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Full text of "Arthur Levy. Die Philosophie Picos Della Mirandola. Ein Beitrag Zur Philosophie Der Frührenaissance, Diss., Berlin 1908"

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Die Philosophie Giovanni Picos della Mirandola. 

Ein Beitrag zur Philosophie der Frührenaissaace. 

(Einleitung. Kapitel I. Kapitel II Abschnitt C.) 


INAUGURALDISSERTATION 

ZUR 

ERLANGUNG DER DOKTORWÜRDE 
GENEHMIGT 

VON DER PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT 

DER 

FRIEDRICH-WILHELMS-UNIVERSITÄT 
ZU BERLIN. 


Von 

LhJ- 

Arthur-L®vy 

• / 

aus Berlin. 


/ 


v / S 


Tag der Promotion: 16. Mai 1908. 


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• • • 


Referenten: 

Prof. Dr. Friedrich Paulsen 
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Alois Riehl. 


Mit Genehmigung der hohen Fakultät kommt hier nur ein Teil der 
ganzen Arbeit zum Abdruck. 


Druck von Emil Ebering, Berlin NW., Mittelstrasse 2Q. 


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Inhaltsverzeichnis. 

(Der * kennzeichnet die hier nicht abgedruckten Abschnitte.) 
Einleitung. Die Hauptzüge der Philosophie 
P i co s. 

Kapitel 1. Der ontologische Charakter der 
Grundbegriffe. 

1) Das Wesen der Begriffe. 

2) Der menschliche Geist Und die Ideen. 

3) Das Verhältnis der Allgemeinbegriffe zu den 

transzendenten Ideen. 

4) Der Wahrheitsbegriff und seine metaphysische 

Grundlage. 

5) Picos Metaphysik. 

Ka p i t e 1 2. Die Theologie. 

*A) Die rationale Theologie. 

1) Die beiden Arten der Theologie. 

2) Die Hauptbestimmung der rationalen Theologie. 

3) Die Standpunkte der Immanenz und der Trans¬ 

zendenz. 

4) Das Erklärungsverfahren der rationalen Theo¬ 

logie. 

5) Die einzelnen Bestimmungen der rationalen Theo¬ 

logie. 

*B) Die negative oder mystische Theologie. 

1) Gott und Seine Attribute. 

2) Die Unerkennbarkeit Gottes. 

3) Gott und Welt. 

4) Der Bruch des Systems und die Modifikation 

der Gottesvorstellung. 


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• • 


— 4 — 

5) Historische Uebersicht über die Lehre von der 
Unerkennbarkeit Gottes. 

C) Das Verhältnis zwischen der rationalen und der 
negativen Theologie. 

1) Picos religiöse Gesinnung. 

2) Die Art des Gegensatzes zwischen der rationalen 

und der negativen Theologie. Die Differenz 
in der Begründung. 

a) Die rationale Begründung. 

b) Die gefühlsmässig-intuitive Begründung. Die 

intellektuelle Anschauung. 

3) Die Bedeutung der gefühlsmässigen Begründung 

für die Renaissance. 

4) Herkunft der gefühlsmässigen Begründung und 

ihr Auftreten in anderen Perioden. 

5) Die Folgen der gefühlsmässigen Begründung. 
*D) Die Lösung des Widerspruchs zwischen den beiden 

Arten der Gottesvorstellungen. 

1) Das logische Verhältnis zwischen Pantheismus 

und Theismus. 

2) Das psychologische Verhältnis zwischen Pan¬ 

theismus |und Theismus. Die Gottesvorstellung 
als Erlebnis. 

3) Die Welt als Symbol und als von Gott gesetzte 

Einheit. 

4) Die exoterische und die esoterische Philosophie. 

5) Die Naturauffassung der Renaissance. 

6) Die Geheimwissenschaften. 

7) Pico und Reuchlin. 

8) Die Identität der verschiedenen Philosophien und 

Lehren. 

9) Das mystische Grundgefühl und die allegorische 

Interpretation. 

‘Kapitel 3. Die Kosmologie. 

1) Der Charakter und der Gegenstand der Kos¬ 
mologie Picos. 


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2) Die Engelwelt. 

3) Die himmlische Welt. 

4) Die sublunarische oder irdische Welt. Die Ma¬ 

terie. 

5) Der Begriff der „prima materia“. 

6) Die Materie als das Prinzip des Bösen. 

7) Die Materie und die göttliche Grundkraft und 

Einheit. 

8) Die Herkunft der Kosmologie Picos. 
‘Kapitel 4. D i e A n th rop olo gi e und die Ethik. 

1) Der allgemeine Charakter der Anthropologie und 

Ethik Picos. Die Beziehung zwischen Anthro¬ 
pologie und Ethik. 

2) Der körperliche Mensch. 

3) Der geistige Mensch. 

4) Der Mensch als Mikrokosmos. 

5) Die Bedeutung des Menschen für den Kosmos. 

6) Die ästhetische Einheit. 

7) Das Verhältnis der ästhetischen zu der gött¬ 

lichen Einheit. 

8) Das sittliche Ideal und die Mittel zu seiner Er¬ 

reichung. 

a) Die intellektuelle Vorbereitung. 

a) Die Klassifikation und die Bedeutung der 
einzelnen Wissenschaften, 
ß) Die Reihenfolge der Wissenschaften. 

b) Die mystische Vorbereitung. 

c) Die niederen Tugenden. 

d) Die drei Arten der Liebe, 
a) Die sinnliche Liebe. 

ß) Die rationale Liebe. 

y) Die intellektuelle Gottesliebe. Die Errei¬ 
chung der Glückseligkeit. 

9) Das Verhältnis der Gottesliebe zu den anderen 

Gemütskräften. 


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10) Das Verhältnis der Mystik Pioos zu den anderen 

Formen der Mystik. 

11) Picos praktisches Verhalten. 

12) Der asketisch-pessimistische Zug in der Ethik 

Picos. 

a) Die innere Begründung. 

b) Die äussere Begründung. 

13) Die Mystik und die praktischen Aufgaben des 

Lebens. 

14) Die menschliche Freiheit. 

15) Pioos Stellung zur Kirche. 

16) Pico und die deutschen Reformatoren. 

17) Picos historische Fortwirkung. 


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Verzeichnis der fertiggestellten Werke Picos. 


1) Heptaplus, de Dei creatoris sex dierüm opere Gene¬ 
seos. 

2) Conclusiones nongentae. 

3) A p o 1 o g i a adversus eos qui aliquod propositiones Theo- 

logicas carpebant. 

4) De ente et uno opus, in quo plurimi loci, in Mose ! , 
in Platone et Aristotele explicantur. 

5) De hominis dignitate. 

6) Ad Christian,ae vitae institutionem regu- 

lae sive praeCepta quibius adiutus homo possit 
vincere mundum et tentationes. 

7) In Psalm um, Co ns er va me Dom ine, qui est 
XV, commentariuis. 

8) De Christi regno et vanitate huius inundi. 

9) Epistolarum über. 

10) De Astrologia disputationum Libri XII. 

11) Elegiae aliquot. 

12) Commento sopra una Canzona de amore. 

Die Zitate aus den Werken Picos beziehen sich auf 
die im Jahre 1557 in Basel erschienene Originalausgabe. 

Die Angaben „Einleitung Und „Uebersetzung“ beziehen 
sich “auf mein unter dem Namen Arthur Liebert erschienenes 
Buch: Giovanni Pico Deila Mirandola. Ausgewählte Schrif¬ 
ten. Einleitung und Uebersetzung. Jena und Leipzig 1905, 
Eugen Diederichs. 


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Einleitung. 


Die Hauptzüge der Philosophie Picos. 

So häufig auch des Namens Giovanni Picos, des 
Grafen von Mirandola und Concordia (1463—1494), in den 
grossen Darstellungen der Geschichte der Philosophie Er¬ 
wähnung getan wird, so ist Picos Philosophie doch erst 
einmal zum Gegenstand einer eingehenden Monographie 
gemacht worden. 1 Diese Untersuchung ist von Georg 
Dreydorff (Das System des Grafen Johannes Pico, Grafen 
von Mirandola und Concordia, Marburg 1858) in überaus 
sorgsamer und genauer Weise geführt worden. Die vor¬ 
liegende neue Monographie will nun, abgesehen von der 
selbständigen Quellenforschung und der daran sich an¬ 
schliessenden Darstellung, jene ihrer Entstehung nach etwas 
zurückliegende Arbeit in mehreren wichtigen Punkten er¬ 
gänzen. 

In erster Linie handelt es sich darum, den logischen 
Geltungswert, der den Grundbegriffen und den Grundprin¬ 
zipien in jener Philosophie zugesprochen wird, genauer zu 
untersuchen, um einen Einblick in die innere Struktur und 
in die geschichtliche Dependenz jener Bestimmungen zu 
gewinnen. Sodann wird der Versuch unternommen, die 
Philosophie Picos unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung 
für ihre Zeit zu betrachten, also ihre kultur- und zeitge¬ 
schichtliche Bedeutung hervorzuheben. Diese Philosophie er- 


i. Den Lebens- und Entwicklungsgang Picos habe ich in meinem 
Seite 7 genannten Buche ausführlich geschildert. 


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scheint von hier aus geradezu als der typische Ausdruck 
für jene intellektuellen Interessen, welche die geistig so 
angeregten und beweglichen Kreise der Humanisten am 
Hofe der Mediceer in den letzten 4 Dezennien des Quattro¬ 
cento bewegten. Sie birgt alle die zahlreichen Gedanken¬ 
richtungen jener Zeit in einer nur lose zusammengefügten 
Vereinigung in sich. Ferner aber gilt es, die Entstehung 
dieser Gedanken aus ihren historischen Voraussetzungen, 
heraus begreiflich zu machen. Zu diesen Voraussetzungen 
gehört, was so häufig übersehen wird, die Scholastik nicht 
minder als der Neuplatonismus. Gewiss war die von G e - 
orgios Gemistos PI et hon (1355—1450) und von dem 
Kardinal Bes sarion (1403—1472) ins Werk gesetzte Re¬ 
naissance der neuplatonischen Spekulation und Mystik von 
ausserordentlichem Einfluss auf den Geist der Frührenais- 
sänce, und Picos Denken lässt diese Einwirkung am we¬ 
nigsten vermissen. Gewiss gewann die neuplatonische Welle, 
die ja, wie viele Züge in den Spekulationen des h. Au¬ 
gustinus beweisen, 2 auch in den Jahrhunderten des Mittel¬ 
alters nicht ganz und gar im Sande verlaufen war, jetzt 
erst ihre volle Ausdehnung; und ihre mystisch-intuitiven Ele¬ 
mente begannen, im Widerstreit mit der rationalistisch ge¬ 
sinnten Scholastik, dem Verstände seine alte Befugnis streitig 
zu machen, für die Dogmen der Theologie eine wissen¬ 
schaftliche, theoretische Begründung zu liefern. Daneben 
aber wirkte auch die Scholastik weiter *und hielt gar manchen 
dieser Humanisten wider Wissen und Wollen noch in ihren 
Banden. „Die Stimmführer unter den Philosophen der Re¬ 
naissance — von Laurentius Valla und Marsiliits Ficinus 
an bis herab zu Petrus Ramus und Giordano Bruno — 
eifern gegen die Formlosigkeit, die Begriffsverwirrung Und 
Unfruchtbarkeit der mittelalterlichen Philosophie,“ bemerkt 


2. Rud. Eucken, Gesch. der philosophischen Terminologie 
1879 S. 58ff. Fr. Paulsen, Einl. in die Philosophie 5 (1898) S. 298f. 


