Skip to main content

Full text of "Ausgewaehlte Schriften"

See other formats


Google 


This is a digital copy of a book that was preserved for generations on library shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project 
to make the world’s books discoverable online. 

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 
to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 
are our gateways to {he past, representing a wealth of history, culture and knowledge that’s often difficult to discover. 


Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book’s long journey from the 
publisher to a library and finally to you. 


Usage guidelines 
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 


public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 





‘We also ask that you: 


+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individual 
personal, non-commercial purposes. 





and we request that you use these files for 


+ Refrain from automated querying Do not send automated queries of any sort to Google’s system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 


+ Maintain attribution The Google “watermark” you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 


+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can’t offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book’s appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liability can be quite severe. 






About Google Book Search 


Google’s mission is to organize the world’s information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world’s books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 
alkttp: /7sooks. google. com/] 














Google 


Über dieses Buch 


Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 

Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei — eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 


Nutzungsrichtlinien 


Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 

Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 


+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 


+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 





+ Beibehaltung von Google-Markenelementen Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 


+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 





Über Google Buchsuche 


Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|'http: //books .google.comldurchsuchen. 




















Gift of 


Mrs. Gertrude B. Mahrholz 


STANFORD 
UNIVERSITY 
LIBRARIES 








ä 





PT 2527 
Sc 6 
/85’] 
v, le /8 


Ferdinund rad 5 
ausgewählte Schriften 


— — — 


Volks- und Familien-Ausgabe. 


Sehsyehnter Em. 


Zweite Auflage 





Leipzig, 
Ernft Keil. 
1858. 


Meossofen 


— — — — 


Rovellen und Erzählungen 


von 


Ferdinand Stolle. 


— — 


Aueiter Cheil. 


— | 


Zweite Auflage, 





Leipzig, 
Ernſt Keil, 
1858, 


Die Nofe von Segovia. 


Launige Erzählung. 





1. 


SH lange die civilifirte Welt fteht, und das ift fo 
lange nicht her, da fie dieſes Prädicat erſt durch bie 
wohllöblihen Poſtämter und Zeitungserpebitionen an 
fi) gebracht Hat, jo lange ein anfehnlicher Theil des 
löblihen Poſtperſonals das Gegentheil vom Poſtpa— 
pier, und die Lungen der Briefträger pulfiven in of- 
ficieller Haft, ift von legteren noch feiner mit folcher 

Sehnfucht erwartet worden, als der Briefträger Jacob 
Flügel vom Studenten Johannes am heiligen Car— 
pafinstage. 

Bereit3 feit einer halben Stunde, denn Johannes 
wußte genau, wenn die gebirgifche Poſt bei gutem 
‘oder böfem Wetter eintreffen mußte, hatte dieſer fei= 
nen Kopf in die warme Atmosphäre der Gaffe hin- 
aus gefteckt, wie in ein wohlthuendes Bad. Daß die— 
fen Morgen ein wunderfchöner Frühlingstag aufges 
blüht war, das ſchien ihm klar; wiewohl er von den 
blauen Frühlingswellen, die unter Lerchengefang über 
Giebel und Dächer dahinwogten, nicht das Geringfte 
gewahr murbe, weil er Nichts davon jah. Selbft dem 
Heinen Gilberftreifen über fi), aus dem wie aus 
einem Himmmelsriffe Licht und Luft in die winterfeuchte 
Gaſſe herabftrömte, fonnte er ohne Gefahr den Briefe 
träger zu verpaffen, Feiner Betrachtung widmen. Wäre 


— 


8 


[ 


nicht Pofttag geweſen, jo würde fi Johannes unbe- 
ftritten auf den Oberboden des Haufed begeben. ha= 
ben, wo die Hafenfelle des Hutmachers hingen, und 
wo er wenigften® fo viel Himmel zu ſehen befam, 
als er brauchte für feine Bruft. Daran war heut 
nicht zu denken. 

Für die Späherblicke des Studenten nach dem 
Briefträger konnte es aber diesmal nichts Aerger— 
liches geben, als der Erker des Nachbarhauſes, der 
wie ein Glasſchrank weit in die Gaſſe hineingebaut 
war. Johannes fonnte zwar hindurch fehn und 
that's au, aber e8 half ihm Nicht und daran war 
eine Gevatterfchaft ſchuld. Die Erferfürftin war Pathe 
und ließ ſich frifiren. Das gefanmte dienende Pu- 
blikum, ver Frifenr an der Spitze, tanzte in gejchäf- 
tiger . Eile wie die ‚Kinder Ifrael um das ferzengrad- 
fisende Steipbild. Moſes konnte fi) vor zweitaufend 
Fahren über ſolche Heidengräuel nicht mehr ärgern 
als Johannes. 

Indeß gelang ihm nad langen vergeblichen Ver⸗ 
ſuchen ein entjcheivender Blick zwifchen den Erferpu- 
biifum hindurch, und zwar mitten durch eine majeftätifche 
Haarpuffe, die foeben unter ver Meifterhanp des 
Friſeurs emporgeftiegen war. 

Die Crferfürjtin, die feine Ahnung hatte, daß 
die fühnen Windungen ihres Haupthaard dem Stu— 
benten als Lorgnette dienten, nad) dem Briefträger 
zu guden, blieb ruhig figen, und fo warb dem Jo— 
hannes endlich die Freude, am äußerften Ende der 
Straße einen gelben Punft zu entveden, der aber 
fogleich wieder unſichtbar wurde. 

‚Wenn das nicht Flügel war, will ich nicht Jo— 
hannes heißen,‘ rief der Student und tanzte in der 
Stube. herum; denn jet konnte er ſich ſchon einige 


9 


feine Fenfterferien erlauben, da er mit dem Laufe 
des Briefträgerd genau befannt war. Flügel brauchte 
wenigftend eine Biertelftunde, ehe er wie eine Maus 
die Schluchten und Gemächer des Frenzel'ſchen Haus 
ſes, in weldhem er unfihtbar geworben, durchfahren 
hatte. Johannes allein kannte fieben ftudirende In— 
quilinen daſelbſt, vie alle auf Geld Tungerten und 
in Flügeln den Gefegneten des Herm verehrten. 

Indeß litt es unfern Freund nicht allzulange im 
Stübhen; er lag bald wieder im Fenſter und ſah 
durch die Puffe, welche unterdeß zwei ebenbürtige 
Colleginnen erhalten hatte. Da ſah er, wie ſo eben 
zwei lange Landsmannſchafter mit rothen Mützen, die 
Briefcouverts® in der Hand, aus dem Frenzel'ſchen 
Haufe ftürzten und der Poft zu. Ein Haufe Mani: 
häer trampelte hinter drein. Ein paar Burfchen- 
Ihafter folgten. Endlich erfchien Flügel felbft, wie 
ein Gott, der Segen fpenbet, Hoffnungen vernichtet. 
Dreizehn hoffnungslofe Phyfiognomien, auf denen fid) 
ſämmtlich getäufchte Erwartung malte, wurden jeßt 
in den Fenſtern ber vierten Etage fihtbar und fahen 
den Davoneilenden trübjeligen Blickes nad). 

Indeß mußten die Beobachtungen, die Johannes 
durch den Erfer und Buffe angeftellt hatte, nicht. bei= 
fällig bemerft worden fein, denn mit einem Male 
fenfte ji eine graue Wand herab; und wenn Jo— 
hannes nit die Kunft verſtand, um die Ede zu je 
hen, ftand es ſchlimm. Er tobte und verwünfchte ven 
Erferbau und lobte e8, daß Feine ſolchen Glasſchränke 
mehr geduldet würden. Er befam num Slügel nicht 
eher wieder zu Geficht, als bis dieſer durch Die end- 
Iojen zwei -Häuferreihen ſich durchfreſſen und ganz 
nahe war, wozu es noch einer ſchönen Zeit bedurfte. 
Johannes benubte dieſe, um ſeine Habſeligkeiten vol— 


10 


lends zufammen zu paden, und dem verehrten Leſer 
kann zugleich vertraut werben, warum Johannes grade 
heut auf dem Briefträger fo erpicht war. 

Die Sache war diefe. Der Onkel unſers Jo— 
hannes, ein Mann an Herzlichkeit, Biederkeit und 
Humor, wie e8 wenige giebt, hatte ein höchſt roman- 
tiſch gelegnes Waldſchloß ererbt; und da die Lage 
deſſelben fo wunderfhön und die Gegend jo roman 
tisch, daſſelbe mit feiner Bamilie feit Kurzem für be— 
vorjtehenden Frühling und Sommer bezogen; den 
Neffen aber bereits gelegentlih einladen lafjen, die 
bevorftehenden Frühlingsferien bei ihm zuzubringen, - 
und heute follte denn die officiele Einladung erfolgen, 
nebft erklecklichem Viaticum. 

Johannes, nachdem er noch ein paar juriſtiſche 
Wälzer in den Torniſter geſchoben, eilte wieder an's 
Fenſter und hatte den Moment ſo gut getroffen, 
daß er nicht lange zu warten brauchte, als Flügel 
aus dem Nachbarhauſe ſchief über herauſstrat. Dieſer 
ſo wie er unſern Freund, der auch der ſeinige war, 
anſichtig wurde, ſchwenkte ſeine Mütze hoch in der 
Luft, und verſchwand gleich wieder in der angren— 
zenden Tabadshandlung. 

Dieſes Mützenmanöver war aber ein Außerft gün— 
jtiges Phänomen für Iohannes, der fi Flügeln zum 
lebendigen Telegraphen abgerichtet hatte Ihm blieb 
jest nichts Eiligeres zu thun, als ever und Tinte 
zum Quittiren hervorzuſuchen; und bald trat der 
Gejegnete des Herrn in's Zimmer. 

Der Brief des Oheims, den zu Johannes frohem 
Schreck mehre Louisd'ore begleiteten, lautete aber wie 
folgt: 

„Mein guter Hans! 
„Laß Alles ſtehen und liegen und komm zu uns. 


’ 44 
Wir können des Frühlings nicht Herr werden. Du 
mußt helfen. Wir freuen uns Alle fehr auf Did. 
Aber um fiel zu leben, mußt Du Di für dieſe 
Ferien zu folgenden Bedingungen verftehen: 

A, Den Yuriften auszuziehen. 

B. Seine homöopathifhe Kur anzufangen. 

C. Keine Journale zu Iefen. 

D. Did nicht zu verlieben. 

„Ohne diefe Bedingungen halte ich ein poetiſch- 
humoriſtiſches Leben für nicht denkbar und ein foldyes 
wollen wir führen. Bring doch einen guten Freund 
mit. Wo möglih fo ein Stüd Poet; Du verftehft 
mid ſchon. In unfrer Gegend findet er Futter, und 
ih) hab es für's Leben gern, wenn ſich die Leute ber 
herrlichen Natur freuen. Ale grüßen herzlih und 
mahnen zur Eile. Oben an fteht j 

. Dein alter Onkel.” 

As Poftfeript waren nody folgende Worte von 

niedliher Mädchenhand gejchrieben: 
„Wir fürchten und ganz entſetzlich in dem alten 
Schloſſe. Helfen Sie uns ja recht balo, lieber Vetter, 
gegen die Gefpenfter kämpfen. 
Pauline. 
Zugleih im Namen der Mutter 
und Schweſter Maria.” 

Das Erfte, was Johannes nah Durdlefung des 
Briefs vornahm, war,. daß er fi) wie der böſe Feind 
über den Tornifter warf und mit einem Griffe zwei 
corpulente Panvectenhefte herausrig. Meiſters Cri- 
minal- und Biener's Prozeß folgten. in jchönes 
Kirchenheft mit diverſen Schwänzen ereilte daſſelbe 
Geſchick. So, rief er erleichtert auffpringend, ift der 
Yurift ausgezogen. Der Onkel hat ganz Net, wie 
konnte mir's einfallen, den Frühling auf dem Lande 


12 


dur dieſe Wälzer zu entweihen. Cr griff wieder 
nad) dem Driefe und las: „Keine homöopathifdhe Kur 
anzufangen.” Ich verftehe, ver Onkel hat einen treff- 
lihen Wein im Keller, wer ba nicht trinft, iſt nicht 
fein Mann. 

Drittens: ‚Keine Journale zu leſen.“ Das iſt 
freilich ſchlimm. Geſtern erſt hab ich ein halb Dutzend 
ſchöner Gedichte in die Zeitung für elegante Welt 
geſchickt, die gewiß bald erſcheinen werden, und wo 
durch ich mich bei den Damen in Buchenfels zu in— 
finuiven hoffte. Närriſcher Ontel. 

Viertens: „Sic nicht zu verlieben.‘ 

Diefe Worte ſprach Iohannes etwas leife wor ſich 
hin. Eine leichte Wolfe floh dabei über das ſchöne 
Geſicht. 

Nachdem Johannes auf dieſe Art das Schreiben 
commentirt, machte er ſich nah dem im ‚Briefe er- 
wähnten Freunde auf den Weg. 


2. 


Der Student Eginhard jchritt fo eben, Heine's 
Keifebilder in der Hand, mit großen Schritten im 
Zimmer auf und ab und declamirte: 

„Britannia, dir gehört Das Meer; aber das Meer 
hat nicht Waſſer genug, um abzuwafchen die Schande, 
Die der große Todte dir fterbend vermacht hat.“ 

Da ftürmte Johannes herein, den Brief des On- 
feld in der Hand. ‚Da lies, Beſter,“ rief er, und 
hielt dem Deflamator den Brief hin. Diefer aber 
ließ ſich nicht ftören und fuhr fort: 

„Nach langen Jahren noch werden die Stnaben 
Granfreih8 fingen und jagen von ver fihredlichen 


13 


Haſtfreundſchaft des Bellerophen, und wenn dieſe 
Spott- und Thränenliever binüberflingen über den 
tanal, giebt e8 fein Britannien mehr.“ 

„Nimm Bernunft an und höre mid,“ beſchwor 
ohannes; aber Eginhard gerieth nur noch mehr in's 
feuer, und rief mit erhobener Stinme: 

„Und Sanct Helena ift das heilige Grab, wohin 
ve Völker des Orients und Occidents wallfahrten in 
untgewimpelten Schiffen und fih ſtärken an ven 
haten des weltlihen Heilands, ver gelitten unter 
Sir Hudſon Lowe, wie es gejchrieben fteht in den 
vangelien des Las Cafes, Omeara und Antomardıi. 
höttliher Heine!“ 

Cr ſank erſchöpft in, den Seſſel. Johannes er⸗ 
udigte ſich jetzt, ob der Raptus vorüber? Aber 
tt der Antwort tönte es dumpf: „Wie e8 gefchrie- 
n fteht in den Evangelien des Las Caſes, Omeara 
dw Antomarchi. Göttliher Heine! Doch glei 
rauf ſprang Eginhard wieder auf und fiel dem Jo— 
mes um den Hals. 

„Weißt Tu e8 fon,” rief er, „ein neuer Band 
n Heine iſt erſchienen!“ — „Ta weiß id) nod) 
sured,“ ſprach Johannes, und reichte den Brief bin. 

„Böttliher Heine!” murmelte Eginhard vor fid 
ı und begann Das Schreiben zu lefen; aber kaum 
tte er es überflogen, als er mut beiden Armen den 
eund erfaßte und zu walzen begann. 

Johannes, mit der drolligen Art Eginhard's wohl 
annt, walzte mit, bis der Enthuſiaſt nach Yuft 
tappend ausrief: „Das ift übergöttlich. Wenn 
en wir?“ 

„Lieber heut al8 morgen.‘ 

„Auf der Stelle, Theuerftr! Das wird eine 
mmlishe Romantif. Die Coufinen, find fie hübſch?“ 


A 


„O ja, recht hübſch.“ 

„Natürlich, Pauline heißt die holdſelige Schrei— 
berin; alle Paulinen ſind wunderhübſch; ich habe 
noch feine häßliche gekannt. Und Maria! O engel- 
gleicher Name — 

„Maria möcht' ich Dich begrüßen 
Mein Herz hat ſtets Dich ſo genannt!“ 

„Armer Wilhelm Müller,“ fuhr der Enthuſiaſt in 
Wehmuth übergehend fort, „er hat dieſen ſchönen 
Frühlingstag nicht erlebt. Aber er ſoll leben. Komm 
Freund, wir bringen ihm einen Becher in Orlando's 
geifterreidher Tiefe. Wir haben es ja lange nid 
daran gewendet. Wein, Freude und dazwiſchen ein 
"Klang der Wehmuth und Erinnerung an heimgegan= 
gene Lieben — wir lieben e& ja Beide.“ 

Johannes ließ ſich das heute nicht zwei Mal fa 
gen, und wenn e8 dem Leſer gefällig, fo Hettern wir 
ein wenig mit hinab zu Orlando. 


3. 


Orlando's weltberühmter Weinkeller beſtand aus 
zwei Abtheilungen, wovon die erſtere das Forum 
hieß. Hier war es wohnlich, hell und gemüthlich. 
Hier ſaßen an den langen polirten und zierlich mit 
Wachsleinwand überzogenen Tiſchen die Advokaten, 
die in einem Viertelſtündchen einen Termin in dem 
nahegelegenen Rathhaus abzuwarten hatten; die Me= 
diziner, die auf ihren Krankenbeſuchen zufällig. an 
der verführerifchen Kelleröffnung vorbeigeführt wur- 
den; die Chirurgen, die fih Courage tranfen zur be- 
vorftehenden Operation, und Canditaten, die dafjelbe 
thaten, wegen des heutigen Examen; Sthaufpieler, 


15 


je tie Probe verfäumt; Studenten, die mit lobene- 
verthem Eifer in die Panvdecten gerannt, aber vom 
eltfjam lächelnden Famulus erfahren, daß die Frau 
Gemahlin des Pandectarius eines Söhnleins genefen; 
Dekonomen der Umgegend, tie Hafer und Wolle zur 
Stadt gebracht; Aefthetiler, Polititer und jchöne Gei— 
ter von Profeſſion. 

Berge von Zeitungen aus allen Weltgegenven 
vom ſächſiſchen Trompeter bis zum Moniteur Ottoman 
yurden alle Tage wie heut aufgeſchüttet und ver- 
hlungen. Zuweilen floh die gejellige .Wechfelrere 
sie Schmetterlinge über die Gefellihaft, zumeilen wie: 
er gab es ſtürmiſche Debatten. Alle politiiche, veligiöfe 
nd Titerariihe Farben und Parteien waren vertreten. 

Nur an gewiſſen Tagen herrichte Zoptenftille, 
5 der Abjolute ruhig neben vem Radicalen, der 
Supernaturalift ruhig neben den Nationalen, ver 
[lopath ruhig neben dem Jünger Hahnemann’s, und 
ian vernahm nur ein allgemeines Eſſen, wie bei ven 
yeufchredfen, die man auch nicht zu ſehen braudıt, 
m von ihrer begleitenden Nähe und ihrem Appetite 
berzeugt zu fein. Dieſes merkwürdige Phänomen 
md aber allemal an folben Tagen jtatt, wo Herr 
Irlando feine neu angelangten Brüden, Sprotten, 
achſe und feinen veliciöfen Cheſterkäſe im Tageblatte 
ngekündigt hatte. 

Links ab vom Foro führte aber ein ſchmaler, 
unkler Gang zu einer kleinen mit Eiſen beſchlagenen 
hür. Nur ganz entfernt vernahm man hier noch 
m Lärm des Forum. Gin düſtres Yämpchen be= 
uchtete Die dunfle Pforte Das war der Eingang 
ir zweiten Abtheilung des Kellers, das heilige 
zrab genannt. That fih die Pforte auf, fo fah 
tan in die finftere Felſenſchlucht hinein, durch welche 


16 


eine ſchmale Treppe zum tiefunterften Keller führte. 
Hier Lagen in dunkler, geheimnißvoller Stille vie 
Cabinetsftüde des Orlando, in langen Stüden. Was 
die Sonne vor langen, langen Jahren gekocht Hatte 
auf fernen weinfröhlicyen Hügeln, ruhte ſtill und hei- 
lig in den gediegnen Stüdfäffern. Hier lagerten bie 
Ihweren dunklen Ungarweine, die golonen Perlen des 
Rheingaus, die flammenden Italiener und ver ölige, 
dunfelfarbige Ausbruch des glühenden Hispaniens. 

Eginhard und Johannes, die Bruft voll Himmel 
und der Eine überdies drei wahrhafte Louisd'ors in 
der Zafche, hatten eben im Sonnenlichte geſchworen, 
einmal einen Ducaten nicht anzufehen und lebenpi- 
gen Leibes hinabzufahren zum Grabe. 

„E83 ift nut Jammerſchade,“ meinte Eginhard im 
Hinabklettern, „daß ih Hauf's Rathskeller nicht zu 
mir geſteckt habe,“ und Hans beſtellte eine Flaſche 
Pedro Ximenes. Zwei Wachskerzen erleuchteten dü— 
ſter die todte Weingruft; der dunkle Spanier flammte 
und duftete; die Römer klangen an einander. 

„Den heimgegangenen Lieben, begann Johannes 
anftoßend, „und allen guten Meenfchen, vie dort oben . 
wandeln in Freud’ und Schmerz!” 

„Und in Specie,” fügte Eginhard hinzu „Dein 
Onkel nebft den Holden Coufinen. Unſre Landsmann 
Ihafter würden jagen: es ift ein Pradhtphilifter. 
Jetzt aber, Hans, beſchwör' ih Did, vor allen Din- 
gen und mit allem Ernſte unfre poetifhe Situation 

gehörig zu überlegen. Man muß fid) verfelben nur 
vecht bewußt werden. Bedenke, da zwei Etagen tief 
im Eingeweide der Erde bei Kerzenlicht und gefüllten 
Bechern. Ueber uns trampelt die Profa herum wie 
toll, und über diefer jubeln vie Lerchen im himmli- 
ihen Blau. Sonft überall Frühling, die Blumen 


47 


Liegen ellenvif auf ven Fluren. Wir hören und fehen 
von alle dem Nichts. Aber mein dunkler PBararedes 
erzählt mir dafür von femer fernen fonnigen Heimath 
im Tieblichen Xereß, Abſeits der großen Straße liegt 
das freundliche Städtchen in heiterer Stille. Nur 
felten verirrt ſich ein Reiſender dahin wegen der 
Räuberbanden in den andaluſiſchen Gebirgen. Aber 
wer einmal dort geweſen, ber erzählt wie aus Tau⸗ 
jend und einer Naht von den herrlihen Bodegas, 
ven großen Weinfathebralen von Keved. Da ftehen 
in ſymmetriſcher Ordnung die Fäſſer zu taufenden, 
und langjam wandelt man auf und ab, madıt von 
Zeit zu Zeit Halt und fest ſich rittlings auf ein 
Faß, wie der alte Silen. Dann foftet man den 
ſüßen Pararedes, den duftigen Muskatello und jene 
unvergleichlihen bunfelfarbigen Weine, die wohl ein 
halb Jahrhundert erlebt und deren Duft allein ein 
todtkrankes Weinküferherz vom Tode erweden könnte. 
Während außerhalb Alles von der glühenden Hitze 
Spaniens verfentt wird, herrfcht in den Bodegas eine 
ewige erquidende Kühle Stoß an, Hand, Spanien 
lebe!" 

„Aber das freie Spanien,‘ fiel Diefer mit Wärme 
ein, „Das freie Spanien, auf dem fein Blut, feine 
Thränen und Flüche ermorbeter Mauren, Inkas und 
Niederländer laſten. Unglückliches Land, unglüdliche 
Sonne, die diefe goldne Fluth kochte.“ 

„Ppolitifire nur nicht gleich,” ſprach Eginhard, 
„wir figen ja nicht im Foro. Aber Du haft Recht, 
ih bin Spanien aud nicht grün. War das ver- 
wünſchte Land nicht, Der große aifer lebte noch und 
wir riefen heute noch Vive l’empereur! Nun fei nicht 
böfe,“ fuhr er, Johannes die Hand hinreichend, fort; 
„ich kenne ja wohl Dich Republikaner; aber ich kann 

Stolle, fämmtl. Schriften. XL" 2 


18 
mir einmal nicht helfen. Denke nur, Kaiſer ver großen 
Nation.” 


„Die große Nation war feine freie Nation,“ 
erwiederte Johannes ernft- „Aber unter dem liebens- 
würdigen Juftes- Milieu, den Doctrinaird und wie fie 
alle heißen, da ift fie e8 wohl, he? Jetzt aber, befter 
Hans, laß uns vor allen Dingen unfere Reife über- 
legen. Ich darf gar nicht daran denlen. Wann brechen 
wir denn auf?“ 

„Am Schönften wär" es,“ meinte Johannes, „des 
Abends. Wir gehen die Racht hindurch, da die Tage 
fo warn find.” 

„Göttlicher Gedanke,” rief Eginhard, „himmliſche 
Banderung. Rings Abenblauten frievliher Dörfer, 
heimfehrende Heervengloden. Das Abendroth glüht, 
bie heiligen Sterne ziehen herauf, wir immer barun- 
ter hinweg. Zur Rechten und Linken träumende und 
buftende Blumen. Wir hindurch unter Sang und 
Klang. Dann feimt der Morgen. Die erfte Lerdhe 
fingt ihr frommes Meorgenliev am dunfeln Himmel. 
Bald bliden wir in das brennende Morgenroth und 
wandern bireft hinein. Die Sonne fteigt herauf, wir 
immer vorwärts Bis neun oder zehn Uhr; dann Sieſte 
gehalten in irgend einem fchattig gelegenen Dorfe. 
Apropos, Dein Onkel fammt Coufinen haben wohl 
noch feine Ahnung von Heine?” 

„Wohl ſchwerlich,“ Tächelte Johannes. 

„Da muß ich das Bud, der Lieber noch einfaden,“ 
entſchied Eginhard. „Bruder, es wird himmliſch. Das 
war fhon immer mein Wunjch, einmal einen Yrühling 
zu verleben, in herrlicher Gegend, poetifch, hamoriſiſch 
unter guten frohen Menſchen.“ 


49 


4. 


O meine Leſer, ich hoffe, es iſt keiner unter Euch, 
der nicht einen Haufen duftender Frühlingsabende in 
der Bruſt trüge, ſei's in der Erinnerung, ſei's in 
der Hoffnung. Ich bitte Euch, fucht einen der ſchön— 
ften heraus, jo Ende Mai, ungefähr acht Tage vor 
der Himmelfahrt, wo ber tief fehattende Flieder, mit 
violetten Trauben überhangen, fteht, wo vie Alazien 
ihre Silberblüthen angezündet und die Kaftanien ihre 
Chriftbäumden des Mai's. Schon feimt der erfte 
Purpurblid in den Buſen der Roſen. Die Sonne 
ift gejunfen, die Lerchen fingen ihr nad im Abenb- 
roth. Aus der Ferne einjames Abenplauten, fonft 
Alles fill und Heilig. Nur die von der Sonne ver- 
laffenen Blüthen trauern und duften inniger vor Liebe 
und Sehnfudht. 

Dann provozir' ih an Euch, erleuchtete Häupter, 
die Ihr hinter Alten, Kranfenbetten und feichenpre- 
dDigten thut und fchaffet, was Eure Amtes, blidt 
einmal zurüd durch einige Decennien, in bie Seit, 
wo Ihr unbeweibt, aus froher Bruft das „Gaudeamus“ 
fanget, in ven Aubitorien und Karzern Euch enuyirtet, 
am Ende des Halbjahres aber froh und felig hinaus 
zoget eines Abends in den Frühling, in bie Heimath; 
— Ihr werdet ein Auge zubrüden, wenn fid) unfre 
Wanderer bereit8 innerhalb des ſtädtiſchen Polizei— 
diſtrikts, wo alles Rauchen bei harter Strafe verboten 
war, ihre Cigarren angezündet und himmelglücklich 
dahin felbanderten. 

Eyinhard hätte die ganze Welt umarmen mögen 
und grüßte Alles, was ihm in den Weg fam; Hübjche 
und Häßliche, Belannte und Unbefannte, Jung und 


20 


At, daß Johannes in gerechtes Exftaunen gerieth über 
ſolche Bekanntſchaft. 

„Wachſen denn Deine Bekannten aus der Erde 
hervor?“ fragte er, der aus Höflichkeit die Mütze nicht 
auf den Kopf bragpte. 

„Sind 'alles herzensgute Leute,” verficherte Egin- 
hard, „fieh, ſieh!“ — Ein wunberliebliches Mäd⸗ 
chen ſchlüpfte ſo eben freundlichſt, doch ehrerbietig 
gegrüßt, mit einer Purpurglut auf dem Geſichtchen, 
vorüber. 

„Wer war denn der Engel?“ fragte Johannes. 

„Ein göttliches Kind!“ 

„Wer war ſie denn?“ 

„Ich weiß es nicht.“ 

Jetzt wurde es Johannes außer'm Spaße. Er 
zankte und ſchwor, lieber vorauszutraben, als ſich hier 
vor den Leuten blamiren zu laſſen. 

„Ein göttliches Kind!“ rief Eginhard in beglückter 
Erinnerung und ehrerbietig ſenkte ſich ſeine Mütze vor 
einem alten Invaliden, der ganz verklärt dankte. 

Johannes begann jetzt zu traben. Eginhard hin- 
terdrein und fo gelangten fie zum äußern Thore. Yeb- 
terer that hier einen ungeheuern Sprung in’8 Freie, 
ſchüttelte fih, drehte fih um, fchlug drei Kreuze gegen 
die Stadt und erklärte: 

„Diefe drei Kreuze gelten nicht euch, holde Kinder 
mit den Blumengefihtern, nicht euch, Prachtphililter, 
bie ihr den Bruder Studio unter die Arme greift, 
nicht euch, fivele Kneipiers, die ihr nicht fogleih wegen 
eines foliden Pumpus das hochweife Uniwerfitätsgericht 
in Feuer und Flammen fegt, fondern leviglid euch 
heimtückiſche Schnurren und Pedells, die ihr uns das 
Leben, vie holde freundliche Gewohnheit des Dafeins 


24 


verbittert, dir romantifhem Karzer und euch, ſaure 
Linfen des Convikts.“ 

Während Eginhard feine drei Kreuze erklärte, 
blickte auch Johannes, auf feinen Wanderjtab gelehnt, 
in die Straßen zurüd. Eine leife Wehmuth zog über 
das reizende Geficht, eine Thräne fehien nicht fern, als 
Eginhard zu zanken anfing, daß Johannes dem Abend- 
roth den Rüden zufehre. 

„Was baft Du noch an dem Neſte?“ frug er, 
und die Zwei wanderten in den Abendhimmel hinein, 
„Iſt Doch, als für Dir ein Liebchen drinnen im Stein- 
haufen, in Thränen und Schmerz. Wie müßt id) 
thun; Larifari. Andre Städtchen, andre Mädchen. 
Mein Herz ift groß, da fümen ein paar Dutend 
himmliſche Kinder Cotillon tanzen und thun es aud). 
Nur feine Königin erwählt,; da bin ich ftrenger Re— 
publifaner.” | 

Der Sprecher verbreitete ſich jetzt wetter über feine 
Herzensangelegenheiten, über fein Glüd bei den Da . 
men, wo er gewöhnlid nicht ermangelte, tüchtig auf- 
zufchneiden. Mit feiner Herzensrelation zu Ende, blieb 
er plöglich ftehen, ftütste fid) auf feinen Stab und 
Ihalt auf Johannes: „Großer Menſch,“ hob er an, 
„es ift nicht auszuhalten mit Dir, bift fo hübſch und 
noch nicht einmal ein Heines Liebeshändelhen. Sieh, 
wie allerliebft e8 wär’, wenn wir fo in Compagnie 
unfre Herzen vermietheten an niedliche Inwohnerinnen. 


Das iſt ungemein praftifch, gleiche Liebe, gleiches In— 


terefje. Aber was it mit Dir anzufangen, - Nova 
Zemblianer, Eisbär, Kiejelherz.“ 

Yohannes fchien etwas erwiedern zu wollen, doch 
ſchwieg er und fragte nad einer Baufe: „Glaubſt Du 
denn bei allen Deinen Liebfchaften wahrhaft geliebt zu 
haben?“ 





22 


„Wie,“ rief Eginhard, „ich nicht geliebt? Heiliges 
Abendroth, ich nicht geliebt! Hans, fol ih Dir Hi- 
jtorien erzählen? In feinem Romane kann's toller 
hergeben, als in meiner erften wahren Liebe. Mein 
Herz war ein Vulkan. Jetzt iſt's ausgebrannt; und 
was ich Dir vorhin von meinen Liebſchaften erzählte, 
it bloße Verzweiflung.” 

„Bloße Verzweiflung?! 

„Sa, Berzweiflung mit Philofophie vermiſcht.“ 

War's denn eine gkädliche oder unglüdliche Liebe? 
fragte Johannes. 

„Eine unglüdliche,” tönte es dumpf. 

„Und haft mir hie davon erzählt?” 

Eginhard fiel feinem Reiſegenoſſen um den Hals. 
„D Hans,” rief er, „laß mid weinen, an treuer 
Freundesbruſt heiße Thränen weinen; aber — Hans 
ih beſchwöre Did — reife alte, kaum verharrichte 
Wunden nicht auf — laß mich fchweigen.” Den Jo— 
hannes, der das Weſen feines Freundes nur zu gut 
fannte, war lange nicht fo romantiſch zu Muthe, ale 
legterer glauben mochte. Er war überzeugt, daß es 
mit diefer unglüdlichen Liebe nicht viel auf ſich habe; 
erfüllte aber Eginhard's Wunfh und fragte nicht 
weiter. 

Diefer dankte gerührt mit den Worten: 

Laß diefen Blick und Händedruck Dir fagen, 
Was unausiprechlich iſt.“ 


Unterveß brach die Dämmerung tiefer herein und 
dichtere Flore ſanken auf den geftorbenen Abend herab. 
Eginhard fprad noch viel über Liebe, Tod und Un— 
fterblichfeit, al8 in der Ferne ein erleuchtetes Haus 
fihtbar ward, und bald darauf Töne von Tanzmuſik 
durch die Stille des Abends baherwehten. ‘Diele 


23 


Zanzmufif gab Eginhard wieder vollauf Stoff zu me 
lancholiſchen Betrachtungen. 

„Keine Muſik,“ ſprach er, „hat fo etwas wehmüthig 
Ergreifendes als Tanzmufit, welcher man einfam von 
fern zuhört. ' E8 Liegt ein eigener Charakter in Diefen 
Tönen. Es ift, als ftünde ver ferne Zuhörer body 
über dem Irdifchen und als ftaunte er gleihfam auf 
das finnverwirrende Treiben herab, deſſen Nichtigkeit 
ihm jetzt erft recht klar würde.“ 

Alsbald erreihten unfere Freunde den Tummelplat 
ber Luft. Es war ein Iuftiges Lanpvölfchen, das hier 
eine Hochzeit feierte. Johannes beftellte fich einen fri- 
ſchen Trunk und fette fih in eine Laube am Haufe, 
in welche ter Abenpftern lieblich ſtrahlte. Eginhard 
war bald im Gedränge verſchwunden. 

Der Abend war wunderſchön und frühlingswarm. 
Rings träumende Blumen, duftende Stille. Immer 
goldener tauchten einſame Sterne aus den Tiefen des 
Himmels herauf und nur der etwas wüſte Lärm des 
Gaſthauſes, die grellen Töne der Tanzmuſik ſtörten 
die Harmonie des Abends. 

Johannes wandelte den Gang am Hauſe entlang 
und trat in den nächtlichen Garten.. Hier war es ftil- 
ler und heiliger. ine Heine Terraffe von duftenden 
lieder umwachſen, erhob fih im Hintergrunde, und 
leiſe, damit er die goldenen und filbernen Gloden und 
Kelche nicht aufwede, ftieg Johannes hinauf und über- 
ſchaute die nächtliche Gegend. 

Aber bald wandten fich meine Blide nad) ver Ge— 
gend, die er daher gewandert, und 'weilten lange da— 
ſelbſt. War es die Wonne des Abends oder eine 
andere Duelle im Innern des Jünglings, daß ihm 
eine Thräne in die Augen trat. Den Lippen aber 
entfchwebte ein füßes Geheimniß, das bisher wie ein 


24 


Räthſel tief in feiner Bruft geruht hatte — der Name 
— Eugenie, 

Dem aufmerfjamen Leſer wird jetzt hoffentlich über 
unſern Johannes ein Licht aufgegangen ſein. Hatte 
ver heitere Frühlingsmorgen, wo er nad) dem Brief⸗ 
träger fpähete, das Dejeuner bei Orlando nichts ver 
rathen, der Abſchied am Thore nur ahnen lafjen, fo 
fonnte er doch am tiefſchattenden Abend, wo die Sehn⸗ 
ſucht, dieſe füge blafle Tochter der Unfterblichkeit, 
ftärfer duftet, wie die Nachtviole, nicht verborgen blei- 
ben, daß auch in feinem Herzen ein holdes Bild lebte, 
daß vielleicht Die Liebe ihre erjten golpnen Funken hin⸗ 
eingeworfen hatte. Gleichwohl ſchien e8 nur dus erfie 
Srühlingsahnen, das erſte Sehnen der Knospe zur 
Sonne. Wie ein ſeliges Morgenroth war Eugznien’s 
Bud vorüber geſchwebt. Ob er ſie felbit je wieder 
zu ſehen hoffen konnte, das war der ſüße Schmerz 
feines Innern. War das Mädchen nicht auf der 
Durchreife begriffen geweſen? 

Aber dich, heilige Stunde des erſten Findens, des 
erjten jeligen Himmelsblickes in jene Welt, ver erften 
fihern Gewißheit von einem Engellauve, von einer Un- 
fterblichkeit — dich hatte er empfunden. 

Johannes mußte lange nach Eginhard fuchen und 
fand ihn endlich mitten unter ven Tanzenden, ein lieb⸗ 
liches Landmädchen am Arme, Iuftig dahin walzend. 

„Sreif zu, Hans,” rief der Tänzer ſchon von 
ferne; „lerne das Glück ergreifen.“ 

Aber Johannes war gar nicht zum Tanzen aufgelegt, 
und mußte nur im Stillen den Freund belächeln, der 
noch vor Kurzem ſo pathetiſch über die Nichtigkeit alles 
Irdiſchen, über Tod und Unſterblichkeit deklamirt hatte. 
Endlich gelang es ihm, Eginhard zum Weiterwandern 
zu bewegen. 


. 25 

„Wir hätten immer noch ein Weilchen bleiben fün- 
nen, meinte letterer; „wer den Augenblid ergreift, ift 
ver rechte Mann. Es war ein nette® Rind, meine 
Tänzerin; fie hat nod) zwei Schweitern und einen Bru⸗ 
der. Ihr Gütchen Liegt zwei Stunden von bier. Ihr 
Bräutigam will mit ber Hochzeit nicht länger als ein 
Jahr warten; ich verdenk's ihm nicht.“ 

Eginhard ſprach noch Vieles über die Familien— 
angelegenheiten ſeiner Tänzerin, und dem Johannes 
war es ein Räthſel, wie fein Freund ſogleich mit Gott 
und aller Welt befannt ımb vertraut werben fünnte. 
Er befragte ihn darum. 

„Wie ich. e8 anfange, lachte dieſer, „nun das giebt 
- fid) von- felbft. +Mein Motto ift: Traurig mit den 
Trauernden, froh mit den Fröhlichen. Da kann e8 gar 
nicht fehlen. Man ſchickt fich in die Zeit und Umftände 
und fieht feine Leute an. Freilich mit einer Vorleſung 
über Zod und Unfterblichkeit darf ich auf einem Tanz⸗ 
fanle nicht fommen. Hätteft auch) em Wenig mit Tdn- 
nen herumfpringen, num werde ich im Laufen früher 
cabuf werben als Du.” 

Immer goldener brach die Nacht herein. Die 
Freunde blieben oft ftehen, fid) am herrlichen Sternen- 
himmel zu orientiren. Eginhard deklamirte: 

„Die Sterne, die dort oben wimmeln, 
Sind Himmel, jagt man, fel'ger Luft — 
Der jeligfte von allen Himmeln, 

Das ift der Himmel in der Bruft. 

Es ift Jammerſchade,“ fuhr er fort, „Daß ber 
herrliche Schmidt von Yübed fo wenig befannt ift. Ich 
habe feine Lieder daheim; fie find ein wahres Yabfal. 
Wo nur der Gute die Mufe herbefommt; fo ich nicht 
irre, iſt er beim Rechnungsfache in vabeck angeſtelt; 
Ziffern und Poeſie!“ 


26 


Die Wanderer famen wieder auf die Sterne zu 
fprehen. Johannes belehrte den Freund, wie man 
ſchnell und leicht den Polarftern finden könne; man 
dürfe nur die beiven hinterften Radſterne des großen 
"Wagens als Lineal gebrauchen und von biefen auf- 
wärts eine gerade Linie in Gedanken ziehen, fo fei ver 
erfte helle Stern, auf den man ftoße, der Polarftern 
oder die Cynoſura. 

Eginhard ärgerte fih, daß viele Theologen ven 
Leuten vorſchwatzten, auf den Sternen wohnten reine 
Geiſter, körperloſe Eſſentialia, da von folden doch 
Millionen in einem Fingerhute Platz hätten und feine 
Drionen und Milchſtraßen dazu brauchten. 


5. 


Halb von finſtern Waldungen, halb von Weinberg⸗ 
ketten und fröhlichen Saaten umgrenzt, ſtreckte das alte 
Schloß Buchenfels ſeine grauen, epheuumrankten Stein⸗ 
maſſen mit allem Trotze einer ehemaligen Raubburg 
in die blaue Frühlingsluft. Wie wohl der eine Theil 


des Schloſſes faſt ganz unbewohnbar war, ſo gewährte 


doch der andere, der ſein Daſein einer weit ſpäteren 
Zeit verdankte, einen recht angenehmen Sommerauf—⸗ 
enthalt. Gleichwohl wollte ſich der weibliche Theil 
der Familie Wertheim mit dem alterthümlichen Ge⸗ 
bäube, mit feinen hohen Gemädern, dunkeln Kreuz- 
gängen, Wenbeltreppen und unergründlichen Yeljen- 
fellern ganz und gar nicht befreunben, wie jehr man 
fonft der mittelalterlihen Romantik im Walter Scott 
zugethan war. 

Der unbewohnte ältere Flügel des Schlofjes ftand 
vollends im Berruf, und es unterlag gar feinem Ywei- 


27 


fel, daß er vom Grunde bis zum Giebel voller Ahn- 
frauen, Kobolve, Zwerge, Teuerfpeiern und Rettenflirrer 
wimmele. War e8 doch felbft der weiblichen Neugier 
noch nicht gelungen, das Füßchen einer fchönen Be— 
wohnerin von Buchenfels nach dem Bibliothefenfaale, 
bem noch am beften gehaltenen Gemache des alten 
Schloſſes zu lenken und dem räthfelhaften alten Bi— 
bliothefar einen Beſuch abzuftatten. 

Wie ein altes Inventarienftüd war biefer einzige 
Bewohner des alten Flügeld von einem Befiter auf 
den andern fortgeerbt und endlich an den alten wadern 
Wertheim gelangt. Laut Teitamentsflaufel erhielt ex 
freie Wohnung, Koft, nebft einem kleinen Jahrgehalte 
‚ von dem jedesmaligen Beſitzer. 

Bergebens hatte ihm Wertheim einen wohnlicheren 
und freundlicheren Aufenthalt im neuen Scloßtheile 
angeboten; vergebend war er oft zur herrichaftlichen 
Tafel eingeladen worden; der Bibliothekar wußte fi 
immer zu entfchuldigen und endlich hatte man den alten 
Sonderling gehen Laffen. 

Aber eben dieſes zurüdhaltende, menſchenſcheue 
Berhalten des Mannes gab dem ſchönen Publiko Stoff 
zu taufenverlet abenteuerlihen und romantiſchen Ber- 
muthungen; und Signor Baſilico, dies war fein Name, 
war nothwendigerweiſe Niemand anderes als der Ober- 
bireftor und Regiffeur von alle den Ahnfrauen, Ko— 
bolden, Gnomen und Sprühteufeln. Ein fchwarzer 
Kater, eine höchſt myſtiſche Perfon und fteter Be— 


gleiter des Bibliothekars, war nicht geeignet, Die 


- Bermuthungen des fehönen Publikums in Zweifel zu 
ftellen. | 

Der geneigte Leſer, jo er das erſte Kapitel dieſer 
außerordentlihen Hiftorte mit Andacht ftudirt hat, 
wird fi) über die Beſtandtheile des ſchönen Publi= 


\ 


28. 


kums auf Buchenfeld nicht lange den Kopf zerbreden. 
Sie waren in der Welt Niemand anderes, als vie 
Berfaflerin des niedlichen Poſtſeripts im Briefe an 
Sohannes, die wunberliebliche fiebzehnjährige Pauline 
und die reizende Marie, die zwei Jahre ältere Schwe- 
ſter. Auch die Mutter des ſchönen Schweiterpaures, 
Wertheim's trefflihe Gattin und Hausfrau und des 
Paftors fehr hübſche Camilla müfjen mit vollem Rechte 
hierher gerechnet werben. 

Die antiquariihen, heralpifchen und artiftifchen 
Unterfuhungen des alten Schloßtheiles waren daher 
mit Recht auf die Ankunft der courageufen Muſenſöhne 
aufgefchoben worden. . Daxließe ſich eher etwas rigfi- 
ven, hatte Bauline gemeint. 

„Ro fie nur bleiben,‘ frug dieſe eines Tages beim 
Nachmittagsfaffee, der auf dem Bulfone des Schlofjes 
eingenommen ward, von wo man bie erguidende Aus- 
fiht über das große ſchöne Thal genoß; „Du baft 
den Brief gewiß wieder liegen laſſen, liebes Vä— 
terchen 2° 

„Schweig,“ zankte Wertheim in feiner drolligen 
Manier, indem er die Tabafswolfen in vie blaue Luft 
blies, „Legen lajlen? Wünſcht Jemand, daß der Hans 
da wäre, bin ich's. Der berrlihe Junge, hab’ ihn 
faft anderthalb Jahre nicht gejehen. Ihr ſeid's gar 
nicht werth, daß er die fchöne Werienzeit unferer Ein- 
fievelet zum Opfer bringt. Er thut es auch blos mir 
zu Liebe.“ 

„Wie doch die Zeit vergeht,” ſprach finnend Die 
Mutter. „Du befuchteft nody die Schule, Baulıne, 
als er und das letzte Mal befuchte, und Marie war 
nicht lange vorher confirmirt worden.‘ 

„Iſt vafend im vie Höhe geſchoſſen,“ bemerkte 


29 


stheim, „ih ſprach ihn das legte Mal, als ic 
& feine Univerſitätsſtadt reiſte.“ 
„sb tann mih nicht viel auf ihn befinnen,“ 
ste Pauline. 
„DO, ec fteht noch vor mir,“ ſprach Marie, „mit 
Raftanienloden; er war immer fo janft und ſchüch— 
. Cr iſt gewiß recht hübſch geworden.” 
„3a, aber ur nicht gleich Berliebend angefangen, 
. Seufzer und Mondſchein,“ proteitirte der Alte, in 
w Zone, der zu gutmüthig Hang, ald daß er hätte 
ugen können, „das wäre mir: Da wollen wir vie 
I vernünftiger anwenden.” . 
„Beruhige Dich, Väterhen, lachte Marie, „das 
e ja zu tragiſch.“ 
„Bor mir bat er auch Ruhe, entſchied Pauline . 
ı deflamirte mit Pathos: 
u „Ruhig werd' ich ihn ericheinen, 

Ruhig geben ſeh'n. 

Seiner Augen ſtilles Weinen 

Kann ich nicht verſteh'n.“ 
Alle mußten lachen. Nur der Vater brummte für 
2 „babt gut Lachen, va die Gefahr nicht da iſt.“ 


b. 


Es lebt ein Weib im Norden, 
Ein ſchönes Weib, königlich ſchön; 
Die hobe Cypreſſengeſtalt 
Umſchließt ein lüſtern weißes Gewand; 
Die dunkle Lockenfülle, 
J Wie eine ſelige Nacht, ergießt ſich 
Von dem hoben, flechtengekrönten Haupte. 
Sie ringelt ſich träumeriſch ſüß 
Um das ſüße blaſſe Antlig, 
Und aus dem füßen blafien Antliß, 
Groß und gewaltig, ſtrahlt ein Auge 
Wie eine ſchwarze Sonne. 


30 


„Jetzt frag’ und beſchwör' ich Dich, Beſter,“ fragte 
Eginhard den Johannes, mit dem er in dem fchönen 
Frühlings-Nachmittage dahin wanderte, „wo finveft Du 
vom feligen Hiob, dem Urahn aller Poeten, bis auf 
heute eine Dame einfacher, malerifcher, himmlifcher ge⸗ 
zeichnet, als in biefen wenigen Worten des göttlichen 
Heine ?" 

Sohannes, der nicht unbelefen war, begann jett zu 
citiven, aber mit fehlechtem Erfolge. Welch’ Herrliche 
poetiſche Gemälde weibliher Schönheiten er vorbrachte, 
‘ fie waren dem Freunde nicht® gegen die obige Heine’: 
She Zeichnung. Unglüdlicherweife gerietb der Citant 
auch auf Fouqué's Corona, und begann mit dem be= 
fannten Berfe: 


„Sa dieſe finftern braunen, dunkeln Loden ꝛc.“ 


Der Gedanke an douquẽ brachte den Heineaner in 
Harniſch. 

„Schweig mir von dieſem Ritter von der trau⸗ 
rigen Geſtalt,“ rief er. „War er es nicht, der 1815 
den in ſein Reich zurückgekehrten Napoleon nicht als 
Kaiſer anerkennen wollte? O armes Poetlein. Wo 
tauſend und aber tauſend Herzen zum Himmel jubel⸗ 
ten und freudig bluteten für den Dann der Yahrtau- 
jende, den weltlichen Heiland, da will ſich der Herr 
Baron ein romantifches Air geben, fchlägt fih in die 
Bruft und erklärt, er werbe biefen Dann nicht aner= 
fennen. O Lächerlichkeit, und das will ein Dichter fein ? 
Aber man braucht nur einen Blick auf feine Verſe zu 


werfen, um von biefem verbreiteten Irrthume zurüd- | 


zufommen.‘ 

Johannes, obſchon er an des Freundes Hyperbeln 
gewöhnt war und aud wußte, daß fie bei Weitem 
nicht fo gemeint waren, konnte doch dergleichen ober= 


- 





31 


flächliche Abfprecherei nicht leiden. Er nahm ſich daher 
des Barons mit Wärme an, ohne ein großer Verehrer 
feiner Poefie zu fein. 

Da Eginhard ſchon aus Vorurtheil gegen Fouqué 
wenig von ihm geleſen hatte, wie überhaupt die com= 
plette und gründliche Lectüre eines Schriftftellere, wenn 
er nicht fein Liebling war, nit zu feinen ftarken 
Seiten gehörte, fo ward e8 Johannes leicht, ihm feine 
Abſprecherei tüchtig fühlen zu laffen. Eginhard ließ 
fi) indeß fein graues Haar wachſen. 

„Da fällt mic gleich,” ſprach Johannes am Schluffe 
feiner Strafpredigt, „ein recht Liebes Liedchen von Fou⸗ 
que ein, das, wie Klein und unfcheinbar es fcheint, ven 
Dichter gewiß von keiner unliebenswürdigen Seite zeigt.’ 
Er recitirte: 
„Das iſt ber wohlbetannte Flieder, 
Hier ſaß ich oft, ein frohes Kind, 
Und ſtammelte die erſten Lieder 
Gewiegt von Träumen hell und lind. 


„Das Glück, auf ungeſtümer Well 
Entfloh'n mir in des Sturms Gebraus, 
Such' ich an der geliebten Stelle; — 
Ach, Alles ſieht viel anders aus. 


„Die kleine Bank iſt weggenommen, 
Hochauf wuchs das Geſträuch umher, 
Und mag ich ſelbſt auch wiederkommen, 
Doch kommt das frohe Kind nicht mehr.“ 


„Was da,“ entgegnete Eginhard, „eine Schwalbe 
macht keinen Sommer. Indeß was wahr iſt, iſt wahr. 
Das Kedchen iſt nicht übel. Den Napoleon hätte aber 
der Baron demungeachtet anerkennen ſollen. Guter 
Hans, willſt Du mir wohl die Verſe wiederholen, 
damit ich ſie lerne.“ 

Johannes that es. 


32 


„Und mag ich felbft auch wieberlommen, 
Doch kommt das frohe Kind nicht mehr‘ 


wiederholte Eginhard mit Ausprud deflamirend. „Ein 
himmlifches Lied!“ rief er entzüdt. „Hans, warum 
haft Du mir das fo lang verfchwiegen?. Wie, das 
fonnteft Du Deinem Freunde thun? Bei Gott, dus 
war fein Meijierftreih, Oetavio!“ 

Sohannes mußte laden und fragte, ob er mit 
Fouqué ansgeföhnt fer? 

„sa, aber, befter Hans,” war die Antwort, „ven 
Kaifer Napoleon nicht anzuerfennen — ich bitte Di!“ 

Indeß ging die Reife vorwärts. Aber je näher 
die Treunde dem Ziele ihrer Wanderung kamen, deſto 
reizenber ward die Gegend. Immer üppiger und blü- 
hender quoll die Vegetation. ine Heine Anhöhe lag 
vor ihnen. Sie ward im Sturm erflettert. 

„Ab!“ riefen Beide mit Einem Munde, als fie 
die Höhe erftiegen hatten, und ihre Blicke entzüct 
über das große herrlihe Thal fchweifen Tiefen, das 
in aller Pracht des Frühlings vor ihnen ausgebreitet 
lag. Da wogten die grünen Kornfluren, von filber- 
nen Bächen, Obſt-Alleen und freundlichen Meiereien 
durchſchnitten. Der Horizont bildete eine Kette von 
Weinbergen und dunklen Waldımgen. 


„Wie ſchön, o Gott, if deine Welt gemacht, 
Wenn fie dein Licht umfliekt. 

An Engeln fehlt's ihr nur, und nicht an Pracht, 
Daß fie fein Himmel iſt!“ 


deflamirte Eginhard, während fi) Johannes nicht fatt 
ſehen konnte an dem herrlihen Panorama. 

„Schau nur die göttliche Burg, jubelte der er- 
ftere, „bvert in der Ferne am Waldesrande, Tinker 
Hand, wie altersgrau, dunkeltrogig und kühn. Das 


33 


nenn’ ih Romantik, Aber wie weit haben wir noch 
bis Buchenfels ?“ | 

„Nach Ausſage des Mannes von vorhin,‘ erwie⸗ 
derte Johannes, „vier Stünd 

„Das ift ewig Schade,“ Hlagte Eginhard, „da liegt 
e8 nicht in dieſem binmlifchen Thale, ſondern jemfeite 
jenen Weinbergen oder hinter dem Walde” - 

Ein Landmädchen kam des Weges daher. 

„Du, Schätschen,” rief Eginhard, „wie heißt denn 
bie Burg oder das Schloß dort, was Du ſiehſt links 
beim Walde ꝰ 

„Die Buche,“ war die Antwort. 

„Die Buche?“ fragte Eginhard. „Dunkel iſt der 
Rede Sinn, erkläre Dich deutlicher, ſchönes Kind.“ 

„Nun Buchenfels,“ belehrte die Bäuerin, „wenn 
Er es ſo genau wiſſen will.“ 

„Buchenfels!“ rief Eginhard, ſprang auf Johannes 
zu, umarmte dieſen und gallopirte mit ihm, trag feines 
Widerftrebens, ven Hügel hinab. „Buchenfels! Haft 
Du's gehört?” wiederholte er, unten angelommen. 

„Freilich,“ entgegnete Johannes ziemlich ärgerlich; 
„aber was muß das Mädchen denken?“ 

„Ras kümmert und das einfältige Ding,“ lachte 
Eginhard; „aber jett laß uns allen Ernſtes überlege, 
wie wir der Burg beifommen.” 

„Wie denn beifommen ?“ fragte Johannes. 

„O simplicitas!“ zankte Eginhard, „würde es 
denn nicht zu proſaiſch und alltäglich herauskommen, 
wenn wir auf dem gewöhnlichen, breitgetretenen Wege, 
den jeder Philiſter in ſeiner Verſtocktheit dahin trottirt, 
zum Schloſſe gelangten? Das iſt Nichts für Genies, 
wie wir ſind. Wir müſſen uns eine Entführung aus 
den Ritterzeiten denken. Du biſt der Knappe, ich der 
Ritter; oder meinetwegen umgekehrt. So faſſen wir 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVI. 3 


34 


bie Burg im Rüden, vielleiht durch den Schloßpark, 
falls einer da ift.” 

„And werden von der Dienerfchaft entvedt, und . 
als Spitbuben durchgebläut,“ Sprach Johannes. 

„Um jo beſſer,“ erwiederte Eginhard. „Da giebt 
es Föftliche Abenteuer, voller Kampf, Heroismus und 
höchſt romantischer Entdedungsjcenen.‘ 

„der von den Hunden gepadt.“ 

„Rod ſchöner,“ ſprach der Enthufiaft, „fo müſſen 
die Burgfräuleins Charpie zupfen für unſere Wunden.” 

Als ſich Johannes auf ‚ale dergleichen romantiſche 
Excentricitäten nicht einlaffen wollte, ſprach Eginhard 
mit traurigem Pathos: 

„D Hans, Du bift der löwenkühne Jüngling nicht, 

Der in Alcala von mir Mſchied nahm, 

Zu Dent ein unterbrüdtes Heldenvolk mich ſendet. 


Sp verſprich mir wenigſtens,“ fuhr er nad) einer Paufe 
fort, „nicht fo barbarifch fortzufchreiten, als ob bie 
Burg davon Tiefe, ſondern ganz piano, damit wir nicht 
am hellerlichten Tage im Hafen der Glüdfeligfeit ein- 
laufen. Am Tage, Hans, bevenfe, welche Proja! 
Dämmerung muß es wenigftens fein. Am Liebften 
freilich wäre mir Mitternadht.‘ 

„Da bin ich gern dabei,“ geftand Johannes. 
„Wenn wir fie beim Abendeſſen überrafchen fünnten, 
müßte e8 herrlichen Spaß geben.” 

„Es wird ganz himmliſch,“ jubelte Eginhard, „fo 
eben ſchlug ed vier Uhr. in der Dorffiche da drüben. 
Drei Stündchen bis zum Schloſſe find es höchſtens. 
Wir machen fünf daraus. So wird es paffen.” 

Und fie fehritten wohlgemuth dahin. R 


35 


7. 


Marie und Pauline waren von einem Spazier⸗ 
gange in die Walderdbeeren zurückgekehrt. 

„Sieh mal die. fhönen Beeren, . Mutter,” rief 
Pauline, ihr Körbchen hinhaltend, Die. folen uns 
fhmeden zur Abenpmahlzeit.” 

„Und immer noch feine Nachricht won den Afabe- 
mikern?“ brummte der Bater. 

„Wir haben uns die Augen audgegudt, die Straße 
entlang,“ ſprach Marie. 

„Begreife nicht, wo fie bleiben,“ murrte Wertheim, 
„der Frühling ift fo ſchön, daß e8, weiß Gott, um 
jede Stunde Schade iſt.“ 

„Geduld, Väterchen,“ ſprach Pauline, „ich will den 
Herren ſchon den Tert leſen.“ 

„Der Hans ift doch ſo ein Stück Poet,“ fuhr der 
Alte fort, „und die ſind auf den Frühling in der 
Kegel verſeſſen.“ 

„Da macht er wohl Gedichte?“ fragte Pauline. 

„Sehr ſchöne,“ ſprach die Mutter, „ich beſitze ſelbſt 
einige.“ 

„O die mußt Du uns zeigen,“ riefen die beiden 
Mädchen. 

„Iſt ja ein wahres Genie,“ fügte Pauline hinzu. 

„Ja wohl, ein Herzengjunge ift es,“ erwieberte der 
Vater. „Nur eind will mir nit an ihm gefallen. 
Er giebt auf Napoleon nichts.” 

„Auf unfern Liebling!“ rief eifrig Pauline, „nun 
das wollen wir doch ſehen.“ 

„Wirſt ihn aud) nicht befehren,‘ ſprach der Vater. 

„Die zu Liebe, VBäterchen, wirb er den Kaifer ſchon 
anerkennen,“ tröftete Marie, 3x 


’ 


36 


„Da kennſt Du ihn übel,” war Wertheim’s Ant- 
wort. „Hans ift eingefleiſchter Republikaner. Ein 
zweiter Cato.“ 

„Ein Republikaner, was iſt denn das für ein 
Ding?“ frug Pauline. 

„Der keinen König haben will, “ belehrte Marie. 

„Alſo eine Königin?“ 

„Auch nicht,“ lachte der Vater. 

„Auch nicht,“ fuhr Pauline fort, „was will er 
denn ? 

„Ueberhaupt gar keinen Fürſten, das Volk ſoll ſich 
ſelbſt regieren.“ 

„Närriſche Anſichten!“ 

„Ja wohl, mein Paul,“ ſprach der Vater und ſtrich 
mit Wohlgefallen die ſeidenen Locken aus dem blühen- 
den Antlis ſeines Lieblings, „da haft Du ſehr Redt. 
Ic Iobe mir ven Napoleon, vor dem hatte man Re— 
jpect; aber wie fieht e8 in einer Republif aus!“ 

Wenn Wertheim fein jüngftes Töchterlein Paul 
nannte, war er abfonderlid) guter Laune, wie wohl 
das fchöne Kind dieſe Abbreviatur ihres Namens gar 
nicht leiden konnte. 

„Der Abend wird wunderſchön,“ ſprach Marie, die 
an das Fenſter getreten war, „vie wäre ed, wenn wir 
zu Abend im Parke fpeiften ?“ 

„Ein himmliſcher Gedanke, fiel Pauline ein, „o 
Bäterchen, nit wahr, Du biſt noch gar nicht müde?“ 

„Welche Zumuthung,“ ſprach abwehrend der Papa, 
„ſo weit hinabzuklettern und dann wieder herauf.“ 

„Wir führen Dich,“ ſchmeichelte der Liebling, „denk 
nur, wie hübſch es ſich an dem ſchönen Abend dort 
unten effen muß. Die Walderdbeerkaltſchale fol ung 
vortrefflich munden.“ 

„Was ihr Kinder einem das Leben ſauer macht,“ 





97 


ſprach der Vater, der feinen Lieben nie einen billigen 
Wunſch abſchlug, wie bitterböfe er ſich zuweilen auch 
ftellte. „Vorher aber laßt mich mein Abenppfeifchen 
in Ruhe rauchen beim Paſtor. Ich fehide Euch die 
Camilla zur Geſellſchaft.“ | 

„Du bift und bleibjt unfer gutes Väterchen,“ ju- 
belte Pauline; und alle. Anftalten zum Souper im 
Grünen wurden getroffen. 


8. 


Die Dämmerung brach allmälig herein. Der Tiſch 
im Parh war gevedt, aber der Papa konnte fih vom 
Paftor nicht fortfinden und die Mutter ließ ſich eben- 
falls nicht blicen. Unterdeß ſaßen vie drei Mäpchen 
-plaudernd und foherzend auf einer Raſenbank an der 
Parkmauer. | \ 

„Denn fie nicht bald kommen,” ſprach Marie, in 
das verbleichende Abendroth blidend, „könnte unfer 
einem. ordentlich bange werden hier in der Einſamkeit. 
Unter uns,” fuhr fie geheimnißvoll fort, „ſoll's aud) 
im Barf nicht ganz richtig fein.” 

„Wie denn ſo?“ fragte Pauline, die in der Mitte 
faß, neugierig und ängftlid, und erfaßte von jeder der 
Nachbarinnen eine Hand. | 

„sa,“ erzählte Marie, „Fritz, der Jäger, will neu- 
lich des Nachts eine weiße Geftalt mit blutrother 
Tadel hier haben umherwandeln ſehen.“ 

„Das iſt der uralte Graf Bodo,“ erklärte Camille, 
leife und geheimnißvoll, „ver bier begraben liegt und 
wegen der vielen Miffethaten, die er im Leben began- 
gen hat, im Grabe feine Ruhe finden kann.“ 

„Was, wo liegt er begraben?“ fuhr Pauline auf, 
„um's Himmelöwillen, mach' mir nicht Angft, Camilla.” 


38 


„Gleich hier neben ver Laube,” verficherte dieſe. 

„Das fehlte noch,” drängte Pauline, „kommt, 
fommt!“ 

Camilla, von Natur beberzter und indifferenter 
gegen Geſpenſter, ſuchte die Freundin zu beruhigen 
und zurüdzuhalten. „Er geht nur des Nachts um,” 
fprach fie, „jegt nicht.“ 

„Wird Dich nicht fragen,” fiel Pauline ein. 

Marie fuhr aber mit einem Male vom Site auf: 

„Habt Ihr nichts gehört?” frug fie zähneklappernd. 

„Um Gotteswillen, was denn?” rief die Schwefter. 

„Es ſcharrt an ver Parkwand.“ 

„Was ſoll denn ſcharren?“ lachte Camilla, und 
alle drei horchten ſtill auf. 

„Himmliſcher Freund,” rief von außen eine Stimme, 

„And wär’ die Mauer höher als bie Jungfrau, 

Die feit ewig grau verfchleiert fit, 
ih muß hinauf.” Zugleich vernahm man das Geränfd 
eined von außen Emporkfletternden und alsbald warb 
Eginhard’8 Kopf über ver Mauer fichtbar. 

„D, warum enteilen Eie, ſchöne Damen? rief er, 
den davon laufenden Mädchen nad; und zu Johannes, 
der ziemlich ärgerlich unten an ver Mauer ftand: „Himm⸗ 
liſche Kinder, ſag' ih Dir, wahre Gazellen, ſo viel ich 
in der Dämmerung wahrnehmen kann.” 

Johannes zankte und’ rief, daß Eginhard wieder 
herabflettern follte; dieſer aber trieb taufenderlei Kurz⸗ 
weil. „Die erfte Baftion ift Schon erobert,” ſprach er, 
„der Feind hat fich unftreitig in's Schloß zurüdgezogen.” 
Er recognoscirte die Localität des Schloßparks. 

„Das muß ehedem eine Art Bärenzwinger geweſen 
ſein,“ meinte er, „hier mag es ſonſt ſchön gebrummt 
haben. Jetzt ſind leider die guten Bären todt und 
keine Gefahr mehr vorhanden; wo drei hübſche Mäd— 


39 


hen haufen, iſt's mit der Bärfchaft aus. ch werde 
daher getrojten Muths hinabflettern. Er hatte dieſe 
Worte faum gefprochen, als er fie ausführte und fich 
bald im Schloßparke befand. Hier entdeckte er die 
Laube und den fauber gededten Tiſch. 

„Heureka, Joanne,“ rief er dem außerhalb fluchend 
Auf- und Abjchreitenden zu, „herrliche Entdeckungen, 
die Abenpmahlzeit iſt erobert. Ia, nur Muth, und 
der Menjc kann es weit bringen. Deliciöfe Erdbeeren, 
Johannes, armer Schluder, ver Du am Rande des 
Himmelreichs aufs und abrennit. Spring in’s Teu— 
felenamen herein. Wir können nicht beffer aufgehoben 
fein. Lerne das Glüd ergreifen. 

„Willſt Du immer weiter ſchweifen, 

Sieh, das Gute liegt fo nah. — 
Hans, bift doch noch da?“ 

Johannes war fo ärgervoll, daß er feine Antwort 
gab. 
„Hang,“ rief Eginhard wiederholt, „biſt mir doch 
nicht eſchappirt?“ 

„Seh nicht von mir, Mar — bleib bei mir. 

Den! Dir nur diefe übericdifche Nomantif, hier Dei— 
nen Freund im Bärenzwinger; e8 hat Alles jo etwas 
Derzaubertes, wie in einem Mährchen von Ludoviko 
Lied. Dieſe niedliche Abendtafel, von welcher unter- 
nehmende Ritter die ſchönen Burgfräuleins vertrieben 
haben. Wo ſeid Ihr Hin, holde Blumen, reizende 
- Öenien meines Dafeins? Aber wo Ihr Euch verbergt, 
mein liebeglühend Herz wird Euch entveden, und menn 
ein Riefe oder Molody Euch bewacht, jo werbe ic) ihn 
tödten und Euch befreien, und die Schönſte und Tu- 
gendhaftefte führ' ich heim als trautes Ehegemahl, auf 
Ritterehr' und Ritterſchwur.“ 


40 


Dieſe poetiſchen und hochromantiſchen Expectoratio⸗ 
nen wurden übrigens plötzlich auf ziemlich proſaiſche Weiſe 
unterbrochen. Vom Schloſſe her wurden Stimmen laut 
und ein raſendes Hundegebell ducchicholl vie Luft. Nach 
dem energifchen Baſſe, in welchem dieſe Hunde bellten, 
war auf tüchtige Bullenbeißer zu ſchließen. 

„Sultan, Paſcha, faß!“ tönte es immer näher und 
ſchon vernahm man, wie die gefeſſelten Beſtien durch 
die Geſträuche brachen. 

Eginhard ſuchte jet in ſchnellſten Sätzen die Mauer- 
ſtelle zu erreichen, wo er herabgeklettert war. Er be— 
mühte ſich, mit der außerordentlichſten Behändigkeit 
emporzuklimmen, aber bereits ſaß ihm der Paſcha auf 
den Ferſen und packte den Flüchtling an den Schößen 
des altdeutſchen Rockes. 

„Halt,“ rief eine Stimme, „oder ich gebe Feuer.“ 
Dabei knackte ein Hahn auf ſo verdächtige Weiſe, daß 

Eginhard den entfernteſten Gedanken an eine Flucht 
aufgab. Er blieb daher kerzengerade, mit dem Ge— 
ſichte gegen die Mauer gekehrt, ſtehen. Der Paſcha, 
ein echter Wolfsfänger, war ihm nämlich mit den 
Vorderpfoten auf die Achſeln geſprungen und hielt den 
Romantiker fo energiſch am dockkragen, daß er ſich 
nicht rühren, ja den Kopf nicht einmal ein wenig ſeit⸗ 
wärts biegen fonnte. Unterdeß kam auch Sultan her- 
angebrauſt und faßte Eginhard von vorn. So ſtand 
er vollends eingemauert. 

„Wer ſeid Ihr, was wollt Ihr hier?“ fuhr die 
Stimme im barſchen Tone fort. 

„Ach, hochverehrteſter Herr Schloßcaſtellan oder 
Oberförſter, oder wer Ihr ſonſt ſeid,“ lamentirte 
Eginhard, „ruft nur die kannibaliſchen Beſtien zurüd, 
ih will Euch gern Rede ftehen. Ich bin ber fried- 
fertigfte Menſch, ven die Sonne bejcheint.“ 


ui . 


„Sultan, Paſcha,“ gebot die Stimme, die Vader 
biegen los und Eginhard erhielt fo viel Freiheit, mes 
nigſtens Rechtsumkehrt zu machen. Bor ihm ftand, fo 
viel der Student in der Dunkelheit gewahren fonnte, 
ein alter Waidmann, der ihn nicht mit den freundfich- 
fies Blicken muſterte. 

Unterdeß war Johannes, der außerdem ben Spef- 
tafel vernommen, auf ver Mauer erfchienen und wollte 
dem Freund zu Hülfe eilen. So wie aber ver Waib- 
mann den zweiten Feind erblidte, hieß es wieder: 
„Alons, Sultan, Paſcha!“ und Eginhard ſtand wie- 
der wie angenagelt. Die Beftien hielten ihn brüder- 
üb umarmt. Seine Lage war nicht die angenehmite 
und felbft nicht ohne Gefahr, denn wer wollte e8 dem 
Sultan verargen, wenn er e8 in ber Dunkelheit nicht 
ſo genau nahm und fein Zahn im WDienfteifer etwas 
die Haut ritzte. Trotz feiner precairen Lage, konnte 
Eginhard doch nicht die Gewohnheit Laffen, mit dich— 
terifchen Citaten um fi) zu werfen. Er rief daher 
Johannes zu: 

„Zurid, Du retteft den Freund nicht mehr, 
Den Tod erleidet er eben, 
So rette das eigene Leben.“ 

Johannes, der jet die fchlimme Lage des Freun— 
ve8 erkannte, ſprach jo vernünftig zum alten Waid- 
mann, daß diefer abermals die Hunde zurüdrief. So— 
bald ſich Eginhard befreit ſah, unterfuchte er vor 
allen Dingen feine Garderobe und vifitiete fi am 
ganzen Leibe, ob er wirklih mit heiler Haut ven 
Höllenhunden entkommen jei. 

„Das nenn’ ich Abenteuer, ſprach er, „aber 
mein Rod hat dermaßen büßen müſſen, daß ich mid) 
in ihm bei feinen vernünftigen Menfchen ſehen laffen 
kann. Romantik war bei ver Sache, aber wenn fein 


" 42 


Schneider hier zu Lande, ſoll ſie der Teufel holen, 
und dieſer Schneider muß überdies ein durchtriebener 
und mit allen Hunden gehetzter Mann ſein, wenn er 
die Wirkungen von Herrn Sultans Klauen einiger- 
mapen unfenntlih zu machen gedenkt.“ 

Der Waidmann gebot jet dem Sprecher zu folgen, 
und dem Johannes, fi) unverweilt zu entfernen; ver 
Weg zum Schloffe führe nicht über die Mauer. 

„Du' ſiehſt jest, Hans,“ rief Eginhard dem Freunde 
zu, „daß ich jett thun mug, was ich nicht laſſen 
fann. eb’ ‚wohl, in einer andern Welt fehen wir 
ung wieder.” 

- Damit folgte er, rechts und links von Sultan und 
Paſcha eskortirt, dem voranjchreitenden Waidmann. 


). 


Eginhard's Ueberfall hatte die ganze Schloßbe- 
wohnerfhaft in Alarm gebracht; am Meiſten die drei 
Mädchen, über welche ver erfte Sturm hereingebrodyen 
war. Wertheim war eiligft aus der nahegelegenen 
Wohnung des Paftors geholt worden. Letzterer felbft 
folgte, mit einem Stode bewaffnet. Die drei Mäd— 
chen, vie Mutter, nebft ven weiblichen Dienftperfonale 
hatten ſich unter ven Echuß der beiden Diener Wert- 
heim's begeben, welde Frig, der Sohn des alten 
Waidmanns, kommandirte. Letzterer felbft hatte ſich's 
nicht nehmen laſſen, mit den beiden Wolfsfängern und 
einer guten Doppelbüchſe den bedrohten Park zu re— 
cognosciren. 

Als Wertheim und der Paſtor angelangt waren, 
concentrirte ſich die große Armee in dem blauen 
Saale, von wo man die nächſte Umgebung des 





43, 


v 


Schloſſes am Bequemften überſehen konnte. Fritz, 
durch das Hundegebell aufmerkſam gemacht, ſchickte 
feinem Vater noch den unternehmenden Benedir zum 
Succurs. Diefer begegnete dem alten Wörter gerade 
‘am Eingange des Parks, wie er mit dem Xrreftanten 
zurüdfehrte. 

Eginhard ward jett vor dem Schloßheren gebracht. 
Er Tannte den Charakter Wertheim's aus Johannes 
Mittheilung und begann folgendermaßen: 

„Großmächtiger Beherricher dieſes Schloffes. Zwei 
irrende Ritter, die zeither an den Brüften der Alma 
Mater gelegen, und von denen der eine bermalen 
noch im Nebel und Zwielicht umberirrt und wahr- 
fcheinlich den legitimen Eingang zu diefer Burg nicht 
finden fann, waren fir bevorftehenden Frühling der 
Milch der ſchönen Willenfchaften überdrüffig gemor- 
den, und Haben dem gemäß für gut befunden und 
beſchloſſen, ihr Hauptquartier auf die Ferienzeit in 
vorliegendem Schloffe aufzufchlagen, oder aud in ir- 
gend einem Oartenhäuschen, da die Nächte nicht Falt, 
fintemal die Weinmörder alleſammt glücklich vorüber 
find. Die Urkunde, vermöge welcher wir und dieſes 
Rechts bedienen, befiten wir ſchwarz auf weiß vom 
weitregierenden Negentenhaufe dieſes Schloſſes eigen= 
hänbig unterfchrieben und ſteckt, wenn id) nicht irre, 
im Ränzlein befagten Ritters, der noch in der Irre 
umberläuft. Da wir den verwachfenen und ſich weit 
dahinfhlängelnden Fahrweg, welcher zur Burg führt, 
als befliffene Studioſen der freien Künfte einzujchla= 
gen gerechten Anftoß nahmen, fintemalen denſelben all 
fündhaft Vieh und die gefammte Philiſterſchaft ein- 
her trottirt, aud) Herr Johannes als einftiger Rechts- 
praftifant und Verfechter ver menſchlichen und gött— 
lichen Gerechtigkeit ſchon ſich frühzeitig daran gewöh— 


.44 


nen wollte, alle krummen Wege zu meiden und nur 
den geraden zu wandeln, fo blieb uns nach wohlbe- 
dachtem Dafürhalten nichts übrig, als unfern Einzug 
duch den Park zu halten. Indeß waren die Anfich- 
ten der Menfchen verfchievden von Anbeginn, wie ſchon 
in der Bibel zu leſen; fo fam es, daß biefer wür- 
dige Oberforftmeifter, thätigft unterftügt von zweien 
feiner würbigjten Scholaren, unjerm weiſen Plane 
entgegen trat, indem ex die eben erwähnten Vierbeine 
mie gefchäftig unter die Arme ſchickte. Doc nie fol 
uns ein Unglück zur Verzweiflung, nie ein Glück zum 
Taumel bringen, das ift meine Marime; gelang aud) 
unfer hochherziger Entſchluß nicht, ich hatte gehofft, 
mein Lohn iſt abgetragen, mein Glaube war mein: 
zugewogenes Glück. Gegen das Schickſal kämpfen 
Götter ſelbſt vergebens, was will ein Studioſus, der 
erſt im dritten Semeſter ſteht, noch ein magrer Ham⸗ 
mel iſt, vor Ihren ſeligen Herrlichkeiten voraus haben.“ 
Uebrigens ſchloß er feine Anrede und verneigte ſich mit 
republikaniſcher Grandezza: 

„Victrix causa diis placuit, sed victa Catoni!“ 

Wertheim erkannte bald, wen er vor ſich hatte. 
Er war außerordentlich erfreut, umarmte Eginhard 
herzlichſt und erkundigte ſich angelegentlich nad) Jo⸗ 
hannes. 

„Die Götter wiſſen's, wo er umherirrt,“ ſprach 
der Muſenſohn, „bis auf die Parkmauer iſt er ge— 
kommen, dort hab' ich ihn ſtehen ſehen, ſo lang er 
war. Was weiter mit ihm geſchehen, weiß ich nicht, 
denn ich ſchritt folgſam zwiſchen Sultan und Paſcha.“ 

„Allons, auf Ihr Leute,“ commandirte ſogleich 
Wertheim, „ſucht mir meinen Vetter auf, der Weg 
zum Schloſſe iſt für den Unbekannten nicht leicht zu 


45 


finden, zudem bricht die Dunkelheit immer mehr 
herein.” Ä 

Eginhard ward aber von dem Alten unter ven Arm 
genommen und nach dem blauen Saale geführt, wo 
das weibliche Perfonal noch immer angftooll dem Aus- 
gang des großen Abenteuers entgegenjah. 

„Hier bring ih) den kühnen Mauerſtürmer,“ Lachte 
er, den Studenten vorftellend, „es it der Freund 
und Begleiter unſers Gans, der fogfeich felbft erſchei⸗ 
nen wird.“ 

Den Damen fiel ſämmtlich ein großer Stein vom 
Herzen. Ihre Beklommenheit ging in große Freude 
über. 


Eginhard bat jet in feiner launigen Manier um 
Berzeihung wegen des Schredens, 

„Wer fonnte auch glauben,” entſchuldigte er fich, 
„daß Hinter der alten Druiden= Mauer unmittelbar 
der Himmel angehe, wo die Engel leibhaftig aufs . 
und abwandeln. Daß ich übrigens für das Himmel- 
reich noch lange nicht genug geläutert bin, ift mir 
Har geworben; bie vierbeinigen Satane mit den türfı- 
ſchen Prädikaten machten fih unmittelbar nach meiner 
Einfahrt über mich her.” 

Eginhard, als er dies ſprach, konnte indeß nod) 
feineswegs herausbefommen, welche Mühe er ſich aud) 
gab, ob die anmefenden Damen wirflih fo hübſch 
feien, daß fie das Prädikat Engel verdienten; denn 
ed war ziemlid) dunkel geworben, und der Befehl 
Wertheim's, Licht herbei zu fchaffen, fam Ihm fehr 
gelegen. Zugleich befann er ſich auf feine zerzaufte 
Garverobe. Er fuhr convulfivifch mit der Hand nad 
feinen Rockſchößen. Hier machte er die überaus be- 
trübende Entdeckung, daß der Paſcha wahrhaft unver= 
antwortlich gewirtbichaftet hatte. in artiges Stüd 


46 


feines Tach, der Türke hatte den Rachen vollgenom— 
men, ſchlotterte um ſeine Waden. Er beſchloß daher, 
die wenigen dunkeln Augenblicke zu benutzen, knipp 
den herabhängenden Fetzen vollends ab und ſchob ihn 
in die Taſche. Zugleich erſuchte er das Publikum, 
ſich auf einen anderweitigen Schrecken vorzubereiten, 
ſobald das Licht kommen werde. Sie würden näm— 
lich einen halb aufgefreſſenen Menſchen erblicken, lobte 
die Racker, daß ſie in ihm keinen Wolf erkannt, weil 
er dann unfehlbar noch weit ſchlimmer davon gekom— 
men fein würde. Endlich erfchien Xicht und es wur 
den verjchievenartige Entdeckungen gemacht. Eginhard 
gewahrte nämlich, daß die Couſinen allerliebſte Mäd— 
chen ſeien, was ihn ganz glücklich machte; die Cou— 
ſinen ihrerſeits, nachdem ſie die äußere Perſönlichkeit 
des Studenten recht angenehm gefunden hatten, rich— 
- teten ihre Aufmerkfamfeit auf ven zerzauften altveut= 
Then Rod. Eginhard felbft gewann endlich Muſe, 
über feine Kleidung Unterfuchungen und Betrachtungen 
anzuftellen. Er gebervete ſich dabei fo poſſirlich, daß 
die Mädchen in lautes Lachen ausbrachen. 

Wertheim ward indeß immer beforgter wegen dem 
Johannes. Er ging vdemjelben ein Stüd vor das 
Schloßthor entgegen. Zum Glück braudte er bier 
nicht allzulange zu warten und das ausgeſchickte Kom- 
mando esfortirte alsbald den vermißten theuern Neffen 
in feine Arnıe. 

Nun ward Leben im Schloffe Für die Abenpd- 
mahlzeit im Parfe war es zu ſpät geworben. Die— 
jelbe ward daher in dem geräumigen und freundlichen 
Speifezimmer zubereitet und bald ſaß Allee an ber 
wohlbejetten Tafel. 

Das Mahl mar gerade Fein ſokratiſches zu nen- 
nen, aber ih hätte mögen babei fein. Johannes 


47 


Herz von ſo vielen befreundeten Herzen begrüßt, konnte 
nicht genug pulſiren zum Gegengruß. Dabei ſaß 
ihm ein leibhafter Engel aus dem Himmelsland nicht 
ſechs Handſpannen gegenüber. Er hatte oft in ſeinen 
Ausarbeitungen Engel mit einander discuriren laſſen, 
er ſprach da wohl ſelbſt mit, und im beſten Styl; 
diesmal konnte er ſich durchaus auf keinen Anfang 
beſinnen. Er hatte bereits jedem Vögelchen, in dem 
Familienneſte ſeinen herzigen Imbiß vorgelegt, nur 
Marie war leer ausgegangen. Dabei ſaß ihm der 
verwünſchte Spruch, der Cavalier ſoll die Dame un— 
terhalten, wie ein böfer Feind im Nacken. Er fuhr 
vergeblich in feinen Gehirnkammern nach einem ſchmack— 
haften Körnchen umher, das er dem Engelfinde vor- 
legen könnte. Er rannte verzweifelt am jenfeitigen 
Ufer auf und ab, um eine taugliche Stelle zu erſpähen, 
zum Webergange in eine Converjation; er fand feine 
Brüden, nit einmal ein Iumpiges Bret. 

Eginhard, der weiter oben an der Tafel ſaß, lebte 
im dritten Himmel und ahnte nicht von ber ftillen 
Berzweiflung feines Freundes. Er ließ ununterbrochen 
feine launigen Knallbonbons fpringen und feine humo- 
riſtiſchen Leuchtkugeln fteigen, daß es Allen eine Luft 
war, nur für Johannes nicht, der im Stillen den 
Redfeligen von Herzen beneidete. 

Eginhard war ganz der Mann für Wertheim. 
Die Beiden waren auch ſchon ſo vertraut, daß es 
Johannes ein Räthſel war, wie das ſo ſchnell habe 
zugehen können. Sie ſaßen bereits über Napoleon, 
und der eine war über den andern entzückt, als ſie 
die herrliche Entdeckung machten, daß der Kaiſer ihr 
beiderſeitiger Abgott ſei. Wenn Wertheim hier und 
da an ſeinem Gotte noch etwas auszuſetzen fand, ſo 


48 


war das Wafler auf vie Mühle Eginhard's. Diefer, 
in feiner gewohnten Eraltation vertheivigte Napoleon 
in allen Dingen. Selbft wo die unparteiifhe Ge⸗ 
Ihichte gegen ihn ſprach, machte er den Aovofaten. 
Bei aller Bolitit vergaß 'er aber auch vie Galanterie 
nicht. Pauline, die neben ibm faß, überfchättete er 
mit drolligen Artigfeiten und Aufmerffamteiten, and der 
Frau vom Haufe wußte er bei einem jeden aufgetra- 
genen Gericht eine neue Schmeichelei zu jagen. 

Unterdeß hatte ſich Johannes nach langer veiflicher 
Ueberlegung auf einen pafjenden Anfang befonnen, um 
mit Fräulein Marien in Converfation zu treten. Das 
Mädchen ſprach fo eben mit ihrem Nachbar, dem Pa- 
ftor Amold, und Johannes erhielt Muſe, das von 
Meifterhand gezeichnete Profil zu beobachten. Aber er 
profitirte in feiner bevrängten Lage wenig davon, jon- 
dern recapitulirte feine wohlftudirte Apoftrophe und 
wartete nun, bis die Sonne wieder voll werden würde. 
Dies währzte nicht lange. Marie wendete ſich mit 
einem leifen Lächeln und Erröthen wieder zur Tafel, 
Johannes faßte fi ein Herz und begann. Im An— 
fang drehte fi das Gefpräd allerdings nur um alle 
tägliche Gegenftände. Aber bald machte fih die Sache 
Iharmant. Johannes Selbftvertrauen ftieg, feine Rede 
warb unbefangener, natürlicher, fein ſchönes Organ 
wohltönenvder. Marie blieb feine Antwort fchuldig. 
Sie war eben fo geiftreihh und angenehm unterhaltend 
als Schön. Der Züngling ſchwamm im dritten Him- 
mel. Er begriff gar nit, wie ein fo Heines unbe— 
deutendes Mäpchen, wie er fie vor mehreren Jahren 
hatte kennen lernen, in fo kurzer Zeit babe zu einem 
vollendeten Engel werben künnen. 

Sie erzählte intereflant von den alten Schloß— 
theile, von der räthjelhaften Erjcheinung des alten 


9: 
Bihliothefars Baſiliko, und wie fie und die Schweiter 
e8 noch nicht Über fich Hätten gewinnen Fünnen, bie 
uralten, fat feit einem Jahrhunderte verlajjenen Ge— 
mächer zu betreten. Es habe Alles fo ein myſtiſches, 
geſpenſtiſches Ausſehen. Man hätte ſich daher lange 
auf die Ankunft des Couſins gefehnt, un genaue 
 Unterfuhung über das verfchollene Gebäude anzuftel- 
len, denn neugierig wären fie jehr auf die innere 
Einrichtung deſſelben. | 

Pauline, die einiges von der Rede der Schweiter 
vernonmen hatte, ſchilderte die unheimliche Romantik 
des alten Schloffes mit noch lebhaftern Farben, fo 
dag auch Eginhard, der fo eben ftrategifch und mili— 
täriſch dem alten Wertheim auseinanderfette, daß Na- 
poleon bei Leipzig eigentlich) gar nicht .gejehlagen worden 
jet, aufmerkffam und ganz Ohr für die Sache ward. 

„Während ‚morgen mein Rod einer radicalen Res 
ftauration unterliegt,“ ſprach er, „werd' ich in meiner 
Interimd-Forcejade, an der ohnehin nicht viel ver- 
Ioren ift, wie ein Schornfteinfeger alle Schluchten, 
Keller und Winkel des Zauberſchloſſes durchfahren und 
ale Memorabilien zu Tage fördern. Ueber den my— 
ſtiſchen Baſiliko will ih bald im Klaren fein.” 

„Nur an den fehwarzen Kater vergreifen Sie fid) 
nicht,“ warnte Pauline, „ver ift Durch und durch 
behert.“ 

„Pauline,“ ſtraften die Aeltern, „wer wird ſo 
abergläubiſch reden.“ Eginhard aber nahm ſich ſeiner 
ſchönen Nachbarin eifrigſt an; und Pauline ſelbſt 
wußte, was ſie wußte. Wenigſtens bewies ihr un— 
gläubig ſchüttelndes Köpfchen, daß es mit dem Kater 
nicht richtig ſei. 

„Ich habe es ſehr gern,“ ſprach Eginhard, „wenn 
ſich die Damen ein wenig fürchten wor Geiſter mund. 

Stolle, fünmtl. Schriften. XVI. 4 


50 


Geſpenſter, es Heivet fie allerliebft. Ich felbft, ſeit 
ih Scelling, Schubert und Yuftinus Körner ftubire, 
bin nicht ohne Geifterglauben. Es ift mir feit der 
Zeit jo mancherlei duch den Kopf gefahren und fagt 
nicht ſelbſt unſer hochverehrter Shafefpeare: 

„Es giebt Vieles zwiſchen Himmel und Erde, 

„Wovon ſich unfre Philoſophie Nichts träumen läßt: 

Sohannes wandte fid) an Marien und fragte, ob 
fie auch an Geifter glaube? 

„Barum nicht?” ermwieberte das ſchöne Mädchen, 
„der Geifterglaube hat für midy eher etwas Erheben- 
des als Abfchredendes. Beſonders wohlthuend ift für 
mid) ‚vie Lehre von den Seelen geliebter Abgejchie- 
dener, welche uns, gleichjam wie Genien, unfichtbar 
umjchweben, uns warnen, beſchützen vor Gefahren und 
tröften im Unglück.“ 

„Gern trete ich auch dieſer jchönen Lehre bei,“ 
Iprad) Johannes; „wenn fie aud) nur Dichtung, ſo ruht 
doch ein fehr poetifcher Zauber darin.” 

Eginhard ‚war indeß mit einer einzigen Species 
von Geiftern, den erwähnten Genien, nicht zufrieden; 
er behauptete, die Anzahl ver Geiſier ſei Legion, die 
ſich auf ſehr verſchiedene Weiſe der geplagten Menſch— 
heit manifeſtirten. Uebrigens ſei nur dem reinen Ge— 
müth, das mit einem leicht reizbaren Nervenſyſtem 
begabt ſei, es verſtattet, mit Geiſtern zu communi— 
ciren und Unterhaltung mit ihnen zu pflegen. Bei 
ihm felbjt fei e8 noch nicht der Fall geweſen. Er 
wiſſe fih die Averfion der Geifter vor ihm gar nicht 
zu erklären. Entweder fei er nicht fromm genug, 
oder für das Iuftige DVolf zu maffv. Am guten 
Willen fehle es nicht, denn nichts wäre ihm lieber, 
als mit ein Paar tüchtigen reſpektabeln Geiftern ein= 
mal in Converfation zu treten. Er habe hierin ent- 


4 


54 


ſchiedenes Malheur, jedem Menjchen fei im Leben 
einmal etwas Webernatürliches paffirt, ihm noch nicht. 
Er ſei ein wahrer Geifterbanner, wo er hinkomme, 
ergriffe das fonderbare Geſchlecht die Flucht; und 
falls ſich dergleichen in den Mauern von Buchenfels 
vorfinden ſollte, werde er bald reine Wirthſchaft ge- 
macht haben. 

Die Rede Fam jetzt auf den alten, räthſelhaften 
Bibliothekar. 

„Denken Sie nur,“ ſprach Pauline zu Eginhard, 
„von dem weiß kein Menſch, wie alt er eigentlich iſt; 
alle Leute aus dem Dorfe, ſie mögen zurückdenken, 
ſo viel ſie wollen, haben ihn als Signor Baſiliko 
gekannt, und zwar nicht älter und nicht jünger als 
er jetzt iſt. Man erzählt von einem Fläſchchen Le— 
bensefjenz, bie er felbjt bereite. Da jchnapje er zu= 
weilen und das verleihe ihm Lebensdauer und Kraft 
auf viele Jahre. Mebrigens iſt es ein höchſt mürri- 
ſcher Kauz. Wenn id) manchmal in der Gegend des 
alten Schloßtheild promenirte, um mir das alte Ges 
bäude wenigftend von Außen zu bejehen, kam aud 
gleich das finftre Geficht des Bibliothefars zum Vor— 
fchein und blickte mich ordentlich mit drohender Miene 
an, daß id allemal die Fluht ergriff. Wenn der 
etwas zu befehlen hätte, der jagte und gewiß über 
alle Berge” 

„Wenn ich mur bie ſchönen rothen Blumen einmal 
in der Nähe ſehen dürfte,“ ſprach Marie, „die in dem 
Garten des Bibliothekars blühen, das iſt ein ſeltſam, 
wunderbares Roth, das fernen Himmeln angehören ſoll; 
wenigſtens entſinne ich mich unter unſern heimathlichen 
Blumen dieſer Farbe nicht.“ 

„Ja, denken Sie nur,“ fuhr Pauline eifrig fort, 
„er hat auch ſeinen eigenen Garten, un da wollte, 


52 


ich's Niemandem gerathen haben, vemfelben in die Nähe 
zu fommen, noch viel weniger ihn zu betreten. Und 
wie ſchön mag's darin ausfehen. Da blühen die herr- 
lichſten, jeltenften Blumen aus allen fünf Welttheilen, 
aber man fieht nichts davon; denn der hohe, lebendige 
Zaun, der den Garten einſchließt, ift fo Did und un— 
durchſichtig, wie die dichte Stadtmauer. Neulich habe 
ih und Marie von unſerm Schloßthürmchen ein Flei- 
nes Stückchen vom Garten überfehen. Ad, da blü- 
beten wunderfchöne, rothe Blumen. Gott mag wiflen, 
was nod hinter dem alten Schlofje ftedt, welches uns 
den übrigen Garten verbirgt. Da follen, wie in dem 
Mährchen des Morgenlandes, goldene und filberne Lau- 
ben ftehen, und auf ven verzauberten Bäumen ſich 
Ihöne, fremdartige Vögel, in herrlichem Parbenglanze 
wiegen; alle Blumen follen wie ſchöne bittende Men— 
Ihenaugen zum Beichauer emporblicken.“ 

Eginhard war ganz Hingeriffen von ſolch hochpoe— 
tiſcher Romantik. Er ſchwur, einen Luftballon zu bauen, 
und über das Blumeneden con amore dahin zu fehiffen. 

„Ei, da nehmen Sie mich auch mit, rief Bauline. 

Eginhard deflamirte mit galanter Verbeugung: 


„Willſt Du in meinem Himmel mit mir leben, 
So oft Du kommſt, er ſoll Dir offen ſtehn.“ 


Der alte Wertheim war bei Paulinen's poetiſcher 
Beſchreibung des fabelhaften Gartens ſehr gefaßt ge— 
blieben. Er erklärte, daß ſich Baſiliko allerdings viel 
mit Botanik beſchäftige und ſehr ſchöne ausländiſche 
Blumen erziehe. Mit den ſilbernen und einzelnen 
Lauben und curioſen Vögeln ſei es aber nichts. Er 
wäre ſelbſt einmal im Garten geweſen, und habe 
nichts Außergewöhnliches gefunden, als was man in 
jedem ſorgfältig gepflegten Ziergarten vorfinde. 


53 


„Nichts da,” proteftirte Eginhard, „wir laſſen 
uns fo bobe Romantik nicht proſaiſch hinwegdisputi⸗ 
ven, Mit dem Bibliothekar iſt es nicht richtig, 
Fräulein Pauline bat ganz redt. Da ftedt mehr 
dahinter, als fih unfre PBhilofophie träumen läßt. 
Den Bafilifo hat und der Himmel gegeben. Ein 
fol myſtiſches Individuum follte eigentlih in ' jenem 
Schloſſe fteden, welches einigermaßen Anſpruch auf 
Romantik macht. Ich komme indeß der Sache auf bie 
Spur, das verfpredhe ih. Wir müflen in's Klare 
fommen, welche Bewanbtnig e8 mit dem räthjelhaften 
Manne hat.” | 

„sc finde gar nichts Räthſelhaftes,“ ſprach Wert- 
heim, „Bafilifo ift ein Sonderling und Mifanthrop, 
wie e8 viele giebt. Daß er die Dinger da nicht in 
den arten läßt, finde ih in der Ordnung; was 
verfiehen die Mädchen von Botanik. Es ift blos Neu- 
gier, die fie jo begierig nad) dem Garten macht, in 
welchem fich ihre Phantafie die fabelhafteften Dinge 
vorftellt; und wenn er biefe eitle Begier nicht befrie- 
digen will, kann ich's ihm nicht vervenfen. Cut alter 
Mann, der am Rande des Grabes fteht, hat feine 
Grillen, die man ihm hingehen läßt. Wenn aber 
Freund Eginhard glaubt, der Bibliothefar werde für 
ihn zugänglicher fein, als für uns Webrige, fo int 
er fih. Ich bin überzeugt, daß wir von ihm wäh— 
rend der Anwejenheit der Meufenföhne wenig oder 
gar nichts werden zu fehen befommen.“ 

„sch gebe mid für einen vacirenden Botaniker 
ans,” ſprach Eginhard, „Kunſtgenoſſen haben gewöhn⸗ 
lich einen größern Stein im Brete, als die übrigen 
profanen Menſchenkinder. Ich krieg ihn ſchon.“ 

„Sie müſſen uns aber dann auch erzählen,“ fiel 


54 


Pauline eifrig ein, „und genauen Bericht erftatten 
über alles Wunderbare, was Sie gejehen haben.” 

„Unbeſorgt, mein Fräulein, tröftete der Mufen- 
fohn, „ich gebe ein Buch darüber heraus, unter dem 
Titel: „Höchftwichtige Auffchlüffe über Geifterglauben 
und Gefpenfterfurcdht ‚oder der nievergebonnerte Freis 
geift, zur Belehrung und Beſſerung für Alle, die ſich 
noch mit Scrupeln und Zweifeln plagen. Leipzig, 
im Jahre ber Aufklärung”; und fange gleich mit ver 
zweiten Auflage an, das giebt der Sadıe ein größe⸗ 
red Ausſehen.“ 

„Eginhard wird uns ſchönes Beug weiß machen,” 
lachte Johannes, „was der ſich einbilvet, glaubt er 
und ſchwört Stein und Bein darauf.” 

Wertheim theilte jetzt ver Geſellſchaft vie ange 
nehme Nachricht mit, daß in wenig Tagen nody mehr 
Beſuch auf Buchenfels eintreffen werde. Die beiden 
Beſitzer der angrenzenden Güter, Bodo und Alfred, zwei 
junge lebensluftige Männer, die fchon lange einen 
Beſuch verſprochen hätten. 

„Das iſt herrlich,” rief Pauline, „nun werben ge⸗ 
wiß auch die längft verabreveten Barthien in der Um— 
gegend einmal zu Stande kommen.“ 

„Kein Tag fol unbenutt dahin gehen,‘ verficherte 
der Vater, „ich hab’ mir's überlegt; wir gehen ftrate- 
gifh zu Werke wie Napoleon, machen unjere PBarthien 
nad) der Landkarte und jeden Tag nad) einer andern 
Himmelsgegend.“ 

„Das ſoll ein Feſt werden,“ ſprach Pauline, „bis 
jetzt ging es ſo ſtill her, daß unſre Stimmen im 
Schloßhofe laut wiederhallten. Vier junge Herren 
werden ſchon Leben in die Sache bringen. Mir iſt 
nur bange, daß bei dem Spektakel die alten Mauern 


55 


zufammenfallen und unfern guten Bafilifo mit allen 
jeinen Geheimniffen. unter ihrem Schutte begraben.” 

„Für dieſen tragifhen Fall,“ tröftete Eginhard, 
„ſetz' ich mich, ein zweiter Scipio, auf die Ruinen 
und ſinge unſterbliche Lieder auf die Vergänglichkeit 
alles Irdiſchen. Es giebt Nichts, dem man nicht 
eine poetiſche Seite abgewinnen könnte. Uebrigens,“ 
fügte er hinzu, „iſt mir an der Ankunft der beiden 
Herren Ritter nicht viel gelegen. Hans und meine 
Wenigkeit werden nun all' unſere Liebenswürdigkeit 
zuſammen nehmen müſſen, um von ven beiden galan— 
ten Ankömmlingen nicht aus dem Sattel gehoben zu 
werden.“ 

„Unbeſorgt,“ platzte Pauline naiv und unbefangen 
heraus, „wir bleiben den Muſen getreu.“ 

„Wenn nur erſt mein alltdeutſcher patriotiſcher 
Rock wieder ganz wäre,“ ſprach Eginhard, „alsdann 
möchte Alles ſein wie es wollte. Uebrigens iſt es 
morgen mein Erſtes, die beiden Packer, Herrn Sul- 
tan und Paſcha, die mir in der Dämmerung . wie 
Heine Elephanten vorgelommen find, bei Tage zu be— 
ſehen.“ 

„Es find die friedlichſten Thierchen von der Welt,“ 
verficherte Pauline, „ich kann mit ihnen machen was 
ih will.” . 

„D ja,“ erwiederte Eginhard, „auf Freundſchaft 
foheinen fie ſich zu verftehen, denn fie hielten alle 
Beide mich brüderlih umarmt.“ 

Eginhard trug jest fein Rencontre mit dem Ober- 
forftmeifter, wie er ihn nannte, mit vielem Humor 
vor, daß die ganze Gefellihaft viel zu lachen hatte. 
Endlich blie8 der alte Wertheim zum Aufbruch, weil 
es fpät geworben und die Mufenföhne gewiß ermüdet 
fein mwürben. 


56 


Johannes und Eginhard verficherten mit klaren, 
lachenden Augen das Gegentheil. 

„Ich gehöre zu den fogenannten Nachtlampen,“ 
ſprach letterer; „auf das zu frühe Aufftehen geb’ ic) 
nicht. Musis aurora amica, das ift ganz ſchön; aber 
des Abends, nach vollbrachtem Tagewerk nod) ein paar 
Stündchen zu. verplaudern im freundlich gejelligen 
Kreife, darüber geht Nichte. Im diefen ftillen Abend⸗ 
ftunden ift man ſich feiner weit klarer bewußt, als 
im Lärme des nüchternen Tages, und aufgewedter zur 
Converfation. Schiller dachte accurat jo, und hat 
ganz Recht, wenn er jagt: 

„Ein halbes Dutend guter Freunde höchſtens 

„Um einen Heinen runden Tiſch, ein Gläschen 
„Zofaierwein und ein vernünftiges Geſpräch . 
„So lieb’ ich's.“ 

Das war aud) Wertheim's Philoſophie. Er Tief 
daher noch ein paar Flaſchen Markobrunner auftragen. 
Den Damen warb es frei geftellt, ob fie noch auf: 
bleiben wollten. Pauline hatte große Luft, aber ein 
Winf der Mutter belehrte fie, daß e8 Zeit zum Schlafen- 
gehen fei; fie hätten überdies morgen alle Hände voll 
zu thun wegen des angelommenen und noch bevorite- 
henden Bejuches. . 

Kaum hatten fid) die Damen entfernt, als Wert» 
heim und bie beiden Studenten die Stühle näher zu= 
jammenrüdten, der Paftor, obgleich er den folgenden 
Zag zu predigen hatte, blieb auch noch und fo floß 
bei dem perlenden Weine und unter intereffanten Ge— 
ſprächen ein Stündchen der Nacht nad) dem andern 

vorüber. 
„Einmal fei nicht immer,“ tröftete Eginhard, und 
fo blieb man beifammen bi8 die Lerche den keimenden 
Morgen verkündete, 


57 


10. 


Die Sonne ftand bereit3 hoch am Himmel, -als 
Eginhard von jeinem Lager fprang und den Kopf in 
den herrlihen Morgen hinausſteckte. Die Landſchaft 
lag wie ein frifches, duftendes Gemälde ausgebreitet. 
Bon dem Schlafzimmer, welches den zwei Muſen ein- 
geräumt war, genoß man die erquidenpfte Ausficht. 

Eginhard's Jubel und Lärmen Tieß auch Iohannes 
an feinen weitern Schlaf denken. Er fprang auf und 
ſchaute gleichfalls entzüdt in die Landſchaft. 

„Ich frage Did nur,” ſprach Eginhard, ver fich 
an ber reichen Gegend nicht fatt fehen konnte, „mir 
anfrihtig zu jagen, ob wir wirklich noch auf Erben 
leben oder bereits lebendigen Leibe gen Himmel ge- 
fahren find. . Seit geftern Abend ift mir Alles zu fa= 
belbaft. Deine Coufinen find ja eingeborne Engel, 
gar feine irdiſchen Mädchen. Ich habe jchen geftern 
Abend einen dreifachen Harniſch um mein Herz gelegt. 
Wie foll das bei hellem Sonnenlichte werden?” 

Er ftredte den Kopf wieder zum Fenſter hinaus: 

„Ein himmliſcher Morgen, wie erquict Alles. Die 
Naht hat recht gemeint, daß fie ihre Blumen ver- 
lafjen mußte; fieh nur, Hang, die Millionen Thränen, 
in welchen fi) die Morgenjonne jpiegelt. 

„Das Schloß ift nicht von geſtern;“ fuhr er, fid) 
die nächſte Umgebung betrachtend, fort. „Die alten 
Mauern haben ihre paar Jährchen gejehen. Aber auf 
den Kopf gefallen war der Erbauer nicht. Er konnte 
fi) feinen ſchönern Punkt wählen in ver ganzen Ges 
gend. Ob's nur ein Raubritter gewejen iſt. Ich 
glaub’8 nicht, fo kühn und frei heraus baute dieſe 
Art nicht. Wenn wir nur eine Chronik auftreiben 


58 

Eönnten, da jchrieb ich einen Ritterroman, wo man 
die Romantit mit Händen greifen folltee Hans, fo 
tief in der Poefie haben wir noch nicht geftedt. Ein 
uraltes Schloß, ein räthfelhafter Bibliothekar, ein gaft- 
licher und Humoriftifcher Burgherr, berrlihe Burg: 
fräuleins, Köftliher Wein, Frühling, erquidende Aus- 
fiht und Ferien; ich will den Menſchen fehen, ver da 
nicht poetifh würde.” » 

Johannes erkundigte fi, welche von den Coufinen 
Eginhard am Meijten gefalle. 

„Ich bin in beide verliebt, theuerfter Freund, und 
zwar in allem Ernſte; Du weißt, mein Herz ift groß 
und hat für Biele Kaum. Himmlifche Kinder. Wie 
gefagt, ih muß mich verwahren mit dreifachem Pan- 
zer, fonft bin ich verloren für die ganze Ferienzeit und 
verpaffe den ganzen Frühling.” 

Nad einer Baufe fuhr er fort: 

„Wenn doch Die biedern Ritter, bie auf morgen 
ihren Beſuch angefündigt haben, in dem Lande vers 
blieben, wo ver herrliche Pfeffer wählt. Ich verfichere 
Dir, Hans, die Sache kann ſchlimm werden. Wenn 
diefe Junker unfere Burgfräuleind abjpenftig machen, 
Hans, da kennſt Du mid, da bin ich fürchterlich. 
Ohne Blut geht es nicht ab. Wir Mufen dürfen 
ung von der Ariftofratie nicht werfen laſſen. Nur 
Einer kommt lebendig vom Plate.” 

„Sprich nicht abgeſchmackt,“ verwies Johannes, 
„ich hoffe, daß Du ſo viel Vernunft haſt und im 
Hauſe der Gaſtfreundſchaft nicht unnöthigerweiſe Hän⸗ 
del ſuchſt.“ 

„Aber, beſter Freund,“ erwiederte Eginhard, „wir 
können doch unmöglich, ohne aus der Haut zu fah— 
ren, mit anſehen, wie dieſe irrenden Ritter unſern Da⸗ 

men den Hof machen? In ſolchen Angelegenheiten bin 


59 


ich fürchterlich, und auf ein paar Kannen Blut kommt 
mir's nicht an.” 

Chriſtine, das Dienſtmädchen, frug jetzt, ob die 
beiden Herren den Frühkaffee auf ihrem Zimmer oder 
im Garten unter der Linde zu trinken wünſchten. 

„Hans,“ ſprach Eginhard, „das iſt eigentlich eine 
Injurie, die und Dein braver Onkel in dieſer Alter- 
native fagen läßt. Er weiß, daß wir poetifche Ge- 
müther find und das Freie und Grüne lieben. Aller: 
dings, Schätzchen,“ wandte er ſich zu dem Mädchen, 
„teinten, wir im Garten und werden ſogleich er- 
ſcheinen.“ 

„Guten Morgen, Couſinchen,“ rief jetzt Johannes 
zum Beufiee hinaus, denn Pauline hüpfte fo eben durch 


 ennfeilifer ‚ tönte e8 lachend herauf und bas 
Mädchen ſchabte ein Rübchen. 

„ale Wetter,” frug Eginhard, „mit wem disku— 
rirſt Du denn? — Ach es ift der Paul, das Him- 
melskind im Roſakleide. — Du Glüdlicher, Du ſteckſt 
fon total in den Kleidern. Ich kann mid) vor dem 
eingebornen Engel nicht einmal ſehen laſſen.“ 

Eginhard hatte nur ein Fein wenig bie grüne 

Gardine hinweggeſchoben und blidte hinab. 
„Sieh nur das Himmelskind,“ fuhr er fort, „ver 
liebe Gott muß feine Freude haben über ſolch' ein 
Mädchen; wie es über den weichen Raſenteppich tän- 
zelt. Ad du Heiner Tiebenswürdiger Affe. Es geht 
doch in der Welt nicht über eine ſolche flebenzehnjährige 
Göttin, zumal an einem ſchönen Frühlingsmorgen. 
Das iſt Poeſie! Das Roſakleid ſteht ihr reizend.“ 

Johannes mahnte zum Aufbruch. Eginhard konnte 
ſich aber von der anmuthigen Erſcheinung nicht 108- 
reißen. Mit einemmale begann er aber entſetzlich zu 


60 


lamentiren, zu fluchen und zu verzweifeln, daß Johan⸗ 
nes ganz beforgt nach der Urſache fragte. Eginhard 
hatte fich exit jett auf feinen Rod und den Fläglichen 
- Zuftand deſſelben bejonnen. Er lief jammernd und 
verwänjchend im Zimmer auf und ab, 

„Das ift wahr,” rief er einmal über das andere, 
„ich bin einmal zum Unglüde geboren. Es hätte 
können ſchön werden; e8 follte nicht fein. Ohne gan- 
zen Rock, was ift da auszurichten. Geftern Abend 
mochte e8 gehen; da war e8 dunkel und von ber Bes 
fcheerung nichts zu ſehen. Jetzt aber iſt's Tag, bie 
Some hat feit Erſchaffung der Welt nicht jo Hell 
geſchienen. Was helfen die herrlichen Geſchöpfe da 
unten, wenn idy mid) vor ihnen nicht ſehen laſſen 
fann in einem anftändigen Rode. Als Centunkulus 
mag ih nicht auf Buchenfels umberfpazieren. Ich) 
begreife nicht, wie ih das Unglüd geftern Abend auf 
vie leichte Achfel habe nehmen und noch Wit daräber 
machen können. Was hilft jest Nomantif, Biblio- 
thefar, Frühling, Liebe und ſchöne Ausficht, an dem 
vermalebeiten zerfletfchten Rode berftet alle Poeſie, und 
wäre fie von Apollo jelbft, von allen Muſen und Gra— 
zien präparirt und rekommandirt.“ 

Johannes tröftete und ging in ven Vorjaal nah 
dem Kleiverfchranfe, um zu fehen, ob das Corpus 
delicti wirklich unrettbar verloren, oder durch Funft- 
reihe Hand zu reftauriven wäre „Im ſchlimmſten 
Valle ziehft Du meinen Frack an, der ift ganz anſtän⸗ 
Dig und wirb Did ‚gut kleiden. u 

Eginhard, der in dumpfem Schweigen dageſeſſen, 
ſprang jetzt auf. 

„Schweig mir,” rief er, „von dieſer niederträch⸗ 
tigen Tracht, eher will ich in Hemdärmeln meine 
Aufwartung machen, als in dieſem Non plus ultra 


61 


alles Ungeſchmacks, wie eine Bachſtelze umberzufpaziereit. 
Schon ver gute Jean PBaub hat ſich fein Lebtag dars 
über geärgert. Er nennt den rad einen Schwalbens 
fhwanz und hat ganz Recht. 

„Ich hole den Altveutfchen,” ſprach Johannes, 
‚vielleicht ift Rettung” Eginhard hatte aber alle 
Hoffnung aufgegeben. „Ich entfinne mid) ja ganz beut- 
lich,” ſprach er verzweifelt, „wie ic) geftern Abend 
in meinem fatanifchen Webermuthe ein ganzes großes 
Stüd vollends abgefnaupelt und in Die Taſche geftedt 
habe. -An dem Rode ift Hopfen und Malz verloren, 
die Beſtie ift nod nit einmal bezahlt.” Darauf 
fprady er dumpf für ſich Hin: 


„Hin ift hin — verloren ift verloren, 
Stirb hin, ftirb Hin in Nacht und Graus, 
D wär’ ich nie geboren.‘ 

Johannes war indeß mit dem Ueberzieher zurüd- 
gekehrt. Er betrachtete ihn oben und unten, vorn 
und hinten mit gerechter Bewunderung. 

„Was fehlt denn Deinem Rocke?“ fragte er, „ich 
ſehe ja nicht die geringſte Verletzung. Es iſt das 
unverſehrte Prachtſtück von geſtern.“ 

Eginhard ſah jetzt auch hin und ſein entzücktes 

Erſtaunen erreichte den höchſten Grad. 
„Iſt denn das mein Altdeutſcher?“ Fragte er feis. 
nen Augen kaum trauend. 

„Kein anderer,” lachte Johannes, „gute Genien 
haben über ihn gewaltet. Während wir in guter Ruh' 
gelegen, haben vie gejchicten Hände meiner Eoufinen 
oder der Näherin den Schaden, ver übrigens lange | 
nicht fo bedeutend gewejen ift, wie Du Dir vorge: 
ftellt haft, auf Das Unmerklichſte gut gemacht. Du 
bift den meiblihen unfichtbaren guten Engeln zu. 
großem Danfe verpflichtet.‘ 


62 


Eginhard, welcher noch immer feinen Rod an 
allen Orten befah und vifitirte, ſchwur jet Stem 
und Bein, das könnten feine menfchlihen Hände fo 
unfichtbar genäht haben. Es müßten ſchlechterdings 
Heinzelmännden im Schloſſe ihr fegensreiches Wirken 
treiben. 

„Entfinnft Du Dich nicht, Hans, wie der originelle 
Kopiſch in Berlin, der auch unfer neueftes Lieblings- 
lied, den Bater Noch,. gedichtet hat, jo allerliebft von 
ven nieblichen, fleißigen Kerlchens ſingt?“ 

Er ſang: 


„Wie war zu Köln es doch vordem, 
Mit Heinzelmännchen ſo bequem! 
Denn war man faul: — man legte ſich 
Hin auf die Bank, und pflegte 9 
Da kamen bei Nacht, 
Ehe man's gedacht, 
Die Männlein und ſchwärmten 
Und klappten und lärmten, 
Und ruften 
Und zupften, 
Und hüpften und trabten 
Und putten und ſchabten — 
Und eb’ ein Faulpelz noch erwadt, 
War all’ fein Tagwerk bereit3 gemacht. 
-Einft hatt’ ein Schneider große Bein: 
Der Staaterod follte fertig fein; 
Warf hin das Zeug und legte ſich 
Hin auf das Ohr und pflegte ſich. 
Da ſchlüpften fie friſch 
An den Schneidertiſch; 
Und ſchnitten und rückten, 
Und nahten und ſtickten, 
Und faßten 
Und paßten 
Und ftrichen und gudten, 
Und zupften und rudten — 
Und eh’ mein Schneiderlein erwacht, 
War Bürgermeifterd Rod gemacht.” 


« 
‘ 


63 


„Juchhe, auch mein Röcklein ift wieder fauber und 
nett, als kam e8 erft vom Schneider her.” 

AS die Beiden herabftiegen zum Garten, kam 

‚ihnen der alte Wertheim, entgegen. 
„eEin herrlicher Morgen,“ ſprach er, ben zwei 
Zünglingen die Hand ſchüttelnd, „Sammerfchabe, daß 
wir ein koſtbar Stück verſchlafen haben; bin auch 
nicht lange aus den Federn.“ 

Der Kaffee unter der Linde war ſervirt. Die 
Schloßfrau nebſt den beiden anmuthigen Töchtern fan- 
den ſich ein. 

Eginhard ſtellte jetzt dankbare Unterſuchungen an 
wegen des Wunders, das ſich dieſe Nacht mit ſeinem 
Rocke zugetragen hatte, Da fam e8 heraus, daß Pau- 
line mit ihrer Heinen Meifterhand die gute Fee gewe⸗ 
ſen war. Sie hatte ſich das Kleidungsſtück in aller 
Frühe herabholen laſſen, und die Reſtauration mit 
bewunderungswürdiger Geſchicklichkeit vollendet. 

Eginhard wäre ſeiner reizenden Erretterin für's 
Leben gern um ven Hals gefallen, wenn ſich dies 
einigermaßen hätte bewerfftelligen laſſen. 

Marie, welche im violetten Kleive ging, fam dem 
Sohannes im Sonmenlichte wieder fo überirdiſch vor, 
daß er abermald um Worte verlegen war, das be- 
zaubernde Weſen anzureben. 

Nach eingenommenem Kaffee ſchlug Wertheim fei- 
nen beiden Gäſten einen Spaziergang vor, um fie 
mit der nädıften Umgebung des Schloſſes bekannt zu 
machen. Der Vorſchlag ward gern angenommen, und 
ſo wandelten die Drei, nachdem ſich Johannes und 
Eginhard von den Damen verabſchiedet, in der fro— 
heſten Stimmung in den ſchönen Morgen hinein. 

Man gelangte zu dem alten, halbverfallenen Schloß- 
theile. In die meiften Gemächer ſchien der blaue 


64 


Maienhimmel und ver Ephen war armdick durch die 
offenen Fenſter hineingewachſen. Nur ein Heiner Theil 
dieſes alten Gebäudes war noch bewohnbar, und da 
eben refidirte der Bibliothelar. 

Johannes fragte den Onfel, ob dieſe verfallenen 
Gemächer nicht wieder zu reflauriren wären. 
.e „Wohl kaum,” war die Antwort, „fie find Ruinen, 
und Koften und Mühe wären vergebens aufgewendet. 
Dean bat 'mir wiederholt gerathen, den alten Gtein- 
haufen vollends abtragen zu laffen, aber ich habe mich 
nod immer nicht Dazu entfchliegen können.“ 

„Um's Himmelswillen,” rief Eginhard, „abtragen, 
jo eine Prachtruine, ich begreife nicht, wie man jo 
‚einen profaifhen Gedanken geben kann. Nein, da muß 
Alles ftehen bleiben, mie es fteht. ine jo herrliche 
Ruine, fo ein ehrwürdiges Aktenſtück aus dem Mlittel- 
alter, ift heutzutage, wo der Rauch der Fabriken alle 
- DBlüthen des Frühlings [hwärzt und man vor dem 
Scnaufen ver Dampfmafchinen fein eigen Wort nicht 
mehr hört, nicht mit Golde zu bezahlen.‘ 

Die Wanderer ftiegen in dem alten Gebäude Trepp 
auf, Trepp ab. Eginhard ſtellte Iauter mittelalterliche 
Betrachtungen an. Er meinte, in fo einem alten 
Schloſſe fünne man in einer Stunde mehr veutjche 
Geſchichte lernen, als bei Yuden im längiten Semeſter. 
Dean gelangte in ein Heines, finfteresg Gewölbe. 

„Das war die ehenalige Marterfammer,' erklärte 
Werthein, „wenn diefe ftummen Mauern erzählen 
fönnten, würden wir Gott nicht genug danken fün- 
nen, im neunzehnten Jahrhundert zu leben.” 

„Das neunzehnte Jahrhundert hat aud) feine Mar— 
tern,“ meinte Eginhard, „weit finnreiher als vie al- 
ten Ritter; den großen Mann der Weltgejchichte, a la 
Prometheus auf einen Felfen zu ſchmieden und einen 


65 


Geier Daneben: zu feen, eines ſolchen Verbrechens 
und eine ſolche Marter hat ſich das Mittelalter nicht 
zu Schulden kommen laſſen.“ 

In dem dunkeln Gewölbe fanden ſich mehre Trüm⸗ 
mer ehemaliger Marterwerkzeuge. Eginhard betrach⸗ 
tete Alles mit Kennerblick. Er war in ver altdeut⸗ 
fhen Criminalpflege ‚ziemlih zu Haufe, erklärte vie 
Wirkungen der verfchievenen Inſtrumente und fragte 
Johannes, ob er fih zum Zeitvertreibe an dem ſchö— 
nen Yrühlingsmorgen nit ein wenig martern lafien 
wollte? 

Der Gefragte verfpürte Feine Luft hierzu, und 
man ftieg lächelnd in den innern Hof des alten Schlofjes. 
Hier ſtand ein uralter, Blech umfangreicher, hoher, 

cylinderförmiger Thurm. Eginhard lief mehre Male 
um ihn herum, ohne einen Eingang zu finden. 

„Ale Wetter,” xief er, „eine Thür muß doch da 
fein, wie fann man fonft hinein.” Er machte noch 
einmal die Runde und fland ganz erftaunt. 

„Die Bauleute,” ſprach er, „müſſen präjumirt 
haben, daß Die Bewohner ihon darin gejtedt haben, 
da fie die Thüre vergeſſen.“ 

Man betrachtete pas ſeltſame Gebäude von unten 
bi8 oben. Da bemerkte enplid Johannes eine wer: 
mauerte Thür body oben, und man 309 ven ſehr fol- 
gerichtigen Schluß, daß- ver Thurm vermittelft einer. 
Zugbrüde mit dem Schloſſe in Berbindung geftanden 
haben müſſe. 

Nun war Eginhard wieder ſehr neugierig, was 
wohl drinnen ſtecken möge. Wertheim konnte hierüber 
keine Auskunft geben. 

Da muß ich wiſſen,“ ſprach ſchnell reſolvirt der 
Aterthumsforfcher, zog den Rod aus und begann wie 
eine Gemfe, von Fuge zu Fuge empor zu klimmen. 

Stoffe, ſämmtl. Schriften. XV. 5 





66 


Das überall hervorſproſſende Gejträuche diente zur 
bequemen Handhabe. 

Bergebend war das Abmahnen von Seiten Wert- 
hein’8 und Johannes. Eginhard hatte bald das Ende 
erreicht und ftand wohlgemuth body cben auf ber 
Thurmmauer. 

„Oben wär' ich,“ ſprach er, „eine herrliche Aus 
ſicht. Wenn hier der Thurmwart logirt hat, war das 
Kerlchen nicht dumm. Man kann Meilen weit in's 
grüne Land ſchauen.“ Hierauf ſang er: 

„Kleinhänſel ſchau auf, 
Was trappelt im Thal? 
Kommt Wadermann an? 

„Aber binfichtlih des Thurmbauches bin ich nicht. 
im Klaren. Iſt er hohl, oder was tft darinıten. Es 
fieht verwünſcht finfter aus. Die Sonne ſcheint nur 
ein Stüdchen hinein. 

„Der Menſch verſuche bie Götter nicht, 
Und begehre nimmer und nimmer zu fchauen, 
Was fie gnädig bededen mit Nacht und Grauen. 

„Bas da, ih will nicht vergehens heraufgekrochen 
ſein. Wohlan! 

„Ich bringe Euch Kunde, 

Was ich ſah auf des Meeres tiefunterftem Grunde‘ 

Damit begann er an ber inmwenbigen Geite des 
Thurms binabzuffettern. 

„Er muß von Sinnen fein,” rief Wertheim, „in - 
den Schlund Hinabzufteigen. Johannes tröftete; er 
‚war bergleihen Stückchen an Eginhard gewohnt, 
und wußte, baß biefer int Klettern die Geſchicklich— 
feit eines Gemfenjägers beſaß. 

Plöglih hörte man Eginhard im Innern bes 
Thurmes entfeglich fluchen. „Die Kraniche des Ibicus,“ 


67 


“rief er, „verdammtes Gefhwirr und Geſumme;“ und 
faft zu gleicher Zeit flatterte ein Schwarm eulenar- 
tige8 Geflügel, ob des unerwarteten Beſuches im 
Schlafe geftört, mit wibrigem Gefchrei zum Thurme 
hinaus, 

Eginhard fluchte fortwährend und ftieg immer tie- 
fer. Nun mochte aber das Gezweig nicht mehr halt- 
bar genug fein, denn man hörte von außen, wie er 
plöglic vollends hinabrutjchte. 

Jetzt ward Wertheim bange. 

„Da haben wir die Beſcheerung,“ rief er, „er iſt 
vollends binabgefahren, wie will er wieder hinauf? 
Ich werde ein paar Quadern herausheben müflen, da⸗ 
mit der Tollfühne gefegneten Auszug halten kann.‘ 

Johannes mußte laut auflachen und freute fich, 
daß Eginhard einmal für feinen VBorwig anf jo drol⸗ 
fige Weife beftraft wurde. Er fragte den Thurmbe— 
wohner mit lauter Stimme, wie er fich befinde und 
welche antiquarifche Entdeckungen er bereit gemacht 
habe. 

Anstatt der Antwort tönte herauf: 

„Süße, freundliche Gewohnheit des Daſeins und 
Wirkens, von dir ſoll ich ſcheiden! Wenn ich) wenig- 
ſtens eine Laterne hätte, mein Unglüd bei Lichte zu 
fehen. Hier herrſcht eine Nacht, wie in der ewigen 
Verdammniß. Ich kann die Sterne fehen, fo tief ift 
der Keller. Was hilft mir das. Und eine Kälte ift 
hier, wie auf Spitbergen, wo die Eisbären über- 
müthig werden. Wäre ich doch lieber in ven Him— 
mel gefahren, als in das verdammte Eisloch, das ber 
Zeufel in feinem Zorne erſchaffen hat.‘ 

„Ei, jo fahre doch wieber zu Tage, wadrer Berg- 
mann,‘ vief Johannes, 

„Das tft. bald gejagt,” zanfte es un Thurme, 

” . % 


68 


„doch ſobald nit gethban. Ihr habt gut ratben 
draußen in der warmen Welt, wo die Mücken fpie- 
Ien und Schmetterlinge gaufeln. Ic hab’ e8 mit 
andern Beſtien zu thun. Ih will nicht lebendigen 
Leibes herabgefahren fein zur Hölle, wenn ich' nicht 
einem Schock Nattern, Molden, Salamandern und 
Draden auf ven Kopf getreten habe. Der Satan 
hole ſolche Romantik. Menſch bleibt Menſch.“ 

Unter dieſen abgebrochenen Monologen ſtolperte er 
fortwährend über große Steine, die den Boden des 
Thurmes bedeckten, und zankte ſich mit Schlangen 
und Ungeheuern, die ihm ſeine Phantaſie vormalte. 

„Ich wünſchte,“ fuhr er fort, „daß die alten 
Deutſchen, dieſe Blondins, ihr Genie und Geld zu 
was Beſſerem angewandt hätten, als ſolche höchſt ab- 
geihmadte und überdies geſchmackloſe Babelthürme 
aufzuführen. Ic ſehe gar feinen Zweck, den dieſe 
elenden Steinkoloſſe haben konnten, weder in militä⸗ 
riſcher noch politiſcher Hinſicht. Es war in manchen 
Dingen ein bornirtes Volk, dieſe Deutſchen. Das 
wird einem klar, ohne daß man den Luden zu leſen 
braucht, und mir jetzt abſonderlich, obſchon es um 
mich ſtockfinſter iſt wie in Egypten zur Zeit der 
Landplage.“ 

Nachdem Eginhard vergebens mehrmals an den 
innern Thurmwänden umbergetappt war, ohne einen 
Anhaltepunft zum Aufwärtsfteigen zu finden, ward 
er demüthig und begann gute Worte zu geben. 

„Hans, befter Hans,“ rief er, „Liebling meiner 
Seele, wenn Du Deinen treuen Freund nod) einmal um⸗ 
armen willft auf dieſer ſchönen Welt, fo wirf etwas 
herab in den Abgrund, ein Stüd Strid oder Strid- 
leiter, daß ich etwas erfaflen und auferftehen kann 
von den Todten. Aber hab Acht, daß der Hanf gut 


69 
gedreht und das Ankertau nicht zerreißt, fonft kann 
ich ven Hals brechen auf die bequemfte Art, ohne daß 
Jemand etwas davon gewahr wird. Erſt nad Jah— 
ren wird mein moderndes Gebein Kunde geben von 
meinem tragifchen Ende.” | 

Johannes war nad) dem Schloſſe zurückgeeilt und 
fehrte mit Bendir, dem Diener Wertheim’s, zurüd, 
welcher eine Stridleiter nachſchleppte. Unterdeß warb 
. aber dem Lebendigbegrabenen die Zeit lang; doch 
verlor er feinen guten Humor nicht; und Wertheim, 
wie unangenehm ihm das Eginhard ſche Unternehmen 
war, mußte oft über die Monologe, welche der Thurm⸗ 
bewohner hielt, laut lachen. 

„Ich lebe unbeſtritten,“ fuhr letzterer fort, „im 
zwölften Jahrhundert nad) ver Geburt unſers Herrn 
und Heilands, ſo lange kann dieſe Babelfeſte ſtehen; 
denn die Sonne ber ſpätern Jahrhunderte hat nicht 
im dieſe Tiefe geleuchtet.. Wo bleibt denn Hans ? 
Wenn ih noch lange bier unten verweile, thaue id) 
im eben nicht wieder auf. Ueberdies habe td) wie 
Laakoon mit Ditern und Schlangen zu fampfen. Die 
Unzahl Flevermäufe fommt nit in Betracht. Ic) 
wünſchte ich wär eine Da hätt ich Flügel und 
fönnte emporfteigen in himmlische Regionen. Daß der 
Menſch das Fliegen noch nicht erfunden hat, ift aud 
eine Schande. Die Adam'- und Eva’fche Nachkom— 
menfhaft hat viertaufend Jahre Zeit gehabt, über 
die Suche nadyzudenfen, und Nichts herausgebracht, 
obſchon täglich die Geſchlechter der leichtbeſchwingten 
Vogel vor der Naſe herumfliegen und das Ding vor— 
machen. Nein, wir wollen mit unſrer Weisheit um 
Himmelswillen nicht dicke thun, ſonſt braucht ich nicht 
in dieſem Eisloche zu ſtecken und mich mit den 
Schlangen und Kröten herum zu zanken. Hu, das 


? 


70 


mag bier Kribbeln und wibbeln; es ift gut, daß ich 
von der erlauchten. Geſellſchaft nichts fehe; aber es 
mag auf dem Meereögrunde nicht fehauerlicher her- 
gehen. Wie es Schiller's Taucher zu Muthe gewefen, 
ift mir jest klar, obſchon ih in vollkommner Nacht 
lebe. Wenn ich nur nicht blind werde, falls mit je 
noch das Glück wird, in's freundliche Leben, auf bie 
ſchöne, Lichte, warme, wonnige Erde zurüd zu ehren. 
Ruhe, was rafchelte da wieder. Die vier, fünf-, 
feh8- und taufenpbeinigen Ureinwohner dieſer Gruft 
mögen allerdings über meine Höllenfahrt Augen ma=' 
hen. Eine ſolche Erſcheinung ift ihnen feit ven Rö— 
merzeiten nicht geworben. Ihre fpätefte Nachkommen⸗ 
Ihaft wird fih noch mit gefpisten Ohren davon er- 
zählen. Aber Hans, alle Wetter, wo bleibt er? Ich 
bin ja noch nicht tobt, daß man fich nicht mehr um 
mich befümmert.” 

Wertheim rief ihm von außen Muth und Aus— 
dauer zu. Nur ein paar Minuten follte er fich ge« 
dulden, und e8 würde Rettung kommen. 

„O das war die Stimme eined Engel,” tünte 


es als Antwort aus dem Thurme, „eines Engels, der 


im warmen Sonnenfcheine wandelt und mein edler 
Gaſtfreund ift. 
„Mitten durch's Heulen und Klappern der Hölle, 
Dur den grimmigen, teufliichen Hohn, 
Erkannt' ich den ſüßen, den Liebenden Ton. 

„3a, ich ſagt's immer, der Ton der menſchlichen 
Stimme hat etwas wunderbar Erfreuendes, hauptſäch⸗ 
lich für Staubgeborne, die ſich in meiner dermaligen 
Lage befinden.” 

Nach einer Paufe rief e8 wieder: 

„O braver Mann, braver Mann zeige Did), 
Schon naht das Berberben fih fürchterlich. 


74 


„Das Otterngezücht wird immer revolutionairer. 
Wo dränge ſich heutzutage die Revolution nicht ein, 
ſelbſt dahin, wo keine Sonne ſcheint. Aber noch bin 
ich hier der gewaltige Napoleon und halte die ganze 
raſchelnde und ziſchende Unterwelt in Schach.“ 
Dem Johannes war es jetzt gelungen, die Thurm⸗ 
mauer emporzuklimmen und die Strickleiter nach ſich 
zu ziehen. Er ſtand oben und rief in die Tiefe: 

„Muth, ver Retter naht, aufgepaßt, ich laſſe bie 
Himmelsleiter hinab.” 

Er fenfte fie in den Schlund; das eine Ende 
biieb aber am Gefträud hängen und gelangte nicht 
bi8 zu Eginhard. Diefer tappte in der Finſterniß 
vergeben? nad dem Xettungsfeile umher. Johannes 
war nun genöthigt, die Leiter wieder heraufzuziehen, 
Er ſ ah kein ander Mittel, ſie für den Freund erreich⸗ 
bar zu machen, ald wenn er einen Stein an das un⸗ 
tere Ende befeftigte. Died verurfachte wieder Aufent- 
halt. Eginhard wollte verzweifeln. Es warb ihm, 
bei feiner erregbaren Phantafie immer gewiller, daß 

die Thurmgruft zu feiner Todtengruft werden würde. 

Er jammerte: 

„So muß id denn verlaffen fterben, 
‚ Hier unter Schlangenbrut verderben.‘ r 

Sohannes und Wertheim tröfteten aus Leibes— 
kräften. Der Letztere ſchickte bereits nach Arbeitern, 
um ein paar Quadern aus der Thurmmauer heraus 
bauen zu laſſen, falls die Verſuche mit der Stridlei= 
ter nicht gelingen ſollten. 

Johannes ſenkte jet die mit einem tüchtigen 
Steine befchwerten Rettungsſtricke abermals in die 
Tiefe. Voran ſpazierte eine Laterne. Die Geſträuche 
leiſteten jetzt keinen Widerſtand mehr. So ſchwebte 
die Rettungsmaſchine immer tiefer. 


12 


Als Eginhard den Rettungsftern berabfchweben 
fah, befam er wieder Muth. ° 

„Se, mir willfommen, ſtrahlendes Geftirn der 
Dberwelt,” rief er; und ertunpigte fi zugleich, ob bie 
Stridleiter gehörig befeftigt fei ? 

„Unbeſorgt,“ antwortete Johannes, „ſpute Did 
nur, daß wir Dich bald im Lichte haben.“ 

Bei dem Thurmbewohner bedurfte es dieſer Auf- 
forderung nicht. So wie er den Stein erreichte, zog 
er ihn vollends herab und band ihn von der Leiter los. 

„Eigentlich ſollt' ich jetzt,“ ſprach er, „noch einige 
antiquariſche, hiſtoriſche Unterſuchungen anſtellen über 
das Inuere dieſes räthſelhaften Thurms, damit ich 
wenigſtens für die Wiſſenſchaft nicht vergebens hier 
unten campirt habe. Im, Betracht der Nova Zembla⸗ 
Atmoſphäre aber will ich mir dieſe Forſchung für ein 
andres Mal vorbehalten.“ 

Er leuchtete mit der Laterne ein klein Wenig 
umher und war eben im Begriff, an der Strickleiter 
emporzuklimmen, als er das Heft eines alten Schwer⸗ 
tes entdeckte, das aus den Steintrümmern hervorragte. 

„Heureka,“ rief er, „und ſollt' ich das Sonnen— 
licht mein Lebtag nicht wieder ſehen, dieſen außer⸗ 
ordentlichen Fund kann ich nicht zurücklaſſen.“ Er zog 
und zerrte ſo lange, bis er die Waffe glücklich erobert 
hatte. Mit dieſem für ihn unſchätzbaren Funde trat 
er ſeine Himmelfahrt an und gelangte nach einigen 
Beſchwerlichkeite mit ſammt dem Schwerte glücklich 
auf die obere Thurmmauer, wo ihn Johannes lachend 
bewillkommte und Wertheim ihn ein freudiges „Glück 
auf!“ zurief. 

„Jetzt wirſt Du mir endlich zugeſtehen,“ ſprach 
er, vor Froſte ſich ſchüttelnd, „daß ſolch' ein außeror⸗ 


7” Abenteuer, wie ich beſtanden habe, nicht 


13 


alle Tage vorkommt. Du wirft zugeitehen, daß Cou- 
. rage dazu gehört, ſich lebendigen Leibes, in der Blüthe 
der Jahre in ein Schlangengrab zu betten. Aber, 
fügte er triumphirend hinzu, „Muth belohnt fi, fieh 
die8 Schwert und ſchweige. Ein folder Fund ges 
ſchieht nicht alle Tage. Ich fühlte wohl, als ich in 
der Finſterniß ſaß, daß ich auf einer untergegangenen 
Heldenwelt herumtrat. Das Schwert ift Beweis, daß 
e8 vor Jahrhunderten furchtbar hier zugegangen if. 
Ich fchreibe ein Programm über diefen Flamberg, das 
ſich gewafchen haben fol. O ihr Götter, welch ein 
Fund, unter dreiunddreißig Meillionen Deutfchen war 
- id der Auserwählte, der ihn aus Nacht und Trüm- 
mern zu Tage fördern und die Alterthumskunde be= 
reichern follte.” Während Johannes die Stridleiter 
wieder heraufzog, überlegte Eginhard, wie er fein 
Schwert glücklich auf die Erde bringen fünnte, 

„Du'wirfſt e8 hinab,” ſprach Johannes, „es wird 
nicht zerfpringen.“ 

„Du fprichft, wie Du es verftehft,” zankte Egin- 
hard, welchen es nicht wenig ärgerte, daß der Freund 
jeine Antiquität fo en bagatelle behandelte. Ich be- 
darf nothwendiger Weife eines guten Seils, um die 
Waffe wohlbehalten niederzulajien. Zwiſchen die Zähne 
kann ich's nicht "nehmen, wie Horatius Cocles.‘ 

„Johannes entgegnete: „Was ift hier für Beden— 
fen, wir merfen die Stridleiter nady außen. Der da 
zuerſt hinabiteigt, nimmt's mit.‘ 

Diefen Vorſchlag lieg fih Eginhard gefallen, und 
da er beifer zu klettern verftand, als Johannes, fo 
übergab er die verroftete Reliquie deinfelben; band 
fie ihm mit väterlicher Sorgfalt auf die Seele, damit 
fie feinen Schaden erleibe. 

Endlich waren die zwei Mufenfühne zur großen 


74 
Freude Wertheim's auf ebener Erde angelangt. Egin— 
hard ward von dem Alten mit Lobeserhebungen ob 
ſeines Muthes überhäuft, welche er ſich auch gern ge— 
fallen ließ. 

Hatte dieſer, als er noch im Thurme ſteckte, über 
das Furchtbare ſeines Aufenthaltes ſich in ſeiner ge— 
wohnten Uebertreibung gefallen, ſo trieb er es jetzt, 
wo keine Gefahr mehr vorhanden, womöglich noch 
ſchlimmer. Er beſchrieb ausführlich die verſchiedenen 
Gattungen der Schlangen und der übrigen Ungethüme, 
die ſämmtlich nach ſeinem Blute gelechzt hätten. 
Ahmte ihr verſchiedenartiges Geziſch und Gepfeife 
nad, daß Wertheim und Johannes ſich oft des lau— 
ten Lachens nicht enthalten, und dem Erzähler wegen 
feiner drolligen Manier nicht bös werben fonnten, 
wenn er auch zuweilen beveutend fabelhaft erzählte. 
Das Spaßhaftefte an der Sache war, daß Eginhard 
an alles das Unerhörte, was er erlebt haben wollte, 
auch wirklich glaubte und feit überzeugt davon war. 
Das aufgefundene Schwert, ein Lichtblid feines Le— 
bens, wie er e8 nannte, gab ihm Stoff, die übertrie- 
benfte Hypotheſe aufzuftellen. Im Anfange jollte es 
ein: Frankenſchwert fein und da Buchenfels innerhalb 
des alten Sachſens lag, mußte es nothwendigerweife 
aus den Zeiten Karl's des Großen herrühren; ja ber 
Alterthümler wollte fogar einige untrüglide Merk— 
male daran wahrnehmen, welde ihm nicht undeutlich 
anzeigten, Daß es jenem großen Kaifer wohl felbft 
angehört haben könnte. 

Unter folchen antiquarifhen rörterungen kehrte 
man zum: Schloßgarten zurüd, wo die Fürſorge der 
ſchönen gaftfreundliden Damen unter der großen 
Linde ein höchſt appetitliches Frühſtück bereitet hatten. 
Lieblich glänzten die banken Weingläfer im Morgen- 


75 


lichte. Pauline bewillfommte die Anfommenden und 
Eginhard Hatte nichts Eiligeres zu thun, als feine 
Thurmfghrt in Erinnerung zu bringen. Er ſchloß 
feine groteske Schilderung mit den Worten, daß von 
ſolch einer außerordentlichen Romantik ſelten ein 
Sterblicher eine Ahnung habe. 

„Was verſtehen Sie den eigentlich unter Ro⸗ 
mantik,“ fragte treuherzig Pauline, „Sie gebrauchen 
dieſen Ausbru für ſo verſchiedenartige Situationen, 
daß ich mir ſchon den Kopf zerbrochen habe über die 
eigentliche Bedeutung dieſes Wortes?“ 

„Allerdings, ſchönes Fräulein,” belehrte Egin- 
hard, „ſind der Zuſtände ſehr viele, die wir mit der 
Benennung Romantik bezeichnen. Wandeln wir durch 
ein lachendes Thal, das ein klarer Bach durchrieſelt, 
Vergißmeinnicht und blaue Schlüſſelblumen bekränzen 
ſein Ufer und munteres Laub ſpiegelt ſich in den 
Silberwellen, während rings auf blumenreichen Hü— 
geln und grünen Wieſen der Horizont herabſinkt, ſo 
rufen wir einmal über das andere: „Gott wie ro⸗— 
mantifh!” Wird die Gegend ernfter, treten an bie 
. Stelle des freundlihen Laubholzes finitere Tannen⸗ 
wälder, wachſen Felſen empor, wild und waldumnach— 
tet, erftirbt der Blumen Schmelz, der Wiefen fanftes 
Grün, beginnt der Waldbach zu rauchen, verftummt 
ber Vögel Geſang, und zieht nur ein einfamer Raub- 
vogel in den hohen Wolfen feinen |pionirenden Kreis — 
„Huh!“ rufen wir, „wie tief romantih!”" — & - 
it. Spätherbit Abend, einfame Nebel fchleichen über 
erftorbene Gefilde, der verfpätete Wanderer legt einen 
ſchnellern Schritt ein, vor völliger Nacht vie befreun- 
bete Heimath zu erreihen; der Abendwind weht das 
legte Laub von entblätterten Aeften, und Alles wird 
nebelhafter, ungewiffer, dunkler, unheimlicher, — auch 


16 


für dieſen Zuſtand wifjen wir bald eine Bezeichnung 
und nemen ihn — „romantiſch.“ — Glänzt der 
Bolmond in der Sommernadht, hält die Natur den 
Odem an, nur in der Silberpappel flüftert wie Ge— 
fpenfter der leife Nachtwind, und fern im Parfe tönt 
der Springbrunnen in einförmigem Rauſchen, bie 
eilfte Stunde klingt von der Dorffiche, in beren 
Fenſtern ſich der Vollmond ſpiegelt — ad), ſeufzen 
wir ſchwärmeriſch, wie — „romantiſch!“ — Die 
moosumhüllten, epheuumſponnenen Burgtrümmer ruhen 
im Abendroth, melancholiſch zirpt ein Heimchen in 
dem todten Geſtein, unter dem Berge aber treibt der 
Hirt die friedliche Heerde unter frommem Abendliede 
nach den wohlverwahrten Ställen, melodiſch lautet 
dazu die Abendglocke — auch dies nennen wir wieder 
— „romantiſch.“ — Dumpf bricht ſich das dun- 
kelgrüne Meer an Schottlands Telfenfüfte, geheimniß- 
voll rauſchen die Wogen, ein Fiſcher figt am Ufer, 
ber ſich fingend Nee windet, die Nacht bricht herein, 
bie Lichte des weit in die See hinausgebauten Leucht- 
thurms werden angezündet, in ver nahen Fiſcher— 
hütte Eniftert auf dem Herde die Iuftige Flamme, ein 
ſüßes Kind, mit holdſeligem Antlig (Eginhard machte 
bier eine artige Verbeugung gegen Paulinen, wofür 
er aber von ihr ein bitterböfes Geſicht befam) fett 
beforgt das Waffer über vie Gluth zum erwärmenden 
Thee für den Vater, der noch heute Abend von ber 
See zurüd erwartet wird, auch dies Bild nennen wir 
— „romantiſch.“ — Ein tief goldener Himmel 
wölbt fi) über Orangenhaine, über eine üppige fiid- 
liche Vegetation. In der Ferne glänzt der Spiegel 
bes Meeres. Am wildverwacfenen Pfade erhebt ſich 
ein einfam Madonnenbild. Ringsumher aber lagern 
zexlumpte, ſchwarzbraune Gefellen, mit markirten Ge- 


77 


ſichtern und mord- und beuteluſtigen Blicken, es ſind 
Räuber aus den Abruzzen, aber Gegend und Räuber 
— „tief romantiſch.“ — Leiſer ſchmelzender Gui— 
tarrenton tönt aus einem Garten am Quadalquivir, 
wo die Granatbäume blühen und rothe Mandeln, 
und fehnfüchtig erklingt die Romanze zum fpanifchen 
tieftatholifchen Himmel, abermald — „romantiſch.“ 
Es follte mir nicht ſchwer werden, noch eine große 
Anzahl Bilder anzureuten, die an fib ganz verfcie: 
den, und gleihwehl zu dem Ausrufe „wie romantiſch“ 
zwingen, und wir jehen Daraus, wie umfaſſend dieſes 
Wort feiner Bedeutung nad), und wie fchwierig daſ⸗ 
jelbe erſchöpfend zu definiren ft. Wenn nennt man 
eine Gegend romantiſch? Wenn fie recht „lie blich“ 
eriheint? Weniger. Cine fruchtbare Ebene? Noch 
weniger. Schöne blühende Gärten? Noch weniger. 
Wogende Kornfelter, otlpenbe Kirih- Alleen? Auch 
nicht. Run, zum Guckuk, wo ftedt vie Romantik? 
Eine Gegend nennt man vomantifh, wenn ihr Bild 
eine poetifhe Anſchauung zurüdläßt, wenn eine poe— 
tiſche Idee aus demſelben zu und fpricht, wenn wir 
duch die Anſchauung überhaupt in poetiſche Stim— 
mung verjegt werden. Ueberjegen läßt fib das Wort 
„romantiſch“ nicht, weder durch anmuthig, veizend, 
lieblich, prachtvoll, noch dergleihen. Nur ein Wort 
giebt es, das man allenfall® für romantijch ge: 
brauden fönnte, obſchon es bei weitem nicht er: 
Ihöpfend if, — das iſt das Wort „maleriih.” Cine 
romantische Gegend, mag fie nun anmuthig, lieblich, 
veizend, oder nicht fein, maleriſch iſt fie ftets, und 
malerifhe Gegenden find in der Regel — ro— 
mantiſch.“ 

Pauline, die ſehr aufmerkſam zugehört hatte, fragte 
jetzt, als Eginhard mit ſeiner Vorleſung zu Ende war: 


78 


„Sie nannten vorhin Ihr Eingefperrtfein im Thurme 
auch romantiſch; das war dod nicht malgrifch?“ 

„Allerdings,“ geftand der Gefragte ein, „ic für 
meine Perfon gehe freier zu Werke und nenne aud) 
Zuftände romantifh, die es ftreng genommen nicht 
find. Sie haben recht, meine Situation im Thurm . 
überftieg faft die Romantit, fie war grotesf, Diefer 
Ausdruck iſt bezeichnender. 

„O Königin,“ fuhr er nach einer Pauſe fort, als 
ihm Pauline feinen Römer wieder gefüllt hatte, „das 
Leben ift doch ſchön, zumal wenn man unmittelbar 
vorher in offenbarer Todesgefahr gefchwebt hat und 
jet beim vollen Pokale fitt, credenzt von einer rei- 
zenden Ganymeda, rings von Blumen umblüht, in 
Ihönfter Morgenbeleuhtung. Herr Wertheim, kennen 
Sie das neue Weinlied, gedichtet von Kopiſch, in 
Muſik geſetzt von Reißiger ?“ 

Als der Gefragte verneinte, rief Eginhard: „Wie? 
Das herrliche Lied kennen Sie nicht? Und Sie auch 
nicht, ſüßes Kind?“ 

Paulme ſchüttelte das Lockenköpfchen. 

„Wirklich nicht? Nun da muß ich's ſingen.“ 

Und im ſchönen ſonoren Bariton begann er: 


„Als Noah aus dem Kaſten war, 
Da trat zu ihm der Herre dar, 
Der roch des Noä Opfer fein 
Und ſprach: Ich will dir gnädig ſein, 
Drum weil du ſo ein treues Haus, 
So bitt' dir ſelbſt die Gnade aus. 


„Da ſprach der Noah: Lieber Herr, 
Das Waſſer ſchmeckt mir gar nit ſehr, 
Dieweil darin erſäufet ſind 
All ſündhaft Vieh und Menſchenkind; 
Drum möcht' ich armer, alter Mann 
Ein anderweit Getränke ha'n. 


79 


„Da griff der Herr in's Paradies 
Und gab ihm einen Weinftod ſüß, 

Und ſprach: Den follft du pflegen jehr! 
Und gab ihm guten Rath und Lehr’, 
Und wies ibm Alles fo und jo; 

Der Noah warb ohn' Maßen froh. 

„Und rief zufammen Weib und Kind, 
Dazu fein ganzes Haudgefind; 
langt Weinberg rings um fich herum, 

er Noah war fürwahr nit dumm, 
Baut Keller dann und preßt den Wein, 
Und füllt ihm gar in Fäffer ein. 

„Der Noah war ein frommer Dann, 
Stach ein Faß nach dem andern an, 
Und trank e8 aus zu Gottes Chr; 

Das macht ihm eben fein Beſchwer; 
Und tranf, nachdem die Sündfluth war, 
Dreibundert noch und fünfzig Jahr.” 


Eginhard that Hierbei einen tüchtigen Schlud. 
Pauline Elatfchte die Händchen zufammen und rief ein= 
mal über das andere: „Allerliebft! Allerliebſt!“ Für 
Wertheim .aber mar das Lied nicht mit. Golve zu be= 
zahlen. Er verjette fi) ganz in die behagliche Lage 
feines Urahns und wiederholte fingend brummend: 


„Dreihundert noch und fünfzig Jahr!‘ 


Es lag in diefen Worten für Wertheim, der fick 
gern nody manches Yährchen der ſchönen Erbe zu freuen 
und mandes Fläſchchen auszuftechen wünfchte, etwas 
fehr Beruhigendes. 

„Paul,“ entſchied er daher ſogleich, „dieſes Lied 
aller Lieder ſchreibſt Du mir auf. Das lern' id aus— 
wendig, partout, wie ſchlecht es mit meinem Gedächt— 
niſſe auch ſteht.“ 
8b bin noch nicht zu Ende,” fuhr Eginhard 
fort; „nun kommt erſt die gute Lehre.“ Er ſchenkte 


80 


fi) fein Glas wieder voll, hob es mit behutjamen 
Bliden empor und fang: — 
„Sin Hunger Mann bieraus erficht, 
Taf Weingenuß ihm jchabet nicht; 
Und item, daß ein guter Chrift 
In Wein niemalen Waſſer gießt, 
Dieweil darin erſäufet ſind 
All ſündhaft Vieh und Menſchenkind.“ 
Von nun an hörte man den alten Wertheim faſt 
den ganzen Tag halb laut vor ſich hinſingen: 
„Dieweil darin erſäufet ſind 
All ſündhaft Vieh und Menſchenkind.“ 
Und Eginhard mußte ihm oft die einzelnen Verſe 
wiederholen, damit er fie dem Gedächtniſſe einpräge. 


II. 


Die beiden Nachbarn Wertheim's, Bodo und Al— 
bert, waren wohlbehalten angelangt auf Buchenfels, 
und wie feindſelig ihnen Eginhard Anfangs geſinnt 
war, hatte er ſich doch bald dermaßen mit ihnen aus⸗ 
geſöhnt, daß ſie die herzlichſte Freundſchaft ſchloſſen. 

Das große Souper, welches Wertheim den Mu— 
ſenſöhnen zu Ehren beſchloſſen hatte, war nach dem 
eigenen Willen der letztern bis auf die Ankunft der 
beiden Ritter verſchoben worden. 

Mau war ſo eben vou einer Landparthie heimge— 
kehrt, der Abend war ſchon hereingebrochen und in 
dem großen Saale ſtand die Abendtafel geſchmackvoll 
gedeckt. Alle befanden ſich in der fröhlichſten Laune; 
Eginhard hatte wieder zu hunderterlei Scherzen Ver— 
anlaſſung gegeben. Seine Thurmfahrt bot noch Stoff 
zu den mannigfachſten Neckereien. Er gerieth jedes⸗ 


$1: ‚ 


mal in Harniſch, wenn man ſeinen außerordentlichen 
Abenteuern, die er in ſeiner Gefangenſchaft erlebt 
haben wollte, nicht unbebingten Glauben und Bewun⸗ 
derung ſchentte, oder die Sache überhaupt nicht grotesk 
und romantifch genug fand. | 

Wertheim trieb zur Tafel. Eginhard kam wieder 
neben PBaulinen, feinen Lieblinge zu fiten. Es war 
eine herrliche Frühlingsnacht, der Abenpftern war fo 
eben Hinter blühenden Bergen untergegangen; alle: 
Fenſter ſtanden offen und die balfamifhe Nachtluft 
wehte herein. Die Gläſer Hangen an ver Tafelrımde. 
Man ftieß an, auf den gaftfreumplichen Wirth und 
feine trefflihe Gattin, auf ven Couſin Johannes, . die 
benadybarten Säfte; Eginhard wußte für Alle aller- 
liebſte vwerfivicirte Toaſte; er war unerjchöpflih, und’ 
die Heiterkeit nahm immermehr überhand. Da Flingte 
Albert an fein Glas, zum ‚Zeichen, daß er un Gehör 
bitte. Alles ſchwieg il, bis auf Eginhard; der eben 
Paulinen, die dem Napoleon nicht vergeben Tonnte, 
daß er in das garftige Rußland Hinausgezogen, hifto= 
riſch und politifch bewies, wie dem Kaifer nichts An—⸗ 
deres Übirg geblieben je. Er wäre nicht Napoleon 
gewejen, hätte er dieſen Zug in dad, Eisland, bie 
"größte Epopee der Weltgefhichte, nicht unternommen. 
Blos die Philifter, die Nichts verftänden, machten 
ihm einen Fehler daraus. 

