eine Sprache, und dies ist nur der Anfang ihres
Thuns, und nun — es wird ihnen nichts zu schwer sein was sie
sich unterfangen; auf lasst uns herniederfahren und ihre Sprache
verwirren!" Dass mit alle dem gleichwohl der Majestät Jahve's
nichts vergeben wird, ist das Geheimnis des Geistes. Wie würde
sich der blasse Gott der Abstraction hier ausnehmen!
Was endlich den Mikrokosmus betrifft, so spiegelt sich in
dessen Auffassung der allgemeine Unterschied wider. In Kap. 1
wird dem Menschen von Anfang an der Boden zugewiesen auf
dem er sich noch gegenwärtig bewegt: „füllet die Erde und
machet sie euch unterthan" — die Aufgabe ist eine völlig na-
türliche. In Kap. 2. 3 wird er in's Paradies gesetzt und hat
Die Erzählung des Hexateuchs. 323
darin, vom Mutterschoss der Gottheit gleichsam noch umfangen,
einen sehr beschränkten Wirkungskreis — seine gegenwärtigen
Lebensverhältnisse, die Feldarbeit des Mannes, das Kindergebären
des Weibes, entsprechen nicht seiner ursprünglichen Bestimmung,
sind kein Segen, sondern ein Fluch. In der jehovistischen Er-
zählung ist der Mensch sich selbst so wunderbar wie die Aussen-
welt, in der anderen ist er sich selbst so alltäglich wie jene.
Dort sieht er staunenswerte Geheimnisse in der Geschlechtsver-
schiedenheit, in der Ehe, in der Geburt (4, 1); hier sind das
physiologische Thatsaehen, die nichts zu fragen und zu denken
geben: „er schuf sie männlich und weiblich und sprach: seid
fruchtbar und mehret euch!" Dort steht er den Tieren vertraut
und doch befangen gegenüber, er weiss nicht recht was er aus
ihnen machen soll, sie sind ihm verwandt und passen doch nicht
recht in seine Gesellschaft — hier sind sie neutrale Wesen, über
die er herrscht. Der Hauptpunkt, worin der Gegensatz zusam-
menläuft und sich zuspitzt, ist folgender. In Gen. 2. 3 ist es
dem Menschen eigentlich verboten, den Schleier der Dinge ab-
zuheben und die Welt, repräsentiert im Baume des Wissens, zu
erkennen; in Gen. 1 ist dies die ihm von Anfang an gestellte
Aufgabe, zu herrschen über die ganze Erde: Herrschaft und Wissen
bedeutet gleichviel, bedeutet Civilisation. Dort ist ihm die Natur
.ein geweihtes Mysterium, hier ist sie ihm Sache, Object: er steht
ihr nicht mehr befangen, sondern frei und überlegen gegenüber.
Dort gilt es für einen Raub des Menschen Gott gleich sein zu
wollen, hier hat Gott ihn von vornherein in seinem Bilde und*
nach seiner Ähnlichkeit geschaffen und ihn zu seinem Stellver-
treter im Weltreiche bestimmt. Es kann nicht für zufällig gelten,
dass Gen. 1 in diesem Punkte das Gegenteil von Gen. 2. 3 be-
hauptet; die mit solchem Nachdruck ausgesprochenen und wieder-
holten Worte 1, 27. 5, 1. 9, 6 klingen geradezu wie ein Protest
gegen die Grundanschauung von Gen. 2. 3, ein Protest, der teil-
weise zusammenhängt mit der entwickelten religiösen und mo-
ralischen Bildung, teilweise aber wohl auch mit dem krampfhaften
Streben des späteren Judentums, die sicherste aller geschicht-
lichen Erfahrungen zu leugnen, nämlich dass die Söhne büssen
müssen für die Sünden der Väter. 1 )
l ) Ein gröberes Gegenstück zu Gen. 2. 3, auch eine Art Sündenfall, ist
Gen. 6, 1 — 4: die Verrückung der Grenze zwischen göttlichem und mensch-
21*
324 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Was man als Vorzüge von Gen. 1 gegen Gen. 2. 3 anzu-
führen pflegt, das sind sicher Anzeichen eines Fortschrittes der
äusseren Cultur. Die geistige Individualität der beiden Erzähler,
des Systematikers und des Genius, darf man nicht vergleichen,
denn die gibt keinen Massstab der Zeiten ab; was aber die all-
gemeinen Vorstellungen über Gott Natur und Mensch betrifft, so
steht darin der erste auf einer höheren, jedenfalls auf einer spä-
teren Stufe. Dieselben sind, für unseren Standpunkt, verstän-
diger einfacher natürlicher. Freilich hat man sie gerade darum
für älter gehalten. Man hat da einerseits die Begriffe natür-
lich und ursprünglich gleichgesetzt — das ist bekanntlich
eine arge Verwechselung. Andererseits hat man an die vorge-
schichtliche Tradition einen Massstab gelegt, der nur für die ge-
schichtliche berechtigt ist — der letzteren gereicht das Fehlen
des Wunders und des Mythus zur Empfehlung, aber nicht der
ersteren. Die geheime Wurzel aber der sichtlichen Vorliebe,
welche die historisch-kritische Theologie weiland für Gen. 1 ge-
hegt hat, scheint da zu liegen, dass man sich selber für das
was die Bibel sagt, verantwortlich fühlt und sich darum freut,
wenn sie möglichst wenig behauptet, was mit der allgemeinen
Bildung collidiert. 1 )
lichem Geschlecht. In Q \yird die Kluft zwischen Geist als göttlicher und
Fleisch als menschlicher Substanz durch die Ebenbildlichkeit des Men- *
sehen mit Gott überbrückt.
• *) Ich behaupte nur die Priorität von Gen. 2. 3 vor Gen. 1, glaube aber
nicht, dass die Erzählung vom Paradiese und vom Sündenfalle bei den
Israeliten sehr alt ist. Darnach sieht es nicht aus, dass der Mensch und
das Weib an der Spitze der Genealogie des Menschengeschlechtes stehen;
man sollte an dieser Stelle viel eher die (nach ursprünglichem semiti-
schen Glauben keineswegs widergöttliche) Schlange vermuten, wie im
Chronicon Edessenum und in der abessynischen Sage, und vielleicht hat
sich davon in dem Namen der Heva eine Spur erhalten, wie Nöldeke
meint: sicher ist, dass dieser Name bei Philo (de agric. Noe § 21) und
im Midrasch Rabba zu Gen. 3, 20 als Schlange gedeutet wird (DMZ 1877
S. 239. 326). Ferner war der echt hebräische Gottessitz der Berg Sinai,
der echt hebräische Lebensberuf der nomadische der Patriarchen, nicht
der Garten- und der Ackerbau. Endlich ist nicht zu glauben, dass sich
# Barbaren über Segen und Unsegen der Civilisation Gedanken sollten ge-
macht haben. Vor Salomo ist der Stoff von Gen. 2. 3 schwerlich einge-
wandert. Woher er stammt, lässt sich kaum raten: am nächsten läge
es, an die Phönicier oder die Kanaaniter überhaupt zu denken, was auch
durch Gen. 4 empfohlen wird. Da jedoch in JE Babel als die letzte
Urheimat des Menschengeschlechtes gilt, nach Eden und Nod, so werden
die Hebräer die Ursage letzlich wohl von dorther bekommen haben. Auf
etwaige Gleichungen der Assyriologen soll darum aber kein Gewicht ge-
legt werden.
Die Erzählung des Hexateuehs. 325
2. Auf den Anfang der Weltgeschichte folgt in Gen. 1 — 11
sowohl im Priestercodex als. im Jehovisten zunächst der Ueber-
gang von Adam auf Noah (Kap. 4. 5), sodann die Sündflut
(Kap. 6 — 9), endlich der Übergang von Noah auf Abraham
(Kap. 10. 11).
In den trockenen Namen, die in Gen. 5 und in Gen. 4 an
einander gereiht werden, hat Buttmann Reste eines aus uralten
Erzählungen einst gewebten geschichtlichen Zusammenhanges
erkannt. Zerstört ist der ursprüngliche Gehalt dieser augen-
scheinlich mythologischen Elemente sowohl in Gen. 5 (Q) als
in Gen. 4 (JE), aber nur die jehovistische Liste macht noch den
Eindruck der Ruine, während dagegen in. der anderen die
Trümmer zu einem künstlichen Neubau benutzt worden sind, in
welchem sie sich nun eben nicht mehr wie Trümmer ausnehmen.
Sie dienen hier nämlich zu Trägern einer Chronologie, die von
Adam bis auf Mose herabgeht und den zwischenliegenden Zeit-
raum auf 2666 Jahre berechnet. Diese 2666 Jahre entsprechen
26 V 3 Generationen zu je hundert Jahren, nämlich 1 — 20 Adam
bis Abraham, 21 Isaak, 22 Jakob, 23 Levi, 24 Kehath, 25 Am-
ram, 26 Aharon ; das letzte unvollständige Glied ist Eleazar, der
beim Auszuge schon ein gereifter Mann war. *) Es versteht sich,
dass eine solche Zeitrechnung zu der Einfalt der Sage passt
wie die Faust aufs Auge. 2 ) Es versteht sich ferner, dass wenn
die systematische Chronologie sogar bei den historischen Büchern
erst aus der Zeit des Exils stammt, sie beim Pentateuch noch
späteren Ursprungs sein muss. Denn für die geschichtliche Zeit
hat sie wirkliche Anhaltspunkte gehabt; sie kann nicht von den
Patriarchen auf die Könige, sondern nur von den Königen auf
die Patriarchen übertragen, sie* muss von unten ausgegangen
sein, wo sie allein ein Fundament hat. Der Glaube an das
hohe Alter der Urmenschen ist zwar gewiss alt, aber die ge-
schlossene Zeitrechnung, die sich auf die Zeugungsjahre stützt,
ist eine Künstelei, wodurch die gelehrte Behandlung, wie sie
sich für die Historie der späteren Zeit auszubilden anfing, nun
1 ) So Nöldeke in den Jahrbb. für protest. Theol. 1875. S. 344. Dass die
Generation in dieser Periode zu 100 Jahren gerechnet wird, wird Gen. 15,
13 — 16 ausdrücklich angegeben.
2 ) „Die genauen chronologischen Angaben sind das sichere Gepräge späterer •
Ausfuhrung alter poetischer Sagen", Buttmann I S. 183.
326 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
sogar auf die Ursage übertragen wurde. Nur nachdem der
lebendige Gehalt der Sage völlig entwichen war, konnte ihr
Skelett als Gertist der Chronologie benutzt werden.
Buttmann hat ebenfalls erwiesen, dass die Elemente der
zehngliedrigen Genealogie von Q (Gen. 5) und der sieben-
gliedrigen von JE (Gen. 4) gleich sind. In Q ist am Schlüsse
Nöah noch hinter Lamech getreten und am Anfange hat sich
Adam Kain verdoppelt zu Adam Seth Enos Kainan. Da Adam
und Enos sich decken, so läuft das hinaus auf Adam Seth
Adam Kainan; d. h. Adam Seth ist vorgesetzt, und mit Enos
Kainan fängt die Reihe von vorne an und zwar ebenso wie in
JE. Der grössere^ Ursprtinglichkeit der jehovistischen Genea-
logie stellt der Priestercodex selber ein merkwürdiges Zeugnis
aus, dadurch dass er dem Lamech, der nach ihm der neunte
in der Reihe ist, ein Alter von 777 Jahren gibt. Das erklärt
sich nur aus JE, wo er der siebente in der Reihe ist und
ausserdem seine besondere Beziehung zur Siebenzahl noch durch
die Äusserung hervorhebt: sieben mal rächt sich Kain und
Lamech siebenundsiebenzig mal. Auch darin zeigt sich die
Posteriorität von Q, dass hier der erste Mensch nicht wie in
JE ha Adam, sondern stets Adam ohne Artikel heisst (5, 1—5),
ein Unterschied, den Kuenen treffend mit 6 xpiaxos und Xptaxos
vergleicht. Nun ist aber gerade nach den Voraussetzungen von
Q (Gen. 1) der erste Mensch bis jetzt nur der Gattungsmensch;
wenn er trotzdem 5, 1 einfach Adam genannt wird, als sei dies
sein Eigenname, so kann das nur aus Reminiscenz an Gen. 2. 3
erklärt werden, obwohl sich hier die Personificierung noch nicht
auf den Namen erstreckt.
Wir kommen zur Erzähluftg von der Sündflut Gen. 6 — 9.
In JE ist die Stindflut wohl vorbereitet; in Q würden wir ver-
wundert fragen, woher denn die Erde auf einmal so verderbt
sein soll, nachdem bisher Alles in bester Ordnung gewesen,
wenn wir es nicht eben aus JE wüssten. Mit dem Stindenfalle,
dem Brudermorde Kains, dem Schwertliede Lamechs, der Ver-
mischung der Gottessöhne mit den Menschentöchtern, überhaupt
mit der ganzen bestimmten und zwar düsteren Färbung der
Urgeschichte der Menschheit in JE ist im Priestercodex auch
. die Motivierung der Stindflut fortgefallen; dieselbe erscheint hier
nun völlig unvorbereitet und abrupt. Im Stoffe der Erzählung
Die Erzählung des Hexateuchs. 327
stimmt die priesterliche Version hier in aussergewöhnlichem
Masse mit der jehovistischen überein; sie unterscheidet sich von
ihr hauptsächlich durch die künstliche, technisch -mathematische
Regulierung der Form. Die Flut dauert 12 Monat und 10 Tage,
d. h. genau ein Sonnenjahr; im Jahr 600 Noah's am 17. des
2. Monats tritt sie ein, 150 Tage steigt sie, seit dem 17. des
7. Monats fällt sie wieder, am 1. des 10. werden die Spitzen
der Berge sichtbar, im Jahr 601 am 1. des 1. Monats hat sich
das Wasser verlaufen, am 27. des 2. ist die Erde trocken. Zum
Bau der Arche gibt Gott, ebenso wie zur Stiftshütte, selber die
Anweisung und die Masse: dreistöckig soll sie werden, und in
lauter kleine Fächer abgeteilt, 300 Ellen lang, 50 Ellen breit,
30 Ellen hoch; und genau nach der Elle soll Noah sie machen.
Beim höchsten Wasserstande, am 17. des 2. Monats, steht die
Flut 15 Ellen hoch über den höchsten Bergen: bei all seiner
Angst hat Noah augenscheinlich doch nicht vergessen, das Senk-
blei auszuwerfen und sich das Datum im Kalender anzumerken.
Es ist klar, *dass durch dieses altkluge Ausmessen und Nach-
rechnen nicht die Anschaulichkeit der Erzählung erhöht, sondern
nur die Illusion zerstört wird. Überall wird der Sage das Idyl-
lische und Naive nach Kräften abgestreift. Wie die Dauer der
Flut von 40 Tagen (JE) auf ein ganzes Jahr erhöht wird, so
wird auch ihre Ausdehnung unermesslich gesteigert. Mit be-
sonderem Nachdrucke betont es der Priestercodex, dass sie
ganz allgemein gewesen und über alle die höchsten *Berge ge-
gangen sei — wozu er freilich durch die Annahme gezwungen
ist, dass das Menschengeschlecht von vornherein über die ganze
Erde sich ausgebreitet habe. Züge wie die von den ausge-
sandten Vögeln und dem abgebrochenen Olivenblatt werden über-
gangen; die dichterische Sage wird zur historischen Prosa ab-
geflacht. Grade auf solchen kleinen Zügen beruht nun aber
der Wert und Reiz der Erzählung, sie sind nicht Nebensache,
sondern für die Poesie Hauptsache. Gerade sie kehren denn
auch ganz ähnlich in der babylonischen Version der Sündflut-
geschichte wieder; wenn der Jehovist sich mit dieser weit näher
berührt als der Priestercodex, so ist das ein Zeichen davon,
dass sich bei ihm der internationale Charakter dieser Ursageü
noch treuer erhalten hat. Am stärksten schimmert derselbe bei
iMn durch in der Motivierung der Sündflut durch die Verrückung
328 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
der Grenzen zwischen Geist und Fleisch, durch die Vermischung
der Gottessöhne mit den Menschentöchtern; hier haben wir in
JE noch ein ziemlich unverfälschtes Stück mythischen Heiden-
tums, welches in Q ganz undenkbar wäre.
Den Regenbogen hat allerdings der Priestercodex gegen-
wärtig vor dem Jehovisten voraus. Es ist aber zu bedenken,
dass uns in Gen. 6—9 der jehovistische Bericht nur verstümmelt,
der priesterliche dagegen vollständig erhalten ist. Wenn der
Regenbogen sowohl in JE als in Q vorkam, so musste er not-
wendig einmal gestrichen werden und zwar in JE, gemäss dem
sonst befolgten Verfahren des Redaktors. Es ist also leicht
möglich, dass er ursprünglich auch in JE nicht gefehlt hat; er
passt sogar besser zu dem simplen Regen, der hier die Flut
herbeiführt, als zu den geöffneten Schleusen des Himmels und
Brunnen der Tiefe, welche sie in Q bewirken, und er hat hinter
8, 21. 22 eine weit schicklichere Stelle als hinter 9, 1 — 7. Im
Priestercodex ist zudem die Bedeutung des Regenbogens halb
verwischt, teilweise durch ungeschickte VergeschicKtlichung, wo-
durch man den Eindruck bekommt, als sei er entweder nur
diesmal, nach der Stindflut, am Himmel erschienen, oder als
stehe er seitdem beständig da; teilweise durch seine Verwen-
dung als Zeichen des Bundes zwischen Elohim und Noah, wobei
man nach dem sonstigen Sprachgebrauch und nach der Analogie
von Gen. 17 an den Bund denkt, dessen Inhalt in 9, 1 — 7 dar-
gelegt wird: der Regenbogen würde dann zum Gegenstücke der
Beschneidung. 1 ) Der Bund d. h. das Gesetz 9, 1 — 7, eine Mo-
dification der ersten, dem Adam gegebenen Ordnung (1, 29. 30)
für die nachsiindflütliche, noch gegenwärtig fortdauernde Welt-
periode, ist für den Priestercodex der krönende Schluss und die
*) Der Himmel sbogen ist ursprünglich das Werkzeug des pfeilschiessenden
Gottes und darum Symbol seiner Feindschaft; er legt ihn aber aus der
Hand zum Zeichen des abgelegten Zornes, der nunmehrigen Versöhnung
und Huld. Wenn es gewettert hat, dass man vor einer abermaligen
Sündflut in Angst sein könnte, erscheint der Regenbogen dann am Him-
mel, wenn die Sonne und die Gnade wieder durchbricht. Den Begriff
der blossen Wölbung hat plt^p i m A. T. nicht, es bedeutet stets den
Kriegsbogen. Und was vor allem wichtig ist, auch die Araber fassen die
Iris durchaus als Kriegsbogen Gottes auf: Kuzah schiesst Pfeile von sei-
nem Bogen und hängt ihn dann in den Wolken auf (DMZ 1849 S. 200f.)-
Bei Juden und Judengenossen hat der Regenbogen bis tief in christliche
Zeiten hinein eine merkwürdig nahe Beziehung zur Gottheit behalten,
Seltsam ist der edomitische Gottesname Kaus neben Kuzah,
Die Erzählung des Hexateuchs. 329
Hauptsache der ganzen Erzählung, wie denn überhaupt bei ihm
das Interesse am Gesetz das einfache Interesse am Stoffe gänz-
lich absorbiert. Sehr merkwürdig ist dabei, dass die Rache für
das vergossene Blut nicht Sache der Verwandten, sondern Sache
Gottes ist, und dass sie gefordert wird für den Menschen
schlechthin, sei er Herr oder Knecht, mit Ausschluss der Geld-
stihne. So einfach und ernst die Worte lauten: „wer Menschen-
blut vergiesst, des Blut soll durch Menschen vergossen werden,
denn nach seinem Bilde hat Gott den Menschen gemacht", so
ist doch der religiöse Begriff des Menschentums, der zu
Grunde liegt, auch bei den Hebräern nicht alt; man vergleiche
als Gegensatz Gen. 4, 15. 24 und Exod. 21, 20 f. *)
Die Arche landet nach Q auf dem Gebirge von Ararat. In
JE ist gegenwärtig überhaupt kein Landungsplatz angegeben.
Das ist indessen um so weniger ursprünglich, als sonst die my-
thische Geographie überall jehovistisches Characteristicum ist.
In Q wird die Urgeschichte nirgend lokalisiert, gleich von An-
fang an wird die ganze Erde den Menschen zur Wohnung an-
gewiesen. In JE dagegen wohnen sie zuerst im Lande Eden,
weit im Osten und wohl auch hoch im Norden; von da ver-
trieben kommen sie ins Land Nod, wo Kain die Stadt Hanoch
baut ; und von dieser ebenfalls noch sehr östlichen Gegend auf-
brechend lassen sie sich im Lande Sinear nieder, an der Mün-
dung des Euphrat und Tigris, wo sie die Stadt Babel bauen.
Sinear ist der Ausgangspunkt der nicht mehr bloss mythischen
Weltgeschichte, die Heimat der gegenwärtigen Menschheit: in
diesem Punkte namentlich springt der Gegensatz der lokalen
Bestimmtheit der jehovistischen Sage, die ihr den Charakter
des Idyllischen verleiht, gegen die vage Allgemeinheit der
anderen ins Auge. In Sinear sind nach JE Gen. 11, 1'— 9 noch
alle Menschen beisammen und wollen dort auch beisammen
bleiben. Um nicht zerstreut zu werden, bauen sie sich eine
grosse Stadt die sie alle umfassen soll, und um sich einen Namen
zu machen, fügen sie einen hohen Turm hinzu der an den
Himmel reichen soll: Jahve, aus solchen Anfängen die Gefahr
eines weiteren Fortschrittes in dieser Richtung erkennend, fährt
hernieder ihre Sprache zu verwirren und führt dadurch, auf
gewaltsamem Wege, die Zerstreuung der ihm in ihrer Einheit
*) De Wette, Beiträge II S. 57. Alt ist der rel. Begriff des Volkes,
330 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
furchtbaren Menschheit herbei. In Q versteht es sich von selbst,
dass sich die Menschen auf der ganzen Erde zerstreuen; sie
werden nie als an einem Punkte wohnhaft vorgestellt — weshalb
denn auch die Sündflut hier mit Absicht und Nachdruck als
ganz allgemein beschrieben wird. Die Zerteilung der Völker
geht einfach auf genealogischem Wege vor sich und hat die
Zerteilung der Sprachen nicht zur Ursache, sondern zur Folge.
Als begleitende Erscheinung finden wir wiederum den merk-
würdigen Unterschied der geistigen Stimmung: was in JE als
Unnatur, als nur begreiflich aus gewaltsamer Verkehrung des
Ursprünglichen empfunden wird, das ist in Q das natürlichste
von der Welt.
Den Zeitraum zwischen der Sündflut und Abraham füllt in
Q noch einmal eine zehngliedrige Genealogie aus, die in JE,
wo sie nicht gefehlt haben kann, nach Analogie von Gen. 4
wahrscheinlich siebengliedrig war, indem sie von Sem gleich
auf Eber überging und den Grossvater Nahor ausliess (10, 21.
24. 24, 15. 29, 5): der letztere unterscheidet sich in der That
von seinem gleichnamigen Enkel noch weniger als Adam von
Enos. Der ursprüngliche Wohnort der Therahiden ist nach Q
nicht wie in JE (12, 1. 24, 4) das mesopotamische Haran (Carrhae),
sondern Ur Kasdim , was nichts anderes bedeuten kann als Ur *
der Chaldäer. Von da soll Therah, der Vater Abrahams Nahors
und Harans, mit Abraham und mit Lot, dem Sohne des bereits
verstorbenen Haran, ausgewandert sein. Nahor mtisste dann in
Ur Kasdim geblieben und Haran daselbst gestorben sein. Beides
ist vollkommen gegen die Meinung der Sachen. Es ist trotz
der verschiedenen Aspirata schwerlich sachgemäss den Mann
Haran von der Stadt Haran zu scheiden und ihn wo anders
sterben zu lassen. Es ist ebenso unmöglich, Ur in Chaldäa für
den Wohnsitz Nahors — einerlei ob des Grossvaters oder des
gleichnamigen Enkels — anzusehen; es ist offenbar auf Ver-
hältnisse der Wirklichkeit gegründet, dass der jedenfalls syrische
Ort, wo die Nahoriden Laban und Rebekka wohnen, in J die
Stadt Nahors und in E Haran heisst; in Q selber wohnen Laban
und Rebekka, trotzdem dass Nahor in Ur bleibt, nicht in Chaldäa,
sondern in Paddan Aram, d. h. im mesopotamischen Syrien.
Zum Beweise, dass Ur Kasdim nicht in die, ursprüngliche Ge-
stalt der Tradition hineingehört, kommt noch hinzu 1 dass wir
Die Erzählung des Hexateuchs. 331
bereits mit Serug, dem Vater Nahors, weit von Babylon weg
nach Westen gertickt sind. Serug ist der Name einer nördlich
afi Haran grenzenden Landschaft; wie soll nun der Sohn Serags
plötzlich nach Ur Kasdim zurückspringen! Welche Gründe dazu
bewogen haben, Babylonien zum Ausgangspunkte Abrahams zu
machön, sei dahin gestellt; nachdem er aber mit Therah von
Ur Kasdim aufgebrochen ist, kommt er seltsam genug doch vor-
erst nur bis Haran und bleibt dort bis zu seines Vaters Tode;
nach Palästina wandert er auch in Q erst von Haran aus ein.
.Wenn diese Verdoppelung des Ausgangspunktes nicht aus der
Absicht den Anschluss an JE zu erreichen entsprungen ist, so
gibt es überhaupt keine Harmonistik.
3. Mehr und mehr gewinnt jetzt glücklicherweise die An-
sicht Boden, dass in der mythischen Universalgeschichte der
Menschheit Gen. 1 — 11 die jehovistische Version altertümlicher
sei als die priesterliche. Zu dieser Ansicht wird man in der
That genötigt, wenn man einsieht, dass der Stoff hier nicht
israelitischen, sondern allgemein ethnischen Ursprunges ist. Von
diesem Ursprünge hat der Jehovist die Spuren weit deutlicher
bewahrt, darum hat sich auch die vergleichende Mythologie
unwillkürlich vorzugsweise an seine Berichte gehalten. Verän-
derungen hat die Urgeschichte allerdings auch bei ihm erlitten;
der mythische Charakter ist stark vermischt, allerlei israelitische
Elemente sind eingedrungen. Schon der Brudermord Kains, mit
dem Hintergrunde des Gegensatzes zwischen dem friedlichen
Leben der Hebräer im Lande Kanaan und dem unruhigen
Schweifen der Kainiten in der angrenzenden Wüste, fällt ganz
aus dem allgemeinen geschichtlichen und geographischen Rah-
men heraus. Noch mehr die Verfluchung Kanaans; hier ist der
augenscheinlich alte Zug, dass Noah den Weinbau eingeführt
hat, zu einem nebensächlichen Ingrediens einer ausgesprochen
national-israelitischen Erzählung geworden. Aber im Jehovisten
ist doch die Entleerung der Ursage von ihrem eigentlichen Sinn
und Gehalt bei weitem nicht so weit vorgeschritten wie im
Priestercodex^ wo es geradezu auffällt, wenn noch einmal etwas
Mythisches durchschimmert, wie bei Henoch und bei dem Regen-
bogen.
Der mythische Stoff der ältesten Weltgeschichte ist beim
Jehovisten mit einem eigenartigen, düsteren Ernste erfüllt. Es
332 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
steckt «ine Art antiker Gesehichtsphilosophie darin, die nahe
an Pessimismus streift*: als seufzte die Menschheit unter einem
ungeheuren Druck, nicht sowohl der Sünde, als der Kreatürlich-
keit (6, 1 — 4). Es herrscht eine scheue, heidnische Stimmung; das
gelegentliche Rasseln an den Ketten verschlimmert nur die Ge-
bundenheit der menschlichen Natur, die entfremdende Kluft
zwischen Mensch und Gottheit lässt sich nicht ausfüllen. Jahve
steht nicht hoch genug, fühlt sich nicht sicher genug, um den
Erdbewohnern eine allzugrosse Annäherung zu verstatten; der
Gedanke vom Neide der Gottheit wird gestreift. Wenn auch
schon vielfach gemildert liegt diese Stimmung dennoch erkenn-
bar genug in Gen. 2. 3, in 6, 1 — 4 und 11, 1—9 zu Grunde. Im
Priestercodex ist sie vollkommen verschwunden; hier fühlt sich
der Mensch nicht mehr unter geheimem Bann, sondern gottver-
wandt und frei, als Herr der Natur. Wohl erkennt auch der
Priestercodex, wie wir in dem Kapitel über die Opfer gesehen
haben, die Macht der Sünde in seiner Weise an; aber die Sünde,
als erklärende und ausrottbare Wurzel des Verderbens, steht im
Gegensatz zu dem dumpfen unabwendbaren Verhängnis; die
Stindenknechtschaft und die Freiheit der Kinder Gottes sind
im Evangelium Correlata. Mit der Zerstörung der mythischen
Anschauungsweise durch die Autonomie der Moral hängt enge
zusammen die verständige Naturbetrachtung, deren Anfänge wir
im Priestercodex finden; ihre Voraussetzung ist, dass der Mensch
sich selber als Person über und ausser die Natur stellt und die
letztere schlechtweg als Sache betrachtet. Man darf vielleicht
behaupten, dass ohne diesen Dualismus des Judentums die
mechanische Naturwissenschaft nicht vorhanden wäre.
Die Entfärbung der Mythen ist gleichbedeutend mit Hebrai-
sierung. Scheinbar hebraisiert der Priestercodex weniger als
der Jehovist; er hütet sich grundsätzlich vor Vermischung der
Zeiten und Sitten. In Wahrheit hebraisiert er viel stärker, in-
dem er den ganzen Stoff nach dem Masse zuschneidet, dass er
als Vorstufe der mosaischen Gesetzgebung dienen kann. Schon
der Jehovist hat allerdings diese ethnischen Sagen an die
Schwelle seiner heiligen Sage gesetzt und sie vielleicht unter
dem Gesichtspunkte, dass sie als Einleitung dazu passen, aus-
gewählt; denn sie sind durchweg ethischen und geschichtlichen
Inhalts, sie betreffen die Probleme der Menschenwelt, nicht die
Die Erzählung des Hexateuchs. 333
der Natur *). Aber beim Jehovisten kommt doch die Individualität
der einzelnen Geschichten noch einigermassen zu ihrem Rechte;
im Priestercodex ist dieselbe durch den Zweck des Ganzen nicht
bloss modificiert, sondern vollkommen zerstört. Der auf die
Thora Mose's abzielende Zusammenhang ist Alles; die einzelnen
Glieder bedeuten nichts mehr. Natürlich wird dadurch auch der
Zusammenhang selber vollkommen leer; er besteht abgesehen
von den Bundschliessungen nur in Genealogie und Chronologie.
De Wette findet das Alles schön, weil symmetrisch, durchsichtig
und zweckvoll construiert. Indessen ist das nicht jedermanns
Geschmack; es gibt auch eine ungemachte Poesie des Stoffs,
und sie verdient auf diesem Gebiet den Vorzug.
Wie lose im Jehovisten die Erzählungen der Urgeschichte
noch neben einander stehen, zeigt namentlich die Sündflutperi-
kope. Sie stösst sich gleichmässig mit dem, was voraufgeht,
und mit dem was nachfolgt. Die Genealogie Gen. 4, 16 — 24
läuft nicht auf Noah, sondern auf Lamech aus; statt Sem Harn
Japhet, der Söhne Noahs, haben wir Jabal Jubal Thubal, die
Söhne Lamechs, als Anfänger der zweiten Periode. Dabei die
charakteristische Verschiedenheit, dass Sem Ham Japhet eine
Eintheilung der Menschen nach Völkern ist, Jabal Jubal Thubal
eine Eintheilung nach Ständen, notwendigerweise des selben
Volkes; denn kein Volk besteht aus lauter Musikern oder
Schmieden. Und unstreitig ist in Kap. 4, 16 ff. die Absicht, die
Entstehung der gegenwärtigen Cultur zu erzählen, nicht der
verschollenem, der durch die Sündflut ein Ende gemacht wurde.
Thubalkain ist der Vater der gegenwärtigen Schmiede, nicht der
vorsündflutlichen , Jubal der der gegenwärtigen Musiker, Jabal
der gegenwärtigen Hirten; darum stehen sie auch am Ende der
Genealogie und eröffnen die zweite Periode. Ebensowenig aber
wie Gen. 4, 16 — 24 auf die Sündflut vorschaut, schaut hinterher
Gen. 11, 1 — 9 (Turmbau zu Babel) auf sie zurück. Dass dies
Stück nicht die Fortsetzung von Kap. 10 ist, liegt auf der Hand.
Dort sind wir schon so weit gekommen, dass die Erde von sehr
verschiedenen Völkern und Zungen eingenommen wird; nun
werden wir hier (11, 1) plötzlich in eine Zeit zurückversetzt,
*) Möglich indes, dä*ss ihm die Auswahl nicht schwer wurde, indem kösmo-
logische Mythen eben nicht volkstümliche Erzählungen, sondern priester-
liche Theoreme waren, die er gar nicht kannte.
334 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
wo alle Welt Eine Sprache und Eine Zunge war. War das
etwa die Zeit, als Noahs Familie noch die einzige Bevölkerung
der Erde ausmachte? mit anderen Worten, geht 11, 1 — 9 hinter
Kap. 10 zurück und schliesst an Kap. 6 — 9? Offenbar nicht,
alle Welt (11, 1) ist nicht Sem Harn und Japhet, und die
Menschenmenge, die sich durch künstliche Mittel concentrieren
will und dann in verschiedene Völker gespalten wird, besteht
aus mehr als einer Familie. Es liegt eine ganz andere An-
schauungsweise vor, als sich aus den Prämissen von Kap. 6—9
ergeben würde ; der Erzähler weiss nichts von der Sündflut, die
von aller Welt nur die Familie Noahs übrig gelassen hat.
Es würde auch nichts helfen, wollte man 11, 1 an einen so
weit nach der Flut fallenden Zeitpunkt setzen, dass inzwischen
aus der Familie wieder ein grosses Volk erwachsen wäre; An-
schluss an die Vorstellung von Noah und seinen drei Söhnen
würde dadurch doch nicht erreicht. Denn wenn die letzteren
sich hinterdrein zu einer Familie vereinigen und daraus weiter
ein einheitliches Volk entsteht, welches dann durch höhere Ge-
walt plötzlich in mehrere Sprachen geklüftat wird, so ist die
ganze Bedeutung von Sem Harn und Japhet als Theilungs-
principes der Völkerwelt aufgehoben.
Die Sache ist einfach die, dass der ganze Abschnitt von
der Sündflut (Gen. 6 — 9) in dem anderweitigen Zusammenhange
des Jehovisten isoliert steht. Ein ganz wundersamer erratischer
Block jst ferner die Vermischung der Gottessöhne mit den Men-
schentöchtern (Gen. 6, 1-4). Die Verbindung, in welche*dieses Stück
mit der folgenden Flutgeschichte gesetzt ist, ist äusserst locker;
mit der voraufgehenden jehovistischen Erzählung aber collidiert
es vollkommen, indem es nämlich einen zweiten Sündenfall be-
richtet, der wegen seiner sehr andersartigen geistigen Haltung
auf keine Weise als Ergänzung oder als Fortsetzung des ersten
betrachtet werden kann: in Gen. 6, 1 — 4 hat die Moral mit der
Schuld gar nichts zu thun. Weitere Beispiele, an denen der
brüchige Charakter des gegenwärtigen Bestandes der jehovisti-
schen Urgeschichte zu sehen ist, sind die Erzählungen vom
Brudermorde Kains und von der Verfluchung Kanaans, die
freilich eigentlich gar nicht hierher, sondern erst in die Patriar-
chengeschichte gehören.
Zum Schlüsse mögen hier noch die beherzigenswerten Worte
Die Erzählung des Hexateuchs. 335
eine Stelle finden, in denen Buttmann (1208 ff.) seinen Gegen-
satz zu de Wette hinsichtlieh der Behandlung der biblischen
Ursage darlegt „Gründlich gelehrt in den Altertümern des
Stammes, in dessen heiligen Schriften diese Denkmäler sich uns
erhalten haben, erkennt und verfolgt de Wette den National-
geist desselben bis in diese ältesten Urkunden hinauf. Auf
diesem Wege entdeckt sich ihm, mitten unter diesen Trümmern,
die Spur eines alten Zusammenhanges, einer Art Epos, dessen
schon in der Urgeschichte des Menschengeschlechts vorspielen-
der Zweck die Verherrlichung des Volkes Israel ist. Vor dieser
Ansicht, welche für seinen Hauptzweck, die wahre Kritik dieser
Bücher, so wichtig ist, müssen notwendig andere Beziehungen
für den Augenblick in den Hintergrund treten. Mein Zweck ist
durchaus nur, in den Sagen der verschiedenen Nationen das
Allgemeine, und ganz besonders in den Mythen einzelner Zweige
der grossen Völkerverwandtschaft, wozu die Hebräer gehören
und die Griechen und wir, das Gemeinsame aufzufinden. So
entdeckt sich mir also jeder Mythos nur als ein für sich be-
stehender, in sich begründeter und vollendeter, den ich als einen
solchen bewähre, wenn ich ihn auch bei anderen Nationen nach-
weise. Hieraus entsteht zwischen de Wette und mir eine Ab-
weichung in der Betrachtung einzelner Mythen. Ihm erscheinen
diese gewöhnlich als willkürliche Erdichtungen einzelner Men-
schen zu ihrem Zwecke; zwar nicht in dem unedelen Sinne,
welchen eine gemeine Ansicht in die religiösen Dichtungen der
Völker bringt, sondern als willkürliche aber doch völlig truglose
Erdichtungen. Ich hingegen gebe in diesen ältesten Teilen
durchaus keine Erdichtung zu. Ein ächter Mythos ist nie er-
dichtet, sondern überliefert. Er ist nicht wahr, aber wahrhaftig.
Aus kleinen Elementen, die die Phantasie als wahr darbot, ent-
standen und erwuchsen jene Mythen, ohne dass irgend einer,
der dazu beitrug, seiner Willkür sich bewusst gewesen wäre.
Nur auf die, welche die ältesten reinen Mythen durch Hinzu-
fügung einzelner Züge in den grossen Zusammenhang brachten
mit ihrer Nationalgeschichte, nur auf diese fällt Absichtlichkeit;
obgleich immer noch jene ganz schuldlose, die de Wette schil-
dert. Die Hauptspuren jener Einheit oder jenes alten National-
epos, das sich durch die mosaische Geschichte windet, entdeckt
nun de Wette in der Elohimurkunde. Seinem kritischen Zwecke
336 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
ist also diese notwendig die wichtigste, und ihr hauptsächlich
geht er nach. Ich, dem es nur auf die innere Vollendung des
Einzelnen ankommen darf, die mich in den Jehovafragmenten
am deutlichsten anspricht, musste also auch dieser in meiner
obigen Behandlung den Vorzug geben. Gelingen uns beiden
unsere Zwecke, so treffen sie aufs beste zusammen/
Wir dürfen hinzufügen, dass der Priestercodex gerade wegen
der geschlossenen Einheit seiner Erzählung, die ihm den Namen
der Grundschrift angetragen hat, uns die vorgeschrittenere Be-
arbeitung der Sage bietet, und dass der Jehovist gerade wegen
cies formell mangelhaften Zusammenhangs seiner # „Fragmente",
wegen deren man ihn lange Zeit als einen blossen Ergänzer der
Grundschrift betrachtet hat, dem Urquell der Sage näher steht.
IL
1. Auch in der Patriarchengeschichte ist der Grundriss der
gleiche in Q und JE: Abrahams Einwanderung in Kanaan mit
Sara und Lot, seine Trennung von Lot, Ismaels Geburt von
der Hagar, Erscheinung Gottes zur Verheissung Isaaks, Isaaks
Geburt, Tot Sara's und Abrahams, Ismael, Isaaks Heirat mit
Rebekka, Jakob und Esau, Jakobs Reise nach Mesopotamien
und seine Familiengründung daselbst, seine Heimkehr, Esau,
Joseph in Ägypten, Jakob in Ägypten, Jakobs Segen über
Joseph und seine übrigen Söhne, sein Tod und sein Begräbnis.
Der Stoff ist hier nicht mythisch, sondern national; darum durch-
sichtiger und in gewissem Sinne historischer. Freilich über die
Patriarchen ist hier kein historisches Wissen zu gewinnen, son-
dern nur über die Zeit, in welcher die Erzählungen über sie im
israelitischen Volke entstanden; diese spätere Zeit wird hier,
nach ihren inneren und äusseren Grundzügen, absichtslos ins
graue Altertum projiciert und spiegelt sich darin wie ein ver-
klärtes Luftbild ab. Das Knochengerüst der Erzvätersage bildet
bekanntlich die ethnographische Genealogie. Die Leastämme
werden mit den Rahelstämmen unter dem gemeinsamen Vater
Jakob-Israel zusammengefasst, demnächst das ganze Israel mit
dem Volke Edom unter dem alten Namen Isaak (Arnos 7, 9.
16), weiter Isaak mit Lot, dem Vater von Moab und Ammon,
unter Abraham; zusammen werden diese nah verwandten und
einst eng verbundenen hebräischen Völkerschaften in enge Be-
Die Erzählung des Hexateuchs. 337
Ziehung gesetzt zu den Bewohnern der mesopotg,mischen Wüste
und in scharfen Gegensatz zu den Kanaaniten, in deren Lande
sie wohnten. Das historische Nacheinander und Nebeneinander
ist logische oder statistische Subordination und Coordination ;
in Wirklichkeit sind gewöhnlich die Elemente älter als die
Gruppen und die kleineren Gruppen älter als die grösseren. Die
etwaigen Wanderungen der Völker und Stämme sind notwendige
Folgen des angenommenen Verwandtschaftsverhältnisses. Ganz
ähnlich liesse sich noch jetzt in jedem Augenblick die Statistik
eines beliebigen Volkes in der Form einer genealogischen Urge-
schichte darstellen. Eine unmittelbare Wiedergabe der bestehen-
den Verhältnisse ist allerdings die Genealogie nicht. Ob ein
Stamm der Vetter oder der Bruder oder der Zwillingsbruder
eines anderen, ob er überhaupt mit ihm verwandt oder nicht
verwandt ist, lässt sich nicht so objektiv feststellen; die Ver-
wandtschaft kann verschieden aufgefasst und gedeutet. werden,
die Gruppierung hängt immer etwas ab von dem Standpunkte
des Genealogen, sogar von seinen Zuneigungen und Abneigun-
gen. Die nahe Beziehung, in welche die Aramäer zu den
Israeliten gesetzt werden, wird sich wohl daraus erklären, dass
die Patriarchensage im mittleren und nördlichen Israel ihren
eigentlichen Boden hat, wie das aus der ausgesprochenen Vor-
liebe für Rahel und Joseph klar -erhellt. Wäre sie judäischen
Ursprungs, so würden wahrscheinlich die jetzt ungebührlich in
den Hintergrund gedrängten kainitischen Tribus der Sinaihalb-
insel viel stärker hervortreten, da sie zweifelsohne für die
älteste Geschichte Israels keine geringe Bedeutung gehabt haben.
Auch an scheinbaren Widersprüchen mangelt es in der ethno-
graphischen Genealogie nicht; Ismael, Edom, und die eben er-
wähnten kainitischen Tribus stossen sich mehrfach miteinander: das
erklärt sich ganz natürlich aus verschiedener Auffassung und
Gliederung der Verwandtschaftsverhältnisse. Hinzuzufügen ist
endlich noch, dass die Form der Genealogie an sich sehr bunten
Inhalt aufzunehmen verträgt. In der Patriarchensage wiegt
jedoch das ethnographische Element durchaus vor. Nur Abraham
ist gewiss kein Volksname wie Isaak und Lot; er ist überhaupt
ziemlich undurchsichtig. Natürlich wird man ihn in diesem
Zusammenhange darum doch nicht für eine geschichtliche Person
halten dürfen; eher noch könnte er eine freie Schöpfung unwill-
Weilhausen, Prolegomena, 99
338 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
ktirlicber Dichtang sein. Er ist wohl die jüngste Figur in dieser
Gesellschaft und wahrscheinlich erst verhältnismässig spät sei-
nem Sohne Isaak vorgesetzt. 1 )
Dieses Gerippe der ethnographischen Genealogie findet sich
nun beim Jehovisten überall mit Fleisch und Blut belebt.
Die Erzväter Abraham Isaak und Jakob sind nicht blosse Na-
men, sondern lebendige Gestalten, ideale Prototype des rechten
Israeliters. Alle sind sie friedliebende Hirten, zu ruhigem Woh-
nen bei den Zelten geneigt, bemüht dem Streit und Zank aus
dem Wege zu gehen, unter keinen Umständen bereit Gewalt
gegen Gewalt zu setzen und Unrecht mit dem Schwerte abzu-
weisen. Mutig und mannhaft sind sie nicht, aber gute Haus-
wirte, ein wenig unter der Herrschaft ihrer mit mehr Tempe-
rament ausgestatteten Ehefrauen. Sie dienen dem Jahve wesent-
lich in der selben Weise wie in historischen Zeiten ihre Nach-
kommen; ihre Frömmigkeit besteht nicht bloss in Opfern, sondern
in rechtschaffenem Wandel und in gläubiger Ergebung in Gottes
Fügung. Jakob ist realistischer gezeichnet als die beiden an-
>) Die Erzählungen über Abraham und über Isaak sind sich so ähnlich,
dass an gegenseitige Unabhängigkeit nicht zu denken ist; die über Isaak
aber Sind ursprünglicher, wie das besonders schlagend aus einem Ver-
gleich von Gen. 20, 2—16 mit 26, 6—12 sich ergibt: die kurze und pro-
fane Version, worin Isaak der. Held ist, ist die lebendigere und moti-
viertere, die lange und erbauliche, wo Abraham an seine Stelle tritt,
steigert die mögliche Gefahr zur wirklichen, macht dadurch das Eingreifen
der Gottheit notwendig und erreicht auf diese Weise eine Verherrlichung
des Patriarchen, die er sehr wenig verdient hat. Freilich finden sämt-
liche Commentatoren der Genesis in Kap. 20 das Original von Kap. 26,
aber sie stützen ihr Urteil nicht auf die Vergleichung der Parallelen,
sondern weil der Vater älter ist als der Sohn, halten sie auch die Erzäh-
lungen über den Vater für älter als die entsprechenden über den Sohn
und sehen überhaupt in Isaak lediglich einen Abklatsch Abrahams. Ge-
gen diesen beinah zu nahe liegenden Grundsatz erhebt sich jedoch das
Bedenken, dass sich in der späteren Entwicklung der Sage deutlich die
Richtung verfolgen lässt, Abraham zum Erzvater par excellence zu machen
und die anderen zu verdunkeln. In der älteren Literatur dagegen kommt
Isaak schon bei Arnos, Abraham aber zuerst bei dem Verfasser von Isa.40bis
66 vor — Micha 7, 20 ist exilisch und in Isa. 29, 23 sind die Worte
der Abraham erlöste unecht, sie haben keine mögliche Stelle im Satze
und die Vorstellung von der Erlösung Abrahams (aus dem Feuer der
Chaldäer) kommt erst sehr spät vor. Es fällt mir übrigens nicht ein zu
behaupten, dass zur Zeit des Arnos Abraham noch unbekannt gewesen
wäre; nur stand er schwerlich schon mit Isaak und Jakob auf gleicher
Stufe. Als Heiliger von Hebron könnte er kalibbäischen Ursprunges sein
und mit Ram (1. Chron. 2) zusammenhängen; Abram für Abiram ist
ebenso wie Abner für Abiner und Ahab für Ahiab. Der Name Abu Ru-
ham kommt in Hadith vor als nomen proprium viri.