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Freuidenthal, „aber sie selbst sind nicht frei von den Fesseln, 
deren zu Spotten sie nicht müde werden .“ 3 Im scharfen Gegen¬ 
satz zu vielen Vertretern dieser humanistisch-philosophischen 
Kreise, die ihren Abstand von der mittelalterlichen Kultur, 
die den Grad der Befreiung von den Grundgedanken und 
Spekulationen der kirchlichen Philosophie gewaltig über¬ 
schätzten und zu Gunsten ihrer sehr eingeschränkten Hin¬ 
gabe an die antike Kultur und an die griechische Philosophie 
viel 1 zu weit in den Schatten rückten, erkannte Pico mit 
feinem Verständnis seine Abhängigkeit von der Scholastik, 
wie er überhaupt ein Bewusstsein der historischen Ge¬ 
schlossenheit der geistigen Entwicklung besass. Ein um¬ 
fangreicher Brief an seinen Freund Hermolao Barbaro 
legt dafür ein bemerkenswertes Zeugnis ab . 4 Somit ist das 
Urteil eines älteren Historikers, J. G. Buhl es, über Pieos 
Verhältnis zur Scholastik zu berichtigen. „Die Scholastik 
war ihm verächtlich, und er bereute oft die Zeit, welche 
er ihr gewidmet hatte .“ 5 Wiederholt und nachdrücklich be¬ 
kannte Pico, nicht aujsSchliesslich ein Zögling der Antike 
zu sein, sondern wesentliche Anregungen jener Richtung 
zu verdanken, über Welche die Humanisten so gern mit einem 
verächtlichen Blick hinweg !zu sehen pflegten. Selbst in 
der sprachlichen Form Schloss er sich der Scholastik an 
und verwandte für bestimmte wissenschaftliche Zwecke ab¬ 
sichtlich die „norma dicendi parisiensis .“ 6 

Noch nach einer länderen Seite hin tragen Picos' Ge¬ 
danken ein typisches Gepräge. Neben der Bedeutung näm- 


3. J. Freudenthal, Spinoza und d. Scholastik. In d. philos. 
Aufsätzen zu Zellers sojähr. Doktorjubiläum 1887 S. 86. 

4. Uebers. S. 66ff. 

5. Joh. Gottl. Buhle, Gesch. d. neuer. Phil, seit d. Epoche d. 
Wiederherstellung d. Wissensch. II (1800) S. 381 f. und ähnlich 
S. 401 . 

6. Einl. S. 34 f. 


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lieh, welche der Beschäftigung mit der klassisch-neuplato¬ 
nischen und der mittelalterlich-scholastischen Philosophie ! 
innewohnte, machte sich noch der Einfluss eines Wissens- I 
gebietes, welches damals neu in den geistigen Gesichtskreis 
eintrat, geltend. Das waren die jüdisch-kabbalistischen Speku¬ 
lationen nebst dem ganzen Apparat ihrer Geheimwissenscha-f 
ten. Auf diesem Gebiete, dem Pico ein langjähriges und 
energisches Studium widmete, bewährte er sich, wie des 
Genaueren nachgewiesen wird, geradezu als Bahnbrecher, j 
Erwägt man den Charakter dieser vielfältigen, einander i 
heterogenen Quellen, die Picos Gedanken speisten, so er¬ 
scheint es natürlich, dass diese keine harmonische Struktur 
und sachliche Uebereinstimmung aufweisen. Mit seiner bei¬ 
nahe sklavisch bereitwilligen Aufnahme einander entgegen¬ 
gesetzter Denkrichtungen teilte Pico aber den eklekti- 
zistischen oder, mit einer damals entstandenen Bezeich¬ 
nung, synkretistisehen 7 Zugseiner Zeit. Von diesem 
Gesichtspunkte aus wurde izuerst in der Geschichtsschreibung 
der Philosophie die Spekulation Picos betrachtet und ge¬ 
wertet und, wie es nicht anders zu erwarten steht, wenn 
man lediglich auf die zahlreichen, auf der inneren Diskrepanz 
der verarbeiteten Gedanken beruhenden Widersprüche 
achtet, verurteilt. Nach J acob Brücker sind Picos Schrif¬ 
ten angefüllt mit einem widerlichen Synkretismus. „Idem 
in philosophia, quam secutus est, Platonica praestitit: Syn- 
cretismo enim pestilenti, quam recentiores Platonici intro- 
duxerunt, et Graeci exules in Cosmi domum et ad ipsum 
quoque Ficinum perduxerant, oorreptus, et lepido seductus 
praeiudicio, veram et divinam philosophiam platonismum 
exhibere, Platonicorum placita Mosi aliisque viris sanctis 
tribuit, et ut semel complectamur, inepte miscet omnia, et 
CabalistiCa, Phytagorica, Platonica, Aristotelica, Judaica, 


7. Otto Willmann, Gesch. d. Idealismus IV (1897) §86 S. 19. 


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Christiana inter se misere confundit. 8 Wenn idTfese Ent¬ 
scheidung lediglich die tatsächliche, historische Gestalt der 
Philosophie Picos charakterisieren wollte, so wäre gegen sie 
nicht viel einzuwenden. Der Vorwurf des Eklektizismus 
scheint jedoch noch weiter zu gehen und nicht nur auf den 
unorgineilen und unsystematischen Charakter der Philoso¬ 
phie Picos hinzuizielen, sondern überdies das Urteil ihrer 
historischen Wirkungslosigkeit einzuschliessen, eine Meinung, 
bei der auch Dreydorff im wesentlichen stehen bleibt. So 
hätten wir in Picos Werken nichts Weiter als den missglückten 
Versuch einer Sammlung der wissenschaftlichen und philo¬ 
sophischen Erkenntnisse der Vergangenheit zu erblicken, 
der mit dieser selbst seine Geltung eingebüsSt habe. Und 
Pico selbst wäre der Schär jener mittelalterlichen Philosophen 
beizuzählen, die für uns nur noch das Ansehen und den 
Reiz historischer Kuriositäten besitzen. Die vorliegende Un¬ 
tersuchung will nun jenen Vorwurf keineswegs in seinem 
vollen Umfange zu entkräftigen suchen. Gewiss birgt Picos 
Philosophie genug des Mittelalterlichen und obsolet Ge¬ 
wordenen. Dies sind vorzugsweise jene Elemente, welche 
dem Bestände der kirchlichen Philosophie angehören. Da¬ 
neben aber finden sich, teils leise und zaghaft angedeutet, 
teils klar ausgesprochen, fruchtbare und wertvolle Keime, 
welche in die Folgezeit übergegangen und von dieser nach 
mancher Richtung hin aus- und fortgebildet wurden. Die 
deutliche Hervorhebung dieser Momente bildet eine weitere 
Hauptaufgabe meiner Arbeit. 

Welches ist dieser wertvolle und zu historischer Bedeu¬ 
tung gelangte Grundgedanke? Er besteht in der dyna- 
misch-pantheistischen oder emanatistischen 
Theorie der Welterklärung. Wohl ist Pico nicht der Schöpfer 


8. Jak. Brücker, historia critica philosophiae IV (1743) S. 
597f. Brückers Urteil schliesst sich an: Dietr. Tiedemann, Geist d. 
spekulativen Philos. V (1796) S„ 328f. 


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dieses Gedankens. Er hat ihn neben vielen anderen Ueber- 
zeugungen dem Neuplatonismus, dessen mystischer Grund¬ 
stimmung sich Pico wesensverwandt fühlte, entnommen. Auf 
Schritt und Tritt ist der Einfluss der neuplatonischen Meta¬ 
physik auf ihn spürbar. Er kennt ganz genau alle ihre Ver¬ 
treter, von Plotin an, dessen Bekanntschaft er hauptsäch¬ 
lich durch die epochemachende Uebersetzung seines Freun¬ 
des und Studiengenossen Marsilio Ficino gewonnen 
hatte, bis herab auf den Pseudoareopagiten Diony- 
!sios, dessen Lehre denselben tiefen Eindruck auf ihn wie 
sechshundert Jahre vor ihm auf Johannes Scotus Eriu- 
gena gemacht hatte. Gewiss ist Pico ein nie zum Meister 
aufgerückter Schüler des Neuplatonismus gewesen. Ver¬ 
gleicht man auf Grund von Arthur Drews schönem Werk 
über Plotin 9 dessen Gedanken mit denen unseres Philo¬ 
sophen, so begegnet man zahllosen Ausführungen, die dieser 
fast ohne Umbildung übernommen hat. Andererseits gewinnt 
Pico doch ein höheres Interesse, insofern als auch aus der 
Tiefe seiner Seele und seines Erlebens heraus gewisse ewige, 
metaphysische Gedanken zum Leben erwachen, Gedanken 
und Phantasien, deren Realität und Geltung nicht an das 
Dasein des Individuums geknüpft sind, die aber doch durch 
den Einzelnen vermittelt und weitergetragen werden. In¬ 
dem diese Gedanken hier ans Licht gestellt werden, will 
diese historische Einzeluntersuchung einem philosophischen 
Interesse dienen. Sie will die innere Verkettung eines Spe¬ 
zialsystems mit dem übergreifenden Denksystem aufzeigen, 
an dem alle Zeiten und alle Völker mit verschiedener In¬ 
tensität und Begabung und ungleichen Erfolgen gearbeitet 
haben, arbeiten und arbeiten werden und zu dem der Ein¬ 
zelfall einen bestimmten systematischen Bestandteil hinzui- 

9. Arthur Drews, Plotin und der Untergang der antiken Welt¬ 
anschauung Jena 1907. 


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trägt. 10 Auf diese Weise liefert sie einen Beitrag zur Er¬ 
kenntnis' der lückenlosen Kontinuität der philosophischen 
G eisteS e nt w i cklung. 


io. W. Windelband, Gesch. d. Philos. im 2. Hefte der Fest 
Schrift für Kuno Fischer 1905 S. 191. 


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Kapitel 1. 

Der ontologische Charakter der Grundbegriffe. 

1) Das Wesen der Begriffe. 

Vor der Darlegung der einzelnen Bestimmungen in den 
Spekulationen Picos ist es zweckmässig, denjenigen allge¬ 
meinen Gesichtspunkt anzugeben, unter den Picos Ontologie 
und Metaphysik und im besonderen seine Theologie ge¬ 
stellt sind. Es handelt sich also um die Entscheidung der 
Frage: in welchem Sinne werden von unserem Philosophen 
die Allgemeinbegriffe, mit denen er operiert, gebraucht? 
Diese Frage zielt hin auf die Diskussion über das Wesen 
der Allgemeinbegriffe, wie sie der mittelalterliche Univer¬ 
salienstreit hervorgerufen hatte. Allerdings war der Höhe¬ 
punkt dieses Streites zu Picos Zeiten längst überschritten und 
das starke Interesse, mit welchem jahrhundertelang die 
Denker der Bestimmung der Realität und Existenzweise der 
Gattungsbegriffe sich gewidmet hatten, war verblichen. Doch 
trotz des teilweisen Durchdringens der nominalistischen An¬ 
schauung war das Problem keineswegs zum endgiltigen Ab¬ 
schluss gebracht oder wirklich beseitigt. 1 Und wie die mittel¬ 
alterlichen Anhänger der platonischen Philosophie die rea- 

i. Ja Windelband behauptet: „Das Problem kann auch jetzt 
gerade auf dem heutigen Stande der Wissenschatt nicht als endgültig 
gelöst angesehen werden.“ — „Denn noch immer weiss man nicht 
mit voller Sicherheit und Wahrheit anzugeben, worin die metaphy¬ 
sische Wirklichkeit und Wirksamkeit dessen besteht, was wir ein 
Naturgesetz nennen“. Lehrbuch d. Philos. (1903) S. 246. Anmerk. 


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listische Auffassung der Gattungsbegriffe und Ideen ver¬ 
traten — hier ist an erster Stelle Heinrich von Gent, 
(1217(?)—1293), der „doctor solemnis“, zu 1 nennen, auf den 
sich Pioo wiederholt beruft 2 und der unserem Philosophen 
die wohlberechtigte Zuweisung zur Reihe der platonisieren- 
<len Scholastiker des 13. Jahrhunderts verdankt 3 — so bleiben 
auch ihre Nachfolger, die Platoniker der Renaissancezeit, 
an ihrer Spitze Pico, jenem Standpunkte treu. 

Ich versuche nun die Entscheidung, dass Pico den Stand¬ 
punkt des gemässigten Realismus vertrete, näher zu 
begründen. Hinzuzufügen ist aber, dass eine Theorie über 
die Entstehung Und den Geltungswert der empirischen 
Begriffe ganz und gar ausser Betracht bleibt. Es handelt sich 
lediglich um die Erörterung der in den spekulativen Wissen¬ 
schaften gebrauchten, auf die höchsten Erkenntnisdinge sich 
beziehenden .Begriffe. . 

Mit Sigwart 4 möchte ich eine dreifache Bedeutung 
des Wortes „Begriff“ unterscheiden: eine empirisch-psy¬ 
chologische, eine metaphysisch-ideale und eine logische. 
„Einerseits bezeichnet es ein natürliches psychologisches Er¬ 
zeugnis, und ist das einfache innere Correlat des Wortes, 

2 . Apologia S. ISS, * 5 ^» 1 58 - 

3. Vgl. Ueberweg-Heinze, Grundriss II (1898) S. 299. Für 
die Kenntniss der strengen Geschlossenheit, die überall im geschichtl. 
Leben und besonders im geistig-geschichtl. vorhanden ist, ist es wichtig, 
dassHeinrich v. Gent, der für manchen Punkt Picos philosophischen Ge¬ 
währsmann darstellt, seinerseits wieder in seiner realistischen Auffas¬ 
sung sich sehr stark mit Joh. Scotus Eriugena berührt. Vgl. Xavier 
Rousselot, Etudes sur la Philosophie dans le Moyen-äge Paris 1841 
II S. 309 f.; B. Haur6au, De la philosophie scolastique Paris 1850 
II S. 263 ff. bes. 265 f. Andererseits erfährt Heinr. v. Gent von 
Joh. Duns Scotus, dem Verfechter des Nominalismus, zahllose An¬ 
griffe. Vgl. Karl Werner, die Scholastik d. späteren Mittelalters I: 
Joh. Duns Scotus, Wien 1888 1 S. 44 Anm.; io3ff., 109f., 127, 302, 
335 f- u. a. a. O. 