„Ruhe!“ commandirte Iohannes,. der Eginhard 
gegenüber ſaß und deutete auf Albert. Der Napo- 
leonift war aber dermaßen von feinem Oegenftande 
ergriffen, daß er noch immer leife vor fid) hin Dispu- 
tirte und auf die Worte des Sprecherd nicht fonder= 
lich achtet. Dieſe lauteten aber alfo: 

„Ich ſehe mid) genöthigt, zu meiner und meines. 
Freundes Schande zu geftehen, daß uns beide nächſt 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVI. 6 


82 


dem Verlangen, unſern hochverehrten Wirth und bie 
lieben Seinen in ihrer Beſitzung zu begrüßen, nod 
ein andrer, allerdings nur egoiftiicher Grund nach dem 
Buchenfel getrieben bat. Unfer langjähriger Wunſch 
ift nämlich ‚erfüllt worven, ver Wunſch, dieſe Hallen 
einmal betreten zu bürfen, woran bei Lebzeiten des 
menſchenfeindlichen vorigen Beſitzers nicht zu denken 
war. Und deshalb hoffen wir auch enplich über bie 
wunderbare Sage Aufſchluß zu erhalten, über jene 
jeltjame geifterartige Erſcheinung, die in diefen Mauern 
umgehen ſoll, über .vie berühmte wunderſchöne Roſe 
von. Segovia.” 

Eginhard, ver fo eben eine. gewiertheilte Cotellete 
mit der Gabel angefpießt hatte und zum Munde füh- 
ren wollte, ließ jie bei dieſer außerorbentlichen Nach⸗ 
richt unberührt auf ven Teller zurüdfallen, und ver . 
Mund, den er zur Empfangnahme bereits geöffnet 
hatte, blieb ob ſolcher übernatürlihen Romantik gera- 
bezu offen ftehen. Ex felbit ſaß ftarr und fteif da. 

Auch auf die übrige Gefellihaft, mit Ausnahme 
Wertheim’8 und des anmefenven Paftors, hatten Al- 
bert's Worte. großen Eindruck gemacht. Alle ſaßen ſtill 
da in großer Erwartung. 

Da erhob ſich Wertheim: 

„Sie haben da, verehrter Freund,“ begann er, 
„ein Capitel zur Sprache gebracht, das ich den Mei⸗ 
nigen aus feinem andern Grunde zeither verſchwiegen 
habe, als um die ohnedies furchtſamen Gemüther nicht 
noch mehr in Schrecken zu ſetzen. Da es indeß kein 
Geheimniß mehr iſt, ſo will ich auch nicht länger hinter 
dem Berge halten und reinen Wein einſchenken, we⸗ 
nigſtens ſo viel ich von der Sache weiß. Allerdings 
geht eine Sage von Buchenfels, daß in ſeinen Mauern 
von Zeit zu Zeit ſich ein ſchönes geifterartiges Grauen: 


— 83 


bild blicken laſſe, welches man allgemein mit dem Na- 


men der Rofe von Segovia belegt.“ 


„Ben Segovid “ fragte Johannes, „alfo aus 
Spanien?" 

„Allerdings, erzählte Wertheim weiter, „ver Ahn- 
herr dieſes Schloffes, ein Abenteurer, ver Ferdinand 
dem Katholifhen gegen die Mauren zu Hülfe zog, fol 
ſich das jchöne gefangene Maurenfind vom fpanifchen 
König als einzigen Lohn für geleiftete Dienfte erbeten, 
e8 mit nach Deutichland und zwar hierher auf ven 
Buchenfel® gebracht haben. Aber des Norvens falter, 
trauriger Himmel habe die jchöne Tochter des Südens 
nie wieder lächeln ſehen. Unendliche Sehnfucht habe 
fie erfaßt nad ihrer Heimath, nad) ihren Lieben und 
den Gejpielinnen ihrer Jugend. Da wäre enblidy ihr 
Herr und Gebieter über diefe fortwährenne Wehmuth, 
und weil fie ihm feine aufgeprungene Liebe nicht habe 
erwiedern können, 688 und zornig geworben und habe 
fie gequält mit allerhand Martern, denn das arme 
Mädchen war jeine Sclavin. Dieſe aber war folder 
Behandlung nicht gewöhnt, denn fie war in Segovia 
die Tochter eines Königs und ihre zarter Fuß hatte 
nur auf perfiihen Teppichen geruht, und ihre Heine 
Hand hatte nur zu winfen gebraudyt, und eine Anzahl 
Dienerinnen waren bereit geweien, ihre Befehle in 
Ausführung zu bringen. Lett follte fie auf Buchen— 
fels die Dienfte einer niedern Dienerin verrichten, 
denn Herr Ruppert, jo hieß der Ahnherr, Hatte zu 
ihr geſagt; „wenn Du nicht mein Licbchen fein willit, 
jo fei meine Magd.“ Da ift aber das arme Mädchen 
von Tag zu Tag ſichtbar bläſſer geworden, und die im 
ganzen Maurenreiche gefeierte Roſe von Segovia 
bat ſich alsbald kaum mehr ähnlich geſehen. Ruppert, 
nachdem auch ſeine barbariſche Härte ihm „its ge= 

Gr 


84 . 


holfen, ift noch aufgebradhter geworden und hat das 
arme Kind enplih gar in ven Thurm werfen laffen, 
wo fie elendiglich umgekommen fein fol.“ | 

„Was, in den Thurm?“ rief Eginhard in höd: 
fter Extafe, „da hab' ich ja auch geftedt; da mußte 
das himmlische Kind umfommen, das ift gewiß; fie 
ift unftreitig von den dafelbft befinplihen Schlangen 
getöbtet worden.“ 

Mit welcher gefpannten Aufmerkſamkeit man auch 
der interefianten Erzählung Wertheim's zugehört hatte, 
jo brachte Eginhard's leidenſchaftliche Unterbrechung 
doch unwillkürliches Lachen hervor. Mean bebadhte, 
welche außerordentliche Senſation der Gedanke in den 
Enthuſiaſten hervorbringen müſſe, mit einer jo hoch⸗ 
romantiſchen Perſon, wie die von ganz Spanien wegen 
ihrer Schönheit gefeierten Roje von Segovia in ein 
und demſelben Thurme geftedt zu haben. Ä 

Wertheim ftellte e8 in Zweifel, ob das Mädchen 
in den Thurm, wo Eginharb eingefahren, umgekom⸗ 
men fei. Es wäre viel wahrfcheinlicher, daß fie Rup⸗ 
pert in das eigentliche, jet ganz verfallene Burgver- 
lies habe fperren laſſen. Eginhard aber wollte das 
um feinen Preis zugejtehen und ſchwur hoch und theuer, 
morgen mit erftem Tageslichte, e8 koſte was es wolle, 
und felbft auf die Gefahr hin, von den Schlangen 
gefreffen zu werden, nochmals hinabzufahren und nähere 
Nachforſchungen über die Roje von Segovia anzuftellen. 

Wertheim fuhr in feiner Erzählung fort: 

„Seit dem Tode des Mädchens geht aber ‚vie Sage, 
daß es in diefen Mauern des Nachts als Gejpenft um= 
bergehe, und die fie gefehen zu haben vorgeben, ver- 
fihern, daß ihr Geift in verfelben Schönheit und Ju 
genpfülle erjcheine, wegen welcher das Mäbchen von 
ihren maurifchen Zeitgenofjen jo bewundert worden. 


85 


Zuweilen fingt fie maurifche Lieder, voller fehrifüchti- 
ger Wehmuth nad den Granat- und Manvelbäumen 
Segovia’8 und nah ben golonen Wellen des Gua— 
dalquivir. Dean erzählt von Beifpielen, wo herzhafte 
Leute fih ihr genaht und fie angerebet haben. Da 
fol fie jeden einen goldnen Apfel voll bezaubernden 
Duftes geſchenkt haben. Die Empfänger, die ſich nicht 
enthalten konnten, dieſen Apfel: aufzufpeifen, ſ ollen 
bald geftorben fein.“ 

„Natürlich,“ fiel Eginhard ganz ernfthaft ein, 
„ſolche Geifterfrüchte können Sterblichen unmöglich 
gut bekommen; aber möcht' es werden wie es wollte, 
wenn ich ſo einen Apfel von dem himmlifch-ſchonen 
Kinde erhalten könnte, ich wäre außer mir vor Ent— 
zücken. Solche außerordentliche Romantik wiederfährt 
nicht jedem Sterblichen. Wenn ich nur wenigſtens an 
einem Sonntage geboren wäre, hätte ich eher Hoff- 
nung mit diefer Roſe von Segovia in Connerion zu 
treten. Sonntagsfinder haben in dieſer Hinficht etwas 
voraus. So aber bin ic verwahrloft, ein blinder 
Heffe, und muß in meiner verbumpften Thierheit auf 
alle romantifhe Clairvoyance verzichten. Es iſt zum 
Verzweifeln.“ 

„Wer wird ſo abergläubig ſein,“ ſtrafte Pauline. 

„Abergläubig!“ verſetzte Eginhard, „Sie ſind 
wohl ein Freigeiſt, mein Paulinchen, der alles Ueber— 
irdiſche hinwegleugnen will; nein, meine Theuerſte, 
da haben andre Leute daran geglaubt als meine We— 
nigfeit; die größten Genies der Weltgefehichte, Julius 
Cäfar, Napoleon nicht ausgenommen. rfterer war 
nur zuletzt mit Blindheit gefchlagen. Die Idus des 
Märzes find befannt, und hätte er den verhängniß- 
vollen Traun ver Calpurnia nur einigermaßen beher⸗ 


86 


zigt, würbe er nicht nöthig gehabt haben, jich brei- 
undzwanzig Löcher in den Leib ftoßen zu laſſen.“ 

Jetzt ergriff auch der rationale Paſtor das Wort 

und zog gegen Eginhard zu Felde. Diefer ließ fich 
indeß nicht fogleich fchlagen, und citirte eine folche 
Menge Thatfachen, die für ihn fprachen, daß man ob 
‚ feiner Belefenheit in diefem Gebiete erftaunen mußte. 
Endlich fragte ihn Marie, ob er wirklich glaube, daß 
die Roſe von Segovia jegt noch umher wandle? 

„Warum nicht?“ erwiederte der Gefragte, „die 
Chroniken find an Beiſpielen von ſolchen Burggeiſtern 
nicht arm. Wenigſtens wünſchte ich von Herzen, das 
ſchöne Kind zu ſprechen.“ 

„Eſſen Sie nur keinen Apfel von ihr, warnte 
Pauline. 

Wertheim, der jetzt fürchtete, daß von Eginhard' 8 
Geifterglauben auch die Mädchen zu ſehr angeftedt 
werben Könnten, erklärte, daß er die Sage von der 
Roſe von Segovia gewiß nicht fo ausführlid) mitge- 
theilt haben würde, wenn er nicht feft überzeugt wäre, 
dag man darin ein .hübfches poetifches Ammenmähr= . 
chen erkenne. 

Eginhard hielt ſich von ber Unentbehelichteit eines 
ſolchen intereffanten Geiftes für ein altes Schloß be- 
reits fo überzeugt, daß er Wertheim auf drollige Art 
Borwürfe machte, wie er den Sprud fo dürr proſaiſch 
für ein Ammenmährchen erklären könne. 

„Ihr Schloß ift, inchufive ver Roſe von Segovia,“ 
behauptete er, „unter Brüdern einige Taufend Thaler 
mehr werth. Cine foldhe interefjante geifterhafte Ac— 
quifition macht nicht ein jedes. Ich ließe mir's ge- 
fallen, wenn die Erſcheinung in einem unanfehnlichen 
Zwerge oder einer bejahrten Ahnfrau beftänve, ſolch 
Volk findet man aller Orten, aber fo ein wunderſchö⸗ 


_ 


87 


ned Königskind aus den Königshallen ver Alhambra 
ift mit allen Schägen der Welt nicht zu bezahlen.‘ 

Er kam auf die alte maurifche Herrlichkeit zu ſprechen. 
„Bir Brofailer und Eifenbahnactionäre des neunzehnten 
Jahrhunderts,“ ſprach er, „haben gar feine Ahnung 
von jener untergegangenen Pracht und Herrlichkeit. Da 
hab’ ih vor Kurzem in einem englifchen Tafchenbuche 
Anfichten von der Alhambra gefehen. Wer da nicht 
in Feuer und Flammen geräth, muß am Aichermitt- . 
woch geboren fein. Gegen viefe Königeburg ift Alles 
nichts, was erhabene Baukunſt je hervorgebracht hat. 
Lange Jahre noch nad) dem Untergange des Mauren- 
reihe, ald die Inguifition in Grenada ſchon nad 
Herzensluft maffacrixte, konnten die getauften Mauren 
der alten Herrlichkeit nicht vergeflen, ſobald die pracht- 
vollen Zinnen ver Alhambra im Golde der Abenb- 
fonne leuchteten. Johannes felbft hat die Sache gar 
Fr übel befungen. Hans, wie heißt glei ‘Dein 

ied ?“ 

„Die unbeveutenden Berje find ver Rede nicht 
werth, bemerkte dieſer. 

Eginhard verband ſich aber mit Paulinen und Ma- 
rien, jo daß Johannes nach langem Wiperftreben nicht 
umbin fonnte, fein Pied vorzutragen. Es lautete: 

„In den Straßen von Grenada 
Wird es ftill und fommernädtig, 
Und zur Abend = Hora jchreitet 
Dort der graue Mönch bedächtig; 


Der Morisco fieht ihn nicht — 
Alhambra glänzt im Abenplicht. 


„Und der Priefter Flucht gewaltig 
Und verwünſcht die Heidenlehren, 
Und er ſucht zum reinen Glauben 
Die Verſtockten zu belehren; 

Der Morisco hört ihn nicht — 
Alhambra glänzt im Abendlicht. 


58 


„Rauſchend fällt ver Silberftrahl 
Sn das Marmorbeden nieder, 
Und an der geweihten Duelle 
Kniet ner Maurenknabe nieder; . 
Chriſtenwaſſer fühlt ihn nicht — 
Alhambra glänzt im Abendlicht. 
„Duftend läßt der Mandelbaum 
Rothe Blüthen nieberfallen, 
Und aus tiefem Thalesgrunde 
Todeswürd'ge Lieder jchallen; 
-Aus dem Aug’ die Thräne bricht — 
Alhambra flammt im Abendlicht.“ 


Eginhard erhob ſein goldgefülltes Glas: 

„Alhambra flammt im Abendlicht! Du ſollſt leben, 
Johannes!“ Alle Gläſer klangen aneinander. 

„Wer übrigens einen wahren Begriff,” fuhr Egin- 
hard fort, „von jener untergegangenen Poeſie haben 
will, der muß die ſpaniſch-mauriſchen Romanzen von 
Heine: leſen: U 
„In dem Dome von Cordova 
Stehen dreizehnhundert Säulen, 


Dreizehnhundert Rieſenſäulen 
Tragen die gewalt'ge Kuppel. 


Man bedenke, dreizehnhundert Säulen in einem ein- 
zigen Dome! Und die Hauptfache, aus jenen hoch— 
poetifhen Zeiten ein fchönes Königsfind hier im 
Schloſſe. Der Gedanke ift zu überirdiſch. Und daß 
ih dabei fein kann, der ich doch in's Gefchlecht ver 
Unglüdsvögel gehöre.“ 

Das Geſpräch kam wieder auf die Roſe von Segovia. 

„Den Gedanfen gab mir Gott ein,” fuhr Egin- 
hard plöglih auf, „ver Bibliothekar, jener myſteriöſe 
Mann, muß um die Sache willen. Ich glaube, das 
ift aud) fo eine Art Burggeift, da er fih vor Nieman- 
ven bliden läßt. Ich bin diefe Tage wie ein Narr 


89 


ihm zu Gefallen gelaufen; Alles vergebens. Wenn id 
nur wiffen follte, wie das Geſpenſt eigentlich ausſieht?“ 

„Er trägt einen langen, langen aſchgrauen Rod,” 
befchrieb Pauline, „der faft wie ein Kaftan bis auf 
bie Knöchel herabfällt, und eine Perrüde von gleicher 
Farbe.“ 

„Ganz recht,“ gab Eginhard zu, „das iſt der Ha⸗ 
bit für dergleichen unheimliches Perſonale. Iſt er lang 
oder Hein?“ 

„Mehr Hein,” war die Antwort, „und feine Heinen 
grauen, tiefliegenven Augen haben etwas Umheimli 

„Run fteht er vor mir, wie er leibt und [ebt, “ 
ſprach Eginhard, „aber jo viel ift gewiß, daß mich fein 
Menſch von Buchenfels fortbringt, bevor ich nicht die 
nähere Bekanntſchaft dieſes höchſt räthjelhaften Kauzes 
gemacht habe.“ 

„Das kann uns nur angenehm ſein,“ lachte Wert⸗ 
heim, „da werden wir lange uns Ihres Beſuchs zu 
erfreuen haben. Ich glaube ſchwetlich, daß er, ſo lange 
Gäſte im Schloſſe ſind, ſichtbar wird. Wie ich vorher 
ſagte, hat er ſich ſeit der Ankunft der Muſenſöhne 
augenfällig zurückgezogen.“ 

„Sonſt bekamen wir ihn wenigſtens alltäglich ein 
paar Mal des Abends zu ſehen, ſobald die Sonne 
untergegangen war,“ erzählte Marie. 

„Die graue Geſtalt in Abendbeleuchtung,“ ſprach 
Eginhard, „muß ſich romantiſch ausgenommen haben.’ 

„Und ſtets marſchirte der ſchwarze Kater neben 
ihm,“ fuhr Marie fort, „der ſeinen Herrn wie ein 
Schatten folgt.“ 

« ,„Selbft dieſe myſtiſche Beſtie hab’ ich noch nicht 
geſehen,“ ärgerte ſich Eginhard, „es iſt impertinent 
und zum Todtärgern.“ 

„Wenn aber Jemand aus der Familie dieſen felt- 


90 


famen Bibliothekar befuchen will,“ fragte Bodo, „kann 
er doch nicht geradezu ‚den Eintritt verweigern ? 

„Das allerdings nicht," ſprach Wertheim, „ic 
ſelbſt bin zwei Mal bei ihm gemwejen; aber er fcheint 
vergleichen Beſuche nicht zu leben, und da bie Meini- 
gen fein großes Verlangen nad der Belanntfchaft des 
menſchenfeindlichen Mannes tragen, fo find wir ihm 
ſämmtlich nicht weiter beicäwerlich gefallen.” 

„Die Wohnung des Signor Baſilico,“ bemerkte 
Bodo, „ſoll hinfichtlih der feltenen antiquarifchen Alter- 
thümer bie intereflantefte im ganzen Schloſſe ſein.“ 

„Wirklich?“ fiel Eginhard ein, „ei, verehrteſter 
Herr Wertheim, da ſollte eigentlich ein ernftes Wort 
von. Ihnen aus’ die Pforten dieſes eleufinifhen Tem⸗ 
pels öffnen. Wer weiß, melde intereffanten antiqua⸗ 
riſchen Schätze wir vorfänden, die außerdem für immer 
unbekannt bleiben, und durch welche die Wiſſenſchaft 
gewiß ſehr bereichert werben könnte.“ 

„Rur ungern würde id) mich hierzu entſchließen,“ 
entgegnete Wertheim, „ver feltfame Mann fteht am 
Ende feiner Tage, fat am Grabesrande, warum ihm 
feine letzten Tage noch durch unzeitige Neugier ver- 
bittern ? 

„Am Grabesrande?“ fragte Eginhard, „Das glaube 
fonft Jemand; Leute dieſes Schlages leben in die 
Millionen; der fieht uns Alle begraben, eines nad) 
dem andern; bat er nicht fchon mehr DBefiker von 
Buchenfeld überlebt? Und ift er nicht wie ein Fami— 
lienftüd von einem auf den andern fortgeerbt? Die 
älteften Leute, fie mögen zurückdenken, fo weit fie wol: 
en, können ſich nicht entfinnen, ihn anders gejehen 
zu haben. Und gejegt, er muß ja einmal daran, fo 
getönt er gewiß aus Mifgunft und Menſchenhaß 

les, was die Menſchen erfreuen und belehren könnte. 


9 


Das ift die Marime aller tiefer außergewöhnlichen 
Berjonen.” 

„Vielleicht gelingt es,” tröftete Wertheim, „ven 
Alten durch Güte und Nachficht zu gewinnen und ihn 
menfchenfreundlicher und gefelliger zu ftimmen.” 

„Run, wenn ich feiner nur erft anfichtig werben 
könnte,“ meinte Eginhard, „ich will meine ganze Ge- 
Iehrfamteit, Liebenswürdigkeit, Weltweisheit und Be⸗ 
redtſamkeit concentriren, und einen wahrhaften Sturm 
auf die alte zähe Feftung unternehmen.‘ 

Es ward einftimmig befchlofien, die erfte” Gelegen- 
heit hierzu zu ergreifen und beftmöglichft zu benutzen. 


[4 


12. 


AS Eginhard und Johannes nad ihrem Schlaf: 
zimmer gegangen waren, konnte erfterer durchaus nicht 
einjchlafen. Die Roſe von Segovia Tag ihm fort: 
während im Kopf. In einer folh hochromantiſchen 
Situation hatte er fih neh niemals befunten. Mit 
dem Geifte eines der fchönften Märchen des unterge- 
gangenen Maurenreichs unter ein und demſelben Dache 
zu Iogiren, fo body hatten fich feine höchſten phanta- 
ftiihen Wünfche noch nicht verftiegen. Cr überlegte 
bei fih, falls ihm die Roje von Segovia erſchiene, 
mit welcher poetifchen Apoſtrophe, und in welcher 
Mundart er fie anreven wolle. Im Arabifchen war 
er allerdings nicht zu Haufe. Indeß tröftete er fid), 
daß fie während ihres Aufenthaltes in Deutichland 
doch · etwas von der deutichen Sprache profitirt haben 
würde, und im Altveutichen leiftete er etwas, das 
war er fid) bewußt. Auch ſprach die Präafinntion für 
ihn, daß ein geläuterter Geift die irdiſchen Exrpecto- 


92 


rationen verftehen müffe, wie der liebe Gott, zu dem 
‘-- man in jeder Sprache reven Tann. 

Bon dergleihen Phantafien alarmirt, warf er fid 
auf feinem Lager umher, während Johannes bereits 
geraume Zeit in tiefem Schlafe lag Der Mond 
ſchien hell in’s Zimmer, die Nacht war jchön und 
frühlingsmarm. Er hielt e8 daher für gerathener, 
aufzuftehen und ein wenig zum Tenfter hinaus zu 
ſchauen. 

Die nächtliche Gegend lag wie am Tage. Kein 
Lüftchen rührte ſich, nur vom Parke herauf tönte das 
leiſe Rauſchen einer Cascade. Eginhard war ſehr 
poetiſch geſtimmt. Er recitirte leiſe für ſich folgende 
Verſe aus Goethe's unübertrefflichem Mondſcheinliede: 

„Fülleſt wieder Buſch und Thal 
Still mit Nebelglanz, 
Löſeſt endlich auch einmal 
Meine Seele ganz. 

„Breiteſt über mein Geſicht 
Lindernd deinen Blick, 
Wie des Freundes Auge mild 
Ueber mein Geſchick. 

„Selig, wer ſich vor der Welt 
Ohne Haß verichließt, 
Einen Freund am Buſen hält, 
Und mit dem genießt, 


„Was von Menjhen nicht gewußt 
Oder nicht bedacht, i 
Durch das Labyrinth der Bruft 
Wandelt in ver Nacht.“ 


Plöglidh nahm eine wunberfeltiame Erſcheinung 
bie Aufmerkſamkeit Eginhard's auf das Außerorbent- 
lichfte in Anſpruch. Er rieb ſich die Augen und jah 
nad) dem alten Schloſſe, rieb fie fi abermals und 
ſah abermals dahin. Er faßte fi endlich beim Kopfe 


93 


und ſchüttelte diefen, in der Meinung, daß er träume 
und nicht vecht ſähe. Es half nichts. Hoch oben auf 
den Zinnen des alten Schlofjes wandelte im Mond⸗ 
ſchein eine weiße, geifterhafte Geftalt. 

Eginhard ſprang jegt zu Johannes Bett und rüt- 
telte diefen am Arme. Der Schläfer aber war nicht 
zu ermuntern, brunmmte ein wenig und fchlief weiter. 
Eginhard hatte feinen Augenblid zu verlieren und 
jchlüpfte wieder an's Fenſter. 

Das geifterhafte Weſen ſtand jetzt am äußerften 
Abhange der Thurmzinne. Yu feinen Füßen gähnte 
ein furchtbarer Abgrund. Einen Schritt und die Ge⸗ 
ftalt, wenn fie fterblih war, ftürzte zerfchmettert in 
die Telfen des Schloßbergs. Eginhard's Haare flan- 
den ſämmtlich kerzengerad empor. Er wagte nicht zu 
athmen, noch ſich von der Stelle zu rühren. Er war 
fo aufgeregt, daß allmälig vor feinen Augen Alles 
zu tanzen anfing. Dennoch gewahrte er fo viel, daß 
die weiße Geftalt ein Mädchen mit langen dunkeln 
Loden fe. Es fchien, als blide fie wie träumend 
und lächeln nad dem Monde, der in voller Rlar- 
beit am Himmel ftand. Plötzlich wendete fie ſich, 
und ſchwebte den fürchterlichen Abhang entlang und 
verfchwand Hinter einer Thurmmauer. 

Eginhard, dem der Angſtſchweiß in großen Tropfen 
auf der Stine ftand, ſchöpfte jet Athem und konnte 
fi) noch immer nicht überzeugen, ob er die Erſchei⸗ 
nung wirklich gejehen oder nur geträumt habe. Er 
rüttelte abermals an Johannes und ſchlich zum Fen⸗ 
fter zurüd. Das geifterhafte Märchen war verichwuns 
den, dafür trieb ein anderes Phänomen fein Haupt- 
haar zu Berge, und feine Kinnbaden fingen zu wir- 
bein an. Der alte Bibliothefar, ganz in der Tracht, 
wie Pauline ihn bezeichnet, kam zu einem Yronton- 


9% 


fenfter herausgeftiegen, wanbelte gleichfalls auf ver 
Zinne des Schloffes umber und verſchwand hinter 
derſelben Mauer, wo das geifterhafte Mäpchen uns 
fihtbar geworben. . 

Setzt ſtürzte fich Eginhard, wie vom Fieber ge⸗ 
packt, abermals auf den fchlafennen Johannes un 
rüttelte fo lange, bi8 dieſer völlig wach wurbe. , 

„Um's Himmelswillen,“ vaunte jener leife, mit 
gepregter Stimme, „vie Rofe von Segovia, komm 
ſchnell!“ 

„Wer?“ fragte der Erwachende, noch halb jchlaf- 
trunken. 

„Die Roſe von Segovia, nur ſchnell,“ drängte 
Eginhard. 

„Einfältiges Zeug,“ brummte Johannes mißmu⸗ 
thig, „haſt wieder einmal phantaſirt.“ Damit legte 


er fih auf die andere Seite und ſchlief wieder ein. 


Der Geifterfeher war indeß von Neuem an das 
Fenſter geeilt; aber weber vie weiße Dame, noch der 
Bibliothefar kamen wieder zum Vorſchein. Die Nacht 
blieb ftil und mondhell wie zuvor. Degt begann es 
Eginhard nad) den auferorventlihen Erlebniffen in 
der nächtlihen Einfamkeit unheimlich zu werden. An - 


Schlaf war nit zu denfen. Darum begann er zum 


britten Mal an Johannes zu rütteln. 

Diefer warb bei dieſer fortwährenden Störung 
noch ungehaltener, und Eginhard mochte zehn Mal 
Stein und Bein ſchwören und Ehre und Geligfeit 
vermetten, bie berühmte Roſe von Segovia geſehen 
zu haben, er fand zu feiner nicht geringen Pein an 
Johannes einen profaifchen Ungläubigen. Dem Gei— 
fterfeher konnte gar nichts Fataleres wiederfahren, als 
dieſe ſtoiſche Apathie und Indolenz des Freundes. 
Er bereute jetzt bitterlich, letzteren zumeilen etwas fa- 


95 


beihafte Dinge vorerzählt zu haben, die feinen Kre⸗ 
bit als Referenten allerdings bedeutend untergraben 
hatten. Nun mußte er in Wahrheit eine außeror- 
dentliche Erſcheinung erleben und hatte das Unglück, 
daß Johannes die Eadye nicht glaubte. 

Daß das fchwarzlodige Mädchen in ver Welt Nie- 
mand anders gemwejen fei, als die berühmte Roſe von 
Cegovia, dafür hätte er fi unbedenklich an's Kreuz 
nageln laffen. Nun kam der myſtiſche Bibliothelar 
dazu, der mitten in ber Nacht zum Tsrontonfenfter 
herausftieg und auf ber Schhäzinne auf und abpro⸗ 
menirte. Es war Eginhard jetzt gleichfall® Max, 
daß die zwei Individuen, die Roje von Segovia und 
der Bibliothekar in geheimer Wahlverwandtichaft fte- 
hen müßten. Daher alfo das räthjelhafte Wejen und 
Benehmen des Signor Baſilico. Es fiel ihm wie 
Schuppen von den Augen. Hatte er nicht die Bei- 
den im höchfteigner Perfon auf dem alten Schloffe 
herumfteigen jehen? Der Bibliothefar war unfehlbar 
auh ein Geift. Gin Menſch von Fleiſch und Blut 
hätte bei ver gefährlichen Crpeditiom, zehn Mal das 
Genick gebrochen. Eo war denn Eginhard's längſt 
gehegter Wunſch endlich in Erfüllung gegangen. Er 
hatte überirdiſchen Weſen vis à vis geſtanden, ſie mit 
ſeinen zwei geſunden Augen, bei völlig klarem Selbſt— 
bewußtſein erſchaut; aber er fühlte ſich durch dieſen 
Blick in's Geiſterreich keineswegs wohlthuend ange- 
ſprochen; das erſte Rencontre war zu ergreifend gewe— 
ſen. Wenn die Beiden auf ebener Erde einherſpa— 
iert wären, würde es ihn weniger angegriffen haben; 
pflegen es fleiſch- und blutgeborne Menſchenkinder 
gleichfalls zu machen; aber auf dem Giebel des alten 
Schloſſes, wo ſich ver erfahrenſte Kater kaum hinge— 
traut, ſolche handgreifliche Beweiſe von einer Geiſter— 


96 
welt mußten ben vertrodnetften Philifter erjchüttern, 
wie viel mehr einen Eginhard, ver ſolch' wachſames 
Ohr und Auge für alles Uebernatürliche hatte. 

Wie gejagt, die Geifternifion war ihm durchaus 
nicht befommen, und nachdem er noch einen furchtſa⸗ 
men Blid nah dem verhängnißoollen Schloßdache ge- 
worfen hatte, fuchte er zähneklappernd und fieberfrö⸗ 
ſtelnd das Lager, zog die Bettdecke weit über den 
Kopf und bemühte ſich, an andre Dinge zu denken; 
aber das ſchwarzlockige Mädchen und ber graue Bi- 
bfiothefar fanden fortwährend Ferzengerade vor ihm, 
und an Schlaf war nicht zu denken. Erſt gegen 
Morgen fiel er in einen fieberifhen Halbſchlummer, 
deſſen er fich gleichfalls nicht lange zu erfreuen hatte, 
Johannes war früh auf und zanfte vor Eginhard's 
Bett, dag er ihm in voriger Nacht fo wenig Ruhe 
gelaffen babe. 

Der Geifterfeher erwachte, rieb ſich die Augen, 
und als er gewahrte, daß es vollfommen Tag, fprang 
er in einem Sqtze aus dem Bette und nad) dem Fen— 
fter, durch welches er die vorige Nacht geſchaut hatte. 
Er machte große Augen. Da lag das alte Schloß 
in der ſchönſten Morgenbeleuchtung, ganz wie er es 
im Mondſchein gejehen hatte Daffelbe Yrontonfen- 
fer, viefelbe alte graue Mauerblende, hinter welchen 
die Rofe von Segovia und der Bibliothefar waren 
unfichtbar geworden. Es war alfo fein Traum, feine 
Sinnestäufchung geweſen. Er fchaute lange mit ftar- 
rem Blicke nad) der verhängnigvollen Schloßzinne, 
dann warf er fi dem Johannes an die Bruft. 

„Hans, vief er, „ed war die furchtbarfte Nacht 
meines Lebens. Du mußt in einem magifchen Schlafe 
gelegen haben, fnoft würdeſt Du durch mein Kütteln 


97 


volllommen wach geworben ſein. ‘Die außerordentliche 
Erſcheinung war Dir vielleicht nicht befchieben.” 

.„Das glaub' ich auch, erwieverte Johannes, „Du 
allein warft der Auserwählte, darum hätteft Du mic 
können immer rubig fchlafen laſſen. Ich weiß Dir 
wahrlich feinen Dank für das barbarifche Rütteln und 
Schuͤtteln.“ 

„Spotte nur,“ ſprach Eginhard gereizt, „wenn 
Du geſchaut, was ich erſchaut habe, würde Dir der 
Spott vergehen.“ 

„Nun, was iſt es denn eigentlich geweſen?“ 
fragte Johannes, „das in dieſer Nacht Vordeklamirte 
hab' ich rein vergeſſen“ 

„Schlimm genug,“ murrte Eginhard, „und ein 
Beweis mehr, daß ein magiſcher Schlaf Dich umfan⸗ 
gen hielt.“ 

Er erzählte nun ausführlich, bis in das kleinſte 
Detail, die nächtliche Erſcheinung; ſchwor dabei ſo 
hoch und theuer, daß ein andrer als Johannes die 
Sache nicht bezweifelt haben und unfehlbar in ge= 
rechtes Erftaunen gerathen fein würde. ‘Diefer aber 
blieb fehr ruhig, ſah zum Fenfter hinaus und pfiff 
ein Morgenlienchen. 

Eginhard bradıte dieſe ſtoiſche Gelaſſenheit bei 
einer jo höchſt romantiſchen Angelegenheit, vie er 
überdies felbjt erlebt hatte und die er mit nicht ge= 
ringer Ekſtaſe vortrug, zur gelinden Berzweiflung. 
Erpackte endlich den Freund und fehüttelte ihn kon— 
vulſiviſch. 

„Seelenloſes Amphibium,“ ſchrie er, „Du glaubft 
es alſo wirklich nicht?“ 

„Rein, lächelte ver Gefragte, „übrigens bitt ich 
Dich freundſchaftlichſt, Dein nächtliches Rütteln und 
Schyütteln nicht bei hellem Tageslichte zu wiederholen.” 

Stolle, fämmtl. Schriften, XVI. 7 


98 


„Und wenn ich Ehr' und Geligfeit zum Pfande 
einſetze,“ fuhr Eginhard pe bergweijeinb fort, und fchät- 
tefte. unterbrochen 


„Thu' mir den n Oefeflen, “ſprach Johannes, 
„and laß los, ich wärbe die Sache für ein Phanta⸗ 
ſtebild erffäten, wern fie ber nüchternſte Kantianer 
erzählte, gefehweige bei Dir, dem alle Tage etwas 
Hochromantifches vor der Nafe umherläuft.“ 

Eginhard ließ erſchöpft los. 

„Das fehlt zu meinem Pe “ Tenfzte er, „jett 
hab’ ich wirklich einmal Geifter geſchaut, man kann 
fie gar wicht dentlicher zu Geſicht befommen — nun 
glaubt’8 der Kannibale —* 

„Uebrigens,“ bemerkte Johannes lächelnd, „will 
ih Dir rathen, mit Deiner Geiſtererſcheinung vorſich⸗ 
tiger zu Werke zu gehen, hübſch reinen Mund zu hal⸗ 
ten gegen Jedermann im Hauſe; Du würdeſt Dich 
unnöthiger Weiſe dem Spotte ausſetzen.“ 

„Nun da will ich doch gerädert ſein und zwar 
von unten herauf, wenn ich von dieſer im Gebiete 
ber Geiſterwelt fo hochwichtigen Geſchichte nicht ſpreche, 
jo lange ich eine Lunge habe. Eine ſolche Felfenlaſt 
mag ich nicht auf dem Herzen behalten. Ich „aa, glaube, 
ich lebte nicht acht Tage, wenn ich mich darüber nicht 
ſattſam erpectoriren dürfte.“ 

‚Aber jo überlege doch nur,” gegenvedete Johan⸗ 


ne, „daß Du nur lebhaft geträumt haft; «8 ift auch 


ganz natürlich, wir haben geftern den langen lieben 
Abend von Nichts geſprochen als von ber Rofe von 
Segovia. Du jelbft warſt ordentlich verliebt m das 
Ihöne Maurenkind und ganz exaltirt von meines On- 
kels mahrchenhafter Relation. Es wäre ein Wunder, 
wenn Du nicht bei Deiner aufgeregteh Phantaſie da= 
von geträumt haben ſollteſt; nnd daß der Menſch 


99 


ãußerſt tebhaft tränmen Tamı, jo daß ber Traum faft 
vem wachen Zuſtande gieichrommt, darüber haft Dar 
mir weh) dieſer Tage eine ausfliheliäe Berlefung ge⸗ 


| „öde, Frennd,“ brach jetzt Eginhard los, ch 
bitte Dich, ſchone meine vunge; chikanire, aͤrgere mich 
nach Herzensluſt, es ſei Div alles erlaubt, mur gieb 
mir nicht für einen Traum aus, was ich mit zwei, 
Gott ſei Daitk, ganz gefunden Augen, feine andert⸗ 
halbhundert Schritt, in der herrlichſten Mondenbeleuch⸗ 
tung klar und deutlich gefehen habe.” 

„Glaube jeber, was ihm beliebt,“ ſprach enblich 
Johannes, „wir. wollen uns nicht darüber flreiten, 
Du weißt, daß ich über vergleihen Dinge proſaiſcher 
doeute.“ | 


Eginhard Tonnte ſich aber Über des Freundes Un⸗ 
glauben nicht zufrieden geben; und kaum war bie 
Geſellſchäft von geftern beim Kaffee verfammelt, ale‘ 
Eginhard, troß Johannes wiederholten. Abreven, ſein 
nächtlihes Abenteuer mit dem ihm eigenthiümlichen 
Feuer vorgetragen hatte, 

Wäre Eginhard's Erzählung von einem weniger 
erältieten Gemüthe euögegengen, fo hätte fie unftrei= 
fig eine weit größere Wirkung hervorgebracht. Man 
fannte ‚aber Eginharb’s Baffion für alles Hochroman⸗ 
tiſche und Uebernatürliche, darum nahm man auch die 
Mondſcheinviſion für nichts mehr als ein Mährchen. 
Der Erzähler war außer ſich, daß die Senſation bei 
ſeiner Mittheilung nicht ſtärker war. Er ließ ſich in- 
deß nicht abſchrecken und malte fein Abenteuer noch— 
mals fo ausführlich und ver Wahrheit getreu aus, 
daß man endlich, faſt mehr aus Gefälligkeit denn aus 
Meberzeugung, daran zu glauben vorgab. Pauline. 
und Marie erfhienen noch am Gliusigfien, 





4100 


Eginhard meinte, er komme ſich vor, wie Kas— 
Tandra, die Helliebenve, melde auch Dinge gejehen 
bätte, an bie die profaifhe Welt nicht. habe glauben 
wollen. Auch fühle er ſich fo unglüdlic wie die Tro- 
jenerin. Seine Ruhe ſei dahin. Die Geifter, bie 
ſich zeither ſichtbar von ihm zurückgezogen, hätten es 
nun wahrſcheinlich auf ihn abgeſehen, um die frühere 
Vernachlaſſigung gut zu machen. Er wiſſe ihnen fei- 
nen Dank dafür. Er hätte fich ohne fie weit befier 
befunden. Doch wolle er fich feine Injurien gegen 
fie erlauben, fie ftellten leicht ein Bein, denn die 
Rache ver Geifter fei furchtbar und kenne feine Gren- 
zen. Ueber dieſes Kapitel könne er entfegliche Bei- 
Tpiele erzählen. 

Um dem Geſpräch eine andere Wendung zu ge= 
ben, jchlug. Herr Wertheim für den Nachmittag‘ einen 
Spaziergang nad der Haivemühle vor, vie ein hal⸗ 
bes Stündchen von Buchenthal in einem reizenden 
Thale gelegen war. 


13. 


Eginhard ſowohl als Bodo, Albert und Iohan- 
nes hatten fich alle erbenflihe Mühe gegeben, des 
räthjelhaften Bibliothekars anfichtig zu werden. Es 
war Alles vergebens geweſen; und da es Wertheim 
nicht gebilligt haben würde, fo hatte man e8 aud 
vermieden, ben geraben Weg einzujchlagen und gleich⸗ 
fam mit Gewalt in Baftlico’8 Wohnung einzubringen. 

„hr werdet mir nun allmälig zugeſtehen,“ ſprach 
Eginhard, als Bodo und Johannes von einem aber- 
maligen mißlungenen Verſuche verſtimmt zurückkamen, 
„daß ich im jemer verhängnißvollen Mondſcheinnacht 
recht geſehen habe; den Bibliothekar bekommt Ihr am 


404 


Tage nicht zu fehen, der ſpaziert nur Nachts auf 
dem Dache. : Wer vergleichen nächtliche Promenaden 
fiebt, pflegt fih in. der Regel bei Sonnenſchein zu⸗ 
mchugiehen. Ih verdenk's ihm nicht. Er hat das 
ſchönſte Mädchen des alten Maurenreichs bei ſich, die 
ihm wahrſcheinlich mit ihrem ſüßen Munde die lieb⸗ 
lichten Mährchen erzählt. Unter ſolchen beneidenswer⸗ 
then: Verhältniſſen ging ich auch nicht aus.“ 

Bon dem Garten des Signor Bafilico konnte man 
gleichfalls nichts zu ſehen befommen. Die jungen 
Freunde ‚hatten alle Bodenkämmerchen des neuer 
Schloſſes durchklettert, durch jede Dachlufe gefpäht. 
Es war Mles vergebens. Ein paar Beete ſchöner 
rother Blumen war die einzige Ausbeute. Was hin⸗ 
ter der Mauern des alten Schloffes, die den Garten 
hauptſächlich verdedten, für feltene Blumengeſchlechter 
. blühten, mochte der Himmel willen. 

Was Übrigens Egiuhard's Geifterfeherei betraf, 
hatte er feit jener verhängnißvollen Mondſcheinnacht 
alle Obſervationen forgfältig vermieden. Er mochte 
mit diefen Nachtgefpenftern, die auf himmelhohen Dä= 
ern einherfpazierten, nichts zu fchaffen haben. Seine 
Philofophie dabei war dieſe: Was nüßen mir meine 
Geifterbeobadytungen, ich habe nichts Davon und fomme 
obendrein um meine Ruhe. Was hülfe es, wenn alle 
himmlischen Heerichaaren auf dem alten Schloffe ein= 
berftiegen, die verftodte Melt glaubte e8 nit, und 
ih hätte den Aerger. Eginhard vermied es daher, 
vor dem Schlafengehen aus ven Fenſter zu fehen und 
Sternbetrachtungen anzuftellen. Konnte er nicht ein= 
fchlafen, unterhielt er fih mit Johannes und hielt 
diefen durch fortwährendes Geſpräch wach. Erhielt 
er feine Antwort mehr auf wiederholte Fragen, jo 
war bies ein Zeichen,. daß Johaunnes fchlafe oder zu 


& 


402 


Schlafen wünſche. Dann hielt es Eginhard ebenfalls 
für gerathen, dem Beiſpiele des Freundes zu folgen, 
zog Das Oberbett über ben Kopf und fchlief ein. 
Kurz, er mochte in ftodfinfterer Nacht mit Geiftern 
nichts zu thun haben. 

Wie vorfihtig ſich aber Eginhard während ber 
Nacht benahm, um fo couragäfer zeigte er ſich bei 
Tage, wo die freundlide Sonne bed am Himmel 
fand, und jo kam endlich bei ihm ein wohldurch⸗ 
dachter Plan zur Reife; nämlich. vem Bibliothekar, 
ohne Vowiſſen von Jemand, energiſch zu Leibe zu 
gehen. Sein Borhaben beftand darin, irgend einen 
günftigen Augenblid zu ergreifen, und es koſte, mas 
e8 wolle, über die mehre Klaftern hohe VBerzäunung 
zu Tlettern, welche ven geheimnißvollen Blumengarten 
des Signor Bafllico umſchloß. Seine Fertigkeit im 
Klettern mußte ihm hier zu Statten kommen. Die 
Hauptfache war nur, durch forgfältiges Recognosciren 
eine pafiende Stelle zu eripähen, und für das Unter- 
nehmen einen Zeitpunkt zu erwählen, wo die Familie 
Wertheim auf einer Landparthie begriffen. 

Diefe großartige Idee befchäftigte ihn außeror⸗ 
dentlih. Was die Stelle der Gartenwand betraf, 
hatte er eine ſolche bald ausfindig gemacht; jett galt 
es, eine Liſt zu erfinnen, allein im Schloffe bleiben 


. zu dürfen, während Johannes, Bodo und Albert, nebit 


Wertheim’ auswärts wären. Er ſann lange bin 
und ber. Sich krank zu ftellen, war verbädtig und 
daher gefährlich. Er beichloß alſo, bei ver nächſten 
Parthie in die Umgegend, unter irgend einem Vor— 
wande vorauszueilen, ſich alsdann irgendwo verſteckt 


zu halten, bis die befreundete Karawane vorüber jet, 


und dann im geſtrecktten Laufe zurüdzufehren ‚und ſein 
Unternehmen in's Werk zu ſetzen. Die Gelegenheit 


403 


fand fih bald. Es war ein herrlicher Nachmitt 
Wertheim hatte einen Ausflug nad dem aubert 
Stunden entfernten Moritzberge vorgeſchlagen, von 
wo man eine noch ſchönere Ausſicht über die gaunze 
Gegend genoß ala felbft in Buchenfels. Als vie Ge⸗ 
jellſchaft den Weg antrat, war Eginhard fchon eine 
Strede voraus. Gr gab vor, voraudzutaben, damit 
die Wirthsleute bei Dem Deritberge auf die Ankunft 
der Gäfte vorbereitet wären und einige Erfriihung auf 
ven Berg fchaffen möchten. 

„So bleib doch bei ung,” rief dem Boraneilenven 
Johannes nach, „wir werben nicht umlommen vor 
Hunger und Durft;” aber Eginhard ließ ſich nicht 
abhalten und kaum glaubte cr ven Rachfolgenven aus 
dem Geficht zu fein, als er in ein Birkengehölz linls 
einbog und fich darin verborgen hielt. 

Plaudernd und lachend zogen die Spaziergänger 
vorüber, nicht ahnen, daß ber Eginhard Feine zchn 
Schritt hinter dem Birkengrün verftedt wäre. Diefer 
aber, wie es den Weg frei glaubte, machte rechtsum⸗ 
lehrt und eilte nach Buchenfels zurüd. 

Unbemerft, denn faft das ganze Tienftperfonale 
war auf dem Felde befchäftigt, fchlih er fih nah 
der bewußten Gartenwand. Cr fand bald die geeig- 
nee Stelle, bejahl feine Seele allen Heiligen und 
begann emporzullettern. Tas wollte Anfangs nicht 
‚ gläden, die Wand war jteil und verzweifelt Hoc). 
Eginhard ließ ſich indeß nicht abjchreden, wiederholte 
ſeine Verſuche, und ſo glückte es ihm endlich, ſo 
weit ſich empor zu arbeiten, daß er mit dem Kopfe 
dem obern Ende der Wand glei fam. Das half 
ihm aber noch nicht viel, denn lettere war ſehr breit. 
Er mußte noch einen Schritt höher. Es glüdte, nun 
lonnte er einen anjehnlihen Theil des Gartens über- 


10% 


hauen. Da blühte c8 allerdings überall wundervoll. 
Geltfame, fremde Blumen keuchteten auf ven fauber 
gepflegten Beeten; e8 war ihm, als athme er wilb- 
fremde Düfte- aus einem Garten des Morgenlandes. 
Bögel mit brennenver Farbenpracht wiegten fich hier 
und da auf ven blühenden Zweigen. Eine feltiame 
Stille weilte über dem kleinen blühenden Baradiefe. 
Eginhard konnte fich nicht fatt ſehen an ber reizen- 
ven. Flora. Es warb ihm wunderbar zu Muthe. 
„Wenn es mit biefem morgenländifchen Garten,” 
ſprach er für fi, „nicht feine übernatürlihe Be- 
wandtniß hat, will ich nicht gejund hier über ber 
Baumwand ſtehen.“ Vergebens aber forfehte er nad) 
dem Schöpfer aller dieſer wunderbaren Herrlichkeiten, 
nad dem Bibliothefar. Er unterfuhte auch die Lo— 
falität des Gartens, wie er mit dem alten Schloffe 
zufemmenhing und begriff nicht, wie man überhaupt 
in venfelben gelangen fünne, da er nirgends einen 
Eingang wahrnahm. 

„Mein Standpunkt,“ fprach er für fi, „it nicht 
mit Golde zu bezahlen. Was würden Marie und 
Pauline und ſelbſt Johannes darum geben, wenn. fic 
fol einen Blid in das Reich ver Wunderwelt thun 
fönnten. Ich habe die Sache Hug angefangen. Wäh— 
rend die ganze Hausgenoſſenſchaft in der Sonnenhike 
nah dem einfältigen Moritzberge keucht, jchwebe ich 
bier ganz behaglich und ſchaue Wunder über Wunber. 
Aber was Hilft mir's. Ich mug dieſe Myſterien 
wieder für mich behalten; erftens glaubt mir die ver- 
ftocte Welt nichts, und dann darf ich nicht einmal 
befannt werden laflen, daß ih wider Wertheim's 
Willen die Baumwand erklettert habe, um den räth- 
jelhaften Signor Bafilico in bie Karten zu fehen. 

Ih bin--in. Schlimmer Lage. Faſt möchte ich wün— 


408 


ſchen, nichts Außerordentliches gefchaut zu haben, denn 
diefe wunterbaren Blumen und Vögel werden mir 
das Herz abbrüden, wenn ich das Alles für mich be- 
halten muß.‘ 

Er überflog nochmal® tie ganze innere Einrich⸗ 
tung des Gartens. Plötzlich entftand ein feltfames 
Hin⸗ und Herhüpfen der Bügel, tie, wie Eginhard 
jet wahrnahm, mit goldenen Kettchen an die Xefte 
befeftigt: waren. ‘Der Beobachter jtutte und machte 
große Augen bei der wunderbaren Regſamkeit. Tas 
reizende Geflügel ward immer unruhiger. Doch ein 
außerordentliher Schreden bemächtigte fich plößlich des 
Beobachters; er glaubte feinen Augen nicht zu trauen, 
— hinter einer blühenden Rofenhede trat tie — 
Roje von Segovia hervor und fam den Gartengang 
daher. Es war viefelbe Geſtalt aus der Mondſchein⸗ 
naht. Wieder einfach weiß gefleivet und lange dunkele 
Loden. 

Eginhard war ob diejer Erſcheinung fo erichroden, 
daß er mit dem Fuße von feinem Poſtamente abglei- 
tete. Hätte er fih mit den Händen nicht an einen 
feften Baumaft geflammert, würde er unrettbar bergab 
gefahren fein. Bergebeng vifitirte er, mit den Füßen 
hin⸗ und bertaftend, nad den früheren Sachen 
Seine, Page warb immer gefährliher. Er geſtikulirte 
mit den Fügen wie ein Gehängter. Gleichwohl 
wünſchte er die Roſe von Segovia uch ein Weilchen 
zu beobachten. Er ftredte daher ven Kopf fo hoch als 
möglid empor. Ta fah er eben noch, wie das weiße 
Mädchen hinter einer Laube von blühentem Jasmin 
verfchwand. Zugleich gewahrte er, wie der berüchtigte 
ſchwarze Kater dem Hauptgang entlang galoppirte und 
der Bibliothelar mit einem langen filbernen Stabe in 
den Garten trat. Eginhard, der ven glänzenden Etab 


496 


für eine Flinte hielt, zog den Kopf ſchnell zurück und 
haranguirte mit den Füßen verzweifelt nach einem 
Stützpunkte. Gr hatte genug geſehen und wünſchte 
von Herzen gern den feſten, Ken Erdboden wieder 
unter ſeinen Füßen zu haben. ‚ war e8 die Haft 
feiner Bewegungen, oder bie Unfihentet feiner Viſita⸗ 
tion, ex konnte den früheren Stützyunkt und Gteighä- 
gel nicht wieder finden. Go hing er num zwiſchen 
Himmel und Erde, in ber gefährlichiten Bofition; beun 
fo wie er los ließ, ging die Reife 

„Mit bebächt'ger Schnelle 

Bom Hummel durch die Welt zur Hölle,“ 
Er berechnete jetzt, daß er die Sache für Die Ränge 
nicht aushalten inne, denn fein Körper, an ſich nicht 
zu den ätheriſchſten gehörend, er wog einhunbert- 
ſechzig Pfund fähfifch, ward von Minute zu Minute 
ſchwerer. Eginhard vwerwünfchte jet feine nafemweife 
Klettere. 

„Wär' ich doch,” dachte er, „als ordnungsliebender 
Staatsbürger mit den andern geſcheuten Leuten, bie 
fih nicht auf ſolche excentrifche Klettereien einlaffen, 
hinausgepilgert nad) dem herrlichen Moritzberge. Die 
ſitzen wahrſcheinlich gegenwärtig unter grünen fehat- 
tigen Lauben, erquiden ſich durch trefflicden Rahm und 
genießen bie fchönfte Auaficht, während ich Unglücklicher 
vie Ausficht habe, zur Hölle zu fahren, wie ein Ber- 
brecher am jüngften Gerichte. 

„Unter mir liegt es Berge tief 
In purpurner Finfterniß da.” 

„Ohne einen Beinbruch Inun es jett gar nicht 
abgehen, wenn ich den Hals nieht dazu breche. Um 
Hülfe rufen Darf ich nicht, da wär ich geliefert. Dar 
Bibliothekar ſchöſſe mich mit feiner verzweifelten 


407 


Windbüchſe, oder was er für ein Ding in der Hand 
hat, wie einen Sperling herab. Er braucht nur, 
wenn's in aller Stille hergeben foll, mit einer Lanze, 
wie deren im der Rüſtkammer zu Dutenden hängen, 
durch die Baumwand zu ftechen, und ich falle ab, wie 
ein wurmftichiger Apfel. Reif bin ich überbied, zum 
Untergange nämlich, und es gefchieht mir recht, wer 
beit mich mit Geiftern anbinden. Es geht überhaupt 
nit mit rechten Dingen zu. Mein Fußgeſtelle wäre 
fonft nicht hinweggezaubert. Ich bin eigentlich weit 
fhlimmer daran, als ein ordentlih Gehängter, ber 
braucht nicht fo lange zu zappeln und fpaziert bald 
in die Ewigleit.“ 

Koch einmal vifitirte er convulſiviſch mit ven Fuß⸗ 
zeben nad dent Schwerpunkte; und da ed aud) dies 
mel ohne Erfolg war, beichlich ihn Wehmuth und 
Reſignation. 

„Wer hätte das geglaubt,” fuhr er in feinem Ge- 
danlengeſpräche fort, „daß ich hier in der Blüthe mei- 
ner Jahre fo ſchmachvoll, in fo unäfthetijcher Pofitur 
meinen Untergang finden würte, Hätte noch Vieles 
vor auf dieſer ſchönen Welt. Die Wege des Herrn 
find wunderbar. Aber wer fi in Gefahr begiebt, 
. lommt darın um, iſt ein altes Spridwort. Es iſt 
Shave, daß mir die Wahrheit dieſer goldenen Lehre 
erſt jetzt volllommen Har wird, wo ſie mir nichts mehr 
hilft. Säße ich doch auf dem Miorigberge und tränfe 
meinen guten Rahm. Turh Scharen wird man Hug. 
Wir Deutihen haben fchöne Sprichwörter. Auf mic, 
den dem Untergange Geweihten, erleiden fie leider feine 
Anwendung mehr. Hätte fie früher beherzigen follen, 
jetzt iſt's zu ſpät.“ 

Eginhard überlegte, ob nicht irgend eine Rettung 
möglich ſei. 


408 


„Entweder,“ ſprach er, „ich bleibe ruhig hängen, 
bis der Himmel irgend ein Menſchenkind vorbeiführt, 
oder ich fteige weiter, auf die Gefahr, daß ver Bi- 
bliothefar auf mich ſchießt. Erfteres möcht” ich frei- 
lich fein Biertelftännchen länger aushalten, denn mir 
it es, als ob von Minute zu Minute eine unficht- 
bare Hand ein Pfundgemidht mehr mir an die Füße 
bände. Alfo wird das Gerathenfte lem, ich ſteige 
vorwärts.” 

Er begann fofort mit dem einen Arme auf- 
wärts zu greifen, da brady aber der Aft, melden er 
mit der Hand erfaßt hatte‘, wodurch ein lautes Ge— 
praſſel entitand. 

„Was war das, Eugenie, haft Du nichts gehört?“ 
fragte in heiferer Stimme ber Signor Baſilico. 

Das ſchöne Mädchen, welches fo eben mehren ber 
auf und abhüpfenden Vögeln Yutter ſtreute zeigte 
nach der Seite, wo Eginhard hing. 

—„Gewiß der böſe Baummard, der unter unſern 
Tauben ſolche Verheerung angerichtet hat,“ ſprach der 
Bibliothekar, „wo iſt mein Taſchenterzerol.“ 

Eginhard, der mit geſpitztem Ohre Alles deutlich 
vernommen hatte, erkannte jetzt, daß ſein letztes 
Stündlein gekommen war. 

„Adje Welt,“ rief er verzweifelt, ließ den Ret⸗ 
tungsaſt los und rutſchte mit Blitzesſchnelle die Baum⸗ 
wand herab. Die Fahrt lief indeß ſo glücklich ab, 
daß er allerdings etwas zerzauſt, doch auf ſeine bei- 
den Füße zu ftehen kam. Diefe aber waren fo un- 
fiher geworden, daß er Tängelang auf ben Rafen 
hinfiel. Er befann fi hier nicht lange, war wie ber 
Blig wieder auf, und Tief, was er laufen konnte, dem 
Schloſſe zu. Erft auf dem Schloßhofe glaubte er ſich 


4109 


jo ziemlih in Sicherheit und außerhalb der Schuß: 
weite des jaghluftigen Bibliothekars. 

So wie er fih einigermaßen vom Schred er: 
holt hatte, gewann er Muße, über fein außerordent⸗ 
liches Abenteuer nachzudenken. Jetzt hatte er alfo 
die Rofe von Segovia nicht blos in Mondſcheinbe⸗ 
leuchtung, ſondern bei hellem Tage gefehen. Das 
ſollte auch Sinnentäufchung gewejen fein? Er wußte 
übrigens jeßt nicht, was er beginnen, ob er der Ge⸗ 
felfchaft auf dem Morigberge nachlaufen oder im 
Schloſſe verbleiben ſollte. Letzteres hielt ex nicht für 
ratbfam; fo mutterfeel allein, wer konnte willen, ob 
nicht der belaufchte Bibliothekar im Begriff ſtand,, 
einige Brigaden überirbiiche Geifter gegen ihn aus- 
zufenden, um ven Frevler, ber es gewagt, über die 
Baumwand in das Heiligthum zu fehen, energifch zu 
üchtigen. 

Er machte ſich daher auf den Weg nach dem 
Moritzberge. In ſeinem Innern ſah es desperat aus. 
Er befand ſich in verzweifelter Lage. Wie, dieſes 
außerordentliche Erlebniß, dieſen handgreiflichen Be— 
weis von der Roſe von Segovia ſollte er für ſich 
behalten? Das war unmöglich, ſelbſt auf die Gefahr 
hin, daß der Bibliothekar die geſammte Geiſterwelt 
gegen ihn loslies. 

Er hatte immer gelefen, daß die Geifter mit 
GSterblihen gerade dann am Unerbittlichiten verfahren, 
wenn lettere jo unvernünftig find und gemachte Ent- 
deckungen aus dem Geifterreiche ausplaudern. 

„SH bin wahrhaft zu meinem Unglüd in dies 
Schloß gekommen,“ ſprach er für ſich, „ver Himmel 
weiß, ob ich lebendigen Leibes davon komme, ſobald 
die Ferien zu Ende find. In welch höchſt verwidelte 

Conflicte mit einer unfihtbaren Welt bin ich gera= 


410 


ten. Das Befte wär’ allerdings, ich fagte fein Ster⸗ 
benswort von den: wunderbaren Erſcheimengen und 
behielt Alles für mid, die Geiſter fänden fi dann 
weniger compromittirt und profanirt, und würden 
Rüueckſicht nehmen. Aber eine ſolche Saft anf dem 
Herzen tragen, das halt’ ein Andrer aus. I ſchwa⸗ 
cher Sterblicher vermag's nit. Dem Johannes we⸗ 
nigſtens, biefem ungläubigen Thomas, muß ich einen 
Wirt geben. Er wid die Gefchichte zwar wieder 
nicht glauben, aber ih kaun mich doch ein Wenig 
letht mm’8 Herz reden. Verzweifelte Geſchichten; die 

ädchen dürfen allerdings nichts von der Kletterei 
erfahren, die würden nicht reinen Mund halten, und 
ich Hätte es bei Wertheim verſchüttet auf alle Zeiten; 
aber Hans, viefes Fiſchblut muß ich ein Wenig in's 
Feuer bringen.” 

Unter dieſen und ähnlihen Monologen langte 
Eginhard wohlbehalten auf dem Meorigberge an. Die 
Geſellſchaft war bereit aufgebrochen und hatte ven. 
Weg nad dem nahegelegenen Hammerwerke eingefihle- 
gen. Eginhard trabte nach und fand die Geſuchten 
in einem höchſt anmuthigen Thale, auf einer üppigen, - 
‚ verh mit Blumen geſchmückten Wiefe gelagert. 

Eginhard ward jest zur allgemeinen Rechenfchaft 
gezogen und mit freunpfchaftlihen Borwürfen über- 
häuft. Er gab vor, fi verirrt zu haben, indem er 
einen nähern Weg nad) dem Morjsberge habe gehen 
wollen. 

Albert, der Eginhard's Citirwuth ſchon mehre 
Male drollig nachgeahmt hatte, trat mit ernftem ge⸗ 
mefjenen Schritt auf ihn zu, legte die Hand auf 
Eginhard's Kopf und ſprach „emahnend: : 


Geht des Kanonenballs —— Lauf, 


414 


Din — — —2 zum Mei 


a bieie folgt 

De Safe La er Thöler freiem Rrümmen, 

Umgeht das Hehrenfelb, ben Rebenhügel, 

Des Eigenthums gemeflne Grenzen ebrent, 

So führt fie ſpäter, fiher doch zum Ziel.“ 

Alles mußte laden. Eginhard fand aud feine 
gute Laune wieder; nur wenn er an ben Bibliothe- 
far nd die Rofe von Segovia Dachte, ward er nach⸗ 
deecklich und unruhig. Es drängte ihn, wenigftens 
gegen Johannes das Herz auszuſchütten, und er fuchte 
fortwährend nach einer Gelegenheit, ven Freund allein 
zu ſprechen. Diefe fand ſich bald, Johannes ſchien 
Nee Eginhard etwas emtdeden zu wollen. Wis fie 

allein waren, fafte einer ven andern haftig beim 
Arme. 

„Freund,“ fragte Johannes ziemlich aufgeregt, 

„haft Du nicht bemerkt, wie Bodo Marien auffallend 


„Mnd das Kind ſcheint es ſich gern gefallen zu 
(nffen.“ 

„Verdenk's ihm nicht,“ bemerkte Eginhart, „Bobo 
ift ein tapfrer Mann. Das lieben die Mädchen.” 

„So,“ fragte der Andre gevehnt,. „vor ein paar 
Tagen ſprach man ja ganz anters, von Duell, Blut 
und Tod.” 


„ah, Hans,” fiel Eginhard ein, „laß jest berfei 
irdiſche Angelegenheiten, ich habe Dir unterm Siegel 
der Berfchwiegenheit wichtigere Dinge anzuvertrauen.‘ 

„Bir bürfen’s nicht zugeben,” fuhr Johannes, der 
anf des Freundes Wort gar nicht gehört hatte, auf- 
geregter fort, ‚wir bürfen uns bie Couſinen micht 
kapern laſſen. Wir haben nähere Anſprüche.“ 


142 


„Mein Gott,” ſprach Eginhard, „mas ift es um 
fo ein armes gebredhliches irbifches Mädchen, leihe 
mir Dein Ohr für eine höhere Welt.“ 

„Narrenspoſſen,“ gegenredete Johannes ärgerlich, 
„ſchlag Dir einmal die Hirngeſpinnſte aus dem Kopfe, 
wir dürfen uns nicht werfen laſſen von dieſer über— 
müthigen Nitterfchaft. Ich intereffire mich, für Ma— 
rien, ih will Dir’ nur geftehen, Du mußt. mir fe- 
fundiren, falls ih mit meinem Nebenbuchler zufammen 
komme; Bodo iſt un angebunden und gerirt ſich, 
als wäre er halber Bräutigam. Dieſe eitle Selbft= 
gefälfigfeit empört mich.“ 

„Hör einmal,” ſprach nun Eginhard ebenfalls ge- 
reizt, „wenn Du fo verächtlih Alles für Hirnge- 
fpinnft ertlärft, was ich mit eignen Augen gejehen 
und mit eignen Ohren gehört habe, jo kommen wir 
felber vorher zufammen; ich mag ſolche Reden nicht 
länger dulden. Hör!’ mich alfo aufmerkſam an.” 

„Bor allen Dingen,” fiel Iohannes ein, „laß 
ung eine Politik erfinnen, wie wir dieſen egoiftifchen 
Cavalier aus dem Sattel heben. Wenn es ein geift- 
reicher, intereffanter junger Mann wäre, hätt’ ich ge- 
gen eine Liaiſon mit Marien nicht das Geringfte; aber 
ih ſchwöre Dir, Eginhard, er verbient dieſen Engel 
nicht ; beim Himmel, er verbient ihn wicht, und mir 
ift’8 unbegreiflich, wie das Mädchen feine flachen Ge- 
fpräche mit anhören und an feinen faden Galanterien 
Geſchmack finden Tann.“ 

„Aber fo laß mid doch nur zu Worte kommen,” 
verſetzte Eginhard, „ich habe fo eben die — Rofe 
von Segovia —“ 

„Schweig mit Deinen Phantafien, “ſprach Jo— 
hannes, „und denk' an reellere Dinge.“ 

„Wenn ich Dir aber bei Allem, was heilig iſt, 


143 


zuſchwöre,“ fuhr jener fort, „daß ich das Geſpenſt 
, ‚wie es leibt und lebt, am hellerlichten 

e — 

En bift ein Phantaſt,“ entgegnete ungeduldig 
Johannes. 

Was, Phantaſt,“ fuhr Eginhard eifrig fort, „hör 
mich in's Teufels Namen an, nur viefe Gefälligkeit 
erzeige mir, und ich bin in Deinen Liebesaffairen 
mit Leib und Ceele Dein. Denf’ nur, ich weiß be- 
reits, wie die Roſe von Segovia heißt; fie heißt — 
Eugenie.” 

„Wie?“ fragte Johannes in feltiamem Tone und 
eine leife Verklärung floh über fein Geficht 

„Iſt zwar fein mauriſcher Name,” fuhr Eginhard 
fort, „nicht einmal ein Ipanifcher, aber das thut nichts, 
kurz, ih habe es mit meinen eignen zwei atufiſch 
gebauten Ohren gehört, wie ſie der alte geſpenſtiſche 
Bibliothekar im langen, grauen Rocke „Eugenie“ 
gerufen hat.” 

Johannes war immer aufmerfjamer geworben und 
Eginhard mußte erzählen. 

Als der Referent an die Beſchreibung der Roſe 
von Segovia ſelbſt kam, ihre Geſtalt, Antlitz und 
Tracht näher ausmalte, ward Johannes unruhiger. 
Er lief mehre Male in ſeltſamer Gemüthsſtimmung 
auf und ab. 

Für Eginhard war es ein nicht geringer Triumph, 
daß der ſonſt jo indifferente, ungläubige Freund ein— 
mal ein ſo großes Intereſſe an ſeiner wunderbaren 
Erzählung nahm. 

„Nun,“ fragte er, als er mit ſeiner Erzählung 
zu Ende war, mit ſtiller Genugthuung, „das iſt 
wohl Alles Nebel und Einbildung? Wenn auch Alles 
dafür ſpräche, mein zerzauſter Rock gewiß Pie Da, 


Stolle, ſämmtliche Schriften. XVI. 


114 


man kann's noch fehen, hier ift noch ein ziemlicher 
Defect, für deſſen Ausbeflerung ich heute noch bedacht 
fein muß.” 

Johannes beſchwor aber Eginhard, von dem Er- 
lebten um's Himmelswillen gegen Jedermann zu ſchwei⸗ 
gen. ‚Er verfprach heilig und theuer, nun felbft mit- 
zuwirken und Alles aufzubieten, dem fonverbaren Ge— 
heimniſſe auf die Spur zu kommen. 

„Bon, ſprach Eginhard, fi vergnügt die Hände 
veibend, „ſtehſt Du mir bei, werd’ ih Dich nicht im 
Stiche lafjen. Ich werde Deinen Nebenbubhler fogleic) 
zu Leibe gehen, Du haft ganz recht, die himmelſchöne 
Marie ift nicht für folh einen übermüthigen, einge- 
bilveten Krautjunker.“ 

„Laß nur,” ſprach Johannes jekt um Vieles 
ruhiger, „und wiederhol' mir lieber die Beſchreibung 
ber Rofe von Segovia.” 

Eginhard Tief fid Dies nicht zweimal fagen, und 
referirte von Neuem das auferorventlihe Erlebnif. 
„Ich verfihere Dir, Hans,” ſchloß er, „das Wunder- 
bare, Geifterhafte an diefer Erjcheinung 

„war fo riefengroß, | 
daß ich mich recht als Zwerg erkennen mußte.‘ 

Sohannes war fehr nachdenkend geworben; Egin- 
hard aber verficherte, daß ihm ein wahrer Felsblock 
vom Herzen fei, ſeit er das Geheinmiß dem Freunde 
mitgetheilt und nicht allein daran zu ſchleppen habe. 

„Was find das wieder für Geheimniſſe?“ rief 
Pauline, die herbeigefprungen kam. 

Eginhard hätte für's Peben gern auch fie in die 
wunderbare Angelegenheit eingeweiht, aber ein Winf 
von Johannes gebot ihm Stillſchweigen. 

„ Die Andern find ſchon voraus,‘ mahnte das Mäd— 
‘den, „wir bürfen nicht zaudern. Die Reife geht zum 


8 


445 


Waſſerfalle. Der Buter hat ſchon einen Boten nad) 
der Mühle vorausgefchidt, damit der Müller aus fei- 
nem großen Teiche Waſſer abläßt; der Waldhach ift 
bei der warmen Witterung ganz ausgetrodnet und ein 
Waſſerfall ohne Waffer ift ein „non ens“. Nicht 
wahr, fo heißt es im Lateiniſchen?“ 

„Paulinchen könnte alle Tage die Univerfität be= 
ziehen,’ lachte Eginhard, „fie ift geborene Römerin.“ 

‚Die Drei wanderten ver Geſellſchaft nach; Eginhard 
ſcherzend mit Baulinen, Johannes ftill in ſich gefehrt. 

Ad man die PVorausgegangenen einholte, ging 
Bodo wieder an Marien's Seite. Dem Johannes ſchien 
dies jet ziemlich gleichgültig, aber Eginhard, der 
durch das vorhergegangene Zwiegeſpräch erſt auf das 
Verhältniß aufmerkſam geworben, ärgerte fi über 
diefe8 Hofmachen von. Seiten des Ritters. 

„Johannes hat Recht, ſprach er zu ſich, „ich hab's 
nicht ungern, wenn fih ein Engel den Hof machen 
läßt, aber der Cicisbeo muß darnach fein. Hier ift 
das nicht der Fall. Bodo ift nicht ver Mann, der eine 
folhe Blume zu würdigen verftände. Ich begreife nicht, 
wie das geiftreihe Mädchen dieſem faden Gewäſch jo 
aufmerffam zuhören kann, als verfünde der Junker 
das Evangelium der ewigen Glüdjeligfeit. Das duld' 
ich nicht und ſpringe dazwiſchen.“ Und mit einem Sage 
war er an Marien's undrer Seite. 

Das Gefpräd des Pärchens ſchien foeben eine 
ziemlich fentimentale Richtung genommen zu haben. 

„Das fehlte noch“ ſprach Eginhard für fid), und 
- warf humorijtifche Knallerbſen und Schwärmer zwiſchen 
die Beiden. Bodo verwünfchte den unmillfommenen 
Begleiter in's Pfefferland; dieſer aber ließ ſich nicht 
ftören und perfiflirte einen fentimentalen Liebhaber fo 
treffend und fo poffirlih, daß Marien und dem Junker 


416 


nichts übrig blieb, als die Sentimentalität auf ein 
andermal zu werjchieben und auf ven Scherz einzugehen. 

Der Abend war hereingebrohen. Mean befchlof, 
zum Morigberge zurückzukehren und ben Meondesaufgang 
dafelbft zu erwarten. 

Auf der Kuppe bed Berges ſelbſt erhob ſich eine 
Terraſſe, von wo man die herrlichſte Ausſicht über die 
Gegend genoß. Hier ward Platz genommen, während 
der Abendſtern i immer tiefer ſank. Eginhard declamirte: 


„Dom Vaterland 
So fern, ſo fern, 
Hat mich erkannt 
Der Abendſteru. 
„Wie freut es mich, 
Dich hier zu ſehn, 
Du kannſt, nicht ich, 
Zum Liebchen gehn. 


„Wenn ich nicht irre,“ fuhr er fort, „ſteht dies 
Liedchen in dem Roman „der Jude“ vom wackern 
Spindler, wo ſich's Jedermann abſchreiben kann, dem's 
gefällt. Es gehört zu meinen Favoritftückchen.“ 

Der Tag verglomm. Die Schatten der Däm— 
merung ſanken tiefer. Die Sterne traten funkelnder 
hervor. Es war ein reizender Abend. Die Geſellſchaft 
hatte auf den Bänken rings umber Pla genommen. 
Bodo faß wieder neben Marien; Eginhard, ver durch 
ven herrlichen Abend felbft wieder poetifch geſtimmt 
war, hatte ed nicht verhindern können. Er ſuchte fo- 
eben der Gefellfchaft zu beweifen, daß diefe Dämme- 
rung, dieſes zweifelhafte Zwielicht, dieſes feltjame 
Schwanfen zwiihen Tag und Nacht eigentlid das 
wahre Urelement der Romantik fei. 

„Mebrigens hat dieſes Abenddämmerreich,“ fuhr 
er fort, „dieſes Erfterben des Tages, Niemand berr- 


447 


j 


licher gefehtbert, als der Hocdh= und Gnofmeife aller 
Poeſie auf Erden, unfer Wolfgang Goethe, in ven 
wenigen Zeilen: 
„Dämm'rung fenkte ſich von Oben, 
Schon iſt alle Nähe fern; 
Nur noch ſtill emporgehoben 
Holden Lichts der Abendſtern. 
Alles ſchwankt in's Ungewiſſe, 
Nebel ſchleichen in die Höh'; 
Schwarzvertiefte Finfterniffe 
Wiederipiegelnd, ruht der See. 
„Da im öftlihen Bereiche 
Ahn' ih Mondenglanz und Gluth, 
Schlanker Weiden Haargezweige 
Scherzen auf der nächſten Fluth; 
Durch. bewegte Scattenipiele 
Zittert Luna's Zauberichein, 
Und durch's Auge jchleicht die Kühle 
Sänftigend in's Herz hinein.‘ 

Kaum hatte Eginhard diefe Worte gefprocdhen, als 
auch der Mond in mildem Glanze hinter dem Walde 
hervortrat. Aller Blicke mweilten mit- ftillem Wohl: 
gefallen auf der ſchönen Kugel. In. Marien’8 Auge 
glänzte eine Thräne; Bodo wollte die herabfallenve 
von der ſchönen Wange küſſen. Das Mädchen bog 
ſich aber verſchämt zurüch; ſo bekam nur die ſchöne 
Hand den Kuß. 

Eginhard, als er bemerkte, daß es wieder gar 
zärtlich ‚hinter ihm zugehe, erſuchte Bodo, ein Gedicht 
auf den Mond zum Beſten zu geben. Ein fühlenver 
Süngling, meinte er, müſſe vergleichen zu Dugenben, 
wenn aud nit im Kopfe, bod) in der Taſche. haben. 

Dodo erklärte, dag er einen folden Vorrath leider 
entbehre. 

„Das iſt Schade,” ſprach Eginhard, „ich bin über— 
zeugt, Sie würden ihn mit vielem Ausdrucke vortra— 


448 . 
v 
gen. Man befindet ſich nicht immer in ber geeigneten 
Stimmung. Die Mondſcheinſtimmung ift eine beſon⸗ 
dere Art.“ 

„Da Sie fo in den Mond- und Mondſchein- 
“ Angelegenheiten bewanbert find,” ſprach Pauline, „jo 
könuten Sie uns eine Mondvorlefung halten, die Ge— 
legenheit kann fich nicht beſſer darbieten.“ 

Die Webrigen waren ſämmtlich Paulinen's Mei- 
nung und drangen auf eine Borlefung. 

Eginhard jpielte bei ſolchen Oelegenheiten nicht 
den Spröden; er verfprad daher, fi fo kurz als 
möglich zu faſſen, nahm eine theatralifhe Pofitur an 
und begann: 

„Der Mond, hochverehrte Zuhörer, auch Yuna oder 
Selene genannt, ſpielt im Leben der Menjchen eine 
hochwichtige Rolle. — Bor allen Dingen fommt er mir 
vor, wie ein alter treuer Bebienter in ber großen 
Menjchenfamilie Während des glänzenden Beſuches 
der Frau Sonne, die Aller Aufmerkſamkeit auf ſich 
zieht, tritt er ganz zurüd oder blidt ganz leis und 
Thüchtern vom Außerften Horizente herauf. Sobald 
aber der vornehme Beſuch abgefahren, fommt er zu= 
traulicher und freundlicher näher, und Jedermann hat 
ihn gern von Jugend auf und immerdar. Was man 
ver ftrahlenden Tagesfürjtin nicht vertraut: Thränen, 
Seufzer, Geſtändniſſe und Herzensergießungen, beim 
guten, verjchwiegenen Monde weiß man fie wohl auf- 
gehoben. Wie viele Dummheiten er mit anſehen muß, 
er bleibt immer freundlich und mild. 

„Die Poeten ſehen ihn übrigens nicht ſo proſaiſch 
an, "als ein gewöhnliches Menſchenkind. Während leg- 
teres ihn fchlechtweg „Mond“ titulirt, haben fie weit 
geihmadvollere Benennungen. Da heißt es: „Tanfte 
Luna,” „holde Selene” „leuchtende Blume der Nacht“ 


119 | 


und dergleichen, und dabei ſeufzen fie und machen 
Gedichte. — Wenn der Mond ein Landſtand wäre, ſo 


gehörte er gewiß nicht zur Oppofition, denn eine folde 


Toleranz, wie er feit Adam und Eva gegen die Boeten 
an ven Tag gelegt hat, davon kann wohl feine De- 
putirtenfanmer auf Erden ein ähnliches Beifpiel aufs 
weijen‘ | 

„Der Mond ift ferner der ältefte Gevatter. Wie 
unzählige Male hat er Gevatter geſtanden; denn wie 
oft ift er nicht in ftiller Mitternacht zum Zeugen von 
Liebesſchwüren und Liebesbetheuerungen angerufen 
worden. 

„Unſer Freund behauptet ferner in allen unſern 
Kalendern einen Haupt- und Ehrenplatz. Allwöchentlich 
kann er ſich abkonterfeit ſehen; bald ſchwarz, bald roth, 
bald als Sichel en profil, bald bausbäckig en fage. 

„Wer bedürfte des Mondes nicht! Der Landmann, 
der Arzt, der Apothefer, der Schifffahrer, der Wein- 
bauer, die Wafchfrau. Jeder Here ift er unentbehrlich); 
und ohne ven Mond gäbe e8 feine Mondfüchtigen. 

„Trotz dent iſt die Menfchheit noch nicht im Kla— 
ren, ob der Mond eigentlich eine Frau oder ein Mann 
ift. Die Griechen und Römer machten ihn zur Madame 
und ſprachen gar zärtlich zu ihr. Die Deutſchen hal— 
ten ihn für einen Mann und ſagen: 

„Guter Mond, du gehſt jo ſtille ꝛc. und 
Es kann ja nicht Alles ſo bleiben 
Hier unter dem wechſelnden Mond. 

„In dieſen beiden Mondſcheinverſen wollen übrigens 
ſcharfſichtige Philoſophen die erſten Keime der deutſchen 
revolutionären Propaganda erblicken. 

„Nämlich in dem „guter Mond, du gehſt fo ſtille“ 
fol ein Vorwurf Liegen, daß es gar nicht vorwärts 
mit ihn und alle den will, was er auf Erben bee 


120 


ſcheint, und in der Kotzebue'ſchen Phraſe fpricht fid) 
das Prinzip ded Mouvement Har und offen aus; ein 
neuer Beweis, wie unrecht der phantaftifche Schwärmer, 
der Stubiofus Sand, hatte, ‚ven Verfaſſer todt zu 
ftechen und hiermit zugleich dem deutſchen Luſtſpiele 
den Todesſtoß zu verſetzen. 

„Auch die Türken ſind große Mondliebhaber, ha⸗ | 
ben fih ein Stüd abgefehnitten und in ihre Yahnen 
genäht und auf ihre Minarets geftedt. Es wäre je- 
doch eine ſehr voreilige Behauptung, wenn man deshalb 
die Mufelmänner für fentimentale Leute halten wollte. 
In Deutfchland unter den Lindenbäumen, da ift bei 
Mondſchein die Sentimentalität mit Händen zu greifen. 

„Am brutaliten aber verfahren die Aftronomen mit 
dem guten Monde. Die fpredien, er fer nichts als 
eine große Schlade und fehen ihn über die Adyfel an, 
weil er fo verftändig ift, fich nicht wie ein Teuerrad | 
um fid) felbft zu drehen. Nichts als himmelhohe Fel- 
fen gäbe e8 da, fein Teuer und fein Wafler. Den 
noch hatte ein deutſcher Sternguder es ſo weit gebracht, 
die Wachtparade auf dem Monde aufmarſchiren zu 
fehen, nach allen Regeln der Taktik. Wir wollen die 
Wahrheit vahingeftellt jein laſſen, daß aber der Mond 
bewohnt ift, unterliegt feinem Zweifel, denn wer hätte 
den — Mann im Monde nicht gefehen!“ 

Eginhard war mit feinem Meondcollegio zu Ende 
und man brach auf, um nad Buchenfels zurüdzu- 
ehren. Der Heimweg war wunderfhön. Bodo umgirrte 
Marien wie immer und Eginhard contrecarrirte ihm 
durch humoriſtiſche Bemerkungen und Einſchiebſel in 
Einem fort. Bauline, das kluge Kind, hatte alsbald 
die Sache durchſchaut und mußte oft laut lachen, wäh- 
rend Bobo fih im Innern gelobte, den Störenfried 
‚mit nächſter Gelegenheit Hals und Beine zu brechen. 


421 


So langte nıan nad) anderthalb Stündchen wohl- | 
behalten auf dem Schloſſe an. _ 


- 14. 


In Johannes war feit Eginhard's Erzählung von 
der Roſe von Segovia eine große Beränderung vor- 
gegangen. Er war fidhtbar ernfler und nachdenklicher 
geworden. Weber feinem Gefichte ruhte eine leife Schwer⸗ 
muth. Wiewohl er in Gejellichaft heiter und aufge- 
räumt wie fonft erichten, jo konnte er doch, ſobald er 
allein war, feine innere Stimmung nicht verbergen. 
Eine Thräne trat dann nicht felten in feine Augen 
und ber Name „Eugenia“ durchbebte fein Innerſtes 
wie ein feliger Schauer. Cine magijche Gewalt zog 
ihn fort und fort nach den Mauern des alten Schlofies. 
Am liebſten befuchte er allein vie alterthümlichen, halb⸗ 
zerfaflenen Hallen. Da war kein Winkel, ven er nicht 
unterfucht, fein Keller, wo er nicht hinabgeſtiegen wäre. 
In die Wohnung des Bibliothefard zu gelangen, war 
ihm übrigens noch nicht gelungen. 

Eines Morgens, rofige Träume waren in der ver- 
gangenen Nacht ihm vorübergezogen, hatte er ſich be= 
reitd früh aufgemacht nach dem alten Cchloffe. Wieder 
flieg er die Wendeltreppen auf und ab, wieder fuchte 
er vergebens nach einem Punfte, von wo man den 
Garten des Bibliothefars hätte überfhauen können. 
Er fletterte in die dumpfen Seller hinab, und da er 
fein Licht mit fi) genommen, tappte er lange in der 
Finſterniß umher. Bald war er jo weit in die Gei- 
tengänge vorgedrungen, daß aud der ſchwache Licht⸗ 
ftrahl erloſch, der durch die Deffnung bereinfiel, durch 
welche er herabgeftiegen war. Er tappte mit den Hän= 


4122 


“ den vor ſich greifend immer weiter. “Die unterirdiſchen 
Gänge Freuzten fih; bald wußte er nicht, follte er 
vorwärts oder rückwärts. Er tappte in Einem fort. 
Der Gang fhien fein Ende zu nehmen. So viel ev. 
fi) entjann, war er früher in.eine jo lange Halle 
nie gefommen. Er war unfchlüffig, ob er weiter gehen 
ſollte. Da indeß der Gang, wie alles Menſchenwerk, 
body ein Ende haben mußte, fo beſchloß er, muthig 
fertzuwandern. So währte e8 wieder eine geraume 
Zeit. Die Nacht blieb undurchdringlich. Auch war es 
Nkalt und eine Todtenſtille. Man hörte ein Sandkorn 
fallen, Nach einiger Zeit bemerkte er, wie ſich ver 
Gang wieder in zwei andere Gänge theilte, von denen 
der eine fi rechts, der andere links wendete. Er 
überlegte einige Secunden, welchen er einfchlagen jollte. 
„Ber links und rechts muß man das Rechte wählen,‘ 
ſprach er zu fi und wanderte ven Gang zur Rechten. 
Hier ging's wieder in die Ewigkeit. 

„Der verwünfchte Gang,“ brummte der unter- 
irdiſche Wanverer, „muß doch einmal ein Ende haben! 
Wahrſcheinlich hat er für die einftigen Ausfälle over 
zur Flucht aus der Burg gebient und mündet in irgend 
einem veizend und verftect gelegenen Thale.“ 

In diefer Hoffnung tappte er getroft vorwärts. 
Endlich gelang es ihm, das Ende des Labyrinths zu 
erreichen, aber darum feinen Ausgang. Johannes ftand 
mit einemmale vor einer falten feuchten Mauer. Er 
vifitirte, fo gut es gehen wollte, die Localität, und 
mächte die höchſt unangenehme Entvedung, daß bier 
die Welt nicht ſowohl mit Bretern vernagelt, als mit 
energifhen Quadern vermanert fe. Er mochte nad) 
allen Richtungen hintaften, überall ftieß er auf ftei- 
nernen Widerſtand. Vergebens forfchte er nad) einer 
Oeffnung. Es war gewiß, der Gang hatte hier fein 


123 — 


Ende erreicht. Mit der Mündung im fchönen früh— 
Iingewarmen Thale war es ſonach nihte und unferm 
Troglodyten blieb nichts übrig, als umzulehren und 
fi) denjelben Weg zurüdzugreifen, ven er gekommen 
war. Seine Lage war nit Die angenehmite. Wer 
tonnte willen, ob er fi eben fo glücklich wieder her⸗ 
ausfand, wie er hineingerathen war! Wie bald fonnte 
dieſes oder jenes uralte unterirdifche Gemäuer, ob des 
ungewohnten Beſuchs erfchroden, zufammenjtürzen, ihn 
erfchlagen, oder in ewige Nadıt begraben. Reine Seele 
auf der Dberwelt wußte von feiner unterirdiſchen Cr: 


„Es ijt gut,” ſprach Johannes, „dag Freund Egin- 
hard nicht von der Parthie ift, wieviel Geifter, Schlan⸗ 
gen und Kobolde wäre er bereits anfichtig geworben, 
und weld. ein Miferere würde er über den hödhft 
romantifhen Yal anftimmen, ven Ausgang mit Qua— 
dern vermauert zu finden.” 

Johannes hatte jest glüdlih die Stelle wieder 
erraht, wo fi der Hauptgang rechts und linke in 
zwei Arme theiltee Die rechte Hand hatte ihn aljo 
diesmal, doch betrogen. Gr war ſchon im Begriffe, 
weiter vorwärts zu marjchiren, als ihm der Gedanke 
fam, nichts ununterfucht zu laſſen, vielleicht führe der 
Iinfe Gang dennoch in's Freie. 

Er beſann ſich nicht lange und befuhr den linken 
Schacht. Dieſer war indeß mit weit größern Schwie⸗ 
rigkeiten zu paſſiren. Aller Augenblicke ſtieß ſein Fuß 
an anſehnliche Steine, die am Boden lagen. Er ſprach 
ſich Muth ein, räumte die Steine aus dem Wege oder 
kletterte darüber und drang mit vieler Energie weiter. 

Nach Johannes Berechnung war dieſer Gang bei 
Weitem länger als der vorige. Er war ſchon eine 
geraume Zeit vorwärts gedrungen, ohne das Ende zu 


"412% 


erreichen. Die im Wege liegenden Steine wurden 
immer zahl- und umfangreicher. 

„Wenn das fo fortgeht,“ ſprach der Unterirdiſche, 
„und id) feinen Ausgang finde, komme ich vor Mittag 
nicht wieder an's Tageslicht. Ich war bisher immer 
jo vorfichtig, eine Laterne anzuzünden, wenn ich in 
“diefe unwirthbaren Keller herabftieg und heute gerade 
mußte ic, fie vergeffen. In dieſe Gegend, mo id) 
mich dermalen befinde, hat ſich ficher feit Jahrhun— 
derten fein menfchlicher Fuß verirrt. Eginhard wird 
fid) wundern, wenn er aufwacht und mein Bett leer 
findet. Der Himmel weiß, welches Mährchen ver fich 
erdenft über mein plögliches Verjchwinden und wie 
Wertheim's in Furcht und Bangen gefett werben. 
Ich will nody hundert Schritt vordringen und wenn 
ber verwünjchte Gang fein Ende nimmt und fi 


„Die Küfte nicht zeigen will, 


tehr’ ih auf alle Fälle um. 
Unter foldyen Gefpräcden tappte, kroch und ftolperte 
er immer weiter. 

„Nach meiner Berechnung,“ fuhr er fort, „muß 
ic) bereit3 eine halbe Stunde von Buchenfeld entfernt 
fein. Unter dem alten Schloffe wenigftens befinde ich 
mid) nicht mehr, das ift gewiß. Es wäre ein heil- 
lofer Rüdzug, wenn das Loch hier gleichfalls mit un⸗ 
gefchlachten Quadern verftopft wäre.” 

Nah feiner Meinung mußte er jeßt die hundert 
Schritte zurlicdgelegt haben. Er ruhte ermübet aus, 
denn die beftändige Kletterei über die Steinhaufen war 
ſehr beichwerlih. Rings herrſchte Todtenſtille. Er 
hatte fih auf einen mädtigen Stein geſetzt und mit 
dem Rüden an die Wand gelehnt. Hier überfann er 
feine feltfiame Situation. 


. 425 


„Mit Eginhard zu reden,” fprady er, „befinde ich 

mich in einer höchſt romantifchen Yage, obfchen ich von 
der Romantik ver lauter Finfternig nichts ſehe.“ 
Er ſtrengte fein ganzes Hörorgen an. Da — o 
Himmelsruf aus ſchön'rer Welt — tönte der erfreuenbe 
Geſang einer Lerche. Sein ganzes Wejen war freudig 
ergriffen. Er berechnete jest, dag der Gang nicht zu 
tief unter der Erde dahin führe und ficher eın Aus- 
gang aufzufinden fei. 

Er drang mit neuen Muthe vorwärts. Der Yer- 
henruf fam näher; aber je weiter er vorwärts Hlet- 
texte, defto unmegfjamer ward tie Paflage, fe daß er 
zu fürdten anfing, der Gang werde am Ausgange 
ganz zufammengefallen und verjchüttet fein. 

Eben war er bemüht, ein neues Felſenſtück zu 
überffettern, als ihm ein wunderbar belebender Haud) 
entgegen wehte. Er athmete mit Wohlbehagen viele 
reine Luft, welche aus irgend einer Oeffnung von der 
Dberwelt herablomnıen mußte. Neue Hoffnung belebte 
ihn; doc blieb die Finfternig Diefelbe. Der belebenve 
. Zuftftrahl ward aber immer erquidenvder, Johannes 
immer freudiger. 

„Eginhard,“ ſprach er, „würde rufen: 

„Rapp, Rapp, ich witt're Morgenluft! 


Plöglih drang ein goldener Lichtftrahl in die Fin— 
fterniß, daß der unterirdifche Wanderer, der fo lange 
in der Nacht gelebt hatte, geblenvet ven Blid abwärts 
wenden mußte. So wie er fid) etwas an das Licht 
. gewöhnt hatte, ging die Reife weiter, und jo ward ihm 
endlich die Freude, ven Ausgang der Höhle zu entveden. 

Derfelbe war mit dichten Geſträuche bewachlen, 
und die goldene Sonne blidte in bezaubernder Schöne 
durch das grüne Laub; anfehnliche Felſenſtücke lagen 


126 


vor der Mündung des Ganges, wie vor dem heiligen 
Grabe. 

Johannes überwand, dem Ziele ſo nahe, die letzten 
Schwierigkeiten, überkletterte den Felſen am Ausgange 
und ſprang jubelnd in Gottes ſchöne Welt. 

Er war äußerſt neugierig, an welchem Orte er 
eigentlich das Licht wieder erblickt haben würde; aber 
wie groß war ſein Erſtaunen, als er umherſchaute, 
und über ſeinem Haupte die grauen Felſenmauern des 
alten Schloſſes emporſtiegen. 

„Bin ich behert?“ fragte er ſich, „nad meiner 
unterirdifchen Wanderung muß ich wenigftend eine 
hälbe Stunde von bier entfernt fein. ‘Der Gang 
fann doc nicht wie eine Spiralfeder um fich felbft 
gelaufen fein. Meines Erachtens führte er immer 
gerad’ aus.” \ 

Gleichwohl war e8 nicht anders. Als fih Iohan- 
ned indeß genauer umfchaute, gewahrte er mit felt- 
famem Gefühl, daß er fih in dem — Garten des 
Bibliothefare befand. Kaum wagte er weiter zu fchrei- 
ten. Der ganze Garten mit feinen wunderbaren, 
fremdartigen Kräutern und Blumen ruhte in heiliger 
Morgenpradht. Ueberall zitterten Thauperlen auf Blät- 
tern und Ranfen. Der eine Theil des Gartens bil- 
dete eine Art englifchen Park. Hohe Pinien und 
Lerchenbäume, untermifcht mit frembartigem Buſchwerk, 
bauten einfame Schattengänge. „Johannes wanbelte 
den einen entlang. 

Er war feltfam bewegt, als er in dieſem geheim- 
nigvollen Gehege, das fo oft der Gegenftand feiner 
Neugier und feiner Geſpräche geweſen war, langſam 
dahin ſchritt. Er glaubte fi) nah feiner langen 
nächtlichen Wanderung in eme andere Welt verſetzt; 
denn felbft die fremden Pflanzen dufteten jo morgen- 


127 


ländiſch, daß es ihm zu Muthe war, als befände er 
fid) in Tanfend und Einer Nacht. 

Plöglih blieb er regungslos ftehen und hielt hoch⸗ 
flopfenden Herzens ten Athen an. Es war ihm, 

als vernähme er hinter der grünen Taruswand leife 
Fußtritte. Gewiß, er hatte fid) nicht getäufcht und 
um einen mächtigen Strauch blühender Hortenfien bog 
die — Rofe von Segovia. Lie ging wie ge 
wöhnlidy ganz weiß; um ven blendenden Nacken floß 
wie Nebelhaudy ein blauer Florſhawl, das Yodenhaupt 
war mit einem andern Shawl turbanartig ummunben ; 
nichtö deſtoweniger rollten mehre der ſchwarzen Yoden 
auf vie blendende Schulter herab. 

Die reizende feenartige Erſcheinung hielt ein Bud) 
„in der Hant. So wie fie den Jüngling erblidte, 
ftieß fie unwilllürtih einen Schrei aus -und wollte 
entfliehen. Johannes aber hielt wie betend die Hände 
gefaltet und rief mit Tönen unendlicher Yiebe: „Eu— 
genie!“ 

Das Mädchen winkte mit der Hand; in dem rei— 
zenten Antlige malten ſich Yiebe und Furcht. 

„Flieht, flieht,‘ rief fie und winfte ängſtlich mit 
‚der Hand, dag er umkehren ſollte. 

„sh fliehen?‘ ſprach Johannes, und eine hohe 
Röthe umfloß fein Antlig, „jest, wo ih Dich, Licht 
meines Yebend, gefunden ? Nimmermehr!“ 

Flieht,“ wiederholte immer ängftliher Eugenie, 
„mein Oheim wird fogleid) hier fein. “ 

„Ich weiche nicht, vief der Jüngling begeiftert, 
„fett id) Did) wieder erichaut, 

- Das Schöne Mädchen ftand in reizender Verwir— 
rung, ihr Buſen pochte ſtürmiſch; fie mußte nicht, 
ollte fie fliehen oder bleiben. 

„Dies ift alfe der Hafen und das Aſyl und ber 


4128 


Wunſch ‘Deined Herzens,‘ fragte in zweifelndem Zone 
der Jüngling, „dieſe abgefchievene Einfamfet? Eu— 
genie, fei offen, ich beichwöre Dih! Du bift eine 
Gefangene, komm, folge mir, ich führe Dich zurüd 
in’8 Leben, in die Welt.‘ 

„Wer jagt Dir, flüfterte faum hörbar das Mäp- 
den, „daß ich eine Gefangene; — ich bin glücklich,“ 
ſprach fie leife und ihr ſchönes Auge ruhte eine Se— 
funde lang auf Johannes; „gewiß, vecht glüdlich.‘ 

„Süßes, wunderbares, heiliges Kind, vief in 
überftrömendem Gefühle feines Herzens der Iüngling, 
zog die Hand Eugenien's an feine Lippen und hauchte 
einen Ruß darauf; „jet offen, entvede Dich mir, wirft 
Du wider Deinen Willen in dieſer Hlofterartigen Ein— 
ſamkeit zurüdgehalten? Vertraue mir, mein Blut und 
Leben für. Dich)! Gedenke des Sonnenuntergangd auf 
Belvedere; Du fagteft mir nicht, wohin Du gingeft, 
und doch hab’ ich Dich gefunden. Ich mußte Dich 
ja finden! Dieſe heilige Gewißheit glühte fortwährend 
in mir wie ein himmlifches Feuer und fiehe, fie hat mid 
nicht betrogen. Eugenie, kennſt Du diefe Blume?‘ 

Ee zeigte ihr eine verwelkte blaue Glocke. 

„Wie ein füRes, befeligendes Vermächtniß,“ fuhr 

Johannes fort, „hat dieſes koſtbare Gefchenf auf mei- 
nem Herzen gerubt. Ich habe es treulich bewahrt, wie 
meine Liebe zu Dir. Darum vertraue mir, Eugenie; 
Du bift nicht heiter. Wer wagt es, dieſes Himmels: 
auge zu trüben?“ 
Das Mädchen hatte von Zeit zu Zeit Tchüchtern 
durch die grünen Zweige nad) dem alten Schloſſe ge: 
blickt. Sie legte den Finger an den Mund, winfte 
dem Juüngling und jchlüpfte durch einen Geitengang 
nad dem abgelegenern Theile des Parks. Johannes 
folgte ihr, die Bruft voll taufend Himmel, 


429 
15. 


Nach einigen Tagen ſah man den alten Wertheim 
mit Signor Bafilico in des letztern Garten im leb— 
haften Geſpräche aufs und abgehen. 

„sh kann Euer Verfahren hinfichtlih Eugenien,“ 
ſprach Wertheim, „durchaus nicht mißbilligen. Ihr 
habt wie ein zweiter Vater an dem Mädchen gehan- 
delt. Es war Hug, daß Ihr fie von der ſchwachen 
Tante, wo fie den Bewerbungen des hochgeftellten 
MWüftlingd preisgegeben war, hinwegnahmt und in 
biefe Einfamkeit begrußt. Hier allerdings würde fie 
völlig unbefannt geblieben fein, wenn nicht Euer eig- 
ned geheimnißvolles Weſen die Neugier der Meinigen 
vorzugsweiſe auf Euch und Cure nächte Umgebung 
gelenkt und die Liebe felbft durch Die Unterwelt in 
das flille Paradies gebrungen wäre. Mein Neffe, 
Sohannes, einer der bieberften und rechtſchaffenſten 
jungen Männer, und der aud font nicht auf den 
Kopf gefallen ift, lernte das Mädchen auf feiner Hier- 
herreife kennen, verliebte ſich fterblih in fie, um 
wenn nicht Alles trügt, ift auch ſie ihm nicht abge= 
neigt. Ich vertrete Vaters Stelle bei dem Jüngling, 
ver felbft elternlos in der Welt fteht und habe gegen 
dieſe Liebe durchaus nichts. Sie ift mir im Gegen- 
theil Lieb, weil vergleichen einen Jüngling von man- 
hen Berirrungen zurüdhält. Was der Himmel zu- 
femmenfügt, fol der Menſch nicht fcheiden; und fo= 
bald Johannes in das bürgerliche Leben eingetreten 
ift, mag es in Gottes Namen ein Paar geben, es 
joU mic Herzlich freuen. Wie ih Eure Nichte habe 
fennen lernen, kann man einem Manne gar feine 
beſſere Frau wünſchen. Bis dahın wird Eugenie an 
meinen beiden Töchtern liebevolle Schweitern finden.” 

Stolle, fümmtl. Schriften. XVI. I 


130 


Der Bibliothefar hatte nicht ohne fichtbare Be— 
wegung der Rede Wertheim’s zugehört. Er erfaßte 
deſſen Hand. 

„Theuerſter Mann,” fprad) er, „Ihr habt da aud) 
meinen Herzenswunſch ausgeſprochen. ugenie, das 
unſchuldige, aufrichtige Kind, hatte auch mir ben 
Eindrud nicht verheimlidht, den Johannes Bild auf 
fie gemacht hatte. Wohl hat mir das manche ſchwere 
Stunde gefoftet, zumal ich mit Schreden in dem einen 
der beiden Mufenföhne alsbald benjenigen erfaunte, 
ver für Eugenien's Ruhe jo gefährlich war. War 
mir's daher zu verbenfen, wenu ich mid) feit der An— 
funft der jungen Männer noch forgfältiger zurüdzog? 
Darum mein menjchenfeindliches Benehmen, das mir 
in Eurer Familie fo oft zum Vorwurf. gemacht wor— 
den if. IH hatte meinen guten Grund. Gefteht 
jelbft, wozu hätte eine Liebjchaft der beiden jungen 
Leute führen follen, für den Fall Iohannes nicht der 
edle Mann war, wie Ihr ihn mir gefchilvert habt? 
Wohl hat mid das Mädchen oft fchmerzlich gedauert, 
wenn fie mit thränenvden Augen bat, ein wenig aufßer- 
halb ihres engbegrenzten Aſyls ſich ergehen zu Dürfen, 
und ich ihr dieſen billigen Wunſch abfchlagen mußte.” 

„Nun, die Zeit der Prüfung ift vorüber, trö- 
ftete Wertheim, „Eugenie kann wenigftens in unfere- 
fleine ftille Familienwelt zurückkehren.“ 

Dei Bibliothefar ſchien noch etwas auf dem Her— 
zen zu haben, das er Wertheim zu vertrauen wünjchte, 
er hatte immer gezögert. Endlich ergriff er die Hand 
des Schloßherrn. 

„Roh eins, edler Herr,” ſprach er nit ohne 
Bellommenbeit, „muß ich Euch vertrauen. Es war 
noch ein zweiter Grund vorhanden, der mich beftimmte, 
Eugenien unter meine jpecielle Aufficht zu ftellen, das 


431 


Mädchen litt nämlich feit einiger Zeit am Somnam— 
bulismus. Meiner Kur und Pflege ift es jet, Gott 
ſei Dank, gelungen, dieſes Uebel zu heilen, Seit 
dem letten Vollinond, wo fie zum letzten Male ihre - 
nächtliche Wanderung antrat, haben mir nichts mehr 
zu befürchten,‘ | 

Wertheim horchte hoch auf. 

„Wie,“ rief er, „jo Hatte Freund Eginhard doch 
recht geſehen, als er uns von der Geiſtererſcheinung 
auf den Zinnen des alten Schloſſes erzählte? Er hat 
uns lange genug damit ‚in den Ohren gelegen, aber 
da er fortwährend nur von der Roſe von Segovia 
ſprach, glaubten wir, daß ihm feine aufgeregte Phan- 
tafie einen Streich gefpielt habe. So erflärt ji ja 
Alles natürlich.” 

„Es giebt ja feine Wunder,” antwortete Bafilico, . 
„als die Wunder Gottes, die wir täglih an jedem 
feiner Gejchöpfe wahrnehmen fönnen, ohne daß wir 
uns in. das phantaftifche Gebiet ber Geſpenſter zu 
verſteigen brauchen. Für diesmal aber, edler Herr,“ 
fügte er bittend hinzu, „wäre mein Wunſch, daß jene 
nächtliche Erſcheinung die Roſe von Segovia verblei— 
ben möchte. Eugenie weiß ſelbſt nichts von ihrem 
Traumwandeln, und es könnte wenigſtens jetzt von 
ſchädlicher Einwirkung ſein, wenn ſie davon erführe. 
Möge das Geheimniß unter uns Beiden verbleiben, 
und erſt ſpäter, wenn keine Gefahr mehr vorhanden, 
veröffentlicht werden, und mit der Wahrheit die letzte 
Spur der wunderbaren „Roſe von Segovia“ ver— 
ſchwinden.“ 

„Freund Eginhard,“ lächelte Wertheim, „wird 
uns dafür allerdings wenig Dank wiſſen, aber es 
kann ihm nur von Nutzen ſein, wenn er ſieht, wie 
ſich Alles natürlich auflöſt.“ 9x 


‚432. 


Johannes und Eugenie famen jeßt den Gang da— 
‚ber. Es mar ein wunberfhönes Paar. In ihren 
Blicken leuchtete die Verklärung der erften Liebe. 

Signor Bafilico war von jegt an durchaus nicht 
ber menfchenjcheue, wortfarge Dann mehr; im Ge— 
gentheil war er recht heiter und fogar froh gelaunt. 

Er führte Werthein und Johannes durch feine 
ſchöne Blumenwelt, erflärend und belehrend als gründ- 
licher Botaniker und tiefer Kenner der Natur. 

Auh Eugenie, die geiftreihe Schülerin ihres 
Oheims, war nicht unbewandert in der Blumenfunde, 
and Iohannes hatte in feinem Leben noch fein jo 
himmliſches Collegium gehört, als hier im arten 
des Bibliothefard von den Lippen des geliebten Mäd— 
hend. 
| Sie ftanden eben bei einer blühenden Aloe und 
ſchauten mit ſtummer Bewunderung in das glühende 
Tarbenmeer der Niefenblume, als eine Stimme, wie 
aus ven Wolken herab, rief: 

„Dreiundſiebzigſter Beweis, daß Buchenfels von 
den Sorben erbaut, fpäterhin von den Deutjchen er- 
obert, wieder verloren, und abermals erobert wor= 
den. Hier dieſe echt ſlaviſche Streitart ift der drei— 
undfiebzigfte Beweiß und überdies ein höchſt ſchla— 
gender.” 

Es war Eginhard, welcher, feit fih die Pforten 
des geheimnißvollen Schlofjes geöffnet, wie eine Maus 
in allen Gemächern und Winkeln des uralten Gebäu- 
des umherfuhr und nad Antiquitäten ſuchte. Sein 
Kopf gute ganz oben am Giebel des Schloſſes wohl- 
gemuth heraus und ſchwang in ver Rechten triumphi- 
rend eine alte Streitart. 

„Es unterliegt gar feinem Zweifel,” docirte er 
herunter, „daß dieſe brave Waffe feine acht hundert 


133 


Jährchen auf ten Rüden hat. Ic möchte willen, 
wen fie alles auf den Kopf getippt hat. Wo die an- 
pochte, wuchs fein Gras wierer. Uebrigens ift es 
febr betrübend, daß ich troß aller Nahforfchungen 
nicht herausbekommen habe, ob vie heutigen Schloß⸗ 
befiger von den Sorben abftammen oder ob es echte 
Germanen find. Paulinen’3 blonde Haare beweifen 
gar nichts. Alle deutſchen Hiftorifer ſtimmen über- 
ein, daß wir in dieſem Punkte in völliger Duntel- 
heit tappen. Setbft bei manchen erlauchten und ur⸗ 
alten deutſchen Fürftenfamilien, wie zum Beifpiel bei 
dem Haufe Wettin weiß man nicht, ob es rein ger: 
manifher Abkunft if. Bei uns nichtfürftlichen Per- 
fonen ift die Sache noch weit ſchwieriger. Das macht 
wir vielen Kummer. Ich münfchte, ich wär’ in Fran— 
fen oder wenigftens in Thüringen geboren, da wüßt' 
ih Doch, woran id wär’; jo werte ich in Ungewiß- 
beit tappen und mid) fchließlich zeitlebens in's Grab 
legen, ohne zu willen, ob idy mid als Elave ober 
Germane hineinlege.“ 

Johannes und Eugenie achteten nicht viel auf die 
antiquariſchen und genealogiſchen Lamentationen Egin— 
hard's und wandelten ſtill ſelig die Blumenbeete ent- 
lang. Bald traten auch Albert und Bodo, Marie 
und Pauline in den Garten. Die zwei Märchen eil- 
ten ſogleich auf tie Schöne Eugente zu, und umarm- 
ten fie mit ſchweſterlicher Yiebe. 

Johannes hatte jetst im Geringften nichts mehr 
gegen Bodo's und Marien's Yiebe einzuwenden; ja 
er fah es ſogar nicht ungern, daß fid) Albert für 
Baulinen intereffirte; er war felbft zu glüdlid durch 
den Beſitz Eugenien's, als dag er andern nicht ein 
gleiches Glück hätte gönnen fellen. 


134 


16. 


Johannes faß am Fenſter und zeichnete Das herr- 
liche Vandſchaftsbild, das von einem Nachmittagsge- 
witter koſtbar erfrifcht, in aller Anmuth wor ihm aus= 
gebreitet lag. Eginhard ging mit vperfchränften Ar— 
men und fehnellen Schritten in dem geräumigen Zim— 
ner auf und ab. 

„Da haben wir bie Beſcheerung, “ſprach er” in 
abgebrechenen Sätzeu, „nun find wir total aus dem 
Felde geſchlagen. Schöne Geichichten. Der Bodo 
und Deine Coufine Nummer Eins find jo gut wie 
DBrant und Bräutigam, und bereits pouffirt der Al- 
bert den Paul nach Herzensluft. Die Galle möcht' 
einem in's Blut treten, wenn man dieſe Paarſchaften 
mit anfieht. Du haft wenigftend die Roſe von Ge: 
govia; unter uns, ich beneide Dich nicht, aber - ich, 
was bleibt mir? 5? 

„Ward mir denn fein Herz gegeben, 
Bin ih nicht auh Mädchen gut; 
Immer ohne Liebe leben 
Wäre wahrlih Höllengluth. 

„Es ist zum Verzweifeln! Während id) mid) ab— 
mühe und die Wiffenfchaft bereichere durch Auffinden 
ver feltenften antiquariihen Schäte, während ich mie 
ein Bergmann arbeite in den Schadhten des verwünſch- 
ten alten Schloſſes, von Boden zu Boden fteige wie 
eine Fahrmaus, verliebt fid’8 unter mir, daß es einem 
grün und blau vor den Augen wird. 

„Aber ich weiß, was ih thus,” ſprach er ſich 
ſelbſt tröſtend, „ich werfe meinen Gnadenblick auf vie 
arme verlaffene Camilla, des Paſtors Tüchterlein. Tas 
ift ein himmliſches Kind. Ich habe mid) geftern char- 


435 


mant nit ihr unterhalten. Die liebe ich und beis 
rathe ih, oder feine auf ter ganzen Welt. Cie tt 
mir zehn Mal lieber als Teine überirdiſche Roſe von 
Segovia oder Eugenia, oder wie fie getauft iſt; ich 
glaube übrigens gar nit, daß fie getauft iſt, fie 
ſtammt ja von den Muſelmännern ab, vie taufen die 
Leute nicht; ward geberen ver Gott weiß wie viel 
Jahrhunderten und ift dermalen ein eilt; zwar 
hübſch, Geihmad muß man Tir laſſen, aber man 
fieht ihr das Geifterbafte gleih an. Ta lob’ ih mir 
Camilla, mit der weiß ib, woran ich bin, die ward 
geboren vor fiebzehn Jahren, im Kirchenbuche ſteht's 
ſchwarz auf weiß, von leiblichen, chriſtlichen und got: 
tesfürchtigen Eltern, hat Fleiſch und Blut wie alle 
bübfchen irdiſchen Mädchen und läuft nicht Des Nachts 
auf den Dächern umber, ſondern bleibt rubig in ihrem 
Bette.” 

„Schweig mit Teinen Abgejhmadtheiten, ſprach 
Johannes ziemlich ärgerlich, „und mach' Dich mit 
Deiner Geiſterſeherei nicht noch lächerlicher, als es 
ſchon der Fall iſt.“ 

„Geiſterſeherei? Gleichviel,“ entgegnete Eginhard, 
„was ich geſehen habe, hab' ich geſehen, aber ſtaarblind 
bin ich, Gott ſei Dank, noch nicht, und das alte 
Schloß kann id im hellen Mondſchein auch noch er= 
kennen, und auch den, der darauf umhermarſchirt. 
Und daß es die Roſe von Segovia war mit ſammt 
ihrem aſchgrauen Herrn Onkel; wenn ich Alles jo ge- 
nau wüßte, wär's gut.“ Johannes antwortete gar 
nicht mehr. 

Eginhard fuhr brummend fort: 

„Dieſe Roſe von Segovia möcht' ich nicht zur 
Frau haben, und wenn man mir ſonſt was böte. 
Was nützt mir denn eine Frau, die allnächtig ſechs 


136 


Sagen hoch zum Dachfenſter hinausſteigt mit allen 
Schornſteinen und Geiſtern, und nur nicht mit ihrem 
Ehegemahl converſirt. Behüte mich der Himmel, ein 
ordentlich gebornes Mädchen heirathe ich, das nicht 
in die Jahrhunderte hineinlebt, ſondern wenn ihr 
Stündlein gekommen iſt, fich hinlegt und hübſch zu 
Aſche wird, wie ſich's gebührt. Darum paßt Camilla 
ganz herrlich für mich; ich glaube, daß fie diefe herr— 
lichen Eigenſchaften beſitzt. Ich werde von nun an 
die antiquariſchen Unterſuchungen einſtweilen auf ſich 
beruhen laſſen, mich mehr concentriren und ihr den 
Hof mit Syſtem machen. Ich werde dieſe herrliche 
Perle erobern und alsdann weit eher zu beneiden ſein 
als Du mit Deinem ſchwarzlockigen Mameluckenkinde.“ 


17. 


Das Ende der Ferienzeit war herangenaht; Al— 
bert und Bodo bereits vor längerer Zeit nach ihren 
Gütern abgereiſt; doch kamen ſie oft nach Buchenfels 
zum Beſuch. Das zärtliche Verhältniß des erſtern 
zu Marien, des letztern zu Paulinen, ſchien immer 
unauflöslicher zır werden. Johannes lebte wie im 
Himmel an der Seite feiner angebeteten Eugenie; 
und Eginhard, feinem Vorſatze getreu, hatte ſich ent- 
ſchieden in Camilla verliebt. 

Es war am Tage der Himmelfahrt, als man das 
Abſchiedsfeſt gefeiert; denn die ſchon mehrmal verfcho- 
bene Abreife der Mufenföhne war für den folgenden 
Tag auf das Entſchiedenſte feftgejegt worden. Der 
Abend war wunderſchön, die Schöpfung ftand in reich— 
fter Pradht des Frühlinge. Schon flug das Korn 
grüne Wellen, die Kaftanien blühten, bie weißen 


437 


Akazien leuchteten, und in ven YBufen ter Rofen 
feimte ver erſte Purpurblick der Liebe. 

Johannes ftand im ftummen Entzäden auf dem 
Balkone des Schloffes, und überfhaute das frühlings- 
volle Panorama. Eginhard trat zu ihm und ſprach 
im dumpfen Tone: 

„Heute haben wir Himmelfahrt und morgen Höl- 
lenfahrt. Hand, ih ſchwöre e8 Dir bei allen Göt- 
tern: ter Ober- und Unterwelt, daß ih den Katzen⸗ 
jammer nad vdiefem Himmelsleben nicht überlebe. 
Uebrigens“ fette er zu feinem Trofte hinzu, „daß ich 
mich "von jest wie ein böfer Feind auf mein Brot⸗ 
flubium, die edle Theologiam ftürze, und alle Allo- 
tria vor der Hand dahin geftellt fein laffe, damit ich 
e8 bald zu. etwas Neellem bringe, Amt und Würbe 
erhalte. und meine bimmelsgute und jchöne Camilla 
heimführen kann als trautes Eheweib, ift auch gewiß.” 

Johannes lobte den Entſchluß und verfpradh ein 
Gleiches. 

„Wer den Shaß im Herzen trägt,” fuhr Egin- 
hard fort, „wird nidht verfumpfen in der todten Dog- 
matik und unerquidlichen Kirchengeſchichte. Es bleibt 
dabei, ich beftelle mir einen längern Rod und werde 
Philiſter.“ 

„Aber nur im akademiſchen Sinne,“ fiel Johannes 
nicht ohne Wärme ein, „dem Philiſter im Leben ein 
donnerndes Pereat.“ 

„Ja wohl,“ rief Eginhard, 

„Pereant die Philiſter, 
Ihre Gevattern und ihre Geſchwiſter, 
Die Luckſer und Mucſer und Pfennigfuchſer, 
Die Mucker und Achſelzucker, 
Die Agio- und Taxendrucker, 
Die Linſenwähler und Zinſenzähler, 
Die Couponsſchneider und Hungerleider; 


4138 


Pereant die Philifter, 
Ihre Gevattern und ihre Geſchwiſter! 

„Diele meinft Du doch?“ 

„Allerdings, antwortete Johannes, „Das aller- 
liebſte Philifterpereat ift übrigens nicht von Deiner 
Weisheit, jondern vdm Hoffmann von Tallersleben, 
der e8 einmal bei einer feftlichen Gelegenheit als Toaſt 
ausbrachte.“ 

„Gab's auch nicht als von mir aus,“ ſprach 
Eginhard, machte aber einen ehrfurchtsvollen Sprung 
zur Rechten, denn ſo eben trat Eugenie auf den Bal— 
fon und, lud mit bezaubernder Freundlichkeit die bei— 
ben Jünglinge zur Abendmahlzeit. 

„Das iſt wahr,” meinte Eginhard, als ſich Eu— 
genie wieder entfernt hatte, „ſie iſt überirdiſch ſchön. 
Uuter ver kalten deutſchen Sonne, glaub’ ih, kann 
ein ſolches Mädchen gar nicht geboren werven. Wenn 
Du der Camilla nichts verräthft, will ih Dir ein 
Gedicht mittheilen, das ich auf Deine Schöne in ho- 
hem poetifchen Erguſſe gedichtet habe.” 

„Auf Eugenien?” fragte Johannes lächelnd. 

„Auf Niemand anderes,” war die Antwort; „per. 
Frauen Schönheit muß man huldigen, wo man fie 
findet. Wart’ ein wenig, id) habe vie Verſe bei’mir.“ 
„Ein ander Mal,” ſprach Johannes und wollte den 
Balkon verlafien. Eginhard hielt ihn aber am Arme 
feft und beclamirte: 


„Du Wunderbild aus einem ſel'gen Traum, 
Wie ihn ein ſel'ger Gott geträumt: 
Du Srühlingsgruß aus einer Frühlingswelt, 
Wie ge nur über Sternen feimt; 
Du Mollaccord der großen Götterharfe, 
Du hobes Lied, das die Gewißheit fingt 
Bon einem Engellanbe drüben; 
Du Oelblatttaube, Die ung Nachricht bringt, 


139 


Daß wir dort finden Alles was wir lieben; 

Tu Kronjumel, das einft in fel'ger Stunde 

Der Himmel uns verpfändete zum Bunde; 

Du Blumenurbild alles ird ſchen Schönen, 

Du Meifterjtüd, das Schöpfungswert au krönen! — 
Bergebens jucht die kühne Pbantaſie 

Nah Sternen, Blumen, Perlen, Bildern, 

Ein Göttertraum, wie Du, ift nie 

Bon einem Eterblihen zu ſchildern.“ 


„Recht brav,” lobte Iohannes, „wenn aud etwas 
überfhwenglid, und eilte voran. 

„un wird er bald einfehen,“ fagte Eginhard für 
fih, „daß ich allenfalld auch meinen Vers zu Stande 
bringe, wenn ich mir die Sache einigermaßen angele- 
gen fein laſſe. Uebrigens, trog allem dieſen poeti= 
fhen Summſumm, möcht’ ich die Roſe von Segovia 
nicht zur rau. Die Dahpromenaden kann ich bei 
aller bezaubernden Schönheit nicht vergefjen.‘ 

Er folgte den Johannes nad dent Speiſeſaal. 

Zum legten Male ſaßen heut die Freunde und 
Freundinnen beifammen in dem befannten freundlichen 
Lokale, wo fie in den fchönen Frühlingstagen fo viele 


“ frohe Stunden verlebt hatten. Auch Albert und Bodo 


waren angelangt zum Abfchiensmahle. 

Der Bibliothefar, welhen Alle, mit Ausnahme 
Eginhard's, der ihn auf vem Dache gejehen und 
darum nicht traute, wahrhaft lieb gewonnen hatten, 
fehlte jetzt neſbſt Eugenien nie mehr an Wertheim’s 
: Tafel und unterhielt die Geſellſchaft durch ſeine emi- 
nente Belefenheit, vie bei ihm nicht todtes Willen 
war, auf das Angenehniite. 

Den vier Mädchen, auch Camilla befand jih an 
der Tafel, war aber diesmal keineswegs fehr freudig. 
zu Muthe. Sie gedachten der Einſamkeit auf Bu— 


140 


chenfels, wenn die Yünglinge abgereift fein würden 
und jagten dies laut. 

Dem Johannes und Eginhard lag der Abſchied 
nicht minder ſchwer auf der Bruft. 

„Wenn das gelehrte Net,” ſprachLetzterer, „ic 
meine unſre Akademie, nur nicht fo gar weit von 
Buchenfels entfernt läge, da fönnten wir unter ber 
Hand einen Abftecher riskiren; aber drei Tageteifen iſt 
kein Spaß.“ 

„Hätten wir Eifenbahnen, wie in England, “ ſprach 
Johannes, „ſo wär's ein ſolcher.“ 

„Ein abermaliger Beweis,“ meinte Eginhard, „daß 
des großen Kaiſers Untergang ein Weltunglüd war. 
Lebte der noch, führen wir längſt mit Eifen und 
Dampf. Uebrigens iſt's fo auch gut. Iſt Europa 
mit Eifenbahnen überfponnen, hat alle Entfernung 
und damit alle Poefie ihr Ende. Ich lobe mir bie 
alten guten Poftwagen des heiligen vömifch= deutfchen 
Reichs. Wenn da ein Familienvater von Hannover 
nach Göttingen reifte oder von Dresden nad) Leipzig, 
machte er vorher fein unumftoßbares Teſtament, nahm⸗ 
Abſchied von ſeiner lieben Familie, als ging's direct 
nach Beſſarabien oder nach Tombuktu. Da gab's 
noch Poeſie und Straßenräuber.“ 

„Da bin ich andrer Meinung,“ gegenredete Jo— 
hannes, „und derſelben ſind die trefflichſten Dichter 
unſrer Zeit. Wie poetiſch beſingt ver herrliche Ana— 
ſtaſius Grün die Eiſenbahnen. Der findet keine Proſa, 
ſondern hohe Poeſie in dieſer weltgeſchichtlichen Er⸗ 
findung und noch vor Kurzem las id in ben Ges 
Dichten des genialen Magyarenfindes Karl Bed bie 
eben jo wahren als ſchönen Berfe: 


„Eiſen du bift zahm geworben ; 
Sonft gemohnt, mit wilden Dröhnen 


Ak 


Hinzumwettern, hinzumorden — 
Ließeſt endlich Dich verſöhnen! 
Magſt nicht mehr dem Tode dienen, 
Liebſt am Leben feſt zu bangen, 
Und auf deinen ſpröden Schienen 
Wird ein Hochzeitfeſt begangen. 


„Hört Ihr donnern bie Karoſſen? 
Deutſche Länder ſitzen drinnen, 
Halten brünſtig ſich umſchloſſen, 
Wie fie koſen! Wie fie minnen! 
Und des Glödleins helles Klingen 
Sagt uns, daß die Paare kamen 
Und die Woltenpfaffen fingen 
Drauf ein donnernd dDumpfes Amen. 


„Raſend rauchen rings die Räder, 
Rollend, grollend, ſtürmiſch braufent, 
Tief im innerften Geäder ’ 
Kämpft der Zeitgeift freiheitsbrauſend 
Stemmen Steine ſich entgegen, 

Reibt er fie zu Staub zulammen, 
Semen Fluch und feinen Segen 
Speit er aus in Raub und Flammen.‘ 


„sit das derſelbe Karl Bed, fragte Eginhard 
begeiftert, „welcher fingt: 


„Da liegt vor mir die Bibel aufgeichlagen, 
Bon bellen Thränen wird mein Aug’ erhellt, 
Daß fih der Menſch jo lang, fo lang getragen 
Mit Trümmern einer längft gejuntnen Welt. 


„Wie fih die Bilder wild und düſter treiben 
Dur mein Gewitter ſchwüles, trübes Haupt; 
Sa, eine neue Bibel will ich fchreiben, 

An die ein zweifelndes Jahrhundert glaubt. 


- „Ein großes’ Kreuz erhebe fih auf Erden, 
Ein Kreuz, wohin der Jude gläubig zieht, 
Ein Kreuz, woran die Heiden felig werben, 
Bor dem der Teufel jelber nicht entflieht. 


„Verſchloſſen liegt das Wort im Schrein der Xippe, 
Bis daß fich’8 ringe zu der That hinauf; 


142 


So rubte ftill das Kinblein in der Krippe, 
Und göttlich Welt erlöfend wacht es auf. 


„Ein präcdtiger Kerl,” fuhr Eginhard fort, „nun 
fol mir ein Philifter jagen, daß unfre Zeit nicht 
auch ihre trefflihen Lyriker hat. Anaftafius, Zed— 


u ig, Freiligrath, Lenau, Moſen, welch reicher Ster- 


nenhimmel. Julius Moſen abſonderlich iſt mein Pieb- 
ling. Der kommt mir gleich nach Heine, und ſeine 
Gedichtſammlung unmittelbar nach dem Buche der 
Lieder. Moſen's Lieder ſind Magnetſteine, die man 
nicht ſowohl auf der Bruſt als in der Bruſt tragen 
ſoll, um von ihrer wunderthätigen Kraft allgewaltig 
überzeugt zu werden. Moſen's Muſe iſt ein wunder: 
ſchönes Waldmädchen mit dunkeln blitzenden Augen 
und gottberedtem Munde. Der Quell ihrer Lieder iſt 
ein Geſundbrunnen im hohen Gebirg, wo er ſich an— 
fangs wild und donnernd herabſtürzt, im tiefen. 
Grunde umfchatteter Thäler. fließt, fpäter aber her— 
vorkommt aus der Waldnacht, durch Wiefen und Blu- 
men filberflar dahinrieſelt, mit herabnidenden Ver— 
gifgmeinnichten und blauen Schlüffelblumen foft, und 
wunberfüße, zartgoldne Mährchen erzählt aus feiner 
Waldeinſamkeit. Kann e8 wohl ein zarteres, hinge- 
hauchteres Liedchen geben, als die drei Verſe: Ä 


„Das Neh gudt an die Kleinen, 
Die ſchliefen Die ganze Nacht, 
Ich habe bei den Meinen 
Den ganzen Schlaf verwacht. 
„Die Weinreb’ hat die Ohren 
Zum Fenfter ’rein gethan, 
Sie hat fein Wort verloren, 
Sie fing zu blühen an. 
„Der Mond wollt’ endlich jcheiden, - 
Weiß nicht, wie mir geſcheh'n — 


⸗ 


143 


Den Blumen und uns Beiden 
Voll Waſſer die Augen ſteh'n. 


„Selbſt bei Heine und Goethe iſt mir ſolche 
Zartheit nicht vorgekommen. Ferner das herrliche 
Frühlingslied: 

„O, Apfelbaum, was iſt es wohl mit dir? 
Wo willſt du noch mit allen Blüthen hin? 
Ser Apfelbaum, wo ftehet hin bein Sinn? 

{lift tu dich denn in dieſen rothen Gluthen 
Pit einem Male ganz und gar verbluten? 


„In Blüthenwogen brauft ein Bienenſchwarm, 
ae Engeldho sgelang in meiner Bruft; 
fteht der Baum und finnt mit ftiller Luft, 
“ it er wieder in fo jel’gen Stunden 
Sein Heimathland, das Paradies, gefunden. 

„Run muß man wieder den Dichter hören in 
feinen Schwert: und Kriegsliedern. Welche Kraft 
und welde Flammen: in feinen einfachen, körnigen 
Boltshiever, fein Andreas Hofer, jein Tambour von 


" Namur, fein Trompeter an ber Katzbach. Wie ge 


fagt, in meiner Liebe fteht er als Lyriker unmittel= 
bar neben Heine, was viel jagen will, denn ver Ver— 
faffeer ver Reifebilder kann feinen enthufiaftifchern 
Berehrer finten, ald meine Wenigkeit. Moſen's per- 
fünlihe Bekanntſchaft hab’ ich bereitd vor mehrern 
Iahren gemacht. Als ic, ihn im vorigen Winter in 
Dresden, wo er als Advokat practicirt, beſuchte, 
machten wir häufige Spaziergänge in die Umgegend. 
Auf einem verfelben theilte er mir eine wunderjchöne 
Anefoote von Marſchall Ney mit. Ich bearbeitete fie 
als Gedicht, und da fie Moſen für nicht mißlungen 
erflärte, habe icy fie abdrucken laſſen.“ 

„Dom Marſchall Ney,” rief Wertheim, „vem Für— 
jten von der Moskwa, dem Bravſten der Braven, 


100 


amice! Heraus damit! 


444 


Eginhard ließ ſich nicht lange nöthigen und de— 
klamirte: 
„In dem Kerker Lavalette's, 
Wo hinab kein Sonnſtrahl fiel, 
Tönte oft in ſtillen Stunden 
Wunderbar ein Flötenſpiel. 


„War's doch Ney, der Fürſt der Moskwa, 
Dort im oberen Gemach, 
Der gefangen, ruhig=beiter 
So mit feiner Flöte ſprach. 


„Und nen alten, alten Walzer 
Aus dem grünen Deutichland ber, 
Herzgewinnend, herzbezwingend, 
Diefen liebt er gar zu ehr. 


„Und er fpielt ihn immer wieder, 
Wenn er dort am Fenſter faß, 
Bis auch Lavalette nicht wieder 
Diejes holde Stüd vergaß. 


„Stunden rannen, Tage gingen, 
Immer zur gewohnten Zeit 
Tönt der Walzer, wird durch biefen 
Lavalette’8 Herz erfreut. 


„War in feiner dunkeln Zelle 
Diefer liebe Freubensgruß, 
In den einfamreihen Stunden 
Ya der einzige Genuß. 


„Aber horch, welch feltfam Schweigen, 
Welche Stille, dumpf' und ſchwer; 
Iſt die Stunde doch gekommen — 
Und der Walzer — tönt nicht mehr. 


„Und es klirrt die Kerferpforte, 
Und der Wärter tritt berein, 
Und e8 fragt ber Freund erbleichend, 
Was muß mit dem Marichall fein? 


„„Marſchall Ney wird nicht mehr fpieleu 
Mit der Flöte in ber Hand, 
Bon ſechs Kugeln wohl getroffen 
Stürzt’ er heute in den Sand.‘ 


Ak 


„Da bricht dem getreuen Freunde 
Schmerzlih das getreue Herz, 
Und des Flötenipieles Schweigen 
Mehret nur den tiefen Schmerz. 


„Und er ruft nach bumpfem Schmerze: 
So verblieb mir nichts von Dir, 
Als der alte deutſche Walzer, 
O er ſei geheiligt mir. 


„Aber feltfam ob er finnet, 
Ob er finnt mit vieler Müh — 
Ausgelöfchet bleibt für immer 
Ihm bie Walzermelobie. 


„Jahre find dahin gegangen, 
| Lang ſchon weilt im freien Land, 
' In Amerika's Gefilden 
E Lavalette geehrt, befannt. 


„Und er kommt zu deutſchen Leuten, 
Eine Kirhweih feiern fie — 

och, zum Tanze um bie Linde 

önt 'ne Walzermelobie. 


„Und er bleibt betroffen fteben, 
Lauſcht und laufchet, Kumt und ſinnt; 
Und e8 wird ihm feltiam belle, 

Zeit und Gegenwart verrinnt. 


.. em,‘ Pan 


„Und die hellen Thränen perlen, 
's wird ihm, wie er nie gefühlt — 
Ya, es ift der alte Walzer, 

Den im Kerker Ney geipielt. 


„Und die erften Thränen weint er 
Sn dem fernen freien Land, 
Wo er feines Freundes Stimme, 
Seinen Walzer wiederfand.” 


„richt übel,“ vecenfirte Iohannes, als Eginhard 
peenvet hatte, „doch würde das Gedicht gewonnen 
Stolle, fämmtl. Schriften. XVI. 10 


1&6 


haben, wenn der Name des Flötenjpielers im Anfang 
nicht genannt wäre. Die Spannung des Xejerd oder 
Zuhörerd würde erhöht und die Wirkung ergreifender 
geweſen fein.” 

„Iſt denn die Geſchichte wahr?“ fragte Pauline, 

„Wenigſtens wird fie dafür gehalten,” ſprach 
Eginhard; „Doch ift die Wahrheit in folden Din 
gen nicht die Hauptjahe, wenn nur die „bee ans 
ſprechend ift.“ 

„Das Gedicht können Sie mir auch da laſſen,“ 
bat Wertheim. 

„Es kann nur ſchmeichelhaft für mich ſein,“ e er⸗ 
wiederte lächelnd der Verfaſſer. 

„Ich hab' überhaupt,“ fuhr Wertheim fort, „durch 
den Beſuch der Muſenſöhne einen wahren Schatz von 
Gedichten erhalten, die mich ſämmtlich innig anſpre— 
chen. Ich könnte einen Muſenalmanach herausgeben. 
Uebrigens bitt' ich mir aus, daß der alte Onkel auch 
künftig in dieſem Punkte nicht vergeſſen bleibt. Wenn 
etwas Hübſches erſcheint, daß ich's bekomme. Ihr 
kennt ja beiderſeitig meinen Geſchmack.“ 

Johannes und Eginhard verſprachen, dem wackern 
Gaſtfreunde alle wichtige Erſcheinungen im Gebiete 
der neueſten metriſchen Poeſie getreulich mitzutheilen. 

„Ueberhaupt,“ bemerkte Eginhard, „iſt es eine 
Hauptſache, hübſch in Correſpondenz mit einander zu 
verbleiben; an mir wenigſtens ſoll's nicht fehlen.“ 

Man verſprach ſich, unter einander regelmäßig in 
Briefwechſel zu treten. 

Man blieb dieſen letzten Abend noch lange bei 
einander. Eugenie, welche eine wunderſchöne Stimme 
beſaß, trug mehre reizende Lieder unter Pianoforte⸗ 
begleitung vor. Nie hatten die Freunde die Goethe’= 
chen Lieder, in Mufif gefett von Reichard, fo be- 


147 


zaubernd gefunven, als viefen Abend. Den Preis 
aber trugen die zwei Verſe von Heine davon: 


„Ein Fichtenbaum ftebt einfam 
Im Norden auf kalter Höh'; 
Ihn fchläfert, mit weißer Dede 
Umbüllen ihn Eis und Schnee. 


„Er träumt von einer Palme, 
Die fern im Morgenland 
Einfam und fchweigend tranert 
Auf brennender Felſenwand. 


„Das ift in ter That das Lied aller Yieder,“ 
rief Eginhard begeiftert, „und wenn der göttliche 
Heine feine Silbe weiter gefchrieben hätte, als viele 
acht Zeilen, wär’ er darum einer der größten Dichter.” 

„Auch Kotzebue's ſchönes Geſellſchaftslied: „Es 
kann ja nicht immer fo bleiben ꝛc.“ ward im Chore 
gefungen. 

„sh kann's dem fantaftifhen, exaltirten Sand 
mein Leben lang nicht vergeflen,” ſprach Eginhard, als 
man zu Ende war, „daß er den guten Kogebue todt⸗ 
geftochen bat; ſei es auch nur des herrlichen Liedes 
wegen, das wir fo eben gejungen haben. Ich mag 
den Kotzebue nicht in allen Dingen in Schuß neh— 
men, aber wer ein jolches Lied dichten fonnte, ift 
fiber fein böfer Menſch geweſen. Ich laſſe mir das 
nicht nehmen.“ 

Auch Wertheim ftimmte ihm hierin bei. 

„Es war der unluftigfte Streid,“ fuhr exfterer 
fort, „unfern beften Luſtſpieldichter todt zu ftechen; und 
ih kann dem todten Etatsrath nicht gram fein, was 
‚man ihm aud) Alles hat zur Laſt gelegt. Ich ver— 
danke ihm mein Leben kang zu viel heitre Stunden 
und frohe Theaterabende. Wenn er ja a ver⸗ 

1 


\ 


148 


dient bat, jo hat er ihn einzig deshalb verbient, 
weil er den Napoleon lächerlich gemacht hat.“ 

„Mir aus der Seele geſprochen,“ fiel Wertheim 
ein; „aber der Todte würde jeßt, wo die Leivenfchaft 
verraudht ift, auch anders fingen und fagen.“ 

Wertheim und Eginhard waren wieder auf ihr 
Lieblingsthema auf den großen Kaifer gefommen, wäh- 
vend ſich die übrige Gefellfhaft in Paare abgefondert 
hatte. Camilla hörte voller Andacht den Apotheofen 
zu, die Eginhard zur Berherrlihung Napoleon’d zum 
Beiten gab. 

Sp kam Mitternadht heran, bevor fich die Geſell⸗ 
[haft trennte. Der lebte Zoaft galt einem einftigen 
rohen Wiederfehen. Alle Gläſer Elangen wie Glocken 
an einander und der Feuerwächter verfündete die zmölfte 
Stunde. 


17. 


Die ganze Familie Wertheim, Signor Bafılico 
und Eugenie, jo wie Albert und Bodo, hatten den. 
zwei Mufenfühnen das Geleit gegeben bis zum Gaft- 
haus, das den Namen „Schönbrunnen” führte, und 
ungefähr anderthalb Stunden von Buchenfeld gelegen 
war. Der Morgen war wunderfchön, die Lerchen 
jubelten, Wald und Fluren dufteten erquidend; nur , 
in den Herzen der Abſchiednehmenden jah es nicht 
heiter aus. Manches Thränlein ftand in den Augen 
der Mädchen, felbft der alte Wertheim mußte fich vie 
Augen trodnen, als der herbe Augenblid ver Tren— 
nung gelommen war. Johannes und Eginhard ſtell— 
ten fid) gefeßter, als fie waren. 

„Lebt wohl, ihr Lieben alle,“ rief Eginhard mit 
bewegter Stimme, drückte nochmals Allen die Hand, 
„ohne Trennung fein Wiederſehen!“ 


169 


Ald er Wertheim die Hand reichte, band er die⸗— 
fem wieverhelt auf die Seele, das alte Frankenſchwert, 
welches er im Thurme gefunden, ja mit nächfter Ges 
legenheit und wohlverwahrt nachzuͤſenden. 

Johannes ſchaute noch einmal in Eugenien’3 blu- 
menhafte Augen, bauchte den Abſchiedskuß auf vie 
ſchöne weiße Hand, welche zitternd in der feinen rubte, 
und fortwanderten die Jünglinge, während die’ Zu— 
rücbleibenden lange nachſchauten, bis die Wanderer 
hinter den wogenvden Korm= und Weizenfluren ver- 
ſchwnnden waren. Dann kehrten auch fie langſam 
und wortlarg nad Buchenfeld zurüd. 

- Die beiden Freunde wanderten eine geraume Zeit 
ſchweigend neben einander. Jeder war in feine Ge⸗ 
danken und Träume verfunfen. Als fie eine Anhöhe 
erreicht hatten, blieben fie ftehen und jchauten lange 
auf das Frühlingsthal zurüd, wo fie gewiß bie fchön- 

ſten Stunden ihres Lebens verlebt hatten. 
| Johannes breitete fehnend feine Arme nad) der 
theuern Gegend aus. Noch Tonnte man das liebe 
Buchenfeld in einiger Entfernung deutlich erkennen. 

„Srühling und Liebe,” rief er, „wie reich habt 
ihr uns in diefem Thale mit euern duftendſten Roſen 
befrängt.“ 

„sa, Srühling und Liebe,” feufzte Eginhard, „und 
nun heißt's Pandekten und Prozeß, und bei mir, 
Eregefe und Kirchenväter. in erbauliches Quiproquo. 
Aber was nicht zu ändern ift, tft nicht zu ändern. 
Post nubila Phoebus; per aspera ad astera.“ 

Auch er ftredte die Arme über die blühende Ge— 

gend und ſprach: 


„Lebt wohl, ihr Berge, ihr geliebten ZTriften, 
Ihr traulich ftillen Thäler, lebet wohl.‘ 


450 


Und immer weiter. ging die Reife durch binhende 
Alleen und wogende Getreidefluren. 

Johannes war ſehr weich geſtimmt. 

„Willſt Du mein letztes Lied hören,“ fragte er 
den dahin ſchreitenden Eginhard, „das ich im lieben 
Buchenthal gedichtet habe?“ 

„3a wohl, mein Haus,” ſprach ter nicht weniger 
fentimentaf geſtimmte Freund, „es ſoll mich ſtärken, 
wie Manna in der Wüſte. Kommt etwa bie‘ Role 
von Segevia darin vor?” 

„Es iſt ein bloßes Frühlingslied,“ antwortete 
Johames „„treu der Natur nachgemalt.“ Er begann: 


„Es wogt das Korn in grünen Wellen 
Und die Kaſtanienbäume blüh’n, 
Die Bufen junger Roſen jchwellen, 
Und Purpur bridt aus Knospengrün. 


„Vom Apfelbaume träufelt nieder 
Der letzte blutgefärbte Schnee; 
Doc taufend Blumen ſchickt er wieber 
An feiner Stelle in die Höh'. 


„Der Fliederbaum fteht überhangen 
In reicher violetter Pracht; 
Kaum kann ein grünes Blatt gelangen 
Zum Himmel dur die Blüthennadt. 


„Es will fi Alles nun entzünben, 
Es bricht hervor aus Grab und Gruft, 
Ich weiß mich faum zurehtzufinden 
Bor lauter Blumen, Klang und Duft. 


„So —1— in königlicher Schöne 
Der hling da, ein junger Held, 
Und — künden ſeine Töne, 

Daß er die Braut umfangen hält. 


„Und ich mit meinen kleinen Herzen, 
Denkt, liege hier in's Gras geſtreckt, 
Umleuchtet rings von Frühlingskerzen 
Und halb von Blumen zugedeckt. 


484 


„Und ſchau' mit Ieligem Gefichte 
In lieber, ungeftörter Kuh, 

Dem bohen göttlichen Gedichte, 
Des Frühlings Hochzeitsfeier zu.“ 


„Das Liedchen gefällt mir ſehr,“ ſprach Egin⸗ 
hard, „Du haſt die jetzige Blüthenzeit treu wieder 
gegeben. Ach, theurer Hans, aber bedenke, daß wenn 
wir dieſes Tempe, dieſes Friedensthal, wo die Ges 
nien der Liebe zwiſchen Blumen wandeln, im Rüden 
haben, auch Du die Poefie an ven Nagel hängen 
mußt, wie meine Wenigfet. Es ift fchredlih, aber 
es ift fo. D, hochehrwürdigen Kirchenväter, erleuchtete 
Häupter, nehmt mich auf in eure Schatten der Bor- 
welt und begrabt mid für die nächſte Zeit hinter 
Schweinsleder und Bücherftaub, daß ich vergefle, es 
habe einen Frühling und eine Liebe gegeben.” _ 

Die Freunde waren jegt auf derfelben Höhe an— 
gelangt, von wo fie vor ungefähr vier Wochen fo über- 
felig herabgaloppirten. Hier machten fie Raſt, um fi 
zum letten Male an der herrlichen Gegend zu laben. 

Wie damals glänzten die Zinnen von Buchenfels 
gaftlich daher und mahnten an all die herrlichen da⸗ 
felbft verlebten Stunden. 

„Wenn es feine Erinnerung gäbe,“ ſprach Jo⸗ 
hannes, „was wäre das Leben!“ 

„Sa,“ fiel Eginhard ein, „was wäre überhaupt 
die ganze Unfterblichkeit, die ganze. himmliſche Selig- 
feit, ohne Rüderinnerung.” 

„Mag's uns nun noch fo trüb’ und troden er— 
gehen,“ fuhr Johannes fort, „ein Nüdblid in bie 
himmelsvolle Vergangenheit wird uns ſtärken und er- 
quiden wie der Duft der Hyacinthe.“ 

„sa wohl,” geftand Eginhard, „mag's nun wer- 
den wie’! will: 


0 


152 


„Ein Augenblid verlebt im Parabiefe 
Wird nie zu theuer mit dem Tod bezahlt.‘ 


Und die Jünglinge ftanden noch lange und jchau- 
ten über das blühende Even; und nody einmal ftred- 
ten fie ſegnend die Arme über die duftende Landſchaft, 
dann umarmten- fie fih, küßten ſich — und fort 
ging’s, den Berg hinab, aus dem ftillen Reiche der 
Liebe und Poefie in das der Profa und des ftaubi= 
gen, unerquicklichen Alltagsleben®. 


| ‚18 

Es waren drei Jahre vergangen. Wieder ruhte 
der Frühling in, aller Pracht auf den Höhen und 
Zhälern von Buchenfeld. In dem Schloffe jelbft aber 
gab es ein außerordentlich reges und fröhliches Leben. 
Hallen und Säulen waren mit Blumen- und Laub- 
guirlanden feſtlich geſchmückt; ſchon den ganzen Nad- 
mittag tönten liebe, freundlihe Mufifftüde aus dem _ 
dichten Raubgrün des Schloßparls, wo ein Muſikchor 
aus dem benachbarten Städtchen poftirt mar. Man 
hatte den alten Wertheim lange nicht jo heiter und 
gefhäftig gejehen, und überall gab’8- lachende, heitere 
Geſichter. 

Man gewahrte bald, daß auf dem Schloſſe etwas 
Außerordentliches vorgehe, und dieſes Außerordentliche 
beſtand in nichts Anderm, als in der Doppelhochzeit 
des Johannes und Eginhard mit Eugenien und Ca— 
millen. Beide junge Männer waren bereits ſeit zwei 
Jahren nach brillantem Examen in's bürgerliche Le— 
ben übergetreten, und vor nicht langer Zeit hatte er- 
fterer die Beftallung als Gerichtshalter auf einem be- 
nachbarten bedeutenden Gute, und letterer die vacante 
Paftorftele in einem zwei Stunden von Buchenfels 


153 


entfernten freundlich gelegenen Dorfe erhalten. Der 
Einfluß des wadern Wertheim war bierbei allerdings 
nicht zu verkennen geweſen. 

Und heute war Hochzeit. Albert und Bodo hat- 
ten fidy mit ihren beiden lieben Frauen, Marien und 
Paulinen (die feftliche Hochzeit derſelben war bereits 
"vor anderthalb Jahren gefeiert worden), ſchon früh: 
zeitig eingefunden. Es war ein Leben, als folle ix- 
gend ein Kaifer oder König feinen Einzug halten. 

Der Abenpftern ſtand in verklärender Schöne über 
den Bergen. Die Abendtafel war im Grünen errid)- 
tet; uralte blühende Linden bauten ein duftendes Laub⸗ 
dach. Die zahlreichen bunten Lampen gewährten eine 
magiſche Beleuchtung. Die Töne des Orcheſters klan⸗ 
gen bezaubernd durch die ſtille Abendluft. 

An der Tafelrunde ſelbſt war ein außerordentlich 
heiteres und fröhliches Leben. Auf allgemeines Ver⸗ 
langen hatte Wertheim nur die vertrauteften Yreunde 
und Belannten zum Tefte geladen. Darum konnte ſich 
bie wahre Freude der Herzen um fo ungeftörter aus= 
ſprechen. Johannes und Eginhard faßen an den Eh— 
renplägen ber Tafel in ftiller Seligkeit neben ihren 
Neuvermählten und hatten häufige Nedereien zu hören. 

Eginhard war über den einftigen fonmambülen 
. Zuftand Eugenien’8 längft belehrt worden; die Erfchei- 
nung auf dem Schloßdache hatte ſich ihm natürlich 
erflärt und er erblidte in der Braut des Freundes 
kein gefpenftifches Wefen mehr. Ueberhaupt ließ er 
ſich durch feine lebhafte Phantafie nicht mehr in dem 
Grade hinreigen wie früher. Er war ruhiger und 
gejetster geworben, ohne daß dadurch fein guter Humor 
und feine joviale Laune im ©eringften verloren hatte. 

Wertheim hatte heute ven beften Ausbrudy aus fei= 
‚nem Keller zum Beten gegeben. Lieblich duftete das 


1534 


flüſſige Gold in den Pokalen. Immer mehr ſchloſſen 
ſich die Herzen auf, immer beredter wurden die Zungen. 
Da erhob ſich Eginhard, gebot die Becher zu füllen, 
ſintemal er noch einen Toaſt auszubringen habe. Man 
that, wie er befohlen, eine allgemeine Stille erfolgte. 

„Wir haben nun,“ begann er, „alle Welt hoch— 
leben. laſſen, aber wie der Menſch immer undankbar 
gegen ſeine größten Wohlthäter iſt, ſo haben auch wir 
. eine Hauptperſon bei unſern Toaſten vergeſſen. Wenn 
ich nämlich das Facit ziehe und als exacter Philoſoph 
unterſuche, wem wir eigentlich den heutigen Feſttag 
und Alles, was Liebes darum und daran hängt, zu 
verdanken haben, ſo ſtellt ſich uns ein holdes Kind 
dar, das allerdings ſchon vor vierhundert Jahren ge— 
lebt hat; denn geſtehen wir es nur, ohne die — Roſe 
von Segovia würde unſer Hans da ſchwerlich die nähere 
Bekanntſchaft ſeiner dermaligen lieben Frau gemacht 
haben, und die Götter mögen es wiſſen, was aus mir 
Phantaſten geworden wäre. Als vor drei Jahren jeder 
der verehrten Herren feine Roſe auf Buchenfels gefun- 
ven hatte, ging auch ih mit mir ernftlich zu Rathe 
und probirte das Sprichwort, wer da fucht, der findet ; 
fo babe auch ich mein herzliches Nöfelein gefunden. 
Hier ſitzt es, Jedermann kann e8 jehen. Ein Philo: 
ſoph und ein dankbar Gemüth foll aber nie das eine 
über das andere vergeffen. Darum rufe ich jett aus 
vollem Herzen: Es lebe das reizende Königskind, möge 
es aus feinem Himmel lächelnd auf den unfern her- 
abfhauen — e8 lebe vie Rofe von Segovia!” 

Die Trompeten fehmetterten, die Gläfer klangen; 
man umarmte und küßte fid}; und der Abendftern, ver 
fo eben hinter Buchenwäldern lächelnd unterging, hatte 
lange feine fo glüdlihen und feligen Menfchen er: 
ſchaut, wie heute.” 


Epiphanias. 


Erzählung. 


1534 


flüſſige Gold in den Pokalen. Immer mehr ſchloſſen 
ſich die Herzen auf, immer beredter wurden die Zungen. 
Da erhob ſich Eginhard, gebot die Becher zu füllen, 
fintemal er noch einen Toaft auszubringen habe. Man 
that, wie er befohlen, „eine allgemeine Stille erfolgte. 

„Dir haben nun,” begann er, „alle Welt hoch— 
leben laſſen, aber wie der Menſch immer undankbar 
gegen feine größten Wohlthäter iſt, jo haben aud wir 
‚ eine Hauptperjon bei unſern ZToaften vergeffen. Wenn 
ih nämlich das Facit ziehe und als exacter Philoſoph 
unterſuche, wem wir eigentlich den heutigen Feſttag 
und Alles, was Liebes darum und daran hängt, zu 
verdanken haben, ſo ſtellt ſich uns ein holdes Kind 
dar, das allerdings ſchon vor vierhundert Jahren ge— 
lebt hat; denn geſtehen wir es nur, ohne die — Roſe 
von Segovia würde unſer Hans da ſchwerlich die nähere 
Bekanntſchaft ſeiner dermaligen lieben Frau gemacht 
haben, und die Götter mögen es wiſſen, was aus mir 
Phantaſten geworden wäre. Als vor drei Jahren jeder 
der verehrten Herren feine Roſe auf Buchenfels gefun- 
den hatte, ging auch ich mit mir ernftlicd zu Rathe 
und probirte das Sprichwort, wer da fucht, der findet; 
fo habe auch ich mein herzliches Aöfelein gefunden. 
Hier figt e8, Jedermann kann es fehen. Ein Bhilo- 
ſoph und ein danfdar Gemüth foll aber nie das eine 
über das andere vergeffen. Darum rufe ich jekt aus 
vollem Herzen: Es lebe das reizende Königskind, möge 
e3 aus feinem Himmel lächelnd auf ven unfern her— 
abfhauen — e8 lebe die Roſe von Segovia!” 

Die Trompeten fehmetterten, die Gläfer Fangen; 
man umarmte und küßte ſich; und der Abendſtern, der 
fo eben hinter Buchenwälvdern lächelnd unterging, hatte 
lange feine fo glüdlihen und feligen Menfchen er- 
ſchaut, wie heute.” 


Epiphanias. 


Erzählung. 


In majeſtätiſcher Winterpradht ftarrten die hoben 
Firnen des St. Gotthard. MWeithin, fo weit das 
Auge reichte, erblidte man nichts als eine Einöde 
von Felſen und Eis. Die höchſten Spigen des ge— 
waltigen Gebirgsfammes ſchimmerten in der gewohn- 
ten rofenrothen Berflärung und warfen endloſe Schatten 
auf die tieferliegenven Gegenden. Eine hehre Stille, 
wie fie nur den Wüften Afrila’8 und den Savanıen 
Nordamerila’8 eigenthümlich, ruhte über der verfteis 
nerten Gegend. Die Sonne fanf pradhtvoll und in 
den Thälern dunkelte der Abend. 

Der alte Bater Nicodemus, ein noch rüftiger Sieb: 
ziger, weit und breit berühmt durch feine Kenntniß 
der Heilfraft der Alpenfräuter, durch feine guten Leh— 
ven im Glück und ftärkende Troftfprüdhe im Unglüd, 
faß auf dem gewohnten Plate am wohlerwärmten 
Dfen und hatte ein Kapitel der Bibel, aus welchem 
heiligen Buche er allfonntäglih mit lauter Stimme 
und ohne Brille feiner frommen und ſchönen Tochter 
Marie und feinem Enkel, dem Heinen Martin, vor- 
zulejen pflegte, beendet. Hell und vernehmlich klang 
die Vesperglode des Neujahrstages aus dem unfern 
gelegenen Dörfchen Liebethal. Die Wohnung des 
alten Kräuterfammlers lag einfam am Fuße des großen 


158 


Adlerfteins, deſſen ſchneebedeckter Gipfel nur bei ganz 
heiterm Himmel zu erkennen war. 

Die untergehende Sonne vergolvete in bimmlifcher 
Schöne die erhabenen Feljenzinnen, deren Wiederſchein 
in das fonntäglih aufgeputte Stüblein des Kräuter— 
ſammlers berabfiel. 

Das fromme Abendlauten und bdiefe ftille Verklä- 
rung des Hüttchens erfüllte mit heiligem Danfgefühle 
ben Greis. 

„Marie,“ ſprach er fanft, „nimm bie lebte ber 
von frommer Hand geweihten Kerzen und trage fie 
zur Kirche. Sieh, wie der liebe Gott die Firnen ent- 
zündet mit himmlischen Teuer, da foll der dankbare 
Menſch nicht zurücdbleiben. Geh, meine Tochter, mit 
Gott wird ja wieder Rath und bis Oftern ift e8 lang; 
wenn wir jparjam. find, erübrigen wir fchon einige 
neue Lichtlein, die wir anzünden am heiligen Feſte zur 
Ehre des Herrn.” 