Die Erzählung des Hexateuchs. 339
deren; ihn zeichnet eine starke Dosis von List und Gewinnsucht
aus, und diese. Eigenschaften führen ihn schliesslich immer zum
Ziele. Aus jeder Fährlichkeit und schwierigen Lage kommt
er nieht bloss heil, sondern mit Gewinn davon; Jahve hilft ihm,
aber vor Allem hilft er sich doch selber, ohne in seinen Mitteln
nach unserem Geschmacke sehr wählerisch zu sein. Die Erzäh-
lungen über ihn machen am wenigsten ein moralisches Gesicht,
im Grunde leuchtet aus ihnen nur die helle Freude über alle
gelungenen Künste und Griffe des Erzschelms. Unter den Neben-
figuren ist besonders Esau mit Vorliebe gezeichnet, dann Laban
und der gebrechliche Heilige Lot; Ismael wird als das Urbild
des Beduinen geschildert, als ein Waldesel von Mensch, dessen
Hand gegen jedermann und jedermanns Hand gegen ihn, und
der allen seinen Brüdern auf der Nase sitzt. Auffallend ist es,
dass die Helden der israelitischen Sage so wenig kriegerisch sich
zeigen, insofern scheinen sie nicht gerade die geschichtliche Art
des israelitischen Volkes zu reflektieren. Indessen ist es doch
nicht so unbegreiflich, dass ein Volk, welchem in der Gegenwart
ewiger Krieg aufgezwungen wurde, nicht bloss von einem ewigen
Frieden der Zukunft träumte, sondern auch seines Herzens
Wünsche in diesen friedlichen Gestalten der goldenen Vorzeit
verkörperte. Daneben muss man bedenken, dass das friedliche
Hirtenleben der Patriarchen durch die idyllische Form der Vor-
geschichte des Volkes veranlasst ist; Kriege können nur Völker
oder Stämme führen, aber nicht einzelne Männer 1 ). Daraus
wird man es erklären müssen, dass im persönlichen Charakter
der Patriarchen das historische Selbstbewusstsein der Nation so
wenig zum Ausdruck kommt. Dasselbe macht sich nur Luft in
den eingelegten Weissagungen über die Zukunft; hier spüren wir
den nationalen Stolz, der die Frucht von Davids Thaten ge-
wesen ist, aber immer schon verklärt zu religiöser Gehobenheit.
Viel lebhafter als in den persönlichen Charakterztigen der
Patriarchen, in denen sie wesentlich nur den einzelnen Israeliten
nach seinem Wesen und nach seinen Wünschen repräsentieren,
] ) Diese Erwägung ist allerdings weniger durchschlagend als die voran-
gehende. Nicht bloss der idyllischen Form wegen ist Jakob ein fried-
licher Hirt, sondern* er ist es seinem innersten Wesen nach, im ausge-
sprochenen Gegensatz zu seinem Bruder Esau, der trotz der idyllischen
Form kriegerisch ist. Ausnahmen wie Gen. 14 und 48, 22 (Kap. 34) be-
stätigen nur die Regel.
340 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
zeigen- sich die historisch-nationalen Bezüge in den Verhältnissen
derselben zu "ihren Brüdern Vettern und übrigen Verwandten.
Da blickt überall der Hintergrund, bricht überall die Stimmung
der israelitischen Königszeit durch. Am deutlichsten geschieht
das vielleicht in der Erzählung über Jakob und Esau. Schon
im Mutterleibe stossen sich die Zwillinge, schon bei der Geburt
will der jüngere dem älteren nicht den Vortritt lassen und ver-
sucht ihn an der Ferse zurückzuhalten. Das wird der besorgten
Mutter von dem Orakel zu Beerseba also erklärt: zwei Nationen
sind in deinem Leibe und zwei Völker scheiden sich aus deinem
Schosse, das eine wird das andere überflügeln und das ältere
dem jüngeren dienen. Die Knaben entwickeln sich sehr ver-
schieden, Esau schweift als rauher und gebräunter Jägersmann
in der Wildnis und lebt unbekümmert in den Tag hinein; Jakob,
ein frommer glatter Mann, bleibt daheim bei den Zelten und
versteht den Wert der Dinge, die sein argloser Bruder nicht
achtet. Jener ist der Liebling seines Vaters, des Autochthonen
Isaak, dieser wird von seiner Mutter, der Aramäerin Rebekka
bevorzugt; jener bleibt in der Heimat und nimmt sich seine
Weiber aus der Urbevölkerung des südlichen Kanaans und der
Sinaihalbinsel, dieser wandert aus und holt sie sich aus Mesopo-
tamien. Deutlich wird damit der Gegensatz der späteren Völker-
typen vorgespielt, des rohen urwüchsigen im Boden wurzelnden
Edom, und des glatteren civilisierteren den Weltmächten näher
stehenden Israel. Durch Trug und List gelingt es dem jüngeren
Bruder, den älteren um den Segen des Vaters und um das
Recht der Erstgeburt zu bringen; in Folge dessen nimmt sich
dieser vor, ihn zu töten und ihr Verhältnis wird sehr gespannt.
Edom war früher als Israel ein Volk und Reich geworden, wurde
aber dann von Israel überflügelt und schliesslich durch David
auch unterworfen; in Folge dessen entstand der wttthende Hass
zwischen den Brudervölkern, von dem Amfts redet. Dass dies
die geschichtliche Grundlage der Sage ist und als solche empfun-
den wird, erhellt ganz klar aus dem Wortlaut des Segens
Isaak; hier wird sogar schon Bezug genommen auf öfters wieder-
holte Versuche der Edomiter, das israelitische Joch abzuschütteln,
und diesen Versuchen wird schliesslich dn glücklicher Erfolg
verheissen. Vor David können sich also die Erzählungen über
Jakob und Esau nicht einmal in ihren Grundzügen gebildet
Die Erzählung des Hexateuchs. 341
habeu; in ihrer jetzigen Gestalt (Gen. 27, 40) blicken sie sogar
noch auf weit spätere Zeiten voraus. Bei diesem Wurzeln der
Sage in der späteren Geschichte, das im Jehovisten so unver-
holen zu Tage tritt, ist es denn auch nur eine scheinbare Spren-
gung des historischen Rahmens, wenn gelegentlich ein Ver-
zeichnis der edomitischen Könige bis auf David hergesetzt wird,
mit eingestreuten chronistischen Bemerkungen wie z. B., dass
Hadad ben Bedad (etwa gleichzeitig mit Gideon) die Midianiter
geschlagen habe auf dem Felde Moabs. Ein weiteres Beispiel,
wo der zeitgenössische Hintergrund recht klar durch die Patri-
archengeschichte hindurchschimmert, bietet die Erzählung von
Jakob und Laban dar. Dem von Mesopotamien nach dem
Jordanlande auswandernden, halb* flüchtigen Hebräer folgt der
aramäische Schwiegervater auf dem Fusse und ereilt ihn in
Gilead: dort vertragen sie sich mit einander und türmen einen
Wall auf, welcher die Grenze zwischen ihnen bilden soll, die
zu respektieren und nicht feindlich überschreiten zu wollen
sie sich gegenseitig verpflichten. Das entspricht dem wirklichen
Sachverhalte, dass der hebräischen Einwanderung in Kanaan
die aramäische folgte und sie zu überfluten drohte, dass Gilead
das Grenzland zwischen den beiden Völkern war und lange Zeit
der Schauplatz der grimmigsten Kämpfe zwischen ihnen. Auf
die Syrerkriege wird auch im Segen Jakobs, in dem Spruche
über Joseph, Bezug genommen; die Pfeilschützen, die Joseph
arg bedrängen, ihn aber nicht zu überwältigen vermögen, können
nur die Aramäer von Damaskus sein, deren Angriffen er ein
Jahrhundert lang ausgesetzt war; Joseph erscheint hier durch-
aus als der Träger des nordisraelitischen Königtums, als der
Diademträger unter seinen Brüdern, wozu er ja auch schon durch
seine frühesten Träume bestimmt wird. Sonst scheinen aller-
dings der Erzählung über Joseph, soweit sie überhaupt durch-
sichtig und nicht Produkt freier Poesie ist, weit ältere geschicht-
liche Thatsachen zu Grunde zu liegen, aus einer Zeit wo sich
die Vereinigung der beiden Hälften des nachmaligen Volkes
Israel gerade erst vollzog, wenngleich in der Eifersucht der
Brüder auf ihn ein späteres Motiv eingemischt sein mag 1 ).
l ) Es verdient Beachtung, dass Joseph ursprünglich allein in Ägypten ist
und seine Brüder erst nach sich zieht. Vermutlich zog die Übertragung
des Begriffes Gesamtisrael in' die Urzeit die Folge nach sieb, dass man
342 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Ebenso sind auch die geschichtlichen Beziehungen, die den Er-
zählungen von den übrigen Söhnen Jakobs zu Grunde liegen,
verhältnismässig sehr alt; sie liefern uns beinah die einzigen
Nachrichten über die grosse Veränderung, welche bald nach
Mose in dem Bunde der Stämme vor sich gegangen sein muss.
Diese Veränderung hat besonders die zusammengehörige Gruppe
der vier alten Leastämme betroffen. Rüben hat sich zu früh
die Rechte des Vaters angemasst und verliert den Primat. Si-
meon und Levi unternehmen eigenmächtig einen treulosen Über-
fall gegen die Kanaaniter, Gesamtisrael lässt sie die Folgen
allein tragen, sie erliegen der Rache ihrer Feinde und lösen
sich als Stämme auf. Dadurch geht die Erstgeburt auf Juda
über. Zwar wird auch Juda, ohne Zweifel in den Kämpfen,
welche die Ansiedfung im Lande Kanaan begleitet haben, arg
mitgenommen und auf einen kleinen Teil seines alten Bestandes
herabgemindert, aber hier wird die Lücke ausgefüllt durch
frischen Zuwachs von dem Mutterboden der Leastämme her,
durch die Verbindung von Peres und Zerah , d. i. von Kaleb
Kenaz Kain Jerahmeel, mit dem Reste des alten Juda. Sicher
liegen den jehovistischen Erzählungen über Rüben Simeon Levi
Juda Thatsachen aus der Zeit der Eroberung des heiligen Lan-
des zu Grunde; es ist indessen hier nicht der Ort die geschicht-
liche Interpretation noch weiter auszuführen. 1 ) Ausdrücklich
aber möge- noch bemerkt werden, dass auch da, wo die histori-
schen Motive ganz unzweideutig in der Patriarchensage sich ver-
raten, doch nicht einfach die Wirklichkeit darin transcribiert ist.
In Wirklichkeit hat Edom seinen Zorn gegen Jakob immerdar
bewahrt und sein Verwandtschaftsgefühl erstickt (Arnos 1, 11);
die Geschicke des Teils nicht von den Geschicken des Ganzen trennen
konnte; ähnlich ist es, dass wenn Rahel eine Aramäerin ist, auch Lea
eine sein muss. Vielleicht ist die Verbindung von Rahel und Lea zu
einer nationalen Einheit erst durch Mose zu Stande gekommen. Mose
kam von der Sinaihalbinsel (Lea) herbei, um die Hebräer von Gosen
(Joseph) dorthin überzuführen; die Bezeichnung Levi konnte er nicht in
Lea, sondern nur in Joseph erhalten.
*) Vgl. den Artikel Israel in der Encyclopaedia Brit. (1881) p. 400 sq. Eine
ähnliche Stammgeschichte ist Gen. 4, 1 — 15. Der alte Stamm Kain, dessen
Name auf Ansässigkeit und Cultur hinweist, scheint in sehr früher
Zeit zerschmettert und in alle Winde (Jud. 5, 24) gestoben zu sein —
ähnlich wie Levi, mit dem er auch das Priestertum geteilt zu haben
scheint. Dass Gen. 4, 1—15 nur durch Interpolation in die Ursage ge-
kommen ist, ist bereits gesagt,
Die Erzählung des Hexateuchs* 343
in der Genesis kommt er dem von Mesopotamien zurückkehren-
den Bruder, der in grösster Angst vor ihm ist, mit rührender
Versöhnlichkeit entgegen : es ist ein Zug der den alten Israeliten
nicht geringe Ehre macht. Daneben ist auch ein Fall von
offenbarer Gehässigkeit zu verzeichnen, nämlich Gen. 19, 30—38,
wo insbesondere die auffallende Namenlosigkeit der Töchter Lots
beweist, dass sie lediglich zum Zweck der Blutschande zwischen
Lot und seine Söhne Moab und Ammon eingeschoben sind.
Sympathien und Antipathien mischen sich überall ein, dabei
wird durchgehend der nordisraelitische Standpunkt angenommen,
wie sieh besonders klar daraus ergibt, dass Rahel die schöne
und geliebte Frau Jakobs ist, die er eigentlich allein haben
wollte, Lea die hässliche und zurückgesetzte, die ihm nur unter-
geschoben ist. 1 ) Im Ganzen werden die Gegensätze der Wirk-
lichkeit in dieser poetischen Verklärung eher ausgeglichen als
verschärft, die verbindenden Momente treten stärker und ab-
sichtlicher hervor als die trennenden. Von eigentlichen Anspie-
lungen detaillierter und persönlicher Art, z. B. auf die unsaube-
ren Vorgänge am Hofe Davids, ist nichts zu bemerken, so wenig
wie von gemachter und versteckter Tendenz.
Diese Geschichten würden nun aber in der Luft schweben,
wenn nicht noch andere Elemente hinzukämen, durch die es
bewirkt wird, dass sie an einer bestimmten Ortlichkeit haften.
Vorzugsweise kommt es in dieser Hinsicht in Betracht, dass die
Patriarchen als die Begründer des volkstümlichen Cultus zu
Sichern, Bethel, Beerseba und Hebron angesehen werden, wie
wir bereits oben S. 31 ff. gesehen haben. Eine ganze Reihe von
Erzählungen über sie sind Cultusmythen: sie entdecken darin
durch eine Theophanie, dass ein bestimmter Fleck Landes hei-
liger Boden sei, errichten dort einen Altar und nennen ihn nach
dem Numen des Ortes. Sie wohnen ausschliesslich an Stätten,
die späterhin als uralte Heiligtümer galten, und inaugurieren
den Opferdienst daselbst. Die Bedeutung dieser Erzählungen
hängt ganz und gar von dem Lokal ab; Interesse haben sie nur
für diejenigen, die noch immer an dem selben Altare wie einst
Abraham dem Jahve opfern, unter der selßen heiligen Eiche More
l ) Es ist daraus aber nur zu schliessen, dass diese Sagen ursprünglich in
Ephraim entstanden, nicht dass sie dort auch in ihrer uns vorliegenden
Gestalt niedergeschrieben sind.
344 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
oder Mamre. Ähnlich finden oder graben die Patriarchen die
Grabhöhlen, die Quellen oder Brunnen, pflanzen sie die Bäume,
die ihre Nachkommen noch nach Jahrtausenden heilig oder doch
in Ehren halten. Es kommt auch vor, dass auffallende oder
bedeutungsvoll scheinende Formationen der Landschaft durch
einen Vorgang aus der Patriarchenzeit legendarisch erklärt wer-
den. Wäre das Tote Meer nicht, so würden Sodom und Go-
morrha nicht untergegangen sein; wäre nicht die kleine flache
Landzunge, welche von Südosten her in den Sumpf sich vor-
streckt, so würde Lot alsbald auf die Berge seiner Söhne Moab
und Ammon geflohen sein und nicht erst den Umweg über Soar
gemacht haben, welcher bloss den Zweck hat zu erklären,
warum dieser Zipfel vom „Einstürze" ausgenommen ist, zu dessen
Gebiet er doch eigentlich gehört. Die Salzsäule, zu der Lots
Weib versteinert worden war, wurde noch zur Zeit des Josephus
gezeigt; vielleicht hat auch der Ofenrauch , den Abraham am
Morgen nach der Katastrophe vom judäischen Ufer aus auf-
steigen sah, eine Beziehung zu einer dort gelegenen gleichna-
migen Stadt. ') Die Entstehung des Gebirges Gilead wird durch
seine historische Bedeutung erklärt; es ist ein ungeheurer Wall,
der einst von Laban und Jakob aufgetürmt wurde, um als
Grenze zwischen Aram und Israel zu dienen. Manchmal haben
die Namen der Orte Anlass zur Entstehung einer Legende ge-
geben, die nicht immer den wahren Grund der Benennung trifft.
Letzteres ist zum Beispiel der Fall bei der Quelle von Lahai
Koi, durch deren Entdeckung Hagar und Ismael vor dem Ver-
schmachten gerettet werden. „Hagar nannte den Namen Jahve's,
der mit ihr redete, El Koi (Gott des Schauens), denn sie sprach:
habe ich die Gottheit geschaut und bin am Leben erhalten nach
meinem Schauen! Darum nennt man den Brunnen Beer Lahai
Koi (lebendig ist wer mich schaut), er liegt zwischen Kades und
Berdan.« Nach Jud. 15, 18-20, 2. Sam. 23, 11 wird Lahai Koi
richtiger zu erklären sein: Kinnlade der Antilope — so heisst
nach dem Aussehen eine Reihe neben einander stehender Fels-
zähne. 2 )
*) ItSQDD Jos. 15, 62 heisst wohl richtiger JEaDfl» da der Name wegen des
vorgesetzten Artikels eine klare Bedeutung erkennen lassen muss.
2 ) Vgl. Onugnathos und die Kamelskinnlade bei Vakidi a. 0. S. 298 Anm. 2,
Jakut IV. 353, 9 ff. ^1 >t ein verschollener Tiername. Statt Q^n
Die Erzählung des Hexateuchs. 345
Der hiermit aufgezeigte reale Kern der Sage erscheint nun
aber weiter im Jehovisten tiberall und immer tiberkleidet von
dem bunten Gewebe der Phantasie. Je länger eine Erzählung
durch den Mund des Volkes gegangen ist, desto mehr ist ihre
Wurzel verdeckt von den wuchernden Trieben; man wird zum
Beispiel annehmen dürfen, dass die Geschichte Josephs, eben
deshalb weil sie fast zum Romane geworden ist, ihrer letzten
Entstehung nach in hohes Altertum hinaufreicht. Die volkstüm-
liche Phantasie spielt nun wohl wie sie will; doch macht sie
nicht solche Sprünge, dass man ihr nicht nachgehen könnte.
Wunder, Engel, Gotteserscheinungen, Träume fehlen nie auf der
Palette. Ganz gewöhnlicher Aberglaube liegt zu Grunde, wenn
Rahel durch den Genuss der ihr von Lea abgetretenen Alraunen,
die Rüben gefunden hat, fruchtbar und mit Joseph schwanger
wird. Echt Mythisches findet sich vereinzelt in dem Ringen
Jakobs mit der Gottheit an der Jabbokfurt. Sehr beliebt sind
Etymologie und Spruch als Ausgangspunkte von oft sehr leben-
digen bunten Erzählungen. Auch hinter dem, was man für in-
dividuelles Kunstproduct halten möchte, stecken dennoch oft
alte stilvolle Motive. Ganz und gar aus solchen zusammenge-
setzt ist zum Beispiel die Geschichte Jakobs und Labans. Die
Brautwerbung am Brunnen wiederholt sich ganz ähnlich noch
zweimal ; dass der Schwiegervater die älteste Tochter zuerst los
werden will und sie dem Eidam nach dem Hochzeitsgelage
unterschiebt, ist ebenfalls schwerlich Erfindung eines Einzelnen;
die Hirtenkunststücke, wodurch Jakob die Schafe beliebig färbt,
zeigen ganz die Art des Volksschwankes. Eine sehr beträcht-
liche Stelle nimmt gehaltene oder verletzte Gastfreundschaft in
der jehovistischen Genesis ein; dass unerkannt die Gottheit
selber von Lot bewirtet, von den Sodomiten freventlich ange-
tastet wird, ist ein bekannter tiberall wieder auftauchender Zug.
Psychologische Ausschmückung, eigentliche Mache ist sehr We-
niges; das Meiste beruht auf der ineinandergreifenden unwill-
kürlichen Arbeit Unzähliger. Wie bildsam und lebendig der
Stoff noch im neunten oder achten Jahrhundert gewesen sein
muss, zeigen die vielfachen Varianten und Dubletten, die gleich-
wohl den Grundcharakter des Themas kaum verändern.
Gen. 16, 15 ist DVi^N zu lesen (vgl. 1. Sam. 3, 13) und vor 'HpiN etw &
VifcO einzuschieben.
346 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Noch einen Zug zur Charakteristik des Jehovisten muss ich
hinzufügen. Seine Erzählungen sind jede für sich und einzeln
zu verstehen; die Genealogie dient nur dazu sie aufzureihen,
ihr Interesse . und ihre Bedeutung bekommen sie aber keines-
wegs erst aus dem Zusammenhang. Die lokale Färbung so
vieler unter ihnen beweist lokalen Ursprung, und wie manche
stossen sich im Grunde genommen und stehen nur gezwungen
bei einander! In dem ganzen literarischen Charakter, in der
lockeren Fügung der jehovistischen Patriarchengeschichte zeigt
sich wie allmählich die Elemente zusammengebracht, wie wenig
sie schon mit einander verwachsen sind. In diesem Punkt steht
die Patriarchengeschichte der Ursage des Jehovisten, bei der
wir das selbe- constatiert haben, ganz gleich.
2. Die jehovistische Gestalt der Erzväterlegenden beherrscht
durchaus den Eindruck, den wir überhaupt davon haben. So
lernen sie die Kinder in der Schule und so können sie sie be-
halten. Um die Parallele des Priestercodex damit zu ver-
gleichen, ist es unumgänglich dieselbe zunächst herzusetzen;
denn Wenige kennen den Eindruck, den sie macht.
„Und Abram war 5 Jahr und 70 Jahr als er aus Harran
auszog. Und Abram nahm Sarai sein Weib und Lot seines
Bruders Sohn und all ihren Erwerb, den sie erworben, und die
Seelen, die sie erzielt hatten, und sie zogen aus zu gehen in's
Land Kanaan und kamen in's Land Kanaan (12, 4 b . 5). Und
das Land ertrug sie nicht beisammen zu wohnen, denn ihr Be-
sitz war gross, und sie konnten nicht beisammen wohnen. Und
sie trennten sich von einander, Abram wohnte im Lande Kanaan
und Lot wohnte in den Städten des Kikkar. *) Und da Gott
die Städte des Kikkar verderbte, gedachte Gott an Abram und
Hess Lot heraus aus dem Umsturz, als er die Städte umstürzte,
in denen Lot wohnte (13, 6. ll b . 12 ab - 19, 29). Und Sarai
war unfruchtbar, hatte kein Kind. Da nahm Sarai, Abrams
Weib, die Ägypterin Hagar, ihre Magd, nach 10 Jahren des
Aufenthalts Abrams im Lande Kanaan, und gab sie Abram,
ihrem Manne, ihm zum Weibe, und Hagar gebar dem Abram
einen Sohn, und Abram nannte den Namen des Sohnes, den
Hagar geboren hatte, Ismael; und Abram war 80 Jahr und
6 Jahr, da Hagar den Ismael dem Abram gebar (11, 30. 16, 3.
l ) wo später das Tote Meer war,
Die Erzählung des Hexateuchs. 347
15. 16)." Folgt die Bundschliessung Gottes mit Abram, dessen
Namen er jetzt in Abraham verwandelt, und die Anordnung der
Beschneidung als Zeichen der Bundeszugehörigkeit; ferner die
Ankündigung der Geburt Isaaks von der 90jährigen Sarai, die
hinfort Sara heissen soll, und dessen Einsetzung zum Erben des
Bundes an Ismaels Stelle (Kap. 17). „Und Sara gebar dem
Abraham einen Sohn zu der Frist, die ihm Gott gesagt hatte.
Und Abraham nannte den Namen seines Sohnes, der ihm ge-
boren war, den ihm Sara geboren hatte, Isaak. Und Abraham
beschnitt seinen Sohn Isaak nach acht Tagen, wie Gott ihm
geboten hatte. Und Abraham war 100 Jahr alt, als ihm sein
Sohn Isaak geboren wurde (21, 2—5). Und es war das Leben
der Sara 100 Jahr und 20 Jahr .und 7 Jahr, die Lebensjahre der
Sara. Und Sara* starb in Kiriath Arba, das ist Hebron im
Lande Kanaan". Daran schliesst sich die juristisch genau auf-
genommene Verhandlung Abrahams mit dem Hethiter Ephron,
von dem er die Höhle von Makpela gegenüber Mamre zum Erb-
begräbnis erwirbt (Kap. 23). „Und dies sind die Tage des Le-
bens Abrahams, die er lebte, 100 Jahr und 70 Jahr und 50 Jahr.
Und Abraham verschied und starb in gutem Greisenalter, hoch-
betagt und lebenssätt, und ging ein zu seiner Verwandtschaft.
Und Isaak und Ismael, seine Söhne begruben ihn in der Höhle
Makpela auf dem Felde Ephrons ben Sohar des Hethiters gegen-
über Mamre: das Feld, das Abraham von den Kindern Heth ge-
kauft hatte, da ward Abraham begraben und sein Weib Sara.
Und nachdem Abraham tot war, segnete Gott seinen Sohn
Isaak (25, 7— ll a )." Folgen die Tholedoth (generationes) Ismaels,
gemäss der regelmässigen Sitte, zuerst die Nebenlinien zu erle-
digen (25, 12—17). „Dies sind die Tholedoth Isaaks des Sohnes
Abrahams. Abraham zeugte Isaak .... und Isaak war 40 Jahr
alt, da er die Rebekka, die Tochter Bethuels des Aramäers aus
Paddan Aram, die Schwester Labans des Aramäers sich zum
Weibe nahm .... und Isaak war 60 Jahr alt, da sie geboren
wurden (25, 19. 20. 26°). Und*Esau war 40 Jahr alt, da nahm
er ein Weib, Judith, die Tochter Beerfs des Hethiters, und Bos-
math, die Tochter Elons des Hethiters, und sie wp.ren ein Her-
zenskummer für Isaak und Rebekka. Und Eebekka sagte zu
Isaak: mich verdriesst zu leben wegen der Töchter Heths; wenn
Jakob auch solche Weiber von den Töchtern Heths, von den
348 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Töchtern des Landes, nimmt, was soll mir das Leben! Da rief
Isaak den Jakob und segnete ihn und befahl ihm und sprach
zu ihm: du sollst dir kein Weib nehmen von den Töchtern Ka-
naans; auf gehe nach Paddan Aram zum Hause Bethuels, des
Vaters deiner Mutter, und hole dir von dort ein Weib von den
Töchtern Labans, des Bruders deiner« Mutter, und. El Schaddai
wird dich segnen, dich mehren und ausbreiten, und er wird dir
den Segen Abrahams geben, dir und deinem Samen mit dir,
dass du das Land, wo du fremd bist, erbest, das Gott dem
Abraham gegeben. Und Isaak entsandte Jakob, und er ging
nach Paddan Aram zu Laban ben Bethuel dem Aramäer, dem
Bruder der Rebekka, der Mutter Jakobs und Esau's. Und Esau
sah, dass Isaak den Jakob segnete und ihn nach Paddan Aram
sandte, um sich von dort ein Weib zu nehmen, indem er ihn
segnete und ihm befahl: du sollst kein Weib von den Töchtern
Kanaans nehmen. Jakob nun hörte auf seinen Vater und ging
nach Paddan Aram. Esau aber sah, dass die Töchter Kanaans
seinem Vater Isaak misfielen, und Esau ging hin zu Ismael und
nahm die Mahalath, die Schwester Nebajoths, zu seinen Wei-
bern hinzu sich zum Weibe (26, 34f. 27, 46. 28, 1-9) ... und
Laban gab ihr seine Magd Zilpa, seiner Tochter Lea zur Magd
.... Und er gab ihm seine Tochter Rahel ihm zum Weibe,
und Laban gab seiner Tochter Kahel seine Magd Bilha ihr zur
Magd (29, 24. 28*. 29). Und die Söhne Jakobs waren zwölf.
Die Söhne Lea's: der Erstgeborene Jakobs Rüben, Simeon, Levi,
Juda, Issachar, Zebuion. Die Söhne Raheis: Joseph und Ben-
jamin. Die Söhne Bilha's Raheis Magd: Dan und Naphthali.
Die Söhne Zilpa's Lea's Magd: Gad und Äser. Das sind die
Söhne Jakobs, die ihm geboren wurden in Paddan Aram (35,
23—26) . . . [Und Jakob nahm] all seinen Erwerb, den er er-
worben, die Habe seines Besitzes, den er in Paddan Aram er-
worben, heimzugehen zu seinem Vater Isaak in's Land Kanaan
(31, 18). Und Gott erschien dem Jakob als er heimkam aus
Paddan Aram, und segnete ihn, und Gott sprach zu ihm: dein
Name ist Jakob, dein Name soll nicht mehr Jakob heissen, son-
dern Israel soll dein Name sein. Und Gott sprach zu ihm :
ich bin El Schaddai, wachse und bjreite dich aus, ein Volk und
ein Haufe von Völkern soll aus dir kommen und Könige sollen
aus deinen Lenden hervorgehen; und das Land, das ich Abraham
Die Erzählung des Hexateuchs. 349
und Isaak gegeben habe, dir will ich's geben, und deinem Sa-
men nach dir will ich das Land geben. Und Gott fuhr auf von
ihm an dem Orte wo er mit ihm geredet hatte. Und Jakob
nannte den Namen des Ortes, wo Gott mit ihm geredet hatte, Bethel
(35, 9—13. 15). Und sie brachen auf von Bethel, und da es noch
eine kurze Strecke bis nach Ephrath war, starb Rahel und ward
begraben am Wege nach Ephrath d. i. Bethlehem (35, 16 a . 19;
vgl. 48, 7. 49, 31). Und Jakob kam zu seinem Vater Isaak
nach Mamre bei Kiriath Arba d. i. Hebron, wo Abraham und
Isaak als Fremde wohnten. Und es waren die Tage Isaaks
100 Jahr und 80 Jahr. Und Isaak verschied und statb und ging
ein zu seiner Verwandtschaft, hochbetagt und lebenssatt, und
seine Söhne Esau und Jakob begruben ihn (35, 27—29)." Fol-
gen die Tholedoth Esau's in Kap. 36 '). „Und Esau nahm seine
Weiber und seine Söhne und seine Töchter und alle Seelen seines
Hauses und seine Habe und all sein Vieh und all seinen Besitz,
den er erworben im Lande Kanaan, und ging in's Land Seir
wegen seines Bruders Jakob. Denn ihr Besitz war zu gross um
beisammen zu wohnen, und das Land ihres. Aufenthalts ver-
mochte nicht sie zu ertragen wegen ihres Besitzes. Und Esau
wohnte auf dem Gebirge Seir, Esau das ist Edom. Und Jakob
wohnte im Lande des Aufenthalts seines Vaters, im Lande Ka-
naan (36, 6—8. 37, 1). Dies sind die Tholedoth Jakobs
(37, 2). Und sie nahmen ihr Vieh und ihren Erwerb, den sie •
erworben im Lande Kanaan und kamen nach Ägypten, Jakob
und all sein Same mit ihm; seine Söhne und sefher Söhne Söhne
und all seinen Samen brachte er mit sich nach Ägypten (46, 6.
7). Folgt die Aufzählung der 70 Seelen, welche damals seinen
Samen ausmachten. „Und Jakob und seine Söhne kamen nach
Ägypten zu Joseph, und Pharao, der König von Ägypten, hörte
es. Und Pharao sagte zu Joseph : dein Vater und deine Brüder
sind zu dir gekommen, siehe das Land Ägypten steht dir offen,
im bebten Teile des Landes lass deinen Vater und deine Brüder
wohnen. Und Joseph brachte seinen Vater Jakob und stellte
ihn vor Pharao, und Jakob segnete Pharao. Und Pharao sprach
zu Jakob : wie viel sind die Tage deiner Lebensjahre? und Jakob
sprach zu Pharao: die Tage der Jahre meines Aufenthalts in
l ) welches Kapitel jedoch nur teilweise dem Priestercodex angehört.
350 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
der Fremde sind 130 Jahre, wenig und böse sind die Tage
meines Lebens gewesen und haben nicht erreicht die Tage der
Jahre meiner Väter zur Zeit ihres Aufenthalts. Und Jakob
segnete den Pharao und ging fort von Pharao. Und Joseph
Hess seinen Vater und seine Brüder wohnen und gab ihnen
Grundbesitz im Lande Ägypten, im besten Teile des Landes,
im Lande Eameses, wie ihm Pharao geboten hatte (47, 5 b . 6. Sept.;
47, 7— 11). Und sie siedelten sich dort an und wuchsen und
mehrten sich sehr. Und Jakob lebte im Lande Ägypten 17 Jahr,
und es waren die Tage Jakobs, seine Lebensjahre, 7 Jahr und
140 Jahr (47, 27 b . 28) . . . Und Jakob spracb zu Joseph: El
Schaddai erschien mir zu Luz im Lande Kanaan und segnete
mich und sprach zu mir: siehe ich breite dich aus und mehre
dich und mache dich zu einem Haufen von Völkern und gebe
dieses Land deinem Samen nach dir zu ewigem Besitz. Und
nun, deine beiden. Söhne, die dir im Lande Ägypten geboren
sind, ehe ich zu dir kam nach Ägypten, sind mein; Ephraim und
Manasse sollen mein sein wie Rüben und Simeon. Und die
Kinder, die du nach ihnen gezeugt hast, sollen dein sein; nach
dem Namen ihrer Brüder sollen sie heissen in deren Erbe. Und
als ich von Paddan kam, starb mir Rahel im Lande Kanaan
unterwegs als es noch eine kurze Strecke bis nach Ephrath war,
und ich begrub sie am Wege nach Ephrath, das ist Bethlehem
•(48, 3—7, zu v. 7 vgl. 49, 31) .... [und auch die übrigen Söhne]
segnete er und befahl ihnen und sprach zu ihnen: ich gehe ein
zu meiner Verwfcdtschaft, begrabt mich bei meinen Vätern in
der Höhle des Feldes Makpela gegenüber MSmre im Lande Ka-
naan, welches Feld Abraham von Ephron dem Hethiter zum
Erbbegräbnis gekauft hat — dort haben sie Abraham begraben
und Sara sein Weib, dort haben sie Isaak begraben und Rebekka
sein Weib und dort habe ich Lea begraben — den Besitz des
Feldes und der Höhle darauf von den Kindern Heth. Und Jakob
borte auf seinen Söhnen zu befehlen und zog seine Füsse zu-
sammen auf dem Lager und verschied und ging ein zu seiner
Verwandtschaft (49, 28 b — 33). Und seine Söhne brachten ihn
in's Land Kanaan und begruben ihn dort in der Höhle des Fel-
des Makpela, welches Feld Abraham gekauft hatte zum Erbbe-
gräbnis, von Ephron dem Hethiter, gegenüber Mamre (50, 12.
13). Und dies sind die Namen der Kinder Israel, die nach
fej:
Die Erzählung des Hexateuchs. 351
Ägypten kamen, mit Jakob kamen sie, jeder mit seinem Hause:
Rüben Simeon Levi Juda Issacbar Zebuion Benjamin Dan Naph-
thali Gad Äser. Und die Summe der Seelen, die aus Jakobs
Lenden hervorgegangen waren, war 70 Seelen, und Joseph war
in Ägypten. Und die Kinder Israel wuchsen und wucherten gar
sehr, und das Land ward voll von ihnen, und die Ägypter
knechteten die Kinder Israel mit Härte, zu aller Arbeit, welche
sie durch sie arbeiteten mit Härte, und verbitterten ihnen das
Leben mit schwerer Arbeit (Exod. 1, 7. 13. 14). Und die Kinder
Israel stöhnten wegen der Arbeit und schrien, und ihre Klage
wegen der Arbeit drang zu Gott, und Gott hörte ihr Geschrei
und Gott gedachte an seinen Bund mit Abraham Isaak und
Jakob und Gott hatte ein Einsehen (2, 23—25). Und Gott re-
dete zu Mose und sprach zu ihm: Ich bin Jahve. Dem Abraham
Isaak und Jakob bin ich erschienen als El Schaddai, mit meinem
Namen Jahve habe ich mich ihnen nicht kundgegeben, und ich
habe einen Bund mit ihnen gemacht, ihnen das Land Kanaan
zu geben, das Land ihres Aufenthalts, wo sie Fremdlinge waren.
Und ich habe auch das Geschrei der Kinder Israel gehört, dass
die Ägypter sie knechten, und habe meines Bundes gedacht
u. s. w. (6, 2ffA"
Das ist <ras Ganze. Im Allgemeinen beschränkt sich die
Darstellung darauf, bloss die Gliederung und Verkettung des
Stoffes wiederzugeben. Es ist als ob Q der rothe Faden sei,
an dem äie Perlen von JE aufgereiht werden. Statt des noch
ziemlich lockeren Gefüges des Jehovisten zeigt die Erzählung
des Priestercodex eine fest geschlossene literarische Form; ein
sehr merkwürdiges Zeichen davon sind die regelmässigen Über-
schriften an der Spitze der einzelnen Abschnitte, die stehend mit
den Worten ni*6in rhu (hae sunt generationes) , beginnen, von
denen die Genesis den Namen hat 1 ) — in der übrigen histori-
schen Literatur des Alten Testamentes findet sich dergleichen
noch nicht. Dabei ist charakteristisch, dass jedesmal nach einer
solchen Überschrift, die einen neuen Abschnitt eröffnet, zuerst
ganz kurz der Inhalt des vorigen rekapituliert wird, um das
Glied der Kette einzureihen.
l ) Autt) ^ ßfßXo« fzv&teuK 2, 4 Sept. Daher Ewalds Name für den Priester-
codex, der für die Genesis oder vielleicht überhaupt für das Vierbtmdes-
buch (Q) sehr passend ist: Buch der Ursprünge, über originum.
352 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Auf den Inhalt der einzelnen Erzählungen geht der Priester-
codex so wenig wie möglieh ein. Die Prädikate werden so weit
es geht abgestreift und darnach die Subjekte ordentlich in ein
Register, mit verbindendem Texte, zusammengestellt. Fast
schrumpft die Darstellung auf diese Weise zusammen zu einer
Art räsönnierender Genealogie; die Genealogie bildet jedenfalls
den hauptsächlichen Inhalt der Geschichte und tritt hier so breit
und systematisch auf wie nirgend sonst. Man hat nun wohl
eben hierin einen Beweis gefunden, dass Q einem älteren Ent-
wicklungsstadium der hebräischen Geschichtschreibung angehöre
als JE; denn dass sich die älteste hebräische a und überhaupt
morgenländische Geschichtschreibung aus den den Stammes-
und Geschlechtsverzeichnissen eingefügten historischen Notizen
und Überlieferungen herausgestaltet habe, könne doch wohl
keinem Zweifel unterliegen *). Indessen wissen wir genau, dass
in den Büchern der Richter Samuel^ und der Könige von ge-
nealogischer Statistik nichts vorkommt, während die Chronik
samt Zubehör voll davon ist; wir wissen ferner, dass Lieder wie
Jos. 10, 12. 13. Jud. 5. 2. Sam. 1, 19ff. 3, 33f. die ältesten histo-
rischen Denkmäler sind, undvdass sich davon in JE eine Anzahl
finden, in Q kein einziges. Die Herdersche Theorie von der
Entwicklung der Geschichte aus der Genealogie halft nicht stich 2 );
ausserdem aber haben wir es hier überhaupt nicht mit eigent-
licher Geschichte zu thun, sondern mit Volkssage.
Wohl liegt die Genealogie auch im Jehovisten als Skelett
zu Grunde. Sie ist das naturgemässe Band, um die Sagen auf-
zureihen. Auch in der Zeit, wo diese letzteren nur erst einzeln
und mündlich umliefen, ist sie dem Volke nicht unbekannt ge-
wesen. Aber sie hat nur als stillschweigende Voraussetzung zu
Grunde gelegen. Wenn von Isaak und Ismael und Lot und Esau
erzählt wurde, so wusste man ohne weiteres, was man sich unter
diesen Personen vorzustellen hatte, in welcher Beziehung sie zu
Israel und zu einander standen. Das war nur aas selbstver-
ständliche Substrat, aber keineswegs das eigentliche Interesse
der ursprünglichen Erzählungen. Dieses hängt vielmehr eben an
! ) Riehm, die s. g. Grundschrift des Pentateuchs, in den Studien und Kri-
* tiken 1872 S. 296.
s ) auch bei den Arabern nicht, wie besonders Sprenger gegen Caussin de
Perceval (Essai, prefaee p. IX) ausgeführt hat.
Die Erzählung des Hexateuchs. 353
den Zügen, die im Priestercodex fortgefallen sind. Die Charak-
teristik der Völker nach ihrem wirklichen historischen Verhält-
nisse zu einander, nicht nach dem leeren embryologischen, nach
ihrer Gesinnung gegen einander, nicht nach ihrer Verwandt-
schaft, ist das eigentlich Fesselnde dieser Art von Sagen; auf
ihrer unbewussten Transparenz, auf dem Durchscheinen der ge-
schichtlichen Stimmung ihrer Entstehungszeit beruht ihr Reiz
und ihr Leben. Je mehr wir dabei von Liebe und Hass und
Eifersucht und Schadenfreude spüren, desto näher stehen wir
den treibenden Kräften der Überlieferung über die Vorzeit. Im
Priestercodex fehlen alle jene Geschichten, an denen man etwa
einen moralischen Anstoss nehmen könnte, z. B. von der durch
die Feigheit der Erzväter bewirkten Gefährdung der Ehre ihrer
Weiber, von der grausamen Eifersucht der Sara auf die Hagar,
von dem hässlicheu Wettkampfe Lea's und Raheis um Mann
und Kinder, von der Blutschande der Töchter Lots, von der
Schändung Dina's. Aller Hass und Streit und Betrug in der
Erzväterfamilie fällt fort: Lot und Abraham, Isaak und Ismael,
Jakob und Esau gehen schiedlich friedlich auseinander; von dem
bösen Spiele Labans und Jakobs gegen einander, von der Treu-
losigkeit Simeons und Levi's gegen Sichern, von der Feind-
schaft der Brüder gegen Joseph ist nichts im Priestercodex zu
lesen. Hiemit bleiben nun aber nicht bloss „ psychologische
Ausschmückungen", wie man es genannt hat, weg, sondern es
wird den Sachen das Herz ausgeschnitten. Dass Moab und Am-
nion und Ismael und Edom hebräische Völkerschaften sind,
sämtlich näher oder entfernter den Israeliten verwandt, dass
auch die Aramäer zu den Hebräern in naher Beziehung stehen
und mit ihnen vielfach verschwägert sind, dass die einen in
diesem, die anderen in jenem Nachbarlande Palästinas wohnen
— das durch eine trockene ethno- und geographische Statistik
in genealogischer Form darzustellen, worin von nichts als von
Heiraten und Geburten und Scheidungen der Ahnherren in die
verschiedenen Wohnsitze ihrer Völker die Rede ist, hat die
Volkssage unmöglich im Sinne gehabt zu einer Zeit, wo alle
diese Verhältnisse^ noch lebendig und jedem Kinde vertraut und
geläufig waren. Ebenso wie die historische ist auch die lokale
Färbung der Erzvätersage im Priestercodex abgestreift; sie wer-
den von all den Orten ferngehalten, deren Heiligkeit sie im
Wellhausen, Prolegomena. 23
354 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Jehovisten begründen 1 ). Zum Verständnisse der Erzählung des
Priestercodex in der Genesis hat man keine historische Geographie
nötig; das bedeutet aber, dass dieselbe dem Boden, woraus die
mündliche Tradition erwächst, ganz fern steht. Imgleichen ist
das Absehen yon der Etymologie, vom Spruche und vom Liede,
das Fehlen der Wunder Theophanien und Träume und weiter
des ganzen bunten Zaubers der Poesie, mit dem die jehovisti-
schen Erzählungen geschmückt sind, nicht etwa ursprüngliche
Simplicität, sondern Verzichtleistung auf die Quelladern und auf
die wesentlichen Züge der Sage 2 ). Was übrig bleibt, ist mit
nichten die historische Objectivität, sondern das Schema.
J ) Einen wunderlichen Ausdruck hat Hupfeld dieser Beobachtung gegeben,
indem er sagt, Abraham Isaak und Jakob siedelen im Priestercodex weit
fester. Es ist ja doch diese Schrift, welche geflissentlich so oft die
Pilgerschaft, die Nichtansässigkeit der Patriarchen hervorhebt; sie redet
immer nur davon, dass Abraham im Lande Kanaan geweilt habe, und
nennt selbst für die Gotteserscheinung Kap. 17 keinen bestimmten Ort; erst
als es sich darum handelt Sara und Abraham zu begraben, wird, aus
diesem zwingenden Grunde, das Feld Makpela bei Hebron (wohl gemäss
dem verloren gegangenen Berichte von JE) zum Grundbesitz der Erz-
väterfamilie erworben, wo sie nun weiterhin sich dauernd niederlässt. Das
Wohnenbleiben Isaaks und Jakobs am Grabe Abrahams hat mehr nega-
tive als positive Bedeutung; und umgekehrt sollen die Kreuz- und Quer-
züge der Patriarchen in JE sie nicht als schweifende Nomaden darstellen,
sondern sie mit all den heiligen Orten in Berührung bringen, zu denen
sie eine besondere Beziehung hatten.
2 ) Riehm (a. 0. S. 302 f.) hält es freilich für constatiert, dass die religiöse
Überlieferung des höheren Altertums sich durch ihre „nüchterne Einfach-
.heit" und ihre „dem erhabenen Gegenstande angemessene Haltung" aus-
zeichne, dass sie erst im Laufe der Zeit „von der Phantasie des Volkes",
die aber nicht so leicht in die ernste Literatur Eingang finde (!), mit
allerlei Wunderbarem und Geheimnisvollem ausgeschmückt werde. Er be-
ruft sich darauf, dass die Engelvorstellung, obwohl gewiss beim Volke
längst ausgebildet, bei den älteren Propheten doch nur vereinzelt vor-
komme, häufiger dagegen bei den jüngeren, wie Ezechiel Zacharia Da-
niel. Es ist schwer Wahrheit und Irrtum aus diesem Gemisch zu schei-
den. Im Priestercodex finden sich allerdings keine Engel, dagegen aber
Azazel und Seirim (2. Chron. 11, 15. Isa. 13, 21. 34, 14 vgl. oben S. 53);
denn wo die Götter nicht sind, da walten Gespenster. In der einen
jehovistischen Hauptquelle (J) kommt vorzugsweise der Mal'ak Jahve (die
Botschaft Jahve's) vor, das ist Jahve selber, sofern er erscheint und sich
offenbart, sei es in einem Naturvorgange, sei es in Menschengestalt. Etwas
anderes sind die B'ne Elohim, Wesen von göttlicher Substanz, an welche
man vielleicht bei der 1. Pluralis im Munde Jahve's (Gen. 3, 22. 11, 7) zu
denken hat. Beides ist ohne Zweifel sehr alt. In der anderen Haupt-
quelle (E) scheint eine Vermischung eingetreten zusein; die himmlischen
Scharen sind nicht bloss die Kinder und Begleiter der Gottheit (32,2.3),
sondern auch deren Boten, Vermittler des Verkehrs, zwischen Himmel und
Erde (28,12): hier haben wir die Mal'akim neben Gott und im Plural.
