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Full text of "Ausgewählte Novellen und Dichtungen"

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Heinrich Iſchokke's 


Novellen und Dichtungen. 


4 
* 
Jehute vermehrte Ans gate 


in ſiebenzehn Bändchen. 


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Aaran. 
Druck und Verlag von H. R. Sauerländer. 


1857. 


Eine Erzählung. 


— 


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— * An 


Vorwort. 


Es wäre wohl eigentlich jedes Vorwort zu nachfolgender Kleinig— 
keit überflüſſig, wenn ich nicht eine Art Gewiſſenszwang fühlte, das 
öffentliche Erſcheinen der Kleinigkeit zu entſchuldigen. Sie lag ſchon 
ſeit vielen Jahren angefangen, aber unvollendet in einem Pult, 
wie manche andere Abhandlung, Novelle und Dichtung, die ich einſt 
mit Vorliebe begann, und dann wieder im Ueberdruß wegwarf. 
Ich war von jeher mit den neun Muſen im Umgang etwas flatter— 
haft; der Fehler gehörte zu meinen Lieblingsſünden. Zur Strafe 
dafür, oder vielleicht auch, weil mein Haar grauer geworden, haben 
mich die pieriſchen Mädchen verlaſſen, was man keinem Frauen- 
zimmer in ſolchem Fall verargen kann. 

Nun einſam und müßig, blieb mir nichts Beſſeres zu thun, 
als die Bruchſtücke der alten Arbeiten zum Zeitvertreib zu muſtern; 
mich daran, wenn's möglich wäre, mit Auffriſchung gewiſſer ſchö— 
ner Erinnerungen zu ergötzen, und dann, wie der Pfarrer in Don 
Quirote's Bibliothek, damit ein Auto da fé zu halten. 

Doch riefen einige liebe Leute, ich ſolle Barmherzigkeit haben, 
mit dieſer Roſe von Diſentis, wie mit einigen andern Kleinigkeiten 
der Art. Auch Frauenzimmer waren's; und, man weiß wohl, denen 
iſt's ſchwer etwas zu verſagen. Sie meinten ſogar, es könne auch 
Andern noch eine frohe Stunde, und vielleicht ſelbſt einige Be— 
lehrung gewähren. 


— 


Alſo fügt' ich mich; blies den Staub von meinen Torſo's und 
Antiken; und überlaſſe ſie Jedem, der ſie will. Einsweilen ſei es 
an dieſer Roſe, und auch wohl noch an einer gewiſſen kleinen Pan⸗ 
dora genug. Ich werde durchaus nicht nachſchauen, ob ſie, im wilden 
Strom unſerer Tagesliteratur, oben aufſchwimmen, oder unterſinken. 


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Wer ein Leben voll reicher Ereigniſſe kennt, findet darin zu— 
weilen Vorfälle, die romanhafter ſind, als unſere Alltagsromane. 
Man kann die, von denen ich hier erzählen will, auch dazu rechnen. 
Ich will mir nicht die Mühe geben, den Leſer oder Hörer dieſer 
Geſchichte von der Wahrheit derſelben zu überreden. Mag Jeder 
davon halten was er will. Man traut heutiges Tages bekanntlich 
Niemandem weniger, als ſogenannten Novellendichtern und Diplo- 
maten; beide mögen für ihre Aufrichtigkeit ſchwören, wie ſie wollen. 

Die hier beſprochenen Begebniſſe fallen in die Zeiten der fran— 
zöſiſchen Umwälzungskriege, und ſtehen mit einem Vorgang der— 
ſelben in Berührung, deſſen die meiſten Geſchichtſchreiber kaum er? 
wähnen, oder doch nur, als einer Beiläufigkeit, gedenken, obgleich 
dieſe Beiläufigkeit viele Hundert Menſchen in Elend, Wunden und 
Tod ſtürzte. 

Der Schauplatz des Trauerſpiels ſind wenig bekannte, ſelten be— 
ſuchte Felſenthäler, von denen unſere Geographen und Reiſebeſchrei— 
ber kaum etwas zu ſagen wiſſen, ob jene gleich im Mittelpunkt 
Europens liegen, und zu den ſehenswürdigſten der Schweiz gehören. 
Eben ſo fremd iſt das darin wohnende Völkchen für die übrige Welt, 
obgleich es ſich in feinen Wohnſitzen des älteſten und unvermiſch⸗ 


— 
— 7 — 


teſten Herkommens rühmen könnte, wenn ihm an ſolchem Ruhm 
gelegen wäre. ö 

Dies Alles verpflichtet den Erzähler, ſeine Geſchichte, die doch 
endlich wohl zur Unterhaltung dienen wird, mit einigen erläu— 
ternden Anmerkungen zu begleiten; und nöthigt ihn, einen all— 
gemeinen Ueberblick der Zeitverhältniſſe und des Schauplatzes vor— 
auszuſenden, damit ſich der geneigte Leſer darin deſto beſſer zu— 
rechtfinde. 


22 — 
Dre eit de e i ee 


Am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts ſaßen auf den euro— 
päiſchen Thronen nur gar wenige Fürſten durch Erziehung und 
Schickſal zu ihrem hohen Berufe vorgebildet. Die Meiſten, wenn 
auch gutmüthig und wohlwollend, hätten, als Privatleute, kaum 
bei Hausnachbarn beſondere Aufmerkſamkeit erregt. Die Leitung 
des Staates überließen ſie größtentheils ihren Kabinetsherren, Höf— 
lingen, Gewiſſensräthen, oft noch Schlimmern; und hießen darum 
nicht minder die Vielgeliebten oder Väter des Vaterlandes. Einige 
waren ſogar geiſtesblöde, oder vollkommen wahnftnnig, wie man weiß. 

Dabei fühlten ſich die Unterthanen ſo wohl, oder übel, als es 
Zeit und Umſtände erlauben mochten. Die obern Stände lebten im 
Genuß der wohlererbten Vorrechte ganz behaglich. Ihnen gehörten 
die erſten Würden und Aemter, ohne andere Mühe, als daß ſie 
ſich hatten gefallen laſſen in Familien, mit alten Stammbäumen 
wohlverſehen, geboren zu werden. Weil fie dem Staate die un— 
wichtigſten Dienſte leiſteten, belohnte man ſie mit den vollwichtig— 
ſten Einkünften, wenigſtens nicht geringern, als ſich vorzugsweiſe 
ſchöne Tänzerinnen und Sängerinnen, durch das angeborne Ver— 
dienſt ihrer Kehlen und Füße, zu erfreuen hatten. 


— — 


Was man eigentlich das Volk zu nennen pflegt, bewahrte man 
ſorgfältig in altgewohnter frommer Einfalt und Treue. So arbei- 
tete es nur williger in herkömmlicher Dienſtbarkeit für das Wohl⸗ 
ſein der Großen; ſteuerte ſchweigend Gut und Blut im Frieden, 
wie im Kriege, und ward, für Entbehrungen und Leiden in dieſem 
Jammerthal, mit künftigen Freuden im Himmel getröſtet. Die 
ſeefahrenden Mächte trieben, als gute Chriſten, Seelenverkäuferei 
und Sklavenhandel; die Landmächte ungefähr ähnliches Gewerbe 
mit ihren getreuen, lieben Unterthanen, auf Werbeplätzen oder beim 
Feilbieten ihrer Truppen an fremde Staaten. 

Doch dieſe alte, gute Zeit drohte jählings ein Ende zu nehmen, 
als die franzöſiſche Nation unwirſch ward, weil der Bauer noch im— 
mer nicht, nach Verheißung Heinrichs IV., an Sonntagen ſein 
Huhn im Topfe fand; ja, kaum den Topf ſelbſt behielt. In Ver⸗ 
zweiflung getrieben, ſprengte ſie endlich ſehr unerwartet ihre Ket— 
ten und Baſtillen. Sie wollte frei ſein, und ward nur frech; zer— 
trümmerte ſogar den Königsthron, und errichtete auf einem vom 
Blute ſchlüpfrigen Boden das Gebäu einer Republik. 

Die Monarchen unſers Welttheils aber, empört über Verletzung 
des göttlichen Rechts an der Perſon eines ihrer königlichen 
Brüder und Standesgenoſſen, rüſteten Rache und Krieg. Nicht 
ſo göttlicher Natur hatte mehrern von ihnen damals das Völ— 
kerrecht geſchienen. Sie hatten zum Beiſpiel ohne Bedenken das 
Leben Polens vernichtet, des uralten Staates; ihn zerfleiſcht, und 
die Stücke deſſelben unter ſich brüderlich, als gute Beute, vertheilt. 
Man fand dies ſehr ſtaatsklug und billig. 

Der Krieg gegen Frankreich hob an. Beim leiſeſten Wider⸗ 
ſtand der Nation ward ihr Zerſtörung von Paris gedroht, und daß 
man Salz auf die öde Stätte ſäen werde. Die zuſchauenden Völ⸗ 
ker ſahen aber mit gerechtem Erſtaunen, daß auch das Unglaubs 
liche wahr werden, daß ungeübte Heere die auf Paradeplätzen wohl 


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geübteſten, und daß unerfahrne Feldherren die erfahrenſten beſiegen 
können; ſahen mit eigenen Augen, daß Söhne gemeiner Bürger 
und Bauern eben ſo glänzende Thaten verrichten können, als Prin— 
zen und Herren vom älteſten Adel; daß in der Maſſe des Volks 
offenbar mehr hellſichtige Staatsmänner und geniale Heerführer 
unbekannt lebten, als in der titel- und ämterreichen Region der 
wenigen Hochgebornen; und daß die Natur, ohne Scheu und Scham 
vor Menſchenſatzungen, ſich, bei Ausſpendung ihrer Gaben, nicht 
im mindeſten durch Stammbäume, Orden und Uniformen, beſtechen 
laſſe. Die Könige, erſchöpft endlich nach langem Kampfe, oder 
überwältigt, ſchloſſen, nicht ohne bittern Verluſt, auf einige Jahre 
oder Monate ihren „ewigen Frieden“ mit der verhaßten, aber 
ſiegreichen Republik. 

Dieſe, durch Waffenglück nicht nur übermächtig, ſondern auch 
übermüthig, trat fortan ſelber ſogleich das Heiligthum des Völker— 
rechts mit Füßen, deſſen Fürſprecherin ſie geweſen. Sie umgürtete 
ſich ſtolz, als mit Schlachttrophäen, mit Ländern bezwungener Na— 
tionen, und gab ihnen wohl den Namen ſelbſtſtändiger, batavi— 
ſcher, eisalpiniſcher, transpadaniſcher, liguriſcher Freiſtaaten, 
aber keine Freiheit von Innen dazu, und keine Unabhängig— 
keit von Außen. Ja, während ſie jenſeits des Meeres das 
ferne Mamelukenreich am Nil verwüſten ließ, zerſtörte ſie auch in 
der Schweiz, mit blutiger Fauſt, die Bundes- und Eidgenoſſen— 
ſchaft der älteſten Republiken des Welttheils, und verwandelte ſie 
in die eine und untheilbare helvetiſche Republik. 

Nur ein einziges bisher dazu gezähltes Ländchen im Schooße 
der höchſten Alpen, Graubünden, oder Rhätien, ließen die 
franzöſiſchen Machthaber unverletzt beſtehen; und doch wohl nicht 
aus Großmuth, und wegen Armuth und Geringfügigkeit des klei— 
nen Gebiets von kaum anderthalb Geviertmeilen. Die Engpäſſe 
Bündens gegen Deutſch- und Welſchland hatten von jeher in den 


Augen der eiferfüchtigen Nachbarmüchte hohe Bedeutſamkeit gehabt. 
Für Oeſterreich wurden ſie aber eben jetzt von beſonderer Wichtig— 
keit. Und Frankreich wollte den Frieden mit dem Wienerhofe nicht 
ſchon wieder gewaltſam brechen, welcher zu Campo Formio vor 
kaum einem halben Jahre erſt geſchloſſen war. Man begnügte ſich 
daher einsweilen ſtaatsklug, das kleine Bündnervolk zu freiwilliger 
Vereinigung mit der helvetiſchen Republik höflich einzuladen. 

Die Leute im Gebirg, denen, oder wenigſtens deren Vorſtehern, 
es nicht ganz an Kenntniß der Welthändel fehlte, ſahen wohl ein, 
daß ſie ſich früher oder ſpäter entweder mit der Schweiz vereinigen, 
oder, wie Venedig und Genua, ihrer alten Freiheit auf immer 
verluſtig begeben müßten. Doch weil man den Anſchluß, als einen 
freiwilligen forderte, meinten ſie, es habe damit keine Eil; 
er könne einſt unter billigen, vielleicht ſogar vortheilhaften Bedin— 
gungen ſtattfinden. Ohnehin war es keine leichte Sache, in einer 
ſo wunderlichen Staatseinrichtung, wie hier, zu baldiger und be— 
ſonnener Entſcheidung zu gelangen. 


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Der S Maren ae, 


Man denke fich ein Ländchen von durcheinander laufenden Gi— 
birgsketten und beinahe dreihundert Gletſchern, wie ein Netz, zu— 
ſammengeſtrickt, in deſſen Maſchen die Einwohner ärmlich, aber 
zufrieden, meiſtens vom Ertrag der Heerden, oder ſehr wenigen 
Landbau's lebten. Dies iſt Graubünden. Die geringe Bevöl— 
kerung, nicht nur in allen Richtungen durch himmelhohe Bergzüge, 
durch dreierlei Sprachen, und zweierlei Religionsbekenntniſſe in ſich 
geſchieden, war es auch noch durch vielerlei politiſche Geſtaltungen. 
Das Ganze bildete nicht weniger, denn eine Maſſe von faſt dreißig 


kleinen, ziemlich ſelbſtherrlichen Republiken, Hochgerichte genannt, 
mit beſondern Verfaſſungen, Geſetzen und Rechten verſehen. Dieſe 
Schaar von Freiſtaaten hing theilweis durch drei unter ſich abgeſon— 
derte, und zu verſchiedenen Zeiten entſtandene Bünde zufammen”), 
deren jeder wieder ſein eigenes Bundeshaupt und ſeine eigene Bun— 
desverſammlung beſaß. Die drei Bünde aber waren wieder durch 
Verträge mit einander in einen allgemeinen Bund zuſammengefloch— 
ten, und ſtellten gegen das Ausland einen Geſammtſtaat dar, deſſen 
gemeinſchaftliche Angelegenheiten von Abgeordneten an einem ge— 
meinfamen Bundestag berathen wurden. Vollziehungsgewalt ſtand 
den drei Bundeshäuptern zu. Doch weder Bundestag, noch Re— 
gierung, erfreuten ſich großer Vollmacht. Denn ihre Anordnungen 
waren wieder der Genehmigung ſämmtlicher einzelnen Republiken 
unterworfen. Die Mehrheit von den Stimmen derſelben entſchied 
dann; doch auch das Stimmrecht der Republiken war unter ſich 
wieder ſehr ungleich. 

Nichts natürlicher, als daß in ſolchem verworrenen Staats- 
geſpinnſte ewige Verwirrungen, Umtriebe des Eigennutzes, oder 
Ehrgeizes, politiſche und kirchliche Entzweiungen, zuweilen ſogar 
bewaffnete Aufſtände und Bürgerkriege, heimathlich waren, von 
denen die Weltgeſchichte freilich wenig Kunde nahm. 

Der ſouveräne Landesfürſt, das Volk nämlich, hatte aber das 
gewöhnliche Loos der Landesfürſten. Es ward von Rathgebern und 
Günſtlingen geſchmeichelt; unwiſſend erhalten; nach deren Privat— 
intereſſen geleitet, und nicht ſelten betrogen. Trieben es die Herren 
manchmal zu arg, warf der aufbrauſende Selbſtherr Alles über 
Haufen, das Beſte, wie das Schlechteſte. Weil aber bei ſolchen 
Anfällen von böſer Laune Niemand größern Schaden litt, als der 
Landesherr ſelber, legte ſich ſein Zorn bald wieder. 


) Der Graue -, der Gotteshaus- und der Zehngerichte-Bund geheißen. 


2a ee 


In einem Staate, fo arm und klein, wie dies Gebirgsland, 
wo, was auch wohl in großen Staaten der Fall ſein mag, poli— 
tiſche Grundſätze und Meinungen gewöhnlich von ökonomiſchen Vor— 
theilen ihrer Bekenner abhängig waren, konnte es nie an Faktionen 
fehlen. Lange Zeit ſpielte, unter den Magnaten, das durch viele 
Thäler verzweigte Geſchlecht der Herren von Salis die Haupt— 
rolle. An ihrer Spitze ſtand zuletzt ein Mann von großer Geſchäfts— 
gewandtheit und Thätigkeit, Uliſſes von Salis-Marſchlins. 
Mit ſeinem Patriotismus fand er es lange Zeit verträglich, als 
Geſchäftsträger des franzöſiſchen Hofes, mit Miniſtertitel geſchmückt, 
die Intereſſen einer fremden Macht im eigenen Vaterlande zu ver— 
treten. Sobald er jedoch nachher, durch den Untergang Ludwigs XVI., 
die einflußreiche Stellung, und eben ſo ſeine zahlreiche Verwandt— 
ſchaft, oder Partei, ihre beträchtlichen Einkünfte von Kriegsdienſten 
und Jahrgeldern verlor, verwandelten er, und ſein Anhang, ſich 
in Frankreichs Todfeinde und wandten ſie ſich dem Erzhauſe Oeſter— 
reich zu, in der Hoffnung, durch dienſtbefliſſene Hingebung für deſſen 
Intereſſen, neue Stützen ihres wankenden Anſehens zu gewinnen. 

In der That war ihrer altgewohnten Hoheit und Machtherr— 
lichkeit ſchon früher mancherlei Abbruch geſchehen. Denn die Ge— 
genpartei in den Thälern des Hochlandes, reich an talentvollen und 
ſcharfſichtigen Männern, unter denen die Tſcharner, Planta, 
Baviere, ſelbſt einzelne Glieder der Familie Salis“), hervor: 
ragten, ermüdete nicht, die größten wie die kleinſten Staatsſünden, 
Verfaſſungsverletzungen und Beſtechungskünſte der Oligarchie auf— 
zuſpüren und zu enthüllen. Sie ſetzte dem ariſtokratiſchen Stolz 
derſelben ſtarrſinnigen, demokratiſchen Trotz entgegen, und hatte 
ſogar ſchon die Pacht der Landeszölle, welche das Haus Salis, feit 
einem halben Jahrhundert und länger, um 19,000 Gulden unan— 


) Unter ihnen auch der liebenswürdige Dichter Gaudenz von Salis. 


gefochten zur Selbſtbereicherung beſeſſen, auf 60,000 emporge— 
trieben ). 

Dies und vieles Andere ſchwellte beider Parteien Zorn oder 
Rachſucht täglich mehr. Beide wetteiferten, ſich gegenſeitig beim 
vielhäuptigen Landesherrn zu verdächtigen, und ihn zum Verderben 
der andern aufzureizen. Man ſieht, es geht in Republiken ohn— 
gefähr, wie in Monarchien. Als aber der Mißwachs des Jahres 
1793, und die beſchränkte Einfuhr ſchwäbiſchen Getreides dazu 
kam; dann ſogar noch jene völkerrechtswidrige Gefangennahme der 
franzöſiſchen Geſandten, Semonville und Maret, auf Bündner 
Boden, und deren Auslieferung an Oeſterreich, durch Anhänger 
der Partei Salis *): erhob ſich tobender Unwille in den Gemein⸗ 
den. Eine außerordentliche Standesverſammlung, ein unparteiiſches 
Gericht, ward vom Volk zuſammenberufen. Ulyſſes von Salis 
Marſchlins floh aus dem Lande, ſei es aus Furcht vor Ge— 
rechtigkeit, oder Ungerechtigkeit ſeiner Richter. Er aber, wie 
mehrere der thätigſten Männer ſeiner, oder der öſterreichiſchge— 
nannten Partei, büßten ihre politiſchen Sünden mit ſchweren 
Geldſtrafen. Die ſieghaften Gegner, nun franzöſiſche Partei ge— 
heißen, ſie ſelbſt nannten ſich Patrioten, feierten einen ent— 
ſchiedenen Triumph. Baptiſta von Tſcharner, der Bürger— 
meiſter von Chur, ſtand fortan als Standespräſident, an deren 
Spitze. 

Doch der Kampf der Faktionen war damit noch keineswegs 
abgethan. Als wenige Jahre ſpäter, die empörten Unterthanen- 


*) Schon im Jahr 1787. 

„) Am 25. Juni 1794 bei Novate am See von Chiavenna. Näheres 
darüber, mit Beweisſtücken, findet ſich im dritten Heft des „Pro— 
metheus, für Licht und Recht“, S. 81. (Aarau, bei H. R. Sauer⸗ 
länder, 1833) mitgetheilt. 


— — 


lande Bündens, Valtelin, Chiavenna und Bormio, gleiche Rechte 
und Freiheiten mit dem Herrſcherlande forderten; als die Mehr— 
heit der landesherrlichen Räthe und Gemeinden wirklich entſchieden 
hatte, jene Gebiete als vierten Bund in den Staatsverein auf- 
zunehmen; als der zum Schiedsrichter in dieſem Handel angerufene 
Eroberer Italiens, Napoleon Bonaparte, den Tag ſeines 
Spruchs ſchon anberaumt hatte: gelang es den Gegnern Frank⸗ 
reichs, die Sendung der Abgeordneten an den franzöſiſchen Ober— 
feldherrn, bis nach Ablauf der von ihm beſtimmten Friſt, zu ver— 
zögern. So wurden die Unterthanenlande mit der eis-alpiniſchen 
Republik vereint *). 

Der Verluſt eines fruchtbaren und ſchönen Gebiets von 60 Ge— 
viertmeilen und mehr denn 80,000 Einwohnern; faſt aber mehr noch 
der Verluſt des Privateigenthums vieler Bündnerfamilien daſelbſt, 
und Verluſt des Gewinns derſelben von Ausbeute der Aemter und 
Vogteien, empörte das Gebirgsvolk von neuem gegen die ariſto— 
kratiſche Faktion. Umſonſt ward verſucht, durch Geſandtſchaften 
zum Raſtatter Kongreß, oder nach Paris, das Geſchehene unge— 
ſchehen zu machen. Man mußte ſich damit begnügen, die Urheber 
des Unglücks vor Gericht zu ziehen, und ſie mit Geldbußen, mit 
Ausſchließung von Staatsämtern, vom Stimmrecht u. dgl. m. zu 
beſtrafen. Freilich ſchlechter Erſatz für ein großes und verlornes 
Gebiet, welches ſeit beinahe dreihundert Jahren rhätiſches Eigen— 
thum geweſen war. 


) Der Spruch geſchah am 22, Oktober 1797. 


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4. 


Faktionen⸗ Kampf. 


Die Unterjochung und Staatsumwälzung der benachbarten bun— 
desverwandten Schweiz durch Frankreichs Heere; die Umſchaffung 
der alten Eidsgenoſſenſchaft zu einer helvetiſchen Republik, als 
deren Beſtandtheil auch ſchon vorläufig Graubünden, in der von 
Paris erſchienenen Staatsverfaſſung, genannt war, verbreitete ge— 
rechte Befürchtungen durch alle Thäler des rhätiſchen Gebirgs. 
Die ariſtokratiſchen Geſchlechter, ſchon tief genug gebeugt, er— 
blickten in der Vereinigung Bündens mit einem helvetiſchen Frei— 
ſtaat, den Untergang ihrer letzten Hoffnung, jemals wieder alten 
Einfluß, Rang und von Fürſtenhänden genährten Reichthum zurück 
zu erhalten. Eine ſo troſtloſe Ausſicht erfüllte fie mit dem blin— 
den Muth der Verzweiflung, Alles für Alles, ſelbſt, wenn es 
ſein müſſe, die Freiheit ihres Volkes, das Leben ihres eigenen 
Vaterlandes, ins gefährlichſte Spiel zu wagen. Sie verſuchten, 
mit dem Wiener Hofe geheime Unterhandlungen anzuſpinnen, daß 
er, mit ihrer Hilfe, ſich den Beſitz Graubündens zuſichere, bevor 
ſich Frankreich deſſelben bemächtigen könne. Man legte dem im 
Vorarlberg ſtehenden kaiſerlichen General Auffenberg ausführ— 
liche Kriegspläne vor, in das Hochland einzurücken, von wo aus, 
wie aus einer ſtarken Veſte, die Franzoſen ſowohl in Italien, als 
in der Schweiz, mit entſchiedenem Vortheil anzugreifen, und die 
Eingänge Tyrols am ſicherſten gedeckt wären ). Man ſuchte mit 


) Der „Militär⸗Plan“ des Baron Salis-Marſchlins und der Brief⸗ 
wechſel mit General Auffenberg und Baron von Cronthal ward 
nachher bei der Gefangennahme Auffenbergs, im März 1799, unter 
deſſen Schriften durch einen franz. Lieutenant beim 7. Huſarenregiment, 
Namens Bacher, entdeckt und der proviſoriſchen Regierung Bündens 


— 


allen Künſten der Ueberredung den Miniſter-Reſidenten Oeſter⸗ 
reichs, Baron von Cronthal in Chur, zu gewinnen. Doch der 
Eine, wie der Andere gaben, weil Oeſterreichs Rüſtungen noch 
unvollendet waren, zwar freundliche Hoffnungen, doch ausweichende 
Antworten: Man müſſe den gelegenen Zeitpunkt erwarten; es 
fehle zu ſolchem Schritt bisher guter Vorwand oder rechtferti— 
gender Grund. — „Vorwand? Grund? Nichts leichter, als dieſen 
zu finden!“ erwiederte man ihnen: „Wir erregen einen großen 
Volksaufſtand, und verbreiten damit Aufruhr gegen Frankreich 
durch die ganze Schweiz!“ “) Geſagt, gethan. Sogleich wurden 
in den katholiſchen Gemeinden der wilden Oberlandsthäler Un— 
ruhen laut. Aber Cronthal ſelber widerſetzte ſich dem voreiligen 
Ausbruch einer ſtürmiſchen Bannererhebung **). 

Unter ſolchen Bewegungen und Umtrieben verfloß die erſte 
Hälfte des verhängnißreichen Jahres 1798; offener und gewaltſamer 
traten ſie aber in der andern Hälfte deſſelben hervor. Von Seiten 
der helvetiſchen Regierung, und unterſtützt von der franzöſiſchen, 
erſchien die wiederholte Einladung zum Anſchluß Bündens an die 
Schweiz. Eine Lebensfrage, wie dieſe, konnte nur durch die Ge— 


übergeben, dann im Archiv der helvetiſchen Regierung zu Bern 

niedergelegt; wo ſich dieſe Papiere, bezeichnet A bis R und Nro. 1 

bis 21 befinden. Der Kriegsplan iſt in denſelben unter Nro. 11 

enthalten. 

Laut Certifikat des helvet. Archivars Vinet, fügt ein Schreiben 

unter Lit. A an Auffenberg vom 28. Mai 1793 hinzu: „C'est ce que 

votre cour demande, pour avoir un pretexte plausible pour 

s emparer des Grisons.“ 

) Wozu er ſich außerdem noch durch ernſte Vorſtellungen bewogen finden 
mochte, welche ihm, im Namen des Landtags-Ausſchuſſes, der Haupt⸗ 
mann Joh. Baptiſta Bavier machen mußte, 


* 


— 


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fammtheit des ſelbſtherrlichen Volks beantwortet werden. Jedem 
verſtändigen Manne war aber zweifellos, daß der kleine Staat 
nicht länger vereinzelt für ſich daſtehen könne; daß er entweder 
früher oder ſpäter zur Schweiz und in den franzöſiſchen Macht— 
kreis, oder in den öſterreichiſchen werde hineingeworfen werden. 

Die demokratiſche Partei, noch am Ruder des Staats, und in 
der Hoffnung, wenn auch nicht Selbſtſtändigkeit des Staats, doch 
Freiheit des Volks zu retten, mahnte zum treuen Verbleiben bei 
der altbundes- und ſchickſalverwandten Schweiz, doch unter Be— 
dingungen: daß die wirkliche Vereinigung nicht früher, als nach 
dem allgemeinen Frieden Europa's vollzogen werden ſolle; oder 
wäre dies nicht, daß wenigſtens keine fremden Befehlshaber und 
Kriegsvölker den Bündnerboden betreten und das Gut des Landes 
betaſten ſollten. 

Ein wohlgemeinter Rath allerdings; aber den Begriffen, 
Sitten und Gewohnheiten vom Großtheil der Bergbewohner Flang . 
die Stimme der ariſtokratiſchen Rathgeber zuſagender. „Keine 
Vereinigung“, hieß es da, „mit der verwüſteten unglücklichen 
Schweiz! Bleiben wir für uns. Wir können es. Das erbvereinte 
Erzhaus Oeſterreich iſt bereit zum Beiſtande. Laßt Euch durch 
nichts verblenden! Wer will Landesverräther ſein! wer franzöſi— 
ſche Räuberbrigaden in unſere friedlichen Thäler rufen, daß ſie die 
Religion unſerer Väter vernichten; unſere alten Freiheiten zertreten; 
unſere Hütten plündern; das Vieh der Alpen entführen; Weiber 
und Töchter ſchänden; die Söhne in fremde Schlachtfelder ſchlep— 
pen? Wer will Hochverrath? Niemand unter uns, als die franz 
zöſiſche Faktion im Lande!“ 

Die große Mehrheit des Volks verwarf alſo die Vereinigung 
mit der helvetiſchen Republik“), und überließ ſich ungezügelter 


) Es ward am 8. Auguſt 1798 erklärt. 
Zſch. Nov. XI. 2 


8 


Wuth gegen Alle, welche für das Gegentheil geſprochen, oder 
geſtimmt hatten. Die demokratiſche Partei war verloren. Der 
landtägliche Regierungsausſchuß ward gezwungen, ſich aufzulöſen, 
und die öffentliche Verwaltung abermals ſeinen ariſtokratiſchen 
Widerſachern zu überlaſſen. Nun Gährung, Feindſchaft, Hader, 
Verfolgung und Aechtung Aller, welche Vereinigung mit der 
Schweiz empfohlen hatten. Privathaß und Faktionsrache der Eier 
ger feierten ihr Feſt über die Beſiegten. Nicht Eigenthum und 
Leben derſelben blieben länger geſichert. Hundert und hundert 
der ſogenannten Patrioten retteten ſich durch Flucht vor dem 
Grimm des aufgewiegelten Volks, über Alpen und Rheinſtrom 
ins Ausland. 


sh. Mori, 


Inmitten dieſer Anordnungen, welche beim Herandrängen öſter⸗ 
reichiſcher Kriegsvölker von Oſten, und franzöſiſcher von Süden 
und Norden her gegen die Grenzen täglich ſtürmiſcher wurden, 
zerriſſen die Bande des geſelligen Umgangs, des häuslichen und 
Familienlebens. Selbſt der berühmte, ſonſt zahlreich beſuchte 
Sauerbrunnen von St. Moriz, im Hochthal des Engadins, 
ſtand, während der ſchönſten Sommermonde, faſt halbverwaist. 
Und doch iſt die Kraft des Heiltranks, welchen hier die Guomen 
der Unterwelt brauen, nicht minder geprieſen, als jene von Spaa 
und Pyrmont, und noch erhöht durch die reine Luft der Alpen, 
welche hier erquickend die kranken Glieder badet. Zwar nicht, 
wie dort, wölbten ſich Prachthallen über der heiligen Quelle, 
noch prangten neben ihr palaſtähnliche Kur- und Ballſäle, oder 
öffentliche Unglückshäuſer des Glücksſpiels. Aber in wunderbarem 


a 


Reiz ſpricht die Natur hier den Wanderer mächtiger an, denn 
kaum irgend in einem andern Schweizerthal. 

Fünftauſend Schuh erhaben über dem Meeresſpiegel, wohnt der 
Beſucher im anmuthigſten, maleriſchen Gebirgsthal, umringt von 
einer unbekannten Pflanzenwelt. Durchs Lichtgrün ſchlanker Lärch— 
tannen blitzen drei helle Seen, in denen der junge Innſtrom ba— 
det, von Wieſen umfangen, welche, wie mit Roſen, vom groß— 
blüthigen Klee beſtreut ſind. Dunkle Zirbelnußkiefern ſteigen aus 
der Ebne an den Hügeln und Urgebirgen empor, die hier mit 
ihren nahen Gletſchern und Silberfirnen das mafeſtätiſche Bild 
umſäumen, großartiger denn Chamouni und Grindelwald. Zwiſchen 
benachbarten hohen Granitfelſen ſenkt ſich, einem im Herabſturz 
erſtarrten, breiten Strome gleich, der Roſatſchagletſcher, an deſſen 
Bord die Luſtwandler Alpenanemonen, dunkelblaue Gentianen und 
nordiſche Linneen pflücken. 

Im Herbſtbeginn des Jahres 1798 war es, als die hier noch 
zurückgebliebenen Brunnengäſte, meiſtens Familien des Bündner— 
landes, ihre mäßige Anzahl wieder durch ein Paar Spätlinge 
vermehrt ſahen, die einige Aufmerkſamkeit erregten. Man hielt 
fie für ein junges Ehepaar, welches weniger die Heilquelle, als 
den Honig der Flitterwochen auf der Hochzeitreiſe, ungeſtört koſten 
zu wollen ſchien. Der junge Mann, kräftig und wohlgebaut, von 
blühender Geſichtsfarbe, blauen Auges, ſchwarzen lockigen Haars, 
trug vollkommen das edle Gepräge des Menſchenſchlages vom Ober— 
Engadin. Er mochte kaum dem Ende der zwanziger Jahre nahe 
fein; aber feine ſchöne Begleiterin dieſelben kaum erſt begonnen 
haben. Der Adel ihrer Geſtalt und Haltung, das Kindlichzarte 
ihres Antlitzes, der ſchwärmeriſche Aufblick ihrer blauen Augen 
unter den ſchwarzbraunen Locken, und dabei ein um die Lippen 
ſpielendes ſchelmiſches Lächeln, waren wie geſchaffen, Jeden zu 
erobern, der nahte. Doch ſelten nur erſchienen Beide am Geſund— 


BE 


-—— 20 m 


brunnen, der vom Dorfe St. Moriz etwa vierhundert Schritt 
entfernt, neben einem alten, hölzernen Gebäude gelegen war. 
Gewöhnlich ſah man ſie, Arm in Arm, durch Wieſen und Wäl— 
der allein umherirren. Es erhob ſich ſogar unter den neugierigen 
Kurgäſten Streit, wer von Beiden den Preis der Schönheit ver— 
diene? Und als die Damen ſich zu Gunſten des Herrn, die Her— 
ren ſich zu Gunſten der Dame erklärt hatten, blieb nur noch zu 
enträthſeln, wer das Pärchen eigentlich ſei? 

Es ward bald erforſcht. Man erfuhr, es ſeien nichts weniger, 
denn junge Eheleute; ſondern Bruder und Schweſter, Kinder längſt 
verſtorbener, wenig bemittelter Eltern aus dem angrenzenden Thale 
Pregäll, jenſeits dem wilden Malöjagebirg; Beide plötzlich durch 
unerwartete Erbſchaft aus England reich geworden. Er ſei ein 
Schützenhauptmann, Namens Flavian Prevoſt; ſie eine Frau 
von Schauenſtein, die ihren ſiechen Gemahl hieher begleitet habe, 
welcher aber kaum das Zimmer verlaſſen könne. 

Die edle Neugier oder Wißbegier war alſo befriedigt; doch 
nicht ganz zum Vortheil des vielbeſprochenen Pärchens. Denn 
man hatte zugleich vernommen, der Schützenhauptmann Prevoſt 
ſei Vertrauter des franzöſiſchen Reſidenten Florent Guiot, Freund 
der Tſcharner, Planta, Joſte und anderer Patrioten, das 
iſt, Franzoſenfreunde, „Revoluzer und Landesverräther“. Von 
Stund an wich man ihnen mit Scheu aus, wie Peſtbeulenträgern. 
Die ſonſt gar höflichen Herren erwiederten dem jungen Mann, 
im Begegnen, kaum den Gruß; und auf die liebenswürdige 
Schweſter ſchielten ſie von nun an nur ganz verſtohlen ſeitwärts. 
Die Damen aber ließen ſelbſt der unſchuldigen jungen Frau keine 
Gnade mehr widerfahren; die Eine fand ſie frech und gefallſüchtig; 
die Andere linkiſch und bäuriſch; die Dritte äußerſt geſchmacklos 
und vernachläſſigt in der Wahl des Putzes. Sie wandten das 
Geſicht ab, wenn ſie der Zufall ihr entgegenführte, und erlaubten 


M 


ſich höchſtens, mitleidig einen Blick über die Geſtalt des Begleiters 
fliegen zu laſſen. 


6. 


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„Nun endlich ſtehen wir andern Ehrenleute einmal wieder auf 
feſten Füßen!“ ſagte einer der letzten Kurgäſte zum andern, mit 
dem er an einem heitern Oktobermorgen noch allein in der höl— 
zernen Trinklaube plauderte. 

Der Ehrenmann, der dies geſprochen hatte, obgleich nur halb— 
ſtädtiſch gekleidet, groß und ſtark gebaut, ſchien darum nicht minder 
eine hochwichtige Staatsperſon zu fein. Wenigſtens verkündeten 
es die Mienen ſeines breiten, ſonneverbrannten Geſichts, tapezirt 
mit ſteifen, lederartigen Falten. „Ja, ja! auf feſten Füßen!“ 
wiederholte er, und rieb ſich freudig die harten Hände. Man 
hörte ſie rauſchen: „Gelt, Ihre Weisheit“), gelt! Die Nachricht 
iſt Tonnen Goldes werth. Man konnte bisher nicht ruhig ſchlafen, 
weil die Franzoſen im Stande geweſen wären, über Nacht ins 
Land einzubrechen. Der Prevoſt muß noch nicht Unrath wittern. 
Ich wundere mich, daß er ſich nicht aus dem Staube macht, wie 
feine übrigen landes verrätheriſchen Spießgeſellen.“ 

„Man wird ihm bald den Weg weiſen, wenn er ihn nicht 
wohl finden kann, oder ſuchen will!“ erwiederte mit vornehm 
gleichgültigem Ton der Nebenmann, ein alter, zierlicher Herr 
mit gepudertem Haar, in pelzverbrämtem, aſchfarbenem Ueberrock, 


) Der Titel „Ihre Weisheit“, nicht ſchlechter oder wahrer als 
Excellenz, oder Hochwürden, ward ſonſt den höhern Staatsbeamten 
des Bündnerlandes gegeben, 


Be. 


mit beſcheiden im Knopfloch ſichtbar werdendem Ordensbändchen. 
Sein röthliches, übrigens nichtsſagendes Geſicht war ſeltſam genug 
durch eine Naſe geziert, die vorn in einen blauröbthlichen Ballen 
endete. „Ich wundere mich bloß,“ fuhr er fort, indem er die 
Tabakspfeife mit dem ſilberbeſchlageuen Meerſchaumkopf einen Au⸗ 
genblick abſetzte, um eine blaue Rauchwolke in Wirbeln entfahren 
zu laffen: „ich wundere mich bloß, daß man aus dem Burſchen 
viel Weſens gemacht hat. Man weiß ja, Herr Landvogt, er iſt 
von der gemeinſten Herkunft, ein bloßer Bauernkerl.“ 

Der Landvogt ſchien die letzten Worte etwas empfindlich zu 
nehmen und meinte: „Herkunft hin, Herkunft her, Ihre Weis⸗ 
heit! Bei uns zu Lande, denk' ich, iſt, wer Geld hat, Edelmann, 
und der Prevoſt da, wie man hört, beſitzt Moſes und die Pro⸗ 
pheten. Darum ſag' ich, Herkunft hin, Herkunft her! Manch 
uraltadeliches Bündnergeſchlecht iſt heutzutage froh, wenn es die 
Kuh im Stall, oder den Pflug im Haberfeld haben kann. Falls 
ung der Kaiſer nicht wieder, mit Jahrgeldern und Regimentern, 
auf die Beine hilft, kann noch manches gute Haus, ſammt deſſen 
Wappen und Krone, zur Strohhütte werden.“ 

„Pah! Sie ſcheinen heute einen kleinen Acceß vom Hypochonder 
zu leiden, Herr Landvogt.“ 

„Hypochonder, Ihre Weisheit? Meiner Treu, die heutigen 
Zeiten ſind wohl danach, und find es ſchon lange. Die ſchönen, 
einträglichen Aemter in den welſchen Vogteien haben wir auf ewig 
verloren, wenn der Kaiſer nicht Hand reicht. Zwar wohlfeil konnte 
man die Aemter des Landes ſchon längſt nicht mehr erkaufen. Ich 
hatte von Glück zu ſagen, als ich meine Stelle in Teglio, um 
5000 Gulden baar, erſtand, ungerechnet, was ich damals den 
Bauern an Brod, Käſe, Würſten und Wein austheilen mußte, 
um die Wahl in geläufigern Gang zu bringen. Seit der Vicari 
Ott Singer von Katzis den Lugnetzern für die Landeshauptmann⸗ 


ſchaft von Sondrio 15,000 Gulden zahlte, ja, ſeitdem, Ihre Weis— 
heit, war nicht mehr viel zu profitiren!“ 

„Sie haben nicht ganz Unrecht, Herr Landvogt,“ bemerkte 

die vornehme Weisheit: „Jetzt aber muß nicht mehr geklagt, 
ſondern gewagt werden. Der Kaiſer ſteht mit ſeiner ganzen Kriegs— 
macht auf unſerer Seite. Wir vollziehen, was neulich der Bun— 
desiag von Ilanz beſchloſſen hat; rüſten ſechstauſend Mann aus; 
tapferes Volk und gediente Offiziere darunter. Es müßte im 
Himmel und auf Erden alle Gerechtigkeit ausgeſtorben fein, wenn 
die rebelliſche Canaille in Frankreich und der Schweiz nicht zu 
Paaren getrieben werden könnte. Die Stunde der Erlöſung iſt 
da, ſag' ich. Jeder von uns muß jetzt den letzten Blutzger“) 
daran ſetzen!“ 
Der Landvogt nahm mit verdrießlicher Miene eine Priſe aus 
der hörnenen Doſe und meinte: „Der letzte Blutzger wird wohl 
davon fliegen, wir mögen ihn daran ſetzen wollen oder nicht. 
Sechstauſend Mann unterhalten, kaiſerliche Einquartierung dazu, 
Kriegskoſten, — zuletzt find wir insgeſammt Bettler. Ich habe 
ſchon oft im Stillen bei mir gedacht, der Battiſtin von Salis 
hatte keinen dummen Einfall, als er uns Veltlin abkaufen wollte. 
Wir hätten eine ſchöne Summe gelöst; unter uns vertheilt und 
wenigſtens baares Geld im Sack gehabt ).“ 


) Ein Name der kleinſten Scheidemünze in Graubünden. 


) Ein religisſer und politiſcher Schwärmer, der in allem Ernſt ein 
Memorial, mit dem Vorſchlag, eingab, das Vaktelin, die Grafſchaft 
Chiavenna und Bormio von den Bünduern auszukaufen. Man wollte 
argwöhnen, daß mehrere reiche, ihm verwandte Familien dabei im 
Hintergrunde geſtanden ſeien, denen nach einem Fürſtenthron gelüſtet 
habe. 


— 4 


„Poſſen, Herr Landvogt! Bricht Krieg aus, erobern wir die 
Unterthanenlande zurück. Ich ſtehe dafür, ſie ſollen ihre Empö— 
rung theuer zahlen. Bünden kömmt nie und nimmer an die Schweiz, 
das heißt, an Frankreich. Wir bleiben die Herren! Und wenn 
Alles fehlt, dann lieber, mit Vorbehalt unſerer Rechte und Frei— 
heiten, zu Oeſterreich! Dem Volke mag's gleich ſein, von wem 
es regiert wird. Wir Andern bleiben, die wir find. Ich ſpreche, 
nota bene! nur vom äußerſten Fall. Jetzt heißt's Hand ans 
Werk gelegt! Wir find wieder Meiſter im Lande. Citoyen Guiot !“), 
alle unſere Revolutionshelden, find landesflüchtig — — — “ 

„Nicht Alle, Ihre Weisheit!“ unterbrach ihn kopfſchüttelnd 
der bedächtige Landvogt: „Es erwarten noch Tauſende, noch 
ganze Gemeinden mit Sehnſucht die Franzoſen. Aufpaſſer ringsum! 
Denken Sie doch an dieſen Prevoſt, der ungeſtört mit den Feinden 
korreſpondirt.“ 

„Ich ſage, Herr Landvogt“, erwiederte der Magnat mit 
Zuverſicht in Ton und Blick: „Er hat auskorreſpondirt! Ich habe 
ſchon nach Chur geſchrieben. Man wird den Burſchen feſtnehmen, 
und ein Exempel ſtatuiren. Der Prevoſt iſt nichts anderes, denn 
Spion. Nach Kriegsrecht gehört er an den Galgen, und ich 
möchte ihm dazu verhelfen.“ 

„Hier bin ich! Will Ihre Weisheit nicht lieber den Henker— 
dienſt ſelber verrichten?“ donnerte ihn unerwartet eine kräftige 
Stimme an. Der Schützenhauptmann war durch die offene Thür 
der Trinklaube eingetreten, hatte die letzten Worte gehört und 
ſtand mit drei Schritten plötzlich vor dem Staatsmann. Dieſer 
fuhr ſo erſchrocken im Seſſel zurück, daß ſein Haarzopf in die 
Höhe flog, und der aufſtäubende Puder mit Tabaksrauch, dem 
beredten Munde entqualmt, eine gemeinſchaftliche Wolke bildete. 


) Miniſter⸗-Reſident der franzöſiſchen Republik in Bünden. 


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Die gewöhnliche Rothglühhitze feines Geſichts war, ungewiß ob 
aus Furcht oder Zorn, in Weißglühhitze übergegangen. Nur der 
Knopf an der Naſenſpitze blieb ſtandhaft veilchenfarben. 

„Wie — was?“ ſtammelte er endlich: „Was begehren Sie, 
Herr? Wer ſind Sie?“ 

„Hauptmann Prevoſt bin ich, und Ihrer Weisheit einen weiſen 
Rath geben will ich.“ 

„Herr, — Herr — aber ich verlange keinen!“ rief der Magnat, 
ſich ermannend. 

„Eben darum haben Sie und Ihresgleichen das Vaterland ins 
Verderben geſtürzt,“ entgegnete der Hauptmann: „Ihre Faktion 
iſt der blinde Simſon, der die Säule des Hauſes einreißt, um 
Feinde zu zerſchmettern, und ſich unter den Trümmern ſelbſt be— 
gräbt. Das iſt die ganze Weisheit der bündniſchen Weisheiten von 
heut. Doch genug! Verzeihung, wenn ich Sie ſtörte. Ich ſuchte 
einen Andern, als Sie.“ 

Mit dieſen Worten wandte er ſich raſch ab; verließ die Trink— 
laube, und eilte die Treppe hinunter, wo ihn die ſchöne Schweſter 
erwartete. 


7. 
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„Iſt er alſo nicht oben?“ fragte ſie, und legte ihren Arm 
wieder in den ſeinigen. 

„Statt ſeiner ein Paar Flachköpfe, die man Weisheiten titu— 
lirt. Begeben wir uns ins Dorf zurück,“ antwortete er mißmuthig, 
und führte die junge Dame davon. 

„Flavian, ſei der Flachköpfe willen kein Brauſekopf!“ mahnte 
die Schweſter: „Du könnteſt ja ſo froh und friedlich bei uns 


2 


leben, wenn du dich nur um die unſeligen politiſchen Händel 
weniger bekümmern würdeſt. Eine Partei, wie die andere, wird 
vom böſen Geiſt der Leidenſchaft beſeſſen. Laß beide fahren!“ 

„Wenn ich mich ſelbſt fahren laſſen könnte!“ ſeufzte er: „Heut 
reiſ' ich wieder fort. Je eher, je lieber. Es iſt hier nicht ge⸗ 
heuer. Ja, liebe Sabine, ich fühl' es; in dieſer Luft darf ich 
nicht länger athmen. Ich gehe, wohin die übrigen Märtyrer. 
Warum bin ich in der Welt, wenn nicht für das Wahre und 
Rechte? Ich will es, denn Gott will es! Dafür leben, dafür 
ſterben, macht Leben und Tod werthvoll. 

„So ſeid ihr Männer!“ ſchalt Frau von Schauenſtein, 
und that recht böſe: „Wenn ihr nicht raufen und ſtreiten könnt, 
iſt euch unwohl. Dein wildes, heißes Blut, kühlen, Brüderchen, 
das ſei dir Lebensaufgabe. Deine Augen werden heller ſchauen, 
wenn fie nicht mehr zorntrunken funkeln. Glaube mir's, die Welt 
iſt und wird, was wir in uns find und werden. Auch in der 
Stille häuslichen Kreiſes, durch Beglücken Anderer, würdeſt du 
ein Glücklicher werden.“ 

„Glücklich, Sabine, kann ich in einem Lande nicht werden, 
wo mich Niemand verſteht, und ich Niemanden verſtehe! Lieben 
ſoll ich, wo Jeder nur ſich, und nichts Anderes liebt! Hätt' ich 
nicht dich noch unterm Himmel, ich ſtänd' in einer Wüſte. — 
Glücklich, ſagſt du? Armes Kind, im häuslichen Kreiſe? Darfſt 
du wohl ſelber ſo ſprechen? Biſt du glücklich? Und wer verdiente 
es doch mehr zu ſein, als du, liebe Seele? Ich kenne deinen wun⸗ 
derlichen Eheherrn. — — — Rede wahr: Biſt du glücklich?“ 

Die junge Frau ſchlug die Augen nieder, und äußerte, mit 
anfangs unſicherer Stimme: „Hörteſt du mich je mein Loos be⸗ 
klagen? Warum ſolche Frage heut? Ich liebe meinen Mann, 
wie einen Vater. Der iſt er auch dir geweſen; der iſt er mir! 
Vergiß nie, daß wir ihm unſere beſſere Erziehung danken ſollen; 


, 


daß er uns, als verwaiste, arme Kinder, in Schutz nahm; daß 
er dich auf feine Koſten nach Wien ſchickte, und die Rechte ſtudiren 
ließ; daß wir, was er gethau hat — — —“ 

„Nicht doch, Sabine!“ unterbrach ſie bittend der Bruder: 
„Rede ganz wahr, nicht bloß halbwahr. Was er gethan, er hat 
es ſich gethan. Dich, die feire Enkelin fein könnte; dich, die 
noch ein unwiſſendes, rathlofes Mädchen war, nahm der alte, reiche 
Herr zum Weibe, vernarrt in deine kaum aufgeblühten Reize. Du 
brachteſt ihm, was du und ich damals nicht recht verftanden, deine 
Jugend, deine Schönheit, die Anſprüche auf das ſchönſte Lebens— 
glück zum Opfer. O, wären wir doch arm geblieben an den lieben 
Felſenufern des Mairaſtroms!*) Mich mußte er deinetwillen wohl 
mit in den Kauf nehmen; freilich für feinen Adelſtolz eine wider— 
liche Zulage. Ja, er gab mich in den Unterricht des weiſen 
Neſemann “); ſchickte mich nach Wien, weil er keinen Bauern— 
burſchen Schwager neunen wollte; aber ungroßmüthig, und oft 
genug, zählte er auf, was ich ihn gekoſtet. Wer uns Wohlthaten 
verrechnet, hat die Blume zerquetſcht, und uns bloß den leeren 
Stengel gelaſſen. Ich gab ihm den Stengel zurück, ich zahlte 
ihm ſeine Auslagen baar ab, und wir ſind quitt. Aber dich be— 
klag' ich, Sabine. Dich betrog er um die Beſtimmung des Weibes; 
dich machte er am Traualtar ſchon zur Wittwe und dein Leben zur 
freudenloſen Einöde. — — — —“ 

„Halt ein, Flavlan, du biſt hart, biſt ungerecht! Ich bin zu— 
frieden. Mein Mann iſt gutmüthig, und gerechter, als du. In 


) Ein Strom, der das vier Stunden lange, von Eisbergen und Felſen 
eingeengte Pregällerthal durchfließt. 5 

) Joh. Peter Neſemann, aus dem Magdeburgiſchen, Profeſſor an 
der höhern, damaligen Lehranſtalt zu Reichenau, früher zu Halden— 
ſtein. Er ſtarb, 80 Jahre alt, 1802 in Chur. 


8 


unſerm ſtillen Schloſſe wohnen ſtille Herzen. Mir blüht in meiner 
Abgeſchiedenheit eine ſchönere Welt, als du im aufgewühlten Staub 
wilden Menſchengetümmels je entdecken kannſt. Sieh, Brüderchen, 
aber lächle nicht ungläubig! Einem reinen Gemüth verklären ſich, 
in der Vereinſamung, Himmel und Erde zum Paradieſe, durch 
welches man gleichſam Gott wandeln ſieht. Da flüſtern mir, wie 
Engelszungen, die Blätter des Gebüſches, Seelenruhe zu. Da 
plaudern im Getöſe des Waſſerfalls wunderbare Stimmen, von 
göttlichen Dingen, oder Dingen, die einmal geweſen ſind und 
wieder kommen wollen. Dann rinnen oft Zeit und Ewigkeit ſelt— 
ſam zuſammen; und die fernen Geliebten treten zu mir, und die 
Verſtorbenen leben und lächeln mich an.“ 

„Wie ſchwärmſt du wieder? Haben dich etwa Jean Pauls, 
oder Tieks Fantaſieſprüche begeiſtert?“ 

„Nenne das nicht Schwärmerei, Flavian! Glaube mir, es 
waltet gewiß zwiſchen dem Unſichtbaren des geiſtigen Alls, und 
dem Sichtbaren um uns, ein geheimnißvoller Verband, ein engerer, 
als dir und deiner Schulgelahrtheit ahnt. Das Irdiſche iſt nur 
Zeichen und Wort des Ueberirdiſchen, das zu uns reden will. Du 
verwunderſt dich über Vieles, was du Zufall nennſt, und läßt dir's 
nicht träumen, daß eine verborgene heilige Hand mit dir ſpielt. 
Iſt dir unſere liebe Mutter denn noch nie ſichtbar aus deiner Roſe 
von Diſentis hervorgegangen?“ 

„Ich glaube, liebes Kind,“ ſagte der Hauptmann, indem er 
einen Blick der Befremdung auf das Geſicht der Schweſter warf: 
„du biſt zuletzt gar Geiſterſeherin geworden. Was? Roſe von 
Diſentis?“ 

„Nun, ich heiße nur ſo die Alpenroſe, deren Blüthen, zu einem 
Kränzchen verbunden, in den beiden Medaillons liegen, die Abt 
Kathomen von Diſentis einſt unſerer Mutter geſchenkt hatte. Sieh, 
Flavian, wenn ich des Morgens die Kette des Medaillons um 


meinen Nacken lege, wird mir wirklich jedesmal, als fühl' ich der 
Mutter Geiſterkuß; und ich ſehe ihr Bild auf dem blaßrothen 
Seidengrund des Medaillons, und es gewinnt Leben und Be— 
wegung.“ 

Hier unterbrach ſich die begeiſterte Sprecherin, indem ſie ſtehen 
blieb, das Medaillon aus dem Buſen hervorzog und fortfuhr: „Sieh 
doch ſelbſt, ſchau her! Erblickſt du ſie?“ 

In Prevoſt's Mienen ſpielte anfangs lächelnder Spott. Doch 
bald verriethen ſie ſein wachſendes Erſtaunen. In der That er— 
kannte er innerhalb des weißen Kranzes der Alpenroſenblüthen, wie 
Schattenriß, einen weiblichen Kopf gebildet. Der Umriß, vom 
Zickzack der Rhododenderblättchen gezeichnet, glich einigermaßen 
dem Profil ſeiner verſtorbenen Mutter. 

„Seltſam! ziemlich ähnlich,“ rief er: „Aber,“ fügte er, ſchalk— 
haft mit dem Finger drohend, hinzu: „Sabine! Sabine! Du biſt 
vermählt und trägſt dies noch? Haft du der Mutter Wort ver 
geſſen, als ſie uns das Andenken gab? Weißt du, wie ſie ſagte: 
ich empfing es am Vorabend meiner Hochzeit von Sr. Hochwürden 
Gnaden in Diſentis. Eins der Medaillons, ſprach er, bewahre 
zu meinem Gedächtniß, das andere gib dem, dem du mit deiner 
Liebe dein ganzes Leben gibſt. So gab ich's Euerm Vater. So 
geb' ich's Euch wieder und zu gleicher Beſtimmung. — Wie, Sa— 
bine, und du trägſt es noch? Gabſt es dem Baron nicht?“ 

Frau von Schauenſtein ſchlug etwas verlegen die Augen nieder 
und ſagte: „Er verlangte nur Leben, nur Liebe, nicht das Me— 
daillon. Er wußte, es war mir wegen des Mutterbildes über 
Alles theuer, wie dir das deine. Zeigt es dir auch in der Blüthen— 
umfaſſung das Bild? Ich glaube du haſt noch nicht einmal darauf 
geachtet. Trägſt du es noch auf der Bruſt? Zeig mir's.“ 

„Ich hab' es eben nicht bei mir,“ verſetzt' er und unwillkürlich 
verfinſterte ſich dabei ſein Geſicht. Die Schweſter bemerkte es, und 


— 30 — 


fragte, indem ſie ihn forſchend beobachtete: „Haſt du es im Zim⸗ 
mer zurückgelaſſen? Komm! Ich will es ſehen und vergleichen.“ 

„Auch da nicht, Sabine.“ 

„Auch da nicht?“ wiederholte ſie; blieb ſtehen; betrachtete ihn 
mit Verwunderung und Neugier; ſah ihn ſich erröthend abwenden, 
und lachte ihn hell an, indem fie rief: „Allerliebſt! Alſo Kränz⸗ 
chen und Herzchen davon geflogen? Geh, du Unartiger, mir, die 
dich ſo lieb hat, das zu verheimlichen! Augenblicklich bekenne, 
oder ich werde dir zeitlebens gram. Wo haft du die holde Aus⸗ 
erwählte auf deinen Kreuz- und Querzügen in Europa gefunden? 
Rede doch! Iſt ſie eine Schweizerin? Nicht doch, gewiß eine ſchöne 
Engländerin, oder gar, — hab' ich's errathen? — eine niedliche 
Wienerin?“ { 

Ernſt, faſt unwillig, nahm er die Hand der Schweſter und ſagte: 
„Komm doch; wir find ſchon an den erſten Häuſern von St. Moritz. 
Es geziemt ſich nicht, auf freier Landſtraße oder am Markt kund 
zu thun, was man ſich ſelber gern verheimlichen möchte.“ 

Schweigend gingen ſie neben einander ins Dorf; doch von Zeit 
zu Zeit blickte Sabine ſchelmiſch zum Bruder auf, und drückte in 
ſtummer Zärtlichkeit ſeinen Arm an ſich. „Aber nicht wahr, Fla⸗ 
vian,“ flüfterte ſie: „wenn wir unter uns find, erzählſt du mir das 
Schickſal deiner Roſe. Ich errathe beinahe.“ 

„Hm! kaum der Mühe des Errathens werth,“ erwiederte er 
mit verächtlich aufgeworfener Lippe. 

„Und du gibſt dein Wort, mir Alles zu erzählen?“ fragte ſie 
begierig. 8 

„Es wäre eine lange Geſchichte! Ihrer zu ſchämen zwar hab' 
ich mich nicht; aber geſtatte mir die rechte Zeit und Laune, von 
Sachen zu reden, an die ich nur mit Widerwillen denken mag. 
Frage nicht weiter.“ 


8. 
Der Herr von Schauenſtein. 


Sie ſtanden vor einem hinfälligen, alten Gebäude. Es war 
ihr Gaſthaus; gegenüber ein niederes Kirchlein, in offener Zwie— 
tracht mit dem ihm angebauten Glockenthurm. Dieſer hatte ſich 
von feinem verwitterten Gotteshauſe losgeriffen und hing in ſchräger 
Richtung, gleich dem von Piſa, über den Gräbern eines vergraſe— 
ten Kirchhofes, als ſehn' er ſich hinab zu ihrer Ruhe. 

„Der Herr Baron hat ſchon zehnmal nach Euch verlangt, Herr 
Hauptmann!“ ſchrie die Wirthin durchs Fenſter: „Ihr ſollt ſo— 
gleich zu ihm!“ 

Prevoſt eilte gehorſam die Treppe hinauf und trat ins Zim— 
mer des Barons; in ein dunkles Stübchen, deſſen Wände mit 
altersſchwarzem Holz der Zirbelnußklefer getäfelt und mit Wäſche 
und Kleidern des Inhabers behangen waren. Ein Drittel des 
Raums war von einem breiten, hohen Bettgeſtell ſammt hochge— 
thürmten Kiſſen, ein zweites Drittel vom rieſenhaft gemauerten 
Ofen angefüllt; den übrigen Platz nahmen ein Tiſch, mit Pa- 
pieren bedeckt, und ein alterthümlicher Lehnſtuhl ein. Hier ſaß, 
wie ein Bild des Winters, der Herr von Schauenſtein, das 
Haupt in ſeiner ſchwarzſammtenen Pelzmütze vergraben, unter wel— 
cher ſich einzelne ſchneeweiße Haarbüſchel über die hohlen Schläfe 
und Wangen des erdfahlen Geſichts legten. Den eingeſunkenen 
Leib verhüllte ein weiter, pelzgefütterter Nachtrock, und die Füße 
ein Paar filzene Pelzſtiefel. 

Als er Flavians Eintritt bemerkte, zog er langſam mit dürren 
Fingern die Brille von der Naſe, richtete grüßend ſich um ein 
Weniges in die Höhe, und nahm einen Brief. Mit einer Stimme, 
die zuweilen an das Knarren eines trockenen Wagenrades mahnte, 
ſprach er: „Wichtige Nachrichten, Herr Schwager! Die Würfel 


ne 


find geworfen. Alea jacta est. Am 19. Oktober, alſo vorgeſtern, 
iſt der im Vorarlberg kommandirende General von Auffenberg end— 
lich, an der Spitze von zehn Bataillonen kaiſerlich- königlicher 
Truppen und einer Escadron, durch den Engpaß des Luzienſteiges, 
in unſer Graubünden eingerückt, das Land zu ſchützen. Zwar hat 
er Sicherheit der Perſonen und des Eigenthums proklamirt, wie 
üblich; ob aber der Kriegsrath in Chur damit, bezüglich auf 
die Franzöſiſch-Geſinnten, einverſtanden ſei, bleibt ein wenig 
zweifelhaft.“ 

Der junge Schützenhauptmann ſtand mit geballten Fäuſten da, 
funkelnden Augen und glühenden Wangen. „Alſo der Hochver— 
rath iſt vollendet!“ murmelte er zwiſchen den Zähnen: „O, der 
rachgierigen Rotte! Sie wird ihre Raſerei mit Blut und Thränen 
büßen!“ 

„Der Ausbruch des Krieges gegen Frankreich iſt unvermeid— 
lich,“ fuhr der Baron fort: „und es ſcheint deshalb ſehr wohl— 
gethan, daß ſich Graubünden zu guter Zeit unter die Flügel des 
doppelköpfigen Adlers begeben hat.“ 

„Der, die Freiheit unſers Volkes in den Krallen, davonfliegt, 
wenn ihm die Beute nicht unvermuthet abgejagt wird,“ murmelte 
Flavian. 8 
5 „Ich verſtehe Sie nicht, Schwager,“ ſagte der alte Herr, 

der etwas harthörig zu ſein ſchien: „Nehmen Sie aber beſſern 
Rath an. Sie gehören längſt zu den Verdächtigen im Lande; 
ſtehen, ich weiß es, auf der Proſcriptionsliſte. Schade um Ihre 
Talente! Machen Sie ſie Ihrem Vaterlande nützlich. Gehen Sie 
nach Chur, ins alte Gebäu des Herrn von Salis. Ich gebe 
Ihnen zu größerer Sicherheit einen Empfehlungsbrief. Sie ſind 
Schützenhauptmann. Bieten Sie ohne Verzug dem Kriegsrathe, 
oder dem General Auffenberg, Dienſte an. — Iſt Ihnen Fortuna 
hold, können Sie bei der Armee wahrhaftig die Zierde, das 


„ = 


Presidium et dulce deeus unſerer Familie werden; die brillan— 
teſte Carriere machen. Im Kriege iſt raſches Avancement.“ 

„Sie meinen es gut, Herr Schwager. Ich danke!“ antwor— 
tete der junge Mann: „Allein ich gebe mich nicht zum Werkzeug 
des verruchten Spiels, das man heutiges Tags mit Ländern und 
Völkern treibt; und möchte nicht meiner Familie mit Schanden 
zur Ehre gereichen.“ 

„Mit Schanden zur Ehre gereichen? Was wollen Sie mit 
dem Galimathias ſagen?“ verſetzte der Baron: „Sie ſind ein 
Prevoſt, und alliirt mit dem Hauſe Schauenſtein; vergeſſen Sie 
das zu keinen Zeiten!“ 

„Ich vergeſſe es nicht.“ 

„Vergeſſen Sie nicht, daß Sie ſelber zu den älteſten adelichen 
Landesgeſchlechtern gehören. Nicht die Genealogie der Salis, nicht 
der Planta reicht ſo weit in die Vergangenheit hinauf. Wie oft 
muß ich Ihnen die ſchöne, lateiniſche Urkunde des ſiebenten Jahr— 
hunderts ins Gedächtniß zurückrufen, die der gelehrte Herr a Porta 
in ſeinem Werke aufbewahrt hat? Und ich wiederhole es, ja, der 
Frankenkönig Dagobert ſelbſt erklärte zu Yſenburg laut, daß die 
Prevoſte, oder Präpoſiti, wie ſie damals hießen, von den römi— 
ſchen Fabiern ſtammten, daß er dem tapfern Ritter Otto de Prä— 
poſitis das Schloß Vespran in Prägallia, oder Pregäll, ſammt 
allen Rechtſamen, vom Juliesberg bis zum Comerſee, als Lehen, 
übertragen habe. Wenn Sie daran denken, Flavian, ein Flavia— 
nus de Präpoſitis zu ſein, weckt dies nicht Ihr edelſtes Selbſt— 
gefühl auf?“ 

Flavianus de Präpoſitis lächelte bei dieſer Rede heimlich 
vor ſich hin, und ſagte zur Beguͤtigung des warmgewordenen Frei— 
herrn: „Allerdings! nicht mein edelſtes, ſondern mein adeliches 
Selbſtgefühl, trotzdem, daß ich doch nur Sohn des armen Bauern— 
manns aus Prägallia bin.“ 

Iſch. Nov. XI. 3 


— a — 


„Richtig! Nun, das heiß’ ich einmal vernünftig geſprochen! Ein 
Edelmann kann nimmermehr, auch im niedern Stande, ſeinen Adel 
verlieren, ſo wenig, als ein König, wie Ludwig XVIII., ſein an⸗ 
gebornes göttliches Recht, feine Legitimität, in der Verbannung 
verliert, wo er von Almoſen lebt. Geblüt bleibt Geblüt! Adelich 
iſt edel und mehr denn edel! Darum war's keine eigentliche Mes— 
alliance, wie Mancher glauben wollte, als ich mir eine Sabine 
von Prevoſt anvermählte. Und Sie, Flavian, erkennen Sie darin 
einen wahrhaften Fingerzeig des Himmels. Darum mußte ich Sie 
in Wien ſtudiren laſſen. Darum mußte Ihr Oheim, der Zucker— 
bäcker, nach England wandern; darum mußte er die reiche Wittwe 
Woole in Mancheſter heirathen; darum kinderloſer Wittwer wer: 
den, und endlich ſein großes Vermögen an Sie und Ihre Schweſter 
vererben. Wozu aber ſind Sie nun entſchloſſen?“ 

„Meiner Ahnen würdig zu handeln, falls es ſo rechtſchaffene 
Leute, wie meine Eltern, waren,“ erwiederte Sabinens Bruder. 

„Schön!“ ſtimmte der alte Baron ein: „Uebrigens, wo man 
von rechtſchaffenem Adel iſt, kann man andere Rechtſchaffenheiten 
ziemlich vorausſetzen. Ich gebe Ihnen alſo heut' noch das Schrei— 
ben an den Baron von Salis-Marſchlins. Morgen reiſ' ich mit 
meiner Frau zurück auf meine Güter. Ich ſcheue das Soldaten— 
getümmel. In einer Stunde haben Sie meinen Brief.“ 

„Und ich,“ ſagte der Hauptmann, „ich ſcheue nicht Sol: 
datengetümmel, aber Menſchen, welche um Fürſtengunſt ein freies 
Land und ein betrogenes Volk verkaufen. Ich will wegen des 
Briefes Sie gar nicht bemühen. In einer Stunde ſchon bin ich 
auf und davon. Wohin? weiß ich ſelber noch nicht. Ich verlaſſe 
mein unglückſeliges Vaterland. Mein Wahlſpruch iſt: frei leben, 
oder frei ſterben. — Und damit empfehl' ich mich Ihnen. Leben 
Sie wohl!“ 

Der Herr von Schauenſtein ſtarrte ihn mit offenem Munde an, 


und ſtreckte die Hand aus, als wollt' er ihn zurückhalten. Flavian 
reichte ihm die ſeinige, wie zum Abſchiede; und war aus dem 
Stübchen, eh' der Baron zu Wort kommen konnte. 


Eben ſo raſch packte er ſeinen leichten Haberſack; warf ihn 
über die Schultern; ergriff den knotigen Wanderſtock und die grüne 
Jagdkappe; begab ſich zur Schweſter und ſagte ihr ein Lebewohl, 
in welchem ihm aber das Herz brach, wie ſtarkmüthig er ſich auch 
ſtellte. Die ſchöne Frau hing weinend an ſeiner Bruſt, als ihr 
Flehen ihn nicht einmal hatte bewegen können, nur einen Tag 
noch zu verweilen. Er machte ihr nicht länger Hehl aus der Ge— 
fahr, hier, als Freund der geflüchteten Patrioten verhaftet, oder 
der blinden Wuth des Pöbels preisgegeben zu werden. 

„Aber du biſt ja unſchuldig!“ ſchluchzte ſie. 

„Nein, Sabine, ich bin des Verbrechens der Vaterlandsliebe 
ſchuldig; des Verbrechens, mit tugendhaften Bürgern Umgang 
gepflogen zu haben; des Verbrechens, als freier Mann meine 
Stimme, nach eigener Ueberzeugung, erhoben zu haben. Was 
hatten denn jene friedlichen Männer in Chur verbrochen, die man 
vor vierzehn Tagen auf den Straßen und in den Häuſern miß— 
handelte? Mit Tod bedrohte man ſie, als der Kriegsrath eine 
Rotte ſeiner beſoldeten Bauern, mit Flinten, Morgenſternen und 
Spießen bewaffnet, während des Gottesdienſtes, während des heili— 
gen Abendmahls in die Stadt gezogen hatte!“ 

Sabine zuckte ſchaudernd in ſich zuſammen, und bat nicht mehr. 
Geheime Angſt um des Lieblings Leben bemächtigte ſich ihrer 
Seele. Sie ließ ihn los, ſtand blaß, wie ein Marmorbild, da, 


— — 


den Blick auf ihn geheftet. Er umarmte ſie noch einmal, länger, 
als er wollte; flüfterte ihr ein letztes Wort des Troſtes, deſſen er 
ſelber ermangelte; gelobte, ihr oft zu ſchreiben; ſie auf den Gütern 
ihres Mannes zu beſuchen. 

„Und das Schickſal deiner Roſe von Diſentis?“ fragte ſie, 
wehmüthig durch Thränen lächelnd: „Warum denn nimmſt du das 
Geheimniß mit dir?“ 

„Alles, Alles erfahren ſollſt du!“ rief er: „Aber ich muß von 
hinnen; morgen über die Grenze ſein! Uebermorgen verſchließen 
vielleicht ſchon die Bajonette der Oeſterreicher den Ausweg!“ 

„Geh! Gott mit dir, du theure Seele!“ ſeufzte ſie: „Wage 
dich in keine Gefahr, du Waghals; dein Leben iſt mein Leben!“ 
Nach dieſen Worten umklammerte ſie ihn noch einmal mit Hef— 
tigkeit; drängte ihn von ſich; warf ſich laut weinend, mit abge— 
wandtem Geſicht, in einen Seſſel, und rief: „Geh!“ 

Er ging. Der Thränen zwar, die er trocknete, ſchämte er 
ſich; aber nicht des blutenden Herzens. Er gab ſich ſtill und gern 
dem Schmerz hin; eilte zum Dorf hinaus ins Freie, ohne die 
ihm Begegnenden, ohne die Pracht des Herbſttages zu beachten, 
der ihn ſonnig anlachte. Erſt als er vor ſich die um ihr Kirchlein 
gedrängten Hütten des Dörfchens Silvaplana“) erblickte, halb 
vom waldigen Vorſprung einer aufſteigenden Berghalde verdeckt; und 
links unter ſich den ruhigen See, durch deſſen Spiegel die Ufer hüben 
und drüben ihre umbüſchten Landzungen ausſtreckten; im nicht fernen 
Hintergrunde die gewaltigen Felſenmauern der Alpen und ihre die 
Wolken überragenden Eisthürme: erſt da genas er zu ſich ſelber. Der 
hehre Geiſt der Natur ſchien aus den übereinanderwallenden Ge— 
birgsmaſſen ihm ſtärkend entgegenzutreten; das feierliche Schwei— 

) Auf einer Landzunge des Silvaplana -Sees, bei 600 Zuß hoch über 

der Meeresfläche gelegen, am Fuß des Julierberges. 


= ee 


gen der Nähen und Fernen weit umher, das Schweigen feines 
Schmerzes zu gebieten. 

Er wandelte leichten Fußes den rauhen Bergweg am Julier 
empor, zwiſchen den bereiften Arvenwäldern *) und Lärchtannen; bis 
droben in der Höhe, zwiſchen Trümmern herabgeſtürzter Granit— 
und chloritgrüner Kalkſchieferblöcke, das Pflanzenleben faſt ganz 
erſtarb. Dort, wo ſich, links und rechts des Weges, einſam die 
geheimnißvollen Jul-Säulen “) einer unbekannten Vorwelt erheben, 
und nun die beſchneiten Sennhütten, von den Bergamasker Hirten, 
ihren tauſend Schafen und langhaarigen Hunden, verlaſſen ſtan— 
den, fühlte der Jüngling ſeine eigene Verlaſſenheit in der Welt, 
aber auch ſeinen Muth daneben lebendiger. Wie im Tanz, eilte 
er jenſeits nieder am Waldgebirg, unbekannten Schickſalen ent: 
gegen; Hügel auf, Hügel ab; durch die grauſenhafte Schlucht von 
Alsmolins; den Hütten von Vazerol vorüber, wo vor Sahr- 
hunderten zum erſtenmale die drei Bünde Rhätiens ihren ewigen 
Verein beſchworen hatten; dann raſtlos, ſchon war es ſpät, der 
Parpaner Haide entgegen. 

Im wechſelnden Ab- und Zufluthen von Gedanken, Gefühlen 
und Entwürfen, ohne ſich um die eingebrochene Nacht, um die 
ringsher niederſchwebenden Schneeflocken, oder die Mahnungen des 
nüchternen Magens, zu kümmern, ſchritt er haſtig dahin. 


) Die Arven, oder ſibiriſchen Cedern, oder auch Zirbelnußkiefern (Pi- 
nus Cembra) genannt, ſind, mit Ausnahme des Engadiner Hoch— 
thals, in den übrigen Schweizerbergen ſchon ſehr ſelten geworden. 
Die kleinen, wohlſchmeckenden Nüſſe der Zapfen werden, als Näſcherei, 
genoſſen. Ehemals ſchrieb man ihnen Heilkräfte für Bruſtkranke zu, 

) Sie ragen fünf Schuh hoch aus der Erde hervor neben der Straße 
über den Bergrücken, roh aus Granit gehauen, oben platt, ohne 
Anzeichen, ob ſie je größer geweſen; wahrſcheinlich keltiſchen Urſprungs, 
ihren Namen vielleicht dem Sonnengott Jul oder Jol dankend. 


* 


— — 


„Und iſt's nicht,“ dachte er: „zuletzt doch recht luſtiges Treiben 
durch Stürme und Wetter des Lebens, und ergötzliches Spielen 
mit dem Schickſal, wenn es bald koſend in den Schlaf lullen, 
bald heimtückiſch ſchrecken will? Aus dem Vaterland verſtoßen; 
ohne Verbrechen, wie ein Verbrecher, geächtet; von Menſchen, 
die mich kaum kennen, geläſtert und verflucht, ſteh' ich wieder ſo 
verwaiſt, wie jemals im Leben. Ja, ich will Ich ſein; nicht was 
Halbthiere wollen, daß ich ſein ſoll, ihnen zu gefallen. Mögen 
ſie doch knieen und anbeten vor Götzen und Heiligenbildern ihrer 
Eitelkeit, Gewinnſucht, Ueppigkeit, ihres Aberglaubens, Hoch— 
muths und Herkommens: ich will Ich bleiben und keine andern 
Götter haben, neben Gott! Auch Tod zuletzt iſt nur Welttauſch!“ 

Während des Selbſtgeſprächs tönte ihm, aus der Dunkelheit, 
fröhlicher Mannesgeſang entgegen: 

Bialla matta eis stada, 
Aben ussa butta pli; 

Has schau bitpar ils mets, 
A quei ei bona by.“) 

Prevoſt, in halb frommer, halb weltfeindlicher Stimmung ge— 
ſtört, wunderte ſich in dieſer Gegend, wo nur deutſche Sprache 
herrſchte, Klänge einer andern zu vernehmen, die nicht einmal 
dem Ladin des heut' von ihm verlaſſenen Engadins, ſondern jenen 
entfernten Bergen angehörten, welche den St. Gotthard oſtwärts 
umlagern“ ). Indeſſen ſchwebte ihm, wie grauer Schatten, der 


) Im Deutſchen ohngefähr: 
Schönes Mädchen warſt du immer, 
Kaum ſieht man's dir heute an; 
Ließeſt dich von Knaben küſſen; 
Haft daran nicht wohlgethan. 
) Die romaniſche oder ladiniſche Sprache des Engadins iſt mehr der 
italieniſchen Zunge des benachbarten Italiens ähnelnd, verſchieden vom 


— 139 


Sänger, durch das Dunkel entgegen, und rief mit lärmender 
Stimme ſein „Guten Abend!“ Der Grüßende machte Halt, als 
wollt' er ſeinen Mann näher beſchauen, oder anſprechen. Prevoſt, 
mürriſch, wich aus und ſtreifte vorüber; fühlte ſich aber plötzlich 
von einer ſtarken Fauſt zurückgehalten mit den Worten: „Halt 
Herr! ſeid Ihr blind oder ich? oder treibt eine Haidenhere Gaukel— 
ſpiel mit uns Beiden?“ 

Flavian riß ſich mit raſcher Wendung und gehobenem Dornſtock 
von dem Verdächtigen los, indem er rief: „Kerl, zurück! was 
wollt Ihr?“ 

Der Andere ſah ihm ruhig und neugierig in die Augen. Es 
war eine mächtige Geſtalt, um halbe Kopflänge über den Haupt— 
mann aufragend. Von beiden Seiten hing ihm ein Mantel aus 
Schaffellen bis zu den Knieen, und um Filzhut und Kinn ein 
Tuch geſchlungen, welches die Hälfte des Geſichts verſteckte. „Alle 
Donner!“ ſchrie mit lärmender Stimme der Fremde: „dacht' ich's 
doch! Aber welcher Teufel plagt und jagt Euch ſo ſpät, bei Schnee 
und Wind, durch die wüſte Lenzer Haide, Herr Hauptmann?“ 

„Wer ſeid Ihr?“ fragte der Ueberfallene. 5 

„Ei doch, Ihr ſeht's ja, Uli Goin, wie ich leibe und lebe,“ 
antwortete die bärenhafte Geſtalt: „Habt Ihr Hiezing*) vergeſſen 
und mich armen Teufel dazu, den Ihr mit ſchwerem Geld vom 
Regiment loskauftet und zwanzig Gulden Münze zur Heimreiſe 
gabt? Aber es iſt recht, Herr Hauptmann, ganz recht! Das Ge— 
dächtniß der Barmherzigkeit ſoll allezeit kurz, und das der Dank— 
barkeit meilenlang ſein.“ 


Romaniſchen des rhätiſchen Oberlandes in den Thälern, die ſich vom 
Gotthardsberg her ausſtrecken. Dies „Oberländer-Romaniſch“ fehein: 
mehr dem Keltiſchen und der Volksſprache der Einwohner Italiens 
zur Zeit des alten Roms verwandt. 

) Ein Dorf ohnweit Wien, beim kaiſerlichen Luſtgarten von Laxenburg, 


„Uli?“ ſagte Flavian freundlicher und reichte ihm die Hand: 
„Woher, wohin ſo ſpät? und ſitzeſt nicht lieber bei deinen Leuten 
in Rueras oder Selva“) am warmen Ofen?“ 

„Hei, der Ofen hält die Haut warm, aber nicht den Magen, 
Herr Hauptmann. Die Oeſterreicher ſind im Land, wißt Ihr's? 
Ich nun muß Briefe tragen. Da komme ich von Chur, und 
morgen ſeht Ihr mich früher, als die Sonne ſelbſt, über den 
Julier laufen. Glück geht doch wahrlich über Witz. Ich wollt' 
Euch in St. Moriz ſuchen; Euch etwas ins Ohr ſagen. Nun 
treff? ich Euch hier. Alſo links um mit mir, ins Lenzer Dorf, 
von wannen Ihr kommt. Es mögen bis dahin keine tauſend 
Schritte ſein. Im Wirthshaus plaudert ſich's leichter, beim 
Glaſe Weins, denn hier in der Haide, wo uns der Mund ver— 
ſchneiet wird.“ 

„Woher wußteſt du mich in St. Moriz, Uli? Haſt du Auf⸗ 
träge an mich?“ 

„Das wohl eben nicht; aber wegen Eurer Perſon an Andere, 
Herr Hauptmann. Kommt, ſag' ich. Parpan, wohin Ihr in 
Nacht und Schnee rennen möchtet, iſt noch ſtundenweit, und der 
Weg durch die Haide verirrlich. Die hübſche Wirthin zu Lenz, 
mein’ ich, kocht Euch ein beſſeres Gericht, als der Marcheſe Ma— 
lariva in Chur. Ich trane dem Teufel nicht, wenn er auch den 
Schwanz verſteckt.“ 

„Wer? Malariva, ſagſt du? Er in Chur? Rede!“ rief der 
Hauptmann haſtig: „Woher kennſt du ihn?“ 

„Nichts hier im mörderlichen Schlackenwetter! Man ſalbt die 
Räder mit Theer, daß fie laufen, und die Zungen mit Wein!“ 


) Kleine romaniſche Dorfſchaften der höchſten Thalgegenden des Hoch— 
gerichts Difentis, im grauen Bund, 


erwiederte Jener hartnäckig, und zog den Wißbegierigen zurück 
ins Dorf. 


10. 


Sat dee n e 


„Heda, Frau Kathri!“ rief Uli Goin aus überlauter Kehle 
beim Eintritt in die niedere Gaſtſtube: „Zum Wittwenſtande ſeid 
Ihr noch viel zu jung; darum müßt Ihr junge Männer bei Euch 
ſehen, und freundlich ſchauen. Geſchwind, für den Herrn da, den 
beſten Veltliner, und mir auch ein Glas daneben. Dann, was 
die Küche Gutes vermag, und mir auch einen Teller dazu!“ — 

Die muntere, kleine Wirthin bot Beiden freundlich die Hand 
zum Willkomm, riß ſich kichernd aus Uli's Arm, der mehr, als 
den Handſchlag, von ihr verlangte; half dem Hauptmann, ſich 
des feuchten Ueberrocks entledigen, und eilte dann flink davon, 
die Wünſche ihrer Gäſte zu erfüllen. Unterdeſſen warf auch Uli 
den triefenden Schafpelz ab, ſowie Tuch und Hut vom Kopf, 
und zeigte feine ſtattliche Herkulesfigur in herkömmlicher bäueri— 
ſcher Oberlandstracht“); Jacke, Kurzhoſe und Strümpfe dunfel- 
blau; Bruſttuch feuerroth und um den Hals locker und leicht das 
ſchwarze Seidentuch geſchlungen. Jung und kräftig, einen Zug 
von Schlauheit in den Mienen, und ehrliche, große Augen dabei, 
konnte er Weibern wohl Furcht und Gefallen zugleich einflößen. 

Haberſuppe, Forellen, Polenta und Gemsfleiſch, dampften 
bald vom weißgedeckten Tiſch aus bunten, irdenen Schüſſeln. Die 
Wanderer machten ſich ohne Säumen muthig an die Arbeit. Selbſt der 
Schützenhauptmann zügelte ſeine Wißbegier und verlor keine Silbe 


) Das Bündner Oberland werden vie Hochthäler am Gotthard genannt. 


ee Ten 


mehr, bis eine gute Hälfte der Mahlzeit verſchwunden war. Dann 
aber wandte er den Blick vom Teller zu ſeinem mit Gabel und 
Meſſer beſchäftigten Tiſchgenoſſen, und ſprach: „Nicht zu haſtig, 
Freund Uli! ſchöpf' einmal wieder Athem, und krame mir, wie du 
verſprochen, deine Botſchaften aus.“ 

„Möge mich doch der Himmel vor der ſchweren Sünde be— 
wahren,“ antwortete der Oberländer kauend: „den Mund mit 
Worten zu füllen, wo beſſeres Material vor Augen da liegt!“ 
Und, ſeinen Worten treu, ſetzte er nicht eher ab, bis der letzte 
vorhandene Biſſen, mit dem letzten Glaſe Veltliners, hinabgeſpült 
worden war. Flavian ließ die Flaſchen noch einmal füllen und 
Uli Goin, der ſich endlich behaglich ſtreckte, hob an: „Das müſſet 
Ihr ſelber eingeſtehen, Herr Hauptmann, die ganze Welt ſieht 
chriſtlicher drein, wenn der Magen feinen rechtmäßigen Tribut ein⸗ 
gezogen hat. Aber Schwatzen und Eſſen zugleich verträgt ſich mit 
einander, wie Dreſchen und Orgelſpielen. Es läßt ſich nicht zweier⸗ 
lei Muß in einerlei Hafen kochen. Jetzt fragt, ſo viel Ihr wollt, 
ich habe mehr Antworten im Sack, als der Landammann Hen 
auf der Bühne.“ 

„In der Haide ließeſt du Worte von einem Grafen Malariva 
fallen.“ 

„Laßt ſie da liegen in der Haide, Herr Hauptmann, und den 
Namen dazu!“ erwiederte Uli, indem er nach allen Seiten ſorg— 
lich den Blick warf: „Man ſoll den Gottſeibeiuns, glaubt mir, 
nie beim rechten Namen nennen, ſonſt meint er, man ruf' ihn. 
Alſo kennt Ihr den Meuder? Nun geht mir ſchon ein Licht auf.“ 

„Welches Licht? Ich ſah vor Jahr und Tag den Mann in 
Wien,“ äußerte Flavian: „wie aber biſt du zu ſeiner Bekannt⸗ 
ſchaft gerathen?“ 

Ja, das iſt ein Geſchichtchen, Herr Hauptmann, das ich mit 
nicht gern wiedererzählen mag. Ich muß, beim Donner, immer 


= m ze 


dabei roth werden, bis an die Strumpfſohlen. Selbſt der Beicht- 
vater weiß nicht darum. Aber Ihr ſelber ſeid jung. Wißt wohl, 
Jugend hat keine Tugend, und, wo kein Bart, iſt kein Verſtand. 
Seht nur, da meine Zeit beim kaiſerlichen Regiment in Preß— 
burg zu Ende war, nahm ich den Abſchied. Die Korporalfuchtel 
verſalzt das Soldatenbrod doch zu ſtark. Ich nahm den Weg unter 
die Füße, heim ins liebe Bündnerland zu ziehen; aber ein leerer 
Geldſack iſt auf der Reiſe eine größere Bürde, als ein voller. 
So kam ich nicht weiter, als gen Wien, oder vielmehr bis gen 
Hiezing, wo mir ein Bauer, als Knecht, Lohn und Brod gab. 
Da habt Ihr mich gefunden, oder vielmehr Gott führte mich zu 
Euch und Ihr erbarmtet Euch Eures armen Landsmannes. Ihr 
wißt noch, wie Ihr, mit den ſchönen Frauenzimmern am Arm, 
mich im Larenburger Luſtgarten um den Gärtner befragtet, und 
mir's gleich an der Sprache anſpürtet, weß Landes ich ſei? Und 
wie ich, keinen geſunden Lappen am Leibe, Euch mein Leid klagte, 
daß ich nicht heim könne, weil ich ohne Moſen und die Propheten 
den Weg nicht fände.“ 

„Schon gut, Uli! Davon iſt jetzt nicht Rede.“ 

„Hört nur, jetzt kömmt's! Ihr und Eure ſchönen Damen, 
wißt Ihr? beſchenkten mich reichlich. Ihr verſpracht mir Reiſe— 
geld und Ihr brachtet es mir ſelber nach Hiezing und bliebt ein 
paar Tage dort wegen der Treibhäuſer und des botanifchen Gar— 
tens und hieltet mich koſtfrei am Tiſch im prächtigen Gaſthaus. 
Als Ihr nun fort waret, ging ich nach Wien, kaufte mir neue 
Kleider, machte Bekanntſchaften allerlei. Und — — nun aber zürnet 
nicht. Lohn' Euch Gott, was Ihr an mir gethan habt. Und 
wenn ich's nicht werth war, dank' ich Euch dennoch mein Lebe— 
lang. Ihr ſeid der bravſte Herr, den ich unterm Himmel weiß. 
Aber Kleider machen Leute, und wer Geld hat iſt Meiſter; alle 
Welt iſt gut Freund. Unter Euern hübſchen blanken Thalern war 


* 


leider kein einziger Heckethaler. Ich ward unverſehens wieder arm, 
wie eine Kirchenmaus, und mußte von Glück ſagen, als mich das 
nette Nannerl beim Grafen, den Ihr kennt, in Dienſt brachte.“ 

„Du biſt ein lockerer Geſell! und welches Nannerl, — wenn 
ich fragen darf?“ 

„Ei, ſeht Ihr, ein liſtiges, luſtiges Mädel, Herr Hauptmann. 
Es gibt deren nicht zwei in der Welt. Wahrlich, das Nannerl 
würde die ſchönſte Monſtranz fein, wenn Heiligthum drin wäre, 
Damals flatterte die Here im Haufe des Grafen, als Stußen- 
mädchen, oder Haushälterin, oder Kammerkätzchen, oder ſo etwas 
herum, und war wohl noch mehr, als ſo etwas. Aber, unter 
uns geſagt, und nicht daß ich groß thun will, ſie hatte mich doch 
lieber, als ihren Herrn, mit feinem vertrockneten, gelben Italiener 
geſicht, das alle Tücke und Bosheit von Judas Iſcharioth zur Schau 
trägt. Nannerl hat mir von dem Schleicher gottloſe Streiche er— 
zählt, die jeden andern ehrlichen Mann ins Zuchthaus geführt 
hätten. Aber was ging's uns Beide an? Wir hatten in Küch' 
und Keller Hülle und Fülle, wie im reichſten Kloſter. Er zahlte 
ſchönen Lohn; den beſten jedesmal für ſchlechte Streiche. Wir 
lebten alſo, wie geſagt, in Herrlichkeit und Freuden und machten 
uns gute Tage in Teufels Quartier. Das dauerte nicht lange. 
Der Graf meinte, er habe mich ſchon am Köder, und machte mir 
Anträge, — ich darf fie nicht ſagen. Ich hab' ihm ſchwören müf- 
ſen, ſtumm wie das Grab zu bleiben. Auch dem Teufel muß man 
Wort halten. Er jagte mich aus dem Dienſt, gab mir aber Reiſe⸗ 
geld und ich mußte auf der Stelle Wien verlaſſen. An Nannerls 
Zehen war ich eben auch nicht gewachſen, und ſo nahm ich den 
Laufpaß nach Bünden.“ 

„Und du Haft ihn jetzt in Chur wieder gefunden?“ fragte Fla— 
vian ungeduldig. 

„Geſehen, Herr, und e Er if mit den kaiſerlichen 


Truppen ins Land gekommen. Als mir ein Kriegsrathſchreiber 
geſtern die Briefe ins Engadin zu tragen gab, mußt' ich, auf ſein 
Geheiß, den Grafen, im Wirthshaus zum weißen Kreuz, ſuchen, 
und deſſen Befehle verlangen. Ich machte große Augen. Holla, 
dacht' ich, der ſitzt, wie die Katze, wo man ſie nicht ſucht. Als 
er mich ſah, that er wieder wunderfreundlich, wedelte um mich 
her; erkundigte ſich um dies und das; auch, ob ich Euch kenne? 
Dann drückte er mir einen harten Thaler in die Hand, und einen 
Brief nach Samaden, und endlich Auftrag, zu forſchen, und ihm 
zu melden, wie lange Ihr noch in St. Moriz bleiben würdet. Ich 
ſolle Euch aber ja nichts vermerken laſſen; denn er möchte Euch 
angenehm überraſchen, ſagte er. Dabei lächelte er ſo hämiſch— 
ſuß, wie der Fuchs vor dem Hühnerſtall. Holla, dacht’ ich, der 
trägt ein Schelmenſtückchen im Sack. Aber, dacht' ich, warte du, 
es iſt noch ein Kind zu tanfen! Alle Donner, Herr Hauptmann, 
macht Euch aus dem Staube. Man geht gegen Euch mit böſen 
Dingen um. Gut, daß ich Euch ſchon auf dem Wege hier gefun— 
den habe.“ 

„Ich bin mir keines Vergehens bewußt,“ entgegnete Flavian. 

„Herr, man geht der Otter aus dem Weg! Ihr ſeid, das 
weiß ich, ein fo braver Vaterlandsmann, wie irgend einer zwiſchen 
Rhein und Welſchland. Ich weiß es! Aber Ihr habt böſe Feinde. 
Man nennt Euch einen Franzoſen, einen Revoluzer, einen Landes— 
verräther. Als mir das vor acht Tagen ein paar Ober-Vazer 
Halunken, auf dem Kornmarkt zu Chur, ins Geſicht ſagten und 
ich Eure Partei nahm, und die Kerle behaupten wollten, ich müſſe 
wohl auch ſo ein Franzoſenſchelm ſein: gab ich ihnen auf's Schel— 
menmaul, daß die rothe Suppe darüberlief.“ 

Uli gerieth bei der Erinnerung an dieſe Heldenthat dermaßen 
in Eifer und Zorn, daß er lange damit nicht enden konnte und zu— 
letzt eine weitläufige Geſchichte aller ſeiner Schlägereien damit 


A 


verſpann. Prevoſt lenkte vergebens wieder zur Hauptſache ein. 
Als er von dem Schwätzer nichts Wichtigeres erfuhr, rief er der 
Wirthin und berichtigte die Rechnung für ſich und feinen Tifch- 
genoſſen. Dieſer erhob ſich dann ebenfalls, und, als wollt' er 
beſcheiden dem Hauptmann die Zahlung für ſeine Perſon hindern, 
zog er ſeine Geldbörſe zögernd hervor, und ſpielte mit ihr zwiſchen 
den Fingern. Zufällig fiel Prevoſts Blick darauf. Plötzlich von 
einem Zauber gebannt, blieb dieſer unbeweglich und ſprachlos, 
die Augen ſtarr auf die Börſe geheftet. Dann riß er dieſe aus 
des Oberländers Hand, wandte und betrachtete ſie von allen Sei— 
ten und murmelte finſter: „Das elende, leichtſinnige Geſchöpf!“ 

Der koſtbare, grünſeidene Beutel, von Goldringen geſchloſſen, 
zeigte die zarteſte Stickerei; ein Meiſterſtück weiblicher Kunſt. Die 
eine Seite ſchmückte ein Kreis von Roſenknoſpen und Vergißmein— 
nicht, in deſſen Innerm die Buchſtaben E. v. M. zu leſen waren. 
Die Gegenſeite wies, auf blaßrothem Grunde, ein Kränzchen von 
Blüthenblättchen des Alpenrösleins, genau dem bekannten Me— 
daillon der Frau von Schauenſtein ähnlich. Der junge Mann war 
ſichtbar ergriffen. Bald wollt' er die Börſe wieder verächtlich auf 
den Tiſch ſchleudern, und behielt ſie in der Hand; bald eine Frage 
an deren Eigenthümer richten, und ſchwieg. 

Der Oberländer weidete ſich inzwiſchen an Prevoſts Betroffen— 
heit, die er für Bewunderung nahm, und ſchielte lächelnd zur 
Seite nach ihm. „Gelt, Herr Hauptmann!“ rief er: „Gelt, 
das iſt ein Prachtſtück? Aber ich ſtecke das Ding nur ein, wenn 
ich Sonntagsgewand trage, und ein wenig hoffärtig thun will.“ 

„Woher haſt du die Börſe?“ fragte Flavian mit faſt zittern— 
der Stimme. 

„Hei!“ antwortete Uli ſchmunzelnd, indem er ſchalkhaft nach 
dee Wirthin hinüberſchaute: „Es iſt nicht wohlgethan, ſo etwas 
in der Nähe eines hübſchen Weibes zu ſagen. Man ſchlägt ſich 


Be, = 


dabei gar oft die Hand in die Hechel. — Nun denn, Ihr wißt ja 
wohl, das Nannerl! Als ich da Knall und Fall von dannen mußte, 
weinte es bitterlich, das arme Weibsbild, und reichte mir den 
Geldſäckel beim Abſchiede zum Andenken.“ 

„Und woher hat ihn das Mädchen?“ fuhr Flavian fort. 

„Wer mag's wiſſen? Weiber und Mädchen ſchreiben ſich viele 
Dinge nicht in den Kalender ein; fragt zum Beiſpiel unſere don— 
nersnette Wirthin dort.“ 

„Was?“ rief die Wirthin lachend und gab dem Goliath einen 
derben Stoß in den Rücken: „Ihr ungerathener Sohn, hat Euch 
Eure Mutter ſo was gelehrt?“ 

Der Hauptmann ging ſchweigend auf und ab, während ſich die 
Beiden neckten und zankten. Es traten ihm Thränen in die Augen. 
Er zerdrückte ſie unwillig mit den Wimpern und murmelte: „Die 
Kokette! Die Schändliche!“ — Er nahm die Börſe, machte 
Miene, fie zu zerreißen; hielt wieder ein, und ſprach in ſich hin— 
ein: „Nicht ſo! Denkmal meiner Narrheit, Warnungszeichen 
für die Zukunft!“ — Raſch kehrte er zu dem Tawetſcher zurück, 
und ſagte: „Höre, Freund Uli, den Beutel laß mir; das Geld 
darin laß ich dir; und, ſieh, hier die Dublone dafür! Du ſchlägſt 
mir die Bitte nicht ab?“ Er warf ein Goldſtück auf den Tiſch 
und ſchüttelte den Inhalt der ſchönen Börſe dazu. 

Uli Goin ſah ihm verwundert ins Geſicht, ſchob das Goldſtück 
zurück, und ſagte: „Was ficht Euch an? Mir das Ding zahlen? 
Bin ich nicht mit Haut und Haar Euer Schuldner; und wohl Nie— 
mand kömmt ſo wohlfeil dazu, wie ich, Schulden mit leerem Geld— 
beutel abzutragen. Macht Euch das Säcklein Freude, ſo macht's 
mir in Eurer Hand noch größere.“ 

„Nimm! Und nun gute Nacht!“ ſagte der Hauptmann, in— 
dem er ihm die Hand drückte: „Es iſt mir lieb, dich wieder ge— 
funden zu haben. Schlaf wohl. Auf Wiederſehen. Frau Wirthin, 


2 


zeigt mir die Schlafkammer.“ Mit dieſen Worten begab er ſich 
eilig davon; die Wirthin ihm nach. Uli ſtrich die Münze ein, 
beäugelte ſeinen Louisd'or, und murmelte vor ſich hin: „Vor 
Geld zieht auch ein König den Hut ab!“ 


11 
Ein Brief aus dem Pathmos. 


Andern Morgens war Flavian aus dem Gafthanfe verſchwun— 
den, eh' Jemand erwacht war. Wir wollen hier nicht erzählen, 
wie der politiſche Flüchtling glücklich über den Rhein entkam; ſich 
mit andern Flüchtlingen, die er auf Schweizerboden fand, be: 
ſprach; mit einem Handelshauſe in Baſel Geldangelegenheiten 
ordnete, und darauf nach Luzern reiste, dem damaligen Sitz der 
höchſten helvetiſchen Behörden. Wir theilen, ſtatt deſſen, lieber 
einige der Briefe von daher mit, die der junge Mann, während 
des Winters, ſeiner Schweſter ſchrieb. 

„Warum denn Vorwürfe, Sabine, daß ich nicht ſein kann, 
gleich Andern; auch nicht werden mag, wie ſie? Iſt's meine, 
oder des Schöpfers Schuld? Wahrhaftig, faſt möcht' ich ſchwören, 
es gäbe, wie von Menſchen und Thieren, auch verſchiedene Racen 
von Geiſtern. Schilt mich immerhin einen unruhigen Taugenichts; 
du haſt recht. Ich tauge unter dieſen Leuten nichts, und weiß 
nicht, was ich in einer Welt zu ſchaffen habe, in der ich entweder 
entbehrlich ſtehe, oder gehaßt und betrogen werde. Wenn ich nicht 
bei dit, und bei dir allein fein darf, iſt mir nirgends wohl, als 
allein bei mir. Und ich bin in meinem jetzigen Pathmos allein; 
daher auch behaglicher, denn ich ſeit langer Zeit war. 

Mein Pathmos aber iſt ein altes Landhaus auf der Höhe am 
Ufer des Vierwaldſtätterſees; etwa eine Viertel-Wegſtunde von 


ru 


Luzern. Unter mir, im Erdgeſchoß, wohnt ein ehrlicher Küher, 
ſammt Weib und Kindern, der das Vieh ſeiner Herrſchaft zu 
überwintern hat; die Bedürfniſſe meiner Haushaltung beſorgen 
läßt; mir Bücher, oder Briefe, aus der Stadt bringt, oder da— 
hin trägt. Unter meinen Fenſtern breitet ſich, in dunkelm Glanz, 
der See aus; jenſeits deſſelben die ſtolze Schaar der Alpen von 
Unterwalden, die ſich rechts an die verwitterte, gewaltige Pyra— 
mide des Pilatus ſtützt. Links drüben ſchweben luftig im Halb— 
kreis die Eisfirnen von Uri, in wunderlichen Windungen und 
Umriſſen. 

Ich ſitze am Fenſter, dir ſchreibend, voll frommer Gefühle. 
Nähen und Fernen ſind in das Gewand des Winters eingeſchleiert. 
Die ganze Welt ſchwimmt im blendenden Silberlicht. Mir iſt, 
als begehe die Natur einen heiligen Feiertag; als rufe ſie leiſe 
auch das Menſchenherz zur Mitfeier, und mahne, in ihrer Ein— 
förmigkeit, an Unendliches und Ewiges, was nicht dem Hienieden 
angehört. Ich liebe den Winter. Da bin ich in mich gekehrter, 
ruhiger, frömmer; im Sommer leichtſinniger, aufgeregter, auf— 
gelöster in die Außendinge. Ich möchte um Alles nicht in ſüd— 
lichen Ländern wohnen, wie laut man ſie auch preiſe. Der nörd— 
liche Himmel iſt's, der die Völker, durch Mühen und Entbehrungen, 
zur Kraftentwicklung des Leibes und Geiſtes zwingt und durch 
häusliches Leben im engern Beiſammenwohnen zum reichern Ge— 
dankentauſch. Darum ſind die Nationen des Nordens in Kunſt 
und Wiſſenſchaft die Erſten der heutigen Welt geworden; darum 
ziviliſirter; darum erfindungsreicher und kühner. Darum ſind die 
Religionen des Nordens prunkloſer, aber geiſtiger; die der Süd— 
länder irdiſcher und ſinnlicher geſtaltet. Darum konnte im Nor⸗ 
den nur der Proteſtantismus feſte Wurzel treiben; der Süden nie 
vom Katholizismus laſſen. 

Mein Tagewerk iſt ein ſo gleichförmiges, daß ich nichts davon 

Zſch. Nov. XI. Ä 


Ar 


erzählen möchte; ein wahrer Gedankenſtrich im Lebenslauf. Ich 
leſe, ich ſchreibe, ich träume. Ein kleiner, ältlicher Herr, Na: 
mens Balthaſar, Bibliothekar zu Luzern, verforgt mich gefällig 
mit den beiten Werken engliſcher, franzöſiſcher und deutſcher Piz 
teratur. Da leb' ich, nur Geiſt unter den Geiſtern, und laſſe 
mich von ihnen lehren und veredeln. Ich ſpiele mit den Kindern 
meines Hausgenoſſen und werde in ihrem Umgang, was ſie ſind, 
was wir ſein und werden ſollten, unſchuldiger, wahrer, natür— 
licher. Ich fühl' es, wenn wir, bei allen unſern Erfahrungen, 
Kenntuiſſen und Künſten, nicht werden, wie dieſe, können wir 
nimmer ins Himmelreich eingehen. Der große Sinn des Jeſus— 
wortes iſt mir nie ſo klar erſchienen, denn jetzt. 