„Gern, guter Vater,” erwieberte die fchöne Marie . 
und ſtrich die feidenen Loden von der Stim, „dafür 
wird uns bie Mutter Gottes auch gnädig fein.“ 

Nicodemus antwortete: „Die Mutter Gottes ift 
Allen gnädig, die ihr vertrauen.” 

Und Martinchen, am Dfen gelagert, rief: 

„Horch, Großvater, wie Die efehene Wurzel praſ⸗ 
jelt; fie hat mir auch gar weibliche. Mühe gemacht, 
bevor ich fie geftern aus ver Telfenfpalte herauszu- 
bringen vermochte.” 

Marie hatte die letzte Kerze aus dem Schränkchen 
genommen und ſchaute hinaus nach dem dunkler wer- 
denden Abend. 

„Gott, Vater,“ ſprach das Mädchen, „hörft Du 
nicht, es ſchlug fünf im Dorfe und Andreas wollte 
ſchon in der vierten Stunde bei ung fein, “ 


159 


„Er, wird ſich haben ein Gläschen einſchenken 
Iaffen von ver guten Mutter Marthe im Alpenhorn; 
da findet ſich's, daß junge Burſche eins plaudern 
beim herzerfreuenden Wein; und gewiß wirft Du es 
dem Andreas nicht verargen; hat er doch den ganzen 
Bormittag mit feinem treuen Picas gearbeitet wie ein 
Bergmann, um ben verjchütteten Wanderer zu Tage 
zu fördern.” 

„Sanz wohl,” entgegnete Marie, „aber fol nicht 
heute unfere Verlobung fein? Da kenne ic Andreas 
zu gut, daß er blos deshalb ſäumen follte, um in der 
Schenke ein Glas in froher Geſellſchaft zu leeren.“ 

Ei, fieh doch, Großvater,” rief plöglih Mar- 

‚ ber an's Fenſter getreten war, „wie ber 
Schnabel des Adler lang geworden.” Dabei fchaute 
er aufwärts, wo fid) eine ungeheure Schneelaft weit. 
über die Kuppe des Adlerſteins hervorgebeugt hatte. 

„„Das ift kein gutes Zeichen, mein Sohn,“ erwie- 
berte der Greis, „ver Adler, wenn er zu weit herab: 
Schaut, bat dem Thale nie Segen gebradt. Doch 
vertrauen wir Gott. Er wohnt über den Lawinen.” 

„So möge die Mutter Gottes, ſprach Fromm 
Marie, „unfere letzte Kerze empfangen; ich trage fie 
zur Kirche.‘ 

„So iſt e8 vet, meine Tochter,” erwiederte Ni= 
codemus, „eine Kerze zu Ehren des Herrn bat nie 
vergebens gebrannt.‘ 

„Vielleicht,“ fügte das ſchöne Mädchen halblaut 
hinzu, „daß mir unterwegs der Andreas begegnet.‘ 

„Er hat mir ein herrliches Ammonshorn verjpro- 
chen, jubelte Martinchen, „und wenn Andreas etwas 
verfpridyt, fo hält er Wort. 

Marie eilte mit der geweihten Kerze durch die 
Thalſchlucht nad) der Kirche des Dorf. Das Ge- 


460 
\ 
läute der Vesper war verſtummt; die Schatten fenf- 
ten fih dunkler in die Thäler, aber drohend und 
finfter ſchwebte die gewaltige Schneemaſſe des Aofer- 
fteind über ihrem Haupte. 

Das Maͤdchen hatte noch nicht bie erſten Häufer 
des Dorfs erreicht, als ihre Geliebter, der in der Ge— 
gend befannte und hochgerühmte Gemfenjäger, ihr 
entgegenfam. Aber der Gang des Jünglings war 
unſicher, und als er näher kam, zeigte ſich's, Daß er 
an mehren Stellen des Körpers: mit Tüchern verbuns 
. den war. 

„Gott!“ rief erbleichend Marie, als ſie Andreas 
erkaumte, „was iſt Dir geſchehen?“ 

„Aengſtige Dich nicht, Marie,“ erwiederte lächelnd 
der Jüngling, „ich bin nur ein wenig von den hart— 
herzigen Felszacken zugerichtet worden, als ich meinen 
Picas vom Untergange rettete. 

„Denke Dir,“ fuhr Andreas mit Eifer fort, „das 
edle Thier hat heute nicht weniger denn drei Ver— 
ſchüttete mit wahrhaft bewundernswürdiger Beharrlich- 
feit aufgefharrt. Doch beim dritten Begrabenen ftürzte 
der Retter felbft in die unergründfiche Tiefe, und er 
war verloren, wenn ich nicht felbft alle Kräfte aufbot 
zu feiner Rettung.” 

„Aber des Thieres wegen fonnteft Du felbft zu 
Grunde gehen,” ftrafte ſanft Marie; „doch wo ijt 
Picas ? 

„Ich habe ihn am Alphorne zurüdgelafen bei der 
Mutter Marthe. Der arme Kerl ift übel zugerichtet.‘ 

Andreas begleitete: feine Marie auf dem frommen 
Wege zur Kirche. Sie braten bie geweihte Kerze 
der Mutter Gottes und kehrten Hand in Hand nad 
der Wohnung des alten Nicodemus zurüd. 

Schon war e8 dunkel im Thale, aber die Alpen: 


161 


t 


häupter ſtrahlten noch im goldenen Glanze. Er 
prachtvolles Schauſpiel. Ueber dunkler Nacht drohn⸗ 
ten die Goldberge in Majeſtät, während meilenweit 
Todtenſchweigen herrſchte. Die ſpärlichen Waldungen, 
fo wie die Häuſer des Dorfes Liebethal waren mit 
hohem Schnee bevedt, denn der Winter hatte mehr 
als gewöhnlich fein eifiges Haupt gejchüttelt. 

Als Andreas und Maria am Fuße des Aolerjteins 
vorbei famen, blieb eriterer ftehen; ängftlih umflam- 
merte. das Mädchen den Arm des Geliebten und 
Ichnute ſcheuen Blickes hinauf nach der fürchterlichen 


„Die Adlernaſe,“ ſprach der Jüngling, „deutet 
nichts Gutes; fönnten wir den Vater nicht vermögen, 
daR er auf einige Tage nad) Liebethal zieht 9“ 

„Wire wollen ihn bitten”, verfette Marie, „aber 
ih glaube nicht, daß er ficb bewegen läßt.“ 

Nod immer ſaß der alte Nicovemus in feinem 
Lehnftuhl und belehrte den aufhorchenden Martin 
über die verjchtevenen SHeillräfte der Alpenfräuter, 
während legterer bejorgt war, daß das Teuer im 
Dfen niht ausgehe. Daun erzählte ver Alte von 
den benachbarten Thälern, wo im Sommer tie gol- 
denen Blumen blühen, während die Gletſcher mit 
ewigem Eiſe bededt find, wo in freundlichen Gärten 
ſeidene Lüfte wehen, während hoch darüber auf den 
Felſen alles Leben erſtarrt. Er erzählte von den ein- 
fadhen und ftrengen Sitten und der Freiheitsliebe ver 
Borelten und ven alten helvenvollen Kämpfen, und 
wie das Schweizerwolf nur dann groß und unbezwing- 
lid) fei, wenn e8 zufammenhalte und alle tZwietracht 
unter ſich vergeſſe. 

Martinchen lauſchte lernbegierig der weiſen Rede, 
als Andreas und Marie in's Gemach traten. 

Stolle, ſämmtl. Schriſten. XVI. 11 


162 


Nicht ohne Beforgnig war Andreas an das Fen- 
fter getreten und betrachtete nochmal® Die drohende 
Schneemaſſe. 

„Guter Vater,“ ſprach er endlich zu Nicodemus, 
„wär's nicht beſſer, wenn Ihr Euch auf einige Tage 
nad) Liebethal überſiedelte? Der Adler ſieht mir 
bedenklich aus, ich traue dem Alten nicht, daß er uns 
eine Löwin auf den Hals ſchickt; er wird über kurz 
oder lang ſein Gefieder ſchütteln. u 

„Die Löwin des Ablers,“ verſetzte ruhig der 
Greis, „haben wir nicht zu fürchten; es wäre nicht 
die erſte, die ich erlebte; ſie ſpringt vorſichtig über 
unſre Wohnung hinweg, ohne nur den Firſt zu be— 
rühren.“ 

„Aber drohende blickte noch feine in's Thal,“ 
bemerkte Andreas, 

„D mein Vater,” bat die fchöne Marie mit ge= 
falteten Händen, „mißachte nicht feine Worte; aud) 
mir ift der Adler noch nie fo fürchterlich erjchienen. 
Wie bald find wir drüben im ficher gelegenen Xiebe- 
thal; beim frommen Bater Arnold wirft Du die 
Freunbfichfte Aufnahme finden. Wir führen Dich, da- 
mit Dir die Wanderung nicht bejchwerlid) wird.” 

„Ihr Kleingläubigen und Verzagten,“ ftrafte der 
Greis mit ſanftem Vorwurfe, „was kümmert uns bie 
Lawine? Wölbt ſich darüber nicht der heilige Him- 
mel in ewiger Keine, wo Gott wohnt, unjer Schöpfer 
und Erhalter? Seid Ihr nicht gekommen, Eure Ver⸗ 
lobung zu feiern? Iſt dies nicht eine heilige Hand- 
lung, wo Gottes Liebe jegnend über uns weilt? 
Soll ih mit dem erften Tage des Jahres die fett 
fießzig Iahren bewohnte Hütte verlafjen ?“ 

„So wollen wir bleiben,” antwortete leife Ma: 
vie, und die Familie nahm Pla um ben riefigen 


163 


Dfen, in deſſem Bauche eine gemüthlihe Flamme 
praffelte, welche turd) das Gemad eine mwohlthuende 
ärme verbreitete. 

„Martinchen,“ ſprach Nicodemus, „gehe einmal 
hinaus in die Kammer und bringe Nummer Zehn.“ 

Zugleich befahl der Sräuterfammler, den Topf 
mit kochendem Waſſer aus dem Teuer zu holen, weld 
Geſchäft Andreas verrichtete. Hierauf goß Nicodemus 
ans der Fruftallnen Flaſche, die mit einer Zehn be— 
zeichnet war, und die Martin aus der Kammer ge 
bracht hatte, eine dunkle Flüſſigkeit, welche fich brau= 
ſend mit dem Waffer vermifchte und biefem eine gold- 
gelbe Farbe verlieh. Ein erquidentes Arom durch— 
duftete das Gemach. Die wohlrichende und Iiebliche 
Eſſenz hatte Nicodemus vor Jahren felbft gefertigt 
aus dem Berghonig, und bios bei hohen feitlichen 
Gelegenheiten wurde das foftbare Getränf bereitet. 

Andreas und Marie legten die Hände in einander 
und ver Alte ſprach den Cegen, während ver Heine 
Martin ein auf die feierlihe Handlung Bezug ha— 
bendes Gebet aus einem alten Gebetbudye vorlas. 

Nach beendigter eier Hangen die grünen Römer, 
in welchen das Brautgetränf dampfte, wie Glocken 
an einander. 

„Möge Euer Leben,“ ſprach Nicodemus, „eben ſo 
rein klingen und bereinſt verklingen, wie der Ton 
dieſer Gläſer.“ 

„Nicht ohne Grund,“ fuhr er nach einer Pauſe 
fort, „hab' ich den heutigen Tag zu Eurer Verlo— 
bung gewählt. Am erſten Tage des Jahres iſt das 
GEemüth reiner geſtimmt und empfindlicher für erhe— 
bende Handlungen. Ich habe e8 immer geliebt, wich— 
tige Angelegenheiten auf dieſen Tag zu verlegen. 
Mit dem lebten Tage des alten Jahres pflegt man 

11 


16h 


feine Rechnungen abzufchliegen und zieht einen neuen 
Menjhen an. Immer hab’ idy mir daher gemwünfcht, 
wenn Gott einmal über mich gebieten follte, daß ex 
mid) in den erften Tagen des neuen Jahres abrufe.“ 

„Ei, guter Vater, verfeßfe Andreas, „wer, wird 
am Tage einer Berlobung vom Tode ſprechen; ſeht 
nur, Ihr habt meine Marie ganz traurig geftimmt 
durch Eure Rede. Der Bater im Himmel wird es 
wohl meinen mit und, und Euch noch mandjes Jahr 
rüftig erhalten zum Heile aller Kranken und Hülfs- 
bedürftigen.“ 

„Wie Gott will, erwiederte Nicodemus mit from= 
mer Ergebung; „doch muß ich geſtehen, möcht' ich 
gern noch ein paar Jährchen der Zeuge Eures Glücks 
ſein, denn bin ich auch allen Menſchen gut, ſo ſeid 
Ihr Beiden mir abſonderlich an's Herz gewachſen. 
Doch Martin, mein Enkel, fahre fort im zweiten 
Kapitel von der Geburt unſeres Herrn; wie oft ich 
auch die heiligen Worte vernommen, kann ich doch 
nie ſatt werden, ſie zu hören;“ und der Knabe las 
weiter, 

„Da Jeſus geboren war zu Bethlehem im jüdi— 
Then Lande, zur Zeit des Königs Herodes, fiehe, da 
famen die Weifen vom Morgenlande gen Ierufalem 
und fpraden: 

„Wo ift der nengeborene König der Juden? Wir 
haben feinen Stern gefehen im Morgenlande und find 
gekommen, ihn anzubeten. 

„Da das der König Herodes hörte, erſchrak er 
und mit ihm ganz Jeruſalem. 

„Und ließ verſammeln alle hohen Prieſter und 
Schriftgelehrten unter dem Volke und erforſchte von 
ihnen, wo Chriſtus ſollte geboren werden. 

„Und ſie ſagten ihm, zu Bethlehem im jüdiſchen 


165 


Lande; denn alfo ftehet gefährieben durch den Pro- 
pheten: 

„And du Bethlehem im jüdiſchen Lande bift mit 
nichten die fleinfte unter den Fürften Juda, denn aus 
die fol mir fommen der Herzog, ver über mein BolE 
Iſrael ein Herr fei. 

„Da berief Herodes die Weifen heimlih und er- 
lernte mit Fleiß von ihnen, wann der Stern erfdhie= 
nen wäre, 

„Und wies fie gen Bethlehem und ſprach: Ziehet 
hin und forſchet fleigig nad den Kindlein und wenn 
Ihr es findet, fo faget mir's wieder, daß ih aud 
fomme und es anbete. 

„Als fie nun den König gehöret hatten, zogen 
-fie bin und fiche, der Stern, den fie im Morgenlande 
gefehen hatten, ging ver ihnen her, bis daß er fam 
und ftand oben über, da das Kinplein war. 

„Da fie den, Stern fahen, wurden fie hod) erfreut. 

„Und gingen in das Haus und fanden das Kind— 
lein mit Maria feiner Mutter und fielen nieder und 
beteten e8 an und thaten ihre Schätze auf und 
ſchenkten ihm Gold, Weihraud) und Myrrhen.“ — 

„Um Gottes Willen, was war das?“ rief auf— 
ſpringend Marie und ward bleich wie der Tod. 
Ein ferner dumpfer Donner rollte grollend durch die 
Berge. 

„Eine Lawine kaum zwei Stunden von hier,“ 
antwortete Andreas, der aus dem Gemach ſtürzte. 

Der ſchönſte Sternenhimmel wölbte ſich über den 
Felſen. Rings herrſchte Todtenſtille; man konnte ein 
Sandkorn fallen hören. Der ferne Donner war 
verſtummt. 

Andreas ſchaute mit erhöhter Beſorgniß nach dem 
Adlerſteiee. Da war es ihm, als habe ſich die 


166 


Schneewand bedeutend geſenkt. Der Jüngling eilte 


in die Hütte zurück. 
„Um aller Heiligen Willen, beſter Vater,“ be— 


ſchwor er, „laſſet uns nach Liebethal flüchten, wir 


ſind keinen Augenblick ſicher, lebendig begraben zu 
werden. Wenn mich nicht Alles trügt, hat ſich die 
furchtbare Schneewand mehrere Fuß weit herüberge⸗ 
beugt.“ 

„Es iſt zu ſpät,“ erwiederte Nicodemus, „iſt Ge— 
fahr vorhanden, ſo würden bei der Stille der Nacht 
unſere Schritte hinreichen, die ſchlafende Löwin zu 


wecken. Wir find in Gottes Hand, meine Kinder; 


u‘ 


Martin, ſchlag die heiligen Blätter wieder auf und 
lied weiter.” 

Der Knabe war nod) fo erfchroden, daß er gar 
fein Wort hervorzubringen vermochte. Sonad) ergriff 
Andreas die Bibel und fuhr fort: 

„Und Gott befahl ihnen im Traum, daß fie fic 


nicht wieder zu Herodes lenken. {Ind zogen durch 


einen andern Weg in ihr Lund. 

„Da fie aber hinweg gezogen waren, fiehe da er- 
Ichien der Engel des Herrn dem Joſeph im Traum 
und ſprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und 
feine Mutter zu dir und fliehe in Egyptenland und 
bleibe allva, bis ih dir fage: denn es iſt vorhanden, 
dag Herodes das Kindlein ſuche, dafjelbe unzubringen. 

„Und er ftand auf und nahm das Kindlein und 
feine Mutter zu fih bei ver Nacht und entwich in 
Egyptenland. | 

„Und blieb allda, bis nad dem Tode Herodes. 
Auf daß erfüllt würde, das der Herr durch den Pro- 


pheten gejagt hat, Der da Ipricht: Aus Egypten 


habe id, meinen Sohn gerufen.’ — 
Kaum hatte der Borlefer diefe Worte geſprochen, 


167 


als ein neuer Donner durch das Thal rollte. An— 
breas Ihlug unmwillfürlih vie Bibel zu; Marie, war 
auf die Knie gefunfen und flehete mit aufgehobenen, 
zitternden Armen, daß der Allmächtige fie vor ver 
furdtbar drohenden Gefahr gnädig bewahre. Der 
Heine Martin bielt frampfhaft Andreas’ Knie um- 
Hammert und bie Angft preßte ihm Thränen hervor; 
nur der alte Nicovemus im Cilberhaupte blieb wie 
ein Weiſer ver Vorzeit ruhig und gefaßt in feinem 
Lehuftuhl fiten. Nicht eine Miene des ehrwiürbigen 
Antliges hatte jich verzogen. Mit dem Bewußtſein 
eines Frommen ſprach er, Gott ‚ergeben: 

„Laßt vie Donner rollen, die Lawinen fürzen ! 
Mächtiger ald Donner und Lawinen ift der Gott ber 
Welten, der es gut meint mit allen feinen Ge— 
ſchöpfen.“ 

Andreas war abermals vor die Hütte getreten und 
ſchaute mit bangendem Herzen umher in ber nädhıt- 
lichen Schöpfung. Da thronte ringsum die fehauer- 
liche Teljeneinfamtet. Die Lichtlein von Yiebethal 
waren erlofhen Nur in dem Kirchthurm flimmerte 
das Fenſter des wachhabenden Thürmers, welcher bei 
vernehmbaren Bergfällen und Lawinen forgjam auf: 
horchte, ob Gefahr drohe, wo er fogleih das Glöd- 
fein hell und Hülfe rufend durch das Thal er— 
klingen ließ. 

Andras ſchaute aufwärts, ſeine Beſorgniß ging 
in Entſetzen über. Die Schneewand hatte ſich aber: 
mals geſenkt und ſchwebte in fürchterlicher Höhe ver— 
derbenvoll über der Hütte des Kräuterſammlers. 

Noch immer ſaß der alte Nicodemus in ſeinem 
Lehnſtuhl. Einſam brannte die Lampe auf dem alten 
Tiſche von Nußbaum. Andreas ſchaute ſich noch ein- 
mal rings um in der ſchweigenden Natur. Ueberall 


168 J 


herrſchte Todtenftille: Der Jüngling kehrte in vie 
Hütte zurüd und war bemüht, die Verlobte fo wie 
den Heinen Martin zu tröften, obſchon fein Inner- 
fte8 von der bangften Beforgnig erfüllt war. Seine 
einzige Hoffnung war die Ausfage des erfahren 
Nicodemus, welcher ſchon mehrere Lawinen des Adler— 
ſteins erlebt hatte, die alle in bedeutender Höhe über 
die Hütte hinweggerollt waren, ohne dieſelbe zu 
verletzen. 

Das herzerfreuende Getränk, welches der Kräuter- 
ſammler bereitet hatte, verſcheuchte indeß auf kurze 
Zeit die trüben Ahnungen, welche die Bruſt der jün— 
gern Leute erfüllten. 

„Das neue Jahr ſoll leben,“ ſprach Nicodemus, 
indem er von Neuem ſein Glas erhob und mit ſei— 
nen Lieben anklang, „möge es Freud' oder Leid in 
ſeinem Schooße bergen; Gott meint es immer gut 
mit ſeinen Kindern in Freud' wie im Leid.“ 

Wie Glocken klangen die Gläſer an einander — 
da begann das Häuschen in ſeinen Grundfeſten zu 
erbeben, die Lampe ſtürzte um, Marie und Martin 
wurden zu Boden geworfen — eine der gewaltigſten 
Lawinen war donnernd von dem Gipfel des Adler— 
fteind herniedergerollt und hatte die Wohnung des 
Kräuterſammlers häuſerhoch unter dem Schneegebirge 
begraben. 

Erſt nad) einer langen fürchterlichen Pauſe hatte 
fih Andreas in foweit erholt, tie Größe des Un- 
glücks zu unterſuchen. 

„Wir ſind lebendig begraben,“ ſprach er in ver— 
zweiflungsvollem Zone; dann war er bemüht, die ohn- 
mächtige Braut in’8 Leben zurüd zu rufen. 

„Gott ift ja nicht mit begraben,“ erwieberte- der 
fromme, glaubensfefte Nicodemus, „feine Allmacht und 


169 


feine Güte ift fo groß, wie vordem, darum geziemt 
ung nicht zu verzweifeln; juchen wir vie Stärke der 
Lawine zu erforfhen. Wenn wir die Hände nicht 
zaghaft in den Schoß legen, ift noch immer Hoff: 
nung vorhanten, daß wir uns herausarbeiten. Biel- 
leiht wird aud) Hülfe von Außen.“ 

Dem Andreas gelang es endlich, die Lampe wie- 
der anzuzünden. Cr unterfuchte die Thür und Die 
mit Moos verwahrten Yenfter, aber vergebens war 
fein Bemühen, die letztern zu öffnen, mit folcher Te- 
ftigfeit hatte fi Die Schneemaffe von Außen ange- 
‚lehnt. Der ES chornftein war zufammengebrüdt, der 

Ofenrauch fand feinen Ausweg und erfüllte das In= 
nere mit erftidender Atmofphäre. Man war genöthigt, 
das Teuer auszugieken. 

Andreas arbeitete mit Riefenfraft, um die Thüre 
frei zu machen. Auch der alte Nicodemus und Mars 
tin legten eifrig Hand an. Aber vergeblid) war ihre 
Anftrengung. Nach mehrftündiger Arbeit ermatteten 
ihre Kräfte, kraftlos ſanken ihre Arme. Es blieb 
nichts übrig, als für heute vie Ruhe zu fuchen. Ein 
unrubiger, unerquidlicher, von böfen Träumen gequälter 
Schlummer umfing die Verſchütteten. 

Als die Heine ſchwarzwälder Wanduhr vie Stun- 
den des jungen Morgens verfünvete, erquidte fein 
Strahl des Tages die unter hoher Schneedede Begra- 
benen. Indeß ließ man e8 an neuen Anftrengungen 
‚ nicht fehlen. So gelang es aud), einen ziemfich lan- 
gen Gang durch den Schnee nad) der Richtung zu gra= 
ben, in welcher man hoffte, am Kürzeſten in's freie 
zu gelangen. 

In trauriger Oede verflog der zweite Januar. 
Wieder ſank außerhalb die Nacht herniever und bie 
Sterne traten hervor, ohne daß die lebendig Begra— 


470 


benen davon verfpürten. Nur die Wanduhr belehrte 
fie, in welcher Tageszeit fie lebten. 

Am dritten Tage ward der Zuftand der Unglüd- 
lichen immer verzweifelte. Das Del war zu Ende, 
die Lampe drohte zu erlöſchen und die letzte Kerze 
hatte Marie am Neujahrstage der Mutter Gottes in 
Liebethal zum Opfer gebradt. Kraft, Muth und 
Hoffnung entwichen der Bruft Marien's und Martin’s ; 
nur Andreas arbeitete unverbroffen weiter und ver 
alte Nicodenus vertraute mit alter Glaubensficherheit 
auf Gott den allgütigen Vater. War diefer es nicht 
- gemwejen, der ihn jo manches Mal auf feinem langen 
gefahrvollen Lebenswege aus der augenfcheinlichiten ' 
Zodesgefahr gerettet hatte? Feſt ftand fein Vertrauen, 
daß ihm Gott auch diesmal aus ver gegenwärtigen 
- fürdterlihen Rage erretten werde. 

Andreas war am vierten Tage ziemlich weit auf 
feinem unterirbifchen Gange vorgebrungen, aber wie 
oft er laufchte und fein Gehör anſtrengte, um einen 
hoffnungsvollen Ton aus der Oberwelt zu vernehmen, 
Alles blieb ftumm und die Kräfte des Jünglings 
nahmen von Stunde zu Stunde ab; ſchon begann 
Mangel an Lebensmitteln fühlbar zu werben. Nico- 
demus hatte am Sylveſtertage den Heinen Vorrath 
faft ganz erfhöpft und an hülfsbevürftige Arme ver 
Umgegend vertheilt. 

- Nad) einer dritten langen qualvollen Nacht erſchien 
der vierte Tag. Immer mehr ſchwand ven Unglüd- 
lichen die Hoffnung, gerettet zu werden. Rings herrſchte 
tiefe Stille und Finfternig, denn das Del war ver: 
zehrt und die Lampe geraume Zeit erlofchen. Ver— 
gebend tönten die tröftenden Worte des nod) immer 
glaubensfrommen Nicodemus. Er rieth den Andreas, 
vom Durchgraben abzuftehen, weil er nutlos feine 


474 


Kräfte verfchwende, ohne Mittel zu haben, ſich wie- 
der zu ſtärken; denn, je weiter der unermüdliche Iüng- 
ling verdrang, deito größere Streden des Schnee 
ganges brachen hinter ihm zuſammen. 

Marie und Martin lagen in einem faſt bewußt⸗ 
loſen Zuſtande, welder in ven Tod übergehen mußte, 
wenn miht bald Rettung nabte. . Der geringe Vor— 
rath von Yebensmitteln war faft ganz aufgezehrt. 
Immer fparfamer mußten die Brojamen zugenſen 
werden. 

Der vierte Tag verſtrich. Kein rettender Engel 
erſchien. Es war, als habe Gott feine Hand von den 
Unglüdlichen abgezogen. Am Abend wurde die Rede 
des alten Nicodemug leiſer. Der alte Dann hatte 
jeit vierundzwanzig Stunden nur ein paar getrodnete 
Drotrinden gegeijen. 

„Meine guten Kinder,” ſprach der Greid, „wenn 
nicht bald der Allgütige ſich unfrer erbarmt, werden 
wie in Kurzem ausgelitten haben. Verbittert Euch 
die legten Stunden nicht durch mutzloſe Verzweiflung. 
Unerforfhlih und hart find oft die Prüfungen des 
himmliſchen Vaters, aber gleihwohl geziemt feinen 
Kindern nicht, frevelhaft zu murren und ſich zu ver- 
jündigen, fondern ergebungsvell die Hände zu falten 
und zu bitten, daß er ung nicht verlaſſe in der bit— 
terften Stunte hienieden. Zwar weiß ich nicht, wo 
durch wir einen jo qualvollen Untergang verdient ha— 
ben, wenigjtend bin id) mir feiner böfen That be— 
wußt, aber was der Herr über uns beſchloſſen hat, 
möge erfüllt werden, geheiligt ſei ſein Name.“ 

Mit dem fünften Tage erreichte die Noth eine 
furchtbare Höhe. Jetzt vermochte ſelbſt Nicodemus 
nicht mehr zu tröften. Er faß ftill und Gott erge- 
ben in einer Ede des dunfeln Gemachs, wo er we- 


472 


nigften® vor Kälte gefhüst war. Die paar Lebens: 
mittel waren bi8 auf einige Broſamen aufgezehrt; 
Andreas kratzte mit feinen letten Kräften einiges 
Moo8 von den Hüttenfenftern und fuchte damit fei- 
nen Hunger zu ftilen. - 

Auch der fünfte Tag verftrih. Hunger und Trüb- 
fal hatten den höchſten Grad erreidht. Die Verzweif- 
fung war in jenes bumpfe Hinbrüten übergegangen, 
welches dem Tode unmittelbar vorherzugehen pflegt. 
Niemand gedachte mehr, die fleine Wanduhr aufzu= 
ziehen. Niemand wußte mehr, an weldem Tage und 
in welcher Stunde man lebe. 

Ein Todtenſchweigen herrichte, al8 der Morgen 
des ſechſten Tages, des großen Neujahr oder des Fe— 
ſtes Epiphanias, heranbrad. . In einem dem Tode 
ähnlichen Zuftande lagen Marie, Martin und felbft 
der alte Nicodemus gab fein Zeichen des Lebens von id). 

Da raffte Andreas, der noch das klarſte Bewußt- 
fein ſich erhalten, feine letten Kräfte zuſammen ünd 
ſchlich mit größter Anftvengung aus der Hütte, um 
noch einmal in dem Schneegange zu laufchen, ob 
vielleicht Kettung nahe. 

Der unglüdlihe Jüngling gelangte mit vieler 
Mühe bis zu der Gtelle, weldhe eingeftürzt war. 
Hier fanf er ermattet und halb ohnmächtig nieder. 
Eine geraume Zeit mochte er gelegen haben, als 
plöglih wie im Traume befannte® Hunvegebell an 
fein Ohr tönte. Andreas erwachte. Er laufchte und 
lauſchte mit aller Anftrengung. Das Hundegebell Tam 
näher, und wenn den Berfchütteten nicht Alles trog, 
fo war e8 die Stimme feines treuen Pikas, welde 
aus der Oberwelt in das dunfle Grab herabtünte, 

Neue Hoffnung -und neue Lebenskraft erwachten in 
der Bruft des Jünglings, welcher feine Ceele bereits 


x 


473 


Gott empfohlen hatte, und verlieh dem ermatteten 
Körper eine wunderbare Stärke. Er raffte fih auf 
und fehrte nad) der Hütte zurüd, um feinen Lieben 
die Himmelsbotſchaft der nahen Rettung zu verfün- 
den. Andreas kannte fein getreues Thier zu gut, als 
dag er nicht Hätte follen große Hoffnung fchöpfen; 
denn Picad war mit einem wunderbaren Inſtinet be= 
gabt und vermochte einen Verſchütteten in bedeutender 
Tiefe aufzufpüren. 

Bei dem Worte Rettung erwahten auh Marie 
und Martin aus ihrem todtähnlichen Hinbrüten. Gie 
folgten mit Nicodemus, der ein lautes Gebet ſprach, 
dem voranjchreitenden Andreas und lauſchten mit 
Hopfendem Herzen, ob fich die Töne aus der Ober- 


welt von Neuem vernehmen liegen. Doc Alles war 
- wieder ftil geworden. 


Eine endloſe halbe Stunde verjtrih. Rings Tod— 
tenjchweigen; ſchon begann von Neuem die Verzweif- 
lung fid) der Unglüdlihen zu bemächtigen, als plöß- 
lid) von einer andern Seite her und diesmal bebeu- 
tend näher das Gebell des treuen Hundes vernehm— 
bar ward. Zugleich vernahm man ferned dumpfes 
Stimmengeräufh. Einzelne Rufe tönten in die Tiefe. 
Die Berjchütteten glaubten ihre Namen zu hören und 
Andreas gab fi) alle mögliche Mühe, mit feiner aller= 
dings geſchwächten Stimme zu antworten, aber feine 
Worte fehienen nicht vernommen zu werden. 

Plöglih ertönte in großer Nähe ein fonverbares 
Geräuſch. Es gli) dem Murren eined Hundes, ber 
zugleich emfig bemüht war, fid) mit den Vorderpfoten 
durch den Schnee zu mühlen. 

Eine felige Ahnung durchzuckte Andreas, als das 
jeltfame Geräufc immer näher kam. Er tröftete die 


472 


nigftend vor Kälte gefhütt war. Die paar Yebens- 
mittel waren bis auf einige Broſamen aufgezehrt; 
Andreas kratzte mit feinen lebten Kräften einiges 
Moos von den Hüttenfenftern und ſuchte damit ſei— 
nen Hunger zu ftillen. - 

Auch der fünfte Tag verftrih. Hunger und Trüb- 
ſal hatten den höchſten Grad erreicht. Die Verzweif- 
lung war in jenes dumpfe Hinbrüten übergegangen, 
welches dem Tode unmittelbar vorherzugehen pflegt. 
Niemand gedachte mehr, die fleine Wanduhr aufzu= 
ziehen. Niemand wußte mehr, an welchem Tage und 
in welder Stunde man lebe. 

Ein Todtenfhweigen herrfchte, als der Morgen 
des jechften Tages, des großen Neujahrs oder des Fe⸗ 
ſtes Epiphanias, heranbrach. In einem dem Tode 
ähnlichen Zuſtande lagen Marie, Martin und ſelbſt 
der alte Nicodemus gab kein Zeichen des Lebens von ſich. 

Da raffte Andreas, ver noch das klarſte Bewußt- 
fein fid) erhalten, feine letten Kräfte zufammen und 
ſchlich mit größter Anftrengung aus der Hütte, um 
noch einmal in dem Schneegange zu laufen, ob 
vieleicht Rettung nahe. 

Der unglüdlihe Jüngling gelangte mit vieler 
Mühe bis zu der Stelle, welche eingeftürzt war. 
Hier fanf er ermattet und halb ohnmächtig nieder. 
Eine geraume Zeit mochte er gelegen haben, ale 
plöglicd) wie im Traume bekanntes Hundegebell an 
fein Ohr tönte. Andrea erwachte. Er laujchte und 
laufchte mit aller Anftrengung. Das Hundegebell kam 
näher, und wenn den Berfchütteten nicht Alles trog, 
fo war es die Stimme feines treuen Pikas, melde 
aus der Oberwelt in das dunfle Grab herabtönte. 

Neue Hoffnung -und neue Lebenskraft erwachten in 
der Bruft des Jünglings, welcher feine Ceele bereits 


\ 


473 


Gott empfohlen hatte, und verlieh dem ermatteten 
Körper eine wunderbare Stärke. Cr raffte fih auf 
und fehrte nah der Hütte zurüd, um feinen Lieben 
die Himmelsbotſchaft der nahen Rettung zu verfün- 
den. Andreas fannte jein getreued Thier zu gut, als 
dag er nit hätte follen große Hoffnung ſchöpfen; 
venn Picad war mit einem wunderbaren Inftinct be- 
gabt und vermochte einen Berjchütteten in bedeutender 
Tiefe aufzufpüren. 

Dei dem Worte Rettung erwachten auch Marie 
und Martin aus ihrem todtähnlichen Hinbrüten. Gie 
folgten mit Nicodemus, der ein lautes Gebet ſprach, 
dem voranfchreitenden Andreas und laufchten mit 
Hopfendem Herzen, ob fi die Töne aus der Ober- 
welt von Neuem vernehmen Tiefen. Doc Alles war 


- wieder ftill geworden. 


Eine endloſe halbe Stunde verftrih. Rings Tod— 
tenfchweigen; ſchon begann von Neuem die Berzweif- 
lung fid) der Unglücklichen zu bemächtigen, ale plöß- 
lid von einer andern Seite her und diesmal bedeu- 
tend näher das Gebell des treuen Hundes vernehm= 
bar ward. Zugleich vernahm man fernes dumpfes 
Stimmengeräufd). Einzelne Rufe tönten in die Tiefe, 
Die Berfchütteten glaubten ihre Namen zu hören und 
Andreas gab ſich alle mögliche Mühe, mit feiner aller= 
dings gefchwächten Stimme zu antworten, aber feine 
Worte fehienen nicht vernommen zu werben. 

Plöglid) ertönte in großer Nähe ein ſonderbares 
Geräuſch. Es gli dem Murren eined Hundes, ver 
zugleid, emfig bemüht war, fid) mit den Vorderpfoten 
dur den Schnee zu wühlen. 

Eine felige Ahnung durchzuckte Andreas, als das 
jeltfjame Geräufh immer näher kam. Cr tröftete Die 


17 


Seinigen und — feine Ahnung hatte ihn nicht be— 
trogen, da8 Bellen erfcholl jet wenige Fuß tief. 

„Picas, Picas,“ Iodte Andreas, und glei) darauf 
arbeitete fid) der Gerufene bis zu ven Berfchütteten 
durd. Das Thier war außer fid) vor Freude. Es heulte 
und fehrie, war aber auch gleich wieder verfchwunden. 

Andreas war auf, die Kniee geſunken. Thränen 
des feligften Entzückens entrollten feinen Augen. 

„Run werden wir bald ven Tag erbliden, meine 
‚ Lieben!” rief ver überglüdliche Düngling; „Picas war 
da und arbeitet fi eben wieder durch den Schnee. 
Er ift unfer Retter.” 

Wirklich vernahm man aud bald das freubige 
Gebell des treuen Hundes. Das Eluge Thier leitete 
die nachgrabenden Liebethaler auf die rechte Spur. 
Immer näher kamen die Retter. Bald vernahmen 
. and, fie die Stimme des Andreas, und nad Berlauf 
einer Heinen Stunde durchbrach das erfte Grabfcheit 
von außen die ſchwache Schneewand, welche den Be- 
grabenen das Yicht des Tages verbarg. 

Ein allgemeiner Ruf des Entzüdens erſcholl durch 
die zahlreich verfammelten braven Bewohner von Lie— 

bethal, welche bereits jeit Neujahr, mo die Lawine 

des Molerfteind gefallen war, Tag und Nacht mit 
Unermüplichfeit gearbeitet hatten. Aber alle Mühe 
diefer guten Leute würde vergeblid und die Ver— 
jchütteten einem unvermeidlichen Tode preisgegeben 
geweſen ſein, wenn nicht das treue Thier die rechte 
Stelle ausfindig gemacht und den Weg gezeigt hätte, 
denn die Lawine hatte faſt das ganze Thal thurm— 
hoch verjchüttet. 

Spaten und Wurfjchippen wurden wmeggemorfen 
und alle die rüftigen Arbeiter fielen auf die Kniee, 
als der ehrmürdige Nicodemus mit Marien, Martın 


475 


und dem braven Andreas dem Grabe entftieg. “Die 
Sloden in Liebethal Iauteten zum Auferftehungs- 
morgen. 

In Proceſſion wurden die Geretteten nad) dem 
Dorfe gebracht, deſſen ganze Bewohnerſchaft entgegen 
wallfahrtete. In dem wohlgewärmten Gemeindehaufe 
hatte die Gemeinde Alles aufgeboten, um bie Sart- 
geprüften zu feiern und zu erfreuen: Der wilrbige 
Prediger des Orts hielt eine Rede, worin er befon- 
der8 den Umſtand hervorhob, daß die Perjchiltteten 
am Feſte der Erſcheinung Chrifti, an Epiphanias, 
das Licht der Welt wieder erblickt hätten. 

Der alte Nicodemus, deſſen Gottvertrauen ihn 
nicht getäuſcht hatte, fiel auf die Kniee. Seinem 
Beiſpiel folgte die ganze Gemeinde und laut wieder— 
holte man die Worte des begeifterten Beters: „Ges 
heiliget jei dein Name!” 

Der Ruhm des getreuen Picas, jo wie die fei- 
densgeſchichte der verjchütteten Familie, verbreiteten 
fi in der ganzen Gegend. Von allen Orten liefen 
Geſchenke und milde Gaben ein, jo daß Nicodemus 
bald in ven Stand gejegt war, eine neue Wohnung 
und zwar am einem ficherern Orte zu bauen. Blieb 
doch ſelbſt eine vecht ſtattliche Ausjtener für Die 
ſchöne Marie übrig, melde von ihrem geliebten An— 
dreas im nächſtfolgenden Frühling als liebes Eheweib 
heimgeführt ward. 

Es mar eine fröhliche Hochzeit, als der Schnee 
gefhmolzen, die Thäler wieder grünten und die Sen— 
nen mit ven läutenden Heerven nad) den Bergen zo— 
gen. Im ganzen Thale, nah und fern, nahm man 
den herzlichften Antheil; der alte Nicodemus fühlte 
fi) um viele Jahre jünger und Martinchen that fi) 
nicht wenig zu Gute auf das rothe Band, das ihm 


4176 


zur Hochzeit geſchenkt warden, und welches auf ſei— 

nem Hute ftattlich flatterte. Marie war nie ſchöner 
und Andreas nie glücklicher. Der getreue Picas, 
welcher bei dem Freudenfeſte feine unbedeutende Rolle 
jpielte, war ein Gegenftand allgemeiner Bewunderung 
und Liebe. Seit langen Zeiten hatte e8 feine jo 
fröhliche Hochzeit gegeben. Der alte Nicodemus lebte 
noch mandes Jahr. Die ſchöne Wohnung aber, bie 
ihm und feiner Familie von den milden Gaben ge= 
baut worden war, führt noch heutzutage den Namen 
— Epiphanias, 


Drud von Alerander Wiede in Leipzig. 


Ferdinund Stolle's | 
ausgewählte Schriften. 


Volks- und Familien= Ausgabe. 
Siehzehnter Band. 


Zweite Auflage 


Leipzig, 
Ernft Keil, 
1858. 


Die 


Erbſchaft in Kabul. 


Komiſcher Roman 


von 


Serdinand Stelle. 


Motto: 


Trinke Wein im eg zu Kabul und laß 
den Becher umpergefn ohn' Unterlaß; 
denn es ift zuglei ein Berg, ein See, 
eine Stadt, ein Garten und eine Wülte. 


(Kaifer Babur's Lommentarien.) 


Erſter Band. 


Leipzig, 
Ernft Keil, 
1858. 


Die Erbſchaft in Rabul. 


Komiſcher Roman, 


Erfies Kapitel. 


&; begab fi am Sonnabende, den drei und zwans 
zigften April 18.., daß in Nummer 16 des Nieber- 
roßlaer Wochenblattes folgende Belanntmahung zu 
fefen war: ' 


Belanntmadhung. 


Nachdem ver Hofmaler Seiner Majeftät des Könige 
von Kabul, Haſſan-ben-Mullah, ehedem Balthafar 
Drollinger genannt, Sohn des in Niederroßla ver⸗ 
ftorbenen Peter Drollinger, nad Anzeige de groß- 
britannifchen Conſulats der freien Reichs- und Han- 
belsftadt Hamburg, neuerdings in Kabul mit Hinter- 
laſſung eines Teftaments und eines Codicills mit 
Tode abgegangen, fo wird dieſes mit der Bedeutung 
zur Öffentlichen Kenntnig gebradht, daß, wenn binnen 
ſechs Wochen Niemand auf die Eröffnung obgedachter 
letztwilliger Verfügung anträgt, diefelbe vorgenommen 
oder fonft den Geſetzen gemäß verfahren werden wird. 

Stadtgeriht Nieverroßla, den zwanzigften April 18.. 

Iacoby, Stadtrichter.“ 


Seit dem letten großen Sommerwafler, mo bie 
hart an den Stadtgärten dahinfließende Loſſa halb 


8 


Nieverropla unter Wafler fette und bedeutenden Scha- 
den anrichtete, wußten fi die Bewohner der genann⸗ 
ten Stadt keines Ereigniſſes zu entfinnen, welches 
einen fo tiefgehenven Eindruck auf Geift und Herz 
bervorgebradht hätte, als diefes in Nummer .16 des 
Wochenblattes publicirte Actenftüd. 

DBalthafar Drollinger — Hofmaler — 
Kabul — Teftament; die waren die Markfteine 
und Signalflaggen, über welche hinaus das Gefpräd, 
fo ein Collegium (wozu befammtlih nur drei gehören) 
Nieverroßlaer zufanımentrafen, ſich felten verirrte. Zu— 
gleich hielt e8 jeder angefeffene, wie nicht angeſeſſene 
Familienvater für Pflicht, über befagten Balthafar 
Drollinger umfangreiche genenlogifche Forfehungen an- 
zuftellen, und dabei im Stillen das Spinngewebe ber 
eignen, wenn auch zeither vernadhläffigten Sippe fo 
weit als möglich auszufpannen, in der Hoffnung, daß 
fih darin eine Kabul'ſche Erbfliege fange. 

Gemeinfame Beftrebungen, fo fie ein und daſſelbe 
Ziel verfolgen, vermögen viel, das lehrt die Ge— 
ſchicht; und fo war e8 auch noch vor Ablauf ber 
nächſten Woche in Niederrofla eine ausgemachte Sache, 
daß Peter Drollinger, Thonpfeifenverfertiger, ven acht⸗ 
zehnten Juli 17.. an Xeberverhärtung, acht und funf- 
zig Jahre alt, in der Webergaffe verfchieven und den 
zwanzigften h. m. in der Stille auf dem Friephofe 
zu Unfrer lieben Frauen zur Erde beftattet worden 
fi. Er hatte einen jüngern Bruder Johannes und 
einen fünfzehnjährigen Sohn Balthafar, ven Hofma- 
ler, binterlaffen. Johannes ftarb als Pfarrer eines 
Meinen, zwei Stunden von Niederroßla gelegenen 
Dorfes; feine Wittwe und ein Sohn lebten noch ge- 
genwärtig in Nieverroßla. Erftere erwarb fi ihr 
Brot mühfam duch Unterricht Heiner Mädchen in 


9 


Nähen und Striden, während der einundzwanzigjäh- 

rige Gamaliel beim Advocaten Eifenbeiß Bogen fchrieb. 
Was den Hofmaler felbft betraf, jo war es ver 
raftlofen Unterfuchungsbehörde zu Nieberroßla, weldye 
nicht weniger ald die ganze Stadt und Umgegend in 
fih faßte, gelungen, gleihfalls als unantaftbare Wahr- 
heit herauszubringen, daß Balthafer beim Tode fei- 
ned Vaters bei dem Bürger und Bentlermeifter Ham⸗ 
ger in Lehre geftanden, anftatt aber zu beuteln, mit 
der Reißkohle überall umbergefahren, alle Wände ver- 
unreinigt, Panther und Leoparden, Störche und Stieg- 
fige, Gras und Laubwerk aller Orts angebracht, Ge— 
fellen und Nachbarſchaft unverkennbar auf Thüren und 
Mauerwerk geworfen zur Aergerniß aller beſſerdenken⸗ 
den Bürger. Nur der Peichtfinn habe darüber lachen 
und fi erluftiren können. Endlich fei ver kecke 
Burfche über den eignen Meifter gerathen, welcher 
fh an einem ſchönen Morgen auf frifchgefirnißter 
Sartenplanfe hinter blühendem lieder, auf einem 
ſtillen Oertchen figend, leibesgroß erblidt und heraus- 
gefunden. Dies habe aber dem Faſſe den Boden 
ausgeftogen; Hamger habe nah einem umfünglichen 
Hafelrohre gejuht, Balthaſar aber die Schlägerei nicht 
abgewartet, fondern fei auf und davon gelaufen in 
die weite Welt, 

Bon diefer Zeit an verſchwand mit dem Conter- 
fei des Beutlerd an der Gartenplanke das Andenken 
an Balthafar in Nieverrofla, und ward erjt auf An- 
frag Großbritanniend und Irlands vermittelft Num— 
mer Sechszehn des Wochenblatts wieder in dem es 
dächtniffe der Bürger und Einwohner hervorgerufen. 
Der in Kabul zu ven Todten gegangene Hofmaler 
hielt in Niederroßla feine Auferftehung. 

Diefelbe Nummer Sechszehn des Wochenblatts, ob- 


0 


\ 


fhon fie auf daſſelbe graufliegende Papier geprudt 
war wie Die andern, warb zur befruchtenden Früh— 
Iingswolte für Gamaliel und’ feine Mutter Felicitas. 
Der Borfegen träufte auf das Paar bernieber. 

Mutter und Sohn waren zeither als Nullen ver 
Kieverroßlaer Geſellſchaft überfehen worden. Seit dem 
breiundzwanzigften April war das anders. Die erfte 
Onadenfpende, melde als warmer Sprübregen herab- 
wehte, erreichte Madame Drotlinger beim Bädermeifter 
Stus, wo fie gewöhnlid am Sonnabend Nadhmittag 
ihre Heine Wochenrechnung zu berichtigen pflegte. Stut 
behauptete, fie fei zu ängftlih im Bezahlen, er nicht 
dei Mann, der vechtichaffne Leute mahne und gab — 
eine bejondere Auszeichnung — eine Franzbrezel zu. 

Um viefelbe Zeit lobte Eifenbeiß das erfte Deal 
Gamaliel's Reinſchrift eines Pachtvertrags und fam 
auf das Teſtament, deſſen Eröffnung er nicht auf die 
lange Bank zu ſchieben rieth. 

„Das aſiatiſche Straußenei,“ ſprach er, „iſt ſo 
gut wie im Sad, ſobald die Sache einigermaßen an— 
gegriffen wird. Sollte Erblaffer Flaufen machen, wer- 
fen wir die Paſtete um und ſuccediren ab intestato; 
die pars legitima zieht nicht, fo viel ſag' ich.“ 

Gamaliel als frommer Sohn, blos die Nothdurft 
der Mutter im Auge, ſtammelte wonnefchüchtern: „Ach, 
ein Sonntagsrödckhen für die Gute, wenn's das ab— 
würfe! Wir lechzen darnach ſeit Jahren.” 

Eiſenbeiß gerieth einigermaßen in Berlegenheit, ob 
er feinem Schreiber mit „ft Er” — over „Sind 
Sie” — antworten folltee Er half fih inveß als 
gewandterr Man und fprah: „Sind wir” — ein 
Narr wollte er fagen, befann ſich aber und fügte 
fhonend bei — „nicht unflug! Ein Sonntagsröck⸗ 


11 


chen, das verlohnte ſich; wo ſich England einmenge⸗ 
lirt, handelt ſich's nicht um taube Nüſſe. Der Hofr 
ne hat fi was Erkleckliches erpinjelt. So viel 
ag’ ich.“ 

Nächſt dem guten und fchönen Gamaliel und fei- 
ner frommen Mutter, weldye zunähft am Stamme 
rubten, hatten ſich noch verſchiedene andere Niederroß⸗ 
(ner, denen e8 gelungen war, eme ziemlich vielgras 
dige Verwandtſchaft mit Peter Drollinger’s ſeliger 
Wittwe ausfindig zu machen, unter dem Schatten des 
hoffnungsvollen Erbſchaftsbaums gelagert. 

Unter der ſo urplötzlich, wie nach einem warmen 
Gewitterregen aus der Erde hervorgewachſenen Vet⸗ 
terſchaft, die vor dem ſtadtgerichtlichen Proclam keine 
Ahnung von ihrer gegenſeitigen Exiſtenz gehabt, und 
fih deshalb jest einander ganz erftaunt anfah, that 
fi) der Wirth zur Stadt Magpeburg, Athanafins 
Lagemann, am lauteften hervor. Er kam feit dem 
breiundzwanzigften April wenig mehr nach Haufe, 
und ſchwur auf allen Schenfftätten und Kreuzwegen, 
unbefümmert, ob es Jemand zu wiſſen wünfche ober 
nit, daß ihn mit dem feligen Peter eine feltene 
Seelenharmonie verbunden; er habe feinen ganzen 
Pfeifenbedarf von dem Drollinger entnommen, wel- 
her letttere die Pipen bei ihm abgetrunfen. Nichts 
fei rührender geweſen als biefe Freundſchaft; fie fei 
zum Spridwort geworben in der Nachbarſchaft umd 
felbft dem Pöbel aufgefallen, welcher feine Verwun⸗ 
derung unverhofen in den Worten: „ſolche Saufbrü- 
der kommen ſobald nicht wieder, ausgefprochen, ob= 
ſchon hierunter nur ein gemeinihaftliher Schnaps zu 
verſtehen geweſen. Diefe Treue belohne fih jest; er 
hoffe von dem dankbaren Sohne im Teftamente ge: 
bübrend bedacht zu fein, denn Balthafar habe um 


12 


die rührenne Freundſchaft feines Vaters Kenntnif 
gehabt. 

Nicht weniger Hoffnung auf ein gefegnete® Ge— 
dächtniß im Kabul'ſchen Teſtamente machte fih Frau 
Urſula, verwittwete Glaſermeiſterin Kluge; deren Mut- 
ter der fiebzehnjährige Balthaſar vor ſeinem Davon⸗ 
laufen, wahrſcheinlich aus vetterlicher Aufmerkſamkeit, 
bedeutend den Hof gemacht, und dabei zugleich ihren 
Hof an all ſeinen Wänden mit kühnen Pinſelſtrichen 
bereichert hatte. 

Dergleichen roſenrothe Jugenderinnerungen, erklärte 
auch Frau Urſula mit pſycholegiſchem Scharfblick, ver- 
gäßen fih auf dem Sterbebette nit, und habe Herr 
- Haffan-ben-Mullah einmal an Niederroßla gedacht, fo 
ftünde ihre Frau Mutter felig oben an. 

Die drei Freier, welche vermalen mit Eifer am 
Zriumphwagen der jungen koketten Wittwe zogen, 
und wo jeder nadı Kräften bemüht war, ven andern 
vom Bode zu werfen und nöthigenfalls zu würgen, 
hörten ſolche Rede nicht ungern, obſchon fie im Chore 
ſchwuren und betheuerten, daß große Erbfchaft den 
Werth der Wittib und ihre Liebe zu derjelben nicht 
zu erhöhen vermöchte. Gleichwohl vernoppelten fie 
ihre Anftrengung, und jeder ftrebte aus Leibeskräften, 
Sologaul am Wagen zu werben. | 

Große Hoffnung auf die Erbfchaft baute auch der 
Schaufpieldirector und SHelvenfpieler Hanno, welcher 
mit feiner ambulanten Truppe zufälliger Weile in 
Nieverroßla gaftirtee Er hatte fünf Weiber gehabt; 
wovon ihm drei geftorben und zwei davon gelaufen 
waren. In Folge des angeftrengteften Nachdenkens 
brachte er heraus, daß feine zweite werblichene Frau 
die Pfarrerswittwe Felicitas ‘Drollinger, bei welcher 
jein kleines, jett ebenfall® verftorbenes Töchterlein 


43 


Amanda in die Stride gegangen, zuweilen Frau 
Muhme genamt. Hanno theilte dieſe erfreuliche 
Entvedung fofort dem Meubleur Hantufh mit, be 
welchem er feine einzige Walddecoration verfeßt hatte, 
verwied auf die aflatifhe Erbſchaft und verlangte, 
daß jener den Wald herausgebe. Hantuſch war kein 
Sanguinifer, und jchüttelte über des Directors erb- 
Ihaftlihe Muthmaßungen ungläubig ven viden Kopf. 
Hanno führte indeß das „rau Muhme” dem Zweif- 
ler ernftlih zu Gemüth, fo dag Hantnſch Einfehen 
befam und die Decoration bis zur Teftamentseräff- 
nung aus dem Arreft gab. ‘Dem Director fam dies 
ſehr gelegen, und er konnte nun den Wald bei Her- 
mannftadt, ein Kaſſenſtück, in Scene fegen, wie er 
längft gewünſcht. 

Ein andermeitiger Niederroßlaer, welcher auf die 
Erbſchaft ſpeculirte, aber ruhig und ohne Leidenſchaft, 
war ber Factor in ber Buchdruckerei, Herr Süßemild 
mit Namen, ein langer, dünner, fteifer, blafler und 
femmelblonver Knabe in den mittlern Dierzigern. 
Seine Anſprüche waren nicht meiter her, als die des 
Lagemann, der Klugin und des Hanno; darım fagte 
er gelafien: „wir warten es ab.’ 

Wir kommen jest zum legten Erpectanten, dem 
Magifter Betterlein, Quartus an der Stadtſchule, 
einem Heinen drolligen Männchen, der in feinen jun- 
gen Jahren Frankreich, die Schweiz und Oberitalien 
bereift und nun bereits feit dreißig Jahren von dem 
Ertrage diefer Reife zehrte. Dreißig Jahre lang er- 
zählte er in Nieverroßla von feinen ehemaligen Wan- 
derungen und war nod immer nicht zu Ende, denn 
fo wie e8 das Gefpräh einigermaßen gab, fam er 
darauf zurüd. Daffelbe war der Fall, ald Nummer 
16 des Wochenblatts viel Stoff zur Unterhaltung gab. 


Ark 


[| 


„Ein curiofer Fall,“ ſprach der Kleine, „als ich 
eines Tags von Montpellier nad) Marſeille wanverte, 


‚teaf ih mit einem Handwerksburſchen zufammen, ver 


mir von einer ähnlichen Erbſchaft in feiner Familie 
erzählte. Es wäre übrigens gar nicht fo übel, wenn 
fih einmal eine ſolche aſiatiſche Lachtaube in unferm 
guten Niederroßla nieverließ und goldne Eier legte; 
namentlih wär's den armen Schulleuten zu gönnen.‘ 

Eifenbeigen’8 Menfchen- und Nächftenliebe vergaß 
ſich am dreiundzwanzigften April nad Tiſche jo weit, 
daß er feinem Schreiber, nachdem er den mundirten 
Pachtcontract überflogen und belobt, für heute Yeier- 


‚abend gab, obſchon die Uhr erft auf Nachmittag halb 


Bier wies. 

„Dan bearbeite die Frau Mama,” gab er dem 
Samaliel auf ven Weg, „vaß fie fih von ihrem 
Rechte nichts wergiebt; feine Hand breit; das india- 
niſche Vogelneſt fann ihr nicht entgehen mit Rumpf 
und Stiel, fein Federchen darf fehlen, oder e8 müßte 
feine Gerechtigkeit hienieden geben; fo viel fag’ id). 

„Mebrigens verliere man nicht Kopf und Herz,“ 
fuhr der alte Praftitus fort, „wenn Aliens Schäße 
blinfen, man wolle nicht verfhwigen um Taumel bes 
Wohllebend, daß ich es zeither war, der Brot gab.” 

„9, nimmer, nimmer,‘ betbeuerte Gamaliel; jein 
janftes Auge ſchwamm in Wonne und das Herz wur 
voll von Freude und Frühling. 

„Dan hat manchen Bod geſchoſſen,“ meinte Ei— 
jenbeiß, „ich nahm's nicht genau; Dankbarkeit it 
eine hriftlihe Tugend, man ergebe fich im Freien, 
ed ift noch früh am Zage, die Jahreszeit paſſabel; 
Trühlingswind ſtimmt die Bruſt gelinde und ermun- 
tert das Herz zu dankbaren Gefühlen; ich muß mich 
nod) plagen.‘ 


15 


Das fchmerzte Gamaliel, er bat, daß es ihm er- 
laubt jet, fih auch mit zu plagen. 

‚ein,‘ erwieberte der Alte, „man laufe fi ein- 
mal aus, Bergluft erfrifcht das Blut, macht die Glie— 
der gelenkig, jtärkt die Geſundheit; man wird mir's 
in fpätern Zeiten noch danken.“ 

Dem Oamaliel, welchem Alles, was der Doctor 
Eiſenbeiß ſprach, Befehl war, eilte fehg und leicht, 
obſchon er Hundert Himmel in der Bruft trug, dem 
Thore zu. Für den Glüdlichen ift Einſamkeit wohl: 
thätig; die Nachmittagsferien konnten dem Schreiber 
daher nicht gelegener kommen. 

Schon blidte die Frühling athmende Landſchaft 
durh den Thortunnel, die Lerchen da draußen fangen 
fo. verheißend, al8 ein Gedanke ven Yüngling am Rod- 
fragen padte und ftehen hieß: e8 war der Gedanke an 
Felicitas. Gamaliel hatte mit der Guten über bie 
Erbſchaftsangelegenheit noch mit feiner Silbe geſprochen. 
Der Pachtcontract hielt ihn feit der frühften Morgen 
ſtunde am Pulie feit. „Dem Doctor, ſprach der gute 
Eohn für fi, „wird's nichts verfchlagen, wenn ich 
jpäter venne und vorher mit der Mutter Rückſprache 
nehme. Ich kann die Freudenlaſt allein fo nicht fort: 
bringen, und muß ein paar Kiften Goloperlen abwer- 
fen der Mutter in's Haus.” 

Je länger er darüber nachſann, deſto vechtichaffner 
erfchien ihm viele Anfiht. Sie fiegte auch und er 
ſchwenkte vermittelft eined Quergäßchens links vom 
Trühlinge ab und ftürmte nad) der Wachsbleiche, fo 
hieß die Häuferreihe, wo Yelicitas beim Horndrechsler 
BZiegenbalg, einem gottesfürdhtigen Manne, zur Miethe 
wohnte. Auf dem Wege dahin hatte ver Schreiber 
viel Freudigerſtickendes auszuftehen. ‘Da die Straßen- 
pflafterung in Nieverrofla nie recht gedeihen wollte, 


486 


jo hatte Gamaliel zu ſchwimmen und zu waten. Der 
halbe Winter lag überall noch im Wege und befand 
ſich eben noch in völliger Auflöfung. Unfer Held jah 
fi) daher genöthigt, wie ein verfolgter Gemsbock von 
einem trodnen Fledchen zum andern zu fpringen. Da- 
bei warb er häufig begratulixt wie am Neujahrstage, 
was viel Aufenthalt und viel haflige Freude verur- 
ſachte. Bei der Nidels-, eigentlich Nikolaikirche, ſtak 
er eben bis an die Waden im Morafte und würde 
vielleicht einem fanften Fluche freien Lauf gelafjen haben, 
hätte er ſich nicht in fo heiliger Nähe des Gotteshau- 
je8 befunden, als er plößlid) fogar vom Himmel herab 
angerevet ward. Er fehaute aufwärts und entvedte 
ben Kopf des Calcanten und Pulfanten Schnuphafe, 
der aus einem Schalllohe bes Thurmes herab gratu- 
lirte und den Segen fprad). 

„Das Poẽem kommt morgen in Arbeit, verhieß 
Schnuphafe, der bei jedem freudigen Ereigniß, fo einem 
Nieverroßlaer paffirte, mit einem Carmen vorfuhr. 
„Aber jagen Sie mir, gefhägter Herr Drollinger, wie 
Ihr edler Herr Vetter nah Kabul avancirt ift und 
überdies nad) Hof? Er wird doch der Augsburgijchen 
Confeffion treu geblieben fein ? Was meinen Sie, Herr 
Drollinger ? Der Herr Superintendent ſoll heut Mit- 
tag bei dem „Haſſan-ben-Mullah“ jehr nachdenklich 
mit dem Kopfe geſchüttelt haben.“ 

Gamaliel ward durdy diefe Rede in üble Lage ver- 
ſetzt. Während er mit den Füßen immer tiefer in den 
Sumpf fant, follte er nah dem Schallloche hinauf 
dem lauſchenden Calcanten die Glaubensfeftigkeit feines 
Betters außer Zweifel ftellen. 

Er ſprach mit Wärme über den Zeftator, den er 
nur nad den Ausfagen feiner Mutter kannte und be= 
ruhigte Schnuphafen und ſich durch die Worte, daß 


47 


bei dem künſtleriſchen Hofmaler ein Renegatenthum 
nicht denkbar, noch viel weniger glaubbar je. Es 
würde ihn dann ein böfes Gewiſſen ficher nicht an 
das chriftlich = proteftantifche Niederroßla in feinem leß- 
ten Willen, welches ja Fein egoiftiicher, ’ fonvern ein 
moralifher und heiliger fei, haben denken lajien. 

Schnuphaſe, weldem viefer Grund einleuchtete, 
nidte Beifall aus der Höhe und zog den Kopf zurüd; 
Gamaliel that dafjelbe mit feinen zwei Füßen, die er 
wie Delmübhlenjtampfer aus dem Sumpfe hob, und 
begann wieder zu jpringen, ver Wachöbleiche zu. 

Er wollte jo eben mit ſtürmendem Herzen in die 
Stube und der Mutter um den Hals fallen, als er 
den Zugang zu dem Gegenftande feiner Zärtlichkeit 
durch nicht weniger denn ein Dutend theilnehmender 
Nachbarinnen verrammelt fand, die fi ſämmtlich aus 
Theilnahme für das freudige Geſchick der Wittwe 
Drollinger, obſchon es Sonnabend war, zum Kaffee 
eingeladen hatten. Mit Zaubenfanftmuth ſaß Telici- 
tas inmitten der geſprächigen Nachbarſchaft und theilte 

der gefräßigen weiblichen Neugier, welche jedes Wort 
vom Munde wegichnappte, die fchon zehnfach wieder: 
holten dürftigen biographiſchen Notizen über den Hof: 
maler mit; wie derſelbe fie und ihren jeligen Mann 
in Ringethat beſucht, ehe er in die weite Welt ge— 
gangen, und ſich mehre Tage bei ihnen aufgehalten 
habe. Seit jener Zeit ſei ihr aber nicht die geringſte 
Nachricht von ihm wieder zu Ohren gekommen, ſo 
daß ſie ihn endlich als todt betrauert. Das Schönſte 
aber hierbei, wie ſie dem Lehrling ihren einzigen treu 
bewahrten Sparducaten auf den Weg gegeben und 
ihm gerathen, nicht wieder zum Beutler zurüdzufeh- 
ven, fondern fein Glück im Zeichnen zu verſuchen, und 
ihm für, diefen Zwed einen Empfehlungsbriet an canen 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVII. 2 


18 


entfernt verwandten Seichnenlehrer in der Stadt über- 
macht, verichwieg fi. 

Der weibliche Convent fand fi durch dergleichen 
wenig erichöpfenden Mittheilungen nicht ganz beruhigt 
und erging ſich in Hypotheſen, wie der davon gelau- 
fene Beutlerlehrling nah Kabul gefommen und Hof- 
maler geworben; eine Frage, welche halb Niederrofla, 
den Bürgermeifter und den Genat nicht ausgenom⸗ 
men, mehre Nächte lang unruhige Träume machte. 

Der gute Sohn, als er „piefe Fülle der Ge- 
ſchichte“ erfchaute, prallte erfchredt zurüd und fuhr in 
die Kühe, wo er nah Bürſte und Wichfe ſuchte. 
Während er mit erfterer verzweifelt hin und wieder 
fuhr und fi wieder auf glänzenden Fuß zu feten 
bemüht war, burdzudten Freudenblitze fein Gehirn 
und Herz. Der weiblihe Senatusfrequend am Scheu— 
ertage fchien ihm von vorzüglicher Vorbedeutung. 
. Die Nahbarinnen waren ihm jammt und ſonders 
Sybillen, welche Segen und Freude prophezeiten. 

„Es fällt gewiß außer dem Sonntagsrddchen noch 
was ab,” fprad er wichfend und Treudentropfen fie- 
len aus den blauen Wunderaugen; er gedachte der 
mit Armuth kämpfenden Mutter. „Es find ja die 
angefehenften Frauen drinnen,” fuhr er fort, „pie kom⸗ 
men nicht wegen einer Bagatelle.“ 

Während Gamaliel in der Küche wichfte und 
weinte, ging’8 über ihn her im Frauencolleg, chrift- 
lich und liebreich. Sein plößliches Erſcheinen und 
Verſchwinden hatte die Aufmerkſamkeit auf ihn gelenkt 
und die Rede auf ihn gebracht. Man überfahb dem 
boffnungsreihen Erben menfchenfreundlih das fahrige 
Weſen und ließ feiner madonnenhaften Schöne gebüh- 
vende Anerkennung wiverfahren. Wir biejenigen, wel- 


N 


x 


19 


hen heirathbare Töchter zu Haufe ſaßen, war der 


Sohn der Wittwe Ideal. Felicitas jelbft athmete in 
ſtiller Mutterfeligfeit das Lob des Sohnes ein und 
pries fein Herz unparteilih und wahr. 

Gamaliel war unterdeß mit feiner Parterretoilette 
zu Stande, er hätte, was den Glanz feiner Stiefeln 
anlangte, als Hufarenrittmeifter oder als Küraffier 
getroft auf dem Hofballe ericheinen künnen. Er ftedte 
jest den Kopf vorfihtig in die Röhre des Kochofeng, 
welcher zugleih die Stube wärmte, um heraus zu 
befommen, ob vie weiblihe Nachbarfchaft feine An— 
ftalt treffe, in den Schooß ihrer refpectiwen Familien 
zurüdgufehren, aber das unaufhörlihe Taſſengeklirr 
ließ ſobald an feinen Aufbruch venfen und die gejel- 
fige Unterhaltung war noch im beften Gange. 

„Diefe Kaffeegeſchichte,“ ſprach er, behutſam ſei⸗ 
nen Himmelsglobus aus dem Krater zurückziehend, 
„kommt mir eigentlich fatal, obſchon er von frohſter 
Vorbedeutung iſt. Ich läge gern an ihrer klopfenden 
Bruſt und wir bauten Luftſchlöſſer, himmelhoch. Ich 
will noch bis hundert zählen, wenn die Nachbarſchaft 
bis dahin das Feld nicht räumt, lauf' ich ohn' Wei- 
teres in die Berge und unter Die Lerchen, nah Ei- 
ſenbeißen's Wunſch und Gebot.“ 

Gamaliel war mit hundert zu Ende und gab noch 
funfzig zu; aber vie Kaffeenifite dachte an feinen Auf- 
bruch. Er ward ungeduldig und machte fid) marjch- 


„Sin Weiberdiskur ift ſobald nicht tobt zu ma- 
hen, fprad) er, „das Mühlenwerf treibt noch Iuftig 
und id) kann die halbe Welt umlaufen, ehe die zur 
Ruhe und nah Haufe kommen.‘ 

Er vrüdte die Thür in's Schloß und wollte fo 
eben durch das Hinterthor, welches durch gan arten 


20 


nah ven Bergen führte, die Flucht ergreifen, ald ihm 
Felicitas, welche, um ihn zu fuchen, auf einen Au- 
genblid vie Gejellihaft verlaſſen hatte, entgegentrat. 

‚Ad, Mutter!” war ver einzige Ausruf, mit wel- 
chem Gamafiel der Geliebten an’e Herz eilte. 

Felicitas ſprach fanft und ruhig: „Mein guter 
Sohn, überlag Did nicht zu fehr einer Hoffnung, 
die eben jo leicht zerfließen kann, als fie vielleicht 
trügend aufgeftiegen iſt.“ 

„Beſtes Mutterchen,“ ſchwur der Glückliche, „va 
ſteckt was dahinter, vielleicht viel, ach viel; ver Doc⸗ 
tor (Eiſenbeiß nämlich) ſagt's auch. Cr meint, Eng- 
land befaſſe ſich nicht mit Lappalien. ‚Mutter, Mut⸗ 
ter, Du wirſt wieder glücklich werden.“ 

„Bin ih denn nicht glüdlih, wenn Gama gut 
bleibt und mid, immer liebt?“ frug Felicitas, ven 
ſchönen Sohn mit Mutterſeligkeit anblickend, „gleich⸗ 
wohl will ich gern geſtehen, daß es mir große Freude 
machen würde, wenn der Himmel uns, wenn auch 


nm eine ffeine Gabe, beſcheerte — Tu könnteſt 
Dir vielleicht manch' gutes Buch kaufen, was ich ſo 
wünſche.“ 


„Erſt ein Sonntagsröckchen, Mutterchen,“ eiferte 
der Schreiber. 

„Aber willſt Du nicht mit in die Stube kommen? 
Man hat Dich einmal geſehen und ed war viel Nach— 
frage nah Dir.“ 

Samaliel, ver fib bei diefem Berlangen wie ein 
wildes Thier vorfam, das vor eine glänzenve und 
ftaunende Verfammlung geführt werben jollte, hob 
beſchwörend alle zehn Finger in die Höhe, indem er 
zugleid auf Eiſenbeißen's Urlaub und Wunſch pochte, 
der ihn in die Berge trieb. 

Felicitas, welche ihren Sohn kannte, lächelte und 


31 


brang nicht weiter in ihn, ermahnte ihn nur, zum 
Abendſüppchen wieder da zu fein, wo fie auch ein 
Glas Glühwein bereit halten wollte. 

„Du biſt und bleibft meine Engelsmutter,” jubelte 
Gamaliel, „aber jetzt leb’ wohl, damit ich nod ein 
Stüd Eonne erhaſche; fie kann nicht mehr hoch über 
den Bergen ftehen.‘ 

Er ftürmte fort und Felicitas kehrte nach bem 
‚ Kaffeezimmer zurüd. 


Zweites Kapitel. 


Use grünen Knospen hing die Abendfonne, ein 
leuchtender Gedanke Gottes in der ſchönen Welt. Der 
blaue Fluß athmete leicht und heiter durch das früh- 
lingſchauernde Thal. Seine Haren Wellen drängten 
fofend und nedend gegen bie weichen ſchwellenden 
Ufer. Ueberall brach es he.vor golden und grün. 
Die Luft war ftill und mild; aus den erwärmten 
Wiejenboden blickte hier und da ein blaues Veilchen 
oder Crocusglöckchen; Lerchengeſang durchklang den 
blauen Himmel. 

Gamaliel wallfahrtete den Fluß zur Rechten in 
die nahen Abendberge, hinter welchen die Besper 
glocke eines naheliegenden Dorfs den morgenden Sonn= 
tag verkündete. Er blieb oft ſtehen und ſchaute vom 
Uferrande in die weichen ſtillen Wellen, in denen ſich 
das hohe Ufergras und fno8penfchtellendes Erlenge- 
büſch wieberfpiegelte. 

Der Menfh ift erft dann Menfh im ſchönen 


22 


Sinne diefed Worts, und Gott und der Natur und 


feiner wahrhaft werth, wenn er gefund, die Bruft 


vol Frieden, ven Bli beruhigt auf der Welt ruhen 
läßt. Verklärt dann noch eine heilige Freude fein 
Herz, fo entfchwebt er bereits der Erde und die Räth- 
jel des Lebens beginnen ſich zu löſen. Die Liebe trägt 
ihn empor, der Glaube wird zur überzeugenden Ge— 
wißheit, die von dem Gebraufe des Lebes übertäub- 
ten Wahrheiten tönen wie Glocken ſchönrer Welten 
an das geiftige Ohr und er ift eine Zeit lang für 
geftorben zu betrachten. Diefer Zuſtand würde für 
immer - fortvauern und in erhöhterm Grade, wenn 
in folhen Augenbliden die Todeshand leife die Bruft 
berührte und das irdiſche Herz ftillftehen ließ, damit 
das himmlische freier pulfire. Der Menſch kann aber 
eine anfehnlihe Dofis Himmelsfreude, jo wie viel 
Ervenleid ertragen, ohne daran zu ſterben; doc bringt 
er von folder Sternenfahrt tet? einen Straus himm= 
lifcher Blumen’ mit, deren Duft ihn noch lange unter 
den feuchten Wolkenſchatten und Erdſchollen erquiden 
und — bie ihn nicht zu Schanden werden lafjen im 
irdifhen Gomorrha. Aehnliche Ausbeute gewährt ſchon 
eine Flucht in die Einfamfeit, wenn's dem Flüdht- 
ling nämlih wahrer Emft um die Einſamkeit ift, 
theils um fih die Wunden, die er in der Yebens- 
Thlaht erhalten, zu verbinden und Balfam zu fam- 
meln für die Heilung, theild um als forgjamer Haus 
vater mit feiner verjchiedenen Inwohnerſchaft Rechnung 
abzufchließen. Jever Menſch trägt ſein Bethanien in 
fih, wo er den Bater und den Sohn finden und 
jpredhen kann, er mag fchulobelaftet oder im weißen 
Gewande der Unſchuld, heiteren oder weinenden Her- 
zend eintreten; doch wird der Vater der Liebe den 
Schuldbelaſteten und Weinenden eher vorlaflen. Nur 


23 


das Herz felber muß der Menſch mitbringen, jonft 
wird er erftens fein Bethanien, ſondern ein Schirke 
und Elend oder gar eine Löwenhöhle, und zweitens 
feinen Vater und drittens feinen Sohn finden. Es 
entfchuldige fich übrigens Niemand, er fet Hausbe- 
figer oder Miethbewohner oder Aftermiether, daß im 
Logis fein Ort zu haben zur ftillen Einkehr, oder 
daß die Gefellen und Lehrburſchen zu jehr hämmer- 
ten und Mägde und Kinder rumorten. Er ſuche nur 
und er wird finden, Bethanien ift für den wahrhaft 
Suchenden näher als. die Kirche, in weldhe er gepfarrt 
ift, und ein einfach Gebet kann zum Abendmahle werben. 

Gamaliel wandelte wie jeder Menſch zwiſchen Him- 
mel und Erde, am Knospen umhangenen Loffaufer; 
nur daß ihm der Himmel ein folder auch war und 
die Erde die Vorhalle. Die Schatten der Abenb- 
berge lagen weit im Thale dahin. Schon wateten 
feine Füße im Dunkel, während Bruft und Kopf noch 
flammeumflofjen emporragten. Er begann jett zu 
galoppiren, um die einige hundert Schritte entfernte 
Marienhöhe zu erreihen, von wo er fchon oft einfa= 
mer Zeuge des Sonnenuntergang® gewefen war. 

„Eine junge Mutter, den Säugling im Arm, einen 
Regenbogen, einen Sonnenuntergang, einen Veſuvaus⸗ 
bruh mit dem Buſen von Neapel, die Alpen, die 
Nordſee, die Dresoner Gallerie, die Pyramiden, einen 
amerifanifchen Urwald, den Syrius, die Petersfirche, 
das find alles Dinge,“ ſprach Gamaliel oft zu fich, 
„die man nicht oft genug fehen kann.“ 

Es gefiel ihm daher feine andre Bank, die Ofen- 
bank in Winterabenvden nicht ausgenommen, mehr, als 
die einfache Bretbanf, welde am Stamme des alten 
Lindenbaums auf der Marienhöhe zur Beobachtung 
des Sonnenuntergang ſehr zweckmäßig angebradt 


424 


war. Man konnte von hier ſitzend und mit dem 
Rücken an den Lindenſtamm gelehnt, das glänzende 
Schauſpiel auf das Bequemſte mit anſehen, ohne daß 
man einen Kreuzer Sitz- und Sehgeld zu entrichten 
gezwungen gewejen wäre, obſchon eine blecherne Büchſe 
mit der Weberfchrift: „Zur PVerfchönerung der Ma— 
rienhöhe” oberhalb des ehrwürbigen Baums angena= 
gelt war. 

Gamaliel hatte e8 feinem Galopp zu verdanfen, 
daß er gerade auf dem Belvedere anlangte, al$ die - 
Sonne untergehen wollte Er war fo erfreut bar- 
über, daß er mit bloßem ‘Dank diesmal nicht durch— 
zufommen fürdhtete und fi zu Leiſtungen verpflichtet 
hielt. Demzufolge rollte, gleihfam als Sonnenopfer, 
der Kreuzer für das morgende Frühſtücksbrotchen in 
die Verſchönerungsbüchſe. Er fiel tief, und der Fall 
Hang hohl, ein Zeichen, daß bie zeitherigen Beſucher 
der Höhe nicht eben rothſchildmäßig ſich aufgeführt 
hatten, welches Gamaliel ſchmerzte. 

Für ſeinen Kreuzer genoß aber der leutſelige Geber 
eins der großartigſten und koſtbarſten Schauſpiele, das 
dem Menſchenauge und. Menſchengeiſte vorgeführt wer- 
den kann. Die Sonne ging hinter einer mit Birken 
bewachſenen Anhöhe unter, die erſt vorige Nacht in 
Folge eines warmen Gewitterregens mit dem erſten 
zarten Grün war bekleidet worden, und verſank ſo 
unter Lerchengeſang und Abendlauten in das jung- 
fräulichite Brautbett. Es gewährte einen hinmlifchen 
Anblid, wie der frifhgrüne Birkenwald immer gold- 
ner wurde und im euer aufzugeben fehlen, und wie 
die untergehende Sonne ihr Ylammengewand über 
ſämmtliche Abendberge breitete. 

„So ſtirbt ein großer Menſch,“ ſprach Gamaliel, 
deſſen holdſeliges Antlitz in Einem fort nach Abend 


25 


ſchaute, „er ſcheidet, wie er gelebt, groß, herrlich und 
ftil, um einer neuen Welt als Morgenſonne aufzu- 
gehen.“ 

Der Rofaduft der geftorbenen Blume durchzog aber 
noch lange den blauen großen Dom; immer tiefer 
binter die Berge ſank ver leuchtende Tag und bie 
leis nachſchleichende Nacht warf einen Flor nad dem 
antern über den letzten rothen Saum der Abenpberge. 
Dämmerung hüllte. Flur und Wald in geheimnißrei« 
ches Dunkel, und der Abenpftern, welcher fhon im 
bleihen Mantel der Abenpröche ſchwach gefchimmert 
hatte, trat fiegend hervor. 

„Die Welt,” fuhr Gamaliel auf feiner Breter- 
bank fort, „kann eigentlich gar nicht herrlicher einge: 
richtet fein als fie es ift. Kaum hat uns das ftrah- 
lende Tagsgeſtirn verlaffen, fo bredien neue Erben 
und Sonnen aus dem Weltenabgrunde empor, und 
verfünden die Allmacht Gottes überzeugenver als ver 
blendende Tag. Mit dem Menfchen ift e8 ebenfo. 
Erft nad dem Sonnenuntergange des Lebens treten 
die Sterne der Unfterblichkeit in himmliſcher Schöne 
hervor, und erleuchten freudig und glaubenshell das 
Schattenthal des Todes. Ich begreife daher nicht, wie 
der Menſch, jo er nicht gemüthskrank oder bös, und 
als leßterer ift er auch nur franf und fann und wird 
gefunden, ven Tod fo kohlſchwarz, erpfahl und knochen— 
beinig finden kann, daß ver Gedanke daran ihm fchon 
Zittern und Zähneflappern erregt. Das fid) abängfti- 
gende Bolf ſollte doch mr aufpajjen und einfehen | 
lernen, wie der liebe Gott Alles aufbietet, die Yebens- 
fuftigen an das Sterben zu gewöhnen; er läßt jie 
alle Abende einfchlafen und den nächſten Morgen neu- 
geftärft und Iuftig aus dem Bette |pringen. Wenn 
der Tod bequemer eingerichtet wäre, als er es ift, fo 


26 


würde das Ervenland über furz over lang eine Wüſte 
werden, und jeder Schuljunge nad erhaltener Kopf- 
nuß das Zeitliche abjchütteln und verklärt den Ster⸗ 
nen zuſchweben.“ 

Gamaliel philoſophirte noch geraume Zeit, wäh- 
rend der Sternenhimmel fidy über ihn immer pradt- 
voller aufſchloß. Die Luft z0g frühlingswarm über 
die Berge und die ſchlummernden Knospen. 

„Ich wünſcht', ich wäre ein Keim,” fuhr der Phi— 
lofoph fort, „und könnte morgen früh, wenn bie 
Sonne über die Berge .teigt, hervorbrehen und die 
Herzblättchen auseinanderfalten im Schöpfungsfaal. 
Die Sonne und der blaue Himmel muß fi prächtig 
ausnehmen nad) der langen Winternadht in feuchter 
Erve. Auch eine Lerche möcht” ich jein, die fieht Alles 
von Oben mit an, oder die grüne Fichte auf hohem 
Gebirg’, oder die Alpenblume, oder die demantreine 
Duelle, die aus ummaldetem Felögeftein bricht und 
viele8 Andere. Vor der Hand danf ih aber dem 
lieben Gott von Herzen, daß ich bin, wozu er mid) 
gemacht hat.” Er gedachte bier an feine Mutter, an 
die Erbfchaft und an ven Slithwein, der ihn zu Haufe 
erwartete, 

„Wenn der Glühwein nicht wäre,‘ meinte der Schrei- 
ber, „und die erbfchaftlichen Angelegenheiten, jo weiß 
ih nicht, ob ich nicht noch ein halb Stündchen hier 
figen bliebe und dem finfenden Abenpftern zufchaute; 
ih habe ihn lange nicht in foldher Pracht geſehen.“ 

Samaliel war jegt aufgeftanden und überjchweifte 
nochmals die int Dunkel ruhende Erde, auf welde ver 
reihe Sternenhimmel herabſchaute. 

„Das muß ein außerordentlicher Frühling werben,“ 
ſprach der Yüngling, indem er den Heimweg antrat, 
„wenn die warme Witterung anhält, ift in ein paar 


27 


Tagen Alles grün, fo weit das Auge reiht, die Knos— 
pen liegen ellendid auf Berg und Thal. Ich laufe 
dann fiher alle Tage in's Weite und nehme Mutter- 
hen mit. Unterdeß löſt ver weife Kath die Erb- 
Ichaftsfiegel, und da fällt gewiß Etwas ab. Ich darf 
nicht recht darüber nachdenken, wie das jchön werden 
kann. Man hat mit dem Frühling vollauf zu thun 
und erbichaftet dazu. Ich werde den lieben Gott bit- 
ten, daß er mir tragen hilft oder die Schultern recht 
kräftig macht, damit ich unter der Laft nicht erliege. 
„Wenn nur von der afiatifchen Hinterlafienfchaft 
bes guten Onkels nad) Abzug der Sportuln, des 
mütterlihen Sonntagskleidchens jo viel übrig bliebe, 
rechnete Gamaliel auf dem Heimmege, „daß ich den 
Matthiſſon und Stein's Erdbeſchreibung an mid) bringen 
könnte. In der Geographie war ih vom jeher fein 
Held; jo kann man mic umbringen, ih weiß nicht 
zu fügen, wo das gefegnete Kabul liegt, ob es ein 
Königreih oder Kaiſerthum, ob man dafelbft einen 
einzigen Gott anbetet oder mehre, und ob daſelbſt 
die Menjchheit in Kaftanen oder Oberröden und Fracks 
einherfchreitet.. Ich will nicht ſchlimm denken von mei- 
nem Nächſten, aber ich glaube, der Herr Bürgermeifter 
ſchwebt hierüber gleichfalls im Dufter, und ift die Frage, 
ob es Eifenbeiß weiß. Alfo eine emfichtsoolle Geo— 
graphie paßte ſchon lange für meine Umſtände. Sie 
war feit je ein „tiefgefühltes Bedürfniß“ für mid, wie 
die Herren Buchhändler in ihren Bekanntmachungen 
zu jagen pflegen. Mit Matthiffon’&  herrlihen Ge— 
dichten ift ein Gleiches der Fal. Mit ihnen muß 
fi) der Frühling noch einmal fo ſchön durchleben laf- 
jen. Ich werde mic gern mit der fleinen Ausgabe 
begnügen, die nicht zu theuer if. Für zwanzig gute 
Groſchen erhält man den ganzen reihen Strauß Ge— 


28 


dichtblumen fammt fauberm Titelblatt und Inhalts— 
verzeihnig. Es ift doch was Schönes um die Buch— 
druderfunft. Sollte Kabul was Erkleckliches abwerfen, 
würde vielleicht gar zum erften Bande der Schiller'- 
ſchen Gedichte Rath, ven zweiten befitt die Mutter 
noch aus der Hinterlaffenfchaft des guten Vaters. Ei, 
wollt’ id) dann der Felicitas vorlefen, Sie hört gar 
zu gern wad Schönes. Auch der Vater hat ihr ehe- 
dem oft vorgelefen in Ringethal, wie fie mir erzählt. 
Dod nicht unbefcheiden will id) in meinen Wünſchen 
fein; wenn's nur vor der Hand den’ Stein abwirft, 
Matthiffon und Schiller bleiben dann für fpätere Zei- 
ten. Man muß nicht Alles auf einmal haben.“ | 

Samaliel zog, einen Sternenhimmel über ſich und 
einen zweiten in der Bruft, jubelnd durch's Thor, und 
erreichte wohlgemuth die Parterrewohnung feiner Mut: 
ter. Borfichtig laufchte er zuvor an den gejchlofjenen 
Fenſterläden, ob ſich nicht eine der nachmittäglichen 
Kaffeetauben noch verhalten und der guten Mutter in 
die Ohren girre. Aber fie fchienen fänmtlic nad) 
ihren Neftern zurückgekehrt; es war ftill und dem 
Schreiber fiel ein großer Stein vom Herzen. Er 
ftürmte nun ſelbſt mit großer Haft in's mütterliche 


.Neſt. Der Glühweinduft durchzog würzig das rein- 


liche Stübchen, und verfette den intretenden in 
Eckſtaſe. 

„Mütterchen,“ betheuerte er, „es funkelt über dem 
Dache eine Sternenwelt, um die uns die Engel im 
Himmel beneiden müſſen, aber, erzähle mir jetzt vor 
allen Dingen ebenfalls von Balthaſern und ſag' mir, 
wo Kabul liegt und welche Verfaſſung dieſes Fand 
hat. Ju unferm geographiſchen Kalender ſteht kein 
Wort darüber, das weiß ich, ſonſt wüßt' ich's. Uebri— 
gens kann ich mich, bei Licht beſehen, ich hatte an 


29 


dieſen Fall gar nicht gedacht, über die. Erbſchaft nicht 
einmal recht freuen; es ift eine wahrhaft üble Ein- 
rihtung, daß bei einer Erbſchaft allemal Jemand 
zuvor gefterben fein muß; und diesmal noch dazu ein 
jo naher Verwandter.“ 

„Du baft vet, mein Gama,“ erwiederte Felici— 
tas, „auch hab’ ih mid nicht eben gefreut; ich 
hielt mir die Himmelsbotſchaft dagegen, wenn ver Bal- 
tbafar ſelbſt plötzlich heimgekehrt wäre nad) Nieder- 
roßla. So ift er gejtorben unter fremden Menſchen, 
im fernen Alien, in der Blüthe feiner Jahre, und 
hat noch im Tode unfrer liebend gedacht.“ 

Gamaliel trodnete ſich eine Thräne; die Mutter 
fuhr fort: „Sch fehe ihn noch vor mir den jungen 
hübfchen Burfchen mit dein weichen geringelten Haar 
und den heitern, muthigblidenden Augen, wie er, das 
NRänzlein auf dem Rüden, Abfchied nahm, und dahin 
wanderte die alte Kaftanienallee, und immer ftehen 
blieb und zurüdblidte und mit dem blauen Tafchen- 
tüchlein Lebewohl winfte, bis er hinter einem blühen- 


ben Weizenfelde verſchwand. Du warft damals erft” | 


wenige Monate alt und lagſt nody in der Wiege. 
Baltbafar konnte fih an Div nicht fatt fehen und 
ſchwur, wenn er's einmal zu etwas Reellem brächte, 
wollte er Alles mit Div theilen.‘ 

„Der Gute,” ſchluchzte Gamaliel, „o daß er lebte, 
wie wollt’ ich ihm lieben. Was helfen jet alle Reich— 
thümer Aſiens, da er ung feldft entrifien. Hat er 
denn auch gar nicht einmal gejchrieben ?‘ 

„gen eriten und legten Brief, erwiederte Felici— 
ta8, „erhielt ih aus der Reſidenz, wo ih ihn an 
einen geſchickten Zeichnenlehrer empfohlen hatte. Dort 
machte er die Belanntichaft eines Funftliebenden Eng: 
länder, dem er nad) Italien folgte. Seit diefer Zeit 


30 


vernahm ich feine Silbe wieber, fo daß ich ihn ſchon 
längſt als tobt betrauerte. Hoffentlich ft es ihm 
aber, und namentlid in ven letten Jahren, recht 
wohl ergangen. 

„Ach,“ meinte Gamaliel, „einen guten Menſchen 
kann es gar nicht bös ergehen, denn er hat ja ſtets 
den lieben Gott auf ſeiner Seite; aber Du haſt mich, 
Mutterchen, wirklich ganz traurig geſtimmt, und je 
mehr wir erben, um ſo wehmüthiger werde ich ſein.“ 

„Du mußt hier auch erwägen,“ verſetzte die ſanfte 
Mutter, „daß, wenn uns der fromme Wille des 
Heimgegangenen Etwas beſcheert haben ſollte, wir 
die Gabe eines guten Menſchen nicht mit Schmerzen 
empfangen, denn er wollte uns ja eine Freude damit 
bereiten. Uebrigeng, ” fügte fie lächelnd hinzu, „wird 
unſer Geſpräch faft fomifh, da es über eine Exb- 
Ihaft handelt, die wahtfcheinlih im Monde Tiegt. 
Wie ih dem feligen Balthafar in feiner Jugend fen- 
nen lernte, fo fehien er mir nit von dem Tempera— 
mente, Reichthümer anzuhäufen. Wir wollen uns da—⸗ 
her in unfern Erwartungen nicht zu hoch verſteigen 
und die Erbfchaftsangelegenheit ftil auf ſich beruhen 
laſſen. Hat uns der Himmel Etwas zugedadit, ei, 
wir nehmen es mit großem Danke; doch glaube ich, 
nod immer, daß der gute Balthafar, der fchon in 
feiner Jugend aus froher Laune und Luftigen Stüd- 
leins zufammengefeßt war und gar zu gern vie Leute 
nedte, fi) einen Scherz gemacht, um das gute Nie- 
berroßla, ‚dem er nie zugethan war, fo zu fagen in 
den April zu ſchicken.“ 

Gamaliel erblaßte, fein Erbſchaftshimmel mit 
fammt der Stein’fchen Geographie, dem Meatthiffon 
und Schiller, ſtürzten bet den mütterlihen Worten 


plöglih zufammen; nur Eiſenbeißen's Ausfagen biel- 
ten ihn in Etwas aufrecht. 

„Aber follte,” frug er, „das gewaltige England 
zu dergleichem Stüdlein feine Hand bieten?“ 

"Felicitas vieth, den Ausgang ruhig abzuwarten. 

Der Sohn theilte jeßt des Doctors Anficht und 

Kath mit, die Sache nicht auf die lange Bank zu 
Ihieben und auf Teftamentsöffnung anzutragen. 
» ‚Ren, mein Gama,” verfegte die Mutter, „wir 
wollen; nichts übereilen, jondern Alles ftil feinen Gang 
gehen laſſen. Je eifriger wir nad) dem bis jegt nur 
iheinbaren Glücke ftrebten, um fo niederſchlagender 
wärbe eine Enttäufhung und um fo größer der öffent- 
lihe Spott und die Schadenfreude fein. 

Der Sohn nahm fi zwar bie mütterliche Rede 
zu Herzen, im Innern aber war er noch ftark im 
Glauben an die Erbſchaft. „Eifenbeiß,” ſprach er zu 
fih, „verfteht fi) auf folde Dinge, der würbe bie 
Sache lange nicht fo ernithaft genommen und mir 
bereit8 halb Pier Uhr Urlaub gegeben haben, wenn 
nichts dahinter ſtäke.“ 

Er begann alſo mit ziemlicher Hoffnungsfröhlid- 
feit, obſchon er ſich hütete, feine großen Entwürfe 
hinfichtlic) des Bücherankaufs der Mutter mitzuthei- . 
len, ven belebenden Glühwein zu fchlürfen, welchen 
ihm Felicitas darreichte. Da trat ihm aber, faum 
hatte.er eine halbe Taſſe hinunter,- das Herz wieder 
auf Die Junge, und er mar eben im Begriff, bie 
fühnften Luftjchlöffer auf dem noch uneröffneten Te— 
fiamente aufzubauen, als fid) die Thür öffnete und 
ber große Geograph von Niederrofla, der Gottesfa- 
fienvorfteher, Chriftian Henody, ein Bud, unter dem 
Arme, eintrat. Er nahm fofort auf dem bargebote- 
nen Stuhle Plot, und begann, die Geographie auf- 


ſchlagend, in feiner ununterbrochenen eintünigen Re— 
bemeife: 

„Es dürfte ſicher von außergewöhnlichem Intereſſe 
ſein, Etwas von den Forſchungen zu vernehmen, ſo 
ich über das aſiatiſche Staatengebiet Kabul, welches 
dermalen Alt und Jung außergewöhnlich beſchäftigt, 
angeſtellt, in Erfahrung zu bringen. Nach ange— 
ſtrengtem Studium und mühſamer Quellenforſchung 
iſt es mir gelungen, über beſagtes Kabul, auch Ka— 
buliſtan oder Afghaniſtan genannt, zu berichten wie folgt: 

„Dieſes Königreich, ehedem zu Perſien gehörig, 
umfaßt einen Flächenraum von dreizehntauſend Qua— 
dratmeilen, iſt von hohen ſchneebedeckten Gebirgsket— 
ten durchzogen, von denen einige bie Höhe von zwan— 
zigtaufend Fuß erreichen. "Der Hauptfluß ift der In— 
bus. Es gibt zahlreihe Steppen, doch aud) viele 
fruchtbare üppige Gegenden, zahllofe Gärten, worin 
die orientaliihe Frucht⸗ und Blumenwelt in reicher 
Pracht gedeiht. Die Zahl der Eingebornen beläuft 
fih auf vierzehn Millionen, und fie find fehr ver- 
ſchiedenen Stammes, den Perſern und Hindus ver- 
wandt, theil® völlige Nomaden, theild® in Städten 
und Dörfern wohnend, und. Halbnomaden, die nur 
eine Zeit lang im Jahre umherziehen. Viehzucht und 
Aderbau find Hauptbefchäftigungen, doch finvet ſich 
in den Städten auch einiger Kunftfleig. Die Bewoh— 
ner find kriegeriſch, roh und räuberifh, aber gaftfrei, 
befcheiden, freimüthig und ohne Tüde, von Yarbe 
gelb und braun. Sehr merkwürdig ift alljährlich vie 
Regenzeit, Munfun geheißen, welde vier Monate 
dauert und das ganze Land überjchwenmt. Ihr Her: 
annahen wird dur große Wolfenmaflen angekündigt, 
welche dem indischen Ocean entfteigen, und je näher 
fle heraufkommen, immer ſchwärzer werben. Der 


33 


Munfun tritt gewöhnlich während der Nacht ein und 
wird ſtets von einen furdhtbaren Ungewitter begleitet, 
wovon fid) derjenige, welcher viefelben Himmelserſchei⸗ 
nungen blos unter gemäßigten Himmelsftrichen ges 
wohnt ift, feine Borftellung zu machen im Stande 
it. Unter Sturmgeheul leuchten die Blite mehre 
Stunden lang ohne alle Unterbredung. Zuweilen er- 
hellen fie nur die Wolfen des nahen Horizent, doch 
plöglih enthüllen fie Die fernften Gebirge, während 
die zunächft gelegene Gegend von tiefer Nacht be- 
pet bleibt; doch im nächſten Augenblid fteht auch 
biefe wieder in jonnenhafter Berklärung. Der “Don 
ner rollt in Einem fort durch die fernen Gebirge, 
und wird nur zuweilen durch nähere Schläge über- 
täubt, welche das Ohr urplöglic mit fo furdhtbarem 
Krachen erfüllen, dag auch die unerfchrodenpfte Seele 
davon erjhättert wird. Endlich ſchweigt der Donner 
und man vernimmt nur nod dad Getöne des unauf- 
hörlich herabfallenven Regens und das Raufchen der 
anjchwellenden Ströme. Der folgende Tag gewährt 
einen traurigen Anblid. Der Regen ftürzt noch im— 
mer in Strömen nieder und verftattet faum den An- 
blick der verfinfterten Gefilde. Die Flüffe ſind ange- 
ſchwollen und getrübt, und reißen Zäune, Heden und 
die Meberbleibfel des Feldbaues mit fi) fort, den man 
während ver bürren Jahreszeit in den Betten getrie- 
ben hat. Nach einigen Tagen klärt fi) der Himmel 
auf, und wie dur einen Zauber umgeichaffen, bietet 
die Natur einen ganz veränderten Anblid dar. Bor 
dem Gewitter find die Felder rings verborrt, vers . 
brannt,; nirgends erblidt man ein grüne® Blatt; 
feine Wolfe unterbriht die vollfommenfte Reinheit 
des Himmels; der Dunſtkreis ift mit Staub geſchwän— 
gert,. wodurch -entfernte Gegenftände wie durch einen 
Stolle, fammtl. Schriften XVIT, 3 


34 


Nebel, und die Sonne felbft trüb gefärbt erfcheinen. 
Glühende Luft, weht wie aus einem Ofen und erhigt 
Hk, Eifen, Steine felbft im Schatten zu einem 
außerorventlihen Grave. Unmittelbar vor dem Mun- 
fun tritt eine noch erftidendere Winpftille ein. Aber 
faum ift die erſte Heftigkeit des Gewitters vorüber, 
fo fieht man die Erde weit und breit mit üppigem 
Grün bevedt; die Flüffe ftrömen in prächtigen, ru= 
bigen Wellen. Die Luft ift rein und entzüdenp un 
dev Himmel mit malerifhen Wolfen gefhmüdt. Cs 
ift diefe Umwandlung, 'al® wenn man aud dem 
tiefften Winter plötzlich in den prachtvollſten Früh— 
ling träte.‘ 

Gamaliel war von der Befchreibung dieſer mor⸗ 
genländifchen Naturzauberei, welche der Gottesfaften- 
vorfteher aus einer alten Neifebejchreibung ableierte, 
fo bingerifien, daß er gar nicht bemerkte, wie ihm 
Henoh nad) und nah den ganzen Glühwein weg- 
trant, Er glühte ohnehin ſchon; die Flammen feiner 
Phantafie durchloderten fchöpferiich das Gehirn. Er 
malte ſich eine ſolche afghaniftiihe Gewitternacht in 
furchtbar ſchöner Pradt. Er fah die ferne Bergfette 
im GSilberlichte des Blitzes ftehen, vernahm vie erd— 
erfchütternden Donnerjchläge, das Raufchen des Re— 
gend, das MWogen der Ströme. Begeiftert umarmte 
er die gleichfall8 mit großem Intereſſe zuhörende Fe— 
licita8, indem er ausrief: „Mutterhen, jo etwas zu 
erleben, der glüdjelige Balthaſar!“ — 

Der Gottesfaftenvorfteher, nachdem er den Reſt 
des Glühweins in feine Schale gegofjen und empfin= 
dungslos ausgefchlürft hatte, fuhr fort: 

„Einen außergewöhnlichen Einprud follen aud) die 
Gebirge von Kabuliſtan gewähren, worüber es aljo 
heißt: Weit über hundert Meilen fchauen die Ge: 


% 


= 


birge Afghaniftans über die Länder. Weber ven ſchnee— 
bebedften Ketten ragen nod Pils von großer Höhe 
und Pracht empor, die mit erftaunenswürbiger Kühn- 
beit zu den Wolken ſtreben. Diefe mit ewigen 
Schnee bevedten Höhen, vie feierliche ungeftörte Ein- 
jamleit, und ber Gedanke, daß dieſe Berge von zahl: 
ofen Völlerſchaften gefehen werden, erfüllt das Ge— 
müth mit Bewunderung und einem Grftaunen, Das 
nicht zu befchreiben iſt.“ 

„Ih wollt's,“ plate der Schreiber heraus, feine 
Augen leuchteten und er begann zu befchreiben: „Seht 
wie fie glühen, einem Goldgebirge vergleichbar, über 
welches noch königliche Pyramiden leuchtend empor⸗ 
fteigen, obfehon die Sonne längft zur Ruhe gegangen 
und tiefe Schatten tie Palmenhaine und vie Blu: 
men in Gärten und Thälern decken. in warmer, 
blüthenfchwerer Frühlingsabend ruht über ber Sand- 
ſchaft, die einem arten Gottes vergleihbar , Die 
Strahlen der Abenpfonne durchziehen wie Glodentöne 
die Lilienbeete, die Rofenfelder; Bienen fummen in 
den weißen Orangenblüthen, und die Pfirfichbäume an 
Häufern und Geländern wollen fi verbluten. Hier 
und da wanbelt gottbefeligt die ſchöne ftille Geftalt 
eines Perferd durch das reihe Paradies und fchaut 
der ſcheidenden Sonne nad. Die Luft koſet mil, 
weich wie Seide über die Blumen, während leifer 
Donnerton, wie aus andern Welten kommend, von 
Zeit zu Zeit in den Frühling hereinbricht. Cs iſt 
der Donner der Lawinen, die in ben öftlichen Gebir⸗ 
gen ununterbrochen in rie Tiefen rollen.“ 

Felicitas reichte dem begeiſterten Seher und Spre- 
cher lächelnd die Hand, während Henoch unverdroſſen 
mit dem Theelöffel auf dem Ankergrunde des Glüh— 
weinfänndhens hin und wieberfuhr, um 1g ber letz⸗ 


36 


ten Feuchtigkeit zu bemächtigen. Er begriff nicht, 
was Gamaliel fo eigentlich ‚wollte, und beichloß, vef- 
fen Gefafel durch einige ruhige ftatiftifche Notizen ein 
Ziel zu jeßen. 

„Die Hauptitadt Kabul, beganı er, nachven er 
fi von ver Unergiebigkeit des Kännchens - fattfam 
überzeugt hatte, „it .in einer höchft veizenden Thal: 
ebene am Fuße des Hindukuſch gelegen und zählt 
achtzigtaufend Einwohner. Die Stadt ift der Erd— 
beben wegen nur von Holz gebaut, wichtig aber ale 
einer der Haupthandelöpläge Aſiens, wo die verfchie- 
venften Nationen Vorder- und Hinterindiend zufan- 
mentreffen und unter dem Schube des Regenten, der 
hier wohnt, völlige Sicherheit und NReligionsfreiheit 
genießen. Der große Bazar befteht aus einer ſechs⸗ 
hundert Fuß langen und breißig Fuß kreiten Säu— 
lenhalle.“ 

„Himmel, ſo ein Bazar,“ rief Gamaliel wieder, 
„dieſer Reichthum, dieſe leuchtende Pracht, dieſe Per— 
len, dieſer Purpur, dieſe ſeidenen Stoffe, dieſe 
Shawls; Mutterchen, wenn ich einmal dahin komme, 
bringe ich Dir einen echten Shawl mit, um den Dich 
ganz Niederroßla und Umgegend beneiden ſoll.“ 

„Das ſoll mich freuen,“ ſcherzte Felicitas, „wenn 
Du nur ſchon dort wärſt.“ 

Der Gotteskaſtenvorſteher hielt hier als berühm— 
ter Geograph für ſeine Pflicht, die Kurzſichtigen auf 
die Beſchwerlichkeit und die Gefahr, im Morgenlande 
fortzukommen, aufmerkſam zu machen; zugleich gab er 
die Länge der Reiſe zu bedenken. 

„Bis nach Kabul iſt kein Katzenſprung,“ ſprach 
er gelehrt, „das iſt wohl weiter als man denkt; nur 
außergewöhnlicher Anſtrengung mag es gelingen, bis 
dahin vorzudringen; auch iſt daſelbſt als Chriften- 


37 


menſch nichts zu profitiren, der Muſelmann führt da 
8 große Wort und läßt Niemanden auffommen. 
Daß e8 den Balthafar gelungen, ift mir ein außer⸗ 
gewöhnliches Räthfel; auch würde es ihn als fimpler 
„Drollinger” nicht gelungen ſein, hätte er nicht den 
richtigern Namen Haflan-benMullah angenommen.‘ 
„Bas heißt das wohl?“ frug Gamaliel raſch. 
Henoch, der diesmal auch als Linguift ſich nicht 
werjen laflen wollte, erwiederte mit Geiftesgegenwart: 
„Haflan-ben-Mullah ift das deutſche Drollinger.“ 
Gamaliel wollte dieſe Verſion nicht recht glaub- 
bar finden, wodurch Henoch, der ſich darüber ärgerte, 
bewogen ward, um ſo hartnäckiger auf ſeiner Mei— 
nung zu beſtehen. Er würde ſeine geographiſchen 
Mittheilungen über Kabul unſtreitig noch länger aus 
gevehnt haben, wenn Felicitas das Glühweinkännchen 
von Neuem gefüllt hätte; dem Gotteskaſtenvorſteher 
war ed nämlich troß feines gelehrten Bortrags nicht 
entgangen, daß in der Ofenröhre ein -Zöpflein ftand, 
in welches ſich feine Phantafie einigen Reſerveglüh— 
wein träumte. Sein Glaube hatte ihn diesmal nicht 
betrogen; es befand ſich wirklich ein ganz kleiner Reft 
des würzigen Getränfs noch in dem Topfe; aber wie 
intereflant die Wittwe die geographifchen Mitthei= 
lungen gefunden hatte, und wie großen Danf fie dent 
Gottesfaftenvorfteher dafür fehuldig war, fo konnte fie 
e8 gleihwohl nicht über fidy gewinnen, ihrem Eohne, 
auf den bis jett faum ein mäßiges Täflein gefom- 
men, aud den fleinen Reſt zu entziehen und ihn dem 
geographiichen Saufaus vorzufeßen. 
Henoch, nachdem er eine Zeit lang auf frifche 
‚ Füllung des geleerten Luftballons gelauert und dabei 
bedeutſame Blide nad der Dfenröhre geworfen, be 
Ihäftigte fi endlih mit dem Aufbruch. Cr verhiek, 


38 


falls fi) die Erbſchaft, wie er nicht zweifele, ver- 
Lohne, nähern Aufſchluß über ben ergiebigen afiati- 
ihen Landſtrich. Oamaliel dankte mit Wärme und 
verhieß glänzende Erfenntlichfeit unmittelbar nach ver 
Teftamentseröffnung. 

Der Gottesfaftenvorfteher entfernte fi), während 

der erregbare, phantafiereihe Jüngling, ven halben 
Drient im Kopfe, das Stüblein auf- und abſchritt. 
Er ſchaute noh immer die blühenden Ebenen und 
glänzenden Gärten, vernahm ven Donner ver Lawi- 
nen und ſprach darüber mit Feuer und Leben. 
Als Felicitas ihm die Neige des Glühweins vor- 
ſetzte und fanfte Vorwürfe machte, daß er fih nicht 
tapferer eingejchenft, während e8 Herr Henoch daran 
nit habe fehlen Lafjen, da bemerkte der Enthuſiaſt 
jegt erft, daß ihm der Gottesfaftenvorfteher fein Lieb- 
lingsgetränk bis auf breiviertel Taffe, fo viel betrug 
ver Reft, weggejoffen hatte. Er lebte indeß viel zu 
ſehr im Morgenlande, als daß er den Berluft ver 
abendländiſchen Leckerei hätte jchmerzlih empfinven 
ſollen. Er meinte, Henod babe fein Guthaben - für 
die geographifche Mittheilung lange nicht abgetrunfen. 
Er ſei demfelben zu großem Danke verpflichtet, und 
man müſſe ihn wahrhaftig bevenfen, wenn's die Erb— 
ſchaft einigermaßen hergebe. 

Velicitad bat ihn wiederholt, ſich nicht zu großen 
Erwartungen hinzugeben; eine Enttäufchung ſei dann 
um fo empfindliher; Gamaliel aber Tieß ſich's nicht 
nehmen, daß der König von Kabul ein Funftliebender 
Monard) fei, welcher feine Hof= und Leibmaler gewiß 
gut bonorirt habe. Er befchrieb hierauf, wie ver ſe— 
Tige Haflan-ben-Mullah als wohlhabender Bürger und 
Hausbeſitzer, vielleicht gar Stadtverordneter, denn 
man fchäge im Morgenlande abenvländifche Intellis 


39 


genz hoch, in feinem prächtigen Garten vor der Stadt 
gefeflen, und der Mond im Morgen aufgegangen jei. 

„Das Geräufch der nahen Stadt ift verſtummt,“ 
ſprach er, „einfam raufchen die Kaskaden in Baltha⸗ 
far’8 Garten, ver filberne Waſſerſtrahl fällt eintönig 
in die Marmorbaffins zurüd. Der Mond blidt durch 
Lorbeergebüfch über die hohe Gartenmauer, in ben 
dunfleren Parthieen des Gartens fchimmern weiße Li- 
lien und goldleuchtende Rofen ruhen im Mooſe. Leife 
jpielt die Nacıtluft in den hohen Pinien, und dort 
oben ziehen die Sterne des Morgenlandes. Bon dem 
unfern gelegenen Minaret verkündet der Wächter bie 
Stunde, weldhe die Menfchen zur tiefen Ruhe mahnt; 
aber nody immer fit der Hofmaler vor feinem jchlan- 
fen Kiosf, der ummucert wird von Weinranken, 
Pfirfih- und Granatbäumen, voll ſüßer ftrotenber 
Früchte, die im Verein mit perfifchen Rofen koftbar 
zwifchen dem dunkeln Laube bervorbliden. “Der golone 
Halbmond auf der hohen von Marmorfäulen getrage- 
nen Kuppel leuchtet weit in die ftille mondhelle Nacht 
hinaus. Ein ächter Kaſchemirſhawl umſchlingt Hals 
und Bruft des Hofmalerd. Neben ihn liegen bie 
Lieder des Hafis in ver Urfprade. Balthafar bat 
den ganzen Abend von ver berühmten, viel befunge- 
nen Nacdhtigalbraut gelefen. Jetzt hat er fich’8 bequem 
gemacht, und: ruht nachläſſig auf ver weichen Otto- 
mane und feine Blicke weilen auf der milden nädht- 
lichen Landſchaft. Er verfinft in tiefes Sinnen. Ver⸗ 
gangenheit und Zukunft, Morgenland und Abenpland 
ziehen magiſch an feinem Geifte vorüber, er gebentt 
an Deutichland, an deſſen Burgtrümmer, wie fie, auf 
Fichten umkränzten Höhen, im Abendſcheine ſchim— 
mern; er gedenkt an Niederroßla, wie ed friedlich in 
ven Walpbergen liegt und die fanfte Loſſa ſich durch's 


40 


Thal zieht; er gedenkt, wie er einft beutelte bei Mei— 
ftir Hamger, und wie er biefen abfonterfeit hatte 
hinter dem Holderbuſch — da fniftert leis ein zarter 
Trauenfuß im Sande, und. die fchünfte Orientalin 
biegt um die blühende Jasminwand. Es iſt die 
Gattin des glücklichen Hofmalers, die einzige Tochter 
und der Augapfel irgend eines Großen im Sande; 
darum duldete e8 Leßterer auch, daR Balthafar, wie 
einft der Graf von Gleichen, die reizende Melechſala 
zum Chriftenthum befehrte und dann ehelichte. Da 
un Rabul, wie der Gottesfaftenvarfteher darthat, voll- 
kommene Religionsfreibeit herriht, jo wird die Be— 
fehrung und Taufe weiter feinen großen Schwierig- 
feiten unterlegen haben, wie außerdem in den muhante- 
daniſchen Ländern der Fall if. Balthafar eilt dem 
geliebten Weibe entgegen, und die Beiden betrachten in 
Gemeinfhaft die herrliche Nacht. Die jchöne Gattin 
erzählt, von leifem Guitarrenflange begleitet, vie 
ſchönſten Märchen aus Perfien, dem reihen Wun— 
verlande, während der Hofmaler von Zeit zu Zeit 
auffteht, um durch das im Kiosk aufgeftellte fieben- 
füßige Zelefeoop Mond und Planeten zu beobachten. 
Der Marmorboven des Kiosk ift mit weichen perfi= 
jhen Zeppichen belegt; eine Ampel von Milchglas 
verbreitet eine wohlthuende Helle, während der Duft 
des Ffoftbaren Roſenöls den ftilen Raum durchzieht.‘ 

Samaliel würde das Ende feiner orientalifchen 
Phantafien jo bald nicht gefunden haben, hätte nicht 
der Nachtwächter Benediet unmittelbar unter den Fen— 
ftern fo urfräftig in fein Horn geftoßen, daß Felici— 
ta8 ordentlih erjchredt auffuhr und der Drientalift 
jählings unterbrodyen wurde. 

„Was fällt dem Benedict ein?” frug die Mutter, 
und Gamaliel geftand gleichfalls, fo erfchütternn habe 


& 


er den Nachwächter noch nie duten hören. Benedict 
hatte übrigens feinen guten Grund, al® er unter den 
Tenftern der Wittwe fo beherzt in’8 Horn ftieß. Die 
große Neuigfeit des Tages war auch ihm, dem treuen 
Wächter der Nacht, nicht unbelannt geblieben; er 
hoffte durch ein außerordentliches Blaſen fid) den rei= 
hen Erben und den zugleich frommen und wohlthä- 
tigen Menjchen bemerkbar zu maden und zu infinui- 
ven. Diefe Abficht unterlag feinem Zweifel, da Be— 
nedict nad) feinen erfchütternden Schladhtenruf unmit- 
telbar laut und vernehmlicd ein fronmes Lied an- 
flimmte, worin von Gottes wunderbaren Fügungen 
die Rede war, und daß man ded Nothleivdenden nicht 
vergefien folle, wenn uns der Himmel mit Segen 
überfchütte. 

Telicitae, da fie den Zwed des frommen Geſangs 
leiht errieth, ward eben deshalb weniger ergriffen 
davon, als e8 wohl außerdem der Fall geweſen fein 
würde; aber Gamaliel fühlte fid) tee dem, daß ihm 
der nächtliche Herold aus dem Garten bei Kabul nad) 
Niederroßla geblafen hatte, hoch erbaut durch das 
Lied. Bei ihm verfehlte die nachtwächterliche Politik 
ihre Abficht keineswegs. 

„Nächſt Henochen,“ fprah er, „Sollten wir den 
Benedict billig bedenken. Er verdiente es noch mehr 
als der Gottesfaftennorfteher; denn erftens ift er arm, 
und zweitend Nachtwächter; ein Nachtwächter aber, der 
unähnlid den andern glüdlihen Sterbliden auf des 
Lebens fchönfte Hälften, auf den blauen lichten Tag, 
die goldne Sonne, das erquidende Grün der Erbe 
verzichten muß, und in ewiger Nacht wandelt, in un- 
unterbrochener Eintönigfeit die Straßen auf und ab 
teottirt, hat vor Allem Anfpruh auf unjre Milde. 
Er fang nur fchöne, erhebende Wahrheit, daß der 


42 


Wohlhabende des Bedürftigen ſich chriſtlich erbarme, 
und ein gut Lied ſoll man immer zu Herzen 
nehmen.“ 

„Wohl, mein Gama,“ erwiederte die ſanfte Feli— 
citas, „es iſt gewiß ein himmliſches Gefühl, Armen 
wohl zu thun; wir gehören nur ſelbſt zu den Be— 
dürftigen.“ 

„So wir Nahrung und Kleidung haben, lafjet 
uns genügen,” ſprach Gamaliel eifrig und bibelfeft; 
doh in demſelben Augenblide bejann er fih, daß. 
feine gute Mutter eined Sonntagsfleive® jo gar be- 
dürftig fei und Recht habe, wenn fie fih zu den 
Bedürftigen rechne. . Er ſchwieg daher über dieſes 
Kapitel und kam wieder auf die Beſchwerlichkeit des 
Nahtwächterpoftend zu ſprechen. Felicitas benutzte 
gleichfalls den vernommenen Wächterruf, um den Sohn 
an das Schlafengehen zu mahnen. 

Gamaliel kletterte folgſam vie ſchmalen Boden⸗ 
treppen nach ſeinem Himmelbette empor, welches ſei⸗ 
nen Namen mit der That führte, denn unter allen 
Betten im Hauſe ſtand es dem Himmel am Nächſten. 
Vor dem Einſchlafen kehrte er noch einmal in den 
blühenden Garten nach Kabul zurüd, woſelbſt er ſich 
im Traume mit dem Befiger, dem Hofmaler und def- 
fen reizender Gemahlin ſcharmant unterhielt, obſchon 
er bei Tage gegen Frauenzimmer, feine Mutter aus— 
genommen, die Schüchternheit jelbft war. 


43 


Drittes Kapitel. 


Da Wirth der Stadt Magveburg, Herr Athanafius 
Lagemann, fowie der Schaufpieldirector und Helven- 
jpieler Hanno theilten hinfichtlih der Teftamentseröff- 
nung keineswegs die Anſicht der Wittwe Drollinger 
und beitanden auf fofortige Publicirung. Es war 
Beiden unmöglih, bis zu dem von dem Gericht feft- 
gejegten Zermin ſich in Geduld zu faſſen. Yagemanı 
zehrte fichtbar ab, daß es felbit feiner Yrau, einer 
gebornen Grümpfer, trog ihrer Kurzſichtigkeit auffiel. 
Dei Hanno woaltete nicht geringeres Intereſſe vor, 
hinſichtlich der Kabul'ſchen Erbſchaftsangelegenheit in's 
Reine zu kommen. Er hatte ſich bei dem geringen 
Kunftfinne der Niederroßlaer und der daraus erklär⸗ 
baren ſchlechten Einnahme nebjt zwei Xiebhabern, 
einem polternden Alten, einem zärtlihen Bater, fammt 
der Primadonna, einer Anftandedame, einer Mutter 
und einer zweiten Tiebhaberin, den - Souffleur nicht 
ausgenommen, wie ein Holzbock mit Familie ein- und 
feftgefreffen. Nur der Böfewiht und der Mafchinen- 
meifter, beides ein paar Geizhammel, welche ihre Zeche 
allabendlich berichtigten, waren flott geblieben. Selbft 
ber dreimal bei befegtem Hauje gegebene vidbelaubte 
Wald bei Herrmannftadt war nicht im Stande gewe- 
jen, die Truppe in's Trodne zu bringen. Dazu war 
die Conceſſion mit Nächſtem abgelaufen, und fein 
Menſch fonnte es Herrn Hanno verargen, wenn er 
mit Sehnſucht nad) dem verheißenden Erbſchaftsbaume 
Ihaute, in der Hoffnung, Daß ihn wegen feiner zwei- 
ten todten Frau auch ein Granatapfel zugedacht fein 
möchte, und zwar, je eher je lieber, denn es war bei 
‚ihm wirflid periculum in mora. Hanno vergegen- 


44 


wärtigte ſich jetzt erſt recht die Tugenden feiner ver— 
ſtorbenen Frau, und ward jetzt erſt gewahr, welchen 
Schatz er in die Erde gelegt, da ihm noch aus ihrem 
Grabe ein Fruchtbaum emporwuchs. Er fühlte ſich 
in dieſer Stimmung vollkommen aufgelegt, den Ham— 
let zu fpielen. 

Leider aber verliefen ſich die Verwandtſchaftsgrade 
Lagemann's wie des Heldenfpielers in fo unſcheinbare 
Nuancen, daß das Stadtgericht zu Niederroßla Be— 
denken trug, ihrem dringlichen Anſuchen um Eröffnung 
des afiatiichen Teftamentes nachzukommen. 

Die Beiden hielten daher wieberholt gemeinfchaft- 
Ihe Berathung, wie, dem Uebel abzuhelfen ſei, die 
fi) jedoch allzeit nur rath- und troftlos endete, 

„Haben Sie c8 denn wirklich mit der Gans ver- 
jugt?” erfundigte fi Hanno nad einigen Tagen, 
im höchſten Unmuth, ale man wieder rathſchlagend 
beiſammen ſaß. 

„Und ob! gab Lagemann eifrig zurück, „ein fol- 
ches Vieh wird gar nicht wieder ausgebrütet unter 
biefer Sonne. Ich hatte es für bie Thier- und Ge— 
werbeausftellung in Rageburg beitimmt, wo mir die 
Prämie nicht entgehen fonnte. Das Thier hat mir 
in acht Wochen einen Gewürzladen aufgefreffen, einen 
halben Sentner Hanmerfchlag obendrein, ich hab’ e8 
mit eigner Hand genubelt, um meiner Sadıe gewiß 
zu fein. Die ganze Gans war zulegt eine lebenvige 
Leber. Was half’, fie mußte unfrer Verabredung 
gemäß daran und fpazierte zum Stadtrichter. Diejer 
Belial fchidte mir das todte Beeſt aber noch felbige 
Stunde mit der fpigigen Bemerkung zurüd, daß er 
Präſente nicht Liebe.” 

„Ha,“ ‚rief der Helvenfpieler aufgebracht, „ich 
werde den Actenwurm in einem Drohbriefe zu ver— 


- 


45 


ſtehen geben, daß man ihn vom hohen Cothurn herab 
vernichten wird.“ 

„ah, gab Lagemann ärgerlich zurück, „ver kiim- 
mert ſich viel um Ihren hohen Cothurn, der ift wohl 
in feinem Leben in fein Theater gekommen.“ 

Rathlos blidte Hanne abermals vor fih hin und 
Berzweiflung überlam ihn. Seine ftille Wuth ging 
endlich in Toben über. Er ſchwur, den Stadtrichter 
vor's Quartier zu rüden, fo er das Teftament nicht 
in den nächſten Tagen eröffne. „Was hilft mir der 
Mammon in fünf Wochen,” rief er, „bis dahin kann 
ih fünfundzwanzig Mal verhungern.‘ 

- Der Birth zur Stadt Magpeburg fehüttelte bei 
Hanno’3 desperatem Entſchluß, dem Städtrichter vor's 
Quartier zu rüden, abermals das Haupt. 

„Mit Gewalt richten Sie gar nichts aus,” ſprach 
er, „was meiner fanften Gans nicht gelang, wird 
Ihrer Vehemenz noch weit weniger gelingen. Ich 
ſehe ſchon,“ fette er nad) einer Paufe feufzend Hinzu, 
„wir werben uns müjjen in Geduld fafjen, wie ſchwer 
es wird.” 

„Ich nicht,” fchrie der Helvenfpieler, und rannte, 
jih vor die Stirn fohlagend, das Zimmer auf und 
ab, gleihjam, ale wollte er einen guten Gedanken 

aus dem Kopfe pochen. 
,„Ihre raſende Desperation bringt uns nicht wei: 
ter,“ ſprach Lagemann, der fid) vor den großartigen, 
hochtragiſchen Geſten des Heldenſpielers ordentlich zu 
fürchten begann. 

„Ich könnte den Ocean vergiften, daß ſie den Tod 
aus allen Quellen ſaufen!“ declamirte Hanno leiden= 
ſchaftlich. 

„Warum nicht gar,“ meinte Lagemann erſchrocken, 
„da müßten ja wir beide auch mit dran.“ 


” 


46 


„Es müßte- eine Wolluſt fein, mit Div auf ein 
Rad geflochten zu werben,“ fuhr ver Helvenfpieler 
fort und padte ven Wirth zur Stadt Magdeburg 
frampfhaft an beiden Schultern. 

Diefer fuhr entfeßt empor und ſchaute Hanno's 
rollende Auge. Er glaubte nicht anders, als ber 
Schaufpieler ſei verrüdt geworden, und fuchte ihn mit 
fanfter Rede zu beruhigen. 

‚Aber jo moberiren Sie fih doch,“ bat er, „was 
hilft das mit dem Kopfe gegen die Wand; was ein— 
mal nicht zu ändern, iſt nicht zu ändern; ein chriſt⸗ 
lich Gemüth muß ſich zu finden wiſſen.“ | 

„Armfelige Vernünftelei,“ radotirte der dramatı= 
ſche Kimftler, und ſchritt mit verfchränften Armen 
das Zimmer auf und ab. 

„Unſer Her Stadtrichter,“ fuhr Yagemann beru— 
higend fort, „ift einmal ein geftrenger Herr, der eract 
auf die Staatögefege hält.‘ 

„Ha, dieſe Staatskunſt, wie veracht' ich fie,” mur- 
melte Hanno; doc) plöglih blieb er ftehen und 
ſchaute lange vor fih Hin. „Doch was jeh ich,“ 
fuhr er fort, „ein Gedanke, groß und herrlich, wie 
ein leuchtender Meteor springt aus dem ftaunenden 
Gehirn.” 

„Das wäre?“ ſprach Lagemann. 

„Du biſt im Trocknen, Rolſer,“ rief nun der 
Heldenſpieler, den Wirth zur Stadt Magdeburg ftür- 
miſch umarmend. „Wir wandern Arm in Arm zu 
meiner Muhme, Madame Drollinger, und bewegen 
das Weib, daß es auf Teftamentseröffnung beftehe. 
Ihr kann e8 der fatanifche Stadtrichter nicht abichla= 
gen, denn ihre Anfprüche auf das Erbtheil Liegen 
fonnentlar.” 

?agemann ſchlug fi) vor die Stimm. „O Ein: 


47 


falt!“ rief er, „iſt man doch zuweilen mit Blindheit 
geſchlagen. Es gibt ja gar kein einfacheres Mittel, 
um zum Ziele zu gelangen. Die Pfarrerswittwe ift 
eine fanfte und gefällige Frau, fie wird ſich's zum 
Bergnügen machen, unſerm Wunſche zu entipreden. 
Da ſchmeckt ein Trunk drauf, Herr Hanno.“ 

Der Schaufpielvirector, durch feinen glüdlichen 
Gedanken ftolz gemacht, nahm Lagemann's Vorſchlag 
wegen des Trunks gnädig an. Man kam überein, 
nad) genommener Stärkung ſich jogleich nad) der Be- 
haufung der Wittwe auf den Weg zu maden. 


As Gamaliel am nächſten Morgen wieder bei 
Eifenbeiß eintrat, war biefer wo möglich noch gefprä= 
‘higer ale Tags "vorher. 

„Wie ih in Erfahrung gebracht habe, ſprach 
er, „hungern noch Mehre nad der Kabul’fchen Hin- 
terlaffenfchaft, armfelige Schluder, deren Verwandt⸗ 
haft mit dem Erblaſſer faum nad kanoniſchem Rechte 
m Betracht gezogen werben Tann. Sollte dieſes Volt 
Späne maden, bin id da.” 

Der Sohn ber Wittwe, alle Menſchen nah fid. 
beurtheilend und für Engel haltend, erwiederte daher 

in Betracht ver Späne unfchulpsvol, felig und ſchüch— 
ken: „Ich glaube kaum!“ 

„Beſſer bewahrt als bellagt, “fuhr Eiſenbeiß eif⸗ 
rig fort, „ſo viel ſag' ich.“ 

„Das iſt wahr,“ geſtand Gamaliel beherzter. 

„Hat Ihre Frau Mutter ſchon auf Publication 
des Teſtaments angetragen?“ 
| Dem fimpeln Schreiber begann zu ſchwindeln, als 

er fih von feinem Prinzipal, zu dem er nie ohne 
bie größte Ehrfurcht aufzufchauen vermochte, per Sie: 


48 


angerevet hörte. “ Er hätte dem großen Marne lie= 
‚ bend zu Füßen fallen können; und es ſchmerzte ihn 
über ale Maaßen, auf die Frage eine verneinende 
Antwort geben zu mülfen. 

Der alte Juriſt, dem ein ſolches fremdländiſches 
Teſtament in jeiner Praris noch nicht vorgefommen, 
war äußerſt begierig auf deſſen Inhalt, und er 
wünfchte daher fehnlih, daß die Eröffnung jo bald 
als möglich vorgenommen - werde. 

„Ih begreife Ihre Frau Mutter nicht,” fuhr er 
fort, „in folden Angelegenheiten kann man nicht 
raſch genug zu Werke gehen, das fag’ ich.“ 

„Sa wohl, fehr richtig,” geftand Gamaliel. 

„Stellen ‚Sie es Ihrer Frau Mutter vor, fagen 
Sie nur, ich hätte es geſagt.“ 

Gamaliel legte betheuernd die Hand aufs Herz. 
Er verſprach hoch und feierlich, fein Möglichſtes zu 
thun. Im Innern gelobte, er fich, mit feurigen Zun— 
gen zu feiner Mutter zu fprechen, um fie, dem Wun- ' 
ſche Eijenbeigen’® gemäß, zur Teſtamentseröffnung zu‘ 
bewegen. 

Der Yurift nidte ‚zufrieden mit dent Kopfe und 
mollte nad) jeinem Erpeditionsgitter zurücdtehren, als 
er nod) einmal umfehrte und fich zu Gamaliel wendete. 

„Noch eins,“ ſprach er, „da Ihrer im Teftamente 
Ihres Herrn Betterd unfehlbar gedacht ift, jo wird 
e8 gut fein, wenn Sie einen Henfel haben, wo man 
Sie anfaßt.“ 

Der Angeredete, welcher feinen Prinzipal night 
verftand, warf einen ſchüchternen Blid auf feine Fi— 
gur, der zu fragen ſchien, wo wehl ein Henkel anzu= 
bringen ſei. 

„Ih meine,” fuhr Eifenbeiß fort, „es wird nicht 
ungerathen jein, wenn Sie fünftig einen Titel 


® ' 49 


führen, worauf heutzutage die Welt viel giebt; damit 
es bei der Teſtamentsvorleſung nicht heißt: „Der Erbe, 
Herr Gamaliel Drollinger, Schreiber bei Doctor Eiſen— 
beiß. Sie ſind von jetzt an mein Secretair.“ 

Der zeitherige Schreiber haſchte, ob dieſer unver— 
ſchämten Standeserhöhung ganz berauſcht, convulſiviſch 
nach der rechten Hand des alten Jurispractikus, um 
ſie liebend an ſein klopfendes Herz zu drücken. Aber 
Eiſenbeiß gab dies nicht zu. Da er, nach des jungen 
Mannes heftiger Bewegung zu ſchließen, befürchtete, 
dieſer verbinde in Gedanken mit dem Gecretariat 
auch eine Gehaltserhöhung, ſo fügte er ausdrücklich 
hinzu: „Auf Ihre zeitherige Beſoldung hat der neue 
Titel jedoch keinen Einfluß, die Zeiten ſind zu miſe— 
rabel, die Gelder gehen wahrhaft erbarmungswürdig 
ein.“ 

Gamaliel ſtammelte, daß davon ja ſchlechterdings 
keine Rede ſein könne, er komme prächtig aus; worauf 
er einen abermaligen Dankesanlauf nehmen wollte. 
Eiſenbeiß aber wendete dieſen von ſich ab, indem er 
an das Mundum eines Actenſtücks mahnte, das er gern 
bald zu haben wünſchte. 

Der neugebadene Secretair ftürzte dienſtbefliſſen 
nad) feinem Schreibtiiche, und begann die Arbeit mit 
unglaublidiem Eifer. Da bemerkte er aber alsbald, 
je refoluter er die Sache vornahm, zu nicht geringem 
Schred, daß das Mundiren dem Gecretair gar nicht 
jo gut von der Hand gehen wollte, wie früher dem 
fimpeln Schreiber. Die Buchſtaben ftanden gar nicht 
fo ftil_ wie ehedem, ſondern tanzten höchſt auffülliger 
Weile hin und wieder; er bemerfte mit Schreden, 
daß feine Hand zitterte und aller drei Zeilen ver- 
ſchrieb er fi auf fo unverantwortliche Weife, daß er 
das Actenftüd immer wieder vorn anfangen mußte. 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVil. & 


50 


Endlich, als gar nichts zu Stande kommen wollte, 
geriet) er ordentlih in Angft; er hielt fi für ver- 
wahrloft und bebert, und begriff nicht, wie das fünftig. 
werben folle, wenn ver fieberhafte Zuſtand nicht nach⸗ 
laſſe. 

Er ſchrieb im Schweiße ſeines Angeſichts, der 
Boden brannte unter ſeinen Füßen. Einen jolchen 
Zuftand hatte er nie empfunden. Er wünfchte fich 
weit hinweg vom Schreibpulte, hinaus unter freien 
Himmel, in die Berge und vor Allem zu feiner Mutter, 
um ber Geliebten fein Herz auszuſchütten. Er dantte 
daher feinem Schöpfer, al8 vom nahen Rathhausthurme 
die Erlöſungsſtunde herüberſchlug. Mit Schmerz über- 
blickte er das Wenige, was fertig geworben war, und 
. auch Diefes gereichte ihm als Secretair zu durchaus 
feiner Ehre, da er als Schreiber weit Beſſeres geleiftet 
zu haben ſich bewußt war. 

In der Hoffnung, daß der Nachmittag, wo er 
wieder zu Berftande gekommen zu fein hoffte, ein gün- 
ſtigeres Refultat liefern werde, padte er fo ſchleunig 
wie möglich feine Papiere zufammen und ergriff die 
Flucht mit einer Schnelligkeit, als ob der Kopf brenne. 
Er eilte, wie Henoch, wenn er ihn gefehen, gelagt 
haben würde, in außgergewöhnlidhen Schritten und 
Sprüngen nad) Haufe; Niemandem ſonderlich Rede 
ftehend, wie doch fonft feine Art war, und trat erhitt 
und feuchend mit ven Worten bei Felicitas in's Zimmer: 
„Mutter, ich bin Secretair!” 

Da Madame Drollinger ob diefer Botſchaft gefaßter 
blieb, als der Herr Sohn verhofft hatte, fo wäre er 
ob diefer Ruhe, die mit feinem freudigen Enragement 
ſeltſam contraftirte, faft bös geworben. 

„Mutter,“ wiederholte er mit leuchtenden Augen, 
„haft Du es gehört, ich bin Secretair geworben ?“ 


51 


‚„‚ Allerdings, mein Sohn,” erwiederte Yelicitas, 
„aber da weiß ich fo viel, wie zuvor.“ 

Der glüdlihe Sohn verbreitete fih num eines 
Ausführlichern über fein außerorventliches Avancement, 
wie er e8 nannte, wobei er nicht ermangelte, die Hod)- 
berzigfeit des Doctor Eifenbeiß in den Himmel zu 
heben. 

Die kluge Felicitas, welche ven Charakter des Doctors 
kannte, ſah fogleih ein, daß an der Stanveserhöhung 
bie zu verhoffende Erbichaft wohl die größte Schuld 
trage; gleichwohl ließ fie ſich nichts merken und theilte 
mütterlich die Freude des Sohnes. 

Nachdem aber ver Herr Secretair den Freuden— 
becher über die glüdlihe Mutter Hinlänglich geleert zu 
haben glaubte, begann er, der Aufforderung von Seiten 
Eiſenbeißen's gemäß, mit demofthenifcher Beredtſamkeit 
fein Belehrungswerf, um Felicitas für die Teſtaments⸗ 
eröffnung zu ftimmen. 

„Mutter,“ xief er, „wen Du nicht ſofort zum 
Herrn Stadtrichter eilft und auf Publication antraͤgſt,“ 
kann das ganze Erbe im Meere verſinken, wo es am 
Tiefſten iſt. Wahrhaftig, fein Augenblick iſt zu ver- 
lieren. Der Doctor iſt ganz meiner Meinung und muß 
das verſtehen.“ 

Felicitas, die nicht begriff, worin die große Gefahr 
liegen ſolle, wenn man dem Geſetze ruhig ſeinen Lauf 
laſſe, die in des Doctors indirecter Aufforderung nur 
eitle Neugier erkannte, und welche allen Anſchein zu 
vermeiden wünſchte, als könne ſie es mit der Erbſchaft 
nicht erwarten, da ſie überhaupt nicht wußte, ob 
ihr Name im fraglichen Teſtamente auch verzeichnet 
ſei, ſchlug wiederholt die Stürme ab, welche der 
von Dankbarkeit und Hochachtung begen, Eiſenbeiß 


52 


beftochene Gamaliel gegen ihre. Willensfeftigfeit unter- 
nahın. 

Der neugebadene GSecretair lief verzweifelt hin und 
wieder; er fühlte mit Schmerz, wie wenig er feinem 
neuen Posten Ehre made und daß feine Sarriere als 

Charge d'affaires des Doctor Eifenbeiß nicht eben 
glanzvoll und mit großen Refultaten fich eröffne. 

Während Gamaliel ala Miffionair und Heiden— 
befehrer feines Prinzipald vergebens arbeitete und ob 
ber- mütterlichen Standhaftigkeit, die er für entfeglichen 
Eigenfinn hielt, ordentlich wuthig ward, Fam ihm 
plöglih und unerwartet Succurs von Außen. Der 
Wirth zur Stadt Magdeburg und der Helvenfpieler 
fliegen eilfertig unter den Fenſtern vorüber und traten 
gerade in dem Augenblide in das Zimmer, als ver 
Secretair mit dem Schwure, daß er fi dem Doctor 
nicht mehr unter die Augen getraue, feine letste Patrone 
auf die fanfte, aber beharrliche Felicitas verfchoflen 
hatte. 

VLagemann fiel fogleih mit der Thür in's Haus 
und fam um die Erlaubniß ein, im Namen ver 
Wittwe dem Stadtgerichte zufegen zu bürfen, richtete 
indeß fo wenig aus, wie der Gecretair, welcher, feiner 
abgefchlagenen Attafen eingedenk, ſich grollenb hinter 
den Ofen zurückgezogen hatte. Jetzt fuhr Hanno 
vor, aber wider Erwarten ſanft und weich; er ver— 
ſprach ſich glänzendere Reſultate, wenn er die ver- 
wandtſchaftlichen Sympathieen der Wittwe heraufbe— 
ſchwöre und begann ſogleich von ſeiner zweiten Frau, 
deren Tugenden er eben ſo in den Himmel hob, wie 
er: den Verluſt der Unerſetzbaren beklagte. Felicitas 
entſann ſich gar bald der ehemaligen Prima Donna 
und ſprach ihr aufrichtiges Bedauern über das früh— 
zeitige Dahinſcheiden der wackern Frau aus. Der 


m. 


= 


53 


tiefgebeugte Wittwer wollte in Wehmuth zerfließen als 
er ſolche Theilnahme entvedte, von der er das Beite 
verhoffte. Um feines Sieges gewiß zu fein, trodnete 
er ſich wiederholt die Augen, daß jelbft dem hinter 
dem Ofen vergrollenden Secretair weih um's Herz 
wurde, während der Magbeburger Wirth verftodt ver 
rührenden Scene zufchaute. 

„sh verlor in der Seligen,” fuhr Felicitas fort, 
„nicht allein eine nahe Verwandte, ſondern auch eine 
bewährte Freundin.“ 

„Wer weiß,“ ſchluchzte der Schauſpieldirector, der 
vor innrer Wonne, welche dieſe Worte in ihm her- 
vorbrachten, denn auf nahe Verwandtſchaft hatte er 
im Traume nicht gerechnet, jetı feinen lauten Schmerz 
nicht länger zu bänbigen vermochte; - „Sie verloren 
eine nahe, theure Berwandte, ih eine — Gattin; 
eine Mutter,” fette er mit ergreifender Stimme 
Hinzu, „wie fie felten wieder gefunden werden wirb 
hienieven.” Er ließ nad diefen Worten in unaus- 
ſprechlichem Schmerze ven Kopf langjam auf die Bruft 
finfen. 

Ber dem erfhütternnen Worte Mutter erkun— 
digte fi die Wittwe ſogleich mit noch regerem' In= 
tereffe nach der Heinen Amanda, der fie das Gtriden 
gelehrt. 

Hanno antwortete nicht, er ſtellte ſich ſprachlos 
und zeigte mit einer ausdrucksvollen Pantomime zum 
Himmel. 

Felicitas verſtand ihn, fragte nicht weiter, ſondern 
_langte ebenfalls, um eine Thräne zu verbergen, nad) 
"ihrem Tafchentuhe. Es entftand eine minutenlange, 
aber ergreifende Stille; nur der Secretair, welden. 
die Barmherzigkeit, die er am Weh feiner Mitmen- 
jhen nahm, aus feinem Schmoll- und Grollwinkel 


54 

bervorgetrieben hatte und der fi der Kleinen noch 
reht wohl zu entfinnen vermochte, unterbrach die 
Baufe durch Seufzer. Lagemann war höchſt ſeltſam 
zu Muthe, als er ſich ſo urplötzlich unter allgemeine 
Rührung verſetzt ſah. Er rutſchte wiederholt auf 
ſeinem Stuhle hin und wieder; doch verſprach er ſich 
von den Thränen der Madame Drollinger nur Gün- 
ſtiges. Dieſe Hoffnung hielt ihn aufrecht und be— 
wahrte ſeine gemeſſene Haltung. Er fand es bei 
ſolcher allgemeinen Trübſal für angemeſſen, auf ſeinem 
Geſichte gleichfalls die Trauerflagge aufzuziehen, in der 
Hoffnung, damit eher in den Hafen ſeiner Wünſche 
einzulaufen. 

„Wenn es jetzt der Comödiant nur einigermaßen 
geſcheit anfängt,“ ſprach er zu ſich, „kann uns die 
Wittib nicht entgehen. Sie iſt windelweich und ein 
getührtes Weib ſchlägt keine Bitte ab. Ich werde 
mich daher wohl hüten, dieſe herrliche Rührung zu 
unterbrechen.“ 

Felicitas war die Erſte, welche ſich in ihrem 
Schmerze ſo weit erholte, über Krankheit und Ableben 
von Mutter und Tochter nähere Erkundigungen ein— 
zuziehen. 

Der von Gatten- und Baterfchmerz übermannte 
Helvenfpieler braudyte geraume Zeit, bevor er mit- 
theilungsfähig wurde. Er gab ven troftlofen Gatten 
mit ſolcher Birtuofität, daß felbft Yagemann, an Frau 
und Kinder denkend, endlich nicht gleichgültig zu blei- 
ben vermochte. In wohlberechneten abgebrodjenen 
Sätzen theilte der Künſtler erft das Abſcheiden feiner 
zweiten Frau, alsdann die Himmelfahrt Amanden’s 
mit. „Dieſe zwei harten Schläge,” fügte er hinzu, 
„hätten ihn fast ſechs Monate breterunfähig gemadht, 
wodurch feine finanziellen Kräfte außerordentlich er- 


55 


ſchöpft worden wären, fo daß er fi bis zu biefer 
Stunde noch nicht habe erholen können.” 

Gamaliel, dem ein ſolches Mufter von Gatten 
und Bater noch nicht vorgefommen war, konnte fi 
nit enthalten, hervorzutreten und die Hand des Be— 
Magenswerthen zu erfaflen. 

„Wohl find fie dunkel, die Wege der Vorſehung,“ 
fprad er mit fohöner Wärme, „zuweilen follten wir 
fogar irre werden an eimen Leiter dort oben; doch 
gerade in foldhen böjen Stunden müfjen wir die Hand 
des Allvaterd um fo inniger fefthalten. Sie wird ung 
buch Nacht und Wolfen über Klippen und Abgründe 
wieder in einen heiligen Gottesfaal führen, wo wir 
al die Geliebten wiederfinden, die wir in dem Dunkel 
des Lebens verloren.‘ 

„Ein erhebender Glaube,” geftand Hanno, tief 
"Athen holend, der dur die Worte des Secretairs 
wahrhaft geftärft zu fein ſchien. 

„O nicht blos Glaube, Gewißheit, Gewißheit,“ 
fiel Gamaliel mit Eifer ein. 

„a, wer das wüßte, feufzte der Schaufpielbivector, 
und fpielte leife den Sceptifer. 

Sobald das Geſpräch auf Religion und Unfterb- 
lichkeit kam, gerieth der Secretair allemal in's Feuer; 
traf er nun noch dazu mit einem Gemüthe zufommen, 
das ſich mit Zweifeln quälte, fo loderte die edelſte 
Begeifterung duch fein ganzes Weſen. In feinen 
reinen Herzen flammte ein ſo kindlicher, befeligenver 
und unerjchütterliher Glaube an Gott, Himmel und 
Unfterblichfeit, daß er ſchon mandem vom Schickſal 
Gebeugten und an einer ewigen Gerechtigkeit Ver— 
zweifelnden zum rettenden Engel geworden war. Ga— 
maliel nahm ſich auch des zweifelnden Schauſpieldi— 
rectors ſogleich mit Liebe an und ſprach zu dem 


56 


‚gebeugten und verbüfterten Herzen wahr und fchön. 
Leider aber verfehlte fein apoftolifcher Eifer bei Hanno 
feinen Zweck durchaus, denn der Schaufpieldirector 
Dachte weder an Gott noch Unfterblichfeit, worüber 
fi) Gamaliel fo herrlich ausließ, fondern an die Ver: 
- wandtichaftsgrade feiner- verftorbenen Frau. Ste waren 
ihm vor der Hand weit wichtiger, als die Glaubens— 
anfihten des Secretairs. Gleichwohl vernahm er 
ſcheinbar mit wahrer Andacht und Erbauung die 
Rede des frommen Jünglings, um erhoben und ge- 
ftärkt won dem Geiftlichen wieder auf's Weltliche über- 
gehen zu können. 

Dem Wirth zur Stadt Magdeburg, wie ſehr er 
auch der allgemeinen Rührung mit unterlegen war, 
wollte Gamaliel's Vortrag, obſchon er andächtig zuhörte, 
gleichfalls nicht behagen. Er fürchtete, der zweifelnde 
Hanno werde fih in einen langwierigen Diskur über 
Religiofa verwideln und ganz ben Zweck des Hierjeins 
vergefien. 

„Wenn der Comödiant,“ ſprach er für fih, „nur 
das einzige Mal den guten Einfall hätte, und feinen 
Schmerz infoweit moderirte, un wegen der Teftaments- 
eröffnung anzubohren. Eine fo günftige Gelegenheit 
fommt fobald nicht wieder. Wenn er die Sache nicht 
ganz einfältig anfängt, fo fönnen wir bereit morgen 
wiffen, woran wir find.‘ 

Gamaliel hatte unterdeß wie ein Peter von Amiens 
gegen die unfelige Zweifelfucht, dieſer Feindin alles 
inneren Friedens, dieſer Sünde- und Todgebärerin, 
geſprochen und er lebte der ſchönen Ueberzeugung, 
dem Director, wie Lagemann, das Himmelreich auf- 
geſchloſſen zu "haben, denn Beide fchwiegen und fchie= 
nen von der Wahrheit feiner Worte überzeugt und 
befiegt. Hanno mußte fihtbar Troft gefchöpft haben, 


57 


benn feine Augen waren wieter troden und er be- 
gann leife und vorjichtig Madame Drollinger wegen 
ver Verwandtſchaft mit feiner feligen rau zu viſitiren. 
Ueber die Familienverhältniſſe der Dahingeſchiedenen 
wußte er ſo viel wie nichts; es war ihm nur noch 
exinnerlich, daß ſie eine geborene Seekrebs geweſen. 
Mit dieſem Seekrebs wollte er jetzt ſein Glück ver- 
ſuchen; er warf ihn der Wittwe vor, in der Hoff- 
nung, daß fie anbeigen werde. Dies geſchah auch. 
Felicitas erging ſich fogleih in genenlogijhe Aue- 
einanderfegungen, und Hanno entdedte mit Entzüden, 
wie wenige Sprofjen fie von einander ftünvden. ‘Der 
Seekrebs that wirklich Wunder, denn die Wittwe be- 
grüßte und befeligte plötzlich den Heldenfpieler mit 
dem Namen Better. Auch der Secretair freute ſich 
innigft der neuen Berwandtihaft und ward orbentlich 
ftolz, einem fo großen Bühnenfünftler durch die Bande 
bes Bluts fo nahe zu ftehen. 

Lagemann hingegen ward feinerfeits wahrhaft 
eiferfükhtig ob Hanno’ genealogifhen Avancement. 
Er beneidete ihn von Herzen um die Vetterjchaft, 
die er zeither nur für eine Renommifterei gehalten. Ex 
befürchtete, der verwünfchte Seekrebs werde fih auf 
unverantwortlice Weife in die Erbſchaft einfneipen 
und fuhr in der Eile in der gefammten gens Lage- 
manniana umher, ob er nicht auch ein foldyes Meer- 
gewürm auftreiben könne, mweldes ihn dem Stamm- 
baume der Drollingr um ein Erfreuliches näher 
brächte. Er zählte daher der Pfarrerswittwe ein 
ganzed Namensregifter vor, deren Beſitzer jedoch zu 
feinem Leidweſen nicht für legitim und fuccefjionsfähig 
anerkannt wurden. Lagemann blieb zulegt in der 
Welt nichts übrig, als fein Pfeifenhandel und fein 
gemeinfchaftlihes Schnapfen mit dem  verftorbenen 


58 


Peter Drollinger. Gleichwohl war ſein Glaube, daß 
der dankbare Sohn in ſeinem Teſtamente hierauf 
Rückſicht genommen haben werde, größer als ſein 
Glaube über die Fortdauer nach dem Tode, welchen 
zu ſtärken der Secretair ſich ſo viel Mühe gegeben 
hatte. - 
Hanno, welcher zeither Arm in Arm mit Lage— 
mann gewandelt war, trennte fi) von dem Hotelier, 
ba er jet als Vetter der hoffnungsreihen Erbin auf 
eigenen Füßen fortzulommen hoffte. Der verlafjene 
Wirth zur Stadt Magveburg glaubte, um feine Erb- 
anwartichaft nad) Kräften zu documentiren, bie zärt- 
he Freundſchaft mit Peter Drollinger in das um: 
zmweifelhaftefte Licht zu fegen, bei welcher Erzählung 
det von Felicitas gevetterte Hanno ein bemitleidendes 
Lächeln ob der Nichtigfeit der Lagemann'ſchen Erb- 
anſprüche wicht zu ımterbrüden vermochte. Selbſt 
Madame Drollinger fehüttelte bei den Hoffnungen des 
Magdeburgers wiederholt zmeifelnd den Kopf. Nur 
Gamaliel, welcher die befcheivenen Wünfche der Sterb- 
lihen gern erfüllt jah, gejtand, wenn der Sohn um 
das zarte Verhältnig gewußt, e8 feinen Zweifel unter- 
liege, daß Herr Lagemann im letten Willen locirt 
fei. Der Hotelier fand ſich durch den menfchenfreund 
lichen Ausſpruch des jungen einſichtsvollen Mannes, 
dem er ſolchen Speenreihthum gar nicht zugetraut 
hatte, weit mehr erquidt, als durch deſſen vorige 
Slaubenspredigt. Sein dankbares Gemüth ergriff - 
zugleich die Gelegenheit, den Secretair aus Erfennt- 
Iihfeit zum Truthahnſchmauſe auf nächſten Mittwoch 
einzuladen, eine Ehre, weldie Gamaliel zeither in 
Niederroßla nod nicht widerfahren war. 

Der Secretair fühlte fi) duch den Truthahn jo 
geichmeichelt, daß er in feinem Herzen dem Wirth 


59 


zur Stadt Magdeburg einen der eriten Pläte im 
Teftamente wünſchte. 

Aber jemehr Yagemann den jungen Drollinger 
in's Herz ſchloß, um fo erbofter ward er gegen ben 
Helvenfpieler, der ihn gar nicht mehr berüdjichtigte 
und al’ jeine Aufmerkſamkeit nur der ſchönen Muhme, 
wie er Felicitas nannte, zufommen ließ. Zugleich 
begriff er nicht und, ärgerte fi, daß der Breterfönig 
fein Avancement nicht benuge und auf die Teftamentd- 
eröffnung losfteure. 

Der umfichtige Tirector würde dieſem Wunfche 
des Magdeburger, der auch der feine war, gerne 
nachgekommen fein, wenn er nicht hätte exit bei Fe— 
licita8 das erforverlihe Terrain gewinnen wollen, um 
eined glüdlihen Erfolges deſto ficherer zu jein. Er 
entfaltete daher feine ganze Liebenswürdigkeit, die ihm 
als darſtellender Künſtler im Helvenfache zu Gebote 
ftand. Dies würde ihn jedoch faun zum Zwecke 
geführt haben, denn Felicitas war feine rau, Die 
ſich leicht blenden lieg, hätte er nicht mit ziemlicher 
Difenheit feine finanziellen Beängftigungen und bie 
bringliche Nothwendigkeit feiner Abreiſe der gutherzigen 
Wittwe zu Gemüthe geführt. 

AS Hanno den Sturm wegen der teftamentari= 
jhen Publicatien eröffnete, jo fiel auch Yagemann 
und dem Gecretair, leßterem wegen Eiſenbeiß, ein 
gewaltiger Stein vom Herzen. Cie ftanden aus 
Neibesfräften dem voranfchreitenden Helvenfpieler bet, 
welcher im Namen feiner ganzen darbenven Truppe 
tapfer voranſchritt. 

Felicttas, von fo viel Etreitfräften zu gleicher 
Zeit und mit ausdauernder Hartnäckigkeit angegriffen, 
ergab fih endlich und ertheilte dem dramatiſchen 
Better in ihrem Namen die Erlaubniß, auf Tejtoments- 


‘ 


60 


- 


eröffnung anzutragen, welche ihr als der nächſten 
Anverwandten des Kabul'ſchen Exrblaffers von Seiten 
bes Gerichts nicht verweigert werden konnte. 


Viertes Kapitel. 


