ELDMARSCHALL
CONRAD
*
AUS
MEINER
DIENSTZEIT
1906-1Q18
* *
RIKOLJS. VERLAG
K^
FELDMARSCHALL CONRAD
AUS MEINER DIENSTZEIT
1906-1918
RIKOLA V VERLAG
WIEN / BERLIN / LEIPZIG / MÜNCHEN
19 2 2
FELDMARSCHALL CONRAD
tqr9^
AUS MEINER DIENSTZEIT
1906-1918
ZWEITER BAND:
1910—1912
Die Zeit des libyschen Krieges und des
Balkankrieges bis Ende 1912
Mit einem Anhang
RIKOLA VVERLAG
WIEN / BERLIN / LEIPZIG /MÜNCHEN
19 2 2
COPYRIGHT 1922 BY RIKOLA VERLAG A. G., WIEN
GEDRUCKT BEI R. KIESEL ZU SALZBURG
Inhalt.
19 10: Seite
Allgemeine Lage
Militärische Verhältnisse ^f
Spezielle persönliche Verwendung 1910 9'^
1911:
Normale Arbeiten ^^^
Ausbau der Wehrmacht — Konflikt in der Budgetfrage . . 111
Außenpolitische Vorgänge ^^'^
Ausbruch des libyschen Krieges (Tripolis) 171
Konflikt mit Graf Ährenthal 218
Entlassung von der Stelle des Chefs des Generalstabes 283
1912:
Rein militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor 293
Politisch^militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor 308
Ausbruch des Balkankrieges ^H
Meine Mission in Rumänien -^^1
Von der Mission in Bukarest bis zur Wiederernennung zum Chef
des Generalstabes ^^^
Meme Wiederernennung zum Chef des Generalstabes 373
Wiederaufnahme meiner lätigkeit als Chef des Generalstabes . 376
Anhang.
Anlage 1 : Auszug aus dem Vortrag des Chefs des Generalstabes
vom 13. Feber 1911 427
2: Denkschrift vom 23. April 1911 429
3: Denkschrift vom 15. November 1911 (mit Beilagen) . 436
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19 10
Inhalt.
Seite
Allgemeine Lage ^
Militärische Verhältnisse 44
Spezielle persönliche Verwendung 1910 92
Allgemeine Lage.
Die allgemeine Charakteristik dieses Jahres war einerseits das äußer-
liche Abflauen der Annexionskrise und der Anschein friedlicher Verhält-
nisse, anderseits aber die zunehmende Verdichtung des sich um Deutsch-
land und Östeneich-Ungarn schließenden Ringes, die sichtlichen Kriegs-
vorbereitungen ihrer Gegner und die daraus entspringende Forderung,
auch die eigenen Machtmittel auf größtmögliche Höhe zu bringen. Dies in
meinem Wirkungskreis zu fördern, bildete, nebst den sonstigen normalen
Obliegenheiten meiner Stellung, das Wesentliche meiner berufUchen Tätig-
keit im Jahre 1910. Der Zusammenhang der letzteren mit den außen-
politischen Vorgängen macht ein Hinweisen auf diese Vorgänge nötig,
und zwar sowohl auf die großen bewegenden Kräfte, die unter der Kruste
friedlichen Scheines wirken, bis die Stunde gewaltsamer Entladung heran-
reift, als auch auf die kleinen Ereignisse, die bis dahin bemüht sind,
klaffende Risse in dieser Kruste zu übertünchen. Die Diplomatie der
Mittelmächte war hauptsächlich auf das Übertünchen bedacht, während
die Diplomatie der Ententemächte, sowie Italiens die großen bewegenden
Kräfte erfaßte und für ihre Ziele nützte.
Deutschland. Deutschland, wo am 14. Juli 1909 Herr von
Bethmann Hollweg dem Fürsten Bülow als Reichskanzler gefolgt war,
stand innerpolitisch, nach Annahme der großen Reichsfinanzreform, im
Kampfe um das von den Sozialdemokraten und der Volkspariei geforderte
gleiche, geheime und direkte Wahlrecht für Preußen, das im Mai 1910
zunächst eine Ablehnung erfuhr. Die Geister bewegte femer die Ver-
wahrung gegen das gegen den Protestantismus gerichtete Rundschreiben
Papst Pius X., der schließlich nachgeben mußte.
Mit Frankreich war Deutschland nach dem Marokko-Abkommen
(19. Feber 1909) zu einem vorübergehenden modus vivendi gelangt, der
sogar in Deutschlands Mitbeteiligung an der societe marocaine des travaux
publics Ausdruck fand. Auch gegenüber Rußland gab die Zusammen-
kunft Zar Nikolaus II. mit Kaiser Wilhelm II. am 4. November 1910 in
Potsdam den Schein einer freundlichen Annäherung. An den großen
latenten politischen Gegensätzen änderte dies nichts. Fürstenbesuche sind
oft nur Akte höfischer Konvenienz, oft gelten sie wirkHch intimen
Anknüpfungen, oft aber verschleiern sie nur feindliche Absichten. Anfangs
Oktober 1910 wurde beispielsweise das belgische Königspaar in glänzen-
der Weise in Wien empfangen, während doch die gegen Deutschland und
dessen Verbündeten gerichteten Abmachungen zwischen Belgien und
England als längst gediehen zu vermuten waren.
Der gemeinsamen Gefahr gegenüber lag die Pflege des festen
Zusammenstehens mit Deutschland nahe; ich beantwortete ein in diesem
Sinne gehaltenes Schreiben des Generals von Moltke, wie folgt:
„Wien, 2. Jänner 1910.
Euer Exzellenz!
Ich möchte nicht den Vorwurf auf mich laden, E. E. mit Korrespon-
denz zu belästigen, doch kann ich nicht umhin, E. E. für die jüngst
erhaltenen, so freundschaftsvollen Zeilen meinen aufrichtigsten Dank zu
übersenden. Auch ich bin von der Anschauung durchdrungen, daß in
einem festen Zusammenhalten der beiden Kaiserreiche der sicherste Schutz
gegen feindliche Anschläge gelegen ist und daß dieses Zusammenhalten
auf freundschaftsvoller Treue basiert sein muß. E. E. Worte haben daher
bei mir den tiefsten Widerhall gefunden. Wie hohen Wert ich daher
auch aus diesem Grunde den kameradschaftUchen Gesinnungen E. E.
beimesse, werden Sie mir gewiß gerne glauben.
Mit diesem warmen Empfinden meinerseits bitte ich E. E. die herz-
lichsten Grüße entgegenzunehmen von E. E.
aufrichtig ergebenem ^ , ,,
^ ^ C o n r a d."
Im Jänner 1910 sandte ich meinen Flügeladjutanten Hauptmann Putz
als Kurier nach Beriin, wo er die alljährlich wiederkehrenden Arbeiten
zu übergeben und bei General von Moltke vorzusprechen hatte, um über
einige die allgemeine Lage betreffende Fragen die deutschen Anschau-
ungen einzuholen. Nach den Aufzeichnungen des genannten Offiziers
bezeichnete General von Moltke es als fraglich, ob für die Haltung
Rumäniens persönliche oder politische Gründe vorwalten werden. * Mit
Rücksicht auf die Gefahr eines Balkanbundes sei er gleichfalls der Ansicht,
daß der Balkan den Ausgangspunkt kriegerischer Verwicklungen bilden
werde, wobei nur in Frage kommen wird, ob Rußland oder England
damit beginne.
General von Moltke hob Deutschlands großes Interesse an der Türkei
hervor und die Bedeutung des mohammedanischen Elementes, insbesondere
10
mit Bezug auf England. Er meinte aber auch, daß Österreich-Ungarn
im HinbHck auf Paralysierung der kleinen Balkanstaaten das gleiche
Interesse haben müsse.
Der General erwähnte, daß die türkische Armee in einigen Jahren
sehr gut sein werde, die Soldaten vorzüglich, die jungen Offiziere sehr
lemfreudig seien. Es bestünde ein Zweifel nur darüber, ob sich die neue
Regierung konsolidieren wird. Verhandlungen wären daher dermalen noch
inopportun und erst zulässig, sobald auf dauernde Ruhe zu rechnen sei.
Was Rußland anbelangt, sei in Deutschland gleichfalls alles für die gemein-
same Aktion im Falle russischen Angriffes vorbereitet. Auch für den
übrigens unwahrscheinlichen Fall, daß sich Frankreich am Kriege nicht
beteihgen sollte.
General von Moltke bezeichnete die Rückverlegung der russischen
Korps, sowie die Rückverlegung des russischen Aufmarsches als jetzt
ganz sicher, ebenso auch die Bildung einer Zentralarmee. Er ersah darin
für eine etwaige eigene Offensive im Kriegsfalle gegen Rußlandallein
einen Nachteil, weil man tief in russisches Gebiet hineingezogen werden
würde, im Falle gleichzeitigen Krieges gegen Frankreich oder etwa Frank-
reich und Italien aber einen Vorteil wegen der gegen diese Mächte damit
gewonnenen größeren Zeitspanne bei Kriegsbeginn. Japan, meinte der
General, sei sehr im Auge zu behalten, ein Gegensatz zwischen diesem
Staat und England mögUch.
In einer Audienz am 31. Jänner IQIO berichtete ich Seiner Majestät
über die obdargelegten Angelegenheiten, sowie über ein Schreiben des
Generals von Moltke, wonach Deutschland beabsichtige, falls es durch
Rußland zum Krieg gezwungen würde, das Verhalten Frankreichs durch
eine kurzfristige Sommation zu klären. Ich erbat für den analogen Fall
ein gleiches Vorgehen unsererseits gegenüber Itahen.
Der Kaiser entschied, daß ich einen diesbezüglichen, ihm vorher
vorzulegenden Brief an Graf Äiirenthal und an General von Moltke zu
richten habe.
Ich komm.e hierauf noch eingehender zurück.
Im Feber 1910 ging mir seitens unseres Militärattaches in Berlin,
Major Freiherm von Bienerth, ein bemerkenswerter Bericht über
Gespräche des ö.-u. Botschafters in Berlin mit Kaiser Wilhehn II. zu.
Betreffend das Verhältnis Österreich-Ungarns zu Rußland und eine
gegenseitige Annäherung beider Staaten meinte der Kaiser, daß es wohl
auch an Rußland sei, diese Annäherung anzustreben. Nach den ihm
zugekommenen Berichten sei Rußland auch dermalen noch nicht in der
Lage, irgend nennenswerte Kräfte gegen Westen zu mobilisieren, daher
11
auf ein friedliches Auskommen mit der Monarchie mehr denn je
angewiesen. Die damals im Zuge gewesene Preßkampagne, welche
Deutschland und Österreich-Ungarn zu entzweien strebte, bezeichnete
Kaiser Wilhelm als Manöver Englands und Frankreichs, die sich aber
glücklicherweise in ihren Hoffnungen getäuscht hätten. Hinsichtlich der
Kreta-Frage habe er nicht die Absicht, sich in diese Angelegenheiten
wieder einzumengen, er überlasse es den vier Schutzmächten, die Folgen
ihres bisherigen Vorgehens selbst zu tragen. Der Ideengang der Griechen
sei ihm anbetrachts ihrer militärischen Lage unverständlich. Was Deutsch-
lands innere Politik betrifft, sei er mit dem Vorgehen des Reichskanzlers
einverstanden.
Ein vielbesprochenes Ereignis im Jahre 1910 war der fürstliche
Empfang, der dem früheren Präsidenten der Vereinigten Staaten, Herrn
Roosevelt, auf seiner Durchreise in BerUn bereitet wtude. Er war aber
in seinen Folgen dadurch abgeschwächt, daß Roosevelt in Amerika an
Position verlor.
Italien. In Italien schritten die gegen seinen Verbündeten (?) Öster-
reich-Ungarn gerichteten mihtärischen Maßnahmen unentwegt fort. In
demselben Maße steigerten sich meine dagegen gerichteten Bestrebungen,
aber auch meine Konflikte mit Graf Ährenthal. Er setzte allen dies-
bezüglichen Forderungen hartnäckigen Widerstand entgegen, trotz der
unverkennbaren Symptome, welclie durch die offiziellen Erklärungen der
Minister Tittoni, Guiciardini, San Giuliano, am Dreibund unverbrüchlich
festzuhalten, nur mangelhaft verschleiert waren.
Nicht nur der Ausbau von Heer und Flotte sowie des . großzügig
angelegten Befestigungssystems, sondern auch die feste Hand, die der
Staat durch Ankauf der Bahnen (1906) auf letztere gelegt hatte, bezeich-
neten die Fortschritte in dieser Richtung. Die seitens Italiens im Jahre
1909 angebahnte Annäherung an Rußland wirkte fort. Sie fand in der
schon erwähnten Entrevue König Viktor Emanuels mit Zar Nikolaus in
Racconigi (22. bis 25. Oktober 1909) erneuert Ausdruck. Sie trat auch
in dem Verhalten der am Balkan akkreditierten italienischen Militär-
attaches in Erscheinung. So galt beispielsweise der italienische Militär-
attache in Sofia, Baron Rubin, ein Liebling des Königs, für ausgesprochen
antiösterreichisch gesinnt. Er hatte 1910 durch drei Wochen Mazedonien
bereist.
Zu meinen unausgesetzten Bestrebungen gehörte auch die Entfernung
der auf österreichischem Gebiet etabherien italienischen Finanzwache
(Ala, Riva), die eine auf eigenem Territorium geduldete italienische
12
Organisation für Spionage und Propaganda bildete. Dies noch dazu
innerhalb eigener Befestigungen (Riva)!
Bei einer innerministeriellen Konferenz am 5. Jänner IQIO, bei der
ich wegen dienstlicher Verhinderung durch meinen Stellvertreter, General-
major Langer, vertreten v^ar, gelangte diese Frage zur Verhandlung. Nach
dem schriftlichen Bericht Langers nahm die Sitzung folgenden Verlauf:
Der Minister des Äußern Graf Ährenthal erklärte, daß er zwar die
militärischen Forderungen anerkenne, daß sich jedoch juridische Schwie-
rigkeiten entgegenstellen dürften, er aber sich aus staatspolitischen
Gründen unbedingt den Zeitpunkt für jede diesbezügliche Aktion vor-
behalten müsse. Die juridischen Bedenken wurden durch die anwesenden
Minister (Bienerth, Bilinski, Härdtl) negiert, hinsichtlich der politischen
aber betonte Graf Ährenthal, daß er als der verantwortliche Leiter der
Außenpolitik es nötig finde, die Empfindlichkeit der eben erst ernannten
italienischen Regierung zu schonen, umsomehr, als er die Festhaltung des
Dreibundes über 1914 hinaus unbedingt anstrebe und Grund zur
Annahme habe, dies zu erreichen. Wenn überhaupt, könne er aber
erst nach Erfüllung der Forderung nach einer italienischen Universität
der schwebenden Frage näher treten. Dementgegen verwies der Kriegs-
minister Baron Schönaich in Übereinstimmung mit dem Minister des
Innern Baron Härdtl auf die Dringlichkeit der Finanzwachfrage und
bemerkte, daß die taktvolle Geduld unserer Organe sowie der Grenz-
truppen gegenüber den itahenischen Übergriffen endlich einmal reißen
könne.
Mein Vertreter, Generalmajor Langer, ergänzte dies und hob als
Unikum hervor, daß wir „in der Festung Riva behördlich angestellte,
durch ihr Reglement hiezu eingeschworene Kundschafter inmitten unserer
ohnedies vielfach verdächtigen Untertanen dulden sollen, welche Kund-
schafter jeden Mann der Besatzung, jede Kanone, jeden Pulverwagen und
jede Zwiebackkiste kontrollieren und bei den stets fortlaufenden baulichen
Arbeiten Kenntnis auch der Details der Befestigungen bestimmt erlangen
können."
Anstatt das Groteske eines solchen Zustandes zu erfassen, meinte Graf
Ährenthal diesen Äußerungen entnehmen zu können, daß, wie er sagte:
„vielleicht in Südtirol neue Befestigungen geplant seien", und erklärte,
daß er „schon bei diesem Anlasse gegen eine solche Absicht ressort-
mäßig auftreten müsse, weil Befestigungsbauten mit Recht als
unfreundliche Anzeichen (durch die italienische Regierung) aufgefaßt
werden müßten, was den Intentionen seiner Politik direkt zuwiderläuft;
übrigens sei ja mit Rücksicht auf die von ihm in Aussicht gestellte Ver-
längenmg des Dreibundes mindestens aber bis 1914 Zeh."
13
Diesem Raisonnement, das, nebenbei bemerkt, die durch Italiens
Befestigungsbauten dargetane „Unfreundlichkeit" ganz übersah, wider-
setzte sich selbst der sonst stets auf Seite Ährenthals stehende und schon
aus budgetären Gründen den Bauanträgen nicht sehr zugetane Kriegs-
minister Baron Schönaich. Er entgegnete, daß Italien ohne jede Rücksicht
auf uns oder den Dreibund systematisch jedweden Zugang in sein Gebiet
durch Fortifikationen sperre, alle Befestigungen modernisiere etc. und daß
es seitens der Kriegsverwaltung geradezu pflichtvergessen wäre, wenn
eigenerseits nicht das Nötige vorgekehrt würde. Leider ist Baron Schön-
aich in der Folge von diesem Standpunkt etwas abgerückt,
Anfangs Jänner 1910 jedoch wünschte er, angeregt durch diese
Konferenz, Informationen über Italien, um an den Minister des Äußern
herantreten zu können.
Ich sandte ihm daher eine diesbezügliche Zusammenstellung vom
9. Jänner 1910, die ich dxurch das Evidenzbureau des Generalstabes
(Chef: Oberst von Urbanski) verfassen ließ. Sie war hauptsächlich durch
folgendes charakterisiert :
Wesentliche Erhöhung der numerischen Stärke des italieinschen
Heeres, Vermehrung der Alpini- und Kavallerie-Formationen bei Ver-
legung nach Venetien, weitgehende Befestigung zu Land und zur
See*), beschleunigte Ausgestaltung der gegen Österreich-Ungarn gerich-
teten Aufmarschbahnen in Venetien, namhafte Erhöhung des Budgets für
Heer und Marine, insbesondere der außerordentlichen Kredite; Errich-
timg von Torpedoboot-Stationen an der Adria-Küste (so auch Marano in
der Bucht von Triest); zunehmende irredentistische Propaganda, rege
Spionagetätigkeit, endlich: Österreich-Ungarn feindliches Gehaben am
Balkan.
All dies legte mu: die Pflicht auf, für den Fall vorzudenken, daß
Italien seine Maske fallen lassen und die Bundestreue brechen würde.
Wie schon früher ausgeführt, habe ich Seiner Majestät den Vorgang
zur Kenntnis gebracht, den Deutschland in Aussicht nahm, wenn es im
Falle russischer Bedrohung genötigt wäre, die Haltung Frankreichs fest-
zustellen, und beantragt, den gleichen Vorgang einer kurzfristigen
Sommation unsererseits gegenüber Italien einzuhalten, wenn Italien sich
im Falle einer Bedrohung der Monarchie durch Rußland anfänglich abseits
*) Die Ausgaben für Befestigungen in der Zeit von 1900 bis 1910
betrugen österreichisch-ungarischerseits an der Südwestfront (Kärntner
Sperren, Tiroler Sperren, Pola und Lussin) 29,604.000 Kronen, dagegen in
Italien 1900 bis 1909 83,310.000 Lire, dazu bis 1917 bewilligt 94,000.000
Lire, somit im ganzen 177,000.000 Lire.
14
halten sollte. Es ist auch erwähnt, daß Seine Majestät mir befahl, ein
diesbezügliches Schreiben an Graf Ährenthal zu richten.
In diesem Schreiben vom 7. Feber 1910 hieß es:
„Für das Jahr 1910 habe ich unter anderem auch den wohl kaum zu
besorgenden Fall in Betracht gezogen, daß die Monarchie im Verein mit
Deutschland und Rumänien in einen gleichzeitigen Krieg gegen Frank-
reich, Rußland, Italien, Serbien und Montenegro verwickelt werde. Für
diesen Fall sind die Vorbereitungen getroffen, daß der Hauptschlag zuerst
gegen Italien zu erfolgen hätte, sowie Deutschland auch diesfalls ihn zuerst
gegen Frankreich führen würde.
Ich teile dies strengst geheim mit. Dies entspricht ganz auch den
Anschauungen des deutschen Generalstabes, nur hat dieser auch die
Möghchkeit hinzugefügt, daß sich ja Frankreich und Italien anfangs
zuwartend verhalten könnten, um erst dann loszuschlagen, wenn die
Verbündeten gegen Rußland und am Balkan bereits entscheidend
engagiert sind.
Für diesen Fall ist deutscherseits festgesetzt, daß, wenn der Krieg
zwischen den Verbündeten imd Rußland als unvermeidlich und unmittel-
bar bevorstehend angesehen werden muß, seitens der deutschen Regie-
rung eine umgehende und völlig klare Erklärung von der französischen
Regierung darüber gefordert wird, wie sich dieselbe bei ausbrechendem
Krieg zu verhalten gedenke. Diese Erklärung muß sofort erfolgen. Eine
ausweichende oder zweideutige Antwort würde als gleichbedeutend mit
der Kriegserklärung angesehen werden müssen. Erklärt Frankreich,
strenge Neutralität wahren zu wollen, so verpflichtet sich auch Deutsch-
land, keine Feindseligkeiten gegen dasselbe zu unternehmen. Da nun
die Monarchie Italien gegenüber in der gleichen Lage ist, habe ich Seiner
Majestät für den gedachten Fall ein analoges Vorgehen imsererseits vor-
geschlagen."
Ich bat in diesem Schreiben hierauf Graf Ährenthal um seine Meinung
und fügte bei:
„Es sei mir jedoch gestattet hinzuzufügen, daß ich bei voller Würdi-
gung des deutschen Vorganges, als des bei einem Kriege gegen Rußland
übrigens auch einzig möglichen, doch nicht umhin kann, zu erwägen,
wie sehr man auch bei diesem Modus schließhch doch nur auf die Ehr-
lichkeit der Neutralen angewiesen ist, daß ich daher vielmehr der Ansicht
zuneige, sich vorerst mit Rußland auf ganz imverbindlichen neutralen Fuß
zu stellen und bei einer Zwangslage Rußlands, die Gelegenheit des freien
Rückens ausnützend, mit Italien abzurechnen, welch letzteres jeder Ent-
wicklung der Monarchie, sei dies nun zur See oder zu Lande, feindlich
gegenüberstehen vdrd."
IS
In seiner Antwort vom 16. Feber 1910 stimmte Graf Ährenthal bei,
daß für den Fall, als ein Konflikt Österreich-Ungarns und Deutschlands
mit Rußland unvermeidlich wäre und immittelbar bevorstünde, Klarheit
darüber geschaffen werden müßte, wer den Verbündeten als Feind oder
Freund gegenübersteht; er schreibt dann:
„Ich habe wiederholt Gelegenheit genommen, der Ansicht Ausdruck
zu geben, daß Rußland auf Jahre hinaus außerstande ist, aktive Politik zu
führen und glaube annehmen zu dürfen, daß E. E. diese Ansicht teilen.
Sollte jedoch Rußland trotzdem in Gefahr emer aggressiven Richtung im
nahen Orient sich begeben und hiebei in einen Gegensatz zu uns und
Deutschland geraten oder gar uns beide bedrohen, erscheint es mir voll-
kommen zweckentsprechend, die von E. E. in Aussicht genommene Klar-
stellung der Verhähnisse herbeizuführen, obwohl sich unsere Lage in
diesem Falle von jener Deutschlands insofeme unterscheiden würde, als
wir es mit einem Alliierten zu tun hätten.
Dennoch würde ich es für nötig halten, daß wir ims durch eine
konzise Fragestellung und Bestehen auf einer sofortigen Antwort die
erforderliche Sicherheit verschaffen. Ich möchte noch die Ansicht hier
aussprechen, daß, wenn wir gezwungen sein sollten, eine solche Sprache
zu führen, dies jedenfalls genügen dürfte, um die betreffende Macht zur
Einhaltung der Neutralität zu bewegen."
Im übrigen gab das Schreiben der Überzeugung Ausdruck, daß Italien
die Neutralität zweifellos beobachten würde und betonte, daß wir freund-
schaftliche Beziehungen zu Rußland wollen.
Weitere Konsequenzen hatte dieser Briefwechsel nicht.
In Audienzen am 1. Feber und am 11. Mai 1910 kam ich bei Seiner
Majestät wieder auf die italienischen Verhältnisse zu sprechen. So auf die
irredentistischen Görzer Exzesse und die dabei zutage getretene
schmähliche Haltung des dortigen Bürgermeisters. Erneut wies ich auf
Italiens Heeresausgaben hin: Das Normalbudget für 1910/11 mit 306 Mil-
lionen enthielt einen neuen Kredit von 65 Millionen, endlich einen solchen
von 83-75 Millionen, der sich wie folgt verteilte : Reorganisationen 6, zwei-
jährige Dienstzeit 3-1, militärische Jugenderziehung, Freiwilligenwesen
(tiro a segno) 2-15, Massawirtschaft 7-5, schwere Artillerie des Feld-
heeres und Feldartilleriematerial 50, Luftwesen 10, erhöhte Friedens-
stände 5, also zusammen 83-75 MilUonen. Ich bemerkte, daß die nam-
hafte Erhöhung des Normalbudgets (um 20 Millionen mehr als 1907/08)
und die seit 1906 bewilligten außerordentlichen Kredite von 424 Millionen
den Charakter ausgesprochener gegen Österreich-Ungarn gerichteter
Kriegsrüstungen tragen, denen m.an nicht blind gegenüberstehen dürfe.
16
In einer Audienz am 18. Juni 1910 meldete ich Seiner Majestät mein
Eintreffen von der Großen Generalstabsreise, die ich in diesem Jahre im
Isonzo-Gebiete vorgenommen hatte. Auf Grund der dort gewonnenen
Eindrücke erneuerte ich mein Verlangen auf Verlegung von Kavallerie
nach Krain und eines Infanterieregimentes nach Tolmein, S. Lucia, auf den
Bau der Bahn S. Lucia— Karfreit (Caporetto) und Schutz der Küsten-
strecke (Duino, Triest, Panzano) durch Küstenbatterien. Weiter befür-
wortete ich die Umwandlung des Landwehr-Infanterieregimentes Nr. 27
(Laibach) in eine Gebirgstruppenformation. Auch in dieser Audienz kam
ich wieder auf die feindseligen Machenschaften Italiens zu sprechen, so
auf das Kreuzen italienischer Torpedoboote an unserer, speziell auch der
dalmatinischen Küste bei Nacht zu Erkundungszwecken, die zunehmende
Belästigung von in Italien ganz privat reisenden k. u. k. Offizieren, deren
Durchsuchung auf den Gardasee-Dampfem, auf die Belästigung unseres
Marineattaches in Rom, auf die Triester Hochverratsaffäre Deperis, auf
den Umstand, daß österreichische Italiener in reichsitalienischen Freikorps
dienen, auf das tendenziöse italienische Volksschul-Lesebuch Trento-
Trieste, auf die italienische Rücksichtslosigkeit gegen das slowenische
Element in Venetien. Ich fügte bei, daß es endlich an der Zeit wäre,
Reziprozität zu üben, die italienischen Finanzposten aus unserem Gebiet
zu entfernen, in der Triester Universitätsfrage, die nur die Schaffung eines
irredentistischen Zentrums zum Ziel hat, konsequent zu bleiben, in Parla-
ment und Presse die Dinge mit dem wahren Namen zu nennen imd in
der äußeren Pohlik voraussichtiger und würdiger aufzutreten.
Während ich derart bemüht war, auf die von Seite ItaUens unver-
kennbar drohende Gefahr aufmerksam zu machen und davor zu warnen,
setzte Graf Ähren thal sein Werben um Italiens Gunst und Treue fort,
insbesondere bei seinen Verhandlungen mit dem neuemannten italienischen
Außenminister San Giuliano. Dies gedieh so weit, daß im Sommer 1910
ohne meine Kenntnis der Kriegsminister Baron Schönaich den Entwurf
eines Vertrages mit Italien verfaßte, der die Beschränkung der beider-
seitigen Befestigungsbauten und Kriegsrüstungen in Tirol zum Ziele hatte.
Ganz abgesehen davon, daß Österreich-Ungarn hinsichtlich der Befesti-
gungen und Kriegsvorbereitungen m Tirol weit im Rückstand war, sich
also durch eine solche Bindung in Nachteil gesetzt hätte, war nach allem,
was Itahen bisher tat, ein Zweifel in die Loyalität Italiens hinsichtlich
Einhaltung eines solchen Vertrages wohl naheliegend.
Was aus diesem Vertragsentwurf, von dem ich erst weit später hörte,
geworden ist, weiß ich nicht.
In einer Audienz in Ischl am 29. Juli 1910, gelegentlich Betonung
der Dringlichkeit des Ausbaues imserer Wehrmacht, hob ich die Wehr-
2, Conrad U jy
macht-Entwicklung in Italien hervor. Auch kam ich auf die sich mehren-
den Grenzverletzungen zu sprechen, bei deren Abweisung die österreichi-
schen Organe nicht die erforderliche Vertretung fanden. Es müsse dies
auf den Geist derselben nur nachteilig rückwirken, so daß schon aus
diesem Grunde mehr Rückgrat geboten wäre.
Das gleiche Thema erörterte ich in einer Audienz am 18. September
1910, wobei ich auf die widerrechtlichen, alles hemmenden Einmengungen
des Ministers des Äußern in militärische Maßnahmen hinwies. Zur
Sprach« kamen auch die italienischen Seemanöver und der Bau des ver-
schanzten Lagers von Gemona — Osoppo (später Friaul-Süd und Friaul-
Nord genannt), Maßnahmen, die auf einen italienischerseits geplanten
Aufmarsch am Tagliamento deuteten.
Zu den vielen Methoden, mit denen die Spionage gegen Österreich-
Ungarn betrieben wurde, gehörten auch die sogenannten wissenschaft-
lichen Forschungsreisen, die bei unseren amtlichen Stellen ungeprüfte
Förderung fanden. Ein solcher Fall nötigte mich, folgenden Brief an Graf
Ährenthai zu richten:
„Euer Exzellenz!
Ich kann es mit meinem Verantwortlichkeitsgefühl nicht vereinbaren,
über die Entscheidung in der Angelegenheit des italienischen Ober-
leutnants Magrini hinwegzugehen, ohne mir erlaubt zu haben, E. E. meine
diesbezügliche Anschauung mitgeteilt zu haben, welche darauf hinausgeht,
daß die Zulassung dieses international bekannten Spions zur Adria-
Forschungsreise alle Vorsichtsmaßnahmen durchkreuzt, welche zu treffen
unsere mihtärische Pflicht ist, und daß ich es sehr bedauere, von E. E.
in dieser das Kundschaftswesen so eminent berührenden Angelegenheit
um meine Anschauung nicht gefragt worden zu sein.
Ich wäre E. E. überaus verbunden, wenn ich E. E. in Hinkunft bei
ähnhchen Fällen die meinerseits bestehenden Bedenken vorzutragen
Gelegenheit fände.
Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung Euer Exzellenz
ergebenster ^ ,
** Conrad m. p.
Wien, 20. September 1910."
In einer Audienz am 12. November 1910 kam ich auch mit Seiner
Majestät auf dieses Thema zu sprechen, sowie auf die unausgesetzten
Nachgiebigkeiten des Ministers des Äußern gegenüber ItaUen, was auch
den Minister des Innern veranlaßt hatte, gegen die von Graf Ährenthal
verlangte laue Handhabung des Grenzdienstes zu protestieren. Dem
gleichen Tone entsprach Graf Ährenthals Forderung, Offiziere nicht mehr
ins Ausland zu entsenden imd ihnen selbst die privaten Urlaube dahin
18
einzustellen. Im übrigen soll (?) selbst der k. u. k. Botschafter von
Merey in manchen Fällen, in denen er zuerst Weisung hatte, Rechenschaft
zu verlangen, desavouiert w^orden sein, nachdem San Giuliano sich direkt
an Graf Ährenthal gev^endet hatte.
An Details konnte ich beifügen : den Vertrieb von Ansichtskarten auf-
reizender, irredentistischer Tendenz durch den bei uns staatlich geschützten
Verein „Lega nazionale", den Verkauf von Geschützen seitens Italiens an
Montenegro und, in Verbindung damit, die Anwesenheit italienischer
Offiziere, angeblich als botanisierende Ärzte, auf dem Lovcen, der für den
Kriegshafen von Cattaro gefährUchsten montenegrinischen Artillerie-
stellung, ferner die fortschreitende Erwerbung von Holzlagern auf den
wichtigsten Bahnhöfen unseres südwestlichen Bahnnetzes durch Reichs-
italiener und die damit verbundene Gefahr, im Kriegsfalle Mobilisierung
und Aufmarsch gegen Italien durch Inbrandsetzen der Holzlager aufs
seh v/erste geschädigt zu sehen.
Am 23. November 1910 war ich in langer Audienz bei Erzherzog
Franz Ferdinand im Belvedere. In dieser erörterte ich nebst anderem auch
all die erwähnten Fragen und ergänzte sie durch die Mitteilung, daß das
italienische 4. Korps (Piacenza) mit Gebirgsausrüstung versehen worden
sein soll, also auch gegen Tirol bestimmt sein dürfte.
Mit Seiner Kaiserhchen Hoheit kam auch das heikle Thema der Maß-
nahmen zur Sprache, die im Ablebensfalle Seiner Majestät gegen einen
italienischen Putschversuch zu treffen wären. Gerüchte wiesen auf einen
solchen hin. Auch lagen Berichte vor, wonach bei den italienischen
Grenzorganen geheime versiegelte Instruktionen erliegen sollten, die das
Verhalten für diesen Fall betrafen. Als eigene Gegenmaßnahmen genüg-
ten die in den Alarm-Instruktionen festgelegten; einige ergänzende Befehle
wurden vorbereitet. Seiner Kaiserlichen Hoheit zur Genehmigung vor-
gelegt und sodann im Operationsbureau deponiert. Der Thronfolger
bestimmte auch, daß für den gedachten Fall ein höchstkommandierender
General in Ungarn zu ernennen sein werde.
Rumänien. Mit Rumänien stand Österreich-Ungarn noch weiter
auf dem Boden des Bündnisses vom Jahre 1882. Die Gesinnungen König
Carols waren unverkennbar bundestreu, Rumäniens militärische Maß-
nahmen daher auf den Kriegsfall gegen Rußland gerichtet.
In diesem Sinne war auch die rumänische Gesandtschaft in Wien
mit folgendem Schreiben an das Ministerium des Äußern herangetreten:
„Legation de Roumanie. ^ , . vt ,•
Geneime Notiz.
Im Auftrage der rumänischen Regierung beehrt sich der königlich
rumänische Gesandte folgende Bitte vorzubringen:
2- J9
Da der Generalstab der königlich rumänischen Armee nicht über
genügende Informationsmittel verfügt, um die etwa eintretenden Fälle
einer Mobilisierung der längs der rumänischen Grenze liegenden russi-
schen Truppen zu studieren, so würde die königlich rumänische Regierung
dem k. k. österreichisch-ungarischen Generalstabe zu sehr großem Danke
verpflichtet sein, wenn er dem rumänischen Generalstabe durch die Ver-
mittlung des königlich rumänischen Gesandten auf Grund beiliegenden
Fragebogens einige diesbezügliche Informationen gefälligst mitteilen
wollte.
Diese Angelegenheit wird selbstverständlich sehr geherni gehalten
werden. Zu diesem Zwecke möchten die diesbezüglichen Mitteilungen
nur durch Vermittlung des könighch rumänischen Gesandten gemacht
werden, umsomehr, als der bisherige rumänische Mihtärattache Major
Skina von Wien versetzt wurde und sein Nachfolger, Hauptmann Eremia,
erst im Laufe des Monats Mai ki Wien eintreffen wird.
Wien, den 12. April 1910."
Graf Ährenthal wendete sich an mich und brachte in einer Unter-
redung, die ich mit ihm am 18. April 1910 hatte, diese Angelegenheit zur
Sprache. Ich vereinbarte mit ihm, daß auch unser Mihtärattache in
Bukarest, Hauptmann von Fischer, von ihr Kenntnis erhalte, da der-
artige Vermittlungen in seine Dienstessphäre fielen und ich dem Versuch
seiner Ausschaltung entgegentreten müsse.
Ich ließ durch die einschlägigen Bureaus des Generalstabes eine
eingehende Beantwortung der gesteUten Fragen bearbeiten. Das vom
11. Mai 1910 datierte Elaborat sandte ich Graf Ährenthal, nachdem mich
dieser am 10. Mai brieflich verständigt hatte, daß er am 11. Mai den
rumänischen Gesandten Herrn Misu empfangen werde und gern in der
Lage wäre, letzterem andeuten zu können, wann er auf die Auskünfte
rechnen könne.
Die Auskünfte bezeichneten die rumänischerseits angeführte Broschüre
von Carlowitz-Maxen über russische Truppendislokationen als zutreffend;
ferner waren beigelegt eine detaiUierte Übersicht der Aushebungs- und
Mobilisierungsbereiche der Infanterieregimenter in Südrußland, Daten
über die Leisiungsfähigkeit der russischen Bahnen im Grenzgebiet gegen
Rumänien, besagend, daß durch Kombination der einzelnen Linien sich
bis Reni 12, bis Ungeni 18, bis Bielcy 12, bis Oknica 24, somit zusammen
66 hundertachsige Züge täglich heranbringen lassen, überdies bis zur
Transversallinie Odessa — Woloczysk weitere 24 Hundertachser; daß
hievon bis zum 3. Mobilisierungstag 33, bis zum 4. Mobilisierungstag
40, bis zum 5. Mobihsierungstag 46, vom 6. Mobilisierungstag an
52 Züge für Mihtärtransporte ausgenützt werden können. Die Frage
20
hinsichtlich der russischen Karten wurde dahin beantwortet, daß jene
1 : 126.000 und jene 1 : 420.000 minder genau, aber trotzdem als karto-
graphische Grundlage östlich des Meridians von Rowno unentbehrlich
seien, da für diesen Raum Kopien der neuen Karte 1 : 42.000 noch nicht
erlangbar waren. Beigefügt wurde, daß alle brauchbaren russischen
Karten in imserer Generalkarte 1 : 200.000 verwendet sind, die überdies
auch durch Rekognoszierungen ergänzt und evident gehalten werde.
In einer Audienz am 11. November 1910 berichtete ich auch Seiner
Majestät über diese Angelegenheit, sowie über die rumänischen Auf-
marscharbeiten.
Rumäniens Politik befand sich auch 1910 in der zwiespältigen Lage:
einerseits in Sorge vor dem russisch-slawischen Druck, Anschluß an
Deutschland und Österreich-Ungarn zu suchen, andererseits mit Serbien
— dem SatelHten Rußlands — freundschaftliche Beziehungen anzustreben.
Rumänien glaubte Serbiens gegen Bulgarien zu bedürfen.
Die seinerzeit mit der Türkei abgeschlossene Mihtär-Konvention,
über welche General von der Goltz*) im Auftrage Sultan Abdul Hamids
in Bukarest verhandelt hatte, bestand nicht mehr; ihre Erneuerung war
nicht erfolgt. General von der Goltz, der am 16. November 1910 von
Konstantinopel nach Berlin reiste und von König Carol von Rumänien
eingeladen worden sein soll, auf der Rückreise sich in Bukarest aufzu-
halten, meinte diese Einladung mit Rücksicht auf Preßkommentare nicht
annehmen zu sollen und wählte seinen Rückweg über Belgrad und Sofia.
Rußland. Rußland litt noch unter den Folgen des japanischen
Krieges und der Revolution, die trotz des gewaltsam niedergeschlagenen
Bolschewiken-Aufstandes fortdauernd nachzitterte.
Die auf Wittes Rat durch Zar Nikolaus II. am 30. Oktober 1905
gewährte Duma**) hatte infolge maßloser, sowohl von den Sozialdemo-
kraten, als auch von den Bauern erhobener revolutionärer Forderungen
eine zweimalige Auflösung erfahren (1906 und 1907). Erst jene vom
Jahre 1908 erwies eine längere Lebensdauer, bis auch sie im Jahre 1910
zur Vertagung gelangte wegen Ablehnung eines von Stolypin eingebrach-
ten Gesetzes, der nach Wittes Rücktritt am 5. Mai 1906 zum Minister
ernannt worden war. Im April desselben Jahres schränkte auch ein
Gesetz vom 10. Juni die Rechte des noch über ein eigenes Parlament
verfügenden Finnland wesentlich ein, was zu Gärungen in Finnland
führte.
*) Leiter der militärischen Reformen in der Türkei; starb als
deutscher Generalfeldmarschall während des Weltkrieges m Bagdad.
**) Volksvertretung.
21
Unbeschadet dieser turbulenten Vorgänge im Innern schritt jedoch
die Entwicklung der militärischen Machtmittel weiter, im höchsten Maße
unterstützt durch die reichen finanziellen Beihilfen, die Rußland vor allem
von Fran-kreich geboten wurden. Frankreich drang mit allem Nachdruck
auf deren Verwendung für rein militärische Zwecke. Es betraf nicht nur
den organisatorischen Ausbau der Wehrmacht, insbesondere jener zu
Lande, sondern auch den Bau jener sogenannten „strategischen" Bahnen,
die einem möglichst weit vom gelegenen Aufmarsch zur Offensive im
Westen dienen sollten. Als daher — worauf im folgenden noch zurück
gekommen werden wird — die Gerüchte von einer Rückverlegimg des
russischen Aufmarsches auftauchten, entstand dagegen auch sofort ein
Sturm der Entrüstung in Frankreich. War doch dessen enger Bund mit
Rußland erst im Jahre 1909 durch den Besuch des Zaren in Frankreich
(Cherbourg) dokumentiert worden, unbekümmert um den Gegensatz
zwischen Autokratie und Republik.
Welche Auffassung man damals in Deutschland über die vor-
erwähnten militärischen Vorgänge in Rußland hatte, geht aus den im
früheren angeführten Äußerungen Kaiser Wilhelm II. und Generals von
Moltke hervor.
Der aggressiven Politik im Westen wieder zugewendet, war Rußland
darauf bedacht, sich in Asien mit England auszugleichen und, insolange
es für einen Krieg im Westen nicht voll gerüstet war, mit Österreich-
Ungarn die durch die Annexionskrise getrübten Beziehungen wieder-
herzustellen. Dem entsprach auch eine amtHche Erklärung, wonach beide
Reiche darin übereinstimm.ten, den status quo auf dem Balkan und das
Wohl der Balkanstaaten zu vertreten.
1910 wurde auch der mit Graf Ährenthal in scharfem Konflikt
gestandene Iswolsky durch Sasonow als Minister des Äußern ersetzt. Es
brachte nicht nur keinen Wechsel in Rußlands Balkanpolitik, sondern es
verschärfte die Lage dadurch, daß Iswolsky auf den so wichtigen Bot-
schafterposten in Paris berufen wurde, also in die Lage kam, seine Öster-
reich-Ungarn feindliche Politik mit Nachdruck zu verfolgen.
Trotz dieser äußerlichen diplomatischen Tünche setzte Rußland
unentwegt seine gegen Österreich-Ungarn gerichtete Agitation fort, nicht
nur am Balkan, sondern auch in den slawischen Gebieten der Monarchie,
die es in rühriger Propaganda auch in Ostgalizien durchwühlte. In einer
Audienz am 1. Feber 1910 und in einer solchen am 18. Juni 1910 sprach
ich mit Seiner Majestät hierüber, sowie über die Gerüchte betreffs Rück-
verlegung des russischen Aufmarsches. Sie konnten damals mit dem
Gebaren Japans in Beziehung gebracht werden: der Annexion Koreas,
22
der Ablehnung des amerikanischen Vorschlages hinsichtlich der mand-
schurischen Bahnen und der Aufnahme eines außerordentlichen Kredites.
Auch die Aufstellung zweier neuer sibirischer Korps seitens Rußlands ließ
sich hiemit in Einklang bringen.
Ich vertrat Seiner Majestät gegenüber die Ansicht, daß man sich
Rußland gegenüber, falls es sich wieder in Asien engagieren würde, in
keiner Weise binden, also auch nicht zum Status quo auf dem Balkan
verpflichten solle, wie dies leider während des russisch-japanischen
Krieges der Fall war. Man möge viehnehr die Zeit der Schwäche Ruß-
lands benützen, die Lage gegenüber Italien und am Balkan zu bereinigen,
um in der Folge nicht von Rußland, Italien, Serbien und Montenegro
gleichzeitig bedroht zu werden.
In einer Audienz am 24. April IQIO berichtete ich Seiner Majestät
über die zunehmende russische Propaganda in Galizien und über die Not-
wendigkeit einmütigen, alle kleinlichen Kompetenzstreite ausschaltenden
Zusammenwirkens der Zivil- und Militärbehörden zur Abwehr dieser
Propaganda.
Die Früchte der letzteren haben im Weltkriege nicht nur die
militärischen Operationen geschädigt, sondern zahlreichen Offizieren und
Soldaten das Leben gekostet und die schärfsten Abwehrmaßnahmen not-
wendig gemacht, gegen die sich eine teils tendenziöse, teils weichherzige
Entrüstung wendete, die das Leben kompromittierter Verräter höher ein-
schätzte, als jenes der für Kaiser und Reich kämpfenden Soldaten.
In einer Audienz am 12. November 1910 berichtete ich Seiner
Majestät, daß ich hinsichtlich dieser Propaganda mit dem Minister des
Innern Baron Härdtl gesprochen und dieser geäußert habe, daß zur
Anregung der auf Bekämpfung der moskalophilen Propaganda abzielenden
Maßnahmen der Chef des Generalstabes am berufensten sei.
Serbien und Montenegro. Das Verhältnis der Monarchie
zu Serbien und Montenegro blieb das gleiche wie bisher. Unter dem
Deckmantel des äußerlichen Nachgebens in der Annexionskrise bestand
die auf extreme, aggressive Tendenzen Serbiens gegründete Feindschaft
dieses Staates gegen die Monarchie auch weiter. Sie nahm an Intensität
noch zu. Im Einklang damit auch das Unterwühlen der slawischen
Gebiete Österreich-Ungarns und die Entwicklung der zum Kampf gegen
die Monarchie bestimmten Wehrmacht. Insbesondere war es die wohl-
organisierte, weitverzweigte und mit den verbrecherischesten Mitteln
arbeitende Vereinigung „Narodna odbrana", die unter Patronanz der
serbischen Regierung und im Dienste derselben die Agitation betrieb.
In einer Unterredung mit Graf Ährenthal am 18. April 1910 kam
gelegentUch Erörterung der gesamten politischen Lage auch dies zur
23
Sprache. Ich wiederholte, daß, wenn man im Vorjahre (1909) gegen
Serbien losgeschlagen hätte, jetzt klare Verhältnisse geschaffen wären,
nunmehr aber nur erübrige, die militärischen Machtmittel der Monarchie
raschestens auf größtmögliche Höhe zu bringen, wofür ich
seine Unterstützung erbat. Graf Ährenthal bemerkte, daß er auf eine
friedliche Anghederung Serbiens und A'lcntenegros hoffe. Im grellen
Gegensatz zu dieser Hoffnung stand allerdings die von Serbien aus
geleitete Propaganda in den südslawischen Gebieten der Monarchie, vor
allem in B. H., wo sie in dem am 6. Juni 1910 stattgehabten Attentat auJ
den Landeschef General der Infanterie von Varesanin beredten Ausdruck
fand. Die auf Gründung des großserbischen Reiches auf Kosten Öster-
reich-Ungarns gerichteten Bestrebungen nahmen immer schärfere Formen
an; die Richtung gab die radikale Partei, deren hervorragender, tatkräftiger
und skrupelloser Führer Nikola Pasic*) schon im Jahre 1884 schrieb:
„Die serbische Nationalidee ist die Vereinigung aller Serben in einem
Staate und Bildung eines Balkanbundes der stammverwandten Rassen, der
bestimmt wäre, ökonomische, politische und kulturelle Interessen dieser
Völker zu schützen und sich gegenseitig im Kriege beizustehen. Öster-
reichs Politik bestand immer, seit es aus Itaüen und dem Deutschen Bund
vertrieben war, darin, das serbische Volk zu Knechten zu machen und
zu vernichten, um auf seinem Weg an die Ägäis kein Hindernis zu
finden. Seit Österreich-Ungarn aus dem Westen vertrieben ist, sucht es
im Osten führende Großmacht zu werden. Deutschland unterstützt es
darin, England und Frankreich lassen es gewähren, und Rußland ist die
einzige Macht, die Österreich-Ungarn nicht freie Hand auf der Balkan-
halbinsel lassen kann. Die Vergrößerung Österreich-Ungarns kann nur
auf Kosten Serbiens geschehen; wenn sie gelänge, müßte Serbien ver-
schwinden."**)
Ob bei dieser Schärfe der Gegensätze, die — auch meinerseits —
als wünschenswerteste Lösung erachtete friedliche Angliederung
Serbiens noch zu erhoffen war, erschien denn doch fraglich, so sehr
dabei auch Serbien seine kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung, sowie
den Weg an die Ägäis gesichert gehabt hätte.
In einer Audienz am 18. Juni 1910 besprach ich die serbische Frage
mit Seiner Majestät, berichtete über die Entwicklung der serbischen Wehr-
*) Nachmaliger Ministerpräsident.
**) Siehe das sehr interessante und für das Studium der serbischen
Frage bedeutsame Werk: E. C. Corti, Alexander von Battenberg. Sein
Kampf mit dem Zaren und Bismarck. Wien. Verlag von L. W. Seidel
& Sohn.
24
macht, insbesondere der Artillerie und betonte das Dringende eigenerseits,
und zwar vornehmlich auch bezüglich dieser Waffe nicht zurückzubleiben.
Ich legte Seiner Majestät dar, daß Serbien im Kriegsfalle dermalen bereits
364 Feld- und 41 Gebirgs-Geschütze verfügbar habe, denen im Minimal-
falle — d. i. bei Engagement der Monarchie auch noch in anderer
Richtung — nur 108 Geschütze der Feldbatterien, 48 Geschütze der
Reservebatterien, 44 Gebirgsgeschütze und nur im reinen Kriegsfall
gegen Serbien allein 432 Geschütze der Feldbatterien, 72
Geschütze der Reservebatterien und 44 Gebirgsgeschütze gegenüber-
stehen würden.
Montenegro. Zwischen Österreich-Ungarn und dessen Gegnern
stets skrupellos lavierend, war Montenegro in den großen Fragen aus
den schon mehrerwähnten Gründen an die durch Rußland und Serbien
verfolgte, der Monarchie feindliche Politik gebunden. Es ging jedoch
nebenher auch seinen auf Erwerbung Skutaris gerichteten Expansions-
bestrebungen nach, schürte 1910 den Aufstand der Albanesen gegen die
Türkei und rückte damit immer mehr die albanesische Frage in den
Vordergrund. An dieser war Österreich-Ungarn nicht nur als Schutz-
macht der römisch katholischen Albanesen, sondern auch aus politischen
Gründen interessiert, sofeme eine Machtverschiebung am Balkan in Rech-
nung kam.
Fürst Nikolaus von Montenegro nahm — sei es aus Machtbestreben,
sei es aus Rivalität mit dem verwandten serbischen Königshaus — am
28. August 1910 den Königstitel an. Ansonst verstand er es auch weiter,
sowohl aus Rußland wie aus Österreich-Ungarn finanzielle Vorteile zu
ziehen.
Bulgarien. Die Lage Bulgariens war 1910 durch das gespannte
Verhältnis zur Türkei gekennzeichnet. Erschien auch der schon früher
erwähnte Konflikt wegen Zahlung von 150 MiUionen Francs durch Ruß-
lands Dazwischentreten beseitigt*), und erkannte auch die Pforte in
dem zwischen Iswolsky imd Rifaat Pascha am 16. März 1910 in Peters-
burg abgeschlossenen Abkommen die Unabhängigkeit Bulgariens für
alle Zukunft an, so blieben die prinzipiellen Gegensätze doch bestehen.
Nach einem Bericht des k. u. k. Militärattaches in Konstantinopel
(Oberst von Pomiankowski) vom 20. November 1910 soll sich General
von der Goltz dahin geäußert haben, daß er das Verhältnis zwischen
*) Bulgarien schuldete der Türkei 150 Millionen Francs als Tribut
und Bahnablösung. Rußland ließ die den Betrag von 82 Millionen über-
schreitencJe Summe zugunsten Bulgariens von seinen Forderungen an
die Türkei aus dem Jahre 1878 abschreiben.
25
der Türkei und Bulgarien sehr pessimistisch beurteile und befürchte,
König Ferdinand werde nicht mehr sehr lange imstande sein, den Aus-
bruch des Krieges zu verhindern. Sollte sich aber Bulgarien im Laufe
der nächsten vier bis fünf Jahre zum Kriege doch nicht entschließen, so
würde der Türkei nichts anderes erübrigen, als ihrerseits einen Konflikt
vom Zaune zu brechen, da ohne entscheidenden Sieg über Bulgarien
die Türkei niemals Ruhe haben und es vermögen würde, sich zu konso-
lidieren und ökonomisch zu entwickeln.
Wie aus den früheren Darlegungen erinnerlich, waren vor Schlich-
tung der 150 Millionen-Frage durch Rußland Annäherungsversuche
zwischen Österreich-Ungarn und Bulgarien im Zuge und auch schon
ziemlich weit gediehen. Sie waren aber nach dem Eingreifen Rußlands
seitens Bulgariens jäh abgebrochen worden. Es ließ sie überdies in der
Presse leugnen. Die erwähnten Annäherungen hatten eine Stütze in dem
bulgarischen Kriegsminister General Nikolajew gefunden, der auch die
Idee einer Militär-Konvention vertrat. Graf Ährenthal ließ sich durch
Bulgariens Stimmungswechsel nicht beirren, nahm den abgerissenen
Faden wieder auf und erließ für das Verhalten unseres Gesandten und
des Militärattaches in Sofia folgende, auch mir mitgeteilte Weisungen
vom 10. Mai 1910 (Nr. 1171):
„General Nikolajew ist zweifelsohne ein überzeugter Anhänger eines
Zusammengehens Bulgariens und der Monarchie und hat diese Gesinnung
wiederholt, zuletzt noch gelegentlich der Ernennung eines neuen General-
stabschefs in einer Weise betätigt, die uns nur erwünscht sein kann. Es
erscheint daher für die k. u. k. Gesandtschaft durchaus angezeigt, die
Beziehungen zum genannten General auch weiterhin zu pflegen. Sollten
also Euer Hochwohlgeboren, beziehungsweise der Herr Militärattache
unter dem Eindruck sein, daß Nikolajew auf seine mehr erwähnten
Eröffnungen eine Rückäußerung von Ihrer Seite oder der des Herrn
Majors ei-wartet, so könnte sich dieselbe im Sinne meines zitierten Erlasses
in folgender Richtung bewegen:
Die Situation der letzten Zeit habe zu einem besonderen Hervor-
treten der Monarchie in Sofia keinerlei Anlaß geboten. Wir hätten jedoch,
wie der General wohl wisse, uns bei verschiedenen Anlässen Bulgarien
gegenüber unentwegt freundlich gezeigt. Auch für die Zukunft erblickten
wir in Bulgarien einen starken Faktor am Balkan, dessen Interessen mit
denjenigen der Monarchie nicht kollidierten und vielfach übereinstimmten.
Wir könnten nicht annehmen, daß Bulgarien eine andere als eine seinen
Interessen entsprechende Realpolitik befolgen werde und gäben uns daher
26
der Erwartung hin, daß wir uns auf dieser Grundlage in einer gegebenen
Situation wiederfinden würden.
Die Verdächtigungen gegen unsere Politik, von denen der General
gesprochen habe, würden, so wie in Konstantinopel, auch in Sofia von
unseren Gegnern als perfide Waffe gegen uns benützt. Es würde weder
unseren wohlverstandenen politischen, noch unseren ökonomischen Inter-
essen entsprechen, in Mazedonien oder Albanien auf Ländererwerb aus-
zugehen, und Euer Hochwohlgeboren seien in der Lage, positiv zu
wissen, daß dies unseren Absichten durchaus fern liege. Solenne
Erklärungen in dieser Beziehung seien, wie ja bekannt, bereits wiederholt
erfolgt; zu einer neuen formellen Enunziation hege keinerlei Anlaß vor.
Sie würde auch unsere Gegner keineswegs davon abhalten, ihre Ver-
dächtigungen zu erneuem. Jedermann aber, der unsere Politik mit Ver-
ständnis und ohne Voreingenommenheit verfolge, müsse in unseren Hand-
lungen die Bestätigung unserer Worte finden."
Die auf Mazedonien und Albanien hinweisende Stelle trug den
Aspirationen Rechnung, die Bulgarien bezüglich dieser Gebiete hegte.
Daß es bei dem dort lodernden Aufstand seine Hände im Spiel hatte, war
eine bekannte Sache, In der Audienz am 11. Mai 1910 sprach ich mit
Seiner Majestät hierüber und erwähnte, daß der Besuch, den der König
von Bulgarien, begleitet vom Kriegsminister und dem Minister des
Innern, dem Kloster Rilo*) abstattete, vermutlich die Fühlungnahme mit
den mazedonischen Führern — anläßhch des albanischen Aufstandes —
zum Zwecke hatte.
Türkei. Am 24. April 1910 hatte Mahmud Schefket Pascha den
am 13. April in Konstantinopel ausgebrochenen, gegen das jungtürkische
Regime gerichteten Soldatenaufstand niedergeworfen. Am 24. April wurde
Sultan Abdul Hamid des Thrones verlustig erklärt und durch seinen den
Jungtürken ergebenen Bruder Abdul Reschad — als Sultan Mohammed V.
— ersetzt, Schefket Pascha zum Kriegsminister ernannt. Energisch ging
das neue Regime (unter Beiziehung des deutschen Generals von der
Goltz) auch an die Reorganisation der Wehrmacht. Im September 1910
wurden die bisherigen sieben Orders**) in vierzehn modern organisierte
Korps umgewandelt und durch den Ankauf der deutschen Linienschiffe
„Weißenburg" und „Friedrich Wilhelm" die Flotte vermehrt.
Nach Abwehr der französischen Versuche, die türkische Finanz-
verwaltung unter Frankreichs Aufsicht zu bringen, durch den türkischen
') 65 Kilometer südlich Sofia, nahe der türkischen Grenze.
") Militärbezirke, welche verschieden starke Korps aufstellten.
27
Finanzminister Djavid Pascha und nach Scheitern des Versuches, bei
Frankreich eine Anleihe aufzunehmen, erhielt die Türkei eine solche bei
Deutschland im Betrage von 11 Millionen türkischen Pfunden (200 Mil-
lionen Mark). Auch dadurch knüpften sich engere Beziehungen zwischen
beiden Staaten, womit auch Österreich-Ungarn zu rechnen hatte. Die
Verstimmungen zwischen der Monarchie und der Türkei, hervorgerufen
durch die Annexion von B. H., hatten sich gelegt. Schon im Vorjahre,
gelegentlich meines persönlichen Verkehrs mit Mahmud Schefket Pascha,
konnte ich dies bemerken. Ich hatte ihn bei den deutschen Manövern in
Mergentheim getroffen.
Der latenten Gefahr, die der Türkei • seitens Bulgariens drohte, ist
bereits gedacht, dazu kamen schwere Verwicklungen im Reiche selbst.
In Arabien waren die Scheiks Idris und Jahia im Aufstand, auch in
Albanien war ein Aufstand ausgebrochen und in Mazedonien die Ruhe
nicht wiedergekehrt. Die Beziehungen der Türkei zu den Großmächten
schildert ein Bericht vom 16. Oktober 1910 des k. u. k. Militärattaches
in Konstantinopel wie folgt:
„Kon st antin Opel, am 16. Oktober 1910.
Euer Exzellenz!
Schneller als man es nach der allgemeinen Lage erwarten konnte,
ist in dem politischen Verhältnis der Mächte der Tripleentente zur Türkei
eine wesentliche Änderung eingetreten. Die bisher so herzlich scheinende
Freundschaft ist im Laufe der letzten zwei Monate erkaltet und an Stelle
der früheren, allerdings nie ganz echten Intimität traten gegenseitige Be-
schuldigungen und direkte Schikanen gegen die Türkei.