Dass auch dies nicht gerade jung ist, erhellt aus der Vision Micha' s
Die Erzählung des Hexateuehs. 355
Was von der Ursage gilt, gilt auch von der Patriarchen-
sage: die Individualität der einzelnen Erzählung ist das Wesent-
liche und das Ursprüngliche, der Zusammenhang ist Nebensache
und erst durch die Sammlung und schriftliche Aufzeichnung
hineingebracht. Die Individualität der einzelnen Erzählung ist
nun aber im Priestercodex durch die einseitige Hervorhebung
des Zusammenhangs geradezu vernichtet. Was hat es für einen
Sinn , dass Jakob plötzlich Israel d. i. Kämpfegott heissen soll
(35, 10), wenn sein Ringkampf mit El, der Grund der Um-
nennung, verschwiegen wird? Kommt die Geschichte von Joseph
im Priestercodex auch nur im entferntesten zu ihrem Rechte?
Kann das ursprüngliche Kürze sein, wenn die Zerstörung So-
doms und Gomorrha's in einem Nebensätze abgemacht wird, wie
es 19, 29 geschieht? Man hat das bemerkenswerte Zugeständnis
gemacht *), es sei der summarischen Berichterstattung des Priester-
codex anzumerken, dass der Verfasser viel ausführlicher hätte
erzählen können, wenn dies im Plane seines Werkes gelegen
hätte, und dies setze allerdings eine ausführlichere Kunde vor-
aus. Indessen die vorausgesetzte ausführlichere Kunde sei
keineswegs notwendig eine schriftlich verzeichnete und am we-
nigsten die uns vorliegende jehovistische; vielmehr erkläre sich
der Sachverhalt am befriedigendsten durch die Annahme, dass
der Verfasser eine ausführliche Erzählung nicht für erforderlich
gehalten habe, weil die im Volke lebendige mündliche Über-
lieferung die Grundlinien seiner chronikartigen Notizen noeh
tiberall zu lebensvollen farbenreichen Bildern auszumalen im
(1. Reg. 22, 19 ff.). Was versteht Riehm unter höherem Altertum? eine
Periode, aus. der uns gar keine Denkmäler erhalten sind? Warum zieht
er gerade die prophetische Literatur in Betracht? Da er einräumt, dass
die Engelvorstellung „in der Phantasie des Volkes" früh vorhanden ge-
wesen sei, sollte er sich doch auch zu dem weiteren Zugeständnis ent-
schliessen, dass die Aufzeichner der Volks sage sich etwas anders zum
Volksglauben verhalten haben als die prophetischen Bussprediger.
Nicht einmal die historischen Bücher können in diesem Punkte mit dem
gleichen Masse gemessen werden wie die vorgeschichtliche Überlieferung.
Was ist übrigens ursprünglicher, dass die Engel sich einer Leiter be-
dienen, wie in der Genesis, oder dass sie Flügel haben wie bei Jesaia?
Betreffend endlich die Verweisung auf Ezechiel (?) Zacharia und
Daniel, so scheint mir der Unterschied zwischen der systematischen,
überall mit Zahlen und Namen operierenden Angelologie und dem kind-
lichen Engelglauben ziemlich klar zu sein. "Jene rückt Gott in die Ferne,
dieser bringt ihn nahe.
») Riehm a. 0. S. 292.
23*
356 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Stande gewesen sei. Dies ist indessen lediglieh ein Versuch,
der unvermeidlichen bestimmten Vergleichung zwischen Priester-
codex und Jehovisten aus dem Wege zu gehen. Die Frage ist,
welche der beiden Schriften dem Ausgangspunkte am nächsten
steht. Ist es diejenige, welche zur Hauptsache macht, was dem
Wesen der mündlichen Überlieferung eigentlich fremd ist, was
erst durch literarische Composition hineinkömmt? Es wäre doch
seltsam, wenn der Anfang zur Aufzeichnung der Sage damit ge-
macht wäre, das aufzuzeichnen, was die Sage nicht enthielt.
Was uns im Priestercodex geboten wird, ist die Quintessenz
nicht der mündlichen, sondern der bereits schriftlich gewordenen
Überlieferung. Und zwar ist die schriftliche Fixierung der Vor-
geschichte, welche benutzt wird, das jehovistische Erzählungs-
buch. Die Anordnung, welche die volkstümlichen Legenden dort
gefunden haben, ist hier zum Kern der Erzählung gemacht; der
dort noch hinter der Ausführung versteckte Plan tritt hier scharf
und markiert, freilich durchweg übereinstimmend, als die Haupt-
sache des Ganzen hervor.
3. Dem Geiste der Sage, in dem der Jehovist noch lebt,
ist der Priestercodex entfremdet; er thut ihr Zwang an, indem
er sie von seinem Standpunkte aus behandelt, der ein ganz an-
derer geworden ist als der ihrige. Die sittliche und geistige
Bildung ist fortgeschritten. Daher die Beseitigung von wirk-
lichen oder anscheinenden Verstössen gegen die Moral, von
allzu kindlichen, abergläubischen oder gar mythischen religiösen
Vorstellungen. Wenn die Gottheit auftritt , so darf sie doch
nicht in die Sinne fallen, wenigstens nicht in irgend einer Form
gesehen werden. Jahve redet mit Jakob, aber nicht im Traume
von der Himmelsleiter, er offenbart sich dem Mose, aber nicht
im feurigen Busch; der Begriff der Offenbarung wird festgehalten,
aber die Ergänzungen, die hinzukommen müssen um aus dem
Abstractum ein Concretum zu machen, werden abgestreift. Unter
welchen Formen, durch welche Medien ein Mensch Offenbarung
empfängt, ist gleich giltig, wenn nur die Thatsache feststeht;
mit anderen Worten ist die Offenbarung nicht mehr lebendige
Realität in der Gegenwart, sondern totes Dogma für die Ver-
gangenheit. Vor allem Anderen zeigt sich der Fortschritt der
Bildung beim Priestercodex in der gelehrt historischen Behand-
lung, die er der Sage angedeihen lässt. Da ist zunächst die
Die Erzählung des Hexateuchs. 357
Chronologie, der wir schon bei der Ursage begegnet sind und
die natürlich bei der Patriarchensage fortgeht. Gerade bei der
Patriarchensage zeigt sich recht deutlich, wie fremd die gelehrte
Kechnung dem poetischen Stoffe ist; in einigen Beispielen, in
denen die Sachen zu einer ganz anderen Vorstellung führen als
die Zahlen. Folgt man den Zahlen des Priestercodex, so kann
man mit den Rabbinern Sem und Eber als die greisen Häupter
der Judenschule ansehen, bei denen der kleine Jakob die Buch-
staben und die Thora lernte. Jakobs Aufenthalt in Mesopota-
mien dauert dann etwa 80 Jahr; während dieser Zeit liegt
Isaak beständig auf dem Sterbebett; nachdem er für uns längst
tot ist, taucht er unversehens noch einmal auf, freilich nur um
zu sterben. Mit d&r Chronologie Hand in Hand geht die allge-
meine Vorliebe des Priestercodex für Zahlen und Namen, die
sich schon in der Genesis, freilich noch weit stärker in den
späteren Büchern des Pentateuchs äussert. Die mündliche Volks-
sage kann wohl runde Zahlen enthalten, wie die 12 Söhne und
die 70 Seelen der Familie Jakobs, die 12 Brunnen und die 70
Palmen zu Elim, die 70 Ältesten und die 12 Kundschafter; aber
ein chronologisches System, ganze Listen genauer und grosser
Zahlen, nackte Verzeichnisse völlig bedeutungsloser Personen-
namen, Datierungen und Messungen wie sie der Sündflutsbericht
des Priestercodex gibt, setzen schon zu ihrer Entstehung, ge-
schweige zu ihrer Überlieferung die Schrift voraus. Diese Kunst-
produkte der Pedanterie treten an Stelle des lebendigen poeti-
schen Details der jehovistischen Erzählung; denn das episodische
Element muss dem Ernste der trockenen Historie weichen. Histo-
rische Gelehrsamkeit ist es auch, wenn die Vermischung der
Patriarchenzeit mit einer späteren Periode als anachronistisch
vermieden wird. Der Jehovist lässt tiberall die Gegenwart durch-
schauen und verhehlt in keiner Weise sein eigenes Zeitalter;
wir erfahren, dass Babylon die grosse Weltstadt ist, dass das
assyrische Reich besteht, mit den Städten Nineve und Kelah
und Resen, dass die Kanaaniter einst in Palästina wohnten,
jetzt aber längst unter den Israeliten aufgegangen sind : vor alle
dem hütet sich der Verfasser des Priestercodex sorgfältig. 1 ) Er
t putzt die Sage nach den Regeln der Kunst zur Historie auf,
*) Daher auch die Archaismen wie Kiriath-Arba, Luz, Ephrath. Vgl. die
antiquarische Gelehrsamkeit in Deut. 1 — 4 und in Gen. 14,
358 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
tötet sie dadurch als Sage und beraubt sie auch des wirklichen
Wertes, den sie zwar nicht für die Urzeit, wohl aber für die
Königszeit besitzt.
Die Geschichte der Urmenschen und der Erzväter verläuft
nach dem Priestercodex in drei Perioden, deren jede durch
einen Bund eröffnet wird. Der. Bund mit Adam (Gen. 1,28 —
2, 4) ist der einfachste; er wird noch nicht Bund genannt^ doch
ist er die Grundlage des zweiten Bundes mit Noah (9, 1 — 17),
der ihn in wichtigen Punkten modificiert und dem gegenwärti-
gen Weltalter näher bringt. Der Bund mit Abraham (Gen. 17),
welcher den folgenden Erzvätern lediglich bestätigt wird, gilt
nicht mehr für die ganze Menschheit, sondern nur für die
Abrahamiden und speciell für Israel. Das erste Bundeszeichen
ist der Sabbath (Gen. 2, 3 vgl. Exod. 31, 12. Ezech. 20, 12. 20),
das zweite der Regenbogen (Gen. 9, 12), das dritte die Beschnei-
dung (17, 10). Der Urvater der Menschheit wird lediglich auf
Pflanzennahrung angewiesen, der Vater der nachsündflutlichen
Menschheit erhält Erlaubnis auch Tiere zu schlachten, wobei
ihm jedoch eingeschärft wird, das Fleisch nicht im Blute zu
essen und ausserdem kein Menschenblut zu vergiessen. Was
dem Noah gesagt ist, bleibt noch für Abraham in Kraft; diesem
aber verspricht Gott für seine Nachkommen von Sara den Besitz
des Landes Kanaan, der weiterhin verbürgt wird durch den in
aller Form Rechtens, unter den weitläufigsten Verhandlungen,
abgeschlossenen Kauf der Höhle Makpela zum Erbbegräbnis;
ausserdem gibt er sich ihm näher zu erkennen als El Schaddai.
Unter diesem Namen offenbart er sich auch dem Isaak (28, 3)
und Jakob (35, 11) und wiederholt ihnen die Verheissung des
Landbesitzes. Es wird Nachdruck darauf gelegt, dass Gott mit
seinem israelitischen Namen der vormosaischen Zeit unbekannt
gewesen sei, dass er sich den Erzvätern nur als El Schaddai
kund gethan habe, als Jahve aber erst dem Mose (Exod. 6, 2. 3).
Ebenso wird mit deutlicher Absicht die Patriarchenzeit auch von
den übrigen mosaischen Formen des Gottesdienstes noch frei
gehalten, daher hier noch keine Opfer und Altäre, kein Unter-
schied reiner und unreiner Tiere und dergleichen. Bis vor
kurzem ist man nun sehr geneigt gewesen, — gegenwärtig will
es allerdings keiner mehr gewesen sein — die Keuschheit und
Treue des Priestercodex zu bewundern, die sich in dieser Inne-
Die Erzählung des Hexateuehs. 359
haltung des Unterschiedes der Religionsstufen kund gebe. In
Wahrheit kann man an diesen Vorzügen nur Geschmack finden,
wenn man glaubt, die Religion sei anfangs naturalistisch gewesen,
dann sprungweise ein Stück positirer, und endlich im Jahre
1500 vor Christus ganz positiy geworden: Wie ist es möglich
darin historische Treue zu erblicken, dass die Erzväter zwar
wohl haben schlachten, aber nicht haben opfern dürfen, dass
erst der Sabbath, dann der Regenbogen, dann die Beschneidung
und zuletzt unter Mose der Opferdienst eingeführt sei! Natür-
lich ist es, dass Jakob zu Bethel den Zehnten gibt von Allem
was er erwirbt, unnatürlich dass der Heros Eponymus gerade
im Gottesdienst den Seinen nicht mit gutem Beispiel vorangehen
darf. Was ist es anders als Theorie, dass der Name Jahve erst
dem Mose und durch ihn den Israeliten offenbart wird und
vorher ganz unbekannt bleibt? eine Theorie, die ohne Zweifel
nicht stichhält — denn Mose hätte nichts widersinnigeres thun
können als für den Gott der Väter auf den er sein Volk ver-
wies einen neuen Namen einführen — , die aber wegen der
Correlation zwischen Jahve dem Gotte Israels und Israel deip
Volke Jahve's sehr nahe liegt und auch dem Verfasser des
Priestercodex nicht ganz eigentümlich ist. 1 ) Er hat eine Vor-
lage gehabt, deren andeutende Linien er mit systematischer
Schärfe nachzieht; darin so weit gehend, dass er sogar da wo
er selber erzählt den Namen Jahve in der vormosaischen Zeit
vermeidet, dass er auch in seiner eigenen Rede bis auf Exod. 6
nur Elohin sagt, nicht Jahve.
Die drei Perioden und die entsprechenden drei Bünde der
Vorzeit sind Vorstufen zur vierten Periode und zum vierten
Bunde. Auf das mosaische Gesetz ist überall das Absehen des
*) Exod. 6, 2. 3 (Q) = 3, 13. 14 (JE). Dass die Priorität der Theophanie
auf Seiten des Jehovisten ist," ergibt sich schon aus dem feurigen Busch,
während ihr im Priestercodex eigentlich der ganze Charakter der
Theophanie abgestreift ist; namentlich aber ergibt es sich aus der Ver-
gleichung von Exod. 7, 1 (Q) mit 4, 16 (JE). Der Ausdruck 7, 1 : „siehe
ich mache dich zum Gott für Pharao und dein Bruder Aharon soll dein
Prophet sein" ist eine Verschlechterung des entsprechenden 4, 1$: „Aharon
soll dir als Mund dienen und du sollst ihm für Gott sein". Denn wenn
Aharon der Prophet oder der Mund Mose's ist, so ist, nach der ursprüng-
lichen weil allein sachgemässen Conception, Mose der Gott eben für
Aharon und nicht der Gott für Pharao. — Beiläufig: hat die Ähnlichkeit
zwischen Sene und Sinai etwas zu bedeuten?
360 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Erzählers gerichtet, nach dieser Kücksicht entwirft er den bei
ihm so stark hervortretenden Plan seiner Darstellung der Ur-
sprünge. Die Höhenpunkte derselben bilden die Haupt- und
Staatsaetionen Elohims mit den Erzvätern. In diesen Haupt-
und Staatsaetionen wird nichts erzählt, sondern nur geredet und
verhandelt; es werden darin die präliminarischen Gesetze ge-
geben, welche stufenweise fortschreitend das Hauptgesetz vor-
bereiten, nämlich das mosaische. Das Cultusgesetz ist an die
Stelle der Cultussage getreten. In der Cultussage entstehen die
heiligen Sitten und Bräuche so zu sagen unwillkürlich, bei irgend
einer motivierenden Gelegenheit die in die heilige Vorzeit ver-
legt wird. Jahve stellt nicht statutarisch fest, dass die Hüft-
sehne nicht gegessen werden darf, sondern er ringt mit Israel
und verletzt ihm dabei die Hüftsehne, und aus diesem Grunde
pflegen die Kinder Israel die Hüftsehne nicht zu essen. Wie es
gekommen ist, dass die jungen Knaben von den Israeliten be-
schnitten werden, wird folgendermassen erzählt (Exod. 4, 25 f.):
als Mose auf seiner Eückkehr von Midian nach Gosen unter-
wegs tibernachtete, tiberfiel ihn Jahve in der Absicht ihn zu
töten; sein Weib Sippora aber nahm einen Feuerstein und
schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und berührte damit die
Scham Mose's und sprach: du bist mir ein Blutbräutigam; da
Hess Jahve von ihm ab. Sippora beschneidet also ihren Sohn
statt ihres Mannes, macht den letzteren dadurch symbolisch
zum Blutbräutigam und löst ihn von dem Zorne Jahve's, dem
er verfallen ist, weil er eigentlich kein Blutbräutigam ist, d. h.
weil er nicht die Beschneidung vor der Hochzeit an sich hat
vollziehen lassen. Mit anderen Worten wird die Beschneidung
der Knäblein hier geschichtlich erklärt als ein gemildertes Äqui-
valent für die ursprüngliche Beschneidung der jungen Männer
vor* der Hochzeit. *) Damit vergleiche man die Art und Weise,
wie der Priestercodex in Gen. 17 "die Beschneidung der männ-
lichen Kinder am achten Tage nach der Geburt statutarisch ver-
l ) Dass dies in der That die ursprüngliche Sitte ist, geht aus dem Worte
jnn hervor, welches sowohl die Beschneidung als den Bräutigam (resp.
arabisch den Schwiegersohn) bedeutet, worauf in Exod. 4, 25 der Sinn
von Qiftl |nn (Blutbräutigam) beruht. Noch gegenwärtig herrscht die
ursprüngliche Sitte bei einigen arabischen Stämmen, ebenso wie auch
Sichern in Gen. 34 sich vor der Heirat beschneiden muss,
Die Erzählung des Hexateuchs. 361
ordnet und durch die Verordnung die Erzählung, die ihr zum
Anlass gedient hat, vollkommen in den Schatten stellt und ver-
dirbt, nämlich die Erzählung von der Verheissung der Geburt
Isaaks zum Lohn für die Gastfreundschaft, welche Abraham dem
Jahve zu Hebron erwiesen hat. Es besteht aber nicht bloss ein
formeller Unterschied, sondern auch ein materieller Gegensatz
zwischen der jehovistischen Cultussage und dem priesterlichen
Cultusgesetz. Die Cultussage wird von dem Cultusgesetz puri-
ficiert, das heisst in allen ihren Grundzügen und Trieben negiert.
Wie wir bereits im ersten Kapitel gesehen haben, ist es be-
wusste Polemik, dass Abraham Isaak und Jakob im Eriester-
codex keine Altäre errichten und keine gottesdienstlichen Ge-
bräuche ausüben, dass sie gelöst werden von den heiligen Orten
mit denen sie in JE unzertrennlich verbunden sind. Das Volks-
religionsbuch , welches uns in der jehovistischen Genesis noch
so ziemlich wenngleich auch nicht ganz uncorrigiert erhalten
ist, erzählt, wie die Ahnen und Repräsentanten Israels die alte
volkstümliche Praxis des Cultus, an den Hauptorten wo derselbe
gefeiert wurde, begründet haben. Das Gesetz des legitimen
Cultus von Jerusalem, wie es uns im Priestercodex vorliegt,
reformiert und zerstört den alten volkstümlichen Gottesdienst auf
Grund mosaischer d. i. prophetischer Ideen. Die Stiftshütte
verträgt sich nicht mit den Heiligtümern von Hebron Beerseba
Sichern Kades Mahanaim Lahai-Eoi Bethel; die Patriarchen wohnen
in Hebron nur um sich dort begraben zu lassen, nicht um die
Gottheit unter der Eiche Mamre zu bewirten und dort den Altar
zu bauen. Die ketzerischen Malsteine Bäume und Brunnen
verschwinden und mit ihnen die anstössigen Bräuche; dass Gott
den Abraham sollte aufgefordert haben ihm seinen einzigen Sohn
zu opfern, wäre im Priestercodex ein unmöglicher Gedanke. Der
ganze Stoff der Sage ist legislativen Zwecken untergeordnet,
überall tritt der umändernde Einfluss des Gesetzes auf die Er-
zählung hervor.
Im Ganzen stellt sich der Judaismus negativ zu der alten
Sage, einiges Positive aber hat er doch neu hineingebracht.
Während die Patriarchen nicht opfern, sondern nur schlachten
dürfen, haben sie dagegen den Sabbath *) und die Beschneidung.
*) Der Sabbath ist nach dem Priestercodex keine mosaische Verordnung,
sondern wird schon Exod. 16 vorausgesetzt, und besteht nach Gen. 2, 3
362 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Sie gleichen darin den Juden in Babylonien, denen die fehlende
Cultusfeier durch diese beiden vom jerusalemischen Tempel un-
abhängigen Verbindung»- und Erkennungszeichen der Religion
ersetzt wurde. Im Exil, nach dem Aufhören des Altardienstes,
haben der Sabbath und die Beschneidung die Bedeutung erlangt,
die ihnen als Symbolen — in der eigentlichen alten Bedeutung
des griechischen Wortes — und zwar als praktischen Symbolen
des Judentumes bis auf die Gegenwart geblieben ist. Merkwürdig
ist es, mit welchem Nachdruck stets im Priestercodex hervor-
gehoben wird, dass die Patriarchen ein Leben* in der Fremde
geführt haben, dass sie Gerim gewesen seien. Nimmt man
hinzu, dass Abraham von Ur, aus Chaldäa, nach Palästina ein-
gewandert sein soll, sq ist in der That der Gedanke nicht ab-
zuweisen, dass auf die priesterliche Gestaltung der Erzvätersage
die Verhältnisse des babylonischen Exils eingewirkt haben.
Trotz allem historischen Bestreben und allem archaistischen
Schein würde dann dennoch die Gegenwart des Erzählers auch
positiv in der Schilderung der Patriarchenzeit zum Ausdrucke
gelangen.
III.
1. In dem jehovistischen Geschichtsbuche ist die Genesis
eine grosse Hauptsache und nimmt mindestens die Hälfte vom
Ganzen ein, im Priestercodex verschwindet sie völlig gegen die
späteren Bücher. Er kommt erst mit der mosaischen Gesetz-
gebung in sein eigentliches Fahrwasser und erdrückt alsbald die
Erzählung durch die Last des legislativen Stoffes. In seinem
dünnen historischen Faden läuft er zwar auch hier dem Jeho-
visten parallel, aber wir verlieren denselben bei ihm stets aus
den Augen wegen der immer wiederkehrenden Unterbrechungen
durch umfangreiche Ritualgesetze und statistische Aufnahmen.
„Durch eine höchst traurige, unbegreifliche Redaction wer-
den diese vier letzten Bücher Mose's ganz ungepiessbar. Den
Gang der Geschichte sehen wir überall gehemmt durch einge-
schaltete zahllose Gesetze, von deren grösstem Teile man nicht
einsehen kann, warum sie hier angeführt und eingeschaltet
^ seit Anfang der Welt. Bei den alten Israeliten trat der Sabbath an
gottesdienstlicher Bedeutung völlig zurück hinter den Festen, im Juden-
tum war es umgekehrt.
Die Erzählung des Hexateuchs. 363
werden." Diese Sprengung der Glieder der Erzählung durch
die ungeheuren Auswüchse gesetzlichen Inhalts, die indessen
nicht wie Goethe meint erst Schuld der Redaetion, sondern schon
des unredigierten Priestercodex selber ist, ist in der That un-
erträglich; sie kann auch, rein formell und literarisch betrachtet,
nichts Ursprüngliches sein. Es lässt sich, noch verfolgen, wie
der gesetzliche Stoff in die Erzählung eindringt und sich dort
allmählich immer breiter macht. Im Jehovisten scheint noch
eine Form der Überlieferung durch, in welcher die Israeliten
sofort nach dem Durchgange durchs Schilfmeer auf Kades zogen
und nicht erst den Abstecher zum Sinai machten. Während wir
erst mit Exod. 19 zum Sinai gelangen, befinden wir uns schon
in Exod. 17 zu Massa und Meriba, d. h. auf dem Boden von
Kades. Dort spielt der Vorgang, wie Mose mit seinem Stabe
Wasser aus dem Felsen schlägt; dort der Kampf mit den Ama-
lekitern, die eben hier und nicht am Sinai wohnten; dort
Jethro's Besuch, der eine von seiner Heimat (am Sinai) ziemlich
entfernte Örtlichkeit voraussetzt, wo nicht bloss ein vorüber-
gehendes Wanderlager sondern die dauernde Gerichtsstätte 1 )
des Volkes sich befand. Darum kehren auch die Erzählungen,
die vor der Ankunft am Sinai berichtet werden, nach dem Auf-
bruch von dort noch einmal wieder, weil das Lokal vorher und
nachher das gleiche ist, nämlich die Wüste von Kades, der
wahre Schauplatz der mosaischen Geschichte. Mit der Einsetzung
von Richtern und Altesten wird vor dem grossen Sinaiabsehnitte
abgeschlossen und nachher wieder angefangen (Exod. 18 Num. 11);
die Erzählung vom Manna und von den Wachteln begegnet nicht
nur Exod. 16, sondern auch Num. 11; ebenso die von dem durch
Mose hervorgelockten Felsenquell zu Massa und Meriba nicht
bloss Exod. 17, sondern auch Num. 20. Das besagt mit anderen
Worten, dass die Israeliten nicht erst nach der Digression zum
Sinai, sondern sofort nach dem Auszuge, in Kades, dem ursprüng-
lichen Ziel ihrer Wanderung, anlangen und dort die vierzig
Jahre ihres Aufenthaltes in der Wüste verbleiben. Kades ist
dann auch der ursprüngliche Ort der Gesetzgebung. „Dort setzte
er ihnen Recht und Gericht, und dort versuchte er sie", heisst
es vor der Sinaiperikope in einem poetischen Fragmente (Exod.
*) Kades heisst auch Meriba, die Gerichtsstätte, oder Meribat Kades, die
Gerichtsstätte am heiligen Quell. Meriba (dem Sinn0 nach) « Midian,
364 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
15, 25), welches jetzt in die Erzählung von der Heilung des
Brunnens zu Mara eingesetzt ist, dort aber ganz verloren und
ohne Beziehung steht: die eigentümliche Verbindung von Gericht
und Versuchung weist mit Entschiedenheit auf Massa und Meriba
(d. i. Gerichts- und Versuchungsstätte), also auf Kades als den
eigentlich gemeinten - Ort. Die Gesetzgebung an der Gerichts-
stätte von Kades wird jedoch nicht vorgestellt als ein einmali-
ger Akt, wodurch Mose den Israeliten ein für alle mal ein all-
gemeines umfassendes Gesetz verkündet, sondern sie dauert
vierzig Jahre und besteht in der Rechtsprechung am Heiligtum,
die er beginnt und die nach seinem vorbildlichen Anfange die
Priester und Eichter nach ihm fortsetzen. So ist die Vorstellung
in der überaus lehrreichen Erzählung Exod. 18, welche zu Kades
spielt. Und in dieser Weise gehört die Thora hinein in die
Geschichtsdarstellung, nicht nach ihrem Stoff als Inhalt irgend
eines Codex, sondern nach ihrer Form als das berufsmässige
Thun Mose's, nicht nach ihrem Ergebnis als Summe der in
Israel gültigen Gesetze und Bräuche, sondern nach ihrer Ent-
stehung als begründender Anfang der noch immer in Israel fort-
wirkenden und lebendigen Institution der Thora.
Die wahre und alte Bedeutung des Sinai ist ganz unab-
hängig von der Gesetzgebung. Er war der Sitz der Gottheit,
der heilige Berg, ohne Zweifel nicht bloss für die Israeliten,
sondern allgemein für alle hebräischen und kainitischen Stämme
der Umgegend. Von dem dortigen Priestertum wurde das
Priestertum Mose's und seine Nachfolger abgeleitet; dort war
Jahve ihm im brennenden Dornbusch erschienen, als er die
Schafe des Priesters von Midian hütete; von dort hatte er ihn
nach Ägypten entsandt. Dort blieb Jahve auch für die Israeliten
noch wohnen, lange nachdem sie selber sich in Palästina nieder-
gelassen hatten; im Liede der Debora muss er vom Sinai her-
kommen um seinem bedrängten Volke zu helfen und sich an
die Spitze seiner Krieger zu stellen. Nach der Meinung des
Dichters von Deut. 33 haben sich nicht die Israeliten zu Jahve
nach dem Sinai begeben, sondern umgekehrt ist dieser vom
Sinai zu ihnen nach Kades gekommen: „Jahve kam vom Sinai
und erglänzte von Seir, blitzte auf vom Berge Pharans und kam
nach Meribath Kades". 1 ) Es erklärt sich aber leicht genug,
l ) Wo der Sinai gelegen hat, wissen wir nicht und die Bibel ist sich
Die Erzählung des Hexateuchs. # 365
dass es für passender gehalten wurde, sich die Israeliten zu
Jahve bemühen zu lassen. Das geschah zunächst nur in der
Form, dass sie dort vor Jahve's Antlitz erscheinen um ihm zu
huldigen und zu opfern (Exod. 3, 12), und dass sie beim Ab-
schiede die Lade erhalten zum Ersätze für Jahve selber, derauf
dem Sinai wohnen bleibt (Exod. 33): denn die Lade ist die Re-
präsentation Jahve's, darin besteht ihre Bedeutung und nicht in
den Gesetzestafeln, die ursprünglich gar nicht darin liegen. Erst
ein weiterer Schritt führte dazu, den Sinai zum Schauplatz der
feierlichen Eröffnung des geschichtlichen Verhältnisses zwischen
Jahve und Israel zu machen. Es waltete das poetische Be-
dürfnis, die Coustituierung des Volkes Jahve's zu einem drama-
tischen Akte auf erhabener Bühne zuzuspitzen. Was nach der
älteren Überlieferung auf stille und langsame Weise vor sich
ging, den Inhalt der gesamten Periode Mose's ausmachte, und
ebenso begann wie es sich noch immer fortsetzte, das wurde
nun der Feierlichkeit und Anschaulichkeit wegen in einen ecla-
tanten Anfang zusammengedrängt. Dann aber musste der Bund
zwischen Jahve und Israel auch irgendwie positiv charakterisiert
werden, das heisst, Jahve musste die Grundlagen und Bedingun-
gen desselben dem Volke ankündigen. So entstand die Not-
wendigkeit, die Grundgesetze ihrem Inhalte nach hier mitzu-
theilen, so fand der legislative Stoff Eingang in die geschicht-
liche Darstellung. Dass er jedoch ursprünglich hier keine
Stelle hatte, merkt man an dem Wirrwarr, der auch innerhalb
der jehovistischen Sinaiperikope (Exod. 19—24. 32—34) herrscht.
Die kleinen Gesetzescorpora, die hier mitgeteilt werden, mögen
an sich alt genug sein; aber in die Erzählung sind sie hinein-
gezwungen. Nur von dem relativ jüngsten Corpus, dem Dekalog
(in E), kann man das nicht sagen.
Wie der Jehovist ursprünglich ein reines Geschichtsbuch, so
war das Deuteronomium , als es zuerst aufgefunden wurde, ein
reines Gesetzbuch. 1 ) Diese beiden Schriften, die geschichtliche
schwerlich einig darüber; das Streiten über die Frage ist bezeichnend
für die Dilettanten. Den besten Anhalt gibt Midian Exod. 2, denn das
ist doch wahrscheinlich Madian an der arabischen Küste des Roten Meeres.
Nach unserer Stelle scheint der Sinai südöstlich von Edom zu liegen;
der Weg vom Sinai nach Kades geht über Seir und Pharan.
J ) Kap. 12—27. Diebeiden historischen Einleitungen Kap. 1—4. Kap. 5—11
sind erst später hinzugekommen, ebenso die Anhänge Kap. 28 ff.
366 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
und die gesetzliche,» waren anfangs ganz unabhängig von ein-
ander; erst hinterdrein wurden sie verbunden, vielleicht weil
das neue Gesetz die Popularität des alten Volksbuches teilen
und dasselbe zugleich mit seinem Geiste durchdringen sollte.
Eine bequeme Handhabe dazu bot der Umstand, dass, wie wir
eben gesehen haben , schon ein gesetzliches Stück in das jeho-
vistische Geschichtsbuch aufgenommen war. Dem Dekaloge,
am Anfang der vierzigjährigen Periode, wurde nun das Deute-
ronomium, am Schluss derselben, hinzugefügt. Die Situation —
von der das Gesetz selber nichts weiss — ist sehr gut gewählt,
nicht bloss well Mose in seinem Testamente das Recht hat
weissagend vorzugreifen und ein Gesetz für die Zukunft zu ge-
ben, sondern auch weil dadurch, dass das Gesetz an den Schluss
seines Lebens zu stehen kommt, der Erzählungsfaden nicht weiter
unterbrochen, sondern nur ein Einschnitt zwischen dem Penta-
teuch und dem Buche Josua gemacht wird. Durch diese Zu-
sami#enarbeitung des Deuteronomiums mit dem Jehovisten ist
nun zuerst die Verbindung von Erzählung und Gesetz entstan-
den; und nur weil dem Priestercodex dieses Muster vorgelegen
hat, erklärt es sich, dass er, obwohl seine Absicht lediglich auf
die Thora geht, doch gleich von vornherein darauf angelegt ist
auch die Geschichte von der Weltschöpfung an zu umfassen, als
wenn die auch zur Thora gehörte. In der Natur der Sache liegt
diese Art der Darstellung der Thora in Form eines Geschichts-
buches ganz und gar nicht, sie bringt im Gegenteil die grössten
Unzuträglichkeiten mit sich. Sie lässt sich nur auf die oben
angegebene Weise begreifen, durch die Vermittlung eines vor-
ausgegangenen literargeschichtlichen Processes. 1 )
Wie vom literarischen Gesichtspunkt aus, so erscheint auch
vom historischen der Mose des Jehovisten ursprünglicher als der
Mose des Priestercodex. Dies zu beweisen ist nun allerdings
eigentlich die Aufgabe des ganzen vorliegenden Buches; doch
wird es deshalb nicht als ungehörig gelten können, wenn wir
an dieser besonders geeigneten Stelle den Gegensatz der histo-
rischen Anschauung über Mose und sein Werk in den beiden
*) Dass dem Priestercodex die Sinaigesetzgebung des Jehovisten und das
Deuteronomium bereits vereint vorlagen, zeigt sich auch darin, dass er
sowohl eine Gesetzgebung am Berge Sinai, als auch eine Gesetzgebung
in den Arboth Moab hat und dazwischen noch eine in der Wüste des
Sinai.
Die Erzählung des Hexateuchs. 367
Hauptquellen des Pentateuehs kurz darlegen und beurteilen.
Nach dem Priestereodex ist Mose Religionsstifter und Gesetz-
geber, so wie wir ihn uns gewöhnlich vorstellen. Er empfängt
und veröffentlicht die Thora 1 ), vielleicht nicht als Buch — ob-
wohl man sich die Sache schliesslich doch kaum anders vor-
stellen kann — , wohl aber fix und fertig als weitläufiges, fein
ausgebildetes System, welches die heilige Constitution der Ge-
meinde für alle Zeiten enthält. In dem Botendienste, den Mose
als Mittler des Gesetzes leistet, besteht seine ganze Bedeutung;
was er sonst noch thut, tritt zurück. Dass das Gesetz ein
für alle mal gegeben wird, das ist das grosse Ereignis der Zeit,
nicht, dass das Volk Israel anfängt auf die Weltbühne zu treten;
das Volk ist des Gesetzes wegen da und nicht das Gesetz um
des Volkes willen. Nach dem Jehovisten dagegen besteht
Mose's Werk darin, dass er sein Volk rettet vor den Ägyptern
und in der Wüste in jeder Weise für es Sorge trägt; in dem
Präludium aus seiner Jugend, wo er den Ägypter erschlägt und
den Streit seiner Brüder zu schlichten sucht (Exod. 2, 11 ff.), ist
seine Geschichte vorgezeichnet. Zu seiner Fürsorge für die
Israeliten gehört es ebenso wohl, dass er ihnen Unterhalt ver-
schafft als dass er Friede und Ordnung unter ihnen stiftet und
erhält (Num. 11). Die Thora ist nur ein Teil seiner Thätigkeit
und fliesst aus dem allgemeineren Beruf, dass er der Wärter
des jungen Volkes ist und dasselbe gewissermassen auf die Beine
setzen muss (Num. 11, 12). Sie ist nach Exod. 18 nichts anderes
als ein Ratschaffen, ein Expedieren aus den thatsächlich einge-
tretenen Verwicklungen und Verlegenheiten; indem er den
Leuten in den bestimmten Fällen die sie vor ihn bringen Recht
spricht oder Bescheid erteilt, lehrt er sie den Weg den sie gehen
sollen. So wird er der Anfänger der nach ihm in Priestern und
Propheten fortlebenden Unterweisung Jahve's. Hier ist Alles
lebendig und im Fluss; wie Jahve selber, so arbeitet auch der
Mann Gottes im lebendigen Stoff, praktisch, in keiner Weise
theoretisch; geschichtlich, nicht literarisch. Es lässt sich wohl
von seinem Thun und Wirken erzählen, aber der Inhalt
desselben ist mehr als ein System und lässt sich nicht in ein
Compendium bringen; er ist nicht abgeschlossen, sondern nur
') Das. Gesetz könnte darnach Mose heissen, so gut wie der Psalter bei den
Äthiopen Davi^L
368 Geschichte der Tradition, Kapl 8.
der Anfang einer Reihe unendlicher Wirkungen. Im Priester-
codex hat man das Werk Mose's reinlich und abgegrenzt vor
sich liegen; wer tausend Jahre später lebt, kennt es so gut als
wer dabei gewesen ist. Es hat sich losgelöst von seinem Urheber
und von seiner Zeit; selber unlebendig hat es das Leben auch
aus Mose und aus dem Volke, ja aus der Gottheit selber aus-
getrieben; das Residuum der Geschichte, indem es als Ge-
setz an den Anfang der Geschichte tritt, erdrückt und tötet die
Geschichte selber. Welche von den beiden Anschauungsweisen
die historischere ist, ist darnach nicht schwer zu entscheiden.
Es kommt hinzu, dass in der älteren hebräischen Literatur
immer die Volksgrtindung und nicht die Gesetzgebung als die
theokratische Schöpferthat Jahve's angesehen wird. Es fehlt
überhaupt der Begriff des Gesetzes; man kennt nur Verträge,
wodurch die Vertreter des Volkes sich gegenseitig die feierliche
Verpflichtung auferlegen, dies und jenes allgemein zu thun oder
zu lassen.
Noch ein Unterschied muss hier hervorgehoben werden, der
freilich uns schon öfters beschäftigt hat. Was im Priestercodex
der Inhalt der Thora Moses ist, nämlich die Einrichtung des
Cultus, das geht nach dem Jehovisten zurück auf die Praxis der
Patriarchen — eine weitere Consequenz des Gegensatzes zwi-
schen Cultusgesetz und Cultussage. Nicht bloss der Zukunft
greift der Mose des Priestercodex vor, sondern auch der Ver-
gangenheit; er collidiert mit der Geschichte auf allen Seiten.
Offenbar ist die Vorstellung die einzig natürliche, wonach der
Cultus nichts specifisch israelitisches, nichts zufolge plötzlichen
Befehles der Gottheit von Mose, eingeführtes, sondern uraltes
Herkommen ist. Zur Zeit der Abfassung des Priestercodex
machte der Cultus allerdings das constituierende Wesen der
Israeliten aus. An die Stelle des Volkes tritt bei ihm schon in
der mosaischen Zeit die Kirche, die einheitliche Cultusgemeinde
— - der Geschichte zum Trotz, aber bezeichnend für seinen
Standpunkt.
Autoritäten wie Bleek Hupfeld und Knobel haben sich nun
freilich durch den Schein des Historischen täuschen lassen, den
der Priestercodex hier wie in der Patriarchengeschichte mittelst
gelehrter Kunst zu erwecken sucht; sie haben die vielen Zahlen
und Namen, die genauen technischen Beschreibungen, das strenge
Die Erzählung des Hexateuchs. 369
Einhalten der Seenerie des Lagerlebens als Zeichen urkund-
licher Objektivität angesehen. Nöldeke hat dieser Kritik für
immer ein Ende gemacht, eigentlich aber gebührt Colensb das
Verdienst zuerst das Gespinnst zerrissen zu haben. *) Die
Dreistigkeit der Zahlen und Namen, die Genauigkeit der Mit-
teilungen über gleichgiltige Äusserlichkeiten bürgt nicht für ihre
Zuverlässigkeit ; sie stammen nicht aus gleichzeitigen Aufnahmen,
sondern lediglich aus der spätjüdischen Phantasie, einer Phan-
tasie, die bekanntlich nicht malt und bildet, sondern rechnet
und construiert und weiter nichts als öde Schemata zu Wege
bringt. Wenn man die Beschreibung der Stiftshütte (Exod. 25ff.)
nicht wörtlich wiederholen will, so ist es schwer von ihrer Um-
ständlichkeit einen Begriff zu geben ; man muss sich an der Quelle
überzeugen, was dieser „Erzähler" darin leistet. Man sollte
denken, er liefere Calculatoren das Material zu* einem Kosten-
anschlage oder schreibe für Weber und Zimmerleute; aber die
würden sich auch nicht daraus vernehmen, denn die unglaubliche
Nüchternheit ist dennoch Phantasie, wie in Kap. 1 gezeigt ist.
Die Beschreibung der Stiftshütte wird im Buche Numeri durch
die des Lagers ergänzt; ist jene das Centrum, so ist dieses
der Kreis dazu, der in einen äusseren Ring, die zwölf weltlichen
Stämme, in einen mittleren, die Leviten, und in einen innersten,
die Aharoniden, zerfällt: eine mathematische Darstellung der
Theokratie in der Wüste. Die beiden ersten Kapitel enthalten
die Zählung der zwölf Stämme und ihre Gliederung in vier
Quartiere, lauter Namen und Zahlen. Zu dieser ersten Zählung
kommt in Kap. 34 noch eine andere am Schluss der 40 Jahre
hinzu, mit ganz verschiedenen Einzelposten aber nahezu der
gleichen Gesamtsumme. Diese Gesamtsumme, 600000 Krieger,
stammt aus der älteren Überlieferung; ihre Wertlosigkeit erhellt
daraus, dass in einem wirklich authentischen Dokument der
israelitische Heerbann zur Zeit Döbora's auf die Stärke von
40000 Mann geschätzt wird. Dem Priestercodex bleibt das Ver-
dienst, die Gesamtsumme ein bischen weniger rund gemacht
und sie in künstliche Einzelposten zerlegt zu haben. An die
Musterung des Volkes schliesst sich in Num. 3. 4 die Weihung
des Stammes Levi an das Heiligtum, zum Ersatz für die bis
dahin nicht geopferten und auch nicht gelösten männlichen Erst-
*) Kuenen in der Theol. Tijdschrift 1870 S. 398—401.
Wellhausen, Prolegomena. 24
370 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
geborenen der Israeliten, Es sind 22273 männliche Erstgeborene
und 22000 männliche Leviten über einen Monat alt vorhanden;
die überschiessenden 273 Erstgeborenen werden mit fünf Sekel
für den Kopf noch besonders gelöst. Wie genau! Aber was soll
man dazu sagen, dass auf ein Volk von mindestens zwei Millionen
nur 22273 männliche, also vielleicht 50000 männliche und weib-
liche Erstgeburten gekommen sein sollen? Dann entfallen ja
durchschnittlich vierzig Kinder auf jedes Weib, denn Erstgeburt
im Sinne des Gesetzes ist, was zum ersten die Mutter bricht.
Die Fortsetzung zu Num. 3. 4 liefert Kap. 8. Da die Leviten
eine Abgabe an das Heiligtum von seiten des Volkes sind,
welche jedoch nicht geopfert sondern den Priestern abgetreten
werden soll, so wird auch der charakteristische Ritus dieser Art
Abgaben mit ihnen vorgenommen, nämlich das scheinbare Werfen
in die Altarflamme (Aristeas 31, 5) — man denke sich Aharon
und Mose die 220*00 Menschen schwingen! Ein nicht minder
starkes Beispiel dieser eigentümlichen Poesie ist die Geschichte
Num. 31. Zwölftausend Israeliten, je tausend aus einem Stamme,
ziehen gegen die Midianiter zu Felde, tilgen ohne Kampf —
wenigstens ist von dieser Hauptsache nirgend die Rede — das
ganze Volk aus, indem sie alle Männer und einen Teil der
Weiber erwürgen und die unverheirateten Mädchen * gefangen
führen, und erleiden dabei selber keinen Verlust. Das Letztere
wird nicht bloss im Allgemeinen behauptet. „Die Hauptleute
über Tausend und über Hundert traten zu Mose und sprachen
zu ihm: deine Knechte haben die Summe der Kriegsleute, die
uns untergeben gewesen sind, aufgenommen, und es fehlt nicht
einer." Von der unermesslichen Beute an Menschen und Vieh
bestimmt Jahve die eine Hälfte denen, die in's Feld gezogen
sind und die Schlacht geliefert haben, die andere Hälfte der
Gemeinde; jene sollen den 500sten Teil an die Priester, diese
soll den 50sten Teil an die Leviten abgeben. Die Ausführung
dieser Verordnung wird in folgender speciellen Weise berichtet.
„Es war die vorhandene Beute, die das Kriegsvolk geraubt
hatte, 675000 Schafe, 72000 Rinder, 61000 Esel, und 32000
Weiber, die nicht beim Manne gelegen hatten. Und die Hälfte,
welche den in's Feld Gezogenen zufiel, war 337500* Schafe, da-
von Steuer an Jahve 675 ; 36000 Rinder, davon Steuer an Jahve
72; 30500 Esel, davon Steuer an Jahve 61; 16000 Menschen-
Die Erzählung des Hexateuchs. 371
seele^i, davon Steuer an Jahve 32; und Mose gab die Abgabe
an Jahve dem Priester Eleazar. Aber die andere Hälfte, die
Mose den Kindern Israel zuteilte, die der Gemeinde zuständige
Hälfte, war 337500 Schafe, 36000 Rinder, 30500 Esel, 16000
Menschenseelen; und Mose nahm von dieser Hälfte der Kinder
Israel je ein Stück von fünfzig und gab es den Leviten." Mit
der Berechnung der Abgabe an Jahve hat es Mose insofern be-
quem, als der 500 ste von der Hälfte ebenso viel ist wie der
1000 ste vom Ganzen; er braucht also von den Hauptsummen
bloss die Tausende weg zu lassen. Zum Schlüsse bringen noch
die Hauptleute dem Jahve Geschenke von goldenen Geräten,
Ketten Geschmeiden Ringen und Spangen, zusammen 16750
Sekel im Gewicht, zur Sühne ihrer Seelen. „Das war aber nur,
was die Hauptleute an Gold erbeutet hatten, denn die. Kriegs-
männer hatten geraubet ein jeglicher für sich." Man darf sich
vielleicht die Frage erlauben, in welchem Verhältnis diese 16750
Sekel, welche hier allein die Hauptleute von dem Gold-
schmucke der Midianiter an die Stiftshütte spenden, zu den
1700 Sekeln stehen, welche in Jud. 8 das ganze Volk von dem
Goldschmuck der Midianiter zur Errichtung eines Gottes-
bildes in Ophra weiht?
Weniger leicht als Verhältnisse und Zahlen scheinen sich
die zahlreichen, oft registerweise zusammengestellten Namen aus
blosser Fiction zu erklären. Darüber wird allerdings kein
Zweifel walten können, dass die vierzig Orte, welche in der
Liste der Stationen der Wüstenwanderung (Num. 33) aufgeführt
werden, wirklich in der Gegend, durch welche die Israeliten
ihren Weg genommen haben sollen, vorhanden gewesen sind.