Der Gotteskaſtenvorſteher Henod in feinen außer- 
gewöhnlichen Forſchungen über das Erbland Kabul 
unermüdlich, glaubte nichts Angelegentlicheres thun zu 
müſſen, als fih auch zur jungen Wittwe Urjula zu 
begeben, zu deren Freiern er gehörte, um fi) durch 
gelehrte Mittheilung über das fabelhafte Reich gleich- 
falls eine Stufe in den Himmel zu erbauen. Urfula 
hatte zeither feine geographiſchen roberungen, auf 
die er fi nicht wenig zu Gute that, ziemlih en 
bagatelle behandelt, bei Kabul hoffte er indeß, da 
dahin auc der Blid der verwittweten Glafermeifterin 
mit Sehnfuht gerichtet war, werde das eine Aus- 
nahme erleiden. ” | 

Henoh hatte zu feinem großen Leidweſen nod 
mit zwei unerträglichen Nebenbuhlern bei Frau Urfula 
zu kämpfen, welche ihm, was vie Geographie betraf, 
nicht im Geringften gewachſen waren. Er begriff 
überhaupt nit, wie bie eingebildete Donna an 
‚den rohen Späßen des ungeſchlachten Sprigen- und 
Schlauchfabrikanten Auerhahn, ſowie an dem aufßer- 
gewöhnlichen Phlegma und ver geiftigen Beſchränktheit 
des Papiermüller Grimbart Gefallen und Amufement 
finden fönne Während Auerhahn fein Freiwerber⸗ 
amt auf eine ſehr polternde, fede und verwogne Art 


61 


betrieb, fo dag er von der Wittwe nur mit Mühe in 
den Schranken ver äußern Zucht gehalten werben 
konnte, ſaß Grimbart, die Hände über dem Bauche 
gefaltet, in ftummer Bewunderung und Icheinbarer 
Refignation vor dem ſchönen Bilde. Auerhahn ver- 
achtete geradezu feine beiten Nebenbuhler und fürchtete 
weder den Geographen, noch den PBapiermüller. Er 
ſchritt mit vollkommener Siegesficherheit einher und 
lebte der feften Weberzeugung, dag ihm das fchmude 
Weib nicht entgehen könne. 

Frau Urfula, nad Art aller Goquetten, verbarb 
es mit feinem der drei Anbeter und gab jedem Hoff: 
nung, ohne daß es ihr in den Sinn gefonmen wäre, 
diefe Hoffnung zu erfüllen. Es fchmeichelte fie un- 
gemein, folde Männer bei der Stadt vor ihrem 
Triumphwagen zu erbliden; gleihwohl waren fie ihr 
alle drei zu alt. 

Der Gotteskaftenvorfteher und der Bapiermüller, 
fd fie bei der Wittib zufammentrafen, was fehr häufig 
der Tall war, vertrugen ſich pafjabel; Grimbart 
hörte, die Hände wie gewöhnlid, über dem gravitäti— 
{hen Bauch gefaltet, mit großer Ruhe Henoch's Geo— 
grapbie mit an, fiel darüber gewöhnlich in einen 
fanften Schlummer, welchen Umftand der Gottesfaften- 
vorfteher benutte, der Frau Urfula fein Herz zu er— 
öffnen. Sobald jedoch Auerhahn in’® Zimmer trat, 
hatte der Friede ein Ende. Namentlich konnte Henoch 
ven Spriten: und Schlauchfabrifanten nicht erfehen. 

Der Geograph dankte daher dem Himmel und 
allen Heiligen, al8 er bei der Wittwe in's Zimmer 
trat und nur den Papiermüller vorfand, welder be- 
reitd in jenem träumerifhen Zuſtande, der einem ge= 
funden Schlafe voranzugehen pflegt, mit gefalteten 
Händen im gewohnten Lehnftuhle ſaß. 


62 


Urſula verbarg das Gähnen ihres Tieblihen Mun- 
des mit dem Tafchentuche, wie fie des Gottesfaften- 
vorſtehers anſichtig wurde. Dieſer aber begann mit 
einem zärtlichen Bücklinge wie folgt: 

„Inſonderheit geſchaͤtzte Fran Urſula, es dürfte 
mein diesmaliger geographiſcher Vortrag von außer- 
gewöhnlichem Intereſſe für Hochdieſelben ſein, da er 
über ein Land ſich ausführlich verbreitet, aus welchem 
für ſämmtliche Drollinger'ſche Erben eine außerge— 
wöhnliche Glücksſonne emporgeſtiegen iſt.“ 

Alles was die Erbſchaft anlangte, war für Urſula 
von großer Wichtigkeit. Sie hieß daher Herrn Henoch 
mit einem Blicke willkommen, der den Gotteskaſten⸗ 
vorfteher in den dritten Himmel erhob. Er hoffte 
diesmal mit Sicherheit, ven Sprigen- und Schlaud;- 
fabrifanten aus dem Sattel zu heben und ſprach fo 
gelehrt wie möglidy über Kabul und Afghaniftan. 
Nachdem er Lage und Grenzen, Ylüffe und Gebirge 
dieſes afiatifchen Reichs mit Genauigkeit beftimmt und 
dabei eine Menge fremdländiſcher und kauderwelſch 
klingender Namen citirt hatte, unterbrady ihn bie 
etwas ungeduldige Urfula mit der Frage, cb nichts 
von "den Hofmaler in dem Buche ftehe? Henoch 
ſprach fein außergewöhnliches Bedauern aus, vdiesmal- 
ihren Wunſch nicht erfüllen zu können, fintenal von 
Privaten in einem bloßen Handbuche der Geographie 
kaum die Rede ſein könne. 

„Sprechen denn die Leute in Kabul beutjch ?“ 

„Ei, wo denken Sie hin, Verehrteſte,“ lächelte 
gelehrt der Gotteskaſtenmann, „ein weit ſchwierigeres 
Idiom wird da geredet, als hier zu Lande.“ 

„Verſtehen Sie denn die fremde Sprache?“ 

„Dermalen noch nicht, aber ich hoffe mit der 

Zeit —“ 


63 


„Verſteht fie denn der Herr Stadtrichter?“ 

„Wohl noch weniger,‘ verſetzte Henoch, „ich habe 
nie gehört, daß er in afiatiihen Meundarten zu Haufe 
wäre.” 

„Aber mein Himmel,” fuhr die Wittwe fort, 
„wie will man denn erfahren, was im Teftamente 
ſteht, und dieſes ift gewiß in fabulifcher Sprache 
geſchrieben.“ 

Der Geograph hatte hieran wahrhaftig nicht ge— 
dacht und erwiederte: „Der Fall wäre wirklich außer⸗ 
gewöhnlich, doch hoffe ich, der Herr Hofmaler hat für 
eine beutfche Ueberjegung geforgt.” 

„Das gebe Gott,“ fprady Urfula, und Henod 
fuhr fort: 

„Das ganze Königreich wird in fiebenundzwanzig 
Provinzen oder Gebiete getheilt, deren beveutenbfte 
von einem Hakim beherrfcht werden. Letztere giebt 
e8 achtzehn und ihre Namen find: Herat, Yarra, 
Candahar, Ghasni, Kabul, Bamican, Ghore- 
band, Dſchella labad, Laghman, Peſchawar, 
Dera Ismael, Chan, Dera Ghaſi Chan, 
Schikapor, Sewi, Sind, Kaſchmir, Tſchotſch, 
Haſareh, Leia um Multan.“ 

Der Papiermüller fiel bei dieſer geographiſchen 
Mittheilung vollkommen in Schlaf; auch der Wittwe 
kam ein herzhafteres Gähnen an. Henoch aber, der 
einmal im Zuge, ließ ſich nicht irre machen. 

„Das ganze Einkommen des Kabul'ſchen Reiche 
in ruhigen Zeiten,“ fuhr er fort, „kann beinahe auf 
drei Crors Rupien veranſchlagt werden; aber hier- 
von wird ein Eror an halb unterjochte Fürften ab- 
gelafien, die zufrieden find, ihr Einkommen als eine 
Bewilligung vom Könige zu beziehen. Das wirkliche 


64 


Einkommen dürfte ſonach ſich nicht ganz auf zwei 
Cror belaufen.“ 

„Wie viel iſt denn ein Cror?“ frug unmuthig 
Urſula, der die Beſchreibung von Kabul nach gerade 
immer ennuyanter wurde. 

„Das ſteht freilich nicht hier,“ bedauerte der 
Vorleſer; „es iſt dies eine außergewöhnliche Nach⸗ 
läſſigkeit von Seiten des ſonſt höchſt gelehrten Herrn 
Verfaſſers; doch gedulden Sie ſich nur kurze Zeit, 
ich werde mir all' erdenkliche Mühe geben, über be— 
ſagte Crors nähern Aufſchluß zu erhalten und Ihnen 
das Reſultat fofort mitzutheilen.‘ 

„Incomodiren Sie fi) nicht,“ verjetste die Wittwe, 
„dieſe Kabul'ſchen Crors ſind mir im höchſten Grade 
gleichgültig, wirklich unausſprechlich gleichgültig. Aber 
find wir noch nit zu Ende, Herr Gottesfaften- 
vorfteher ? | 

„Muß nody um flein Wenig Geduld und Auf- 
metffamfeit bitten,” verſetzte dieſer; „das Wichtigſte 
kommt ſo eben, die Rechtspflege.“ 

„Daß Gott, die Rechtspflege,“ ſeufzte Unfula. 

Henod) Tieg fi) durch dieſen Seufzer in feinem 
Bortrage nicht ftören und ſprach: „In den Städten 
wird die Yuftiz von dem Kadi, den Muftis, dem 
Amini Mekhemeh und dem Doroghai Adaulat 
verwaltet. Die ftreitige Sache wird nach den Vor— 
Ihriften der Schirra verhandelt, welche zuweilen 
durch die Beitimmungen des Puſchtunwalli mobi: 
ficirt werden.‘ 

Grimbart ſchnarchte wie ein Dachs. Urſula hatte 
das Fenſter geöffnet und fchaute, ein Liedchen ſum— 
mend, nach der Straße hinaus, wo diesmal zu ihrer 
nicht geringen Freude der Sprigen- und Schlaud: 
fabrifant daher fchritt und gerade auf das Haus zu- 


65 


fam. Um von ber unerträglichen geographifchen Lection 
befreit zu werben, nidte Urſula Herrn Auerhahn fo 
freundlich und einladend zu, daß dieſer feine Schritte 
verdoppeln mit erhöhter Siegesficherheit in die Haus- 
thür einlief. 

Henoch verbreitete fi) eben mit außergemöhnlicher 
Gelehrfamteit über die Organifation der kabuliftifchen 
Armee, die erin Durahner, Gholami Schahs, 
Karra Nokars und in die Dawatallab eintheilte, 
als Auerhahn, ohne vorher anzuklopfen, haſtig in das 
Zimmer trat und auf den Gegenſtand, der vor ſeinen 
Augen Gnade gefunden, zueilte. 

Beim Anblicke des Spritzen- und Schlauchfabri— 
kanten, der ihm gar nicht ungelegener kommen konnte, 
ſchlug der Gotteskaſtenvorſteher mit einem Seufzer 
ſein Buch zu; denn jetzt war bei dem Aufruhr, den 
dieſer liebende Unhold verübte, an eine weitere Auf: 
merkſamkeit nicht zu denken. Auerhahn zog auch ſo— 
gleich ein grimmiges Geſicht, als er des Geographen 
anſichtig wurde. 

„Schon wieder die verdammten Charteken,“ ſuhr 
er ihn rauh an, „Sie wiſſen doch, daß Sie damit 
die Leute zum Raſendwerden langweilen.“ 

Die Wittwe, ſchon zufrieden, über die Kabul'ſche 
Juſtizpflege und Heerverfaſſung nichts mehr hören zu 
dürfen, ſprach beſänftigend: „Der Vortrag war nicht 
unintereſſant, da er das unbekannte Land beſchrieb, 
wo mein guter Vetter, der Herr Hofmaler, lange 
Zeit ſich aufhielt.“ 

„Und über welches Sie, Herr Auerhahn,“ fügte 
Henoch gereizt hinzu, „ſich unfehlbar in bedeutender, 
außergewöhnlicher Finſterniß und Unkenntniß befinden. 
Doch,“ fuhr er ſich mäßigend fort, „ver wahrhafte 
Chriſt fol nicht Uebles mit Ueblem vergelten; ich 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVII. 5 


66 


bin daher gar nicht abgeneigt, auch Ihnen über be— 
ſagtes aſiatiſches Ländergebiet, das für uns Nieder⸗ 
roßlaer und namentlich für die verehrten Erben des 
ſeligen Herrn Drollinger neuerdings von fo außerge⸗ 
wöhnlicher Wichtigkeit geworben, einiges Licht aufzu⸗ 
ſtecken, welches Ihr Inneres recht wohlthätig erleuch— 
ten und erwärmen dürfte.“ 

' Fran Urſula erfchraf ob dieſer Propofition und 
fie fah ven Sprigen- und Schlauchfabrikanten bittend 
an, daß er auf ſolche unerträgliche VBorlefung nicht 
eingehen möge. 

Letzterer wußte ſich den Blick der Wittwe nicht 
recht zu erflären. Er glaubte anfangs, Urſula wolle 
ihn bereden, daß er fi dem Geographen füge und 
gerieth) im Kampf mit fi. Gleihwohl war feine 
Averfion vor allem gelehrten Weſen fo groß, daß er 
es nicht über fi) zu gewinner vermochte, vem Wun- 
ſche der Angebeteten nachzukommen. Er ſchlug daher 
dem Gotteskaſtenvorſteher ſeine Propoſition rund ab. 
Ein heimlicher Händedruck der Wittwe belohnte ihn. 
Auerhahn, durch ſolche unerwartete Gunſtbezeugung 
kühn gemacht, ergriff nun Gelegenheit, ſeinen ganzen 
Ingrimm gegen die Gelehrten, nichtsnutziges Volt, 
wie er ſie nannte, loszulaſſen. Er ſchritt ſcheltend 
im Zimmer auf und ab. In ſeinem Eifer packte er 
den ſchlafenden Grimbart an der Achſel und rüttelte 
ihn unverantwortlich. 

„Nicht wahr, Papiermüller,“ rief er, „mit dem 
gelehrten Grimskram lockt man keinen Hund unter dem 
Dfen hervor?“ 

„Bewahre Gott,“ ſtammelte der Erwachte, ſich 
ſchlaftrunken die Augen reibend, ohne zu wiſſen, wo⸗ 
von die Rede ſei. 


67 


„Da hören Sie's,“ ſprach Auerhahn zu Henoch, 
„der Papiermüller bezeugt's gleichfalls.‘ 

„Grimbart weiß nicht, was er ſpricht,“ entgegn 
der Gotteskaſtenvorſteher, „er iſt noch halb im Schlafe, 
ſonſt würde er als Mann von Einſicht nicht gegen 
ſein eigenes Intereſſe ſprechen; ohne Gelehrſamkeit 
und Literatur brauchten wir auch kein Papier. Dies 
müſſen Sie doch zugeben, Herr Grimbart?“ 

„Sehr wahr,“ erwiederte der Phlegmatiker und 
gähnte entſetzlich. 

„Verſchlingen Sie mich nur nicht,“ ſprach Henoch. 

„Poſſen,“ brummte der Spritzen- und Schlaud)- 
fabrikant, „unbedrucktes Makulatur verrichtet's auch.” 

Da er aber das Geſpräch über Gelehrſamkeit 
überdrüſſig bekam, drehte er ſich mit grob chewaleres- 
fer Nonchalance einigemal auf dem Stiefelabſatze 
herum, trat keck zu Urſula und ſie in die Wangen 
kneipend, frug er: „Nun, ſchmucke Wittib, wenn ma— 
hen wir Hochzeit?” 

Henoch erftarrte über dieſes unzarte Benehmen 
und über die indecente Frage, welche fein keuſches 
Ohr erröthen machte. Er hoffte, Urfula werde den 
Berwegenen derb heimfchiden; die Wittwe beugte ſich 
aber blos fchamroth über ihren Spinnroden und 
meinte, folde Rede könne fie bei ihrer Armuth nur 
für Spott halten, der Herr Sprigen- und Schlauch-, 
fabrifant denfe ficher an Fein Heirathen. 

Auerhahn that jet einen rafenden Schwur, daß 
ex die beiten Abfichten babe, und jede Verzögerung 
nur ihr zur Laft falle. Ihre Armuth kümmere ihn 
" den Gudud; feine Sprigen und Schläuche gingen 
jettt bis nach Amerika und brächten fo viel ein, daß 
beide herrlich und in Freuden leben rennen, Sie 

" * 


Mm 


68 


brauche zu winken und das Schwein für den Hoch— 
zeitſchmaus folle noch heute. in den Stall. 
5 Dem Öottesfaftenvorfteher warb bei biefem beter- 
mintrten Heirathsantrage nicht ganz wohl zu Muthe. 
„Die Weiber,“ fprad er für fih, „find ein an fid 
außergewöhnlich ſchwaches Gefchlecht, ſobald ernſtlich 
von Heirathen die Rede iſt. Ich hätte das bedenken 
und anſtatt von der Geographie doch mehr von der 
Hochzeit ſprechen ſollen. Der rohe Auerhahn ſcheint 
bei all' ſeiner Unwiſſenheit hier ein gewiſſes Inſtinet 
zu beſitzen. Indeſſen verhoffe ich denn doch, daß 
Frau Urſula nicht ſo ſchnell zu beſiegen ſein wird. 
Sie hat die Auswahl unter Dreien und wird ſich 
deshalb mit Recht bedenken, eh' ſie ihre Freiheit 
verkauft.“ | 
Henoch ſchien nicht ganz unrichtig philofophirt zu 
haben; die junge Wittwe, obſchon fie dem Fabrifan- 
ten keineswegs die Hoffnung nahm, wollte fid) doch 
aud zu feinem Verſprechen, noch vielweniger zu einem 
Eheverlöbniß verftehen, wie fehr auch Auerhahn in fie 
drang, mit welch' glänzenden Farben er feinen 
Sprigen= und Schlauchhandel vor Augen führte. Ur- 
fula hoffte in ihrem Innerften gar fehr auf die Erb— 
Ihaft. Hatte fie Exblaffer anſehnlich bedacht, jo war 
ihr Wille, mit den drei Freiern weniger Umſtände 
zu maden und biefelben, je nad den Umſtänden, 
gänzlich abzudanfen, denn ihr Herz hatte ſich einen 
weit jüngern Schag erforen. Es war dies der hüb- 
ſche Zinngießergejelle Florian, "ver tägli in der ge= 
genüberliegenden. Werkftätte feines Meifters von früh 
bi8 Abends unverdroſſen arbeitete und in feiner Un— 
ſchuld und Einfalt nicht ahnete, welchen Einprud er 
auf die junge Frau hervorgebracht hatte. 
Urfula, um den unternehmenden Auerbahn bei 


.s 


69 


feinen fühnen Bewerbungen um ihre Gunft in ge= 
bührenden Schranfen zu halten, verwies ihn auf das 
beſcheidene Benchmen Henoch's und des Puapiermüllers, 
welch lettrer unverbroffen in feinem Lehnftuhle ſchlief. 
Der Gottesfaftenvorfteher fühlte ſich ſehr seihmeichelt 
durch diefe Anerkennung feines Verdienſtes. Er gab 
auf verblümte Weile zu verftehen, daß mahrhafte 
Bildung der Frauen nie zubringlid werde, und er 
feierte wirklich einen Heinen Triumph über Auerhahn. 
Seine Eitelfeit flüfterte ihm zu, daß er im Grunde 

‚ doch der am meiften Begünftigte unter den brei Frei— 
ern fei. Der Spritzen- und Schlauchfabrikant aber 
gerieth in Wuth und tobte. Nur mit Mühe gelang 
e8 der Wittwe, ihn zu befänftigen. Um ihn auf 
andre Gedanken zu bringen, leitete fie das Geſpräch 
auf die Kabul'ſche Erbſchaft. 

„Darüber,“ meinte Auerhahn, noch immer unge 
halten und mürriſch, „werden wir bald in’s Klare 
fommen und erfehen, daß der afiatifhe Narr und 

ofpinfel ganz Niederroßla fammt dem hochweiſen 

tabtrath und insbeſondere alle die einfältigen Leute 
in den April gefchidt hat, welche ſich Etwas zu erben 
einbildeten.“ 

Frau Urſula machte ein bitterböſes Geſicht und 
nahm ſich feſt vor, mit dem ungalanten Freiersmann 
vierundzwanzig Stunden lang zu ſchmollen. Sie 
würde noch weit böſer auf ihn geworden ſein, hätte 
ſie ſeinen Unmuth nicht ſeiner Eiferſucht auf Henoch 
zur Laſt gelegt, eine Männeruntugend, die von den 
Weibern am Leichteſten verziehen wird. 

Der Gotteskaſtenmann erkundigte ſich von wegen 
des „bald in's Klare kommen,“ da bis zur Teſta— 
mentseröffnung noch faſt ganzer fünf Wochen hin ſeien. 

„Madame Drollinger,“ berichtete Auerhahn, 


m 





70 


„wahrſcheinlich weil ſie glaubt, in dem fabelhaften 
Teſtamente obenan zu ſtehen und es nicht erwarten 
kann, zur reihen Frau zu werden, hat ven lächer— 
lichen Einfall gehabt, auf ſoforlige Publication an⸗ 
zutragen.“ 

Urſula brannte vor Nengier um Näheres über 
dieſe für ſie ſo wichtige Angelegenheit; gleichwohl 
ſiegte der weibliche Schmollgeiſt und ſie frug nicht 
weiter. Dafür that's der Gotteskaſtenmann um ſo 
ergiebiger. 

Auerhahn's Anfichten ‚über die Erbfchaft klangen 
eben nicht erbaulih für die hoffende Wittwe. „Ich 
laſſe mic todt ſchlagen,“ ſprach der Schlauchfabrikant 
in ſeiner polternden Redeweiſe, „es iſt alles blauer 


Dunſt, Lug und Trug. Dem Drollinger lag's ſchon 


als Beutlerjunge im Blute, die Leute zu foppen. Ein 
ſolcher davongelaufener Schlingel will Hofmaler ge— 
worden ſein! Es iſt zu lächerlich, dem Publikum 
ſolche Märchen aufzubinden. — Der Betrug liegt 
übrigens vollkommen am Tage; denn ich will's nur 
geſtehn, es giebt gar kein Kabul in dieſer Welt, noch 
weit weniger einen König von Kabul, bei dem ein 
Hofmaler angeſtellt wäre.“ 

Henoch erſchrak über ſolche außerordentliche wiſ—⸗ 
ſenſchaftliche Verwahrloſung, welche eins der angeſe— 
henſten und wahlarrangirteſten aſiatiſchen Königreiche 
mir nichts dir nichts aus der Geographie ſtrich. Er 
ſchlug ſofort feine Erdbeſchreibung auf, um Auer— 
hahn eines Beſſern zu belehren, als ihn dieſer mit 
den Worten anfuhr: „Ihre Charteken machen mich 
nicht dumm; es ſteht viel gedruckt, an dem kein wahr 
Wort iſt.“ 

Er ſchüttelte bei dieſen Worten Grimbarten wie— 


za 


der aus dem Schlafe und frug: „Nicht wahr, Pa- 
piermüller, e8 giebt gar kein Kabul?“ 

„Bewahre Gott,“ ftammelte viefer ſchlaftrunken 
und fi) die Augen reiben. 

„Da hören Sie es, Muger Mann,” ſprach ver 
Schlauchfabrikant zu Henoch. 

Urſula blickte ängſtlich und fragend zu Letz— 
term auf. | 

Der Gotteskaftenvorfteher wollte verzweifeln. „Und 
wenn,“ rief er erboft, „ver gefammte Rath und bie 
gefammte Bürgerjhaft und die ganze Umgegend, ade— 
lige und bürgerliche Gutsbeſitzer, es läugnen, ein Ka— 
bul giebt's. Mag's mit der Erbſchaft, mit dem Hof: 
maler eine Bewandtniß haben, welde es will, aber 
ein Kabul giebt's, jo gewiß am Tage die Sonne 
ſcheint, ſo gewiß die Erde rund ift, fo gewiß ich He= 
noch beige und Gotteskaftenvorfteher bin.“ 

Er ſchlug fein Bud auf und las laut und ver: 

nehmlih: „Kabul, auch Afghaniftan oder Kabuliften, 
umfaßt einen Flächenraum von ſechszehntauſend Qua⸗ 
tratmeilen, dehnt ſich tief in das Hindukuſch- und 
- Himalaja= Gebirge und begriff ehedem felbft einen 
Theil von Indien. In Often erheben fid) drei Berg⸗ 
fetten, welche —“ 

„Narrenspoſſen,“ unterbrach ihn der Spriten- und 
Schlauchfabrikant, „das Papier iſt geduldig; morgen 
iſt Teſtamenteröffnung, da werden aller Welt die 
Schuppen von den Augen fallen.“ 

„Und ob das Teſtament morgen oder über's Jahr 
eröffnet wird,“ beharrte Henoch, „ein Kabul giebt's. 
Ic begreife nicht,” wandte er ſich nicht ohne Heftig⸗ 
- feit- zu Orimbart, „wie Sie, als gebilveter Mann, 
ſo etwas bezweifeln können.“ 

„Ich ?“ frug der Papiermüller, „bewahre Gott.“ 


72 


„Er weiß niht, was er ſpricht,“ behauptete 
Auerhahn. | 
„Das glaub’ ih auch,“ meinte Henoch. 

| Srimbarten Tieß e8 fehr ruhig, was der eine be- 
hauptete und der andere glaubte. Er fchlief bald 
abermal8; während die beiden andern Treier wieder 
, daran dachten, fich ihrer Herzenskönigin, der jungen 
Wittib, in angenehmen Lichte zu zeigen. 


Fünftes Kapitel. . 


Der Helvenfpieler Hanno hatte nad feinem Beſuche 
bei Felicitas nichts Angelegentlicheres zu thun, ale 
auf das Stadtgeriht zu gehen und als Bevollmäch— 
figtee der verwittweten Drollinger auf fchleunigfte 
Eröffnung des afiatiihen Teſtaments anzutragen. Er 
erhielt Die Refolution, daß die Publication in den 
Bormittagsftunden bes nächſtfolgenden Tages den Ge- 
fegen gemäß vorgenommen werden folle. 

Es war kaum eine Stunde verftrihen, als ganz 
Niederroßla von dem hochwichtigen Ereigniß Kennt- 
niß hatte. Bon den erleuchteten Vätern der Stadt 
herab bis zum Schufterlehrling fprad Niemand von 
etwas Anvderm, als dem Teftamente. Die biverfen 
Erben waren die Helden des Tages, der Unterhaltung, 
der Schmeichelee und des heimlichen Neives. Der 
Schauſpieldirector ließ ſich wie ein heidnifher Gott be 
räudern und nahm die Weihrauchſpenden großmü- 
thig entgegen. Seiner gefammten Truppe, den total 
infolventen Soufleur nicht ausgenommen, ward ein 


73 


anberweitiger achttägiger Credit eröffnet. Der Wirth 
zur Stadt Magdeburg hatte feine Gaftitube noch nie 
von Beſuchern fo, überfüllt gejehn, ald am Abenve 
jene® Tages, an weldem ber unternehmende Hanno 
auf Teftamentseröffnung gebrungen hatte. Nicht nur 
fammtlide Stammgäfte waren angelangt, ſondern aud 
eine große Anzahl folder Niederroßlaer, die man in 
der Regel jonft nie am öffentlichen Orten zu erbliden 
pflegte. Manche Ehefrau hatte diesmal ihre Averfion 
gegen das Schenfenleben zu befänpfen gewußt und 
dem Eheherrn Urlaub ertheilt, auf daß er Kundſchaft 
einziehe bei Lagemann. Letztrer ſelbſt betrachtete die— 
jen aufßererdentlihen Zulauf als einen Vorſegen des 
Teftaments und ſchritt, hoffnungsreich, fi) Die Hände 
reibend, liebevoll lächelnd als gefeierter Mann unter 
feinen Gäften auf und ab, überall Rede ftehenn, Aus- 
funft ertheilend und dabei das feltene Freundſchafts⸗ 
band, welches ihn und den feligen Peter Drollinger 
vereint, in ven Himmel erhebend. Mehre ver Stamm- 
gäfte benugten fogleih vie Gelegenheit, ven Hotelier 
auf die unvermeidliche Berbinplichkeit eines zu geben- 
den Schmaufes, fall er, wie nicht zu bezweifeln ftehe, 
im ZTeftamente bedacht ſei, aufmerffam zu machen. 
Lagemann flüfterte dann jedem, ver ihn wegen des 
Schmauſes anging, verſtändniß-innig in’d Ohr: „Wir 
trinfen Eins zufammen, aber ganz unter uns, ein 
Weinen fag’ ich, das fobald nicht wieder gefunden 
wird.” Hierdurch bejchwichtigte er die Einzelitimmen 
und verhinderte, daß fie Coalition machten, wo er 
leicht hätte zu einem Gratisſchmauſe gezwungen wer— 
ven fünnen. So dachte aber Jeder, er fei der all: 
einige Beneidenswerthe, auf welchen der Segen ber 
Erbſchaft überfliege und hütete fich, auf einem großen 
Feſtin zu beftehen. 


Th 


Magiſter Vetterlein, dem es gleichfalls gelungen 
war, eine entfernte Verwandtſchaftsſproſſe zur Familie 
Drolinger ausfindig zu machen, traktirte feine Ouar- 
taner in den geographifchen Lectionen mit bejondrer 
Borliebe faft nur mit Afien, obfhon dem Stunden- 
plane gemäß über das deutſche Königreih Hannover 
"zu beridhten war. Unmittelbar nah der befannten 
ftadtgerichtlihen Belanntmahung im Wochenblatte 
war er mit einem Sprunge von der Landdroſtei Lüne— 
burg nah Alien übergefeßt, wo er, unterftügt won 
feiner wißbegierigen Jugend, unermüdlich nach dem 
gefegneten Kabul forfchte. 

Die gute Felicitas wußte fih, nachdem ihr Man- 
dator, der dramatifche Künftler, auf Zeitamentseröff- 
nung angetragen hatte, vor guten Freunden und Be— 
fannten nit mehr zu lafien. Ihr kurz zuvor noch 
jo wenig befuchtes Stühchen warb von Befuchern 
nicht leer; und fie hatte alle Gelegenheit, die Men— 
Ihen in ihren verſchiedenen Schwachheiten fennen zu 
lernen. Man überpurzelte fih in Aufmerkſamkeiten 
gegen eine Frau, die man zeither nur über die Ach— 
jeln angejeben hatte. Die Freundlichkeit und Freund: 
Thaftlichkeit ging fo weit, daß fie felbft dem Secre— 
tair, obſchon er alle Menfchen für halbe Engel hielt, 
etwas verdächtig vorkam. ‘ 

„Mutter,“ ſprach er, „und wenn ich Alles glaube, 
jo glaube ich nicht, daß es allen ven Leuten jo um's 
Herz ift, wie fie thun.“ 

Felicitas lächelte und erwieberte: „Laß unfre. Erb- 
ihaftshoffnungen in Nichts zerfließen und Du wirft 
jeben, wie einfam unſer Stübchen bald wieder fein 
wird.” 

Gamaliel verfegte traurig: „Aber das ift nicht 
Ihön von den Leuten.” 


15 


„Die Welt ift nicht anders, mein Gama,“ ſprach 
Felicitas, „darum hab’ ich auch nur mit Außerftem 
Widerſtreben meine Einwilligung wegen der Eröffnung 
gegeben. Sollte, wie ich fürchte, die ganze Sache 
auf einen Scherz hinauslaufen, jo werde ich meine 
Boreiligfeit gewiß theuer genug zu bezahlen haben.“ 

„Wo denkſt Du bin, Meütterchen,“ antwortete 
ber Sohn; „auf dem Todtenbette vergeht dem Luſtig⸗ 
fien der Scherz. Auch meint Eiſenbeiß, daß hinter 
der Sauce wohl mehr ftede, als man vermuthe.‘ 

Neuer Beluh aus der Nachbarſchaft unterbrach 
dieſes Geſpräch, welches oft auf viefe Art zwifchen 
Mutter und Sohn geführt wurde. — 

Den geographifchen Verdienſten des Gottesfaften- 
vorfteher Henoch war es endlicd gelungen, fihb Bahn 
zu brechen und gebührende Anerkennung zu erlangen. 
Henoch gehörte in den Tagen unmittelbar vor der 
Zeftamentseröffnung zu Niederroßla unter die geſuch— 
ten Artiel. Er feierte Triumph auf Triumph. “Die 
erſten Patrizierfamilien riffen fih um den Mann. Wie 
Dienen ſog man die Worte über Kabul von feinem 
Munde. Zweimal fogar ward er zum regierenden 
Bürgermeifter entboten, um Auskunft zu geben, ba 
Seine Eminenz, wie e8 in dem Charakter großer 
Männer liegt, offen geftand, aus feiner Schulzeit ber 
fih nur Dufter auf Kabul befinnen zu fünnen. Henoch 
verließ ganz beraufcht von der Ehre, dem geftrengen 
Bürgermeijter ein Licht aufgeftekt zu haben, die Woh— 
nung befjelben, und warb vom Hochmuthsteufel hier: 
durch dermaßen befeflen, daß er den ihm begegnenden 
und grüßenden Bürgern faum zu danken vermochte, 

Urſula träumte in den zwei legten Nächten vor 
ber teftamentarifchen Publication von nichts als Gold⸗ 
und GSilberfäden, türkiſchen Shawlen, Perlen und 


76 


wohlriehenden Specereien, unter welden Herrlichkei⸗ 
ten der geliebte Zinngießer ald junger Türke auf und 
ab wandelte. Die drei Freier erjchienen in weniger 
vortheilhaften Coſtüme; der Papiermüller als Yaul- 
thier, der Spriten= und Schlauchfabrikant als Tollern- 
der Puter und Henoch al® graue Feldmaus. Urſula 
fühlte fi) daher am Morgen des Entſcheidungstages 
von den theil® vofigen, theil® beängjtigenden Träumen 
ganz abgemattet. Gleichwohl verfehlte fie nicht, fid) 
fobald als möglih in Staat zu werfen, um der Ge— 
richtsſitzung als hoffende und eroberungsluftige Erbin 
in Perſon beizumohnen. 


Sp war denn endlich der große Tag herbeige- 

fommen und bie enticheidende Stunde, wo der Inhalt 
des Kabul'ſchen Teftaments veröffentliht werden follte, 
hatte gefchlagen. Außer Velicitas, die durch Herrn 
Hanno vepräfentirt ward, hatten ſich ſämmtliche Erb- 
erfpectanten, Lagemann nicht ausgenommen, obſchon 
er höchftens durch die Noah'ſche Familie mit dem ſe— 
ligen Drollinger verwandt war, eingefunden und harr- 
ten mit verhaltenem Athen der Dinge, die da kommen 
ſollten. Boran faß Frau Urfula, troß der unrubigen 
Nächte ſchönſtens geputt, und coquettirte, jo gut es 
Drt, Zeit und Umſtände erlauben wollten, mit dem 
jungen Stadtgerihtsacceffiften, der vor Kurzem erſt 
die Univerſität verlaſſen und durch ſein ſtudentiſches 
Weſen die Blicke und Aufmerkſamkeit der ſchönen 
Niederroßlaerinnen int hohen Grade auf ſich zog. Zu— 
nächſt der jungen Wittwe hatte Hanno, dem ſeit ſei— 
nes Beſuchs bei Felicitas, wo ihm eine ſo erwünſchte 
Vetterſchaft in den Schooß gefallen, der Kamm ge— 
waltig geſchwollen war und der ſich bei dem heutigen 


17 


Drama für den Hauptacteur hielt, eine höchſt fünft- 
lerifche plajtifhe tellung eingenommen. Durd eine 
gewifje angenommene vornehme Nonchalance hoffte er 
den Stadtrichter Jacoby, einen etwas abgefchloffenen 
und gemejlenen Mann, der nicht viel Worte machte, 
aber Alles mit Harem, ruhigen Blute überfchäute, zu 
ärgern, weil diefer ihm die Zejtamentseröffnung früs- 
her mit kurzen Worten abgefchlagen und jelbft durch 
Lagemann's großlebrige Gans nicht zu beftechen ge- 
wejen war. Der Präjes des Stabtgerihts nahm je= 
doch nad feinem Erjcheinen von der funftreihen Pan⸗ 
tomimit des Heldenſpielers, wovon ſich Yebtrer viel 
verſprach, Feine Notiz. 

Neben dem colojjalen Hanno nahm ſich das Heine 
und dünne Figürlein des Duartus gar pofjirlidh aus. 
Während des Bühnenfünftlers Füße weit in dem Ge— 
richtsfale dahin lagen, erreichten BVetterlein’8 Beinchen 
" faum den Fußboden. Der Kleine firirte mit ange— 
ftrengter Aufmerkſamkeit alle die Präliminarien, Die. 
von Seiten des Gerichts zur Eröffnung des Kabul’ 
Ichen Teftaments getroffen wurden. 

Hinter Vetterlein's Kopfe vagte ein langes blaſſes 
Gefiht mit ziemlich indifferenten Zügen hervor, wel- 
ches dem blonden Factor aus der Druderei angehörte. 
Süßmilch hatte von feinem Prinzipal Urlaub erhalten, 
damit er der merkwürdigen Gerichtsfigung beiwohne. 

Neben ihm harıte Gamaliel in banger fehüchter- 
ner Erwartung auf den Ausgang der Dinge. Ob— 
ſchon Felicitas es nicht gewünfcht hatte, daß er bei 
der Teitamentseröffnung zugegen jei, fo hatte ihn doch 
Eifenbeiß mit dem gemefjenen Befehle auf's Stabt- 
gericht gejagt, daß er ihm (dem Doctor) unmittelbar 
nad beendigter Sigung Bericht abftatte über den 
Ausgang der Sache. Der Secretair hatte Eifenbeißen 





78. 


‘ mit ver Hand geloben müffen, vom Rathhauſe direct 
nach der Expedition zurückzukehren. 

Gamaliel empfand vor allem ohrigfeitlichen We- 
fen eine fo aufßerorventlihe Scheu, daß er nur mit 
angftflopfendem Herzen das Gerichtslocal betrat. Es 
Ionnte einem Verbrecher, der zum Tode verurtheilt 
werben follte, nicht ımheimlicher zu Muthe fein, als 
ihm.. Bergebens fprad er fihb Muth ein und juchte 
in fi den Gedanken zu befeftigen, daß er ja nicht 
als Mifjethäter, jondern als hoffnungsreiher Erbe 
vor den Schranken erjcheine; ein leiſes Zähneklappern 
war bemungeachtet nicht ganz zu unterbrüden, und 
von Zeit zu Zeit lief, wie man zu fagen pflegt, ihm 
der Tod über den Naden. Er grüßte mit Ehrfurcht 
den Gerichtsdiener, welchen vie Thür öffnete und wollte 
den befcheivenften Sit unter den für die Erben be- 
ftimmten Plätze einnehmen, nämlicdy den der Thür am 
nächſten, als ihm Hanno, der fein Eintreten bemerft, 
näher winfte und auf den Stuhl hinter fih und ber 
jungen Wittwe zeigte. Gamaliel rüdte diefer Auf: 
forderung des fünftlerifchen Vetters zu Folge aud 
wirklich einige Plätze vorwärts, aber bis hinter die 
Ihöne junge Frau wagte er ſich nicht, weil ihm das 
zu unbejcheiden dünkte. Hanno winkte abermals und 
abermal® avancirte der Secretair, jo daß er endlich 
neben dem Yactor und hinter VBetterlein und dem 
Directorial= Better zu fiten fam. Frau Urfula, wel- 
her Hanno’ wieverholtes Winken nicht entgangen 
war, wandte fi plöglih mit ihrem Geſicht zu Ga— 
maliel und flüfterte mit reizender Vertraulichkeit: „Sie 
fürchten fi wohl vor mir?“ 

Der Secretair ward ganz voth bei dieſer Frage, 
und konnte ſich ſchlechterdings auf nichts befinnen, 
was er darauf hätte erwievern ſollen. Er ftammelte . 


N 


9 

etwas Unverftänpliches, welches wahrſcheinlich befagen 
wollte, daß er ſich nicht fürchte; aber zu verfteben 
war's nit. Urſula hatte jet mit ihrer Coquetten- 
baftigfeit zwei Punkte zu beftreichen, den einen vor⸗ 
wärts, wo der Stabtgerichtsacceffiit faß, und etwas 
zur Linken, bi8 wohin ver ſchöne und erbichaftsreiche 
Gamaliel auf Hanno’8 wieverholtes Winfen vorge= 
rüdt war. Urſula machte daher eine Rechtsachtel- 
ſchwenkung und wendete ihr Yodenktöpfchen bergeftalt, 
daß fie dem Xcceffiften hinter feinem Gitter en face, 
und dem Secretaiv des Doctor Eiſenbeiß en profil, 
zu figen fan. 

Gamaliel hatte, außer vor Eiſenbeiß und ber 
Obrigkeit, in diefer Welt vor Niemanden größern 
Reſpect, als vor einem weiblihen Individuum, Das 
in feinen beften Jahren, nämlich im fechszehnten bis 
zum ſechs und breißigften ftand, einen Refpect, wel- 
her um fo höher ftieg, je mehr der Secretair bie 
Bemerkung machte, : daß das Individuum zugleich 
hübſch ſei. Im diefem Falle geftattete er ſelten ei- 
nen Unterjhied zwifchen einer ſolchen Hübfchheit und 
einem Engel. 

Frau Urſula war ihm alſo aud) eine Art Engel, 
obſchon er über ihre Coquetterie Mancherlei hatte 
munkeln hören. Cr begriff gar nicht, wie dieſes rei- 
zende Profil, nach welchem er von Zeit zu Zeit einen 
verftohlnen Blid warf, nicht einem eben fo fehönen 
Herzen und einer eben jo edlen Seele angehören folle. 

Bei diefen antbropologifchen und philanthropiſchen 
Betrachtungen ftörte ihn Niemand fo jehr wie Lage 
mann, welcher dem Secretair fortwährend Etwas in's 
Ohr zu zifcheln Hatte und nit müde ward, dem 
jungen Manne feine Freundſchaft zu verfichern - 

Der Birth zur Stadt Magveburg, obſchon ihn 


80 


fein justus titulus berechtigte, auf den Erbftühlen 
Platz zu nehmen, hatte fi) gleihwohl unter die hof: 
ende Erbſchaar einzufhmuggeln gewußt und unmit- 
telbar hinter Gamaliel Pofto gefaßt. Er glaubte fteif 
und feſt, wenn aud nicht im Teſtamente, doch in 
einen Codicille oder Xegate vom dankbaren Sohne 
feines ſeligen Freundes bedacht zu fein. 

Lagemann war ftet8 jehr vepfeliger Natur, und 
ba er diesmal feinen andern Abzugsfanal für feine . 
Suade fand, als den vor ihm fißenden Secretair, und 
laute8 Reden in der Gerichtsſtube unzuläffig war, jo 
wisperte er fortwährend feinem Vordermanne zu und 
filtrirte demjelben ununterbrochen al’ feine Hoffnun- 
gen, Befürchtungen, Ahnungen, gehabten Träume, fo 
wie eine umſtändliche Kritif des im Vordergrunde 
jeßhaften Erbperfonals zu. 

Gamaliel hatte fhon alle Mittel aufgeboten, dem 
unermüblihen Schwäter auf zarte Weife zu erfen- 
nen zu geben, wie unangenehm ihm das bejtändige 
Gewisper fei, und felbft wiederholt fein Geficht in 
die verbrießlichften Falten gelegt und es dem Hotelier 
bingehalten. Diefer aber verftand dergleichen Andeu⸗ 
tungen nicht und dachte an fein Aufhören. 

„Sehen Sie pur die Ölaferwittwe, fuhr er 
wispernd fort, „it Ihnen in Ihrem Leben ein coquet- 
tere8 Weib vorgelommen? Wie fie den Kopf dreht, 
das gilt nur Ihnen. Die Frau hat e8 auf Sie ab- 
gejehen; nehmen Sie ſich in Acht.‘ 

Der Secretair erſchrak, obſchon er den wahren 
Sinn des Geflüfters nicht verftand. Er begriff nicht, 
wofür. er ſich in Acht nehmen follte, warf wieder 
einen verjtohlnen Blick nah der gefährlihen Stelle, 
und traf gerade in die fehönen Augen der Wittwe, 
die zufällig nach ihm hinblidte. Dem Secretair ward 


5 


ganz wunderbar zu Muthe bei dieſem DBlide, und er 
flug fchleunigft das Auge zur Erbe. 

„Ste müſſen das Weib gar nicht anguden,” fuhr 
der Hintermann fort, „ſonſt laufen Cie in Gefahr; 
Sie wären der Erfte nicht.” 

Während Gamaliel noch darüber nachdachte, wie 
die warnenden Worte des Magveburgers eigentlich zu 
verftehen ſeien, rief die Stimme des Gerichtspieners 
durch die balbgeöffnete Thür: „Der Herr Stadt- 
richter!“ Gleich darauf thaten fich beide Flügel weit 
auf, der Chef des Stadtgerichts trat in's Gemach, 
und ſchritt ernft nad) feinen Sefjel beim Seſſionstiſch. 
As er an dem Erbpublilum grüßen vorüberging, 
erhob fich dieſes fämmtlich zur Erwiederung; nur ver 
Helvenfpieler blieb figen und nidte blos ein Wenig 
mit dem Kopfe. Jacoby ſchien diefe Unhöflichkeit nicht 
zu beadhten und ging, jo wie er Pla genommen, zur 
Sache über. 

Eine Todtenftille verbreitete fich jetst über die An— 
wejenden, dag man ven Fall eined Sandforns hätte 
hören können. Nach ven üblichen Yormalien und ale 
die Unverleßbarfeit der Tejtamentsfiegel von Ceiten 
der Erben war anerfannt worden, eröffnete Jacoby den 
legten Willen des ſeligen Haffansben-Mullah, über: 
reichte ihn dem beiſitzenden Actuarius, welcher aufftand 
und zu lefen begann wie folgt: 


„Kabul, den zwölften des Ramaſan im... . Jahre 

der Hegira.“ 

Bei diefen Worten fühlte ſich der Secretair von 
Lagemann auf die Schulter geklopft. Wahrſcheinlich 
wollte er fi) diber die ihm unbekannte Hegira Aus— 
funft erbitten; Gamaliel aber, vefjen ganze Aufmerf- 
ſamkeit auf den Inhalt des Teſtaments gerichtet und 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVII. 6 


82 , 
deſſen Geduld hinſichtlich Lagemann's erfchöpft war, 
gab durch einen umwilligen Ruck zu verftehen, daß er 
ihn ungefchoren laſſen ſollte. | 

Ä Der Stadtgerichtsactuar Kiefewetter, fo hieß das 
vorleſende Individuum, fuhr fort: 

„sn nachfolgenden Blättern babe ich, Haſſan-ben 
Mullah, ehedem Balthafar Drollinger geheißen, Hof- 
maler, fo wie auch Hofchirurg Seiner Majeftät des 
Könige von Kabul, in Gegenwart des ehrmwürbigen 
Kadi Abdulla, fo wie des nicht minder ehrwürbigen 
Amini Mekhemed meinen Ietten Willen theil® eigen-' 
händig nievergefchrieben, theil® durch den verpflichteten 
Gerichtöfchreiber, Mulk Hiffer, nieverfchreiben laſſen. 

„Nachdem ich vie milothätigen Anftalten der Haupt- 
und Reſidenzſtadt des Königreichs Kabul, wo mid 
Gott gefegnet und. wofelbft ich viele frohe und glüd- 
lihe Jahre verlebt, in dankbarer Anerkennung genügend 
bedacht zu haben glaube, fo iſt mein Wille und Gebot, 
daß die wenigen Ueberbleibfel meiner zeitlichen Glücks— 
- güter einigen Bewohnern Nieverroßla’s, einem Städtchen 
im Kreisdirectionsbezirke Waldenburg, des deutſchen 
Fürſtenthums X. X. gelegen, deren ich mich gleichfalls 
in dankbarer Anerkennung nad) Jahren noch erinnere, 
zu Gute fommen mögen, falls nämlich die reſpectiven 
Erben die Frachtipefen von Kabul bis Niederrogla 
aus eignen Mitteln zu beftreiten gewilligt find. Ich 
muß mir jedoch hierbei die Bemerkung erlauben und 
bitten, mehr auf die Gefinnung des Gebers, als auf 
den Werth ver Gabe zu fehen, da lettere überhaupt 
nur als ein Kleines Andenken an den bavongelaufenen 
Beutlerjungen zu betrachten find, da ihr Werth mit 
dem Toftfpieligen Porto allerdings in feinem Vergleiche 

e t 4 


Das hoffende Erbpublifum begann fid) von den 


83 


Worten „wenigen Weberbleibfel” an bis zu 
dem „da der Werth mit dem koftfpieligen 
Borto in feinem Bergleih zu bringen iſt“ 
gegenſeitig mit feltfamen Gefühlen und noch feltjamern 
Gefichtern anzufchauen. Der Helvenfpieler fiel unmill- 
fürlic aus feiner chewalercsfen Poſition, Urfula vergaß 
“ ihre Soquetterie, und Lagemann flüfterte dem innerlich) 
erzitternden Gamaliel in's Ohr: „ic hab's faſt geahnt, 
daß der Kabul'ſche Hallunfe uns fammt und ſonders 
zum Narren gehabt hat.” 

Kiefewetter las weiter: 

„Demzufolge vermache ic) nachverzeichneten fieben 
Perfonen oder deren refpectiven Erben nad)verzeichnete 
Gegenftände aus meiner Hinterlafjenfcdaft. 

I. „Dem ehrfamen Bürger und Beutlermeifter 
Elias Lucas Harnifh, meinem ehemaligen Yehrherm 
. oder deſſen Erben, cedire ich andurch die Krone meines 
zoologifhen Gabinets, nämlich ven nad der neuen 
indifhen Methode ausgeftopften Seehund, melden 
ih mit eigener Hand erlegt und der in ber einen 
Niſche meines Gartenpavillons aufgeftellt if. Ich 
verbinde mit dieſem Geſchenke den wohlgemeinten 
Zwed, dem ehrſamen Elias Lucas Harnifh, welcher 
mich ob meiner Malerei oft einen Seehund gejcholten, 
einen bilplihen Begriff von einem richtigen Seehunde 
beizubringen und ihn zugleidh zu überzeugen, daß 
zwiſchen mir und ber genannten Beftie noch ein wefent- 
licher Unterfchiev obwaltet.” 

Ueber das ernſte Gefiht des Stadtrichters floh 
faum bemerfbar ein leifes Lächeln, während dem erb= 
Ihaftlihen Publikum durchaus nicht lächerlich zu Muthe 
war. Kieſewetter fuhr fort: 

II. „Vermache ich dem Armenpfleger Franz 
Lange, der ſich meiner braven Eltern A} chriſtlich 


84 


annahm, daß er die todtkranfe Mutter wegen rüditän- 
diger Miethe auf die Straße werfen wollte, den eijer- 
nen ‚zugefpigten refpectablen Pfahl, auf weldyen die 
tabuliftifchen Spitzbuben gejpießt werden, worauf fie 
dann in der Somne braten, und ben ich vor Kurzem. 
zu dieſem Behufe erft vom biefigen Kapidſchi Baſchi 
mit ſchwerem Gelde erhanvelt habe.“ 

II. „Cedire id) dem tapfern Schulmeifter, Ono- 
phrius Zeh, meinem" einftigen Educationsrathe und 
Pädagogen in dankbarer Erinnerung der zahllofen 
Büffe, Hiebe, Kopfnüffe, Pfötchen und ähnlicher Er- 
munterungsmittel, ein ächtes Bambusrohr mit filber- 
nem Griff, wie foldes fic Fein Paſcha zu ſchämen 
braucht, und ein foldes in Niederroßla nit zum 
zweiten Mal gefunden werden dürfte.“ 

IV. „Dem DBettelvoigte Tobias Mütze, da wir 
beide nie unter einen Hut zu bringen waren, vermache 
ich meinen kabuliſtiſchen Doctorhut, welchen ich mir in 
Ermangelung einer mediziniſchen Facultät zu Afgha— 
niſtan, nad) einer deſperaten Bruchoperation am Hof— 
koche, Hadſchi Baba, mit eigner Hand auf den Kopf 
geſetzt habe.“ 

V. „Der Jungfer Salome, welche während meiner 

Beutlerlehrzeit in der Dachſtube des Harniſchen Hau— 
ſes ſeßhaft und vor lieber langer Weile nichts zu 
thun wußte, als mic beim Meiſter anzuſchwärzen, 
Heftimme ich ein Straußenei von anjehnlihem Um- 
fange, zu gefälligem Ausbrüten. Sollte Jungfrau 
bereit8 in ben Himmlifhen Saal eingejchritten fein, 
fo bleibt der refpectiven Nachkommenſchaft die Brütung 
überlaſſen.“ 

VL „Dem Bäder Breitkopf, über welchen in 
Nieverrogla ftete Klage megen zu leichten Brotes 
war, vermace ic ein Dutzend von denjenigen Nä— 


85 


geln, womit von der hiefigen Bäderinnung diejenigen 
Meifter mit ven Ohren an ihre eignen Hausthüren 
genagelt werden, welche der gejetlihen Brottare nicht 
nachkommen. Auch folgt ein Töpfchen Honig bei, 
womit ein ſolcher ſpitzbübiſcher Teigaffe in warmem 
Sonnenſtrahle angepinſelt wird, zur allgemeinen Be— 
luſtigung und Leckerei benachbarter Bremen und Hor- 
niffen.“ 

Während um den einen Mundwinkel des Stabt- 
richters ein faft ununterbrodhenes Lächeln zudte, war 
dem Erbpublilum mit Schreden klar geworben, daß 
e8 auch diesmal, wie früher fo mancher ehrfamer 
Niederroßlaer von dem Hofmaler total genarrt worden 
ſei. Dem Helvenfpieler war aller Muth gefunfen. 
Jetzt half ihm auch die neuerworbene Betterfchaft 
"nichts, die ihn zeither fo hochfahren gemacht; er ließ 
ſchlaff und zerfnirfcht die Hände bangen, ohne auf 
eine künſtleriſche Plaftif weiter Rüdfiht zu nehmen. 
Bei Urſula fant das Köpfchen gleichfall8 wie bei 
einem Röslein, welches man zu begießen vergeilen hat. 
Acceffift und Gamaliel waren ihr nichts mehr, und 
die drei bejahrten Freier ftiegen um hundert Prozent. 
Betterlein feufzte unaufhörlich, während bei dem 
Secretair des Doctor Eifenbeiß die Thränen fehr nahe 
ftanden. Am Gefaßteften blieb der Factor. Sein Ge— 
fiht blieb fich fo ziemlich gleih, nur daß er häufiger 

als gewöhnlich eine Prife zu nehmen pflegte. 

Bei Lagemann wollte die angeborne Ruſticität 
fogar in laute Schelt- und Drohmworte gegen den 
Hofmaler ausbrechen, als der Stadtrichter ob des 
ungebührlihen Gebrummes mit feftem, ernſtem Blide 
aufſchaute und zur Ruhe verwies, während Kieſe— 
wetter, nachdem er wieder die Brille zurechtgerüdt, 
im Teftamente fortfuhr: 


86 


„Endlich hinterlaffe ich 

VII. „Dem Gafetier, Athanaſius Lagemann (der 
Genannte fuhr hier wie behert in die Höhe, und 
ftarrte mit aufgeriffenem Ohr und Auge wie bewußt- 
los vor ſich hin), welcher einſt als Hühneraugen⸗ 
operateur in Niederroßla Furore machte, und in be 
ſoffner Stunde mir faſt die Mittelzehe hinwegſchnitt, 
an welcher Operation ich ſechs Wochen lang zu hinken 
hatte, und wofür ihm mein ſel'ger Vater überdies 
fünf Dutzend Pfeifen als Honorar verehren mußte, 
für künftige Operationen aus meinem chirurgiſchen 
Beſteck nachverzeichnete werthvolle Gegenſtände: 

a) Sharp's Bruchmeſſer; 
by) Klemm’s fünfförmige Rachenpolypenzange; 

ce) Mureaux Mandelzange; 

dd) Leber's Führungsſtäbchen; 
) Benoit's Lippenhalter; 
f) Ohle's Kranichſchnabel; 
g) Theden's Rachenpolypen-Unterbinder; 
h) Gerangot's Mundſchraube; 
i) Percy's Sedaceumnadel; 

k) Knauer's Schlundſchiebzange; 

)) Savigny's Steisfiſtelmeſſer, und endlich 

m) ein Etui zum Ohrlochſtechen.“ 

Der Wirth zur Stadt Magdeburg hatte während 
des Borlefens der chirurgifchen Inſtrumente beſtändig 
in ftiller Hoffnung gelebt, daß auf die für ihn jo 
nutzloſen Gegenſtände noch eine Kifte holländiſche 
Ducaten, oder eine Schachtel voll Perlen und Ebel: 
geſtein, was ſich allenfalls des Herbeiſchaffens nach 
Niederroßla verlohne, folgen werde; da aber mit dem 
„Etui zum Ohrſtechen“ der kabuliſtiſche Segen ſeine 
Endſchaft erteicht hatte, ſetzte ſich Lagemann mit 
einem Ausdrucke wieder nieder, der ſelbſt in einem 


87 


Iaunigen Romane, wie vorliegender, nicht namhaft 
gemacht werden fann. 

Kiefewetter las weiter: 

„Dies ift mein Teitament oder letter Wille, ben 
ih in Beifein des ehrwürbigen Kabi Abdullah, fo 
wie des nicht minder ehrwürdigen Amini Mekhemed 
theil® eigenhändig niedergefchrieben, theils buch ben 
verpflichteten Gerichtsfchreiber Mulk Hiffar habe nieder⸗ 
ſchreiben laſſen. 

„Sollten mir in der Folgezeit noch etwaige erb⸗ 
ſchaftliche Gedanken durch den Sinn fahren, fo follen 
fie codicillariſch dieſem meinem Teſtamente beigefügt, 
doch erft den fiebenten Tag nach Eröffnung des Öegen- 
wärtigen, ven Perfonen, fo e8 angeht, von Seiten 
des Gerichts mitgetheilt werben.” 

Der Stadtrichter, nachdem er einen Blid auf den 
pappernen Wandkalender warf, erhob fih und ſchloß 
die Situng mit den Worten: „Da dem mitgetheilten 
Zeftamente ein Codicill in ber That beiliegt, fo werben 
die Anweſenden erfucht, zu anberweitiger Publication 
den fünften Mai Vormittags halb eilf Uhr an hiefiger 
Gerichtsſtelle ſich einzufinden.“ 


Sechftes Kapitel. 


Ungefähr drei Stunden Wegs aufwärts von dem 
freundlichen Niederroßla, im höhern Gebirg, war in ein⸗ 
ſamer aber romantiſcher Gegend das Schloß Friedrichs⸗ 
hof gelegen, welches vor nicht zu langer Zeit ein 
franzöſiſcher Graf Morand, der als ergebener Anhänger 


88 


Napoleon’8 auf der bourbonifhen Proſcriptionsliſte 
‚von 1815 mit verzeichnet ftand, angefauft hatte. 
Hier lebte der aus ſeinem Baterlande Berwiefene im 
ehrenvollen Exil, abgefchieden von der Welt, nur im 
Ungange mit feinen beiden Kindern, dem adıtund- 
‚jwanzigjährigen Victor, ver zehn Jahre jüngern Klo— 
'tilde, dem Pfarrer aus dem nahgelegenen Dörfchen 
Friedberg, Leopold mit Namen, einen für einen Land— 
prediger fehr gebilveten,, freifinnigen, aber nichtöbefto- 
weniger äußerſt gottesfürhtigen Manne, und feinem 
‚alten bewährten Diener und Kriegskameraden, Sean 
‚Jaqued aus der Normandie. Morand gehörte mit zu 
‚ven zahlreichen Kriegemännern jener Zeit, welde in 
dem Kaifer der Franzoſen ihren Gott verehrten, nur 
daß bei unfe erm Grafen die jeltene Ausnahme Itatt- 
fand, den im Glück angebeteten Helden aud im Un- 
- glüd treu geblieben zu fein, 

WMit Napoleon’s abermaligem Sturze nad) dem 
furzen aber glänzenden Zeitraume ber hundert Tage, 
ſah auch Morand feine Laufbahn für beendigt an. 
Mit dem Abtreten feines Helden von der großen 
Schaubühne erfchien ihm der politifche Zuſtand Euro- 
pa’8 verwahrloft, und namentlich widerte ihn das 
neue Regiment feines Vaterlandes an. ern war e8 
daher, daß ihm fein einfam gelegenes veutfches Eril 
die Heimath hätte wünſchenswerth machen follen; 
im Gegentheil fand er fih, nachdem er fajt fein 
halbes Leben im Felde und unter Waffenlärm ver- 
bracht, durch dieſe Stille und Abgefchloffenheit recht 
wohlthuend berührt. Bewandert in den mathemati- 
ſchen Wiffenichaften, und nicht unbelefen in der ge- 
Ihichtlichen und fchöngeiftigen Literatur. der Franzoſen 
und Deutfchen, beichäftigte er fich viel mit Lectüre, 
während er im vertrauten Geſpräch gern die große 


89 


Napoleon'ſche Vergangenheit, welcher er felbft mit an- 
gehörte, vorüberziehen lieg. Mit dem Pfarrer Leopold 
disputirte er auch wohl gern über philoſophiſche und 
religiöfe Gegenſtände; während zwilhen ihm und 
feinem Sohne Victor, Frankreich, der franzöfiiche 
Charakter, die franzöfifche Geſchichte und franzöſiſche 
Berhältniffe faft den alleinigen Gegenftand der Unter- 
haltung bilveten; wo die beiden jedoch felten einexlei 
Meinung waren. 

Victor, von einer deutſchen Mutter, einer Sachſin 
geboren, und auf veutfhen Schulen und Iniverfitäten 
gebilvet,. legte zu ſeines Vaters großem Leidweſen 
eine entſchiedene Abneigung gegen Frankreich und allem 
überrheinifchen Wefeh an den Tag. Sein ernfter Sinn 
fonnte nie an der franzöfifhen Dberflächlichfeit und 
Flatterhaftigkeit Geſchmack finden, während bie bei 
jenem Volke jo häufig vorkommende Yrivolität und 
Berhöhnung alles Heiligen feinem ftreng ſittlichen 
Charakter im höchſten Grade zuwider waren. 

Ein reizendes Gemiſch deutſcher Anmuth und fran= 
zöſiſcher Grazie bot die jugendliche Klotilde dar. Ein 
engelhaftes Gemüth in feltener Vollendung weiblicher 
Form. Da fie die Mutter früh verloren, jo hing fie 
mit unenplicher Liebe an dem Vater, während ihr der 
Bruder für das Ideal eines jungen Mannes galt. 
Kaum dürfte ein Gefchwifterpaar gefunden werben, 
bei weldem ein größerer Einflang der Gemüther 
ftattgefunden hätte. Der Biene glei, die fih vom 


Blumenftaube nährt, jog das Mädchen die milden - 


Reden und Lehren von Munde des Bruders, welcher 
feinerjeits fi an der reinen, ſchönen Seele in idealer 
Form erquidte. 

Es war an einem Nachmittage; ein warmer leifer 
Frühlingsregen fprühte befruchtend auf die knospen— 


- 


. 90 


reiche Erde herab. Hier und da blähten zeitige Kirſch- 
und Birnenbäume; in dem Garten von Friedrichshof 
ſchwellten die Purpuraugen der Pfirſichen; Lerchenge⸗ 
fang durchtönte die ftille Luft; Klotilde war zu ihrer 
Freundin Hermine, der Tochter des Previgers, auf 
die nahgelegene Pfarrwohnung hinüber gegangen — 
als Morand, Victor und Leopold nah aufgehobener 
Mittagstafel noch bei einer Flafche alten Rheinweins 
im - vertrauten Geſpräche beifammen faßen. Das 
Speifezimmer, werin fih die Drei befanden, ging. 
nady den Walpbergen hinaus, die in einiger Ent- 
fernung anmuthig emporftiegen, und von welchen 
frühlingsvoller Vogelgeſang herübertönte. Die Tyenfter 
ſtanden offen. Erquidender Duft flieg aus dem Garten 
herauf. 

Die auf dem Tifche Tiegenben vor Kurzem einge- 
troffenen politiihen Zeitungen, welche über bie Wort 
ſchritte der reactionairen Partei in Frankreich, über 
bie biutigen Unterbrüdungen des hier und da auf- 
tauchenden Bonapartismus, Über den revolutionären 
Geiſt Deutſchlands, Fialiens und ber pyrenãiſchen 
Halbinſel berichtelen, hatten dem Geſpräch eine ſehr 
ernſte Richtung gegeben. Es war eine längere Pauſe 
eingetreten; ein jeder ſchien mit feinen eignen Ge— 
danken beſchäftigt. Vietor ſtand mit verſchränkten 
Armen am Fenſter und ſchaute nach den Bergen hin- 
aus; der General rauchte fill feine Cigarre, während 
Leopold mit der Gabel auf feinen Defertteller Figuren 
beſchrieb. Da trat Iean Jaques in's Zimmer und 
meldete, daß fo eben ein. junger fhöner Mann von 
Niederroßla angelangt fei, welcher dem Herrn General 
einen Brief eigenhändig zu libergeben habe. 

Morand befahl, daß der Ueberbringer hereintomme, 
und bald darauf trat Gamaliel in's Zimmer, welder 


9 


von Doctor Eifenbeiß, vem Rechtsanwalte des Gene- 
rals, erfucht worden, ein Schreiben, das fiber eine 
Grenzftreitigfeit berichtete, perfönlih zu übergeben. 
Gamaliel erfüllte vergleichen Aufträge, die über Land 
gingen, fehr gern, darum hatte er auch als neucreirter 
Gecretair fein Bedenken getragen, fi dieſes Auf- 
trags zu unterziehen, obfhon er aus Unbelanntfchaft 
mit der vornehmen Welt den Beſuch bei hochgeftellten 
Leuten nicht ſehr liebte. 

Nicht ohne Wohlgefallen ruhten die Blide des 
Generals, des Sohnes und des Predigerd auf dem 
ſchönen Jünglinge, der in tieffter Beſcheidenheit am 
Eingange ftehen blieb und fih in dem eleganten 
Zimmer nicht vorwärts gefrante. 

- Morand trat freundlih auf ihn zu, nahm ben 
Brief in Empfang, und bot dem Schlichternen einen 
Stuhl an, worauf Gamaliel erft nach wieberbolter - 
Einladung Bla nahm. Bictor ſchenkte ein Glas 
mit Wein voll und reichte e8 mit folder Herzlichkeit 
den Gecretair dar, daß dieſer ganz bezaubert ‚von 
folder Güte und Herablaffung ward, und nicht wußte, 
wie er entſprechend genug danken follte. Er glaubte 
nit anders, als in einem Feenſchloſſe angelangt 
zu fein. | 

„O wie gut find Sie,” ſprach er zu Victor, der 
ihm wie der Engel Gabriel erſchien. 

„Wie befindet ſich mein guter Doctor?“ frug der 
General. 

Gamaliel war ſehr froh, bier eine recht befriedi⸗ 
gende Antwort geben zu können. 

„Vortrefflich,“ erwiederte er; und fügte muthiger 
hinzu: „Und wer ſollte das nicht beim jetzigen Auf⸗ 
erſtehungsfeſt!“ 


92 


Der General ſchien ihn hier nicht recht zu ver— 
stehen, der Secretair bemerfte e8 und fügte etwas 
leiſer Hinzu: „Ich meine, weil Alles jo grün wird 
und die Lerchen ohne Unterfaf fingen.” 

„Sie find gewiß ein rechter Naturfreund ?” frug 
ber alte Krieger. 

Gamaliel, welcher nicht begriff, wie Jemand fein 
Raturfreund fein fönne, und warum er allein eine 
Ausnahme machen folle, entgegnete mit einem eignen 
zum Mi ſprechenden Tone: „Das iſt jeder gute 
Menſch.“ 


„Wohl wahr,“ verſetzte der General, den dieſe 
Antwort innig anſprach; „nur ein. böſes, verſtocktes 
Gemüth kann die Pracht Gottes ohne Theilnahme 
‚betrachten.‘ 

Diefe Worte waren Waffer auf Gamaliel's Mühle. 
Er erwieverte mit Wärme und ziemlicher Unbefangen- 
beit: „Ein böfes Gemüth ift nur krank, und zu 
feiner Heilung bietet Gott unabläffig die Hand, und 
läßt niht nad), bis es wieder genefen und feinen 
Frühling anlächelt. Ich glaube auch, daß der himm— 
liſche Vater feine Blumen für foldhe Leidende am 
Scönften blühen läßt, damit endlich die Herzen auf: 
und die Augen übergehen. ı 

Jetzt war auch Leopold mit fichtbarem Intereſſe 
näher getreten und geftand, daß dies ein eben fo 
Ihöner als beſeligender Glaube fei. 

Das Geipräd ward. immer wärmer und intere|= 
fanter. Der Secretair ließ unbefangen fein ſchönes, 
liebevolle Herz leuchten, feine Rede erhob fid) nicht 
felten zu poetifher Höhe; die große Schüchternheit 
hatte ſich verloren; er ſchien ganz vergeflen zu haben, 
daß er begeiftert zu einem vornehmen Manne ſpreche. 
Aber gerade dieſes ſich Gehenlaſſen gewährte dem 


93 


ſchönen Jünglinge in den Augen der Anweſenden 
einen erhöhten Reiz. Man fchien gar nicht begreifen 
zu können, wie der profaifhe Advocat Cifenbeiß zu 
ſolch einem hochpoetiihen Briefträger gekommen ſei. 
Samaliel, der wie im Himmel lebte, fühlte ſich 
wiederholt die Hand geprüdt und warb um biogra= 
phiſche Mittheilungen erfucht, die ihm vollends aller 
Herzen gewannen; denn bie Liebe zu feiner Mutter. 
Felicitas verlich feiner ſchöͤnen Seele einen wunder: 
baren Glanz. 

Der General befand fih in fo wohliger Stim⸗ 
nung, daß er Champagner bringen lief. Dean ftieß 
die Gläſer aneinander und ließ ven Frühling leben, 
vie nächte Roſenblüthe und tranf auf ein gefegnetes 
Weinjahr. Der Secretair, welder in feinem Leben 
feinen Champagner getrunken hatte, begann gleich 
nah dem eriten Glaſe von den ungewohnten Weine 
zu glühen. Cr glaubte gar nit mehr auf Erden 
zu leben, fo leicht, jo himmelvoll fühlte er jih. Er 
begann über Unfterblichkeit zu Iprechen, die ihm, wie 
‚er behauptete, nody nie jo unumftößlich gewiß erichienen, 
als in der gegenwärtigen Stunde. 

Auch der Himmel that das Seine, um den vier 
glüdlihen Menfchen das Yeben fo bezanbernd wie 
möglich zu machen. Der leife Regen hatte die früh— 
lingſchlummernde Landſchaft wunderbar erquidt; das 
filbergraue Gewölk begann ſich zu theilen, und bier 
und da bradh ein Stück blauer Himmel hindurch; 
nur über dem Walde im Often ſtand unbeweglich 
eine dichte graue Wand. Allmälig warn das Gewölk 
dünner und Lichter, und die Nachmittagsfonne trat 
fiegend hervor, Berg und Thal himmliſch erleuchtenn; 
über den Wald aber z0g ſich ein Regenbogen von 


941 


ſeltener Schöne. Darunter ſangen die Lerchen, und 
friſches, erquickendes Grün blickte überall hervor. 

Aus den Fenſtern des Speiſezimmers genoß man 
mit ſtummem Entzücken das koſtbare Frühlingsbild; 
dem Secretair ſtanden bie Thränen in den Augen; 
er entfann ſich nie einer fo wahrhaft feligen Stim- 
mung, und kam daher immer. wieder auf die Unfterb- 
lichkeit zurück, deren Gewißheit in ſchönen Momenten 
mit leuchtenden Lettern in ſeinem Innern brannte. 

Hohe Seligkeit ſcheint aber den armen Gterb- 
lichen hienieden nie auf lange Zeit verliehen zu fein; 
fie ſoll wahrjheinlih nur ein Vorgeſchmack des Him- 
meld fein, da fie für die Dauer die irdiſche Hülle 
brechen würde. Die verflärte Seele dürfte in folchen 
Momenten feinen Augenblid Bedenken tragen, auf 
und davon zu flattern, den Sternen zu, wenn fie 
nicht von Fleiſch und Blut centnerweis umklammert 
und auf Erden zurüdgehalten würde. Dem Gecretair 
erging’8 fein Haar befier. Seine himmliſche Stim- 
mung ward plötzlich durch zwei Bedenklichkeiten geftört, 
bie an ſich nicht der Rede werth waren, an Gamaliel’s 
Bruft aber wie Geier fraßen. 

Je mehr ſich nämlich die Nachmittagsſonne den 
Abenpbergen näherte, deſto nagender warb beim Secre- 
tair der Gedanke, daß er ganzer drei und brei 
viertel Stunde von Niederroßla entfernt fei, und daß 
er längft den Heimmeg hätte antreten follen, anftatt 
- bier als Fürft zu leben. Er gedachte mit Schreden, 
wie Telicitad in Sorge und Bangen gerathen werbe, 
wenn er nicht zur beftimmten Zeit eintreffe. Indeß 
baute er, ſobald nur der Abſchied, an weldhen er nicht 
ohne Wehmuth dachte, überſtanden fein würde, auf 
jeine Füße. Im auspauerndem Doublirfchritt hoffte 
er das Berfäuntte einigermaßen nachzuholen. 


95 


Eine andere Bedenklichkeit fiel ihm aber noch weit 
ſchwerer auf's Herz, als der Gedanke an die Weite 
des Heimwegs. Er überlegte nämlich, wie er fo 
gaftfreundlich aufgenommen worden fei von dem Herrn 
General und Sohu, wie cr Rheinwein und felbft 
Champagner getrunfen, und daß es unter ſolchen 
Umftänden unerläßlich fer, ſich als Weltmann und 
ſplendid zu zeigen gegen die Dienerſchaft. Er erinnerte 
fih, irgenpwo fogar vernommen zu haben, daß in 
manchen Häufern die Berienung nur ſpärlich Yohn 
erhalte, und hauptfächlih auf die Douceure ange- 
wieſen fei. 

Während diefer Betrachtungen, die fich ihm, je 
mehr er darüber nachſann, als unerfchütterliche Wahr- 
heiten herausſtellten, vifitirte und fummirte er mit 
geheimem Graufen verftohlen vie Baarfchaft feiner 
rechten Hofentafche, die ihm für einen Bedienten mit 
Ihönem hochrothen Kragen durchaus unzureichend er⸗ 
ſchien. Wieverholt ließ er die fünf Kupferlinge, die 
auf zwei halbe Krüge Bier und ein Stück Butter 
und Brot während des Heimmarfches berechnet waren, 
durch die Finger gleiten. Er mochte zählen fo viel 
er wollte, die Baarichaft in der rechten Hofentafche 
wollte nicht zunehmen, und daß im linken Sade und 
in den beiden Weftenbehältern nichts ſtack, wußte er 
genau, denn er konnte über den Stand feines Per: 
mögens allezeit prompte Rechenschaft geben. 

Diefe vertracte Doucenrangelegenheit, die ihin zum 
Glück ganz fpät in den Sinn gefommen, denn außer- 
dem hätte ihm fein Tropfen Wein gefchmedt, um— 
hing die ganze Frühlingslandſchaft mit einem trüben 
Schleier, und verlieh feinem Benehmen wieder einige 
Befangenheit. 

Er begriff bereits fo wel von der großen Welt, 


' 96 

’ 
ba er einen hochadeligen Bedienten nicht mit Kupfer- 
geld abfpeifen könne, und hätte er zwei Scheffel voll 
Dreis und Bierlinge- befeffen. Das wäre gegen alle 
Delicatefje gemejen. Er fann demnach hin und wieder, 
wie er ſich ohne Dementi aus dieſer gefahrvollen Lage 
zu ziehen. vermöchte. 

„Ein nobles Trinfgelb, “ſprach er für ſich, „geht 
der Dienerſchaft über Alles, und giebt man nicht 
drauf und drein, ſo iſt das Bolt im Stande, unfer- 
einen bei der Herrichaft in böfes Licht zu fegen. Es 
find mir Beifpiele davon erzählt worden. Mir aber 
wäre das äußerſt fchmerzhaft. Ich bin mit fo außer: 
ordentlicher Generofität aufgenommen worden. 8 
bleiben nur in der Welt nur zwei Auswege, will id) 
mid, nicht blamiren. Entweder ich laffe dem Roth— 
fragen meine Uhr zum Iinterpfanve, die ich bei näch— 
ſter ſchicklicher Gelegenheit einlöfe, oder ich fprede 
ftolz; und abgebrohen: „Werde mid abfinden das 
nächte Mal!” wo id dann die Summe durch einen 
Erprejien unter verſiegelter Adreſſe an den Herrn 
Domeſtik gelangen Laffe. 

Hinfichtlih des Zurücklaſſens der Uhr ftiegen aber 
alsbald neue Zweifel im’ Gehirne unferes Secretairs 
empor. 

„Sie it von Tombak,“ fuhr er mit ſich berathend 
fort, „und gebt nur, fobald fie geſchüttelt wird; ein 
bloße8 Zierrath, denn als Uhr entfpricht fie ihrem 
Zwecke ſchlecht. Dies könnte Anftoß geben; aljo beiier, 
ih lafie e8 bei der vornehmen furzabgebrodenen Ver— 
heißung; der Rothkragen kann mir doch nicht in die 
Tafche fehen und wiflen, ob nicht Gold oder unver- 
äußerlihe Scauftüde darin fteden. Ich kann das 
Courant bereits verausgabt haben, in Wirthshäufern, 
an Bettler, wer weiß es?“ 


97 


Den Secretaiv warb wieder leicht und groß um's 
Herz, als er dieſe peinlihe Angelegenheit bei fi 
auf's Heme gebracht hatte. Die Radmittagslannfchaft 
verflärte fi von Neuem, und er wide ganz ber 
frohe Menſch wieder geworden fein, Hätte ihn nicht 
bie immter tiefer fintenne Sonne mehr benn je an 
den Aufbruch gemahnt. 

Er recapitulirte fo eben bei fih, wie ver fchid- 
lihe Anlauf zur Netivade zu nehmen fei, ald ver 
General fih mit den gaftfreimblicyen Worten an ihn 
wandte: „Sie könnten heut' bei uns vorlieb nehmen, 
lieber Drollinger, wie find einmal fo froh. bei ein⸗ 
ander; ich laffe Sie morgen früh nach Niederroßla 
zurüdf „. 
Wie überraſchend und jchmeichelhaft dieſes Aner- 
bieten für Gamaliel war, fo konnte er es gleichwohl 
nicht annehmen, weil er feiner Mutter durch ein nächt⸗ 
liches Ausbleiben vie unruhvollſten Stunden bereitet 
haben würde. Er jtellte dies offenherzig vor um 
bat inftändig, auf jein Dableiben nicht länger zu be- 
jtehen, daß es ihm fchmerzhaft genug jei, den liebrei- 
hen Wunſch nicht erfüllen zu können. 

‚Wohlen, verjette Morand , ‚jo behalten wir 
ed uns für ein ander Mal vor, aber ohne ein Feines 
Besperbrot dürfen Sie nicht von dannen. Sie fah- 
ven in meinem Wagen zurüd und meine flinfen Brau- 
nen werben Ihr Verſäumniß wieder einbringen. Wir 
bleiben noch zwei Stimbchen beiſammen, und Sie follen 
gleichwohl noch zeitig genug in Niederroßla eintreffen; 
eben ſchlägt es fünf Uhr.“ 

Zugleich befahl der General einem Diener, daß 
um ſieben Uhr die grüne Chaiſe vorfahren ſolle. 

Gegen ſolche Liebenswürdigkeit, wie fie Gamaliel 
in ſeinem Leben bei einem ſteinfremden Manne nicht 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. 7 


98: 


vorgefommen war, ließ ſich nichts einwenden. Man 
nahm nad) einiger Zeit wieder Plag zur Einnahme 
des Besperbroted, während draußen die Abendland 
haft in immer fehöner Beleuchtung trat. 

Das Gejpräh ward wieder fehr belebt und be- 
rührte die mannigfachſten Gegenftänve, als der Pre= 
biger Leopold daſſelbe plöglih mit ven Worten un— 
terbrah: „Apropos, lieber Drollinger, da fallt mir 
bei Ihrem Namen fo eben ein, find Site nicht bei 
der berühmten Kabul’ichen Erbſchaft betheiligt, die in 
diefen Tagen in Nieverroßla ſolches Auffehen erregt 
hat? Wenn ich nicht irre, kommt der Name ‘Drol- 
finger in der ftabtgerichtlihen Belanntmachung vor.” 

In Gamaliel’8 Freudenbecher hätte Niemand einen 
herbern Wermutbstropfen werfen können, ald der Pre- 
diger mit dieſer Frage, während die beiden Morand's 
bei ven Worten: Kabul'ſche Erbſchaft fi einan- 
ver betroffen anſahen und ſehr gefpannt fehienen, ein 
Weiteres zu vernehmen. 

Der Secretair theilte nun ziemlich betrübt mit, 
wie fein feliger DVetter fih unfehlbar nur einen 
Scherz mit den Niederroßlaern gemacht habe; das Te— 
ftament bedenke Perfonen, die nicht im Entfernteften 
zu den Erben gehörten, und überdies auf eine Art, 
daß der Schabernad veutli vor Augen liege. Zu 
größrer Evidenz feiner Behauptung führte er ven 
teftirten ausgeftopften Seehund, den fabuliftiichen Doc- 
torhut, das Straußenei zum Ausbrüten, und nod) 
einige der Zeftamentsclaufeln an. 

„Und dieſes Teftament jollte wirklich aus Kabul 
ftammen, dajelbft verfaßt fein?” frug Victor mit großer 
Theilnahme. Ä 

„Es unterliegt die8 wohl feinem Zweifel, ver- 
ſetzte Gamaliel, „pa diefe legtwillige Verfügung durch 


99 


das britifche Gonfulat felbft anhero gelangt ift, wel= 
ches zugleich die Aechtheit des Actenftüds verbürgt.“ 

„Seltfam, höchſt ſeltſam,“ rief Victor noch immer 
ſehr bewegt; „aber wie ift denn Ihr Herr Better 
nah Kabul gekommen?“ 

„Darüber können wir durchaus feine Auskunft 
geben,” geftand der GSecretair. 

„And wirklich Hofmaler fol er geweſen fein?” 
fuhr Bictor fort. 

„Dies beftätigt der Berftorbene eigenhändig im 
Teſtamente.“ 

Victor, nachdem er wieder einen ſeltſamen Blick 
auf ſeinen Vater geworfen, war aufgeſtanden und 
ging in Gedanken das Zimmer auf und ab. Ga= 
maliel, weldyer vie Aufregung der beiden Morand's 
gar nicht bemerkte, erzählte unbefangen weiter: 

„Dem Teftamente liegt zwar noch ein Codicill 
bei, das dem Wunfche des Teſtators zufolge erft acht 
Tage nach Eröffnung des Teftamentes publicirt wer- 
ben foll, aber was ift von einem Codicill zu hoffen, 
wo der eigentliche legte Wille nur Scherz treibt? 

„Die Hoffnung, aus dem Morgenlande erbidhaf- 
ten zu wollen,” fuhr er nad) einer Paufe, als wolle 
er ſich felbft tröften, fort, „war auch zu vermefjen.” 

„Und diefe Copicilleröffnung,” frug Victor weiter, 
„wann wird fie vor fi) gehen ?” 

„Der Publicationstermin ift auf Uebermorgen an- 
geſetzt,“ antwortete Gamaliel. 

Der junge Morand fchien noch Mehres fragen 
zu wollen, als Jean Jaques mit der Meldung in's 
Zimmer trat, daß der Wagen vorgefahren ſei. Zu— 
gleih ſchlug es fieben Uhr auf dem Thürmchen des 
Herrnhauſes. 

Draußen ruhte der ſchönſte Frühlings abend auf 

7 


100 


Berg und Thal; alle Wolfen hatten ſich verzogen ; 
in reinem Blau athmete der Himmel, und die tief- 
gefunfene Sonne warf ihre rothen Strahlen verflä- 
vend über die junge Frühlingslandſchaft. Noch im: 
mer fangen die Lerchen, und im benachbarten Dorfe 
tönten die Abendgloden. 

Man leerte die Gläſer auf baldige Wiederſehen; 
Gantaliel gejtand offenberzig (er hätte beinahe ge— 
[hworen, wenn er blo8 feinem überftrömenven Her- 
zen Gehör gegeben), daß er heut die fchöniten Stun— 
den feined Dafeind verlebt babe. Beim Aufbrucde fah. 
er ſich vergeblich nach einem dienſtbaren Geifte um, den 
er hätte wegen des Trinkgeldes vertröften können. 
Er konnte zu feinem derfelben hingelangen, ohne ven 
General, oder Victor, over den Prediger, in deren 
Mitte er fi) fortwährend befand, über den Haufen 
zu werfen. Erſt als er mit Jean Jaques Hülfe in 
ven Wagen kletterte, begannen feine Verheißungen, 
deren Wirkung er freilich nicht wahrnehmen konnte, 
da er zu fehr mit der immern Einrichtung der Equi— 
page beihäftigt war. Es ftiegen in ihm abermals 
Zweifel und Bedenken auf, ob es nicht fehicklicher ſei, 
wenn er fi als eine fo unbedeutende Perſon rüd- 
wärts fee; zugleich überlegte er jedoch, daß er ja 
mutterjeelallein kutſchire, und wie es da lächerlidy fe, 
verkehrt duch die Welt zu fahren. Der genojjene 
Champagner that das Seine und beftärkte ihn in 
diefer Anficht, daher er mit großem Muthe im Yond 
Platz nahm; er empfahl fich höflich dem Jean Jaques, 
nidte ununterbrochen nach dem Schloſſe hinüber, wo 
jeine Gaftfreunde durch die Glasthüre auf ven Bal- 
fon getreten waren, und genoß jest erſt Muſe, über 
den heutigen märchenhaften Nachmittag Betrachtungen 
anzuftelen. In einem fo prächtigen Wageu hatte er 


404 


fein Leben lang nicht gefeflen. Wie dus im Innent 
Alles jo ſchön und bequem eingeridhtet'war, jo weich 
und elaftih. Es ſaß fi königlich im diefer Equi- 
page, gegen weldye vie zwei Niederroßlaer Gevatter- 
futfchen und der Einfpänner des Doctor Eifenbeiß. 
ſchlechterdings nicht in Vergleich zu bringen waren. 

„Die Menfchheit,“ ſprach er für fih, „hat es doch 
außerordentlich weit gebracht in der Eleganz und Be— 
quemlichkeit.“ 

Um den vornaufſitzenden Kutſcher nicht als ein 
Menſch zu erſcheinen, der durch plötzlichen Glücks— 
wechſel ſtolz und ſtumm geworden, ergriff er die Ge— 
legenheit, ſich nach dem ungefähren Preiſe der Caroſſe 
zu erkundigen. 

„Sp ein Wagen mag Geld koſten,“ ſprach er. 

„Dieſer bier,” erwiederte Niklas, fo hieß der Kut— 
ſcher, „geht an; aber die neue Chaiſe, die in der 
Remiſe ſteht; ich weiß nicht, ob Sie dieſelbe 
kennen —“ 

Gamaliel geſtand ſeine Unkenntniß. 

„Dieſe iſt unter Brüdern ihre Achthundert werth.“ 

„Um Himmelswillen,“ rief Gamaliel, „dafür be— 
kommt man ein ganzes Haus in Niederroßla.“ 

„Mag wol ſein,“ verſetzte der Wagenlenker; „die 
Sattlerarbeit beträgt allein über anderthalbhundert, 
das Geſtelle ıft direct von London.” 

„Allerdings“ geſtand der Secretär, „der Trand- 
port über's Meer, per ift foftfpielig, aber achthun— 
dert —“ 

„Sleihwohl ift mir der Grüne lieber,‘ meinte 
Niklas, „Das Feder- und Räderwerk ift leicht und 
flinf; finden Sie das nicht?“ 

„Es fährt ſich wie im Himmel,” verſetzte Gama— 
liel, mit Niklas Meinung vollfommen einverftanden ; 


402 


„man begeift gar nicht, wie man fo leicht und an- 
genehn vorwärts kommt.“ 

Niklas, der fih in dem Lobe feines Fuhrwerks 
jelbft gejchmeichelt fühlte, ließ die zwei Braunen noch 
herzhafter auftreten, fo daß die Frühlingsabendland- 
Ihaft zu beiden Geiten wie im Fluge vorüberzog. 
Er hoffte, daß fein Paflagier hierdurch Gelegenheit 
nehmen werde, feine Aufmerkſamkeit auch dem ſchmuck— 
gehaltenen, vortrefflihen Roßgeſpann, Niklas Stolz, 
zufommen zu laffen. Der Secretair verſtand aber jo 
viel wie gar nichts von Pferden und Pferdezucht; 
auch ermangelte ihm dafür aller Sinn. Eine alte 
Krafe, fo fie nur mit vier Beinen begabt war und 
an einigermaßen vorwärts konnte, galt ihm eben jo 
viel, wie ein arabifh Vollblut. Seine Anfprüde an 
ein Pferd waren wirflid außerordentlich bejcheiden. 
Es fiel ihm daher im Geringſten nicht ein, über die 
ftolzauftretenden Roſſe des Generald Morand ein 
Wort zu verlieren. Seine Seele war wieder bei ſei— 
nen edeln Wirthen in Friedrichshof, und nebenbei 
jhwelgte fie in dem goldnen Frühlingsabende zur 
Rechten und Linken. 

Niklas, dem es als etwas Undenkbares erſchien, 
daß einem Gaſte ſeiner Herrſchaft der Namen der 
zwei vorantrabenden Braunen unbekannt ſein ſollte, 
und der gar zu gern ſeine Lieblinge in das Bereich 
des Discours gezogen hätte, begann nach einiger Zeit, 
da ſein Paſſagier keine Anſtalt traf, auf die Vorzüge 
ſeiner Vierfüßler anzuſpielen. 

„Für die Pallas und den Hector,“ ſprach er, 
„ſind meinem, gnädigen Herrn vor ungefähr vierzehn 
Tagen hundertundzwanzig Friedrichsd'or in Golde vom 
Burgdorfer Baron geboten worden, aber er giebt fie 


403 


nicht; und Niemand verdenkt ihm pas; fo ein Paar 
befommt er fobald nicht wieder.” 

Der Secretair des Advocaten Eifenbeiß, fo eben 
poetiih verzüdt in Anſchauung des rofigen Abenpge- 
wölfes, fuhr bei Niklas Anrede aus feinem goldnen 
Traume empor. Cr hielt, da furz vorher von Ca- 
roffen des Generals die Rede war, die Pallas wie 
den Hector gleichfalls für vergleihen Locomotiven, 
und pflichtete, um dem braven Niklas nicht zu nabe 
zu treten, jeinen Anfichten wegen des Nichtverfaufs . 
bei, obſchon er nicht recht einfah, wozu der General 
einer folhen Wagenburg benöthigt fei. 

„Ste find faum fieben Jahre alt,“ fuhr der Aut- 
ſcher fort. 

„So? ſprach Gamaliel gutmüthig. 

„Und gut dreffirt 

„Das will ic glauben,” erwiederte der Paſſagier, 
obſchon er wiederum nicht recht begriff, was am Wa- 
gen zu breifiren jet. 

„Laufen in die Millionen,” erzählte Niklas wohl- 
gefällig weiter. N 

„Eine vortrefflihe Eigenfchaft,“ belobte der Se- 
eretair. 

„Der Hector hat fogar einen Wolfsbiß.“ 

„Merkwürdig,“ erjtaunte der Secretair, „und wo 
ift er dazu gefommen ?‘ 

„Do in Polen,‘ war die Antwort. 

„Aha,“ ſprach Gamaliel, dem ein glüdlicher Ge— 
danke Fam,” „ver Herr General bevienten fich ferner 
in der ruffiihen Campagne.“ 

‚Mein, lachte Niklas, „da war wohl an den bra- 
ven Hector noch nicht zu denken.‘ 

Gamaliel begriff jett in der That nicht, wie es 
gefommen, daß der Wagen des Generald Morand von 


404 


einem Wolfe angebiſſen worden ji. Er ließ indeß 
bie Sache auf ſich berufen, und frug, ob der Biß 
den Wagen ſtark beſchädigt habe? 

„Den Wagen ganz und gar nicht!“ 

„Ni cht 1. 

‚Hector lief damals gewiß frank und frei umher,“ 
ſprach Niflas. 

Dem Secretair ging enblih ein Licht auf, wen 
wohl der Schwager unter Hector und Pallas verftan- 
. ven habe. Er jchämte fi, fo widerſinnige Fragen 
gethan zu haben, und glaubte fein Verſehen nur da— 
burd) wieder gut machen zu können, wenn er bie Zus 
genven der vierfüßigen griedifchen Göttin und des 
vierfüßigen trejanifchen Helden aus Leibesfräften her- 
ausſtrich. Niklas fühlte fih dadurch fehr angenehm 
berührt, und begann eine erſchöpfende bippologifche 
Abhandlung, welder Gamaliel anfangs zwar mit 
großer Aufmerfſamkeit zubörte, die ihn endlich aber 
doch zu umfangreid, erſchien. Namentlich ward feine 
Aufmerfjanfeit durch einen Gegenftand abgelenft, ver 
allerdings geeignet war, ben andächtigſten Zuhörer 
über Pferbeweisheit abtrünnig zu machen. Als näm— 
ih der Wagen langſam einer Anhöhe emporfuhr, 
traten plößlid zwei mit ftäptifcher Aumuth gefleivete 
Frauenzimmer aus einem hellgrünen Birkenwäldchen, 
und famen des Weges daher. Gamaliel machte fo- 
gleich die äußerſt richtige Bemerkung , daß bie beiden 
Wanderinnen nod) dem jugendlichen Alter angehören 
müßten, denn Die zwei Damen waren Niemand an- 
ders als Klotilde Morand und des Pfarrers Tüchter- 
lein Hermine, welche fo eben von einem länblichen 
Spaztergange nad dem Schlofje heimfehrten. 

Als Klotilde das väterlihe Geſchirr und den Ni— 
klas auf dem Bode erfannte, blieb fie ftehen und vie 


4095 


Hand gegen die eben untergehende Sonne haltend, 
bemühte fie fi, des im Wagen Sitzenden anfichtig 
zu werden, un der Hoffnung, einen aud ihr befann- 
ten Freund ihres Vaters zu erbliden. 

Das Mäpchen, um ihre reizende Erfcheinung in 
bie Ichönfte Beleuchtung zu ftellen, konnte gar keinen 
glüdlidyeren Moment treffen, als den, wo Gamaliel 
an ihr vorüberfuhr. Bon ven Strahlen der Abenb- 
fonne zauberhaft umklungen, ftand fie in roſenrother 
Berklärung wie der Engel einer ſchönern Welt. ‘Der 
Secretair des Doctor Eifenbeiß hatte nur einen Blid 
auf die himmlifhe Erfheinung am Wege gethan, und 
feine Ruhe war mit einem Schlage dahin. Cr 
empfand plötlich einen ſolchen urfräftigen Stih im 
Herzen, daß er faft bewußtlos in den Fond zurüdfanf 
und darüber das Grüßen vergaß, worin ihn doch 
Niklas mit gutem Beiſpiele voranging. 

Der Wagenlenfer war durch das plößliche Er— 
feinen der jungen Gräfin felbit überrafcht, daß er 
jein Pfervefapitel mit den Worten ſchloß: „Ja, es tft 
was ſchönes um ein tavellofes Pferd ; ich fünnte mein 
« Leben dafür lafien, aber fo ein ſchmuck Mädchen hat 
aud) feine Meriten.” 

„Um Gotteswillen,” ſtammelte der von Schüß 
Amor rechtskräftig erlegte Gamaliel, jo er wieder 
zur Befinnung fam, „wer war denn das himmliſch reis 
zende Weſen?!“ 

„Ei, kennen Sie unfer ſchönes gnädiges Fräulein 
nicht,“ ſchmunzelte der Gefragte; „und ftehen jo gut 
uit dem gnädigen Bern; nicht wahr, das it ein 
Mädel, Bombenelement! und nicht ein Fünfchen Stolz; 
wir beide ftehen auf beftem Fuße; jie fpricht nie an= 
ders zu mir, ald „mein guter Niklas.“ 

est ward dem Paſſagier fein Kutfcher ordentlich 


206 


zu einem Stüd heiliger Perfon, da er in der Nähe 
eines foldhen Engels wohnte, und überdies mit dem— 
felben, feiner Ausfage nah, auf gutem Fuße ftand. 

„Ja, wer die einmal befommt,” fuhr Niklas red⸗ 
felig fort, „ver kann lachen, ver braucht feine Hand 
mehr anzurühren auf dieſer Welt. Man fchätt ven 
Alten auf feine dreimalhundert Taufend; zwei Kinder 
find nur da; der gnäd’ge Herr Graf, Gott verleihe 
ihm ein langes Leben, es iſt der befte Herr unter 
der Sonne; aber lange wird er's auch nicht treiben ; 
die Sampagnen haben ihn den Knar gegeben, dann 
ft Tildchen die reichite Erbin. 

Niklas büßte ob dieſer legten Mittheilungen, weil 
fie den gräflichen Engel blos als reiche Parthie fehil- 
derte, und dem Gecretatr zu egoiftifch- vorfam, von 
feinem Heiligenfchimmer etwas ein. 

Gamaliel befand fich Übrigens in höchſt verzwei- 
felter Lage. Er hätte ſich mögen den Kopf einftoßen 
vor Wuth, wenn nit das Innere der Kutſche mit 
weichem Polſter ausgefchlagen geweſen wäre. Er über- 
dachte nämlich jetzt jeine herfulifche Grobheit, ven 
himmliſchen Seraph, ver fo nah’ am Wege geſtanden 
und überdies, wie er ja gejehen, in ven Wagen hin- 
eingeſchaut hatte, nicht gegrüßt zu "haben. 

„Ein ſolch' grobes, ungefchliffenes Betragen,“ wet- 
terte er, „ist ſicher noch nicht wagewefen, jo lange die 
Welt ſteht. Was foll die ghäd' ge Gräfin von mir 
denken? Allerdings kann ſie in Betracht ziehen, daß 
ich ſie nicht gekannt habe; aber als Grobian, als 
Menſch ohne alle Bildung erſchein' ich ihr immerhin. 
Ein vernünftiger Mann grüßt jede Dante, mit der er 
in jo nahe Berührung kommt, auch wenn er nicht 
gerade das Glück ihrer nähern Bekanntſchaft genießt. 
Der Teufel muß in dem verhängnigvollen Augenblide 


407 


in mich gefahren fein, daß ih den Dedel nicht vom 
Kopfe bringen konnte. Ich bin der höflichite Menſch 
in ganz Nieverroßla, der jede Creatur grüßt, die von 
einem Weibe geboren ift, und werde gleichwohl zum 
radicalen Grobian, ald mir das erftemal in meinem 
Leben ein Engel in den Weg tritt.“ 

Dem Secretair war lange nichts fo außerm Spaße 
gewefen, als die Bernadhläffigung, die er ſich gegen 
bie Tochter feines Gaftfreundes hatte zu Schulven 
kommen laflen. 

Die gefhäftige Phantafie malte ihm fehr bereit- 
willig und ausführlih, wie Klotilde bei ihrer Heim- 
funft über feine Grobheit ausführlichen Bericht ab- 
ftatten und in weldem höchſt ungünjtigen und undank- 
baren Lichte er feinen edeln Gaſtgebern erjcheinen müſſe. 

Er wurde endlich) ganz wild ob ber wiaufgefor- 
derten Phantafien, legte fi) in den Fond zurüd und 
mochte von der Welt nichts mehr willen. Der ftille 
Trühlingsabenn, der warm und duftend herabſank, 
der himmliſche Abenpftern, der bereits ſchwach über 
den Abendbergen zu Ihimmern begann, war ihm nichts. 
Er wollte weder etwas hören noch fehen, während 
das Gift von Amors ſcharfem Pfeile in feinem Her— 
zen immer tiefer fraß. 

Wie übrigend das weiſe Geſchick, fo über dem 
Leben und Treiben des Menſchen maltet, es immer 
fo einzurichten pflegt, daß jedes Malheur in der Re— 
gel auch ein Glück im Gefolge hat, fo bewahrte das 
bumpfe inpolente Hinbrüten, mit welchem ber ver- 
liebte Secretair in der einen Wagenecke lag, ihn vor 
einem andern Uebel, welches er außerdem nicht min- 
der ſchmerzlich als feine Unböflichkeit gegen vie junge 
Gräfin empfunven haben würde. 

Die. Straße, auf welcher das muthige Geſpann da- 


I08 


hin braufte, hatte nämlich zumeilen Dorfichaften mit 
lachenden Wirthshausfchildern zu paffiren. Gamaliel 
würde ed nun in jeder andern Stimmung für uner 
läßlich erachtet haben, bei einem viefer Schilde Halt 
zu machen und dem Kutſcher einen erquidenden Labe— 
trunk reihen zu laſſen; denn er war von Natur au« 
ßerordentlich ſpendabel. In melde Pönitenz würde 
er aber bei dem Gedanken an feine kupferne Baar: 
Ihaft verſetzt worden fein! Er hätte wahre Todesangft 
ausgeftanden. Diesmal entging er verfelben, da fein 
‚Inneres ob feiner Grobheit noch zu empört und fein 
Sinn davon erfüllt war. Die lodenden Schilder flo- 
gen daher, ohne ihren Zwed zu erreichen, an feinem 
Geſichte vorüber. Gleichwohl ſollte er hinſichtlich ſei— 
ner fünf Kupferlinge noch eine kurze, aber harte Prü— 
fung zu beſtehen haben. 

Das Fuhrwerk mochte ungefähr noch ein Stünd- 
hen von Niederroßla entfernt fein, es war unterdeß 
dunkler geworden, am tiefblauen Himmel leuchteten 
wunderſchön die Sterne der Frühlingsnacht; doch ver 
Gecretair, nody immer voller Groll und Liebe, adıtete 
ihrer nicht; dafür begann ihn ein Stern zu intereffi- 
ren, der in geringer Entfernung vor ihm an ber 
Straße plöglid aufging und einen ziemlih trüben 
Schein umbherwarf. Der Secretair machte alsbald die 
besperate Entdedung, daß ed die Yampe des Chauf- 
jeehaufes ſei und ein Weiterfahren durch den officiel- 
len Balfen, der ſich quer über die Straße gelegt, 
unmöglid gemacht werde, fofern man nicht britthalb 
Silbergroſchen Weggeld erlege. Das hatte nod) ge- 
fehlt, um das Maaß von Gamaliel's Mißgeſchick voll 
zu machen. Wieder fuhr die Hand des Paſſagiers 
convulfivifch in die rechte Hoſentaſche und controlirte 
die Kupferlinge. Die unfruchtbaren Kreuzer hatten 


409 


aber nicht gehedt, e8 waren wicht mehr und nicht we— 
niger als in Friedrichshof, nämlich fünf Stück. 

Gamaliel begriff viesmal wirklich nicht, welch' ein 
Ende dieſer neue Unfall, an den ex nicht im Entfern- 
tejten gedacht, nehmen werde. Eine Menge Pläne 
burchzucten bligartig fein fibrivendes Gehen, einer 
abenteuerliher al8 der andre Erſt wollte er fi 
ſchlafend jtellen wie ein Todter, unaufmedbar, troß 
alles Rufens von Seiten Niklas und Des Gelverein- 
nehmers, in der Hoffnung, der Schwager werde enb- 
lich ſo viel Conduite befommen, die Summe, welche 
feine eigenen pecuniären Kräfte überftieg, zu verlegen. 

„aber, überlegte er auf der andern Seite, „wenn 
Niklas in der Hoffnung eines ſplendiden Trinkgelds 
ſelbſt nichts zu jich geftect hat, fo wird man alle num 
denkbaren Belebungsverjuche mit mir vornehmen, man 
wird fein Mittel unverfuht laffen, mi in's wache 
qualvole Daſein zurüd zu rufen; und nach meiner 
gezwungenen Auferjtehung werde ih um fo blamirter 
daftehen, infolvent, als Bankeroteur.“ 

„Beſſer wäre e8, fuhr er nach einer Pauſe fort, 
während die verwünſchte Chauffeefternichnuppe immer 
näher fam, „ich entdedte mich dem Niklas und pumpte 
ihn an. Der gerade Weg bleibt immer der bejte und 
das kann einem Prälaten paffiren, daß er einmal 
ohne Geld fährt.‘ 

Kaum hatte er diefen Gedanken gefaßt, als ſchon 
wieder eine neue Idee geflogen fan. 

„Das Gerathenfte unter obwaltenden Umftänven 
wäre,” rieth dieſe, „du ftiegft vor dem Chauffeehaufe 
aus und liefſt das Stündlein zu Fuße nad ber 
Stadt, während zugleich Niklas und ben Roſſen ein 
tüchtig Stüd Weg eripart würde. 

Diefe neue Motion, die fein erfinderiſch Genie 


a‘ 


4140 


$ 


aufftellte, ehren ihm aller Weberlegung werth; bevor 
ex fie jedoch in alle ihre Theile zerlegt und einen je- 
den berfelben mit Weisheit erwogen, waren Pallas 
und Hector bereit8 beim Chauffeehausfirins und dem 
Wegbalken angelangt, welcher letztere ſich fofort auf 
Niklas ausprüdliches Peitſchengeknall in die Höhe zu 
leiern, begann. 

Jetzt blieb dem zu Tode erſchrockenen Secretair, der 
ſich dem Zollhauſe noch gar nicht ſo nahe geglaubt 
batte, nichts übrig, als zu dem erften Mittel feine 
Zuflucht zu nehmen und in einen bärenmäßigen Schlaf 
zu fallen. Um ven Niflas über feinen Zuſtand außer 
allen Zweifel zu ſetzen, begann er ſogar höchſt ver- 
nehmlic zu ſchnarchen. Dazu hatte er die Augen 
feft zugebrüdt und mochte ſchlechterdings von nichts 
mehr wiffen. Das Schnarren und Krächzen des He— 
bebaums ging dem Schläfer duch Mark und Bein. 
Nach feiner Berechnung mußte jett der Martergalgen 
die Eulminationshöhe erreicht haben, die Paffage frei 
und der entſcheidende Moment, nämlich der des Zah— 
lens, gefommen fen. Gamaliel rührte ſich nit un 
Ihnarchte aus Leibeskräften. Dabei war fein Ohr 
wachſam wie ein Eifenbahnwärter. Er vernahm jekt, 
wie Niklas, dem der Hebebaum nicht jchnell genug 
ſich erhob, zu fluchen begann. 

„Das währt allemal eine Ewigkeit,“ raiſonnirte der 
gräflihe Wagenlenfer, „eh' Ihr den verfluchten Balfen 
in die Höhe bringt; wie lange ſoll ich warten ? 

„Daß Gott,” erfeufzte der Secretair, „nun wird 
Niklas grob; der bevenft nicht, daß fein Paflagier 
zahlungsunfähig ift; alfo fortgeſchnarcht.“ 

„Guten Abend,“ tönte jett die Stimme des Gel- 
bereinnehmer8 aus dem Fenſter herüber. 

Niklas zog an und das Fuhrwerk braufte dahin. 


144 


Der Secretair wußte nicht, wie ihm geſchah, als die 
Sache fo in Frieden und beifpiellos wohlfeil ablief. 
Erft nachdem er bereits eine anſehnliche Strede vie 
Einnahme hinter fi) hatte, wälzte ſich die Felſenlaſt 
von feiner Bruſt, fein Schnarchen ward leifer und er 
begann aus feinem Todtenſchlafe zu erwadhen. 

Wenn Gamaliel von dem Fixum, welches ber 
General Morand mit der fürſtlichen Chauffeeeinnahme 
hinſichtlich des Weggeldes abgefchloffen, gewußt hätte, 
jo würde er fich feine Angft und fein forcirtes Schnar- 
hen allerdings haben erſparen können. Niklas, nadı= 
dem er bemerkte, daß fein Paflagier aus feinem Rie⸗ 
ſenſchlafe wieder erwacht, fette ihn felbft darüber in 
Klarheit. 

Es ſchlug auf der Frauenkirche von Niederroßla 
gerade halb Neun, als Hector und Pallas, welche 
den Weg von Friedrichshof nach der Stadt in un- 
glaublich kurzer Zeit zurückgelegt hatten, durch's Stabt- 
thor trabten.. 


Siedentes Kapitel. 


Die Schickſalſchläge müfjen hart fommen, bevor ver 
Menſch alle Hoffnung verliert, fo ſaß auch das Ka— 
bul'ſche Erbpublikum pünktlich acht Tage nad der 
Teftamentseröffnung wieder auf jeinem Plate im 
Stadtgeriht und hoffte auf das Codicill. Allerdings 
waren die Erwartungen diesmal gemäßigter. Denn 
hatte fi) das Teftament fehon als taube Nuß erwiefen, 
was war vom Codicill zu hoffen? Ein Erbe klammert 
ſich indeß wie der Ertrinfende an einen Strohhalm. 


442 


Hanno's Uebermuth hatte ſich vollfommen gelegt, 
fein Credit war durch die gerichtliche Publication wor 
acht Tagen, trog feiner Vetterfchaft zur Wittwe Drol- 
linger, außerordentlich erjchüttert worden. Geine 
Truppe befand fih in gährenver Bewegung ; fein pol- 
ternder Alter war mit der zärtlihen Mutter bereits 
bei Nacht und Nebel auf und davon gegangen. Der 
Helvenfpieler dachte alfo bei‘ der heutigen Sejfion an 
feine mimiſch⸗plaſtiſchen Abfchweifungen, um den Stabt- 
rihter zu choquiren, fondern ſaß befcheiden, wie an— 
dre vernünftige Menjchen, auf feinem Stuhle in 
banger, zweifelvoller Erwartung der Dinge, die das 
Codicill mit fi bringen würde, Ihm blieb, für den 
Tall der kabuliftifche Teſtator in feiner ebenjo wun- 
derlichen als unfruchtbaren Methode zu legiven fort- 
fuhr, gleichfalls nichts. übrig, al8 den Fußtapfen ſei— 
ned polternden Alten zu folgen und das funftver- 
wahrlojte Niederroßla bei nächtliher Weile zu verlafjen. 

Frau Urfula, deren Köpfchen ſich fonft nad allen 
Himmelsgegenden bewegte, jaß gleichfalls, obſchon jie 
in einem funfelnagelneuen Häubchen prangte, ziemlich) 
gejet auf ihrem Stuhl. Nur von Zeit zu Zeit 
warf fie einen Blick nah dem Acceſſiſten, währen 
Gamaliel diesmal weniger von ihr berüdfichtigt ward. 
Auch ihre Erbhoifnung jtand nur wenige Grave über 
dem Gefrierpunfte; fie war daher ihren drei Freiern, 
dem Sprisen- und Schlaucdhfabrifanten, dem ottes- 
faftenvorfteher, fo wie dem Papiernüllee die vergan— 
gene Woche weit liebenswürdiger vorgefommen als 
gewöhnlid. Auerhahn hatte ob feiner kabuliſtiſch— 
teftamentlihen Prophezeihung einen bedeutenden Sieg 
davon getragen. 

Betterlein hoffte, daß der liebe Gott, deſſen wun= 
derbare Führungen er namentlich auf jeinen Reifen 


113 


kennen gelernt hatte, einen armen Schulmann im Co— 
dicille gewiß nicht vergeſſen werbe. 

Der Factor ſchnupfte nachvenklid und Gamaliel, 
der von dem neugierigen Eiſenbeiß abermals in bie 
teftamentlihe Seffion getrieben worden war, ſaß, in 
fügen Träumen, in welchen Klotilden's bimmlifche Ge⸗ 
ftalt aufs und nieverfchwebte, verſunken, wieder unmit- 
telbar vor Lagemann. 

Legterer war unter allen Erbſchaftlern mit ber 
größten Hoffnung ausgeftattet. Er gab fih ganz 
dem wohlthuenden Gedanken hin, daß der kabuliftifche 
Zeitator im Codicille einfehen würde, wie wenig ihm 
(Lagemann) mit ven ftechenden im Teſtamente ver- 
machten Inſtrumenten gedient fei. Ueberhaupt glaubte 
der Hotelier vor den anweſenden Erben viel voraus 
zu haben, da ihrer ja mit feinem Worte im Xefta- 
ment Erwähnung gefchehen, während er namentlich 
aufgeführt und in Betracht ver übrigen Legatare am 
Brillanteften weggefommen ſei. 

Das Intereſſe der Nieverroßlaer hatte hinfichtlich 
der afiatiichen Erbſchaft feit acht Jagen beveutend 
abgenommen. Der Hofmaler galt für einen Narren 
und Winpbeutel, wofür er ſchon früher in Niever- 
roßla befannt war, und Henoch's geographijche Mit⸗ 
theilungen janfen von Zag zu Tag im Werthe. Mit 
den Erben warb weit geringeres Aufbeben gemacht, 
ihre Freundſchaft weniger geſucht und die Beſuche bei 
ber Wittwe Drollinger erlitten eine fichtbare Abnahme. 
Kur Eifenbeig meinte kopfſchüttelnd, mit dieſem Te— 
jtamente ſei das Lied unmöglich zu Ende. 

Felicitas fchien fo ziemlich Alles vorausgejehen zu 
haben und ertrug daher die unfruchtbaren Ergebnifje 
der Teftamentseröffnung mit faft heiterm Muthe, wel- 

Stolle, fämmtl, Schriften. XVII. 5. 


411% 


hen Gamaliel, dem fo viele Hoffnungen in den Brun- 
nen gefallen waren, nicht begreifen fonnte. 

Wieder rief der Gerichtöpiener durch die halbge- 
öffnete Thür: „per Herr Stadtrichter!“ Wieder fehritt 
Jacoby ernft grüßend nad) dem Seſſionstiſch, wieder 
entftand die lautlofe Stille, wieder erhob fih auf 
des Stadtrichters Wink Kiefewetter und begann zu 
leſen wie folgt: 

. „Da mir, dem Haſſan-ben-Mullah, ehedem Bal- 
thaſar Drollinger genannt, in Betreff meiner Hinter- 
laſſenſchaft wirklich dich den Sinn gefahren, daß 

mir außer den Gegenftänden, wo über ich in meinem | 
Teftamente bereits verfügt, durch die Güte der Vor—⸗ 
fehung noch anderweitig Glücksproſamen verleihen 
worden, fo verorbne ich — die Gefpanntheit des Erb⸗ 
publifums erreichte hier einen auferorbentlichen Grab 
—. wie folgt: 

„Erſtens ſollen vom laufenden Jahre an am je 
desmaligen Weihnachtsheiligenabend zehn Arme der 
Stadt Niederroßla ein jeder eine gute Pelzmütze mit 
Ohrenklappen, desgleichen ein paar Fuchsklauen ſo 
wie eine Klafter fünfviertelelliges Floßholz, wie jol- 
ches auf der Loſſa geflößt wird, erhalten. Die Ber- 
theilung geſchieht durch bie Armenbehörne. Wenn ein 
Armer das Beneficium drei Jahre hindurch genoffen, 
fo muß er auf das. vierte zum Beſten eines andern 
Bedürftigen verzichten und hat erft im fünften Jahre 
wieder Anſpruch, jo er nämlih von der Behörde für 
wärbig befunden wird. Die benöthigten Fonds — 


tauſend holländiſche Dukaten — find von ber Nie- 


Berroßlaer Armenverforgungscommiffion bei Siebecke 
5 Comp. in Hamburg gegen Quittung zu erheben, 

—æ anzulegen und von den Zinſen 
die bekkeffende Spende zu beſtreiten. Sollte ſich ein 


45 


Ueberſchuß herausſtellen, jo ift folcher zur Verſchö— 
nerung ber freundlichen Promenaden Niederroßla’s zu 
verwenden.“ 

Bei den Worten „tauſend holländiſche Ducaten“ 
zuckte es gleich einem galvaniſchen Schlage durch die 
lebende und mit verhaltenem Athem zuhörende Erb⸗ 
mafſſe. Lagemann war fo wenig Meiſter feiner lei⸗ 
denſchaftlichen Bewegungen, daß er dem unmittelbar 
vor ihm ſitzenden Secretair des Doctor Eiſenbeiß 
einen heftigen Stoß in die linke Seite verjettte. Der 
vorleſende Kieſewetter ſelbſt gerieth bei der bedeutenden 
Summe einigermaßen aus dem Concepte; die Brille 
verſchob ſich auf ſeiner Naſe und er war genöthigt, 
ſie erſt zurecht zu rücken, bevor er weiter leſen konnte. 

„Zweitens (lautete es im Kabul'ſchen Codicille) 
ſollen in den Wintermonaten von Michaelis bis Oſtern 
zehn anderweitige Arme von Niederroßla allſonn⸗ und 
fefttäglih eine kräftige und fchmadhafte Mittagsmahl⸗ 
zeit (beftehend aus Suppe, Braten, abwechjelnd mit 
Tleifh und Gemüfe) erhalten. Die Auswahl unter 
ben betreffenden Armen wird die Frau Baftorin, Te- 
licitas Drollinger over deren Nachkommen — hier 
fühlte Gamaliel wieder Lagemann’s Fauft im Rüden 
— zu übernehmen die Güte haben. Sollte aber, 
was mir fehr leid wäre, weder Madame Drollinger 
noch irgend Jemand am Leben fen — hier richteten 
fi) wohlwollend Aller Blide und namentlih die von 
Frau Urſula auf den zeither wenig beachteten Cecre- 
tair, auf deſſen Rüden Lagemann wie ein Trommel- 
haſe arbeitete, daß ſich Gamaliel, der wie Hiob ge= 
litten endlich Ihmerzhaft ummanbte und ven Magde⸗ 
burger bat, ſich doch in ſeiner Freude einigermaßen 
zu moberiren — fo Bat die Niederroßlaer Armenver- 
forgungsbehörbe die Auswahl unter ven ma, fo 


146 


wie die weitere Beſorgung zu übernehmen. Die Spei— 
fung ſelbſt wird. vem Rathskellerpachter unter der Be⸗ 
dingung, für gutes und nicht zu theures Eſſen zu 
ſorgen, überlaſſen.“ 

„Der ſelige Herr Vetter,“ raunte hier Lagemann 
dem mit ãußerſter Spannung aufhorchenden Secretair 
ärgerlich in's Ohr, „bleibt doch ein Schlingel; konnte 
er ‚nicht der Stadt Magdeburg die Speiſung zumen- 
den, allmo fein jel’ger Vater, mein Freund, tagtäglich) 
einfehrte und die Pipen abfehnapfte. Der Kellerwirth 
wird die Armencommiffion ſchön barbiren, die Sup- 
pen will ich fehen und den Braten, daß Gott erbarm'!“ 

Der Actuarius fuhr fort: 

„Die benöthigten Fonds — zweitaufend Stüd 
holländiſche Ducaten — ſind von der Niedertoßlar— 
Armenverſorgungsbehörde bei Siebecke und Comp. i 
Hamburg gegen Quittung zu erheben, ſofort —* 
thekariſch anzulegen und von den Zinſen vie betref⸗ 
fende Spende zu beſtreiten. Sollte ſich ein Ueberſchuß 
herausſtellen, ſo ſoll er zur Verſchönerung der Ma— 
rienhöhe, von wo man die ſchöne Ausſicht über das 
Loſſathal genießt und won wo ih oft den Sonnenun= 
tergang bewunbert habe, verwendet werben.“ 

Wie ſüß auch die bedeutenden Geldſummen, welche 
Erblafjer bei Siebede und Comp. in Hamburg des 
ponirt hatte, in den Ohren der Erben wiederflangen, 
da fie auf fehr großen Reichthum des verjtorbenen 
Hofmalers Hindeuteten, fo beflagte man doch, mit 
Ausnahme Gamaliel's, allgemein, daß Erblaſſer auf 
Koſten der rechtmäßigen Erben in Betreff des armen 
Geſindels ſolche Verſchwendung getrieben. Nur die 
Hoffnung, daß das Codicill ſein Glückshorn auf ſie 
in einem verhältnißmäßig um fo höhern Grave aus— 
ſchütten werde, ließ ihre Mißbilligung nur durch Mur— 


447 


/ 

ren laut werben. Der SHelvenfpieler, welchem ver 
Kamm außerordentlich ſchwoll, begann ſich bereits wier 
der zu ſtrecken. Unter tauſend Ducaten konnte ihn, 
in Betracht der Vetterſchaft mit Felicitas, der ſel'ge 
Hofmaler gar nicht gedacht haben. Das ſtand feſt. 
Frau Urſula ertheilte im Innern ihren drei Freiern 
den Abſchied und fühlte unerwartetes Herzklopfen für 
den jungen ſchönen Secretair des Doctor Eifenbeif: 
Betterlein lächelte verflärt. Der Factor überlegte im 
Stillen, während er nachdenklich eine Prife nahm, 
ob nicht irgendwo eine Druderei zu verkaufen, und 
Lagemann meinte, nachdem das Bettelvolf fo über- 
reich bedacht fei, verhoffe er, daß die Reihe endlich 
an Leute fommen werde, die mehr Anfprucd hätten. 
Nur Gamaliel fühlte fih durd den Gedanken, daß 
jeine Mutter eine Wohlthäterin Bebürftiger geworden, 
jo glücklich, daß er an ein größeres Glück vor ver 
Hand nicht dachte. 

„Drittens,“ fuhr Kiefewetter in der Codicillvor— 
Iefung fort, „find funfzehnhundert Ducaten bei Sies 
bede und Comp. in Hamburg zu dem Zwecke nieber- 
gelegt, daß von dem Ertrage diefer Summe breißig 
Thaler alljährlich als Prämien unter ſittſame und 
fleißige Schüler der Stadtſchule von Niederroßla ver= 
theilt werden. Der Reſt iſt auf ein Kleines Welt zu 
verwenden, welches alljährlih am ZXrinitatisfefte der 
Schuljugend auf der Schütenwiefe gegeben werben 
fol, und hat die ehrfame Geiftlichkeit für Erhebung 
und Anlegung der Summe, fo wie für Verwendung 
ber Zinfen nad) obgedachter Willensmeinung gefälligit 
zu verfügen. 

„sn der Hoffnung, daß dieſe meine wohlwollen- 
den Gefinnungen für Niederroßla's Hülfsbedürftige 
jo wie für deſſen Schuljugend freundlich mögen an= 


- 


” B 


118 


erkannt werden und "daß der Himmel dieſen meinen 
letztwilligen Verfügungen feinen Segen gebe, ift aud) 
diefes in Gegenwart des ehrfamen Kadi Abdullah, fo 
wie des nicht minder. ehrwürbigen Amini Mekhemed 
abgefaßte Codicill hiermit geſchloſſen und durch meine 
Namensunterſchrift bekräftigt.“ 

Mitt dieſen Worten faltete Kieſewetter das Papier, 
woraus er vorgelefen, zuſammen, entwarf ein kurzes 
Protocol, nad deſſen Mittheilung der Stabtrichter 
die- Sibung aufhob und das Gerichtszimmer verließ. 

Die Erbmaſſe ſah ſich ob dieſes ſo unerwarteten 
und allerdings höchſt troſtloſen Schluſſes gegenſeitig 
mit offenem Munde und ſtarren Blicken an. Es 
währte eine geraume Zeit, eh’ man ſich in fo weit 
erholte, um an ein Aufftehen und Nachhauſegehen zu 
denfen. Man fchien fi) gar nicht darein finden zu 
fönnen, daß die berühmte Erbſchaftsſache ſchon zu 
Ende fei. Kiefewetter, der achſelzuckend hervorgetreten 
war, verhehlte feineswegs, daß er eined ganz andern 
Ausgangs ſich gewärtig gewejen wäre. Indeß pflege 
ed mit ſolchen fremdländiſchen Tejtamenten in der Re— 
gel jo zu gehen. 

Eine wahrhaft troftlofe Figur fpielte der Schau— 
fpieldivector. Seine ganze Geftalt fchien unter ver 
Laſt des Mißgeſchicks zufammen zu bredien. Er mur- 
melte erfterbend aus Don Carlos: „So herabgeftürzt 
aus allen meinen Himmeln!” Dann erfundigte er fid) 
bei dem Stadtgerichtsactuar, ob ſolch' ein gottvergeffe- 
nes, ruchloſes Tejtament nicht umzuftürzen fer? 

Kiefewetter zuckte wieder mit ven Achfeln und 
meinte, daß Teftamenten, in welchen eine pia causa 
bedacht, nicht gut beizufommen fei. 

„Ich werde Alles aufbieten,” verſetzte Hanno in- 
grimmig, „dieſes Codicill, welches alle Verwandtſchafts— 


119 


grade fo bimmeljchreiend mit Füßen tritt, zu ver⸗ 
nichten. Es kann und darf in unferm aufgeflärten, 
gerechtigfeitsliebenden Lande feine Kraft haben. Was 
fünmert ung die Zeugenfchaft des elenden Mekhemed 
und wie der andere Ejel heißt; das find blinde Hei⸗ 
den, die den Teufel wifjen, was Rechtens. Nein, dies 
Codicill kann nicht gelten; die in Hamburg beponirten 
Summen müflen unter die rechtskräftigen Erben ver- 
theilt werden. Ich laſſe nicht nah, und ſoll ich bis 
zum Fürften geben,” hierauf rief ’er: 

„Ih muß fie haben die Stabt Stralfund | 

„Und wär’ fie mit Ketten am Himmel geſchloſſen!“ 

Während ver Helvenfpieler auf dieſe Art radotirte 
‘ und mit Öewaltftreihen jchwanger ging, hatte Frau 
Urſula ihr Taſchentüchlein hervorgezogen und hielt es 
zierlih vor die Augen. Sie wußte, daß eine junge 
hübfhe Wittwe in Thränen dem Männerauge eine 
abſonderlich interejfante Erjcheinung gewähre. Sogar 
Kieſewetter, dieſer trodene Actenwurm, konnte ſolchen 
Anblick nicht ertragen und begann zu tröſten. 

„Iſt denn wirklich keine Hoffnung, Herr Actuar?“ 
frug Urſula leiſe, dringend und mit thränendem Auge; 
„o entziehen Sie einer unglücklichen, in Thränen ge— 
badeten Wittwe Ihren hülfreichen Rath und Beiſtand 
nicht.“ 

Kieſewetter, der ſich wie ein Zappelmann vorkam, 
zog von Neuem die Achſeln in die Höhe. 

Urſula hatte den Heldenſpieler vom Teſtamentum⸗ 
werfen ſprechen hören. Sie hielt dieſes Mittel für 
zweckmäßig und weiſe und klopfte deshalb bei Kieſe— 
wetter an. 

„Da iſt wenig Hoffnung,“ entgegnete dieſer; „ja 
wenn die Armenverſorgungsbehörde und die Geiftlich- 
feit nicht dahinter ftäden, aber we dieſe beiven Be— 


[ 


120 


hörden im Spiele find, da ift Alles vergebens, bie 
geben nichts heraus und wenn ſich alle Advocaten ber 
Welt die Köpfe einrennten.” 

Das vorgelejene Codicill hatte auf das Erbpubli- 
fum einen nod weit ungünftigern Eindruck hervorge⸗ 
bracht, als felbft das Teſtament. Dort war doch 
nur die Rede von geringfügigen Gegenftänven, vie 
in Betracht ber Frachtſpeſen vollends allen Werth 
verloren; im Codicill hingegen kamen holländiſche 
Ducaten zur Sprache, die im unfernen Hamburg zu 
erheben und deren Anmut und Liebenswürbigfeit man 
aud in Niederrofla zu fchägen wußte. PViertaufenv- 
fünfhundert holländische Ducaten hatte der Hofmaler 
deponirt, welche, wenn fie unter bie ſechs hoffenven 
Erben, Lagemann inbegriffen, verhältnigmäßig wären 
vertheilt worden, einen eben doch einigermaßen zus. 
frievdengeftellt haben würben; jo aber fam bie ganze 
bedeutende Summe einzig und allein den Armen und 
der Schuljugend zu Gute, ohne daß die geſammte Erb— 
ihaar einen Asper erhielt. 

„Wenn id) wenigſtens die Abfütterung des Bet— 
telvolkes erhalten hätte,“ ſprach Lagemann voller In= 
grimm, „wollt' id) nichts fagen, e8 wäre Wenig, 
aber Etwas; ver Hofmaler ift in meinen Augen en 
Schuft.“ 

Gamaliel, der des Magdeburgers Ingrimm ver— 
nahm, bat ihn, ſich zu moderiren, da er und ſeine 
Frau Mutter, die doch ſo nahe verwandt wären, ja 
auch nichts bekommen hätten. 

Aber Lagemann, der von keinem Bedenken Etwas 
wiſſen wollte, erwiederte mit Heftigkeit: „Ich nehme 
mein Wort nicht zurück, der Hofmaler hat als Schuft 
an mir gehandelt. Wenn ich an der Stelle Ihrer 
Frau Mutter wäre, ließ ih mir die Suppen- und 


ae 


Bratengelver auszahlen und theilte fie mit dem hier 


verfammelten Erbperſonale; es wäre dies zugleich 


hriftich und rathfam, ein wahres Werl der Gerech⸗ 
tigkeit und Barmberzigfeit; dem Bettelwolfe taugt ein 
guter Fraß fo nichts, es wird übermüthig, vie Poli- 
zei kommt nicht mehr durch und die Revolution ift 
fertig. Ich zahle aus diefem beherzigenswerthen Grunde 
aud) fo wenig als möglid) Armenfteuer.“ 

Der Secretair fchauberte bei Lagemann's Bor: 
Ihlage und führte ihm das Inmoralifche deſſelben wor 
Augen; der Hotelier jchimpfte aber gottesläfterlih. Er 
bebauerte nichts mehr, als daß der Erblafjer bereits 
verblichen fei, fonft veifte er mit Inächfter Gelegenheit 
nad) Kabul, rückte ihm vor's Duartier und jjchlüge 
ihn mit jedem Hiebe einen Knochen entzwei. Es folle 
biefem Himmelſakramenter nicht wieder in den Sinn 
fommen, ehrliche Leute, Bürger und Hausbefiter an 
der Nafe herumzuführen. 

Während aber die Exrbfchaftler- mit höchſt zerichla= 
‚genem Gemüthe aus der Seffion nad) Haufe zogen 
und wo fie hinfamen, überall Berrübnig zur Schau 
trugen, Härten fih die Phyfiognomien von zwei fehr 
umfangreichen Claſſen der menſchlichen Gefellihaft in 


Nieverroßla auf, nämlih die der Armen und ber 


Schuljugend. Der Jubel Hang durch alle Gafjen und 
Häufer. Jeder der zahlreichen Armen, Krüppel und 
Lahme jahen ſich bereit8 zum nächſten Weihnachtshei— 
ligenabende in der ſtattlichen Pelzmütze mit wohl⸗ 
thuenden Ohrenklappen, ſo wie in wintertrotzenden 
Fuchsklauen einherſchreiten und im traulichen Stüb— 
hen hinter dem warmen Ofen ſitzen, oder Sonn= und 
Veiertags ihr gewürziged Süpplein und belicaten Bra— 
ten fohmaufen, obſchon nur zwanzig‘ Auserwählten 
dieſe unverhoffte Wohltbat zu Theil werben konnte. 


4 


022 


Nichtsdeſtoweniger ſah die gefammte Armenjchaft vem 
nächſten Winter mit frohem Muthe entgegen und feg- 
nete den eveln Hofmaler Hafjan-ben-Mullah; zugleich 
beſchloß ein jeder, der auf das Kabul'ſche Suppen⸗ 
und Bratenflipendium Anwartſchaft zu haben ver- 


. meinte, der vielvermögenden Felicitas feine Aufwar- 


{ 


tung zu maden, von deren Sanftmuth und Güte man 
das DBefte erwartete. * . 

Die gefammte Schuljugend freute fih auf das 
nicht allzuferne ZTrinitatisfeft. und ließ zu ihres eignen 
Quartus nicht geringer Betrübniß den Kabul'ſchen 
Hofmaler hoch leben. 

Die übrige Bürger und Einwohnerfchaft konnte 
die. mildthätigen Gefinnungen des Balthafar Drollin- 
ger nicht genug loben, obſchon man nicht recht einſah, 
warm ber Kabulifte feine eigne in bürftigen Um— 
ſtänden lebende Tante nicht mit einem Legate bedacht, 
da er ihrer doch ausdrücklich im Kopitille erwähnt 


hatte. Die übrigen Erbſchaftler fanden übrigens mit - 


ihren Klagen wenig Anklang in der Stadt, da ihre 
Erbanſprüche von geringem Belang jchienen. 

Lagemann wie Hanno ſahen ſich daher genüthigt, 
ihren Grimm gegenfeitig gegen einander auszulaffen. 
Niemand mochte auf ihre Verwünfchungen hören und 
Etwas darauf geben. Die Zwei riefen brennenden 
Schwefelregen und Höllenbrand auf vie Seele des 
verstorbenen Erblafjerd herab und wurden zugleich 
über den ſchwarzen Plan einig, das Codicill umzu- 
ſtürzen und der Armenverforgungsbehörde fo wie dem 
Glerus die‘ holländifchen bei Siebede und Comp. nie- 
dergelegten Ducaten, wie fie ſich ausbrüdten, aus ven 
Klauen zu rüden. 

Mit den Hotelier und dem Heldenſpieler ſympa— 
thifirte vorzüglich der noch am Leben befinpliche Theil 


183 


der Kabul'ſchen Teſtamentserben; nämlich der Bäder 
Dreitfopf, der fid) beim Brotbaden zuweilen noch 
immer nicht in die gefetlihe Taxe finden Tonnte und 
dem daher das Padet Spindenagel nebjt dem omind- 
jen Honigtopfe von Haffan-ben-Mullah zugedacht war, 
und der Armenpfleger Lange, der im Teſtamente für 
des Spießens würdig erklärt worden mar. 

Die- beiden. Teitamentsclaufeln, in welchen ver jo 
eben genannten zwei Individuen gedacht war, hatten - 
übrigens das Gute, daß man von Polizei wegen dem 
Bäder ftrenger auf's Gewicht jah und dem harther⸗— 
zigen Armenpfleger mehr Menſchlichkeit anempfahl. 

Felicitas, melde nie große Hoffnung auf bie Ka— 
bul’fche, Erbſchaft gefetst hatte und die nur ihres Ga⸗ 
maliel wegen es vielleicht gern gefehen hätte, wenn 
ihr eine kleine Summe zugeflofjen "wäre, fühlte fich 
durd dem ihr im Cobicill gewordenen Auftrag, ver 
ihrem mildthätigen Serzen innigſt wohlthat, für die 
untergegangene Erbhoffnung vollfommen entſchädigt. 
Es gewährte ihr der Gedanke, daß in ihre Hand das 
Wohl fo manches Hülfsbenürftigen gegeben fei, einen 
befeligenvden Genuß. Die Gute bedachte indeß nicht, 
welch' ein fjchiwierige und unbanfbares Geſchäft ihr 
geworden und der verblichene Erblafjer hatte daran 
wahrſcheinlich felbft am Wenigften gedacht. Bereits 
am Nachmittag vefjelben Tages, nachdem das Kodicill 
Bormittagd war ‚veröffentlicht worden, wimmelte es 
in dem Stübchen der Wittwe voll zudringliden und 
unverfhämten Bettelvolfes, welches ſämmtlich ein jäm- 
merliches Klaggejchrei erhob, in ber Hoffnung, "von 
Felicitas unter die zehn Suppenftipendiaten aufgenom- 
men zu werben. Gamaliel, den man felbjt auf ver 
Erpedition des Doctor Eiſenbeiß aufgeſucht hatte, 
führte ein ganze® Rudel Hülfsbedürftiger hinter ſich - 


12 
her, um fie ſeiner Mutter zu empfehlen. Wie er- 
Ihraf er aber, als er zu Haufe fchon Alles über 
füllt fand. 

Die Wittwe fuchte endlich Die ungebetenen Säfte 
dadurch loszuwerden, daß fie die Namen Aller auf einen 
Zettel fchrieb. Sie erklärte hierauf, daß fie fih nad 
den nähern Umftänden eines eben erfundigen und 
alsdann die Auswahl unter ben ' Berürftigften und 
Würdigſten mit der möglichften Gewiflenhaftigfeit tref- 
fen würde. 

Die drei Freier der Frau Urfula hatten in den 
nächſten Tagen nad Bekannwerdung bes Codicills 
nicht wenig durch die Launen der jetzt hoffnungslo— 
jen Erbin zu leiden; namentlid befam Henoch als 
Mitglied ver ducatenfreffenben Armenbehörde einen 
ſchweren Stand. 

Auerhahn, welcher fo eben den tragifomifchen Aus- 
gang der Kabul'ſchen Erbangelegenheit erfahren hatte, 
war ftehenden Fußes zur Wittwe geeilt, um den Triumph. 
feiner Divinationsgabe zu feiern. War doch von je 
feine Rede gemejen, daß fi) Yrau Urſuka von wegen 
biefer fremdländiſchen Erbſchaft vergebend alarmire. 
Gleichwohl hatte e8 ihm außerordentlich gefallen, daß 
der Hofmaler Armuth und Schuljugend jo großmüs 
thig bedacht, und er ließ fi) darüber aus, 

„Das ift gewiß,” ſprach er, „ein adıtbarer Kerl 
bleibt der Balthafar Drollinger, ſolchen Edelmuth 
hätt ich ihm nicht zugetraut. Daß für Sie nichts 
abfiel, Frau Urfula, und für den Lagemann und für 
den Comödianten, und wie fie alle heißen, bie dar— 
nad) lungerten, das wußt' ih; aber daß der Hof 
maler jo nobel für die Bebürftigen geforgt hat, das 
hätt! ich mein. Seel’ nicht geglaubt und das freut 
mid) doppelt.‘ 


123 


Daß fih Auerhahn durch dergleichen Anfichten und 
menjhenfreundliher Bemerkungen bei ber Wittwe 
nicht eben infinuirte, wird man ohne Betheuerung 
glauben; Urſula verhehlte auch feineswegs ihren In- 
grimm und meinte leivenjhaftlih, wenn er fie nicht, 
befjer zu unterhalten verjtehe, jo verzichte fie vecht 
gern auf feine Beſuche und feine Unterhaltung. 

Auerhahn bemerkte, daß er zu weit gegangen, gab 
als kluger Feldherr nad) und meinte, es fei ihm au- 
Gerordentlich Lieb, dag Urſula im Kabul'ſchen Teſta— 
mente übergangen ; fie würde außerdem nur ſtolz und 
berfärtig geworben jein. 

„Gewiß nicht,“ verficherte die Wittwe in gemäßig- 
terem Zone. 

„Es iſt leichter, daß ein Kameel durch em Nabel- 
öhr che, * citirte der Sprigenfabrifant, „als daß ein 
Keicher in's Himmelveih komme. Reichthum hat nie 
Gutes gebracht; ich bin für vie ſchmucke Wittwe ent 
brannt und nicht für ihr Geld; id) würde fie heira- 
then, wenn —“ hier that er zur Belräftigung einen 
desperaten Schwur — „wenn ihre ſämmtliche Habe 
in nichts als einem Hemde bejtünde, ja ſelbſt ohne 
legtered würde ich feinen Augenblid Bedenken tragen, 
ihr meine Hand zu bieten.“ 

Der Gottesfaftenvorjteher wandte ſich mit Abjcheu 
ab ob folder unzüchtiger Redensarten und Fran Ur— 
jula ſchlug verfhämt die Augen niever. Auerhahn, 
dem die Wittwe in ihrer Verſchämtheit und Züchtig- 
feit doppelt reizend erjchien, breitete die Arme aus 
und marſchirte jehr zärtlich auf ven Gegenſtand feiner 
Neigung zu. Urfula, die ihn ankommen Jah, flüd- 
tete fofettivend hinter den gottesfürdhtigen Henoch, 
den fie beſchwor, ihre Weiblichkeit vor der Zudring⸗ 
lichkeit Auerhahn's zu ſchützen. Henoch, von dem guten ( 


426 


Zwede begeiftert, that's und trat mit moralifchen Apo- 
ſtrophen dem Sprigen- und Schlauchfabrilanten ent- 
gegen, wie weiland der Papft dem Barbarenkönig. 

Auerhahn, der dur die Flucht der Wittwe nur 
Hoch mehr für ihre Reize entflammt warb, ſchob ben 
Sittenprediger mit den Worten: „Ad, hof Gie der 
—“ unjanft auf die Seite und bemächtigte fich des 
leicht zu erhaſchenden Gegenftandes, welcher zu fchreien 
begann. Der Oottesfaftenmann fonnte folde babylo- 
niſch⸗ſodoinitiſche Greuel, wie er ſich ausdrückte, un= 
möglich länger mit anfehen; er hielt für das Beſte, 
um Frau Urſula's unſchud vor den Angriffen Auer- 
hahn's zu retten, in das Geſchrei der Wittwe tapfer 
mit einzuftimmen. Er begann ein wahres Zetermor- 
dio, jo daß ber unternehmende Liebhaber feine Beute, 
nachdem er ihr einen Kuß auf die Wange gebrüdt, 
fahren ließ und alles Ernftes ven Gotteskaſtler fragte, 
ob es mit ihm vapple? - 

Während ſich die Beiden noch über bie Grenz⸗ 
linien des Anſtandes herum disputirten und wie weit 
ein gebildeter Mann gegen ein anftändiges. Frauen- 
- zimmer gehen dürfe, wälzte fi der Papiermüller durch 
bie. Thüre und jofort zu Frau Urfula,, bie ſchmollend 
am Fenſter ſaß, und die er höchlich betomplimentirte 
und begratulicte wegen ber Erbſchaft. 

Als Grimbart bemerkte, wie ſich das Geſicht der 
Wittwe immer finſtrer ob ſeiner Gratulation verzog, 
denn Urſula vermeinte, der Papiermüller treibe ſeinen 
Scherz mit ihr, ſo glaubte er, ſeine Beglückwünſchung 
nicht klar und faßlich vorgetragen zu haben und be— 
gann daher laut und volltönend: „O du geſegnete 
Perle des Orients, kabuliſtiſcher Paradiesvogel, Zucker⸗ 
ftengel von Afghaniſtan und Generalerbin des groß- 
mogul'ſchen Hof⸗, Leib- und Magenmalerd —“ wo- 


3 


127 7 


durch es ihm endlich gelang, die Erzür! von ihrem 
Plage am Fenfter vollends zu vertreiben. 

Auerhahn padte den Gratulanten bei din Schul- 
tern, jchüttelte ihn und ſprach: „Papiermüller, biſt 
Du bei Sinnen, treibft Du Deinen Spott mit Frau 
Urſula?“ 

Grimbart wandte ſich um und blickte verdutzt den 
Spriten- und Schlauchfabrikanten in's Geſicht. „Iſt 
fie denn nicht der Generalerbe?“ frug er. 

Es ergab ſich jettl, dag ein Spaßvogel mit dem 
leihtgläubigen Papiermüller fi einen Scherz gemacht, 
und ihm gerade das Gegentheil von dem berichtet 
hatte, was das Codicill befagte. 

Die Wittwe, obſchon fie heut keineswegs Urſache 
hatte, mit ihren Freiern zufrieden zu fein, war doch 
politifch genug, ihren Unmuth nicht gar zu laut wer⸗ 
den zu laſſen. Sie glaubte ſich vielmehr größern 
Nuten zu verfehaffen, wenn fie ihre Anbeter aus- 
forfchte, was fie wohl zu einer Teſtamentsumſtoßung 
meinten, und ging, was dieſes Kapitel anlangte, ziem- 
lid) muverholen mit der Sprache heraus. Henoch, als 
Mitglied der Armenverforgungsbehörbe, erſchrak außer- 
gewöhnlich ob jolcher dem wohlthätigen Codicille feind- 
lichen Geſinnungen; Auerhahn, welcher der Armuth 
gleichfalls zugethan war, erklärte geradezu den Willen 
des Hofmalers für unumftoßbar und verurtheilte im 
Boraus Jedermänniglich, der es wagen würbe, bie 
frevelnde Hand nad) ſolchem „geweihten” Gute aus- 
zuftreden, zur Bezahlung ſämmtlicher Prozeßkoſten. 
Grimbart, ebenfall® um feine Meinung befragt, ftellte 
ben philofophiihen Sag auf, daß Reichthum nicht 
glüdlih mache und Armengut abſonderlich feinen Se— 
‚gen bringe 


ar Diefe feierlichen erg Aufprüche wirk⸗ 


3. un 


128 


ten nicht eben rofenfarben auf die Laune der Wittwe, 
welche fich jet, nachdem eine abermalige Hoffnung 
(denn auf den unternehmenden Auerhahn hatte. Ur— 
jula Stüde gebaut) in ven Brunnen gefallen war, ' 
weniger rückſichtsvoll äußerte Namentlich war fie 
auf den Spritenfabrilanten aufgebracht, welcher ihr 
hundertmal Schuß und Trutz zugeſchworen und eidig- 
lid) gelobet, Jedem unwiverrufliih Hals und Nüd- 
grat zu brechen, ver ihre Rechte ‘zu beeinträchtigen 
fih nur entfernt in den Sinn kommen laffe Sie 
fonnte jett niht umbin, den Bergeklichen auf fpitige 
Weife auf feine Schwüre aufmerkſam zu machen. Auer: 
hahn, ver aber in gewiffen Dingen feinen Spaß ver- 
ftand und vermeinte, wie dem aud war, er jolle der 
Wittwe mit Rath und That bei dem Umfturze des 
Codicills, das er nicht allein für gerecht, fondern auch 
für höchſt evelfinnig hielt, behäflich fein, vergaß feine 
erotiſche Stellung zu Urſula gänzlih und ward grob. 

Dies hatte noch gefehlt, um der von ihren Freier 
jo wenig unterftügten Wittwe die Gegenwart ihrer 
drei Anbeter vollends unerträglich zu machen. Sie 
erflärte daher geradezu, daß fie einen Beſuch abzu= 
ftatten habe und begab ſich in’3 Nebenzimmer, um 
ein Umſchlagetuch umzuwerfen. Der Gotteskaftenmann 
verstand fogleih den Winf und empfahl fih. Er be— 
Dachte, daß auch feine Gegenwart in ter Geffion der 
Armenverforgungsbehörde von Nöthen ſei, um über 
die jo erfreuliche kabuliſtiſche Erbſchaftsangelegenheit 
eines Weitern. zu berathen. Auerhahn brummte von 
Weiberlaunen und fuchte gleichfall® nach ferner Mütze. 
Nur der Papiermüller, der fo eben erſt recht gemäch— 
Ich im gewohnten Lehnftuhl Pla genommen hatte, 
fonnte nicht begreifen, was der urplögliche Aufbrud) 
feiner beiden Nebenbuhler zu bedeuten habe. „Im 


129 


Grunde war ihm diefes Fortgehen nicht unangenehm. 
Er konnte jet um jo ungeftörter Frau Urjula an- 
jehen und verfelben durch Blide, mit Worten befaßte 
er fih nit gerne, zu verftehen geben, wie hod) fie 
bei ihm ſtehe. Er erjchraf daher nicht wenig, als 
die Wittib veifemäßig mit Hut und Umſchlagetuch 
aus der Seitenthür trat und ihm zu verftehen gab, 
dag er Stuhl und Stube zu räumen habe. 

Das war für Grimbarten viel verlangt. Er war 
fo eben nach mander Befchwerlichkeit im Hafen ver 
Xiebe eingelaufen und hatte im umfriedeten Lehnſtuhl 
Anfer geworfen, und fellte, faun warm geworben, 
bereit wieder aufbrehen. Der Papiermüller jtellte 
daher an Frau Urfula die nit unbillige Propofition, 
fie möge ihn fiten laſſen im Polſterſtuhle, bis zu 
ihrer Heimkehr; er wolle fi) dafür verbindlich machen, 
feinen Sig nit zu verlaffen; die Blide nicht wiß- 


begierig umherſchweifen, ſondern einfältiglih auf feinen 


gefalteten Händen ruhen zu laffen. 

Urfula ſchien fehr ungehalten ob dieſer Petition 
und begriff nicht, wie der Papiermüller ſolch un— 
moralifches Berlangen ftellen Tünne. 

Grimbart ſeinerſeits begriff wieder nicht, worin 
die Immoralität zu juchen fei, wenn man jo un 
ſchuldsvoll wie ein neugeboren Kind eine Zeit lang 
ruhig in einem Polfterftuhle ſitze. Es kam hierüber 
zu einem fleinen philofophifchen Disput, wo ſich's 
denn leider jehr bald heraus ftellte, daß ver Papier- 
müller der Dialektif feiner Gegnerin nicht gewachſen 
war. Bon ven fchlagenben Gründen der moralifchen 
Witte immer mehr in die Enge getrieben, hielt es 
Grimbart endlich für vathfam, feinen bequemen Sig 
lieber aufzugeben, als ſich Länger in unfruchtbaren 
Theorien mit ber. dialectifivenden Frau zu eerhöpfen: 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. 


4 


430 


Er ſchob und förderte unter großer Anftrengung und 
unter mandem Seufzer feinen eignen Leichnam in bie 
Höhe und trat nicht eben mit der zufriedenften Miene 
den Rüdzug an. 

„Ein andermal,” gab ihm Urfula noch den guten 
Rath auf den Weg, „laßt Euch nicht ſolch albernes 
Zeug weiß machen, wie heut wegen ver Erbſchaft.“ 

Der Papiermüller, von Natur fehr gutmüthig, 
bedankte fi) ob des guten Raths und bewegte ſich 
dabei langfam aus dem Haufe, worauf ihm die Wittwe 
nad einer Heinen Weile folgte. 


Achtes Kapitel. 


Der Frühling war in’8 Land gezogen, fein blühend 
Gewand ruhte auf Berg und Thal. Im den Wald— 
bergen jchlugen die Nachtigallen; Fliever und Afazien 
flanden in reicher Blüthe und wie ein blaues Band 
zog fid) die Loſſa durch die Landſchaft. 

In dem Herrenhaufe zu Friedrichshof ftanden alle 
Venjter offen und der Frühling hing reich und ſchwer 
herein. Blumenduft umzog Schloß und Garten. Im 
Parke, ver unmittelbar an den Garten ftieß, herrſchte 
fröhliches Leben. Tinten, Grasmüden ſchmetterten 
um die Wette. Bon den Wiefen tönte Glodenflang 
ver Schaaf- und Rinderheerden und von den Bergen 
erſcholl die Art des rüftigen Holzhauers. 

Es war ein wunderſchöner Frühlingspormittag, 
als Morand, feine Meerihaumpfeife pampfend, in dem 
Hauptgange feines Parts, welcher einen fühlen und 


431 


angenehmen Schatten bot, langſam auf und ab wan- 


delte, oft ftehen bleibend und mit feiner Tochter 
Iprechend, die ein Buch in’ der Hand an feiner Seite 
ging. Das Geſpräch des alten Krieger war nicht 
jelten von heftigen Geftifulationen begleitet. Hatte 
er eine Yeit lang geſprochen, dann beveutete er das 
Mädchen, daß es weiter leſe; denn er pflegte häufig 
den Commentar des vworgetragenen Autors abzugeben. 

Hente war der Alte abfonderlih in Aufregung, 
der alte Schlachtengott blittte gewaltig aus dem noch 
feurigen, von dunkeln Augenbrauen überbujchten Auge. 
Klotilde trug aus einer vor Kurzem erfchienenen 
Gefchichte des großen Jahres Eintaufendachthundert- 
vreizehn Die Kataſtrophe von Dresden vor, welcher 
Morand an der Seite des Kaifers in Perſon bei- 
gewohnt hatte. Zuweilen nidte er Beifall, wenn der 
Berfafler treu und wahr erzählte, oft gerietb ex in 
Teuer, wenn die Erinnerung an die helvenfühne Yeit 
von Neuem vor feine Seele trat; doch finfter umzog 
fih feine Stirn, ſobald der Erzähler fi) partetifch 
zeigte oder gar den Mann des Jahrhunderts in 
Schatten zu ftellen wagte. 

Bater und Tochter waren jett zu einer veizend 
gelegenen Laube gekommen, die am, Eingange bes 
Parks gelegen und reich mit blauen und weißen %lie- 
vertrauben umhangen war. Hier nahm der General 
Platz, zündete fih von Neuem den Meerſchaumkopf 
an, ber ihn im Eifer des Geſprächs ausgegangen war, 
und erjuchte Klotilden, in ber Lectüre fortzufahren. 

Da wurden Schritte im Gange vernehmbar und 
Victor, welcher fo eben von Niederroßla zurüdfehrte, 
trat in die Laube. 

Der General, ver bei der Rückkehr des Sohnes 
eine Zeit lang das Kriegsleben vergaß, „rfundigte 


{ 


132 


fih fogleih nah der Kabul'ſchen Erbſchaft, worauf 
Victor Alles mittheilte, was er von dieſer feltfamen 
Begebenheit, welche die Morand'ſche Yamilie aus: 
nehmend bejchäftigte, erfahren hatte. Er erzählte exft 
von dem Hauptteftamente und deſſen humoriftifchen Le— 
gaten, welche dem General zwar ſchon durch Gamaliel 
befannt waren, und alsdann von dem armen= und 
ſchuljugendfreundlichen Codicille; und wie die Hoff- 
nung aller berjenigen, welche ven meiften Anſpruch 
auf die fremdländiſche Hinterlaſſenſchaft zu haben ge- 
glaubt, gänzlich zu Waller geworden wäre. 

„Wie,“ erkundigte fi der General verwundert, 
„auch Felicitas und unſer wadrer Gamaliel find leer 
ausgegangen ?“ 

„Es ſcheint unglaublich,“ erwiederte Victor, „na⸗ 
mentlich da der Wittwe Drollinger in dem Codicill 
ausdrücklich gedacht' und ihr die Auswahl derjenigen 
Armen übertragen ift, welche künftig gefpeift werben 
follen, und gleihwohl ift es nicht andere. Man 
wundert jid) auch in Niederroßla allgemein darüber und 
die gute Felicitas wird von Vielen wahrhaft bedauert. 

Weit mehr als die erbichaftlihen Verfügungen 
ſelbſt ſchien dem General indeß die Perfon des Erb- 
laſſers zu intereffiven. Er frug daher wieberholt, ob 
Victor nicht erfahren, wie der Maler nad) Kabul 
gekommen ſei, in welchen Berhältnifien er vajelbft 
gelebt und ob er verheirathet gemwejen oder nicht. 

„Darüber,“ gab Victor zur Antwort, „blieb mein 
Nachforſchen völlig vergeblich.” 

Aus dieſem und namentlih aus dem folgenden 
Geſpräche des Vaters mit dem Sohne, warb fo ziem- 
lich deutlih der Grund erfichtlih, warum fi bie 
Familie Morand in folhem Grade für den Rabul’- 
Ihen Zeftator intereſſirte. Bor einer längern Reihe 


133 


von Jahren hatte fi auf dem Schloffe von Morand's 
Schwiegervater der romantiſche Fall ereignet, daß ein 
junger deutſcher Künftler, der als Portraitmaler eines 
bedeutenden Rufs genoß, zu dem Zwecke, die freiherr- 
liche Familie zu portraitiren, eine längere Zeit auf 
Wildenfels, jo hieß das Schloß, verlebte, fi mit 
allem Teuer der Jugend und Schwärmerei des Künft- 
ler8 in die reizende Olivia, die jüngere Schwefter 
von Morand’8 nahmaliger Gattin, verliebte. Das. 
Schickſal wollte es, daß die Leidenfchaft des jungen 
Malers nicht unerwiedert blieb. Da zu einer Ver— 
bindung bei dem Adelſtolze der Familie nicht Die 
entferntefte Hoffnung vorhanden war, jo faßte das 
lebende Paar, der allmächtigen Leidenſchaft erliegenp, 
den- fühnen Entfhluß, zu fliehen. Gie festen ihr 
Borhaben während einer flürmifchen Naht in's Werk 
und erreichten unangefodhten und wohlbehalten Ham— 
burg, wo ein Kauffahrteifahrer fo eben im Begriffe 
ftand, nad) Oftindien unter Segel zu gehen. Bal- 
thafar hatte ſich Empfehlungsbriefe an den Gouver— 
neur von Bombay zu verſchaffen gewußt. Bald 
befanden fich die Flüchtlinge auf offner See. Dlivia 
hatte von Hamburg aus die Ihrigen von ihrem Vor— 
haben, dem Geliebten ihre Hand zu reichen, in 
Kenntniß geſetzt. Mehrere fpätere Schreiben, die aus 
Ditindien eintrafen, gaben die Kunde, daß fi das. 
junge Paar nad dem Ritus der englifhen Kirche 
hatte einfegnen laffen und in recht glüdlichen Ver— 
hältnifjen lebe. Alle Bemühungen von Geiten der 
Berwandten Dlivia’s, fie zur Rückkehr in's Baterland 
zu bewegen, blieben erfolglos. Nach jpätern Nach⸗ 
richten hatten ſich die jungen Eheleute unter engliſchem 
Schutze nach Kabul, der Hauptſtadt von Afghaniſtan, 
begeben, wo Balthafar am Hofe des Könige als 


13% 


. Maler und Heilfünftler im größten Anfehen ftand, 
und bedeutende Neihthümer erwarb. Späterhin aber 
blieben, da bei dem Seekriege Englands und Trank: 
reichs an eine Correſpondenz mit jenen fernen Ländern 
nicht zu denken war, alle weitern Nachrichten aus 
und man wußte nicht, was aus Balthajfar und feiner 
jungen Gattin geworben war. 