Zuerst war es England, welches aus seiner Unzufriedenheit mit
dem Lauf der Dinge in der Türkei kein Hehl machte und seine Sprache
gegenüber dem bisherigen Schützling radikal änderte. Frankreich
tmd Rußland vermochten zwar etwas länger die Maske der Freund-
schaft zu bewahren, doch im August sahen sich auch diese Mächte ver-
anlaßt, dem Beispiele Englands zu folgen und der Pforte ihre Miß-
billigung bezüghch ihrer Politik zu erkennen zu geben. Es ist nur eine
Konsequenz dieser Sinnesänderung der Westmächte, wenn die Türkei
nunmehr zu trachten scheint, ihre Beziehungen zu Deutschland und
zu unserer Monarchie wärmer zu gestalten.
Über die Gründe der Unzufriedenheit Englands mit dem jung-
türkischen Regime habe ich bereits wiederholt Gelegenheit gehabt, Bericht
zu erstatten. Sie liegen hauptsächlich darin, daß die englischen Unter-
nehmungen auf türkischem Gebiete, z. B. die Lynchkompagnie, dann die
28
Irrigationsarbeiten in Mesopotamien, Landankäufe englischer Kapitalisten
im Schatt el Arab und in Syrien und neuestens die unter englischem
Einfluß reorganisierte Mahsusse-Gesellschaft von Seite des türkischen
Staates mit Mißtrauen beobachtet und entweder zu wenig unterstützt,
oder sogar direkt feindlich behandelt werden. Auch die schüchternen
Anfänge einer panislamitischen Bewegung, die sich in Indien und Ägypten
bemerkbar machen soll, sowie das Entstehen von Zweigvereinen des
ottomanischen Flottenvereines in den bezeichneten englischen Domänen
dürften der britischen Regierung gar nicht gefallen.
Frankreich glaubt, sich über die Bevorzugung der deutschen Industrie
beklagen zu sollen. Der Ankauf von vier Torpedobootzerstörern in Schichau,
sowie die Zögerung der türkischen Regierung, den längst ausgefertigten
Vertrag bezüglich der Lieferung von 36 Gebirgsgeschützen endlich zu
unterzeichnen, haben in Paris sehr verstimmt. Verschiedene Interventionen
des hiesigen französischen Botschafters Herrn Bompard zu Gunsten der
christlichen Wehrpflichtigen scheinen gleichfalls gewisse Reibungen
hervorgerufen zu haben und das feste Auftreten der Türkei in tripoli-
tanisch-tunesischen Grenzfragen dürfte auch nicht nach dem Geschmacke
der französischen Regierung gewesen sein.
Die russische Politik am Goldenen Hom hat trotz der geschäftigen
Tätigkeit des Herrn Tscharykow und des Einflusses der Frau des tür-
kischen Ministers des Äußern Rifaat Pascha (eine Russin, geborene von
Riesenkampf) nur Niederlagen aufzuweisen. Der Versuch einer Rußland
günstigen Lösung der Meerengenfrage, dann die Bemühungen zur Bildung
des Balkanbundes haben schmählich geendet; die islamitische Bewegung
greift auch nach Rußland hinüber und sogar in Persien hat die Türkei
nicht übel Lust, ein Wort mitzureden.
Während sich nun infolge aller dieser Gegensätze und Reibungen
auf Seite der Mächte der Tripleentente ein gewisser Unmut ansammelte,
wurde auch die Türkei ihrerseits durch das unklare, zweideutige Verhalten
Englands, Frankreichs und Rußlands in der Kretafrage in ihrem bis-
herigen blinden Vertrauen zu diesen Mächten sehr erschüttert. Die
Abweisung der übertriebenen Forderungen bezüglich definitiver Regelung
der Frage halte man allenfalls noch verwunden, daß aber die West-
mächte nicht einmal betreffs der Souveränität des Sultans zu klaren,
dezidierten Erklärungen zu bringen waren, mußte notwendigerweise am
Bosporus stutzig machen und nachdenkUch stimmen. Man hatte bis
dahin den mifreundlichen und gereizten Ton der englischen und gelegent-
lich auch der französischen Tagesblätter absichtlich nicht beachtet; im
Monate Juli jedoch begann auch die türkische Presse den bisherigen
devoten Ton aufzugeben und selbst das offizielle Organ der jungtürkischen
29
Partei, der „Tanin", veröffentlichte Artikel, welche der schweren Ent-
täuschung der ottomanischen Pohtiker deutlichen Ausdruck gaben.
Während nun durch den Federkrieg der Presse die beiderseitige
Verstimmung stark gestiegen war, erregte der Ankauf deutscher Schiffe
durch die Türkei auf Seite der Tripleentente einen wahren Sturm der Ent-
rüstung. Jede weitere Rücksicht wurde nunmehr beiseite gesetzt und
das Bestreben, die Türkei ihre Vergehen büßen zu lassen, gewann die
Oberhand. Die Zusammenkunft des Großveziers mit Graf Ährenthal
wurde als Anschluß der Türkei an den Dreibund erklärt und durch die
von Tscharykow lancierte Nachricht über den Abschluß der rumänisch-
türkischen Militärkonvention ergänzt; und um die Türkei die Macht
der Tripleentente fühlen zu lassen, wurden bei der in Paris gerade in
Verhandlung stehenden Anleihe Bedingungen gestellt, welche mit der
Würde eines souveränen Staates unvereinbar sind und von der Türkei
nicht angenommen werden konnten. Doch auch bei diesem Hauptcoup
scheint es, daß die französische Animosität der jungtürkischen Partei nur
einen Erfolg mehr einbringen wird, da die französische Regierung zum
Schluß doch auf ihre drückenden Bedingungen verzichten und die Anleihe
auch ohne dieselben zustande kommen dürfte.
Die Ereignisse der letzten zwei Monate müssen nun wohl selbst den
verstocktesten Jungtürken über den wahren Charakter der englisch-
französisch-russischen Freundschaft und die Ziele der Politik dieser drei
Mächte die Augen geöffnet haben. Es ist nun klar, daß dieselben eine
schwache, dahinsiechende Türkei patronisieren
und ausbeuten wollen, aber ein Erstarken dieses
Staates nicht nur nicht wünschen, sondern mit allen
Mitteln zu verhindern trachten. Daß ihnen dies nicht
gelingt, daß die Türkei trotz allen Schwierigkeiten doch vorwärts
schreitet, nach allen Seiten eine kräftige, selbstbewußte Politik führt und
sich gegen Ausbeutungsversuche — von welcher Seite sie auch kommen
mögen — energisch zur Wehre setzt, daß die Blamagen der Botschafter
der Ententemächte sich stets zu Erfolgen der jungtürkischen Regierung
umsetzen, das sind die wahren und tieferen Gründe der in letzter Zeit
veränderten Stimmung der Ententemächte. Hätten England, Frankreich
und Rußland dem Jungtürkentum etwas mehr Lebenskraft zugemutet und
die bisherige Entwicklung vorausgesehen, so hätten sie wahrscheinlich in
der Annexionskrise eine andere Politik befolgt, als jene, welche dem
neuen Regime die ersten Erfolge brachte und die Basis für seine Stellung
im Inneren bilden konnte.
Es ist selbstverständlich, daß man in deutschen Kreisen mit der
neuesten Wendung in der türkischen Politik sehr zufrieden ist und
30
speziell das Zurückweichen des englischen und französischen Einflusses
mit größter Genugtuung empfindet. Baron Marschall, der sich in Kon-
stantinopel bereits recht unbehaglich fühlte und bei seiner Abreise im
JuH nicht wußte, ob er wiederkehren werde, ist jetzt wieder voll Hoffnung
und hat alle seine Gedanken an einen Abschied vom Bosporus wieder
zurückgestellt. Trotz aller Befriedigung jedoch verhehlt man sich — wie
ich aus bester Quelle erfahre — nicht, daß der Umschwung etwas zu
plötzhch und zu früh gekommen ist und für die hiezu noch nicht hin-
länglich vorbereitete Türkei manche Gefahren im Gefolge haben könnte.
Major von Strempel sagte mir ausdrücklich, daß das Scheitern der
türkisch-französischen Anleiheverhandlungen der deutschen Diplomatie
höchst unerwünscht wäre, daß man durchaus nicht darauf spekuliere, die
Anleihe in Deutschland unterzubringen und daß die deutschen Anbote
nur den Zweck haben, der Türkei das Rückgrat zu stärken und sie in
den Stand zu setzen, die französischen Bedingungen nach Möglichkeit
herabzudrücken.
So weit ich übrigens die Lage zu beurteilen imstande bin, scheint mir
die Eventualität, daß die Türkei schon jetzt die Absicht haben könnte,
sich offen an den Dreibund anzuschließen, nicht sehr wahrscheinlich zu
sein. Wenn auch der politisch denkende Teil der türkischen Bevölkerung
über den wahren Charakter der englisch -französischen Freundschaft nun-
mehr ganz aufgeklärt und das bisherige blinde Vertrauen unwieder-
bringlich verschwunden sein dürfte, so ist doch nicht anzunehmen, daß
die Pforte sich schon jetzt für eine der Mächtegruppierungen in dezidierter
Weise entscheiden könnte. Die türkische Politik wird seit jeher haupt-
sächlich durch die Furcht vor England und Rußland beein-
flußt und man ist nach meiner unmaßgebhchen Meinung noch lange
nicht an dem Punkte angelangt, sich von diesem Angstgefühl zu
emanzipieren und eine unabhängige Interessenpolitik zu beginnen. Es
dürfte daher, besonders wenn die französische Anleihe doch zustande
kommt und kein unvorhergesehener Zwischenfall eintritt, das türkische
Staatsschiff in nächster Zeit, wenn auch mit mehr Vorsicht, so doch
wieder ins englisch-französische Fahrwasser einlenken, wobei sich aller-
dings der deutsche Gegenwind stärker geltend machen wird als bisher.
Was nun unser Verhältnis zur Türkei anbetrifft, so dürften nunmehr
so ziemlich alle maßgebenden Kreise von der Aufrichtigkeit und Uneigen-
nützigkeit unserer Politik überzeugt sein. Wie aber trotz der Verstimmung
gegen die Tripleentente und dem Ankauf der Schiffe „Brandenburg" und
„Kurfürst" die Sympathien in der Türkei für das spezifisch DeutscTie
nicht gestiegen sind, so glaube ich auch nicht, daß man die Annexion
in den letzten zwei Monaten vergessen und verwunden hat und daß
31
dieses störende Moment aus der türkischen Politik uns gegenüber nun-
mehr gänzHch ausgeschaltet ist. Unter den militärisch maßgebenden
Persönlichkeiten halte ich zwar den Chef des Generalstabes Izzet Pascha
für verläßlich dreibundfreundlich und auch uns gegenüber so ziemlich
frei von Mißtrauen und Annexionsranküne. Bei Gelegenheit meiner
Abschiedsbesuche vor Antritt meines Urlaubes (Ende JuU) wurde ich
im Generalstabe nicht allein mit gewohnter Höflichkeit, sondern das
erste Mal in sichtlich herzlicher, auszeichnender Weise empfangen. Izzet
Pascha dankte für die große Unterstützung, welche Oberstleutnant Ismail
Hakki Bey in Wien findet und ließ sich in ein politisches Gespräch ein, in
welchem er allerdings außer Betonung der Gemeinsamkeit der Interessen
zwischen unseren beiden Staaten wenig Bemerkenswertes produzierte.
Es ist auch ganz zweifellos, daß der Kriegsminister General Mahmud
Schefket über die politische Bedeutung und Stellung Deutschlands und
Österreich-Ungarns zum Ottomanischen Reiche sich vollkommen klar ist.
Er würdigt auch rückhaltlos den Wert der deutschen Reformtätigkeit in
der türkischen Armee und ist ein aufrichtiger Bewunderer der deutschen
Heereseinrichtungen. Trotzdem muß es sehr befremden, daß er es über
sich brachte, im vergangenen Winter Komparatiwersuche mit Gebirgs-
geschützen vorzunehmen, bei welchen Krupp gegen Creuzot unterlag
und daß demnächst wieder analoge Proben mit Feldgeschützen stattfinden
sollen. Es ist allerdings bekannt, daß Frankreich speziell auf die Lieferung
von Kriegsmaterial an die Türkei größten Wert legt und die jung-
türkischen Machthaber in dieser Beziehung einen starken Druck auf das
Kriegsministerium ausübten. Doch kann auch nicht vergessen werden,
daß der despotisch veranlagte Mahmud Schefket Pascha in weit weniger
wichtigen Fällen den Forderungen des Komitees ein absolutes Noli me
tangere entgegenzusetzen gewußt, in der Deutschland so nahegehenden
Geschützfrage aber ohne Kampf nachgegeben hat. Daß unsere Industrie-
erzeugnisse, selbst wenn sie sich bei Komparatiwersuchen als die besten
erwiesen haben, im Kriegsministerium nicht durchdringen und daß sich
speziell Mahmud Schefket Pascha durch recht oberflächliche Argumente
von der Überlegenheit englischer, französischer und deutscher Artikel
überzeugen läßt, habe ich bei der letzten Lastautomobilkonkurrenz
erneuert Gelegenheit gehabt zu konstatieren. Charakteristisch ist auch,
daß der Kriegsminister bei meinem Besuche nach meiner Rückkehr vom
Urlaube über den Kurs für türkische Offiziere an unserer Armeeschieß-
schule kein Wort erwähnte, geschweige denn einen Dank aussprach.
Vielleicht hat er daran vergessen, aber auch dies ist nicht ohne Bedeutung.
Resümiert man alles, was bei Beurteilung der gegenwärtigen poli-
tischen Situation der Türkei in Betracht kommt, so kann man sagen, daß
32
ein gewisser Umschwung in den Anschauungen der leitenden Kreise,
sowie in dem Verhältnisse der Pforte zu den Mächten der Tripleentente
zugunsten Deutschlands und unserer Monarchie zweifellos konstatiert
werden muß. Diese Wandlung ist aber einerseits mit Rücksicht auf die
innerpolitische Lage des Reiches noch zu früh eingetreten, um als definitiv
angesehen werden zu können, anderseits kam sie zu plötzlich, um imstande
gewesen zu sein, schon jetzt in weitere Kreise einzudringen. Die Türkei
ist bezüglich Entwicklung ihrer Kräfte trotz allen inneren Schwierigkeiten
momentan in aufsteigender Bewegung begriffen. Speziell die Armee hat
in Albanien und letzthin im Hauran ihren inneren Wert erwiesen und
dürfte sich in zwei bis drei Jahren zu einem Faktor ausgestalten, mit
welchem bei jeder kriegerischen Verwicklung ernstlich wird gerechnet
werden müssen. Das Ottomanische Reich wird infolgedessen in den
nächsten Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach an internationaler
Bedeutung wesentlich zunehmen.
Daß es nun für den Dreibund und besonders für uns äußerst wichtig
ist, die Entwicklung des Ottomanischen Reiches, dessen Interessen mit den
unsrigen parallel laufen, nach Kräften zu fördern, dann, daß unsere
PoUtik nun noch mehr als bisher dahin gerichtet sein muß, die Türkei
definitiv an unsere Seite zu bringen, kann keinem Zweifel unterUegen. Mit
Rücksicht auf immerhm mögliche Rückschläge in der äußeren Politik der
Türkei und auf den bekannten Charakter der Osmanen und ihre Eigen-
tümlichkeiten scheint es mir jedoch, wie bisher, auch weiterhin angezeigt,
in unseren Beziehungen zur Türkei eine gewisse Vorsicht und Reserve
nicht außer acht zu lassen. Meine diesbezüglichen Ausführungen im
Berichte Res. Nr. 42 vom 1. Feber 1910 scheinen mir auch heute, trotz
der teilweise veränderten Lage, an Aktualität nicht verloren zu haben.
Genehmigen Euer Exzellenz den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht.
Pomiankowski, Oberst."
England. Am 6. Mai 1910 starb König Eduard VII., sein Werk
aber blieb und wirkte fort. Deutschlands Entwicklung scheel verfolgend,
stellte England vor allem seine außereuropäischen Interessen sicher. In
Indien, das nach außen der Vertrag mit Japan (1907) schützte, wo es
jedoch im Innern gärte, wurde im Juni 1910 Harding zum Vizekönig
ernannt. Die afghanische Frage war zu Gunsten Englands geregelt; in
Persien, durch Androhung einer Besetzung Südpersiens, die Ruhe her-
gestellt; mit Rußland waren die Interessensphären in Persien abgegrenzt;
die Burenfrage war erledigt. In Europa noch in der Kretafrage engagiert,
hatte England mit den anderen Schutzmächten (Rußland, Frankreich,
3, Conrad II OO
Italien) zu Gunsten der Mohammedaner eingegriffen und die Unab-
hängigkeitsbestrebungen der Kretenser, sowie die Aspirationen Griechen-
lands auf Angliederung Kretas eingedämmt. Im Innern aber war, wie
stets, Irland sein wunder Punkt.
Frankreich. In Frankreich blieb auch 1910 der feindliche
Kurs gegen Deutschland der Grundton der äußeren Politik. Damit im
Zusammenhang gewährte es Rußland die weitestgehende finanzielle Hilfe
zu kriegerischen Zwecken und unterstützte Serbien durch Lieferung von
Geschützen und sonstigem Kriegsmaterial. Frankreichs Haltung gegen
Österreich-Ungarn war durch das Allianzverhältnis der Monarchie zu
Deutschland gegeben.
Schweiz. Mein Bemühen, mit den maßgebenden militärischen
Kreisen der Schweiz in freundschaftlicher Fühlung zu bleiben, setzte ich
auch im Jahre 1910 fort. Einerseits waren es die schon erwähnten, aus
der nachbarlichen Lage entspringenden militärischen Gründe, die mich
dazu veranlaßten, andererseits war es das Interesse an einer Wehrmacht,
die das MiUzsystem hoch entwickelt hatte, also als Maßstab dafür gelten
konnte, ob und unter welchen Bedingungen dieses System auch ander-
wärts möglich oder rätlich sei. Dies brachte mich in Verkehr mit dem
schweizerischen Chef des Generalstabes Oberst-Korpskommandanten von
Sprecher, dessen hervorragende Persönlichkeit von weitestgehendem Ein-
fluß auf die Wehrmacht der Schweiz war. Noch vom Jahre 1905 her
kannte ich auch Oberst Egli, der damals als uns allen lieber Gast in
Tirol den Manövern meiner Division beigewohnt hatte. Unsere
Beziehungen zur Schweiz waren femer durch den k. u. k. Militärattache
Major Baron Berlepsch vorzüglich vertreten. Der Einladung zu unseren
Manövern im Jahre 1910 vermochte Oberst von Sprecher nicht nach-
zukommen, da er im Jahre 1908 den deutschen, 1909 den französischen
Manövern beigezogen und 1910 durch die Manöver in der Schweiz selbst
zurückgehalten war. Dagegen besuchte er Mitte Juni 1910 Wien, wo
ich die Freude hatte, mit ihm persönlich zu verkehren und Gelegenheit
fand, mich über die von ihm geschaffene neue „Truppenordnung"
(Organisation) des Schweizer Heeres informieren zu lassen.
Dieser Zusammenkunft folgte meine Einladung zu den für die Zeit
vom 29. August bis 8. September 1910 anberaumten Manövern des
II. eidgenössischen Armeekorps hn Jura, eine mir willkommene Gelegen-
heit, auch durch Augenschein die schweizerischen Heeresverhältnisse
kennen zu lernen. Über meine Teilnahme an diesen Manövern folgt
näheres bei Anführung meiner persönlichen Verwendungen im
34
Jahre 1910. Andeuten möchte ich hier nur, daß mir in politischer Hin-
sicht die scharfe Trennung der deutschen und der romanischen Strömung
in der Schweiz aufgefallen war, in militärischer Hinsicht aber der über-
raschende Umstand, daß ein Milizsystem, wie jenes der Schweiz, uns
kostspieliger gekommen wäre als unser stehendes Kaderheer.
Österreich-Ungarn. In der äußeren Politik der Monarchie
schien die diplomatische Beilegung der Annexionskrise und das Vertrauen
auf den Dreibund für die nächste Zukunft ein gewisses Gefühl der Sicher-
heit zu rechtfertigen, wenn auch die unruhigen Zustände in der Türkei,
die mannigfachen dortigen Verwicklungen und die Gefahr eines dort
plötzlich auflodernden Brandes die BHcke stets nach dieser Richtung
lenkten.
Wie aus allen früheren Darlegungen erklärlich, konnte ich das Gefühl
der Sicherheit nicht teilen. Ich sah in der Scheinlösung der Annexions-
krise die zukünftige serbische Gefahr, in dem konstanten militärischen
Erstarken der Ententemächte das drohende Unheil eines Kampfes gegen
erdrückende Übermacht und in Italien einen treulosen Bundesgenossen,
der sich skrupellos auf die Seite unserer Gegner schlagen wird.
EHese meine Anschauungen habe ich wiederholt mündlich und
schriftlich, so auch in meinen Denkschriften vertreten und daraus die
dringende Notwendigkeit abgeleitet, alles aufzubieten, um für die Stunde
der Entscheidung wenigstens militärisch so stark als möglich dazustehen.
Das Streben nach diesem Ziele fand mannigfache Hindemisse. Der
Kampf gegen sie brachte mich in vielseitige Konflikte, auch in jene, die
meiner Warnung vor Italien entsprangen und meinem Bemühen, sich
gegen diesen vermeintlichen AlHierten vorzusorgen.
Ganz besonders erschwerend wirkten die politischen Kämpfe im
Innern der Monarchie, so vor allem jene, die durch die Vorgänge in
Ungarn geschaffen waren.
Die Blicke nur nach innen kehrend und aufgehend im Hader der
Nationalitäten und Parteien, blieb man blind gegen die sich von außen
her auftürmenden Gefahren und blind gegen die Notwendigkeit, diesen
Gefahren durch eine starke Wehrmacht zu begegnen.
Während zur Zeit der Annexionskrise, bedingt durch die Lage, mein
Verkehr mit Graf Ährenthal ein reger war, beschränkte er sich im
Jahre 1910 auf seltenere Besprechungen. In einer solchen am 18. April
1910 kam nach Erledigung der Bitte Rumäniens um Daten über Rußland
die gesamte äußere Lage zur Sprache, dann jeder Kriegsfall, in den die
Monarchie möglicherweise geraten könnte. Meinem Bemerken, daß ein
kriegerischer Ausgleich unseres Konfliktes mit Serbien klare Verhältnisse
3* 35
geschaffen hätte, setzte Graf Ährenthal die Memung entgegen, daß er
auf friedhche AngUederung Serbiens und Montenegros hoffe. Er erörterte
das Verhältnis zwischen Japan und Rußland, Japan und Amerika, Japan,
Rußland und England gegenüber Amerika, ferner das Verhältnis zwischen
Deutschland und England, endlich die Rolle der Türkei.
Als Resume ergab sich die Forderung, daß — nachdem für die
Marine 300 Millionen bewilligt waren — endlich mit allen Mitteln auch
die Landmacht ausgestaltet werden müsse, damit wir 1Q13 hinreichend
stark seien, um unsere PoUtik zu stützen. Als notwendig bezeichnete ich
einen außerordentlichen Kredit von 480 Millionen Kronen und die
Erhöhung der Rekrutenzahl im Wege des neuen Wehrgesetzes. All dies
aber sofort, weil sich organisatorische Maßnahmen nicht über Nacht
schaffen ließen.
Wieder lenkte ich die Aufmerksamkeit Graf Ährenthals auf die ziel-
bewußte Arbeit Italiens, als deren Ziel ein Krieg gegen die Monarchie
unverkennbar war, auch auf die Gefahr, von Italien überholt zu werden.
Ich bat ihn, bei Seiner Majestät den Ausbau des Heeres zu vertreten
und meine Forderungen zu unterstützen.
Am Schlüsse der Besprechung zeigte mir Graf Ährenthal als
Kuriosum ein Memoire Metternichs an Kaiser Franz I. vom Jahre 1820,
das genau auf die jetzige Lage (1910) stimmte imd m der Forderung nach
Ausbau der Wehrmacht gipfelte.
Ich wäre glücklich gewesen, wenn Graf Ährenthal das Analoge
getan hätte, aber wie die Folgezeit erwies, war dem nicht so.
Daß ich in einer Audienz in Ischl am 29. JuH die Forderungen bei
Seiner Majestät vertrat und dabei nicht nur auf Italien, sondern auf das
seit seinem Vertrag mit Japan wieder gegen Westen freigewordene Ruß-
land wies, sowie daß ich in Audienzen am 18. September und 12. Novem-
ber auf die schädliche Nachgiebigkeit gegenüber Italien aufmerksam
machte und mich gegen widerrechtliche Einmengungen Graf Ähren-
thals in militärische Maßnahmen verwahrte, soll hier nur wiederholt und
kurz angedeutet werden. In der Audienz am 12. November kam ich bei
Hervorhebung der Notwendigkeit des Kundschaftsdienstes auf die
schwächliche Haltung bei auswärtigen Konflikten zu sprechen. So im
Falle Rajakovic, eines in Serbien aufgegriffenen k. u. k. Offiziers, der Serbien
gegenüber im Stiche gelassen wurde, während man bei uns ausländischen
Offizieren gegenüber im analogen Falle alle möghche Rücksicht walten
ließ. Ich trat dem von Graf Ährenthal bei Seiner Majestät gestellten Ver-
langen entgegen, Offizieren das Reisen im Ausland zu verbieten. Ich
bemerkte: „Wenn Graf Ährenthal bei Eurer Majestät gegen mich arbeitet,
so muß ich mich dagegen wehren."
36
Ich erwähne diese Details, weil sie Einblick in das knarrende Räder-
werk bieten und zeigen, wie sich allmählich die Gegensätze zuspitzten,
die schließlich zum offenen Konflikte führten.
Als Resume der äußeren Lage im Jahre 1910 ergab sich:
Äußerlich korrekte Beziehungen mit allen Staaten ; bundes-
treues Gebaren der Verbündeten — tatsächlich aber unverkennbares
Abschwenken eines der Alliierten (Italien) — gärende Keime für
kommende schwere Komplikationen; engeres Zusammenschließen der
Deutschland und Österreich-Ungarn feindlichen Mächte zu einer über-
starken Koalition bei eifrig betriebener, aber noch nicht durch-
wegs vollzogener Ausgestaltung ihrer militärischen Kräfte.
Innere Lage. Unbekümmert um die sichtlich immer mehr und
mehr von außen drohenden Gefahren oder blind gegen sie, standen sich
im Innern Parteien, Nationen, Fraktionen, Koferien etc. im ununter-
brochenen Hader gegenüber, der die Einzelinteressen über alles stellte
und die dringende Sorge für die gemeinsame Not in den Hintergrund
drängte.
Für die gemeinsame Wehrmacht hatte man daher nicht viel übrig;
den einen war sie aus nationalen, den anderen aus sozialen, den dritten
aus wirtschaftlichen Gründen unbequem oder nicht sympathisch, Sie
wurde vielfach nur als überkommenes notwendiges Übel empfunden und
gern als der „Moloch" bezeichnet, der, ohne selbst produktiv zu sein,
an den Staatsmitteln zehre. Daß die Mittel für eine starke, wohlausge-
rüstete Wehrmacht das bestangelegte Kapital sind, dafür war nicht jenes
Verständnis vorhanden, wie beispielsweise in Frankreich.
Auch ein großer Teil der Presse folgte dieser Richtung, nicht nur
armeefeindliche Hetzblätter, sondern auch ernste Journale. So feierte die
„Neue Freie Presse" in einem Artikel vom 17. September 1910 den Finanz-
minister, weil er das ohnehin auf das dürftigste zusammengestrichene
Heeresbudget noch weiter restringierte.
In Ungarn stand, außer den finanziellen Motiven, auch das Streben
nach Schaffung einer rein ungarischen Armee allen Forderungen
für das gemeinsame Heer hemmend entgegen.
Die ungarische, die kroatische, die böhmische, die slovenische, die
italienische, die polnisch-ruthenische, endlich die bosnische Frage kamen
nicht zur Ruhe, daneben nahm das sozialdemokratische Problem an
Bedeutung zu.
Die Ausgleichsversuche zwischen den Deutschen und den Tschechen
waren gescheitert; der Statthalter Franz Graf Thun, der mir in Grado
gelegentlich gleichzeitigen Kuraufenthaltes im Juni 1910 mit großen
37
Hoffnungen sein Ausgleichsprogramm entwickelt hatte, war damit nicht
durchgedrungen. „Deutscher Nationalverband" und „Slawische Ver-
einigung" blieben sich schroff gegenüber.
In Ungarn standen nach wie vor die auf das selbständige ungarische
Heer abzielenden Konzessionen, das Verlangen nach Banktrennung, dann
die Wahlreform im Vordergrund.
Nach resultatlosen Verhandlungen in allen diesen Belangen war im
Jänner 1910 die Ernennung Graf Khuen-Hedervärys zum ungarischen
Ministerpräsidenten erfolgt, der, gestützt auf die von ihm ins Leben
gerufene „Arbeitspartei", vor allem die Wehrvorlage durchbringen sollte.
Aber dem demokratischen Wahlrecht, bei dessen Annahme man eine
kulantere Behandlung der Heeresfrage erwartete, widerstrebte die Mehr-
heit der führenden Parteien. Auf anderem Wege kam man gleichfalls
nicht zum Ziele. Dagegen gelang es der ungarischen Regierung, sich
eine Anleihe von 560 MiUionen Kronen zu verschaffen, die nach Frank-
reichs abschlägigem Bescheid von Deutschland gegeben wurde. Auch
ein Symptom für Frankreichs Stimmung gegenüber Österreich -Ungarn.
Ganz besonders scharf spitzten sich die Dinge in Kroatien zu, wo
auch noch die Fiumaner-Frage mitsprach, dann jene in Bosnien-
Herzegowina.
Ich verfolgte alle diese Vorgänge, kümmerte mich aber nur insoweit
darum, als sie militärische Verhältnisse berührten.
Am 10. Juni 1910 besuchte mich Graf Stürgkh im Auftrage des
Ministerpräsidenten, um meine Anschauungen hinsichtlich Gewährung
einer italienischen Universität, als deren Sitz die Italiener Triest ver-
langten, einzuholen. Ich präzisierte meine Ansicht dahin, daß insolange
die irredentistischen italienischen Machinationen andauern, alles vermie-
den werden müsse, was sie fördert. Eine italienische Universität oder
Fakultät in einem itaUenischen Sprachgebiet wäre eine solche Förderung.
Es sei ein Kinderglaube, zu meinen, daß die Italiener diurch ein solches
Zugeständnis von ihren großen pohtischen Aspirationen abgehalten
würden. Wenn überhaupt, sei eine italienische Universität nur in einer
politisch indifferenten Stadt, etwa Wien oder Graz, zulässig. Ich fügte
bei, daß die Regierung endhch auch im Parlament die Dinge beim wahren
Namen nennen und erklären solle, daß, insolange die irredentistische
Agitation besteht, an die Errichtung einer italienischen Universität, die
nur eine Pflegestätte dieser Agitation wäre, nicht zu denken sei. Endlich
äußerte ich Graf Stürgkh gegenüber, daß an Italiens Bundestreue nicht
zu glauben sei, daß es sich zum Krieg gegen uns vorbereitet und erst
nach dessen Austrag die Universitätsfrage diskutabel wäre.
38
Mit ganz besonderer Besorgnis sah der Thronfolger Erzherzog
Franz Ferdinand die innere Lage an. Er gab dem in einer Besprechung
Ausdruck, die ich im Belvedere am 23. November 1910 mit ihm hatte.
Er verlangte mit Bezug auf innere Konflikte eine völlig exterritoriale
Dislozierung der Truppen.
Seine kaiserUche Hoheit sagte: „Schauen Sie nach Portugal!*) Die
Armee ist die Stütze des Thrones, man muß die Regimenter durchein-
ander mengen, Böhmen nach Ungarn, Ungarn in deutsche Garnisonen
und so weiter."
Ich bemerkte, daß dies nur im begrenzten Maße möglich sei, weil
ansonst Mobilisierung und Aufmarsch im Kriegsfalle ganz bedeutend
geschädigt werden würden. Ich müsse mich gegen eine weitgehende Ver-
mengung aussprechen. Man könne übrigens im Hinblick auf inner-
pohtische nationale oder soziale Konflikte wenigstens bisher der Truppe
sicher sein.
Auf die Erwiderung des Erzherzogs: „Äußere Kriege werden wir
nicht mehr haben", gab ich meiner gegenteiligen Ansicht Ausdruck und
wies auf die der Monarchie von allen Seiten drohenden Gefahren und auf
die Notwendigkeit hin, sich vor allem gegen diese vorzusehen.
Bosnien-Herzegowina. Da ich nach dem Verlauf der
Annexionskrise gewärtig war, daß die nächsten äußeren Verwicklungen
der Monarchie auf dem Balkan eintreten und von Serbien herrühren
würden, mit dem keine klare Lage geschaffen war, wandte ich den Vor-
gängen in B. H. meine besondere Aufmerksamkeit zu.
Der momentane diplomatische Erfolg gegenüber Serbien, das sich
äußerlich als nachgiebig hinzustellen verstand, blieb nicht ohne Rück-
wirkung auf die Serben Bosniens und der Herzegowina. Er löste bei
diesen eine analoge Haltung aus. Sie hatten sich auf den opportunisti-
schen Standpunkt gestellt, mit der Regierung auskommen zu wollen und
in dem gewährten Landtag als stärkste Partei ihre Interessen zu vertreten.
Dieser scheinbare Umschwung, der ja bei einem Teil der serbischen
Bevölkerung auch aufrichtig gewesen sein mochte, den Tendenzen der
Mehrzahl und deren Führer aber nicht entsprach, ließ mancherseits die
*) In Lissabon waren am 1. Feber 1908 der König und der Kron-
prinz bei einer Wagenfahrt von republikanischen Verschwörern
erschossen, der dem König in der Regienmg folgende zweite Sohn Manuel
durch eine Militärempörung am 4. Oktober 1910 vertrieben und die
Repubhk ausgerufen worden.
39
Idee aufkommen, mit Hilfe der Serben die bosnische Frage in geregelte
Bahnen zu bringen.
Die Anhänger dieser Idee argumentierten dahin, daß die Kroaten
numerisch und politisch zu schwach, die Mohammedaner gleichfalls zu
schwach, dabei politisch zu rückständig seien, überdies auf starr
konfessionellem Standpunkt ständen, die Serben hingegen nicht niu: an
Zahl, sondern auch an Intelligenz imd politischer Tüchtigkeit die beiden
anderen überragen, weshalb man sie heranziehen und die Regierung auf
sie stützen müsse.
Abgesehen davon, daß durch eine solche Zurücksetzung des katho-
lischen kroatischen Elementes auf Kosten des griechisch-orthodoxen
Serbentums die Lage auch in Kroatien noch mehr kompliziert, der dortige
Konflikt noch mehr verschärft worden wäre, hätte es geheißen „den Bock
zum Gärtner machen", wenn man die national und konfessionell nach
Serbien gravitierenden, von dort aus inspirierten und die Bildung des
selbständigen großserbischen Staates erwartenden bosnischen
Serben zur führenden Partei im Landtage gemacht hätte. Mit diesem
Bedenken mußte seitens jedweder realen Polit^ gerechnet werden.
Daß sich in manchen kulturellen und nationalökonomischen Fragen,
wie beispielsweise der Kmeten- Ablösung*), Serben und Kroaten finden
würden, änderte nichts an obigem Bedenken.
Ein die Lage im Annexionsgebiet schilderndes offizielles Memoire
vom März 1910, das im allgemeinen auf den versöhnlichen Ton in B. H.
gestimmt ist, enthält folgende bemerkenswerte Stellen:
„Was das Verhalten der Serben der Regierung vis-ä-vis anbelangt,
so ist diesbezüglich seit der Annexion zweifellos ein erfreulicher
Umschwung zum Bessern eingetreten. Die überwiegende Mehrzahl der
Serben hat, wenigstens äußerlich, den intransigenten Standpunkt auf-
gegeben und befleißigt sich einer opportunistischen Haltung. Ob sie
aber endgültig auf die Ideale, welche ihnen bis vor km-zem vorgeschwebt,
Verzicht geleistet, beziehungsweise die großserbischen Tendenzen auf-
gegeben haben, wäre sehr zu bezweifeln. Ein bosnisches Sprichwort sagt;
„Vuk dlaku mjenja, ali cud nikad". (Der Wolf wechselt das Haar, die
Natur jedoch nie!) Es dürfte hier passende Anwendung finden."
•) Ablösung eines Teiles des meist in Händen der mohammedani-
schen Adligen (Begs) befindlichen Grundbesitzes, zwecks Überlassung
an die ihn bisher im Abhängigkeitsverhältnis bebauenden, zu Natural-
abgaben an den Beg verpflichteten Kmeten (Bauern, Pächter).
40
Die Mohammedaner waren in zwei Parteien gespalten: die rein
religiöse Partei „Samostalna muslimanska strana", in der auch die
Adhemaja-Paitei aufgegangen war, nachdem sie ihr bisheriges kroatisch-
nationales Programm aufgegeben hatte, und die serbophile Partei „Musli-
manska narodna organisacia". Von letzterer sagt das Memoire:
„Die jMuslimanska narodna organisacia* (Firdusi-Partei), deren
Spiritus rector Serif Arnautovic, ein geriebenes, höchst malpropres Subjekt,
ist, hatte es bisher verstanden, wenn auch mit Terror und durch falsche
Vorspiegelungen, die Masse der islamitischen Bevölkerung zu beherrschen
und stand mit den radikalen Serben in inniger Fühlung. Die Führer der
genannten Partei konnten sich bis vor Kurzem mit der durch die Annexion
geschaffenen Tatsache nicht befreunden und blickten immer nach Kon-
stantinopel, von wo sie, wenn auch nicht momentan, so doch für die
Zukunft die Verwirklichung ihrer Pläne erhofften. Den radikalen Serben
hingegen schwebte noch immer ein Großserbien vor, beziehungsweise
geben sie sich, präziser gesagt, der Hoffnung hin, daß die gegenwärtige
staatsrechtliche Stellung Bosniens und der Herzegowina noch keine end-
gültige sei und erwarten gelegentlich größerer europäischer Verwicklun-
gen mit Hilfe Serbiens eine Änderung der politischen Verhältnisse m ihrem
Sinne und sohin den angestrebten Anschluß an Serbien. Diese utopischen
Ziele einerseits, die Unzufriedenheit mit der Wendung, die die Dinge
genommen haben, andrerseits, bewirkten die sonst unnatürliche serbo-
islamitische Alhanz, wobei auch der serbische Dinar, mit welchem einige
moslemische Führer von Belgrad aus gespickt wurden, eine nicht
unwesentliche Rolle spielte."
Als die serbische Jeftanovic-Partei nach der Annexionskrise auf den
opportunistischen Standpunkt gegenüber der Regierung umschwenkte,
sah sich die moslemische Firdusi-Partei veranlaßt, das gleiche zu tun und
ihren serbophilen Standpunkt gegen den rein religiösen zu vertauschen,
damit sie in der Folge bei der Regierung Schutz gegen Maßnahmen finde,
welche, wie die Kmeten-Ablösung, muselmanische Interessen berührten.
Die — weit überwiegend katholischen — Kroaten waren in den
Agrarfragen wohl mit den Serben einig, politisch aber standen sie diesen
scharf gegenüber. Numerisch in der Hinterhand, waren sie überdies in
zwei Parteien gespalten, jene des Sarajevoer Erzbischofs Stadler, dem für
die Kroaten Religion und Nationalität untrennbar galten, und jene des
Doktor Mandic, der die Vereinigung B. Hs. mit Kroatien auf dem Wege der
Annäherung der anderen Konfessionen anstrebte. Eine Idee, bezüglich
welcher das Memoire bemerkt: „Derzeit fehlen aber alle Vorbedingungen
für die ReaUsierung des hier in Frage stehenden Prinzipes, da abgesehen
41
von den Kroaten, die an und für sich im Lande in der Minorität sind,
alle anderen, im vorstehenden namhaft gemachten Parteigruppen einer
solchen Idee schroff gegenüberstehen."
Aber kaum stand durch die Gewährung des Landtages eine freiheit-
liche Verfassung in Aussicht, als auch schon Unzufriedenheiten und
Forderungen laut wurden.
Zunächst klagten die Serben, daß sie mit ihren fünf Virilstimmen
gegen sieben der Katholiken im Nachteil seien, obgleich sie die numerische
Majorität im Lande repräsentierten. Sie remonstrierten dagegen, daß der
Präsident des Landtages ernannt und nicht gewählt werde und dagegen,
daß die drei Konfessionen im Präsidium wechseln, während sie dieses
Privileg als stärkste Bevölkerungsgruppe für sich allein beanspruchten.
Aber auch die anderen Wortführer, ohne Unterschied des Glaubens,
waren mit dem Wirkungskreis des Landtages unzufrieden. Sie beschwer-
ten sich, daß der Landtag auf die gemeinsamen Angelegenheiten der
Monarchie, auf das Zoll- und Militärwesen, auf die Bahnen keine Ingerenz
habe und sein legislatives Wirken an die Zustimmung der österreichischen
und der ungarischen Regierung gebunden sei.
Nicht nur gegenüber den politischen Vorgängen, welche die Keime
künftiger Verwicklungen bargen, sondern auch gegenüber den Einwürfen
hinsichtlich des Militär- und des Bahnwesens hieß es die Augen offen
halten, um nicht diese wichtigen Zweige in die Hände einer Partei
gelangen zu lassen, deren Loyalität zum mindesten fraglich war.
Dies veranlaßte mich, die Vorgänge in B. H. auch bei Seiner Majestät
zur Sprache zu bringen, wenn ich es aus militärischen Rücksichten für
notwendig erachtete.
So vertrat ich in einer Audienz am 18. März 1910 erneuert die schon
1907 erbetene Änderung der Stellung des zu einer Schattenfigur herab-
gedrückten Landeschefs in B. H.*), im Sinne einer Erweiterung seiner
Befugnisse, auch gegenüber dem ihm beigegebenen Ziviladlatus. Als nach
Rücktritt Baron Benkos die Neubesetzung letzteren Postens einzutreten
hatte, kamen als Nachfolger der jahrelang hervorragend bewährte
*) Landeschef war ein hoher General, der auch das militärische
Kommando führte; ihm für die Zivilverwaltung beigegeben war ein Zivil-
adlatus, ohne dessen Zustimmung er nichts verfügen durfte. Der Zivil-
adlatus erhielt seine Weisungen vom gemeinsamen Finanzminister (in
Wien), der damit der eigentliche Regent des Annexionsgebietes v/ar. Er
war außer Seiner Majestät als gemeinsamer Minister den Delegationen
verantwortlich.
42
Sektionschef Shek (ein Kroate) und der der serbophilen Richtung
zugeneigte Baron Pittner in Betracht. Der Landeschef Feldzeugmeister
von Varesanin beantragte Shek, der gemeinsame Finanzminister Baron
Burian ernannte jedoch Baron Pittner. Ich bemerkte Seiner Majestät
gegenüber, daß ein derartiger Zwiespalt kaum ein gedeihliches Wirken
fördern könne. Da die Widerstände gegen militärische Forderungen in
B. H., darunter auch die Bahnbauten, immer mit finanziellen Ursachen
begründet wurden, hob ich Seiner Majestät gegenüber die kaum zu recht-
fertigenden Auslagen hervor, die dem Lande durch den enormen
Verwaltungsapparat auferlegt waren. Ich bemerkte, daß Böhmen bei
61/^ MiUionen Einwohnern mit einem Statthalter, zwei Vizepräsidenten,
vier Statthaltereihofräten, einem Hofrat als Landesschulrat, 100 Bezirks-
ämtern und zwei Exposituren das Auslangen finde, während das nur
1-6 Millionen Einwohner zählende B. H. (abgesehen vom gemeinsamen
Finanzministerium in Wien) einen Landeschef, einen Ziviladlatus, sechs
Sektionschefs, 13 Hofräte, 6 Kreisbehörden, 55 Bezirksämter und
25 Exposituren aufweise.
In der Audienz am 29. JuU in Ischl verwahrte ich mich gegen
eigenmächtige Maßnahmen in B. H., welche die militärischen Interessen
schädigten. Ohne Wissen des Ministers des Äußern und des Kriegs-
ministers erfolgten Änderungen des Strafgesetzes, wodurch der Militär-
Jurisdiktion Vergehen entzogen wurden, die ihr bisher unterstanden.
Hinter dem Rücken der Heeresleitung wurden Abmachungen über
Elektrifizierung der Bahn Sarajevo — Mostar gepflogen. In öffentlicher
Rede stellte der Ziviladlatus dem Lande in Aussicht, daß Post-, Tele-
graphen- und Telephondienst dem Militär abgenommen werden würde.
Welche Wichtigkeit es aber hatte, gerade auch diese Dienste in ver-
läßlichen militärischen Händen zu wissen, habe ich schon an anderer
Stelle ausgeführt. Erneuert wendete ich mich gegen den eingewurzelten
Mißbrauch, die Truppen zu Arbeiten zu verwenden, die zivilerseits zu
bewirken waren. Ich resümierte, daß eine Änderung der Stellung des
Landeschefs unabweisbar erscheine.
In einer Audienz am 4. Dezember 1910 befürwortete ich die
Ernennung eines energischen Landeschefs und schlug hiezu Feldzeug-
meister Oskar Potiorek vor, dessen bestimmtes Wesen und dessen große
Arbeitskraft ich kannte.*)
*) Der unglückliche Rückschlag in Serbien hatte im Weltkrieg diesen
General als schweres Schicksal getroffen. Eine vorurteilsfreie Geschichts-
forschung wird jedoch erweisen, wie sehr die anfangs siegreiche öster-
43
Militärische Verhältnisse.
Selbstverständlich arbeiteten auch im Jahre 1910 alle berufenen
Stellen, nämlich die drei mihtärischen Ministerien, inklusive der Marine-
sektion, sowie der Generalstab unablässig an der Entwicklung und Aus-
gestaltung der Wehrmacht.
Die Masse dieser Arbeiten auch nur anzudeuten, kann nicht in den
Rahmen dieses Buches lallen. Nur Einzelheiten, hauptsächlich solche,
die mich nötigten, die Einflußnahme des Kaisers zu erbitten, sollen
Erwähnung finden. Ich folge dabei der schon für das Jahr 1909 ein-
gehaltenen Stoff gliederung.
Organisation. Die wichtigste und noch immer nicht gelöste
Frage betraf die Wehrvorlage und das damit zusammenhängende erhöhte
Rekrutenkontingent. Ohne dieses blieb eine Entwicklung der Wehrmacht
ausgeschlossen. Die Lösung der Frage «scheiterte an dem Widerstand
Ungarns. Auch das Wehrgesetz für B. H. harrte der Erledigmig. In
einem Gutachten vom 9. April 1910 vertrat ich die Forderung, daß die
bosnisch herzegowinischen Landesangehörigen ihre Dienstpflicht im
gemeinsamen Heer oder der Marine zu erfüllen hätten, für welche § 3 des
Gesetzes lautete, daß sie zur Verteidigung der ö.-u. Monarchie gegen
äußere Femde und zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit
im Iimem bestimmt seien. Es erschien nötig, um die auf eine Sonder-
stellung der bosnisch-herzegowinischen Wehrmacht abzielenden Bestre-
bungen abzuweisen. Am 21. April 1910 legte ich nach Durchsprache
der politischen Lage Seiner Majestät erneuert die Dringlichkeit der Wehr-
machtfrage dar und die Notwendigkeit eines außerordentlichen
reichisch-ungarische Offensive die Kraft Serbiens gebrochen hatte, so daß
es für lange Dauer zur Ohnmacht verurteilt und dadurch die Möglichkeit
geboten war, die gegenüber Serbien befindlichen Truppen teils in die
russische Front zu ziehen, teils gegen den neuerstandenen Feind (Italien)
nach Westen zu wenden, sowie auch, daß bei Wiederaufnahme der Offen-
sive gegen Serbien die vereinten deutschen, bulgarischen und öster-
reichisch-ungarischen Truppen den Boden in einer Weise vorbereitet
fanden, die den Erfolg ganz wesentlich erleichterte.
44
Kredites von etwa 500 Millionen Kronen für die Landmacht und von
300 Millionen für die Seemacht Dazu eine allmähhche Steigerung des
zur Zeit 370 Millionen betragenden ordentlichen Jahresbudgets auf
500 Milhonen (im Jahre 1918) für Heer und Kriegsmarine. Ich berief
mich auf die Heeresentwicklung Italiens und der Balkan Staaten, ganz
besonders aber auf jene Rußlands, welches 700 Millionen Rubel für die
Marine, 650 Millionen für das Heer, somit 1350 Millionen Rubel, gleich
3375 Millionen Kronen verausgabe.
Am 8. Juli 1910 hatte der ungarische Landesverieidigungsminister
Generalmajor v. Hazai eine Besprechung mit meinem Stellvertreter General-
major Langer. Er Heß mir mitteilen, daß die Rekruten pro 1910 im August
zur Stellung gelangen und auch jene für 1911 im Herbst zugestanden wer-
den würden, dies jedoch nur im bisherigen (also unzulänglichen)
Ausmaß. Nach Votierung dieser Rekruten würde die Einbringung der
großen Wehrvorlage erfolgen. Es sei dagegen wohl die Obstruktion zu
erwarten, aber zur Bekämpfung derselben 11/2 Jahre Zeit zur Verfügung.
Dies bedeutete eine weitere Verschleppung der so dringenden Frage. Ich
erbat daher am 29. Juli in Ischl erneuert die Einflußnahme des Kaisers
auf beschleunigte Behandlung des Wehrgesetzes, so daß dieses im Jahre
1911 bereits erlassen wäre.
In einer Audienz am 18. September verwahrte ich mich dagegen,
daß der Budget- Entwurf seitens des Kriegsministers mit Umgehung des
Chefs des Generalstabes erfolge. Ich betonte, daß es höchste Zeit sei,
auch bei uns im großen Stile zu arbeiten, sich nicht mit Minimalbeträgen
abfinden zu lassen, sondern das Notwendige den Vertretungskörpem
offen einzugestehen, es zu verlangen und zu vertreten, endhch auch
die Presse hiefür zu stimmen. Auch am 4. und 8. Dezember kam ich mit
Seiner Majestät darauf zu sprechen mit dem Beifügen, daß sich auch
schon die Öffenthchkeit dieser Fragen bemächtige. So lautete ein Artikel
der „Zeit" vom 6. Dezember, den ich Seiner Majestät vorlegte:
„Nach allem, was in parlamentarischen Kreisen über das nächst-
jährige Budget der Heeresverwaltung verlautete, mußte allgemein
angenommen werden, daß die internen Schwierigkeiten bei der Zusammen-
stellung des Budgets vollkommen überwunden sind und daß die Vorlage
definitiv fertiggestellt ist.
Es wird darum überraschen, wenn man erfährt, daß diese Annahme
eine irrige war. Wie wir nämlich vernehmen, sind bezüglich des Budgets
der Kriegsverwaltung neuerlich schwere Differenzen zutage
getreten, die wohl ein direktes Eingreifen des Monarchen
unab weislich machen werden. Wie wir weiter erfahren, wird in den
45
nächsten Tagen wahrscheinlich ein Ministerrat unter dem Vorsitz
des Kaisers stattfinden. Es ist aber auch mögUch, daß sich die kom-
petenten Amtsstellen direkt an den Monarchen wenden, um die bestehen-
den Differenzen durch ein Machtwort des Kaisers aus der Welt
zu schaffen."
Unter den vielen zu betreibenden Fragen war es zu dieser Zeit die
Entwicklung der Artillerie, die mir besonders nahe lag. Am 21, April
drängte ich bei Seiner Majestät auf Ausbau der Festungsartillerie, und
zwar sowohl als Besatzungs-, hauptsächlich aber als Angriffsartillerie.
In Verbindimg damit auf eheste Beschaffung des neuen Belagerungs-
Artillerie-Mater iales. Am 18. September bat ich um Einflußnahme auf die
Ausgestaltung der schweren Haubitz-Divisionen (zunächst für die Korps
1 bis 14), auf Vermehrung der Festungsartillerie um 15 bis 16 Kompagnien,
und der Gebirgsartillerie. Hinsichtlich des Materials betonte ich das
Dringhche der Beschaffung der modernen schweren Angriffsartillerie, ins-
besondere der 10-5 cm-Kanonen- und der 30-5 cm-Mörser-Batterien. Ich
äußerte Seiner Majestät gegenüber, daß bei ims alles nur auf dem Papier
oder höchstens in Form eines Versuchs-Modells bestehe. Für das Dring-
liche der Mörserfrage wies ich darauf hin, daß ItaUen, das 1907 nur zwei
Panzerwerke besaß, seither mit der Befestigung seiner Grenze im größten
Stile begonnen und weitestgehend zur Panzerfortifikation gegriffen habe,
gegen die imsere dermaligen Geschütze keineswegs ausreichten. Deshalb
habe ich ja schon lange ein schweres Steilfeuergeschütz gefordert, als
welches nun der bereits konstruierte 30-5 cm-Mörser vorlag. Da man
aber nie zur endgültigen Feststellung dieser Konstruktion zu gelangen
vermochte, schlug ich am 4. Dezember Seiner Majestät vor, die Bestellung
der Kruppschen 28 cm-Haubitzen anzudrohen, wenn man bei uns zu
keinem Entschluß käme.
Am 23. November besprach ich alle diese Fragen auch mit Erzherzog
Franz Ferdmand und interessierte ihn dafür.
Um im russischen Kriegsfall den großen Kavalleriemassen des
Gegners wenigstens einigermaßen begegnen und den weitausgedehnten
Aufklärungsräumen Rechnung tragen zu können, erbat und erhieU ich am
18. September die prinzipielle Zustimmung Seiner Majestät für die Redu-
zierung der Divisionskavallerie von drei auf zwei Eskadronen zum Zwecke
der Aufstellung weiterer Kavallerie-Divisionen (zu 24 Eskadronen und
3 reitenden Batterien). Zur Unterstützung der Kavallerie im Grenzdienst
während Mobilisierung und Aufmarsch trat ich hinsichtlich Beritten-
machung der Gendarmerie in Galizien mit dem hiefür kompetenten Lan-
desverteidigungsminister FML. V. Georgi in Verbindung und erbat hiefür
46
am 4. Dezember die Einflußnahme Seiner Majestät. Schon am 1. Feber
1910 beantragte ich die Neu- Ausrüstung und feldmäßige Uniformierung
der Kavallerie unter Hinweis auf Deutschland, wo dies bereits
geschehen sei.
In das Jahr 1910 reichte auch noch die von mir schon im Jahre 1909
angeregte Frage der General-Truppen-Inspektore n*), welche
seither Gegenstand der Erörterung war. Der Thronfolger Erzherzog
Franz Ferdinand hatte diesbezüghch mit Ermächtigung des Kaisers einen
Antrag gestellt, der von Seiner Majestät an den Kriegsminister mit dem
Auftrag geleitet wurde, mit mir darüber das Einvernehmen zu pflegen.
In einem Antrag res. Gstb. 1906 vom 3. März 1910, sowie in
Audienzen am 15. Feber und 21. April bezeichnete ich als prinzipielle
Forderung die Kreierung von sechs Armee-Inspektoren als künftige
Kommandanten der sechs Armeen. Da die Armeen in den verschiedenen
Kriegsfällen verschieden zusammengesetzt wären, erschiene eine ständige
Zuweisung derselben Korps an die Armee-Inspektoren nicht tunlich.
Nur bei jenfem in Sarajevo wäre es mögUch, dem das 15. und 16. Korps
in allen Fällen unterstellt bleibe. Zu bestimmen wäre, w e m das Recht
zustehe, die Armee-Inspektoren mit gewissen Aufgaben zu betrauen. Aus-
zuschließen wäre unbedingt die Bekanntgabe der Aufmarschelaborate an
die Inspektoren. Nicht nur wegen Geheimhaltung überhaupt, sondern
auch aus Rücksicht der Verpflichtung gegenüber den Verbündeten,
überdies aber auch, weil gegenteiUge Meinungen und Gegenvorstellungen
die Keime zu Mißerfolgen schaffen könnten, im Kriege aber nur ein
Wille herrschen dürfe**).
Das langsame Tempo in der Entwicklung des Luftfahrwesens
nötigte mich in Audienzen am 18 September und 12. November die
Dringlichkeit der Anschaffung von Aeroplanen und der Ausbildung von
Piloten hervorzuheben. Unter Hinweis auf Frankreich, Deutschland,
Rußland und Itahen, die uns bereits weit voraus wären, erbat ich die Ein-
flußnahme des Kaisers. Als zunächst notwendigen Kredit bezeichnete ich
die gewiß bescheidene Summe von 300.000 Kronen. Um mir über diese
damals noch neuen Erfindungen einen persönlichen Eindruck zu ver-
schaffen, war ich auf dem Übungsplatz in Neustadt m Aeroplanen, au£
jenem in Fischamend im Lenkballon geflogen.
*) Siehe 1909.
**) Man erinnere sich der Schwierigkeiten, die dem Generalfeldmarschall
Graf Moltke im Jahre 1866 insbesondere durch General von Steinmetz
bereitet wurden und Verstimmungen schufen, die noch zu Beginn des
Krieges 1870 in einer der Sache schädlichen Weise nachwirkten.
47
Ausbildung. Als wichtige Frage in diesem Belange stand das
Reglement für die Fußtruppen im Vordergrund. Wie schon erwähnt,
war der nach meinen Weisungen im Operationsbureau bearbeitete Ent-
wurf auf manchen Widerstand des Thronfolgers und des Feldzeugmeisters
Potiorek gestoßen. Auch mochten noch andere Einflüsse mitgewirkt
haben, diese dringende Angelegenheit zu verzögern und den Entwurf zu
einem noch mit überflüssigen Formalitäten belasteten Kompromiß umzu-
wandeln. Ich hatte erwartet, daß mich Erzherzog Franz Ferdinand zu
einer eingehenden Besprechung hierüber berufen würde. Da dies aber
unterblieb, richtete ich an ihn das nachstehende Schreiben:
„Wien, 30. März.
Eure Kaiserliche Hoheit hatten stets die Gnade, es zu gestatten, daß
ich Eurer Kaiserlichen Hoheit gegenüber mich rückhaltlos ausspreche,
geruhen Eure Kaiserliche Hoheit daher auch, die nachfolgende Darlegung
gnädig aufzunehmen
Ich glaubte von Eurer Kaiserlichen Hoheit berufen zu werden, um
Euer Kaiserlichen Hoheit über die einzekien Punkte des Reglement-Ent-
wurfes für die Fußtruppen mündlich zu referieren und hoffte auf das hohe
Vertrauen, bei dieser Gelegenheit meine Anschauungen vortragen zu dürfen.
Die mittelst des gestern hier präsentierten Befehles Eurer Kaiserlichen
Hoheit getroffenen Bestimmungen, auf Grund welcher ich nunmehr die
Umarbeitung einleite, lassen mich jedoch erkennen, daß ich auf eine
Berufung nicht mehr zu rechnen habe.
Ich bin viel zu viel Soldat, um nicht das Prinzip des strikten Befehls
und der strikten Befolgung obenan zu stellen, aber es wäre meinerseits
ein Mangel an pflichtgemäßer Offenheit, wenn ich Eurer Kaiserlichen
Hoheit nicht freimütig bekennen würde, daß ich hierin eine Andeutung
empfinde, nicht mehr jenes hohe und gnädige Vertrauen zu genießen,
welches mir die festeste Stütze in all meinem bisherigen Wirken und
welches mir auch die entscheidende Veranlassung war, den Dienstes-
posten anzutreten, an welchem ich mich dermalen befinde.
Ein Feind jedes persönlichen Herandrängens, habe ich mangels dies-
bezüglich bestehender Vorschriften stets die Berufungen Euer Kaiserlichen
Hoheit erst abgewartet und habe es jedesmal freudig begrüßt, wenn mir
die hohe Auszeichnung zuteil wurde, persönlich berichten zu dürfen.
Ich darf es wohl als außer Frage stehend betrachten, daß ich stets
nur von dem Streben geleitet bin, meine Kräfte, so weit sie eben reichen,
nach bestem Wissen und Gewissen in den Ah. Dienst zu stellen, aber ein
erfolgreiches Wirken erscheint mir in meiner verantwortungsreichen
Stellung doch nur dann möglich, wenn ich das Bewußtsein haben darf,
mich des hohen Vertrauens erfreuen zu können, dies insbesondere, sofeme
48
ich die schwerwiegenden Situationen eines eventuellen Kriegsfalles ins
Auge fasse
Andernfalls müßte ich es als Pflicht betrachten, ehrlich zu gestehen,
daß ich dem innehabenden Dienstesposten nicht mehr zu entsprechen
vermöchte. Niemals würde ich jedoch irgend einen diesbezüglichen
Schritt unternehmen, ohne mich vorher vertrauensvoll an Eure Kaiser-
liche Hoheit gewendet zu haben.