4. Chr. Sigwart, Logik I (1904) S. 324 fr. 


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wie es im gewöhnlichen natürlichen Sprechen gebraucht 
wird.“ (S. 325.) 

-„Dieser empirischen Bedeutung steht eine ideale 

gegenüber, wonach der Begriff den Zielpunkt unseres Er- 
kenntnisstrebens insofern bezeichnet, als in ihm ein adae- 
quates Abbild der Dinge gesucht und gefordert wird, dass, 
wer den Begriff einer Sache habe, sie dadurch in ihre|m 
innersten Kerne durchschaue, sie begreife, d. h. ihre einzelnen 
Bestimmungen als notwendige Folge ihres einheitlichen 
Wesens in ihrem Zusammenhang einsehe. In diesem Sinne 
redet man wohl von der Wahrheit unserer Begriffe; sie 
sind wahr, wenn sie in sich der erschöpfende Ausdruck 
des Wesens der Dinge sind. Der wahre Gottesbegriff wäre 
derjenige, der in seinen Bestimmungen das reale Wese« 
Gottes nach allen Seiten als Gedachtes enthielte.“ (S. 325 f.) 

. . . „Zwischen jener empirischen und dieser metaphysischen 
Bedeutung des Wortes liegt die logische, welche durch die 
Forderung bestimmt ist, dass unsere Urteile gewiss und 
allgemeingültig seien.“ (S. 326.) 

Wenn wir nun an der Hand dieses Schemas unsere 
Frage zu entscheiden suchen, so werden wir finden, dass 
(sich Pico zur realistisch-metaphysischen Auf¬ 
fassung der Begriffe bekannte. Zwar erfolgte nicht eine 
eigentliche, logisch-erkenntniskritische Reflexion über das 
Wesen der begrifflichen Aussage. Diese Reflexion hätte 
auch von Pioo vorgenommen werden können. Denn die 
'wichtige Stelle in der Einleitung des Porphyrius zu 
der aristotelischen Schrift „de Categoriis“, welche der Aus¬ 
gangspunkt der berühhiten Kontroversen über den Seins¬ 
wert der Universalien abgab, konnte unserem Philosophen 
nicht unbekannt geblieben sein. War er doch, wie bereits 
erwähnt, mit der historischen Tradition wie kaum ein 
Zweiter zu seiner Zeit vertraut. So hätte er auch Porphyrius 
eingehend studiert. Er spricht von ihm wiederholt Und mit 
Anerkennung. 5 Jene Stelle selbst aber, welche die Frage 


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nadh der Seinsweise der Begriffe: genus, differentia, species, 
proprium und accidens aufwirft, lautet in der Uebersetzung 
des von Pico gut gekannten Boethius: subsistant sive in 
solis nudis intellectibus posita sint, sive subsistentia corpo- 
ralia an incorporalia, et utrum separata a sensibilibus an 
insensibilibus posita et circa haec consistentia. 5 6 Dass aber 
der langjährige und hingebend fleissige ScnüJer der aristo¬ 
telisch-scholastischen Philosophie, 7 der Zögling der Univer¬ 
sitäten Padua Und vor allem Paris 8 Kenntnis von den Dispu¬ 
tationen über das Wesen der Gattungsbegriffe besessen habe, 
ist selbstverständlich. 

Der Grund, weshalb in Picos Schriften keine ausdrück¬ 
liche Stellungnahme zu jenem Probleme anzi’treffen ist, ob¬ 
wohl der eingenommene Standpunkt darum nicht undeutlich 
bleibt, ist leicht zu nennen. 

Picos mystisch-platonischer Denkweise steht von vorn¬ 
herein die metaphysische Geltung und onto¬ 
logische Bedeutung der Begriffe als der in dem Geiste 
Gottes gesetzten Gedankendinge fest. Nur einmal nähert 
sich Pico der konzeptualistischen, ja sogar der nominalisti- 
schen Anschauung. An dieser Stelle ist ihm der Begriff der 

5. Heptaplus S. 43. De hominis dignitate S. 325: in Por- 
phyrio rerum copia et multivaga religione delectaberis. 

6. Boethius, lateinische Uebersetzung der „Isagoge“ des Por- 
phyrius (Basel 1570) I S. 53. 

7. Epp. S. 352: enim sexennium apud illos (sc. die Scholastiker 
wie Thomas, Johannes Scotus!, Albertus, Averroes) versor. — — 
Dann in der Biographie des Neffen Giovanni Francesco S. if: cum 
humanae tum divinae se penitus dedidit cuius enanciscendae gratia 
non tantum Italiae, sed et Galliarum literaria gymnasia perlustrat 
celebres doctores tempestatis illius, more Platonis et Apollonii scru- 
pulosissime perquirebat operam adeo indefessam studiis illis impen- 
dens ut consumatus simul et Theologus simul et Philosophus im- 
berbis adhuc et esset et haberetur. 

8. Vgl. Einleitung S. 19 u. 32 f. 


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sprachlichen Bezeichnung aequivalent, der „conceptus“ ein 
„nomen“. Er gründet sich nicht (auf die Natur der Dinge oder 
auf ein metaphysisches Urbild, das, im platonischen Sinne, 
die letzte, unbedingte Voraussetzung, die vTtö&eots, die Idee, 
die Grund- und Urgestalt für das Auftreten und für die 
Realität der Dinge abgäbe. Sondern nadt dieser Stelle soll 
die Namengebung und Begriffsbezeichnung ganz und gar 
ein Akt der Willkür sein. 9 Die Beziehung zwischen Wort 
und Begriff ist nur äusserlich, durch gewohnheitsmässige 
Bestimmung, Platon würde sagen: d-iaei, zu erklären. 

Dieser offenbare Widerspruch gegen seine Grundüber¬ 
zeugungen darf bei einem Philosophen nicht Wunder nehmen, 
dessen Geistesarbeit zum guten Teil auf ein möglichst weit¬ 
gehendes Zusammenscharren fast aller in der Geschichte 
der Philosophie aufgetretenen Ansichten gerichtet ist und 


9. Epp. S. 356. Aut enim nomina rerum arbitrio constant aut 
natura. Si fortuito positu, ut scilicet communione hominum in ean- 
dem sententiam conveniente, quo sanxerint unum quodque nomine 
appellari, ita apud eos recte appelletur. — haec impositio nominum 
tota est arbitraria. — Diese Stelle stützt sich völlig auf die Aus¬ 
führungen des Hermogenes in dem plat. Dialoge „Kratylos“ (384C ff. 
U.433E). An einem anderen Orte verlässt Pico seinen Standpunkt, 
um den des Kratylos und Sokrates sich anzueignen, nach dem die 
Wörter, uw/tora, auf die Natur der Dinge, die sie benennen, sich 
stützen müssen, um richtig zu sein. Ueberhaupt bietet Platos „Kra¬ 
tylos“, der mit Benfeys Ausdruck an der Spitze der europäischen 
Sprachwissenschaft steht, für Picos sprachphilosophische Anschau¬ 
ungen die entscheidende Grundlage (Theo. Benfey, Ueber d. Auf¬ 
gabe des platonischen Dialogs Cratylus. Nachr. v. d. Königl. Ge¬ 
sellschaft d. Wissensch. und der G. A. Universität zu Göttingen 7. 
März 1866 No. 8 S. 114). — Gegen Picos angeführte Stelle richtet 
sich eine Bemerkung Melanchthons in einem fingierten Briefe aus dem 
Jahre 1558, Corpus Reformatorum ed. Bretschneider (Halle 1842) 
IX. S. 698. Quid audio? Si hoc semper licet (sc. ut vocabula non 
natura constent, sed hominum arbitrio), quomodo contrahent inter 
se homines? Quomodo docere alii alios potuerunt? 


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der, in seiner oben gekennzeichneten Weise, die 1 Frage nach 
der inneren Zusammengehörigkeit Und Einheitlichkeit dieser 
Ansichten und die erforderliche Begründung für die Berechti¬ 
gung einer solchen Vereinigung in recht äusserlicher Form 
aufnimmt und durchführt. 

So müssen wir von dieser Inkonsequenz absehen. Und 
zu ihrer Ausserachtlassung liegt schön darum ein Recht 
vor, weil die hier von Pico vertretene Theorie der Namen¬ 
gebung viel mehr auf Grund einer momentanen, privaten 
Polemik gegen gewisse Auslassungen des Empfängers des 
zitierten Briefes, Hermolao Barbaro, als durch systematische 
Erwägungen hervorgerufen ist. 10 

Prinzipiell kennt Picos Metaphysik so wenig wie die 
der Neuplatoniker abstrakte Ideen im eigentlich logischen 
Verstände, d. h. allgemeine oberste Begriffe als bloss sub¬ 
jektive Denksetzungen, als intellektuelle Funktionen. Schon 
ein Blick in die Schriften De ente et uno und Hep 1 - 
ta*plus 11 zeigt mit vollkommener Deutlichkeit, dass die 
Grundbestimmungen der Metaphysik Picos in keiner Hin¬ 
sicht ihre rein logisch-gedankliche Existenz bewahren. Dass 
was Natorp bei Platon als „psychologische Wendung“ 12 
bezeichnet, jene Vernachlässigung des logischen Charakters 
des Allgemeinbegriffs oder der Idee, jene „Umdeutung der 
Ideen aus Gesetzen in Dinge einer besonderen Art, Ueber- 
dinge“ 13 die Umdichtung abstrakter Begriffe in übersinn- 

10. Uebersetzung S. 96 ff. 

11. Uebersetzung S. 141 —170 u. 171 —180. 

12. Paul Natorp, Platos Ideenlehre; eine Einführung in den 
Idealismus (1903) S. 35 f. 

13. Natorp 1 . c. S. 36. Mit der Anführung dieser Natorp- 
Stelle soll dem Standpunkte Natorps nicht vollinhaltlich bei¬ 
gepflichtet, sondern nur die metaphysische Tendenz, welche bei 
Pico parallel zu der Platos geht, bezeichnet werden. Mir scheint 
bei N. eine gewaltige Unterschätzung der metaphys. Tendenz und 
Interessen bei Platon zu Gunsten der Hervorhebung der logisch- 


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liehe Realitäten vollzieht sich, und zwar ganz unbewusst, 
wie in dem Meister so auch im Geiste seines Schülers 
PiCos. 

Diese ausserordentlich starke ontologische und meta¬ 
physische Tenderz erfährt ausserdem durch das Studium 
der orientalischen Philosophie eine bedeutsame Unter¬ 
stützung und Begünstigung. Nicht nur den Begriffen weist 
Pico eine metaphysische Existenz und intelligible Wirk¬ 
samkeit zu, sondern er lässt die kabbalistischen Zeichen und 
Figuren, ja selbst die Zahlen hinter den Begriffen nicht 
zurückstehen. Auch sie figurieren als mystische Kräfte, und 
Piöo weiss mancherlei von ihrer Wirksamkeit zu berichten. 14 

Mit unbezweifelbarer Klarheit präzisieit Pico seine rea¬ 
listische Auffassung der Begriffe und Namen an einer Stelle, 
wo er eine Unterscheidung zwischen „nomina concreta“ 
und „nomina abstracta“ vornimmt. Es liegt hier nicht die 
bekannte grammatikalische, sondern die im Anschluss an 
Aristoteles vorgenommene metaphysische Unterscheidung 
von Substanz iund Akzidenz vor. Die nomina abstracta näm¬ 
lich wie calor, lux, candor, humanitas werden als reale 
Substanzen und die nomina concreta wie calidum, lucens, 
candidum, homo, als ihre Akzidenzen aufgefasst. 15 

Ein Begriff existiert: d. h. bei Pico: er existiert durch 
seine Relation auf ein an sich und absolut Existierendes. 


erkenntnistheoretischen vorzuliegen. Vgl. Joels eingehende Be¬ 
sprechung des Buches von Natorp in der „Deutsch. Litera turztg.“ 
Nr. VII, 1905 Spalte 400 ff. 