Dan kann fih alfo wohl venfen, von welchem 
Intereffe es für die Morand'ſche Yamilie fein mußte, 
als man plöglih von einem Teftamente Kunde erhielt, 
welches ein deutſcher Hofmaler in Kabul hinterlaffen 
hatte. Es unterlag feinem Zweifel, daß ver Zeftator 
Niemand anders als der geniale Maler fein könne, 
welcher Dlivien entführt; auch ſtimmte die humoriftifche 
Abfaſſung der [egtwilligen Verfügung ganz mit ver 
“ eigenthümlichen Art und Weife, wie man fie an dem 
jungen Maler auf Wildenfel® Gelegenheit gehabt 
fennen zu lernen, volllommen überein. 

Daß Herr Haſſan-ben-Mullah nicht unwermögend 
geftorben, ging aus den anfehnlichen Legaten hervor, 
die er zum Bellen ver Armen und der Schuljugend 
von Niederroßla ausgejett hatte, aber was mar aus 
feiner Gattin, der emft jo wunderfchönen, Tieblichen 
Dlivia geworden? War fie noch am Leben und in 
welchen Verhältniffen Iebte fie, nachdem der Tod ihr 
denjenigen entriffen, dem zu Xiebe fie in vie ferne, 
fremde Welt gefolgt war? Olivia, die wegen ihres 
engelhaften Herzens und ihrer ftet3 vofigen Laune 
allzeit der Liebling ihrer Yamilie gewefen, warb aud) 
ſpäterhin noch immer von den Ihrigen geliebt, und 
man nahm das lebhaftefte Intereffe an dem reizenden 
Flüchtling. Wären nicht die Friegerifchen Zeiten da= 
zwifchen gefommen, jo würde man gewiß das Aeußerſte 
verjuht haben, die Entflohenen zur Heimfehr in’s 


135 


Baterland zu bewegen; fo aber war, wie erwähnt, 
alle Communication zur See durdy den Krieg unmög- 
lich gemacht. 

Große Hoffnung, um Näheres über den Teftator 
zu erfahren, fetten vie beiven Morand's auf das 
Hamburger Haus Siebede und Comp., bei welchem 
die anfehnlichen Legate für Nieverroßla’8 Arme und 
Schuljugend niedergelegt worden waren, und 'man 
befhloß fofort, ſich desfalls mit den genannten 
Handelshaufe in Eorrefpondenz zu fegen. 


Neuntes Jtapitel. 


Nie hat der Clerus zu Niederroßla, ſo wie die da⸗ 
ſige Armenverſorgungsbehörde eine Sache mit größerm 
Eifer angegriffen, als die Kabul'ſche Erbſchaft. Man 
entwickelte eine Thätigkeit, die ihres Gleichen ſuchte. 
Gleich in der erſten Conferenz kam man ohne große 
Debatten dahin überein, ven Hamburger Geldlachs 
in thunlichſter Schnelle in ven Hafen von Nieverroßla 
einlaufen zu laffen. Der Herr Superintenvent, welcher 
es vor der Hand dahin geftellt fein Tieß, ob Teftator 
in Kabul als rechtgläubiger proteftantifcher Chrift 
(ein Caſus, der ihn noch Tags vorher jchwere Sorge 
gemacht) geftorben oder in den Himmel des Propheten 
Muhamed's eingezogen fei, hatte ein umfangreiches, 
mit Bibelftellen und Gefangbuchverfen reich verziertes 
Sendſchreiben an Herrn GSiebede und Comp. in 
Hamburg aufgefett, das er in der Konferenz mit 
Rührung vortrug und weldes ſich des allgemeinften 


4136 

Beifalls zu erfreuen hatte. Nur der Stabtrichter 
ſchien, trog daß es fehr fromm in dem apoftolifchen 
Hirtenbriefe hHerging, "die Rührung des Cuperinten- 
benten und ver VBerfammlung nicht zu theilen. Er 
nahm die Epiftel mit nad) Haufe, änderte fie gänzlich 
um, und gab fie mit nächfter Gelegenheit nach Ham— 
burg auf die Bolt. 

Zange ſah man in Niederrofla einer Poft nicht 
mit größerem Intereſſe entgegen als der hannövert- 
ſchen, welche die Hanıburger Briefſchaften überbrachte 
und die alle Wochen am Donnerftage eintraf. Den 
Sonnabend hatte der Stadtridter den Brief an 
Siebede und Comp. zur Poft gegeben und wenn das 
Hamburger Haus unmittelbar wiedergefchrieben, wie 
man zu Niederroßla fiher erwartete, mußte die Ant= 
wort bereit8 den nächſten Donnerftag eintreffen. 
se näher der verhängnißvolle Termin rüdte, um 
jo größer warb die Anzahl ber Zweifler. Hat der 
Hofmaler, hieß es, die rechtmäßigen Erben gefoppt, 
fo wird’8 der Armendirection und der Geiftlichfeit 
nicht beffer ergehen. Unter dem zweifelnden Publico 
ftanden wieder Lagemann und der Schaufpieler oben 
an. Die Beiden hatten ihren ſchwarzen Plan, das 
Teftantent umzuſtoßen, fo lange vertagt, bis fie auch 
der Sache gewiß wären, daß es wirklich etwas ums 
zuſtoßen gebe. Hanno, deſſen Truppe nach und nach 
in alle Welt gegangen und ſich wie ein treuloſer 
Bienenſtock von ihrem Weiſer getrennt hatte, lebte 
unterdeß zechfrei bei Lagemann, ver blos in dem 
Falle Zahlung verlangte, wenn dem Heldenſpieler der 
Umſturz des Teſtaments gelänge. Der Magdeburger 
hatte ſeinen Freundſchaftsbund mit Hanno blos auf 
die Zeit der erbſchaftlichen Ausgleichung geſchloſſen. 
Fiel vom Erbſchaftsbaume nichts ab und erwieſen 


137 


ih die hoffnungsvollen Blüthen al8 taub, fo waren 
die Beiden gefchiedene Leute. Lagemann hatte das 
jeinem Mitftreiter gegen Kabul im Bertrauen offenbart 
und der andre die Sache vollfommen in der Ordnung 
gefunden. 

„Bor der Hand,“ hatte der Magdeburger geftan- 
den, „ift meine Liebe zu Euch das Große nicht, denn 
daß Ihr jeden Tag, den Gott werden läßt, Eure 
langen Beine in der jeßigen nahrungslofen Zeit unter 
meinen Tiſch ſteckt, kann meine Affection und Leiden- 
ſchaft für Euch nicht erhöhen. Bedenkt dies und 
greift, unfere gemeinfchaftlihe Sache mit Ernſt an, 
ih traue Eurer Einfiht und Eurem Geſchick etwas 
zu; ein Comödiant ift im Intriguiren gefchidter, als 
ein andrer ehrliher Menſch. Erft wenn Ihr das 
Teftament umgeftogen habt, fo daß ein Theil der 
Kabul'ſchen Ducaten in unſre Taſche rollt, fühle ich, 
daß ich wahrhafte Liebe zu Euch fallen, ja daß ich 
Euch inbrünftig verein fünnte, wohin ich's bis jet 
noch nicht gebracht. Es ft auch natürlich, jede Liebe 
will ihren Grund haben.“ | 

Hanno verſprach das Möglichfte. 

„Der Gedanke an Eure Liebe, Tagemann,” ſprach 
er nicht ohne Pathos, „reicht allein hin, mi zu dem 
Außerordentlichſten zu begeiftern, jelbft wenn mein 
eigner Vortheil niht mit im Spiele wäre. Wenn 
nur,” fügte er etwas nachdenflicher hinzu, „pie Ducaten 
wirklich vorhanden find.‘ 

„Ich glaube doch, tröftete der Hotelier, „obſchon 
ich öffentlich das Gegentheil behaupte und ven Zweif- 
ler fpiele. Siebede und Comp. fünnen nicht ganz 
aus der Luft gegriffen fein. Freilich,” fügte er, nad) 
einer Panſe feufzend Hinzu, „ſollten wir auch diesmal 
genarrt fein, jo dürfte unſre beiverfeitige Freund: 


138 


ſchaft einen Stoß erleiden, der nicht fo leicht wieder 
ungeſchehen zu machen wäre. Der Mittagstiſch wäre 
das erfte Opfer, welches fallen müßte.‘ 

„sch fehe das ein,” gab ver liberale Hanno zu, 
„obſchon nad den Lehren aller Jahrhunderte wahre 
Freundſchaft fich erjt in der Noth bewährt.” 

„Das find Uebergelahrtheiten,“ entgegnete Lagemann, 
„ausjchweitende bizarre Lehren, die einen rechtfchaffenen 
Mann, wie Unfereinen, ruiniren würden. Ich hab’ 
e8 ſchon gejagt, Liebe und Freundſchaft wollen ihren 
folivden Grund haben;. im vorliegenden Falle befteht 
diefer aus Ducaten.“ 

Der Helvenfpieler vecitirte nit ohne Wehmuth: 

„Am Golde hängt, 
Nach Golde —* 
Doch Alles.“ 

„Und iſt auch nicht mehr als recht und billig,“ 
meinte der Hotelier; „eine von der Natur höchſt ſchätz⸗ 
bare Einrichtung. Vergegenwärtigt Euch einen Menjchen 
ohne Ducaten und mit Ducaten, weldy ein himmel- 
großer Unterjchied.” 

„Allerdings,“ jeufzte Hanno, welcher die Wahrheit 
dieſes Lagemann'ſchen Ausſpruches an feiner eignen 
Perſon in der ganzen Kraft erkannte. 

„Ihr feid jett,” fuhr der Magdeburger, um feinen 
Ausſpruch gründlich zu motiviren, fort, „ein verdüſtert 
Gemüth, welch ein Menſch wäret Ihr z. B. im Beſitze 
von hundert Ducaten?“ 

„Sehr wahr,“ geſtand Hanno, tief ergriffen. 

„Darum,“ ſchloß der Hotelier ſeine Rede mit der 
Nutzanwendung, „ſpannt Euere Einbildungskraft an, 
erdenkt etwas, ein Mittel, einen Ausweg, einen Angriff 
auf das Codicill, daß wir es ummerfen zu unjerm 
Heile.“ 


439 


Der Helvenfpieler verfprach fein Möglichſtes. 
„Stopft Euh auch den Magen nicht zu voll,” 
fügte Lagemann Hinzu; „das erfchwert das Denfen, 
und verfehludt nicht fo unverantwortlic viel- Lager- 
bier, das kann Euch nicht gedeihen. Ihr umnebelt 
das Gehirn, unnöthigerweife zehrt Ihr mid arm und 
Euch bringt Ihr um die Gedanken. Mäßigkeit ift 
eine Löblihe Tugend für Jung und Alt und nament- 
lich für einen Künftler, wo Genie die Hauptfache.” 

Hanno, weldyer alle Urfache hatte, den Magdeburger 
beim Guten zu erhalten, weil fonft feine Wohnung 
und Koft gefährvet waren, wollte feinem Gaftgeber 
weiß maden, daß er feiner Stimme wegen nicht viel 
mehr als ein Sanarienvogel verzehre. Sein Eſſen fei 
nicht der Rede werth. 

Anstatt aber durch die vorgeblihe Diät. Lagemann 
zu beruhigen, gerieth dieſer erſt vecht in's Teuer. 
„Ein folder Sanarienvogel, rief er, „ſoll nod) geboren 
werden; Ihr wolltet unfehlbar einen Strauß oder 
Lämmergejer als Beifpiel anführen. Da wollt! id 
nichts gejagt haben.” 

„Indeß,“ fuhr er fich jelbft beherrichenn fort, 
„wir wollen uns nicht weiter ereifern; daß Euer Bauch 
zu den umfangreichften gehört in ganz Niederroßla, 
das lehrt die Erfahrung, die paar Tage werden hof- 
fentlih zu überftehen fein. Mir war's, ale ih auf 
Euern unverwüftlichen Appetit zu fprechen kam, aud 
zunächft mehr um Euern Geift zu thun, von weldem 
die Erbichaftserlangung abhängt. Ich bin ja nicht 
der Mann, der Alles auf die Goldwaage legt. Fallen 
mir ein paar Schock Ducaten in den Sad, will id 
gern vergefien, was Euer Minotaurusichlund meiner 
Küche für Schaden gethan. Der Donnerftag wird's ent- 
ſcheiden, ob ich umfonft geftopft habe oder nicht. Wenn 


140 


eine Vergeltung exiftirt, jo kann es diefe unmöglich 
zugeben, daß ich Euch ohne Belohnung chriſtlich quartirt 
und traktirt. Darum hoffe idy immer, der Himmel 
hilft und das Codicill zertrümmern und wirft und ein 
artig Stüd davon zu.“ | 





Die Sonne des berühmten Donnerftags war end— 
lid aufgegangen. Yagemann, welcher die Nacht zuvor 
kauderwelſch Zeug geträumt und ſehr viel auf Träume 
gab, konnte mit ſich nicht recht in's Klare kommen, 
ob die verworrenen Traumgebilde auf Glück ober 
Unglüd veuteten. Er blätterte unermüdlich in feinem 
Traumbdenter, vem Peter Waldmann, und zog ſelbſt 
wiederholt feine Ehe- nnd Bettgenoffin, Madame 
Lagemann, zu Rathe. 

Mit nicht geringer Erwartung hatte der Superin- 
tendent und Doctor der Theologie, fo wie die geſammte 
Armenverforgungsbehörde ihr Lager verlafjen; denn 
heute mußte fich die große Frage, weldye den Nieder- 
roßlaern fo viel Stoff zum Nachdenken gab, entſcheiden; 
die verhängnißvolle Frage, ob der Kabul'ſche Hofmaler 
und Operateur es ernftlih im Codicill gemeint und 
bie breitaufendfünfhundert Ducaten wirflih in Hamburg 
vorhanden mwären. 

Diejenigen Armen, welde in größter Hoffnung 
auf Das Suppen: und Belzmütenjtipenbium lebten, 
und ihre Anzahl war nicht gering, wallfahrteten bereits 
bei früher Tageszeit zum Conjtitutionsthore hinaus, 
durch welches die hannöverfche Poft anlangen mußte, 
um zu erfahren, ob der Bieripänner, ver halb adıt 
Uhr eintraf, wirflih den Kabuffchen Erbfad bei ſich 
führe. Hätte die Stadtſchule nicht bereits um ſieben 
Uhr ihren Anfang genommen, ſo würde unbezweifelt 


441 


aud) die bei der Erbmafje gleichfalls betheiligte Schul: 
jugend ſich der Armuth angejchloffen und die ‘Pilger: 
ihaft angetreten haben. An ihrer Statt ſah man 
mehre Haus- und Grundbeſitzer, die der Neugier eben 
fo wenig zu widerftehen vermochten, der Poft entgegen 
zu wallfahrten und fich zugleich des ſchönen Frihlings- 
morgens zu erfreuen. 

Endlich Jah man in der Ferne Staub aufwirbeln; 
vier rüftig daher trabende Schimmel wurben füchtbar, 
hinter welchen unmittelbar die ducatenſchwere Poftkutfche 
rollte. | 

. Wie eine Lawine ſchloß ſich die vorausgeeilte Ar- 
muth dem Wagen an, veffen nebenher trabende Be— 
gleitung, je näher das Fuhrwerf dem Stadtthor fam, 
immer größer wurde In dem Poftwagen ſaß nur 
ein einziger Paſſagier, ein hannöverifcher Lanpftand, 
welcher auf einer Yerienreife ‚begriffen war, um ſich 
von den lanbtäglihen Strapazen zu erholen. Das 
außerhalb einhertrottirende Vol hielt den Poftinfaffen 
für ven eigentlichen Teſtamentsexecutor und ermangelte 
nicht, ihm die gebührende Ehrfurcht durch fortwähren- 
des Grüßen und Mützenſchwenken an ven Tag zu 
legen. Der Landftand, welcher dieſe unverhoffte Hul- 
digung jeiner parlamentarifchen Berühmtheit zu Gute 
hielt, obſchon er während der ganzen Seffion feine zehn 
Worte von fi) gegeben, dankte gerührt. 

Der Poſtillon begriff gar nicht, was dieſe feier— 
liche Einholung, die ihm in Nieverroßla nie vorge— 
fommen war, zu bebeuten habe Er bekam allmiälig 
jelbft den höchſten Reſpect vor feinem Paſſagier, den 
er für einen im Incognito reifenden Prinzen ober 
fonftigen Potentaten hielt. In der Hoffnung eines 
"um jo fplenvivern Trinkgelds trieb er die Roſſe zu 


142 


größerer Eile an, fo daß Das nebenher feuchende Publikum 
faum nachzufommen vermochte. 

Bon Zeit zu Zeit tünte dem rothfragigen Wagen- 
lenfer das Wort Ducaten in's Ohr; dies beftärkte ihn 
nur mehr in feinem erfveulichen Verdachte. Endlich 
ſchlug, weil fih das Wort „Ducaten“ zu oft wieber- 
holte, ein Gedanfenblig durch fein Gehirn, daß er 
unfehlbar Rothſchild in eigner Perfon kutſchiere, 
und er trieb, von diefem Gedanken begeiftert, die Roſſe 
zu anßerordentlichem Trabe an, daß die nebenan galop- 
pirende Armuth und jugendliche Gaſſenbevölkerung als- 
bald wie mürber Zunder, wie reife Birnen und Pflaumen 
abfielen und zurüdblieben. 

Im Pofthaufe hatte ſich unterdeß der Herr Supe- 
rintendent und ein Comite der Armenverforgungsbehörbe 
eingefunvden, welche erwartungswoll der Ankunft der 
gebenebeiten hannöverſchen Poft entgegen fahen. Lage: 
mann trank bereits in dem ber Poſt gegenüberliegenden 
Liqueurlaben den fiebenten Bittern, um fi für alle 
Fälle zu fatteln und allen großen Creignifien gefaßt 
entgegen fehen zu. können. 

Endlich rafjelte der hoffnungsreiche Poftillon mit 
jeinem hannöverſchen Landftande vor und ward von 
einem Volkshaufen, der fih vor dem Poſthauſe ver— 
jammelt hatte, jubelnd empfangen. Das Landtagslicht 
gerieth jest im nicht geringe Verlegenheit. Es be= 
fürdtete, die Magiſtraten der Stadt würden ihn un- 
fehlbar mit wohlgewählten Revensarten befomplimen- 
tiven. Beredtſamkeit jelber aber war nie diejenige 
Eigenfhaft, womit ihn die Mutter Natur reichlich 
begabt hatte Er verdankte diefer Bernadhläffigung 
unfehlbar feine Wahl zum hannöverſchen Landtagsab⸗ 
geordneten, und er beichloß daher, ein nobles Incog= 
nito zu beobachten, indem er fi fo tief wie möglich) 


143 


in die Ecke des Wagens zurückbog, ſo daß er von der 
ſchau⸗ und ducatenluſtigen Menge nicht mehr geſehen 
werben Fonnte. | 

Letztere, welche nicht anders vermeint hatte, als 
ber Hamburger Teitamentserecutor, für biefen warb 
ber Landſtand allgemein gehalten, werde bei der .Poft 
außfteigen und golpftrenend aufs und niederwandeln, 
ward ziemlich ungehalten, als der Fremde weder etwas 
von fid) hören noch jehen ließ, auch würde man 
unfehlbar feinen Unmuth noch lauter zu erkennen 
gegeben haben, wenn nicht das Perrüdenhaupt Des 
Superintendenten jo wie bie Habichtönafe des zum 
Armencomite gehörigen Viceconſuls, welche beide Por⸗ 
trait8 am Boftfenfter fichtbar wurden, vie loyalen 
Niederroßlaer in den Schranken der Gefetmäßigfeit 
gehalten hätten. Die Büften der beiden hohen Nota=, 
bilitäten nahmen alsbald in noch erhöhterm Grade das 
Intereſſe des vor der Poft verfammelten Publikums 
in Anfprud, da man bemerkte, wie ſich die beiven 
Profils, nämlid das des Superintenventen und Das 
des PViceconfuls, die ſich gegenfeitig anfahen, auffallend 
verfinfterten. Bald darauf erſchien der Poftillon mit 
nody weit finfterern Geſichte als das ver beiben 
hoben Häupter und begann die Pferde, welche auf 
ber Station gewechjelt wurben, auszujpannen. Er 
hatte nämlih aus dem Paſſagierbuche erjehen, daß 
er keineswegs Rothſchild, jondern einen fimpeln 
Herrn Gundelfinger aus YBurtehude gefahren, welcher 
auch nicht die geringfte Anftalt zu irgend einem ZTrinf- 
gelde treffe. 

Weit gerechtere Urfache zur Betrübniß hatten aber 
ber Herr Superintendent und bie verehrlihe Armen- 
behörde, denn Herr Siebede und Comp. hatte weder 
geantwortet noch die Kabulfchen Ducaten geſchickt. 


444 


Der Doctor der Theologie ſah ſich in die traurige 
Nothwendigkeit verſetzt, feine nächſte Predigt total umt- 
zuändern, denn er hatte in vielen Stellen unverholen 
auf die menfchenfreundlichen Geſinnungen des feligen 
Hofmalers angefpielt. 

Mit Blitesfchnelle verbreitete fi) Da8 Gerücht von 
der zu Waller gewordenen Erbſchaft in Niederroßla. 
Lagemann traf die Todesbotſchaft gerade, als er bis 
zum zehnten Bittern worgerüdt war. Ihm ward im 
erften Augenblide jo unwohl, daß er fich nieverjegen 
mußte und fein Wort hervorzubringen vermochte, Erſt 
nad) und nad) ftellte ſich der Redefluß wieder ein und 
ergoß fih in einen wahren Strom von Berwünfchungen 
über den todten Hofmaler. Der Magveburger ward 
diesmal von vielen Seiten auf das Rräftigfte unterftütt, 
namentlich ließ e8 die Belzmügen beraubte Armuth an 
weidlichem Schimpfen nicht fehlen. 

Der hannöverſche Landſtand, in welchem man vor 
wenig Minuten noch einen glückbringenden Engel 
Gabriel frohlockend begrüßt, erhielt gleichfalls ſein ge— 
meſſen Theil von dem allgemeinen Unwillen. Bei 
ſeiner Einfahrt ein Gegenſtand der Freude und des 
Entzückens, begleitete ihn Haß und Verfolgung bei 
der Ausfahrt. Unter Schimpfen und Schreien der 
getäuſchten Schuljugend rollte der Burtehuder durch's 
Thor. 

„Ich habe jetzt den Beweis in Händen, “ſprach 
er zu ſich, als ihm Niederroßla ein Stück im Rücken 
lag, „daß in der Welt nichts wankelmüthiger iſt als 
Volksgunſt, und werde bei der nächſten landtäglichen 
Seſſion nicht ermangeln, darauf hinzudeuten. Bei 
meiner Ankunft ward ich vergöttert und zum Abſchiede 
fehlte nicht viel, man hätte mich geſteinigt. O be— 
thörtes Volk!“ 


146 


In Niederroßla ſelbſt bedurfte es einer geraumen 
Zeit, bevor ſich die Gemüther beruhigten. Daß die 
ſo erquickende und erwärmende Ausſicht auf Suppen, 
Braten, Holz, Fuchsklauen und Pelzmützen zu Grunde 
gegangen, erregte großes Herzeleid; ſelbſt der Herr 
Superintendent und Doctor der Theologie kehrte 
äußerſt tiefſinnig nach ſeiner Wohnung zurück. Mit 
dem Comité der Armenbehörde war ein Gleiches der 
Fall. 

Der Zorn gegen den Hofmaler erreichte den höch— 
ſten Grad. Einige fanatiſche Bettelweiber waren nicht 
übel gewillt, nach Kabul aufpubrechen und das Grab⸗ 
mal des Berftorbenen zu zerftören und zu verumreinigen. 

Binnen vierundzwanzig Stunden ‚hatte ſich indeß 
die Aufregung: fo weit gelegt, daß man es nicht 
mehr der Mühe werth hielt, ven betrügerifchen Haf- 
janzben-Mullah in ven Mund zu nehmen. Die vad- 
Iuftige Frauenſchaar Hatte in Betracht ihrer jchlecht- 
beftellten Beſchuhung gleichfalls ihre kabuliſtiſchen Rei— 
fepläne auf günftigere Zeiten verfchoben und Alles 
trat in Nieverroßla in das gewohnte Bett der Unter- 
haltung zurüd. Bon dem Hofmaler war bald feine 
Rede mehr. Man hatte die ganze Zeit daher zu viel 
über ihn gefproden und war es endlich überprüffig 
geworben, hauptfählih da Die ganze Erbangelegeneit 
ein jo Shmähliches Ende genommen. 

Gleihwohl war die Kabul'ſche Erbangelegenheit 
no nicht zu Ende, ſondern follte erſt vecht ihren 
Anfang nehmen und Nieverroßla mehr denn je in 
außerordentlihe Aufregung verfegen. 


Stolle, ſämmtl. Schriften XVII. 10 


146 


Zehntes Kapitel, 


&; war brei Tage fpäter, als fi in ben Straßen 
Niederroßla's eine feit den lebten Kriegsjahren nicht 
gefehene Erſcheinung bliden Tieß, nämlidy ein reiten- 
der Poftbote, welcher vom Thore direct feinen Weg 
nach der Wohnung des Stadtrichters nahm, woſelbſt 
er abſtieg und mit einem gewichtigen Felleifen unter'm 
Arme bei Jacoby eintrat. 

Die Nachrichten von diefem außerordentlichen Er— 
eigniß verbreiteten ſich mit Bligesfchnelle in der Stadt. 
Alles ftedte die Köpfe zufammen und man munfelte 
fonderbare Dinge. Vergeſſene Geſchichten vom Hof- 
maler und Kabul kamen wierer zum Borfchein. Man 
erfchöpfte fih in Bermuthungen. Hauptfählic war 
der ſchwere Muntelfad der Staffette der Gegenftand 
allgemeinen Nachdenkens. 

Die Spannung in Nieverroßla erreichte indeß den 
höchſten Grad, als man ungefähr ein halb Stündchen 
nad) Ankunft des berittenen Fremdlings den Herrn 
Superintendenten ſchwitzend nad; dem Haufe Jacoby's 
eilen fahb, mehre Deputirte der Armencommilfion, 
jo wie da8 Gerichtsperſonal eilten gleichfalls herbei. 
Es fand eine Conferenz ftatt, die faſt zwei Stunden 
währte und welche die Niederroßlaer, weil fie nichts 
davon erfuhren, zur Verzweiflung brachte. 

Lagemann, zu welchem die Kunde am Erſten ge- 
derungen, konnte e8 in feiner Behanfung nicht länger 
aushalten; eine Unruhe jonvergleihen hatte fich feines 

ganzen Weſens bemächtigt. Er mußte fort, in's 
Freie, friſche Luft ſchöpfen. Er war eben im Br 


147 


griffe, dieſen Vorſatz in Ausführung zu bringen, als 
Hanno, welcher in Folge der zu Grunde gegangenen 
Erbſchaft bereits ſeit zwölf Stunden gefaſtet hatte, 
athemlos durch die Thüre und ihm in die Arme ſtürzte. 

„Ste find da!” waren ‚die einzigen Worte, bie 
ber Heldenfpieler zu ſtammeln vermochte. 

Der Hotelier padte den Künftler krampfhaft und 
frug geichfalls athemlos: „Um's Himmelswillen, wer 
denn?“ | 

„Die Ducaten!” ftöhnte Hanno und ſank erſchöpft 
in einen Seſſel. 

Lagemann faltete andächtig die Hände „Ich 
ſehe,“ fprad er, „ver Himmel wil’s, daß ih Euch 
nicht umfonft gefüttert habe.“ 

„Und daß ich nicht verhungere!“ 

„Erzählt, ich beſchwöre,“ rief der Magdeburger. 

Hanno, bei dem der Appetit alle andern Intereſſen 
verbrängte, erwieberte: „Exit etwas Maſſives, etwas 
Schinken, oder Preßwurſt, falten Braten, was da ift.” 

Lagemann eilte felbft in die Küche und trug auf, 
jo viel der Tifch zu tragen vermochte. Dann faßte 
er neben dem efjenden Schaufpieler Pofto, diefer follte 
jett Ausführliches mittheilen, aber Hanno brauchte 
feine Sprachwerkzeuge zu nützlichern Angelegenheiten 
für feinen Magen. Er aß unbeſchreiblich und fah ven 
auf Kohlen fitenden Hotelier blos kauend an. 

Lagemann rutſchte verzweiflungsvell auf und nie 
ber. Da er fah, daß der hungernde Hanno an fein 
Aufhören dachte, überfam ihn die Neue, fo reichlich 
aufgetragen zu haben, und er wollte eine Schüſſel 
nad der andern wieder hinwegtragen. Der Künftler 
buldete dieß indeß nicht, und umklammerte fo viel 
Speifebehälter, als ihn möglih war. Dabei jchüttete 
er unermüdlich neue Nahrung jenen örehwerfgengen 

10* 


148 


zum Zermalmen vor, ohne daß Lagemann ein Wort 
aus dem Eſſer herauszubringen vermochte. 

„Ihr müßt wahrhaft vom Freßkrampfe befallen 
ſein,“ meinte endlich der Magdeburger, „ein ſolcher 
Appetit iſt mir bei einem vernünftigen Menſchen noch 
nicht vorgekommen.“ 

„Nur wenig Geduld,“ preßte der Heldenſpieler 
ziemlich unarticulirt hervor, denn ſein Rachen, der 
einem Amalgamirwerke glich, ward nicht leer und an 
‚eine verſtehbare Rede nicht zu denken. Dabei ſäbelte 
er von Neuem ein ſolch unüberſehbar Stück von 
dem Schinken los, daß Lagemann die Haare zu Berge 
ſtiegen. 

„Mich muß der Leibhaftige geplagt haben,“ ſprach 
er für ſich, „dieſem Belial meine. halbe Vorrathskam— 
mer vorgeſetzt zu haben. Es geſchah in der erſten 
freudigen Ueberraſchung; ich fange an zu argwohnen, 
das unerſättliche Tigerthier hatte es nur auf einen 
fetten Imbiß abgeſehen, und frißt ſich wie die Rie— 
ſenſchlange bei mir auf ſechs Wochen voll.“ 

Als der Heldenſpieler ununterbrochen fortaß, ohne 
feinen harrenden und verlangenden Gaſtgeber die ge. 
ringjten Notizen wegen der Kabul’fhen Ducaten mit- 
zutheilen, ward Yagemann wuthig. Er wollte wenig- 
ftend die Schinkenſchüſſel vor neuen Angriffen in 
Eicherheit bringen und faßte darnach, aber Hanno 
fuhr fo desperat und morbfunkelnden Auges mit dem 
Icharfen Mefjer nach der zugreifenvden Fauſt, daß ver 
Magpeburger feine Rechte fchleunigft zurückzog und die 
Schüſſel unangetaftet ließ. 

„Der Kerl ift gar fein Menfch mehr, dachte er 
fhaudernd bei fi), „Der morbet wegen einer Kalbs— 
feule. Mit Strenge ift bier nichts auszurichten, ich 
glaube, dieſe Hyäne ift im Stande und fieht mid, 


4149. 


jo id ihr Etwas aus den Zähnen rüde, in ihrer" ER- 
brunft für einen leibhaftigen Schinken an und ſchnei— 
det mid, lebendigen Xeibes an. Ich muß fehen, daß 
ih den Bielfraß auf gütlihem Wege beikomme.“ 

„Aber fagt mir um aller Heiligen Willen, Lieber 
Hanno,” begann Lagemann, „hat denn Euer werth- 
gefhätter Magen nicht bald genug?” 

Der Helvenfpieler, weldyer fo eben einen Schin— 
fenfnochen mit Rieſenkraft zerfnadte und ſich "mit 
Wolluft des nährenden Marktes bemächtigte, ſchüttelte 
den Kopf. 

„Das muß ich geftehn,” fuhr Lagemann fort, „ic 
wollte alle bezahlenden Säfte, die bei mir einfehrten, 
erfreuten fid) eines fo umfangreichen Magens und ges 
jegneten Appetites. Ich wäre ein reicher Mann.” 

„Glaub's,“ verfetste wieder höchſt unverſtändlich 
Hanno. 

„Wie, glaub’8?” frug der Magbveburger, „aber 
bei Euch muß ich zum armen Manne werden, . wenn 
Ihr Eurer Freßraferei nicht bald Einhalt thut.“ 

Diefe Worte mochten dem Heldenſpieler feiner 
Antwort werth feheinen, denn er erwiederte nichts dar— 
auf und af. 

Lagemann hielt’3 jett nicht länger aus, er ſprang 
anf und Tief verzweifelnd die Stube auf und ab, 
Hanno’n ftörte Died nicht. 

Obſchon fi) der Magdeburger vorgenommen, fein 
Unglüd mit Faſſung und ald Mann zu tragen und 
den Meſſerbewaffneten nicht weiter zu veizen, jo konnte 
er es doc nicht über fich gewinnen, an den uner- 
müdfichen Freffer die fpite Frage zu richten, „ob er 
wohl ein Hamfter fer, der für die Wintermonate 
eintrage?“ 

Als der Heldenſpieler auch dieſe Anfrage keiner 


450 


Berückſichtigung für nöthig erachtete, Tief Lagemann 
bie Galle vollends über. Er beabfichtigte einen neuen 
Angriff auf die nod ziemlich unberührte Schüffel mit 
Schweinsknöchelchen. Dieſe hatte fih aber der Künit- 
ler erpreß zun Deſſert auserfehen. Als gewandter 
echter entdedte er ſogleich des Magdeburgers böfen 
Angriffsplan. Diefer faßte nämlid in einiger Ent— 
fernung förmlich Pofto, um als Yämmergeier auf bie 
Schweinsknöchelchen herabzuftoßen und fie mit fammt 
der Schüffel in den Lüften davon zu führen Hanno 
war im Abjchlagen von dergleichen Angriffen nicht 
unbewandert. ALS daher Lagemanı auf die Schüflel 
Charge machte, pflanzte der Künftler Taltblütig feine 
mefjerbewaffnete Rechte wie ein Bajonnet auf dem be- 
drohten Punkte auf, und ließ den Feind nicht zus 
greifen. Der Magveburger mußte ſich wüthend zurüd- 
ziehen; Hanno aß ruhig weiter, das bedrohte Außen 
werk war vor der Hand gerettet. 

Der unglüdliche. Hotelier, welder won Neuem 
zornvol das Zimmer auf und abrannte, drohte end— 
lich mit Magiftrat, Polizei und Nachtwächtern. Er 
beſchuldigte den Helvenfpieler geradezu eines Attentats 
auf feine Berfon. 

„Mordanfall im eignen Logis,” ſprach er, „wird, 
glaub’ ich, doppelt hart geftraft. Es ift ein großer 
Unterfchied, ob man im Freien oder im Haufe an— 
gefallen wird.‘ 

Der Efjer befümmterte ſich wenig um dergleichen 
juriftifche Apmonitionen. Er ftand fo eben bei ven 
Scmeinsfnöchelden, in deren Zermalmen fein Gebiß 
wieder Gelegenheit fand, ſich in all feiner Gebiegen- 
heit und Energie zu zeigen. 

Lagemann, ver verzweiflungsvoll hinter dem Eſſer 
auf und nieder ftieg und dabei wüthende Blide nad) 


151 


den bereits geleerten Schüffeln und Zellern ſchoß, 
fonnfe, als er auch die Schweinsfnöchelhen in dem 
Schlunde bes Künftlerd verſchwinden jah, feines Arms 
nicht länger Meifter werden und gab im Vorbeigehen 
dem ungebetenen Gafte mit dem linken Ellenbogen 
einen herzhaften Puff, worauf er einen unverzüglicyen 
Sprung that, in der Furt, der gepuffte Eſſer könne 
ſich raſch umwenden. Diefer aber, viel zu fehr mit 
feinem Minifterium des Vordern befchäftigt, befüm- 
merte fi) wenig um die angegriffene Rückſeite, wo 
er weder Mund noch Schlund befaß, und duldete ge- 
laſſen Lagemann's Unbill. Letzterer, als er gewahrte, 
wie ihm ſeine Handlungsweiſe ſo für voll ausging, 
bekam Muth, auf dem betretenen Wege fortzufahren. 
Er defilirte leis auftretend abermals bei Hanno's 
Rücken vorbei und carambulirte denſelben diesmal mit 
dem rechten Ellenbogen. Er wußte in dem diesma— 
ligen Stoße feinen Ingrimm ganz beſonders zu mar— 
kiren. Der Eßkünſtler nahm auch dieſe zweite Affront 
gelaſſen hin. Vielleicht dachte er, daß dergleichen Er— 
ſchütterungen der Verdauung zuträglich ſeien. 

Sobald man ein Vergehen nicht beſtraft, wird 
der Verbrecher in der Regel verwegener. Dies war 
auch bei Lagemann der Fall. Er ließ es bald nicht 
bei einem Puffe mehr bewenden, ſondern duplirte und 
triplirtee; und als Hanno, noch immer mit ben 
Schweinsknöchelchen befehäftigt, ſchlechterdings an feine 
Bertheivigung dachte, fo arbeitete er enblih als Hof- 
paufer mit beiden Fäuften auf dem breiten Rücken 
des Heldenſpielers umher, feine Wirbel zumeilen durd) 
urfräftige Knieſtöße unterjtügend. 

Dieſes Lagemann'ſche Pedalconzert ward aber dem 
Heldenſpieler, zumal er am Ende des Deſſerts ſtand 
und ſein Appetit geſtillt war, und da die Stöße per— 


152 


petuirlich auf diejenige Stelle von des Künftlers leib- 
lichen Gegenden berechnet waren, wo das Rüdgrat 
fein Ende erreichte, endlich ftörend. Er wandte fidh 
nm und drohte dem zurädprallenden Mufitus mit 
einem Schinkenknochen, deſſen Fleiſchmaſſen er bereits 
feinen Verdauungswerkzeugen überliefert hatte. Da 
der Magdeburger nicht zu erreichen war, fo begnügte 
ſich Hanno mit einem Lufthiebe. Zugleich fagte er: 
„fett wären wir.‘ 

Lagemann’s Ingrimm legte ſich fichtbar, als er 
vernahm, der Vielfraß habe die Sprache wieber er- 
halten. Er bemühte fih, den Berluft, welchen er 
durch den beifpiellofen Appetit des Künftlers erlitten, 
nad) Kräften zu verfchmerzen, und kam näher. 

Der. gejättigte Hanno war ein ganz anderer Menſch 
al® der hungernde und eſſende. Cr fam dem Hote- 
lier ordentlid, liebenswärbig vor. 

„So vernehmt das Außerordentliche,” begann er, 
indem er ſich behaglih den Bauch firih, und mit 
einem felbft gefchnitten Zahnſtocher vie Weberbleibjel 
der Mahlzeit aus den verſchiedenen Felsſpalten und 
Schluchten feines Gebiſſes zu Tage förderte, „es hat 
feine Ridhtigfeit mit dem Hofmaler.“ 

„Und die Ducaten?” fiel Lagemann haftig ein. 

„Liegen fauber gerollt und gepadt beim Stabt- 
richter.“ 

„Und ſollen wirklich dem Pöbel und der Schul— 
jugend zum Opfer fallen?“ 

„Laut Codicill allerdings.“ 

„Ich hoffe, Hamnno, Ihr habt mich nicht umſonſt 
arm gefreſſen und verhelft mir zu dem Meinigen durch 
Euern anſchläglichen Kopf.“ 

„Ich habe gedacht, ich denke und werde denken,“ 
conjugirte der Heldenſpieler. 


153 


„Das ift rechtſchaffen, aber pas Refultat Eures 
Gedachten und derzeitigen Denkens?“ 

„Seht dahin, Daß wir auf gerichtlichem- Wege 
dem Codicille nicht beikommen.“ 

„Mich rührt der Schlag, was nützt mir's da, 
Euern unergründlichen Magen wie einen Torniſter 
geſtopft zu haben?” | 

„Ich denke doch.” 

„Se? Erklärt Euch faßlicher.“ 

„Allerdings iſt dann erforderlich, daß wir von 
dem Gedanken ausgehen, vie Kabul'ſchen Ducaten ge- 
hören ung als rechtmäßigen Erben.” 

„Wer zweifelt daran, wir haben doch zehnmal 
größres Recht, als der Pöbel und die Schulbuben.” 

„Dann müſſen wir uns jelbft helfen.” 

„Unbeftritten, felber ift ver Dann. 

„Aber, Lagenann, e8 gehört Muth dazu und 
Geiftesgegenwart.” | 

„Muth? Hm! Nun fo viel wird fi ſchon noch 
erübrigen laffen, um zu unferm Eigenthum zu ges 
langen.“ 

„Schlägt mein Plan fehl, fo fpazieren wir beide 
— wißt Ihr wohin?” | 

„Nun wohin denn?“ 

„In's Zuchthaus!” 

„Gehorſamer Diener, ic bedank' mid) ſchönſtens.“ 

„Ich danke auch, darum, denke ich, ift das 
Beſte —“ 

„Wir laſſen die Sache ihren Gang gehen, die Ka— 
bul'ſchen Ducaten ſcheinen uns einmal nicht beſtimmt.“ 
Wuielfraß, wenn Ihe nichts Beſſeres -auscalculirt 
habt, veut mich der Biſſen Brot, ven Ihr bei mir 
verfchlungen. So viel konnt’ ich allenfall3 felber aus⸗ 
difteliren.“ 


45% 


Hanno verfiel hier plöglich in Schweigen und ftrid) 
fih den Bauch, welche Manipulation ihm wohlzu— 
thun ſchien. Lagemann fchaute höchſt ärgerlich dieſem 
Beginnen zu. | 

„Ihr wollt wohl Eure guten Gedanken aus dem 
Bauche ftreihen,” frug. er, „va wird freilich nicht 
viel Gejcheutes herausfommen, obſchon, dem Appetit 
nah zu jchliegen, Euer Magen in vortrefflidiem Zu: 
ftande fi) befinden muß. Doch daß wir nicht eins 
in's andere reden, ijt denn Euer Mittel, ver Ducaten 
habhaft zu werden, wirklich fo vesperat, daß große 
Gefahr dabei vorhanden?” 

„Es iſt nicht anders,” gab Hanno zur Antwort, 
„am unfers Eigenthuns habhaft zu werden, bleibt 
nichts übrig, als daß —“ 

„Nun, als dag —“ erkundigte ſich der Hotelier 
angelegentlic. 

„Aber, Lagemann, jo ein Wort über Eure Lip— 
pen. —“ 

Lagemann ſchwur aus Leibesfräften. 

„Aber Eure Schwüre,” zweifelte der Heldenfpieler, 
„fann ic) darauf bauen? Lagemann, wenn Ihr ein 
Räufhchen habt, pflegt Ihr nicht zu willen, was 
Ihr ſprecht.“ 

Der Magveburger begann fi jet zu vermalebeien, 
daß weder im beraufchten noch nüchternen Zuſtande 
Jemand ein Wort erfahren jolle. 

„Wohlen,“ Hub nun Hanno geheinmißvoll an, 
„um zu unfern Cigenthume zu gelangen, bleibt nichts 
übrig, als daß —“ hier ftodte der Sprecher aber- 
mals und wollte mit der Sprache nicht heraus. 

„Ss fpreht doch, zum Satan,” drängte Lage— 
mann, „ich bin auf Alles gefaßt.‘ 

„Es bleibt nichts übrig, fuhr der andre fort, 


155 


„als dag wir und der Ducaten auf — verfteht mich 
wohl — auf directem Wege verfichern.“ 

„panit bin id) vollfommen einverftanvden,” ver- 
jetste der Hotelier, „der gerade Weg bleibt der befte.“ 

Bertrauungsvoller fuhr der SHelvenfpieler fort: 
„Wir müfjen uns unferes Eigenthums verfichern, ohne 
daß Jemand groß davon erfährt, fo ganz in der Stille.” 
| „Es ift Dies eine edle Befcheidenheit, die uns fein 

Menſch verargen wird,‘ meinte Lagemann. 

„Wo möglich in nächtlicher Stille,” fügte 
Hanno bei. 

„Ein guter Zweck nimmt auf feine Tageszeit 
Rückſicht,“ verfette der Magdeburger. 

„sh ſehe, Daß Ihr einen anfchläglichen Kopf 
habt,” ſprach der andre weiter, „aljo rund heraus.” 

„Rund heraus,” munterte Lagemann auf. 

„Bir müfjen die Kabul’fchen Ducaten — ftehlen.” 

„Hm,“ erwiederte der Hotelier, ver ein derglei— 
hen moraliſches Mittel geahnt zu haben fchien, „fteh- 
len wollt’ id) e8 nicht nennen, wenn wir unfer Ei— 
genthum auf geheimnißvolle Weife in Befit nehmen.” 

„Allerdings, geſtand Hanno, „der Ausprud iſt 
etwas bizarr.“ 

„Es ift eine volllommen rechtmäßige Handlung, 
obſchon fie der kurzfichtigen Welt anders erjcheinen 
dürfte.‘ 

Ufer Recht ift fo lauter wie Gold,“ ſprach der 
Künftler, „daß es die Gerichte nicht anerfennen, mas 
fönnen wir dafür?“ 

„Aber — aber —“ begann jetzt Lagemann mit 
einem ſchweren Seufzer. 

Hanno erkundigte ſich nach der Urſache des Seufzers. 

„Wenn wir erwiſcht werden.“ 

„Freilich, erwiſchen dürfen wir uns nicht laſſen.“ 


756 

„Hanno, die Sache will überlegt fein.” 

„Das will fie, allerdings.“ 

„Das Rifico ift ungeheuer.‘ 

„Der Lohn nicht minder. 

„Ich wäre ruinirt auf Pebengzeit,” fuhr ver Ho= 
telier fort, „bin Bürger und Hausbefiter und ftehe 
auf dem Sprunge, Stadtverorbneter zu werben.” 

„Mit diefer Charge,” meinte Hanno, „würde ſich 
allerdings unfer gerechtes Vorhaben in Betracht ver 
rückſichtsloſen Welt wenig vereinbaren.” 

Lagemann ward immer bedenklicher. Endlich klopfte 
er bei Hanno an, ob diefer nidht allein das Wagniß 
auf fi) nehmen wollte Seine (Lagemann’8) Danf- 
barfeit würde ungeheuer fein. 

Die Beiden faßen noch lange über dieſem wichti— 
gen Kapitel bei einander. Der böſe Wille war va, 
aber ver erforverlihe Muth fehlte. 


Eitftes Kapitel, 


Dis Scidfal hatte es gewollt, daß tie Bewohner 
von Niederroßla durch die Kabul'ſche Erbfrage zum 
dritten und legten Male aufgerüttelt werden follten 
und zwar diesmal auf eine Art und Weife, bei wel: 
cher weder die Pelzmügen und Fuchsklauen bepürftige 
Armuth, noch das Haupt der Stadt, der geftrenge 
Herr Bürgermeifter Sebaftian Flaminius, jo wie bie 
gefammte Senatorenſchaft gleichgültig zu bleiben ver- 
mochten. 

Die Herren Siebede und Comp., bei welchen die 


157 


im Kabul'ſchen Govicille erwähnte Ducatenfumme vom 
Hofmaler wirklich niedergelegt worden war, hatten es 
für ficherer erachtet, befagte Summe nicht durch die 
hannöver'ſche Poft, fondern durch einen erpreflen Bo— 
ten nad) Niederroßla gelangen zu laſſen. Diefer be- 
beutenden Geldſendung lag aber noch eine anderweitige 
teftamentarifche Verfügung bei, die vom Erblaſſer 
wenige Tage vor feinem Dahinfcheiden felbft aufge- 
fett worden war und dem Wunfche des PVerfaffers 
gemäß durch ven Stabtridhter, nad) vorhergängiger 
gerichtlicher Vorladung, den betreffenden Erben mitge- 
tbeilt werben follte. 

Alfo während noch die beiden Biedermänner Hanno 
und Lagemann mit dem moralifchen Internehmen 
Ihwanger gingen, fi, ihres rechtmäßigen Eigenthums, 
wie fie ed nannten, auf möglichſt geräuſchloſe Art zu 
verfichern, erjchien im Wochenblatte won Seiten bes 
Stadtrichters eine abermalige VBorladung an die Drol- 
linger’ihen Erben, ſich an Gerichtsftelle einzufinden 
und der Eröffnung eines anderweitigen Codicills ge= 
wärtig fein. 

Wie na einem warmen Yrühlingsregen, jo ho= 
ben ſich die zeither gefunfenen Häupter der Drollin- 
ger’ihen Erbihaar wieder empor. Selbſt der Helden— 
jpieler und der Magveburger faßten für den Fall, daß 
fie int zweiten Codicill rechtſchaffen bedacht wären, 
den hochherzigen Entſchluß, ihren geräufchlojen Plan 
aufzugeben. 

Bereit nad) drei Tagen faß Jedermann wieder 
hoffnungsreicher denn je auf feinem gewohnten Plage 
im Stadtgericht; Frau Urfula im nagelneuen Häub- 
hen, ihre wohlwollenden Blicke zwifchen dem umgit- 
terten Acceffiften und Gamaliel theilnd. Hanno 
ſtreckte ſich fihtbar und Lagemann faß Tampfbereit 


158 


hinter dem Cecretair, entweder feine Freude oder fein 
Leidweſen auf jenes Rüden laut werben zu lafien. 

Abermals ſteckte der Gerichtsviener den Kopf durch 
die halbgeöffnete Thür und rief: „der Herr Stadt— 
richten,” und fo wie legtrer auf feinem Stuhle Platz 
genommen, und einige einleitende Worte vorangefchict 
hatte, begann auf feinen Wink Kiefewetter zu lejen 
wie folgt: - 

„Da fih nah Abfendung der drei Ducatenfäd- 
lein an Siebede und Comp. in Hamburg in meiner 
Hinterlaffenfchaft noch einige Activa vorgefunden, und 
ic) diefelben gern nad bejtem Wiſſen und Gewiſſen 
an den Mann gebracht wünfchte, fo ift mein Wille, 
daß felbige allen folchen Perfonen in Nieverroßla zu 
Gute gehen, welche, wenn aud) im entfernten Grade, 
mit mir eine Verwandtſchaft nadyzumeifen im Stande 
find.” 

As wenn ver heilige Geift fein Licht über die 
Erbſchaftler ausgegoffen, faßen bei diefen Worten des 
Actuarius Kiefewetter ſämmtliche Auditores mit leuch- 
tendem Antlit da; e8 fehlten nur die üblichen Flämm— 
hen über den Köpfen. Lagemann felbft war fo er- 
griffen, daß er feine höchliche Ueberrafhung dem Se— 
eretair durch einen freundſchaftlichen Puff mitzutheilen 
vergaß, wie fonjt feine Art war. Seine Hand war 
gelähmt, fein Mund ftand offen. 

„Demnach,“ fuhr Kiefewetter fort, „it men Wille 
und Gebot, daß Felicitas Drollinger, meine nicht ge— 
nug zu verehrende Frau Tante, ald General- oder 
Univerfalerbin fuccedire. Sollte jie ſich bereits an dem- 
jenigen Orte befinden, wohin fie eigentlich gehört, 
nämlih im Himmel, fo folgt ihr Ehemann und ihre 
Nachkommenſchaft im Erbſchaftsrechte.“ 

Jetzt wandte ſich die lebendige Erbmaſſe mit einem 


‚159 


Nude nad) dem Secretair um, während ihn Lage: 
mann von hinten krampfhaft anbohrte, fo daß Ga- 
maliel vor Seelenfreudigfeit und Rückenſchmerz aus 
der Haut zu fahren vermeinte. 

„Felicitas Drollinger,” hieß es im Codicille weiter, 
„erbt aus meiner hinterlaffenen Baarjchaft. vie Summe 
von achttauſend holländischen Ducaten unter nachſte— 
henden Bedingungen, woven die erjte unerläßlich ift, 

„Eritens: Cie endet einen ihrer Söhne, wo 
möglih den Erſtgebornen, den jungen Gamaliel, in 
Perſon nah Kabul, damit er vie Erbichaft erhebe. 
Die erforderlihen Gelder zur bequemen und anftän- 
digen Hin- und Zurüdreife wird ihm Herr Siebede 
und Comp. in Hamburg aushändigen. Collte jedod) 
feiner meiner Herren Coufind am Xeben fein, oder 
denſelben, was ich nicht hoffen will, die erforderliche 
Courage abgehen, jo muß leider meine gute Tante 
nit einem Abfindungsquantum von ber Hälfte ber 
Erbfumme vorlieb nehmen, die ihr gegen Quittung 
von dem oft erwähnten Hamburger Haufe ſofort aus- 
gezahlt werben fol. 

„Zweitens: Sollte jedoch Herr Gamaliel oder 
einer feiner Brüder den erforverlihen Muth in ſich 
verfpüren, die allerdings etwas langwierige Keife an— 
zutreten, fo follen ihm die achttauſend ‚bei ven Ge— 
rihten zu Kabul beponirten Ducaten ungefchmälert 
ausgezahlt werden. Dafür bürgt ſowohl vie Gered)- 
tigfeitSliebe des afghaniftifchen Volkscharakters, jo wie 
ber noble Sinn des Königs, wie auch die Garantie 
des englifchen Confulats. Iſt aber der Herr Neveu 
mit den Goldſäcken Afghaniſtans glücklich in Nieder— 
roßla wieder eingetroffen, ſo ſtelle ich als zweite Be— 
dingung, daß ſich Frau Felicitas Drollinger, wo mög— 
lich das ein Stündchen von der Stadt freundlich 


1.60 


zwifchen den Bergen gelegene Gütchen Ciebeneichen 
anfauft und dem rechten Flügel, vefjen Fenſter nad) 
dem Buchenwalde hinausgehen, zur behaglichen Woh— 
nung für eine oder zwei Perfonen einrichtet. Wenn 
ed die Berhältnijje geftatten, jo fol fie wo möglich 
jelbft nach Siebeneihen ziehen. Da wird ſich eines 
Tags ein junger Wanderer einfinden und einen Brief 
von mir vorzeigen. Diefen Wandrer foll fie freund- 
lich aufnehmen, bewirthen und beherbergen, fo lange, 
bis fpäter vieleicht noch Jemand dazu ſich findet. 
Uebrigens bat fih Herr Gamaliel Drollinger oder 
derjenige feiner Brüder, der die Reife nah Kabul 
anzutreten gefonnen ift, innerhalb acht Tagen beim 
Stadtgeriht zu Niederroßla zu melden und feine des- 
falfige Entfchliegung abzugeben.“ 

Der fonft fo befcheidene und ſchüchterne Secretair 
erhob fich jett mit leuchtendem Antlig: „ein Wort jo 
viel als taufend, ich reife!” rief er mit großer Ent- 
ſchiedenheit. 

„Bravo!“ munterte Lagemann auf, „ich fahre mit; 
Ihr ſeid dann billig und tretet fünf Prozent von der 
Erbſchaft ab, für die Gefahr, das Waſſer hat feine 
Balken, man kann caput gehen.” . 

Die Erbſchaftsmaſſe blickte mit unglaublichen In— 
tereſſe bald auf Gamaliel, der noch immer helden— 
kühn daſtand, bald auf Kieſewettern; nach Letzterm in 
der Hoffnung, ob nach dem reichen Segen der Feli— 
citas nicht auch für ſie etwas Erkleckliches vom Erb— 
ſchaftsbaume abfallen werde. 

Der Actuar aber bedeutete vor der Hand Gama— 
lieln, daß er feinen Entſchluß ſchriftlich beim Stadt— 
gericht einzureichen habe. 

Der Secretair ſetzte ſich und ward von Lagemann 
angetrommelt. „Es bleibt bei den fünf Prozent;“ 


461 


raunte letzterer, „uhr dürft Euch dem treuloſen 
Meere allein nicht anvertrauen. Ein Begleiter iſt 
unerläßlich, id) habe Erfahrung mit fremden Völkern 
umzugehen, ward im leßten Kriege mit- ven Stofaden 
immer am Beften fertig.‘ 

Riefewetter las weiter: 

„Ferner leben noch in freundlicher Erinnerung aus 
meiner Knabenzeit zu Niederroßla die Muhme Sigis— 
munde, eine geborne Seekrebs — 

„Das war meine Frau,‘ vief hier Hanno auffah- 
rend, fo lang er war; „fie ftarb als mein vechtmäßig 
Eheweib, ich fann den Zodtenjchein beibringen von 
Mutter und Tochter.” 

Der Actuarius winkte, und gab pantomimiſch zu 
verftchen, daß ‚dergleichen Erklärungen hierher nicht 
gehörten, und fuhr fort: 

„Sollte fid) befagte Sigismunde Seekrebs bei Er— 
Öffnung dieſer leßtwilligen Verfügung noch unter den 
Lebenden befinden, jo erhält fie durch dieſes mein 
Codicill das Recht, einen PVertrauten nad Stabul zu 
jenden und Die ihr beftimmten fünfhundert Stüf Du— 


caten in Empfang zu nehmen. Die Koften der Hin= 


und Zurüdreife find vermöge eines Atteftes des Stabt- 
raths zu Niederroßla gleichfalls bei Siebecke und Comp. 
zu erheben.“ 

„Als rechtmäßiger Erbe meiner Frau, “ſprach der 
Heldenſpieler zu ſich, „kann mir die in Kabul depo— 
nirte Summe nicht entgehen; ſie iſt freilich ein wah— 
rer Pappenſtiel gegen das Erbtheil der Felicitas, aber 
in meinen Verhältniſſen nicht zu verachten, ſelbſt wenn 
ich mich den Gefahren der Seereiſe ausſetze.“ 


Herr Hanno bedachte freilich nicht, daß die Worte 


des Codicills: „ſollte ſich beſagte Sigismunde 
Seekrebs bei Eröffnung dieſer lebtpilligen 
1 


Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. 


162. 


Verfügung noch unter den Lebenden befin- 
“den,” auf feine Perfon durchaus feine Anwendung . 
zuliegen. | 

Nichtsdeſtoweniger ward der Künftler von feinem 
zeitherigen Cumpan und erbfchaftlicen Schidfals- und 
Leidensgenoſſen Lagemann wahrhaft beneivet. 

„Da fieht man,” veflectirte diefer, „wie das Schid- 
jal ungerecht waltet; diefer Hanno, den id, gefüttert 
und logirt, deſſen Herz voll ift von allerhand ſchwar—⸗ 
zen Ränfen und Schwänfen, defjen Tugend gegen die 
meinige gar nicht in Betracht kommen fann, dieſer 
Menſch erbfchaftet und weiß gar nicht, wie er dazu 
fommt, während ih noch immer am bloßen Hoff- 
nungsknochen nage und mir die Zähne lahm kaue. 
Freilich wenn ich fünf Frauen gehabt, wovon id) drei 
zu Tode geärgert und zwei mir davon gelaufen, 
könnt' ich vielleiht auch Ducaten erben; jo hab’ id) 
mid) zeitlebens mit einer Einzigen begrügt, von ber 
es, obſchon fie ſchlecht fieht und fehwer hört, nod) 
jett nicht den Anfchein hat, als vb fie der liebe Herr- 
gott zu fih nehmen wollte, die Grümpler find ein- 
mal ein unverwüftliches Geſchlecht.“ 

Während Lagemanı dergleichen unerfreuliche Be— 
trachtungen anftellte, fiel abermals ein goldner Apfel 
vom Kabul'ſchen Erbſchaftsbaume einem der anmejen- 
den Ajpiranten in den Schooß, und zwar einem, bei 
dem man c8 am Wenigften erwartet hätte, nämlich 
dent langen blaffen, hagern Factor Süßmilch, für 
deſſen Wohlfahrt fi) der Hofmaler wahrhaft zu in- 
terejfiren ſchien. Der Druder war nur fehr entfernt 
mit Erblaffern verwandt, aber vie beiden waren 
Schulnahbarn gewejen und Balthafar verdankte feinen 
erſten Zeichnenunterricht, durch den er fpäter hauptfäch- 
lich fein Glück begründete, dem jungen Süßmilch, der 


163 Ä 


ſich auf die uneigennügigfte Weife feines lernbegieri- 
gen Schüler angenommen, welcher ihm fpäter aller- 
dings über ven Kopf wuchs. Dies hatte der Hof— 
maler nicht vergeffen und dem Factor taufend Duca- 
ten ausgefetst, jedoch unter derſelben Beringung, daß 
er fie perfönli in Kabul erhebe, wozu ihm vie er- 


forderlichen Neifegelver bei Siebede und Comp. in 


Hamburg angewiejen waren. 

, Man hatte nie Herrin Süßmilch eine fo beijpiel- 
‚ Ioje Brife nehmen jehen, al8 bei Nennung feines Na— 
mend und der taufend Ducaten. Weniger jchien 
ihm das perjünliche Erjcheinen zu behagen, denn dem 
Factor war das Waſſer als ein eben fo unficheres 
wie falſches Element befannt. 

Der Actuarius fchüttelte rüftig meiter, in Folge 
welcher Anftrengung endlich auch für Frau Urſula 
und den Magiſter Vetterlein, für jeden Theil fünf— 
hundert Ducaten abfielen, jedoch ebenfalls unter der 
Bedingung der Selbſterhebung; der Wittib war es 
nachgelaſſen, einen Mandatar zu ſchicken, aber Vet— 
terlein ſollte, wie die übrigen Legatare, nach Aſien. 

Noch immer ſaß Lagemann mit klopfendem Herzen 
und geſpitzten Ohren hinter dem begüterten Gamaliel 
und lauſchte, ob bei dem geſegneten Mannaregen ſein 
dürſtend Gebiet endlich nicht auch befruchtet werde, 
als Kieſewetter folgendermaßen zu leſen fortfuhr: 

„Jetzt wüßte ich nicht, mit wem ich in Nieder— 
roßla irgend noch verwandt oder wem ich ſonſt eine 
Erkenntlichkeit ſchuldig wäre —“ ob folder unver— 
antwortlichen Vergeßlichkeit ſeufzte Lagemann außer⸗ 
ordentlich. — 

„Ich ſinne und ſinne, aber vergebens,“ hieß es 
im Teſtamente weiter. 

Der Wirth zur Stadt Magdeburg ſthhnte laut 


464 


° und vernehmlicdh, gleihfam als wolle er dem Teftator 
feine im Codicill vergeilene Perſon in's Gedächtniß 
rufen. 

„Demnach mag,“ fuhr der teſtirende Hofmaler fort, 
„der noch verbleibende Reſt meines baaren Vermögens, 
ungefähr in zweitauſend Ducaten beſtehend, einer An— 
zahl braver aber hülfsbedürftiger Familien in Kabul, 
welcher Stadt ich den größten Theil meiner zeitlichen 
Habe verdanke, durch gleichmäßige Vertheilung zu 
Gute kommen und habe ich die desfallſigen Verfü— 
gungen bei dem ehrwürdigen Mekemeh Doſt-Raya 
hierſelbſt niedergelegt.“ 

Sämmtliche Erben fanden das nur recht und bil- 
lich, nur Hanno und Frau Urſula, welche ihr Erb— 
theil durch die kabuliſtiſche Armuth auf unverantwort- 
liche Weiſe geſchmälert glaubten, ſchienen ſehr unzu— 
frieden damit. 

„Das Bettelvolk in Europa und Aſien,“ brummte 
der Heldenſpieler, „ſcheint dem Hofmaler doch aus— 
nehmend am Herzen zu liegen, unſtreitig aus ehema— 
licher Verwandtſchaft; aber wie fommen die rechtmä- 
Bigen Erben dazu? Ich werde deshalb bei einem 
Rechtskundigen Nachfrage halten.” 

Kiefewetter fuhr im Codiecille leſend fort: 

„Sp wäre denn über meine fämmtlihe Baarfchaft 
nach beftem Wiſſen und Gewifjen verfügt ; meine lie— 
gende Habe, über die ih, nad den bier beftehenven - 
GSefegen, nah meinem Tode nicht verfügen Tann, 
fällt dem ftäntifchen Fiskus anheim. Was meine 
Mobiliar = Hinterlafjenfhaft anlangt, jo hat ein be- 
jonder8 bei den Gerichtsbehörden zu Kabul niederge— 
legtes Codicill beftimmt; ſämmtliches bewegliches Ver— 
mögen wird an den Meiſtbietenden verkauft und der 
Ertrag dem Ermeſſen der Magiſtratsbehörden gemäß 


165 


zum Beten milder Stiftungen anheimgeftellt. Nur. 
über einen Gegenftand von Werth hab’ ich mir 
freie Dispofition vorbehalten. Diefer Gegenftand be- 
fteht in einem drei Fuß langen Krofodille von 
gebiegenem Golde, mit großem Fleiße von dem erften. 
Goldſchmiede Kabuls gearbeitet. Ich Hatte dieſes 
feltene, an Werth auf dreitaufend Ducaten gejchätte 
Kunftwerk den Derwifchen der Abdallah-Moſchee für 
den Xall zugefichert, wenn es ihnen durch ihr Gebet 
. gelänge, mid) von meiner legten langwierigen Krank— 
heit zu befreien und mir die Geſundheit wieder zu 
geben. Da nun mein Tod bewiefen, daß ihr Gebet 
nichts gefruchtet, fo haben jene Derwifche aud auf 
das Krokodill feinen weitern Anſpruch und es ift da⸗ 
her mein Wille, daß dieſes ſaüber gearbeitete Thier 
dem kunſtſinnigen Magiftrate meiner Vaterſtadt Nie= 
vderroßla zu Gute komme und zwar auf Diefe Art, 
- daß der Herr Bürgermeifter ein Drittel und die übri= 
en Senatoren zwei Dritttheile des goldenen Unge— 
—* percipiren. Es ſoll zum Nutzen und From— 
men eines hochweiſen Raths geſchlachtet, das heißt, 
wenn ſich kein Käufer findet, eingeſchmolzen und par— 
zellirt werden. Zugleich ſtelle ich aber hierbei noch 
die unerläßliche Bedingung, daß der hochweiſe Rath 
zu Niederroßla ein Membrum aus ſeiner Mitte wähle, 
welches das Thier in Perſon in Kabul in Empfang 
nimmt und nach Hauſe geleitet. Wäre dies nicht der 
Fall, ſo würden dennoch die Derwiſche ſuccediren. 
Auch iſt ein hochweiſer Rath gehalten, die Reiſe- und 
Transportkoſten aus eignen Mitteln zu beſtreiten, da 
Herr Siebecke und Comp. in Hamburg hierzu mit 
den erforderlichen Fonds nicht verſehen iſt. 

„Hiermit geſchieht mein letzter Wille und ich bitte 
zu Gott, daß ven biverfen Erben das ihnen zuge= ‘ 


166 
dachte Erbtheil, jo wie dem hochweiſen Rathe von 
Nieverrofla das Krokodill vet wohl befommen möge. | 
„Kabul, den 8. des Moharem des Jahres... 
Hebgira. 
Haffan-ben-Mullah, Hofmaler.’ 


Der ſonſt fo ernfte Stadtrichter konnte fich bei 
dem Krokodillvermächtniß wiederum eines Lächeln nicht 
enthalten, während die Erben, Gamaliel ausgenom= 
men, den Magiftrat um das golpne Thier von Her- 
zen beneiveten. Lagemann befand fi im troftlofer 
Desperation. 

„Wenn nir ber Hofmaler, “ſprach er, „wenig= 
ſtens einen golpnen Sperling oder eine Art Fleder— 
maus oder jo was vermacht, ich hätte die Liebe ge— 
fehen; vie DBeftie, - wenn fie maffiv, war doc ihre 
funfzig Ducaten unter Brüdern werth. Ein jo un- 
danfbares hofmalendes Gemüth, das des beiten Freun— 
des ſeines Vaters nicht gedenft, während er dem 
Rathe höchſt überflüffiger Weife ein ganzes Krokodill 
in den Rachen fchiebt, ift mic noch gar nicht vorge- 
fommen. Ich wünjchte, dieſer golone Rader verfünfe 
im Meere, wo c8 am Tiefiten und das Crbichafts- 
heer dazu. | 

In diefem Augenblide befann er fid) aber, daß 
er wegen der fünf Prozente jelbjt mitfahren wolle ; 
er nahm feinen übereilten Wunſch zurüd und be 
ſchäftigte fih) vor der Hann mit dem glüdjeligen Ga— 
maliel, der am Ziele aller feiner Wünſche ftand, und 
welchen er ſich fortwährend als Reiſecumpan aufprang. 

Der Secretair, der über eine fo wichtige Angele- 
genheit ohne ſeine Meutter nicht ſogleich ein Pactum 
abjchliegen, in ver Freude ſeines Herzend auch dem 
Hotelier Feine abjchlägige Antwort geben wollte, jagte: 


167 


„aber, Herr Lagemann, Ihre Wirthſchaft, Ihr ange- 
brachtes Geſchäft, bedenken Sie!“ 

„Iſt meine Sache,“ fiel der Magdeburger eifrig 
ein, „ohne mich geht's fort, die Nahrung iſt jetzt 's 
Große nicht, meine Frau verricht's. Da Sie mir 
zehn Prozeut der Erbſchaft gewähren, hoff' ich den 
Schaden ertragen zu können; bekomme überdies die 
Welt zu ſehen und mache Erfahrung. Um letzteres 
iſt mir's eigentlich, nach Golde ſteht mein Sinn we— 
niger; Geld macht nicht glücklich, aber Erfahrung, 
Bildung, Weltſchau.“ 

Der Seecretair erſchrack, als Lagemann von den 
zehn Prozenten wie von einer ausgemachten Sache 
ſprach. Er gab nicht ohne Befangenheit zu bedenken, 
daß er zuvor doch mit ſeiner Frau Mutter, als der 
eigentlichen Erbin, wegen ber gewünſchten Tantième 
und der Mitfahrt Rüdipradye nehmen müffe. 

Lagemann erflärte dies für überflüflig. 

„Ihre Frau Mutter,” ſprach er, „wird Gott dan- 
fen, 'wenn ein erfahrmer Mann für jo Billige Sie 
begleitet, fo mutterfeelallein fünnen und dürfen wir 
Sie nit fort laſſen. Bon Nieverrofla bis Kabul 
iſt fein Katzenſprung, fragen Sie Henoch, der hat es 
ſchwarz auf weiß. Die Reife ift nicht ohne Gefahr; 
in Alten ift die Polizei nit jo auf den Beinen wie 
bei ung; man hat einen Schnitt in die Kehle, einen 
Strick am Halfe, ohne daß man weiß, woher er 
eigentlidy kommt; die Aſiaten befigen hierin Fertig— 
feit; der wilden Elephanten, geftreiften Panther und 
des wilden Viehs nicht zu gedenken; man wirb ge- 
freffen, verfchwindet von der Erde mit Haut umb 
Haar und fein Hahn kräht darum, weder ein afiati- 
ſcher noch europäiſcher; ich begreife nicht, . wie der 
Hofmaler jo durchgekommen if. Die zehn Prozent 


168 | 


find ein Spottgeld; ich Hoffe, Ihre Frau Mutter denkt 
billig und legt was zu; funfzehn, ja zwanzig, wäre 
nicht übermäßig, die Gefahren find darnach. Ich ver- 
laſſe Weib und Kind Ihretwegen, Haus und Hof, 
Kundſchaft und Alles; am den Abſchied darf: ic nicht 
denen, ev frißt mir das, Herz ab, ih fühl's und 
meine Frau wird's würgen, fie tann ſich den Knacks 
holen zeitlebens.“ 

Dem Secretair ward immer übler zu Muthe. Er 
fürchtete, Lagemann, deſſen Tugend er für feinen un- 
erfteiglichen Felſen hielt, könne fpäterhin auf Ver— 
ſprechungen von Seiten feiner pochen, an vie er felbft 
im Entfernteften nicht gedacht. Gamaliel ſchob daher 
angelegentlih überall feine Mutter dazwiſchen; doch 
der Hotelier nahm die Mitfahrt und die Prozente ale 
eine ausgemachte Sache an. 

Während die Beiden nody über vie orientalijche 
Erpebition unterhandelten, fühlte ſich Oamaliel auf 
die Achjel geklopft. Er wande fih um und. blidte in 
bie Schönen Augen der Wittib, welche vecht ſchmachtend 
zu ihm aufſchauten. 

„Vetter,“ flötete das ihöne. Weib, „nicht wahr, 
Ihr nehmt Euch einer aymen verlaffenen Wittwe an?“ 

Der Secretair wollte die Frage jo eben heilig be- 
theuern, als Urjula fortfuhr: „Und beforgt meine 
Angelegenheiten in Kabul? Da Ihr einmal die Ketje 
macht, ift e8 Euch ein Kleines, mein geringes Erb— 
theil zu erheben. Ich erjpare die Spejen und weiß 
das Meine in fichern Händen.“ 

Tagemann, welcher zwei Fliegen mit einem Schlage 
zu erlegen hoffte, erbot ſich ſogleich zum Beſten ber 
Wittwe zur Fahrt nah Dftindien. Sein Erbieten 
ward indeß jehr entjchieven zurückgewieſen. 

„Nicht wahr, Better, fuhr Urſula zu Gamaliel 


169 


gewendet mit vieler Wärme fort, „Ihr erzeigt dieſe 
Gefälligkeit einer armen Wittwe?“ | 

Der Ceeretair, obfhon er faft zwei Jahre bei 
einem Juriſten ſchrieb, wußte ſich in dergleichen civil⸗ 
vehtlihen Aufträgen durchaus nicht zu benehmen. 
Er geftand dies offen. Lagemann befräftigte es; bie 
Wittwe ſprach aber: „Ich unterfchreibe eine Vollmacht, 
eine unumſchränkte Vollmacht, va ſchwinden alle Weit- 
läufigfeiten und Schwierigkeiten.” 

Gamaliel bob fo tief Athem, daß es faſt wie ein 
Seufzer Hang. Er gedachte ver eignen Geſchäfte, die. 
auf ihn ruhten und denen. ev fi) kaum gewachſen 
fühlte, und follte nun auch als Mandatar für andre 
wirfen. Er verſprach indeß fein Möglichites, ohne 
die Sache gewiß zu machen, aber Urfula nahm, wie 
Tagemann, Alles für abgemacht an. 

Die diesmalige Heimkehr der Erben aus der 
ftabtgerichtlihen Seffion gli einem Triumphzuge. 
Die Nachricht von dem reichen Erbſegen hatte fid) 
‚ mit Bligesfchnelle verbreitet. Es entſtand ein fürm= 
licher Volksauflauf vor dem Rathhauſe. Namentlich 
„war Gamaliel ein Gegenftand des allgemeinften In— 
tereſſes und heintlichen Neides. Lagemann ſchritt ftolz 
an ſeiner Seite. 

Der Secretair wußte nicht, wie er nach Hauſe 
kam. Er hielt Alles für einen Traum und mußte 
ſich wiederholt den Kopf reiben, um zu unterſuchen, 
ob er wirklich auf Erden wandle. Er war unver— 
mögend, auf alle die Fragen, die von den angeſehen— 
ſten Leuten unterwegs an ihm gerichtet wurden, Ant- 
wort zu ertheilen. Lagemann that’8 an feiner Statt 
um fo ergiebiger. Der glüdliche Erbe hatte jo voll- 
fommen den Kopf verloren, daß er jelbft vergaß, dem 
Doctor Eifenbeig Bericht abzuftatten, wie er doch ver: 


470 , 


Iprochen hatte. Ihn drängte e8, vor allen Dingen 
jeiner Mutter an den Hals zu fallen. Er lieh fid 
daher auf lange Auseinanderfegungen während des 
Heimwegs nicht ein, fondern drängte vorwärts. 

Als er.auf der Wachsbleiche bei Meifter Ziegen- 
balg’8 Haufe anlangte, fah er bereits einen großen 
Knäuel Menfchheit vor feiner Wohnung verfammelt. 
Aus der Ferne rüdte der Stadtmuſikus Kranich, wel- 
her die Gelegenheit zu einem paſſenden Stänpchen 
nie verfäumte, mit feinem Chor in jubelndem Ge— 
ſchwindmarſch, von der jämmtlichen jugenplichen Gaf- 
fenbevölferung umringt, eiligft heran. Noch nie hatte 
man in Nieverroßla eine ſolche Aufregung gejehen. 


Zwoölſtes Kapitel. 


Desgteichen hatte e8 wohl nie eine lebhaftere Sitzung 
im Rathscollegio zu Nieverroßla gegeben, als diejenige 
war, welche unmittelbar nad Bekanntwerdung Des 
zweiten Codicills ftattfand und die Herbeifchaffung des 
goldnen Krokodills aus Afghaniftan betraf. Mehre 
Senatoren, wadre Handwerker und Pabrifanten, hats 
ten jelbft ven berühmten Lorenzkircher Jahrmarkt in 
die Schanze gefchlagen, um der hochwichtigen Sitzung 
beizumohnen. 

Das Rathscollegium zu Niederroßla beftand außer 
dem bereit8 oben erwähnten Bürgermeifter Sebajtian 
Flaminius aus folgenden ſechs, theils befolveten, 
theils gehaltlofen Senatoren oder Rathmännern, näm- 
lich dem Rathsactuar Zeifig, dem Quchbereiter, und 


- 


4174 


Kämmereiverwalter Tambour, dem Horndrechsler Mate, 
auch der Baumeiſter genannt, weil ihm die Sorge 
der ſtädtiſchen Bauten oblag, ferner aus dem Mützen⸗ 
macher Kabel, dem Tabad- und Cigarenhändler Ger- 
fterberger und dem Drabtzieher Schlimper. 

Es währte lange, ehe man zum Siben, gejchweige 
zum Delibriven fam. - Kabel, ver Mützenmacher, ein 
Sanguinifer, welcher überdies bei der Nadricht von 
dem Krokodil, wovon auch ihm eine Parcelle zufal- 
len follte, in aller Haft und. Freude eine Flaſche 
Rothwein getrunfen, umarmte, mit Ausnahme des 
Bürgermeifterd , welcher noch nicht zugegen war, ben 
fammtlihen Rath und ſchwur feierlichſt, daß, wenn 
man das Krokodil chriftlih theile, und ihm feinen 
Theil nicht zu knapp zumefje, er das Pfeifergäßchen, 
worin man bei nafjer Witterung zum Erbarmen bid 
an die Knie einfinke, zum Ruhm Niederroßla's auf 
eigne Koften pflaftern laſſen wolle. Dann verficherte 
er jedem feiner Gollegen feiner befondern Freundſchaft 
und Gönnerfchaft und umarmte die Rathöverfamm- 
lung zum zweiten Male, der Reihe nad). 

Der Goldwerth des Krokodills war faft der allei- 
nige Gegenſtand des Geſprächs; Tambour, der um= 
fihtige Kämmerer, ſchlug vor, das Thier einem Könige 
anzubieten, der bezahle außer dem Gehalte aud bie 
Kunft und man braude es nicht einzufchmelgen. 
Schlimper, ver Drahtzieher und Patriot, war der 
Meinung, das morgenländifhe Erbe der Stadt zu 
verehren, als Denkmal hochherziger Begeifterung dee 
Rathes gegen feine Bürgerſchaft. Nur in Zeiten der 
höchften Noth folle für's Beſte ver Stadt zum Kro- 
fodille die Zuflucht genommen werben. Die übrigen 
Rathönitgliever wollten aber von folh einem Dent- 
mal hochherziger Begeifterung ſchlechterdings nichts 


172 


willen. Dagegen fchlug man dem Patristen vor, 
wenn er für feine Berfon auf feine Portion Krokodill 
verzichten und diefelbe feinen Collegen abtreten wolle, 
jo wäre man nicht abgeneigt, ſolche Enthaltfamteit 
mit großem Danke anzunehmen. Kabel, noch immer 
umarmungsluftig, fiel dem Drahtzieher zum dritten 
Male um den Hals und flehte,- feine Portion Kroko— 
bill ihm zu überlaffen, er wolle fie wohl anwenden. 
Schlimper mochte fih aber nur unter der Bedingung 
zu einer Reſignation hinfichtlicy feines Erbtheild ver- 
ftehen, wenn das Krofodill mit Haut und Haar zu 
einem gemeinnüßigen Zwecke verwendet werde. 

„Aber mein Gott,“ erwiederte Mate der Käm— 
merer, „kann e8 denn einen gemeinnüßigern Zweck 
überhaupt geben, als wenn der Reichthum uns zu 
Gute kommt? Wir find das Haupt der Stadt, müf- 
jen denken, forgen und berathichlagen für dieſelbe. 
Was zu unferm Beten gefhieht, geſchieht auch zum 
Beften der Stadt und ift gemeinnützig.“ 

Schlimpern ausgenommen waren fämntlidye Nath- 
männer mit des Kämmerers Ausſpruch einverftanden; 
da trat der Bürgermeifter aus feinem Kloſet, wofelbft 
er von demjenigen Theile des Kabul'ſchen Codicills, 
worin von ihm, feinen Senatoren und dem Kroko— 
bille die Rede war, eine Abjchrift genommen. 

Sp wie das Haupt der PVerfammlung fidhtbar 
wurde, trat fofort eine bemerfensmwerthe Stille ein. 
Selbſt der Mützenmacher that feinen Yieblofungen 
Einhalt. Der Bürgermeifter ging fogleid) zur Sache 
über, weshalb er die außergewöhnliche Verfammlung 
ausgefchrieben, und las nad einigen einleitenven 
Worten wie folgt: 

„Nur über einen Gegenftand von Werth habe ich, 
Haflanzben-Mulluh, mir freie Dispofitton vorbehalten. 


473 


Diefer Gegenſtand befteht in einem brei Fuß langen 
Krofodille von gediegenem Golde, mit großem Fleiße 
von dem erjten Goldſchmiede Kabuls gearbeitet. Ich 
hatte dieſes ſeltene, an Werth auf (hier erhob ver 
Borlefer bejonders feine Stimme) dreitauſend Ducaten 
gejhätte Kunftwerf den Derwifchen der Abpallah- 
Moſchee für den Sal zugefichert, daß fie e8 durch ihr 
Gebet dahin brädten, mid von meiner legten, lang— 
wierigen Krankheit zu befreien und mir die Gefund- 
heit wieder zu geben. Da nun mein Tod bewiefen, 
daß ihr Gebet nichts gefruchtet, fo haben jene Der- 
wiſche auch auf das Krokodill feinen weitern Anſpruch 
und e8 ift mein Wille, daß dieſes fauber gearbeitete ' 
Thier (die nun folgenden Worte wußte Herr Seba⸗ 
ftian Flaminius wieder ausnehmend zu betonen, wäh- 
rend die Rathmänner fich einander mit gravitätifchen 
Blicken anfchauten) dem Funftfinnigen Magiftrate 
meiner Vaterſtadt Niederroßla zu Gute fomme; und 
zwar auf diefe Art, daß der Herr (hier verneigten 
fi) ſämmtliche Senatoren) Bürgermeiſter ein Drit- 
tel (diefes Drittel marfirte Herr Ylaminius fehr 
vernehmlich) und die übrigen Senatoren zwei Drittel 
des goldenen Ungeheuer percipiren. Es fol zum 
Nuten und Frommen eine hochweiſen Raths ge- 
ſchlachtet, das heißt, wenn ſich fein Käufer findet, ein- 
geſchmolzen und parcellivt werden. Zugleich ftelle ich 
aber hierbei noch die unerläßliche Bedingung, daß 
(hier ward der Bürgermeifter wieder fehr laut und 
vernehmlich) der hochweiſe Kath zu Niederroßla ein 
Membrum aus feiner Mitte wähle, welches das Thier 
in Perſon in Kabul in Empfang nehme und nad 
Haufe begleite. Wäre dies nicht der Fall, jo wür— 
den dennoch die Derwifche fucceniven. Auch fol ein 
hochweifer Rath gehalten fein, die Reife und Trans⸗ 


N 


174 
J 
portkoſten aus eignen Mittelr zu beſtreiten, da Herr 
Siebede und Comp. mif den hierzu erforderlichen 
Fonds nicht verfehen, wie bei den andern Legataren 
der Fall ift.” 

Die Rathmänner hatten den leßten Theil der Vor— 
lefung mit weit weniger Vergnügen vernommen, als 
den erſtern, und es trat, nachdem der Bürgermeifter 
geendet, eine große Pauſe ein, welche allgenteines Nach- 
denken zu verrathen fchien. Herr Slaminius fuhr fort: 

„Deine Herren,” ſprach er, „wie groß das Glüd 
it, fo uns auf fo unerwartete Weife durch dieſe Erb⸗ 
ſchaft zu Theil geworden, und zu wie hohem Danke 
fie uns gegen den edeln Haſſan-ben-Mullah verpflich- 
tet, fo ſehen Sie doh auf der andern Geite ein, 
daß die Acquifition des Erbtheild nicht mit geringen 
Schwierigkeiten verbunden: iſt.“ 

„Das jehen wir,” geſtanden die Senatoͤren mit 
Einem Munde. 

,So viel iſt eins,“ fuhr dus Haupt der Bürger- 
Ihaft fort, „einer aus un'ver Mitte muß nah Kabul, 
ſonſt fuccediren die Derwiſche.“ 

„Sonſt fuccediren die Derwiſche,“ erwiederten bie 
Rathmänner im Chor. 

„Und das Dürfen wir nun und nimmer zugeben,‘ 
vief Flaminius energiſch. 

„Nun und nimmer!“ tönte es eben ſo herzhaft 
rings um den Seſſionstiſch. 

„Aber wer ſoll reiſen? Das iſt die Frage!“ 

„Das iſt die Frage,“ antwortete der Chor. 

„Gern würde ich mich ſelbſt zur Weltfahrt ent— 


ſchließen, “ fuhr der Bürgermeiſter fort, „wenn es 


das allgemeine Beite gilt, ftehe ic) nie zurück, das ift 
befannt; aber meine Stellung als Conſul dirigeng, 
die mannigfacen Wirren in unfern ftäbtifchen Anges 


475 


legenheiten, vie nie fo verwidelt ſich herausſtellten 
wie in der Gegenwart, machen meine perfönliche An- 
wejenheit mehr denn je unerläßlich. Sie werben dies 
einfehen, meine Herren Senatoren.” 

Obſchon es faft Fein Einziger einfah, jo hatte 
man doch nicht den Muth, es gerade heraus zu fagen. 

„Auch“ fcheint mir,” ſprach Flaminius weiter, „daß 
Erblaſſer, dem aus jeiner Jugendzeit die hiefigen 
Berhältniffe nicht. unbefannt find, unter dem „Mem— 
drum” nur einen der Herrn Senatoren verftanden 
hat. Bei feiner Borliebe für Nieverroßla, die ſich 
jo offenfundig herausftellt, ft fait als gewiß anzu— 
nehmen, daß es nicht in feinem Willen gelegen, dieſe 
geliebte Stadt auf längere Zeit ihres Hauptes zu 
berauben.‘' 

Den Senatoren ſchien dies einzuleuchten, fie er= 
wieberten nichts. | 

„Alſo bitte ich, die wichtige Sache zur Entfchei- 
„ung zu bringen, es ift feine Zeit zu verlieren, wenn 
wir dieſes Jahr noch zum Ziele gelangen wollen. 
Ic, lebe noch immer in der froben Hoffnung, daß 
fi) einer unter uns aus freien Stüden zur Reiſe 
entſchließen wird. Site ift nicht ohne Annehmlichkeit. 
Man befommt ein groß Stüd Welt zu fehen, erhält 
Gelegenheit, die mannigfachften Sitten und Gebräuche 
fennen zu lemen. Der glüdlihe Voyageur bevenfe, 
was er nad jeiner Heimfehr erzählen kann, abgejehen 
von dem ganz bejondern Verdienſte, das er fi) um 
das gefammte Rathscollegium erwirbt.“ 

Die frohe Hoffnung des Herrn Bürgermeiſters 
ſchien indeß nit in Erfüllung zu gehen und die er- 
wähnten Annehmlichkeiten der Reife feinen ermun— 
ternden Anklang zu finden. Vergebens überfchauten 
die Blide des Flaminius ver Reihe nad die Rath— 


476 


männer und fie verweilten mit fichtbarem Wohlmwollen 
auf dem Baumeifter. 

„Mate, . begann das Bürgerhaupt in anerfen- 
nendem und ermunterndem Tone, „Ihr habt Euch 
in fehwierigen Fällen immer zu benehmen gewußt, 
fein mit allen Nationen ausgelommen zur Zeit der 
Einquartierung; dieſe Reiſe nad Kabul ift eigentlich 
ganz für Euren unternehmenven Geift geichaffen. An 
Eurer Stelle Tieß ich mir fie nicht nehmen. Ich bin 
überzeugt, daß ſämmtliche Herren Collegen verfelben 
Anficht find.” 

‚Sa wohl,“ tönte es aus einem Munde, „Mate 
muß nad Kabul.” 

Mate ſelbſt war. ganz andrer Meinung. 

„Ich bin der einftige Mate nicht mehr, ſprach 
er ablehnenp, „ver fich ehedem mit Kofafen und Balch- 
firen und Kriegsvolk aus aller Herren Länder her- 
umgeftritten, die Jahre, das Gemeinwohl, die fojt- 
jpieligen Bauten, das jeige Lagerbier haben ihren, 
nachtheiligen Einfluß auf meine Conftitution nicht 
verfehlt. Ich käme wicht nad England, geſchweige 
nach Kabul.“ 

„Nichts iſt aber ſtärkender ale Seeluft,“ gab 
Flaminius zu bedenken, „vielleicht daß eine ſolche Er— 
holungsreiſe auf Eure Geſundheit recht wohlthätig 
wirkt. Man hat Beiſpiele. Wollet dies wohl über— 
legen, Herr Baumeiſter.“ 

„Und ſollte es mich meinen Antheil am Kroko— 
dille koſten,“ erklärte Matze, „mich bringt keine Macht 
der Erde auf meine alten Tage aus Niederroßla. Ich 
habe mich genug geplagt mein Leben lang, daß ich keine 
Luſt habe, mich zu guterletzt von einem Wallfiſche 
verſchlingen zu laſſen.“ 

„Oh, oh,“ mahnte der Bürgermeiſter, „von ſol⸗ 


477 


- 


Gefahr kann ja die Rede gar nicht fein, fo viel ich 
mid aus meinen naturgefchichtlihen Forſchungen ent- 
finne, tragen die Wallfiſche nah Menfchenfleich weit 
weniger Gelüfte, als davon gefabelt wird.” 

„Sie werben bei einem hochlöblichen Stabtrath 
von Niederroßla nit erft um Erlaubniß einkommen,“ 
brummtee der Baumeifter für fih. Darauf erwiederte 
er laut: „Thut's der Wallfiſch nicht, fo giebt's der 
andern Beitien in Menge, die einen friedlichen See— 
fahrer nah dem Leben tradhten. Nein, ic habe ber 
Prüfungen des Lebens genug beitanden und will Ruhe 
haben; aber da ift unfer verehrter College, der Herr 
Kämmerer Tanıbour, den fehe ih e8 an, daß er ſich 
die ehrenvolle Expedition nicht wird nehmen laſſen.“ 
Auf diefe Worte richteten ſich die Blide des gefammten 
Rathscollegiums auf Tambour, welcher nicht wenig 
erihraf, fo plöglich der Gegenftand der allgemeinen 
Aufmerkſamkeit zu werben. Noch bei weiten mehr aber 
gerieth er in Beftürzung, als ihn Flaminius folgender: 
maßen anredete: | 

„Mate hat nicht Unrecht, in ver That, Euer 
feuriger Blick kann ſich nicht verleugnen. Da ſchlum— 
mern Thaten dahinter, die unſrer Stadt zum Ruhme 
gereichen werden. Auch ſpricht Euer kriegeriſcher unter— 
nehmender Name insbeſondere für die morgenländiſche 
Expedition. Der Name Tambour hat etwas Erjchiit- 
terudes.“ | | 

Das Rathscollegium ftimmte, mit Ausnahme des 
Kämmerer, hier wieder vollflommen bei; dieſer aber 
jtredte beide Arme beſchwörend gegen feine Collegen 
aus und flehte, feiner ſchwangern Frau und feiner 
fünf lebendigen Würmer zu gevenfen, die in ihm ven 
einzigen Ernährer verlören, falls er auf ver Reife 
umkomme. An Muth fehle: es ihm nicht 8 zeige 

Stoffe, ſämmtl. Schriften. XVII. 


178 


allerdings fein Blid, aber‘ bie Femilienpflichten gingen 
ihm über Alles. Er ſchlage aber Schlimpern vor, der 
ſei bekannt als Patriot und habe überdies keine Kinder. 

Die allgemeine Aufmerkfamkeit lenkte fich jetzt auf 
‚ven Drahtzieher. Diefer blieb ſehr ruhig und erklärte, 
wegen fo einer precären Erbſchaft veife er nich zehn 
Meilen per Poſt, gejhweige um bie halbe Erde herum 
nah Kabul. Es jei die große Frage, ob die Kabuliften 
einen Pfifferling , herausgäben. Wenn man auch mit 
ben Leben davon komme, ſicher nicht ohne große Nafe, 
an der man zeitlebens zu tragen habe. Ihm gelte 
niht nah großem Mammon, jo viel er mit feiner 
Grau. brauche, habe er; die orientaliihe Exrbichaft laſſe 
ihn daher ſehr gleichgültig, wielweniger daß er fid 
ihrethalber follte der geringften Gefahr ausſetzen. 

„Kabel, der Mützenmacher,“ ſchloß er, „würde ſich weit 
eher zur Reife eignen. Gr ift lebensluſtig. ſieht fich 
gern in der Welt un, hat pa Gelegenheit, Erfahrungen 
zu machen und berühmt zu werben. 

Jegt wurde der Mützenmacher der Brennpunkt, der 
Aller Augen auf ſich 308. 

„Faſt möchte ich es als einen Fingerzeig Des Schick— 
ſals anſehen,“ ſprach der Bürgermeiſter, „daß ſich unſer 
verehrter College Kabel zur Reiſe entſchlöſſe. Kabel 
und Kabul, welch' wunderſamer Zuſammenklang. In 
der That, ich bin erſtaunt.“ 

Der Mützenmacher, welchem bei der Anmuthung 
zur morgenländiſchen Fahrt aller Weinrauſch verflog, 
begann aus Leibeskräften zu proteſtiren und geberdete 
ſich weit verzweifelter als alle feine Vorgänger. Seine 
Averſion gegen die Seereiſe war außerordentlich und 
das Antlitz des Bürgermeiſters ward immer beſorgter. 
Die Anzahl der nach Kabul zu entſendenden Raths- 
mitglieder ward immer geringer. Es verbleiben nur 


179 


nod) zwei, der igarrenfabrifant Gerftenberger und 
der Rathsactuar Zeifig, Hinfichtlih derer umu noch 
ungewiß war, ob fie die Neifenverfion der Uebrigen 
theilten.. Als man bei Gerftenberger anflopfte, warb 
der Mann orventlih grob und frug, ob man fein 
wohlangebradhtes Gſchäft ruiniren wolle, indem man 
ihn nad Kabul ſchicke. Seine Anwejenheit ſei unent- 
behrlich und felbft für den Fall, daß das ganze Krofopill 
fein Eigenthum werde, könne er fich feinen Schritt 
vom Haufe entfernen. oo. 

„Aber, meine Herren,” begann mit großer Betrübniß 
der Bürgermeifter, „da e8 eine unwiderruflice Teſta— 
mentsflaufel ift, daß Einer aus unfrer Mitte nach 
Aſien wallfahrtet, jo ſehe ich nicht ein, wie Da8 werden 
ſoll und wie wir die jchöne Erbichaft, die und doch 
Allen recht wohl thun würde, acquiriren wollen?‘ 

Seine Blide ſchweiften während dieſer Rede weh- 
müthig über die Berfammlung und firirten’fid, enplich 
auf Zeifig, der zeither zähneklappernd, an feiner Protgfoll- 
fever fauend, vagefeflen hatte. Wie ein gefahrdrohendes 
Donnerwetter war ihm vie ganze Verhandlung zeither 
erfchienen. Er hatte ven Bli wiederholt herabfahren 
und von der Collegenſchaft abprallen ſehen. Sein Inſtinkt 
al8 geborner Unglücksvogel fagte ihm gleich im Anfang, 
daß der Wetterftrahl zu guterlegt ihn treffen und zer- 
malmen werbe. 

Wie der Unglüdlihe geahnet, fo gefhah es; Fla— 
minius richtete jet feine Rede an jeinen Actuar, 
einem Manne, ver halb aus Aengftlichleit und halb 
aus Höflichkeit zufammengejeßt war, ver äußerſt felten 
und feinem geftrengen Principal, dem Bürgermeifter, 
nie widerſprach; deſſen Stellung faft ganz vom Raths⸗ 
collegio abhängig und der daher gezwungen war, 
fih faft ſelaviſch dem Willen beffelben, „zu fügen, 

1; 


180 


Zefig war ein herzensbraver Mann; er trat Nie: 
mandenr in den Weg und erfüllte feine Pflichten mit 
feltener Redlichkeit und Berufstreue; aber er war 
unbefannt mit der Welt und ihrem ſchnöden Treiben. 
Sein ganzes Leben lang war er, mit Ausnahme feines 
Aufenthalts auf der Akademie, nicht drei Meilen weit 
über das Weichbild feiner Vaterſtadt Nieverroßla hin— 
ausgefommen. Ueberdies gehörte Zeifig auch noch zu 
ven fogenannten Unglücksvögeln, denen felten Etwas 
gelang und die überall mit dem Heinen malitiöfen 
Dämon der Fehlſchlagungen zu kämpfen hatten. Na— 
'mentlih war Died mit dem Actuar im Punkte der 
Liebe der Tall gewefen, immer hatte er, obfehon bie 
redlichſten Abfichten im Bufen führend, einem Glüd- 
lichern nachftehen müſſen und war daher Junggeſelle 
geblieben zeitlebens. Yu ihm aber wandte fidh, nach— 
dem das geſammte Rathscollegium auf die Reife nad 
Kabul verzichtet, der regierende Bürgermeifter und ſprach 
folgendermaßen: 

„Senator, begann er, „ich bin überzeugt, ein ges 
ehrted Collegium ift allgemein damit einverftanden, 
wenn ih Sie für die jo ehrenvolle wie fruchtbringende 
Reife nad) Kabul auserlefe.“ 

Zeifig ſah ven Blitzſtrahl nieverzuden, erwiederte 
niht8 und man vernahm nur einen tiefen Geufzer, 
welcher der großen Scene ein eignes romantiſches Co— 
lorit verlieh. 

„Senator,“ fuhr Flaminius fort, „je länger ich 
darüber nachvenfe, um fo überzeugenver ftellt fih mir 
der Gedanke, dag Niemand nıehr geeignet zu dieſer 
Weltfahrt fein dürfte.‘ 

Der Actuar ſeufzte. 

„Sie find unverheirathet,” ſprach der Bürger- 
meifter weiter, „fein Weib und Kind weint vereint an 


184 


Ihrem Grabe, felbft wenn e8 das Unglüd’ wollte, daß 
Sie von den Wellen verfchlungen würden.” 

Zeifig Jah fich im Geifte bereits auf tiefem Meeres-- 
grunde ausgeftredt liegen, zwiſchen Korallen und Meer— 
gewürm, angefreflen von Haififchen. 

„Sie find Yurift und zur gerichtlichen Empfang- 
nahme des Krokodills weit geeigneter, als die übrigen. 
Herren Senatoren. Ihnen werden die Rabuliften in 
Kabul fo leicht Fein X für ein U maden. Das bin. 
ich überzeugt. Was fagen Sie, meine Herren?” 

Das fammtlihe Collegium mit Ausnahme des 
Actuars war der Anficht des Bürgermeiſters. Indeß 
erfundigte ſich Schlimper, weg denn unterdeg bie 
Actuariatsgejchäfte übernehmen follte. 

Zeifig athmete bei diefer Frage in Etwas auf, er 
hielt ſich für unentbehrlich. 

„Wie überhäuft ic) aucd mit Gefchäften bin,‘ er- 

wieberte Flaminius, „fo werbe ich einftweilen als Actuar 
fungiren. Was thut man nicht dem allgemeinen Beten 
zu Gefallen! Die Saden von geringem Belang kann 
Pomfel, der Rathsfchreiber, übernehmen. Ex hat fo 
nur müßige Zeit.“ | 

„Dann erlaube ich mir aber,” fuhr Schlimper 
fort, „no in Erwägung zu bringen, daß, da bie 
Reife nah Kabul feine Kleinigkeit if, dem Reiſenden, 
der ſich für uns alle aufopfert, eine beſondere Grati— 
fication zu Theil werde, und trage darauf an, falls 
fi) Herr Zeifig noch zur Wafferfahrt entfchließt, ihm 
bie Tantieme am Krokodil um fünf, Prozent zu ver- 
größern.” | 

„Exit müſſen wir das Thier ſehen,“ entſchied der 
Bürgermeijter, „um nad der desfallfigen Größe zu 
urtheilen, ob Jeder Etwas ven feiner pars legitima 
abzugeben im Stande ift over nit. Eine weit _ 


182 


gewichtigere Frage jedoch ift es, welche jet unfer an= 
geftrengtes Nachdenken in Anſpruch nimmt, nämlich die 
gemeinjchaftlihe Aufbringung der Atzungskoſten für 
den Actuar, fo wie für Emballage und Fracht des 
ererbten Unthiers, da Erblaſſer bei Siebede und Comp. 
dafür eine Summe niederzulegen bebauerlicher Weife 
Anftand genommen hat.” 

Beifig, der die ganze Zeit daher dagefefien hatte 
wie ein Vogel jeines Namens, der beregnet ift, gerieth, 
Da er bereit von den Asungstoften Iprechen hörte und 
vernehmen mußte, wie man feine Abfahrt als ausge- 
machte Sache verhanple, in file Wuth, die ihn alle 
Rüdfihten gegen den, Bürgermeifter und eim hohes 
Collegium aus den Augen verlieren ließen. Er, ber 
fein Leben lang faum aus dem Weichbilde Riederroßla 8 
herausgelommen, follte mit Einemmale halb um die 
Welt und wieder retour fahren, und noh dazu in 
Begleitung eines Krokodills. In feinem fanften Ge- 
müth kochten Wehmuth, Angft und Zorn mit einander. 
Endlich Tief der Topf über und ber Gequälte plagte 
mit weinerliher Stimme die Worte hervor: „Aber 
ih mag nicht nad Kabul!” 

„Suter Senator,” erwiederte Flaminius väterlich, 
„Sie weihen von der Hauptjache ab.“ 

Der liberale Schlimper, der gern Oppofition 
madte, meinte, gezwungen fünne ein conftitutioneller 
Staatsbürger nicht werden. Wenn Zeiſig natürliche 
Averfion habe vor Afien, jo jolle man die ererbte 
Beltie, und beitünde fie auch aus Perlen und Edel— 
geitein, fahren laſſen. 

Der Bürgermeifter, dem fein Dritttheil im Kopfe 
herumging, fpannte, um die Oppofition nicht zu reizen 
und hartnädiger zu machen, gelindere Saiten auf. 

„Der Rathsactuar Zeifig, Wohlgeboren,‘ ſprach 


483 


er, „wird durch fortgefeßtes Nachdenken zu der Anficht 
gelangen, daß eine fchönere Gelegenheit, Ruhm umd 
Reichthum zu erwerben, fich nicht fo leicht wieder dar⸗ 
bietet. Ich werde ald ganz beſondre Anerkennung 
feiner Verdienſte ihm ein beſondres Kapitel in unfrer 
ſtädtiſchen Chronif einräumen. Nah Iahrhunderten 
wird fein Name genannt und gefeiert werden von ben 
nachwachſenden Entelgefchlechtern.” | 

Sclimper wollte ſich mit dieſer Perfpective nicht 
ganz einverftanden erflären. „Die nachwachſenden 
Enkelgeſchlechter,“ meinte er, ‚können für Zeifig des- 
halb von weniger Belang fein, da er nicht verhei- 
rathet iſt.“ 

„Ja wohl,“ ſeufzte der Actuar, „auch fühl' ich 
mich durchaus nicht geneigt, noch in den Stand der 
heiligen Ehe zu treten.“ 

„Aber gerade dieſe Eheloſigkeit,“ gab Flaminius 
zu bedenken, „macht den Senator geſchickt zur Reiſe. 
Wir Andern alle würden Weib und Kinder in herz— 
zerreißendem Jammer zurüdlaffen. Bon wem bat 
Zeifig Urlaub zu nehmen? Einzig und allein von ung, 
und werden wir folchen in Gnaden nicht vorenthalten. 
- Sollte ihm etwas Menfchlihes begegnen; er kann ge- 
troft in's befjere Jenſeits eingehn, denn auf Erden für 
wen hat er zu forgen? Bei uns Andern verhalten fich 
die Umſtände ganz gegentheilig, Sie jehen das ein, 
meine Herren Senatoren?” 

Alle jahen e8 ein; nur Schlimper war mit feiner 
Dppofition nicht todt zu machen. „Ich halte. e8,” 
ſprach er, „mit den Geifte einer conftitutionellen Ver— 
fafjung, deren fi) unfer Land Gott fei Dank zu er- 
freuen hat, ſchlechterdings unvereinbar, Jemanden, der 
nicht abſonderlich Luft dazu verfpürt, in ein fteinfrembes 
Land zu fchiden, wo Gefahren der mannigfachften 


18% . 


Art feiner warten. Und went wir hundert golone 
Krokodille erbten, was find fie gegen ein Weenfchenleben, 
gegen das Wohl und Wehe eines conftitutionellen 
Staatsbürger8?" 

Flaminius replicirte: „Bon einem Zwange Tann 
hier nicht die Rede fein, aber went wir unſern ver= 
ehrten Actuar auf die glänzenden Vortheile aufmerkſam 
zu nahen und bemühen, jo ihm aus der aftatifchen 
Fahrt zu Theil werden, fo liegt das feineswegs außer 

dem Bereiche conftitutioneller Gefinnung und Gejeb- 
gebung. Ich hoffe, daß dies auch Ihre Anficht ift, 
meine Herten Senatoren.” 

„Vollkommen,“ nidten die Andern und warfen dem 
unermübdlihen Opponenten, der mit foldhem Eifer gegen 
ihr Interefie ſprach, nicht eben die freundlichſten Blicke 
zu. Schlimper ließ ſich indeß nicht irre machen und 
fuhr fort, feine coriftitutionellen Anfichten in Anjehen 
zu erhalten. Zeifig felbft verhielt fich fehr leivend. 
Nach feinem vorigen desperaten Auftreten ſchien feine 
moralifche Kraft gebrohen. Das Collegium beſchloß 
daher, der Actuar folle vierundzwarnzig Stunden 
Bedenkzeit erhalten, worauf man eines Weitern zu 
verfügen gedenke. Man kam wieder auf die Atzungs- 
foften und berechnete, wie hoch wohl der Krofodill- 
transport von Kabul bis Nieverroßla ſich belaufen 
werde. Mit Screden hatte man in Erfahrung ges 
bracht, daß ver Hofmaler für jeden der übrigen 
Erben ein Reiſegeld von zweihundert Ducaten 
niedergelegt hatte. Berechnete man nun aud, daß 
Zeifig, bei deſſen weichem Charalter man bie 
Bereitiwlligkeit zur Fahrt als gewiß vorausſetzte, 
äußerft mäßig lebe, indem er nicht felten des Mittags 
einen halben Häring verzehre und alſo bei weiten 
nicht zweihundert Ducaten brauche wie die andern 


185 


Freffer, fo gab wieder der Transport des Erbthiers 
‚zu ben mannigfachſten Bermuthungen, Befürchtungen 
und Erörterungen Beranlaffung. Auch bei biefer Ver— 
handlung machte ſich Schlimper wieder als äußerſt 
unbequemer Opponent bemerkbar. Als nämlich von 
Zeiſig's Frugalität und dem halben Häringe die Rede 
war, meinte ber Horndrechsler: „Ein Geſandter des 
Raths zu Niederroßla dürfe nicht als Dredfreifer durch 
bie Welt fahren; im Gegentheil er müſſe vide thun, - 
Geld aufgehen und fich fehen laſſen, dies verlange 
die Ehre der Corporation, weldhe er  vepräfentire; 
zwei Bouteillen Achten Aheinwein täglich, was ſei 
das; ferner gut Frühftüd; fünf Gänge Mittag und 
breit zu Abend; das fei unerläßlih, Seeluft zehre. 
Die Ehre gehe über Alles. Der Zeifig müſſe als 
Adler nad) dem Morgenlande flattern und königlich 
leben, jelbft auf die Gefahr hin, daß er das Krofopill 
aufzehre.“ 

Das übrige Collegium, ven Bürgermeifter nicht 
ausgenommen, war mit biefen hochfliegenden Anfichten 
des liberalen Schlimper’8 ganz und gar nicht einver- 
ftanden. Effen und Trinken, hieß es, made nicht 
ben Mann, plögliche Unmäßigfeit könne ſogar nach— 
theilig werben, namentlich in füdlichen Gegenden. “Der 
Actuar jei des Weins ungewohnt und fein Freund 
von Leckereien. 

Während man fi über Zeiſig's Appetit herum— 
ſtritt, ſaß der Actuar ſelbſt ganz willenlos in ftilles 
Hinbrüten verfunfen auf feinem Plage. Die Ge— 
fahren der morgenländifchen Fahrt zogen in drohenden 
. Bildern feinem verbüfterten Gemüthe worüber, welches 
lettere ſelbſt durch Schlimper's in Ausficht geftellten 
feinen Weine und leckern Mahlzeiten nicht zu er— 
heitern war. 


⁊ 186 


Flaminius brachte endlich in Vorſchlag, daß wenn 
jedes Mitglied des Stadtraths funfzehn Thaler er— 
lege, die Koſten der Hin- und Herfahrt des Actuar 
mit ſammt des Krokodills hinlänglich gedeckt zu ſein 
ſchienen. 

Der Baumeiſter warf die Frage auf, ob Zeiſig 
gleichfalls gehalten jein follte, als Rathsmitglied und 
Erbe die Reiſebeiſteuer zu entrichten? 

„Warum nicht,“ erwieberte ber Bürgermeifter, „ge- 
niept er nicht die Annehmlichkeiten der Reife? Tauſend 
andre Unverheirathete würden fih um bie Gelegenheit 
reißen, fo vieler Herren Länder zu ſehen.“ 

Diefe Antwort gab dem Horndrechsler wieder allen 
Anlaß, die heftigfte Oppofition zu erneuern. Er ſprach 
fih auf's Entjchievenfte gegen diefe Ungerechtigkeit aus 
und dann aud) behauptete er, daß mit funfzehn Tha— 
lern pro Perſon ſchlechterdings nichts auszurichten fei. 
Funfzig Thaler müfle der Mann wenigſtens zahlen 
und der Herr Bürgermeiſter hundert. 

Dieſe letztere ihn betreffende Zumuthung war dem 
Conſul Flaminius außerm Spaße. 

„Wie jo hundert?” frug er im Zone des uns 
willigften Erftaunens. 

„Sehr einfach,” erwiederte Schlimper, „weil Hoch— 
biefelben aud ein Drittel der fogenannten Erbmaſſe 
percipiren und wir andern uns mit zwei Dritteln 
begnügen müſſen.“ 

Diefed Argument schien den übrigen Beifigern jo 
einleuchtend, daß ſich Diesmal der Dpponent eines 
allgemeinen Beifalls erfreute. 

Man vebattirte noch geraume Zeit, ohne zu einem 
erwänfchten Nefultate zu gelangen. Schlimper warb 
endlich ungeduldig und erflärte alle Verhandlungen 
über den Koftenpunft für unnüß, da der Actuar Zeifig 


187 


jeine Bevenkzeit noch nicht überftanden. Bis dahın 
laſſe fi nod gar fein gültiger Beſchluß fallen. Das 
Collegium fah die Wahrheit des Gefagten ein und 
die Sitzung ward aufgehoben. j 


Dreizehntes Kapitel. 


Trot des reichen Erkſegens, der in Niederroßla ein- 
gezogen war, gab’8 doch überall Streit und Zwietracht. 
Borerft im Haufe der Felicitas, melde ihren Sohn 
ſchlechterdings nicht nah Kabul laffen und fih gern 
mit der Hamburger Abfindungsfumme begnügen wollte. 
Gamaliel träumte hingegen Tag und Nacht von nichts 
als Palmen und Lotusblumen, Perlen und Goldſand. 
Er hatte ale Welt auf feiner Seite, darunter die 
gewichtigften Autoritäten, wie den Doctor Eiſenbeiß, 
welcher gejagt hatte: „Wie ungern ih Sie einbüße, 
lieber Cecretair, fo liegt doch die Nothwendigkeit Ihrer 
Reife jo Har vor, daß ich Ihnen im Geringften in 
Ihrem Glüde nicht hinderlic fein mag.” 

Gamaliel hatte die Worte des Doctor zehnmal 
feiner Frau Mutter zu Gemüthe geführt, aber immer 
vergebens, und außerdem eine Beredtſamkeit gegen 
die Hartnädige entfaltet, die oft zur poetifchen Höhe 
jtieg. | 

„Ich wäre gebranpmarkt für Ewigkeit,“ rief er 
eines Tages aus, „wenn ich nicht die himmlifche Ges 
legenheit benußte, das ſchöne Morgenland zu jehen, 
jondern philifterhaft in Niederroßla auf der Scholle 
kleben bliebe.” j 


188 


„Es haben Millionen glädlid und zufrieden ge= 
lebt, ohne das Morgenland gefehen zu haben,” er- 
wiederte ruhig die Mutter. 

„Aber wo ſich eine ſolche Gelegenheit darbietet, iſt 
es Sünde, von ihr ‚feinen Gebrauch zu machen.“ 

„Es kann zugleich eine Gelegenheit fein, auf Ab- 
wege zu gerathen und ven Untergang herbeizuführen.” 

„Ein junger Menſch muß fid) verfuchen.‘‘ 

„Aber nicht Gott verfuchen, ſchnöden Mammons 
halber.‘ - 

„Hätte ber „Hofmaler wie Du gedacht, ſo erbten 
wir gar nichts.“ 

„Was Einem glückt, kann Hunderten mißglücken.“ 

Der weltfahrtluſtige Gamaliel, nachdem er mit 
all' ſeiner Beredtſamkeit nichts ausgerichtet, ſtand auf 
dem Punkte, an ſeiner eignen Mutter zum Rebellen 
zu werden, da that ſich die Thür auf und der Wirth 
zur Stadt Magdeburg, Herr Lagemann, trat in's 
Zimmer. 

Der Secretair, obſchon Lagemann ſein Freund 
nicht war, trug ihm die zwiſchen ihm und ſeiner Mutter 
obſchwebende Streitfrage zur Begutachtung vor. 

Dem Hotelier klangen die verweigernden Worte 
ber Wittwe ſüß wie Honigjeim, denn er fah ben 
Grund wohl ein, warum Madame Drollinger ihren 
Einzigen nicht mutterfeelallein in die fremde Welt 
ichiden wollte. Er hoffte daher, daß wenn er fi 
für feine Perfon als Keifegefährte und erfahrner Mann 
gegen billige Prozente anbiete, würde Felicitas mit 
gefüßten Händen fein Erbieten "annehmen. 

Yagemann ging daher, feiner eignen Natur zus 
wieder, einmal jehr ruhig und feiner Meinung nad) jehr 
vhiloſophiſch zu Werke. Er ſprach von den mannig- 
fachen Gefährlichkeiten einer ſolchen Reife und ſtimmte 


189 


Madame Drollinger binfihtlid ihrer Abneigung, ben 
. Sohn jo ohne allen Schuß reifen zu laffen, voll 

fommen bei. Endlich fam er auf den Zwed feines 
Beſuchs, nämlich auf die Begleitung feinerfeits und 
die Prozente. 

Der Hotelier hätte fi) übrigens den weiten Um⸗ 
weg und die vielen Worte in gewählten Nevensarten 
erfparen fünnen, denn Felicitas jah ſehr bald ein, wo 
Lagemann hinaus wollte. Sein wohlüberdachter Kriegs: 
plan hatte daher nicht den geringften Erfolg. Lieber 
würde Madame Drollinger ihren Sohn allein in Die 
weite Welt geſchickt haben, als in Begleitung dieſes 
eigenmüßigen und gemeinen Mannes. 

„Nein, lieber Lagemann,“ ſprach fie mit ernftem- 
Kopfihütteln, „und wenn alle Schäße Indiens unter 
der Bedingung mein fein follten, daß mir dieſelben 
durch einen Familienvater herbeigefchafft würben, fo 
wollte ich lieber auf alles Geld und Gut verzichten, 
ehe ih das zugäbe, ehe meinetwegen ein Verjorger 
von Weib und Kind Gefahr lief. Ich würde wäh- 
rend der ganzen Reife feine ruhige Stunde haben 
und die ſchreckhafteſten Phantafien würden ſich meiner 
Geele bemächtigen. Sollte aber gar das nicht außer 
dem Bereiche des Unwahrjcheinlichen Tiegende Unglüd 
fi) ereignen, daß mein Abgefandter umkäme, fo wäre 
e8 für immer um die Ruhe meiner Tage gejchehen. 
Borwürfe und Gewifjensbiffe würden mich ununter- 
brochen peinigen und der Gedanke an die unglüdliche 
Familie, die ih um den Pater gebracht, den Reit 
meined Lebens vergiften.“ 

„Beite Madame Drollinger,” erwiederte Lage- 
mann, „ver Tod fann unfereinen auch zu Haufe am 
eignen Herde überraſchen, und wie gern begiebt man 


4190 


fih in Gefahr, wenn es das Wohl unfrer Familie 
betrifft.” 

„Zugeſtanden, “verſetzte Frau Felicitas, „nur mag 
ich nicht die Schulp von Jemandes Untergange auf 
dem Herzen tragen.“ 

„Da kann wohl von keiner Schuld die Rede ſein, 
wenn ſich der Abgeſandte aus freiwilliger Entſchließung 
zur Reiſe erbietet.“ 

„Iſt wohl möglich, aber ich habe hier meine eignen 
Grundſätze, lieber Lagemann, in denen ich mich nicht 
wankend machen laſſe.“ 

Der Secretair, welcher dem zeitherigen Geſpräche 
mit großem Intereſſe gefolgt war, gab ſein Mißfallen 
an den letzten Worten ſeiner Mutter durch ein ver— 
nehmbares Brummen zu erkennen. 

Lagemann benutzte dieſe aufrühreriſchen Töne, bie 
ihm ſehr ermunternd klanget, zu einem neuen An— 
griff auf den harten Sinn der Madame Drollinger, 
ward aber mit gleich unerwünſchtem Erfolge zurüd- 
gewiefen. 

In dem Wirthe zur Stadt Magdeburg, nachdem 
er ſah, daß all’ feine Bemühungen fruchtlos blieben, 
fiegte endlich die urfprüngliche Natur; er wurde grob 
und verließ die Wohnung der Wittwe nicht in der 
beften Laune. Auch Oamaliel griff nad) feiner Mütze 
und eilte wuthig in bie Berge. 

Lagemann war kaum die Wachsbleiche entlang 
geihritten, als er bie lange Geſtalt des Helvenfpielers 
erblictte, ver fo eben von einem Aovofaten fam, wo 
er bie traurige Gewißheit erhalten, daß mit feiner 
Kabul'ſchen Erbſchaft nichts fei, denn der Buchftabe 
bes Codicills laute Har und. veutlih, daß das Legat 
nur dann von Gültigkeit fer, wenn Madame Hanno, 
geborne Seekrebs, bei Eröffnung des letten Willens 


191 


noch am Leben fe. Da dieſes nun wicht der Fall, 
jo habe Herr Hanno für feine Perfon nicht ven ge- 
ringiten Anſpruch. 

Der Helvenfpieler, nachdem er dieſe wahrhaft nieder- 
Ihlagende Erfahrung gemacht, wandelte mit ziemlich 
gefenktem Haupte feines. Wegs, als er plößlich feinen 
Namen rufen hörte. Er ſah fihb um und erblidte 
den gleichfalls um die Erbſchaftshoffnung betrogenen 
Wirth zur Stadt Magdeburg, welcher mit höchſt des⸗ 
peraten Geſichtszügen auf ihn zuſchritt. 

In Lagemann's Augen galt Hanno noch für einen 
gemachten Mann, denn er ahnete nicht, daß es mit 
deſſen Erbfſchaftsanſpruchen ſo miſerabel ſtehe. Er 
überwand ſeine zeither gefühlte Averſion gegen den 
inſolventen Bühnenkünſtler und begann ihm den Hof 
zu machen, in der Hoffnung, ſich dadurch eines Theils 
der Hanno'ſchen Erbſchaft zu verſichern. 

Dem Bühnenkünſtler, der ſogleich erkannte, wie 
hier der Haaſe laufe, ging unerwartet in dem Magde— 
burger ein neuer Hoffnungsſtern auf. Er faßte ſo— 
gleich den Entſchluß, von der für ihn ſo wohlthätigen 
Unkenntniß des Hoteliers den möglichſten Nutzen zu 
ziehen. Er nahm daher die freundſchaftliche Annäherung 
von Seiten Tagemann’ 8 ziemlich fühl entgegen, worauf 
diefer um Vieles wärmer wurde. 

Das von Neuem offerirte Logis fo wie comfortable 
Beföftigung war der erfte Freundſchaftsſchuß, den Lage— 
mann auf den vermeintlichen kabuliſtiſchen Erbtheilhaber 
abdrückte. Hanno wich jchonend aus, war einfylbig, 
zurüdhaltend, indirect ablehnend, wodurch Lagemann, 
ber fchon fürdhtete, der Erbe könne mit feinen fünf- 
hundert Ducaten im „wilden Manne,“ jeinem Tod— 
feinde, einfahren, nur verfeffener auf ihn wurde. Er 
überfchüittete den Heldenſpieler mit Gunftbezeugimgen 


\ 


4192 


und brachte es endlich, wiewohl nad vieler Mühe, 
dahin, daß Hanno wenigjtend verſprach, wieder ‘bei 
ihm zu efin. Die Wohnung fonnte er troß aller 
Ueberrevungsgabe nicht durchſetzen. 

Mit Schmerz hatte Lagemann wiederholt die Be— 
merfung gemacht, daß "fein Begleiter Miene mache, 
von ihm loszukommen. Er ſchloß hieraus, daß Hanno, 
der nach feiner Berechnung jett ein gejuchter Mann 
war, anderweite Verbindung anzufnüpfen im Begriffe 
ftehe. Um ihn alfo mit unauflöslichen Ketten an 
feine Perfon zu fchliegen, gab er feinem Herzen einen 
gewaltfamen Stop. Er riß ſich felbft, nach heftigen 
innern Kampfe, zu einer That hin, welche ex im Leben 
nicht für möglich gehalten hätte. Als er nämlich mit 
Hanno an eine Gaſſenecke gelangt war, und dieſer 
wieder Miene nıachte, zu echappiren, faßte er den 
Helvenfpieler frampfhaft am Arme. 

„Hanno,“ raunte er leife und vertrauungsvoll, 
„wenn Ihr Geld braudt —“ 

Wie Orgelton und Ölodenflang tönte dieſes in- 
haltſchwere Wort in des Heldenſpielers Gehörorgane 
wieder. Doch war er ſchlau genug und ließ ſich von 
ſeinem Wohlbehagen nicht das Geringſte merken. Er 
ſtellte ſich gerührt von folder Freundſchaft, machte ſich 
ſanft los, drückte Lagemann vielſagend die Hand und 
verſchwand mit den wohlwollenden Worten „danke 
wirklich“ in ein Seitengäßchen. 

Dem Madeburger war es "gar nicht recht, daß 
ihm der Künſtler ſo zeitig entwiſchte. Er war auf 
Jedermann eiferſüchtig, dem Hanno in's Garn laufen 
könnte. Doch tröſtete er ſich damit, daß der Kabul'ſche 
Erbe ihm freundſchaftlich die Hand gevrüdt. Er be— 
ſchloß, jeine Freundſchaftsofferten, jobald er nad) Haufe 
füme, in erhöhterem Grade fortzufegen. . 


193 


„Der Satan mag willen,” ſprach er zornig für 
ji, „wer bereit8 die Angel nad) Hanno ausgewor- 
fen, denn daß er felbft auf das angebotene Darlehn 
Verzicht Teiftete, läßt mih das Aergſte befürchten. 
Es ift Doch eine verworfene, eigennüßige Welt; vor 
dem Codicille wollte fein Menſch etwas ‚von dem 
Komddianten wiffen; id) war der einzige, der mit 
ihn in Verkehr ftand und ihn fütterte; er wäre längft 
verhungert, war ih nicht, und jet reißt man fi 
um den Kerl. Ich muß wirklich das Aeußerſte auf: 
bieten, um ihn zu erhalten. Ex ift leichtfinnig und 
achtet das Geld nicht. Ich bin überzeugt, es ift 
mit ihm fein übel Gefhäft zu machen Wenn ich 
ihm hundert Ducaten binzähle, ift er im Stande, 
mir das ganze Erbtheil abzutreten. Baar Geld lacht. 
Ich muß fehen, was zu thun ift; aber da iſt aud 
nöthig, daß ich ſchleunig dazu thue, fonft fallt er - 
irgend einem Schnapphahne, wie wir leider die Menge 
haben, in die Hände. 

Mit diefen Worten eilte der edle Lagemann gra= 
den Weges nad feiner Wohnung, um fo viel Gelb 
bereit zu legen, als er zu brauden glaubte, um mit 
dem Helvenfpieler, wie ev meinte, ein Gefchäftchen zu 
machen. 


daft um viefelbe Zeit ald Lagemann bei Felicitas 
fih als Mentor Gamaliel's anbot, hatte Frau Urfula 
ihre Noth mit den drei Freien, welche fie mit aller 
Gewalt nah Kabul treiben wollte, zu welcher weit- 
läufigen Reife aber feiner die geringfte Neigung ver- 
ſpürte. Da es bei Oamaliel bei der fortwährenven 
Weigerung feiner Mutter, ihn von ſich zu laffen, im- 
mer unmahrjcheinlicher wurde, ob er vie orientalifche 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. 13 


194 


Fahrt überhaupt unternehmen werde, ſo hatte ſich Frau 
Urſula in ihrer Bedrängniß an ihre Anbeter gewandt. 

Mit dem Papiermüller war gleich gar nichts an- 
zufangen, bei dem war Hopfen und Malz verloren. 
Seine jonft nit ergiebige Phantafie war bei dem 
Gedanken an eine foldhe Reiſe außerordentlich fpen- 
babel und malte ihm alle erdenkbaren Gefahren, Men- 
ſchenfreſſer, Feueranbeter, fabelhafte Götterthiere aus 
der Offenbarung Johannis, drei» und fiebenköpfige 
Ungeheuer mit ven colofjalften Schwänzen, der Erd⸗ 
beben und Vulkanausbrüche nicht zu gedenken. 

Auerhahn, den das zweite Codicill äußerſt mali— 
tiös geftimmt hatte, weil dadurch feine Divinations- 
gabe eine große Niederlage erlitten, ſprach ſich noch 
ungeberbiger über die Zumuthung aus, nad) einem 
Lande unter Segel zu gehen, deſſen Exiſtenz er gar 
nicht zugeftand. Er begab fid) hinter feine Spriten 
und Schläuche in Sicherheit und meinte, fein ange: 
brachtes Gefhäft könne er wegen ber paar lumpigen 
Ducaten nicht vernegligiren. 

Der Gotteskaftenvorfteher, welcher auf feinen Karten 
den Weg nach Kabul ausgerechnet hatte, erichraf ob 
der enormen Weite. Ex behauptete, daß wer nicht 
geographifche Kenntniſſe beſitze, ſich won jold einer 
Reife ſchlechterdings feinen Begriff machen fünne. 

Urjula ließ fein Mittel unverfudht, ihren Anbe— 
tern die Vortheile einer ſolchen morgenländifchen Neife 
in gehöriges Licht zu ſetzen. 

„Es unterliegt feinem Zweifel,“ ſprach fie zu 
Auerhahn, „daß Ihre Sprigen und Schläudye in Ka— 
buliftan eine völlig unbelannte Erfindung find. Sie 
können fpielend ein Gefhäft machen, fo glänzend wie 
fein früheres, abgefehen von dem Ruhme, ein Wohl: 
thäter jener Gegenden zu werben. Wer meiß wie Die 


495 


Dinge kommen, Sie werden von Seiner Majeftät von 
Kabul mit Orden geſchmüdt, ja gendelt.” 

„Wo die Engländer ihre Naſe hingeſteckt,“ erwie— 
derte der erfahrene Auerhahn, „da fehlt's weder an 
Spritzen noch an Schläuchen; das muß ich beſſer wif- 
ſen. Dieſes Volk concurrirt mit Gott und aller Welt 
und es bleibt ein ewiger Jammer, daß Napoleon mit 
dieſen H— nicht fertig geworden und ſie zu allen 
Teufeln gejagt hat.“ 

Nachdem Urſula erkannt hatte, daß Auerhahn ſelbſt 
durch ſeine Spritzen und Schläuche nicht zu bewegen 
war, die Kabul'ſche Reiſe anzutreten, wandte ſie ſich 
an ben Gottesfaftenmann, welchen fie zu verftehen 
gab, wie viel die Wilfenfchaft gewinnen würde, menn 
ein in der Geographie jo erfahrener Mann die Fahrt 
unternähme. 

„Ich wage hier allerdings nicht zu widerſprechen,“ 
verfette Henoch, „aber gerade weil ich in der Geo— 
graphie nicht ganz unbewandert bin, erfenne ich die 
außergewöhnlichen Schwierigkeiten, die es mit dieſer 
Weltfahrt auf ſich hat, und zwar klarer als irgend 
ein andrer. 

Nachdem Urſula alle Regiſter gezogen, um in ih— 
ren Anbetern die Reiſeluſt zu erwecken, nahm ſie zu 
dem letzten Mittel ihre Zuflucht, ſie bot auf verblümte 
Weiſe ihr Herz und ihre Hand demjenigen an, der 
ihr die fünfhundert Ducaten von Kabul herbeiholen 
wiürbe, 

Henody wandelte bei dieſer Propofition, deren 
Sinn er allein erfannt zu haben fid) fehmeichelte, ein 
außergewöhnlicher Heroismus an. Er fah die Mög- 
Iichfeit,, feine Nebenbuhlee mit einem Schlage aus 
dem Sattel zu heben. Zugleich aber bedachte er auch, 
wie lange Zeit er zur Reife nöthig habe, unterdeß 

1 


196 


wären Auerhahn und der Papiermüller Hahn im 
Korbe. Auf eine junge heirathsluftige Wittwe feien 
feine Häufer zu bauen. Während er (Henoch) auf 
hoher See mit den Wellen kämpfe und mit wibrigen 
Winden und Seeungeheuern, hätten vie beiven Yurüd- 
bleibenden die bequemfte Mufe, das Herz ber Frau 
Urfula zu belagern, zu ftürmen und enblich zu erobern. 
Es konnte ſich vielleicht gerade ber traurige Fall er- 
eignen, daß wenn er nad) taufenverlei außergemöhn- 
lichen Abenteuern enplih aus dem Morgenlande heim- 
fehre, er gerade zu dem Momente eintreffe, wo Auer- 
hahn mit der Wittwe Hochzeit mache, wie zu ben 
‚Zeiten der Kreuzzüge öfter vorgelommen fei und ven 
Boeten häufig Stoff zu den rührendſten Romanzen 
gegeben habe. Alſo auch die Ausſicht auf der— 
einſtigen ſüßen Minneſold konnte den Gotteskaſten- 
vorſteher nicht bewegen, den trauten heimathlichen 
Herd von Niederroßla zu verlaſſen und gen Kabul 
zu fteuern. 

Auerhahn, welder den Sinn von Urfula’s ver- 
blünten Heirathsofferten endlich ebenfalls heraus be- 
kam, erwiederte auf feine gewohnte unzarte Weile: 
„Was da, wenn Sie mid) heirathen wollen, wozu 
das lange Brimbarium; id bin fein eigennüßiger 
Freier, der nad) Gelb und Gut geht; aud ohne die 
Kabul'ſchen Ducaten follen Sie e8 ganz leidlich bei 
mir haben. Eine Huge Grau, wie Sie, wird Thon 
mit mir auszufommen willen, wenn ich auch nicht 
alle Zeit zu den Yeinften gehöre.” 

Frau Urfula that bei diefen Worten wieder fehr 
böfe und im Grunde war fie es aud. Sie begriff 
nit, nachdem ihre Freier jo wenig ritterlihen und 
galanten Sinn an ven Tag gelegt, wie fie ihres Erb- 
theild auf die am wenigſten koſtſpielige Weife hab— 


497 


haft werden ſolle. Es blieb ihr jet nur noch der 
Ausweg, fih an PVetterlein und ven Factor Süßmilch 
zu wenden, welche feſt entſchloſſen waren, bie Reife: 
nad dem Oriente anzutreten. 


Gamaliel hatte, wie wir geſehen, nach Lagemann's 
Niederlage bei Madame Drollinger ſeine Mütze ergrif— 
fen und war in höchſt desperater Stimmung hinaus 
in die Berge gelaufen. Hier grünte Alles wunder— 
ſchön und Grasmücken ſangen im Gebüſch. Aus dem 
tiefern Walde herüber tönte die Stimme des Guckucks. 
Der Secretair hörte ihn dieſes Jahr zum erſten Mal, 
und begann ſogleich zu zählen Er bradite e8 auf 
dreiundzwanzig, was ihn ziemlich heiter ſtimmte. | 

Nach einiger Zeit fuhr der Secretair fort: „Was 
hilft es, daß wir plöglich reich geworden find, bin ich. 
venn deshalb froher geworden? Der ganze ſchöne 
Frühling geht mir zu Grunde, wenn id) nicht reifen 
darf. Vergebens blüht Alles umber und die Vöglein 
jhmettern, daß man möchte taub werden, aber Herz 
und Gemüth ift verftimnt und vernimmt nichte.“ 

Während dieſer mifanthropifchen Betrachtungen wa— 
tete Samaliel durch Gras und Blumen längſt des 
Fahrwegs, welcher nad) Friedrichshof führte. Es war 
biefe Richtung feit einiger Zeit fein Lieblingsfpazier= 
gang. Wenn er aus dem Stadtthore trat, ſchlug er 
ihn fast unmwilltürlih ein. Dann ſchwebte wohl zu= 
weilen vor feiner entzüdten Phantafie das Bild ber 
veizenden Klotilde wie eine Engelserſcheinung vorüber, 
und er vergaß Kabul, Erbſchaft und Alles und lebte 
blos in Kiückerinnerung an jenen feenhaften Augen- 
blid, wo er die Tochter de8 Generals vom Abend- 
xothe umklungen wie eine Heine Heilige erſchaut hatte. 


198 


Die zeitherigen Erbangelegenheiten hatten dem Se— 
cretair nicht erlaubt, feinen Beſuch auf Friedrichshof 
zu wiederholen, wie jehr fein Herz jenen Morgenber- 
gen zuſchlug. Seit er in Erfahrung gebradt, daß 
ein eingeborner Engel dafelbft wohne, dachte er nur 
mit Zagen an einen abermaligen Beſuch. Er erin- 
nerte jid mit Cchredien an feine Grobheit, das ihn 
anfchauende Fräulein nicht begrüßt zu haben, und be- 
griff nicht, wie er fih mit einer Entſchuldigung 
herausfinden jollte, wenn er Klotilden auf Friedrichs— 
hof vorgeftellt wurde. Mit Dienerfhaft und Kutjcher 
war er wegen des Trinkgelds in’s Reine Er hatte 
fih ſehr honnet abgefunden und fomit eine jchmere 
Laft von der Bruft gewählt. Dafür lag der Gedanke 
an feine Grobheit wie ein Vorgebirge auf ihm. 

As er fo mit fich felbft unzufrieden dahin wan— 
belte, ward plöglich feine Aufmerkjamfeit durch einen 
Wagen rege gemacht, der eiligft die Strafe daher 
rollte. Der Secretair, weldyer ziemlich leuteſcheu war 
und namentlih, wenn er fih im Frühlinge erging, 
gern ungeftört war, wollte fo eben in's büftre Ge— 
büſch flüchten, als er feinen Namen rufen hörte Er 
blieb ftehen und erfannte mit freudigem Schreden ven 
jungen Bictor, welder in dem Wagen daher Fam. 
Auf dem Kutjcherfige thronte der bekannte Niklas. 

Samaliel, von der Tarantel der Höflichkeit ge= 
jtohen, machte augenblidlich rechtsumkehrt und eilte 
fpornftreih8 den Wagen zu, welder anhielt. Er 
mußte fofort einfteigen und ward von dem jungen 
Morand mit freundfchaftlihen Vorwürfen in Menge 
überhäuft, daß er jo wenig Wort gehalten und Fried— 
richshof nicht wieder bejucht habe. 

Der Cecretair entjchuldigte fi mit feinen Erb— 
angelegenheiten, worauf ihm Victor mit der Frage 


499 


in die Rede fiel: „Wiffen Sie ſchon, daß auch ich die 
Reife nach Kabul mitmache?“ 

Das hatte noch gefehlt, um Herrn Drollinger 
gegen feine Frau Mutter vollends in Rebellion zu 
jegen. Er Hagte Victor fein außerorventliches Miß⸗ 
geihie, troß feiner Sehnfuht nad dem Morgenlanve 
in Nieverroßla verbleiben zu müflen. 

„Das ift allerdings Jammerſchade,“ klagte ver 
junge Morand, „id hatte auf Ihre Geſellſchaft ſo 
ſchöne Hoffnung gebaut.“ 

Dem Secretair waren die Thränen nahe. Er 
faßte im Innern den verzweifelnden Entſchluß, wie 
der ſelige Hofmaler auf und davon zu laufen. 

„Ich werde ſelbſt mit Ihrer Frau Mutter pres 
chen, tröftete Victor, „wir wpllen fogleich bei ihr 
vorfahren, vielleiht, dag mir's gelingt, viefelbe für 
Ihre Abreife geneigter zu ſtimmen.“ 

Gamaliel verfprah fih von Victor's Einfluffe auf 
Felicitas allerdings mehr als von dem Lagemanm's, 
und er begleitete ziemlich hoffnungsreich den Sohn 
des Generals nach der Stadt zurück. 

Als ſich das Fuhrwerk über das ſehr holprige 
Pflaſter von Niederroßla dahin bewegte, fuhr‘ ver 
Hohmuthstenfel in den Secretair und er wiünfchte, 
daß ihm fo viel Bürgerfchaft und Honorationen wie 
möglich begegnen möchten, um ihn in einer fo glän« 
zenden Equipage und an der Seite eines ftattlichen 
und vornehmen Herrn figen zu jehen. Er grüßte 
bereit8 mit Anftand und mit einer leichten ariftocre- 
tischen Hanpbewegung, die er Victor abgelaufcht hatte, 
die Entgegenfommenven, welche ſämmtlich ftehen blie- 
ben und verwunderungs- und ehrfurchtsvoll dem ba- 
hinfahrenden Secretair nachſchauten. 

Als das Fuhrwerk in die Straße einbog, in wel- 


200 


her die Stadt Magdeburg lag, begegnete man Yage- 
mann, weldher jo glüdlih geweſen, bes Selvenfpie- 
lers wieder habhaft zu werben und eben bemüht war, 
ber vermeintlichen Kabul'ſchen Erbengel, welcher große 
Unluft und Wiperftreben heuchelte, mit Gewalt nad) 
feinem Gafthaufe zu fuhrwerten. 

Den beiden Biedermännern blieb der Mund weit 
offen ſtehen, als fie den Secretair hob zu Wagen 
daher kommen fahen. Hanno erinnerte ſich fogleich 
der Betterfhaft und grüßte ganz familiär, was Ga— 
maliel in eimas fatal war. Er befürchtete, Victor 
inne argwohnen, er ftehe mit dieſem Strohmian, 
deſſen comöbiantenhafte® Aeußere auf feinen großen 
innern Gehalt fliegen ließ, auf intimem Fuße, was 
feinesmegs der Tall war. 

„Es ift der junge Franzoſe von Friedrichshof,“ 
ſprach Lagemann, als der Wagen vorüber war, „ba 
fieht man gleih, was eine Erbſchaft thut. Früher 
fah man den ärmlichen Schreiber nicht über die Adh- 
jeln an und jest fährt man mit ihm in demfelben 
Wagen. D die Welt liegt im Argen, Hanno, ebler 
Menfchenfreund, Ihr habt mir's immer nicht glauben 
wollen. Und diefe Morand's hätten’8 wahrlich nicht 
nöthig, fiten im Golde bis über die Ohren. Pfui 
über fold) eigennügiges Gefindel; da lob' ih mir den 
fimpeln Bürgersmann, 

„Hanno,” fuhr der Hotelier fort, als man bei 
dem Gaſthaus angelangt war, „thut mir nur ben 
Gefallen und benehmt Euch, als ob Ihr zu Haufe 
wäret; Ihr würdet mich zu tief Fränfen, fo Ihr die 
geringften Umstände machen wollte. Betrachtet mein 
Beſitzthum wie das Eurige; unter wahren Freunden 
darf fein befondres Eigenthum ftattfinden. Das ift 
mein Grundſatz von jeher gewejen. et aber wol- 


204 


len wir vor allen Dingen meinen nenangelangten 
Scharlachberger verfuchen; Freund, ein Weinden, ſag' 
ih; ein ſolches wächſt fobalb nicht wieder. Wenn Ihr 
nicht tapfer zufprecht, habt Ihr's mit mir zu thin.“ 

Mit diefen Worten faßte Lagemann den Helven- 
ſpieler freundſchaftlichſt unterm Arm und zog ihn durch 
die Thür ſeines Gaſthauſes. Hanno, obſchon es in 
ſeinem Innern jubelte, folgte ſcheinbar gezwungen und 
mit höchſt verdroſſenem Geſichte. 

Als Victor und Gamaliel bei Madame Drollinger 
vorfuhren, trat ſoeben der Stadtrichter aus dem Hauſe, 
welcher mit der Wittwe eine lange Unterredung gehabt. 


Vierzehntes Rapitel. 


Die große Expedition nach dem Morgenlande war 
endlich beſchloſſen. Felicitas hatte ſich durch den 
Stadtrichter, den ſie als einen kenntnißreichen und ge— 
wiſſenhaften Mann kannte und achtete, wie durch den 
jungen Morand, welcher ſich Gamaliel als Reiſege— 
fährte anbot, bewegen laſſen, ihrem Sohne die Er— 
laubniß zur Reiſe nach Kabul zu ertheilen. 
Desgleichen war es einem hochmögenden und wei— 
ſen Rath von Niederroßla gelungen, den Rathsactnar 
Zeiſig, ob dieſer ſchon ſeinen Tod vor Augen ſah und 
deshalb ſein Teſtament niedergeſchrieben, für die Welt⸗ 
fahrt zu gewinnen Da aber Zeiſig rund heraus er- 
klärt hatte, daß er für feine Perfon allein fih nicht 
getraue, das Krokodill ganzbeinig nad) Niederroßla 
zu bringen, fo hatte ein hoher Rath in feiner Weis— 


202 


heit zu bejchliegen gerubt, ihm einen Schug- und 
Zrußgefährten beizugejellen; und dieſer beſtand aus 
Niemandem anders, als aus dem Athanaſius Yage- 
mann, welcher fi feine Mühe hatte vervrießen laj- 
fen, dieſes Amt zu erlangen. mei fette Schweine 
jo groß wie Heine Ochſen, waren gefällt worben, umt 
den Senat für das Lagemann'ſche Reiſeproject gün— 
fig zu fiimmen. Mit ihrem Blute war der Bund 
befiegelt worden, welcher ven Hotelier und Zeiſig auch 
in fernen Welttheilen vereinen follte Nicht ohne 
Grund war der Magdeburger fo erpiht auf Kabul. 
Er lebte nämlich — Hanno hatte feine Rolle mei- 
fterhaft gefpielt — nod) immer ſtarr und fteif in dem 
bezaubernden Irrthum, daß der Helvenfpieler über 
fünfhundert Ducaten zu Disponiren habe; auch war 
e8 Lagemann gelungen, von dieſer Summe bereits 
einen anfehnlichen Theil fich zu verfihern. Die Wirths- 
hausrechnung des Künftlers- belief ſich allein auf funf- 
zig Ducaten, ver Magdeburger ſchonte troß der Freund- 
Ihaft feine Kreide; funfzig Stüd (ſämmtlich bejchnit- 
ten, Lagemann hatte mehrere Nächte mit der Teile ges 
arbeitet) waren Hanno baar unter der Beringung 
vom Hotelier überantwortet worden, daß er ihm ba= 
für zweihundert von der Erbjumme abtrete. Nur nad 
langem Wiperftreben und unter ver heiligen Berfiche- 
rung, daß ihm das Meſſer an der Kehle ftehe (wie 
dem auch jein mochte), war der Heldenſpieler zu be- 
wegen gewejen, den wucherifchen Accord abzujchliegen. 
Gleichwohl verblieben ihm nad) Lagemann's Meinung 
noch immer zweihundert Ducaten, welche dem gelddür— 
ftenden Sinne des Magdeburgers gewaltig in die Au- 
gen ftachen, fo daß er mit Hanno in abermalige Un— 
techandlung trat. Er bot noch funfzig Stüd für 
Ueberlaffung des gefammten Exbtheild ; ob dieſes Ge— 


203 


bots aber ftellte fich der Künftler außerordentlich ent- 
rüftet, jo daß er lange nicht zu befänftigen war. Sa- 
gemann meinte, ein Freund dürfe dem andern nicht 
jedes Wort auf die Goldwaage legen; aber Hanno, 
fortwährend aufgebracht gab zu verftehen, daß er nad 
ſolchem ſchändlichen Gebote nicht übel gewillt fet, 
bie ganze Freundſchaft aufzuheben. Jetzt ward bem 
Hotelier Angft und er legte nody zwanzig Ducaten 
zu. Hanno beftand ſchlechterdings auf Zweihundert. 
Lagemann beſchwor ihn bei feiner Freundſchaft, ob 
er foldhe Forderung vor feinem Gewiſſen und vor 
dem bereinftigen Richter zu verantworten vermüge? 
Hanno behauptete, es verantworten zu fünnen, aber 
Lagemann wollte darum nicht zahlen. Mean ftritt 
lange und wieder. Lagemann appellirte fortwährend 
an die Freundſchaft, ver Künſtler Desgleichen. 

Ein Sprichwort fagt: „Berg und Thal kom— 
men zujammen” So ward aud mit ven beiben 
Diedermännern. 

Der Handel war geſchloſſen, am nädften Tage 
zahlte Lagemann, nachdem er die Nacht vorher wie- 
der auf wahrhaft unverantwortliche Art gerafpelt, acht⸗ 
zig Stüd, wahre Schmetterlinge, und Hanno ſtrich 
fie feufzend ein, nachdem er vorher vermittelit eines 
Ichriftlihen Documents das Kabul'ſche Erbe feiner 
verjtorbenen Frau, geborene Seekrebs, an Herrn Atha⸗ 
naſius abgetreten hatte. 

Im Beſitze dieſer Ceſſionsurkunde hatte nun der 
Hotelier nichts Angelegentlicheres zu thun, als den Se⸗ 
nat mittelſt eines doppelten Schweinemords zu ſeinem 
Gunſten zu ſtimmen und ihn zu beſtürmen, daß es 
ihm erlaubt ſei, dem Actuariats-Botſchafter als At— 
tahe nad) Kabul zu folgen. Er glaubte, wenn er als 


ein Stüd diplomatifchsoffictelle Perſon in Le 


204 


anlange, er die Erbſchaft mit weniger Schwierigkeiten 
werde erheben können ald außerdem. 

Der Senat, da Lagemann auf feine anderweitige 
Bergütung Anſpruch machte und Zeifig ohne Beglei- 
ter ſchlechterdings nicht reifen wollte, überdies gerührt 
buch das fette Opfer, trug fein Bedenken, dem Ho- 
telier das Amt eines Attache in Gnaden zu be= 
willigen. 

Alſo Lagemann fuhr mit nach Kabul, das ſtand 
feſt. Aber auch Hanno fuhr mit und das verhielt 
fih alfo. Frau Urſula, nachdem ſowohl Gamaliel, 
als auch ihre drei Anbeter das Geſuch, das ihr zu- 
fallende Erbtheil in Kabul zu erheben, abgelehnt, rich— 
tete ihre Blide auf Hanno, welder ihr allerdings alle 
erforderlichen Eigenſchaften für eine langwierige Reife 
zu befigen jchien, nur daß er etwas dyarlatanmäßig 
erfchien und ihm daher weniger zu trauen war. In— 
deß da ſich auch Vetterlein und der Yartor auf das 
Mandat nicht einließen, blieb feine andre Wahl. Sie 
trug aljo dem Helvenfpieler ihr Anliegen vor, wel- 
ches auch ohne weiteren Widerſpruch beftens acceptirt 
wurde. Dem Künftler fam die morgenländifche Fahrt 
höchſt erwünſcht. Er bedachte, daß er im PVaterlande 
fo nichts mehr nütze; außerden war er an ein unfte- 
te8 Leben gewöhnt und liebte das Abenteuerliche. 

Demnad) ‘machten ſich in Niederroßla nachverzeidh- 
nete Perfonen zum Aufbruche nah Kabul fertig: Ga— 
maliel Drolinger in Begleitung des jungen Pictor 
Morand; Hanno als Mandatar der verwittweten Ur— 
jula Klugin; der Quartus Betterlein und der Factor 
Süßmilch; und endlic der Rathsactuar Zeifig nebft 
feinem Attaché und Mentor Athanafius Lagemann; 
leßtere zwei jvectaliter beauftragt, das goldne Kroko— 


205 


bill, welches ein hochweifer Rath ererbet, wohlbehalten 
nad) Nieverroßla zu transportiren. 

Die Reifeanftalten, welde von den verjchiedenen 
Individuen getroffen wurden, gehörten zu dem Außer- 
ordentlichten, wad man in Nieverroßla je erlebt hatte. 
Die ganze Stadt nahm durd Rath und That Theil 
an der Ausrüftung. Zeifig ward auf Magiftratsun- 
foften völlig neu befleivet und zwar mit einem \walfer- 
dichten Stoffe, deſſen Erfindung unferm Jahrhundert 
zur Ehre gereiht. Außerdem erhielt er ein Futteral 
für den ganzen Körper von Ölanzleinwand nebft einem 
Schifferhut, auf weldem das Stadtwappen von Nie 
berroßla in erhabner Arbeit prangte. Dieſes Wap- 
pen beitand in einem Dchjenfopfe mit nur einem 
Horne und verbanfte feine Entſtehung einer höchſt 
merkwürdigen Begebenheit. Es war im grauen Al- 
terthume, als Niederroßla nur noch den Rang eines 
Marktfledens einnahm, von einem benachbarten NRaub- 
ritter belagert und hart berennt worden. Die Belager- 
ten befaßen nur noch einen Ochfen und dieſer follte 
eben gejchladhtet werden, als beim jetigen Conſtitu— 
tionsthore ein mörberliher Lärm entjteht. Der Feind 
ift eingedrungen und ftürmt mordend die Straße ent- 
lang. Der Megger, der den Ochſen tödten foll, ver- 
liert ob des außerordentlichen Mordio den Kopf und 
ſchlägt blind darauf los, anftatt aber die Stim des 
Stierd zu treffen, zertrümmert er ihm das rechte Horn. 
Der Ochſe, von folder Handlung empört, reißt fich 
108, ftürmt zum Schlachthauſe hinaus und zufälliger- 
weife dem ftürmenvden Feinde entgegen. Nachdem er 
nicht weniger denn ein Dutend der eingedrungenen 
Raubritter über den Haufen geworfen, eilt er durch's 
Thor in's Freie. Der Feind, durch dieſes völlig un— 
erwartete Ereigniß in Schreden gejeßt — denn nad) 


206 


damaligen Anſichten fonnte das wiüthende Beeſt mit 
nur einem Horne Niemand ander8 als ver Beelzebub 
fein, ergreift die Flucht. Die Nieverroßlaer, refolute 
Leute wie immer, benugen den glüdlichen Umftand, 
werfen das Thor zu und halten fi fo lange, bi 
faiferlicher Erſatz berbeieilt. Wegen feiner tapfern 
Gegenwehr warb Niederroßla zur Stadt erhoben und 
in dankbarer Erinnerung an den Ochſen, das wohl- 
getroffne Portrait deffelben mit einem Horne in das 
neue Stadtwappen aufgenommen. Dieſes venn trug 
der Rathsactuar Zeifig bei feinem Zuge nad Afgha— 
niftan auf feinem ladirten Schifferhute. Der Hut, 
fo wie der ganze vom Magiftrat gefchaffte Habit war, 
wie der Brautjtaat- einer Prinzeffin, acht Tage, lang 
unter dem Rathhauſe zu Jedermanns Anficht und 
Bewunderung ausgeftellt. 

Dei Factor Süßmilch, ein für feine Gefunpheit 
jehr bejorgter Mann, hatte fi einen Wamms und 
Beinkleiver von Baumwolle anfertigen laſſen. Er 
beabfichtigte damit drei Fliegen mit Einem Schlage 
todt zu machen. Erſtens follte ihn dieſes neue Kleid, 
für den Fall er das. Unglüd habe, in's Waſſer zu 
fallen, jo lange auf der Oberfläche erhalten, bis Hülfe 
fäme, alsdann gegen die etwaigen Pfeile der Indianer 
hüten und drittens vor den Nachtheilen eines jchnel- 
len ZTemperaturwechjeld bewahren. Als Süßmilch in 
dieſem feltfamen Koſtüme feinen Probeausgang hielt, 
vermochte man den Mann nicht wieder zu erfennen. 
Seine dünne Figur war angejchwollen wie die eines 
DBürgermeifters. 

In nicht minder baroder Tracht erſchien Lage— 
mann. Er fand Zeiſig's Slanztaffet eben jo unpaſſend 
wie Süßmildy’8 Baumwolle und erfchten daher in der 
Tracht eines ehemaligen Yanzenfnechts, faſt gänzlich 


207 


in grobgegerbtem Rindsleder mit Pidelhaube und 
einer Art blechernen Bruftharnifh, worauf gleichfalls 
das Nieverroßlaer Stadtwappen zu fehen war. Er 
hielt Tegteres für unentbehrlih, da er im der diplo— 
matiſchen Eigenſchaft eines Attache ber Niederroßlaer 
Geſandtſchaft reiſte. Sein kriegeriſcher Anblick im— 
ponirte faſt noch mehr als Süßmilch's Baumwollen- 
habit, namentlich fand ſich die Schuljugend ſehr alar- 
mirt dadurch. 

Vetterlein's Reiſecoſtüm beftand aus einen ziem—⸗ 
lich ungeſchlachten Tüffelrock, der bis auf die Knö— 
chel herabreichte und die kleine Figur des Quartus 
ganz verſchlang. Wenn er bei unfreundlichem Wetter 
den Kragen in die Höhe ftülpte, fo war vom Schul⸗ 
manne nichts zu erbliden und e8 gab nur einen wan- 
delnden Rod, höchſtens, daß die Duafte der Sad- 
müte, vom Winde hin und wieder bewegt, ein We— 
nig hervorragte. Betterlein wußte fi) trotzdem, daß 
er in dem Node total verſchwunden war, doch recht 
gut zurecht zu finden. Er fchaute durch eins der 
oberen Knopflöcher wie durch eine Schießſcharte. Ob— 
ſchon er nun vermittelſt ſeines Tüffels gegen den Re— 
gen vollkommen geſchützt war, ſo ermangelte er doch 
nie ohne Regenſchirm auszugehen, welch' letzterer ſich 
ſogleich entfaltete, ſobald ein dunkles Wölkchen am 
Horizonte emporſtieg. In dieſem Aufzuge hatte er 
in ſeinen früheren Jahren Deutſchland, die Schweiz 
und einen Theil Frankreichs durchwandert und dieſe 
Bekleidungsart ſehr praktiſch gfunden. Deshalb ſtand 
ſein Entſchluß feſt, auch Afghaniſtan im Tüffel und 
in Begleitung des Regenſchirms zu beſuchen. 

Hanno's Garderobe war die einfachſte. Er beſaß 
eine ziemliche Fertigkeit im Umſchlagen und im Fal— 
tenwurfe des Carbonarimantels. Alle Helden in Män— 


208 


teln ftellte ev ſehr maleriſch vermittelt feines Carbo- 
naris, dieſes Solitairs feiner Theatergarderobe, dar. 
Leider mußte er aber bereits ſeit Zeit auf dieſe Um— 
ſchlagevirtuoſität verzichten, da der Mantel in Gefell- 
ihaft des Waldes von Hermannftadt beim Meubleur 
Hantuſch verſetzt ftand und erft neuerdings durch Ver— 
mittlung des Attahe in den Beſitz des Eigenthünters 
zurüdgefehrt war. Im diefen Mantel, ſchwur ver 
Held, fei er unbefiegbar und getraue fich, ein zweiter 
Alerander, Alten zu erobern. 
So war die Ausrüftung der Nieverroßlaer Afgha⸗ 
nen bis in's geringfügigſte Detail vorgerückt und der 
Tag der Abreiſe auf Dienſtags den breiundzwanzig- 
flen Juni angefegt, ungefähr zehn Wochen nad ber 
erbichaftlihen Bekanntmachung im Wochenblatte. 