Geruhen daher Eure Kaiserliche Hoheit den vorliegenden ehrfurchts-
vollsten Bericht nur in diesem Sinne entgegennehmen zu wollen.
In tiefster Ehrfurcht Eurer Kaiserlichen Hoheit untertänigst gehor-
^^^^^^^ Conrad m. p."
Ich hatte für dieses, in der Form sehr ergebene, in der Sache aber
sehr deutliche Schreiben einen besonderen Grund. Er lag darin, daß ich
im Kriegsfalle dem zum Armee-Oberkommandanten bestimmten Erzherzog
als Chef des Generalstabes zur Seite gestanden wäre und für diesen Fall
jede Einmengung eines Dritten, jedes Verhandeb mit verantwortimgs-
losen Unberufenen von Haus aus unbedingt ausgeschaltet sehen wollte.
Dazu hatte ich umsomehr Ursache, als sich zur Zeit der Kriegsmöglich-
keit mit Serbien (1909) der Erzherzog plötzUch den General Szasz-
kiewicz, der als Strategielehrer an der Kriegsschule tätig war, als General-
adjutanten im Kriegsfalle gewählt hatte. Es war unschwer zu erkennen,
daß Szaszkiewicz ihm als Kontrollorgan für meine operativen Anträge
dienen sollte, und erinnerte mich an die mir gewordene Mitteilung, daß
Erzherzog Franz Ferdinand von seinem Vater, Erzherzog Carl Ludwig,
die Lebensregel bekommen habe, sich nie auf einen Menschen allein
zu verlassen.
In der Antwort auf meinen Brief versicherte mich der Erzherzog
seines unveränderten Vertrauens, wofür ich ihm in folgendem Schreiben
dankte :
„Wien, 6. April 1910.
Geruhen Eure Kaiserliche Hoheit meinen ehrfurchtsvollsten Dank für
Euer Kaiserlichen Hoheit gnädiges Schreiben entgegennehmen zu wollen.
Ich wäre glücklich, wenn Eure Kaiserliche Hoheit es mir gönnen
würden, meine Anschauungen über Truppenausbildung, Adjustierung und
Ausrüstung, Disziplin und Strammheit mündlich vortragen zu dürfen, da
ich nicht frei von der Besorgnis bin, daß man Eurer Kaiserlichen Hoheit in
diesen Hinsichten nicht zutreffend über mich berichtet hat.
Ich danke Eurer Kaiserlichen Hoheit auch ganz besonders und
untertänigst füi das höchste Zugeständnis meiner freien und offenen
Meinungsäußerung; auch Seine Majestät geruhten Allergnädigst mir das
4, Conrad II ^Q
offene Aussprechen meiner Überzeugung nicht nur zu gestatten, sondern
ausdrücklich zur Pflicht zu machen.
Hierin ersehe ich jenen Erweis des gnädigen Vertrauens, welches für
mich die unerläßHche Grundlage jeder dienstlichen Tätigkeit ist.
Geruhen Eure Kaiserliche Hoheit mir gnädigst zu gestatten, daß ich
meinem unverbrüchlichen Streben, Eurer KaiserUchen Hoheit Intentionen
zu entsprechen, sowie der tiefsten Ehrfurcht Auschruck gebe als
Eurer KaiserUchen Hoheit
imtertänigst gehorsamster
Conrad m. p."
Als der modifizierte Reglements-Entwurf fertiggestellt war, bat ich
den Erzherzog am 23. November 1910, nunmehr von weiteren Kom-
missionen absehen und den Entwurf ehestens zur Ausgabe zulassen zu
wollen.
Die Truppen-Ausbildung nahm im Jahre 1910 ihren eingelebten
Gang, erlitt aber dadurch eine Störung, daß infolge einer Pferdeseuche
hn 10. Korpsbereich (Przemysl) die für 1910 im Räume Dukla, Mezö-
laborcz, Eperies, Homonna vorbereiteten Armee-Manöver in den Kar-
pathen sowie che großen Kavallerieübungen in Galizien entfielen.
Im übrigen hatte mich die allzu rasche Geneigtheit, Truppenübungen
aufzugeben, veranlaßt, am 18. September Seiner Majestät gegenüber
geltend zu machen, daß man die Truppen „nicht einschlafen lassen", daher
auch nicht Übungen unterlassen dürfe, welche die einzig mögliche Vor-
schule für den Krieg bilden.
Personalien. Die alljährlich zur Festsetzung der höheren
Personalien üblichen Sitzungen unter Präsidium Seiner Majestät hatten
Mitte Dezember stattgefunden. Dabei kam auch die Besetzung der Stellen
der Armee-Inspektoren und der Korps-Kommandanten zur Entscheidung.
Entgegen diesem eingelebten Vorgang war Ende Juni 1910 eine Aktion im
Gange, die mit Umgehung des Kriegsministers und des Chefs des General-
stabes im Wege privaten brieflichen Verkehrs auf die Enthebung zweier
Korps-Kommandanten abzielte. Als ich, damals zum Kurgebrauch in
Grado, hievon Kenntnis erhielt, wandte ich mich dagegen, verlangte, daß
jeder fallweisen Ernennung von Korps-Kommandanten eine Sitzung unter
Präsidium Seiner Majestät vorangehe, der der Kriegsminister, der Chef
des Generalstabes, die Armee-Inspektoren und ein Vertreter des Thron-
folgers beizuziehen wären, falls der Thronfolger nicht persönlich erschiene.
Ich erbat für mich das Recht, sofern ich nicht selbst als Partei-
Kommandant kommandiere, den Übungen der Korps beizuwohnen, um
Truppen und Führer kermen zu lernen, ihre Bedürfnisse zu erfahren, die
50
Vorschriften hinsichtlich ihrer Durchführbarkeit beurteilen und aus dem
Borne der praktischen Anschauung stets neue Impulse für mein Wirken
schöpfen zu können.
In das Jahr 1910 fielen folgende mir besonders wichtige Personal-
veränderungen.
Als der bisherige, aus der Periode meines Vorgängers stammende
Chef des Operationsbureaus Oberst Krauß-Elislago dem Range nach zu
einem Brigade-Kommando gelangte, also abgelöst werden mußte, trat
die Frage seines Ersatzes an mich heran. Meine Wahl fiel auf den bereits
im Operationsbureau eingeteilten Oberstleutnant Josef Metzger. Es
war, wie auch die Folge lehrte, eine der glücklichsten Entscheidungen, die
ich in Personalangelegenheiten getroffen hatte. Hochbegabt, hervonagend
arbeitsfreudig und arbeitstüchtig, vornehm im Denken, gerade und offen,
mit klarem Blick für große Fragen bei voller Beherrschung des Details,
hat dieser Offizier Ausgezeichnetes geleistet und sich in den schweren
Zeiten des Krieges als Chef der Operations-Abteilung des Armee-Ober-
kommandos glänzend bewährt, bis auch er gelegentlich der im Frühjahr
1917 erfolgten gänzlichen Umwandlung des ersten Armee-Oberkomman-
dos, dessen Chef des Generalstabes ich war, von seinem so wichtigen
Dienstposten enthoben und mit dem Kommando der 1. Infanterie-Division
betraut wurde. Er führte diese noch am Ende des Krieges vor Verdun
mit Auszeichnung.
Seine Ernennung im Jahre 1910 hatte ich am 1. Feber bei Seiner
Majestät erbeten.
Der zweite Personenwechsel betraf meinen Flügeladjutanten Haupt-
mann Franz Putz. Auf die ausgezeichneten Eigenschaften des Geistes
und Charakters und auf die hervorragende Arbeitskraft dieses jungen Offi-
ziers war ich schon aufmerksam geworden, als derselbe in Triest bei der
von mir befehligten 55. Infanteriebrigade als Brigade-Generalstabsoffizier
eingeteilt war. Abgesehen von vielen anderen Gelegenheiten, hatte ich
ihn speziell bei einer anstrengenden Übungsreise in Istrien den schwersten
physischen und geistigen Leistungen unterzogen, die er vorzüglich
bestand. Zum Chef des Generalstabes ernannt, nahm ich ihn als Flügel-
adjutanten zu mir. Er war mir unter allen Umständen der treue, verläß-
liche, verschwiegene, gegen mich rückhaltslos offene Begleiter, dem ich
volles Vertrauen schenkte, mit dem ich, dank seinem klaren Verständnis,
und zwar auch für große Verhältnisse, über mannigfache Fragen sprechen
und den ich mit den vielseitigsten Diensten betrauen konnte. Da er jedoch
den Wunsch hegte, die Welt kennen zu lernen, seinen Bhek zu erweitem,
und da ich diesem hoffnungsvollen Offizier die hiefür nötigen Wege nicht
'* 51
verschließen wollte, entsprach ich seinem stillen Verlangen und gewährte
seine Ernennung zum Militärattache in Tokio. Ich erwirkte sie am
21. April 1910 bei Seiner Majestät.
An seine Stelle erbat ich am 11. Mai 1910 bei Seiner Majestät die
Ernennung des Hauptmannes Rudolf Kund mann zu meinem Flügel-
adjutanten. Kundmann war Leutnant im Infanterie-Regiment Kaiser Franz
Josef Nr. 1, als ich dessen Kommando führte. Er hatte bald durch seine
Fähigkeiten, seinen klaren Verstand, seine rasche Auffassung und seine
hervorragende Arbeitskraft meine Aufmerksamkeit erregt, so daß ich ihn
zum Regiments-Adjutanten ernannte. Er hat in dieser Stellung vorzüg-
lich entsprochen. Als Flügeladjutant von 1910 bis Feber 1917 mir zur
Seite, hat er mein volles Vertrauen genossen und in dieser Stehung alle
seine angeführten Eigenschaften, insbesondere in den ernsten Zeiten des
Krieges, bewährt. Auch ist er mh in einer der schwersten Stunden meines
Lebens teilnahm.svoll zur Seite gestanden, als es ihm zugefallen war, mir
mitzuteilen, daß mein drittältester Sohn Herbert am 8. September 1914 in
der Schlacht bei Rawa ruska den Heldentod gefunden hatte.
Nachdem Kundmann — mittlerweile zum Oberst vorgerückt — im
Jahre 1917 außer seinem Dienst als Flügeladjutant auch noch jenen als
Chef der Detail- (späteren Präsidial-) Abteilung beim Armee-Oberkommando
versah, blieb er nach meiner Enthebung vom Posten des Chefs des Oeneral-
stabes (Ende Feber 1917) auch weiter in der genannten Verwendung beim
Armeeoberkommando zurück, während ich mit dem Heeresgruppen -
Kommando in Tirol (Standort Bozen) betraut wurde. Dort fand ich
meinen ersten Flügeladjutanten, den schon 1914 aus Japan zum Kriegs-
dienst herbeigeeilten Oberst Franz Putz, nachdem er vorerst ein Infan-
terieregiment mit Auszeichnung geführt hatte, als Chef der Oeneralstabs-
abteilung wieder. Ich nahm ihn, unbeschadet dieses seines wichtigen
Ebenstes, erneuert als Flügeladjutant. Er blieb es bis zu meiner Ver-
setzung in den Ruhestand 11. November 1918.
Im Jahre 1910 kam noch eine wichtige Personalfrage in Erwägung:
der Ersatz des bewährten, aber infolge Ranghöhe und Dauer der bisherigen
Verwendung zur Ablösung gelangenden Militärattaches in Petersburg
Oberstleuüiant Graf Spanocchi. Für diesen äußerst diffizilen und
bedeutsamen Posten brachte ich den Oberst Csicserics des General-
stabes in Vorschlag. Er sprach vollkommen russisch, hatte den russisch-
japanischen Krieg im Hauptquartier des Generals Kuropatkin mitgemacht,
dabei zahlreiche persönliche Beziehungen angeknüpft und das russische
Heerwesen eingehend kennen gelernt. Ich legte auf seine Wahl ganz
besonderes Gewicht. Sie stieß jedoch auf die Bedenken des Grafen Ähren-
52
thal, der fürchtete, die russischen Kreise zu verstimmen. In einer Audienz
am 1. Feber 1910 trachtete ich bei Seiner Majestät diese Bedenken zu
zerstreuen, was jedoch nur eine Vertagung der Angelegenheit zur Folge
hatte.
Wie weit skrupelloser dementgegen Rußland vorging, zeigte sich
darin, daß es den speziell mit Erkundung der ö.-u. Armee und mit der
Verfassung eines Handbuches über dieselbe betrauten Oberstleutnant
Potocki ohne langes Fragen bei der russischen Botschaft in Wien
placierte und schließlich die offizielle Zustimmung hiefür zu erwirken
wußte.
Am 12. November und am 23. November 1910 brachte ich bei
Seiner Majestät die Frage des Offiziersnachwuchses zur Sprache. Ich
machte geltend, daß es erforderlich sei, gediegene, nach Provenienz, Den-
kungsweisfc und Erziehung verläßliche Elemente zu gewinnen, den
Standesstolz zu wecken, den kombattanten Offizier auszuzeichnen, hiezu
aber auch die Stellung des Offiziers materiell und moralisch zu heben.
Insbesondere gegenüber dem weitaus bevorzugten Staatsbeamten, dem die
Vertretungskörper bei allen Forderungen, dank seinem politischen Einfluß
und seinem Wahlrecht, weit willfähriger gegenüberstünden als dem
hievon ausgeschlossenen Offizier.
Der Berufsoffizier war in weiten Kreisen nicht populär. In ihm sahen
die Radikal-Nationalen den Vertreter der gemeinsamen, allen Nationalitäten
gleich gegenüberstehenden Reichsidee, die Sozialdemokraten die Stütze der
von ihnen bekämpften staadichen Ordnung, eine Autorität, gegen die es
galt, die Massen aufzuhetzen, die sonstigen Parteien den Angehörigen
einer ihrer Ansicht nach kostspieligen, unproduktiven Institution. Der dem
Offizier so unerläßliche Standesstolz wurde als Überhebung empfunden,
die strengsten Vorschriften und Gepflogenheiten für Wahrung der Offiziers-
ehre wurden als Anmaßung hingestellt. Bei Konflikten wurde der Offizier
grundsätzlich im Stiche gelassen, insbesondere, wenn er von Parlament
und Presse angegriffen wurde. Taktlose oder verbrecherische Einzelfälle,
wie sie jede Korporation ab und zu aufweist, wurden generahsiert und
zur Herabsetzung der Gesamtheit ausgebeutet. Aber auch an Stellen, die
zur Vertretung des Offiziers berufen waren, sah man in diesem den nur
zum stummen Gehorsam Verpflichteten, während man um die Liebe
anderer Kreise warb und die Rücksichten auf sie voranstellte.
Konkrete Kriegsvorbereitungsarbeiten. Die kon-
kreten Kriegsvorbereitungsarbeiten nahmen auch im Jahre 1910 ihren
normalen Verlauf. Im allgemeinen blieben die Alarminstruktionen und
Aufmarschelaborate im wesentlichen auf der bisherigen Grundlage. Ein-
53
getretenen Veränderungen im Bahn- und Straßenwesen, in der Truppen-
Dislozierung u. dgl. wurde Rechnung getragen. Die Instradierung wurde
wie alljährlich neu bearbeitet.
Die Nachrichten über eine Rückverlegung des russischen Aufmarsches
gaben, abgesehen davon, daß sie noch sehr der Bestätigung bedurften,
keinen Grund zu besonderen Abweichungen von den bisherigen Vor-
bereitungen. Alle möglichen Varianten des Aufmarsches der russischen
Streitkräfte wurden studiert, um Anhaltspunkte für die eigenen Maß-
nahmen zu gewinnen.
Die in dieser Hinsicht mit Deutschland gepflogenen Vereinbarungen
ergaben sich aus nachstehendem Briefwechsel zwischen mir und General
von Moltke.
Ich an General der Infanterie von Moltke,
Chef des Generalstabes Berlin.
„(Streng geheim.)
Wien, am 8. Jänner 1910.
Mit Allerhöchster Genehmigung Seiner Majestät beehre ich mich das
vorliegende Schreiben an E. E. zu richten.
In meinem Schreiben vom 10. April v. J. habe ich der Annahme
Ausdruck gegeben, daß die dem Bündnisse zwischen Deutschland und
der Monarchie entspringenden, im Jahre 1909 gepflogenen militärischen
Vereinbarungen auch für die Zukunft vollen aktuellen Wert behalten; ich
beehre mich E. E. nunmehr mitzuteilen, daß diese Vereinbarungen meiner-
seits auch den diesjährigen Vorbereitungsarbeiten zugrunde gelegt wurden
und daß hienach die Verhältnisse für die diesen Vereinbarungen
entsprechenden Kriegsfälle im allgemeinen und wesentlichen die gleichen
geblieben sind.
Es betrifft dies folgende Kombinationen:
a) Frankreich erklärt sich neutral, Rußland, Serbien imd Montenegro
treten sofort als Gegner auf.
b) Frankreich erklärt sich neutral, Rußland tritt erst feindselig auf, nach-
dem die Monarchie am Balkan gegen Serbien und Montenegro mit
starken Kräften engagiert ist.
c) Rußland und Frankreich, sowie Serbien und Montenegro treten
sofort als Gegner auf.
d) Rußland und Frankreich halten anfänglich zurück und treten erst
als Gegner auf, sobald die Monarchie am Balkan mit starken Kräften
engagiert ist.
54
In allen diesen, durch die vorjährige Korrespondenz klargelegten
Fällen war auf die Allianz Rumäniens und die Neutralität Italiens, sowie
darauf gerechnet, daß Bulgarien und die Türkei sich gegenseitig binden
würden.
Die seitherige Entwicklung der Politik läßt annehmen, daß Serbien
und Montenegro in ihrer feindseligen Haltung gegen die Monarchie
verharren — zweifellos betreiben sie ihre militärischen Rüstungen in diesem
Sinne; dagegen dürfte sich die Türkei der Entente mit Deutschland und
Österreich-Ungarn immer mehr zuwenden und dadurch ein wertvolles
Gegengewicht nicht nur gegen die genannten Balkanstaaten Serbien und
Montenegro, sondern auch gegen Bulgarien bilden, falls dieses mit beiden
letzteren gemeinsame Sache machen sollte.
Gegen 13i/^ bulgarische, 12 serbische und 4 montenegrinische, also
in Summe rund 30 Divisionen würden die 28 türkischen Divisionen (I. und
IL Linie) in Europa erheblich ins Gewicht fallen, einen Ausgleich zwischen
Türkei und Griechenland vorausgesetzt. Es hätten also die gegen Serbien
und Montenegro zu engagierenden ö.-u. Kräfte eine wesentliche Entlastung;
doch sind die obangedeuteten Verhältnisse noch so wenig geklärt, daß
es nicht angängig erscheint, dermalen schon von dem militärischen Kalkül
des Vorjahres abzugehen.
Der Bündnistreue Rumäniens vermag man versichert zu sein, auch
sind die militärischen Vereinbarimgen mit der Heeresleitung dieses Staates
erst in jüngster Zeit in konzilianter Weise gepflogen worden.
Bleibt noch Italien.
Wenngleich die dermalige offizielle poUlische Richtung dieses Staates
annehmen lassen sollte, daß Italien am Dreibund unter allen Umständen
festhalten würde, so kann ich doch in Anbetracht der zielbewußt und
augenfällig gegen die Monarchie gerichteten militärischen Maßnahmen
Italiens, dann der im italienischen Volk zweifellos vorhandenen der
Monarchie feindseligen Stimmung, der ausgesprochenen Aspirationen auf
Ländergebiete Österreich-Ungarns, femer jener auf die Vorherrschaft in
der Adria und in Verbindung damit einer die Interessen der Monarchie
tangierenden Balkanpolitik mich des Eindruckes nicht erwehren, daß die
Monarchie unbedingt bereit sein müsse, Italien plötzlich als Gegner gegen
sich zu haben.
Aber auch bei allem Vertrauen in die jetzigen politischen Führer
muß doch auch immer mit einem plötzlichen Wechsel der Persönlichkeiten
und damit einem Wechsel des Systems gerechnet werden.
Aus diesem Grunde habe ich es als PfUcht betrachtet, bei den Kriegs-
vorbereitungsarbeiten auch den Kriegsfall gegen ItaUen in Betracht zu
55
ziehen, und es ist der spezielle Zweck des vorliegenden Schreibens,
gewisse Fragen in dieser Richtung zu klären.
Ich möchte hiezu, wie in den vorangegangenen Vereinbarungen, die
verschiedenen Kombinationen nacheinander in Betracht ziehen.
a) ItaUen, Serbien und Montenegro treten von Haus aus feindlich auf,
Rußland und Frankreich bleiben neutral.
Dieser Fall dürfte nur eintreten, wenn durch die Stellungnahme
Deutschlands letztere beide Mächte veranlaßt würden, abseits der kriege-
rischen Ereignisse zu bleiben.
Inwieweit die auf kulturelle und finanzielle Rücksichten zurück-
zuführende Friedensneigung Frankreichs, inwieweit die innerpolitischen
und militärischen Verhältnisse Rußlands, sowie dessen Lage in Ostasien
(Japan) hiebei ins Gewicht fallen könnten, sei nur angedeutet. Die Neu-
tralität dieser beiden Staaten vorausgesetzt, wäre somit die Kriegs-
handlung lediglich eine Angelegenheit der Monarchie, wobei ich von der
Erörterung eines Eingreifens der türkischen Streitkräfte absehe.
b) Italien, Serbien und Montenegro — aber auch Rußland — treicn
feindselig gegen die Monarchie auf.
Deutschland tritt im Sinne des Vertrages vom Jahre 1879 an die Seite
der Monarchie und löst damit auch das kriegerische Eingreifen Frank-
reichs aus.
So wie in diesem Falle, nach den geschätzten Mitteilungen E. E.,
Deutschland seine Hauptmacht vorerst gegen Frankreich wenden, gegen
Rußland aber nur sekundäre Kräfte (13 Divisionen) belassen würde, um
erst nach einem durchgreifenden Erfolg gegen Frankreich gegen Rußland
die Entscheidung zu suchen, würde analog unsererseits mit der über-
wiegenden Hauptmacht ein Erfolg zuerst gegen Italien angestrebt werden,
um erst nach einem solchen sich gegen Rußland zu kehren.
Gegen Montenegro würden entsprechende, gegen Serbien unter-
geordnete Kräfte gelassen werden; aber auch gegen Rußland würden
außer den 6 (eventuell bloß 4) Kavalleriedivisionen anfänglich nur 5 Infan-
terie-Divisionen erster Linie nebst sonstigen Formationen (alles in allem
91/2 Infanterie-, 4 bis 6 Kavallerie-Divisionen) in Galizien verbleiben; somit
Kräfte, welche zwar kleinen femdlichen Unternehmungen entgegen-
zutreten, einer groß angelegten russischen Offensive aber nicht stand-
zuhalten vermöchten, sondern diesfalls genötigt wären, unter
möglichster Verzögerung der feindlichen Vorrückung, über die Karpathen
zurückzugehen, und zwar mit der bei Lemberg — Przemysl versammelten
stärkeren Gruppe im allgemeinen in der Richtung auf Budapest, mit der
56
bei Krakau versammelten schwächeren Gruppe im allgemeinen in der
Richtung auf Wien.
Im äußersten Falle müßte an der Donaustrecke Wien— Budapest die
russische Offensive solange zum Stehen gebracht werden, bis das Ein-
treffen der in Italien freigewordenen Hauptkräfte zu erfolgen vermöchte.
Ob ein solches Zurückgehen der sekundären Kräfte aus Galizien über-
haupt notwendig werden wird, bis wieweit nach rückwärts es erfolgen
müssen wird, wo die vom Süden herangeholten Hauptkräfte zum offen-
siven Rückschlag einzusetzen sein werden, entzieht sich natürlich dermalen
der Beurteilung.
Vor allem ist hiebet das Vorgehen Rußlands maßgebend und in dieser
Hinsicht möchte ich zweier zu Gunsten der eigenen Situation ins Gewicht
fallender Momente Erwähnung tun, nämlich der geplanten Rückverlegung
des russischen Auhnarsches und der Sorge Rußlands für seinen ost-
asiatischen Besitz mit Rücksicht auf das Verhalten Japans, beides
Momente, welche dem raschen Wirksamwerden einer russischen Offensive
entgegenstehen.
Trotz alledem wäre der hier gedachte Kriegsfall ein für das ver-
bündete Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien sicherlich recht
schwieriger, wenn auch im Enderfolg durchaus nicht hoffnungsloser, und
ergibt sich daraus vor allem die Forderung, daß die Diplomatie einer
solchen Konstellation vorbeugen müsse.
Dies fällt jedoch außerhalb meines Pflichtenkreises; innerhalb
desselben erachte ich es aber gelegen. Seine Majestät zu bitten, E. E. das
Vorstehende eröffnen zu dürfen, um unter Wahrung peinlichster Loyalität
E. E. von jenen diesseitigen Maßnahmen in steter Kenntnis zu erhalten,
welche im Bündnisfalle auch für die dortseitigen Verfügungen und Ent-
schlüsse von Einfluß sein können.
Seine Majestät geruhten in das vorUegende Schreiben Allerhöchst
Einsicht zu nehmen.
Mit dem Ausdrucke etc. etc. ^ , u
Conrad m. p."
General von Moltke an mich.
„Chef des Generalstabes der Armee. (Streng geheun.)
Berlin, den 30. Jänner 1910.
Euer Exzellenz!
bitte ich für das hochgeschätzte Schreiben vom 8. Jänner 1. J. meinen
verbindlichsten Dank entgegennehmen zu wollen. In voller Würdigung
der in demselben sich aussprechenden loyalen Auffassung gegenseitigen
bündnistreuen Verhaltens, versichere ich, daß auch unsererseits an den im
57
vorigen Jahre getroffenen Abmachungen in vollem Umfang festgehalten
wird. Diese Abmachungen sehe ich als bindend an; sie behalten ihre
Gültigkeit, bis sie durch beiderseitige Übereinkunft geändert oder durch
neue ersetzt werden. Sie smd den diesjährigen Mobilmachungs-Vor-
bereitungen von mir zugrunde gelegt worden.
E. E. betonen mit Recht die Wichtigkeit, die dem Verhalten der
Türkei nicht nur bei einem Kriege der Monarchie auf dem Balkan, sondern
auch bei einem solchen der Verbündeten gegen Rußland und eventuell
Frankreich beigemessen werden muß. Zwar sind die Verhältnisse in
Konstantin Opel noch zu wenig geklärt, um die türkische Armee als sicheren
Faktor in die militärischen Erwägungen einstellen zu können, aber ich
glaube bestimmt, daß auch ohne formelle vorherige Abmachungen der
Selbsterhaltungstrieb die Türkei in einem auf dem Balkan ausbrechenden
Kriege an die Seite Österreich-Ungarns führen wird. Der dadurch
gewonnene Kräftezuwachs würde von nicht geringer Bedeutung sein.
Allerdings wird nach Ansicht unserer dort befindlichen Offiziere die
türkische Armee noch 3 bis 4 Jahre gebrauchen, um als vollwertig gelten
zu können und auch dies nur unter der Voraussetzung, daß in ihr mit
dem jetzt bemerkbaren Eifer weiter gearbeitet wird So viel mir bekannt
ist, wird das Einvernehmen der Monarchie mit der -Hohen Pforte von der
ö.-u. Diplomatie in seinem vollen Wert erkannt und dauernd gefördert.
Mit großer Freude begrüße ich die zuverlässige Haltung Rumäniens.
Für die Mitteilung E. E., daß die militärischen Abmachungen der Mon-
archie mit der rumänischen Heeresleitung in befriedigender Weise ver-
laufen, bin ich sehr dankbar.
E. E. gehen in dem Schreiben vom 8. d. Mts. des näheren auf das
Verhältnis Österreich-Ungarns zu Italien ein. Unter Berücksichtigung des
von E. E. dargelegten Verhaltens Italiens finde ich es durchaus erklärlich,
daß Österreich-Ungarn trotz des Dreibundes seinem südlichen Nachbarn
besondere Aufmerksamkeit zuwendet, und ich erkenne es dankbarst an,
daß E. E. die in dieser Richtung erwogenen Maßnahmen zu meiner
Kenntnis bringen.
Es ist ganz zutreffend, daß das Verhalten Italiens für die Erwägungen
der ö.-u. Heeresleitung eine ähnliche Rolle spielt, wie dasjenige Frank-
reichs für die Erwägungen der deutschen Heeresleitung.
Sollten diese beiden Staaten bei einem Kriege der Verbündeten gegen
Rußland sofort auf die Seite unserer Gegner treten, so würde die Lage,
wenn auch ernst, doch klar und einfach sein. Die ö.-u. Armee würde
dann mit ihren Hauptkräften gegen Italien, die deutsche gegen Frankreich
vorgehen. Erstere würde gegen Rußland zunächst 91/2 Infanterie-
58
Divisionen und 4 bis 6 Kavallerie-Divisionen, letztere 13 Infanterie-
Divisionen und 2 Kavallerie-Divisionen ins Feld stellen. In Anbetracht
der durch die bevorstehende Umdislozierung der russischen Armee not-
wendig entstehenden Schwierigkeiten für eine Mobilmachung, der wahr-
scheinlichen Zurückverlegung des Aufmarsches und der daraus folgenden
Preisgabe Polens halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß, wenn die
russische Kriegsbereitschaft, wie erwartet werden kann, lange Zeit
beansprucht, selbst mit diesen verhälüiismäßig schwachen Kräften eine
Offensive unternommen werden kann, die nicht aussichtslos sein dürfte,
wenn ihr Gemeinsamkeit des Handelns zugrunde hegt.
Die Lage wird dagegen verwickelt und schwierig für die Verbündeten,
wenn Italien und Frankreich sich zunächst abwartend verhalten.
Da Österreich-Ungarn in Italien denjenigen Gegner sieht, mit dem
zunächst abgerechnet werden muß, so darf ich wohl annehmen, daß seine
Kriegsvorbereitungen m erster Linie diesen möglichen Feind berück-
sichtigen Nun wäre der Fall denkbar, daß beide Verbündete ihre Vor-
bereitungen gegen den für sie wichtigsten Gegner treffen, also Östen^eich-
Ungam gegen Italien, Deutschland gegen Frankreich, daß aber diese
beiden Staaten zunächst neutral bleiben, ohne daß die Verbündeten die
Sicherheit hätten, daß die Neutralität dauernd aufrechterhalten bleibt. Es
wäre somit nicht ausgeschlossen, daß beide ihre Hauptkräfte in einer Rich-
tung zum Aufmarsch bringen, in der sie nicht in Tätigkeit treten können,
während Rußland mit seinem slawischen Gefolge inzwischen die Grenzen
bedroht.
Das einzige Radikalmittel zur Entwurung dieser kritischen Lage
würde die sofortige Kriegserklärung an die unsicheren Neutralen sein. Ein
solches Mittel ist aber aus rechtlichen, politischen und allgemein mensch-
lichen Gründen nicht anwendbar.
Ich habe daher vorgeschlagen, daß, wenn der Krieg zwischen den
Verbündeten und Rußland als unvermeidlich und unmittelbar bevor-
stehend angesehen werden muß, seitens der deutschen Regierung eine
umgehende und völlig klare Erklärung von der französischen Regierung
darüber gefordert wird, wie dieselbe sich bei ausbrechendem Kriege zu
verhalten gedenkt. Diese Erklärung muß sofort erfolgen, denn die Ent-
scheidung, ob die deutschen Hauptkräfte gegen Westen oder gegen Osten
aufmarschieren sollen, duldet keine Verzögerung. Eine ausweichende
oder zweideutige Antwort würde als gleichbedeutend mit der Kriegs-
erklärung angesehen werden müssen.
Erklärt Frankreich strenge Neutralität wahren zu wollen, so ver-
pflichtet sich auch Deutschland, keine Feindseligkeiten gegen dasselbe zu
59
unternehmen, das heißt die westüchen Grenzfestungen werden nicht
armiert, und der Grenzschutz tritt nicht in Wiricsamkeit. Die gesamte
Armee wird zwar mobil gemacht, aber diejenigen Teile derselben, die
nicht in erster Linie gegen Rußland eingesetzt werden können, verbleiben
zunächst mobil in ihren Standorten.
Die vom deutschen Generalstabe getroffenen militärischen Vor-
bereitungen sind den vorstehenden Erwägungen gemäß so angeordnet,
daß bei einer befriedigenden Neutrahtätserklärung Frankreichs die für
diesen Fall mit E. E verabredeten Truppenmengen sofort an die Ost-
grenze abgefahren werden, während der Rest der Armee zunächst mobil
im Lande verbleibt, um entweder im Bedarfsfalle nach Osten nachgezogen,
oder alsbald gegen Frankreich eingesetzt zu werden, wenn dieses in seiner
Neutralität schwankend werden sollte.
Für Deutschland ist mit diesem Verfahren ohne Zweifel der Nachteil
•verbunden, daß es gezwungen sein kann, seinem gefährlichsten Gegner —
Frankreich — längere Zeit nur unterlegene Kräfte entgegenzustellen,
l'rotzdem habe ich diesen Aufmarsch ebenfalls bearbeiten lassen, um auch
unter den ungünstigsten Verhältnissen den Verpflichtimgen gegen unseren
hohen Verbündeten nachkommen zu können.
Daß ein Krieg Österreich-Ungarns und Deutschlands gegen Rußland
und die Balkanstaaten, Frankreich und Italien einen Kampf auf Leben
und Tod bedeuten würde, ist gewiß. Er würde zu führen sein, wenn
von Anfang an klare Verhältnisse vorliegen. Diese zu schaffen, sobald
seine Anzeichen erkannt werden, ist die erste Pflicht der Diplomatie. E. E.
erheben die Forderung, daß die Diplomatie einer solchen Konstellation
wie die erwähnte vorbeugen müsse. Es wäre dankbar zu begrüßen,
wenn ihr dies gelingen sollte. Unbedingt muß aber vom Standpunkt der
Heeresleitung die Forderung gestellt werden, daß in dem verhängnisvollen
Augenblick, wo die Mobilmachung ausgesprochen wird, volle Klarheit
darüber herrscht, wer Freund und wer Feind ist.
Mit dem Ausdrucke etc. etc. M o 1 1 k e m. p., G. d. I."
„Präs. Wien, am 31. Jänner 1910.
Seiner Majestät vorgelegt am 1. Feber 1910 in Schönbrunn.
Conrad m. p."
Ich an General von Moltke.
„Wien, am 23. Feber 1910.
Ich beehre mich E. E. um Entgegennahme meines verbindlichsten
Dankes für das hochgeschätzte Schreiben vom 30. Jänner zu bitten, ganz
besonders aber auch für die dem bündnistreuen Festhalten an den
60
bestehenden Abmachungen gewidmeten Worte, welche Abmachungen
auch unsererseits als bindend betrachtet werden, bis sie durch beiderseitige
Übereinkunft geändert oder durch neue ersetzt werden.
Auch den diesseitigen Mobilmachungs-Vorarbeiten pro 1910 sind
dieselben zugrmide gelegt.
Was das für den Fall eines Konfliktes mit Rußland deutscherseits an
Frankreich zu richtende Ultimatum anlangt, um festzustellen, ob sofort
gegen Osten oder gegen Westen mit der Hauptkraft loszuschlagen ist, so
wird österreichisch-ungarischerseits in diesem Falle Italien gegenüber der
gleiche Vorgang eingehalten, sowie überhaupt sowohl diplomatisch als
militärisch nur im vollen Einklang mit Deutschland vorgegangen werden.
Welcher Politik die Balkanstaaten, dann Rußland, Frankreich und
Italien folgen werden, ist wohl dermalen nicht abzusehen, daher habe ich
für die hierseitigen Kriegsvorbereitungen Wert darauf gelegt, für alle
Eventualitäten so weit als eben möglich Vorsorge getroffen zu haben. Voll
und ganz kann ich nur der Anschauung E. E. beipflichten, daß in dem
Moment, wo die Mobilmachung ausgesprochen wird, volle Klarheit
darüber herrschen muß, wer Freund und wer Feind ist.
Seine Majestät und der Minister des Äußern haben Kennhiis von vor-
liegendem Schreiben.
Mit dem Ausdrucke etc. etc. ^ , /- j t«
Conrad m. p., G. d. I.
General von Moltke an mich.
„Chef des Generalstabes der Armee. Berlin, am 30. März 1910.
Nr. 872. Vertraulich.
An den Chef des Generalstabes Conrad von Hötzendorf.
Den offenen und vertrauensvollen Beziehungen, die zwischen E. E.
und mir bestehen, halte ich es für entsprechend, E. E. die nachstehende
Mitteilung zu machen.
Die hiesige königlich rumänische Gesandtschaft hat sich durch Ver-
mittlung des kaiserlichen Auswärtigen Amtes mit der Bitte um
Beantwortung der in der Anlage aufgeführten Fragen an mich gewendet.
Ich habe auf Befürwortung unseres Auswärtigen Amtes dem Wunsche
entsprochen, nachdem ich vorher erklärt habe, daß ich mich verpfÜchtet
fühle, E. E. von der Angelegenheit Kenntnis zu geben.
Als der betreffende Abteilungschef des Generalstabes dem rumänischen
Militärattache, Hauptmarm Rascanu, die gewünschten Antworten erteilte,
machte dieser — wie ich hervorzuheben nicht unterlassen will — aus
freien Stücken die nachfolgenden Mitteilungen:
61
Rumänien habe bisher im Falle eines Krieges mit Rußland und
Bulgarien die Masse seines Heeres hinter der befestigten Sereth -Linie
Galatz — Focsani aufmarschieren lassen und sich in der Hauptsache
defensiv verhalten wollen. Da man sich neuerdings jedoch Bulgarien
gegenüber durch das Erstarken der Türkei entlastet fühle, und einen Krieg
mit Rußland wohl nur im Verein mit Österreich und Deutschland führen
werde, hätte man beschlossen, mit der Masse des Heeres offensiv zu
werden, und zwar nach Bessarabien hinein vorzugehen. Ein Armee-
korps solle in der Dobrudscha, einige Reservedivisionen an der Donau-
linie verbleiben.
Man hofft anscheir^end rumänischerseits, sich mit dieser Operation
beim Friedensschlüsse ein Anrecht auf Wiedergewinnung derjenigen Teile
von Bessarabien zu sichern, die im Berliner Kongreß 1878 aufgegeben
werden mußten. Daß diese Operation eine wertvolle Entlastung des
österreichischen rechten Flügels bedeutet, scheint mir fraglos.
Genehmigen etc. etc. »« i<i «
^ Moltke m. p."
Ich an General von Moltke.
„Vertraulich.
Wien, am 9. April 1910. (Antwort auf Nr. 872 vom 30. März 1910 des
preußischen Chefs des Generalstabes der Armee.)
Ich beehre mich E. E. meinen ganz ergebensten Dank für die
geschätzten Mitteilungen vom 30. März d. J., ganz besonders aber auch
den Dank für die erneuert zum Ausdruck gebrachten vertrauensvollen
Beziehungen zwischen E. E. und mir zu übersenden und hiebei zu
betonen, wie hoch ich dieses mir so wertvolle Verhältnis schätze.
Die mir von E. E. gütigst mitgeteilten Angaben des rumänischen
Militärattaches decken sich im wesentlichen mit den zwischen dem
rumänischen General Crajniceanu und mir stattgehabten Besprechungen,
was ich mh" E. E. hiemit vertraulich mitzuteilen erlaube.
Genehmigen etc. etc. „ , ,,
Conrad m. p."
Während gegenüber Rußland an den bisherigen Maßnahmen wesent-
liche Veränderungen nicht nötig erschienen, erwiesen sich gegenüber
Italien anbetrachts der zunehmend greifbaren Kriegsvorbereitungen dieses
Staates, insbesondere des Ausbaues seiner Befesligungen, erweiterte Vor-
sorgen erforderlich.
Ich erließ daher nachstehende Direktiven an das Operationsbureau:
62
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Tolmezzo
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Cividale sPurqessimo SMuc/a
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Casars'i
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^ 'Ö^ s^g.-'^PalazzoIo
Portogruaro
^ ■ 6o
PlavA
.Cormonsi
^Monfalcone
s^^-^Palazzolo ,:.'. \^^. ^^""^^n.
Mafsstab 1:750,000.
) 5 10 15 20
25 km
1. Chiusaforte
2. M. Festa
3. Comielli
4. Tarcento
5. Tricesimo
6. Pagnacco
7. Fagagna
8. Daniele
9. Osoppo
10. a. b. Ragogna
11. Rivis
12. Oradisca
13. Beano
14. Rivolto
15. S. Martini
16. Varmo
17. Canussio
18. Ronchis
19. Paiazzolo
20. Volparis
21. Titiano
22. Picchi
■■»«1^
63
„General v. Conrad.
An Operations-Bureau. Wien, 21. Oktober 1910.
Direktiven für die Aufmarscharbeiten gegen Italien.
Mein an das Reichskriegsministerium gerichteter Antrag auf eheste
schleunige Neuaufstellung und Neubewaffnung schwerer Angriffsartillerie
ist zur Kenntnis zu nehmen.
Aus den dort dargelegten Verhältnissen sind aber auch die hinsicht-
lich der konkreten Kriegsvorbereitungsarbeiten resultierenden Konsequen-
zen zu ziehen.
Dabei ist natürlich im Auge zu behalten, daß der Ausbau der
italienischen Werke an der Tagliamento-Linie doch nur sukzessive erfolgt,*)
daß daher vorerst, also pro 1911, noch mehr weniger mit den bisher
vorausgesetzten Verhältnissen, also auch mit einem durch permanente
Werke noch kaum gehinderten Vordringen der Hauptkräfte in der Strecke
Gemona — Lagunenrand zu rechnen ist. Für die Folgejahre aber, und
zwar schon von 1912 an, wird mit der Notwendigkeit zu rechnen sein,
schon für dieses Vordringen Panzerwerke rasch niederkämpfen zu müssen.
In Voraussicht dessen habe ich den obzitierten Antrag auf Beschaffung
schwerer Angriffsartillerie gestellt. Wenn ich dabei die gleichzeitige
Bekämpfung von acht Panzerforts als Minimalmaßstab hingestellt habe,
so hatte ich dabei die Bekämpfung der Werke Palazzolo, Rivolto, Ragogna,
Daniele, Fagagna, Margherita, Pagnacco und Tricesimo im Auge; dies,
weil ich mir die Operation im großen wie folgt denke:
Vorstoß in der 26 Kilometer breiten Strecke Udine — Lagunenrand
bei raschester Niederkämpfung von Rivolto und Palazzolo, Zurückwerfen
des Gegners über den Tagliamento, Wegnahme der feldmäßigen Brücken-
köpfe Godroipo — Latisana. Zum Schutz dieses Vorstoßes im Norden : Fest-
setzen vor der Süd-, Südost- und Ostfront des befestigten Lagers von
Gemona, mit starker Kraft bei Udine gegen die voraussichtliche italienische
Gegenoffensive aus dem befestigten Raum von Gemona, aber auch sofort
Beginn des Angriffes gegen die erwähnten Fronten, sowie die schwere
Artillerie zur Stelle ist, und zwar vor allem gegen die Werke Tricesimo,
Pagnacco, S. Margherita, dann Fagagna.
Die durch das Kanaltal vorgehenden eigenen Kräfte hätten den
befestigten Raum von Gemona im Norden abzuschließen, und so wie die
aus dem Gailtal vorgehenden zu trachten, westlich des Tagliamento über
*) Folgende Bleistiftnotizen am Rande: pd. für 1911/12 verschoben:
1-24 Mörs.-Btt. I ^,.. , , _..
1 IC u u r)xx vom Plocken nach Gorz.
1—15 Haub.-Btt. |
64
das Gebirge zu kommen, soweit sich nicht etwa die Notwendigkeit ergibt,
starke mobile feindliche Kräfte bei Pieve di Cadore zu bekämpfen.
Derart wäre zu trachten, die im befestigten Raum von Gemona
konzentrierten Truppen allseits einzuschließen und den Stoß in der Ebene
gegen jene Kräfte fortzusetzen, welche der Gegner in der Ebene bereit
hat. Ob es sich dann lohnt, den befestigten Raum bei Gemona regelrecht
anzugreifen, oder ob es nicht geratener erscheint, die dortigen feindlichen
Kräfte bloß einzuschließen oder am Vorbrechen zu verhindern, läßt sich
ün voraus nicht bestimmen.
Bei der Stärke der Nordfront der italienischen Tagliamento-Linie,
repräsentiert durch die Werke Chiusaforte, Festa, Comielli, Osoppo, legt
es sich nahe, hier den entscheidenden Angriff nicht anzusetzen, daher
auch nicht viele Kräfte hier zu binden, sondern dieselben jener Gruppe
zuzuschlagen, welche westlich des Tagliamento über das Gebirge soll,
oder jener, welche von der Linie Karfreit und südlich vorzugehen hat;
umsomehr, als auch der etwaige Angriff auf den befestigten Raum von
Gemona von Süden und Südosten aus zu erfolgen haben wird.
Eine grobe Rechnung ergibt folgendes: Veranschlagt man für die
36 km lange Front Faedis, Udine, Blessano, Flaibano (zur Abwehr eines
Vorstoßes aus dem Räume von Gemona) sieben Divisionen, für den Raum
nördlich Faedis zwei Divisionen (eventuell auch nur eine) und für den
anfänglich 24 km, später aber am Tagliamento 30 km breiten Raum in
der Ebene (Flaibano, Godroipo, Palazzolo, Gorgo) neun Divisionen in
erster, drei Divisionen in zweiter Linie, so ergäbe dies 7 + 2 -|- 9 -|- 3
= 21 Divisionen, von welchen 19 aus der Linie Cividale— Pieris anzu-
setzen wären (33 km).
Sollten aber die Verhältnisse für einen solchen von Haus aus auf
und über Godroipo-Latisana geführten Verstoß nicht günstig liegen und
die Gefahr bestehen, an die Küste gedrängt zu werden, so käme es vor-
erst auf die Wegnahme der Werke Tricesimo, Pagnacco, S. Margherita,
Fagagna und Castel Arcano an, um erst nach Festsetzung auf diesen
Höhen die Offensive gegen Westen über den Tagliamento (abwärts
Spilimbergo) fortzusetzen, bei rascher Niederkämpfung der Werke von
Rivolto und Palazzolo.
Es kommt daher darauf an, die Vorbereitungen für diese Werke-
Bekämpfung zu treffen, dazu vor allem die von mir verlangte Angriffs-
artillerie zu schaffen.
Was es für eine Bewandtnis mit dem Werk Purgesimo hat, ist nicht
klar, ob dieses überhaupt gebaut wird, ob seine Niederkämpfung erforder-
lich wird, ist jetzt noch nicht zu entscheiden.
5, Conrad II 55
Nun fragt es sich aber weiter, ehe die Angriffsartillerie voll beschafft
ist — indes jedoch die Werke südöstlich Cemcna gebaut sind — ob die
dermalen gegen Chiusaforte und Comielli bestimmte Angriffsartillerie
dort, odei aber gegen die Südfront von Gemona verwendet werden soll;
mit Rücksicht auf das Obdargelegte hat letzteres zu erfolgen, da auf ein
Niederkämpfen der hintereinanderhegenden Werke Chiusaforte (Festa),
Comielli, Osoppo in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist, da ferner für die
Operationen der Hauptkraft die Bekämpfung der Werke des Süd- und
Südostgürt^ls des Raumes von Gemona erforderlich ist, und da endüch
allen diesen Befestigungen am besten von Süden aus beizukommen ist.
Ist es gelungen, die Werke Tricesimo, Pagnacco, S. Margherita,
Fagagna, Castel d'Arcano zu nehmen, dann ist der Feind auf den Raum
Ragogna, Osoppo, Comielli eingeengt.
Es wird weiter festzustellen sein, wie viel eigene Kräfte im Kanaltal
zu versammeln sein werden, bezw. wohin em Überschuß zu geben ist.
Als Basis für all dies hat eine Berechnung zu erfolgen, mit welchen
Kräften der Gegner am Taghamento zu gewissen Terminen, insbesondere
zirka am 10., 16., 20. Mobilisierungstag aufmarschiert sein kann, so wie ich
dies seinerzeit für die anderen Aufmarsch Varianten befohlen habe. Speziell
wird darzustellen sein, wie viele Truppen zu den gedachten Terminen im
befestigten Raum von Osoppo — Gemona versammelt sein könnten; damit
es nicht geschehe, daß gegen diesen Raum eigenerseits mehr Kräfte
angesetzt werden, als es mit Rücksicht auf jene des Feindes nötig erscheint.
Es fäUt nicht in den Rahmen dieser Direktiven, zu erwägen, inwieweit
es möglich erschiene, sich der Höhen und Werke von Tricesimo, Pagnacco,
Arcano, Margherita, Fagagna durch einen (eventuell nächthchen) überfalls-
weisen Angriff zu bemächtigen, doch müssen auch hiefür die Vor-
bereitungen getroffen werden, darunter auch jene für einen Pionierangriff
mittelst Sprengmitteln.
Die Vorverlegung der Befestigungen an die Tagliamento-Linie
bedingt aber Vorsorgen noch in anderer Richtung.
Mit dieser Vorverlegung hat sich die Gefahr einer gewaltsamen
Störung unseres Aufmarsches am Isonzo wesentlich erhöht, da ja der
Feind die befestigten Räume kaum ohne Truppen lassen, also jedenfalls
hier neue Garnisonen etablieren wird.
Alle Maßnahmen zum Schutz dieses Aufmarsches sind daher zu
treffen und bezügliche Anträge zu stellen.
Die weitere Ausgestaltung des Landwehrregiments 27 (noch 6 Komp.
als Gebirgstruppe), die Verlegung eines Infanterieregiments nach Tol-
mein, eines Kavallerieregiments nach Laibach sind diesbezügliche,
66
unablässig zu betreibende Vorkehrungen; aber es kommt auch zu
erwägen, ob nicht der Raum westUch Görz und Gradisca fortiäkatorisch
zu sichern wäre.
Je em permanentes Werk auf der Korada, M. Quarin, M. Medea und
auf der Höhe nördlich Vermigliano; dann feldmäßige Brückenköpfe bei
Pieris, Gradisca, Görz; endlich Befestigung der Höhen bei Tolmein ver-
möchten die Sicherung des Aufmarsches zu erhöhen und dem immerhin
mögUchen Vorstoß italienischer Truppen bis an den Isonzo Schranken zu
setzen.
Eine überschlagsweise Berechnung der Kosten einer solchen
permanenten Befestigung unter Angabe der Möglichkeit, für die Besatzung
aufzukommen, ist mir vorzulegen.
Sollten die Kosten nicht zu erlangen sein, so hat wenigstens die
feldmäßige Befestigung zu erfolgen. Entwürfe bearbeiten, Anträge auf
Herstellung (schon im Frieden) stellen.
Die hier angeregten Fragen sind im Operationsbureau zu studieren
und mit mir seinerzeit zu besprechen. r^ ■, u
^ Conrad m. p."
Für die Entscheidung, welche feindlichen Werke anzugreifen seien,
war das Heranbringen der schweren Artillerie (24 cm- und 30-5 cm-
Mörser) maßgebend. Es war auf den guten Straßen der Ebene leichter
und rascher möglich.
Außer diesen Vorsorgen hatte ich schon am 22. April 1910 das
Operationsbureau beauftragt, Studien für den Fall eines überfallsartigen
Kriegsbegmnes seitens Rußlands odei Italiens zu pflegen und Detail-
anträge zu stellen. Auch wandte ich mich dieserwegen an den Marine-
kommandanten im Hinbhck auf maritime Unternehmungen und den
Küstenschutz.
Am 5. August holte ich in der Marinesektion das Gutachten über
eine See-Sperranlage bei Riva ein, mit Rücksicht auf die große Zahl
italienischer Fahrzeuge auf dem Gardasee (2 Finanzboote, 3 Motorboote,
10 zur Armierung emgerichtete Dampfer). Die Marinesektion erklärte
eine Seesperre nicht durchführbar, beantragte aber das Zerstören der
Anlegeplätze, das Legen von Grundminen und die Anlage von Flankier-
batterien als Schutz gegen italienische Landungsversuche.
Auf Grund meiner Direktiven verfaßte Major Soos ein Detail-
elaborat über zu treffende Maßnahmen, insbesondere anzulegende
Befestigungen, Hauptmann Pflug eine Studie über Unternehmungen gegen
feindliche Befestigungen in den ersten Mobilisierungstagen.
Bei den zwingenden geographischen Bedingungen des italienischen
Kriegsschauplatzes, die einerseits durch das Gebirge, andrerseits durch
5* 67
die schmale Ebene und den Küstensaum gegeben waren, vermochten die
Vori(ehrungen weit emgehender zu erfolgen, als für den russischen
Schauplatz, dessen weite Räume und allseitige Bewegungsmöglichkeit viel
mannigfachere Kombinationen zuheßen. Ihnen konnte erst bei Eintritt
des Kriegsfalles selbst Rechnung getragen werden. Man mußte sich für
sie eine gewisse Freiheit des Handelns wahren.
Die Kraftbemessung im großen mußte aber für jeden Kriegsfall mit
der Möglichkeit rechnen, daß ihm ein Engagement gegen einen anderen
Gegner vorangehen oder nachfolgen würde. Alle Vorbereitungen waren
dadurch im hohen Maße erschwert und kompliziert.
Der im Spätherbst und Winter IQIO bearbeitete Aufmarsch
gegen Italien für das Jahr 1911 trug, gleich den früheren,
folgenden vier Varianten Rechnung:
I. Krieg gegen Italien ohne vorangegangenen Konflikt mit Serbien
und Montenegro und ohne Drohung Rußlands;
II. Krieg gegen Italien nach vorhergegangenem Konflikt mit Serbien
und Montenegro und ohne Drohung Rußlands;
III. Krieg gegen Italien nach vorhergegangenem Konflikt mit Serbien
und Montenegro und mit Drohung Rußlands;
IV. Krieg gegen Italien ohne vorangegangenen Konflikt mit Serbien
und Montenegro und m i t Drohung Rußlands.
Die für Grenzschutz und Sicherung des Aufmarsches bestimmte
Alarm-Gruppierung sah vor :
Für den Hauptrayon Innsbruck (Tiroler Grenze) :
35 Baone, 32 Landw.Komp., 80 Masch.-G., 30 Grenzsich.-Komp.,
61^ Esk., 28 Geb.-Kan.-Batt., 12 Geb.-Haub.-Batt., 5 Pion.-Komp.
Für den Hauptrayon Kärnten (Kärntner Grenze) :
12 Baone, 9 Landw.-Komp., 24 Masch.-G., 8 Grenzsicherungs-Komp.,
3 Esk., 12 Geb.-Kan.-Batt., 4 Geb.-Haub.-Batt., 4 Pion.-Komp.
Für den Hauptrayon Görz (Küstenland) :
36 Baone, 10 Landw.-Komp., 38 Masch.-G., 9 Grenzsich.-Komp.,
153/4 Esk., 16 Feldkan.-Batt., 4 Geb.-Kan.-Batt., 3 Pion.-Komp.
Aufmarsch: Variante I. (37 Inf -Div., 4 Kav.-Div.)
4. Armee Erzh. Eugen (Tirol)*) 1 1 Inf. -Dienen :
*) Römische Zahlen: Nummer der Korps, arabische Zahlen: Nummer
der Infanterie-Divisionen.
68
IX. (29. Valarsa, 26. Piazza); XIV. (44. Folgaria, 8. Lavarone);
VIII. (9., 21. Levico); 3. Strigno Valsugana, 19. Cavalese; IV. (31., 32.
nördlich Trient); 10. Peutelstein
Landsturrnbrigade 40, 95 Trient, 97 Kaltem, 108 Meran, 103 Fran-
zensfeste, 107 Bruneck; ferner : 1 Baon. Prad (Stilfser Joch); 3 Baone
Fucine (Tonal); 1 Baon Lardaro, 3 Baone Riva.
3. Armee FZM P o t i o r e k (Kärnten) 5 Inf.-Dionen :
II. (4 Liesing, 6. Kötschach, 13 Hermagor); Detachem. Tilliach;
40. Förolach; 25. Malborgelh; Landsturm-Brig. 106. Maglern.
1. Armee E r z h. Friedrich:
1. (5., 46., 12.) Robic-2aga; X. (24., 45., 2.) Woltschach, Kneza;
III. (28., 22., 41.) Cörz-Cormons; V. (14., 33., 37.) südlich des III.;
VII. (17., 34., 23.)*) östlich Görz; Landst.-Brig. 100 Laibach.
2. Armee G d I Frank:
XII (16., 35., 38.) Gradiska und westlich; VI. (15., 27., 39.) Mon-
falcone und westlich. Vor der Front der 1. und 2. Armee: 7., 1., 3., 2.
Kav.-Dion. I. md 2. Armee zusammen: 21 Inf.-Dionen., 4 Kav.-Dionen.
Zur Disposition des A.-O.-K.**): XI. (11., 30., 43.) und die restieren-
den Kav.-Dionen
In Variante III. wären außerdem entfallen :
IV. (31., 32, 40.); VIII. (9, 21.); IX. (29., 26.); VIL (17., 34., 23.).
Daher verblieben: 30 hif-Dionen, 4 Kav.-Dionen.
In Variante II. wären außerdem entfallen :
XI (11 , 30., 43.); 12, 2; dann die Landsturm-Brig. 35, 100, 106.
Daher verblieben: 25 Inf.-Dionen.
In Variante IV wären entfallen die obigen, dagegen nicht die
gegen Serbien und Montenegro anfängUch aufmarschierten. Daher ver-
blieben: 35 Inf.-Dionen.
Gegen Serbien-Montenegro waren anfänglich gerechnet XV. (1., 48);
XVI. (18., 47.); XIII. (7., 36., 42.); 20.
Was von diesen Kräften auf den italienischen Schauplatz herangeführt
werden konnte, entschied erst die Lage.
Am 4. Dezember 1910 legte ich Seiner Majestät die Alarm-Instruk-
tionen für die Kriegsfälle gegen Rußland, Italien, Serbien, Montenegro
vor. Sie gingen nach Allerhöchster Genehmigung an die davon
betroffenen Korps zur Bearbeitung der Detailmaßnahmen.
*) Das VII. Korps war als Queue-Korps instradiert.
**) A.-O.-K. = Armee-Oberkommando.
69
Bezüglich des Kriegsfalles gegen Rußland waren die großen Gesichts-
punkte mit General von Moltke erneuert vereinbart. Auch die mit
Rumänien gepflogenen Beziehungen erscheinen bereits angeführt, sie
ließen voraussetzen, daß Rumänien damals in den Krieg gegen Rußland
eingetreten wäre. Es hätte die Ostflanke unserer in Galizien auf-
♦ marschierenden Kräfte wesentUch entlastet.
In Hinsicht auf den eventuellen Krieg gegen Italien erneuerte ich
in einer Audienz am 18. März meinen Antrag auf Verlegung eines Infan-
terieregimentes nach Tolmein und von Kavallerie ins Küstenland. Am
12. November erbat ich die Allerhöchste Einflußnahme auf endliche
Inangriffnahme der Wasserleitungen auf dem Karst, als dem wasserarmen
Gebiete, in welchem große Massen von Truppen und Trains im Kriegs-
falle zur Versammlung zu gelangen hatten. Weiter betrieb ich die Ent-
fernung der italienischen Finanzwache vom Territorium der Monarchie.
Befestigungen. Auch die Befestigungsfrage kam im Jahre 1910
nicht über ihren schleppenden Gang hinaus. Wie insbesondere jede dies-
bezügUche Maßnahme an der i t a 1 i e n i s ch e n Grenze den jedesmaligen
Aufschrei des Ministers des Äußern Graf Ährenthal auslöste, ist schon
wiederholt erwähnt Zwar konnte ich am 29. Juli in Ischl Seiner Majestät
über den befriedigenden Fortgang der Fortsbauten auf den Plateaus von
Lavarone, Folgaria berichten, aber in der Audienz am 18. September
mußte ich darauf hinweisen, daß, wenn der Kredit für das Minimal-
programm, der 155 Millionen betrug, so wie es der Kriegsminister will,
auf jährliche Raten von nur 6-2 Millionen Kronen verteilt wird, volle
26 Jahre vergehen würden, bis die Bauten fertig sind. In dieser Zeit
wären aber die Bauten nicht nur in mancher Hinsicht veraltet, sondern
es könnten sich in derselben auch längst schon die seh werstwieg enden
Ereignisse abgespielt haben.