14. Dieser Punkt wird weiter unten ausführlich behandelt. 

15. De ente et uno S. 244. Nominum alia concreta, alia ab¬ 
stracta. Concreta, calidum, lucens, candidum, homo. Abstracta, 
calor, lux, candor, humanitas. Est autem haec vis illorum el diver- 
sitas, ut quod abstractum dicitur: id notet quod a se tale est, non 
ab alio. Concretum ex adverso id significet quod non a se, sed 
alterius beneficio tale est. Sic lucens luce lucet. Candidum can- 
dore candidum est. Et homo humanitate est homo. 


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Dieser Punkt wird seine völlige Klarstellung erhalten, wenn 
jene absoluten Existenzen selbst entwickelt werden. Hier, 
wo nur die logische Grundform seiner Ontologie und Theo¬ 
logie im allgemeinen skizziert werden soll, mögen diese 
andeutenden Bemerkungen genügen. 

Wir wenden unser Augenmerk nun derjenigen Gruppe 
von Begriffen zu, deren genauere metaphysische Bestimmung 
in erster Linie interessiert. Dies sind die Begriffe, die das 
Wesen Gottes bezeichnen. An ihnen erleuchtet sich des 
Genaueren das ontologische Verhältnis zwischen Begriff Und 
Idee. Diese Begriff sind nicht bloss begründet durch ihre 
Beziehung auf das’ Wesen Gottes. Sie werden vielmehr 
selbst als absolute Wesenheiten von intelligibler Subsistenz 
gedacht. Pico hypostasiert oder substantialisiert die begriff¬ 
lich-prädikativen Aussagen ohne weiteres zu objektiven, trans¬ 
zendenten Qualitäten, zu selbständigen Emanationen des 
Wesens Gottes. So findet hier eine Deckung zwischen Be¬ 
griff und Idee statt. D : e Begriffe, mit denen Gott gedacht 
wird, sind die ewigen, metaphjsischen Gedänkendinge, pla¬ 
tonisch gesprochen: die Ideen selbst. Um ein Beispiel zu 
nennen: die wichtigste Aussage, welche wir über Gottes 
Wesen zu machen im Stande sind, ist die: Gott ist die ab¬ 
solute Einheit. Diese Einheit ist nicht als etwas vom mensch¬ 
lichen Denken an das Absolute Herangebrachtes, nicht als 
eine nur im denkenden Bewusstsein vollzogene Erkenntnis¬ 
funktion aufzufassen. 

Der Fall liegt hier ähnlich wie bei der Bestimmung der 
Realität der Attribute im Sjs.eme Spinozas. Wie diese zwei¬ 
fellos die Geltung realer, transsubjektiver Eigenschaften oder 
Energien besitzen, weiche „das Wesen der Substanz kon¬ 
stituieren“, 16 so bedeutet auch in unserem Beispiele die 

18. Spinoza, Ethica parsl definitioIV: Per attribatum intelligo 
id quod intellectus de substantia percipit tanquam eiusdem essen- 
iiam constituens. Vgl. Kuno Fischers realistische Entscheidung 
des Wesens der Attribute in seiner Polemik gegen Hegel und Joh. 


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Einheit eine reale Kraft, ja die eigentliche Weltkraft, welche 
jedem Dinge zui seiner Einzelexistenz verhilft, zugleich aber 
die empirische Vielheit, die Mannigfaltigkeit der Dinge und 
Kreaturen zu einem grossen, universalen Zusammenhang, 
zu einer übergreifenden Einheit verbindet. 17 Und um dieses 
gleich hinzuzufügen: auch die Erkenntnis dieser Wesen¬ 
heiten ist dem Menschen unter bestimmten Bedingungen zu¬ 
gänglich. Wir erreichen sie in dem Zustande mystischer 
Ekstase. 18 


2) Der menschliche Geist und die Ideen. 

Aus dem Dargelegten ergibt sich, dass der menschliche 
Geist die Bestimmungen des Wesens Gottes nicht aus sich 
selbst schöpft. Pico vergleicht ihn gern mit dem Auge. 
Wie dieses gewisse Eindrücke aus der sinnlichen Wirklichkeit 
auf nimmt, so empfängt auch der menschliche Geist die Er- 

Ed. Erdmann (Fischer, Gesch. der neueren Philos. I, 3. Aufl.: 
Descartes und seine Schule S. 354 fr. — Vgl. auch A. Tumarkin, 
Spinoza 8 Vorlesungen i9C>7 S. 47 ff. Windelband nennt Spinozas 
Metaphysik das letzte Wort des mittelalterlichen Realismus (Lehrb. 
d. Gesch. d. Philos. S. 337). 

17. Heptaplus S. 40h: est enim primum ea in rebus unitas, 
qua unumquodque sibi est unum sibique constat atque cohae et. 
Est ea secundo, per quam altera alteri creatura unitur et per quam 
demuro omnes mundi partes unus sunt mundus. — Nam et patris 
potestas omnia producens, suam omnibus largitur unitatem, et 
sapientia filii rite omnia disponens, omnia invicem unit et copulat, 
et Spiritus amore ad Deum omnia convertens, totum opus opifici 
nexu charitatis adjungit. — Die Realität der einzelnen Bestimmungen 
wird ihre Besprechung im Kap. II finden. 

18. De hominis dignitate S. 320: accedens sacratissima Theo- 
logia duplici furore animabit (sc. Deus), nam in illius eminentissimam 
sublimati speculam inde et quae sunt, quae erunt, quaeque fuerint 
insectili metientes aevo et primaevam pulchritudinem suspicientes, 
illorum Phoebi vates huius alati erimus amatores. Uebers. S. 196. 


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kenntnis der intelligiblen Welt. 19 Er ist ein Spiegel, ein 
Aufnabmeapparat für die aus der höheren Welt auf ihn 
einströmenden Einwirkungen. Das System von Anssagen, 
welches den Inhalt der Theologie bildet, ist auf mystischem 
Wege in uns erzeugt und hervorgerufen worden durch 
Gottes allwaltende Wirklichkeit und Wirksamkeit. Es ist 
uns eingeprägt und verliehen und bezieht sich zurück auf 
ein System göttlicher Seinsweisen, welches den Charakter 
der allgemeinen Weltgesetzlichkeit trägt. Diese Seinsweisen 
sind jedoch nichts anderes als die hypostasierten Allgemein¬ 
begriffe. Es ist erforderlich an diesen Ueberlegungen den 
Gedanken hervorzuheben, dass, wie die Mitteilung der Ideen 
an die menschliche Seele durch einen mystischen Akt er¬ 
zeugt ist, diese Ideen auch nur auf mystische Weise zum 
Bewusstsein gebracht werden können, oder mit anderen 
Worten, dass eine rationale Erkenntnis ausgeschlossen ist. 


3) Verhältnis der Allgemein begriffe zu den 
transzendenten Ideen. 

Jetzt können wie die Frage nach dem Verhältnis der 
im menschlichen Denken vorhandenen Allgemeinbegriffe, der 
„genera“ 20 oder „species rerum“, wie Pico anstelle des 
üblichen Ausdrucks „notiones communes“ sagt, zu ihren 
transzendenten Korrelaten erledigen. Dieses Verhältnis lässt 
sich als das der Kongruenz bestimmen. Im reinen Denken 
erfasse ich das wahre, das absolute Sein. Das „Esse“, von 
dem der Intellekt mir Kunde gibt, ist das schöpferische, 
verursachende, innere Prinzip aller Dinge, das „Ens“, welches 

19. Heptalus S. 34: quod enim est oculus in rebus corporeis 
id ipsum est mens in genere spiritali S. 35. 

20. De ente et uno S. 269: genera enim rerum essentiae 

sunt. 


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Pico durchgehend von den „Res“ oder den „Corpora“ als 
den geschaffenen, bedingten Wesen unterscheidet. 21 

Wenn die metaphysischen Ideen als die transzendenten 
Korrelate der Allgemeinbegriffe, mit denen unser Erkennen 
arbeitet, zu betrachten sind, so folgt eben hieraus, dass 
die Universalien nicht der empirischen Wahrnehmung ent¬ 
stammen. Die Seele trägt Sie in lund bei sich 1 als die ihr Wesen 
konstituierenden, angeborenen Formen, mit denen Gott sie 
begabt hat. Die Bedeutung der Aussenwelt beruht ledig¬ 
lich darauf, diese im latenten Zustande vorhandenen Formen 
in Aktion zu versetzen Und zu der Leistung der Erkenntnis 
anzuspornen. 22 


4) Der Wahrheitsbegriff und seine metaphy¬ 
sische Grundlage. 

Mit dem Ausgeführten ist die Beantwortung einer hier 
unmittelbar sich anschliessenden Frage eingeleitet, der Frage 
nämlich, worin das Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis 
und der Wirklichkeit bestehe, welcher Umstand dem mensch¬ 
lichen Denken und dessen Begriffssystem das Merkmal wis¬ 
senschaftlicher Gewissheit verleihe. 

Dieses Merkmal der Wahrheit beruht nach Pico auf der 
Uebereinstimmung zwischen Begriff und Idee: ein Begriff 
ist wahr, wenn er als ein getreues Abbild seiner ihm zu 
Grunde liegenden Idee erscheint, wenn er seinem Vorbilde 


21. Conclusiones S. 73, 10 (secundum Plotinum): in ratione 
similitudines rerum sunt et species, in intellectu vero ipsa entia. 

22. Conclusiones S. 74, 2. (secundum Adelandum Arabern): 
anima habet apud se rerum species et excitatur tantum ab extrin- 
secis rebus. — Man gewahrt auf den ersten Blick, dass es sich 
auch hier um Gedanken handelt, die in letzter Beziehung von 
Platon entlehnt und besonders im „Phaidon“ voll entwickelt sind. 
(Phaidon 72—77.) 


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adaequat ist. Dieses Entsprechen erstreckt sich nicht au! 
irgend ein im empirischen Bewusstsein vorhandenes und 
aus der wahrnehmbaren Wirklichkeit abgezogenes Ideal — 
einem auf sensualistischem Wege gewonnenen Begriff würde 
Pico nimmermehr die Geltung eines „genus“ einräumen — 
es bezieht sich vielmehr auf jene transzendenten und in 
Gott gegründeten Ideen, von denen wir Menschen eine 
nur gefühlsmässige, ahnende Erkenntnis besitzen. 23 

Man kann diese Ansicht vom Wesen der Wahrheit als 
den Standpunkt der metaphysischen Wahrheit be¬ 
zeichnen : das transzendente Wirklichkeitssystem soll in dem 
subjektiven Begriffssystem der Philosophie seine genaue Wi¬ 
derspiegelung haben. Da der menschliche Geist in die Reihe 
der empirischen Wesen, der Kreaturen, mit einbezogen und 
als ein Glied derselben, wenn auch als ein aus der Mannig¬ 
faltigkeit der übrigen Glieder sChärf und bestimmt sich ab¬ 
hebendes, betrachtet werden muss, so folgt, dass die in ihm 
wirksamen Begriffe nur dann die Dignität der Wahrheit 
besitzen, wenn sie als Nachbildungen, als adaequate Kopien 
der transzendenten, ideenhaften, göttlichen Urbilder gelten 
können. 24 

Die Begründung für die Behauptung jener durch den ab- 


23. Uebersetzung S. 177. — De ente et uno S. 252: Si igitur 
res ccnsideramus ut a Deo efficiente constituuntur, sic entia dicun- 
tur, quia illo eificiente esse participant, si ut exemplari suo quam 
vocamus ideam secundum quam illas condidit Deus quadrant et 
respondent, veras dicuntur. Vera enim imago Hercules dicitur, 
quae vero Herculi conformatur. — Tertia est veritas, quia post- 
quam est aliquid in se, videndum est an sit tale quäle est exemplar 
ad quod fuit formatum. 

24. Der erkennende, kontemplativ gestimmte Geist gehört in 
dieser Beziehung noch in den Bereich der geschaffenen, abhängigen 
Wirklichkeit, deren Wesenseigenart er in den Hauptzügen teilt. 
Inwiefern er im Stande ist, über diesen Rahmen hinauszutreten, 
wird erst später zu untersuchen sein. 