Zuweilen beſuch' ich unſern jungen diplomatiſchen Agenten in 
der Stadt, um Neues aus dem unglücklichen Bündnerlande zu 
vernehmen; zuweilen auch kömmt er wohl zu mir. Seit Einzug 
der kaiſerlichen Truppen erfährt man aber wenig mehr von daher. 
Der Churer Kriegsrath entweiht ohne Scheu das Briefgeheimniß, 
und nimmt das Vermögen der Ausgewanderten in Beſchlag. Unſer 
Agent iſt ſeines Bürgerrechts verluſtig, ſogar vogelfrei erklärt. 
Man hat ſein Bildniß an den Galgen geſchlagen, weil er ſich 
der armen Ausgewanderten mit raſtloſer Thätigkeit bei den Be— 
hörden der Schweiz annimmt. Er hat es mir ſelbſt mit lachen— 
dem Munde erzählt. „Weil mir nichts mehr gehört, will ich der 
Welt angehören; und weil mir Keiner hilft, Jedem helfen!“ ſagte 
er neulich. a 

Ich weiß nicht, woher er den ewigen Frohmuth nimmt! Er 
iſt jung; ohngefähr meines Alters; wiſſenſchaftlich gebildet; be— 
liebt und geſucht; lebt aber äußerſt eingeſchränkt, faſt ärmlich; 
ob wegen Mangel an Mitteln, oder aus Grundſatz, iſt ſchwer zu 
errathen. Ich glaube, er iſt eine Doppelgeſtalt; in ſeinem Innern 
der ſchreiende Gegenſatz des Aeußern. Jenes läßt er ſelten durch— 


= 


blicken; ich weiß nicht, ob er die Menſchen inbrünftiger lieben, 
oder verachten mag? Er iſt Diplomat von eigener Natur, der 
Opfer bringt und keines verlangt; heimlich weinen, öffentlich lachen 
kann; frommer Schwärmer in ſeinem Innern, glatter Weltmann 
von außen iſt; wie ein Spiegel, die Farben nach den Umgebungen, 
wechſelnd, der in ſich aber ſtarr, kalt und ſpröde bleibt, wie das 
Spiegelglas. Ich beſchreibe ihn dir, weil ich dir rathe, die Briefe 
für mich an ihn einzuſchlagen. So erhalt' ich ſie mit größerer 
Sicherheit. 

Er gefällt mir und doch fürcht' ich ihn heimlich. Ich möchte 
mich dem gefälligen Mann ganz hingeben und kann es aus einer 
abſonderlichen Art Mißtrauens nicht. Er bleibt mir dunkel, oder 
zweideutig; mich aber hat er durch und durch erkannt, ſo klar, 
wie du mich kennſt. Denke dir, als ich ihm den erſten Höflich— 
keitsbeſuch abſtattete, ſagte er mir Dinge, als wär' er in meine 
verborgenften Zuſtände eingeweiht; Dinge, die dir ſelber aus mei— 
nen Verhältniſſen noch unbekannt ſind. 

Durch ihn wurd' ich auch den bedeutendſten Männern der hel— 
vetiſchen Regierung und der geſetzgebenden Räthe vorgeſtellt. Die 
Bekanntſchaft derſelben kann mir vielleicht in Zukunft nützlich wer— 
den. Am beſten gefiel mir, von Allen, der Direktor Laharpe, 
ein Mann nach meinem Herzen; vom edelſten Korn und Schrot; 
ganz Glut für das Große und Gute, wie es ſein ſollte; vielleicht 
darum eben nicht für das, was da iſt, gemacht. Eben ſo der ge— 
lehrte Senator Uſteri, ein umſichtiger, großthätiger, behutſamer 
Staatsmann; und der beſcheidene, ſtillwirkende Miniſter Stapfer. 
Alle haben ſie die gleiche Liebe des Gerechten und Wahren; Alle 
das gleiche Ziel; Volksglück durch Volksfreiheit, und Volksfrei— 
heit durch Geiſtesbefreiung der Menge. Alle aber wandeln dem 
gleichen Ziel auf ungleichen Wegen zu. 

Genug für heut. Ein Glück für uns Beide, daß du im hei— 


— 52 — 


mathlichen Schloſſe deines Mannes, und nicht in Bünden, wohnſt. 
Wir können wenigſtens furchtlos Herz gegen Herz aufſchließen, 
bis ich dich im Frühjahr wiederſehe. 


12. 
Schickſal der Roſe von Diſentis. 


Warum mir denn Vorwürfe, du Unbarmherzige, auch wenn 
ich fie verdiene? Wer ſpricht wohl gern von der Gefchichte ver— 
gangener Thorheiten? Ich will mich heut aber doch überwinden; 
dich befriedigen, und über den Verluſt der ſogenannten Roſe von 
Diſentis, die dir fo wichtig iſt, Auskunft geben. Der Verluſt iſt 
mir wahrlich ſchmerzlicher, als dir. Ich erinnere mich nur zu wohl 
der Stunde, da wir ſie aus der Hand der ſterbenden Mutter emz 
pfingen und weinend an ihrem Bette knieten. Wir waren arme, 
unwiſſende Kinder; ich ein Knabe, damals von kaum ſiebzehn Jah— 
ren; du zählteſt deren kaum fünfzehn. Uns ſtarb Alles mit dem 
letzten Odemzug der lieben Mutter. Baron Schauenſtein, der ſich 
ihrer in den letzten Jahren, auf Empfehlung des Abtes Kathomen, 
mitleidig angenommen hatte, erfüllte auch das Gelübde, welches 
er der Hingeſchiedenen gethan; nahm uns auf ſeine Güter; be— 
handelte uns freundlich; hielt uns ſogar einen Hauslehrer. Ich ver— 
muthe jedoch, ein guter Theil der Unterſtützungsgelder kam ihm durch 
den würdigen Abt von Diſentis zu, den Freund unſerer Eltern. 
Ich erwähne dies Alles nur, um dich an die ſonderbare Ver— 
knüpfung der Umſtände zu erinnern. Denn ohne dieſe Verhält⸗ 
niſſe wär' ich wohl nie nach Wien gekommen, wo ich die Roſe 
verlor. 

Du warſt gleich anfangs, du weißt es wohl, der Liebling des 
Herrn von Schauenſtein. Anderthalb Jahre ſpäter, du ſtandeſt 


3 


noch in erſter jungfräulicher Entfaltung, machte er dich ſchon zu 
ſeiner Gemahlin; und nun hieß es, ich müſſe ſchlechterdings ſtu— 
diren. Obgleich ſchon neunzehn Jahr alt, war ich doch noch ein 
ziemlich unwiſſender Burſch. Studiren oder nicht, ſchien mir ſo 
gleichgültig, wie dir damals dein Heirathen. Aber ich gewann die 
Wiſſenſchaften lieb, je mehr ich lernte. Drei Jahre ſpäter zog 
ich, reif zur Hochſchule, in die Kaiſerſtadt. Du ſandteſt mir deine 
Harfe nach. So oft ich ſie in den Arm nahm, glaubt' ich dich 
zu umfaſſen. Ich drückte ihr manchen Kuß auf, der dir galt. 
Dir und mir ahnte nicht, in welches Irrſal ſte mich noch führen 
werde. g 

In einem Wiener Dachſtübchen, bei meinen Büchern, meiner 
Harfe und meinem Waſſerkrug, lebt' ich gar zufrieden; wenn auch 
dürftig. Vierteljährliche hundert Gulden, die mir dein Eheherr zu— 
kommen ließ, reichten kaum für die unentbehrlichſten Bedürfniſſe 
hin. Indeſſen gab's zum Glück für mich wenig Unentbehrlichkeiten, 
weil ich mich nie an ſie gewöhnt hatte. Ich ſtand lange Zeit 
als Fremdling, in den neuen Umgebungen, und ſtaunte Paläſte, 
prächtige Gottestempel, Bildſäulen, Gemäldegallerien, Naturalien— 
ſammlungen an. Jeder Gang über die Gaſſen und Plätze lehrte 
mich etwas kennen, wovon ich aus Büchern dunkle Vorſtellungen 
geſammelt, aber in unſern Bergen nichts Aehnliches geſehen hatte. 
Unſer armes Vaterland kam mir daneben, wie eine Wildniß der 
Indianer vor. Du wirſt dich gewiß noch der Begeiſterungen er— 
innern, in denen ich dir damals Briefe ſchrieb. 

Während ich aber in Bewunderung der Kunſtwerke, öffentlichen 
Einrichtungen oder Erfindungen, wie ein Berauſchter, umherwan— 
delte, ward ich, mit nicht geringem Erſtaunen, gewahr, daß die 
Menſchen, trotz dem Allem, nicht edler und auch nicht glücklicher 
waren, als in unſern rauhen, armen Thälern. Ja, ich ent: 
deckte, ohne alle Mühe, daß ſie im Allgemeinen auf den Stufen 


g — 54 — 


der menſchlichen Geſittung noch tiefer ſtanden, als unſere Land— 
leute. Dieſe, in ihren rohen Naturen, ſind darin wenigſtens, 
wie in ihren beſſern Eigenſchaften, wahr; jene aber, inmitten 
ihrer Wiſſenſchaften, Künſte und großſtädtiſchen Prunkereien, nur 
Zerrbilder der Menſchennatur. Künſtlich reizen, ſteigern und 
ſättigen fie ſelbſtſüchtige Begierden und halbthieriſche Gelüſte; 
künſtlich verhüllen fie ihr daraus quellendes Elend; künſtlich find 
ſie von außen und innen. Selbſt ihre Tugenden ſind gewöhnlich 
nur auf Vortheil des Augenblicks berechnete Kunſtwerke. Das 
nennen ſie Lebensart, Civiliſation, Fortſchritt. Was ſie Großes, 
Gutes, Schönes beſitzen, Kirchen, Schulen, Theater, Akademien, 
Muſeen, oder die Wunder der Baukunſt, Malerei, Muſik u. ſ. w. 
ſind bloß Mittel für Geldmacherei, Wohlleben, Ehrgeiz. Ich 
hätte wahrhaftig manchmal, beim Anblick der vornehmen und ge— 
meinen Lüderlichkeiten, der verſchwenderiſchen, hartherzigen Uep— 
pigkeiten der höhern Stände neben troſt- und hülfloſer Armuth 
der Geringern, in eine Einöde flüchten mögen, würd' ich nicht, 
beſonders in den mittlern Ständen, noch wirkliche Menſchen 
gefunden haben; Menſchen von unverkünſteltem Herzen und Ver— 
ſtande. 

In deiner Vereinſamung, du liebes Kind, iſt dir die unglaub— 
liche Verwahrloſung und Verwilderung des niedern verlumpten, 
wie des hohen eleganten Pöbels der Reſidenzen und großen Städte 
noch immerdar ſo fremd, wie ſie ehemals mir geweſen iſt. Ich 
ſpreche nur davon, um begreiflich zu machen, wie übel mir unter 
dieſen wohlgekleideten Scheinmenſchen zu Muthe war. Auch pflog 
ich in Wien anfangs keinen Umgang, als mit einigen Muſikern, 
die mich, mit meiner Harfe und Stimme, in die Konzerte zogen, 
welche ſie von Zeit zu Zeit gaben. Ich ließ mich gern zu dieſen 
ziehen, weil ich auf ſolche Weiſe unentgeldlich die Leiſtungen aus— 
gezeichneter Künſtler mitgenießen konnte. 


— 

Nun, Sabine, komm' ich zur Sache, der ich mich zu nähern 
ſträube, und mich noch länger entgegenſträuben möchte. 

Au einem reizenden Sommernachmittag begab ich mich hinaus 
ins Freie, jenſeits der Vorſtädte, um mich zu zerſtreuen. Auf 
der etwas ſteil abfallenden Landſtraße fprengte mir, im tollſten 
Galopp, ein einſpänniges, zierliches Cabriolet entgegen. Drin— 
nen ſchrie eine vornehme Dame um Hülfe. Der Kutſcher, im 
Treſſenrock, ſchrie die Vorübergehenden an, das Roß aufzuhalten, 
welches nicht mehr zu bändigen war, weil es einen der Leder— 
ſtränge zerriſſen hatte. Jeder ſprang ſcheu auf die Seite. Es 
gelang mir, der raſenden Beſtie in die Zügel zu fallen. Darüber 
aber zerbrach eine der Stangen des Wagens. Unter Beiſtand von 
mir ſtellte der erſchrockene Kutſcher das Fuhrwerk zur Nothdurft 
her, um es weiter zu ſchleppen. Die Dame war halb ohnmächtig. 
Ich ſuchte ſie zu beruhigen. „Verlaſſen Sie mich um Gottes— 
willen noch nicht!“ ſagte ſie zitternd. Ich mußte zu ihr in das 
Gefährt ſitzen. Sie war reich gekleidet, und, ob fie gleich hoch in 
den Dreißigern zu ſein ſchien, trotz der Fülle ihres Körperbaues, 
wirklich hübſch, von majeſtätiſcher Geſtalt, blühender Farbe, 
großen, junoniſchen Augen! 

Sie ſagte viel Verbindliches; betrachtete mich unabläſſig; und 
äußerte, daß ich ihr nicht unbekannt ſei; daß ſie mich aus Kon— 
zerten kenne, die ſie, wie ſie mich glauben machen wollte, gern 
meines Geſanges willen mit Harfenbegleitung zu beſuchen pflegte. 
Während in der Vorſtadt nach einem Fiaker ausgeſchickt ward, 
mußt' ich über meine Verhältniſſe in Wien, über meine Wohnung, 
über meine Studien u. ſ. w. Auskunft geben. Ich nahm keinen 
Anſtand, ihr mit Offenheit Genüge zu thun; und erfuhr beiläufig, 
ſie ſei eine verwittwete Baroneſſe von Grienenburg. 

Sie entließ mich erſt, als ich ſie zu ihrem Palaſt begleitet 
hatte. 


Wenige Tage fpäter erſchien in meinem Dachſtübchen, von ihr 
beauftragt, ein Herr, der ſich Graf Malariva nannte. Er 
wußte mir ungeheuer viel Schmeichelhaftes zu ſagen, und lud mich 
ein, jener Dame in einer Spätſtunde folgenden Morgens Be— 
ſuch machen zu wollen. Nie iſt mir im Leben ein unheimlicheres 
Geſicht aufgeſtoßen, als das dieſes Menſchen. Das ganze Antlitz 
dieſer magern, langen Figur, die ſich mit ſchlangenhafter Ge— 
ſchmeidigkeit grazibs bewegte, war eine lächelnde Mephiſtopheles⸗ 
Larve, in der Zug für Zug irgend ein geheimes Laſter zu predigen 
ſchien. Zwar ſagte jedes ſeiner Worte eine Artigkeit; aber die 
Stimme, als weigerte ſie ſich der Lüge, ward oft zum ziegenar— 
tigen Meckern, ſo freundlich auch das gallichte Geſicht dazu that. 
Dabei ſchlichen die Augen ſtets ſcheu auf die Seite, ohne dem 
Angeredeten einen Blick in ihren Spiegel zu geſtatten. Dieſer 
Graf mochte ein Mann von mehr, denn vierzig Jahren ſein. 
Ich erwiederte ſeine Höflichkeiten mit den meinigen, und meinte: 
die Phyſiognomie des Weltmanns könne täuſchen, und er beſſer 
fein, als fie. 

Andern Tags alfo begab ich mich zu der Baronin, und ge 
berdete mich fait verlegen auf den glänzend polirten Marmor: 
platten des Vorzimmers, wo mich ein Kammerdiener in ſchim— 
mernder Livree erwartete und mich ſeiner Gebieterin ankündete. 
Ich hatte bisher eigentlich nie den verſchwenderiſchen Aufwand 
der Großen in ihren Wohnungen nahe geſehen. 

Durch einen weiten Saal, mit Kriſtallleuchtern, hohen Spie— 
geln, Gemälden, Blumenvaſen und köſtlichem Zimmergeräth ge— 
ſchmackvoll ausgeziert, ward ich in ein niedliches, kleines Kabinet 
geführt, wo mir die Freiherrin freundlich entgegen kam. 

Nach den erſten Höflichkeiten, Eutſchuldigungen, Fragen und 
Antworten lenkte ſie auf Anderes ein. „Ich hätte von dem Ret⸗ 
ter meines Lebens wohl mehr Theilnahme, wenigſtens Nachfrage 


- — 57 — 


um mein Befinden, erwartet,“ ſagte ſie mit einſchmeichelnder 
Güte: „Aber ich hoffte drei, vier Tage vergebens. Wenn Sie, 
allzubeſcheiden im Urtheil über ſich, das Wagſtück, mit welchem 
Sie mich retteten, leicht vergeſſen, kann und darf ich's doch nicht. 
Ich wollte meinen Schutzengel noch einmal ſehen und ihm per— 
ſönlich danken. Zudem muß ich Ihnen, wenn auch eben nicht zu 
meinem Ruhm, geſtehen,“ fügte ſie mit muthwilligem Lächeln 
über ſich ſelber hinzu, indem ſie mich neben ſich auf ein Sofa 
zog: „Sie haben ſich in mir eine ſehr ungenügſame Perſon ver— 
pflichtet. Ich bin mit dem erſten mir gebrachten Opfer noch nicht 
zufrieden. Ich möchte Sie um ein zweites und faſt noch größeres 
bitten. Sie ſind, haben Sie mir eben erklärt, ohne Bekannte 
und Freunde in Wien. Wollen Sie einſtweilen mich und die 
Meinigen dazu aufnehmen? Offen geſtanden, mein lieber Herr 
Prevoſt, ich bin Wittwe und bedarf mancherlei Rath, That und 
Beiſtand in meinen Angelegenheiten. Mir fehlt es an einem 
Hausfreund, der gefällig genug iſt, meine Korreſpondenz zu füh— 
ren, die Beſorgung von mancherlei Geſchäften zu übernehmen; 
auf Reiſen mein ſchirmender Begleiter zu werden, und in müßigen 
Stunden mir Unterhaltung und Belehrung zu gewähren. Zwar 
Graf Malariva iſt mein Schutzherr, und guter Freund, aber wohnt 
etwas entfernt, und iſt häufig abweſend von Wien. Ich bitte,“ 
ſagte ſie und ſchloß meine Hand in die ihrige: „wollen Sie der 
Hausfreund werden, der mir nöthig iſt?“ 
Dies war Einleitung zu einem langen Geſpräch, in welchem 
ich mit den Familienverhältniſſen der Baronin, ſowie mit ihren 
zünſchen vertraut gemacht ward, zu denen auch gehörte, daß ich 
ſie und ihre Stieftochter, ein Fräulein von Marmels, in Ne— 
benſtunden in Geſang und Harfenſpiel unterrichten möchte. Meine 
Einwendungen wußte fie mit der anmuthigſten Beredſamkeit zu 
beſeitigen. Mir ſchien das ein ganz artiges Abenteuer, dem man 


nicht ausweichen müſſe. Aus dem engen Dachſtübchen plötzlich in 
einen Palaſt, aus der, Armſeligkeit in den Mitgenuß verſchwen— 
deriſchen Ueberfluſſes verſetzt zu werden, konnte wenigſtens meine 
beſchränkte Weltkenntniß erweitern. Das einnehmende Weſen der 
Dame ſiegte. Ich ergab mich. Noch in derſelben Woche mußte 
ich den von der Freiherrin gemitheten Palaſt beziehen. Ich em— 
pfing einige ſchöne Zimmer; eigene Bedienung; Rechnungsbücher 
und Kaſſe der Gebieterin; ſtatt der einfachen Kleidung die reichſte 
Ausſtattung; ſtatt bisherige Einſiedelei, Zutritt in die glänzend— 
ſten Geſellſchaften. 


Die vortheilhafte Aenderung meiner Lage ließ ich dir in meinen 
Wiener Briefen zwar damals nicht unbekannt, liebe Sabine; doch 
ſpäterhin warf ich über Manches einen Schleier, wozu mich, ich 
weiß es ſelbſt nicht, Pflichtgefühl, oder Scham vor mir ſelber, 
oder Furcht, dich zu betrüben, bewogen hat. Genug, die Dinge 
geſtalteten ſich nach und nach ſonderbar um mich her. 

Zu den nächſten Umgebungen der Frau von Grienenburg 
gehörte ihre Stieftochter, und Graf Malariva. Dieſer machte 
dem Fräulein Elfriede von Marmels den Hof; war im Hauſe, 
als ihr Zukünftiger, angeſehen, und von der Baronin ſchon, wie 
künftiger Eidam, behandelt. Doch ſchien Fräulein Elfriede noch 
gar zu jung. Sie hatte kaum das ſechszehnte Jahr verlaſſen. 
Stand das Pärchen beiſammen, glaubt' ich immer Belial neben 
einem Engel zu ſehen. 5 

Das jungfräulich-ſtolze Weſen des Mädchens, und die ſeelen— 
vollen Züge des kindlich-zarten Geſichts hätten auch wohl von 


ne 


Greifen bewundert werden müſſen; geſchweige von einem jungen 
Menſchen, wie ich, erſt fünfundzwanzig Jahre alt. Schon in den 
erſten Tagen nahm ich wahr, daß Elfriede nicht das Schooskind 
der Baronin ſein mochte, und daß täglich kleine Zwiſte unter 
Beiden walteten; daß die Stiefmutter ſich bei jedem Anlaß in 
höflichen Spötteleien und witzig-bittern Bemerkungen gegen die 
Tochter gefiel; daß ſich dieſe hinwieder nichts weniger, denn als 
ſtille Dulderin, bewies, ſondern, wenn auch mit dem Ton feinſter 
Lebensart, ſelbſtſtändig, entſchloſſen, gleichſam gebieteriſch-vor— 
nehm betrug. 

Die verlangten Unterrichtsſtunden auf der Harfe gab ich ab— 
wechſelnd Beiden ſehr regelmäßig; bald aber mit ganz entgegen— 
geſetzter Gemüthsſtimmung. Zur Baronin begab ich mich jedes— 
mal mit einer gewiſſen heimlichen Scheu. Sie ward in ſolchen 
Stunden ſtets zutraulicher gegen mich, endlich ſogar muthwilliger, 
ſchmeichelnder und neckender, und Alles mit einer Theilnahme 
und Zärtlichkeit, die zu erwiedern, mir der Anſtand verbot, und 
mich unangenehm in mich ſelbſt zurückſchüchterte. Sollt' ich hin— 
gegen zur Lehrzeit in des Fräuleins Zimmer, geſchah es jedesmal 
mit einer Art wunderlicher Bangigkeit. Wie harmlos die junge 
Schülerin mich auch empfing, ihr Freundlichthun glich immer der 
Herablaſſung einer Gebieterin. 

Ich näherte mich ihr mit der Ehrfurcht, wie ein frommer Ka— 
tholik ſeiner Heiligen. Ja, Sabine, ſie war ſchön. Aber ſie 
ward, zu meinem Unglück, jeden Tag ſchöner, aber dabei in ihrer 
Haltung gegen mich immer fremder, kälter, ich möcht' beinahe 
ſagen, adlich-hochmüthiger; kaum fo gefällig oder leutſelig, wie 
gegen die übrige männliche und weibliche Dienerſchaft des Hauſes. 
Es war ſchlechter Troſt, daß ſie mich etwa auf gleiche Weiſe be— 
handelte, wie den Grafen von Malariva, trocken nur; die Formen 
allgemeiner Höflichkeit bewahrend. Wenn ſie einmal zufällig die 


— 0 — 


Gnade hatte, zu äußern, daß ſie mich ſchon früher in Konzerten 
bemerkt habe; oder, daß ihr mein Name Flavian gefalle, ent— 
zückte mich die ſeltene Herablaſſung. Und doch verdroß mich ſolche 
Stellung des Mädchens mir gegenüber, oder vielmehr, mich ärgerte 
meine unwillkürliche Selbſterniedrigung, meine demüthige Abhän— 
gigkeit. Ich ſtrengte mich an, meinen Mannesſtolz, meine Selbſt⸗ 
ſtändigkeit zu erringen, wie ſchwer mir's auch ward. Ich begann 
wenigſtens, mich unbefangener oder gleichgültiger zu benehmen 
und zu ſtellen, als ich's oft war. 

Nicht minder quälend und peinvoll ward zuletzt mein Zuſtand 
durch das allzuzärtliche Weſen der Baronin Grienenburg. Sie 
verrieth immer deutlicher eine Zuneigung, die ich nicht erwiedern 
mochte. Ihr Zuvorkommen in Allem, ihre Tändeleien, ihre Ge— 
ſchenke, das Spiel ihrer Finger, bald mit meinen Händen, bald 
in meinem. Haar, glich anfangs bloß einem Scherz und Ueber⸗ 
muth, in welchem ſich die weibliche Würde dann und wann ver— 
geſſen mochte. Ich bewahrte ſtreng abgemeſſenes Betragen. Doch 
zuletzt ward, was anfangs den Schein fröhlichen Leichtſinus von 
ihrer Seite gehabt, ernſter, inniger, ja, Ausbruch von Leiden⸗ 
ſchaft. 

Als ich eines Abends zur Harfe ein neues Geſangſtück vorge— 
tragen hatte, betrachtete ſie mich eine Weile ſtumm, mit feuchten 
Augen und wehmüthigem Lächeln; rief dann: „Menſch, wie kann 
doch Ihre Stimme weicher und gefühlvoller ſein, als Ihr Herz?“ 
Sie warf ſich an meine Bruſt; ſchlang ihre Arme um meinen 
Hals, drückte mir glühende Küſſe auf Wangen und Mund, die 
ich, in bitterſter Verlegenheit, mit banger Höflichkeit, erwiederte, 
um nicht zu kränken. 

Inmitten ihrer Liebkoſungen aber faßte ich den Entſchluß, das 
meinen Frieden verderbende Haus zu verlaſſen. Eine Nothlüge 
bot ſich mir ſogleich dar. Ich riß mich von der Baronin mit ge— 


aa W 


heuchelter Zärtlichkeit und Verzweiflung los, und erzählte ihr, 
dein Gatte, theure Sabine, habe mich zurückgerufen; denn du 
lägeſt todtkrank darnieder. Sie ließ ſich täuſchen. Sie ſuchte mich 
zu beruhigen. Ich gelobte, bald nach Wien zurückzukehren. Mit⸗ 
leiden ſchien nun ihre Liebe zu veredeln und zu erhöhen. Als fie 
mich entließ, ſagte ſie ſchluchzend: „Flavian, ſei barmherzig; 
werde nicht mein Mörder. Ich kann deine Abweſenheit nicht 
überleben.“ 

Andern Tags fing ich ſogleich an, das etwas weitläuftige 
Rechnungsweſen der Baronin durchzugehen, um die Verwaltung 
ihres und des eben ſo großen Vermögens ihrer Stieftochter in 
Ordnung zu hinterlaſſen. Jedermann im Hauſe erfuhr die Nähe 
meiner Abreiſe. Die Freiherrin, Meiſter weiblicher Verſtellungs— 
kunſt, benahm ſich, in Gegenwart Anderer, ſo leicht und gelaſſen 
gegen mich, wie immer. Anders fand ich das Fräulein, als ich 
in gewohnter Stunde meine Harfe zu ihm ins Zimmer trug. Es 
fuhr bei meinem Eintritt erſchrocken vom Stuhl auf; erwiederte 
meinen Gruß kaum; wandte ſich von mir ab; erklärte, ſie ver— 
lange eben heut keinen Unterricht; und mit dem Geſicht gegen 
das Fenſter, trocknete ſie die Augen. Ich harrte eine Weile 
ſchweigend; dann empfahl ich mich ehrerbietig. Sie aber rief 
mich zurück, trat mir einige Schritte entgegen und fragte: 
„Sie wollen alfo fort von uns?“ Ich wiederholte ihr meine 
Nothlüge. 

„Und noch eine Frage!“ ſagte ſie nach einigem Schweigen. 
Ihre Lippe bebte, als wolle ſie gewaltſam ein Gefühl überwinden, 
deſſen ſie ſich ſchämte. Dann fuhr ſie fort: „Sagen Sie mir 
mit Ihrer natürlichen Offenheit, Herr Prevoſt: Iſt's der Gedanke 
an Ihre Schweſter, oder Mißmuth über uns, was Sie ſchon feit 
einiger Zeit verſtimmt? Sie ſind nicht, wie ſonſt. Sind Sie 
beleidigt worden? Hab' ich Sie vielleicht unwiſſender Weiſe ge— 


— 2 — 


kränkt? Ich ſeh' es, Unwille iſt's gegen mich, der Sie fortzieht. 
Sie thun mir Unrecht!“ 

Es überflog mich, bei dieſen Worten, wie Glut. Sie ſah 
meine Verwirrung, mein Erröthen, und, während ich Antwort 
ſuchte, blieb ihr Blick, vom Thränenglanz gebrochen, feſt auf 
mich geheftet. Dann warf ſie ſich in einen Seſſel, und gab ein 
Zeichen, mich zu entfernen. | 

„Nein, mein Fräulein, nein!“ rief ich, tiefer bewegt und 
unbehutſamer, denn ſie; kniete zu ihren Füßen und ergriff ihre 
Hand: „Nein, wie könnten Sie mich kränken? Und wenn Sie 
mich tödteten, ich würde Sie dennoch — —.“ Es war mir 
unmöglich, das Wort auszuſprechen, was ſie demungeachtet er— 
rieth. 

Es gab Stillſtand in unſerm Geſpräch. Ich lag gedankenlos 
vor ihr, meine Lippe auf ihre Hand gedrückt. Sie hielt mit 
der andern die Augen bedeckt; noch lange bedeckt, auch da ſie 
nicht weinte. Sie befahl mir, aufzuſtehen. Ich blieb mit nie— 
dergeſchlagenen Augen vor ihr. Endlich nahm ſie das Wort und 
ſagte: „Nun bin ich beruhigt. Und,“ — ſetzte ſie ſtockend 
hinzu: „Nun bleiben Sie bei uns; Sie wollen uns nicht mehr 
verlaſſen?“ 

Sie ſprach's. Sie war plötzlich wieder gefaßt. Sie lächelte 
mich mit traulicher Herzlichkeit an. Sie hatte mich, ich hatte ſie 
verſtanden. Dies ſchien uns Beiden zu genügen. Der Trennung 
ward mit keinem Worte weiter gedacht. Wir ſprachen von hun— 
dert andern, oft gar unbedeutenden Dingen; aber kein Wort von 
Liebe. Es war, als hielt edle Scham den Ungeſtüm der Gefühle 
im Zügel. Doch aus der Betonung jeder Silbe klang es, wie 
eine Stimme von verſchwiſterten Seelen. Wir plauderten ganz 
ſonderbar, wie noch nie; ganz wie frohe, getröſtete Kinder, die 
ſich, nach einem kleinen Zwiſt, verſöhnen und viel zu erzählen 


haben. Sie klagte über Lieblofigfeiten ihrer Mutter; über Zus 
dringlichkeiten des ihr verhaßten Grafen; meinte, ich ſolle ihr 
Freund werden, denn ſie habe in der weiten Welt keinen, als 
eine entfernt lebende Freundin, in Mähren, glaub' ich. Sie 
wäre eine Waiſe. Ich hinwieder plauderte ihr von der Schweiz; 
von der Schönheit des Engadins; von dir, liebe Sabine. Sie 
erkundigte ſich dann nach Allem. Endlich deutete ſie mit dem 
Finger auch nach dem Bändchen, das du mir aus deinen Haaren 
zum Medaillon geflochten. Sie hatte es ſchon längſt bemerkt, 
wenn es unterm Halstuch etwas vorgeſchoben erſchien, und fragte 
nun: „Tragen Sie das Bild der Frau von Schauenſtein? Zeigen 
Sie mir das liebe Bild. Ich wünſchte mir eine Schweſter, ich 
armes Mädchen, eine Schweſter, wie Sie ſo glücklich ſind, zu 
beſitzen.“ 

Als ich ihr die Roſe von Diſentis zeigte, ſah ſie mich mit 
großen Augen an. Und als ich ihre ſtumme Frage beantwortete; 
ihr die einfache Geſchichte des Medaillons mittheilte; dann dazu 
die Worte der ſterbenden Mutter ſagte: Gib es dereinſt nur, wem 
dein ganzes Herz gehören wird! — bemächtigte ſich meiner eine 
unglaubliche Verwirrung. Ich ſah, wie trunken, in Elfriedens 
trunkene Augen. Das Medaillon zitterte in meinen Fingern. Ich 
reichte es Elfrieden ſchweigend hin und zur Erde geſenkten Blicks. 
Sie nahm es. Ich weiß nicht, was in ihr, was in mir vorging. 
Ich konnte nicht zu ihr aufblicken. Sie ſprach kein Wort. Sie 
legte nachher ihre Hand auf meine Schulter; ihre Stirne an mein 
klopfendes Herz. Es ward ein ſtummer und doch ewiger Vertrag. 
Mein Gott, welch ein Augenblick! Und wie ich allmälig von 
einem Zuſtande, den ich nicht zu benennen weiß, von einer Ent— 
zückung oder Bewußtloſigkeit zu mir ſelber kam, fand ich unſere 
Hände in einander verſchlungen, und unſere Lippen an einander 
hangend, Seele um Seele vom Andern einfaugend, 


— 


Elfriede drängte mich fanft zurück, mit einer Miene, wie über 
ſich und mich und dieſen Augenblick erſtaunt; und ſtand mit hoch— 
rothen Wangen, aber wunderbar verklärtem Blick vor mir. Wir 
ſagten nichts mehr; reichten einander noch zum Abſchied die Hand, 
und trennten uns lautlos. Ich taumelte, ein Berauſchter, zu 
meinem Zimmer und glaubte mir ſelber nicht. 

Was ſoll ich dir noch ſagen, theure Sabine? Du weißt Alles. 
Daß ich blieb? Daß ich mir mit einer neuen Nothlüge half, deine 
Geſundheitsumſtände hätten ſich zu meiner großen Freude gebeſ— 
ſert? Aber, Sabine, nur um ſo qualvoller war von da an, zwi— 
ſchen Mutter und Tochter, meine Stellung geworden. Ich war 
ein überſeliger, und doch unſeliger Menſch. Niemandem im Hauſe 
ahnte, wie ich da, zwiſchen Himmel und Hölle hingebannt, ath—⸗ 
mete. Das konnte kein gutes Ende nehmen! Ich vermocht' es 
nicht länger, ein Leben zu tragen, in welchem ich den Verſtand 
zu verlieren fürchtete; und wußte doch nicht, wie mich loswinden? 
Durch Flucht? Aber ich liebte Elfrieden bis zum Wahnſinn. 
Sollt' ich das Herz des engelreinen Kindes brechen und das mei— 
nige? Dann aber empörte ſich das Gewiſſen in mir gegen das 
Spiel, welches ich trieb und treiben ſollte. Ich fühlte die All— 
gewalt der erſten und einzigen Liebe; und ich war die erſte und 
einzige Liebe des jungen Mädchens. Sollt' ich eine Flamme, wie 
ich ſie unbeſonnen entbrennen ließ, unbeſonnen fortlodern laſſen? 
Ich wußte ja nur zu gut, Elfriede, in ihrem vornehmen Stande, 
mit ihrem Reichthum, könne nie die Meinige werden, wenn ich 
nicht etwa den Fluch des Verführers, oder Entführers, auf mich 
laden wollte? — Und die Baronin und ihre mir widerwärtige 
Leidenſchaft, ſollt' ich ihr gegenüber ein kaltblütiger Heuchler wer⸗ 
den; mir ihre Geſchenke, ihre Zärtlichkeiten, ich ſollte ſagen, ihre 
Verſuchungen gefallen laſſen? Sie dauerte mich. Ich mochte ſie 
nicht betrügen. 


ee 


Ich bekannte es Elfrieden. Ich fagte ihr Alles. Ich war es 
ihr ſchuldig. Es koſtete mir keine Ueberwindung. Vor ihr wollt' 
ich rein ſtehen. Wie ſie das Unerwartete hörte, ſaß ſie mit krampf— 
haft in einander gefalteten Händen vor mir. Bald ward fie blaß, 
bald roth; ihre Miene bald ſtarr, wie vom Erſtaunen, bald vom 
Ausdruck der ekelhafteſten Verachtung bewegt; ihr Auge bald matt 
und todt, bald im geheimen Zorn funkelnd. Ihr erſtes Wort war: 
„Das elende Weib! Und ich — ich ſoll es Mutter nennen!“ 

Dann, nach kurzem Sinnen richtete ſie ſich zu mir auf, und 
ſagte: „Ich bin unglücklicher, denn Sie, lieber Flavian; aber beu— 
gen ſoll mich dies Schickſal nicht; höchſtens mag es mein ganzes 
Daſein zerbrechen. Von Ihnen fordr' ich nur noch ein Opfer; 
ein Opfer von drei, vier, fünf Wochen. Bleiben Sie nur ſo 
lange noch in dieſem unſeligen Hauſe. Vielleicht kömmt mir bis 
dahin Rath oder Hilfe von einer geliebten, einſichtsvollen Freun— 
din; der einzigen, die ich habe, der ich mich ganz und in Allem 
vertraue. Sie lebt auf ihren Gütern bei Brünn, in Mähren. 
Es iſt ja nicht ſo weit dahin. Ich ſchreibe ihr noch heute. Meine 
mütterliche Freundin läßt mich nicht ohne Antwort. Harren Sie 
aus. Ich habe Ihnen bis dahin nicht Muth, nur Vorſicht zu 
empfehlen. Freilich, meine Hoffnung iſt nicht groß. Der entſetz— 
liche Krieg! — Sei es! Mißlingt Alles, dann — dann verlaſſen 
Sie uns. In der Nähe der Frau von Grienenburg dürfen Sie 
nicht länger athmen.“ 

Während dieſer Worte ſtand das zarte Geſchöpf in ſtolzer Hal— 
tung vor mir, entſchloſſen, ſcheinbar ruhig, aber mit dunkelglühen— 
den Wangen und flammendem Blick. Ich verſprach Erfüllung, 
und verſuchte ihr wild empörtes Herz zu beſänftigen. Elfriede 
erwiederte nichts. Sie ſchien mich kaum zu hören. Es folgte eine 
lange Pauſe. Dann, indem ſie mich mit ihren ſchönen Augen, 
voller Schwermuth und inniger Liebe, betrachtete, ſagte ſie: „Ja, 

Zſch. Nov. XI. 5 


Sr 


Flavian, ich bin unglücklicher, als Sie. Glauben Sie es mir. 
Ihre Armuth bringt Ihnen nicht ſoviel Drangſal, wie mir der 
Reichthum. Ich bin ja leider nur ein wehrloſes Mädchen; Sie 
aber ſind Mann. Sie ſind verwaist, wie ich; haben ſich aber 
noch eines treuen, liebenden Schweſterherzens in der öden Welt 
zu freuen. Ich bin ohne Schweſter, ohne Bruder, Waiſe überall; 
habe Niemanden unterm Himmel zu meinem Schutz gefunden, als 
Sie einzig. Werden Sie ganz mein Bruder; ganz, bis zum Tode! 
Sie haben es mir gelobt; mir das heiligſte Unterpfand gegeben; 
Ihre Roſe von Diſentis! Wiſſen Sie noch?“ — Und indem ſie 
es ſagte, zog ſie lächelnd das Medaillon aus dem Buſen. — „Ich 
gebe Ihnen dafür ein Gegenpfand. Es iſt von meiner Arbeit. 
Wenn uns das Verhängniß je ſcheiden ſollte, nichts ſoll mich von 
Ihnen ſcheiden. Ich will immer und ganz Ihre Schweſter ſein, 
wie es je Ihre Schweſter Sabine ſein konnte. Und wenn wir auch 
perſönlich getrennt ſind, denken Sie bei dieſem Unterpfand, und es 
iſt auch eine Roſe von Diſentis! — denken Sie an dieſen 
Augenblick, an dies mein Wort! — Ich ehrte von jeher die 
Feſtigkeit Ihrer Geſinnung, Ihren Edelmuth; und nun in Ihnen 
einen Bruder, von Gott mir zugeführt. — O welch ein Name? 
Bruder! Flavian! o du, mein Flavian, denk' an dieſen treuen 
Schweſterkuß!“ 

Sie ſchloß mich in ihre Arme. Unſre Seelen ſchworen ſich 
Treue. Elfriede ward ganz Flamme. Ihr Buſen wogte unge— 
ſtümer; ihre Lippen brannten. Plötzlich trat ſie zurück, und winkte 
mir, mit abgewandtem Geſicht, mich zu entfernen. Ich ging. 

Das Unterpfand aber, welches ich in meiner Hand fühlte, war 
ein ſeidener Geldbeutel, grün, mit Goldringen, auf deren in— 
nerer Seite einer derſelben die Anfangsbuchſtaben ihres, der an— 
dere die meines Namens trug. Ein wohlgelungenes Abbild des 
Medaillons, das ich ihr gegeben, zierte, in feiner Stickerei, das 


„ 


Aeußere der grünen Börſe; ein E. v. M., von ihren Haaren, 
ſtand gegenüber. 


14. 
Schluß des Briefes. Die Scheidung. 


Mehr, denn einmal, Sabine, bin ich vom Schreiben aufge— 
ſprungen. Ich könnte dir mit leichterm Herzen ein Verbrechen 
beichten, als das, was dieſer lange Brief erzählt. Ich habe für 
immer den Glauben an die Menſchheit verloren; und kann ihn nie 
wieder gewinnen. Nur dir allein, liebe Seele, allein dir noch 
darf ich trauen. Außer dir hab' ich, wie dich, keinen Sterblichen 
ſo herzinnig geliebt, als die, welche ſich ebenfalls meine Schweſter 
nennen wollte. Und ich leichtgläubiger Thor, ich Alberner! freute 
mich des Blendwerks, und ließ mir von den Launen eines eiteln, 
leidenſchaftlich-reizbaren, wetterwendiſchen Kindes das Herz brechen! 
Aber du weißt noch nicht Alles. Vernimm es in wenigen Andeu— 
tungen. 

Mit Elfrieden einverſtanden, darum ruhiger in mir, ſpielte ich 
die begonnene Rolle zwiſchen Tochter und Stiefmutter fort; eine 
Rolle, deren ich mich vor mir ſelber ſchämen mußte. Doch kaum 
vierzehn Tage ſpäter ward ich ihrer entledigt, und auf eine Weiſe, 
die mir noch jetzt das Blut in allen Adern ſieden macht. 

Ich bemerkte eines Tages ſeltſame Veränderung aller Geſichter 
im Hauſe. Abends vorher war plötzlich ein junges Stubenmädchen 
verabſchiedet und aus dem Hauſe entfernt worden. Ich hatte noch 
ſpät Lärmen von Stimmen gehört, worin ich die der Baronin und 
ihrer Tochter deutlich unterſcheiden konnte. Nicht nur die männ— 
liche und weibliche Dienerſchaft ſah mich mit ſonderbaren, geheim— 
nißſchweren Mienen an, ſondern auch die Gebieterinnen derſelben 


— = 


gaben fich ungewöhnlich ernſt, zurückhaltend, einſilbig. Frau von 
Grienenburg ſaß, beim ehemals muntern Frühmahl, jetzt in ſich 
verſchloſſen, nachdenkend, verdrießlich da. Elfriede würdigte mich 
keines Blicks; ihre Augen ſchienen verweint; ihre Wangen glüh— 
ten, wie von ſtillem, verborgenem Aerger. Vergebens ſucht' ich 
Geſpräch anzufädeln. Der Faden ward fogleich jedesmal abge: 
riſſen. Ich äußerte endlich beſcheiden einige Fragen, was die 
Heiterkeit der Damen geſtört haben möge? Die Baronin antwortete 
mit Achſelzucken; Elfriede, ungeſtüm, verließ das Zimmer. In 
dem Augenblick trat der Graf Malariva zu uns ein, den Damen 
einen Morgenbeſuch abzuſtatten. Die Baronin ward gegen ihn ge— 
ſprächig, ohne die Züge des Mißmuths zu verlieren. Auch ich 
redete ihn höflich an. Er, ſonſt der Gefälligſte, Liebenswürdigſte, 
drehte mir, mit Unmuth, oder vielmehr mit einer Art Abſcheus, 
den Rücken zu und ließ mich ſtehen. Ich verlor faſt alle Faſſung; 
wollte Erklärung fordern. Die Baronin aber zog den Grafen an 
ein entferntes Fenſter, leiſes Geſpräch mit ihm zu führen. 

Unverkennbar hatte Alles im Hauſe gegen mich über Nacht 
feindſelige Stimmung angenommen. Die Veranlaſſung dazu blieb 
mir unerklärlich. Ich vermuthete mit Schrecken, es ſei von der 
Baronin mein Verhältniß zu ihrer Stieftochter entdeckt. Eiferſucht, 
Ahnenſtolz und Wuth verſchmähter Liebe konnten allein ſolche Ber 
wandlung geſchaffen haben. Ich begab mich auf mein Zimmer und 
brütete ängſtlich über tauſend verhaßte Möglichkeiten. Abends aber 
hofft’ ich von Elfrieden, an die ich mich allein wenden konnte, den 
Schlüſſel des finſtern Räthſels zu erhalten. Ich hoffte vergebens. 
Die Damen blieben für mich den ganzen Tag unſichtbar. Sie er— 
ſchienen nicht bei Tiſche; ſie ließen mir die gewohnten Unterrichts— 
ſtunden abſagen. Dennoch bewog ich eine Kammerfrau, das Fräu— 
lein dringend um einen Augenblick Gehör für mich zu bitten. Es 
ward abgeſchlagen. Denke dir meine Beſtürzung! 


Andern Morgens empfing ich ein Briefzettelchen von der Ba— 
ronin, mit eingeſchloſſenen fünfzig Dukaten und ungefähr folgen: 
den Worten: Herr Prevoſt ſei gebeten, die Wohnung der Baronin 
von Grienenburg ohne Zögern zu räumen, nachdem er Rechnun— 
gen und Verwaltungsbücher, in welchem Zuſtande ſie immerhin 
ſein mögen, dem Herrn Grafen Malariva übergeben haben werde. 
Ich blieb lange, wie angedonnert, ohne Rath und Entſchluß. Noch 
einmal ſucht' ich das Fräulein auf; dann die Baronin ſelbſt. Um 
jeden Preis wollt' ich Aufklärung über dies Betragen. Man wies 
mich zurück von den Thüren. Eine halbe Stunde ſpäter trat der 
Graf zu mir ins Zimmer, die Schriften der Baronin zu fordern. 
Ich gab ſie hin und bat ihn dringend, um Aufſchluß über das, 
was zu ſolchem Verfahren mit mir berechtigt habe? 

„Ich bin ohne jeden Auftrag, mein Herr,“ erwiederte er kalt, 
„Ihnen über etwas Antwort zu ertheilen, das Sie ohne allen 
Zweifel beſſer wiſſen, als ich. Sie werden verzeihen, wenn ich 
mich auf keine Weiſe in fremde Angelegenheiten miſche.“ 

Damit nahm er die Verwaltungsbücher und ging davon. Ich 
war in Wuth über ſo ſchimpfliche Behandlung und über mich ſelbſt; 
denn, leider, ich fühlte mich doch nicht von aller Schuld rein. 
Die geſammte Welt verwünſchend, packt' ich mein altes Eigen— 
thum in den Koffer; ließ ſämmtliche Geſchenke der Baronin zurück, 
auch ihre fünfzig Dukaten dazu, und ſuchte mein ehemaliges Dach— 
ſtübchen auf. Hier nun faßt' ich hundert wahnſinnige Entſchlüſſe; 
und eben darum reifte keiner zur Erfüllung. Denn inmitten ſchmerz— 
licher Gefühle und wildlodernder Leidenſchaften, blieb ich mir be— 
wußt, ich ſei in dieſem Zuſtande nicht meines Verſtandes mehr 
mächtig, keines geſunden Urtheils, keines beſonnenen Beſchluſſes 
fähig. Die Wiederkehr meiner Gemüthsruhe zu beſchleunigen, 
wählt' ich das ſicherſte aller Mittel; floh die Einſamkeit, ſuchte 
Zerſtreunngen, trotz meines Widerwillens dagegen; durchlief Stadt 


und Vorſtädte, Prater und Au, Theater, Kirchen und Kaffeehäuſer. 
Es währte dreimal vierundzwanzig Stunden. Ich beſiegte mich. 
Ich war wieder nüchtern. 

tit Gleichmuth ſchrieb ich nun an Elfrieden über das Ge— 
ſchehene; beſchwor ſie flehentlich um Aufklärung; wiederholte das 
Gelübde meiner Liebe; betheuerte, wenn ich auch Verachtung, 
oder Zorn, ihrer Stiefmutter verdient hätte, doch gewiß, für Elfrie— 
dens Herz mir zu grollen, kein Grund vorhanden ſein könne. — 
Statt der Antwort erhielt ich meinen Brief unerbrochen zurück. 
Auf deſſen Rückſeite waren von Elfriedens eigener Hand die Worte 
geſchrieben: „Wird nicht angenommen und nie mehr dergleichen. 
E. v. M.“ — Ich zerriß in der Aufwallung das Papier; ſchwor 
der Leichtfertigen ab, und wurde ruhiger. Denſelben Tag brachte 
mir ſpät Abends ein Lohnbedienter die in Elfriedens Zimmer zu— 
rückgelaſſene Harfe; ihm auf dem Fuß folgte, zu meinem Erſtau⸗ 
nen, ader Graf Malariva. Aber er erſchien willkommen, ob er 
ſich gleich nur als Ueberbringer, oder Begleiter der Harfe an— 
kündigte. Wenn ich auch dem höfiſchen Fuchs, und noch weniger 
einer ſcheinbaren Theilnahme traute, die er mir jetzt wieder mit 
vieler Unbefangenheit äußerte, hofft' ich doch wenigſtens Worte 
aus ihm hervorlocken zu können, die mir das Räthſel einer ſo 
ſchmachvollen Verſtoßung löſen würden. Er kam mir zuvor, als 
ich kaum die erſten einleitenden Fragen hingeworfen hatte. 

„Sie begreifen, Herr Prevoſt,“ ſagte er, „daß ich, ohne mich 
der Centralpolizei verdächtig zu machen, nicht lange bei Ihnen 
hier weilen darf. Sie find ein junger Mann von Geift und Kennt⸗ 
niß; gern hätt' ich um Ihre Freundſchaft geworben; Sie aber 
wichen mir immer gefliſſentlich aus. Doch jetzt keine Vorwürfe, 
ſondern ein dringender freundſchaftlicher Rath. Nehmen Sie Päſſe, 
falls man ſie Ihnen noch geben will; verlaſſen Sie Wien und die 
öſterreichiſche Monarchie, ſo eilig Sie können. Dieſe Bitte ſoll 


5 


ich auch im Namen des Fräuleins von Marmels an Sie richten, 
welches Ihretwillen in großem Kummer iſt. Sie werden billig 
beiden Damen verzeihen, wenn dieſe, treu dem Kaiſer, und ihrer 
eigenen Ehre und Sicherheit willen, jede Verbindung mit Ihnen 
auf immer abbrechen; und werden es beſonders der Baronin nicht 
verargen, daß ſie den Skandal nicht erleben will, ihr Haus mit 
Polizeidienern angefüllt, und wohl gar ihre Papiere, wegen bis— 
heriger Bekanntſchaft mit Ihnen, verſiegelt zu ſehen. Sie ward 
noch zeitig genug von einer hohen Perſon gewarnt; und ich darf 
Ihnen ſagen, es koſtete der Frau von Grienenburg nicht geringe 
Ueberwindung, Sie zu entfernen. Denken Sie an Ihre Rettung, 
und, ich warne Sie, ohne Zeitverluſt.“ 

Ich gaffte dem Grafen lange Zeit verwundert ins Geſicht und 
traute den eigenen Ohren nicht. „Von Allem, was Sie mir ſagen, 
verſteh' ich kein Wort!“ rief ich: „Hier waltet das tollſte Miß— 
verſtändniß von der Welt. Haben Sie die Gnade, Herr Graf, 
reißen Sie mich aus der heilloſen Verwirrung. Was denn? Bin 
ich denn ein Verbrecher? Wie, in aller Welt, komm' ich zu dem 
Ruf?“ 

Der Graf zuckte die Achſeln und ſagte: „Mir unbekannt, viel 
leicht durch eine unkluge Aeußerung über Tagesangelegenheiten; 
vielleicht durch Umgang mit Männern, die wegen revolutionären 
Geſinnungen im ſchwarzen Buch ſtehen. Sie wiſſen das ohne 
Zweifel beſſer, als ich. Folgen Sie meinem Rathe und der Bitte 
des bekümmerten Fräuleins von Marmels. Mehr hab' ich Ihnen 
nicht zu ſagen.“ 

„Ich bin mir durchaus keiner Vergehung bewußt,“ verſetzte ich, 
„und werde, erfolge was wolle, in Wien bleiben. Ich bin es 
mir ſchuldig und noch mehr jener trefflichen Familie, die mich mit 
Güte überhäuft hat. In meiner Rechtfertigung ſoll und muß die 


— 2 


Freiherrin von Grienenburg ſelbſt gerechtfertigt werden, daß ſie 
mich huldvoll der Ehre ihres Umgangs gewürdigt.“ 

„Wie Sie wollen!“ entgegnete der Graf: „Sie hörten meinen 
wahrhaft wohlgemeinten Rath; Sie kennen des Fräuleins Wunſch 
und Bitte. Sie verſchmähen Beides. Vielleicht beſinnen Sie ſich 
noch eines Beſſern.“ 

Er ging zur Thür, wandte ſich aber ſchnell zurück und ſagte: 
„Noch eins! Faſt wär's vergeſſen! Ich habe noch eine Beſtellung 
von Seiten des Fräuleins auszurichten, eine unangenehme; ich 
gebe ſie ohne Umſchweife und lieber mit des Fräuleins eigenen 
Worten, um keine Verantwortung zu haben. — „Erklären Sie 
ihm ein für allemal,“ ſagte ſie, „daß er mich nicht mit ſeinen 
Briefen beläſtige, oder vor der Welt kompromittire. Nach einem 
ſolchen Betragen hat er meine Achtung verloren. Ich kann ihn 
nur noch bemitleiden, wenn er ſich und Andere in Schande und 
Unglück ſtürzen will. Er hat mich und uns Alle getäuſcht!“ 

„Wirklich, hat ſie und wörtlich das geſagt?“ rief ich mit 
Empörung. 

„Ich darf Ihnen mein Ehrenwort darauf geben,“ antwortete 
der Graf ruhig und feſt. 

„So bleibt mir nur noch eine Bitte!“ fuhr ich tieferfchüttert 
fort, indem ich Elfriedens grüne Börſe hervornahm, die ich in 
Papier gehüllt und verſiegelt bewahrt hatte, und ſie ihm über— 
reichte: „Stellen Sie, wenn ich bitten darf, dem Fräulein von 
Marmels dieſe Kleinigkeit wieder zu, die ihm angehört. Vielleicht 
ängſtigt ſich die junge Dame, ſo etwas noch in meiner Hand zu 
wiſſen. Ich will ihr den gerechten Kummer erſparen. Das Papier 
iſt leeres Papier, ohne einen Buchſtaben Inhalts.“ — — Der 
Graf weigerte ſich anfangs unter vielerlei Bedenklichkeiten; er— 
füllte endlich mein Begehren, und verließ mich. 

Wie könnt' ich dir, Sabine, meinen damaligen Gemüthszu- 


— — 


ſtand ſchildern? Du magft ihn leichter errathen. Mein Leben lag 
zertreten. Daß Elfriede ſo jählings andern Sinnes geworden, 
weil ich unſchuldigerweiſe den Argwohn der öſterreichiſchen Re— 
gierung auf mich gezogen; daß fie ſich des vorigen Verhältniſſes 
mit mir ſchämte, um in den höhern Kreiſen der Geſellſchaft nichts 
von der bisher genoſſenen Achtung einzubüßen; daß ich ihr gleich— 
gültig werden konnte, ſelbſt wenn ich wirklich Staatsverbrecher 
geweſen wäre, — es blieb mir unbegreiflich. Jeder Gedanke daran 
ward zum Fluch über das leichtfertige Geſchlecht. Sie hatte mit 
ſchlauer Buhlerei ſich eines argloſen Herzens bemächtigt, um es 
zu zerfleiſchen. Sie hatte mich nie geliebt. Ich eile zum Schluß 
der Geſchichte. Ich will kurz ſein. 

Es kamen folgenden Tages drei oder vier Polizeimänner. Meine 
Habſeligkeiten und Papiere wurden eingepackt, verſiegelt, fort— 
getragen. Mich führte man in Verhaft. Beim Verhör vernahm 
ich ſeltſame Fragen über Verbindungen, die ich in Paris, oder 
mit franzöſiſchen Generalen und Behörden in Italien habe? Ich 
ſollte auch bei einem im Prater ſtattgehabten Eſſen aufwiegleriſche, 
revolutionäre Reden geführt, ſogar die kaiſerliche Majeſtät ge— 
läſtert haben. Ich erinnerte mich wohl eines fröhlichen Abend— 
eſſens im Prater; gab auch zu, mich vielleicht beim Glaſe Cham— 
pagners etwas freimüthig geäußert zu haben; läugnete aber die 
platten Schändlichkeiten, die Toaſte auf Bonaparte's Waffenglück, 
welche mir zur Laſt gelegt wurden. Man berief ſich auf Zeugen; 
man nannte den edeln Grafen Malariva. Alſo er! — Er war's, 
der Böfewicht, der mich dem Verderben weihen wollte! Nun ward 
mir Alles klar. Was konnte er nicht Alles, der Verleumder, über 
mich, auch der Frau von Grienenburg, dem Fräulein von Mar⸗ 
mels, vorgelogen haben! 

Ich vertheidigte mich unbefangen und gelaſſen. Man legte 
einige von mir geſchriebene Aufſätze über die nothwendige ſitt⸗ 


1 vi 


liche Umgeſtaltung Europa's, über die unveräußerlichen Rechte der 
Völter, ferner eine von mir gedichtete Hymne an die Freiheit 
vor, u. dgl. m., die man unter meinen Papieren gefunden. Ich 
bekannte mich ohne Weigerung dazu; glaubte aber, dieſe Ge— 
dankenſpiele müßiger Stunden hätten keine Aehnlichkeit mit einem 
Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung und die kaiſerliche Ma— 
jeſtät. 

Nach einer Gefangenſchaft von eilf Tagen ward ich abermals 
vor die Polizeibehörde geführt. Ich empfing ſcharfe Zurechtweiſung; 
Befehl, Wien binnen vierundzwanzig Stunden, und die k. k. 
Staaten zu verlaſſen; Päſſe, mit vorgeſchriebener Reiſeroute; end— 
lich auch, nebſt meinen wenigen Habſeligkeiten, einen an mich in— 
deſſen eingelaufenen, aber erbrochenen Brief. Es war der Brief 
deines Mannes, liebe Sabine, in welchem er mir vom Tode un— 
ſerer Tante in Mancheſter, vom dringenden Verlangen unſers 
Oheims Nachricht gab, dahin zu kommen, ihn in ſeinen Geſchäf— 
ten zu unterſtützen, wobei auch ein ſtattlicher Wechſel zum Reiſe— 
geld lag. 

So ward ich verabſchiedet. Begleitet von einem Polizeidiener, 
der mich bis zur Abreiſe nie verließ, eilt' ich, wegen Auszahlung 
des Wechſels, zum Hauſe des Banquiers. Hier nun der letzte 
tolle Vorfall in Wien. Indem ich das Büreau des Geldwechslers 
verließ, begegnete mir im Zimmer unerwartet der Graf Mala— 
riva. Er wollte höflich ausweichen. Ich aber riß ihn gegen mich, 
um ihm leiſe ins Ohr zu raunen: „Herr Graf, jetzt kenn' ich 
Sie, ein vollendeter Schurke ſind Sie, vom Scheitel bis zur 
Sohle!“ Er ward vor Wuth grüngelb im Geſicht, und ſpie mir 
die pöbelhafteſten Schimpfwörter, in Gegenwart mehrerer Men— 
ſchen, zu. Ich bezahlte ſie ihm mit einer Ohrfeige, die ihn tau— 
meln machte, und erwartete das Weitere. Er aber ſtierte mich 
nur mit einem Baſiliskenblick ſprachlos an, indem er die Zähne, 


— 75 — 


wie ein wildes Thier, fletſchte. Da wandte ich ihm den Rücken, 
ging und verließ noch Wien in der Nacht. 

Das Uebrige iſt dir bekannt. Ich verließ Wien, wo ich bei— 
nahe drei Jahre gelebt hatte, mit Groll und Unglauben an Wahr— 
heit und Ehrlichkeit des Menſchengeſchlechts. Die Reiſe nach Eng— 
land zerſtreute mich. Es war im Auguſt 1796. Moreau ſtand 
damals mit ſeinen republikaniſchen Heeren ſiegreich in Baiern. 
Ich mußte zum Norden Deutſchlands weiten Umweg machen. In 
Mancheſter fand ich unſern verwittweten Oheim krank. Ich ward 
anderthalb Jahre lang ſein Pfleger und Abwärter, bis er in meinen 
Armen ſtarb. Sobald ich die weitläufigen Erbſchaftsgeſchäfte be— 
richtigt hatte, flog ich zu dir, Sabine, ich vergeſſe den dritten 
September vorigen Jahrs, deinen Geburtstag, nicht, als ich dich 
im Schloſſe deines Mannes in der freundlichen Rheinlandſchaft 
wieder, nach langer Trennung, an meiner Bruſt hielt. Ich hielt 
meine Welt, die beſte, in dir umfangen. Konnte mir's ahnen, 
als wir deinen Mann in die Schweiz, nach Bünden, zum Brun— 
nen von St. Moriz begleiten mußten, daß die Raſerei der politi— 
ſchen Faktionen uns ſo bald wieder ſcheiden würde? 

Nun weißt du Alles, Sabine. Nun frage mich nicht mehr. 
Könnt' ich nur die wüſte Unheilsgeſchichte aus meinem Gedächtniß 
wegwiſchen! Ich muß noch beifügen: Elfriede hat den ihr zurück— 
geſandten Geldbeutel, wie ich erſt unlängſt erfuhr, nicht ange— 
nommen, fondern hat ihn irgend einem ihres Geſindes geſchenkt. 
Und von Hand zu Hand gewandert, iſt er durch einen Bündner 
Bauer, der ehemals kaiſerlicher Soldat geweſen, ganz zufällig 
wieder in meine Hände gerathen. 


L e rer Drıer 


— — Entweder, Sabine, will ich mich aus dem Weltgetüm⸗ 
mel flüchten in irgend einen ſtillen, freundlichen Winkel des Erd— 
bodens, fern vom täglichen Schauſpiel civiliſirter Beſtialität, ver 
larvter Laſter, friedensmörderiſcher Vorurtheile; — in einen Winkel 
des Erdbodens, wo ich, umringt von den Werken der Beſten und 
Weiſeſten aller Zeitalter, und nur im Verkehr mit unverdorbenen, 
wenn auch unwiſſenden Menſchen, in enger Sphäre, wohlthun, 
belehren, tröſten, beglücken kann, — und dafür mangelt mir ja 
nicht Geld, auch nicht Verſtand und Wille; — oder aber, Sabine, 
ich werfe mich keck und kräftig in den heutigen Völkerkampf, als 
Würgengel; helfe Ketten brechen, hundertjährige Götzenbilder zer— 
ſchmettern, und die Gewalten der Hölle vertreiben, welche auf 
Erden dem Recht und der Wahrheit ihren ewigen Krieg machen, 
Und dafür mangelt mir nicht entſchloſſener Muth und Begeifterung. 
Und ſollt' ich im Kampf für das Göttliche ſterben, dann iſt's gött— 
licher Tod, der das arme Leben würdig krönt. 

Hier, Schweſterchen, haſt du, auf die Frage deines letzten 
Briefes, mein „Entweder, Oder!“ 

Beurtheile mich darum nicht, wie der gemeine Menſchentroß, 
der Jeden einen Schwärmer nennt, welcher ſich mit ihm nicht ge— 
mein macht, und für Edleres lebt und ſtirbt, als für Geldkiſte 
und Magen, Putzwaare und Titel. Du weißt ja, wie menſch— 
licher Wahnſinn die Welt ganz verkehrt geſtellt hat; wie Fürſten 
nicht fürs Volk, ſondern Völker nur für Fürſten da ſind; wie 
anſpruchloſe Tugend lächerlich, die Vernunft vom Bannfluch der 
Kirchen geſchlagen, das ewige Menſchenrecht geächtet daſteht. Du 
weißt ja, wie der Freund der Freiheit den Staatsmännern Hoch- 
verräther, und den Prieſtern, wer nicht den Teufel glaubt, Got— 


5 e 


tesläugner heißt. Du weißt ja, wie Wiſſenſchaften und Künſte faft 
werthlos an ſich ſelbſt, nur, als Lurusinſtrumente, im Knechts— 
dienſt des Reichthums, der Hoffart und Eitelkeit Geltung haben; 
wie die meiſten Menſchen den Meiſten, als lebendige Lügen, ge— 
genüber lächeln, weil Ehrlichkeit keine Ehre bringt. 

Sabine, jetzt zieht ein Orkan durch die Länder, man nennt 
ihn Revolution, um den faulgewordenen Dunſtkreis Europa's von 
giftigen Miasmen zu ſäubern. Er iſt nicht, wie unſere Diplo— 
maten, Prieſter und gelehrten Maulwürfe faſeln, von einigen 
Freigeiſtern und Aufklärern hervorgezaubert, ſondern aus dem 
Schooſe der ewigen Weltordnung geboren zur Strafe allgemeiner 
Entmenſchung. Unſere Bonapartiſchen Schlachthelden, nach blu— 
tigen Lorbeeren lechzend, ſind wieder, wie in alten Tagen, neu— 
europäiſche Attila's geworden, und Frankreich iſt in der Schick— 
ſalsfauſt die Gottesgeißel über dem Rücken der Barbaren oben 
und unten. 

Hier, Kind, haſt du mein politiſches Glaubensbekenntniß. Ich 
ſtelle mich meiſt auf die Seite der Gottesgeißel, nicht weil ich ſie 
liebe, ſondern, als Gotteswerk ehre. Die Franzoſen predigen den 
Völkern wenigſtens geſunden Menſchenverſtand, wenn gleich ſie, 
wie Wahnſinnige, wüthen. Kinder und Trunkene reden wenigſtens 
Wahrheit, ſagt das Sprüchwort. Der Orkan wird einſt ausraſen 
und eine neue Welt aus dem Schutt des Mittelalters auferſtehen. 
Ich beweine zwar, wie du, das Leiden unſers Vaterlandes; aber 
es wird ein freieres, ſtärkeres, edleres auf dem Weg der Schmer— 
zen werden. 

Lieſeſt du Zeitungen? Siehſt du, wie die Nationen erwachen, 
ſich den Schlaf aus den blöden Augen reiben und die ſtummen 
Lippen öffnen und reden lernen? 

Wir ſind im Februar. Ehe die Kirſchen blühen, bricht der 
Krieg aus, furchtbarer als je. Denn Erzherzog Karl ſteht ge— 


8 


waffnet am Lech. Aus dem Norden wälzen ſich die wilden, un— 
bekannten Völkerſchwärme Aftens und Rußlands heran. Suwa⸗ 
row führt ſie, der auf ſeinen Schlachtfeldern berühmt gewordene 
Schlächter. 

Nun, Sabine, komme ich zur Sache. Ich war geſtern in 
Luzern. Die Franzoſen ſtehen fchlagfertig. Ihr erſter Schritt iſt 
gegen unſer armes Vaterland gerichtet, die Oeſterreicher hinaus 
zu treiben; die Gebirgspäſſe links und rechts gegen die Schweiz 
und Cisalpinien zu ſichern und den Eingang Tyrols offen zu 
haben, ehe der Erzherzog und Suwarow mit vereinter Macht 
herandrängen können. Der Hauptangriff wird ohne Zweifel, von 
Maſſena geleitet, am Luzienſteig geſchehen, während Loiſon 
von den Höhen des St. Gotthard, Lecourbe ſüdwärts gegen 
Engadin und Tyrol, Demont von den Kunkelſer Alpen her droht. 
Bleibt das Glück, wie bisher, den republikaniſchen Fahnen treu: 
ſo wird der Kriegsſchauplatz weit von unſern Thälern zurückgeſcho— 
ben werden. Dazu ſollte in dieſem Augenblick Jeder helfen, der 
ſein Vaterland liebt. Ich will dabei ſein. Freilich, wenn auch 
Alles gelingt, ſind wir darum noch nicht frei. Frankreich wird 
die Schweiz, als ſeine Pförtnerin gegen Italien und Deutſchland, 
noch lange im Dienſt behalten wollen; die Pariſer nennen ja alle 
ihre Thürhüter Schweizer. Aber unſer Bergvolk wird, wie man— 
ches andere Volk, im Druck der Dienſtbarkeit, die Freiheit inz 
brünſtiger lieben lernen; und wie es jetzt die Stricke zerriſſen hat, 
in welchen es von ſeiner Junker- und Prieſterherrſchaft feſtgehalten 
war, wird es früh oder ſpät auch Frankreichs Gebieterſchaft zurück⸗ 
weiſen. Ganz Europa wird es fordern, wird es erzwingen helfen. 
Deß bin ich ſicher. 

Zufällig traf ich vor einigen Tagen den General Demont in 
der Stadt an, wo er nur kurze Zeit verweilte. Man hatte mir 
geſagt, er ſtamme aus einem Bündnergeſchlecht, von Pilla, im 


— 


Lugnetzerthal. Ich ſuchte ihn auf, und erbot mich, bei Eröffnung 
des Feldzugs, als Freiwilliger, in ſeinem Stab zu dienen. Er 
empfing mich freundlich, als Landsmann; aber glaubte, mit meiner 
Kenntniß des Landes, dem General Loiſon, zumal in den roman— 
ſchen Thälern des Oberlandes, nützlicher werden zu können. Die 
Aufgabe Loiſons ſei eine der gefährlichſten der Unternehmungen. 
Mir gilt's gleichviel, wem ich zur Seite ſtehe, wenn mir das 
Unternehmen gelingt. Der General hat mir alſo ein Empfehlungs— 
ſchreiben an ſeinen Waffengefährten gegeben, der mit zahlreichen 
Truppen in Uri und im Urſerenthale ſteht. Morgen, oder über— 
morgen, eil' ich dahin. Deine Briefe für mich ſende an unſern 
gefälligen Bündner Agenten. 

Beunruhige deinen Mann auf ſeinem Krankenlager nicht mit 
Nachricht von meinem Vorhaben. Der Verdruß würde ihm zu 
ſeinen übrigen Nöthen das Gallenfieber bringen. Du ſelbſt äng— 
ſtige dich meinetwillen nicht. Du kennſt mein Entweder-Oder. 
Weil ich den Friedenswinkel nicht weiß, will ich hinausfliegen in 
den Sturm. Ich fühle meine Kraft; fie ſehnt fi) nach That. 
Ich freue mich der wilden Zerſtreuung, der Abenteuer, die mich 
erwarten; will nicht, kann nicht auf dem Faulbett ruhen und 
träger Zuſchauer bleiben, wenn Kriegsflammen über mein armes 
Vaterland zufammenfchlagen. 


16. 
Wanderung zum Gotthard. 

Wirklich beſtieg Sabinens Bruder, wenige Tage ſpäter, ein 
Schiff des Vierwaldſtätterſee's, und ließ ſich zu den Ufern von 
Uri rudern. Die aus den Geſchichten der Vorzeit berühmten 
Stellen des Seegeſtades, an denen ſein Nachen vorüberſchwankte, 


— we 


die kleine, felfigte Halbinſel des Grütli rechts, die Kapelle und 
Platte des Tellenſprungs links, zogen ſeine Aufmerkſamkeit kaum 
für Augenblicke an ſich. Sie mochten ihm ungefähr fo fehens- 
werth dünken, als an dem gemalten Stammbaum eines geſunkenen 
Adelsgeſchlechtes die Schilde weiland berühmter Ahnherren, deren 
noch lebende Enkel ſich, im Gefühl eigener Unbedeutſamkeit, mit 
Tugenden der Todten brüſten. 

Es war ſchon dunkler Abend, als er in den engen Gaſſen des 
Hauptfleckens Altorf umherirrte und vergebens Herberge und 
Nachtlager ſuchte. Gaſthäuſer und Bürgerwohnungen waren mit 
lärmendem Militär angefüllt, das keinen Raum übrig ließ. Ab: 
gewieſen allenthalben, wandte er ſich endlich an einen franzöſiſchen 
Offizier, dem er, auf der Straße begegnend, ſeine Verlegenheit 
und ſeine Beſtimmung zum Hauptquartier des Generals Loiſon 
offenbarte. Nach einigen Fragen her und hin, nahm der junge 
Kriegsmann, wie ein barmherziger Samariter, den Arm des Bünd— 
ners freundlich in den ſeinigen und ſagte: „Aha, ich weiß! Wir 
ſollen Collegen werden. General Demont hat Sie angekündet, 
und Sie werden im Hauptquartier erwartet. Kommen Sie, Bür⸗ 
ger Prevoſt, wir theilen Tiſch und Bett mit einander. Ich bin 
Kapitän Goujeon, Loiſons Adjutant. Morgen wandern wir ges 
meinſchaftlich die Gotthardsſtraße hinauf. Ich freue mich, ange⸗ 
nehme Geſellſchaft zu haben. Sie werden mir von dem Lande 
erzählen, in das Sie uns einführen wollen.“ 

Die Gaſtfreundlichkeit des Offiziers, obgleich er dieſe Tugend 
auf fremde Koften wohlfeil übte, war dem verlaſſenen Wanderer 
allerdings willkommen. Er folgte ſeinem Geleitsmann zu einem 
fröhlichen Nachtſchmauſe, bei welchem ein Schwarm jugendlicher 
Kriegshelden der großen Republik, unter Witzſpielen, Flüchen 
und Gelächter, von Bällen und Waffentänzen, Schlachten und 
Liebſchaften bis tief in die Nacht hinein plauderte. Mit Tages- 


= I 
anbruch ward der Weg zum Gotthardsberg durch das Großthal 
von Uri fortgeſetzt. Eine Kompagnie Soldaten zog ſingend voran. 

Die winterliche Gegend des Gebirgs, überall einförmig weiß, 
mit dazwiſchen gemengten ſchwarzen Felswänden und Tannwäldern, 
glich einem farbloſen ungeheuern Kupferſtich. Zuweilen, wenn 
der Wind die bereiften Zweige der Bäume ſchüttelte, ſank es, 
wie ein Sternenregen, herab, der im Sonnenſchein im bunteſten 
Licht der Diamanten erglänzte. 

„Herrlich, herrlich!“ ſchrie Kapitän Goujeon, und ſchweifte 
mit trunkenen Augen über die ſchimmernde Thalebene, und empor 
zum zackigten Rand der beſchneiten Bergreihen, die das blaue 
Gewölbe des Himmels trugen: „Wie ſie daſtehen, die Giganten 
des Erdballs, ſtolz und ewig, in ſchreckhaft-feierlicher Pracht! 
Mich nimmt's wahrhaftig nicht Wunder, wenn Ihr Schweizer, 
von jo ſchauerlich-großer Natur angeſprochen, das Lachen verlernt 
habt, und immerdar ernſt ſchaut; ausgenommen, wenn Ihr, ſtatt 
der Berge, Weinflaſchen vor Euch ſeht. Hier müßt' ich zum Dichter 
werden. Wie kömmt's auch, daß die Schweiz keinen Oſſian oder 
Homer geboren hat?“ 

„Das Räthſel gab ich mir ſelbſt ſchon,“ ſagte der Bündner: 
„Doch ich meine, Landſchaften bilden nur den lebloſen Hintergrund 
poetiſcher Kunſtwerke; aber Großthaten, gewaltige Schickſale, 
Leidenſchaften, Untergänge und Triumphe den Vordergrund. In 
einem Ländchen, wie die Schweiz, wo ſeit Jahrhunderten Alles 
zerſtückelt für ſich lebte, fehlte es zwar nie an großen Ereigniſſen 
und großartigen Talenten, aber ſie blieben, in winzige Räume, 
in winzige Völkerchen eingegrenzt; hiſtoriſch bedeutungslos, bloße 
Erdbeben eines Ameiſenhaufens. Im engen Horizont der Ge— 
meindsbänne und Schloßmauern konnte ſich kein Gemüth erweitern. 
Man trieb mit Gedanken und Thaten nur Kleinhandel von Ort 
zu Ort. Ohne freies, öffentliches Leben verſchimmelt die Volks— 

Zſch. Nov. XI. 6 


= 


er = 


kraft im Spießbürgerthum. Der ſchöne Dichtergeiſt beſchäftigt ſich 
höchſtens noch mit Blumen und Bächen, Liebe und Thränen. 
Wer auf größerer Bühne vielleicht als Feldherr erſten Ranges 
geglänzt haben würde, verkrüppelt beim Wachtſtuben- und Ka⸗ 
maſchendienſt zum Exerziermeiſter. Wer, als Staatsmann, fähig 
geweſen ſein würde, Schickſale von Königreichen zu lenken, wird 
in der kleinſtädtiſchen Rathsſtube zum politiſchen Kannengießer.“ 

„Ich glaube, Sie haben Recht!“ fiel lebhaft der Adjutant 
ein: „Die Schweizer ſollten zur großen Nation, zu Frankreich 
gehören! Da empfingen ſie einen Weltraum zum Spielraum.“ 

„Die Schweizer aber verlangen ihn nicht,“ erwiederte Pre— 
voſt: „und mögen Keinem, als ſich angehören. Iſt aber einmal 
das halbe Hundert ihrer Ländlein und Völklein zu einem Ganzen 
und in ſtärkere Einheit zuſammengeſchmolzen, dann ſtehen ſie groß 
genug, zwar nicht mächtig genug, um gegen andere Nationen, 
wie die Franzoſen, auf Beute Jagd zu machen, aber doch das 
Panier der Freiheit in kräftiger Fauſt ſelber aufrecht zu halten, 
und ihren Herd und ihre Heerden gegen fremde Wölfe zu ſchützen. 
Inmitten der großen Völkernoth kann nur Freiheit und Frieden 
ihr höchſtes Bedürfniß ſein.“ 
Der Kapitän ſah verwundert den Reiſegefährten an, der mit 
Stimme und Geberde plötzlich mehr auffahrenden Unwillen, als 
in ſeinen Worten verrieth, und fragte ihn: „Was wollen Sie 
eigentlich ſagen? Wölfe, Wildniß, europäiſche Völkernoth? Ich 
denke, Ihr Patriotismus wird wenigſtens Frankreich nicht zur 
europäiſchen Wildniß zählen, den Sitz der civiliſirteſten Nation 
des Erdbodens, deren Waffen und Wiſſenſchaften, Sprache, Mo⸗ 
den und Sitten den Weltkreis beherrſchen.“ 

Gelaſſen, mit ironiſchem Lächeln, antwortete Flavian: „Ich 
bin mißverſtanden, und will deutlicher fein. Eine Wüſte kann 
Oaſen, eine Wildniß menſchliche Wohnungen haben, bleibt dem— 


ungeachtet aber Wüſte und Wildniß. Und fo ſeh' ich Europa. 
Oder iſt unſer Welttheil mit all ſeinen Künſten und Kunſtſtücken 
im Ganzen entwildeter, als es Afrika, Aſien, Amerika ſind, 
wo, ganz wie bei uns, Völker neben Völkern in ihren Staaten, 
wie reißende Thiere in ihren Höhlen, feindſelig neben einander 
wohnen; einander neidiſch belauern; Klauen und Zähne zeigen; 
wedelnd und tückiſch an einander vorüber ſchleichen; den Schwä— 
chern zerreißen und verſchlingen, und die Stärkern ſich wegen der 
Beute zerfleiſchen? Kennen Sie die politiſche Geſchichte des ſtolzen 
Europa's? Bevor unſere Nationen nicht inner ihren Grenzen, 
wie friedſame Familien inner ihren Häuſern, neben einander woh— 
nen; alle im Schutz des gleichen Völkerrechts, ihre gegenſeitigen 
Zwiſte menſchenwürdig ſchlichtend, ſo daß der ganze Welttheil ein 
großes Gemeinweſen mannigfacher Haushaltungen, armer und rei— 
cher, wird: mögt' ich ihn nicht civiliſirt heißen.“ 

„Ach! Sie ſind Philoſoph! Vortrefflich!“ rief Goujeon auf— 
lachend: „Ich weiß, die Deutſchen lieben das Grübeln, Speku— 
liren, Philoſophiren und Phantaſiren; wir Franzoſen den Genuß, 
und die That.“ 

Sie wurden in dieſen Geſprächen, die ſie noch lange auf ähn— 
liche Weiſe fortſetzten, von einem Offizier unterbrochen, den der 
General gefandt hatte, den Marſch der Kompagnie zu beſchleu— 
nigen. Man erfuhr von ihm, daß der Angriff auf Graubünden 
in wenigen Tagen unternommen werde; daß jetzt vermuthlich Van— 
damme und Jourdan ſchon über den Rhein gegangen ſeien, 
den Feldzug zu beginnen. 

Die Soldaten jauchzten bei dieſer Nachricht: „die Republik 
hoch!“ und verdoppelten den Schritt vom Dörflein Am-Steg 
bergauf, über das öde Bergdorf Waſſen, durch den grauſen Fel— 
ſenkeſſel der Schöllinen, bis ſie über die Teufelsbrücke, durch die 


— 2 


finftere Gurgel des Urnerlochs, in das ftille Thal von Urſeren 
hervortraten, wo ihnen die Hütten von Andermatt gegenüber lagen. 

Hier kam ihnen Olivier Loiſon, der Brigadegeneral, entgegen, 
kaum noch dreißig Jahre alt, wohlbeleibt, doch gelenk, mit run— 
dem, freundlichem Geſicht. Nachdem er die Kompagnie gemuſtert, 
die Berichte der Offiziere gehört hatte, wandte er ſich zu Prevoſt, 
hieß ihn willkommen und führte ihn mit ſich ins Hauptquartier. 

„Bürger Prevoſt,“ ſagte er, „ich habe Sie früher erwartet. 
Was mir General Demont von Ihnen gemeldet, berechtigt mich, 
Ihnen volles Vertrauen zu ſchenken. Sie können der Armee und 
der Befreiung Ihres Vaterlandes ausgezeichnete Dienſte leiſten. 
Heut' iſt der erſte Märztag. Morgen erlaub' ich Ihnen Raſt, 
falls Sie der Ruhe bedürfen. Uebermorgen aber, wünſch' ich, 
daß Sie alle Wege über das Gebirg der Oberalp rekognosziren, 
welcher derſelben für die Truppen im Winterwetter gangbar ſei. 
Ich fürchte, wir verſinken droben im Schnee. Sie können zu 
Ihrer Sicherheit eine Anzahl Soldaten dahin nehmen. Am vierten 
März greift Maſſena den Luzienſteig an; und ich rücke denſelben 
Tag in Bünden ein. Ich erwarte aber mit Beſtimmtheit den 
Abend vorher Ihre Rückkunft und Ihre Nachrichten. Dann bleiben 
Sie, als Adjutant, in meinem Gefolge. Jetzt machen Sie ſich's 
bequem. Sie ſpeiſen mit mir zu Nacht. Wir beide müſſen mit 
einander nähere Bekanntſchaft machen.“ N 


17. 
Eine Scene im Hauptquartier. 

An der reichbeſetzten Tafel des Hauptquartiers, zu welcher 
das öde Urſerenthal nur Gemſen und Murmelthiere der hohen 
Alpen, oder die feinen Käſe ſeiner Sennhütten hatte liefern können, 
während von Altorf und Luzern, aus zehn und zwanzig Stunden 


8 


weiter Ferne, Leckerbiſſen und Weine aller Art herbeigeſchafft 
waren, machte Flavian allerdings die nähere Bekanntſchaft des 
republikaniſchen Feldherrn und feiner Offiziere; fo wie er auch fol— 
genden Tags das wilde Kriegsleben der Soldaten in ausgeplün— 
derten Hütten der Thalbewohner kennen lernte. Aber ihn befiel 
abwechſelnd Ingrimm, oder Entſetzen, beim zuchtloſen Schalten 
und Walten dieſer Heerbanden. So arg hatte ihm ſeine Fantaſie, 
ſelbſt in den ſchwärzeſten Stunden, den Gräuel des Kriegs lebens 
nicht vorgeſpiegelt. Er glaubte ſich zum Schwarm einer mächtigen 
Räuberhorde verirrt, die von einer gewöhnlichen Bande beute— 
luſtiger Strolche nur durch Uniformen und geregelten Waffendienſt 
verſchieden war. Faſt gereute ihn der Schritt, der ihn hieher ge— 
bracht. Aber nun einmal gethan, konnte er ohne Gefahr und 
Schmach nicht zurück gethan werden. Auch war's ihm zuletzt voll— 
kommen recht, das Menſchengeſchlecht einmal in voller ſcheu- und 
ſchamloſer Nacktheit zu ſchauen. „Es macht um eine ernſte Er— 
fahrung reicher,“ dacht' er: „das Höllengewerbe ſolcher disciplinir— 
ter und privilegirter Länderverwüſter in der Nähe zu beobachten, 
für deren Glück man in Kirchen Gottes Beiſtand anruft; die man 
Helden nennt; denen man Ehrenſäulen baut; denen Verkehrt— 
heit oder Feilheit der Geſchichtſchreiber Lorbeeren und Weihrauch 
ſpendet.“ 

Schon der erſte Abend im hellerleuchteten Saal des Haupt— 
quartiers, inmitten des glänzenden Kreiſes von Brigadechefs und 
Hauptleuten, füllte ſeine ganze Seele mit heiligem Zorn, je 
grellern Gegenſatz der feine, gemeſſene Ton dieſer Geſellſchaft 
von ſogenannten gebildeten Männern, mit ihrem grauſamen Hand— 
werk bildete, und mit ihren verwilderten Begriffen von Ehre, 
Pflicht und Menſchenwerth. Flavian begnügte ſich dabei mit der 
ſtummen Rolle des Zuhörers, und entſchuldigte ſich mit Ermüdung, 
wenn der General ihn zur Theilnahme am fröhlichen Leben auf— 


— — 


forderte. Loiſon ſelbſt trug dieſen Abend, voll heitern Humors, 
zur Unterhaltung das Meiſte bei; begleitete, auf einer Flöte fan— 
taſirend, die ſchöne Stimme eines jungen Offiziers, der die rüh— 
renden Klagen einer Waiſe am Grabe der Mutter ſang, oder er 
deklamirte gefühlvoll und bewegt, die Efloge Virgils in lateini— 
ſcher Sprache, in welcher Melibocus trauert, die heimiſchen Flu— 
ren verlaſſen zu müſſen. Wie er, fo die Andern. Bald blitzten 
muntere Witze gegen Witze; bald verlor ſich das Gelächter im ſtil— 
len Anhören der Geſchichte edelmüthiger Thaten, deren Zeuge dieſer 
oder jener der Offiziere geweſen ſein wollte. 

Da ward der Frohſinn der Abendgeſellſchaft auf eine Weiſe 
geſtört, die über alle Geſichter plötzlichen Unmuth und Verdruß 
verbreitete. Es trat, begleitet vom Wirth des Hauſes, der zu— 
gleich Unterſtatthalter oder Ammann des Thals, war, eine alte 
Bauernfrau in den Saal, zitternd, weinend, in halbzerriſſenen 
Kleidern. Sie hob ſtummflehend die Hände empor zum General, 
und ſank zu ſeinen Füßen auf die Knie nieder. 

„Was ſoll das? Was wollt Ihr?“ fuhr der General ärgerlich 
den Wirth an, der aber jetzt die demüthig-freundliche Wirthsmiene 
abgelegt hatte, und, wenn auch beſcheiden, doch feſt und ernſt, 
als Thalammann, vor dem Feldherrn ſprach. 

„Gönnen Sie,“ ſagte der pflichtſtrenge Mann, er hieß Meyer; 
ſein Name iſt werth, genannt zu werden: „gönnen Sie der un— 
glücklichen Wittwe, und den Kindern derſelben, einen Augenblick 
Ihres Mitleids. Seit drei Wochen fehon lebt das arme Weib, 
aus ſeiner eigenen Hütte verſtoßen. Ein Dutzend Ihrer Soldaten 
haben ſich eigenmächtig darin eingehauſet, Alles verzehrt, Alles 
ausgeraubt und verwüſtet; haben die einzige Kuh der ſchutzloſen 
Frau vor wenigen Tagen geſchlachtet. Seit drei Wochen hatte die 
Unglückliche mit ihren Kindern kein Obdach in Nacht und Froſt, 
als einen baufälligen Heuſtall. Und, Bürger General, in dieſem 


8 


Augenblick werden Mutter und Kinder auch aus dem Heuſtall ver— 
trieben. Ihre Soldaten reißen ihn nieder, um daraus Brennholz 
im Ueberfluß zu ſchaffen. Retten Sie, weil es noch möglich iſt, 
die letzte Habe dieſer Frau, damit die Bejammernswürdige nicht 
des Nachts ſich unterm kalten Himmel im Schnee betten muß.“ 

Der General erwiederte verdroſſen: „Es thut mir leid. Soll 
ich etwa meine Leute im Schnee ſchlafen laſſen? Iſt's nicht die 
Schuld Eurer faulen, böswilligen Bauern, daß ſie am Tage herum— 
lungern, ſtatt Holz, aus den Wäldern da unten, den Berg herauf 
zu tragen? Sind ihre Rücken zu zart dafür?“ 

„Dieſer Vorwurf, General, iſt Ihr Ernſt nicht!“ entgegnete 
der Thalammann: „Sie ſelber ſind Zeuge, wie alltäglich un— 
ſere Männer und Weiber mühſam, vom Morgen bis zum Abend, 
in langen Schaaren bergab, bergauf ziehen, das nöthige Holz her— 
bei zu ſchleppen; Sie felbft — — —“ 

„Es iſt genug!“ unterbrach ihn Loiſon: „Fort mit dem 
Weibe! Es gehört nicht meiner, ſondern Ihrer Sorge an. Ich 
habe in dem vermaledeiten Thal hier für meine Truppen, nicht 
für Eure alten Weiber Erbarmen zu fühlen.“ 

„General,“ rief der unerſchrockene Wirth von Ander— 
matt: „Ich fordere nicht Ihre Gnade und Barmherzigkeit auf 
für die Geplünderten, ſondern Ihre Pflicht und Schuldigkeit gegen 
ſich ſelbſt.“ 

„Was Teufel!“ ſchrie der General mit lauter Stimme: 
„Unterſteht Euch, Menſch! Noch einmal dies Wort, und ich laſſe 
Euch mit Eurer Thalammannswürde auf dreimal vierundzwanzig 
Stunden ins Gefängniß werfen, bis Ihr zu Verſtand kommt.“ — 
Dann that er einige haſtige Schritte; blieb wieder einen Augen— 
blick nachdenkend ſtehen; winkte einem Offizier und ſagte: „Ber 
gleiten Sie das Weib; erkundigen Sie ſich, was vorgeht? Schaffen 
Sie Ordnung.“ 


— 2 


Als dieſer Befehl vollzogen ward, ſchlich auch Prevoſt davon, 
ohne Abſchied zu nehmen, und begab ſich, vom Thalammann be— 
gleitet, nach der abgelegenen Hütte des jammernden Weibes. Ein 
großes Feuer leuchtete ihnen dunkelroth durch die Finſterniß ent— 
gegen. Der Heuſtall war zum Theil ſchon niedergeriſſen, und was 
davon übrig geblieben, im Brande. Soldaten ſtanden lachend um⸗ 
her und wärmten ſich; zwiſchen ihnen trippelten einige zerlumpte 
Kinder, vor Kälte ſchlotternd, die ſich des Flammenſpiels und der 
wohlthätigen Gluth freuten. — Hier war nichts mehr zu retten. 
Flavian murmelte Flüche, gab dem Thalammann einige Geld: 
ſtücke, der hilfloſen Familie Herberge und Nahrung zu verſchaffen; 
eben fo drückte er der neben ihm weinenden Frau heimlich ein Al: 
moſen in die Hand, mit dem Wink, es zu verbergen und zu ſchwei— 
gen. Dann wandte er ſich um und verſchwand in der Dunkelheit. 


18. 
Der Zug über die Oberalp. 


Schon andern Morgens empfing er die Befehle des Generals 
zur Unterſuchung der Wege über das Gebirg der Oberalp. Er 
verhieß die Aufgabe ungeſäumt zu löſen. — Der General erwartete 
deſſen Rückkunft zwei Tage vergebens. Der Morgen allgemeinen 
Aufbruchs dämmerte. Die Kompagnien ſammelten ſich. Prevoſt 
erſchien nicht wieder. Olivier Loiſon verwünſchte den Bündner, 
dem er zu viel Vertrauen geſchenkt zu haben glaubte, und gab 
Befehl zum Abmarſch. 

Singend trabten die rührigen Heerbanden, mit Trommelge— 
lärm, aus dem Dörflein Andermatt hervor, welches einem ver— 
ſchneiten Steinhaufen glich. Der Zug ging über halbgefrorenen 
Sumpfboden, längs dem Ufer eines irren Baches, zu den Ein— 


— 


öden der Oberalp hinauf. Der Weg ward allmälig ſteiler; der 
Schnee tiefer; der Morgenwind ſchneidender. Der lange, dunkle, 
bewegliche Streifen der Kriegsrotten auf ſchneehellen Berghalden, 
über welche zuweilen die Gewehre flüchtige Blitze im Sonnen— 
ſtrahl warfen, konnten entfernten Zuſchauern, im Thalboden, einer 
emporkriechenden ungeheuern Rieſenſchlange gleichen, deren Schup— 
pen bei jeder Wendung des Rumpfes erglänzten. Bald verſchlang 
das Schauſpiel ein Nebel, der ſeinen grauen Schleier um den 
Berg legte. Die Soldaten ſelbſt erſchienen ſich darin, wie Schat— 
tenheere, von einer Wolke in die andere übergleitend, während 
ihnen der Reif Haupt- und Barthaar verfilberte. Nach einigen 
Stunden wanderten ſie droben neben einem kleinen Bergſee, über 
eine Brücke von Eis, die ſich links an Felswände lehnte. Und 
erſt, als ſie die letzte Höhe des Bergjochs erreicht hatten, welches 
Uri und Graubünden ſcheidet, ſechstauſend Fuß hoch über dem 
Meer, rollte ſich plötzlich der Nebel, wie ein Vorhang, vor ihren 
Augen auf. 

Da ſtarrten die erſtaunten Krieger die ſchauerlichſte aller Ein— 
öden an; eine bleiche Wildniß von Schnee- und Eisgebirgen, 
himmelhoch über einander gewälzt; ſchwarze Klippen dazwiſchen 
und nächtliche Klüfte. Die Nachbarſchaft des Nordpols zeigt ſie 
den Grönlandsfahrern nicht ausgeſtorbener und entſetzlicher. So 
weit die Blicke ſchweiften, überall kalter, tonloſer Weltſchlaf. 
Der Tod ſchien ſeinen ewigen Thron hier, über den Ländern der 
Sterblichen, erbaut zu haben. Das Leichentuch der Natur, von 
Stürmen zerriſſen, deckte nur noch dürre Gerippe einer ehemaligen 
Welt; und über dem ungeheuern Leichnam regte ſich nichts, als 
Zuweilen eine Wolke, welche ſtill um eine Felsſpitze hinſchlich. 
Links ſchimmerten die Eispyramiden des hohen Krispalt durch die 
Luft, wie in ihr zerfloſſen; rechts die noch höhern Zinken und 
Hörner des majeſtätiſchen Sirmadoum Zwiſchen den bläulichen, 


— 


tiefen Gletſcherſchründen, und gewaltigen Trümmern eingeſtürzter 
Berge glichen ſie rieſenhaften Denkmälern eines ſeit Jahrhunderten 
zerſtörten Erdballs. 

Soldaten und Offiziere machten unwillkürlich Halt. Jeder 
ſchien von geheimer Furcht überwältigt. Keiner wollte die Hei— 
ligkeit des weiten Schweigens durch einen Laut ſtören. Einzeln 
zogen ſie jenſeits des See's weiter, bis der Feldherr ſelbſt Raſt 
gebot, während er zur Vorhut eilte. Dieſe ſtand in einiger Ent⸗ 
fernung auf dem äußerſten Grathe des Bergjochs in wunderlicher 
Bewegung, wie von einem unerwarteten Ereigniß betroffen. Die 
Umriſſe der Kriegergeſtalten zeichneten ſich dort ſcharf auf dem 
lichten Hintergrund des Himmels. Einige Soldaten ſtreckten die 
Arme aus; andere ſchwangen Gewehre, Hüte und Tücher. Loi— 
ſon, neugierig, verdoppelte ſeine Schritte. Als er, auf über— 
ſchneitem Bergſchutt, die Anhöhe erklommen hatte, rief er: „Was 
gibt's, Leute?“ 

„Hierher, General!“ ſchrien ſie: „Zauberei! Teufelei! Blend— 
werk, wie kein Menſchenkind je geſehen hat!“ 

In der That blieb der General ebenfalls von Erſtaunen ge— 
feſſelt, als er die Augen auf einen Nebel richtete, der wenig ent— 
fernt von ihm, langſam aus der Tiefe aufquoll und ſich wollig 
ballte. Denn er gewahrte darin den Schatten ſeiner Geſtalt, und 
um die Schattengeſtalt, wie ſie ſich bewegte, eine in ſieben Far— 
ben brennende Glorie. Kaum ertrugen die Augen das Feuer dieſes 
Heiligenſcheins, welches vom Purpur und Blau durch Lichtgelb 
zum Roth ſpielte. Jeder ſah ſich da ſelber einzeln, wie er wan— 
delte, verklärt gegenüber, im Innern des flammenden Farben— 
kreiſes.“) 
) Dieſe ſchönen und überraſchenden Erſcheinungen von Strahlenbrechung, 

„Nebelbilder“ genannt, werden bei günſtiger Stellung der Sonne und 


= Mm = 


„Wohlan, gute Vorbedeutung!“ fagte Loiſon zu einigen 
Hauptleuten, welche, neben ihm ſtehend, die wunderhaften Nebel— 
bilder betrachteten: „So wird Jeder von uns in dieſem Feldzuge 
ſeine eigene Gloriole erobern.“ 

„Aber nicht ohne Vorausbezahlung der Kanoniſationsgebühren!“ 
äußerte ſich hinter ihm eine fremde Stimme: „Heiligenſchein iſt 
koſtbarer, als Scheinheiligkeit.“ 

Der General blickte hinter ſich und rief: „Was iſt das für 
ein kecker Bandit? Wer hat ihn gebracht?“ 

Dem Aeußern nach ſchien der Ankömmling einer jener Gems— 
jäger zu ſein, welche, unbekümmert um Winter und Sommer, 
mit leidenſchaftlicher Luſt die wilden Gebirge durchſtreifen, irgend 
ein Thier der Felſenwildniß, wenn auch nur einen weißen Haſen, 
oder ſogar den eigenen Tod zu finden. Lederſack, Büchſe und 
Pulverhorn über Schulter und Rücken, in der Fauſt den Alpen— 
ſtock mit langer Eiſenſtachel, war der übrige Anzug des Mannes 
der gewöhnliche von Bergbewohnern dieſer Gegend: eine grob— 
tuchene braune Jacke; kurze blautuchene Spitzhoſen, mit Leder— 
riemen ums Knie zuſammengeſchnallt; die blauen Wollenſtrümpfe 
bis zu den Waden mit grauen Ueberſtrümpfen bedeckt; am Fuß 
dickſohlige, ſchwerbenagelte Schuhe mit Eisſpornen darunter. Vom 
Geſicht blieb nichts, als Auge, Naſ' und Mund zu ſehen; das 
Uebrige aber vom niedergezogenen Pelzwerk der Aufſchläge einer 
Lederkappe verſteckt. 

„Oeffnet Euer Viſir, Herr Strauchritter. Wer ſeid Ihr?“ 
befahl der General. 

Der Gemsjäger zog gehorſam unter dem Kinn die Schnüre 


des Schattenwurfs gegen eine Nebelwolke, auf vielen Bergen der 
Schweiz geſehen. 


— iR 


der Mütze auf, und zeigte ſich. Es war der Schützenhauptmann 
Prevoſt. 

„Sie da! Willkommen hier oben!“ rief Loiſon, aber mit 
einem Ernſt in der Miene, der nicht ganz zum Willkommen paßte: 
„Woher ſo ſpät? Was gibt's Neues in der Unterwelt, nach der 
ich mich, trotz hieſiger Himmelsfreuden, ſtark niederſehne?“ Er 
machte bei dieſer Frage eine winkende Bewegung mit Kopf und 
Hand, und ging mit dem Schützenhauptmann einige Schritte ſeit— 
wärts, ihn allein zu hören. 

„Wie, zum Teufel kommen Sie zu dieſer verdächtigen Ver— 
mummung?“ fuhr er fort. 

„Ich entlieh fie vom Wirth in Andermatt, um den Landleuten 
diesſeits und jenſeits unverdächtig zu bleiben.“ 

„Und warum ſo ſpät? Sie ſollten ſchon geſtern Abends zu— 
rück ſein.“ 

„Nicht ich war Meiſter hier, General, ſondern Weg, Wind 
und Wetter.“ 

„Wo haben Sie übernachtet.“ 

„In einer leeren Sennhütte von Djärms, wo ich froh war, 
mich an einem kleinen Feuer des Erfrierens zu wehren.“ 

„Wie ſteht's mit den Wegen hinunter?“ 

„Zum Genickbrechen, oder Lebendigbegrabenwerden,“ antwor— 
tete der Weidmann: „Links zwar iſt der kürzere, aber ſteilere, 
über die Alpwieſen von Crispauſa glatt hinab, bis zu den rauchi- 
gen Häuſern von Ruäras. Ihre Truppen fahren ihn am gemäch— 
lichſten, Gewehr im Arm, ſitzend nieder. Rechts iſt der Pfad 
etwas weiter, im Sommer für Pferde gangbar, wie man ſagt. 
Aber ich verſank zwiſchen den Klippen von Nurgallas und Calmot 
unerwartet bis über die Schultern in ein Schneegrab; war übrigens 
zufrieden, daß dies kühle Grab mir, zur Rückkehr in die Welt, 
offen blieb.“ 


en = 


„Gleichviel!“ verſetzte der Geueral, aus deſſen rundem Ge— 
ſicht der gewohnte Heiterſinn verſchwand: „Von zwei Uebeln iſt 
das kürzeſte das beſte!“ Ich bin froh, aus dieſer Wüſtenei wieder 
zu Menſchen zu gelangen.“ 

„Vermuthlich, General, werden Sie deren bald mehr finden, 
als Sie wünſchen, ich ſah Truppen.“ 

„Wie ſo?“ fragte Loiſon ſtutzend. 

„Ich fürchte, unſer Marſch ſei verrathen. Man erwartet uns.“ 

„Was? Oeſterreicher da?“ 

„Ich ſah zwei Kompagnien. Aber unter dem kläglichen Ge— 
heul der Sturmglocken ziehen längs beiden Rheinufern zahlreiche 
Schwärme bewaffneter Bauern heran.“ 

„Gut! Das Geſindel iſt bald zerſprengt. Wie weit noch iſt's 
bis zum Kloſter Diſentis?“ 

„Ich zweifle faſt, General, daß wir heut den hochwürdigen 
Vätern zur Laſt fallen werden.“ 

„Und von da bis Reichenau fünf Stunden?“ murmelte der 
General verdrießlich, indem er den großen Treſſenhut von der 
Stirn zurückſchob, als würd' er ihm für die Geſchäfte ſeines Kopfs 
zu eng: „Vermuthlich überall kleine Murmelthierlöcher, ſtatt 
menſchlicher Wohnungen, ohngefähr wie im Urſerenthal? Wie?“ 

„Aufrichtig geſprochen,“ entgegnete Prevoſt: „wir würden 
bei den Murmelthieren ſo gut ſchlafen, als in den rußigten Pa— 
läſten des Tavetſcherthals. Hütten und Ortſchaften liegen an 
Höhen und Tiefen zerſtreut umher, wie eine aus einander gelau— 
fene Heerde, ohne Hirten.“ 

Der General wandelte unruhig und ſchweigend auf und ab; 
dann warf er nachläſſig die Frage hin: „Sind die Bauern gut 
bewaffnet? He? Miſtgabeln, Senſen, Prügel?“ 

Der Schützenhauptmann antwortete: „Der Landſturm 
mag drei- und viermal ſtärker ſein, als Ihre Bataillone, und 


a 


wird, wie ich hörte, von einem erfahrnen General oder Oberſten 
angeführt. Die Leute kennen Wege, Stege und Schlupfwinkel 
ihrer Berge und Wälder beſſer, denn wir. Darf ich mir einen 
Rath erlauben?“ 

„Und der wäre?“ fiel der General ein. 

„Heut umzukehren und Verſtärkungen an ſich zu ziehen, Ge— 
neral. Sie gehen Ihrem Verderben entgegen. Die Landleute des 
Gebirgs ſind ein kräftiger Menſchenſchlag, und werden mit der 
Tapferkeit der Verzweiflung fechten.“ 

„Wehe ihnen!“ rief Loiſon: „Wagen ſie's, brenne ich ihre 
Vieh- und Menſchenſtälle bis zu den Gipfeln der Berge ab. Ich 
hab' es nicht mit Lumpengeſindel, ſondern mit Oeſterreichern zu 
thun.“ 

„Sie treiben Scherz, General!“ erwiederte der Hauptmann 
ernſt und ehrerbietig: „Franzöſiſche Republikaner find keine Mord- 
brenner, denk' ich. Wir ſtehen auf dem Boden eines armen, 
freien Volks, welches wir für, nicht wider die Sache Frankreichs 
und Helvetiens gewinnen wollen; eines entſchloſſenen, herzhaften 
Bergvolkes, zu dem wir ungerufen kommen, und welches im Glau— 
ben ſteht, wie jeder Hausvater, ungebetene Gäſte zur Thür hin— 
auswerfen zu dürfen.“ 

„Junger Menſch!“ brauste der General auf: „Hier keine 
moraliſche Vorleſungen! Ich will die Nacht bei den Benediktinern 
ſchlafen. Halten mich die Tavetſcher Bauern auf, iſt's ihre Schuld, 
wenn mir ihre Neſter, als Fackeln, auf den Weg leuchten 
müſſen.“ N 

Aus Flavians dunkeln Augen ſchoß ein Blitz verhaltenen 
Unwillens gegen den franzöſiſchen Feldherrn. „In dem Fall ge— 
ſtatten Sie,“ ſagte er: „daß ich nicht Zeuge davon ſei. Ich bin 
Schweizer und biete nicht zur Verwüſtung, ſondern zur Befreiung 
meines Landes Hand. Keine Gräuelthat hier! Kein zweites 


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Unterwalden hier! Schlagen wir uns, wenn es ſein ſoll, wie 
Männer gegen Männer, aber ohne Mörderei und Brand! Wo 
nicht, General, ſo gewähren Sie mir Entlaſſung.“ 

„Sie bleiben!“ erwiederte Loiſon gebieteriſch: „Sind wir 
in Chur angekommen, werden Sie Entlaſſung in der Art erhal— 
ten, wie Sie ſie verdient haben.“ 8 

„Erinnern Sie ſich,“ entgegnete der Bündner mit feſter 
Stimme: „ich bin als Freiwilliger zu Ihnen gekommen.“ 

„Keine Worte verloren!“ rief der General: „Sie haben, 
fürcht' ich, der franzöſiſchen Armee geſtern ſchlecht gedient.“ 

„General!“ ſchrie der Hauptmann mit ſtolzer Heftigkeit, 
und that einen raſchen Schritt vor: „Schlecht? Vielleicht weil 
ich mich dreißig Stunden unter Lebensgefahren in dieſen Schnee— 
wüſten, als Kundſchafter gebrauchen ließ, um das Häuflein Ihrer 
Soldaten vom Untergang zu retten.“ 

„Retten? Vom Untergang? Wie?“ 

„Kehren Sie um, Bürger General! Dieſer Rath iſt die beſte 
Frucht meiner Kundſchafterei, die ich ſchon zu bereuen anfange. 
Sie haben es mit der Uebermacht und Verzweiflung eines 
Gebirgsvolkes aufzunehmen, welches keine Furcht kennt. Sie 
haben — —“ — 

„Still!“ rief der Befehlshaber, deſſen finſtere Mienen 
aufſteigenden Argwohn verriethen. „Erlauben Sie, daß ich mich 
in jedem Fall Ihrer werthen Perſon verſichere.“ Er rief einige 
Offiziere herbei, denen der Schützenhauptmann Flinte, Jagdſack, 
Pulverhorn, ſogar den Alpenſtock übergeben mußte. Dann ein 
Wink, und die Trommeln wirbelten zum Abmarſch. 