In einer Audienz am 21. Oktober drängte ich wieder auf die
Befestigungsbauten gegenüber Italien, in einer solchen am 15. Feber au!
jene bei Triest und Sebenico. Ich unterstützte die Anträge des Marine-
kommandanten Graf Montecuccoli auf dringendste Ausgestaltung
Sebenicos zum Zufluchtshafen, Anträge, die auch von Admiral Haus
gutgeheißen waren, was mir Graf MontecuccoH in einem Schreiben mit-
geteilt hatte. In dem Schreiben sprach er auch die Ansicht aus, daß bei
Sebenico ein Landgürtel anfänglich entbehrlich wäre, wie dies ja auch bei
dem französischen Hafen von Biserta der Fall sei. Der am 16. Feber
über diese Fragen stattgehabten Konferenz ist schon im Ersten Bande,
2. Teil, unter „Befestigungen" gedacht.
70
Dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand trug ich die ganze
Befestigungsfrage in einer Audienz am 23. November 1910 vor.
Verkehrsmittel. Mit nicht geringen Widerständen hatte im
Jahre 1910 auch die Frage der Verkehrsmittel zu kämpfen. In den
Audienzen am 1. und 15. Feber, 21. April, 1 1. Mai, 29. Juh, 11. November
und 4. Dezember bei Seiner Majestät, sowie am 23. Dezember bei Erz-
herzog Franz Ferdinand hatte ich um Einflußnahme auf die Bahnbauten
gebeten, nicht nur bezüglich aller über die ganze Monarchie verteilten
Anträge, sondern auch der schon im Ersten Bande, 2. Teil, unter „Verkehrs-
mittel" angeführten. Sie ergaben sich aus den Aufmarsch-Instradierungs-
arbeiten des Eisenbahnbureaus und waren von wesenthchem Einfluß au!
die rasche Operationsbereitschaft sowohl am russischen als am italienischen
Kriegsschauplatz.
Ganz verfahren war die Bahnfrage auf dem südöstlichen Kriegs-
schauplatz. Der Bau der dalmatinischen Bahn über Ogulin, Knin, der
den Interessen Österreichs entsprach, aber, weil über Kroatien führend,
in die Kompetenz der ungarischen Regierung fiel, stieß auch weiter auf
deren Widerstand. Während Franz Kossuth den Bau direkt hemmte,
anerkannte sein Nachfolger als Handelsminister, Hieronymi, auch in
öffentUcher Rede*) die Verpflichtung zum Bau, schlug jedoch, mit Berufung
auf die Bauschwierigkeiten in Hochkroatien, eine Trasse durch das Unna-
tal (Novi, Bihac, Knin) vor. Aber er knüpfte es an die Bedingung des
doppelgleisigen Ausbaues der Kaschau — Oderberger Bahn und der
Gewährung des direkten Anschlusses an die deutschen Bahnen bei Anna-
berg. Dadurch erachtete sich aber wieder Österreich wulschaftlich
geschädigt.
Ich erklärte, daß gegen die Trasse durch das Unnatal militärisch
zwar keine Bedenken bestehen und die eheste Herstellung einer Ver-
bindung mit Dalmatien überhaupt die Hauptsache sei, daß jedoch bei
•) Die betreffende Stelle dieser in Igle im Feber 1910 gehaltenen
Rede lautet: „Die Regierung hat es auf sich genommen, den Ausbau der
dalmatinischen Eisenbahnen durchzuführen, und zwar soweit, daß der
Bahnbau im Jahre 1908 angefangen und 1911 beendigt wird. Heute ist
noch keine Rede von einem Baubeginn mit diesen Bahnen, ja die Projekte
sind noch nicht einmal fertig. Hier handelt es sich nicht nur um die
Übernahme einer großen Last von vielen Millionen Kronen, sondern auch
darum, daß wir kontraktliche Verpflichtungen übernommen haben, die
wir heute bezüglich des Termins nicht einhalten können. Man wird uns
mit Recht dessen beschuldigen, daß wir nicht Wort halten und nicht
verläßlich sind."
71
dieser Wahl Kroatien schwer geschädigt erscheint, was denn doch zu
bedenken wäre. Für B. H. vertrat der Reichsfinanzminister Baron Burian
ein Bauprogramm, das nur die wirtschafthchen Bedürfnisse des Landes
bei weitgehender Berücksichtigung der ungarischen Interessen im Auge
hatte, die mihtärischen jedoch außer acht Ueß. Demgegenüber machte
ich — so auch in einer Audienz am 18. März 1910 — die mihtärischen
Forderungen geltend.
Ich bemerkte, daß alles andere hinfällig wird, wenn B. H. der Mon-
archie verloren geht, und daß, um dies zu verhindern, auch die militärisch
notwendigen Bahnen gebaut werden müssen. Auf das Verlangen Baron
Burians, die militärisch notwendigen Bauten aus den gemeinsamen Mitteln
der Monarchie zu bestreiten, verwies ich darauf, daß die Monarchie
bereits seit Jahren viele Hunderte von Millionen zu Gunsten des Landes
verausgabt habe, das Land daher endlich auch die eigenen Mittel für
gemeinsame Erfordernisse einsetzen müsse.
Nach dem Antrage Baron Burians sollte die militärisch so wichtige
Strecke Banjaluka— Jajce nicht normalspurig, dagegen die militärisch
belanglose Linie Banjaluka— Gradiska normalspurig, jene Gabela— Kiek
schmalspurig, jene Bugojno — Arzano gar nicht gebaut werden, dagegen
aber die miUtärisch weniger bedeutungsvolle Bahn Ustipraca — Foca —
Trebinje, für die übrigens der Anschluß nach Serbien (bei Vardiste) fehlte.
Seine Herstellung hing vom guten Willen Serbiens ab.
Weiter lautete Baron Burians Antrag gegen die militärisch dringend
erforderliche Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Hauptlinie Brod —
Sarajevo, die das schon an anderer Stelle erwähnte Mißverhältnis
beseitigen sollte, daß wir bis Brod innerhalb 24 Stunden 30.400 Mann
zu transportieren vermochten, von dort weiter aber nach Sarajevo
nur QOOO.
Der dringend geforderte Bahnbau Banjaluka — Jajce mit Fortsetzung
über Rama nach Mostar, als wichtige Aufmarsch- und Nachschublinie
gegen Montenegro, stieß gleichfalls auf den Widerstand des gemeinsamen
Finanzministers, obgleich die Finanzierung dieses Baues durch die Boden-
Kreditanstalt in Aussicht stand.
Daß ich gegen die ohne Kenntnis des Kriegsministers und des Chefs
des Generalstabes erfolgten Verhandlungen über Elektrifizierung der Bahn
Sarajevo — Mostar und über Kleinbahnbauten Stellung nehmen mußte,
fand schon Erwähnung.
Auch die Straßenbauten stockten. In Österreich knüpfte das Finanz-
ministerium den Baubeginn an die zur Gänze erfolgte finanzielle
Bedeckung, während ich den Beginn schon nach Eingang der ersten
72
Baurate verlangte Die Verzögerung war unausbleiblich; auch zum
Schaden der betreffenden Länder.
Die geforderte Herstellung einer direkten Telephonverbindung Sara-
jevo—Budapest bis Wien stieß auf den Widerstand der ungarischen
Regierung.
Kundschaftswesen. Über die geringen hiefür gewährten
Mittel, die Widerstände, die Graf Ährenthal dem Kundschaftsdienst
bereitete und die sich bis zur Einstellung der Reisen der Offiziere steigerten,
ist schon in^i Früheren alles Wesentliche enthalten. Diese Übelstände
blieben auch im Jahre 1910 bestehen.
In einer Audienz am 18 März 1910 referierte ich Seiner Majestät
speziell über die ausgebreitete russische Spionage.
Jahres-Denkschrift. Wie alljährlich verfaßte ich auch am
Schlüsse des Jahres 1910 eine Denkschrift über die militärische Lage.
Ich lasse sie hier — mit Ausschluß der Beilagen — vollinhaltlich folgen.
„Gen. Br. Conrad.
Denkschrift
über die militärisch-politische Lage und die Konsequenzen hinsichtlich
Ausgestaltung der bewaffneten Macht.
Videat Se. Exzellenz der Herr
Reichskriegsminister.
23./11. Schönaich m. p., G. d. L
25./11. Przyborski m. p., GM.
Wien, 31. Oktober 1910.
Conrad m. p., G. d. I.
(Bleistiftbemerkungen)
Gstb. Nr. 3907/1910 vom 9. November.
Bei Seiner Majestät bleiben:
a) Vorliegende Denkschrift als Einleitung.
Als Beilagen:
b) Inhaltsauszug des großen Antrages,
c) Abschrift des Antrages wegen der schweren Artillerie,
d) die graphischen Beilagen, und zwar italienische Befestigungen und
Bahnen 1907, 1910, 1912/14; italienische Dislokationen 1907, 1910,
Tabellen über italienische Heeresstärke,
e) die Bahnforderungen.
73
General d. Inf. Br. Conrad.
Denkschrift
über die militär-politische Lage und deren Konsequenzen hinsichtlich
Ausgestaltung der bewaffneten Macht.
Wien, am 31. Oktober IQIO.
Euer Majestät geruhten in den Vorjahren verschiedene meinerseits
verfaßte Denkschriften allergnädigst entgegenzunehmen, in denen ich
jene Anschauungen niedergelegt habe, welche mir bestimmend für die
mir obliegenden konkreten Kriegsvorbereitungsarbeiten und die damit
im Zusammenhang stehenden organisatorischen und sonstigen Anträge
erschienen.
Geruhen Euer Majestät allergnädigst zu genehmigen, daß ich mich
auf diese meine Denkschriften auch heuer berufe und in möglichster
Kürze die Hauptgrundzüge hervorhebe, welche mich bezüglich der
gedachten Arbeiten auch dermalen leiten; es sind dies folgende:
Als politische Grundlage für die militärischen Vorbereitungen können
nicht die momentanen politischen, häufig nur auf einzelne Persönlich-
keiten oder Parteien gegründeten Konstellationen genommen werden, weil
mit dem jederzeit möglichen Wechsel dieser Parteien oder Personen auch
die Konstellationen plötzlich sich ändern; die fallweisen diplomatischen
Abmachungen können daher auch keine Basis für die militärischen Vor-
sorgen bilden.
Letztere bedingen eine weit voraussehende, alle im Bereich der Mög-
lichkeit liegenden Konstellationen in Betracht ziehende und für jede
derselben alles Nötige vorsehende Beurteilung der politischen Lage; dies
deshalb, weil die allgemeinen, sowie die speziellen, den einzelnen Kriegs-
fällen angepaßten konkreten militärischen Vorbereitungen sich nicht im
letzten Moment bewirken lassen, sondern eine sehr lange Durchführungs-
frist voraussetzen, welche bei den allgemeinen Vorbereitungen (Organi-
sation, Bewafinung, Ausrüstung, Kundschafterdienst, Befestigungen, Aus-
bildung, Flotte) nach Jahren, aber auch bei den konkreten Vorbereitungen
(Auf marsch vorarbeiten, Instradierung etc.) nach Monaten zählt.
Diese voraussichtige Beurteilung der Politik kann sich daher nur auf
jene Verhältnisse stützen, welche sich aus den allgemeinen Entwicklungs-
bedingungen der Staaten, ihren daraus hervorgehenden Interessen und
damit ihren natürlichen Gegnerschaften ergeben. Diese Potenzen sind
die schließlich ausschlaggebenden, mit dem natürlichen Gewicht in die
Wage fallenden und sich en cas que über alle noch so verläßlich geglaub-
ten Ententen, diplomatischen Abmachungen und Versprechungen hinweg-
setzenden.
74
Die vom obigen Gesichtspunkt aus gewonnenen Anschauungen sind
daher einzig und allein als Basis für die militärischen Vorbereitungen
brauchbar, will man nicht von Situationen überrascht werden, die man
in Vertrauensseligkeit für ausgeschlossen erachtet hat.
Sind aber einmal jene Richtungen erkannt, nach welchen die mili-
tärischen Vorbereitungen notwendig erscheinen, dann muß auch in alle
Konsequenzen dieser Notwendigkeit eingegangen werden, und es dürfen
diplomatische Bedenken und Vorsichtigkeiten, innerpolilische Nachgiebig-
keiten, sowie die Scheu vor finanziellen Opfern nie zur Ursache werden,
diesen Konsequenzen auszuweichen; immer bedenkend, daß sich die
Schicksale der Staaten, der Völker, der Dynastien nicht am diplomatischen
Konferenztische, sondern auf dem Schlachtfeld entscheiden.
Von obigen Gesichtspunkten ausgehend, erscheint mir für die folgende
Periode nachstehendes festzustehen:
Deutschland ist durch seine Interessen ebenso an die Monarchie
gewiesen, wie letztere an Deutschland. Das Bündnis mit Deutschland
bildet daher die Grundlage der PoHtik der Monarchie und damit auch
die Grundlage für alle Kriegsvorbereitungsarbeiten. An diesem Bündnis
festzuhalten, es zu pflegen und stets zum Ausdruck zu bringen,
insbesondere auch jedwede kleinUche Zurückhaltung zu vermeiden,
erscheint mir Bedingung.
Italien. Gilt Italien zwar noch immer als Macht des Dreibundes,
bemühen sich auch alle dermaligen diplomatischen Schritte, es in diesem
Verhältnis zu erhalten und scheinen die dermaligen maßgebenden poli-
tischen Faktoren Italiens von der gleichen Richtung beseelt — so kann
ich trotz alledem nicht umhin, in Italien einen ausgesprochenen Gegner
der Monarchie zu sehen, der in einem ihm passenden Moment die Maske
abwerfen und in offener Feindschaft handeln wird.
Der in allen Teilen der Bevölkerung unter Patronanz der Regierung
geschürte Haß gegen die Monarchie und deren Dynastie, die weitestgehende
Verbreitung des Irredentismus, die im großen Stil organisierten, vor
allem mit dem Chauvinismus der Jugend rechnenden Freiwilligen-Organi-
sationen, die zügellose Agitation bei den Kcnnationalen im Gebiete der
Monarchie, die systematische Ausspähung, die schamlose Hetze seitens
des größten Teiles der Presse, die unausgesetzten Schikanen im Grenz-
gebiet, die unverblümten Äußerungen maßgebender PersönUchkeiten, die
sachlichen Publikationen der militärischen Fachpresse, sowie zahlreiche
einschlägige Broschüren und Studien weisen auf die Gegnerschaft hin.
Als eines der zahllosen Beispiele bitte ich die Artikel des italienischen
Generals d. R. Fadda in der offiziösen „Tribuna" vom 2. November samt
Übersetzung beischUeßen zu dürfen (Beilage 10), aber vor allem erhält
75
diese ihren, selbst für den Laien unverkennbaren Ausdruck in den
konkreten militärischen Maßnahmen, welche Italien ganz ausgesprochen
für einen Krieg gegen die Monarchie trifft. Hieher zählen:
a) Der rasch betriebene Ausbau eines im größten Stil angelegten, die
operative Absicht scharf kennzeichnenden Befestigungssystems, von
dem nur ein Laie glauben kann, daß es rein defensiven Zwecken
dient; worauf ich noch eingehender zurückkommen möchte.
b) Die Vermehrung der Garnisonen in Venetien und im Grenzgebiet
überhaupt, sowie die darin sich aussprechende Absicht, im Kriegs-
fall nicht nur das letztere zu schützen, sondern mit operationsbereiten
Körpern in das Gebiet der Monarchie einzufallen, um hier den Auf-
marsch zu stören.
Beilage 6 zeigt die Gamisonsverhältnisse, wie sie 1907 bestan-
den. Beilage 7 zeigt dieselben, wie sie jetzt bestehen.
c) Die Entwicklung des Bahnnetzes im Sinne eines rascheren und
insbesondere im Sinne eines eventuell bis an den TagUaraento vor-
gelegten Aufmarsches. Siehe Beilage 9.
d) Die alljährliche Verlegung der Alpini-Formationen von der fran-
zösischen Grenze in die Grenzgebiete nächst der Monarchie und die
in großem Stil betriebenen Übungen derselben, bei weitestgehender
Heranziehung der Alpini-Milizformaticnen.
e) Die rege Tätigkeit hinsichtlich Manövern, Übungsreisen, Kader-
übungen im Aufmarschraum gegen die Monarchie.
f) Die unausgesetzt betiebenen Rekognoszierungsfahrten italienischer
Kriegsfahrzeuge an der Küste der Monarchie,
g) Die mit Beschleunigung betriebene, im allgemeinen auf das Früh-
jahr 1912 gestellte Ausgestaltung von Heer und Flotte, in der sicht-
lichen Tendenz, den Streitkräften der Monarchie mindestens gleiche,
womögUch überlegene Kräfte entgegenzustellen, so vor allem hin-
sichtlich der Marine der Bau schwerster Schlachtschiffe, hinsichtlich
der Landmacht die wesentliche Erhöhung der Friedenspräsenzstärke
(bisheriger budgetierter Präsenzstand: 225.000 Mann, neu zu budge-
tierender Präsenzstand 250 000 Mann, im Oktober aber bereits vor-
handen 303.000 Mann, davon nach Ausbildung ab die 2. Kategorie,
bleiben noch immer 278.000 Mann faktisch präsent, damit verbunden
jährliche Budgeterhöhung um 15 Millionen Lire), die Ausrüstung des
IV. Korps (Piacenza) mit Gebirgsausrüstung, die Ausgestaltung der
Mobil-Milizdivisionen, vorläufig der Zahl nach zehn.
Zu diesen militärischen Vorbereitungen ist noch jene Aktion auf
politischem Gebiet hinzuzurechnen, welche sich in den Beziehungen
Italiens zu Montenegro, Serbien, Rußland und Frankreich ausspricht und
76
speziell gegenüber Montenegro in der Zuwendung von Geschützen,
Instruktcren etc. konkreten Ausdruck gefunden hat.
Zeigt all dies, daß sich Italien in sehr zielbewußter Weise zum Krieg
gegen die Monarchie vorbereitet und daß es eine verderbliche Täuschung
wäre, sich dieser Erkenntnis zu verschheßen, so ist insbesondere aus dem
dermalen mit rastlosem Eifer zur Ausführung gelangenden Befestigungs-
system leicht zu erkennen, daß Italien hiebei auch einen Offensivkrieg im
Auge hat, und zwar wie folgt (Beilage 3, 4, 5).
Der Ausbau des großangelegten befestigten Raumes von Oemona
im Verein mit den permanent zur Ausführung gelangenden Brückenköpfen
von CodroipoCasarsa und von Latisana sollten jedwede ö.-u. Offensive
vom Isonzo und Kanaltal (Camia) her aufhalten, indes überlegene italie-
nische Kräfte von Westen, Süden und Südosten her das südliche Tirol
angreifen und durch einen Vorstoß aus dem Cadore von der Monarchie
trennen. Die zahlreichen, an allen Ausgängen angelegten Gebirgsbefesti-
gungen vom Stilfserjoch bis ins Cadore sollen nicht nur diese Offensive
gegen Tirol direkt unterstützen, sondern auch die Versammlung der hiezu
nötigen, sowie derindervenetianischen Ebene aufmarschieren-
den Kräfte und deren Verbindungen nach rückwärts verläßlich schützen.
Bedenkt man, daß Tirol nur ein Korps im Lande hat, für Truppen-
zuschübe aber bloß auf die trotz jahrelanger Anforderungen noch immer
bloß eingleisige Bahn Salzburg— Wörgl, sowie auf die Brennerbahn und
die sehr gefährdete Pustertalbahn angewiesen ist, während Italien Süd-
tirol nicht nur mit zwei Korps umschließt, sondern auch auf seinen zahl-
reichen Bahnen bei kurzen Aufmarschlinien rasch weitere Kräfte heran-
führen kann, so gewinnt eine solche Offensive Italiens voraussichtlich mit
dem in., IV. und V. Korps und allen Alpinitruppen nebst Freiwilligen-
formationen sehr an Wahrscheinlichkeit. Im Falle des Gelingens würde
ihr dann die Offensive in Venetien folgen, wo anfänglich das VI. Korps
und die Kavalleriedivisionen den Aufmarsch decken.
Ich bin weit entfernt, von der eigenen Aktion nicht ein diese Pläne
Italiens vereitelndes Vorgehen zu erwarten, aber ich führe den obdargeleg-
ten Gedankengang nur an, um die Anschauungen jener zu entkräften,
welche bei Italien nur rein defensive Absichten voraussetzen und dies
etwa gar aus den Befestigungen Italiens ableiten wollen.
Aber selbst wenn man Italien nicht zumuten will, daß es plötzlich
ganz allein zum Angriffskrieg gegen die Monarchie schreitet, so muß
man doch mindestens darauf gefaßt sein, daß Italien diesen Angriffskrieg
führen wird, sobald die Monarchie von irgendwelchen Komplikationen
innerer oder äußerer Natur betroffen ist.
77
Bei alldem muß noch mit folgendem gerechnet werden:
Die Sympathien der italienischen Dynastie sind der Monarchie nicht
zugeneigt, die leitenden Staatsmänner können bald wechseln, das chauvi-
nistisch veranlagte, leicht inflammable, überdies schon aufgehetzte Volk
kann, geschickten Agitatoren folgend, unschwer zur Aktion getrieben
werden, oder selbst die maßgebenden Faktoren hiezu drängen; endlich
ist es bei dem selbst schon in die Armee, angeblich sogar in das Offiziers-
korps gedrungenen republikanischen Geist nicht ausgeschlossen, daß in
Italien Umwälzungen stattfinden, welche zu einer Aktion nach außen
drängen, und es wäre gewiß keine so populär, wie der Krieg gegen
Österreich-Ungarn.
Wenn ich nun zu den unverkennbaren Erscheinungen einer im
Grunde feindseligen Gesinnung Italiens nach den Interessen frage, welche
deren Basis bilden und welche mir als die ausschlaggebenden Momente
für die Haltung ItaUens gelten, so liegen diese auf der Hand, und zwar
die Erwerbung der italienischen Gebiete der Monarchie, vor allem Süd-
tirols, Triests, Istriens; die Vorherrschaft in der Adria, vielmehr die
Verhinderung der Entwicklung der ö.-u. Seemacht als Rivalin im Mittel-
meer, am Balkan und im Orient; die Bekämpfung jedweder Macht-
erweiterung der Monarchie auf der Balkanhalbinsel, woselbst Italien
seine kommerziellen und sonstigen Interessen ungestört verfolgen will;
endlich Verhinderung jedweder Machtzunahme der Monarchie überhaupt,
als natürUche Gegnerin in den oben angeführten Aspirationen.
Ich resümiere daher hinsichtlich Italiens : Die Monarchie hat
allen Grund, in Italien eine feindliche Macht zu
sehen und sich mit aller Energie zum Krieg gegen
diesen Staat vorzubereiten.
Serbien und Montenegro. Ich habe in mehreren Memoires
der Vorjahre meine leitende Ansicht dahin präzisiert, daß ich die
Zukunft einer aktiven Politik der Monarchie auf dem Balkan gelegen
glaube und daß die Monarchie daher für geraume Zeit mit jenen Staaten
wird als Gegner rechnen müssen, welche sich durch eine solche Politik
der Monarchie in ihren Aspirationen betroffen sehen.
Dies weist direkt auf Serbien und Montenegro, im weiteren Zusam-
menhange auf Italien und Rußland hin.
Wenn ich mir die nächsten Ziele der ö.-u. Balkanpolitik konkret
klarlege, so sind sie durch folgende Ideen gekennzeichnet:
Der südslawische Komplex der Monarchie repräsentiert ein so
großes Gebiet, daß mit dem Verlust desselben die Machtstellung der
Monarchie gebrochen wäre, dies umsomehr, als damit auch das ganze
Küstengebiet, somit die Seemachtstellung verloren ginge.
78
Die Erhaltung des südslawischen Komplexes ist daher eine conditio
sine qua non.
Es ist nun für diese Erhaltung höchst bedenklich, als unmittelbare
Nachbarn zwei südslawische souveräne Staaten erstehen und erstarken
zu lassen, welche stets Attraktionspunkte für die radikalen Elemente und
stets Herde für die Aufwiegelung der Südslawen der Monarchie bilden
werden, umsomehr als sie die Idee des souveränen südslawischen Ein-
heitsstaates auf ihre Fahne schreiben.
Aber auch den sonstigen Gegnern der Monarchie (jetzt insbesondere
Rußland und Italien) bieten diese souveränen Staaten willkommene
Anhaltspunkte, um der Monarchie Verlegenheiten zu bereiten, weshalb
diese Staaten dafür sorgen, Serbien und Montenegro m Gegnerschaft
zur Monarchie zu erhalten. Daß Serbien und Montenegro daher auch
wohl immer als Verbündete der Gegner der Monarchie auftreten, somit
militärische Kräfte der Monarchie binden werden, wenn diese in einen
kriegerischen Konflikt gerät, ist wohl kaum fraglich. Weist nun schon
diese Erhaltungsrücksicht auf die Notwendigkeit hin, diese Staaten zu
inkorporieren, was bezügUch Serbiens absolut gilt, bezügUch Montene-
gros vielleicht durch ein unbedingtes Abhängigkeitsverhältnis ersetzt
werden könnte, so verlangen auch die handelspolitischen Rücksichten
der Monarchie eine territoriale Ausdehnung in dieser Richtung, damit die
Monarchie sich dieses Gebiet erschließe, es nicht in andere Interessen-
sphären gelangen lasse und nicht der Gefahr ausgesetzt sei, selbst durch
so kleine Staaten in ihrer handelspolitischen Aktion eingeengt und schika-
niert zu werden, sondern schon kraft des geographischen Besitzes in der
Lage sei, allen Forderungen auf dem Balkan entscheidenden Nachdruck
zu geben. Erst mit dem Besitz Serbiens, speziell des Moravatals inklusive
des Beckens von Nis, erscheint dies aber gewährleistet.
Zu diesen Erwägungen kommt noch, daß in beiden obgenannten
Staaten die Idee wacherhalten und großgezogen wird, daß dieselben
historische und nationale Ansprüche auf gewisse Gebiete der Monarchie
haben, so Serbien bezüglich Bosniens, so Montenegro hinsichtlich des
süddalmatinischen Küstengebietes und der südlichen Herzegowina;
nicht belanglos ist dabei, daß letzterer Staat durch die für die Monarchie
höchst ungünstige Gestaltung der Grenze (Cattaro — Budua — Spizza)
zu solchen Aspirationen geradezu herausgefordert wird.
Das Gesagte ergibt somit, daß Serbien und Montenegro
als Gegner der Monarchie in Betracht kommen und
die militärischen Vorsorgen hiemit rechnen müssen.
Rußland. Rußland ist mit seinen auswärtigen politischen Inter-
essen so vielfach engagiert, daß es stets darauf ankommen wird, jeweilig
79
zu erkennen, welche der letzteren in den Vordergrund gestellt erscheinen,
für welche daher Rußland eben gesonnen ist, das Schwert zu ziehen.
Im wesentlichen wird zu beurteilen sein, ob Rußland das Schwer-
gewicht auf seine asiatische oder auf seine europäische Politik verlegt,
weil voi allem dies maßgebend daiür ist, ob und inwieweit dieser Staat
als Gegner der Monarchie in Betracht kommt.
Momentan scheint das Charakteristische der politischen Lage Ruß-
lands in dem Bedürfnis nach Sammlung und Retablierung von den
Folgen des unglücklichen japanischen Krieges zu liegen; dies prägt
sich umsomehr aus, seitdem der Zar, die Iswolskysche Politik diploma-
tischer Winkelzüge und Intrigen verlassend, sich den Anschauungen
seiner militärischen Berater, vor allem des Generals Suchomlinow,
zugewendet hat.
Die Entblößung des Gebietes westlich der Weichsel von größeren
Truppenmassen, die Formierung einer für alle Eventualitäten in Betracht
kommenden Zentralarmee, die voraussichtliche Verlegung des Auf-
marsches aus dem Weichselland gegen Osten, bei Schaffung einer für
die Verbindung sorgenden Befestigungsgruppe, die Vermehrung der
sibirischen Armeekorps, die Ausgestaltung der sibirischen Bahn sind
Maßnahmen, welche darauf hinweisen, daß Rußland ebenso zu militä-
rischem Auftreten in Europa, wie zu solchem in Zentralasien und in Ost-
asien bereit sein will.
Überdies hat es besondere Vorsorgen für Finnland und für den
Kaukasus getroffen.
Gelänge es, Rußland dauernd in Asien zu engagieren, so stünde zu
hoffen, daß es in Europa als Gegner nicht in Betracht kommt, man also
freie Hand füi alle jene Aktionen hätte, welche ansonsten zu einem
feindseligen Eingreifen Rußlands führen müßten; nur müßte man dann
auch diesen Vorteil nützen.
Ist aber ein solches Engagement Rußlands in Asien nicht gesichert,
so kommt es darauf an, jene Interessengegensätze zu erwägen, welche zu
einem Konflikt mit Rußland führen könnten; sie betreffen:
Die Meerengenfrage, respektive die Festsetzung Rußlands an den
Meerengen (Konstantinopel) und die damit bedingte Gefährdung der
ö.-u. Interessen auf der Balkanhalbinsel und im östlichen Mittelmeer;
die Wacherhaltung der großserbischen Idee unter russischer Patro-
nanz und im Zusammenhang damit
die Förderung der souveränen südslawischen Staaten, um sie als
Verbündele gegen die Monarchie auszunützen, ferner in absehbarer Zeit
Gebietserwerbungen in Galizien, speziell m dem von den Ruthenen
SO
bewohnten Osten, worauf auch die seitens Rußland von neuem mit
großer Energie betriebene Agitation in Galizien hinweist.
Endlich kommt als feindseliges Moment auch die gegen Deutschland
gerichtete Entente Englands und Frankreichs mit Rußland in Betracht,
welche Rußland auf die Seite der Gegner Deutschlands und seiner Ver-
bündeten drängt. Stellen diese Verhältnisse nun auch Interessengegensätze
zwischen der Monarchie und Rußland dar, so erscheinen mir diese doch
nicht so einschneidender und dringlicher Art, wie die Interessengegen-
sätze zwischen der Monarchie und Italien, und es erscheint mir dabei"
eher möglich, mit Rußland einen modus vivendi zu finden, welcher ein
friedliches Verhalten dieser Macht sichert, insbesondere insolange die
Retablierung der Armee nicht vollzogen, die finnländische Frage nicht
gelöst, der stets drohenden Revolution im ganzen Reich der Boden nicht
benommen ist und die Verhältnisse in Asien nicht völlig beruhigende
geworden sind.
In Anbetracht dieser Möglichkeit einerseits und der klarliegenden
Feindschaft Italiens, welche sicher zum Krieg drängen wird, anderer-
seits, erachte ich es aus militärischen Gründen umsomehr geraten, dieses
Verhältnis mit Rußland anzubahnen, als die Heeresentwicklung in Italien
das Einsetzen aller unserer Kräfte gegen diesen Staat erfordern wird,
wenn der Erfolg gesichert sein soll. Ist diese Entente mit Rußland aber
gesichert, dann wäre dies sofort zum offenen Bruch mit Italien, somit
zum Krieg auszunützen.
Insolange aber für all dies keine Sicherheit
besteht, muß Rußland als Gegner der Monarchie in
Betracht gezogen und müssen die militärischen
Vorbereitungen für einen Krieg gegen Rußland
getroffen werden. Dabei bleibt aber stets vorausgesetzt, daß die
Monarchie diesen Krieg nur im Verein mit Deutschland führt.
Bulgarien mit seiner schon auch durch das Gehaben seines
Herrschers charakterisierten, unverläßlichen politischen Haltung könnte
unter Umständen ebenso als Verbündeter, wie als Gegner der Monarchie
in Betracht kommen; es findet jedoch stets sein Gegengewicht in Rumä-
nien, und da an einen Balkanbund mit Einschluß der Türkei wohl nie
zu glauben ist, vornehmlich auch in dieser; zudem ist es geographisch
von der Monarchie getrennt; spezielle Vorbereitungen für einen kriege-
rischen Konflikt mit Bulgarien erscheinen daher nicht erforderlich.
Griechenland fällt, ehe es nicht seine arg zerrüttete Wehr-
macht wesentlich entwickelt hat, kaum sehr ins Gewicht — in allen
Fällen aber voraussichtlich als Gegner der Türkei — der gegenüber es
zu Lande und zu See inferior ist.
6, Conrad II
81
Türkei. Wenn es auch zunächst noch immer fraglich bleibt, ob
der unter jungtürkischem Einfluß erfolgte reformatorische Aufschwung
der Türkei von nachhaltiger Dauer sein oder aber wieder einer reaktio-
nären Strömung zum Opfer fallen und hiedurch zu inneren Zerrüttungen
führen wird, so ist doch die Machtentfaltung und das wachsende aktive
Selbstgefühl der Türkei ebensowenig zu verkennen, wie die allmähliche
Hinneigung der Türkei auf die Seite der Monarchie und Deutschlands.
Letztere Richtung aufrecht zu erhalten und zu stärken, liegt daher im
Interesse dieser beiden Staaten. Die Türkei wäre damit em äußerst wert-
volles Gegengewicht bei jedem Konflikt der Monarchie mit Rußland,
Serbien, Montenegro und Itahen, wobei nicht zu übersehen kommt, daß
ItaHen der Stärkung der Türkei, insbesondere der maritimen, nicht
freundlich gegenübersteht und daß für Rußland der Türkei gegenüber
sowohl in Europa als in Asien Konfliktsmomente bestehen, deren friedliche
Austragung oder Beseitigung kaum denkbar erscheinen, während die Inter-
essen der Monarchie dermalen nirgends mit jenen der Türkei kollidieren.
Eine bedauerliche Erscheinung wäre es, wenn das Vorgehen der
jungtürkischen Regierung gegen die Albanesen dazu führen würde, daß
diese den Gegnern der Türkei in die Arme getrieben würden; der angeb-
liche Übertritt katholischer Stämme nach Montenegro, die Beteilung der
Albanesen mit Waffen seitens Rußlands sind in dieser Beziehung
bemerkenswerte Symptome. Jeder Kraftzuwachs für Montenegro bezw.
jede Zunahme der Feinde der Türkei fällt auch für die militärische Lage
der Monarchie ungünstig ins Gewicht.
Rumänien. Eingeengt zwischen Bulgarien und Rußland und in
steter Sorge, durch den Zusammenschluß dieser beiden Staaten erdrückt
zu werden, dabei besorgt um die Dobrudza und andererseits getragen
von den Aspirationen auf Bessarabien, steht es im natürlichen Interessen-
gegensatz zu Bulgarien und Rußland und tritt damit naturgemäß auf die
Seite der Monarchie und Deutschlands. Rumänien im Bündnis mit diesen
beiden Staaten zu erhalten, bleibt umsomehr eine wichtige Seite unserer
Politik, als das Eingreifen der rumänischen Armee eine wesentliche Ent-
lastung unserer gegen Rußland auftretenden Streitkräfte ergibt. Dieses
Bündnis hat dermalen greifbare Formen angenommen in den Verein-
barungen militärischer Natur, welche gleichfalls eine Voraussetzung bei
den diesseitigen konkreten Kriegsvorbereitungsarbeiten bilden.
Frankreich. Durch das Bündnis mit Rußland gezwungen und
wohl auch noch von der ererbten Feindseligkeit gegen Deutschland
erfüllt, wird Frankreich stets als Gegner Deutschlands und seiner Ver-
bündeten in Betracht kommen. Nicht zu übersehen ist dabei allerdings,
daß dieser finanziell allseits engagierte Staat kriegerischen Verwick-
82
lungen schon aus diesem Grunde nicht sehr zugeneigt scheint und diese
auch mit Rücksicht auf innere Umwälzungen (militärische Usurpatoren,
Thronprätendenten etc.) sowie deshalb scheuen dürfte, weil die Inferiorität
der Armee gegenüber der deutschen umsomehr durchgefühlt wird, als
der stete Bevölkerungsrückgang ein Wettmachen der Zahl ausschließt.
Nichtsdestoweniger kommt Frankreich stets als wesentlicher Gegner
Deutschlands und damit als mdirekter Gegner der Monarchie in Betracht,
wie sich dies durch die bei allen Anlässen feindliche Haltung gegen den
Dreibund ausspricht, wobei diese Haltung vornehmlich gegen Deutsch-
land und Österreich-Ungarn gerichtet ist. Die Gegnerschaft gegen die
Monarchie basiert aber überdies auf den wirtschaftlichen Bestrebungen
Frankreichs am Balkan, welches dort trachtet, den Markt an sich zu reißen
und seine Konkurrenten zu verdrängen.
England. Die Gegnerschaft Englands zu Deutschland infolge
kommerziellen und maritimen Aufschwunges letzteren Staates, insbeson-
dere die Eifersucht auf Deutschlands Seemachtstellung, ist eine unleug-
bare Erscheinung, und der Anschluß Englands an Frankreich und Ruß-
land erklärt sich damit; ob aber die Entente Englands mit Rußland
bei den so mannigfachen Gegensätzen (Meerengenfrage, Ägypten, Persien,
Indien) von bleibender Dauer sein wird, steht daher sehr in Frage; auch
hat es England in der Regel verstanden, sich bei Konflikten abseits zu
halten, um für das Erringen politischer Vorteile den passendsten Moment
abzuwarten. Eine solche abwartende Haltung Englands zu erzielen,
wäre ein erwünschter politischer Erfolg für die Kriegshandlung.
England fällt vor allem mit seinen maritimen Streitmitteln ins
Gewicht und kommt gegen die Monarchie speziell die Mittelmeerflotte
in Betracht. Sie allein, insbesondere aber alliert mit der italienischen
Flotte, würde in der Adria einen gefährlichen maritimen Gegner schaffen;
drängt dies auch zur möglichsten Entwicklung der eigenen Seestreitkräfte
und zur Schaffung befestigter Repli-Punkte für letztere, so ist doch nicht
zu übersehen, daß für die Monarchie jedwede Feldzugsentscheidung auf
dem Erfolg zu Lande beruht.
Diesen vorausgesetzt, vermag die Monarchie etwaige maritime
Erfolge Italiens direkt durch Repressalien zu Lande wett zu machen,
solche Englands aber indirekt durch Stärkung seiner Gegner (Türkei,
Ägypten). Ist Englands Herrschaft in Ägypten gebrochen, dann schwindet
seine Macht überhaupt und damit auch seine Seemacht. Eine Konkurrenz
im materiellen Flottenausbau mit England aufzunehmen, dazu fehlen der
Monarchie die Mittel.
Hinsichtlich der Landstreitkräfte ist es das Bestreben Englands,
sechs Infanteriedivisionen für die Verwendung am Kontinent verfügbar
*• 83
zu machen, welche auf belgischem, holländischem oder dänischem Gebiet
zu landen vermöchten; es ist allerdings fraghch, ob diese sechs Divisionen
entsprechend rasch bereit sein w^erden.
Belgien, Holland, Dänemark. Mit obiger Landungs-
möglichkeit kommen diese Staaten in den Bereich der Betrachtung.
Holland und Belgien aber auch deshalb, weil es immerhin möglich
wäre, daß eine deutsche Offensive oder eine französische Aktion über das
Gebiet dieser Staaten hinweggeht. Es bleibt dann fraglich, wie sich
letztere demgegenüber verhalten werden; ob feindlich gegen die Invasion,
ob neutral in allen Fällen.
Ob Dänemark seinen Bestand durch offen feindseliges Auftreten
gegen Deutschland riskieren wird, bleibt fraglich; eine kluge Politik
würde jedenfalls dagegen sprechen.
Schweden steht mit seinen Sympathien wohl entschieden auf
Seite der Gegner Rußlands; ob es in einem großen Konflikte seine
Ansprüche auf Finnland mit den Waffen geltend machen würde, bleibt
fraglich, wäre aber jedenfalls zu wünschen.
Schweiz. Obgleich ein neutraler Staat, fällt doch die Schweiz
bei allen mitteleuropäischen Komplikationen nicht unwesentlich ins
Gewicht. Es ist unverkennbar, daß sich in der Schweiz selbst zwei
Parteien gegenüberstehen, nämlich die kleinere französisch gesinnte und
die weit stärkere deutsch gesinnte; außerdem ist noch eine italienische
Fraktion zu zählen, bei welcher dermalen der Irredentismus bereits seine
Hebel ansetzt. Letzterer Umstand drängt die Schweiz auf Seite jener
Staaten, welche von der gleichen Gefahr bedroht sind, d. i. vor allem
Österreich-Ungarn. Hier die Fäden aufzugreifen und im Kriegsfalle die
Schweiz auf eigener Seite zu haben, hiezu in derselben die deutsche
Richtung zu stärken, ist Aufgabe der Politik.
Japan. Es ist kaum glaubhaft, daß sich Japan dauernd mit Ruß-
land abgefunden haben sollte, es scheint vielmehr, daß es jetzt in ziel-
bewußter Systematik die Erfolge seines letzten Sieges ausgestalten und
konsolidieren will, um dann mit frischer Kraft seine mit den russischen
entschieden kollidierenden Interessen weiter zu verfolgen. Japan wird
daher umsomehr als Gegner Rußlands in Betracht zu ziehen sein, als
letzteres wohl kaum seiner Stellung in Ostasien zu entsagen vermag, will
es nicht sehr an Prestige und an Macht verlieren. Inwieweit Japan durch
Nordamerika paralysiert wird, fällt wohl dermalen noch außer Erwägung.
Es will scheinen, daß Japan gut täte, seine Rechnung mit Rußland
abzuschließen, ehe die Land- und Seemacht letzteren Staates retabliert,
die sibirische Bahn vervollständigt, der Panama-Kanal eröffnet und der
Vertrag mit England abgelaufen ist (1915).
84
Die Konsolidierung der Position in Korea, der Ausbau der dortigen
Bahnen, die Befestigungen dortselbst, sowie in der Verbindungsstrecke
Koreas mit Japan, die emsige Entwicidung der Landmacht und der
beschleunigte, mit erheblichen Mitteln betriebene Ausbau der Flotte
charakterisieren die militärischen und damit die politischen Ziele Japans.
Gestützt auf die in allem Vorstehenden dargelegten politischen
Erwägungen, ergeben sich nun die Richtungen für die eigenen
a) speziellen konkreten und die hiedurch bedingten
b) allgemeinen
Kriegsvorbereitungen.
Ad a) Die speziellen konkreten Kriegsvorbereitungen smd im
wesentlichen in
der Kriegs-Ordre de bataille,
den Alarmierungs- Elaboraten und
den Aufmarsch-Elaboraten inklusive der Kriegs-lnstradierung
niedergelegt, von welchen ich die Alarmierungs- und Aufmarsch- Elaborate
nach Fertigstellung Eurer Majestät alleruntertänigst unterbreiten werde.
Dieselben werden für folgende Alternativen gearbeitet:
1. Krieg gegen Italien bei Minimalvorkehrungen gegen Serbien und
Montenegro ;
2. Krieg gegen Serbien und Montenegro;
3. Krieg im Verein mit Deutschland und Rumänien gegen Rußland
bei Minimalvorkehrungen gegen Serbien und Montenegro;
4. Krieg gegen Italien nach vorherigem Engagement gegen Serbien
und Montenegro;
5. Krieg im Verein mit Deutschland und Rumänien gegen Rußland
nach vorherigem Engagement gegen Serbien und Montenegro;
6. Krieg gegen Italien, Rußland, Serbien und Montenegro bei Bündnis
mit Deutschland und Rumänien.
Nicht vorbereitet ist der Krieg gegen Deutschland und jener gegen
Rumänien, vielmehr bestehen mit diesen Staaten, und zwar mit Deutsch-
land bindende schriftliche, mit Rumänien allgemeine mündliche
Abmachungen wie im Vorjahre.
Endlich werden alljährlich jene auf Instradierung italienischer
Truppen durch Tirol bezughabenden Arbeiten durchgeführt, welche sich
aus dem noch offiziell zu Recht bestehenden Dreibund-Vertrag ergeben.
Ad b) Die allgemeinen Kriegsvorbereitungen
Diese betreffend, liegt die Charakteristik der Situation darin, daß alle
übrigen, besonders die als Gegner der Monarchie in Betracht kommen-
den Staaten, in den letzten Jahren hinsichtlich der VervoUkommnmig der
85
bewaffneten Macht wesentliche Fortschritte gemacht haben und gerade
dermalen mit großem Eifer an der Erhöhung derselben, sowie an
unverkennbaren konkreten Kriegsvorbereitungen arbeiten, während die
Monarchie darin zurückgeblieben ist, so daß sich das relative Kräfte-
verhältnis wesentlich zu ihrem Ungunsten verschoben hat. Erwägt man
dabei, daß jederzeit kriegerische Verwicklungen eintreten können und daß
selbe speziell mit dem Ablauf des Dreibundvertrages (1912) noch mehr
in den Bereich der Möglichkeit gerückt sind, so erhellt daraus, daß es
höchste Zeit ist, um sozusagen noch in elfter Stunde das Versäumte
wenigstens so viel als möglich nachzuholen.
Wie ich dies schon in den Vorjahren erbeten habe, erachte ich die
rückhaltlose Offenheit gegenüber den berufenen Vertretungskörpern
(Delegationen), aber auch die unerbittHche Forderung nach Gewährung
des ErforderUchen für unabweisHche Pflicht.
Daß die durch Jahre hindurch angehäuften Rückständigkeiten zur
Anforderung hoher Summen zwingen, darf davon nicht abhalten.
Ich halte dafür, daß alle Mittel, wenn nötig selbst die äußersten,
eingesetzt werden müssen, um die Monarchie von ihrer jetzigen Rück-
ständigkeit je ehei je besser, unbedingt aber bis zum Frühjahr 1Q12 auf
jenen Stand der Kriegsbereitschaft zu bringen, welcher den bedeutenden
Leistungen ihrer Gegner entspricht und an welchen zum genannten Termin
aller Voraussicht nach appelliert werden wird.
In dem beiliegenden Auszug aus dem bezüglichen an das k. u. k. Reichs-
Kriegsministerium gerichteten detaillierten Antrag*) sind, und zwar schon
unter Berücksichtigung der finanziellen Bedenken, jene Forderungen
zusammengestellt, welche als das Mindestmaß des Notwendigen dringend
erscheinen.
Von den gestellten Forderungen möchte ich besonders hervorheben:
a) Hinsichtlich der Landmacht:
Die Schaffung einer schweren Angriffs-Artillerie, in welcher Hinsicht
ich alleruntertänigst bitte, auf meinen in Abschrift beiliegenden Antrag**)
hinweisen zu dürfen, welcher das Dringliche dieser Frage klar erkennen
läßt, die Maßnahmen zum Schutze des Aufmarsches, darunter insbesondere
auch die erforderlichen Truppenverlegungen,
der rasche und vollständige Ausbau der Befestigungen,
•)Prodomo: Antrag Res.-Gstb. Nr. 3147 von 1910 abgegangen.
Metzger m. p., Obstlt. (Auszug Beilage 1).
**) Pro domo : Antrag R.-Gstb. Nr, 3954 von 1910 abgegangen.
Metzger m. p., Obstlt. (Auszug Beilage 2).
86
die Neubewaffnung der leichten und schweren Haubitzbatterien,
sowie der getragenen Gebirgsbatterien mit einem Schnellfeuer- (Rohr-
Vorlauf-) Geschütz,
die Beschaffung des noch nötigen Brückenmaterials,
die Beschaffung der Motor-Trains,
die erforderliche Ausgestaltung der Aufmarschbahnen, beziehungs-
weise die Erbauung derselben, in welcher Beziehung in der Beilage 9*)
die dringendsten Forderungen zusammengestellt sind,
die Aufstellung der Kavalleriedivisionen,
die Erweiterung der Munitionsfabriken, derart, daß die kontinuierliche
Nacherzeugung im ausreichenden Maß gesichert sei.
die Anschaffung von Luftfahrzeugen mid die Ausbildung der erforder-
lichen Piloten.
Neben diesen das tote Material betreffenden Fordenmgen stehen aber
weitaus obenan:
Die Aufbringung des notwendigen Rekrutenmaterials zur Aufrecht-
erhaltung der Stände und zur Aufstellung der Neuformationen;
die mit vollem Zielbewußtsein zu betreibende Ausbildung, in welcher
Hinsicht festzuhaken ist, tiaß nur von schon im Frieden möglichst kriegs-
mäßig ausgebildeten, stramm disziplinierten und zu scharfen Leistungen
erzogenen Truppen ein Erfolg zu erwarten ist, endlich
sorgfältige Pflege des miUtärischen Geistes bei Mannschaft und
Offizieren, wozu es notwendig ist, die Keime schon in die Jugend, also
in die Schule zu legen.
In dem unerschütterlichen Festhalten an der Einheitlichkeit und
Gemeinsamkeit der bewaffneten Macht, zusammengefügt durch den festen
Kitt dynastischer Treue und getragen von dem Stolz auf die in Glück
und Unglück aufrechterhaltenen altehrwürdigen Traditionen, Hegt das
Fundament für die Pflege dieses Geistes.
Besonders bitte ich hervorheben zu dürfen, wie dringend ich die
Hebung und sorgfältige Pflege des standesbewußten, ritterUchen und
opferfreudigen Soldatengeistes im kombattanten Offizierskorps und
daher auch die Notwendigkeit erachte, demselben die denkbar besten
Elemente zuzuführen, die traditionellen Soldatenfamihen in demselben
vertreten zu sehen, es nicht nur vor jeder Nivellierung mit den anderen
Standesgruppen zu bewahren, wobei selbst kleinlich erscheinende Äußer-
lichkeiten (Adjustierung) von Bedeutung wären, sondern es geradezu
*) Pro domo : Im Text des Antrages Res.-Gstb. Nr. 3147 von
1910 enthalten.
87
hervorzuheben und demselben eine auch dem Zivil gegenüber prägnant
ausgesprochene Vorzugsstellung einzuräumen.
b) HinsichtHch der Seemacht:
Als Minimum die schleunige Ausführung des vom Marinekomman-
danten aufgestellten Flottenprogramms.
Wenn ich im vorstehenden hervorgehoben habe, daß die Monarchie
in der Entwicklung der Wehrmacht und in konkreten Kriegsvorbereitungs-
Maßnahmen hinter ihren voraussichthchen Gegnern zurückgebheben ist,
so möchte ich zur Bekräftigung dessen wenigstens folgendes besonders
anführen :
Beilage 3 zeigt den Stand der Befestigungen im Jahre 1907 in dem
für die Monarchie in Betracht kommenden Gebiet ItaHens; es besaß
dortselbst ein einziges Panzerwerk (Fort Maso); Beilage 4 zeigt die
analogen Verhältnisse im Jahre 1910, und zwar bereits mit dreizehn
fertigen Panzerwerken; Beilage 5 zeigt die Situation im Jahre 1912 (14)
nach Vollendung der jetzt bereits mit größtem, fast überstürztem Eifer
in Bau begriffenen Befestigungen. Es v/erden dann 48 Panzerwerke
bestehen.
ItaUen hat daher in der Zeit vom Jahre 1907 bis 1910 seine Panzer-
werke um 12 vermehrt und wird sie bis 1912 um 47 vermehrt haben, es
hat dann alle halbwegs benutzbaren besseren Wege aus Tirol mit Panzer-
forts gesperrt, in den Befestigungen bei Gemona und am Tagliamento
fortifizierte Räume geschaffen, welche zu schwierigen, reichliche Mittel
erfordernden Angriffen zwingen und durch den Ausbau von Verona,
insbesondere aber jenen Venedigs, dem diesseitigen Vordringen in Venetien
schwerwiegende Hindernisse in den Weg gelegt. Dadurch hat es folgende
Vorteile gewonnen: seine zum Angriff auf Tirol bestimmten Kräfte
gewinnen Zeit, diesen Angriff durchzuführen, ehe die diesseitige Haupt-
macht in Venetien dagegen wirksam zu werden vermag; seine in Venetien
zu versammelnden Kräfte können sich unter dem Schutz dieser
Befestigungen ungestört konzentrieren, endlich findet die Monarchie in
allen Fällen, wo es sich darum handelt, mit Italien rasch abzurechnen,
um sich dann gegen einen anderen Gegner zu wenden, bedeutende
Schwierigkeiten für eine derart dringliche Operation.
Im Jahre 1907 lag all dies wesentUch anders, nahezu nichts stand
der diesseitigen Offensive im Wege — der Moment, dies zu nützen, ist
versäumt.
Hand in Hand mit dieser Ausgestaltung der Befestigungen ging und
geht die Entwicklung des Bahnnetzes, wie dies die Beilagen 3, 4, 5
erweisen; damit hat sich ItaUen nicht nur die Möghchkeit eines viel
rascheren Aufmarsches in Venetien, eventuell auch bei dessen Vor-
88
Verlegung an den Tagliamento, sondern auch die Möglichkeit geschaffen,
seine Kräfte von hier rasch gegen Westen zu verschieben, derart gewisser-
maßen die innere Linie zv^ischen den diesseitigen über den Isonzo und
den durch Tirol vorgehenden Kräften auszunützen. Auch dies hat 1907
nicht bestanden
Endlich zeigen die Beilagen 6 und 7, wie sehr Italien auch durch
Verstärkung der Garnisonen in Venetien seine Verhältnisse für den Kriegs-
fall gegen Österreich-Ungarn gebessert hat. Insbesondere die Verlegung
einer ganzen Kavalleriedivision hart an die Grenze und die Vermehrung
der Alpinibataillone nächst dieser sprechen dafür.
Zu allem kommt die rasch betriebene Ausgestaltung von Heer und
Flotte, insbesondere die AusgestaUung der Mobil-Milizformationen, dank
welcher in Hinkunft um zehn operative Infanteriedivisionen mehr zu
rechnen sein werden.
Diese kurze Skizze zeigt, wie wesentlich sich die Verhältnisse seit
dem Jahre 1907 zu unseren Ungunsten geändert haben.
Ich habe im Jährt 1907 in Voraussicht dieser Entwicklung und bei
dem Umstand, daß damals Rußland noch gänzlich unvorbereitet, Serbien
aber in militärischer Ohnm-acht war, die Durchführung des Krieges gegen
Italien alleruntertänigst vorgeschlagen; bei der damals zu diesem Zweck
rasch durchgeführten Schaffung des Nötigsten (Gebirgsartillerie, schwere
Artillerie, Gebirgsausrüstung) hätte die relative Überlegenheit der
Monarchie den Erfolg kaum fraghch erscheinen lassen.
In ähnlicher Weise verhalten sich die Dinge gegenüber Serbien.
Während dieser Staat im Jahre 1908 militärisch unfertig war, also mit
sicherer Chance hätte niedergeworfen werden können, arbeitet derselbe
seither mit entschiedenem Ernst und Erfolg an der Ausgestaltung und
insbesondere der Ausbildung und Konsolidierung seines Heeres, so daß
Serbien in zwei bis vier Jahren eine gut bewaffnete und gut ausgebildete
Armee von 200.000 Mann und 100 Batterien ins Feld stellen dürfte.
Auch 1908 hatte ich aus diesen Gründen die Durchführung des Krieges
gegen Serbien alleruntertänigst erbeten; insbesondere im Frühjahre 1909
zu jenem Zeitpunkt, in welchem die bereits realisierten konkreten Kriegs-
maßnahmen alle Chancen für eine erfolgreiche Durchführung geschaffen
hatten und ein einheitlicher Zug durch die ganze Monarchie ging, welcher
als ein in seltener Weise günstiges psychologisches Moment zum Losr
schlagen drängte. Es wären damit Fragen gelöst worden, deren Lösung
sich die Monarchie wird nicht entziehen können und auch nicht entziehen
dürfen, für welche aber kaum je wieder gleich günstige Verhältnisse ein-
treten werden.
89
Während es seinerzeit möglich gewesen wäre, die aus natürlichen
Interessengegensätzen resultierenden, also unvermeidlichen, damals noch
wenig vorbereiteten Gegner einzeln nacheinander niederzuwerfen und
dadurch einer eigenen aktiven Politik die Bahn frei zu machen, wird die
Monarchie in Hinkunft gefaßt sein müssen, von allen diesen Gegnern
gleichzeitig bedroht zu sein, und diese weit besser gerüstet sich gegen-
über zu sehen, als dies früher der Fall war. Dabei ist vor allem nicht
zu übersehen, daß Rußland nunmehr unter der festen Hand des Generals
Suchomlinow seine militärische Regeneration zielbewußt betreibt und
zweifellos jetzt schon als achtunggebietender Gegner in die Wage fällt.
Ein mehrseits bedrohter Staat vcn beschränkten militärischen Mitteln
kann nur in einer aktiven Kriegspolitik sein Heil finden, welche darauf
abzielt, seine natürlichen Gegner nacheinander und zu jenem Zeitpunkt
niederzuwerfen, der ihm der günstigste erscheint, und für welchen er sich
zielbewußt vorbereitet hat; ansonsten läuft er Gefahr, von allen Gegnern
gleichzeitig und in einem ihm ungelegenen Mom.ent angegriffen zu werden.
In diesem Sinne ist der Krieg nicht lediglich Mittel der Politik,
sondern er ist selbst Politik
Die für die Kriegsmacht ausgelegten Summen sind verlorenes Geld,
wenn der Gebrauch der Kriegsmacht zur Erringung politischer Vorteile
ausbleibt. Für manche der letzteren mag die bloße Drohung genügen
und sich die Kriegsmacht hiedurch verwerten, andere aber sind doch
nur zu erreichen durch den kriegerischen Gebrauch der Kriegsmacht
selbst, also durch den rechtzeitig geführten Krieg; wird dieser versäumt,
so bleibt das Kapital verloren. In diesem Sinne wird der Krieg zu einem
großen finanziellen Unternehmen des Staates.
Nur falsch verstandene Clausewitzsche Theorien (und diese wurden
mir seitens des Ministers des Äußern entgegengehalten) können zu einer
gegenteiligen Auffassung gelangen. In der Heimat dieses scharf denkenden
Kriegsphilosophen hat man dessen Theorien klar erfaßt, sie sind in den
zielbewußt gewollten und vorbereiteten, dann zeitgerecht herbeigeführten
Kriegen von 1866 und 1870/71 praktisch zum Ausdruck gekommen, und
das gelehrige Japan dankte dem gleichen Vorgang seine überraschenden
Erfolge gegen Rußland.
Da nun aber von einer solchen Kriegspolitik abgesehen und damit
die Möglichkeit geschaffen wurde, sich von mehreren, um ihre Kriegs-
vorbereitung eifrigst und erfolgreich bemühten Gegnern gleichzeitig
bedroht zu sehen, so erübrigt nur, mit allergrößter Energie und rück-
sichtsloser Aufwendung der hiezu nötigen Mittel an die Ausgestaltung
und Besserung unserer, hinter unseren Gegnern zurückgebliebenen
Wehrmacht zu schreiten, dabei das jetzige schleppende, zu keinem
90
Resultat kommende, über theoretische Anfänge, Vorschläge und Versuche
nicht hinausgelangende, alles verzögernde Tempo zu verlassen und in
tatkräftigster Weise dafür zu sorgen, daß die bewaffnete Macht bei Ablauf
des Dreibund-Vertrages, also längstens im Jahre 1912, als dem auch
seitens Italiens fixierten Termin fiir die Vollendung der Kriegsvorbereitun-
gen, vollkommen schlagfertig dastehe.
In dieser Hinsicht bitte ich alleruntertänigst, meine Ansicht dahin
aussprechen zu dürfen, daß das Zugeständnis der von der ganzen
Bevölkerung ersehnten zweijährigen Dienstzeit im weitestgehenden
Maße dazu auszunützen wäre, als Gegenleistung die Gewährung der
gedachten Forderungen zu erzwingen und sich unter gar keinen
Umständen zu einseitigen Konzessionen verleiten zu lassen, ebenso
glaube ich, daß die ganze Größe der Forderung rückhaltlos den Ver-
tretungskörpern gegenüber gestellt werden, und nicht etwa auf ein suk-
zessives Stellen der Forderungen gegriffen werden sollte, etwa in der
Meinung, nach und nach eher etwas zu erlangen.
Dies auch schon deshalb, weil sich kaum sobald wieder eine ähnlich
günstige Gelegenheit finden wird, wie jetzt bei Gewährung der zwei-
jährigen Dienstzeit.