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bildmässigen Charakter des Begriffes hervorgerufenen Korre¬ 
spondenz und Beziehung zur Idee ergibt sich für Pico un¬ 
gezwungen aus seiner theologisch-dogmatischen, bibeltreuen 
Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Wirklichkeit. 
Das göttliche Wesen hat die Welt erschaffen gemäss der 
in seinem Geiste vorhandenen Ideen, einem Bildhauer ähnlich, 
der bestimmte Phantasievorstellungen in sich trägt Und diese 
als Musterbilder bei der Schöpfung seines Werkes ver¬ 
wertet. 25 

Die Ideen sind also nach allem, was wir gehört haben, 
die ewigen Gedanken Gottes, denen er die Objekte der 
Welt nachbildete. So hatte schon vorher Anselm von 
Canterbury gesagt, der ja auch der platonischen Denk¬ 
weise nahestand und die realistische Auffassung der Ideen 
vollauf (teilte. 26 Ganz klar und unmissverständlich jedoch 
hatte Augustinus die Bedeutung der Ideen dahin be¬ 
stimmt, dass sie die intelligiblen Urbilder und Formen der 
Dinge wären und ihren Ort im göttlichen Intellekte hätten. 27 

25. Uebersetzung S. I49, 178, 180 u. 182. 

26. Johann Heinr. Loewe, Der Kampf zwischen dem Realismus 
und Nominalismus im Mittelalter. Sein Ursprung und sein Verlauf. 
Aus den Abhandl. der Königl. böhm. Gesellschaft der Wissen¬ 
schaften. Folge 6, Band 8 (1876) S. 45 fr. — Ueberhaupt steht 
Pico Anselm v. Canterbury in vielen Punkten nahe, so z. B. in der 
noch zu streifenden Behauptung der Identität zwischen Sein und 
Vollkommenheit, die bei ihm wie bei Anselm begründet ist durch 
die erkenntnistheoretische Identifikation der logischen und der 
metaphysischen Kategorie des Seins (Loewe S. 46). 

27. Augustinus, de diversis quaestionibus XL, VI. (Migne, 
Patrologia latina, tom. 40 col. 30): Sunt namque ideae principales 
formae quaedam vel rationes rerum stabiles atque incommutabiles 
quae ipsae formatae sunt, ac per hoc aeternae ac semper eodem 
modo sese habentes, quae in divina intelligentia continentur. Et 
cum ipsae neque oriantur, neque intereant; secundum eas tarnen 
formari dicitur omne quod oriri et interire potest et omne quod 
oritur et interit. 


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Mit der Ansicht, dass die Wahrheit der Erkenntnis dann 
gewährleistet sei, wenn den Vernunftbegriffen und der kon¬ 
kreten Welt eine immaterielle Welt als ihr Original ent¬ 
spricht, stellt sich Pico überhaupt auf den Boden einer alten, 
von dem philosophischen Denken, zumal in dessen platonisch- 
realistisdier Richtung hauptsächlich angenommenen und ver¬ 
fochtenen Erkenntnistheorie. Diese Erkenntnistheorie zieht 
sidh seit ihrer Grundlegung in der platonischen Metaphysik 
in einer grossen Linie durch die Jahrhunderte bis an die 
Schwelle der kritischen Philosophie Kants. Erst durch diese 
erfährt die Kontinuität dieser logisch-erkenntnistheoretischen 
Ueberzeugung eine Unterbrechung. „Diese von Kant über¬ 
wundene Meinung ist die Vorstellung, als sei die mensch¬ 
liche Wissenschaft bestimmt und als habe sie darin ihr 
Regulativ, eine unabhängig von ihr bestehende Welt ab¬ 
zubilden.“ 28 

Schon Aristoteles fand die Norm der Wahrheit in der 
Uebereinstimmung des Gedankens mit der absoluten Wirk¬ 
lichkeit. In der „Metaphysik“ spricht er diesen Gedanken 
in der Form aus: falsch ist, wenn man sagt, das Seiende 
sei nicht, oder das Nichtseiende sei; wahr ist, wenn man 
sagt, das Seiende sei und das Nichtseiende sei nicht. 29 Eben¬ 
so formuliert Spinoza denselben Gedanken in dem Axiom: 
eine wahre Idee muss mit ihrem Gegenstände überein¬ 
stimmen. 30 Und in voller Uebereinstimmung mit Pico for- 

28. Windelband, Präludien (1903) S. 132. Hierselbst auch 
eine im Umriss gehaltene Skizze der Geschichte des Wahrheits¬ 
begriffes (S. 132—142). 

29. Aristoteles, Metaphysik IV. 7, ionb: tu pkv yäp Xiyetv tu 
< iv ßtj efoat >1 tu [xrj uv etvac <j.'sudos, to <ie tu uv, eTvau xai tu p}; ov ,11 '} 
elvat äAijükg. 

30. Spinoza, Ethica, pars I, axiom VI u. prop. XXX; ferner 
pars II prop. XXXII u. scholion zu prop. XLIII. Auch Tractatus 
de intellectus emendatione VH, 41: „Die Idee verhält sich „objek¬ 
tive“ so, Wie sich ihr Gegenstand „realiter“ verhält.“ 


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muliert Marsilio Ficino den Gedanken in der Form: die 
Wahrheit eines geschaffenen Dinges besteht darin, dass dieses - 
in jeder Hinsicht mit seiner Idee übereinstimme. 31 

Picos Erkenntnislehre zeigt also ein dogmatisch-onto¬ 
logisches Gepräge. Nach ihr besitzt der subjektive Begriff 
zugleich eine objektiv-metaphysische Realität. In dieser Hypo-- 
stasierung der Begriffe bekundet sieh Picos Platonismus. 
Wie in der ganzen dogmatischen Philosophie wird auch hier 
der logisch-erkenntnistheoretische Charakter der Begriffe ver¬ 
kannt und damit eine grundsätzliche, aber dadurch das Feld 
der Metaphysik überhaupt erst urbar machende Ver¬ 
wechslung begangen, deren Aufdeckung zu den unsterblichen 
Verdiensten des Kantischen Kritizismus gehört. 

5) Picos Metaphysik. 

Erwägt man den prinzipiellen Standpunkt, der zur Ent¬ 
stehung einer Erkenntnistheorie führt, ganz genau, dann 
kann man den Standpunkt des dogmatischen Realismus nicht 
als eine Erkenntnistheorie bezeichnen. Die metaphysische 
Auffassung der Begriffe und die dogmatische Auffassung der 
Wirklichkeit ist nicht dazu: angetan, zu einer Erkenntnis¬ 
theorie hinzuieiten. Diese Leistung ist viel mehr durch die 
nominalistische Betrachtung begründet. „Der reine Realis¬ 
mus blieb auf dem Felde der Metaphysik urd konnte dort, 
wie schon Platon versucht hatte, aus dem logisch-dialektisch 
analysierten und kombinierten Begriffsinhalte der Univer¬ 
salien ein System metaphysischer Bezienungen entwickeln, 
in welcher sich ein für sich gütiges Gebiet der Erkenntnis 
autfzuschliessen schien.“ 32 

31. Marsilio Ficino, Theologia Platonica XII cap. I. (Opera 
Basel 1561 S. 266): veritas rei creatae in hoc versatur, ut ideae 
suae respondeat undique, Scientia vero in hoc praecipue ut mens 
congruat veritati. 

32. H. Siebeck: Zur Psychologie d. Scholastik. Arch. f. Gesch. 
d. Philos. 1 1888 S. 380 f. 


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Die nominalistische Anschauung dagegen setzt ein ge¬ 
wisses Mass kritischer Einsicht in das Wesen der Erkenntnis 
voraus. Diese kritische Reflexion würde einer Metaphysik, 
wie sie der Platonismus treibt, einen starken Riegel vor¬ 
legen, ja wenn wir den kritischen Gesichtspunkt mit aller 
Strenge bewahrten, eine Metaphysik im alten Sinne un¬ 
möglich machen. Das hat Kant gezeigt. Wie aber ist es 
um das Verhältnis des eigentlich noch vorerkenntnistheo¬ 
retischen Standpunktes, wie wir ihn bei Pico fanden, mit 
der Metaphysik bestellt? 

Zwischen der dogmatischen Erkenntnislehre Picos und 
seiner Metaphysik waltet das Verhältnis der Verträglichkeit 
und Zusammenstimmung. Kennt jene Erkenntnistheorie über¬ 
haupt keine kritische Beschränkung in der Leistung des 
menschlichen Erkenntnisvermögens, so ist es nur konsequent, 
wenn Isie auch keinen Zweifel inbetreff der Möglichkeit einer 
Erkenntnis der absoluten, transzendenten Wirklichkeit hegt 
und auf Grund einer ursprünglichen, kraftvollen Zuversicht 
für den Zweck der Erreichung dieser Erkenntnis die Fähig¬ 
keit zur mystischen, geistigen Anschauung der transzen¬ 
denten Welt stabiliert. Die Metaphysik nun be- 
stimmtjenetranszendenteWeltalseinSystem 
ideenhafter Wesenheiten, welche die Konstituenten 
der wahrhaft wirklichen Wirklichkeit bilden. Im Anschluss 
an P au Is en bestimme ich eine solche Metaphysik näher als 
einen idealistischen Pantheismus: die Wirklich¬ 
keit stellt sich dem philosophischen Nachdenken dar als ein 
seelenhafter, geistiger Makrokosmos, als ein System seiender 
Gedanken, welche in der umfassenden Allgei ?tigkeit Gottes 
zur Einheit bezogen und von ihr getragen werden. 33 

Die objektive und real-metaphysische Bedeutung der 
Ideen erfährt durch Picos pessimistische Wertung des Dies¬ 
seits, welche uns später noch beschäftigen wird, eine be- 


33. Paulsen, Einleitung S. 289 f. 


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trächtliche Verstärkung. Im Gegensatz zu der sinnlichen 
Welt, welche nur haltloser Sein und der Tummelplatz teuf¬ 
lischer Gewalten ist, umschliesst die intelligible oder in¬ 
tellektuelle Welt, die Welt der reinen Geister- oder Engel- 
wesen, ewige Dauer, absolute Konsistenz und Vollkommen¬ 
heit. 

Damit hat PiCos Weltanschauung ihre historische Ein¬ 
ordnung erfahren. Sie gehört der Richtung der idealistischen 
Systeme an. Die Wirklichkeit wird konstruiert als ein 
xoa/iog vot/Tog; aus einem geistigen Prinzipe wird die gesamte 
Wirklichkeit abgeleitet. 

Die Bestimmung des allgemeinen Charakters, welchen 
Picos Metaphysik trägt, erhält eine indirekte Bestätigung 
dadurch, dass »die von unserem Philosophen herangezogenen 
arabischen und jüdischen Philosophen im wesentlichen 
auf dem jgleichen metaphysischen Standpunkte stehen. Denn 
Pido ist ja nicht allein von der neuplatonischen Metaphysik 
abhängig. Auch der orientalischen Gedankenbildung, der 
arabischen und jüdisch-alexandrinischen Theosophie und Kos¬ 
mologie, hat er breiten Spielraum eingeräumt. Den Kern 
der kabbalistischen Theosophie bildet aber ein deutlicher 
Pantheismus. 

Allerdings werden wir später sehen, dass diese panthei- 
stisch-idealistische Weltanschauung des öfteren mit ihren 
eigenen Voraussetzungen in Widerspruch gerät, besonders 
da, wo es sich um die Begründung und Ableitung der ma¬ 
teriellen Seite der Wirklichkeit handelt. Hier tritt, die Ein¬ 
heit des Systems gefährdend, der idealistischen Konstruk¬ 
tion ein ganz andersartiger Konstruktionsversuch zur Seite. 


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Kapitel 2. 

Die Theologie. 

C) Das Verhältnis zwischen der rationalen und der negativen 

Theologie. 

1) Pi cos religiöse Gesinnung. 

In einer zweifachen Ausprägung stellen sich nun Picos 
religiöse Ueberzeugungen dar, in der rationalen und in der 
negativen Theologie. Die Grundgedanken der rationalen 
Theologie lassen die innere Einstimmigkeit vermissen, denn 
sie bewegen sich sowohl in der Richtung zu der pantheistisch- 
immanenten als auch der dualistischrtranszendenten Gottes¬ 
vorstellung. Die negative Theologie hingegen bevorzugt die 
transzendente Gottesvorstellung, sofern sie nicht überhaupt 
jede Angabe vermeidet und die Möglichkeit einer theore¬ 
tischen Bestimmbarkeit des Wesens Gottes streng abweist. 
In dieser Hinsicht erscheint sie als ein merkwürdiges Gegen¬ 
stück zu der kirchlichen Metaphysik. Obwohl sie den Ver¬ 
zicht auf eine theoretische Formulierung offenbar unter dem 
tiefen Eindruck der Erhabenheit Gottes ausspricht, so er¬ 
weckt sie dabei doch den Anschein, als schliesse die Ne¬ 
gierung eines theoretischen Verhältnisses auch die Ne¬ 
gierung einer praktischen Beziehung zu Gott ein, als hafte 
der Ablehnung der theoretischen Erkenntnis ein Zug zur 
religiösen Indifferenz und Skepsis, ja zur Irreligiosität an. 1 
So sind die Vertreter der negativen Theologie nicht selten 

i. R. Falckenberg, Gr. d. Philos. d. Nicolaus Cusanus S. 24. 