2 


19. 


Der gn d ſt eu v m. 


Das Niederſteigen aus der Höhe, auf den ſchlüpfrigen Schnee— 
pfaden, ward mühſeliger, als das Emporklimmen, und noch ge— 
fahrvoller durch Abgründe, in die jeder Fehltritt den Mann hin— 
unter reißen konnte. Links rollten aſchgraue Nebelballen über das 
Gebirg. Rechts ſtiegen aus unſichtbaren Tiefen ſtarre Bergmaſſen 
auf, die mit fantaſtiſch geformten Kulmen, Zacken und Zinken im 
öden Aether ausgingen; — vorn ein unabſehbares Heer von Gi- 
pfeln der Alpen, ein Labyrinth koloſſaler Kryſtalle. Hier riß ſich 
eine entſetzliche Schlucht auf; die Hälfte eines Berges war darin 
niedergefahren und verſchlungen, während die andere Hälfte noch 
ihr nacktes Eingeweide zur Schau bot. Dort klafften gebrochene 
Gletſcher auseinander und entblößten ihre bleichgrünen Wunden 
dem Tageslichte. Von Felswänden hingen Waſſerfälle ohne Be— 
wegung, wie gläſerne Säulen in der Luft. Wälder tiefer Fernen 
glichen ſchwarzen Moosflecken auf überſchneitem Geſtein. Von 
Zeit zu Zeit zog ein dumpfes Dröhnen, wie rollender Donner, 
durch die Berge. Es ſtammte von ſtürzenden Lauinen, die kein 
Auge entdeckte. Furchtſam ſchauten die Soldaten auf und ſetzten 
den Marſch mit tieferm Schweigen fort, um durch ihr Getöſe 
nicht die Luft und die überhangenden Schnee- und Eislaſten zu 
erſchüttern. 

Endlich und endlich aber wichen links und rechts die Ketten 
der Bergreihen weiter aus einander. Die erſten Spuren eines 
Pflanzenlebens kündeten ſich wieder an; niedrige Alpenerlen, die 
ihre dürren Ruthen aus Schneelagern aufſtreckten; Alpenfohren, 
die ihre am Boden kriechenden Zweige mit Nadelbüſcheln Frönten*). 


) Alpenerlen (Betula alnus viridis) und Alpenfohren, Pinus mugho) 


Weiter abwärts wurden dann lange Streifen von Tannenhorſten 
an den Gebirgshalden, neben leeren Waſſerrunſen, ſichtbar, die 
der ſchmelzende Schnee, oder Regengüſſe, ſeit Jahrtauſenden, 
eingefurcht hatten; und noch entfernter drunten ſchloß ſich die 
Ausſicht in ein Thalgelände auf, oder vielmehr in ein Netz von 
Thälern, durch die in einander verſchränkten Füße entgegenſtehender 
Berge gebildet. Nach einigen Stunden zeigten ſich auch da und 
hier Schöpfungen von menſchlicher Hand; Stege von rohbehauenen 
Baumſtämmen, oder Steinplatten über Gießbäche; verfallene Ein— 
hägungen; zerſtreute Stallhütten; endlich in noch tiefern Gründen 
kleine menſchliche Wohnungen, bald beiſammen, bald weit von 
einander entlegen, kaum von jenen Steinblöcken unterſcheidbar, 
welche durch Wolkenbrüche und Lauinen dem verwitterten Gebirg 
entriſſen, auf den Wieſen lagen. 

Loiſons Waffengefährten fühlten ſich, wie in einem neuen 
Leben, als ſie, nach langer Trennung von der bewohnten Welt, 
einzelne Rauchſäulen, wenn auch noch in ziemlicher Ferne, von 
wirthlichen Herden aufſteigen ſahen. Man muß in winterlich- öden 
Hochwüſten, uͤber Eisgefilden zwiſchen Nebeln und Klippen, ſelber 
ſchon ſeine Verlorenheit gefühlt haben, um ſich die Luſt beim 
Wiedererblicken der erſten Zeichen einer bewohnten Welt lebhaft 
vorſtellen zu können. Es iſt dieſelbe Luſt, welche den Seefahrer 
durchzuckt, wenn er nach langen Abenteuern zwiſchen Himmel und 
Waſſer, feſtes Land am Horizont auftauchen ſieht; oder wenn eine 
Karavane in ausgebrannten Sandebenen Afrika's ferne Palmen— 
gipfel einer Oaſe entdeckt. Geſang und Scherz, witzige Ein— 


gewöhnlich, mit Ausnahme niedriger kaum das Gras überragender 
Weiden, die letzten Holzarten an den Grenzen des Baumwuchſes in 
den Schweizerbergen. 


Zſch. Nov. XI. * 


Ben: We 


fälle und fröhliches Gelächter erwachten wieder in den bisher ver— 
ſtummten Kriegerſchaaren. 

Schon waren dieſe eine gute Strecke thalwärts gewandert, 
als der Vortrab, indem er ſich um den Vorſprung eines Hügels 
bog, plötzlich bewaffnete Haufen gewahr ward, die ſich in ver— 
ſchiedenen Richtungen gegen den Berg bewegten. Der General 
ließ Halt machen. Während ſich die Truppen ſchlagfertig reihe— 
ten, erſtieg er den Hügel, Anzahl und Bewegung des Feindes zu 
erkennen. Von da aus ſah er, daß der ihm entgegen rückende 
Haufen, in ziemlich kriegeriſcher Ordnung, vorwärts ſchreitend, 
nicht ſchwächer an Mannſchaft ſei, als er ſelber. Aber andere 
Rotten des Landſturms, die er links und rechts wahrgenommen, 
wurden bald unſichtbar, vom tückiſchen Nebel verheimlicht. 

„Wahrhaftig, geheuer iſt's hier nicht!“ ſagte der Feldherr 
zu den naheſtehenden Offizieren: „Ich glaube Hauptmann Prevoſt 
hat Recht. Die Bauern ſind zahlreich; es kommt darauf an, wie 
ſie ſich ſchlagen!“ 

„General,“ bemerkte einer der Offiziere: „ich habe Schwei— 
zerbauern dieſer Art im Grauholz bei Bern und am Rothenthurm 
kennen gelernt. Wir waren ſtärker, denn ſie, und es ging blutig 
her. Wenn wir zurück müßten — —“ 

„Kein Gedanke!“ unterbrach ihn Loiſon: „Entweder ſpren— 
gen wir den Schwarm aus einander, und wir vereinigen uns 
übermorgen mit General Demont; oder im ſchlimmſten Fall ſchaf—⸗ 
fen wir dieſem, bei Reichenau, freieres Spiel, indem wir den 
Landſturm hier im Schach halten.“ 

„Sieh da, wir empfangen Beſuch, General!“ ſchrie ein An- 
derer: „Drei unbewaffnete Bauern nähern ſich, und laſſen weiße 
Tücher wehen. Unterhändler!“ 

„Gut!“ entgegnete der Feldherr: „Ich wette, die Schufte 


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verlangen unſere Bajonette nicht zwiſchen ihre Rippen. Hören 
wir, was ſie bringen!“ 

Als der General zur Vorhut ſeiner Truppen gekommen war, 
ſtanden auch ſchon die ländlichen Abgeſandten da; ziemlich betagte, 
vierſchrötige Geſtalten, zwar in bäuriſcher, doch ſtattlicher Landes— 
tracht. Sie verbeugten ſich etwas ungelenk, mit ehrerbietig ent— 
blößten Häuptern, als er ſie mit dem Treſſenhut leicht begrüßte. 
Eben ſo ſchnell jedoch, als er ſich wieder bedeckte, drückten auch 
ſie trotzig ihren Filz auf die Stirn nieder. 


20. 


Die kriegeriſchen Unter händler. 


„Ohne Zweifel, meine Herren,“ redete ſie Olivier Loiſon 
mit höflichem Wohlwollen an: „ohne Zweifel ſeid Ihr die Vor— 
geſetzten dieſer Thalſchaften, und wünſchet Euch mit mir zu ver— 
ſtändigen. Mich freut die Bekanntſchaft fo achtbarer Männer. 
Ich komme keineswegs als Feind zu Euch; ſondern als Freund, 
im Namen der franzöſiſchen und helvetiſchen Republik, das Grau— 
bündner Land vom Joch des Kaiſers zu befreien. Niemand unter 
Euch ſoll von uns beläſtigt werden. Mein Aufenthalt iſt von 
nicht längerer Dauer, als nöthig, um den morgenden Tag zu er— 
warten.“ 

Der, welcher von den Abgeordneten der Aelteſte zu ſein ſchien, 
lüpfte den Hut einen Zoll hoch über fein ſtruppigtes, eisgraues 
Haar, und erhob ſodann die rauhe Stimme zur Antwort. 

„Jester heroic,“ ſchrie er: „tgei intruidese ha tei enten 
nossas pauperas vals? Nuot vein nus auter, che noss-libertat. 
Engulei a nus quella bucc. Ella gida vos nuot. Untgi da 
cheu daven! Nos umons, nos culms, nosses lavines vegnien 


„ 


vus mazah. Ils nos duensemmen a multaers vegnien à de- 
ventar vosses fosses!* *) 

Der franzöſiſche Feldherr hörte anfangs den Vortrag des greifen 
Redners mit lächelnder Verlegenheit an, und ſah, wie der Mann, 
glühend im Geſicht, mit den Händen umherfuhr, zum Himmel 
und zur Erde zeigte, und durchbohrende Blicke auf ihn heftete. 
Dann aber unterbrach er ihn und erklärte mit ſpöttiſchem, höf— 
lichem Geberdenſpiel ſeine Unkunde romaniſcher, oder rhätiſcher 
Zunge. 

„Haltet ein!“ rief er, ſeine Offiziere ſchalkhaft anblinzelnd, 
mit komiſcher Artigkeit: „Haltet ein, Herr Großbotſchafter! Ich 
zweifle durchaus nicht an der Gründlichkeit Eurer Meinung, oder 
an der Aufrichtigkeit dieſer ſchmeichelhaften Aeußerungen, mit 
denen Ihr mich beehrt. Aber verſchwendet ſo glänzende Beredſam— 
keit nicht an ein paar unwürdige Ohren, die zwiſchen dem Rau— 
ſchen einer Sägemühle, oder Eurer Stimme, keinen Unterſchied 
bemerken können.“ — „Gehen Sie,“ fuhr er zu einem Offizier ge— 
wandt fort: „rufen Sie den Hauptmann Prevoſt herbei, der 
kann vielleicht das Knarren und Quaken dieſes zahnloſen De— 
moſthenes in menſchliche Töne überſetzen.“ 

Die Geſandten der Tavetſcher hatten zwar von den franzöſt— 
ſchen Worten des Generals ſo wenig begriffen, wie er von ihren 


) Deutſch lautet es: „Fremder Krieger, was führt dich in unſere 
armen Thäler? Nichts haben wir, als unſere Freiheit. Raube ſie 
uns nicht! Sie nützt dir nichts. Weichet zurück! Unſere Männer, 
unſere Felſen, unſere Lauinen werden Euch erſchlagen; unſere Ab⸗ 
gründe und Multärs Eure Gräber werden.“ 

Die „Multärs“ ſind jene langen und weiten Felſenſpalten im 
Boden des Gebirgs, welche oft eine ſteile Tiefe von 50 - 100 Fuß 
haben, und in deren Grunde gewöhnlich ein ſtilles Bergwaſſer rinnt. 


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romaniſchen. Aber aus ſeinen gegebenen Zeichen und der eiligen 
Entfernung des Offiziers, erriethen fie, um was es zu thun ſei. 

Bald erſchien Flavian, von einem vorangehenden Korporal 
und zwei nachfolgenden Soldaten begleitet. Er blickte nicht un— 
ehrerbietig, aber düſter zum General auf, der ihm befahl, die 
Bauern um ihr Begehr zu fragen. Flavian wandte ſich zu dieſen 
und fragte in deutſcher Sprache: „Spricht keiner von Euch fran— 
zöſiſch, italieniſch, oder deutſch: ſo zieht heim und wechſelt mit 
dieſen Franzoſen lieber Flintenkugeln, als leere Worte!“ 
„Ich glaube beinahe ſelber, Burſch, es wäre das Geſcheidteſte,“ 
antwortete deutſch ein anderer Abgeordneter, der ſich dann zu 
demjenigen feiner Gefährten wandte, welcher zuerſt geſprochen 
hatte. Er ſchien mit ihm, in der Mundart des Thales erſt gütlich, 
dann unwillig, zu unterhandeln, bis jener einige Schritte zurück— 
trat. Darauf hob der neue Sprecher zu dem Gefangenen an: 
„Burſch, hinterbringe deinem Meiſter und Herrn den Gruß, welchen 
ich ihm im Namen unſerer Leute auszurichten habe. Doch mahn' 
ich dich, beſtell' ihn redlich. Denn wir ſpielen hier nicht um Haſel— 
nüſſe, ſondern um Köpfe!“ 

Er kehrte nach dieſer vorläufigen Erinnerung das Antlitz dem 
General entgegen, den er eine Weile ſtumm, mit funkelnden Augen, 
muſterte, als wär' es jeden Augenblick hier, Mann gegen Mann, 
auf einen Fauſtkampf abgeſehen. In einem ſolchen freilich hätte 
der Brigadegeneral unfehlbar den Kürzern ziehen müſſen. Denn 
nicht leicht konnte man eine rieſigere Geſtalt finden, als dieſen 
Tavetſcher-Herold, der eine Kopflänge über die größern Männer 
aufragte, und mit ſeinen breiten Achſeln Zentnermaſſen, wie Kin— 
dertand, tragen zu können ſchien. Bewundernswerther, als die 
Cyelopenform ſeines Gliederbaues, war aber eine gewiſſe Leichtig— 
keit in ſeinen Bewegungen, die man weder von einem zur Schwer— 
fälligkeit verurtheilten Körper, noch von einem Alter erwarten 


— m — 


fonnte, das über ſechszig Jahre hinausſtieg. Das Haar des Alten 
wehte im Winde ſchneeweiß über ein friſches, röthliches Geſicht, 
welches nur durch eine bläuliche, wulſtige Narbe über Naſe und 
Wange etwas entſtellt war. 

„Was ſuchen Eure kriegeriſchen Horden in dieſem wilden Thal?“ 
fragte er den Feldherrn mit einer Stimme, die er ſichtbar dämpfte, 
damit fie nicht in donnerndes Gebrüll ausarte: „Die Wehflage 
der Völker ſchreit wider Euch über die Wolken des Himmels hin— 
auf. Ihr Franzoſen, ja Ihr habet den Thron Eurer alten Könige 
zerſchlagen. Ihr habet die Altäre Eurer Heiligen gebrochen. Ihr 
habet die Ströme Deutſchlands und Welſchlands mit Menſchenblut 
gefüllt. Ihr habet das Grab der heiligen Zwölfboten geſchändet. 
Vermiſſet Ihr noch, am lauten Jammer der Welt, den Jammer 
armer Hirten im unbekannten Gebirg?“ 

„Aber dieſe Felſen gebären kein Gold; dieſe Gießbäche keine 
Perlen; nur, vier Monden lang, Futter für unſere Heerden; die 
übrige Zeit Reif, Schnee und Eis. Wollt Ihr hartherziger gegen 
dieſe Thäler ſein, als der Erdboden? Wollt Ihr das Almoſen 
ſtehlen, welches uns der Himmel ſo kümmerlich zuwirft?“ 

„Unſere Väter ſind jederzeit der alten Schweizer treue Bundes— 
genoſſen geweſen. Aber Ihr habt die Schweizer in Euer Joch 
gethan; ſie geſchlachtet; Zwietracht in das Herz der Ueberlebenden 
geworfen und Feuerbrände in ihre Hütten. Ihr habt ihre Freiheit 
erwürgt; den Schatz ihrer Städte geraubt; ihnen nicht einmal den 
Namen der Schweizer und Eidgenoſſen übrig gelaſſen. Wir fen- 
nen keine Helvetier! Wahret Euch, uns ihr Loos zuzubringen. 
Ihr würdet ſchlechten Trägerlohn heimnehmen.“ 

„Auch haben wir gehört, Ihr wollet die Oeſterreicher aus 
unſerm Lande vertreiben. Sie ſind unſere erbvereinten Bundes— 
verwandte. Sie ſind unſere Gaſtfreunde. Wer, Ihr Fremdlinge, 
hat Euch Fug und Macht ertheilt, über unſere Heimath zu ſchal— 


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ten, als wäre fie Euer Gut, und uns zu gebieten, wen ſie be- 
herbergen dürfe? oder über unſere Herzen zu befehlen, wen ſie 
lieben und haſſen ſollen? Seid Ihr des Kaiſers Feind, ſo ſuchet 
ihn in der Burg zu Wien. Er wohnet dort; nicht unter uns.“ 

„Zurück! Setzet Euern Fuß keine Schrittbreite weiter, oder, 
bei allen Heiligen des Himmels, Ihr fahret vor Sonnennieder— 
gang in die unterſte Hölle. Feinden fordern wir keine Gnade ab, 
auch ſchenken wir ihnen keine. So Euch aber der Schnee des 
Gebirgs ermattet hat, ſprechet! Wir ſind Chriſten! Ihr ſollet 
Erbarmen finden. Unſere Hütten ſenden Euch Obdach, Milch und 
Käſe. Leget aber zuvor die Waffen ab. Morgen ſollet Ihr Eure 
Rüſtung und Wehr wieder empfangen unverſehrt. Dann möget 
Ihr wohlbehalten gegen Urſeren zurückſteigen.“ 

„Das ſoll ich Euch anzeigen. Mein Mund iſt der Mund des 
Volks!“ 

Flavian verdolmetſchte dem Feldherrn die Worte des rhätiſchen 
Boten nicht nur treu, ſondern mit wirklicher Begeiſterung. Die 
ſtolze Einfalt dieſer Rede mahnte den Jüngling an die kühne 
Sprache jener ſeythiſchen Geſandten, mit welcher ſie dem mace— 
doniſchen Alexander entgegengetreten waren, als der Eroberungs— 
ſüchtige in ihre Steppen drang. 

Der franzöſiſche Befehlshaber rief unter lautem Gelächter: 
„Wer hätte doch in dieſem Mammuth einen ſo gewandten Diplo— 
maten vermuthet! Bürger Prevoſt, antworten Sie kurz und bün— 
dig: wir zögen vor, die angenehme Unterhaltung im warmen 
Zimmer beim Glaſe Weins fortzuſetzen, ſtatt uns im Schnee 
hier die Füße erkälten zu laſſen. Wir ſeien gute Freunde der 
Graubündner; würden Mannszucht halten und verlangten nichts, 
als ungehinderten Durchzug. Der Franzoſe aber gebe keine Waffe 
ab, bis man ſie ihm aus der todten Fauſt reiße. Was ſich dem 
Durchzug wiederſetzt, wird niedergemacht. Baſta!“ 


— mu — 


„Durchzug?“ rief der Tavetfcher, als er den Sinn der 
Antwort vernahm, und ſeine Stimme ging in dumpfes Brüllen 
über, wie das des gereizten Stiers: „Bei den Gebeinen des hei— 
ligen Placidus! Wähle beizeiten die Heimkehr, Ketzer! oder es 
ſollen die Knochen deiner Räuberbande neben den deinigen, im 
Schnee und Sonnenſchein dieſer Berghalde bleichen, daß Bettler 
und Gauner genug Knöpfe daraus für ganz Frankreich ſchneiden kön— 
nen. Die blutfarbenen Hoſen des langen Kuoni, der vor Altem, 
wie du, von Urſeren kam und Tavetſch überfiel, prangen längſt 
nicht mehr in der Kirche von Diſentis“). Ich gelobe an ihre 
Stelle die deinigen aufzuhängen. Wahre dich, Fremdling!“ 

Er ſprach dieſe Worte mit fo lautdonnernder Kehle, daß der 
Schall weit um von den gegen einander ſtehenden Schlachthaufen 
gehört wurde. Die Augen blitzten ihm dabei ſtechend unter den 
grauen Wimpern hervor. Der General hatte verſtanden, ehe 
Flavian die Drohung überſetzte. a 

„Halten wir uns keinen Augenblick länger bei dem Behemoth 
auf!“ ſagte Loiſon zum Schützenhauptmann: „Wiederholen Sie 
ihm kurz: hindert man mich, meinen Weg friedlich fortzuſetzen, 
werd' ich ihn mir mit Feuer und Schwert bahnen!“ Damit drehte 
er der Geſandtſchaft den Rücken zu und kehrte zu den Truppen 
zurück, die, ſeinen Anordnungen gemäß, ſchon angefangen hatten, 
ihre Reihen ſeitwärts auszudehnen. 

„Nun denn, luſtig! Angefangen mit der Wolfsjagd! Schau 
auf in die Luft; der Waldgeier wittert ſchon Aas!“ ſchrie der 


) Laut Sage, hatte im Jahr 1350 ein Kriegsmann, Namens der 
lange Konrad, mit feiner Rotte, von Uri her, das Thal von Tavetſch 
überfallen und geplündert, ward aber mit den Seinigen erſchlagen. 
Als Trophäe wurden die Hoſen des Konrad lange Zeit im Kloſter 
Diſentis zur Schau geſtellt. 


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Sprecher des Volks und die Züge feines Geſichts verriethen 
Zufriedenheit mit Beginn des blutigen Tagwerks. „Aber du,“ 
fuhr er gegen den bisherigen Dolmetſch fort: „ſag an, wer biſt 
du denn? Ich ſehe, die Wölfe da hüten dich, wie ein fettes Lamm, - 
das ihnen gern entwiſchen möchte. Nimm du einen Satz zu uns 
hin, ſcheu' ein paar blaue Bohnen nicht, die ſie dir nachſchicken. 
Wo biſt du daheim? Was treibſt du bei den Ketzern?“ 

„Ein Engadiner bin ich und Bündner, wie Ihr. Aber Ihr 
ſeid ja ſelber Zeuge; ich muß ihnen mit meiner Sprache dienen,“ 
erwiederte Flavian. 

„Alſo ein Mauldiener?“ verſetzte Jener: „Desgleichen treibt 
ſonſt ſein Gewerbe freiwillig. Willſt du nicht lieber deinem Vater— 
lande dienen?“ 

„Wenigſtens hier mit gutem Rath!“ ſagte der Hauptmann. 

„Nichts davon!“ unterbrach ihn der Ta vetſcher trocken: 
„Jetzt heißt's, gute That! Mach' dich davon, Burſch, ſobald du 
kannſt und ſpring' hinüber zu den Unfrigen, wenn du nicht mit 
dem welſchen Geſindel einerlei Loos verlangſt. Gelobt ſei Jeſus 
Chriſt!“ 

Hier nahm er raſch ſeine Amtsgenoſſen beim Arm, und eilte 
neben ihnen mit langen Schritten bergab. 


2 


rh 


Indeſſen hatte Loiſon ſchon Befehl zum Aufbruch gegeben. 
Der Vortrab ſpann ſich in eine lange Linie zum Plänkeln aus 
einander. Hinterwärts wirbelten Trommeln. Die Soldaten ſchrit— 
ten durch dichten Nebel, der Alles umhüllte, in geſchloſſenen 
Gliedern vor, ſtill und ernſt, die Augen bald niederwärts auf den 


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unfichern Boden geſenkt, welchen zwei Schuh tiefer Schnee be— 
deckte, bald vor ſich hinaus, die feindliche Mannſchaft zu erblicken, 
welche nirgends zu entdecken war. Loiſon hatte verboten, einen 
Schuß zu thun, bevor man vom Landſturm angegriffen ſei. Nie— 
mand wußte, wo dieſer ſtand, als plötzlich die durchbrechenden 
Sonnenſtrahlen den dichten Dunſt zerriſſen. 

Da ſah man vor ſich eine ziemlich geräumige, ſanft abhaldende 
Ebene; das Dorf Diſentis im nahen Hintergrunde derſelben; über 
dem Dorfe die weitläuftigen weißen Gebäude des Kloſters von 
mäßiger Höhe herabſchimmern. Links, am Fuß der Berge, ſpitzte 
ſich ſchwarz der Tannenwald von Segnes gegen die Ebene aus; 
rechts, dem Rhein zu, erblickte man ein alleinſtehendes Kirch— 
lein, zu St. Agathen genannt. Hinter demſelben, in einer großen 
Tiefe, ſtürzten die Rheine der Medelſer und Tavetſcher zuſammen, 
und ſchieden die Hochebene ab vom Eingang des Thales Medels, 
oder Brigels, über welches die weißen Kulmen des Lukmanier, 
des Sirmadoum und anderer Bergmaſſen ſtrahlten. 

Loiſon hatte kaum Zeit, ſich in der fremden Gegend zu er— 
kennen. Denn vom Dorf her wälzten ſich ihm die langen Ban— 
den des Landſturms bis auf Schußweite entgegen, unter Geſchrei, 
Trommelſchlag und gellendem Ton einiger Querpfeifen. Einzelne 
Schüſſe fielen links und rechts, die bald zahlreicher wurden und 
endlich vom rauſchenden Rottenfeuer einer Kompagnie Oeſterreicher 
begleitet wurden. Die Franzoſen vergalten mit tödtlichen Blitzen 
ihrer Gewehre. Eine Weile dauerte der Donner des Geſchoſſes 
herüber und hinüber; dann gebot der General Sturmmarſch, und 
mit gefällten Bajonetten brachen ſeine Schlachtreihen in die 
Schwärme der Bauern ein, die verworren, doch hartnäckig, fech— 
tend, gegen die Hütten von Diſentis zurückwichen. Unaufhaltſam 
drängten die Franzoſen nach ins Dorf, während der dickſte Nebel 
von Neuem Alles verſchlang. Das Gefecht nahm wildern und 


blutigen Gang. Wo das rothe Licht eines Flintenſchuſſes im 
Nebel aufleuchtete, dahin ward gezielt. Auf dem Kirchhofe ſtan— 
den, hinter der niedern Mauer deſſelben, die Bündner Scharf— 
ſchützen, wie in einer Schanze. Von da herab ſäeten fie Tod und 
Wunden. Die Franzoſen, vereinzelt, von allen Seiten bedrängt, 
ungewiß in welcher Richtung ſich wenden, wichen aus dem Dorf, 
um ſich abermals im Freien aufzuſtellen. 

In dieſem Augenblick aber hörte man Schlachtgeſchrei und 
Flintendonner auf beiden Flügeln der franzöſiſchen Stellung. Der 
Anführer der Bündner, Anton von Caſtelberg, ein gewandter, 
erfahrner Offizier, der Gegend kundig, hatte, im Nebel unſicht— 
bar, die Seiten des Feindes umgangen, und bergauf ſchon Ab— 
theilungen des Landſturms, als Hinterhalte, verſchickt. Nun war 
für die Tapfern der ſechsundſiebenzigſten Halbbrigade kein Zögern 
mehr. Sie eilten gegen das finſtere Gehölz von Segnes zurück, 
wo ſie wunderſchnell ihre zerrüttete Ordnung herſtellten. Aber, 
wie eine geſpenſtiſche Geiſterſchaar flog ihnen, durch den Nebel— 
duft die Heermenge der wüthenden Landleute nach, den Kampf 
mit Ungeſtüm zu erneuern. Da ſchlug paniſches Schrecken in die 
ſieggewohnteu franzöſiſchen Republikaner. Mit Mühe von den 
Hauptleuten zuſammengehalten, begaben ſie ſich auf den Rückzug 
bergan, von wo ſie kaum erſt herabgeſtiegen waren. Nur, als ſie 
eine ziemliche Strecke Wegs aufwärts zurückgelegt hatten, und ſie 
wieder aus dem Nebelmeer hervortauchten, das unter ihnen weit 
und grau über die Thäler floß, ward Stillſtand gemacht. Keuchend 
und fluchend, von wenigen Offizieren begleitet, gelangte auch Loi— 
ſon zur Höhe. Er ſchickte ſogleich Befehle ab, neue Stellung zu 
nehmen. 

Indem er ſich wandte, ſtieß er auf den Schützenhauptmann 
Prevoſt, den im Getümmel und Gewiͤmmel feine Wächter ver: 
loren hatten. „Sie noch hier, Prevoſt?“ rief er ihm freundlicher 


— 8 — 


zu und klopfte ihm auf die Schulter: „Brav! Ich hätte Sie bei— 
nahe irgend anderswo vermuthet. Bleiben Sie mir zur Seite! 
Hier, wo wir Tageslicht haben, will ich die Bauern erwarten. 
Der verdammte Nebel drunten! Man ſteckt darin wie im Sack. 
Prevoſt, Sie ſind wieder frei. Ich ſehe, Ihr Rath droben war 
wohlgemeint; aber nicht ganz am Platz.“ 

„General,“ entgegnete der junge Mann: „ich ſprach, wie 
mir Pflicht gebot. Welches aber auch der Ausgang des Gefechts 
werden möge, erlauben Sie, daß ich meine Doppelflinte wieder 
erhalte, oder wenigſtens einen Degen, um mich der eigenen Haut 
wehren zu können. Sie bedürfen hier keines müßigen Zuſchauers. 
Der Feind iſt drei- und vierfach ſtärker, als wir ſind.“ 

„Und wenn zehnfach, ich will hindurch!“ ſagte Loiſon: „Es 
iſt ein Weſpenſchwarm, den ich abſchütteln muß. Mag er ſich ein— 
bilden, er verfolge mich, wenn er herumſchwirrt; ich werde ihn 
forträuchern. Prevoſt, droben die zwei Kompagnien der Nachhut 
ſollen auf der Stelle herunter, ſich links ziehen und dort den 
übrigen Truppen anſchließen. Fort, überbringen Sie ihnen ſogleich 
den Befehl.“ 

„Hör' ich aber recht,“ bemerkte ihm Prevoſt: „ſo fallen auch 
hinter uns droben Schüſſe. Wir ſind umgangen. Die Kompagnien 
der Nachhut haben ſchon Arbeit erhalten. Und, General, ſehen 
Sie da unterhalb vor uns, wie es im Nebel ſchwärzer und leben— 
diger wimmelt! Der Weſpenſchwarm fliegt herbei.“ 

„Fort!“ ſchrie der General und begab ſich haſtig zu den 
Truppen, während Flavian bergan rief, den feldherrlichen Be— 
fehl zu vollſtrecken. Bald darauf hörte er hinter ſich die Trom— 
meln Sturmmarſch ſchlagen und das Geknatter des kleinen Ge— 
wehrfeuers. 

Wirklich rückten die Franzoſen, Mann an Mann, Schulter an 
Schulter gedrängt, mit gefälltem Bajonett gegen die dichten Haufen 


= 19 = 


des kriegeriſchen Bergvolks. Einen Augenblick ſchienen die Bünd— 
ner beſtürzt und ungewiß. Jählings erhob ſich aber ihr gräßliches 
Geſchrei. Sie rannten in wildem Gedränge mit geſenkten Spießen 
und Gewehren den Franzoſen entgegen. Als ſie wenige Schritte 
vor dieſen lebendigen Mauern und dem eiſernen Stachelgürtel ſtan— 
den, drehten ſie raſch die Flinten in der Fauſt um. Mit den Ge— 
wehrkolben, gleich geſchwungenen Keulen, ſchlugen ſie die vorge— 
ſtreckten Bajonette des Feindes aus einander und bohrten ſie ſich 
in die geſchloſſenen Maſſen der Franzoſen ein. 

Während ſolches mörderiſchen Kolbenſpiels und Handgemenges, 
war Flavian aufwärts in einen neuen Nebelzug gerathen, worin 
er nur wenige Schritte vor ſich ſah. Aber bald fielen auch in 
ſeiner Nähe einzelne Schüſſe. Bald gewahrte er, da und dort, 
durch die graue Dämmerung Schatten umherſchweben, kommen 
und verſchwinden. Einer derſelben nahte unmittelbar. Er erkannte, 
am langen, blauen Ueberrock und gezogenen Degen, einen fran— 
zöſiſchen Offizier; ergriff ihn am Arm und rief: „Halt! ich bringe 
Befehle des Generals. Ha, Kapitän Goujeon, ſind Sie's? Was 
treiben Sie? Wo find die zwei Kompagnien?“ 

„Zum Teufel, die feigen Hunde!“ war die Antwort: „Vor 
Dreſchflegeln davonzulaufen! Unerhört!“ 

„Sammeln Sie Ihre Leute,“ ſagte Prevoſt, ihn feſthaltend: 
„der General iſt mit dem Bataillon in der Nähe. Sie ſollen ſich 
links ihm anſchließen. Sie haben ja Grenadiere bei ſich, die wer— 
den doch Stand halten!“ 

„Grenadiere das?“ ſchrie der Kapitän voller Wuth: „Gre— 
nadiere? An den Galgen henken ſollte man die Memmen mit 
ihren Epauletten! Taub und blind ſind ſie, und Schande und 
Schmach unſerer ſechsundſiebenzigſten Halbbrigade!“ 

„Bleiben Sie, Kapitän!“ mahnte ihn der Bündner an: 
„Sie geben böſes Beiſpiel durch Ihre Eilfertigkeit. Ich weiche 


* 


nicht von Ihrer Seite. Wir wollen die Soldaten ſammeln. Muſ— 
ſen wir umkommen, ſei es fechtend!“ 

„Fort! Laſſen Sie mich fahren, oder ich jage Ihnen die Klinge 
durch den Leib!“ ſchrie der Kapitän: „Hier iſt Alles Unord— 
nung. Die Bauern ſind mitten unter uns.“ Damit riß ſich der 
Kriegsmann los und rannte davon. 

In dem Augenblick begann hinterwärts das Musketenfeuer 
ſtärker. Der Nebel verzog ſich. Eine Rotte Soldaten, bedrängt 
von den nachrückenden Bauern, hatte ſich zu einigem Widerſtand 
zuſammengegliedert. Sie ſtand nicht fern. Der Scharfſchützenhaupt— 
mann wollte ſich zu ihr geſellen, um ſo lieber, da er auf dem 
Boden ein weggeworfenes Gewehr fand. Er bückte ſich, um es 
aufzuheben. Da praſſelten um ihn her eine Menge Schüſſe. Er 
fühlte Stoß und Schlag von Vorbeieilenden, und ſtürzte rücklings 
zur Tiefe eines ſteil abgleitenden Berghanges hinunter. 


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Weir S ü 


Zum Glück geſchah ſeine Niederfahrt über eine nur mäßig 
ſchräge, glänzende Schneefläche anfangs ziemlich langſam; aber in 
bedenklicher Lage des Körpers; auf den Rücken geworfen; Kopf 
unterhalb, und bedroht, an erſter Steinklippe zerſchellt zu werden. 
Mit Geiſtesgegenwart verſuchte Prevoſt, durch mächtigen Seiten⸗ 
ſchwung, die Füße wenigſtens abwärts zu bringen. Aber das 
Kunſtſtück gelang nur zur Hälfte. Denn ſobald er halb und halb 
eine wagrechte Lage bekam, rollte er, wie eine Walze, auf der 
ſchiefen Schneefläche abwärts. In verzweiflungsvoller Kraftan⸗ 
ſtrengung ſchlug er Arme und Beine aus einander, auf Gefahr 
hin, ſie zu brechen, und hemmte die Schwindel zeugende Be— 


— — 


wegung. Endlich gelang ihm ſogar, durch Einbohren der Hände 
und der Eisſpornen ſeiner Schuhe, auf der ſchlüpfrigen Bahn 
einen Ruhepunkt zu erzwingen. Faſt odemlos, in der gefahrvoll— 
ſten Unſicherheit, verharrte er eine Zeitlang. Der Boden unter 
ihm, das Gebirge vor ihm, drehte ſich eine Weile kreiſelnd herum. 
Aus der Ferne vernahm er hoch oben noch das Knallen der Flin— 
tenſchüſſe, und unter ſich dumpfes Geräuſch, wie von tobenden 
Waſſern. 

Nachdem ſich der Schwindel gemildert hatte, wagte er's halb— 
aufgerichteten Leibes umherzuſpähen, wo Rettung? Hinter ſich 
aufzublicken nach der Höhe, von der er gekommen, fehlte ihm 
Muth; die leiſeſte Bewegung im lockern Schnee konnte ihn in den 
Abgrund niederreißen, der unter feinen Füßen ihm entgegengähnte. 
Abwärts lief die breite Abdachung des Berghangs zu einer Tiefe, 
deren Boden ſich nicht mehr erkennen ließ. Rings um ihn lag 
eine weiße, blendendweiße, abwärtsgeſenkte Fläche, ohne alles 
Geſtrüpp, ohne hervorragendes Geſtein, das etwa Haltpunkt wer— 
den konnte. — Wo er feſtgeklammert hing, oder ſchwebte, konnt! 
er nicht verharren; aber auch nicht auf Menſchenhülfe hoffen. Er 
ſtarrte bang gen Himmel; ſeufzte leiſe: „Gute Nacht, Sabine!“ 
und ſeinen Geiſt Gott empfehlend, entſchied er raſch, der eiteln 
Qual des Lebens ein Ende zu geben. Aber es ſträubte ſich das 
Leben gegen ſeinen Untergang, und das Verlangen nach Rettung 
kehrte mächtiger heim. Noch regte ſich Hoffnung, vielleicht unver— 
ſehrt die Tiefe des Thals zu erreichen, ſobald er leiſe, Fuß um 
Fuß, mit Vorſicht abwärts rücke. Er begann behutſam den Ver— 
ſuch. Da ſpürte er, daß ſich das Schneelager links und rechts, 
unter und mit ſeinem Körper, fortbewege, abgelöst vom Eisgrunde. 
Bald glitten größere losgeriſſene Maſſen neben ihm nieder. Hoher 
Silberſtaub umflog ihn. Wilder ging Zug und Flug. Endlich 


r 


ſchoß Alles pfeilſchnell mit ihm davon. Es war kein Haltens. 
Die Sinne verdunkelten ſich. Das Bewußtſein ſtarb. 

Zuweilen, wie eine mattaufzuckende Flamme, leuchtete noch 
dämmernd eine Vorſtellung in ihm auf, erloſch aber eben ſo ſchnell. 
Es war Schweben und Schwanken zwiſchen Wachen und Schlaf, 
Leben und Tod, nicht Eins mehr, nicht das Andere mehr. Das 
Bewußtſein blieb dumpfes Gefühl der Vernichtung; das Entweichen 
deſſelben ähnlich dem Grabesſchlaf. Dazwiſchen kündete ſich vor— 
übergehend Empfindung, wie Leichenkälte des Geſichts an. Brau— 
fen und Surren zog durchs Gehör. Er athmete noch; hatte noch 
Aufleuchten des Geiſtes, ohne Erinnerung. Inſtinktartig bewegte 
er wohl zuweilen die Hand in eiſiger Näſſe; ſchlug die Augen auf 
und ſchloß ſie; öffnete ſie abermals ſchwer, und ſah dann nicht 
hell, nicht dunkel. Er beſann ſich halb ungewiß des Sturzes, 
ohne zu wiſſen, ob er noch fortdaure, oder ob der zerſchmetterte 
Leichnam in einem Gletſcherſchrund liege. Während des verwor— 
renen Träumens und Brütens ging in ihm das Geſchehene heller 
aus einander. Nur die Gegenwart enthielt nichts. Sein Leib 
krümmte ſich unwillkürlich, als möcht' er ſich aufraffen; aber ver— 
mocht' es doch nicht. Die Gliedmaßen lagen gelähmt, oder zer— 
malmt, oder gebunden. Es drückte eine ſchwere Decke auf der 
Leiche. Da fuhr ihm Entſetzen durch die Seele, daß er noch lebe 
und lebend begraben ſei. In gräßlicher Angſt ſtieß er mit Stirn 
und Fäuſten gegen die Maſſe über ſich. Umſonſt. Sie brach im- 
merdar von neuem zuſammen. Es ward ihm deutlicher, er ſei von 
einer Lauine verſchüttet. 

Nun nahm das verzweifelnde Leben Rieſengewalt an. Wie ein 
bohrender Erdwurm zog er die Glieder zuſammen, trieb er ſie aus 
einander; wühlte er mit Haupt und Bruſt und Armen aufwärts, 
zog er den Unterleib nach, bis endlich gründliche Helligkeit Anz 
näherung des Tageslichtes andeutete. Alsbald wurden ſeine Be— 


— 113 — 


wegungen eiliger, ungeſtümer und leichter. Er brach endlich durch; 
ſtieg aus dem Grabe vor, und, bis zur Ohnmacht erſchöpft, ſank 
er am Rande deſſelben in ſich zuſammen. 

Zwiſchen zwei ſchroffen Bergen, deren Wurzeln einander be— 
rührten, befand er ſich in einer ſchmalen Schlucht. An der jähen 
Schneefläche des einen Berges erkannte er die breiteingeriſſene 
Furche der Lauine, die er ohne Zweifel durch eigenen Sturz ver— 
urſacht hatte. Der andere Berg erhob ſich ſteil gegenüber, mit 
ſchieferartigen Steinlagern, die treppenförmig über einander hingen, 
oder tiefe Höhlungen bildeten, wie von Waſſerfluthen der Urwelt 
ausgewaſchen. Darüber lag ſchwarzer Tannenwald, deſſen größere 
Hälfte, von Stürmen oder Lauinen niedergebrochen, dürr und ver— 
witternd am Boden klebte, wie Halmen vom Hagelſchlag geknickt. 

Der Schützenhauptmann bewunderte ſchaudernd die Erhaltung 
ſeines Lebens und ſeiner Glieder, welche er von Zeit zu Zeit un— 
gläubig betaſtete und ſtreckte. Aber ſogar die Korbflaſche, die an 
ſeiner Seite hing, war unzerſchlagen geblieben. Die Hände ge— 
faltet, ſandte er einen Blick des Dankes, den ein Seufzer be— 
gleitete, zum Himmel. Dann ſuchte er irgendwo Ausgang des 
Felſenſchlundes, in welchen ihn ſein guter Engel wundenlos hin— 
abgetragen hatte. Ein kleiner Waldſtrom leiſtete den Dienſt des 
Wegweiſers. Dieſer Bach, von Abſatz zu Abſatz ſeines Felsbettes 
Waſſerfälle bildend, tobte zwiſchen Schneehaufen und Klippen, 
unbekannten Gegenden zu. 

Die Wanderung durch den wüſten Schlund machte ſich nicht 
ohne Mühſeligkeit. Bald ward die Felſenſpalte fo eng, daß der 
Wogenflut des Bachs kaum Durchgang blieb. Bald wieder ver— 
rammelten ungeheure Steinblöcke den Weg. Schon war die Nacht 
eingebrochen, ehe Flavian beim Sternenſchein und Schneeleuchten 
gewahren konnte, daß er endlich ins offene Land gelangt ſei. Ohne 
zu wiſſen, wohin? ſchritt er vor, vielleicht neuem Unglück ent— 

Zſch. Nov. XI. 8 


— Mi — 


gegen. Obwohl ihm ſchon, von Jugend her, ähnliche Abenteuer 
auf Gemsjagden im heimathlichen Gebirg keineswegs fremd ge— 
blieben waren, wankte dennoch zuweilen ſein Muth, wenn er 
dachte, daß er nun von einem durch Sieg und Niederlage empör— 
ten Volk Obdach und Herberge verlangen ſolle. 

Er mochte faſt eine Stunde Wegs zurückgelegt haben, als er 
vor ſich im Schnee eine Menge menſchlicher Fußſtapfen entdeckte. 
Eutſchloſſen folgt’ er der Spur, die ihn doch jedenfalls zu einer 
bewohnten Gegend führen mußte. 


23. 
Alte Bek a n nt f art 


„Ho! Ho! Dima mi, nu ei la via? Ju hai fe eriu!“ tönte 
unerwartet ſeitwärts, aus der Dunkelheit, eine Stimme herüber. 

Faſt erſchreckt und doch freudig, ſchrie Flavian durch die 
nächtliche Stille zurück: „Wer da?“ 

„Halt, Kerl!“ ließ ſich die vorige Stimme wieder in deutſcher 
Sprache vernehmen: „nimm mich mit dir, wenn du auf rechten 
Wegen gehſt. Ich laufe ſchneeblind in der Irre. Warum, Ihr 
Teufelsnarren, ließet Ihr mich im Stich, als Ihr mich von den 
vermaledeiten Franzoſen fortgeſchleppt ſaht? Hätt' ich den Steg 
über den Bach nicht, wie ein Mann, vertheidigt, ſäßet Ihr alle— 
ſammt ſchon in Teufels Rachen. Steh', Kerl, ſag' ich dir! Meinſt, 
der Franzoſe ſei dir noch auf den Ferſen? Hat's ja keine Noth 
mehr mit dem Schelmenpack. Es iſt, wie toll, durch einander über 
den Berg zurückgeſprengt, als lief es mit Siebenmeilen-Stiefeln.“ 

„Nur heran!“ rief der Schützenhauptmann, bei der uner⸗ 
warteten Botſchaft von Lolſons Rückzug zuſammenfahrend und 


— 15 — 


ſeinen Schritt verdoppelnd: „Strenge lieber die Beine, als die 
Zunge an!“ 

„Hol' der Henker dich und deine Zunge!“ rief der Andere: 
„Ein lahmer Hund behält noch zum Laufen drei Beine; mir aber 
hangen nur zwei am Rumpf, davon eins marode, das andere vom 
Luftſprung verrenkt iſt; ja, von einem Luftſprung, den mir der 
Teufel ſelber nicht nachmacht. Ein Satz von der Flue, fünfzig 
Schuh tief, iſt bei meiner armen Seel' kein Spaß. Die Franzoſen 
ſelbſt ſperrten Maul und Naſe auf, als ich entwiſchte, und pfiffen 
mir ein Abſchiedslied, mit ihren Kugeln, um die Ohren.“ 

Hier näherte ſich hinkend die Geſtalt eines ſtämmigen Bauer— 
mannes. Sie hängte ſich ſogleich, mit beträchtlichem Gewicht, 
an Flavians Arm. 0 

„Alſo die Franzoſen ſind geſchlagen, ſind zurückgejagt?“ fragte 
dieſer neugierig. 

„Hei, die haben vor uns hertanzen müſſen, wie das Vieh in 
den Alpen vor einem Gewitter!“ antwortete der Bauer lachend. 
„Ich wette, die hungern ſo wenig mehr nach Tavetſcher Milch— 
brei, als ihre Kameraden, die todt im Schnee herumliegen. Das 
war mir eine Schlacht und ein Schlachten, und Jeder von uns 
ein Bonaparte.“ 

Während der Tavetſcher Held unermüdet von Loiſons Nieder— 
lage und der Tapferkeit der Sieger erzählte, überdachte Flavian 
das Gefahrvolle ſeiner gegenwärtigen Lage. Wehe ihm unter ſeinen 
ſiegtrunkenen, wild aufgeregten Landsleuten, wenn entdeckt ward, 
daß er mit den Franzoſen eingedrungen ſei! Er mußte das Loos 
des Vaterlandsfeindes und Hochverräthers erwarten. Nichts konnte 
ihn in dieſen Stunden gegen Verdacht ſchützen, als ſein bäuriſcher 
Anzug; und natürlich war er des glücklichen Zufalls froh, der ihn 
ſo eingekleidet hatte. An Flucht war nicht mehr zu denken. Er 
ſtimmte daher in die ſtolze Freude des Bündners über Loiſons ver— 


— 16 — 


unglücktes Unternehmen, und prophezeite neue Triumphe über die 
Unterjocher der Schweiz und Italiens. Doch inmitten des Ge— 
ſprächs mit dem hinkenden Begleiter blieb dieſer plötzlich ſtehen, 
und rief: „Alle Donner! das klingt mir abſonderlich ums Ohr, 
oder ich bin verhert. Ich will, mein Seel', nicht Uli Goin ſein, 
wie ich leibe und lebe, wenn Ihr nicht Hauptmann Prevoſt ſeid.“ 
Er duckte ſich bei dieſen Worten näher gegen das Geſicht des über— 
raſchten Hauptmanns, um es im matten Zwielicht des Sternen— 
ſcheins zu erkennen. 

„Dacht' ich's doch,“ rief Flavian hochfroh: „du könnteſt es 
ſein, ehrlicher Uli. Aber ich traute meinem Glück nicht. Sei 
willkommen!“ 

„Tauſendmal! Herr Hauptmann!“ jauchzte Uli und zerquetſchte 
faſt mit gewaltigem Händedruck die Hand ſeines Gönners. „Hab' 
ich doch ein Glückshäublein mit auf die Welt gebracht! Wir hal— 
ten's fürwahr, wie die Fledermäuſe, und begegnen uns immer zur 
Nachtſtunde. Wißt Ihr noch vorigen Herbſt auf der Lenzerhaide? 
Aber hätt' ich Katzenaugen, ich würd' Euch diesmal nicht erkannt 
haben. Ihr kommt da veroberländert, wie unſer Eins. Alſo 
waret Ihr mit in der Schlacht? Gelt, wir haben die Bälge die— 
ſer Stall- und Kellerratzen wohl eingepfeffert! Nun ſagt doch, 
ſeid Ihr geſtern oder heut von Chur oder anders her zu uns ge— 
ſtoßen?“ 

„Ich war auf dem Weg hieher von Uri,“ antwortete Fla— 
vian: „ward aber von den Franzoſen genommen und, als Ge— 
fangener, mit fortgeſchleppt, bis ich einen Sprung nahm, wie 
du; eine verſchneite Berghalde hinunter fuhr und, wie ich zur Be— 
ſinnung kam, mich aus einer Lauine hervorgraben mußte. Sage 
mir nur, wo wir eigentlich ſind?“ 8 

„Ihr befragt einen blinden Rathsherrn, Herr Hauptmann. 
Ich weiß, beim Donner, nicht mehr, ob bei Rueras oder Sedun, 


all = 


bei Selva oder Ciamut, bei Camiſcholas oder Giuf. Aber tröſtet 
Euch. Wo hier Landes ein Steinhaufen Rauch gibt, liegt ein 
Feuerherd darunter. Seht, als der Teufel einſt mit einem Sack 
voller Häuſer hier vorbei flog, riß ihm der Piz Alv ein Loch 
hinein, daß er die Hütten über Thal und Berg verſchüttete. Aber, 
Herr Hauptmann, ich bin Eurer Meinung, und ſäße lieber mit 
Euch wieder am vollen Tiſch der hübſchen Wirthin von Lenz, 
ſtatt hier im Froſt und Schnee herum zu hinken. So fetten 
Schmaus, wie damals, halten wir freilich heute nicht. Der Gäſte 
ſind zuviel und wir kommen an, wenn abgetiſcht ſein wird.“ 

„Haben die Franzoſen auf dem Rückzug viel Mannſchaft ein— 
gebüßt?“ fragte der Hauptmann, begierig, die nähern Umſtände 
des Treffens zu erfahren. 

„Ich,“ antwortete Uli: „ich allein habe ein halbes Dutzend 
niedergemacht, das ſchwör' ich! Wären fie nicht behender, denn 
Geiße, über die Crispauſa hinaufgeſprungen, beim Donner! alle 
hätten wir abgeſchlachtet, daß Wölfe und Bären des Landes über— 
ſatt gehabt haben würden. Und verſtänden ſich nicht viele dieſer 
Ketzer auf ſchwarze Kunſt, müßte jeder von ihnen mehr Löcher 
im Leib haben, als ein Sieb. Wir ſchickten ihnen ein paar Mil— 
lionen Kugeln in die Rippen; wenn die davon abprallten, war's 
unſere Schuld nicht. Denn beſſere Schützen, als zwiſchen Luk— 
manier und Crispalt, findet man in Europa nicht. Aber im 
Sommer gebt Acht, wird man in Tobeln und Klüften, an Felſen 
und Büſchen, mehr Franzoſengerippe hangen ſehen, als Zapfen 
an Tannen. Todt oder halbtodt, was von den Franzmännern nicht 
mitlaufen konnte, ward von den Blauröcken ſelber in die Abgründe 
geſchleudert, wie Flößholz.“ 

„Still! Hörſt du in der Ferne Trommelſchlag, Uli?“ 

„Das find unſere Leute, Herr Hauptmann, und wir, heißa 
juchhe! auf dem rechten Weg. Vorwärts! Die Schneeſtraße wäre 


— 118 — 


nicht übel, paßte nur mein linkes Bein beſſer darauf. Halt! 
beim Donner, nein! Horcht! Das iſt öſterreichiſches Kalbfell! 
Ich wollte, die Schlucker trommelten ſich morgen ebenfalls zum 
Lande hinaus. Wir nehmens allein mit ganz Frankreich auf.“ 

„Wie, Uli Goin? Biſt du kein Freund der Kaiſerlichen?“ 

„Ich? Warum nicht, Herr Hauptmann? Ich kenne ſie ja. 
Es ſind brave Leute, ſcheuen Höll' und Teufel nicht. Prächtige 
Huſaren, prächtige Grenadiers; Schnurrbärte, wie Fuchsſchwänze; 
Mützen, wie Butterfäſſer! Alles ohne Tadel. Nur einen Fehler 
haben ſie am Leibe, das iſt ihr Maulwerk. Der Himmel erbarme 
ſich unſerer Rauchfänge und Speckſeiten, Käſegaden und Keller, 
wenn man dergleichen Gäſte zu Tiſch hat. Der Meiſter ſoll noch 
erſchaffen werden, der ihnen das Loch zwiſchen Zahn und Zahn 
vermauern kann. Ich verſichere Euch, Herr — — —“ 

Hier unterbrach ihn ſein Begleiter mit dem Ausruf: „Ich 
ſehe Licht vor uns. Vermuthlich ein Dorf in der Nähe.“ 

„Richtig! Unfehlbar!“ betheuerte Uli Goin: „Ging mir's 
doch ſchon eine Weile um die Naſe, wie Duft von gebratenen 
Käſeſcheiben. Peſt, der linke Fuß! Hätt' er bald ſoviel Ver— 
ſtand, als der Magen, fo ſäßen wir ſchon vor einem Laib Brod 
und warmer Zukoſt.“ 

Er beſchleunigte hinkend ſeine Schritte an Flavians Arm. Der 
Weg ſenkte ſich abwärts zu einigen Häuſern, die immer deutlicher 
aus der Finſterniß hervorſtiegen. Neben einem der Gebäude war 
ein Haufe bewaffneter Bauern verſammelt, matt vom röthlichen 
Licht der hellen Fenſter beſchienen. Uli Goin ſchaute links und 
rechts umher, die Ortſchaft zu erkennen. „Gut!“ rief er: „nur 
noch ein Dutzend Schritt weiter! Ich kenne den Gilg Daniffer! 
Er ſoll uns Quartier geben. Vorſorge trägt mehr ein, als Nach— 
ſorge. Kommt!“ 

Sie wanderten weiter, mehrern Häuſern vorüber, aus denen 


5 re 


lautes Leben der Menſchenmenge ſcholl, die fih nach Mühen und 
Gefahren des Kampftages militäriſch eingelagert hatte. Endlich 
wandte Flavians Führer den Schritt gegen ein langes hölzernes 
Gebäude von geräumigem Umfang. Beide traten hinein durch 
ein Gedränge herausgehender und ankommender Landleute. Alles 
ſchwatzte, lachte und jodelte durch einander. Links und rechts ſah 
man durch offene Thüren hellerleuchtete Stuben, mit Männern 
und Weibern angefüllt. Eine Geige, eine Clarinette, eine Quer— 
pfeife klang fröhlich aus der einen hervor, und auf den bretternen 
Dielen des Bodens ward der Takt dazu, von Füßen der Tanzen— 
den, geſtampft. — Dahinein, alles Schmerzes ſchnell vergeſſen, 
zog Uli Goin ſeinen Gefährten und ſagte: „Hier geht's luſtig 
zu, wie am Jahrmarkt von Jlanz, und Hans iſt wieder im obern 
Gaden. Das laß ich mir gefallen! Zur Noth kann ich wohl auch 
noch auf einem Bein mitſpringen. Aber, Herr, vor Allem erſt 
will ich billigermaßen für das Wichtigſte ſorgen, womit man Leib 
und Seele wieder zuſammenflickt. Erwartet mich einen Augen— 
blick hier. Gilg Daniffer muß herhalten, und wär's ſein letztes 
Bröslein.“ 

Er hinkte davon. Flavian, noch zu ſchwer von den Erlebniſſen 
des Tages ergriffen, fühlte ſich in dem lärmenden Getümmel nichts 
weniger als behaglich. Die Mehrheit derer, die hier in ausge— 
laſſener Luſt tobten und jauchzten, war nur noch vor Kurzem im 
Angeſicht des Todes geſtanden, und kaum erſt aus dem Blutwerk 
zurückgekehrt. Viele taumelten, mehr von Wein oder Brannt— 
wein, als von Siegesfreude, berauſcht; während bald dort, bald 
hier eine alte Frau, ein junges Weib ſtillweinend, mit blaſſen, 
zitternden Zügen der Angſt durch das Gewühl ſuchend und fragend 
drängte, nach Gatten, oder Sohn, oder Bruder forſchend, der 
nicht wieder zurückgekehrt ſei. 

Weit ſchauerlicher, als dies Schauſpiel von toller Luſt und 


Er 


banger Sorge, ward ihm ein anderes. Als er durch den dichten 
Haufen vortrat, welcher die Tänzer umringte, ſah er auf einem 
runden Block, fünf oder ſechs franzöſiſche Soldaten, mit gebundenen 
Füßen, in zerriſſenen Uniformen, oder halb entkleidet, ſitzen; 
Rücken gegen Rücken gekehrt; ſämmtlich von einem Seil mehrfach 
umſchlungen. Um ſie her wälzten ſich die tanzenden Paare in 
luſtigen Schwüngen und Sprüngen, unter rauſchendem Gelächter 
der Zuſchauer. Die Gefangenen ſaßen bleich und matt da, mit 
gebeugtem Antlitz vor ſich hinſtierend, wie wenn ſie die Tiefen 
ihres Elendes erſehen wollten, oder im Geiſt den verlaſſenen El— 
tern und Geliebten in der Heimath Valet ſagten. Dann und wann 
blickte Einer, mit wehklagenden Augen, himmelwärts, als ſuch' 
er Troſt von oben; ein Anderer rollte düſter die Augen umher 
gegen das raſende Getümmel, und feine Geberde ward Fluch. 
Niemand verſtand die Sprache der Unglücklichen, in der ſie klagten 
und baten. Aber auch ſie verſtanden die Worte der romaniſchen 
Zungen nicht, von denen ſie verhöhnt wurden. 

Der Schützenhauptmann ſtand lange, betäubt vom Entſetzen. 
Es ward ihm, als ſei er aus der Mitte des europäiſchen Welt— 
theils jählings, durch einen böſen Geiſt, in jene fremden Wild— 
niſſe verpflanzt, wo Neger, oder kupferfarbene Indianer frohlockend 
ihre fürchterlichen Tänze um die gefangenen Feinde halten, welche 
langſamen Qualen des Todes geweiht ſind. Er war im Begriff, 
die verzweifelnden Schlachtopfer anzureden, oder ihr Fürſprecher 
bei den grauſamen Siegern zu werden, als ihn eine ſtarke Fauſt 
von hinten ergriff und zurückzog. 

Es war Uli Goin, der laut rief: „Herr Hauptmann, hier iſt 
unſers Bleibens nicht; denn alle Kübel ſind leer. Alſo laßt uns 
anderswo Futter betteln, oder ſtehlen; es iſt aber da bös ſtehlen, 
wo der Wirth ſelber ein Schelm iſt.“ Ein derber Fauſtſchlag auf 
den Rücken des Sprechenden unterbrach die Rede. Uli ſah trotzig 


— 1 — 


um; und hinter ihm ſtand breit und vierſchrötig ein lachender, 
alter Bauer, deſſen weiße Haare verwildert um ein volles, röth— 
liches Geſicht niederhingen. Flavian erkannte in ihm, und an der 
Narbenwulſt über Naſe und Wange, den Mann, deſſen und Loi— 
ſons Dolmetſch er, vor Anfang des Gefechts, hatte ſein müſſen. 

„Du ſelber Schelm und Schuft, und lüderlicher Habenichts 
von Hauſe aus!“ lärmte der Benarbte lachend den Uli Goin 
an: „So viel Freſſer, wie heut, machen auch eine Königsküche 
arm.“ 

„Höre, Gilg Daniffer, entgegnete Goin freundlich: „Laß 
mit dir reden! Wir begehren nichts umſonſt, und du weißt, Geld 
im Sack duz't den Wirth.“ 

Aber der Alte hörte nicht weiter auf ihn. Er beäugelte mit 
großer Aufmerkſamkeit den Schützenhauptmann von allen Seiten 
und rief dann: „Sieh da, Burſch, biſt du es wirklich? Alſo doch 
den welſchen Hunden, die dich bewachten, glücklich entwiſcht! 
Recht ſo! Nicht wahr? Schwarz Brod und Freiheit! Gelt, du 
hungerſt, wie dieſer Wehrwolf da, der vom Hals weg nichts, 
als Magen iſt? Komm, bei mir ſoll ein braver Bündner nicht 
Hungers ſterben! Folge mir ins Küchenſtüblein, mein Burſch! 
Und du, Uli, darfſt auch mitkommen, damit du dich nicht am 
Ende ſelber auffriſſeſt.“ 

Uli Goin ließ ſich nicht lange bitten; gab mit zufriedenem 
Schmunzeln dem Spötter einen dankbaren Hieb auf die breiten 
Achſeln; und Flavian folgte Beiden durch die Küche in ein enges 
Kämmerlein. „Hier, wenn Ihr keine beſſere Herberge wiſſet, kön— 
net Ihr auf den Bänken Nachtlager nehmen!“ ſagte der wirth— 
liche Volksmann, indem er einen Haufen Ueberbleibſel von Bro— 
den und Käſeſtücken, und einige Brocken geräucherten Fleiſches, 
nebſt einer halbleeren Branntweinflaſche, auftiſchte. Dann ent— 
fernte er ſich. 


ee 


Uli ſchaute ihm mit gerunzelter Stirn grollend nach und mur— 
melte: „Beim Donner! Das iſt ein Mahl, wie man es wohl 
läſtigen Hunden, aber nicht Männern vor die Beine wirft, die 
von Heldenwerken heimkehren!“ Indeſſen griff er doch zu; die 
menſchliche Natur beſiegte bald den nicht ganz ungerechten Zorn 
ſeines Herzens. Nicht beſſer erging's dem Schützenhauptmann, 
ſo betäubt, oder empört, er auch von den Geſchichten des Tags 
und den Unmenſchlichkeiten ſein mochte, deren Zeugen er eben vor 
wenigen Augenblicken geweſen. Nachdem Beide verzehrt hatten, 
was Eßbares auf dem Tiſche, von einer ſchmutzigen Lampe be— 
leuchtet, war, ſtreckte ſich, Einer, wie der Andere, übermüdet auf 
dem Boden aus, den Schlaf zu erwarten. ö 

Vor Flavians geſchloſſenen Augen gaukelten traumähnlich die 
Bilder der jüngften Stunden: kämpfende Haufen, Lauinen, Pul— 
verdampf, Nebel und Wildentänze. Bald ſchwamm Alles zer— 
floſſen durch einander, und nur die fortgellende Muſik im Hauſe 
regte zuweilen in ihm noch Traumbilder freundlicher Art an. Er 
wandelte, war's ihm, wie im Glanze von hundert leuchtenden 
Kerzen durch weite Ballſäle, ſuchte im Gewühl reichgeſchmückter 
Damen die ſchöne Elfriede von Marmels, oder ſchwebte mit Sa— 
binen im Walzer ſelig dahin. 


24. 
Die [u rede liiche 


Ein erſchütternder Schlag, oder Knall, weckte und ſchreckte 
nach einigen Stunden die beiden Schläfer aus ihrer Ruhe unan— 
genehm auf. Sie fuhren mit den Augen umher. Das Kämmer— 
lein lag in tiefer Finſterniß. Durch die blinden Scheiben eines 
kleinen Fenſters dämmerte Mondlicht. In irgend einem benach— 


a 


barten Gemache toſete dumpfes Geräuſch. Dann erſcholl durch— 
bohrender Schrei: „Au secours! au secours! Je me meurs! Mi- 
séricorde!“ — Dann Stille. 

Flavian glaubte Röcheln eines Sterbenden zu hören. Er 
ſprang mit Entſetzen empor und lauſchte umher. Plötzlich fiel ein 
Flintenſchuß, wie es ſchien, außer dem Hauſe, in den Straßen. 
Dem folgte verworrenes Getöſe durch einander lärmender Stimmen. 

„Uli, Uli, hier geht Unglück um!“ rief Flavian und tappte 
zur Thür hin; dann durch die dunkle Küche in den Hausgang. 
Hier erblickte er den Gilg Daniffer, den Hauswirth, der, in der 
Hand eine Lampe, bleich, mit ſtarren, hervorgequollenen Augen, 
wie ein rieſiges Geſpenſt umherſchwankte. Seine Lippen bebten; 
blieben aber tonlos auf Flavians wiederholte Fragen. 

„Steht Rede!“ ſchrie der Hauptmann noch einmal, und warf 
ſich dem Wirth in den Weg, der fortwährend einem empfindungs— 
loſen Nachtwandler glich: „Was gibt's draußen, oder in 
Euerm Haufe? Iſt's nächtlicher Ueberfall? Es waren Flintens 
ſchüſſe!“ 

Daniffer erhob langſam den Arm, ſtreckte den Zeigefinger vor 
und deutete ſtumm hinter ſich gegen das Zimmer, in welchem man 
Abends vorher getanzt hatte. Durch die offene Thür deſſelben 
leuchtete mattes Licht hervor. Der Jüngling flog dahin, und 
hinein. Da ſtanden noch wenige Bauern beiſammen, auf ihre 
Flinten gelehnt; der Eine gähnend, der Andere lachend; ein 
Dritter lud ſchweigend ſein Gewehr. Sie grinſeten dem Ankom— 
menden dummgaffend ins Geſicht, ohne ſein Fragen zu beobachten. 
Einer von ihnen, den er am Arm rüttelte und ins Ohr ſchrie, 
lallte endlich mit ſchwerer Zunge: 

„Abgemacht! Tanz vorbei, und wohl bezahlt, ſiehſt du?“ 

Prevoſt ſtarrte die Menſchen verwundert an, die ſeine Reden 


u 


nicht zu verſtehen ſchienen. „Es ift noch Pulverrauch!“ rief er: 
„Warum ward geſchoſſen?“ 

„Krieg, du Narr!“ erwiederte der Gewehrlader, der durch 
Por: und Rückſchwanken des Leibes genugſam feinen Zuftand ver— 
rieth: „Hei da! Pulver auf die Pfanne! Schlagt an, Feuer! 
Alles nieder, mauſetodt!“ 

Indem der Hauptmann unruhig im Halbdunkel des Zimmers 
umherblickte, bemerkte er am Boden etwas Menſchenähnliches 
liegend. Er ergriff die Lampe und leuchtete nieder. Es war ein 
franzöſiſcher Soldat, mit dem Geſicht erdwärts gekehrt, unter 
deſſen Leibe das Blut hervor floß. 

„Mörder!“ ſchrie Flavian mit Eutſetzen die Bauern an: 
„Was habt Ihr gethan! Einen Kriegsgefangenen umgebracht? 
Was hat er verbrochen? Ihr Männer, packt dieſen Böſewicht 
und führt ihn auf die Wacht. Fort mit ihm!“ — Als ſich Kei⸗ 
ner bewegte, und Alle ihn gleichgültig anglotzten, ſtreckte er den 
Arm nach jenem aus, deſſen Flinte entladen war. Der Trunken— 
bold aber taumelte zurück, und ſtürzte rücklings über dem bluten— 
den Leichnam zu Boden. 

Beiſtand herbeizurufen, rannte Prevoſt zur Thür, wo ihm zwei 
andere eben ſo trunkene Kerls, vom Hausgang her, entgegen 
traten und jauchzten. „Luſtig, ihr Mannen!“ ſchrie Einer von 
ihnen. „Ihr ſeid alſo fertig? Wir haben's gehört. Der Un— 
ſrige drinnen in der Kammer ſtreckt ebenfalls alle Vier von fich. 
Kommt, kommt! Courage, ſagt der Franzos! Schaut her!“ 
Bei dieſem Worte hob der Kerl ein Meſſer in blutiger Fauſt: 
„Alle, Alle ſollen daran; Keiner lebendig nach Diſentis entkom— 
men. Wo ſind ſie, die Uebrigen? Schon fortgeführt? Auf, 
ihnen nach! Mir nach! Mir nach!“ 

Damit ſchwenkt' er ſich und zum Haus hinaus. Sein Begleiter 
that, wie er. Flavian, voller Entſetzen, und empört von den 


— 13 — 


Gräßlichkeiten, die er geſehen und gehört, ſchritt den Mordluſti— 
gen mit klopfendem Herzen nach. Es blieb ihm kein Zweifel, es 
war um Niedermetzelung der unglücklichen Kriegsgefangenen zu 
thun. Er ſchmeichelte ſich kaum, Rettung bringen zu können. 
Doch wandte er ſich hinaus, ohne zu wiſſen, wohin? Nach eini— 
gen Schritten gewahrte er ſeitwärts im blutbeſpritzten Schnee die 
Leiche eines franzöſiſchen Kriegers ausgeſtreckt. Jach blitzte wie— 
der heller Schein über den Todten und die naheftehenden Hütten. 
Knall eines Flintenſchuſſes im gleichen Augenblick. Nun richtete 
er ſeinen Schritt der Gegend zu, von wannen der Schuß gefallen 
war. Da ſtand ein dichtgedrängter Haufe Bewaffneter, vermiſcht 
mit Weibern und Kindern. In der Mitte des Schwarms brannte 
am Boden eine Laterne. Er arbeitete ſich ungeſtüm durch die 
ſchweigende, gaffende Menge, während in romaniſcher Sprache 
ein Einziger mit feierlicher Stimme redete, dem Alle zuhorchten. 

Bis zum innern Kreiſe endlich vorgedrungen, begegnete dem 
Blick des Hauptmanns abermals neuer Gräuel. Ein erſchoſſener 
Soldat lag noch zuckend am Boden. Neben demſelben kniete, 
mit auf den Rücken gebundenen Händen, ein Anderer der Kriegs— 
gefangenen. Es war ein ſchöner Jüngling, bleich in Todesangſt, 
zitternd im Froſt der ſchaurigen Nacht, von ſeiner Uniform halb 
entkleidet. In den rohen Zügen der Umherſtehenden aber wohnte 
keine Spur des Mitleidens; nur Neugier, oder zuweilen heimlich— 
lächelnde Bosheit. Die Blicke der Verſammlung waren abwech— 
ſelnd bald auf die im Schnee liegenden Schlachtopfer, bald zu 
zwei neben einander ſtehenden Benediktinermönchen gekehrt. Einer 
von dieſen redete in der Landesſprache des Thals, und, wie es 
ſchien, ſehr bewegt, mit bittender Geberde und Stimme. Als er 
geendet, brüllte aus dem Haufen Jemand romaniſche Worte, denen 
Viele der Anweſenden Beifall murmelten, wobei ſie ſich einander 
links und rechts zunickten. 


— 126 — 


„Still, meine Freunde!“ gebot der zweite Mönch, welcher 
bisher geſchwiegen hatte. Es war ein kleiner, alter Mann, von 
ehrwürdigem Anſehen: „Laßt auch mich, im Namen Gottes und 
der gebenedeiten Jungfrau, zu Euch ſprechen, eh' Ihr noch ein— 
mal Menſchenblut vergießet, das um Rache zum Himmel ſchreit 
über Euch und Eure Kinder. Höret mich an!“ 

Doch er bat umſonſt. Es erhob ſich in der Menge, mit un— 
ruhiger Bewegung, wildes verworrenes Murren, welches von 
Augenblick zu Augenblick ärger tobte, bis eine gewaltige Stimme 
fluchend dazwiſchen donnerte und Schweigen gebot. Es war die 
furchtbare Kehle Uli Goin's, die ſich hier vernehmen ließ. „Stille! 
Stille!“ brüllte der rieſige Herold, der Alle überſchrie: „Stille, 
oder der Donner Gottes roll' über Eure verfluchten Schädel herab. 
Höret die Worte unſers hochwürdigen Herren Pater Gregorius, 
die wohl ſo viel werth ſind, als das blutdürſtige Kreiſchen der 
Prahlhänſe da drüben!“ 

Die Verſammlung richtete ihre Augen auf den gewaltigen 
Rufer. Als er die Aufmerkſamkeit, oder das Befremden, der 
Menge wahrnahm, fügte er eben ſo kräftig hinzu: „Ihr Schla— 
raffen, was gafft Ihr? Ich ſage, wo ein tapferer Mann gegen 
Hundert ſteht, da iſt Muth; wo aber, wie hier, Hundert gegen 
Einen ſtehen, da iſt Feigheit. Ihr ſollt Reſpekt haben vor einem 
Prieſter des Herrn. Ja, ſchaut mich nur an, beim Donner, ich 
bin’s, Uli Goin, der es ſagt, und kein Anderer!“ 

Nun erhob der greiſe Mönch die Rede, als Stille eingetreten 
war: „Im Namen Gottes, feiner gnadenreichen Mutter und aller 
Heiligen, hat Euch Euer frommer Seelſorger, der hochwürdige 
Pater Vigilius Wenzein, ſchon um Barmherzigkeit für wehrloſe 
Kriegsgefangene angerufen. Ihr hörtet aber ſeinen Ruf und den 
Ruf des Himmels nicht. Euer Herz blieb verſtockt. Ihr hörtet 
nur auf Jubel und Beifallsgelächter der Hölle! — Wehe, über 


— m — 


Euch und Eure Kinder, fo wird die Hölle Eure Gräuelthat be: 
lohnen! Ihr habt Gott verlaſſen; ſo wird Gott Euch verlaſſen 
und Euch in die Hände der Feinde geben. Ihre Heerſchaaren 
werden mit verdoppelter Macht zurückkehren und Rache nehmen! 
Ich ſehe Eure Häuſer in Flammen, Eure Alpen verödet, und 
über Euern Leichen den Jammer von Wittwen und Waiſen! — 
O, Ihr im Namen Chriſti Getauften, wo ſind Chriſten unter 
Euch? Ihr Menſchengeſichter, wo ſind Eure menſchlichen Herzen!“ 

„Als ich einſt zu Euch aus fernen, deutſchen Landen kam, 
hofft’ ich, in dieſen Thälern wohne noch Einfalt, Unſchuld und 
Treue, welche in der übrigen Welt faſt ausgeſtorben iſt. Dieſe 
Nacht hat mich enttäuſcht und all' meine künftigen Tage in Nächte 
verwandelt. Ich ſehne mich zu ſterben. Tödtet mich alten Mann, 
denn Ihr lechzet noch nach Blut! Aber ſchont des Lebens von 
dieſem armen Jüngling! Dies iſt meine letzte Bitte. Erhöret ſie. 
Tödtet mich, dann will ich droben vor dem Thron Gottes um 
Gnade für Euch bitten; aber gebet Gnade dieſem Jüngling. Hal— 
tet ein mit Morden! Uebt Erbarmen, wenn Euch der Himmel 
Erbarmen gewähren ſoll.“ 

„Nein! nein!“ ſchrie eine Stimme im Haufen: „Unſer iſt die 
Rache! die welſchen Mörderbanden haben meinen Vater erſchoſſen! 
Unſer iſt die Rache! Sie haben mein Haus geplündert! Auf, 
auf, vertilgt die Teufelsbrut! Gedenkt der frühern Worte unſerer 
Prieſter, als ſie uns aufmahnten. Wir ſind Streiter und Werk— 
zeuge Gottes zur Vertheidigung der heiligen Religion gegen die 
Frevler und Ketzer. Nieder mit ihnen! Keine Gnade!“ 

Mehr vernahm man nicht. Raſendes Toben und Waffenge— 
räuſch verſchlang die Worte des Redenden. Der alte Benediktiner— 
mönch kniete neben dem zum Tode Verurtheilten nieder, und hob 
die Hände zum Himmel. Aber ein Mann ſprang in den Kreis, 
mit hochgeſchwungener Art, gegen den franzöſiſchen Jüngling. 


— 18 — 


Eben fo raſch jedoch flog der Schützenhauptmann dem Mordgieri- 
gen nach, ergriff ihn, und ſchleuderte ihn mit ſo kräftiger Fauſt 
fort, daß derſelbe ächzend zu Boden ſtürzte. Stürmiſch fuhr im 
gleichen Augenblick der Volkshaufe wuthheulend durcheinander. 
Mit Flintenkolben ward der Schädel des franzöſiſchen Gefangenen 
zerſchmettert. Ein Meſſerſtich durchbohrte Prevoſt's Schulter; ein 
Bajonetſtich ſeine Hüfte. Er fiel. Zu ſpät erſchien ihm zur 
Hülfe Uli Goin, der das Unglück bemerkt hatte, und den Bluten⸗ 
den erſt wiederfand, als ſich die Menſchenmenge verlaufen hatte, 
weil ſie dem im Jubel fortgeſchleppten Leichnam des jungen 
zoſen nachrannte. 

Die menſchenfreundlichen Benediktiner ließen durch einige Zu— 
rückgebliebene den blutenden Hauptmann in ein benachbartes Haus 
tragen. Sie löſeten ſeine Kleider; wuſchen ſeine Wunden; ſtillten 
mühſam durch Verbände das gewaltſam vorquellende Blut und 
ſuchten ſein Leben zurückzurufen. Uli Goin war bei Allem der 
Hülfreichſte und Troſtloſeſte. Vor Anbruch des Morgens, während 
im ſtillgewordenen Dorfe die Bauern ihren Rauſch verſchliefen, 
wurde der Schwerverwundete, des Bewußtſeins noch immer nicht 
fähig, nach Diſentis gebracht. Hier hatte die Herrſchaft des 
Schloſſes Caſtelberg ſchon vier bis fünf franzöſiſchen gefangenen 
Offizieren Zufluchtsſtätte gegeben. Auch Prevoſt empfing ſie, als 
ſich der Pater Gregori flehend für ihn verwendete. 


25. 
er p i ter üg 


Von langen Verblutungen erſchöpft, und von zahlreichen 
Quetſchungen wund, die Flavian im Gedränge der Bauern, oder 
von ihren Füßen zertreten, empfangen hatte, lag er den ganzen 


— 129 — 


Tag beſinnungslos. Mau fing an der Rettung des jungen Lebens 
an zu zweifeln. Uli Goin wich nicht vom Lager ſeines Wohl— 
thäters; und ſelbſt die allgemeinen Unruhen, welche an dieſem 
Tage das Thal erfüllten, erregten die Theilnahme des treuen 
Dieners nicht mehr. 

Es verbreiteten ſich Gerüchte durchs Land, Maſſena's Heer 
ſei ſiegend über den Rhein gedrungen, und beſtürme das gemauerte 
Vorwerk des Felſenpaſſes am Luzienſteig. Entfernter Kanonen— 
donner von Reichenau her, am Fuße des Kunkelſerpaſſes, ver— 
kündete deutlich, der Feind ſtehe auch dort auf dem Boden Grau— 
bündens. Der Landſturm ſchaarte ſich wieder zuſammen. Anton 
von Caſtelberg theilte wieder die Rotten der buntbewaffneten 
Volksmaſſen ab. Der Tag aber verging in Berathungen. 

Folgendes Morgens, es war der ſechste Märztag, lief die 
zweifellofe Schreckensbotſchaft ein, General Demont ſtehe wirk— 
lich bei Reichenau mit ſeiner Brigade; habe dort ein Bataillon 
Oeſterreicher gezwungen, das Gewehr zu ſtrecken, und ſende nun 
eine Abtheilung franzöſiſcher Truppen ſtromaufwärts längs dem 
Hochgebirg gegen Ilanz und Diſentis. Gleichzeitig erſcholl 
Nachricht von Wiedererſcheinung der Franzoſen mit verſtärkter 
Macht Loiſons aus Urſeren über die Oberalp herab, gegen Di— 
ſentis. Nun Zwietracht, Unentſchloſſenheit, Verzweiflung. Die 
Einen retteten ſich durch Flucht in benachbarte Hochthäler; Andere 
wollten noch ohnmächtigen Widerſtand verſuchen. 

General Loiſon rückte ohne nennenswerthen Kampf vor, und 
in Diſentis ein, wo ſeine Ankunft mit Jubel von den gefangenen 
Offizieren im Schloſſe Caſtelberg begrüßt ward. Der General 
ſelbſt begab ſich in dies Schloß, um der Gemahlin des Land— 
richters Caſtelberg ſeinen Dank zu bezeugen, welche die verwun— 
deten Hauptleute mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt geſchirmt 

Zſch. Nov. XI. 9 


a: 


hatte“). Er trat auch zum Schmerzenslager Prevoſt's. Er bes 
klagte gerührt des Jünglings bitteres Loos. Dieſer konnte nicht 
antworten. Er drückte ſtumm die Hand des Generals. Einen 
Augenblick glänzten ſeine Augen freundlich, im Gefühl der Er— 
kenntlichkeit, zum Feldherrn auf. Loiſon, nachdem er eine kleine 
Beſatzung im Dorfe zurückgelaſſen, eilte ohne Raſt weiter, ſich 
mit dem Kriegsvolk des Generals Demont zu vereinigen. 

Daß Maſſena, der ſchlachtenkundige Feldherr, binnen zwei 
Tagen, ganz Graubünden eroberte, die Hauptſtadt Chur beſetzte; 
daß er einen großen Theil der unter Auffenbergs Befehl geſtan— 
denen öſterreichiſchen Schaaren, und dieſen kaiſerlichen General 
ſelbſt, gefangen genommen, ſoll hier ſo wenig erzählt werden, 
als die Geneſungsgeſchichte Flavians, der noch allein, außer der 
Garniſon, in Diſentis zurückgeblieben war, da ſchon einer um 
den andern von den übrigen mit ihm gefangen geweſenen Offi⸗ 
zieren ſich nach Chur begeben hatte. 

Mit Hülfe der Kunſt eines franzöſiſchen Armeearztes, mehr 
noch der eigenen jugendkräftigen Natur, ward auch Prevoſt, nach 
einigen Wochen, der Wiederkehr ſeiner Geſundheit froh. Seine 
Wunden, die doch an ſich nicht lebensgefährlich waren, heilten 
allgemach; aber langſamer verlor ſich die bisherige Entkräftung. 
Unterdeſſen hatte ihn ein Wechſel auf ein Baſeler Handelshaus 
in Stand geſetzt, ſich anſtändig von Kopf zu Fuß neu zu kleiden 
und mit mancherlei andern Bequemlichkeiten zu verſehen. Pater 
Gregorius verſorgte ihn, zur Beſchäftigung in der Einſamkeit, 


) Die Offiziere ſtellten der würdigen Frau ihren Dank in einem ſchrift—⸗ 
lichen Zeugniß, mit Nennung ihrer aller Namen, aus, und vom Ge— 
neral Loiſon ſelbſt unterzeichnet. Dies Papier erwarb nachher dem 
Schloſſe, in ſchrecklichen Tagen, Schonung und Schutz von Seiten 
der franzöſiſchen Befehlshaber, 


— 131 — 


mit Büchern. Am liebſten unterhielt ſich der Geneſene in ge— 
ſellſchaftsloſen Stunden mit Briefen, die er wöchentlich ſeiner 
Schweſter ſchrieb. Im erſten derſelben hatte er ihr von ſeinen 
unglücklichen Abenteuern Nachricht gegeben, durch die er nach 
Diſentis verſchlagen worden. Aus den folgenden mögen einige 
Bruchſtücke, die zuweilen ſonderbaren Ereigniſſe oder Verhältniſſe 
des jungen Mannes, mit ſeinen eigenen Worten, ſchildern. 


26. 


Briefſtellen. 


— Du alſo, arme Sabine, in Trauerkleidern? Du ſchon in der 
vollen Blüthe des Lebens Wittwe? — ſchrieb er ſeiner Schweſter, 
da er, mit der erſten Antwort von ihr, zugleich die Nachricht vom 
Tode ihres Gemahls, des Barons von Schauenſtein, vernommen 8 
hatte. — Könnt' ich doch, ſtatt dieſes Papiers, zu dir fliegen; 
dich in meine Arme nehmen; dir die Thränen abtrocknen! Tröſtet 
es dich denn nicht auch ein wenig, daß ich noch vorhanden bin, 
und du nicht Doppeltrauer um Gatten und Bruder tragen mußt? 

Mich freut die fromme Ruhe, in welcher du mir von den letz— 
ten Augenblicken deines Gemahls erzählſt. Du läugneſt deine 
Thränen nicht. Sie ſind menſchlich, und fließen gewöhnlich weni— 
ger dem Mitleiden um den Todten, als dem um unſere zerriſſene 
Gewöhnungen. Dieſe ändern aber mit der Zeit, und darum wird 
die Zeit mit Recht auch die beſte Tröſterin geheißen. Das Ster— 
ben ſelbſt, glaub' ich, wird keinem Sterbenden ſchwer, ſo wenig 
als das Geborenwerden. Die Natur iſt immerdar eine Allgütige. 
In ihre ſchönſten Freuden legt ſie immer ein leiſes Weh; hin— 
wieder hüllt ſie Leiden und Schmerz wunderbarlich in ein mildes 


Wohlgefühl, durch welches uns fogar der Gram lieb werden kann, 
daß wir ihn nähren und feſthalten, obwohl er uns verzehrt. 

Sobald du dein Haus beſtellt, und dich wegen der Hinterlaſſen— 
ſchaft des Verſtorbenen, laut deſſen letzten Willens, mit den übrigen 
Verwandten auseinander geſetzt haſt, verlaß Wohnung, Schloß und 
Gegend, und Alles, was dir noch an die letzte Vergangenheit Er- 
innerungen weckt. Mit religiöſen und philoſophiſchen Troſtgründen 
kann man ſo wenig den Kummer um Verlorenes, als irgend eine 
Krankheit des Leibes heilen. Gram iſt Seelenkrankheit, an der 
auch Thiere leiden, wenn ihnen das zur Natur Gewordene ent— 
riſſen wird. Verlaß dein Haus; zerſtreue dich auf kleinen Reiſen. 
Stirb dem, was war, ab. Erinnere dich, daß du mir noch an— 
gehörſt, Sabine, wie ich dir! 

Wegen meiner Geneſung ſei doch ohne Kummer. Siehſt du ſie 
nicht ſchon dieſen Zeilen und den feſten Federzugen meiner Hand 
an, die im erſten Brief noch, wie du ſagſt, zitternd waren? — 
Zwar darf ich, wegen des wandelbaren, rauhen Aprilwetters, 
nicht hinaus ins Freie. Dürft' ich's: fo wär' ich ſchon bei dir. 
Aber ſogar, wenn du ſelber bei mir wäreſt, könnt' ich keiner auf: 
merkſamern Pflege genießen, als in dieſer alterthümlichen, finſtern 
und doch ſo gaſtfreundlichen Burg mir zu Theil wird. Die Frau 
von Caſtelberg, eine fromme, ehrwürdige Dame, nimmt ſich 
meiner mit Zärtlichkeit einer Mutter an. Seit einigen Tagen iſt 
mir ſchon geſtattet, Mittags an ihrer Tafel zu ſpeiſen und den 
Nachmittag in ihrer Geſellſchaft zu verleben. Gewöhnlich finden 
ſich dazu einige geiſtliche Herren aus dem hieſigen Kloſter ein. 
Es ſind gute, in ihrer Art recht kenntnißvolle Männer, von 
wiſſenſchaftlicher, wenn auch klöſterlich-einſeitiger Bildung. Ber 
ſonders gefällt mir der alte Dekan Baſilius Veith, der menſchen— 
freundliche Pfarrer von Sedrun, ſowie Pater Vigilius Wenzein; 
am meiſten aber mein lieber, greiſer Philoſoph, Pater Gregorius, 


— — \ 


den ich dir ſchon im erſten Brief bezeichnete, mein Lebensretter, 
der nun aber beſtändig mit mir zankt, ohngefähr wie du, Liebe, 
zu zanken pflegſt. 

Das Schloß ſelbſt, wiewohl erſt dreihundert Jahre alt, iſt, 
von außen, eine graue, düſtere Steinmaſſe; Fideicommiß des 
Hauſes Caſtelberg; von innen aber doch gar lieblich und wohnlich. 
Es liegt, wie ein grauer, verblichener Steinhaufen, ganz in der 
Nähe des Dorfes, oder Marktfleckens, auf mäßiger Anſchwellung 
des Bodens, und wird ſammt den Wirthſchaftsgebäuden von einer 
halb zerfallenen, zackigen Ringmauer umgürtet. Dieſe iſt niedrig 
genug, um mir vom Fenſter meines Zimmers, über die Wieſen, 
den Anblick der Umwallung von Hochgebirgen, oder die Ausſicht 
auf die weißen Mauern des großen, hochgelegenen Kloſtergebäudes, 
nicht ganz zu verrammeln. 

Seltſam dünkt's mich, daß mich die Kriegsabenteuer in dieſe 
abgelegene Gegend, als Gefangenen und Verwundeten, verſchlagen 
haben, von welcher unſere Mutter ſo oft mit ganz wunderbarer 
Begeiſterung zu ſprechen pflegte; wo ſie die ſchönſten Tage ihres 
jungfräulichen Lebens genoſſen; wo ſie aus den Händen des von 
ihr hochgefeierten Abtes Kathomen die Roſe von Diſentis, wie 
du ſie gern nennſt, für ſich und ihren Bräutigam empfangen hat. 
Aber noch ſeltſamer iſt, daß ich hier meine in Wien verlorne Roſe, 
mein Medaillon, wieder erblickt zu haben glaube, und noch dazu 
in Elfriedens Hand. Mag's Fiebertraum ſein. Ich kann die Vor— 
ſtellung davon nicht wieder wegdrängen. Immer kehrt ſie wieder. 
Faſt möcht' ich, du liebe, herzige Schwärmerin, mit dir ſchwär— 
men; an jene Geiſterſtimmen glauben, die du zu hören meinſt, an 
das Ueberſchwimmen und Verſchweben unſerer Seele in die allge— 
meine Weltſeele, wodurch uns Vergangenes zur Gegenwart, Ent— 
ferntes nahe, und Unſichtbares ſichtbar wird. Höre nur, und ob— 


— 91 — 


ſchon du jetzt wohl nicht zur Heiterkeit geſtimmt fein magft, zwingt 
dir meine Viſton vielleicht ein ganzes kleines Lächeln ab. 

Daß mein General Loiſon, bei ſeinem Zuge durch Diſentis, 
auch in unſerer altersgrauen Burg Einkehr gehalten, hab' ich dir, 
mein' ich, ſchon geſchrieben. Hätte man mir es nicht erzählt, wüßt' 
ich's nicht. Und doch ſagt man, ſoll er vor meinem Krankenlager 
geſtanden ſein; habe er mich beklagt, und ich, behauptet man, 
ſoll ihn erkannt und ihm meine Hand entgegengeſtreckt haben. Ich 
weiß nichts davon. Aber hier war er unläugbar. Die mir wohl— 
bekannte Unterſchrift feines Namens bezeugte es, die er der Dankes— 
erklärung der Offiziere gegen die edle Herrin des Hauſes beige— 
fügt hatte. 

Weſſen ich mich aber, nach dem erſten Wachwerden aus dem 
langen Ohnmachtsſchlaf, zu erinnern glaube, iſt eben jene ſonder— 
bare Viſion, jenes fieberiſche Geſpinnſt der Fantaſie, deſſen ich 
erwähnte. Ohne Zweifel ſchwankte ich damals noch zwiſchen Tod und 
Leben. Und doch, während mir im Gedächtniß Alles rein erloſchen 
iſt, was vor und nach der vermeinten Erſcheinung mit mir vor— 
gegangen ſein mag, iſt ſie allein hell in mir geblieben. 

Ich ſchlug eines Tages die ſchweren Augenlieder auf. Ein paar 
Sonnenſtrahlen fielen durch die weißen Umhänge des Fenſters, und 
in den Strahlen ſchwebten ein Paar weibliche Geſtalten, nicht 
weit von meinem Bett entfernt; eine ältliche Dame, blaſſen An— 
geſichts, die Hände zuſammengefaltet, die Augen mitleidig zu mir 
gewandt, und neben ihr ein ſchwarz gekleidetes Frauenzimmer, 
vom Scheitel bis zu den Füßen in einen langen Trauerflor gehüllt. 
Die Erſcheinung dieſer konnte aber weder Verwunderung, noch Neu— 
gier, noch auch nur die flüchtigſte Aufmerkſamkeit in mir anregen. 
In todtenhafter Ruhe lag ich da; ſah ſie, und meine Augen ſchloſ— 
ſen ſich wieder ſo unwillkürlich, als ſie ſich geöffnet hatten. 

Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging, bis ich abermals auf— 


— 135 — 


blickte. Wie ein ſchwarzes Luftbild ſtand nur allein noch die Ver— 
ſchleierte, ſtumm, bewegungslos. Sie ſchien ſich meinem Lager 
zu nähern. Darauf ging der Schleier, wie eine ſchwarze Wolke, 
zurück gegen eine ihrer Schultern. Nun ſah ich das Fräulein von 
Marmels, aber wie vom hellen Licht umfloſſen. Es waren wohl 
ihre zarten Züge, aber wie von Alabaſter geformt. Es zuckte keine 
Miene des ſchönen Geſichts. Doch fielen glänzende Thränentropfen 
über die Wangen. Die Erſcheinung hob die Hand, und zog etwas 
aus dem Buſen, und hielt mir's entgegen. Es war ein Medaillon. 
Es war die Roſe von Diſentis. Der Anblick änderte meine Ruhe 
nicht. In mir lag Alles kalt und ausgeſtorben. Meine Augen— 
lieder ſanken wieder zu. Kein Gedanke blieb mir von dem Ge— 
ſehenen übrig. Alles lag in vollkommener Vergeſſenheit, ſelbſt 
als ich allmälig nach mehrern Tagen genas und ſchon Vorſtellungen, 
Sprache und Kräfte wieder gewonnen hatte. Durch Uli Goin er— 
fuhr ich denn, was ſeit jener Mordnacht mit mir geſchehen war, 
und wo ich mich gegenwärtig befinde. 

Es war mein ſehnlichſter Wunſch, der Gebieterin des Hauſes, 
in welchem ich die reichſte Pflege genoß, Dank zu ſtammeln. Uli 
freilich verſicherte, ſie habe mich ſchon mehr denn einmal beſucht, 
um ſich von meinen Bedürfniſſen zu belehren, und für meine Be— 
quemlichkeiten Sorge zu tragen. Allein ich hatte keine Erinnerung 
mehr von ihrer Perſon. Der Arzt, ſobald er mich hinlänglich 
hergeſtellt glaubte, kündete mir endlich den erſehnten Beſuch der 
Frau von Caſtelberg an, und wirklich trat ſie eines Nachmittags 
in mein Zimmer und zu meinem Schmerzenslager. 

Nach den erſten freundlichen Worten von ihrer, und Betheu— 
rungen der innigſten Erkenntlichkeit von meiner Seite, konnt' ich 
die Augen nicht mehr von ihr wegwenden. Denn ſie war es, die— 
ſelbe war es, die ich ſchon neben der Verſchleierten geſehen hatte, 
nur wußt' ich nicht, wann? nicht, wie? ob jemals in der Wirk— 


— 


lichkeit, oder im Fiebergeträume? — Ich ſann vergebens umher 
und ward mir ſelber zum Räthſel. 

„Gnädige Frau,“ ſagt' ich halb im Scherz: „mir wird's, als 
fang’ ich bei Ihnen wieder an, krankhaft zu fantaſiren. Ich bitte, 
fühlen Sie mir den Puls.“ 

Sie that es lächelnd und meinte, der Puls gehe im gebühr— 
lichen Takt. 

„So hab' ich Sie unfehlbar ſchon früher geſehen, ſo deutlich, 
wie dieſen Augenblick. Ganz daſſelbe Geſicht voll Mitleids, die— 
ſelbe Geſtalt, dieſelbe Kleidung, wie damals.“ 

„Wann war das damals?“ fragte fie mit einer Art Verwun⸗ 
derung, die ich für Betroffenheit nahm. 

„Der Himmel mag's wiſſen!“ antwortete ich mit lebhafterer 
Neugier: „Mir ſcheint es, wie ſchon vor langer Zeit. Aber iſt's 
auch hier, in dem nämlichen Zimmer geweſen? Und mit Ihnen 
war eine junge Dame, im Trauergewand, ſchwarz verſchleiert. 
Sie iſt mir nicht unbekannt von Wien her; — ein Fräulein von 
Marmels. Sagen Sie, ich beſchwöre Sie: Iſt ſie, war ſie, was 
ich kaum glauben darf, in Diſentis?“ 

Die Frau von Caſtelberg hörte mich mit bedenklicher Miene, 
dann ein wenig kopfſchüttelnd an, fühlte mir abermals den Puls 
und fragte: „Ob mir wirklich wohl ſei?“ Sie wollte von dem, 
was ich geſehen zu haben meinte, nichts wiſſen; erkundigte ſich 
um das Fräulein; um allerlei Einzelnheiten, und behauptete zu— 
letzt, ich habe eine Viſion, oder eine Ahnung gehabt, ein Sehen 
in die Zukunft, wie es manchmal bei Sterbenden, oder in Nerven— 
fiebern der Fall ſei. 

Was ſagſt du, Sabine? — Ich wette, du biſt, ohne Bedenken, 
ganz der Meinung der Frau von Caſtelberg. Ich ſelber wage nicht 
zu entſcheiden, ob Blendwerk, ob Wirklichkeit. — — — 


1 
Fortſetzung des Tage buchs. 


Der Brief liegt noch da. Ich reiße Umſchlag und Siegel ab, 
und ſetze ihn fort; nicht eigentlich weil ich dringend Wichtiges für 
dich habe, ſondern um mit dir noch plaudern zu können. Meinen 
ehrlichen Freund Uli Goin kann ich nicht entbehren, und einer un— 
bekannten Hand vertrau' ich ungern für dich den Brief nach Chur 
an. Das Botenweſen zwiſchen Diſentis und der Hauptſtadt mag 
in ruhigen Zeiten nicht immer das zuverläſſigſte ſein, geſchweige 
in den Verwirrungen der Kriegstage. Es ſteht noch überall äußerſt 
unſicher hier zu Lande, und vielleicht unſicherer, denn jemals. 

Obgleich man, nach Maſſena's Einzug, in Chur alsbald eine 
proviſoriſche Regierung aus Männern der helvetiſchgeſinnten Partei 
aufſtellte; dann, im Namen des Bündnervolks, die Vereinigung 
mit der Schweiz forderte, welche nun ſeit einigen Tagen wirklich 
proklamirt worden ift*), trau' ich der trügeriſchen Stille nicht. 
Das trotzige Bergvolk, wenigſtens in den Oberlandsthälern hier, 
ſteht noch ſo ungebeugt da, als jemals. Du ſollteſt nur ſehen, 
wie ſich jeder Bauer, wenn er einem Soldaten der franzöſiſchen 
Beſatzung begegnet, trotzig aufſtreckt, und ihm herausfordernd ins 
Auge ſchaut, als wollt' er auf der Stelle ſich mit ihm meſſen, 
Mann gegen Mann. Man liest den tödtlichen Groll der Leute in 
jedem Zuge der wilden Geſichter. 

Ich ſehe für dieſe einſamen Hochwälder noch ſchwere Schickſals— 
ſtunden vor. Man ſpricht hier mit heimlichem Frohlocken von einer 
Schlacht und Niederlage der Franzoſen bei Stockach; vom Einzug 


) Die Unionsakte, unterzeichnet von zwei Commiſſärs der helvetiſchen 
Regierung und dem Präſidenten der proviſoriſchen Regierung von 
Bünden, war am 21, April von Luzern angekommen. 


= — 


des Erzherzogs Karl in Schaffhaufen, von feiner Proklamation an 
die Schweizer; von vielen Unruhen und Aufſtänden in den Kan— 
tonen gegen die franzöſiſchen und helvetiſchen Gewalten. Ich kann 
kaum daran glauben. N 

Und doch iſt's nicht zu läugnen, die Benediktiner der hieſigen 
Abtei empfangen ſtets und am ſchnellſten von allen Vorfällen die 
zuverläſſigſten Nachrichten; und, aus ihrem Kloſter, ſtrömen dieſe 
durch die Dorfſchaften umher. Es iſt merkwürdig, daß die from— 
men Mönche, die inner ihren gottgeweihten Mauern der Welt ent- 
ſagt haben, nach Welthändeln die lüſternſten ſind, und ihre Hände 
ſo gern ins politiſche Spiel mengen. Auch den Heiligen alſo 
ſchmecken verbotene Früchte am füßeften. Sogar mein ehrwürdiger, 
theurer Pater Gregorius iſt von dieſer aus dem Paradieſe ſtam— 
menden Sünde nicht ganz frei geblieben. Von ihm erfahr' ich 
Vieles, aber gewiß nicht Alles, was er weiß. „Es iſt böſe Zeit!“ 
äußerte er mir geſtern mit geheimnißvoller Miene: „Jede Stunde 
brütet neues Unheil aus; jeden Augenblick kann eine Miene ſpringen. 
Ich empfehle Ihnen Vorſicht. Wägen Sie jedes Wort ab, mit 
wem Sie auch ſprechen.“ 

Mir ahnet, wohin er zielt. Die Ermordung der franzöſiſchen 
Gefangenen, in jener Nacht vom 4. zum 5. März, bleibt nicht 
ohne Folgen. General Maſſena hat in Chur gedroht, Diſentis 
in einen Aſchenhaufen zu verwandeln, wenn ihm nicht die Urheber 
des Gräuels ausgeliefert werden“). Das hat nicht Furcht, ſon— 
dern ſtille Wuth des Volks, oder ſeine Verzweiflung vergrößert. 


) Im Protokoll der proviſoriſchen Regierung von Bünden, Datum 
21. März 1799, lautete es folgendermaßen: „Bürger V. . zeigt 

Ran die Drohung des Obergenerals Maſſena, Diſentis abzubrennen, 
wenn nicht inner drei Tagen ihm die Inſtigateurs der an fränkiſchen 
Soldaten verübten grauſamen Exceſſe genannt werden.“ 


— 139 — 


Seitdem ſieht man Tags und Nachts, auf wenig beſuchten Berg⸗ 
pfaden, Leute wandern, mit haſtigen Schritten, von Dorf zu 
Dorf, wie Boten. Menſchen, die einander begegnen, bleiben bei— 
ſammen ſtehen, und flüſtern ſich ins Ohr. Man erzählt von ges 
heimen, nächtlichen Zuſammenkünften in abgelegenen Heuſtällen 
und Sennhütten “). Es gährt; es iſt etwas im Werke. 

Sei darum nicht ängſtlich, Sabine. Für meine Perſon iſt nichts 
zu fürchten; und, ſo lange das Hochland noch von den Truppen 
Frankreichs beſetzt bleibt, wohl überall keine Gefahr. Außerdem 
bin ich im Schutz der Familie Caſtelberg, einer der erſten dieſer 
Gegenden, und Jedermann weiß, daß ich Bündner, ein Pregäller 
bin, den die Franzoſen gefangen mit ſich geſchleppt hatten. Da— 
für haben Gilg Daniffer und die Abgeordneten, welche, mit ihm, 
dem General Loiſon entgegen gekommen waren, öffentliches Zeug— 
niß gegeben. Auch Uli Goin und nicht minder die beiden Bene— 
diktiner, die mich von jener Mordnacht her kennen, verkünden mich 
aller Orten, als den beſten Vaterlandsmann. Das genügt. 

Aber, Sabine, ſchon zieht der Frühling frohlockend ins Ge— 
birg ein, unterm Geſang der Vögel, unter dem Donner der fallen— 
den Lauinen, unter dem luſtigen Getöſe der Waſſerfälle von den 
Felswänden und der vollrauſchenden Bergſtröme. Alles wird Muſik, 
während Wieſen und Matten bis hoch zu den Alpen, das Winter⸗ 
hemd abſtreifen; kleine Roggen- und Gerſtenfelder ihre Saaten 
längs den Hügeln zur Schau bieten; Ahornen, Birken und Erlen 


) Laut dem Regierungsprotokoll in Chur, vom 22., 28. und 29. März, 
vom 2. und 3. April, ward die oberſte Behörde von dieſen verdäch⸗ 
tigen Verſammlungen nicht nur durch Zeugenverhöre unterrichtet, ſon— 
dern ſelbſt durch Meldungen des helvetiſchen Regierungsſtatthalters 
Bolt, aus Neu-St. Johann, des franzöſiſchen Generals Menard 
und des Reſidenten Florent Guiot. 