Ende des erften Bandes. 


Drud von Alerander Wiede in Leipzig. 


208 


teln ftellte er jehr maleriſch vermittelft feines Carbo- 
naris, dieſes Solitaird feiner Thentergarverobe, dar. 
Leider mußte er aber bereits feit Zeit auf dieſe Um— 
Ichlagevirtuofität verzichten, da der Mantel in Gefell- 
Ihaft des Waldes von Hermannftant beim Meubleur 
Hantuſch verſetzt ſtand und erft neuerbings durch DVer- 
mittlung des Attadhe in den Beſitz des Eigenthümers 
zurüdgelehrt war. In diefen Mantel, ſchwur ver 
Held, fei er unbefiegbar und getraue ſich, ein zweiter 
Ülerander, Alien zu erobern. , 
Sp war die Ausrüftung der Nieverroßlaer Afgha⸗ 
nen bis in's geringfügigſte Detail vorgerückt und der 
Tag der Abreiſe auf Dienſtags den dreiundzwanzig- 
ſten Juni angeſetzt, ungefähr zehn Wochen nad) ver 
erbihaftlihen Bekanntmachung im Wochenblatte, 


Ende des erften Bandes, 


Drud von Alerander Wiede in Leipzig. 


Fabian Stule's 
ausgewäßlte Schriften. 


Bolls- und Familien= Ausgabe. 


Adztzehuter Band. 


— 


Zweite Auflage. 


Leipzig, 
Ernft Keil. 
1858, 


Die 


Erbichaft in Kabul. 


— — —— 


Komiſcher Roman 


von 


Serdinand Stolle. 


— — 


Aweiter Band. 


— — 


Zweite Auflage, 


Leipzig, 
Ernft Ketl. 
1858. 





Die Erbſchaft in Kabul. 


Komiſcher Roman. 


Erfies Kapitel. 


In einem jener blühenden Thäler Afghaniſtans, wo 
der Granatbaum in feltener Schöne blüht und das 
Waizenkorn hundertfältige Frucht treibt, da wo ber 
jchnellfließende Kabul in ven gewaltigen Indus mün⸗ 
bet, unfern ver ftarfbefeftigten Stabt Attok, deren 
Binnen und Minaret3 hinter Citronenwäldern hervor- 
laufchten, im Rüden ven majeſtätiſchen Himalaya mit 
feinen himmeldrohenden und mit ewigem Schnee be- 
deckten Gipfeln, jaß im: Garten feines Gaſtfreundes 
unter einer Laube blühenber Akazien ein Mann in 
ben vierziger Jahren, gekleidet in das fliegende Ge— 
wand der Afghanen und auf den Haupte einen Turban 
von Rafchemir. " 
Unmittelbar neben ihm hatte auf reichem, golddurch⸗ 
wirftem Teppiche eine zweite Geftalt in Afghanentracht 
Pla genommen, ungefähr zehn Jahre älter als vie 
eben erwähnte, welche mit ächt moslemſcher Ruhe 
und unerſchütterlichem Ernſte die Wolken ſeiner langen 
Pfeife zu den rothen Blüthen emporſteigen ließ. 
Betrachtete man die Geſichtszüge dieſer beiden 
Männer genauer, ſo war bei dem älteren die aſiatiſche 
Abkunft nicht zu verkennen, während der andre höch— 
ftend die dunklere Gefichtsfarbe mit den Bewohnern 
Irans und Turans gemein hatte. Beide waren in 


“8 
N 


tiefe8 Schweigen verfunfen, der ältere verfolgte behag- 
Ih das blaue Gewölke feines Knaſters, das in felt- 
famen Kreifen und Ringen emporitieg, während bie 
Blicke des jüngern mit Wohlgefallen auf den Minarets 
von Attok ruhten, die im Abendfcheine immer .röther 
zu glühen begamıen. 

Tiefe Stille ruhte über der Gegend, nur von fern 
vernahm man das Naufchen des Kabul, als ſich plöß- 
lih ein Abendwind erhob und die Luft mit himmliſchem 
Aroma erfüllte. 

„Bei Gott,“ nahm jetzt der Vierziger das Wort, 
indem er mit Entzůcken die lieblichſten Düfte einathmete, 
„das ift Wohlgeruch aus den Gärten des Paradiefes. 
Bas find das für Blumen, Ismael, wären es bereits 
die Vorboten Hindoftans gu 

„Der Abendwind geht über die Veilhengefilde von 
Peſchawer,“ erwiederte der Gefragte, „8 ift das Guli 
peigamber, die Roſe des Propheten, wie man fie weder 
in Border» noch Hinterafien kennt. Hörteft Du, 
Haſſan-ben-Mullah, nie von dem wunderbaren Dufte 
dieſer Veilchenfluren, die das Herz erfüllen mit unnenn= 
barer Wonne und berühmt find im Lande Zuran, fo 
weit die Echneegipfel leuchten des Himalaya?“ 

„Wohl vernahm ich oft von der gefeierten Roſe 
des Propheten, verſetzte Haflan, „wenn ich an Som= 
merabenden den Erzählern zuhörte in den Straßen 
von Kabul oder unter den fchattigen Tamarisfen auf 
und niederwallfahrtete im Königsgarten des Timur 
Schah; dod ihren Duft hab’ ich nie gefoftet bis zu 
diefer Stunde.” 

„Es ift der legte Grup,” ſprach Ismael, „welchen 
Afghaniftan Dir fendet, mög’ er nie Deinem Ge— 

dächtniß entichwinden, Haflan-ben-Mullah, mein 


9 


Heimatheland wird dann im liebliher Erinnerung in 
Deiner Seele fortleben.“ 

„Es wird dies aud) ohne die Beildhen von Peſchawer,“ u 
verſetzte Haffan, der feiner innern Bewegung nur mit 
Mühe Meifter ward; „glaubft Du, Ismael, daß man 
ein Land wieder vergißt, wo man Gaftfreundfchaft 
und Liebe in reihem Maaße fand? Du weißt, daß 
viele Worte und Declamationen nicht meine Sache find, 
aber hier bein Abfchiede an der Grenze Deines Landes 
mag ich e8 wohl geftehen, daß die Jahre und Stunden, 
die ich, obſchon taufend Meilen von ver deutſchen 
Heimath, unter Euch verlebte. die glüdlichften meines 
Lebens waren; und wenn nicht das Licht meines Lebens 
in Euren Thälern erloſchen wäre, und id) das Theuerſte 
unter Euern Rofen hätte begraben müljen, würde ich 
wohl ſchwerlich an eine Heimfehr nad) dem Abend— 
lande gedacht haben.‘ 

„Und wer foll fünftig die Roſen begießen,” frug 
Ismael, nicht ohne Wehmuth, „vie auf dem Grabe 
der weißen Perle wachſen?“ 

„Das ſollſt Du thun, geprüfter Freund, erwie— 
derte Haſſan, indem er dem Frager die Hand mit 
einem Blicke reichte, aus welchem ungeheuchelter Schmerz 
und Liebe ſprach. 

„Beim Propheten,“ betheuerte Ismael, „Du haſt 
keinen Unrechten gewählt; ſobald die erſten Frühlings— 
küſſe die finſtte Stirn des Hindukuſch berühren, und 
ſeine erſten Lawinen in die Thäler rollen, ſoll von 
meiner Hand gepflegt, die Schlummerſtätte in ſtiller 
Roſenpracht erblühn, die weiße Perle vom Paradieſe 
hernieder lächeln.“ 

Nach einer Pauſe längern Schweigens fügte er 
mit ſchmerzlichem Unwillen die Worte hinzu: „Gleich— 
wohl hätteft Du nit davon gehen follen.” 


40 


„Alter Freund,‘ ermiederte Haſſan, ter wieder 
feine gewohnte Ruhe gefunden hatte, „Du wirft es 
nicht übel deuten, aber feit dent Heimgange meiner 
Dlivia iſt e8 mir felbft unter den Blumen Kabuls 
einfam geworden und wenn der Abend in der Verne 
fommt, ſehnt ſich jeder Menſch nach der Heimath.“ 

„Will's glauben,” verfegte Ismael, „obichon id) 
nicht begreife, wie e8 eine ſchönre Heimath geben könne, 
als die Aprifofenthäler der Duranen.“ 

„Auch im deutſchen Lande blühen die Aprifofen,” 
erwiederte Haſſan-ben-Mullah, „wenn "feine Thäler 
auch nicht in dem Grade leuchten und duften wie das 
Flußgebiet des Kabul.“ 

„Uebrigens,“ fuhr er nad) einiger Zeit in Nach— 
denken verjunfen fort, „möge mid) der Himmel be= 
wahren, daß ich meine Heimfehr einmal bereue. Dann 
wäre mir felbft die Rückkehr in die Thäler der Duranen 
abgeſchnitten.“ 

„Allerdings,“ geſtand Ismael, „für Kabul biſt Du 
geſtorben und begraben in Ewigkeit, und darum eben 
begreife ich bis dieſe Stunde nicht, was Dich zu dem 
freiwilligen und gefährlichen Tode und Begräbniſſe 
bewegen konnte. Ich glaube nimmer, daß der König 
Deiner Heimkehr in's Vaterland Hinderniſſe in den 
Weg gelegt haben würde.“ 

„Doch, doch,“ erwiederte Haſſan, „wie hoch ich 
in ſeiner Gunſt ſtand, ſo überwog ſeine Sorge für 
ſeinen Leib, den ich als Arzt behandelte, alle andern 
Rückſichten.“ | 

Als Ismael hier zweifelnd den Kopf ſchüttelte, zog 
Haſſan ein Papier hervor, das er dem Freunde mit 
den Worten überreichte: „Wenn Du in meine Worte 
Bedenken feßeft, jo wird hoffentlich diefe Schrift Deine 
Zweifel bejeitigen.“ 


LE Be 


Das Manufeript enthielt die Abjchrift eines eigen- 
- händigen Brief des Königs von Kabul, ſchon von 
längerer Zeit her datirt, an feinen erften Minifter, 
worin lettrer unter Androhung der ftrengften Ahnung 
aufgefordert ward, auf Haffan-ben-Mullah das ftrengfte 
Auge zu haben und ver Fleinften Reife deſſelben, welche 
eine Auswanderung zum Zweck haben könnte, die un= 
überfteiglichften Hinderniffe in den Weg zu legen. 

Im ſchlimmſten Falle war der Miniſter bevoll- 
mächtigt, die äußerſte Gewalt anzumenben. 

„Diele polizeiliche Aufſicht,“ ſprach Haflan, „hab’ 
ich mir gefallen laffen, fo lange Dlivia am “eben, 
nad) ihrem Scheiden warb mir dergleichen Bewachung 
um jo unerträglicher.‘ 

„Wenn dem fo tft,” erwieberte Ismael, „kann ich 
Deinen freiwilligen Tod nur loben; gleichwohl bleiben 
mir Deine ſonderbaren teftanentlihen Verordnungen 
ein Räthſel. Warum follen denn Deine Erben ihr 
Erbe in eigner Perſon in Kabul erheben?“ 

„Weil dies die einzige Bedingung,” verjette Haſſan, 
„unter der mir verftattet war, Gelder dem Auslande 
zuzumenben.‘ 

„Sonderbare Grille des Königs,” brummte Is— 
mael, „er hofft wahrſcheinlich durch Deine Erben Dich 
jelbft zu erſetzen.“ 

ü „Ss viel id mich der Perfünlichkeit diefer Erben 

noch entjinne,” meinte Haffan, „dürfte Seine Miajeftät 
weniger gewillt fein, ihre Abfahrt unter polizeiliche 
Aufſicht zu ftellen. Ich nehme meinen leiblichen Vetter 
aus. Doc, diefer tft bedacht, auch wenn er die Reiſe 
nah Kabul nicht antritt.” 

„Ich glaube überhaupt nicht,“ ſprach Ismael, 
„daß ſich einer der Erben auf ven Weg macht; die 
Länge und Beſchwerlichkeit der Reife ift unabjehbar.” 


42 


„Man kann nicht wiſſen,“ erwiederte Haflın, „vie 
Gier nad Gelde verleiht dem Furchtſamſten Muth 
und begeiftert zu größten Anftrengungen. Wie dem 
jei; ich habe für meine Angehörigen Alles gethan, 
was in meinen Kräften ftand. Sollte einer oder ber 
andere nah Kabul kommen, fo ift er Dir, treu be= 
währter Freund, ohne deſſen evelmüthige Unterftügung 
ich meinen langgenährten Plan der Flucht nicht hätte 
in Ausführung bringen können, empfohlen.‘ 

„gen Wunſch iſt mein Befehl,” ſprach Ismael, 
„es ſoll mir große Freude gewähren, Dir auch in 
der Ferne gefällig zu ſein. Wie ungern ich Dich 
ſcheiden ſehe, ſo erkenne ich doch, daß Du Did. 
unter Deinem Volke, das Deinem Geiſte näher ſteht 
und Deinem Herzen vertrauter iſt, wohler befinden 
mußt als ſelbſt in der Hofburg zu Kabul. Darum 
hab’ ich Deinen Plan zur Flucht nie mißbilligt. Ge— 
denfe meiner alle Jahre einigemal, ich werde ‘Deiner 
täglich gedenken und nimmer vergeffen, daß ich vieles 
Willen, welches mich über nein Volt erhebt und zu 
hohem Anfehen gebracht hat, lediglich Deiner weiſen 
Belehrung verdanke. Wäre ih einige Jahrzehnte 
jünger, dann würd’ ih mit Div ziehen nad) Deiner 
Heimath, dem deutfchen Lande, mehre Jahre daſelbſt 
verweilen und mid) unterrichten mit allen Kräften 
und in folden Dingen, in welden mein Volt noch 
zurück fteht. Kehrte ih dann wieder nad Aighaniftan, 
jollte mein Wirken ein gejegnetes fein, denn id) würde 
das Erlernte gern mittheilen, allen denjenigen, welchen 
an anderweitiger Erfenntnig gelegen wäre. So aber 
bin ich zu alt und will mich gern begnügen mit dem, 
was ich Deinen Lehren verdanke.“ 

Während Ismael noch ſprach, bogen fid) auf der 
einen Seite der Laube die Zweige auseinander, ein 


13 
blühender Mädchenkopf, deſſen glänzendes Haupthaar 
in kunſtreichen Flechten herahfiel, ward ſichtbar und 
eine Silberſtimme frug: „Störe ich wohl?“ 

„Nur näher, Olivia,“ erwiederte lächelnd Haſſan— 
ben-Mullah und winkte mit der Hand, „Du ſtörſt uns 
im Geringſten nicht.“ 

Ein zwölfjähriges reizendes Geſchöpf in männliche 
Afghanentracht gekleidet, hüpfte jetzt in die Laube und 
ließ ſich neben ſeinem Vater nieder. 

„Herrliche Nachrichten,“ jubelte die Kleine, „der 
Gaſtfreund Runſchid läßt Dir ſagen, Väterchen, daß 
die Karawane des Mirza Osman heut Morgen an— 
gelangt iſt und am Ufer des Indus lagert. Sie geht 
direct nach Lahora und beut uns die ſchönſte Gelegen— 
heit, das britiſche Gebiet zu erreichen.“ | 

Der edle Runſchid, ein wohlhabender Handels- 
herr von Attok, dem der herrliche Yandjig, wo Die 
gegenwärtige Scene fpielte, angehörte, und welcher 
bereit8 ſeit Jahren mit Haffan-ben-Mullahb auf be— 
freundetem Fuße lebte, trat jett herein und bejtätigte 
die Ausfage Olivia's. 

„Ihr Könnt nicht ficherer reiſen,“ ſprach er, „als 
mit Osman, der mein Freund ift und mit dem ich 
Euretwegen bereit8 gefprodyen habe. Bon. der ganzen 
Karawane kennt Euh Niemand, denn fie fommt 
direct von Bukarah und har Kabul nicht berührt, 
jondern ihren Weg über Kandahar genommen. Alfo 
entfhlagt Euch jeder Beſorgniß. Doc jetzt kommt, 
bie Sonne will eben verjcheiden und das Abendeſſen 
harret.“ 

Freudig ſprang Haſſan-ben-Mullah von ſeinem 
Sitze auf und folgte in Begleitung ſeiner Tochter 
und des ehrlichen Ismael dem Gaſtfreunde in deſſen 
reizend gelegenen und im morgenländiſchen Geſchmacke 


14 


erbauten Gartenpavillon. Man genoß von hier bie 
feltenfte Ausfiht über die prachtuolle Gegend rings 
umher. Die untergehende Sonne färbte die reiche 
Landſchaft mit ihren rothen Tinten. Fern in Often 
bliste hier una da der goldne Spiegel des Indus 
durd Palmen und Tamarisken, welche malerifch die 
beiden Ufer beichatteten. In blauen Duft verliefen 
fi) in der Ferne die Gebirge von Hindoftan, während 
die ftolzen gewaltigen Mafjen des nahen Himalaya 
in prachtvoller Beleuchtung thronten. 

„Aber jetzt erzähle mir vor allen Dingen, Freund,” 
begann Runſchid, nachdem man beim Mahle Plat 
genommen hatte, „wie it Div Deine Flucht ge= 
Iungen? Was mir Ismael von Deinem vorgebliden 
Ableben erzählt, Klingt faft wie ein Märchen Sche- 
hezerades.“ 

„Und gleichwohl hat er nur die Wahrheit ge— 
ſprochen,“ erwiederte lächelnd Haſſan. „Nachdem ich 
erkannt, daß mir kein Mittel blieb, aus der Haupt— 
ſtadt und der Gewalt des Fürſten zu kommen, ward 
ich krank, dann immer kränker, machte mein Teſta— 
ment nach allen Regeln Eurer Geſetzgebung und ſtarb 
endlich ſanft und ſelig in den Armen meiner Tochter 
Olivia und in Gegenwart Ismael's, welcher alsdann 
mein Begräbniß beſorgte und zwar auf eine ſo weiſe 
Art, daß ich gleich in der nächſten Nacht wieder zum 
Leben erwachen und in Begleitung Olivia's die Flucht 
ergreifen konnte. Ismael hatte die ganze Sache mit 
ſo viel Umſicht geleitet, daß mich ganz Kabul bereits 
wohlbehalten im himmliſchen Paradieſe angelangt glaubt, 
während ich mich derzeit noch ſehr behaglich im irdi— 
ſchen befinde und nichts mehr bedaure, als daß ich mich 
nun bald gezwungen ſehe, von meinen zwei treueſten 
Freunden Afghaniſtans zu trennen.“ 


in 


15 


Auch der wackre Runſchid war viel zu evelfinnig, 
als daß er feinem Freunde zu feiner gelungenen Be— 
freiung nit von Herzen hätte Glück wünſchen jollen, 
obihon aud er wie Ismael bie Heimreife dallan's 
aufrichtig bedauerte. 

„Wohlan!“ ſprach er, „es hat ſo ſein ſollen und 
der Wille Allah's geſchehe! Wir wollen uns aber die 
letzten Stunden des Beiſammenſeins nicht durch thö— 
richten Trübſinn verbittern. Zum Letztenmale athmet 
Ihr heute die Luft Afghaniſtans, zum Letztenmale weilt 
Euer Fuß auf ſeinem Boden; ſo mögen auch ſeine 
edelſten Früchte zum Lebewohl Euern Gaumen legen. 

Runſchid erhob ſich bei diefen Worten und z0g 
den Vorhang, der vor einer nilchenartigen Marmorz 
halle herabfloß. Da leuchteten und bufteten im 
goldnen Schalen die koftbarften Früchte Afghaniftans: 
Aprikofen von Kabul, auf vierzehn verfchievene Arten 
zubereitet; Sranatäpfel von Ghizin, Feigen von Kan— 
dahar und Melonen von Peſchawer. 

Haſſan und Olivia ſo wie Ismael, welche ſelbigen 
Tag eine geraume Strecke Wegs zu Fuß zurückgelegt 
hatten und deshalb nicht ohne Eßluſt waren, ließen 
ſich's trefflich ſchmecken und erfreuten ſich dabei der 
wunderherrlichen Abendlandſchaft, die nach und nach 
immer tiefer in die Schatten der Nacht hinabſank. 
Schon ruhte tiefe Dunkelheit in Thälern und Schluchten, 
aber noch immer glühten die Gipfel des Himalaya in 
unſterblichem Glanze. 

Plötzlich hallte ein Kanonenſchuß von den Wällen 
Attoks herüber. Haſſan blickte befremdet auf und 
Olivia klammerte ſich ängſtlich an den Arm des Vaters, 
denn ſie fürchtete nicht anders, als an der Grenze 
Afghaniftand von dem Fürſten von Kabul noch auf- 
gehalten zu werben und hielt den Donner für ein 


46 


Signal, welches ihre Flucht anßeige. Runſchid aber 
lächelte, als. gr die Furt des Mädchens gewahrte. 
„E83 gilt der Karawane Osman's,“ ſprach er 
beruhigend, „pie fo eben bei ben gelben Wellen des 
Indus anlangt und deren Ankunft ſtets buch einen 
Kanonenſchuß fignalifirt wird.‘ 
- Die Freunde blieben nod einen großen Theil ber 
Nacht bei einander. Man verabrevete die Art und 
Weife, wie man fünftig von Zeit zu Zeit in Corre- 
fponvenz treten wolle, und verfant dabei in Rüd- 
efinnerung vergangener Zeiten. Olivia war .in bie 
blüthenpuftende Nacht hinaus auf den Balkon getreten, 
weldher nah dem Garten hinaus ging. Dort am Fuße 
jene8 Gebirges, hinter weldem die Sonne fhlafen 
gegangen war und deſſen Höhen im letten Abenprothe 
glühten, ruhte das edelſte Meutterherz, das für fie 
fo früh zum Letztenmale jchlagen ſollte. Dlivia war 
faum neun Jahr alt, als die Mutter fchlafen ging 
unter die Blumen von Kabul. Sie hatte feine andre 
Heimath gefannt, als das fchöne, Thal am Fuße des 
Hindukuſch, wo die Aepfelbäume jo ſchön und fo voll 
blühen, daß fie oft wie im Schnee in herabgefallenen 
Blüthen watete; und gleihwehl wollte e8 ihr doch 
nie heimathlich werben in dem ſchönen Lande; fie fah 
ihre ſchöne und gute Mutter zu oft weinen unter 
ihrem Lieblingsbaume im Garten zu Kabul und viele 
Thränen galten alle ver fernen Heimath im deutſchen 
Lande. Die Heine Olivia hatte zu oft und zu viel 
aus Alterlihem Munde erzählen hören von vieler 
fernen deutſchen Heimath, als dag nicht auch in ihrer 
Bruſt eine wachſende Sehnfuht nach jenem Abend— 
lande hätte erwachen ſollen. Sie betrachtete daher ihre 
nächtliche Flucht an der Seite des Vaters wie eine 


17 


Befreiung aus einem Kerfer, in welchem fie nur ei- 
nen Schatz zurückließ, das Grab ihrer Mutter. 

Die Mondesfichel leuchtete bereits eine Hand breit 
über den Gebirgen Hindoftans, als die Freunde, dem 
Gebote des Propheten ungeachtet, das man überhaupt 
bei Abfchievsfeten weniger zu berüdfichtigen pflegte, 
zum Letztenmale die Becher mit dem muskatnußduf⸗ 
tenden Kabulwein an einander Flingen ließen. Man 
Ihwur ſich ewige Freundſchaft und vergaß dabei nicht, 
die holde „Roſenknospe,“ fo hieß Olivia, bei ven 
Afghanen hoch leben zu laflen. 

ALS die Morgenfonne fi) von Neuem in den rau-= 
ſchenden Wellen des Indus badete, verließen Haffan- 
ben-Mullah in Begleitung feiner Tochter, von jeßt 
in Hindutradht gekleidet, die Blumengeftade Afghani- 
ſtans und gingen nad) Hindoften über, wo fie fich 
als fromme Pilger, welde auf einer Betfahrt nad) 
Katufir begriffen, der Karawane’ von Bulhara ans 


ſchloſſen. 


Zweites Rapitel. 


Noch einer ziemlich abenteuerlichen Fahrt, bei wel— 
cher ſich die große Weltunkenntniß des Rathsactuar 
Zeiſig beſonders auf ergötzliche Weiſe kund gab, war 
das Niederroßla-Kabul'ſche Erbheer, unter Anführung 
des jungen Morand vermittelſt des königlich hannö— 
ver'ſchen Poſtwagens glüdlih und mwohlbehalten in der 
freien Reichs- und Hanſeſtadt Hamburg angelangt und 
in einem Gafthaufe unfern des Hafens abgeftiegen. 
Stolle, fänmtl. Schriften. XVII. 2 


18 


Gamaliel's Herz, zeither von dem Abjchiebe bei 
Felicitas, die er in feinem Leben das erfte Mal ver- 
ließ und vom Heimweh etwas beengt, athmete wieder 
frei und groß und fein Auge leuchtete begeiftert, als 
der Maftenwald der großen Handelsſtadt vor ihm auf- 
flieg und das geräufchuolle Leben eines großartigen 
Verkehrs von allen Orten ber an fein Ohr ſchlug. 
Alles war ihm neu, fremd, außerordentlich. Victor, 
‚welcher Hamburg bereit8 von früher her kannte, über- 
nahm das Amt des icerone und kaum hatte man 
einigermaßen Xoilette gemacht, al® die beiden jungen 
Männer bereits die geräufchvollen Straßen Hamburgs 
entlang wanbelten. 

Weit weniger behaglich fühlte fi, mit Ausnahme 
Betterlein’8 und des Heldenſpielers, der übrige Theil 
der Reiſegeſellſchaft; Lagemann, die Hanno'ſche Ab- 
tretungsurfunde fortwährend bei ſich tragend, warb 
von quälenver Ungewißheit gepeinigt, ob ihm Siebede 
und Komp. vie Keifefpefen zahlen würden oder nicht. 
Im legten Falle war er übel dran; dann mußte er 
für die Ueberfahrt und Belöftigung felbft forgen, 
denn feine Würde als Attaché brachte ihm feinen 
rothen Heller. Der Rath zu Nieverroßla hatte ſich 
nicht zu der geringften Entihädigung verftanden. Ein 
Mann wie der Wirth zur Stadt Magdeburg fieht fid) 
aber für alle Fälle vor. So wie fid vie Gelegen- 
heit günftig zeigte, 309 er feinen diplomatischen Chef, 
den Actuar, auf die Seite und führte ſeditiöſe Reden 
gegen den Rath von Niederroßla. 

„Eine ſolche Knickerei ift noch nicht dageweſen,“ 
begann er, „ich erhalte als Attaché keinen Kreuzer, 
und Sie mit Ihren dreihundert Gulden, die man be— 
willigt hat, wie wollen Sie auskommen in drei Welt— 
theilen; bedenken Sie die Länge des Wegs, die Em— 


19 


ballage des Krokodills; ein ſolches Thier will ver- 
padt fein, daß ſich's nicht abſtößt, die Steuern und 
Gaben, die darauf haften, die Ausfuhr- und Grenzzölle.“ 

Zeifig zudte, vie Achſeln. „ES will eingetheilt 
fein,“ ſprach er; „indeß hoff ich in Betracht meines 
mäßigen Appetits, meiner frugalen Koft —“ 

„Was da,” eiferte Ragemann, „kommen Sie nur 
aufs Meer, da effen Sie für zehn Mann; Geeluft 
zehrt.“ 

Der Actuar ſchauderte, wenn er an's Meer dachte. 

„Ihr Reiſegeld,“ fuhr ver Hotelier fort, „ift ver- 
frefien, eh’ wir um Afrika herumfahren.“ . 

„Das wolle Gott verhüten!” feufzte Zeiſig. 

„Dann liegen Sie krumm und hungern bi8 Kabul.” 

„Wer vermöchte dies auszuhalten.‘ 

„Ich für meine Perſon wenigftend nicht,” fprad) 
Lagemann; „es tft übrigens eine Sünd' und Schande, 
die eigne Gefandtichaft verhungern zu laffen, troß ber’ 
brillanten Erbſchaft.“ 

Zeifig fühlte die Wahrheit dieſer Worte, doch war 
er viel zu loyal, um feine Beiftimmung laut werben 
zu laffen. Ä | 

„Nie find diplomatiihe Perjonen jo gegen alles 
Völkerrecht behandelt worden,” fuhr der Magdeburger 
mit gefteigertem Ingrimm fort, .,‚eine ganze Geſandt— 
Ihaft dem Hungertode Preis zu geben, es ift him— 
melſchreiend!“ 

Der Actuarius ſchwieg und ſeufzte. 

Lagemann hielt denſelben jetzt für reif, einen An— 
griff auf deſſen Rechtlichkeit zu wagen. 

„Unter bewandten Umſtänden,“ ſprach er, „gebeut 
die eiſerne Nothwendigkeit, daß wir uns ſelbſt Recht 
ſchaffen.“ 

Zeiſig ſchrak zuſammen und lauſchte Fra? wo 


20 


fein Attaché mit dieſen gefährlichen Reden hinaus- 
wolle. 

‚Wenn alle Stränge reißen ‚“ erklärte der Hotelier, 
„ſchlagen wir der golpnen Beſtie den Kopf ab oder 
den Schwanz, verkeilen die Maſſe und ftillen unjern 
Hunger. Das Rathscollegium mag fih mit dem 
Rumpfe begnügen.” 

Sih am anvertrauten Gute zu Ivergreifen, mar 
dem Actuar eines der außerorventlichiten Verbrechen, 
und er verhehlte feine Averfion gegen vergleichen Ge— 
finnungen dem Wirthe zur Stadt Magdeburg nicht. 
Diefer kümmerte ſich aber wenig um die Zeifig’Iche 
Averfion und fuchte dem revlihen Manne zu bewei- 
fen, daß Noth Eifen bredhe, wie viel weniger menſch⸗ 
lihe Satungen. Uebrigens verlöre europäiſche Ge- 
feßgebung in fremden Zonen ihre Kraft. 

Die Lagemann’fche Dialectif wollte indeß bei dem 
ehrlichen Actuar nicht anſchlagen. Er blieb feit bei 
feiner Ehrfurcht Hinfichtlidy anvertrauten Gutes. „Das 
vefpective Krokodill,“ behauptete er mit vieler Beharr- 
lichkeit, „müſſe unverlegt an allen feinen Theilen 
einem hochweiſen Rathe von Niederroßla überantwor- 
tet werden.” 

„Aber Sie haben doch,“ warf Lagemann ei, 
„als Senatömitglied jo gut Antheil am Krokodill wie 
die andern. Wenn Sie fih alfo ein Stüf in Er- 
mangelung andrer Subfivien abjchlagen und verfref= 
fen, geht’8 ja von dem Ihrigen.“ 

„Wenn ſchon,“ meinte Zeifig, „aber ih will mid 
eher felbft aneſſen, als die Integrität des mir anver- 
trauten Gutes verlegen.” 

Da Lagemann fah, daß dem gemiffenhaften Be— 
amten nicht beizufommen fei, ftand er von jeinen 
Derfuhungen und Angriffen vor der Hand ab. Er 


21 


wollte paflendere Gelegenheit abwarten und hoffte da= 
her viel vom erften Seeſturm, wo er dem Gewiſſen 
des äÄngftlichen Zeiſig's einen Träftigern Schlag bei- 
zubringen vermteinte. 
| Ein weit ruhigere® und behaglicheres Dafein als 
der Hotelier führte Hanno in Hamburg. Der größte 
Theil der Lagemann’fchen Ducaten ftaf kunſtreich ver= 
wahrt in einem ledernen Gürtel, welchen er Tag und 
Naht um feinen Leib trug. Er hatte fich lange nicht 
fo wohlhabend und forgenfret gefühlt wie dermalen. 
In der Heimath fonnte er e8 nie zu Etwas bringen, 
er hatte daher an ihr nichts zu verlieren; vielleicht 
daß ihm fein Glück im Morgenlanve blühte, Ob er 
mit dem erhobenen Erbtheile der Frau Urfula nad) 
Niederroßla zurüdfehren oder mit diefev Summe 
durchgehen und fih in Hindoſtan habilitiren und eine 
reihe Nabobtochter heirathen folle, darüber war er 
wit fih noch nicht vollfommen im Klaren. Vor der 
Hand ließ er die Zukunft auf fich beruhen und genoß 
der freundlichen Gegenwart. 

Betterlein’8 Beſchäftigung war ungemein amüjan- 
ter. Er Hatte ſich vom Wirthe einen Stadtplan ge- 
liehen, mit deſſen Hülfe er das Ctraßenlabyrinth 
durchzog. Sobald er irre ward, z0g er den Grund— 
riß aus der Taſche, trat in die erfte befte Hausflur 
und orientirte fich. 

Sehr ſchlimm erging e8 ihm in Altona. Im 
einem öffentlichen Garten, ber nicht eben von dem 
gewählteften Publitum beſucht wurde, wo aber bie 
Preife für Speifen und Getränke jehr billig geftellt 
waren, jah Vetterlein eine Tages dem Kegelfchieben 
zu: Als großer Freund diefes Spiels nahmen die hier 
üblichen hohen Kegel und colofjalen Kugeln feine 
volle Aufmerkſamkeit in Anſpruch und ed wandelte 


22 


ihm die Luft an, an einer Parthie Theil zu nehnten, 
. damit er dereinfl in der Heimath erzählen könne, 
auch mit Hanfenten Kegel gefehoben zu haben. ‘Der- 
gleichen Reifexbenteuern war ex fehr zugethan. Bet- 
terlein erfundigte fich demnach bei einem Individuum, 
das gleichfalls ver Kegelei zufchaute, zu welchem Preiſe 
Das Spiel bier gejhoben würde und ob e8 wohl er- 
laubt fei, Antheil zu nehmen? Wußte es nun der 
Angerevete nicht bejjer oder wollte er dem Frager, 
weil dieſer ſich jo amgelegentlih nad) dem “reife des 
Spiels erfundigte, einen Heinen Schabernad fpielen, 
furz er gab zur Antwort, daß bier das Kegelgeld 
die Sauptfadhe ſei. 

„Das kann den Kopf nicht koſten,“ dachte Vetter— 
lein bei fih, und überrechnete in Gedanken den Preis 
des Parthiegeldes in Niederroßla. Zugleich ward hier⸗ 
durch jeine Luft mitzufchieben fo groß, daß er dem 
Haufen der Kegelanten immer näher trat und auf Be- 
fragen eines ver legtern, ob er Antheil nehmen wolle, 
feine Zuftimmung gem ertheilte. 

Das Spiel begann, gewährte aber Jedermann 
mehr Vergnügen, als unferm Quartus, deſſen Fleine 
Figur zu den ungeheuern Kugeln in gar feinem Ver— 
hältniffe ftand. Um nur einen foldhen zwölfzolligen 
Globus in die Höhe zu ‚heben, bevurfte Betterlein 
jeiner gejanımten zwei Arme, was den athletifchen 
Hanjeaten, weldye jfämmtlih ver arbeitenden Klaſſe 
angehörten, pojfirlih vorfam. Der Erfolg feines 
Schiebens war feiner Kraftlofigkeit vollkommen ange « 
meſſen. Die matte Kugel erreihte nur mit Mühe 
ihr Ziel und war jelten im Stande, ein oder zwei 
Kegel umzuwerfen, während die übrigen Mitjpielenden 
em Honneur nad dem andern jchoben. Die Spiel: 
art brachte e8 mit fih, dag der Mann vier Kugeln 


23 


unmittelbar hinter einander zu fehieben hatte. Bereits 
bei der zweiten jchwitte Vetterlein wie ein Hammel- 
braten und bei der vierten, die in der Regel nie ihr 
Ziel erreichte, war er halb tobt. 

„Es ift mein Glück,“ dachte er bei ſich, „daß es 
blo8 um's Parthiegeld geht, dieſes werd’ ich aber lei- 
der diesmal wohl bezahlen müſſen. Wer heißt mid 
mitſchieben. Ein folder Plack beim Kegeln ift mir 
noch gar nicht worgefommen. In Nieverroßla koſtet 
bie Parthie acht Pfennige, bei dieſen vierundzwanzig- 
pfündigen Kugeln kann fie leicht auf zwei Schillinge 
fommen. , Ein eben fo theures wie ſaures Bergnügen. 
Dafür kann ich aber auch dereinſt erzählen, mit ächten 
Hamburger Söhnen Kegel geſchoben zu haben.“ 

Das Spiel mwährte ziemlich lange. Vetterlein, 
welcher bald feine Arme nicht mehr fühlte, befam es 
höchlich überdrüßig. Endlich ging's zu Ende. Der 
Rechnungsführer zog über die ſchwarze Tafel einen 
energiſchen Strich und ſummirte den gegenſeitigen 
Verluſt und Gewinn. Am Uebelſten kam Vetterlein 
hinweg. Er hatte netto neunzig Point verloren. Als 
er gewahrte, wie die verlierenden Mitſpieler nach Gelde 
ſuchten, zog er auch ſeufzend ſeinen Beutel und zum 
Tafelrechner hervortretend, frug er, wie hoch ſich ſein 
Beitrag zum Parthiegelde belaufe? 

„Das Kegelgeld,“ erwiederte der Gefragte, „haben 
die Gewinnenden zu tragen.“ 

Fil dachte der Quartus, „iſt das eine verkehrte 
Welt,“ und er frug ſchmunzelnd, „demnach hätt' ich 
nichts zu entrichten ?“ 

„O ja,” fuhr ver Andre fort, „Sie ftehen juft 
hod an der Kreide. Sehen Sie hier neunzig Point, 
den Point zu einem halben Schilling, beträgt fünf: 
und vierzig Schillinge.“ 


24 


„Ach, Sie ſcherzen,“ verſetzte Vetterlein, welcher 
wirklich glaubte, Jener treibe ſeinen Spaß mit ihm. 

„Uebrigens kommen Sie noch billig hinweg,“ 
tröſtete der Anſchreiber, „in Betracht Ihres Malheurs 
haben wir das kleine Spiel geſchoben.“ 

Vetterlein, nachdem er mit Zähneklappern inne 
geworden, daß es ſich hier wirklich um fünfundvierzig 
Schillinge handle, die er zu bezahlen habe, wünſchte 
nichts mehr, als die Kunſt zu befigen, ſich unſichtbar 
zu machen. Da ihm aber für dieſe ſo wohlthätige 
Operation der unentbehrliche Zauberring mangelte, ſo 
wollte er mit dem Tafelrechner in Unterhandlung 
treten und einen billigen Accord abſchließen. Er bot 
fünf Schillinge und gab zu bedenken, daß er als 
Fremder die hohe Spieltare nicht gekannt und in 
der Meinung geftanden, es gehe blos um's Parthie- 
geld. Mit fünf Schillingen glaube er fein Mitfchie- 
ben honnet genug bezahlt zu haben. 

Der Rechnungsführer flüfterte jet einigen ber 
Mitipielenden ein paar Worte ın’8 Ohr, die aber zum 
Schrecken Betterlein’®, weldyer den Bewegungen Des 
Eontroleurd Angftlih folgte, niht gut aufgenommen 
wurden. Plötzlich entftannd ein Gemurmel und eine 
rohe Stimme, die einem Matrofen, einem der Haupt- 
gewinner, angehörte, rief laut und vernehmlidh: „Wenn 
der Hund nicht bezahlt, fol er feinen ganzen Knochen 
nad) Haufe bringen.‘ 

Der entſetzte Vetterlein zweifelte feinen Augenblid, 
daß unter der erwähnten Thierart Niemand anders 
als er zu verftehen fei. Fieberfroſt durchſchauerte fein 
bedrohtes Gebein, und da ihm die Unverlegtheit 
feines kleinen Körpers doch lieber war als die fünf- 
undvierzig Schillinge, jo zahlte er diefe enorme Sum— 
me, wofür er in Niederroßla einen ganzen Sommer 


25 


Kegel fchieben konnte, und verkeß die theure und 
gefährliche Wirthſchaft fo fchnell, als ihn feine klei— 
. nen Beinden zu tragen vermocdten. Er hatte ob der 
ausgeftandenen Angft dermaßen ven Kopf verloren, 
daß er wiederholt den Grundriß aus der Tafche zie- 
ben mußte, um ſich nah Haufe zu finden. Yugleich 
gelobte er ſich mit einem hochheiligen Eide, bevor er 
niht nach Niederroßla zurüdgefehrt fei, nie wieder 
eine Segelfugel anzurühren. 

Auf eine ganz andre Art als die Uebrigen ver= | 
brachte der lange blonde Factor feine Zeit in Ham— 
burg. Er wahr in eine Liebfchaft mit feinem Man- 
farden vis-a-vis verwidelt und fpielte den ſchmach— 
tenden Schäfer mit aller Zartheit eines idealiſch Lie— 
denden. Wenn dem Schwärmer das heiß erjehnte 
Glück wirklic) zu Theil geworben wäre, den Gegen— 
ftand feiner Verehrung in die Nähe zu betrachten, fo 
ift kaum zu bezweifeln, daß fein Liebeswahnfinn 
einige Abkühlung erlitten haben würde. Die Ange— 
betete, eine PBojamentirerstochter, die fih vom Locken— 
verfertigen ernährte, ftand bereit im vierten Jahr— 
zehnt, war podennarbig und alles mögliche: außer 
hübſch. Die verkebten Demonftrationen des unver- 
hoffte Anbeter8 wurden von ihr nur zu bald be— 
merkt und es warb ihr ganz wunverbar zu Muthe, 
in ihrem Lebensfommer nod die lang vermißte Lie— 
besfonne aufgehen zu ſehen. Für ihre Umſtände 
fonnte fie feinen beſſern Berehrer finden, als den 
bünnhaarigen blonden Factor, welcher zu feinem und 
ihrem Glüde ziemlich ſchlecht ſah. Auh ihr Fam 
Süßmilch alsbald verflärt und ivealifch vor. 

Daß das Glück der Menſchen hauptſächlich in ber 
Idee, in der Einbilvdung beruht, fehen wir an dem 
Nieverrofilaer Factor und der Hamburger Pofamen- 


26 


tirertochter. Beide waren felig und machten den- erften 
Curſus der Liebe in al’ ven Kleinen roſenrothen 
Atomen und Überzuderten Brojamen durch, wie zwan- 
jig Jahre jüngere Leute. Eine ideale Liebe braucht 
erjtaunlich wenig zu ihrem Leben und Gebeihen. Ein 
Rouleauaufziehen, ein Fenfteraufmachen, ein Blumen-' 
topf, das find für fie alles Dinge und erotifche Tele- 
graphen von der höchften Wichtigfeit. Auch zwifchen 
dem Factor und feinem vierzigjährigen Gegenüber 
entſpann fich ein foldhes ſymboliſches Kreuzfeuer. Die 
Lodenfabrifantin ftellte einige Blumenftöde an's Fen— 
fter, welche fie häufig zu begießen pflegte, wobei fie 
fi) mit Sentimentalität gebervete.e Dem Factor ent- 
gingen nun ob feines kurzen Geſichts zwar die fei= 
nern Nuancen diefer weiblichen Kofetterie, aber fein 
verliebter Inſtinct witterte Doch fo viel, daß das 
fleigige Blumenbegießen feinen abjonverlichen Hafen 
habe. Der wonnige Gedanke, daß er wohl jelbjt ver 
Hafen fei, fihraubte feine Liebe und Seligkeit zur 
aufßerorventlihen Höhe. 

Hiermit hätte ſich Süßmilch, wenn er gefcheut ge- 
wejen wäre, begnügen follen, aber ein Berliebter ift 
nie ganz gejhent. Der Factor ging weiter und legte 
fid), wahrjcheinlid” aus Nahahmungstrieb, gleichfalls 
auf die Gärtnerei. Dies hätte fein mögen, aber aud) 
hiermit war der blaffe Blondin nicht zufrieden. Die 
Liebe macht fühn und verwegen. Demzufolge ließ er 
ih Papier, Tinte und Feder geben und ſchrieb mit 
vieler Kunft und mit drei Zoll langen Buchftaben 
die beventungsvollen Worte: „Welch ein himmlifches 
Vergnügen iſt nicht Die Liebe!!!“ Die legten drei 
Ausrufungszeichen waren von einer wahren. riefigen 
Größe. Mit entzücktem Schauer las Aurikula, fo 
hieß vie Pofamentirertochter, die großartige Fractur 


27 


des verliebten. Factors, und fie befhloß, das ſuße 
Bekenntniß nicht unerwiedert zu laſſen. Ein Stock 
mit brennender Liebe, den ſie unmittelbar darauf vor 
das Fenſter ſchob, follte ſymboliſch andeuten, daß die 
Flammen der Liebe auch in ihrem ſchwachen Herzen 
gezündet hätten. 

Süßmilch, der ſich hinter ſeinen Hortenſien wie 
ein Luchs gelagert hatte und mit verhaltenem Athem 
. auf den Erfolg lauſchte, den feine Fractur in der 

Manſarde gegenüber bervorbringen würde, war außer 
fih vor Entzüden, als er die urplöglihe Blumenaus- 
ftelung gewahrte, die mit feinem Papierzettel in zu 
auffallendem Rapporte ftand, als daß er biefelbe nicht 
hätte auf fich beziehen laffen. Nur aus der Blumen- 
art ſabſt konnte er wegen feiner Kurzfichtigfeit nicht 
ganz Hug werden. Bald ſchienen e8 ihm Roſen, bald 
Levkoien. Er mußte hierüber in's Klare kommen, 
dies ftand feft; der Gegenſtand war von zu großer 
Wichtigkeit. Liebe macht erfinderifh. Er entjann fich, 
daß ver Wirth ein ziemlich langlaufiges papiernes 
Perfpectivo befige, vermittelft welchem er und ſeine 
Säfte oft die Schiffe im Hafen zu beobachten pfleg= 
ten. Nach viefem für Süßmilch's Zuſtände jo wohl- 
thätigen Inftrumente erwachte jett fein Berlangen. 
Der Factor Kletterte fofort ein Stockwerk tiefer nad 
ber allgemeinen Gaftftube, wo er wußte, daß ber 
Guder ein Stüd des Inventariums ausmade. Süß- 
mild) entdedte auch alsbald ven Gegenftand feiner 
Sehnſucht, welcher ihn in den Liebeshimmel einführen 
ſollte, und ftürzte wie ein Lämmergeier auf ven Ge— 
genftand feiner Begierde, und war im Nu damit 
verſchwunden. 

Nie hat wohl ein Aſtronom ſein Obſervatorium 
mit größrer Glückſeligkeit beſtiegen, als der Factor 


28 


das Manſardenſtübchen. Auf der Sternwarte anges 
langt, traf er fagleih Anftalten, dem Xelefcope vie 
jenige Richtung zu geben, um feine Benus in mög— 
lichſt vollem Lichte zu exrbliden. Damit aber feine 
aftronomishen Beſtrebungen gegenüber nicht bemerkt 
würden, faßte er ganz im Hintergrunde Poſto, wobei 
ihm die altertbümlihe durchbrochene Bauart des Ka— 
chelofens vortreffliche Dienſte Lleiftete. 

Ausgerüſtet, alle Himmel zu ergründen, that er er 
jetzt mit wonneſchauerndem Herzen einen verhängniß⸗ 
vollen Blick durch das Rohr, das er, um ber Po— 
ſamentirertochter jo nah’ wie möglich zu Tommen, aus⸗ 
nehmend verlängert hatte. Aber wie ſehr ward ſeine 
Erwartung getäuſcht, als er in eine undurchdringliche 
Nacht ſchaute. Er guckte eine Zeit lang mit dem 
rechten, dann mit dem linken Auge, dann wieder mit 
dem rechten; immer dieſelbe eghptifche Finſterniß. 
Blind war er nicht, denn er ſah außerdem alle Ge— 
genftände,, alſo mußte der Fehler an dem Rohre lie 
gen. Süßmilch ſchob daſſelbe ein Stüd zujammen. 
Alles umfonft. Liebe und Noth machen indeß erfin= 
beriih. Der Factor ftellte jet genauere Forſchungen 
über vie Eigenthümlichkeiten feines Teleſcops an und 
war jo glüdlih, vie Urſache von deſſen gänzlicher 
Undurkhfichtigfeit zu ermitteln. Bor dem Dcularglafe 
nämlich befand fich ein Heiner Schieber, um daſſelbe 
vor dem einbringenden Staube zu ſchützen. Süß— 
mild knaupelte mit Behnrrlichkeit jo lange, bis ex bie 
Finſterniß bejeitigt. Jetzt begannen die Objervationen 
von Neuem; leider mit bemfelben jchlechten Crfolge 
iwie früher, Der Factor machte die Bemerkung, daR 
auh das untere Glas mit einem Schieber verjehen 
ſei. Auch dieſer warb endlich befeitigt, das Rohr 
fo weit wie möglid) ausgeſchoben und der entſcheidende 


99 


Blick follte gefchehen. Neues Mißgeſchick; Süßmilch 
fhaute in ein Nebelmeer ; alle obfervirten Gegenftänbe 
floffen coloffal und chaotiſch durcheinander! Der neue 
-Herfchel hob und förderte jetzt mit Unermüdlichkeit, 
um das Inftrument feiner Gefichtsfraft conform zu 
ftellen. Seinen PBrobirftein bildete hierbei eine unfern 
befindliche Teuereffe. Endlich hatte er alle Hinver- 
niffe bejiegt und ver Weg zu feinem -Himmelreiche 
ftand offen. Es galt jegt nur, das rechte Tenfter 
unter den vielen gegenüberliegenden zu treffen. Süß— 
mild zitterte wor freudiger Haft. Das Rohr irrte 
unficher bin und wieder und haſchte endlich ein Yen- 
fter, welches es fefthielt. Aber weld ein Sturzbad 
für den glühenven Liebhaber! Sein Auge erblidte 
ganz deutlich ein altes ſcheußliches Weib, das jo eben 
ungefhent und im tiefiten Neglige ein Bedürfniß 
verrichtete, welches freilich Niemand anders für fie 
verrichten konnte. 

Der Factor prallte ſchaudernd und ſchamhaft zu= 
rüd und begriff nicht, wie bie Unverfhämtheit einer 
Srauensperfon jo weit gehen könne. Er bedachte frei- 
lich nicht, daß jenes unerfreuliche Geſtirn nicht ahnen 
fonnte, ſich telefcopifh im feinem unauffchieblichen 
Geſchäft firirt zu fehen. 

Süßmilh, durch dieſes abſchreckende Phänomen 
nachdenklich gemacht, entvedte endlich, daß er ein 
ganzes Stockwerk zu tief gerathen fe. Er beſchloß 
alfo vorfichtiger zu Werke zu gehen, vifirte abermals 
und mit Ruhe, jedoch ohne auf ein erwänfchteres 
Refultet zu ftoßen. Sein Rohr ertappte diesmal 
ein Fenſter, hinter weldem es gleichfalls nicht eben 
poetifh Herging. in übelausfehennes Individuum 
ftand im Begriff, fi einen Nafenpolnpen aus- 
Ihneiven zu laſſen. Als Vorkur war daffelbe gerade 


30 


befhäftigt, einige Nafenbäver zu nehmen. Wie bei 
einem Wallfifche ftieg der Waflerftrahl aus dem Ge— 
ruchsorgan egıpor, worauf ſich der anwejende Chirurg 
anſchickte, das Uebel an der Wurzel anzufaflen. Süß: 
mild) wartete die Operation felbft nicht ab, fonvern 
lenkte den Sternguder abermals ſchaudernd abwärts. 

Dur die zwei Behlfahrten war er übrigens weile 
geworden und richtete jein Geſchoß zum dritten Male 
jo glüdlih, daß er diesmal wirklich in's Schwarze 
traf, nämlih in das erfehnte Fenſter der Geliebten. 
Die brennende Liebe, welche weithin leuchtete, kündigte 
den Treffer an. Aber welches Mißgeſchick, eben als 
ber Factor im Begriffe ftand, in den Hintergrund 
jeines Himmelreih8 einzubringen, fenkte fich ein graues 
Gewölf herab, das aus Iinnenem Zeuge beftand und 
nichts anders als ein Rouleau war. 

Süßmilh hatte in der That mit allen Hinder- 
niffen der Aftronomie zu kämpfen; denn nichts wirkt 
auf Beobachtungen nadıtheiliger, als eine graue Wand, 
weldje ven Himmel bevedt. 

Der Factor gerietd in eine wahrhaft exaltirte 
Stimmung, ob dieſes neuen und völlig unerwarteten 
Malheurs. Seine Phantafie geriethb in Wallung, ob= 
ſchon das bei ihm felten ver Fall war; aber die Sadı- 
lage war ver Art, daß auch eine höchſt proſaiſche 
Natur fi hinter der grauen Wand Allerlei zu denken 
vermochte. 

Endlih ſchnarrte das Kouleau wieder aufwärts 
und die Pofamentiertochter erſchien bei offenem Fen— 
fter nad) forgfältig geordneter Toilette in aller Pracht 
und Herrlichkeit. 

Der Factor, welcher wie ein Luchs auf feine Beute 
lauerte, erſchrak ob des unverhofften Sonnenaufgang 
dermaßen, daß er mit dem Teleſcop wieder die Rich— 


31 


tung verlor. Er fuhr gitternd eine lange Zeit um— 
her, bevor er der brennenden Liebe wieder habhaft 
wurde, worauf er aber ſogleich losſchoß und der An- 
gebeteten an den Hals fiel. Bei näherer Befichtigung 
fühlte fi) fein Eifer indeß auffallend ab. Er machte 
die Entvedung, daß er ſich geirrt habe, benn die 
Trauensperfon gegenüber entſprach keineswegs dem 
Ideal, das in feiner Phantafie Pofto gefaßt hatte. 
Obſchon dieſes alternde Geficht gleichfalls verſchwen— 
deriſch von Locken umwogt wurde, jo fonnte daſſelbe 
doch unmöglich dem ſtattlichen Lockenkopfe angehören, 
der die ganze Zeit daher ſein Herz in Affection ge— 
nommen hatte. Es war unbeftritten eine ältere 
Schweſter, oder, was dem Factor weit wahrfcheinlicher 
erichien, die Frau Mutter. 

Dem aufmerkffamen Yactor mit feinem Teleſcop 
entging nicht die geringfte Bewegung der Frau Mut- 
ter und er fonnte fi oft eines mißbilligenden Kopf- 
ſchüttelns wicht erwehren. Sie gebervete fih ja wie 
ein achtzehnjährigs Mädchen. Er bevauerte fein 


Seal, das ihm bei einer ſolchen gefallfüchtigen Mut- 


ter feineswegs gut aufgehoben ſchien. Plötzlich ward's 
ihm aber außer'm Spaße. Wenn ihm nicht alles trog, 
jo warf die Frau Mutter verliebte Kußhändchen herüber ; 
zugleich befeftigte fie an die bremnenve Liebe einen 
Zettel, worauf der Factor ganz deutlich buchftabirte: 
Mein Herz [hlägt einzig nur für Did, fü- 
Ber Fremdling! 

„Das Weib ift verrüdt,” ſprach Süßmilch ganz 
aufgebracht und ftellte fofort feine nicht eben beloh- 
nenden aftrongmifhen Beobachtungen ein. „Eine fo 
gewiffenlofe Mutter ift mir noch gar nicht vorgekom— 
men; die will mid der einzigen Tochter abtrünnig 


0 


32 


machen. O Sitten, Sitten, wie tief feid ihr hier und 
da geſunken!“ | 

Wie oft auch der Yactor |päterhin mit dem Te— 
Iefcope feinen zeitherigen Himmel durdyftöberte, fo war 
er doch nie wieder fo glüdlih, fein Ideal ausfindig 
zu machen. Immer erfchaute er nur die Frau Mut- 
ter, deren Anblick und grobe Kofetterie ihm nachgerade 
höchſt verhaßt wurden, jo daß er endlich die Forichun- 
gen auf ſich beruhen Tief. 

Als Victor und Gamaliel nad einem Ausfluge 
in den Hafen in ihr Gafthaus zurüdgefehrt waren, 
fanden fie eine ſchriftliche äußerſt verbindliche Einla- 
dung zum Mittagseffen in Eppendorf bei Herrn Sie— 
bede und Comp. vor. Aber niht blos die beiven 
Genannten waren geladen, dieſelbe Ehre wurde aud) 
dem übrigen Kabul'ſchen Erbperſonal zu Theil, wel- 
ches deshalb in faſt convulſiviſche Bewegung gerieth. 
Die Firma Siebede und Comp. war berühmt in ganz 
Hamburg und e8 galt für eine nicht geringe Aus— 
zeihnung, namentlich für Kleinftäbter wie Lagemann, 
‚ Zeifig, Detterlen, Süßmilch und Hanno, in einem 
jo vornehmen Haufe zu Gaſte gezogen zu werben, 
obwohl letzterer fortwährend renommirte,\ bei Fürften 
und Grafen zu Mittag gefpeilt zu haben. 

Die Hauptfrage des größten Theil der Geladenen 
betraf vor allen Dingen eine paſſende Garderobe. 
Faſt ſämmtliche Coſtüms der Niederroßlaer waren 
wohl auf eine ſtrapazirende Seereiſe, aber nicht für 
ein Erſcheinen in einem glänzenden Salon, wie der 
bei Siebecke und Comp. berechnet. Vetterlein hielt 
ſich noch für am Geborgenſten, denn er gedachte ſeines 
ſchwarzen Candidatenfracks, den er als weiſer Mann 
für alle Fälle ſeinem Felleiſen einverleibt hatte; Ga— 
maliel ward von Victor ſtattlich und geſchmackvoll 


33 


ausjtaffirt; aber für bie Uebrigen ſtand's ſchlimm. Am 
Uebelften war unftreitig Zeiſig daran, welder einen 
hochweifen Kath von Nieverroßla repräſentiren jollte 
und deſſen Exteurieur duchaus nicht zum Beſten be- 
ftellt war. In feinem wafjerdichten Coftüm konnte er 
doch unmöglich bei Siebede und Comp. feine Aufs 
wartung machen, das ſah man allgemein ein, und 
gleichwohl erlaubten feine ſpärlichen Diäten, bei welchen 
auf Garderobengelder nicht im Geringſten Rückſicht 
genommen worden war, durchaus keine Ertraausgaben. 
Hanno, welcher in Garderobenangelegenheiten aus 
ſeiner Heldenlaufbahn her nicht ganz ohne Praxis 
war, ſchaffte endlich Rath. Er trieb einen Juden auf, 
welcher ein ganzes Bund ſchwarze Fracks von den 
verſchiedenſten Umfängen herbei hockte. 

„In einem ſchwarzen Fracke,“ erklärte ver Helven- 
fpieler, „kommt man durch die ganze Welt. Auf die 
Beinkleiver kommt weniger an; der rad iſt Haupt- 
ſache, ohne ihn ift ein Auftreten in der Gefellichaft 
nicht denkbar. Ich babe ‚daher eine Parthie Diefes 
unentbehrlidden und unſchätzbaren Kleidungsſtücks in 
Entreprife genommen. Gegen ein angemeffenes Aegui- 
valent bin ich gern erbötig, Jedermänniglich zu befraden 
nnd nöthigenfall® auch fonft bei der Toilette behülflich 
zu fein. Kleider machen Leute, dieſes Sprüchwort ift 
in Kraft getreten, fobald der Engel Adam und Eva 
mit dem feurigen Schwerte aus dem Paradieſe ge- 
jagt hatte. In Hamburg und namentlih in fo einem 
vornehmen Haufe, wie Giebede und Comp. wird 
hauptſächlich darauf geſehn. Laſſet Euch das gefagt 
fein, bevenfet, daß die genannte Firma die Reiſegelber 
auszahlt und mit aller Aufmerkfamkeit will behandelt 
fein.” 

Abſonderlich waren c8 die Testen Worte ber 
Stolle, ſämmtl. Schriften. XVIII. 3 


n 


34 
— 

Hanno'ſchen Rede, welche ihren Eindruck nicht verfehlten. 
Lagemann lag außerordentlich viel daran, ſich bei 
Siebecke und Comp. in Gunſt zu ſetzen; denn wer konnte 
wiffen, fo er Das genannte Handelshaus nicht bei Gutem 
erhielt, ob Herr Siebede dann geneigt war, die Eeffion 
der Hanno'ſchen Erbquote anzuerkennen. Er machte 
baher einen verzweifelten Ausfall auf das Gewiſſen 
des Rathsactuars, damit dieſes auf Koften des Krofo- 
dills faſhionable Kleidung ſchaffe. 

Zeiſig befand ſich in verzweifelter Lage; auf ber 
einen Seite hatte er den hartnäckigen Verſucher abzu= 
wehren, auf der andern ängftete ihn das ftandesgemäße 
Ericheinen bei Siebede. 

Der Wirth zur Stadt Magdeburg verfehlte nicht, 
die Einbildungsfraft des Niederroßlaer Botſchafters 
durch Schreckbilder aller Art in Bangen und Angſt zu 
verſetzen. 

„Wenn wir nicht weltbürgerlich coſtumirt bei 
Siebecke erſcheinen,“ ſprach er, „ſo riskiren wir das 
Aeußerſte. Der gewaltige Kaufmann hält's für Ver— 
nachläſſigung und Affront und iſt im Stande, uns 


und einem hochweiſen Rathe die goldne Beſtie trotz 


allen teſtamentariſchen Verfügungen vor der Naſe hin— 
weg zu ſchnappen. Seine Verbindungen mit Kabul 
ſind vehement. Er hat dort mehr zu ſagen, als der 
Teſtator, welcher überdies ein todter Mann iſt. Wir 
müſſen hier nothwendigerweiſe die Wurſt nach der 
Speckſeite werfen, und nobel auftreten, unſerer hohen 
Miſſion, jo wie deni großen Renommé Herrn Siebecke's 
würdig. Ein abgetragener Frack reicht hier nicht aus, 
ein Mittagseſſen bei Siebecke verlangt mehr.“ 

Kleinlaut erkundigte ſich Zeiſig, was wohl Alles 
benöthigt ſei und wie hoch ſich ver desfallſige Koften- 
betrag belaufen möge. 


35 


„Brad, Hofe, Gilet, Kaftor,” rechnete Lagemann, 
„Summa Summarum vierzig Neichsthaler; darunter 
getraue ich mir's nicht herzuſtellen.“ 

Zeiſig ſchauderte. Der Hotelier fuhr fort: 

„Eigentlih fellten wir zwei als Diplomaten aud) 
noch in ſchwarzſeidenen Strümpfen und Schuhen, 
lestere wo möglich mit goldenen Schnallen, erſcheinen; 
die Diplomatie trampelt nicht in Cuiraſſierſtiefeln ein- 
ber, ſondern tritt fein leife auf, faum hörbar; aber ich 
hoffe, daß e8 Herr Siebede als aufgeflärter Mann fd 
fireng nicht nehmen wird. - 

Zeifig wußte feinem Leibe feinen Rath. Lagemann 
that ven Vorſchlag, die benöthigte Summe vorzufchießen, 
wenn der Actuar als Entihädigungsquantum dem 
Krofodille ein Bein abjhlagen wolle.“ 

Bei Zeifig empörte ſich alles Rechtsgefühl ob dieſes 
Vorſchlags; er wies daher Lagemann's Zumuthung 
trotz ſeiner bedrängten Lage entſchieden zurück. 

„Ich begreife aber nicht,“ ſprach der Attache, „was 
Euch eine Pfote ſo an's Herz gewachſen iſt; das Beeſt 
behält ja immer noch deren genug.‘ 

„Aber, mein Gott,’ erwiederte Zeifig, ängftlich 
und weinerlich, „ſie find nun einmal daran; wer fann 
dafür und Trevel wäre e8, nur eine Klaue zu ent⸗ 
wenden.“ 

„Wenn aber durch den Verluſt einer einzigen 
Pfote das geſammte Ungeheuer zu retten iſt, wie im 
gegenwärtigen Falle,“ gegenredete Lagemann; „ſchneidet 
man doch dem Menſchen Arm und Beine ab, um 
Kopf und Rumpf zu erhalten, welch letztere doch immer 
die Hauptſachen bleiben.‘ 

Trotz diefer politifch-mebicinifchen Beweisführungen 
wollte der gewiflenhafte Zeifig von einer Operation 


» 


36 


des Krokodills im Lagemann'ſchen Sinne noch immer 
nichts wiſſen. 

Der Magdeburger, im Geiſte fortwährend ſpecu⸗ 
lirend, ſchlug dem Nieverroßlaer Charge d'Affaires 
einen andern Ausweg vor. Er verfprac fi und den 
Actuar hoffähig zu machen und aus dem beiten Kleider⸗ 
magazin zu equipiven, ‚wem ihm dieſer einen Theil 
feiner Krokodillquote abtrete. Zeiſig, von ber Noth 
getrieben, zeigte ſich diefem Vorſchlage nicht ganz ab- 
geneigt, worauf Lagemann ohne eine Definitiverflärung 
des Nieverroßlaer Geſandten abzuwarten, unmittelbar 
nad) ver zumächft gelegenen Kleiverhandlung eilte, von 
wo er alsbald beladen zurückkehrte. Er vechnete, daß 
wenn er Zeifig die Kleider nur erſt anprobirt habe, 
biefer nicht mehr zurück könne und daß er alsdann 
feine Beringungen nad) Belieben ftellen könne. So 
geſchah's auch. Lagemann Kleivete den Actuar eigen- 
händig und mit vieler Dienftbeflifienheit an und 
gab auf die fortwährenden Anfragen, wie viel er 
(Zeifig) von feinem Krokodillantheile ikm abtreten folle, 
die allezeit ausmeichende Antwort: „Das findet fich, 
guter Actuar.“ 

Nachdem der Lettere durch Lagemann's unglanb- 
liche Behendigkeit fo plötzlich volllommen metamorpho- 
firt daftand und der ſchlaue Magdeburger nicht er- 
mangelte, in wahrem Hymenton das magnifigue Ex— 
terieur de3 Herrn Actuar zum Himmel zu erheben, fo 
erwachte endlich auch in Zeifig der alte Adam, ver 
Actuar ward eitel. Lagemann fchleppte in der Eile 
alle Spiegel zufanmen, die er aufzutreiben vermochte, 
und fein Lob des neuen Gewands erreichte eine ercen= 
trifehe Höhe. 

Zeifig wandelte nicht ohne GSelbitgefälligfeit vor 
den vortheilhaft geftellten Spiegeln auf und ab; er 


37 


erkannte die große Wahrheit, daß Kleider Leute machen, 
in vollem Umfange an. Namentlid) war e8 der une 
meßlihe Bufenftreif, der wie ein Schneegebirge auf 
feiner Bruft empor ftieg, welcher fich feines bejonvern 
Wohlgefallens zu erfreuen hatte. . | 

„Koh nie ſah ich einen jchönern Mann,” fuhr 
Lagemann, ben Actuar fortwährenn vom Kopf bie 
zum Fuße mufternd und bier unb da die legte Hand 
anlegend, lobpreiſend fort; „ned nie war ein Diplomat 
vortheilhafter coftümirt. Den will ich fehen, ber vor 
diefen majeftätifchen Frackſchößen, vor dieſer geblumten 
Weite, vor diefem Matador aller Bufenftreifen nicht 
in tieffter Ehrfurcht erftarrt und in ſprachloſer Bewun- 
derung aufſchaut.“ 

Je wohlthuenver Zeifig dieſe Hyperbeln berührten, 
um fo mehr fühlte fi) der Actuar angetrieben, nad) 
dem ungeführen Preife ber trefflihen Kleivung von 
Neuem zu fragen; aber Lagemann ließ ihm nicht zu 
Worte fommen und fuhr fort: 

„Ich bin feft überzeugt, daß wenn Ihr in dieſem 
Coftüm Eure Aufwertung dem Beherrſcher von Kabul 
zu machen nicht verabjäumet, dieſer das ganze Teſta— 
ment zu Euren Gunften über den Haufen wirft. Laßt 
Euch umarmen, gefegneter Actuar, als alleiniger 
Krofodillarius; ich Kenne dann Euer Herz, melces 
fid) erinnern wird, wem es biefes Glück zunächſt zu 
danken.“ | 

Der gewiflenhafte Zeifig, welchem ſchon Augft ward, 
er könne durch feinen Kleiwerlurus feinen Collegen das 
Erbtheil ſchmälern, ſprach die beruhigende Ueberzeugung 
aus, daß ſich ſeine Majeftät won Kabul, durch bloße 
Aenferlichfeiten in feinem Gerechtigfeitsfinne nicht werde 
irre machen laſſen. 

„Aber wolltet Ihr wohl, lieber Lagemann, mir 


38 


jet die Kaufſumme dieſes werthoollen Anzugs, bie 
Ihr einftweilen zu verlegen vie Güte habet, envlich 
notificiren —“ 

„Wenn ich nicht ganz genau wüßte,“ fuhr Lagemann, 
ohne auf Zeiſig's Anfrage im Geringften einzugehen, 
apologiftifch fort, „daß Ihr der Rathsactuar von 
Niederroßla wäret, ich‘ erfennte Euch nicht.“ 

„Ich liebe Ordnung und Bünktlichleit in ſolchen 
Dingen —“ 

„Ein englifher Lord muß fich verſtecken; dieſe 
edle Haltung, dieſe Tournure — 

„Es iſt um Lebens und Sterbens willen —” .. 

„Siebede und Comp. find weg, wem Ihr morgen 
erfcheint; wenn ich Alles fo genau wüßte —“ 

„Ich hoffe, Ihr laßt Euch nicht unbillig finden — 

„su Hanno's Fracke wäret Ihr geliefert lebens, 
ein Grabebitter ift nicht® Dagegen. Ich muß mic 
feldft Toben ob ver glüdlichen Idee, Euch total zu 
metamorphofiren —“ 

„Bagatelle für die Erhabenheit der Idee und ven 
Habit obendrein, Ihr cedirt mir für hundert Ducaten 
Krokodillmaſſe; dann bezahl ich felbft noch das Trink— 
geld für ven Schneiverjungen, welcher die Kleider her- 
geſchafft hat.” 

„Hundert Ducaten Krokodillmaſſe,“ hauchte der 
Actuar erfterbend, „guter Lagemann, Ihr beliebt zu 
ſcherzen!“ 

„Hundert Ducaten, was iſt das für einen Mann, 
ber ein ganzes GSechstheil von dem goldnen Mino- 
taurus ererbt; das find höchſtens ein paar Schuppen, 
gegen meine großartige Idee, Euch zu einem neuen 
Menfchen gemacht zu haben.‘ 

Der Actuar ſah dies ein, aber gleichwohl erſchien 
ihm die verlangte Summe zu enorm. Er ftand Schon 


\ 39 


im Begriff, auf ven ganzen Anzug zu verzichten, als 
Lagemann fortfuhr: KR —* —** daß 
Ihr in Euerer damaligen Garderobe den Zweck der 
Reiſe vollkommen verfehlt. Glaubt Ihr, daß die 
Bewohner Kabuls nicht ebenfalls Ambition beſitzen, 
daß ſie wollen honorirt ſein und auf Etiquelte und 
vorzüglich auf ſtandesgemäße Kleidung ſehen? Mir 
kann's gleich ſein, ob Ihr von meinem großmüthigen 
Darlehn Gebrauch machen wollt oder nicht, ich behalte 
mein Geld, und weiß was ich habe, beſſer iſt immer, 
ih habe, als ich hätte.‘ | 

In Zeifig’d Innerm kämpfte e8 gewaltig. Die 
Befürchtung, ohne Lagemann's Habit nicht durch bie 
Belt zu kommen, ward immer gewifler, fo daß er 
endlich nicht umhin konnte, auf das wucheriſche Geſchäft 
einzugehen. 

Seufzend ftellte Zeifig die Ceffion aus, die der 
undhriftlihe Attache fogleih feiner Brieftafche einver- 
leibte, wo bereit8 die Hanno'ſche Anweifung ſtak. 

Am folgenden Tage fuhren Nachmittags drei Uhr 
zwei elegante Equipagen mit betregter Dieuerſchaft vor, 
welche Herrn Siebede und Comp. angehörten und bes 
jtimmt waren, das Kabulheer und den jungen Morand, 
der Herren Siebede bereits brieflich bekannt, zum Diner 
nach Eppendorf zu transportiren. Bevor die Nieder- 
roßlaer mit ihrer Toilette zu Stande gefommen, hatte 
ed einer enormen Zeit bevurft; der ganze Tag, von 
frühem Morgen an, war darauf gegangen. 


40 


Dritt ePxapitet. 


Der ‚Kauffahrteifahrer, welcher die Erbſchaar nad) 
Bombay überfchiffen follte, war ein Englänver und 
hieß der Habicht. Der Kapitain nannte ſich John 
Bovens, der Schiffsarzt Dr. Barring und der Ober- 
ftenermann Hobhouſe. Die Kajliten der Paſſagiere 
waren mit möglichiter Bequemlichkeit und felbft nicht 
ohne Luxus ausgeftattet. Siebecke und Comp. hatten 
alle Sorge getragen, den Niederroßlaern die Meerfahrt 
fo comfortabel wie möglich zu machen. | 
Es waren denjelben drei Kajüten eingeräumt, zwei 
kleinere und eine größere. Von letzterer nahmen der 
Factor, der Quartus und Hanno Beſitz, während ſich 
in die andern beiden Bictor und Gamaliel und Zeiſig 
mit feinem Attahe Lagemann theilten. Außerdem gab 
es noch einen Sakon, der zum gemeinfamen VBerjamnt- 
lungsorte, ſo wie zum Speifelocale diente. Einige ab- 
feit8liegende Paflagierfajüten ſtanden noch leer, von 
denen es hieß, daß ihre Bewohner erſt in Cuxhafen 
an Bord kommen würden. | 
Der Augenblid der Abfahrt rüdte immer näher; 
noch erhoben fid, die Thürme Hamburgs in ftolzer 
Majeſtät, noch ertönte ringsumher das geränfchoolle 
Leben des Hafens; ſämmtliche Nieverroßlaer, nachdem 
ihre Gepäck an Bord gebracht worben war, hatten fid) 
auf dem Verdecke verfammelt und fehauten ven An— 
ftalten zur Abreife zu, welde alle Matrojen in bie 
eilfertigfte Bewegung feste. Sie mußten fid) oft 
manchen Puff der Schiffsmannſchaft gefallen laſſen, 
wenn fie zu unvorfidhtig den mit Seilen, Segeln und 
Stangen befhäfttgten Arbeitern in den Weg famen. 


4 





Namentlich weh Yagemann ununterbroden von der 
einen Seite des Verdecks zur andern gejagt, jo daß 
er fi endlich fluchend in die Kajüte flüchtete. 

faß bereit Zeifig im höchſt niebergeichlagener Stim- 
mung. Ihm war äußerſt weichli zu Muthe, Das 
Heimweh begann. fi) feiner zu bemächtigen. 

„Ach,“ feufzte er für fih, „fähe ich doch licher 
hinter meinen lieben Actentife auf dem Rathhauſe 
zu Nieberroßla, over nad überſtandener Erpebitions- 
zeit unter ven fühlen Schießhauslinven bei einem Kruge 
Dünnbier.“ 

In diefer trüben Gemüthsftimmung war e8 orbent- 
lich mohlthätig fir Zeifig, daß er in Lagemann einen 
Geſellſchafter bekam. E8 war wenigftens eine befannte 
Seele aus dem Nieberroflaer Friedensthale, obſchon 
der Attahe für feine Perjon nichts weniger als für 
den Frieden geftimmt war. Cr jchimpfte über alle 
Maßen auf die Mateofen, welche ihm fo übel mit- 
geipielt hatten und ſchwur, das Berbed nicht eher 
wieder zu betreten, als bis e8 von den groben Un— 
holden geräumt fei. 

„Actuar,“ fuhr er nad einer Baufe fort, „wie 
wär's, wenn wir ein Fläſchchen jelbander ausjtächen ? 
Ihr ſcheint mir auch nicht ver heiterfte und der Wein 
erfreut des Menfchen Herz. Vielleicht, daß ich bie 
mannigfaltigen PBüffe, fo ich erhalten habe, und ben 
Aerger darüber hinunterjpäle. Actuar, gebt Euerm 
Herzen einen Stoß, bebenft, daß wir ſo jung nicht 
wieder zuſammen kommen.“ 

Zeiſig war, ſeine pecuniären Verhältniſſe in Ueber⸗ 
legung ziehen, im Geringſten nicht aufgelegt, auf 
Lagemann’8 Vorſchlag einzugehen ; auh war feine 
melandolifhe Stimmung für's Poculiren gar nicht 
geeignet; der Attacke ließ indeß nicht nad, fehaffte 


42 

ſelbſt eine Flaſche Rothwein herbei ind die Gläſer 
gen an einander. 

+ „Das Krofodill ſoll leben!“ ſprach er, fein Glas 

an den Mund bringend; aber in vemjelben Augen- 

blide ertönte ein Kanonenfhuß, welder das Signal 

zur Abfahrt gab, worüber ver Attahe bermaßen 

erſchrak, doß die Hälfte des Rothweins ſeiner Weſte 

zu Gute kam. 

Zeiſig, der ſehr an Kurzfichtigkeit litt, und wel- 
chen der Donner nicht weniger erſchreckt hatte, glaubte 
im erſten Augenblide, als er das purpurne Gilet 
Lagemann's gewahrte, derſelbe habe einen Blutſturz 
bekommen und ſchrie kläglich nach Hülfe. Das ener- 
giſche Fluchen des Begoſſenen belehrte ihn indeß, daß“ 
die Lebensgefahr des Magdeburgers nicht gar zu 
groß war. 

„Wir wollen jetzt ein wenig friſche Luft ſchöpfen.“ 
ſprach Lagemann, nachdem er die Flaſche faſt allein 
ausgetrunken, „und uns umſchauen. Wir können gar 
nicht weit mehr vom Meere ſein.“ 

Der Actuar ſchauderte, wenn er an das Meer 
dachte, von welchem er ſchon aus früher Jugendzeit 
gehört zu haben ſich erinnerte, daß es keine Balken 
habe. Unterdeß wurden die Schwankungen des Schiffs 
immer beträchtlicher. Der Attaché, welcher ſich ſo 
eben auf dem Wege nah der Kajlitentreppe befand, 
und weldhem der Weindunft auch feinen fichern Halt- 
punft verlieh, verlor das Gleichgewicht und fiel 
birectement auf den Bauch, wo er im Anfange fi) der 
ſchrecklichen Anficht Hingab, es hab’ ihn der Schlag 
getroffen, weshalb er entfetlich zu lamentiren begann. 
Zeiſig, aufs Höchfte erfchroden und von Nädhftenliebe 
getrieben, wollte dem am Boden Liegenven zu Hülfe 
ſpringen, als er gleichfalls in's Schwanken gerieth und 


43 


unvermögend, ſich auf Nen Füßen zu erhalten, auf 
feinen Attaché zu liegen kam. 

„Mein Gott,“ ſeufzte Lagemann, „was fällt Euch 
ein und wie ſpielt Ihr einem Unglücklichen mit!“ 

„Ach,“ jammerte der zu oberſt Liegende, welcher 
ſchlechterdings nicht begreifen konnte, wie er fo un- 
verſehens zu Falle gekommen, „wir ſind gewiß ſchon 
auf dem hohen Meere und der Sturm iſt losgebrochen.“ 

„Das ift aber nicht möglih, wir findyıfa. kaum 
eine Stunde von Hamburg fort! Das müßte ja mit 
GSiebenmeilenftiefeln gegangen fein.” 

„Es wird leider. nicht anders ſein,“ verſetzte Zeifig, 
der zitternd auf des Magdeburgers Leichnam. liegen 
blieb, ohne die geringfte Anftalt zu treffen, ſich wieder 
zu erheben. 

„Aber fo fteht wenigftens auf, ih kann faum ein 
Glied rühren.“ 

„Das Schwanfen ift fo bedeutend,“ gegenrebete 
Zeifig, „daß man ſich auf eignen Füßen nicht zu er- 
halten vermag. Ä 

„Das mag Alles fein, aber Ihr könnt mir doch 
nicht zumuthen, daß ich Euch zeitlebens ald Matratze 
diene?“ 

Der Actuar fah das Billige, das in dem Ver⸗ 
langen feines Attache’3 lag, volllommen ein. Er richtete 
ih alfo nicht ohne Mühe empor, und fam wieder 
auf feine Füße zu ftehen; doch kaum war ihm Dies 
gelungen, als ein abermaliger Stoß ihn von Neuem 
zu Fall brachte; er fiel auf feine Hände und bildete 
die Figur eines vierfüßigen Thieres. ' 

Lagemann, welcher fi untervep an allen Theilen 
feines Körpers betaftet und die erfreuliche Entdeckung 
gemacht hatte, daß er diesmal vom Schlage noch ver- 
ihont geblieben, ward fogleid wieder übermüthig. _ 


24 


Er erblickte Zeiſig in unm ibarer Nähe neben Rh 
und fprah: „Ihr ftürzt ja wie ein Nußſack einmal 
Aber das andere; ich begreife nicht, wie Ihr Kabul 
erreichen. wollt, fo Ihr ein Glas Wein nicht ver- 
tragen könnt.“ 

„Ih bin die Nüchternbeit ſelbſt ,“ betheuerte der 
Actuar, „wer kann für Seeſturm.“ 
„ab da Seeſturm,“ behauptete Yagemdun, „fein 
Lüfte rret ſich. Das müßte mit fonberbaren 
Dingen“ zugehen, wenn man micht aufrecht ftehen 

könnte.“ | 

Er richtete fich fofort mit Mühe empor, dody kaum 
glaubte er das Gleichgewicht gefunden zu haben, als 
ein abermaliger Ruck des Schiffs ihm in biejelbe 
Stellung warf, in welcher fi Zeiſig befand. 

Der Actuar, welcher ven neuen Fall hörte, drehte 
den Kopf und erblidte feinen Attache gleichfall® auf 
allen Bieren poftirt. 

„Es it keine Möglichleit, aufrecht zu ſtehen,“ 
ſprach Lagemann, „ſolche Stöße verträgt fein Menſch. 
Das wirft ein Vieh um.” 

„Ih mein’3 auch,” erwiederte der Actuar. 

„Wir wollen bis zur Stajütentreppe vorkriechen,“ 
Ihlug Lagemann vor, „vielleiht daß die von oben 
hereindringende Luft uns ſtärkt.“ 

Zeifig pflichtete Beifall und man trat auf Händen 
und Füßen fi) vorwärts bewegend die Wanderung 
an. Unterwegs ſprach der Attahe: „Eine Geereije 
ift doch mit großen Widermärtigfeiten verknüpft. Wer ' 
“weiß, wie e8 mit unjeren übrigen Landsleuten und 
Keifegefährten ſteht. Wenn die auf dem Verdecke 
geblieben find, hat fie der Sturm unfehlbar in's Meer 
geſchleudert. Es war ein guter Gedanke von mir, 
daß ih Euch zum Weintrinfen animirte. Ihr mwäret 


45 


höchſt wahrſcheinlich gleichfalls hinaufgeklettert und läget 
im Meere. Wollet das bedenken, Actuar!“ 

Zeiſig war bemüht, das Gegentheil zu behaupten, 
aber Lagemann ließ ihn nicht zu Worte kommen. 

„Mein Gott, ſchweigt!“ ſprach er, „es unterliegt 
feinem Zweifel, Ihr wäret längft über Bord, jo ich 
Euch nit durch Wein an die Kajüte gefeflelt. Ihr 
könnt mich getroft als den Erretter Eures Lebens be= 
trachten. Wollet das wohl beherzigen, Actuar!“ 

Unter dieſem Zwiegeſpräch waren die beiden Bier: 
füßler an der Treppe, welche nach dem Verdeck führte, 
wohlbehalten angelangt. 

„Hier geht's hinauf,” ſprach der Attache, „Actuar, 
wie ift Euch?‘ 

„Gar nicht zum Beſten, “ ſeufzte dieſer, „wenn 
ich bedenke, daß ich bis nach Kabul ſo fortkriechen 
ſoll.“ 

„Das ſollt Ihr nicht,“ belehrte Lagemann, „der 
Menſch gewöhnt ſich mit der Zeit an Alles. Zuletzt 
iſt's ihm egal, ob er auf dem Lande oder Schiffe 
lebt.“ 

„Aber wir ſind ſchon zu bejahrt,“ gab Zeiſig mit 
Trauer zu bedenken, „als daß wir dergleichen Strapazen 
lange aushalten ſollten. Ich bin wie zerſchlagen und 
es iſt mir auch ſonſt gar nicht recht.“ 

„So?“ verſetzte Lagemann, „bei mir findet juſt 
das Gegentheil ſtatt, ich fühle Rieſenkraft in meinen 
Muskeln. Freilich, Ihr waret von jeher kein Held. 
Ich wünſche Niemand etwas Böſes, aber daß Ihr 
Kabul nicht erreicht, wenn ich Alles ſo gewiß wüßte —“ 

Zeiſig ſtieß bier einen außerordentlichen Seuf- 
zer aus. 

„Es wäre daher nur eines weiſen Mannes würdig,“ 
fuhr Lagemann fort, „wenn Ihr für den Fall Eures 


46 


Todes mir die Vollmacht ausftelltet, an Eurer Etatt 
das Krokodill zu erheben. 

Dem Actuar warb bei dem fortwährenden Schwan- 
fen immer unmwohler. Es überfam ihm ein Gefühl, 
wie er nie empfunden zu haben ſich erinnerte. Schon 
vermochte er Feine Antwort mehr zu geben. 

Lagemann, welcher aus Zeiſig's Schweigen ſchloß, 
daß dieſer hinfichtlicdy einer Vollmacht volllommen ein- 
verftanden fei, fuhr im dunkeln Sciffsraume fort, 
dem Nieverroßlaer Rathsbotſchafter leidenſchaftlich zu⸗ 
zuſetzen. 

„Ihr verdient einen wahrhaften Gotteslohn, “ſprach 
er, „wenn Ihr ſo bald als möglich an's Werk geht, 
ich werde für Feder, Tinte und Papier ſorgen. Wir 
ſind Alle ſterblich — 

Der Actuar fühlte das Inhaltreiche dieſer letztern 
Worte nie inniger, als in ſeinem gegenwärtigen 
Zuſtande. 

„Mod vor dem Mittagseſſen,“ fuhr ver Attaché 
fort, „wollen wir das Inſtrument auffegen.” 

Der Gedanke an das Mittagseflen erfüllte den 
Actuar vollends mit Grauſen. 

Lagemann, der im Stillen bereit berechnete, wie 
viele Prozente vom Krokodille ihm bei Zeifig’8 Ab— 
leben wohl zufallen könnten und ver fogar nicht übel 
Luft hatte, das ganze Ungethüm zu unterfchlagen und 
in feinem Nuten zu verwenden, warb auf eine höchſt 
merfwürdige Weife in feiner innern Speculation unter= 
brochen. 

Am obern Eingange der Kajütentreppe zeigte ſich 
nämlich ein langer dunkler Gegenſtand, der plötzlich 
mit ſeltener Rapidität die Stufen herabfuhr und auf 
den ſpeculativen Lagemann zu reiten kam. Es war 
Niemand anders als der Factor Süßmilch, welcher 


47 


e8 vermöge feiner langen Beine auf dem Ihaufelnder 
Verdeck nicht Länger auszuhalten vermochte und in 
dem unteren Schiffsraume Schug ſuchte. Zufällig 
rutſchte er auf der oberften Stufe aus, welches feine 
fo urplötzliche Hinabfahrt und feinen originellen Sit 
auf Lagemann's Rüden zur Folge hatte, 

„Alle Wetter,‘ — * letzterer, „welches Ungethüm 
reitet denn auf mir?“ 

Süßmilch, der trotz der curiofen und überrafchen- 
ven Fahrt nicht alle Beſinnung verloren hatte, er— 
wiederte: „Ich bin es.“ 

„Da weiß ich jo viel wie Zuvor,” meinte ber als 
.Rappe fungirende Lagemann. 

„Der Factor Süßmilch,“ gab jet ber Reiter 
nähere Auskunft. 

„Wer heißt Euch zun Teufel auf mir reiten ?“ 

„Die Allgewalt der Umftänbe, guter Lagemann, 
ih bin an der Herabfahrt fo wie an dem Ritte fo 
unſchuldig wie ein neugeboren Kind.“ 

„Aber nicht fo leicht wie folh ein Wurm, das 
ſpür' ich,“ replicirte Lagemann, „ich wette, Ihr habt 
mir Schaden gethan, das kann Euch theuer zu ftehen 
fommen. Wenn Ihr mich zum Krüppel geritten, lege 
ih jofort Beſchlag auf Euer Kabul'ſches Erbtheil.“ 

Der Factor erfchrat bei diefen Worten dermaßen, 
daß er wie verfteinert auf dem Magveburger ſitzen 
blieb. Dieſer fchrie verzweifelt: 

„So fteigt zum Satan endlich von mir herunter! 
Bin ic denn verdammt, heut’ aller Welt zur Unter- 
lage zu dienen?“ 

Diefe energifchen Worte fattelten den Reiter ab. 
Lagemann fchöpfte frifchen Athem, als neues Unge— 
mad) von oben über ihn hereinbrah. in triefendes 
Gewand flog herab, welches ven Attaché total über« 


48 


deckte, ſo daß er eine Zeit lang weder Etwas ſah 
noch hörte. Zu gleicher Zeit kam Hanno die Kajüten⸗ 
ſtiege fluchend herabgeklettert. Dieſer hatte bisher in 
ſeinem Carbonari gewickelt und maleriſch an die eine 
Bruſtwehr gelehnt allen Schwankungen des Schiffs 
kühnlich Trotz geboten. Er träumte ſich nämlich in 
die Stelle des Hannibal, wie dieſer, Italien, die Wiege 
ſeines Ruhms, verlaſſend, unter Verwünſchungen nach 
ſeinem Vaterlande zurückkehrte. Plötzlich ward aber 
feine Hannibalsrolle auf ziemlich unbequeme Art unter- 
drohen. Eine Welle ſchlug über Bord und weichte 
den Helvenfpieler bi8 auf die Haut eim. Dieſer fuchte 
jest in's Trockne zu fommen und flüchtete nad ver . 
Kajütenthür. Da die Stiege, melde von bier nad) 
den untern Räumen führte, zu ſchmal war, um mit 
dem Garbonari bequem binabfteigen zu können, fo 
warf er den Mantel voran. Dies war aljo das 
naſſe Gewand, welches Lagemanı auf eine Zeit lang 
Hören und Sehen benahm. ‘Der Helvenfpieler, welcher 
feinem vorangeflognen Mantel folgte, erhöhte die am 
Tuße der Kajütentreppe entjtandene Verwidelung um 
Dieles. Er griff im Dunkeln vor allen Dingen nad) 
feinem Carbonari, in welchem ſich aber der unglüd- 
liche Lagemann bereit3 dermaßen verfangen hatte, daß 
er von Hanno an einem Beine mit in die Höhe ge= 
zogen wurde. Der Attache fehrie Zetermordio, aber 
e8 Hang nur dumpf, weil dad Gewand den Schall 
dämpfte. 

Der Helpdenfpieler, welcher im Anfang nicht anders 
vermeinte, als e8 wolle fi ein Anderer feines vecht- 
mäßigen Eigenthums bemächtigen, zerrte mit einer 
Vehemenz am Carbonari, daß er den wie in einem 
Zaubermantel verwidelten Magdeburger faft das rechte 
Bein ausrenkte. Letzterer begann jet zu brüllen, 


49 


und Hanno ahnte den Yufammenhang. Er erkannte 
Lagemann’d Stimme und beichloß ſogleich, die präch— 
tige Gelegenheit nicht unbenutt zu laſſen, um an 
dem verhaßten Magdeburger einmal ungeftraft fein 
Müthchen zu Fühlen. Er gedachte der zahliofen De— 
müthigungen, bie er fid in Nieverroßla von der Hab- 
fuht Lagemann's hatte gefallen laſſen müfjen; wie 
mandyen Xerger und Groll er gezwungen gewefen ein- 
zufchluden. Diesmal fonnte er urkräftige Rache neh- 
men, denn ber Berhaßte lag wie in einen Knäuel 
gewidelt wehrlos zu feinen Füßen. 

Der Helvenfpieler gab ſich alſo das Anfehen, als 
betradhte er den Eniballirten für einen Dieb feines 
Mantel, ohne zu ahnen, wer wohl darin fteden 
fünne. Demzufolge erhob er ein gräßlich Donner- 
wetter und ein wahrer Strom von Flüchen und 
Schimpfworten ging aus feinem Munde,: welche 
ſämmtlich gegen den Mantelinfajjen gerichtet waren 
und dieſem ben Untergang anfünveten. Zu gleicher 
Zeit begann von Seiten des Helvenfpielers ein merf- 
würdiges Kneten, Puffen und Stoßen, orventlid me- 
thodiſch wie in einem türkfchen Babe; denn glaubte 
Hanno mit der einen Seite fertig zu fein, wanbte 
er den bereit halbtodten Klumpen um und die Arbeit 
begann von neuem. Während deſſen entfloß folgende 
abgebrodyene und berechnete Rede feinem Munde: 
„Bart, Du verdammter Bootsknecht, ih will Dir 
Deinen Diebefinn austreiben! Es ift gut, daß man 
mid) vor Dir gewarnt hat. Wie, kaum hab’ id) Das 
Schiff betreten und ſchon wilft Du mid beftehlen? 
Ei, Du Hallunfe! Wart, fobald ih Di hinlänglid) 
gegerbt habe, überliefere ic) Di Deinem Herrn, dem 
Gapitain, welcher Di kielholen wird. Er iſt es 

4 


Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. ' 


50 


meinen fämmtlihen Landsleuten und Reifegefährten 
Ihuldig, daß er an Dir ein Erempel ftatuirt.” 

Lagemann vernahm im Anfang die von zahlrei= 
hen Puffen begleiteten Worte des Helvenfpielers und 
erfannte mit Entfegen, in weldem für ihn fo un= 
glüdlihen Irrthum Hanno fi) befand. Er ftrengte 
daher feine letzten Kräfte an, feinen Peiniger die Au— 
gen zu Öffnen und zu bemeifen, daß er nicht der bie- 
bifhe Bootsknecht, ſondern der Wirth zur Stadt Mag- 
deburg fei; aber ver Helvenfpieler war viel zu eifrig 
mit Prügeln beſchäftigt, als daß er auf die überbies 
höchſt unverftänplihen Reclamationen Lagemann's 
hätte Rückſicht nehmen ſollen. Er fuhr in ſeiner Loh— 
gerberarbeit unermüdlich fort und ließ von dem un— 
glücklichen Attaché nicht eher ab, als bis dieſer keinen 
Arm mehr zu rühren im Stande und ed im Innern. 
des Carbonari bedenklich fill geworben war. 

„Ganz todt will ich ihn nicht ſchlagen,“ ſprach 
Hanno zu fih, „obihon es die Canaille vervient hätte; 
ih vernehme feinen Yaut mehr, er dürfte vor ber 
Hand genug haben.“ 

Mit viefen Gedanken begann er den Carbonari 
zu fohütteln, wo denn endlich der halbtodte Lagemann 
herausfiel. Der Gemißhandelte lag am Boden und 
rührte fich nicht. 

„Jetzt fol Dich erſt der Capitain in's Gebet neh— 
men,“ ſprach Hanno, noch immer den Unwiſſenden 
ſpielend, „ich gehe ihn zu holen.“ 

Der Heldenſpieler entfernte ſich, aber nicht um 
John Bovens zu requiriren, ſondern um ſich nach 
einem Kruge Waſſer umzuſehen, denn ver Magdebur⸗ 
ger ſchien wirklich mehr todt als lebendig. Hanno 
kehrte alsbald mit einem mit Waſſer gefüllten Waſch— 


51 


beden zurüd, welches er ohne Umftände dem Halb: 
ohnmädhtigen über den Kopf fıhüttete. 

In Folge diefer hydropathiſchen Kur fehrte Lage- 
mann in’8 Leben zurüd, war aber nidht im Stande, 
ein. Glied zu rühren. Er ächzte und feufzte erbar— 
mungswürdig. 

Der Factor, welcher lange nicht hatte in Erfahrung 
bringen können, welcher hölliſche Kobold über den 
unglücklichen Lagemann gekommen, denn er hatte in 
der Dunkelheit nur die ununterbrochenen Püffe und 
des Magdeburgers entſetzliches Lamento vernommen, 
wagt ſich jetzt, nachdem es ſtiller geworden, mit einer 
brennenden Laterne hervor, die er in feiner Rrivat- 
fajüte angezündet, und gewährte der tragifhen Scene 
eine eigenthümliche Beleuchtung. 

Da lag ver unglüdlihe Lagemann, ausgeftredt 
auf dem Boden, fo lang er war, und ſchien won Gott 
und Welt nichts mehr willen zu wollen. Zeifig, be= 
reits von der Seekrankheit ergriffen, war in einen 
Winfel gefrohen und befand fi in einem eben fo 
verzweifelten Zuſtande. Unwohlfein und Todesangſt 
jchüttelten abwechjelnd fein Gebein. Sein Untergang 
war ihm noch niemals fo gewiß gemejen, wie diesmal. 
Entweder, dachte er ſchaudernd bei fih, du würgſt 
dich jelber zu Tode oder wirft gewürgt, wie gegen= 
wärtig der unglüdliche Yagemann, ver jo eben unter 
Mörverhand feufzte. Zeifig glaubte in allem Ernite, 
das Schiff wäre von Seeräubern erobert, welche nun 
maflacrirten nach Herzensluft. 

Nachdem Süßmilch mit. der Laterne den Ort des 
Schredend näher beleuchtet hatte, ereignete fidh eine 
große Scene. Der Helvenfpieler machte nänilich Die 
Entvedung, daß er ftatt des biebifchen Bootsknechts 
Lagemann fo übel mitgefpielt hatte. 


52 


„Was Teufel, Lagemann, fein Ihr's?“ rief ex 
im Tone des höchſten Erftaunens, „ih babe Euch 
wahrhaft für einen ‚ganz “andern gehalten. Ei, das 
thut mir leid, da jeid Ihr einmal vecht unſchuldig zu 
einer Tracht Schläge gekommen.‘ 

„Mörder, hauchte der Attaché erfterbenn und 
wandte den Kopf abwärts. Die Scene würde von 
hoher Tragik geweſen fein, wenn nicht in bemjelben 
Angenblide, als Lagemann das pathetiihe Wort 
„Mörder hauchte, beim Actuar im Winkel die See- 
frantheit zum Ausbruch gelommen wäre. 

Bei dem neuen ſeltſamen Geräuſch, welches bie 
Zeiſig'ſchen Eruptionen hervorbrachten, hielt der Fac— 
tor die Laterne höher und man fonnte nun bie ganze 
Wahlſtatt überfchauen, auf welder die Geſandtſchaft 
des hochweifen Raths zu Niederrofla ausgejtredt lag. 

Hanno legte jest ſelbſt Hand an, den halbtodten 
Wirth zur Stadt Magdeburg nad feiner Kajüte zu 
Ihaffen, aud) trug er Sorge, daß dem Actuar ber bei 
Seekrankheiten unentbehrlihe Napf gereicht wurde. 

Während folhe Morpgefchichten im Innern des 
Schiffs fid) zutrugen, waren Victor und Gamaliel 
nicht vom Verdeck gekommen. Die Beiden fonnten 
ji) ‚nicht fatt fehen, wie die grünen Ufer immer wei— 
ter zurüdtraten, die Elbe ein meerartiges Anfehen 
gewann und die Wellen immer höher fchlugen. Die 
zahlveihen SKauffartheifahrer, melde ven günftigen 
Wind benugend, ebenfall® im Hamburger und Alto= 
naer Hafen die Anfer gelichtet hatten, gewährten ein 
herrliches Schauſpiel. Der Habicht überholte eine 
Drigg und einen Schooner nad) dem andern, jo daß 
er endlich die gefammte Hamburg Altonaer Flotte im 
Rücken hatte und alle Segel entfaltend, ftelz voran— 
rauſchte. 


53 


Jetzt erſt, nachdem er fih ‚an der Spike aller 
anderen Schiffe Jah, ließ John Bovens mit Voltern 
und Commandiren nad; fein mürriſch Gefiht nahm 
eine zufriedene Miene an und die Hände auf dem 
Rücken und Die Cigarre im Munde fchaute ev nicht 
ohne Wohlbehagen, wie alle feine Herren Collegen 
hinter ihm zurüdblieben. Er ward jett auch gejprä= 
iger und war fo artig, den jungen Morand und 
Samaliel auf .eine Flaſche Conftantiawein in feine 
Kajüte einzuladen. Mit vielem Vergnügen nahnıen 
bie Öenannten die Einladung an und bald befand 
man ſich in dem geräumigen und außerorbentlid) com- 
fortabel eingerichteten Cabinete des Schiffführers, wo 
man au einem jauber fervirten Tiihe Plag nahm, 
welder an dem einen Kajütenfenfter angebradht war, 
und von wo nian einer freien Ausſicht über die uns 
geheure Wafferflähe genoß. Der Conftantia funfelte 
und duftete, und die fauber geichliffenen Gläſer klan— 
gen an einander auf das Wohl des gaftlichen Wirthe. 

Sir John's Geliebte war die dampfende Punfch- 
bowle oder aud) eine ächte Havanna-Cigarre. 

- Immer majeftätifcher ‚erhoben fid) draußen Die 
grünen Wellen. Der Himmel war trübe, von Zeit 
zu Zeit vernahm man von Verdecke her die Stimme 
des Oberbootsmanns, welcher ven in dem Tauwerke 
hangenden Matrofen Befehle zurief. Auf dem Ber- 
dee befand fi von den Exrbfahrern Niemand als 
Betterlein, der ſich fortwährend übte, mit feinen klei— 
nen Beinen von einer Bruftwehr zur andern zu lau: 
fen, um fih au die Schwankungen des Schiffs zu 
gewöhnen. Dabei plagte er fortwährend den Ober 
bootsmann, oder wer ihm in ven Weg fanı, um ven 
Namen dieſes oder jenes Orts, der fid) an den Ufern 


54 


der Elbe zeigte, welche er forgfältig in feine Brief: 
taſche notirte. 

„sn Sarhafen,” fprah Sir John unter Anderm, 
„werden wir eine ziemlich ſonderbare Geſellſchaft an 
Bord befommen, auf die ich wirklich neugierig bin; 
einen todten Braminen und deſſen lebendige Frau, 
die mit dem Yeichnam ihres wor Kurzem auf einer 
Reife durch Europa verflorbenen Ehemannes nad In- 
dien zurüd will, um venfelben vafeldft zu verbrennen 
und, wie man jagt, fich desgleichen, wie es der gute 
Ton bei den Hinpufrauen verlangt. Der Schugherr 
dieſes halblebendigen und halbtodten Ehepaars iſt 
ſeltſamerweiſe ein Türke, ein vertrauter Freund des 

Verſtorbenen, welcher in der Gegend von Delhi ſeß— 
haft und den Braminen auf feinen Reiſen fortwährend 
begleitete. Die Dienerſchaft wiederum befteht aus zwei 
Negern ans Schegambien, Tohu und Bohu mit Na- 
men, So wenigitend befagt mein Schifferbuh. Zu— 
gleich wird darin anbefohlen, die Wittwe mit der 
möglichſten Aufmerkſamkeit zu behandeln, da fie einen 
enormen Weberfahrtspreis bezahlt hat; auch ſoll Herr 
Abdullah, jo heift der Moslem, die Frau feines ver- 
ftorbenen Freundes mit dem eiferfüchtigen Auge eines 
Liebhaber bewachen und in diefem Punkte durchaus 
keinen Spaß verftehen.‘ 

„Das kann eine höchft interefjante, aber aud) 
eben fo langmeilige Sache werden,” meinte Victor. 
„Wie angenehm es ifl, eine Meerfahrt in Gefellichaft 
einer interejfanten Dame zu machen, um-jo ennuyan- 
ter ift e8, wenn biefelbe bejtändig von Argusangen 
bewacht wird, jo daß man ihr nicht nahen darf.” 

„Die Wittwe ift wohl. jehr ſchön?“ frug Ga— 
naliel. 

„It mir dermalen noch völlig unbekannt,“ erwie— 


! 55 


derte Sir John, „venn im Schifferbuche fteht nichts 
darüber. Auch bezweifle ih, ob wir darüber je in's 
Klare kommen dürften; fie wird wohl mehr als einen 
Schleier übergezogen haben, wenn fie fih ja einmal 
öffentlich jehen läßt.‘ 

„Wiſſen denn die übrigen Paflagiere,‘. erfundigte 
fih Bieter, „von den neuen Reifegefeliſchafternꝰ Es 

. wäre wohl wünſchenswerth, fie gleichfalls über die 
r: . Eigenthümlichkeit dieſer Leute in Kenntniß zu ſetzen, 
7. Bamit nicht etwa einer unferer guten Niederroßlaer 
- im Gefahr läuft, mit Herrn Abdullah feindlich zufam- 
men zu treffen.‘ | 

„Ich bin fo eben im Begriff, die Herren darüber 
in Kenntniß zu ſetzen.“ Er begab fi, von Gamaliel 
und Victor gefolgt, nad der Salonfajüte Hier fah 
es ziemlich trübfelig aus. Hanno lag auf einem ber 
Divans lang ausgeftredt und ſchnarchte nach Herzens- 
luft, während der Yactor, ſich über alle Maßen lang- 
weilend, in einer gegenüber befindlichen Ede jaß. Mur 
Betterlein war auf den Füßen und damit befchäftigt, 
die Notizen, welche er über die zahlreihen Kirchthürme 
auf der Reife daher auf feine Pergamenttafel verzeich- 
net, vermittelft ſchwarzer Zinte in fein Tagebuch über- 
zutragen und zu verewigen. 

Zeiſig und der Attache waren gar nicht anweſend. 
Sie befanden ſich in der bejammernswertheſten Lage 
in ihrer Separatkajüte, der erſtre mit den Wirkungen 
der Seekrankheit kämpfend, der andere an den zahl- 
reihen Püffen des Helvenfpielers Taborirend. Beide 
Hagten ſich von Zeit zu Zeit ihre Roth. 

Die Ankunft des Capitains brachte etmas Leben 
in den Salon. Hanno warb gewedt, ber Factor 
fam aus feinem Winkel und Betterlein war ganz 
Ohr. Man vernahm mit vielem Intereffe die Mähr 


56 


von der feltjamen Reiſegeſellſchaft. Sir John fchärfte - 
wiederholt die Berhaltungsmaßregeln ein, weldhe man 
gegen dieſe Aſiaten und Afrikaner zu beobachten habe 
und hob hauptſächlich das Verbot hervor, die Bra— 
minin auf irgend eine Art zu beläftigen, weil man 
fih) außerdem großer perfönliher Gefahr ausſetze, da 
die Eiferfuht der Türken eine bekannte Sache ſei. 
Zugleich erhielt der Factor den Auftrag, den Actuar 


jo wie Lagemann mit dem Stande der Dinge bekannt 


zu machen. 

Betterlein betheuerte feierlich, daß er dem Herrn 
Abdullah Feine Veranlaſſung zur Eiferfuht geben 
werde; aud Süßmilch verſprach Mäßigung und Ent: 
haltſamkeit; nur bei Hanno war's nicht ganz richtig. 
Er nahm ſich feft wor, bei erfter Gelegenheit ver 
Braminin unter den Schleier zu guden und erklärte 
dies, nachdem ſich der Capitain entfernt hatte, laut. 

Sehen muß ich ſie,“ ſprach er, „und wenn der 
Großſultan mit allen Muſelmännern Wache hielte; 
vielleicht läßt ſich ſelbſt ein intereſſanter Liebeshandel 
anſpinnen. Das wäre kein übler Zeitvertreib auf der 
Meerfahrt, die mir nachgrade ennuyant wird.“ 

Vetterlein und der Factor konnten die Courage 
des Heldenſpielers nicht genug bewundern. 

„Nein,“ verſetzte Vetterlein, indem er ſich aus 
Süßmilch's Doſe eine Priſe nahm, „das wäre meine 
Paſſion nicht, mich mit ſolch' einem wildfremden 
Fraueuzimmer einzulaſſen. Man weiß da nie, wie 
weit man gehen ſoll, und wie leicht kann man mit 
dem eiferſüchtigen Türken in unangenehme Berührung 
kommen.“ 

„Vor mir hat die Braminin Ruhe,“ erklärte der 
Factor, „und wäre es die Prinzeſſin Turandot in 


N 


44 


57 


hoher Perfon. Es ift mit ſolchen Leuten nicht gut 
Kirſchen eſſen.“ 

Hanno belächelte die kleinbürgerlichen Anſichten 
des Quartus und des Factors. 

„Freilich,“ meinte er, „in der Liebe muß man 
etwas wagen. Che man ſich's verfieht, kann man 
den Dold des eiferfüchtigen Türken zwilchen ven 


Rippen haben; doch darin befteht eben ver ſüße Reiz, 


der Sauber.‘ 

„Wo bier der ſüße Reiz und Zauber zu ſuchen 
it,“ meinte Betterlein kopfſchüttelnd, „wenn man 
ſo unverſehens angebohrt wird, begreife ich ſchlechter— 
dings nicht.“ 

„Ich auch nicht,“ geſtand der Factor. 

„Sancta simplicitas,“ lachte Hanno, „der Zauber 
ruht eben in der Gefahr; die ſüßeſten Früchte der 
Liebe gedeihen nur am Abgrunde, wo man ſie mit 
Gefahr des Lebens pflücken muß.“ 

„Das ſind überſpannte Anſichten,“ ſprach Suß⸗ 
milch.“ 

„Ja wohl, im höchſten Grade überſpannt,“ fügte 
der Quartus hinzu. 

Dem Heldenſpieler, den es ärgerte, daß ſich die 
Proſa ſeiner beiden Erbcollegen zu feiner poetiſchen 
Anſchauung nicht zu erheben vermochte, ward ſehr 
abſprechend. | 

„Mit folhen verwahrloften, unglüdlihen Geſchö— 
pfen, wie Ihr,“ verfeste er, „denen nie jener befeli= 
gende Slodenton, jo man Liebe nennt, erflungen, 
deren winterödes Herz nie won einem Strahle dieſer 
Weltenſonne erwärmt worden iſt, läßt ſich über einen 
ſo erhabenen Gegenſtand allerdings nicht disputiren.“ 

Vetterlein und Süßmilch, welche in Betracht des 
Mundwerks und Phraſenthums dem Heldenſpieler kei— 


4 


58° 


neswegs gewachſen waren, ‚glaubten ſich gegen Han 
no's Imfinuationen nicht befjer revangiren zu können, 
‚als wenn fie feine erotiſchen Abdfichten Auf die Bra— 
minin geradezu für unmoralifh und als dem Chri- 
ftenthum für zuwider erflärten. Vetterlein ging nod) 
weiter und citirte das alte Tejtament, wo Moſes 
ausdrücklich gefagt babe: a ſollſt nicht begehren 
a deines Nächſien Weib u. ſ. w. 

Jett warb der Helvenjpieler freigeiſtiſch und lä⸗ 
chelte mitleidig. „Beſchränkte Schulanſichten,“ ſprach 
er, „was geht mich das alte und das neue Teſtament 
an! Die Vernunft, welche nicht am todten Buchſta— 
ben klebt, iſt mein Leitſtern. Die Vernunftreligion 
iſt die einzig wahre, und die ſagt mir andere Dinge, 
als in der Bibel ſtehen.“ 

Vetterlein und Süßmilch, beides ſtrenggläubige 
Chriſten, ſchauderten ob ſolcher frivolen Anſichten. 
Der Quartus ließ ſich's hauptſächlich angelegen ſein, 
dem Freigeiſt in's Gewiſſen zu reden. Er mahnte 
den Heldenſpieler an das Sterbeſtündlein und gab ſich 
viel Mühe, ihn zu bekehren. Hanno blieb indeß ſehr 
gefaßt und begann endlich zu gähnen. 

„Was das Sterbeſtündlein anlangt,“ ſprach er, 
„jo muß man's abwarten, jvor der Hand will id 
mein Cchlafftündlein abhalten, in weldem mid) ber 
Capitain geftürt hat. Es geht nichts über Die Be— 
quemlichkeit.‘‘ 

Mit viefen Worten fehrte er zu feinem Kajüten— 
Divan zurüd, wo er ſich mit vielem Behagen fo lang 
als möglich ausjtredte. 

Der Factor flüſterte dem Quartus achſelzuckend 
in's Ohr: „'s iſt ein Comödiant.“ 

„Wahr, wahr!“ ſeufzte Vetterlein. 

Süßmilch begab ſich jetzt nach der diplomatiſchen 


59 


Kajüte, wo die Nieverroßlaer Rathsgeſandtſchaft her- 
bergte, um ſich feines Auftrags wegen der Braminin 
zu entledigen. Bevor er eintrat, hatte fich zwifchen 
Lagemann, der wieder etwas zu fich gefommen, ob= 
fhon er fein Glied zu rühren vermochte, und Zei- 
fig, der fortwährend an der Seekrankheit Titt, fol- 
gendes Geſpräch entjponnen. 

Lagemann. Actuar! 

Keine Antwort. 

Lagemann (nach einer Pauſe). Rathsactuar! 

Zeifig (giebt nur durch einen Seufzer zu erkennen, 
daß er den Auf vernommeıt.) 

Lagemann. Was hat denn eine weife Gejek- 
gebung für eine Strafe auf !venjenigen Verbrecher ge= 
jegt, der einen unfchuldigen Menſchen halb zu Tode 
pufft und ftögt? Denkt einmal nah, Actuar, und 
theilt mir Eure Anficht mit. 

Zeifig (mit gepreßter Stimme, in verwidel- 
ter Fall. 

Tagemann. Ich finde bier gar nichts Ver— 
wideltes. Das Verbrechen kann gar nicht Harer am 
Tage liegen. Was fteht für eine Strafe darauf? 

Zeifig (ächzt und giebt Feine Antwort.) 

Lagemann (nad einer Paufe, während welder er 
auf Antwort gewartet). Welche Strafe, Actuar? Denkt 
doch ein wenig nad)! 

Zeifig (fortwährend ächzend). 

Lagemann. Aus Euerm ewigen Geächze werd’ 
ih nicht Hug. Seid ein Mann! 

Zeifig. Ih — kann — nidt. 

Lagemann. Narrenspofien! Der Menſch vermag 
viel, wenn er will. 


Zeifig. Ich nid! 


60 


Lagemann. Iſt denn ein ähnlicher Tall in 
Eurer Praris nie vorgefommen ? 

Zeifig. Wüßte nicht. 

Tagemann. Belinnet Euch nur. Ich dächte, 
an Prügeleien zu Nieverroßla wäre nie Mangel ge= 
weſen, namentlich zur Kirmeßzeit. 

Zeifig. Unterfchienliche Mal. 

Lagemann. Alſo wie ſtrafte das Gericht den 
Miſſethäter? 

Zeiſſig (vermag wegen einer abermals nahenden Ka— 
taftrophe der Seekrankheit feine Antwort zu geben.) 

Tagemann. Das ift wahr, ein miferablerer 
Rechtsanwalt ift mir noch nicht vorgefommen. Ac— 
tuar, jo gebt doch Antwort! (Bei Zeifig fam fo eben 
die Rataftrophe zum Ausbruche und zwar auf ziemlich hör—⸗ 
bare Weile.) 

Tagemann. Daß Gott, da geht’8 ſchon wieder 
08. So mäßiget Euch doch zum Satan, Ihr bringt 
ja feinen ganzen Darm nad) Kabul. 

Zeifig befand fi) nicht in den Umpftänden, daß 
er zu großen Replifen aufgelegt geweſen wäre. Er 
glaubte den Geift aufgeben zu müſſen. Die Welt 
war ihm nichts. Die Natur fette ihren Reinigungs— 
proceß fort. 

„Ihr feid wirklich unerſchöpflich,“ verſetzte Lage— 
„mann, „ich begreife nicht, wo es herkommt. Ein aus— 
genommener Hering iſt nichts gegen Euch. Ihr ge— 
hört fürwahr zu den Naturſpielen. 

Zeiſig, welchem für kurze Zeit etwas leichter um's 
Herz geworden war, geſtand in einem freien Augen— 
blicke, daß wenn die Krankheit nicht bald nachließe, 
er daraufginge. Solches Würgen halte er nicht län— 
ger aus. 

Dem Attaché klangen dieſe Worte nicht unange⸗ 


u 


61 


nehm. Er verfprah fih große PVortbeile, falls er 
allein das Krokodill in Empfang zu nehmen und nad) 
Nieverroßla zu transportiven habe. Er verwünjcte 
daher den Heldenſpieler in Die tief unterfte Hölle, weil 
ihn diefer in einen Zuſtand verfegt hatte, in welchem 
er verhindert war, von Zeiſig's Krankheit den mög— 
lichſten Nutzen zu ziehen. 

„Wenn ich Euch nur den Kopf halten könnte, 
guter Actuar,“ Sprach der Attaché, „es ift Dies ein 
Liebespienft, den ich meinem Todfeinde, um wie viel 
weniger nicht Euch, leiſten würde. Ihr glaubt alſo 
wirklich, Diesmal nicht Davon zu kommen?“ “ 

„Es geht jetzt etwas befjer, meinte ver Actuar 
mit ſchwacher Stimme. 

„Das it blos ſcheinbar,“ erwieverte Lagemann, 
„vie Winpftile vor dem Sturme, die der Himmel 
dem Menfchen aus feinem andern Grunde befcheert, 
als damit er in Ruhe fein Haus beftellen und feine 
legtwilligen Verfügungen treffen kann.“ 

„Ich fpüre aber wahrhafte Erleichterung, hielt der 
Actuar entgegen. 

„Alles ſcheinbar,“ beharrte Lagemann. „Wie ſoll's 
denn mit Eurer Portion Krokodill gehalten werden, 
guter Actuar, für den al, wie zu erwarten fteht, 
Ihr das Zeitliche gefegnet? Ich fellte meinen, Diefes 
fünne mir, ald Eurem Erſatzmann, keineswegs entge- 
ben? Freilich wäre das Beſte, wenn Ihr Euch durch 
ein paar Zeilen damit einverftanvden erflärtet. Es 
würde große, fpätere Weitläufigkeiten erjparen. Wie 
meint Ihr nicht auch, guter Actuar?“ 

Der gute Actuar meinte aber vor der Hand gar 
nichts. Es bereitete fih in feinen Eingeweiden ein 
neuer Zornausbruch der Seekrankheit vor, welches ver 
Kranke mit Wehmuth inne ward. 


62 


„Später ein Mehreres,“ hauchte er erfterbend und 
brachte feinen Kopf wieder in diejenige Yage, um ber 
Natur den Prozeß zu erleichtern. 

„Denn ic) auf den Beinen wäre,” fpradh er für 
fih, „ſollte mir's gar nicht fchwer werden, ven halb— 
todten Zeifig zur Unterfchrift einer letztwilligen Ber- 
fügung zu vermögen. Der Mann kann abſtehen wie 
ein Karpfen.” 

Der Attahe vaffte daher feine ganze Kraft zu= 
jammen und fhleppte fih auf Händen und Füßen zu 
einem Stuhle in der Ede, worauf Schreibzeug und 
Papier lag; er verfaßte in der Eile eine Abtretungs- 
urfunde und froh mit tiefer zum kranken Yeifig, ber 
bereit8 wieder zu würgen begann. 

„Wenn er nur diesmal nody nicht darauf geht,“ 
dachte Lagemann, und tappte voller Barmherzigkeit 
nach Zeiſig's Kopfe, um ihn zu halten. Der Attaché 
warb indeß für dieſe Dienftleiftung von Seiten bes 
Actuars übel bevient. Letzterer, ob der unerivarteten 
Hülfe ordentlicd erfchroden, wandte raſch den Kopf, 
ſah feinen Helfer einige Augenblide mit jeltfam ver- 
zerrtem Gefiht an, und wenn Yagemann der Kaijer 
gewejen, er fonnte ihn nicht fchonen. Die Natur 
wirkte zu gewaltig. 

Der Attahe, auf den Händen und Füßen über- 
haupt nicht taftfeit, fiel bei dem urfräftigen Schuife 
total über den Haufen wie ein wohlgetroffener Hirſch. 
Erſt nah einer ziemlichen Pauſe erholte er ſich wie- 
ber und begann entjeßlih zu fluchen. Mit großem 
Verdruſſe gemwahrte er, wie aud die Abtretungsur= 
funde verunrveinigt und. vollkommen unbrauhbar ge- 
worden war. 

„Ihr fein ein Schw —, Actuar, das Ihr's wißt,“ 
ſuhr er grob heraus, „ich begreife überhaupt nicht, 


63 


wie Ihr dieſe nieverträchtige Krankheit hierunten ab- 
halten fünnt. Das ftinft ja wie die Peltilenz; vie 
ganze Kajüte wird verpeftet, man kann vie Cholera 
befommen.” 

Zeifig vernahm wenig von der Lagemann’schen 
Zornreve. Er war viel zu fehr mit fid) ſelbſt be= 
ſchäftigt. 

Der Attaché ſuchte jetzt die Thüre zu gewinnen, 
um die Folgen des Zeiſig'ſchen unpoetiſchen Attentats 
von ſeinem Leichname zu entfernen, als zur rechten 
Zeit der Factor hereintrat, um die beiden Niederroß— 
laer Diplomaten binfihtlich der Braminin, des eifer- 
ſüchtigen Herrn Abdullah und der beiden Mohren, 
Tohu und Bohu, in Kenntniß zu fegen. 

„Gott Lob,” ſprach Lagemann, als er des Fac— 
tor8 anfihtig wurde, „daß fi eine Mienfchenfeele 
bliden läßt in unferm Elend. Der Actuar iſt ganz 
caduc. In feiner Nähe ift fein Weilen mehr. Sorgt 
doc dafür, werthgeſchätzter Factor, daß ich ein Beden 
mit friſchem Waffer erhalte Ihr jeht, daß ih faum 
auf allen PVieren vorwärts kann.“ 

Süßmilch war viel zu chriſtlich gefinnt, als daß 
er den Wunjch des Attache’s nicht augenblidlich hätte 
erfüllen ſollen. Er kehrte in Kurzem mit einem Napf 
frifchen Waſſers zurüd. 

„E8 wurde mir auch ſchon wiederholt unangenehm 
zu Muthe,” meinte er, „aber jo fchlimm wie Zeifig 
hat mir die Wafferfahrt nicht mitgefpielt.” 

„Ich befände mic, fiher auch vollkommen wohl,“ 
erwiederte Lagemann, „meine Natur verträgt Etwas, 
aber die Hanno'ſche Behandlung würde bie burabelite 
Gonftitution zu Grunde richten.” 

Der gewillenhafte Factor erkundigte ſich jekt, ob 
fih Zeiſig ſowohl wie fein Attahe in demjenigen 


64 


‘ 


geijtesfreien Zuſtande bejänden, um tie Mittheilung, 
fo er zu eröffnen habe, anhören zu können. 

„Was meine Berfon anbelangt, erwiederte Lage— 
mann, „kann id Alles vernehmen; erzählt alio ge= 
troft, werther Factor, was Ihr auf vem Herzen habt, 
ih halte unterdeß meine Reinigung.” 

Die Mittheilung Süßmilch's, namentlich als die— 
ſer auf die Braminin zu ſprechen kam, gewann für 
Lagemann ein ſolches Intereſſe, daß er wiederholt 
den Mund offen behielt. 

„Hauptſächlich,“ fuhr der gewiſſenhafte Factor 
fort, „habt Ihr Euch zu hüten, ven Herrn Abpullah 
nicht Beranlafiung zur Eiferfucht zu geben, ver Herr 
Gapitain läßt Euch dies ausdrücklich jagen.” 

Lagemann, defjen Geift fortwährend fpeculirte und 
ver fi ſchon al8 einen Begünftigten ver verfchleierten 
Braminin träumte, wobei er fih ein artiges Sümm— 
hen zu machen gedachte, erwiederte: „Aber, beiter 
Factor, wer fann für fein Herz. Wir find alle Men— 
jhen. Ich jeße den Fall, die Braminin faßt Paſſion 
zu einem ven ung?’ 

„Dann muß uns der Gedanke, daß wir Chrijten 
find,” erwiererte Süßmilch, „auf dem Pfade ver Tu— 
gend erhalten.“ 

„Das iſt bald gejagt,” meinte der Attache, „ich 
denke auch chriftlih, aber tie Ausführung iſt ſchwer.“ 

„Der Aublid des ſcharfgeſchliffenen Dolchs, wel- 
hen Abdullah ftets bei fich führt,‘ meinte Süßmilch, 
„dürfte ung gewiß vie Abwege verleiven, wenn es 
Religion und Glaube nicht thut. Auch follen, laut 
Sir John's Ausjage, die beiden Mohren Tohu und 
Bohu beſtens drefjirt fein, denjenigen ſofort zu wür— 
gen, ver es wagen wollte, feine Blicke zur Braminin 
zu erheben.“ 


— 


65 


„Und diefe Frau,“ frug der Attaché ungläubig, 
„zeift mit dem Cadaver ihres todten Eheherrn nad) 
Dftindien, um fi dort in Gemeinſchaft mit ihm ver- 
brennen zu laſſen?“ 

5 ° „So verlangt e8 die Sitte der Hindufrauen, gab 
ver Factor zur Antwort. 

„Und fie ift jung, liebenswürdig und reich?“ er- 
kundigte ſich Lagemann. 

„So ſagt man,” verſetzte Süßmilch. 

„Factor,“ rief der Attachè in Extaſe, „das dürfen 
wir nicht zugeben!“ 

„Aber wie wollen wir es denn hindern, wenn es 
einmal der unabänderliche Beſchluß der Frau iſt?“ 

„Factor,“ fuhr Lagemann immer aufgeregter fort, 
„das dürfen wir nicht zugeben, partout nicht zugeben, 
und ſollten wir die ſchöne Dame ſelbſt heirathen.“ 

„Wie ſelbſt heirathen?“ frug Süßmilch verwun- 
dert, „ſeid Ihr denn nicht ſchon im Beſitze einer 
Frau?“ 

„Leider,“ ſeufzte der Magdeburger und gedachte 
der gebornen Grümpler; „aber was thut man nicht, 
um Jemanden vom Flammentode zu erretten.“ 

Der Factor verhehlte ſeine gerechte Mißbilligung 
nicht, daß auch Hanno unchriſtliche Abſichten gegen die 
Braminin zu hegen ſcheine, welche Mittheilung Lage- 
mann ſehr unwirſch ſtimmte. 

„Dieſer Belial,“ ſprach er zu ſich, „kommt mir 
überall in den Weg; die Glaſermeiſterin konnte auch 
einen geſcheutern Einfall haben, als dieſen Menſchen 
nach Kabul zu ſchicken. Daß er mir hinſichtlich der 
Braminin in die Quere kommt, ſeh' ich im Voraus. 
Wenn ich den Kerl nur unfhäblich machen könnte.“ 

Während Lagemann noch darüber naclann, auf 

Stolle, ſämmtl. Schriften. ZVIN. 


66 


weiche Weile letzteres zu beiwerfitelligen fei, ging Das 
Schiff im Hafen von Cuxhafen vor. Anfer. 


ur 


Viertes Kapitel. 


Ungefahr ſeit acht Tagen befand ſich die Niederroßlaer 
Erbſchaar auf dem Meere. Die unerbittliche allge— 
waltige Seekrankheit hatte na und nad) das geſammte 
Perjonale dermaßen in Anſpruch genommen, daß man 
alles Andere darüber vergaß: 

Die aſiatiſch⸗-afrikaniſche Reiſegeſellſchaft hielt ſich 
ihrerſeits eben fo zurückgezogen in ihrem abgeſchloſſenen 
Sciffsraume; die Niederroßlaer wurden die Anweſen⸗ 
heit derſelben kaum gewahr. Die Braminin jelbft 
hatte noch feiner, auch nur einen Augenblick lang, ge- 
ſehen. Sie war mitten in der Nacht auf's Schiff ge- 
bracht worden und hatte feitvem ihre Kajüte nicht ver- 
laſſen. Die lange Geftalt des Türken, jo wie bie 
Herren Tohu und Bohu wollte Betterlein zwar eines 
Abends in der Dämmerung auf dem Berbede haben 
auf» und abjpazieren fehen, eine weitere Auskunft über 
vie räthjelhaften Paſſagiere vermochte er aber nicht zu 
geben. Wo ver Kaften mit dem eingemachten tobten 
Draminen fland, wußte Niemand. Ä 

Diefer lethargiſche Zuſtand, in melden ſich Das 
Erbheer befann, währte eine geraume Zeit. Gamaliel 
und Bictor, welche ben biätetifchen Vorſchriften, bie 
ihnen Doctor Barring hinſichtlich des Seeübels gege- 
ben hatte, genau nachgefommen waren, befanden: fid) 
am erften wieder auf den Füßen und erfreuten ſich 


— 


67 


weit eher ihrer Geſundheit, als die übrige Geſellſchaft. 
Namentlich hatte die Krankheit, was man nicht hätte 
glauben follen, den Fräftigen Heldenfpieler hart mitge- 
nommen. Er mußte fein zeitheriges wahrhaft fchwel- 
gerifches Leben und die zahliofen Diätfehler jehr theuer 
bezahlen, denn er lag weit länger barnieder als Die 
übrigen Leidensgenoſſen; ja die Seekrankheit ging bei 
ihm fogar in ein langwieriges Fieber über, das ihn 
ganzlidh an das Bett feffelte. 

Nächſt Gamaliel und Victor war Lagemann troß 
des bereit auf der Elbe beftandenen Malheurs ver 
erfte, welcher wieder nıunter war: Das fortwährende 
Unwohlfein Hanno's trug wejentlic zu feiner Wieder- 
herftellung bei, denn die Freude über des Gegners 
Mißgeſchick wirkte wahrhaft wohlthätig und reecre— 
irend. 

Sp wie der Magbeburger einigermaßen auf feinen 
Fügen zu ftehen vermochte, vegte ſich fogleidy aud) Der 
Speculationdgeift- in ihm. Die Braminin, welche ihm 
feine Phantafie eben jo ſchön als reich vormalte, war 
der Brennpunkt feiner Aufmerkſamkeit. Er calculirte 
wie folgt: „Eh' ſich,“ dachte er, „vie Frau ihrem topten 
Mann zu Gefallen mit Haut und Haar verbrennt, ift 
fie zu Mlem fähig. Eine junge ſchöne Frau fürchtet 
fi zehnmal ärger vor dem Feuer als eine alte. Ich 
fenne die Weiber. Wenn fih’8 hier wirklich um's 
Berbrennen handelt, jo müßte ih nicht Lagemann 
heißen over hier ift ein. Sümmchen zu verbienen. - 

„Wenn ich nur ein Junggeſell oder Wittwer wäre, 
fuhr er in feiner Berechnung fort, „trüg' ih ihr auf 
der Stelle meine Hand an; gelte ich nach ihren Be— 
griffen auch gerade für feine glänzende Parthie, fo 
muß mir dody jeder Unparteiifche zugeftehen, daß ich 
noch immer beiler als der Scheiterhaufen bi. Ich 


68 


wollte fie meinetwegen aud blos zum Schein heirathen, 
wenn -fid’8 anders thun ließe, und mit Ausnahme 
der Vermögensverwaltung auf alle Rechte des Che- 
heren verzichten. Wenn man diefe billigen Bedingungen 
ber rau nur begreiflih machen könnte, ich bin 
überzeugt, fie greift zu; wer kommt gern in ben 
Flammen um?” 

Hier bedachte aber ver ſpeculirende Attahe der 
Niederroßlaer Geſandtſchaft, daß er bereits verheirathet 
fei und feufzte tief. 

„Ein Weib,” fprad er, „kann doch zuweilen zu 
einem wahren Beineifen werden. Was gab’ ich drum, 
wär’ ich jest Wittwer oder geſchieden! Nun figt mir 
die geborne Grümpler daheim und ftört meine jchönften 
Pläne Ich muß verfuchen, da es fih als Ehemann 
nit gut will thun laffen, mid der Braminin auf 
andre Art gefällig zu erweifen, und zwar je eher je 
Yieber, bevor der ſataniſche Hanno wieder bergeftellt ift 
und mir dazwilchen kommt.“ 

Nach einiger Meberlegung fuhr der Attadhe fort: 
„Daß Hanno hart und feit liegt, betrachte ich als em 
wahrhaftes Gejchent des Himmels. Es iſt die gerechte 
Strafe für den meuchelmörveriihen Angriff, ven er 
gegen mein Leben unternahm. Vielleicht geht der Böfe- 
wicht darauf. Es wäre eine Wohlthat für die Menfch- 
heit. Was nüßt er denn? An vergleichen Subjecten 
verliert die Welt nichts.‘ 

Während ſich Kagemann dergleichen menjchenfreund- 
lichen Gedanken in Betreff des Helvenfpielers hingab, 
fhlih der lange Factor, von der überſtandenen See— 
krankheit noch ganz angegriffen und geſchwächt in die 
Kajüte. Sein Geſicht, das ſich nie einer blühenden 
Farbe erfreute, glich dem eines Todten. 


— 


‚69 


„Wit Ihr es ſchon?“ flüfterte er mit heiferer 
Stimme. 

„Was denn?” erkundigte ſich ver Attaché. 

„Mit dem Hanno geht's ſichtbar zu Ende.“ 

„Wirklich?“ frug Lagemann, ſich vergnügt die 
Hände reibend, „erzählt doch, guter Factor.“ 

„Man glaubt nicht, daß er den Abend erleben 
wird.“ | 

„Vortrefflich,“ jubelte ver Magdeburger im Innern. 
Laut erwieberte er: „Wir find alle fterblidh, guter 
Factor, was will der Helvenfpieler voraushaben ?% 

„Aber jo jung,” gab Süßmildy zu bedenken. 

„Der Tod fragt darnach nicht, belehrte Lagemann, 
„auch Fol ſich's jung am Beſten fterben. Man hat 
da nicht viel zu verlieren, ift noch nicht zu fehr an's 
Leben gewöhnt.” 

„Es ftirbt aber Niemand gern,” verfette der Factor, 
„ſei er jung oder alt.” 

„Geb' e8 zu, Lieber Süßmilch, aber offen geftan= 
den, wenn der Tod einmal ein Opfer von uns ver- 
langt, jo finde ich es ordentlich rechtſchaffen gedacht 
von ihm, wenn er den Helvenfpieler angelt. Gefteht 
jelbft, guter Factor, welche Ausfichten, welche Sarrieren 
fiehen dem Hanno offen. Nichts gelernt, feinen 
Tonds in Händen, was beginnen, wovon in Zukunft 
leben? Sein bischen Exbtheil hat er mir fchrift- 
lih abgetreten und die Summe, die er dafür er- 
‚halten, wer weiß, wo fie bereit$ die vier Winde 
haben.” _ 

„Ein wenig loder ift er,” geftand ber Factor. 

„Ein wenig loder,” rügte Lagemann, „ver lieder- 
lichfte Strid, der mir je vorgekommen. Bactor, wenn 
ich reden wollte —' | 

„Pit, mahnte Süßmilch hriftlich, „er wird's nicht 


f 


70 


lange mehr treiben. Von Sterbenden lat uns nicht 
Uebels reden.“ | 

„Ihr habt Recht,” geſtand der Attaché, „fahre er 
in Frieden, obſchon er es um mich nicht verdient hat. 
Der eine Arm thut mir heut nod)- weh von den Miß⸗ 
handlungen unter dem Carbonari.” 

„S eht, “ erwiederte der ſanfte dactor, „Dafür muß 
ec nun in jener Welt Rechnung ablegen.” 
Iſt auch nicht mehr als billig,‘ meinte Lagemann; 
„alſo * ſteht wirklich wacklig, guter Factor?“ 
Wie geſagt,“ antwortete dieſer, „der Doctor 
Barring gibt ihm keinen Tag mehr.“ 

Der Attaché begann ſich bei diefen Worten wie- 
ber vergnügt Die Hände zu veiben; er bedachte, wie 
ihm jet hinſichtlich der reichen und ſchönen Braminin 
Niemand im Wege ftehe. Deshalb ward er aud nach— 
ihtig und menfchenfreundlicd gegen ben ſterbenden 
Hanno. 

„Er fahre in Frieden,“ fprad er mit Salbung, 
„wir wollen ihm als Freund und Landsmann die 
müden Augen zuprüden und mit einem ftillen Bater- 
unfer in's Meer werfen. Mich foll er dereinſt nicht 
unter feinen Anklägern finden, obſchon id) die Erin— 
nerung an feine Mißhandlung fobald nicht verſchmerze.“ 

Der gutgeartete Factor freute fid) ob dieſer chrijt= 
lichen Gefinnungen des Magdeburgers ungemein und 
ſprach: „Das iſt edel gedacht von Eud, Yagemann, 
und der Lohn dafiir wird nicht ausbleiben.“ 

Der Gedanfe an Lohn wirkte noch ergreifender 
auf Lagemann's menfchenfreundliches Gemüth. Der 
Atahe ward ordentlich weich, gejtinmt bei dem Ge— 
Danfen an Hanno's Tod. 

„Sa, ich vergebe Dir, befreiter Geiſt“ fprad er 
nicht ohne jhwärmerifhen Bathos, „ſchwinge Dich 


— 


7A 


ungenirt empor, von pen Schladen ver Exde gereinigte 
Binde, Dein Lagemann verzeiht Dir, Dein Lagemann 
trägt Dir nichts nach in Die Ewigkeit! 

„Ich glaube,“ wandte ſich der Attaché zum Factor, 
„dergleichen Geſinnungen önnen mir nur Segen bringen; 

was meint Ihr?" 
„Nichts iſt gewiſſer,“ verſicherte der ſtrenggläubige 
Süßmilch. 

„Ich glaube ſogar,“ fuhr Lagemann begeiftert und 
mit thränenvollem Auge fort, „daß wenn ich die mör— 
derlichen Püffe und Stöße, ſo ich unter dem Carbonari 
erhielt, mit Bruderliebe vergebe, ſie mir noch zu yimm⸗ 
liſchen Roſen erblühen.“ 

„Ich glaube es nicht nur, ich bin es feſt überzeugt, 
betheuerte ber Factor, der ebenfalls immer gerührter 
ward. 

„Ach, das wäre herrlich,“ ſchwärmte der Strache, 
„vielleicht auf Erden fchon, was meint hr, guter 
Süßmilch?“ u 

„Wenn auch auf Erden nicht, vereint gewiß.” 

‚Rein, nein,” fuhr Lagemann verflärt fort, „hienieden 
Thon, Ahnung fagt mir’s, ich athme ſchon den himm⸗ 
lichen Duft.” | 

„Man hat wiele Beiſpiele,“ geftand ver Factor, 
„daß gute Thaten ihren Lohn ſchon hienieden fandzn. “ 

„So wird's auch bei mir fein, ich fühl's,“ riefbder 
Magdeburger, yſterbender Hanno, Deine Sünden ſind 
Dir vergeben!“ 

Auf dieſen ergreifenden Ausruf folgte eine feierliche 
Pauſe, welche der Gemüthsſtimmung Lagemann's und 
Süßmilch's vollkommen angemeſſen war. Sie ward 
indeß ſehr bald durch den Eintritt des Dieners von 
Doctor Barring unterbrochen, welcher Lagemann ſchleu⸗ 
nigſt zum Sterbelager des Heldenſpielers beſchied. 


12 


„Er wird ohne meine Berzeihung nicht erfterben 
können,“ fprad der Attadhe, „ich eile, fie ihm zu 
bringen, um ver kämpfenden Seele den Himübergang 
zu erleichtern.” 

„but dies; thut dies, edler Fremd,” mahnte der 
Factor mit frommem Cifer, „und der Himmel wird 
Euren Gang jegnen.” 

„Das wird er, rief Lagemann vergebungsluftig, 
und folgte dem Diener zum Lager des Rranfen. 

Mit Hanno ſtand's wirklich mijerabel, das Fieber 
hatte ihn dermaßen mitgenommen, daß er Auferft 
ſchwach war und faum zu reden vermochte Er fühlte, 
daß e& mit ihm zu Ende gehe und wollte daher vor- 
her fein Gewiſſen erleichtern. 

„Lagemann,“ ſprach er mit leiſer Stimme, „ich 
habe mich ſchwer an Euch verſündigt.“ 

„Weiß ed, weiß e8,” erwiederte der Attache, „em- 
pfinde die Folgen noch), fobald ich die Arme ausftrede, 
die Gelenke find wie gebrodhen. Aber, Hanno, vergeben 
fol der Chriſt; ſeht, ich thue es; fterbt deshalb ge- 
teoft, ich wollte erft auf Schmerzensgeld antragen und 
Euern Nachlaß mit Beihlag belegen laſſen, aber id) 
thu's nicht.“ 

Wie nahfihtig fi) Lagemann in diefen Worten. 
auc vernehmen ließ, fo fchienen fie doch feinen beru- 
higenden Eindruck auf den Kranken hervorzubringen. 
Im Gegentheil verbüfterte fi deſſen Antlig fihtbar. 

„Ihr meint wahrfcheinlich die Carbonarigeſchichte?“ 
frug er leife. 

„Allerdings, die meine ich,” erwieberte der Attache, 
„und ich ſollte meinen, ich hätte Grund dazu.“ 

„Mein Gott,“ feufzte der Helvenfpieler, „das war 
ja ein eitler Scherz, den ſich ein Freumd gegen den 
andern erlauben darf.” 


am \ 


73 


Der Magdeburger glaubte feinen Ohren nicht zu 
trauen. 

„En Scherz,” rief er, und ſchon drohte ihn die 
chriſtliche Sanftmuth, mit welcher er zu dem Kranken 
getreten war, zu verlaſſen, „Ihr phantaſirt unſtreitig, 
ſonſt wollt ich Euch antworten.“ 

„Ib babe mich weit ſchlimmer an Euch ver— 
gangen,“ fuhr Hanno fort. 

„Was?“ ſchrie Lagemann entſetzt, „noch ſchlim— 
mer vergangen? Hanno, bedenkt, was Ihr ſprecht, 
noch ſchlimmer vergangen? Ihr habt doch nicht 
Meuchelmördergedanken? Hanno, ich beſchwöre Euch, 
hier am Rande des Grabes, was wollt Ihr damit 
ſagen: ſchlimmer vergangen d!⸗ 

Der Kranke ward auffallend ſchwächer, daß er 
nicht zu antworten vermochte. er Attaché gerieth 
in unbeſchreibliche Angſt. Er befürchtete ſchon, der 
Heldenſpieler möchte unverſehens in die beſſere Welt 
gehen und faßte ihn deshalb am Arme. 

„Bei Ewigkeit und Weltgericht, Hanno, redet,“ 
rief er dringend, „Ihr dürft mir nicht abfahren, be— 
vor Ihr mir nicht Euren Anſchlag gegen mein Leben 
entdeckt habt.“ 

Der Heldenſpieler, durch Lagemann's angſtvolle 
Ekſtaſe, die ihm wie furchtbare Beſchwörung klang, 
angeſtachelt, raffte alle ſeine Kräfte zuſammen und 
erwiederte: 

„Gegen Euer Leben hab' ich mich weniger ver- 
gangen, wohl aber gegen Euern Geldbeutel.“ 

Das Wort Geldbeutel griff den Magdeburger noch 
weit jchmerzhafter in die Seele, als felbft das Be— 
fenntniß eines Meuchelmords es gethan haben würde. 

„Gerechter Himmel,” rief er, „mas werd' ich ver- 
nehmen! Hannd zebet, ſprecht, beim ewigen Welt- 


1% 


gericht mit breitaufend Poſaunen und fiebenhundert 
Erzengeln, ſprecht.“ 

Dem Spreder lief bei dieſer Beſchwörung ber 
Schweiß ſtromweiſe von der Stimme. Der Helden- 
fpieler ward- immer ſchwächer. Sein Haupt ſank Eraft- 
108 in's Kiffen. Lagemann fprang herbei, fchüttelfe 
das Kiffen auf, um dem Sterbenven feine Tage und 
das Sprechen zu erleichtern. 

Hanno ftöhnte. 

„Mein Gott,“ eiferte Lagemann, „verfchwendet 
Eure Kräfte Doch nicht mit unnützem Geftöhn, das 
verfteht Fein Menſch, ſondern benutzt ben noch vor- 
räthigen Athem zum Sprechen.” 

Es trat jetzt eine höchſt verhängnigvolle Pauſe 
ein, in welcher ſich der Heldenſpieler etwas zu er— 
holen ſchien. Lagemann athmete neu auf, fein Herz 
arbeitete wie ein Schmiedehammer. 

„Macht's kurz,” drängte der Magdeburger, „Ihr 
habt mich beftohlen, habt das Geld vergraben, wo 
liegt's, wie hoch beläuft fi) die entwendete Summe; 
nur raſch, ehe ver Tod Euch die diebiſche Gurgel 
zuſchnürt. | 

„sn melden Münzforten habt Ihr den Raub be- 
gangen,” fuhr der unermüdliche Examinator fort; „die 
Summe muß fid) auf das Außerordentlichite belaufen, 
font würde Euer Gewiſſen nicht erwacht fein.“ 

Das wiederholte Schütteln von Hanno's Haupte 
zeigte, daß fih Lagemann in feiner Vermuthung 
wegen des Raubes irre, Der Attache wußte jet nicht, 
wo ihm der Kopf ftand. Er rang rathlos die Hände 
und rief fortwährend: „daß mir unglüdjeligen Mann 
dies Unglück noch paffiven mußte. Wer hätte das 
gedacht ?“ | | 


75 


Doctor Barring, welcher jetzt in die Kajüte trat, 
erjuchte den verzweifelnden Lagemann, daß er Sid 
moderire und den Zuſtand des SKranfen durch fein 
eraltirtes Weſen nicht verfchlimmere. 

„Was da,” lärmte Lagemann, „meinetwegen Tann 
ex fterben, wenn's ihm beliebt, aber der Mifiethäter 
fol mie zuvor befennen, welcher Frevelthat er fi 
gegen mich ſchuldig gemacht hat.” 

Auf diefe, die höchſte Gefühlloſigkeit verrathenden 
Worte, faßte der Doctor ohne weitere Umftände ben 
Üttache bei dem’ einen Ohre und führte ihn, troß 
alles Sträubens zur Thür hinaus, die er hinter ihm 
zuſchloß. Ob viefer Behanplung gerieth aber Lage— 
mann außer ſich; er tobte wie ein Beſeſſener, er 
Ihinpfte auf den Doctor und den Helvenfpieler über 
alle Magen und rüttelte mit folher Vehemenz an ber 
Kajütenthür um Einlaß, daß der ganze untere Schiffe- 
raum in Aufruhr gerieth. Ja er lief in feiner blin- 
den Wuth aller Orts umber, ald wolle er die ganze 
Schiffsmannſchaft zu Hülfe rufen. 

Plötzlich fühlte fid) der Tumultant von vier ner- 
vigen Fäuften gepadt, weldhe ihn mit Rieſenmacht in 
die Höhe hoben und forttrugen. Sein verzweifelter 
Hülferuf Half ihm zu nichts, denn die cine Fauſt 
hielt ihm die Kchle zu. Dem Attache verging Hören 
und Sehen während dieſes unerwarteten Transports. 
As er wieder zu ſich Fam, lag er auf dem Fußboden 
einer ganz fremden Kajüte, in derem Hintergrunde 
der Türke Abpullah in finſtrer Majeftät thronte. Un— 
mittelbar zu Lagemann's Seiten fnieten Tohu und 
Bohu, welche ven hülflos Ausgeſtreckten nicht eben 
mit den lieblichſten Blicken beäugelten. 

Der Magdeburger befand ſich in einer höchſt un- 
angenehmen Lage. Gr fchauderte, wenn er in bie 


76 


zwei fchwarzen, ‚grinzenden Larven fchaute, deren Augen 
fortwährend auf ihn gerichtet waren. 

„Bas fol mit mir gefchehen, wadre Männer?‘ 
frug er leife. 

Die Larven antworteten einige kauderwelſche Worte, 
die Lagemann durchaus nicht verftand und feirten un- 
heimlich. Dabei fchauten fie von Zeit zu Zeit nad) 
Abdullah, als erwarteten fie Befehle von demfelben. 

Dem Attache, dem feine harte, horizontale Rage 
allmälig unbequem ward, wollte fi) jest mit halbem 
‚Leibe emporrichten, ward aber jedesmal von Tohn - 
wieder auf den Rüden gelegt. Nach kurzer Zeit wie= 
derholte er feinen Verſuch, ver jedoch zu bemfelben 
Refultate führte. 

Da dem Atache weiter kein Leids gefhah, fo 
gewann er endlich Muße, über dieſe fonderbare 
Behandlungsweiſe nachzudenken und Betrachtungen 
anzuftellen. Er fand bald, daß ſich feine ausgeftredte 
Lage mit der Würde eines Attache’8 der Nieber- 
roßlaer Rathsgeſandtſchaft nicht gut vereinbaren laſſe. 
Darum berief er fih auf feine diplomatiſche Stellung 
und ließ ſogar einige Bemerkungen von Berlegung 
des Völkerrechts fallen. 

Trotz diefer mannigfahen Reclamationen feirten 
ihn Tohu und Bohu ununterbrochen an. 

Lagemann dachte endlih, da man nicht die ge- 
ringfte Anftalt zu feiner Befreiung traf, von dieſer 
völkerrechtswidrigen Gefangenhaltung den Eapitain in 
Kenntniß zu fegen, er drohte fogar, laut um Hülfe zu 
rufen, wenn man ihn nicht unverzüglich aufftehen Lafle. 

Das waren aber in den Ohren ber beiden Afrikaner, 
weldye von dem Niederroßlaer Dialect ebenfo wenig 
verstanden, als Lagemann von den Sprachen Afrika’s, 
höchſt überflüffige Redensarten. 


77 


Dem Magdeburger ging enplih die Geduld aus. 
As er jah, daß feine Drohungen nichts fruchteten, 
begann er fie in's Werk zu führen und rief laut um 
Hülfe Aber faum war der verhängnißvolle Auf 
feinem Munde entfloben, als Tohu's ſchwarze Fauft 
wie ein Blitz nach feiner Kehle fuhr und fo heftig 
zugriff, daß der Attahe zu erftiden vwermeinte Zu— 
gleih blitte in Bohu's Hand ein haaricharfer Dolch, 
deſſen Spite direct nach des Magveburgers klopfendem 
Herzen gerichtet war. 

Diefe Demonftrationen reichten vollflommen bin, 
Lagemann's Schreien vor der Hand Einhalt zu thun. 
Er lag ftill wie eine Maus, nur daß beim Anblid 
des Dolches feine Haare emporftiegen. Wie ruhig er 
übrigens da lag, um fo gewaltiger ftürmte es in 
jenem Innern. Er begann zu fürchten, daß es Ab- 
dullah und die zwei fehwarzen. Ungethüme auf fein 
Leben fünnten abgejehen haben, nur begriff er nicht, 
zu welchen Zwecke. Raubſucht konnte unmöglich zu 
Grunde liegen, denn was hätte man ihm vauben 
wollen, und bloßer Blutdurſt konnte e8 auch nicht 
fein, dann würde man nicht fo lange mit ihm fadeln. 
Oder follte Abdullah eime Ahnung von Lagemann's 
Abfichten auf die Braminin haben? Im legten Falle 
war der Magpeburger allervings geliefert. ‘Doc wo 
wollte der eiferfüchtige Türke hiervon Kunde haben, 
da der Attache ſich Hinfichtlich der Braminin nicht 
laut geäußert hatte? 

Es blieb dem auf dem Rücken Liegenden in ber 
Welt nichts übrig, als die Sache abzuwarten. Dazu 
brauchte es aber eine ziemliche Zeit, denn Abpullah, 
welder mit unbefchreiblihen Phlegma feine lange 
Pfeife dampfte, ging fehr lange mit ſich zu Rathe, 


18 


bevor er Befehl ertheilte, was weiter mit dem Attaché 
vorzunehmen fei. 

Lesterer gab ſich indeß feinerfeitS ſehr nieber- 
ſchlagenden Betracdhtimgen hin. Er dachte wieder an 
Hanne umd zerbrady ſich vergeblih den Kepf, auf 
welche Art diefer ihn wohl beitohlen ober übervor- 
theilt haben könnte. 

„Den Gelobentel nannte er ausbrüdlich,” ſprach 
Lagemann für fihb, „und gleihwohl will mid ver 
Helvenfpieler nicht beftohlen haben. Da werde ein 
Andrer Hug. Am Ende hat der Kerl blos phantafirt 
und id) habe mich vergeblich abgeängſtet.“ 

Diefer lebte Gedanke wirkte fo wohlthätig auf 
den Attaché, daß er einmal recht vernehmlich. Athem 
Ichöpfte. 

Der Ton dieſes tiefen Athmens Hang aber dem 
Tohu wieder verdächtig; er befürdhtete, ver Magde— 
burger wolle abermals nad Hülfe rufen und ſchob 
demfelben feine Hand fo energiih unter bie Kinn— 
baden, daß ihm ver Angſtſchweiß aus allen Poren 
drang, während ſich Bohu's Dolchſpitze der arbeitenden 
Bruft des Attahe um ein Bedeutendes näherte. 

„Gott im Himmel, man wird doch noch athment 
können,“ dachte Lagemann. „Eine ſolche Tortur ift 
mir in dieſem Leben noch nicht vorgekommen.“ 

Sobald der Magdeburger wie todt da lag und 
nicht den geringſten Laut von ſich gab, ließ Tohu 
mit der Hand los und Bohu zog den Dolch etwas 
zurück. Lagemann wagte jetzt kaum mehr aufzublicken. 
Er ergab ſich ſchweren Herzens in ſein unvermeidliches 
Schickſal, welches ihn in die Gewalt der Mohren 
geliefert hatte. 

„Sollte ich denn von Niemandem vermißt wer— 


L Wü dachte er bei fih; „man ift wahrſcheinlich mit 


79 


dem fterbenden Hanno beihäftigt und denkt gar nicht 
an mid, oder man glaubt mih auf einem gemiljen 
Drte beſchäftigt; aber fo lange Zeit, wie ich bereits 
hier liege, braucht ein gefunder Menjch nicht. Wenn 
der Zeifig Herz und Kopf auf dem rechten Flecke 
hätte, müßte ih längſt befreit fein; es ift wirklich 
unverantwortlid), jeinen Attahe fo lange außer Acht 
zu laſſen. Zeiſig iſt ein erbärmlicher Kerl, ihm zu 
Gefallen könnte ich längſt gejchlachtet und zu Wurft 
verarbeitet fein.‘ 

Lagemann wagte nad) einiger Zeit die Augen ein 
Hein wenig aufzufchlagen. Der lang vermißte Licht⸗ 
glanz wirkte aber dermaßen auf feine Gefichtsnerven, 
daß ihm ein Neiz zum Nießen anfam. Der Attache 
fühlte die nahende Erplofion, die ihn jedoch mit Angft 
und Grauen erfüllte Es war vorauszufehen, daR | 
fobald ver Funfen in feiner Nafe gezündet und bie 
erfchütternde Kataſtrophe erfolgte, Tohu und Bohn 
wieder wie behert zufahren und dem Niefer die‘ un- 
entbehrlichfte Lebensluft abſchneiden würden. Lage— 
mann, um alſo der Eruption zuvorzukommenund 
den Zündſchwamm in ſeiner Naſe zu erſticken, ſchnitt 
die außerordentlichſten Geſichter, die nur ein Menſch 
hervorzubringen im Stande ift. , Selbft Tohu'n und 
Bohu’n kamen dieſe phyſiognomiſchen Studien des 
Magveburgers fo neu und eigenthümlich vor, daß fie 
vor Wolluft bald fih, bald den am Boden liegenden 
Grimafier anfahen. 

Indeß wie fehr auch Lagemann mit all feinen 
Sefihtsmusfeln und aus Neibesfräften bemüht war, 
den frabbelnden Funken todt zu machen, bie Nafe. 
bald hoch empor ftülpte, wie ein Kameelbudel, bald 
wieder fie ganz aus feiner Phyſiognomie vertilgte, 
bald zufpitte, bald aufblähte, es half Alles nichts, bie 


80 


Natur ging ihren Gang, die Explofion entlud ſich 
nur um jo vollfräftiger. 

Wie der Attache befürchtet hatte, jo gefchah es; 
faum brannte feine Naſe los, fühlte er auch Die 
ſchwarzen Fäuſte an ver Gurgel und die Dolchſpitze 
kitzelte diesmal fühlbar auf feiner Bruft. 

Das Desperate Niefen Lagemann's war aber 
außerdem noch von anderen Folgen begleitet. Herr 
Abdullah, welcher die ganze Zeit über, gleichfam in 
ein Meer von Gedanken vertieft, mit unterfchlagenen 
Beinen auf feinem Poften im Hintergrunde. gethront 
hatte, ward durch das andgezeichnete Niefen feines 
Gefangnen aus einer Contemplative aufgewedt. Cr 
ſchien jett erit feinen Entſchluß zu faflen, was mit 
dem Niefer anzufangen fe. Nach feinen türkifchen 
Begriffen hatte Lagemann allerdings den Tod verbient, 
denn diefer Giaur hatte Die Frechheit: gehabt, in das 
Bereich feiner Kajüten zu dringen und einen vafenven 
Lärm zu vollführen. Wirklich war der Attache auch 
in feiner Aufgeregtheit ob des Hanno'ſchen Todten- 
bettbefenntniffes und über des Doctors fo furz ange- 
bundene Entfernungsweife fo unvorfichtig geweien, in 
das abgejchlofjene Schiffsterrain der Türken förmlich 
einzubrechen und ein Morbhalloh daſelbſt anzuftimmen. 
Faſt zu fpät erinnerte er fid jest mit geheimem 
Grauſen an das wiederholte Verbot des Capitains, 
ja das Bereich des Abdullah nicht zu betreten, weil 
er dann (Sir Yohn) felbft für das Leben des vor- 
wigigen Pafjagiers nicht ftehen könne. 