In diesem Sinne bitte ich Eure Majestät alleruntertänigst um Aller-
höchste Einflußnahme, daß die auf die Erhöhung des Rekruten-Kontin-
gentes abzielenden wehrgesetzlichen Verfügungen ehestens in Kraft
treten, der außerordentliche Kredit für Land- und Seemacht verfügbar
werde und die in einem an das Reichs-Kriegsministerium gerichteten
Ausgestaltungs-Entwurf detailliert behandelten, in der Beilage .... aber
auszugsweise kurz bezeichneten Maßnahmen längstens bis Frühjahr 1912
vollzogen seien.
Ich müßte es mit dem Gefühl meiner Verantwortlichkeit für unver-
einbar hahen, wenn ich es versäumt hätte, die geschilderten Verhältnissse
alleruntertänigst offen und rückhaltlos zu berichten, meinen persönlichen
Anschauungen Ausdruck zu verleihen und die Allerhöchste imperaüve
Einflußnahme Eurer Majestät alleruntertänigst zu erbitten.
C o n r a d m. p., G. d. I."
91
Spezielle persönliche Verwendung 1910.
Abgesehen vom normalen täglichen Dienstgang, trafen mich 1910
folgende spezielle Verwendungen:
Anfangs Mai Rekognoszierung für die pro 1910 in Aussicht
genommenen, wegen einer Seuche jedoch auf das Folgejahr verschobenen
Armee Manöver in den Karpathen im Räume Dukla Mezölaborcz,
Homonna, Bartfeld, den ich in mehrtägiger Autotour bereiste Vom
25. Mai an leitete ich die große Generalstabsreise im isonzogebiet, welche
die Abwehr einer italienischen Offensive zum Gegenstand hatte. Daran
schloß ich eine Rekognoszierung des Crenzraumes. Vom 20 bis 29 Juni
leitete ich die Generalsreise in Südtirol, im Räume zwischen Gardasee
und dem Asticotale. Übungsgegenstand war ein italienischer Angriff
zwischen Gardasee und Valsugana und dessen Abwehr. Im Monat Juli
war ich, bei schriftlicher Fortführung meines Dienstes, zu dreiwöchent-
hchem Kurgebrauch in Grado Den dortigen Aufenthalt benützte ich
zur Orientierung über die Küstenverhältnisse und das Lagunengebiet. Am
29. Juh meldete ich Seiner Majestät in Ischl mein Abgehen nach Südtirol,
wohin ich mich, begleitet von meinem Flügeladjutanten Hauptmann Putz,
zu einer längeren Rekognoszierungstour begab. Zunächst auf den
Tonal, wo ich die Ergänzung des Werkes Presena durch ein solches am
Monte Tonal verlangt hatte. Ich besichtigte weiter die neue Straße von
Dimaro nach Madonna di CampigUo, schob in die Dienstreise eine
zweitägige Pause ein, die ich zur Besteigung der Cima Tosa benützte,
von deren 3176 Meter hohem Gipfel ich bei völlig klarem Himmel einen
umfassenden Rundblick genoß Er gev/ährte mir die Orientierung über
den Charakter eines weiten Gebietes. Über die Boccha di Brenta nach
Madonna zurückgekehrt, setzte ich noch abends die Autofahrt nach
Pinzolo, dann weiter nach Lardaro fort. Dort verweihe ich, um die
Befestigungen, speziell das im Bau befindhche Werk Carriola zu
besichtigen.
Um den Charakter der Pfade kennen zu lernen, die die Befestigungen
von Lardaro westHch umgingen, durchwanderten wir — Hauptmann
Putz und ich — das ganze Daonetal, nächtigten in einer Alpenhütte im
92
oberen Val di Fumo und gelangten folgenden Tages nach dreizehn-
stündigem, beschwerlichem Marsch über die Boccha di Breguzzo nach
Tione. Ich fand in Tione bei einem alten Regimentskameraden, Major
Baron Stillfried, der das dcrt liegende Jägerbataillon befehligte, gastliche
Aufnahme. Schon in Lardaro hatte ich ein Telegramm der Militärkanzlei
des Thronfolgers und folgenden Brief erhalten:
„Militär-Kanzlei Seiner K. u. K. Hoheit etc. Erzherzog Franz Ferdinand.
Euer Exzellenz!
Im Nachtrage zu meinem nach Lardaro gerichteten Telegramme
erlaube ich mir E. E. gehorsamst zu melden:
Seine Kaiserliche Hoheit beabsichtigen mit E. E. am 13. August 1. J.
morgens von Trient über Calliano auf die Plateaus von Folgaria und
Lavarone zu fahren und am selben Tage noch nach Trient zurück-
zukehren.
Seine Kaiserliche Hoheit wünschen bei dieser Gelegenheit von E. E.
Vortrag zu hören:
a) über den Aufmarsch im Kriegsfalle J. und speziell in Tirol überhaupt;
b) sodann über die hiezu notwendige Versammlung, bezw. das Vor-
gehen unserer Truppen auf den Plateaus von Lavarone und Folgaria.
Auch werden Seine KaiserUche Hoheit die eine oder andere Befesti-
gung oder zur Befestigung in Aussicht genommene Örtlichkeit auf den
beiden genannten Plateaus besichtigen und wünschen hiezu gleichfalls
den Vortrag E. E. zu hören.
Seine Kaiserliche Hcheit, Höchstweiche diese Automobiltour in
Zivilkleidung unternehmen würden, geruhen E. E. in Höchstseinem Leib-
automobil mitzunehmen, ob sich für Hauptmann Putz eine Fahrgelegenheit
finden wird, ist noch nicht sicher.
Die Legitimationen zum Betreten der Befestigungen auf den beiden
Plateaus werden auch für E. E. von der Militärkanzlei Seiner Kaiser-
lichen Hoheit besorgt werden.
Gestatten E. E. den Ausdruck meiner größten Ehrerbietung, mit der
ich mich zeichne als
Euer Exzellenz gehorsamst ergebenster
Hummel, Major.
Pragser Wildsee, 7. August 1910."
Diesem Schreiben war von Seiner KaiserHchen Hoheit eigenhändig
mit Bleistift nachstehendes beigefügt:
„P. S. Es wird nicht notwendig sein, daß Sie sich Behelfe oder
dergleichen kommen lassen und möchte ich nur einmal mit Ihnen auf
93
das Plateau von Lavarone fahren und mit Ihnen einzelne Punkte Fall J.
im Terrain besprechen.
Freue mich sehr, Sie wiederzusehen. Wir könnten dann den 13.
nachmittags oder abends nach Toblach zurückfahren. Herzliche Grüße.
Erzherzog Franz."
Es war mir äußerst willkommen, mit Seiner Kaiserlichen Hoheit die
vielen Fragen, die ich ihm bisher nur auf Karten und Plänen vorgetragen
hatte, nunmehr auch an Ort und Stelle besprechen und ihn auch von
der Bedeutung der von mir verlangten Befestigungen überzeugen zu
können.
Ich fuhr mit Hauptmann Putz nach Trient und traf dort am
13. August mit Seiner KaiserMchen Hoheit zusammen. Die Weiterfahrt
ging im Auto über Calliano, Folgaria nach Lavarone zu dem damals
im Bau schon ziemlich fortgeschrittenen Werk Lusern.
Während dieser Fahrt mit dem Erzherzog allein im Auto hatte ich
Gelegenheit, mannigfache aktuelle und speziell die den Kriegsfall gegen
Italien betreffenden Fragen und die dabei Südtirol zufallende Rolle zu
besprechen. Nach diesem Thema lenkte der Erzherzog das Gespräch
auf Personalfragen. Er äußerte sich abfällig über einen unserer tüchtigsten
Korpskommandanten, weil dieser, um eine katholisch geschiedene Frau
zu heiraten, Protestant geworden war Ich trat für denselben ein und
bemerkte, daß es wohl das oberste Recht jedes Mannes sei, sich die
Frau, die er an seine Seite nehmen und der er seinen Namen geben
wolle, zu wählen, imd es nur männlich gehandelt wäre, wenn er sich
durch unstichhältige Bedenken nicht hindern läßt, der so gewählten Frau
die ihr zukommende Position zu geben.
Daraufhin lächelte der Erzherzog und meinte:
„Ja — eigenthch habe ich ja das auch gemacht," worauf ich
erwiderte: „Euere Kaiserliche Hoheit haben dabei auch sicher alle
vorurteilsfreien Menschen auf Ihrer Seite."
Nach einer Pause wandte sich das Gespräch wieder den rein
militärischen Fragen zu.
Bei Werk Lusern meldete sich der Bauleiter Hauptmann Lakom und
referierte über die Details des Baues.
Dann legte ich Seiner Kaiserlichen Hoheit die ganze Frage der
Plateau-Befestigungen dar; ihre Rolle für die defensiven Zwecke, als
sichere Stützpunkte für die dem Kriegsfall vorbehaltenen Maßnahmen
und ergänzenden feldmäßigen Befestigungen; ihre Bedeutung für eine
von den Plateaus aus zu führende Offensive, als Stützpunkte zur
gesicherten Bereitstellung der Angriffstruppen und zur Etablierung jener
94
Artillerie, die zur Niederkämpfung der feindlichen Werke erforderlich
erschiene. Von letzteren erhoben sich bereits die Forts Verena und
Campolongo auf dem mächtigen Querwall, der sich hier dem Vorgehen
entgegenstellte, während man im Tale die italienischen Anlagen von
Casaratti, Tonnezza etc. gewahrte.
Es ist aus den früheren Darlegungen erinnerlich, daß der Erzherzog,
beeinflußt von mancher Seite, den Befestigungsbauten gerade nicht sehr
zugeneigt war. Als wir von Lavarone wieder nach Trient rückkehrten,
sagte mir Seine Kaiserliche Hoheit: „Sie haben mich heute aus einem
Saulus zu einem Paulus gemacht." Er vertrat von da an mit ganzem
Einfluß den Befestigungsbau in Tirol.
Von Trient fuhren wir per Bahn nach Niederndorf im Pustertal.
Auf dieser Fahrt, die den Erzherzog zu seiner am Pragser Wildsee
weilenden Familie zurückführte, war Seine KaiserUche Hoheit frohester
Laune. Ich befand mich mit ihm im Salonwagen, der mit zahlreichen
Bildern seiner Frau und seiner Kinder geschmückt war. Der Erzherzog
zeigte sie mir eingehend. Ich empfing dabei den so wohltuenden Ein-
druck des innigen Familienglückes, das den Erzherzog und die Herzogin
verband. In Niederndorf verabschiedete ich mich von Seiner Kaiserlichen
Hoheit und fuhr nach kurzem Aufenthalt nach Payerbach, wo ich einige
Zeit bei meiner Mutter weilte, die dort mit meinen Kindern zum Land-
aufenthalt war.
Darauf kehrte ich nach Wien zurück, um der Einladung zu den
Manövern in der Schweiz zu folgen, wohin ich mich, begleitet von
Oberst Metzger, Major Slameczka, Hauptmann Pohl und Hauptmann
Kundmann, begab.
Die Manöver fanden im Jura statt. Sie boten nicht nur wegen der
eigenartigen Wehrmacht der Schweiz, sondern auch dadurch ein beson-
deres Interesse, daß sie einen französischen Einbruch südwestlich Basel
zur Grundidee hatten und dadurch erwiesen, wie sehr die Schweiz daran
dachte, sich jeder Verletzung ihres Gebietes mit Waffengewalt zu wider-
setzen.
Wir trafen am 29. August nachmittags in Bern ein, wurden vom
k. u. k. Militärattache Baron Berlepsch, dann dem schweizerischen Oberst
Egh, sowie Oberstleutnant Eduard von Tscharner und Major Wilhelm
Favre, die uns für die ganze Dauer der Manöver beigegeben waren,
empfangen. Abends waren wir der liebenswürdigen Einladung des
k. u. k. Gesandten Baron Gagern zum Diner gefolgt und trafen dort
den Chef des schweizerischen Generalstabes Oberst-Korpskommandant
von Sprecher, Oberst Korpskommandant Wille, Oberst-Divisionskomman-
dant Wildbolz, Oberst Egli und Major Favre.
95
Am 30. August wurden die aus 27 ausländischen Offizieren bestehen-
den Missionen durch Bundes-Vizepräsident Ruchet empfangen und reisten
nach einem Dejeuner im Berner Hof noch nachmittags nach Solothurn.
Von dort wurde tägUch mittelst Bahn in das Manövergebiet gefahren.
Am 31. August und 1. September wohnten wir Übungen der
3. Division und der kombinierten Kavallerie-Division bei. So dem
nächtlichen Brückenschlag bei Büren. Am 2. September der Truppen-
Inspektion bei Biehl, am 3. September jener bei Porentruy.
Den Rasttag am 4. September benützten wir zu einem Ausflug mit
der Jungfrau-Bahn.
Am 5., 6., 7. und 8. September nahmen wir an den Schlußmanövem
teil, deren Grundidee, wie schon erwähnt, der Einbruch südwestlich
Basel und dessen Abwehr durch eigene Offensive war.
Im Rahmen dieser Annahme ging die Westpartei (5; Division und
Kavallerie-Division) von Porentiuy, die Ostpartei (verstärkte 3. Division)
aus dem Räume nördUch Biel und Solothurn auf Delemont, wo sich
vom 5. bis 8. September die Manöver abspielten.
Nach der durch Oberst-Korpskommandant Wille auf dem Manöver-
feld gehaltenen, äußerst sachlichen Besprechung verabschiedeten wir uns
von den Schweizei Offizieren und fuhren nach Solothurn. Dort trennten
sich die Missionen und kehrten in ihre Staaten zurück.
Der Dreibund war durch den deutschen General der Kavallerie Graf
Schlieffen (Gouverneur der Festung Mainz), durch den italienischen
Generalleutnant Frugoni, dessen während der Manöver erfolgte Ernen-
nung zum Kommandanten des X. Korps (Rom) wir kameradschaftlich
gefeiert hatten, und durch mich vertreten.
In dankbarster Erinnerung gedenke ich der großen Liebenswürdig-
keit und sachgemäßen Unterstützung, die wir seitens aller Schweizer
Herren fanden, insbesondere jener des allverehrten Oberst-Korpskomman-
dant von Sprecher, dann unserer Begleiter am Manöverfeld Oberstleutnant
Tscharner und Major Favre.
Von meinem Aufenthalt in der Schweiz nahm ich die besten Ein-
drücke hinsichtlich des Schweizer Heerwesens, sowie viele Anregungen
und Erfahrungen mit. Darunter auch die, daß das Milizsystem nur dann
Ersprießliches zu leisten vermag, wenn es auf Bedingungen aufgebaut
ist, wie ich sie in der Schweiz vorgefunden habe. Vor allem der absolut
einheitliche politische Wille des Volkes, unter Ausschluß jeder national-
politischen oder sozialpolitischen Feindschaft zwischen den Parteien.
Also auch der Wille aller, zum Schutze des gemeinsamen Vaterlandes
ein starkes, nur von einem Geist beseeltes, scharf disziplinier-
tes Heer zu besitzen. Wo es an diesem Willen, an diesem Geist und
96
an dieser Disziplin fehlt, wird das Milizsystem nur bewaffnete Banden
oder Parteiorganisationen schaffen, die den Keim des Bürgerkrieges in
sich tragen.
Ich vermag mich hier nicht eingehender mit der Schweizer Wehrmacht
zu befassen, möchte jedoch in Schlagworten einige bemerkenswerte Daten
anführen ;
Allgemeine Wehrpflicht; sehr wenig Befreiungstitel; hohe Wehr-
steuer für Befreite; Verbrecher vom Waffendienst ausgeschlossen; Dienst-
pflicht durch 28 Jahre vom 20. Lebensjahre an, und zwar zwölf Jahre
in der ersten, je acht Jahre in der zweiten und dritten Linie. Rekruten-
schule je nach Waffengattung 65 bis QO Tage; in der Folge: Waffen-
übungen, und zwar in der ersten Linie für die Infanterie sieben, für die
Kavallerie acht; in der zweiten Linie für die Infanterie eine. Ferner:
jährliche Schießübungen; Ausbildung von Mann, Unteroffizier und
Offizier während des ganzen Jahres durch vorzügliche Berufsoffiziere
(Instruktionsoffiziere); Spezialschulen für besondere Ausbildungszweige.
Bekleidung, Ausrüsiung, Waffen (Dienstpferd für Berittene) erhält der
Mann vom Staate, hat es stets bei sich zu haben, zu konservieren und
sich diesbezüglich einer jährhchen eintägigen Musterung zu unterziehen.
Weitestgehend entwickeltes, vom Staat subventioniertes freiwilliges Schieß-
wesen, obligatorischer Turn-, Exerzier- und Schieß-Unterricht an allen
Schulen, lerner vom Staat unterstützte Reit-, Fahr- und Pontonier-(Ruder-)
Vereine. Eingehendes Verfolgen aller miUtärtechnischen Neuerungen,
insbesondere auf dem Gebiete des Waffenwesens und stete Sorge für
eine auf modernster Höhe stehende Bewaffnung. Entsendung von Offi-
zieren ins Ausland zu Studienzwecken, insbesondere zu kriegführenden
Mächten. Daher reiche finanzielle Mittel für das Heerwesen. So betrug
1908 bei einem Gesamtbudget von 150 MilUonen Francs das Heeres-
budget allein über 38 Millionen, das ist fast ein Viertel, also 25 Prozent.
(In Österreich- Ungarn betrugen 1909 die Gesamtausgaben 3704-7
Millionen Kronen, das ganze Wehrbudget inklusive Kriegsmarine 508-8
Millionen, das ist zirka ein Siebentel, also 13-6 Prozent.)
Das Wehrsystem ergibt für den Krieg 260.000 Bewaffnete und
260.000 Unbewaffnete, was bei 3V2 Millionen Einwohnern einer fünfzehn-
perzentigen Auswertung entspricht (gegenüber einer bloß achtperzentigen
in Österreich-Ungarn 1909).
Diese Daten zeigen, welche hohen Anforderungen hinsichtlich der
Pflichten des einzelnen, sowie der finanziellen Mittel ein reelles Miliz-
system stellt, im Gegensatz zu den bei oberflächHchen Vertretern dieses
Systems herrschenden Ansichten.
7, Conrad 11
97
Am Schlüsse der Manöver aufgefordert, mein Urteil über die
Schweizer Wehrmacht zu präzisieren, habe ich dies mit nachstehenden
Worten getan:
„Von wärmster Vaterlandshebe getragener, angeborener soldatischer
Sinn jedes einzelnen, große physische und intellektuelle Veranlagung für
den militärischen Dienst; als Folge davon reges Interesse an letzterem,
willige Disziplin und freudige Ausdauer bei jedweden Leistungen; weise
Förderung dieser Anlagen durch staatliche Institutionen, welche den
Wehrmann schon von Jugend auf militärisch erziehen; berufsfreudiges,
mit größtem Eifer an seiner militärischen Fortbildung arbeitendes Offi-
zierskorps, zielbewußte militärische Leitung, stetes Verfolgen aller miU-
tärischen Neuerungen und Nutzbarmachung derselben für das eigene
Heerwesen bei munifizenter Gewährung der finanziellen Mittel. Es ist
erklärlich, daß bei solchen Vorbedingungen — aber auch nur bei
solchen — mit dem Milizsystem so vorzügliche Erfolge erzielt
werden, wie dies in der Schweiz der Fall ist."
Am 18. September referierte ich Seiner Majestät eingehend über
meinen Schweizer Aufenthalt und beantragte, Offiziere der Infanterie, der
Kavallerie und der Artillerie zu Studienzwecken in die Schweiz zu
senden. In politischer Hinsicht äußerte ich mich Seiner Majestät gegen-
über dahin, daß mir eine gewisse Spaltung zwischen der deutschen und
der romanischen Strömung in der Schweiz aufgefallen ist.
08
19 11
Inhalt.
Seite
Normale Arbeiten 102
Der Ausbau der Wehrmacht. — Konflikt in der Budgetfrage . . . 111
Außenpolitische Vorgänge 157
Ausbruch des hbyschen Krieges (Tripolis) 171
Der Konfliict mit Graf Ährenthal 218
Meine Entlassung von der Stelle des Chefs des Generalstabs . . . 283
100
Wer die Details der bisherigen Ausführungen verfolgt hat, wird
wohl dessen gewärtig sein, daß es hinsichtlich meiner Person zu eina:
Krisis kommen mußte, die mit der Enthebung von meinem Dienstes-
posten enden würde.
Dies trat auch im Jahre 191 1 ein und bildet das biographisch
bemerkenswerteste Vorkommnis in diesem Jahre.
Wenn ich mich hierüber eingehender verbreite, so kann ich immer
wieder nur darauf hinweisen, daß die vorliegende Arbeit kein allgemein
historisches Werk, sondern nur eine Aufzeichnung des rein persön-
lich Erlebten ist und lediglich einen Beitrag zum Material für
künftige Arbeiten berufener Historiker bieten soll.
Während die normalen dienstlichen Tätigkeiten ihren hergebrachten,
schon im Früheren gekennzeichneten Verlauf nahmen, spitzte sich der
Konflikt hinsichtlich meiner Person allmähUch zu und kam in zwei
wesenthchen Phasen zum Ausdruck:
Zuerst in meiner Bitte um Enthebung wegen Nichtgewährung der
von mir für den Heeresausbau dringend geforderten Mittel, welcher Bitte
jedoch Seine Majestät nicht willfahrte.
Hierauf in meinem Zerwürfnis mit Graf Ährenthal, das zu meiner
Entlassung aus der Stelle des Chefs des Generalstabes — bei gleichzeitiger
Ernennung zum Armee-Inspektor — führte.
Ich werde im nachfolgenden zunächst die normalen Tätigkeiten
streifen, dann die meine Enthebungsbitte veranlassenden, den Heeres-
ausbau betreffenden Vorkommnisse schildern, schHeßlich die politischen
Vorgänge behandeln und im Zusammenhang damit den zu meiner
Entlassung führenden Konflikt.
Die Angabe meiner speziellen persönlichen Verwendungen und die
Skizzierung meiner Dienstesobliegenheiten als Armee-Inspektor sollen die
Darlegungen für das Jahr 1911 abschließen.
101
Normale Arbeiten.
Die fortlaufenden normalen Tätigkeiten erscheinen ihrem Wesen nach
in den früheren Darlegungen so eingehend behandelt, daß — sollen
ermüdende Wiederholungen vermieden werden — auf eine detailherte
Anführung derselben für das Jahr 1911 verzichtet werden kann.
Wie alljährlich, wurden die konkreten Kriegsvorberei-
tungsarbeiten unter voller Berücksichtigung aller seither ein-
getretenen Veränderungen bewirkt und auf Grund derselben die Auf-
marsch-Instradierung durchgeführt.
Der grundlegende Gedankengang für diese Arbeiten erlitt keine
wesenthche Veränderung.
Über den auch 1911 mit Deutschland gepflogenen Ideenaustausch
für den Kriegsfall gegen Rußland gibt der nachstehende Briefwechsel
zwischen mir und General von Moltke Aufschluß.
Ich an General von Moltke.
„Wien, am 26. Mai 1911.
Ich bitte E. E., meinen ergebensten Dank für die so sehr geschätzten
Mitteilungen entgegenzunehmen, welche Sie mir durch Major Baron
Bienerth zukommen ließen, und erlaube mir im nachstehenden näher
hierauf einzugehen und den diesseitigen Anschauungen Ausdruck zu geben.
E. E. hatten ausschließlich den Fall vor Augen, daß Frankreich
abseits bleibt, Italien neutral oder dreibundtreu ist, somit nur Deutschland,
Österreich-Ungarn und voraussichtlich Rumänien den Krieg gegen Ruß-
land führen.
Obzwar bei dieser Kombination die Monarchie sicherlich damit
rechnen muß, Serbien und Montenegro als Gegner zu haben, besteht doch
die Absicht, womögHch 40 Infanteriedivisionen gegen Rußland zu
versammeln, somit die Aktion gegen Serbien und Montenegro mit einem
Minimum an Kräften führen zu lassen.
In analoger Weise hatte ich im Sinne des Schreibens E. E. vom
19. März 1909 angenommen, daß auch deutscherseits mindestens
102
40 Infanteriedivisionen von Haus aus gegen Rußland gewendet werden,
so daß zusammen etwa 80 Divisionen gegen die zirka 57 bis 58 russischen
Infanteriedivisionen zu stehen gekommen wären.
Die rumänischen 10 Divisionen sind hiebei nicht in Rechnung gezogen,
da es doch nicht völlig klar hegt, daß dieser Staat von Haus aus aktiv
auftritt und auch nicht gewiß ist, ob Rumänien nicht ganz oder teilweise
durch Bulgarien gebunden wird.
Major Baron Bienerth meldet mir, daß nach dortseitiger Ansicht
deutscherseits nur 32 Infanteriedivisionen im Gebiet Preußens östUch der
Weichsel aufmarschieren würden, da ein Mehr in diesem Raum überhaupt
nicht zu placieren wäre.
Für den Aufmarsch der diesseitigen 40 Divisionen ist ein Raum ge-
wählt, welcher eher enger ist, als das deutsche Gebiet östlich der Weichsel.
Es entzieht sich aber meiner Beurteilung, inwieweit dort Wald, See
und Sumpfgebiete diesen beengenden Einfluß üben, es daher nicht mögUch
ist, noch weitere 8 Divisionen östlich der Wechsel zu versammeln.
Um diese Kraft aber auch noch gegen Rußland einzusetzen, bliebe
vielleicht die Möglichkeit, sie knapp westlich der Weichsel (Thom,
Bromberg, Inowrazlaw) zu konzentrieren und sie dann über die Weichsel
gegen den unteren Narew zu dirigieren.
Äußerstenfalls vermöchten sie nach vorheriger Versammlung westlich
Kalisz auch über Kalisz— Lodz vorzugehen, um aufwärts von Warschau
die Weichsel zu übersetzen. Es ist kaum anzunehmen, daß diese Kräfte
einen Luftstoß machen würden, da es kaum wahrscheinUch ist, daß
russischerseits der Raum Warschau— Brest — Bjalystok von Truppen
entblößt sein wird.
Allerdings ist die Strecke von Kalisz zur Weichsel 220 Kilometer
lang, bedingt also etwa 10 Märsche, daher ein spätes Eingreifen dieser
Kräfte und erschiene es deshalb zweckdienhcher, letztere, wie früher
erwähnt, im Raum westhch Thom zu versammeln.
Selbstverständlich liegt es mir fern, diese Ausführungen für etwas
anderes zu halten, als die bloße Wiedergabe meiner diesbezüglichen ganz
allgemeinen Anschauungen.
Was nun den Aufmarsch der diesseitigen Hauptkraft anlangt, so ist
dieser im mittleren Teil Ostgaliziens und in der Absicht gedacht, durch
Offensivbeginn mit dem linken Flügel zunächst das ungünstige Verhältnis
auszugleichen, welches für die eigenen Kräfte darin besteht, daß
russischerseits durch einen Stoß westlich der Linie Kowel— Lemberg alle
Verbindungen der eigenen Hauptkräfte empfindlichst getroffen und diese
vom Hauptgebiet der Monarchie ab gegen die Waldkarpathen gedrängt
werden können.
103
Diese Erwägung allein schon schließt auch einen Aufmarsch der
eigenen Hauptkraft im östlichen Galizien mit der Tendenz, durch Vorgehen
vom rechten Flügel aus die russischen Kräfte gegen das Polesie zu
drängen, aus, umsomehr als die diesseitigen Bahnverhältnisse ein recht-
zeitiges Versammeln der Hauptkräfte im östlichen Galizien gar nicht
ermöglichen.
Erst nach — dermalen kaum abzusehender — weitgehender Aus-
gestaltung des Bahnnetzes erschiene eine solche Absicht diskutabel.
Es muß damit gerechnet werden, daß russischerseits anscheinend
immer mehr geplant wird, starke Kräfte östlich des Zbrucz (Front gegen
West) zu versammeln, so daß, soll ein eigenes Vordringen vom rechten
Flügel zustande kommen, auch eigenerseits sehr starke Kräfte am rechten
Flügel rechtzeitig bereit sein müßten; dies vermag aber die Bahn über
Körösmezö nicht zu leisten.
Auch mich beschäftigt am meisten die Frage, wo Rußland die Kräfte
seiner Zentralarmee einsetzen, ob sie diese einheitlich verwenden oder
korpsweise verteilen wird.
Nach dem Stande der russischen Bahnen erscheint es mir als das
wahrscheinlichste, daß Rußland einen Teil dieser Kräfte in den Raum
südUch des Polesie, einen Teil jedoch gegen das Gebiet des Bug — Narew
heranführen und trachten wird, die deutschen und die ö.-u. Kräfte von
den inneren Flügeln zu trennen, also erstere gegen die Ostsee, letztere
gegen die Waldkarpathen zu drängen; jedenfalls wäre diese die für die
Verbündeten gefährlichste Operation.
Sollte — was immerhin möglich — die Hauptkraft der Zentralarmee
gegen Östeneich-Ungarn verwendet werden, so könnten nach hierstelligem,
allerdings für Rußland günstig veranschlagtem Kalkül 8 Infanterie-
divisionen im Räume Lukow — Brest — Lublin — Cholm, und zwar am
12. Mobilisierungstage,
10 Infanteriedivisionen im Räume Luck — Kowel am 24. Mobili-
sierungstage,
7 Infanteriedivisionen im Räume Rowno — Zaslawl am 24. Mobili-
sierungstage,
8Mi Infanteriedivisionen im Räume Proskurow — Kamience p. am
17. Mobilisierungstage versammelt sein.
Im ganzen 33 14 Infanteriedivisionen gegen die höchstens 40 öster-
reichisch-ungarischen. Dabei ist allerdings das VI., XV., XIV. und
XIX. Korps für die Gruppe im Räume Lublin— Chobn — Lukow — Brest
gerechnet; aber anderseits angenommen, daß 4^4 russische Infanterie-
divisionen gegen Rumänien Verwendung finden.
104
Ich resümiere daher:
Die ö.-u. Hauptkräfte werden im mittleren OstgaHzien östlich des
San versammelt, um die Offensive vom linken Flügel aus zu beginnen,
ein analoges Vorgehen deutscherseits, also ein Vorgehen entsprechender
deutscher Kräfte gegen den unteren Bug— Narew wäre sehr erwünscht;
die Designierung von 45 oder doch wenigstens ebensoviel deutscher als
ö.-u. Divisionen gegen Rußland wurde hier vorausgesetzt.
Gestatten E E., daß ich bei diesem Anlasse der Überzeugung Aus-
druck gebe, daß hinsichtlich alle; anderen Kriegsmöglichkeiten, das ist
für den Fall emer zweifelhalten oder gar einer feindlichen Stellungnahme
Frankreichs und Italiens, jene Abmachungen aufrecht bleiben, welche in
den Vorjahren vereinbart wurden und in der Zuschrift E. E vom 30. Jän-
ner 1910, beziehungsweise in meinen Zuschriften vom 8. Jänner und
23. Februar zum Ausdruck kommen.
Ich bitte E. E. um diesbezügliche geneigte Bekanntgabe der dort-
seitigen Anschauung.
Seine Majestät haben Allerhöchst Kenntnis von dem vorliegenden
Schreiben.
Genehmigen etc. etc. Conrad m. p."
General von Moltke an mich.
„Chef des Generalstabes der Armee.
(Geheim.) Berlin, den 3. Juni 1911.
An den Chef des Generalstabes Baron Conrad.
Euer Exzellenz!
wollen meinen verbindlichsten Dank entgegennehmen für das Schreiben
vom 26. Mai d. J.
Wie der Überbringer desselben E. E. schon mündlich mitgeteilt
haben wird, beruht die Angabe des Majors Baron Bienerth, Deutschland
werde in einem Kriege der Verbündeten gegen Rußland, bei voraus-
gesetzter Neutrahtät, 32 Divisionen in Preußen aufmarschieren lassen,
auf einem Mißverständnis. Wenn Österreich-Ungarn und Deutschland —
vielleicht unter Mitwirkung Rumäniens — den Krieg gegen Rußland allein
zu "Uhren haben, wird Deutschland in erster Linie 43 Divisionen für den
Aufmarsch gegen Rußland verfügbar machen. Von diesen können
32 Divisionen ohne weiteres östlich der Weichsel aufmarschieren, der
Pect _ n Divisionen — muß entweder westlich der Weichsel ausladen
und per Fußmarsch nachgezogen werden, oder er muß als zweite
Staffel mit der Bahn vorgeführt werden. Die Schwierigkeit für unseren
105
Aufmarsch liegt nicht in dem Raum, sondern in der UnvoUständigkeit
unseres Bahnnetzes, das eine Verteilung der Kräfte im Aufmarschgebiet
erschwert, da starke Massen in derselben Gegend hintereinander aus-
geladen werden müssen, während andere Gebiete freibleiben. Während
also 32 Divisionen bis zum 16. Mobilmachungstage marschbereit sind,
können die übrigen erst bis zum 21., geringere Teile sogar erst bis
zum 24. Mobilisierungstage verwendungsbereit sein Diese ungünstigen
Verhältnisse werden noch im Laufe dieses Jahres soweit verbessert werden,
daß alle 43 Divisionen mit der Eisenbahn über die Weichsel vorgeführt
werden können. Eine weitere Verbesserung beabsichtige ich durch
Forderungen in dem nächsten Eisenbahnetat anzustreben.
Da ich eine möglichst frühzeitige Offensive unsererseits für sehr
erwünscht halte, wird diesseits beabsichtigt, den Vormarsch anzutreten,
sobald die ersten 32 Divisionen marschbereit sind, also am 16. Mobili-
sierungstage fertig zu sein. Die übrigen 11 deutschen Divisionen sollen
nach Maßgabe ihres Eintreffens unverzüglich nachgezogen werden.
Wenn, wie E. E. mir schreiben, dortseits 40 Divisionen gegen Ruß-
land angesetzt werden, so würden also die Verbündeten zusammen
83 Divisionen ins Feld stellen. Ein weiterer Zuwachs durch die zehn
rumänischen Divisionen ist sehr erwünscht, doch verspreche ich mir von
ihnen nur dann ein rechtzeitiges und wirksames Eingreifen auf dem rechten
Flügel des ö.-u. Heeres, wenn es gelingt, Rumänien zum Aufmarsch seiner
Armee nördlich Jassy zu veranlassen.
Ich darf noch meine Ansicht über die russischen Operationen kurz
in folgendem zusammenfassen:
Für einen Fehler würde ich es halten, wenn Rußland seine Zentral-
armee zersplitterte, statt sie einseitig an einer Stelle zur kraftvollen Offen-
sive einzusetzen. Sollte Rußland anders verfahren, so könnte dies nur
erwünscht sein.
SoUte Rußland den Versuch machen, die Verbündeten auf deren
inneren Flügeln zu trennen, so würde ich darin für letztere eher einen
Vorteil als einen Nachteil sehen. Die Operationen auf der inneren Linie
haben durch die Massenheere, die Vermehrung der Waffenwirkung und
die Wahrscheinlichkeit langdauernder Kämpfe gegen früher an Bedeutung
verloren, an Schwierigkeit gewonnen. Sie setzen schlagartige Erfolge
voraus, die heute weniger als früher zu erwarten sind. Wohl aber würde
eine solche Operation der Russen den Vorteil für die Verbündeten haben,
daß sie sich zur Schlacht stellen müssen, denn meine größte Sorge besteht
darin, daß die Russen sich nach altem Muster der Entscheidung zu
entziehen und in das Innere ihres unermeßlichen Reiches zurückzuweichen
suchen werden. Daher war meinerseits auch der Gedanke entstanden, den
106
der Hauptmann Kundmann E. E. mitgeteilt tiaben wird, ob es nicht für
Österreich-Ungarn möglich sein werde, mit vorgenommenem rechten
Flügel anzutreten, um den Gegner gegen die Pripetsümpfe zu drängen
und seinen Abzug auf Kiew zu verhindern. Aus E. E. Schreiben ersehe
ich, daß auch Sie diesen Gedanken voranstellen, ihn aber technisch nicht
für durchführbar halten. Deutschland wird jedenfalls mit aller Energie
gegen Narew und Niemen vorgehen und dadurch vielleicht den Einsatz
der Zentralarmee herausfordern. Ein möglichst schnelles Eingreifen des
Verbündeten in Richtung auf Brest-Litowsk würde in diesem Falle sehr
erwünscht sein.
Mit E. E. bin ich der Ansicht, daß der zu Grunde gelegte Kriegsfall
bei gleichzeitiger Neutralität Frankreichs und Italiens sehr unwahr-
scheinlich ist.
Für alle anderen Kriegsmöglichkeiten, die durch zweifelhafte oder
feindUche Haltung Frankreichs und Italiens entstehen können, wird
Deutschland an den Abmachungen festhalten, die durch die Zuschriften
E. E. vom 8. Jänner und 23. Feber 1910, sowie durch mein Schreiben
vom 30. Jänner 1910 vereinbart sind.
Dem Wunsche E. E., eine gegenseitige Verständigung zwischen den
beiderseitigen Grenzschutz- Kommandeuren in Krakau und Gleiwitz herbei-
zuführen, leiste ich gerne Folge.
Ich habe die Aufnahme einer entsprechenden Anweisung in die
Grenzschutzbestimmungen des VI. Armeekorps bereits veranlaßt. Die
Adresse des deutschen Grenzschutz-Kommandeurs ist: »Kommandeur der
23. Infanteriebrigade Gleiwitz.« Für eine sehr gefällige Angabe der
Adresse des entsprechenden ö.-u. Kommandeurs würde ich dankbar sein.
Indem ich E. E. bitte, die Versicherung meiner ausgezeichnetsten
Hochachtung entgegenzunehmen, habe ich die Ehre zu sein
Moltke m. p., G. d. I."
Ich an General von Moltke.
„Wien, am 10. Juni 1911.
Euer Exzellenz!
bitte ich meinen verbindlichsten Dank für das geschätzte Schreiben vom
3. Juni 1. J. entgegenzunehmen, sowie auch für die mir so wertvolle
Mitteilung hinsichtlich der im Kriegsfalle gegen Rußland bereitgehaltenen
deutschen Kräfte. Hinsichtlich der Absicht, mit der Offensive so bald
als möglich zu beginnen, stimme ich ganz mit E. E. Anschauungen
überein.
107
Was den so sehr erwünschten aktiven Beitritt Rumäniens betrifft, so
stehe ich, was ich E. E. hiemit strengst vertraulich mitteile, schon seit
einigen Jahren in diesbezüglichen direkten Verhandlungen.
Ich glaube auf kaum mehr als acht rumänische Divisionen rechnen
zu können, da Rumänien, von stetem Mißtrauen gegen Bulgarien
beherrscht, außer Truppen zweiter Linie fast sicher auch sein neu-
formiertes 5. Korps gegen Bulgarien belassen wird.
Auch ich bin der Ansicht, daß es für Rußland das vorteilhafteste
wäre, seine Zentralarmee einheitlich, also gegen einen der Verbündeten
einzusetzen, doch glaube ich, daß dies ebensosehr gegen Österreich-
Ungarn gerichtet sein könnte, so daß auch wir mit dieser Möglichkeit
rechnen müssen; Rußland vermöchte in diesem Falle starke Kräfte aus
zwei Fronten gegen die in Ostgalizien aufmarschierenden ö.-u. Armeen
anzusetzen und zwar aus jener Wladimir-Wolynsk — Luck — Dubno —
Ostrog und aus jener Proskurow— Kamienecpodolsk — und es vermöchte
dann aus erstgenannter Front in der für uns empfindlichsten Richtung
gegen Lemberg — Tarnopol mit starken Kräften vorzugehen. Dies bedingt
auch eigenerseits hier starke Kräfte bereitzustellen und sich mit diesen
ehestens den linken Flügel freizumachen; dadurch wird auch in der
wirksamsten Weise dem von E. E. ausgesprochenen Wunsch nach einem
Eingreifen in der Richtung Brest-Litowsk entsprochen.
In der Absicht, die zwischen Wladimir und Ostrog zu gewärtigenden
russischen Kräfte von Süden zu fassen und gegen das Polesie zu drängen,
habe ich den Aufmarsch der diesseitigen Hauptkräfte so weit nach Osten
verlegt, als es die nicht sehr vorteilhafte Grenzkonfiguration Galiziens
und die Leistungsfähigkeit der Bahnen zulassen. Hinsichtlich letzterer
habe ich E. E. bereits mitgeteilt, daß die beiden östlichen Karpathen-
bahnen ein rechtzeitiges Versammeln überlegener Kräfte im östlichen
Teil Galiziens in ihrem dermaligen Zustand noch ausschließen und daß
in diesen Verhältnissen erst in einigen Jahren eine wesentliche Besserung
zu erwarten ist.
Auch ich bin der Ansicht, daß Rußland gegenüber das unangenehmste
Moment in der Unermeßlichkeit der Räume dieses Reiches und der damit
Rußland gebotenen Möglichkeit gelegen ist, seine Streitkräfte zurück-
zuführen, um im Clausewitzschen Sinne die Offensive erlahmen zu lassen,
und daß es daher nur höchst erwünscht sein kann, die russischen Kräfte
zum Schlage zu zwingen; doch glaube ich, daß diese Verhältnisse seit
1812 sehr zu Ungunsten Rußlands verändert sind.
Das höchst Bedenkhche einer so großen freiwilligen GebietSr
abtretung, insbesondere bei den bestehenden polnischen und ukrainischen
Aspirationen, die Gefahr der sozialen Revolution im Innern werden
108
Rußland nötigen, den Schlag im Westen zu suchen; andererseits bieten
die modernen Verkehrsmittel ganz andere Chancen für den Angreifer als
es im Jahre 1812 der Fall war.
Hinsichtlich des heutzutage Bedenklichen der Operationen auf der
inneren Linie bm ich ganz E E. Anschauungen; aber im vorliegenden Falle
scheinen mir -'wei wesentliche Momente mitzusprechen ' erstens ist der
trennende Raum zwischen den beiden Verbündeten in der Linie Uhlawa--
Zawichost 300 km breit und zweitens kann jeder der beiden Verbündeten
am äußersten Flügel wieder umfaßt werden, nämlich die deutschen
Kräfte aus der Linie Kowno— Grodno, die ö-u aus jener Proskurow —
Staro Konstantinow, so daß sich die Gesamtlage derart ergibt, daß jede
der infolge der Grenzfiguration auf 300 Kilometer von einander getrennten
beiden Gruppen der Verbündeten russischerseits aus zwei Fronten ange-
griffen werden könnte.
Ich danke E. E. ganz ergebenst für die Mitteilung, daß deutscherseits
an den Vereinbarungen im Sinne E. E. geschätzten Schreibens vom
30 Jänner IQIO und meiner Schreiben vom 8 Jänner und 23 Feber IQIO
festgehalten wird; selbstverständlich stehen auch wir auf demselben
Standpunkt.
Schließlich danke ich noch für E. E. Entgegenkommen hinsichtlich
der gegenseitigen Verständigung der beiderseitigen Grenzabschnitts-
kommanden im Mobilisierungs- respektive Alarmierungsfalle und erlaube
mir mitzuteilen, daß dortige Nachrichten an die ö.-u. Militärstations-
Kommandanten in Petrowitz und Oswiecim zu richten wären.
Conrad m. p."
In diese Zeit reichten auch die aus verschiedenen Richtungen auf-
tauchenden Gerüchte über die Rückverlegung des russischen Aufmarsches.
So hatte m einem Bericht Res. 72 vom 27. März 1911 der k. u. k.
Militärattache in Petersburg Prinz Hohenlohe über einen russischen
Aufmarsch an der Düna— Dnjepr-Linie mit einer vorgeschobenen Armee
von neun Korps gemeldet. Dies wurde unsererseits stark in Zweifel
gezogen. Als dagegen sprechend führte ein Referat des Chefs der
russischen Gruppe, Major Christophen, an: das Bündnis mit Frankreich,
demzufolge der Krieg nicht mit einem freiwilligen Rückzug beginnen
könne; die UnmögHchkeit, so große Länderstrecken preiszugeben; die
projektierten und in Bau begriffenen Bahnen westlich Düna und
Dnjepr; die Leistungsfähigkeit der Bahnen, die den Aufmarsch am Njemen
und an der galizischen Grenze gestatte; die vorgeschobenen Marsch-
bereitschaftstermine der Truppen; die Dislokation der Kader-Train-
109
bataillone (Bjelsk, Dwinsk, Witebsk, Berdyczew, wo Armeetrains auf-
gestellt werden, sind westlich Düna und Dnjepr), endlich den Mangel
an Dnjepr-Übergängen. Unsere Aufmarsch Vorbereitungen erschienen
nicht alteriert.
Ein Bericht Hohenlohes Res. 110 vom 20. Juni 1911 besagte, daß
der vertrauliche Bericht des englischen Militärattaches in Petersburg,
Oberst Wyndham, an seine Regierung über die militärische Situation
Rußlands sich fast vollständig mit unseren Anschauungen decke und
diese nur bekräftigen könne.
Der organisatorische Heeresausbau vollzog sich bei
uns, so weit es die geringen Mittel überhaupt ermöglichten.
Bezüglich der Ausbildung wurde die Bearbeitung und Aus-
gabe neuei taktischer und technischer Vorschriften fortgesetzt. Es
erfolgten wie alljährlich die Feststellung der Waffenübungs-Programme
und die Anordnung für alle speziellen Übungen. Darunter insbesondere
auch jene für die gemeinsamen Schießübungen der Infanterie und Artillerie
in größeren Körpern.
Für den Herbst waren die im Jahre IQIO infolge einer Pferdeseuche
unterbliebenen Manöver in den Karpathen anberaumt; außerdem Lan-
dungsmanöver in Dalmatien imter Zusammenwirken von Landheer und
Flotte.
Unter meiner Leitung fanden die Generalsreise im Räume Tarvis —
Klagenfurt, die große Generalstabsreise in Galizien (Lemberg— Przemysl)
statt. Sie schloß mit einer applikatorischen Angriffsübung auf Przemysl*).
Für die Karpathen-Manöver lag mein Entwurf noch vom Jahre 1910
her vor, für die übrigen Übungen hatte ich die Entwüiie im Winter
1910—11 fertiggestellt. Auf Grund derselben erfolgten die Detailarbeiten
durch die betreffenden Bureaus des Generalstabes, der militärischen Mini-
sterien, beziehungsweise der Marinesektion.
Für die Kavallerie war die Konzentrierung mehrerer Regimenter
nebst reitender Artillerie in der Somogy (Ungarn) verfügt zum Zwecke
der Vornahme einer großen Übung im Aufklärungsdienst und taktischer
Übungen. All dies nach Anordnung des General-Kavallerie-Inspektors.
*) Und zwar: Die Siedliska-Frcnt; also dieselbe Front, gegen die
sich 1914 der erste russische Angriff richtete.
110
Der Ausbau der Wehrmacht. — Konflikt in der Budgetfrage.
Hinsichtlich des Heeresausbaues standen das W e h r g e s e t z, das
die erforderhche höhere Rekrutenzahl, und die B u d g e t f r a g e, welche
die materiellen Mittel schaffen sollte, allem voran. Die Widerstände
gegen beide waren die gleichen, wie schon früher geschildert. Jene gegen
das Wehrgesetz lagen hauptsächlich bei Ungarn.
Bemüht, diese Angelegenheit zu fördern, ließ ich einen das Wehr-
gesetz betreffenden Antrag mit Motivenbericht verfassen (Res. Gstb. 338
vom 30. Jänner 1911), den ich an das Kriegsministerium richtete. Auch
sandte ich ihn an den österreichischen Landes-Verteidigungsminister
(Exzellenz Georgi) und den ungarischen (Exzellenz Hazai) mit Briefen,
in denen ich deren Unterstützung erbat, „damit wir endlich zu
einem Resultat kommen" Was meine an das Kriegsministeiium
gerichteten Anträge betraf, setzte ich voraus, daß sie im Budget Berück-
sichtigung finden und bei den im Jahre 1911 in Budapest tagenden
Delegationen zur Vertretung gelangen würden. Ich gewärtigte, daß der
Kriegsminister gegebenenfalls die Vertrauensfrage stellen würde.
Dem war nicht so!
Entsprechend bisheriger Gepflogenheit wurde die Budgelfrage, ehe
sie vor die Vertretungskörper (Delegationen und Parlamente) kam, in
Konferenzen zwischen den Ministern derart festgestellt, d. h. das Budget
derart zusammengestrichen, daß es Aussicht hatte, ohne große Schwierig-
keiten zur Annahme zu gelangen Ein Vorgang, der den Ministern auch
eine gewisse Sicherheit für ihre Stellung bot.
Diesen Konferenzen war ich nicht beigezogen. Auch erhielt ich
keine Verständigung über die Reduzierung des Budgets. Ich
erfuhr es erst durch die Zeitungen vom 5. Feber, welche die Delegations-
rede des Kriegsministers vom 4. Feber 1911 brachten, obgleich Seine
Majestät auf Grund der abschlägigen Anträge des Kriegsministers bereis
am 2. Feber entschieden hatte, daß der von mir verlangte außerordentliche
Kredit nicht anzufordern sei.
Wie mir der meinerseits zur Rede gestellte Vorstand der 5. Abteilung
des Kriegsministeriums, Oberst Franz von Höfer, nachträglich berichtete,
hatte der Kriegsminister seinen Organen verboten, mit mir, sowie mit
111
Ofiizieren der Generalstabs-Bureaus über die Budgetbehandlung zu
sprechen.
Meiner Überraschung folgte sofort der Entschluß, mich persönlich
bei Seiner Majestät, der damals in Budapest weilte, einzusetzen.
Ich ließ das erforderliche Material noch einmal rasch durchsehen
und zusammenstellen, reiste am 13 Feber IQll von Wien ab und traf
abends 7.10 Uhr in Budapest ein. Ich stieg in demselben Hotel (Bristol)
ab, in welchem der Kriegsminister Baron Schönaich wohnte. Den Kriegs-
rainister traf ich im Speisesaal, meldete mich bei ihm und bat ihn um
eine Unterredung für den folgenden Tag.
Diese vollzog sich am 14. Feber um 9.30 Uhr vormittags in nach-
stehender Weise*):
Ich: „Euer Exzellenz, ich komme melden, daß ich heute Seine
Majestät um meine Enthebung bitten werde."
Minister: „Ja warum denn, dazu hast Du doch gar keinen Grund?"
/.; „Ich habe die Forderungen zusammenstellen lassen. Für das
unbedingt Notwendige ist rund eine Milliarde erforderlich, davon ist aber
mehr als die Hälfte weggestrichen worden, daher bin ich unmöglich."
M.: „Du hast Deine Pflicht getan, Du bist doch der Volksvertretung
gegenüber nicht verantwortlich "
/ ; „Aber meinem Monarchen bin ich verantwortlich. Ich habe meine
Anträge gestellt; entweder waren sie notwendig, dann muß ich gehen,
weil ich nicht durchgedrungen bin, oder sie waren unvernünftig, dann
muß ich gehen, weil mich der Kaiser nicht brauchen kann."
M.: „Du hast Deine Pflicht getan; übrigens wird der Kaiser Dich
nicht gehen lassen."
/.; „Warum nicht?, er wird sich heute noch nicht entscheiden,
aber er wird mich gehen lassen. Ich teile Dir femer mit, daß ich von
diesem Schritt Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand
vorher nichts gesagt habe Ich habe eine Abschrift meines Allerunter-
tänigsten Vortrages an ihn gesendet; zur Zeit, wenn ich vor den Kaiser
trete, wird er erst im Besitz memes Schreibens sein. Er wird darüber
ungehalten sein, daß er vorher nichts darüber gewußt hat, aber ich will
mir nicht nachsagen lassen, daß ich mir vorher eine Rückendeckung
sichergestellt hätte."
M.: „Ah!, der Erzherzog weiß nichts davon?"
*) In den folgenden Schilderungen erscheinen jene Aufzeichnungen
voll verwertet, die ich unmittelbar nach jedem Geschehnisse meinem Flügel-
adjutanten diktierte. Sie geben die Gespräche wörthch wieder, und zwar
auch mit den stiUstischen Mängeln.
112
/.; „Nein! Meiner Auffassung nach war die Lage eine solche, daß
man alle Hebel hätte in Bewegung setzen müssen, um etwas zu erreichen.
Du bist vom Ährenthal gar nicht unterstützt worden, der hat nur die
Friedensschalmei geblasen und nur ehrenhalber seinem Expose die Bemer-
kung angehängt, daß sich die Situation auch ändern könnte. Über diesen
Mann bin ich mir übrigens seit langem im klaren."
Ich erwähnte dann noch die Rede des österreichischen Minister-
präsidenten Baron Bienerth mit dem Bemerken, daß die von ihm vor-
geschlagene Resolution eine weitere Bindung der Heeresverwaltung
ergeben hätte.
Schließlich gewann ich den Eindruck, daß der Kriegsminister gar
nicht unangenehm berührt sei von meiner obigen Eröffnung, daß er im
stillen froh wäre, mich aus meiner Stellung scheiden zu sehen, aber gar
nicht das Gefühl hatte, daß eigenthch er den Schritt hätte tun müssen,
den ich jetzt tat.
Da ich für 11 Uhr vormittags zur Audienz befohlen war, verab-
schiedete ich mich von Baron Schönaich und fuhr in die Ofner Burg.
Ich wurde sofort (10.50 Uhr) bei Seiner Majestät vorgelassen und blieb
in Audienz bis 12.30 Uhr.
Seine Majestät erwartete mich schon an der Türe seines Arbeits-
zimmers mit den Worten:
„Ich freue mich sehr, Sie hier zu sehen, nehmen Sie Platz; setzen
Sie sich!"
Und nun begann folgendes Zwiegespräch:
Ich: „Ich komme. Eurer Majestät gehorsamst zu melden, daß ich
perplex bin über die Wendung, welche die Budgetangelegenheit genommen
hat. Ich habe schwere Bedenken dagegen. Ich hätte vom Kriegsminister
vorher orientiert werden sollen, habe in meinem Innern eine Woche lang
schwere Kämpfe durchgemacht und bin nach reiflicher Überlegung zu dem
Entschluß gekommen. Euere Majestät um meine Enthebung
zu bitten."
S.M.: „Oho! — was fällt Ihnen ein, gar keine Spur!"
Ich erhielt dann die Erlaubnis, meinen Entschluß zu begründen.
/..• „Nach reiflicher Überlegung wurde faktisch nur das Minimum
zusammengestellt, nur das unbedingt Notwendige verlangt. Ich bin jedoch
nicht weiter gefragt worden und mußte erst aus der Zeitung erfahren,
daß mehr als die Hälfte des erforderlichen Betrages vom Budget
gestrichen und daß für die zweijährige Dienstzeit keine entsprechende
8. Conrad II
113
Gegenleistung verlangt wurde. Waren meine Forderungen notwendig,
dann muß ich gehen, weil sie nicht durchgedrungen, waren sie leichtsinnig
zusammengestellt, dann muß ich gehen, weil ich dann nicht am
Platze bin."
Hierauf las ich Seiner Majestät die Denkschrift vor, die meine Anträge
enthielt und sie begründete und wiederholte meine auch in der Denitschrift
niedergelegte Bitte um Enthebung von meiner Stellung (Anlage 1).
Das Gespräch setzte sich fort:
S. M.: „Das ist ja kein Grund, daß Sie gehen."
/.; „Eure Majestät, ich bin in einer schiefen Situation, die ganze
Armee würde mit Fingern auf mich zeigen."
S.M.: „Niemand wird auf Sie zeigen."
/..• „Ich bin in einer falschen Position, die für mich sehr drückend ist."
S. M.: „Es geht eben nicht alles, wie man will; auch ich erreiche
nicht alles; — Finanzen — etc."
/.; „Wenn es notwendig ist, m u ß es gehen. Es war Sache
des Kriegsministers, sich mit mir auseinanderzusetzen und die Vertrauens-
frage zu stellen."
S.M.: „Was nützt das?, dann kommt eben ein anderer."
/.; „Der müßte auch gehen. Wenn nacheinander drei Minister und
drei Chefs gehen, wird der öffentlichen Meinung klar werden, wie die
Dinge stehen, schUeßlich wird es doch einem gelingen, die Sache durch-
zudrücken."
S.M.: „Die öffentliche Meinung kümmert sich gar nicht darum.
Glauben Sie, daß alles geschieht, was Ich will? Sie dürfen nicht aus-
spannen."
/.; „Ausspannen will ich gewiß nicht. Es ist nidit Amtsmüdigkeit,
sondern ich falle mit dem System."
S.M.: „Das dürfen Sie nicht. Ich habe keinen anderen."
/..• „Aber es finden sich gewiß auch andere."
S. M.: „Man kann nicht fortwährend wechseln, man hat nicht so
viele Leute, die man dazu brauchen karm."
114
Es setzte sich nun die Besprechung meiner Denkschrift fort, und
zwar an Hand der Beilagen und Ziffern. Seine Majestät folgte mit größter
Aufmerksamkeit, er sprach jeden Posten durch. Stets kam auch die
finanzielle Frage in Erwägung, wobei ich auf die Ausgaben anderer
Staaten, speziell auch Italiens hinwies.
5.^.; „Wir haben kein Geld — Italien hat mehr."
/.: „Es müßten bei uns auch in der Zivilverwaltung Ersparnisse
gemacht werden; Staatswirtschaft, Wirtschaft bei den Bahnen etc., da
müßte der Hebel angesetzt werden. Minister Ährenthal hat allerdings
der Heeresverwaltung durch sein Expose auch nicht sehr genützt."
S.M.: „Ja — wollen Sie, daß er den Krieg erklärt?"
/.; „Das nicht, aber er hätte die Lage nicht so glänzend hinstellen
dürfen. Wohin die Auffassung gelangt ist, zeigt auch die Rede des
Ministers Baron Bienerth."*)
S.M.: „Die habe ich noch nicht gelesen, nur eine Notiz davon
bekommen."
/.; „Ich habe sie hier und werde sie Eurer Majestät vorlesen."
Ich las nun Seiner Majestät die Rede vor und sprach mich gegen
den darin enthaltenen Antrag auf eine Resolution aus.
S.M.: „Aber eine »Resolution« hat ja gar keine Bedeutung."
/.; „Dieser Antrag charakterisiert aber den Geist, der bereits unsere
Minister erfaßt hat. Sie sehen ein Verdienst darin, die Heeresforderungen
geknebelt und heruntergedrückt zu haben — ja und auch auf Jahre hinaus
zu knebeln. Ich bedauere die Rede des Ministers Bienerth. Die Dele-
gationen haben gar nicht das Recht, ihre Nachfolger in dieser Weise zu
binden und auch ein Kriegsminister hat nicht das Recht, solche Bindun-
gen einzugehen."
S.M.: „Ja — in der Folge kann man ja noch immer verlangen,
was man will."
/.; „Nach den sieben Punkten kann man gar nichts mehr verlangen."
S.M.: „Aber das ist doch nicht so bindend."
*) Im „Pester Lloyd" vom 14. Feber 1911, früh.
«• 115
Hierauf habe ich Seiner Majestät die Punkte 1, 2, 3, 4 und 7, sowie
den Schlußpassus bezügUch der Budgetvorlage in jedem Jahre vor-
gelesen, danach betont, daß ich nicht die Möghchkeit habe, meine Anträge
(etwa so wie der Marinekommandant) im Ministerrat, dem ich gesetz-
mäßig nicht beigezogen werden muß, noch weniger aber vor den
Delegationen zu vertreten, daß mir aber diese Möglichkeit wenn schon
auch nicht als „Stimmberechtigten", so doch als „Experten" gewährt
werden sollte; ich fügte bei:
„Heute kommen die von mir gestellten Anträge zu irgend einem
Referenten des Kriegsministeriums, der >zupft« daran herum. Was dann
bleibt, gibt der Abteilungsvorstand dem Minister und dieser identifiziert
sich damit. Unser Dienstgang ist ein sehr trauriger. In Anbetracht dieser
Sachlage bitte ich meine Enthebung AUergnädigst zu bewilligen."
S.M.: „Gehen dürfen Sie nicht; wegen der Besprechungen werde
Ich es mir noch überlegen und darüber noch entscheiden."
/.; „Eure Majestät! Bezüglich der zweijährigen Dienstzeit hat man
es jetzt noch in der Hand, etwas dafür einzutauschen."
S.M.: „Glauben Sie nicht, daß den Leuten viel an der zwei-
jährigen Dienstzeit liegt."
/.; „Für das, was man aber bieten kann, soll man möglichst viel
eintauschen, man müßte daher die zweijährige Dienstzeit so teuer als
möglich verkaufen."
Hiemit endete um. 12.30 Uhr die Audienz.