— 140 — 


von aufbrechenden Knospen üppig ſtrotzen, und die niedern Ge— 
ſträuche darunter, wie grüne Flammen, himmelan lodern. 

Ich komme bald, Sabine, ich komme bald zu dir! Meine 
Wunden ſind geheilt; meine Kräfte verjüngt und friſch. Auch ich 
habe den Winter ausgezogen und fühle nichts, als Frühling, in 
mir. Ich komme, bei dir zu wohnen, mit dir leben, lachen, 
weinen und ſchwärmen zu können. Der Arzt gebietet nur noch 
vorſichtiges Schonen. Aber ich wandre doch ſchon im alten Schloſſe 
durch alle Zimmer, Treppe auf und ab; ja, ſchon einigemal bin 
ich an meinem Krückſtock hinaus, durch die hellen Wieſen, und 
durchs Dorf und hügelan in den klöſterlichen Palaſt der Mönche. 
Seltſam! Das Mittelalter wählte für Galgen und Klöſter und. 
Burgen ſtets die ſchönſten Standpunkte. Vor hieſiger Abtei legt 
ſich ein Landſchaftsbild, wie man es ſelten ſieht, in wunderbarer 
Majeſtät aus einander. Prächtig iſt's, wie dieſe Thalwelt droben 
mit Bergen gleich Wolken, und mit Wolken gleich Bergen, in 
den Himmel hineintaucht, und drunten ihren grünen Blumentep— 
pich allmälig und weich zum Ufer des jungen Rheins hinſenkt. 

Und bin ich nur erſt einmal wieder bei dir, meine Sabine, 
dann bleib’ ich bei dir, und fieh’, fromm will ich fein, wie ein 
Lamm. Denn keine andere Seele unterm Himmel darf ich die 
meine nennen, als dich noch; und keine verſteht und liebt dich, 
wie die meinige. Wir wollen beide wieder die harmloſen Kinder 
werden, wie wir's im Hauſe unſerer Mutter waren. Ich laſſe alle 
bisherigen tollen, wenn auch wohlgemeinten Rieſenentwürfe fahren. 
Meine Hand iſt zu ſchwach, die Welt umzugeſtalten. 

Schüttle dein Köpfchen nicht ſo ungläubig? Meine Bekehrung 
iſt gewiß aufrichtig. Das Schickſal iſt Meiſter; ich ſehe, es be— 
darf meiner Dienſte nicht, wo ich ſie ihm weihen möchte. Es 
weiſet meinen Kräften einen engern Spielraum an. Wohlan, ich 
bin's zufrieden. Ich habe in wenigen Wochen, in wenigen Tagen, 


— 141 — 


mehr gelernt und erfahren, als in allen vorangegangenen Jahren; 
habe ſchwere Zurechtweiſung empfangen und vielleicht verdient. 
Aber doch war mein Wollen und Streben gut; und kein Sterb— 
licher darf ſich eines höhern innern Werthes und Verdienſtes freuen, 
als der Güte ſeines Wollens und Strebens. Die Wirkungen des— 
ſelben gehören ihm nicht an. Die ſogenannten Großthaten unſerer 
Tageshelden ſind nicht ihre Thaten, ſondern die des göttlichen 
Verhängniſſes. 

Wie war mir die Welt einſt, als Knaben, ſo ganz recht und 
lieb! Ich ließ Luſt und Leid über mich kommen und gehen, wie 
Regen und Sonnenſchein; hielt alle Sterblichen für nicht ſchlim— 
mer, nicht beſſer, als mich ſelbſt; mir ahnete nichts von ihrer 
ekelhaften Thorheit, die fie unter Zwilch und Seiden, Ordens— 
ſternen und Bettelſäcken, Uniformen und Chorhemden verſtecken. 
Und Gott ſprach noch überall zu mir freundlich, wo ich ſtand und 
ging, unter den Kaſtanienwäldern, Wieſen und Burgen von Soglio 
und Caſtaſegna, wie in den unwirthbaren Höhen des Septimer 
und Malöja. O ſelige Zeit der Kindheitsträume! Wär’ ich doch 
nie aus ihnen erwacht, oder wär' ich früh in ihnen geſtorben! 

Aber ich erwachte, als dich und mich der Baron, vom Sarge 
der Mutter, in ſein Haus führte. Es umfaßte mich ein fremdes 
Leben. Sonſt kannt' ich nur eine Gegenwart. Nun zog mir die 
Schule den Vorhang von einer großen Vergangenheit hinweg und 
einer Zukunft, voll glänzender Erwartungen. Nun ſah ich unter 
mir Trümmer einer vor unzählbaren Jahrtauſenden vernichteten 
Urwelt; über mir am Nachthimmel, ſtatt leuchtender Funken, 
leuchtende Erden und Sonnen. Nun ſah ich auf der weiten Bühne 
der Weltgeſchichte die Heroen der Menſchheit, die Märtyrer, die 
Weiſen und Heiligen Gottes wandeln. Ich fühlte, ich ſei einer 
der Ihrigen; fühlte mich verklärt. Mit welcher Inbrunſt gelobt' 
ich die Herrſchaft des Göttlichen auf Erden, gleich einem der 


= 


Jeſusjunger zu verbreiten! Nichts ſchien mir zu ſchwer. Ein 
Sokrates, ein Columbus, ein Tell oder Waſhington, ein Kämpfer 
für Freiheit und Tugend, für Recht und Wahrheit wollt' ich wer— 
den. Das war die Frucht der Schulen. 

Ach, Sabine, wie iſt das Alles, gleich Dunſt, zerfloſſen, ſo— 
bald ich aus meiner zweiten Traumzeit erwachen mußte und in 
das Getümmel der Völkerheerden und ihrer weltlichen und geiſt— 
lichen Treiber hinaustrat! Ich ſah Wien und Paris, ſah London 
und Prag; ſah Republiken und Monarchien; Luxus und Jammer 
überall. Schon Diogenes ſuchte die Menſchen unter den Sterb— 
lichen ſeiner Zeit. Ich ſuchte ſie auch, und fand nur wildere und 
zahmere, klügere und dummere Thiere, in Menſchenhaut verlarvt; 
fand Chriſtenkirchen von Holz und Stein, mit Gold und Silber, 
aber Chriſten ſelten; ſelten ein reines, für Menſchenwohl, ohne 
alle Selbſtſucht ſchlagendes Herz. 5 

Ich ſehnte mich einem weiten Wirkungskreis entgegen, das 
Gute großartig zu ſtiften; wähnte mich zum Weltreformator ge— 
ſchaffen. Aber mir blieben vom Schickſal Stellung und Gunſt des 
Augenblicks, Gelegenheit und Mittel verſagt. Ich hätte wohl 
König, Fürſt, oder Premierminiſter, mit Vollgewalt, werden 
mögen; oder weiter und dauerhaft wirkender, denn ſie alle, ein 
hochbegabter, die Geiſterwelt durchherrſchender Schriftſteller. Natur 
und Schickſal wieſen mich ab. 

Sabine, ich flüchte mit dir in einen ſelbſtgewählten, ſtillen 
Erdenwinkel. Dort, in kleinerm Kreis, menſchliches Glück, durch 
Vernunftmacht und Tugend, zu gründen, oder gegen Anfechtungen 
gottesfeindlicher Leidenſchaften, und vergötterter Vorurtheile zu 
ſtreiten, dazu haben wir Kopf und Herz und Geldmittel genug. 

Sabine, ich komme! 


28. 
Zweite Fortſetzung des Tagebuchs. 


Es wird mir in dieſem Lande immer unheimlicher. Ich bin 
nicht feige, und doch fühl' ich mich aller Orten bang und unſicher. 
Ich wandre gern und oft, zur Stärkung meiner Kräfte, durch die 
romantiſchen Wildniſſe; aber mit argwöhniſcher Schüchternheit. 
In jedem Strauch, dem ich vorübergehe, ſcheint ein Laurer ver— 
ſteckt zu lauſchen. Im ſchwarzen Schatten jeder Schlucht, der 
zwei Berge ſpaltet, ſürcht' ich einer verwegenen Landſtürmerbande 
zu begegnen. Ich könnte des Krückſtocks füglich entbehren, an 
welchem ich ſeit beinahe fünf Wochen hinkte; allein ich beſitze 
keine andere Waffe im Fall der Noth zum Selbſtſchutz. Freilich, 
Alles nur eitles Schrecken der Einbildungskraft; doch was ich 
wirklich und täglich ſehen und hören muß, trägt böſe Ahnungen 
mit ſich herum. Ich möchte von hinnen, und zu dir fliehen, meine 
einzige, theure Sabine, ehe neues Unglück über dies Land herein— 
bricht, und kann doch, und darf doch abermals nicht abreiſen. Ich 
bin, wie durch Zauber gebunden, durch mein Ehrenwort, frei— 
williger Gefangener geworden. 

Alſo ſetz' ich einsweilen das Tagebuch fort, bis ich die Tage 
ſelber wieder unter deinen freundlichen Augen verleben darf. Sei 
übrigens meiner willen, ich wiederhol' es, ohne Beſorgniß. Ich 
ſtehe durchaus unparteiſam im ſtillen Kriege, der hier geführt 
wird, und laſſe es nicht an Klugheit fehlen. Ich höre und ſchweige. 
Selbſt mein vielgetreuer, wenn auch vielgeſchwätziger, Uli, ſoll 
mich nicht verrathen. Durch ihn meiſtens erfahre ich, was über 
Vernichtung der fremden Kriegsvölker jetzt wieder gebrütet, be— 
rathſchlagt und gehofft werden mag. 

Als er mir dieſen Morgen aus dem Kloſter, nebſt einigen 
Büchern, ein Briefchen des Paters Gregorius brachte, der zu 


einem Spaziergang einlud, und mich auf dem Weg nach Trons 
unter den Felsblöcken erwarten wollte, ſah ich's meinem geweſe— 
nen Kriegsmann deutlich an, daß ihm irgend ein politiſches Ge— 
heimniß die Zunge brenne. Ich warf nachläſſig die gewöhnliche 
Frage hin, die er zu erwarten ſchien: „Gibt's ſonſt nichts Neues 
in der Welt?“ 

„Ei nun, Herr Hauptmann,“ antwortete er und rieb ſich da= 
bei zufrieden lächelnd die breiten, knochigten Hände: „was es 
nicht gibt, kann es ja wohl noch geben. Ich denke, unſere Gäſte, 
die windigen Blauröcke, werden bald abmarſchiren; und, beim 
Donner, ſie thäten wohl daran! Beſſer heut, als morgen, wenn 
ſie nicht zu ihren Blauröcken noch Blaurücken begehren. Iſt doch 
vor dieſen Buſchkleppern keine Speckſeite im Rauchfang und kein 
Mädchen mehr am Spinnrad ſicher. Das verdammte Weibervolk, 
leichte Waare iſt's, die ſich von jedem Liebhaber bald zuſammen— 
legen und einſacken läßt. Da pelfert, da ſchimpft es auf die Sol— 
daten, und ſchielt ihnen doch beſtändig gern nach. Ich habe geſtern 
der Veronika Grülfs erklärt, wir wären geſchiedene Leute, auf 
immer, falls ich ſie noch einmal mit dem Sergeanten hinter der 
Stallthüre ſehe; ich könne bei ihr nicht alle Stunden Schildwacht 
ſtehen.“ 

„Schäme dich, Uli, wer wird ſo eiferſüchtig ſein!“ 

„Bin's auch nicht, Herr; aber Mißtrauen führt immer weiter, 
als Zutrauen, und beſonders bei Weibsbildern zu manchem ver— 
ſteckten Schaden. Mittlerweile tröſt' ich mich mit Andern, die 
der Floh beißt. Ich geb' Euch aber mein Wort, denn ich weiß, 
was ich weiß: haben ſich die Franzoſen nicht vor Auffahrtstag zur 
Abfahrt geſchickt, ſo geben wir ihnen den Schub von hinten. Noth 
bricht Eiſen; länger halten wir's nicht aus. In der Schweiz zeigt 
man öffentlich und überall den Schelmen jetzt die Hörner. Erz— 
herzog Karl marſchirt auf Zürich los und Maſſena, heißt's, hat 


za 2 


fih, für feine Perſon, ſchon aus Chur auf und davon gemacht. 
Folgen nun die Geißen dem Bock nicht, treiben wir ſie ihm nach. 
Ich darf's Euch wohl ſagen, Herr Hauptmann, und Ihr müßt 
Euch mit mir freuen. Wir haben gute Nachrichten; es iſt Alles 
auf den Beinen. Ein Wink und, hurrah! Vorwärts!“ 

„Wie ſo, Uli?“ 

„Still doch!“ flüſterte Uli: „Man ſieht nicht, wo eine Wand 
das Ohr hat. Aber, ja, im Schloß hier hat's keine Gefahr. Alſo, 
ſeht Ihr, geſtern Nachts tranken wir bei Landammanns unſerer 
Etliche ihr Schöppli, und da ward viel diskurirt. Beim Wein 
pflegt die Zunge auf Stelzen zu gehen, und trippelt nicht ſchüch— 
tern. So kam dies und das vor, was ſich ſonſt gern zu hinterſt 
im Loch verſteckt; und wir erfuhren, ein verkleideter öſterreichiſcher 
Offizier ſei hier im Lande. Nun ſagte der Landammann, es ſei 
Befehl eingelaufen, wir Leute ſollten uns alleſammt bereit halten; 
die Kaiſerlichen hätten ihre Fiedelbogen gewichst; der Tanz gehe 
los; ſpäteſtens bis erſten Mai! Dann, aber das bleibt unter uns, 
greift der kaiſerliche Oberſt St. Julien den St. Luzienſteig mit 
Sturm an; Lecourbe wird von allen Seiten angefallen, aus dem 
Engadin verjagt; und von Bergen und Thälern bricht Landſturm 
hervor. Auch von Euch war Rede, Herr Hauptmann! daß Ihr's 
nur wiſſet, Euch iſt ein Commando zugedacht. Jeder weiß, daß 
die Franzoſen bei Euch noch etwas im Salz liegen haben.“ 

Ich weiß nicht, wie viel Wahres an Uli Goins Lieblingslied 
fein mag; aber in keinem Fall iſt es von ihm, wie er ſich aus- 
zudrücken pflegt, auf einer hohlen Nuß gepfiffen. Die Menſchen 
im Gebirg haben es anders, als in ebenen Ländern; ſie wiſſen, 
was in Betreff ihrer vorgehen ſoll, ehe die Umſtände geſchaffen 
find. Sie bedürfen keiner Zeitungen, Couriere und Eilbriefe dazu. 
Man möchte zuweilen glauben, die Begebenheiten der Zukunft 
künden ſich ihnen voraus an, wie manchen Thieren die Witterung, 

Sf, Nov. XI. 10 


— 446 — 


In der vom Pater Gregorius beſtimmten Stunde verließ ich 
das Schloß, um dem Wunſche des guten Mannes Genüge zu 
thun. Als ich aus dem Hofe auf die Landſtraße hinaustrat, traf 
ich, bei dem in der Wieſe gelegenen alten Kirchlein von St. 
Placid, einen franzöſiſchen Offizier, der müßig umherging. Es 
war der Platzkommandant von Diſentis, Kapitän Salomon, der 
hier eine Compagnie befehligte; ein ſonſt gefälliger Mann. 

„Nichts Neues, Kapitän?“ redete ich ihn an. 

Er lachte verdroſſen, und fragte zurück: „Woher es in dieſem 
rauchigten Bergneſt nehmen? Kein Journal, kein Caſino, kein 
Billard; überall kein Verkehr von Reiſenden. Man lebt ſo weit 
von Europa, als ſäße man bei den Mandarinen in China.“ 

„Aber Sie wiſſen, Kapitän,“ fuhr ich fort: „der Erzherzog 
Karl benutzt feinen Sieg bei Stockach? Er hat auf Schweizer— 
boden Fuß gefaßt.“ 

„Pah! noch keinen feſten!“ antwortete er: „Maſſena hat nun 
den Oberbefehl der Donau-Armee bekommen, und das ändert die 
Sache. Es geht wieder vorwärts. Sacre bleu! Wir ſterben hier 
vor langer Weile. Hätte Maſſena ſeinem eigenen Kopf gefolgt, 
ſo lägen dieſe Diſentiſer Mörderhöhlen längſt in Schutt und Aſche, 
und wir Andern könnten auch wieder einmal bei ehrlichen Leuten 
wohnen. Ich erwarte von einem Tag zum andern Befehl aus 
Chur vom General Rheinwald, das Neſt wegzubrennen.“ 

„Doch nicht den Marktflecken abzubrennen?“ rief ich, und 
glaubte, er habe ſich im Reden verirrt. Er erwiederte ganz trocken: 
Warum nicht? Sacre bleu! Was haben dieſe Meuchler Beſſeres 
verdient, die kein Menſchen-, kein Völkerrecht kennen? Danken 
Sie Ihrem Glück, Bürger Prevoſt, daß Sie mit einem Paar 
derben Stichwunden davon gekommen ſind.“ 

„Kapitän,“ ſagt' ich mit unterdrücktem Unwillen: „es iſt 
Ihr Ernſt nicht! Eine Straſe, die ohne Unterſchied das Haupt 


— 147 — 


des Schuldigen und Unſchuldigen träfe, nein, die konnte Maſſena 
nicht befehlen.“ 

„Nicht?“ entgegnete der Franzoſe mit verächtlichem Zucken des 
Mundes: „Es war aber doch darum zu thun! Ich weiß aus dem 
Hauptquartier den Verlauf der Dinge genau. Sacre bleu! Maſ— 
ſena fackelt nicht lange. Sobald er von unſern geretteten Offi— 
zieren den Hergang der Metzelei beſtimmter erfahren hatte, rief 
er: die Aufſtifter binnen drei Tagen ausgeliefert, oder das Pfaffen— 
neſt geht in Feuer und Flammen auf! Gleichen Tages ſchickte er 
den General zum Präſidenten der Regierung). Was geſchah? 
Die armſeligen Regenten ſchlotterten vom Fieberfroſt ihrer Angſt. 
Sie begaben ſich en corps zum Hauptquartier, verſprachen Nach— 
forſchung, Entdeckung, ſchleunige Anzeige; flehten kläglich und 
beweglich um Aufſchub, um Friſt; und — der General war ein— 
mal ſchwach!“ 

Ich verbarg meine Empörung beim Anhören dieſer Worte. 
Was hätte aber Widerſpruch bei einem Manne nützen können, der 
nicht mehr Menſch, ſondern nur ein Soldat, war; nur eine kalte 
Degenklinge in der Hand ſeines Herrn? Ich verließ ihn, nach 
gegenſeitig ausgewechſelten höflichen Redensarten; aber du magſt 
es dir denken, Sabine, mit welchen Gefühlen! In meiner Bruſt 
lag Alles, ich möchte ſagen, zermalmt, was mir das Daſein in 
einer Menſchenwelt werth machen konnte, Glauben, Liebe und 
Hoffnung. Denn was ich erſt von meinem Tavetſcher, dann von 
dieſem Franzoſen vernommen hatte, zeigte die nächſte Zukunft in 
blutigem Gewande. Ich mag dich nicht von meinen Kümmer— 


) Es war am 21. März 17993 und der damalige Präſtdent der pro- 
viſoriſchen Regierung hieß Jakob Bavier, ein biederer Mann. 
Maſſena hatte der Regierung ſeine mit Drohung begleitete Forderung 
ſchriftlich überſandt. 


— 1498 — 


niſſen um dies arme, ſchöne Land unterhalten, welches, vergebens 
von den höchſten Alpen umfangen, dem ewigen Frieden geweiht 
ſcheint, aber zum Tummelplatz neuer Gräßlichkeit beſtimmt iſt; 
dies Land, wo, inmitten einer gottpredigenden Schöpfung, menſch— 
liche Brutalität nach hölliſchem Verderben umherlechzt. 

So ging ich vom Offizier hinweg, abwärts bis zu den unge— 
heuern Felsſtücken, welche ein Erdbeben unbekannten Jahrtauſends 
einmal von den Berggipfeln herabgeſchüttelt haben mag. Die ge— 
waltigen Trümmer liegen da hoch über einander gethürmt, dick 
bemoost, von Tannen bewachſen, an der Landſtraße. Sobald ich 
unter ihnen vorübergekommen war, erblickt' ich den greiſen Pater 
Gregorius, meiner harrend. Wir eilten einander entgegen, und 
wählten einen breiten Steinblock zum Ruheſitz. 

Ich will dir von unſerm Geſpräch erzählen und von dem, was 
dabei vorfiel. Ich muß es wohl, um mich vor dir zu entſchuldi— 
gen, weil eben dadurch mein Aufenthalt in Diſentis, um einige 
Tage, verlängert werden dürfte. 


29. 
Letzte Fortſetzung des Tagebuchs. 


Wahrlich, Pater Gregorius iſt mehr, als Mönch; mehr, als 
Schulgelehrter; mehr, als gewandter, erfahrungsreicher Welt— 
mann. Er iſt liebenswürdig, wie eine Minerva, in Mentors Ge— 
ſtalt; lebendig einherwandelnde Weisheit. Seine Unterhaltungen 
ſind mir für das Leben ſchon lehrreicher und nützlicher geweſen, 
als alle Vorleſungen der Wiener Profeſſoren. Durch ihn hab' ich 
wirklich angefangen, mich ſelbſt und die Welt richtiger zu ver— 
ſtehen. 

Als ich zu ihm niedergeſeſſen war, ſchwieg er, wie nachdenkend; 


— mu) — 


nahm dann meine Hand in die feine und ſagte: „Iſt's Ihr Ernſt, 
mein junger Freund? Sie denken an Abreiſe?“ 

„Warum ſollt' ich nicht?“ war meine Antwort: „Sie ſehen 
mich vollkommen hergeſtellt. Länger möcht' ich nicht der trefflichen 
Frau von Caſtelberg ein überflüffiger Gaft bleiben, während mich 
eine nun Wittwe gewordene Schweſter, in ihrer Verlaſſenheit, 
erwartet. Hier bin ich unter allen Müßiggängern der Entbehr— 
lichſte.“ 

„Nicht ſo entbehrlich, Herr Hauptmann, als Sie vielleicht in 
Ihrer Beſcheidenheit glauben. Ein Mann von Kopf und Herz, 
wie Sie, ſteht in der Welt auf jeder Stelle, die er einnimmt, 
an rechter Stelle; iſt überall nöthig und nicht, ohne Schaden 
Anderer, entbehrlich. Verweilen Sie noch einige Zeit bei uns. 
Ich bin beauftragt, Sie dazu zu bereden. Ich kann und darf 
Ihnen zwar nicht Alles, was Sie wiſſen ſollten, ſagen; wohl 
aber doch das Eine: Sie können ſchwerlich durch eine höhere, 
Pflicht von hier weggerufen werden, als die Pflicht iſt, welche Sie 
ermahnt, einsweilen noch im Schloſſe Caſtelberg zu verharren.“ 

„Sie werden aber zugeben, hochwürdiger Herr, die kleinſte 
Pflicht, die man kennt, iſt wichtiger, als die wichtigſte, die man 
noch nicht kennt.“ 

„Sie haben Recht, mein Freund. Glauben Sie indeſſen, 
wenn ich jemals Ihres Vertrauens würdig war, mir diesmal. Ich 
bitte nicht für mich, ſondern für andere würdige Perſonen, die 
Ihres Schutzes in dieſen unruhigen Tagen bedürfen. Es ſind Per— 
ſonen, deren Ehre, Gut und Leben in Gefahr durch mich gekom— 
men ſind, und deren Retter Sie werden können; Perſonen, die 
Sie darum anflehen, und die Sie ſeiner Zeit kennen lernen ſollen. 
Glauben Sie mir altem Mann aufs Wort. Wollten Sie dieſe 
Bitte von ſich ſtoßen, Sie würden vielleicht den Frieden Ihrer 
eigenen Seele auf immer von ſich ſtoßen.“ 


— 60 — 


„Herr Pater, Sie ſprechen ein ſchweres Wort! Wem, in aller 
Welt, könnte in Diſentis meine Gegenwart Schutz und Rettung 
bringen? Doch nicht Ihrem Kloſter?“ 

„Nein, mein Lieber, ich ſpreche ſo wenig für das Kloſter, als 
für mich. Aber es ſind Andere, in und außer Diſentis, die Ihre 
Großmuth anſprechen. Dürfte, zum Beiſpiel, Frau von Caſtel—⸗ 
berg nicht darauf einiges Recht haben; Ihre Retterin, Ihre Kranken⸗ 
pflegerin, ſie, die in jetziger Zeit ohne Schutz daſteht; ſie, deren 
Gemahl landesflüchtig geworden; ſie, die von allen Blutsfreunden 
verlaſſen iſt. Man ſpricht vom nahen, allgemeinen Angriff der 
kaiſerlichen Armee auf Bünden. Ich fürchte, die Bewohner unſerer 
Gebirge werden, beim Kampf, nicht ſtille Zuſchauer bleiben wollen. 
Aber dem Allwiſſenden nur iſt bekannt, wie die Würfel fallen 
werden. Behaupten ſich die Franzoſen in den Bündnerthälern: 
dann Wehe denen, die wider ſie aufſtanden. Siegen die Oeſter— 

reicher, dann Wehe — — —“ 

„Kein Wort mehr, hochwürdiger Herr! Sie haben Recht! 
Ich ſchäme mich, meiner Schuld gegen eine unvergeßliche Wohl— 
thäterin nicht beſſer eingedenk geweſen zu ſein. Ich bin der Dame 
die Erhaltung meines Lebens ſchuldig, eines Lebens, welches frei— 
lich wenig Werth für mich hatte; ſelbſt noch jetzt kaum hat; ihn 
vielleicht erſt gewinnt, wenn es einer heiligen Pflicht zum Opfer 
gebracht werden kann.“ 

„Mein Sohn, nicht ſolche Worte! Sie ſind ungerecht gegen 
ſich und die Welt. Ich liebe Sie, ſeit jener entſetzlichen Nacht, 
da Sie ſich ohne Bedenken für einen Kriegsgefangenen helden— 
müthig in den Tod wagten. Ich lernte Sie ſeitdem näher kennen. 
Mit meiner Achtung für Ihr reines Gemüth wuchs mein Ver— 
langen, Sie glücklich zu wiſſen. Ihre Leibeswunden ſind heil; 
Ihr Gemüth aber iſt noch krank, ſehr krank. Sie find nicht glück 
lich, und find es vielleicht nur durch einen Ihrer kleinen Irrthümer. 


— 3 


Erlauben Sie, daß ich in dieſen Augenblicken, wie ein Vater zu 
ſeinem Sohn, reden darf. Ich weiß mehr von Ihnen, als Sie 
vermuthen; mehr, als Sie vielleicht ſelber wiſſen. Sie find nicht 
glücklich; waren es nicht im Hauſe des Barons von Schauenſtein; 
waren es nicht in ihren Verhältniſſen zu Wien, und werden es 
noch lange nicht ſein, wenn — — —“ 

„Ich muß Sie unterbrechen, Hochwürdiger. Haben Sie mich 
denn früher gekannt? Oder verrieth ich, in Augenblicken der Fieber— 
hitze, von meiner Vergangenheit? Ihre Aeußerungen ſetzen mich 
in einige Verwunderung. Von welchem Irrthum aber reden Sie? 
Was haben Sie von meinem Leben im Hauſe Schauenſtein, was 
von meinem Aufenthalt in Wien erfahren können? Ich bin mir 
wenigſtens keines großen Irrthums, noch weniger einer Schuld 
bewußt. Auch ich habe ſelige Stunden genoſſen!“ 

„Denken Sie vielleicht dabei, mein junger Freund, an — — —“ 
Hier lehnte ſich der Mönch vertraulich, aber ſchalkhaft an mich, 
und flüfterte leiſe: „An die Roſe von Diſentis?“ 

Stelle dir meine Beſtürzung vor, liebe Sabine! dieſe Worte 
von einem Kloſtergeiſtlichen zu hören, den ich erſt ſeit wenigen 
Wochen kenne; dem ich nie von unſern, am wenigſten von meinen 
frühern Ereigniſſen geſprochen hatte! Ich ſah ihn ſtarr an und 
ſtammelte in Verwirrung einige Fragen. Er aber ließ mich nicht 
ausreden, ſondern, indem er mit der Hand, wie beſchwichtigend, 
mir auf die Achſel klopfte, fuhr er fort: „Nein; doch forſchen 
Sie nicht weiter, denn ich bleibe ſtumm und muß es bleiben. Ich 
wollte mich bei Ihnen durch jenes bedeutſame Loſungswort bloß 
legitimiren, daß mir nicht nur Ihre Denkart, ſondern auch Ihre 
Vergangenheit bekannt ſei. Ich liebe Sie, ich möchte Sie glücklich 
ſehen; Sie verdienen es zu ſein, und ſind es nicht.“ 

„Wenn ich's nicht bin,“ erwiederte ich mit etwas ſtolzem 
Selbſtgefühl raſch: „ſo glauben Sie nur, ich bin es keineswegs 


— 2 — 


durch das, woran Sie mich eben erinnern wollten. Nein, wahr— 
haftig. Ich würde mich eines ſolchen Grundes ſchämen, den Sie 
vermuthlich vorhin meine Krankheit nannten.“ 

„Keineswegs! ich meinte eine andere Krankheit!“ ſprach er: 
„die Sie aber vermuthlich für Geſundheit halten, und durch die 
Sie doch weder Ihres Lebens, noch der Welt froh werden können. 
Sie wollen das Gute, und begegnen aller Orten dem Böſen. Sie 
möchten die Menſchheit, rings um ſich her, nach den göttlichen 
Urbildern Ihres Geiſtes geſtalten und werden ausgelacht, ver— 
ſpottet, verhaßt. Sie möchten das Höchſte leiſten und gelangen 
nicht zum Kleinſten. Und darum Sind Sie unglücklich in Ihrem 
innerſten Weſen.“ 

„Wie, Pater Gregorius, nennen Sie Begeiſterung für das 
Alleinheilige Krankheit? Können Sie, mit Ihrem frommen Herzen 
inmitten alles Ruchloſen, mit Ihrem hellen Geiſt inmitten aller 
Barbarei, alles Aberglaubens, aller Unnatur, glücklich ſein, wo— 
durch die Menſchheit ſeit Jahrtauſenden ſtarrſinnig ihr Elend ſchafft, 
und ihr Grab gräbt? Können Sie es wirklich? Ich kann's 
nicht! — Sehen Sie doch um ſich her die Menge der Geſchöpfe, 
welche den Menſchennamen tragen, die, wie wir, mit Vernunft, 
mit Ahnungen des Göttlichen und Ewigen ausgeſtattet ſind, und 
vernunftwidrigeres Weſen treiben, als vernunftloſe Geſchöpfe; 
das Göttliche in den Staub niederzerren, und das Staubgeborne 
vergöttern; die Tugend kreuzigen, die Wahrheit einkerkern, aber 
Landesverwüſtern, Staatsgaunern, feilen Dirnen Ehrenſäulen 
bauen. Blicken Sie doch auf und ab, vom Menſchenfreſſer und 
afrikaniſchen Beduinen, bis zu den Deutſchen, Engländern, Fran— 
zoſen hin: überall, mit höchſt wenigen Ausnahmen, reinthieriſche 
Selbſtgier, Gier nach Wolluſt und Wohlleben, Gier nach dazu 
erforderlichen Mitteln. Sehen Sie vor ſich her! Frei gehen und 
fliegen, ſchwimmen und kriechen die Thiere, von ihrer Natur ſicher 


— 183 


geleitet; aber unfrei liegen die Nationen in weiten Gefängnißkam— 
mern vertheilt, die man Staatsordnungen nennt, und in denen 
alle Kraft, alles Eigenthum, Talent, Recht, Glauben und Leben 
von Millionen Unterthanen zum Vortheil weltlicher und geiſtlicher 
Mitgeſchöpfe, wohl oder übel, geordnet ſind. Schauen Sie um— 
her! Krieg und Kriegsgeſchrei! Völker werden gegen Völker in 
Noth und Tod gejagt, morden ſich wohlgeregelt, mit ſinnreicher 
Kriegskunſt. — Nein, Pater Gregorius, nein, ich tauge nicht in 
dieſe Welt hinein.“ 

Der greiſe Mönch lächelte bei dieſen Worten mich mit einer 
gutmüthigen Ironie eines Vaters an, deſſen Kind, in aller Un— 
befangenheit, Albernes geſagt hat, während es etwas ſehr Kluges 
vorgebracht zu haben meint. „Gelt, lieber Freund,“ ließ er ſich 
darauf vernehmen: „Sie wollen zu verſtehen geben, als wären 
Sie zu gut für eine Welt von der Art, wie die unſere? Wenn 
ich Ihnen nun aber behaupten würde: Sie wären noch nicht gut 
genug für dieſelbe? Sie ſind unzufrieden, daß die Menſchen ſich 
nicht nach Ihren Ideen richten wollen, ſondern daß Sie ſelbſt 
ſich nach dem Zuſtand der Menſchen richten ſollen, wie ſie nun 
einmal noch ſind? Und Gott muß ſich Ihren Vorwurf nebenbei 
gefallen laſſen, daß er Sie in ein Leben hinein verſetzte, für das 
Sie nicht taugen oder nicht taugen wollen.“ 

„Ich möchte von Ihnen nicht falſch gedeutet werden, hoch— 
würdiger Herr!“ fiel ich ihm in die Rede: „Vielleicht hab' 
ich . 

„Nein, nein,“ unterbrach er mich: „ich meint' es nicht ſo 
böſe, und glaube Sie ganz verſtanden zu haben. Sie ſprachen 
Ihre Anſicht von unſerm barbariſchen Weltzuſtand, in voller Wahr— 
heit und Klarheit des noch unverdorbenen Jugendgeiſtes, des hei— 
ligen, von Gott ſelbſt den Menſchen gegebenen Willensgeſetzes, 
aus. Aber hören Sie mich an. Allerdings durch Vernunft ſind 


— fe 


wir über Thierſeelen erhaben. Sie erwacht und wirkt ſchon im 
Kinde, ſogar früher, als der Verſtand, oder das Verſtehen der 
äußern bedingten Verhältniſſe. Der Verſtand wird erſt durch Erz 
fahrungen reifer. So kömmt es, daß junge Leute oft im Ur—⸗ 
theil fehlen, wenn ſie den Maßſtab des in der Vernunft unbedingt 
Wahren und Gerechten an das in der Wirklichkeit nur unter Be— 
dingungen Wahre und Rechte anlegen. Doch eben daher iſt der 
Ausſpruch der unerfahrnen Jugend oft vernunftgemäßer und weiſer, 
als derjenige vieler alten Leute. Daher iſt's nicht ſelten, daß die 
tugendhafteſten, weiſeſten Männer zuweilen offenbar unverſtändig 
handeln; und die verſtändigſten, klügſten Weltleute unvernünftig 
und gewiſſenlos.“ 

„Und wie wenden Sie das auf mich an?“ fragt' ich. 

„Sie ſind ein junger Mann, mein Lieber, mit reifer Vernunft; 
glühend für das ewig Wahre und Heilige; aber noch unreifer Er— 
fahrung. Daher Ihr ungeſtümes Streben, wo möglich Weltver— 
beſſerer zu ſein. Sie können ſich mit dem nicht verſöhnen, was 
der gefunden Vernunft widerſpricht. Ich tadle Sie nicht, bleiben 
Sie ſo, bleiben Sie ein unſchuldvolles Kind bis ins Greiſenalter. 
Ihr liebenswürdiger Fehler iſt der Fehler aller jungen Männer 
von edler und tüchtiger Geſinnung. Aber hüten Sie ſich, ge— 
waltſamer Weiſe Weltreformator zu werden, wie es 
heut viele junge Leute ſind, bevor ſie durch die Erfahrung gelernt 
haben, die Menſchen, auf deren unendlich verſchiedenen Bildungs— 
ſtufen, in rechter Weiſe, dem ſtillen Gang der Natur gemäß, 
nach und nach zum Edlern hinanzuführen. Verlangen Sie nicht, 
daß unwiſſende Kinder ſogleich gelehrte Männer ſein 
ſollen. Leuchten Sie in der Finſterniß mit Ihrem Lichte, aber 
ohne Feuers brunſt zu ſtiften.“ 

Ich bekenne, Sabine, daß ich von dieſer Autwort ein wenig 
betroffen war. Es klang aus ihr eine Wahrheit, die mich felbft 


— 4199 — 


zuweilen ſchon angewandelt hatte, mir aber fonft baarer Wider: 
ſpruch mit der geſunden Vernunft zu ſein ſchien. Ich wußte im 
erſten Augenblick nicht recht, was erwiedern? Endlich half ich 
mir mit einer Frage, welche Widerlegung ſcheinen konnte, und 
ſagte: „Hat der Anblick menſchlicher Bosheit und Raſerei alſo 
noch nie in Ihnen einen heiligen Zorn entflammt?“ 

„Mein Sohn,“ verſetzte er ruhig: „nennen Sie doch ja den 
Zorn nicht heilig! Nach meinen Begriffen gibt es keine heilige 
Unheiligkeit; und nach meinen Erfahrungen gibt es wohl verirrte 
Menſchen, aber keine, die, aus Liebe zur Ungerechtigkeit und 
Bosheit, ungerecht und böſe ſind. Jeder will deswegen wenigſtens 
gut ſcheinen; will ſeine ungerechten Thaten rechtfertigen; oder, 
kann er dies nicht, durch den Zwang der Umſtände entſchuldi— 
gen. Der innere Menſch iſt in allen Sterblichen beſſer, als 
der äußere. Der innere will Wahres, Gerechtes und Gutes; 
er kann nicht anders. Aber der äußere, der leibliche, der deshalb 
thierartige wird durch tauſenderlei Täuſchungen, Reizungen, Ge— 
wohnheiten der Sinne, oder durch falſche Anſichten der Dinge, 
oft dem innern Menſchen abtrünnig. Doch kehrt er zuletzt immer 
gern und reuig wieder zu ihm, wenn auch manchmal erſt ſpät, 
zurück.“ 

„Ihre Jahre, hochwürdiger Herr,“ entgegnete ich,“ geben 
Ihrer Menſchenkenntniß allerdings den Vorzug vor der meinigen. 
Wär' es aber nicht auch möglich, daß Sie die Menſchheit von 
ihrer beſſern, ich leider ſie von der ſchlechtern Seite kennen lernte?“ 

„Liebſter Hauptmann, beide Seiten hat ein jeder Menſch in 
ſich ſelbſt; und wer ſich und die heimlichen Beweggründe ſeines 
äußerlichen Thuns ſcharf beobachtet, iſt auf dem Wege zur Men— 
ſchenkenntniß im Allgemeinen. Zur vollen Kenntniß und Durch— 
ſchauung des einzelnen Menſchen freilich gelangt kein Sterblicher. 
Daher ſo viel Mißverſtändniß und liebloſe Beurtheilung Anderer. 


— = 


Auch Ihnen, mein Lieber, geb' ich, Ihres innern Friedens willen, 
den Rath, behandeln Sie Jeden nach ſeiner, nicht nach Ihrer, 
Denkart und Gemüthsweiſe, ſonſt werden Sie vom Andern durch— 
aus nicht verſtanden, nicht von ihm begriffen. Sie verlieren 
ſein Zutrauen, und mit dieſem Ihre eigene Fähigkeit, kräftig auf 
ihn einzuwirken. Sie aber wollen doch wirken, wollen doch 
geliebt und von Andern verſtanden ſein!“ 

„Allein, mein beſter Pater Gregorius, Sie werden hoffentlich 
von mir nicht fordern, daß ich, Andern zu gefallen, heuchle, und 
mein wahres Selbſt nachgiebig verläugne?“ 

„Mit nichten, mein Sohn; nehmen Sie nicht ſo, was ich ge— 
ſagt habe. Ich rieth Ihnen nur, fo viel Aufmerkſamkeit für Anz 
dere zu haben, als Sie für ſich ſelbſt fordern; ohngefähr ſo 
viel Liebe zu Andern zu haben, als zu ſich ſelbſt; nicht nach eige— 
nem Sinn von Jedem zu verlangen, er ſolle fühlen, denken, 
glauben, fürwahrhalten, wie und was, Sie; mit einem Wort, 
Sie ſollen ſich nicht, ohne alle Berückſichtigung der Eigenthüm— 
lichkeiten von Andern, bequemlich und ſelbſtzufrieden gehen laſſen, 
wie man ſagt; ſondern ſich ernſt beherrſchen in Wort und That. 
Gleichwie des Dichters Geiſt über dem Sturm der Gefühle, die 
er im Geſang aushaucht, und die er in fremden Hörern aufregt, 
immerdar noch nüchtern ſchwebt; ſie und ſich beherrſchend ordnet, 
daß ſie ihn ſelbſt nicht überwältigen: ſo ſoll im gemeinen Leben, 
wer Andere bewegen will, den Blick auf ſein Ich eben ſo ſehr, 
als auf die Andern, richten. Man ſoll ſich nie gehen lafs 
ſen, auch beim beſten Freund, auch bei der geliebteſten Perſon 
nicht. Ich nur lebe in mir, kein Anderer in mir zugleich; ſon— 
dern der Andere lebt in ſeinem eigenen Innern; iſt daher ein 
Anderer; beurtheilt mich aus feinem Innern allein, und ver— 
ſteht mich, tret' ich nicht ganz in ſein eigenes Reich der Vorſtel— 
lungen ein, falſch.“ 


Liebe Sabine, vielleicht hab' ich die letzten Aeußerungen des 
guten Mönchs nicht völlig richtig aufgezeichnet; denn ich hatte die 
Aufmerkſamkeit plötzlich verloren, und Aug und Ohr wo anders. 
Es kam nämlich ein kleiner hölzerner Bergkarren, wie hier landes— 
gebräuchlich, den holprichten Weg heraufgefahren; ein Leiterwäg— 
lein mit kaum zwei Schuh hohen Rädern, und ein kleines, ma— 
geres Roß davor, das aber gewandt, wie eine Katze, bergauf 
kletterte. Im Wagen ſaß, auf dem Bänkchen, eine Bäuerin; eine 
andere ging nebenbei, mit einem betagten Fuhrmann plaudernd. 
Die Fußgängerin war ein junges Mädchen von feinem Wuchs und 
anmuthiger Haltung, im rothen Leibchen, rothen Strümpfen, Lin— 
nenärmeln, blauem Bruſtlatz, blauem Rock und blauer geſtreifter 
Schürze; um den Hals nachläſſig ein gelbliches Seidentuch ge— 
ſchlungen. Lache nicht, Sabine, daß ich dir die Tracht ſo pünkt— 
lich beſchreibe; ich male ſie eigentlich nicht dir, ſondern noch ein— 
mal mir ſelber. 

Je näher das Bauermädchen kam, je mehr bewundert’ ich deſſen 
Grazie; das abwärts geneigte Köpfchen, bedeckt von einer ſchwar— 
zen, mit ſchmalen Florkanten umſäumten, und über die weiße 
Stirn in feiner Ausſpitzung niedergehenden Haube, unter welcher 
das ſaubergeſcheitelte Seidenhaar hervorglänzte; dann das fromme, 
ſittſame Geſichtchen, mit den zu Boden geſenkten Augen unter 
hohen, ſtolzen Wölbungen der Augenbraunen; und der kleine 
Mund, wie eine Granatblüte; und darunter das noch kleinere 
Kinn, um welches das ſchwarze Seidenband des Häubchens gau— 
kelte, — Sabine, ich ſchwöre dir's, ein Geſichtchen, ganz wie 
das des Fräuleins von Marmels! In meinem Leben erblickt' 
ich nichts Aehnlicheres. Als der Wagen unter uns in der Tiefe 
vorüber kam, grüßte die darauf fahrende Bäuerin herauf; auch 
der Fuhrmann und die Fußgängerin. Dieſe aber hielt das Ge— 
ſicht erdwärts. 


— 48 — 


Ich war außer mir; wollte hinunterſpringen; beſann mich mei— 
ner Thorheit; ſchaute dennoch dem Karren nach, der indeſſen bald 
hinter den koloſſalen Felsblöcken verſchwand. Ich drehte mich 
haſtig gegen meinen Benediktiner, um ihn zu fragen, wer und 
von wannen die Bauermädchen wären? Doch die Frage erſtarb 
unter einem andern Erſtaunen. Ich ſah das Antlitz meines 
Mönchs erröthet, und in ſeinen Augen und ſeinen Bewegungen 


ſonderbare Verlegenheit. — Wie? Zündet die Schönheit noch 
im Greiſe Feuer an, und glüht verbotene Liebe hinter gott— 
geweihten Mauern? — Ich darf, ich mag nicht vermuthen, 
daß — — — 

30. 


Gef ängniß⸗ Scene. 


So weit hatte Flavian an die Schweſter geſchrieben. Er 
vollendete den Brief nicht. Denn zuerſt unterbrach ihn beim 
Schreiben der unerwartete Beſuch des Hauptmanns Salomon; 
dann hinderte ihn ſpäter ein Zuſammenſtürmen ſehr unerwarteter 
Bedrängniſſe. 

„Verzeihung, wenn ich ſtöre!“ rief Hauptmann Salomon 
beim Eintritt: „aber, Sacre bleu! an wen ſoll ich mich anders 
wenden? Die Pfaffen in ihrem Neſt droben könnten mir wohl 
auch den Dienſt leiſten, um den ich Sie bitten möchte; aber der 
Teufel ſelbſt traut den ſchwarzen Vögeln nicht. Die brüten eben— 
falls, fürcht' ich, am liebſten über Baſtliskeneiern.“ 

„Und worin kann ich dienen?“ fragte Flavian, 

„Sie wiſſen vielleicht,“ fuhr der Platzkommandant fort: 
„von meiner Kompagnie liegt ein Detaſchement zu Sedrun ein— 
quartiert. Geſtern bekomm' ich Wind, daß in der Nachbarfchaft 


= m — 


von Sedrun geheime Bauernverſammlung, und zwar nächtlicher 
Weile, in einer Berghütte, abgehalten werden ſolle. Ich gebe 
dem Kommandanten in Sedrun Ordre. Er nicht faul, ſammelt 
ſeine Leute ohne Geräuſch; läßt ſie Abends und einzeln aus dem 
Dorfe ſchleichen, und umzingelt gegen Mitternacht die Hütte. 
Entweder unvorſichtiges Geräuſch, oder ein Wächter der Ver— 
ſchwornen, hatte unſere Mannſchaft verrathen. Der Offizier fand 
das Neſt leer; man hörte noch Schritte der Entwiſchten. Unſere 
Soldaten ſpringen ihnen nach, und erhaſchen zwei von den Schel— 
men, die nun gefangen nach Diſentis gebracht worden ſind. Ich 
ſoll ſie ins Verhör nehmen. Sacre bleu! wie ſoll man Leute 
verhören, die keine menſchliche Sprache reden, oder verſtehen, wie 
die Andern? Und ich kann ſie doch nicht, ohne zu wiſſen, wer 
fie find, und allenfalls, was ſie im Schilde führten, ins Haupt— 
quartier nach Chur abführen laſſen. Ich muß einen Rapport 
machen. Einsweilen ſitzen die Kerls, jeder beſonders, im Gefäng— 
niß. So nehm' ich, ſehen Sie, meine Zuflucht zu Ihnen, lieber 
Hauptmann. Ich erſuche Sie, dieſe Rebellen ein wenig auszu— 
forſchen, oder mir wenigſtens ihre Namen und Wohnorte zu ſagen. 
Können Sie mehr erfahren, deſto beſſer. Morgen laſſ' ich die 
Böſewichte nach Chur führen, wo man ſie füſiliren wird. Allein 
es muß doch auch ein Rapport dazu gemacht ſein! Nicht wahr, 
Sie ſind ſo gefällig und werden einmal mein Verhörrichter und 
Dolmetſch?“ 

Es war für Flavian nicht der angenehmſte Auftrag. Das 
Wort „Füſiliren“ klang ihm aus der ganzen Rede am ſchärf— 
ſten ins Ohr. Verräther ſeiner Landsleute werden, und ſie, die 
in allzublinder Vaterlandsliebe vielleicht unbeſonnen gehandelt hat— 
ten, einem franzöſiſchen Kriegsgericht, das heißt, dem Tode, zu 
überliefern, fühlte er nicht die mindeſte Luft. Hinwieder ſchien 
auch nicht wohlgethan, durch Abſchlagung der Bitte ſich ſelber 


— 160 — 


etwa zu verdächtigen. Nach kurzem Bedenken, während dem er 
ein paar gleichgültige Fragen dazwiſchen geworfen hatte, auf deren 
Beantwortung er kaum hörte, willigte er in die Aufforderung und 
folgte dem Offizier ſogleich zu einem der Gefängniſſe. Der Kom—⸗ 
mandant ließ es vom dienſthabenden Unteroffizier aufſchließen, und, 
weil er von der Unterredung kein Wort verſtehen konnte, entfernt’ 
er ſich, des Berichts gewärtig, den der Scharfſchützenhauptmann 
abzuſtatten verſprach. 

Flavian fand, in der dumpfen, engen Kammer einen der Ge— 
fangenen wohlgefeſſelt, im Winkel, mit unterſchlagenen Armen 
ſitzend. Dieſer regte ſich nicht. Flavian hingegen ſtand erſchrocken, 
als er in der breitſchultrigen, langen Geſtalt den alten Gilg 
Daniffer wieder erblickte, deſſen Bekanntſchaft ihm in der ſchreck— 
lichen Märznacht geworden war. 

„Wie denn?“ rief er: „Gilg, Ihr? Seid um meinetwillen 
ohne Furcht. Ich bin ja Euer Freund und Landsmann!“ 

Der Gefeſſelte richtete langſam den Kopf in die Höhe, ſtrich 
die wirren, weißen Haare von der Stirn zurück, betrachtete den 
jungen Mann mit ungewiſſen Blicken und brummte: „Aha! 
Burſch, biſt du's und wieder lebendig? Was ſuchſt du hier? 
Möchteſt du mir etwa die ſchlechte Bewirthung zahlen? oder biſt 
du auch wieder Gefangener, wie ich?“ 

„Ich ſoll Euch ins Verhör nehmen, Gilg. Der Platzkomman⸗ 
dant gab mir den Auftrag, weil die Franzoſen weder romaniſch, 
noch deutſch verſtehen.“ 

„Sag ihnen, ſie ſollen in ein paar Tagen deutſch genug ler— 
nen. Wir werden es ihnen mit unſern Morgenſternen einleuch- 
tend machen. Aber dir, Burſch', hätt' ich auch nicht zugetraut, 
daß du Eins ums Andere, Gott und dem Teufel dienſt. Pack' 
dich von hinnen, Mameluk!“ 

„Nein, Gilg, Ihr ſeid irre. Ich hoffe Euch zu retten. Darum 


— #1 — 


eben nahm ich das Gefchäft vom Kommandanten an. Nach feiner 
Meinung follt Ihr morgen, nebſt einem andern Gefangenen, gen 
Chur gebracht werden. Das möcht' ich gern verhüten; ich möchte 
für Euch Zeit gewinnen. Verlaßt Euch auf mich. Haltet Euch 
ruhig. Laßt mich ſorgen. Lebt wohl!“ 

„Halt, Burſch! wohin? Es ſcheint beinah, du meinſt es 
ehrlich mit mir. Thuſt auch wohl daran, bei meiner armen Seel'! 
Denn morgen hoff' ich, ohne deine Hülfe frei zu ſein, und in 
größerer Geſellſchaft nach Chur zu ziehen, als dem Kommandanten 
lieb iſt. Verlaß dich auf mein Wort. Gelt! heut iſt der letzte 
Apriltag!“ 

„Er iſt's! Nur verſteh' ich nicht, was Ihr redet.“ 

„Gut, mein Burſch! Für einen undankbaren Verräther und 
Spion trägſt du doch ein zu ehrliches Geſicht. Du ſollſt bald den 
jüngſten Tag der Franzoſen erleben. Schaffe, daß ich wenigſtens 
morgen noch in dieſem unſaubern Loche verbleibe. Es ſoll dein 
Schade nicht ſein. Nimm die Hand darauf. Mehr ſag' ich dir 
nicht.“ 5 

„Vertraut mir, Gilg! Habt Ihr ſonſt noch einen Wunſch?“ 

„Ja wohl! Die franzöſiſchen Windbeutel glauben, unſer Einer 
lebe vom Wind. Schaffe mir ein Stück Magentroſt, denn ich bin 
nüchtern; und wär's auch keine beſſere Koſt, als ich dir vor zwei 
Monaten aufgetiſcht habe. — Höre, falls du ein redlicher Kerl 
biſt, komm' dieſen Abend noch einmal in dies Rattenneſt, und 
ſage mir, was draußen indeſſen vorgegangen iſt. Daran will ich 
dich erkennen! Verſtehſt du?“ 

„Es ſoll geſchehen, Gilg. Seid gutes Muthes. Lebt wohl. 
Ich will auch noch Euern Unglücksgefährten tröſten. Iſt er ſo 
ein Braver, wie Ihr ſelbſt?“ 

„Das mein' ich und beſſer, bei meiner armen Seel'! als man— 
cher Bündner⸗Schelm. Er iſt' im Namen des Oberſten St. Julien, 

Zſch. Nov. XI. 11 


* 


der ... Sprich fein höflich mit ihm, mein Burſch. Er iſt nicht 
etwa unſers Gleichen. Er iſt ein vornehmer Herr; ein hoher 
öſterreichiſcher Herr, der Leib und Leben fürs Bündnerland und 
für ſeinen Kaiſer auf die Karte geſetzt hat. Er dauert mich nun. 
Schaff' im beſſeres Quartier, als mir angewieſen iſt, und gutes 
Eſſen. Er iſt, unter uns geſagt, ein Graf und daher nicht an 
faulen Käs gewöhnt, wie wir.“ 

„Wie heißt er?“ 

„Wenn du Geld haſt, Burſch, ſo ſpare nichts, ihn wohl zu 
halten. Er vergilt es dir zehnfach. Es iſt der Graf,“ hier 
liſpelte Gilg kaum hörbar: „Graf Malariva. Verſtehſt du? Den 
hatten die franzöſiſchen Spürhunde doch nicht in Chur ausge— 
ſchnüffelt.“ 1 

Flavian hörte den Namen „Malariva“ mit widerwilligem 
Erſtaunen. „Der hier?“ rief er, und alles Blut in ihm ward 
Glut, und jede Faſer in ihm empörte ſich. 

„Er iſt in meiner Gewalt!“ jauchzte es in ſeinem Innern, 
wie Stimme der Rache. — Doch im gleichen Augenblick zürnt' er 
ſich ſelber. 

„Nun ja, Kamerad,“ ſagte Daniffer, ohne die Aufwallung 
des Jünglings zu gewahren: „Und wenn der Herr bis morgen 
Leib und Seele beiſammen behält, kann er, will's Gott, noch 
lange leben. Kennſt du ihn?“ - 

„Ich will ihn ſehen, und für ihn Sorge tragen, wie für Euch,“ 
verſetzte Prevoſt und entfernte ſich raſch, als ein Soldat erſchien, 
dem Gefangenen die kärgliche Mittagskoſt zu bringen. Der Unter: 
offizier draußen verſchloß die mit doppelter Wache beſetzte Thür 
und führte den neugebackenen Verhörrichter zu einem andern Haufe. 
Er ließ ihn da in ein ſtallähnliches Gemach treten, wo im Zwie— 
licht, welches die blinden Scheiben des Fenſterchens kaum geſtat— 


— — 


teten, des Grafen Malariva dürre Geſtalt geſpenſtiſch umher: 
wankte. 

„Guten Morgen, Herr Graf!“ redete ihn der Hauptmann 
beim Eintritt an: „Der Wunſch iſt hier wohl am rechten Ort, 
wo ich Ihnen in der Welt am wenigſten zu begegnen hoffte.“ 

Der Gefangene ſtand verblüfft ſtill, und ſtarrte ihn düſter an. 
„Sie, mein Herr?“ ſtammelte er nach langer Verlegenheit, Worte 
zu finden, mit matter Stimme. Dann mit ſchnellgewonnener Faſ— 
ſung und faſt ſtolzem Tone fügte er hinzu: „Was führt denn Sie 
hierher? Auf weſſen Befehl erſcheinen Sie?“ 

„Vielleicht auf Befehl Ihres guten Engels, Herr Graf.“ 

„Den ſollt' ich, nach der Wahl ſeines Boten, kaum vermuthen. 
Reden Sie, Herr Prevoſt. Ich bin auf jedes Schickſal gefaßt. 
Ich ſtehe in der Gewalt des Feindes, dem Sie, ſcheint es, gegen 
Ihr eigenes Vaterland dienen.“ 

„Keine Beleidigungen zu den frühern, Herr Graf! Auch bin 
ich keineswegs verpflichtet, einem Manne, wie Ihnen, Rechen— 
ſchaft von meinem Handeln abzulegen. Nur das ſei Ihnen geſagt, 
daß ich weder den Franzoſen, noch Ihrem Kaiſer, ſondern meinem 
Gewiſſen diene. Weil man glaubt, Sie verſtehen nicht franzöſiſch, 
ſoll ich die Verrichtung des Dolmetſchers übernehmen und er— 
fragen, wer Sie ſeien, und was Sie unter den hieſigen Bauern 
in deren nächtlichen Verſammlungen treiben? Daß Sie ein öſter— 
reichiſcher Emiſſär, ein Aufwiegler find, verräth den Franzoſen 
ſchon Ihr Aeußeres. Uebrigens, ich kenne Sie. Sie find der 
vorgebliche öſterreichiſche Offizier, welchen der Oberſt St. Julien 
geſchickt haben ſoll. Ich weiß und errathe Alles.“ 

„Errathen, mein Herr, iſt nicht erwieſen!“ murmelte Ma— 
lariva, dem ſchon wieder etwas beklommener ums Herz ward: 
„Aber ſprechen Sie weiter.“ 

„Das Uebrige iſt nicht tröſtlich, wie Sie leicht vermuthen 


5 


können. Sie ſollen vor ein franzöſiſches Kriegsgericht geſtellt, 
und morgen, mit Gilg Daniffer, ins Hauptquartier nach Chur 
gebracht werden, wo Sie als Aufwiegler oder Kundſchafter, von 
einem Kriegsgericht ein Urtheil zu erwarten haben, wie Sie fich's 
vorſtellen mögen.“ 

„Kriegsgericht? Es wäre entſetzlich!“ rief der Graf und fiel, 
wie gelähmt, auf eine Bank. Es entſtand Stille. Dann trat 
Flavian zu ihm und ſchüttelte und rüttelte ihn aus der Betäu— 
bung auf, und ſagte: „Verlieren Sie nicht allen Muth, Graf. 
Beurtheilen Sie meine Denkart nicht nach der Ihrigen in Wien. 
Wenn es irgend möglich iſt, rett' ich Sie vom gewiſſen Tode.“ 

„Sie? — Können Sie? — Glauben Sie? —“ ſtammelte der 
Ohnmächtige halblaut und hob mit jammernder Geberde die Hände 
zu Flavian empor. 

„Faſſen Sie, ſag' ich, Muth, Graf! Verſtellung iſt Ihnen 
ja nicht ſchwer. Nehmen Sie etwa Ton und Miene eines un: 
ſchuldigen Krämers an, der hier zufällig, bei der kriegeriſchen 
Verwirrung, in Geſellſchaft der Bauern gerieth. Ich habe mei— 
nen Plan entworfen. Sie und Daniffer, hoff' ich, ſollen gerettet 
werden, wenn Möglichkeit dazu vorhanden iſt.“ 

„Daniffer? Alſo hat mich der verrathen, der Schurke?“ rief 
Malariva: „Verflucht, daß ich auf der Flucht von Chur mich 
zu dieſem treuloſen Geſindel über alle Berge her abenteuern 
mußte! Vortrefflicher, edler Mann, vergeſſen wir Beide das Ver— 
gangene! werden wir Freunde. Werden Sie mein Retter, mein 
Erlöſer! Mit Allem, was ich bin, habe und hoffe, will ich dank— 
bar werden. Haben Sie nur dies einzige Mal einiges Vertrauen 
zu meinen Worten! Was in Wien zwiſchen uns Mißbeliebiges 
vorfiel, war offenbar Folge der ärgſten Mißverſtändniſſe von mei⸗ 
ner Seite. Vergeben, vergeſſen Sie, mein theurer Herr Prevoſt!“ 

„Davon ſei jetzt keine Rede!“ fiel ihm Flavian ins Wort: 


— 165 — 


„Doch eine Frage erwiedern Sie mir mit ehrlicher Antwort. Ich 
weiß, daß Sie mich bei der Wiener Polizeibehörde verleumdet, 
falſch angeklagt haben. Ich bin überzeugt, daß Sie, Herr, und 
kein Anderer, durch Ihre Ränke meine Verſtoßung aus dem Hauſe 
der Baronin Grienenburg bewirkt haben; daß ...“ 

Malariva ſprang auf, und Flavians Hände in die ſeinigen 
ſchließend, rief er: „Bei Gott und all ſeinen Heiligen ſchwör' 
ich, Sie irren. Womit hab' ich Ihren Verdacht verſchuldet? Ich 
bin ein Ehrenmann, und will, ich beſchwör' es bei meiner Seelen 
Seligkeit, zu Allem aufrichtig Rede ſtehen.“ 

„So geſtehen Sie: händigten Sie dem Fräulein von Marmels 
die eingeſiegelte Stickerei, die ich Ihnen in Wien gab, wirklich 
ein, oder ...“ 

„Die Stickerei? Allerdings, allerdings hab' ich, mein beſter 
Herr Prevoſt! Allerdings! Wenn ich nicht irre, ein Geldbeutel 
war's. Das Fräulein ſchien empfindlich; aber nahm ihn endlich, 
ſteckte ihn ein und bewahrte ihn.“ 

„Es war dieſer hier!“ ſagte Flavian mit finſterer Miene, 
indem er die Börſe mit Elfriedens Stickerei hervorzog und dem 
Grafen dicht unter die Augen hielt. 

„Richtig, mein lieber theurer Freund, ganz richtig! Sie er— 
innern mich!“ fuhr Malariva, ohne Verlegenheit, fort: „Das 
Fräulein warf ihn mir wieder vor die Füße. Ich hob ihn auf; 
wollt' ihn ſogleich Ihnen zurückſtellen. Aber Sie wiſſen, als wir 
nachher ...“ 

„Und Sie machten dann einem gemeinen Mädchen, einem ge— 
wiſſen Nannerl, fremdes Eigenthum zum Geſchenk. Läugnen Sie, 
Lügner!“ 

„Was? Nannerl? — Nimmermehr! Wie denken Sie von mir? 
Die Perſon ſtand wohl ehemals in meinem Dienſt, aber, ich bitte 
Sie, ..das Menſch hat ihn vermuthlich aus einer Schublade 


— 166 — 


meines Schreibpultes entwendet! Ich verwahrte ihn, auf Ehre, 
wie ein Heiligthum.“ 

„Der Elende! er lügt noch mir und dem Tode ins Angeſicht!“ 
murrte Flavian, indem er ſich ärgerlich wegdrehte und zur Thür 
ging. Der Graf ſprang ihm bleich und zitternd nach, fiel vor ihm 
nieder und umarmte Flavians Kniee. „Um Gottes Barmherzig⸗ 
keit willen,“ ſeufzte er laut: „verlaſſen Sie mich doch nicht! Ret—⸗ 
ten Sie mich! Was fordern Sie? Ich opfere Ihnen, was Sie 
begehren mögen. Sie lieben Fräulein Marmels. Ich bin des 

Mädchens Vormund. Sie, kein Anderer, ſollen das Fräulein von 
mir empfangen; auch das ganze Vermögen dazu, und die ganze 
Hinterlaſſenſchaft der Baronin Grienenburg dazu; Alles, Alles!“ 

„Hinterlaſſenſchaft? Iſt die Baronin geſtorben?“ fragte Fla— 
vian überraſcht. 

„Im Karlsbad; Ende vorigen Jahrs! Aber, die Zeit flieht! 
es iſt kein Augenblick zu verſäumen! Verlaſſen Sie mich Unglück— 
lichen nicht! Nur diesmal nicht!“ 

„Und das Fräulein von Marmels?“ forſchte Flavian wei— 
ter: „Was iſt aus ihm geworden? Stehen Sie auf! Reden Sie 
Wahrheit.“ 

Der Graf richtete ſich zitternd empor und antwortete: „Als 
ich zur Armee des Erzherzogs abgegangen war, wurde mir ge— 
meldet, — es war mehrere Wochen nachher ... das Fräulein 
habe ſich von Wien entfernt; man wußte nicht wohin? Man 
glaubt, ſie ſei zu einer Freundin nach Mähren. Wir werden es 


erfahren, wenn ich nach . . . Retten Sie mich aus der Gewalt 
der Franzoſen! — Sie können es! — Sie ſind zu edel, allzu 
barmherzig, als daß Sie, — und meine ewige Dankharkeit! 


Ueberlaſſen Sie mich nicht dem ſchrecklichſten Schickſal!“ 
Mit innerm Ekel wandte ſich Prevoſt von der Armenfünder⸗ 


— 167 — 


geſtalt hinweg; verſprach zu leiſten, was in ſeiner Macht liege 
und entfernte ſich. f 


31. 


Der Fm m a i d a n 


Hauptmann Salomon ſaß Mittags an wohlbeſetzter Tafel, 
ein Gläschen alten Kloſterweins in der Hand, als fein Dolmetfch 
zu ihm ins Zimmer trat, über das Verhör der Gefangenen Be— 
richt zu erſtatten. 

„Setzen Sie ſich, Bürger Prevoſt!“ rief der Kommandant 
mit weinrothem Geſicht, und füllte dem Gaſt aus friſcher Flaſche 
das Glas: „Nehmen Sie, Bürger, flüſſiges, feuriges Gold! 
Der Pater Kellermeiſter in der Abtei verſteht ſeinen Beruf. Und 
nun erzählen Sie; wer ſind die Zeiſige, die wir im Käfig haben?“ 

„Ein herrlicher Fang, Kapitän!“ ſagte Flavian: „Wir 
müſſen fie nur kirre machen, damit fie die Schüchternheit ver— 
lieren, und noch heller pfeifen. Was ich bisher von ihnen aus— 
lockte, iſt Folgendes: der Jüngere iſt ein Deutſcher, ein Handels— 
reiſender, der, glaub' ich, Schweizerkäſe aufkauft, und von den 
Bauern angehalten wurde, als er gen Urſeren ging; der Andere 
iſt ein altersſchwacher Greis, faſt kindiſch, von Rueras hier, im 
Tavetſcher Thal. Beide, halb verhungert, waren zu erſchrocken. 
und ermattet, als daß ich viel von ihnen hätte vernehmen können. 
Der Jüngere iſt erbötig, zu entdecken, was er in der Bauernver— 
ſammlung gehört und geſehen habe, wenn man ihm Friſt gönnt, 
ſich auf Alles zu beſinnen, und dagegen verſprechen will, ihn, 
als Fremden, die Reiſe fortſetzen zu laſſen. Darum werd' ich 
Beide dieſen Abend, mit Ihrer Erlaubniß, noch einmal beſuchen.“ 

„Wohlgethan!“ rief der Kommandant: „Sparen Sie ſchöne 


— 18 — 


Worte nicht. Verſprechen Sie, was die Schurken irgend wün⸗ 
ſchen. Morgen mag man ihnen in Chur davon halten, was man 
will. Mir iſt's einerlei.“ 

„Kapitän, nichts übereilt!“ verſetzte der Berichterſtatter: 
„Behalten Sie die Leute morgen zurück. Wir müſſen ihnen das 
ganze, kein halbes Geheimniß ablocken, damit der Rapport im 
Hauptquartier wichtigere Dinge enthält, als leere Namen von 
Verdächtigen, deren Einer im Stand iſt, ſich in Chur ſogar, als 
unſchuldiger Fremdling, zu legitimiren. Folgen Sie meinem Rath. 
Sie werden dabei mehr Ehre ärnten.“ 

Der Kommandant ſchüttelte den Kopf bedenklich und er— 
wiederte: „Sie mögen einerſeits Recht haben. Aber die Kerls 
ſind hier bei den Rebellen ſchlecht aufgehoben; die Gefängniſſe 
unſicher, und es ſcheint, es wird im Lande von Tag zu Tag um 
ruhiger!“ 

„Eben deswegen, Kapitän!“ entgegnete Flavian: „Einer 
der Verhafteten hat ſchon bekannt, daß in der Verſammlung der 
Bauern von nahem allgemeinem Angriff der Oeſterreicher auf den 
St. Luzienſteig Rede geweſen. Iſt's wahr, ſo kömmt, wenn man 
ſich ſchlägt, Ihr Rapport zur böſeſten Zeit nach Chur, und Sie 
gefahren dazu noch, daß man die Gefangenen unterwegs durch 
Volksauflauf frei macht. Starke Bewachung können Sie nicht 
mitgeben. Erwarten wir, ob nicht vielleicht heut oder morgen 
ſchon Kanonendonner von Oſten her gehört wird. In dem Fall ...“ 

„Sacre bleu!“ ſchrie Kapitän Salomon: „Die Oeſterreicher 
wagen's nicht. Wir find ſtark, und mächtig verſchanzt!“ 

Dies Zwiegeſpräch dauerte noch geraume Zeit, ohne daß Einer 
den Andern bekehrte. Flavian war jedoch ſchon zufrieden, daß er 
den Platzkommandanten in deſſen erſtem Entſchluß etwas erſchüt⸗ 
tert ſah. Er entwarf danach ſeine Pläne, zu deren Gelingen ihm 
Uli Goin, wie er hoffte, kräftige Hand reichen follte. 


— 169 — 


Ins Schloß zurückgekommen, ließ er den ſonſt ſo dienſtfertigen 
Uli überall aufſuchen. Aber dieſer war nirgends im ganzen Dorfe 
zu finden. Flavian gerieth in Verlegenheit; denn ohne deſſen 
Beiſtand war an das Befreiungsgeſchäft gar nicht zu denken. Uli 
kannte Wege und Stege des Landes zur ſichern Flucht, und kannte, 
wenn Liſt nichts vermochte, Gehülfen genug, die Kerker mit Ge— 
walt zu erbrechen. — Der Tag verſtrich; doch Uli Goin erſchien 
nicht. 

Prevoſt begab ſich noch einmal zu den Verhafteten, ihnen Hoff— 
nungen zu geben, die ihm ſelbſt ausgingen. Er entwickelte ſeine 
Entwürfe; theilte ihnen die Rollen mit, die ſie künftig ſowohl gegen 
den Kommandanten, als gegen jeden Andern zu ſpielen hätten, der, 
ſie ins Verhör zu nehmen, kommen würde. 

Graf Malariva ſaß dabei, wie am Morgen, wie in dumpfer 
Vernichtung; hörte nur kaum Flavians Worte, ſondern ſtreckte von 
Zeit zu Zeit die gefalteten Hände zum Sprechenden flehend empor. 
Gilg Daniffer hinwieder hatte den kalten Trotz nicht eingebüßt, 
mit welchem er eben ſo gleichgültig ſeinem Todesurtheil, als ſeiner 
Befreiung entgegen ſah. Er gab dem jungen Freunde noch mancherlei 
Rath und Wink zur glücklichen Ausführung des zu wagenden Vor— 
habens, und ſchloß mit den Worten: „Läßt mich der vermaledeite 
Kommandant nur noch vierundzwanzig Stunden gewähren, dann, 
mein braver Burſch, ſoll er ſelber unter das Meſſer, mein Seel, 
und dir wird alle Müh' erſpart!“ 

Der Kommandant, zu dem ſich Prevoſt abermals verfügte, 
war und blieb aber, ungeachtet aller Beredſamkeit ſeines Unter— 
händlers feſt entſchieden, die Gefangenen keinen Tag länger zu— 
rückzubehalten. Er hatte ſchon zu deren Begleitung die Mann— 
ſchaft für den nächſten Morgen angeordnet und lachte zu den 
furchtſamen Bedenklichkeiten des Schützenhauptmanns. „Meine 
Soldaten haben gemeſſenen Befehl,“ ſagte er, „Feuer zu geben, 


= > 


ſobald ſich unterwegs Bauergeſindel zur Losmachung der Gefange— 
nen nähert, und dieſe ebenfalls ſogleich niederzuſchießen, möchten 
ſie Miene zum Entwiſchen machen, oder nicht. Lebendig ſoll man 
dieſe Schurken nicht bekommen. Dabei bleibt's!“ 

Es war ſpät Abends, als Flavian ins Schloß zurückkehrte und 
vergebens dem vermißten Uli Goin nachfragte. Er ſah die Un— 
möglichkeit ein, in der Nacht, ohne des Tavetſchers Hülfe, etwas Ge— 
deihliches vorzunehmen. Doch nun einmal des feſten Vorſatzes, ſie um 
jeden Preis in Freiheit zu ſetzen und dem gewiſſen Tode zu entreißen, 
beſchloß er, ihnen am andern Tage, auf dem Wege nach Ilanz und 
Chur, voran zu eilen; Leute zu werben; kein Geld zu ſparen, 
und unterwegs das militäriſche Geleit zu überfallen. Wohl lag 
ihm die Gefahr des Grafen Malariva weniger am Herzen; er ver— 
achtete ihn. Doch Hoffnung, deſſen tückiſches Treiben in Wien mit 
Großmuth vergelten zu können, that dem Stolz des Herzens wohl. 
Wichtiger ward ihm, den alten Daniffer nicht in die Mordfauſt 
eines franzöſiſchen Kriegsgerichts fallen zu laſſen: den Mann, wel— 
chem er ſelber zum Dank verpflichtet war, und den nur blinde, 
ungeſtüme Liebe des Vaterlandes gegen deſſen Unterdrücker empört 
hatte. Einige Hoffnung des Gelingens gab ihm die zwölf Stunden 
weite Entfernung von Chur. Die Franzoſen mußten nothwendig 
einmal unterwegs übernachten. 

Jeden Augenblick zum Aufbruch am Morgen gerüſtet zu ſein, 
bereitete er Kleidung und Geld vor; Geſchenke für die Diener des 
Schloſſes; ein Briefchen mit Abſchiedsworten an den würdigen 
Pater Gregorius. Eben war er daran, die Herrin des Hauſes 


aufzuſuchen, ihr noch einmal Dank für die mütterliche Güte aus- 


zuſprechen, als eine Magd ins Zimmer trat, die ihn zur . von 
Caſtelberg einlud. 


32. 
Das neue Gelübde. 


Die Gemahlin des Bundeshauptes, oder des Landrichters vom 
grauen Bund, Frau von Caſtelberg, eine Tochter des im Volke 
hochgeachteten Geſchlechts derer von Ca pol, empfing ihren Gaſt— 
freund mit gewohnter Huld. Doch ließ ſich diesmal in ihrem Weſen 
nicht eine gewiſſe ängſtliche Verlegenheit und Trübheit verkennen, 
die ſie umſonſt zu verheimlichen ſich befliß. Mit einem, wenn auch 
nicht mehr jugendlichen, doch friſchen Aeußern und einem durch 
feine Erziehung erworbenen Anſtand, verband ſie jenen Sinn für 
Einfachheit und Häuslichkeit, welcher damals, unter den Bünd— 
nerinnen von guter Familie, Haupttugend zu ſein pflegte. Eben 
ſo, wie ihre Kleidung, zum Theil längſt veralteten Moden treu, 
zum Theil der gemeinen weiblichen Landestracht verwandt, von 
köſtlicherm Stoff, und nicht ohne Geſchmack gewählt war, ſah man 
auch Verzierungen und Geräthe ſämmtlicher Zimmer des Schloſſes 
aus wohlerhaltenen, alterthümlichen Stücken des Familienerbes, 
wie aus Arbeiten ſpäterer Künſtler und Handwerker, dem Auge 
gefällig zuſammengeordnet. Man fühlte ſich da ſehr bald heimath— 
lich, wo traute Zeugen einer ehrenwerthen Vergangenheit, mit 
Schöpfungen neuerer Kunſt und Bequemlichkeit, fo freundlich bei— 
ſammenſtanden, wie in einer glücklichen Haushaltung, Großeltern, 
Kinder und Enkel. 

„Sie treffen Anſtalten zur Abreiſe, hör' ich,“ ſagte die Ge— 
bieterin des Schloſſes, und ließ Flavian neben ſich auf das Sofa 
niederſitzen. 

„Wirklich ſtand ich im Begriff,“ antwortete er: „Ihnen, 
gnädige Frau, mein Lebewohl zu ſagen. Ich habe nur zu lange 
ſchon Unruhe und Beſchwerde in Ihr ſtilles Hausweſen gebracht. 
Es iſt Zeit, daß ich ſcheide; aber gewiß geſchieht es mit ſchwerem 


— 172 — 


Herzen. Denn durch Ihre Theilnahme an meinem Schickſal, durch 
die vielen Opfer, welche mir Ihr Mitleiden brachte, bin ich Ihr 
größter Schuldner geworden, und kann einſtweilen doch mit nichts, 
als nur amen Worten zahlen. Ohne Ihre menſchenfreundliche 
Pflege, ohne Ihre liebevolle Sorgfalt, wie ſie nur eine Mutter für 
den eigenen Sohn hegen kann, läg' ich wahrſcheinlich im Schoos 
des Grabes. Ich weiß nicht, wie danken und vergelten?“ 

„Lieber Hauptmann, offenbar rechnen Sie mein Thun zu hoch 
an. Es iſt ja kein Verdienſt, ſich einer natürlichen Pflicht zu ent—⸗ 
laden; und noch weniger, wenn es nicht ganz uneigennützig ge— 
ſchieht. Sehen Sie, das iſt leider der Fall bei mir. Sie wiſſen 
nicht, ſagen Sie, wie mir danken? Ich aber weiß es ſchon lange. 
Deshalb ließ ich Sie zu mir bitten. Darf ich für meine geringen 
Dienſte fordern, was ich will?“ 

„Alles, gnädige Frau, was Sie verlangen, und wenn es ſein 
muß, mein Leben, was ich Ihnen doch zuletzt ſchuldig bin.“ 

„Ich halte Sie für ritterlich genug, lieber Hauptmann, ſelbſt 
Ihr Leben für eine Dame ins Spiel zu wagen. Wenn ich nun 
aber um das Wagſtück, oder um ein Aehnliches, bitten würde?“ 

„Betrachten Sie es, eh' Sie, meine Gnädige, darum bitten 
wollen, als ſchon zugeſagt.“ 

„Gilt es Ernſt?“ fragte ſie lächelnd und reichte ihm die offene 
Hand dar. 

„Hier mein Handſchlag!“ erwiederte er, und zog die dargebotene 
Hand der Herrin an ſeine Lippen. 

„Wohlan, mein getreuer und tapferer Ritter, ich bin jetzt zu— 
frieden. Hören Sie meine erſte Bitte, der aber noch eine lange 
Reihe anderer folgen wird. Verlaſſen Sie dies Schloß nicht, bis 
ich es Ihnen erlaube; und die Erlaubniß hoff' ich Ihnen in wenigen 
Tagen zu geben.“ 

Flavian, der dies am wenigſten erwartet hatte, fühlte ſich in 


— = 


ſehr beengender Verlegenheit. Er dachte an die Gefangenen, an 
das gegebene Wort, an das ihnen drohende Schickſal, und zu— 
gleich fiel ihm auch das mit Pater Gregorius gepflogene Morgen— 
geſpräch ein, nebſt gewiſſen Aeußerungen deſſelben, welche mit dem 
jetzigen Wunſch der Frau von Caſtelberg in Verbindung zu ſtehen 
ſchienen. Er ſann einen Augenblick, ob er ihr ſein Vorhaben für 
den folgenden Tag entdecken dürfe? 

„Es ſcheint beinah,“ hob die Dame nach kurzem Schweigen 
an, während deſſen ſie ihn aufmerkſam beobachtete: „ſchon die 
erſte Bitte fällt etwas ſchwer aufs Herz?“ 

„Vielleicht am ſchwerſten von allen möglichen andern!“ ant— 
wortete Flavian, ſich von ſeiner Verwirrung befreiend: „Ur— 
theilen Sie ſelber. Ich machte mich heut ſchon, durch ein un— 
widerrufliches Verſprechen, verbindlich, morgen eine kleine Wan— 
derung in der Nachbarſchaft zu machen. Geſtatten Sie mir dieſe: 
ſo bin ich am Abend zurück, oder zeitig am folgenden Tage,“ 

„Warum nicht eine kurze Abweſenheit geſtatten? Wenn ich 
nur Ihrer Rückkunft vollkommen verſichert bin. Und ich bin es 
durch Ihr Ehrenwort,“ ſagte die Gemahlin des Landrichters: 
„Und nun die zweite Bitte! Ich nehme mit derſelben Ihren ganzen 
ritterlichen Heldenmuth und Edelſinn in Anſpruch. Wir leben leider 
in einer gar wildbewegten, ſchreckenreichen Zeit. Es gehen düſtere 
Gerüchte vom naheſtehenden Kampf der Kaiſerlichen und Franzoſen 
in unſern unglücklichen Thälern. Wege und Stege ſind unſicher 
durch unſer bis zur Wuth aufgeregtes Volk. Ein hülfloſes, ver— 
laſſenes, ſogar durch Parteiwuth verfolgtes Frauenzimmer, eine 
mir ſehr liebe Freundin, wünſcht unter dieſen Umſtänden Bünden, 
ſobald als möglich, verlaſſen zu können. Sie wohnt nicht in 
Diſentis. Wollen Sie ſie in Ihren Schutz aufnehmen und über 
die Grenze nach Deutſchland, oder Italien, oder in die Schweiz 
führen? Hier im Dorfe und in der ganzen Umgegend iſt gegen— 


25 


wärtig keiner, dem ich ſie anzuvertrauen wage. Unſere Männer, 
Sie wiſſen es, find es leider in dieſer Zeit nicht — —“ 

Ohne Bedenken, meine Gnädige!“ unterbrach ſie der Haupt— 
mann: „Jede Stunde bin ich bereit und freudig, Ihre Befehle 
zu erfüllen. Gebe der Himmel, daß mein Geſchäft morgen ſchnell 
und glücklich von ſtatten gehe, und ich Abends wieder hier ſein 
könne! Wer, wenn die Frage erlaubt ſein mag, iſt die Verfolgte? 
und warum flüchtet ſie?“ 

„Das wird Ihnen die Verfolgte ſelber anvertrauen, ſobald ſie 
ſich in Sicherheit weiß. Sie iſt und heißt Fräulein Pauline von 
Stetten. Doch muß ich Ihnen ſagen, junger Herr, die Dame iſt 
weder ſehr jung, noch ſehr ſchön; vielleicht ein paar Jahre älter, 
oder jünger, als ich ſelbſt. Sie wird von einer Dienerin und einer 
Freundin begleitet. Die Letztere leidet unglücklicherweiſe an einer 
häßlichen Krankheit. Aber Fräulein Pauline will ſich von der 
armen Perſon nicht trennen; und dieſe will lieber ſterben, als ſich 
von ihrem Schutzengel ſcheiden laſſen und zurückbleiben. Sie hat, 
muß ich Ihnen ſagen, einen furchtbaren Krebsſchaden im Geſicht 
und dadurch, denken Sie ſich das Elend! ſchon eins der Augen fo 
gut, als verloren. — Wie iſt's? Verlieren Sie noch nicht den 
Muth?“ 

„Durchaus nicht, gnädige Frau. Sie haben mir des Guten 
ſo unendlich viel erwieſen, daß noch Alles zu wenig iſt, was Sie 
von mir fordern. Sie haben Recht; es ſind gefährliche, unſichere 


Zeiten. Gebe nur der Himmel, daß ich morgen ... Wie aber, 
wenn ich durch irgend ein böſes Verhängniß Sechlnhent werden 
follte, morgen oder übermorgen — — —“ 


„Wie, mein tapferer Ritter, blaſen Sie ſchon zum Rückeg, 
nun Sie hören, daß die Ihrem Schutz und Schirm empfohlene 
Dame nicht mehr ganz jung, und deren Freundin übel krank iſt? 
Ich weiß freilich, für Herren, wie Sie, iſt es keine geringe Plage, 


- 6 — 


tagelang, als Cavaliere fervente, ſich mit mehrern Frauenzimmern 
zugleich, in der Welt herumzuſchleppen. Allein — —“ 

„Verſtehen Sie mich wohl, gnädige Frau. Ich dachte in dem 
Augenblick nur daran, daß ich, wie geſagt, von einem frühern 
Gelübde gefeſſelt ſei; daß ich in der Gewalt von Zufälligkeiten 
ſtehe. Aber nur Gefangenſchaft, oder Tod, ſollen mich hindern, 
Ihnen mein Wort zu erfüllen.“ 

„Sie fürchten viel zu ſchreckliche Hinderniſſe, lieber Hauptmann. 
Ich vertraue Ihnen mit vollem Herzen. Bis zu Ihrer Rückkunft 
ins Schloß ſoll auch für die nöthigen Transportmittel geſorgt ſein, 
was eben jetzt keine leichte Sache ſein wird. Die Franzoſen haben 
unſere wenigen Roſſe in Beſchlag genommen, ſaſt ſämmtliche, welche 
man in dieſen Thälern beſitzt. Doch was mir nicht gelingt, wird, 
hoff' ich, dem Pater Gregorius möglich werden.“ 

„Alſo iſt er bei der Angelegenheit ebenfalls im Spiel? Er 
ließ dieſen Morgen einige Worte fallen, die darauf hindeuteten; 
erklärte ſie mir jedoch nicht deutlicher.“ 

„Warum that er's nicht?“ erwiederte Frau von Caſtelberg: 
„Er ſelbſt iſt ſogar der, welcher zuerſt den Gedanken auf Sie 
lenkte, obgleich Fräulein Pauline Bedenken trug, und es ſogar 
ein wenig unſchicklich fand, ſich den Händen eines jungen Herrn 
Ihres Gleichen anzuvertrauen. Sie müſſen dieſe Schüchternheit 
wohl einer Unvermählten verzeihen,“ ſetzte Frau von Caſtelberg 
lächelnd hinzu: „aber ſie lernt nun ebenfalls aus der Noth eine 
Tugend machen. — Worüber ſinnen Sie?“ 

„Nur eine Bitte, gnädige Frau: eine dringende, flehentliche! 
Hab' ich in meiner Krankheit von Ihnen und dem jungen Frauen— 
zimmer in Trauerkleidern bloß geträumt? Es iſt unmöglich; die 
Erſcheinung dünkt mich viel zu hell! Und heut wieder, dieſen 
Morgen, ſah ich, doch in anderer Geſtalt, beinah ein ähnliches 
Geſicht, Es gehörte einer jungen Bäuerin an. Ich erkannt' es 


— 7 — 


etwas unbeſtimmt nur aus der Ferne. Ich beſchwöre Sie, ſeien 
Sie lieb und gut; helfen Sie mir aus dem wirſchen Traum!“ 

„Wenn es ein angenehmer war, lieber Hauptmann, wär' es 
ja recht grauſam, ihn zu vernichten; und war er unangenehm, fo 
könnt' ich's mit beſtem Willen nicht. Das Geſicht, welches Sie 
heute ſahen, iſt mir leider fo unbekannt, als Ihre Viſton im 
Fieber.“ 

„Pater Gregorius ſah das Mädchen auch und ſchien dabei, wie 
mir's vorkam, verlegen.“ 

„Wirklich? Mit wem hier hätte die Traumgeſtalt, oder die 
Bäuerin, etwa Aehnlichkeit?“ 

„Hier mit Niemandem, aber mit einer Dame in Wien, mit 
einem — — — nein, ich fühle ſelbſt, es iſt Unmöglichkeit! Und 
doch ſo arg kann mich die Fantaſie nicht äffen.“ 

Je länger Flavian im Vermuthen, Zweifeln, Betheuern und 
Widerlegen fortfuhr, je höher ſpannte er Neugier, oder Wißbegier, 
der Frau Landrichterin. Sie ruhete auch nicht, ihn ſo lange und 
mit allem Aufwand weiblicher Schlauheit und Theilnahme aus— 
zuhorchen, bis ſie über die ſchöne Elfriede vollkommen unterrichtet 
war, die er eben ſo lebhaft zu haſſen, als zu lieben ſchien. Er 
ſprach mit Begeiſterung und zugleich mit bitterer Verachtung, 
während er aufmerkſam dabei Miene und Ton der Zuhörerin be— 
lauſchte. Doch überzeugte er ſich, daß Frau von Caſtelberg durch— 
aus der Hauptperſon ſeiner Erzählung fremd ſei. Zuweilen lachte 
fie, über den Widerſpruch in feinen Gefühlen laut auf; verrieth, 
aber mehr Theilnahme an ihm, als an dem jungen, ſtolzen Mäd⸗ 
chen, das ihn, oder in dem er ſich ſelbſt getäuſcht hatte. 

Das Geſpräch dauerte ſpät in die Nacht fort. Als er in ſein 
Zimmer zurückkehrte, fand er keinen Schlaf. Die wachgewordenen 
Erinnerungen, der Gedanke an die Befreiung der Gefangenen, 
die Unruhe wegen Uli Goins Abweſenheit, die zur Pflicht gewor⸗ 


1 — 


dene Begleiterſchaft der ihm empfohlenen Frauenzimmer, ſcheuch⸗ 
ten allen Schlummer von ſeinen Augen. Erſt gegen Morgen ver— 
lor er ſich in unerquickliches Träumen. 


33. 
Befürchtungen aller Art. 


Anhaltendes, immer ſtärkeres Pochen an der Thür weckte ihn. 
Er erſchrak, als ihm die Uhr ſagte, wie Mittag ſchon nahe fei. 
Er gedachte Uli Goins und der Gefangenen; warf ſich haſtig in 
die Kleider, und zürnte auf ſich ſelber, vielleicht ſchon den wich— 
tigſten Augenblick für das Gelingen ſeines Retterwerks verſäumt 
zu haben. Statt Uli Goins trat wieder, als er das Zimmer öff— 
nete, der Platzkommandant herein, der ſeine Zudringlichkeit ent— 
ſchuldigte, und ſich über Flavians geſunden, langen Schlaf ver— 
wunderte. N 

„Alle Welt iſt auf den Beinen! Im Flecken draußen wimmelt 
es von Menſchen, wie an einem Jahrmarkt!“ rief er: „Mir fängt 
der Zuſammenlauf an, verdaͤchtig zu werden.“ 

„Sind die Gefangenen ſchon abgeführt?“ fragte Flavian 
haftig, indem er feinen Anzug eilfertig vollendete. 

„Sie wiſſen alſo nicht, daß man ſich ſchlägt? Sacre bleu! 
Die Kaiſerlichen haben wirklich angegriffen. Seit Tagesanbruch 
hört man Kanonenſchall aus der Ferne, von Chur her, oder vom 
Luzienſteig. Er währt ununterbrochen fort, bald heftiger, bald 
ſchwächer. Sacre bleu! daß wir Andern zwiſchen Felſen hier ſitzen 
bleiben müſſen und nicht dabei ſein dürfen!“ 

„Aber, Kapitän, die Gefangenen! find ſie ſchon unterwegs nach 
Chur? Rufen Sie ſie zurück!“ 

„Nicht nöthig, Bürger Prevoſt, was denken Sie von mir? 

Zſch. Nov. XI. 12 


— 18 — 


Ich habe ſie in Verwahrung behalten. Ihr Rath geſtern war klug. 
Als mir in der Morgenfrühe von den Wachtpoſten Meldung ge— 
ſchah, man vernehme von Weitem Batteriefeuer, begab ich mich 
ſelbſt auf die Höhe, und überzeugte mich. Stracks ertheilt' ich 
Gegenbefehl. Die Gefangenen bleiben, wo ſie ſind.“ 

Flavian athmete tief auf, ſich eines herben Vorwurfs entladen 
zu wiſſen. Er freute ſich, nicht nur, daß des alten Daniffers 
Verlangen befriedigt worden war, ſondern auch, daß er ſeiner 
. Wirthin die angenehme Nachricht bringen könne, bei ihr zu ver— 
weilen, bis ſie ſelber die Abreiſe beſtimmen würde. Scherzend 
wandte er ſich nun an den Kommandanten, der das Zimmer nach— 
denklich mit langſamen Schritten maß und Flüche zwiſchen den 
Zähnen murmelte: „Luſtig, mein Kapitän, warum ſo ernſthaft? 
Man ſpielt zu neuen Siegen auf am Luzienſteig; kommen Sie, 
wir tanzen eins dazu!“ 

„Sehen Sie, Freund,“ ſagte der Kommandant, und ſchüttelte 
ärgerlich den Kopf: „wir ſind, wie ich ſchon oft geſagt habe, von 
erztückiſchen Verräthern umringt. Das Bauernvolk wußte ſchon 
Tage lang vorher den heutigen Angriff. Nun ſtreckt draußen Alles 
die Hälſe lang auf, ſpitzt die Ohren, und lauert. Warum läuft 
das Geſindel jetzt aus allen Schlupfwinkeln und Berglöchern hier 
im Ort zuſammen? Käme Nachricht, die Unſrigen zögen ſich zu— 
rück, ich wette, der Teufel wäre ſogleich von der Kette los, und 
wir hätten wüſte Arbeit mit ihm. Deswegen komm' ich eigentlich 
zu Ihnen. Meine Mannſchaft iſt auf den Beinen. Ich erwarte 
die Ankunft des Detafchements von Sedrun. Ich ziehe fie wieder 
an mich. Wir können keinen Mann entbehren, am wenigſten 
einen Mann, wie Sie, Bürger. Sie haben ſich dem General 
Loiſon, freilich nur als Freiwilliger, angeſchloſſen. Ich bitte und 
hoffe, Sie werden mit mir treu und entſchloſſen zuſammenhalten; 
werden Ihrem Baterlande und der Republik ferner dienen wollen. 


— 179 — 


Sie verſtehen das hieſige Kauderwelſch, und ſind allein im Stande, 
mir zu ſagen, was vorgeht, was etwa die Bauern im Schilde 
führen?“ 

„Mit Vergnügen, Kapitän, wenn ich's erfahre; denn noch 
weiß ich von Allem nichts, als was Sie mir eben anzeigen. 
Ich werde mich erkundigen; aber mit nöthiger Behutfamfeit. 
Denn — — —“ 

„Verſteht ſich, Bürger Prevoſt! Sie ſind ein Mann von Kopf 
und Herz.“ 

„Es iſt unentbehrlich, daß mir auch die Bauern ganz trauen.“ 

„Verſteht ſich! Sie ſelber ſind Bündner. Man traut Ihnen.“ 

„Deshalb darf ich keinen Argwohn wecken, ich ſei mit Ihnen, 
oder irgend einem Franzoſen, im Einverſtändniß. Alſo bleiben 
wir von nun an einander ſcheinbar entfernt, und gehen Beide, 
ohne Miene zu verziehen, an uns vorüber, wenn wir einander 
auf der Straße begegnen. Reden Sie mich nirgends an. Falls 
Gefahr droht, ſollen Sie, was ich erfahren, hören.“ 

„Einverſtanden. Dabei bleibt's! Machen Sie ſich auf; lau— 
ſchen Sie umher. Die Menſchen ſtehen da und dort truppweiſe, 
im Dorfe, oder außer demſelben, beiſammen, mit geheimnißvollem 
Geberdenſpiel. Sie ziſcheln und blinzeln einander nur mit den 
Augen zu. Der Eine preßt die Lippen zuſammen, als hielt er 
einen Laut zurück, der ihn verrathen möchte; der Andere ballt die 
Fäuſte; der Dritte ſieht ſcheu um ſich; der Vierte ſtampft mit den 
Füßen. Was ſoll das heißen? Es iſt etwas im Werke. Aber 
ich bin ſchlagfertig. Sacre bleu! der Erſte, der ſich rührt, ich 
laſſe ihn auf der Stelle füſiliren. 

„Keine Uebereilung, Kapitän! Auch gegen meine Landsleute 
hab' ich Pflichten. Vergießen Sie unbeſonnener Weiſe einen 
Tropfen Bluts meiner Mitbürger, ſo gehör' ich zu Ihren Geg— 
nern.“ 


— 180 — 


„Allons donc!“ rief der Kommandant, mit einem Ton, 
als wollt' er den Eindruck ſeiner letzten Worte verwiſchen, oder, 
als halt' er Flavians Drohung für unzeitigen Scherz. 

„Nein, Kapitän, nehmen Sie die Warnung nicht leicht auf. 
Beginnen Sie kein Unheil, es könnte Ihnen verlornes Spiel 
machen!“ 

„Gut, gut!“ erwiederte der Kommandant: „Wir ver⸗ 
ſtehen uns. Es bleibt bei der Abrede. Ich gehe zu meinen Leu— 
ten. Rapportiren Sie mir bald.“ 

Damit entfernte er ſich. 

Flavian ſtand nach dieſem Beſuche lange, mit verſchränkten 
Armen, da, und überſann die ſeltſame, zweiſeitige und zweideu— 
tige Lage, in die er durch den frommen Eifer gerathen war, 
überall pflichtgemäß zu handeln. Des Vaterlands bedrohte Unab⸗ 
hängigkeit und Freiheit aus der Gewalt Oeſterreichs und aus 
der rohen Willkür einer rachſüchtigen Partei zu erlöſen, hatte er 
ſich den republikaniſchen Brigaden Frankreichs angeſchloſſen; und 
ward inmitten derſelben, als ein Verdächtiger, nach Bünden ge— 
führt. Die Ermordung eines franzöſiſchen Kriegsgefangenen zu 
verhüten, hatte er ſich der Raſerei des blutdürſtigen Pöbels furcht— 
los entgegengeworfen; und ward verwundet, zertreten, mißhandelt, 
dem Tod nahe gebracht. Von Bündnern jetzt, als Landsmann, 
mit Vertrauen aufgenommen; von Franzoſen wie einer der Ihri— 
gen angeſehen, ſtand er zwiſchen beiden; von beiden, als Gehülf’ 
oder Werkzeug, angeſprochen. Indem er die kaltblütige Grauſam— 
keit des Platzkommandanten eben ſo ſehr, als die Gräuel eines 
zügelloſen Volks verabſcheute, ſah er von der einen, wie von der 
andern Seite Gefahr, weil er, welcher Partei er ſich zuwenden 
mochte, in den Augen der entgegengeſetzten, als feiger Achſelträger 
erſcheinen mußte. 

„Hab' ich denn unredlich gethan? Mein Gewiſſen ſpricht mich 


— 181 — 


frei!“ dachte er bei ſich: „Oder unklug gehandelt? Ich erkenn' 
es nirgends, es ſei denn der erſte Schritt, mit dem ich zum Ge— 
neral Loiſon ging. Aber konnt' ich von dem, was ich aus Liebe 
und Pflicht für das unterdrückte Vaterland wagte, die ganze Ver— 
kettung der Folgen vorauswiſſen? Ich habe mich nun einmal in 
den furchtbaren Strom der Schickſale mit Entſchloſſenheit hinein— 
geworfen; jetzt ſchlagen die Wogen über mir zuſammen und wäl— 
zen mich Ohnmächtigen mit ſich. Ich kann für meine beſten 
Zwecke nichts leiſten. Und den Raſereien beider Parteien dienen 
mag ich nicht, darf ich nicht. Eins aber, Flavian, iſt für dich 
hier zu lernen! Laß nach dem weiſen Rath des Benediktiners 
deine Weltverbeſſerungsträume für immer fahren! Der Flügel— 
ſchlag einer Mücke, oder auch eines Adlers, meiſtert die ſtürmi— 
ſchen Bewegungen eines Orkans nicht. Der rechte Reformator 
iſt Gott in ſeinen Verhängniſſen über die Völker. Trotze dem 
Schickſal nicht verwegen deine Rolle im Leben ab; ſondern be— 
gnüge dich mit der, die es gibt; und die ſpiele mannhaft und gut. 
Mag doch die Menſchenmaſſe ſich im Schlamm ihrer Gelüſte und 
Vernunftloſigkeiten herumwälzen und abquälen: folge du feſt und 
ſtill deinen heiligen Urbildern des Guten. Ueber alles Andere laß 
den walten, der über Alles waltet.“ 

„Das will ich!“ rief Flavian mit lauter Stimme. In ſich 
beruhigt verließ er das Schloß und begab ſich in den nahegelegenen 
Flecken von Diſentis. 

Hier fand er allerdings eine ungewöhnliche Menge Menſchen 
müßig und zerſtreut umherſtehen, die von allen Seiten durch friſche 
Ankömmlinge vermehrt ward. Doch ſchien ſie mehr durch Neugier, 
wegen des fernen Schlachtdonners, denn in anderer Abſicht ver— 
ſammelt zu ſein. Er unterhielt ſich mit Einem und dem Andern; 
forſchte auch, aber vergeblich, dem Uli Goin nach; begab ſich, 
eben ſo vergeblich, zum Gefängniß Malariva's und Daniffers, 


: ie 


weil Niemand Einlaß erhielt, und zahlreiche Bewachung da ftand. 
Als er endlich, nicht minder fruchtlos, in der Abtei den Pater 
Gregorius aufgeſucht hatte, ging er zur Frau von Caſtelberg 
heim, die ſich ſeines Bleibens im Schloſſe freute, weil ſie, wie 
Kapitän Salomon, vom Erſcheinen ſo vieler Landleute in Diſentis 
Böſes argwohnte. 


34. 
Derevte Wa e 


Unverhoff?, als er Nachmittags ſchreibend im Zimmer ſaß, 
tral Uli Goin heiter grüßend ein. 

„Du da?“ rief ihm Flavian entgegen: „In welchen Knei— 
pen lungerſt du umher? Ich habe dir ſeit geſtern aller Orten 
nachgeforſcht, und jetzt noch viel mit dir abzureden.“ 

„Ich mit Euch auch, Herr Hauptmann! Iſt Euer Säbel ge— 
wetzt, ſo ſchnallt ihn nur um; denn Ziel und Bolzen ſind jetzt 
nah beiſammen. Ich bin vorausgelaufen, Euch's zu melden und, 
denk' ich, bin guten Botenlohns werth. Macht Euch alfo fertig. 
Alle Donner! Der Wolf ſitzt im Garn, und ſeine Kameraden 
müſſen auch daran.“ 

„Laß dein Geſchwätz und höre, Uli! Unſer armer, alter Gilg 
Daniffer iſt von den Soldaten gefangen und im Kerker!“ 

„Ich weiß, Herr Hauptmann; aber man bringt ſchon die 
Schluſſel herbei; die beſten vom Meiſter Büchſenſchmied. Dem 
Gilg ſoll man kein Haar anrühren. Er kann noch heut, wenn er 
will, in feiner Kühweide ſpazieren gehen.“ 

„Ich verſteh' dich durchaus nicht. Was haſt du zu ſagen?“ 

„Nichts, als daß wir, gottlob, wieder Meiſter im eigenen 
Hauſe find. Wir haben in Tavetſch alle Franzoſen gefangen gez 


- 38 — 


nommen; gefangen ohne Schwertſtreich, ſag' ich Euch! Man 
bringt ſie nach Diſentis und in einer halben Stunde ſind ſie 
hier.“ 

Erſchrocken fuhr Flavian, bei dieſer Nachricht, vom Stuhl 
auf und rief: „Ums Himmels willen, was treibt Ihr, Men— 
ſchenkinder?“ 

„He!“ erwiederte Uli lachend: „Wißt Ihr denn nicht, heut 
iſt erſter Maitag? Die Oeſterreicher ſind beim Luzienſteig tapfer 
ans Werk gegangen; und wir hier nicht faul. Wenn der Stein 
umläuft, muß man ſchleifen. Alſo fort mit den Franzoſen, zum 
Land hinaus mit dem Diebsvolk, vor dem keine Schwarte im 
Rauchfang ſicher hängt!“ 

„Was iſt geſchehen? Setz' dich. Erzähle der Ordnung nach.“ 

„Nun, ich kann den Seſſel ſo gut ertragen mit meinen zwei 
müden Beinen, wie er mich mit ſeinen vieren,“ ſagte Uli, warf 
ſich breit in einen Stuhl und ſtreckte die Füße behaglich von ſich: 
„Alſo der Ordnung nach! Geſtern macht ich mich auf, nach Ver— 
abredung, ins Tavetſch. Ich ſagt' Euch nichts. Das Hemd ſelber 
durfte nicht wiſſen, wohin der Rock ging. Wir hielten uns, wie 
Ihr wohl denken könnt, dort mauſeſtill; Franzoſenohren merken 
es auf der Stelle, wo ein Maulwurf im Boden ſcharrt. Endlich 
rückten die braven Kerls von Camot an: Alle baumſtark; gute 
Schützen; Alle mit geladenen Jagdbüchſen gewaffnet. Herr, es 
war eine Freude zu ſehen! Nun wir Andern aus unſerm Loch 
hinaus, und zu ihnen; und dann unſerer vierzig in Reih und 
Glied, gegen das Wirthshaus! Drinnen ſaß der Monſieur Lieu— 
tenant, oder was er ſein mag, recht ſeelenvergnügt beim Mittags— 
eſſen, und ließ ſich nicht einfallen, daß wir ihm Senf zum Braten 
brächten. Alſo drei Mann hinein; voran der ſchwarze Rigis ab 
der Selver Weide, der vor Zeiten in franzöſiſchen Dienſten geſtan— 
den iſt, und noch ein paar Löffel Welſches im Mund behalten hat. 