Dieſes Verbot, welches alsbald mit Tlammen- 
lettern des ewigen Gerichts in Lagemann's Innerm 
zu leuchten begann, ließ ihn das Gefahrvolle feiner 
Lage in feiner ganzen Größe erfennen. 


— Alſo Abdullah war durch das gewaltſame Nieſen 


81 


— 


Lagemann's aus feinem angeſtrengten Nachdenken auf- 
gewacht und er gab nun feinen Denkvermögen die— 
jenige Richtung, welche die Beitrafung des fredhen Ein- 
dringlings zunächſt zum Zwecke hatte. 

Auf ſeine Handbewegung ſprang Tohu auf und 
erwartete mit gebeugtem Haupte und mit über der 
Bruſt gekreuzten Armen die Befehle ſeines Gebieters. 
Der Mohr mußte vortrefflich abgerichtet ſein, denn 

Abdullah machte blos eine Wendung mit dem Kopfe 
und fogleidh wußte Tohu, moran er war. Er eilte 
nad) einem Wandſchränkchen, aus welchem er eine Art 
rothwollene Schlafmütze hervorlangte, die vermittelſt 
einer Schnur wie ein Tabacksbeutel zuſammengezogen 
werden konnte. Mit dieſem ſeltſamen Kleidungsſtücke 
in der Hand kniete er bei Lagemann und zog das— 
jelbe dem Attahe über den Kopf, wie fehr tiefer 
auch durd) energiſches Hin- und Herwadeln feine un- 
beftreitbare Abneigung gegen derartige Bedeckung zu 
erfennen gab. Die rothe Mütze ward vermitteljt der 
Schnur unter dem Kinn ziemlich feſt zuſammenge— 
bunden, fo daß des Magdeburger Kopf gänzlich in 
dent wollenen Beutel ftaf, was ſich ſehr poſſirlich 
ausnahm. 

Lagemann war aber ob biefer auffäligen Kopf- 
umfleivung nichts weniger als poffirlih zu Muthe. 
Er verfuchte nochmals um Hülfe zu rufen, aber die 
ſtraff angezogene Zwangsmütze dämpfte dermaßen je— 
den Laut, daß der Attaché ſich hätte die Lunge aus 
dem Leibe ſchreien können, man würde nichts ver- 
nommen haben. Zugleich beraubte ihn der nichts- 
würbige rothe Beutel feiner jfämmtlihen Organe und 
reduzirte ihn auf den allgemeinen Gefühlsfinn. Er 
ſah, hörte, roch und fchmedte nicht? mehr von ver 
Aupenwelt. Wenn er die Augen öffnete, lag Alles 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVII. 


82 


wie dem Schiller'ſchen Taucher in „purpurner Finfter- 
niß.“ Er durfte über feine Lage gar nicht nachden— 
fen, wollte er nicht rein des Teufels werden. Sein 
fterbliher Leihnam war völlig in die Gewalt des 
türkiſchen Unholds gegeben. Man konnte ihm jekt 
den Bauch aufjchneiden, ihn ordentlich ausſchlachten 
wie einen Faſtnachtshammel, er konnte für folche Ope- 
ration gar nicht bequemer und einladender baliegen; 
er mußte ſich Alles gefallen laſſen. In feinem Leben 
hatte der Magdeburger nicht fo viel Angſtſchweiß ge- 
Ihwitt al® unter der rothen Mütze. Der ganze Kopf 
ftaf in einem warmen Bade. Sein fibrirendes Denf- 
vermögen durchfloh in der Eile alle türfifchen Ge- 
ſchichten, die er je gelefen, um wo möglich dem eigent- 
lichen Zwecke der rothen Müte auf die Spur zu 
fommen. Er entfann fi) wohl von der mörberifchen 
feivenen Schnur gelefen zu haben, aber nie von joldy 
einem baummollenen Beutel. 

„Wer weiß,” raunte ihm feine aufgeregte Phan- 
tafte zu, „wir leben jeßt in einer erfindungsreichen 
Zeit, aud die Zürfen werben nicht zurüdgeblieben 
jein und haben ihre Fortichritte gemacht, ſei's aud) 
nur in Morbinftrumenten. Diefe Kopfzwangsjade 
gehört umftreitig unter die Marterwerfzeuge der neue= 
ften Zeit.‘ 

Diefe wenig troftreihen Reflexionen, welche ver 
philofophirende Lagemann unter feiner Müte anftellte, 
wurden plößlid unterbrochen und feine Ideenfolge er- 
hielt eine andere Richtung, als er gewahrte, daß ihm. 
einer der Mohren, ob e8 Zohu oder Bohn, vermochte 
er nicht zu enträthſeln, begann die Stiefeln auszu- 
ziehen. | 

Die Schlüffe, welche Das denkende Weſen in Ya- 
gemann’d umftricten Kopfe aus dieſem Gtiefelaus- 


83 


ziehen folgerte, waren überrafchenn, aber Feineswegs 
befriedigend. Der Attache begriff ſchlechterdings den 
Zweck nicht, er mochte fünnliren fo viel er wollte. 
Als die .‚Stiefeln herunter waren und e8 auch über 
die Etrümpfe herging, glaubte Tagemann mit Sicher- 
heit die Behauptung aufftellen zu dürfen, daß es zu— 
nächſt auf feine nadten Füße abgefehen fei. Im Grunde 
war ihm dies nicht ganz unlieb ; e8 war doch immer 
beffer, als wenn Abdullah unmittelbar beim Halfe 
angefangen hätte, 

Die Füße des Attach waren, Danf der uner- 
müpdlihen Behendigkeit Tohrs „und Bohu's, bald 
Iplitterfafennadt wie fie dee Herr Gott erſchaffen. Ihr 
Inhaber aber befand fih in äußerſter Spannung, 
was man wohl mit feinen Läufen anfangen werde. 

Plöglicd, fühlte fih das Rothhaupt von mehren 
Fäuſten nicht eben auf die ſanfteſte Weife mit dem 
ganzen Leibe emporgehoben und auf eine erhöhete 
Ebene gelegt. Dieſe Erhöhung jchien ihn aber von 
durchaus feiner guten Vorbedeutung zu fein. Lage— 
mann fam fi) vor wie ein Opferlamm auf einem 
heidniſchen Altar; er befürchtete jeden Augenblid, daß 
man einige energifche Fleiſchergriffe nad) feiner Kehle 
thun und den Dolch, welchen Bohu bei fih trug, ihn 
fanft zwifchen die Rippen fehieben wilrbe. 

Nichts ift bei einer ſolchen Execution, wie fie der 
Attaché zu beftehen hatte, peinlicher al8 die Langſam— 
feit, womit die Erecutoren zu Werke gehen. Nach 
Lagemann's Erhöhung trat wieder eine ziemlich lange 
Paufe ein, wo man den Rothklopf ruhig Liegen ließ, 
ohne ihm das geringfte Weh zuzufügen. Letzteres 
fügte fid) der Magdeburger aber felbft zu, indem er 
ben ausfchweifennften Phantafien erlag. & „De jebes 


a 


84 


Geräuſch der Außenwelt nur ſehr unvollkommen zu 
ſeinen rothverbrämten Ohren gelangte, jo muthmaßte 
er die ſchaudererregendſten Dinge. Bald klang es 
ihm, als ſchiebe man einen hohlen Topf heran und 
nichts war gewiſſer, als daß man ihm. das Blut 
ablafjen wollte, bald wieder war's als fchleife man 
Meſſer. 

Nach derlei traurigen Vermuthungen griffen enb- 
lich wieder ein paar barbariſche Fäuſte nach Lagemann's 
entblößten Füßen und zogen dieſelben in die Höhe. 
Dies war eine äußerſt verdächtige Demonſtration für 
den Attache. 

„Das Gott erbattn ,“ krächzte er unter dem rothen 
Beutel, „fie hängen mid an den Beinen auf.” 

So fhlimm, wie Lagemann befürditete, follte es 
nicht werden. Die Mohren legten feine Füße nur 
auf eine Art Geftelle, fo daß fie ein Stüd in bie 
Luft zu Stehen famen. In dieſer nicht ganz beque= 
nıen Yage mußte ſich's der Attache wieder eine ziem- 
lihe Zeit gefallen laffen, bevor man weiter vorwärts 
ſchritt. Die türkifche Nechtspflege ſcheint fi) am deut— 
ſchen Prozeßgange ein Mufter genommen zu haben. 

Lagemann glid in feiner fonverbaren Lage einer 
Schnecke, weldye ihre Fühlhörner weit von fich ftredt; 
bei ihm nämlich vertraten die ausgefpreizten Beine 
die Stelle der Fühlhörner. Wirklich war aud fein 
Gefühl, da ihm die übrigen vier Sinne abgingen, 
lediglich auf feine zwei Beine beſchränkt. Auf viejen 
entblößten und bedrohten Theil hatte er feine unge= 
theilte Aufmerkſamkeit concentrirt. Ä 

Nach einiger Zeit vernahm der erwartungsvolle 
Lagemann ein fonderbares Geflapper, als wenn Je— 
mand ein Bund Stöde irgendwo hervorlangte. Gleid) 
darauf aber hätte er vor Schmerz laut aufjchreien 


85 


x 


mögen, wenn ihm nicht bie rothe Müte daran gehin- 
dert. Es war ihm nämlih, als ob man mit einer 
glühenden Kohle einen Strih über feine entblößte 
vechte Fußſohle zöge. Mit einem Zetermordio hinter 
dent Beutel wollte er fchleunigft das eine angeftrichene 
- Sühlhorn einziehen, aber nervige Fäuſte griffen in 
das Snieegelenf und vereitelten das eben nicht unbillige 
Beitreben. 

Ehe nody der Attahe ob dieſes höchſt unzarten 
und echttürfifchen Verfahrens hinreichende Betrachtung 
anzuftellen vermochte, erhielt das Iinfe Bein ebenfalls 
feinen feurigen Strich. Abermaliger Verſuch zum 
Zurüdziehen. Abermaliger Griff in das Kniegelenk. 

Der ausgefpreizte Magveburger glaubte jetzt alles 
Ernſtes, dag man ihn mit glühenden Eiſen auf den 
Fußſohlen gebrandmarkt habe, aber fein fonft richti- 
ges Gefühl täujchte ihm diesmal dennoch. ‚ Der feurige 
Strich, der nad) Lagemann's Meinung von einem 
glühenven Eifen herrührte, war nur die Folge eines 
Stodhiebes, und die ganze Prozedur, die man mit 
dent Attahe vornahm, -war nichts weiter als die im 
der Türkei fo beliebte Baftonade. 

Lagemann vereinigte jet wirklich Geſicht, Gehör, 
Geruch und Geſchmack in ſeinem Fußgeſtell, um der 
höchſt unangenehmen Sache auf die Spur zu kommen; 
aber bei jedem neuen Streiche fuhr ſein Ich wie be— 
ſeſſen aus dem beklagenswerthen Theile zurück. 

Tohu und Bohu verrichteten ihr Strafamt mit 
einer Accurateſſe, die nichts zu wünſchen ließ. Sie 
bearbeiteten die unglücklichen Fußſohlen mit Kunſt 
und Geſchick, ſo daß ſie bei dem ſiebenten Schlage 
bereits zu bluten anfingen. 

Lagemann wollte ſchier aus der Haut fahren ob 
dieſes kannibaliſchen Schmerzes. Sein rothes Haupt 


S6 


fuhr verzweifelt bin und wieder, während fi bie. 
Mohren nit im Geringften in ihrer Arbeit flören 
ließen. Die Schläge folgten nicht willkürlich auf ein- 
ander, ſondern methodiſch in abgemefjenen Pauſen, 
gleichſam um den Patienten Zeit zu laffen, über die 
Operationen nachzudenken. 

Sp währte die Marter eine gute halbe Stunde. 
Lagemann hatte ſich bereit hundertmal den Zob ge- 
wünjcht und ftellte fogar convulſiviſche Verſuche an, 
fi mit den eigenen Händen zu erwürgen; aber vie 
wahfamen Mohren verhinderten jedes derartige At- 
tentat, indem fie die felbjtmörberifhen Fäuſte auf 
Lagemann's eigener Bruft zufammenbanden. Sie tha= 
ten dies wahrjcheinlic auch zu ihrem eignen Velten, 
denn der Gefolterte focht todtverachtend mit den Ar= 
men in der Luft und theilte nicht eben ſanfte Schläge 
und Stöße aus. 

Wie indeß in der Welt jedes Ding fein Ende 
hat, fo gefhah’8 auch mit der türkifchen Execution. 
Nachdem vie unglüdlichen Fußſohlen dermaßen zuge- 
richtet waren, daß ihr Beſitzer unter vierzehn Tagen 
an fein Auftreten denken fonnte, band man den Ge— 
folterten lo8, ohne jedoch die rothe Kappe zu lüften; 
wieder griffen die gewaltigen Arme zu, und trugen 
den Attache davon. Außerhalb des Bereichs von Ab- 
dullah ward er auf den Boten gelegt und ihm die 
rothe Müte abgezogen. Auch vergriff man fic kei— 
neswegs an feinem Eigenthum, jondern legte Stiefeln 
und Strümpfe gewilfenhaft neben ihm nieder. 

Sobald der Attaché einigermaßen wieder zu fid) 
fom, begann er zunädft Unterfuchungen über feine 

_ eignen Füße anzuftellen, wobei er jedoch Die aller= 
traurigſten Erfahrungen machte. Wie Pumpenſtiefeln 
waren ſie aufgeſchwollen und er begriff gar nicht, wie 


87 


er fie je wieder zum Gehen werde benutzen können. 
Eines ſolch' nieberträdhtigen Schmerzes wußte er fid) 
in feinem ganzen Leben nicht zu erinnern. Er war 
nicht vermögen, ſich von der Stelle zu rühren. Wo 
ihn Tohu und Bohu hingelegt, da lag er. Er gli 
ganz Braun dem Bären, nachdem dieſen fein Neffe 
Keinede beim Bauer NRüfteviel fo übel mitgefpielt. 
Der Factor war der Erfte, welcher ihn in dieſer be= 
dauerungswürbigen Lage vorfand. Süßmilch flug 
Lärm und bald hatten fih fämmtliche Niederroßlaer 
mit Ausnahme Hanno’8 um den übelzugerichteten 
. Zandsnıann verfammelt. 


Sünftes Kapitel. 


Die Lagemann'ſche Baſtonade bildete eine geraume 
Zeit den Gegenſtand des Geſprächs auf dem Schiffe. 
Während Steuermann und Matroſen berſten wollten 
vor Laden, erfüllten ſich die Gemüther des Raths— 
aetuars, Sußmilch's und Vetterlein's mit Grauen und 
Entſetzen. Mit ſcheuen Blicken nur betrachtete man 
das Terrain des blutgierigen Türken und hütete ſich 
wohl, demſelben im Entfernteſten zu nahe zu kommen. 

Der Magdeburger lag nicht weniger denn acht 
Tage und acht Nächte auf einem Flecke. Er ver- 
mochte von feinen Füßen nicht ven geringften Ge— 
braud zu machen. In feinem Gemüthe ſah's höchſt 
beöparat aus. So wie er einigermaßen zu ftehen ver- 
mochte, eröffnete er eine energifche Conferenz mit Zei⸗ 
fig, welche Letzterem keineswegs erbaulich klang. 

‘u 


88 


„Stülpen Sie Ihren Hut mit dem Ochſenkopfe 
determinirt auf den Kopf,“ ſprach er zum Actuar „und 
rücken Sie dem Türken vor's Quartier. Sie dürfen 
ſolche Schmach nicht auf ſich ſitzen laſſen, partout 
nicht; bedenken Sie, daß in meiner Berfon das ge⸗ 
fammte Nieverroglaer Rathscollegium bundsföttifch be= 
leidigt, fo wie da8 gefammte Bölferreht mit Füßen 
getreten it. Ih bin Ihr Attahe und integrivender 
Theil der Niederroßlaer Geſandtſchaft. Sie find durch 
meine Baſtonade eben fo beleidigt, als hätten Cie 
dieſelbe jelbft erhalten.“ 

„sh würde ob folder Mißhandlung unfehlbar 
den Geift aufgegeben haben,“ geftand zagend der Actuar. 

„Weichen wir nicht von der Hauptfrage ab,” er- 
wiederte Lagemann ärgerlich, „Suchen Sie Ihren Hut 
mit dem Stadtwappen und verlangen Sie Aubienz 
und Satisfaction vom Türken.“ 

„Ich bezweifle nur,‘ gab Zeifig zu bebenfen, „ob 

Herr Abdullah in der Heraldik fo weit vorgefchritten 
fein dürfte, unfer Stadtwappen zu erfennen und zu 
reſpectiren.“ 
„Nennen Sie das türkiſche Ungeheuer nicht Herr, 
ſondern Hund,“ eiferte Lagemann, „er verdient kei— 
nen civiliſirten Namen. Befeſtigen Sie oberhalb des 
Ochſenkopfs die Landescocarde, ich hoffe, die reſpectirt 
er. Behalten Sie aber den Hut auf dem Kopfe, 
wenn Sie mit dem Satan ſprechen, damit er Wap⸗ 
pen und Cocarde ſieht; auch imponirt das mehr.“ 

„Aber den Fall geſetzt,“ frug Zeiſig, „ver Mujel- 
mann refpectirt Wappen und Cocarde nicht, was dann, 
lieber Lagemann?“ 

„Bas dann?“ fpottete der Attache, „Sie müffen 
fid) der vielen Bebenklichkeiten entſchlagen; Cie brin= 

a“ es jonft im Leben zu nichts. Bedenken Sie, daß 


89 


Sie ald Diplomat durch die Welt fahren, deſſen Ber- 
. Ton gebeiligt iſt.“ Ä | 

„Aber wenn Abdullah davon Feine Notiz nimmt, 
wie er dies bei Ihnen als meinem Attaché bewies 
fen hat?‘ 

„Ich wünſchte, Sie ſäßen im Pfefferlande mit 
Ihren ewigen „aber's!“ Sein Sie dod nur ein Ein- 
zigesmal ein Mann,“ 

„Aber, ich befürchte nur, daß mid) gerade dieſes 
Einzigemal wenn auch nicht ven Kopf doch die Füße 
foften kann 

„Pollen, die Wuth des Türken hat fih an mei- 
ner Perſon hinlänglich geſättigt.“ 

„Sie kann auch wilder geworden ſein.“ 

„Wohlan, ſo bluten Sie für's Vaterland, wie 
ich geblutet habe, und wir behalten uns Regreß und 
Schmerzensgeld vor, ſobald wir an's Land ſteigen.“ 

„Ich wollte im Nothfalle wohl bluten,“ verſetzte 
Zeiſig, „aber ich fürchte, ich halte es nicht aus.“ 

„Einbildung, Sie haben nicht viel Fleiſch auf 
dem Leibe, eine Baſtonade iſt für Sie ein Kinderſpiel. 
Es iſt bei Ihnen gar nichts abzuſchlagen.“ 

„Ich weiß, was ich weiß,“ beharrte der Actuar, 
der ſchlechterdings keine Neigung in ſich verſpürte, 
Herrn Abdullah wegen der Lagemann'ſchen Baſtonade 
zur Rede zu ſtellen, „ich kenne meine Natur, eine 
ſolche türkiſch-orientaliſche Behandlungsweiſe hält mein 
Körper nicht aus.” 

Lagemann war fehr aufgebradht, als der Nieder- 
roßlaer Gefandte ſich zu einem Beſuche beim Türken 
durchaus nicht verftehen wollte. Er hatte einen bop- 
pelten Zwed, daß er Zeifig jo angelegentlich antrieb, 
dem Abdullah, wie er fid) ausprüdte, vor's Duartier 
zu rüden. Erſtens hoffte er, daß fi der Mufel: 


90 


mann Doch vielleicht bewegen Taflen könnte, feine bar- 
barifhe Handlungsweife gegen den Attache einzufehen 
und um weitres Aufſehen zu vermeiden, einen Beutel 
mit türkischen Piaftern als Schmerzensgeld herauszu- 
rüden. Diefe Hoffnung war indeß bei Lagemann, 
wie er den Türken kennen zu lernen Gelegenheit ge: 
habt hatte, ſehr ſchwach. Weit größre Hoffnung baute 
er auf den andern Zweck ber Zeiſig'ſchen Miffion, 
hämlich, daß der Actuar gleichfalls abbajtonadet wer- 
ben möge. Der edle Magdeburger erfreute ſich nämlich 
einer jo ſchönen Seele, daß er alle Ueble, fo ihm 
widerfuhr, auch andern gönnt. Nichts war ihm da— 
ber unerträglicher als der Gedanke, allein die türkifche 
Zortur haben überftehen zu müfjen. Bon Herzen gern 
hätte er dem Heldenfpieler, dem Duartus und Factor, 
furz jedermann ein ähnliches fchmerzreiches Abenteuer 
gewünſcht. 

Während Lagemann noch bemüht war, den Nie— 
derroßlaer Rathsbotſchafter für einen Beſuch bei Ab⸗ 
dullah geneigt zu ſtimmen, trat der lange Factor mit 
der Nachricht in's Gemach, daß Hanno jetzt außer 
Gefahr ſei. Das letzte Mittel des Doctor Barring 
habe vortrefflich angeſchlagen und die gefährliche Kriſis 
ſei glücklich überſtanden. 

„Unkraut verliert ſich nicht,“ dachte Lagemann bei 
ſich, doch war er froh, daß Hanno geneſe. Er hoffte 
nun baldigſt hinter das Geheimniß zu kommen, wo- 
mit ihn der todtkranke Heldenjpieler jo gepeinigt hatte. 
Da feine Beredtſamkeit bei Zeifig wegen des Beſuchs 
beim Türken ohne allen Erfolg blieb, jo wandte er 
ſich an den Factor, damit diefer es dem Actuar gleich- 
falls begreiflih mache, wie nothwendig und der Würde 
Niederroßla's angemefjen es fei, wenn Zeifig dem Ab— 
dullah vor's Quartier rücke. 


g1 


Die Discuffion wegen einer AYurebeftellung des 
Abdullah ward plöglih auf eine höchſt energifche 
Weile unterbrochen. Alle drei Disputanten fielen mit 
einem Schlage die Länge nad auf ven Boden. Als man 
in ſoweit wieder zu fi gelommen war, um über das 
Die und Warum einer fo unerwarteten Niederlage 
Betrachtungen anzuftellen, vernahm man ein wahres 
Donmergepolter auf dem obern Verdeck und in dem— 
jelben Moment fam Betterlein wie in der Luft durch 
die Kajütenthür hereingeflogen. 

Es hatte ſich plöglich ein Orkan erhoben und eine 
Riefenwelle das Schiff auf die Seite geworfen. . Der 
Himmel umzog fi fchwärzer und das Toben bes 
Sturmed ward bedeutend. Es war das erjte Unmet- 
ter, welches den Habicht auf feiner Fahrt ereilte und 
erichien den Niederroßlaern in feiner ganzen unge— 
wohnten Furchtbarkeit. 

Zu dem Orfane hatte fih, um das Schaufpiel 
des Schredens vollitändig zu machen, ein Gewitter 
gejellt und die vom Sturm gepeitfchten und Donner 
durchrollten Wafjerberge gewährten einen fürchterlich 
majeftättfchen Anblid. Die tieffinftre Nacht ward von 
den flammenvden Bligen* von Secunde zu Secunde 
fonnenhaft verklärt. 

Der Capitain Sir John erſchien jest in feiner 
Heldengröße. Mit einer Ruhe, als gelte ed einem 
unbedeutenden Manöver auf ftilem Meere, ertheilte 
er jeine Befehle. Seine Stimme durdhpreng Sturm, 
Donner und Wellengebraus und ob alle bewegliche 
Sachen auf dem Schiffe über und untereinander ftürz-, 
ten, ob Tod und Verderben von allen Seiten herein- 
zubrechen drohten, behielt er dennoch all ſeinen Gleich— 
muth, ja ſeinen Humor wie beim ſchönſten Wetter. 

„Wenn der Sturm ſo anhält,“ meinte er in ge- 


90 


mann boch vielleicht bewegen Tafien könnte, feine bar- 
barifche Handlungsweife gegen den Attache. einzufehen 
und um weitres Auffehen zu vermeiden, einen Beutel 
mit türkifchen Piaftern als Schmerzensgeld herauszu- 
rüden. Diefe Hoffnung war indeß bei Lagemann, 
wie er den Türken kennen zu lernen Gelegenheit ge- 
habt hatte, fehr ſchwach. Weit größre Hoffnung baute 
er auf den andern Zweck der Zeifig’ihen Miffion, 
hämlid), daß der Actuar gleichfalls abbaſtonadet wer- 
den möge. ‘Der edle Magdeburger erfreute fid) nämlich 
einer jo fchönen Seele, daß er alles Ueble, fo ihm 
widerfuhr, aud) andern gönnte. Nichts war ihm da= 
her unerträglicher als der Gedanke, allein die türfifche 
Zortur haben überftehen zu müſſen. Von Herzen gern 
hätte er dem Helvenfpieler, dem Duartus und Factor, 
furz jedermann ein ähnliches fchmerzreiches Abenteuer 
gewünſcht. 

Während Lagemann noch bemüht war, ven Nie⸗ 
derroßlaer Rathsbotſchafter für einen Befuc bei Abe 
dullah geneigt zu ſtimmen, trat der lange Factor mit 
der Nachricht in's Gemach, daß Hanno jetzt aufer 
Gefahr je. Das legte Mittel des Doctor Barring 
habe vortrefflich angejchlagen und die gefährliche Krifis 
jei glüdlid, überftanden. 

„Unkraut verliert ſich nicht,’ dachte Lagemann bei 
ſich, dod war er froh, daß Hanno genefe. Er hoffte 
nun baldigft Hinter das Geheimnig zu fommen, wo= 
mit ihm der todtkranke Heldenſpieler ſo gepeinigt hatte. 
Da ſeine Beredtſamkeit bei Zeiſig wegen des Beſuchs 
beim Türken ohne allen Erfolg blieb, ſo wandte er 
ſich an den Factor, Damit dieſer es dem Actuar gleich- 
falls begreiflich mache, wie nothwendig und der Würde 
Niederroßla's angemefjen es fei, wenn Zeifig dem Ab— 
bullah vor’8 Quartier rücke. 


91 


Die Discuffion wegen einer AYuredeftellung des 
Abdullah ward plöglih auf eine höchſt emergifche 
Weiſe unterbrochen. Alle drei Disputanten fielen mit 
einem Schlage die Länge nad) auf den Boden. Als mun 
in foweit wieder zu fi gefommen war, um über das 
Wie und Warum einer jo unerwarteten Niederlage 
Betrachtungen anzuftellen, vernahm man ein wahres 
Donnergepolter auf dem obern Verdeck und in dem— 
felben Moment kam Betterlein wie in der Luft durch 
bie Kajütenthür heveingeflogen. 

Es hatte ſich plötlich ein Orkan erhoben und eine 
Riefenwelle das Schiff auf die Seite geworfen. . Der 
Himmel umzog ſich fchwärzer und das Toben bes 
Sturmes ward bedeutend. Es war das erjte Unwet— 
ter, welches den Habicht auf feiner Fahrt ereilte und 
erſchien den Niederroflaern in feiner ganzen unge- 
wohnten Furchtbarkeit. 

Zu dem Orkane hatte fih, um das Schaufpiel 
des Schredens vollſtändig zu machen, ein Gewitter 
geſellt und die vom Sturm gepeitſchten und Donner 
durchrollten Waſſerberge gewährten einen fürchterlich 
majeſtätiſchen Anblick. Die tieffinſtre Nacht ward von 
den flammenden Blitzen von Secunde zu Secunde 
ſonnenhaft verklärt. 

Der Capitain Sir John erſchien jetzt in ſeiner 
Heldengröße. Mit einer Ruhe, als gelte es einem 
unbedeutenden Manöver auf ſtillem Meere, ertheilte 
er ſeine Befehle. Seine Stimme durchdreng Sturm, 
Donner und Wellengebraus und ob alle bewegliche 
Sachen auf dem Schiffe über und untereinander ſtürz⸗ 
ten, ob Tod und Verderben von allen Seiten herein- 
zubrechen drohten, behielt er dennoch all feinen Gleich— 
mutb, ja feinen Humor wie beim fhönften Wetter. 

„Denn der Sturm jo anhält,” meinte er in ge- 


92 


mächlichem Gonverfationstone zu Victor, als biefer 
fih bei ihm nah dem Stande der Dinge und ber 
Größe der Gefahr erkundigte, „jo kann fi unfer Koch 
die Abenpmahlzeit erfparen, wir fonpiren alsdann nicht 
fowohl auf dem Meeresgrunvde, als werben vielmehr 
joupirt von Fiſchen und Meergewürm.“ 

Als ſich ſo eben eine weiße, geiſterhafte und ver— 
derbenſchwangere Welle dem Schiffe näherte, ſagte er: 
„Wenn Ihr den Tod noch nicht geſchaut habt von 
Angeſicht zu Angeſicht, ſo ſieht er aus wie dieſe Welle, 
welche ſehr Uebles im Sinne führt.“ 

Zugleich donnerten wieder ſeine Befehle im wun— 
derlichen Kauderwelſch; von Neuem fuhren die Ma— 
troſen wie behert auf und nieder und gaben dem 
Schiffe eine ſolche Richtung, daß die gefahrdrohende 
Welle nicht ihre ganze Gewalt an dem Schiffe ent- 
laden konnte. 

Auch Gamaliel hatte ſich auf's Verdeck herausge- 
wagt, hielt eine Strickleiter umklammert und ließ ſich 
willenlos mit dem Schiffe auf- und abſchleudern. 
Auf Victor's Anfrage, ob er und Drollinger nicht 
etwas helfen könnten, ſchüttelte Sir John den Kopf. 

„Jetzt noch nicht,“ ſprach er, „ſobald das Schiff 
keinen Leck bekommt, hat es keine Noth; aber wir 
müſſen alle Augenblicke befürchten, daß die Planken 
berſten und das Waſſer den untern Schiffsraum füllt. 
Dann könnt Ihr pumpen, ſo viel Ihr Luſt habt. Ich 
werde vor der Hand in den Kajüten die Pumpen an— 
legen laſſen. Die Paflagiere müſſen in den zweiten 
Schifferaum hinab. Falls Ihr Euch hier oben nicht 
gefallt, würde ich gleichfalls vathen, in den ficherern 
obwohl unbequemern Gewahrfan des zweiten Dede 
Euch zu verfügen.” 

Samaliel und Bictor erklärten, bein Capitain 


93 


aushalten zu wollen, während Leßterer einigen Mar 
teofen den Befehl ertheilte, die Kajüten ver Nieder- 
roßlaer zu räumen. 

Lagemann, Zeifig, ver Factor und Betterlein be= 
fanden ſich ebenfall® in feinem beneidenswerthen Zu— 
ftande. Sie glaubten ſämmtlich, daß ihr letztes 
Stündlein gekommen ſei und waren über alle Maßen 
demüthig und gottesfürchtig. 

Als die Matroſen eintraten, die Kajute zu ränu⸗ 
men, lagen alle Vier brüberlidh umarmt wie ber 
Rattenfönig auf dem Boden. Obſchon unter obwal- 
tenden Umftänden Jedem das Lachen hätte vergehen 
jollen, jo brachen die rohen Schiffeleute doch in ein 
unmäßiges Gelächter aus, als fie die Nieverroßlaer 
in jo herzbrechenper Umarmung erblidten. 

Die am Boden Liegenden ſchöpften neuen Athem, 
und neue Hoffnung zog in die angſterfüllte Bruſt, 
als ſie die Bootsleute ſo urkräftig lachen hörten. Sie 
ſchloſſen daraus, daß die Gefahr vorüber ſei. 

„Wie fteht’g denn mit dem Sturm und Gemit- 
ter?” erfundigte fi) Lagemann, welcher zuerit die 
Spradye wieder erhielt. 

„Voxtrefflich,“ war die Antwort, „wenn das Un- 
wetter jo forttobt,. find wir um Mitternadht al’ int 
Himmel.” | 

„Diefes Unglüd wolle doch ein grundgütiger Gott 
verhüten! vief der Attache ſchaudernd und die An— 
dern ftimmten ein. 

„Ho, ho,“ verſetzte ein Matrofe, „it das ein fo 
großes Unglück, bald in den Himmel zu kommen?’ 

„Dir ftehen ſämmtlich in ven beiten Jahren,“ 
gab Lagemann zu bevenfen. 

„Was da,” lachten vie Bootsleute, „‚geitorben 


04 


muß einmal fein, ob ein paar Jahr früher over Tpä- 
ter, kommt auf eins heraus.” | 

Die Nieverroßlaer, auf der Erbicdhaftsreife begrif- 
fen, gingen von andern Prinzipien aus. Sie modh= 
ten vom Tode fchlechtervings nichts willen, am we⸗ 
nigftend Lagemann. Cr klagte, daß er aufs Ableben 
noch gar nicht vorbereitet fei. 

Die Matrofen ließen fih auf feine weitere philo=- 
ſophiſche Auseinanderjegung über Tod und Unfterb- 
lichkeit ein, ſondern mahnten die Niederroßlaer, auf- 
zufiehen und die Kajüte zu verlaſſen. 

- ‚Aber wo jollen wir denn bin?” frug Lagemann 
zähneklappernd. 

„Ein Stockwerk tiefer,“ war die Antwort. 

„Aber warum will man und hier vertreiben?“ er- 
fundigte ſich der Attache meiter. 

„Damit Ihr nicht den Pumpen im Wege ſeid,“ 
erwieberte ein Matroſe. 

„Weh, jo dringt wohl das Waſſer ſchon ein?” 

„Es wird nicht lange dauern und wir haben alle 
Schiffsräume voll.‘ 

Die Nieverroßlaer wurden bei dieſer Rede wieder 
von Entjegen gepadt; gleihwohl rührten fie ſich nicht 
von der Stelle. 

„Alone, erhebt Euch,“ commandirten die Boot8- 
leute, „wollt Ihr bis zum jüngften Tage hier Liegen?‘ 

Der menſchliche Rattenfönig fette fich jet etwas 
in Bewegung, aber er war mit feinen acht Armen und 
Füßen dermaßen in einander verwachſen, daß es viel 
Mühe machte, ven Knäuel aus einander zu bringen. 

Die Matrofen machten nicht viel Umftände, fon- 
dern padten einen nad den andern, fehüttelten fo 
lange, bi8 die Mebrigen abfielen, trugen ihn aus ber 
Kajüte und ſchoben ven Halbbewußtlofen durch eine 


® 


95 


Tallthüre wie einen Geföpften, auf vie Gefahr hin, 
daß er Arm und Beine bredhe, in den untern Raum, 
wo er mit ziemlichem Geräuſch auf den Boden fiel. 

Lagemann, als er hinabtransportirt wurde, be= 
faß noch fo viel ©eiftesgegenwart, den Matrofen ihr 
gewiffenlofes Fluchen zu Gemüthe zu halten. 

„Wenn Ihr von Eurem rafenden Gefluche nicht 
ablaßt,“ ſprach ev, „To iſt's kein Wunder, dag wir 
allefanınıt zu Grunde gehen. So moderirt Euch doch 
in Etwas und bedenkt, daß Ihr Chriften ſeid.“ 

„Was räjonnirt die Landratte,“ tönte e8 zur Ant- 
wort, „Ichlagt ihr den Hirnſchädel ein, fo fie muckt.“ 

Lagemann hielt e8 nad) diefer Aeußerung für ans 
gemeflener, dem rohen Schiffsvolke feine moralifchen 
Zumuthungen weiter zu ftelen. Er verſchwand gleich 
darauf in der Tiefe und fiel auf Zeiſig, welder als 
matter Karpfen bereits unten am Boden lag. 

Auf den Attaché folgte Vetterlein. Dieſer glaubte 
in der Angft feined Herzens, er folle über Bord ge= 
worfen werben, um das Schiff flott zu machen. Kr 
firampelte daher aus Leibesfräften, als er von einem 
der hanpfeften Matrojen in die Höhe gehoben ward, 
aber feine Widerfpenftigfeit vermochte nicht® gegen bie 
höhere phufifche Gewalt. Er fam auf Lagemann zu 
liegen, welcher entſetzlich aufſchrie, als er noch ein 
andres lebende Weſen auf fich verfpürte. 

Gebt Fam die Reihe an den Factor, welcher dem 
dunkeln Gefchic feiner Landsleute und Gefährten folgte 
und in dem dunkeln Sciffsraum krochen nun bie 
vier Niederroßlaer wie Krebje auf und nieder, beftän- 
dig einander in den Weg kommend und einander 
anftogend. 

Durch die Fahrt in die Tiefe waren fie, big auf 
Zeifig, welcher ven Geift aufzugeben vermeinte, ſo f 


96. 


ziemlid) wieder zu ſich gelommen und führten unter⸗ 
irdiſche Geſpräche. 

„Wenn wir nur wenigſtens ein Licht hätten,“ 
ſprach der Attaché, „daß wir unſer Unglück etwas 
beleuchten könnten, ſo tappt man in Egypten wie 
zur Zeit der Finſterniß; ſeid Ihr das, Factor?“ 

Mit dieſen Worten hatte er ein Bein gefaßt und 
wußte nicht, wen es zugehörte. Betterlein meldete 
fih als Eigenthümer, indem er es zurüd und an 
ſich zog. 
„Heiliger Himmel,“ ſchrie plötzlich eine Stimme, 
welche dem Factor angehörte, „mir lief ſo eben ein 
Mühlrad über ven Leib. Ich bin ganz breit gedrückt.“ 

„Poſſen,“ tröjtete Lagemann, „wo fol ein Mühl- 
rad herfommen? Dergleichen gibt's nicht auf Schiffen.” . 

Süßmilch hatte fo ganz unrecht nidht, nur irrte 
er fich in dem Gegenſtande, der ihm über den Bauch 
gerollt war. Diefer beftand in einem Faſſe mit Spi- 
ritus, welches bei jeder ftarfen Schwankung des Schiffe 
von der einen Wand zur andern rollt. Es mar das 
einzige Mobiliar in dem ftocfinjtern Raume. 

Betterlein, des unnüten Herumkriechens auf Hän— 
den und Füßen (ein aufrechtes Gehen war wegen ber 
niedrigen Dede, an welcher man jeven Augenblid mit 
dem Kopfe anjtieg und wegen bes unerhörten Schwan= 
fen des Schiffs unmöglich) überbrüßig, hatte fih in 
eine Ecke geflüchtet, wo er fi) an eine eiferne Klam— 
mer anhielt und außftredte, um ein wenig Ruhe zu 
genießen. Leider follte ihm dieſe nicht lange zu Theil 
werben. Er fühlte ſich plöglid won einem feiner Un— 
glüdsgefährten an den Haaren gezauft und auf höchſt 
Ihmerzhafte Art an der Naſe gezwidt. Er that mit 
dem Kopfe einen energiſchen Ruck rückwärts und 
machte den Landsleuten Vorwürfe, daß man ſich 


977 —E 


in ſolchen Stunden der Gefahr dergleichen Scene \ 
erlaube, 

„Ih war's nicht, * vertheidigte ſich ver Factor, 
welcher vor allen Dingen trachtete, den vermeintlichen 
Mühlftein aus dem Wege zu befommen, ver nun be- 
- vet? zweimal an ihn angerollt und ihm fat vie 
Seele aud dem Leibe gepreßt hatte. 

„sh auc nicht,” feufzte Yeifig aus einer ent- 
fernten Ede des Raums, wo er wie ein Häufchen 
Unglück zufammengefauert ſaß. 
| Betterlein, welcher troß dieſer Zufiherungen von 

Neuem an den Haaren gezwidt wurde, richtete nun 
ſeine mißbilligende Rede an Lagemann. 

„Daß Ihr doch,“ ſchalt er, „Eure Schabernacken 
nie laſſen könnt, Lagemann. Es iſt dies ein rechter 
Schattenpunkt in Eurem Charakter.“ 

Der Attaché, welcher ſich nie ſo unſchuldig gefühlt 
wie diesmal, betheuerte aus Leibeskräften, daß ihm 
ein Schabernack nicht entfernt in den Sinn gekommen 
ſei. Er habe mit eigner Noth zu kämpfen. 

Vetterlein wußte jetzt nicht, was er denken ſollte. 
Alle Welt verſicherte ihre Unſchuld und gleichwohl 
zauſte es ihn hartnäckig in den Haaren, ſobald er 
den Kopf ausſtreckte. Um ſich nun handgreiflich zu 
überzeugen, daß es Niemand anders als der boshafte 
Magdeburger ſein könne, griff er bei abermaligem 
Zauſen raſch über ſich, um die Hand des Miſſethäters 
zu erhaſchen und ihn in flagranti zu ertappen. Aber 
mit Entfeßen fuhr er zurüd, als er eine lebendige 
Ratte padte, die ihn noch dazu in ben Finger biß. 
Der Duartus erhob ein Zetermordio ob biefer Ent- 
dedung und traf fofort Anftalt, die Schiffswand zu 
verlaffen und wieder nach der Mitte zu fteuern. 

In demfelben Augenblide fühkte —* Fa Zeifig 


Stolle, ſämmtl. Schriften XVII, 


98 


angefreffen und zwar an dem Theile feines Körpers, 
ter beim Nieverfauern faft den Fußboden berührte. 
Er feste fi ebenfalls fo fchleunig wie möglid in 
Dewegung und froh der Mitte zu, wo er mit Vet— 
terlein, feinem Rattenleivensgefährten, fopflings zu- 
fammenftieß. Die beiden tauſchten eben ihre bittern 
Erfahrungen aus, als auch Lagemann hinreichende 
Beranlaffung fand, in ein Zetermordio auszubrechen. 
Das Rad des Schickſals, die Spiritustonne, welche 
bin und wieder follernd, fchon den Factor fo übel 
mitgejpielt, hatte auch ihn erreicht und war ihm Direct 
über die Hinterfüße gegangen. 

Es kann wohl faum eine troftlofere Lage gedacht 
werden, als diejenige war, in welcher fich die vier 
unglüdlichen Niederroßlaer befanden. Keinen Augen 
blit fiher, wie neuwafchnes Linnenzeug von dem ge= 
füllten Spiritusfaffe gerollt und lebendigen Leibes von 
den Ratten angefreflen zu werden, glichen fie wirklich 
ven Berdammten im unterften Höllenpfuhl. 

Indeß kann ver Menſch Unglaublicyes ertragen, 
bevor er total verzweifelt und aus der Haut führt. 
Die Niederroßlaer Tieferten den Beweis. Cie ftreng- 
ten ihre gefammten Geiftesfräfte an, um fi aus ber 
unerträglichen Lage zu befreien. 

Lagemann that ven Vorſchlag, fid) wieder zu con= 
zentriven, zu umfchlingen und als Vereinsförper dem 
Ungemad die Stirn zu bieten. 

„Es tft Dies das Befte, mas wir thun können,” 
ſprach er, „wir fchlagen dann mit vereinten Kräften 
die Angriffe der Ratten ab und legen uns als Vor— 
gebirge dem umherrollenden Gegenftande, der nad) 
meinem Dafürhalten fein Mühlftein, ſondern eine ge- 
füllte Tonne ift, in den Weg.” 

„Wäre ed nicht gerathener,‘ gab der Factor zu 


99 


bevenfen, „wir juchten wieder die Oberwelt zu ge= 
winnen? Ich will Lieber im Maſtkorbe fchaufeln, auf 
die Gefahr Hin, in's Meer zu fallen, als in dieſer 
Morphöhle länger verweilen.” 

„Es ift dies auch meine Meinung,‘ verfetste ber 
Duartus; „die Ratten fcheinen von beifpiellofem Ap- 
petite, und unfereind hat, was ben Leib anbelangt, 
nicht viel zuzuſetzen.“ 

Auch der Actuar pflüfterte bei. 

Der praftifche Lagemann erwiederte: „Ihr ſprecht, 
wie Ihr es verſteht. Unferm Kalle nad zu fchließen, 
müffen wir ein halbdutzend Ellen in die Tiefe gefahren 
fein. Die Fallthür ift zugeichlagen, feine Stiege 
führt nad) der Oberwelt; zudem herrſcht hier eine Fin— 
fterniß, daß man die Hand vor den Augen nicht fieht. 
An ein Entkommen ift unter ſolchen Umftänvden nicht 
zu gedenken. Alſo vereinigen wir uns; Bruſt an 
Bruſt trägt fi das Mißgeſchick Leichter.“ J 

Die Rede Lagemann's fand Anklang und man be— 
ſchloß, ſeinen Vorſchlag in Ausführung zu bringen. 
Dies war aber nicht ſo leicht. Von allen Seiten 
kroch man zwar gegen einander, aber die heftigen 
Schwankungen des Schiffe, jo wie die rückſichtslos 
auf- und niederrollende Tonne erjchwerten eine Ber- 
einigung. Jeder griff in der Dunkelheit um fi), um 
wo möglich einen Landsmann zu erhaſchen. Endlich 
thaten die weitaußgreifenden Arme des Factors einen 
Fang. Es war der Actuar. Sogleich annoncirte 
Süßmilch das glückliche Ereigniß mit den Worten: 
„Wir haben uns.“ 

Ber?” frug Lagemann in die Nacht. 

„Ich und Zeiſig,“ war die Antwort. 

„Haltet feſt an einander,“ rieth der Attaché und 
ſteuerte dem Orte zu, von woher der Ruf erflungen 

1 


100 


war. Nach ziemlich langen Umhertappen . gelang es 
ihm, die Bereinigung zu bewerfftelligen. 

„Seid umſchlungen, theure Landsleute,“ ſprach 
er, „jetzt ſoll uns nichts mehr trennen. Schlagt die 
Arme um einander brüderlich.“ 

Jetzt fehlte nur noch Betterlein. Dieſer irrte als 
detachirtes Corps einſam in dem weiten Raume um— 
her und jammerte über alle Maßen, daß er der Ge— 
fährten nicht habhaft werden konnte. 

„Quartus, wo ſteckt Ihr?” frug Lagemann. 

„Hier,“ tönte es kläglich aus entfernter Ecke. 

„Kriecht dem Schalle nach.“ 

Vetterlein befolgte dieſen Rath. So kam endlich 
die Quadrupelallianz zu Stande. | 

„wenn jest die Tonne kommt,“ ſprach der um— 
fichtige Attahe, „fo wollen wir uns bemühen, ber= 
jelben babhaft zu werden. Wir nehmen das Beeſt 
alsdann in die Mitte und verhindern das Auf- und 
Niederrollen.“ | 

Diefen lettern Borfchlag Lagemann's auszuführen 
war nut vielen Schwierigkeiten verbunden. Die Tonne 
fam angeprallt, aber eh’ man ihrer habhaft werben 
konnte, war fie ſchon wieder zurüdgerollt. Ihr An- 
lauf erjchütterte aber jevesmal das Duarre gewaltig 
und ließ höchſt unangenehme Empfindungen zurüd. 
Es bedurfte geraume Zeit, bevor man das wider— 
ſpenſtige Locomotiv zwifhen Süßmilch's und Zeiſig's 
Leichnam dermaßen placirt hatte, daß ein Weiterrollen 
verhindert wurde. Neben den zwei Genannten waren 
Vetterlein und Lagemann gelagert. 

Der Factor fand ſich nach einiger Zeit Mr der 
Bemerkung veranlaft, daß ſich's Feineswegs bequem 
liege. Auch Zeifig pflichtete feufzend bei. Der At« 

r\ tache tröftete. In Betracht der umherrollenden Tonne 





101 


liege man wie im Himmel. Süßmilch konnte dieſem 
Ausfpruche nicht beipflichten. 

„Für bie Länge, “ſprach er, „halt ich's nicht 
aus, Was meinen Sie, Actuar?” 

„Bei mir dürfte derfelbe Val eintreten,” gab 
dieſer zurüd, Ä 

„Bir wechſeln fpäter,” verhieß Lagemann. 

„Das ift höchſt wünſchenswerth und zwar je eher 
je lieber,“ meinte der Yactor, „mein Arm, dev zu- 
nächſt liegt, ift bereit mürbe.“ Ä 

Die Ratten, welche bei dem Bereinigungswerfe 
der Niederroglaer ſich etwas zurüdgezogen hatten, 
fehrten wieder, al8 man ruhiger lag. Auf den um- 
glüdlihen Quartus, an deſſen Perrüde fie abſonder— 
lichen Geſchmack gefunden, geſchah wieder ver erfte 
Angriff. Vetterlein ſchrie wie ein Geſpießter un, 
hieb mit Todesveradhtung um fih. - 

Dieſe energifchen Ausfälle ftörten indeß Die gefrä- 
ßigen Beſtien diesmal weniger. Sie überfletterten 
ben Kleinen Körper Betterlein’®, welcher mit auferor- 
dentlicher Vehemenz nad) allen Seiten ausfchlug, fo 
dag er dem Factor fehr befchwerlih fiel, ver auch 
nicht ermangelte, feine höchſte Mißbilligung ob folcher 
Strapazen auszufprechen. Betterlein befand ſich in- 
deß keineswegs in der Lage, auf Süßmilch's Mip- 
ſtimmung Rüdficht zu nehmen. Der Zweck, die Rat— 
ten abzufchütteln, ging ihm. über Alles, Wirklich 
gelang ihm dies aud durch gewaltiame Anftrengung; 
aber vie Folge davon war, daß die langgeſchwänzte 
Ratte über den Factor herfiel. 

Süßmilch, von zwei Seiten angegriffen, der Spi- 
vitustonne und ben Ratten, geriet in aufßerorbent- 
liche Extaſe. Er wälzte in ver erften Verzweiflung 
das Spiritusfaß geradezu Zeifig auf den Peib. Die: 


402 


jer glaubte nicht anders, als ein Welttheil läge auf. 
ihm; er nahm feine legten Kräfte zufammen und 
beförberte vermöge eined ausdrucksvollen Katzenbuckels, 
er lag nämlich auf dem Bauch, die nicht eben be— 
neidenswerthe Weltkugel auf Lagemann, über welchen 
ſie hinweg wieder in's Freie rollte, um ihr voriges 
läſtiges Spiel von Neuem zu beginnen. 

So war es einem halben Dutzend Ratten gelun- 
gen, das Niederroßlaer Ouarre total zu fprengen; denn 
ein „Leder war jett auf die Vertheidigung feiner eige- 
nen Perſon bedacht. Es entitand nım em entjeßli- 
her Fauſtkampf, der zwar zunächſt gegen die Schiffs- 
ratten berechnet war, aber mandyer ver zahllofen 
Püffe traf auch Unſchuldige. 

Das Mißgeſchick vol zu machen, begann num die 
Tonne wieder ihr hölliſches Weſen und bohrte bald 
biefen bald jenen ber bemitleidenswerthen Niederroß- 
Lxer in den Grund. 

An ein feſtes Zufanımenhalten ver Unglüdsgefähr- 
ten war nicht mehr zu denken. Lagemann, welcher 
fi) bei der Bereinigung noch am Beſten befunden 
hatte, brachte die Centralifationsfrage wieder in An— 
vegung, fand aber feinen Anklang. Die Ueberrum— 
pelung der Tonne, wie verteufelt unbequem fie war, 
fürchtete man weniger als den Angriff der unheimli— 
dien gefhwänzten Säfte, welde mit unermüplicher 
Deharrlichfeit ihren Hunger zu ftilen fuchten. 

Es war, wie bereits erwähnt, ftodfinfter in dem 
Schiffsraume, worin die Nieverroßlaer eingefperrt 
waren. Demzufolge ereignete fich die grauliche Er— 
Iheinung, daß die Augen der Ratten wie Heine Lich- 
ter leuchteten. Lagemann, nachdem er dieſe Bemer— 
fung gemacht, trat mit feinen großen Ctiefeln wie 


103 


befefjen nad den Feuerfunken und gab den Anvern 
den guten Rath, feinem Beiſpiele zu folgen. 

Jetzt glich der. Schiffsraum einer Del- und Walk— 
mühle. Jeder ſprang vell Eifer nad) den lichten 
Punkten, um fie auszupugen. Oft verlor man darü— 
ber das Gleihgewiht und fiel die Länge lang auf 
den Boden. Zuweilen unterbrach auch bie rollende 
Tonne die Springübungen, indem fie diefen oder jenen 
die Beine unter dem Leibe hinweg nahm. 

Die vier Niederroflaer Erbfahrer vollführten einen 
wahrhaften bethlehemitifchen Kindermord unter der 
egyptifchen Landplage; alle Mittel waren erlaubt ge= 
gen die gefräßige Thierart. Der fonft fo fanfte Zeifig 
arbeitete mit einer Wuth an dem Bernichtungswerfe, 
die man feinem chrijtlichen Gemüthe gar nicht zuge— 
traut hätte. Der Factor als Rattenvertilger war fein 
Menſch mehr, er gerirte fih als Wolf in einer Läm— 
merheerde. Betterlein knipſte mit einem colofjalen 
Appartementſchlüſſel, den er ftetS bei fich trug, wie 
die Schulknaben nach Pfirfichlernen, nach den illumi— 
nirten Rattenföpfen, während Lagemann wie ein Win- 
zer in der Weinkufe mit feinen Dragonerftiefeln auf 
und nieder trat. Aud Die Tonne trug durch ihre 
unermüdliche Beweglichkeit zum Untergange der Rat: 
ten bei. 

Solchen vereinten Bemühungen fonnte der Sieg 
niht ausbleiben. Die gefhwänzten Gäfte wurden 
nad) einer radicalen Niederlage total in die Flucht 
geihlagen, jo daß die Niederroflaer endlich Luft be= 
fomen und ihre Aufmerkſamkeit wieder der Tonne zu= 
wenden fonnten. 

Lagemann war hier wieder derjenige, ber durch 
feinen weifen Rath bedeutenden Einfluß auf feine 
Gefährten gewann. Er flug vor, des Faſſes fi 


10% 


zu bemädhtigen und nachzuſehen, welde Flüſſigkeit dar- 
innen aufbewahrt fei. Fände fi etwas Geniekba- 
red vor, jo wolle man fich recht fatt trinken und den 
Ueberreft auslaufen laſſen. Es Tiege fih ja an ben 
Fingern abzählen, daß eine leere Tonne weit leichter 
zu bewältigen fei, als eine gefüllte. Was vie Sünb- 
fluth anlange, vie entftehen könne, jo würde fih in 
dem weiten Raume ſchon irgend eine Deffnung vor- 
finden, wo die Näffe ablaufen könne, aud würden 
ba die vielen Rattenleihname hinweggeſpült. Dieſe 
Rede fand allgemeinen Beifall. Man bemunderte das 
Genie und Denkvermögen des Attaché's; ſelbſt der 
gereifte und welterfahrene Betterlein bekam Refpect 
vor der geiftigen Größe des Magveburgers, benn auf 
alle dieſe Vorſchläge wäre er in feiner Weisheit nicht 
gelommeen. 

Man ftellte fefort wieder Jagd auf die Tonne 
on. Da man fie nicht fah, fo mußte man ihrem 
. Donnergepolter nachtappen. Bei diefen nächtlichen An— 
griffen ward Lagemann einmal, der Factor dreimal, 
Betterlein fünfmal und der unglüdlicye Zeifig neun- 
mal von dem follernden Ungeheuer über ven Haufen 
gerannt. 
Berheerend wie eine Lawine rollte das Spiritus- 
faß durch den dunkeln Raum, rülkſichtslos Alles nie= 
derreißend, was fi in den Weg ftelltee Endlich 
wollte e8 der Zufall, daß fie in ihrem Laufe durch 
die Körper des Actuars und Betterlein’d, welche über 
einander am Boden lagen, gehemmt wurbe. Lage— 
mann fchloß fogleih aus der PBaufe, die nad dem 
Donnergepolter eingetreten war, daß jet ein günſti— 
ger Moment fei, des ungeberbigen Yeindes habhaft 
zu werden. Betterlein’8 Signalruf fam ihm hierbei 
zu ftatten. 


105 


„Hier liegt fie,” rief der Quartus. 

„Wo denn, wo?” frug Lagemanı. 

Der am Boden Liegende erhöhte feine Stimme 
und wieberholte: „Hier, hier!“ 

Setzt vermochte fi) der Magdeburger einigermaßen 

‚zu orientiven. Er tappte über todte Ratten nad) ber 
Gegend hin, wo Betterlein feine Stimme erhob. 

„Endlich hab’ ich fie,” rief der Attahe trium- 
phirend und war fogleid jo vorfihtig, die Tonne auf 
den Boden zu ftellen, jo daß fie vom nun an weni— 
ger Luſt zum Davonlaufen befam. 

Der unermüblihe Lagemann vifitirte jet nad) 
dem Spundlode. Das war aber mit folder Accu— 
rateffe verwahrt, daß ohne die nöthigen Inftrumente 
ein Eindringen nicht möglich war. 

„Bir werben müffen den Boden einfchlagen,“ 
meinte der Attahe; „aber womit? das ift die Frage.” 
Betterlein mußte den Appartementsichlüffel hergeben, 
mit welchem er die Ratten vor den Kopf geworfen. 
Lagemann bediente ſich mit ſolchem Eifer dieſes we— 
nig brauchbaren Inſtruments, bis zu Aller Leidweſen 
der Bart abbrach. 

„Nun ſind wir nicht beſſer daran als zuvor,“ 
meinte er. „Wer wagt es, hinaufzuklettern, um viel⸗ 
leicht mit den Füßen den Boden zu zertrümmern? 
Nach meinem Dafürhalten könnte das der Quartus 
vermöge ſeiner kleinen Statur am Beſten bewerkſtelli⸗ 
gen. Wir andern Alle würden zu heftig mit dem 
Kopfe anſtoßen.“ 

Die Niederroßlaer, mit Ausnahme Vetterlein's, 
waren ſämmtlich der Anſicht Lagemann's. Der Quar—⸗ 
tus proteſtirte heftig gegen den Vorſchlag. 

„Wir halten Euch,“ beruhigte der Attaché. 

„Aber wenn ich durchfahre, kann ich einen Knacks 


406 


davon tragen zeitlebens,” gab Betterlein zu bedenken. 
„sn der Tonne kann auch Del ſtecken.“ 

„Es riecht nah Spiritus,” betheuerte Lagemann. 

„Gleichviel, ih danke.” | 

„Aber ich begreife nicht,“ meinte der. Sactor, im 
Finſtern mit dem Kopfe ſchüttelnd, „wie Ihr Euch 
einer jo gemeinnütigen Unternehmung entziehen könnt. 
Hätte mid die Natur nicht fo geftredt erjchaffen, 
würde ich feinen Augenblid Bedenken tragen, dem 
Gemeinwohl dieſes Opfer zu bringen.” 

Auch dieſe factorlihe Ermahnung wollte feine 
Früchte bringen und Betterlein fi zu dem Empor— 
Klettern auf die Tonne nicht verftehen. 

Diefe höchſt unfruchtbaren Verhandlungen wurden 
plöglid auf ſehr unfanfte Weife unterbrochen. Eine 
heftige Schwantung des Schiffs, wo dieſes mit Blitzes⸗ 
jchnelle von einem Wogenberge in den Meeresabgrund 
gefchleudert wurde, warf alle vier Delibrirenden im 
Augenblide mit ſammt der Tonne über den Haufen. 

Sie hatten fih kaum von ihrem Schred etwas 
erholt, als ein neues Ereigniß ihre Aufmerkjamteit 
in Anfpruh nahm Die Yallthüre, durd welche fie 
jünmtli von den rohen Matrofen herabgeworfen 
worden waren, that fih auf und es erfolgte ein neuer 
dumpfer Fall. 

Lagemann war jehr begierig, wer wohl der neue 
Scidfalsgefährte fein möge, und ob man von ihm 
nicht Nachricht erhalten könne, wie e8 auf ber Ober 
welt hergehe. Er kroch fofort nad) der Richtung hin, 
wo jeiner Berechnung nad der Herabgeworfene liegen 
mußte, welcher ſich indeß nicht rührte und feinen Laut 
von fid) gab. 

„Der hat unfehlbar feinen Tod gefunden,” dachte 
der Attahe, „es iſt auch fein Wunder, bier ben 


N \ 


107 


Hals nicht zu brechen, und id) begreife nicht, wie wir 
vier fo glüdlich davon gekommen find.“ 

AS. der Magdeburger jo weit auf Händen und 
Füßen vorwärts gebrungen war, daß er glaubte, dem 
neuen Ankömmling ziemlich nahe zu fein, rief er: 
„Heda, guter Freund, wer ſeid Ihr und wie ſteht's 
oben auf dem Schiffe?“ 

Ein tiefes Seufzen war bie einzige Antwort. 

„Ihr habt Euch gewiß Schaden gethan beim Her- 
abfallen?“ erkundigte ſich der Attahe und ftellte fich 
ſehr theilnehmend. 

„Ich bin der unglückliche Hanno,” tönte es zus 
rück, „den man auf barbariſche Weiſe aus ſeinem 
Bett geriſſen und in dieſe Mordhöhle geworfen hat.“ 

Dem Magdeburger war dies Zuſammentreffen gar 
nicht unlieb. Es war das erſte Mal, daß ihm wie— 
der Gelegenheit ward, ſich mit dem Heldenſpieler zu 
unterhalten. Ex beſchloß fogleih', den günſtigen Mo- 
“ment zu benuten und in Hanno zu bringen, daß er 
ihn: das Geheimniß wegen des Betrugs entvede, wel- 
ches dem Attache die ganze Yeit über wie eine Cent- 
nerlaft auf der Bruſt gelegen. Der SHelvenfpieler, 
nachdem er Lagemann an ber Sprache erlannt, war 
aber keineswegs aufgelegt, Beichte zu fißen oder viel- 
mehr zu liegen. 

„En andermal, Lagemann,“ erwiederte er mit 
matter Stimme, „wenn ich vollkommen bergeftellt bin, 
‚ jet wird mir das Neben zu fauer.“ 

„Barum wollt Ihr aber das Geheimniß auf die 
lange Bank fchieben,” fuhr der Attache dringend fort; 
„ſo Ihr auf Eure Wieverherftellung wartet, erfahr' 
ich's im Leben nicht, denn daß Ihr nicht wieder auf: 
fommt und Daraufgeht, iſt ausgemacht.” 


M 


108 


„Der Arzt hat große Hoffnung, hielt Hanno da—⸗ 
gegen, „auch ift mir feit einigen Tagen beſſer.“ 

„Einbildung,“ erwiederte der Attaché, „‚voreilige 
Phantaſiegebilde. Ich gebe auf Eure Wiederherſtel⸗ 
lung keinen Heller. Alſo beichtet; erleichtert Herz 
und Gewiſſen durch aufrichtiges Bekenntniß, es iſt um 
Lebens und Sterbenswillen. Um wie viel habt Ihr 
mich denn eigentlich beſtohlen oder betrogen, und wie 
war das bei meiner Wachſamkeit möglich? Was habt 
Ihr mit dem unrechten Gute angefangen? Habt Ihr's 
ſchon verthan oder vergraben? Schenkt mir reinen 
Wein ein, Hanno, bedenkt die Sterbeftunde, die Euch 
näher fteht, als ihr meint.‘ 

Um feiner Rede mehr Eindrud zu verfchaffen, 
war Lagemann dem am Boden liegenden Helvenjpie- 
ler ganz nahe gekrochen, fo daß er zu feinem Miß- 
gefhik gerade unter vie Fallthür gerathen mar. 
Plöglih that fih diefe von Neuem auf, ein neues 
Schlachtopfer flog herab und kam höchſt ſeltſamerweiſe 
auf den Attahe zu fißen. 

Diefem konnte, während er dem verftedten Hanno 
in's Gewiſſen redete, gar nichts Fataleres paſſiren, 
als dieſer unerwartete Ritt. Er ſchüttelte und bäumte 
ſich, aber der Reiter ſaß ſattelfeſt. 

Hanno, welcher das Geräuſch des Herabfahrens 
vernommen und welchem Lagemann's Anftgengungen, 
bes ungebetenen Ritter ledig zu werben, nicht ent= 
gingen, erfundigte fid) nad) dem neuen Ankömmling. 

„Der Teufel mag willen, was das für ein Kerl 
iſt,“ erwiederte der berittene Attache, der ob feines 
Obermanns immer aufgebradhter wurde und bie außer- 
ordentlichſten Anftrengungen traf, den beharrlichen 
Reiter abzufatteln. 

Der Ritter ſchien ſich übrigens auf feinem Plate 


109 


dermaßen zu gefallen, daß er Gegenanitalten traf, das 
widerfpenftige Roß zur Ruhe zu bringen. Er fuhr 
Lagemann mit ein paar Niefenfäuften nad der Kehle 
und brüdte fo vehement, daß der Berittene ſchier 
vermeinte, aus der Haut zu fahren. Wenn ihn nicht 
Alles trog, fo hatte er mit dieſem SKehlgriffe bereits 
in der türkiſchen Kajüte Bekanntſchaft gemacht. Er 
argwohnte ſogleich nicht ohne Fieberſchauer, daß Tohu 
oder Bohu als Alp auf ihm'fite, und er täuſchte ſich 
nicht. Es war Bohu, welder auf Befehl ſeines 
Herrn den Matrofen hatte follen zur Hand gehen, 
aber venfelben nur im Wege gewefen und von ihnen 
als unbraudhbare Möbel entfernt und in den untern 
Schifferaum zu den Nieverroßlgern geworfen wor— 
‚ben war. 

Etwas afrilanifches Gemurmel fette e8 dem angit- 
Ihwigenden Attaché vollends außer Zweifel, und er 
machte jett ald Roß keine Sprünge und Paraden 
mehr, jondern war lammfromm geworben, in ber 
Hoffnung, der Schwarze werde enbli von ſelbſt 
abſteigen. 

Dies geſchah auch nach einiger Zeit, Bohu ver: 
ließ Lagemann und kroch weiter vorwärts, wo er 
alsbald mit den übrigen Niederroßlaern Belanntfchaft 
machte, was zu eigenthümlichen Scenen Beranlaf- 
jung gab. 

Suerft ftieß der Afrikaner auf den Factor, wel⸗ 
cher ihn für Lagemann hielt und ſich nach dem Hel— 
denſpieler erkundigte, von deſſen Ankunft er Kenntniß 
erhalten hatte. Bohu gab keine Antwort; da ihm 
aber das Umherkriechen auf dem Boden zu unbequem 
war, ſo beſchloß er wieder den Ritt zu verſuchen und 
beftieg den Factor. 

Süßmilch, ven Schwarzen noch immer für Lage— 


410 


mann haltend, drückte unverholen feine Mißbilligung 
über ſolches Verfahren aus, 

„Welche Unbilligkeit,“ ſprach er, „Lagemann, ich 
bin doch nicht Euer Pferd, fteigt ab; der Aufenthalt 
hierjelbft ft an fi) nicht angenehm, und dieſe Laft! 
Mein Gott, wie ſchwer ſeid Ihr, ich hätt! Euch gar 
nicht für fo gewichtig gehalten. So fteigt doch ab! 
Es ift jegt feine Zeit zum Scherz. Ich bitte, La— 
gemann.“ 

Der vermeintlihe Lagemann Tieß ſich durch Des 
Factors Abmahnung nicht irre und abwendig machen, 
jo daß enbli dem fanften Süßmilch bie Geduld aus— 
ging und er ebenfalls zu courbetiven begann Dies 
würde ihn: indeß wenig Nuten gebraht haben, wenn 
ihm diesmal nicht die Tonne zu Hülfe gelommen 
wäre. Sie machte einen energijhen Angriff gegen 
den Factor, warf ihn um, fo daß Bohu das Gleich— 
gewicht verlor und von dem Rüden Süßmildh’8 herabfiel. 

Plöglih vernahm man die nah Hülfe rufende 
Stimme Zeiſig's. Das Unglück war jett über den 
Actuar hereingebrohen und er dem umhergreifenden 
Mohren in die Zange gerathen. Sein richtiger In- 
ftinft fagte ihm glei, daß ſolche barbarifche Griffe 
unmöglich von europäiſchen Fäuften herrühren könnten. 
Bohu ſchlug mit feinen Klauen wie mit Enterhafen 
in Zeiſig's Schultern. Letzterer witterte die unheim= 
liche Nähe und ſchrie entſetzlich. 

Lagemann ſchloß aus dieſem Geſchrei ſehr folge— 
richtig, daß der Afrikaner ſeinen diplomatiſchen Chef 
erwiſcht habe. 

„Mag er ſehen, wie er loskommt,“ dachte er bei 
ſich, „ich menge mich nicht darein.“ Er verſuchte 
hierauf wieder mit Hanno in Converſation zu treten, 


Aal 


wozu aber dieſer nicht die geringfte Luft verjpürte, 
da er fid zu ſchwach und abgefpannt fühlte, | 

Süßmilch, welder aus Zeiſi'gs Hülferuf vermu- 
thete, Daß der jchabenfrohe Lagemann ihn ebenfalls 
beftiegen habe, ſprach ernſtlich dem Attahe in's Ge— 
wiſſen. Vetterlein waͤr derjenige, welcher dem Schreier 
zu Hülfe kroch, um zu fühlen (zu ſehen war nichts), 
was es gebe. Ihm ward aber ein übler Lohn für 
feine Dienſtgefälligket. Der Mohr packte ven Heran- 
friehenven anı Rodfragen und zog ihn mit ungeftü- 
mer Zärtlichkeit an ſich. 

Jetzt ward auch der Quartus mit Graufen inne, 
daß noch ein andres nicht aus Niederroßla abitam- 
mendes Weſen im finftern Raume ſich einherbewege. 
Wäre er nicht ein ſo aufgeklärter Mann geweſen, ſo 
würde er unfehlbar an den Teufel in Perſon geglaubt 
haben, denn die Fauſt, die ihn am Rockkragen ge— 
faßt hatte, ſchien ihn mit Klauen begabt. Er ſchüt— 
telte alfo aus Leibeskräften, um loszulommen, aber 
dem Schwarzen mochte es Spaß machen, mit ben 
Niederroßlaern fein Spiel zu treiben. Er prefte den 
Quartus mit Innigfeit an fi) wie einen Sohn und 
Inusperte ihn mit, feinen diden aufgeworfenen Lippen 
nah afrifanifcher Zärtlicyfeitsfitte über das ganze 


eſicht. 

Vetterlein ſchrie entſetzlich. Er glaubte, der un— 
ſichtbare Unhold, in welchem er jetzt gleichfalls den 
Afrikaner ahnte, wolle ihn anfreſſen. 

Ob dieſes außerordentlichen Zetermordio's ward 
Bohu ungeduldig. Er ſtellte fein Knuspern ein, nach⸗ 
dem er dem Quartus nochmals kräftig in die Naſe 
geblafen‘, welches für Vetterlein eine ſehr unangenehme 
Empfindung hervorbrachte, und warf ihn unwillig von 
ſich. Das war dem Quartus recht lieb. Er betaſtete 


12 


fh am ganzen Körper und nachdem er noch Alles 
‚beifammen fand, war er zufrieven, mit blauem Auge 
davon gekommen zu jein. J 

Zeiſig, da er vermöge ‚einer belegten Stimme 
weniger fehrie ald der Quartuß, batte noch geraume 
Zeit mit den Zärtlichfeiten Bohu's zu kämpfen. Er 
war in feinem Leben nicht jo geherzt worden wie 
jet. auf dem atlantifhen Ocean im finftern Schiife- 
raume. 

Bon den fünf Niederroflaern hatte jet jeder 
feine Noth. Hanno war nody halb krank, der Attache 
mühte fich vergebens, den Helvdenfpieler zum Geftänpniß 
zu bringen. Süßmilch kämpfte raſtlos mit der Tonne, 
die. er durchaus zum Steben zu bringen verjuchte. 
Betterlein froh ruhlos umher, fortwährend in Furcht, 
feinem afrifanifchen Liebhaber in vie Arme zu gera- 
then; und Zeifig wußte fih vor den fonderbaren Yieb- 
fojungen Bohu's nicht zu retten. Der Schwarze hatte 
ben Actuar, nicht ohne Wivderftreben von Seiten des 
Lettern, auf den Rüden gelegt und frabbelte ihn 
mit einer eigenthümlichen Geſchicklichkeit am ganzen 
Leibe von oben bis unten. In jeder andern Lage 
würde Zeifig gegen diefe Operation nichts eingewenbet 
haben, denn fie that ihm wohl, aber immer jchwebte 
er in der Angft, das feltfame Manöver fünne leicht 
mit einen Öurgeleinvrüden endigen. Sein Herz pochte 
daher jedesmal lauter, wenn die Hände Bohu's fid) 
dem Halſe näherten. 

Diefe mannichfache Trübfal der Niederroßlaer Lei= 
densgefährten follte indeß plößli durch eine neue 
allgemeine Noth verdrängt werben, gegen welche alle 
zeither überftandenen Mühfeligfeiten und Drangjale 
in gar feine Betrachtung kommen fonnten. 

Es war nämlich Zeifig, welcher, auf dem Nüden 


413 


ausgeftredt Tiegend und von Bohu ſich frottiren Taf- 
ſend, zuerjt die Bemerkung machte, daß es ihm jchiene, 
als werde der Fußboden etwas feudht. Hanno, der 
gleichfalls ausgeftredt lag, fand fi) alsbald zu der— 
jelben Bemerkung veranlaft. Lagemann, der jet um: 
herfriehend die Sache ernftlicher unterfuchte, meinte, 
es müſſe hereinregnen. 

Bald war die Aufmerkſamkeit ſämmtlicher Erb⸗ 
ſchafter auf dieſe neue und unerwartete Erſcheinung 
gerichtet. Zeiſig, der es mit dem Rücken in der Näſſe 
nicht länger auszuhalten vermochte, hatte ſich frei— 
willig den Liebkoſungen Bohu's entzogen und nahm 
ſeine frühere Stellung als Vierfüßler ein. 

Unterdeſſen wuchs das Waſſer auffällig in dem 
Schiffsraume und mit ihm die Angſt der eingefperr- 
ten Niederroßlaer. Lagemann's Hypotheſe wegen des 
Hereinregnend fand gar feinen Anklang; der Attache 
glaubte jelbit nicht daran. Es war nur zu gewiß, 
daß das Schiff bei dem fortwährennen Hin- und 
Herwerfen einen Led befommen. Der wachſende Tu- 
mult in den obern Räumen verkündete gleichfalls nichts 
Gutes, 

Wirklich befand ſich das Schiff aud in beveuten- 
ver Gefahr. Noch immer war Meer und Himmel in 
undurchdringliche Nacht gehüllt, nur momentan von den 
Bligen flammend gefpalten. Die Wellen tobten mit 
unermüdlicher Wuth gegen das Gebäu von Menfchen- 
hand, welches kaum zu wiberftehen vermochte. 

Gleich den eifrigften Matroſen arbeiteten Victor 
und Oamaliel an den Pumpen, denn bereit8 hatte 
das Schiff mehrere Lecks erhalten. Die zwei jungen 
Männer wurden plöglih nad ber Kajüte des Capi- 
tains berufen und ihre Plätze durch ein paar Boots— 
leute erſetzt. Als fie zu Sir John in’s Gemad tra= 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVII. i 


ik 


ten, jegte dieſer ſo eben feinen Fräftigen Namenszug 
unter eine Schrift, welche er aufgefett hatte. Man 
merkte dem alten Seehelven den furchtbaren Inhalt 
dieſes Schreibens im Geringften nicht an. Er hatte 
eine Said Champagner entlorkt und die Gläfer gefüllt. 

„Einen Schlud zur Stärkung,” fprad er, die 
ſchäumenden Gläfer präfentivend. „Die Gefahr ift 
darnach. Wenn der Himmel nicht Zeichen und Wun- 
ver thut, halten wir uns feine Stunde mehr. Ich 
habe daher das Schickſal des Habichts kurz zu Pa- 
pier gebracht und bitte um größrer Glaubhaftigkeit 
halber um Eure beiberfeitige Unterſchrift. Das Do: 
cument wird in einer Iuftleeren, hermetiſch verfchloffe- 
nen Flaſche aufbewahrt. Es ſoll der Bote unfers 
Untergangs an die Ueberlebenven fein.” , 

Samaliel wie Victor war nit wohl zu Muthe 
bei diefen Worten des Capitains. In blühender Ju— 
gend und Geſundheit lag das Leben nod fo rofig 
und Iodend vor ihnen, Dazu der Gedanke an bie in 
der Heimath zurücgelaffenen Lieben. Gleichwohl fiegte 
in beiden Jünglingen der moraliihe Muth und fie 
unterzeichneten mit ziemlich fichrer Hand ihre Namen. 

Als man die Kajüte verlaffen hatte, ſchien das 
Unwetter feinen höchſten Grab erreicht zu haben. Zau- 
und Segelwerf waren zerriffen und man war genöthigt, 
die Maften zu kappen. Mehrere der Bootsleute hat- 
ten, das Fruchtloje ihrer Anftrengungen einjehend, 
fih auf die Knie geworfen und erhoben im frampf- 
haften Gebet die Arme zum Himmel, wurben aber 
fogleich wieder von dem wachſamen Capitain an ihre 
Poften getrieben. 

Bictor und Gamaliel arbeiteten mit dem Muthe 
ver Berzweiflung, ven fteten Untergang vor Augen. 
Aber mit der Zeit fhwanden auch ihre Kräfte. 


445 


Woge an MWoge donnerte gegen das Schiff. Eine 

ſchien eiferfüchtig auf die andere, daß ihr die Beute 
entgehen fünne. Wilder als je heulte der Sturm durd) 
die Waſſerwüſte. Ununterbrochen rollte der Donner 
und die Blitze flammten ohn' Unterlaf. 
: Da im Augenblid der höchſten Gefahr, ale das 
Waſſer in den Räumen troß ber übermenfchlichen 
Anftrengung von Seiten der Matrofen immer höher 
ftieg und das Schiff jeden Augenblid zu finfen drohte, 
erjhien von Blitzen umleuchtet Die hohe Geftalt des 
Abdullah, an feiner Hand die ſchöne Blume Hindo- 
ftans geleitend. Raſch fehritten die Beiden nach dem 
Borbertheil des Kauffahrers. 

Wie das MWefen einer ſchönern Welt leuchtete von 
bimmliihem Feuer verflärt die edle Frauengeſtalt am 
äußerſten Ende des Schiffs. Weithin wehte ihr blen- 
dend weißer Schleier in die Nacht. Ste hatte ihre 
Arme erhoben, als wollte fie die tobenden Elemente 
beſchwören. Sämmtlihde Matroſen ftürzten auf die 
Kniee; fie glaubten an die Erfeheinung eines Geiftes 
und hielten ihre legte Stunde für gekommen. Gama- 
fiel und Bictor, welcher mit dent Erdenleben abge- 
Ihloffen, für die Fahrt in's unbekannte Jenſeits fich 
brüderlich umfchlungen hielten, fühlten ſich wunderbar 
erhoben durch bieje überirdiſche Erfeheinung. - Sie er- 
Ihien ihnen wie der frühlingsvolle Führer nad) dem 
Lande jenfeitd der Gräber. 

Da nahte fich ſchwarz und. verhängnißvoll eine 
Rieſenwelle; weißer Schnee kräuſelte voran; ſie kam 
näher und näher, ward größer und größer, jetzt 
himmelhoch; ein herzzerreißender Schrei — und Schiff 
und Mannſchaft verſanken in die Tiefe des Meeres. — 


8 * 


AM 


416 


Sechstes Kapitel. 


Einſam rauſchte der Abendwind in den hohen Pal— 
men ded Borgebirge® St. Anna auf der Weftküfte 
von Afrika, wo unfern des Strandes, am Cingange 
eines Gummiwaldes, , die Schiffbrüdhigen des Habichts 
ihre dürftigen Hütten aufgefchlagen hatten. 

Jene Niefenwelle, welche die Unglüdlichen in ih- 
rem Schooße verbarg, hatte zugleich das Gute gehabt, 
das Schiff zwiſchen Klippen zu werfen, wo es ſich 
fo Lange zu halten vermochte, bis Matrofen und Paf- 
jagiere die Nettungsboote beftiegn. in andrer 
glüdliher Stern wollte e8, daß das Kontinent von 
Afrika nicht entfernt war und den bis zum Tod er- 
Ihöpften Mannfchaften, nach beifpiellofen Anftrengun- 
gen, die Landung geftatteten. Nur zwei Menfchen- 
leben waren Beute ded empörten Elements geworben, 
ein Matrofe und ein Schiffsjunge, während fammt- 
liche Niederroßlaer, felbft der noch halbfranfe Hanno, 
fo wie Herr Abdullah nebft der fchönen Braminin 
und Tohu und Bohu, glüdli das Land erreicht 
hatten. 

Es würde vorliegende Gefchichte zu weit ausjpin- 
nen, wollte man das eben fo außerordentliche wie ge— 
jährliche Abenteuer, das die Nieverroßlaer in Gejell- 
ſchaft Bohu's bei dem eindringenden Wafler in ih— 
vem höchſt incomfortaben Schiffsraume zu beftehen 
hatten, ausführlicher bejchreiben. Nur fe viel ſei er- 
wähnt, daß bei dem Wachſen der Flüffigfeit einer 
auf den andern zu fleigen bemüht war, um dem Er— 
trinfen zu entgehen; daß Lagemann, jeve KRüdficht 
der Humanität verlegend, Alle8 in Grund und Bo- 


447 


den trat, um nur feine theure Perfon im Trodnen 
zu erhalten; wie der Kleine Betterlein bie beflagens= 
wertheite Rolle fpielte, der lange Factor aber ver- 
möge feiner langen Figur von Schickſal am Meiften 
begünftigt wurde. Bei alledem würden die guten tm 
zweiten Schiffsraume befindlihen Niederroßlaer eines 
elendiglichen Todes gejtorben fein, wenn nicht Victor 
und Gamaliel als ihre Retter erichienen wären. Bon 
den Matroſen gedachte Niemand der Eingejperrten, 
jelbjt der Capitain fchien ihrer vergeffen zu haben, 
als im höchſten Augenblide der Gefahr, wo das 
Waller in den unteren Räumen immer höher ftieg, 
Morand und Drollinger, wie von einem Gedanken 
ergriffen, nad) dem zweiten Ded hineilten, bie Fall⸗ 
thüre öffneten und eine Leiter hinabließen. 

Den Niederroßlaern ging das Waſſer bereits an 
den Nabel, Vetterlein ragte nur als Büſte aus der 
Fluth. 

Kaum hatten die Schiffbrüchigen das Land be— 
treten, als die Matroſen ſogleich Hand anlegten, eine 
Anzahl Hütten aufzubauen, wozu der in der Nähe 
gelegene Gummiwald hinlänglich Material bot. Zu 
gleicher Zeit trat eine Art Kriegsrath zuſammen, um 
über die Frage zu belibriren, was unter obwaltenden 
Umftänden zu thun fe. Das berathende Collegium 
beftand aus dem Sapitain, den Doctor Barring, dem 
Hochbootsmann und einigen der älteften und erfah- 
renften Matrofen. Aud) Abdullah und Victor wur- 
ben dazu gezogen, während Gamaliel bejchäftigt war, 
feinen Landsleuten Troſt zuzufprechen, die von allen: 
moraliihen Muthe verlaflen, in der niedergefchlagen- 
ften Stimmung in einiger Entfernung unter bem 
Schatten einiger Maulbeerbäume fich gelagert hatten. 
Selbft Lagemann jhien auf afrifanifhem Grund und 


418 


Boden gar nicht der Alte mehr. Er lag, von Gott 
und Welt nichts willen wollend, lang ausgeftredt im 
Sande und verwünfchte den Speculationsgeift, ver 
ihn nad) fernen Rändern getrieben. Der Rathsactuar 
mochte Tieber gar nichts denken, er machte die Bemer⸗ 
fung, daß er fid in einem foldhen unangeftrengten 
Zuftande am Leiplichften befinde. Der Factor und 
Betterlein, welche es in ihrer Philofophie noch nicht 
bi8 zu diefem Zeiſig'ſchen nichtventenden Höhepunft 
gebracht hatten und fid noch mit Scrupeln und Zwei— 
teln aller Art über. Gegenwart und Zukunft plagten, 
befanden fich deshalb auch weit miferabler. Die Zu— 
funft gähnte wie ein ſchwarzes Todesthor vor ihnen 
und ber Gedanfe daran entprefte ihnen mehr wie 
einen Seufzer. Hanno's Lage konnte noch für Die 
ryafjabelfte gelten. Bon ver Landluft fühlte er fid) 
als Reconvalescent wunderbar geftärft, und wenn er 
an das dachte, was er durch den Schiffbruch verlo- 
ren, fo ließ fih dieſer Berluft ertragen. Hatte er 
doch ſelbſt fein beveutenpftes Mobiliarvermögen, den 
Carbonari, gerettet, welcher ihn jet als Schattendach 
gegen den Sonnenbrand, jo wie als Schuß gegen bie 
kalte Nachtluft trefflidh zu Statten fam. Die Duca⸗ 
tenwurſt trug er beftändig um ven Leib, desgleichen 
die gerichtliche Vollmacht der verwittweten Glaſermeiſter 
Kluge zu Erhebung der Kabul'ſchen Erbſchaft. 

Die Blume Hindoftans, ſobald fie das Land be= 
treten, war auf Abdullah's Winf tief verjchleiert nad 
einem unfern gelegenen Palmenhain gebracht worden, 
wo Tohu und Bohu ſogleich bemüht waren, eine Hütte 
für fie zu erbauen. 

Dafür war fein Mangel an buntfarbigem Geflü- 
gl aller Art, deſſen eintöniges ſchrillendes Geſchrei 
mit feinem glänzendem Farbenſchmuck in vollem Wi- 


A 


449 


derſpruche fand. Ein noch weit unheimlicheres Ge: 
fühl als dieſes Vögelgefchrei erregte aber namentlich) 
bei den Nieverroßlaern das Geheul der zahlreichen 
Schakals, die fi) des Nachts ziemlich fnahe heran: 
wagten. Dieſes unheimliche Gefühl erreichte feinen 
höchſten Grad und ging in gelindes Hanrfträuben 
über, als fih im nahen Gebirg das Gebrüll eines 
Löwen vernehmen’ lieh. . 

Wenn die Nieverroßlaer, die alle zufammen eine 
und dieſelbe Hütte bewohnten, während der Nacht 
ſolche außergewöhnliche afrifanifhe Töne hörten und 
entjegt mit den Köpfen zufammen fuhren, wie bie 
Schafe beim Wetterleuchten, jo konnten fie nicht genug 
ver lieben Heimath und des gebenebeiten Nieverroßla 
gevenfen, wo Jahr aus Jahr ein nur Das fanfte Ge- 
brüll einer frommen Kuh und das friedliche Geblök 
eine? Hammeld oder das muntre Gebell eined wach— 
famen Hofhundes und im Frühling herzerquidenver 
Bogelgefang durch die Lüfte tönt. 

„Dieſes Afrika,” behauptete Lagemann, welchen 
fo eben ein Moskito auf die Nafe geftochen hatte, 
ohne daß er deſſelben hätte habhaft werden können, 
„muß der Herrgott wirklich in feinem Zorn erjchef- 
fen haben.” _ ' 

„Es ift das unerträglichite Land, das mir je vor- 
gefommen ift,“ vwerficherte der Factor, der gleichfalls 
auf der Moskitojagd begriffen und von den Stichen 
diefer beläftigenden Infectenart ganz wuthig geworben 
war; „bei „und zu Haufe moleftiren höchſtens bie 
Stechfliegen; aber ihre Stiche find wahrhaftes Zuder- 
leden gegen dieſe afritanifche Wespen, die man zum 
Ueberflug nicht einmal erhafchen kann, um feine Wuth 
auszulaſſen.“ 

„Ich habe die kleinſte Oeffnung verſtopft,“ ſprach 


420 


der Attahe, „und begreife nicht, wie die Beſtien 
hereingefommen find, e8 muß ein ganzer Schwarm 
‚fein. Das ſummt wie m einem Bienenftode.‘ 

„Ih begreife nicht, meinte Süßmilch, „wie bie 
Andern bei dieſem Gefurre fchlafen können. Ich bin 
nit im Stande, ein Auge zuzuthun.‘ 

„Ich aud nicht,” verſetzte Lagemann; „aber fie 
follen gleidy munter werben, ich fehe nicht ein, warum 
wir Zwei allein wachen.“ 

Er begann mit diefen Worten dem Helvenfpieler, 
dem Quartus und Zeifig fo determinirt auf ven Füßen 
herumzutreten, daß der Eine fluchend, die Andern 
ächzend aus dem Schlafe emporfuhren. 

„Was giebt's?“ erkundigte fi) Hanno. 

„Ein Löwe, ganz in der Nähe,“ log Lagemann, 
und bewirkte dadurch, daß Vetterlein in der Ecke, wo 
er lag, ſich wie eine Ringelraupe zuſammenrollte und 
unter ſeinen Tüffel verkroch. 

Hanno wollte des Magdeburgers Ausſage keinen 
Glauben beiſtimmen, weil außerdem die ausgeſtellten 
Wachen Lärm gemacht haben würden. 

„Ich habe das Unthier deutlich mit ſeiner Rie— 
ſennaſe an der Hüttenthür ſchnobern gehört,“ log der 
Attache weiter; „vie Wachen haben unfehlbar geſchla— 
fen oder find bereits zerriſſen.“ 

Außer Lagemann und dem Factor, weldjer des 
Magdeburgers Worten am menigften Glauben bei— 
maß, laufchte Alles mit verhaltenem Athen und 
flopfendem Herzen. Aber man vernahm von dem 
Löwen nichts; deftomehr von dem unerträglichen Ge— 
fumme der Muskito's, welchen es vermöge ihrer Sta— 
hel gelang, alsbald die Aufmerkſamkeit der Nieder: 
roßlaer von dem Wüftenkönige ab= und ihrer bei wet- 
tem Heinern Perſon zuzuwenden. 


„in 


124 


Die Geplagten litten außerordentlich; Hanno wurbe 

ganz raſend. Der Schmerz der Stihwunde ward durch 
ben Ingrimm vermehrt, dag man des Stechers nie 
habhaft werben konnte. Der Factor ohrfeigte fih in 
Einem fort, in ber Hoffnung, eine folche geflügelte 
Beitie auf dem Kopf zu treffen, aber er traf gewühn- 
lid nur feinen Baden. Zeifig hatte den Kopf bis 
tief in die Schultern eingezogen und fuchte die Mos— 
fito’8 dadurch von fih abzuhalten, daß er fortwäh- 
rend in die Luft blies, welches bei feiner eben nicht 
burabeln Bruft feine Kleinigkeit war. 

Am Meiften unter den Nieverroglaern hatte aber 
der Quartus auszuftehen. Wie bereits erwähnt, war 
biefer in den äußerſten Winfel der Hütte gefrochen 
und hatte fi) unter feinen Züffel verborgen. Leider 
aber wollte e8 das Mißgefchid, daß fid) einer Der ge— 
flügelten Duälgeifter unter dem Kalmud gefangen 
hatte, Nun hätte man allerdings glauben jollen, 
Betterlein würde ſich des böfen Teindes haben be- 
mächtigen können, aber der Fang wollte dem Quar— 
tus fchlehterdings nicht gelingen. Bergebens fuhr er 
mit der Hand zahllofe Mal nad) dem Gejurre, das 
von feinem rechten Ohr. nicht hinwegzubringen war. 

Die Sadhe kam dem Ouartus endlich jo rväthfel- 
haft vor, daß er eine Zeit lang in der Meinung 
ftand, es fünne gar fein Inſect fein, was da jurre, 
jondern der Fehler müffe in feinen Gehörorgan lie— 
gen. Er fürdtete fogar, fi im Gehirn etwas ges 
Iprengt zu haben. Diefe Furcht trat indeß bei ven 
fortwährenden Stihen, die er im Gefiht auszuhalten 
hatte, in den Hintergrund und warb ganz befeitigt, 
als das Moskito vorzugsweile die Nafe zum Angriffs- 
punkte erwählt hatte. Jetzt glaubte Betterlein, ex 
bürfe nur zulangen, und er fchnappte wie ein routi— 


122 


nirter Fliegenfänger nad dem Inſect; aber auch dies⸗ 
mal war es feine Möglichkeit, befſelben habhaft zu 
werden. Der Quartus ſah ſich —8** genöthigt, den 
Tüffel zu lüften, wodurch aber das Unglück nur ver- 
größert wurde, denn jett ſtak fein Kopf wie in einem 
Bienenfhwarm. Im diefer verzweifelten Lage erfun- 
tigte er fi) bei den übrigen Leidensgefährten, wie 
fie e8 wohl anfingen, um bes unausftehlichen Gezie— 
fer8 los zu werben. Zeiſig, welcher feinen Athem 
zum Blafen brauchte, konnte. dem Frager nicht dienen, 
jo gern er fonft gefällig war; Süßmilch, ver das 
Unzwedmäßige feiner Obrfeigen endlich) einfahb, wußte 
feinen Rath; dem Helvenfpieler war es endlich durch 
einige kühne Faltenwürfe ſeines Carbonari gelungen, 
die Moskito's auf einen Augenblick von ſich zu ver— 
ſcheuchen. Er benutzte den günſtigen Moment und 
fuhr mit der Geſchwindigkeit einer Maus unter fei- 
nen Mantel, den er ſo geſchickt zu wideln verftand, 
daß ihm fein Beißer bekommen konnte. Keine Macht 
der Erde würde ihn vermodht haben, fein Gewand 
zu lüften, um Red’ und Antwort zu ſtehen; aud) 
hatte er Vetterlein's Anfrage hinter feiner dreifachen 
Tuchwand nicht verftanden. Lagemann hatte ſich wie 
ein Ameifenlöwe mit dem Kopfe in den Sand gegra= 
ben und war vellfommen fpradhlos. 

Betterlein wiederholte feine Anfrage und erhielt 
endlid vom Factor den guten Rath, ftill zu halten 
und es mit Geduld abzuwarten, bis ſich Die Beftien 
"did und fatt gefoffen hätten. Wie wenig diefe Worte 
annehmlich klangen, fo beſchloß der Quartus dennoch 
einen Verſuch zu wagen und hielt den Kopf mit 
einer ſtoiſchen Ruhe den Moskito's hin, in der Hoff: 
nung, das Geziefer werde nach gelöſchtem Durfte wie 
Blutigel abfallen. 


123 


Aber ſolche unerfättliche Beftien waren. dem Ouar- 
tus in feiner Lebenspraris noch nicht worgefommen. 
Die Mosfito’s, welche fi jett ganz ungeftört fühl- 
ten, concentrirten fat ihre ganze Heeresmacht am 
Kopfe Betterlein’d. Diefer litt wie ein Hiob und 
zog die Grauſen erregenpften Geſichter. Als ſich aber 
der Appetit der Moskito's aud gar nicht fättigen 
wollte, konnte er's nicht länger aushalten und er be- 
gann wieder wie früher zu fchütteln und mit ben 
Armen zu fechten. 

„Das war ein verzweifelter Rath, Factor, ben 
Ihre mir gegeben,” ſprach er, „ic, werde dieſe Nacht 
mein Lebetag nicht vergeijen. Ich hab’ mid doch ums 
gejehen in der Welt, war in Pranfreih und ber 
Schweiz, aber folhe Bein Hab’ ich nie erlitten.“ 

„Ih aud nicht,” antwortete der Factor in dum— 
pfem Zone, denn er ſtak mit dem Kopfe in einer 
Art Budelmüte, die er von einem Matrojen erhan= 
delt hatte, 

„Eure Stimme jcheint mir etwas belegt,‘ erfun= 
digte ſich BVetterlein, fortwährend mit den Moskito's 
kämpfend, „Ihr ſprecht ſonſt fonorer.” 

„Ih ſpreche durch die Pudelmütze,“ tönte es aber- 
mals wie Grabeston. 

„Das iſt etwas anderes,“ meinte der Quartus, 
„gewiß wegen des afrikaniſchen Geziefers, von wel— 
chem ich derzeit noch nicht begreifen kann, zu welchem 
Zwecke es der liebe Herrgott eigentlich geſchaffen hat.“ 

„Die Wege der Vorſehung ſind dunkel,“ ſprach 
der Factor. 

„Allerdings,“ geſtand Vetterlein, „und zuweilen 
auch etwas läſtig; es iſt das nicht in Abrede zu ſtel— 
len. Fühlt Ihr denn Linderung durch die Mütze?“ 

„Es paſſirt!“ 


124 


„Wie tief ſitzt ſie denn?“ 

„Bis unter's Kinn.“ 

„Das laß ich gelten, da müßt Ihr wie im dim⸗ 
mel wohnen, Factor.“ 

„Es läßt ſich halten.‘ 

„Bedenkt mich, der ich den Ungethümen völlig 
bloß geſtellt bin; wenn ich nur auch Etwas über den 
Kopf zu ziehen hätte.“ 

Der Factor wußte hier keinen Rath und ſchwieg. 

„Run möcht' ich aber un alles in der Welt wife 
ien, fuhr Betterlein nad, einer Weile fort, „was fo 
ausdauernd ſchnaufte; das kann doch unmöglid ein 
Menſch ſein?“ 

Zeiſig nämlich blies noch immer gegen bie Mos⸗ 
kito's, aber bei weitem nicht mehr mit ſolcher Vehe— 
menz wie früher; der Athem war ihm faſt ganz aus— 
gegangen und ſein Blaſen glich mehr einem Röcheln. 

„Das klingt ja,“ fuhr Vetterlein fort, „als ob 
ein Menſch im Sterben läge. Seid Ihr's, Actuar, 
der ſo beharrlich keucht?“ 

„Leider!“ 

„Gebricht's Euch an Athem?“ 
„Allerdings!“ 
„Aber dergleichen Töne hab' ich ſonſt nicht von 

Euch vernommen?“ 

Zeiſig erklärte den Grund ſeines Keuchens, worauf 
Vetterlein ebenfalls zu blaſen anfing. 
„Es hilft nicht viel,“ meinte der Rathsactuar. 
„Das merk' ich,“ erwiederte der Quartus, welcher 
trotz alles Blaſens der Moskito's nicht los wurde. 
Noth macht erfinderiſch. Vetterlein nahm endlich 
wieder die Zuflucht zu ſeinem Tüffel, unter welchem 
er ſich diesmal mit ſo viel Geſchick verkroch, ſich der— 
maßen zuſammen ringelte und ſo vorſichtig alle Oeff— 


<< 


-425 


nungen verftopfte, daß es feinem Moskito möglid) 
war einzubringen. Obſchon feine Lage nicht zu den 
comfortabelften gehörte, fo dünkte fi ver Quartus 
dennody in Abraham's Schoof. 

Bis auf Zeifig waren jetzt alle Nieverroßlaer vor - 
den Mosfito’8 untergebracht. Der Actuar, welder 
endlich einſah, daß, wenn er fo fort blafebalkte, er. 
fi) die gefammte Lebensluft aus dem Leibe pumpe, 
ſuchte fih endlich dadurch zu helfen, daß er fein 
Antlig mit Erdmaſſen bevedte, die er aus dem Fuß— 
boden bergwerkte. Ueber die Ohren ftriegelte er fo 
viel Haare, als er von diefem Artikel aufzubringen 
vermochte. Die Hände ſchob er nah vollbradhtem 
Begräbniß feines Kopfes in bie Hofentafhen. So 
lag er auf dem Rücken ausgejtredt wie ein Halbbe- 
grabener mit dem Gefiht unter kühler Erde, und 
wenn er aud) das verdächtige Gefurre ver Moskito's 
noch deutli genug und oft ganz nahe an feinem 
Ohre vernahm, fo war er dod vor ihren Stidhen jo 
ziemlich gefichert. Zeiſig glich außer feiner Tage auch 
noch dadurch einem Todten, daß er unter feiner Exb- 
frufte ſich fo ftill wie ein Mäuschen verhielt; denn 
immer fürdhtete er, das Erdreich könne, namentlich) 
was feine incruftirte Nafe anbelange, herabfallen und 
die Moskito's einen neuen Angriffspunft erhalten; 
an ein auf die Seite Iegen war gar nicht zu geben- 
fen. Er mußte in feiner verfteinerten Lage regungs- 
108 verharren. Nichts deſtoweniger fand er feinen 
dermaligen Zuftand gegen den vorigen, wo feine Lun— 
gen wie Schmiedebälge gearbeitet hatten, wahrhaft bes 
neidenswerth. 


126 \ 


Siedentes Kapitel. 


Wahrend ſich die Geſandtſchaft der Schiffbrüchigen, 
worunter Victor und Gamaliel, unter Beſchwerden al⸗ 
ler Art durch die Wüſte nach dem Senegal und der 
daſelbſt gelegenen franzöſiſchen Factorei durchzuſchla— 
gen ſuchte, befanden ſich die Zurückgebliebenen nicht 
eben in der angenehmſten Lage. Namentlich hatten 
die Niederroßlaer mit vielen Unannehmlichkeiten zu 
kämpfen. Bald war es die unerträgliche Hitze, bald 
die Moskito's, bald Schlangen und anderes afrika⸗— 
nifches Ungeziefer, das fie beläftigte.e Um das Mif- 
geſchick vollzumachen, hatte ein tropifher Wirbelwind 
ihnen die Barade über den Köpfen hinweg entführt, 
fo daß fie plößlich unter freien Himmel faßen. 

„Das muß ich geftehen,“ meinte Lagemann, als 
alle fünf Erbichafter dicht gefhaart um ein Teuer 
lagen und ihren Hunger mit Datteln und wilden 
Melonen ftillten, „ein niederträchtigeres Land als die- 
jes Afrika ift mir weit und breit nicht vorgefommen; 
e8 fehlt nur, daß ein feuerfpeiender Berg feinen Rachen 
aufthut oder dad Meer austritt und und hinweg- 
ſchwemmt.“ 

„Weder in Frankreich noch in der Schweiz iſt mir 
Aehnliches vorgekommen,“ verſicherte der Quartus. 

Lagemann fuhr fort, ſich auf äußerſt gehäſſige Art 
über Afrika zu äußern. Er machte ſeinem Verdruſſe 
durch eine Menge Schimpfwörter Luft, und ſchien 
trotz feiner ſtarken Ausdrücke bei feinen Leidensgenoſ⸗ 
ſen Anerkennung zu finden; nur im Geſichte Hanno's 
gab ſich eine höchſt abſprechende Miene bei den Wor— 
ten des Attache’s Fund. Dieſer, der den Heldenſpie— 





427 


ler feit der Carbonarigeſchichte nicht erjehen konnte, 
ärgerte ſich Über dieſe abſprechende Miene. 

„Ihr ſcheint nicht ganz meiner Meinung zu ſein, 
Heldenſpieler?“ frug er. 

„Jedes Land hat feine Vorzüge und feine Schat— 
tenſeiten,“ erwiederte Hanno mit Philofophie. 

„Vorzüge?“ lachte Lagemann, „da möchte man 
wohl eine Laterne anzünden, um dieſe zu finden.“ 

Hanno behielt den [pöttiihen Zug um den Mund, 
welchen Lagemann nicht leiden konnte, bei. Sein 
ganzer Habitus ſchien zu fagen: „Wie fanıı der Blinde 
von der Farbe ſprechen.“ ‚ Yagemann ward dadurch 
nur aufgebrachter. 

„Nun, gelehrter Mann, “ frug er fpigig, „Io 
nennt ung doch einige Vorzüge; wir find Alle begie- 
rig.“ Betterlein, Süßmild und Zeifig drückten ſämmt— 
(id ihre gejpannte Erwartung nady ven Vorzügen 
Afrika's aus. 

„Zu viel reden macht ungeſund,“ antwortete 
Hanno geheimnißvoll und ließ ſich über Die Vorzüge 
weiter nicht aus. - Der neugierige und argmöhnifche 
Attahe warb aber jest nur um fo verſeſſener darauf. 
Der Heldenſpieler war aufgeftanden und wanderte, 
die Hände auf dem Rüden, wie in tiefe8 Simmen 
verloren, am Strande auf und ab. Lagemann fprang 
auf, eilte ihm nad and erfaßte feinen Arm. — Die 
Beiden promenicten lange im Geſpräche bin und 
wieder. 

„Hanno,“ begann der Magdeburger, „Landsmann 
und Freund, Ihr habt etwas auf dem Herzen, Euer 
edles deutſches Geſicht kann ſich nicht verftellen. Ein 
Plan durchkreuzt Euer Inneres, ich ſehe ed. Seid 
offen, in fremden Landen thut Offenheit wohl, ent- 
deckt Euh mir. Wollen wir vielleicht die. Braminin f 


128 
beftehlen? Sie muß anfehnlihen Schmud beſitzen; fie 
iſt jett oft allein, der Türke macht häufige Parthien 
in's Pand und fehrt erft ſpät zurüd. Was nützt der 
Frau der Bettel?“ 

Hanno ſchaute den Sprecher mit einem Blide an, 
groß, gebieterifch und ſtolz, welcher zu fragen fchien: 
„zu weldyer Schanbthat willit Du mid) verleiten, Elen- 
der?” aber Lagemann ließ fi dadurch nicht irre 
machen. 

„Thut doch nicht fo tugendlich, Hanno,” ſprach 
er vertraulich, „wir kennen uns ja; Ihr nehmt's von 
Altare.” 

Der Helvenfpieler wollte ob dieſer Infinnation im 
Gefühl feiner Würde aufbraufen, aber er gedachte an 
den Betrug, den er felbft an dem Magpeburger ver= 
übt und begann fid) zu mobderiren. 

„Es mag Euch diesmal hingehen,‘ ſprach er,. 
„aber hütet Euch, mid auf Ähnliche Art zu reizen. 
Wenn Jemand meine Ehre angreift, dann bin ich fein 
Menih mehr — “ | 

„Ss tft es eine andre Speculation,” fuhr ber 
Attache fort,” „vie Euch im Kopfe umhergeht. Schüt- 
tet Euren beſchwerten, forgenvollen Buſen aus, fehüt- 
tet aus, Hanno, in die Arme der Freundſchaft. Was 
wolltet Ihr mit den Vorzügen dieſes elenven Landes 
fagen? Ihr verbandet einen geheimen Sinn mit dieſer 
Rede, ih ſah's Euch an, leugnet nit. Ihr habt 
eine Entdeckung gemacht.“ 

„Allerdings,“ tönte es inhaltsſchwer. 

„Wirklich?“ rief Lagemann erfreut, „ſeht, bin ich 
nicht ein Schlaukopf, der den Leuten die Gedanken 
aus dem Geſichte lieſt?“ 

„Wenn ich mich ganz auf Eure Verſchwiegenheit 
verlaſſen könnte, Lagemann — 


4129 


„Hanno, Ihr beleidigt mich; ein Todter, ein Fiſch 
find ein Schwäter gegen mid.“ 

„Wohlen, fo vernehmt und eritaunt —“ 

Der Magdeburger fpannte feine Ohrmusfeln mit 
einer Vehemenz an, als wollte er das Gras wachſen 
hören. Da indeß der Helvenjpieler, wie das zu Zei— 
ten feine Gewohnheit war, nad ven Worten „ver= 
nehmt und erftaunt” eine große Paufe eintreten ließ, 
ward der angeftrengte Hörer ungebuldig und fagte: 
„Wenn ich aber erftaunen jol, muß ich aud) was zu 
erſtaunen haben.“ 

„Rad zuverläjjigen Nachrichten,” begann ver 
Helvenfpieler mit nachdrucksvoller aber etwas gepämpf- 
ter Stimme, „Sollen ungefähr brei Stunden von 
hier —“ 

Hier ſchien dem Sprecher wieder der Athen aus- 
gegangen zu fein, jo daß ſich Lagemann zu der Frage 
veranlaßt fand: „Nun, drei Stunden von hier, was 
it denn ba?“ 

„Da follen,“ fuhr der geheimnißvolle Berichter- 
ftatter fort, „die Goldſtücke wie Kiefelfteine umher— 
liegen.” 

Das Erfte, was Lagemann vomahn, nachdem 
er ob dieſer aufßerordentlihen Kunde Hanno’8 wieder 
etwas zu ſich felbit gekommen war, war, daß er’ fidh 
nady dem ziemlich umfangreichen Sade umſah, dem 
einzigen Mobiliarverniögen, welches er aus dem Schiff⸗ 
bruche gerettet hatte. 

„Es entſteht nun billig die Frage, ob wir eine 
Excurſion nach dem Goldlande wagen?“ fuhr ver 
Helbenfpieler fort. 

„Und ob!“ rief leivenfhaftlid der Magdeburger, ° 
von Hanno's Worten wie behert. „Aber Silentium! 
fonft fchaufelt uns die übrige Rotte ven Mammon 

Stolle, fämmtl. Schriften. XVIII. 9 


a 


4130 


vor der Nafe hinweg. Wenn ih nur wüßte, wo 
mein Reiſeſack hingerathen wäre. Ich glaube, Zeifig 
hat ſich deſſelben als Kopffiffen bemächtigt. Wart’, 
ih will Dich lehren, Did) an fremdem Eigenthume 
zu vergreifen.” 

„Freilich,“ gab Hanno nach einer Pauſe zu beven- 
fen, „die Sache ift nicht ohne alle Gefahr.“ 

„Poſſen, Gefahr,” meinte Lagemann leichtfertig, 
‚wo ſoll Gefahr herfommen ?“ 

„Löwen, Panther, Klapperſchlangen.“ 

„Allerdings,“ verſetzte der Attaché erſchrocken, 
„an dieſe Beſtien hab' ich in der erſten Rage nicht 
gedacht.“ 

„Auch ſollen ſich in der Goldprovinz nicht ſelten 
wilde Negerſtämme zeigen!“ 

„Das wäre der Teufel,“ brummte Lagemann 
nachdenklich. Furcht und Golddurſt begannen einen 
kurzen, aber entſcheidenden Kampf, in welchem letzte— 
rer die Oberhand behielt. 

„Hanno, deutſcher Jüngling, Zierde Deines Ba- 
terlantes, groß als Menſch und Künftler,” rief ver 
Magdeburger eraltirt, „wir magen e8, bie Löwen 
werden nicht gleich beifen! Man darf dieſes Bolf 
übrigens nur ftarr anfehen, jo ergreift es die Flucht. 
Bedenkt, hofinungsvoller junger Mann, daß und das 
Gold im ganzen Leben nicht wieder fo vor die Nafe 
gelegt wird.‘ 

„Das iſt wahr,“ geſtand ver Helbenjpieler, „eine 
jo günftige ‚Gelegenheit möchte fi) fo leicht nicht wie= 
ber finden.‘ 

„Kabul ift noch weit,“ fuhr der Attachs Teiden- 
ſchaftlich fort; „wer weißt, ob wir je hinfommen. Hier 
haben wir's bequemer. Alſo zugelangt, wir find ein- 
mal in Afrika.” 


431 


„Wohlen, ic bin dabei,” ſprach Hanno, „aber 
— Lagemann — redliche Theilung.“ 

„Ein Schuft, wer eine Unze veruntreut,“ ſchwur 
der Magdeburger aus Leibeskräften. 

Indeß fuhr ihm doch trotz ſeiner Aufgeregtheit 
ein höchſt nüchterner und proſaiſcher Gedanke durch 
den Kopf; nämlich wie, wenn der ſpitzbübiſche Hanno 
nur eine Falle gelegt hätte; er gedachte dabei ſeiner 
Drangſale unter dem Carbonari. 

Lagemann ward durch dieſen Gedanken dermaßen 


abgekühlt, daß er vorerſt nähere Erörterungen über 


das Ob und Wie des Goldlandes anſtellte. 

Der Heldenſpieler nannte jetzt ſeinen Gewährs— 
mann, den Matroſen Hiob, mit welchem er auf ziem— 
lich vertrautem Fuße ſtand. 

„Aber warum,“ examinirte der plötzlich ſehr zwei— 
felhaft gewordene Attaché weiter, „warum gebt denn 
Hiob nicht ſelbſt und lieſt ſich die Mütze voll ?“ 

„Laut Ordre des Capitain darf Keiner das Lager 
auf tauſend Schritte verlaſſen.“ 

„So wären wir die einzigen Glücklichen,“ frug 
Lagemann, „die von der ſchönen Gelegenheit Ge— 
brauch machen könnten?“ 

„Außer dem Türken allerdings.“ | 

Jetzt ging dem Attahe ein Licht auf. Er mußte 
nun, was deſſen einfame Landparthien zu bebeiten 
hatten. Zugleich floh ein neuer leuchtender Gedanke 
durch ſein Gehirn und zündete. 

„Rah Eurer Ausjage, Seelenfreund,” frug er, 
„wäre alſo Gold in Menge zu haben?“ 

„Hundertmal mehr, verſicherte Der Helvenfpieler, 
„als wir Beide fortzubringen im Stande find.” 

„Wohlen,“ ſchlug nun der Attaché vor, „wie 
wär's, wenn wir riftlich dächten und unfern Lands⸗ 


432 


leuten ‚auch etwas zufommen Tiefen, da am Golde 
fein Mangel if. Wir müflen fie anftadheln, vie 
Neife mitzumahen. Es ift auch wegen ber wilden 
Thiere, fünf Perfonen werden weniger angefallen, als 
zwei einfame Wanderer. Mögen ſich die Landsleute 
die Taſchen vollpaden, ſpäterhin prozeſſiren wir es 
ihnen wieder ab. Für unſere Packeſel find ſie gut.“ 

Leider aber fand die Aufforderung, welche Lage— 
mann unmittelbar darauf an die Niederroßlaer er- 
geben ließ, fih zum Abmarſche nad) dem Goldlande 
bereit zu halten, durchaus feinen Anklang. Weder 
Zeifig, noch der Factor, noch der Quartus, wie fehr 
letsterer auch dem eveln Metalle, um deſſen Erhebung 
e3 ſich handelte, zugethan war, zeigten den erforber- 
lichen Muth, tiefer in's Land einzubringen. 

- Der Magpeburger fprady wie ein Demofthenes 
von dem neuen Potofi ; aber wenn der Factor eine 
nachdenkliche Priſe nahm, ſo konnte man darauf rech= 
nen, daß ein Schütteln feines Kopfs die Folge war. 
Betterlein ertheilte unter feinen Kalmud hervor, den 
er als Zelt gegen die Sonne nidht ohne Kunft auf- 
geichlagen hatte, gleichfall® eine verneinende Refolution 
und Zeifig konnte ſich nicht genug über die Tollfühn- 
heit feines Attahe und des Heldenſpielers entjegen, 
welche in die Wildniß eindringen wollten, wo feiner 
Meinung nad) vor Löwen, Salamandern und Draden 
fein Apfel zur Erde konnte. 

„Bedenkt, Bürger Niederroßla's,“ fuhr Lagemann 

haranguirend fort, „was Ihr Euch ſelbſt, was Ihr 
Eurer Vaterſtadt, Eurem Ruhme ſchuldig ſeid.“ 

„Das Denken fällt uns ſchwer,“ erwiederte der 
Factor ziemlich kurz und ungehalten, um die unfrucht- 
bare Debatte abzubrecheu. | 


433 


Der Magbeburger ließ ſich durch diefe abfprechenve 


Bemerkung keineswegs aus dem Concepte bringen. 

„Niemand,“ ſprach er, „wird es dereinſt in Eu⸗ 
ropa glauben, daß Ihr nicht einmal die Hand aus— 
geſtreckkt habt nach den Goldſtücken; die europäische 
jugendliche Gaſſenbevöllerung wird mit Fingern auf 
Euch zeigen ob foldher unerhörten Feigheit.“ 

„Aber wenn wir gefreilen werden,” Tieß fich bie 
dünne Stimme Betterlein’8 vernehmen, „wie dann, 
lieber Herr Lageniann?“ 

„Einfalt! Wer fol Euch freffen ; die hieſigen Lö— 
wen find gar nicht fo biljig, als man uns in Europa 
vorgefabelt hat; man braucht fie nur ftarr anzufehen, 
jo nehmen fie den Schwanz zwifchen die Beine und er= 
greifen die Flucht, als würden fie vom Teufel gejagt.” 

Die nachdenkliche Prife, welche ſich der Factor 
bei diefen Worten nahm, zeigte deutlich, daß er in 
biefe angebliche Löwenfurcht einigen Zweifel ſetze. 

„Sagt jeden Matroſen,“ fuhr ver beredte At- 
taché fort, „für Die giebt's feinen größern Spaß, als 
jolh’ einen Langſchwanz in die Wüfte zu treiben.” 

Troz dem aber, daß fih Lagemann alle Mühe 
: gab und feine ganze Kevefunft aufbot, Tonnten fi) bie 
drei Niederroßlaer für den kühnen Zug in's Golb- 
land nicht entſchließen. Der Magbeburger warb enb= 
(id) aufgebracht und anzüglid. 

„Wie?“ rief er, „Ihr wollt nad Kabul, das 
noch viertaufend Meilen von hier entfernt ift und 
wagt nicht einmal eine Heine Tandparthie won wenigen 
Etunden zu unternehmen ? Wift Ihr nit, daß die 
afiatiichen Löwen und Schlangen zehnmal größer, ftär= 
fer und blutgieriger iind, als die hiefigen —“ 

Hier ſah der Duartus den Factor fragend an. 

„Ihr wolt mit geringem Muthe eine jo große 


f 


43% 


Reife unternehmen, deren Mühfeligfeiten, Drangjale 
und Gefahren gar nicht abzufehen find; und warum ? 
Ein paar lumpiger Ducaten willen, währen die Gold— 
Humpen, woraus befanntlih die Ducaten gemacht 
werden, wenig Schritte von hier aufzulefen find und 
zwar am Werthe zehnmal mehr, als die ganze Hin= 
terlaffenihaft de8 Hofmalers beträgt. Ein einziger 
Gang nad dem Goldlande, dem wir nie wieber fo 
nahe fommen, als gegenwärtig, und wir können ung 
die ganze langwierige Kabulfahrt erjparen, von der 
überhaupt zu befürchten ſteht, daß wir von ihr nicht 
lebendig wiederfehren. Ein glüdliches Geſchick wollte 
e8, daß wir gerade an bdiefer Goldküſte Schiffbruch 
litten; laſſet uns nicht undankbar fein gegen einen 
jo guten Genius, der uns hierherführte. Wie leicht 
fönnte er ungehalten werden ob unfrer Hartnädigfeit 
und unfrer jpätern Fahrt Widerwärtigfeiten aller Art 
in den Weg legen. Bedenkt, daß menn wir das dar— 
gebotene Glück ergreifen, wir in Kurzem wieder als 
reiche Leute unjern glorreihen Einzug in Niederrofla 
halten können, ohne die halsbrechende Reife nad) Ka— 
bul unternommen zu haben.” 

Es war nicht zu leugnen, daß diefe letztere Rede 
des Attaché's einen weit größern Cindrud auf bie 
drei zuhorchenden Niederroßlaer hervorbrachte, als die 
frühere Namentlich fang die Ausſicht, bald nad 
dem gejegneten Niederroßla heimziehen zu können, und 
zwar als wohlhabende und begüterte Leute, ausneh— 
mend Tieblicd in den Ohren Zeifig’s, Vetterlein’8 und 
jelbft des Factors. Lagemann, ver fogleih einſah, 
welcher Theil feiner Rede ſich des abfonverlihen Wohl- 
gefallens der Landsleute zu erfreuen hatte, ermangelte 
nicht, ſich eines Weitern darüber zu exrpectoriren. 

„Bedenkt,“ fuhr er mit leuchtenven Bliden fort, 


435 


„bevenkt, Freunde und Mitbürger, wir fchreiben jet 
Dctober,; wenn Wind und Wetter günftig find, Fün= 
nen wir bereit zur heiligen Weihnachtszeit unfern 
gefegneten Einzug in der Vaterſtadt halten, wie die 
heiligen drei Könige, von Jung und Alt hod) gefeiert. 
Bedenkt, was wir erlebt, was wir gefehen und ge= 
hört, welche Abenteuer und Drangfale und Gefahren 
wir bejtanden. Was vermögen wir Alles: zu erzüh- 
Ien in den langen Winterabenden, wenn die Lofja zu 
Stein gefroren, der Himmel von Schneewolfen um- 
bunfelt ift, ver Nordfturm an Giebeln und wohlver- 
wahrten Fenſtern rüttelt und wir wieder in ben ge- 
müthreichen, ofenerwärmten Stuben Niederroßla's in 
dem Schooße unſerer refpectiven Familien fiten, rings 
umher die gefpannte Nachbarſchaft, aufgepflanzt wie 
Delgöten, mit offenen Mäulern und Naſen.“ 

Diefe idylliſche Schilderung that wahrhafte Wun- . 
der auf die zuhorchenden Nieverroßlaer. Das Heim- 
meh kehrte zurüd mit feinem wollüftigen Schmerze. 
Detterlein ftrich fi mit einem Zipfel des Kalmucks 
über die feuchten Augen; der Factor ſeufzte, drehte 
den Kopf auf fonverbare Weife und nahm fich eine 
Deiperationsprife. Der weiche Zeifig ftrebte verge- 
bens, feiner Wehmuth äufßernden Gefichtsmusfeln 
Herr zu werden, fie zogen ſich breit und breiter, bis 
der Bod dazu kam, welcher ihn direct in den Rüden 
ftieß, daß jein funftes Gemüth überfloß vor Wehmuth 
und Schludyzen. 

Lagemann überfchaute nicht ohne ftillen Triumph 
den Gemüthszuſtand feiner Landsleute, er warf einen 
Siegerblid auf Hanno, welder in feinen Carbonari 
gehüllt, als ftummer Zufhauer die Rührſcene anjah. 

Selbft Zeifig ſchien, troß dem, daß er den menig- 
ften Muth beſaß, durch Lagemann's Idylle für die 


136 


Goldfahrt gewonnen, wenn ihm nit ein Gedanke 
ſchwer auf's Herz gefallen wäre. 

„Aber,“ rief er mit gefalteten Händen und thrä= 
nenfeuchten Blicken, „was ſoll aus befagtem Krokodill 
werden für einen hochweiſen Rath?“ 

„Mag das Beeſt bleiben, wo es iſt,“ erklärte der 
Magdeburger kurz; „wir laſſen beim nächſten Yuftiz= 
amte den Schiffbruch protokolliren, auf dem Bauche 
können wir nicht nach Kabul ſchwimmen. Der Rath 
mag ein anderes Membrum aus ſeiner Mitte ſchicken. 
Ihr habt das Eure gethan, Actuar, und ich das 
meine.“ 

Der Heldenſpieler, welchem dieſe Worte aus La— 
gemann's Munde gar nicht unangenehm klangen, 
ſtimmte aus voller Ueberzeugung bei. 

„Es unterliegt feinen Zweifel,“ pflichtete ex bei, 
„daß jo ein totaler Schiffbruch, wie wir erlitten, alle 
europäifche Verträge ungültig macht.“ 

Zeifig ſchien einigermaßen beruhigt; er würde fidy 
jelbft der Expedition nad) dem Goldlande angejchlof- 
jen haben, hätte nicht der Factor zu höchſt ungele= 
gener Zeit die Thiere der Wildniß in Erinnerung 
gebradht. 

„Wir find hier am Meeresftrande kaum ficher vor 
den Zähnen hungriger Beſtien,“ ſprach er, „wie mag 
e8 erſt tiefer im Lande hergeben.“ 

„Hinein in ven Wald find wir bald,“ bemerkte 
jest auch Betterlein, „aber das Hinaus fteht auf 
einem andern Blatte.““ 

Der Magdeburger war es endlich überbrüffig, fich 
wegen feiner muthlojen Landsleute die Lunge wund 
zu reden. Er ſchoß den legten Pfeil auf das furdt- 
jame Heer und war diesmal jo glüdlih, die Scheibe 
zu treffen. 


gr 


437 


„Wohlan,“ ſprach er, „thut was Euch beliebt; ich 
werde mich mit Herrn Hanno allein auf den Weg 
machen. Wir ſacken fo viel Gold ein, als wir be= 
bürfen, um unfere übrige Lebenszeit in Niederroßla 
herrlich und in Freuden zu leben, und fahren mit 
erfter Retourgelegenheit nad Europa zurück. Ihr 
mögt dann fehen, wie Ihr lebendig nach Kabul ge- 
langt. Uns ift e8 eimerlei. Nicht wahr, Hanno?“ 

„Allerdings, geftand vdiefer zu, „uns bleibt in 
der Welt nichts übrig, Was follen wir in Kabul, 
wenn wir hier ohne Erbſchaft das Geld in Haufen 
vorfinden? Die Olafermeifterin mag fehen, wie fie 
zu ihren paar lumpigen Ducaten kommt; ich fahre mit 
Lagemann zurüd.” 

Diefe beiderfeitige Erklärung brachte einen höchſt 
niederſchlagenden Eindrud auf die übrigen drei Nies 
verroßlaer hervor. Namentlich gerieth der Actuar in 
äußerſte Beſorgniß, daß ihn fein Attahe verlaffen 
wollte. In feinen Innern kämpfte e8 gewaltfanı. 
Heimmeh und Löwenfurcht rangen mit einander. Enb- 
lich fiegte die Verzweiflung. 

„Ih gehe mit in's Goldland,“ erflärte ev mit 
vieler Refiguation. 

„Brav, Actuar,“ lobte Lagemann, „baran erfenne 
ich den würdigen Repräſentanten eines hochweiſen 
Raths von Niederroßla.“ 

„Ich gehe auch mit,“ ſtimmte reſolut der Quar— 
tus bei, welcher durch Zeiſig's heroiſches Beiſpiel 
Muth bekam. 

„Wenn's dann nicht anders fein fann, meinte 
ber Factor, eine wahre Defperationsprife in die Naſe 
befördernd, „ſo ſei's; unter Wölfen findet ſich ſelbſt 
der Vernunftbegabtefte zum Heulen genöthigt. An 
Warnung meinerſeits hat's nicht gefehlt; wenn wir 


133 


verjchlungen werden mit Haut und Haar, wach’ ich 
meine Hände.“ 

„Pollen, Factor,“ ermuthigte der Attaché, „ſeid 
fein Hypochonder, wer foll Euch verſchlingen?“ 

„Kun wer anders, ald die Töwen, Panther, Klap- 
perſchlangen, Zibethlagen und wie die Naturgejchichte 
weiter bejagt.‘ 

„Ah, lachte Lagemann, „wißt Ihr denn nicht, 
daß die Löwen einen gar fcharfen Bid haben und 
fid) den Braten herausſuchen, jo fie die Wahl haben? 
Wenn es ja zum Freſſen kommen follte, wäret Ihr 
der Letzte, der verjpeijt würde. Ihr ſeid der Längite 
und Dürrfte, habt nicht zwölf Pfund Flifh am 
Leibe; ich glaube, daß Eudy ein Löwe höchſtens be— 
riecht und fopffchüttelnd weiter geht.. Er müßte denn 
beifpiellofen Hunger haben.‘ 

Süßmilch dankte zum erften Male in feinem Le— 
ben dem Himmel für jeine wirklich unbejchreibliche 
Magerkeit. 

„Da wär mir eher für den Duartus bange,“ 
fuhr Yagemann, welder auf Vetterlein's Koften dem 
Factor Muth einjprehen wollte, fort, „ſein kleiner 
gedrungener Körper ſticht weit appetitliher in Die 
Augen. Er ift, fo zu fagen, ein vecht in die Augen 
jtechender Biſſen.“ 

Dem Duartus fiel bei diefen Worten das Herz 
vor die Füße. Er war fohon im Begriff, feine Zu: . 
jage wegen der Theiluahme an ver Expedition in’s 
Goldland zurüdzunehmen, als ihn der Attaché wieder 
zu beruhigen wußte. 

„Wir nehmen Eud in die Mitte,‘ tröftete er, 
„leid deshalb ohne Furcht. Weberhaupt begreife ich 
nicht, was man fi in joldhen Grave über Gefahren 
abängitet, Die nody gar nicht da find. Vor einer Ge— 


4,39 


» 
jelichaft haben die Beftien in der Regel Reſpect, 
namentlih wenn ein lautes fröhliches Lied angeftimmt 
wird.” 

Der Helvenfpieler räufperte fit) und fang mit 
‚einem grandioſen Bierbaffe: 

„Hier im ird'ſchen Jammerthal 
Gab's no nichts als Plack und Dual —“ 
u. |. w. 

„Sehr brav,“ lobte Lagemann, „Eure Stimme, 
Hanno, ift allein hinreichend, alle Beitien Afrika's in 
Reſpect zu halten. Wenn wir alfo in Gefahr fom- 
men follten, fingen wir ein luftig Lied und Hanno 
mag als Vorſänger fungiren. 

Die Niederroßlaer trafen jest alle Anftalten zu 
der bevorftehenden Expedition. Hauptfählid war man 
um Säde und Beutel bemüht, damit man die goldne 
Beute transportiven könne. Hanno erweiterte ver- 
mittelft Nadel und Zwirn troß dem geſchickteſten 
Schneider die Seitentafche feines Carbonari's zu einem 
wahren Wallfiſchbauche. Er hatte Raum genug, um 
ein paar Centner Gold hineinzufteden. Lagemann, 
noch unerſättlicher, betrachtete feinen Scheffelfad mit 


wahren Liebesblicken. Diefer Sad war ihm jet nicht, 


um einen Königsmantel feil. Er ſah es für einen 
abfonderlihen Wink des Schickſals an, daß er aus 
dem Schiffbruche gerade dieſen, für feine dernaligen 
Umftände jo hochwichtigen Gegenftand gerettet hatte. 
Betterlein unterfuchte die geräumigen Taſchenſchlünde 
ſeines Kalmucks, welche er mit großer Gemiffenhaf- 
tigfeit Ieerte und die diverſen Nähte infpicirte, damit 
durch die Goldlaſt feine Trennung entftehe. | 
Wie groß ift doch die Allgewalt des Goldes; der 
Factor leerte fogar feinen größten Schatz, den leder— 
nen Beutel, in welchem fid) ver Vorrath feines Le— 


450 


bensbalfams, der Edynupftabad, befand. Als der Ha— 
bicht dem Sinfen nahe war, hatte Süßmilch, wie 
jener alte Hufar nach feiner Pfeife, zuerſt nad fei= 
nem Tabacksbeutel gegriffen und denjelben vom Unter= 
gange gerettet. 

Als ver Befcheivenfte unter den Nieverroßlaern 
mußte Zeifig betrachtet werden. Er war der Einzige, 
welcher feine weitere Vorbereitung zur Reife in's 
Goldland traf. Auf Befragen, wo er das Gold ber- 
gen wolle, erklärte er, daß er für feine Perfon nur 
Wenig, brauche und diefes füglich in feiner Sackmütze 
Raum finde Erſt auf Lagemann's bringendes An⸗ 
rathen ftedte er noch ein blaufattunenes Reſerveta⸗— 
ſchentuch zu fih, um daſſelbe nöthigenfall® mit Gold— 
ftüden zu füllen. 

Dem Gapitain, meldier das Obercommando wie 
auf dem Schiffe fortführte, erflärte Lagemann im 
Namen des Erpevitionsheeres, daß man eine Land⸗ 
parthie vorhabe, um fih Afrika ein Wenig näher zu 
betrachten, man ſei doch einmal da und habe Muſe. 
Es würde fonft gar zu feltfam klingen, wenn man 
bereinft in Europa erzählen müfje, zwar in Afrika 
gewefen zu fein, aber nur ein Stück Meeresitrand 
von dem großen Lande gejehen zu haben. 

Sir John rieth von der Parthie ab. Wenn auch 
weniger die wilden Thiere zu fürchten wären, meinte 
er, fo fünne man doch leicht diefem oder jenem ber 
umherſchweifenden Negerftämme in die Hände gera= 
then und in die Gefahr kommen, als Sclave verkauft 
zu werben. 

Lagemann, welcher in des Capitains mwohlgemein- 
tem Rathe nur die Abfiht zu entveden glaubte, bie 
Niederroßlaer vom Goldlande abzuhalten, erwieberte, 


N 


Au 


daß man mur mit der größten Vorfiht umd keine 
halbe Stunde weit vorzubringen gedächte. 

„sh wil Euch wenigftend ein paar erfahrene 
Matrofen mitgeben, fuhr Sir John fort, „damit Ihr 
nicht ganz ohne Schu ſeid.“ 

Auch für dieſes Anerbieten dankte der Attache 
böflichft, weil er fürdhtete, die Matrofen könnten die 
Goldfahrt vem Kapitain verrathen und diefer wiederum 
fünnte den Niederroßlaern die Beute abnehmen. 

Der Aufbrud) wurde auf den nächſten Morgen 
feftgejegt, und in der That trat zur bejtimmten 
Stunde das Erbheer jeine Wallfahrt nah dem In— 
nern von Afrika an. 

Es währte nicht lange, al8 man im Schatten bes 
unfern vom Meeresitrande gelegenen Gummiwaldes 
muthig dahinſchritt. Man hatte fi zuvor durch ein 
tüchtiges Frühftüd, wobei auch Dem geretteten Cognac— 
fäßchen nicht wenig war zugejprochen worden, für das 
bevorftehende Wagftüd nad) dem Goldlande wirbig 
vorbereitet. Voran wandelte Hanno, malerifh in ven 
Carbonari wie in eine Toga gewidelt, als tete bes 
Niederroßla ſchen Armeecorps. Mit der einen Hand 
hielt er den Carbonari, in der andern führte er einen 
gewaltigen Bambus, Hinlänglich ftarf, um der ange- 
febenften Schlange einen urkräftigen Hieb zu ver- 
fegen und ihr Hören und Sehen, Stechen und Beißen 
auf Lange Zeit zu verleiven. Gegen vierbeinige Un— 
geheuer hoffte man durch Geſang froher Lieder und 
Ihlimmften Falls durch die Augenſprache auszukommen. 

Dem SHelvenfpieler folgte die Hauptmacht drei 
Mann hoch, Süßmilch, Zeiſig und der Quartus in 
den Mitte Arm in Arm marfchirend. 

Den Nachtrapp repräfentirte Lagemann, welcher 
zugleich das Commando des gejammten Zugs über- 


g" 


42 


nemmen hatte. Als Zeichen feiner Würde führte er 
emen halten Cavalleriefäbel, ven er von einem Ma— 
trofen eigens erhandelt hatte und welchen er bei jeder 
wichtigen Gelegenheit, namentlid beim Ausmarſch aus 
dem Lager befehlshaberiſch ſchwang. Es war, nebit 
dem Bambus des Heldenſpielers, die einzige Waffe, 
welche das Erbheer bei ſich führte. 

Eo lange ver Cognac feine Wirkung that, bie 
Herzen ſtark hielt und die Füße belebte, und fo lange 
der kühlige Schatten der freunvlihen Gummibäume 
aushielt, ging die Sache charmant und das Expedi- 
tionsheer hätte fih nimmer träumen laflen, daß ein 
afrifanifher Wald einen jo angenehmen Morgenfpa- 
ziergang gewähren fünne. 

Was aber den Nieverroßlaern das Beſte dunkte, 
war, daß fie weder von einer Schlange, nody einem 
Löwen over fonft einem Ungethüm behelligt wurden. 
Nur fremdartiges Geflügel flatterte und Freifchte bier 
und da in den Zweigen. 

Unter fo angenehmen Verhältniſſen ftieg der Muth 
des Expeditionsheeres wahrhaft. Selbſt das Trium- 
virat des Mitteltreffens jchritt mit vieler Yuverficht. 
Man überlegte bereits, wie man das afrikaniſche Gold 
am Beſten anlegen follte, ob in preußifchen Staats- 
ſchuldſcheinen, oder öſterreichiſchen Metalliques, oder 
polniſchen Pfandbriefen, oder in Eiſenbahn-, Maſchi— 
nenbau-, Steinkohlen-, Baieriſchen Bier- oder Chem- 
nitzer Bobinetactien, als Lagemann von Neuem den 
halben Säbel ſchwang und ein energiſches Halt com— 
mandirte. 

Ein pompöſer Himbeerftrauch, dergeſtalt mit Früch— 
ten überſäet, daß davon das Bundescontingent eines 
deutſchen FürftenthHums hätte fatt werden können, war 
ber Grund zu Lagemann’8 energifchem Halt, Der 


u 





143 


Co mmandant zeigte mit dem Säbelfragment nad) dem 
Strauche und motivirte feinen Befehl durch die Worte: 
daß der Soldat nicht immer marjchiren könne und von 
Zeit zu Zeit Halt machen und etwas genießen milffe, 
um fih für die noch bevorjtehenden Strapazen zu 
ftärfen. 

Die Hauptmacht, der Gros ter Arınee, melcher in 
der Mitte marjchirte, fand die Anficht und den Aus— 
ſpruch ihres Commandanten ebenſo weife als beher- 
zigenswerth. Da der Factor wie Vetterlein und Zeiſig 
bereits in Niederroßla leidenſchaftliche (unbeſtritten das 
einzige „Leidenſchaftliche“, was an dem Actuar anzu= 
treffen) Himbeereffer waren, fo "fingen fie fofort 'an 
zu eſſen, ohne das erforderliche militäriſche Commando 
abzuwarten, welcher Suborvinationgfehler von Seiten 
bes General en chef einer milden Rüge nicht entge- 
hen fonnte. 

Die Niederroßlaer konnten ſich in ihrem Leben 
nie eines Falles erinnern, wo ihnen die Himbeeren 
jo bequem gehangen hätten, al8 hier in dem afrifa- 
niſchen Urwalde. Sie brauchten fih nicht zu büden 
wie in Europa, felbft der lange Factor nicht, oder 
bie Hände zu Hülfe zu nehmen, fondern hatten nur 
den Mund aufzumachen und brauchten nur zu beißen, 
jo unbejchreiblich bequem baumelten vie dunfelrothen, 
fehweren, traubenartigen Beeren direct vor den Nafen. 

Der Magdeburger, nachdem er als vorfichtiger 
Feldherr überall umhergeſchaut, ob ſich nicht irgend— 
wo ein Feind blicken laſſe, ſteckte ſeinen Säbeltorſo 
in ein für dieſen Behuf erweitertes Knopfloch ſeines 
engliſchen Fracks und ſchloß ſich, da nirgends ein An— 
griff zu befürchten ſtand, feinem ſchmauſenden Heer— 
haufen an; während Hanno ſich in ſtrategiſchen Com— 
binationen vertiefte. Ihm war der ebenſo ſchwierige 


144 


wie ehrenvolle Auftrag geworden, den rechten Weg 
durch den Wald nach dem erſehnten Goldlande aus— 
findig zu machen. Er mußte alſo den Kopf auf dem 
rechten Flecke behalten und durfte deshalb den Ma— 
gen nicht über Gebühr überladen. Die Mittheilungen 
Hiob's über das afrikaniſche Potoſi ſchwankten etwas 
in's Ungewiſſe. Er hatte nur ſo viel mit Beſtimmt— 
heit erfahren, daß das Goldland keine zwei Stunden 
ſüdwärts vom Meeresufer ſeinen Anfang nehme. Auf 
weitere Angabe der betreffenden Lokalitaͤten hatte ſich 
Hiob nicht eingelaffen, und man fann daraus ermei= 
fen, daß dem Helvenfpieler jest Allee daran Liegen 
mußte, in der Himmelögegend nicht confus zu werben. 

Daher ftand er, wie gejagt, in mathematifchen 
Berehnungen und Himmelsbeobachtungen vertieft, ein 
zweiter Newton, ein paar Schritte abwärts. Weber 
das Mitteltreffen der Himbeereffer, noch felbft ver 
gleichfalls fpeifende General en chef wagten e8, ben 
großen Strategen, von deſſen geſchickter Leitung ver 
glüdlihe Ausgang des ganzen Unternehmens abhing, 
in feinem Calcül zu ftören. 

Es herrſchte daher im ganzen Heere eine beveut- 
fame Stille, die plöglid) auf eine höchſt überraſchende 
Weiſe unterbrochen werden ſollte. Dem einfamen Den 
fer und Strategen im Garbonart flog nämlich mit 
einen Male eine fauftgreße Wallnuß jo determinirt 
an den Kopf, daß die antique Geftalt troß des male- 
riſchen Faltenwurfes des weitichmeifigen Mantels das 
Gleichgewicht verlor, in's Schmanfen gerieth und 
etwas reſoluter als der „sterbende echter” in's weiche 
Moos zu Tiegen fam. Ein nichtswürdiges, ohrenzerrei- 
Bendes Gelächter begleitete den Fall des Mathematikus, 

Das effende Heer, deſſen Front zeither dem gaft: 
lichen coloffalen Himbeerftrauche zugewendet war, fuhr 


145 


wie vom DBlig getroffen zufammen und fohaute fi - 
erſchrocken und zitternd gegenfeitig an, während das 
wivernatürliche Gelächter, das gar fein Ende nehmen 
wollte, ihm die Haare ferzengerade zu Berge trieb. 
Der Oberbefehlshaber, welcher gleihfalls erſchrocken 
war, bebielt wenigftens jo viel Contenance, daß er 
wiederholt convulſiviſch nach feinem Schwerthefte am 
Knopfloche tappte. 

Nichts bringt im menſchlichen Einbildungsvermö- 
gen einen peinlichern Eindruck hervor, als cin Feind, 
von dem man angegriffen wird und den man nicht 
ſieht. Es iſt dann nicht anders, als habe man e8 
mit Geiftern zw thun, mit denen befanntlich fein gut 
Kirſcheneſſen ift. 

Die Nieverroßlaer befanden fid) in derſelben Lage. 
Sie glaubten ſich von irgend einem unfichtbaren Wald— 
geifte attafırt, namentlich konnte nad) ihrer Anficht 
das unmenfchliche, haarfträubende Gelächter nicht aus 
einer irdiſchen Kehle hervorgehen. Niemand entvedte 
den vermogenen Schügen, welcher den Mathematikus 
zu Boden geftredt; auch war Died nicht gut möglich, 
denn das Mitteltreffen, nachdem feine Front gegen 
den Himbeerftraud etwas erfchüttert war, ftellte, ben 
Feldmarſchall nicht ausgenommen, feine Nachforſchun⸗ 
gen an, fondern blidte ſich gegenfeilig ftarr einander 
in's Gefiht. Sonach ward den auf dem NRüden im 
weichen Mooſe liegenden Helvenfpieler zuerft das Glück 
zu Theil, feines lachluftigen Feinftes anfichtig zu wer: 
den. Diefer war Niemand anders, als ein zwei Fuß 
großer, langgefhwänzter, im Geſicht blau und voth 
tätomieter Drang = Utang, welder, den Schwanz 
funftreih um eimen Aft gefchlungen, halb in ver 
Schmebe hin und wieder jchaufelte und vermahrlofte 
Gefihter ſchnitt. Unfehlbar fchien ihm fein Wurf, 


Stolle, fümmtl. Schriften. XVIII. 


146 


wodurch die Carbonarigeſtalt ſammt dem Bambus zu 
Boden geſtreckt worden, viel Vergnügen zu machen. 

Der Mathematikus fand es endlich zweckmäßiger, 
ſeine ausgeſtreckte Lage zu verändern und ſich wieder 
auf zwei Beine zu ſtellen. Er unterſuchte ſeinen Kopf, 
wo zwar kein Loch ausfindig zu machen war, aber 
eine ziemliche Beule. Diefe etwas ſchmerzhafte Er- 
höhung ſtimmte den Inhaber keineswegs freundlich 
gegen das feixende Zerrbild der Menſchengeſtalt, wel⸗ 
ches mit dem Schweif am Baume hing. Hanno zog 
feine Stirn in grauſe Falten, ſchimpfte aus Leibes- 
träften und drohte mit vem Bambus. 

ALS Lagemann aus Hanno's unehrerbietigem Schim⸗ 
pfen die Yolgerung zog, daß es mit dem Feinde nicht 
weit her fein könne, zog er ben halben Cavalleriefä- 
bel vollends aus bem Knopflohe und ftellte weitere 
Nachforfhungen an. Da er ſah, wie der Mathema- 
tikus muthig und drohend den Bambus fchwang, hielt 
er den unfichtbaren Feind bereit8 auf dem Nüdzuge 
begriffen und glaubte es feiner Stellung als Ober- 
befehlshaber ſchuldig zu fein, jofort zu einem Angriff 
aufzumuntern. 

„En avant,“ commandirte er, „wir bürfen ben 
Hanno nicht im Stiche laffen, folgt mir insgefammt 
und wär’! zum Tode.“ 

Wie aber das Mitteltreffen vom Tode hörte, ver- 
fpürte es nicht die geringfte Neigung zur Nachfolge. 
Es verharrte mit feltener Beharrlichkeit auf feinem 
Plate und ſah ſich wie vorher gegenfeitig einander 
in's Geſicht. 

Der Attaché hatte endlich durch vorſichtiges Avan— 
cement ſeine Vereinigung mit dem Heldenſpieler be— 
werkſtelligt. Auch er war jetzt des Feindes anſichtig 
geworden. Sein Muth wuchs erſtaunlich, da er nur 


N 


AkT 


einen Affen und zwar von höchſt mittelmäßiger Sta- 
tur erblidte. Er begriff gar nicht, wie dieſer Knirps 
einen ‚Angriff hatte wagen fünnen, fühlte ſich in jeiner 
Würde als Oberfeloberr ordentlich gefränft und er- 
muthigte den Mathematifus zum muthigen VBorwärts- 
bringen. 

„Mit dieſem Pavian,” ſprach er verächtlich, „wer- 
den wir wenig Umftände machen; Hanno, leiht mir 
einmal Euern Bambus.‘ 

„Ih trenne mich nicht gern von meiner Waffe,“ 
zögerte diefer, „man kann nicht willen, welcher neue, 
unerwartete Angriff —“ 

„Seid fein Thor, lachte der unternehmenvde La— 
gemann, „nur zwei Minuten, damit id) dieſes nichts— 
würdige Blaumaul ob feiner Verwegenheit abſtrafe.“ 

Er nahm mit diefen Worten dem Strategen den 
Bambus aus der Hand und drang fühn gegen den 
Langfhwanz vor. Diefer wartete indeß die Ankunft 
des Magdeburgers nicht ab, widelte fih vom Aſte 
los und flüchtete mit Gepraſſel auf den Himbeer- 
ftraud, an deſſen Seiten die Triumvirn noch wie an= 
genagelt ftanden. 

Während aber der Attahe ob der Flucht des 
Gegners ein Siegesgeſchrei erhob, warb das Kleeblatt 
buch das Gepraſſel in nächſter Nähe und durch vie 
unerwartete Ankunft des Affen total auseinanderge- 
Iprengt. Der Factor war bemüht, in weitausgreifen- 
den Schritten die beiven Heerführer zu erreichen, warb 
aber durch Betterlein, welcher in ber Angſt wie ein 
hun griger -Rarpfen nad feinen zwei Rodihößen 
Ihnappte, feitgehalten. In feiner Defperation fhleifte 
ber Factor den Quartus wie Achill den Hector hinter 
fih ber und langte endlich, aus Leibeskräften Teu- 
hend, bei Hanno. und Lagemann an. Dr erſt fiel 

l 


4148 


Betterlein ab und kam wieder auf feine zwei Yüße 
zu ftehen. 

Nachdem ſich der Factor ebenfalls überzeugt hatte, 
daß der ganze Schred nur von einem mäßigen, etwas 
langgeſchwänzten Affen herrühre, jo befam er bie 
Sprache wieder und benutte Diefe vor allen Dingen 
dazu, feine unbedingte Mißbilligung gegen Betterlein’s 
Einbeißerei auszuſprechen. 

Der Magdeburger war durch ſeinen Sieg gegen 
den Pavian ſo unternehmungsluſtig geworden, daß 
er nicht übel Luſt hatte, die Verfolgung fortzuſetzen. 
Indeß ward er von Hanno unter dem Vorgeben da— 
von zurückgehalten, daß das Expeditionsheer vor Al- 
lem darauf bedacht fein müfle, das Goldland zur 
rechten Zeit zu erreihen. Man jei noch ziemlich weit 
entfernt und man dürfe fih durch Nebendinge nicht 
von der Hauptjache ableiten Laffen. 

Lagemann fah das ein und zähmte feinen Muth. 
Er erinnerte ſich wieder feiner Eigenfchaft als Ober— 
befehlshaber und traf die desfalljigen Anjtalten. Vor 
allen Dingen mußte ihm daran gelegen fein, wieder 
Ordnung in das Heer zu bringen. Er hielt daher 
Revue und vermißte den Actuar. Diefer war, als 
das Meitteltreffen durd) den Drang -Utang fo plötlid) 
auseinander gejprengt worben, in's Gras gefallen, wo 
er noch lag, und zwar auf dem Bauche. 

Lagemann ertheilte daher fofort dem Factor den 
Befehl, als Ordonanz Zeifig die Meldung zu brin= 
gen, aufzuftehen und das Mitteltreffen zu vervoll- 
ſtändigen. 

Der Factor, gehorſam dem erhaltenen Befehl, 
verfügte ſich nicht ohne bedächtigen Seitenblick nach 
dem Aſte, wo der Drang-Utang herbergte, an Ort 
und Stelle, wo Zeifig lag. 


449 


„Actuar,“ begann er, ihn fanft angreifend, „er- 
mannet Eudy, die Gefahr ift vorüber; ed war nur 
ein fimpler Affe. Die Reife foll fortgehen. “ 

Zeifig war’8 indeß gar nicht wie ermannen. Der 
Schreck war ihm in ven Magen ‘gefahren und hatte 
dafelbft eine beveutende Revolution zu Wege gebracht. 
Eben als ihn ver Factor leife am Arme zupfte, um 
ihn zum Aufſtehen zu bewegen, half fih die Natur 
und befreite de Actuar® Magen von einem Theile 
der überflüffigen Hümnbeeren. Süßmilch gewahrte mit 
Schrecken Zeiſig's Kampf "und als er näher nachſah, 
glaubte er nicht anders, als ver Unglückliche habe 
einen Blutfturz befommen. Er rief Häglih nad) 
Hülfe, worauf Lagemann in Perfon herbeieilte, um 
die Sache zu unterſuchen. 

„Ein Blutſturz ift e8 nicht,” beruhigte der At⸗ 
tache, „Zeiſig hat ſich etwas übernommen.“ 

Dem Actuar war erbärmlich zu Muthe. Erſt den 
vereinten Bemühungen Lagemann's und des Factors 
gelang es, den Kranken auf die Beine zu bringen. 

„Nehmt ihn in die Mitte,” ſprach der Attaché zu 
Süßmilch und Vetterlein, „va wird es fchon gehen, 
- Hoffentlih daß er ſich bald erholt; wer heißt ihn, 

in den Himbeeren fi zu übernehmen.‘ 

Betterlein war nicht ohne Beſorgniß, die Kranf- 
heit des Actuard könne währenn der Armführung nod) 
einige Ausbrüche erleiden. 

„Ex fieht noch recht blaß aus,” ſprach er, „ich 
befürchte, die fchlimmen Zufälle wiederholen ſich. 
Ruhe wäre daher wohl mwünfchenswerther als mars 
Ihiren. Actuar, wie ft Euch, ſeid Ihr nicht aud) 
meiner Meinung ?' 

Zeifig war vor der Hand gar feiner Meinung, 
wie überhaupt aud) feines Wortes mächtig, Er ließ 


4850 


den Kopf hängen und blieb dem Duartus die Ant= 
wort ſchuldig. 

„Länger verweilen fönnen wir auf feinen Fall,“ 
ſprach Lagemann, auf feines Botſchafters Umſtände 
weiter keine Rückſicht nehmend. Zugleich überlegte er, 
daß ber krankhafte und ſchwache Zeiſig bei ber gan- 
zen Expedition überhaupt ein mehr. bejchwerliches, 
als nutenbringendes Meubel ſei. Er fuhr daher fort: 
„Sollte ver Actuar den no bevorftehenden Strapa⸗ 
zen nicht gewachſen fein, fo bleibt ung nichts übrig, 
als ihn einftweilen hinter einen Strauch zu legen, 
wo er die mannigfachen Chifanen, ſo fein Band 
noch über ihn verhängen follte, in Ruhe abwarten 
farm. Bei der Heimkehr nehmen wir ihn wieder mit.” 

Wiewohl Zeifig das Spreden fehr ſchwer ward, 
fo war doch die Lagemann'ſche Zumuthung, wegen 
des Strauches, zu ftarf, als daß der Betheiligte da— 
bei hätte ſtillſchweigen können. 

„Ich komme ſchon mit fort,” krächzte der Bot- 
ſchafter. 

„Ihr überfchätt Euch, guter Actuar,“ erwiederte 
der Attached, ver feinen biplomatijchen Gaft, da er 
den Marſch nur behinderte, vor's Leben gern los ge- 
weſen wäre. 

„Wenn nur die böfen Anfälle nicht wieberfehren, 
meinte Vetterlein, „da wollen wir ihn ſchon fort⸗ 
bringen.“ 

Zeiſig verſicherte dem Quartus, daß er ſich ſo 
wohl, wie der Fiſch im Waſſer fühle; nur etwas 
ſchwach ſei ex. 

„Ihr wäret mein Fiſch,“ brummte der Attache 
unzufrieden, „Ihr feht mir eben nicht darnach aus.“ 

„Wie geſagt,“ beharrte Zeiſig, „wie ein Fiſch im 
Waſſer.“ 


Ad 


Der Factor, welcher die blaſſen Geſichtszüge mit 
Kennerbliden betrachtete, nahm. fid eine Prife und 
jhüttelte in Betracht des Fiſches mit dem Kopfe. 

„Der Factor ſchüttelt auch,“ ſprach Lagemann, 
„und mit Recht; ich glaube nicht, daß wir ben Hin⸗ 
fälligen taufend Schritte weit bringen. Meinetwegen! 
Des Menſchen Wille ift fein Himmelreich; wer nicht 
hören will, mag fühlen. Indeß erflär’ ih, vermöge 
meiner amtlichen Machtvollkommenheit als Heerführer 
jo viel, daß, jo wie der Actuar eine auffällige Hin- 
fälligfeit bliden läßt, derſelbe unwiderruflich ad de- 
positum niedergelegt wird.” 

Der Factor, ſtets menfchenfreundlich gefinnt, gab 
zu bevenfen, daß dies eine zu undhriftliche Verfah⸗ 
rungsart gegen eimen allgemein geachteten Lands— 
mann fei. 

„Noth kennt fein Gebot,” entſchuldigte ſich La— 
gemann; auch Hanno geſtand, daß man wegen Zei- 
ſig's fortwährendem Unwohlſein unmöglich die für 
gefammte Niederroßlaer jo wichtige Erpedition gefähr- 
den könne. 

Unter biefer für den Actuar höchſt unerquidlichen 
Unterhaltung fette fi der Zug in ber vorigen Ord⸗ 
nung wieder in Bewegung; nur daß anjtatt: Better: 
lein’8 , diesmal Zeifig in der Mitte ging. Lagemann, 
um für jeden etwaigen neuen Angriff vorbereitet zu 
fein, übte fih in der Führung feiner Waffen, indem 
er mit der halben Klinge tapfer in die benachbarten 
Geſträuche einhieb. Die Flucht des Drang= Utangs, 
ber fich nicht wieder bliden. ließ, hatte ihm all feine 
friegerifche Haltung wievergegeben. 

Dean war nicht weit gefommen, ald Hanno plöß- 
lich äußerſt nachdenklich ftehen blieb und in die Höhe 
ſchaute. Die nachfolgende Armee machte gleichfalls 





152 


Halt und blidte, felbft den Actuar nicht ausgenom= 
men, wie fchwer e8 ihm ankam (ver Factor hielt ihm 
den Kopf), ebenfalls in die Höhe, ohne etwas Außer⸗ 
gewöhnliches wahrzunehmen. 

Der Helvenjpieler fuhr fort, ſich angeitrengten 
Beobachtungen am Himmel hinzugeben, obſchon von 
leßterem, wegen bes dickbelaubten Waldes, nicht das 
Geringfte zu jehen war. Lagemann, fo wie der Factor 
und Betterlein gudten ſich faft die Augen aus, End= 
(id that Allen ver Hals weh von dem ununterbro= 
chenen fruchtlojen In⸗die-Höhe-blicken und der Attache 
vermochte e8 nicht Länger über fich zu gewinnen, bei 
Hanno Erkundigungen über den Zweck ber aftrono- 
mifhen Bemühungen anzuftellen. 

„Kann mir denn Niemand ſagen,“ frug num bie= 
fer, „mo eigentlid die Sonne ſteht?“ 

Das war allerdings eine Magifter-Frage für die 
Niederroßlaer, die fo tief im Urwalde ftafen, daß fie 
niht einmal den Himmel, viel weniger von der 
Sonne etwas fahen. Ein böfes Gefchid hatte e8 nun 
gewollt, daß der Helvenfpieler, als ihn ver Wallnuß- 
wurf zu Boden ftredte, die Richtung der Himmels- 
gegenvden total verloren; das übrige Heer, weldes 
ven Himbeerſtrauch von allen Seiten befraß, tappte 
in Betracht der Weltgegenven ebenfalls im Yinftern. 
Selbft der Obergeneral hatte die Sorge für den Weg 
ganzlid, dem Mathematifus überlaffen, deſſen Weis— 
heit jetst gleichfalls ihr Ende erreicht hatte. 