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in den Verdacht, den Fragen der Religion kühl gegenüber 
zu stehen, verstrickt worden. Die katholische Kirche hat 
immer nach einer wissenschaftlich-rationalen Begründung 
ihrer Dogmen, nach einer dem Verstände genugtuenden 
Ergänzung des Glaubensgrundes durch einen Erkenntnis¬ 
grund gestrebt. Das System der religiösen Metaphysik wurde 
ohne die Hinzufügung eines theoretischen, den Verstand 
überzeugenden Teiles für unvollständig ei achtet; und eine 
Reserve diesen Bestrebungen und Forderungen gegenüber 
beschwor häufig genug den Vorwurf und Verdacht häre¬ 
tischer Gesinnung herauf. Das beweist das Leben manches 
Mystikers. 

Könnte gegen Pico eine solche Verdächtigung erhoben 
werden? Und Hesse sich, wenn sie begründet wäre, aus 
einer häretischen Gemütsart d ; e schliessliche Ablehnung der 
rationalen Theologie und die Hinwendung zur mystischen 
herleiten? Dazu berechtiget nicht das Geringste. Pico war 
ein Mann von tief religiösem, sogar theistisch und kirchlich 
gestimmtem Bewusstsein. Sein Denken Und sein Leben wies 
keine Spuren religiöser Freigeisterei und Indifferenz auf. 
Und zwischen seinen wissenschaftlichen UeberzeugUngen und 
der katholisch-kirchlichen Dogmatik bestand kein nennens¬ 
werter, geschweige 'prinzipieller Gegensatz. Die Vermutung, 
dass eine Tat intellektueller Befreiung von der von der Kirche 
geforderten ,und gern gesehenen theoretischen Beweisführung 
für das Dasein Gottes der Grund sei, der ihn zu einer 
mit den Jahren anwachsenden Hinneigung zur negativen 
Theologie geführt habe, zerfällt in nichts, wenn man sich 
sein Denken ünd seinen Lebensgang vergegenwärtigt. Auch 
empfand er seine Beziehung zur Scholastik viel zu sehr und 
zu deutlich, um sich als ihren Gegner zu fühlen. 

Die Unterdrückung der intellektuellen Ergründung der 
Gottesidee lässt sich also nicht folgern aus einer der Kirche 
und ihren Interessen abgewendeten Geistesstimmung. Nicht 
Kühlheit und Skepsis waren es, die seine ablehnende Haltung 


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gegenüber dem Rationalismus hervorriefen. Diese Ablehnung 
floss aus einer viel tieferen Quelle. Sie bezog sich nicht 
auf Iden Inhalt des religiösen Bewusstseins. In Pico lebte die 
felsenfeste UeberzeugUng von dem Dasein Gottes, eine inner¬ 
liche, unerschütterliche Gewissheit, eine heilige Ahnung, die 
sein ganzes Wesen durchdrang. Das Organ dieser Gewiss¬ 
heit und AhnUng war ihm nicht der Verstand, sondern 
der zur Intuition befähigte, durch ekstatische Gefühlsan¬ 
triebe bewegte Glaube. In diesem allein vollzieht sich die 
Vergewisserung über Gottes Dasein. Von ihm allein aus 
liesS dieses Dasein sich erfassen und begründen. Daher 
Schreibt sich die Absage an die rationale Theologie. 


2) Die Art des Gegensatzes zwischen der ra¬ 
tionalen und der negativen Theologie. Die 
Differenz in der Begründung. 

Von dieser Erwägung aus rückt der Unterschied 
zwischen der rationalen und der negativen Theologie in ein 
Licht, welches ihm seine Schärfe nimmt. Es leuchtet ein, 
dass wir es nicht mit einem sachlichen, inhaltlichen 
Gegensatz zu tun haben. Das Objekt, dessen Existenz die 
rationale Theologie zu beschreiben versucht, wird in seiner 
Realität von der verneinenden nicht in Abrede gestellt. 
Diese Realität bleibt unerschlüttert. Der Unterschied der 
beiden Theologien beschränkt sich lauf den einer formalen 
Gegensätzlichkeit, auf eine Differenz in der methodischen 
Begründung (und auf den durch diese erreichten verschiedenen 
Grad der DeberzeugUngskraft und Gewissheit. 

Welches sind die beiden verschiedenen Begründungs¬ 
arten, durch welche der Schein einer völligen Gegensätz¬ 
lichkeit zwischen der rationalen und der negativen Theologie 
erweckt wird? Es sind die rational-diskursive und die 
mystisch-intuitive oder intellektuale Begründung. 


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In welchem Verhältnis stehen diese Begründungs- oder 
Crkenntnisarten zu den beiden Arten der Theologie? In¬ 
wiefern bedingen sie den Widerspruch und ermöglichen 
seine Auflösung? 


a) Die rationale Begründung. 

Die rationale Erkenntnis, von den Mystikern häufig „Me- 
ditatio“ 2 genannt, bezeichnet den Standpunkt der gewöhn¬ 
lichen Wissenschaft Ihre Aussagen bestehen in bestimmten 
Prädikationen, in gedanklichen Positionen, welche die Gel¬ 
tung einer verstandesmässigen Erfassung und Durchdrin¬ 
gung ihrer Objekte beanspruchen. Diese Objekte können 
nur konkrete Einzeldinge, höchstens empirische Zusammen¬ 
hänge von Einzeldingen sein. Die Kategorien der rationalen 
Erkenntnis ergeben in ihrer Beziehung auf die Erscheinungs¬ 
welt eine positive Erkenntnis. Sie versagen da, wo es sich 
um die adaequate Verdeutlichung der Gottesidee, um die 
Erfassung des Alls des Seins handelt Das diskursive, von 
der Sprache abhängige und in deren Formen sich bewegende 
Denken vermag die gewaltige und überwältigende Vor¬ 
stellung vom Wesen Gottes begrifflich nicht zu bemeistern 
und mit seinen logischen Formeln zu erschöpfen.. Die 
verstandesmässige Bewusstseinsstellung ist in dieser Hin¬ 
sicht nur zu negativen Bestimmungen befähigt. 

Daraus ergibt sich: die rationale Erkenntnis lehrt, da 
sie sich auf die gegebene, in den empirischen Tatsachen 
vorliegende Welt bezieht, Gott nur in seinem Verhältnis 
zu dieser Welt kennen. Die theoretische Wahrheit ihrer 
Bestimmungen bleibt unangetastet, wenn nichts weiter als 
eine solche relative Erkenntnis gefordert wird. Und da die 


2. W. Dilthey, Die Funktion der Anthropologie i. d. Kultur 
d. 16. u. 17. Jahrhunderts. Sitzungsber. d. Königl. Preuss. Akad. 
d. Wissenschaften v. 7. Januar 1904 S. 5 . 


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< — 37 — 

gegebene Wirklichkeit den Ausgangspunkt dieser Aussagen 
bildet und das von ihr ausgehende Denken seine natür¬ 
liche Basis niemals verleugnen kann, so enthalten die Be¬ 
stimmungen der rationalen Gotteslehre immer ein kom¬ 
paratives Moment. 

Die rationale, bejahende Theologie stellt sich demnach 
'dar ials ein System relativ gültiger Aussagen, und der Gottes¬ 
begriff wird in diese Relativität eingesponnen, wenn sein 
Objekt und Inhalt als Gegenstand einer rationalen Erkennt¬ 
nis betrachtet wird. 

Die mystische oder die negative Theologie stellt nun 
aber nicht nur das ausschliessliche Recht und die ausschliess¬ 
liche Geltung, sondern auch den Wert dieser Erkenntnisweise 
in Frage. Indem sie die Forderung einer absoluten 
Erkenntnis Gottes erhebt, verlangt sie die Ausserachtlassung 
aller Relationen, betont sie das Ungenügende und die Un¬ 
angemessenheit aller Relationsbegriffe und bietet und lehrt 
eine andere Begreifungsart und eine andere Erfassungsmög¬ 
lichkeit. Gebraucht die rationale Theologie die Begriffe in 
dem üblichen Sinne als Erkenntnis, dann ist es falsch und 
ungehörig, sie auf Gottes Wesen anzuwenden, sobald man 
Gott in seinem Ansiebsein erfassen will. Die rationale Er¬ 
kenntnisart hat ihren engbeschlossenen Geltungskreis. Wen¬ 
det die rationale Theologie diese Erkenntnisart an, so tritt 
ihr die religiöse Reflexion mit der Einsicht der Unzuläng¬ 
lichkeit dieser Erkenntnisart entgegen. 

Wir erhalten also folgendes Resultat: Die rationale Theo¬ 
logie nimmt in dem Augenblicke den Charakter einer unbe¬ 
stimmenden öder Unzulänglich bestimmenden an, sobald ihre 
Aussagen von dem religiösen Bewusstsein unter dem Ge¬ 
sichtspunkt ihrer Adäquatheit mit der Natur Gottes be¬ 
trachtet werden. Die Kategorien des Verstandes sind nur 
ungefähre Orientierungsbegriffe, und die Aufgabe und 
Leistung des Verstandes besteht lediglich in einer analy¬ 
tischen Behandlung gegebener Erscheinungen und in dem 


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Vergleichen derselben untereinander. Der Verstand bleibt 
bei den Teilen, bei den einzelnen Gegebenheiten. Die 
eigentliche Absicht und Forderung der Mystik, zur Einheit 
vorzudringen, den Gesamtzusammenhang zu erfassen, der 
die Vielheit zu einem einheitlichen Komplex verschmilzt, 
lässt sich durch den Verstand niemals erfüllen. 3 


b) Die gefühlsmässig-intuitive Begründung; die intellektuale 

Anschauung. 

So ist also ein höheres Vermögen erforderlich, das 
jener Absicht Genüge tut, mittelst dessen das Verlangen 
nach 1 Erfassung der Wahrheit oder der Einheit seine Be¬ 
friedigung erreicht, nachdem der Weg durch Induktions¬ 
schlüsse als unzulänglich sich erwiesen hat. 4 i 

Dieses höhere Vermögen ist die dem Mystiker eigene 
Begabung zu geistiger Anschauung, zu gefühlsmässiger Er¬ 
kenntnis: die „comtemplatio“. 5 Sie ist eine höhere Stufe 
gegenüber der rationalen Erkenntnis. Jene geistige, intellek¬ 
tuale Anschauung enthält in sich voll legitime Bejahungen, 
Bejahungen, welche nicht in die Sprache der Logik über¬ 
tragen oder Zu 1 rationaler Deutlichkeit gebracht werden 
können. Vom Standpunkt des auf begrifflich formulierbare 
Erkenntnis hinarbeitenden Verstandes aus kann man von 
Verneinungen sprechen, indem wir es hier mit alogischen, 
irrationalen Bestimmungen zu tun haben. Es ist, um mit 
Schopenhauer zu reden, der ja auch in seiner Philosophie 
einen weiten Gebrauch von dieser Erkenntnis macht, „eine 
Erkenntnis ganz eigener Art“, welche sich als Gefühl kund¬ 
gibt. 

Die Vorgänge und Kundgebungen, welche sich im Ge- 


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3. Vgl. Ad. Lasson, Meister Eckhart, der Mystiker (1868) S. 5. 

4. J06I, Urspr. d. Naturphilos. aus d. Geiste d. Mystik S. 19. 

5. Dilthey, Funktion d. Anthropologie 8. 5. 


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fühl vollziehen, begründen ‘sich selbst in ihrer Selbständigkeit, 
sie “bedürfen keiner anderswoher geholten Rechtfertigung. 
Sie beanspruchen einen Wahrheitswert, der unendlich er¬ 
haben sein will über die begrifflich formulierbaren Bestim¬ 
mungen des Verstandes. Nur darf man die Bejahungen des 
mystischen Gottesgefühls nicht als Verstandeserkenntnisse 
auffassen Und als solche be- und verwerten. Die Aeusserun- 
gen f des Gefühls ruhen in sich selbst; sie haben ihre eigene 
Evidertzkraft. Und noch ein anderes Moment, ein ganz 
erlesenes, ist an ihnen hervorzuheben. Sie setzen uns in 
den unmittelbaren Besitz dessen, was wir im Gefühl be¬ 
jahen und erleben: das Erfassen Gottes im Gefühl oder 
die Gottesliebe ist Besitzergreifung von Gott. 6 

Die Hinwendung zur geistigen Anschauung soll jedoch 
nicht als eine Verlegenheitsannahme betrachtet werden; als 
wenn der Mystiker alle Erkenntniswege auf ihre Tauglich¬ 
keit hin geprüft und sich gefragt hätte, wie weit sie ihn 
tragen, um dann schliesslich z:u jener intellektualen An¬ 
schauung als zu dem letzten Notbehelf zu greifen. Der Ver¬ 
lauf ist vielmehr der entgegengesetzte. Aus der erregten 
Tiefe der mystisch gestimmten Persönlichkeit erhebt sich 
jene Anschauung in spontaner Tätigkeit und überzeugender 
Wirksamkeit. Sie ist gleichsam die transzendentale Voraus¬ 
setzung, mit welcher der Mystiker an die Erfassung der 
göttlichen Monas sich begibt; sie ist sein eigentümliches 
Erkenntnisrüstzeug; Und erst von dessen Leistung und Bedeu¬ 
tung aus gelangt er zu einer Bewertung der andern Er¬ 
kenntnisvermögen. Von diesen wird später an ihrem Ort 
die Rede sein. 