Ich hatte gelegentlich derselben erneuert gewahrt, wie genau Kaiser
Franz Joseph dank seiner unermüdlichen Arbeit, der er täglich vom
frühesten Morgen an oblag, sowie dank seinem staunenswerten Gedächt-
nis über alles, und zwar auch das Kleinste orientiert war — aber auch
die Überzeugung gewonnen, daß der Kaiser an der Möglichkeit, in den
diesjährigen Delegationen ein „Mehr" zu erreichen, zweifelte, immerhin
aber geneigt schien, mich meine Anträge wenigstens vor den
M i n i s t e r n vertreten zu lassen.
Ich kehrte nach Wien zurück und richtete am 15. Feber 1911 folgen-
des Schreiben an Seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand
nach Konopist.
„Wien, 15. Feber 1911.
Eure Kaiserliche Hoheit!
Geruhen Eure Kaiserliche Hoheit nachfolgende Meldung zur Höchsten
Kenntnis zu nehmen:
116
Ich wurde gestern 11 Uhr vormittags in Budapest von Seiner
Majestät in Audienz empfangen und habe Allerhöchst denselben um aller-
gnädigste Enthebung von meinem Dienstesposten gebeten, da die von
mir dringlich gestellten budgetären Forderungen keine Berücksichtigung
gefunden haben.
Seine Majestät geruhten nicht meiner Bitte zu willfahren und behielten
sich hinsichtlich einer von mir erbetenen Ministerbesprechung die Aller-
höchste Entscheidung vor.
Geruhen Eure Kaiserliche Hoheit den Ausdruck meiner tiefsten Ehr-
furcht entgegenzunehmen.
Euer Kaiserlichen Hoheit gehorsamst ergebener
Conrad m. p."
Ich erhielt hierauf am 17. Feber folgendes Telegramm:
„Herzlichsten Dank für Ihre Mitteilungen, freue mich schon sehr,
Exzellenz bald in Wien wiederzusehen. Viele Grüße. Erzherzog Franz."
Ich hatte noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, daß noch, sozusagen
in elfter Stunde, wenigstens einiges gerettet werde und trat in diesem
Sinne auch an den Generaladjutanten und Chef der Militärkanzlei Seiner
Majestät General der Infanterie Freiherm von Bolfras heran, der das
dornenvolle Amt hatte, in allen sachlichen und personellen militärischen
Fragen der Vermittler bei Seiner Majestät zu sein, dessen vollstes Ver-
trauen er besaß.
Seinem kaiseriichen Herrn treuest ergeben, war Exzellenz Bolfras
jederzeit bemüht, das Wohl des Ganzen zu fördern und das Wohl jedes
einzelnen zu vertreten, so weit dies im Bereiche der Möglichkeit lag.
Ich richtete an ihn folgendes Schreiben:
„Wien, 15. Feber 1911.
Euer Exzellenz!
Von dem Moment an, in welchem ich E. E. gestern verließ, habe
ich wohl selbstverständlich ununterbrochen über die Lage nachgedacht,
in welche die Entwicklung der Landmacht und der Reichsbefestigung
gelangen muß, wenn die jetzt angebahnten, die Heeresleitung auf Jahre
hinaus bindenden desolaten Budgetverhältnisse ruhig hingenommen
würden.
Ich kann da nur immer wieder zu der Ansicht gelangen, welche
mich bestimmte. Seine Majestät um meine Enthebung zu bitten, und
welche dann gipfelt, daß man die zur Sorge für das Wohl der Monarchie
berufenen Funktionäre sowie die Öffentlichkeit durch einen Eklat belehrt,
wie die Dinge stehen und welches die Pflicht dieser Herren gewesen wäre.
117
Vielleicht läßt sich damit die Lage noch jetzt wenden oder bessern,
mindestens aber wäre für die nächste Zukunft Klarheit geschaffen und
der Boden für eine erfolgreichere Geltendmachung der Armeebedürfnisse
geebnet.
Um in diesem Sinne der Sache zu dienen, hatte ich mich entschlossen,
meine Position zu opfern. Gehe allerdings dabei darüber hinweg, daß
dies in erster Linie Sache anderer gewesen wäre. Über den Verdacht,
daß mich Amtsmüdigiceit oder die Scheu vor Arbeit und Sorge leiteten,
bin ich wohl erhaben.
Vielleicht haben E. E. die Güte, diese meine Anschauung, welche
ich übrigens gestern Seiner Majestät persönlich vortrug, beim Aller-
höchsten Herrn zu vertreten.
Gestatten E. E. den Ausdruck meiner ganz besonderen und unwandel-
baren Hochverehrung, mit der ich verharre
als Euer Exzellenz
dankbar gehorsamster
C o n r a d, G. d. I."
Ich hatte dieses Schreiben „expreß" abgesendet imd erhielt bereits
am 17. Feber früh folgende Antwort:
„Budapest, 16. Feber 1911.
Hochverehrter Freund!
Die Allerhöchste Resolution auf Deinen a. u. Vortrag Nr. 510 war
bereits auf dem Wege nach Wien, als ich gestern um 10 Uhr nachts Dein
sehr geschätztes Expreßschreiben erhielt.
Seine Majestät hatten die sofortige Erledigung umsomehr gewünscht,
als Dir bereits in der Audienz vom 14. d. M. Allerhöchst eröffnet wurde,
daß Seine Majestät Deine Enthebung vom jetzigen Posten nicht zu
genehmigen finden.
Es leiteten Dich bei Deinem Entschlüsse gewiß die hochherzigsten,
keineswegs verkannten Motive.
Den bestehenden Tatsachen gegenüber war aber an den von Dir
beabsichtigten Effekt nicht nur nicht zu glauben, vielmehr an eine schwere
Schädigung der Deiegationsverhandlungen und dem Auslande gegenüber
(namentlich Berlin, wo Du so sehr akkreditiert bist) an eine Kalamität
zu denken gewesen.
Vielleicht — und dieses ist meine persönliche Meinung — hätte
Dein bewußter Schritt, wenn vor dem Beginne der Delegationssession
unternommen, des wünschenswerten Eindruckes nicht völlig entbehrt.
Wer möchte nicht gleich und mit Dir unsere militärische Rück-
ständigkeit beklagen?
118
Dennoch muß man mit Verhältnissen rechnen, die durch kein
Machtwort einfach aus der Welt geschafft werden können.
Wie dem immer sei, es bleibt uns nur weiteres Streben und die
Hoffnung auf den Wandel der Dinge ; >die Notwendigkeit wird menschlich
sein« . . . läßt Schiller den Marquis Posa sagen.
Somit weiß ich Dir auf Dein geehrtes Schreiben und im Hinblicke
auf die bereits erfolgte Allerhöchste Resolution nur Vorstehendes zu
bieten und Dich recht sehr zu bitten, glauben zu wollen an die besten
Gesinnungen und die ausgezeichnetste Hochschätzung
Deines
ergebensten
B o If r a s, G. d. I."
Was die in diesem Schreiben enthaltene Bemerkung betraf, daß meine
Bitte um Enthebung, wenn vor Beginn der Delegation gestellt, des
Eindruckes nicht völlig entbehrt hätte, so fehlte mir eben vor Beginn
der Delegation hiezu der Anlaß, da ich erst durch die Rede des Ministers
in der Delegationssitzung zur Kenntnis der budgetären Streichungen
gelangte.
Indessen hatte ich am 16. Feber auch die Allerhöchste Resolution
erhalten; sie lautete wie folgt:
„Allerhöchste Resolution auf den a. u. Vortrag Gstb. Res. Nr. 510
vom 13. Februar 1911.
Indem Ich Ihre mit Überzeugungstreue dargelegten Ausführungen
zur Kenntnis nehme, will Ich Ihnen die MögHchkeit zugedacht wissen,
die Klarlegung Ihrer Auffassung budgetärer, gegenwärtig nicht realisier-
barer Notwendigkeiten vor den berufenen staatlichen Faktoren nach
Schluß der gegenwärtigen Delegationssession zum Ausdrucke zu bringen.
So schwer Ihre Bedenken bezüghch der Kriegstüchtigkeit und Kriegs-
bereitschaft der bewaffneten Macht auch sein mögen, vermag deren
unmittelbare Behebung doch ebensowenig eingeleitet zu werden, als
Ich Ihrer Mir mündlich vorgebrachten Bitte um die Enthebung vom
Posten des Chefs des Generalstabes Meiner gesamten bewaffneten Macht
Folge zu geben finde.
Ich halte Mich vielmehr versichert, daß Sie Ihres Dienstes mit jener
Hingebung, die Ich stets gerne anerkannte, walten und in den großen
Fragen der Wehrmacht auf dem realen Boden der allgemeinen staatUchen
inneren und äußeren Verhältnisse schreiten werden.
Budapest, am 15. Feber 1911.
Franz Joseph m. p."
119
Das am 17. Feber erhaltene Schreiben von Exzellenz Baron Bolfras
vom 16. Feber beantwortete ich mit folgendem:
„Wien, 18. Feber 1911.
Euer Exzellenz!
Ich bitte E. E. meinen gehorsamsten Dank für das gütige Schreiben
vom 16. d. M. entgegenzunehmen.
Ich habe die Sache nochmals reiflich erwogen und komme immer
zu demselben Resultat.
Wenn ich schon von der Geltendmachung des 200-Millionenkredits
für die Neubewaffnung der Infanterie absehe, so sehe ich doch in der
fast gänzhchen Streichung des Fortifikationskredites, der gänzlichen
Streichung der 260 Millionen für dringende sonstige Bedürfnisse
(Artillerie-Munition, technische Ausrüstung), endlich in der leichtfertigen
Hingabe der zweijährigen Dienstzeit, ohne für dieselbe vorher die
unerläßlichen Grundbedingungen, darunter vor allem die Sicherung
weiterdienender Unteroffiziere geschaffen zu haben, eine schwere
Schädigung der Wehrmacht, die kein ruhig überlegender Soldat verant-
worten kann.
Es ist symptomatisch, daß selbst schon aus Delegiertenkreisen (Rede
des Grafen Clam) Zweifel an dieser Budgetierung auftauchen und vom
Kriegsminister verlangt wird, er möge erklären, daß trotz der geringen
Mittel das Notwendige zu geschehen vermag; ich müßte mich für einen
Verbrecher halten, wenn ich diese Frage mit >ja« beantworten wollte.
Ich bitte daher E. E., nachdem schon mein Bemühen erfolglos war,
hochderen großen, auf jahrelanges Vertrauen gegründeten Einfluß
geltend zu machen, um vielleicht noch in elfter Stunde das für die Armee
Notwendige zu retten.
Ich hatte bereits im Herbst die dringenden Forderungen in einem
Antrag an das Ministerium gestellt. Dieses lehnte dieselben jedoch in
einem a. u. Vortrag ab; ich habe zu dieser Ablehnung eingehende
Bemerkungen gemacht und gebeten, diese dem a. u. Antrag des RKM.
beizulegen.
Ich hoffte nun, daß entweder der Minister Weisung bekommen
würde, diesen Forderungen zu entsprechen, oder ich den Befehl erhalten
würde, meine Forderungen vor den berufenen Funktionären mündlich
zu vertreten.
Weder das eine noch das andere geschah, sondern ich wurde erst
im Wege der Zeitungen von der Rede des Ministers (5. Feber 1. J.)
überrascht, welche dieses gänzliche Nachgeben, sowie eine Knebelung
auf Jahre hinaus enthüllte.
120
Daß ich anbetrachts der mich stets beglückenden Huld und Gnade
Seiner Majestät und bei dem schwärmenschen Hängen an dem Rock,
den ich seit memem zehnten Lebensjahre trage, ausharren will, wenn
es zu Nutz und Frommen der Sache ist, brauche ich wohl nicht zu
beteuern, aber gerade in diesem Streben muß ich die hohe Gefahr hervor-
heben, welche in dei jetzigen Situation gelegen ist — und kann nicht
unterdrücken, daß eine erfolgreiche Tätigkeit nur dann zu erhoffen ist,
wenn die materiellen Mittel geschaffen werden, um das auf dem Papier
Niedergelegte auch zur Tat werden zu lassen; diese allein aber zählt.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner unwandelbaren Hoch-
verehrung und Dankbarkeit, mit der ich stets bin
Euer Exzellenz gehorsamster
Conrad, G. d. I."
Ich erhielt hierauf am 22. Feber folgendes Antwortschreiben:
„Budapest, 21. Feber 1911.
Hochverehrter Freund!
Mit dankender Beantwortung Deines hochgeschätzten Schreibens
vom 18. ds. M. habe ich zunächst etwas zugewartet, da sich vielleicht
irgend etwas zu meiner besseren Information hätte ergeben können.
Ich habe Dein Schreiben Seiner Majestät a u. vorgetragen.
Deine Versicherung, daß Du ausharren willst, hat die
anerkennungsvollste Allerhöchste Befriedigung erregt, wie es ja bei der
Hochschätzung, deren Seine Majestät Dich stets würdigen, nicht anders
zu erwarten war.
Ansonsten hat sich die durch die Allerhöchste Resolution vom
15. ds. M. gekennzeichnete Situation nicht geändert.
Seine Majestät wünschen sehr, daß Du mit dem M. d. Ä. Graf
Ährenthal in direkte Berührung treten mögest. Ich weiß, daß Dir dieses
nicht leicht fälU, glaube aber doch, daß Du nie zögerst, wenn es gilt,
höheren Zwecken dienlich zu sein.
Ich muß mich leider kurz fassen, da mich die eben erhaltene Nach-
richt von der schweren Erkrankung meiner alten, alleinstehenden und in
Lussin Grande lebenden Schwester höchst aufgeregt und vor die Möglich-
keit einer notwendigen raschen Abreise nach Lussin gestellt hat.
Treffe ich dazu auch die Vorbereitung, so möchte ich Dir, hoch-
geehrter Freund, für alle Fälle vorher doch noch geschrieben haben.
In wahrer Hochschätzung und aufrichtigster Gesinnung mit herz-
lichen Grüßen ^ .
Dem ergebenster du r> a i u
^ Bolfras, G. d. I."
121
Ich sah in den Ministern eine undurchdringliche Wand, die zwischen
meinen Anträgen und den Vertretungskörpern (Parlament und Delegation)
aufgerichtet war, hatte aber die Überzeugung, daß, wenn es mir möglich
sein würde, vor Angehörigen der Vertretungskörpei meine Forderungen
zu begründen, diese Verständnis und Berücksichtigung finden würden.
Ich trachtete daher, diese Möglichkeit herbeizuführen und richtete hiezu
folgendes Schreiben an Exzellenz Bolfras, von dem ich wußte, daß er
sich in nie erlahmender Bereitwilligkeit in den Dienst der großen Sache
stellte:
„Wien, am 27. Feber 1911.
Euer Exzellenz!
Ich bitte E. E. meinen ganz ergebensten Dank für das letzte gütige
Schreiben und vor allem auch die Versicherung meines Bedauerns ent-
gegenzunehmen darüber, daß E. E. auch noch mit Sorge für das Wohl
E. E. Schwester bedrückt sind.
Gestatten E E., daß ich wieder auf die mich unablässig beschäfti-
genden Fragen der Ausgestaltung der Landmacht und damit auf das
Zugeständnis zurückkomme, meine Anträge vor den berufenen staat-
lichen Funktionären vertreten zu dürfen.
Ich erlaube mir nun daran die Bitte zu knüpfen. Deinen großen
Einfluß dahin geltend machen zu wollen, daß zu dieser Sitzung nicht
nur die Minister, sondern wenn möglich auch Vertreter der Dele-
gationen beigezogen werden, denn ich halte dafür, daß es in einer
so schwerwiegenden Frage darauf ankommt, allen Berufenen reinen Wein
einzuschenken.
Ich bin nach wie vor bereit, meine Position einzusetzen und wenn
nötig auch zu opfern, um der Sache zu dienen.
Ich will kein Mitschuldiger an dieser schweren Schädigung unserer
militärischen Machtstellung werden
Ich bitte E. E. erneuert den Ausdruck meiner ganz besonderen Hoch-
verehrung und Dankbarkeit entgegen zu nehmen, mit der ich stets bin
Euer Exzellenz ergebenster
Conrad, G. d. I."
Das nachstehende am 2. März 1911 erhaltene Schreiben setzte mich
von dem abschlägigen Bescheid auf diese Bitte in Kenntnis:
„Budapest, 1. März 1911.
Hochverehrter Freund!
Mit verbindlichstem Dank Dein vielgeschätztes Schreiben vom 27. v. M.
bestätigend, darf ich mich bezüglich Deines Wunsches, >vor den
122
staatlichen Faktoren plädieren zu dürfen«, auf meine gleichzeitig abgesen-
dete dienstliche Note berufen.
Deiner Anregung zur Beiziehung von Vertretern der Delegationen
konnte keine Folge gegeben werden
Es erübrigt mir noch, Dir für Deine freundliche Teilnahme an
meinen persönlichen Sorgen, die inzwischen einiger Beruhigung weichen
durften, vielmals zu danken.
In wahrer Verehrung bin ich mit herzlichsten Grüßen
Dein ergebenster
Bolfras, G. d. I."
Am selben Tag — 2. März 1911 — erhielt ich den Allerhöchsten
Befehl, mich Samstag, den 4. März, um 11 Uhr vormittags bei Seiner
Majestät in Audienz und Sonntag, den 5. März, um 9.30 Uhr vormittags
bei Graf Ährenthal einzufinden, der damit betraut war, die Versammlung
jener „kompetenten staatlichen" Funktionäre Sonntag, den
5. März zu veranstalten, denen ich die in meinem untertänigsten Vortrag
entwickelten militärischen Anträge des näheren darzulegen wünschte.
Ich reiste demgemäß Freitag den 3. März von Wien nach Budapest ab.
In der Audienz am 4. März 1911 teilte mir Seine Majestät nach
Abwicklung von Fragen des laufenden Dienstes mit, daß er mir die
erbetene Gelegenheit geschaffen habe, meine Anträge in einer Ministerrats-
Sitzung zu vertreten.
Diese Sitzung fand am 5. März 1911 vormittags in der Ofner Burg
statt. Ihr beigezogen waren:
Der Minister des Äußern Graf Ährenthal als Vorsitzender, der
k. k. Ministerpräsident Baron Bienerth, der k. ung. Ministerpräsident
Graf Khuen-Hedervary, der Reichs-Kriegsminister Baron Schönaich, der
k. k. Minister für Landes-Verteidigung Baron Georgi, der k. ung. Minister
für Landesverteidigung Baron Hazai und ich.
Nach den die Sitzung eröffnenden einleitenden Worten des Vor-
sitzenden begann ich meine Ausführungen:
„Ich weiß, daß das Ganze ein Schlag ins Wasser ist, da meine Aus-
führungen post festum kommen.
Seine Majestät hat aber Allerhöchst verfügt, daß ich meine Anträge
vor den kompetenten staatUchen Funktionären des näheren darzulegen
habe und ich komme hiemit diesem Allerhöchsten Befehle nach."
Ich habe hierauf gleich einleitend hervorgehoben, daß die jetzt
bewiUigten und auf fünf Jahre verteilten 200 Millionen Kronen für die
Deckung selbst der dringendsten Maßnahmen weitaus nicht hinreichen,
123
daß vielmehr der Betrag von 250 Millionen Kronen als das Minimum
bezeichnet werden muß, um den unabweislichsten Forderungen für den Aus-
bau des Heeres und für die Reichsbefestigung gerecht werden zu können.
Danach charakterisierte ich kurz die Stellung und die Pflichten des
Chefs des Generalstabes wie folgt:
„Er ist im Kriege das erste Organ des Armee-Oberkommandanten,
daraus ergibt sich seine Verantwortung gegenüber Seiner Majestät und
dem Armee-Oberkommandanten.
Dem Chef des Generalstabes obliegen die konkreten Kriegsvor-
bereitungen, hiebei kommt es nicht auf die Kriegs Wahrscheinlich-
keit, sondern nur darauf an, ob ein bestimmter Krieg möglich oder
nicht möglich ist,
Ist er möglich, dann muß hiefür alles vorgesehen werden.
Diese Sorge liegt aber bei der geographischen Lage der Monarchie
für mehrere Kriegsfälle vor und ist daher sehr schwer, weil je nach dem
Charakter des Kriegsschauplatzes verschieden. Es liegt auf der Hand,
daß das russische Flachland, die italienische Tiefebene mit ihren Kulturen,
der Karst im Südosten, das Hochgebirge Tirols verschiedene Forderungen
stellen.
Bei Bearbeitung der konkreten Kriegsvorbereitungen — also der
Fragen, wo und wie die Armee versammelt wird, wie sie operativ ver-
wendet werden soll, wie der Verlauf der Operationen möglicherweise
werden kann — kommt man darauf, was beschafft werden muß, und
zwar, was schon im Frieden beschafft werden muß, was während der
Mobilisierung beschafft werden l^ann und was eventuell während des
Krieges noch beschafft werden könnte.
Der Chef des Generalstabes leitet aus diesen Arbeiten die Forderun-
gen, z. B. bezüglich Munition, schwerer Artillerie, Befestigungen, Eisen-
bahnen, Kriegsbrücken-Equipagen, Getirgs-, Sanitäts- und Train-Aus-
rüstung etc. ab, kann aber seine Forderungen nirgends persönlich ver-
treten, wie etwa der Marinekommandant, als Experte im Ministerrat
oder vor den Delegationen.
Entweder vertraut man dem Chef des Generalstabes, oder man lasse
ihn wenigstens seme Anträge eingehend motivieren.
Letzteres fand nicht statt, sondern wurde nunmehr erst nachträglich
verfügt.
Die Motivierung der Anträge bedingt die Berührung operativer
Fragen, also der strengsten Geheimnisse."
Hierauf trug ich die Genesis der Lage seit Herbst 1906 (Antritt
meiner Stellung) vor und kündigte an, jene Mehrforderungen zu
detaillieren und zu begründen, die ich für mindestens nötig erachte.
124
Ich führte aus, daß im Herbst 1906 großenteils infolge inner-
politischer Zustände (besonders der Verhältnisse in Ungarn) die Heeresr
entwicklung sich in Stagnation befand, große Rückständigkeiten aufwies
und weit hinter den Nachbarstaaten zurückgebheben war.
Um nun nicht gänzlich zurückzubleiben und um die schreiendsten
Rückständigkeiten und Mängel zu beheben, mußte zu Notbehelfen
geschritten werden, dies auf Kosten der ohnehin unzureichenden Stände
der Infanterie.
Nut die k. k. Landwehr erhielt 1Q08 eine Erhöhung um 4200
Rekruten für Gebirgstruppen und Landwehr-Haubitz-Divisionen.
Die konkreten Kriegsvorbereitungsstudien für die verschiedenen
möglichen Kriegsfälle führten im Frühjahr 1908 zu von mir gestellten
Anträgen für die dringendsten Erfordernisse des Heeres und der beiden
Landwehren.
Sie waren:
Personelle für Neuaufstellungen (Maschinengewehr-Abteilun-
gen, Gebirgsartillerie etc.), die aber nur auf Kosten der Infanterie gedeckt
wurden, und
finanzielle, nämlich ein besonderer Rüstungskredit.
Untei dem Eindruck der Annexionskrise wurde ein Rüstungskredit
von 180 Milhonen Kronen gewährt, damit wurden im Sommer 1908 bis
Frühjahr 1909 allerdringendste Mängel gedeckt, und zwar:
Die Schnellfeuerkanonen beschleunigt ausgegeben,
die Maschinengewehr-Abteilungen vermehrt,
die dringendsten Gebirgsartillerie-Formationen geschaffen,
die Munitionsvorräte erhöht,
die technische Ausrüstung teilweise vermehrt,
die Gebirgsausrüstungs-Vorsorgen erhöht,
die bedrohten festen Plätze dringendst ausgestaltet.
Etwa 41% Millionen gingen auf Bereitstellung (d. i. Annahme der
Kriegsstände) im Annexionsgebiet auf.
Diese mihtärische Maßnahme sicherte den politischen Erfolg und
das Prestige. Es erübrigten aber nurmehr 138^4 (180 minus 41%)
Millionen Kronen.
Die Realisierung obiger Maßnahme dauerte aber vom Herbst 1908
bis Frühjahr 1909, dies war jedoch den so wenig kriegsbereiten Gegnern
vis-ä-vis möglich, darauf ist nie wieder zu rechnen.
Alle möglichen Gegner arbeiten seither rüstig. Bei uns dagegen
mußte auf weitere Notbehelfe gegriffen werden So mußten z. B. die
vierten Bataillone der Infanterie-Regimenter verminderten Stand annehmen
125
(mein Antrag, zur Gewinnung von Mannschaften für Wiclitigeres die
Tamboure abzuschaffen, war nicht akzeptiert worden).
Ebenso rückständig wie das Landheer wai die Marine.
Während abei der Mannekonimandant*) luj Tat schritt, erfolgte
für das Heer ledigücb die Feststellung des Notwendigen in drei
Richtungen :
I. Personell (Wehrgesetz),
II. Reichsbefestigung,
III. Materielle (technische) Ausgestaltung.
Ad 1 betrafen die Entwiirfe des Kriegsministeriums zwei
Varianten:
a) Auf Grund des neuen Wenrgesetzes mit zwei jähriger Dienstzeit,
b) mit erhöhtem Rekruten-Kcntmgent bei drei jähriger Dienstzeit;
das Ziel war intensivere Entwicklung durch:
Standessanierung,
Ausbau der Landwehr durch Artillerie,
geringe Vermehrung der Pestungsartillerie,
geringe Vermehrung der schweren Feldartillerie,
geringe Vermehrung der Gebirgsartillerie,
Vermehrung dei Verkehrstruppen
endhch für die Variante mit zweijähriger Dienstzeit:
Unteroffiziere und Ausbildungsmittel.
Die Kosten waren wie tolgt berechnet :
I. Personell (auf 10 Jahre verteilt):
für Variante a) (zweijährige Dienstzeit):
überhaupt Bauten etc.**) Summe Mill.
fortlaufend ... 67 523^ = 119 rund 120
einmalige . . . SH/s 118V4 = 199 rund 200
für Variante b) (dreijährige Dienstzeit):
überhaupt Bauten etc. Summe
fortlaufende .... 51 39 90 Millionen
einmalige 50 V2 391/2 90 „
II. Reichsbefestigung nach meinem Minimal-Programm
155 Millionen (auf zehn Jahre verteilt).
III. Dringende materielle Ausgestaltung imd dringendste Befesti-
gungen
*) Graf Montecuccoli.
**) Hauptsächlich Kasembauten für erhöhte Stände und Neu-
formationen.
126
nach meinem Antrag vom November IQIO an das Reichskriegs-
ministerium und beide Landesverteidigungs-Ministerien:
260 Millionen, hievon 36 Millionen für die Reichsbefestigung,
124 Miüionen für sonstige Anschaffungen.
Dazu kommen:
IV. In absehbarer Zeit noch 200 Millionen für neue Infanterie-
bewaffnung, die man nicht von der Hand wird weisen können,
wenn sie jetzt auch noch nicht in den ziffernmäßigen Kalkül gezogen zu
werden braucht.
Endlich sind zu nennen:
Die Marineforderungen: 312 Millionen für die nächsten fünf Jahre.
So war die Sachlage Ende November 1910, so weit
sie mir dienstlich bekannt war
Von dem weiteren Schicksal der Anträge wurde ich nicht verständigt.
Dies muß ich hervorheben, damit man mir nicht den Vorwurf mache, ich
hätte mich nicht zeitgerecht gerührt
Am 20. November 1910 — wenige Tage vor Einlangen meines
früher angeführten Antrages III (auf 260 Milhonen) — fand ein Minister-
rat statt (dem ich nicht beigezogen war), dessen Ergebnis folgende Fest-
setzung für die nächsten fünf Jahre war;
312 Millionen einmalige Auslagen für die Marine,
100 Millionen einmalige Auslagen für das Heer,
100 Millionen Steigerung des Ordinariums.
Meine Anträge wurden im Kriegsministerium nur berechnet, ich
wurde vom Ministerratsergebnis und vom Schicksal meiner Anträge
nicht verständigt.
Erst am 6 Jänner 1911 erhielt ich durch einen a. u. Vortrag
des Reichskriegsministers Kenntnis von den Abmachungen im Minister-
rat und davon, daß das Kriegsministerium erst jetzt, knapp vor
den Delegationssitzungen, die Entscheidung über einen Rüstungs-
kredit bei Seiner Majestät erbat, sich dabei aber ausdrücklich gegen
die Anforderung dieses Kredites aussprach.
Da hieraus ersichtlich war, daß mit diesen Mitteln für die drei
Ziele, nämlich:
1. Wehrreform mit zweijähriger Dienstzeit,
II. Reichsbefestigung,
III. materielle Ausgestaltung,
kaum das erste Ziel (I) erreichbar ist, legte ich dem Reichs- Kriegs- Mini-
sterialantrag eine Bemerkung bei mit der Bitte, den Ausbau- und
Finanzplan auf den ganzen Bedarf festzulegen, und
zwar:
127
100 Millionen Ordinarium
für die Wehrreform,
100
Extraordinarium j
119
Reichsbefestigung (155 minus 36),
260
materielle Ausgestaltung,
200
Infanterie-Neubewaffnung,
312
Marineforderung.
1091 Milhonen, also rund eine Milliarde Kronen.
Trotzdem ging der a. u. Vortrag des Reichs-Kriegsministers am
27. Jänner 1911 an Seine Majestät ab; die Allerhöchste Resolution vom
2. Feber 1911 entschied, daß vom Rüstungskredit abzusehen sei
Ich erhielt davon keine Kenntnis, sondern las erst am 5 Feber 1911
in den Zeitungen, daß der Reichskriegsministei in der Rede vom
4. Feber 1911 vor dem Heeresausschuß der Delegation nur die Abmachun-
gen des Ministerrates darlegte, dabei aber schon die zweijährige Dienst-
zeit programmatisch besprach
Die Situation wai daher:
1. Die zweijährige Dienstzeit war preisgegeben, dagegen waren für
die Wehrreform nur reduzierte Mittel gefordert;
2. für die Reichsbefestigung waren nur minimale, ganz unzulängHche
Mittel eingestellt;
3. für die materielle Ausgestaltung nur minimale Mittel angesprochen,
und zwar für die Posten 2 und 3 zusammen etwa 47 Millionen Kronen
für fünf Jahre;
femer war:
4. die Heeresverwaltung bis 1915 den Regierungen gegenüber
gebunden, keine Neuforderungen zu stellen, keine Budget-Überschreitung
eintreten zu lassen.
Am 6. Feber 1911 brachte ich Seiner Majestät hierüber mündUch
meine schweren Bedenken vor.
Am 14. Febei 1911 unterbreitete ich in Budapest Seiner Majestät
eine diesbezüghche Denkschrift vom 13 Feber, erläuterte in eineinhalb-
stündiger Audienz die einzelnen Posten und bat um meine Enthebung
von meinem Dienstposten*).
Seine Majestät schlug diese Bitte ab.
Am 16 Feber 1911 traf die schriftliche Allerhöchste Resolution ein,
daß meiner Bitte nicht willfahrt, mir aber Gelegenheit gegeben wird, vor
berufenen staatHchen Faktoren meine Anträge darzulegen."
*) Anhang, Anlage 1 gibt einen in der Militärkanzlei verfaßten Aus-
zug aus dieser Denkschrift.
128
Nach dieser Schilderung des Verlaufes der schwebenden Frage
begründete ich nunmehr unter Darlegung konkreter operativer Gesichts-
punkte und an Hand von Skizzen die Notwendigkeit meiner Forderungen
bezüglich: permanenter Befestigungen, Anschaffung, Nachschaffung und
Deponierung von Munition, üebirgsausrüstung technischer Vorsorgen,
Verkehrswesen, Sanilätsvorsorgen, Trainformation, feldmäßiger Befesti-
gungen. Ausbau des Straßen und Wegnetzes.
Auf Eisenbahnen, Telegraphen- und Telephonlinien wurde nicht
weiter eingegangen, nachdem die Kosten hiefür nicht das Kriegsbudget
belasten und auch kein Eisenbahn-, beziehungsweise Handelsminister
anwesend war.
Ich las nun aus der „Übersicht der Forderung von
260 Millionen als Minimum" die beiläufigen Kosten der von
mir als unbedingt notwendig erachteten Forderungen nach den einzelnen
Titeln vor und stellte die im Extraordinarium pro 1911 dafür aus-
geworfenen Beträge zum Vergleich.
Die betreffenden Daten erörterte ich an folgenden Tabellen:
I. Übersicht der Forderungen von 260 Millionen Kronen als Minimum.
Nr Titel
Beiläufige
Kosten in Mill
Davon im
Extiaordinarium
pro 1911
1.
2.
3.
4.
5
6
7.
8.
9.
10.
11.
Infanteriemunition, Artilleriematerial,
Artilleriemunition
Gebirgsausrüstung
Technische Vorsorgen
Verkehrswesen
Sanitätsvorsorgen
Trainformationen
Permanente Befestigungen ....
Feldmäßige Befestigungen ....
Eisenbahnen
Ausbau des Straßen- und Wegnetzes
Telegraphen- und Telephonlinien
173
3'5
13*8
137
n
13
36-5
5*3
0*07
38
0035
05
005
6
Summe in Millionen . .
259-97
10*385
E s f e h 1 e n daher: 259-97 minus 10-385 = rund 250Millionen
Kronen.
9, Conrad II
129
IL Tatsächlich für die nächsten fünf Jahre angefordert:
Ordinarium,
Extraordinarium,
d. i. fortlaufende Ausgaben:
d. i. einmalige Ausgabe:
1911 27-3
20
1912 20-2
19
1913 17-5
19
1914 15-5
19
1915 .12
19
zusammen . . . 92-5
96 Millionen Kronen.
Von den Ausgaben 1911 dient noch nichts für die Wehrreform,
sondern nur zur Sanierung des Budgets. Auch von den einmaligen
Ausgaben (1911) dienen nur 10-385 Millionen meinem Antrag;
es bleiben daher (1912, 1913, 1914, 1915):
Fortlaufende Ausgaben Emmalige Ausgaben
65-2 Millionen. . 76 Millionen.
Davon entfallen:
auf die zweijährige Dienstzeit 44-1 „ ... 38-5 „
daher erübrigen. . . 2M Millionen. . . 37-5 Millionen.
Diese 21 -1 Millionen gehen in der Praxis auf Preissteigerungen,
Pensionen, Sanierung des Budgets auf.
Verfügbar bleiben daher für meinen Antrag und für die Reichs-
befestigung nur 37-5 -f- 10-4 = 47-9 Millionen;
erforderlich aber sind
laut Antrag .... 260 Millionen (worin bereits 36 für Reichs-
befestigung)
für Reichsbefestigung . 119 Millionen (nämlich 155 weniger obigen 36)
Summe: 379 Millionen.
Es fehlen daher: 331 Millionen.
Dazu kommt, daß die Fordenmgen für die zweijährige Dienst-
zeit zu gering bemessen sind, weil speziell die Auslagen für Unter-
offiziere und Übungsplätze reduziert wurden, daß die Sanierungs-
aktion 1911 noch nicht beendet ist, so daß auch noch die 2M Millionen
hiezu verwendet werden müssen; daß auch nach 1915 die Erlangung
größerer Budgetposten erschwert ist, weil diese Budgets mit 21-7 Mil-
lionen an fortlaufenden und 36-4 Millionen an einmahgen Ausgaben
belastet sind.
130
III. Tempo einzelner wichtiger Maßnahmen nach dem Budget von 1911,
Maßnahmen, Beschaffungen
Oesamt-
erfordernis
Davon pro
1911
Gibt Verteilung
auf jähre
m
Reichsbefestigung
155
6
26
Handfeuerwaffen, aber nur Mod.
1895 und Klappbajonette*)
335
OB
40
Karabiner, Munitions-Vorräte
095 0'035
27
Spreng- und Zündmittel -Ver-
mehrung
0'85
005
17
An Hand letzterer Tabelle zeigte ich, wie sich das Tempo einzehier
wichtiger Maßnahmen auf Grund des Budgets vom Jahre 1911 ergeben
würde. Darnach hätte sich die Reichsbefestiguiig auf 26 Jahre, d. i. bis
1937, hinausgezogen, eine Zeit, in der, ganz abgesehen von früheren
Kriegsmöglichkeiten, vieles wieder veraltet wäre. Die Gewehr-
beschaffung hätte sich auf 40 Jahre, also bis 1951 erstreckt.
Ich setzte fort: „Daraus geht zweifellos hervor, daß mit den
bewilligten Mitteln nur der allerkleinste Teil der als unbedingt not-
wendig erachteten Forderungen realisiert werden kann; es fehlen von
den angeforderten 260 Millionen pro 191 1 rund 250 Millionen,
beziehungsweise von den zur Realisierung meiner Anträge erforderlichen
379 Millionen bis 1916: 331 Millionen Kronen.
Die gegenwärtige Lage ist also die, daß die Kriegsmarine
ihre volle Forderung erhielt, d. i. bis 1915: 312 Millionen und daß sie
weitere Forderungen nach 1915 angekündigt hat, was von den Dele-
gationen widerspruchslos akzeptiert wurde;
daß beün Heer bis 1915 eine Steigerung des Ordinarium.s um
100 Millionen und des Extraordinariums um 100 Millionen ver-
sprochen, aber nicht bewilligt ist.
Denn bewilligt ist bloß das Budget für das Jahr 1911 mit einem
Plus von 27 Millionen im Ordinarium und 20 Millionen im Extra-
ordinarium. Diese Beträge zählen aber schon auf obige 200 Millionen,
davon aber nur 10-385 Millionen für materielle Ausgestaltung, Reichs-
befestigung und Wehrreform.
*) Also keine automatischen Gewehre, sondern das bereits
bestehende Modell.
131
Dafür aber ist das Versprechen der zweijährigen Dienstzeit bereits
hinausgegeben und eine budgetäre Bindung bis 1915 eingegangen: keine
Mehrforderungen zu stellen und keine Budgetüberschreitung eintreten
zu lassen
Es fragt sich nun, was meine Ausführungen außer der Begründung
der Notwendigkeit meiner Forderungen im Nachhinein überhaupt für
einen Zweck haben könnten?
Die Antwort wäre; zu retten, was noch zu retten ist, und Wege zu
finden, die dazu einzuschlagen wären.
Solche Wege vermöchten zu sein:
I. Die Berichtigung des offenkundigen M i ß ve rh ä 1 tn i sses
zwischen den für das Heer und den für die Flotte gewidmeten
Mitteln, nämlich 200 Millionen gegen 312.
Gewiß ist die Entwicklung der Marine, der Ausbau einer tüchtigen,
starken Flotte nur zu begrüßen, sie ist auch in Friedenszeiten zur Ver-
tretung der Monarchie im Auslande und zur Hebung und Unterstützung
der Handelsinteressen gewiß sehr wichtig.
Dem Ausbau der Flotte kann aber nur unter der Voraussetzung
zugestimmt werden, daß für die Landmacht genügend gesorgt
wird.
Österreich-Ungarn ist ein kontinentaler Staat; in einem Kriege liegt
für uns die Entscheidung auf dem Lande. Dort entscheiden sich
also die Schicksale der Monarchie.
Der schönste Seesieg vermag nicht eine Niederlage zu Lande aus-
zugleichen.
Praktisch könnte wohl nur eine Verschiebung des Marin eprogram-
mes der Zeit nach hinsichtUch eines der vier Dreadnoughts in Frage
kommen, da deren zwei an das Stabilimento in Triest und einer an die
Danubius-Werfte in Fiume bereits fix vergeben sind, und an der Zahl
der zu erbauenden kleinen Einheiten (Kreuzer, Torpedo- und Untersee-
Boote) wohl keine Reduktion rätlich erschiene.
Durch diese Maßnahme würde gerade in der für die Ausgestaltung
der Landmacht allerdrmglichsten Zeit bis 1915 ein Betrag von zirka
60 Millionen Kronen einmaliger Auslagen verfügbar werden, die für
die allernotwendigsten Forderungen der Landmacht, ein-
schließlich der Reichsbefestigung, verwendet werden könnten. Freilich
wird dieser Ausweg viele Gegner haben.
IL Ein zweiter VC eg wäre die Zurückstellung der zwei-
jährigen Dienstzeit unter Beibehaltung der dreijährigen,
jedoch mit erhöhtem Rekruten-Kontingent Die dabei ersparten Mittel
könnten für die materielle Ausgestaltung und die Reichsbefestigung ver-
132
wendet werden. Dieser Ausweg ist aber höchst bedenklich Er ist ein
zweischneidiges Schwert, denn er verzögert eventuell das neue Wehr-
gesetz. Damit blieben die elenden Standesverhäitnisse fortbestehen und
die Unmöglichkeit, die dringenden Neuformationen zu bewirken, als:
Festungsartillerie, Eisenbahnregiment, Telegrapheniegiment, Gebirgs-
artillerie, schwere Haubitzdivisionen, Landwehrartillerie.
Unter Umständen könnte sich sogar die Gefahr ergeben, die von
den Delegationen schon in Aussicht gestellten, wenn auch unzureichen-
den Mittel künftig gar nicht zu erhalten.
III. Ein dritter Ausweg wäre eine Umgruppierung inner-
halb der bewilligten Budgets, bei Ausschaltung momentan
minder dringlicher Schaffungen und Konzentrierung auf das Wichtigste.
IV. Die rationellste Lösung wäre die Anforderung eines außer-
ordentlichen Rüstungskredites bei offener Einbekennung der Lage.
V. Endlich könnte die Schaffung eines tait accompli in Betracht
kommen, wie es der Marinekommandant getan hat.
Eine Sache, die unbedingt notwendig erscheint, ist: jetzt schon
alles anzubahnen für die Zeit nach 1915, also klarzulegen, was man
brauchen wird
Die Monarchie hat in der Regel die Bedürfnisse ihrer Wehrmacht
immer erst nach einem verlorenen Feldzug befriedigt, so 1859 hinsicht-
lich der Geschütze, 1866 hinsichtlich der Gewehre; man sollte doch
daraus lernen und einmal die Mittel, welche die Grundbedingungen des
Erfolges bilden, vorher geben."
Schließlich las ich einige Stellen aus den Memoiren des russischen
Generals Kuropatkin über dessen Amtsführung als Kriegsminister (1898
bis 1904) vor, um das von ihm bekämpfte, schlecht angebrachte Spar-
system jener Zeit in Rußland und die dort herrschenden Verhältnisse zu
charakterisieren. Ich bat aber vorher, mich zu unterbrechen, sobald es
der vorgeschrittenen Zeit wegen notwendig sein würde, meine Aus-
führungen zu beenden.
Als ich nach einiger Zeit von Exzellenz Graf Ährenthal gebeten
wurde, abzubrechen, hob ich zum Schlüsse hervor, daß es in Rußland
— nach einer 25-jährigen Anwendung dieses Sparsystemes — 1904 zum
Krieg mit Japan kam, und dieser Krieg dann durchschnittlich 170 Mil-
lionen Kronen monatlich, über lüO 000 Menschenleben, die ganze Flotte,
das Prestige Rußlands etc. kostete und die russische Staatsschuld um
5500 Millionen Kronen wachsen ließ.
Auf die Bemerkung Exzellenz Ahrenthals, daß die Russen nicht nur
wegen ihres Sparsystemes, sondern auch wegen der Art der Krieg-
führung den Krieg verloren haben und daß die Japaner weniger Geld
133
ausgegeben hätten, erwiderte ich, daß letztere vollkommen vorbereitet
den Krieg eröffneten und zu dieser Vorbereitung gewiß auch viel Geld
verwendet haben mußten, daß es im übrigen beim Kriegführen stets so
sei, daß eine der kriegführenden Parteien den kürzeren ziehen muß.
Für den Verlauf der Sitzung gebe ich im nachfolgenden vollinhalt-
lich das Protokoll wieder, weiches nach derselben im Ministerium
des Äußern verfaßt wurde.
Abschrift des Protokolls der Ministerratssitzung in Budapest
am 5. März 1911.
„Der Vorsitzende*) eröfftiet die Konferenz, indem er ein-
leitend bemerkt, er habe dieselbe in Entsprechung eines A.. h. Auftrages
einberufen, laut welchem dem k. u. k. Chef des Generalstabes Gelegenheit
zu bieten sei, seine Anschauungen betreffend jener noch über den
Rahmen der eben von den Delegationen bewilligten Kreditforderungen
hinausgehenden militärischen Maßnahmen darzulegen, welche nach
seiner Auffassung für die Wehrfähigkeit der Monarchie notwendig seien.
Er fügt hinzu, daß die heutige Beratung auf A. h. Wunsch auf
das strengste geheimzuhalten und nach außen als Besprechung über
einzelne mit Wehrreformen in Zusammenhang stehende Fragen zu
bezeichnen sei.
Er ladet somit den k. u. k. Chef des Generalstabes ein, das Wort
zu ergreifen.
(Ausführungen des Chefs des Generalstabes liegen separat bei, sind
im Protokolle wörtlich mit dieser Zusammenstellung gleichlautend.)
[Bezieht sich auf meine bereits dargelegten Ausführungen.]
Der Vorsitzende ersucht nunmehr die beiden Herren Ministerpräsi-
denten, sich zu den Darlegungen des Herrn Chefs des Generalstabes
äußern zu wollen und erteilt dem k. k. Ministerpräsidenten das Wort.
Der k. k. Ministerpräsident**) erklärt, als Nichtfachmann
über die Frage der militärischen Notwendigkeit des angesprochenen
Kredits kein Urteil abgeben zu können, er muß sich daher darauf
beschränken, jene drei Momente anzuführen, welche die Stellungnahme
der österreichischen Regierung zu den militärischen Forderungen
bestimmt haben. Diese Momente seien die folgenden gewesen:
1. Mitteilung des Ministers des Äußern über die äußere Lage.
*) Ährenthal.
'*) Bienerth.
134
2. Die Äußerung des Kriegsministers über das Ausmaß der unum-
gänglich notwendigen Rüstungen, weiche nicht aufgeschoben werden
könnten und
3. das Votum des Finanzministers in Betreff der finanziellen
Leistungsfähigkeit des Staates.
Nach reiflicher Erwägung dieser Momente sei man zum Schlüsse
gekommen, jene Anforderung an die Delegationen zu stellen, welche
diese nunmehr bewilligt haben.
Freiherr von Bienerth verweist sodann auf eine ihm vorliegende
Zusammenstellung der Beträge, welche für militärische Mehranfor-
derungen durch die Beschlüsse der Delegationen in den Jahren 1910 und
1911 bewilligt, bezw. im Sinne des der Delegation bekanntgegebenen
Programmes für den Zeitraum bis 1916 in Aussicht genommen sind;
es sind dies 1100 Millionen Kronen, wobei die Erfordernisse der beiden
Landwehren nicht in Betracht gezogen sind; letztere werden nach dem
für die Ausgestaltung der k. k. Landwehr aufgestellten Programm,
auf den entsprechenden Zeitraum verteilt, rund 100 Millionen Kronen
betragen, eine Ziffer, die wohl auch für die k. ung. Landwehr in
Anspruch genommen werden dürfte.
(Der k. ung. Landesverteidigungs-Minister*) bemerkt hiezu, daß
die Anforderung für die k. ung. Landwehr noch höher sein dürfte.)
Man dürfe sich daher keiner Täuschung darüber hingeben, daß
es bei aller von den Delegationen bewiesenen Opferwilligkeit die Haupt-
sorge der beiden Regierungen bilden muß, die Mittel für unsere Kriegs-
bereitschaft ohne Schaden für unsere Volkswirtschaft aufzubringen.
Ob es möglich sei, einen der vom Chef des Generalstabes ange-
gebenen Auswege zu betreten, wolle er dahingestellt sein lassen.
Der k. ung. Ministerpräsident**) erklärt, er könne sich
den Ausführungen des k. k. Ministerpräsidenten nur vollkommen
anschließen; es seien Erwägungen politischer und finanzieller Natur
gewesen, welche für die Stellungnahme der beiden Regierungen ent-
scheidend gewesen seien.
In politischer Beziehung sei es wohl bekannt, welche Kämpfe die
Erhöhung der Militärlasten im letzten Dezennium in Ungarn herauf-
beschworen hat und welche Schwierigkeit die Kriegsrüstungen in den
Parlamenten aller Staaten hervorrufen.
Man muß jedoch eingestehen, daß die Delegation eine weitgehende
Opferwilligkeit an den Tag gelegt hat, indem sie so bedeutende Summen
*) Hazai.
**) Khuen.
135
zur Verfügung gestellt hat. Diese Bereitwilligkeit war darauf zurück-
zuführen, daß die berufenen Vertretungskörper in ihrem weitaus über-
wiegenden Teil von der Notwendigkeit dieser Opfer durchdrungen waren,
und daß die Regierungen zu erklären in der Lage waren, man habe sich
die Leistungsfähigkeit der Bevölkerung vor Auge gehalten und biete die
Garantie, daß in den nächsten fünf Jahren über diesen Rahmen hmaus
keine Forderungen werden erhoben werden.
Wollte man nun neuerdings über diesen Rahmen hinausgehen,
würde die pohtische Situation hiedurch vollkommen umgeworfen werden;
man würde bemerken, daß die Regierung nicht reell vorgegangen sei
und es würden allenthalben ernste Zweifel auftauchen, ob die
finanzielle Leistungsfähigkeit für solche Forderungen überhaupt aus-
reiche; es würden dadurch eine solche politische Unsicherheit und ein so
tietgehendes Mißtrauen in Ungarn erzeugt werden, daß die k. ung.
Regierung nicht daran denken könne, eine neue Vereinbarung in dieser
Richtung einzugehen. Zudem hat die ungarische Regierung jetzt die
Verabschiedung des neuen Wehrgesetzes vor Augen; diese bilde eine
Hauptsache und ein so wichtiges Ziel, daß dasselbe um keinen Preis
gefährdet werden dürfe; durch zehn Jahre hat der Streit um die
Erhöhung des Rekrutenkontingents sozusagen ein ganzes Kapitel der
politischen Geschichte Ungarns ausgefüllt, nun seien die Verhältnisse
endlich besser geworden, diese dürfe man nicht wieder aufs Spiel setzen.
Er wolle nicht in Zweifel ziehen, daß die in Rede stehenden Forderungen
vom militärischen Standpunkte berechtigt seien und daß die Zeit viel-
leicht kommen wird, wo wir an ihre Realisierung schreiten könnten und
müßten. Im gegenwärtigen Augenblicke stehen dem aber ganz spezielle
Momente politischer, finanzieller und wirtschaftlicher Natur entgegen.
Denn ganz abgesehen von der Durchführung der Wehrreform sei man
finanziell an der Grenze der Möglichkeit angelangt und es muß erst
eine weitere Stärkung der heimischen Volkswirtschaft abgewartet werden,
bis die finanzielle Kraft des Landes neben der noch in Aussicht stehen-
den Ausgestaltung der Landwehr weitere militärische Lasten ertragen
könnte Im jetzigen Budget findet sich für weitere Auslagen keine
Deckung, da die zukünftige Entwicklung desselben schon für die
Befriedigung der gegenwärtigen Anforderung ausgenützt sei.
Die Regierung würde demnach des Leichtsinnes geziehen werden
können, wenn sie nunmehr die Steuerkraft des Landes in einer Weise
anspannen würde, welche die bereits im vorhinein in Anspruch genom-
mene zukünftige Entwicklung der Volkswirtschaft unterbinden würde.
Aber auch die vom Herrn Chef des Generalstabes angeregten Aus-
wege aus der gegenwärtigen Situation seien geeignet, die schwersten
136
Bedenken einzuflößen, wenn die Kredite für eben erst als unumgänglich
notwendig bezeichnete Anschaffungen anderen Zwecken zugewendet
würden; es würde sich die Regierung bloß einer berechtigten Kritik und
dem Vorwurfe unzureichender Überlegung aussetzen, ohne daß hiemit
das Ziel, welches Seiner Exzellenz vorschwebt, voll erreicht würde.
Es sei ganz klar, daß wir die vom Chel des Generalstabes
angeführten Forderungen nicht erst in 20 oder 40 jähren auf Basis
der Ansätze des gegenwärtigen Budgets verwirklichen werden; es sei
durchaus nicht gesagt, daß wir diese Ertordernisse auf so lange Zeit
h mausschieben wollen, doch müßten wir uns für die Gegenwart m den
Grenzen der ^lögllchkelt halten.
Der Vorsitzende stellt nunmehr die Frage, ob noch jemand das
Wort zu ergreifen beabsichtigt
Der Reichskriegsminister*) bemerkt, daß er nicht in der
Lage sei, sich an der Diskussion zu beteiligen, daß er nicht als Richter
in der eigenen Sache auftreten könne; immerhin muß er mit Befriedigung
konstatieren, daß der Herr Chef des Generalstabes im Verlaufe seiner
Darlegung selbst zugegeben hat, daß die Schiagtertigkeit unserer Wehr-
macht durch die getronenen Maßnahmen wesentlich erhöht worden sei.
Der k. k. Minister für Landesverteidigung**) bemerkt
zu den von dem k k. Ministerpräsidenten angeführten, auf die Aus-
gestaltung der k. k. Landwehr bezüglichen Ziffern, daß diese nur als
approximative zu betrachten seien.
Der k ung. Landesverteidigungs-Minister erklärt,
daß er sich zu keiner Bemerkung veranlaßt sehe.
Der Vorsitzende hebt hervor, daß er als Minister des Äußern,
soweit es von ihm abhängt, selbstverständlich für die Ausgestaltung der
Wehrkraft eingetreten sei, daß er sich aber den von beiden Herren
Ministerpräsidenten abgegebenen Erklärungen nur vollinhaltlich
anschließen könne.
Er teilt vollkommen die Ansicht, daß die neuerliche Anforderung
von 260 MilUonen Kronen, nachdem die Delegation eben so namhafte
Beträge für Rüstungszwecke bewilligt hat, eine schwere innerpolitische
Perturbation hervorrufen würde
Aber auch vom Standpunkte der auswärtigen Politik würde er ein
solches Vorgehen für sehr bedenklich halten. Es sei zweifellos, daß
durch die von den Delegationen votierten bedeutenden Mittel unsere
Stellung in Europa gehoben und unser Ansehen wesentlich erhöht
*) Schönaich.
**) Georgi.
137
worden sei, so daß wir nun mit größter Sicherheit und Festigkeit für
die von uns verfolgten friedlichen Ziele eintreten können.
Die Monarchie hegt keine Aspirationen über ihren gegenwärtigen
Besitz hinaus, und er fasse die von ihm im Auftrage Seiner Majestät und
unter Zustimmung der beiden Ministerpräsidenten geführte äußere
Politik dahin auf, daß wir bei etwa eintretenden Verwicklungen nicht
sofort aktiv hervorzutreten hätten, sondern die Dinge sich vorerst ent-
wickeln lassen und erst dann eingreifen sollen, wann und wie es die
Interessen der Monarchie erheischen.
Unsere Politik weist demnach einen erhaltenden Charakter auf, dem
wir auch bei Ergreifung außerordentlicher militärischer Maßnahmen
Rechnung tragen müssen.
Wenn wir nunmehr einen neuen Rüstungskredit anfordern würden,
würde man uns aggressive Absichten zuschieben, was dem von Seiner
Majestät hinsichtlich der Führung der äußeren Politik der Monarchie
erhaltenen Auftrag diametral entgegengesetzt wäre Überdies würden
wir durch die rasch aufeinander folgende Einstellung solcher Summen
unsere Nachbarn noch zur Steigerung ihrer Rüstungen ermuntern.
Auch möchte ich noch hervorheben, daß aus den lichtvollen Dar-
stellungen des Herrn Chefs des Geneialstabes zu entnehmen sei, daß
bereits heute eine wesentliche Steigerung unserer Kriegsbereitschaft
konstatiert werden konnte, daß aber die Kriegsverwaltung sich darauf
beschränkt hat, dasjenige zu beanspruchen, was sie für das Dringendste
und Notwendigste gehalten hat. Übrigens steht es der Heeresverwaltung
frei, dort, wo dies erforderlich erschiene, ein Virement eintreten zu lassen.
Zum Schlüsse will er dem Chef des Generalstabes im Namen aller
Anwesenden den Dank für seine so eingehenden und interessanten Dar-
legungen aussprechen. Die Teilnehmer an der heutigen Beratung seien
überzeugt, daß Seine Exzellenz es für seine Pflicht gehalten hat, die
maßgebenden Faktoren auf jene Erfordernisse aufmerksam zu machen,
v/elche nach seinem Dafürhalten unumgänglich notwendig sind, doch
wären den Regierungen, wie erwähnt, durch die finanzielle Leistungs-
fähigkeit unüberschreitbare Grenzen gezogen.
Der k. u. k. Chef des Generalstabes betont noch, daß der
Unterschied seiner Stellung gegenüber jener der maßgebenden Faktoren
darin bestehe, daß ihn die volle Verantwortung bei Ausbruch eines
Krieges treffe, während jetzt die Forderungen des Friedens im Vorder-
grund stehen. Seme Forderungen besäßen nicht die gleiche Aktualität,
wodurch er sich in der Nachhand befände. Trotzdem sei es seine Pflicht,
138
sich stets die Eventualität des Krieges vor Augen zu halten und alles
geltend zu machen, was für diesen in Betracht liäme.
Der Vorsitzende erklärt nunmehr die Sitzung für geschlossen.
Ährenthal m. p."
Der Hinweis auf die Argumente, die eine Ablehnung meiner Mehr-
forderung begründen sollten, wurde seitens Graf Ährenthal nicht ohne
die Geste gereifter Überlegung vorgebracht, wobei er sich durch
Wendungen nach rechts und links die kopfnickende Zustimmung der
beiden Ministerpräsidenten einholte.
Ich überlasse es dem Leser — jetzt, nach den Erfahrungen des
Weltkrieges — zu beurteilen, ob meine Mehrforderung von 260 Mil-
lionen Kronen tatsächlich übertrieben und meine Verwahrung gegen
eine Budgetierung ungerechtfertigt war, die dringende Beschaffungen
(Geschütze, Gewehre, Munition, Befestigungen) teils überhaupt ver-
sagte, teils auf viele Jahre hinauszog und es mit sich brachte, daß die
Armee mit unzulänglicher Bewaffnung in den Weltkrieg trat.
Auch möge sich der Leser fragen, ob diese Folgen nicht schwerer
wogen, als die vom Grafen Ährenthal befürchteten „schweren
innerpolitischen Perturbationen"; ebenso auch, ob die
von mir geforderte, im Vergleich zu den Aufwendungen unserer Feinde
geringfügige Summe seine Behauptung rechtfertigte, „daß dies auch
vom Standpunkt der äußeren Politik ein sehr
bedenkliches Vorgehen war e," daß man uns deshalb
„aggressive Absichten zuschieben v/ürde" und wir
die „Nachbarn zur Steigerung ihrer Rüstungen
ermuntern würden!"
Nun — die Nachbarn haben sich danach sehr wenig gerichtet,
sondern sind zielbewußt und großzügig ihren eigenen Weg
gegangen.
Aber auch auf die Politik des Grafen Ährenthal werfen seine im
Protokoll gegebenen Ausführungen ein grelles Licht. Er meinte die
Politik darauf basieren zu können, daß wir bei etwa eintretenden Ver-
wicklungen nicht sofort aktiv hervorzutreten hätten.
Ganz abgesehen davon, daß auch bei etwa späterem Hervortreten
sich Versäumtes nicht mehr nachholen ließ, fragte es sich doch, wie die
Lage wäre, wenn diese Verwicklungen uns direkt zum Ziele
hätten, die Gegner uns daher nicht die Zeit lassen würden, „die
Dinge sich vorerst entwickeln zu lasse n".
Was dann?
139
Oder glaubte Graf Ährenthal, daß diese Gegner etwa warten
würden, bis ihm der Augenblick gelegen schiene?
Auch der „bloß erhaltende Charakter" der Politik ver-
langte, daß man jenen Gegnern gewachsen sei, deren Ziel eben die
Zerstörung Österreich-Ungarns war.
Über diese Gegner konnte man wohl nicht im Zweifel sein! Oder
sah man es nicht?
Die kurzen Hinweise kennzeichnen die klaffende Differenz zwischen
meinen Anschauungen und jenen des Grafen Ährenthal hinsichtlich der
Situation der Monarchie, eine Differenz, die schließlich zum Bruche
führen mußte.
Wie der Bruch sich vollzog, ergibt sich aus der späteren Dar-
stellung der Vorgänge im Jahre 1911.