— 184 — 


Der Offtzier ward gefangen. Zwar wollt' er ſich anfangs ſträu⸗ 
ben, wie ein Dachs; aber, alle Donner! ein paar Kolbenſtöße 
ſchüttelten ihm den Verſtand auf, und er machte ein Geſicht, wie 
die Kuh auf eine Erdbeere.“ 

„Und die Soldaten, Uli, die Soldaten ließen ihren Offizier 
im Stich?“ 

„Herr, wer den Bock an den Hörnern hält, dem folgen die 
Geißen. Der ſchwarze Rigis machte kurze Sprünge, forderte den 
Offizier auf, ſeine Mannſchaft zuſammen zu trommeln, und zu 
beordern, ohne Widerſtand das Gewehr zu ſtrecken. Schon war 
das ganze Dorf auf den Beinen; auch das Dutzend Soldaten unter 
Gewehr. Der Offizier mußte vor. Da ſtand er ohne Hut und 
Degen, und predigte feinen Leuten, es ſei mit ihnen Matthäi am 
letzten. Die machten andächtige Augen dazu, wie arme Sünder 
vor dem Galgen. Als er aber kommandirte: ſtreckt's Gewehr! 
hoben die Kerls Lärmen an und thaten wie die Katzen im Hor⸗ 
nung. Indeſſen hatten wir ſie gar freundſchaftlich umringt, vorn 
und hinten; und wie wir ſie in die Mündung unferer Flinten: 
läufe ſchauen ließen, ſahen ſie die Sache vollkommen richtig ein. 
Sie gaben alſo Gewehre, Haberſäcke und Patrontaſchen ab, wie 
ein geduldiges Schäflein die Wolle. Jetzt iſt der Zug unterwegs 
hieher. Nun aber geht der Tanz in Diſentis an. Alſo, Herr 
Hauptmann, ſchnallt den Sarras um. Es ſoll über die Franzoſen 
hergehen, gleich Hagel über die Halme.“ 

Flavian, anfangs in ziemlicher Beſtürzung, faßte ſich bald. 
Der Aufruhr war ausgebrochen. Er ließ ſich nicht mehr hindern; 
wohl aber größeres Unheil, welches dem vermeſſenen Wagſtück 
nachfolgen konnte. Er nahm zwei neue Piſtolen aus dem Schrank, 
die er erſt angekauft hatte, und lud ſie. „Klüger wäre geweſen,“ 
ſagte er: „Ihr hättet Nachricht abgewartet, wie der Ausgang 
des heutigen Gefechts am Luzienſteig ſei. Dort wird, und nicht 


— 185 — 


von Euch hier, die große Sache entſchieden. Siegt der Kaiſer, 
wohlan, dann aufgeräumt in allen Winkeln, damit Erzherzog Karl 
keine Zeit zur Verfolgung ſeiner Siege verliere. Behauptet aber 
der Franzos die Schanzen: dann habt ihr Leute ſchlechtes Trink— 
geld zu hoffen.“ 

„Gar recht,“ erwiederte Uli Goin: „bei uns im Kriegsrath 
waren auch Leute, die Haare auf den Zähnen hatten, Euerer 
Meinung. Alle Donner! mir wär's gleich geweſen, heut oder 
morgen. Aber hab' ich's Euch nicht ſchon geſagt? Oberſt St. 
Julien, vom Regiment Neugebauer, hatte durch ſeinen verkleideten 
Adjutanten Ordre für den erſten Maitag geſchickt, und, ver— 
ſteht ſich, beim Militär heißt's: Pariren, nicht Räſonniren! Wir 
machen den Oeſterreichern draußen in jedem Fall das Spiel leicht, 
wenn die Franzmänner vorn zerbiſſen und hinten zerriſſen werden. 
Alſo, friſch gewagt iſt halb gewonnen! Haar aus, oder Garaus.“ 

Hier ward der Redner durch Eintritt der Frau von Caſtelberg 
unterbrochen. Sie ſchwankte bleich durch die Thür, wandte ſich 
gegen Flavian, ergriff ſeine Hand und ſtammelte zitternd: „Lieber 
Hauptmann, verlaſſen Sie das Schloß nicht; verlaſſen Sie mich 
nicht! Es iſt Aufruhr aller Enden! Ihr Todfeind ſteht an der 
Spitze der bewaffneten Volkshaufen und ſucht Sie. Mir ahnet 
entſetzliches Unglück, wie ich noch kein größeres erlebte.“ 

Flavian bemühte ſich, die Halbohnmächtige zu beruhigen, und 
führte ſie zum Sofa. „Warum ängſtigen Sie ſich, gnädige Frau?“ 
tröſtete er: „Es ſind Bündner; es ſind unſere Landsleute, die 
ſich gegen fremde Gewaltthäter auflehnen. Sie und das Schloß 
ſtehen im ſichern Schutz Ihres Volks. Noch weniger iſt in dieſem 
Augenblick von der franzöſiſchen Beſatzung zu fürchten, die keinen 
Widerſtand leiſten kann, und ſich zurückziehen wird.“ 

„In dieſem Augenblick wohl!“ erwiederte die bange Frau: 
„Aber wenn die feindlichen Würgerbanden dann zurückkehren! — 


— 186 — 


In dieſem Augenblick droht meiner Perſon freilich keine Gefahr; 
aber Ihnen die größte! Wagen Sie keinen Schritt über die 
Schwelle dieſes Hauſes. Ihr Todfeind lauert.“ 

„Welcher Todfeind?“ fragte Prevoſt kopfſchüttelnd: „Ich 
habe, meines Wiſſens, dergleichen keinen in der ganzen Gottes: 
welt. Oder wollen Sie mir ihn nennen?“ — 

„Ich kenn' ihn nicht; weiß ſeinen Namen nicht; aber nehmen 
Sie dies Blatt; leſen Sie ſelbſt!“ ſagte Frau von Gaftel: 
berg, und reichte ihm ein erbrochenes Briefchen. Es ſtanden darin, 
mit weiblicher Handſchrift, die wenigen Zeilen: „Leben Sie wohl, 
liebe Freundin, denn ich begebe mich, unter ſicherm Geleit, welches 
mir der Herr Abt verleiht, ſogleich nach Ilanz, um dem Sturm 
zu entkommen. Gott weiß, was aus mir werden ſoll! So eben 
noch ſagt mir der Herr Dekan Baſilius Veith, die Bauern hätten 
das Gefängniß erbrochen, und, unter andern Gefangenen, den 
Grafen Malariva befreit, der den Volksaufſtand geſtiftet hat. Er 
ſei des Herrn Prevoſt Todfeind. Verbergen Sie Ihren unglück— 
ſeligen Gaſt. Leben Sie wohl. P. v. St.“ 

Flavian hatte ſich, während des Leſens, verfärbt; und ſtumm 
betrachtete er das Papier von allen Seiten. Es war Pauline von 
Stetten unterzeichnet. Was wußte die von ſeinem Verhältniß 
zum Grafen? Uli Goin, der im Geſicht feines Gönners einen 
Ausdruck des Schreckens, oder Erſtaunens, wahrgenommen hatte, 
trat zu ihm und rief: „Ich wittere Unrath! Was für eine Spinne 
läuft Euch über die Haut? Redet doch, Herr Hauptmann! Tod— 
feind? Wer iſt der Kerl? Der Platzkommandant? Beim Donner! 
Ich nagle ihn ans Schloßthor, wie eine Nachteule.“ 

„Sei ruhig, Uli,“ erwiederte Prevoſt, und fing von neuem 
an, den Brief Wort um Wort zu durchleſen: „Es iſt nur vom 
Malariva die Rede.“ 

„Alle Donner!“ ſchrie Uli Goin: „Iſt der Marder ſchon 


— 1 — 


wieder in unſerm Hühnerftall? Dem zermalm' ich den Schädel! 
Man hat mir geſagt, ein öſterreichiſcher Offizier, der Adjutant 
des Oberſten St. Julien, ſäße mit Daniffer im Käfig, aber kein 
Graf. Laßt mich ſorgen. Iſt er's, — nun, beim Donner, dann 
back' ich ihm ſein Brod, und fiele mir drüber der Ofen ein; denn 
wohin der kömmt, legt er Schlangeneier.“ 

„Still, Uli!“ redete ihn Flavian ſeitwärts an: „Beleidige 
den Grafen nicht. Ich weiß, daß er in Diſentis iſt; habe ihn 
geſprochen; wir ſind verſöhnt.“ 

„Hm!“ brummte der Tavetſcher: „Da ſind Binz und Benz 
auf einander getroffen. Aber Herr, Ihr gehört mit ihm nicht in 
gleiche Zunft. Nehmt ehrlichen Rath an, und hütet Euch vor 
dem Judas. Vorn küßt er Euch, und hinten ſetzt er Euch den 
Teufel in den Nacken.“ 

Ohne auf ihn zu hören, richtete Flavian an Frau von Caſtel— 
berg, der er das Papier zurückgab, die Frage: „Dürfen Sie mir 
ſagen, wer dieſe Zeilen geſchrieben hat?“ 

Sie antwortete: „Eine gute Freundin, — — — ich darf es 
Ihnen vertrauen; Fräulein von Stetten; die arme Pauline, die 
Sie begleiten werden, und die eben deswegen, wie um ſich ſelbſt, 
für Sie bekümmert iſt.“ 

Flavian ſchüttelte verwundert den Kopf, und entgegnete: „Gnä— 
dige Frau! Woher weiß dieſe Fremde von mir?“ 

„Weil ich's ihr geſagt habe, daß Sie die Güte haben werden, 
ſie, auf der Reiſe, in Ihren Schutz zu nehmen.“ 

„Aber woher kennt fie den Malariva? und warum nennt fie 
ihn meinen Toͤdfeind?“ 

„Ohne Zweifel kennt man ihn im Kloſter. Dekan Baſilius 
hat, ſcheint es, dem Fräulein von ihm geſprochen; denn er brachte 
ihr ja die Nachricht von feiner Befreiung aus der Gefangenschaft. 
Die Herren im Kloſter find von den Welthändeln beſſer unter: 


= — 


richtet, als man ſich einbilden ſollte. Darum beſchwör' ich Sie, 
folgen Sie der Warnung. Verlaſſen Sie das Schloß nicht.“ 

Flavian blieb nachdenkend und unſchlüſſig; dann ſagte er: 
„Erlauben Sie, daß ich ſelbſt ins Kloſter gehe. In wenigen Mi⸗ 
nuten bin ich zurück.“ — Und welche Mühe ſich die ſorgenvolle 
Frau geben mochte, ihn von dieſem Gang abzuhalten: er beharrte 
auf ſeinem Vorſatz. 


35. 
Der A ufer u hee 


Geſchrei von tauſend Menſchenſtimmen, vermiſcht mit Flinten— 
ſchüſſen, ſcholl vom Innern des Fleckens Diſentis her. Die hohen 
Mauern der Abtei, die benachbarten Felſen, die fernen Berge 
wiederholten das Getöſe. Ein dichtes, dunkles, in ſich bewegtes 
Gedräng unzählbaren Volks füllte und verrammelte die Straßen 
in der Nähe von Kapitän Salomons Wohnung; und aus dem Ge— 
tümmel ragte ein Wald von Spießen, Flinten, Morgenſternen 
und Waffen aller Art und Kunſt auf. 

Prevoſt verdoppelte die Schritte. Uli Goin lief ihm in langen 
Sprüngen nach. Der hatte aus einem zerfallenen Hage den kern— 
hafteſten Zaunpfahl geriſſen, den er nun in der herkuliſchen Fauſt, 
wie eine leichte Weidenruthe, luſtig um den Kopf ſchwang: „Iſt's 
nicht Sünd' und Schande,“ rief er: „einen ehemaligen kaiſerlichen 
Soldaten, wie mich, mit dergleichen faulem Zahnſtocher laufen 
zu ſehen? Ich tauſche mir damit aber wohl von einem Franz 
mann das ſchönſte Gewehr aus. Huſſah! Herzblut muß Trumpf 
ſein!“ 

„Schweig, du Kanibale!“ murrte Flavian unwillig: „Bahnen 
wir uns nur Weg durchs Gewühl, Unglück zu verhüten, wenn es 
nicht zu ſpät iſt.“ 


— 189 — 


Quer über die mit gaffenden und horchenden Menſchenhaufen 
angefüllte Gaſſe war die Kompagnje franzöſiſcher Soldaten in zwei 
Doppelreihen aufgeſtellt, die links und rechts dem Volksgedräng 
entgegenſtanden. Zwiſchen beiden Reihen blieb ein geräumiger 
Platz, auf welchem einige Landleute mit dem Kapitän Salomon 
ſtanden. Unter denſelben erblickte Flavian auch den hervorragen— 
den Gilg Daniffer; und, mit dem Kapitän unterhandelnd, den 
verkleideten Grafen Malariva. 

„Scheert Euch zum Teufel!“ ſchrie der Platzkommandant, 
mit Augen, vom Zorn funkelnd: „Bildet Ihr Euch ein, daß 
Franzoſen vor Pöbel Gewehr ſtrecken? Ehre iſt mehr, denn Leben. 
Alſo, mein Herr, verlieren Sie keine Worte. Sie ſagen, ich 
ſei übermannt. Die Prahlerei hat erſt Sinn, wenn wir Kugeln 
und Bajonette verbraucht haben. Vorher nicht! Ich will kein 
Blut vergießen; darum iſt Alles, was ich ohne Verantwortung 
geben darf, mein Ehrenwort; ich werde mich von Diſentis fried— 
lich zurückziehen, ohne wegen des Aufruhrs Rache zu nehmen. 
Wollen Sie das nicht, Sacre bleu! ſo wird Sturmmarſch ge— 
ſchlagen, und mit gefälltem Bajonet bahn' ich mir meine Straße 
durch die Bauern da.“ 

„Herr Kommandant,“ entgegnete der Graf: „in dem Fall 
wird kein Gebein der Franzoſen lebendig von hinnen kommen; das 
ſchwör' ich Ihnen. Sie haben hier mit Männern des Gebirgs 
zu ſchaffen, die ſich nicht durch Knallen Ihrer Flinten aus einander 
ſtäuben laſſen. Mäßigen Sie daher Ihre Hitze ein wenig, Ihre 
Großthuereien und Drohungen ſchrecken nicht mehr. Ein Wink 
meines Fingers, und in fünf Minuten lebt kein Franzoſe mehr. 
Würdigen Sie Ihre Lage mit kaltem Blute! Auch ich möchte 
Menſchenleben ſchonen. Nur mit Mühe halt' ich das wüthende 
Volk zurück. Ich bin Ihr Gefangener geweſen; Sie haben mich 
unehrenhaft behandelt. Sie hatten mich dem Tode geweiht; 


— 190 — 


läugnen Sie nicht! Heute ſind Sie mein Gefangener. Ich möchte 
Ihnen beweiſen, daß der Deutſche edelherziger denkt, als der Fran— 
zoſe. Ich möchte Ihr Leben retten. Alſo ergeben Sie ſich. 
Strecken Sie das Gewehr. Ich verſpreche Ihnen anſtändige Be— 
handlung, wie Kriegsgefangenen gebührt.“ 

„Sacre bleu! mir das bieten!“ ſchrie der Kapitän: „Fort 
auf der Stelle! Wozu viel Federleſens. — He, Tambour, auf— 
gepaßt. Wenn ich winke, Sturmmarſch!“ 

„Halt!“ ſchrie Flavian, der ſich jetzt gegen die Linie der 
Soldaten drängte, die ihn mit vorgehaltenem Gewehr abwieſen: 
„Kommandant, befehlen Sie, daß man mich in den Kreis laſſe.“ 

Kapitän Salomon drehte das wild düſtere Geſicht der Gegend 
zu, von wannen der Ruf ſcholl, und ſobald er ſeinen Mann er— 
kannte, ſprang er herbei, ergriff ihn bei der Hand, und führte 
ihn in den Kreis der Unterhändler. 

„Holla, braver Burſch, biſt du es?“ jauchzte Daniffer, und 
klopfte freundlich, wie mit ſchwerer Eiſenfauſt, Flavians Schulter: 
„Juchhei, jetzt wollen wir mit unſern Kerkermeiſtern Kehraus 
machen. Wenn ich auch kein Wort von Allem verſtehe, was er 
wälſcht, glaub' ich doch, der Zetterkerl ſpreizt und ſträubt ſich 
noch, wie ein Huhn, das man zur Küche trägt. Sag' ihm, er 
ſolle mit den Flauſen ein Ende machen, und ſich auf Gnad' und 
Ungnade ergeben.“ 

Flavian wandte ſich zuerſt an den Grafen Malariva, führte 
ihn auf die Seite, und ſagte: Wollen Sie Mörderei beginnen? 
Wiſſen Sie, wie die Sachen am Luzienfteig ſtehen? Noch iſt dort 
nichts entſchieden. Schon iſt es ſpät am Tage; aber die Kanonen- 
ſchüſſe zogen noch immer gar dumpf durch die Luft, und aus gleich— 
weiter Entfernung herüber. Ich fürchte, den kaiſerlichen Trup— 
pen iſt's nicht ganz gelungen. Behaupten ſich die Franzoſen: fo 
hätten wir hier gefährliches Spiel getrieben, und morgen könnten 


— 191 — 


wir wieder ein paar Bataillone des Feindes in Ilanz und Di— 
ſentis ſehen. Dies Landvolk, von Verzweiflung und Sieges— 
hoffnung, wie Flugſand, zuſammengeweht, würde im paniſchen 
Schrecken eben ſo plötzlich wieder aus einander ſtieben; glauben 
Sie mir, um die eigene Haut zu retten, Sie, als Urheber des 
ganzen Unglücks, zuerſt an die Franzoſen verrathen, Sie zuerſt 
ausliefern.“ 

„Faſſen Sie ſich kurz, Herr Prevoſt; was iſt Ihr Begehr?“ 

„Geſtern noch, Herr Graf, ſucht' ich Sie vom Kriegsgericht 
und Tode zu retten. Heut' warn' ich Sie; rennen Sie nicht zum 
andernmal blindlings in dieſelbe Gefahr.“ 

Graf Malariva, die eine Hand nachläſſig am Rücken, mit 
der andern ſich gleichgültig und vornehm um das Kinn ſpielend, 
erwiederte: „Ich erinnere mich dankbar Ihres Beſuches im Ge— 
fängniß und werde nie meine Verpflichtungen vergeſſen. Doch in 
dieſem Moment handelt es ſich um andere Intereſſen. Geſtern iſt 
nicht heut. Jetzt ſind die Franzoſen meine Gefangenen, und ich 
bin's, der Gericht hält. Es will mich bedünken, Herr Prevoſt, 
Sie haben für dieſe Franzoſen, Ihre lieben Freunde, der Sorge 
viel zu viel.“ 

„Nein, Herr Graf, ſondern für Sie ſelbſt und für meine 
Landsleute! Ich warne. Verhüten Sie Metzelei. Handeln Sie - 
nicht früher mit Entſchiedenheit, bis Sie entſchiedene Nachricht 
vom Ausgang des Gefechtes bei Reichenau und am Luzienſteig 
erhalten haben.“ F 

„Was ſprechen Sie von Metzelei, Herr Prevoſt? Ich will 
keine, ſobald die Soldaten das Gewehr ſtrecken. Aber der Kom— 
mandant da iſt ein halsſtarriger Tollkopf. Er will nichts hören. 
Gehen Sie ſelber und machen Sie ihn auf ſein Loos aufmerkſam. 
Vielleicht hat Ihre Beredſamkeit bei dem Narren beſſern Erfolg, 
als die meinige.“ 


— 192 — 


„Wenn Sie befehlen, Herr Graf, gern. Doch fordere ich 
Ihr Verſprechen, daß die Kompagnie, wenn fie die Waffen ab— 
gelegt hat, anſtändig behandelt wird; und, weil man eine ſolche 
Zahl von Gefangenen unmöglich in Diſentis tagelang nähren und 
bewachen kann, Ihr Ehrenwort, daß man ſie entweder dem 
nächſten öſterreichiſchen oder franzöſiſchen Poſten zuführe und 
übergebe.“ N 

Der Graf verbeugte ſich, wie zuſtimmend, mit dem ihm eige— 
nen zweideutigen Lächeln und ſagte: „Vollkommen recht! Mehr 
verlang' ich ja nicht. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Erklären 
Sie das dem unfinnigen Menſchen dort.“ 

Von jedem Andern, nur nicht von dem Italiener, wäre dieſe 
Zuſage und das Ehrenwort für Flavian genügend geweſen. Der 
Graf mußte dieſe Bedingung noch einmal und mit nähern Ber 
ſtimmungen erklären, mußte ſein Wort wiederholt betheuern, eh' 
Flavian Glauben ſchenkte. „Könnten Sie treubrüchig werden,“ 
ſagte er: „dann, Herr Graf, würd' ich der Rächer der Blutſchuld 
ſein, die Sie vor Gott und Menſchen anklagt. Denn ich weiß 
und ſehe es, Sie find in dem Augenblick der Mann, dem das 
Volk folgt und der daher Alles vermag.“ 

„Aber, mein Theurer,“ antwortete Jener: „was denken 
Sie? Ihr Mißtrauen könnte mich faſt beleidigen. Wir haben 
mit einander jetzt gemeinſchaftliches Intereſſe. Ich bin zufrieden, 
wenn wir die Franzoſen kriegsgefangen machen. Morgen ſollen 
die Leute unverſehrt abgeführt und, hören Sie wohl zu, nach 
Chur geführt und ausgeliefert werden. Darauf geb' ich Ihnen 
Ehrenwort und Handſchlag.“ 

Mit dieſer Erklärung ging Flavian zum Kapitän Salomon, 
der indeſſen etwas ruhiger die Gefahren ſeiner Lage überdacht 
hatte. Zwar ſträubte er ſich, die Waffen abzugeben; doch konnte 
er nichts gegen Prevoſt's Vorſtellungen einwenden, daß es beſſer 


— 193 — 


ſei, um dieſen Preis die Mannſchaft für die Armee zu erhalten, 
als Waffen und Mannſchaft zugleich unerrettbar einzubüßen. Da— 
neben gab Flavian zu bedenken, der Volksaufſtand ſei nicht auf 
ein paar Thäler dieſer Gegend beſchränkt, ſondern durchs ganze 
Hochland in Bewegung. Wenn auch der Kompagnie, fügte er 
hinzu, wider alle Wahrſcheinlichkeit, gelänge, ſich hier durchzu— 
ſchlagen, würden ihn die wüthenden Volkshaufen begleiten; von 
Dorf zu Dorf, von Thal zu Thal, ſich friſche Landſturmſchaaren 
ihm in den Weg werfen, ſo daß der Kommandant zuletzt unfehl— 
bar unterliegen müſſe, ſei es aus Ermüdung, oder aus Mangel 
an Munition. 0 

Flüche zwiſchen den Zähnen, ging der Kommandant mit ra— 
ſchen Schritten her und hin; blieb dann vor dem Vermittler 
ſtehen, und ſagte, nach einigem Zaudern: „Es ſei! So gebe man 
mir und meinen Leuten ſicheres Geleit bis Chur. Ich bin kriegs— 
gefangen. Hier iſt nichts anders zu thun!“ 

Der Vertrag ward zwiſchen ihm und Malariva wiederholt; 
dem alten Daniffer in deutſcher Sprache erklärt, der ſie ſeinen 
nächſten Begleitern, und als dieſe in die Uebergabe-Bedingungen 
gewilligt hatten, auch mit lauter Stimme in romaniſcher Sprache 
dem geſammten Volke kund that. Tobendes Jauchzen und Johlen 
aus tauſend Kehlen verhieß den Beifall der Menge. 

Der Kommandant zeigte in kurzer Rede ſeinen Soldaten das 
bittere Loos an, welches ihnen beſchieden ſei; rief den letzten 
Befehl: „Streckt's Gewehr!“ und mit düſterm Schweigen ward 
Gehorſam geleiſtet. Als aber der Graf zu ihm trat und ihm den 
Degen abforderte, ſchrie er: „Sacre bleu! Mein Leben iſt in 
Eurer Gewalt, aber meine Ehre nicht; und an Rebellen übergibt 
kein franzöſiſcher Offizier feinen Degen!“ Er ſtieß dieſen auf 
den Boden, zerbrach die Klinge und ſchleuderte den Degengriff 
weit von ſich. 

Zſch. Nov. XI. = 13 


— 194 — 


Inmitten der Unordnung herrſchte bei den Landleuten eine Art 
militäriſcher Zucht. Die gefangenen Franzoſen wurden ins Kloſter 
geführt; eben dahin auch der Kommandant und ſeine wenigen 
Offiziere. Man bemächtigte ſich des Gepäcks der Kompagnie und 
ihrer Waffen; aber enthielt ſich jeder Mißhandlung der Beſiegten. 

Nun erſt vernahm Flavian, daß ſchon Blut vor ſeiner Ankunft 
vergoſſen worden, weil Kapitän Salomon ſich dem andringenden 
Landſturm anfangs hartnäckig widerſetzt hatte. Es waren von 
beiden Seiten einige verwundet und getödtet, bis die Erſcheinung 
des Grafen, in Begleitung Gilg Daniffers und anderer Vorſteher, 
Ruhe hergeſtellt hatte. Flavian begab ſich mit dem Zuge der 
Gefangenen in die Abtei, wo er im Getümmel der Mönche, Sol— 
daten und Bauern, beſchäftigt mit den Gefangenen und Verwun— 
deten, ſeinen anfänglichen Vorſatz vergaß, den Pater Gregorius 
zu ſprechen. Spät kehrte er aus dem Kloſter zurück ins Schloß, 
mit ſeinem Tagewerk nicht unzufrieden, doch bangen Herzens. 


36. 


Landſturm⸗Wirthſchaft. 


Es war am Morgen des zweiten Maitages. Flavian, früh 
auf den Füßen, Piſtolen im Gürtel des Säbels, eilte wieder 
zur Abtei, für die Sicherheit der Gefangenen zu wachen. Dann 
und wann vernahm er wieder den geſtrigen dumpfen Hall eines 
einzelnen Kanonenſchuſſes aus der Ferne, welcher ungewiß ließ, 
von wannen er rühre? — Unter den Mauern des Klofters ſtand 
die Mannſchaft des Landſturms ſchon verſammelt und in Rotten 
abgetheilt; von Rachluſt, Religionswuth und Branntwein be— 
rauſcht; Muttergottes- und Heiligenbilder an Hüten und Kappen; 


— 195 — 


bunt bewaffnet mit alten Speeren, Morgenſternen, Jagdgeweh— 
ren, eroberten Flinten, Aexten, Miſtgabeln, Keulen und Hacken; 
in ihrer Mitte der trübſelige Haufe der Kriegsgefangenen. Graf 
Malariva befand ſich bei einigen Männern im Geſpräch, ſeine 
Worte mit lebhaftem Spiel der Hände und Arme begleitend. 

Sobald er den Schützenhauptmann erblickte, wandt' er ſich 
ihm zu und rief: „Gut, Herr Prevoſt! Ich habe Sie erwartet. 
Es fehlt an Offizieren. Leider hör' ich, Sie ſind der romaniſchen 
Sprache unkundig. Es geht Ihnen wie mir. Wählen Sie ſelber 
Ihre Stelle unter den Landesvertheidigern. Uebrigens freuen Sie 
ſich mit mir; Alles geht nach Wunſch. Bleiben Sie mir zur 
Seite.“ 

„Nein, mir!“ rief der rieſige Gilg Dauiffer: „Der Burſch 
hat mehr aus der Schule mitgenommen, als ich, und Muth, 
wie der Teufel. Ich kommandire die Avantgarde. Den laſſ' ich 
nicht von der Hand, Herr Graf.“ 

„Sei es!“ entgegnete Malariva: „Nun aber Jeder auf 
ſeinen Poſten und vorwärts!“ 

Nicht lange darauf festen ſich die Haufen, einer um den an- 
dern, in Bewegung und zogen durch den Flecken, unter Freuden— 
geſchrei und Angſtthränen von Weibern und Kindern, die ſich, 
zum Abſchiede von den Ihrigen, in das Getümmel drängten. 
Auch einige Mönche der Abtei mengten ſich noch warnend, be— 
lehrend und ermahnend in das Gewühl. 

Der Zug war aber kaum begonnen, ward er wieder, indem 
er am Rathhauſe vorüberkam, aufgehalten. Hier ſtanden neu— 
angelangte Landſturmrotten aus den benachbarten Hochthälern 
des Lukmanier und Crispalt. Sie erhoben gräßliches Schreien 
und Toben, als ſie von den Bedingungen hörten, die man den 
Franzoſen bewilligt hatte. Sie widerſetzten ſich der Kapitulation; 
wollten nichts von Gnade hören. Umſonſt warf ſich Malariva 


— Kl 


ihnen befehlshaberiſch entgegen. Man antwortete ihm mit Flü⸗ 
chen und drohenden Fäuſten. Am ungeberdigſten brüllten die 
wilden Nachbarn des Lukmaniers wider die wehrloſen Unglück— 
lichen. „Haut ſie zuſammen, die Ketzer!“ ſchrie die Rotte: 
„Nieder, nieder mit den Verdammten!“ Die Männer von Dir 
ſentis aber ſtemmten ſich den Mordſüchtigen entgegen. Zufällig 
anweſende Mönche des Kloſters, Pater Virgilius Wenzein, Do— 
menico da Bogolino und Baſilius Veith, warfen ſich vor dem 
Pöbel auf die Kniee; mahnten an chriſtliche Barmherzigkeit, an 
Ordnung, an des Himmels Strafen und Zorngerichte. Doch ſelbſt 
gegen die frommen Fürbitter wurden Mordgewehre geſchwungen; 
und nur durch Muth der Ortsvorſteher, denen ſich die Menſch— 
lichern im Volk anſchloſſen, wurde der Tumult geſtillt und der 
Marſch, nach langem Stocken, endlich wieder fortgeſetzt. 

Flavian war indeſſen an der Spitze der Vorhut mit dem ge— 
ſprächigen Daniffer vorangegangen. Am grünen Vorſprung des 
Gebirgs, neben den hohen, bemooſeten Felsblöcken, wachten ihm 
die Erinnerungen an jene lieblichen Erſcheinungen wieder auf, 
welche ſich mit den ſchönſten ſeines Lebens vermengten. Er glaubte 
jene anmuthige Geſtalt, welche an dieſer Stelle gewandelt, müſſe 
ihm noch einmal entgegen wandeln. 

Luftig ragten die ewigen Säulen der Alpen vor ihm, deren 
Silbergipfel Nebelſchleier umflatterten. Ihn umfing, mit be— 
geiſternder Anmuth und Majeſtät, ein weites Eden. In den 
eintönigen Geſang der Waſſerfälle miſchten ſich Erſtlingslieder der 
Vögel, und, von den höhern Auen, melodiſche Klänge der Heer— 
denglocken. 8 

Da blieb er plötzlich, in feinen Träumereien geſtört, wie einz 
gewurzelt, ſtehen. Er ſah erſchrocken mit fragenden Augen ſei— 
nem Begleiter ins Geficht; dieſer ihm. Man vernahm in nicht 
großer Ferne hinterwärts einzelne, dann mehrere Flintenſchüſſe; 


* 


darauf lebhaftes Gewehrfeuer, vermiſcht mit ſchauderhaftem Ge— 
brüll und Wehgeſchrei. 

„Halt! Hinter uns gibt's Unheil!“ rief Daniffer: „Sind 
wir vom Feind überfallen?“ 

„Kommt!“ ſchrie Flavian und riß den beſtürzten Mann am 
Arm mit ſich fort: „Zurück, eh' das Entſetzlichſte vollbracht iſt.“ 

Sie eilten zurück. Doch ehe ſie zu den Vorderſten des großen 
Haufens gelangten, war wieder Stille eingetreten. Von Allen, 
die man befragte, wußte Keiner, was geſchehen ſei? Jeder rieth 
anders. Flavian, dem Muthmaßungen nicht genügten, eilte weiter 
zurück. Da erblickt' er ſeinen Freund Uli. Der aber kam keuchend, 
winkte mit der Hand, nicht weiter zu gehen, und nahte ſich mit 
ſtierem Blick des Grauſens. 

„Bleibt zucück, Herr Hauptmann!“ ächzte der Herankommende, 
während er durch klägliche Geberden ſeinen Jammer und Schreck 
zu verſtehen gab: „Bleibt! Es iſt ſchon Alles zu ſpät! Die wiſſen 
von keinem Kriegsrecht. Nein, ſag' ich! Soldaten wollen ſie ſein? 
Bluthunde find es, verdammtes Banditenpack!“ 

„Wer, Uli?“ fragte Flavian, den bei Uli's Worten ein 
Schauer überflog; denn ſo entmuthet hatte er den Beherzten noch 
nie geſehen: „Sprich aus, das Unglück, was dir die Zunge lähmt.“ 

„Unglück, Herr? Nein, Herr! Ein Gräuel, Gräuel, der 
über die Wolken hinaufſtinkt. Sie haben mit den Franzoſen fer— 
tig gemacht, bis auf den letzten Mann; Alles niedergeſchoſſen, 
niedergehauen, niedergeſtochen, ohn' Erbarmen. Herr, das Herz 
kehrte ſich mir im Leib um, wie die armen Menſchenkinder da— 
lagen am Erdboden, im Blute herumwälzend, zappelnd, ſich mit 
zerſchmetterten Köpfen wieder aufrichtend. Und wie ſie ſtöhnten, 
heulten, röchelten, bis man ihnen mit Flintenkolben und Keulen— 
ſchlägen den Gnadenſtoß gab. So abſcheulich geht's nicht am 
jüngſten Gericht, und ſelbſt nicht in der Hölle zu. 


— 198 — 


„Die Unmenſchen!“ ſchrie Flavian und krallte die Finger 
krampfhaft im Innern der Fauſt zuſammen: „Alle, ſagſt du, Alle 
ſind gemeuchelmordet? Auch Kapitän Salomon?“ 

„Mann und Maus, Herr! fünfzig, achtzig, hundert Mann 
liegen fie da, Leiche über Leiche ), wie Stroh durcheinander, 
wenn gedroſchen iſt.“ 

„Wer fing das Mordwerk an? Warum? Hat Malariva be: 
fohlen?“ 

„Nein, Herr Hauptmann. Er wollte, ja, er wollte wehren. 
Dem Teufel ſelber mußte ja wohl bei der Blutwirthſchaft der 
Höllenhunde übel werden. Wir waren kaum hundert Schritte aus 
dem Flecken gegangen, noch nicht weit vom Schloſſe, wißt Ihr, 
wo der Weg am Kirchlein St. Plazid vorbeizieht, — Gott ſei 
mir armen Sünder gnädig! — Jeſus Maria und Joſeph! An fo 
heiliger Stätte Menſchen abſchlachten! Dafür gibt's im Himmel 
und auf Erden keinen Ablaß. Ja wohl, ja wohl, die Sünde geht 
ſüß ein, aber bitter aus, ſagte mein alter Großvater immer, und 
hatte Recht.“ 

„Weiter, weiter!“ unterbrach ihn der Schützenhauptmann 
ungeduldig. 

„Nun, wie geſagt, man hatte da die Franzoſen etwas freier 
laufen laſſen. Es war ein jammervoller Zug. Allen lagen die 
Hände auf den Rücken gebunden. Ein Bündner ſchnitt aus Mit: 
leid einigen die Stricke entzwei. Die traten dann erſt aus dem 
Zug; ſtanden ruhig da; es war zwiſchen dem Plazidkirchlein und 
dem kleinen Waſſergraben, wißt Ihr? Dann, haſt du nicht, ſiehſt 
du nicht, ſprangen ein paar der Blauröcke über Feld und ſuchten 


) Laut Schreiben des Generals Menard vom 7. Mai, waren in 
Diſentis und Tavetſch überhaupt 112 franzöſiſche Soldaten umge- 
bracht worden. 


— — 


ihr Heil in der Flucht. Nun ihnen Einige der Unſern nach und 
ſchoſſen. Die Flüchtlinge ſtürzten. Das gab Lärm unter den 
Franzoſen; Geſchrei und Wuth bei den Bauern. Das Feuer war 
im Dach. Es fiel Schuß auf Schuß, Schlag auf Schlag. Die 
Diſentiſer wollten hindern, waren aber zu ſchwach. Die Medelſer, 
und zu meiner Schande ſag' ich's, auch die Tavetſcher fuhren, 
wie leibhafte Satane, über die Gefangenen her. Da half kein 
Fluchen, kein Beten. Kommt, Herr Hauptmann. Seht Ihr da— 
hinten? Die Mordbande rückt ſchon heran. Kommt! Sprecht zu 
dem Allem kein böſes Wort. Wir ſind unter Wölfen; wir müſſen 
mitheulen.“ 

Verflucht ſei das Geſindel!“ rief Flavian: „Ich habe nicht 
länger mit ihm zu ſchaffen, und kehre um, nach Diſentis.“ 

„Bei allen Heiligen, Herr, denkt nicht daran! Die Wüthe— 
riche haben geſchworen, jedem Deſerteur die Kugel durch den Kopf 
zu jagen. Kommt!“ 

Goin zerrte den widerwilligen Hauptmann bergab, wo ihnen 
Gilg Daniffer fragend entgegen kam, dem Alles von Neuem er— 
zählt werden mußte. Dieſer horchte mit weit aufgeriſſenen Augen 
und entfärbtem Geſicht. 

„Es hilft Euch nichts, Gilg, daß Ihr ausſehet, wie der Tod 
von Ppern,“ meinte Goin: „Geſchehen iſt geſchehen. Vorwärts, 
marſch!“ 

„Nein!“ ſchrie Daniffer: „Zurück, zurück! Blut will Blut! 
Sie haben der Hölle den Rachen aufgebrochen, und wir wollen 
ihretwillen nicht alleſammt darin verderben.“ Nach dieſen Worten 
wandt' er ſich plötzlich gegen ſeine Mannſchaft, berichtete, in der 
Sprache ihres Thals, das Vorgefallene, offenbar in Erwartung, 
ſie zur Rache gegen die Mörderrotten zu entflammen. Doch eh' er 
vollenden konnte, ſah man in allen Geſichtern gräßliche Freudig— 
keit aufgehen, die ſich in Jubelgeſchrei und Bravogebrüll Luft 


Be — 


machte. Verblüfft ſtaunte der Redner feine Leute an, die nun 
ſofort, ohne Kommando abzuwarten, johlend und mit wildem Ge— 
lächter ihren Marſch fortſetzten. 

Indeſſen waren auch die hintern Haufen herangerückt; ſtimm⸗ 
ten in den Jubel der Vorhut ein und vermengten ſich mit ihr, in 
Verwirrung vorwärts trabend. Inmitten des Schwarms ſah man 
den Grafen Malariva; das bleichgelbe Geſicht erdwärts geneigt. 
Flavian, ſobald er ſeiner anſichtig ward, näherte ſich ihm, und 
fragte: „Aber wohin? Wir haben keine Franzoſen mehr nach Chur 
zu eskortiren.“ a 

„Leider!“ entgegnete der Graf finſter und mit leiſem Achſel— 
zucken: „Bei ſolchen Menſchen gilt kein Geſetz, kein Befehl, kein 
Gehorſam. Ich möchte viel lieber mit Indianern ins Feld ziehen, 
als mit dieſen Beſtien. Indeſſen hoff’ ich, die Schurken werden 
eben ſo kaltblütig gegen feindliche Bajonette anſtürmen, als ſie 
waffenloſe Leute niederhauen. Die Schlächterei bei der Kapelle 
iſt ärgerlich. Indeſſen iſt's vielleicht auch gut, daß ſich die Leute 
erſt an Blut gewöhnen, damit ſie nicht ſcheu werden, wenn ſie 
es zum erſtenmal auf einem Schlachtfelde ſehen.“ 

Mit einem Seitenblick voll Ekels bemerkte Flavkan: „Wie 
aber ſteht's mit Ihrem feierlichen Ehrenworte? Sie verhießen dem 
Kommandanten Salomon ſicheres Geleit.“ 

„Hab' ich's gebrochen, mein Theurer?“ erwiederte Malariva, 
und verzog die Mienen zum Lächeln: „Der Kommandant iſt ja 
nun in größerer Sicherheit, als wir ſelber. Es wird ihm heut 
und morgen wohl noch mehr denn Einer Geleit in die Ewigkeit 
geben. Mein Beſter, das iſt Krieg! Es gilt Befreiung Ihres 
Vaterlandes. Halten Sie ſich tapfer. Vielleicht in wenigen Stun— 
den ſchon ſtoßen wir auf den Feind.“ 

„Wie, Graf? Mit dieſen ehr- und zuchtvergeſſenen Horden 
hoffen Sie, franzöſiſche Linientruppen — — —“ 


— 201 — 


„Still, Herr Prevoſt, nicht vorlaut! Es iſt wenigſtens, könnt' 
ich mit Fallſtaff ſagen, Futter für Pulver; und während wir die 
Franzoſen nun bald im Rücken beſchäftigen, hat Feldmarſchall 
Hotze nun freie Hand von Bregenz her und Montafun.“ 

„Alſo hätte der geſtrige Tag noch nichts entſchieden an den 
Grenzen?“ 

„Eigentlich ſo viel, als nichts. Im Vertrauen, damit Sie 
heller in die Sache ſehen, Landammann Schmid und ich hatten 
dieſen Morgen Eilboten mit vorläufigen Nachrichten empfangen. 
Der Angriff, ſo trefflich er auch kombinirt war, mißlang am 
Luzienſteig. Während Hotze den Steig von der Stirnſeite anfiel, 
hatte Oberſt St. Julien über den Fläſcher Berg die Verſchan— 
zungen umgangen, um ſie zwiſchen zwei Feuer zu nehmen. Schon 
war er bis ans Städtchen Maienfeld vorgedrungen, als er, vom 
rechten Ufer der Landquart her, durch General Chabran, mit 
Uebermacht bedrängt, in die Berge zurückgeworfen ward. Natür— 
lich, ſo ſchlug Alles fehl. St. Julien war zu ſchwach. Jetzt aber 
kommen wir zum friſchen Tanz. Unſerer ſind viele Tauſende. In 
dieſer Stunde bewegt ſich ganz Bünden unter Waffen vorwärts; 
in dieſer Stunde bricht aus allen Thälern des Gebirgs Landſturm. 
Der Feldmarſchall weiß es; macht gleichzeitigen Angriff; morgen 
ſind wir über Chur hinaus; verlaſſen Sie ſich darauf.“ 

Hier wurde der Graf durch einen Boten abgerufen. Prevoſt 
wanderte im bunten Troß der Aufruhrbanden dahin. An Flucht 
war nicht zu denken für ihn. Er ſelbſt fühlte ſich, einem Ge— 
fangenen gleich. 


30. . 
Der Zug des Aufſtandes. 


Er ging, wie ein von Gott Verlaſſener, der zum Richtplatz 
geführt wird. Das Getöſe des Menſchenſchwalles um ihn her, 
brauſete an ſeinem Ohr, wie eintöniges Murmeln unruhiger See— 
wogen. Nur ein einziger Gedanke, als wären alle übrigen er— 
ſtorben, lebte noch ohne Zuſammenhang in ſeinem Innern: „Wir 
gehn, und gehn, und fort und fort, wie des Schickſals ſtumme 
Drahtpuppen!“ 

Er genas erſt zur Klarheit feiner Vorſtellungen, als von hun— 
dert Stimmen „Halt! Halt!“ geſchrien wurde, um den Zuzug 
anderer bewaffneter Rotten zu erwarten, die von den zerſtreuten 
Hütten auf den Höhen des Kulmattenberges, von Brigels und 
Ruvis herab, gleich einer geſprengten Heerde, gegen das Thal 
liefen. Man ſtand ſtill. Er erkannte zu ſeiner Linken, inner einer 
niedern Mauerumgürtung, den Ahorn von Trons, in deſſen Schat⸗ 
ten vor Jahrhunderten die erſten Stifter des Bundes den Eid der 
Freiheit ſchworen. Der hohle, breite Baumſtamm ſtreckte auf einer 
Seite nur noch verdorrte Aeſte durch die Luft; aber wunderbar 
neigte er, mit friſcher Lebenskraft grünend, neue Zweige gegen 
die Kapelle, welche dem Gedächtniß der großen Volksthat geweiht 
ſteht. Der edle Stamm ſchien in ſinnbildlicher Weiſſagung zu 
verkünden: die alte Welt mit ihrer Indianerfreiheit ſei im Abſter⸗ 
ben; ein anderes, edelfreieres Dafein wolle aus dem Moder des 
Mittelalters hervorſprießen. 

Eben dieſer Gedanke, längſt ſein Liebling, drang, wie ein 
Sonnenſtrahl in die Nacht ſeines Gemüths. Glauben, Liebe und 
Hoffnung einer beſſern Zukunft richteten ſich wieder in ihm auf. 
Und was er glaubte, liebte und hoffte, ſchienen Himmel und Erde 
zuzuſagen, als er tief aufathmend über das erweiterte Thalgelände 


— 23 — 


hinausblickte zwiſchen den ungeheuern Wölbungen der Gebirgs— 
reihen und den darüber leuchtenden Eisfirnen. In lichtgrünen 
Abgründen unter ihm, und zwiſchen weich anſchwellenden Hügeln, 
ſchmiegten ſich kleine Dörfer um ihre Kirche zuſammen, und von 
den Höhen ſchauten friedſelige Hütten. Selbſt Burgtrümmer, da 
und dort auf dunkeln Felsgruppen, ſtanden nur, unter den Schö— 
pfungen des jungen Lenzes, wie freundliche Schatten der Vorwelt, 
wie um noch Zeugen eines andern Zeitalters zu ſein. 

Da erſcholl wieder aus vielen Kehlen, heiſer und ſchneidend, 
der Ruf: „Vorwärts!“ und die neuangewachſene Flut des Land— 
ſturms ſtrömte weiter. Aus den Menſchengeſichtern, zwiſchen denen 
er wandelte, ſprach Blutdurſt, Trunkenheit, Argwohn, Beutegier, 
Erſchlaffung, Angſt, Mordſucht. Dazwiſchen beteten einzelne Häuf— 
lein mit eintönigem Geplärre ihren Roſenkranz, indeſſen Andere 
daneben Zoten riſſen. Flavian hatte ſich noch nie in einer Geſellſchaft 
der Art befunden, die ihre Brutalität mit ſo viel Stolz zur Schau 
trug. Gern wär' er entwiſcht. Doch Einer bewachte mißtrauiſch 
in der Menge die Schritte des. Andern. Der Entweichung wäre 
unfehlbar Ermordung gefolgt. 

Und wenn auch das Schauſpiel, das ſich jeden Augenblick wüſter 
geſtaltete, nichts weniger, als komiſch war, konnt' er ſich doch zu— 
weilen nicht ganz eines innerlichen Lachens über den rohen Scherz 
erwehren, welchen jetzt ſein Verhängniß mit ihm trieb: „Hier 
hilft nichts mehr, als unfreiwillig mit dem Geſindel fahren, wohin 
es fährt, und wär's in den ſchmählichen Tod.“ 

Während ſeiner düſtern Gedankenſpiele näherte ſich der Heerzug 
den Ufern des brauſenden Rheinſtroms. Jenſeits eines ſchwanken— 
den hölzernen Brückenſteigs faltete ſich, in maleriſcher Anmuth, 
das Dörflein Tavanaska, zwiſchen Gebüſchen und Felſen, aus 
einander, wie eine Bühne idylliſchen Lebens. Aber einen empören— 
den Gegenſatz bildeten dazu, neben der Brücke im Graſe, halb— 


— = 


nackte Leichname. Mehr derſelben noch ſah man im Dorfe liegen, 
wo eingebrochene Fenſter, Kugelſpuren und Mauern mit friſchem 
Blut beſudelt, ein kaum vollendetes Gefecht verkündeten. Wirk 
lich war hierher, noch vor wenigen Stunden erſt, ein anderer Land— 
ſturm von den Bergen herabgeflogen und hatte einen franzöſiſchen 
Poſten überfallen. Ganz aber war die beſchloſſene Vernichtung 
deſſelben keineswegs gelungen. Denn eine Kompagnie franzöſiſcher 
Grenadiere zu Trons, in der Nacht gewarnt vor dem nahen Auf— 
ſtand, war zeitig hierher geeilt, hatte ſich über die Brücke und 
durch das Dorf, nach mörderiſchem Kampfe, durch die wüthenden 
Haufen der Landleute Bahn gebrochen; dann mit den befreiten 
Kriegsgefährten ihren Rückzug gen Reichenau genommen. 

Ohne Stillſtand fort und fort wälzten ſich die Rotten der Land— 
leute langſam weiter am Gebirg hin. Der ausgedehnte Menſchen— 
ſtrom, von Stangen und Knütteln und Waffen aller Art überragt, 
war, aus einiger Ferne geſehen, einem grauen Schlammſtrome 
nicht unähnlich, der, fortgeſpülte Baumwurzeln und Häge mit— 
führend, ſich bald auseinander breitet, bald eng und ſtockend in 
dicke Maſſen zuſammenballt. Von Bergdörfern herab und aus 
waldigen Schluchten hervor fluteten ununterbrochen, einzeln oder 
haufenweis, friſche Schaaren, zur Verſtärkung des regelloſen Heers, 
rüſtige Männer, Greiſe von ſechszig und ſiebenzig Jahren und 
Knaben, kaum den Kinderſchuhen entwachſen. Dazu mahnten noch 
die Sturmglocken, aus Nähen und Fernen, heulend, mit ihrem 
traurigen Ruf, die Entfernten herbei. 

Als die Tauſende ſich der erſten Stadt am Rhein näherten, 
Glion oder Ilanz, im Kreiſe ihrer Felſenalpen, ſpaltete ſich 
die Menge aus einander. Die Einen wanderten links, die An— 
dern rechts dem Rhein. Der Schützenhauptmann Prevoſt hatte in 
dem Gewirr der Maſſen ſeine wenigen Bekannten verloren. Er 
ſuchte ſie vergebens unter den Vorderſten wieder, wo ganz fremde 


— 205 — 


Geſichter, in romaniſcher und deutſcher Zunge, den Befehl führ— 
ten. Er begab ſich ſuchend zu den Nachzüglern, denen er ſich an— 
ſchloß, um dem Gedränge zu entgehen. So folgte er ſtundenlang 
dem Zuge. Das abendliche Goldroth umflog ſchon die Zinnen der 
Burgruine von Hohentrins. Es verblich an den Felsgipfeln 
des erhabenen Calanda, als die bisher getrennten Schaaren beim 
Schloſſe Reichenau wieder in einander floſſen und Halt machten, 
um hier und in benachbarten Dörfern den künftigen Morgen zu 
erwarten; den entſcheidenden Tag. 

Nur mit Bitten und Anerbietungen reicher Zahlung, hatte 
Flavian ein kärgliches Abendbrod, und, in einem abgelegenen Stall, 
ein Bündel Heu, zum Nachtlager, gefunden. Doch den Schlaf fand 
er nicht. Die Ereigniſſe der letzten zwölf Stunden ſpielten zu ges 
ſpenſterhaft vor ſeinen geſchloſſenen Augen, und immerwährend, 
umher. Fröhliches Jodeln und wieherndes Gelächter der Bauern, 
von Wein und Branntewein berauſcht, ſcholl durch die Stille der 
Nacht. Man hatte die Haushaltungen der Dörfer geplündert, die 
Keller des Schloſſes, das Zoll- und Wirthshaus erbrochen, und 
nun in wüſten Saufgelagen, ſich jeder Ausſchweifung hingegeben. 
Mehr denn einmal raffte ſich der Schlummerloſe verzweifelnd auf 
vom Boden. Er wollte in der Finſterniß fliehen, um dem fündigen 
Gräuel zu entkommen; aber Ermattung warf ihn wieder nieder. 
Schon leuchtete das Morgenlicht durch die Fugen der übereinander 
liegenden Balken, aus denen der Stall zuſammengezimmert war. 
Da legte ſich endlich ſchwerer Schlaf über ſeine Augenlieder. 


„ 


38. 
To d un d Wunden. 


Die Sonne ſtand ſchon hoch. Es rauſchte draußen dumpf, wie 
Sturmwind. Flavian ermannte ſich mühſam und ſah ungewiß rechts 
und links. Das Brauſen währte fort: die Luft war ſtill. Er ſprang 
auf, erquickt, und trat aus dem dunkeln Behälter ins Freie. Er 
befand ſich in einer Wieſe neben dem Dörflein Tamins auf der 
Höhe. Im Thalgrund unter ihm lag das Schloß Reichenau, ein 
in etwas neuerm Geſchmack aufgeführtes großes Wohnhaus, mit 
Nebengebäuden, ohnweit zweier bedeckten, hölzernen Brücken über 
die beiden Ströme des Vorder- und Hinterrheins, welche unter 
den Felſen einer Gartenanlage zuſammenfielen. Man hörte in der 
Ferne das Gepraſſel lebhaften Flintenfeuers; dazwiſchen von Ka— 
nonenſchüſſen den Wiederhall längs den Lärchenwäldern des Ge: 
birgskeſſels. Einzelne Männer liefen über die Felder, wie Flücht— 
linge, oder wie Boten aus einem Treffen. Weiber, mit Gepäck 
und Kindern, ſtiegen den ſteilen Pfad zum Schlund der Kunkelſer 
Alpen aufwärts. 

Flavian konnte nicht länger zweifeln, man ſei im vollen Kampfe 
begriffen. Näheres vom Stand der Dinge zu erfahren, machte 
er ſich auf. Im Dorfe war's ſtill und leer. Er ging den Weg hin— 
unter zum Schloſſe. Nur Leichnamen einiger erſchlagener Sol— 
daten begegnete er unterwegs. Eben ſo öde war es auf dem Platze 
vor dem Schloſſe und dem gegenüber liegenden Garten. Er ſah 
nur Ueberbleibſel der Verwüſtungen aus letzter Nacht; gefprengte 
Thüren; zerſchlagene Fenſter; Scherben von Flaſchen, Tellern und 
zerbrochenen Geräthſchaften. 

Endlich vernahm er Männerſchritte und Männerſtimmen, von 
der bedeckten Brücke kommend, über welche die Straße gen Chur 
führt. Er ging ihnen erwartungsvoll entgegen. Es waren Bauern, 


„ 


die rüftig mit einer Bahre daher ſchritten, von welcher Blut träufelte, 
während darauf ein wohlgekleideter Mann lag. Prevoſt erkannte, 
nicht ohne Schrecken, die Kleider des Unglücklichen. Es war der 
Graf Malariva; er alſo der erſten Einer, die man vom Schlacht— 
feld davon trug. 

Die Leute brachten den Blutenden ins Schloß, und in einen 
geräumigen Saal des Erdgeſchoſſes, wo kaum vor zwölf Monden 
noch Spiele und Freuden von jugendlichen Zöglingen einer höhern 
Lehranſtalt laut ertönt waren. Jetzt lag der Boden des Saales 
bedeckt von deren ehemaligen Betten, auf welchen mehrere Ver— 
wundete, neben den Leichnamen Anderer, wehklagten und ächzten. 

Flavian kniete zum Lager des Grafen; öffnete deſſen Kleider 
und fand die Bruſt neben der linken Achſel von einer Kugel, die 
darin geblieben, durchbohrt. Mühſam gelang die Stillung des 
Blutes unter dem Beiſtand der wenigen anweſenden Landleute; 
und ein Verband mit Hilfe zerriſſener Bettgewänder. 

Der Graf Malariva, welcher bisher todtenhaft geſchlummert, 
ſchlug endlich die Augen auf; ſchien Erinnerungen zu ſuchen; warf 
die Augen umher; ſah Flavian; ſah die Verwundeten und Sterben— 
den; dann wieder Flavian und ſagte: „Sind Sie allgegenwärtig? 
Gut: Sieg iſt unſer! Verlaſſen Sie mich nicht. Iſt die Wunde 
gefahrvoll?“ 

„Ich halte,“ verſetzte Flavian ernſt, um den Leidenden zu be— 
ruhigen: „den Schuß nicht für gefährlich.“ 

„Recht ſo, Theurer! Vollkommen recht! Ich fühle keinen 
Schmerz. Das Treffen iſt vorbei. Ich will nach Chur. Der Mar: 
ſchall und der Kaiſer! Ich bin ſtolz. Durch mich der Sieg! Sie 
bleiben bei mir? Begleiten Sie mich nach Chur?“ 

Flavian verſprach's mit etwas ſchwerem Herzen und erkundigte 
ſich, wie weit der Landſturm vorgedrungen ſei? 

„Bis Chur; noch weiter! Hotze, St. Julien und ich! Meine 


FE 


Wunde ſchmerzt nicht. Ihr Leute, erzählt dem Herrn. Ich will 
ruhen. Ich friere.“ 

Einer von den Trägern des Grafen berichtete im Allgemeinen: 
„Schon ehe wir ausrückten, hörten wir das Geſchütz vom Luzien⸗ 
ſteig her. Die Kaiſerlichen hatten ſich an ihr Tagewerk mit Mor⸗ 
gensanbruch gemacht. Herr, das gab uns Muth. Wir zogen friſch 
nach Ems. Die Franzoſen waren im Dorfe. Wir luſtig über ſie 
her. Da ſetzt' es blutige Köpfe. Trotz dem hölliſchen Kartätſchen⸗ 
feuer drangen wir ein. Alles wild durch einander. Schuß auf Schuß; 
Schlag auf Schlag! Ich hab's mit Augen geſehen, daß ein ſchwaches 
Weibsbild die franzöſiſchen Stückknechte bei der Kanone mit tüch⸗ 
tigem Zaunpfahl zu Boden ſchlug. Die ſchöne Kanone iſt erobert. 
Als die Blaukittel, nach langem Streit, aus dem Dorf gejagt 
waren, ſtellten ſie ſich aber blitzſchnell wieder im freien Feld auf. 
Das war uns wohlgelegen. Nun konnten wir uns ausbreiten, 
freier die Arme lüpfen, unſerer bei vier- fünftaufend Mann! Nun 
links und rechts und vorn und hinten, Noth und Tod über die 
Franzoſen. Sie mußten Ferſengeld geben. Wir ihnen nach. Stracks 
ſtanden die Ketzer ſchon wieder in Reih und Glied gegenüber, als 
wäre ihnen gar nichts geſchehen. Wir abermals drauf an. Da 
ward dieſer vornehme kaiſerliche Herr von einer Flintenkugel neben 
mir umgeworfen. Das Blut ſpritzte weit. Er ſchrie gottesjäm⸗ 
merlich. Alſo erbarmt' ich mich. Man iſt doch ein Chriſtenmenſch.“ 

„Einfältiger Kerl! Ich ſchrie nicht!“ ächzte der Graf: „Lüge 
nicht!“ 

„Nun, ſo that's ein Anderer für Euch!“ verſetzte der Be— 
richterſtatter: „Genug, unſere Etliche hoben ihn vom Boden 
und trugen ihn aus dem Gefecht zurück nach Ems in ein Haus. 
Ein paar alte Weiber haben ihm das Loch in der Bruſt ver⸗ 
ſtopft und verbunden, ſo gut ſie es verſtanden. Er lag lange 
ohnmächtig, daß wir meinten, er habe die Seele ſchon längſt 


— 209 — 


ausgeblaſen. Aber er kam unverſehens zu Verſtand. Unterdeſſen 
merkten wir wohl, daß ſich das Gewehrfeuer immer mehr in die 
Ferne nach Chur zog. Das war uns lieb. Weil aber die Emſer 
Bauern kein Bett hatten, oder für den Herrn hergeben wollten, 
mußten wir ihn wohl hierher nach Reichenau ſchleppen. Das 
that uns läſterlich leid. Denn als wir den Herrn auf die Trag— 
bahre luden, kam der Jeli Alir von Somwir, Ihr kennt ihn 
vielleicht. Der brachte ſich auch einen Bajonetſtich am Arm mit 
aus der Schlacht. Er ſagte, im Augenblick, da er unſere Armee 
verlaſſen habe, ſei ſie ſchon hart vor Chur geſtanden, und man 
ſchlage ſich dort noch in den Gärten, ſei der Franzoſen faſt Mei— 
ſter. Folglich find wir ums Beſte geprellt, und können nicht dabei 
ſein, wenn der Landſturm in die Stadt rückt und fette Beute 
macht. Jetzt ſind unſere Brüder drinnen, plündern und jagen die 
letzten Franzoſen den Kaiſerlichen unter die Kolben.“ 

Der Graf war während der Erzählung in einen leichten 
Schlummer verfallen. Flavian gebot Stille, und ging hinaus, 
draußen das Getöſe des Geſchützes zu behorchen. Es ſchien nicht 
mehr in voriger Ferne zu ſein, ſondern näher, aber doch ſchwächer 
geworden zu ſein. „Juchhei!“ rief der vorige Erzähler: „horcht! 
Fürwahr, es iſt noch nicht ſpät nach Mittag, und unſere tapfern 
Mannen haben ſchon mit den Blauröcken aufgeräumt und Feier— 
abend gemacht. Seht, Herr, das iſt eine Viktorie, von der die 
Welt lange erzählen ſoll.“ 

Flavian kehrte nach einer halben Stunde, nicht ohne Unruhe, 
zu dem Schlafenden zurück, und fand deſſen Geſicht bleicher und 
entſtellter. Er ſetzte ſich ſtill zum Bett des Schlummernden, ſein 
Erwachen zu erwarten, und überließ ſich düſtern Betrachtungen 
über den Ausgang der Ereigniſſe. Wohl hätt' er ſeine Perſon 
eben jetzt ungehindert und gefahrlos, durch Flucht über ein gang— 
bares Gebirg, in Freiheit ſetzen können. Doch mochte er ſich 

Zſch. Nov. XI. 14 


— 210 — 


nicht der Unmenſchlichkeit ſchuldig machen, den Grafen in Hülf⸗ 
lofigfeit verzweifeln zu laſſen. Anderſeits rief ihn fein Ehrenwort 
nach Diſentis zurück, wo Frau von Caſtelberg noch ſeiner Rück— 
kunft und ſeines Beiſtandes gewärtig war. Er blieb. Er hoffte 
der Wohlthäterin vergelten zu können, und vergaß die Gefahr. 
„Zur Pflichtvollſtreckung gehört nur Muth; dann erſt wird ſie 
Tugend!“ dachte er. 

Indem ſchlug Malariva die trüben Augen auf und ſtarrte ſei— 
nen mitleidigen Wächter unbeweglich an, ohne auf deſſen Fragen 
zu antworten. Nach geraumer Zeit, als hätte er ſich während 
deſſen ſelber ſammeln und wiederfinden müſſen, hob er mit tiefem 
Seufzer an: „Guten Morgen! Schon hell am Tage? Unge— 
wöhnlich matt und müde. Ruhe wird wohlthun. — Aber dieſes 
Geſindel! Kann man ſicher ſchlafen? Das plündert Freund und 
Feind. — Sie ſind ein Ehrenmann. Vergangenes ſei vergeſſen. 
Ich will ſchlafen. — Wollen Sie mich hüten? Man könnte mich 
beſtehlen.“ 

Als Flavian, zur Beruhigung des Kranken, was dieſer irgend 
verlangen würde, zu leiſten verhieß, bat Malariva, ihm aus der 
Seitentaſche des blutdurchfloſſenen Rocks eine große, mit Papieren 
gefüllte Brieftaſche, aus dem Gürtel aber eine goldgefüllte Börſe 
zu ziehen und in Verwahrung zu nehmen, ſo lange ſein Schlaf 
dauern würde. Das Begehren ward erfüllt. Doch plötzlich ſtreckte 
Malariva haſtig den geſunden Arm aus, und rief mit Argwohn, 
oder vielmehr Schrecken: „Was? Nein! — Nimmermehr! — 
Wieder her damit! — Her damit! — Börſe, Brieftaſche!“ — Schweis 
gend legte Prevoſt beides neben dem Verwundeten aufs Lager. 

„Es geht nicht!“ fing der Graf nach langem Sinnen an: 
„Gierige Augen dieſer Räuber! — Sie ſind Mann von Ehre; 
öffnen Nichts. — Nehmen Sie. Ihnen vertrau' ich. — Verber⸗ 
gen Sie, bis ich erwache.“ 


- mm — 


Kaum war ſein Wille erfüllt, Schloß er ohnmächtig die Augen. 
Er ſchien eingeſchlafen. Bald aber regte er wieder den Arm, 
und, wie ſeines Thuns reuig, liſpelte er, ohne aufzublicken, mit 
ſchwacher Stimme: „Nein, nein! — Her damit! — Her da— 
mit!“ und verſank abermals in Betäubung, oder Ohnmacht, 
oder Schlaf. Es lag in den Geberden des Unglücklichen etwas 
Grauſenhaftes, wie verbiſſener Schmerz, wie Höllenangſt, oder 
gräßlicher Hader mit dem Schickſal. — Den jungen Mann er— 
ſchreckte das Geſicht. Er wandte ſich ab und trat zu den Fenſtern 
des Saales, wohin ſeine Blicke, ſchon während der Beſchäftigung 
mit dem Verwundeten, oft gerichtet geweſen waren. 


39. 
Der Ni ck z u g. 


Es hatten ſich auf dem Schloßplatze, der bisher leer und öde 
geweſen, von Zeit zu Zeit Vorüberwandelnde gezeigt, welche 
aus der Gegend des Schlachtfeldes zu kommen ſchienen. Sie 
wurden bald immer zahlreicher und ſchritten auch eilfertiger vor— 
über. Flavian öffnete neugierig einen Flügel des Fenſters. Nie— 
mand achtete auf ihn; Keiner wechſelte ſelbſt mit ſeinem Nebenmann 
ein Wort. Jeder ging ernſt und ſchweigend weiter, bewaffnet 
und unbewaffnet. 

Verwundert über das Geheimnißvolle dieſes Zuges, rief Prevoſt 
eine Frage hinaus. Man erwiederte nichts; ſah kaum nach dem 
Frager zurück. Er verließ endlich den Saal; trat vor die Schloß— 
thür; auf den Platz; hielt den Erſten, der ihm nahe war, feſt, 
und fragte: „Wohin des Wegs, guter Freund?“ Der aber riß 
ſich ſchweigend los und ſchien ihn nicht zu verſtehen. Er wieder— 
holte die Frage einem Zweiten. „Schlimm!“ war die Antwort. 


— 212 — 


Indem erquoll von der Brücke ein dicker Menſchenſchwall her, 
aus welchem rieſig Uli Goin ragte, der links und rechts ſchrie 
und eiferte. Flavian rief ihn heran. Uli erblickte nicht ſobald 
ſeinen Schützenhauptmann, als er auch, durch den Strom des 
Zuges, die Leute zur Seite warf, und zu ihm lief. 

„Alle Donner, Herr Hauptmann, was ſteht Ihr da müßig 
und gafft?“ ſchrie er ihn an: „Hab' Euch geſtern und heut in 
allen Winkeln geſucht, und nun ſteht Ihr ſo ruhig da, als wär's 
vor der Schenke Sonntags Abend. Fort! fort! das ſchönſte Spiel 
iſt verloren, weil uns die Kaiſerlichen im Stich ließen. Sünd' 
und Schande; Trumpf in Händen, und verlieren! Nun iſt's aus, 
Katz und Maus. Säumt nicht. Man iſt uns auf den Ferſen!“ 

„Ich weiche nicht von der Stelle, Uli. Malariva liegt tödt— 
lich verwundet im Schloſſe.“ 

„Wer? Malariva? Laßt den Tuckmäuſer verenden! Wollt Ihr 
Euch ſeinetwillen die Haut von den Büchſen der verdammten Fran— 
zoſen durchlöchern laſſen? Die Teufelshuſaren fißen uns fehon im 
Nacken; fort, eh' ſie herankommen!“ 

„Werde, wie es wolle, Uli! Ich nehme mich des Grafen 
an; er hat mein Wort. Geh', wohin du magſt. Rette dich 
ſelbſt.“ 

„Mich, ohne Euch? Daraus wird nichts, Herr Hauptmann. 
Wenn Ihr den Teufel nicht fürchtet, fo mag ich's im Nothfall 
mit ſeiner Großmutter aufnehmen. Ich bleib' an Eurer Seite, 
bis Ihr gewillt zum Gehen ſeid; und der Wille wird ſchon kom— 
men mit der Noth. So laßt ſchauen, was der alte Fuchs drinnen 
treibt? Er hätte beſſer gethan, daheim im Loch zu bleiben, ftatt 
den Hunden den Schwanz hinzuſtrecken.“ 

Uli folgte dem Hauptmann ins Schloß, zum blutigen Kiſſen 
des Grafen. Dieſer lag, wie vorher, mit geſchloſſenen Augen, 
nur leiſe athmend. 


— 213 — 


„Ließe ſich doch ein Arzt finden!“ ſeufzte Flavian ängſtlich. 

Den Kranken lange von allen Seiten beſchauend, ſchüttelte 
Uli den Kopf und meinte: „Das ſoll der Graf ſein? Ich kenn' 
ihn ja nicht mehr. Der Rock iſt ſich ähnlicher geblieben, als das 
Geſicht. Der hat aber, glaubt mir, aus dem letzten Loch gepfif— 
fen, Herr Hauptmann. Wünſchen wir ihm gute Nacht, und 
ſorgen wir für uns ſelber.“ 

„Es ſcheint wirklich,“ flüſterte Flavian: „es neige ſich mit 
ihm zum Ende. Ich bedaure ihn. Ein Menſch in den ſchönſten 
Jahren.“ 7 

„Ei nun, Herr Hauptmann, die Jahre ſind wohl alleſammt 
ſchön; aber der Tod hält keinen Kalender, und fragt, wenn er 
anklopft, nach keinem Geburtstag.“ 

„Rede leiſe!“ ſagte Flavian: „du weckſt ihn.“ 

„O, den ſtört man im Schlaf nicht mehr, und das Hören hat 
er verlernt. Seht, er ſtreckt ſchon die Beine. Er iſt am Ster— 
ben. Beten wir für ſeine arme Seele ein Ave Maria, und 
machen wir uns aus dem Staub.“ 

Indem ſchlug der Graf die Augen auf. Sie waren gläſern 
ſtarr, wie Fiſchaugen. Er liſpelte mit matter Stimme: „Wer 
ſterben? — Was? — Nicht ſterben?“ — Er verzerrte das Ge— 
ſicht, warf ſich auf die Seite; rief: „Luft! Luft!“ richtete ſich 
gewaltſam halben Leibes in die Höhe, und ſchrie, wie in ſchwerer 
Todesangſt, aber mit halberſtickter Stimme: „Nicht ſterben! — 
darf nicht! — kann nicht — will nicht — — —“ Dann ſiel er 
erbleichend mit Todesröcheln aufs Lager zurück. Er hatte aus— 
geathmet; aber die gebrochenen, ſtieren Augen blieben offen; das 
Geſicht ward bläulicher, länger. Es entquoll ſeinem Munde ein 
Blutſtrom. Flavian wandte ſich mit Grauſen ab. 

„Gott hab' ihn ſelig, ſagt man, wenn's Matthäi am Letzten 
iſt,“ ſeufzte Uli Goin: „Todten Leuten zürn' ich nicht. Alle 


u. 


Sünde fei ihm vergeben. Nun auf, nun ins Weite mit uns!“ 
Er krallte den Hauptmann ungeſtüm, mit ſeiner knolligen Fauſt, 
in den Arm, und riß ihn mit ſich aus dem Schloſſe in das Ge— 
menge der Flüchtigen, deren keuchende Haufen kein Ende nahmen. 

Mit ſo weitſchallendem Lärmen am Tag vorher, durch Berg 
und Thal, der Auszug des Landſturms geſchehen war: eben ſo 
geräuſchlos und ſchweigſam ward jetzt der Rückzug vollbracht. 
Man hätte, wäre die Menge des Volks nicht zu groß geweſen, 
die langen Reihen für einen kirchlichen Feierzug und Umgang hal— 
ten können, dergleichen in katholiſchen Gegenden öfters die An— 
dacht der Ortſchaften zu vereinigen pflegt. Doch ſtatt zeitweis 
angeſtimmter Gebete, vernahm man nur zuweilen Schmerzens— 
ſeufzer eines Wundenträgers; oder Flüche eines Erbosten; oder 
Stöhnen eines Abgemüdeten. Manche blieben entkräftet zurück; 
Andere eilten behender vor; Andere ſonderten ſich zur Linken und 
Rechten von den Uebrigen ab, und benutzten, thalabwärts, oder 
bergauf, Fußwege, ihre Heimathen, Weiber und Kinder wieder 
zu finden. Noch hörte man hinterwärts, in nicht allzugroßer 
Entfernung, Geknatter des kleinen Gewehrfeuers, oder einzelne 
gewechſelte Flintenſchüſſe, oder den erſchütternden Luftſtoß einer 
entladenen Kanone. Und jedesmal folgte darauf unwillkürlich be— 
ſchleunigte Fortbewegung der verworren durch einander rennenden 
Heimzügler. b 

„Armes Volk!“ klagte Flavian: „Biſt alſo wieder einmal 
das Schlachtopfer wahnfinniger Faktionen geworden! Nun wühlen 
Oeſterreicher und Franzoſen in deinen Eingeweiden.“ 

„Ihr habt wohl Recht!“ ſtimmte Uli Goin ein, und trock⸗ 
nete den Schweiß von der Stirn: „Man hätte weder Hans noch 
Franz ins Land laſſen ſollen. Da haben wir's. Es iſt leicht, 
den Teufel ins Haus rufen; aber feiner wieder abkommen, iſt 


ſchwer.“ 


— 413 — 


„Ich fürchte, Uli,“ erinnerte Flavian: „das Schrecklichſte 
wird noch über uns ergehen, wenn die Franzoſen den zweiten 
Mord ihrer Kameraden erfahren. Ja, ſchon wiſſen ſie ihn, ohne 
Zweifel, aus dem Munde der von Trons und Tavanaska Ent— 
ronnenen. Ihre Rache bleibt nicht aus.“ 

„Das haben uns die Medelſer, in ihrer Hundswuth, einge— 
brockt!“ rief der Tavetſcher ärgerlich: „Half doch dagegen kein 
Wettern und kein Fluchen. Meinethalben! haben ſie uns den Teufel 
geholt, mögen ſie auch den Fuhrlohn für ihn zahlen. Es wäre 
aber, glaubet mir's, Gott erbarm's! nicht ſo kläglich ergangen, 
hätten die Kaiſerlichen bei Chur ehrlicher Wort gehalten. Die 
wiſchten ſich das Maul und ließen uns im Koth ſitzen. 

„Warſt du im Gefecht?“ 

„Das will ich glauben, Herr Hauptmann! Ich bin, Ihr wißt's, 
Soldat, und habe Pulver gerochen. Drum machten ſie mich zum 
Offizier. Aber es war keine Ordnung zu halten. Keiner parirte. 
Bald hatt' ich ein paar hundert Mann, bald kaum ein Dutzend 
zu kommandiren. Alles flog durcheinander, wie der Schnee beim 
Guchſen in der Alp“). Ich mochte mich heiſer ſchreien: die Kerle 
waren taub. Viele hatten beim Morgentrunk zu oft ins Brannt— 
weinglas geſchaut; taumelten toll und voll; Andern ſah man den 
Katzenjammer an, den ſie ſich letzte Nacht aus Wirthskellern ge— 
holt. Seht Ihr, Herr Hauptmann, ein einziges faules Ei kann 
einen ganzen Kuchen verderben, ſagt man; aber da waren der 
faulen Eier zuviel. Drum haben wir den Geftanf davon.“ 


) Das „Guchſen“ nennt man, wenn der Sturm zwiſchen Felswänden 
der Gebirgshöhen den liegenden oder fallenden Schnee erhebt, in heſ— 
tigen Wirbeln entführt, und mit dem Geſtöber Hirten und Heerden 

zu begraben droht. 


is = 


„Es ging doch, hört’ ich, Anfangs glücklich. Was gab Anlaß 
zur Flucht? Des Feindes Uebermacht?“ 

„Mit nichten, Herr Hauptmann. Zehnmal ſtärker waren wir, 
als die Franzoſen. Wir jagten ſie wild vor uns her, wie eine 
Schafheerde. Wären nur die Oeſterreicher zum Beiſtand gekommen, 
wie es Malariva's Schelmenmaul tauſendmal verheißen hatte, ſo 
würden alle Franzoſen ins Gras gebiſſen haben. Statt deſſen 
blieben die faulen Bundesgenoſſen dahinten bei ihren Feldkeſſeln 
ſitzen und kochten ihr Mittagsbrod. Unſere Leute hielten ſich wie 
Helden; ich muß es ſagen. Wir waren ſchon gegen die Stadt— 
gärten vor Chur gedrungen. Da ging's heiß her. Hinter jedem 
Hag und Strauch lauerte ein Blaurock und eine Flinte, und die 
Kartätſchen fielen, wie Schloßen. Das hätte nichts gethan! Wir 
rückten vorwärts. Plötzlich aber ſahen wir mitten unter uns, wie 
vom Himmel herabgeregnet, ja! ja! denkt Euch, mit blitzenden, 
fliegenden Säbeln, eine Menge Huſaren. Da ſchlug der Wind 
um. Alles nahm Reißaus über Stock und Stein, wer nicht nieder— 
geritten werden, oder die ſcharfe Klinge ins Genick haben wollte. 
Kanonen brüllten uns nach. Kugeln pfiffen herum, wie Vögel. 
Da ſtürzten hundert und hundert brave Leute, die wohl ein beſſeres 
Begräbniß verdient hätten.“ 

„Und wie kamſt du davon, Uli?“ 

„Ich? ei, ich dankte zum erſtenmal dem Himmel für die lan— 
gen Beine; und mehr noch, daß ich ſie heil davon brachte. Neben 
den vorderſten Häuſern von Ems endlich ward Halt gemacht. Wer 
noch Gewehr und Pulver trug, trat wieder in Reih und Glied, 
oder ſchoß aus Ställen und Häuſern. Andere wurden abgeſchickt, 
die Flüchtlinge zurückzurufen. Ich ſollte die Brücke von Reichenau 
mit Mannſchaft beſetzen. Ja! ja, man hat gut kommandiren. 
Heiſer hab' ich mich geſchrien; aber der Teufel war nun einmal 
in die Gergeſener Säue gefahren. Und es iſt nicht gut Pelz 


— 7 — 


machen, wenn man weder Haar noch Wolle hat. Hexen konnt' 
ich nicht. Da fand ich Euch vor dem Schloſſe.“ 

Unter ſolchen Geſprächen, die den Weg verkürzen mußten, 
brach die Nacht herein. Das Geſchütz der verfolgenden Feinde 
ſchwieg. Langſamer bewegten ſich die müden Genoſſen des ver— 
unglückten Landſturms weiter; oder ſuchten Herbergen und Nacht— 
lager in Dörfern, Weilern und umhergelegenen Hütten und Heu— 
ſtällen. Es verging eine unerquickliche, bange Nacht; Vielen ohne 
Trank und Speiſe. Flavian, begleitet vom getreuen Uli, er— 
reichte, folgenden Tages, Diſentis und das Schloß Caſtelberg, 
wohin die Schreckensbotſchaft der großen Niederlage ſchon voran- 
geflogen war. 


40. 
Erin e eee 


Des Landrichters Gemahlin empfing den Schützenhauptmann, 
wie eine wohlthätige Erſcheinung eines ſchirmenden Engels. Sie 
hatte nicht an ſeinem Willen gezweifelt, das ihr gegebene Ver— 
ſprechen zu löſen; aber für Rettung ſeines Lebens aus dem Kriegs— 
ſturm gezittert, in den er unfrei fortgeriſſen worden war. Und 
wiewohl ſie unter allen Bewohnern von Diſentis, kraft ihres 
Schutzbriefes, vielleicht am wenigſten die Rache franzöſiſcher Trup— 
pen zu fürchten hatte, war es ihr doch Beruhigung, einen Mann 
von Geiſt und Muth zur Seite zu haben, der ſich ſelbſt noch zum 
franzöſiſchen Militär zählen konnte. 

Was Küche und Keller des Beſten zu gewähren im Stande 
war, wurde den beiden Abenteurern fofort freudig aufgetifcht. 
Nichts in der Welt konnte den ehrlichen Uli beſſer tröſten. Er 
ward wieder der zufriedenſte Mann von der Welt mit ſeinem Schick— 


— 218 — 


ſal. Denn, ungerechnet die ſtillen Leiden eines leeren Magens, 
hatte ihn nicht unbillige Sorge gequält, wohin bei dem Umſchwung 
der Dinge ſeine ehrenwerthe Perſon in Sicherheit zu bringen ſei? 
Als ein, wenn auch untergeordneter, Anführer im Aufruhr, mußte 
er nun, gleich Andern, ein landesflüchtiger Bettler werden, oder, 
wenn er blieb, von den Franzoſen einer Kugel vor den Kopf ge— 
wärtig ſein. Aus dieſer bittern Verlegenheit hatte ihn Herr Pre— 
voſt ſchon unterwegs durch die Zuſage gerettet, er wolle ihn, als 
ſeinen Diener, bei ſich halten; und in dieſer Eigenſchaft empfing 
er auch von der Herrin des Schloſſes ſogleich Zuflucht und Wohn— 
fig in dem alterthümlichen Gebäu. Ihr ſelber aber gereichte es 
dabei zu einigem Troſt, die kleine Beſatzung ihrer Burg verſtärkt 
zu ſehen. 

Nachdem Flavian ihr die Unglücksgeſchichte des dreitägigen 
Feldzuges ausführlich vorgetragen hatte, ſagte ſie: „Ich ſeh' es 
Ihren ſchlaftrunkenen Augen an, Sie ſehnen ſich nach Ruhe. Ich 
gönne ſie Ihnen. Morgen, mein gütiger Freund, plaudern wir 
mehr. Nur noch zwei Worte. Ich habe Ihnen einen Brief des 
Paters Gregori zu übergeben. Der würdige alte Herr iſt, geſtern 
oder heut, im Gefolge des Abtes, abgereist; wohin? iſt mir une 
bekannt. Er beklagte, Sie nicht mehr geſehen zu haben. Es iſt 
nicht ganz recht, daß eben, in einer ſo verhängnißſchweren Zeit, 
die frommen Hirten am erſten ihre Heerde verlaſſen, und ſie einem 
ſchrecklichen Looſe preisgeben, das vielleicht, nicht ganz ohne ihre 
Mitſchuld, kaum ſo gekommen wäre. — Auch das Fräulein von 
Stetten hat ſich geflüchtet.“ 

„So bin ich,“ fiel Flavian ein: „meiner Verpflichtungen 
ledig, und kann mich, es komme, wie es nun wolle, ihren Dien— 
ſten, gnädige Frau, ausſchließlich widmen?“ 

„Nein, lieber Hauptmann, nicht alſo; nicht länger, als bis, nach 
Ankunft der franzöſiſchen Truppen, die wahrſcheinliche Gefahr für 


— — 


unſer Haus vorüber fein wird. Länger halt' ich Sie nicht zurück. 
Ich bin darüber mit dem Fräulein von Stetten einverſtanden. Ge— 
ſtern reiste die unglückliche Dame nach Brigels hinauf, wo ſie 
bei einem meiner Bekannten, dem Ammann, welchem ich ſie em— 
pfahl, einſtweilen, mit ihrer Kranken, wohlverwahrt ſein wird. 
Dort, wenige Stunden Wegs von hier, werden Sie von ihr er— 
wartet.“ 

Flavian unterwarf ſich willig allen Wünſchen und Anordnungen 
der Frau von Caſtelberg. Nachdem ſie ihn entlaſſen hatte, begab 
er ſich in ſein Zimmer, und las den Brief des Paters. Der In— 
halt des freundlichen Schreibens, ſo viel Räthſelhaftes es auch ent— 
hielt, ward ihm ſo anziehend und erregend, daß er ihn mehrmals 
vornahm und faſt den Schlaf verlor. 

„Wer weiß,“ hieß es darin: „ob ich Sie, mein lieber, junger 
Freund, je in dieſem Leben wieder erblicke. In Tagen, gleich 
den gegenwärtigen, iſt jede Zuverſicht auf die nächſte Stunde Ver— 
wegenheit. Ungern, doch gehorfam, muß ich, nebſt einigen an— 
dern Kapitularen, unſern gnädigen Herrn auf der Flucht ins 
Zurathal nach Olivone begleiten. Vielleicht erlaubt er mir 
aber, wie ich hoffe, noch unterwegs, Rückkehr nach Diſentis; denn 
meine Kräfte ſind den Anſtrengungen einer ſo rauhen Bergreiſe 
nicht mehr gewachſen. Auf jeden Fall jedoch nehm' ich von Ihnen 
Abſchied; Sie ſind mir, durch Ihre tüchtige Geſinnungsart, von 
Herzen werth und lieb geworden.“ 

„Das Haus Caſtelberg darf ich Ihnen nicht erſt empfehlen; 
wohl aber wag' ich flehentliche Fürſprache für das Fräulein Pauline 
von Stetten. Ich kenne es von frühern Jahren her aus Deutſch— 
land. Sie war meine Freundin; ſie iſt es noch; und leider, zum 
Theil iſt ſie durch meine Schuld in dieſe unheilvollen Gegen— 
den verſchlagen. Sie kam vor wenigen Monaten nach Bünden, 
einer Frau von Salis in Chur empfohlen; dann hierher zum Be— 


— 20 — 


ſuch, wo Frau von Caſtelberg ihr unendlich viel Güte erwies. 
Da ward ſie durch das Einrücken franzöſiſcher Truppen, durch 
die aufrühreriſchen Volksbewegungen, durch die allgemeine Un— 
ſicherheit im Lande überraſcht, und gezwungen, länger, als ſie 
anfänglich wollte, zu verweilen. Ich ſelber rieth dazu; ſie ſchien 
mir hier, als Oeſterreicherin, geborgener, denn in Chur.“ 5 

„Bei Allem, was Ihnen, lieber Freund, theuer ſein kann, 
und bei Allem, was für Sie irgend mit einer gewiſſen heiligen 
Roſe von Diſentis in Verbindung ſtehen mag, beſchwör' ich 
Sie, ſich der hülfloſen Dame anzunehmen, bis ſie in vollkom— 
mener Sicherheit ſein wird. Ja, ich geſteh' es Ihnen, dieſe 
Pauline, ſie war einſt die Liebe meiner Jünglingsjahre; eine 
Liebe, vor welcher, auch heut' noch, ich nicht zu erröthen habe; 
eine Liebe, derentwillen auch Pauline unvermählt geblieben iſt. 
Nicht vergebens hab' ich Sie daher an jene Roſe von Diſentis 
gemahnt. Auch Sie haben geliebt! Ich kenne das Geheimniß 
Ihres Herzens durch meine Freundin, welche zu Wien auch die 
Freundin desjenigen edeln Mädchens war, das, durch Bosheit der 
Menſchen irre geführt, Sie, den Schuldloſen, verſtieß und ver— 
dammte, und nachher, eben ſo unſchuldig, von Ihnen verdammt 
worden iſt.“ 

„Leben Sie wohl! Ich empfehle Sie dem Schutz Gottes. 
Laſſen Sie Ihren jugendlichen, wenn auch edeln Menſchenhaß 
fahren; es leben der Guten und Heiligen noch Viele unter unſern 
von Ihnen ſogenannten Halbthieren. Geben Sie Ihre, wenn auch 
edelgemeinten, Weltverbeſſerungspläne auf; nicht Sie, auch nicht 
der weiſeſte, und nicht der mächtigſte Menſch, ſondern die Hand einer 
allweiſen Vorſehung allein führt unſer Geſchlecht zur vollendeten 
Heiligung. Wir einzelne Sterbliche tragen Jeder nur Sandkörner 
zum Bau des ewigen Gottestempels bei. Begnügen Sie ſich, 
wo Sie es finden, auch mit dem Sandkorn; und Sie werden mit 


— mM — 


ſich und der Welt zufriedener, das heißt, glücklicher werden. Dies 
wünſcht aus voller Seele Ihr Freund 
P. Gregorius. 

Abtei Diſentis den 4. Mai 1799. 

Flavian hatte in der jüngſten Zeit viel zu ernſte Erfahrungen 
gemacht, als daß die letzten Worte des lebensweiſen Benedikti— 
ners für fein Gemüth nicht hätten Bedeutung empfangen ſollen. 
Ihre Wahrheit ward ſeine Ueberzeugung. Bei dieſem Lebewohl 
des frommen Mannes ward ihm, als ſcheide ein höheres Weſen 
von ihm, welches ihm in den ſchwerſten Stunden zum Troſt, zur 
Lehre, zur Geiſteserhebung erſchienen wäre. 

Und jene Pauline, jene treue Jugendliebe des Greiſes! — 
Sie, die bisher für Flavian eine ſo bedeutungsloſe Perſon ge— 
weſen war, ſtand jetzt, wie ein unter des Schickſals Fügungen 
herbeigeführter Genius, der vielleicht ihm in ſein verlornes Pa— 
radies den Weg öffnen konnte. Manches, was bisher in räthfel- 
hafter Dämmerung geſtanden war, und nur ſein neugieriges Er— 
ſtaunen gereizt hatte, klärte ſich jetzt durch zufällige Anweſenheit 
dieſer Pauline, und durch ihre Verhältniſſe mit Elfrieden auf. 
Elfriede von Marmels war alſo nur „irre geführt“; beweinte in 
Wien vielleicht noch die ehemalige Härte; war vielleicht noch dem 
gegebenen Gelübde treu. Wie viel berauſchende Hoffnungen ent— 
ſpannen ſich unter dieſem Gedanken! — Das Werk der Trennung 
konnte vielleicht nur, wie manches Andere, Werk des boshaften 
Malariva geweſen ſein Er hatte es abgebüßt und ſchwer gebüßt! 

Die Erinnerung an des Grafen Tod mahnte ihn, die ihm vom 
Verſtorbenen anvertraute Brieftaſche zu öffnen. Vielleicht konnte 
er dadurch ſchon jetzt Entdeckungen über die geheimen Ränke des 
Mannes erhalten. Er nahm das eingeſchlagene Bündel der Papiere 
hervor; riß es auf; durchmuſterte flüchtig den Inhalt. Doch was 
er zu finden wünſchte, ſuchte er umſonſt. Außer einem Paar faſt 


- Ä 


unleſerlicher Briefe ohne Unterſchrift aus dem öſterreichiſchen Haupt— 
quartier, nur Fragen und Weiſungen in Militärſachen enthaltend; 
und Briefen von einem Wiener Bankhauſe, welches vermuthlich 
Geldgeſchäfte des Grafen verwaltete, beſtand das Uebrige in Kapital—⸗ 
und Zinsverzeichniſſen vom Vermögen des Grafen ſelbſt, wie auch 
der Baronin von Grienenburg und ihrer Stieftochter Elfriede von 
Marmels. 

Gleichgültig, faſt unzufrieden, band Flavian die Papiere zu— 
ſammen, die etwa für Malariva's Erben, ſo wie für beide Damen 
Wichtigkeit haben konnten, deren Beiſtand oder Vormund der Graf 
geweſen. Aber in des Jünglings Bruſt bebten nun alle Gefühle 
ſehnſüchtiger Liebe in erhöhter Gewalt; Gefühle, die einſt die 
reinſte Seligkeit waren; dann auch noch, in aller Bitterkeit, ſüßes 
Weh brachten. Er berechnete die Stunden, die ſich noch zwiſchen 
dieſem Abend und dem Augenblick lagern mochten, wo er das 
Fräulein von Stetten kennen lernen ſollte. Sie ſchien für ihn 
der Ring, welcher in der zerriſſenen Kette zwiſchen Elfrieden und 
ihm gefehlt hatte. 


41. 
Nine e e f e e 


Erſchrocken ſprang am Morgen Uli Goin in das Zimmer ſei— 
nes Herrn, und rief: „Auf, auf! Wer ſchaut der Zukunft in die 
Karte? Vielleicht iſt für uns ſammt und ſonders der jüngſte Tag 
da. Man ſchlägt ſich wieder mit den Franzoſen draußen. Es 
muß ſich noch ein Reſt des Landſturms zuſammengethan haben. 
Doch nur dünnes Plänkelfeuer läßt ſich hören. Wer flüchten kann, 
flüchtet in Berg und Wald hinaus. Die Franzoſen find nahe, ſehr 
nahe!“ 


6 — 


Prevoſt ſprang haſtig vom Bett auf, und warf ſich in Kleider 
und langen blauen Ueberrock, wie damals die Offiziere der fran— 
zöſiſchen Armee auf Märſchen zu tragen pflegten. Darüber ſchnallte 
er den Schleppſäbel. Er hatte das Nöthigſte zu ſeinem Krieger— 
ſchmuck kaum vollendet, als man leiſes Pochen an der Thür ver— 
nahm. Frau von Caſtelberg wankte zitternd herein, Angſt in 
Augen und Mienen. 

„Was wird aus uns Unglücklichen!“ ſeufzte ſie: „Man hört 
nicht weit entfernt die Trommeln des heranrückenden Feindes, deſſen 
Wuth der letzte, ſchwache Widerſtand der Bauern nur geſteigert haben 
wird. Hier, lieber Hauptmann, nehmen Sie das Zeugniß der 
Offiziere und des Generals Loiſon! Vielleicht befehligt er ſelber 
die Truppen. Erflehen Sie von ihm eine Schirmwache für das 
Schloß und Gnade für Diſentis. Oder, was wollen Sie, was 
ſoll ich thun?“ 

„Verzagen Sie nicht, Frau Landrichterin!“ entgegnete Fla— 
vian: „Unſer Gott iſt ebenfalls nahe! Ich werde den General 
aufſuchen, wer er immerhin ſein möge. Bereiten Sie indeſſen 
für die zahlreichen Ankömmlinge ein ſtattliches Morgeneſſen, ſo 
gut es Eile und Umſtände vergönnen.“ 

Wie ruhig er auch, um zu beruhigen, ſprach, war ihm ſelber 
doch, bei den nahenden Ereigniſſen, nichts weniger, denn wohl 
zu Muth. Nur mühſam flößte er, durch feinen Zuſpruch, der 
ſonſt entſchloſſenen Frau einige Zuverſicht ein. Dann verließ ſie 
ihn, Zurüſtungen zum Empfang feindlicher Gäſte zu treffen. 
Während er frühſtückte, entfernte ſich Uli von Zeit zu Zeit, Nach— 
richten zu ſammeln. Von einem der flüchtigen Landleute hatte 
der treue Diener vernommen, daß die Niederlage, welche der 
Landſtrum auf den Feldern von Chur und Ems erlitten, blutiger 
geweſen, als man geglaubt; daß mehrere Hundert Bauern aus 
den verſchiedenen Landesgegenden umgekommen ſeien; daß die 


— 224 — 


Franzoſen, ein paar tauſend Mann ſtark, unterhalb des Schloſſes 
Caſtelberg Halt gemacht hätten, und bald einrücken würden. 

In der That vernahm man bald näher und lauter das Ge— 
räuſch der geſchlagenen Trommeln. Flavian ergriff ſeinen Militär⸗ 
hut; trat hinaus in den Schloßhof, und ſtellte ſich gelaſſen vor 
der Pforte deſſelben. Schon war der Vortrab der Bataillone, 
auf der rauhen Bergſtraße, neben der Plaziduskapelle vorbei⸗ 
gezogen. Aus der Tiefe rechts ſtiegen blitzende Bajonette, Ge— 
wehre, Fahnen auf, als wüchſe ein Heer aus dem Boden vor. 
Flavian näherte ſich den Truppen einige Schritte. Einen unweit 
ſtehenden Offizier fragte er um den Namen des kommandirenden 
Generals. „General Chabran!“ lautete die Antwort. Nun war 
die Reihe des Antwortens an Flavian: wer er ſei, der, als fran— 
zöſiſcher Offizier, wofür er doch gelten wollte, nicht einmal den 
Namen ſeines Oberbefehlshabers kenne, und damit gegründeten 
Verdacht errege? Der Schützenhauptmann gab umſtändliche Aus⸗ 
kunft. Allein der Franzoſe ſchien wenig zu trauen. „Mögen Sie 
ſein, wer Sie wollen,“ ſagte dieſer: „ich muß Sie bitten, mir 
einsweilen nicht von der Seite zu weichen. Ich werde Sie dem 
General vorſtellen; Sie mögen ſich bei ihm ausweiſen.“ 

„Ich bin Ihnen dankbar,“ erwiederte der Verhaftete: „Beſ— 
ſeres verlang' ich nicht; ich war ſelbſt im Begriff, ihn aufzu⸗ 
ſuchen.“ 

General Chabran, mit Adjutanten, ritt indeſſen vorüber, und 
befehligte Halt, ſobald ſich die Truppen auf der Wieſenebene 
zwiſchen Dorf und Kapelle befanden. Hier wurden ſie aufgeſtellt. 
Es näherten ſich dem Feldherrn Oberoffiziere. Er gab die letzten 
Weiſungen. Sobald ſie zu ihren Poſten zurückgekehrt waren, ward 
Flavian von ſeinem argwöhniſchen Geleitsmann zum Befehlshaber 
geführt. Dieſer, nachdem er einige Worte des Dienſteifrigen 


— 225 — 


angehört, wandte ſich verdrüßlich zu Prevoſt und fragte: „Wer 
find Sie? Was treiben Sie hier? Wohin gehören Sie?“ 

Eben ſo kurz, beſtimmt und feſt berichtete dieſer über ſich und 
ſeine Unfälle im Dienſt der Armee. Zur Beglaubigung ſeines 
Wortes, überreichte er, nebſt dem Schreiben vom General De— 
mont, das Zeugniß Loiſons. Chabran durchflog die Blätter, gab 
ſie zurück und ſagte: „Bürger Prevoſt, ich habe Sie auf meiner 
Liſte. Gut, daß Sie ſich ſelbſt ſtellen. Sie kommen mir gelegen. 
Jetzt fehlt mir Zeit. Iſt jener graue Steinhaufen wirklich das 
Schloß Caſtelberg?“ 

„Ja, mein General, das Aſyl der gefangen geweſenen Offi— 
ziere, wo Ihre Ankunft von der gaſtfreundlichen Bürgerin Caſtel— 
berg wirklich erwartet wird.“ 

„Wahrhaftig kein Feenſchloß, übrigens aber, im Aeußern, 
ganz vollkommen dieſer Einöde des Gebirgs angemeſſen,“ ſagte 
flüchtiglächelnd der General: „Erwarten Sie mich dort. Gibt's 
hier herum noch zuſammengelaufene Bauern? Denkt man noch an 
Gegenwehr?“ 

„Nein, General; ſie haben ihre böſe Luſt gebüßt.“ 

Die Trommeln wirbelten. Der Feldherr ſprengte davon. Die 
Truppen rückten ins Dorf ein. Links bewegte ſich eine kleine 
Abtheilung von zwanzig Mann gegen das Schloß; rechts zog eine 
Kompagnie herauf, den Weg zur Abtei. Bald ſah man auch, 
hinter Diſentis, Truppenzüge in den Feldern, die ihre Richtung 
nach den letzten und höchſtgelegenen Ortſchaften des Oberlandes 
gegen Tavetſch, Rueras und weiter umher nahmen. 

Flavian fand bei der Rückkunft im Schloſſe die Frau von 
Caſtelberg minder kummervoll; aber mit ihrem geſammten Haus— 
geſinde viel beſchäftigt, die in den Hof eingerückte Mannſchaft 
mit Erquickungen zu verſorgen. Laut höflicher Erklärung des 
Lieutenants, der die Soldaten geführt hatte, waren dieſe vom 

Zſch. Nov. XI. 15 


— 0 — 


General befehligt, den Dienft einer Schutzwache zu verrichten, 
als Zeichen von Dankbarkeit für die im frühern Volksaufſtand ge— 
retteten Franzoſen. 

Später erſchien der Oberbefehlshaber ſelbſt, mit zahlreicher 
Begleitung, um das ihn längſt erwartende Gaſtmahl anzunehmen. 
Er war ein angenehmer Mann von ohngefähr fünfunddreißig 
Jahren; unter den franzöſiſchen Feldherren eben ſo ſehr durch 
perſönliche Tapferkeit und Klugheit, als durch Milde und Mäpi- 
gung ausgezeichnet; heiter und ernſt im rechten Augenblick. Er 
wußte, bei Tafel, der Dame des Hauſes ſoviel Verbindliches 
über ihren, nach Loiſons Rückzug, bewieſenen Edelmuth zu ſagen, 
und ſie über die Sicherheit ihrer Perſon und ihres Eigenthums 
ſo vollkommen zu beruhigen, daß ſie einen freudigen Blick auf 
Prevoſt warf, und ſogar wagte, für Schonung der armen Be— 
wohner von Diſentis und der Umgegend zu bitten. 

„Sie bitten um Schonung,“ ſagte Chabran: „ich bin nichts 
weniger, denn hartherzig, geſchweige grauſam; aber gerecht muß 
ich ſein, und bedacht für Sicherheit und Ehre der Truppen, auch 
wenn es meinem Herzen weh thut, verblendete, fanatiſirte Men— 
ſchen, laut Kriegsrecht, zu ſtrafen. In der Nacht vom 4. zum 
5. Mai wurden in hieſigen Dörfern unſere gefangenen und ein— 
quartierten Soldaten auf gräuelhafteſte Weiſe ermordet. Bürger 
Prevoſt hier, und ſeine Wunden, mit denen er entkam, können 
am beſten davon ſprechen. Dennoch ward die Unmenſchlichkeit mit 
Menſchlichkeit von uns vergolten. Der Obergeneral Maſſena be— 
gnügte ſich, nur die Auslieferung der Aufwiegler zu fordern. 
Statt der Erkenntlichkeit für unſere Großmuth, und während wir 
für die Bündner kämpften, ward der zweite Aufruhr, die zweite 
Mordthat vollbracht. Hier, hier in Diſentis wurden mehr denn 
hundert Franzoſen, trotz geſchloſſener Kapitulation, meuchelmör— 
deriſch niedergemetzelt. Kann Ihnen, Madame, das Schickſal der 


— 27 — 


Wittwen und Waiſen der Erſchlagenen gleichgültig ſein? Darf's 
uns ſein?“ 

Frau von Caſtelberg antwortete, geſenkten Blicks, mit einem 
Seufzer. 

„Ich verlange einsweilen,“ fuhr der General fort: „für jene 
beklagenswerthen Wittwen und Waiſen eine Contribution von 
wenigſtens 10,000 Franes bis morgen; Auslieferung der erſten 
Anhetzer zum Landſturm und der Böſewichte, welche den Mord 
begingen, oder aber —“ 

„Die Einwohner von Diſentis ſind, ſo wahr ein Gott lebt, 
an der gräßlichen That ſchuldlos, General; es kann erwieſen 
werden, daß ſie, ſo wie auch einige Mönche des Kloſters, mit 
eigener Lebensgefahr, abzuwehren ſtrebten,“ rief Frau von 
Caſtelberg, und Flavian beſtätigte ihr Wort. 

„Ich kann perſönlich in keine Unterſuchungen eintreten,“ er— 
wiederte der General: „die Ortsvorgeſetzten find ſchon von 
meinem Willen unterrichtet. Mir iſt kurze Zeit zugemeſſen, und 
ich vollſtrecke meine Pflicht. Alle müſſen mir für das Verbrechen 
haften, beim geringſten Zaudern bin ich gezwungen, furchtbares 
Gericht zu halten.“ 

Man kann wohl denken, eine Unterhaltung, wie dieſe, ge— 
hörte nicht zu den erfreulichſten an der reich- und wohlbeſetzten 
Tafel. Auch erhob ſich der General bald; ließ die Pferde wieder 
ſatteln, und begab ſich indeſſen in ein anderes Zimmer, wohin, 
auf ſeinen Wink, Prevoſt folgen mußte. Nach einer langen Un— 
terredung kehrten Beide, wie es ſchien, mit zufriedenem Geſicht 
zurück. General Chabran beurlaubte ſich bei der Gebieterin des 
Hauſes auf die artigſte Weiſe; verſicherte ſie wiederholt ſeines 
vollen Schutzes, ſo lange er in dieſer Gegend den Befehl führe: 
ſchwang ſich, nebſt ſeinen Begleitern, aufs Roß und eilte davon. 


— - 


Der Tag verſtrich unter Befürchtungen und Ahnungen, die 
Einer dem Andern mittheilte, und die Angſt des Andern mehrte, 
ohne die eigene vermindern zu können. Gerüchte ſchrecklicher Art 
liefen von Mund zu Mund, von Ohr zu Ohr, die Jeder zwar 
laut verwarf, und doch ſtill glaubte: man würde die Ortſchaften 
zerſtören, wo franzöfifches Blut vergoſſen worden; die junge 
Maunſchaft werde ausgehoben und unter das franzöſiſche Militär 
vertheilt werden; in den Zimmern des Abtes Kathomen ſei unter 
den Papieren deſſelben die Liſte Aller gefunden worden, welche 
an der Verſchwörung gegen die franzöſiſche Armee in Graubünden 
Theil genommen und die Aufruhre angezettelt hätten; Keinem von 
dieſen werde das Leben geſchenkt; man habe in allen Ortſchaften 
die begütertſten Männer und Hausväter verhaftet, um ſie, als 
Geiſeln, nach Frankreich zu ſchleppen. 

Noch in ſpäter Abendſtunde ward die Schutzwacht des Schloſſes 
faft ums Doppelte verſtärkt. Der Kapitän, welcher den Befehl 
über ſie empfangen hatte, meldete der Frau von Caſtelberg den 
Willen des Generals, daß ſie die Mannſchaft verpflegen, übrigens, 
für Sicherheit ihres Eigenthums, ſorglos ſein möge. 