6. De ente et uno S. 250: sed vide Mi Angele quae nos in- 
sania teneat. Amare Deum dum sumus in corpore plus possumus 
quam vel eloqui vel cognoscere. Amando plus nobis proficimus, 
minus laboramus, illi magis obsequimur. Malumus tarnen semper 
quaerendo per cognitionem nunquam invenire quod quaerimus quam 
amando possidere. Id quod non amando frustra etiam invenitur. 


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So steht hinter jedem Satze der mystischen Philosophie 
der Mann selbst mit der Innerlichkeit und Gewalt seiner 
Gemüts'stimmung. Er will uns keinen schalen Aufguss einer 
verstandesmässigen Entzifferung bieten; sondern was er sagt, 
dringt aus der Tiefe des Herzens. Die rationale, schblastische 
Erkenntnis wird aber darum nicht durchaus verworfen, es 
bleiben ihr eine gewisse Berechtigung und ein gewisser 
Wahrheitswert Vorbehalten. In dieser relativen Anerkennung 
der rationalen Gotteserkenntnis tritt die scholastische Unter¬ 
strömung im Denken PiCos hervor. 

Ein ähnliches Zusammenbestehen zwischen der mystisch¬ 
platonischen Anschauungsweise und dem scholastischen Ra¬ 
tionalismus zeigt sich, um nicht immer die grossen Führer 
der mystischen Theologie zu nennen, bei Heinrich von 
Gent, den wir schon (als Lehrer und Vorgänger Picos kennen 
lernten. Er unterscheidet zwei Wege der Gotteserkenntnis, 
den rein gefühlsmässig-natürlichen, auf dem wir unmittel¬ 
bar zur Erkenntnis Gottes gelangen, auf dem wir Gott in 
uns aufnehmen, wie das Auge das Licht aufnimmt, und den 
rationalen, der jene unmittelbare Apperzeption zur Höhe 
fester Erkenntnis und logischer Mitteilbarkeit erhebt. 7 

So erweist sich die negative Theologie auch als eine 
bejahende, nur im tieferen Sinne des Wortes. Man muss ihr 
Geltungsrecht und ihre Wesensart richtig bestimmen. Sie 
gilt in dem Sinne einer Gefühlstheologie oder Gefühlsphilo¬ 
sophie, 8 bei der die religiöse Inspiration und der religiöse 
Symbolismus im Vordergründe stehen. Sie beansprucht in 
demselben Sinne die Geltung eines Systems von Glaubens¬ 
oder Gefühlswahrheiten, wie sie diejenige eines Systems 
begrifflicher, theoretischer Wahrheiten abweist. Die Theo- 


7. K. Werner, Die Scholastik d. spät. Mittelalters 1: Johannes 
Duns Scotus (1881) S. 335. 

8. Conclusiones S. 67, 2 (secundum Aegidium Romanum): 
theologia nec est practica nec speculativa, sed affectiva. 


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logie bejaht, insofern als sie sich auf das Gefühl stützt 
und diesem ihre Bestimmungen entnimmt; und wenn Karl 
Joel sagt: ,,Dem Mystiker in seinem erweiterten Lebens¬ 
gefühl ist Gott der höchste, unendliche Gefühlsgegenstand,“ 9 
so darf man dieser Bemerkung hinzufügen: Gott ist nicht 
nur dieser höchste, unendliche Gefühlsgegenstand, sondern 
die Eigentümlichkeit der mystischen und theosophischen 
Geistesverfassung besteht eben in der Fähigkeit, sich das 
Unendliche und Unwahrnehmbare, das rein Gefühlsmässige 
zu geistiger Anschauung zu bringen, es in das magische 
Licht visionärer Schau zu rücken. 10 

Diese geistige Anschauung ist wurzelhaft verschieden 
von jedem spekulativen Wissen. Sie ist kein Fürwahrhalten 
und Begreifen im theoretischen Sinne. Ihr Inhalt ist eine 
Glaubenssetzung und Glaubenstat, welche dem endlichen 
Geiste den Zugang zum Reiche des Uebersinnlichen er- 
schliesst. 11 

Und trotzdem ist, darauf tnag nochmals hingewiesen sein, 
aus der mystischen Schau nicht jegliche Erkenntnis getilgt. 
Der Gegensatz ist richtig zu fassen. Von einer adäquaten, 
erschöpfenden, rationalen Erkenntnis kann keine Rede sein. 
Dieser Punkt ist erledigt. Wenn das Geheimnisvolle, Myste¬ 
riöse ein wesentlicher Bestandteil der Religion ist, dann ver¬ 
letzt, streng genommen, schon der Versuch, das religiöse 
Erlebnis durch gewisse Vorstellungen, wie sie sich im Dogma 
oder im Mythus ausprägen, näher zu bestimmen, jenes Er¬ 
lebnis in seiner Eigenart und Eigengeltung; die Verstandes¬ 
funktion greift in die Gefühlssphäre über. 12 Wohl aber bleibt 
die intellektuale, höchste und reinste, eigentlich schon „gött¬ 
liche“ Erkenntnis, zu der der Mensch sich emporzuarbeiten 

9. Joel, Urspr. d. Naturphilos. S. 10. 

10. Class, Die Realit. d. Gottesidee S. 46. 

11. Class, Real. 8. 5, Paulsen, Einl. S. 254. 

12. Windelband, Präludien 2 S. 371.J 


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vermag, in nächster und natürlicher Beziehung zu dem re¬ 
ligiösen Erlebnis. In ihr erfasst der reine Geist, diese er¬ 
habene Mitgift des intelligiblen Gottes, seine eigene Gött¬ 
lichkeit; er begreift sich als einen Teil Gottes, als Teil 
der ewigen Weltvernunft Wir erkennen uns nicht mehr 
als diese einzelne, empirische Kreatur, als das enge, indi¬ 
viduelle Ich. In jenem Akte erfassen wir den göttlichen 
Geist durch den göttlichen Geist; alle mystische Erfahrung 
kennt dieses Aufgehen in Gott, dieses Erfassen Gottes durch 
Gott. 13 

Diese Erkenntnis nun, die auf die schon in den Upani- 
shads mit hinreissendem Tiefsinn vertretene Identitätsphi¬ 
losophie hinsteuert, ist also kein Ausdruck der spezifisch 
menschlichen, rationalen Verstandesfumktion ; 14 sie beruht 
vielmehr auf der Wirksamkeit Gottes in uns. Pico identifi¬ 
ziert diese intellektuelle Anschauung (intellectus agens), die 
in den Visionen der Propheten ihre überirdische Kraft und 
Herkunft bezeugte, 15 mit Gott selbst 16 Historisch interessant 

13. Heptaplus, S. 48: haec est vera felicitas, ut unus cum Deo 
Spiritus simus, ut apud Deum non apud nos Deum possideamus, 
cognoscentes sicut et cogniti sumus. Ille enim nos non per nos, 
sed per ipsum cognovit. Ita et nos cognoscemus illum per ipsum 
et non per nos. 

14. Heptaplus S. 30. Nam inter partem rationalem, qua 

homines sumus. 

15. Conclusiones, 8. 67, I (secundum Averroem): possibilis est 
prophetia in somnis per illustrationem intellectu3 agentis super 
animam nostram. 

16. Conclusiones S. 71, 2 (secundum Abumaron Babylonium): 
intellectus agens nihil aliud est quam Deus. — Pico zitiert diese 
These als „secundum Abumaron Babylonium“. Doch hatte schon 
Alexander v. Aphrodisias, der Kommentator des Aristoteles in der 
römischen Kaiserzeit, den Intellectus agens mit dem göttlichen 
Geiste identifiziert. Den gleichen Gedanken spricht ein Zeitgenosse 
Picos, der jüdisch-italienische Philosoph Leo Hebraeus in seinen 


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ist, dass sich Pico für die Lehre von der „tätigen Vernunft“ 
nicht auf den Begründer der Lehre, auf Aristoteles, sondern 
auf dessen arabische Anhänger, auf Averroes und Abumar, 
beruft. 

Diese schon wiederholt aufgewiesene Bekanntschaft Picos 
mit der arabischen Philosophie ergab sich für einen Floren¬ 
tiner Humanisten von selbst. Renan hlat gezeigt, dass 
auch in Florenz die Philosophie der Araber und in erster 
Reihe die Lehre des Averroes wohl bekannt, wenngleich 
nicht mit jener Intensität und fast bedingungslosen Aner¬ 
kennung studiert wurde wie in Padua, der Hochburg für die 
Pflege der äverroistischen Oedanken. 17 

Dem Prinzipe “nach steht die arabische Lehre von der 
einheitlichen, tätigen Vernunft, an welcher jeder Mensch 
Teil hat, sofern er reine Erkenntnis treibt, mit den pantheisti- 
schen Grundgedanken der Philosophie Picos in vollem Ein¬ 
klänge, wie ja denn Averroes selbst den Gedanken der Teil¬ 
nahme des Menschen am Geiste und des Eindringens des 
göttlichen Geistes in den Menschen in pantheistischem Sinne 
nahm. 18 


3) Die Bedeutung der gefühlsmässigen Be¬ 
gründung für die Renaissance. 

Nach dieser Abschweifung gehen wir wieder auf den 
Punkt zurück, an dem wir die Darstellung der Philosophie 
Picos verliessen. Wir sahen, wie sich in dessen Philosophie 
ein energisches Aufgeben des dogmatisch-rationalen Und dok¬ 
trinären Standpunktes vollzog. Man wandte sich damals ab 


berühmten „Dialoghi di amore“ aus, welche nicht unbeträchtliche 
Spuren der Einwirkung Picos aut Leo zeigen. (Vgl. B. Zimmels, 
Leo Hebraeus, Ein jüdischer Philosoph der Renaissance. (1886) 
S. 24 und besonders S. 79 fr.). 

17. E. Renan, Averroes et l’Averroi'sme (1866) S. 388 fr. 

18. Fr. Alb. Lange, Gesch. d. Materialismus 1 (1902) S. 137, 154. 


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von all den Unternehmungen einer verstandesmässigen Be¬ 
gründung der Gotteslehre, wie sie durch die Scholastik" 
ausser und neben der Begründung im gläubig gestimmten 
Gemüte vorgenommen worden war. 

In der Betonung und Anerkennung der intuitiven, ge- 
fühlsmässigen Gewissheitsquelle ruht einer der wichtigsten 
und folgereichsten Charakterzüge jener philosophischen Pe¬ 
riode. Im Gegensätze zu der gewohnten rationalen Begrün¬ 
dung der Gedanken über Gott, die in dem ontologischen 
Beweise ihre denkwürdige Formulierung gefunden haben, 
wird nun ein ganz andersartiger Versuch geboten. Die ent¬ 
scheidenden Kategorien dieses philosophischen Versuches 
entstammen nicht einer nüchtern prüfenden Weltbetrach¬ 
tung und Wirklichkeitsanalyse, sondern einer rein gefühls- 
mäsSigen Setzung (und der metaphysischen Zuversicht zu der 
objektiven Geltung jener Begriffe. 19 

So steht Pico in dem Zuge seiner Zeit, wenn er die 
Unternehmung einer beweisartigen, logisch-demonstrativen 
Erhärtung der Existenz Gottes abweist. Zwar würden seine 
Bestimmungen des Gottesbegriffes einem solchen Unter¬ 
nehmen nicht im Wege stehen. Sie würden sich wohl ver¬ 
wenden lassen, um auf sie jene drei üblichen, dogmatischen 
Beweisführungen zu stützen, welche, schon in der Antike 
angelegt, im Mittelalter zu dem umfassenden Systeme der 
rationalen Theologie ausgebaut und in einer ihrer Beweis¬ 
führungen, der teleologischen, noch im Zeitalter der Auf¬ 
klärung von einem Newton, Locke, Voltaire vertreten wurde. 
So hätte Pico aus dem Begriffe Gottes als des „ens realissi- 
mum“ auf die reale Existenz Gottes hach 1 der Weise des onto¬ 
logischen Beweises schliessen können. Die Bestimmung 
Gottes als Urkausalität und Grundprinzip, die Behauptung der 

19. In diesem Sinne beurteilt auch der alte Tennemann Picos 
historische Bedeutung. Wilh. Gottl. Tennemann, Gesch. d. Philos. 
(1814) IX S. 156: „Pico ist ein Mystiker edler Art, der mit heiliger 
Ehrfurcht gegen Gott erfüllt, den Dünkel der Vernunft, das Wesen 
der Gottheit erforschen zu können, niederschlug.“ 


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Aseität, hätte die Grundlage für den kosmologischen 
Beweis abgeben können. Ferner hätte sich die Aufstellung 
Gottes als des „ens perfectissimum“, welches seine Voll¬ 
kommenheit auf die geschaffene Welt niederstrahlt und sie 
zui einem Stufenreich kontinuierlich ansteigender Voll¬ 
kommenheiten macht, für den physiko-theologischen 
oder teleologischen Gottesbeweis verwenden lassen. 20 

Und doch 'wird die verstandesklare Begründung Zu 
einem Moment zweiten Ranges. Der Unterschied zwischen 
dem Rationalismus oder Panlogismus als Weltanschauung 
auf der einen Seite und der Mystik auf der anderen besteht 
nicht allein in der verschiedenen Auffassung der Struktur 
und des Wesens der Gesamtwirklichkeit. Auch die Mystik 
kann die Ansicht von einer allgemeinen Weltvernunft als 
des metaphysischen Substrates der phänomenalen Wirklich¬ 
keit vertreten, wie der Neuplatonismus und Picos eigene Spe*- 
kulation dartun. Der Unterschied erreicht seine volle Schärfe 
erst durch das Hinzukommen der besonderen methodischen 
Begründuingsweise für jene Weltanschauung und durch die 
Verschiedenheit in der Qualifizierung der einzelnen Erkennt¬ 
nisse. 