Wer sich das zum Beweise, dass wir hier ein uraltes historisches
Dokument vor uns haben, genügen lässt, dem wird keine Kritik
die Freude stören. War es aber so schwer, für die vierzig
Jahre des Wtistenzuges vierzig bestimmte Stationen in der Wüste
auszusuchen? Wenn die Elemente nicht fingiert sind, so folgt
daraus noch lange nicht, dass auch die Composition nicht fin-
giert sei. Bei den Verzeichnissen der Personennamen sind
übrigens auch die Elemente vielfach von überaus zweifelhafter
Beschaffenheit, und man thut hier am besten, sich an den Grund-
satz Vatke's (a. 0. S. 675) zu halten, nämlich Subjekten ohne
Prädikaten kein Vertrauen zu schenken und nicht an die Wirk-
24*
372 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
lichkeit von Personen zu glauben, die gar nichts zu Wirken
haben. Die Dutzendnamen in Num. 1. 8. 14 sind fast alle nach
der selben Schablone gemacht und haben gar keine Ähnlichkeit
mit den echten alten Eigennamen. Dass der Name Jahve nicht
in ihrer Composition vorkommt, beweist nur, dass der Com-
ponist seiner religionsgeschichtlichen Theorie wohl einge-
denk war.
Durch diese Vorliebe für unfruchtbare Namen und Zahlen
und technische Beschreibungen kommt der Priestercodex auf
eine Linie zu stehen mit der Chronik und der übrigen Literatur
des Judentums, welche mit der künstlichen Wiederbelebung det
alten Tradition sich abgibt (S. 187f. 223f. 236). Nah verwandt
mit dieser Vorliebe ist eine unbeschreibliche Pedanterie, die das
innerste Wesen des Verfassers des Priestercodex bildet. Für
das Classificieren und Schematisieren hat er eine wahre Leiden-
schaft; wenn er einmal ein Genus in verschiedene Species zer-
legt hat, so müssen wir uns jedesmal alle Species einzeln wieder
vorführen lassen, so oft vom Genus die Rede ist; der subsumie-
rende Gebrauch der Präpositionen Lamed und Beth ist für ihn
bezeichnend. Wo er kann, bevorzugt er den weitläufigen Aus-
druck, das Selbstverständliche zum hundertsten male ausführlich
zu wiederholen wird er nicht müde (Num. 8), er hasst die Pro-
nomina und alle abkürzenden Substitute. Das Interessante wird
übergangen, das Gleichgiltige genau beschrieben, vor lauter er-
schöpfender Deutlichkeit weiss man oft bei einer ohnehin deut-
lichen Sache mit den vielen Bestimmungen nicht aus noch ein.
Dies ist es, was man ehedem im historisch-kritischen Sprachge-
brauch als epische Breite zu bezeichnen pflegte. 1 )
2. Nachdem wir so den allgemeinen Gegensatz des Priester-
codex und des Jehovisten für die mosaische Periode darzustellen
versucht haben, bleibt uns jetzt noch übrig, die einzelnen Er-
zählungen zu vergleichen. Als Anfang der israelitischen Ge-
schichte wird überall der Auszug aus Ägypten betrachtet. Im
') Riehm a. 0. S. 292: „Die Darstellung ist ruhig, einfach, frei von allem
rednerischen und dichterischen Schmuck, und die Ausdrucksweise bei
gleichartigen Objekten von epischer Gleichförmigkeit. So eindrucksvoll
manche Stücke gerade in ihrer schlichten Einfachheit und objektiven Hal-
tung sind, so bemerkt man doch nirgends ein Streben, durch die Mittel
schriftstellerischer Kunst Effekt zu machen und das Interesse des Lesers
äu spannen. 4 * Tgl. dagegen Lichtenberg, Werke II 162.
Die Erzählung des Hexateuchs. 373
Priestercodex ist derselbe zur Epoche einer Ära gemacht (Exod.
12, 2), nach welcher künftighin datiert wird, und zwar nicht
bloss in Jahren, sondern in Monaten und Tagen. Dass diese
genaue Datierungsweise erst sehr spät unter den Hebräern auf-
gekommen ist, steht fest. In den historischen Büchern haben
wir aus vorexilischer Zeit nur eine einzige Monatsangabe (1. Reg.
6, 38), aber ohne Hinzufügung des Tages. Eine gewisse Wich-
tigkeit hatte die Zeitbestimmung für die prophetischen Schrift-
steller, und da lässt sich die Entwickelung der Sitte einiger-
massen verfolgen. Arnos ist aufgetreten „zwei Jahre vor dem
Erdbeben 44 . 1 ) Bei Jesaia* ist die bestimmteste Angabe „das
Todesjahr des Königs Uzzia 44 . Jahreszahlen finden sich zuerst
bei Jeremia, „das 13. Jahr des Königs Josia 44 und wenige an-
dere. Plötzlich aber tritt ein Umschwung ein; die im babylo-
nischen Exil aufgewachsenen Propheten Haggai und Zacharia
datieren fortwährend und geben dabei nicht bloss das Jahr und
nicht bloss den Monat, sondern auch den Monatstag an. Im
Priestercodex wird diese Genauigkeit, welche die Juden offen-
bar von den Chaldäern gelernt haben, seit der Zeit Mose's an-
gewandt.
Im Jehovisten ist der ostensible Anlass des Auszuges ein
Fest, welches die Kinder Israel ihrem Gotte in der Wüste feiern
wollen. Im Priestercodex fällt dieser Anlass weg, weil es keine
vormosaischen Feste geben darf. Damit fällt aber zugleich der
Grund weg, weshalb Jahve die Erstgeburten der Ägypter tötet:
er thut es deshalb, weil ihm der Agypterkönig die Erstgeburten
der Israeliten vorenthält, welche ihm zum Feste dargebracht
werden sollen; denn das Fest ist das Opferfest der Erstlinge des
Viehs im Frühling. In der älteren Überlieferung ist das Fest
das Prius, die Erklärung für die Umstände und die Jahreszeit
des Auszugs; in der jüngeren hat sich das Verhältnis umge-
kehrt: die Tötung der Erstgeburten der Ägypter ist der Anlass
der Opferung der israelitischen Erstgeburten, der Auszug im
Frühlinge hat das Fest im Frühlinge zur Folge. Auf Grund
*) Agh. XV 11,17: als alValid b. alMughira gestorben war, datierten die
Araber nach seinem Tode bis zum Jahr des Elefanten, welches sie dar-
nach zur Epoche machten. Nach Anderen rechneten sie neun Jahre nach
dem Tode Hischams b. alMughira, bis sie die Kaaba bauten und nun-
mehr nach dem Bau der Kaaba datierten. Vgl. Agh. I 34, 1,
374 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
dieser jüngeren Überlieferung entfernt sich der Priestercodex
am allerweitesten vom Ursprünglichen dadurch, dass nach ihm
das Passah, dessen Zusammenhang mit dem Erstgeburtsopfer er
ganz verwischt, nicht zum Danke dafür, dass Jahve die Erstge-
burt Ägyptens geschlagen hat, gefeiert, sondern im Momente des
Auszuges gestiftet wird, damit er die Erstgeburt Israels ver-
schone. Wie dies Alles zu verstehen und zu beurteilen sei, ist
im Kapitel über die Feste (S. 90f. 104. 106) ausführlicher darge-
legt worden.
Ueber die Darstellung des Durchgangs durchs Schilfmeer
in den beiden Quellen lässt sich nur das sagen, dass dieselbe
im Jehovisten (J) complicierter ist. Nach ihm kommen auch
die Ägypter zunächst durch das von einem starken Winde trocken
gelegte Meer hindurch und stossen dann Nachts am östlichen
Ufer mit den Hebräern zusammen. „Aber gegen «die Morgen-
wache kehrte sich Jahve, in der Feuer- und Wolkensäule, gegen
des Ägypters Heer und bestürzte des Ägypters Heer und hemmte
das Ead seiner Wagen und Hess ihn ins Unwegsame gerathen.
Da sprach der Ägypter: ich will fliehen vor Israel, denn Jahve
streitet für sie gegen Ägypten. Aber das Meer kehrte zurück
gegen Morgen zu seinem gewöhnlichen Stande, und die Ägypter
flohen ihm entgegen, und Jahve schüttelte sie mitten ins Meer"
(Exod. 14, 24. 25. 27). Nach dem Priestercodex 1 ) stürzen die Wellen
über den Verfolgern zusammen, ehe sie noch ans jenseitige Ufer
gelangen: die Vorstellung ist viel einfacher, aber ärmer an zu-
fälligen Zügen.
Das Wunder des Manna (Exod. 16) wird im Priestercodex
als ein sehr zweckmässiges Mittel benutzt, die strenge Sabbaths-
heiligung dem Volke einzuschärfen : am siebenten Wochentage fällt
keins, aber das am sechsten gesammelte hält sich zwei Tage,
während es sonst nur ganz frisch gegessen werden kann. Dass
dies gesetzliche Interesse die Erzählung verdirbt und ihren eigent-
lichen Sinn zurückdrängt, liegt auf der Hand. Ebensowenig ur-
sprünglich ist es, vielmehr ein Zeichen von Greisenhaftigkeit,
wenn im Priestercodex das Manna nicht roh, sondern gekocht
und gebacken genossen wird.
*) und überhaupt nach der jüngeren Überlieferung; auch nach dem Liede
Exod. 15, welches abgesehen von dem alten Anfange ein Psalm in der
Weise der Psalmen ist und keine Ähnlichkeit hat mit den historischen
Liedern Jud. 5, 2. Sam. 1. Num 21.
Die Erzählung des Hexateuchs. 375
Auf dem Berge Sinai erhält Mose nach dem Priestereodex
die Offenbarung — des Modells der Stiftshütte, nach dessen ihm
vorschwebenden Muster er dann unten die wirkliche Stiftshütte
bauen lässt. Alle inhaltliche Offenbarung erfolgt schon zur Zeit
Mose's so weit als möglich in der Stiftshütte, Exod. 25, 22. Denn
auch der Sinai darf dem einzig legitimen Gottessitze nicht länger,
als es unumgänglich nötig ist, zur Seite treten. 1 ) Die Gesetzes-
tafeln werden, wie es scheint, stillschweigend Torausgesetzt, ohne
vorher eingeführt zu sein; natürlich auf Grund der Annahme,
dass die Sache den Lesern, nach der älteren Überlieferung,
bekannt sein werde. Dafür wird dann aber das Äussere der
Lade aufs verschwenderischste ausgestattet, mit einer Pracht, an
welche die anderweitigen Nachrichten über den Akazienholz-
kasten nicht denken lassen, wie denn auch sonst die Lade im
Priestercodex anders aussieht, als sie nach 1. Reg. 7, 23ff. aus-
gesehen hat. An die Haggada erinnert die Decke, welche Mose
über sein vom Widerschein der Herrlichkeit Jahve's strahlendes
Antlitz legen muss , um die Leute nicht zu blenden (Exod. 34,
29 — 35), und die Verfertigung des ehernen Handfasses aus den
Spiegeln der Tempelweiber (38, 1 vgl. Num. 17, lff.): diese
Züge gehören zwar nicht zum ursprünglichen Bestände des
Priestercodex, fallen aber dennoch in seine Sphäre.
Vom Sinai gelangen wir nach der alten Überlieferung über
diese und jene namentlich aufgeführten Stationen alsbald nach
Kades, um hier die längste Zeit des vierzigjährigen Wtisten-
aufenthalts zu verbleiben: hier spielen, wie bereits gesagt, eigent-
lich alle Geschichten, die überhaupt von Mose erzählt werden.
Im Priestercodex kommen wir auch hier, gerade wie in der
Patriarchensage, nicht an bestimmte Orte, sondern treiben in
der Wüste des Sinai, in der Wüste Pharan, in der Wüste Sin
um. Mit offenbarer Absicht wird namentlich Kades möglichst
in den Hintergrund gedrängt, jedenfalls wegen der grossen Hei-
ligkeit, welche dieser Ort als langjähriges Standlager der Israe-
liten unter Mose ursprünglich gehabt hat.
Von Kades gehen nach dem Jehovisten die Kundschafter
aus, nach dem Priestercodex von der Wüste Pharan. Nach
jenem gelangen sie bis nach Hebron, bringen von dort die
*) Vgl. indessen Jahrbb. für Deutsche Theologie 1877. S. 453 Anm. 1.
376 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
schönen Trauben mit, finden aber das Land, wo sie wachsen,
uneinnehmbar; nach diesem gelangen sie ohne weiteres gleich
durch ganz Palästina hindurch bis zum Libanon, haben aber
nichts mitzubringen und raten deshalb vom Angriff auf das
Land ab, weil sie es nicht besonders begehrenswert finden: ge-
rade als ob nur dem Glauben die Vorzüge desselben zugänglich,
für ungläubige Augen aber nicht zu entdecken seien, wie es zur
Zeit Haggai's und Zacharia's und zur Zeit Ezra's und Nehemia's
wirklich der Fall war, während dem alten echten Israeliten die
Herrlichkeit seiner geliebten Heimat kein blosser Glaubenssatz war,
an dem er hätte auch zweifeln können. Dort wird (nach Dt. 1, 23)
nur die Zahl der Kundschafter angegeben sein, hier werden sie
alle zwölf mit Namen benannt. Dort macht alleine Kaleb die
gute Ausnahme, hier Kaleb und Josua. Ursprünglich gehörten
wohl beide nicht in diese Erzählung, aber Kaleb als Ausnahme
zu nennen lag nahe, weil er in der That gerade die Gegend von
Kades bis Hebron eroberte, welche die Kundschafter als unein-
nehmbar geschildert und die durch sie eingeschüchterten Israe-
liten nicht anzugreifen gewagt hatten. Josua dagegen ist hin-
zugefügt worden von der Erwägung aus, dass nach dem Num. 14,
23. 24 vom Jehovisten ausgesprochenen Grundsatze auch er das
Verdienst Kalebs geteilt haben müsse, da er gleichen ausnahms-
weisen Lohnes teilhaft geworden sei.
Auftraggeber der Kundschafter, zu dem sie ihre Meldung
zurückbringen, ist nach dem Jehovisten Mose allein, nach dem
Priestercodex Mose und Aharon. In der ältesten Quelle des
Jehovisten (J) kommt Aharon überhaupt noch nicht vor, im
Priestercodex darf Mose öffentlich nichts ohne ihn thun. *) Mose
ist zwar auch hier die Seele, aber Aharon der Repräsentant der
Theokratie-, und es wird streng daraufgehalten, dass derselbe
nirgend fehle, wo es auf diese Repräsentation, der Gemeinde
gegenüber, ankommt. Die auffallendsten Früchte hat der Trieb,
den Vertreter der flierokratie und damit überhaupt die Hiero-
kratie in die mosaische Geschichte einzuführen, getragen in der
sogenannten Erzählung vom Aufruhr der Rotte Korah. Nach
der jehovistischen Überlieferung sind es die Rubeniten Dathan
und Abiram, vornehme Männer des erstgeborenen Stammes in
*) Ebenso handelt dort Josua allein, hier immer nur zur Seite des Priesters
Eleazar. Vgl. oben die Anmerkung auf S. 147, 148.
Die Erzählung des Hexateuchs. 377
Israel, von denen der Aufruhr ausgeht, und derselbe richtet sieh
gegen Mose als Führer und Richter des Volkes. Nach
der Version der Grundschrift des Priestercodex (Q) ist ein judäi-
scher Stammfürst mit Namen Korah der Rädelsführer, und er
empört sich nicht gegen Mose allein, sondern gegen Mose
und Aharon als Vertreter des Priestertums. In einem
späteren Nachtrage, welcher seiner Art nach ebenfalls zum
Priestercodex, aber nicht zu dessen ursprünglichem Bestände ge-
hört, erscheint der Levit Korah an der Spitze eines Aufstandes
der Leviten gegen Aharon als Oberpriester und verlangt
die Gleichstellung des niederen Klerus mit dem höheren. Neh-
men wir die jehovistische Version, als deren geschichtliehe
Grundlage das Herabsinken Rubens von seiner alten Stellung
an der Spitze der Brüderstämme durchschimmert, zum Ausgangs-
punkte, so lässt sich mit Händen greifen, wie die zweite daraus
entstanden ist. Nachdem das Volk der Gemeinde, d. h. der
Kirche, Platz gemacht hat, treten.statt des volkstümlichen Füh-
rers Mose die geistlichen Spitzen Mose und Aharon ein, und die
Eifersucht der weltlichen Grossen richtet sich nun gegen den
Stand der Erbpriester, statt gegen den ausserordentlichen Ein-
fluss eines gottgesandten Heroen auf das Gemeinwesen: alle
diese Veränderungen ergeben sich naturgemäss aus der Über-
tragung der Hierokratie in die mosaische Zeit. Vom Boden der
zweiten Version lässt sich nun ferner die Entstehung der dritten
begreifen. Nachdem zunächst dort die ursprünglich rubenitischen
Stammfürsten zeitgemäss einem judäischen gewichen sind, ist
hier, gemäss dem weiteren Fortschritte der Zeit, an die Stelle
des judäischen Stammfürsten Korah der gleichnamige Eponymus
einer nachexilischen Levitenfamilie getreten, und der Streit zwi-
schen Klerus und Adel hat sich in einen häuslichen Streit zwi-
schen höherem und niederem Klerus verwandelt, der ohne Zweifel
in der Gegenwart des Erzählers brennender war. So entwickeln
sich die drei Versionen, deren Zusammenschweissung unter je-
dem anderen Gesichtspunkte als ein reines Rätsel erscheint,
in geradliniger Deseendenz auseinander; unter dem Einfluss uns
vollkommen bekannter, grosser historischer Wendungen haben
sich die Metamorphosen vollzogen und im Lichte der judäischen
Geschichte seit Josia sind sie uns durchaus nicht unverständlich. ! )
l ) Die nähere Begründung findet man in den Jahrbüchern für Deutsche
378 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
Es folgt der Aufbruch der Israeliten ins Ostjordanland. Nach
dfcm Jehovisten legen ihnen die Nachbarvölker dabei Schwierig-
keiten in den Weg, und das Land, wo sie sich ansiedeln wollen,
müssen sie sich mit dem Schwerte erobern. Der Priestercodex
berichtet davon so wenig wie früher vom Amalekiterkriege;
nach ihm sieht es so aus, als ob die Israeliten geradeswegs auf
ihr Ziel losgesteuert wären und sichs dort bequem gemacht
hätten; der Besitz des herrenlosen Landes wird (Num. 32) von
Mose und Eleazar den beiden Stämmen Kuben und Gad zuge-
standen. Damit es aber nicht gänzlich an einem Kriege unter
Mose fehle, wird hinterher der Krieg mit den Midianitern, über
den wir bereits referiert haben, erzählt (Num. 31); erzählt wird
freilich dabei nicht viel, sondern nur gezählt und verordnet; in
dem Verse 31, 27 scheint 1. Sam. 30, 24 als Grundlage des
Ganzen durchzuschimmern. Für die Anschauung vom Kriegs-
wesen, wie sie die ganz kriegsentwöhnten Juden der späteren
Zeit hatten, ist der Bericht äusserst bezeichnend. Sehr merk-
würdig ist auch der Anlass des Krieges: nicht etwa um Land
zu erwerben oder aus irgend welcher anderen praktischen Ur-
sache wird er begonnen, sondern bloss zur Rache dafür, dass
die Midianiter einzelne Israeliten zum Huren verführt haben.
Die Ältesten von Midian sind nämlich hingegangen zum
Wahrsager Bileam, um sich bei ihm Rats zu erholen, was gegen
die israelitischen Eindringlinge zu machen sei. Er hat ein Mittel
angegeben, der Gefahr die Spitze abzubrechen: die Midianiten
sollen den Israeliten ihre Töchter zu Weibern geben und so
das heilige Volk seiner Stärke berauben, deren Geheimnis seine
Absonderung ist. Die Midianiten sind Bileams Käthe gefolgt,
es ist ihnen gelungen, manche Israeliten durch die Reize ihrer
Weiber zu bestricken, eine schwere Plage ist in Folge dessen
von Jahve über das untreue Volk verhängt. Bis so weit lässt
sich die Erzählung des Priestercodex nur aus Num. 31, 8. 16,
Jos. 13, 22 und aus den Prämissen der Fortsetzung erraten;
erst an diesem Punkte setzt das uns erhaltene Stück (Num. 25,
6 ff.) ein und zwar mit dem Bericht, auf welche Weise der Plage
endlich Einhalt gethan worden sei. Ein Mann bringt ganz dreist
Theologie 1876. S. 572 ff. 1877 S. 454 Anm. und i» der Leidener Theol.
Tijdschrift 1878 S. 139 ff.
Die Erzählung des Hexateuchs. • 379
eine Midianitin ins Lager, vor den Augen Mose's und der wei-
nenden Kinder Israel; da nimmt der jugendliche Erbpriester
Phinebas einen Speer, durchsticht das gottlose Paar, und wendet
durch diesen seinen Eifer den Zorn Jahve's ab. Diese Erzäh-
lung gründet sich auf die uns gleichfalls nur fragmentarisch er-
haltene jehovistische (Num. 25, 1 — 5), über den Abfall der Israe-
liten im Lager zu Sittim zum Dienste des Baal Peor, wozu sie
sich verführen lassen durch die Töchter Moabs: der Götzendienst
ist im Priestercodex, bis auf einige unwillkürliche Reminiscenzen,
ganz fcjrtgefallen und statt dessen die Hurerei, die ursprünglich
nur den Anlass zu der eigentlichen Hauptschuld bildet, aus-
schliesslich hervorgehoben, offenbar in dem Gedanken, dass das
Heiraten fremder Frauen schon an sich ein Abfall von Jahve,
ein Bundesbruch sei. Diese Abwandlung war für das exilische
und nachexilische Judentum höchst zeitgemäss, denn damals lag
die Gefahr groben Götzendienstes nicht nahe, wohl aber kostete
es grosse Mühe, dem drohenden Eindringen des Heidentums in
die Gemeinde unter der freundlichen Form der Mischehen ent-
gegenzutreten, welche schon nach dem Deuteronomium verboten
und gar keine rechtmässigen Ehen waren. Zu der jehovistiscben
Erzählung von Baal Peor ist nun aber in der Version des Priester-
codex noch die Figur des Bileam hinzugekommen, die gleichfalls
dem Jehovisten entlehnt, aber freilich ganz umgestaltet ist. So
wie er in der alten Geschiehte erscheint, verstösst er gegen alle
Begriffe des Priestercodex. Ein aramäischer Seher, der für Geld
gedungen wird und allerhand heidnische Vorbereitungen trifft
um zu weissagen, aber dabei doch kein Betrüger ist sondern
ein wahrer Prophet so gut wie irgend ein israelitischer, ja mit
Jahve in den vertrautesten Beziehungen steht trotzdem er eigent-
lich die Absicht hat Jahve's Volk zu verfluchen — das ist dem
exclusiven Judentum zu stark. Die Correctur wird einfach da-
durch bewirkt, dass Bileam mit der folgenden Perikope in Ver-
bindung gebracht und zum intellectuellen Urheber der Teufelei
der midiariitischen Weiber gemacht wird: in dieser Neuschöpfung
des Priestercodex lebt er dann in der Haggada fort. Unklar
bleibt es, warum die Moabiter in Midianiter umgesetzt werden;
es steht jedoch fest, dass die Midianiter nie in jener Gegend
gewohnt haben.
Mehr und mehr nehmen im Buche Numeri auch die erzäh-
380 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
landen Partieen, welche im Übrigen die Art und Farbe des
Priestereodex an sieb tragen, den Charakter blosser Ergänzungen
und redaktioneller Nachträge zu einem bereits vorhandenen an-
derweitigen Zusammenhange an; die selbständige Grundschrift
des Priestercodex, das Vierbundesbuch oder das Buch der Ur-
sprünge (Q), tritt immer stärker gegen die jüngeren Zusätze zu-
rück und hört wie es scheint mit dem Tode Mose's ganz auf.
Wenigstens lässt sie sich in der ersten Hälfte des Buches Josua
nirgend verspüren, und dann kann man auch die ausführlichen
dem Priestercodex angehörigen Stücke der zweiten Hälfte, die
von der Verteilung des Landes handeln, nicht zu ihr rechnen,
da dieselben ohne vorhergehende Erzählung über die Eroberung
des Landes in der Luft schweben und keinen eigenen Zusammen-
hang mehr darstellen, sondern das jehovistisch - deuteronomi-
stische Werk voraussetzen. Bei aller Abneigung gegen Krieg
und Kriegsberichte (1. Chron. 22, 8. 28, 3) hätte doch ein selb-
ständiges Werk wie das Vierbundesbuch die Kämpfe Josua's
unmöglich tibergehen können.
Eine Vergleichung der Versionen über die Weise, wie die
israelitischen Stämme von dem eroberten Lande Besitz ergriffen
haben, möge den Reigen beschliessen. Der Priestercodex lässt,
in Einklang mit der deuteronomistischen Bearbeitung, ganz Ka-
naan zur tabula rasa machen und es dann herrenlos und menschen-
leer der Verlosung unterbreiten. Zuerst fällt dem Stamme Juda
sein Los, sodann Manasse und Ephraim, darauf den beiden
Stämmen, die sich an Ephraim und Juda anschmiegten, Benja-
min und Simeon, endlich den fünf nördlichen Stämmen Zebuion
Issachar Äser Naphthali Dan. „Das sind die Stammländer,
welche Eleazar der Priester und Josua ben Nun und die Stamm-
häupter der Kinder Israel zuteilten nach dem Lose zu Silo vor
Jahve vor der Stiftshütte. a
Nach dem Jehovisten scheinen Juda und Joseph ihr Gebiet
schon zu Grilgal (14, 6), und zwar nicht durchs Los, zugeteilt
erhalten und es von dort aus in Besitz genommen zu haben.
Geraume Zeit später wird das übrigbleibende Land unter die
säumigen sieben kleinen Stämme verlost, von Silo oder vielleicht
ursprünglich von Sichern aus (18, 2 — 10); Josua alleine wirft
das Los und weist an, Eleazar der Priester nicht mit ihm. Schon
hier wird die unterschiedslose Allgemeinheit der Anschauungs-
Die Erzählung des Hexateuehs. 381
weise des Priestercodex etwas eingeschränkt, viel stärker aber
widerspricht derselben das wichtige Kapitel Jud. 1.
Dasselbe ist in Wahrheit keine Fortsetzung des Buches
Josua, sondern eine Parallele dazu, die wohl die Eroberung des
ostjordanischen, aber nicht die des westjordanischen Landes vor-
aussetzt, diese vielmehr erst selber erzählt und zwar erheblieh
abweichend. Von Gilgal, wo der MaUak Jahve zuerst sein Lager
aufgeschlagen hat, ziehen die Stämme einzeln aus um sich ihr
„Los" zu erkämpfen, zuerst Juda, dann Joseph. Bloss von
diesen wird eigentlich erzählt, indessen von Joseph auch nur
der erste Anfang der Eroberung seines Landes. Von Josua ist
keine Rede; als Befehlshaber Israels passt er auch nicht in
die Gesamtanschauung, während es sich wohl damit vertragen
würde ihn als Führer seines Stammes anzusehen. Rtickhaltslos
wird die Unvollständigkeit der Eroberung zugeständen, dass die
Kanaaniter in den Städten der Ebene ruhig fortgewohnt haben
und erst in der Königszeit, als Israel stark geworden, unter-
worfen und zinsbar gemacht seien. Dass dies Kapitel, sowie
überhaupt der Stock des Eichterbuchs , der jehovistischen Tra-
ditionsschicht entspricht, zu der auch die gleichlautenden oder
ähnlichen Stellen im Josua (15,13 — 19 u.a.) unbestritten ge-
, rechnet werden, lehrt schon der Mal'ak Jahve. Die Verschieden-
i f heit von der jehovistischen Hauptversion im Buche Josua er-
,^ klärt sich grössten Teils daraus, dass diese ephraimitischen Ur-
' j§ Sprungs ist und in Folge dessen dem Helden Ephraims oder
Josephs die Eroberung des ganzen Landes zuschreibt, während
Jud. 1 den Stamm Juda mehr berücksichtigt. Es findet sich
übrigens im Buche Josua selber der Best einer Version (9, 4 — 7.
12 — 14), worin ebenso wie in Jud. 1 „der israelitische Mann"
handelt und „den Mund Jahve's befragen" muss, während sonst
Josua allein zu sagen hat und als Nachfolger Mose's die Ent-
scheidung lediglich der Vollmacht seines eigenen Geistes ent-
nimmt. Endlich ist auf Exod. 23, 20ff. aufmerksam zu machen,
wo gleichfalls die Übereinstimmung mit Jud. 1 darin hervortritt,
dass nicht Josua, sondern der MaFak Jahve's (Jud. 5, 23) Israels
Führer ist, und dass das gelobte Land nicht auf einmal, sondern
sehr allmählich im Laufe der Zeit erobert wird.
Die Anachronismen und Anekdoten in Jud. 1 hindern nicht
anzuerkennen, dass die zu Grunde liegende Gesamtanschauung
382 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
von dem Hergange der Eroberung, nach dem was wir von der
Folgezeit wissen, eine ungleich historischere ist als die im Buche
Josua herrschende, wonach Alles mit systematischer Gründlich-
keit zugegangen, das ganze Land erst entvölkert, sodann unter
die einzelnen Stämme ausgelost sein soll. Sofern die letztere
Vorstellung, welche einerseits ermöglicht wird durch die wört-
liche Deutung des von den Familienäckern auf das Stammge-
biet übertragenen Ausdruckes Los (Jud. 18, 1), andererseits durch
die übliche Zusammendrängung einer langen Entwicklung in den
ersten Hauptakt, am consequentesten im Priestercodex ausge-
bildet ist, so steht dieser dem Ursprünge der Tradition am fern-
sten. 1 ) Das Gleiche zeigt sich auch darin, dass der Stamm
Joseph nie erwähnt wird, sondern statt seiner immer nur die
beiden Stämme Ephraim und Manasse, und dass diese beiden
Stämme fast ganz gegen Juda verschwinden, obwohl trotzdem
der Führer Ephraims, Josua, als Führer Gesamtisraels aus der
alten, ursprünglich ephraimitischen, Tradition beibehalten wird.
Es ist kein Widerspruch , bei der Vergleichung der Überlie-
ferungsschichten 'den geschichtlichen Massstab für die Ursage und
die Patriarchenlegende abzulehnen und ihn für die epische Zeit
Mose's und Josua's in gewissen Grenzen anzuwenden. Die
epische Überlieferung enthält doch Elemente, die sich nicht an-
ders erklären lassen als dadurch dass geschichtliche Facta zu
Grunde gelegen haben müssen; sie geht doch von der Zeit aus
von der sie handelt, während die Patriarchenlegende mit der
Zeit der Patriarchen in durchaus keiner* Verbindung steht. 2 )
Darin liegt das Recht der verschiedenen Behandlung. Das letzte
Ergebnis ist das gleiche: sowohl mit dem Masse der Poesie als
*) In der deuteronomistischen Bearbeitung (Jos. 21, 43—45) zeigt sich doch
noch ein Schwanken, ein gewisses Unvermögen sich loszureissen vom
Alten (Deut. 7, 22. Jud. 3, 1.2), ausserdem sind hier die Motive der
Neuerung weit deutlicher : die Kanaaniten werden ausgerottet um die An-
steckung der neuen Ansiedler mit ihrem Götzendienst zu verhüten.
2 ) Bei vereinzelten Angaben lässt sich wohl auch hier der historische Mass-
stab anlegen. Man kann es eine richtigere Vorstellung nennen, dass Hebron
zur Zeit Abrahams von den Kanaanitern und Pherezitern, als dass es
von den Hethitern bewohnt gewesen sei, die letzteren wohnten nach
2. Sam. 24, 6 (Bleek 4 S. 228. 597) in Coelesyrien und nach 2. Reg. 7, 6
in der Nähe der Aramäer von Damaskus. Die Angabe, dass die Israeliten
als Hirten von Pharao das Weideland Gosen an der Nordostgrenze Ägyp-
tens erhalten und dort für, sich gewohnt haben, verdient den Vorzug vor
der, dass sie unter den Ägyptern im besten Teile des Landes angesie-
delt seien.
Die Erzählung des Hexateuchs. 383
mit dem Masse der Historie gemessen steht der Priestercodex
nach Wert und nach Zeit beträchtlich unter dem Jehovisten.
3. Ich habe in groben Zügen den Gegensatz zwischen
den Endpunkten der Überlieferung des Hexateuchs zur An-
schauung zu bringen gesucht. Es wäre nicht unmöglich, der
inneren Entwickelung der Überlieferung durch die Mittelglieder
nachzugehen, unter Benutzung der feineren Ergebnisse der
Quellenscheidung und mit Heranziehung der nicht gerade zahl-
reichen aber, wichtigen Anspielungen, die im Deuteronomium, in
den historischen und in den prophetischen Büchern, namentlich bei
Hosea, vorkommen. Es würde sich herausstellen, dass die Sage
ihrer Natur nach dazu auffordert sie zu variieren , dass sie sich
objektiv gar nicht darstellen lässt. Schon bei der ersten Auf-
zeichnung spielen die verfärbenden Einflüsse ein, ohne dass
darum doch dem einwohnenden Sinne des Stoffes Gewalt ge-
schähe. Nachweisbar ist zuerst die Einwirkung jenes specifi-
schen Prophetismus, den wir von Arnos ab verfolgen können.
Am wenigsten lässt er sich in der alten Hauptquelle des Jeho-
visten, in J, merken, doch ist es auffallend, dass die Ascheren
im Patriarchencultus nirgend vorkommen. Weit stärker prophe-
tisch angehaucht ist die zweite jehovistische Quelle, E; sie lässt
eine fortgeschrittenere und grundsätzlichere Religiosität erkennen.
Bedeutsam in dieser Hinsicht ist die Einführung Abrahams als
Nabi, das Vergraben der Theraphim durch Jakob, die Auffassung
der Masseba bei Sichern (Jos. 24, 27), vor allen Dingen die Ge-
schichte vom goldenen Kalbe. Die Gottheit wird weniger ur-
wüchsig vorgestellt als in J, sie tritt nicht leibhaftig zum Men-
schen hin, sondern ruft vom Himmel oder offenbart sich im
Traume. Indem sich das religiöse Element verfeinert hat, ist es
zugleich energischer geworden und hat auch das Heterogene
durchdrungen, gelegentlich so wunderliche Mischungen erzeugend
wie in Gen. 31, 10 — 13. Dann tritt das Gesetz ein und durch-
säuert die jehovistische Erzählung, zuerst das deuteronomische,
schon in der Genesis, dann sehr stark im Exodus und im Josua.
Zuletzt wird im Priestercodex, unter dem Einfluss der Gesetz-
gebung der nachexilischen Kestauration, eine völlige Umgestaltung
der alten Tradition bewirkt. Das Gesetz ist der Schlüssel zum
Verständnis auch der Erzählung des Priestercodex. Mit der
Einwirkung des Gesetzes hängen alle unterscheidenden Eigen-
384 Geschichte der Tradition, Kap. 8.
tümüchkeiten derselben zusammen; überall macht sieh die Theorie,
die Regel, das Urteil geltend. Was oben vom Cultus gesagt ist,
lässt sieh wörtlich von der Sage wiederholen: in der alten Zeit
ist sie dem grünen Baume zu vergleichen, der aus dem Boden
wächst wie er will und kann, hinterher ist sie dürres Holz, das
mit Zirkel und Winkelmass regelrecht zubehauen wird. Es ist
ein wunderlicher Einwurf zu sagen, die nachexilische Zeit habe
zu Productionen, wie die Stiftshtitte oder die Chronologie es
sind, nicht das Zeug gehabt. Originell war sie freilich nicht,
aber der Stoff war ja schriftlich gegeben und brauchte nicht
mehr erfunden zu werden. Was gehörte denn gross dazu, um
den Tempel in ein tragbares Zelt zu verwandeln? Was ist das
für eine Schöpferkraft, die lauter Zahlen und Namen hervor-
bringt! Von Jugendfrische wenigstens kann da nicht die Rede
sein. Mit ungleich grösserem Rechte wird sich behaupten lassen,
dass die theoretische Modelung und Aptierung der Sage, wie sie
im Priestercodex geübt wird, erst hat eintreten können, nach-
dem dieselbe aus dem Gedächtnis und dem Herzen des Volks
herausgerissen und in ihren Wurzeln abgestorben war.
Die Geschichte der vorhistorischen und der epischen Tradition
hat also ganz dieselben Phasen durchlaufen wie die der histo-
rischen; und der Priestercodex entspricht in dieser Parallele in
all und jeder Hinsicht der Chronik. Das Mittelglied aber zwi-
schen Alt und Neu, zwischen Israel und dem Judentum, ist
überall das Deuteronomium.
Der Antar-roman sagt von sich selber, er habe ein Alter
von 670 Jahren erreicht und davon 400 Jahre im Zeitalter der
Unwissenheit (d. h. des altarabischen Heidentums), die übrigen
270 im Islam verlebt. Etwas Ähnliches könnten die biblischen
Geschichtsbücher von sich aussagen, wenn sie, personifiziert, ihr
Leben begönnen mit der Aufzeichnung des ältesten Kernes und
es abschlössen mit der letzten grossen Umarbeitung. Die Zeit
der Unwissenheit würde dauern bis zum Erscheinen „des Buchs",
welches allerdings im Alten Testament nicht so auf einmal wie
der Koran, sondern während einer längeren Periode und in
mehreren Phasen herniedergekommen ist.
III.
Israel und das Judentum.
Das Gesetz ist zwischenein getreten.
Yatke S. 183.
Wellhausen, Prolegotmena. 25
Neuntes Kapitel.
Abschluss der Kritik des Gesetzes.
Gegen die allgemeine Art der Begründung der Graf sehen
Hypothese ist Einspruch erhoben worden. Es soll eine uner-
laubte Argumentation ex silentio sein, wenn daraus, dass die
priesterliche Gesetzgebung noch bei Ezeebiel latent ist wo sie
wirksam, unbekannt wo sie bekannt sein sollte, geschlossen wird,
dass sie damals noch nicht vorhanden gewesen sei. Was ver-
langt man denn aber? Soll die Nichtexistenz des Nichtvorhan-
denen etwa auch noch vorher bezeugt werden? Ist es verstän-
diger, ex silentio positiv den Beweis der Existenz zu erbringen?
zu sagen: in der Richter- und Königszeit gibt es keine Spuren
der Hierokratie, also stammt sie aus dem höchsten Altertum,
von Mose her? Das Problem bliebe dann dasselbe, nämlich zu
erklären, wie es kommt, dass mit und nach dem Exil die Hiero-
kratie des Priestercodex praktisch zu werden beginnt. Was die
Gegner der Graf sehen Hypothese Argumentation ex silentio nen-
nen, ist weiter nichts als die allenthalben gültige Methode histo-
rischer Forschung.
Ein etwas anderes Aussehen gewinnt der Protest gegen die
Argumentation ex silentio, wenn darauf hingewiesen wird, dass
Gesetze manchmal Theorien sind irnd dass es kein Beweis gegen
die Existenz einer Theorie ist, wenn sie in der Praxis nicht
durchdringt. Wer wird zum Beispiel daraus, dass das Deute-
ronomium während der vorexilischen Zeit wesentlich Theorie
blieb, schliessen wollen, es sei nicht vorhanden gewesen? Wenn
Gesetze nicht gehalten werden, so sind sie darum doch da —
vorausgesetzt nämlich , dass man dafür anderweitig genügende
25*
388 Israel und das Judentum, Kap. 9.
Beweise hat. Aber diese Beweise wollen sich eben für den
Priestercodex ganz und gar nicht finden lassen. Ausserdem ist
selten Alles bei einem Gesetze Theorie; die Möglichkeit, dass
etwas Theorie sein kann, darf nicht allgemein, sondern immer
nur im einzelnen Falle geltend gemacht werden. Und nicht
Alles, was in der That Theorie ist, entzieht sich darum der
geschichtlichen Ansetzung. Auch die gesetzliche Phantasie geht
immer von irgend welchen gegebenen Voraussetzungen aus; eben
an diese Voraussetzungen , nicht an die Gesetze selber, hat sich
di& geschichtliche Kritik zu halten. 1 )
Gerade umgekehrt pocht man nun freilich auch darauf, dass
die Gesetze des Priestercodex sich doch überall in der Praxis
der historischen Zeit bezeugen, dass es immer Opfer und Feste
und Priester und Eeinigungsbräuche und was dergleichen mehr
ist im alten Israel gegeben habe. Dem liegt wo möglich die
Meinung zu Grunde, dass nach der Graf 'sehen Hypothese der
ganze Cultus erst durch den Priestercodex erfunden und erst
nach dem Exil eingeführt worden wäre. Die Vertreter der
Graf sehen Hypothese glauben wirklich nicht, dass der israeli-
tische Cultus plötzlich in die Welt getreten sei, so wenig durch
Ezechiel oder durch Ezra als durch Mose — wozu würden sie
auch sonst yon Zöckler und Delitzsch des Darwinismus bezich-
tigt? 2 ) Sie finden nur, dass des Gesetzes Werke vor dem Ge-
setze geschehen sind, dass ein Unterschied besteht zwischen her-
gebrachtem Brauche und formuliertem Gesetze, und dass dieser
Unterschied auch da, wo er bloss formell scheint, doch einen
materiellen Hintergrund hat, indem er zusammenhängt mit der
Centralisierung des Gottesdienstes und der darauf gegründeten
Hierokratie. Es kommt auch hier nicht bloss auf den Stoff an,
sondern auf den Geist, der dahinter steckt und sich überall als
Zeitgeist charakterisiert 3 ).
Vgl. S. 52. 155f. 167 f. 2661 Darum ist auch die Vergleiehung der Tra-
ditionsschichten ebenso wichtig als die der Gesetzesschichten.
2 ) The Christian Church II (London 1882) p. 368: Wellhausen's speculations
were spoken of by Delitzsch as merely applications of Darwinism to
the sphere of theology and criticism. Damnant omnes Darwinistas: die
Etikettierung der Ketzereien, in der es namentlich Zöckler so weit ge-
bracht hat, ist die halbe, ja die ganze Widerlegung. Doch muss wegen
de Wette und Reuss hinzugefügt werden: sive ante siye post Darwinum,
3 ) Vgl. S. 79ff. 107ff.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 389
Inzwischen leiden alle diese Einwürfe an dem Fehler, dass
sie ausser Acht lassen, um was es sich eigentlich handelt. Es
handelt sich nicht darum zu erweisen, dass das mosaische Ge-
setz in der vorexilischen Zeit nicht bestanden habe. Es gibt
drei Gesetzes- und Traditionsschichten im Pentateueh, und die
Aufgabe ist, diese Schichten in historische Folge zu bringen.
Beim Jehovisten und beigi Deuteronomium hat diese Aufgabe
eine Lösung gefunden, die als allgemein anerkannt gelten kann;
es handelt sich nun bloss darum, das Verfahren, wodurch die
Reihenfolge und die Zeit dieser beiden Schriften ermittelt worden
ist, auch auf den Priestercodex anzuwenden, nämlich die innere
Vergleichung der Schichten untereinander und die historische
Vergleichung derselben mit den sicher tiberlieferten Thatsachen
der israelitischen Geschichte. 2 ) Man sollte nicht denken , dass
hiegegen Widerspruch erhoben werden könnte. Aber dies ist
dennoch der Fall; das, selbe Verfahren, welches auf das Deute-
ronomium angewandt historisch -kritische Methode heisst, heisst
auf den Priestercodex übertragen Gesehichtseonstruction. Con-
struieren muss man bekanntlich die Geschichte immer; die Reihe
Priestercodex Jehovist Deuteronomium ist auch nichts durch
die Überlieferung oder durch die Natur der Dinge Gegebenes,
sondern eine nur wenige Decennien alte Hypothese, von der
man jedoch die freilich etwas unfassbaren Gründe vergessen
hat und die dadurch in den Augen ihrer Anhänger den Schein
des Objectiven, d. h. den Charakter des Dogmas, bekommt. Der
Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht construiert. Graf
Baudissin glaubt hier besonders vor. einer Gefahr warnen zu
müssen, nämlich vor der übertriebenen Anwendung der Logik;
die logische Auseinanderfolge der Gesetze brauche darum doch
nicht die historische Aufeinanderfolge derselben zu sein. Um
des logischen Fortschritts willen geschieht es aber in der That
nicht, wenn wir die von den Propheten ausgehende Ent Wicke-
lung schliesslich auf das Cultusgesetz auslaufen lassen ; von dem
gesunden Menschenverstände ausgehend hat man gewöhnlich der
Geschichte, trotz des Widerstrebens ihrer auf uns gelangten
Spuren, den umgekehrten Gang aufgedrängt. 9 ) Wenn wir von
J ) Die Methode ist in der Einleitung (S. lff.) angegeben; ich habe mich be-
sonders im ersten Kapitel, über den Ort des Gottesdienstes, bemüht, sie
deutlich hervortreten zu lassen.
2 ) Wunderbar wäre es darum auch nicht, bei dem ganzen Charakter der
390 Israel und das Judentum, Kap. 9.
der israelitischen Cultusgeschichte nach mühsam gesammelten
Daten der historischen [und prophetischen Bücher einen Aufriss
machen, darnach den Pentateuch damit vergleichen, [und auf diese
Weise bestimmte Beziehungen der einen Schicht des Pentateuchs
mit dieser historischen Phase, der anderen mit jener erkennen,
so heisst das nicht die Logik* an Stelle der historischen Unter-
suchung setzen. So weit soll doc^ gewiss die neue Lehre
von der Unvernünftigkeit der Wirklichen nicht getrieben wer-
den, dass man die Correspondenz zwischen Gesetzesschicht und
betreffender Geschichtsphase als Grund ansieht, beides mög-
lichst weit auseinander zu reissen. Wenigstens müsste man dann
diesen Grundsatz auch auf den Jehovisten und das Deuterono-
mium anwenden, nicht bloss auf den Priestercodex. Denn was
dem einen recht ist, ist dem anderen billig; ein bischen Logik
ist eben leider beinah ganz unvermeidlich.
Dass nicht Alles, was ich in der Geschichte des Cultus und
der Tradition vorgebracht habe, Beweis der Hypothese, vielmehr
gar Manches nur Erklärung auf Grund der Hypothese ist, die
nicht dazu dienen kann sie selber zu stützen, das versteht sich
von selbst. Im Gegensatz zu Graf bin ich absichtlich so ver-
fahren. Graf hat seine Argumente ziemlich un verbunden vorge-
tragen und nicht versucht, die historische Gesamtbetrachtung
der Geschichte Israels zu ändern. Eben darum hat er keinen
Eindruck bei der Mehrzahl seiner Fachgenosseri gemacht; sie
sahen nicht hinein in die Wurzel der Sache, konnten das System
für unerschüttert halten und darum die einzelnen Anstösse für
untergeordnete Kleinigkeiten ansehen. Mein Unterschied von
Graf besteht zunächst darin, dass ich immer auf die Centrali-
sierung des Cultus zurückgehe und daraus die einzelnen Diffe-
renzen ableite. Meine ganze Position ist im ersten Kapitel ent-
halten; dort ist namentlich auch der historisch sehr wichtige
Anteil der prophetischen Partei an der grossen Metamorphose
des Cultuswesens klar gelegt, die sich keineswegs bloss spontan
vollzog. Weiter lege ich weit mehr als Graf entscheidendes
Gewicht auf den Wechsel der herrschenden Ideen, der mit der
Änderung in den Einrichtungen und Bräuchen des Cultus pa-
Polemik gegen die Grafsche Hypothese, wenn ihr demnächst gerade der
entgegengesetzte Einwurf gemacht würde, nämlich dass sie nicht im
Stande sei, die Geschichte zu construieren.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 391
*
rallel läuft, wie das besonders der zweite Teil des vorliegenden
Buches aufweist. Fast wichtiger als die Erscheinungen selber
sind mir die dahinter liegenden Voraussetzungen.