„Ich bin's wohl, und darf's wohl ſein!“ ſeufzte ſie weinend, 
als ſie ſich endlich mit Prevoſt im Wohnzimmer allein ſah: „Aber 
meine in der Irre umherflürchtenden Verwandten und Freunde! 
Werd' ich ſie je wieder erblicken und wie? Liegt nicht ſchon jetzt 
vielleicht mancher von ihnen unter den Todten bei Chur und ſonſt 
in Feldern und Wäldern unbegraben, ungefannt, unbeklagt! 
Wehe der blödſinnigen Raſerei unſerer politiſchen Parteien, welche 
fremde Mordſchaaren in dieſe Thäler riefen, Jammer auf Jam⸗ 
mer zu häufen; und im Namen der Freiheit und des Vaterlandes, 
Freiheit und Vaterland tödteten, um einander nur ſelber gegen— 
ſeitig verderben zu können! Möge ihnen die Barmherzigkeit Got⸗ 
tes Verbrechen verzeihen, die ſie für Tugenden halten wollten. — 


— 229 — 


Doch, es iſt nicht mehr Zeit zur Klage. Das Elend iſt da! Wir 
müſſen retten, und Troſt und Hülfe bringen, wo fie noch möglich iſt. 
Dank Ihnen, lieber Hauptmann; ich, für meine Perſon, bedarf 
Ihres Beiſtandes nicht mehr. Aber gedenken Sie des verlaſſenen 
Fräuleins von Stetten! In aller Frühe Morgens brechen Sie 
auf, ich beſchwöre Sie, und gewähren Sie dort Troſt, Rath und 
Schutz, wie Sie mir gewährt haben. Oder hat Ihnen General 
Chabran unterſagt, ſich zu entfernen?“ 

„Keineswegs. Vielmehr empfing ich mündliche und ſchriftliche 
Weiſung, mich ohne Verzug zur Brigade Loiſon zu begeben.“ 

„Zur Brigade Loiſon? Um des Himmels willen, Herr Pre— 
voſt, was ſoll aber aus den Frauenzimmern werden, die jetzt ver— 
loren und rathlos in Brigels ſitzen; keinen Menſchen weit umher 
kennen; vielleicht den Mißhandlungen und Gewaltthätigkeiten des 
Militärs preisgegeben ſind? Hätt' ich doch die unglückſeligen Ge— 
ſchöpfe überreden können, hier im Schloſſe Zuflucht zu nehmen! 
Hier wären ſie geborgen geweſen. Chabran iſt ein menſchenfreund— 
licher Mann. Aber die ängſtlichen Seelen waren zu unruhig, zu 
furchtſam, als daß ſie mich hören mochten.“ 

Flavian unterbrach die Klagen der edeln Frau mit Verſiche— 
rung, er werde ſich durch General Chabran ſo wenig, als durch 
Loiſon, binden laſſen. Er ſei zu dem Letztern nur als Freiwilliger 
getreten, ohne damit irgend Verpflichtungen auf längere Zeit einge— 
gangen zu ſein. Er wolle, mit Tagesanbruch, den Weg nach 
Brigels wählen und das Fräulein von Stetten auſſuchen. 

„Nehmen wir keinen Abſchied von einander!“ ſagte die Ge— 
tröſtete endlich nach vielerlei Verabredungen: „Unſere Herzen 
ſind des Kummers und des Harms angefüllt genug. Warum uns 
mit neuen Schmerzen quälen? Gott mit Ihnen, braver junger 
Mann. Laſſen Sie bald wieder von ſich hören. Gute Nacht!“ — Sie 


in — 


reichte ihm die Hand, die er mit Küſſen und Thränen bedeckte. 
Sie ging weinend zur Thür hinaus. 


42. 
En dei che., Diese ee 


Die Alpenfirnen leuchteten hell und hehr vom Morgenhimmel 
ins Thal. Noch aber lagen die Bewohner des Schloſſes im Arm 
des Traumgottes, aller Leiden und Schrecken der Tage vergeſſend. 
Da verließ Flavian, begleitet von Uli Goin, die ihm liebgewor— 
dene alterthümliche Burg; ſchritt grüßend durch die franzöſiſchen 
Wachten, den Weg zu feinen neuen Schutzbefohlenen beginnend, 
Was Liebe oder Dankbarkeit, im Schmerz der Trennung und kaum 
zu hoffenden Wiederſehens, ausſprechen können, hatte er noch in 
zurückgelaſſenen Briefen, wie der Frau von Caſtelberg, ſo dem 
ehrwürdigen Pater Gregorius, geſagt. 

Indem er, den rauhen Bergweg niederſteigend, das beſcheidene 
Diſentis, die ſtolz darüber thronende Abtei, mit den im Frühlicht 
ſchimmernden Gebäuden, dann die felſengrauen, verwitterten Ge— 
mäuer des Schloſſes hinter ſich verſchwinden ſah, ward ihm leichter 
und weiter ums Herz, wie wenn er aus einem beklemmenden 
Angſttraum hervorginge. Bald lagen die wohlbekannten, wild 
über einander gewürfelten Bergtrümmer, ſammt den armſeligen 
Hütten von Disla hinter ihm. Durch die Dörfer Compadiels, 
Sumvir und Trons zum heiligen Ahorn und feiner Kapelle ge: 
langt, verließ er das Thal, welches fortan für ſein Leben die 
Heimath der fürchterlichſten Erinnerungen bleiben ſollte. Von 
hier ſchlug ſich der Pfad links hinauf gegen das Tumpio-Gebirg, 
von wannen herab ſilbern die Höhen des Kiſtenberges und 
Selbſanfts ſtrahlten. 

Aller Orten durch die Verbindungspoſten des franzöſiſchen Mi- 


m "i- 


litärs angehalten, ausgefragt und verzögert, war den beiden 
Wanderern ein guter Theil des Morgens auf dem Wege ver— 
ſtrichen, der ſonſt wohl in drei kleinen Stunden zurückgelegt wird. 
Um ſo ruhiger eilten ſie dann hinauf zur Hochebene des Kul— 
mattenberges, wo zwiſchen grünenden Triften und kleinen Acker— 
feldern das Dorf Brigels mit ſeinen Kapellen, viertauſend Schuh 
erhaben über dem Meer, lagert. Die Gegend ward öder; kein 
Obſtbaum ſtreute ihnen Schatten und Blüthen entgegen; aber 
reinere Lüfte umfloſſen und badeten ihre Glieder, und ein friſcher 
Windesſtrom aus den Schluchten des umgletſcherten Thals von 
Friſäl kühlte die heißen Strahlen der Maiſonne ab. 

Uli Goin, der ſeit dem kläglichen Untergang des Landſturms 
nicht mehr viel des alten Heldenmuths, noch weniger auch, in 
Nachbarſchaft der fremden Sieger, das friedlichſte Gewiſſen be— 
halten haben mochte, ſchien heimlich froh, den mißtrauiſchen 
Augen der franzöſiſchen Poſten auf anſtändige Weiſe entrückt zu 
fein; dazu noch einen Brodherrn, wie er ſich keinen beſſern wün— 
ſchen konnte, und daneben Gelegenheit gefunden zu haben, ſorg— 
los in der lieben Welt umherzuſtreichen. Er würde in Herzens— 
luſt aus Leibeskräften ein Liedchen angeſtimmt haben, hätte er 
nicht beſorgen müſſen, die Aufmerkſamkeit der Franzoſen im Thal— 
boden drunten anzulocken und die unwillkommenen Muſikliebhaber 
unverſehens im Nacken zu haben. So begnügte er ſich, neben 
ſeinem jungen Gebieter, ununterbrochen plaudernd, hinzuſchreiten, 
gleichviel ob dieſer ihm antwortete, oder nicht. Nie war er ge— 
ſchwätziger und nach ſeiner Art ſinn- und ſpruchreicher, als wenn 
Andere ſchwiegen. 

Sein Reiſegefährte unterdeſſen ſchritt ſtill vorwärts, in Ge— 
danken durch Vergangenheit und Zukunft ſchwärmend; bald kum— 
mervoll um das Loos feiner Wohlthäterin im Schloſſe; bald ſelig 
in Hoffnung, ſeine Schweſter Sabine, am Rhein, umarmen zu 


ne — 


können; bald in Verlegenheit, wohin und auf welchen Wegen er 
am ſicherſten die öſterreichiſche Schöne entführen könne, deren 
Ritter und Schirmherr zu werden er gelobt hatte. 

Dies Fräulein mit dem hübſchen Namen, dieſe unbekannte 
Mitwiſſerin um das theuerſte und ſchmerzlichſte Geheimniß ſeiner 
Seele, beſchäftigte ihn zuletzt am meiſten; und immer lebhafter, 
je näher er dem Orte ihres gegenwärtigen Aufenthaltes kam. Wie? 
dachte er: wenn Pater Gregor und die Gemahlin des Landrichters 
vielleicht abſichtlich das Wichtigſte verſchwiegen hätten? Wie, 
wenn jene unbekannte Pauline ſelber die ſchöne Elfriede von 
Marmels wäre? Es fuhr ein wunderbarer Schaner, mit dieſer 
Vorſtellung, durch ſein Innerſtes. Und immer kehrte der Gedanke, 
unwiderſtehlich, wie Ahnung, zurück, wenn er ſich ſeiner, als 
allzuromanhafter Träumerei, entſchlagen wollte. Welches aben— 
teuerliche Verhängniß, dachte er bei ſich, hätte auch das kindlich— 
ſchüchterne Mädchen aus den Bequemlichkeiten des Wiener Palaſtes 
in die ſchmutzigen Hütten und unwirthlichen Einöden dieſer Ge— 
birgswelt verlocken ſollen; oder es nöthigen können, Ruhe und 
Sicherheit der großen Kaiſerſtadt mit dem Schauplatz blutiger 
Schlachtfelder und Aufruhre zu vertauſchen? — Aber Frau von 
Grienenburg, die Stiefmutter, war geſtorben; Elfriede in Wien 
verwaist. Noch mehr, Graf Malariva war nach Bünden ge— 
kommen, er, ihr Vormund, der einſt um ihre Hand geworben; 
der ſie vielleicht, ſich ihrer Perſon zu verſichern, in dieſe Gegen— 
den geführt hatte. Sollte die Verſchleierte, welche einſt in Di— 
ſentis am Krankenlager erſchienen war, und ihm ſchweigend und 
bedeutungsvoll das Medaillon mit der Roſe von Diſentis entgegen 
gehalten hatte, wirklich nur fieberhaftes Geſpinnſt der Fantaſie, 
nur Trugbild überreizter Augennerven geweſen ſein? Und wenn 
er dazu des jungen Landmädchens gedachte, deſſen Geſtalt, Gang 
und Haltung ſo lebhaft an Elfrieden erinnert hatten, als er unter 


— — 


den Bergtrümmern ob Disla vorübergegangen war; und wenn er 
an des greiſen Kapitulars ſonderbare Verwirrung, bei dem An— 
blick, dachte, dann — — 

Er ſtand, ſich mit dergleichen behaglichen Vermuthungen tragend, 
vor der Hausthür des Ammanus von Brigels. Da drängte ſich 
ihm alles Blut zum Herzen und Haupt. Er konnte kaum athmen; 
fürchtete und ſehnte ſich zugleich, die hier zu erblicken, welche er 
bisher bald lieben, bald verachten mußte. Aber lärmend ſtürmte 
Uli nun voran in das Haus, und fröhlich in ein offenes Zimmer, 
wo der Ammann mit ſeiner Familie beim Mittagsmahl ſaß. Dieſer 
begrüßte die Eintretenden und erkannte ſie ſogleich, als die durch 
Frau von Caſtelberg Verkündeten. Aber nach ſeinem Berichte 
waren die ängſtlichen Frauenzimmer, ſchon den Tag vorher, weiter 
geflohen, ſobald Nachricht vom wirklichen Anzug der franzöfiſchen 
Truppen erſchollen und die Sage umhergelaufen war, es werde 
unfehlbar eine Abtheilung der Krieger nach Brigels heraufkommen. 

„Ich ſelber, erzählte ferner der ehrliche Gemeindsvorſteher: 
„Ich ſelber,“ Herr, konnte unter ſolchen Umſtänden nicht wohl den 
armen Flüchtlinginnen rathen, bei mir länger zu weilen. Man 
kennt das Franzoſenvolk! Und nach allem leider Vorangegangenen 
haben wir ſchlimme Gäſte zu erwarten. Nun, Gott wird's zum 
Beſten wenden. Alſo haben ſich die zitternden Weibsbilder eil— 
fertig auf den Weg gemacht. Ich verſorgte ſie, ſo gut ich's ver— 
mochte. Mein Rath war, fie ſollten ſich nach Panix begeben. 
Das iſt, droben am Berge, der letzte, bewohnte Ort. Der Herr 
Pfarrer daſelbſt iſt ein guter, ein menſchenfreundlicher Herr, zu 
dem ich ſie geſchickt habe. Er pflegt auch öfters Reiſenden Her— 
berge zu geben, wenn ſie zur Sommerszeit, aus dem Sernftthal, 
über den Quolm Glaruna ſteigen. Ich ließ zwei zuverläſſige 
Bergroſſe kommen; denn dergleichen Frauenzimmerlein haben keine 
Füße für unſere rauhen Pfade, nicht einmal geſohlte Nagelſchuhe. 


1 


Ihrer zwei konnten wohl aufſitzen, die ältere Frau, welche noch 
ganz hübſch iſt, als auch das junge Mädchen, eine friſche, volle, 
rothbäckige, luſtige Dirne, vermuthlich Kammerjungfer der Alten. 
Aber mich dauern Beide, daß ſie ſich mit einem elenden Krüppel, 
einer Kranken herumſchleppen. Der mußt' ich einen Tragſeſſel 
einrichten und mit Kopfkiſſen polſtern laſſen. So hat man das 
arme Geſchöpf nach Banix durch einige ſtarke Männer hinauf trans— 
portirt. Das gebrechliche Ding jammert mich. Es hat, glaub' 
ich, Ausſatz oder Eiterbeulen. Das ganze Geſicht iſt in Geſchwüren 
zerfloſſen.“ 

Inzwiſchen der Wirth die umſtändliche Meldung fortſetzte, 
leiſtete Uli der geſchäftigen Hausfrau, mit welcher er eifrig Unter— 
handlungen gepflogen, überall die nöthigen Dienſte in der Küche und 
beim Decken des Tiſches. Flavian, durch die Mittheilungen des 
Ammanns beruhigt, weil nun überzeugt, daß Fräulein Pauline 
keineswegs Fräulein Elfriede ſein könne, ließ ſich wohlgemuth die 
einfache, jedoch mit Ueberfluß, aufgetragene Mahlzeit ſchmecken. 
Und ſobald die irdenen Schüſſeln geleert waren, rief er, nach 
dankbar geleiſteter Zahlung, ſeinen erquickten Wandergefährten zum 
Aufbruch gen PBanir. 

Beide, froher gelaunt, mochten in heitern Wechſelreden, faſt 
eine Stunde Wegs zurückgelegt haben, als ihre Geſpräche jählings 
von einem ungewöhnlichen Ereigniß geſtört wurden. Durch die 
Lüfte fuhr nämlich plötzlich ein furchtbar erſchütternder, dumpfer 
Knall oder Schlag, der längs den Felswänden der Gebirgsgipfel 
hindröhnte, und wenn er verhallt ſchien, wieder zurückdonnerte. 
Es war, als ſei ein ganzer Berg zuſammengebrochen, und mit 
ſchmetterndem Gepraſſel in Abgründe niedergetaumelt. 

„Was iſt das?“ rief Flavian ſtillſtehend und ſchaute nach 
allen Seiten umher, und in die dunkle Bläue des Himmels auf, 
durch die kein Wölkchen flog. 


— 285 — 


„Es ſchlug wie beim ſchwerſten Gewitter der Strahl!“ ſagte 
Uli, der verblüfft die Firſten der Alpenkette muſterte: „Frühem 
Donner, Herr Hauptmann, folgt ſpäte Hungerzeit. Aber Donner 
war es doch nicht, und auch ein derberer Klapf, als Kartätſchen— 
feuer, was mir noch immer von Ems her in den Ohren nachklingt. 
Es muß ſich eine große Lauine irgendwo aus den Gletſchern ab— 
geriſſen haben, wie die von Anno 49, welche von der Malamuſa 
am Crispalt herunterſchoß und das ganze Dorf Rueras und bei 
hundert Menſchen begraben hat. Gebt Acht, die Hiobspoſt wird 
hier auch nicht fehlen. Dem Unglück läuft das Gerücht zwar nicht 
immer voran, aber ein hinkender Bote folgt ihm gewiß endlich nach.“ 

„Schau hinüber, Uli, ſchau gegen den hohen Piz Cavaradi 
und den breiten Sirmadaun, — dort! es iſt die Gegend von Ta— 
vetſch, oder Diſentis! Sieh, wie es zwiſchen den Bergen wolligt 
aufdampft, gleich weitem Nebel.“ 

„Mit Erlaubniß, Herr Hauptmann, dergleichen Nebel findet 
man eher zwiſchen Kochtöpfen, als Schneebergen. Das qualmt, 
wie ſteigender Rauch. Aber hundert mit einander abgefeuerte Ka— 
nonen geben nicht ſolchen Knall von ſich, wie den vorhin, von 
dem die Berge bebten. Man ſollte ſchwören, die Erde ſei aus 
einander geborſten, ſpie Flammen und Rauch und ſchlinge die ver— 
dammten Franzoſen mit Haut und Haar in den feurigen Rachen 
hinunter, was eben nicht das Schlimmſte bei der Sache wäre.“ 

„In jedem Fall hat ſich dort etwas Außerordentliches zuge— 
tragen,“ meinte Flavian: „und Schreckliches! Sieh nur, die 
Berge verſchwimmen und verſchweben in dicken Wolken, die ſich 
braun und grau und gelb durch einander herauſwälzen.“ 

„Herr Hauptmann, ich will nichts geſagt haben; aber denkt 
an mich! Unſer heilige Placidus das weiß man, läßt wahrlich 
mit ſich keinen Spaß treiben; und auf ein Wunder mehr oder 
weniger kömmt's ihm wahrhaftig auch nicht an. Er hat, wollt' 


es = 


Ihr wetten? den ſtinkenden Ketzern, den Franzoſen, eins auf- 
geſpielt, daß ihnen Hören und Sehen vergeht. Dieſe Heiden 
haben ihr Weſen zu arg getrieben, und können doch dem Herrgott 
wahrhaftig am Ende nicht aus dem Jahr laufen.“ 

„Ich möchte glauben,“ nahm Flavian wieder das Wort: 
„ein paar Dutzend Pulverwägen wären in die Luft geflogen. Auch 
ſchwillt das graue Nebel- oder Rauchmeer fort und fort, ſtatt ſich 
zu verziehen.“ 5 

Nachdem Beide in fruchtloſen Muthmaßungen gänzlich erſchöpft 
waren, ſchickten ſie ſich wieder zur Fortfetzung der Wanderſchaſt 
an, aber das Geſicht immer gleichſam im Nacken. 


43. 
Die Geſellſchaft im Pfarrhauſe. 


Vor ihnen lag endlich das Alpendörflein Panir, mit den 
wenigen Hütten, am wieſengrünen Berghang, der von da ziemlich 
ſteil zu den Felſen, Waſſerfällen, Eisdecken und ſchwarzen Zacken 
des Gebirgsgrathes anſtieg. Weit umher ſah man auf dieſen 
Höhen keinen Baum und Strauch mehr. Einzelne Weiber und 
Männer ſtanden müßig beiſammen und berathend, was der Don— 
nerſchlag zu bedeuten gehabt habe, den man auch hier aus der 
Tiefe des Landes vernommen hatte. Fragend wandten ſie ſich an 
die vorübergehenden Fremdlinge. Uli Goin trug kein Bedenken, 
ihnen, mit weitſchallendem Zuruf, die Rache des heiligen Placidus 
zu verkünden, welcher die Feinde der römiſch-katholiſchen Religion, 
die welſchen Gottesläſterer, Knall und Fall, ausgerottet habe. 
Indem der Erdboden unter ihren Füßen geſpalten ſei, wären ſie 
insgeſammt bei lebendigem Leibe in Dampf und Rauch des hölli— 
ſchen Abgrundes hinuntergefahren. 


— 237 — 


Mit ſichtbarem Eutſetzen ſchlugen die erſchrockenen Bäuerinnen 
ein Kreuz vor Stirn und Bruſt; einige alte Männer nickten be— 
denklich mit dem Kopf; einige junge Burſche lächelten aber dazu 
mit beinahe abergläubiger Miene. Indeſſen zeigte man den Wan⸗ 
derern, auf ihre Anfrage, das Pfarrhaus, welches, gleich andern 
Gebäuden, mit dicken Brettſchindeln gedeckt fand, und, um von 
keinem Windſtoß entführt zu werden, mit ſchweren Steinen be— 
laftet war. Durch einen kurzen Eingang trat man in das rein— 
liche, getäfelte Wohnzimmer des Geiſtlichen, wo eine Schwarz— 
wälderuhr, ein Barometer, ein Geſims mit Zinngeſchirr und 
wenigen Büchern darauf, fo wie ein wurmſtichiges Kruzifix und 
ein paar ſchlechte Heiligenbilder, als Schmuck der Wände prang— 
ten. Der von Stein aufgemauerte Ofen, mit daran befeſtigten 
Sitzbänken, oberhalb mit dem Geſtell zum Wäſchetrocknen um— 
geben, füllte den beträchtlichſten Raum. 

Ein lebhafter, ältlicher Mann, faſt zu vernachläſſigt geklei— 
det, als daß er für einen Prieſter gehalten werden konnte, kün— 
digte ſich dennoch, als Pfarrer an. Auf Prevoſts Erkundigung 
um Fräulein von Stetten, eilte er dienſtgefällig, die Dame her— 
beizurufen, die, nach feiner Verſicherung, ihn mit Ungeduld er— 
wartet habe. 

Sie kam, gefolgt von einem jungen, kräftigen Mädchen, das 
durch ehrerbietige Aufmerkſamkeiten für ſie, das Verhältniß der 
Dienerin zur Herrin gewahren ließ. Nach erſten üblichen Höf— 
lichkeiten, Fragen, Entſchuldigungen, verbindlichen Verſicherungen 
und dergleichen, mit denen der Weg zur nähern Bekanntſchaft an— 
gebahnt zu werden pflegt, ließ man ſich auf den hölzernen Bänken 
nieder. Das Zwiegeſpräch ward fortgeſetzt, aber ſo allgemein 
gehalten über Diſentis, dortige Freunde, über den vor Kurzem in 
der Ferne gehörten Knall, den Landſturm und über die Franzoſen, 


— 888 — 


daß ſelbſt Uli Goin Langeweile ſpürte, und mit dem geiſtlichen 
Herrn Berathungen über ein ſicheres Mittel anknüpfte, den Durſt 
zu löſchen. Flavian und das Fräulein aber ſchienen bloß zu ſprechen, 
um ſich gegenſeitig bequemer muftern, und ihre Neugier nach dem 
innern Gehalt der Perſonen verbergen und befriedigen zu können. 

Bald indeſſen verlor ſich zwiſchen Beiden das anfängliche Fremde. 
Man ſchien einander mit einigem Wohlgefallen zu ſehen; das Fräu— 
lein mit Zufriedenheit, in dem hübſchen jungen Mann Elfriedens 
geweſenen Auserwählten kennen zu lernen, der Schützenhauptmann 
hinwieder in der neuen Schutzempfohlenen die Freundin ſeiner erſten 
Liebe zu finden. Das Fräulein von Stetten gab ſich als ein Frauen— 
zimmer von Bildung, und zartem, zuweilen ſogar überzartem Ge— 
fühl. Sie war freilich eine faſt verblühte Schönheit, aber noch 
immer voller Anmuth im Aeußern; ſchlanken Gliederbau's, in 
äußerſt ſauberm, doch locker anliegendem, faſt zu nachläſſigem 
Reiſegewande. Jedes ihrer Worte ward durch ein mildes, ein— 
ſchmeichelndes Lächeln des edeln Antlitzes verſchönt, während die 
großen, blauen Augen von einer unüberwindlichen Schwermuth des 
Innern redeten. Als Gegenbild konnte einigermaßen ihr junges 
Kammermädchen gelten, — ſie nannte es Thereſel, — ein lach— 
luſtiges, in üppiger Fülle der Geſundheit aufgeblühtes Geſchöpf— 
chen, mit apfelrundem Geſicht und geläufiger Zunge. Es machte 
ſich auf der Stelle mit dem mannhaften Uli lieber zu ſchaffen, 
als mit dem Herrn Pfarrer. 

„Und, gnädiges Fräulein,“ fragte Flavian endlich: „wollen 
Sie erlauben, vorläufig die Hauptſache zu berühren? Sie denken 
ohne Zweifel Ihre Reiſe heut oder morgen fortzuſetzen?“ 

„Möglichſt bald, Herr Prevoſt. Doch Ihretwillen thut mir 
weh, daß ich, Sie wiſſen es alſo ſchon, von einer lieben Kranken, 
von meiner Geſellſchafterin, abhängig geworden bin. Das Be— 
finden derſelben und die Andauer des guten Wetters werden über 


— 9 — 


uns entſcheiden. Auf der Reiſe von Wien nach Chur ſchien ihr 
Zuſtand durchaus nicht bedenklich. Wer konnte glauben, daß er 
ſich in ein paar Monaten ſo arg verſchlimmern würde!“ 

„Fräulein Clara hat mir noch vor einer Minute geſagt,“ be— 
merkte Jungfer Thereſel raſch einfallend: „es fühle ſich in den 
Lüften dieſer abſcheulichen Berge himmliſch wohl; ſo geſtärkt, daß 
ſie eine Reiſe um die ganze Welt machen könnte. Mir hingegen 
ſpringt, in dem entſetzlichen Klima, die ganze Haut an Lippen 
und Backen auf.“ 

„Wir wollen erwarten,“ fuhr Fräulein Pauline fort: „wie 
ſich meine Freundin morgen befindet, und ob uns die Witterung 
hold bleibt. Denn wir müſſen ja in jedem Fall den Weg über 
die Berge wählen. Lieber nehm' ich's mit allen Schreckniſſen der 
Natur auf, als mit der Brutalität unſerer Feinde.“ 

„Das Wetter bleibt ſtandhaft!“ bemerkte der Pfarrer, am 
Barometer klopfend: „Das Queckſilber ſteht beharrlich auf 21 Zoll 
8 Linien.“ 

„So niedrig?“ rief Flavian etwas erſtaunt. 

„Weil wir hoch ſtehen!“ beſchwichtigte ihn der Witterungs— 
kundige: „Volle 4560 Schuh über dem Spiegel des Mittelmeers! 
Auf der Höhe des Panixerpaſſes aber werden Sie noch um 2830 
Schuh höher fein.“ 

„Jeſus Marie!“ ſchrie Thereſel ängſtlich lachend: „nur 
nicht in den Himmel mit mir! Nehmen Sie mir's doch nicht übel, 
hochwürdiger Herr, die Regimentsmuſik im Augarteu möcht' ich 
vor der Hand doch noch lieber hören, als ſo jung, ſchon droben 
den Geſang der lieben heiligen Engel. Ich bekomme immer Schwin— 
del, wenn ich nur das Bild einer Himmelfahrt anſehe.“ 

„Sie wollen alſo den kürzeſten Weg nach Uri oder Glarus er— 
greifen?“ ſagte Prevoſt, zu Paulinen gewandt: „Er iſt mir un— 
bekannt, aber jeder in Ihrer Geſellſchaft gleich angenehm.“ 


— N = 


„Er ſoll nicht gefährlich fein, behauptet der Herr Pfarrer,“ 
entgegnete das Fräulein: „und ich wünſchte nach Glarus, wo 
ich Bekanntinnen der Frau von Caſtelberg zu treffen hoffe, bei 
denen, — — — bei denen die, wollt' ich ſagen — — —; mir 
iſt der Name ganz entfallen!“ ſetzte, fie erröthend hinzu: „Aber 
nicht wahr, Herr Pfarrer, der Weg iſt ohne Gefahr?“ 

„Vollkommen, vollkommen!“ ſtimmte der geiſtliche Herr 
ein: „Freilich nur Fußweg, doch auch gut für Vieh während des 
Sommers. Im Jäger-Schlunde könnten Sie doch noch Schnee 
finden! Aber ich gebe Ihnen felide Männer mit, ſtämmig genug, 
die Frauenzimmer alleſammt auf den Armen hinunter zu tragen. 
Sind Sie dann einmal an der Gurgel vorber, fu haben Sie 
überſtanden. Denn — — —“ 

„Schlund! Gurgel! Abſcheuliche Namen!“ fiel ihm There— 
ſel mit komiſcher Angſt ins Wort: „Um Gottes willen, liebes, 
guädiges Fräulein, ich bitte, bitte, wenn's doch halter einmal 
verzweifelt ſein muß, ſtürzen wir uns lieber den Herren Franzoſen 
in die Arme, als in den gräßlichen Rachen der Felſengurgeln!“ 

Der Pfarrer, ohne ſich durch dieſe Randgloſſe, noch durch 
das angehobene Gelächter Uli Goins irren zu laſſen, fuhr ernſt— 
haft fort: „Sie werden ohne Zweifel in Elm oder Matt über— 
nachten wollen? Es iſt für Damen eine ganz angenehme Tagreiſe. 
Fürchten Sie ſich nicht. In drei Stunden haben Sie die Araſch— 
kaalp und die Höhe des Graths erreicht; von da ungefähr in 
eben ſo vieler Zeit den Rinkenkopf; und dann bis Elm, durch 
die Wichleralp, gelangen Sie ebenfalls in drei Stunden.“ 

Nach weitläufigen Berathungen, Einwürfen und Widerlegungen, 
entſchied Fräulein Pauline muthig für das Wagniß durch Schlund 
und Gurgel, inſofern andern Tages die kranke Reiſegefährtin ſich 
ſtark genug fühlen würde. Dieſe, zu der ſich abwechſelnd, bald 


= Mi = 
die junge Dienerin, bald deren Gebieterin begab, ließ es nicht 
ganz an Hoffnung fehlen. 


44. 
Der Brand von Diſentis. 


Ein blendender Goldglanz, der ſich am folgenden Morgen um 
die Eisfirnen der Berge legte, die dunkle Bläue des Himmels 
und Kühle der ſtillen Luft weiſſagten den lieblichſten Maitag. 
Saumroſſe des Dorfes wurden gerüſtet; Vorräthe von Speiſen 
und Wein für die geſammte Karavane in Fülle aufgepackt, damit 
ſie nicht in unwirthlichen Einöden verſchmachten möge. Auch eine 
Tragbahre ward mit des Pfarrers Sorgenſtuhl, für die Kranke 
künſtlich mit ſtarken Seilen verbunden; und Eisſpornen ſuchte man 
zuſammen, um ſie, zur Wanderung über die ſchlüpferigen Schnee— 
lager droben, den Sohlen der Männer unterzuſchnallen. Flavian 
und das Fräulein ſaßen indeſſen plaudernd beim Frühſtück. Sie 
ſchienen an einander immer größeres Gefallen zu gewinnen, und 
Eins vom Andern mehr Traulichkeit zu wünſchen. Denn Beide 
fühlten, indem ſie ſich näher treten wollten, noch, durch etwas 
Fremdes, ſich gehemmt. Immer hafteten forſchend Paulinens 
Blicke, mit ſonderbarem Ausdruck von Freundlichkeit und Arg— 
wohn, auf Flavian; und dieſer richtete hinwieder ſeine Augen mit 
einer ſtumm wiederholten Frage auf das Fräulein; einer Frage, 
welche er den Lippen nicht geſtatten wollte, ſei es aus männlichem 
Stolz, oder um das theure Geheimniß nicht anweſenden gleich— 
gültigen Perſonen verlauten zu laſſen, die da ab- und zugingen. 
Bisher hatte er die Freundin ſeiner ehemaligen Harfenſchülerin 
noch immer nicht unter vier Augen ſprechen können. 

„Da haben wir's!“ ſchrie Uli Goin, indem er bleich und 

Zſch. Nov. XI 16 


ernft ins Zimmer trat: „Unglück über Unglück! — Nur herein, 
Jeeli Cajacos, nur herein, und erzähle du ſelber! Ja, ja, Herr 
Hauptmann, je größer das Feſt, je ärger der Teufel. Mir iſt, 
o Herr Jerum! das Lachen auf lebenslang vergangen. Tavetſch 
und Diſentis find in die Luft geſprengt. Ein Herr von Gaftel- 
berg iſt erſchoſſen, wie er über die Wieſen floh. Alle Donner! 
lieh mir der Satan nur auf ein Viertelſtündchen ſeine Klaue, ich 
ſtürzte den Cuolm de Vi und Cuolmao, Pitz Pales und Cagli, 
und alle Berge in der Runde, auf die franzöſiſche Höllenbrut 
zuſammen, ſie ſollten ſelbſt am jüngften Tage nicht mehr zur Auf— 
erſtehung hervorkriechen!“ 

„Biſt du raſend, Uli?“ rief Flavian, und ſprang erſchrocken 
vom Tiſch auf: „In die Luft geſprengt?“ 

„Red' Er doch, lieber Freund? Was iſt begegnet?“ ſagte 
Fräulein Pauline zitternd. 

„Ei, der Jeele iſt in der Nacht von Diſentis entronnen, und 
erzählt draußen,“ antwortete Uli: „Komm herein, Jeele Cajacos, 
daß es die Herrſchaften hören. Nein, jämmerlicher ging's bei 
der Zerſtörung Jeruſalems gewiß nie zu!“ 

Flavian begab ſich mit Pauline hinaus, wo vor dem Pfarr— 
haus auf der Bank, von einer Menge horchender Menſchen um— 
ringt, ein junger Bauer ſaß, matten klaghaften Geſichts. Der 
geiſtliche Herr ſprach in vielerlei Bibelſprüchen ihm Troſt und 
Muth zu, während er, in der Hand eine Flaſche Enzianwaſſers, 
das Branntweinglas füllte, um ihn auch leiblicherweiſe zu ſtärken. 

„Trink! trink ein Schlückchen, du armer Burſch!“ redete ihm 
Uli zu: „Glaub's dir gern, daß ſolch ein Jammerſpektakel Muth 
und Blut austrocknen könne. Ward doch Loths Weib zur Salz 
ſäule, als ſie nach der brennenden Stadt zurückſchaute. Herr 
Pfarrer, noch ein Glas voll! Und wenn Ihr's habt, mir auch! 
Tripken iſt nicht Saufen: ein Schlückchen Schnapps löst die 


— 23 — 


Zunge. Und nun, Jeeli, berichte haarklein; aber fang beim Anz 
fang an; nimm die Kuh nicht am Schwanz, ſondern gib uns das 
Ende zuletzt. Verſtehſt du, Kamerad?“ 

Der junge Bauer, nachdem er ſein Glas geleert hatte, ſeufzte 
einige Mal tief auf, und begann: „Es war geſtern, nein, ſag' ich, 
vorgeſtern, da zog die Heeresmacht der Feinde zu uns ein, mit 
Trommelſpiel und Mordgeſchrei; die Einen gingen weiter, die An— 
dern blieben. Wir wußten nicht, was werden ſollte? Aber Ihr 
hättet die fürchterlichen Grenadiergeſichter mit den Schnauzbärten 
ſehen ſollen; jedes war, als wollt' es einen Menſchen lebendig 
verſchlingen. Nun das war gut. Da holte man Vorſteher und 
Ausgeſchoſſene der Gemeinde aufs Rathhaus, und der General 
grüßte ſie erſt höflich mit dem Treſſenhut, dann aber verlangte er 
zehn- oder zwölftauſend Gulden Strafgeld, wegen des Landſturms. 
Und das ſollte auf der Stelle gezahlt ſein. Aber, hilf Gott, woher 
ſoviel Geld nehmen? Die reichen Herren bei uns waren ja auf 
und davon. Sie hatten den Krieg angehoben; wie es aber zum 
Raufen kam, retteten ſie ihre Perrücken, und wir mußten unſere 
eigenen Haare hergeben. Auch die Kloſterherren waren über alle 
Berge, und hatten doch Zeichen und Wunder verſprochen. Nun, 
das war gut, und wir armen Leute — — —“ 

„Alle Donner, Cajacos! das war ſchlimmer, als ſchlimm!“ 
ließ ſich Uli vernehmen: „Denn man ſagt wohl, wo viel Geld 
iſt, wohnt der Teufel gern; ich aber ſage immer, wo keins iſt, 
hauſen ihrer zwei.“ 5 

„Wir armen Leute,“ fuhr der Erzähler fort: „lagen uns 
die Knie wund und flehten um Barmherzigkeit. Es verſtand uns 
aber Niemand. In Diſentis und andern Dörfern war Alles blau 
von Soldaten; jedes Haus bis unter das Dach davon vollgeſtopft. 
Sie fraßen wie hungrige Wölfe, was in Küch' und Keller noch 
Vorrathes war; ſtahlen, was fie fanden; ſprengten Kiſten und 


— 24 — 


Kaſten; riſſen das liebe Vieh aus den Ställen, und trieben es 
aus den Wieſen fort mit ſich. Ja, mochte unſer Eins ſeine paar 
Bluzger noch ſo tief und heimlich verſcharrt haben, ihre franzö— 
ſiſche Diebsnaſe roch es ſchon in der Ferne aus. Ade, ihr ſchönen 
Bluzger und Thaler!“ 

Hier brach der Schmerz des armen Cajacos in bittere Thränen 
aus. Die Zuhörer wetteiferten, ihm Troſt zuzuſprechen. Der 
Pfarrer füllte noch einmal das auf der Bank ſtehende Glas. Fla— 
vian zog den Geldbeutel hervor, und reichte ihm ein paar Gulden. 
Dem Beiſpiele wollte Fräulein Pauline folgen, aber ſie vergaß 
den edeln Vorſatz beinah beim Anblick der ſchöngeſtickten Börſe 
des Schützenhauptmanns. Sie wandte kein Auge davon, bis er 
den Beutel wieder verbarg. 

Cajacos empfing die mitleidigen Gaben mit ſtummem, doch 
herzlichem Dank, und berichtete weiter: „So ging eine ſchlafloſe, 
jammervolle Nacht vorbei; und nun brach ein noch viel jammer— 
vollerer Tag an. Denn von Haus zu Haus ward ein grauſamer 
Befehl kund gethan, Alles was in Diſentis wohne, alt und jung, 
krank und geſund, müſſe den Ort verlaſſen, und mit Sack und 
Pack aufs Feld hinaus flüchten. Diſentis müſſe mit Feuer und 
Flammen vertilgt werden, und das ſchöne Gotteshaus dazu. Die 
Soldaten hatten, nach ihrer Gewohnheit, im Kloſter Pforten und 
Thüren eingeſchlagen, alle Zellen und Löcher durchſchnüffelt, und 
hatten, wie Rede lief, im Kloſter, rechter Hand in dem großen 
Gebäude, Pulverfäſſer und noch viel Aergeres gefunden.“ 

„Sprich nicht ſo läſterlich, Jeele, von dem heiligen Hauſe!“ 
erinnerte Uli Goin: „Ein Mönch hat zwar, ſagt man, das 
tödtliche Pulver erfunden; aber Aegeres, wahrlich, kann doch nur 
der Teufel erfinden. So rede, was war's?“ 

„Ei nun, was war's?“ erwiederte der Berichtgeber: „Die 
zerfetzten, durchſchoſſenen und blutigen Uniformen von der Kom— 


— 8 — 


pagnie des Kapitäns Salomon waren es, die man in dem Gemach, 
neben der Eingangspforte, verwahrt gehalten. Nun hättet Ihr 
das Gebrüll der raſenden Soldaten hören ſollen, wie ſie Rache 
ſchrien wegen ihrer erſchlagenen Kameraden, und die Kleider der— 
ſelben an den Bajonetten der Gewehre hoch in der Luft trugen, 
und den Offizieren vorwieſen. Die Erde bebte und die Luft zitterte 
vom Toben und Fluchen der umherwüthenden Todtſchläger. Da— 
zwiſchen ließen links und rechts die Trommeln ihre Wirbel hören, 
und ſcholl das Wimmern, Heulen und Wehklagen von unſchuldigen 
Kindern, Weibern und Männern, die aus ihren Wohnungen, mit 
der wenigen Habe in das offene Feld flüchten mußten. Da lagen 
die Einen ohnmächtig im Gras und Thau auf den Wieſen; die 
Andern beteten auf den Knien; die Dritten geberdeten ſich, wie 
Wahnſinnige. Es war ein Schauſpiel, am Weltgerichtstag könnt's 
nicht furchtbarer fein. Mitten in das Getümmel und Zetermordio 
fuhr ein Donnerſchlag, der die Ohren betäubte, und ſchwarzer 
Qualm wälzte ſich hoch auf, worin dunkelrothe Flammenſtrahlen 
zuckten. Und Feuer loderte drunter, als ſpie es die Erde von ſich 
aus; und über dem ſchwarzen Rauchſchwall regnete es Feuer vom 
Himmel herab. Das Kloſter war faſt zur Hälfte in die Luft ge— 
flogen, und flackerte lichterloh, und die Flammen reckten und 
leckten zu den Thürmen auf, daß die Glocken zerſchmolzen. Und 
Funken ſprudelten aus den Fenſtern und rothe Gluthen quollen durch 
die Dächer der Häuſer und Ställe. Das Jammergeſchrei und 
Winſeln der Menſchen und Thiere hallte, zwiſchen Geraſſel und 
Gepraſſel zuſammenſtürzender Gebäude, mit dem Knallen von 
Flintenſchüſſen vermengt, weit um von den Bergen zurück. Auch 
landaufwärts ſah man breite Rauchſäulen umherwehen, und hoch— 
fackelnde Viehſtälle. Nun, das war gut. Da dacht' ich denn in 
meinem Sinn — — —“ 

„Alle Donner!“ ſchrie Uli: „Ich ſage dir mit deinem ver— 


— MW — 


dammten „das war gut“ noch einmal, lobe mir nicht die Erz— 
teufel der Hölle und ihre Werke! Oder hat die Feuersbrunſt auch 
deinen armen Hirnkaſten ergriffen?“ 

„Da dacht' ich,“ fuhr Cajacos in ſeinem ächzenden Klagen— 
ton fort: „das ſchöne Gotteshaus und die unſchuldigen Hütten 
haben ja nichts geſündigt, und müſſen Schutt und Aſche werden: 
ſo lömmt die Reihe gewißlich nun an uns unglückſelige Menſchen— 
kinder. Sie ſparen uns für die Nacht auf, damit die Sonne nicht 
Zeuge ſei unſerer Todesqualen. Und wie die Nacht kam, ſtahl ich 
mich durch die Wachtpoſten und floh in die Berge. Wohl mögen 
jetzt auf den rauchenden Brandſtätten viel hundert Leichen ruhen.“ *) 

„Und das Schloß Caſtelberg?“ fragten Flavian und Pau: 
line zugleich, mit zitternder Stimme. 

„Es war von Soldaten bewacht, und der Würgengel ging 
vorüber,“ antwortete der Gerettete: „Manch armes Weib mit 
ſeinen Kindern fand da Zuflucht und Troſt. Auch der General 
kehrte darin ein, und ritt ab und zu, mit düſtern Geberden. Ich ſah 
es ihm an, als er einmal an mir vorüber trabte auf ſeinem großen 
pechſchwarzen Gaul, daß ihm ſelber das Herz beim Anblick des 
Gräuels weh thun mochte, und daß er die Augen zum Himmel 
wandte, als wollt' er für ſich Gnade erflehn. Aber er hat die 
Hölle verdient. Auch ſah ich in den Reihen der Kriegsknechte 
Manche, die wohl Mitleid trugen, und ein weinendes Kind über 
die Ringmauer in den Schloßhof lüpften. Aber Steine hätten bei 


) Später ward bekannt, daß an dieſem Tage (den 6. Mai) beim Mord⸗ 
brand neun Menſchen umkamen; 107 Häuſer, 115 Scheuren und 
Ställe eingeäſchert wurden, ungerechnet einen großen Theil der Abtei. 
Der Schade durch Raub und Plünderung iſt nicht zu berechnen; wohl 
aber daß dabei 208 Stück Ochſen und Kühe, 329 Stück Schmal⸗ 
vieh u. ſ. w. verloren gingen. 


„ 


dem Elend und Jammer Erbarmen haben müſſen. Und wer weiß 
denn, wann Alles ein Ende nehmen wird? Ihr guten Leute von 
Panix, bringt euer Beſtes in Sicherheit und betet zu Gott und 
allen Heiligen, daß ihr verſchont bleibt, und daß die Franzoſen 
nicht bei euch einkehren mögen!“ 

„Haft Recht, Seele, und abermals Recht!“ ſtimmte Uli bei: 
„Doch, ihr Panirer, laßt nicht alle Hoffnung in den Brunnen 
fallen! Feldmarſchall Habe iſt auch noch da, und der Tanz am 
Luzienſteig lange noch nicht zu Ende. Man wird den Brennern 
und Sengern wohl einmal den Pelz in ihrem eigenen Blut waſchen; 
denn der Herrgott, der uns in die Grube fallen ließ, zieht uns 
ſicherlich wieder heraus. Nicht wahr, Herr Pfarrer, das wißt 
Ihr beſſer?“ 

Der geiſtliche Herr ſtand bleich da mit unbeweglichen Glas— 
augen, und hatte weder eigenen Glaubenstroſt, noch Ohren für 
die ſalbungsreichen Reden des Tavetſchers. Die Weiber weinten. 
Die Männer liſpelten mit den Lippen Gebete. Andere weinten. 
Andere biſſen im Grimm die Zähne zuſammen, und ballten die 
Fäuſte. Nach und nach ſonderten ſich Einige ab, und eilten heim, 
ihre Habe zu retten. Bald folgten Mehrere dem Beiſpiel, bis 
der ganze Haufe aus einander lief. 

„Unſere Roſſe heraus, ihr Mannen!“ ſcholl Uli's kraftvolle 
Stimme: „Was ſäumet ihr und gafft ins Blaue hinaus, wie das 
Bild in der Kapelle. Vorwärts, vorwärts, denn die Zeit läßt 
ſich an keinen Pfahl feſtbinden!“ 


45. 
In den A l pee 


Die Pferde ſtanden bereit; auch die Tragbahre für des Fräu— 
leins kranke Begleiterin. Dieſe trat langfam und zitternd aus dem 


9 


Hauſe, vom Pfarrer und Kammermädchen unterſtützt, in Pelzwerk 
und Mantel gehüllt. Ihr Kopf, erdwärts geneigt, war unter 
einem flatternden grünen Schleier, mit weißen Tüchern ums 
ſchlungen, Kinn und Naſe damit verdeckt und kaum noch ein halb: 
geſchloſſenes Auge ſichtbar. Man hob ſie behutſam in den Stuhl, 
der zwiſchen den Stangen ruhte. Sie ſprach, mit heiſerer Stimme, 
wenige Worte zu ihren Gefährtinnen, die dann, Flavians Beiſtand 
nicht verſchmähend, jede einen der Gäule beſtiegen. Den Reiſe— 
zug begleiteten vier kernhafte, handfeſte Bauern, welche abwech— 
ſelnd Gepäck und Bahre trugen, oder die Roſſe führten. 

So ging's, gemeſſenen Schrittes, an den kurzgraſigen Wieſen 
der Berghalde hinauf. Selten ward anfangs ein Wort gewechſelt. 
Jeder lebte noch mit ſeinen Gedanken in den entſetzlichen Be— 
gebenheiten, die man eben erfahren hatte. Aber, je höher man 
ſtieg, und das Bewußtſein eigener Sicherheit wuchs, je mehr 
ſchienen ſich auch die Gemüther über das meiſt ſelbſt verſchuldete 
Unglück der Menſchen zu erheben und mit dem Wechſel der Dinge 
in dieſer Welt zu tröſten. Flavians Beruhigung ward, doch 
wenigſtens den ehrwürdigen Freund Gregorius, bei ſeiner Gönnerin 
in den Mauern von Caſtelberg, vor größern Gefahren geſichert zu 
wiſſen. Allgemach gewann er Faſſung genug, umher zu ſchauen, 
ſich wieder des ſonnigen Tages zu freuen in den Alpen, und zu 
ſehen, wie die breiten Felsmauern und Gebirgszacken, bei jedem 
Schritte näher, und rieſiger wurden. Lieber noch freilich hätt' 
er, eine kleine Neugier zu ſtillen, mit Fräulein von Stetten, 
Geſpräche angeknüpft. Allein ſie erwiederte Fragen, die er zu— 
weilen höflicher Weiſe an ſie richtete, jedesmal nur mit kurzen, 
verbindlichen Antworten. Ihr Schweigen wies ihn auf Beob— 
achtung des ſeinigen zurück. 

Noch weniger wagte er ein Wort an die Kranke, welche zu— 
weilen einen vom Schmerz erpreßten Seufzer auszuathmen ſchien. 


a) — 


Das hinderte ihn aber nicht, die Vermummte mit Seitenblicken 
zu muſtern, um unter der Laſt von Mantel, Pelz und Tüchern 
ihre Geſtalt, und ihr Alter, zu enträthſeln; oder welche Grazie 
vielleicht ein eben ſo viel Schauder, als Mitleid erregendes Uebel 
zerſtört haben mochte. Das einzige unverbundene geſundere Auge 
blickte nur höchſt ſelten auf; und dann nur trübe durch den Schleier. 
Doch die kleinen, ſchmalen Hände, mit denen ſich die Leidende 
an den Lehnen ihres Stuhls hielt, konnten keinem ſehr betagten 
Frauenzimmer angehören, und ſchienen, ob ſie gleich mit weiß— 
ſeidenen Handſchuhen, von durchbrochener Arbeit, bekleidet waren, 
zart und fein gebaut. Zuweilen auch ſchlug ein Luftzug den Saum 
des langen ſchwarzatlaſſenen Mantels zurück, und zeigte in den 
zierlichen Schuhen und weißen Strümpfen ein Paar ſo niedliche 
Füßchen, daß kaum Zweifel übrig blieb, die Eigenthümerin habe 
das jungfräuliche Alter vielleicht nur eben erſt erreicht. Doch 
mehr ließ ſich nicht errathen, und das Mitleid des jungen Mannes 
ward dennoch wärmer. 

So gelangte die Geſellſchaft endlich zum grauſenhaften Mul— 
tär, oder acht Schuh breiten Felſenſpalt des Erdbodens, deſſen 
Wände ſich ſenkrecht in einer Tiefe verlieren, aus welcher ein 
wilder eingezwängter Bergſtrom eintönig heraufbrüllte. Vorſichtig, 
und Einer hinter dem Andern, ſchritt man über die ſchmale Stein— 
platte, welche dem Abgrunde zur Brücke diente. Durch die 
Araſchka-Alp gelangte man bald darauf zu den verwitterten Klip— 
pen und Felſen des Kaunenbergs, in deren Schatten eine ver— 
fallene Hütte zum Schirm der Heerden und Hirten lag, wenn ſie 
durch Sturmwetter von den Triften verſcheucht wurden. Aber es 
waltete Todtenſtille. Kein Hirt, keine Heerde war da. Und 
weiterhin verlor ſich, am immer jäher ſteigenden Berghange, alles 
Wieſengrün in Steingeröll und kahlen Erdſchutt, von Rinnſalen 


gefhmolzenen Schnees vielfach durchfurcht und ausgefreſſen; graues, 
leeres Gebiet der äußerſten Höhen. 

Nach einer halben Stunde war des Gebirgsgrathes letzte 
Staffel erklommen, und die Führer machten Halt, ihren Roſſen 
Ruhe und Futter zu gönnen; oder mancherlei Vorbereitungen für 
das Niederſteigen an der nördlichen Abdachung des Gebirgs zu 
treffen. Uli Goin und das muntere Thereſel, die ſich unter ein— 
ander beſſer zu verſtehen ſchienen, als ihre Herrſchaften, handthier— 
ten indeſſen geſchäftig, denſelben aus mitgebrachten Vorräthen 
das Frühmahl von kalter Küche zu bereiten. Ein breiter Stein— 
block mußte für Fräulein Pauline und Flavian, die Stelle des 
Tiſches vertreten; ein anderer, aber in beträchtlicher Entfernung, 
nämlichen Dienſt dem unglücklichen Frauenzimmer leiſten, welches 
ein Gegenſtand des Mitleids für die geſammte Reiſegeſellſchaft 
war. Da ſpeiſete es allein; ausſchließlich durch Fräulein von - 
Stetten bedient, welches der Kranken, während des Eſſens, einige 
Tücher vom wunden Antlitz nehmen mußte, weil ſich ſogar des 
Fräuleins Zofe mit Ekel abwandte. 

Flavian unterhielt ſich während deſſen mit den Panixer Trägern, 
die ſich und den Roſſen ebenfalls das Mahl bereiteten, wozu eine 
Raſt von wenigſtens zwei Stunden Friſt genug gab. Sei es die 
Friſche des Athems in dieſen Höhen, oder das fremde Gebilde 
der nähern und entferntern Umgebungen, oder auch die von Uli 
und Thereſel aufgetiſchten Leckereien und Labſale, nach denen 
der Magen der Reiſenden ſtarke Sehnſucht empfinden mochte: Alles 
drängte die Erinnerung an die Schrecken der jüngſten Zeit in den 
Hintergrund und erweckte den Frohmuth zur Wiederkehr. 

Man befand ſich hier auf einem beſchränkten Raum kahlen, 
wellenförmigen Bodens, den tauſendjährige Schneeſchauer, Stürme 
und Regengüſſe durchwühlt und eingekerbt hatten. Da und hier, 
zwiſchen Steinſchutt, oder nacktem Fels, grünten vom kurzen 


- Mi = 


Alpengras kleine Plätze; anderswo blitzten kriſtallhelle Tümpel 
Schneewaſſers, oder an ſchattigen Stellen Eisſchollen mit blei— 
farbenem Glanz. Wenige Schritte links ſperrte das graue, runz— 
lichte Antlitz der Felſen, wie einen dunkeln Rachen, mehrere 
neben einander liegende Höhlen auf. Vom reinen Himmel herab 
aber ſchauten, zwiſchen Eismeeren, die Hänpter der Alpenfirſten 
nieder, von tiefern Bergmaſſen, wie von breiten Rieſenſchultern, 
getragen. Weithin verſchwammen niederwärts, in dunſtigen, fal— 
ben Lüften, die Länder der Menſchen. s 

Sogar Uli Goin ſchien fih an dem großartigen Schaufpiel zu 
weiden. Aber aus ſeinen Betrachtungen, in denen er mit ver— 
ſchränkten Armen daſtand, ſtörte ihn der unſanfte Stoß, mit dem 
ihn die muthwillige Kammerzofe beehrte. 

„Hei, Jüngferchen, nicht übel!“ rief er und erhaſchte ſie: 
„Geſteht nur, es gefällt Euch in meinem Lande hier doch beſſer, 
denn in Eurer Heimath zu Wien. Ich dächte, Ihr ſolltet —— —“ 

„Was mag Er doch wiſſen und denken?“ erwiederte ſie: „Wer 
ſagt Ihm, ich ſei eine Wienerin? Nichts weniger, ich bin von 
Brünn, und war kaum ein Jahr lang in Wien.“ 

„Ich dächte aber,“ fuhr Uli fort und zog ſie näher an ſich: 
„Ihr würdet Brünn und Wien bald in unſern ſchönen Bergen 
vergeſſen, wenn Ihr — — —“ 

„Das fehlte mir noch zu all meinem Unglück! — Schöne Berge! 
Ja wohl! Häßlich ſind ſie, wie Er, Herr Uli. Wohl ſahen 
ſie von weitem ganz artig aus, wie Biscuit-Aufſätze mit weißem 
Zucker-Ueberguß. Allein ſo nahe, tröſte mich Gott, man möchte 
halter darüber ſelbſt zu Stein und Eis werden. Ach, wär' ich 
nur wieder im lieben Wien zurück!“ 

„Und beim Schätzel daheim,“ fügte Uli mit nachgeſpottetem 
Seufzer bei: „Ja, ja, Jungfer Thereſel, ſo lange man's hat, 


BR '— 


mag man's nicht; und wenn's davon iſt, fucht man's. Ich wette, 
Ihr habt mich erſt lieb, wenn Ihr weit von mir ſeid.“ 

„Ja wohl!“ verſetzte ſie ſchnippiſch lächelnd: „Je weiter von 
mir, je lieber ſoll Er mir werden. Weil Er aber doch in Wien ge— 
weſen iſt, wird Er bekennen, daß halter die Stephanskirche wohl et— 
was hübſcher iſt, als dort der ungehobelte Bergklotz, und der Prater, 
oder der Paradeplatz amüſanter, als der wüſte Schutthaufen hier.“ 

„Ich hingegen behaupte,“ widerſprach ihr der wohlgemuthe 
Tavetſcher: „der ſchoͤnſte Paradeplatz iſt für mich, wo das 
hübſche Thereſel mit den Schelmenaugen paradirt.“ 

„Ach, geh' Er doch, Er einfältiger Menſch, und lern' Er 
anderwärts Komplimente ſchneiden!“ entgegnete Thereſe mit 
einem Geſicht, das nicht halb ſo böſe war, wie ihr Wort. 

„Nun ja, bin noch nicht auf der Pariſer Löffelſchleife ge— 
weſen,“ meinte Uli: „drum ging ich gern noch bei Jüngferchen 
Thereſel Liebhold in die Schule. Das könnte endlich aus mir 
machen, was ich längſt hätte ſein ſollen, und ſogar einen artigen 
Ehemann. Und ich finge die Lektion je eher, je lieber an; und 
wenn's ſein müßte, hier auf der Stelle, wo wir näher beim Him— 
mel ſind, als in der Kirche. Man hat nicht immer ſo Zeit und 
Gelegenheit beim Aermel. Drum muß es einmal heraus; Herz 
um Herz, Ring um Ring!“ 

„Pfui doch, Monſieur Uli! Laß Er mich gehen!“ rief ſie 
halblaut und halbböſe und machte ſich los von ihm: „Wenn Er 
mit unſer Einem redet, ſchrei Er nicht, wie ein Dachmarder, Er 
böſer, ungeſchickter Menſch; ſieht Er nicht, wie die Bauern drüben 
herſchaun. Pack' Er ſich mit feinen Liebeserklärungen. Das find 
aufgewärmte Gerichte, die Er ſchon einem Dutzend andern Mäd— 
chen vorgeſetzt hat!“ — Zur Strafe verſetzte fie ihm einen tüch— 
tigen Schlag, den er, zufrieden ſchmunzelnd, wie die zärtlichite 
Liekoſung hinnahm. 


— mM — 


Inzwiſchen hatten auch Flavian und Pauline ihr ländliches 
Mahl vollendet, welches mit einer Flaſche Bordeaur aus dem 
Keller der Abtei gewürzt worden war. Beide, gleich begierig, 
einander einmal, fern von lauſchenden Ohren, unter vier Augen 
über dies und das zu beſprechen, was Jedem etwa auf dem Herzen 
lag, vereinigten ſich zu einem Spaziergang. 

Sie waren ſchon, unter gleichgültigem Geplauder, bis in die 
Nähe der Höhlen gekommen, dann wandten ſie ſich rechts, einem 
hohen, gewaltigen Waſſerfall zu, der vom Hausſtockgletſcher in 
weitem Bogen herabſchoß. Endlich faßte das Fräulein Muth und 
ſagte: „Frauenzimmer, Sie wiſſen es wohl, ſind zuweilen ein 
wenig neugierig. Ich ſah im Panixer Pfarrhauſe zufällig in Ihrer 
Hand einen zierlichen Geldbeutel. Erlauben Sie mir wohl, die 
ſchöne Stickerei noch einmal zu bewundern?“ 

Der Schützenhauptmann zog ihn langſam hervor, nicht ohne 
Herzklopfen. Er wußte, nun müſſe die Rede geradenwegs zum 
Ziel führen, dem von ihm längſt erſehnten. Und doch, wenn er 
nur an die wankelmüthige treuloſe Geberin der Börſe dachte, em— 
pörte ſich wieder ſein ganzer beleidigter Mannesſtolz. Nur wiſſen 
wollte er, wie man die Leichtfinnige, nach ſolchen ſchmählichen 
Vorgängen, etwa wie eine völlig Schuldloſe darſtellen könne. 

Nachdem die Dame Gewebe und Stickerei ſchweigend von allen 
Seiten betrachtet, oder wohl nur überlegt hatte, wie ihre Blödig— 
keit beſiegen und dies Geſpräch fortſetzen, gab ſie die Börſe zurück 


und ſagte: „Ich kenne dieſe Arbeit, — — — dieſe ſogenannte 
Roſe von Diſentis. Darf ich noch ein wenig unbeſcheiden ſein, 
und fragen, wie — — —“ Hier ſtockte ihre Stimme. Dann 


indem ſie ihre Schritte unterbrach, und mit beiden Händen ſeine 
Hand ergriff, als ſollt' er ihr nicht entweichen, ſprach ſie mit 
bittendem Blick und furchtſamem Tone: „Fräulein Marmels in 
Wien iſt meine Freundin, meine Vertrauteſte. — Könnten Sie 


— 1 — 


mir nicht für ein Augenblickchen Ihr Vertrauen gönnen? — Ich 
ſcheine Ihnen etwas zudringlich. Wir haben uns kaum ſeit vier— 


undzwanzig Stunden geſehen, aber — — —. Seien Sie offen 
gegen mich. Ich möchte auch gern recht offenherzig mit Ihnen 
plaudern. Sagen Sie mir das Eine nur, — ich weiß, Sie er— 


hielten dies Andenken von Elfrieden. Sie verloren es, oder ver— 
ſchenkten es wieder. Wann und wie gelangten Sie von neuem 
dazu?“ 

Flavian ſah die ſchmeichelnde Fragerin mit ernſten Augen an, 
in denen eben ſo viel Ausdruck neu aufgeſtiegenen Verdruſſes, 
als Verlangens lag, mehr zu erfahren. „Vor einem halben Jahr 
kauft' ich die Börſe in einem Wirthshauſe, meinem gegenwärtigen 
Bedienten Uli Goin ab. Ihre Freundin hat vermuthlich damit 
irgend einen Jemand, vielleicht nur einen Domeſtiken, erfreut. 
So lief das zärtliche Andenken von Hand zu Hand; ſpielte überall 
die Rolle eines Liebespfandes, bis ich's unverhofft wieder er— 
blickte.“ 

„Sie ſind im Irrthum, mein Herr. Niemanden, als Ihnen, 
und nur Ihnen allein, gab Elfriede dies Andenken. Ich beſchwöre 
Sie, reden Sie Wahrheit. Mir liegt in dieſem Augenblick mehr 
daran, als Sie glauben können. Oder — — — dürfen Sie viel: 
leicht nicht? Wenn Sie ſich ſcheuen, dann will ich nichts wiſſen.“ 

„Mich ſcheuen!“ wiederholte er halb beleidigt das Wort, und 
ſtreckte ſich ſtolz auf: „Warum ſcheuen?“ 

„Sie hatten — — — Herr Prevoſt, Sie kannten in Wien 
vielleicht eine Perſon, eine gewiſſe — — — Nein, ich bitte, wen 
in Wien beglückten Sie mit dieſer Börſe, als Sie das Haus der 
Frau von Grienenburg verlaſſen hatten?“ 

„Fräulein, mich dünkt, Ihre Freundin hat Ihnen nicht Alles 
vertraut, ſondern ihre Leichtfertigkeit zu bemänteln, Sie mit einem 
Mährchen getäuſcht. Oder, was wollen Sie mit Ihrer Frage 


— 255 — 


nach einer „gewiſſen“ andenten, die Sie nicht nennen? Ich 
darf Ihnen offen Rede ſtehen. Ich will es. Ihre Freundin war 
einſt auch die meinige; nein, — ich bekenn' es, meine erſte Liebe. 
Sie betrug ſich unwürdig; trieb ſchnödes Spiel mit einem ehr— 
lichen Herzen, das ſie mit ihrer Unſchuldsmiene gewonnen. Brach 
eben ſo leichtſinnig Gelübde, als ſie ſie gethan. Ich war ein 
leichtgläubiger Gimpel — — —“ 

„Still, lieber Hauptmann, zürnen Sie jetzt nicht mehr.“ 

„Vergeben Sie, Fräulein. Sie berühren eine Wunde, die 
noch lange nachblutet. Was kann ich dafür? O wüßten Sie Alles. 
Wie engelgut ſie ſich zu ſtellen wußte! Nein, verſtellt hat ſie ſich 
wohl nicht, aber ich Gutmüthiger glaubte an ein launenhaftes, 
wetterwendiſches, leichtſinniges Kind. Gleichgültig brach es von 
mir ab. Das war Lebensbruch! Ich mochte nichts mehr von 
ihr; ich ſandte ihr das Letzte, was ich von ihr beſaß, die Börſe, 
durch den Grafen Malariva zurück. Der Bruch heilt nicht wieder.“ 

„Durch Malariva alſo!“ ſchrie Pauline laut auf, und ließ 
Flaviaus Hand los. In ihrem Auffahren, ihren Mienen lag 
aber mehr Ueberraſchung und Zufriedenheit, als Schreck: „Durch 
ihn alſo? Unmittelbar durch ihn? Ganz richtig! So ſagte ſie 
denn in der That — — gewiß, ſie hat nicht gelogen — — — 
Vergönnen Sie mir die einzige Frage noch: Sie kannten in Wien 
vielleicht — vermuthlich ein gewiſſes Nannerl, oder Nanette 
Schröter. Es ſoll vor einigen Jahren ein ganz hübſches Geſchöpf 
geweſen ſein. Sie kannten das Mädchen vielleicht nur, wie man 
wohl Leute kennt, die man zufällig einmal — —“ 

„Nein, Fräulein. Ich hörte den mir fremden Namen zum 
erſtenmale aus dem Munde meines Dieners. Und was ſoll dieſe 
Perſon?“ 

„Nicht Malariva, ſondern eben dieſe Nanette Schröter brachte 
dem unglücklichen Fräulein Marmels die Börſe zurück.“ 


— 256 — 


„Sei es. Das iſt zuletzt Nebenſache. Warum nennen Sie 
jetzt Ihre Freundin eine Unglückliche?“ 

„Weil ſie es iſt, und durch das, was Sie, Herr Prevoſt, 
Nebenſache heißen, geworden iſt. Ja, dieſe Nebenſache, — jetzt, 
was mir früh ahnete, Elfriede nicht glauben konnte, was nach— 
her und zu ſpät an den Tag kam, jetzt iſt's vom letzten Zweifel 
entbunden — dieſe Nebenſache, dies verruchte, unerhörte Ränke— 
ſpiel, brachte die arme Elfriede um alle Seligkeit einer jugend— 
lichen Blütenzeit und beſchleunigte den Tod der Baronin Grie— 
nenburg.“ 

„Ich erfuhr dieſen Tod vor wenigen Tagen durch Malariva. 
Was iſt aber aus dem verwaiſeten Fräulein Elfriede geworden?“ 

„Kommen Sie, Herr Prevoſt. Unſere Leute werden uns, denk' 
ich, rufen, wenn es Zeit zum Aufbruch iſt. Suchen wir einen 
Ruheplatz. Ich erzähle Ihnen in wenigen Worten die unſelige 
Geſchichte. Sie iſt ja zum Theil auch Geſchichte Ihres eigenen 
Schickſals.“ 


46. 
Die Erzählung am Waſſerfall. 


Sie führte ihren Begleiter zu einem Steinblock, der Beiden, 
als Bank, dienen konnte. Vor ihnen goß ſich über ſchroffer er: 
habener Felſenmauer der breite Waſſerfall in weitem Sprunge 
und mit eintönigem Brauſen nieder. Vom aufgelösten Thon⸗ 
ſchiefergebirg ſilbergrau gefärbt, glich er einem ungeheuern glän- 
zenden Thor aus flüſſiggewordener Platina. 

Der Hauptmann ſetzte ſich, in höchſter Spannung, neben Pau— 
linen. Seine Augen hingen an dem ſeelenvollen Geſicht der 


* 


— 57 — 


Jungfrau, als wollt' er von ihr Gedanken heraushorchen, eh' 
dieſelben noch Worte werden konnten. 

„Sie müſſen vorläufig noch wiſſen, Herr Prevoſt,“ hob das 
Fräulein von Stetten an: „daß ich Elfrieden ſeit ihrer Kind— 
heit kenne. Sie verlor ihren Vater früh; wenige Jahre ſpäter 
auch ihre Mutter, die ſich in zweiter Ehe mit dem Baron von 
Grienenburg vermählt hatte. So war ſie ganz Waiſe geworden. 
Sie hing mit kindlichſter Zärtlichkeit an mir. Das Verhältniß 
blieb zwiſchen ihr und mir, oder ward vielmehr noch enger, als 
ſich der Baron wieder verheirathete. Sie haben die Frau von 
Grienenburg gekannt. Mehr hab' ich von ihr nicht zu ſagen. 
Wir waren damals Nachbarn. Elfriede wohnte meiſtens bei mir, 
auf meinem kleinen Landſitz, unweit der Stadt Brünn. Das 
Gut ihrer Stiefeltern grenzte an das meinige. Nach dem Tode 
des Barons ward ſie von ihrer Stiefmutter mit gen Wien ge— 
nommen. Zuweilen aber durfte ſie mich beſuchen. Die übrige 
Zeit unterhielten wir fleißigen Briefwechſel. Sie hatte kein Ge— 
heimniß für mich; ich keins für ſie. So erfuhr ich Malariva's 
Bewerbungen um ihre Hand; dann auch die erwachende Neigung 
des Kindes zu Ihnen, Herr Prevoſt. Ich hielt es für Pflicht, 
zu warnen. Das gute Mädchen begriff noch nicht, warum War— 
nungen? Die Unerfahrne kannte keine Gefahr. Allein das harm— 
loſe Wohlgefallen an dem jungen Hausfreund flammte zur Leiden— 
ſchaft auf. Ja, Sie wurden geliebt mit der ſchwärmeriſchen Glut 
einer erſten und letzten Liebe; mit Trotz gegen das widerwärtigſte 
Verhängniß; mit einer Entſchloſſenheit und Stärke, die nur der 
Tod überwältigen kann. Sie kennen Elfriedens entſchiedenes 
Weſen.“ 

Ein bitteres Lächeln überflog Flavians Geſichtszuge, und leiſe 
murmelte er: „O ganz wohl. Einmal ſo, einmal anders; immer 
entſchieden!“ 

Zſch. Nov. XI. 17 


—mOB 


„Hören Sie weiter. Verdammen Sie nicht zu früh. Sie 
kannten auch Malariva, der mit der Baronin weitläufig verwandt 
war. Mit unglaublicher Verſchmitztheit, die dem geſchmeidigen, 
argliſtigen Italiener zu Gebote ſtand, trat er überall, als Ihr 
Lobredner auf, während er anfing, Sie um das übergroße Ver— 
trauen der Baronin zu beneiden, anfing Elfriedens Neigung zu 
argwohnen. Als er Sie am tödtlichſten haßte, und erfuhr, Sie 
wären durch Ihre Schweſter mit dem Hauſe Schauenſtein ver— 
bunden, wären von altem Adel: verhieß er, nicht Zeit, nicht 
Mühe, nicht Geld zu ſchonen, Ihnen, Ihrer Talente würdig, 
ehrenvolle Anſtellung in kaiſerlichen Dienſten zu ſchaffen. Es fehlte 
ihm nicht an Umgang mit einflußreichen, hochgeſtellten Perſonen. 
Elfriede und die Baronin waren ganz Dankbarkeit. Man wollte 
Sie eines Tages angenehm mit einer, ich weiß nicht, welcher 
Ernennung überraſchen. Elfriede und die Baronin ſchwammen in 
Hoffnungsfreuden; erboten ſich, jedes Geldopfer dafür zu bringen. 
Sie ſehen, Herr Prevoſt, wie genau ich von Allem, was Sie 
betraf, unterrichtet bin, und es ſchon war, eh' ich die Ehre hatte, 
Sie perſönlich zu kennen.“ 

„In der That, gnädiges Fräulein,“ erwiederte Fla vian, in 
deſſen Geſicht ſich, bei dieſem Rückblick auf das Vergangene, Hohn 
und Aerger ſpiegelten: „In der That, ich vernehme von Ihnen 
mehr, als mir ſelber bekannt war.“ 

„Aber das Blatt wandte ſich bald,“ fuhr Pauline fort: 
„Eines Abends erſchien der Baron bei den Damen, finſter, un⸗ 
wirſch, zerſtreut; murmelte Verwünſchungen gegen Mediſance der 
Wiener und reizte die Neugier der Frauenzimmer aufs Höchſte, 
die nicht aufhörten mit Bitten, ihnen zu ſagen, was ihn quäle. 
Endlich und endlich, wie halb gezwungen, gab er nach, und ſprach 
er von niederträchtigen Verleumdungen, die man gegen Sie, Herr 
Prevoſt, ausgeſprengt habe.“ 


Prevoſt zuckte die Achſeln, und bemerkte: „Und der Unhold 
ſelber ausgebrütet hatte. Ich weiß! Und die beiden Damen 
glaubten dem Schelmen ſogleich aufs Wort.“ 

„O nein, es war ja zu arg, zu unglaublich! Denken Sie 
nur, er erzählte, wie er von einer vornehmen Perſon am Hofe, 
bei der er ſich für Sie, Herr Prevoſt, verwendet hatte, höchſt 
übel empfangen worden ſei. Dieſe habe ihn mit allen fernern 
Geſuchen kurz abgewieſen, weil ſich nach eingegangenen Erkundi— 
gungen ergebe, der in Wien ſtudirende junge Bündner ſei der 
Polizei längſt verdächtig; mit Franzoſen in geheimer Verbindung; 
in demagogiſche Umtriebe verflochten; fabrizire und verbreite Re— 
volutionslieder; führe ſogar ſittenloſen Wandel; habe eine junge 
Bürgerstochter verführt, mit der er in verbotenem Umgang 
lebe u. ſ. w. Die hohe Perſon habe ſich endlich ganz mißfällig 
über Frau von Grienenburg geäußert, daß ſie mit einem Aben— 
teurer der Art ihr eigenes Haus verdächtig mache; und noch un— 
gehaltener über den Grafen Malariva, daß er gewagt, einen 
Menſchen zur Anſtellung in kaiſerlichen Dienſten zu empfehlen, 
der nächſtens in die Burgvogtei oder über die Grenze wandern 
müſſe.“ 

„Ich weiß, ich weiß, mein Fräulein!“ grollte Flavian bei 
dieſen Worten: „Warum aber ſchwieg man gegen mich? Warum 
hörte man mich nicht?“ 

„Man wollte Sie nicht kränken, Sie nicht zu übereilten Schrit— 
ten reizen. Sie können ſich vorſtellen, Herr Prevoſt, mit wie 
empörtem Gemüth Elfriede und ihre Stiefmutter dies anhörten. 
Doch empörter, als ſie beide, war ja der Graf ſelber. Die Ruch— 
loſigkeit, die Lüge, ſagte er, ſei zu offenbar. Er halte für Pflicht, 
Ehre und guten Namen eines unſchuldigen Mannes zu retten. 
Hier ſei es um ſeine eigene Ehre und Rechtfertigung zu thun. 
Da ſei Büberei eines Dritten, oder Irrthum, oder Namens— 


8 - 


verwechslung vorhanden. Er wolle felber bei der Polizei Auf— 
klärung ſuchen; wolle ſelber die Wohnung der erwähnten Weibs— 
perſon erfragen. Bis dahin beſchloß man, nichts gegen Sie, mein 
Lieber, zu äußern.“ 

„Gar kluge Unklugheit!“ fiel Flavian ein: „Hätte man mich 
gehört! — — — Und weiter?“ 

„Folgendes Tags kam der Graf wieder, aber mit unglück— 
weiſſagendem Geſicht. Er war außer ſich; konnte lange nicht 
Worte finden, das Schrecklichſte zu berichten. Im Polizeibureau 
hatte man ihm Aufruhrlieder von Herrn Prevoſts eigener Hand, 
und mehrere Zeugenverhöre vorgelegt, welche die erhobenen Anz 
ſchuldigungen beſtätigten. Er hatte auch den Namen des Mädchens 
erfahren; dieſe Perſon ſogleich in der Leopoldsvorſtadt aufgeſucht. 
Es war eine gewiſſe Jungfer Nanette Schröter, Tochter einer 
Schneiderswittwe. Nach vielen vergeblichen Vorſtellungen, Bitten 
und endlich Drohungen, hatte ſie dem Grafen ihre Schuld einge— 
ſtanden, aber auch, daß fie von Herrn Prevoſt Zuficherung habe, 
er werde fie heirathen. Die Baronin hörte Malarxiva's Bericht 
mit ſtummem Entſetzen. Elfriede hingegen trat mit zornglühendem 
Geſicht gegen den Grafen, und — — —“ 

„Elfriede? Wirklich? Konnte fie doch?“ murrte der Schützen- 
hauptmann mit ungläubigem Lächeln. 

„Sie ſchalt ihn einen ehrlofen Lügner, deſſen ſchlechtverkapp— 
ten Haß gegen den Freund ihres Hauſes fie ſchon lange errathen 
habe. Der Graf zuckte mitleidig die Schultern, verzichtete groß— 
müthig auf jede Selbſtvertheidigung; er habe ſich am Ende nur 
noch zu Gunſten der Frau von Grienenburg verwenden können, 
daß man wenigſtens ihres unbeſcholtenen Rufes ſchone. Er über: 
gab dann der in Schmerz und Furcht verlornen Baronin ein 
Billet. Es waren einige Zeilen, von einem ihr ſehr wohlbekann— 
ten Staatsbeamten geſchrieben, des Inhalts: die Frau Baronin 


— 261 — 


möge, ſich Unannehmlichkeiten zu erſparen, den Studioſus aus 
Graubünden, Flavian Prevoſt, ohne Zeitverluſt aus ihrem Hauſe 
entfernen.“ 

„Aha!“ bemerkte Flavian, mit gerunzelter Stirn: „Nun, 
wird's deutlicher, wie die Sache zuſammenhing.“ 

„Lieber Herr Prevoſt, das Billet, dann Ihre bald darauf er— 
folgte Verhaftung mußten doch die Befürchtungen allerdings be— 
kräftigen helfen. Die Baronin ſtand durch Rang und Verwandt: 
ſchaften in ſo beachtenswerthen Verhältniſſen, daß ihr unmöglich 
die Ungnade des Miniſteriums, oder des Hofes gleichgültig ſein 
durfte.“ 

„Verſteht ſich, gnädiges Fräulein. In den ſogenannten höhern 
Ständen hat man nothwendig auf Dinge Rückſicht zu nehmen, 
die an ſich kein Papierſchnitzel werth ſind, und denen man doch 
ſtandesgemäß Lebensglück, Tugend und die edelſten Gefühle des 
Herzens aufopfern muß. Der gute Ton erfordert das zuweilen. 
Nicht ſo? und das Hiſtörchen mit dem Mädchen nahm man auch, 
ohne Bedenken, als baare Münze an?“ 

„Nicht ſo blindlings, wie Sie meinen. Hören Sie nur! 
Zwar im Anfang hatte man offenbar den Kopf ziemlich verloren. 
Doch Elfriede ermannte ſich am erſten zu einiger Beſonnenheit; 
hielt es zwar nicht für unmöglich, daß der Argwohn der Polizei 
durch unbedachtſame Aeußerungen über politiſche Angelegenheiten 
in Harniſch gebracht ſein könne; aber, Herr Prevoſt, an eine ſitt— 
liche Verworfenheit ihres Charakters, wie man Ihnen angeſchul— 
digt hatte, wollte und konnte ſie durchaus nicht glauben. Auch 
die Baronin fing an, ihr darin beizuſtimmen. Malariva gerieth 
in Verlegenheit. Man wollte die berüchtigte Nanette ſelber ſehen 
und verhören. Der Graf ward genöthigt, eine Zuſammenkunft 
zu veranſtalten. Das Mädchen ſträubte ſich einige Tage, wie er 
ſagte, heftig dagegen. Endlich gelang es ihm, die Tochter des 


= — 


Schneiders eines Abends zu überreden und herbeizuführen. Da 
bekannte ſie weinend ihre Schuld, ihren Leichtſinn; doch um mehr, 
als das, jammerte ſie über Wegweiſung des Herrn Prevoſt aus 
den öſterreichiſchen Staaten; denn ſie fühle die Folgen des ver— 
botenen Umgangs. Die Baronin war, bei dieſem Geſtändniß, 
einer Ohnmacht nahe. Elfriede, in Zorn aufflammend, ſchalt die 
ſchluchzende Dirne eine ſchamloſe, freche Betrügerin, die einen 
abweſenden Ehrenmann glaube, als Urheber ihrer Schande an— 
klagen zu dürfen.“ 

„Soviel galt ich alſo doch noch in ihrem Herzen!“ äußerte 
Flavian mit einer gewiſſen Zufriedenheit: „Warf man die Mebe 
nicht zum Haus hinaus?“ 

„Ach, nein! Das Mädchen vielmehr gerieth über die Vor— 
würfe in wahre Wuth; vertheidigte die Wahrheit ſeiner Worte; 
ſprach von Briefen, ſchriftlichen Verſprechungen, Geſchenken des 
landesverbannten Liebhabers, hatte aber nichts vorzuweiſen; zog 
zuletzt jedoch die Geldbörſe mit Elfriedens eigenhändiger Stickerei 
hervor, und hielt fie dem Fräulein von Marmels unter die Augen. 
Elfriede nahm, unterſuchte eine Zeitlang ſtumm und ſtill, er— 
kannte das Ihnen, Herr Prevoſt, gegebene Andenken, und ſchleu— 
derte es, wie eine giftige Natter, dem Mädchen voller Entſetzen 
ins Geſicht. Sie that einen lauten Schrei und fiel beſinnungslos 
zu Boden.“ 

Hier ſprang Prevoſt vom Steinſitz auf mit dem Ruf: „Höl— 
liſches Geſchmeiß! Das war Malariva's eigene Beihälterin. Der 
Böſewicht hatte das feile Geſchöpf abgerichtet!“ 

„Beruhigen Sie ſich,“ ſagte Pauline, und zog ihn wieder 
zu ſich nieder: „Vernehmen Sie nur noch den Ausgang der Un— 
heilsgeſchichte. Aber erlaſſen Sie mir die Schilderung von den 
Tagen, die jenem Abend folgten. Elfriede lag mehrere Wochen 
in Fiebern. Die arme Baronin erkrankte noch gefährlicher, er— 


— 263 — 


holte ſich nie ganz wieder; zehrte langſam ab, und ging freuden— 
los ihrem Grab entgegen. Ich eilte von Brünn nach Wien. El— 
friede genas unter ſorgfältiger Pflege; allein die ehemalige Heiter— 
keit des Gemüths kehrte nicht wieder. Letzten Sommer begleiteten 
wir die Baronin in die böhmiſchen Bäder. Dort fand die Unglück— 
liche ihre Heilung durch einen ſanften Tod. Noch auf dem Sterbe— 
bette wünſchte ſie die Verbindung ihrer Stieftochter mit dem Grafen. 
Der Wunſch blieb unerfüllt. Elfriede gedachte ihrer erſten Liebe 
mit empörtem Herzen und mit Gram, und bewahrte ſie doch 
immer treu in ihrer Bruſt. Sie beſchloß, ihre übrigen Tage in 
einem Kloſter zu vollbringen.“ 

„Wie?“ rief Prevoſt erſchrocken: „Ins Kloſter ging ſie?“ 

„Noch nicht. Ich verhinderte ſie daran. Aber wir Beide lebten 
zu Wien faſt klöſterlicher, als in einem Kloſter. Der Graf hatte 
ſich zur Armee ins Tyrol begeben. Selten beſuchten wir Konzert, 
Schauſpiel oder eine Freundin; deſto öfter Armen- und Kranken- 
anſtalten. Eines Morgens, es war wenige Tage nach dem letzten 
Neujahrsfeſt, da wir im Spital weiblicher Kranken längs den 
Betten derſelben hingingen, Troſt zu ſpenden, ward Fräulein von 
Marmels mit ſchwacher Stimme angerufen. Stellen Sie ſich 
Elfriedens Schrecken vor. Da lag jene Nanette Schröter, ein 
Opfer ihrer Ausſchweifungen und Laſter, im Geſicht bis zur Un— 
kenntlichkeit entſtellt, und erwartete das Ende ihrer Leiden. Sie 
mußte ſich ſelbſt erſt nennen. Sie bat das Fräulein um Gnade 
und Verzeihung, ſich ſchwer an ihr verfündigt zu haben. Sie wäre, 
ſagte ſie, ſchon damals der leichtſinnigen That, zu der ſie vom 
Grafen Malariva überredet worden, reuig geworden, als ſie den 
unerwarteten Eindruck des boshaften Spiels auf die beiden Damen 
wahrgenommen. Sie hätte niemals einen Herrn von Prevoſt ge— 
kannt. Die Börſe wäre Eigenthum des Grafen geweſen. Die 
arme Elfriede, beim Anhören dieſer unerwarteten Beichte, fiel 


— 14 — 


krampfhaft auf einen Stuhl zuſammen. Ein Arzt kam ihr zu Hülfe. 
Ich führte ſie zurück. Sie zerfloß in Thränen, und klagte nun 
verzweiflungsvoll ſich ſelber der ſinnloſeſten Unbarmherzigkeit gegen 
einen Unſchuldigen an.“ 

„Nein, nein!“ rief Flavian bewegt: „Sie that ſich Unrecht. 
Durch die Gaukelſpielerei des Satans hätte, wie ſie, auch der 
Scharfſichtigſte geblendet werden müſſen.“ 

„Und doch,“ fuhr das Fräulein von Stetten fort: „und 
doch, wie der erſte Sturm verbraust war, erhoben ſich wieder neue 
Zweifel, ob das verworfene Geſchöpf volle Wahrheit geſprochen? 
Wie hätte ſie, ward Frage, ohne Bekanntſchaft mit Herrn Prevoſt, 
in Beſitz von deſſen Börſe gelangen können? Vielleicht hatte ſie 
von ſeinem Verhältniß mit Fräulein von Marmels nachher ge— 
hört; vielleicht — — Genug, ich begab mich noch einmal ins 
Spital, um ganz befriedigende Aufklärung von der Kranken zu 
fordern. Ich erblickte die Elende aber nur noch, als Leiche. Hätten 
wir damals gewußt, mein lieber Herr Hauptmann, wo Ihr Huf 
enthalt ſei: ich würde an Sie damals eben die Frage ſchon ſchrift— 
lich gerichtet haben, die ich Ihnen erſt vor einer halben Stunde 
gethan. Uns war indeſſen die Adreſſe Ihrer Schweſter bekannt. 
Ich ſchrieb ihr, um zu wiſſen, ob Sie noch und wo Sie lebten? 
Mein Brief blieb ohne Antwort.“ 

„Auch mir erwähnte meine Schweſter nie eine Sylbe davon!“ 
rief Flavian unruhig. 

„Wir vermutheten Sie aber in Graubünden, wo ich noch einen 
theuern Freund meiner Jugend kannte,“ ſetzte das Fräulein die 
Erzählung fort, und ſenkte bei den letzten Worten die Augen: 
„Sie kennen ihn wohl. Pater Gregorius ſtand noch im Brief— 
wechſel mit mir; hatte mir einen Wunſch geäußert, uns noch ein— 
mal nur auf Erden wieder zu ſehen. Und ich — — Ach, die 
arme Elfriede ſiechte im ewigen Gram dahin! Mein Troſt und 


— 25 — 


die Arzneien, welche ihr gereicht wurden, halfen nicht mehr. Sie 
bereitete mich auf ihren Tod vor.“ 

„Nein, um Gotteswillen! doch nicht geſtorben?“ ſchrie der 
junge Mann erblaſſend, und ergriff mit Angſt die Hände 
Paulinens. i 

Sie ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Beruhigen Sie ſich. Die 
Unglückliche iſt noch am Leben. Aber ihr Leiden und langfames 
Hinwelken konnt' ich, mocht' ich nicht länger ſehen. Ich entſchloß 
mich zu einem Wagſtück, zu einer Reiſe nach Graubünden. Die 
faiferlichen Truppen hielten ja damals noch das Land beſetzt, und 
mit Frankreich war noch Friede. Und dann den letzten Wunſch 
eines Jugendfreundes zu erfüllen — — Genug, Elfriede blieb in 
Wien zurück, aber ihre und meine liebe, treue Freundin Clara 
begleitete mich. Sie hoffte durch Luftveränderung, Bewegung, Zer— 
ſtreuungen einer Reiſe, bei ihrem Uebel, einige Hülfe. Ich wagte 
nicht zu widerſprechen. Wir kamen, einer Frau von Salis em— 
pfohlen, glücklich nach Chur, aber ohne verweilen zu können. 
Zwei Tage nachher überfielen die Franzoſen das Land. Wir 
flüchteten auf Gerathewohl nach Diſentis, und trafen es da noch 
böſer. Nun, Herr Prevoſt, wiſſen Sie das Uebrige. Pater Gre— 
gorius führte mich bei der gnädigen Frau von Caſtelberg ein. Nur 
wegen der verſchlimmerten Zuſtände meiner lieben Clara mußten 
wir in Trons wohnen; wie hätt' ich der Frau von Caſtelberg, bei 
welcher ſchen — — —“ 

Hier ward die Erzählerin durch Uli Goins weither zum Waſſer— 
fall iönenden Ruf: „Holla! He! Hollaho!“ unterbrochen. Er 
und die Führer, ungeduldig mit Tüchern winkend, gaben Zeichen, 
man ſei zur Abreiſe gerüſtet. 

„Ein Mehreres nachher!“ ſagte Fräulein von Stetten, indem 
es vom Sitz aufſtand, und den Arm des Schützenhauptmanns 
nahm, um den Rufenden zu gehorchen. 


— 6 — 


„Aber Sie haben doch jüngere Nachrichten von Elfrieden?“ 
fragte Flavian, der ſich von den Augen eine Thräne trocknete. 

„Sie befindet ſich beſſer. Sie lebt von ſchönen Hoffnungen, 
die ich ihr gab,“ antwortete Elfriedens Freundin, und auch ihre 
Augen wurden feucht, als fie die Thränen des jungen Mannes jah. 


47. 
Die Wanderung im Sernftthal. 


Sobald ſie Beide den Reiſezug erreicht hatten, ſetzte ſich dieſer 
in Bewegung. Pauline wandelte die kurze Strecke des rauhen 
Wegs, bis zur letzten Höhe, zu Fuß, in Unterhaltung mit der 
kranken Dulderin. Flavian nahm indeſſen den redſeligen Tavet— 
ſcher in ſtrenges Verhör über das Wiener Nannerl. Doch des 
Neuen vernahm er wenig. 

„Nannerl,“ meinte ihr geweſener Anbeter: „mag auch wohl 
Nanette Schröter geweſen ſein. Weibsbilder ändern Röcke, Ge— 
ſichter und Namen, und bleiben, was fie find, Erzkomödiantinnen. 
Die kleine Here hat, wie den Grafen, wohl auch mich und ein 
Dutzend Andere hinters Licht geführt. Sie konnte Schnürleib und 
Gewiſſen jede Stunde an den Nagel henken, wenn's ihr zu eng 
ward. Sie ſchluchzte zwar, wie eine bußfertige Magdalena, als 
ſie mir beim Abſchied den leeren Geldbeutel zum Andenken gab 
und ſagte: Nimm nur, er mahnt mich doch nur an nichts Gutes! — 
allein ich wette, ſie hat gelacht und geliebängelt, ſobald ſie ſich 
auf dem Abſatz umgedreht hatte.“ 

Es ward von Neuem Halt gemacht. Denn vor der kleinen 
Karavane ſenkte ſich, mit ziemlich ſchräger Abdachung des Berges, 
ein weiter Abgrund, links und rechts von gewaltigen ſchwarzen 
Felſen eingeklammert und verſchattet; der Boden tief unter kör— 


— 27 = 


nigem Schnee verloren. Die Mannſchaft bewaffnete die Füße mit 
Eisſpornen. Die hölzerne Tragbahre Clara's ward in einen Schlitten 
verwandelt. Man ſtand vor dem Jätzer-Schlund. 

„Goin! Goin! Goin!“ ſchrie Thereſel von ihrem Gaul 
herab, um ihr junges Leben zitternd: „Komm Er mir zu Hilfe! 
Ich will nicht weiter, und laſſe mir ſchlechterdings hier nicht das 
Genick brechen.“ 

In der That war durch die ſchauerliche Kluft hinab der Weg 
in dieſer Jahreszeit nicht ohne Gefahr. Die beiden Damen bebten 
nicht minder, denn ihre Zofe. Die Führer hielten ihre Roſſe und 
den Schlitten zurück, ſchritten mit Vorſicht einher, und ſprachen 
Muth ein. Langſam ging's über den Schnee hinunter in die 
Tiefe, wo ſich die Felſengurgel zum weiten Schlund ausdehnte, 
immer von hohen Kalk- und Tonſchieferwänden ummauert. Links 
ſtürmte aus öder Schlucht ein Gießbach hervor, der das Schnee— 
und Eisgewölbe unterwühlte, über welches im tiefſten Schweigen 
die Reiſenden den ſchlüpfrigen Weg niederſtiegen. Wie der galante 
Uli dem zaghaften Kammermädchen ſtets tröſtend zur Seite ging: 
fo begleitete Flavian abwechſelnd bald das Fräulein von Stetten, 
bald die ſtumme Freundin derſelben. Er wagte ſogar, die Letztere 
anzureden: „Ich beklage Sie, gnädiges Fräulein,“ ſagte er: „ich 
bewundere den ſeltenen Muth, bei Ihrem Unwohl, das Wagniß 
einer ſo mühſeligen Fahrt zu beſtehen.“ 

Sie legte, einen Seufzer hauchend, die Hand auf die Bruſt, 
und flüfterte mit heiſerer Stimme einige Worte, die er nicht 
verſtand. 2 

„Faſſen Sie Muth!“ fuhr er mitleidig fort; gern auch hätt' 
er von ihr etwas vernommen: „Bald ſind wir am Ende der ge— 
fährlichen Bahn. Wenn Sie mir die Gunſt gewähren, bleib' ich 
Ihnen bis dahin, als treuer Wächter, zur Seite.“ 

Sie nickte dankend mit dem Haupte, und zeigte mit der Hand 


— ah — 


gegen einen immergrünen, niedrigen Strauch, der am Felfen: 
vorſprung zu Füßen des hohen Rinkenkopfes aus dem Schnee 
ragte. Es waren Rhododendern mit roftfarbenen Blättern. Fla⸗ 
vian brach einen Zweig, und überreichte ihn mit den Worten: 
„Sie blühen noch nicht.“ 

„Aber bald, bald! Die Blätter leben, die Blätter grünen 
noch immer!“ wiſperte ſie ihm leiſe zu, indem ſie den Zweig 
nahm und dabei mit ihren kleinen, zarten Fingern ſeine Hand 
einen Augenblick feſthielt und ſanft drückte. Jeder Andern würde 
er gern mit einem Handkuß vergolten haben; doch Ekel und 
Grauen befiel ihn mit dem Gedanken an ihr unheilbares Uebel. 
Der freundliche, unerwartete Fingerdruck aber durchſchauerte ihn 
wunderbar. Er ſprach ſie nun öfter an. Doch ſtatt der Antwort 
zeigte ſie auf ihren Hals, und ließ traurig das verhüllte Köpf— 
chen hangen. 

Eben nun war auch die Grenze des Schneegefildes erreicht, 
wo zur Linken und Rechten am Gebirg, wie ſilbergewobene Tücher, 
Waſſerfälle im Winde flatterten. Bald gelangte man zu einem 
furzgrafigen Berghang, dicht neben welchem, in ſchwindelerregen— 
der Tiefe, drunten eine weite Alpenlandſchaft ruhte. Mit Luſt 
vermengtem Entſetzen verlor ſich der Blick in den ſonnenhellen 
Abgrund, über welchem Raben, klein wie Fliegen, in den Lüften 
ſchwammen, und in deſſen Wieſengrün einzelne Sennhütten, klein 
wie Maulwurfshügel, ſich lagerten. Als man aber endlich die 
ſchöne Wichleralp drunten ſelbſt erreicht hatte, da erhob ſich wie— 
der fröhliches Jauchzen und muntere Geſprächigkeit. Uli Goin 
jodelte mit hohen Kehllauten den Wiederhall wach; Flavian 
ſammelte in den Matten Lenzblumen, die Frauenzimmer zu ſchmük— 
ken, und das Fräulein von Stetten verließ das Roß, ſich ihm 
im Wandern zuzugeſellen. Denn ſie hatte noch viele Fragen an 
ihn, wie er an ſie zu richten. 


— 259 — 


Auch erzählte ſie ihm, wie ſie ihn im Schloſſe Caſtelberg, im 
Begleit der Dame des Hauſes, ſchon einmal beſucht und geſehen 
habe, eine kleine, ſehr verzeihliche Neugier zu ſtillen. Er aber 
ſei empfindungslos da gelegen, und da ſie, als Frau von Caſtel— 
berg abgerufen worden, allein vor ſeinem Bett geſtanden, den 
ſchwarzen Schleier zurückgeworfen hätte, um ihm von ihrem Buſen 
eine blühende Hyazinthe anzubieten, wär' er eingeſchlummert, ohne 
ſie ſeiner Aufmerkſamkeit zu würdigen. 

„Wie? Sie, mein Fräulein?“ rief er beſtürzt, die Erſchei— 
nung im Fieber nun als Luftgeſpinuſt der irren Fantaſie aner— 
kennen zu müſſen: „Ich glaubte Elfrieden zu ſehen und die Roſe 
von Diſentis in ihrer Hand.“ 

„Alſo immer und überall Elfriede?“ lächelte Pauline etwas 
muthwillig: „Gut, daß Elfriede nicht darum weiß, wie Sie 
jedes Frauenzimmer mit ihr verwechſeln; des Mädchens alter 
Argwohn empfinge böſe Beſtätigung.“ 

„Argwohn?“ fragte er ernſt: „Hab' ich ihn je verdient?“ 

„Ja, mein ſchöner Herr!“ erwiederte ſie, und blickte ſchalk— 
haft zu ihm auf: „Solch ein Dorn einmal im Herzen läßt ſich 
ſchwer wieder herausziehen. Wir Weiber dulden nicht gern andere 
Götter neben uns, geſchweige Göttinnen.“ 

Flavian ſchüttelte, düſter ausſehend, den Kopf und mur— 
melte: „Argwohn! Mir! Sie kannte mich nicht. Sie war ein 
Kind, leichtmüthig, und ich kein Graf, kein Baron, kein großer 
Herr.“ 

„Nein, nein, lieber Freund,“ fiel Pauline ein: „ſo arg 
beurtheilen Sie meine Freundin nicht. Starkmüthiger ſah ich noch 
kein Mädchen und keines vorurtheilloſer. Wiſſen Sie, was dies 
Mädchen ſtolz und feſt ihrer Stiefmutter erwiederte, wenn dieſe 
ihr von ſtaudesgemäßer Vermählung ſprach? Sie ſagte, wär’ 
ich eine Königin, ich würde einen geliebten Bettler feſthalten; 


N 


wär' ich eine Bettlerin, ich würde wenigſtens im Reich meines 
Innern ſelbſtherrliche Königin bleiben. Ich laſſe mich von Nie— 
manden an Niemanden verhandeln, und wär' er Weltherr. Im 
Kloſter iſt's ſchöner und im Grabe ſchöner, als mit gebrochenem 
Willen und Herzen in einem Kaiſerpalaſt.“ 

„Ich weiß, beſtes Fräulein, ich weiß, in dieſem Geiſt ſprach 
ſie einſt; und dann — — aber ich war ein Wahnſinniger damals; 
überſah, wie ſie, Unterſchied des Ranges, Reichthums und der 
Religion. Ich bin geheilt. Meine tollen Knabenträume ſind 
dahin! Ich kenne das arme Leben, und bin genügſam. Ich 
war ein phantaſtiſcher Weltſtürmer, und bin auch das nicht 
mehr.“ 

„Das waren Sie nie, lieber Hauptmann. Seien Sie nicht 
ungerecht gegen ſich ſelbſt. Wie Elfriede Sie gekannt hat, ſo 
fand ich Sie; vielleicht zu begeiſtert und gut für das Gute, ein 
wenig zu böſe gegen das Böſe.“ 

„Sie bezeichnen das ſchonend, mein Fräulein, was man ge— 
wöhnlich ſonſt herber zu betiteln pflegt. Ein unbeſonnener, un— 
erfahrener Knabe war ich, der die Welt nach ſeinen Idealen und 
Schulbegriffen ſchulmeiſtern wollte. Aber ich war, was ich war, 
von Herzensgrund, ohne Arg und Falſch; kein modiſcher Phraſen— 
macher und Faſeler, den Mund von allem Heiligen und Edeln 
angefüllt, das Herz von Allem bis auf den Boden leer, wie bei 
der Maſſe unſerer großen Geſchäfts- und Staatsmänner. Ich war 
Keiner von den politiſchen Schwindlern, wie man ſie heutiges 
Tages in allen Kaffeehäuſern und Zeitungen lärmen hört; die 
mit ihrer grünen Weisheit über alles Beſtehende ſchneidend ab— 
ſprechen; die wirklichen Zuſtände nach ihrem Kopf, nicht ihren Kopf 
nach der Wirklichkeit richten möchten, und ſchlechterdings mit ihrer 
fixen Idee eine Rolle ſpielen, ein Celebrität werden wollen, bis fie 
die Hörner an den feſten Mauern der bürgerlichen Ordnung abgerannt 


= — 


haben, die fie für Scheinwerf halten, und dann hintennach wieder 
ihr Gegentheil werden, politiſche Windfahnen, Fürſtenſchmeichler, 
ehrſame Philiſter, eifrige Kirchengänger, ſo widerlich, als abge— 
lebte und abgeliebte Koketten, wenn ſie mit Betſchweſterei Parade 
treiben.“ 

Pauline ſah ihrem Nachbar mit Verwunderung in die Augen, 
lächelte dazu recht gutmüthig, und ſagte: „Ganz ſchön, was 
Sie da ſagen; allerliebſt! Aber es klingt beinah, wie eine Ver— 
theidigung gegen Vorwürfe, die Ihnen Niemand machte. Wozu 
das?“ 

„Damit Sie, Fräulein, Ihrer Freundin ſchreiben, Sie hätten 
mich nicht mehr als denſelben gefunden, der ich in Wien war; 
ſondern ſich beſcheidet, die Kluft zwiſchen ſich und Elfriede an— 
zuerkennen.“ 

„Gut, Herr Prevoſt! ich werde ihr ſchreiben, Sie wären 
kein hochherziger Weltſtürmer mehr, aber doch noch ein wenig 
Schwärmer.“ 

„Sie irren, Liebe! Das Eine oder das Andere zu ſein, 
fühl' ich mich zu nüchtern. Seit ich vor zwei Jahren Wien ver— 
ließ, bin ich zwanzig Jahr älter geworden. Glauben Sie mir's! 
Und ich komme eben aus einer Schule, in der ich binnen acht 
Wochen mehr gelernt habe, als ſeit acht Jahren aus meinen 
Büchern. Ich will nun wieder ein Bauersmann werden, in irgend 
einem Erdwinkel. Das ſteht feſt in mir. Um nicht von Beſtien 
zerriſſen zu werden, muß man ſich in 1 Fell kleiden, oder flüch- 
ten, oder — — —“ 

Hier ward die Unterredung durch den Ruf der Führer geſtört. 
Der Weg ging ſteiler bergab. Das Fräulein mußte das Roß 
beſteigen. Pauline gehorchte. Und zwiſchen Bergen rechts und 
links, die immer höher zu wachſen ſchienen, zog man dem Berg— 
dörflein Elm, dem höchſten des Sernftthales zu. 


— Ne — 


Da dehnte ſich ſeitwärts, zum Erſtaunen unſerer Reiſenden, 
am öſtlichen Himmelsſaum ein ungeheures Felſenbild, braun und 
grau, aus einander, wie es ihnen der Traumgott ſelber, im 
Schlafe, nicht wunderbarer malen konnte. Sie ſahen zwiſchen 
den Rieſenſäulen und Pyramiden der hohen Kuppen des Fall— 
zübers und Tſchingels, eine weite, ſchneeweiße Wüſte aus— 
geſtreckt; und, über dem blendenden Gletſchermeer, eine langge— 
zogene mächtige Felſenmauer, mehr, denn ein Cyclopen- oder 
Titanenwerk; und inmitten der rieſigen Mauer, wie von menſch— 
licher Kunſt, eine kreisförmige Oeffnung gebrochen, durch welche 
wunderſam der lichtblaue Himmel in vollem Glanze ſtrahlte. Es 
war jenes berühmte Martinsloch des Alpenreichs, in welchem 
ſich, zur Frühlings- und Herbſtzeit, die Scheibe der Morgenſonne 
wie in einem Felſen eingerahmt, den Bewohnern des Hochthals, 
einige Minuten lang zeigt. Aber über und hinter dem dunkeln 
Gemäuer ſteigen, in ſeltſamen Geſtaltungen, die Zinken, Kul— 
men und Firſten von Alpengipfeln auf, acht- und neuntauſend 
Schuh hoch, wie Thürme hinter dem Wall einer gewaltigen 
Rieſenſtadt. 

Umſonſt baten die Frauenzimmer um längern Genuß des großen 
Schauſpiels. Die dagegen gleichgültigen Männer von Panix er— 
innerten unbarmherzig an Länge und Rauhheit des Wegs hinab 
durchs Sernftthal, und raſteten nicht, bis ſie nach einigen Stun— 
den das Ende deſſelben erreicht hatten. Da ſchloß ſich vor den 
Augen der Ermüdeten das offene Hauptthal des Glarnerlandes in 
eigenthümlicher Anmuth und Majeſtät auf. Schon hatte die abend—⸗ 
liche Dämmerung begonnen; nur die goldrothen Firnen der Höhen 
lächelten noch der untergegangenen Sonne freundlichen Abſchied zu. 


48. 


Die Stimme vom Himmel. 


Sobald fie die ſchmale Ebene berührt hatten, welche der 
Linthſtrom fröhlich durchirrt, und in nicht weiter Ferne den zier— 
lichen Flecken Ennenda, und dahinter den alten Kirchthurm des 
Hauptortes Glarus, zwiſchen grünen Halden und Abhängen des 
Schilts und Frohnalpſtocks und des hohen Glärniſch er— 
blickten, verließ das Fräulein von Stetten den unbequemen, bis— 
herigen Reiterſitz. Sie eilte zur Bahre der ſtillen Clara, be— 
ſorgt um das Befinden der leidenden Freundin. Dann, da ſie 
dieſe, über alle Erwartung, in der Vermummung ihrer Kiſſen, 
wohlgemuth gefunden hatte, wandte ſie ſich zum Schützenhaupt— 
mann. 