Erzherzog Franz Ferdinand hatte die Gepflogenheit, Männer, zu
denen er Vertrauen hatte und deren geistige Qualitäten er schätzte,
an sich heranzuziehen und sie mit wichtigen Verwendungen zu betrauen.
Dies betraf auch Graf Ottokar Czernin, der dieses Vertrauen in
besonderem Maße genoß.
Der Erzherzog, bemüht, die Wehrfrage mit allen Kräften zu
fördern, hatte Graf Czernin — wie mir dieser auch in einem Schreiben
vom 27. Feber 1911 aus Lapad bei Ragusa mitteilte — beauftragt, aus
den verschiedenen fachmännischen Gutachten ein Ganzes zu formen, die
mihtärischen, wirtschafthchen und finanzpoHtischen Fragen zu vereinen.
Hiezu hatte ich ihm auf Weisung des Erzherzogs auch meine diesbezüg-
liche Denkschrift zur Verfügung zu stellen. Ich bat Graf Czernin in
einem Briefe vom 28. März 1911, die Denkschrift persönlich zu über-
nehmen, und sagte zu, sein Elaborat durch verläßliche Kräfte kopieren
zu lassen.
So faßte ich wieder Hoffnung auf eine gedeihliche Wendung in
der so dringenden Wehrfrage, als dieser eine neue Gefahr erstand.
Die Vorgänge im österreichischen Parlament, durch welche die Aus-
gleichsversuche zwischen Deutschen und Tschechen gescheitert und die
Gegensätze nur verschärft wurden, rückten die Auflösung des Hauses
nahe und damit eine weitere Verschleppung der Wehrfrage. In dieser
Sorge richtete ich folgendes Schreiben an Exzellenz Bolfras.
„Wien, 30. März 1911.
Euer Exzellenz!
Ich bitte E. E., mir die nachfolgenden Ausführungen zu gestatten:
Ich menge mich prinzipiell nicht in innerpolitische Fragen. Wenn
aber die seit Jahren stagnierende Heeresentwicklung derart in Frage
140
gestellt erscheint, wie durch die jüngsten Vorgänge im Parlament, so
fühle ich geradezu die Pflicht, meine Orientierung über die Lage zur
Kenntnis der maßgebenden Stellen zu bringen.
Diese Orientierung geht nach Rücksprache mit sehr einsichtsvollen
Politikern dahin, daß es ein Unglück wäre, das jetzige Haus aufzulösen,
sondern daß es darauf ankommt, mit dem jetzigen Haus die vitalsten
militärischen Fragen: als Rekrutenkontingent resp. Wehrgesetz, dann
Budget, resp. Budgetprovisorium, zu lösen, sei es mit einer teiiweisen
Rekonstruktion des Kabinetts oder mit dem § 14.
Die Auflösung des Hauses hätte zur Polge:
1. Daß sie ein Triumph der obstruierenden radikalen Parteien und
eine Niederlage der bereitwilligen, bürgerlichen, loyalen Parteien wäre;
2 daß durch Neuwahlen Elemente ins Haus kämen, die viel
radikaler sind und die von Haus aus den Kampf gegen die Heeres-
auslagen auf ihr Programm nehmen würden;
3. daß unsere dringenden Forderungen, insbesondere Wehrgesetz
mit Rekrutenkontingent, ins Unabsehbare verzögert erschienen;
4. daß die dermalen endlich in Ungarn bestehende günstige Dis-
position nicht ausgenützt würde.
Ich wäre E. E unendlich dankbar, wenn E. E. diese meine
schweren, von der unablässigen Sorge nach endlicher Konsolidierung
unserer desolaten Heeresverhältnisse diktierten Bedenken zur Aller-
höchsten Kenntnis bringen wollten.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner besonderen Hoch Verehrung,
mit der ich stets bin
Euer Exzellenz
gehorsamster
C 0 n r a d, O. d. I."
Ich erhielt hierauf folgende Antwort:
„Wien, 31. März 1911.
Hochgeehrter Freund!
Dein gestriges inhaltsreiches Schreiben kam mir nachmittags nach
3 Uhr zu.
Otschon ich wußte, daß die große Frage bereits entschieden und
das Auf lösungspatent schon mittags dem Ministerpräsidenten zur Ver-
anlassung der heutigen Publizierung zugekommen war, unterbreitete ich
per Portefeuille (nach Schönbrunn) doch noch Seiner Majestät Dein
Schreiben. Es konnte keinen unmittelbaren Effekt mehr haben, wohl
aber die Überzeugung bestärken, daß man je eher wieder ein
141
Abgeordnetenhaus zur Verfügung haben müsse, dem die Wehrvorlage
zukommen könne.
Nach den heutigen Publikationen soll dies im Juni der Fall sein.
Caveant consules!
Ich bedauere doppelt, morgen Deiner lieben Einladung nicht folgen
zu können — wir hätten uns in guter Aussprache gefunden.
Verehrend mit herzlichen Grüßen
Dein ergebenster o i r ^
^ Bolfrasm. p.
Am 30. März 1911 wurde das Abgeordnetenhaus tatsächlich
aufgelöst.
In der großen Sorge, die Wehrvorlage erneuert verzögert und in
gefährliche Bahnen geraten zu sehen, hatte ich mich m An- und Vor-
trägen vom 23. April*) und 5. Mai 1911 abermals an Seine Majestät
gewendet und am 7. Mai folgendes Schreiben an Exzellenz Bolfras
gerichtet.
„Wien, 7. Mai 1911.
Euer Exzellenz!
Auf Grund des gestern in Komeuburg v^ährend der Inspizierung
des Eisenbahnregiments erhaltenen Telegrammes habe ich die
Angelegenheit, über welche ich Semer Majestät a. u. mündlich berichten
wollte, im schriftlichen Wege vorgebracht und dürfte mem diesbezüg-
licher a. u. Vortrag bereits m Händen E. E. sem. Bei der großen
Wichtigkeit der Frage erlaube ich mir nun E. E. zu bitten, die Sache
bei Seiner Majestät besonders zu vertreten.
Ich kann nicht umhm, hervorzuheben, daß mit dem Hingeben auch
der personellen Mittel für das Heer die schw^eren Sünden vermehrt
würden, welche an demselben begangen wurden.
Nachdem in der Sprachenfrage, im militärischen Jugendunterricht
und in sonstigen Belangen an dem einheitlichen Geist gerüttelt wurde,
wurden im Laufe des heurigen Winters hinter meinem Rücken — und
daher mit vorbedachter Ausscheidung meiner Person — die von mir
wohlüberlegt gestellten finanziellen Mindestforderungen nicht nur auf
weit weniger als die Hälfte herabgedrückt, sondern auch auf eine Bindung
für fünf Jahre hinaus eingegangen.
Nachdem dies in den Ministerratssitzungen, zu deren keiner ich
zugezogen wurde, abgemacht war, erschien es als fait accompli in den
Delegationen.
*) Anhang, Anlage 2.
142
Nunmehr erscheint die weitere Gefahr gekommen, daß bei den
Wehrgesctzverhandlungen auch noch hinsichthch der personellen Mittel
durch schrankenlose Nachgiebigkeit hmsichtlich Betreiungen, Einjährig-
Freiwilligenrecht, Reduktion der Wafienübungen und dergleichen Ver-
hältnisse geschaffen werden, weiche den so schreiend dringlich gewor-
denen Ausbau des Heeres gänzlich in Frage stellen.
Wenn derart an Geist, finanziellen und personellen Mitteln weiter
gesündigt wird, besteht die Gefahr, daß die Monarchie hinsichtlich der
militärischen Macht und Schlagfertigkeit von ihren Gegnern weit über-
holt und Katastrophen zugetrieben wird.
Wenn ich auch die abgeschmackte Weise, mit welcher die
cisleithanische Presse den Ministerpräsidenten, der sich doch den
finanziellen Forderungen für das Heer so schroff entgegengestellt hatte,
trotzdem als Anwalt der Armee feiert, weil er statt des Kriegsministers
in der Sprachenfrage im Militärstrafprozeß die deutsche Sprache ver-
trat, nur albern finden kann, so ist es doch ein Symptom der Lage, daß
man in der Publizistik dem Vertreter des Heeres ein Versäumnis hin-
sichtlich der Sorge für das letztere vorwirft.
Es ist meine Überzeugung, daß hinsichtlich der personellen und
hinsichtlich der finanziellen Notwendigkeiten die Interessen der
bewaffneten Macht nicht jene energische Vertretung finden, bezw.
gefunden haben, wie sie von den militärischen Faktoren zu gewärtigen
waren.
Es ist auch meine Überzeugung, daß seitens der nichtmilitärischen
Faktoren die dringende Notwendigkeit der raschesten Ausgestaltung
des Heeres nicht mit jener staatsmännischen Voraussicht erkannt und
in Rücksicht gezogen wurde, wie dies die Lage erheischt.
Es v/ar meine Absicht, Seiner Majestät a. u. m diesem Sinne zu
berichten und Seine Majestät a. u, zu bitten, auf die maßgebenden
Faktoren nachdrücklichst Einfluß nehmen zu wollen, damit sie noch in
elfter Stunde Einkehr halten und der Armee geben, was sie dringend
braucht.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner ganz besonderen Hoch-
^ Eurer Exzellenz gehorsamster
Conrad, G. d. I"
Die am 9. Mai 1911 erhaltene Antwort auf diesen Brief lautete:
„Gödöllö, 8. Mai 1911.
Hochverehrter Freund!
Mit angelegentlichem Danke bestätige ich den Empfang Deines
sehr geschätzten Schreibens vom 7. d. Mts., dessen so ernster Inhalt
143
den Ausführungen entspricht, die in Deinen a. u. Vorträgen vom
23. April und 5. Mai d. J. niedergelegt sind.
Ersterer kann künftigen Forderungen für Heereszwecke dann
richtunggebend sein, wenn bei den maßgebenden beiderseitigen
Ministerien sich vermehrte Bereitwilligkeit, Kredite zu bewilligen, Bahn
gebrochen haben sollte — — ?
Illusionen wird man sich da leider nicht hingeben dürfen.
Der zweite Vortrag kam hieher, als die Wehrvorlage schon die
Allerhöchste Stelle passiert hatte. Der Reichskriegsminister hatte Deine
Bemerkung zum tetreifenden a. u. Vortrage samt seiner Rückäußerung
produziert, so daß Seiner Majestät im Gegenstande nichts entzogen
war. Trotz alledem wurde gestern Dein Vortrag vom 5. d. Mts.
umgehend noch an den Reichskriegsminister geleitet.
Mehr ließ sich wahrlich hier ebensowenig tun, als man „Ver-
gangenes" nicht ungeschehen machen kann.
So sehr ich besorgen muß, daß Dich mein vorstehendes Schreiben
nicht befriedigen wird, so sehr hoffe ich, daß Du nicht zweifelst an
meiner wahren, fest begründeten Hochschätzung und meinem besten
Willen, in meinem Bereiche allem Guten förderlich zu sein. Die
Erfahrungen langer Jahre mußten mich da aber recht bescheiden
machen und darüber tin ich alt, zu alt geworden.
Verehrend grüßt Dich herzlichst Dein ergebenster
B 0 1 f r a s, G. d. I."
Zu diesen Sorgen trat noch jene für den Garnisonswechsel. Er war
zum großen Teil auf operative Forderungen aufgebaut, die den ver-
schiedenen Kriegsmöglichkeiten Rechnung trugen. Es war mir sehr
daran gelegen, daß er unverändert durchgeführt werde. Eine grobe
Indiskretion trachte den Antrag noch vor gefällter Entscheidung in die
Presse, so daß die Gefahr bestand, ihn nun von vielen Seiten bekämpft
zu sehen — aus politischen, lokalen und persönlichen Motiven, die sich
erfahrungsgemäß oft in Form unglaublichster Einflüsse geltend
machten.
Zu dieser Zeit (Juni 1911) auf der Generalsreise befindlich, hatte
ich mich in dieser Angelegenheit an Exzellenz Bolfras und mit folgen-
dem Schreiben an Erzherzog Franz Ferdinand gewendet.
„Malborgeth (Generalsreise), 25. Juni 1911.
Eure Kaiserliche Hoheit!
Ich bitte Eure Kaiserliche Hoheit, es nicht ungnädig aufzunehmen,
wenn ich das vorliegende Schreiben Eurer Kaiserlichen Hoheit ehr-
furchtsvoll unterbreite, aber die mich unablässig beschäftigende Sorge
144
für die Schlagbereitschatt der bewaffneten Macht läßt es mir als Pflicht
erscheinen, Eurer Kaiserlichen Hoheit machtvolle Einflußnahme in
nachstehender Angelegenheit nicht nur rem dienstlich, sondern auch im
Wege des vorliegenden Briefes zu erbitten.
Die erste dieser Angelegenheiten betrifft die Ausgestaltung der
Wehrmacht auf ürund des seinerzeit von mir vorgelegten Entwurfes,
der nur deshalb keine Realisierung findet, weil das Reichskriegsministe-
rium ihn gelegentlich der jüngsten Delegationsverhandlungen nicht ver-
trat, und zwar trotz meiner wiederholten Vorstellung.
Nunmehr sieht sich das Reichskriegsministerium selber bemüssigt,
das Unzulängliche der seinerzeit geforderten Mittel einzugestehen und
einen a. u. Vortrag zu erstatten, m welchem es dringende Mehr-
forderungen stellt
Ich habe diesem Vortrage eine eingehende Bemerkung zugelegt,
welche auch Eurer Kaiserlichen Hoheit zur höchsten Kenntnis gelangen
wird; außerdem unterbreite ich aber Eurer Kaiserlichen Hoheit eine
kurze Zusammenstellung aller dringlichen Forderungen, wobei für
einzelne derselben hervorgehoben erscheint, bis zu welchem endlosen
Zeitpunkt gewartet werden müßte, wenn das vom Reichskriegsministe-
rium dermalen eingehaltene Tempo nicht wesentlich beschleunigt würde.
Außer den Mitteln für die materiellen und fortifikatonschen
Erfordernisse erscheint es aber auch ganz unerläßlich, reichliche
Summen für die Entlohnung jener Unteroffiziere flüssig zu machen,
welche einige Jahre freiwillig über die Präsenz dienen und welche noch
jung und unverbraucht das wertvollste Material für Frontunteroffiziere
bilden, eine Frage, welche nur auf diesem Wege, niemals aber auf jenem
des zwangsweisen Weiterdienens zu lösen sein wird.
Die zweite Angelegenheit, wegen welcher ich es wage, mich an die
höchste Einflußnahme Eurer Kaiserlichen Hoheit zu wenden, betrifft
den Gamisonswechsel, und zwar insbesondere den auf die operativen
Forderungen Bezug habenden Teil desselben, also vornehmlich die
Truppendislokation im Grenzgebiete gegen Italien.
Durch eine schamlose Publikation unserer ungezügelten Presse ist
dieser Garnisonswechsel in die Öffentlichkeit gedrungen, ehe noch
dessen Allerhöchste Sanktion erfolgte; es wäre nun von schwerwiegen-
dem Schaden für die Schlagfertigkeitsbereitschaft der Armee, wenn
etwa infolge dieser publizistischen Indiskretion eine Aufschiebung oder
Unterlassung der beantragten Truppendislokation einträte. Zwar habe
ich mich in dieser Angelegenheit heute brieflich an Exzellenz Baron
Bolfras gewendet, aber eine gedeihliche Entscheidung dieser vitalen
Frage vermag ich doch nur in der höchsten Einflußnahme Eurer Kaiser-
10, Conrad II 145
liehen Hoheit zu erblicken, und so erbitte ich mir untertänigst diese
höchste Einflußnahme ebensosehr für die Frage des Garnisonswechsels,
wie für die erst angeführte hinsichtlich der materiellen Vorsorgen für
die Schlagfertigkeit der bewaffneten Macht.
Geruhen Euer Kaiserliche Hoheit endlich, mir es nicht zu verübehi,
wenn ich wage, Eurer Kaiserlichen Hoheit meine ehrfurchtsvollsten
Glückwünsche zu unterbreiten anläßlich der ganz besonderen Aller-
höchsten Auszeichnung, welche Eurer Kaiserlichen Hoheit jüngst zuteil
wurde.
Genehmigen Euer Kaiserliche Hoheit den Ausdruck der ehrfurchts-
vollsten Ergebenheit, mit der ich verharre als
Euer Kaiserlichen Hoheit treugehorsamster
Conrad."
Am 14. Juni 1911 (mit Stichwahlen am 20. Juni) fanden die Neu-
wahlen für das österreichische Parlament statt, bei welchen in Wien
die cliristUchsoziale Partei eine Wahhiiederlage erlitt. Wie sich das
neue Haus zur Wehrfrage stellen würde, bUeb abzuwarten.
Obgleich nun dem chronologischen Gang der Ereignisse ent-
sprechend, jetzt jener Vorgänge zu gedenken wäre, die sich in außen-
politischer Hinsicht abspielten (wie die Geschehnisse in Marokko,
die Aufstände in Albanien und Arabien, die Zustände m der Türkei,
der Krieg zwischen dieser und Italien in Tripolis) und der Rückwirkung
derselben auf die Monarchie, möchte ich doch vorerst die rein mili-
tärischen Fragen für das Jahr 1911 abschließen.
In diese Zeit fiel der Wechsel des Kriegsministers.
Schon aus den früheren Darstellungen ist erinnerlich, daß zwischen
dem bisherigen Kriegsminister Baron Schönaich und dem Thronfolger
Erzherzog Franz Ferdinand ein sehr gespanntes Verhältnis bestand,
in das ich oft beruhigend einzugreifen bemüht war.
Die letztgeschilderten Vorgänge in den Delegationen in Budapest
und speziell das Verhalten Baron Schönaichs in der Budgetfrage hatten
diese Gegensätze verschärft mid Seine Kaiserliche Hoheit veranlaßt, auf
einen Wechsel im Kriegsministerium hinzuwirken. Auch ich ersah jetzt
hierin den einzigen Weg für eine Wendung zum Besseren.
Die aus Blankenberghe vom 9. Juli datierte Antwort des Thron^
folgers auf mein Schreiben aus Malborgeth vom 25. Juni enthielt
folgende Stellen:
„Aber was nützt alles Bitten, Jammern imd Schreiben; bevor...
Schönaich . . . nicht endlich gegangen wird, so lange gibt es keine
Heilung und Ihre und meine Wünsche werden grundsätzlich konterkariert.
146
Ferner kommandiert ja jetzt em gewisser Ährenthal die Armee und
bestimmt, was zu geschehen hat, und so lange solche Geister ... an
der Spitze des Unternehmens stehen, sind wir, Heber Conrad, aus-
geschaltet. So lange solche Leute trotz Thronfolger und Chef des
Generalstabes das gewichtigste Wort zu reden haben, so lange ist
unsere wohlgemeinte patriotische und schwarzgelbe Arbeit ganz proble-
matisch.
Unser wohldurchdachter Garnisonswechsel ist auch über den
Haufen geworfen worden; darüber werde ich Ihnen mündlich einiges
erzählen.
Sehr neugierig bin ich, was der Herbst bringen wird; hoffentlich
sehen wir bald einen neuen Kriegsminister, obgleich der noch jetzt
leider existierende in seiner ritterlichen Art bereits eine kapitale Hetze
gegen meinen Kandidaten losläßt; . . . was natürlich an Allerhöchster
Stelle entsprechend fruktifiziert wird.
Auffenberg ... ist jetzt der einzig mögliche Kandidat . . .
Auffenberg ist mir und Ihnen ergeben und wird ein famoses Gegen-
gewicht bilden gegen diese ganze Clique, die uns aus dem Sattel
heben will.
Hoffentlich geht es Ihnen gut und können Sie sich jetzt einen
ordentlichen Urlaub gönnen. Machen Sie mir im jugendlichen Übermut
keine zu waghalsigen Sachen*) und erhalten Sie sich frisch, fröhlich
und gesund für jetzt und die Zukunft.
Mit herzlichsten Grüßen, lieber Conrad, bin ich Ihr stets
aufrichtiger
Erzherzog Franz, G. d. K."
Im Sinne dieses Briefes hat nun Erzherzog Franz Ferdinand seinen
Einfluß auf einen Wechsel im Kriegsministerium geltend gemacht und
die Ernennung des Generals der Infanterie von Auffenberg, damals
Kommandant des 15. Korps in Sarajevo, beantragt.
Diese Wahl stieß jedoch auf starren Widerstand des Kaisers.
Seme Majestät brachte sie gelegentlich emer meiner Audienzen zur
Sprache und verlangte meine Meinung zu hören.
Ich habe Seiner Majestät gegenüber die Wahl Auffenbergs warm
vertreten und mir gestattet, verschiedene Einwürfe durch Entgegenhalt
meiner Ansicht zu entkräften.
*) Der Erzherzog wußte, daß ich nach Tirol gehe, wo ich stets
einige Hochtouren zu machen pflegte.
10« 147
Ich habe auf die geistigen Fähigkeiten und militärischen Kenntnisse
Auffenbergs, auf seine schon in jungen Jahren im bosnischen Feldzug
und später m den verschiedensten Verwendungen gesammelten Erfah-
rungen, dann darauf hingewiesen, daß er dabei auch Einblick in die
ungarischen, kroatischen und die bosnischen Verhältnisse gewonnen
habe. Seine initiative Charakteranlage dürfte dafür bürgen, daß die
von mir gestellten Forderungen nunmehr auch seitens der Ministerial-
instanz eine tatkräftigere Unterstützung finden würden als bisher.
Seine Majestät sagte hierauf: „Also meinen Sie, daß man ihn zum
Kriegsminister machen soll?," was ich mit „Ja" beantwortete. Der
Kaiser erwiderte: „Nun, wenn Sie es sagen, werde ich sehen."
Im Herbst 1911 erfolgte die Ernennung Auffenbergs zum Kriegs-
minister, der mit den Impulsen einer frischen Kraft sein schwieriges
Amt antrat.
Baron Schönaich wurde von Seiner Majestät unter den größten
Ehrungen und Auszeichnungen in Disponibilität versetzt. Ein Teil der
Presse, bei dem er in hoher Gunst stand, widmete ihm die wärmsten
Nachrufe.
Als schwerste Bürde übernahm der neue Kriegsminister die Wehr-
vorlage und damit auch die komplizierten Verhältnisse in Ungarn.
Wenn ich in allem Vorangehenden auf die großen Widerstände
hingewiesen habe, welche die Wehrfrage speziell in Ungarn fand, so
muß ich doch auch hervorheben, daß es in Ungarn nicht an maßgeben-
den Politikern fehlte, die von großen Gesichtspunkten aus den ganzen
Ernst dieser Frage erfaßten und bemüht waren, sie zu einem gedeih-
lichen Abschluß zu bringen.
Es war besonders der königl. ung. Staatssekretär Franz von Bolgär,
der seine reichen Erfahrungen und seine eingehenden militärischen
Kenntnisse in den Dienst der Sache stellte. Er hatte die Freundlichkeit,
mich am 11. Oktober 1911 aufzusuchen, wobei sich folgendes Gespräch
entwickelte:
Zunächst erwähnte Herr von Bolgär, daß er seine folgenden Anschau-
ungen schon im Jahre 1909 dem Kriegsminister Schönaich dargelegt habe.
Ich erwiderte, daß er mir mit Bezug auf das Wehrgesetz einen großen
Dienst erwiesen hätte, wenn er mich schon vor zwei Jahren über die
Ansichten in Ungarn unterrichtet hätte. Bolgär meinte, er habe
Kenntnis der zwischen mir und dem Kriegsminister bestehenden Kontro-
versen gehabt und konnte nicht in beiden Lagern verkehren.
Er sagte dann, daß in Ungarn eine große Strömung gegen die
zweijährige Dienstzeit sei. Man würde in Ungarn bei Beibehalt der
dreijährigen Dienstzeit einer Erhöhung des Rekrutenkontingentes auf
148
130.000 Mann zustimmen, aber noch mehr als das, man würde die
Ausmerzung der auf Grund der Auslosung sich bildenden Ersatz-
reservisten akzeptieren, das sind zirka 10.000 Mann, wodurch man in
zehn Jahren 100.000 Mann bekäme. Dabei wäre in Aussicht zu
nehmen, daß man von diesen Leuten manche, die den Anforderungen
entsprochen haben, schon nach zweijähriger Dienstzeit entläßt. Er
glaube, daß man dies in Ungarn durchsetzen könne, weil man die mit
Einführung der zweijährigen Dienstzeit verbundenen Auslagen ersparen
würde.
Ich erwiderte ihm, daß dem nicht ganz so sei, da auch bei Bei-
behalt der dreijährigen Dienstzeit sich Notwendigkeiten ergeben, deren
Kosten jetzt für die zweijährige Dienstzeit eingestellt sind, z. B. für
Ausbildungszwecke, für Unteroffiziere etc.
Bolgär war darüber etwas erstaunt und äußerte, daß nach der
Berechnung Schönaichs bei Beibehalt der dreijährigen Dienstzeit die
Heeresreform im ürdinarium um 15, im Extraordinarium um 30 Mil-
lionen billiger käme, als bei Einführung der zweijährigen Dienstzeit.
Er fügte bei, daß er gekommen sei, um sich bei mir zu erkundigen imd
nichts unternehmen wolle, was meine Pläne störe.
Ich sagte hierauf: „Wir wollen mehr Rekruten, weil wir Leute
brauchen, und wir wollen Geld haben, um die Notwendigkeiten zu
beschaffen; was sich in diesem Rahmen bewegt, findet meine Zustim-
mung."
Bolgär erwähnte nun, daß der neue Wehrgesetzentwurf viele
Mängel habe Ich replizierte:
„Gewiß! Bevor Sie fortsetzen, werde ich Ihnen selbst solche sagen,
z. B. die Unteroffiziersfrage."
Bolgär: „Jawohl!"
Ich: „Das Einjährig-Freiwilligenrecht nach sechs Mittelschul-
klassen."
Bolgär: „Jawohl, ganz richtig, wir in Ungarn verlangen keine
weitere Begünstigung."
Ich: „Sie sehen, daß ich die Mängel kenne und mit Ihnen auf dem-
selben Standpunkte stehe; leider bin ich nicht durchgedrungen. Mir
wäre der Beibehalt der dreijährigen Dienstzeit viel sympathischer, aber
nur bei Erhöhung des Rekrutenkontingentes und Gewährung des erfor-
derlichen Geldes."
Am 17. November 1911 erhielt ich von Herrn von Bolgär nach-
stehendes Schreiben, das eine zutreffende Charakteristik der damals in
Ungarn bestehenden Verhältnisse bietet, weshalb ich es hier wiedergebe.
140
„Budapest, 16. November 1911.
Euer Exzellenz!
Gestatten mir E. E., daß ich mit ihrer freundlichen Erlaubnis mit
einigen Worten an miser kürzliches Gespräch anknüpfe. Es ist mir
nämlich sehr daran gelegen, Sie mit der Situation, welche sich um die
Wehrvorlage neuestens gebildet hat, vertraut zu machen.
Wie E. E. bekannt, ist in den letzten Tagen zwischen unseren
politischen Parteien ein längstens bis Ende des Jahres dauernder
Waffenstillstand zustande gekommen, und man begegnet vielfach der
Auffassung, daß dieser Waffenstillstand die Aussichten für die Bergung
der Vorlage wesentlich gefördert habe. Das ist ein Irrtum. Es bleibt
alles wie es war, der einzige Unterschied gegen früher ist nur der, daß
eventuelle Friedensverhandlungen unter glatteren Formen entriert
werden können.
Die Opposition hält auch weiter fest an ihrer Auffassung, daß die
Lasten, welche die Vorlage bringt, reduziert werden sollen, weiter, daß
der restliche Teil des Neuner-Programmes zu effektuieren sei, und
endlich, daß einzelne Bestimmungen der Wehrvorlage zu modifizieren
wären.
Zu diesem kommt noch, daß der radikale Flügel der Opposition,
welcher die Obstruktion führt, das Schicksal der Wehrvorlage mit der
Lösung der Frage des allgemeinen Wahlrechtes verquickt und vor der
prinzipiellen Lösung dieser Frage von der Obstruktion nicht lassen will.
Es müßte also, selbst wenn eine entsprechende militärische Formel zu
finden wäre, auch die Formel für das Wahlrecht gefunden werden, was
übrigens mehr eine innere Angelegenheit ist und trotz scheinbarer
großer Schwierigkeiten, wenn die Regierungspolitik als ihre erste und
Hauptaufgabe die endliche Regelung der Heeresreform betrachtet, in
Ordnung gebracht werden kann.
Dieser Sachlage gegenüber möchte ich meine Ansicht aussprechen.
Es hat sich erwiesen, daß beim Einbringen der militärischen Vor-
lagen die Situation im Parlamente nicht entsprechend vorbereitet war.
Die Regierung hatte eine unrichtige Taktik gewählt. An diesem ist aber
jetzt nichts mehr zu ändern und will man die Wehrvorlage sichern, so
muß mit der neuentstandenen Situation gerechnet werden, die übrigens
insoweit von jener der früheren Jahre abweicht, als die Opposition bei
dieser Gelegenheit die „Sprachenfrage" nicht ins Spiel brachte und auch
zugibt, daß der Ausbau der Wehrmacht notwendig sei.
Es kommt nun darauf an, darüber klai zu werden, ob auf Basis
der vorher erwähnten drei Forderungen der Opposition ein Kompromiß
möglich wäre. Die wichtigste Forderung ist die Reduktion der Lasten.
150
Ich meinerseits vermag, wenn an der jetzigen Form der Vorlage fest-
gehalten wird, die Art der Reduktion nicht zu finden. Es ist alles schon
so billig, daß man billiger nicht rechnen, sondern nur teurer werden
kann. Ich könnte, wie ich schon die Ehre hatte mündlich auszulühren,
nur für das Festhalten an der dreijährigen Präsenz eintreten. Nach
den Ausführungen Baron Schönaichs in der letzten Delegation ergäbe
dies im Ordinarium 15, im Extraordinarium 30 MilUonen Ersparnis,
während sich die Zahl der Rekruten um 29.500 reduzieren würde. Dies
könnte den Ausgangspunkt der Erwägungen bilden, bei welchen
übrigens auch die Erfordernisse der Landwehr den Gegenstand einer
Betrachtung bilden könnten. Vor meinem Auge schwebt das frühere
deutsche System der „Dispositionsurlauber", welches bis zur Schaffung
des Gesetzes vom 3. August 1893 bestand und von welchem sich die
Deutschen auch nur notgedrungen getrennt haben. Wir sind übrigens
mit der Sache auch nicht unbekannt, denn auch von den 130.000
Rekruten der dreijährigen Präsenz sind ja 6000 Mann für Beurlaubun-
gen nach zwei Jahren bestimmt. Im Jahre 1902 wurde gleichfalls von
ihr gesprochen. Aber auch von den eben erwähnten, eventuell nicht zur
Einstellung kommenden 29.500 Leuten könnte ja ein Teil unter der
Bedingung zu dem Kontingent von 130.000 Mann geschlagen werden,
daß eine ebenso große Anzahl von Leuten, ähnUch wie die 6000, nach
zwei Jahren zur Beurlaubung kommt; die Anzahl könnte danach
bemessen werden, wie viele Leute die jetzige Ausbildungsverfassung der
Armee, ohne zu den kostspieligen Hilfsmitteln der zweijährigen Dienst-
zeit greifen zu müssen, noch aufzunehmen vermag.
Man kann das, wenn man mit dem volkstümlichen Schlagworte der
zweijährigen Dienstzeit rechnen will, ganz mit Recht auch eine andere
Form der verkürzten Dienstzeit nennen, besonders wenn man dieser
tatsächlich zustrebt und sie nur, besonders durch die Schaffung eines
starken Körpers von Berufsunteroffizieren, besser vorbereiten will. Der
ganze Unterschied wäre eigenthch nur der, daß man mehr Leute für
drei Jahre zurückhält, als in der Wehrvorlage geplant ist. Auf die
Bevölkerung aber könnte durch eine geschickt geführte Preßkampagne
unschwer eingewirkt werden.
Wollen E. E. mich nicht mißverstehen: es liegt mir ebenso wie
Ihnen am Herzen, eine möglichst vollkommene Armee zu besitzen;
unter den heutigen äußeren und inneren politischen Verhältnissen
würde ich mich aber zufrieden geben, wenn ich einstweilen jene Ver-
mehrung an Rekruten erhielte, die wir unbedingt notwendig haben.
Alles andere stelle ich in die zweite Reihe. Das käme später auf der
Basis einer wohlkonzipierten, umsichtigen, weitblickenden Militärpolitik,
151
die uns leider stets gefehlt hat, was, wie ich während eines 25-jährigen
politischen Wirkens beobachten konnte, einzig und allein die Schuld
daran trägt, daß wir seit Jahren vor der Mauer stehen. Ich denke, daß
es einst keinen denkenden Soldaten oder Politiker gibt, der sagen würde,
daß mit der Annahme der jetzigen Wehrvorlage alles fix und fertig
und für lange Zeit m Ordnung wäre. Wenn dem aber so ist, dann
würde ich, geht es nicht anders, mich begnügen, jetzt nur einen, aber
sicheren Schritt zu machen, jenen, der mir die notwendigen Mann-
schaften bringt Die Verringerung der zu einem Kompromiß notwen-
digen Lasten, welche Frage zweifellos auch im österreichischen Parla-
ment eine Rolle spielen wird, läge in der Natur der Modifikation und
man müßte mit den Kosten überhaupt so weit herabgehen, als es nur
möglich ist. Ist der Präsenzstand vermehrt, so muß doch auch für ihn
gesorgt werden; die im Extraordinarium figurierenden Kosten können
aber meines Dafürhaltens in jenem militärischen Leben, welches die
Welt heute lebt, selbst auf ein Jahr voraus nur schwer festgestellt
werden.
Exzellenz könnten mich jetzt fragen, ob, wenn der von mir
gewiesene Weg richtig wäre und betreten werden würde, das Kompro-
miß auch gesichert wäre? Natürlich hegt es nicht m meiner Macht,
hiefür eine Garantie bieten zu können, ich weiß nur keinen anderen
Weg, auf dem zu einer Restringierung der Lasten zu gelangen ist.
Ist die Entlastung sonst zu erreichen und hält man an der Vorlage fest,
ich werde nichts verderben. Ich denke indessen auf Grund genauer
Orientierung, daß die Opposition, wenn die Initiative von der Regierung
ausginge, der Basis zustimmen würde. Sie selbst wird aus leicht ver-
ständlichen taktischen Gründen die Initiative nicht ergreifen.
Was die zweite Angelegenheit betrifft, welche die Opposition bei
einem Kompromiß zu regeln wünscht, der Vollzug des Programmes der
Neuner-Kommission, so kommt hier die Frage der Fahnen und Embleme
in Betracht. Ich kenne nicht die diesbezüglich hohen Ortes momentan
bestehenden Dispositionen und habe mich mit der Sache des Eingehen-
deren nicht befaßt. Die Regierung hat die Regelung der Angelegenheit
in ihr Programm aufgenommen und m Aussicht gestellt.
Was endlich die Modifizierung einzelner Bestimmungen der Wehr-
vorlage betrifft, so würde man meines Erachtens keinen unüberwind-
lichen Schwierigkeiten sich gegenüber befinden.
Und jetzt komme ich kurz auf ein neu aufgetauchtes Moment zu
sprechen, dasjenige, welches mich an erster Stelle zu diesen Zeilen ver-
152
anlaßt. Wie ich schon vorher zu bemerken die Ehre hatte, hat die
radikale Opposition die Angelegenheit der Wehrvorlage rnit jener des
allgemeinen Wahlrechtes verquickt, und ist es insbesondere der Führer
dieser Partei, Herr v. Justh, welcher den Satz autgestellt hat, daß vor
allem das VC'ahlgesetz zu schaffen sei und erst das aus dem allgemeinen
Wahlrecht hervorgegangene, neue Abgeordnetenhaus das Wehrgesetz
erledigen möge Nun hat Herr v. Justh in einer am letzten Sonntag
stattgehabten Volksversammlung, die in politischen Kreisen großes Auf-
sehen erregende Äußerung getan, daß er wohl dabei verbleibe, das
Wehrgesetz (also auch die Frage der Dienstzeit) erst nach den Neu-
wahlen definitiv zu erledigen, bei Sicherung der Wahlreform aber auf
ein Provisorium, das heißt darauf eingehe, daß der Armee das unter
den heutigen Verhältnissen unbedingt notwendige erhöhte Rekruten-
kont^ngent votiert werde. Näher hat sich Herr v. Justh auf die Sache
nicht eingelassen und wird es, wie er mir gestern mitteilte, auch nicht
tun, zumal er als Nichtiachmann über das Erfordernis nicht orientiert
ist und von mir Orientierung verlangte, die ich für den Fall in Aussicht
stellte, wenn die Sache eventuell Aktualität gewinnen sollte. Mich
speziell interessiert die Wendung, weil sie sich meinem Standpunkt
nähert und auf eine Novelle zum Wehrgesetz abzielt. Jedenfalls hat
die Äußerung Herrn v. Jusths eine symptomatische Bedeutung.
Ich bitte E. E., die hier geschilderte momentane Situation nach
bestem Ermessen zu würdigen. Ich würde nur wünschen, daß die Folge
mich der Schwarzseherei überweise, was ich indessen nicht glaube. Es
wird sich das trotz des Waffenstillstandes noch in diesem Jahre zeigen,
da es als ziemlich gewiß anzusehen ist, daß während der kurzen
Tagung der Delegation Ende Dezember die Opposition die Gelegenheit
nicht vorübergehen lassen wird, vom Kriegsminister Aufklärungen zu
verlangen und ihn zur Stellungnahme zu drängen. Es sollte darum
keine Zeit verloren werden, in die Angelegenheit Klarheit zu bringen.
Allerdings ist es ein höchst mißlicher Umstand, daß das österreichische
Parlament zu der Wehrvorlage noch nicht Stellung genommen hat und
die dortige Auffassung bezüglich der einheitlich zu lösenden Angelegen-
heit nicht mit in Kombination gezogen werden kann.
Immerhin glaube ich der guten Sache zu dienen, wenn ich E. E.
die Situation, so wie sie bei uns beschaffen ist, ohne Rückhalt vorführe.
Ich benütze die Gelegenheit, E. E. meiner vorzüghchen Hoch-
achtung und aufrichtigsten Ergebenheit zu versichern.
Franz v. Bolgä r."
153
Hierauf antwortete ich: 10 kt u mn
„18. November 1911.
Euer Exzellenz!
Ich beehre mich, E. E. memen ganz ergebensten Dank für die inter-
essanten brieflichen Mitteilungen vom 16. d. Mts. zu übersenden und
meiner Freude darüber Ausdrucii zu geben, wie sehr E. E. bemüht sind,
unsere brennenden Wehrfragen einem gedeihlichen Ende zuzuführen.
Der Charakter dieser Fragen fällt jedoch so sehr in das Ressort
des Kriegsministers, und ich muß dessen Befugnisse so strenge wahren,
daß ich E. E um gefällige Mitteilung bitten muß, ob ich den Brief
E. E. an General der Infanterie von Auffenberg übergeben kann.
Ich würde dann mit letzterem über die Vorschläge E. E. Rück-
sprache pflegen und mir erlauben, darüber brieflich Mitteilung zu
machen.
Gestatten mir E. E., daß ich bei diesem Anlasse der aufrichtigen
Hochachtung Ausdruck gebe, mit der ich stets bin E. E. ergebenster
Conrad, G. d. I."
Am 24. November erhielt ich hierauf folgendes Schreiben:
„Budapest, 22. November 1911.
Euer Exzellenz!
Den Empfang der freundlichen Zeilen E. E. bestätigend, und für
dieselben bestens dankend, beeile ich mich, zu versichern, daß ich mich
nur freuen werde, wenn E. E. meinen Brief Seiner Exzellenz dem
Kriegsminister zur Kenntnis zu bringen die Güte haben. Als ich letzt-
hin in Wien die Ehre hatte, mit E. E. zu sprechen, habe ich nicht
unterlassen, auch Herrn von Auffenberg, mit dem ich noch aus unserer
gemeinsamen Dienstzeit in Budapest persönlich bekannt bin, zu
besuchen, bei welcher Gelegenheit auch meine Auffassungen über die
Verhältnisse zur Sprache kamen.
Mit der Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung und auf-
richtigen Ergebenheit
Euer Exzellenz ergebener
Franz von Bolgä r."
Faßt man die damalige Lage kurz zusammen, so war das öster-
reichische Parlament vornehmlich durch die Differenzen zwischen
Deutschen und Tschechen, das ungarische durch die Wahlrechtsfrage
in Anspruch genommen. In beiden Parlamenten fand die Wehrfrage
Widerstände auf finanziellem Gebiet. Im ungarischen kamen hiezu
noch solche politischer Natur, ausgehend von dem Streben nach einem
getrennten ungarischen Heer.
154
Graf Stefan Tisza war ein scharfer Gegner des demokratischen
Wahlrechtes, Justh und Kossuth jedoch forderten dieses und drohten
mit der Opposition, solange dasselbe nicht gesichert wäre. Der
Ministerpräsident Graf Khuen trachtete eine Lösung der Frage durch
Erreichen militärischer Konzessionen für Ungarn zu erzielen, denen
jedoch nicht nur die höheren Armeekreise, sondern auch Kaiser und
Thronfolger widerstrebten.
In Deutschland war bereits im Feber 1911 die Wehrvorlage mit
einer Erhöhung des Friedensstandes um zirka 9000 Mann glatt durch-
gegangen und alle anderen in Betracht kommenden Staaten arbeiteten
emsig und mit reichen Mitteln an der Verstärkung ihrer Wehrmacht.
In der Absicht, die konkreten Kriegsvorbereitungsarbeiten alljähr-
lich mit 1. März derart neu fertiggestellt zu haben, daß von diesem
Datum an Mobilisierung und Aufmarsch bereits den geänderten Ver-
hältnissen entsprechend erfolgen können, habe ich dahin gewirkt, daß
die bisher für den Winter (Dezember, Jänner) anberaumten Personal-
Konferenzen bei Seiner Majestät schon früher stattfanden, damit die
Diensteseinteilung der höheren Generale derart rechtzeitig festgestellt
werde, um sie bereits in den neuen Mobilisierungs-Elaboraten verwerten
zu können.
Es fanden daher diese Konferenzen im Jahre 1911 schon Mitte
Oktober statt.
Dabei waren gewisse Differenzen auszugleichen.
Bei Besetzung der höheren Kommandoposten (speziell der Korps-
Kommanden) machten sich außer den militärischen Rücksichten auch
solche innerpolitischer, sozialer und selbst rein persönlicher Natur
geltend. Ich wollte die militärischen vorangestellt sehen.
Als daher in der Konferenz am 17. Oktober 1911 Seme Majestät
an die Teilnehmer der Sitzung die Frage richtete, ob jemand etwas zu
bemerken habe, meldete ich mich zum Wort und hob hervor, daß die
sachlichen Motivierungen den persönlichen voranzugehen hätten und
vor allem die Festsetzung der Armee-Kommandanten erfolgen müsse,
um diese in die Kriegs-Einteilungsliste aufnehmen zu können.
Da nun einzelne Generale lediglich aus innerpolitischen und per-
sönlichen Motiven noch mit Korpskommanden betraut bleiben sollten,
während rangsjüngere zu Armeekommandanten designiert wurden,
gelangte ein Ausweg zum Vorschlag, dahin, daß für diese rangsälteren
Korpskommandanten eine Inspizierung seitens rangsjüngerer Armee-
Ijommandanten zu entfallen habe. Dem widersetzte ich mich aus sach-
lichen Gründen, da ich es notwendig fand, den Armeekommandanten
155
die Inspizierung aller jener Korps zugänglich zu machen, die in
irgend einem der verschiedenen möglichen Kriegsfälle unter ihre Befehle
kommen konnten. Ich schlug vor, entweder alle Korpskommandanten,
die rangsälter als die Armeekommandanten sind, zu entheben, oder im
Verordnungsv^ege zu bestimmen, daß ohne Rücksicht auf Rang die
Armeeinspektoren (als präsumtive Armeekommandanten) zur Inspi-
zierung jedes Korps bestimmt werden können.
Der Kriegsminister (Auffenberg) schloß sich dieser Auffassung an
und meinte nur, daß eine solche Bestimmung im Verordnungswege nicht
gut möglich erschiene, worauf ich erwiderte, daß mir die Form einerlei
sei, wenn nur das >X/esen gewahrt bliebe.
Der Antrag wurde angenommen, auch Exzellenz Potiorek hatte
sich ihm angeschlossen
Ich verlangte nun die sofortige Ernennung des Kommandanten
der 5. Armee (es waren bisher nur jene der 1., 2., 3. und 4. Armee*)
vorgesehen). Der Kriegsminister erwähnte, daß dies 80.000 Kronen
kosten würde, die vorläufig nicht budgetär gedeckt seien. Ich bemerkte
hierauf, daß, wenn es für Österreich-Ungarn schon wirklich unmöglich
erscheint, diesen Betrag aufzubringen, wenigstens die Designierung des
Kommandanten der 5. Armee schon im Frieden erfolgen möge, da ja
in den Mobilisierung-Elaboraten jeder Offiziersdiener und Pferdewärter
vorgesehen und namhaft gemacht sei, es also sonderbar erschiene, wenn
dies für den Kommandanten einer Armee nicht der Fall wäre.
Mein Antrag wurde schließlich angenommen. Es erfolgte die
Nommierung der emzelnen Funktionäre.
*) Kommandant der 6. Armee war der Landes-Kommandierende
in BHD.
156
Außenpolitische Vorgänge.
Während sich die Monarchie durch die geschilderten inneren Kämpfe
vollauf in Anspruch nehmen Heß, trugen sich außerhalb von ihr bedeut-
same Ereignisse zu. Sie enthielten bereits die Keime zu späteren großen
Verwicklungen und förderten Fragen zutage, deren Lösung nicht ohne
empfindliche Rückwirkung auf die außenpolitische Lage Österreich-
Ungarns bleiben konnte. Immer mehr bestärkte mich dies in meinem
Empfinden, daß die Monarchie die günstigen Momente für
ihr Auftreten bereits versäumt habe, für die Wiederkehr
solcher nur ein vages Hoffen bestehe, viel drückender aber die Sorge sei,
daß Österreich-Ungarns PoHtik bereits schweren Komplikationen entgegen-
treibe, die sie vor einen Krieg unter ungünstigsten Bedingungen zu stellen
drohten.
Als Ausgangspunkt dieser Komplikationen hatte ich stets den Balkan
vor Augen und den Blick daher unentwegt dahin gerichtet.
Die Türkei litt unter schweren Erschütterungen.
Albanien war im Aufstand, in Arabien bereitete sich ein
solcher vor. Bei der Rolle, die Albanien in der Folge spielte, wende ich
mich den dortigen Verhältnissen etwas eingehender zu; zunächst mit
einem flüchtigen Blick auf Land und Leute.
Albanien Ein meist versumpfter Küstensaum, in dem monate-
lang die Malaria herrscht und der nur sehr wenige brauchbare Häfen
aufweist. Im Ostteil des Landes unwirtliches, kommunikationsarmes, nur
von Saum- und Fußpfaden durchquertes, vielfach waldloses, nur gestrüpp-
bedecktes hohes Mittelgebirge, das allmählich zur Ebene abstuft und von
ost-west-ziehenden Flußtälern durchsetzt ist. Die Täler, sowie die Berg-
füße sind mit südlichen Kulturen bebaut, ebenso auch Teile der Ebene,
während der Rest derselben in ausgedehnten Strecken (Musakia) bloß
Weideland zeigt. Die Einwohner — von Feldbau, Viehzucht, etwas
Handel und Schiffahrt lebend — sind ein autochthones Volk, über dessen
Herkunft sich die Gelehrten streiten; einige führen es auf die Pelasger
zurück. Die Albanesen sprechen eine von allen anderen Idiomen
abweichende Sprache (albanesisch), sind in zahlreiche Stämme geteilt, die
157
sich bis zur Blutrache untereinander befehden, durchwegs Waffen tragen
und in der Regel einig sind, wenn es sich um Auflehnung gegen die
Staatsgewalt handelt, falls diese Gesetz und Ordnung erzwingen will.
Der pohtischen Agitation, soweit sie mit Geld unterstützt wird, leicht
zugänglich und dann auch rasch wechselnd in ihrer Stellungnahme, dabei
noch ganz in mittelalterlichen Zuständen lebend, sind die Albanesen ein
Volk, das einer ebenso verständigen, als starken Hand bedurft hätte, um
für ein modernes Staatswesen erzogen zu werden.
Zur Scheidung m die Ghegen, die den Norden, und die Tosken, die
den Süden Albaniens bewohnen, und zur Spaltung in die einzelnen
Stämme kommt noch jene in drei ReUgionsbekenntnisse : Mohammedaner,
griechische Katholiken, römische Katholiken, über welch letztere speziell
Österreich-Ungarn hauptsächlich im Wege der Geistlichkeit eine Art
Schutzherrschaft übte. Es wandelte dabei aber Wege, die das V^olk eher
dem italienischen Einfluß zuführten. So war beispielsweise an den von
der Monarchie unterstützten Schulen die Unterrichtssprache nicht
albanesisch, sondern italienisch.
Auch die stets „dreibundgemäße" Rücksichtnahme auf das viel
skrupelloser vorgehende Italien förderte nicht Österreich-Ungarns Ansehen.
Italien aber war hier ein scharfer Konkurrent der Monarchie, die sich
ihm gegenüber vertragsmäßig die Hände gebunden hatte. Es nützte seine
in Süditalien ansässigen Untertanen albanesischer Nationalität geschickt
zur Propaganda aus und strebte nicht nur politischen Einfluß, sondern
auch tenitorialen Besitz an. Es richtete seine Bhcke insbesondere auf den
besten Hafen, V a 1 o n a, von wo der Weg über Monastir nach Salonik und
Konstantin Opel führt, und von wo aus es die Straße von Otranto maritim
zu beherrschen, also die Adria zu sperren vermochte.
Darin lag die eine Bedeutung Albaniens für die Monarchie. Die
andere aber gründete sich auf den Antagonismus der Albanesen gegen
Serben und Montenegriner, der für Österreich-Ungarn wertvoll aus-
zunützen war, wenn es mit diesen beiden Staaten in militärischen Konflikt
geraten sollte.
Auf Albanien hatten aber ebensowohl Serbien als Montenegro
aggressive Absichten; Serbien suchte dorthin den Weg zum Meere,
Montenegro strebte den Besitz von Skutari und der Bojana-Mündung,
überhaupt Nordalbaniens an.
Von diesem Streben geleitet, war es König Nikita von Montenegro,
der die Albanesen zu gewinnen suchte und deren Aufstand gegen die
Pforte nicht nur anfachte, sondern auch dauernd unterstützte. Es gelang
ihm, trotz der von alters her bestehenden Feindschaft zwischen Monte-
negrinern und Albanesen, die manchen Weidestreit blutig miteinander
158
ausgetragen hatten, Teile der Albanesen vorübergehend auf seine Seite
zu ziehen.
Die Pforte schritt mit mihtärischer Macht gegen den Aufstand ein,
dessen Niederwerfung Scheficet Thorgut Pascha auch bis auf die Berg-
stämme der MaHssoren und Mirditen allmähhch gelang.
Wie in maßgebenden türkischen Kreisen die Lage in Albanien
beurteilt wurde, geht aus folgender Stelle eines am 4. Jänner 1911
erhaltenen, vom 26. Dezember 1910 datierten Berichtes des k u. k. Militär-
attaches in Konstantinopel Oberst Pomiankowski über seine Unterredung
mit Izzet Pascha, dem türkischen Chef des Generalstabes, hervor; sie lautet:
„Im weiteren Verlauf der Unterredung wies ich*) auf die Bedeutung
des Zusammenwirkens zwischen Bulgarien und Montenegro einerseits und
den Albanesen andererseits hin. Meine Bemerkung, daß Montenegro
mittelst bulgarischer Subsidien die albanesischen Flüchtlinge erhält
und dann bewaffnet und ausgerüstet in türkisches Territorium einfallen
läßt, schien Izzet Pascha zu überraschen; er fragte lebhaft, ob denn die
russischen Gelder hiezu nicht ausreichten. Ich antwortete darauf, daß
meines Wissens die russischen Subsidien in diesem Jahre um 300.000
Rubel gekürzt worden sind und übrigens in Cetinje jeder Zuschuß, von
wo er auch kommen möge, stets abnehmbereite Hände finde. Die monte-
negrinisch-albanesische Verständigung sei jedenfalls ein ernstes Symptom,
welches von Seite der osmanischen Regierung volle Beachtimg verdiene.
Ich*) verhehlte dem Pascha auch nicht, daß ich das kommende Früh-
jahr bis zu einem gewissen Grad als einen für die Türkei kritischen Zeit-
moment ansehe. Infolge der Erbitterung der Albanesen und ihrer gegen-
wärtigen vollen Unverläßlichkeit im Krie'^sfall ist die türkische Armee
in Rumelien ganz isoliert und eigentlich in dem^selben Verhältnis wie in
Feindesland. Überdies befindet sie sich mit Rücksicht auf die Reorgani-
sation in einem Übergangsstadium, welches notwendigerweise auch ein
gewisses Schwächemoment mit sich bringt. Ein so günstiger Augenblick
wird sich den Feinden der Türkei wohl nicht so bald wieder darbieten
und deshalb wäre es ganz erklärlich, wenn in Bulgarien, Griechenland
und Montenegro Bestrebungen auftreten sollten, diese — vielleicht letzte —
günstige Gelegenheit auszunützen Izzet Pascha schien meine Ansichten
vollkommen zu teilen und sagte wörtlich: >Ja, diese unglückliche albane-
sische Expedition; ich habe fortwährend davor gewarnt und dagegen
gesprochen, aber alles nützte nichts. Jetzt müssen wir die Folgen davon
tragen; zum Glück scheint man jetzt den Fehler eingesehen zu haben
und eine andere Richtung einzuschlagen.«"
') Pomiankowski.
15Q
Diese Vorgänge am Balkan, speziell die Verfeindung zwischen den
Albanesen und der Türkei, auf welch beide man im Falle kriegerischer
Verwicklungen der Monarchie mit Serbien und Montenegro gerechnet
hatte, sei es auch nur, daß sie feindliche Kräfte binden, veranlaßten mich
zu einem Briefwechsel mit Graf Ährenthal, dessen Inhalt aus folgendem
Schreiben hervorgeht.
„Wien, am 11. Mai 1911.
Euer Exzellenz!
In der hierstelligen Zuschrift Res. Gstb. Nr. 1047 von 1911 habe
ich um Bekanntgabe der dortseitigen Anschauungen hinsichthch unseres
Verhältnisses zur Türkei, insbesondere mit Rücksicht auf dessen Rück-
wirkung im Falle eines Konfliktes der Monarchie mit Serbien und Monte-
negro gebeten und der darauf erfolgten Antwort entnehmen müssen, daß
auf eine direkte Unterstützung seitens der Türkei in diesem Falle kaum
zu rechnen sei.
Nun wurde aber bisher bei den Kriegsvorbereitungsarbeiten gegen
Montenegro eine eventuelle Unterstützung seitens der Albanesen ins Auge
gefaßt, auf welche nach dem dermaligen Stand der Dinge gleichfalls nicht
mehr gerechnet werden kann, da es dahin gekommen ist, daß die
Monarchie in Albanien alle bisher bestandenen Sympathien verloren hat
und die Albanesen sogar in Gegnerschaft zur Türkei gekommen sind und
in das Lager der Montenegriner getrieben wurden; mindestens gilt dies
von den christlichen Stämmen.
Da aber eine solche Situation für die militärischen Vorkehrungen
nicht gleichgühig ist, erschiene es mir aus operativen Gründen dringend
geboten, die Position der Monarchie in Albanien wieder herzustellen.
Hiezu erschiene es mir geraten, daß österreichisch-ungarischerseits auf
die Pforte dahin eingewirkt werde, sich mit den Albanesen ehestens auf
friedlichem Wege auszugleichen, sowie daß diese Einwirkung derart
erfolge, daß es den Albanern bewußt werde, von wem dieselbe aus-
gegangen ist, damit letztere in der Monarchie wieder ihre Schutzmacht
erblicken.
Ich bitte das k. k. Ministerium des Äußern, mich auch über den
Stand dieser Frage zu orientieren, umsomehr, als mir schon seit geraumer
Zeit Berichte aus Cetinje nicht zugekommen sind.
Genehmigen E. E. etc Conrad"
Am 29. Mai 1911 besuchte mich der türkische Militärattache Oberst
Blaque Bey. Unsere Unterredung geht aus folgendem, meinerseits an
Graf Ähren thal gerichteten Schreiben hervor:
160
TT rr t, . „Wien, am 29. Mai 1911.
Euer Exzellenz!
Ich beehre mich, E. E. mitzuteilen, daß heute vormittags der türkische
Militärattache Oberst Blaque Bey bei mir war und mir sagte, daß er von
türkischen Konsuln in BHD. Nachricht bekommen habe, daß öster-
reichischerseits Truppen an die montenegrinische Grenze geschoben
werden; er käme zu mir, um diesbezüglich nachzufragen und um der
Ansicht Ausdruck zu geben, daß die Türkei in diesem Schritt einen großen
Freundschaftsakt erblicken würde.
Ich habe sofort das Gefühl gehabt, daß Oberst Blaque Bey die ganze
Geschichte von den Truppenverschiebungen nur vorgebracht hat, um
hier wissen zu machen, daß die Pforte so etwas sehr gern sehen würde.
Ich beehre mich, dies mitzuteilen für den Fall, als ähnliche Versuche
auch beim Ministerium des Äußern gemacht werden sollten, füge aber
bei, daß von Truppenverschiebungen, soweit sie von meiner Initiative
ausgehen, dermalen keine Rede ist.
Genehmigen E. E. etc C o n r a d."
Graf Ährenthal antwortete hierauf:
^ „ „ , „Wien, am 31. Mai 1911.
Euer Exzellenz! ' '
geschätztes Schreiben vom 29. Mai, in welchem E. E. mir von Ihrer
Unterredung mit dem hiesigen türkischen Militärattache Oberst Blaque
Bey Mitteilung machen, habe ich mit verbindlichstem Danke erhalten.
Ich teile vollkommen die Ansicht E. F., daß Oberst Blaque Bey mit
seinen Äußerungen über angebliche Truppenverschiebungen in Bosnien
und der Herzegowina in erster Linie den Zweck verfolgte, hier wissen
zu lassen, daß derartige militärische Maßnahmen unsererseits in Konstan-
tinopel willkommen wären.
Es entspricht durchaus meiner Beurteilung der Situation an unserer
südöstlichen Grenze, daß solche Maßnahmen bisher nicht ergriffen wurden
und auch nicht ins Auge gefaßt werden. Solange nicht eine wesentliche
Änderung der politischen Verhältnisse eintritt, kann ich keine genügende
Veranlassung für derartige Verfügungen erblicken und sie nicht für
opportun erachten; ich würde mich daher, falls von türkischer Seite auch
mir gegenüber eine solche Maßregel suggeriert werden sollte, ablehnend
aussprechen.
Ich wäre sehr verbunden, wenn E. E. die Güte hätten, mich zum
Zwecke eines mündlichen Gedankenaustausches im Laufe dieser oder der
nächsten Woche aufzusuchen. Die Fixierung des Zeitpunktes könnte wohl
am besten im kurzen Wege, eventuell telephonisch, erfolgen.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.
Ährenthal."
11, Conrad II J^J
Am 8. Juni 1911 erschien im offiziösen „Fremden-Blatt" ein Artikel,
in dem der Türkei nahegelgt wurde, sich mit den Albanesen zu
versöhnen.
Indessen war am 8. Juni 1911 der Sultan in Salonik gelandet, hatte
sich von dort auf das Kossovo polje (Amselfeld) bei Pristina begeben,
wo er am 16. Juni einen Selamlik (Truppenschau mit Gottesdienst) über
mehrere tausende daselbst versammelte Albanesen abhielt und diesen
50.000 türkische Pfund spendete.