Wenn nicht Alles, was bisher zur Sprache gekommen ist,
Beweis für die Graf 'sehe Hypothese ist noch sein soll, so gibt
es andererseits auch Beweismaterial genug, welches noch nicht
berücksichtigt ist. Dasselbe ausführlich zu erörtern, würde aber-
mals ein Buch erfordern; es kann hier nur in Auswahl und in
andeutender Kürze vorgeführt werden, wenn die Grenzen nicht
überschritten werden sollen, welche der wesentlich historische
Charakter dieser Prolegomena steckt. Grösstenteils wird sich
dabei das Pro an die Widerlegung des Contra anschliessen.
I.
1. Eberhard Schrader erwähnt zwar in seinem Lehrbuch
der Einleitung (1869, S. 266) , dass Graf die Gesetzgebung der
mittleren Bücher des Pentateuchs der nachexilischen Zeit zu-
weise, gibt jedoch nicht den mindesten Begriff von der Begrün-
dung dieser T&esiß, sondern weist sie kurzer Hand damit ab,
dass dagegen „schon die kritische Analyse ihr Veto" einlege.
Schon die kritische Analyse! Wie fängt sie das an? Wie kann
sie beweisen, dass die nach allen Seiten ausgebildete Cultus-
einheit, die Denaturalisierung der Opfer und der Feste, der Unter-
schied von Priestern und Leviten, die autonome Hierarchie älter
seien als die deuteronomische Eeform? Schrader meint vielleicht,
dass die aus der cultusgeschichtlichen Vergleichung der Quellen
entnommenen Merkmale, wonach Jehovist Deuteronomium
Priestercodex, in dieser Ordnung, auf einander folgen, durch an-
dere mehr formale und literarische aufgewogen werden, wonach
der Priestercodex an die Spitze oder doch nicht ans Ende der
Reihe gehört. Dann stünde gleich gegen gleich, und die Frage
müsste in der Schwebe bleiben. Dieser ungünstige Fall würde
jedoch nur dann eintreten, wenn die literarischen Gegeninstanzen
den mehr realistischen Gründen fttr die Grafsche Hypothese
wirklich das Gleichgewicht hielten. In der Untersuchung über
die Composition des Hexateuchs J ) habe ich nach dem Vorgange
Anderer gezeigt, wie wenig dies der Fall ist: die Hauptpunkte
will ich der Vollständigkeit halber Wer wiederholen.
*) s. oben S. 8 Anm. 2,
392 Israel und das Judentum, Kap. 9.
% Man sagt, das Deuteroiiomium gründe seine historischen
Anschauungen nicht bloss auf die jehovistische, sondern auch
auf die priesterliche Erzählung. Das eigentliche Deuteronomium
(Kap. 12 — 26) enthält zwar kaum historischen Stoff, aber bevor
Mose zur Sache kommt, schickt er zwei Einleitungen voraus
Kap. 5 — 11. Kap. 1 — 4, und klärt uns darin über die Situation
auf, worin er kurz vor seinem Tode „diese Thora" veröffent-
licht. Wir befinden uns in dem zuerst eroberten Amoriterreich
östlich vom Jordan, am Ende der vierzigjährigen Wanderung;
der Übergang ins Land Kanaan, für welches diese Gesetzgebung
berechnet ist, steht nahe bevor. Bisher, heisst es nun in Kap. 5.
9. 10, ist nur das unter allen Verhältnissen gültige und darum
von Gott selbst am Horeb verkündigte Grundgesetz der zehn
Worte gegeben worden. Damals verbat sich das Volk weitere
direkte Offenbarung von Jahve und beauftragte Mose mit der
Vermittelung, der sich demgemäss auf den heiligen Berg begab,
dort vierzig Tage und Nächte verweilte und die zwei Tafeln des
Dekalogs empfing, ausserdem aber die Satzungen und Rechte,
welche er erst jetzt nach vierzig Jahren zu publrcieren im Be-
griff steht, da sie erst mit der Ansiedelung praktisch werden.
Nachdem inzwischen unten das goldene Kalb gegossen worden,
stieg Mose vom Berge herab, zerschmetterte im Zorn die Tafeln
und zerstörte das Idol. Darauf begab er sich zum zweiten mal
wiederum vierzig Tage und vierzig Nächte auf den Berg, bat um
Gnade für das Volk und für Aharon, und nachdem er nach gött-
lichem Geheiss zwei neue Tafeln und eine hölzerne Lade für sie
gemacht hatte, schrieb Jahve den Wortlaut der zerbrochenen
noch einmal auf. Bei jener Gelegenheit, wird 10, 8 f. bemerkt,
wurden auch die Leviten zu Priestern bestellt.
Dass dies eine Reproduktion «des jehovistischen Berichtes
Exod. 19. 20. 24. 32—34 ist, liegt auf der Hand: Hingegen wird
der Priestercodex vollkommen ignoriert. Nur zwei Gesetze kennt
das Deuteronomium, den Dekalog, den das Volk, die Satzungen
und Rechte, die Mose am Horeb empfing; beide sind zu gleicher
Zeit unmittelbar hinter einander offenbart, aber nur der Dekalog
bisher publiciert. Wo bleibt die gesamte Wüstengesetzgebung
von der Stiftshütte aus? ist es doch geradezu eine Negation
ihres Begriffs, wenn Mose die Thora erst verkündet beim Über-
gang ins heilige Land, weil sie eben nur für das Land, nicht
Abscjiluss der Kritik des Gesetzes. 393
für die Wüste passt und Geltung hat. Kann der Deuteronomiker,
ganz abgesehen davon dass ihm nach Kap. 12 von einem mosai-
schen Centralheiligtum nichts bekannt gewesen ist, zwischen
Exod. 24 und 32 das gefunden haben, was wir dort jetzt lesen?
überschlägt er doch alles, was aus dem Priestercodex eingesetzt
ist. Freilich findet Nöldeke ') eine Reminiscenz an denselben in
der Lade aus Akazienholz (Deut. 10, 1). Aber die Lade kommt
Jiier in einem Zusammenhange vor, der dem jehovistischen
(Exod. 32. 33) genau entspricht und dem priesterlichen (Exod. 25 ff.)
widerspricht. Sie wird erst nach der Aufrichtung des golr
denen Kalbes gestiftet, nicht gleich zu Anfang der göttlichen
Offenbarung als der Grundstein der Theokratie. Es ist wahr,
wir finden gegenwärtig in JE Exod. 33 die Lade nicht erwähnt,
aber in dem nächsten jehovistischen Stücke (Num. 10, 33) ist sie
plötzlich da, und es musste doch ursprünglich gesagt sein, woher?
Wie die Herrichtung des Zeltes, welches 33, 7 gleichfalls unvor-
bereitet vorhanden ist, muss auch die der Lade einst zwischen
33, 6 und 7 erzählt und dann vom Redaktor des gegenwärtigen
Pentateuchs wegen der notwendigen Rücksicht auf Q Exod. 25
ausgelassen worden sein: dafür sprechen noch eine Reihe wei-
terer Gründe. 2 ) Dass der deuteronomische Erzähler JE vor der
Verarbeitung mit Q noch vollständiger vorgefunden hat als diese
Schrift uns nach der Verarbeitung vorliegt, ist doch keine so
schwierige Annahme, dass man um sie zu vermeiden lieber zu
den allerunmöglichsten zu greifen hätte. Nach Nöldeke näm-
lich hat der Verfasser von Deut. 5 — 11 entweder den jetzigen
Pentateuch vor sich gehabt und es dann rätselhaft gut verstan-
den JE heraus zu schälen, oder er hat zwar JE als selbständige
Schrift benutzt, aber doch auch Q gelesen, so aber dass seine
Gesamtanschauung nicht im mindesten von der priesterlichen
beeinflusst ist, sondern derselben total und doch unbewusst wider-
spricht, da sie für eine ausser dem Dekalog orfolgte Cultusge-
setzgebung, d. h. für den ganzen wesentlichen Inhalt von Q,
!) Jährbb. für prot. Theologie 1875, S. 350.
2 ) Ohne die Lade hat das Zelt keinen Zweck und der in Exod. 33 so wich-
tige Gegensatz von Repräsentation (MaPak) Jahve's und Jahve selber
keinen Sinn. Durch das Gusswerk, das sie sich gemacht, haben die
Israeliten den Beweis gegeben, dass sie ohne eine sinnliche Vergegen-
wärtigung der Gottheit nicht auskommen, darum gibt ihnen Jahve die
Lade statt des Kalbes.
394 Israel und das Judentum, Kaß. 9.
keinen Platz offen lässt. Zu diesem Dilemma sollte man sieh
deshalb verstehen, weil ein oder der andere Zug der deuterono-
mischen Darstellung in der gegenwärtigen Gestalt von JE nicht
nachweisbar, dagegen in Q erhalten ist? ist denn, unter sothanen
Umständen, damit bewiesen, dass er dorther stamme? muss man
nicht billigerweise einige Rücksicht auf das Ensemble nehmen?
Übrigens hat Vatke richtig bemerkt, dass die hölzerne Lade
Deut. 10, 1 gar nicht so sehr an die von Exod. 25 erinnere, die
nach Analogie des goldenen Tisches und Altars viel eher eine
goldene zu nennen war. Noch mehr guter Wille gehört dazu,
die Angabe über Aharons Tod und Begräbnis in Mosera und
über Eleazars Einsetzung an seiner statt (Deut. 10, 6. 7) für eine
Reminiscenz an Q (Num. 20, 22ff.) anzusehen, wo Aharon auf
dem Berge Hör stirbt und begraben wird. Aharon und Eleazar
stehen auch in JE als Priester zur Seite Mose's und Josua's;
vgl. Jos. 24, 33. Allerdings ist in JE jetzt der Tod und das Be-
gräbnis Aharons nicht erhalten; aber man kann doch vom Re-
daktor des Pentateuchs nicht verlangen, dass er eine Person
zweimal sterben lässt; einmal nach Q und einmal nach JE.
Noch dazu ist Deut. 10, 6. 7 eine Interpolation, denn die folgen-
den Verse 10, 8 ff., in denen nicht bloss Aharon und Eleazar,
sondern alle Leviten das Priestertum besitzen, schliessen sich an
10, 5 und beruhen auf Exod. 32: wir befinden uns noch am
Horeb, nicht schon in. Mosera.
Der historische Faden, der in Deut. 5. 9. 10 angesponnen
wird, lässt sich in Kap. 1—4 weiter verfolgen. Vom Horeb auf-
brechend kommen die Israeliten direet nach Kades Barnea und
schicken von hier, bevor sie den befohlenen Einfall in das ju-
däische Bergland wagen, aus eigener Vorsicht, die aber von Mose
gebilligt wird, zwölf Kundschafter zur Reeognoscierung aus, unter
ihnen Kaleb, aber nicht Josua. Nachdem diese bis zum Bache
Eskol vorgedrungen sind, kehren sie zurück, und obwohl sie die
Güte des Landes preisen, wird doch das Volk durch ihren Be-
richt so entmutigt, dass es murrt und nicht angreifen mag. Zor-
nig darüber heisst sie Jahve wieder umkehren in die Wüste, da
sollen sie sich so lange umhertreiben, bis die alte Generation
ausgestorben und eine neue herangewachsen sei. Als sie nun
doch aus falscher Scham nachträglich vordringen, werden sie
mit blutigen Köpfen heimgeschickt. Nunmehr wenden sie sich
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 395
zurück zur Wüste, wo sie lange Jahre in der Gegend des Ge-
birges Seir hin und her ziehen, bis sie endlich, achtunddreissig
Jahre nach dem Aufbruch von Kades, Befehl erhalten nach
Norden vorzugehen, jedoch der verwandten Völker Moab und
Ammon zu schonen. Sie erobern das Land der Amoriterkönige
Sihon von Hesbon und Og von Basan, Mose gibt es den Stäm-
men Kuben Gad und Halbmanasse, unter der Bedingung, daps
ihr Heerbann noch ferner am Kriege teilnehmen müsse. Mit dei*
Designation Josua's zum künftigen Fühfer des Volks wird der
fortlaufende Bericht abgeschlossen.
Man kann denselben, wenn man die hie und da im Deu-
teronomium zerstreuten Einzelheiten hinzunimmt 1 ), geradezu als
Leitfaden zur Ermittelung von JE benutzen. Was dagegen der
Priestercodex Eigentümliches hat, wird mit tiefem Stillschweigen
übergangen und von Exod. 34 direct auf Num. 10 übergesprun-
gen. Während nicht wenige Geschichten, auf die im Deuterono-
mium zurückgekommen oder angespielt wird, sich bloss in JE
und nicht in Q finden, kommt der umgekehrte Fall nicht vor.
Und bei den Erzählungen, welche sowohl in JE als auch in Q
vorhanden sind, befolgt das Deuteronomium in allen Fällen, wo
man eine deutliche Differenz constatieren kann, immer die Ver-
sion von JE. Die Kundschafter gehen von Kades aus, nicht
von der Wüste Pharan, sie gelangen bis nach Hebron, nicht bis
beinah nach Hamath, Kaleb gehört zu ihnen, nicht aber Josua.
Die Meuterer von Num. i6 sind die Bubeniten Dathan und Abi-
ram, nicht Korah und die Leviten. Nach der Niederlassung im
Ostjordanlande hat das Volk es mit Moab und Ammon zu thun,
nicht mit Midian; mit jenen und nicht mit diesem steht Bileam
in Beziehung und ebenso auch Baal Peor, Deut. 4, 3 stimmt mit
JE (Num. 25, 1—5), nicht mit Q (Num. 25, 6 ff.). Da die Sachen
so stehen, so kann man nicht mit Nöldeke in der Zwölfzahl der
Kundschafter (Deut. 1, 23) eine sichere Spur des Einflusses von
Q (Num. 13, 2) sehen. Hätte der Verfasser die Erzählung so ge-
l ) Einsetzung von Richtern und Pflegern (D'HtO'H^ = Friedensbeamte,
welche nach 20, 9 im Kriege den Hauptleuten Platz machen) 1, 9 — 18.
Thabera, Massa, Kibroth Thaawa 9, 22. Dathan und Abiram 11, 6. Bi-
leam 23, 5. Baal Peor 4, 3. Bloss auf die jehovistische Erzählung
Num. 12 scheint nirgends Bezug genommen zu sein. Deut. 1, 9 — 18 spielt
noch am Horeb, lässt aber auch Bekanntschaft mit Num. 11 durchblicken
und benutzt beide Versionen zu einer neuen und etwas andersartigen.
396 Israel und das Judentum, Kap. 9.
lesen, wie sie uns jetzt Num. 13. 14 vorliegt, so wäre es unver-
ständlich, dass, wie wir eben gesehen haben, nur die jehovistische
Version auf ihn Eindruck gemacht hat. Er müsste also Q als
besondere Schrift gekannt haben, aber es ist doch überhaupt
höchst bedenklich, aus einer solchen Einzelheit auf die Benutzung
einer Quelle zu schliessen, deren Einflusslosigkeit und Unbekannt-
heit übrigens eine vollständige ist, zumal die Priorität dieser
Quelle keineswegs an sich fest steht, sondern erst aus dieser
Benutzung erwiesen wird. Wäre eine Differenz zwischen JE
und Q in diesem Punkte nachweisbar , könnte man sagen , nur
Q lässt zwölf, JE dagegen drei Männer aussenden, so stünde es
schon anders; aber der Anfang des Berichts von JE ist Num. 13
durch den von Q verdrängt und uns also unbekannt, man weiss
nicht, ob und wie die Zahl angegeben worden ist. In diesem
Falle ist es doch das einzig Rationelle, aus d^m Deuteronomium,
welches sonst lediglich dem Jehovisten folgt, das Verlorene in
JE zu ergänzen und zu schliessen, dass auch hier der Kund-
schafter zwölf gewesen. — Mit dem.^ meisten Rechte lässt sich
noch die Bekanntschaft des Deuteronomiums mit der Erzählung
des Priestercodex aus 10, 22 beweisen. Denn die siebzig Seelen,
die den Bestand Israels bei der Einwanderung in Ägypten aus-
machen, werden in JE nicht erwähnt, und eine Lücke in dieser
Beziehung macht sich in der jehovistischen Tradition nicht fühl-
bar. Aber sie widersprechen ihr doch auch keineswegs, und
wenn man Deut. 10, 22 nicht für einen Beweis halten will, dass
sie ursprünglich auch in dieser einen Platz hatten, so muss man
mindestens zugeben, dass jene Stelle entfernt nicht ausreicht
die Evidenz zu entkräften, dass die priesterliche Gesetzgebung
von der deuteronomischen ausgeht. 1 )
*) Nöldeke verwertet solche Zahlen wie 12 und 70 manchmal so als kämen
sie ausschliesslich in Q vor. Dem ist nicht so. Wie Q im Anfang der
Genesis nach der Zehn, so gruppiert JE nach der Sieben ; die Zwölf und
die Vierzig kommen in JE ebenso oft vor wie in Q, die Siebzig nicht
minder. Es ist darum wunderlich, die Erzählung von den 12 Wasser-
quellen und 70 Palmbäumen zu Elim bloss wegen 12 und 70 <zu Q zu
rechnen. Nicht einmal die Angaben über das Alter der Patriarchen —
soweit sie nicht dem chronologischen System dienen — sind ein sicheres
Merkmal von Q; vgl. Gen. 31, 18. 37,2. 41,26. 50,26. Deut. 34, 7. Jos.
24,29. — Nur die Namen der 70 Seelen und der 12 Kundschafter sind
unanfechtbares Eigentum des Priestercodex; es hält aber auch nicht
schwer (namentlich bei Gen. 46, 8— 27) nachzuweisen, dass sie" weit we-
niger ursprünglich sind als die Summen, die als runde eigentlich gar
nicht eine solche Herzählung der einzelnen Posten vertragen.
Abschluss der Kritik des- Gesetzes. 397
3. Gegen die Grafsche Hypothese wird ferner die deuterono-
mistisehe Redaktion des Hexateuehs eingewandt, die am klarsten
in den Teilen hervortritt, welche auf die deuteronomische Thora
folgen und zurücksehen. Man hat als selbstverständlich ange-
nommen, dass dieselbe sich ebenso wie über die jehovistisehen
auch über die priesterlichen Stücke erstrecke; seit man Ursach
hatte genauer zuzusehen, zeigte sich, dass dies nicht der Fall
ist. Denn die Spuren, die Nöldeke a. 0. zusammengebracht hat,
sind geringfügig und bestehen zudem die Probe nicht. Er sagt,
der deuteronomistische Bericht über den Tod Mose's (Deut. 32,
48 ff. 34, lff.) sei nicht anders aufzufassen wie als eine Erweite-
rung des fast noch im genauen Wortlaute erhaltenen Berichtes
der Grundschrift (Q): aber Deut. 34, l b — 7 enthält nichts von
Q, und 32, 48 — 52 ist nicht deuteronomistisch überarbeitet? Er
verweist ferner auf Jos. 9, 27 : „Josua machte die Gibeoniten
damals zu Holzhauern und Wasserschöpfern für die Gemeinde,
und für den Altar Jahve's bis auf diesen Tag an dem Orte den
er erwählen würde." Die zweite Hälfte des Satzes sei hier ein
deuteronomistischer Zusatz zu der ersten, welche der Grund-
schrift angehöre. Aber, wie Nöldeke selber zugibt, sind die
deuteronomistisch überarbeiteten Verse 9, 22 ff. nicht die Fort-
setzung der priesterlichen Version 15c. 17—21, sondern der jeKo-
vistischen 15 ab . 16; es fehlt zwischen v. 16 und 22 nur die Nach-
richt, auf die v. 26 sich bezieht. Den 27. Vers von v. 22 — 26
zu trennen, dazu berechtigt der Ausdruck Holzhauer und
Wasserschöpfer an sich nicht, da er nicht bloss in v. 21,
sondern auch in JE v. 23 vorkommt. Dem Zusatz für die Ge-
meinde aber, der allerdings auf den Priestercodex zurückweist,
hält der folgende für den Altar Jahve's, welcher der jeho-
vistischen Anschauung folgt, das Gleichgewicht. Das Ursprüng-
liche ist nun jedenfalls, dass die Gibeoniter dem Altare oder
dein Hause Jahve's zugewiesen werden. Aber nach Ez. 44
sollten die Hierodulendienste im Tempel nicht mehr durch Aus-
länder besorgt werden, sondern durch Leviten — aus diesem
Grunde sind im Priestercodex aus Knechten des Altares Knechte
der Gemeinde geworden. Es erhellt daraus, dass imyb in
v. 27 gegen TQIDb den kürzeren zieht und eine nachträgliche
Correktur ist. Als solche aber beweist sie, dass die letzte Re-
daktion des Hexateuehs vom Priestercodex und nicht vom Deu-
398 Israel und das Judentum, Kap. 9.
teronömium ausgeht Über Jos. 18, 3 — 10, worin Nöldeke eben-
falls einen deuteronomistisehen Zusatz zum Berichte der Grund-
schrift über die Landverteilung erblickt, habe ich meine Ansicht
oben S. 380 f. angedeutet: es ist ein jehovistisches Stück, und
wenn die Meinung, dass Josua zuerst Juda und Ephraim und
dann nach geraumer Zeit den übrigen sieben Stämmen ihr Ge-
biet zugewiesen habe, überhaupt die Meinung des Priestercodex
wäre, so wäre sie dort ein Erbteil von JE, wo sie allein ihre
Wurzeln hat. 1 ) Wenn schliesslich Nöldeke ganz besonders
Jos. 22 für seine Meinung entscheidend findet," so ist zu be-
merken, dass in der Erzählung des Priestercodex 22, 9 — 34, zu
der die Verse 1—8 nicht gehören, von deuteronomistisch er Über-
arbeitung nichts zu finden ist. 2 )
Eine ernstere Schwierigkeit entsteht bloss bei dem kurzen
Kapitel Jos. 20, welches dem Kerne nach zum Priestercodex ge-
hört, jedoch allerhand Zusätze enthält, welche stark an die
deuteronomistische Bearbeitung erinnern. Kayser hat diese un-
bequemen Zusätze für ganz späte Glossen erklärt. Das scheint
die reine Tendenzkritik zu sein, aber es fügt sich, dass ihre Er-
gebnisse durch die Septuaginta bestätigt werden, welche die
sämtlichen angeblich deuteronomistischen Ergänzungen an dieser
Stelle noch nicht vorgefunden hat 3 )
Gesetzt übrigens, es Hessen sich wirklich einige probable
Spuren deuteronomistischer Bearbeitung im Priestercodex auf-
weisen, so muss doch erklärt werden, warum sie so un verhältnis-
mässig viel mehr in JE vorkommen — warum z. B. überhaupt
nicht in der Gesetzesmasse der mittleren Bücher des Hexateuchs.
Diese sichere und durchgehende Erscheinung muss gegen ein-
zelne Gegeninstanzen von vornherein mistrauisch machen, um
so mehr, da Jos. 20 zeigt, dass die späteren Retouchen des ka-
nonischen Textes manchmal den Ton des Deuteronomisten nach-
ahmen. *
IL
1. Ich habe vorhin in 1 myb Jos. 9, 27 den Zusatz einer
priesterlichen Endredaktion gesehen. Eine solche muss natür-
Jahrbb. für Deutsche Theol. 1876. S. 596 f.
2 ) Joh. Hollenberg in den Stud. und Krit. 1874 S. 462 ff.
•) Aug. Kayser, das vorexilische Buch der Urgeschichte Israels (Strassb.
1874) S. 147 f. — Joh. Hollenberg, der Charakter der alex. Übersetzung
des B. Josua (Programm des Gymn. zu Mors 1876) S. 15.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 399
lieh angenommen werden, wenn der Priestercodex jünger als
das Deuteronomium ist. Aber nicht bloss auf Deduktion beruht
die Annahme; Kuenen hat sie auf induktivem Wege begründet,
noch ehe er ein Anhänger der Grafsehen Hypothese geworden
war. 1 ) Zur Demonstration eignen sich am besten die Kapitel
Lev. 17—26. Sie sind gegenwärtig dem Priestercodex einver-
leibt, durch eine entsprechende Bearbeitung, die an manchen
Stellen nur Weniges, an anderen Bedeutendes zugefügt hat. Ur-
sprünglich aber bilden sie ein eigenes und abgeschlossenes Ganzes,
durchzogen von einem ziemlich manirierten religiös-paränetischen
Tone, der nur wenig mit dem Priestercodex stimmt. Der Ver-
fasser hat vielfach nach älteren Vorlagen gearbeitet, wodurch
sich z. B. die Nebeneinanderstellung von Kap. 18 und Kap. 20
erklärt. Für die Erkenntnis der literarischen Verhältnisse ist
Lev. 17 — 26 unvergleichlich lehrreich, ein wahres Compendium
der Literaturgeschichte des Pentateuchs. 2 )
Wie dem Deuteronomium, so merkt man es dieser Gesetz-
gebung noch deutlich an, dass sie zuletzt in der jehovistischen
vom Sinai (Exod. 20 — 23) wurzelt. Sie soll gleichfalls auf dem
Berge Sinai gegeben sein 25, 1. 26, 46. Sie ergeht an das Volk
und ist auch dem Inhalte nach volkstümlich, zum grossen Teile
bürgerlich und moralisch. Sie will nur für das Land und das
ansässige Leben, nicht auch für die Wüste gelten. Die Feste,
drei an der Zahl, haben ihren Charakter als Erntefeste noch nicht
ganz eingebüsst; unter den Opfern fehlen die Sund- und Schuld-
opfer. Der Cultus tritt zwar schon unverhältnismässig stark als
Gegenstand der Legislation hervor, aber die Verordnungen dar-
*) Historisch -kritisch Onderzoek I (Leiden 1861) S. 165: der Redaktor des
Pentaleuchs muss in den selben Kreisen gesucht werden, wo das Buch
der Ursprünge (Q) entstand und allmählich erweitert und modificiert
wurde, d.h. unter den jerusalemischen Priestern; S. 194: nach der ge-
wöhnlichen Meinung ist der Deuteronomist Redaktor des ganzen B. Josua,
aber seine Hand zeigt sich nicht überall, z. B. nicht in den priesterlichen
Stücken; der letzte Redaktor ist vom Deuteronomisten zu unterscheiden.
Sehr umfangreichen Zusätzen der letzten Redaktion ist Kuenen in ge-
wissen Erzählungen von Numeri und Josua auf die Spur gekommen; es
wäre sehr dringend zu wünschen, dass die Ergebnisse seiner Untersuchung
endlich im 1. Halbband der 2. Ausg. seines isagogischen Hauptwerks ver-
öffentlicht würden.
•) Vgl. die Jahrbb. für Deutsche Theol. 1877 S. 422—444, namentlich über
die Ausscheidung der Redaktionszusätze, von denen ich in der folgenden
Erörterung zunächst absehen muss. Ich ziehe z. B. bei- Kap. 23 nur
y. 9—22. 39—44 in Betracht, bei Kap. 24 nur v. 15—22.
400 Israel und das Judentum, Kap. 9.
über gehen doch noch nicht m das eigentlich Technische ein
und richten sich noch durchaus an das Volk: selbst in den die
Priester betreffenden wird das Volk angeredet, während von
jenen in dritter Person gehandelt wird. Es fehlt auch nicht an
greifbareren Berührungen. Man kann Lev. 19, 2 — 8. 9 — 18 als
Analogon zur ersten und zweiten Tafel des Dekalogs betrachten.
Der Spruch „du sollst nicht Partei nehmen für den Armen und
dich nicht scheuen vor dem Grossen" 19, 15 ist eine Fortbildung
der Regel Exod. 23, 3, eine Reihe anderer Sprüche in Lev. 19
könnten ebenso gut in Exod. 22, 17 ff. stehen. Die Verordnun-
gen Lev. 22, 27 — 29 lehnen sich an Exod. 22, 29. 23,18.19.
Ebenso fussen die von Lev. 24, 15 — 22 nach Inhalt und Form
auf Exod. 21, 12; *) bei 24,22 merkt man die polemische Be-
ziehung auf Exod. 21, 20f. 26 f. In 25, 1—7 wiederholen sich die
sämtlichen Ausdrücke von Exod. 23, 10. 11. In 20, 24 findet
sich die jehovistische Phrase „ein Land fliessend von Milch und
Honig".
Jedoch nimmt Lev. 17—26 nur den Ausgang von der jeho-
vistischen Gesetzgebung, modificiert sie aber sehr bedeutend und
zwar etwa in der Weise des Deuteronomiums. Sowohl in den
Ideen als in den Ausdrücken lässt sich die Verwandtschaft des
Abschnittes mit dem Deuteronomium constatieren. Beiden ge-
meinsam ist die Sorge für die Armen und Rechtlosen, beiden
ist die Humanität ein Hauptzweck der Gesetzgebung. „Wenn
ein Fremdling in eurem Lande bei euch wohnt, sollt ihr ihn
nicht bedrücken: er soll euch sein wie ein Eingeborener von
euch, und du sollst ihn lieb haben wie dich selber, denn ihr
selbst seid Fremdlinge gewesen im Lande Ägypten" (19, 34).
Auf die örtliche Einheit des Opferdienstes wird auch in Lev. 17 ff.
starkes Gewicht gelegt. Sie wird noch gefordert, nicht voraus-
gesetzt (17, 8 f. 19, 30. 26, 2); ihr Motiv, die Abwehr heidnischer
Einflüsse und die Durchführung des . bildlosen Monotheismus 2 )
leuchtet noch erkennbar durch: wichtige Punkte der Berührung
mit dem Deuteronomium. Dergleichen lassen sich ferner nach-
weisen in dem Trauerverbot (19, 27 f.), in der Zählung der
») Vgl. 24, 15f. mit Exod. 22, 27 (21, 17); 24, 18 mit Exod. 21, 28 ff.; 24, 19.
20 mit Exod. 21, 33.34; 24, 21 mit Exod. 21, 28 ff.
2 ) 17,7 (vgl. 2. Chron. 11, 15) 18, 21. 19,4. 19, 26. 29. 31. 20,2ff. 6. 26,1.
30. Für die Datierung ist besonders wichtig das scharfe Verbot des
Molochdienstes. Über Lev. 17 vgl. oben S. 52. 53.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 401
Pentekoste vom Anfange des Gerstenschnittes (23, 15), in der
siebentägigen Dauer des Laubhüttenfestes und in den fröhlichen
Mahlopfern , womit dasselbe begangen werden soll (23, 40f.).
Hinzukommt eine nicht unbeträchtliche Ähnlichkeit in der Farbe
der Rede, z. B. in 18, 1-5. 24—30. 19, 33-37. 20, 22ff. 25, 35ff.
Von einzelnen Wendungen sind hervorzuheben: „wenn ihr in
das Land kommt, das ich euch geben werde", „ihr sollt euch
freuen vor Jahve u , „Jahve der ich euch aus Ägyptenland ge-
führt habe", „ihr sollt meine Gebote Satzungen und Rechte halten
und thun."
Aber auch über die deuteronomistische Stufe ist hier die Ge-
setzgebung hinaus. Schon überwiegt bei den Festen das Gesamt-
opfer der Gemeinde (23, 9 — 22), Priester sind nicht die Leviten,
sondern die Söhne oder Brüder Aharons, ihr Einkommen hat
beträchtlich zugenommen, ihre abgesonderte Heiligkeit sich ge-
steigert. Auch an die leibliche Heiligkeit der Laien werden
strengere Anforderungen gestellt, namentlich hinsichtlich der Ent-
haltung von Fleischessünden und von der Verwandtenheirat
(Lev. 18. 20). Demgemäss wird die Schwagerehe verboten
(18, 14. 20, 20), die im Deuteronomium noch zu Rechte besteht.
In eine Zeit, wo man mit dem Exil gar wohl vertraut war,
führt 18, 25ff.: ,, gebet acht, meine Satzungen und Rechte zu thun
und solche Greuel zu vermeiden, denn die Leute, welche vor
euch im Lande wohnten , haben dergleichen gethan und das
Land hat sie ausgespieen — hütet euch, dass das Land nicht
auch euch ausspeie, wie es das Volk vor euch ausgespieen hat".
Ahnlich 20, 23 f.; in der Gesetzgebung will so etwas mehr be-
sagen als in der Prophetie. In dem Grade nun, wie sich unser
Abschnitt vom Deuteronomium entfernt, nähert er sich dem Pro-
pheten Ezechiel. Diese Verwandtschaft ist die nächste, sie ist
auch am meisten aufgefallen. Sie zeigt sich in der eigentüm-
lichen Durchdringung von Cultus und Moral, in der ziemlich
materialistisch gefassten Heiligkeit als Grundforderung der
Religion, in der Begründung dieser Forderung auf das Wohnen
beim Heiligtum und im heiligen Lande. 1 ) Noch bemerklicher
macht sie sich indessen in der Sprache, viele seltsame Rede-
weisen, ja ganze Sätze aus Ezechiel wiederholen sich in Lev.
! ) Zu Lev. 22, 24. 25 vgl. Kuenen, Weltreligion und Volksreligion (Berlin
1883) S. 326 ff.
Wellbausen, Prolegomena. 26
402 Israel und das Judentum, Kap. 9.
17 ff. *) Am 10. des 7. Monats ist Lev. 25, 9 Neujahr wie bei
Ezechiel (40, 1) , nicht grosser Versöhnungstag wie im Priester-
codex. Graf hat darum jenen exilischen Propheten selber fin-
den Verfasser dieser Gesetzsammlung des Leviticus angesehen,
Colenso und Kayser sind ihm darin gefolgt. Daran ist indessen
nicht zu denken; trotz der vielen sprachlichen und sachlichen
Berührungen ist doch die Übereinstimmung keine vollständige.
Ezechiel kennt keinen Samen Aharons und keinen Wein beim
Opfer (Lev. 23, 13), seine Festgesetzgebung weicht erheblich ab
und steht im Geiste der des Priestercodex näher. Er würde
ausserdem über die Stellung, die den Leviten und dem Fürsten
im Cultus gebühre, etwas haben sagen müssen.
Von Ezechiel neigt sich unser Corpus, welchem Klostermann
den nicht unpassenden Namen des Heiligkeitsgesetzes gegeben
hat, dem Priestercodex zu; bei Stücken wie Kap. 17. 21. 22 be-
darf es einiger Aufmerksamkeit um der (in der That freilich
nicht unbeträchtlichen) Differenzen von jenem inne zu werden.
Es steht zwischen beiden; allerdings dem Ezechiel etwas näher.
Wie ist diese Thatsache zu verstehen? Jehovist Deuteronomium
Ezechiel sind eine historische Eeihenfolge; Ezechiel Heiligkeits-
gesetz Priestercodex müssen gleichfalls als historische Stufen
begriffen werden, und zwar so dass dabei zugleich die Abhängig-
keit des Heiligkeitsgesetzes vom Jehovisten und vom Deutero-
nomium ihre Erklärung findet. Durch die Annahme, dass Ezechiel
eine besondere Vorliebe gerade für dieses Stück des ihm übrigens
im selben Umfange wie uns bekannten Pentateuchs gehabt und
es sich für die Bildung seiner Denk- und Schreibweise zum
Muster genommen habe, kann man sich der Forderung historischer
Anordnung nicht entziehen und den Ezechiel aus der anzuord-
nenden Reihe nicht herausbringen; ein solcher Zufall muss über-
haupt ausser Rechnung bleiben. Die Antwort nun auf die Frage,
ob das Heiligkeitsgesetz vom Priestercodex auf Ezechiel überleite
oder von Ezechiel auf den Priestercodex, wird sehr bündig da-
durch gegeben, dass dasselbe einer letzten Redaktion unterworfen
ist, welche nicht von Ezechiel, sondern vom Priestercodex aus-
geht und wodurch es in den Priestercodex aufgenommen wird.
J ) Vgl. Colenso, Pentateuch and Joshua VI p. 3— 23; Kayser a. 0. S. 177—
179; Smend zu Ezechiel S. XXV.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 403
Nicht überall hat die Bearbeitung gleich stark eingegriffen, zum
Teil sind ihre Supplemente und Correeturen höchst* umfangreich
z. B. 23, 1—8. 23—38. 24, 1—14. 23, zum Teil nur geringfügig,
z. B. die Eintragung des Ohel Moed (für das Mikdasch oder das
Mischkau) 17,4.6.9. 19, 21 f., des Schüldopfers 19, 21f., des
Kodeseh Kodaschim 21, 22. Die Ausscheidung der Zusätze ge-
lingt nur in 25, 8 ff. nicht vollständig. Die Thatsache aber, dass
die letzte Redaktion des Heiligkeitsgesetzes vom Priestefcodex
ausgeht, wird allgemein erkannt. Ihre literargeschichtliche Be-
deutung kann nicht hoch genug angeschlagen werden. *)
2. Eine besondere Beachtung verdient die Schlussrede
Lev. 26, 3 — 46. Das Stück, dessen Zugehörigkeit zu Lev. 17,
1—26, 2 vorher Stillschweigens angenommen worden ist, wird
von manchen Forschern, z. B. von Nöldeke, als eine fremdartige
Interpolation im Leviticus betrachtet. Jedenfalls ist diese Rede
mit specieller Absicht auf das Nächstvorhergehende geschrieben.
Fasst man sie nicht als Schlussrede auf, wie Exod. 23, 20 — 33.
Deut. 28, so ist ihre Stellung, an einem beliebigen Orte des
Priestercodex, ganz unbegreiflich. Sie knüpft denn auch sicht-
lich an die Gesetze Kap. 17—25 an. Das Land und der Acker-
bau haben hier die selbe Bedeutung für die Religion wie in
Kap. 19. 23. 25, die Drohung des Ausspeiens (18, 25 ff. 20,22)
wird hier ausführlicher wiederholt, das einzige namhaft gemachte
Gebot ist die Brache des siebenten Jahres (26, 34. 25, 1—7).
Mit der für den Verfasser von Kap. 17 ff. so charakteristischen
Wendung „wenn ihr in meinen Satzungen wandelt und meine
Gebote haltet" beginnt das Stück, etwas abgewandelt kehrt die-
selbe in v. 15. 43 wieder. Der Schluss (26, 46) lautet: „dies
sind die Satzungen Rechte und Weisungen, welche Jahve zur
Regelung des Verhältnisses zwischen sich und Israel gab, auf
dem Berge Sinai, durch Mose." Das ist augenscheinlich die
Unterschrift zu einem vorhergegangenen Corpus von „Satzungen
*) L. Horst hat in seiner Abhandlung über Lev. 17 — 26 und Hesekiel (Col-
mar 1881) zwar schlagend erwiesen, dass die mechanische Kritik, in
welcher Dillmann seinen 'Vorgänger Knobel noch überbietet, dem literari-
schen Problem, welches das Heiligkeitsgesetz stellt, in keiner Weise ge-
wachsen ist, aber mit dem Versuch, die alte Strassburger These, dass
Ezechiel der Verfasser sei, durch eine Modifizierung zu retten, scheitert
er an Lev. 26, wie Kuenen richtig bemerkt (Leidener Th. Tijdschr.
1882 S. 646); vgl. S. 408 Anm. 1.
26*
404 Israel und das Judentum, Kap. 9.
und Rechten", wie es in Kap. 17, 1—26, 2 vorliegt. Der Berg
Sinai wird auch 25, 1 als die Offenbarungsstätte genannt.
Wenn die Absieht von Lev. 26, zu Kap. 17—25 den Sehluss
zu bilden, unbestreitbar ist, so liegt es am nächsten, den Ver-
fasser jener Sammlung auch für den Verfasser der Rede anzu-
sehen. Nun meint aber Nöldeke, die Sprache weiche zu sehr
von Kap. 17—25 ab. Jedoch muss er selber mehrere und zwar
gewichtige Ähnlichkeiten zugeben, einige Differenzen, die er an-
führt (Bamoth, Gillulim, Hammanim 26,30), sind gleichfalls in
Wahrheit eher Berührungen. Seltene und originelle Worte lassen
sich auch bei den früheren Kapiteln zusammenstellen. In Kap. 26
mögen sie verhältnismässig häufiger vorkommen; doch ist es
irrig, darnach die Sprache überhaupt für sehr originell zu hal-
ten, die sich vielmehr tiberall an Reminiscenzen anlehnt. Was
wirklich von sprachlichen Unterschieden bleibt, erklärt sich ge-
nügend aus der Verschiedenheit des Stoffs: bisher Gesetze in
sachgemäss trockener, jetzt Prophetie in poetisch -pathetischer
Rede. Dort tritt die Subjectivität des Verfassers meistens hinter
dem Objekt zurück, das er öfters sogar geformt vorgefunden
hat; hier kann sie sich frei äussern. Es ist billig, das nicht zu
übersehen.
Die Gegengründe, welche Nöldeke gegen die Wahrschein-
lichkeit, dass Lev. 26 nicht bloss an Kap. 17—25 angeleimt ist,
sondern dazu gehört, vorgebracht hat, verschwinden vollkommen
bei näherer Vergleichung des beiderseitigen literarischen Cha-
rakters. Aufs stärkste werden wir zunächst durch Kap. 26 an
die Denk- und Redeweise Ezechiels erinnert. Die signifikanteste
Stelle ist Lev. 26, 39. Nachdem vorher gedroht worden ist,
dass Israel als Volk werde vernichtet und der dem mörderi-
schen Schwert der Feinde entgangene Rest ins Exil geführt
werden, um unter dem Druck des vergangenen Unglücks und
der gegenwärtigen Leiden zu verschmachten , wird in diesem
Zusammenhange fortgefahren mit den Worten: „und die Übrigen
von euch verfaulen in ihrer Stindenschuld in den Ländern
eurer Feinde und auch in der Stindenschuld ihrer Väter ver-
faulen sie — dann gestehen sie ihre und ihrer Väter Sünde
ein." Bei Ezechiel erfolgt dies Eingeständnis wirklich von sei
ten seiner Mitverbannten; sie sprechen (33, 10): „unsere Misse-
thaten und Sünden lasten auf uns und wir verfaulen darin
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 405
und können nicht aufleben". Ahnlich sagt der Prophet (24, 23),
er werde in seiner dumpfen Trauer über den Tod seines Weibes
das Vorbild des Volkes sein: „ihr werdet nicht weinen und
klagen, ihr werdet verfaulen in eurer Stindenschuld". %
Auch die begleitenden Erscheinungen, die wir neben der
ezechielischen Färbung bei den vorhergehenden Gesetzen con-
statiert haben, fehlen in unserer Eede nicht. Wenn sich von
einem Einfluss der jehovistischen Gesetzgebung (abgesehen davon,
dass Exod. 23, 20ff. das Muster wie zu Deut. 28 so zu Lev. 26
gewesen ist) natürlich hier nichts spüren lässt, so wird dies da-
durch compensiert, dass der Einfluss der Propheten um so deut-
licher ist, auch der älteren, wie des Arnos (v. 31). So wenig
wie das Buch Ezechiels, ist unser Kapitel denkbar ohne die
Grundlage der vorhergehenden prophetischen Literatur.
Was das Verhältnis zum Deuteronomium betrifft, so ist die
Ähnlichkeit von Lev. 26 mit Deut. 28 sehr gross, nicht bloss im
Stoff, sondern auch in der Anlage. Lexikalische Berührungen
gibt es zwar nicht viele, aber die wenigen sind gewichtig. Die
Ausdrücke 26, 16 kehren im Alten Testamente nur Deut. 28, 22.
65 wieder, ebenso auch ü^t#&n v. 46 in dieser Bedeutung nur
Deut. 19, 14 und in der späteren Literatur (Isa. 61, 4). Der
Tropus vom unbeschnittenen Herzen (v. 41) kommt im Gesetz
gleichfalls nur an einer Stelle des Deuteronomiums noch einmal
vor, ausserdem in der gleichzeitigen oder etwas späteren pro-
phetischen Literatur (Jerem. 4, 4. 9, 24. 25. Ezech. 44, 7. 9). An-
klänge* an Jeremia finden sich noch mehrere, meist jedoch un-
bestimmtere. Hervorzuheben ist die Beziehung von Jer. 16, 18
einerseits zu v. 30, andererseits zu v. 18 unseres Kapitels. Hier
wird die Sünde siebenfach, bei Jeremia wird sie doppelt bestraft.
So auch bei Isa. 40, 2. 61, 7: mit diesem Propheten hat Lev. 26
ferner den auffallenden Gebrauch von n^l (mit Sünde oder
Schuld als Objekt) gemeinsam. Stünde unser Kapitel nicht im
Leviticus, so würde man es ohne Zweifel für eine Reproduktion
zum geringsten Teil der älteren, zum grössten Teil der jeremia-
niseh-ezeehielischen Weissagungen halten, wie denn Lev. 26, 34
wirklich in 2. Chron. 36, 22 als ein Wort des Propheten Jeremia
angeführt wird.
Mit dem Priestercodex endlich berührt sich Lev. 26 in H1S
rffU ma DPn, mm ^« (nie '»M«), in der übertriebenen An-
406 Israel und das Judentum, Kap. 9.
Wendung der Akkusativpartikel und Vermeidung der Verbalsuffixe,
in der Vorliebe für das farblose ]ro statt speciellerer Verba.
Das Motiv, Lev. 26 von Kap. 17—25 zu trennen, ist nur
der Umstand, dass der exilische oder nach exilische Ursprung
dieser Mahn- und Drohrede mit Händen zu greifen ist. Für
uns ist dieser Umstand nur ein Beweis der Zugehörigkeit zu
Kap. 17 — 25 und eine wertvolle Bestätigung des Urteils, das
uns ohnehin über die Entstehungszeit dieser Gesetze feststeht.
„Wenn ihr trotzdem mir nicht gehorcht, sondern in Feindschaft
gegen mich angeht, so gehe ich in bitterer Feindschaft gegen euch
an und züchtige euch siebenfach für eure Sünden. Ihr sollt das
Fleisch eurer Söhne und Töchter essen, und ich zerstöre eure
Höhen und fälle eure Sonnensäulen und werfe eure Rümpfe über
die Rümpfe eurer Götzen, und meine Seele wird sich euer ekeln.
Und ich mache eure Städte zu Trümmerhaufen und verwüste
eure Heiligtümer und rieche nicht an euren Opferduft. Und ich
verwüste das Land, dass eure Feinde die sich darin ansiedeln
darob erstarren, und euch streue ich unter die Völker und zücke
das Schwert hinter euch her, und euer Land soll Einöde und
eure Städte sollen Trümmerhaufen werden. Dann wird das
Land seine Sabbathe bezahlen all die Jahre der Verödung
wo ihr im Lande eurer Feinde seid, dann wird das Land
feiern und seine Sabbathe bezahlen; alle Jahre der Verödung
wird es die Sabbathe nachfeiern die es nicht gefeiert hat so
lange ihr darin wohntet. Die aber von euch übrig bleiben, in
deren Herz bringe ich Verzagen in dem Lande ihrer Feinde,
das Rauschen eines verwehenden Blattes wird sie scheuchen,
dass sie fliehen wie vor dem Schwerte und fallen ohne dass sie
jemand verfolgt; sie werden übereinander straucheln wie in
der Furcht vor dem Schwerte und ist doch niemand der sie ver-
folgt, und es wird euch kein Haltens sein auf der Flucht vor
euren Feinden. Und ihr werdet euch verlieren unter den Völ-
kern und das Land eurer Feinde wird euch fressen. Und die
von euch übrig bleiben, verfaulen in ihrer Schuld in den Län-
dern eurer Feinde, und auch in der Schuld ihrer Väter verfaulen
sie. Und sie werden ihre und ihrer Väter Schuld eingestehen, in
Betreff der Untreue die sie an mir begangen, und dass weil sie
gegen mich angegangen sind, ich auch gegen sie angehe und
sie ins Land ihrer Feinde bringe. Dann beugt sich ihr unbe-
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 407
sehnittenes Herz und dann bezahlen sie ihre Schuld, und ich
gedenke an meinen Bund mit Jakob, und an meinen Bund mit
Isaak und an meinen Bund mit Abraham gedenke ich und des
Landes gedenke ich. Und das Land, von ihnen verlassen, be-
zahlt seine Sabbathe, indem es bewohnerlos und öde daliegt,
und sie selbst bezahlen ihre Schuld, sintemal und alldieweil sie
meine Rechte verworfen und meine Satzungen verschmäht ha-
ben. Doch bei alledem, wenn sie auch im Lande ihrer Feinde
sind, habe ich sie nicht verworfen und verschmäht, sie gänzlich
zu vernichten und meinen Bund mit ihnen zu brechen, denn ich
bin Jahve ihr Gott. Und ich gedenke ihnen an den Bund mit
den Vorfahren, welche ich vor den Augen der Völker heraus-
geführt habe aus dem Lande Ägypten, um ihnen Gott zu sein,
ich Jahve." (26, 27—45.)