Die Bäume des Urwaldes waren von jo thurm— 
hoher Höhe, ihre Stämme von foldem Umfange, die 
weitragenden, ftarfbelaubten und von Schlingpflanzen 
der mannigfachften Art durchwucherten Aefte von jol= 
her. Dichtigkeit, daß nur hier und da ein tellergroßes 
Stüd Himmel durch die ehrwürdigen Kronen in die 


453 


Dunkelheit herabfiel;. von dem ſtrahlenden Tagesge— 
ftirne, jo wie von deffen Stande aber war fchlechter- 
‚ dings nicht zu ermitteln. 

„Es wird und am Ende wahrhaftig nichts übrig 
bleiben,‘ fprady der Helvenfpieler, dem es nicht wenig 
fatal mar, die Richtung verloren zu haben, „als 
einen ber hohen Stämme zu erfteigen, um des Stan- 
des der Sonne anfihtig zu werben; ohne ihr ift e8 
feine Möglichkeit, ſich weiter fortzufinden; abgejehen, 
dag wir das Goldland nicht erreichen, jo laufen wir 
noch Gefahr, den Rüdweg zu verlieren.” 

Das waren allerdings Bedenklichkeiten, vie Ueber- 
legung verlangten. 

„sn meiner Jugend, meinte ber Oberfeldherr 
Tagemann, „war mir fein Baum zu hoch, ich mußte 
hinauf; mit den Jahren hat fid) das gelegt; die 
Knochen find mir fteifer geworben, fonft würde id) 
feinen Augenblid Bedenten tragen, fürs allgemeine 
Befte die Auffahrt zu wagen. Aber wenn ich nicht 
irre, fo bat der Quartus häufig von feinen Kunit- 
reifen, die er an gefährlichen Stellen .angeftellt, ge= 
ſprochen; ic) zweifle daher feinen Augenblid, daß er 
die günftige Gelegenheit ergreifen wird, einen that= 
fählihen Beweis feiner Turngeſchicklichkeit an ven 
Tag zu legen und fih um das Heer verbient zu ma= 
hen. Nöthigenfalls wollen wir am Fuße des Stam- 
med den Kalmud ausgebreitet halten, damit er fei- 
nen Schaden nimmt, fo er herabfällt.“ 

Betterlein fühlte fih diesmal bei feiner Ambition 
angegriffen, und war auch nicht abgeneigt, einen Ver— 
ſuch zu wagen. 

„Ed iſt freilich lange her, daß ih mich mit 
Baumfkletterei abgegeben habe,” ſprach er, „indeß unter 


454 


obwaltenden Umſtänden halte ich es für Pflicht, das 
Möglichfte zu bewerfftelligen.” 

Lagemann lobte diefe Gefinnung und Betterlein 
trat wirflih nicht ohne Geſchick die Himmelfahrt an. 
Es war dieſelbe auch mit feinen großen Schwierig: 
feiten verbunden, da vie vielen Anhaltepunfte das 
Emporklettern erleichterten. Zum Weberfluß hielt ver 
Factor und Marſchall Lagemann den Ralmud des 
Duartus ausgebreitet. 

Süßmilch, weldher ob feiner langen Beine es nie 
in der edeln Turnkunſt zu etwas Crfprieglichen ge- 
bracht hatte, war ganz verwundert, als er Betterlein 
wie ein Eichhörnchen durch die Hefte Klettern jah. 
Seine einzige Beſorgniß beftand nur darin, daß ber 
fühne Boltigeur ihm mit der Zeit auf den Kopf fal- 
len möchte. Er rief daher ven Himmelfahrer ven 
guten Rath nad, fih ja feit anzubalten und um alle 
Welt keinen Fehltritt zu thun. 

„Denn Betterlein, fprady er zu Lagemann, „auch 
nicht jchwer wiegt, jo könnte er und doch in Betracht 
der Höhe des Baumes beim SHerabfallen übel mit- 
ſpielen.“ 

Zeiſig kam der Aufenthalt und die Kletterei Vet— 
terlein's recht gelegen. Er konnte da mehren Anfor- 
derungen ber Natur mit Muſe Genüge leiſten, ohne 
den Marſch der Colonne im Geringiten zu ftören. 

Das zweibeinige Eichhorn hatte endlich den Gi- 
pfel des miajeftätifchen Ulmenbaumes erreicht und 
modhte von dem hohen Standpunkte aus eine recht 
angenehme Ausficht genießen. Wenigftend renommirte 
er jehr damit. 

Hanno trat jett in wiſſenſchaftlichen Rapport mit 
dem Oberwäldler und erfundigte ſich vor allen Din- 
gen nad) der Himmeldgegend. | 


4155 


„Eine wahre Pracht,“ verfiherte der Quartus 
von oben herab; „Ihr habt wirklich feine Idee da— 
von. Ih babe halb Frankreich und die Schweiz 
durchwandert, aber ſolch' erquidende Ausfiht ward 
mir noch nie Sol ih Euch vielleicht eine Kleine 
Beſchreibung davon mittheilen ?' 

„Später, fpäter, guter Quartus,“ antwortete 
Hanno, „jet fagt nur vor allen Dingen, wohinein 
die Sonne jteht, damit wir das Goldland auf dem 
geradeiten Wege erreichen.‘ 

„Das Goldland,“ veplicirte e8 aus dem Wipfel 
der Ulme; „ei, das ſeh' ich ganz beutlich; es fchim- 
mert gar herrlich in der Sonne.“ 

Lagemann warb durch dieſe frohe Kunde ausneh⸗ 
mend erheitert. Er vereinigte daher ſeine Bitten mit 
denen des Heldenſpielers, daß der Quartus die Hint- 
melsgegenden ſignaliſiren möchte. Vetterlein aber, der 
ſich auf ſeine Kletterkunſt nicht wenig zu Gute that, 
glaubte auch einmal ſeinen Kopf aufſetzen zu müſſen 
und fuhr noch geraume Zeit fort, über die herrliche 
Ausſicht zu poetifiren, indem er die im Waldesdunkel 
Begrabenen nicht genug bedauern fonnte, daß fie auf 
eine Theilnahme an feinem Ergötzen verzichten mußten. 

„sn der That,” rief er, „beflagen muß id) Euch 
von ganzem Herzen, die Ihr vermöge der Ungelen- 
figkeit Eurer Glieder nicht berufen feid, an meinem 
Entzüden Theil zu nehmen; es ift eine edle Kunft 
das Klettern. In meiner Jugend war id ſtärker 
darin. Nicht weniger denn ſechs Mal hab’ ich ven 
Preis davon getragen bei dem Prämien = Stangentlet- 
tern zu Kleinhennersdorf, wo alljährlih zum König— 
fchiegen die geübteften Turner von weit und breit 
ber fich verjammelten. Es war ein fhönes Feſt, das 
Königſchießen zu Kleinhennersporf, ich denfe nie ohne 


456 


Rührung an daſſelbe zurüd; es fiel aljährlih auf 
den Tag Bartholomäi und die zwei folgenden Tage. 
Traf ſich's, daß Bartholomäi ein Sonntag war, ſo 
begann e3 den darauf folgenden Montag und envete 
mit einem folennen Sternſchießen den Donnerftag. 
Der Schütenauszug erfolgte in der Regel den Sonn- 
tag und der Königsſchuß die Mittwoch.“ 

Lagemann und Hanno wollten verzweifeln ſelbſt 
dem Factor fam die Sache etwas gedehnt vor. Alle 
Bitten und Redensarten, jelbft Drohungen, ihn zur 
Bezeichnung der Himmelsgegenden zu vermögen, wa— 
ren vergeblid. - 

„So .ih eine Windbüchſe bei mir hätte,“ ſchwur 
endlich Lagemann in ſtiller Wuth, „ich ſchöſſe den 
Kerl wie einen Spatzen herunter.“ 

Hanno frug, ob nicht eine Möglichkeit vorhanden 
wäre, den Quartus mit Wallnüſſen, deren es hier in 
Menge gab, zum Rüdzuge zu nöthigen. Er behaup⸗ 
tete zugleich, einen guten Wurf zu befigen. 

„Bas hilft das,” entgegnete ungınthig der Mag— 
deburger, „man ſieht ja den Hallunken gar nicht, er 
muß ganz oben auf dem Wipfel ſitzen. Welcher 
Wurf ſollte ihn da erreichen! Wir würden ihn nur 
unnöthiger Weiſe reizen, ohne zu unſerm Zweck zu 
kommen. Das Beſte iſt, wir erklären ihm, daß, wenn 
er nicht herabſteigt, wir ohne ihn die Wanderung fort⸗ 
jegen würden. Wir entfernen ung Dann Wenige 
Schritte, halten ung ganz ftill, ich wette, er verläßt 
dann jo fehleunigit mie möglich fein Neſt.“ 

Diefer Borfchlag Lagemann's fand Beifall. Ihm 
zu Folge rief Hanno mit Stentorftiimme: „Quartus, 
zum dritten und lesten Male, entweder Ihr fteigt 
nieder oder wir laſſen Euch fiten und marſchiren 
weiter. 


1857 * 


Vetterlein, welcher erhaben über ſeinen Gefährten 
wie ein Gott in freien Lüften ſchwebte, war weit 
entfernt, auf dergleicheu Drohungen aus der Tiefe 
das geringſte Gewicht zu legen. Es ſchmeichelte ihm 
nicht wenig, daß man ſich ohne ſeine am Himmel 
gemachten Erfahrungen nicht fortzufinden vermöchte. 
Er pochte auf ſeine Unentbehrlichkeit und fuhr daher 
fort, ſich über vie Eigenthümlichkeiten und Vorzüge 
des Sleinhennersporfer Königſchießens eines Weitern 
zu verbreiten. 

‚Die Anzahl der Schützen,“ ſprach er, „war nicht 
unanfehnlih und tüchtige Hähne darunter, ſämmtliche 
Kevierförfter der Umgegend nahmen Theil; da hab’ 
ich jelbft erlebt, daß ver Hegereiter Faulring fünf 
Mal unmittelbar hinter einander den Nagel jchoß. 
Auch die Prämien waren ganz refpectabel. Der Kö— 
nigſchuß wurde ſtets mit einem fetten Hammel und 
drei Dutzend Schlackwürſten honorirt. Mein Better, 
der Stabtjchreiber, trug ſelbſt einmal den Preis da- 
von. Den Hammel hättet Ihr fehen follen, mir ift 
ein folcher nie wieder zu Geficht gekommen; er hätte 
auf jeder Viehausftellung Furore gemadt. Die Fül- 
lung der Schlackwürſte war verzüglih; ih habe fie 
ſelbſt gefoftet ‚und kann es ſonach authentiſch bezeu⸗ 
gen; weder in Frankreich noch in der Schweiz hab' 
ich ſpäter delicatere Würſte angetroffen. Was die 
übrigen Prämien betraf —“ 

„Kommt glücklich nach, Quartus,“ tönte jetzt die 
Stimme des Heldenſpielers und die, Karavane brach 
mit abſichtlichem Geräuſch auf, rücte ungefähr funf- 
zig Schritte vor, wo fie hinter dichtem Gefträud Halt 
machte und ſich jo ruhig wie möglich verhielt, um 
dem Duartus glauben zu machen, fie fei wer weiß 
wie weit, 


t 


N 158 


Betterlein hielt im Anfang Hanno’8 Ruf ſowie 
den darauf folgenden Aufbruh für einen bloßen 
Schreckſchuß und ließ fih im Geringſten nicht in ver 
Beſchreibung des Kleinhennersdorfer Königfchießens 
ſtören. Er erzählte recht con amore und gefiel ſich 
außerorbentlih im ber Erinnerung an jene rojenro- 
then Zeiten. Als e8 ihm endlich aber doch bedünkte, 
als ſei es unter ihm recht ſtill geworden, ließ er in 
ſeinen Memoiren eine Pauſe eintreten und horchte; 
fein Laut regte ih. Er beugte nun den Kopf und 
gudte zwifchen dem Blättergrün hinab nach der Tiefe, 
da war Alles leer und das gefammte Erbheer ver- 
Ihwunvden. Dem Quartus pochte bei diefem Anblide 
da8 Herz hörbar. Er hoffte indeß, die Landsleute 
würden fih nur wenige Schritte entfernt haben, fo 
daß fie feine Stimme nod zu vernehmen möchten. 
Um aljo ihre Aufmerkſamkeit zu feleln, ließ er die 
Beſchreibung des Kleinhennersborfer Königſchießens 
vor der Hand auf fih beruhen und fam wieder auf 
die Himmeldgegend und ven Stand der Sonne zu 
Iprehen, aber nur im Allgemeinen. Ex hoffte auf 
biefe Meittheilung fiher, von Hanno oder Lagemann 
wieder über die Richtung des Wegs befragt zu wer- 
den. Über feine Anfrage erfolgte; es: blieb fo ftill 
wie zuvor, Der Duartus, dem es ſchon ganz un- 
heimlich ward, gucte nochmals herab, und da er auch 
diesmal Niemanden erblidte, jo ſchoß er feine letzte 
Patrone ab, indem er ausrief, fo laut er konnte: 
„Verſammelt Euch Alle unmittelbar am Stamme ver 
Ulme, damit ih Euch den Stand der Sonne, fowie 
die wahre Richtung, fo Ihr zu nehmen habt, be= 
zeichnen kann.“ 

Auf diefe Worte kroch Betterlein mehre Fuß tie- 
fer und laufchte und fchaute unter fi nad allen 


159 


Ceiten in der gefpannteften Erwartung und mit |ver- 
haltenem Athen. 

Auch diesmal blieb es ftil, feine Antwort ließ 
fi vernehmen, fein Niederroßlaer fich bliden. Jetzt 
hätte man dem Duartus Millionen bieten können, 
nur eine Minute noch auf der Ulme auszuharren, e8 
wäre ihm nicht möglich geweſen. 

„Wehe mir Unglüdjeligen, fie haben mid) allein 
gelafjen; wer weiß, ob es mir je gelingt, ihrer wie- 
ver habhaft zu werden. Sie müſſen bereit8 einen 
außerorventlihen Vorſprung erreiht haben, daß fie 
meine Stimme nit vernommen und id) fchreie Doc, 
als hätte ich Todte aus dem Grabe wach rufen wollen.‘ 

Unter folhen Gedanken Hetterte der Quartus mit 
einer Behendigfeit von feinem hohen Standpunfte 
herab, daß er wiederholt in Gefahr lief, den Hals 
zu bredjen. 

Zu ebener Erde angelangt, erhob er ein wahres 
Zetergefchrei, in weldem man ununterbrochen nur die 
Namen Hanno und Lagemann unterſchied. Dabei 
lief er verzweifelt bald bier, bald dahin und fehrte 
immer wieder zu dem Ulmenbaume zurüd, von deſſen 
Gipfel herab er das Kleinhennersdorfer Königfchießen 
fo anmuthig beichrieben hatte, 

Nicht ohne Bergnügen vernahmen die hinter dem 
Strauche verjtedten Niederroßlaer, wie die Lift ihren 
Zweck erreicht hatte. Auf Lagemann's Rath ließ man 
den Quartus nody eine Zeit lang in Verzweiflung 
untherfchweifen. 

„Er hat e8 um und verdient,“ fprach der Attache. 

Auch Hanno, melden Betterlein hauptſächlich durch 
die Bejchreibung des Kleinhennersporfer Königſchieſ⸗ 
ſens gelangweilt hatte, pflichtete vem Attache bei. 
Nur der fanfte und chriftlic) gefinnte Factor, als er 


460 


den kläglichen Hülferuf feines Freundes Betterlein 
vernahm, hatte Mitleid und wollte den Rufenden 
antworten. 

„Daß Ihr Euch nicht unterftehet,” gebot Lage— 
mann nachdrücklich; „der Quartus leidet nur die ge- 
rechte Strafe” 

Die Verzweiflung Betterlein’8 hatte jet den höch— 
ſten Grad erreicht, nachdem der einſam Umherirrende 
die Entdeckung gemacht, daß die Erbſchaar auch fei= 
nen Kalmud, auf welchem er die außerorventlichften 
Stüde hielt, mit entführt hatte. Mit dem Berlufte 
feines, über dreißig Jahre alten Jugendgefährten, 
fah er auch ſich für verloren an und begann deshalb 
bitterlih zu fchluchzen. 

Den Factor, welcher hinter feinem Straude allen 
Gemüthszuſtänden feines Freundes treulichft folgte, 
ging dieſes Schluchzen durd und durch; er warb 

ebenfalls ganz zu Thränen gerührt, und er fam aber- 
mals beim General Tagemann um Schonung ein. 

Diefer aber, welcher fit nebit Hanno an dem 
Schmerze des Duartus weidete, wollte ſchlechterdings 
nichts von Schonung willen. Er griff mit einer 
drohenden Miene nad) feinem Dragonerfäbel und 'ge- 
bot Ruhe. 

Die gutgemeinte Süßmilch'ſche Betition follte in— 
deß plößlih auf eine Art unterjtütt werben, welche 
nit gut Widerrede zuließ, und die vier Niederroß: 
laer, wie mit einem Wetterfchlage aus ihrem Berfted 
heroortrieb. 

Hanno nämlich, welder neben Lagemann pojftirt 
durch eine Deffnung in dem Strauchwerfe mit großem 
Gaudium dem verzweifelten Auf- und Abgaloppiren 
Vetterlein's zufhaute, fühlte ſich unverſehens an fei- 
nem Carbonari gezupft. Er fehaute hinter fi) und 


» | 


461 


blidte einem züngelnden Schlangenfopfe direct in's 
liebe Antlitz. Ein Schredensruf und ein Sprung 
in's Freie, war das Werk eines Augenblicks. Lage— 
mann, weldher des originellen Kopfs gleichfalls an- 
fihtig wurde, folgte mit derfelben Behendigkeit. Nur 
ber bedächtige Yactor, der neben Zeifig am Boden 
ſaß, begriff nicht das urplößliche Verſchwinden des 
Heldenſpielers und bed Attache's. Erſt auf Lage— 
mann's Zuruf, ſich umzuſehen, welchem Süßmilch wie 
der Actuar gewiſſenhaft nachkamen, erſchauten Beide, 
in einem und demſelben Augenblide, das riefige Un- 
geheuer und wälzten fi), einer’ ven andern überpur= 
zelnd, mit unnachahmlicher Sqhneliigtei aus der ges 
fährlichen Nähe. 

Niemanden konnte aber "bie Boa oder welcher 
Gattung die Schlange fonft angehören mochte, einen 
angenehmern Dienft ermweifen, als dem Quartus, der 
ſich ſchon feit einiger Zeit für einen verlorenen Mann 
gehalten. Er glaubte feinen Augen nicht zu trauen, 
al8 er in der erfreulichiten Nähe die Geftalten Han- 
no’8 und Lagemann's auftauchen jah. 

Dald au wurden der Factor und Zeifig fihtbar 
und das Erbheer concentrirte fih von Neuen. Die 
jüngite Gefahr ſchloß, wie dies immer zu gefchehen 
pflegt, die Gemüther inniger an einander, fie ver- 
ſcheuchte die innere Ywiftigfeit und verlieh dem Ganz 
zen größere Einheit. 

So fam auch Betterlein ob feiner ausführkihen 
Beihreibung des Kleinhennersdorfer Königsſchießens 
biesnal mit einem blauen Auge davon. Man war 
bereiter denn je zu vergeben und zu vergefien, wenn 
er nur länger feinen Anſtand nähme und feine. auf 
dem Ulmenbaume angeſiellten Himmelsbeobachtungen 
zum Beſten gebe. 

Stolle, ſämmtl. Sqhriften. XVII. 11 


2 


162 


Niemand zeigte ſich jetzt bereitwilliger als Vetter⸗ 
lein; von Kleinhennersdorf war' feine Rede mehr, 
und fo gelang e8 dem Helvenfpieler, den richtigen 
Weg nad) dem Golblande wieder ausfindig zu machen. 
Es war auch fürwahr die höchſte Zeit, wollte man 
am felbigen Tage wieder dad Lager erreichen. 

Lagemann ftellte die vorige Heerordnung her, zückte 
fein Schwert und commandirte zum Abmarſch. 

Man fette fih in Bewegung. Nichts flößte aber 
dem Exbheere größere Beſorgniß ein, als das Ge— 
fräud, in weldem fich die grau=grüne Schlange ge= 
zeigt hatte. General Lagemann machte daher eine 
entſcheidende Tlanfenbewegung, wodurch er das ver= 
dächtige Geſträuch weit zur Rechten Liegen lie. 

So bewegte fi) der Zug in ziemlicher Eintönig- 
feit vorwärte. Es warb wenig geſprochen. Jeder 
ſchien mit fi beſchäftigt und war in Gedanken in 
Niederroßla, wo er von dem in Afrika erbeuteten 
Golde in behaglicher und beneidenswerther Gemäch— 
lichkeit lebte. 

Lagemann durchkreuzte in Gedanken die ganze Um— 
gegend von Niederroßla und inſpicirte alle Güter, 


von denen er wußte, daß ſie zum Verkauf ſtanden. 


Dieſe heitern und anmuthigen Phantaſiegebilde 
ſollten indeß durch ein abermaliges Abenteuer unter— 
brochen werden, wodurch die bisher auf der Wande— 
rung nad) dem Goldlande erlebten: Begebenheiten in 
Nichts zerfielen. 

In ziemlicher Entfernung ließ fih ein dumpfer 
Ton vernehmen, welcher fogleid) das Intereſſe und 
die Aufmerkfamteit ſämmtlicher Niederroßlaer in An- 
ſpruch nahm, und über beffen Urfprung und Urſache 
man den verſchiedenartigſten Bermuthungen fi hingab. 

Lagemann commandirte Halt, damit man ftill lau⸗ 


163 


ſchen könne, ob fih der Ton nit von Neuem hören 
laſſe. Man brauchte nicht lange zu warten. ‘Der. 
jelbe Ton warb vernehmbar und diesmal um ein Be- 
deutendes näher. 

„Wenn das nicht ein Löwe iſt,“ ſprach der Hel- 
venfpieler, „jo will ih nicht Hanno heißen. Wir 
müſſen gınd auf das Schlimmfte gefaßt machen.‘ 

Lagemann hatte fid) von den Matrofen fo. viel 
von der Hafenherzigfeit der Löwen vorerzählen laſſen, 
daß er davon vollfonmen überzeugt war und baher 
ob Hanno's verhängnigvollen Worten die Befinnung 
feineöwegs verlor. Im Gegentheil zeigte er fich wider 
Erwarten gefaßt, und behauptete jene Ruhe, welche 
bei einem Heerführer von jo hobem Bertheil ift. 

„Befinnt Euch nur auf ein luſtig Lied,’ fprad) 
er, „fjobald das Gebrüll näher kommt, fingen wir 
dieſes, und Ihr werdet gewahren, wie die Beſtie 
Ichleunig Reißaus nimmt.“ 

Weder dem Factor, noch Zeifig, no dem Duar- 
tus war fingeluftig zu Muthe. 

Indeß bewirkte die hohe Zuverſicht, welche der 
General bewies, daß das Mitteltreffen nicht alle Hal- 
tung verlor. 

„Für den Tal der Löwe,“ fuhr Lagemann fort, 
„unſern Gefang nicht reſpektiren ſollte, jo müſſen wir 
uns allerdings auf unfere Augen verlaffen. Sie ges 
währen unbeftreitbare Sicherheit. Dann möge ber- 
jenige von uns, welcher fid) der größten Augen zu 
erfreuen hat, fühn voranfcreiten, den Löwen unun- 
terbrochen ſtarr anfeben und ihm direft auf ven Leib 
rüden Nur darf man nicht bie geringfte Furcht 
zeigen, ſonſt fpringt das Unthier zu und padt. Wer 
wäre aber unter ung im Befite ber größten Augen? 


= 


16% 


Wen hat wohl ein gütiges Gejchid mit dem vortreff- 
lichten Sehorgan ausgeftattet ?“ 

„Anbeftritten ven Quartus,“ ſprach Hanno. 

„Mich?“ Frug erfchroden Betterlein, „bewahre der 
Himmel, id habe ja wahre Maulwurfsaugen.“ 

„Sch berufe mich auf das Zeugniß aller Anweſen⸗ 
den,“ beharrte der Heldenſpieler. 

Seht mich einmal an,” ſprach nun ber General 
ernit zum Duartus, um fich von der Peripherie fei- 
ned Auges perfönlich zu überzeugen. 

Der Aufgeforverte zog die Augenwimpern jo nabe 
wie möglih zufammen und blinzelte den Feldherrn 
an, als ſchaue er in vie Sonne. 

Der Angeblidte zog die Stirne kraus. 

„Wenn Ihr,” ſprach er, „vem Löwen mit biejer 
Phyfiognomie fommt, ſeid Ihr verloren. Von Euern 
Augen ift ja Jo gut wie nichts zu ſehen.“ 

„Darum eigne ih mich auch nicht, dem Löwen 
entgegen zu gehen.‘ 

„Eigenfinn, fo ſperrt doch einmal Die Klogen auf 
und ſchaut mich groß an.” 

„Belcheidenheit verbietet mir — “ 

„Wenn ih e8 Euch als Feldherr gebiete, ver- 
ſchwinden alle Rüdfichten der Beſcheidenheit. Alſo 
ftarr mir in's Auge geblid. Habt Ihr etwa fein 
gut Gewiſſen?“ 

„Das ruhigfte von der Welt.‘ 

„Wohlen, Auge in Auge Denkt, ich wär’ ber 
Löwe. 

„Das fallt mie ſchwer.“ | 

„So thut wenigftens, als wär’ ich der Löwe.“ 

„Ih glaube, der Factor — 

„Richt da Factor, von Eud) ift jet die Rede.“ 


165 


„Seine majeftätifche Figur; mich würde das In 
thier nicht für voll anſehen.“ 

„Das iſt wahr,“ meinte Lagemann nachdenkend. 

„Er beſitzt Haltung,“ fuhr Vetterlein ermuthigt 
fort, „ich gu, er weiß fich zu benehmen bem Lö⸗ 
wen gegenü 

Sußmilch, , welcher äußerſt aufmerkſam geworben, 
als die Rede auf ihn gekommen, widerſtritt die Ver⸗ 
muthung Detterlein’8 auf das Hartnädigfte. 

„Ich will mid) nicht felbft in Schatten ſtellen,“ 
ſprach er, „aber daß ih einem ſolch' blutgierigen Un- 
geheuer gegenüber bie Contenance verliere, getraue ich 
mir mit einem körperlichen Eide zu erhärten.“ 

Hanno vermittelte die Sache dahin, daß, im Fall 
der Löwe erſchiene, Keiner zwar worangehen, aber 
Jeder das Seine thun follte, um das Unthier in Res 
ſpect zu halten. | 

„Bor ‚allen Dingen nur feine Furcht,“ befahl 
Lagemann, „das ift Hauptbebingung. Uebrigens,“ 
fügte er beruhigend hinzu, „glaube ih noch gar nicht, 
baß ber gehörte Ton von einem Löwen herrührte.“ 

Daß dem fo war, warb burd die Wieverholung 
des bonnerähnlichen Tones, ber jet weit näher ge= 
fommen und einem bumpfen Gebrüll gli), ziemlich 
außer Zweifel geftellt. 

Das Mitteltveffen zitterte bei dem furdhtbaren 
Klange wie Espenlaub; ſelbſt dem Helvenfpieler warb 
nicht wohl zu Muthe Nur Lagemann, auf die Er- 
' fahrung und Erzählung der Matroſen vertrauen, be= 
hauptete eine bewunvernswürbige Faflung. 

„Der Löwe fcheint näher zu kommen,” ſprach er, 
„ielleiht daß er Menſchenfleiſch in feinem Gebiete 
wittert. Wir müſſen jett über das fröhliche Lied 
übereinfommen, das wir bei feinem Erjcheinen an- 


466 


\ 


fiimmen. Ich werde den zweiten Baß übernehmen. 
Hanno mag den erften fingen. Wär’! nicht gerathen, 
wir bielten vorher eine Heine Probe?” 

Der Heldenfpieler räufperte fih und begann un— 
cultivirte Töne hervorzuftogen; auch Lagemann übte 
fi) in einigen anmuthigen Läufern und Coloraturen; 
aber mit Süßmilch, Betterlein und dem Actuar 
ſtand's trübfelig. Sie waren alle ‘Drei von Natur 
feine Helden im Geſang und jett ſchien ihnen bie 
Angft abjonderlih die Kehle gefchnürt zu haben. 

„Könnt Ihr den: Jäger aus Churpfalz?” er- 
kundigte ſich Lagemann als Vorſänger. 

„Ich kann ihn,“ erwiederte Hanno und begann: 
„Gar luſtig iſt die Jägerei, 
Tralli, tralla, tralla u. |. w. 

Da der Hauptarmee der Jäger aus Churpfalz 
gänzlich unbelannt war, fo ſprach fid) Lagemann äu⸗ 
Berft mißbilligend über ſolche Ignoranz aus. 

„Könnt Ihr denn,“ frug er und fang: 

„Auf, —8 am Roſenſaume 
Den Lenz, eh' er entflieht!“ 
Allgemeines Kopfſchütteln. 
„Oder,“ fuhr Lagemann fort und ſang: 
„Deutſches Herz, verzage nicht, 
Thu' was Dein Seriffen ſpricht!“ 

Wieder allgemeines Kopfſchütteln. 

„Mit Euch iſt in der That auch gar nichts an⸗ 
zufangen,“ zankte der worfingende Oberfeldherr. „Wie 
ſteht's denn mit: 

„Daß Eva fih am Apfelbaume 


Gelabt im Paradies, 
Kein Menſch verargt ihr dies!‘ 


Hätte man weniger Furcht vor dem Löwen ge- 
habt, fo würde man gewiß nicht ermangelt haben, 





167 


dem Magdeburger ob feines Lieverreihthums reichlich 
Lob zu fpenden. So aber berüdfichtigte man feine 
Rhapjodien weniger und hielt nur das Ohr der Ge 
gend zugefehrt, von woher fi) das erfchütternde Ge- 
brüll hatte vernehmen laſſen. 

Lagemann, um feine unmufilalifchen Landsleute 
in ihrer ganzen Blöße binzuftellen und feinen Ge- 
* fangsruhm außer allen Zweifel zu ftellen, fuhr fort, 
vie Anfangsſtrophen von einer Menge Liedern und 
Arien herzufingen, wobei er fein zagendes Mitteltref- 
fen mit vieler Hoffart anfah. 

„Wie,“ frug er, auch das herrliche: 

„Preis Dir, Herrmann, Volkserretter, 
Der wie Gottes Donnerwetter 
, Im die Seinde Deutſchlands ſchlug!“ 

Als der Sänger aud) diesmal feine befriedigende 
Antwort erhielt, fand er fich enplid zu der Frage 
veranlaßt: „Wber, Factor, e8 hat doch jeder Menich 
feine Lieblingslieder, wie fteht’8 mit Euh? Ihr wer- 
det doch nicht ganz von Gott verlaffen fein, daß Ihr 
nicht auch eine Arie vorzutragen verſtündet?“ 

„D ja,“ erwieberte der Factor, defien Muth durch 
das Stillihweigen des Löwen wieder gewachfen war 
und der Stimme befommen hatte. | 

Süßmilch feste jett feine Singorgane in Stand, 
wobei wunderbare Töne zum Borfchein famen. Vor— 
her ging ein langwierige Räufpern, Hüfteln, Aech— 
zen. Endlich ſchien ihm die Kehle hinreichend ge= 
ſtimmt und er begann: 

„Ich bin ein beutiches Mädchen, 
Mein Aug’ ift blau und janft mein Blick.“ 

Selbft Zeifig jah den Quartus, ob dieſer außerge- 
wöhnlichen Klänge, die an fein Obr fchlugen, betroffen 
an.” Hanno fiel fat um vor Lachen, während Lage- 


4168 


mann in ftolzer Siegesficherheit mit einem unnach— 
ahmlich mitleivigen Lächeln auf den Sänger blidte. 

Durch die totale Niederlage Süßmilch's in der 
eveln Geſangskunſt bekam aber jest auch Vetterlein 
Muth, ſich hören zu laſſen. Ohne daß es aljo eine 
Aufforderung von Seiten Lagemann's beburft hatte, 
flimmte er feine Kehle und. begann mit ſehnſuchtsvol⸗ 
lem Ausbrud: 

„Ab könnt’ ih Molly Faufen 
Für Gold und Edelſtein.“ 

Berwundert blidte Alles auf den neuerjiandenen 
Sänger. Er begann Triller zu fchlagen und zulett 
gar zu jodeln. Lagemann ward ordentlich eiferfüchtig 
ob Betterlein’8 Succeß: er ließ ihn nicht ganz zu 
Ende fingen, fondern unterbrady ihn mit ben Wor- 
ten: „Diefes Lied ift doch nichts im Vergleich des 
herrlichen: 

„Tochter nie entweihter Tugend, 
Mit des Himmels Reiz geſchmückt.“ 

Er fang alle vier Verſe dieſes Liedes. 

„Da muß fih,” ſprach er, als er zu Ende war, 
„ebenfowohl Vetterlein's Molly als des Factors deut⸗ 
ſches Mädchen verſtecken. Welch' erhabene Moral liegt 
in dem Liede. 

„Nicht minder ſchön iſt: 

„Des Künſtlers Reich iſt die Natur, 
Ihm huldigt See und Hain und Flur, 
Was immer ſeine Blicke ſah'n 

Iſt ſeinem Pinſel Unterthan.“ 


„Ferner: 


„Mein Herr König von Spanien, 
Wie theuer iſt ſein Königreich.“ 


169: 


„der das zarte: 
„Sie ſchwur, daß fie mich Tiebe, 
Keinen (andern Umgang habe 
Als nur mit mir.” 

„Nicht minder anfprechend : 


„Der Graf bot feine Schäte mir 
Bon Gold und Ebelfteinen.’’ 
„Berner höchft ergreifend ift Die Arie, welche be- 
ginnt: 
„Ha, mein Appius, der Bater will mich morben, 
Weil Du mid liebſt.“ 
„Lieblih in die Ohren fallend: 
„Als Hirten ftehen wir und lauſchen.“ 
„Wahrhaft erheben: 
„Wort des Troftes, Wiederſehn.“ 


Die muſikaliſche Academie, welche Lagemann in 
Gegenwart feiner Truppen zum Beten gab unb wor- 
auf er fi) nicht wenig zu Gute that, follfe indeß 
durch einen urfräftigen Ton plöglih unterbrochen 
werden. Der Löwe, den man fchon über alle Berge 
geglaubt, ließ fi wieder vernehmen und diesmal in 
jo beveutungsvoller Nähe, dag dem größten Theil 
bes Erbheeres fchleunigft die Haare. zu Berge fliegen. 

Lagemann dachte vor der’ Hand an feine Yort- 
ſetzung feiner Chanſons, fondern traf die nöthigen 
Vorkehrungen für den Fall, daß ver Löwe fih in. - 
Leibes= und Lebensgröße zeigen follte. 

„Da wir fein Enfemble im Geſange zujammen- 
bringen,” fprady er, „jo wird e8 das Gerathenite fein, 
wenn ever das Lieb anftimmt, worin er glaubt das 
Meifte zu leiften. Der Factor kann fein „Deutſches 
Mädchen” anftimmen, der Duartus: „Ad könnt' id) 


470 


Molly kaufen,” Hanno das Trinklied aus dem Yrei- 
ſchütz und der Actuar, der über feinen ganzen Ton 
in feiner Kehle zu gebieten hat, mag meinetwegen 
quiefen oder miauen, wie's ihm beliebt, je Lauter- 
deſto beſſer. Ich Bin überzeugt, wenn Jeder das 
Seine thut, fo wird ber wierbeinige Unhold je eher 
je lieber die Flucht ergreifen. Die Hauptjache freilich 
befteht darin, daß Alle kräftig einfallen und aus Lei— 
beöfräften ihre diverſen Stimmen erheben. Es kommt 
diesmal weniger auf den Wohlflang, als auf Behe- 
menz des Geſanges an. Ih und Hanno Fönnen es 
freilich nicht allein machen. Ich glaube nicht, daß 
wir Beide allein den Löwen zur Raifon bringen.” 

„Auh wird es nicht undienlih fen,” fuhr er 
fort, „daß wir uns möglichft zufammen ſchaaren, da— 
mit der Löwe eine compacte Maſſe vor fi) erblidt, 
welche anzugreifen er wohl Bedenken tragen dürfte.“ 

Diefer letzte Vorſchlag fand im Miitteltreffen ben 
meiften Anklang. Man drängte fich orbentlih, um 
die Concentration fo ſchnell wie möglih zu bewerf- 
ftelligen. | 
„So wie ih das Zeichen gebe, ſprach Lagemann, 
„fallt Ihe Alle ein. Bor der Hand wollen wir uns 
ruhig verhalten. Es wäre doch möglich, daß der 
Löwe feinen Angriff beabfichtigte. 

Wieder rollte das furchtbare mujeftätifche Gebrüll 
durdy den Wald, deſſen Urheber jest gar nicht weit 
entfernt fein fonnte. Der Ton wirkte aber fo ges 
waltſam auf das engconcentrirte Heer, daß es faft 
aus einander geplatt wäre. \ 

„Ber zudt und rudt denn fo ungeberdig?” frug 
Lagemann in höchſt ftrafendem Tone; „id dächte Ihr 
wäret e8, Factor?” 

„Ih Kann mir nicht helfen,“ entſchuldigte ſich 


474 


dieſer, „ich kann das Brüllen nicht vertragen, e8 reift 
mid, jevesmal herum; wer kann für feine Nerven.” 

„Der Menſch vermag viel über fi, fo er nur 
will,“ ſprach Lagemann, „jett. will ich mich aber als 
Conmmandant auf meinen Poften begeben, nämlich) 
hinter die Fronte, damit ich beſſer Alles überfchauen 
und namentfid) das Enfemble des Geſanges richtig 
leiten kann.“ 

Er zog den Dragonerſäbel aus dem erweiterten 
Knopfloche, um ihn als Commandoſtab und Taktir⸗ 
ſtock zugleich zu gebrauchen. 

Der Factor hielt mit dem einen Arme den Hel⸗ 
denſpieler inbrünſtig umſchlungen, während er mit dem 
andern den Actuar zärtlich an's Herz drückte. Zwi— 
ſchen Zeiſig und Süßmilch guckte das Antlitz des 
Quartus ziemlich zerſtört hervor. 

Der unmittelbar im Rücken des Herzens aufge— 
pflanzte Oberbefehlshaber ward nicht müde, dem za— 
genden Corps Muth einzuſprechen und daſſelbe zu 
kühner Ausdauer anzufeuern. 

„Ihr werdet ſehen,“ ſprach er, „es hat keine Noth 
und wäre der Löwe noch ſo groß, an einen Geſang, 
wie wir anſtimmen, iſt er nicht gewohnt. Ich bin 
überzeugt, daß er die Flucht ergreift, ohne daß es 
unſerer Sehwerkzeuge bedarf.“ 

Da entſtand in den benachbarten Geſträuchen mit 
einem Male ein entſetzliches Gepraſſel. Es hätte 
nicht viel gefehlt, ſo wäre das Centrum des Heeres 
durch des Factors convulſiviſche Nervenzufälle geſprengt 
worden. Lagemann, welcher im Rücken der Schlacht⸗ 
linie ſtand, hatte aus Leibeskräften zu halten. Zu— 
gleich gab er das Zeichen zum Beginn des Geſanges. 

„Stimmt an,“ rief er, „das war er, nur herz⸗ 
haft eingefallen. Es ift die einzige Rettung.‘ 


412 


Er jelbit begann nun mit durchdringender Stimme, 
deren Vehemenz man die nahende Gefahr etwas an 
merkte: | 

„Beim großen Faß zu Heibelberg, 
Da flgt ber FG ie, ß 
Und auf dem —5 — Johannisberg 
Ein hochwohlweiſer Rath.“ 

Im Baſſe fiel ver Heldenſpieler ein: 


„Hier im ird'ſchen Jammerthal 
Gäb's doch nice als Plad und Dual, 
Hätt' der Stod nit Trauben.” 

Der Factor, Betterlein und Zeiſig -[perrten zwar, 
wie Heine hungrige Staare, die noch nicht ausfliegen 
fönnen, inftinttmäßig die Mäuler auf, aber fie waren 
nit im Stande, vor Angft einen Ton hervorzu— 
bringen. 

„So fingt doch zum Teufel,“ rief ihnen Lage— 
mann zu, „wir find .fonft verloren!” und begann mit 
erhöhter Stimme: 

„Beim großen Faß zu Heidelberg.‘ 


Da preften Factor, Quartus und Actuar aus 
Leibesfräften und mit Verzweiflung Wie Blafebälge 
dehnten ſich ihre Lungenflügel aus, die Mäuler fpreiz- 
ten ſich auf, als gelte es Erdkugeln zu verfchlingen; 
die drei verzerrten Gefichter glichen denen von Ver— 
banımten im äußerften Höllenpfuhl. Endlich kamen 
Töne zum Borfchein, Töne, wo ſich alle Menjchen- 
haare jo fchleunig wie möglich würden empor gebäumt 
haben, wenn fie bei ven Triumvirn nicht fchon ker— 
zengrade geftanden hätten. 

Während Lagemann fortwährend mit besperater 
Stimme wiederholte: 


„Beim großen Faß zu Heidelberg,“ 


473 


und der Helvenfpieler im tiefften Baſſe: 

„Würfelſpiel und Kartenluſt,“ 
krächzte der Factor: 

„Ich bin ein deutſches Mädchen, 
Mein Aug’ ift blau und ſanft mein Blick,“ 

und Betterlein: 

„Ach könnt’ ih Molly Taufen, 

Fir Gold und Edelſtein.“ 
Zeiſig, der fih in der allgemeinen Noth fchlechtervings 
auf feine Arie zu befinnen wußte, und doch auch das 
Seine zum allgemeinen Beiten beitragen wollte, um 
nicht vom Löwen verfchlungen zu werben, befolgte 
den Rath, weldem ihm Lagemann früher gegeben 
und quiefte und miaute aus Leibesfräften. 

Nichtspdeftoweniger warb ber vermeintliche Löwe 

fihtbar, welcher aber nichts weiter als eine hochauf- 
geſchoſſene Giraffe war. Sie jtedte neugierig den auf 
langem Halje fitenven Kopf durch die Zweige, um zu 
ſehen, was wohl da unten für ein Conzert aufgeführt 
werde; doch kaum hatten die Triumvirn ven feltfa- 
men Kopf gefhaut, der nicht weniger denn zehn El- 
en body herabgudte, als troß Lagemann's und Han- 
no's Geiftesgegenwart die gefanımte Akademie über 
den Haufen fil. Man würde beim Anblide des 
Löwen nicht jo erfchroden fein, als bei diefem Gi« 
taffenfopfe, der wie aus ven Wollen herabjchaute. 
Daß der liebe Gott ein To baumlanges Thier ge= 
Ihaffen, davon hatten weber der Factor noch Zeifig 
eine Ahnung gehabt, und der Quartus, objchon er 
zu Niederroßla feiner Schuljugend Naturgefchichte über 
bie vierfüßigen Thiere hatte vorgetragen, war doch 
von der riefenhaften Erſcheinung dermaßen angegriffen, 
daß ihm 

„Ah könnt' ih Molly laufen’ 


- 


ATS. 


Ichlechterdings in ver Kehle fteden blieb. Der Yactor 
befam wieder Nervenanfälle und Zeifig glaubte ſich 
bereits verfchlungen. 

Bergebend ermahnte der Oberfelvherr und Hanno, 
welche den überaus frieplichen Charakter ver Giraffen . 
fannten, SHeldenfinn zu entwideln. Es war Alles 
vergeblih. Das Mitteltreffen lag wie erfchoffen re— 
gungslos, einer über den andern. 

„Es ift ja der Löwe gar nicht,‘ rief Yagemann, 
„jondern nur eine Giraffe, welde fein Kind be= 
leidigt.“ 

Die Giraffe ſchien ebenfalls . fein Held zu fein. 
Sie z0g den Kopf wieder zurüd, getraute fih nicht 
näher und man hörte fie nach einigen Secunven nad) 
einer andern Richtung hin abtraben. 

„Das Thier ift unftreitig vor dem Löwen geflo= 
hen,” meinte Hanno. 

„Kann wohl fein,‘ erwieverte Lagemann; „aber 
wir können jet auf Seine Majeſtät nicht länger 
warten. Unfehlbar hat der Löwe wieder den Rück— 
weg angetreten, denn fein Gebrüll, das ſich von Zeit 
zu Zeit vernehmen läßt, tönt weit entfernter. Wenn 
wir und jeßt nicht rüftiger dazuhalten, erreichen wir 
das Goldland auf den Nimmermehrstag; und da ift 
im Grunde Niemand jchuld als diefe drei Schäder. 
Wie fie wieder baliegen, die abgeftohenen Kälber. 
E83 wäre wirklich vernünftiger gewefen, Hanno, wir 
hätten vie Goldfahrt ohne dieſes Volk unternommen. 
Wir könnten längft das Ziel unferer Reife erreicht 
haben. Wie lange wird es jet wieder Zeit brau— 
hen, die Gebrechlichen auf die Beine zu bringen.” 

„Sch bin dafür, daß wir weiter feine ümſtände 
mit ihnen machen und fie ruhig liegen lafjen, wenn 
fie dem erften Aufgebot nicht folgen,” meinte Hanno, 


175 


„Es ift Dies auch meine Meinung,” fprad) Lage⸗ 
mann, „ſolche Schächer verdienen gar feine Schätze. 
Auch haben fie, falls fie nicht die Reiſe in's Gold⸗ 
land mitmachen, durchaus feinen Anſpruch auf unfere 
Beute.” 

„Das verfteht ſich,“ erwiederte ber Heldenſpieler, 
„nicht ein Prozent treten wir ab.“ 

„Ih wüßte auch nicht wofür,“ verfeßte der At⸗ 
taché und wandte ſich zu ben Triumvirn, bie noch 
immer wie todt im Graſe lagen. Der Anblick der 
großen Giraffe hatte wirklich einen unbeſchreiblich nie— 
derſchlagenden Eindruck auf ſie hervorgebracht. 

„Hollah,“ ſprach Lagemann, den nervenſchwachen 
Factor mit dem Fuße anſtoßend, „die Reiſe geht 
vorwärts. Wollt Ihr mit oder lieber hier warten 
bis wir wiederkommen?“ 

Süßmilch warf vor allen Dingen einen ſcheuen 
Blick nach dem Orte, wo ber Kopf der Giraffe her- 
vorgeblidt hatte. 

„It das Ungeheuer fort?“ frug er ängftlich. 

„zange chen,” gab der Attahe zur Antwort, 
„jest kommt aber, id und Hanno warten feinen Au⸗ 
genblid länger. 

„Ich dächte, wir kehrten nad dem Lager zurüd,’ 
gab Süßmilch den wohlgemeinten Rath, „es ift doch 
das eine befjer wie das andere. Was meint Ihr, 
Logemann? Unfer undriftliher Golddurſt hat uns 
bereit8 in eine Menge von Gefahren geftürzt und wer 
kann willen, welche unſrer nod) erwarten.” 

„Es ift dies auch meine Meinung, verſetzte ber 
Duartud. „Ich glaube, der afrikanifhe Reichthum 
ft und nicht beftimmt. Ih ftimme auch für ben 
Rückzug.“ 

„Ich auch,“ ſeufzte Zeiſig. 


476 


„Ihe habt gar nichts zu ſtimmen,“ fuhr Rage- 
mann feine Truppen hatt an. „Wenn Euch das 
Herz in die Hofen gefahren ft, jo feheert Euch zum 
Teufel. Ih und ver Helvenfpieler, wir werben ung 
auf dem Wege des Ruhms und der Beute durch 
Eure Dafenyerzigteit nicht aufhalten laſſen. Nicht 
war, Hanno?’ 

Bewahre der Himmel,“ antwortete dieſer. 

„Ein ächter Mann bleibt nicht auf halbem Wege 
ſtehen,“ ließ ſich ver Altahe eines Weitern verneh- 
men; „aber Ihr werdet e8 in Eurem Leben zu nichts 
bringen. Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.” 

„Run, id dächte wir hätten gewagt,” gab Vet— 
terlein zu bedenken, „haben wir es bis jett nicht mit 
lauter Ungeheuern zu thun gehabt?“ 

„Bagatellen,“ verjegte Lagemann abiprechen, 
„wenn die Gefahren nicht jchlimmer kommen, find fie 
nicht der Rede werth.“ 

PVetterlein gudte hier den Factor bedeutfam an, 
welcher fich ſehr kopfichüttelnd eine Prife nahm. 

„Uebrigens frage ich jett zum allerlegten Male, 
ob Ihr uns nah dem Goldlande noch folgen wollt 
oder nicht?“ 

„Sch wollte mir nur zuvor noch die Bemerkung 
erlauben —“ gab Süfmild zu bevenfen. 

„Hier werden gar feine Bemerkungen erlaubt,” 
fiel der Attachs abſprechend ein. 

„Es wäre nur von wegen —“ meinte der Factor. 

„Nichts da,” entſchied kategoriſch Lagemann, wel- 
cher Süßmilch abermals nicht ausreden ließ, „Ihr 
habt nur zu erklären, ob Ihr uns folgen wollt oder 
nicht.“ 

„Ich dächte, wir wollten nicht, verſetzte nad) einer 
Paufe Eeinlaut der Quartus. 


477 


„Das dacht’ ih auch,” meinte ver Yactor eben- 
falls nady einer Baufe, „denn, wenn man alle die 
obwaltenden Berhältniffe und Umſtände in veifliche 
Ueberlegung zieht, jo ftelt fih am Ende faft unwi- 
derruflih heraus, dap —“ 

„Ihr Ejel ſeid,“ ſprach teoden Lagemann, und 
nahm den Heldenjpieler am Arm; „kommt, Hanno,” 
fuhr er fort, „mit dieſen Gevatter Schneidern und 
Handſchuhmachern ift nichts anzufangen. Laßt uns 
unſerm Sterne allein vertrauen.” j 

„a, das wollen wir,” erwiederte der Helden⸗ 
ſpieler und feiner einftigen Kumft fi) erifnernd decla⸗ 
mirte er: 

„Da Stehen wir ein entlaubter Baum, 
Doch innen im Marke lebt bie jchaffende Gewalt.‘ 

Mit diefen Verfen aus dem Wallenftein verſchwan— 
ven Lagemann und Hanno im Gebüſch und ließen ‘ 
ihr zeitheriges Mitteltreffen in einer höchſt merkwür⸗ 
digen Gemüthsftimmung zurück. 

Einen folhen Staatsſtreich, mitten allein in einer 
heidnifchen Wildniß von den eignen Heerführern zu- 
rüdgelaflen zu werden, das hatten fie nicht erwartet; 
und je länger und angeftrengter fie über vdiefen Fall 
nachdachten, in deſto graufigerm Lichte erfchten er ihnen, 

„Sie find vielleicht nicht weit und fehren bald 
wieder, meinte tröftend der Factor, obſchon er an 
diefen Troſt ſelbſt nicht vecht glaubte. 

„Wir hätten uns doch nicht trennen ſollen,“ ſprach 
Vetterlein mit äußerſt beforglichen Geſicht. 

„Wollen wir ihnen nicht nacheilen, ſie können 
keine hundert Schritt entfernt ſein?“ ſchlug Süß⸗ 
milch vor. 

„Wenigſtens wollen wir ihnen zurufen,“ ſprach 
Vetterlein, „bevor der Zwiſchenraum zu geb wird.“ 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVIII. 


478 


Die Ausführung dieſer BVetterlein’jchen Idee ließ 
diesmal nicht lange auf fid) warten. . 

„Herr Lagemann! Herr Lagemann,“ rief bie 
Stimme des Duartus aus Leibesfräften, „wir haben 
und anders bejonnen.” 

„Dann folgt uns fchnell, ertönte eine Antwort 
aus der Entfernung. 

Die drei Nadnüger reſolvirten fich daher ſchnell 
und.fuchten ihre Vereinigung mit Hanno und dem 
Alttaché zu bewerfftelligen. Sie waren auch bereits 
ben beiden Feldherren jo nahe gekommen, daß fie fich 
mündlich unterreden konnten, als eins ber außerordent⸗ 
lichften Ereigniſſe die nachfolgende Truppenmacht plöß- 
lid) wie angebonnert ftehen hie ieß. 

Ein gewaltiges Rauſchen in dem Gebüfh vor 
ihnen ließ fid) vernehmen, e8 war nicht anders, als 
wenn mehre Compagnien Fußvolk durch's Gefträuch 
brächen. Höchſt befrempliches Gemurmel ſchlug an 
das zagende Ohr des nachfolgenden Heeres. Plotzlich 
ertönte kreiſchender Hülferuf von Seiten Hanno's und 
Lagemann's. 

„Zu Hilfe, Factor, Quartus, um aller Barm- 
herzigkeit willen,” ſcholl e8 verzweifelt durch den 
Wald, „wir find überfallen!“ 

Die beiden nah dem Goldlande voranjcreiten= 
den Feldherren waren einem umberfchmweifenden Ne- 
gerftamme in die Hände gerathen. Eh’ fie zur Be— 
finnung kommen konnten, fühlten fi) der Attaché wie 
der Helvenfpieler von ſchwarzen Fäuften gepadt und 
der Erfte fich feines halben Dragonerfäbels, der An- 
bere feines Carbonaris und des Bambusftods beraubt. 
Zu gleiher Zeit band man ihnen die Hände auf den 
Rüden und einige urkfräftige Peitſchenhiebe deuteten 


" 479 


ven Gefangenen an, daß fie fih in Marſch zu ſetzen 
und ihren ſchwarzen Gebietern zu folgen hätten. ' 

Daß unter obwaltenden Umftänden das Mittel- 
treffen, ohne dem Hülferuf im ntfernteften nachzu— 
fommen, ſchleunigſt den Rückmarſch antrat und zwar 
in ausbauernd geftredtem Galopp, wird Niemandem 
Wunder nehmen. In der That gelang es auch, 'wie- 
wohl nad einer beifpiellos forgirten Retirade, dem 
gehetsten Stleeblatt, noch im Laufe deſſelben Tages das 
Lager zu erreichen, wo man allerdings wie tobt hin- 
fiel und faum fo viel Kraft hatte, den Capitain von 
der unerhörten Begebenheit in Kenntniß zu feten. 


Achtes Kapitel. 


Was ungefähr acht Tagen fehrten Gamaliel, Bictor 
und Zohu in einem geräumigen Boote vom Yort 
St. Louis nad) dem . Borgebirge St. Anna, wo bie 
Schiffbrüdigen ihre Hütten aufgeſchlagen, zurüd. 

Es dürfte jet dem Leſer nicht ganz uninteref- 
fant fein, das fernere Schidfal Lagemann's und Han— 

no's, welche fich gefangen in den Händen ber Man— 
dingo-Neger befanden, zu erfahren. 

Wie ſchon angedeutet worden, machten die Neger 
nicht die geringften Umſtände mit den. zwei gefange- 
nen Europäern. Im Gegentheil festen fie alle Hu— 
manitätsmaßregeln auf das Auffallenpfte aus ben 
Augen. Auf ein paar Hiebe mehr oder weniger Tam 
e8 der wilden Horbe nicht an. 

Lagemann, ber es ſelbſt in ver waurigſten Lage 


180 > 


nicht unterlaffen konnte, Vorwürfe zu machen, lag 
dem um feinen Mantel höchlich beftürzten Heldenfpie= 
ler fortwährend in den Ohren. | 

„Ber nur Euch folgt, Hanne,“ ſprach er mit 
ſtillen Ingrimm, „ver kann fidher fein, zu Grunde 
zu gehen, wenn er nicht gar gehenkt wird. Das hat ' 
man nun von Eurem Goldlande. Ein Teufel muß 
Euch den Rath eingegeben und ein anbrer Teufel 
mic geblendet haben, auf Euern Vorſchlag zu folgen. 
Nun fteht uns die erlabende Ausficht bevor, entweder 
heut’ Abend noch geichlacdhtet und gebraten oder nädh- 
fir Tage in die afrilanifhen Bergwerke im Innern 
als Sclaven ‚verkauft zu werden. Man folge nur 
einem Comödianten!“ 

Ein aufßerorventliher Senfzer von Seiten Lage— 
mann’3 folgte viefen Worten. 

Der Helvenfpieler, welcher mit auf dem Rüden 
gebundenen Händen neben dem Attacye einherjchritt, 
tröftete. 

„Vielleicht,“ fprad er, „daß wir noch gerettet 
werden; Zeiſig, Vetterlein und der Yactor find ge— 
wiß glücklich entfommen und ſchlagen Lärm; der Fac— 
tor hat erftaunlid lange Beine und kann beifpielloe 
ausſchreiten.“ 

Der Magdeburger wollte auf dieſe Hoffnung nicht 
viel geben. 

„Eh' ſich dieſe Hottentotten,“ meinte er, „nach 
dem Lager finden, können wir bereits zwei Mal ge— 
ſchlachtet, gebraten, verſchlungen und wieder verdaut 
ſein.“ 

„Dann freilich käme die Rettung zu ſpät,“ ſprach 
dumpf der Heldenſpieler. 

„Das ſag' ich auch,“ replicirte Lagemann; „im 
Gegentheil wär’ mir's recht lieb, wenn die Schwar— 


184 


zen das nichtsnutzige Kleeblatt ebenfalls mit erwiſcht 
hätten. In Geſellſchaft trägt ſich Ungemach leichter.“ 

„Ihr habt ja meine Geſellſchaft,“ tröſtete Hanno. 

„Die iſt darnach,“ entgegnete der Attahe. Nach 
einer Baufe fuhr er fort: „Es ift in der That zum 
Raſendwerden, daß gerade mid) dieſes Unglüd treffen 
muß, während die Dummheit glüdlic davon kommt.” 

Bei den überftandenen Prüfungen dachte er wieder 
feiner Leiden unter Hanno's Sarbonari, und ihm ward 
in feinem Unglüd wenigſtens bie Oenugthuung, dieſen 
verwänfchten Mantel jetzt in feinblicher Hand zu wiſſen. 

„Nun habt Ihr auch einen Mantel gehabt,” 
ſprach er ſchadenfroh. 

„Leider,“ ſeufzte der Heldenſpieler und ließ in 
Erinnerung an ſein Kleidungsſtück, in welchem er 
zeither allem Mißgeſchick getrotzt und in welchem er, 
ein zweiter Alexander, halb Aſien zu durchwandern 
gedachte, betrübt das Haupt ſinken. 

„Keine Strafe iſt gerechter,“ fuhr Lagemann fort, 
„gedenkt der Frevelthat, vie Ihr vermittelſt des ver= 
wünfchten Carbonari allein gegen mid verübt habt. 
Wenn e8 überhaupt mit Gerechtigkeit auf Erden zu— 
ginge, jo müßtet Ihr, bevor man Euch bratet, eben- 
falls unter Eurem eignen Mantel fo zugerichtet wer- 
den, wie Ihr mid, einft zugerichtet habt.‘ 

„Lagemann,“ ſprach Hanno, „ſeid nicht fo nach— 
tragend, wer weiß, wie wenig Stunden wir noch auf 
dieſer ſchönen Erde zu wandeln Haben.” 

„Wer iſt denn daran ſchuld,“ fuhr der Magde— 
burger auf, „daß ich nicht länger mehr auf dieſer 
ſchönen Erde, die ich im Vorbeigehn geſagt, übrigens 
gar nicht ſo exemplariſch finde, wandeln ſoll? Kein 
Menſch als Ihr. Es iſt entſetzlich, in feinen beſten Jah— 
ren eines Comödianten willen hingeopfert zu werden.“ 


482 


e Der Helvenfpielee war ob der bevorftehenven To⸗ 
desſtunde ſehr weich geſtimmt. 

„Lagemann,“ fuhr er fort, „bedenkt daß Ihr ein 
Chriſt ſeid —“ 

„Und Ihr ein Heide,“ unterbrach ihn der Attache. 

„Dergebung in der Todesſtunde ift mas Schö⸗ 
nes —“ 

„Einbildung, wo ſoll in der Todesſtunde das 
Schöne herkommen?“ 

„Man ſchlummert ſo ſanft und ſelig hinüber. “ 

„Ich mag aber noch nicht fanft und felig hin— 
überfchlummern, fuhr der Attache den unberufenen 
Geeljorger von Neuem an. „Es kommt nichts .her- 
aus dabei; ich weiß es.“ 

„Lagemann, wie gottlo8 ſprecht Ihr.‘ 

„Der Teufel möcht's nicht.” 

„Bas ich für Euch thun kann, Euch den Hinüber- 
gang zu erleichtern, will ich gerne thun.” 

„Ihr wär't der Mann darnad).” 

„Ich glaube doch, daß id Etwas thun könnte; 
wenigftend würde es Eud den Abſchied vom Leben 
weniger ſchmerzensreicher machen.“ 

„Ihr wollt mich wahrſcheinlich vorher in der Stille 
erdroſſeln, damit ich nicht unter den Fäuſten der 
Schwarzen das Leben aushauche. Ich bedanke mich. 
So weit ſind wir noch nicht.“ 

„Lagemann, weld ein Gedanke. Es fer ferne 
von mir, an Euren ftattlihen Leichnam Hand anzu— 
legen.” 

„Außerdem begreife ich nicht, was Ihr noch für 
mich thun könntet ?“ 

„Viel, viel, guter Lagemann.“ 

Der Attaché, von neuer Lebenshoffnung ergriffen, 
glaubte jetzt, Hanno wiſſe ein Mittel, ihn, vielleicht 


* 


1,83 


mit eigner Aufopferung, aus den Klaunen der Schwar- 
‘zen zu vetien. 

„Wenn Ihr während der Nacht,“ ſprach er, „viel- 
leiht mit den Zähnen meine Hände freimachen künn- 
tet, jo wollt! ih dann ſchon fehen, wo der Zimmer— 
mann daß Loc gelafien hat. Hanno, eine ſolche That 
gereichte Euch fürwahr zur Ehre. Ich würde fie Euch 
nie vergefjen. Auch müßt Ihr bevenfen, dag Ihr fie 
mir ſchuldig fein, denn wer bat mid denn in dieſen 
bejammernswerthen Zuſtand gebraht? Einzig und 
allein Ihr.“ 

„Nein, Lagemann,“ erwieberte der SHelvenfpieler, 
„macht Euch feine trügerifchen Hoffnungen. Aus ven 
Klauen der Feinde vermag ih Euch nicht zu retten, 
fo gern ich) wollte; wir find viel zu ftarl und zu vor- 
fihtig bewadt. Nein, Euer fterbliher Leichnam ber 
fahre in Gottesnamen dahin und werde wieder Afche, 
weldyes er fchon früher geweien. Aber, Euch ven 
Tod zu erleichtern, Euh den Berluft des Lebens 
weniger fühlbar zu machen, dazu hab’ idy ein Mittel.” 

„Wenn Ihr meinen Leib nicht zu retten vermögt, 
hole der Teufel Euer Mittel.” 

„Lagemann, ſeid doch nicht fo trotzig in den letz⸗ 
ten verhängnißvollen Stunden. Geht in Euch.“ 

„Das iſt bald geſagt, geht in Euch, wenn man 
noch ganz außer ſich iſt.“ 

„Vernehmt mein Mittel, ich beſchwöre Euch, 
wird Euch — nicht allein, es wird auch mir zu —* 
hafter Beruhigung gereichen. “ 

„So es in Euern Nuten ſchlägt,“ proteftirte der 
Magveburger, „mag ich nichts wiſſen. 

„Weder in meinen noch in Euern irdiſchen Nutzen 
ſchläglo, und es iſt nur, um froher aus der Welt 
zu gehen.“ 


184 


„Ihr mögt mir fagen, was Ihr wollt, id) werde 
einmal nit froh ſcheiden. Wahricheinli ein mora= 
liſcher Troſt, fpart ven für Euch felbft auf.” 

„zagemann,” hub jest der Heldenſpieler mit ſehr 
bewegter Stimme an, „unfere Stunden find gezählt, 
vernehmt jest das große Geheimniß, warum hr 
mid) fo oft angegangen und das ih Euch bis jeßt 
immer verfchwiegen habe.’ 

„Was wird's fein?” erwieberte unmuthig ber 
Attaché, „Ihr habt mich beitohlen.‘ 

„Richt fo eigentlich beftohlen, jondern — 

„Oder betrogen, daß mir hätte grün und blau 
mögen werben, mcht wahr?“ 

„Allerdings grün und blau würde Euch geworben 
In fo ich Euch das Geheimnig früher entdeckt 

ätte.“ 

„Sehr großmüthig, mir das Geſtändniß erſt zu 
thun, da mir's nichts mehr nützen kann. Alſo beich— 
tet getroſt, mich ſoll's ſehr ruhig laſſen.“ 

„Das hoff' ich auch. Lieber Lagemann, nicht 
wahr, Ihr waret auf der Reiſe nach Kabul begriffen, 
um das Erbtheil in Perſon zu erheben, das ich Euch 
abgetreten hatte —“ 

„Allerdings, und das id Euch mit fchwerem 
Gelde abgefauft —“ 

„Die Ducaten waren zwar etwas leicht —“ 

„Für Euch noch viel zu ſchwer, aber ich begreife 
nicht, was Ihr da Dinge erzählt, die ſo allbekannt 
ſind wie zweimal vier.“ 

„Doch nicht ſo ganz wie Euch ſcheinen dürfte, 
denn wenn Ihr auch nach Kabul gekommen wäret, 
würdet Ihr dennoch kein Erbtheil für Euch vorge— 
funden haben.“ 

„Wie ſo?“ 


188 


„Weil ich gar Feines zu verlaufen hatte. Meine 
Frau ftand allerdings mit im Teftamente, aber nur 
für ihre Perfon und für den Fall, daß fie nod am. 
Leben fei; auf mid ging daher, nad der ausprüd- 
Iihen Erklärung des Teſtaments, nicht ein Pfennig 
über. Ich begreife daher heute noch nicht, wie Ihr 
mid für einen der Erben halten konntet und mit 
mir ein für mid), troß ber leichten Ducaten, eben fo 
vortheilhaftes als für Euch nachtheiliges Geſchäft ab— 
ſchließen konntet.“ 

„O Heidenhund,“ brauſ'te der Magdeburger los, 
„wenn nicht die Stricke mich verhinderten, ich würgte 
Dich auf der Stelle.“ 

Er ſchrie dabei ſo laut, daß ein paar energiſche 
Peitſchenhiebe ihn daran erinnerten, daß er Gefan⸗ 
gener ſei. Zugleich wirkte der Gedanke, daß er un=. 
ter ſeinen dermaligen Verhältniſſen ja ſo auf Kabul 
verzichten müßte, ſehr beruhigend. Er ging daher 
vor ſich hin, ohne ein Wort weiter von ſich zu geben. 

„Nicht wahr,“ erkundigte ſich nach einiger Zeit 
Hanno mit leiſer Stimme, „Ihr werdet jetzt ruhiger 
in den Tod gehen? Der Werth Eures Lebens iſt 
nach meiner Erklärung um hundert Prozent gefallen. 
Was iſt ein Leben ohne Erbſchaft? Auch ich fühle 
mich nach dem Geſtändniß, das mich fo lange, Zeit 
beſchwert, ſo leicht, als habe ſich ein Vorgebirge von 
der Bruſt gewälzt.“ 

„Ich wünſchte,“ raunte der Enttäufchte ingrimmig, 
„es wälzten ſich drei tauſend fünfhundert Vorgebirge 
mit ſammt dem Mond und allen Planeten auf Eure 
verbrechenvolle Bruſt und drückten Euch zehn tauſend 
Klaftern tief in den Erdboden hinein bei dem Ge— 
danken, einen ehrlichen Mann, der Frau und Kinder 
hat, in's Unglück geſtürzt zu haben, denn ohne Euren 


186 


menſchheitſchaudernden Betrug wäre mir's nicht im 
den Sinn gelommen, das friedliche Nieverrofla zu 
verlaffen, wo ih die Hoffnung hatte, mit Nächften 
Stadtverorbneter zu werben.“ | 

„Was wäret Ihr auch weiter als Stadtverord⸗ 
neter in Niederroßla!“ tröftete der Helvenfpieler. 

„Mehr wie Ihr, hoff ich.” 

„Das ift immer no nicht viel! Bedenkt, daß 
Alles eitel ift. Nie war mir der Gedanke Elarer als 
jet; mit meinem Carbonari, dem treuen Begleiter in 
Leid und Freud’, hab’ ich gleichſam den alten Men— 
[hen aus und einen befjeren angezogen.‘ 

„Ih wünſchte es wäre früher gefchehen.” 

. „Es ift immer noch Zeit, wenn ed nur vor- dem 

Tode gefhieht. Bei Euch, Lagemann, fcheint es aber 
nicht der Tall.” 
„Wer hätte ſich denn träumen laſſen,“ erwieberte 
dieſer ungehalten, „daß die Reiſe ſo ſchnell fortgehen 
ſollte? Ich ſtehe noch in den beſten Jahren. Kein 
Menſch denkt da, mit ſich abzuſchließen. Bei mir iſt 
es überhaupt eine etwas verwickelte Geſchichte. Ich 
brauche Zeit dazu.“ 

„Macht es kurz,“ rieth der Heldenſpieler. 

„Das iſt bald geſagt. Dazu gehört vor allen 
Dingen Sammlung, und in meiner gegenwärtigen 
Stimmung —“ 

„Ich bin ſchnell fertig geworden,“ meinte Hanno, 
„meinetwegen kann's dieſe Stunde fortgehen.“ 

„Ich glaube, Ihr geht da zu leichtſinnig zu Werke, 
Euer Sündenregiſter kann das kleinſte nicht ſein.“ 

„Meiſt Uebereilungsfehler.“ 

„Zählt Ihr die Carbonarigeſchichte auch zu den 
Uebereilungsfehlern?“ 

„Warum nicht? Ein jovialer Scherz.“ 


487 


„Das muß ich geftehen, Ihr Eonntet mir das Le— 
benslicht ausblaſen.“ 7 

„SH kannte Eure gute Natur.” 

„Wie ſteht's denn aber mit dem Exrbjchaftsbetruge, 
den Ihr Euch gegen mic habt zu Schulden kommen 
laffen? Etwa auch ein Uebereilungsfehler?‘ 

‚Nein, der war Verbrechen; indeß hat er doch 
auch fein Gutes gehabt.” 

„Da bin ich begierig.“ 

- „Ward er nicht die Veranlaſſung, daß Ihr jett 
zur Buße bereit fein? In Niederroßla hättet Ihr 
Euer ‚Leben lang nicht daran gedacht.” 

„Das könnt Ihr nicht willen, Hanno. 

„Mebrigens, ich begreife nit, worin das Un 
glüd Liegt, frübzeitig das mühenolle Leben zu ver- 
laſſen.“ 

„Da ſieht man Euren Leichtſinn.“ 

„Bas verliert man denn?“ Ä 

„Ihr allerdings fehr wenig; aber ich, angeſeſſener 
Bürger zu Nieverroßla, ein wohlangebrachtes Geſchäft, 
in nädjter Zeit Stadtverordneter.“ 

„Das find alles irdiſche, vergängliche Herrlichkei= 
ten, die einen unfterblihen Geift nicht befriebigen 
können.“ 

„Ich war aber zufrieden damit; ich bin nicht jo 
unbeſcheiden wie Ihr.” 

„Auch ift e8 eine Gabe ver Götter, frühzeitig zu 
fterben.” ‘ 

„Bas das wieder für ausſchweifende Ideen find; 
da brauchte man ſich ja lieber gleich gar nicht gebä- 
ven zu laſſen.“ 

„Es ‚ift noch immer bie Frage, ob ber nicht glüd- 
fiher, der nie geboren ward.” 

„Wenn man aber einmal geboren ift, wie bei ung 


188 


Beiren rer Fall ift, fo bleibt man dech lieber da, als 
tag man jo ſchnell als möglich wieder abtritt.“ 

„Glaubt Ihr an eine Unfterblichfeit, Kagemann 

„Das find Facultätsfragen, mit denen hab’ id 
mich nie befaßt.“ 

ann ſeid Ihr allerdings zu beflagen.“ 

„Run, ich dächte mit Eurer Weisheit über Un— 
fterblichfeit fünnte e8 das Große auch nicht fen. So 
viel ich mid, entfinne, war Euer Dichten und Trad- 
ten jaft nur auf den Leichnam gerichtet. Ich denke 
noch mit Schaudern zurüd, was wid) biefer werthe 
Leichnam koſtet; er fraß ſtets für zwei, meine Bücher 
in —— tonnen e8 bezeugen. 

„Gleichwohl hab’ id nie ganz unterlaſſen, auch 
für das geiftige Wefen Sorge zu tragen. Seine Cr- 
ziehung hat mir ftet8 am Herzen gelegen.” 

„als Ihr mich fo colofjal betrogt, konnte dieſe 
Erziehung noch nicht weit gediehen fein.” 

„Allerdings, der Weg der Tugend iſt zu glatt, 
daß man nicht zuweilen ausgleiten und fallen ſollte.“ 

„Ich dächte, Ihr wäret gar nicht zum Aufftehen 
gefommen.” 

„Ih mar beifer als mein Ruf.“ 


„Dazu gehörte auch nicht viel, denn mit leßterm 


ſah's verteufelt ſchlecht aus.“ 

„Lagemann, wir wollen doch die noch kurz zuges 
meſſenen Stunden und durch Vorwürfe nicht verbit- 
tern, und die dem Gemüthe nöthige Ruhe entziehen, 
welche zu einem Einfehren und Abjchliegen mit uns 
ſelbſt von fo hoher Wichtigkeit iſt.“ 

„Ich mag's anfangen wie ich will,“ geſtand der 
Attache, „ich kann mit mir nicht in's Klare komm 
Dazu bedarf's Zeit, ich nehm’ es nicht fo auf die 
leichte Achfel wie Ihr.’ 


| 


189 


„Geſtorben muß einmal fein,“ fuhr der Helden— 
jpieler tröftend fort, „ein paar Jahr mehr oder wes 
niger was thut's.“ 

„Run, ein paar Jahr, das thut Ihon etwas; id) 
nehme fie gern nut; namentlich bei den ‚jegigen Aus 
ſichten wären ſie gar nicht zu verachten.“ 

„Es kann auch fein,” ſprach Hanno, „daß und 
die ſchwarzen Teufel das Leben ſchenken; aber unter 
einer Bedingung, die auszuſprechen eine Sünde iſt.“ 

— „Bedingung, welche Bedingung?“ frug Lagemann. 

„Ich wag' es kaum, ſie zu denken, aber das Le— 
ben würden wir erhalten.“ | 

„Wagt es getroft, Hanno,” munterte der zu neuer 
Lebenshoffnung erſtarkte Attache auf, „ich verantworte 
e8 auf jedem Tall.‘ 

‚Mein, Lagemann, ed wäre zu entſetzlich.“ 

„Wenn wir das Leben erhalten fünnen, feh’ ich 
ſchlechterdings nichts Entſetzliches; alfo heraus damit, 
ih will's willen.‘ 

Der Helvenjpieler zügerte, Lagemann drängte, 
Endlich ergab ſich Lebterer und ſprach: „Es bepürfte 
nur, daß mir unfern Glauben abſchwören, Mufelmän- 
ner würden, zehn Weiber heiratbeten und berrlih und 
in Freuden lebten.“ 

„zehn Weiber?” 

„Darunter nicht.“ 

° rad ih ſchwöre Das Chriftenthum ab.” 
„Die? Ihr, ein vechtgläubig Getaufter, ich will's 
nicht glauben.” 

„Mir ganz einerlei, aber ich ſchwöre. Ich Fann 
ja, wenn id) wieder unter Chriften fomme, die zehn 
—* abſchaffen und thun, als ob nichts vorge⸗ 
allen.“ 


4190 


„Rein, Lagemann, für fo entartet hätt ih Euch 
nicht gehalten.” 

„Ich wette, Hanno, Ihr macht's gerade fo wie ich.” 

„Die verfennet Ihr mich, Lagemann.“ 


„Hanno, thut doch nicht fo, ich kenn' Euch nicht 


von geſtern.“ 
’ „sn Sachen der Religion hab’ ich meine Grund— 
üße, u 

„Die hat ein Jeder.“ 

„Eh ih Mufelmann würde, ja da wäre ich eher 
im Stande, den lebten Blutstropfen zu verfprigen — 

„Run ba fprist zu, ich will mein Blut behalten. 
In ſolchen Dingen hat Jeder feine befondern Anſich— 
ten. Ich denke aufgeklärt.‘ 

„Für meinen Glauben könnt' ich Alles wagen. 
Tod und Scheiterhaufen follten mich nicht abtrünnig 
machen von der Religion meiner Väter.‘ 

„Das klingt Alles recht ſchön, Hanno, aber 
wenn's dazu kommt, wenn’8 heißt, jest knie nieder, 
Chriftenhund, jest wollen wir Div den Bauch auf- 
jhneiden, Hanno, das ift ein fitliches Ding. Und 
auf der andern Seite zehn Weiber und ein eben 
voller Freude und Wonne.“ 

„Meinetwegen vreitaufend Weiber.‘ 

„Hanno, Menſch ˖ bleibt Menfh. Die Verfuhung 
ift groß. Webrigens find unter den Türken auch ehr- 
liche Leute, und wer rechtſchaffen lebt, kann in ber 
türfifhen Religion auch felig werben. Ehedem waren 
freilich die Leute noch fo beihränft, daß fie nur den 
Bekennern ihres Glaubens bereinftige Seligfeit zuge- 
ftanden. Aber die Zeiten haben fich geändert. Der 
Samen der Aufklärung hat Wurzel geſchlagen. Auch 
ich bin ein Freund der Aufklärung.“ 


494 


„Allerdings, ftrafte ver Heldenfpieler, „weil dieſe 
aufgeflärte Lehre Euren ſündigen Gelüften zufagt.‘ 

„Ich will ja blos mein Leben retten, ſſo merft 
doch auf, das ift doch fein fündig Gelüft, zumal 
wenn ich auf die zehn Weiber verzichte.‘ 

Die Glaubensftreitigfeiten zwifchen dem⸗ religiöfen 
Heldenfpieler und dem aufgellärten Lagemann wurden 
plötzlich unterbrochen, indem ber Negertrupp Halt 
machte und einen Kreis um ben Anführer bilbete. 
Es kam hier zu einer ziemlich anhaltenden ‘Debatte, 
welche von heftigen Geſtikulationen begleitet war. 
Man fchien unter ſich nicht einig werben zu können, 
was mit den beiden Gefangenen anzufangen jei. 

Lagemann wie Hanno ſchauten dieſem ſchwarzen 
Zandtage nicht ohne Beſorgniß zu. Beide befürchte- 
ten das Schlimmite. 

„Wenn man ihnen nur be greiflich machen könnte,” 
meinte der Erftere, „daß es das Vortheilhafteſte für 
fie wäre, wenn fie und gegen Löſegeld frei gäben; 
ih bin überzeugt, daß unjre Landsleute das Mög- 
lichſte thun würden, die Summe aufzutreiben, um uns 
vom Tode und fchimpflicher Sclaverei zu retten.” 

„Die will man aber eine ſolche Propofition dem 
Ihwarzen Bolfe beibringen?” frug der Heldenſpieler. 

Lagemann glaubte jet wenigſtens den Verſuch 
wagen zu müſſen. Er mandte ſich zu dent Neger, 
welcher als Schildwache bei den beiden Gefangenen 

zurüdgeblieben war, und da er die Hände nicht frei 
hatte, ‚welche man ihm auf dem Rüden zufammenge- 
bunden, fo machte er mit dem rechten Fuße eine Ban- 
tomime, weldye Geldzählen verfinnbilolichen follte, 

Die Schwarze Schildwache, die indeß hierin nur 
außerafrifanifche Zauberformeln argmohnte, Tiefe feine 
Peitfche fogleih dermaßen auf Lagemann's Rüden 


492 


bin und wieder tanzen, daß dieſer von feiner panto— 
mimiſchen Vorſtellung ſchnell zurückkam. 

„Nein,“ ſprach er reſignirt, „mit dieſer Thierart 
iſt nichts anzufangen. Ein deutſcher Pudel iſt ein 
Genie gegen dieſes Volk.“ 

Unterdeß ſchien die afrikaniſche Nationalverſamm⸗ 
lung ihren Beſchluß gefaßt zu haben. Der Kreis 
that ſich auf und die Reiſe ging weiter. Den beiden 
Gefangenen kam dieſe Art zu wandern höchſt unbe— 
haglich vor; denn die Schwarzen legten jetzt einen 
vehementen Schritt ein, daß Lagemann und Hanno, 
um mit fortzukommen, beſtändig traben mußten. 

„Es iſt doch ein trauriges Geſchick, feinem Unter- 
gange im Galopp entgegen laufen zu müſſen,“ meinte 
Lagemann. 

„Wenn die Beſtien wenigſtens einmal Halt mach— 
ten,“ ſprach Hanno, „daß man ausruhen könnte. Das 
iſt ja ein engliſches Wettrennen.“ 

„Ich werde mit eheſtem liegen bleiben,“ bemerkte 
der Attachs. 

„Die Schwarzen können unmöglich Lunge und 
Milz im Leibe haben,“ keuchte der Heldenſpieler. 

Indeß währte die Jagd noch geraume Zeit, be— 
vor man den Ort erreichte, wo der Stamm ſein La— 
ger aufgeſchlagen hatte. Lagemann, mehr todt als 
lebendig, ſtürzte wie ein gefüllter Sack zur Erde. 
Nur durch fortgeſetzte Schläge war er die letztere Zeit 
auf den Beinen zu erhalten geweſen. 

Letzterem war der Muth total geſunken. 

„Wenn wir jetzt geſchlachtet werden,“ ſprach er, 
„müſſen wir einen Wildpretbraten abgeben, der nichts 
zu wünſchen übrig läßt. Denn mehr gehetzt kann 
kein Thier werden. Ich glaube, die Jagd geſchah 


u 


193 


aus feinem andern Grunde, als unfer Fleiſch wohl⸗ 
ſchmeckender zu machen: 

„She feid ein rechter Hypochonder geworden,“ er⸗ 
wiederte Hanno. „Fortwährend habt Ihr den Tod 
vor Augen.“ 

„Nach dergleichen Motion pflegt man nicht eben 
Hypochonder zu ſein,“ erwiederte Lagemann. 

„Das mein' ich auch,“ verſetzte Hanno, „darum 
begreif' ich eben Eure düſtern Gedanken nicht. Bei 
mir findet gerade das Gegentheil ſtatt; die Xebens- 
luft war nie in fo großem Grade vorhanden, ſo wie 
auch der Appetit.“ 

„Lebensluſt hätt' ich ſchon ebenfalls noch,“ gab 
Lagemann zur Antwort; „aber die Anſtalten, die 
man da trifft, ſehen mir bedenklich aus; ſehet, ſie 
zünden wahrhaftig ein Feuer an. Es fragt ſich jetzt, 
ob man uns zu eſſen geben oder ſelbſt aufeſſen wird.“ 

In dem Lager befand ſich auch die ſchwarze Ma— 
jeſtät des Negerſtammes, welche auf einem hölzernen 
Seſſel vor einer der Hütten des Kraals ſaß. Das 
Miniſterium ſchien um den König verſammelt und 
allem Anſchein nach waren Lagemann und Hanno der 
Gegenſtand des afrikaniſchen Conſeils. Wenigſtens 
geruhten Seine Majeſtät, ſowie die Großwürdenträ— 
ger, oft nach dem Orte hinzublicken, wo ſich die bei— 
ven Schickſalsgenoſſen in's Gras geftredt hatten. Dem 
Magdeburger entgingen diefe Blicke nicht, und er er- 
mangelte nicht, feine desfallfigen Bemerkungen gegen 
den Heldenfpieler laut werden zu laſſen. 
ſe „Wir ſcheinen ihnen von ſpeciellem Intereſſe zu 
ein.“ 

„Ich wünſchte, ich wäre ihnen eben ſo unintereſ⸗ 
ſant, als fie mir,” erwiederte Hanno; „aber einen 

Stolle, ſämmtl. Schriften, XVIII. 13 


419 


Hunger empfinde ih, ber nicht anmaßender genannt 
werben kann.‘ 

„In dieſem Leben werdet Ihr wohl nichts mehr 
zu eſſen befonmen.‘ 

„Das wäre traurig,” erwieberte der Helvenfpieler, 
„mit hungerndem Magen zu fterben ift mir immer 
für das größte Unglüd auf Erden erfchienen. Die 
weifen Gejeßgebungen ſcheinen das eingefehen zu ba- 
ben; daher man felbft dem Berbrecher die fogenannte 
Hentergmahlzeit reicht, wo es ſplendid hergeht.“ 

Lagemann konnte von feinen hypochondriſchen To— 
desgedanken durchaus nicht loskommen. 

„Ob es nur in jener Welt auch etwas zu brocken 
und zu beißen giebt?” frug er. 

„Zu wünjhen wär's.‘ 

„Freilich Klöße, Pudding, Rinderbraten und der— 
gleichen maſſive Lebensmittel wird es wohl nicht ge— 
ben. Die Geiſter leben von der Luft.“ 

„Ich kann mir da ein eigentlich Sattwerden nicht 
denken,“ erwiederte Hanno. 

„Für Euch wird es einmal jhlimm werben, Hel— 
benfpieler, eine gute Mahlzeit ging Euch über Alles.“ 

„Das iſt wahr.“ 

„So eine braungebratene Martinsgans mit ge— 
ſchmorten Kartoffeln —“ 

„Ich bitt' Euch, Lagemann, laßt das — 

„Oder ein polniſcher Karpfen mit Sn und 
Krautſalat.“ 

„Lagemann, wozu das jetzt?“ 

„Das müßt Ihr doc geſtehen, meine Kirmeß— 
und Faſtnachtſchmäuſe hatten ſich gewaſchen. Als Ein- 
gang ftet3 die brodelnde Wurſtſuppe.“ 

Hanno ftieß bei dem Gedanken an die Wurftfuppe, 
bie ihm über Miles ging, einen jo herzbrechenden 


193 


Geufzer aus, daß der Magdeburger nicht anders 
glaubte, als fein Geführte habe den Geift aufgegeben. 
Er drehte fih daher nad ihm um, und als er ven 
Heldenfpieler noch lebendig fand, fuhr er fort, ben 
einftigen Reichthum feiner Küche mit vieler Umftänp- 
lichkeit vorzumalen; denn er konnte es ſelbſt in ver 
traurigften Situation nicht unterlaffen, feinen Mitmen- 
ſchen einen Schabernad zu fpielen. 

Bei den Fricandeau's mit Kapernfauce und dem 
wilden Schweinsfopf, bei welchem Tettern Lagemann mit 
befonderer Vorliebe verweilte, wand ſich der hungernde 
Künftler wie ein Wurm auf dem Boden. 

Des Magveburgers -mälerifhe Küchenmenoiren 
wurden indeß durch zwei Fäufte, welche ihn unmit— 
telbar an den Ohren faßten und tüchtig zauften, ur- 
plöglic) unterbrohen und für Hanno zu erwünſchtem 
Ende gebracht. Die Fäufte gehörten Niemandem als 
der Schwarzen Schildwacht, welche den nachtheiligen 
Einfluß gewahr worden, den Lagemann's Relationen 
auf den Helvenfpieler hervorbrachten und die fie für 
Hexerei hielt. 

Der an den Ohren gezanfte Lagemann begriff gar 
nit, wodurd) er den Zorn der Schildwacht auf ſich 
gezogen haben Fünne, und gab die Mißhandlung levig- 
lic) ver barbarifhen Laune der Schwarzen fchuld. 

Er beklagte fid) darüber bei Hanno, welcher aber 
in der Furcht, Lagemann könne noch mehr Gerichte 
vor die glühende Phantafie citiren, ſich beide Ohren 
zubielt. Erſt nach geraumer Paufe warb feine Seele 
dem Schalle wieder zugänglih, und er vernahm des 
Magveburgers feufzende Worte: „Ia, wer hätte ab- 
nen fünnen, daß ih, der Eigenthümer von fo vielen 
eßbaren Herrlichkeiten, in meinen beften Jahren rohen 

1 


496 


ſchwarzen Menſchen⸗ Ungeheuern ſelbſt zum Unterhalte 
dienen würde. 

Lagemann's Seufzer ſchien diesmal wirklich in 
Erfüllung gehen zu wollen. Zwei Neger, wahrſchein⸗ 
lich abgejandt von Seiner Majeftät, erfchtenen, faßten 
den etwas wiberftrebenden Attahe an beiden Armen 
und führten ihn vor den Thron Seiner ſchwarzen 
Herrlichkeit, wo fie auf einen Winf den Nieverroßlaer 
Hotelier zu entfleiden begannen. 

Lagemann ahnte aus dieſer Entkleidung das 
Schlimmſte und verſtand ſich erſt nad) vielem Wider- 
ſtreben dazu. Nur durch häufige wiederholte kräftige 
Griffe gelang es den Schwarzen, ein Kleidungsſtück 
nach dem andern dem Attache zu entwinden. Die 
Averfion des letztern gegen bie Entfleidung ward noch 
vermehrt, als er plößlich gewahrte, wie einer der in 
der Nähe ftehenden Neger ein Rafirmefjer hevorzog. 

Als man den Widerjpenftigen bis auf's Hemd 
entkleidet hatte, legte man ihn ſo lang er war auf 
den Boden, und Seine Majeſtät geruhten höchſteigen— 
händig den Körper des vor Angft am ganzen Leibe 
ſchwitzenden Lagemann zu betajten und zu durchkneten. 

Der unglüdlihe ci-devant Hotelier von Nieber- 
roßla glaubte in feiner bevrängten Lage, man wolle 
ihn fleifhermäßig unterfuchen, ob er aud) gehörig an- 
gejegt, um ver Ffüniglihen Zafel feine Schande zu 
machen. | 

Nachdem fi Seine Majeftät überzeugt, daß die 
weißen Männer gerade eben jo gebaut wären, wie 
feine Unterthanen, darum hatte er den Magdeburger 
unterfucht, nahm er wieder auf feinem GStuhle Plaß, 
und Lagemann ward zu feiner eben jo großen Ver— 
mwunberung als Freude wieder angefleivet. Letztere 
würde vollfommen ungetrübt gewejen fein, wenn nicht 


N \ 


197 \ 


der Schwarze mit dem bligenden Barbiermeffer fort- 
während in der Nähe des Königs geftanven hätte, 

Mehre der hohen Würbenträger machten jetzt 
verfchievene pantomimifche Bewegungen, um fich dem 
weißen Manne verftändlih zu machen; ber weiße 
Mann aber verftand fchlechterbings nichts von all’ 
dieſen telegraphifchen Geſtikulationen. Cr fchüttelte 
fortwährenn mit dem Kopfe, indem er beſtändig aus— 
rief: „Nir verfteh,” welchen Ausprud er aus fernen 
Converfationen mit den Kofaden gewohnt war. 

Endlich reichte man ihm das Barbiermeffer und 
zeigte unverholen auf den Hals. 

„Daß Gott,” dachte der Hotelier, „da ſoll ic 
mir wahrfcheinlich mit eigener Hand bie Kehle ab— 
ſchneiden. Das ift doch eine gräglihe Zumuthung.“ 
Jetzt that der Attaché erft recht, als ob er bie 
Schwarzen nicht verſtünde. 

Nun zeigte man auf Seine Majeftät, welche auch 
ſogleich den Hals entblößte und bereitwillig hinhielt. 

„Alſo dem Könige ſelbſt fol ich die Gurgel durd- 
Ihneiden?” dachte Lagemann; „das ift was Anders. 
Wahrſcheinlich getrauet fih Niemand von feinen ges 
treuen Unterthanen an den gebeiligten und gefalbten 
Corpus, 

Er unterfuchte jetzt curagös bie Schärfe des Ra⸗ 
ſirmeſſers und fand, daß fie nichts zu wünſchen übrig 
laſſe. 

„Unfehlbar,“ fuhr der Attache in feiner Gedan—⸗ 
kenfolge fort, „iſt es ein Tyrann, welcher den Tod 
verdient hat; er würde ſonſt nicht ſo gutwillig den 
Kopf herhalten. Ich vertrete blos das Schwert der 
Gerechtigkeit und habe mir wegen ſeines Ablebens 
keine Vorwürfe zu machen.“ 

Er war eben im Begriffe an's Werk zu gehen, 


198 \ 


um Seiner ſchwarzen Majeftät den Kopf vor die Füße 
zu legen, al® eine innere Stimme ihm zurief: „Bift 
du des Teufels, Lagemann, was ftehft du im Begriffe 
zu thun? Königsmord! Bedenke wohl, was du thun 
willſt. Wenn nun die Schwarzen etwas ganz An— 
deres gemeint haben und du fäbelft in aller Ruhe 
bie fünigliche Kehle durch? Das wäre entfeglich, und 
du wäreſt unfehlbar der Erfte, welcher Seiner Maje⸗ 
ftät in's dunkle Jenſeits folgte. Alſo überlege wohl, 
bevor du zuſchneideſt.“ 

Während er noch mit fich berathend daſtand, er— 
tönte plöglic die Stimme des Heldenſpielers, welcher 
ben zeitherigen Proceduren and der Ferne zugefchaut 
hatte, und ihm zurief: „Seht Ihr denn den Wald 
vor Bäumen niht? Der Kerl will barbirt fein.” 

Jetzt ging dem Attaché ‚ein Licht auf. Er be— 
trachtete fi) den Bart Seiner Majeftät genauer und 
fand, daß er wirklich von ausnehmender Fänge ſei. 

„Hanno hat wahrhaftig recht,“ ſprach er für ſich, 
„den Bart ſoll ich ihm abnehmen. Wie konnte ich 
nur fo thöriht fein, an den Hals zu denken? Da 
würd’ ich mir was Schönes angerichtet haben.” 

Jetzt entjtand aber die Frage, wie er ohne Beden 
die Ihwarze Majeſtät einfeifen ſollte. Er ſchaute ſu— 
hend im Kreife der Großmwürdenträger umher. Dies— 
mal ſchien man feine Blide zu verſtehen. Mean 
brachte eine Art irvenes Waſchbecken, in welchem eine 
weiße Mafje ſchäumte. Der Attaché überzeugte ſich 
durch den Geruch alsbald, daß dieſer Schaum aller- 
dings nicht von Seife herrührte. Indeß ließ ihn das 
ſehr gleichgültig und er ging mit vieler Zuverſicht 
an's Werk. 

Die Aufmerkſamkeit ſämmtlicher Anweſenden er— 
reichte den höchſten Grad, als Lagemann Seine Ma— 


"mn 


199 


jeftät einfeifte. Man drängte ſich ordentlich, felbft auf 
Gefahr, die afrifanifche Etiquette zu verlegen, um dem 
europäiihen Barbier, welcher feinem neuen Amte feine 
Schande machte, zuzufehen. Bei den Schwarzen war 
die Sitte des Barbierens noch etwas völlig Neumo— 
diſches. Seine Majeftät und einige Große waren 
bisher die Einzigen, welche diefer Neuerung huldigten. 
Leider aber waren fie von ihren zeitherigen gänzlich 
ungeſchickten ſchwarzen Barbieren dermaßen gejchunven 
worden, daß bei ihnen der Act des Barbierens unter 
die Torturen gehörte. Es wär daher nur ein weiſer 
Rathsbeſchluß zu nennen, einem Weißen das Bar⸗ 
bieren zu übertragen. 

Die Blide Aller waren, während Lagemann jeines 
neuen Amtes mit Eifer oblag, auf die Gefichtszüge 
Seiner Majeftät gerichtet, deren Ruhe und Heiterkeit 
man nicht genug bewundern konnte. Man war näm⸗ 
lich zeither gewohnt gemejen, den König unter den 
ſchwarzen Barbieren wie einen Hiob leiden und gleich 
dem Laokoon die ſchmerzensreichſten Gefichter ſchneiden 
zu ſehen. 
| Kaum hatte Lagemann geenvdet und feine verbind- 
liche Berbeugung gemacht, als man ſämmtliche Groß- 
würbenträger, wie mit einem Schlage, zur Erbe fal- 
len und die Arme flehend zum Könige emporheben 
ſah. Diefer war ob ver ſchmerzlos überſtandenen 
Dperation jo wohl gelaunt, daß er allerhöchftgnäbig 
mit dem Kopfe nidte. Sofort nahm der Großſiegel⸗ 
.bewahrer auf einem Seſſel Pla und Lagemann ward 
bedeutet, die Operation des Bartabnehmens aud an 
dem Chef des Minifterii vorzunehmen. 

Der Attaché glaubte fich bei fo hochgejtellten Per- 
fonen infinniren zu müſſen, und er ſchor daher den 


200 


Chef mit derſelben Geſchicklichkeif, wie er deſſen Mo— 
narchen geſchoren hatte. 

Neue geſpannte Aufmerkſamkeit, neues allgemeines 
Entzücken. 

Nach dem Miniſterpräſidenten kam ver Cultus— 
miniſter an die Reihe. Nach dem gereinigten Cultus 
der Vorſteher der Rechnungskammer. So folgte ein 
Departementschef nach dem andern. Lagemann hatte 
zu thun wie ein Barbier zur Zeit der Leipziger 
Meſſe. Nachdem er das geſammte Miniſterium und 
auch bereits ein Paar geheime Rathe abbarbiert hatte 
und bemerkte, daß immer neue Fußfälle geſchahen und 
Seine Majeftät fortwährend huldreich mit dem Kopfe 
nidte, jo ward ihm die Sache nachgerade doch etwas 
langweilig, und er warf von Zeit zu Zeit Seiten- 
blide nad) der Gegend des Selbenfpielers, ohne jedoch 
deſſelben anſichtig zu werden. 

„Ich ſehe nicht ein,“ ſprach er für ſich, „warum 
ich allein alle Oberbehörben des ſchwarzen Königreichs 
zafiten jol, während Hanno im weichen Graſe Die 
langen Ötieber ftredt, faulenzt und Gott einen from= 
men Mann fein läßt. Er mag mich ablöfen. Als 
officieller Bartabnehmer des Ddiplomatifchen Korps 
werde ih mid nicht decanailliren und aud) ben 
Ihwarzen Pöbel rafiren. Den kann der Heldenfpieler 
ſchinden. Gleich und gleich gefellt ſich. 

„Aber ich möchte wirklih wiſſen, wo er ſteckt,“ 
fuhr er nad einer Pauſe fort, als er eben einen 
ſchwarzen Oberappellationsrath unter dem Meſſer hatte, 
„auf feinem vorigen Plage befinet er fih nicht 
mehr. Wahrfcheinlih hat er ſich in's tiefe Gras ge- 
wühlt, und vor Hunger fo zufammengerollt, vaß man 
von ihm nichts gewahr wird,“ 

Indeß, je länger Lagemann als Bartabnehmer 


201 


fungirte, deſto ftumpfer ward fein Meſſer, und es 
konnte daher fein Wunder nehmen, wenn fih auf den 
Gefichtern der diverfen Näthe während des Barbie 
rend weniger Heiterkeit ausſprach, als bei den vor- 
herbarbierten Miniſtern und bei Seiner Majeftät. 
Auch nahm es der Attache. bei den Perfonen zweiten 
Ranges bei weitem nicht mehr fo genau. So hatten 
namentlich ein paar Pupillenräthe fürchterlich auszu= 
ftehen, denn der Magdeburger nahm ſich bei ihnen 
nicht einmal die Mühe, das Meſſer frifch abzuziehen. 
Die beiden Opferlämmer begriffen daher gar nicht, 
worin die Wohlthat der von Seiner Majeftät und 
dem Gefammtminifterio fo hoch gepriefenen Barbier- 
methode zu fuchen jet. 

Lagemann, objhon es ihm nicht wenig ſchmei— 
chelte, er Oberhofbarbier dem Heldenſpieler vorge- 
zogen worden zu fein, — man muß dir dod mehr 
Grüße zugetraut haben als ihm, dachte er, — är- 
gerte ſich gleichwohl, daß Hanno fo ungeftört der 
Ruhe pflegen durfte, während er die Waldungen auf 
den ſchwarzen minifteriellen und geheimräthlichen Phy- 
fiognomien zu vertilgen hatte Er beichloß daher, 
Rache zu nehmen und ruinirte das Mefjer mit Ab- 
fiht. Sein Zweck hierbei war biefer, den SHelven- 
fpieler als feinen Nachfolger zu inftalliren und dem⸗ 
felben das Meſſer in einem Zuftande zu überliefern, 
daß -er unmöglih Ehre damit einzulegen im Stande 
war. Hanno follte den Schwarzen jchledhtervings in 
der Glorie eined Schinders erfcheinen, und ihm, dem 
officielen Oberhofbarbier, zur Folie dienen. 

Lagemann hatte wiederholt feine unverholene Aver- 
fion gegen ein Weiterarbeiten an den Tag gelegt 
und häufig nah der Gegend hingezeigt, wo . feiner 
Meinung nach der Helvenfpieler im hohen Graſe lie= 


202 


* 


gen mußte; aber die hohen Behörden waren zu ver⸗ 
ſeſſen auf ſeine Kunſt, als daß ſie geneigt geweſen 
wären, ſeine negirenden Geſten zu verſtehen. Noch 
ſtand die ganze Commerziendeputation bebartet vor 
ihm und drang auf Expedirung. Wenn fie weiſe ge⸗ 
wejen wäre, fo würde fie ſich allerdings an ven bei- 
den Bupillenräthen ein DBeifpiel genommen haben; 
aber des Attache’8 Auf als Barbier ftand bereits zu 
feit, als daß er fo leicht Hätte erfchüttert werben 
fönnen. Er mußte alfo in einen ſauern Apfel beißen, 
und fih mit feinem fchartigen Meſſer über die Com— 

" merziendeputation hermachen. Die genannte Deputa- 
tion batte unftreitig in einen noch fauerern Apfel zu 
beißen. Der Magveburger richtete diefe Behörde 
gottesjimmerlih zu. Das Blut floß in Strömen. 
Jeden andern Barbier würde man auf der Stelle er= 
würgt haben. Der Attadhe konnte aber als Ober 
hofbarbier ſchinden nad) Herzensluſt. Wohl Jedem, 
der einmal einen Ruf erworben. 

Nachdem die wohllöbliche Commerzien-Deputation 
hinlänglich Haare und Blut gelaſſen hatte, legte der 
Attahe das Meſſer auf die Erde und erklärte durch 
eine ausdrucksvolle Geberde, daß nun die Freude ihr 
Ende habe. Wenigjtens für feine Perfon ſei er nicht 
länger im Stande zu rafiren. Zugleich aber zeigte 
er mit ſolcher Beharrlichkeit nach der Stelle, wo der 
Helvenfpieler im Graſe lag, daß die Schwarzen .end= 
lic, aufmerkfam wurden und ihnen ein Licht aufging, 
was der Attahe wohl meine. Man eilte nad 
Hanno’8 Pagerplag; aber welche Entvedung, welcher 
Schreden, welche Verwirrung entſtand plöglid. Der 
Helvenfpieler hatte die Zeit, während welcher Lage— 
mann das Geſammtminiſterium und die hoben Be— 
hörden vafirte, bejjer benugt und war auf und davon 


a 


203 


gegangen. Er hatte alſo die Schwarzen feinerfeits 
ebenfalls barbiert. Des Attaché's Kunftfertigfeit war 
die Urſache gemwejen, daß felbft der Poften, welcher 
den Heldenfpieler zu bewachen hatte, e8 nicht unter= 
laſſen fonnte, näher zu treten und die wunderbare 
Kunft Ichärfer in's Auge zu faflen, wobei ihm ber 
zu Bewachende außer Acht gekommen. 

Die erfte Folge von Hanno’8 Flucht war, daß 
fih die. gefchorene Majeftät mit ſammt dem gefchornen 
Minifterio, den Geheimräthen und her gejchundenen 
Gommerziendeputation auf den Weg machte, um des 
entiorungenen Ylüchtlingd Habhaft zu werden. Der 
Hofbarbier ward einftweilen, damit er nicht ebenfalls 
Fluchtideen befomme, jondern zum Nuten und From⸗ 
men der Fünftigen Bärte für die ſchwarze Gefellichaft 
erhalten werde, mit einem armsbiden Schiffstaue an 
einen Cedernbaum gebunden. Das Tau wand fidh mie 
eine Rieſenſchlange nicht weniger denn jehsmal um 
ben Attahe und den Stamm. Zum Weberfluß ließ 
man nod zehn Mann Bewachung zurück. 

Etwas Fataleres konnte Lagemann nicht paffiren, 
ald die Hanno'ſche Flucht. Erſtens mußte er nun 
allein die Martern der Gefangenfhaft ertragen; denn 
daß man ihm nicht mehr das Leben nehmen würde, 
fett man fein Rafirtalent kennen gelernt hatte, deſſen 
glaubte er ziemlich gewiß zu fein; alsdann beneibete 
er den Helnenfpieler ob feiner Freiheit, und britteng 
batte er feinem entwichenen freunde den engen und 
unbequemen Gewahrfam zu verdanfen, in weldhem er 
fid) dermalen befand. Seine Dejperation gab fih in 
abgebrochenen Monologen kund. 

„Da fleht-man,” ſprach er, „was Bollögunft zu - 
bedeuten hat, und namentlich wild afrikaniſche. Erſt 
haben fie mic bis in ven britten Himmel erhoben, 


204 


weil ich fie von ihren nichtenutigen Bärten befreite; 
gleich) darauf werd’ ich angebunden wie ein wildes 
Thier. Ich wünſchte, ich hätte dem Volke die Keh— 
len abgejchnitten, |tatt der Bärte, Seiner Majeſtät wie 
tem Oefammtminifterium.” 

Nah einer Paufe: 

„Wenn fie den Helvenfpieler nicht einfangen, - 
ſchneid' ich mir bei erfter Gelegenheit die Kehle felber 
ab; mutterfeel allein mag ich nicht unter biefem ſchwar⸗ 
zen Geſindel leben. 

„Es iſt zwar eine Möglichkeit, daß Hanno das 
Lager erreicht und dem Capitain meinen Aufenthalts- 
ort anzeigt. Da wäre e8 nicht unwahrfcheinlih, daß. 
id) gerettet würde. Aber ich befürchte nur, der Sa⸗ 
tan thut den Mund nicht auf meinetwegen und läßt: 
mid ruhig in den Händen ver Neger. Er iſt Egoift 
durch und durch. Es geſchieht ihm vielleicht ein großer 
Sefalle, wenn ich nicht wieder komme, dann ift er 
mit einem Male aller Rechenſchaft überhoben, die ich 
wegen des beifpiellofen Betrugg an ihm nehmen 
könnte. Gerechter Himmel, wie kann nur der Menjch 
jo tief finfen, ſolche Schanbthaten an feinen eignen 
Bekannten und Freunden begehen.‘ \ 

Wenn der Helvenfpieler äußerte, daß er befler 
als fein Ruf fei, fo lieferte er davon einen ſchlagen— 
den Beweis unmittelbar nach feiner Flucht, wenigſtens 
handelte er beffer al8 der angebundene Lagemann von 
ihm dachte. 

Hanno hatte nad) feinem unbemerkten Aufbruche 
faum einige Stunden zurüdgelegt, als es das Glüd 
wollte, daß er auf eine Abtheilung ver von Sir John 
abgeſchickten Matroſen ftieß. Anftatt in ihrer Gejell- 
Ihaft ruhig nach dem Lager zurüdzufehren und Lage— 
mann jeinem Schickſal zu überlafien, jo that ex 


« 


Br 


205 


diesmal gerade das Gegentheil. Er encouragirte bie 
Meatrofen, ihm zu folgen, und hatte den Muth, fie 
birect nach dem Negerkraal zurüdzuführen. Cr ges 
traute ſich, mit Diefer, obwohl geringen Mannſchaft 
der ſchwarzen Rotte die Spite bieten zu fünnen, ben 
Attaché zu befreien und fich gelegentlih an den Bar— 
baren, die. ihn jo übel mitgefpielt und halb verhungern 
hatten laſſen, zu rächen. 

Lagemann, obſchon Oberhofbarbier und eines gro= 
Ben Rufes ſich erfreuend, befand ſich gleichwohl in 
der miferabelften Lage. Die Schwarzen hatten ihn 
mit folcher Accuratefle an dem Cebernbaume befeftigt, 
daß er fein Glied zu rühren vermechte. Selbſt die 
Arme befanden fi innerhalb des Schifistaues. Nur 
den Kopf konnte er bewegen, und das that er auch, 
und zwar mit einer Vehenenz,; die ſich höchſt poffir- 
fh ausnahm, obſchon ihm keineswegs poffirlih zu 
Muthe war. Die Moskito's hatten e8 auf ihn abge- 
fehen. Man venfe ſich die verzweifelte Lage. Am 
ganzen Leibe gefeflelt und am Kopfe das nichtönugige 
Geziefer. 

Der Attaché glaubte ſeinen Geiſt aufgeben zu 
müſſen. Vergebens war ſein Hin- und Herwerfen 
des Kopfes, fein Blaſen, Sprudeln, Nieſen; die Mos⸗ 
fito’8 waren außerordentlich zahm und ganz und gar 
nicht ſchüchtern. Vergebens hatte er durch alle mög— 
liche Laute, die er in der Kehle aufzutreiben vermochte, 
bie zehn ſchwarzen Wächter, welche um ihn hergelagert 
waren, von feinem Webelbefinden in Kenntniß gejett 
und aufgeforbert, etwas zur Verminderung feiner Lei⸗ 
den beizutragen. Aber den Barbaren gewährten die 
ſeltſamen Töne und Capriolen des Gefeſſelten höch— 
liches Vergnügen. Sie feirten und grinzten bald den 
Gefeſſelten, bald ſich einander mit wilder Frohlichteit 


206 


an, und ihre Heiterkeit nahm in dem Grabe zu, als 
ter Gemarterte feine Schmerzenslaute in den wunder⸗ 
barften Cadenzen varürte, Als er endlich gar zu 
heulen begann, wälzte ſich die gefanmte ſchwarze Rotte 
wie närrifh im Graſe umher und ſchlug Purzelbäume 
vor Wolluft. 

Nah endlofen vier Stunden, die dem Attache 
wie vier Jahre erfchienen, follten feine Leiden ihr 
Ende finden. Hanno nahte mit der Befreiungsarmee. 
Die zehn Wächter ergriffen die fchleunigfte Flucht und 
ließen den gefeffelten Prometheus ohne Kampf in ven 
Händen der Europäer. 

Der Attahe war mehr todt als lebendig. Er 
gab nur wenige Worte von fi; worauf fein Kopf, 
um die Mosfitoftiche weniger fhmerzhaft zu machen, 
wie eine Blumenzwiebel in fette Erde emballirt wurbe, 

Nachdem man fih an dem Frucht- und Brotvor- 
rath, weldhen die Schwarzen im Straal zurüdgelaffen, 
weiblid) geftärft hatte, wurde der Rückweg angetreten. 
Tagemann gli, was feine Kopfbedeckung anlangte, 
einem veitenden Artilleriften der einftigen Napoleoni— 
[hen Kaifergarde. Einen folden Umfang nahm das 
Territorium ein, welches er auf dem Kopfe trug und 
woran er wie ein Atlas zu jchleppen hatte. Yu ve= 
den war ihm nicht erlaubt, denn fo wie er ben 
Mund aufthat, drohte ein Erdfall. Alfo fchwieg er, 
obſchon ihm dies äußerſt ſchwer ankam; denn Lage 
mann war nicht der Mann, ein fo graufiges Aben- 
teuer, wie er erlebt hatte, auf dem Herzen zu be= 
halten. —— 

Ohne von dem Negerſtamme oder durch reißende 
Thiere nochmals behelligt zu werden, erreichte man 
nach einem ziemlich langwierigen Marſche das Lager, 
wo Alles zur Abfahrt nach St. Louis bereit ſtand. 


207 


Die Niederroglaer ftaunten ihren wiedergefundenen 
Landsmann, als er mit jeinem Rieſenkopfe anlangte, 
wie ein Wunberthier an. Zeiſig erkannte feinen At- 
tahe nicht wieder, und der Yactor, als er das Kopf- 
gebäude näher betrachtete, nahm fich fopfichüttelnn eine 
Brife. 

Nach einer wegen ber übergroßen Hite nicht eben 
angenehmen Küftenfahrt gelangte man nad dem Ha- 
fen von St. Louis, wo mehre theils nad) Europa, 
theils nach Oftindien beftimmte Schiffe vor Anker lagen. 

Sir John trug für die Nieberroflaer die mög— 
lichſte Sorge. Sie erhielten auf dem Oftindienfahrer 
ein faft eben jo gutes Unterfommen, als fie auf dem 
Habicht gefunden, ohne daß fie einen Heller mehr als 
die in Hamburg feftgefettten Fahrpreiſe zu entrichten 
gehabt hätten. 

Lagemann, nachdem er nicht weniger denn vierund- 
zwanzig Stunden die Artilleriebärmüte auf dem Kopfe 
gehabt, denn fo lange waren die Borfichtsmaßregeln 
gegen die Moskitoftiche unerläßlich, entpuppte fich end- 
Ich und befam die Sprache wieber. 

Die Beichreibung feiner Leiden grenzte geradezu 
an's Afchgraue. Er warb allemal ganz außer fidh, 
wenn er nur darauf zu fprecdhen kam. Noch mehr 
gerieth er aber in Aufruhr, als der Tag der Abfahrt 
heranrüdte. Cr mußte nämlich jegt nicht, ob er 
noch mit nad) Kabul oder mit Sir. John zurüd nad 
Europa fegeln follte, da nah Hamno's Bekenntniß 
fein Antheil an ver Erbſchaft ſo gut wie im Monde 
lag. Seine Wuth gegen den Heldenſpieler, obſchon 
dieſer ihn mit Lebensgefahr aus den Händen der 
Schwarzen und von ber Anſtellung eines Oberhofbar⸗ 
biers befreit, überftieg alle Grenzen und ging mehre 
Male fo weit, daß er den eſlüchteten Hanno, ein 


208 


blankes Meſſer in ver Hand, im ganzen Schiffsraume 
ſuchte, um ihn unwiderruflich todt zu ſtechen. Erft 
nachdem der Helvenfpieler einen großen Theil ver 
für das abgetretene Erbtheil erhaltenen bejchnittenen 
Ducaten wieder herausgegeben und. ihm außerdem 
noch mandye annehmbare Propofition geftellt, ward er 
etwas ruhiger und beſchloß die Kabulfahrt als finpler 
Attache mitzumachen. 

„Seid fein Thor, Lagemann,“ hatte Hanno zu 
ihm gefproden, „und reißt Euch den Kopf nicht ab 
wegen der paar lumpigen Ducaten. Das Krokodill, 
welches ja doch die Hauptfadhe ift, kann Euch ja gar 
nicht entgehen. Hier meine Hand darauf, daß ih 
Euch dazu verhelfe.e Wenn wir es einmal in unferer 
Gewalt haben, ſoll der Rath von Nieverrofla nicht 
eine goldene Klaue davon zu fehen befommen. Ich 
begreife auch nicht, wie der Rath zu dieſer Selten- 
heit fommt, womit er fie verdient hätte. Diefe fau— 
len Senatoren fiten behaglih in Nieverrofßla und 
laſſen Gott einen frommen Mann fein, während Ihr 
mit Leibes- und Lebensgefahr Euch für fie durch Die 
halbe Welt fchlagt. Nein, dem Verdienſte ſeine Kro= 
nen! Euer muß das Krokodil fein, Yagemann, und - 
ſoll ich e8 dem Könige von Kabul mit Gefahr meines 
Lebens stehlen.” 

„Aber Zeiſig,“ ftellte der Attahe in Erwägung, 
welchem Hanno's Rede fo ſüß wie Honig Hang. 

„Zeiſig?“ frug lächelnd der SHelvenfpieler, „wo 
zwei Geiſter wie wir vereint wirken, wie fanı dba 
ein Zeifig in Betracht kommen?” 

„Das ift allerdings wahr; geitand Lagemann, 
„aber wie wären denn fonft Eure Ipeen hinfichtlich 
bes Krokodills? Daß wir es nämlich in unfere Ges 
walt bekommen?“ | 





209 


„Auf die einfache Weiſe,“ verſetzte der Helden 
jpieler , „auf der Heimreife, went wir uns nod in 
Indien befinden, beftechen wir ein paar Mlohren, bie- 
ſes Volk ift zu Allem zu gebrauden; dieſe müſſen 
dad goldene Beeft fehlen, wir wollen e8 ihnen ſchon 
zufchieben, daß fie leichter Spiel haben; dann begiebt 
fi einer von und Beiden mit den Mohren nad) der 
erjten beiten indiſchen Stadt; in den inbifhen Städ⸗ 
ten aber wimmelt e8 von Goldſchmieden, welche fich 
die Hälſe bredien um ſolch' ein goldenes Meifterwerf. 
Wir verfeilen das Thier, und Ihr ſeid ein gemad)- 
ter Mann.” 

„Es fol mir auch auf ein paar Prozente für 
Euch nicht ankommen,” verhieß Lagemann, dem bei 
dem Gedanken an das Krokoͤdill immer holpfeliger um's 
Herz wurde. 

„Zeiſig wird fi) freilich den Hals abreißen,” fuhr 
er nad einer Paufe fort. 

Hanno zudte die Achfeln. 

„Das fteht bei ihm,‘ ſprach er, „warum unter= 
nimmt er Expebitionen, denen er nicht gewachſen ift. 
Zu folden Dingen gehört Kopf und Herz. Uns hätte 
der Stadtrath ſchicken ſollen.“ 

„Das iſt wahr,” geſtand der Attaché. 

„Gegen chriſtliche Theilung und Vergütung der 
Reiſeſpeſen hätten wir das Möglichſte gethan.“ 

„Unbeſtritten.“ 

„So bekommt er gar Nichts und es geſchieht 
ihm recht. Wer heißt ihn knickern bei ſo reicher 
Erbſchaft.“ 

„Es iſt die verdiente Strafe,“ ſprach Lagemann. 

„Wir müßten Eſel ſein, wenn wir nicht zulangen 
wollten,“ meinte Hanno. 

Stolle, ſämmtl. Schriften. XVIII. 14 


210 


” „Zumal, da die Expedition in's Golbland fo 
wahrhaft gottesjänmierlih abgelaufen iſt.“ 

„Eure Leiden unter den Schwarzen muß Euch 
ber Stadtrath von Nieverroßla ſplendid vergüten.” 

„Es freut mid, Hanno, daß Ihr ein Einfehen 
habt, die Moskitohölle vergeh’ ich in tauſend Jahren 
nicht.” 
„Seven Stih muß Eud der Rath von Nieber- 
roßla wenigftend mit zehn Ducaten aufwiegen. Ic} 
jelbft werde dafür Sorge tragen. 

„Hanno, wenn ich nod) jüngft zornig auf Euch —“ 

„Gerechte Aufwallung, nicht mehr als billig.“ 

„Wenn ich in der Hite einige Worte und Re— 
densarten —" /· 

„sn der Leidenſchaft fährt Manches heraus —“ 

„Hanno, wenn Ihr könntet —“ 

„Alles vergeben und vergeſſen — 

„Ja, wenn Ihr das könntet —“ 

„Es iſt geſchehen!“ 

„An mein Herz, edler Sterblicher,“ rief jetzt Lage— 
mann in überſtrömendem Gefühle, „von jetzt ſoll nur 
der Tod uns trennen.“ 

Der fromme Zeiſig ahnete nicht, welches Complot 
in ſeiner nächſten Nähe und von ſeinem eigenen At— 
tache geſchmiedet wurde. 

Als der Tag der Abfahrt gefommen war, ereig- 
nete ſich nod) eine ziemliche tragifhe Scene zwifchen 
Herrn Abdullah und feiner Pflegbefohlenen, der Blume 
Hindoſtans. Letztere fträubte fi) aus allen Kräften, 
dem Türken nad) dem Schiffe zu folgen, welches nad) 
Oſtindien beftimmt war. Als letzterer endlich gend= 
thigt war Gewalt zu brauchen, zog das ſchöne Weib 
einen Dolch. Dabei rief ſie mit ihrer Glockenſtimme 
fortwährend in gebrochenem Engliſch: „Ich mag nicht 


4 


214 


nach dem Lande, wo die rothe Blume des Lotos blüht; 
das Meer hat die ſchlanken Glieder verſchlungen, 
welche mich einſt umarmt; dic Flamme verlangt ihr 
Opfer, ich kann ihr feines bringen; was foll id} ohne 
Ihn in Brama’s Neich; die Schweftern würden mit 
Händen zeigen auf die Chrlofe. Ich bin nicht werth, 
die füße Luft der Heimath zu trinken. Ich will zu: 
rüd nad) dem rauhen Norden und daſelbſt ruhlos 
beten, bis Brama mid erlöſt.“ 

Abdullah's Lippen zitterten vor Wuth; leiſe zog 
er auch ſeinen Dolch, und war im Begriff, ſich auf 
bie ſchöne Indierin zu ſtürzen, als der rüſtige Sir 
John, welcher mit regem Intereſſe der Streitſcene 
zugeſchaut hatte, dem Wüthenden in den Rücken fiel 
und mit Rieſenkraft feſthielt. Vergebens rang der 
Türke aus Leibeskräften gegen den gewaltigen Gegner. 
Zu gleicher Zeit rief er ſeinen beiden Mohren zu, 
die Braminin mit Gewalt nach dem Oſtindienfahrer 
zu bringen. Sir John befahl dagegen ſeinen Ma— 
troſen, dies zu verhindern. Endlich gelang es dem 
Abdullah, einen Augenblick lang die dolchbewaffnete 
Rechte frei zu bekommen. Sogleich ſprang ein Blut— 
ſtrahl aus des Capitains rechtem Arme. Dies war 
aber zugleich das Zeichen zu Abdullah's Entwaff- 
nung. Alles ftürzte auf ihn und machte den Rafen- 
den wehrlos. 

Sir John erflärte jet, daß Milady Feine Scla- 
pin fei und daß ihr als unabhängige Wittwe freis 
jtehe, zu leben, wo es ihr beliebe. Niemand dürfe 
fi) an ihrer Freiheit vergreifen, und ſo es die Dame 
wünſche, werde er fie mit zurüd nad Europa nehmen. 

Co wie Bohu und Tohu wahrnahmen, daß ihre 
Gebieterin bei den Europäern Schutz fand, erflärten 
fie fi gleichfalls in Snfurvechonsquftand gegen Ab- 

14* 


212 


dullah und wollten von ihrer Herrin nicht laſſen. 
Alle drei wurden auf das Schiff gebracht, welches jo 
eben nady Europa abzugehen im Begriff ſtand. Der 
Türke tobte wie ein Beſeſſener und ftieß ggttesläfter- 
liche Redensarten aus, die zum Glüd Niemand ver- 
ftand. Er beitand darauf, gleihfalls nad Europa 
zurüdgenommen zu werden, worauf aber Sir John 
niht einging. „Die Milady,“ erwiederte dieſer, 
„habe ſich unter ſeinen Schutz begeben und er dürfe 
nicht geſtatten, daß ein für ſeinen Schützling ſo ge— 
fährliches Individuum auf das Schiff mit aufgenom- 
‚men werbe.” 

Abdullah, nachdem er einfah, daß gegen den hart- 
füpfigen Seemann nichts auszurichten ſei, veclamirte 
jettt wenigftend ein Käftchen mit Diamanten, das fich 
im Gewahrjam der Braminin befand. Ohne die ge- 
ringfte Weigerung von Seiten der legtern ward ihm 
diejes überantwortet, worauf fi fein toller Raptus 
fihtbar legte. 

Bereit am andern Tage lichtete das nach Europa 
beſtimmte Schiff die Anker, nachdem Sir John zu— 
vor ſämmtlichen Niederroßlaern noch ein recht heiteres 
Diner gegeben hatte. Nur höchſt ungern trennten 
ſich Victor und Gamaliel von dem wackern Capitain 
und dem intelligenten Doctor Barring, welcher gleich— 
falls nach Europa zurückkehrte. 

Der Oſtindienfahrer, welcher die Erbſchaar und 
den Herrn Abdullah am Bord hatte, trat einige Tage 
ſpäter ſeine Reife an. 


213 


Jieuntes Kapitel. 


G; hieße die Anzahl ver Kapitel diefes Buches in's 
Unendlihe vermehren, wollte man die Abenteuer. der 
Nieverroßlaer, bevor fie das gewaltige Afrika umfchifit, 
Dftindien und fpäter Afghaniftan erreiht, mit der 
zeitherigen Ausführlichfeit befchreiben. 

Der große Tag, wo die von dem Hofmaler Haf- 
ſan-ben-Mullah nievergelegte Erbſchaft ven Nieder- 
roßlaeın von Seiten der Kabul'ſchen Gerichte überge—. 
ben werben follte, war erſchienen. In hoher Galla 
verfügten ic die Exrbfahrer, theil® zu Wagen, theils 
zu Roß nad dem Juſtizhofe. Der umfichtige Lage— 
mann hatte in der Eile das Niederroßlaer Stabtwap- 
pen mit dem eingehörnten Ochſenkopfe, das unter- 
wegs verloren gegangen war, von einen Kabul’fchen 
Blechſchmied als Doublette anfertigen laſſen und fich 
und den Actuar, als diplomatische PBerfonen, damit 
behangen. 

Obſchon die Afghanen in ihrem gefelligen Um— 
gange nicht ohne mannigfache Ceremonie find, fo fa- . 
men dergleichen doch bei dem GerichtSperfonale und 
bei deſſen Verhandlungen keineswegs vor. Sobald die 
Documente der Erbfahrer für richtig befunden worben 
waren, nahm die Auszahlung der Legate ihren Anfang. 

Zuerft kam Gamaliel Drollinger, als Haupterbe, 
an die Reihe. Er erhielt eine jo bedeutende Summe 
in Golde ausgehändigt, daß ſämmtliche Miterben in 
Erſtaunen geriethen und Lagemann vor Neid faft ver- 
- gehen wollte. 

„Es geht doc, nirgends ungerechter zu als in ber 
Welt,“ raunte er dem Helvenjpieler in’d Ohr, „wo⸗ 


214. 


mit bat diefer Gelbjchnabel foldhe Unſummen verbient, 
während wir gefetten Männer hier ftehen und das 
Zufehen haben? Hoffentlich daß es ihm nicht gebeiht. 
Es kann fein Segen aus diefem unverbienten Mam- 
mon herausfommen. Was meint Ihr, Hanno?‘ 

Der Helvenspieler zudte mit den Achſeln. 

„Aber zum Teufel, Hanno,” fuhr der mit dem 
eingehörnten Ochſenkopfe decorirte Attache fort, deſſen 
gierige Blide das Gerihtslocal nah allen Richtungen 
durchkreuzten, „wo ftedt nur das Krokodill?“ 

„Ich babe mich auch ſchon darnach umgefchaut,‘ 
erwiederte der Heldenſpieler, „wahrſcheinlich hat man 
ed als Cabinetsſtück hinter irgend einem ver zahlrei— 
hen Borhänge verborgen.” 

„Hanno,“ ſprach Yagemann dringlid, „vie Stunde 
ist feierlich, ein Schwur gilt jeßt vie. Schwört mir 
in dieſer feierlichen Stunde, mid, Eurem Verſprechen 
gemäß, bei dem großen Unternehmen, wo id) Das 
golone Thier rauben und in unferm Nuten verwen 
den werde, getreulichſt beizuitehen.” 

Der Helvenpieler, deſſen Blide fid) von den Gold— 
haufen, die Gamaliel ausgezahlt erhielt, nicht los— 
reißen fonnten, bob mechaniſch die drei Finger der 
vechten Hand ein menig und ſprach: „Ich ſchwöre.“ 

„Ihr fcheint mir nicht ganz ficher bei der Sache, 
Hanno,” fuhr Lagemann mißbilligend fort, „gebt 
nicht Leihtfinnig mit einem Schwure um, bedenkt, 
was er zu fagen hat.“ | 

„Ich weiß es,“ verſetzte der Helvenfpieler. 

„Das iſt mir lieb. Ferner ſchwört mir, Hanno, 
Eudy mit einem Dritttheil der Krokodillmaſſe begnü- 
sgen zu wollen, wie Ihr mir ebenfalls bereit3 wieder- 
holt verſprochen habt.‘ 


an 


215 


Wieder erhoben fich die drei Finger des Helven- 
jpielerd und abermals ertönte: „Ich ſchwöre.“ 

„sh hoffe, daß Euch namentlich dieſer zweite 
Schwur von Herzen geht. Bedenkt wohl, daß Ihr 
mir wegen des welthiftorifchen Betrugs, jo ihr Eud 
gegen mich habt zu Schulden kommen lafjen, eine 

Heine Erfenntlichkeit ſchuldig ſeid. Bedenkt wohl, daß, 
“ wenn ih mih an der Krofodillmafje nicht einiger- 
maßen erholen kann, ich ein total ruinirter Mann 
bin und allein durch Eure Schuld. Eigentlich hätt’ 
ih als Gatte und Bater auf drei Viertheile An- 
ſpruch; Ihr als einzelner Menſch folltet Euch wit 
einen Biertheil begnügen; aber ich will chriſtlich den— 
fen und aus Freundſchaft und aus wirflid, väterlicher 
Zuneigung zu Euch mit zwei Dritttheilen vorlieb 
nehmen.“ 

Hanno vernahm wenig von den Reden Lagemann's, 
der ihm beſtändig in den Ohren lag, und gab ſeine 
Zuſtimmung nur von Zeit zu Zeit durch Kopfnicken 
zu erkennen. 


Eben erhielt der Factor ſein Erbtheil ausgezahlt. | 


„Run möcht ich in aller Welt willen, wo das 
Krokodill bleibt,‘ begann Lagemann von Neuem, und 
abermal8 durchſuchten feine Blide mit Sorgfalt bie 
entlegenjten Tiefen und Winkel des jehr geräumigen 
Gerichtsſaales. 

Nach dem Factor kam Vetterlein an die Reihe. 
Ihm folgte Hanno als Mandatar der verwittweten 
Glaſermeiſterin Klugin. 

Alle hatten ihr feſtgeſetztes Theil in Empfang ge— 
nommen, nur die mit dem eingehörnten Ochſenkopfe 
gekrönte Geſandtſchaft des Stadtraths von Nieder- 
roßla ſaß noch erwartungsvoll, und verhoffte jeden 
Augenblick von afghaniſchen Dienern der Gerechtigkeit 


216 


das goldne Krofodill herbeigetrieben zu fehen. Lage— 
mann war nod) weit mehr auf den Anblid des gebe- 
nebeiten Thieres verfeflen als felbft ver Actuar; denn 
er wollte aus der Größe deffelben ſich einen unge— 
fähren Ueberfchlag machen, wie viel ihm wohl bie ge- 
ftohlenen Zweibritttheile in Baufh und Bogen abwerfen 
könnten. 

„Ihr müßt eine majeſtätiſchere Poſitur anneh— 
men,” raunte er Zeiſig zu, der im ziemlich verküm— 
merter und ängftliher Stellung unmittelbar vor ihm 
faß, „pamit Ihr einen hochweifen Rath zu Nieber- 
roßla feine Schande macht. Mehr die Schultern zu= 
rüd, den Rüden gerade, Bruft heraus; ein gebieteri- 
ches, aber vornehm nadläffiges Air angenommen!‘ 

Er felbft verfehlte nicht, feinen eigenen Rath— 
Ihlägen auf das Genauefte nachzukommen. ‘Durch 
Streden und Dehnen feiner Geftalt, Räufpern und 
Schnauben mit beiden Nafenflügeln war er bemüht, 
feine Perfönlichfeit in den Augen des Gerichtsperſo— 
nal8 in denjenigen Reſpect zu ſetzen, auf weldyen er 
als Geſandtſchaftsattache in hohem Grabe glaubte 
Anſpruch machen zu dürfen. Zu gleiher Zeit war 
er bemüht, eine möglichſt erhabene Stellung einzu— 
nehmen, um das blecherne Nieverroflaer Stabtwap- 
pen, welches auf feiner Bruft prangte, in die gün— 
ftigfte Beleuchtung zu ftellen. 

Da ergriff der vorfitende Amini Mekhemed von 
Neuem das Wort und fprad): 

„Laut Teſtaments des Erblaſſers iſt auch noch 
über ein goldnes Krokodill, ſo ſich in deſſen Hinter— 
laſſenſchaft vorgefunden, verfügt worden. Dem Wil— 
len des verſtorbenen Haſſan-ben-Mullah gemäß ſollte 
dieſes durch feinen Goldwerth wie durch ſeine kunſt—⸗ 
reihe Arbeit gleich ausgezeichnete Werk einen wohl- 


247 

weifen Rathe zu Niederroßla zu Theil werden, falls 
derſelbe geneigt wäre, ein Mitglied aus feiner Mitte 
nad Kabul zur Abholung des Thieres zu fenden. 
Leider ift aber nad Publicirung des Hallanzben- 
Mullah'ſchen Teſtaments ſofort ein Prozeß hinficht- 
lich dieſer lettmwilligen Verfügung beim hödhften Ge— 
rihtshofe anhängig gemacht und nad mehrmaliger 
abgeworfener, Seiten Erbwädters zur Wahrung ver 
Erbmafje angeftellten Appellation zum Nachtheil des 
Erblaſſers entſchieden worden. Die prozefjualiichen 
Gegner , ſämmtliche vefpective Derwifche biefiger Ab— 
dullah-⸗Moſchee haben ein eigenhändig abgefaßtes Ac- 
tenftüd des verftorbenen Hafjfan-ben-Mullah zn pro= 
duciren gewußt, worin ihnen das Krokodill in aller 
Form Rechtens für den Todesfall zugefprocdhen wor 
den. Daß Erblaffer in dem fpätern Tejtamente über 
befugtes Krokodill anderweitig verfügt, worgebend, bie 
Derwifche befüßen fein Recht an diefem Erbtheil, weil 
fie durch ihr Gebet Exrblaffern nicht vom Tode geret- 
tet, hat ein hoher Gerichtshof für rechtsbindend anzu— 
erkennen fich wicht geneigt gefunden und das Erbrecht 
der Derwiſche dem Erbrechte des wohlweiſen Rathes 
zu Nieberroßla für berogirend erachtet. 

„Dit Bedauern fieht fi) daher die niebergejette 
Erbeommiffion zu der Erklärung genöhtigt, einem 
wohlmeifen Rathe befügtes goldenes Krofobill nicht 
- ausantworten zu fünnen, indem ſolches bereit vor 
länger denn drei Monaten, unmittelbar nad erfolg: 
ter Publication des Urthels höchſter Inftanz, von den 
refpectiven Derwifchen ver Abdullah-Moſchee, den Ober- 
derwiſch an ver Spite, in Pomp abgeführt und zum 
Beiten ihres Ordens verwendet worden ift. 

„Zugleih hat jedoch ein hoher Gerichtshof, ſtets 
von dem Grundſatze ausgehend, ftrenges echt mit 


218 


möglichſter Billigfeit zu vereinen, die Verfügung ge— 
troffen, daß dem nad Kabul entjendeten Mitgliede 
des hochweiſen Rathes von Nieverroßla nicht nur 
fämmtliche Neifetoften vergütet, ſondern auch für Die 
mannigfahen Gefahren und Beichwerben ver lang= 
wierigen Reife eine Entfhädigungsfunme won taufend 
Ducaten von den Derwifchen der Abpullah-Mofchee 
ausgezahlt werden, welche Summe unjer Zahlmeifter 
beauftragt ift, ſofort betreffendem Mandatar des 
Stadtraths zu Niederrofla als rechtmäßiges Eigen- 
thum zu überantworten.” 

Während alſo der Yahlmeijter einen neuen Sad 
herbeifuhrwerfte und wieder zu zählen begann, be= 
mühte ſich ein feit langen Jahren in Kabul wohnen- 
der Schwabe, welcher für vie Erbfejfion eigens ale 
Dolmetſcher requirirt worden war, die für den Rath 
von Niederropla jo niederjchlagende Rede zu verdeut- 
ſchen. 

Als er an die verhängnißvolle Stelle kam, mo 
von einem hohen Gerichtshof der Staptrath bes Kro— 
kodills für verluftig erklärt wurde, fanf Zeifig, wel- 
hen ſchon Die vorhergehenden unheilſchwangeren Pe⸗ 
rioden in das heftigſte Zittern verſetzt und das Ge— 
ſicht mit Leichenbläſſe überzogen hatten, bewußtlos in 
die Arme des Factors, welcher unmittelbar neben ihm 
ſaß, während ver Attaché mit ſammt ſeinem Stuhle 
zuſammenbrach. 

Man ſprang Zeiſig zu Hülfe, wodurch ein ziem— 
licher Tumult entſtand und die Vorleſung unterbro— 
‚den wurde. Erſt nach geraumer Zeit brachte man 
den Bewußtlofen wieder zu fid) und fette ihn in den 
Stand, den Schluß der gerichtlichen Vorleſung zu 
vernehmen. Hier nun warb ihm die glänzendfte Ge— 
nugthuung, und auf den großen Schreck folgte große 


219 


rende, ſich als perfühnlicher Erbe fo großmüthig und 
reichlich bedacht zu fehen. 

Er hielt Anfangs die ganze Sache für einen ſchö— 
nen Traum; als er aber von Gerichtswegen erſucht 
ward, bie aufgezählte Summe durckhzufehen, fih von 
ihrer Nichtigkeit zu überzeugen und fie in Empfang 


zu nehmen, würde er unfehlbar dem vorfigenden Amin 


Mekhemed, fo wie der gefammten Erbcommiſſion um 
den Hals gefallen jein, wäre er nicht durch Die ver- 
Ihiedenen Schranfen und Barrieren daran verhindert 
worden. Er breitete fehnend feine Arme aus und 
umfaßte Alles, was in feine Hand fam. Vor der 
Hand wars der Factor. Er würgte ihn förmlich, 
um feine. Freude thatſächlich auszulafien, fo daß ihn 
Süßmilch vor allen Dingen Mäßigung anempfahl.. 

In äußerſt froher Gemüthsftimmung nahmen bie 
Erbfahrer Abſchied von der Erbcommiffion. Ihr 
Hauptzwed war erreiht. Ninmer hätte man geglaubt, 
dag man’ mit den Gerichten von Kabul fo ohne alle 
Schwierigfeiten und ohne Sporteln, woran man in 
Europa gemöhnt war, aus einander kommen würde. 

Glücklich und golobeladen traf man Anftalt, den 
Gerichtsſaal zu verlafien. As man fid) aber nad 
dem Attache umfchaute, war er weder zu fehen noch 
zu hören. Bei dem allgemeinen Tumult, welden 
Zeifig’8 Ohnmacht zu Folge hatte, war er unverſehends 
abhanden gekommen. 

Den Erbfahrern blieb jegt nichts übrig, als ohne 
Lagemann ben Rückweg anzutreten Diejer erfolgte 
in derfelben Ordnung und mit demjelben Pompe wie 
der Hermweg, nur daß es in den Gemüthern ber Nie- 
derroßlaer weit fröhlicher ausſah. 

Leider aber war die Prozeſſion noch nicht weit 
vorgeſchritten, als ſie durch eine große Menſchenmenge 


220 | 
aufgehalten wurde, die einen Maulbeerbaum umflu= 
thete Die Niederroßlaer konnten lange nicht Flug 
werden, was wohl diefer Auflauf zu beveuten habe, 
als fie näherfommend — wer malt ihren Schreden 
— da hing der Attaché der Niederroßlaer Rathsge— 
fandtfchaft an einem Afte des Maulbeerbaumes Das 
noch auf feiner Bruft ‚prangende Stadtwappen ließ 
feinen Zweifel über die Identität ber Perfon übrig. 
Der Edle, nachdem er feine Pläne auch auf Das 
von den Derwilhen der Abdullah-Moſchee in Be— 
fhlag genommene Krokodill, das er in Gemeinfchaft 
Hanno's zu ftehlen beabfichtigte, gefcheitert ſah, ver- 
mochte ein Leben nicht länger zu ertragen, und hatte 
demfelben mit eignecr Hand unter dem Kabul’fchen 
Maulbeerbaume ein Ziel gefekt. 

Alle Berfuche, den Selbftmörder in's Leben zu= 
rüdzurufen, waren erfolglos; fo blieb ven beftürzten 
Nieverroßlaern nichts übrig, als den entarteten Lands— 
mann den nächſten Morgen in aller Stille, fern von 
der Stadt, in einem Cedernwäldchen am Fuße des 
Hindukuſch zu begraben. 

Nachdem der Hauptzwed der Kabulreiſe erreicht 
war, wollte e8 den Exbfahrern wenig mehr in ber 
Hauptitadt Afghaniftans gefallen. Man fehnte fid, 
nad) der Heimath. Alle Palmen und ofen des 
Orients vermögen das ftille heimathliche deutſche Lin— 
dendach nicht vergeffen zu machen. Die gewaltfame 
Toresart Lagemann's, obfchon verfelbe megen feines 
unleidlihen Charakters feineswegs beliebt war, mochte 
aud) das ihre beitragen. 

Nachdem man den betreffenden Behörden Kabuls 
wegen ber liberalen Auswanderung der Erbſchaft noch— 
mals den gebührenven, fowie für die gaftliche Auf- 
nahme den wärmften und innigften Dank ausgeſpro— 


zn 1 


221 


hen und fie als geringe. Erfenntlichleit mit mannig- 
fachen europäiſchen Gegenftänden, welche der umſich— 
tige Victor in Bombai eingehandelt, beichenft und 
ausnehmend erfreut hatte, verließ man Kabul an ei— 
nem ſchönen Frühlingsmorgen. 

Bereitd nach mehren Wochen trug ein ftattlicher 
Kauffahrteifahrer, dejjen weiße Segel von dem gün— 
ftigen Winde gejhwellt wurden, die Erbſchaar nad) 
der umfriedeten Heimath. 


⸗ 


Zehntes Rapitel. 


Bereits im Herbſt deſſelben Jahres, eben als die 
Aſtern zu blühen begannen, vereinigte das Weichbild 
von Niederroßla ſämmtliche Erbfahrer. Kaum war 
die Nachricht von ihrem Herannahen bekannt worden, 
als ein förmlicher Aufruhr entſtand, wie ſolcher in 
Niederroßla nie war erlebt worden. Sämmtliche Be— 
wohner der Stadt, mit Ausnahme der Sterbenden 
und Gebärenden, zogen den aſiatiſchen Ankömmlingen 
ſtundenweit entgegen, obſchon der Stadtrath, der 
ebenfalls zu Haufe blieb, in Ermangelung des gold— 
nen Krokodills alle Empfanggsfeierlichkeiten ausdrücklich 
verboten hatte. 

Alles war voll Jubel und guter Dinge, bis auf 
den Senat, den Bürgermeiſter Sebaſtian Flaminius 
an der Spitze und die verwittwete Lagemann, geborne 
Grümpler, welche indeß nur auf einem Auge weinte, 
der Leute halber, während fie mit dem andern gleich— 
falls lachte. Es Hätte der guten Frau gar nichts 


222 


Schlimmeres paffiren können, als wenn ihre, am Fuße 
des Hindukuſch vuhender, zänkiſcher und eiferfüchtiger 
Eheherr mit der Erbſchaar heimgefehrt wäre und 
bereit3 eine Art Stellvertreter zur Stadt Magdeburg 
vorgefunden, welch' Lebterer bald nach des Attache’s 
Abfahrt den fchwierigen Poften eines Hausfreundes 
übernommen hatte. 

Der Stadtrath ſeinerſeits aber fpie wirklich Teuer 
und Flammen, und war feit entfchloffen, mit ben 
Derwifchen der Abdullah-Moſchee einen Kampf auf 
Leben und Tod zu beginnen. Erſt die wiederholte 
Warnung des Doctor Eifenbeiß, welder den Sat 
aufftellte, daß e8 einer weltlichen Behörde auferordent= 
lid, jchwer, wohl gar unmöglich falle, einen Schatz, 
welchen die Kirche bereit an ſich genommen, wieber 
heraus zu prozeffiren, bewog das hohe Collegium, die 
Sache einer fpätern Berathung, vorzubehalten. 

Zeifig, welcher nicht nur im Befite von taufend 
Ducaten, fondern zugleich als gereiſ'ter Weltmann 
nad) Niederroßla heimfehrte, gelangte zu weit größe— 
vem Anfehen, als dies früher mit ihm der Fall ge— 
weſen war. 

Mit dem Factor und dem Duartus war e8 eben 


fo. Ihr Ruhm ftand hoch wie die Sterne. Wenn 


in der erſten Zeit einer der Erbfahrer über die 
Straße ging, jo blieben die Leute ftehen und fchauten 
ven Dahinfchreitenden gleid) einem Wunbderthiere nad): 
erſchien er aber in Gefellfchaft, jo ward ihm ſtets der 
Ehrenplag zu Theil, und Jedermann ſchwieg und 
Aller Augen hingen an feinem Munde, wenn fi der— 
felbe aufthat, um Creigniffe und Dinge zu verfün- 
ben, die zuvor in Nieverrofla nie waren gehör 
worden. 

Hauptſächlich ftieg Zeifig’8 Credit, als er feinen 


223 


Sollegen und einigen der angefehenften Honoratioren 
der Stadt bei der verwittweten Lagemann ein fplen- 
dides Mittagseffen gab, bei welcher Gelegenheit er 
dent Stabtrathe die fämmtlichen Reifefpefen, fo feine 
Perfon benöthigt gehabt, zurüderftattete. Die Wuth 
ber weifen Behörde gegen die Derwilche der 'Abpul- 
lah-Moſchee legte ſich jetzt auffallen. 

Der Heldenſpieler Hanno war durch den gemalt- 
famen Tod feines Freundes Lagemann fo erjchüttert 
worden, daß er von Stund’ an den alten Adam aus- 
zog und ein beflerer Menſch wurde. Nachdem er den 
Attahe mit eigner Hand vom Maulbeerbaume losge-⸗ 
fchnitten, forgte er mit wahrer Pietät für deſſen Be— 
gräbniß, wodurch er fehr in der Achtung ter Erb- 
fahrer gewann. Aber die Befjerung war bei ihm 
nicht blos eine ſchöne Wallung, fondern hatte tiefer 
Wurzel gefchlagen. Mit Gewillenhaftigfeit bewahrte 
er das Erbtheil der Wittwe und zahlte e8 ihr von 
Heller zu Pfennig aus, ohne auf die geringfte Ent- 
ſchädigung Anfprud zu machen. Gute Werfe beloh- 
nen ſich ftets. Aus Dankbarkeit reichte ihm bie hüb- 
Ihe Wittwe ihre Hand. Er legte fpäter eine viel- 
befuchte Turnſchule an und lebt noch heutzutage in 
behaglihen Verhältniffen und als geachteter Mann in 
Niederroßla. | 


E83 bedarf gewiß feiner Berfiherung, daß es auf 
dem benachbarten Friedrichshof nad Nüdfehr der Ka— 
bulfahrer nicht minder freudvoll herging. Bereits 
feit längerer Zeit lebte daſelbſt die edle Telicitag, 
welche den Tiebenden Bitten des Generals und Klo— 
tildens nicht Länger hatte widerftehen können. Unmit- 
telbar nad) Gamaliel! 8 und Victor’ 8 Abreife waren 


22% 


diefe guten Menfchen einander näher befannt worden 
und hatten fi jo innig verftanden, daß ihnen eine 
jevesmalige Trennung ſchwer fiel, Das gemeinfchaft- 
liche Interejfe an den abweſenden Geliebten band fie 
nur fejter an einander. Darum war faum eine Woche 
nad Pictor’8 und Gamaliel's Abreife verfloffen, als 
Felicitas nach Frievrihähof z0g. Die Mutter Ga— 
maliel’3 hatte aus feinem andern Grunde den Bitten 
der neuen Freunde fo lange wiberftanden,, als weil 
fie dem Wunfche des Teſtaments nachkommen zu müf- 
fen glaubte, vem zu Folge fie das Gut Siebeneichen 
faufen und eines Abends den unbefannten Pilger er- 
warten ſollte. Sie hatte fih über dieſe Stelle im 
Zeftament gar oft im Stillen den Kopf zerbrochen, 
und auch Morand rieth bin und wieder, ohne den 
dunfeln Sinn enträthfeln zu können. 

Endli Hatte der General mit den Worten: 
„Wenn Ihr Fremdling Sie auf Giebeneichen nicht 
vorfindet, wird er Ste ſchon auf Friedrichshof auf: 
ſuchen,“ die letzte Bedenklichkeit der Wittwe nieder- 
geſchlagen und ſie ward eine Bewohnerin des ſchönen 
Schloſſes, wo ſie wie ein Glied der Familie gehalten 
wurde. Klotilde hing mit kindlicher Liebe an der 
edeln Frau, und dieſe wieder fand an dem holden 
Mädchen einen Erſatz für den abweſenden geliebten 
Sohn. 

General Morand hatte nicht unrichtig prophezeiht. 
Nach Verlauf eines halben Jahres ſtellte ſich der 
Pilger, welcher Felicitas vergebens auf Siebeneichen 
geſucht hatte, wirklich auf Friedrichshof ein. Es war 
Niemand anders, als der Hofmaler mit Olivien. Er 
erſtaunte nicht wenig, hier außer ſeiner Tante auch 
die Familie ſeiner geliebten Gattin, welche unter den 
Roſen Afghaniſtans ſchlief, anzutreffen. 


225 


Wer vermöchte die mannigfachen Entdeckungsſcenen 
"würdig zu ſchildern und die darauf folgende Freude? 
Setzt: ward der Ankauf von Siebeneichen ganz: aufge- 
‚geben. Auch Balthafar mußte in Friedrichshof blei- 
ben, weldye8 der wohnlichen Räume in Menge darbot, 

Ein wahrer Himmel fanf von nun auf die glüd- 
fihen Schloßbewohner hernieder, der nur von ben 
Sorgen für die geliebten Stabulfahrer zuweilen ge- 
trübt ward. Aber dem Klaren, blauen Herbithimmtel 
des nächſten Jahres und den ſich färbenden Aitern 
war es vorbehalten, auch dieſe Wolfen zu verſcheu— 
hen. Gamaliel und Bictor fehrten um eine Welt 
reiher an Erfahrung, geprüfter und Fräftiger zu ben 
Ihrigen zurüd. Hatte Letzterer auch nur das blü— 
hende Grab derjenigen gefunden, wegen ber er bie 
weite Reife überhaupt angetreten, fo bereute er doch 
keineswegs vie Weltfahrt an der Seite des geliebten 
Freundes unternommen zu haben. Kanm aber hatte 
Gamaliel die ſchöne Olivia erfhaut, als e8 munder- 
bar licht in feinem Innern ward. Ja, fie war e8 
gewefen, die im fernen Weltineer von der Abendfonne 
verflärt ihm vorübergeſchwebt. Der Himmel Afgha— 
niftans hatte feinen Einfluß auf Das veizende Ge— 
ſchöpf nicht ganz verläugnet. Ihr Teint war etwas 
dunkler, ihr Auge feuriger und ihr Wuchs üppiger 
al8 der Klotilden’s, und obſchon faum vierzehn Früb- 
linge zählend, glich fie einer Jungfran von achtzehn. 


Und es mährte nicht lange, da keimte neue Liebe 
und neue ftille Seligfeit zog ein in die ſchönen Hal— 
len von Friedrichshof. Gamaliel's und Klotilden’s 


Herzen Hatten ſich gefunden einerſeits, währen Bictor 
Stolle, fimmtl, Schriften. XVIIT. 


226 


und Olivia in inniger Piebe für einander erglühten. 
Alle Mühfeligkeiten der Weltfahrt, welche Victor be- 
ftanden, um die Mutter aufzufinden, follten durch Die 
veihhe Liebe der veizenden Tochter taufendfältig ver- 
gokten werden. 

Und ein Frühling zog über das Land und noch 
einer; da gab's eine Doppelhodhzeit zu Friedrichshof. 
Daß hierbei weder der Rathsactuar Zeifig, nody der 
Buchdrudereibefiger Süßmilch, noch der Tertius Vet— 
terlein, noch der Turnlehrer Hanno fehlten, bedarf 
wohl keiner Erwähnung. Befand ſich doch ſelbſt der 
alte Doctor Eiſenbeiß unter den Geladenen. | 

Als aber die Hochzeitägäfte gerade bei Tafel ſa— 
fen, den feligen Brautpaaren ein Lebehoch nach dem 
andern gebracht wurde und die Champagnerpfropfen 
Tprangen, als jollte eine Brefche in den Himmel ge- 
ſchoſſen werben, erhob fih plötzlich vom Schloßhofe 
herauf ein mörderliches Geſchrei. Ein panifcher Schre- 
den bemächtigte fi der im Haufe hin- und wieber- 
laufenden Dienerfchaft, und unter den Ausrufe: „Der 
Teufel kommt! Der Teufel kommt!” ftürzte eins über 
das andere, 

Erſchrocken eilten Brautpaare und Gäfte nad) den 
nad) den Hofe führenden Fenſtern. Da war ein ge= 
waltiger vierjpänniger Reiſewagen vorgefahren, und 
eben Jah man zwei Mohren beſchäftigt, eine wunder— 
Ihöne Frau aus dem Wagen zu geleiten. . 

„Die Blume Hindoftans!“ rief Gamaliel, und 
verfhwand, ohne ein Wort weiter zu verlieren, durch 
die Saalthüre. 

„Si John!“ rief Victor, und ftürzte dem Freunde 
nad). | 
eu ‚Doctor Barring!” rief Hanno und folgte gleich— 
alls. 


227 


Zeifig, Betterlein und Süßmilch Elatjchten aber 
..jubelnd in die Hände und riefen ununterbrocden: 
„Tohu, Bohu, Tohu, Bohu, das ift prächtig!“ 

Und fie waren es. Der wadre Gapitain hatte 
zufällig von dem doppelten Hochzeitfeſte Kunde er- 
halten und diefe Gelegenheit benutzt, aud) feine junge 
Frau den einftigen Reiſegefährten vorzuftellen. Diefe 
war aber Niemand anders, als die reizende Brami— 
nin, und die Sache alfo zugegangen. Sir John, 
als eifriger Ehrift, hatte e8 unmittelbar, nachdem fid) 
die Blume Hindoftans unter feinen Schuß begeben, 
nicht unterlaffen fünnen, der Heidin die Vorzüge des 
Chriſtenthums, wo ſich die Wittwen nicht zu ver— 
brennen brauchen, anſchaulich zu machen. Bei diefem 
Löblihen Bekehrungswerke war er aber jelbft vom 
Meiberhaffer zum Liebhaber befehrt worden. Kurz, 
der befehrte Hageftolz heirathete fpäter. “Die befehrte 
und getaufte Heidin befand ſich ganz wohl in dem 
neuen Stande. Um die junge Frau nicht immer in 
Angft und Bangen zu verjeßen, hatte er dem wüſten 
Seeleben entjagt und fid) in ven gejegneten Vierlan— 
den Hamburgs ein höchft freundliches Landgut ge= 
fauft, wo er endlid in Erfahrung bradıte, daß ſich's 
daſelbſt doch beſſer leben laſſe, als zwiſchen Himmel 
und Wellen. So fügt ſich's in der Welt. 

Doctor Barring, namentlich ſeit dem letzten Schiff: 
bruche und dem Aufenthalte an der afrikaniſchen 
Küſte dem Seeleben gleichfalls abhold, hatte ſich in 
Hamburg niedergelaſſen, woſelbſt er als praktizirender 
Arzt eines ausgezeichneten Rufes genoß. Wöchentlich 
fuhr er regelmäßig einmal in die Vierlande nach dem 
Gute feines alten Freundes, wo man ſich in ſtillum⸗ 
blühter Laube, wenn der Abenpftern herrlich ftrahlte 
und Cöleftine, dieſen Namen Hatte die Blume Hin- 


228 


boftans in ver Taufe erhalten, die buftende Erdbeer— 
faltefehnle auftrug, gern der einftigen Seeſtürme er- 
innert. Mit Freuden faßte er den Gedanken bes 
wadern Eir John auf, die einftigen Keifegefährten 
des Habichts bei ihrem Hochzeitsfeſte zu überafchen. 
Tohu und Bohu wollten rein närriſch werben vor 
Freuden, als die Reife fortging. 

Eine ſchönere Weberrafhung aber als dieſer un 
verhoffte Beſuch der Hamburger fonnte namentlich den 
beiden Bräutigam nicht werden. Noch lange nad) 
der Hodhzeitfeier mußten erjtere auf Friedrichshof ver— 
weilen. Es waren die letzten Hochzeitgäfte, welche 
das glüdlihe Schloß verliefen. — 

Bon dem Türken Abdullah, welcher ven Erbfah— 
rern bereit3 in Bombai aus den Augen gelommen, 
hat man nie wieder Etwas vernonmen. 


Ende Des zweiten und lebten Bandes. 


Trud von Alerander Wiede in Yeipzig. 











6 
N e7 


3 6105 015 298 25 


—