Sie nahm ſeinen Arm, und ſagte: „Ich ziehe vor, in der 
Abendkühle, die kurze Strecke zu Fuß zu gehen. Clara iſt ein 
liebes Kind, und heiter, als wäre ſie die Geſundeſte von uns 
Allen. Kommen Sie, mir iſt himmliſch wohl, und leicht ums 
Herz, nun ich wieder ſtattliche Menſchenwohnungen, Blumen— 
gärten, angebaute Felder, blühende Obſtbäume ſehe, und das 
erquickende Leben und Walten einer civiliſirten Welt um mich 
her fühle. Es iſt mir faſt zu Muth, als wach' ich von einem 
Traum voll geſpenſteriſcher Geſchichten auf. Nun ja, der Selten— 
heit willen iſt's wohl der Mühe werth, das Dadroben zu ſchaun. 
Aber man glaubt ſich da, unter der grauſenhaften Pracht kahler 
Felſenſpitzen, bei den bleichen Gletſcherdecken, auf denen der 
ewige Tod liegt, und bei den finſtern Tannenwäldern, in die ſich 
die Berge wickeln, wie in ſchwarzes Trauergewand, ganz und 
gar zum Nichts geworden. Ein ſeltſames Land, Ihre Schweiz! 
Schrecken und Luſt, Kraft und Milde, Zerſtörung und Frieden, 
Alles nahe beiſammen, und verworren durch einander; ein fan— 

Zſch. Nov. XI. 18 


— 274 — 


taſtiſches Quodlibet unſerer Mutter Natur, wie ohne Gleichen in 
der Welt.“ 

„Sie ſind in liebenswürdiger Laune, Fräulein; recht poetiſch 
und doch wahr. Rechnen Sie nur auch noch die hieſigen Men— 
ſchen und ihre Verkrümelung in allerlei kleinen Gemeinweſen und 
Staaten, mit alterthümlichen, wunderlichen Formen dazu, die 
nun freilich insgeſammt zerſtampft und in einander gemengt wor— 
den ſind.“ 

„O du heiliges, ſchönes Friedensland!“ ſeufzte Pauline: 
„daß der Weltſturm auch dich ergreifen, und die Glückſeligkeit 
deiner Thäler unerrettbar vernichten mußte!“ 

„Unerrettbar! Das klingt ja, mein frommes Fräulein, bei— 
nah', als hätten Sie den Glauben an den Himmel verloren. 
Sogar Blutregen iſt Gottesſegen. Verzagen wir nicht. Wollten 
Sie ſich mit der Lebensgeſchichte der Schweiz ein wenig bekannter 
machen, dann würden Sie nicht ohne Erſtaunen wahrnehmen, 
daß man ſeit Jahrhunderten, wie in andern Ländern, auch in 
dieſem „heiligen Friedenslande“ unaufhörlich zankte und rauſte; 
bald um Dörfer, bald um Religionen, bald um Geldgeſchäfte, 
bald um Rechtſame; Sie würden anfangen, Gllückſeligkeit dieſer 
Thäler zu bezweifeln, wo ein zopfſteifer Stadtbürger-Adel, oder 
ein betitelter Kamaſchendienſt- und Lohnkrieger-Adel mit Prie— 
tern, Biſchöfen und Mönchen um die Wette eiferten, das arme, 
fuechtiſche, zum Theil leibeigene Volk in unbeholfener Dummheit 
niederzuhalten, um auf deſſen Koſten zu lachen, von deſſen Arbeit 
Wohlleben zu gewinnen, oder es in ausländiſche Kaſernen oder 
Schlachtfelder zu verhandeln.“ 

„Aber, nein, Herr Hauptmann, wie ſprechen Sie? Ihre 
Schweiz war von jeher eine Republik?“ 

„Ganz gewiß, meine Gnädige, ohngefähr wie die polniſche 
Republik, wo Adelſchaft und Prieſterſchaft das Volk, und das 


— 275 — 


Volk Null war; ja, noch polniſcher, als Polen, was doch wenig— 
ſtens nur ein Staat und mit einem königlichen Haupte beftand. 
Hier aber hatten wir, der Himmel weiß, faſt ſoviel Republiken, 
als Thäler; ſoviel Häuptlinge, als Aebte, Prieſter, Stadt- und 
Dorfmagnaten; ſoviel politiſche Parteien und Faftionen, als Wah 
herrnfamilien.“ 

„Hilf Himmel,“ lachte Pauline laut: „ſo lob' ich mir 
mein Oeſterreich und meinen Kaiſer! Wär' ich nur erſt wieder 
heil und glücklich mit der armen Clara nach Wien zurück! Ich 
ſollte eigentlich nicht fo leichtſinnig-fröhlich fein. Denn ich bin 
noch nicht aller Gefahr entronnen. Ringsum Kriegsgetümmel, 
ringsum der Weg von Armeen verrammelt; und meine Clara be— 
darf fo ſehr der Ruhe und Pflege! Da ſtehen wir ſchutzlos in 
fremden Ländern, und hätt' ich Sie nicht, mein Freund, gefun— 
den, — ja, erlauben Sie, daß ich Sie ſo nenne, denn Sie ſind 
es . 

Er drückte ſanft, wie zum Dank, ihren Arm an ſich, und 
ſagte: „Wenn ich mich wirklich dieſes Glücks freuen darf, ſo, 
hoff“ ich, werden Sie mich noch nicht meiner Dienſte entlaſſen 
wollen!“ 

„Sie von mir entlaſſen?“ wiederholte ſie ſeine Worte mit 
flehentlichem Blick und Ton: „Nein, tragen Sie noch einige Zeit 
mit uns beiden Verlaſſenen Erbarmen. Schon zwar bin ich Ihre 
große Schuldnerin, aber Ihre Güte macht mich unerſättlich, 
Schulden bei Ihnen zu häufen, wenn ich gleich nicht weiß, wie 
jemals fie abzahlen?“ 

„Und, Fräulein, wohin darf ich Sie von hier begleiten?“ 

„Wohin? fragen Sie mich. Ich antworte ſeufzend: wohin 
mich das Herz zieht; wohin auch vielleicht, — nein, gewiß Ihr 
eigenes Herz Sie zieht. Ihre ahnungsvolle Viſion in Diſentis 
ſagt mir's, Sie werden, Sie ſollen das Fräulein von Marmels 


— 26 — 


noch einmal wiederſehen. Das Trauerkleid, der ſchwarze Flor 
jener Erſcheinung bedeutete Elfriedens Seelenſchmerz, Sie ver— 
kannt, Sie betrübt, doch nicht vergeſſen zu haben. Sie zeigte 
Ihnen wohl die Roſe von Diſentis, aber behielt ſie, und gab ſie 
nicht zurück. Ja, lieber Freund, Sie wurden von ihr verkannt; 
aber, geſtehen Sie nur, haben Sie ſelbſt nicht auch Elfrieden bis 
vor wenigen Tagen ſchwer verkannt? Und doch war es nicht ihrer 
Beider Schuld? Und wagt' ich mich nicht ſelber in die gefähr— 
lichen Reiſeabenteuer, die ich freilich von ſolcher Art nicht er⸗ 
warten konnte, nur um Ihre Verzeihung für Elfrieden mit heim— 
zunehmen?“ 

Als ſie ſo ſprach, ward Flavian unruhiger. Er fuhr, Ant— 
wort ſuchend, mit irrem Blick umher, athmete ſchneller, und rief 
mit bewegter Stimme: „Nur Verzeihung? Ich habe nichts mehr 
zu verzeihen. Elfriede, ja, fie iſt und bleibt mir ewig — — — 
aber, warum wenden Sie wieder das Geſpräch auf ſie? Warum 
ſogar Hoffnungen wecken? Nein, es iſt unfreundlich von Ihnen!“ 

„Unfreundlich, und nenne Sie doch meinen Freund? Unfreund— 
lich? und bin doch Ihre Schuldnerin, die gern vergelten möchte. 
Wohlan, ich will Vergeltung verſuchen. Hören Sie mich! Sie 
lieben meine junge Freundin. Jede Kluft zwiſchen ihr und Ihnen 
iſt verſchwunden. Sie ſind geliebt; Sie waren es ſelbſt da noch, 
als des Grafen Malariva ſchwarze Kunſt den Heiligenglanz ziem— 
lich verwiſcht hatte, der Sie in den Augen des Mädchens umgab 
und wieder umgibt. Und fordern Sie von mir Beweis? Sie 
ſollen ihn, wenn Ihnen daran gelegen iſt, nach unſerer Ankunft 
in Glarus, zu jeder Stunde erhalten. Iſt Ihnen daran gelegen?“ 

„Alles!“ rief Flavian, und blieb vor ihr ſtehen, ergriff mit 
Inbrunſt ihre beiden Hände, blickte ſie träumeriſch an, und ſeufzte 
leiſe, wie mit wehmüthigem Vorwurf: „O, was wollen Sie wie— 
der aus mir machen?“ 


— —„— 


„Nicht ſtill geſtanden! Kommen Sie, mein Freund. Der Reiſe— 
zug iſt uns zu nahe. Ich habe Ihnen noch viel zu ſagen. Darf 
ich hoffen, daß Sie mich zu der verlaſſenen Elfriede begleiten 
werden?“ 

„Wie gern! — Aber Fräulein, dürfen wir's wagen in dieſer 
Zeit? Wie nach Wien kommen durch die Menge der Schlacht— 
felder und Heermaſſen von Holland bis Italien? Und Ihre kranke 
Reiſegefährtin! Harren wir geduldig einem günſtigern Augenblick 
entgegen. Folgen Sie mir einſtweilen in ein ſchönes Aſyl am 
Fuß der Vogeſen, wo meine — — —“ 1 

„Hab' ich,“ fiel Pauline lebhaft ein: „hab' ich Ihnen nicht 
ſchon geſagt, daß unſere herrliche Frau von Caſtelberg, während 
Sie, Herr Prevoſt, krank waren, mit Ihrer Frau Schweſter in 
Briefwechſel trat? daß Ihre Frau Schweſter von Ihrer Güte un— 
terrichtet iſt, mich und meine kranke Gefährtin nach Glarus und 
durch die Schweiz zu begleiten? daß ſie ſo gütig war, mich ein— 
zuladen, bei — — — O ich irres, vergeßliches Geſchöpf! Ver— 
zeihen Sie meine Gedankenloſigkeit. Aber wir ſprachen uns auch 
bisher ſo ſelten, und kannten uns noch einander ſo wenig!“ 

„Fräulein, Fräulein! Sie führen mich von einer ſchönen Ueber— 
raſchung in die andere!“ rief der Schützenhauptmann mit 
frohem Erſtaunen. Nun erſt gab's raſch Frage um Frage, Ant— 
wort um Antwort, während die kleine Karavane langſam ihren 
(Einzug in dem niedlichen Marktflecken Ennenda hielt. Faſt 
Haus um Haus zeugte hier von Wohlſtand und Reichthum und 
Gewerbſamkeit. Mit Wohlgefallen betrachtete das Fräulein von 
Stetten, ſoviel es noch die Abenddämmerung geſtattete, die ſaubern 
Gebäude, da und hier von kleinen Gärten umringt. 

Aber plötzlich ließ Prevoſt ihren Arm fahren, und ſtand wie 
feſtgewurzelt mit den Füßen. Denn er hatte ſeinen Namen irgend— 
woher, von oben herab, rufen hören, und die Stimme ſchien ihm 


a 


— 


wohlbekannt. Er ſtarrte Paulinen erſchrocken an. „Bin ich wahn— 
ſinnig? bin ich bezaubert?“ lallte er. 

„Flavian! biſt du es? o Flavian!“ klang abermals ein weib— 
licher Ton in feine Ohren, wie eine Stimme vom Himmel. 

Er ſchaute aufwärts. Er ſah zwiſchen Blumen, die in Ge— 
ſchirren ein Fenſter halb verhüllten, ein Geſicht hervorragen. 
„Verzeihung, Fräulein!“ ſagte er haſtig, faſt odemlos: „Gehen 
Sie, gehen Sie — — — Glarus — — — goldener Adler 
alſo — — — Ich folge bald! Im Augenblick — — —“ Er 
vollendete nicht; ſprang jählings davon, über die Brücke eines 
Bächleins, in die offene Thür einer naheſtehenden Wohnung und 
verſchwand. 5 

Pauline blickte ihm betroffen nach; zögerte unentfchloffen eine 
Weile; ſchüttelte etwas befremdet das Köpfchen, und ging, beinahe 
ein wenig unzufrieden, der übrigen Reiſegeſellſchaft entgegen. 


„Flavian, Flavian!“ ſcholl die füße, zitternde Stimme ihm 
wieder entgegen, als er die Treppe des Hauſes hinaufflog. 

„Sabine!“ jauchzte er: „meine liebe Sabine!“ und fing in 
feinen Armen die hinſinkende Schweſter auf, welche im Schmerz 
ihrer Freude die Sprache verlor. Lange hielt er ſie feſt an ſeine 
Bruſt geſchloſſen; lange hing ſie an ihm, die Arme um ſeinen 
Hals geſchlungen, das Antlitz auf ſeiner Schulter. Dann führte 
er, oder trug er ſie in ihr Zimmer, wohin ein Kammermädchen 
erſchrocken mit brennenden Kerzen voranleuchtete. Er ließ ſie auf 
ein Sofa nieder; ſich mit ihr, ohne die Umarmung aufzulöſen. 
Dem anhaltenden Schweigen folgte lautes, heftiges Weinen der 


—_ 0 — 


liebender Geſchwiſter. Erſchöpft richteten ſie ſich zwar endlich auf; 
betrachteten einander in ſtummer Zärtlichkeit, aber ſanken einander 
von Neuem ans Herz. 

„Welche Erſcheinung!“ rief er: „Du hier, meine Sabine?“ 

„Ach, Flavian, nun ſcheide nicht mehr von mir!“ ſeufzte ſie 
matt, mit thräuenſchweren Augen voller Seligkeit: „Nein, unn 
laß ich dich nicht wieder. Ich habe dich, Dank dem Allgütigen! 
Ich habe dich. Ich ſtehe nicht mehr allein. Ich habe Vater, 
Mutter, Gatten verloren; nur dich allein noch behalten. Ich 
weiß, du möchteſt eine Welt beglücken; beglücke doch nur eine 
Seele, und du Halt genug gethan!“ 

Erſt nachdem Gewalt und Uebermaß der Freude verrauſcht 
war, mit der ein ſolches Wiederfinden ſie überſtürzt hatte, be— 
ſprachen und betrachteten ſie einander ruhiger. Die ſchöne Schweſter 
ſtand von Häupten zu Füßen in Trauerkleidern vor dem Bruder 
und ſchöner, als faſt, denn je. 

„Aber Sabine,“ fragte Flavian: „durch welches verhäng- 
nißvolle Wunder biſt du hierhergeführt und zu welcher Stunde? 
Seit wann und bei wem lebſt du im Thal von Glarus? Warum 
haſt du dein ſtilles Schloß verlaſſen, und dich in die ſturmvolle 
Schweiz gewagt?“ 

„Magſt du mich denn ſo noch fragen?“ antwortete ſie: „Dei— 
netwillen flog ich hieher, dich zu empfangen, du meine Seele. 
Und es war dein guter Engel ſelbſt, die edle Frau von Diſentis, 
der ich's danke, daß ich dir entgegeneilen konute. Sie war's, die 
mir deinen erſten Brief, eingeſchlagen in den ihrigen, ſandte, 
und mich durch ihre Mittheilungen mehr beruhigte, als du ſelber 
konnteſt. Ich antwortete ſchnell dir und ihr. Sie iſt die Güte 
ſelbſt. Faſt jeden Poſttag beglückte ſie mich mit einigen, weni— 
gen Zeilen über dein Befinden, Thun und Treiben; und jeden 
Tag beſtürmt' ich ſie mit meinen Wünſchen, Fragen, Bitten, 


— 80 — 


Als ich aber vor vier Tagen dies letzte Briefchen empfing, flüchtig, 
mit zitternder Hand geſchrieben — — — Flavian, hier nimm: 
lies es ſelbſt.“ 

Er nahm das Blatt, welches folgende Worte enthielt: „Ich 
wiederhole, gnädige Frau, Ihr Herr Bruder iſt im beſten Wohl— 
befinden. Nur eine Bitte. Zwei Damen, Fremdlinge in dieſem 
Lande des Kriegsjammers und Aufruhrs, und noch dazu Oeſter— 
reicherinnen, wollen nach Frankreich flüchten, und dort Gelegen— 
heit erwarten, mit Sicherheit in ihre Heimath zu gelangen. Ver— 
zeihen Sie meine Zudringlichkeit; ich wag' es, für meine Freun⸗ 
dinnen Ihre Gaſtfreundſchaft anzurufen. Ich denke, der Herr 
Hauptmann wird die Gefälligkeit haben, ſchützender Begleiter der 
Frauenzimmer, und zugleich bei Ihnen mein Fürſprecher zu wer: 
den. Entſchuldigen Sie meine Kühnheit, u. ſ. w.“ 

„Poſtſeript. Es bleibt, hör' ich, kein anderer Weg mehr, 
als über das Gebirg nach Glarus, offen. In Kurzem müſſen fie 
fort; in dieſen letzten Tagen Aprils, oder in den erſten des Mai's.“ 

Mit Wohlgefallen ruhten die Augen der Frau von Schauen— 
ſtein auf dem leſenden Bruder. Sie umarmte und küßte ihn noch 
einmal, und erzählte ihm dann weiter: „Nun urtheile ſelber, 
Flavian! Meine ganze Seele war Jubel beim Leſen dieſer Nach— 
richt. Es war die erſte Freude ſeit dem Tode meines Mannes. 
Auf der Stelle ward angeſpannt, eingepackt; Kutſcher, Bedienter, 
Kammermädchen behielten kaum Zeit, ihr Nöthigſtes mit ſich zu 
nehmen. So ging's im raſtloſen Zug über Baſel, Zürich, hieher, 
dich zu erwarten. Seit geſtern ſchon bin ich hier.“ 

„Dies Haus, aber, Sabine, ſcheint mir kein Gaſthof zu ſein.“ 

„Ach nein; es gehört einer achtbaren Kaufmannsfrau, deren 
Mann, in Rußland etablirt, vom Baron Schauenſtein einige 
Dienſtleiſtungen genoſſen hat. Ungeduld und Langeweile plagten 
mich; ich beſuchte ſie, und nun ließ ſie mich nicht von ſich; ich 


— 281. — 


mußte bleiben. Sie wohnt hier mit ihren Töchtern. Auch für 
dich und deine Damen ſind Zimmer bereit. Reiſewagen und Die— 
nerſchaft ließ ich im goldenen Adler zu Glarus, dort wird dir 
aufgepaßt. Du ſollteſt mir nicht entwiſchen.“ 

Jetzt erſt erinnerte ſich Prevoſt wieder der Reiſegefährtinnen, 
und der Pflicht, ſie aufzuſuchen, damit ſie ſeinetwillen nicht in 
Unruhe bleiben. Doch Sabine geſtattete ihm nicht, ſie zu ver— 
laſſen; verhieß, ſie ſogleich einzuladen, und wären ſie nicht zu 
ermüdet, ſie noch dieſen Abend, in ihrem Reiſewagen, nach 
Ennenda bringen zu laſſen. Sie flog davon, ohne des Bruders 
Einwendungen anzuhören, und kehrte, nach einer Weile, in 
Wonne lebend, zurück. 

„Alles beſorgt und abgethan!“ rief ſie: „Nun Friede mit dir! 
Jetzt iſt das Fragen an mir, das Erzählen an dir.“ Und als— 
bald begann ſie damit, während das Kammermädchen für Beide 
den Tiſch deckte und das Nachtmahl auftrug. Ein paar Stunden 
verſchwanden im Plaudern der Geſchwiſter, wie Minuten. Flavian 
konnte nicht umſtändlich genug erzählen. Sie fragte, bei ſeiner 
abenteuerlichen Geſchichte, vorwärts, rückwärts, ſchalt ihn, küßte 
ihn; ſprach von des Barons von Schauenſtein letzten Stunden, 
ſeinem Teſtament, dazwiſchen; forſchte ſorgfältig über Charakter 
und Aeußeres des Fräuleins von Stetten, über deren eigentliche 
Verhältniſſe zum Fräulein von Marmels, über deren kranke Reiſe— 
gefährtin, über Haushaltung, Phyſiognomie und gewöhnliche Toi— 
lette der Frau von Caſtelberg und andere Wichtigkeiten der Art 
nach. 

Da meldete das Kammermädchen einen Boten aus Glarus, 
der aber ſogleich hinter der Anmelderin eintrat und ſie nicht aus— 
reden ließ. „Wozu doch der Kram?“ rief er: „Ich bin's ja 
nur, ich!“ 

„Ha, Uli, du?“ ſagte Flavian, und ſtellte ihn ſeiner 


Schweſter vor, indem er ihr den treuen Gefährten pries, der ihn 
in den Stunden größter Gefahr nie verlaſſen: „Du kennſt ja den 
Braven ſchon aus meinen Brieſen,“ fügte er hinzu: „Wenn er 
will, ſoll er fein Lebelang bei uns bleiben. Ich bin fein Schuld— 
ner; er iſt mein Freund und die ehrlichſte Haut von der Welt.“ 

Sein ſtand bei dieſer Lobrede verwirrt, das Geſicht ſchämig 
ins Lachen verzogen, da; noch mehr aber, als Frau von Schauen— 
ſtein ſeine knollige Hand mit ihren zarten Fingern berührte und 
ihn in den zärtlichſten Ausdrücken begrüßte. „Ach, nein doch!“ 
ließ er ſich endlich vernehmen: „Glaubt nur kaum die Hälfte von 
dem, was der Hauptmann ſagt. Es iſt nicht halb ſo arg, gnä— 
diges Fräulein, oder auch mit allem Reſpekt zu melden, gnädige 
Frau, oder was Ihr ſeid. Der Herr Hauptmann will mich am 
Ende gar zu ſeines Gleichen machen. Das ſchickt ſich aber zu— 
ſammen, wie Karrenſalb' und Roſoli. Ich weiß am beſten, wer 
in meiner Haut ſteckt, und daß ich etwas nach der Kaſerne und 
dem Kuhſtall ſchmecke. Alſo fort damit und nehmt's, wie ich's 
geben kann.“ 

„Was bringſt du mir, Uli?“ unterbrach ihn Flavian: „Einen 
Brief?“ 

„Zwei für Einen!“ lautete die Antwort: „Da lief ich blind— 
lings im Zwielicht mit den Andern nach dem Ort und vermiſſe 
Euch erſt, als wir vor dem Wirthshaus zun goldenen Adler ſtill 
hielten. Das Plappermaul, das Thereſel, ließ mich nicht um— 
ſchauen. Dann mußt' ich zu Nacht ſpeiſen; dann hielt mich Fräu— 
lein Stetten feſt, weil ſie, für einen Zettel der gnädigen Frau 
hier, einen andern Zettel zu ſchicken habe. Dann, als ich mei— 
nes Wegs ging, kam wieder das Thereſel draußen vor der Thür 
und gab mir dieſen Brief für Euch, Herr Hauptmann. Ich 
möchte nur wiſſen, was in aller Welt das Ding mit Euch zu 
korreſpondiren habe?“ 


Zee — 


Sabine nahm das Billet, las es und fagte: „Deine Reiſe— 
gefährtin, Flavian, lehnt für heute unſere Einladung ab; will 
uns morgen vor Mittag beſuchen. Wir aber, denk' ich, werden 
ihr zuvorkommen und ſie mit uns nehmen.“ 

„Und ich, was hab' ich da?“ rief Flavian, indem er die 
Adreſſe des empfangenen Briefes las: „Al illustrissimo, onora- 
tissimo Signore Flaviano. — Wer kennt mich denn hier zu Laude? 
Wer, ſagſt du, Uli, gab dir den Brief? Thereſe?“ 

„Nun, Herr, wenn der Wiſch nicht von ihr kömmt, denn eine 
Italienerin iſt ſie doch nicht, ſo iſt's, beim Donner, von dem 
Kerl, der bei ihr im Dunkeln vor der Thür ſtand, und in ſeinem 
Rock mit Treſſenkragen einem Bedienten aufs Haar glich, ſoviel 
ich merken konnte. Das vorwitzige Ding hat es, wie alle Mädchen, 
und Kameradſchaft in aller Herren Länder.“ 

Prevoſt riß den verſiegelten Zettel auf, und las einige ita— 
lieniſche Zeilen, folgenden Inhalts: „Mein Herr, es wird Ihnen 
meine Handſchrift ſagen, wer ich bin. Wenn wir auch feindſelig 
aus einander traten, hab' ich Sie doch immer, als Mann von 
Ehre geachtet. Ich erwarte Sie morgen, um mich mit Ihnen 
zu verſtändigen, oder ich ſuche Sie, doch ungern, in Ennenda auf. 
Mein Logis: goldener Adler in Glarus; Zimmer Nr. 12. — M.“ 

Fragend blickte Sabine ihren Bruder an und ſprach: „Von 
wem geht dir der Brief zu? Der ſcheint Händel zu ſuchen. Es 
klingt halb und halb, wie Herausforderung.“ 

„Das geht mir zu hoch!“ äußerte der Schützenhauptmann: 
„Ich kenne weder Handſchrift noch Mann. Sahſt du andere Fremde 
im Gaſthauſe, Uli?“ 

„Eben Niemand,“ erwiederte Goin: „als den ſchäbigen Be— 
dienten, und dann zwei franzöſiſche Offiziere auf der Treppe, denen 
ich nicht Luſt hatte, lange in die Augen zu ſchauen.“ 

„Ich habe, meines Erinnerns, mit keinem Italiener viel zu 


nn 


ſchaffen gehabt,“ ſagte Flavian: „oder es müßte denn Malariva 
von den Todten auferſtanden ſein und wieder hier herumſpuken.“ 

„Nein, nein, fürchtet nichts, Herr Hauptmann!“ fiel Uli 
laut lachend ein: „Wen man einmal auf dem Rücken zum Haus 
hinausgetragen hat, kehrt nicht auf eigenen Beinen wieder um. 
Und was? Herausforderung? Ja, das klingt, wenn man endlich 
denkt Ruhe zu haben, wohl häßlich genug, wie des Pfauen Lied 
vor Regenwetter. Aber, beim Donner, Herr Hauptmann, wir 
wollen's erwarten; wir Beide ſind auch noch da!“ 

Man rieth hin und her; las die räthſelhafte Aufforderung 
wiederholt; errieth nichts und ließ es dabei bewenden. 


50. 
Ende gad, 2X DIESE ar 


Es goß, andern Tages, der ſchönſte Maimorgen Licht, Luft 
und Leben aus vollen Schaalen über die Landſchaft Die Thal— 
welt von Glarus glich einem ungeheuern Blumenkorbe, mit Blü— 
ten aller Farben zwiſchen grünen Laubzweigen gefüllt, und vom 
Gebirgskranz wunderbar umfangen. Früh ſchon ſaßen Flavian und 
Sabine wieder beiſammen, um einander früh zu haben und ſich 
zu überzeugen, der vergangene Abend ſei kein berauſchender Traum 
geweſen. Unerſättlich in neuen Fragen, Erklärungen und Ent— 
würfen für die nächſte Zukunft verflog die Zeit zu ſchnell und 
mahnte die Stunde zum Aufbruch nach dem nahen Hauptort des 
Landes. 

Sabine ſprang auf, ihr leichtes Frühgewand mit zierlichen 
Trauerkleidern zu vertauſchen. Dann hing ſie ſich an Flavians Arm, 
und wandelte, vom kühlen Anhauch des Morgens geküßt, mit ihm 
durch die Wieſen den ſchattigen Baumgang entlang, der von 


— u — 


Ennenda gen Glarus führt. Doch umſonſt faltete ſich dem plau— 
dernden Pärchen das landſchaftliche Prachtbild mit allem Zauber 
der Beleuchtung aus einander; dort einſame Hütten unter blühen— 
den Gebüſchen halb verloren; hier in Wieſen am Linthſtrom, unter 
Glockenklang irrende Heerden; rings um, wie im Dunſt verfloſſen, 
die nahen Hochalpen, von der Felſenwand des Schilt, und den 
lichtgrünen Hängen des Frohnalpſtocks, und dem von tauſendjäh— 
rigen Wettern zerriſſenen Glärniſch an, bis zum dämmernden 
Hintergrund, wo aus falbem Duft die Eisfirnen des Tödi maje— 
ſtätiſch emporwuchſen. Die Luſtwandler achteten des Paradieſes 
draußen nicht; ſie trugen es in ſich. Sie bemerkten ſelbſt ein 
Frauenzimmer nicht, welches, begleitet von einem Lohnbedienten, 
ihnen grüßend entgegentrat. Es war Pauline von Stetten. 

Die jungen Damen hatten ſich, während der erſten Höflich— 
keiten, mit dem Spähblick weiblicher Neugier ſchnell überſchaut 
und einander Gefallen abgewonnen. Die Fremdheit zwiſchen ihnen 
verlief ſich bald in trauliche Geſelligkeit, und im freundlichen 
Zwiſt, ob die Eine die Andere nach Ennenda oder Glarus zurück— 
zubegleiten habe. Doch die Gründe Sabinens überwogen, weil 
ſie auch mit Paulinens kranker Landsmännin Bekanntſchaft anzu— 
knüpfen wünſchte, und Flavian noch dazu ein Geſchäft mit einem 
namenloſen Jemand abzuthun habe, um ihnen dann frei angehören 
zu können. 

„Aber, beſtes Fräulein,“ fragte die Frau von Schauen— 
ſtein nebenbei mit einer faſt ängſtlichen, oder zürnenden Miene: 
„was für ein ſonderbarer Fremdling wohnt in Ihrem Gaſthofe? 
Ein Italiener, der ſpät Abends noch geſtern meinem Bruder eine 
Art Cartel zuſchickte! Wie konnte er ſo geſchwind die Ankunft 
deſſelben erfahren? Vermuthlich ſah er Sie an der Table d'Hote; 
vielleicht erwähnten Sie zufällig meines Bruders?“ 

„Nicht ohne Befremden antwortete Fräulein von Stetten; 


— 286 — 


„Wohl befand ich mich beim Nachteſſen in Geſellſchaft einiger 
Herren, unter denen zwei franzöſiſche Offiziere ſaßen. Das Ge— 
ſpräch berührte auch die Wege über das Gebirg von Diſentis, 
und bei dieſer Gelegenheit mag ich auch dankbar des Herrn Prevoſt 
erwähnt haben. Allein ich erinnere mich nicht, daß Jemand bei 
deſſen Namen beſondere Aufmerkſamkeit geäußert hätte. Wirklich, 
ein Fehdebrief, ſagen Sie?“ 

„Ganz fo geſtaltet!“ entgegnete Sabine: „Vielleicht leſen 
Sie italieniſch? Gib ihn, Flavian, gib ihn!“ 

Pauline nahm den Zettel, üuͤberflog mit raſchem Blick deſſen 
Inhalt, lächelnd, kopfſchüttelnd, gab dann aber den Zettel ohne 
den leiſeſten Zug von Beſorglichkeit in Flavians Hand zurück und 
ſagte: „Allerdings, ein närriſches Schreiben. Ich weiß ſelbſt 
nicht, was dazu jagen? Aber — — —“ Hier ſtockte fie ein paar 
Augenblicke; dann fuhr ſie fort: „Aber, lieber Hauptmann, thun 
Sie die Sache möͤglichſt ſchnell ab, damit Sie uns nachher unge— 
ſtört angehören. Gehen Sie voran; ich bitte. Wir folgen Ihnen 
gemächlich nach, und bis zu unſerer Ankunft ſind Sie der Ge— 
ſchichte los.“ Hier winkte ſie heimlich mit den Augen, beinahe 
ſchelmiſch lächelnd der Frau von Schauenſtein zu, als forderte ſie 
dieſe zur Unterſtützung der Bitte auf. 

„Das Fräulein hat vollkommen Recht!“ ſtimmte Sabine ein, 
plötzlich durch dieſen Wink in Einverſtändniß mit der neuen Be— 
kanntin geſetzt: „Eile voran, lieber Flavian. Fertige den Men— 
ſchen kurz ab.“ 

„Und vergeſſen Sie nicht, meiner Clara einen Beſuch zu 
machen!“ fügte Pauline hinzu: „Bereiten Sie ſie auf die An— 
kunft Ihrer Frau Schweſter vor. Sie wird ſich Ihrer Erſcheinung 
freuen.“ 

„Wird ſie für mich ſichtbar ſein?“ fragte Flavian: „Haben 
die Anſtrengungen der Bergreiſe keine Nachwehen hinterlaſſen?“ 


— 287 


„Seit vielen Wochen ſah ich das gute Kind nicht fo heiter, 
wie dieſen Morgen,“ erwiederte das Fräulein: „Gurgel und 
Schlund und Multärs und wie die entſetzlichen Namen und Stellen 
des Berges alleſammt heißen mögen, haben an ihr eine wahre 
Wunderkur gethan.“ 

„So gehorch' ich mit Vergnügen!“ rief Flavian und ent— 
fernte ſich mit hurtigen Schritten, während beide Frauenzimmer 
anfangs langſam nachgingen, dann in lebhafter Unterhaltung ſtill— 
ſtanden und des Gehens ganz vergaßen. Fräulein Paulinens be— 
wegliches Spiel der Arme und Hände verrieth Jedem, der ſie 
von weitem ſah, wichtige Mittheilungen, ſowie Sabinens Stel— 
lungen, ihr gegenüber, den Ausdruck großer Verwunderung an— 
deuteten. Der Schützenhauptmann, welcher, in ziemlicher Ent— 
fernung, noch einmal nach ihnen zurückblickte, blieb ſtehen und 
ſah mit Erſtaunen, wie ſeine Schweſter das Fräulein von Stetten 
an ihre Bruſt zog und beide lange Zeit in der Umarmung ver— 
harrten. 

Das dünkte ihm doch ein zu raſcher Freundſchaftsbund zwiſchen 
Perſonen, die einander kaum ſeit einer halben Stunde kannten. 
Er eilte indeſſen, ohne weiteres Zögern, und unter mancherlei 
Gedanken, dem ſtattlichen Hauptort der kleinen Alpenrepublik und 
dem Gaſthof zum goldenen Adler zu. Hier traf er an der Pforte 
des Hauſes die Kammerjungfrau Paulinens, im fröhlichen Ge— 
ſpräch mit Bedienten und Aufwärtern. Er richtete vorläufig an 
einen derſelben ſeine Frage nach dem Herrn im Zimmer No. 12; 
dann an das plauderluſtige Mädchen nach dem Befinden des Fräu— 
leins Clara. Thereſe aber äugelte und lächelte ihn ſchalkhaft an, 
empfahl ſich mit behendem Knix und den Worten: „Ich weiß, 
ich weiß, wen Sie ſuchen. Nur ein Augenblickchen Geduld, Herr 
Hauptmann, ich werde Sie melden. Folgen Sir mir gefälligſt. 
Die Zofe tanzte mit leichten Füßen die Treppe hinauf und ver— 


— 288 — 


ſchwand. Flavian, der ihr erwartungsvoll nachgefolgt war, ſah 
ſie wenige Minuten ſpäter aus einem der Zimmer zurückkehren. 
Sie ließ es offen, und mit den Fingern dahin deutend, ſagte ſie: 
„Hier wohnt gewiß der Herr, den Sie ſuchen. Treten Sie ein.“ 

Er trat in ein geräumiges, niedliches Zimmer. Die Thüre ſchloß 
ſich hinter ihm. Am Fenſter aber ſtand gelehnt eine Dame in 
Trauer gekleidet, wie in tiefen Gedanken, ihn kaum bemerkend, 
mit geſenktem Haupt und vor ſich hingefalteten, niederhangenden 
Händen. Ein ſchwarzer Kreppflor ſchwebte vom Scheitel bis zu 
den Ferſen um die Geſtalt. 

Verlegen und nichts weniger, als mit dem naſeweiſen Mäd— 
chen zufrieden, das ſich's nicht übel nahm, ein Späßchen zu treiben, 
blieb der Hauptmann ſtehen; bat um Verzeihung, durch Irrthum 
hieher gerathen zu ſein und wandte ſich wieder der Thüre ent— 
gegen, als er hinter ſich eine leiſe, zitternde Stimme hörte: „Sie 
find bei der geneſenden Clara.“ 

„Clara?“ wiederholte Flavian mit Erſtaunen und traute 
ſeinen Sinnen nicht. Er wagte keinen Schritt näher zu treten, un— 
gewiß, ob etwa ein fade begonnener Scherz des Kammermädchens 
von einer Gehülfin hier weiter geſponnen werden ſollte. Aber auf 
einem Tiſchchen unter dem Spiegel ſtand in einem Glaſe Waſſers 
ein grüner Rhododendernzweig, dem ähnlich, welchen er den Tag 
zuvor auf dem Grath des Panixer-Paſſes für die Kranke gepflückt. 

Die Trauernde ſchien ſeinen Blick auf das Glas zu bemerken 
und ſagte mit halblauter, weicher Stimme: „Die Blätter leben! 
Die Blätter grünen noch immer!“ 

Flavian, wie verſteinert beim Klang dieſer Stimme, ſtarrte 
erblaſſend und mit verlornem Odem die Erſcheinung an. 

„Sie erwarteten eine Andere!“ hob dieſe mit etwas feſterm 
Tone wieder an: „Meine Handſchrift iſt Ihnen, ſcheint es, fremd 
geworden; — — — vielleicht auch die Perſon ſelbſt. Sei es! 


— 289 — 


ſei es, wenn mich Pauline täuſchen konnte. Ich habe ſchwer ge— 
fehlt wider Sie, Herr Prevoſt; ſo verachten Sie mich. Ich will 
büßen. Ich allein bin in Wien die Schuldige geworden, und aber: 
mals nun Ihre Schuldnerin, der Sie mich und meine Freundin 
aus den Gräueln Ihres Vaterlandes gerettet haben. — Aber Sie 
wiſſen nun das Blendwerk, mit dem ich hintergangen ward: wiſſen, 
wie ich hieher gerathen bin und warum.“ 

Hier ſchritt die Verhüllte mit edler Haltung durch das Zimmer 
gegen ihn, warf den ſchwarzen Kreppflor hinter ſich, reichte ihm 
ein Medaillon mit ſchwerer, goldener Kette, und ſprach: „Hier 
die Roſe von Diſentis zurück, wenn Sie mich noch verdammen 
können. Sprechen Sie das Urtheil!“ 

Das Fräulein von Marmels ſtand vor ihm, in vollendeter Jung— 
fräulichkeit ſchöner, denn je; das Geſicht aber noch mit denſelben 
kindlichzarten, ſeelenreichen Zügen, nur bläſſer und die Augen- 
lieder, wie von eben erſt geweinten Thränen geröthet. Einen 
Augenblick nur hatte fie den ſtolzen Muth gehabt, ihn anzuſehen: 
dann die ausgeſtreckte Hand finken laſſen und das Haupt, wie ver— 
zagt, auf die Bruſt geneigt. Wie eine Sünderin ſtand ſie ſtumm 
da, des Richterſpruchs gewärtig. 

Aber auch er, wie von Feerei umfangen, ſtand gelähmt und 
ſprachlos. Unter ſeligen Schrecken ſchlug ihm in der Bruſt das 
Herz, wie zum Zerſprengen gewaltſam; er faßte keinen Gedanken, 
denn ihrer durchflogen zahlloſe zugleich fein Gehirn aufleuchtend 
und erlöſchend. Es flirrte vor ſeinen Augen; er ſah und ſah nicht. 
Es war dieſelbe Geſtalt, die ihm in feinen Wundfſtebern einft 
traumartig erſchienen war; und der Traum war noch einmal ba. 

„Elfriede!“ — Er liſpelte den Namen faſt bewußtlos, ohne 
einen der ſtarren Züge des Geſichts zu ändern. Sie antwortete 
nicht. 

& „Elfriede!“ wiederholte er. Seine Stimme war ein Seufzer. 
Zſch. Nov. XI. 19 


er  w- 


Aber in dieſem Seufzer ward es lichter um ihn und in ihm. Er 
nahte ſich langſam der Furchtſamen, die, ein Bild der Demuth, 
wie in ſich zuſammengeſunken, ſchweigend und unbeweglich vor 
ihm blieb. Er ergriff ihre Hand und drückte ſie bebend an ſeine 
Lippen. Tiefere und ſchnellere Odemzüge verkündeten das in ihm 
zugleich entbundene höchſte Weh und höchſte Entzücken. Er zog 
die kalte, zarte Hand an ſich. Elfriede blickte mit ſchwimmenden 
Augen bang und wehmüthig zu ihm auf und ſank ihm laut weinend 
entgegen. 

Als das Bewußtſein Beider wieder zurückkehrte, fanden ſie ſich 
Hand in Hand, Stirn an Stirn gelehnt, auf einem Sofa des 
Zimmers beiſammen ſitzend. In ſtummer Zärtlichkeit waren Aug 
in Auge, Seele in Seele verloren, das Unausſprechliche ſagend 
und verſtehend. Sie wollten Worte verſuchen, und konnten ſich 
nur leiſe ihre Namen zuhauchen. Aber in dieſem Namen lag der 
ganze Himmel der Gegenwart und aller Gram der Vergangenheit. 

„O, Gott verzeihe dem Seelenmörder Malariva!“ liſpelte ſie 
ſchmerzlich. 

„Elfriede, entweihe nie mit dem Namen deine Lippen!“ flüſterte 
er zurück, und berührte mit ſeinen Lippen die ihrigen, als wollt' 
er ſie wieder heiligen. 

„Flavian!“ lallte ſie, und legte ihren Arm ſchüchtern um ihn: 
„Du haſt vergeben?“ 

„Du alſo, du Elfriede, warſt dennoch der Engel, der mir am 
Krankenlager erſchien?“ 

„Flavian, ich war's, dich noch einmal zu ſehen; und ſchwehte 
da zwiſchen Leben und Tod.“ 

„O du Unbarmherzige!“ ſchalt er leiſe und zog ſie enger an 
ſeine Bruſt: „Warum verbargſt du dich, du meine ewige Liebe, 
bis zu dieſer Stunde vor mir?“ 

„Zürne nicht mehr, Flavian, zürne nicht!“ ſchmeichelte fie ihn 


— 291 — 


an: „Wenn auch noch Zweifel mich einſchüchtern — aber, mein 
Herz glaubte ja an dich.“ 

„Die ſchlaue, die böſe Pauline!“ ſprach er nach kurzer Pauſe, 
über ſich ſelbſt lächelnd: „Ein fo frommes Geſicht, und mich fo 
arg und lange täuſchen!“ 

„Segne, Flavian, ſegne mit mir die Himmliſchgute, die Starke, 
die Kluge, die Treue!“ 

Lange flüſterten Beide ſo mit einander in zuſammenhangsloſen 
Wechſelreden. Liebkoſungen unterbrachen die Fragen, Fragen die 
Liebkoſungen. 

Es ward draußen leiſ' an die Thür gepocht. Die Glücklichen 
hörten es nicht. Still ward die Thür geöffnet; ſie ſahen es nicht. 
Die Eingetretenen näherten ſich dem Paar. Frau von Schauen— 
ſtein heftete ihre Blicke neugierig und ängſtlich-verlegen auf die 
ſchöne Fremde, und wagte kaum zu athmen. Aber das Fräulein 
von Stetten ſchaute mit frohblitzenden Augen auf die Seligen 
nieder, dann neigte ſie ſich mit dem Lächeln des Muthwillens und 
flüſterte halblaut in Elfriedens Ohr: „Ich ſehe! ich ſehe! — 
Vollendete Verſöhnung!“ 

Elfriede, beſtürzt und verſchämt, ſprang auf, umſchlang die 
Freundin und verbarg am Buſen derſelben ihr glühendes Antlitz. 
Flavian umarmte ſeine Schweſter küſſend und rief: „Sabine, nun 
iſt mein Leben mir wieder gegeben! Aber,“ fuhr er ſchalkhaft 
auf Paulinen zeigend fort: „wahre dich vor dieſer böſen Fee! 
Sie konnt' es mir fo lange vorenthalten!“ — Er nahm dann 
Elfrieden aus den Armen der ſchelmiſch-triumphirenden Pauline, 
führte ſie der Frau von Schauenſtein zu und ſprach: „Hier, 
Schweſter, deine einzige Nebenbuhlerin in meinem Herzen, — — 
deine Schweſter.“ 

Das Fräulein verneigte ſich erröthend gegen die junge Wittwe. 
Beide beobachteten ſich einen Augenblick flüchtig mit Wohlgefallen, 


— 292 — 


jede überraſcht von der Anmuth der andern; dann umſchloſſen fie 
fich einander ſchweigend; trennten ſich mit feuchten Augen, und be- 
trachteten ſich abermals in angenehmer gegenſeitiger Bewunderung. 

Die feierliche Stille unterbrach zuerſt das Fräulein von Stetten 
und fragte: „Soll ich allein hier ſtumme Rolle ſpielen? Das ſei 
ferne! Ich will bei dieſen zwei lieben und liebenden Verwaiſeten 
an Mutter Statt ſein.“ Sie ergriff Flavians und Elfriedens Hand 
und legte ſie in einander. Flavian zog beſeligt die Liebſelige zu 
ſich und ſenkte, mit einem Blick, der etwas zu fragen ſchien, ſeine 
Stirn gegen die ihrige. Da hob Pauline das Medaillon vom 
Sofa; warf die ſchwere Goldkette um beider Nacken; küßte Beide 
und ſprach oder ſtammelte in tiefer Rührung: „So bleibt auf 
ewig durch die Roſe von Diſentis verbunden!“ — 

„Amen!“ liſpelte Sabine ſtill weinend. 

Hier können wir ohne Gefahr die Geſchichte abbrechen, deren 
Ausgang Jeder erräth. 


Die Liebe der Ausgewanderten. 


Aus den Papieren des Herrn Pfarrers D' zu WB’ 


Ich kam an einem ſchönen Sommerabend (es war im Jahre 1793, 
da ich noch Kapellan im hiefigen Städtchen war) vom Beſuch 
meines nun verſtorbenen Freundes, des Pfarrers im benachbarten 
Dorfe, zurück. Vor mir auf der Landſtraße ging ein Wanders— 
mann, den ich anfangs für einen Handwerksburſchen hielt. Da 
er ſehr langſame Schritte machte und mit dem einen Fuß hinkte, 
kam ich ihm bald näher, bot ihm im Vorbeigehen einen guten 
Abend und ſagte: „Landsmann, Er hat mit kranken Füßen übel 
wandern.“ Er zuckte die Achſeln und murmelte einige Worte, die 
ich nicht verſtand. 

Vermuthlich erkannte er aus meiner Kleidung meinen geiſt— 
lichen Stand. Er rief mir auf franzöſiſch nach, den Namen des 
vor uns liegenden Städtchens zu wiſſen. Ich blieb ſtehen, bis er 
mich erreichte, und ließ mich in ein Geſpräch mit ihm ein. Nun 
ſah ich wohl aus der Feinheit ſeiner beſtäubten Kleidung und deren 
Schnitt, aus Sprache, Geſichtszügen, aus Allem, daß er einer 
von den zahlloſen Unglücklichen ſei, welche durch die franzöſiſche 
Staatsumwälzung aus ihrem Vaterlande vertrieben, auf deutſchem 


— ARE 


Boden eine gaftfreundliche Zuflucht ſuchten. Er erzählte mir, daß 
er erſt ſeit vier Wochen glücklich aus Frankreich entkommen ſei; 
daß er nur durch ein wahres Wunder ſich aus dem Gefängniß und 
vor der ihm drohenden Guillotine gerettet habe; daß er entſchloſ— 
ſen geweſen ſei, nach Hamburg zu gehen, in der Hoffnung, dort 
vielleicht Bekannte zu finden, — nun aber auch dieſen Vorſatz 
aufgegeben habe, da er an Kräften erſchöpft, ſeine Geſundheit 
zerrüttet, ſein Vermögen, welches er mit ſich führe, gering ſei. 
Vorläufig wolle er in unſerm Städtchen ausruhen, weil er ſich 
einen feiner Füße wund gegangen, und unmöglich weiter könne. 
Nebenbei erfuhr ich, daß er Laſalle heiße, ſich irgendwo, falls 
man ihn dulden werde, wohlfeil einrichten und die Schickſale ſeines 
Vaterlandes abwarten wolle. 

Mir gefiel der junge Mann; er mochte ungefähr ſiebenund— 
zwanzig Jahre alt ſein. Sein blaſſes, ſtilles Leiden verrathendes 
Geſicht hatte ſehr feine, ungemein angenehme Züge. Was er 
ſprach, verrieth viel Bildung eines Geiſtes, den kein Unglück 
beugen konnte, und deſſen Feuer ſich aus dem Glanz feiner be— 
redten Blicke verkündete. Ich begleitete ihn langſam zur Stadt, 
und ſagte ihm, er werde daſelbſt einen Unglücksgefährten und 
Landsmann finden, der ſchon ſeit einigen Jahren bei uns ſehr 
ruhig lebe, Buzet heiße, vermuthlich Arzt ſei und ſich die Zeit 
mit Pflanzenſammeln verkürze. Ich führte ihn in ein Wirthshaus 
des Städtchens, und verließ ihn mit der Verficherung, daß ich mir 
ein Vergnügen daraus machen würde, ihm nützlich zu ſein. 

Herr Laſalle kam den andern Tag zu mir und erklärte, er 
ſei geſonnen, feinen einsweiligen Aufenthalt in unſerm Städtchen, 
zu nehmen; er bat mich, ſein Dolmetſcher zu ſein, weil er der 
deutſchen Sprache unkundig wäre. Wir gingen mit einander auf 
das Oberamt; die Aufenthaltsbewilligung fand keine Schwierig— 
feit. In der Vorſtadt bei einer betagten Wittwe fand ſich ein 


leeres Stübchen, das er miethete; auch verſorgte ihn die Wirthin 
um eln Billiges mit einfacher Koſt. 


Es war merkwürdig, unſere Ausgewanderten zu ſehen. Ich 
erwartete, fie würden einander ſogleich aufſuchen. Nichts weni— 
ger als das. Es vergingen acht Tage, ehe ſich Herr Laſalle 
entſchloß, den Herrn Buzet zu beſuchen, der mit feiner Tochter 
und Magd unweit der Stadt in einem kleinen Gartenhauſe am 
Fuß der Rebberge wohnte, das er gemiethet hatte. Herr Buzet 
erwiederte die Höflichkeit, und von da an kamen ſie nicht wieder 
zuſammen, wenn ſie ſich nicht von ungefähr auf einſamen Luſt— 
gängen oder dann und waͤnn bei mir auf dem Zimmer trafen. 
Denn ich hatte das Glück, von beiden geſucht und als Freund 
behandelt zu werden. 

Herr Buzet war ein alter, grämlicher Herr, der ſich ſeit 
Jahr und Tag zu einer gewiſſen Regelmäßigkeit der Lebensweiſe 
gewöhnt hatte. Er ging mit Niemandem um, als mir; verſäumte 
keine Meſſe, keine Predigt; trieb ſich bei leidlichem Wetter in 
Wäldern und Feldern herum, Kräuter zu ſammeln; im Winter 
ordnete und beſchrieb er fie. Herr Laſalle hingegen gab ſich 
ſogleich mit Erlernung der deutſchen Sprache ab; ich half ihm 
dazu durch mündlichen Unterricht, durch Leihung von Büchern; 
andere kaufte er ſich ſelbſt. Nach einem halben Jahr konnte er 
ſich ſchon ziemlich gut ausdrücken und mit Hülfe des Wörterbuchs 
las er nicht nur Zeitungen, ſondern auch leichte deutſche Schriſt— 
fieller. Es mangelte im Städtchen ein franzöſiſcher Sprachlehrer; 
verſchiedene Bürger wünſchten ihren Kindern franzöſiſchen Unter— 
richt, und Laſalle war fogleich bereit, ihn zu ertheilen. Er 
ging von Haus zu Haus; ſetzte für die Stunden, welche er gab, 
feinen Preis ſeſt; nahm fo viel oder wenig, als man ihm bot, 


— 296 — 


und war durch ſeine Gefälligkeit allen Bürgern lleb. Man trug 
ihm ſogar an der Stadtſchule eine erledigte Lehrerſtelle an, die er 
aber ausſchlug, da er ſich noch immer mit einer nahen Rlickfehr 
in ſein Vaterland ſchmeichelte. 

Kam er zu mir, war gewöhnlich die Vergleichung franzöfiſcher 
und deutſcher Schriftſteller oder des Geiſtes beider Sprachen Ge: 
genſtand der Unterhaltung. Er gewann Hochachtung für den Reich⸗ 
thum und die Kraft und die Gelenkſamkeit unſerer Mutterſprache, 
und räumte ihr darin ſogar den Vorzug vor der ſeinigen ein, die 
nur durch Wohllaut allein und die Einfalt und Gefälligkeit ihrer 
ſtrengen Formen den Preis verdienen könne, und wie er ſagte, 
durch ihre in ſich abgeſchloſſene Vollendung. 

„Ihre deutſche Sprache!“ ſagte er, „iſt noch keine reife 
Sprache; ſie iſt in ſich ſelber noch ungewiß, unbeſtimmt, nicht 
feſt geordnet. Sie ſchwankt noch in ihren Bedeutungen, wie in 
ihrer Rechtſchreibung. Sie überladet ſich mit Wörtern fremder 
Zungen, und baut bald ihre Redensarten nach lateiniſcher, bald 
nach franzöſiſcher Art. Sie haben unter ihren Schriftſtellern 
vortreffliche Geiſter, die jedem andern Volke Ehre gemacht haben 
würden; aber dieſe Geiſter vergaßen das Weſentlichſte für ihren 
eigenen Ruhm, eine reine deutſche Sprache zu bilden. Sie fehrie: 
ben in einem wunderlichen Miſchmaſch von Wörtern, die eben fo 
oft franzöſiſch, griechiſch, italieniſch, lateiniſch und engliſch, als 
deutſch find. Ihre Göthe's, Ihre Wielande, Ihre Schiller, 
Ihre Herder werden früh veralten mit der noch allzuwandelbaren 
Sprache, und nach hundert Jahren wird man ſie wieder in ein 
anderes Deutſch überfegen müſſen. Sie gleichen ſchönen weiblichen 
Geſtalten, die ſich nicht geſchmackvoll und einfach zu kleiden wuß⸗ 
ten, als ſie ſich malen ließen, ſondern ſich in bunter, ungeſtalteter 
Kleldertracht, mit abenteuerlich aufgethürmtem Kopfputz den Ur⸗ 
enkelinnen zum Spott darſtellten. Alles was rein und ſich felber 


3 —- 


gemäß ift, erregt bleibendes Wohlgefallen; und jede Sprache iſt 
ſchön, wenn ſie, ihrer Natur und Eigenthümlichkeit getreu, nur 
dieſe entfaltet, nicht fremden Putz. Die deutſche Sprache aber iſt 
nicht ſchön, ſondern krank; ihre Fülle iſt keine ſtrotzende Geſund⸗ 
heit, ſondern offenbare Waſſerſucht. Hilf Himmel, wenn Rouſ⸗ 
ſeau, Voltaire, Diderot aus Schönthuerei und Nachläſſig— 
keit deutſche, italieniſche und engliſche Wörter in ihre Schriften 
gemengt hätten, wer würde ſie heut noch leſen mögen? Wer 
würde die herrlichen Geiſtesgebilde in dem bunten, geſchmackloſen, 
querfinnigen Gewande lieben können? Ihre deutſchen Schriftſteller, 
erhaben über dem gemeinen Volkshaufen, vergaßen ihre eigene 
Würde und ließen ſich in der Sprache zum gemeinen Haufen 
nleder, ſtatt dieſen zu ſich zu erheben und ihn erſt ſprechen zu 
lehren.“ 


Beſuchte mich der alte Buzet, war ſtatt der Sprachkunde das 
Treiben und Weſen der Völker und Fürſten der Inhalt unſerer 
Geſpräche. Buzet war ein treuer Anhänger ſeines königlichen 
Hauſes, und hielt alle Throne Europens, alle bürgerliche Ord— 
nungen verloren, wenn der Thron der Bourbonen in Frankreich 
nicht wieder hergeſtellt würde. 

Traf es ſich, daß auch Laſalle dazu kam, wenn wir mit 
einander kannegießerten, ſchien Buzet in feinen Aeußerungen be: 
hutſamer zu ſein. Laſalle äußerte ſich ſelten, ſo lebhaft er auch 
ſonſt war, in Buzets Gegenwart mit voller Unbefangenheit über 
dle franzöfiſchen Geſchäfte. Beide aber ſtimmten darin überein, 
daß der gegenwärtige unſelige Zuſtand ihres Vaterlandes von keiner 
langen Dauer ſein könne. Jeder hoffte das Beſte. 

An einem Maiabend waren beide im Zimmer bei mir, als die 
Zeitung kam. Ich las ihnen daraus das Bedeutendſte; auch die 


are 


— 298 — 


Hinrichtung der unglücklichen Eliſabeth von Bourbon, der 
Schweſter des enthaupteten Königs Ludwig XVI. Der alte Buzet 
erblaßte; Laſalle runzelte düſter die Stirn. 

„O die Satane!“ ſchrie Buzet endlich mit krampfhaft geball— 
ten, zum Himmel gereckten Fäuſten: „Lebt denn noch ein Richter 
dort oben? Oder iſt das Auge der Allwiſſenheit gegen die Gräuel 
dieſer Welt geſchloſſen? Hingerichtet dieſe Heilige! Warum brechen 
nicht die Grundveſten des verruchten Bodens, daß Frankreich mit 
ſeinen blutbefleckten Städten in den Abgrund des Meeres ſtürze, 
und ein Volk, welches alles, was ſeit Jahrtauſenden heilig, 
ſchön, wahr, gut und gerecht war und ewig fein wird, mit teufli— 
ſcher Verwegenheit verachtet, ſchändet, mordet! Doch ich hoffe, 
die verbündeten Mächte werden mit gefegneten Waffen uber bie 
Leichname der Raſenden endlich ins Innerſte Frankreichs eindrin— 
gen, und dem Erdkreis und den Völkern aller noch kommenden 
Jahrhunderte in der Kohle und Aſche von Paris eine ſchaurige 
Lehre ſchreiben!“ 

Laſalle nach ſeiner Gewohnheit ſchwieg. Ich ſuchte den Schmerz 
des Greiſes zu beſänftigen und ſeinen Zorn, der an Gottesläſterung 
und Grauſamkeit grenzte. Er fühlte ſeine Ungerechtigkeit, und 
bat wegen des Ungeſtüms um Verzeihung. „Sie haben Recht,“ 
ſagte er: „es ſind in Frankreich neben den Mördern noch viele 
tauſend gute, unſchuldige Menſchen. Wenn ſie nur einmal erſt zur 
Sprache kommen dürften! Durch ſie ſelbſt vermögen ſie es nicht 
mehr. Die verbündeten europäiſchen Mächte müſſen erſt mit dem 
Schwert in der Fauſt die herrſchende Mörderbande vertilgt und 
das Reich des Schreckens mit Schrecken geendet haben! Einmal 
geſchieht es gewiß, aber wann?“ 

Ich bemerkte ihm, daß wenn Frankreich heut überwunden 
wäre, und morgen wieder ein Ludwig den Thron der Lllien be— 
ſteigen köunte, ich den König nur beklagen müßte. Selne Herr: 


— 299 — 


ſchaft würde von unruhiger und flüchtiger Dauer ſein. Die Um— 
wälzung des Staates ſcheine mir weniger durch einige mangelhafte 
Einrichtungen deſſelben, oder durch die Verwirrung ſeiner Haus— 
haltung, oder durch die Laſt der Schulden, oder durch Treuloſig— 
keit einiger Staatsdiener, als vielmehr durch eine gänzliche Ver— 
änderung der Begriffe und Vorſtellungen des Volkes entſtanden zu 
ſein. „Die in der Welt herrſchenden Vorſtellungen,“ ſagte ich, 
„ſind die eigentlichen Grundlagen aller in der Welt beſtehenden 
großen und kleinen Anſtalten. Vergeht die Meinung von ihrem 
Werth, ſo vergehen die alten Grundpfeiler ihres Beſtandes. Wie 
die Begriffe der Menſchen ſich änderten, haben ſich die Verfaſ— 
ſungen, Sitten, Gewerbe, höhere und niedere Bedürfniſſe, ja 
ſogar die Glaubensgebäude der Völker zum Beſſern oder Schlim— 
mern geändert! Die Grundlagen des altköniglichen Staatsgebäu— 
des waren längſt morſch und gewichen; da genügten einzelne Zu— 
fälle, es zu erſchüttern, daß es unaufhaltſam zuſammenſtürzen 
mußte. Jetzt irren unter den Trümmern die ehemaligen Bewoh— 
ner mit ausgelaſſener Wuth; einer mißt die Schuld dem andern 
bei; einer mordet den andern.“ 

Buzet ſowohl als Laſalle vereinigten ſich, mir Beifall zu ge— 
ben; aber jeder aus entgegengeſetzten Urſachen. 

„Die Montesquieu's, die Voltaire's, die Rouſſeau's, die 
Mably's und all das gelehrte Geſindel mit feinem Gefchrei von 
Volksrechten, von Aufklärung, von Freiheit und von Gott weiß 
was, iſt an dem Unglück dieſer Zeiten Urſache. Man machte erſt 
die Prleſter lächerlich, um die Religion zu vernichten; man machte 
erſt den alten Adel des Königreichs verächtlich, um nachher den 
Thron zerſchlagen zu können. Verbrennt die ungeheuern Bücher— 
ſammlungen, gebt dem Volk den Katechismus, dem Adel ſeinen 
Stammbaum, dem Prieſterſtand ſeine Würden und Klöſter wieder, 
und ihr habt wieder feſte Throne und hundertjährige Friedensſtille!“ 


— 300 — 


„Erlauben Sie,“ ſagte Laſalle, indem er ſich an Herrn Buzet 
wandte: „mit dem Adel- und Prieſterſtand wäre es wegen des 
Stammbaums und Ranges bald zu berichtigen, denn dieſe werden 
dergleichen angenehme Dinge nicht ausſchlagen. Es iſt nur zu 
bedauern, daß beide Stände der Perſonenzahl nach die kleinern in 
jedem Lande ſind, und das Volk eigentlich doch das Volk iſt. So 
lange jene beiden Stände das Uebergewicht der Einſichten und 
Kenntniſſe hatten, waren ſie naturgemäß die herrſchenden. Nun 
aber der dritte Stand durch Einſichten den andern wenigſtens gleich 
geworden, macht er ebenfalls Anſprüche. Daher das Unglück! 
Der Katechismus wäre dem Volke bald gemacht, wenn für den 
Katechismus nur eben ſobald ein Volk gemacht werden könnte, 
wie es vor hundert und mehr Jahren war.“ 

„Verbrennt die Bücher,“ rief Buzet, „ſchickt die Aufklärer, 
die Gelehrten, die Schriftſteller übers Meer nach Botany-Bay, 
und in zwei Menſchenaltern iſt Alles wieder im rechten Geleis!“ 

„Wohl möglich,“ verſetzte Laſalle, „wenn ſich alle Völker 
und Könige auf dem ganzen Erdboden zu Ihrem Vorſchlag ver— 
einigen würden. Aber doch wäre es damit noch nicht abgethan. 
Sie müßten jede Wiſſenſchaft, fogar die Wappenkunde und Waf- 
ſerbaukunſt zu lehren verbieten. Denn würde nur eine einzige 
noch in Schulen getrieben: alle andern Erkenntniſſe würden wies 
der daraus hervorwuchern, weil es nur eine einzige Wiſſen⸗ 
ſchaft gibt, und alles Uebrige nur Theil der allgemeinen Aufklä— 
rung iſt. Ja noch mehr, Sie müßten Todesſtrafe auf jeden neuen 
Gedanken ſetzen. Denn eine einzige neue Wahrheit, die in die 
Welt kommt, ändert die Geſtalt der geſammten Menſchheit. Daß 
Thubalkain erfand, das Eiſen zu ſchmieden, iſt die Urſache, daß 
wir heute Schiffsflotten halten, Kaffee trinken, Verſe fehreiben, 
Perrücken tragen und den Lauf der Geſtirne berechnen. Können 
wir alſo das Unmögliche nicht vollbringen, und die ewige Noth⸗ 


— 1 — 


wendigkeit nicht abwehren; können wir nicht das menſchliche Ge— 
ſchlecht in die alte Barbarei verſteinern, daß es bleibe, wie es 
jetzt ſteht: fo müſſen wir wohl der ewigen Nothwendigkeit ein 
wenig nachgeben; ſo müſſen wir wohl die Verfaſſungen, Anſtalten 
und Stiftungen der Väter nach den erweiterten Bedürfniſſen und 
Begriffen der Nachkommen abändern. Das Kleid, welches dem 
Kinde angemeſſen worden war, kann der Jüngling und Mann 
nicht tragen. Er iſt gewachſen. Er wird es ſprengen, weil es 
ihm zu eng geworden, und nackt da ſtehen, ohne Gewand (näm— 
lich ohne Geſetz, Verfaſſung und Kirche), weil ihr ihm das Ge: 
wand nicht nach dem Leibe zurichtetet, ſondern den Leib nach dem 
Kleide zuſammenpreſſen wolltet.“ 

So ſprach Laſalle. 

Der alte Buzet — ich ſah es ihm an, wie roth und ärgerlich 
er ward, noch während Laſalle ſprach — rückte auf ſeinem Stuhl 
her und hin, ſprang endlich heftig auf, ſuchte Stock und Hut, 
und brummte: „Nichts, als Jakobinerei! Gehorſamſter Diener!“ 
Damit ging er jählings zur Thür hinaus. 

„Da ſehen Sie das große, unvertilgbare Unheil!“ ſagte 
Laſalle zu mir: „Dieſe Menſchen, mit ihren eingeroſteten Vorur⸗ 
theilen, find nicht zu belehren: und deren gibt es noch viele. 
Darum wird Frankreich auch nicht ſobald zur Ruhe gelangen. 
Mein Vaterland wird noch lange den Frieden der Welt ſtören. 
Jetzt find alle Leidenſchaften in gräßlicher Entzügelung. Aber 
auch wenn nach dem Rauſche die Ermattung, nach der Ueber— 
ſpannung die Erſchlaffung folgt, wird der Friede nicht folgen. 
Verlaſſen Sie ſich darauf. Auch wenn Frankreich wieder einen 
König hat, wird kein Friede folgen; und einen König muß es 
haben, denn zu einem Freiſtaat iſt es, nicht etwa an Umfang zu 
groß, ſondern an Tugend und Sitteneinfalt zu arm.“ 


Br 3 


„Aber in Gottes Namen,“ rief ich, „wann ſoll es denn Fries 
den geben?“ 

„Sobald ſich die fortgeſchrittene Volksbildung mit den äußern 
Verfaſſungen und Formen verglichen haben wird!“ erwiederte 
Laſalle. „Können wir wollen, daß die Staatseinrichtungen und 
bürgerlichen Verhältniſſe bei den Völkern ewig die gleichen blei— 
ben, da doch ſeit Stiftung des chriſtlichen Glaubens die Kirche 
nicht einmal ihre urſprüngliche Geſtalt bewahren konnte? Wie 
die Völker mit der Völkerwanderung verwilderten, kam auch Ver— 
wilderung in die Kirche. Als es bei den Völkern heller ward, 
entſtand die Kirchenſpaltung. Da fiel die Hälfte Europens vom 
Papſte ab, und die andere Hälfte, welche ihm treu blieb, hat 
jetzt kaum noch die Hälfte Mitglieder, die an das glauben, was 
die Kirche lehrt. Aber ſie finden es bequemer, keinen Krieg des— 
wegen anzufangen. Wollte man aber wieder Scheiterhaufen und 
Kerker für Katholiken bauen, die nicht blindlings glauben, 
was die Kirche lehrt, ſo würden wieder blutige Empörungen und 
Glaubenskriege eintreten, wie ehemals. Und wie vorzeiten in 
Glaubenshinſicht, iſt gegenwärtig in bürgerlicher Hinſicht der 
Kampf zwiſchen Licht und Finſterniß, Freiheit und Deſpotismus, 
Wahrheit und Vorurtheil, Verdienſt- und Geburtsadel, Gleich— 
heit und Vorrecht, Kindern und Stiefkindern des Staats begon— 
nen. Dieſer Kampf wird ſich, wie der kirchliche, der Reihe nach, 
von Volk zu Volk machen.“ 


Seit dieſem Abend beſuchte mich der alte Buzet einige Wochen 
lang nicht wieder; Laſalle hingegen fleißiger. So mächtig ift 
der Parteihaß, daß er den Unglücklichen ſelbſt ins Elend folgt. 
Und warum haßten ſich dieſe, welche beide ihr Vaterland mit 
gleicher Inbrunſt liebten, und beide von demſelben ausgeſtoßen 


— 303 — 


in der Fremde lebten, arm und verlaſſen, während ſie in Frank— 
reich im Schoos des Ueberfluſſes gewohnt hatten! 

Laſalle hatte aber noch andere Gründe, mich fleißiger zu be— 
ſuchen. Er war durch ſein allzuempfindliches Herz unglücklich 
geworden. Auf einem Spaziergang an den Weinbergen begegne— 
ten wir einem jungen Frauenzimmer, begleitet von einer alten 
Magd. Schon als Laſalle die Jungfrau in der Ferne ſah, ver— 
ſtummte er im Geſpräch, und ich bemerkte an ihm eine ſonder— 
bare Unruhe. Als ſie näher kam, erkannte ich in ihr die Tochter 
des Herrn Buzet. Auch ſie ſchien verlegen. Ich redete ſie an. 
Sie war nicht mehr wie ſonſt geſprächig, ſondern ungemein ein— 
ſilbig, und entfärbte ſich einige Male im Geſicht, beſonders als 
ich ihr den jungen Laſalle als ihren Landsmann vorſtellte. 
Sie ſchien kaum den Muth zu haben, ihn anzublicken, und eine 
hohe Röthe überflog ihre Wangen, da Laſalle ihr einige unzu— 
ſammenhängende Worte ſtammelte. 

„Aber wer iſt ſie denn, um Gotteswillen?“ fragte mich La— 
ſalle, als wir von ihr gegangen waren. Ich ſagte ihm, was ich 
wußte: ſie heiße Julie, ſei Buzets Tochter, lebe äußerſt einge— 
zogen und von allem Umgang entfernt. Und nun erfuhr ich, daß 
er ſie ſchon ſeit einigen Monaten zuweilen in der Kirche geſehen, 
aber für eine vornehmere Bürgerstochter aus der Stadt gehalten 
habe; daß er von ihrer Schönheit gerührt worden ſei; daß er ſie 
liebe und anbete, aber in ſeinen elenden Verhältniſſen, ohne 
Hoffnung der Gegenliebe, auch nicht den leiſeſten Verſuch gemacht 
habe, ſich ihr zu nähern. Seine Leidenſchaft habe er bis dahin 
bekämpft und beſiegt; aber — er verberge nicht, daß er, um ſeine 
innere Ruhe wieder zu finden, ſchon entſchloſſen geweſen ſei, dieſe 
Gegend und die Nähe der gefährlichen Unbekannten zu meiden. 

Ich bewunderte dies Zartgefühl des Jünglings, zumal des 
Franzoſen, und ſagte, nun er wiſſe, es ſei ſeine Landsmännin, 


— 304 — 


dürfte er ſich ihr wohl um fo kühner nähern; doch müſſe er zuvor 
mit dem Vater Frieden ſchließen. Er ward nachdenkend, ſeufzte 
und ſagte: „Ich bin unglücklich! Wozu dieſe Liebe, dieſe Hoff: 
nungsloſe Leidenſchaft? Und könnte ich Unwürdiger ſogar hoffen, 
daß ich dieſer Liebenswürdigen jemals einige Theilnahme an mei⸗ 
nem Schickſal einflößen könnte — ich würde darum nicht glück⸗ 
licher ſein. 

„Sie find doch nicht mit Hand und Herz ſchon verſagt?“ 
fragte ich. 

„Keineswegs. Julie iſt das erſte weibliche Geſchöpf, welches 
in mir den Wunſch erregt, Hand und Herz wegzugeben. Aber 
es darf nicht ſein. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich bete 
Julten an; ich werde ſie zeitlebens nicht vergeſſen; aber — ich 
werde ſie nicht beſuchen, und kann mich nichts beruhigen — fliehe 
ich dieſe Gegend.“ 

Ich drang nicht weiter in ihn. Aber aus der Flucht ward 
nichts. Einige Tage ſpäter kam Laſalle zu mir, da ich eben einen 
Zettel von Juliens Hand erhalten hatte, worin ſie mich bat, ihren 
Vater zu beſuchen, der ſehr krank geworden. Sie bat um einen 
Arzt, und wiewohl ſie jetzt denſelben zu bezahlen außer Stand 
wären, würde es eine heilige Schuld ſein, die gewiß über kurz 
oder lang mit Zins getilgt werden ſollte. Ich gab Laſallen das 
Briefchen zu leſen. Er ſchwieg, ward todtenblaß, dann entfernte 
er ſich ſchnell. Meine Geſchäfte hinderten mich, ſelbſt ſogleich 
Herrn Buzet zu beſuchen. Ich ſchickte ihm inzwiſchen einen Arzt, 
der wieder zurückkam, weil ſchon ein anderer vor ihm dahin 
berufen worden war. — Als ich zum kranken Buzet kam, er⸗ 
fuhr ich, daß Laſalle mit einem Arzt bei ihm geweſen. Buzet 
ſchien es ungern gehabt zu haben; doch mußte er ſich aus 
Noth in die Güte feines Landsmanns ergeben. Ich erfuhr 


— 305 — 


nachher Alles und auch den weitern Erfolg der Dinge aus La— 
ſalle's Munde. 


Laſalle hatte geradezu dem kranken Buzet geſagt, daß er Ju— 
liens Brief bei mir geſehen, daß er dem Arzt gerufen habe, und 
ſich ſchmeichle, Buzet werde lieber die Hülſe von ſeinem Lands— 
mann, als von einem Fremden annehmen. — Julie war zum 
Glück bei dieſer Erklärung nicht gegenwärtig; denn Buzet zeigte 
ſich ungehalten, daß Julie geſchrieben. Er hatte nicht darum 
gewußt. Inzwiſchen ſchien Buzet doch für Laſalle's Aufmerkſam— 
keit empfindlich, auch mit einiger Zufriedenheit deſſen Entſchul— 
digungen wegen des obenerwähnten Wortwechſels anzuhören. Julie 
kam nachher und bekannte erröthend ihre Schuld, ohne ihres Va— 
ters Vorwiſſen geſchrieben zu haben. „Aber, lieber Vater,“ 
ſetzte ſie hinzu, „verzeihen Sie es meiner Angſt und Liebe für 
Sie.“ 

Der Arzt erklärte die Krankheit für ein gallichtes Faulfieber, 
und bat die größte Sorgfalt für den Leidenden zu tragen. Er 
verſchrieb die nöthigen Arzneien. Beim Abſchiede ſagte Laſalle 
zu Buzet: „Sie find ernſtlich krank; doch verficherte der Arzt, bei 
gehöriger Pflege würden Sie in wenigen Wochen hergeftellt fein. 
Wir ſind beide Unglücksgefährte und Fremdlinge auf dieſem Bo— 
den, aber Kinder des gleichen Vaterlandes. Erlauben Sie mir 
denn, daß ich mich meiner Pflicht gegen Sie entledigen, und 
Sie in jeder Stunde, die ich von meinen Geſchäften erübrigen 
kann, abwarten dürfe. Sie haben männlicher Hülfe vonnöthen, 
Ihre Tochter mit der betagten Dienerin würden ohne Beiſtand 
zu Grunde gehen, und Sie ſelber dabei leiden.“ Der Kranke 
drückte dem jungen Mann für ſein Anerbieten die Hand, ohne ein 
Wort hinzuzufügen. Julie ſagte ihm eben fo wenig etwas Verbind— 

Zſch. Nov. XI 20 


— 306 — 


liches, konnte es vielleicht auch nicht, denn ſie ſaß im Winkel und 
weinte mit verhülltem Geſicht. 

Als Laſalle fortging und ihn Julie vor die Thüre begleitete, 
fagte er zu ihr: „Fräulein, ich habe aus Ihrem Briefe geſehen, 
Ihr Vater leidet Mangel. Ich habe noch Ueberfluß. Der Herr 
Kaplan ſelbſt hat eine geringe Pfründe. Mir können Sie einſt 
in Frankreich die kleine Schuld eher wieder erſtatten. Verſchmähen 
Ste das Wenige nicht, was ich Ihnen in dieſer betrübten Lage 
anzubleten habe. Ich denke an keine Wiederbezahlung. Ach, 
ich bin ſchon allzuglücklich, wenn Sie nur erlauben, daß ich mit 
Ihnen meinen geringen Reichthum theilen darf.“ Mehr konnte 
er nicht ſagen. Er war zu bewegt. Er ſank auf feine Knie, 
und legte in Juliens Hand, die er küßte, eine Rolle Geld, die 
Frucht feiner mühſamen Arbeiten und Erſparniſſe. Ste welnte 
laut, und er verließ ſie. 

Folgenden Tages ſchon nahm Laſalle einige Unterrichtsſtunden 
mehr an, die er vorher abgelehnt hatte. Nur um der Familie 
Buzet kräftiger helfen zu können, arbeitete er faſt über Vermö⸗ 
gen, und brach ſich manche kleine Bequemlichkeiten und Genüſſe 
ab, die er ſich vorher aus ſeinem Verdienſt erlaubt hatte. Aber 
Niemand war auch glücklicher, als der junge Mann, der ſeiner 
Geliebten nun täglich nahe ſein, und was er für ſeine Arbeit 
gewann, ihr überreichen konnte. Eine Nacht um die andere 
wachte er an Buzets Krankenlager, denn dieſer kam bald dem 
Tode nahe; und in der That, ohne Laſalle's Anſtrengungen, die 
ſeiner eigenen Geſundheit Gefahr drohten, dürfte er ſchwerlich ſo 
bald wieder geneſen ſein. So lange Buzets Rettung zweifelhaft 
war, ſo lange ſchien ſeine ſchöne Tochter für alles Andere unem⸗ 
pfindlich zu ſein. Sie hörte mit Gleichgültigkeit, was man zu 
ihrer Beruhigung ſagen mochte, und nahm mit Gleichgültigkeit, 
was Laſalle in die kleine Haushaltung brachte. 


— 307 — 


Erſt als der Arzt das zuverſichtliche Troſtwort ausſprach: jetzt 
iſt die Gefahr vorüber! erſt als Buzets Krankheit ſichtbar 
abnahm, ſeine Fieber ſich minderten, und er mit den Umſtehenden 
wieder in Verbindung trat, ward Julie gleichſam ihrem eigenen 
Bewußtſein wieder gegeben. Sie blühete von neuem auf; fie 
empfing Laſallen, fo oft er kam, mit einer lohnenden Zutraulich— 
keit; ſie erzählte ihm von dem Befinden ihres Vaters während 
ſeiner Abweſenheit; ſie bereitete und brachte ihm, wenn er am 
Krankenbette eine Nacht gewacht hatte, das Frühſtück ſelbſt; machte 
ihm freundliche Vorwürfe, wenn er länger, als er verſprochen, 
ausgeblieben war; ſie wußte ihm ihre Dankbarkeit mit hundert 
kleinen Gefälligkeiten zu bezeugen. Laſalle war von fo vieler 
Liebenswürdigkeit im eigentlichen Sinne des Wortes bezaubert. 
Er dachte, er ſah nichts mehr, als Julien. Alles war ſie ihm 
Aber, auch er ſchien ihr Alles zu ſein. Ihre Aufmerkſamkeiten 
waren nur zwiſchen ihrem Vater und ihm getheilt. Für ihn ſam— 
melte ſie Blumen; für ihn bereitete ſie eigenhändig in der Küche 
kleine Näſchereien, von denen fie wußte, daß er fie liebte; für ihn 
legte ſie die Bänder, den Hut, den einfachen Schmuck ſo an, wie 
er es gern ſah. Sie war unerſchöpflich in Erfindungen, ihm ihre 
Erkenntlichkeit zu bezeugen. 

Demungeachtet wußte der ehrliche Laſalle nie recht, woran er 
mit Julien war. Ob ſie ihn liebe oder mit Dankbarkeit ihm er— 
geben ſei? das war ſchwer auszumachen. Denn bei der heftigen 
Innigkeit, mit der ihn das Fräulein jedesmal empfing, wenn er 
kam, oder entließ, wenn er ſeinen Geſchäften nachging, war doch 
etwas Wunderfremdes zwiſchen ihm und ihr, das nie aufhörte. 
Und bei aller Zutraulichkeit, ich hätte beinahe geſagt, ſchweſter— 
lichen Zärtlichkeit, mit der ſie ihn behandelte, hatte ſie doch ſo 
etwas Hohes gegen ihn, als wenn fie ſich nur aus Leutfeligfeit 
ein wenig gegen ihn herablleße. Laſalle wußte aber noch viel 


— 368 — 


weniger, wie er mit ſich ſelber daran war. Einen Tag ſagte er 
mit tiefem Schmerz: „Sie liebt mich! Weh mir! Ich muß fort 
von ihr!“ Den andern Tag ſeufzte er: „Sie liebt mich nicht. 
Es iſt nur bloße, höfliche Dankbarkeit!“ Den dritten Tag jubelte 
er wieder: „Nein, ich bin der ſeligſte Menſch! Ich bin der Herr- 
lichſten ihres Geſchlechts nicht gleichgültig!“ So ward er bald 
heiß, bald kalt, im beſtändigen Fieber. 


Wenn ich bei Buzet war und die beiden Leutchen in ihrem 
Weſen betrachtete — ich geſtehe, mir ward zuweilen recht ſchaurig 
dabei. Da ſtanden fie beide, er dort, fie hier, wie ſtilllodernde 
Flammen einander gegenüber. Und was ſte thaten, es mochte 
noch ſo unbedeutend ſein, es war allezeit bedeutſam, ohne daß ſie 
es wollten oder wußten. Ich ward wirklich recht froh, geiſtlichen 
Standes und folglich vor dem Wahnſinn der Liebe geborgen zu 
fein. Mein ſchwarzer Rock machte mich gegen die leidenſchaftlichſte 
der Leidenſchaften recht kugelfeſt, und — wohl mir, daß ich es 
glaubte! Viertelſtunden lang konnten ſie, ohne eine Silbe zu 
ſprechen, einander gegenüber ſtehen und ſich mit brennenden Augen 
anſehen, wie Träumende. Was ihre Hand berührt hatte, das 
Fenſter, den Seſſel, den Tiſch, das Blumengeſchirr: davon ward 
nachher ſeine Hand, wie von einem Magnet, angezogen. Und ging 
er fort, ſo warf ſie ſich gewiß träumend auf den Stuhl, auf 
welchem er zuletzt geſeſſen war. Kritzelte er in Gedanken etwas 
mit ſeinem Stock im Sande, oder mit einem Meſſer, ſo war es 
gewiß der Name Julie. Und gab er ihr eine Blume, ich konnte 
mich darauf verlaſſen, ſie trug dieſelbe noch den zweiten und dritten. 
Dag, fo welk fie auch fein mochte. 

Er erzählte mir Alles, was fie mit ihm geſprochen; gewöhn— 
lich waren es die gleichgültigſten Sachen von der Welt. Aber er 


— 309 — 


erzählte mit einem Feuer, mit einer Michtigfeit, als wäre jedes 
Wörtchen von ihr eine Offenbarung überirdiſcher Dinge. Hingegen 
durfte ich mich nicht unterſtehen, ihm von der Möglichkeit zu reden, 
daß Julie einſt die Seinige werden könnte. Als ich es das erſte 
Mal in meiner Gutmüthigkeit that, bat er mich mit erſchrecklichem 
Ernſt, ihm das nie wieder zu ſagen. Und da mir an einem andern 
Tage wieder eine ähnliche Aeußerung entſchlüpfte, ward er bleich 
wie ein Todter, verließ mich und vermied mich zwei Wochen lang. 
Ich mußte ihn aufſuchen und wieder verſöhnen. 

Nicht beſſer ging es mir bei Julien. Ich nahm mir einmal 
die Freiheit, da fie von Laſalle mit großer Lebhaftigkeit ſprach, fie 
ein wenig zu necken, und das Wort Liebe, aber doch nur ſcherz— 
weiſe fallen zu laſſen. Ihre Geſichtszüge verwandelten ſich plötzlich. 
Sie ſah mich mit einem ſo ſtechenden Blick voller Verachtung an, 
daß mir in der That vor Schrecken Stock und Hut aus der Hand 
fielen. 

Seitdem nahm ich mich wohl in Acht, mich in das Spiel der 
wunderlichen Leute zu miſchen. Aber ſie miſchten mich bald ſelbſt 
hinein. Und ich hatte doch mit meinen geſunden Augen richtig 
geſehen. Sie liebten ſich beide. Ja, wie ich nachher erfuhr, 
hatte Julie den armen Laſalle ſchon früher geliebt, als er ſie ge— 
kannt. Beinahe ein Jahr lang hatte ſich ihr Geiſt nur immer 
mit ihm beſchäftigt; ihr Feſttag war's, ihn einmal in der Kirche 
zu ſehen (da hatte ſie ihn auch kennen gelernt); aber feſt und ſtolz 
hatte ſie ſich dem Liebling ihrer Gedanken verborgen gehalten. 
Immer kam ſie dicht verſchleiert zur Kirche, bis — der Schleier 
einmal am Kaminfeuer verunglückte. Einen neuen zu kaufen, war 
ſie zu arm. So erblickte Laſalle ſie. 


— 310 — 


Der alte Buzet ward in kurzer Zeit wieder hergeſtellt. Der 
Arzt machte ſein Meiſterſtück an ihm. Jetzt, armer Laſalle, dachte 
ich, iſt es mit deinem Himmel auf Erden am Ende. Der Alte 
wird ſich wie ein brechender Winter zwiſchen die N blühenden 
Frühlinge ſtellen! 

Mit nichten. Es ward nur ärger. Arm in Arm gingen die 
jungen Leute einſam unter den hohen Ulmen am Weinberg, oder 
längs dem Bach unter den hangenden Weiden. Der Alte ſchien 
nichts zu ſehen und zu hören. Aber das ganze Städtchen fah es. 
Denn Laſalle führte Julien oft keck durch das Städtchen, zeigte 
ihr das wenige Sehenswerthe, was ſich bei uns befindet, und be— 
kümmerte ſich nicht viel um die Köpfe, welche ans Fenſter flogen, 
wenn er mit Buzets Tochter vorüber ging. 

Ich muß geſtehen, dieſe Kleinſtädterei war nie verzeihlicher, 
als diesmal. Ein ſchöneres Paar gab es nicht leicht. Laſalle 
allein und für ſich, oder Julie einzeln, waren von andern hübſchen 
Menſchenkindern nicht verſchieden. Gingen ſie aber beiſammen, 
kam er mir wieder wie ein verkleideter Halbgott, ſie wie eine 
Königin vor; wiewohl ich geſtehe, noch keinen Halbgott oder auch 
nur eine Königin geſehen zu haben. Dergleichen beſucht unſer 
Städtchen ſelten. 

Dennoch waren Buzet und Laſalle nicht beſſere Freunde ge⸗ 
worden, als ſie vorher geweſen. Laſalle war höflich und aufmerk— 
ſam gegen den Alten, und der Alte mürriſch und kalt gegen ihn. 
Daß er den jungen Leuten demungeachtet ſo vertrauten Umgang 
geſtattete, war mir lange räthſelhaft. Aber ich kam einmal dazu, 
als er in lebhaftem Geſpräch mit ſeiner Tochter war. Sie ſaßen 
hinter dem Gartenhauſe am Brunnen, ohne mich zu ſehen; und 
ich hörte deutlich, wie Julie in dem ihr ganz eigenen hohen Ton 
ſagte: „Mein Vater, Sie belieben ſich nicht in dieſe Sache zu 
miſchen! Ich weiß, was ich mir ſelber ſchuldig bin!“ — Eine 


— 


ſolche Sprache von der ſanften Julie war mir auffallend; noch 
auffallender, daß Herr Buzet keine Silbe darauf erwiederte. Es 
iſt bei den Franzoſen, dachte ich, eine ganz andere Hausordnung, 
als bei uns zu Lande. 

Die ganze Geſchichte zog mich ſehr an, um ſo weniger ich da— 
von begriff; und es that mir wirklich leid, als Alles auf eine 
eben ſo wunderliche Weiſe endete, als ſie begonnen und geſpon— 
nen war. 1 

Ungefähr ein halbes Jahr nach Buzets Geneſung kam Laſalle 
eines Abends zu mir auf mein Zimmer, und ſprach von dem und 
dieſem mit mir; gerieth endlich zufällig auf den Wunſch, eine 
kleine Luſtwanderung zu Fuß von acht oder vierzehn Tagen zu 
machen, um ſich eine Zerſtreuung zu geben, und der Einfall ward 
eben ſo ſchnell zum Entſchluſſe. Den folgenden Morgen zeigte er 
ſeinen Schülern und Schülerinnen an, daß er die Unterrichtsſtunden 
eine oder zwei Wochen ausſetzen wolle; nahm noch bei Herrn Buzet 
und mir freundlichen Abſchied und ging. Ich gab ihm noch einige 
Aufträge, für mich in einer großen Buchhandlung gewiſſen Werken 
nachzufragen. 

Er war ſchon über eine Woche fort, als Herr Buzet zu mir 
lam, und mir meldete, er habe ſich entſchloſſen, dem Rhein näher 
zu gehen. Robespierre's verruchtes Haupt war längſt gerallen, 
ſein ganzer Anhang vernichtet, und für die Ausgewanderten Hoff— 
nung baldiger Rückkehr. Buzet verſicherte mich, daß die königliche 
Partei unter dem Namen der Gemäßigten in wenigen Wochen die 
Oberhand zu Paris haben und die Fahne der Lilien in Kurzem 
überall aufpflanzen werde. 

Ich wünſchte ihm Glück von Herzen. „Aber Herr Laſalle wird 
bedauern, Sie bei ſeiner Rückkehr nicht mehr zu finden!“ ſagte 
ich. Buzet erwiederte ganz gleichgültig: „Er wird uns folgen!“ 

„Aber der arme Laſalle!“ ſagte ich zu Julien, da ich von ihr 


> 


Abſchied nahm. Sie ward roth; wandte ſich von mir, ſetzte fich 
zum Tiſch, schrieb einige Zeilen, verfiegelte fie und ſagte: „Ich 
bitte Sie, wenn er zurückkommt, ihm dieſes Briefchen zu geben, 
und ihm in meinem Namen viel Schönes zu ſagen. Es thut mir 
leid, daß er eben jetzt auf den Gedanken kam, zu reiſen. Mein 
Vater will ſeine Wiederkunft nicht abwarten. Unſere Abreiſe iſt 
aber in der That unaufſchieblich.“ 

Ich nahm den Brief; wunderte mich über dieſe Ruhe. „O, 
Weiber! Weiber!“ dachte ich; „o franzöſiſcher Leichtſinn!“ 


Es war mir, als wäre die halbe Stadt ausgewandert, da mir 
meine franzöſiſchen Freunde fehlten, an deren Umgang ich ſeit 
manchem Jahr gewöhnt war. Ich ſehnte mich recht herzlich nach 
Laſalle's Rückkunft. Nun erſt empfand ich, wie lieb und unent⸗ 
behrlich er mir geworden. Aber ich zitterte ſchon zum Voraus vor 
dem Augenblick, da ich dem lieben, jungen, heftigen Mann Juliens 
Brief übergeben und ihre Abreife verkünden ſollte. 

Es vergingen nicht vier Tage ſeit Buzets Abreiſe, empfing ich 
einen dicken Brief. Er war von Laſalle; eingeſchloſſen lag darin 
ein anderer Brief an Mademoiſelle Julie Buzet. Was er mir 
ſchrieb, will ich hier von Anfang bis zu Ende herſetzen. Es lautete 
zu meiner nicht geringen Verwunderung alſo: 

„Wir werden uns einander nicht wiederſehen, mein lieber Ka— 
pellan; aber die angenehmen Tage, welche ich während meiner 
Verbannung vom Vaterlande in Ihrer Geſellſchaft verlebte, wer— 
den mir unvergeßlich bleiben. Nehmen Sie für ſo viel Güte, die 
Sie mir erwieſen, einsweilen meinen wärmſten Dank in dieſen 
Worten. Vielleicht bin ich bald im Stande, Ihnen thätigere 
Zeugniſſe meiner aufrichtigen Erkenntlichkeit zu geben. — Das 
Wenige, was auf meinem Zimmer iſt, verkaufen Ste. Das da⸗ 


. 


ä 


für geloſete Geld, wie einliegenden Brief geben Sie an die liebens— 
würdige Julie. Den Aeltern meiner Schüler und Schülerinnen 
ſagen Sie, daß ich bedaure, den angefangenen Unterricht nicht 
vollenden zu können. 

Beurtheilen Ste mich nicht falſch, lieber Kapellan, und halten 
Sie mich nicht für undankbar oder leichtſinnig, daß ich ſo trocken 
von Ihnen ſchied. Es geſchah mit zerriſſenem, blutendem Herzen; 
denn ſchon damals nahm ich mir vor, nicht wieder zu kommen. 
Ich war unglücklich, denn Julie liebte mich; ich bin unglücklich, 
denn ich werde nur ſie lieben bis zum letzten meiner Odemzüge. 
Am Morgen des nämlichen Tages, da ich Ihnen Abends meinen 
Entſchluß zum Reiſen mittheilte, fiel mein Loos. Ich mußte mich 
von der Göttlichen trennen, die ich nicht unglücklich machen wollte, 
und die ich anbete. 

Als ich an jenem Morgen in das theure Häuschen am Wein— 
berg trat, fand ich Julien allein. Sie ſaß und ſchrieb mit ver— 
weinten Augen. Sobald ſie mich erblickte, kam ſie mir lächelnd 
mit ihrer gewöhnlichen, bezaubernden Anmuth entgegen. Sie war 
mir nie ſchöner erſchienen, als in dieſer unter einem zärtlichen 
Lächeln verläugneten Schwermuth. 

Sie ſchien recht gefliſſentlich alles hervorzuſuchen, ſich zu zer— 
ſtreuen, und meine Aufmerkſamkeit von ihrem Schmerz hinweg— 
zuleiten. Nachdem ſie ihre Papiere eingeſchloſſen, gab ſie mir den 
Arm und ſagte: Machen wir einen Spaziergang. 

Wir gingen unter den Ulmen in heitern Geſprächen über die 
Schönheit des Morgens den Hügel hinauf zum Birkenwäldchen, 
droben, von wo man die weite Ausſicht über die reiche Landſchaft 
hat. Unterwegs pflückten wir alle Blumen, die ſich uns darboten. 
Es kam darauf an, wer von uns am glücklichſten ſein würde, die 
meiſten verſchiedenartigen zu finden. Wer die meiſten findet, ſagte 
ich, wird auch, ſollten wir einmal getrennt werden, des andern 


— 34 — 


in der Abweſenheit am längften gedenken. So füllte ſich ihr ganz 
zes Körbchen. Ich hatte das meiſte Glück. „Und den meiſten 
Aberglauben,“ ſagte ſie. 

Unter dem hohen Eichbaum, den auf dem Hügel ein Kranz 
von jungen Birken umgibt, ſetzte ſie ſich im Schatten nieder. Sie 
war vom Steigen müde. Ihre Wangen glühten wie Morgenroth. 
O wäre ich ein Maler geweſen! aber wer könnte das Unausſprech⸗ 
liche ſchildern? Ich war im Anſchaun verſunken. So viel Hoheit, 
ſo viel Unſchuld, ſo viel Anmuth, ſo viel Majeſtät! — Sie ken⸗ 
nen Julien. Unſere Geſpräche ſtreiften in gemeſſenen Entfernungen 
um das, was wir empfanden. Wie ſehr ich ſie liebe, hatte ich 
ihr nie geſtanden. Ich hatte es mir geſchworen, ihr es nie zu 
entdecken. Aber nie war ich in größerer Verſuchung als jetzt, wo 
fie da ſaß, und die Blumen aus ihrem Körbchen ſpielend zu einem 
Kranz wand. Sie zog ein grünes, ſchmales Seidenband von ihrem 
Strohhut, wand es um den Kranz, um ihm mehr Feſtigkeit zu 
geben, und ſah mir dann ſchalkhaft in die Augen, und fragte: 
„Für wen iſt dieſer Kranz?“ 

„Für dieſen ſchönen Engelskopf!“ ſagte ich, und nahm ihr 
den Hut. 

„Ich wette,“ verſetzte Julie, „Sie denken ſich unter dem 
Kopf des Engels mit vieler Eigenliebe wohl einen andern als den 
meinigen. Aber Sie ſpitzen vergebens darauf, mein Herr.“ 

„Nein, ſchöne Julie, ich könnte Ihnen den Beweis geben, 
wie wenig Eigenliebe ich habe.“ 

„Wahrlich?“ ſagte fie, und ſtand auf und ſah mir mit ums 
gläubigem Lächeln in die Augen: „O gehen Sie, Laſalle, und 
ſpielen Sie hier nicht den Lügner. Haben Sie ſich nie eingebll⸗ 
det, meine Eroberung gemacht zu haben? Haben Sie nicht viel⸗ 
leicht davon ſchon ein wenig bei unſerm guten Kapellan ge— 
prahlt?“ / 


— 315 — 


Ich fühlte, daß ich mich bei dieſen Worten verfärbte; aber 
doch behielt ich Faſſung genug, ihr zu antworten: „Nein, Fraͤu— 
lein. Ich habe nie glauben können, Ihre Aufmerkſamkeit in einem 
höhern Grad zu verdienen als jeder andere Freund und Geſell— 
ſchafter. Auch habe ich nie andere Anſprüche gemacht; werde auch 
nie andere Anſprüche wagen.“ 

„Und ſtehe da, der Herr wird roth!“ rief ſie halb ſchelmiſch, 
halb ernſt: „Aber Sie haben wohlgethan. Ihre Beſcheidenheit 
macht Sie mir nur noch werthvoller. Aendern Sie nie Ihren 
Sinn, ſonſt würden wir uns vor der Zeit trennen müſſen.“ 

„Ich wiederhole es,“ ſagte ich feſter, „ich wage nie Anſprüche 
auf Sie; ich darf es nicht. Deuten Sie mein Erröthen nicht als 
ein entgegengeſetztes Geſtändniß. Und wenn ich's auch nicht ver: 
hehlen könnte, daß ich — Sie wollen, ich ſoll nicht Lügen! — 
daß ich Sie anbete, Julie, dennoch bleibe ich meinem Wort treu, 
meine Liebe iſt ohne Anſprüche. Und wer könnte Ihnen nahe ſein, 
ohne Sie zu lieben?“ 

Sie ſenkte ihren Blick zur Erde, indem ich ſprach, und eine 
liebliche Schamröthe umfloß ihr Antlitz. Sie ſchwieg. Ich zit: 
terte, und fürchtete ſie durch meine Kühnheit beleidigt zu haben. 
Lange ſtanden wir einander ſprachlos gegenüber. 

„Zürnen Sie mir nicht, theure Julie!“ ſagte ich endlich mit 
ungewiſſer Stimme. 

„Ihr Edelfinn, Laſalle, iſt meiner Offenherzigkeit würdig,“ 
ſagte ſie. „Wir gehören einander nicht. Das Schickſal iſt wider 
uns. Aber das ſollen Sie wiſſen: ich liebe Sie. Und dies Wort 
ſei Ihnen genug, wenn es zu Ihrer Lebensfreude beitragen kann. 
Aber dieſes Wort wird nichts in unſern gegenſeitigen Verhält— 
niſſen ändern, ewig nichts. Dies iſt unwiderruflich!“ — Alles 
das ſprach Julie mit niedergeſchlagenen Augen. Dann erſt ſah ſie 
mich ſchüchtern an; hob ihre Haͤnde und legte mir den Blumen— 


— 316 — 


franz, nachdem fie ihn vorher geküßt hatte, ihre Thränen benetz— 
ten die Blumen, ſchweigend auf den Scheitel. 

Und indem ſie ſo vor mir daſtand mit den aufgeſtreckten Armen, 
ſchwand mir alle Beſinnung. Meiner ſelber nicht mächtig, riß 
ich ſie an mein Herz, und meine Lippen ſchloſſen ſich an die 
ihrigen. Ihre Arme umfingen mich. Es war der größte Augen— 
blick meines Lebens; der Wendepunkt meines Glücks. Ach, auch 
nur ein Augenblick war es! Sie wand ſich los, reichte mir die 
Hand, und ſagte: „Kommen Sie, mein Freund!“ Wir gingen 
vom Hügel wieder an den Weinbergen hinab, träumend, trunken, 
ſchweigend. Ja, ich würde es für Traum gehalten haben, hätte 
ich nicht den Kranz als Zeugen der Vergangenheit in meiner Hand 
getragen. 

Juliens Vater kam uns unter den Ulmen entgegen. Er ſuchte 
Pflanzen. „Mein lieber Laſalle,“ ſagte Julie, „Sie fuͤhlen 
ſelber, daß uns in Zukunft eine ſolche furchtbare Einſamkeit weder 
wohlthätig noch anſtändig ſein kann. Wir werden ſie beide von 
nun an meiden.“ Sobald Doktor Buzet zu uns trat, verloren 
wir uns in allgemeinen Geſprächen. Als ich zur Stadt zurück— 
ging, ſchwor ich, Julien und dieſe ſchöne Gegend auf immer zu 
verlaſſen. Meine Verhältniſſe unterſagen mir, Julien meine Hand 
zu bieten. Aus ihren Reden mußte ich ſchließen, daß auch ſie 
ſchon von ihrem Vater einem Andern beſtimmt iſt. Deſto beſſer. 
Aber ich mußte mich von der Göttlichen trennen, um nicht un— 
glücklicher zu werden, als ich war, als ich bin. 

Leben Sie wohl. Morgen reiſe ich von hier ab. Ich hoffe 
mein Vaterland bald wieder zu betreten. Die Blutmenſchen ſind 
geſtürzt. Sagen Sie Julien nichts vom Inhalt meines Briefes, 
bis fie ſelbſt Sie zu ihrem Vertrauten macht. Dann ſagen Sie 
ihr, daß ich ſie bis in den Tod lieben, meine Hand nie einem 
andern Weibe geben werde, weil ich ſo unglücklich bin, auf die 


zu > 


ihrige Verzicht thun zu müſſen. Erinnern Sie ſich zuweilen Ihres 
Freundes 


Ha obe.“ 
Hamburg, 10. April 1795. 


Ich legte den Brief an Julien, den er mir geſchickt, zu dem— 
jenigen, welchen ſie ihm geſchrieben hatte. Denn wohin ſollte ich 
beide ſenden? 

Die ganze Geſchichte war mir ſehr abenteuerlich. Die Leut— 
chen liebten ſich und flohen einander. Es machte mir viel Kopf— 
brechens. Ich konnte mich des Verdachtes nicht erwehren, Laſalle 
müſſe einer von den aus Frankreich geflüchteten eidſcheuen Prie— 
ſtern ſein. Anders konnte ich mir ſeine entſchloſſene Abneigung 
gegen eine Vermählung mit der Tochter des Arztes nicht erklären. 
Er hatte wirklich auch viele gelehrte und, ſo ſehr er es verhehlen 
mochte, ſelbſt theologiſche Kenntniſſe, und dabei ganz das Weſen 
eines feinen, franzöſiſchen Abbe. Ob nun Julie eine entſprungene 
Nonne ſein mochte, war ſchwerer auszumitteln. Nur ſchien ſie 
mir für eine Zellenbewohnerin viel zuviel Welt und Lebensart zu 
haben. Aber wer weiß, wie es in franzöſiſchen Klöſtern zuging! — 
Ich ließ es dahingeſtellt fein. 

Ich ging im Städtchen wie eine verlaſſene Waiſe herum. Jeder— 
mann ſah mir's an, daß ich Verlornes ſuchte. Wenn ich in den 
erſten Tagen das kleine Gartenhaus am Rebberg ſah, traten mir 
immer ein Paar Thränen in die Augen. Mich tröſtete nur die 
Hoffnung, von meinen Freunden wieder Briefe zu erhalten. Ein 
guter Anfang ſchien ſich dazu zu machen. Denn ich empfing nach 
einigen Wochen abermals einen dicken Brief. Er war von Julien, 
aber das Wenigſte davon gehörte mir. Es war ein Brief an La— 
jalle, worin zehn Louisd'or in Gold eingelegt waren, wie der 


— 318 — 


Umſchlag mit der Zufchrift an mich beſagte. Auf der innern Selte 
des Umſchlages ſtanden von Juliens Hand nur folgende Zeilen 
für mich: 

„Mein Herr Kapellan, 

Sie werden gebeten, inliegenden Brief mit Beförderung an 
Herrn Laſalle abzugeben, oder ihm denſelben nachzuſenden, wo er 
ſich auch befinden mag. Reden Sie ihm zu, den Verſuch zu 
machen, nach Frankreich zurückzukehren. Das inliegende wenige 
Geld — mehr konnte ich in unſern Umſtänden nicht erübrigen — 
iſt ihm vielleicht zur Reiſe nützlich und ein geringer Abtrag an 
der großen Schuld, in welche wir durch unſere ehemalige Dürftig— 
keit und durch die Großmuth des edeln und liebenswürdigen Man- 
nes gerathen ſind. Dero gehorfame Dienerin 

Bafel, 22. Mai 1795. Julie Buzet.“ 

Ich legte traurig den goldſchweren Brief zu den übrigen, und 
freute mich mit wehmüthiger Freude, noch die Mittelsperfon bie: 
ſer vortrefflichen Menſchen zu ſein. Es war recht gut, daß ich 
um dieſelbe Zeit zum Pfarrer der Stadt ernannt ward. Der neue 
größere Geſchäftskreis und die Einrichtung in meinem angenehmen 
Pfrundhauſe, das ich bezog, gaben mir Zerſtreuung. Ich konnte 
nun meinem Hange zu den Wiſſenſchaften durch Ankauf von Büchern 
und Werkzeugen zur Naturkunde eher Genüge thun, was mir vor⸗ 
mals die äußerſt dürftigen Einkünfte der Kaplanei nicht geſtatte⸗ 
ten. Und dann dle Alles heilende Zeit mit ihrer weichen Hand! 