Dass so nicht vor dem babylonischen Exil geschrieben wor-
den ist, unterliegt keinem Zweifel. Man hofft freilich mit der
assyrischen Gefangenschaft auszukommen, aber wo steckt die
Verwandtschaft unserer Rede mit dem alten echten Jesaia? Wäh-
rend zu Ezechiels Zeit nachweislich solche Gedanken Gefühle
und Ausdrücke herrschten, wie sie hier vorliegen, wird es schwie-
rig sein zu zeigen, dass Samariens Fall diese Art von Depression
in Jerusalem hervorgebracht habe — denn ausserhalb Jerusalems
ist Lev. 26 nicht geschrieben, da die Einheit des Cultus voraus-
gesetzt wird. Wie in Deut. 29. 30 werden auch hier die Ju-
däer angeredet, und sie hatten kein so lebhaftes Bewusstsein
von ihrer Solidarität mit den fortgeschleppten Israeliten, dass
sie bei solchen Drohungen an diese denken konnten. Mir scheint
es sogar gewiss, dass unser Verfasser entweder gegen Ende des
babylonischen Exils oder nach demselben lebte, weil er nämlich
zum Schluss die Restitution in Aussicht nimmt. Bei Propheten
wie Jeremia und Ezechiel hat eine solche Ausschau in die fröh-
liche Zukunft Sinn, hier aber widerspricht sie der historischen
Einkleidung ebenso wie dem Zwecke der Drohung und scheint
am natürlichsten durch den Zufall, d. h. durch die Wirklichkeit
sich zu erklären. Dass im Vergleich mit Jeremia und Ezechiel
die Priorität nicht auf Seiten von Lev. 26 ist, zeigt sich darin,
dass das unbeschnittene Herz seine Genesis bei Jeremia hat
(4, 4. 9, 24f.), hier aber als fertiger und bekannter Terminus
übernommen ist, und darin, dass die Phrase verfaulen in der
408 Israel und das Judentum, Kap. 9.
Stindenschuld von Ezechiel aus der Leute Mund wiederholt,
also bei ihm literarisch ursprünglich und hier entlehnt ist. 1 )
Die Kritik von Lev. 17 ff. führt zu dem Ergebnis, dass eine
selbst erst im Exil entstandene Gesetzsammlung im Priestercodex
recipiert und verjüngt worden ist. Vor Schraders Drohung mit der
„kritischen Analyse" braucht uns also nicht zu grauen, die Graf-
sehe Hypothese fällt davon nicht um.
3. Noch zwei oder drei andere wichtige Spuren der priester-
lichen Schlussbearbeitung des Hexateuchs mögen hier Erwähnung
finden. In der Erzählung von der Sündflut sind die Verse 7, 6—9
ein redaktioneller Einsatz, der sich mit der Beseitigung eines
Widerspruchs zwischen JE und Q beschäftigt; derselbe teilt die
Vorstellungen und redet die Sprache des Priestercodex. In der
Überschrift des Deuteronomiums gehört der Vers „es geschah
im vierzigsten Jahre, im elften (ir\WV) Monat, am ersten des
Monats, redete Mose zu den Kindern Israel gemäss allem was
ihm Jahve an sie aufgetragen hatte" (Deut. 1, 3) nach den un-
zweideutigsten Merkmalen dem Priestercodex an und hat den
Zweck, das Deuteronomium in denselben aufzunehmen." Dass
im Buche Josua der Priestercodex weiter nichts ist als Ergän-
zung der jehovistisch-deuteronomistischen Erzählung, ist bereits
früher nachgewiesen.
Dass der Priestercodex aus zweierlei Elementen bestehe,
erstens aus einem selbständigen Kern, dem Vierbundesbuche (Q),
zweitens aus zahllosen Nachträgen und Ergänzungen, die zwar
vorzugsweise dem Vierbundesbuche , aber nicht diesem allein,
sondern dem ganzen Hexateuche sich anschmiegen — diese Be-
hauptung hat auffallenderweise nicht den Widerspruch erfahren,
der zu erwarten gewesen wäre. Eyssel hat sogar in der zwie-
schlächtigen Natur des Priestercodex das Mittel gefunden, das
Vierbundesbuch vor der Exilierung zu retten, indem er es näm-
lich von den Ergänzungen, welche er preisgibt, durch einen be-
liebig Jangen Zeitraum trennt. Die sehr enge Verwandtschaft
*) Horst's Versuch, die Rede Lev. 26 in den letzten Jahren des Königs Se-
dekia unterzubringen (a. 0. S. 65. 66) ist bloss die Consequenz seiner
Annahme, dass der jugendliche Ezechiel der Autor sei — einer Annahme,
die eben durch diese Consequenz gerichtet wird. Dass ich aus Ezech.
33,10 herauslese, was darin steht, scheint Delitzsch 11 für eine grosse
Dreistigkeit zu halten (Ztsch. f. kirchl. Wiss. 1880 S. 619). Über Deut.
10, 16. 30, 6 und überhaupt über den color Hieremianus des Deutero-
nomiums vgl. Jahrbb. für D. Th. 1877. S. 464.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 409
beider Teile mit einander hält er dadurch für erklärt, dass sie
aus demselben Kreise stammen, aus dem Kreise der Priester-
schaft von Jerusalem. Wenn der Tempel von Jerusalem zur
Zeit Salomo's ebenso autonom und einzig legitim gewesen wäre,
wie zur Zeit der Fremdherrschaft, wenn die Priester unter Ahaz
und Hizkia und Josia ebensoviel zu sagen gehabt hätten, wie
nach dem Exil, wenn es erlaubt wäre, sie sich zu denken, wie
es einem gerade passt und nicht wie sie historisch bezeugt sind,
kurz wenn es überhaupt keine israelitische Geschichte gäbe, so
könnte eine solche Erklärung hingehen. Sie wäre freilich auch
dann Willkür und weiter nichts als Willkür. Der secundäre
Teil des Priestercodex zieht mit Notwendigkeit den primären
zu sich herab. Die formelle und materielle Gleichartigkeit, die
völlige Übereinstimmung in Tendenzen und Vorstellungen, in
Manieren und Ausdrücken zwingen dazu, das Ganze, wenngleich
es keine literarische Einheit ist, dennoch als eine geschichtliche
Einheit zu betrachten.
III.
1. Als unüberwindliches Bollwerk wird neuerdings den
Umsturzversuchen der Tendenzkritik die Sprache des Priester-
codex entgegengesetzt. Leider wird das Veto der Sprache von
Riehm Delitzsch und Dillmann so wenig näher begründet wie
das Veto der kritischen Analyse von Schrader, und einer nicht
begründeten Behauptung mit Gründen zu begegnen, ist nicht er-
forderlich. Aber ich benutze den Anlass, um einige zerstreute
Beobachtungen mitzuteilen, die sich mir zuerst, wie ich vielleicht
bemerken darf, gar nicht im Zusammenhange mit der Unter-
suchung des Pentateuchs, sondern bei ganz anderer Gelegenheit
ergeben haben. An der Stelle 2. Sam. 6, 12 befremdete mich
ftüvh auf's äusserste, nicht weniger NID an den beiden Stellen
Isa. 4, 5. Am. 4, 13; und indem ich* der sprachlichen Verbreitung
dieser beiden Worte nachging, kam ich auch analogen Erschei-
nungen auf die Spur.
Der Sprache der vorexilischen Geschichtsbücher ist im All-
gemeinen die der jehovistischen Schrift nahe verwandt, dagegen
die des Priestercodex vollkommen fremdartig. Man kann dies,
nach bewährter Praxis, so deuten, dass letzterer einer früheren
Periode entstamme. Aber abgesehen davon, dass er dann gar
410 Israel und das Judentum, Kap. 9.
keinen Einfluss ausgeübt hätte, stimmt es dazu schlecht, dass
wenn man auf die ältesten Dokumente, die uns aus der histo-
rischen Literatur der Hebräer erhalten sind, zurückgeht, der
Abstand eher grösser als geringer wird. Mit Jud. 5 und 2. Sam. 1
können wohl die poetischen Stücke in JE verglichen werden, in
Q findet sich nichts Ahnliches. Umgekehrt aber lassen die sehr
spät eingeschobenen Erzählungen Jud. 19—21. 1. Sam. 7. 8. 10,
17 ff. 12. 1. Reg. 13 und die apokryphen Zusätze in 1. Reg. 6—8
noch am ehesten eine sprachliche Hinneigung zum Priestercodex
erkennen. Gerade so wie bei der historischen, stellt sich das
Verhältnis auch bei der prophetischen Literatur. Die Redeweise
von Arnos Jesaia Micha ist im Ganzen der des Jehovisten ent-
sprechend, nicht der des priesterlichen Schriftstellers.
In einzelnen wichtigen Ausdrücken stimmt zuerst das Deu-
teronomium und das Buch Jeremia mit dem Priestercodex, in
weit zahlreicheren sodann der Prophet Ezechiel, und zwar keines-
wegs bloss mit Lev. 17— 26. .*) Bei den folgenden nachexilischen
Propheten bis auf Maleachi beschränken sich die Berührungs-
punkte auf Einzelheiten, hören aber nicht auf; ebenso finden
sie sich in den Psalmen und im Prediger. Reminiscenzen an
den Priestercodex kommen einzig und allein in der Chronik und
in einigen Psalmen vor. Denn dass Am. 4, 11 aus Gen. 19, 29
entlehnt sei, ist gerade so klar, wie dass zu. Am. 1, 2 das Ori-
ginal in Jo. 4, 19 gesucht werden müsse.
Seine sprachliche Absonderlichkeit behauptet der Priester-
codex: auch gegenüber der späteren Literatur. Dieselbe beruht
teils auf den vielen technischen Worten, teils auf der steten
Wiederholung derselben Formeln, auf der grossen Spracharmut.
Rechnet man aber die starr -ausgeprägte Individualität des Schrift-
stellers ab, so steht das fest, dass eine ganze Reihe sehr charak-
teristischer Ausdrücke, die er anwendet, sich vor dem Exil nicht
finden, erst seit dem Exil allmählich auftauchen und gebräuch-
lich werden. Die Thatsache wird auch nicht geleugnet, man
geht nur um sie herum. Damit sie mehr Eindruck mache, möge
*) Bemerkenswert ist namentlich rßDTl D33 HND bei Ezechiel und im
, Priestereodex. In der letzgenannten Schrift wird Negeb, selbst wenn es
auf den wirklichen Negeb sich bezieht, dennoch in der Bedeutung Sü-
den gebraucht (Num. 34, 3. Jos. 25, 2—4), d. h. es hat seinen eigentli-
chen Sinn völlig verloren.
* Abschluss der Kritik des Gesetzes. 411
hier eine kurze Statistik des sprachgesehichtlicü interessanten
Materials yon Gen. 1 einen Platz finden.
Gen. 1, 1 rWfrO heisst im älteren Hebräisch nicht der An-
fang eines zeitausfiillenden Geschehens, sondern der erste (und
gewöhnlich der beste) Teil einer Sache. In der Bedeutung
des zeitlichen Anfangs, als Gegensatz zu rP^nN findet es sich
zuerst in einer Stelle des Deuteronomiums 11, 12, ferner in den
Überschriften des Buches Jeremia 26, 1. 27, 1. 28, 1. 49, 34 und
in Isa. 46, 10, endlich in den Hagiographen lob. 8, 7. 42, 12.
Prov. 17, 14. Eccles. 7, 8. In Gen. 10, 10 ist iroboö nw&n ganz
etwas anders wie in Jer. 26, 1, nämlich dort der erste Teil des
Reichs, hier der Beginn der Regierung. Für im Anfang sagt
man in der früheren Zeit absolut rOEWQ nbriFD, relativ r6nrQ
n^na 1 )
Über das wegen seiner specifisch theologischen Bedeutung
so merkwürdige Wort fcOS ist schon oben (S. 321 f.) gehandelt
worden. Abgesehen von Am. 4, 13 und Isa. 4, 5 findet es sich
ausserhalb des Priestercodex zuerst beim Deuteronomisten Exod.
34, 10. Num. 16, 30 (?) Deut. 4, 32 und im Buche Jeremia 31, 22,
ferner in Ezech. 21, 35. 28, 13. 15. Mal. 2, 10, in Ps. 51, 12. 89,
13.48. 102,19. 104,30. 148,5. Eccl. 12, 1 — am häufigsten
aber, zwanzig mal, in Isa. 40 — 66, auffallenderweise gar nicht im
lob, wo man es erwarten sollte. Mit n*D (abholzen) und &0*D-
(fett) hat es nichts zu thun. 2 )
Gen. 1, 2 VD1 inn kommt noch vor Jer. 4, 23. Isa. 34, 11;
inn allein findet sich häufiger, jedoch abgesehen von Isa. 29, 21
ebenfalls nur in der späteren Literatur Deut. 32, 10. 1. Sam. 12,
21. Isa. 24, 10. 40,17.23. 41,29. 44,9. 45, 18 f. 49,4. 59,4. lob
2 ) Sehr auffallend ist die Vokalisierung rPt^fcHD* für die man erwarten
würde nWfcOD- Man hat ihr zwar gerecht zu werden versucht durch
die Übersetzung: „im Anfange als Gott Himmel und Erde schuf — die
Erde aber war wüst und leer und Finsternis lag auf der Tiefe und der
Geist Gottes brütete über dem Wasser — da sprach Gott: es werde
Licht!" Aber diese Construktion ist verzweifelt, und jedenfalls nicht die
von der Punktation befolgte, denn die jüdische Überlieferung (Septuaginta
Äquila Onkelos) übersetzt einstimmig: „im' Anfang schuf Gott Himmel
und Erde". Bekanntlich pflegen dagegen im Aramäischen solche Adverbia
die Form des Status constructus zu haben; vgl. rQI Ps. 65, 10. 120, 6.
2 ) Ich schweige über den Gebrauch von Elohim und über die Anwendung
der Gottesnamen im Priestercodex; die Sache ist mir noch nicht klar,
Sehr bedenklich ist Qj#n Lev. 24, 11,
412 " Israel und das Judentum, Kap. 9.
6, 18. 12,24. 26, 7. Ps. 107,40. - Das Verbum r)rn (brüten),
welches im Aramäischen gewöhnlich ist, begegnet im Alten
Testament nur an einer einzigen und zwar späten Stelle Deut.
32, 11 ; indessen muss man die Möglichkeit einräumen, dass zu
häufigerer Anwendung desselben keine Gelegenheit gewesen sei.
Gen. 1, 4 ^nDH und ^"irü (scheiden und sich scheiden), im
Priestercodex gewöhnlich, wird zuerst gebraucht vom Deutero-
nomiker und Deuteronomisten (Deut. 4, 41. 10, 8. 19, 7. 29, 10.
1. Keg. 8, 53), dann von Ezechiel (22, 26. 39, 14. 42, 10) und dem
Verfasser von Isa. 40ff. (56, 3. 59, 2), am meisten vom Chronisten
(1. Chr. 12, 8. 23, 13. 25, 1. 2. Chr. 25, 10. Esdr. 6, 21. 8, 24. 9, 1.
10, 8. 11. 16. Neh. 10, 2. 29. 13, 3). — Über im bv» Gen. 1, 5
vgl. Josephus Antiq. 1 1, 1: „das wäre nun der erste Tag, Mose
aber sagt ein Tag; die Ursache könnte ich wohl hier angeben,
da ich aber (in der Einleitung) versprochen habe eine Gesamt-
erklärung in einem besonderen Buche zu geben, schiebe ich's
bis dahin auf". Auch die Rabbinen in der Genesis Kabba neh-
men Anstoss an dem Ausdruck, der übrigens seines gleichen hat
an dem späterer Redeweise angehörigen Wirb "IflK. Im Syri-
schen sagt man regelmässig X2W2 "in, daher im Neuen Testa-
mente [Ata aaßßaxwv für den ersten Tag der Woche.
Gen. 1, 6 Vp") (Firmament) findet sich ausserhalb des Prie-
stercodex nur bei Ezechiel (1, 22—26. 10, 1) und bei noch spä-
teren Schriftstellern Ps. 19, 2. 150, 1. Dan. 12, 3 vgl. lob. 37, 18. ')
— Gen. 1, 10 CD 1 » (das Meer sing., vgl. 1, 22. Lev. 11, 9. 10) ist
in älterer Zeit selten und hochpoetisch, gewöhnlich dagegen bei
Ezechiel (zehn mal) und in den Psalmen (sieben mal), ferner
lob. 6, 3. Neh. 9, 6. Jon. 2, 4. Dan. 11, 45. — Gen. 1, 11 po (Art),
ein namentlich in der Form leminehu sehr eigenthümliches
*) Es heisst nicht, wie gewöhnlich angenommen wird, . das Dünngeschlagene,
Ausgereckte. Denn erstens wird der Himmel nirgend als Blech vorge-
stellt, zweitens kommt die betreffende Bedeutung nur dem Piel zu, und
das davon abgeleitete Substantiv lautet yp*1« Das Kai, womit Jpp 1 ") zu-
sammen zu bringen ist, findet sich Isa. 42, 5. 44, 24. Ps. 136, 6. Es wird
gemeiniglich ausbreiten übersetzt, ohne etwelche Berechtigung. Parallel
damit steht "iqi und pi3 (vgl. Ps. 24, 2 mit 136,6); die Septuaginta
überträgt es an allen drei Stellen mit atepeouv und gibt darnach pp"} mit
aTep£ü>fjia (firmamentum) wieder. Diese allein überlieferte und sehr pas-
sende Bedeutung wird bestätigt durch das Syrische, wo das Verbum yp*}
gebräuchlich ist im Sinne von befestigen.
Abschluss der Kritik des Gesetzes. 413
Wort, findet sich abgesehen von Gen. 1. Lev. 14. Gen. 6, 20.
7, 14 nur noch Deut. 14 und Ezech. 47, 10.
Gen. 1, 26 niD"! (Ähnlichkeit 5, 1. 3) kommt in der älteren
Literatur nicht vor. Es erscheint zuerst 2. Reg. 16, 10, in einer
nachdeuteronomischen Stelle, denn der Schriftsteller ist der von
Kap. 11 f. 21 ff. Sodann bei Ezechiel (15 mal), Isa. 13, 4. 40, 18.
2. Chr. 4, 3. Ps. 58, 5. Es ist ein aramäisches Lehnwort; auch
das entsprechende Verbum wird erst in der Zeit, wo das Ara-
mäische einzudringen beginnt, gebräuchlich.
Gen. 1,27 *D] (männlich) heisst in der früheren Zeit TOJ;
denn wenn diese Vokalisation Exod. 23, 17. 34, 23. Deut. 16, 16.
20, 13 im Rechte ist — und daran läpst sich nicht zweifeln — ,
so wird man sie auch Exod. 34, 19. Deut. 15, 19. 1. Reg. 11, 15f.
durchführen müssen. Im Priestercodex findet sich "DJ ungemein
häufig, sonst aber nur in der späteren Literatur Deut. 4, 16. Jer.
20, 15. 30, 6. Ezech. 16, 17. Isa. 66, 7. Mal. 1, 14. Jud. 21, 11. 12.
2. Chr. 31, 16. Esdr. 8. Noch ungünstiger steht die Sache für
HDpJ (weiblich), ausserhalb des Priestercodex findet es sich nur
im Buch Jeremia (31, 22) und beim Deuteronomisten (4, 16).
Der Jehovist sagt bekanntlich immer t^N nttf&O, auch von Tieren;
wohingegen der Redaktor des Hexateuchs dem Sprachgebrauch
des Priestercodex folgt.
Gen. 1, 28 WEHn mn fällt auf dadurch dass der Artikel
beim Substantiv ausgelassen und bloss dem folgenden Adjectiv
präfigirt ist, als wollte man im Griechischen sagen dvY]p 6 d^aöoc
für 6 dvy]p 6 d^ftos. Ebenso 1, 31 WB>n D'P und 2, 3 ijrawn Q1\
Das hat zwar im Arabischen vielfache Analogien, führt aber
fürs Hebräische herunter in jene Periode, wo man n^H^n HD1D
zu sagen pflegte. — W2D und rm sind Aramaismen. In HW3D
erscheint in Gen. 1 das einzige Verbalsuffix, übrigens immer die
Formen inx DHN; ähnlich ist das Verhältnis auch sonst im
Priestercodex. In der jehovistischen Hauptschrift, in J, werden
diese Substitute mit nN nur zuweilen und aus besonderen Grün-
den gesetzt; man kann allgemein behaupten, dass dieselben je
später je beliebter werden. Dem geht parallel der Gebrauch
von ?mn in J, von 'OK im Priestercodex; die letztere Form wird
in der späteren Zeit immer häufiger.
Diese Bemerkungen greifen schon über Gen. 1 hinaus; für
den Priestercodex im Allgemeinen kann ich jetzt auf F. Giese-
414 Israel und das Judentum, Kap. 9.
brechts Abhandlung zur Hexateucbkritik verweisen. Wörter wie
plp, DHU, HDy^, Tit^y fallen jedes einzelne für sich schwer in
die Wage für die Annahme einer späten Abfassungszeit des
Priestercodex. Man kann nicht glauben, dass so alltägliche
Wörter bis aufs Exil in der übrigen Literatur nicht sollten zur
Anwendung gekommen sein, wenn sie vorhanden waren. Man
kann sie auch nicht zu den technischen Terminis rechnen; jmp
im Hebräischen für. Opfer und Gaben gesagt ist nicht anders
als priere im Deutschen statt Gebet gesetzt. Im Übrigen ist bei
der Vergleichung des Lexikons immer zu bedenken, dass erstens
die allenthalben eingreifende Überarbeitung und Redaktion der
biblischen Bücher, zweitens die Willkür der Schreiber (bei schein-
baren Kleinigkeiten wie *03N und "ON, besonders ausserhalb des
Pentateuchs) den ursprünglichen Thatbestand so zerrüttet haben,
dass man sich im Allgemeinen nur an Proportionen halten kann
und sich bei dem Nachweise begnügen muss, dass eir^ Wort in
der älteren Literatur dreimal, in der jüngeren siebenundzwanzig-
mal auf gleichem Räume vorkommt. 1 )
2. Die sprachgeschichtliche Forschung steht im Hebräischen
noch sehr in den Anfängen. Auf lexikalischem Gebiete müsste
sie auch auf die Eigennamen ausgedehnt werden; es würde sich
wohl herausstellen, dass nicht bloss Pharnak (Num. 34, 25),
sondern auch Compositionen wie Peda-sur Peda-el Nathana-el
Pag e i-el Eli-asaph weniger auf die mosaische, als auf die per-
sische Zeit hinweisen und in der Chronik ihre Analoga haben.
Andererseits müssten auch die Präpositionen und Partikeln in
die Untersuchung gezogen werden; der Gebrauch der Präposi-
tionen Beth und Lamed im Priestercodex ist sehr eigentümlich.
Das würde weiter hinüberführen auf die Syntax oder besser die
Rhetorik und Stilistik — ein sehr schwieriges und wenig ange-
bautes, aber ungemein wichtiges und für vergleichende Behand-
lung sehr wohl geeignetes Gebiet. Am allerweitesten gelangt
man mit der Vergleichung solcher Parallelen, die in unzweifel-
*) Auf Aramaismen darf man nicht zu viel Gewicht legen; selbst wenn sie sich
constatieren lassen, haben sie wenig Beweiskraft so lange sie vereinzelt
bleiben. Man findet schon früh auffallende Erscheinungen, wie *^j statt
-ytf (woher -p]} ~ vovens), *\&} statt -^ (Arnos 1, 11 ^fti statt PHtO^?);
vgl. arabisch lata für laisa Sur. 38, 2. Hudh. 84, 1. Ein Aramaismus
w i e nrjW rQ Num. 15, 27 oder auch nur wie pSp'ist aber doch sehr
merkwürdig.
Die mündliche und die schriftliche Thora. 415
hafter,- direkter Beziehung zu einander stehen. Schlagender
kann die Abhängigkeit des Priestereodex vom Jehovisten nicht
erwiesen werden, als durch sein 1TTTD jTHlJ Gen. 6, 9 im Ver-
gleich zu Hin nn3 pVtt Gen. 7, 1 (JE). Der Plural DT1 steht
ganz mit den D\Pö und den pxn TOP der Rabbiner und mit den
cnrep^axa von Gal. 3, 15 auf gleicher Linie; denn er bedeutet
nicht die successiven Geschlechter, sondern die Zeitgenossen,
die gleichzeitigen Individuen eines und des selben Geschlechtes.
Von den Worten wird man dadurch wieder auf die Sachen
gebracht werden, dass in manchen Fällen das Alter der Worte
abhängt von der Einführung der Sache. Der Name iro im
Hohenliede z. B. setzt den Anbau des Malobathron in Syrien
und Palästina voraus. Der Priestercodex . führt Farben, Gewebe,
Goldarbeiten, Edelsteinarten %,uf , die in der älteren Literatur
nirgend vorkommen; er bildet zusammen mit Ezechiel die Haupt-
fundgrube im Alten Testament für die Geschichte der technischen
Cultur, und das wird um so weniger Zufall sein, da sie auch
in ihrem geographischen Horizonte sich decken. Eine Berührung
findet ebenfalls, wenngleich in geringerem Masse, in dieser Hin-
sicht statt zwischen dem Priestercodex und Isa. 40--66; sie muss
also ohne Zweifel historisch, durch das babylonische Zeitalter,
erklärt werden. 1 )
Zehntes Kapitel.
Die mündliche und die schriftliche Thora.
Welche Bedeutung bei den Juden die Schrift, das Buch des
Gesetzes hatte, wissen wir alle aus dem Neuen Testamente.
Vom alten Israel dagegen heisst es im Eingangsgedicht des
! ) Zum Hohenliede vgl. #> Schürer's Theol. LZ 1879 S. 31 ; es ist durch seine
Pflanzennamen und Ähnliches ebenfalls eine wichtige Quelle der äusseren
Gulturgeschichte. In Isa. 54, 11 lies mit der Septuaginta TJDO statt des
sinnlosen Tl)B-
416 Israel und das Judentum, Kap. 9.
Westöstlichen Divan, dass das Wort so wichtig dort war, weil
es ein gesprochen Wort war. Der Gegensatz, den Goethe offen-
bar, empfunden hat, ist wirklich charakteristisch und einer
eingehenderen Würdigung wert.
1. Wenngleich das Deuteronomium und der Priestercodex
erst in sehr später Zeit aufgezeichnet worden sind, so bleibt
doch noch die jehovistische Gesetzgebung (Exod. 20-— 23 Kap. 34),
die als schriftlicher Ausgangspunkt der israelitischen Religions-
geschichte betrachtet werden könnte. Dieselbe wird in der That
so verwertet, freilich gewöhnlich nicht im ganzen Umfange.
Denn von dem sinaitischen Bundesbuche (Exod. 20, 22 — 23, 19)
pflegt man einzusehen, dass es feinem sesshaften und in den
Ackerbau vollkommen eingelebten Volke gegeben ist, welches
auch in der Geldwirtschaft schon ziemlich weit über die ersten
Anfänge hinaus war. *) Als mosaisch im eigentlichen Sinne wird
in der Regel nur der Dekalog festgehalten. Und zwar haupt-
sächlich aus dem Grunde, weil bezeugt wird, er sei auf den
zwei Steintafeln der heiligen Lade verzeichnet gewesen. Indessen
auch vom Deuteronomium wird bezeugt, einerseits es sei auf
zwölf Steinen eingeschrieben, andererseits es sei in die heilige
Lade gelegt worden (Deut. 31, 26). Unbedingter Verlass ist also
nicht auf solche Angaben. Die über den Dekalog scheint nun
freilich gestützt zu werden durch 1. Reg. 8, 9. Aber das Gewicht
dieser Aussage wird dadurch abgeschwächt, dass sie in einem
deuteronomistisch bearbeiteten und ausserdem noch interpolierten
Zusammenhange steht. Um so grössere Bedeutung wird man
demgegenüber dem Umstände beizumessen haben, dass der Name
„die Lade des Bundes" (d. h. der Kasten des Gesetzes) 2 ) den
späteren Schriftstellern eigen ist, und wo er in älteren Erzäh-
lungen vorkommt, sich durch sein sporadisches Auftreten sowie
durch die Vergleichung der Septuaginta mit dem massorethischen
*) Exod. 21, 35; vgl. 21, 33 mit Jud. 9, 4.
2 ) Vgl. 1. Reg. 8, 21 „die Lade worin der Bund Jahve's lag" 8, 9 „es waren
in der Lade nur die beiden Steintafeln, die Mose am Horeb hineingelegt
hatte, die Tafeln des Bundes, den Jahve mit den Kindern Israel gemacht
hatte". Mit dem deuter. Ausdruck „Tafeln des Bundes" wechselt im
Priestercodex der Ausdruck „Tafeln des Zeugnisses* , d. h. ebenfalls des
Gesetzes. Für nHJ?n 2 - Reg. 11, 12 lies nH}7Hn nach 2. Sam. 1, 10.
Die mündliche und die schriftliche Thora. 417
Texte als Correctur erweist. In alter Zeit war die Lade kein
blosser Behälter des Gesetzes, sondern als „Lade Jahve's" hatte
sie ihre Bedeutung für sieh, wie man aus 1. Sam. 4 — 6 klar ge-
nug erkennen kann. Gleichwie die zwölf Masseboth, welche den
Altar auf dem heiligen Berge Ton Sichern umgaben, erst nach-
träglich zu Gesetzesmonumenten geworden sind, so wird auch
die Lade des Bundes erst durch Umdeutung aus dem alten Idol
entstanden sein. Wenn überhaupt Steine darin lagen, so dienten
sie schwerlich als Schreibmaterial , zumal sie ja dann nicht als
Mysterium im Dunkel des Heiligtums hätten verborgen sondern
öffentlich ausgestellt werden müssen. Es kommt hinzu, dass
über den Inhalt der zehn Worte, die auf den zwei Tafeln ge-
standen haben sollen, die Tradition mit sich selbst in Zwiespalt
ist, indem zwei ganz verschiedene Dekaloge, Exod. 20 und
Exod. 34, überliefert werden. Daraus folgt, dass es ein wirk-
liches und festes Wissen darüber, was auf den Tafeln gestanden
habe, nicht gegeben hat, und weiter, dass wenn solche Steine
— was wohl wahrscheinlich ist — überhaupt in der Lade ge-
legen haben, nichts darauf geschrieben gewesen ist. Zu ent-
scheiden, welcher der beiden Versionen die Priorität zukomme,
gehört nicht hierher*, für unsern Zweck gentigt das negative Re-
sultat, das wir gewonnen haben.
2. Wohl fehlte es auch im alten Israel nicht an gottgege-
benen Grundlagen für die Ordnung des menschlichen Lebens,,
nur waren sie nicht schriftlich fixiert. Im weiten Umfang wurden
Brauch und Herkommen als Stiftung der Gottheit angesehen.
So zum Beispiel die Weise und Regel des Ackerbaus. Jahve
hat den Landmann unterwiesen und ihm das Rechte gelehrt. ! )
*) Isa. 28, 23—29 : „Merkt auf und höret meine Stimme, gebt Acht und höret
meine Rede ! Pflügt der Pflüger allezeit das Saatland, furcht und eggt er
den Acker immerfort ? Nein wenn er die Fläche geebnet hat , so streut
er Dill und säet Kümmel und pflanzt "Weizen Gerste und Spelz auf sein
Stück — es wies ihm das Rechte, lehrte ihn Omin) sein Gott.
So wird der Dill nicht mit der Dreschwalze gedroschen, nicht das Wagen-
rad getrieben über den Kümmel, sondern mit dem Stock wird der Dill
geklopft und der Kümmel mit dem Stabe. Wird das Korn zermalmt?
Nein, nicht immerdar drischt er es und treibt das Wagenrad und die*
Pferde (?) darüber, er zermalmt es nicht. Auch das geht von Jahve
Sebaoth aus, wunderbare Weisheit zeigt er, grosse Einsicht." In v. 25
ist zweimal vor der Correctur das Corrigendum stehen geblieben:
mit# = mjJBS und JJ0DD> verschrieben aus pQD = riODD- Am
Schluss ist ir6D3 ( se i n Grundstück) der zweite Akkusativ zu Qfc'V
Wellhausen, Prolegomena. 27
418 Israel und das Judentum, Kap. 10.
Er ist es namentlich, dessen Autorität den ungeschriebenen Ge-
setzen der Sitte die verpflichtende Kraft gibt. „So pflegt man
nicht zu thun in Israel", „das ist eine Thorheit in Israel" und
dergleichen Äusserungen des verletzten Volksgewissens kehren
häufig wieder und bezeugen die Macht der Sitte; als das Motiv
sich ihr zu fügen erscheint die Gottesfurcht. „Gewiss ist keine
Gottesfurcht an diesem Orte und man wird mich töten wegen
meines Weibes", denkt Abraham in Gerar. „Wie sollte ich so
grosses Unrecht thun und wider Gott sündigen", sagt Joseph
zur Ägypterin. „Die Leute von Sodom waren böse und sün-
digten schwer gegen Jahve", heisst es Gen. 13, 13. Desgleichen
Deut. 25, 18: „die Amalekiter griffen Israel auf dem Marsch an
und mordeten die Nachzügler, die nicht recht weiter konnten,
und fürchteten Gott nicht". Man sieht, dass die Forderungen
der Gottheit nicht bloss den Israeliten, sondern aller Welt be-
kannt sind und gelten, also nicht auf besondere Gebote zurück-
gehen — . wie denn auch schon lange, vor Mose die Erzväter
ihnen nachkommen. „Ich kenne Abraham — sagt Jahve 18, 19
— darin dass er seinen Nachkommen befehlen wird den Weg
Jahve's einzuhalten, Recht und Gerechtigkeit zu üben."
Viel grösseres Gewicht wird auf die besondere Thora Jahve's
gelegt, die nicht allgemein giltige Gesetze des Handelns aufstellt,
sondern dem Menschen in bestimmten schwierigen Fällen, wo
er selbst sich nicht Rat weiss, den Weg zeigt. Sie gehört zur
eigentümlichen Begabung Israels (Deut. 33, 4) und zwar ist sie
den Priestern anvertraut, deren Einfluss sich, während der he-
bräischen Königszeit, von der wir hier reden, viel mehr auf
diesen Besitz als auf das Opferprivileg gründete. Das Verbum,
von dem Thora hergeleitet ist, bedeutet in der ältesten Anwen-
dung Bescheid, Entscheid geben. Das Participium heisst der
Orakelerteiler in den beiden Beispielen gibeath more und allon
more, der letztere Ausdruck wird durch einen alternierenden
erklärt als „Eiche der Weissager". Da wir nun wissen, dass
die Priester in den Tagen Sauls und Davids durch das Ephod
. und die damit verbundenen Lose, die auf eine bestimmt gestellte
Doppelfrage so oder so entschieden, Gottessprüche erteilten, so
wird sich hieraus ihre Thora entwickelt haben. 1 ) Die Urim und
*) ,1. Sam. 14. Kap. 23. Kap. 30. Dass das Verbum, dessen Abstractum
Thora ist, ursprünglich das Werfen der Lospfeile bedeute^ habe ich zu
Die mündliche und die schriftliche Thora. 419
Thummim gelten nach Deut. 33, 8 als das wahre und allgemeine
Insigne des Priesterstandes ; das Ephod wird in den historischen
Büchern zum letzten mal 1. Reg. 2, 26 erwähnt 1 ), scheint sich
aber noch bis auf Jesaia's Zeit in Gebrauch erhalten zu haben
(Hos. 3, 4. Isa. 30, 22). Mit der Zeit befreite sich, dem allge-
meinen Zuge des Geistes folgend, die Thora von solchen heid-
nischen Medien und Vehikeln (Hab. 2/19). Aber sie blieb ein
mündliches Entscheiden und Bescheiden. Als Ganzes ist sie
immer nur Potenz und zwar Gottes, beziehungsweise der Priester
— von diesem Subjekt kann nicht abstrahiert werden, die Lehre
ist nur als Aktion des Lehrers gedacht. Es gibt keine Thora,
als fertiges, ohne den Urheber bestehendes, jedem zugängliches
System; aktuell wird sie bloss in den einzelnen Sprüchen, die
natürlich allmählich eine feste Tradition begründen. „Sie be-
wahren dein Wort und hüten dein Gesetz, sie lehren Jakob
deine Rechte und Israel deine Weisungen. 44
Die Thora der Priester scheint zuvörderst einen rechtlichen
Charakter gehabt zu haben. In Fällen , wo es eine zuständige
Gewalt nicht gab oder die für menschliche Entscheidung zu
schwierig waren, ward, die Sache in letzter Instanz vor Gott,
d. h. vor das Heiligtum oder vor die Priester gebracht (Exod.
18, 25 f.). Die Priester bildeten also eine Art höchster Gerichts-
barkeit, die jedoch rein auf freiwilliger Anerkennung ihrer mo-
ralischen Autorität beruhte und nicht im Stande war den Sprüchen
durch Zwang Nachdruck zu geben: „wenn ein Mensch gegen
den andern fehlt, so ist Gott Schiedsrichter 44 , heisst es 1. Sam.
2, 25 sehr unbestimmt. Auch gewisse besonders feierliche Rechts-
geschäfte werden vor Gott vollzogen (Exod. 21, 6). Je mehr nun
aber mit dem Königtum die bürgerliche Justiz erstarkte, desto
mehr musste das Fas das Jus aus seinem Schlosse entlassen.
Die Gotteskenntnis , welche Hosea (Kap. 4) als den Inhalt der
Thora betrachtet, hängt zwar noch immer näher mit der Juris-
1. Sam. 31, 3 vermutet; vgl. äthiop. Märe mit Möre, dagegen assyr. Tertu
lieber mit syr. Terta. Die Thummim hat Freytag und unabhängig von
ihm Lagarde (Proph. Chald. p. XLV1I) ausserordentlich glücklich mit den
arabischen Tamäim verglichen, welche nicht bloss Kinderamulette bedeuten,
sondern überhaupt (z.B. sehr oft im Divan Hudhail) Zaubermittel. Urim
hängt wohl mit "HN zusammen (vgl. Iliad. 1, 11 und Num. 22. 23); die
beiden Worte der Formel scheinen sich gegensätzlich zu ergänzen.
*) Bleeks EinL in das A. T. 1878.' S. 642.
27*
420 *- Israel und das Judentum, Kap. 10.
prudenz als mit der Theologie zusammen; aber da sie darauf
hinausläuft, dass Gott von den Mensehen Gerechtigkeit und Treue
und Wohlwollen verlangt, so ist sie doch im Grunde Moral, wenn-
gleich die Moral zu jener Zeit ihre Forderungen weniger an das
Gewissen als an die Gesellschaft stellt. Natürlich hat sich auch
eine rituale Tradition schon vor dem Exil ausgebildet (2. Reg.
17, 27. 28). Aber nur diejenigen Riten werden unter Thora mit
einbegriffen, welche die Priester andere zu. lehren haben, nicht
die, welche sie selber ausüben; selbst im Leviticus lässt dieser
Unterschied sich noch spüren, wo vorzugsweise die Anweisungen
über essbare und nicht essbare Tiere, über reine und unreine
Zustände, über den Aussatz und seüje Kennzeichen als Thoroth
bezeichnet werden; vgl. Deut. 24, 8.
So war es in Israel, wofür bis dahin die Zeugnisse beige-
bracht worden sind; so war es auch in Juda. Das Sprichwort:
„die Thora wird dem Priester nicht ausgehen noch der Rat dem
Altesten noch das Wort dem Propheten", welches zur Zeit Je-
remies und Ezechiels gäng und gäbe war, wird nicht erst da-
mals entstanden sein und jedenfalls thatsächlich auch auf die
frühere Zeit passen. Nicht sofern sie opfern, sondern sofern sie
weisen , erscheinen hier die Priester als Grundpfeiler der gei-
stigen Ordnung der Dinge; und zwar ist ihre Thora lebendige
Kraft, die dem Anlass entspricht und nicht versagt. Von Micha
^|-Vl*wird ihnen vorgeworfen, dass sie für Geld bescheiden (3, 11),
was gleichfalls bezeugt, dass ihre Weisheit auf einer nur ihnen
zugänglichen Tradition beruhte; das selbe folgt aus einigen
Äusserungen des Deuteronomiums (17, lOf. 24,8). Wie das Ge-
genstück zu dem oben angeführten Spruche (Jer. 18, 18. Ezech.
7, 26) lautet die Klage (Lam. 2, 9): „Jerusalem ist zerstört, König
und Fürsten unter den Heiden, die Thora ist dahin, die Pro-
pheten erlangen kein Gesicht von Jahve"; nachdem das Heilig-
tum und die Priester zu Grunde gegangen, gibt es auch keine
Thora mehr, und damit ist dem Volksleben die Axt an die
Wurzel gelegt. Bei den nachexilischen Propheten bekommt die
Thora, die noch im Deuteronomium (17, 11) wesentlich recht-
lichen Inhalts ist, einen stark ritualen Beigeschmack, den man
früher nicht verspürt; doch ist sie selbst hier noch ein münd-
liches Lehren der Priester (Hagg. 2, 11).
Die Priester leiteten ihre Thora von Mose ab, sie wollten
Die mündliche und- die schriftliche Thora. 421
nur bewahren und behüten, was Mose hinterlassen hatte (Deut.
33, 4. 9 f.). Er galt als ihr Ahnherr (33,8. Jud. 18, 30), sein
Schwäher ist der Priester von Midian am Sinai, sowie auch
Jahve gewissermassen von dem älteren Gott des Sinai abstammt.
Aber zugleich galt Mose als der unvergleichliche Anfänger der
Prophetie (Num. 12, 6ff. Deut. 34, 10. Hos. 12, 14), wie denn
sein Bruder Aharon gleichfalls nicht bloss Levit (Ex. 4, 14), son-
dern auch Prophet ist (4, 15. Num. 12, 2). Es besteht also eine
nahe Beziehung zwischen Priestern und Propheten d.h. Sehern;
wie bei anderen Völkern (1. Sam. 6, 2. 1. Reg. 18, 19 vgl. mit
2. Reg. 10, 19), so auch bei den Hebräern. Nicht die Technik
des Cultus kennen, die noch sehr einfach und unausgebidet ist,
sondern ein Mann Gottes sein, mit Gott auf vertrautem Fusse
stehen, das ist es, was in ältester Zeit den Priester macht, d. h.
den Mann, der für andere den Verkehr mit dem Himmel be-
sorgt; der Seher ist vor anderen dazu befähigt (1. Reg. 18, 30ff.).
Der Unterschied ist in der frühesten Zeit fliessend, noch Sa-
muel wird 1. Sam. 1—3 als angehender Priester, 1. Sam. 9. 10
als Seher angesehen.
Auch als sich später die Priester und Propheten sonderten
und abschlössen, blieben sie doch in Zusammenhang, sowohl im
Reiche Israel (Hos. 4, 5) , als auch namentlich im Reiche Juda
(2. Reg. 23, 2. Jer. 26, 7 f. 5, 31. Deut. 18, 1—8. 9-22. Zach. 7, 3).
Was sie verband, war die Offenbarung Jahve's, -die durch sie
beide fortging und lebendig erhalten wurde. Jahve ist es, von
*dem die Thora der Priester und das Wort der Propheten aus-
geht; er ist der eigentliche Weiser, wie ihn Jesaia in der
Stelle 30, 20f. nennt, wo er von der messianischen Zeit zum
Volke sagt: „nicht mehr verhüllt sich dann dein Weiser (^HID),
sondern deine Augen sehen deinen Weiser und deine Ohren
hören die Worte eines der hinter dir ruft: dies ist der Weg,
hier gehet! — wenn ihr links oder rechts abweichen wollt".
Thora und Wort sind verwandte Begriffe, die sich vertauschen
lassen (Deut. 33, 9. Isa. 1, 10. 2, 3. 5, 24. 8, 16. 20). Daher er-
klärt es sich auch, dass Priester und Propheten gemeinsame
Ansprüche erhoben auf Mose: als Begründer des Cultus ward
derselbe nicht angesehen.
Den Unterschied kann man, in der Periode wo er sich voll-
kommen ausgebildet hatte, so bezeichnen, dass die Thora der
422 4 Israel und das Judentum, Kap. 10.
Priester einer stetig fortlaufenden, die der Propheten einer inter-
mittierenden Quelle gleicht, die aber wenn sie sieh öffnet um so
gewaltiger sprudelt. Die Priester gehen den Propheten voran,
wenn sie zusammengenannt werden; sie haben sich offenbar
früher und fester consolidiert. Ihnen ist der Stand und die inner-
halb des Standes sich fortpflanzende Tradition wesentlich; sie
bewahren und hüten die Thora (Deut. 33, 9). Eben deshalb,
weil sie sich so ganz auf die Tradition stützen und von ihr ab-
hängen, ist ihr Anspruch auf Mose als ihren Vater, als den An-
fänger und Gründer ihrer Tradition, in sich berechtigter, 1 ) wie
denn auch im gewöhnlichen Sprachgebrauch unter Thora überall
zunächst und hauptsächlich die priesterliche Thora verstanden
wird. Die Propheten haben bekanntlich keinen Vater (1. Sam.
10, 12) , ihre Bedeutung beruht auf den Individuen ; es ist be-
zeichnend, dass uns nur von ihnen Namen und Lebensbilder er-
halten sind. Dem Zuge der Zeit folgend gliedern sie sich zwar
auch zu Corporationen, aber eigentlich heben sie dadurch ihr
Wesen auf: die Koryphäen stehen immer einzeln, auf sich selber.
Der Überlieferung eines Standes, welche den Anlässen des ge-
wöhnlichen Lebens genügt, tritt hier die Inspiration einzelner
Erweckter gegenüber, angeregt durch ausserordentliche Anlässe.
Nachdem der Geist der ältesten Männer Gottes, Mose's an der
Spitze, in Institutionen gewissermassen gebannt war, suchte und
fand er ein neues Ventil in den Propheten; das alte Feuer brach
vulkanisch hindurch durch die Schichten, die einst auch flüssig
aus der Tiefe gestiegen, nun aber erstarrt und abgelagert waren.
Das Lebenselement der Propheten ist der Sturm der Welt-
geschichte, der die Ordnungen der Menschen hinwegfegt, in dem
der Schutt der Geschlechter mitsamt den Häusern darauf in's
Wanken gerät und nur ein Grund fest bleibt, der selbst keiner
Begründung bedarf. Wenn die Erde in Beben vergeht, dann
triumphieren sie, dass Jahve allein hoch bleibe. Sie predigen
*) Er ist auch historisch begründeter; denn wenn Mose irgend etwas ge-
than hat, so hat er das Heiligtum zu Kades und die Thora daselbst be-
gründet, welche die Priester der Lade nach ihm fortsetzten — darin den
Faden der Geschichte Israels fortspinnend, der durch das Königtum kräftig
wieder aufgenommen wurde. Die Propheten sind erst zur Zeit Samuels
bei den Hebräern aufgekommen ; die Seher aber waren älter als Mose und
standen schwerlich seiner Tradition so nahe wie die Priester am Heilig-
tum der Lade Jahve's.