4) Die Herkunft der gefühlsmässigen Begrün¬ 
dung und ihr Auftreten in anderen Perioden. 

Jener Zug zu einer Begründung durch das Gefühl tritt 
in der Philosophie der Frührenaissance nicht zum ersten 
und nicht zum letzten Male auf, wie ja denn diese Philo¬ 
sophie nicht in der Neuheit und Originalität ihrer Gedanken 
ihre historische Bedeutung besitzt. Wie in allen ihren Par¬ 
tien, so erweist sie sich auch in ihrer Religionsphilosophie 

20. Ausser den bereits in diesem Kapitel angeführten Ge¬ 
danken, welche sich für eine physiko-theologische Beweisführung als 
brauchbar erweisen würden, werden wir in den drei letzten Kapiteln 
noch eine Reihe teleologischer Vorstellungen antreffen. 


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im wesentlichen als reproduktiv und als ein Vehikel der 
Uebermitteluing. In diesem Zusammenhänge wird die Phi¬ 
losophie der Frührenaissance zu einem wertvollen Binde¬ 
glied zwischen Altem und Neuem. 

In dieser durch ethische, aesthetische und religiöse In¬ 
teressen unterstützten Strömung gegen den Rationalismus 
ist die Renaissancemystik direkt abhängig von der Mystik 
des Neuplatonismus, pn welche Pico und Marsilio Ficino 
bewusst anknüpfen ,und welche, wie Harnack ausdrücklich 
hervorhebt, eine starke Tendenz zur Bekämpfung des ra¬ 
tionalistischen Dogmatismus zeigte. 21 Aber auch sonst tritt, 
besonders in den Zeiten einer Vertiefung und Spannung des 
religiösen Bewusstseins, eine antirationalistische Strömung 
auf. So begann in den Tagen der deutschen Mystik der 
logische Bann scholastischer Formen sich zu: lockern, als 
gegenüber der „formalistischen Dialektik der scholastischen 
Theologie“ 22 eine mystisch-praktische Theologie aufzublühen 
und eine unmittelbare, selbständige Erfahrung des Gött¬ 
lichen angestrebt wurde. Damals sprach Eckhart das 
grosse und freie Wort: „Ein ganzer Glaube ist vielmehr denn 
ein Wähnen in dem Menschen. In ihm haben wir ein wahr 
Wissen.“ 23 Auf Grund gleicher Motive und mit der gleichen 
Tendenz äusserte sich später in Deutschland eine Oppo¬ 
sition gegen die aufklärerisch-rationalistische Weltanschau¬ 
ung der Wolffischen Schulmetaphysik und gegen die ver¬ 
nünftige Theologie, 24 wie denn Lessing, Hamann, Herder, 

21. Ad. Harnack, Lehrb. d. Dogmengesch. 1 S. 783. 

22. Otto Pfleiderer, Religionsphilos. auf geschichtl. Grundlage 
(1896) S. 314. 

23. W. Preger, Gesch. d. deutschen Mystik i. M.-A. I S. 449. 

24. Fr. Paulsen, Kant 3 S. 17 fr. — So naheliegend es scheinen 
könnte, in dieser Reihe Spinozas zu erwähnen, wenn man an die 
„cognitio tertii generis“ denkt, welche uns intuitives Wissen, „sci- 
entia intuitiva“ (Ethica pars II, prop. XL, schol II) gewährt, so 
würde doch seine Einrückung in unseren Zusammenhang nicht 
ganz gerechtfertigt sein. In dem Zustande der höchsten Steigerung 


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Jakobi, Goethe, Schelling in manchen Zügen als die Nach¬ 
fahren der deutschen Mystiker und die Fortsetzer und Vol¬ 
lender der Renais'sandegedinken erscheinen. 


5) Die Folgen der gefühlsmässigen Be¬ 
gründung. 

Es war nur eine Folge der Gemütsstimmung der Re¬ 
naissancedenker, wenn die Schätzung des rationalen Wissens, 
„dieser Welt Weisheit“ eine Einschränkung bis Zur Ge¬ 
ringschätzung und Verachtung erfuhr. Von dieser Stimmung 
sind Picos Briefe ian seinen Neffen getragen. Mit dem Apostel 
ruft er aus: „Dieser Welt Weisheit ist Torheit bei Gott.“ 25 
Ein seltsames Wort in dem Munde eines Humanisten, dem 
die Ausbreitung und Beförderung der intellektuellen Kultur, 
die Vermehrung von Kenntnissen und Wissensschätzen aller 
Art eine der wichtigsten Aufgaben bedeuten sollte. 

Die in der Renaissancemystik hervortretende Anschau¬ 
ung, nach welcher das W^sen der Religion ausschliesslich 
in dem mystisch-subjektiven Erleben der Gottheit, in der 
lebendigen Gegenwart Gottes im menschlichen Gemüte be¬ 
steht, lässt sich in aller Kürze ah der schon berührten Um- 

der menschlichen Gemütskräfte, in der intellektuellen Liebe zu 
Gott, bewährt der intellektualistische Faktor, die Erkenntnis, das 
Hauptgewicht und sie strebt gegenüber allen gefühlsmässigen Ein¬ 
flüssen sich durchzusetzen, wie denn Spinoza überhaupt an seinem 
rationalistischen Gesichtspunkt mit starrer Konsequenz festhielt und 
nur der der Erkenntnisiunktion entstammenden Tugend die Palme 
reichte. 

25. Vgl. Schelling: „Mysticimus kann nur jene Geistesbe¬ 
schaffenheit genannt werden, welche alle wissenschaftliche Be¬ 
gründung oder Auseinandersetzung verschmäht, die alles wahre 
Wissen nur von einem sogenannten inneren, auch nicht allgemein 
leuchtenden, sondern im Individuum eingeschlossenen Licht, aus 
einer unmittelbaren Offenbarung, aus blosser ekstatischer Intuition 
oder aus blossem Gefühl herleiten will.“ (NW. 1, 10 S. 191 f.). 


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Wertung der Kategorie der Unendlichkeit nachweisen. 26 
Wurde das Unendliche ursprünglich als eine mathematische 
Kategorie zur Bezeichnung raum-zeitlicher Grössenverhält- 
nisse verwendet, so unterschied man in der Renaissance¬ 
zeit von der mathematischen Bedeutung des Unendlichen 
ihre dynamische, den Gedanken täer Intensität einschliessende 
Idee. Diese dynamische Fassung des Begriffs entspricht 
völlig der immanenten, pantheistischen Gottesvorstellung und 
bietet die einzig mögliche logische Voraussetzung für die¬ 
selbe. 

Wenn nun an den (bei dem theologischen Habitus unseres 
Philosophen selbstverständlichen Gedanken erinnert wird, 
dass in letzter Hinsicht der Geltungs- und Interessenkreis 
der Philosophie als einer rationalen Erkenntnis sich deckt 
mit dem der rationalen Theologie, so würde sich als Re¬ 
sultat unserer Betrachtungen jene Ueberzeugung ergeben, 
welche Pico in die Formel kleidet: „Die Philosophie sucht 
die Wahrheit, die Theologie findet sie, und die Religion 
hat sie in ihrem Besitz.“ 27 Zur Erläuterung dieser Formel 
ist hinzuzufügen, erstens, dass der Begriff der Wahrheit 
hier in dem Sinne des Gottesbegriffs genommen ist, denn 
den Inhalt und Gegenstand der Religion, den die Philosophie 
sucht, bildet Gott, Zweitens, dass unter Theologie nicht die 
rational-bejahende, die ja eben mit der Philosophie zu- 
zusammenfällt, sondern die mystisch-bejahende, deren Sätze 
nicht wissenschaftlichen, sondern nur symbolischen Wert 
besitzen, zu verstehen ist, während drittens Religion der 


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26. Joel, Ursprung d. Naturphilos. aus d. Geiste d. Mystik, 
Kap II S. 7 — 22. Die verschiedenen Etappen der Umwandlung 
dieses Begriffs in den Jahrhunderten verfolgt eingehend Jonas Cohn, 
Gesch. d. Unendlichkeitsproblems im abendländischen Denken bis 
Kant (1890), besonders S. 29 ff.; S. 54ff.; S. 67ff.; S. 95ff. 

27. Epp. S. 359; Philosophia veritatem quaerit, Theologia 
invenit, Religio possidet. 


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geheimnisvolle, unerklärliche Zustand des Erlebens der Gott¬ 
heit ist, der in der Seele des Ekstatischen auftritt. 

Diesen Vorgang des Aufsteigens zu Gott bis zu dessen 
völliger Ergreifung hat Pico ausführlich beschrieben , 28 und 
seine Ausführungen t ragen deutlich den Stempel leidenschaft¬ 
licher Erregtheit und Innerlichkeit. Mit heisser Begeisterung 
träumt er sich hinein in jenen Zustand der Kontemplation und 
Schau des Höchsten. Er dünkt ihm der Seligkeiten grösste. 
Von der ethischen Seite und Bedeutung dieses Vorganges 
soll jedoch erst später gehandelt werden. 


28. Uebersetzung S. 186 ft', u. 191 flf. 


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Lebenslauf. 


Ich, Arthur Levy, mos. Konfession, wurde am 10. November 1878 
in Berlin als Sohn des Kaufmanns Franz Levy und seiner Ehefrau Rosa, 
geb. Hirschberg geboren. Von Ostern 1885 an besuchte ich das Fran¬ 
zösische Gymnasium, dann das Wilhelms-Gymnasium, endlich die III. 
Realschule in Berlin, die ich zu Ostern 1895 mit dem Berechtigungs¬ 
schein zum Einjährig-Freiwilligen Dienst verliess. Nach einer sechsjäh¬ 
rigen kaufmännischen Tätigkeit gehörte ich von April 1901 der Kgl. 
Friedrich-Wilhelms-Universitätzu Berlin ohne Unterbrechung 11 Semester 
an. Am 26. Februar 1907 bestand ich an dem Kgl. Luisengymnasium 
zu Berlin die humanistische Reifeprüfung. Während meiner, besonders 
dem Studium der Philosophie gewidmeten Universitätszeit genoss ich 
den Unterricht der Herren Dozenten Beth, Breysig, Diels, Dilthey, Erman, 
Foerster, Frey, Fritsch, Geiger, Gunkel, Helm, Heusler, Hintze, Kekule 
von Stradonitz, Klebs, Lasson, Lenz, Menzer, R. M. Meyer, Oppert, 
Paulsen, Pfleiderer, Reich, Riehl, Roethe, Sachau, Schmoller, Schumann, 
Simmel, Stolze, Stumpf, Tangl, Thomas, Vierkandt, von Wilamowitz- 
Moellendorff, Wölfflin. Allen meinen hochverehrten Lehrern, besonders 
aber den Herren Professoren Paulsen, Frey, Menzer, die mir während 
meiner Universitätszeit ihren Rat und ihre Unterstützung in der liebens-< 
würdigsten Weise angedeihen Hessen, sage ich meinen herzlichen 
Dank. — Die Promotionsprüfung bestand ich am 13. Juni 1907. 


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