Und doch blieb der ſtille Gang unter den Ulmen an den Reben— 
hügeln, oder längs dem Bach im Schatten der hangenden Wei⸗ 
den, mein Lieblingsgang. Da waren ſie ſo oft gegangen, die 
Guten! und ich mit ihnen. Und es gehörte zu meinen Feſtſtun⸗ 
den, auf dem Hügel zu ſitzen, einſam unter der breiten Eiche, 
im Kreiſe der jungen, wehenden Birfen, wo zwei edle Weſen ſich 
in Unſchuld und helliger Stimmung ihre Herzen offenbart hatten, 


— 319 — 


Ach, es iſt doch viel Herrliches auf Erden! Zwar die Natur 
iſt ſchön, aber noch ſchöner iſt das menſchliche Herz. Was iſt das 
Todte neben dem Lebendigen! Der Menſch hat viel Böſes ge— 
than unterm Monde; aber darum iſt die Welt nicht minder gut. 
Die Thaten, zumal die böſen, machen nur mehr Geräuſch, als 
die Empfindungen der Andacht, der Liebe, der Freundſchaft, der 
Großmuth und anderer Tugenden. Darum fallen ſie mehr auf. 
Aber wahrlich, es find wohl wenig Stellen des Erdbodens, die 
nicht durch einen göttlichen Lebensaugenblick irgend eines längſt 
verſchwundenen Sterblichen geheiligt worden wären. Ein Schlacht 
feld voller Gebeine der Erſchlagenen, es iſt wohl ein großer Zeuge 
menſchlicher Verderbtheit. Und doch, in den Tauſenden, die da 
auf Tod und Leben ſtritten, wie viel göttliche Gefinnungen und 
große Gedanken lebten in ihnen, ehe ſie in den Tod gingen! 
Der Menſch ſah nur Mord und Grauſamkeit; Gott aber zugleich 
in Allen die ſtillen, großen, ernſten Gemüths bewegungen, dle zaͤrt⸗ 
lichen Erinnerungen an Aeltern, Geſchwiſter, Gattinnen, Freunde, 
die feierliche Weihe zur Ewigkeit im Gebet. 

Doch ich ſoll hier ja nur Geſchichte ſchreiben. 


Erſt am Ende des Jahrs, da meine Freunde mich verlaſſen 
hatten, empfing ich wieder eine Nachricht. Sie kam von Laſalle. 
Ich erkannte ſeine Hand ſchon an der Aufſchrift des Briefs. Ich 
zitterte vor Unruhe und Vergnügen, da ich das Siegel löſete. 
Hier iſt der ganze Brief: | 

„Mein lieber Kapellan, 

Ihr ehemaliger Laſalle hat Sie nicht vergeſſen. Ste blieben 
ihm theuer. Darum ſende ich Ihnen dieſe Zeilen, unh, nehmen 
Sie es mir nicht übel, eingeſchloſſen einen Wechſel von hundert 
Loulsd'or. Ich weiß, Sie machen ſich zwar nicht viel aus dem 


— 320 — 


Gelde; aber ich weiß auch, daß Sie bei Ihrer geringen Pfründe 
wenig erübrigen können, um den wohlthätigen Neigungen Ihres 
Herzens zu folgen. Ich bin Ihnen für Ihre gaſtfreundliche Auf⸗ 
nahme und Behandlung viel mehr ſchuldig, als das. Es ſoll auch 
nicht dabei bleiben, ſobald ich nur durch Ihre Antwort weiß, daß 
Sie noch im Reich der Lebendigen ſind. 

„Julie — ich ſchreibe das Wort nicht ohne einen Seufzer — 
und ihr Vater ſind vielleicht nicht mehr bei Ihnen. Wären Sie 
es: fo helfen Sie ihnen mit einem Theil, oder, wenn Sie wol— 
len, mit Allem, was ich Ihnen ſchicke. Ich werde Sie wieder 
dafür entſchädigen. Nur ſchreiben Sie mir mit umgehender Poſt 
über Baſel. Und iſt Doktor Buzet nicht mehr bei Ihnen, fo mel- 
den Sie mir doch, wo er ſich mit ſeiner Tochter aufhält und in 
welchen Umſtänden die lieben Leute leben. 

„Ich ſelbſt bin glücklich auf meinen Gütern angekommen. 
Vieles fand ich zerſtört, aber doch das Meiſte durch den Muth 
meines alten Oheims erhalten. Er iſt nie ausgewandert. Ich 
ſelbſt bin zwar noch nicht von der Liſte der Ausgewanderten voll— 
kommen ausgeſtrichen, habe aber alle Hoffnung dazu, beſonders 
da ich beweiſen kann, daß ich nicht mit den Königlichgeſinnten 
Frankreich verließ, auch nicht des Königs willen, ſondern weil ich 
mich in unſerm Departement den Gräueln der Robespierriſten und 
Maratiſten zu unbeſonnen widerſetzt hatte. Ich ward als ein ehe— 
maliger Adeliger von den Schreckensmännern verhaftet und nach 
Lyon geſchleppt. Ich entkam Nachts den Hoſenloſen und mit 
vieler Gefahr in die Schweiz. Mein alter Oheim, klüger als 
ich, ſpielte die Rolle der Freiheitsmänner mit, ſo gut er konnte, 
ungeachtet kein eifrigerer Anhänger des Königthums in Frankreich 
ſein kann, als er. Aber, ſeine Wohlthätigkeit gegen die ganze 
Nachbarſchaft, noch mehr ſein graues Haar, ſeine Kränklichkeit, 
die ihn von allem Umgang mit der Welt entfernte, retteten ihn. 


— 321 — 


Er hatte das Glück, vergeſſen zu ſein. Sieyes und Barthelemi 
ſind perſönliche Freunde meines Oheims; durch ſie hoffe ich meine 
Sicherheit im Vaterlande wieder zu gewinnen. 

„Meine ganze Familie empfing mich mit unbeſchreiblicher Freude, 
wie einen Geliebten, der wieder vom Tode erſtanden iſt. Mein 
Oheim hat mich nun zum Erben ſeines ganzen Vermögens einge— 
ſetzt, welches mit den Ueberbleibſeln des meinigen ein Anſehn— 
liches beträgt. Bald wird es auch kein Verbrechen mehr heißen, 
reich zu ſein. Man machte auch ſogleich Anſtalt, mich mit einer 
jungen Gräfin von Leſignan zu vermählen, die freilich jetzt nur 
Bürgerin heißt. Allein ich werde mich nie vermählen, da die 
Verhältniſſe meines Hauſes und meines Standes mir verſagten, 
der Einzigen, die ich liebte, die Hand vor dem Altar zu reichen. 
Zum Glück fanden ſich auch von Seiten der Leſignans Schwierig- 
keiten, die, ungeachtet ihre Glücksumſtände ſehr zerrüttet ſein 
mögen, es für Mißheirath halten, ihre Tochter einem Manne zu 
geben, deſſen Adelsbrief kaum ein Jahrhundert alt iſt. 

„Meine Familie iſt deswegen tödtlich entzweit mit den Leſig— 
nans, und nur um ſo erpichter, ſich durch mich mit einem der 
älteſten Geſchlechter des Königreichs zu verbinden. Sie wird viel 
Hinderniſſe finden, da man weiß, daß unſer Stammvater ein 
reichgewordener Generalpächter war, der ſich ſeinen Adel mit Geld 
kaufte. Mir iſt das um ſo lieber; ich werde der Anfechtungen um 
ſo weniger haben. Jetzt werden Sie begreifen, warum ich dem 
höchſten meiner Wünſche Feind ſein und mir ſelber die Hoffnung 
auf Juliens Beſitz verſagen mußte. Ich konnte fie nie zur Mei- 
nigen machen, ohne mich auf ewig von meiner Familie zu tren⸗ 
nen. Wie hätte ich es wagen dürfen, meiner guten betagten Mut⸗ 
ter die Tochter eines Arztes oder Wundarztes ins Haus zu führen! 

„Verſchweigen Sie Julien ſowohl meinen wahren Namen, als 
den übrigen Inhalt dieſes Briefes. Aber vom Geldwechſel geben 

Zſch. Nov. XI. 21 


— 322 — 


Sie ihr, und ſagen Sie ihr, daß es von dem komme, der ſie 
ewig verehren werde als die Liebenswürdigſte und Edelſte ihres 
Geſchlechts. 

„Leben Sie wohl. Ich brenne vor Ungeduld, einen Brief von 
meinem lieben Kaplan zu ſehen. Machen Sie die Zuſchrift an 
mich: Au citoyen Francois Chamfort à Montbrison No. 167. 
Von da wird mir der Brief richtig zukommen. Der wahre Name 
Ihres Freundes iſt 5 

Montbriſon, 19. Okt. 1795. 5 

Karl de Foy.“ 


Der Brief gab mir zu mancherlei Betrachtungen Stoff, die 
mich am Ende ſehr unzufrieden ließen, und ſelbſt dem großen Ge— 
ſchenke, welches beigefügt war, beinahe allen Werth raubten. 
Gute, liebenswürdige Julie, dachte ich, ſei zufrieden, daß du 
nicht ſeine Gemahlin wurdeſt. Denn mit den Jahren würden die 
Täufchungen feiner Leidenſchaft verflogen, aber feine adeligen Vor⸗ 
urtheile geblieben fein! Am Ende hätteſt du keinen Engelskopf 
mehr gehabt, ſondern den Kopf einer Griſette, und aus der Göt⸗ 
tin wäre eine Bürgerliche, aus der Verbindung mit dem Meiſter⸗ 
ſtück der Natur eine Mißheirath geworden. 

Es that mir recht leid um Laſalle oder vielmehr um den Herrn 
von Foy, und doppelt leid. Einmal, daß er das reinſte Lebens⸗ 
glück ſeinem Vorurtheil zum Opfer brachte; dann, daß gerade Er 
es brachte, der gegen Herrn Buzet auf meinem Zimmer ſo frei⸗ 
finnig über die Urſachen der franzöſiſchen Staats umwälzung und 
über den großen, langen Krieg des Lichts und der Finſterniß ge⸗ 
ſprochen hatte. Es iſt nur allzugewiß, daß auch die aufgeklärte⸗ 
ſten Männer des Jahrhunderts nie ganz rein von den Thorheiten 
und Vorurtheilen ihres Jahrhunderts ſein können, und daß ſie 


— Mad — 


immer mehr oder weniger vom Dampf und Ruß der heiligen Flamme 
geſchwärzt find, deren Licht fie preiſen. 

Da bekriegen und guillotiniren und würgen ſich die Leute ein— 
ander vom Rhein bis zum Tajo und vom Oby bis zum Rhein, 
um einander ihre Wahrheiten und Irrthümer aufzudringen. Und 
es ſind wohl noch nicht ſo viel Menſchen für Recht und Wahrheit 
in den Tod gegangen, als das Vorurtheil begünſtigte Märtyrer 
zählte. 

Arme Julie, deine Leibes- und Seelenſchönheit, dein adeliges 
reines Herz galt alſo nicht, weil Herr von Foy einen Großvater 
hatte, der als Generalpächter das Land ausſog, und dann ſich für 
das dem Volk abgequälte Geld vom allergnädigſten König dieſes 
Volkes adeln ließ. g 

Ich wundere mich gar nicht, wenn in Frankreich, wenn aller 
Orten der Vertilgungskrieg mit unverſöhnlichem Grimm geführt 
wird. Solche Menſchen werden durch keine Erfahrungen, durch 
keine Weltgeſchichte gewitzigt. Die Revolution, hat man geſagt, 
wird ihren Gang um die ganze Erde machen. Ich zweifle nicht 
mehr daran. Das Natürliche und Unnatürliche, der geſunde Men— 
ſchenverſtand und das Vorurtheil können keinen Frieden ſchließen. 
Und wo in einem Hauſe oder in einem Staate Schooskinder und 
Stiefkinder beiſammen wohnen, wie mag man ſich da jemals ver⸗ 
tragen? Soll ich's den ſelbſtſüchtigen Schooskindern verargen, 
wenn ſie ihren Vortheil nicht fahren laſſen wollen? Sie ſprechen 
von Vermächtniſſen, Verträgen und ererbten Rechten. Soll ich's 
den Stieffindern verargen, wenn fie ſagen: Wir find von Natur 
ſo viel als ihr, und fordern gleiche Rechte. Gott gab ſie uns, 
aber des Menſchen Habſucht verſtieß uns daraus? 

Das Alles ſchrieb ich nun freilich dem Herrn von Foy nicht 
nach Montbriſon. Ich wollte ihm nicht wehe thun. Aber doch 
konnte ich mich nicht enthalten, ihm zu ſagen, daß ich von ihm 


— BRA 


nicht erwartet hätte, daß er bloß aus Rückſicht auf den Adel fei- 
nes Hauſes bewogen worden wäre, jeder Hoffnung auf Julien zu 
entſagen, und ſeinem Herzen ſo grauſame Gewalt anzuthun. Ich 
hätte in der That vermuthet, daß ihn höhere Gelübde feſſelten, 
und er vielleicht geiſtlichen Standes wäre. 

Ich erhielt eine Antwort, die mich noch irrer machte, als 
ſein erſter Brief. „Die meiſten bürgerlichen Verfaſſungen unſe— 
res Zeitalters,“ ſchrieb er, „beruhen mehr oder weniger auf an— 
geerbten Vorurtheilen. Darum werden dieſe Verfaſſungen alle 
mit der Folge der Zeit untergehen müſſen, entweder durch ge— 
waltſame Umwälzungen, oder durch allmäliges Verbeſſern von 
Seiten weiſer Fürſten, die mit den Begriffen des Zeitalters fort- 
ſchreiten. Aber der Einzelne kann ſich der Macht des Ganzen 
nicht widerſetzen. Er muß den Vorurtheilen gehorchen, nicht, 
weil fie dies find, ſondern weil fie bürgerliche Ordnungen find, 
ſo ſchlecht ſie auch ſein mögen. Meine Familie will ihr Vorrecht 
des Adels weder umkommen noch zweideutig werden laſſen in einem 
Kampf, der gegenwärtig geführt wird, aber noch lange nicht ent- 
ſchieden iſt. Und eben darum, weil unſer Adel nicht zum älteſten 
gehört, iſt unſer Haus um ſo eiferſüchtiger auf deſſen Reinheit. 
Verzeihen Sie alſo dem, was Sie Vorurtheil nennen. Und iſt 
denn das eheloſe Leben der Geiſtlichen weniger Vorurtheil? 
Streitet es weniger gegen die Ordnungen der Natur und gött— 
lichen Einrichtungen? Sind Sie, lieber Kaplan, indem Sie ein 
Vorurtheil bekriegten, nicht mit den Waffen eines andern Vor⸗ 
urtheils ins Feld gezogen?“ 

Ich drehte den Brief her und hin, und möchte nicht alles 
ſagen, was ich dachte. Doch antwortete ich ihm darauf, ſo gut 8 
ich konnte, erhielt aber keine Antwort. 


— = 


Nun vergingen Jahr und Tag, und alle Nachrichten von meinen 
lieben Leuten in Frankreich blieben aus. Die Geſchichte war alſo 
für mich zu Ende. Gern hätte ich noch der armen Julie Schick— 
ſal erfahren. Ich gab alle Hoffnung dazu auf und betrachtete die 
Erſcheinung der Ausgewanderten als ein angenehmes Zwiſchen— 
ſpiel in den einfachen Begebenheiten meines Lebens. Aber ganz 
unvermuthet trat eines Tages Laſalle, wie er leibte und lebte, 
in meine Pfarrwohnung. Ich war ganz außer mir vor Erſtaunen 
und Freude, und flog mit großer Rührung an feine Bruft. 

„Ich follte mich wohl eigentlich nicht freuen, Sie bei mir zu 
ſehen,“ ſagte ich, „aber ich kann nun nicht anders.“ 

„Freuen Sie ſich immerhin, lieber Pfarrer,“ ſagte er, „denn 
ich freue mich ja auch, Sie wieder zu ſehen. Darf ich in meinem 
Vaterlande nicht mehr mit Sicherheit wohnen, ſo ſuche ich nun das 
Fleckchen Erde auf, wo ich die allerſüßeſten Stunden meines Lebens 
genoſſen; die Stellen, welche Juliens Fußtritt geheiligt hat. 

„Alſo doch wieder ausgewandert?“ 

„Allerdings, und gewiß nicht freiwillig. Ich habe nicht er— 
langen können, von der Lifte der geächteten Auswanderer geſtrichen 
zu werden. Immer unter angenommenem Namen, nie lange an 
einem Orte, konnte ich bisher in Frankreich leben. Barthelemi 
machte uns große Hoffnungen. Aber auch er iſt nun von den Ja— 
kobinern geſtürzt, aus dem Vollziehungsdirektorium vertrieben, 
und ſchmachtet jetzt in den Wüſten von Cayenne. Sobald er ver— 
haftet ward, war auch ich verrathen, weil unter ſeinen Papieren 
bedeutende Sachen von mir liegen. Ich hatte das Meinige ver— 
ſucht, dem unglücklichen Lande innern Frieden ſchaffen zu helfen; 
und dieſer iſt nur möglich durch freie Verfaſſung, verknüpft mit 
einem rechtmäßigen Königthum.“ 

„Wohl denn, lieber Laſalle oder Herr von Foy,“ rief ich, „ſeien 
Sie willkommen in unſern Friedenshütten! Sie ſollen ...“ 


eb: = 


„Laſſen Sie mich Ihren Laſalle bleiben.“ 

„Auch gut!“ fagte ich, und ſprang zu meinem Schreibpult, 
und zog einen Kapitalbrief von tauſend Gulden hervor, worin ich 
ſeinen mir geſchenkten Wechſel verwandelt hatte: „Ganz arm ſind 
Sie nicht. Sehen Sie hier Ihre hundert Louisd'or!“ 

Er lehnte fie ab. „Ich bin nicht fo dürftig als das erſtemal 
aus dem Lande gegangen, mein lieber Pfarrer. Was ſich in Geld 
verwandeln ließ nach dem Tode meiner Mutter, ward in Geld 
und Wechſel verwandelt. Mein guter Oheim gab dazu ſeinen red⸗ 
lichen Theil, weil am Ende doch vorauszuſehen iſt, daß, wenn er 
einmal ſtirbt, die Güter unſers Hauſes von den Räubern in Na⸗ 
tionalgut verwandelt werden. Gegen Mangel bin ich geborgen. 
Ich habe wohl auch noch einigen Ueberfluß, wovon ich mittheilen 
kann. — Steht das kleine Gartenhaus noch am Fuße der Wein⸗ 
berge, wo ehemals Buzet wohnte?“ 

„Freilich ſteht es noch, und immer für Sie offen, wenn Sie 
es wollen. Der Eigenthümer wird es Ihnen gern vermiethen. 
Sie ſind noch immer im Städtchen allen Leuten lieb. Aber 
warum wollen Sie nicht lieber eine bequemere Wohnung in der 
Stadt?“ 

„Ach, lieber Pfarrer, wo mir am wohlſten iſt, da finde ich es 
am bequemſten. Kommen Sie, ich will da meine Einſtedlerklauſe 
einrichten. Bringen wir die Sache ſogleich ins Reine.“ 


Es geſchah. Laſalle hatte einen alten, treuen Diener ſeines 
Hauſes mit ſich aus Frankreich gebracht. Er nahm aus der Stadt 
noch eine Köchin dazu, ſeine kleine Haushaltung zu beſorgen. Im 
Gartenhauſe mußten dieſelben Stühle, Tiſche, Betten und andern 
Geräthe wieder hergeſtellt werden, die daſelbſt während Juliens 
Aufenthalt geweſen waren. Alles mußte wieder auf der nämlichen 


> 2 — 327 — 


Stelle ſtehen; alles ſein, wie ehemals. Er ſelbſt ging nicht eher 
hinaus, bis die Einrichtung vollendet war; und zwar ich mußte 
ſie machen. „Ich möchte mich,“ ſagte er, „ſo tief, als möglich, 
in Täuſchungen einwiegen.“ 

Als wir nun das erſtemal hinausgingen, und er in der Ferne 
die hohen Ulmen ſah, hub er an bitterlich zu weinen. „Sie ſtehen 
noch,“ ſagte er, „aber Julie wandelt nicht mehr im Schatten 
derſelben!“ 

Da wir ins Haus traten, ward er noch bewegter. Er warf 
ſich ſchluchzend auf das Bett und rief: „Da bin ich nun wieder, 
aber elender, denn vorher!“ — Ich entfernte mich, ihn ungeſtört 
den Schmerzen ſeiner Erinnerungen zu überlaſſen. Als ich nach 
einer halben Stunde wieder zu ihm kam, ſagte er lächelnd: „Sie 
haben alles vortrefflich gemacht; nur dies hier war nicht der Stuhl, 
auf welchem ſie am Fenſter zu ſitzen pflegte, ſondern dort jener 
war's!“ 

Julie ward nun natürlich der Gegenſtand des Geſprächs. La— 
ſalle hatte bisher immer auffallend gemieden, von ihr zu reden, 
und ich, ſobald ich dies wahrnahm, nach ihr zu fragen. Jetzt 
aber ſchien das Reden von ihr zur Weihe der neuen Wohnung zu 
gehören. 

„Haben Sie in Frankreich niemals wieder von ihr gehört?“ 
fragte ich. 

„Ich habe fie geſprochen, als ich in Paris war,“ ſagte er, 
„und da ſind wir auch auf immer von einander geſchieden. Ein 
Zufall führte mich in der Straße Richelieu an einem Hotel vor— 
über, wo zwei Frauenzimmer aus einem Figere abſtiegen. Ich 
achtete derſelben kaum. „Laſalle!“ rief eine weiche Stimme, 
deren wohlbekannter Klang mir durch alle Nerven fuhr. Ich ſah 
mich um, und erkannte Julien. Ich eilte zu ihr. Sie winkte 


— 328 — 

mir mit den Augen Mäßigung in Gegenwart ihrer Begleiterin, 
der ſie mich als einen alten Bekannten aus Deutſchland vorſtellte, 
der ihr während der Auswanderung viele Dienſte geleiſtet. Sie 
lud mich ein, ihr zu folgen. Ich ward in ein Zimmer geführt, 
wo mich die Frauenzimmer einige Augenblicke allein ließen. Nach— 
her kam Julie einzig. Ich flog ihr entgegen, bedeckte mit glühen- 
den Küſſen ihre ſchöne Hand. Ich hatte nicht nöthig, ihr das 
Entzücken des unerwarteten Wiederſehens zu ſchildern.“ 

„Und was führt Sie nach Paris, lieber Laſalle?“ fragte 
ſie mich. 

„Die Hoffnung, von der Liſte der Ausgewanderten geſtrichen 
zu werden. Uebrigens bitte ich Sie, mich nicht Laſalle, ſondern 
Franz Chamfort zu nennen; denn ſo heiße ich, bis ich mit meinem 
wahren Namen, als Herr von Foy, wieder auftreten und Herr 
meiner väterlichen Güter ſein darf.“ 

„Sie ſind ein Herr von Foy?“ ſagte ſie erröthend. „Nun 
Vertrauen um Vertrauen: ich heiße zwar auch noch Bürgerin Buzet; 
aber ich bin die Gräfin von Montmorency, und jetzt beſchäftigt, 
Nachrichten von meinen Verwandten und den Gütern unſers Hauſes 
einzuziehen. Von letztern iſt wenig zu hoffen, und von erſtern 
höre ich widerſprechende Sagen. Die Gräfin d'Eſtain, die Sie 
vorhin bei mir ſahen, nimmt ſich meiner mütterlich an. Der alte 
Buzet, welcher in Deutſchland als mein Vater galt, iſt vor eini— 
gen Monaten geftorben. Ich bedaure den Verluſt dieſes vortreff— 
lichen Mannes, der viele Jahre Hausarzt und Freund meines ver—⸗ 
ſtorbenen Vaters war.“ 

Ich hörte ihre Erzählung in froher Beſtürzung an. Sie 
ſprach mit einer Offenheit über die Angelegenheiten ihres Hauſes, 
die mir bewies, wie tief ihr Vertrauen zu mir war. Ich hörte, 
daß ihre Familie in ſich ſelbſt entzweit, und derjenige Zweig ihres 


— — 


Geſchlechts, dem fie angehörte, in Rußland oder Amerika fei, 
oder in England. Ihr Vetter und Vormund hatte ſie im Jahr 
1792 aus Frankreich mit ſich geführt, da ſie kaum ein Alter von 
vierzehn Jahren hatte. Als er ſich nachher auf Befehl des Grafen 
von Provence zur königlichen Armee unter dem Befehl des Prin— 
zen Condé begab, überließ er ſie ihrer Hofmeiſterin Frau von 
St. Paul und dem redlichen Buzet. Aber Gram tödtete die Frau 
von St. Paul nach einem Jahre ſchon, und eine feindliche Kugel 
am Rhein den Vormund. Die Gelder hörten auf zu fließen. 
Buzet, unfähig den bisher gewohnten Aufwand zu beſtreiten, rieth, 
die deutſche Fürſtenſtadt, in der ſie bisher gelebt hatten, zu ver— 
laſſen, und in irgend einem Dorfe oder Landſtädtchen unter bürger— 
lichem Namen in der möglichſten Einſchränkung ihrer Bedürfniſſe 
eine beſſere Wendung des Schickſals abzuwarten. Inzwiſchen unter— 
hielt Buzet einen Briefwechſel mit den Bekannten in Frankreich. 
Durch Vermittlung der Gräfin d'Eſtain wurden für Julien, nach 
dem Sturz der Robespierreſchen Rotte, Gelder in Baſel ange— 
wieſen, um ihre Rückkehr aus dem Elende ins Vaterland möglich 
zu machen. So reiſete Buzet mit ſeiner Pflegetochter zurück. Ihr i 
Schickſal war aber bei dem allen noch fehr unentſchieden. Die 
Gräfin d'Eſtain rieth zu einer Vermählung Juliens mit dem Sohn 
eines der erſten Häuſer Frankreichs, der den größten Theil ſeines 
anſehnlichen Vermögens dadurch gerettet hatte, daß er gleich dem 
ehemaligen Herzog von Orleans die Jakobinermütze getragen und 
ſich allen Ausſchweifungen eines ſittenloſen Revolutionsmannes 
überlaſſen hatte. Dieſer Bürger Dubellay dachte ſehr ernſtlich an 
eine Verbindung mit Julien; er belagerte ſie mit ſeinen Liebes— 
betheuerungen, und hatte ihr ſchon tauſendmal geſchworen, er 
würde ſich das Leben nehmen, wenn ſie ihm nicht ihre Hand gäbe. 

„Aber,“ ſetzte Julie hinzu und heftete einen durchdringenden 


— 30 — 


Blick auf mich, „dieſer Wüſtling, wäre er auch kein Wüftling, 
wäre er auch reicher und von einer Familie, älter als die meinige, 
wird nie mein Gemahl. Ich werde mich nie vermählen, wenig— 
ſtens nicht ohne Einwilligung meiner nächſten Verwandtſchaft.“ 

„Theure Gräfin,“ rief ich, „wollen Sie mein Todesurtheil 
ſprechen? Ich liebte Sie als Julie Buzet; ich kann nicht auf⸗ 
hören, Sie als eine Montmorency zu lieben.“ 

„Guter Laſalle,“ ſagte ſie mit thränenfeuchten Augen, „es 
ſteht im Buche des Verhängniſſes geſchrieben, daß wir nicht glück— 
lich ſein ſollen. Tröſten Sie ſich. Sie ſelbſt, als Mann, hätten 
nicht wagen dürfen, die bürgerliche Julie Buzet in Ihre Familie 
einzuführen. Wie dürfte ich, als ein abhängiges, ſchwaches 
Mädchen, es wagen, ohne Einwilligung der Blutsverwandten, 
das Glied eines fremden Stammes mit den Zweigen von Mont⸗ 
moreney zu verbinden? Sie ſehen die Unmöglichkeit ein. Aber — 
ich werde unvermählt ſterben. Erinnern Sie ſich noch der deut- 
ſchen Eiche auf dem Hügel? — Da that ich dem Himmel das Ge 
lübde. Und damit Sie mein künftiges Schickſal wiſſen: ich gehe 
in ein Kloſter, mir gleichviel, in welchem Lande, in welcher Welt— 
gegend es ſei. Einleitungen find dazu getroffen. Aber um Alles 
in der Welt darf die Gräfin d'Eſtain nicht davon wiſſen.“ 

So ſprach Julie, und alle meine Bitten, Beſchwörungen, 
Thränen änderten in ihrem Sinn nichts. Ich ſah fie nach dieſem 
noch einigemal. 

Das letztemal nahm ich jenen Kranz mit mir, den ſie dort oben 
auf dem Eichenhügel gewunden und den ich, kunſtvoll mit ſeinen 
welken Blättern auf ſeidene Unterlage befeſtigt, immerdar als ein 
Kleinod mit mir führte. O, ſie erkannte ihn gleich, als ich ihn 
vorzog und bittend fragte: Julie, wollen Sie mich nicht erhören? 
Sie warf ſich lautſchluchzend wieder, wie damals, an meine Bruſt, 


5 —e 


nannte mich mit den zärtlichſten Namen, und bat mich, fie lieber 
zu tödten, als ferner mit meinen Bitten zu quälen. Sie blieb 
unerſchütterlich. So ſchieden wir. Ich ſah ſie nicht wieder; denn 
ich erhielt den Wink, Paris zu meiden, und mußte in Eil ge— 
horchen. Ich ſchrieb ihr von Montbriſon aus. Mein Brief kam 
unerbrochen zurück. Ich ſchrieb einigen Freunden nach Paris, 
Erkundigungen von ihr einzuziehen; Niemand entdeckte eine Spur 
von ihr. Ich vermuthe, ſie iſt durch einen geiſtlichen Verwandten 
ihres Hauſes in ein fpanifches Grenzkloſter gebracht, und damit 
ihr heißeſter Wunſch erfüllt worden. 


Auch Laſalle lebte von nun an ein wahrhaft klöſterliches Leben, 
ohne allen Umgang. Nur ich allein hatte Erlaubniß, ihn zu be— 
ſuchen. Immer fand ich ihn entweder eingeſchloſſen bei ſeinen 
Büchern, deren er eine koſtbare und ausgewählte Sammlung mit⸗ 
gebracht hatte, oder auf den Spaziergängen, die er ehemals mit 
Julien geſehen hatte. Der merkwürdige Kranz war das einzige 
Ziergeräth ſeines Zimmers unter Glas und Rahmen. — Alle 
Wochen gab er mir ein Gewiſſes an Geld, es unter die bedürftig— 
ſten Hausarmen zu vertheilen, ohne daß jedoch jemals feines Na- 
mens Erwähnung gethan werden durfte. Auch wo ſonſt zu helfen 
war, mußte ich es ihm jedesmal anzeigen; und er ſteuerte be— 
trächtliche Summen. Von einigen armen, aber tugendhaften 
Bürgertöchtern des Städtchens übernahm er die völlige Ausſtat⸗ 
tung. Immer kam die Hülfe ſo, daß Niemand den Geber er— 
rathen konnte, wenigſtens nicht mit Zuverläſſigkeit; gewöhnlich 
in Briefen, die aus Städten der Nachbarſchaft mit der Poſt ge— 
ſandt werden mußten. Und doch gerieth bald jeder auf die Ver— 
muthung, Laſalle und kein anderer müſſe der reiche Geber ſein. 


— 792 — 


Denn erſt ſeit er wieder am Weinberg wohnte, zeigte ſich der 
unſichtbare Wohlthäter. 

Eines Morgens — ich war kaum vom Bette aufgeſtanden — 
kam athemlos ſein Bedienter zu mir geſprungen, mit Bitte, ohne 
Verzug zu ſeinem Herrn zu eilen, der mich verlange. Der Be— 
diente ließ ſich nicht einmal Zeit, mir zu antworten, als ich um 
die Urſache fragte. Er rief mir nur noch im Fortlaufen zurück, 
es ſei ein Unglück begegnet; er müſſe den Arzt in der Geſchwindigkeit 
herbeiholen. 

Ich zitterte vom Schrecken an allen Gliedern. Schon ſeit 
einigen Wochen hatte ich bemerkt, daß Laſalle's Schwermuth zu— 
nehme. Ich fürchtete das Traurigſte. In Eil kleidete ich mich 
an und ging. Aber ich war wie gelähmt. 

Mit Schaudern trat ich in fein Haus. Es herrſchte Todtenſtille. 
Beim Knarren der Hausthür trat mir die Köchin entgegen, und 
deutete mir leiſe zu ſein. — „Lebt er noch?“ fragte ich. Sie 
zeigte mit dem Finger auf ſeine Stubenthür. Ich öffnete dieſe 
ganz leiſe, und trat ins Zimmer. Aber man denke ſich mein Er— 
ſtaunen. Da ſaß Laſalle, und neben ihm, an ſeine Bruſt gedrückt, 
ſehr bleich, Julie. Sie trank ein Glas Waſſer; feine Hand unter: 
ſtützte die ihrige, mit der fie zitternd das Glas hielt. Als fie mich 
erkannte, verzog ſich ihre Miene in ein mattes Lächeln. Laſalle 
ſah mich nicht an. Seine Augen hingen nur an Juliens Geſicht, 
In dem gleichen Augenblick kam auch der Stadtarzt. 

„Sie iſt wieder geneſen!“ ſagte Laſalle, „aber eine halbe 
Stunde lag ſie wie eine Leiche da.“ 

Der Arzt traf ſeine Verordnungen, die ſehr einfach waren, 
da Juliens Zuſtand nur die Wirkung einer heftigen Gemüths— 
bewegung geweſen. Auch Laſalle befand ſich noch in etwas fieber— 
haftem Zuſtande. Er war nach ſeiner Gewohnheit mit Tages— 


= — 


anbruch ausgegangen, und nach feiner Heimkunft mit dem Buche 
in der Hand hinter dem Gartenhauſe auf dem Bänkchen am Brun— 
nen geſeſſen, als die Gräfin in leichten Reiſekleidern langſam um 
das Haus kam, plötzlich vor ihm ſtand, und mit einem durch— 
dringenden Schrei zu Boden fiel. Sobald der Arzt bemerkte, daß 
hier keine Gefahr ſei, verhieß er die Arznei auf der Stelle zu 
ſenden, die man im Thee zum Frühſtück nehmen ſolle. Er ging, 
und ſchickte bald eine Flaſche alten, rothen Burgunderweins. 

Die Gräfin hatte ſich inzwiſchen erholt. Ihre erſte Frage war: 
„Aber, Laſalle, wie kommen Sie hierher?“ Eben fo fragte La— 
ſalle. Eins bezeugte dem andern ſeine Ueberraſchung, und beide 
konnten ſich lange nicht von der Wirklichkeit des Wiederſehens, 
und daß das mehr als Traum ſei, überreden. 

Ich konnte endlich aus den Fragen, Antworten, Wiederholun— 
gen, Gegenfragen und Ergänzungen folgenden Zuſammenhang 
finden. 

Julie war zu Paris feſt entſchloſſen, in ein Kloſter zu gehen. 
Sie hatte der Gräfin d'Eſtain dieſen Vorſatz geheim gehalten, 
bis ſie ihn vollziehen konnte. Inzwiſchen hatte Dubellay ſeine 
Werbung um Juliens Hand fortgefegt, und die Gräfin d'Eſtain 
ſich eine mehr als freundſchaftliche Gewalt über die verlaſſene 
und verwaiſete Tochter des Hauſes Montmorency angemaßt. Julie, 
die faſt nur abhängig von der Gnade der Gräfin lebte, hatte bei 
dieſer böſe Tage. Die Gräfin d'Eſtain ſelbſt ſcheint von Dubel— 
lay's Geſchenken beſtochen geweſen zu ſein, und ihm Juliens Be— 
ſitz zugefichert zu haben. Zum Glück nahm ſich ein Verwandter 
Juliens, der Biſchof, ihrer zur rechten Zeit an; er lud dieſe ein, 
ihn zu beſuchen, und ſandte ihr ſeinen Reiſewagen mit ſeinem 
Bedienten, ſie abzuholen. Die Gräfin d'Eſtain konnte nicht wohl 
dagegen ſein. Sie argwohnte um ſo weniger Juliens und des 


= BB — 


Biſchofs eigentliche Abſicht, da jene in Rückſicht Dubellay's nad): 
giebiger geworden zu ſein ſchien, und nur noch den Rath des 
Biſchofs hören, in wenigen Wochen wieder nach Paris zurück— 
kommen und bei der Gräfin abſteigen wollte, weil ſie keine andere 
Zufluchtsſtätte hatte. 

Julie fand an dem Biſchof einen würdigen Greis. Aber ſchon 
den zweiten Tag nach ihrer Ankunft ward derſelbe von treuen 
Freunden ermahnt, ſich zu flüchten, weil man Winke hatte, er 
werde nach Cayenne deportirt werden. Daß er mit einer zu Paris 
verurtheilten königlichen Faktion in verdächtigem Briefwechſel ge: 
ſtanden, war fein Verbrechen. Der alte Biſchof, ſtolz und ſtand⸗ 
haft, feiner Unſchuld gewiß, wollte feinen Kircheuſprengel nicht ver⸗ 
laſſen, und ſich lieber durch ungerechten Machtſpruch verdammen 
laſſen, als durch Flucht den Schein eines Miſſethäters annehmen. 
Um aber Julien nicht in ſein Verderben zu ziehen, und weil er 
wegen ihrer Aufnahme in einem ſpaniſchen Kloſter Schwierigkeiten 
gefunden, die nur durch weitläufigen Briefwechſel beſeitigt wer⸗ 
den konnten, gab er ihr hinlängliche Mittel, um mit Bequem⸗ 
lichkeit die Reiſe nach England zu den nächſten Verwandten ihres 
Hauſes machen zu können, falls fie nicht zur Gräfin d'Eſtain nach 
Paris zurückkehren wollte. — Zwei Tage nach dieſem ward der 
Biſchof verhaftet, und Alles, was mit ihm in unmittelbaren Ver⸗ 
hältniſſen gelebt hatte. Auch Julie. Sie wurde inzwiſchen mit 
vieler Schonung behandelt, nach kurzer Zeit wieder freigelaſſen, 
und erhielt endlich ſelbſt einen Paß, um mit einer Kammerfrau 
und einem Bedienten in die Schweiz zu reifen. So verließ fie 
ihr Vaterland zum andernmal. Von der Schweiz nahm ſie ihren 
Weg nach Hamburg. Es koſtete ſie nur einen Umweg von zwei 
Tagereiſen, um die Gegend noch einmal zu beſuchen, in welcher 
ſie ſo manches Jahr als Julie Buzet gelebt hatte. Sie konnte 


— 335 — 


der Sehuſucht ſich nicht erwehren. Abends kam fie in unſerm 
Städtchen an. Des andern Morgens wollte fie, unerkannt, einz 
ſam, in aller Frühe die Stätten beſuchen, die ihr durch viele daran 
geknüpfte Erinnerungen heilige Oerter geworden waren; dann wie- 
der abreiſen. 

So ging ſie gegen das Gartenhaus, welches ſie leer glaubte. 
Um ihr Daſein zu verhehlen, hatte ſie Sorge getragen, ſelbſt 
den Leuten im Wirthshauſe nur mit verſchleiertem Geſicht zu er— 
ſcheinen, und keine Frage zu thun, durch die ſie ſich hätte ver— 
rathen können. — Vom Gartenhauſe wollte ſie den Weg zu den 
Ulmen und zum Eichenhügel einſchlagen. Beim Anblick ihrer ehe— 
maligen Wohnung erwachte die ganze Vergangenheit. Noch ſchien 
ihr der alte getreue Buzet zu leben; noch, als wenn Laſalle kom— 
men müſſe, ſie in ihrer Einſamkeit zu beſuchen. Und in dieſem 
Augenblick ſah fie Laſalle'n auf der Bank, wo fie auszuruhen be— 
ſchloſſen hatte. Ihr Bewußtſein verflog. 


Wir begleiteten die ſchöne Gräfin in das Wirthshaus der Stadt 
zurück, wo ſie ihre Leute über ihr langes Ausbleiben zu beruhigen 
hatte. Zugleich bemerkten wir mit Vergnügen, daß ſie die Ver— 
fügungen traf, ſtatt ſogleich wieder abzureiſen, noch einige Tage 
zu verweilen. 

Ich würde unrecht thun, dieſe Geſchichte unnütz zu verlängern. 
Der Zufall hatte wohlthätig geſpielt. Laſalle begleitete von nun 
an Julien, wie ihr Schatten; und fie, die ohne Freund, ohne 
Verwandte, ohne Beſchützer daſtand, reichte dem Geliebten, wel— 
chem ſie ihr Herz nicht mehr entziehen konnte, auch zur ewigen 
Verbindung die Hand. Ich hatte das Vergnügen, vor dem Altar 
meiner Kirche die Ehe eines Paares einzuſegnen, welches ſeit fo 


— 336 — 


vielen Jahren meine innigſte Theilnahme gefeſſelt hatte. Einige 
Tage nach ihrer Vermählung reiſeten Beide, weil es Julie 
wünſchte, nach Hamburg und England. Vor zwei Jahren erhielt 
ich von Laſalle einen Brief aus Amerika, wohin er ſich mit ſeiner 
Gemahlin begeben, um den Vorurtheilen, Unruhen, Kriegen und 
Staatsumwälzungen fremd zu bleiben, die noch ferner die Ruhe 
unſers Welttheils ſtören ſollten. 


an —̃—ͤ! 


Schulze von Celle 


und 


Cäeilie. 


An Cäcilie in Paris. 


Zu Ihrem Geburtsfeſte, liebenswürdige Cäcilie, ſende ich Ihnen 
die Cäcilie Schulze's von Celle, ſchon weil dieſe ſchönſte 
Blume, die neu entſproſſen im deutſchen Dichtergarten blüht, 
eben Ihren Namen trägt. Legen Sie mir ja die beiden Bände 
nicht mit kalter Gleichgültigkeit auf die Seite! Ich weiß es ja 
recht gut, unſere Million Dichter und Dichterinnen hat Ihnen 
mit dem faden Klingklang ihrer Muſengaben alle Luſt verdorben, 
Verſe zu leſen. Sie wollen bei Klopſtock, Schiller, Wie— 
land, Göthe, Bürger, Salis, bei unſern herrlichen Alten 
bleiben. Nun denn, auch Schulze von Celle iſt einer der 
Alten. Wagen Sie es nur, die erſten Stanzen zu leſen, und 
der Strom eines ſeltenen, fremden Zaubers zieht Sie durch alle 
zwanzig Geſänge im Triumph davon. 

„Wer iſt denn dieſer Schulze von Celle?“ hör' ich Sie fra⸗ 

Zſch. Nov. XI. 22 


— 338 — 


gen: „Wer iſt denn dieſer Eine der Alten?“ — Ein junger 

Mann von neunundzwanzig Jahren, der ſeit dem Sommer 1817 
fanft im Grabe auf dem Kirchhofe feiner Vaterſtadt ſchläft, deren 
Namen er verherrlicht. Ich will Ihnen, um den erſten Wider⸗ 
willen gegen neue Gedichte zu beſiegen, etwas vom Leben des 
Jünglings erzählen. Sie werden ihn liebgewinnen. Ohnedem 
iſt fein Lebensſchickſal die beſte Erklärung des Gedichts, und das 
Gedicht hinwieder iſt die beſte Erklärung ſeines Lebens. Beide 
ſind gleichſam Eins; das Gedicht iſt nur der vernommene Klang 
ſeines Weſens und Daſeins, iſt eine Biographie ſeines Gemüthes, 
wie wir kaum von irgend einem andern Sänger Aehnliches haben. 
Und ſtände fein Gedicht nicht als Kunſtwerk hoch neben den Mer: 
ken anderer großen Deutſchen, fo würde es ſchon als pſychologiſche 
Merkwürdigkeit anziehen. 

Er war der Sohn des Bürgermeiſters von Celle, und hieß 
Ernſt Konrad Friedrich. Aber ich will ihn lieber Schulze 
von Celle nennen, weil wir der Schulzen in der Welt und in 
der deutſchen Literatur ſchon eine Legion haben. Dieſer Eine ver⸗ 
dient wohl, daß er nicht durch Taufnamen, die auch Andere mit 
ihm gemein haben können, von den zahlreichen Namensvettern 
unterſchieden werde, ſondern durch ſeinen bloßen Namen gelte, 
welcher der Schmuck ſeiner Vaterſtadt geworden iſt. 

Schon als zarter Knabe lebte er mehr ein ſtilles inneres Leben, 
als ein Leben mit der Außenwelt und für ſie. Er ſchien dieſer 
nur anzugehören, weil er an ſie gebunden war und ihr zugehören 
mußte. Den beſſern Genuß des Dafeins empfand das Kind im 
Fürſichſein, im Ahnen, Hoffen, Glauben, im bunten Zauberkreiſe 
feiner Vorſtellungen und Gefühle. Nicht die Welt, die er ſah 
und hörte, ſondern das verklärte Bild derſelben in feinen Ger 
müthe war es, was er lieb hatte. 


ZB = 


Reizbar und gutmüthig, wie er war, hätte er gern die ganze 
Welt umfangen und an ſein Herz drücken mögen. Aber an ihren 
rauhen, kalten Formen empfand er bald, fe ſei nicht, was fein 
ſtilles, inneres Himmelreich. Darum verſchloß er ſich in dieſes, 
und trat aus demſelben in das äußere Leben nur immer wie ein 
Fremdling hinaus. 

So lebte ſchon das Kind, ſo der Knabe. Natürlich, man ver⸗ 
ſtand ihn nicht. eine Mutter vielleicht hätte ſich in ſein Inner⸗ 
ſtes mit der zarten Macht mütterlicher Ahnung hineinempfunden; 
allein ſie war früh geſtorben. Doch eine treffliche Frau, ſeine 
Stiefmutter, vertrat deren Stelle. Er erkannte es dankbar lie— 
bend bis zum letzten Hauch, was ſie ihm geweſen. Von ihr 
ſang er: 

Und du, Antonie, du Herrlichſte der Frauen, 

Der nicht mein Mund allein den Mutternamen gibt, 

Du nahteſt jugendlich dem Jüngling mit Vertrauen, 

Und haſt im Vater ſtets auch ſeinen Sohn geliebt! 

O möchteſt du auch hier dein Kind noch glücklich ſchauen, 
Das Freude nur begehrt, weil dich ſein Schmerz betrübt! 

O möchte künftig nie dein feuchter Blick mich fragen: 

Was drückt dein Herz? Was ſäumſt du, mir's zu klagen?“ 

Und doch iſt die beſte Stiefmutter unterm Himmel nicht die 
Mutter, deren Sinn und Leben ſich im Sinn und Leben des 
Kindes von ſelbſt auflöſet, weil ſie Beide nur Eins, nur zwei 
getrennte Thautropfen find, die gern wieder zuſammenrinnen. 

Daher kam es nun, daß man ihn zwar für einen herzguten 
Knaben im Hauſe hielt, aus dem aber nicht viel zu machen ſei. 
Was andere Kinder viel ergötzen mochte, zog ihn nur ſehr vor 


*) @äcilie, Geſ. 19, Stanze 7. 


übergehend an. Nichts feſſelte ihn lange, weil nichts draußen 
mit dem, was in ihm tönte, zuſammenklang. Man bemerkte 
wohl, er habe Anlagen, etwas in Wiſſenſchaften zu leiſten; aber 
dauernde Neigung fehlte auch zu ihnen. Die Lehrer mußten ihn 
mit Strenge anhalten, ſeine Arbeiten zu verrichten; er ſchob die— 
ſelben gern ſo lange, als möglich, zurück; und wenn es dann ſein 
mußte, machte er ſie ſo ſchnell, als möglich, ab. Im Hauſe gab 
es Klagen über Klagen, wie er doch ſo unanſtellig ſei. Empfing 
er Aufträge, war Niemand ficher, ob er fie gehörig verrichte. 
Die Bücher verlor er. Auf ſeine Kleider hatte er nun gar nicht 
Acht; bald hie, bald da ein Riß und Loch, bald hie, bald da ein 
Schmutzfleck. Da gab es viel zu rathen, was aus dem Knaben 
am Ende werden ſolle. 

Und er war doch in ſich ſelbſt glücklich, wenn ihm auch das 
ganze Weſen der ihn umringenden Wirklichkeit nicht zuſagte. Seine 
ganze Kinderzeit ſchien gewiſſermaßen ein täglicher Kampf mit dem 
Leben zu ſein, dem er nicht angehören konnte, das ihn immer abſtieß, 
und mit dem er ſich immer wieder verſöhnen wollte. Zuweilen fand 
er, was ihn zu binden ſchien. Dann gab er ſich mit kindlichem Un- 
geſtüm dem Lieblingsgegenſtand hin, bis er am Ende wahrnahm, 
auch das fülle ſeine Sehnſucht nicht aus. Eine Zeit lang beſchäf— 
tigte es ihn ſehr, Wappen zu ſammeln. Er machte eine anſehn— 
liche Sammlung. Die verſchiedenen Bilder und Zeichen der Siegel, 
wie geheimnißvolle Hieroglyphen lebender und verſtorbener Ge— 
ſchlechter, reizten ſeine Einbildungskraft zur harmloſen, dichtenden 
Thätigkeit. Ein andermal legte er eine Sammlung kleiner Münzen 
an. Mit leidenſchaftlicher Standhaftigkeit hing er an dieſem Spiel, 
bis es ihm nicht mehr genug that. Dann trat er wieder zurück. 
Abgeriſſen war von neuem der Faden. Die geſammelten Schätze, 
von denen ſein Geiſt gewichen war, lagen todt und werthlos für 


— 341 — 


ihn da. Er ſchenkte ſie gleichgültig Andern. Was war mit dem 
kleinen Träumer zu thun? 

Doch nichts weniger war er, als bloßer Träumer. Wenn er 
im Spiel mit ſeinen Altersgenoſſen ſich herumtummelte, war Keiner 
zu luſtigem Treiben, Springen, Ringen und Kämpfen, Poſſen 
und Heldenſtückchen erweckter, denn er. Wo Witz und kindlicher 
Großſinn, wo Kraft und Muth galt, war er nicht der Letzte. Doch 
auch hier geſtaltete er nur ſeine innern Bilder wieder ins Wirk— 
liche hinaus, und die That des jugendlichen Spiels galt ihm für 
das mangelnde Wort. 

Zufällig geſchah, daß der vierzehnjährige Knabe einſt in der 
Familie eines Pachters auf einem Landgute unweit Celle zu wohnen 
Erlaubniß erhielt, und daß er hier eine alte Bücherſammlung fand, 
reichlich mit Rittergeſchichten und Feenmährchen verſehen. Da ſchloß 
ſich eine neue Welt für ihn auf. Er athmete unter Wundern und 
Gebilden der Einbildungskraft. Sein ganzes Weſen hing ſich dieſen 
Erſcheinungen an, die nur Wiederklänge von Stimmen zu ſein 
ſchienen, die längſt in ihm getönt hatten. 

Und nun erſt begannen ſich die täuſchenden Nebel zu entwirren 
und zu ſcheiden, in denen er bald ſein Inneres mit dem äußern 
Leben verwechſelt, bald in Eutzweiung mit dieſem gegrollt, bald 
ſich vereinſamt gefühlt hatte. Er verbarg das Heiligthum, das 
von Allen Verkannte, das Unnennbare, was er liebte, glaubte 
und immer gern, wenn auch vergebens, in der Wirklichkeit ſuchte, 
immer hineindachte, wenn er ſich auch ſelbſt täuſchte. Er gab den 
bürgerlichen Verhältniſſen, was er ihnen ſchuldig war, — aber 
auch um kein Haar mehr. Er widmete den zur Hochſchule vor— 
bereitenden Kenntniſſen mehr Fleiß, und ging im ſiebenzehnten 
Jahre nach Göttingen. 

Rechtsgelahrtheit und Heilkunde ekelten ihn an. Die Gottes— 


— 342 — 


gelahrtheit ſchien ſeinem Gemüthe zuſagender. Als er aber den 
Wuſt der Dogmatik und Vieles von dem breiten, herz- und geiſt⸗ 
loſen Kram der Theologen kennen lernte, ward er deſſen bald ſatt. 
Er wandte ſich deſto entſchloſſener zur Ergründung der alten Sprachen 
und Literaturen Griechenlands und Roms. Er nahm da ſeinen 
eigenen Gang, den er mit ſtillem Fleiße verfolgte, ohne viel aus 
den Vorleſungen der Profeſſoren zu machen, die er mehr des Anz 
ſtands, als des Lernens wegen zu beſuchen fehlen. Denn ein ſelbſt⸗ 
thätiger, ſchöpferiſcher Geiſt, wie der ſeinige, konnte ſich, um zu 
lernen, nicht leidend verhalten; er wollte nicht müßig empfangen, 
ſondern aus eigener Kraft erwerben. 

Die ſüßeſten ſeiner Stunden aber blieben die, in 12 5 er un⸗ 
belauſcht, was ſich in ihm mächtiger und mächtiger bewegte, die 
Sehnſucht nach dem Schönern und Heiligern, ausathmen konnte 
in leichten Liedern; die Stunden, in welchen er ſich mit den hohen 
Urbildern umringen konnte, die er nirgends im matten Alltags⸗ 
leben, nur noch in den Geiſteswerken der herrlichen Alten ents 
deckte. Hier, wo Vater Homer und der lebensweiſe Wieland ihn 
führten, war ſeine Heimath. 

Trat er in die bürgerliche Welt zurück, betrachtete er ſie wie 
ein großes Gaſtmahl, aufgetiſcht zum Genuſſe und zur Freude. 
Zwar rein blieb er in feinen Sitten; aber dem jugendlichen Froh— 
ſinn gab er ſich ungebunden hin, wenn ſchon auch die Luſt an 
muthwillige Ausgelaſſenheit ſtreifte. Er ging darauf aus, von ſich 
ſagen zu können, und ſagte es: 

Wahrlich, ich habe gelebt! Nicht reut mich die fröhliche Wildheit! 
Feſt an die feurige Bruſt drückt' ich das blühende Sein, 

Küßte die ſcheidende Luſt, und der nahenden lacht' ich entgegen 
Und zur geliebteſten Braut ward die Minute mir ſtets. 


Der leichte Sinn, mit dem er ſich in das Wellenſpiel des Lebens 


— 


hinwarf, war wohl eben fo fehr eine Wirkung feines natürlichen 
Frohmuths, als einer Art heimlicher Verzweiflung, daß er der 
Wirklichkeit nicht ein Glück abgewinnen konnte, welches ſeine 
ganze Seele zu erfüllen fähig war. So nahm er von der Wirk— 
lichkeit, was ſie ihm gewähren konnte: ſtatt des Glücks den 
täuſchenden, flüchtigen Rauſch. Je ernſter ſein Gemüth in einem 
zielloſen, unbefriedigten Sehnen daſtand, je wildfröhlicher erſchien 
er von außen. Sobald hingegen dies Gemüth den Vollgenuß fand, 
den er ſuchte, ward er gleichgültiger gegen die Außenwelt, un— 
bekümmert um ihre Herrlichkeiten alle. Und dieſen Vollgenuß ge— 
währten ihm die Gefühle der erſten Liebe. Von dem Augenblick 
an verlor er die Theilnahme an Allem, was ihn ſonſt anziehen 
konnte. Er ließ ſich ſeltener ſehen, lebte verſchloſſen in ſeinem 
Zimmer unter ſeinen Büchern und Träumen. Fragte man ihn, 
was ihm fehle, gab er nur die Antwort: „Ich war in meinem 
Leben noch nie ſeliger, als ich bin.“ 

Je mehr auf Erden ſich die Blumen ihm verſchloſſen, 

Je ſchön're waren jetzt vom Himmel ihm enthüllt.“) 

Und die, durch die er es ward, war Cäcilie, Tochter eines 
Göttingiſchen Gelehrten. Das Bild, welches uns ſein Biograph 
und ehemaliger Lehrer von ihr entwirft, wie trocken und proſaiſch 
es auch ſein möge — ſonſt iſt das der auch Ihnen nicht unbekannte 
wackere Bouterwek in Göttingen eben nicht —, verräth, fie 
war der Verehrungen eines ſo edeln Sängers allerdings durch 
Lieblichkeit des Körpers wie des Gemüths vollkommen würdig. 

Hören Sie nur, wie Bouterwek ſie ſchildert: „In der vollen 
Blüthe der Jugend — reizend vor vielen ihres Geſchlechts — 


) Cäeilie, Gef. 16, St. 40. 


- Bi — 


von zarter Sittſamkeit — empfänglich für alles Schöne — geift- 
voll — von hinreißender Lebendigkeit in ihrem ganzen Weſen — 
eine ſinnige Zeichnerin — im Harfenſpiel vielgewandt und aus— 
drucksvoll. — Was ſetzen Sie ſich aus ſolchen Zügen zuſammen? 
Und nehmen Sie dazu noch, daß dies alles nur hingeworfene 
Worte eines Philoſophen ſind. Philoſophen haben ſich in der 
Regel aber gar nicht um ſchöne Mädchen zu bekümmern, und 
nehmen eher von einer algebraiſchen Formel, als von einem Paar 
ſeelenvoller Augen Notiz, wie Sie wiſſen. Und doch könnte man 
ſich aus allen jenen Zügen ohne Mühe das vollſtändige Bild einer 
Petrarkiſchen Laura zuſammenfügen. 

Nun aber hören Sie, wie Schulze von Celle ſie ſchildert: 


Gleich Blüthen, die in Edens Lauben 
Zum ew'gen Schmuck der reinen Engel blüh'n, 
Schien ſich ein heil'ger Kranz von Unſchuld, Lieb! und Glauben 
Mit mildem Licht um ihre Stirn zu ziehn. 


Habt ihr den erſten Glanz des frühen Strahls geſehen? 
Wenn er empor ſich ſchwingt an blauen Himmelhöhen 
Und mit dem Grau'n der Nebelwogen ſpielt? 
O, habt ihr dann das Weh'n der Düfte, 
Den linden Kuß der neuerwachten Lüfte, 
Des reinen Lebens friſchen Hauch gefühlt? — 
So paarte ſtill in ihrem Bilde 
Sich adlich-kühner Stolz mit himmliſch-reiner Milde.“) 


In der Nähe dieſes edeln Weſens zu leben, mit dieſer wahr— 


haft heiligen Cäcilie und ihrer, nach Bouterweks Verſicherung, 
nicht minder liebenswürdigen Schweſter Adelheid im freund— 


) Gäcilie, Gef. 1, St. 14, 15. 


— 345 — 


lichen Umgang verflochten zu ſein, ward das höchſte Gut des 
geſangreichen, von den Muſen und Grazien geliebten Jünglings. 
Das ganze Weltall lag um ihn verwandelt. Wie er in ſeinem 
großen Gedichte die Heldinſchweſter ſprechen ließ, ſo galt das 
Wort derſelben von ihm ſelbſt: 


Auch ich empfand, wie in dem Zauberlichte, 
Das junge Liebe jetzt, mir ſelber unenthüllt, 
Um meine Tage wob, mir jedes ird'ſche Bild 
Gleich einem zarten Traumgeſichte 
Der ſchönern Welt erſchien. So glänzend hatte nie, 
Wenn hold der Lenz aus blauen Lüften ſchwebte, 
Das Leben mich umſpielt, als jetzt die Fantaſie, 
Vom Hauch der Lieb' erregt, die Schöpfung mir bewegte. 


Wie Manches ſchwand mir ſonſt bedeutungslos dahin, 
Was eng und traulich jetzt an mein Gefühl ſich ſchmiegte! 
In jedem irren Glanz, der auf der Flur ſich wiegte, 

In jedem Blüthenkelch ſchien mir ein tiefer Sinn 
Der eignen Bruſt erklärt. Doch nimmermehr genügte 
Dem ungeſtillten Geiſt der freundliche Gewinn. 

Stets wähnt' ich, daß in unenthüllter Tiefe 

Noch eine ſchön're Welt der zartern Bilder ſchliefe. 


Wohl welkte nun der ſchöne Blumenkranz, 
Der ſonſt, vom lichten Hauch der flücht'gen Luſt gefächelt, 
Mit ſtets verjüngtem Reiz und ewig friſchem Glanz 
Um meine Kinderzeit gelächelt; 
Doch ruhig, hehr und herrlich ſchien 
Nun eine einz'ge Wunderblume, 
Der ew'gen Flamme gleich, im ſtillen Heiligthume 
In meiner ſtillen Bruſt mit ſel'gem Hauch zu blüh'n.“) 


) Cäcilie, Gef. 5, St. 69 — 71. 


— — 


Nur wer ſelbſt fo rein und groß geliebt hat, wie dieſer un— 
ſterbliche Jüngling die unſterbliche Cäcilie, verſteht den tiefen in 
der melodiſchen Sprache der Götter von ihm ausgeſprochenen 
Sinn. Er liebte innig; inniger als feine Gäcilie ahnen mochte, 
die ſeine Zuneigung mit freundlichem Wohlwollen erwiederte. 
Alle Thorheiten der Leidenſchaft waren fern von ihm. Die Liebe 
hatte nur ſein Inneres vergöttlicht; ſein Aeußeres blieb das, 
was es vorher geweſen. Mit ununterbrochenem Fleiße blieb er 
dem Studium der Griechen und Römer treu, fein Weſen ſtill— 
heiter, einfach, anſpruchlos, doch in ſich gekehrter, denn ſonſt. 

Wer den Sänger näher kannte, mußte ihn liebgewinnen, 
mußte ihn hochſchätzen. Beim erſten Anblick erkannte man nicht 
leicht den verſchloſſenen Edelſtein. Zwar er war hübſch gewachſen, 
von feſter Haltung; in feinen Geſichtszügen voll feinen Eben: 
maßes wohnte etwas Edles; ſein Blick war geiſtvoll, lebendig, 
unſtät. Doch den Nebenbuhler Wielands und Arioſts vermuthete 
Niemand in dem ſchlichten, jungen Manne, der im gewöhnlichen 
Leben nichts weniger, als poetiſch, ſondern ſehr verſtändig er— 
ſchien. Er verband mit männlichem Selbſtgefühl harmloſe Be— 
ſcheidenheit, mit der empfindlichſten Reizbarkeit die gutmüthigſte 
Verſöhnlichkeit, mit der regſamſten Einbildungskraft die ſtillſte 
Beſonnenheit. Eins aber zeichnete ihn am meiſten aus: er war 
eine unbefangene, reine Seele, wahr und klar, von den Dingen 
des alltäglichen Lebens und von Allem, was dem gemeinen Hau— 
fen gefällt, ungeblendet; frei, wie ſein Sinn, ſein Urtheil; allem 
Truge feind; immer dem Vollendeten, dem Geiſtig-Edlern nach: 
ringend, um zeitliches Glück gramlos. 

Gewiß, liebenswürdige Cäcilie, wohl nicht viele unferer junz 
gen Männer, noch wenigere der heutigen ältern, gleichen ihm. 
Wer hätte ihm nicht ſchon unter der Sonne das ſchönſte Glück 


= = 


wünſchen mögen? — Ach! er empfing es nicht! Seine Gäcilie 
erkrankte von einer Erkältung. Ihr heiliger Duldermuth im Leiden 
erhöhte nur des unſterblichen Jünglings Gefühl. Aber ſie zeigte 
auch eine Seelengröße, der Bewunderung würdig. Noch nicht 
achtzehn Jahre alt, nahte fie ſchon dem Tode. Aber 


Aus ihrem Auge ſtrahlt ein unvergänglich Leben, 

Ein ſchön'res Morgenroth umfließt ihr Angeſicht; 

Und Strahlen ſieht man hell um ihre Stirne ſchweben, 

Und ihres Schleiers Saum umwallt vom heil'gen Licht; 

Und ſchlanker ſcheint ihr Leib und leichter ſich zu heben; 
Ihr ſanft getragner Fuß berührt die Erde nicht; 

Demüthig ſteht ſie da in wunderſel'ger Schöne, 

Und weiß nicht, daß ſchon jetzt fie Gott zum Engel kröne. 


So ſah ſie der liebende Dichter. 


Wohl härmt er tief ſich um ihr frübes Scheiden, 
Und mußte doch ihr oft den heil'gen Glanz beneiden. 


Cäcilie ſtarb. In ſtarrer Verzweiflung ſtand der Jüngling 
am Sarge der Angebeteten. Er fühlte den Tod von ihrem Herzen 
zum ſeinigen gehen. Das Leben war ihm gleichgültig; aber nicht 
ſcheiden wollte er vom Erdenleben, ohne durch den Zauber ſeiner 
Harfe den Namen der Verklärten auf die fernſte Nachwelt zu brin— 
gen. Alles, was ſeinem Geiſte die freigebige Natur verliehen, 
wollte er ihr zu einem ewigen Denkmal weihen, wie noch keine deutſche 
Frau, noch kein deutſches Mädchen empfangen. In einem großen 
Liede ſollte ſeine Kraft verhallen mit ſeinem Leben. Das gelobte 
er in ſeinem Innerſten, und hielt den heiligen Schwur, wie er es 
ſelbſt erzählt. 


Denn als ich ſtumm an deinem Lager kniete — — 
Da blickt' ich auf zu dir, und ſieh, ein zarter Glanz 
Umwob den keuſchen Mund, den Schnee der bleichen Wangen, 
Rings ſchwebt' ein ſel'ger Geiſt, wie leiſer Weſte Tanz, 
Und ſüßer Schlaf hielt friedlich dich umfangen. 
Die Stirn umduftete der Mirthe blüh'nder Kranz; 
Des Lebens friſche Zier ſchien um den Tod zu prangen, 
Und Thränen fand mein Blickz des Glaubens lichte Spur 
Verfolgt' ich ſtumm, und that den großen Schwur: 


Nicht ungenannt ſollſt du von hinnen ſcheiden; 
Dein Staub ſoll nicht im Sturm der Zeit verwehn, 
Der Enkel ſoll an deinem Bild ſich weiden, 
Verherrlicht ſich in dir die Jungfrau ſehn. 

Was mir die Gunſt der Himmliſchen verliehen, 

Soll ewig unverwelkt auf deinem Grabe blühen, 

Und was Begeiſt'rung mich in kühnen Träumen lehrt, 
Sei meiner Lieb' und deines Reizes werth.“) 


Und der hohe Sänger erfüllte das Wort. In zwanzig Ge— 
ſängen fang er fein großes, romantiſches Gedicht, welches er 
Cäcilia nannte; ein wunderbar-liebliches Werk, welches mit 
Arioſts wüthendem Roland und Wielands Oberon und Taf: 
ſo's befreitem Jeruſalem der Unvergänglichkeit gewiß iſt. Gleicht 
der Oberon einer üppigen, lachenden Roſe, ſo iſt Cäcilia eine 
reine Lilie voller Silberglanzes daneben. Waltet im Oberon 
ein lauer italieniſcher Himmel, ſo erſcheint in Cäcilia alle An— 
muth, Sinnigkeit und ſchauervolle Pracht des deutſchen Norden. 
Wie im Taſſo die Eroberung des heiligen Grabes, ſo iſt im 


) Cäeilie, Gef. 1, Stanze 3. 4. 


\ 


— 349 — 


Schulze von Celle die Eroberung Lethra's und die Belehrung 
des heidniſchen Dänenreichs der Hauptſtoff; wie im Arioſtſchen 
Roland, führt uns die Muſe in der Cäcilia durch ein reizendes 
Labyrinth von Wundern. 

Und dies edle Meiſterwerk, dieſe Blüthe eines heiligen Grams, 
einer unſterblichen Liebe, war das Werk eines ſiebenundzwanzig— 
jährigen Jünglings! war das Werk nur von 3 Jahren, wäh— 
rend welcher Zeit er noch ein halbes Jahr lang, nämlich im Som— 
mer 1814, den Feldzug der Nordarmee gegen Frankreich mitmachte. 
Er hatte ſich nämlich als Freiwilliger in die Jägerſchaar des 
Oberſten Beaulieu einſchreiben laſſen. Sein Homer begleitete 
ihn auf dem Feldzuge, deſſen Zerſtreuungen ſeinem Gemüthe und 
feiner durch Cäciliens Tod ſchwer erſchütterten Geſundheit wohl— 
thuend geworden zu ſein ſchienen. 

Als er aber nach Göttingen zurütkkam, wandte ſich der alte 
Schmerz mit erneuter Macht zu ihm, und er ſchwand ſichtbar hin, 
ſtill und wohlwollend gegen Jedermann, aber ernſt und verſchloſſen, 
nur mit Vollendung ſeines Werks und den Gedanken an Cäcilien 
beſchäftigt: 

Wie ein Gefäß, das Myrrhen einſt verſchloſſen, 
Auch ſpäter noch die ſüßen Düfte hegt; 

Wie ein Gewölk von Abendroth umfloſſen 

Sanft leuchtend noch ſich durch die Dämm'rung regt; 
Und wie ein Strom in's ſalz'ge Meer ergoſſen 

Noch weit hinaus die ſüßen Wellen trägt: 

So kann gekränkt, verſtoßen und verlaſſen, 

Wer dich geliebt, nicht zürnen und nicht haſſen. 


Im Dezember 1815 hatte er die im Jänner 1813 begonnene 
Gäciliade beendet. Seine Kräfte waren erſchöpft. Ihm, der an 
der Schwindſucht langſam verblühte, konnte vielleicht noch durch 


— 350 — 


Luftänderung und Reiſen geholfen werden. Wohl ward die Liebe 
zum Leben noch in ihm wach. Er machte in den Sommermonaten 
des Jahres 1816 eine Fußwanderung durch die Landſchaften am 
Main und Rhein. Doch kränker als vorher kehrte er heim. 

Nichtsdeſtominder entwarf er für künftiges Jahr Reiſeplane nach 
Italien, und wie er da im Lande Arioſts in Arioſtiſchen Weiſen 
ein neues Lied beginnen wolle. Sein trefflicher Vater, 


— der ſo früh des Sohnes Sinn verſtand, 
Und nicht mit engem Maas ihm ſeinen Pfad bedeutet, 


bewilligte dazu die Reiſekoſten. 

Inzwiſchen verherrlichte er noch einmal in einem idylliſchen 
Epos: die bezauberte Roſe, feine verklärte Cäcilie. Denn 
die Roſe war ihm ein geheimnißvolles Sinnbild eines Etwas, 
das in feinem Herzen und' Gedächtniß tief verborgen lag. Auch 
in der Cäciliade iſt eine wunderbare, in überirdiſcher Pracht 
blühende Roſe, die auf dem heiligen Altare Lethra's glänzte, — 
ein himmliſches Palladium, deſſen Beſitz den Triumph und den 
Tod gewährte. Wer kennt den verſchloſſenen Sinn? Wer weiß 
es, welche ſchöne Stunde dem Dichter, im Umgange mit der ge— 
liebten Cäcilie, die Roſe zum Kleinod ſeiner Fantaſie und Gefühle 
gemacht hat? Wer ſagt es, welche ſüße Erinnerungen für ihn an 
dieſer Fürſtin der Blumen hingen? 

Vorzeiten war es anders, da man auf dem Kapitol zu Rom, 
außer Kaiſern, auch Dichtern, wie Taſſo und Petrarka, Kronen 
und Triumphe bot, und Könige und Fürſten ſelbſt den Trefflichſten 
der Sänger Preiſe und öffentliche Ehren weihten, fie zum Wett: 
eifer zu ermuntern. Heutiges Tages geſchieht es nicht mehr. Etwa 
noch Privatperſonen denken ſo gegen Dichter. Einſt ſetzte Cotta 
Preiſe für Künſtler und Sänger aus, als ſchlüge in ſeiner Bruſt 


— 8 — 


das Herz eines Mediceers. Und Brockhaus that desgleichen, 
glücklicher noch, als Cotta. 

Schulze von Celle ſandte ſein erzählendes Gedicht, „die be⸗ 
zauberte Roſe“ zur Preisbewerbung an den edelſinnigen Brockhaus 
nach Leipzig. Er hatte in ihr das Höchſte leiſten wollen, was er 
in der Kunſt des zarten Versbaues vermögen könnte. Er lag im 
väterlichen Hauſe zu Celle auf dem Sterbebette, als ihm die Nach— 
richt ward, die bezauberte Roſe habe den Preis gewonnen. Eine 
leichte Freude erfriſchte ihn. Er arbeitete nichts mehr. Nur an den 
Geſängen von Cäcilia meiſterte er noch mit Liebe. Die Verklärte 
war fein Lied, fein Traum. Nur für fie ließ er 

die Harfen klingen 
Beim Morgenſtrahl, beim ſtillen Abendroth. 
Ihn ſchien die Zeit hold weilend zu verjüngen; 
Ein blüh'nder Frühlingstag bracht“ ihm den Tod. 
Und bis der letzte Schlaf die leichten Engelſchwingen 
Zum Flug ins ſchön're Land dem reinen Geiſte bot, 
Sah man ſein Auge nie von Schmerz und Thränen trübe, 
Er ſang Cäeilie, das Lied der treuen Liebe. 

In einem Alter von kaum neunundzwanzig Jahren ſtarb er zu 
Celle am 26. Brachmonat 1817, wo er im Jahr 1789 am 22. März 
geboren war. Vor ſeinem Tode noch hatte er das Beſte ſeines Ver— 
mächtniſſes, die Handſchrift vom romantiſchen Heldengedichte Cäcilia, 
den Aeltern ſeiner Geliebten übergeben. Er ſchloß einſchlummernd 
unter den Thränen der Verwandten und Freunde die Augen. Sein 
Geiſt war mit der Auserwählten in einem ſchönern Sein. 


Geſtehen Sie nun ſelbſt, theure Cäcilie, wie Schulze von 
Celle hat wohl noch kein Dichter gelebt und geliebt; denn Ge— 


— 352 — 


ſang, Leben und Liebe löſeten ſich in ihm in ein Einiges auf, 
und verſtummten zugleich mit einander unterm Hauch des Todes. 
Nur Geſang und Liebe waren die Blüthen und Früchte ſeines Da— 
ſeins unterm Monde; nur die Liebe war's, die ihn leben und ſingen 
lehrte, und in ſeinem Geſang athmet ſein ganzes Leben und Lieben 
wieder. 

Obwohl die ganze Fabel ſeines Epos in der wunderreichen 
Zeit des nordiſchen Alterthums ſpielt, aus der uns die bekannten 
Namen des Kaiſers Otto J. oder des heiligen Ansgarius, 
erſten Erzbiſchofs von Hamburg und Bremen, entgegenklingen: 
erſcheint doch immer in der Heldin, welche das Heer der Chri— 
ſten entzückt, nur Cäcilia von Göttingen wieder, aber ver— 
klärter im Schimmer der Liebe und der Religion. Und obwohl 
die Muſe uns fort und fort durch Heldenwerke, Schlachtgewitter 
und Zauberſpiele leitet, begegnet uns dennoch ein frommer, lie— 
bender, auf die Seligkeit der Liebe anſpruchlos verzichtender, ſtill— 
heiterer Sänger, in welchem wir immer wieder den Dichter ſelbſt 
erkennen. Das Ganze ſteht da, wie ein großer, düſter glänzen 
der, ſchwermüthig-ſchöner Fiebertraum von alten Burgen, blü— 
henden Gärten, Heldenkämpfen, Feen, Seefahrten und Berg— 
geiſtern, in welchem ſich, unter andern Geſtalten und Verhält⸗ 
niſſen, immerdar Schulze von Celle und Cäcilia von Göt— 
tingen wiederfinden, und zwiſchen Waffenklängen und Geiſter— 
liedern die ſüße Klage ihrer ewigen Liebe hervortönt. Hätte 
Petrarka in der Weiſe Arioſto's ſingen wollen, er würde ungefähr 
wie unſer Schulze geſungen haben. 

Ein edles Fräulein, Cäcilie, welches theils eine geraubte 
Schweſter, ihre Adelheide, aufzuſuchen, theils den ihr ſelbſt 
noch dunkeln Willen des Himmels zu erfüllen, der ihr in einer 
Erſcheinung angedeutet worden, durch die Welt irrt, begleitet von 


— 353 — 


einem Sänger, ihrem Freunde Reinald, der ſie wie eine Ueber— 
irdiſche mehr anbetet, als liebt, wird von den normannifchen See— 
räubern aufgefangen und über das Meer entführt. Skiold iſt 
der Normannen Haupt und Held; 

Oft ſah'n Hiſpaniens, oft Welſchlands blühende Auen 

Erbebend ſeine Wimpel nah'n. 
Er hat Cäcilien, als Blut der erſten Beute, zum Opfer an 
Hertha's Altar geweiht. Sie nahen der heiligen Inſel. Das 
Heer führt Cäcilien zum Tode. 


Im tlefſten Haine ſenkt ein Thal 

Sich ſtill und ſchauerlich gen Hela's öden Reichen. 

Dort wälzt ein ſchwarzer See, bekränzt von hohen Eichen, 
Dumpf hallend feine Fluth, worin ſich nie der Strahl 
Des heitern Lichts gekühlt. 


Hier hauſet die Prieſterin Thorilde, die reizende Zauberjung— 
frau. Als ſie im Begriff iſt, Cäcilien zu opfern, landen die 
chriſtlichen Deutſchen, unter Führung des Helden Adelbert, 
auf der Inſel Rügen. Nach blutigem Kampfe wird den befieg— 
ten Dänen Cäcilie entriſſen. Die Zauberjungfrau rettet ihren 
Liebling, den gewaltigen Skiold, nur, indem ſie ihn mit ſich 
in die Fluthen des Sees niederreißt, doch vorher ſchleuderte ſie 
ihren ſchwerſten Fluch noch gegen den Führer der Deutſchen: er 
werde und müſſe Brudermörder werden. Nach dem Abzuge der 
Chriſten führte die ſchöne und furchtbare Thorilde ihren Gelieb— 
ten aus den Wellen wieder ans Licht. Sie ermunterte ihn, treu 
den vaterländiſchen Göttern des Alterthums, dieſelben mit ſeinem 
unbeſiegbaren Arm zu vertheidigen, und beſonders das von den 
Chriſtenſchaaren ſchwer bedrohte größte Heiligthum Odins, im 
Tempel zu Lethra, wo Haralds Königsburg vom Felſen nieder- 

Zſch. Nov. XI. 23 


= Ma 


ſchaut. Und jenes Heiligthum iſt eine blühende Wunderroſe. So 
lange dieſe geborgen iſt, kann nie der Dänenſtamm und nimmer 
Odin fallen. Dies Kleinod iſt bedräut, obgleich, wer es berührt, 
des Todes gewiß iſt. — Skiold ſchwört, es zu vertheidigen. 
Dann beſteigt ſie mit ihm ihren mit Drachen beſpannten Wagen, 
und führt durch ihre Beſchwörungen Ungewitter und Schiffbruch über 
das Schiff der Deutſchen. Als dieſes ſinkt, umfaßt Adelbert Cä— 
eilien — beider Seelen glühen ſchon in ſtiller Liebe für einander — 
und ſtürzt ſich mit ihr ſchwimmend ins Meer. 

Beide kommen ans Ufer. Hier verpflegt Adelbert die ſchöne 
Unglückliche, bekennt er ihr ſeine Liebe, erzählt er ihr, daß er 
ſein Vaterland, ſein Geſchlecht nicht kenne, ſondern im Walde 
von Falko, einem deutſchen Grafen, einſt gefunden, von ihm er— 
zogen, zum Erben ſeiner Güter eingeſetzt, und vom Kaiſer Otto 
nach der Schlacht bei Andernach gegen Eberhard von Franken 
zum Ritter geſchlagen worden ſei. Nach dieſem ſei ihm der Geiſt 
einer Seligen erſchienen, habe ihm offenbart, daß er zum Werk- 
zeug Gottes erkoren ſei, das däniſche Heidenthum durch Erobe— 
rung der Roſe von Lethra zu ſtürzen; ein Sieg, den er mit eige— 
nem Tode erkaufen müſſe. Cäcilie vertraut ihm dagegen, wie 
fie mit ihrer Schweſter Adelheid, früh älternlos, auf dem väter: 
lichen Schloſſe im Sachſenlande am Ufer der Leine erzogen wor— 
den, wo Reinald, der edle Ritter und Sänger, oft bei ihnen 
eingekehrt ſei; ſie habe Reinalden ſchweſterlich geliebt, er aber 
ſie mit höherer, doch auf alles Glück des Lebens verzichtender 
Leidenſchaft. Nachdem wäre eines Tages Adelheid geraubt wor⸗ 
den. Als ſte ſich mit Reinald verbunden, die Entführte zu ſuchen, 
wäre ſie nebſt dem Sänger in die Gefangenſchaft der Normannen 
gerathen. 

Adelbert und Cäeilie, unwiſſend, auf welche Küſte fie vers 


— 3 5 5 — 


ſchlagen find, erkennen bald vom Gipfel eines Berges, daß fie 
auf däniſchem Boden find. Sie ſehen die Stadt Lethra vor ſich, 
wo eben Thorilde und Skiold ihren Triumpheinzug halten, an 
der Spitze einer Heerſchaar. Dieſe, ſchauderhaft genug zu ſehen, 
beſteht aus den auf Rügen erſchlagenen, durch Thorildens Zauber 
wieder erweckten Normannen. 

Cäcilie, ſo nahe dem Heiligthum von Lethra's Tempelhallen, 
beſchließt, die Wunderroſe deſſelben zu brechen. In der Nacht ent⸗ 
flieht fie heimlich dem Lager und ſtiehlt ſich in die Stadt. Adel⸗ 
bert, vom gleichen Entſchluſſe ergriffen, da er Cäcilien aus ihrer 
Grotte verſchwunden fieht, begibt ſich nach Lethra. Vor dem 
Altar, auf welchem die Rofe blüht, finden ſich Beide unerwartet 
zuſammen, und werden Beide, von Thorildens Zaubermacht ent- 
deckt, durch die Dänen überfallen und in den Kerker geworfen. 
König Harald, im Rathe der Fürſten, ſchlägt Beider Hinrich— 
tung vor. Nur der edelherzige, tapfere Skiold widerſetzt ſich dem. 
Adelbert müſſe, als Skiolds Feind, im Kampfe mit ihm fallen 
und ſterben. Der Zweikampf Beider geſchieht, und endet, durch 
die gleiche Stärke Beider, unentſchieden. Da brütet Harald Meuchel⸗ 
mord gegen die Gefangenen. Er beſoldet dazu einen fremden Harf⸗ 
ner, der zu ihm gekommen. Aber dies war der gute Reinald, 
Cäciliens Freund, der ſich ebenfalls glücklich aus dem Schiffbruch 
gerettet hatte. Er, ſtatt die beiden Theuren zu morden, befreit 
ſie in der Nacht und flieht mit ihnen auf ſchnellen Roſſen ins 
Gebirg. 

Hier in einer verfallenen Burg finden ſie ſich bald nicht mehr 
allein. Zwei andere Unglückliche hatten ſich hieher geflüchtet, ein 
Ritter und ein Fräulein. Dieſes iſt Adelheid, welche, von 
räuberiſchen Normannen entführt, als Sklavin an Haralds Hof 
gebracht worden war, wo Biarko, der rechtmäßige Erbe des 
Dänenreichs, den ſein Vormund und Oheim Harald vom Throne 


— 356 — 


verdrängt hielt, fie ſah und liebte. Mit ihr entfloh Biarko, 
nachdem er ſein Reich vergebens zurückgefordert hatte, und im 
Aufſtand ſeine Treuen erſchlagen worden waren. Und er war jetzt 
der ſie begleitende Ritter in der Burg. 

Während ſie hier lebten, zog, vom Kaiſer angeführt, ein 
großes Chriſtenheer aus Deutſchland gegen das Dänenreich und 
Lethra. Adelbert und Biarko begaben ſich zum Heere, und ließen 
ihre Geliebten im Schutze des Sängers Reinald in der Burg 
zurück. In einem alten Buche, welches in dem wüſten Schloſſe 
gefunden ward, fand Reinald beſchrieben, wie die Gemahlin eines 
heidniſchen Jarl Chriſtin geweſen, doch nur heimlich, unter ber 
ſtändiger Todesgefahr wegen ihres Herrn. Da ſei ihr ein Engel 
erſchienen, der ihr eine Wunderroſe, mit Chriſti Blut geröthet, 
gegeben habe, vermöge welcher ſie beſchirmt ſein werde vor aller 
Gefahr. Aber die Zauberin Swanwithe, die Mutter Thorildens, 
lüſtern nach dem Kleinod, ſei gekommen, habe die beiden Kinder 
der Chriſtin umzubringen gedroht, und ſo die verzagende Frau 
gezwungen, für das Leben der beiden zarten Söhnlein die Roſe 
zu geben. Da ſei Fluch über die Chriſtin gekommen, den ihr die 
Erſcheinung des zürnenden Engels verkündigt habe, daß fie und 
ihr Geſchlecht vergehen und die beiden Söhne, um welche die 
Roſe fortgegeben worden, ſich brudermörderiſch bis zum Grabe 
haſſen, die Wunder der Roſe aber im Schutze Odins bleiben wer- 
den, bis mit freiwilliger Aufopferung des Lebens ein frommer 
Ritter das Kleinod befreie. 

Kaum hatte Reinald die Geſchichte den Fräulein vorgeleſen, 
erhebt ſich ein erſchrecklicher Sturm um das Schloß, 

Und ſieh, im grellen Schein, 
Durch den ein Funkenheer in bunten Strömen ſprühte, 
Stürzt grimm und wild die ſchreckliche Swanwithe, 
Ein Bild des Fluchs, ſich ins Gemach hinein, 


— 357 — 


zerſchmettert die Burg und ſtürzt die drei Bewohner derſelben ins 
Innerſte des Erdballs, um Alle zu vernichten. 

Inzwiſchen waren Adelbert und Biarko beim kaiſerlichen Heere, 
wo Biſchof Ansgar durch ein Geſicht im Traume vernommen, daß 
Odins Reich nur durch Eroberung der heiligen Roſe, und dieſe 
nur durch freiwillige Darbringung eines ritterlichen edeln Lebens 
gewonnen werden könne. Als alle Ritter vor dem Gedanken eines 
gewiſſen Todes erbebten, ſtellte ſich Adelbert zum Opfer dar, und 
der Kaiſer, welchen der Einfall der Hunnen zurück nach Deutſch⸗ 
land ruft, ernennt den Muthigen zum Haupte des Heeres. Ehe 
Adelbert aber den Befehl des chriſtlichen Heeres übernimmt, eilt 
> er mit Biarko zu der einfamen Burg, wo fie ihre Geliebten ges 
laſſen hatten. Als fie Alles verſchwunden ſehen, begibt ſich Adel- 
bert voll Schmerzes ins Lager der Chriſten zurück und ins Schlacht— 
getümmel; Biarko aber muß ferner umherziehen, die Verſchwunde⸗ 
nen zu ſuchen. 

Dieſe waren aber durch göttliche Macht auch im tiefſten Erden⸗ 
grund durch die Berggeiſter geborgen, deren König, ein lieblicher 
Zwerg, ſie in ſeinen Wohnungen bewirthet und ihnen die Wun⸗ 
der und Geheimniſſe des Unterirdiſchen zeigte. Vergebens ſuchte 
Biarko die Geliebten auf Erden. Er findet ſtatt ihrer in einem 
ungeheuern Walde ſeinen alten Lehrer und Freund, den greiſen 
Ritter Sivald, als Einſiedler. Der Forſt ſelbſt iſt der Sitz des 
wilden Jägers und des wüthenden Heeres. Biarko bekämpft es, 
und gewinnt durch ſeinen Sieg die Gunſten der Elfen, die ihn 
ſingend mit ſeinem treuen Sivald zu einem See führen, wo ein 
Kahn Beide aufnimmt. Dieſer eilt mit ihnen davon unter Ge⸗ 
fang der Nixen, führt fie auf den Fluthen in Felsſchluchten ab- 
wärts ins Innere der Erde, zu Cäcilie, Adelheid und Reinald. 
Auf demſelben ſendet der König die Berggeiſter Alle in die Ober: 


— 11309 — 


welt, wo fie Adelberten im Lager der Chriſten aufſuchen und ſich 
wieder mit ihm vereinen. 

Schon folgenden Tages beginnt gegen die Dänen erneute 
Schlacht. Die Chriſten dringen gegen Lethra näher. Da ſieht 
Biarko feinen Sivald durch Haralds Speer fallen, und er ver⸗ 
wundet rächend den Dänenkönig, welcher blutend in ſeine Burg 
entflieht. Lethra iſt in Gefahr. Da ermahnt Thorilde den grim⸗ 
migen Skiold, das fluchbeladene Zauberſchwert Tyrſing, welches 
im fernern Eiland ein Geiſt bewache, dieſem zu entreißen, und 
damit zu kämpfen. Schauderhaft iſt die Geſchichte des Schwertes 
und ſchauderhaft die Wirkung deſſelben. Wer es führt, geräth 
in Mordwuth und tödtet ſelbſt den Freund, dem er begegnet. 
Der nie erſchrockene Skiold, durch Thorildens Zauber geſtärkt, 
entringt dem Geiſte das Schwert. Auf der Rückkehr nach Lethra 
begibt er ſich ermüdet in eine Höhle zum Schlafe. Sie war aber 
der Sitz eines grauſen Drachen, der ihn umſchlingt, ehe er das 
Schwert zucken kann. In demſelben Augenblicke kommt zu der⸗ 
ſelben Höhle auch Adelbert, der Reinalden in einem Walde ſuchte, 
wohin derſelbe als Gefangener in der letzten Schlacht von den 
Dänen entführt war. Adelbert überwindet den Drachen, rettet 
Skiolds Tage, und dieſer, obwohl er ſeinen großen Feind erkennt, 
dankt ihm doch freundſchaftlich. Beide Helden tauſchen, zum Denk— 
mal ihrer gegenſeitigen Achtung, ihre Schwerter mit einander aus. 

Mit Entſetzen vernimmt Thorilde, daß Skiold allzuarglos das 
ſchreckliche Zauberſchwert in Adelberts Hand gegeben. Sie ſelbſt 
macht ſich Nachts auf, ſchleicht in das chriſtliche Lager, ins Zelt 
des ſchlafenden Adelbert, nimmt ihm den Tyrſing, iſt im Begriff, 
den Schlummernden damit zu durchſtoßen, als Cäeilie, von ban⸗ 
ger Ahnung erſchreckt, erſcheint und Thorilden beben macht. Dieſe 
entflieht racheathmend mit dem Tyrſing, findet unterwegs ihre 

— 


— 


Mutter Swanwithe, die, beſchäftigt mit Zauberweſen, und zur: 
nig, darin geſtört zu werden, Thorilden feindſelig anfällt. Beide 
Zauberinnen, ohne einander zu erkennen, beginnen den furchtbarſten 
Kampf. Aber die Tochter erſchlägt mit Tyrſings Schärfe die 
Mutter, die ſie zu ſpät erſt erkennt. Sie ſchleudert das verfluchte 
Schwert hinweg. 

Thorilde ahnet Untergang. Sie beſchwört die Hölle zur Net: 
tung von Odins Reich. Sie mahuet den vieltapfern Skiold hin— 
auszuziehen zum heiligen Hügel, wo Adelbert am Altar Gottes 
betet, und ihn vor allen Andern, als den Furchtbarſten, im Kampfe 
zu erlegen. Skiold gehorcht. Adelbert, welcher beim Altar den 
von Thorilden verlorenen Tyrſing gefunden, nimmt dies Schwert 
des Fluches und kämpft. Er durchdringt des Bruders Bruſt und 
zerſplittert. Aber auch Adelbert fällt in Skiolds Schwert. 


So ruh'n fie jetzt mit tiefen Wunden Beide, 
Als Opfer hingeſtreckt an Gottes heil'gem Herd, 
Und rings benetzt des Blutes warme Quelle 
Den grünenden Altar mit reiner Sühnungs welle. 


Im Sterben verſöhnen und umarmen ſich die Brüder, denen 
in himmliſchem Glanze der Geiſt ihrer Mutter erſcheint, während 
die Heere der Chriſten und Heiden die entſcheidende Schlacht be— 
gehen. Cäcilie ſelbſt hat die Fahne ergriffen, die Deutſchen zum 
Sturm gegen Lethra's Mauern zu führen. 


Gleich einer Lilie, die hoch und ſchlank entſproſſen, 

Im frühen Sonnenſtrahl, vom leiſen Hauch bewegt, 
Vom hellen Silberglanz umfloſſen, 

Auf ihrem keuſchen Haupt die goldne Krone trägt, 

So ſteht ſie in dem Kreis, der ſtaunend ſie umſchloſſen; 
Von frommer Sehnſucht iſt ihr kühnes Herz erregt; 


„ 


Ihr Auge gleicht dem Stern; in heller Röthe prangen 
Von Scham und Muth zugleich die jungfräulichen Wangen. 


Ihr folgen die begeiſterten Deutſchen. Lethra's Burg wird er— 
ftürmt. Harald fällt durch Biarko's Schwert. Cäcilie nimmt die 
heilige Purpurblüthe vom Altar. Die Götzentempel finfen in 
Schutt. 

Dankend und den Herrn der Heerſchaaren lobpreiſend ziehen 
die Sieger hinaus zum heiligen Hügel, während von der andern 
Seite aus Deutſchland der Kaiſer ſiegreich ankommt. Da liegen 
noch matt athmend die ſterbenden Brüder Arm in Arm. Biarko, 
nun der Dänen König, wird am Altare des wahren Gottes öffent— 
lich mit Adelheiden vermählt. Cäcilie pflanzt die heilige Roſe 
auf dieſen Altar, und erſchöpft ſinkt ſie zu den ſterbenden Brüdern 
nleder. Der Himmel thut ſich auf und nimmt die Verklärten 
zu ſich. 


Nur Reinald blieb am ſtillen Grab allein, N 

Und harrte betend dort dem neuen Tag entgegen. 

Was ſeine Seele liebt, ſchließt dieſer Hügel ein; 

Nur eine Liebe will ſein treuer Buſen hegen. 

Drum baut e: nah der Gruft im dunkeln Eichenhain 
Ein friedlich Hüttchen ſich, wie fromme Siedler pflegen, 
Und breitet dicht um's ſchattig-ſtille Haus 

Der Winde blüh'nden Schmuck und grünen Epheu aus. 


Dies ungefähr iſt in den allgemeinſten Umriſſen der Inhalt der 
zwanzig Geſänge. Welch ein überreicher Stoff, der auch der 
ärmſten Phantaſie genügen könnte, ein Götter- und Rieſenhaus 
daraus zu bauen! Und nun denken Sie ſich dazu einen Schöpfer⸗ 
geiſt, der, alles Zaubers deutſcher Sprache und ſchönen Versbaues 


— 361 — 


mächtig, mit Offians wehmüthigem Ernſt Wielands reizende 
Gewandtheit und Schillers Wunderklang in deutſcher Zunge 
verbindet. 

Schiller mag den Schulze von Celle in erſchütternder Stärke 
der Reflexion übertreffen; Wieland ihn in heiterer Anmuth, in 
leichtfertigem Witze, in Weltkenntniß, in feſterer Zeichnung der 
Figuren: Schulze von Celle übertrifft Beide in Tiefe und In—⸗ 
nigkeit des Gefühls, in zarter Farbengebung, in Schilderungen 
der Natur und Thaten. 

„Frevler!“ hör' ich Sie rufen, daß ich Ihre Götter antaſte. 
Vielleicht muß ich „Frevlerin!“ rufen, wenn Sie das Wunder— 
buch des nordiſchen Arioſto durchgeleſen und wiedergeleſen haben 
werden. 

Wenn ich wollte, — nun ja, ich könnte ja wohl auch ein vor⸗ 
nehmes Geſicht machen, und dies und das tadeln, als wenn ich 
zu den ſieben weiſen Meiſtern gehörte; aber ich mag nichts von 
dieſer Sieben-Weisheit der Zunft- und Schulmeiſter, die mit der 
Weisheit der nüchternen, armen Schlucker viel Aehnliches hat, 
welche über die Gefährlichkeit des Reichthums jammern. Ich könnte 
ſagen, Schulze von Celle wußte mit ſeinen Schätzen nicht 
hauszuhalten, ging allzuverſchwenderiſch mit feinen Wundern, Bil—⸗ 
dern, Gefühlen, Gleichniſſen um; er iſt darin anklagenswürdig, 
wie unter den Römern Ovidius; er iſt noch allzuſehr Jüngling. 

Ach, liebe Cäcilie, wie beneidenswürdig iſt die Sünde, ſolche 
Jugend zu haben; wie ſchön das Verbrechen ſolches Ueberfluſſes! 

Unter den romantiſch-epiſchen Dichtern Deutſchlands hat nur 
Wieland feine Höhe behauptet. Kein Anderer kam dieſem Un— 
vergänglichen nahe. Die Verſuche aller Andern bewieſen uns nur, 
wie hoch er ſtehe; ſo Müller, der zarte, zu früh verblichene 
Sänger des Alfonſo und des Richard Löwenherz; ſo Alxinger, 


= 5 


deſſen mühſelige Kunſt nicht den Mangel der reinen und reich— 
ſtrömenden Begeiſterung verdecken konnte; ſo von Nicolay, der 
ſchalkhafte Nachbildner Arioſts, wider welchen ſich die Sprache 
oft mit einer unzubändigenden Gewalt ſträubte. Aber Wieland 
wird und Taſſo freundlich dem jugendlichen Sänger von Celle im 
Elyftum den Bruderkuß geben; denn dieſer wollte nicht Dichter 
ſein, wie es Andere wollten, ſondern er mußte es ſein, weil er 
nicht anders konnte. Er würde auch auf Robinſons einſamer Juſel, 
unbekümmert um Welt und Nachwelt, geſungen haben. 

Mag man es an dem Sänger von Celle tadeln, daß er oft 
mitten in der Handlung ſeines Gedichtes ſelbſt perſönlich hervortritt, 
ohne daran zu denken, was die Kunſtrichter in Literaturzeitungen 
zu der Unart ſagen dürften. Was bei Andern Unart iſt, wird 
bei ihm zur eigenthümlichen ſchönen Art. Er ſingt nicht nur für 
Andere, er fingt auch für ſich und fein Herz. Wer wollte es ihm 
nicht dankbar verzeihen, wenn er z. B. bei Anlaß des zärtlichen 
Blickes, welchen die Heldin Cäcilie auf den trauernden Sänger 
Reinald wirft, bei Anlaß eines Blickes, 

In welchem Scham und Huld und alle Wunderblüthen 
Des heiligſten Gefühls mit ſtillem Zauber blüh'n, 


wenn er, ſag' ich, ſich dabei eines ähnlichen Blickes feiner Cä— 
cilie von Göttingen erinnert, und er ruft: 


O Strahl der Seligkeit! Du heil'ger Harfenlaut, 
Wenn zart der tiefſten Bruſt geweihte Saiten tönen! 
Du Himmel des Gefühls, woraus verklärtes Sehnen 
Und Mild' ins bange Herz und Luſt hernieder thaut! 
Du reiner Quell, worin das ew'ge Streben 

Der keuſchen Phantaſie die bunte Welle regt, 

Du wunderbarer Blick, wie hat dein ſtilles Leben 
Mein tiefſtes Herz ſo oft geheimnißvoll bewegt! 


— 363 — 


Hat man je in alten und neuen Sprachen über den Blick ſchöner 
Mädchenaugen etwas Schöneres geſagt? 

Ueberhaupt wollen wir uns ja nicht beigehen laſſen, den Schulze 
von Celle -als bloßen Nachahmer Wielands anzuſehen; Beide glän— 
zen auf ſehr verſchiedene Weiſe. Sie ſind verſchieden, wie der 
warme, üppige Orient vom keuſchen Ernſte des Norden verſchie— 
den iſt. Ich will Ihnen zur Vergleichung einige Bilder aus 
Wieland und Schulze neben einander ſtellen; z. B. als Ge: 
gegenſtück zur Schilderung jenes Blickes von Cäcilien, den Blick 
der ſchönen Rezia, wie ihn Wieland malt: 

— — Ein Blick in Amors Thau gebadet, 
Was überzeugt, gewinnt und rührt, wie dies? 
Was geht ſo ſchnell, trotz dem behendſten Pfeile, 
Von Herz zu Herz, trifft ſo gewiß 
Den Zweck, und macht fo wenig lange Weile?) 
Oder ein Sturmgemälde nach Wieland: 
Inzwiſchen bricht mit fürchterlichem Sauſen 
Ein unerhörter Sturm von allen Seiten los; 
Des Erdballs Achſe kracht, der Wolken ſchwarzer Schoos 
Gießt Feuerſtröme aus, das Meer beginnt zu brauſen, 
Die Wogen thürmen ſich wie Berge ſchäumend auf, 

Die Pinke ſchwankt und treibt in ungewiſſem Lauf, 

Der Bootsmann ſchreit umſonſt in ſturmbetäubte Ohren, 

Laut heult's durchs ganze Schiff: weh uns, wir ſind verloren! 
Der ungezähmten Winde Wuth, 

Der ganze Horizont in einen Höllenrachen 

Verwandelt, lauter Gluth, des Schiffes ſtetes Krachen, 

Das wechſelsweis bald von der tiefſten Fluth 

Verſchlungen ſcheint, bald, himmelan getrieben, 

Auf Wogenſpitzen ſchwebt, die unter ihm zerſtieben; 


) Oberon. Gef. 6, St. 16. 


— Mb. = 


Dies alles, ſtark genug die Todten aufzuwecken, 
Mußt' endlich unſer Paar aus ſeinem Taumel wecken.“) 


Daſſelbe nach Schulze, wie die Zauberin Thorilde im Drachen: 
beſpannnten Wagen über das Meer fährt: 


Wie beben rings die Höh'n, wie brechen 

Des Waldes Häupter jetzt, wie rauſcht das dürre Laub 

Im Wirbelwind umher, wie ſtürzt in Feuerbächen 

Der rothe Blitz ſich auf den ſichern Raub! 

Wie raſ't die Wog' empor und trotzt den droh'nden Wettern, 
Wie bricht ſie krachend hin! Wie ſenken grau und ſchwer 
Die Hagelſchauer ſich, und peitſchen und zerſchmettern 

Mit wildem Geißelſchlag das ungeſtüme Meer! 


Es pfeift und ſauſ't und heult und kracht und wüthet, 
Blitz kämpft mit Blitz, die Fluth verſchlingt die Fluth. 
Aufwogend thürmt die Nacht ſich um die Gluth. 
Auf Donnern thront der Tod. Der Zwietracht Hohn gebietet 
Von Stürmen laut herab. Im rothen Feuer brennt 
Der Wellen ſchwarzer Kampf. Die Woge ſchlägt den Himmel, 
Der Himmel ſinkt aufs Meer, und keine Grenze trennt 
Jetzt Luft und Fluth und Land im raſenden Getümmel.) 
Ein Bild von Rezia, wie es Wieland malt: 

Denk dir ein Weib vom reinſten Jugendlicht 

Nach einem Urbild von dort oben 

Aus Roſengluth und Lilienſchnee gewoben; 

Gib ihrem Bau das feinſte Gleichgewicht; 

Ein ſtilles Lächeln ſchweb' auf ihrem Angeſicht, 

Und jeder Reiz, von Majeſtät gehoben, 


*) Oberon, Geſ. 7, St. 18. 19. 
) Cäeilie, Geſ. 5, St. 63. 64. 


— a — 


Erweck' und ſchrecke zugleich die lüſterne Begier: 
Denk' Alles, und du haſt den Schatten kaum von ihr.“) 


Ein Bild von Cäcilie, wie es Schulze von Celle malt: 


Die keuſche Stirn, das helle Roth der Wangen, 

Der Augen ſel'ge Gluth, das zarte Angeſicht, 

Der Locken weichen Glanz; des Leibes ſchlankes Prangen, 
Den Mund, der ſtrafend ſelbſt ſo ſüße Worte ſpricht, 
Woran die Blicke ſonſt, woran das Herz gehangen, 

Das Alles trennte jetzt ſein trunknes Auge nicht. 

In einem Lichte ſchien, zu Träumen und Gefühlen 
Entkörpert, jeder Reiz um ihr Gebild zu ſpielen.““) 


Sie kennen das liebliche Gemälde, wie Hüon den Scherasmin 
als Einftedler findet, bei Wieland: 


Auf einmal gähnt im tiefen Felſengrund 

Ihn eine Höhle an, vor deren finſterm Schlund 

Ein praſſelnd Feuer flammt. In wunderbaren Geſtalten 

Ragt aus der dunkeln Nacht das angeſtrahlte Geſtein, 

Mit wildem Gebüſche verſetzt, das aus den ſchwarzen Spalten 
Herabnickt und im Wiederſchein 

Als grünes Feuer brennt. Mit luſtvermengtem Grauen 
Bleibt unſer Ritter ſtehn, den Zauber anzuſchauen.“ “) 


Auf ähnliche Weiſe findet bei Schulze von Celle Biarko 
den alten Helden Sivald im Walde als Einſiedler; aber 


Es blüht ein Gärtchen dort; und eine kleine Hütte, 
Vom grünen Netz umrankt, erhebt ſich in der Mitte. 


) Oberon, Gef. 4, St. 6. 
) Cäcilie, Gef. 20, St. 25. 
) Oberon, Gef. 1, St. 10. 


ua — 


Biarko betritt die enge Klauſe, die menfchenleer in dunkler Stille 
ruht: 
Ein hölzerner Altar war dort dem Herrn erhöht, 
Von deſſen Kreuz zum heiligen Gebet 
Ein Kranz herniederhing von wilden Waldesbeeren. 
Doch zeigt im Winkel ſich verroſtet und zerfetzt 
Ein Panzerhemd, umſtrickt mit Spinngeweben, 
Und feiernd ſtand ein altes Schwert daneben, 
Von manchem Hieb verſehrt, in mancher Schlacht gewetzt. 
Die ſtumpfe Streitaxt lag vergeſſen längſt im Staube, 
Im breiten Schilde glomm des Herdes matte Gluth; 
Und friedlich ſaß die fromme Turteltaube 
Im kriegeriſchen Helm auf ihrer zarten Brut.“) 


Ach, daß der edle Sänger Cäciliens ſo früh von hinnen 
ſcheiden mußte! Welch ein unholder Stern leuchtet über Deutſch⸗ 
lands Muſenhain, daß drei der köſtlichſten Blüthen ſo ſchnell 
dahin welken mußten, wie die Jünglinge Sonnenberg, Körner 
und Schulze von Celle! 

Aber genug! — Ich erſchrecke vor meinem Briefe. Brief? 
Nimmermehr, es iſt ein Buch! 


) Cäͤeilie, Gef. 10, St. 13. 


Inhalt. 


Die Noſe von Diſentis 
Die Liebe der Ausgewanderten 


Schulze von Celle und Cäcilie 


Druck von H. R. Sauerländer in Aarau. 


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University of Toronto 


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