Die mündliche und die schriftliche Thora. • 423
nicht über gegebene Texte, sie reden aus dem Geist, der alles
richtet und von niemand gerichtet wird. Wo stützen sie sich
jemals auf eine andere Autorität als die Evidenz, wo auf ein
anderes Fundament als ihre eigene Gewissheit? Das gehört zum
Begriffe der prophetischen, der echten Offenbarung, dass Jahve,
über alle ordnungsmässige Vermittelung hinweg, sich dem In-
dividuum mitteilt, dem Berufenen, in welchem der geheimnis-
volle und unzergliederbare Rapport energisch wird, worin die
Gottheit mit dem Menschen steht. Losgetrennt vom Propheten,
in abstracto, gibt es keine Offenbarung; sie lebt in seinem gott-
menschlichen Ich. Eine Synthese scheinbarer Widersprüche ent-
steht dadurch: das Subjective im höchsten Sinn, erhaben über
alle Satzungen, ist das in Wahrheit Objective, das Göttliche.
Es bewährt sich als solches durch die Zustimmung des allge-
meinen Gewissens, worauf die Propheten, gerade wie Jesus im
Evangelium Johannis, bei all ihrer Polemik gegen den herge-
brachten Gottesdienst rechnen: sie wollen nichts Neuesj nur alte
Wahrheit verkündigen. In der schöpferischsten Aktion haben
sie das Gefühl vollkommener Passivität; das homo tantum et
audacia, welches man mit vollem Recht auf Menschen wie Elias
Arnos Jesaia anwenden könnte , bedeutet bei ihnen das selbe
wie deus tantum et servitus. Aber ihr Credo steht in keinem
Buche. Es ist eine Barbarei, einer solchen Erscheinung mit dem
Gesetz die Physiognomie zu verderben.
3. Es ist ein leerer Wahn, dass die Propheten das Gesetz
erklärt und angewandt haben sollen. Maleachi (± 450) sagt
allerdings 3, 22: ,,gedenket der Thora Mose's meines Knechtes",
aber wo fände sich sonst ein Analogon dazu! Viel richtiger als
die Neueren urteilen die Männer, die am Ausgange der vor-
exilischen Geschichte zurtickschauten auf ihre bewegenden Kräfte,
die göttlichen sowohl als die ungöttlichen. Ihnen erscheinen die
Propheten nicht als die Ausleger, sondern als die ebenbürtigen
Fortsetze!* Mose's; das Gotteswort ist in ihrem Munde nicht ge-
ringer als .im Munde Mose's; sie sind so gut wie er die Organe
des Geistes Jahve's, durch den er in Israel gegenwärtig ist. Die
unmittelbare Offenbarung an das Volk, heisst es Deut. 18, hat
mit den zehn Geboten aufgehört; fortab bedient sich Jahve der
Propheten als seines Mundes: „einen Propheten wie dich", sagt
er zu Mose, „werde ich ihnen erwecken aus ihren Brüdern und
424 * Israel und das Judentum, Kap. 10.
meine Worte in seinen Mund legen, dass er zu ihnen rede was
ich ihm auftrage, und wer auf meine Worte, die er in meinem
Namen redet, nicht hört, an dem werde ich's ahnden". Ähnlich
nimmt bei Jeremia die stets rechtzeitig* erschallende Stimme der
Propheten die gleiche Stelle ein, die nach der herrschenden
Meinung dem Gesetz zukommen miisste; nur dies lebendige Be-
fehlen Jahve's kennt er, kein ein für alle mal gegebenes Testa-
ment. „Ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten führte,
nur das befohlen: hört auf meine Stimme und wandelt in den
Wegen, die ich euch immer weisen werde. Von dem Tage an,
wo eure Väter aus Ägypten gezogen sind, habe ich alle meine
Knechte, die Propheten, zu euch gesandt, immer frühzeitig sie
entbietend, aber ihr hörtet nicht. 44 Noch nach dem Exil bei
Zacharia (520 v. Chr.) begegnen wir dieser Anschauung über
die Bedeutung der Propheten. „So sprach Jahve Sebaoth (vor
dem Exil zu den Vätern): sprecht wahrhaftiges Eecht und übt
unter einander Güte und Barmherzigkeit, Waisen und Witwen
und Fremdlinge und Arme bedrücket nicht, und sinnet im Her-
zen nichts Arges gegen irgend welchen Bruder! Aber sie wollten
nicht Acht geben und rüttelten mit der Schulter und machten
ihre Ohren taub und ihre Herzen kieselhart, so dass sie nicht
hörten die Thora und die Worte, welche Jahve Sebaoth durch
seinen Geist durch die alten Propheten sagen Hess, und es kam
ein grosser Zorn von Jahve Sebaoth. Und wie er sie rief und
sie nicht hörten, so sollen nun auch sie, sprach er, rufen und
ich will nicht hören, und ich will sie verwehen unter die Völ-
ker So spricht Jahve Sebaoth (nach dem Exil zu der
Gegenwart): wie ich beschlossen hatte euch erbarmungslos zu
strafen, weil mich eure Väter erzürnt hatten, so habe ich wie-
der in diesen Tagen beschlossen dem Hause Judä wohl zu thun,
fürchtet euch nicht! Dies ist's was ihr thun sollt: redet unter
einander die Wahrheit, Wahrheit und heilsames Recht sprecht
auf euren Gerichtsstätten; und sinnet nichts arges gegen einan-
der und lasset die Ltigenschwüre ; denn all so etwas hasse ich,
spricht Jahve 44 (Zach. 7, 9-14. 8, 14— 16). Sowohl der Inhalt
der Thora, auf deren Befolgung hier die Theokratie gegründet
wird, gibt zu denken, als auch ihre Herleitung von den „alten 44
d. h. vorexilischen Propheten. Selbst Ezra kann noch sagen
(9, 10, 11): „wir haben deine Gebote vergessen , die du durch
Die mündliche und die schriftliche Thora. 425
deine Knechte die Propheten befohlen hast und gesprochen: das
Land wohin ihr kommt es einzunehmen ist ein durch die Ekel
der einheimischen Völker beflecktes Land, das sie von Rand zu
Rand mit ihrer Unreinigkeit angefüllt haben 44 . Er hat das
Deuteronomium, Ezechiel, Ley. 17 — 26 im Auge.
Unter denen, die vom Ende aus über den Sinn der abge-
laufenen Entwickelung reflektieren, nimmt der Verfasser von Isa.
40ff. die erste Stelle ein. Die Thora, die er auch das Misch-
pat (das Recht d. h. die Wahrheit) nennt, erscheint ihm als das
Göttliche und Unvergängliche in Israel. Sie ist ihm aber un-
zertrennlich von ihrem Verkündiger, dem Knechte Jahve's (42,
1_4. 49 ? i_6. 50, 4— 9. 52, 13—53, 12). Der Name bezeichnet
den Propheten, hier wird darunter Israel verstanden, ein Pro-
phet im grossen Stil. Der Beruf Israels ist nicht der der Welt-
reiche, Aufsehen und Lärm zu machen auf den Gassen (42, 1—4),
sondern der stille, die Thora zu verkündigen und zur Anerken-
nung zu bringen. Und zwar sowohl in. Israel selbst als auch
unter den Heiden. Prophet ist ja Israel nicht nach seiner eigenen
inneren Qualität, sondern durch sein Verhältnis zu Jahve, nach
seinem Beruf als Träger der göttlichen Wahrheit; darum ist es
kein Widerspruch, dass der Knecht bei Israel selbst die Arbeit
anfängt. *) Bisher hat er sich nur innerhalb des eigenen Volkes
abgemüht, das immer geneigt ist, von Jahve und von sich selber
abzufallen; der Schmach und der Leiden nicht achtend hat er
unermüdlich den Aufträgen seines Meisters sich unterzogen und
dessen Wort verkündigt. Aber vergeblich. Er hat es nicht ver-
mocht, den Sieg des Heidentums in Israel abzuwenden, dem nun
auch sein Sieg über Israel gefolgt ist. Jetzt im Exil hat Jahve
das Verhältnis zu seinem Volke abgebrochen; die einzelnen He-
bräer leben noöh, der Knecht, das Volk Jahve's ist tot. Aber
die Thora würde ja mit ihm sterben, die Wahrheit selber der
Lüge, dem Heidentum unterliegen. Das kann nicht* sein, die
Wahrheit muss zu Rechte, muss an's Licht kommen. Wie dem
Apostel Paulus der Geist die Bürgschaft der Auferstehung des
Wiedergeborenen ist, so unserem Autor die Thora das Unter-
') Ähnlich könnte man sich ausdrücken, dass noch viel fehle, bis wir
Evangelischen evangelisch geworden seien. Die Unterscheidung, wie sie
in Isa. 40 ff. durchgeführt ist, ist freilich darum doch sehr merkwürdig
und bekundet einen auffallenden Grad von tiefsinniger Meditation.
426 Israel und das Judentum, Kap. 10.
pfand der Auferstehung Israels, der Rechtfertigung des Knechtes
Jahve's. Der endliche Triumph der Sache, die Gottes Sache ist,
wird alle Erwartungen tibertreffen. Nicht bloss in Israel selbst
wird die Thora, wird der Knecht Jahve's durchdringen und die
Neugeburt des Volkes bewirken, sondern die Wahrheit wird nun
von Israel aus leuchten in alle Welt und unter allen Heiden
zum Siege kommen (49, 6). Dann ergibt sich, dass die Arbeit
des Knechtes, so vergeblich sie bis zum Exil geschienen hat,
doch nicht umsonst gewesen ist.
Ich brauche wohl nicht noch auseinanderzusetzen, wie un-
gemein lebendig, ich möchte sagen wie ungemein geschichtlich
hier der Begriff der Thora gefasst ist, wie gänzlich incompatibel
er ist mit dem „der Thora Mose's". Sie wäre am ersten zu ver-
gleichen mit dem Logos des johanneischen Prologs, wenn man
denselben nach Joh. 10, 35, einer sicherlich authentischen Äusse-
rung, und nicht nach Philo versteht. Wie Jesus die Mensch
gewordene, so ist der Knecht Jahve's die Volk gewordene
Offenbarung Gottes. Die Ähnlichkeit ihres Wesens und ihrer
Bedeutung bringt die Ähnlichkeit ihres Wirkens und Leidens
mit sich, so dass in der That die messianische Deutung von
Isa. 52, 13—53, 12 nahe genug liegt. r )
IL
1. Im 18. Jahre des Königs Josia (621 v. Chr.) ward das
Deuteronomium gefunden und veröffentlicht. Es wird nun in
dem Fundberichte 2. Reg. 22. 23 immer das Buch der Thora
schlechthin genannt: es war also das erste und seiner Zeit das
einzige. Schon früher freilich hatten nicht bloss die Propheten
ihre Reden, sondern wohl auch die Priester manche von ihren
J ) Wenn, übrigens auch für die an dieser Stelle weiter als sonst getriebene
Personifikation die Farben der Schilderung von einem bestimmten Bei-
spiele eines prophetischen Märtyrers entlehnt sein mögen, so ist es doch
unmöglich, dass hier etwas anderes unter dem Ebed Jahve sollte verstan-
den sein wie überall sonst. Man beachte, dass Leiden und Tod des
Knechtes Vergangenheit, die Verherrlichung Zukunft ist, zwischen beidem
aber in der Gegenwart eine lange Pause liegt. An eine Auferstehung
des Individuums hat der Verfasser von Isa. 40 ff. noch nicht denken können,
auch passt dazu die nähere Beschreibung 53, 12 f. durchaus nicht. Zu-
dem ist es klar, dass Kap. 54, 1 — 56, 8 gewissermassen eine Predigt über
den Text 52, 13— 53, 12 ist: da aber wird die Weissagung über die Ver-
herrlichung des Knechtes auf Sion bezogen. Vgl. Vatke S. 528 ff.
Die mündliche und die schriftliche Thora. 427
Sprüchen aufgezeichnet; es scheint in der That, wie Vatke ver-
mutet, dass wir z. B. in dem sinaitischen Bundesbuche ein Denk-
mal ihres Geistes besitzen. Das Deuteronomium aber, welches
solche ältere Aufsätze voraussetzt und vielfach das Material dar-
aus entnimmt, unterscheidet sich von ihnen nicht bloss durch
seinen weit grösseren Umfang, sondern auch durch seine weit
höheren Ansprüche. Es ist mit der deutlichen Absicht verfasst,
nicht Privataufzeichnung zu bleiben, sondern als Buch öffent-
liche Geltung zu erlangen. Der Gedanke, eine bestimmt for-
mulirte schriftliche Thora zum Eeichsgesetz zu machen, ist das
Wichtige; ') es war ein erster Versuch und er gelang zunächst
über alles Erwarten. Freilich trat dann wieder eine Reaktion
ein, aber das babylonische Exil vollendete den Sieg des Ge-
setzes. Einer ungeheuren Aufregung war damals die tiefste
Depression gefolgt (Am. 8, 11 ff.). In einer solchen Zeit klam-
merten sich die, welche an der Zukunft nicht verzagten, an den
geistigen Erwerb der Vergangenheit. Zur rechten Zeit war der-
selbe, mit Rücksicht auf die praktische Anwendung im bürger-
lichen und religiösen Leben des Volkes, im Deuteronomium ge-
bucht worden. In dem allgemeinen Ruin ging das Buch der
Thora nicht unter, sondern blieb bestehen und ward der Com-
pass für die, die auf ein neues Israel hinsteuerten. Wie sehr
man es als Norm zu benutzen entschlossen war, zeigt die im
Exil unternommene Bearbeitung des Hexateuchs und der histo-
rischen Bücher.
Mit dem Erscheinen des Gesetzes hörte die alte Freiheit
auf, nicht bloss auf dem Gebiete des Cultus, der nun auf Jeru-
salem beschränkt wurde, sondern auch auf dem Gebiete des
religiösen Geistes.* Es war jetzt eine höchste objektive Autorität
vorhanden: das war der Tod der Prophetie. Denn für diese
war es notwendig, dass das Unkraut neben dem Weizen auf-
wachsen durfte. Mögen auch die Merkmale, welche das Deu-
teronomium aufstellt um den wahren Propheten vom falschen zu
unterscheiden, recht allgemein und recht unpraktisch sein, so
spricht sich die Tendenz der Controlierung und Uniformierung
doch klar darin aus, und sie ist das epochemachende. 3 ) Es
Duhm a. 0. S. 201.
3 ) Man könnte den Unterschied von Deut. 18,22 und 1. Reg. 22, 19—23
charakteristisch finden. Dort heisst es, wenn ein Prophet im Nameii
428 Israel und das Judentum, Kap. 10.
war freilich nicht die Absicht des Gesetzgebers, die mündliche
Thora oder das freie Wort zu beeinträchtigen. Aber die Con-
sequenz, durch die äusseren Umstände begünstigt, war nicht zu
vermeiden, die Empfindung, dass es mit den Propheten aus sei,
hat nicht erst in den makkabäischen Kriegen begonnen. Wir
hören im Exil die Klage, dass die Weisung der Priester und
das Wort der Propheten verstumme (Lam. 2, 9); es wird gefragt,
wo der geblieben sei der in der Vorzeit seinen Geist in Israel
hineingelegt habe (Isa. 63, 11); in der Zeit Nehemia's wird eine
zweifelhafte Frage wenigstens theoretisch in der Schwebe ge-
lassen, bis „der Priester mit Urim und Thummim 44 d. h. ein mit
zuverlässiger Weissagung Betrauter erscheine (Neh. 7, 69). Man
darf Jeremia den letzten der Propheten nennen; 1 ) die nach ihm
kamen, waren es nur dem Namen nach. Ezechiel hatte ein
Ruch verschlungen (3, 1—3) und gab es wieder von sich. Wie
Zacharia so nennt auch er schon die vorexilischen Propheten,
im Bewusstsein seines Epigonentums, die alten Propheten; er
sinnt über ihre Worte nach wie Daniel und commentiert sie
durch seine eigene Weissagung (38, 17. 39, 8). Viel eher ver-
dient der Verfasser von Isa. 40ff. ein Prophet zu heissen, aber
er will keiner sein, seine offenbar beabsichtigte Anonymität lässt
darüber nicht in Zweifel, Er ist in der That mehr Theologe,
*Jahve's etwas ansage, was nicht eintreffe, so sei es ein Wort, welches
Jahve nicht geredet habe. Hier dagegen hält Micha ben Jimla die Weis-
sagung der Jahvepropheten, die dem Könige von Israel einen glücklichen
Ausgang des Feldzuges gegen die Syrer verheissen, zwar für das Gegen-
teil der Wahrheit, darum aber nicht minder für eingegeben vom Geiste
der Prophetie: Jahve habe seinen Geist zum Lügengeist gemacht im
Munde aller seiner Propheten. Es mag sich immerhin der Abstand der
Zeiten hier abspiegeln, im ganzen scheint die Betrachtungsweise des Micha
doch eher eine Auskunft, die auch späterhin noch möglich gewesen wäre.
Im siebenten Jahrhundert dehnte man das Gebot „alle Erstgeburt ist mein"
auch auf die menschliche Erstgeburt aus und sah die Opferung derselben
als Forderung Jahve' s an, wie aus dem Protest Jeremia' s hervorgeht: „ich
habe sie nicht geboten, es ist mir nicht eingefallen" 7, 31. 19, 5. Mit
Beziehung darauf sagt Ezechiel: da die Israeliten die heilsamen Gebote
Jahve' s verschmäht haben, so habe er ihnen Gebote gegeben, die nicht
gut, und Satzungen, durch welche sie nicht mochten leben. Das ist eine
ganz ähnliche Auskunft in der Verlegenheit, ohne tiefere Bedeutung. Vgl.
umgekehrt Sur. 2, 174.
l ) Jeremia, der in seinen jungen Jahren an seinem Teile beigetragen hatte
zur Einführung des Gesetzes, zeigt sich später über dessen Wirkung
wenig erbaut: zur Lüge habe geschrieben der Lügengriffel der Schreiber.
Die Leute verschmähten das prophetische Wort, da sie die Thora schwarz
auf weiss besassen (8, 7—9).
Die mündliche und die schriftliche Thora. 429
er reflektiert vorzugsweise über die Resultate der vorhergegan-
1 genen Ent Wickelung, deren Sauerteig die Pr.ophetie war, wie
über gewonnene feste Güter, er heimst die Ernte ein. Was die
nachexilisehen Propheten betrifft, so haben wir schon gesehen,
dass Zacharia von den alten Propheten als von einer abge-
schlossenen Reihe redet, zu der er sich selbst und seinesgleichen
nicht rechnet. In der seinem Buche angehängten Schrift eines
anonymen Zeitgenossen findet sich folgende merkwürdige Äusse-
rung: „in jener (erhofften) Zeit, spricht Jahve, tilge ich die Na-
men der Götzen aus dem Lande, dass sie nicht mehr erwähnt
werden, und auch die Propheten und den unreinen Geist lasse
ich aufhören; und wenn ein Mensch noch weissagen will, so
werden seine Eltern zu ihm sagen: du bist des Todes weil du
Lüge redest im Namen Jahve's, und seine Eltern werden ihn
durchbohren, wenn er weissagt".
2. Das Deuteronomium indessen war ein Programm für
eine Reformation, nicht für eine Restauration. Es setzte das
Bestehen des Cultus voraus und corrigierte ihn nur in gewissen
allgemeinen Punkten. Aber nun war der Tempel zerstört und
der Gottesdienst unterbrochen, die Praxis von ehemals musste
aufgezeichnet werden wenn sie nicht untergehen sollte. So kam
es, dass im Exil das Cultusverfahren Gegenstand der Thora
wurde, wobei natürlich neben dem restaurierenden der reforma-
torische Gesichtspunkt fortwirkte. Wir haben 'gesehen (S.62),
dass Ezechiel der erste war, der diesen durch die Umstände in-
dicierten Schritt that. In dem letzten Teile seiner Schrift hat
er den Anfang gemacht mit der Aufzeichnung des im Tempel
von Jerusalem üblich gewesenen Rituals. Andere Priester
schlössen sich ihm an (Lev. 17 — 26), und so entstand aus diesem
Stande im Exil eine Art Schule von Leuten, die was sie früher
praktisch betrieben hatten, jetzt auf Schrift und in ein System
brachten. Nachdem der Tempel wieder hergestellt war, hielt
sich doch der theoretische Eifer und bildete in Wechselwirkung
mit der erneuerten Praxis das Ritual noch weiter aus; die in
Babylon verbliebenen Priester nahmen aus der Ferne nicht we-
niger Anteil am heiligen Dienste als ihre mit der Ausübung
desselben beschäftigten Brüder zu Jerusalem, die unter widrigen
Umständen lebend es mit der peinlichen Befolgung der festge-
stellten Observanzen nicht so genau gehalten zu haben scheinen.
430 Israel und das Judentum, Kap. 10.
Das letzte Resultat dieser langjährigen Aribeit ist der Priester-
eodex. Man hat zwar gesagt, die Schöpfung eines solchen
Werkes könne einer Zeit nicht zugetraut werden, die nur zu
repristinieren suche. Zugegeben, dass das letztere Urteil richtig
wäre — zum künstlichen Systematisieren vorhandenen Materials
ist gerade eine solche Zeit durchaus geeignet, und wesentlich
darin besteht die Originalität des Priestercodex. 1 )
Der Priestercodex, eingearbeitet in den Pentateuch als dessen
massgebender legislativer Bestandteil, wurde das definitive „mo-
saische Gesetz 44 . Als solches ward er publiciert und eingeführt
A. 444 vor Chr., hundert Jahre nach dem Exil. In der Zwi-
schenzeit, deren Dauer oft unterschätzt wird, war als schriftliche
Thora noch immer nur das Deuteronomium bekannt und aner-
kannt, wenn auch faktisch der Einfluss der Aufsätze Ezechiels
und seiner Nachfolger auf die leitenden Kreise nicht unbedeutend
sein mochte. Derjenige, welcher den Pentateuch zur Constitution
des Judentums gemacht hat, ist der babylonische „Priester und
Gelehrte 44 Ezra. Schon A. 458, im siebenten Jahre des Arta-
xerxes Longimanus, war er an der Spitze einer grösseren Schar
eifriger Juden aus Babylonien nach Jerusalem gekommen; wie
es heisst, von dem Perserkönige mit Vollmacht versehen, die
Gemeinde des Tempels, die sich noch immer nicht recht inner-
lich befestigen und gegen aussen abschliessen konnte, zu refor-
mieren nach dem Gesetz. „Vom Könige und seinen sieben Räten
bist du gesandt, Untersuchung zu führen über Juda und Jeru-
salem nach dem Gesetz deines Gottes in deiner Hand
...... Du aber, Ezra, nach der Weisheit deines Gottes
in deiner Hand, bestelle Vorsteher und Richter, die alles Volk
jenseit des Euphrat richten, diejenigen welche die Gesetze deines
Gottes anerkennen, und wer sie nicht kennt, dem sollt ihr sie
*) Dillmann findet, es sei die natürlichste Annahme von der Welt und ans
ACD (!) noch zu erweisen, dass die Priesterschaft des Centralheiligtumes
schon in alter Zeit ihre Thoroth aufschrieb; dass man erst im Exil und
in Babylonien, wo man gar keinen Gottesdienst hatte, die priesterlichen
und gottesdienstlichen Gesetze aufgeschrieben oder . sogar erst gemacht
habe, sei widersinnig. Widersinnig immerhin, wenn nur wahr. Ein
Fortschritt ist es nicht, gleichwohl ein Faktum, dass auf die Könige die
Hohenpriester folgten und auf die Propheten die Rabbiner. Es soll
übrigens doch öfter vorkommen, dass die traditionelle Praxis erst aufge-
schrieben wird, wenn sie auszusterben droht, und dass ein Buch so zu
sagen Revenant eines abgeschiedenen Lebens ist. * >
Die mündliche und die schriftliche Thora. 431
bekannt machen. Wer aber das Gesetz deines Gottes und das
Gesetz des Königs nicht thun will, dem soll der Process ge-
macht werden." So heisst es in dem Schreiben des Perser-
königs an Ezra 7, 12—26, das, wenn es auch unecht sein sollte,
doch jedenfalls die Meinung der Zeitgenossen wieder gibt; wie
denn daran nach der aus Ezra's eigenem Memoire entnommenen
Äusserung 7, 27 kein Zweifel sein kann, dass er von Artaxerxes
in seinen Zwecken unterstützt worden ist. 1 )
In Judäa angekommen hat nun aber Ezra nicht, wie man
erwarten sollte, das Gesetz alsbald eingeführt. Im Einverständnis
mit den Obersten des Volkes hat er, auf Grund der vorhandenen,
nämlich der deuteronomischen Thora, eine strenge Absonderung
der heimgekehrten Exulanten von den heidnischen und halb-
heidnischen Landesbewohnern in's Werk gesetzt und rücksichtslos
durchgeführt, wenige Monate nach seiner Ankunft in Jerusalem.
Sehr lange aber, mindestens vierzehn Jahre, dauerte es, bis er
endlich mit dem Gesetze herausrückte, das er selber mitgebracht
hatte. Warum er so lange zögerte, lässt sich höchstens ver-
mutungsweise sagen, da uns Nachrichten darüber, was er in der
Zwischenzeit gethan, nicht erhalten sind; zwischen dem sieben-
ten und dem zwanzigsten Jahre des Artaxerxes (458 und 445
v. Chr.) klafft in der Berichterstattung der Bücher Esdra und
Nehemia eine grosse Lücke. Die äusseren Verhältnisse der
jungen Gemeinde, die sich, wohl in Folge der schroffen Stellung
die man zu den Nachbarvölkern einnahm, sehr mislich gestal-
teten, mochten eine legislative Neuerung vorerst unratsam
machen; auch hat vielleicht Ezra den corrigi er enden Einfluss
der jerusalemischen Praxis auf das Produkt der babylonischen
Gelehrsamkeit abwarten und ausserdem Gehülfen des Werks
sich erziehen wollen. Die Hauptsache scheint jedoch gewesen
zu sein, dass es ihm trotz dem Wohlwollen des Königs an einer
2 ) Hinsichtlich seines Verhältnisses zum Gesetz kommen noch folgende An-
gaben in Betracht: „er war ein Gelehrter (*"1£1D = literatus), bewandert
in der Thora Mose's" 7, 6 ; „er hatte seinen Sinn gerichtet zu studieren
die Tbora Jahve's und zu thun, und zu lehren in Israel Recht und
Satzung" 7, 10; „der Priester Ezra, der Meister des Gesetzes des Gottes
vom Himmel" 7, 21. Am wichtigsten bleibt indessen der Ausdruck, dass
das Gesetz (die Weisheit) seines Gottes in seiner Hand gewesen sei : es
war also sein Privatbesitz, wenn es auch Geltung für ganz Israel bean-
spruche. Dazu stimmen die Angaben über den Zweck der Mission des
gelehrten Priesters.
432 Israel und das Judentum, Kap. 10.
energischen Unterstützung der persischen Behörden an Ort und
Stelle fehlte, deren es bedurfte, um einem neuen Gesetze Gel-
tung und Anerkennung zu verschaffen..
Da gelang es im J. 445 einem Juden und Gesinnungsge-
nossen Ezra's, Nehemia ben Hakkeleja, dem Mundschenken und
Günstling des Artaxerxes, als persischer Landpfleger nach Judäa
zu kommen. Nachdem er mit redlichem Eifer und grossem Er-
folge die Gemeinde zuerst von dem äusseren Druck befreit und
aus ihrer trübseligen Lage emporgehoben hatte, war nun auch
der Augenblick gekommen um mit der Einführung des Penta-
teuchs vorzugehen: Ezra und Nehemia waren dabei offenbar im
Einverständnis. Am 1. Tage des 7. Monats — das Jahr, das
wir leider nicht wissen, ist frühestens 444 vor Chr. gewesen —
versammelte sich alles Volk wie ein Mann auf dem Markt vor
dem Wasserthore, und Ezra ward aufgefordert das Buch des Ge-
setzes Mose's vorzubringen, das Jahve Israel geboten. Der
Schriftgelehrte bestieg eine hölzerne Kanzel, je sieben Priester
traten ihm rechts und links zur Seite. Wie er das Buch auf-
schlug, erhoben sich die Anwesenden, Männer und Weiber; mit
lautem Amen stimmten sie in den Eingangssegen ein, erhüben
die Hände und warfen sich zu Boden. Darauf las er vor, vom
frühen Morgen bis zum Mittag, in kleinen Absätzen, welche von
einer Anzahl unter der Menge zerstreuter Leviten wiederholt
und erklärt wurden. Die Wirkung war, dass ein allgemeines
Weinen sich erhob, w#H man sich bewusst war bis dahin die
Gebote Gottes nicht befolgt zu haben; Nehemia und Ezra und
die Leviten mussten die Aufregung dämpfen und sprachen: der
heutige Tag ist Jahve eurem Gott geweiht, trauert nicht und
weint nicht, geht hin, esst was fett ist und trinkt was süss ist,
und gebt denen ab die nichts mitgebracht haben! Da zerstreuten
sich die Versammelten und veranstalteten „eine grosse Freude 14 ,
weil sie die Worte verstanden hatten, die ihnen mitgeteilt wa-
ren. Am anderen Tage ward die Verlesung fortgesetzt, aber
bloss vor den Familienhäuptern, und zwar kam ein zeitge-
mässes Stück an die Reihe, nämlich die Verordnungen über die
Feste, insbesondere über das unter grünen Zweiglauben zu
feiernde Hüttenfest am 15. Tage des 7. Monats, desjenigen, in
dessen Anfang man gerade stand. Mit grossem Eifer ging man
daran, die seit den Tagen Josua's ben Nun nicht rite begangene
Die mündliche und die schriftliche Thora. 433
Feier nun nacli der Vorschrift des Gesetzes Lev. 23 zu rüsten,
und mit allgemeiner freudiger Beteiligung beging man sie vom
15.— 22. des Monats. *) Am 24. aber ward in Sack und Asche
ein grosser Busstag gehalten. Mit der Gesetzeslektion ward
auch jetzt begonnen, darauf folgte ein §ündenbekenntnis, das
im Namen des Volkes von den Leviten gesprochen wurde und
mit der Bitte um Gnade und Erbarmen schloss. Das war die
Vorbereitung zu dem Haupt- und Schlussakte, worin die welt-
lichen und geistlichen Beamten und Ältesten der Gemeinde,
ftinfundachtzig an der Zahl, sich schriftlich auf das durch Ezra
veröffentlichte Gesetzbuch verpflichteten, alle Übrigen aber sich #
mit Eid und Fluch verbindlich machten zu wandeln in der Thora
Gottes, gegeben durch seinen Diener Mose und zu halten alle
Gebote Jahve's und seine Satzungen und Rechte. Besonders
zur Nachachtung hervorgehoben wurden die Bestimmungen des
Pentateuchs, welche direkte Bedeutung für das Volk hatten —
der grösste Teil bezieht sich ja auf das Ritual der Priester —
und darunter namentlich diejenigen, welche die Abgaben der
Laien an die Priester betrafen, auf denen die Existenz der Hie-
rokratie ruhte. 2 )
Mit Recht hat es Lagarde's Verwunderung erregt, dass dieser
merkwürdigen Erzählung von den Alttestamentliehen Kritikern
so wenig Wichtigkeit beigelegt zu werden pflegt: nur Kuenen
hatte sie allerdings nach ihrem vollen Wert gewürdigt. 3 ) Es
liegt auf der Hand, dass wir in Neh. 8—10 eine genaue Parallele
zu 2. Reg. 22. 23 haben. Insbesondere zu 23, 1 — 3: Josia Hess
alle Altesten von Juda und Jerusalem zusammenkommen und
zog mit den Männern Juda's und den Bewohnern Jerusalems,
mit den Priestern und Propheten und allem Volke hoch und
niedrig, hinauf zum Hause Jahve's; dort las er der Versammlung
alle Worte des Gesetzbuchs vor und verpflichtete sich mit allem
- *) Acht Tage lang, nach Lev. 23, 39 gegen Deut. 16, 13—15.
2 ) Neh. 8, 1 — 10, 40. Die innere Glaubwürdigkeit der Erzählung bezeugt
sich selber auf das entschiedenste. Dass der Chronist sie nicht selber
verfasst, sondern aus seiner Hauptquelle entlehnt hat, aus der auch die
Fragmente der Memoiren Ezra's und Nehemia's mitgeteilt sind, ergibt
sich daraus, dass er, indem er in Esdra 2 das Kap. Neh. 7 abschreibt,
unwillkürlich auch noch den Anfang von Neh. 8 ( = Esdr. 3, 1) hinzu-,
nimmt. Also fand er schon Neh. 7 und 8 in der jetzigen Verbindung
vor und schrieb nicht etwa die Kap. 8 ff. erst selber.
3 ) Göttinger Gel. Anzeigen 1870 S. 1557 f. Kuenen, Godsdienst II Hoofdst.8.
W eil hause u, Prolegoniena. 28
434 Israel und das Judentum, Kap. 10.
Volke vor Jahve, zu halten alle Worte dieses Buches. Gleich-
wie bezeugt wird, dass das Deuteronomium im Jahre 621 be-
kannt geworden, bis dahin unbekannt gewesen ist, geradeso
wird bezeugt, dass die anderweitige Thora des Pentateuchs —
denn dass das Gesetz Ezra's der ganze Pentateuch gewesen ist,
unterliegt keinem Zweifel — im Jahre 444 bekannt geworden,
bis dahin unbekannt gewesen ist. Es erhellt zunächst un wider,
sprechlich, dass das Deuteronomium die erste, die priesterliche
Thora die zweite Stufe der Gesetzgebung ist. Weiter aber wird
man den selben Schluss, den man für die Abfassungszeit des
Deuteronomiums aus der Publicierung und Einführung durch
Josia zu ziehen pflegt, für die Abfassungszeit des Priestercodex
aus der Publicierung und Einführung durch Ezra und Nehemia
zu ziehen haben. Es bedarf sehr gewichtiger innerer Gründe,
um die auf einer höchst positiven Nachricht beruhenden Wahr-
scheinlichkeit zu entkräften, dass die Codificierung des Rituals
erst in der nachexilischen Periode vor sich gegangen ist. Wie
es mit solchen inneren Gründen beschaffen ist, haben wir ge-
sehen. *)
3. Ezra und Nehemia, und die fünfundachtzig Männer der
Grossen Versammlung (Neh. 8 ff.), die als Unterzeichner des Bun-
des genannt werden, gelten der späteren Tradition als die Be-
gründer des Kations. Nicht mit Unrecht, nur müsste mit noch
grösserem Rechte der König Josia dafür angesehen werden. Die
Einführung des Gesetzes, zunächst des Deuteronomiums, sodann
des ganzen Pentateuchs, war in der That der entscheidende
Schritt, wodurch die Schrift an Stelle der Rede trat und das
Volk des Wortes ein Volk des Buches wurde. Dem Buche
haben sich die Bücher mit der Zeit angeschlossen; jenes ward,
in zwei auf einander folgenden Akten, förmlich und feierlich
eingeführt, diese gewannen unter der Hand eine ähnliche öffent-
liche Geltung für die jüdische Gemeinde. Der Begriff des Ka-
*) 1s ist übrigens nicht nötig und schwerlich richtig, Ezra für mehr als
für den Redaktor, den eigentlichen und hauptsächlichen Redaktor des
Pentateuchs zu halten; insbesondere wird er nicht der Verfasser von Q
gewesen sein. Es soll andererseits auch nicht ausgeschlossen werden,
dass manche Novellen und Änderungen noch nach Ezra hinzugekommen
sind. Das Material der Bräuche ist schwer zu fixieren und zu erschöpfen.
Über den nervus ischiadicus, die Barfüssigkeit der Priester, das Ein*
sperren vor Jahve (1. Sam. 21 vgl. Jerem. 36, 5), die Steinigung der Ehe-
brecher vermissen wir Bestimmungen.
Die mündliche und die schriftliche Thora. 435
nons geht durchaus von dem der schriftlichen Thora aus; auch
die Propheten und Hagiographen heissen bei den Juden Thora,
wenn auch nicht Thora Mosis.
Über die Entstehung des Kanons, welche Dank der beiden
Erzählungen 2. Reg. 22. 23. Neh. 8 — 10 vollständig im Licht der
Geschichte liegt, ist sich die herkömmliche Einleitungswissen-
schaft höchst unklar. Josia, pflegt man sich etwa vorzustellen,
hat zwar das Gesetz aber nicht den Kanon eingeführt, Ezra um-
gekehrt zwar den Kanon aber nicht das Gesetz. Eine Analogie,
die von dem sekundären Teil des Kanons, von Propheten und
Hagiographen, hergenommen ist, überträgt man ohne Besinnen
auf den primären, auf die Thora Mose's. Wie die historischen
und prophetischen Bücher zum Teil lange existiert haben ehe
sie kanonisch wurden, so, glaubt man, werde es auch mit dem
Gesetze gegangen sein. Indessen beim Gesetze liegt die Sache
wesentlich anders. Das Gesetz will gesetzliche Geltung haben,
will Gemeindebuch sein: ein Unterschied zwischen Gesetz und
Kanon ist nicht vorhanden. Es ist darum leicht zu begreifen,
dass die Thora, obwohl als schriftstellerisches Produkt jünger
als die geschichtlichen und prophetischen Bücher, dennoch als
Gesetz älter ist als jene Schriften, die ja ursprünglich und ihrem
Wesen nach gar keinen gesetzlichen Charakter tragen, sondern
denselben gewissermassen nur metaphorisch erlangt haben, im
Ansehluss an ein vorhandenes eigentliches Gesetz.
Erkennt man an, dass der Kanon das Judentum vom alten
Israel unterscheidet, so erkennt man auch an, dass die schrift-
liche Thora das Judentum vom alten Israel unterscheidet. Das
Wasser, das in der Vergangenheit gequollen war, fassten die
Epigonen in Cisternen.
Elftes Kapitel.
Die Theokratie als Idee und als Anstalt.
Mit den Ausdrücken Theokratie und theokratisch spielen
die Neueren, ohne über ihren Sinn und die Berechtigung ihrer
28*
436 Israel und das Judentum, Kap. 11.
Anwendung sich Rechenschaft zu geben. Man weiss aber, dass
erst Josephus das Wort &eoxpaxta gebildet hat, 1 ) und es ist be-
kannt, dass diesem Schriftsteller, wenn er von der mosaischen
Verfassung redet, das heilige Gemeinwesen seiner Zeit vor Augen
schwebt, wie es bis zum Jahre 70 nach Chr. beschaffen gewesen
ist. Im alten Israel hat in der That eine Theokratie als Ver-
fassungsform nie bestanden. Die Herrschaft Jahve's ist hier
eine ideale Vorstellung; erst seit dem Exil werden Versuche
gemacht, sie als Herrschaft des Heiligen mit äusserlichen Mitteln
zu realisieren. Es ist vielleicht das Hauptverdienst von Vatke's
Biblischer Theologie, die Entstehung der Theokratie und die
Metamorphose der Idee zu einer Anstalt durch die Jahrhunderte
verfolgt zu haben.
I.
1. Dass Mose den Pentateuch geschrieben habe, wird von
den Vertretern der herrschenden Meinung geleugnet, desto be-
stimmter aber festgehalten, dass er die Gemeinde der Stiftsbütte
in der Weise organisiert habe, wie es im Priestercodex beschrie-
ben ist. Es scheint dabei die Ansicht zu Grunde zu liegen,
dass er ja sonst überhaupt keine Bedeutung gehabt habe: als
ob es nicht auch etwas wäre, einen Samen in den Acker der
Zeit zu streuen , den das daraus entspringende Spiel der Wir-
kungen und Gegenwirkungen in einer Ewigkeit zur Reife bringt
(Marc. 4, 26 ff.). In Wahrheit ist Mose etwa in dem gleichen
Sinne der Urheber der „mosaischen Verfassung", wie Petrus der
Stifter der Römischen Hierarchie. Von der angeblich uralten
heiligen Organisation ist in der Zeit der Richter und der Könige
nichts zu merken. Sie soll eine Art pädagogischer Zwangs-
jacke gewesen sein, um den ungebändigten Eigenwillen der
Hebräer zu brechen und sie vor schlechten Einflüssen von aussen
her zu bewahren. Wollte man aber auch zugeben, dass eine
Verfassung des Altertums so ausser allem Verhältnis zu dem
! ) O&xoüv arcstpot [iiv a\ xaxcfc fxipoc x&v 1$&v xal tü>v vdptwv irapot xoT? fcxaiv
dvOpumois 8iacpopa(* ot \*.h ydfcp (jiovap^^atc, oi §e xatc öÄfywv Suvaaxefous,
äXkot Se xoTs irA'/jftecttv l7texpe<}>av x))v l£oua(av t&v noAtTeufi.dtTtüv. 'U S'^fxe-
xepoc vopi.o{HT7js eis f^v xooxoov o68' 6xtoöv öfotsT^sv, cbc S'av Tic;efitoe
ßtaadtfjievoc t6v Xdyov, $eoxpax(av dtit£§ei£e to 7toA£xeupt,a, $sq5
tt)v dpxty xa ^ T ° *p« T °c ^vocftefe (contra Apion. 2, 16). Vgl. übrigens zu
diesem ganzen Kapitel Die Pharisäer und die Saddueäer, Greifswald 1874.
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 437
eigenen inneren Leben des Volks entstanden sein könne, so
tritt doch an der Geschichte des alten Israels nichts mehr hervor
als die ungemeine Frische und Natürlichkeit ihrer Triebe. Die
handelnden Personen treten durchweg mit so einem Muss ihrer
Natur auf, die Männer Gottes nicht minder wie die Mörder und
Ehebrecher; es sind Gestalten, die nur in freier Luft geraten.
Das Judentum, welches die mosaische Verfassung verwirklicht
und consequent fortgebildet hatte, Hess für die Individualität
keinen Spielraum: im alten Israel war das göttliche Recht nicht
bei der Institution, sondern bei dem Creator Spiritus, bei den
Individuen. Sie redeten nicht bloss wie die Propheten, son-
dern sie handelten auch wie die Richter und Könige; aus
freier Initiative, nicht nach einer äusseren Norm, und dennoch
und gerade darum im Geiste Jahve^s. Höchst charakteristisch
zeigt sich der Unterschied der Zeiten in der Auffassung Sauls
nach den beiden, oben (S. 261 ff.) gesonderten und verglichenen
Versionen.
2. Es ist eine einfache aber sehr wichtige Bemerkung
Vatke's, dass die im Priestercodex so weitläufig beschriebene
heilige Verfassung der Gemeinde durchaus unvollständig sei und
dasjenige voraussetze, was zu gründen zur Zeit Mose's die
Hauptsache gewesen wäre, nämlich den Staat, ohne den doch
auch die Kirche nicht bestehen kann. Um einen reichen und
kostspieligen Cultus und einen ungeheuren Schwärm von Kle-
rikern zu unterhalten, waren erhebliche Steuern und Abgaben
nötig; lim selbige einzutreiben, um ferner das Ansehen der hei-
ligen Personen und Einrichtungen, um namentlich die strenge
Centralisierung und Uniformierung des legitimen Gottesdienstes
bei einem immerhin rohen Volke aufrecht zu erhalten, dazu be-
durfte es einer executiven Gewalt, die das ganze Volk umspannte
und in der Macht hatte. Wo aber ist diese einheitliche Gewalt
in der Richterperiode? Die Hauptbefugnisse wohnten damals
den kleinsten Kreisen bei, den Familien und Geschlechtern; sie
waren wenig beschränkt, wie es scheint, durch die übergeord-
nete Macht des Stammes, und der Begriff des Staates oder
Reiches existierte überhaupt noch nicht. Zuweilen vereinigten
sich die verwandten Geschlechter, wohl auch die benachbarten
Stämme zu gemeinschaftlichen Unternehmungen; aber nicht auf
Grund irgend welcher verfassungsmässigen Ordnung, sondern in
438 Israel und das Judentum, Kap. 11.
der Not, in dem Falle dass ein hervorragender Mann sieh fand,
der an die Spitze trat und ein erfolgreiches Aufgebot erliess.
Diese vorübergehenden Verbindungen unter Herzögen waren die
Vorstufe einer dauernden Vereinigung unter einem Könige ;
schon zur Zeit des Midianiterkriegs scheint ein Ansatz dazu ge-
macht worden zu sein, der aber nicht recht einschlug. In dem
schweren und langwierigen Kampf gegen die Philister trat das
Bedürfnis nach einer festen Einigung der Stämme unabweislich
hervor, und es fand sich auch der Mann für die Zeit. Saul,
ein vornehmer Benjaminit aus Gibea, ward vom Zorn überwäl-
tigt wegen der höhnischen Herausforderung, welche sich damals
sogar die Ammoniter den Hebräern gegenüber erlaubten; nicht
durch irgend ein Amt, nur durch den eigenen Drang berechtigt
pef er seine Landsleute zum Kampfe auf; sein Enthusiasmus
wirkte ansteckend, Scheu erregend. Ganz wie einer der früheren
Richter begann er seine Laufbahn, aber als er zum Siege ge-
führt hatte, da ward er nicht wieder los gelassen. Der Gesuchte,
der König war gefunden.
Aus so natürlichen Anfängen entstand damals der Staat,
ohne jede Anlehnung an die Form der „mosaischen Theokratie" ;
er trägt alle Merkmale einer neuen Schöpfung an sich. Saul
und David haben aus den hebräischen Stämmen erst ein wirk-
liches Volk im politischen Sinne gemacht (Deut. 33, 5). David
blieb auch den Späteren unzertrennlich von der Idee Israels, er
war der König schlechthin; Saul ward verdunkelt, aber beide
zusammen sind die Gründer des Reichs und haben insofern eine
viel allgemeinere Bedeutung als alle ihre Nachfolger. Sie sind
es gewesen, die dem öffentlichen Leben Mittelpunkt und Inhalt
gegeben haben, ihnen verdankt die Nation ihr geschichtliches
Selbstbewusstsein. Auf dem Königtum gründet alle weitere
Ordnung, auf diesem Boden wachsen die übrigen Institutionen
hervor. In der Richterzeit, heisst es, that jeder was er wollte,
nicht weil damals die mosaische Verfassung nicht in Kraft, son-
dern weil kein König im Lande war. Auch auf religiösem Ge-
biete sind die Folgen sehr wichtig gewesen, sofern durch den
politischen Aufschwung des Volkes auch das historisch-nationale
Wesen Jahve's wieder in den Vordergrund trat, nachdem der
alte Gott der Wüste, durch die während der Richterzeit erfol-
gende (übrigens völlig notwendige) Übernahme des kanaanitischen
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 439
Festcultus in seinen Dienst, eine Zeit lang in Gefahr geschwebt
hatte ein Gott des Ackerbaus und der Viehzucht zu werden wie
Baal-Dionysus. Der Festcultus blieb zwar noch lange die Quelle
des Heidentums, wurde aber doch immer mehr seines Natur-
charakters entkleidet und musste schliesslich eine Beziehung zur
Nation und ihrer Geschichte annehmen, um sich überhaupt zu
halten. Die Beziehung Jahve's zu Volk und Eeich stand felsen-
fest; auch dem schlimmsten Götzendiener war er der Gott
Israels; im Kriege fiel es keinem ein, von einem anderen als
Jahve Sieg und Heil zu erwarten. Das war die Frucht davon
dass Israel ein Reich geworden war; das Königtum Jahve's, in
der politischen Bestimmtheit wie es gedacht wird, ist der reli-
giöse Ausdruck der Staatsgründung durch Saul und David. Die
Theokratie war eben der Staat selber; den bürgerlichen Staat
sahen die alten Israeliten als ein Wunder oder, wie sie sich aus-
drückten, als eine Hülfe Gottes an. *) Die späteren Juden setzten
bei ihrer Anschauung von Theokratie den Staat immer schon
als bestehend voraus und konnten darum die Theokratie als ein
besonderes geistliches Wesen darüber zimmern — etwa so wie
die Modernen das Göttliche der Rechtsinstitute, z. B. der Ehe,
nicht in ihrem eigenen Wesen, sondern in der kirchlichen Weihe
erblicken.
3. Das Reich Sauls und Davids hielt sich nicht lange auf
seiner Höhe. Schon mit der Spaltung begann der Verfall; seit
die Assyrer ans Thor klopften, brach er unaufhaltsam herein.
Aber um so lebhafter hielt man die Zeit der Blüte und Macht
in Erinnerung, man hoffte auf ihre Wiederkehr. Durch den
Contrast der trüben Gegenwart gegen die glänzende Vergangen-
heit entstand das Bild des Staates wie er sein sollte; dem Zu-
stande innerer Anarchie und äusserer Zertrümmerung, worin er
damals sich befand, setzten die Propheten das Muster der Theo-
kratie entgegen. Die Theokratie, wie die Propheten sie sich
vorstellen, ist nicht artverschieden von dem politischen Gemein-
wesen, etwa wie eine geistliche von einer weltlichen Grösse;
sie beruht vielmehr auf den selben Grundlagen wie jenes und
ist eben nur die Idee desselben. Ihre klassische Ausbildung hat
*) Uns greift häufig die obrigkeitliche Vorsehung zu tief ein, den Hebräern
fehlte sie und darum blieb sie ihnen Ideal,
440 Israel und das Judentum, Kap. 11.
Jesaia . dieser Idee gegeben, { in den Zukunftsbildern, die man
messianische Weissagungen zu nennen sich gewöhnt tat. Es
werden hier nämlich nicht zufällige Dinge vorausverkündet, son-
dern Ziele aufgestellt, deren Verwirklichung zwar erst von der
Zukunft erwartet wird, die aber schon in der Gegenwart Geltung
haben oder haben sollten, zu denen das Gemeinwesen seiner
wahren Natur nach hinstrebt.
Die Austreibung der Assyrer ist der Zug, mit dem die
messianischen Schilderungen beginnen ; aber der Hauptnachdruck
wird gelegt auf die Herstellung der inneren Grundlagen des
Staates, deren Morschheit auch die äussere Krisis herbeigeführt
und notwendig gemacht hat. Die Zerrüttung des Regiments,
das Darniederliegen des Gerichtes, die Ausbeutung der Schwa-
chen durch die Mächtigen sind die Schäden, die repariert wer-
den müssen. „Wie ist die ehrbare Stadt zur Hure geworden,
sie war voller Gericht, Gerechtigkeit wohnte in ihr — und nun
Mörder! Deine Fürsten sind Schurken und Diebesgesellen, alle
lieben sie Geschenk und jagen nach Bestechung, der Waise
schaffen sie nicht Recht, und einer Witwe Sache kommt nicht
vor sie. Darum spricht der Herr: o ich will mich letzen an
meinen Widersachern und an meinen Feinden mich rächen! und
will meine Hand gegen dich kehren, Sion, und wie mit Lauge
ausschmelzen deine Schlacken, und will deine Eichter machen
wie zuerst und deine Ratsleute wie zu Anfang; darnach wird
man dich eine gerechte ehrbare Stadt nennen. Sion wird durch
Gericht erlöst werden und ihre Einwohner durch Gerechtigkeit"
(1, 21—27). Immer hat der Prophet das vorhandene natürliche,
nie ein durch absonderliche Heiligkeit seiner Organisation aus-
gezeichnetes Gemeinwesen vor Augen. Das Reich Jahve's ist
ihm vollkommen identisch mit dem Reiche Davids; die Aufgaben,
die er an dasselbe stellt, sind politischer Natur, etwa solche wie
man sie gegenwärtig* an das Ttirkenreich stellen müsste. Von
Unterschied zwischen menschlichem und göttlichem Recht ist ihm
nichts bewusst; das Recht an sich, das eigentliche juristische
Recht, ist göttlich, die Autorität des Heiligen Israels steht
dahinter. „Jenes Tages wird Jahve Sebaoth eine wejte Krone
und ein herrliches Diadem sein für den Rest seines Volkes, und
ein Geist des Rechtes dem der da sitzet zu Gericht, und ein
Geist der Stärke denen die den Krieg über die Marken zurück-
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 441
treiben 44 (28, 5. 6). Jahve ist ein wirklicher voller König, darum
Gerechtigkeit seine Haupteigenschaft und seine Hauptforderung.
Und diese Gerechtigkeit ist lediglich ein forenser oder socialer
Begriff; die Gerechtigkeit der Bergpredigt kann erst an die
Reihe kommen, wenn die bürgerliche Rechtsordnung selbstver-
ständlich ist — was damals durchaus nicht der- Fall war.
Der Verweser Jahve's ist der menschliche König. Dem
himmlischen Herrscher steht der irdische so wenig im Wege,
dass er auch für das herrliche Reich der Zukunft nicht entbehrt
werden kann. „Dann herrschet nach dem Recht der König und
die Fürsten regieren nach Gerechtigkeit; jeder wird wie ein
Obdach vor dem Sturm, wie ein Schirm vor dem Wetter sein;
gleich Wasserbächen in der Dürre, wie Schatten eines wuchtigen
Felsen im lechzenden Lande 44 (32, 1. 2). Da der vorhandene
König gemeiniglich nicht genügt, so hofft Jesaia auf einen neuen,
der dem Vorbilde des alten David entspreche, den Messias.
,,Dann spriesst ein Reis aus Isafs Stumpfe und ein Keim er-
wächst aus seiner Wurzel, auf den wird Jahve's Geist sich
senken, ein Geist der Weisheit und Einsicht, ein Geist des Rats
und des Kriegsmutes, ein Geist der Furcht und Kenntnis Gottes:
sein Atmen geschieht in Jahve's Furcht. Nicht nach dem Schein
der Augen wird er richten und nicht nach Hörensagen ent-
scheiden; er wird mit Gerechtigkeit die Geringen richten und
mit Billigkeit bescheiden die Niederen im Lande, aber den
Frevler trifft er mit der Rute seines Mundes und mit dem Hauch
seiner Lippen tötet er den Schuldigen, so dass Gerechtigkeit
der Gurt seiner Lenden und Verlässigkeit der Gurt seiner Hüften
ist. Dann kehrt der Wolf beim Lamme ein und der Pardel la-
gert beim Böcklein, Kalb und Löwenkatze fressen zusammen,
ein kleiner Knabe hütet sie. Dann weidet Kuh und Bärin, *)
bei einander lagern ihre Jungen, und der Löwe frisst Stroh wie
das Rind; der Säugling streichelt der Natter Fühlhorn und nach
des Basilisken Leuchte streckt ein Entwöhnter die Hand: kein
Frevel geschieht und kein Unrecht auf meinem ganzen heiligen
Berge". 11, 1—9. Man glaubt gewöhnlich, es sei hier ein all-
gemeines goldenes Zeitalter auf Erden geweissagt, aber Jesaia
redet bloss von dem heiligen Berge als Schauplatz, worunter er
*) Lagarde's Emendation wird durch Isa. 65, 25 widerlegt.
442 Israel und das Judentum, Kap. 11.
die ganze Stadt Davids als Mittelpunkt seines Reiches versteht.
In Folge des gerechten und strengen Regiments des Davididen
küssen sich Gerechtigkeit und Treue, kein Mächtiger wagt den
Schwächeren zu beleidigen. Die Scheu vor der Strenge des
Rechts bewirkt allgemeines Vertrauen, das Lamm fürchtet sich
nicht vor dem Wolfe. Der Gegensatz zu diesem Ideal ist die
innere Rechtlosigkeit und Anarchie, nicht der äussere Krieg;
die Hoffnung richtet sich nicht auf internationalen Frieden, wie
sowohl aus v. 1 — 5 als auch aus v. 9 erhellt. Einfache Regenten-
tugenden sind es, die den Messias schmücken; das ist wiederum
bezeichnend für die Natur des Reiches, an dessen Spitze er
steht, für den Begriff der Theokratie.
Die anderen Propheten dieser Periode stimmen mit Jesaia
tiberein (Lament. 4, 20), nur Hosea bewährt auch hier seine
Eigentümlichkeit. Er scheint das Königtum als solches für ein
Übel anzusehen, in mehr als einer Äusserung setzt er es in
Gegensatz zur Herrschaft Jahve's. Aber man beachte, dass er
sein Urteil durchaus auf geschichtliche Erfahrung gründet. Im
Zehnstämmereich ward die oberste Gewalt immer wieder von
Usurpatoren angemasst: statt der Hort der Ordnung und des
Rechtes zu sein ward sie ein Spielball der Parteien, die Ursache
einer ewigen Aufregung. Eben dies nordisraelitische Königtum
hat Hosea vor Augen; und er bricht den Stab darüber aus keinem
anderen Grunde als weil es sich in den dreihundert Jahren sei-
nes Bestehens nicht erprobt hat und auch in der gegenwärtigen
Not sich nicht erprobt. Von einer apriorischen Theorie geht er
nicht aus, ein vor aller geschichtlichen Entwickelung gegebenes
Muster der theokratischen Verfassung legt er nicht als Mass an.
Ohne Zweifel hat auch er noch keine Ahnung davon, dass die
gottgewollte Form des Gemeinwesens am Sinai offenbart sei,
nicht nach den Umständen sich richte. 1 )
4. Auch in der späterhin so sehr beliebt gewordenen Form
des Bundes hat die Theokratie nicht seit Mose existiert. Das
Verhältnis Jahve's zu Israel war von Haus aus ein natürliches;
kein zum Nachdenken geeignetes Zwischen trennte ihn von sei-
nem Volke. Erst seitdem durch Syrer und Assyrer die Existenz
Israels bedroht wurde, hoben Propheten wie Elias und Arnos
die Gottheit hoch über das Volk hinaus, zerschnitten das nattir-
! ) Über David und das jüdische Reich spricht er sogar günstig, aber ich
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 443
liehe Band zwischen ihnen und setzten ein bedingtes und zwar
sittlich bedingtes Verhältnis an die Stelle. Zu oberst war ihnen
Jahve der Gott der Gerechtigkeit, Gott Israels erst in zweiter
Linie und nur insofern, als Israel seinen Gerech tigkeitsänsprüohen
entsprach die er ihm aus Gnade offenbart hatte: sie drehten die
hergebrachte^ Anordnung dieser beiden Eundamentalartikel des
Glaubens um. „Wenn eure Sünden wie Scharlach sind, sollen
sie dann für weiss gelten wie Schnee? wenn sie sich röten wie
Purpur, sollen sie dann wie Wolle sein? Wenn ihr folgt und
gehorcht, so werdet ihr das Gute des Landes gemessen; wenn
ihr euch aber weigert und widerstrebt, so mtisst ihr das Schwert
fressen, 1 ) denn der Mund Jahve's hat es gesagt." Dadurch nun
trat die Natur und der Inhalt der Bedingungen, die Jahve an
das Volk zu stellen hatte, in den Vordergrund der Betrachtung ;
die Thora Jahve's, die ursprünglich wie all sein Thun unter den
Begriff des Helfens, nämlich des Rechtschaffens, des Weg-
zeigens, der Lösung verwickelter Fragen, gefallen war, wurde
jetzt aufgefasst als der Inbegriff seiner Forderungen, von deren
Erfüllung seine Beziehung zu Israel alleine abhing. Sachlich
entstand auf diese Weise, aus nahe liegenden Voraussetzungen,
aber doch völlig neu, der Begriff des Bundes, d. i. des Vertrages.
Der Name Berith aber findet sich bei den alten Propheten noch
nicht, selbst nicht bei Hosea, der im Übrigen der Sache den
schärfsten Ausdruck verleiht, durch sein Bild von der Ehe
(Isa. 1, 21). Seine Unbekanntschaft mit dem technischen Sinne
von Berith wird durch 2, 20 und 6, 7 so schlagend dargethan,
dass sich darnach auch das Urteil über die (wahrscheinlich inter-
polierte) Stelle 8, 1 wird richten müssen.
Der Name Berith hat wahrscheinlich einen ganz anderen
Ausgangspunkt. Die alten Hebräer hatten für Gesetz keine an-
dere Vorstellung und keine andere Bezeichnung als die des
Vertrages. Ein Gesetz wurde nur dadurch rechtskräftig, dass
diejenigen denen es galt sich verpflichteten es zu halten. So
geschieht es Exod. 24, 3—8, so 2. Keg. 23, 1—3, so noch Jer.
34, 8ff. — merkwürdigerweise gerade so bei den Mekkanern
zur Zeit Muhammeds (Ibn Hischam S. 230ff.). Daher auch die
halte alle solche Bezugnahmen bei Hosea (wie bei Arnos) für Interpola-
tionen. In 1, 7 wird an die Bettung Jerusalems unter Hizkia gedacht,
>) Ibn Hischam 409,17.
444 Israel und das Judentum, Kap. 1 1 .
Bezeichnung Sepber Berith sowohl für das jehovistische als auch
für das deuteronomische Gesetzbuch.
Dieser Sprachgebrauch, Berith (d.i. Vertrag) für Gesetz,
Hess sich *nun sehr bequem der prophetischen Grundidee an-
passen und nach derselben deuten, wonach das Verhältnis
Jahve's zu Israel bedingt war durch die Forderungen seiner
Gerechtigkeit, deren Inhalt durch sein Wort und seine Weisung
expliciert wurde. Zufolge dessen wurden nun Jahve und Israel
die Contrahenten des Bundes, durch den ursprünglich die ver-
schiedenen Vertreter des Volkes unter einander sich verpflichtet
hatten zur Haltung z. B. des deuteronomischen Gesetzes. ') Seit
dem feierlichen und folgenschweren Akte, durch den Josia
dies Gesetz einführte, scheint die Idee der Bundschliessung
zwischen Jahve und Israel in den Mittelpunkt der religiösen
Reflexion gerückt zu sein; sie herrscht im Deuteronomium, bei
Jeremia, Ezechiel, in Isa. 40 — 66, Lev. 17—26, und am meisten
im Vierbundesbuche. Ohne Zweifel hat das babylonische Exil,
ebenso wie einst das assyrische, auch seinerseits Sazu beige-
tragen, dass man sich mit dem Gedanken der Bedingtheit und
der möglichen Lösung des Verhältnisses vertraut machte.
IL
1. Die Hütte Davids verfiel vollends, kein König ward ge-
boren, der sie wieder aufrichtete. Für das Reich kam keine
Krisis, sondern der Untergang. Das hatte die Wirkung, dass
die religiösen Hoffnungen, sofern sie festgehalten wurden, sich
nicht mehr in den Grenzen gegebener Grundlagen hielten, son-
dern nun einen freieren Flug nahmen und zumeist in's Unge-
messene schwärmten. Früher war es stets ein bereits im Hinter-
grunde drohender Feind, eine wirklich heranrückende Gefahr
gewesen, wodurch die Erwartung eines grossen, durch reichliche
Ansammlung von Zündstoff im Inneren längst vorbereiteten Bran-
des erregt wurde — seit dem Exil ward von einer allgemeinen
Vereinigung Gott weiss welcher Völker gegen das Neue Jeru-
salem phantasiert, zu der in Wirklichkeit durchaus kein Anlass
*) Diese Variation geschah um so leichter, als Berith z. B. auch von der
Kapitulation steht, deren Bedingungen der Stärkere auferlegt; eine
Gleichberechtigung der contrahierenden Teile lag durchaus nicht im Be-
griff der Berith. Vgl. die schwankende Vorstellung Jer. 34, 13. 18.
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 445
vorhanden war. *) Sonst war der nationale Staat, wie er unter
David bestanden hatte, das Ziel aller Wünsche; jetzt ward eine
universale Weltherrschaft in Gedanken aufgerichtet, welche über
den Trümmern der heidnischen Reiche sich in Jerusalem erheben
sollte. Die Prophetie verlor ihre geschichtliche Gebundenheit
und ihren geschichtlichen Halt.
Aber den excentrischen Hoffnungen, die man auf Jahve
setzte, ward auf der anderen Seite durch nüchterne und realisier-
bare Ziele, die im Zusammenhange damit den Menschen gestellt
wurden, die Wage gehalten. Denen die auf den Trost Israels
warteten, stellte damals die Situation praktische Aufgaben. Die
alten Propheten begnügten sich mit dem Aussprechen ihrer Ideen,
mit der Kritik der bestehenden Schäden; thatsächlich hatten sie
nichts zu sagen, die wirkliche Leitung des Volkes war in an-
deren Händen. Nachdem nun aber mit dem alten Gemeinwesen
auch seine Häupter gestürzt waren, konnten und mussten sich
die Frommen an die Spitze des neu zu schaffenden Israel stellen,
das sie seit lange erstrebten und woran sie auch jetzt noch den
Glauben festhielten. Ehedem war das Volk nicht so ernsthaft
bedroht gewesen, dass nicht sein Fortleben, trotz der durchzu-
machenden gefährlichen Krisis, als eine natürliche und selbst-
verständliche Sache hätte betrachtet werden können. Jetzt aber
war das nicht mehr selbstverständlich, die Gefahr lag sehr nahe,
dass die judäischen Exulanten, ebenso wie vor ihnen die sama-
rischen, absorbiert würden von den Heiden unter denen sie
lebten. Damit würden auch die messianischen Hoffnungen ihren
Ansatzpunkt verloren haben, denn mochte ihre Verwirklichung
noch so sehr Sache Jahve's sein, so mussten doch die Menschen
da -bleiben, an denen sie erfüllt werden sollten. Es kam also
alles darauf an, jetzt den heiligen Rest hinüberzuretten, ihn so
fest zu organisieren, dass er als Träger der Verheissung die
Stürme der Zwischenzeit tiberdauern konnte.
Aber das alte Gemeinwesen, sowie es früher gewesen war,
stand bei denen* die bei der Restauration massgebend waren, in
keinem guten Andenken, da sie ja dem verwerfenden Urteile
Jahve's, das er durch den Mund seiner Knechte und durch die
Geschichte ausgesprochen hatte, Recht geben mussten. Man
} ) Ezech. 38. 39. Isa. 66, 18—24. Jo. 4. Zach: 12. 14. "In Isa. 5, 26 dagegen
ist selbstverständlich ^ statt q^j zu lesen, der Singular statt des Plurals.
446 Israel und das Judentum, Kap. 11.
beherzigte die Äusserungen der Propheten, dass Festungen und
Rosse und Kriegsleute, dass Könige und Fürsten nicht hülfen,
und machte praktische Grundsätze daraus; man wollte Ernst
machen mit der alleinigen Herrschaft Jahve's. Dabei ward man
von den Umständen begünstigt: und das war die Hauptsache.
Denn nach Lage der Dinge war damals an die Wiedereinrich-
tung eines wirklichen Staates nicht zu denken; die Fremdherr-
schaft liess eine solche nicht zu (Esdr. 4, 19ff.). Woran sollte
man sich nun halten, woher die Mittel nehmen zu dem Notbau?
Die prophetischen Ideen langten nicht als Bausteine, ihnen ging
die praktische Verwendbarkeit ab. Da zeigte sich die Wichtig-
keit der Institutionen, der traditionellen Formen, für die Conser-
vierung auch des geistigen Gehalts der Religion.
Der judäische Reichstempel hatte früh die übrigen Heilig-
tümer überflügelt und ihnen im Lauf des siebenten Jahrhunderts
vollends die Luft geraubt. Unter dem Schatten des Königtumes
waren die Priester von Jerusalem gross geworden und hatten
zuletzt ihren Standesgenossen gegenüber eine ausschliesslich be-
rechtigte Stellung erlangt/ Je schwächer der Staat wurde, je
tiefer er seit Josia's Falle sank, desto höher stieg das Ansehen
des Tempels beim Volke, desto bedeutender und selbständiger
ward die Macht seiner zahlreichen Priesterschaft: wie viel fühl-
barer macht sie sich zu Jeremia's als zu Jesaia's Zeiten! Dem
entspricht ein unverkennbarer Aufschwung, den der Cultus im
siebenten Jahrhundert genommen hat, gefördert eher als ge-
hemmt durch die so übel beleumdete lange Regierung Manasse's.
Derselbe zeigt sich nicht bloss in der Einführung luxuriöseren
Materials, z. B. des Weihrauchs, sondern noch mehr in der Be-
vorzugung schwerer und bedeutsamer Leistungen, z. B. der
Kinder- und der Sühnopfer. Auch als die wüsten Greuel be-
seitigt wurden, blieb doch der blutige Ernst, mit dem man jetzt
die Ausübung des Gottesdienstes nahm.
So eng war der jerusalemische Cultus mit dem Bewusstsein
des jüdischen Volkes verwachsen, so fest hatte der Stand der
Priester sich consolidieft, dass nachdem das Reich zusammen-
gebrochen war, hier die Elemente sich erhielten zur Neubildung
einer „Gemeinde", wie sie den Umständen und den Bedürfnissen
entsprach. An dem in Trümmern liegenden Heiligtum richtete
sich die Gemeinde wieder auf (1. Reg. 8. Hagg» If. Zach. lff.).
Die Theökratie als Idee und als Anstalt. 447
Die Bräuche und Ordnungen wurden, wenn auch im Einzelnen
überall umgebildet, so doch im Ganzen nicht neu geschaffen;
das Schöpferische lag darin , ,dass sie zu einem System verbun-
den und als Mittel zur Herstellung einer Organisation „des
Bestes" verwandt wurden.
Ezechiel hat zuerst den Weg eingeschlagen, auf den die
Zeit wies. Er ist das Mittelglied zwischen Prophetie und Gesetz.
Er will Prophet sein, er geht in der That von prophetischen Ge-
danken aus: aber es sind nicht seine eigenen, sondern die seiner
Vorgänger, die er dogmatisiert. Von Natur ist er ein Priester,
und sein eigenstes Verdienst ist, dass er die Seele der Prophetie #
eingeschlossen hat in den Körper eines auf den Tempel und den fc
Cultus begründeten, unpolitischen Gemeinwesens. Die Kapitel
40—48 sind die wichtigsten seines Buches, welches von J. Orth
nicht unrichtig als der Schlüssel des Alten Testaments bezeichnet
worden ist.
Es entstand jenes künstliche Produkt, die heilige Verfassung
des Judentums. Ihr ausgeführtes Bild haben wir im Priester-
codex. J ) Der Unterschied, den man zwischen der mosaischen
Theökratie und der nachexilischen Hierokratie zu machen sich
anstrengt, ist zu fein. Theökratie als Verfassung ist Hierokratie.
Hat Mose eine solche Verfassung gestiftet, so hat er es als Pro-
phet gethan, im Hinblick auf Verhältnisse wie sie tausend Jahre
nach ihm eintraten (S. 170f. 284f.). Das alte Israel war noch
nicht zusammengeschrumpft auf eine religiöse Gemeinde; das
öffentliche Leben ging nicht auf im Dienste des Heiligen, der
Hohepriester und die Wohnung Jahve's war nicht das Centrum
um das sich alles drehte (S. 177 — 237). Das ist erst anders ge-
worden durch die Vernichtung der politischen Existenz zuerst
Samariens, dann Juda's. Dadurch ward das Volk „ein Reich
von Priestern und ein heiliges Volk 44 , wie Exod. 19,6 in einem
deuteronomistischen Stücke gesagt wird. Wenn früher die
Gottesherrschaft ein Glaube war, an dem die natürlichen Ord-
nungen der menschlichen Gesellschaft ihren Halt hatten, so ward
2 ) Die Hierokratie beruht keineswegs auf dem Priestercodex, er ward erst
eingeführt, nachdem jene faktisch schon bestand. Zunächst wird er ge-
wiss zu ihrer weiteren Befestigung und Legalisierung beigetragen haben.
Nachträglich hat das schriftliche Gesetz die Herrschaft der Priester
untergraben und das Heft den Schriftgelehrten und Pharisäern in die
Hände gespielt. — Vgl. übrigens die Parsi's, die Sabier, und S. 157 J ).
448 Israel und das Judentum, Kap. 11.
sie jetzt als Gottesstaat sichfbarlich dargestellt, in einer ihr
eigentümlichen künstlichen Sphäre, die das gewöhnliche Volks-
leben überstieg. Die Idee, die früher den natürlichen Körper
durchdrungen hatte, sollte jetzt, um recht eigentlich realisiert
zu werden, ihren eigenen heiligen Körper haben. Ein materieller,
äusserlicher Gegensatz von Heilig und Profan entstand und er-
füllte die Geister; man war bestrebt die Grenzen aufs schärfste
zu ziehen und das Naturgebiet immer weiter zurückzudrängen.
Die Heiligkeit ist bei Ezechiel, in Lev. 17 — 26, und im Priester-
codex das herrschende Ideal. Es ist ein in sich ziemlich leerer,
hauptsächlich antithetischer Begriff; ursprünglich gleichbedeu-
, tend mit göttlich wird er jetzt vorzugsweise im Sinne von geist-
lich, priesterlich angewandt, als sei das Göttliche dem Welt-
liehen, Natürlichen durch äusserliche Merkmale entgegengesetzt.
Die mosaische Theokratie, das Residuum eines untergegan-
genen Staates, ist selbst kein Staat, sondern ein unter ungün-
stigen Bedingungen durch eine ewig merkwürdige Energie ge-
schaffenes, unpolitisches Kunstprodukt; sie hat die Fremdherr-
schaft zur notwendigen Ergänzung. Sie ist ihrem Wesen nach
der altkatholischen Kirche nächstverwandt, deren Mutter sie in
der That gewesen ist. Ästhetisch anstössig mag es sein wenn
man von der jüdischen Kirche redet, historisch unrichtig ist es
nicht, und insofern wäre es am Ende vorzuziehen, als hinter dem
Namen Theokratie sich die Confusion verbergen kann.
2. In der mosaischen Theokratie scheint sich ein gewaltiger
Rückschritt vollzogen zu haben. Jahve's Gesetz bedeutet die
Eigentümlichkeit seines Volkes gegenüber den Heiden. Diese
lag nun in Wahrheit nicht im Cultus; es wäre vergebliche Mühe,
diese und jene Nuance der hebräischen und der griechischen
Riten zu einer principiellen Differenz aufzubauschen. Der Cultus
ist das heidnische Element in der israelitischen Religion — wo-
bei heidnisch durchaus nicht in einem unedlen und schlechten
Sinne genommen werden soll. Wenn er nun im Priestercodex
zur Hauptsache gemacht wird, so scheint das einem systema-
tischen Rückfall in das Heidentum gleichzukommen, welches die
Propheten unausgesetzt bekämpften und doch nicht entwurzeln
konnten. Man wird zugestehen können, dass bei der Con-
stituierung des Neuen Jerusalem die prophetischen Antriebe
durch eine vorhandene natürliche Richtung der Masse, auf die
Die Theokratie als Idee und als. Anstalt. 449
sie wirkten, umgebogen wurden. Aber tiberall spürt man doch
in dem gesetzlichen Gottesdienste auf das entschiedenste ihren
Einfluss. Wir haben gesehen, wie sehr derselbe tiberall die Ein-
wirkung der Centralisation erkennen lässt. Diese wird zwar
im Priestercodex nicht in Verbindung gesetzt mit der Bekämpfung
ungehörigen oder fremden Gottesdienstes, aber sie ist doch nur
als polemische Massregel zu begreifen ; und wenn sie als natur-
notwendiges Axiom betrachtet wird, so bedeutet das den voll-
kommensten Sieg prophetischer Forderungen auf einem Felde,
wo ihnen die schwersten Hindernisse entgegenstanden. Die
exclusive Monolatrie ist auf keine Weise dem Cultus angeboren,
sie lässt sich nur ableiten aus Rücksichten die seiner Natur
fremd sind, sie ist das Gegenbild des strengen Monotheismus.
Auch die bildlose Verehrung der Gottheit wird zwar nicht be-
sonders eingeschärft wie im Deuteronomium, ist aber von ganz
selbstverständlicher Geltung und ihrer selbst so sicher, dass sie
auch zweifelhafte und widerstrebende Elemente ohne Gefahr in
sich aufnimmt und assimiliert. Das goldene Ephod, gegen das
Jesaia eifert, ist zu einem bedeutungslosen Schmuck des Hohen-
priesters geworden; Talismane, die noch Ezechiel verbietet,
werden erlaubt (Num. 15, 37 — 41), aber sie dienen dazu, „dass
man sich erinnere aller Gebote Jahve's und sie thue und nicht
nachschweife seinem Herzen und seinen Augen, deren Gelüsten
man ehedem nachgehurt hat". Der krasse Götzendienst, von
dem sonst immer der Ausdruck rw gebraucht wird, steht schon
ausser Frage; das eigene Herz und sein ungebundenes Streben
ist der fremde Gott dessen Dienst verboten wird.
Man kann weiter gehen und sagen, dass der Cultus durch
die Cultusgesetzgebung seinem eigenen Wesen entfremdet, in
sich selber tiberwunden wurde. Bei den Festen zeigt sich das
am sichtbarlichsten. Sie haben ihre Beziehung zur Ernte und
zur Viehzucht verloren und sind zu historischen Erinnerungs-
feiern geworden; sie verleugnen ihre Herkunft aus der Natur
und feiern die Stiftung der übernatürlichen Religion und der
darauf bezüglichen Gnaden thaten Jahve's. Das allgemein Mensch-
liche, das Freiwüchsige geht davon, sie bekommen einen statu-
tarischen Charakter und eine specifisch israelitische Bedeutung.
Bei den Opfern steht es nicht anders. Sie ziehen nicht mehr
die Gottheit, bei allen wichtigen Anlässen, hinein ins irdische
Wellhausen, Prolegomena. 29
450 Israel und das Judentum, Kap. 11.
Leben, dass sie teilnehme an dessen Freuden und Nöten; es
sind keine menschlichen Versuche mit naiven Mitteln ihr
etwas zu gut zu thun und sie geneigt zu stimmen. Sie sind
der natürlichen Sphäre entrückt und zu göttlichen Gnaden-
mitteln geworden, die Jahve in Israel, als Sakramente der
Theokratie, eingesetzt hat. Man glaubt ihm nicht mit dem In-
halt der Gabe eine Freude und einen Genuss zu bereiten; was
ihm wohlgefällt und was Wirkung hat, ist nur die strikte Aus-
führung des Ritus. Genau nach Vorschrift müssen die Opfer
dargebracht werden, am richtigen Orte, zur richtigen Zeit, von
den richtigen Personen, in der richtigen Weise. Sie gründen
sich nicht auf den inneren Wert der Sache, auf den Antrieb
frischer Anlässe, sondern auf den positiven, alle Einzelheiten
ordnenden Befehl eines objektiven, unmotivierten Willens. Das
Band zwischen Cultus und Sinnlichkeit ist zerschnitten; die Ge-
fahr der Einmischung unlauterer, unsittlicher Elemente, die im
hebräischen Altertum stets vorhanden war, kann gar nicht mehr
aufkommen. Aus innerem Trieb erwächst der Cultus nicht mehr,
er ist eine Übung der Gottseligkeit geworden. Er hat keine
natürliche, sondern eine transcendente, unvergleichliche und
unangebbare Bedeutung; seine Hauptwirkung, die auch immer
sicher hervorgebracht wird, ist die Sühne. Denn seit dem Exil
ward das Sündenbewusstsein, welches durch die Verwerfung des
Volkes von Jahve's Angesicht hervorgebracht war, gewisser-
massen permanent; auch als der Frondienst erfüllt und der Zorn
eigentlich verraucht war, wollte es nicht weichen.
Wenn nun das Wertvolle bei den heiligen Darbringungen
nicht in ihnen selber, sondern in dem Gehorsam gegen Gottes
Vorschriften lag, so ward der Schwerpunkt des Cultus aus ihm
selber heraus und in ein fremdes Gebiet, das der Moral, hinein
verlegt. Die Folge war, dass die Opfer und Gaben zurücktraten
hinter ascetischen Leistungen, die mit der Moral in noch
engerer und einfacherer Verbindung standen. Vorschriften, die
ursprünglich grösstenteils behufs der Heiligung der Priester zu
ihren gottesdienstlichen Funktionen gegeben waren, wurden auf
die Laien ausgedehnt; die Beobachtung dieser Gebote der leib-
lichen Kernigkeit war von weit durchgreifenderer Wichtigkeit
im Judentum als der grosse öffentliche Cultus und führte auf
dem geradesten Wege dem theokratischen Ideal der Heiligkeit
Die Theokratie als Idee und als Anstalt. 451
und des allgemeinen Priestertumes zu. Das ganze Leben ward
in eine gewiesene heilige Bahn eingeengt, indem man dadurch,
dass es stets ein göttliches Gebot zu erfüllen gab, abgehalten
wurde Beinen eigenen Herzensgedanken und -gelüsten nachzu-
schweifen. Auf der anderen Seite wurde durch diesen kleinen,
immerdar in Anspruch nehmenden Privatcultus das Sündengefühl
des Einzelnen wach und rege gehalten.
Der grosse Patholog des Juden tumes hat ganz Recht: in
der mosaischen Theokratie ist der Cultus zu einem pädagogischen
Zuchtmittel geworden. Dem Herzen ist er entfremdet; wäre
er nicht alte Sitte gewesen, so würde er aus sich selber nie
mehr emporgebltiht sein. Er wurzelt nicht mehr in dem naiven
Sinn; ef ist ein totes Werk, trotz aller Wichtigkeit, ja gerade
wegen der Peinlichkeit und Gewissenhaftigkeit, womit er ge-
nommen wurde. Bei der Restauration des Judentums sind die
alten Bräuche zusammengeflickt zu einem neuen System, welches
aber nur als Form diente zur Aufbewahrung eines edleren In-
halts, der anders als in einer so engen, alle fremden Einflüsse
schroff abhaltenden Schale nicht hätte gerettet werden können.
Das Heidentum in Israel, gegen welches die Propheten verge-
bens protestierten, ist auf seinem eigenen Gebiete vom Gesetz
innerlich überwunden, und der Qultus, nachdem die Natur darin
ertötet worden, zu einem Panzer des supranaturalistischen Mono-
theismus gemacht.
Inhaltsübersicht
Einleitung. Ist das Gesetz Ausgangspunkt für die Geschichte des alten
Israels oder des Judentums? Letztere Möglichkeit wird durch die Geschichte
des Kanons nicht von vornherein abgeschnitten. Gründe sie in P>wägung zu
ziehen. De Wette, George, Vatke, Reuss, Graf (S. 1). Die drei Schichten des
Pentateuchs: Deuteronomium, Priestercodex, Jehovist (S. 6). Um den Priester-
codex und seine geschichtliche Stellung handelt es sich. Methode der Unter-
suchung (S. 10).
A. Geschichte des Cultus.
Kap. 1. Der Ort des Gottesdienstes. I. Die histor. und proph. Bücher
ergeben für das hebr. Altertum keine Spur von einem ausschliesslich berech-
tigten Heiligtume (S. 17). Die Polemik der Propheten gegen die Cultusstätten.
Der Fall Samariens. Josia's Reformation (S. 23). Einfluss des babyl. Exils
(S. 28). IL Der Jehovist (JE) sanktioniert die Vielheit der Altäre (S. 29). Das
Deuteronomium (D) fordert die lokale Einheit des Gottesdienstes (S. 33). Der
Priestercodex (RQ) setzt sie voraus und überträgt sie mittelst der Stiftshütte
in die Urzeit (S. 35). III. Die Stiftshütte als Centralheiligtum und Obdach der
Lade ist in der historischen Überlieferung nirgend aufzufinden (S. 40). Unnah-
barkeit der Ansicht Nöldeke's (S. 47).
Kap. 2. Die Opfer. I. Das Ritual ist nach RQ Hauptgegenstand der
mosaischen Gesetzgebung, nach JE vormosaischer Gebrauch; nach RQ kommt
es auf das Wie, nach JE und D auf das Wem an (S. 54). Mit JE stimmen
die histor. Bücher, gegen RQ zeugen die Propheten (S. 58) bis auf Ezechiel
(S. 62). IL Materielle Neuerungen von RQ. Vorbemerkungen über Begriff,
Inhalt, Applicierung, sühnende Wirkung der Opfer (S. 63). Materielle und
geistige Verfeinerung der Opfergaben in RQ (S. ßß). Das Mahlopfer tritt zurück
hinter dem Holokaustum (S. 72). Ausbildung der Sühnopfer (S. 75). III. Durch
die Centralisierung des Cultus in Jerusalem ist die Verbindung des Opfers mit
den natürlichen Anlässen des Lebens zerstört und es hat seinen ursprünglichen
Charakter verloren (S. 79).
Kap. 3. Die Feste. I. In JE und D herrscht ein Turnus von drei
Festen; Ostern und Pfingsten feiern den Anfang und das Ende des Saaten-
schnitts, das Herbstfest die Lese und das Einheimsen des Korns von der Tenne.
Inhaltsübersicht. 453
Mit dem Fest des Beginns der Mahd (Massoth) ist, besonders in D, das Fest
der Opferung, der männlichen Erstgeburten des Viehs (Pesah) verbunden (S. 85).
Die Feste basieren auf der Darbringung der Aparchen von den Früchten des
Feldes und der Heerde. Bedeutung des Landes und des Ackerbaues für die
Religion (S. 92). IL In den historischen und prophetischen Büchern ist nur
das Herbstfest deutlich bezeugt, das auch in JE und D das wichtigste ist; von
den übrigen finden sich nur schwache Spuren (S. 96). Aber die Natur der
Feste ist die gleiche wie in JE und D (S. 99). III. In RQ haben die Feste
ihre Beziehung zur Ernte und zu den Aparchen verloren und sind dadurch im
Wesen umgewandelt (S. 102). Die Metamorphose ist durch die Oentralisation
des Cultus bewirkt und lässt sich über Deuteronomium und Ezechiel zu RQ
hinab verfolgen (S. 108). Zu den drei Festen kommt in RQ der grosse Ver-
söhnungstag hinzu, entstanden aus den Festtagen des Exils. Änderung des
Jahresanfangs und der Monatsbezeichnung in RQ (S. 112). IV. Der Sabbath,
zusammenhängend mit dem Neumond, ist ursprünglich ein lunarischer Feier-
tag. Überspannung der Ruheforderung in RQ (S. 116). Sabbath- und Jobel-
jahr (S. 121).
Kap. 4. Die Priester und Leviten. I. Nach Ez. 44 sollen im Neuen
Jerusalem nur die Leviten von Jerusalem, die Söhne Sadoks, Priester bleiben,
die übrigen Leviten aber zu ihren Dienern degradiert und ihres Priesterrechts
entkleidet werden. Nach RQ haben die Leviten nie Priesterrecht gehabt, son-
dern immer nur die Söhne Aharons (S. 125), welche den Söhnen Sadoks ent-
sprechen (S. 129). IL In der ältesten Periode der Geschichte Israels findet
sich die Scheidung von Klerus und Laien nicht. Schlachten und opfern darf
ieder, Berufspriester fungieren nur an grösseren Heiligtümern. Priesterfamilien
zu Silo und zu Dan. Keine Absonderung des Heiligen, z. B. der Lade (S. 131)
Die Reichstempel der Könige, Priester daran als königl. Beamte (S. 136). Be-
deutung der nordisraelitisohen Priesterschaft in der Königszeit (S. 138). Die
Familie Sadok zu Jerusalem (S. 143). III. In dem ältesten Teile von JE kom-
men keine Priester vor, kein Aharon neben Mose (S. 145). In D sind die Le-
viten Priester. Als solche kommen sie, abgesehen von Jud. 18f., erst in der
exilischen Literatur vor. Ihre Abstammung von Mose oder Aharon. Der geist-
liche Stamm Levi und der weltliche Stamm Levi. Schwierigkeit sie zusammen-
zubringen (S. 146). Consolidierung des geistlichen Stammes in RQ; Scheidung
der Leviten und der Priester. Fortentwickelung des nachexilischen Klerus.
Der Hohepriester als das Haupt der Theokratie (S. 151).
Kap. 5. Die Ausstattung des Klerus. I. Die Opfergefälle werden in
RQ gesteigert (S. 159), die Aparchen werden Abgaben an die Priester und
dabei noch verdoppelt (S. 161). IL Levitenstädte (S. 165). Die historische
Situation, welche den Priesteransprüchen in RQ zu Grunde liegt (S. 171).
B« Geschichte der Tradition.
Kap. 6. Die Chronik. I. David wird ohne sein Zuthun der Nachfolger
Sauls, ganz Israel ist von vornherein auf seiner Seite, namentlich die Priester
und Leviten. Entstellung des urspr. Berichtes über die Überführung der Lade
454 Inhaltsübersicht.
nach Jerusalem. Auslassung der nicht erbaulichen Züge im Leben Davids
(S. 178). Vorbereitung des Tempelbaues. Schwelgen des Erzählers in Zahlen
und Namen, in geistlichen Zuthaten. Widerspruch gegen 1. Reg. 1. 2. Das
Bild Davids in der Chronik (S. 185). Salomo's Opfer bei der Stiftshütte zu
Gibeon. Der Tempelbau. Retouchierung des Originalberichtes (S. 189).
II. Beurteilung des Verhältnisses von Juda und Israel; die Israeliten gehören
nicht zum Tempel und also nicht zur Theokratie (S. 195). Levitische Ideali-
sierung Juda's. Auffassung der im Buche der Könige getadelten und der ge-
lobten Massnahmen der Herrscher im Tempelcultus. Conflikte mit der Erzäh-
lung der Quelle, Eintragung der Priester und Leviten (S. 198). Der göttliche
Pragmatismus der heiligen Geschichte und seine Ausgeburten (S. 211). Durch-
schimmern des Buches der Könige (S. 219). III. Die genealogischen Verzeich-
nisse von 1. Chr. 1—9. Die zehn Stämme (S. 219). Juda und Levi (S. 224).
Die Chronik hat für die vorexil. Zeit keine anderen Quellen zu benutzen ge-
habt als die auch uns im Kanon erhaltenen historischen Bücher. Die Ver
schiedenheit der historischen Gesamtanschauung erklärt sich aus dem Einfluss
des Gesetzes, bes. des Priestercodex. Der Midrasch (S. 231).
Kap. 7. Richter Samuelis und Könige. I. Schematische Bearbeitung
des Richterbuchs, chronologischer und religiöser Natur (S. 238). Verhältnis
derselben zum Stock der Oberlieferung. Jud. 19—21 (S. 242). Gelegentliche
Zusätze zu den ursprüngl. Erzählungen (S. 247). Geistige Abstufung der lezte-
ren (S. 250). II. Die chronologische und religiöse Schematik im Buche Sa-
muelis (S. 256). Durchgreifende Umgestaltung der Geschichten über die Ent-
stehung *des Königtums, über die Erhebung Sauls (S. 259). Sauls Verhältnis
zu Samuel (S. 268). Davids Jugendgeschichte. Samuels Auffassung ist der
Gradmesser für den Stand der Geschichte der Tradition. Saul und David
(S. 274). III. Die letzte religiös -chronologische Bearbeitung des Buches der
Könige. Ihre Gleichartigkeit mit der der beide t n früheren Bücher. Ihr
judäischer und zwar deuteronomistischer Standpunkt. Ihr Verhältnis zu dem
überlieferten Stoff (S. 285. 294). Unterschiede in der Haltung der Quellen
(S. 300). In der Chronik wird die Geschichte des alten Israel nach Massgabe
des Priestercodex umgedichtet, in den älteren historischen Büchern wird sie
nach der Norm des Deuteronomiums verurteilt S. 308).
Kap. 8. Die Erzählung des Hexateuchs. I. Genesis 1 und Gen. 2.
3 (S. 312). Gen. 4—11 (S. 325). Die Urgeschichte in JE und in in Q (S. 331).
IL Die Patriarchengeschichte in JE (S. 336) und in Q (S. 346. 356). III. Die
mosaische Geschichte in JE und Q (S. 362). Vergleichnng der einzelnen Er-
zählungen (S. 372). Schluss (S. 383).
C. Israel und das Judentum.
Kap. 9. Abschluss der Kritik des Gesetzes. I. Das Veto der kri-
tischen Analyse (S. 391). Die historischen Voraussetzungen des Deuteronomiums
(S. 392). Die deuteronomistische Redaktion erstreckt sich nicht über den
Priestercodex (S. 397). IL Die Endredaktion des Hexateuchs geht vom Priester-
codex aus, wie aus Lev. 17 ff. erhellt (S. 398). Untersuchung von Lev. 26
Inhaltsübersicht. 455
(S. 403). R lässt sich historisch nicht von RQ trennen (S. 408). III. Die
Sprache des Priestercodex (S. 409).
Kap. 10. Die mündliche und die schriftliche Thora. I. Kein
geschriebenes Gesetz im alten Israel. Über den Dekalog und das Goethe' sehe
Zwotafelgesetz (S. 416). Die Thora Jahve's im Munde der Priester und der
Propheten (S. 417). Auffassung der Offenbarung bei Jeremia, Zacharia, dem
Verfasser von Jes. 40 — 66 (S. 423). IL Das Deuteronomium war das erste
eigentliche Gesetz. Sein Durchdringen im Exil. Ende der Prophetie (S. 426).
Ergänzung der reformierenden durch die restaurierende Gesetzgebung. Codi-
fikation und Systematisierung der Cultusbräuche durch Ezechiel und seine
Nachfolger. Der Priestercodex. Eingeführt durch Ezra (S. 429). Die Thora
die Grundlage des Kanons. Erweiterung des ursprünglich an der Thora haften-
den Begriffes auf andere Bücher (S. 434).
Kap. 11. Die Theokratie als Idee und als Anstalt. I. Frische und
Natürlichkeit der alten israel. Geschichte (S. 436). Entstehung des Staates,
Beziehung .der Religion und der Gottheit auf das Leben des Staates und der
Nation (S. 437). Die messianische Theokratie der älteren Propheten, verlässt
nicht die in dem wirklichen Gemeinwesen der Gegenwart gegebenen Grund-
lagen (S. 439). Die Idee des Bundes (S. 443). IL Die Gründung der theokra-
tischen Verfassung unter der Fremdherrschaft (S. 444). Das Gesetz und die
Propheten (S. 448).
Berichtigungen.
3,20: über Saul statt von Saul. 3,28: der übrigen Literatur statt der
Literatur. 30, 34 : das mittlere Vau in dem hebräischen Worte del. 49, 20 :
2. Reg. 18, 22 statt 2. Reg. 22. 70, 19: in 2. Marc. 2,5 fehlt der goldene Tisch,
in Ant. XIV 4,4 der goldene Altar. 96,37: nicht dem heidnischen statt nicht
in dem heidnischen. 154,43: Vau statt Jod (Levi). 305,23: verwischt statt
vermischt. 336,9: eingetragen statt angetragen. 336,18: Tod statt Tot.
343,10: eingenommen statt angenommen. 364,26; seiner statt seine. 365,39.
40: Kap. 12— 26 statt 12—27, und Kap. 27 ff. statt 28ff. 390,8: des Wirk-
lichen statt der Wirklichen. 413, 20 : die beiden hebr. Worte sind umzustellen.
419,30: Schoosse statt Schlosse. 419,33: vorausgesetzt dass Märe Fremdwort
ist. 444,27: es ist natürlich kein Widerspruch hiegegen, dass nachdem das
Reich Jahve's zerstört und sein Land verwüstet war, der Bund das Band
wurde, woran das Volk sich hielt, nachdem der bisherige Grund unter seinen
Füssen gewichen war.
UNIVERSITYOF MICHIGAN
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