Ein Streiflicht auf die Rolle, die Italien hiebei spielte, gibt folgende
Stelle eines Briefes des k. u. k. Militärattaches in Rom, Oberstleutnant
Mietzl, in weichem er über eine ihm bekannt gewordene Korrespondenz
berichtet. Sie lautet:
„Aus derselben kennte ich entnehmen, daß die Entsendung des
italienischen Kreuzers nach Durazzo ganz ohne vorheriges Einvernehmen
mit uns verfügt worden war. Es braucht kaum gesagt zu werden, daß
die Consulta hiemit in den Augen der Albanesen schön tun und auch
der italienischen Öffentlichkeit mit einem Erfolg aufwarten wollte. Ähren-
thal war hierüber sehr indigniert und hat dies der italienischen Regierung
in nicht mißzuverstehender Weise zu erkennen gegeben, welche ihrerseits
die Entsendung des Schiffes mit einem alarmierenden Bericht ihres
dortigen Konsuls über angebliche Lebensgefahr italienischer Angehöriger
rechtfertigt. Ährenthal blieb jedoch trotz wiederholt gemachter Versuche
der Consulta, ihre Vorgangsweise zu entschuldigen, auf dem Standpunkte,
daß dieses Faktum eine Verletzung des zwischen Italien und uns bezüglich
Albaniens geschlossenen Abkommens sei. Aus dem Umstände, daß der
gewisse Leitartikel im >Fremden-Blatt« unmittelbar nach der Entsendung
des Kriegsschiffes erschien und aus dem Ton der bezüglichen an Merey*)
gerichteten Erlässe ist zu erkennen, daß Ährenthal mit diesem Artikel
auch eine Revanche an San Giuliano nehmen wollte. Ährenthal hat
letzteres zweifellos erreicht, denn die hiesigen Kreise schoben recht ärger-
hch wieder uns einen Erfolg zu und hielten San Giuliano seine Energie-
losigkeit, seinen Mangel an Initiative und sein Nachhumpeln vor."
Nebst vielen sonstigen Informationen über Albanien erhielt ich solche
auch durch Herrn Franz Baron Nopcsa, einen unerschrockenen, unter-
nehmungslustigen Geologen, der schon seit Jahren Albanien wissenschaft-
lich durchforschte, die albanesische Sprache beherrschte, zahlreiche
Beziehungen, insbesondere bei den Stämmen im Norden des Landes hatte
und uns sehr wertvolle Dienste leistete.
*) Ö.-u. Botschafter in Rom.
162
Zur Charakteristik der ganz eigenartigen Verhältnisse gebe ich nach-
folgend einen seiner Briefe, (vom 22. Juni 1911) wieder, in dem er über
seine Versuche, die Versöhnung der Malissoren herbeizuführen, berichtet:
„Exzellenz !
Mein letzter Bericht war recht optimistisch und dies mit umsomehr
Recht, als die Skutariner Lokalregierung von mir eine schriftliche Fixierung
meines Programmes verlangt hatte und mich aufforderte, auch mit Thorgut
Pascha in Kontakt zu treten.
Ein Besuch bei Thorgut Schefket Pascha brachte aber eine große
Enttäuschung, als dieser sich unwiderruflich auf den Standpunkt stellte:
>zuerst müssen sich die Malissoren unterwerfen, dann kann man daran
gehen, zu besprechen, was für Erleichterungen zu gewähren seien.«
Nach Thorguts Benehmen voriges Jahr hätte natürlich weder ich
mich zu so einer Aktion — Treubruch befürchtend — hergegeben, noch
war irgend eine Aussicht vorhanden, die Malissoren hiezu zu überreden.
>X/ährend ich mit Thorgut redete, waren im türkischen Haupt-
quartier die Vorbereitungen gemacht worden, das Gebiet von Pulati und
§ala anzugreifen, und zwar trotzdem am folgenden Tage die Amnestie
proklamiert werden sollte. Angriff und Amnestie-Verkündigung erfolg-
ten gleichzeitig, offenbar, damit ersterer letztere neutralisiere, obzwar
schon Ton und Inhalt der Amnestieproklamation — deren in vier
Sprachen publizierter Text nicht gleichlautend veröffentlicht wurde —
genügend gewesen wären, die Malissoren von ihr abzuwenden.
Durch wen es inszeniert wurde, daß gleichzeitig mit der Amnestie-
proklamation die täglichen und allnächtlichen Schießereien am Cemufer
wieder plötzlich bedeutend stärker wurden, konnte ich positiv nicht
erfahren, ich glaube es war der gemeinsame Wunsch Thorgut Paschas
und der Rebellen.
Vor einigen Tagen wurden jene Häuser von Niksi, die von den
Rebellen wegen Patronenmangels evakuiert werden mußten, sofort von
den türkischen Truppen in Brand gesteckt.
Nach Kenntnisnahme von Thorgut Paschas Doppelspiel verließ ich,
meine Meinung über sem Benehmen nicht verhehlend, Skutari und ging
nach Podgorica.
In Podgorica und Trepsi sah ich folgendes:
Vor allem existieren hier mehrere Parteien und zwar vor allem eine
von König Nikolaus beeinflußte Partei, deren sichtbare Oberhäupter
Sokol Baci und sein Sohn sind und die zum Vernichtungskrieg drängt.
»Eher sterben als sich den Türken ergeben,« ist ihre Devise und da
Sokol Baci sein Hab und Out in Montenegro hat, außerdem von Brot-
lieferungen profitiert, hat er es leicht, seinem Programm treu zu bleiben.
11'
162
Man kann seine Partei die montenegrinische Regierungspartei nennen,
denn dadurch, daß die Rebellen die Waffen und Patronen von der
Regierung belcommen, sind sie genötigt, so zu tanzen wie König
Nikolaus pfeift. Ein weiteres Moment, wodurch diese Partei ihre Macht
erhält, ist die Existenz des »Montenegrinischen Hilfskomitees für die
Flüchtlinge, die Nichtkombattanten sind.« Dadurch, daß dieses Hilfs-
komitee jeden Augenblick in der Lage ist, die Mehllieferungen an die Nicht-
kombattanten einzustellen, hat es auch deren Verwandte, d. h. die Kombat-
tanten in der Hand und kann sie zwingen, sich nicht zu ergeben ; natürüch
behält es diesen Einfluß nur so lange, als die türkische Regierimg nicht
annehmbare Bedingungen stellt und deren Einhalten verspricht.
Die albanesische nationalistische Partei, mit Ismail Kemal und
Luigi Gorakuki an der Spitze, repräsentiert die zweite Partei; sie kämpft
für die Autonomie Albaniens und ist im Geheimen gegen die montene-
grinische Partei, kann jedoch, da sie von letzterer Wafien etc. erhält,
nichts machen. Sokol Baci ist offiziell ein hervorragendes Mitglied
dieser Partei, ihre Forderungen an die türkische Regierung sind, da sie
sich auf ganz Albanien beziehen, zu hoch gespannt.
Um den Schein zu wahren, werden die unregelmäßig ausgeteilten
Futterrationen an die Kombattanten von dieser Partei in der Gestalt
von Brotlaiben verabreicht, oft sind sie jedoch genötigt, sich mehrere
Tage von gekochtem Gras? (Brennessehi) zu nähren. Wenn ein Kombattant
zu seinen verwandten Nichtkombattanten nach Podgorica kommt, ißt er
vom Mehl der letzteren, da er dann weder vom Hilfskomitee noch von
den Nationalisten Nahrung erhält.
Als dritte Partei möchte ich mich hinstellen, da alle Malissoren
mich versichern, sie würden mir in allem und jedem folgen, Sokol Bacis
Popularität seiner Unterschlagungen halber einerseits, andererseits
wegen der Minierarbeit der Nationalisten im rapiden Sinken begriffen ist,
und die Nationalisten selbst im Volk kernen persönUchen Einfluß haben.
Das Ziel der türkischen Kriegspartei geht, wie ich in einem Bericht
an Seine k. u. k. Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand auseinandergesetzt
habe, darauf hinaus, die Katholiken Nordalbaniens vollkommen zu ver-
nichten, um darauf, wie mir Thorgut Schefket Pascha sagte, im ganzen
Gebiete bosnische Mohammedaner anzusiedeln, was mir auch von
anderen Jungtürken bestätigt wurde.
Die Mittel, die bisher angewendet Verden, habe ich an das »Vater-
land« telegraphiert und auch Seiner k. u. k. Hoheit unterbreitet.
Das Ziel der Montenegriner scheint dasselbe zu sein (Rache für
1908 — 1909); darauf läßt wenigstens die staffelweise, daher ineffektive
Waffenzufuhr mit Zwischenräumen von ein bis eineinhalb Monaten,
sowie die Lieferung von Waffen mit ungenügendem Munitionsvorrat
164
schließen. Offiziell erzählt man freilich, Montenegro will das Gebiet bis an
den Proni Mati, und viele Malissoren kämpfen, um der türkischen Ober-
hoheit zu entkommen und unter montenegrinische Oberhoheit zu gelangen.
Ungefähr mit den Zielen, die ich Exzellenz im vorigen Briefe
skizzierte, scheinen sich die Ziele jener Partei zu decken, die ich
türkische Friedenspartei nennen möchte und hier ihren Vertreter im
hiesigen türkischen Gesandten in Cetinje hat, der trotz meiner dürekt
feindlichen Haltung Thorgut Pascha gegenüber mich erst vorgestern in
Podgorica aufsuchte und aufforderte, meine Versöhnungsaktion wieder
aufzunehmen, ich unterbreitete ihm dementsprechend ein mündliches
Programm, las ihm ein gleichlautendes schriftliches einige Tage später
vor, und er ersuchte um eine Reinschrift, um diese seiner Regierung
unterbreiten zu können.
Da die Leute, wie ich mich überzeugen konnte, etwas kampfesmüde
sind, so wird das „aus dem Sattel heben" der montenegrinischen Partei,
sowie annehmbare Bedingungen vorliegen, Nationalisten und allen zum
Trotz leicht sein. Die einzige Gefahr — und diese ist sehr groß —
besteht darin, daß mu" von der montenegrinischen Regierung verboten
wird, mit den Albanesen in Kontakt zu treten, daß man meine Kon-
fidenten einsperrt und mich zu guter Letzt ausweist. Schon heute sehe
ich mich genötigt, Baron Giesls*) Intervention anzurufen.
Ein zweiter und effektiver Schachzug gegen Montenegros zum
Kampfe zwingenden Einfluß wäre eine ö.-u. Hilfsaktion zu Gunsten
der Nichtkombattanten, wodurch alle Albanesen von Montenegros
Befehlen unabhängig würden. Freilich sind zirka 12.000 Flüchtlinge
zu ernähren (pro Mann 1-2 Kilo Mais täglich, weiter nichts), und zwar
für zirka vier bis fünf Wochen, während welcher Zeit die vom hiesigen
türkischen Gesandten mit den Rebellenchefs vor einigen Tagen angebahn-
ten Besprechungen zu einem günstigen Ende geführt werden könnten,
sofeme die türkische Kriegspartei diese Besprechungen zuläßt.
Da in zirka zwei Wochen in Bregmatja mit 13.000 Bewohnern die
Malaria stark grassieren wird, in dem von 8000 Seelen bewohnten
Gebiet von Pulati und Sala, das von Truppen zemiert ist, Salz und
Mehl bereits ausgegangen sind und die Einwohner genötigt sind, ihre
Herden zu schlachten, deren Fleischvorrat nach memer Schätzung auf
ebenfalls zwei bis drei Wochen hinreicht, Sokol Bacis Sturz ebenfalls in
zirka zwei Wochen oder noch früher zu erwarten ist, worauf Montenegros
Wohltätigkeitsaktion gleichfalls aufhören dürfte, läßt sich das Ende
der ganzen Sache in zwei bis drei Wochen erwarten, und infolgedessen
verlieren alle kleinen Renkontres jede politische Bedeutung.
*) Ö.-u. Gesandter in Cetinje.
165
Die Position der Truppen an der Grenze ist eine solche, daß sie
das Durchschlüpfen von Leuten durch den Kordon bei Nacht nicht
hindern liönnen; sie halten und haben befestigt Decic, Helmina, Bulcovik,
Rapsa, Maja Psters, Kapa Brojs, Vukli, Osonja, Golis, Gropa Ljesnica.
Renkontres zwischen Rebellen und Truppen bestehen meist in einem nächt-
lichen Beschießen der türkischen Lager, Gefechten um den Besitz des
Cemtales (Selce, Tamare) oder Beschießung einzelner Leute bei Tag.
Daß unsere Monarchie hier eine mehr als schmähliche Rolle
spielt, die man auch hier gebührend würdigt
Für mich persönlich habe ich schon durch den Entschluß gesorgt,
falls ich nicht irgendwo im Cemtale liegen bleibe, aus dem Untertaiis-
verhältnis unserer Monarchie auszutreten und fremder Staatsangehöriger zu
werden, denn schUeßlich hat doch jede Seh und auch jede politische
Seh ihre Grenzen. Daß die Monarchie aber tatlos zuschaut, wie
zirka 70.000 Leute vom Erdboden verschwinden sollen, die von der Mon-
archie stets mit schönen Worten großgefüttert wurden, ist etwas arg.
Exzellenz können sich lebhaft denken, in welchem Seelenzustand
ich mich befinde, um so einen Entschluß zu fassen, bitte aber es mir
— wenigstens im persönlichen Verkehre — nicht zu verübeln.
Mit besonderer Hochachtung und besten Grüßen
Cetinje, 22. Juni 1911." Baron Nopcsa.
Soeben teilt mir Giesl mit, er könne sich für mich bei niemandem
in irgendeiner Weise verwenden, da jede Verwendung in meinem Inter-
esse mich zu einem Agenten unserer Regierung stempeln würde,
während ich jetzt nur die Rolle eines eigenmächtigen Agitators habe.
Das ist auch »Dank«."
Trotz aller Bemühungen wollte es in Albanien zu dauernder Ruhe
nicht kommen, ja es drohte sogar ein kriegerischer Konflikt zwischen
Montenegro und der Türkei.
In dieser Hinsicht führt ein Bericht vom 23. Juni 1911 des k. u. k.
Militärattaches in Konstantinopel folgendes aus:
„Im Falle eines Krieges zwischen der Türkei und Montenegro
kann man als sicher annehmen, daß die katholischen und orthodoxen
Albanesen versuchen werden, einen allgemeinen Aufstand gegen die
Türkei zu inszenieren. Die türkische Regierung rechnet mit dieser
Eventualität als mit einer feststehenden Tatsache, mißt derselben jedoch
keine große Bedeutung zu, da sie hofft, die Erhebung der christlichen
Albanesen durch deren an Zahl bedeutend überlegene mohammedanische
Konnationale paralysieren zu können.
Der Kriegsminister sagte mir, daß er im Falle eines Krieges gegen
Montenegro in erster Linie mohammedanische Albanesen an die
166
Grenze schicken werde. Der Marinem in ister gab zwar zu, daß der
kulturell und national fortgeschritteneie Süden — gleichviel ob christlich
oder mohammedanisch — den Türken feindlich gesinnt sei, betonte
jedoch, daß man die Tosken nicht zu fürchten habe. Dagegen seien
die halbwilden Nordalbanesen fanatische Mohammedaner, die sich nie mit
Montenegro gegen die Türken verbinden werden. Im allgemeinen behaup-
ten beide Minister, daß die Türkei in einem Auslandskriege wenigstens
vorläufig auf die mohammedanischen Albanesen unbedingt zählen könne.
Zu Gunsten dieser Ansicht der türkischen Funktionäre läßt sich
allerdings anführen, daß der im April d. J. bei Skutari aufgebotene
mohammedanische Landsturm tatsächlich gegen die katholischen
Malissoren zu Felde zog und sich auch — bezüglich seiner Ergeben-
heit gegen die Regierung — bewährt hat.
NX^eiters ist anzuführen, daß sich die im Vorjahre gezüchtigten
mohammedanischen Albanesen im Vilajet Kossowo dem Aufstand der
Malissoren nicht angeschlossen haben. Dagegen darf nicht übersehen
werden, daß die Führer der türkenfeindüchen, nationalalbanesischen
Bewegung — von Ismael Kemal angefangen — durchwegs Moham-
medaner sind und der Orden der Bektaschi, welcher rein nationale
Propaganda betreibt und sogar im niederen Volk viele Anhänger
findet, gleichfalls rein mohammedanisch ist. Daß sich die Albanesen
des Kossowo den Malissoren nicht angeschlossen haben, dürfte wohl
weniger auf ihre religiösen Gefühle, als darauf zurückzuführen sein,
daß sie noch nicht genügend mit Waffen versehen waren. Auch die
Erwartung der Sultanreise dürfte auf sie eine retardierende Wirkung
gehabt haben. Gegenwärtig sind wieder zahlreiche albanesische
Banden in Kossowo aufgetaucht, welche sich durch Überfälle auf
Truppen, Gendarmeriepatrouillen und einzelne türkische Offiziere
bemerkbar machen und hiedurch alles eher als Treue gegen das
„gemeinsame Vaterland" dokumentieren.
Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, daß die mohammedani-
schen Albanesen, zum großen Teil selbst die niedersten Volksschichten,
sehr gut wissen, daß ihre Urahnen Christen waren, die nur gezwungen
zum Islam übergetreten sind. Eine natürliche Folge dieses Bewußtseins
ist, daß die Albanesen, mit Ausnahme der Stadtbevölkerungen, im
allgemeinen nicht fanatisch sind, wozu auch die Verschiedenheit der
albanesischen Sprache und des albanesischen Volkstums von dem herr-
schenden Türkentum wesentlich beiträgt. Die seit Erteilung der Konsti-
tution außerordentlich tätige nationale Propaganda muß das religiöse
Gefühl der Albanesen immer mehr in den Hintergrund drängen. Bei
allen gebildeten Albanesen überwiegt demnach schon heute das
167
nationale Moment bei weitem das religiöse, bei dem niederen Volk ist
dieser Prozeß gegenwärtig im Werden gegriffen.
Sehr zustatten kommt dagegen der Regierung die Uneinigkeit der
albanesischen Stämme untereinander. Doch auch in dieser Beziehung
hat die revolutionäre Propaganda Fortschritte aufzuweisen. Denn
während im Vorjahre der Süden und Westen ganz ruhig geblieben ist,
gelang es dem Revolutionskomitee, schon heuer im größten Teile
Albaniens nationalalbanesische Petitionen hervorzurufen, Banden zu
organisieren und Unruhen zu stiften.
Angesichts dieser Umstände scheint mir der Optimismus der
türkischen Regierung in Bezug auf die mohammedanischen Albanesen
einigermaßen gewagt zu sein.
Hiesige Albanesen erklären mir vertraulich, daß ihr Endziel nur
die völlige Unabhängigkeit Albaniens von der Türkei sei und sie jede
Gelegenheit ergreifen werden, um diesem Ziele näher zu kommen. Wenn
man auch diese Auslassungen der albanesischen Hitzköpfe nicht wört-
lich nehmen kann, so geht doch aus denselben hervor, daß die Türkei
im Kriegsfalle mit Montenegro auf die Treue der mohammedanischen
Albanesen schon jetzt nicht mit Sicherheit zählen kann und entsprechend
starke Kräfte dazu verwenden muß, um eventuelle Aufstandsversuche
zu verhindern, beziehungsweise zu unterdrücken."
Der Bericht führt weiter aus, daß das Ziel des Königs Nikita von
Montenegro die Vereinigung seines Landes mit Albanien sei, daß er
„durch sein Eingreifen in der Mallisoren-Frage seine Aspirationen
enthüllt und gleichsam seine Kandidatur für Albanien vor Europa auf-
gestellt habe", daß er den Krieg mit der Pforte provozieren wolle und
dabei auf die Unterstützung Italiens und Rußlands rechne.
Die Zustände in Albanien waren die e i n e offene Wunde am auch
innerlich kranken Körper der Türkei, als zweite kam, ganz abgesehen
von dem bloß lokalen Drusen-Aufstand*), der Aufstand in Syrien und
Arabien hinzu.
Der Antagonismus zwischen den Türken und den sich kulturell
höher fühlenden Arabern, die Differenzen auf politischem und religiösem
Gebiet, die autonomistischen Tendenzen der Araber, die Idee eines selb-
ständigen Kalifates, aber auch die Unabhängigkeitsbestrebungen ein-
zelner Stammeshäupter ebneten dafür den Boden und waren Momente,
die England ausnützte, mit dem Ziel, sich einen gesicherten Landweg
von Ägypten nach dem Persischen Golf und Indien zu schaffen.
Die Scheichs I d r i ß und J a h i a eröffneten den Aufstand mit der
Belagerung von Sana.
*) Drusen ein ca. 100.000 Köpfe zählender Stamm im Libanon.
168
In seinem, auch schon früher angeführten Bericht vom 26. Dezem-
ber 1910 über eme Unterredung mit Izzet Pascha, dem türkischen Chef
des Generalstabes, schreibt der k. u. k. Militärattache in Konstantmopel :
„Auf die Zustände in Asien übergehend, erklärte mir Izzet Pascha,
daß der Drusen-Aufstand trotz des hartnäckigen Widerstandes
für das Reich keine besondere Bedeutung habe. Die Drusen seien weder
Mohammedaner noch Christen, werden von den angrenzenden Volks-
stämmen gehaßt und genießen auch im Auslande keine besonderen
Sympathien. Der Aufstand werde daher über kurz oder lang nieder-
geschlagen und die Drusen mit Gewalt zur Ruhe und zum Gehorsam
gezwungen werden. Anders stehen die Dinge im Ostjordanland, wo
sich Araber gegen die Staatsgewalt empört haben. Izzet Pascha ließ
deuthch durchblicken, daß man auf der Pforte bei Eintreffen der ersten
Nachrichten äußerst besorgt war und zwar nicht allein, weil man die
Ausdehnung der Revolte nicht übersehen konnte, sondern hauptsächlich
wegen der politischen Bedeutung einer arabischen Empörung und Unter-
bindung der Kommunikation zu den heiUgen Stätten des Islams. Nach-
dem nun die vom Hauran gesendeten Truppen ohne Widerstand in
Kerak eingezogen sind und die darin eingeschlossenen Beamten,
Soldaten und Einwohner befreit haben, habe man sich beruhigt und
hoffe in kurzer Zeit die Ruhe wiederherzustellen.
Die Lage in Südarabien sei nicht so gefährlich, wie sie von der
Presse dargestellt werde. Scheich I d r i s s und Imam Y a h i a seien
allerdings ganz unverläßlich und bei günstiger Gelegenheit stets bereit,
gegen die Regierung zu rebellieren, doch seien die im Yemen und Assyr
befindlichen Truppen stark genug, um die beiden niederzuhalten. Eine
Expedition sei gegenwärtig nicht notwendig. Auch die Gefahr, daß die
genannten Häuptlinge sich gegen die Regierung verbünden könnten, sei
kaum vorhanden und zwar weniger wegen der Entfernung der beiden
von einander, die kaum 300 km beträgt, sondern vielmehr wegen der
Gegensätzlichkeit ihrer religiösen Tendenzen. Während nämlich Imam
Yahia einer der vielen Nachkommen des Propheten ist (und sich auf
dieser Basis einbildet, das rechtmäßige Oberhaupt aller Gläubigen zu
sein), gibt sich Seid Idriss als Mahdi aus und muß deshalb dem
ersteren als ketzerischer Sektierer erscheinen. Sollten sich die beiden
begegnen, so würden sie sich infolge dieses Gegensatzes eher sofort
bekämpfen, als sich gegen irgend jemand zu einigen.
Indem ich hiemit die interessanten Ausführungen des Chefs des
ottomanischen Generalstabes wiedergebe, erlaube ich mir hinzuzufügen,
daß man in vielen Kreisen Konstantinopels — wie mir von wohlinfor-
mierter Seite mitgeteilt wird — den kommenden Ereignissen mit einer
gewissen Besorgnis entgegensieht. Die Lage in Syrien und in
16Q
Arabien ist durchaus nicht klargestellt; Schwarzseher vermuten in
der Revolte im Ostjordanland bereits den Vorboten emer allgemeinen
arabischen Erhebung und bezeichnen in einem Atem den K h e d i v e
und England als die Anstifter der bedumischen Rebellionen. In
Europa ist die Lage der lürkei gewiß schwierig und könnte bei
erneuerter Erhebung der AlDanesen im Eruhjahr wohl geradezu
kritisch werden. Trotz dieser Situation erregte es em gewisses Erstaunen,
daß der Kriegsminister in seiner Rede bei Gelegenheit der Diskussion
des Kredites von 15 Millionen Piaster zum Ankaufe von Transport-
schiffen erklärte, diese Schiffe unbedingt bis zum März baten zu
müssen, da, wie er wiederholt betonte, »das Vaterland in Gefahr sei«.
Es dürfte wohl im Zusammenhange mit dieser etwas nervösen
Stimmung stehen, wenn sich in letzter Zeit ein immer deutlicherer
Umschwung besonders der militärischen Kreise zu Gunsten einer
engeren Anlehnung an unsere Monarchie bemerk-
bar macht. Dieser \vechsel tritt in der wohlwollenderen Behandlung
unserer Industrie besonders zutage und ist auch mir durch das weniger
zurückhaltende Benehmen der militärischen Funktionäre deutlich wahr-
nehmbar. Mit der wachsenden Entfremdung zwischen der
Türkei einerseits und den Westmächten sowie
Italien anderseits sind unser Ansehen und Gewicht am Bosporus
entschieden gestiegen und es ist gegenwärtig begründete Aussicht vor-
handen, diese günstige Position längere Zeit festhalten zu können."
Die Türken, zum militärischen Einschreiten gezwungen, entsetzten
zwar am 5. April 1911 das belaeerte Sana, wurden aber am 14. Juni
1911 bei Assyr von den Arabern geschlagen.
Der arabische Aufstand blieb eine dauernde Gefahr für die Türkei.
All diese Komplikationen verschlimmerten auch die inneren
Zustände, da sie dem schroffen Gegensatz zwischen Jung- und Alt-
türken stets neue Nahrung gaben. Dazu kam, daß die Armee in gänz-
licher, von konservativen Kreisen angefeindeter Reorganisation begriffen war.
Diese schwierige Lage der Türkei nützte nun Italien aus, um seiae
langgehegten Pläne auf TripoUs, die es sich längst sowohl im Dreibund als
bei der Entente zu verbürgen verstand, zur Durchführung zu bringen.
Durch nichts herausgefordert, überfiel es mit
einer Skrupellosigkeit, die ihresgleichen sucht, die
wehrlose Türkei.
An der Selbstverständlichkeit, mit der die Mächte der Entente dies
geschehen ließen, läßt sich die ganze Größe jener Heuchelei ermessen,
mit der dieselben Mächte sich in Entrüstung hüllten, als das durch
Serbien seit Jahren provozierte und schließlich brutalst herausgeforderte
Österreich-Ungarn notgedrungen den Schlag zur Abwehr führte.
170
Ausbruch des libyschen Krieges (Tripolis).
Die Aktion gegen Tripolis reifte im Sommer 1911. Mit Bezug auf
San Giulianos Zurückweichen vor Ährenthal in Angelegenheit der
italienischen Schiffsentsendung nach Durazzo schreibt Oberstleutnant
Mietzl (ö.-u. Militärattache in Rom) in seinem Brief vom 21. Juni 1911:
„Diese Episode hat gewiß nicht beigetragen, San Giuhanos Nicht-
populariiät abzuschwächen. Letztere kam übrigens wieder in der
Debatte über das äußeie Budget zum Ausdruck, in welcher San Giu-
liano wegen seiner Schwäche in der äußeren Politik, namentlich wegen
Tripolis — Foscari wünschte direkt dessen Okkupation — stark
angegriffen wurde. San Giulianos Antwort war wie immer auf den ihm
eigenen, nüchtern korrekten Ton, der einmal nicht für die Italiener
geschaffen ist, gestimmt und machte keinen Eindruck. Besonders
geärgert schien man über die Erklärungen über Tripolis. San Guüiano
gab zwar zu, daß Italien dort auf eine Art Sonderstellung Anspruch
habe, stellte aber alle die übertriebenen und erfundenen Berichte, die
die italienische Presse seit Monaten über Tripolis, über die Behandlung
der Italiener durch die Türkei und über die Penetration der anderen
Staaten in die Welt setzte, um die öffentliche Meinung zu haran-
guieren, auf die tatsächlichen Verhältnisse richtig, schob die Schuld an
mißlungenen italienischen Unternehmungen*) auf Fehler der italie-
nischen Geschäftsleute zurück und empfahl im übrigen der Presse mehr
Mäßigung und Wahrheitsliebe, um die türkischen Behörden nicht noch
mehr gegen die Italiener einzunehmen."
Ob diese Rede der Überzeugung San Giulianos entsprach oder
aber nur dazu dienen sollte, die Absichten Italiens zu verhüllen, mag
dahingestellt bleiben.
Es mehrten sich die Anzeichen, daß in Italien militärische Vor-
bereitungen im Zuge seien, die auf eine auswärtige Aktion schließen
ließen, und zwar unter Beiziehung der Flotte mit dem voraussichtlichen
Ausgangspunkt in Süditalien (Neapel, Tarent). Ob die Aktion auf
Albanien, ob sie auf Tripohs abzielte, war anfangs fraglich.
*) Gemeint sind solche wirtschaftlicher Natur.
171
Ich erhöhte die Aufmerksamkeit nach dieser Richtung und wendete
mich mit nachfolgendem Schreiben an Graf Ährenthal:
rr TT 11 I „Wien, am 24. September 1911.
Euer Exzellenz! " ' ^
Auf Grund des mh: von Seiner Majestät ein für allemal Allerhöchst
erteilten Befehles, mich hinsichtlich aller wichtigen politischen Fragen
mit E. E. in Kontakt zu erhalten, beehre ich mich an E. E. das vorliegende
Schreiben zu richten:
Während die zwischen Deutschland imd Frankreich schwebende
Marokko-Frage aller Voraussicht nach einer friedlichen Lösung entgegen-
reift, ist die von Italien aufgegriffene tripolitanische Frage in ein Stadium
getreten, welches meiner Ansicht nach nicht nur die höchste Aufmerksam-
keit der Monarchie, sondern auch eine für die etwa erforderlichen
militärischen Vorkehrungen bestimmende Stellungnahme erheischt.
Es sei mir gestattet, an dieser Stelle meine rein subjektiven Anschau-
xmgen auszusprechen.
Ich halte dafür, daß das politisch aufstrebende, national-ökonomisch
prosperierende, sich militärisch rührigst entwickelnde und eine große
nationale Idee verfolgende Italien daran festhält, die italienischen Gebiete
der Monarchie zu erwerben, die Herrschaft in der Adria zu gewinnen,
die Machten ifaltung der Monarchie auf dem Balkan zu hindern und an
deren Stelle den eigenen Einfluß zu setzen, sowie daß es in Tripolis
dieselbe Stellung anstrebt, wie Frankreich etwa in Algier und Tunis.
In kluger Verfolgimg dieser großen Ziele sucht es für das jeweilig
Anzustrebende die günstigen Momente zu benützen, dabei die anderen
scheinbar rückstellend, aber bereit, sie sofort wieder aufzunehmen, wenn
die er Sieren erreicht sind.
Dem entspricht es ganz, daß Italien, welches jetzt den Moment hin-
sichtlich Tripolis gekommen sieht, alles aufbietet, um sich unter schein-
barer Rückstellung der übrigen Ziele die Freundschaft, Neutralität oder
selbst Unterstützung jener Mächte zu erkaufen, zu welchen es die
Verfolgung der anderen Ziele in Gegensatz bringen muß. Dies betrifft
vor allem die Monarchie.
Es drängt sich nun für diese die Frage auf, ob diese die auf die
sukzessive Erreichung seiner weiten Ziele gerichtete Politik Italiens durch-
kreuzen will oder nicht, also im vorliegenden Falle, ob sie sich den
italienischen Aspirationen in Tripolis feindlich gegenüberstellen, sie
dadurch verhindern oder ob sie, sobald Italien in Tripolis verwickelt ist,
selbst mit Italien abrechnen will, um Itahens Absichten hinsichtlich der
italienischen Gebiete der Monarchie, der Herrschaft in der Adria und der
Stellung am Balkan für eine lange Epoche zu vereiteln.
172
In beiden Fällen erscheint es notwendig, schon jetzt alle jene
militärischen Vorkehrungen ins Auge zu fassen und eintreten zu lassen,
welche notwendig sind, um Itahen gegenüber nicht schon bei Beginn
eines Konfliktes in der Hinterhand zu sein.
Ich muß hier ganz besonders hervorheben, daß aller Voraussicht nach
kommende Kriege von dem aggressiv auftretenden Partner überfallsweise
werden begonnen werden, weil dies einen enormen Vorteil bietet.
Alle militärischen Maßnahmen Italiens (wie Mannschaftseinberufungen,
Pferdestehung, Truppen Verlegungen, maritime Vorkehrungen, bahn-
technische Maßnahmen etc.) müssen daher ganz besonders auch von
diesem Standpunkt beurteilt, scharf beobachtet und wenn ihre Ungefähr-
lichkeit für die Monarchie nicht zweifellos feststeht, mit sofortigen
Gegenmaßnahmen beantwortet werden. Unterlassungen in dieser
Beziehung müßten die schwerste Verantwortung nach sich ziehen.
Ich bitte daher E. E., mich ganz besonders auch in dieser Richtung
informiert zu erhalten.
Es sei mir gestattet, an dieser Stelle auch jener hie und da vernehm-
baren Anschauung entgegenzutreten, daß eine dauernde Okkupierung von
Tripolis wegen der Notwendigkeit, dort Truppen zu belassen, eine
dauernde militärische Schwächung Italiens bedeuten würde. Dieser
scheinbare Nachteil wird weitaus wettgemacht durch den großen Macht-
zuwachs, welchen Italien durch eine solche Gebietserweiterung erfahren
würde. Die große finanzielle Kräftigung, die Bevölkerungsentwicklung
etc. etc., würden in Hinkunft auch Italiens militärische Machtstellung
erhöhen.
Es ist dies in ganz analoger Weise der Fall vAe bezüglich Bosniens
und der Monarchie, oder Algiers und Frankreichs etc. etc.
Wenn ich im vorstehenden jener Lage gedacht habe, welche die
Monarchie in kriegerischen Gegensatz zu Italien zu bringen vermöchte,
sobald dieses aktiv in die Tripolisfrage eintritt, möchte ich noch der
Möglichkeit gedenken, daß die Monarchie das Engagement Itahens in
Tripolis dazu benützt, um gleichzeitig auf anderem Gebiete, also am
Balkan, jene Ziele zu verfolgen, bei deren Erstrebung sie in Hinkunft
gefaßt sein müßte, dem Widerstand Italiens zu begegnen; auch für diesen
Fall erschiene es unerläßlich, jetzt schon an die entsprechenden militä-
rischen Vorbereitungen zu gehen.
Ich resümiere daher:
Militärische Vorkehrungen erscheinen notwendig:
wenn die Monarchie mit einem Konflikt mit Italien rechnen muß,
wenn sie mit aktivem Vorgehen am Balkan rechnen will,
endlich
173
wenn Italien irgendwelche kriegerische Maßnahmen trifft, bei welchen
es nicht ganz zweifellos feststeht, daß sie nicht gegen die Monarchie
gerichtet sind.
Bei der schwerwiegenden Bedeutung dieser Fragen erbitte ich mir
E. E. geneigte Bekanntgabe Ihres Standpunktes und erbitte mir auch
die geneigte fortlaufende Verständigung hinsichtlich aller diese vitalen
Fragen berührenden Vorkommnisse, um meiner Pflicht hinsichtlich der
konkreten Kriegsvorbereitungen nachkommen zu können; insbesondere
auch dahin, daß jede militärische Überraschung der Monarchie aus-
geschlossen erschiene.
Sollten E. E. Wert darauf legen, meine Anschauung hinsichtlich der
beregten Frage kennen zu lernen, so geht diese Anschauung dahin, daß
sich die Monarchie dem Schritte Italiens in TripoUs entschieden ablehnend
gegenüberstellen, sich die volle Freiheit des Handelns wahren und im
Falle der italienischen Aktion in Tripolis entweder gegen Italien aktiv
eingreifen oder sich auf einem anderen Gebiete in mindestens gleich-
wertigem Maße schadlos halten sollte, indem ich in dieser Frage die
Monarchie viel vitaler betroffen erachte, als dies hinsichtlich Deutschlands
bezüglich Marokkos der Fall war.
Wenn E. E. es im Interesse der Sache zweckdienlich erachten sollten, mit
mir persönlich Rücksprache zu pflegen, so bitte ich über mich zu verfügen.
Empfangen E. E. den Ausdruck meiner vollen Ergebenheit
Conrad, G. d. I."
Noch einmal schien das Schicksal Österreich-Ungarn die Chance
zu bieten, mit einem seiner klar erkennbaren Gegner (Italien, Serbien)
abzurechnen.
Sich durch voraussichtslos eingegangene, überholte Traktate*) und
diplomatische Skrupel davon abhalten zu lassen, war Selbstmord.
Im übrigen hat Italien sich in der Folge über ganz andere Verträge
hinweggesetzt, auch traf für den vorgedachten die Voraussetzung nicht
zu, daß die Türkei im Zusammenbruche sei.
Rußland litt an schweren inneren Kämpfen und war militärisch noch
nicht fertig. Seine unter dem Titel von „Probemobilisierungen" durch-
*) Die Bindung war im Jahre 1Q02 ohne jedweden verläßlichen
Gegenwert durch Graf Goluchowski eingegangen worden, der die
Erklärung abgegeben hatte, daß die Monarchie die Ansprüche Italiens
auf Tripolis anerkenne und Italien bei einer diesbezügHchen Aktion freie
Hand gebe ; allerdings nur für den Fall eines Zusammenbruches
der Türkei.
174
geführten großen Vorbereitungen begannen erst im Jahre 1912. Frank-
reich kämpfte in Marokko, wo auch Spanien engagiert war. Zwischen
Deutschland und Frankreich schwebte die Marokkofrage, die sich in der
Folge friedhch löste, was für diesen Zeitpunkt nicht auf kriegerische
Dispositionen Frankreichs schließen ließ. Weder Frankreich noch Eng-
land konnten ein Interesse haben, Italien als Mittelmeermacht und als
Konkurrenten um den kleinasiatischen Besitz heranwachsen zu lassen,
Englands Heeresreform war erst im Werden. Die Balkanstaaten halten
1911 mit der miUtärisch noch ungebrochenen Türkei zu rechnen; der
Gegensatz zwischen Bulgarien und Rumänien war nicht ausgetragen;
sicher aber war, daß jedes kommende Jahr die Lage Österreich-Ungarns
nur wesentlich verschlechtern würde.
Es geschah nichts, man ließ sich von Italien völlig über-
raschen und ließ es ruhig gewähren.
Italien aber handelte rasch, rücksichtslos und ohne Skrupel.
Am 27. September 191 1 richtete es ein schroffes Ultimatu m*)
an die Türkei, wonach diese innerhalb 24 Stunden zu antworten
hatte, ob sie die Besetzung Tripolitaniens und der Cyrenaika zulassen
wolle oder nicht. Dem, wie nicht anders erwartet werden konnte,
abschlägigen Bescheid folgte am 29. September die Kriegserklärung seitens
Italiens und das Expeditionskorps unter General Caneva ging unter
Konvoi der Flotte nach Afrika ab.
Am 4. Oktober 1911 wurde Tobruk, am 5. Oktober Tripolis besetzt.
Als einleitende Episode hatten die Italiener eine Festsetzung in
Prevesa versucht, stießen aber auf den Widerstand Österreich-Ungarns
und der übrigen Mächte, worauf sie davon abließen. San GiuUano
erklärte, daß Italien den Status quo am Balkan selbst nicht stören wolle.
Darüber berichtete Oberst Pomiankowski unter dem 3. Oktober 1911 :
„Graf Ährenthal v/ar über den italienischen Angriff auf Prevesa sehr
aufgebracht und hat Sonntag den 1. Oktober mit dem Herzog von
Avarna**) diesbezüghch sehr ernst gesprochen. Im Falle einer wirk-
lichen Landung der Italiener bei Prevesa wären wir nicht müßige
Zuschauer geblieben***).
*) Im Wesen weit schroffer als jenes Österreich-Ungarns an Serbien
im Jahre 1914, da es rundweg die Abtretung einer Provinz verlangte.
**) Italienischer Botschafter in Wien.
***) Das darauf hin erfolgende Nachgeben Italiens war einer jener
diplomatischen Triumphe, mit denen man das Reichsschiff in sicherer
Bahn zu steuern vermeinte. Italien aber ließ sich nicht stören und
verfolgte weiter seine positiven Ziele.
175
Infolge der Ereignisse bei Prevesa sei die Stimmung unter den Groß-
mächten, speziell in England und Frankreich, für Italien wesentlich
ungünstiger geworden.
Sir Edward Grey hat sich dem italienischen Botschafter gegenüber
diesbezüglich in scharfer Weise ausgesprochen."
Am 11. Oktober 1911 besuchte mich der türkische Militärattache
Oberst Blaque Bey. Er wies darauf hin, daß also der Krieg erklärt sei und
fragte, ob ich glaube, daß Italien auch am Kontinent etwas unternehmen
werde, und was meiner Ansicht nach die Türkei diesfalls tun solle.
Ich erwiderte, daß ich nicht Minister des Äußern bin und es nicht
meine Sache wäre, als Soldat Politik zu treiben. Ich könne nur eine
private Ansicht äußern, etwa so, wie wenn wir zusammen im Kaffeehaus
sitzen würden und setzte fort:
„Wenn ich ein Türke wäre, würde ich der Türkei raten, falls Italien
etwas Feindliches auf dem Kontinent unternimmt, ein Rundschreiben an
die Mächte zu richten, worin das Vorgehen Italiens dargelegt wird. Das
Rundschreiben dürfte nur wirkUche Daten enthalten, also ob tatsächlich
eine Landung erfolgte, ob Italien in Albanien gegen die Türkei agitiert,
oder ob Italien in Griechenland etwas unternimmt. Die Türkei müsse den
Mächten zu bedenken geben, welch große Gefahr hierin liege, sowie,
daß das, was heute der Türkei geschieht, auch anderen geschehen könne."
Dann fügte ich bei, es wäre anzunehmen, daß die italienische Flotte aus-
genützt wird, auch in anderen Gebieten (außer Nordafrika) aufzutreten.
Bei dem Gang der Ereignisse kam es mir sehr darauf an, ununter-
brochen über die Vorgänge an der Zentralstelle in Itahen — also Rom —
unterrichtet zu sein, von wo aus alle militärischen Maßnahmen ihren
Ausgang hatten. Dies war mir das Wichtigste, das Detail der militärischen
Ereignisse in Tripolis trat demgegenüber zurück.
In klug vorbedachter Weise lud jedoch Italien*) die Militärattaches
ein, nach Tripolis zu kommen. Es hielt sie dabei aber eigentlich auf
einem in See liegenden Kriegsschiff interniert, um ihnen nur dort zeit-
weise Einblick zu gewähren, wo es Italien paßte. Da auch seitens unseres
Auswärtigen Amtes die Zustimmung hiezu gegeben wurde, richtete ich
folgendes Schreiben an Exzellenz Baron Bolfras:
r~ rr 11 1 „Steyr, am 14. Oktober 1911.
Euer Exzellenz! " -^ '
Ich bitte zu verzeihen, daß ich E, E. hinsichtlich der Belassung
Mietzls in Rom so sehr belästige, aber ich kann es nicht fassen, daß man
ihn gerade jetzt von dort wegnimmt.
*) Nachdem es unsere Bitte, einige Offiziere an der Expedition teil-
nehmen zu lassen, (trotz des Bundesverhältnisses) abgelehnt hatte.
176
Die Italiener haben einen famosen Witz gemacht, indem sie alle
Attaches nach Tripolis einluden. Sie schaffen sich damit mit einem
Schlage alle militärischen Beobachter vom Hals; ich habe nicht Lust,
diesem Witz aufzusitzen.
Wenn unser Gesandter in Belgrad bei der Krisis 1909 auf Hochzeits-
reise war und jetzt im entscheidenden Moment der Tripolisüberraschung
unser Botschafter in Rom auf Urlaub ist, überdies auch jener von Kon-
stantinopel, so ist das nicht meine Sache, aber die Militärattaches befa'effen
mich und meine Verantv^ortung, und ich möchte doch bitten, meine
Stimme zu hören, umsomehr, als man mir ja in allen Fragen des Kund-
schaftsdienstes nur Hindemisse bereitet, selbst bis zum Urlaubsverbot an
Offiziere, wie es vor kurzem der Fall war.
Italien hat seine Flotte mobilisiert, hat 100.000 Mann einberufen, hält
zwei weitere Jahrgänge hiezu bereit, arbeitet überhastet an den venetiani-
schen Eisenbahnen, und wir schicken unsere militärischen Organe auf
Kriegslustreise !
Ich bitte E. E. um gütige Vertretung meines Standpunktes bei Seiner
Majestät.
Genehmigen E. E. den Ausdruck der ganz besonderen Verehrung,
mit der ich stets bin
Euer Exzellenz gehorsamster ^ , ,,
^ Conrad."
Meiner Bitte wurde so weit entsprochen, daß Oberstleutnant Mietzl
zwar nach Tripolis abgehen, aber nach kurzem Aufenthalt von dort
„unter irgend etwas Plausiblem" nach Rom zurückkehren solle.
Für alle Fälle hatte ich jedoch schon den Generalstabshauptmann
Baron Seilern nach Italien entsendet, um hauptsächUch über die mili-
tärischen, aber auch über sonstige wissenswerte Vorgänge Berichte zu
erhalten. Einer derselben lautete wie folgt:
„Rom, 23. Oktober 1911.
Unter dem Eindrucke der Jubiläumsfestlichkeiten wurde die öffent-
liche Meinung in einer Weise beeinflußt, die allgemein glauben machte,
daß die Nation den Krieg wolle und die Regierung — man versichert,
daß diese keine gewaltsame Lösung des Konfliktes gewollt hatte — uoirde
zum Nachgeben gezwungen, wollte sie nicht ihr ganzes Prestige verlieren.
Insbesondere Giolitti, der die Lösung sozialer Probleme auf sein
Programm geschrieben hatte, war durchaus nicht entzückt von dieser
Unterbrechung seines Arbeitsprogrammes und von den ungeheuren Aus-
gaben, die von der Aktion in Tripolis verschlungen werden.
Der ganze Vorgang zeigte die terroristische Macht der
nationalistischen Partei mit ihrer imperialistischen Politik
12, Conrad II |77
und es ist gar nicht unlogisch, daß diese einmal das dringende Bedürfnis
empfindet, ihren Hunger an den >terre irredente« zu stillen.
Es ist vielleicht zu viel gesagt, wenn man dieser Partei eine parlamen-
tarische Majorität zuspricht; im Gegenteil, sie stellt derzeit nur eine
Minorität vor, aber eine sehr starke und sehr tatkräftige und sehr gut
organisierte Minorität. Und wie ja so oft in der Geschichte, haben wir
ja auch diesmal gesehen, wie eine kräftige Minorität durch geschickte
Schlagworte das ganze Volk zu einem Entschluß gebracht hat, der ihm
im Grunde genommen fem gelegen ist.
Dermaßen ist es ja ganz und gar nicht unmöglich, daß diese Partei
eines Tages ihre Bestrebungen mit der vollen Wucht ihres Ungestüms
gegen die nordöstliche Grenze wendet, umsomehr, als sie
in diesem Falle gewiß die ganze Nation geschlossen hinter sich haben
würde ....
.... Dermalen freilich hält man sich zurück, denn in diesem Augen-
bhcke bedarf man ja mehr denn jemals der Sympathien in Wien."
Am 18. Oktober besetzten die Italiener Homs, am IQ. Oktober Derna
und Benghasi. Indessen aber war es Neschad Bey und dem energischen
Enver Bey gelungen, die geringe Zahl türkischer Truppen mit den
arabischen Stämmen zu vereinigen und den Italienern scharfen Wider-
stand entgegenzusetzen. Insbesondere, wenn sie versuchten, aus der
schützenden Sphäre der Schiffsgeschütze gegen das Innere des Landes
vorzudringen. In der Zeit vom 23. bis 26. Oktober wurden die Italiener
sogar aus ihren Stellungen geworfen.
Über die damalige Auffassung der Lage in Konstantinopel berichtet
der k. u. k. Militärattache wie folgt:
„Präs. 31./10. 1911.
Geh. Nr. 55/1911. Konstantinopel, am 24. Oktober 1911.
Euer Exzellenz!
In der geheimen Kammersitzung vom 18. d. M. hat der Großvezier
Said Pascha erklärt, daß die Isoliertheit der Türkei den größten Fehler
der äußeren Politik des früheren Kabinetts darstelle. Diesem Fehler sei
hauptsächlich die gegenwärtige Bedrängnis des Reiches, sowie der Ver-
lust einer Provinz zuzuschreiben. Said Pascha gab femer zu verstehen,
daß er imstande wäre, eine vorteilhafte Allianz abzuschließen, ohne daß
hiedurch die Türkei unter die Vormundschaft der betreffenden Mächte
geraten würde. Die Kammer gab hierauf der neuen Regierung mit
bedeutender Majorität ein Vertrauensvotum und das Land erwartet nun-
mehr die Resultate der von Said Pascha eingeleiteten diplomatischen
Aktion.
178
Um nun die hieraus sich ergebende Lage beurteilen zu können, mu3
man sich vergegenwärtigen, daß die Türkei von ihren neuen AlHierten
eine entschiedene Einflußnahme zu ihren Gunsten in der TripoHsaffäre,
dann eine Garantierung des gegenwärtigen Besitzstandes erwartet und
fordert. Bezüglich Tripolis kann es sich nur um das Zugeständnis der
Souveränität des Sultans handeln und diesbezüglich könnten sowohl die
Mächte der Tripleallianz als auch jene der Tripleentete einen gewissen
Einfluß oder Druck auf Italien ausüben, wobei der Verlauf der Ereignisse
in Afrika wesentlich in Betracht kommen muß. Von diesem Standpunkte
betrachtet, tritt die Tripolisfrage für die neue Orientierung der türkischen
Politik in den Hintergrund und erscheint es als wichtiger und ent-
scheidender, welche Mächtegruppe überhaupt in der Lage wäre, der
Türkei ihren gegenwärtigen Besitzstand zu verbürgen.
Diesbezüglich ist es nun von allergrößter Bedeutung, daß sich
Deutschland in der Marokkoaffäre offenbar als zu schwach erwiesen hat,
um gegen die Weltmacht Englands auftreten zu können. Der Deutsche
Kaiser, welcher sich vor einigen Jahren in Tanger als der Retter des
Scherifenreiches und Freund und Beschützer der islamitischen Welt
erklärte, ferners vor einigen Monaten ostentativ ein Kriegsschiff nach
Agadir gesendet hat, mußte Marokko an Frankreich ausliefern und sich
mit Kompensationen am Kongo abfinden lassen. Jedem Osmanen und
Mohammedaner muß es jetzt klar sein, daß Deutschland der englischen
Seemacht nicht gewachsen und demnach auch nicht imstande ist, den
türkischen Besitz gegen einen eventuellen englischen Handstreich zu
schützen. Der angebliche deutsche Schutz, unter dem sich die Osmanen
bisher so sicher fühlten, erweist sich jetzt als eine Fiktion, und da
Deutschland der Türkei auch keinerlei direkten Schaden verursachen kann,
so fälh auch die Grundlage für den bisherigen deutschen Einfluß in
Konstantinopel in sich zusammen.
Von den Mächten der Tripleentente kommt hauptsächlich England
für ein Bündnis mit der Türkei in Betracht und dies umsomehr, als auch
gerade Großbritannien dem Osmanischen Reiche am gefährlichsten werden
kann. Besonders gegenwärtig, wo sich Deutschland entschieden inferior
gezeigt hat, besteht für England gar kein Grund mehr, die Türkei zu
schonen und derselben die Besitzungen am Persischen Golf noch länger
zu lassen. Auch der Moment ist jetzt noch günstig; nach einigen
Jahren, d. i. mit dem Fortschreiten des Baues der Bagdadbahn und mit
der Stärkung der deutschen, ö.-u. und türkischen Flotte, wird sich die
Lage entschieden zu Ungunsten Englands verändern. Es fragt sich nun,
ob es unter diesen Umständen überhaupt für England vorteilhaft wäre,
eine Allianz mit der Türkei abzuschließen und sich darauf die Hände
12*
179
zu binden, vielmehr scheint das Gegenteil den britischen Interessen zu
entsprechen, d. h. den Augenblick auszunützen und einen Vorwand zu
suchen, um sich Südmesopotamiens zu bemächtigen. Es erscheint dem-
nach recht zweifelhaft, ob selbst die Überlassung von Kuweit und des
Bahnbaues Bagdad — Persischer Golf genügen würde, um die englische
Freundschaft für die Türkei zu erkaufen.
Die Sache wird jedoch noch schv^eriger, wenn man bedenkt, daß
England mit Frankreich und Rußland verbündet ist und diese Staaten
ihre Zustimmung zu einer Allianz selbstverständlich auch nur gegen
entsprechende Konzessionen geben würden. Rußland würde Respek-
tierung des Vertrages bezüglich der Bahnen im Becken des Schwarzen
Meeres, den Balkanbund imd die Adriabahn, Frankreich Bahn-
konzessionen in Europa und Asien und Kontrolle der Finanzen durch
die Ottomanbank verlangen. Daß unter solchen Bedingimgen eine
Allianz mit den Tripleententemächten doch einer Vormundschaft der
Türkei durch dieselben gleichkäme, kann hiemit nicht zweifelhaft
erscheinen.
Erweist sich nun ein engeres Verhälüiis der Türkei zu England als
undurchführbar, so wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als doch
wieder zu Deutschland und Österreich-Ungarn zurückzukehren und zu
versuchen, das osmanische Staatsschiff mit Hilfe dieser Mächte über
Wasser zu halten. Ob sich Deutschland trotz Marokko der Türkei
gegenüber verpflichten kann, England im Falle eines Angriffes auf Meso-
potamien den Krieg zu erklären, ist höchst zweifelhaft. Dagegen ist es
möglich, daß Deutschland und Österreich-Ungarn die Türkei gegen
Angriffe von Seite Rußlands, Italiens und der Balkanstaaten sichern und
hiemit dem Osmanischen Reiche seinen gesamten Besitz mit Aus-
nahme Südmesopotamiens garantieren.
Allerdings wäre hiebei die überaus wichtige Finanzfrage in
Betracht zu ziehen, von welcher die Möglichkeit einer Allianz mit den
Zenta'almächten überhaupt abhängt. Daß im Falle des Abschlusses des
deutsch-österreichisch-türkischen Bündnisses die französische Geldquelle
versiegen würde, kann als sicher angenommen werden; doch wäre es
vielleicht nicht unmöglich, daß an Stelle des französischen das nord-
amerikanische Kapital treten könnte. In diesem Zusammenhang dürften
auch die Gerüchte über eine Allianz zwischen der Türkei und der Union
aufzufassen sein, da eine Aktion der nordamerikanischen Flotte in den
türkischen Gewässern wegen Mangels an Kohlenstationen vorläufig nicht
denkbar ist. Wie hieraus zu ersehen, hängt die Möglichkeit einer Allianz
der Türkei mit Deutschland und Österreich-Ungarn neben der südmesopo-
tamischen Frage hauptsächlich von der Lösung der Finanzfrage ab, über
180
welche ich allerdings nicht genügend orientiert bin, um mir ein sicheres
Urteil gestatten zu können.
Ob sich nun der Gedanke der Allianz überhaupt als durchführbar
erweisen und welche Alternative Said Pascha schließlich wählen wird,
läßt sich gegenwärtig noch nicht voraussagen. Vorläufig versichert der
Großvezier sowohl unserem als auch dem deutschen Botschafter aus-
drücklich, daß er in seiner Rede nui" ein Bündnis mit den beiden Kaiser-
mächten gemeint habe. Es ist jedoch nicht zu bezweifeln, daß er gleich-
zeitig in London, Paris und Petersburg sondieren läßt, um diese Mächte
zur Intervention in der Tripolisfrage zu bewegen und über Dispositionen
betreffs des Bündnisses orientiert zu werden. Die Haltung der Kon-
stantinopeler Presse scheint jedenfalls auf die Tendenz zu einer Allianz
mit der Tripleentente hinzuweisen.
Über die Stellung unserer Monarchie zu der neuen Konstellation
werde ich E. E. demnächst speziell Bericht erstatten. Vorläufig scheint
es mir aber wichtig, festzustellen, daß unser Einschreiten gegen die
italienische Aktion an der albanesischen Küste hierorts vorwiegend als
Geltendmachung unserer eigenen Aspirationen auf Alba-
nien angesehen und dementsprechend beurteilt wird. Die Beantwortung
der Tripolis-Interpellation im Reichsrat durch Seine Exzellenz Freiherm
von Gautsch hat dazu beigetragen, diese uns migünstige Auffassung noch
zu vertiefen.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht
Pomiankowski, Oberst."
Am 30. Oktober hatte ich eine Audienz bei Seiner Majestät. Vor
imd nach derselben sprach ich mit Exzellenz Baron Bolfras. Er teilte
mir mit, daß Ährenthal, der tags vorher beim Kaiser war, den Kopf
voll habe mit der Tripolisaffäre und der Balkanfrage, daß auch Deutsch-
land von ersterer völlig überrascht worden und auch seiner Meinung
nach Ährenthal zu vertrauensvoll gegenüber Italien sei. Exzellenz
Bolfras erwähnte, daß Graf Ährenthal auch physisch sehr gebrochen
wäre.
Es mag dies der Vorbote jenes schweren Leidens gewesen sein, dem
Graf Ährenthal später zum Opfer fiel, und es wäre denkbar, daß dieser
physische Zustand seine politischen Entschließungen beeinflußte.
Deutschland und Österreich Ungarn hatten zwischen Italien und der
Türkei zu vermitteln versucht. Über den Erfolg berichtet der Militär-
attache in Konstantinopel in einem am 31. Oktober eingelangten
Schreiben :
181
„Präs. 31710. 1911.
Geh. Nr. 56/1911. t^ . x- i oa ^i ^ u mn
Kon st antin Opel, am 26. Oktober 1911.
Euer Exzellenz!
Im Nachhange zu meiner telegraphischen Meldung Res. Nr. 321
vom 24. d. M. berichte ich über die neue Vermittlungsaktion des Grafen
Ährenthal folgendes:
Die von Deutschland und von uns unternommene Mediation kann
nunmehr als vollkommen gescheitert betrachtet werden. Einerseits ist
der Gegensatz zwischen den Standpunkten der italienischen und osmani-
schen Regierung vorläufig unüberbrückbar; denn Rom will die Annexion
von Tripolis pure et simple, während die Pforte entschlossen ist, die
Souveränität des Sultans nicht aufzugeben. Überdies unterlassen die
Mächte der Tripleentente nichts, um die Türkei im Sinne eines ent-
schiedenen Widerstandes gegen Italien zu beeinflussen und hiedurch die
deutschösterreichische Mediation zu vereiteln.
Unter diesen Umständen hat sich Graf Ährenthal entschlossen, einen
gemeinsamen Schritt aller Mächte zur Herstellung des Friedens zu
inszenieren. Es werden jetzt alle Mächte über ihre Ansicht betreffs einer
für die Türkei und Italien annehmbaren Basis für die Friedensverhand-
lungen sondiert. Auf Grund des so erzielten Einvernehmens soll dann
eine gemeinsame Aktion aller Mächte in Rom und Konstantinopel unter-
nommen werden. Auf diese Weise hofft Graf Ährenthal speziell die
Mächte der Tripleentente zu zwingen, Farbe zu bekennen und deren
geheimen Intriguen die Spitze abzubrechen.
Über die Antworten der versdiiedenen Mächte ist hierorts bisher
noch nichts bekannt.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht
Pomiankowski, Oberst."
Die schon erwähnten Erfolge der Türken in Tripolis genügten, um
einen raschen Stimmungswechsel in der Türkei herbeizuführen. Ihn
charakterisiert nachfolgende Stelle eines am 11. November eingelangten
Berichtes unseres rührigen Militärattaches in Konstantinopel:
„Die pessimistischen Befürchtungen zu Beginn des Krieges haben
sich nun sämtlich als unbegründet erwiesen. Die Ruhe, Besonnenheit und
korrekte, würdige Haltung des Reiches haben allenthalben imponiert und
der Türkei die Sympathien der ganzen ziviUsierten Welt erobert. Der
Großvezir Said Pascha, welcher sich trotz seines hohen Alters und seiner
Gebrechlichkeit als bedeutender Staatsmann erwiesen hat, erhielt von der
182
Kammer mit großer Majorität ein Vertrauensvotum und kann infolge-
dessen die Stellung seiner Regierung als gesichert angesehen werden.
Die kleinen Balkanstaalen, welche die momentane Verlegenheit der Türkei
gewiß zu ihren Gunsten ausnützen möchten, finden hiezu keine Hand-
habe; übrigens steht die durch die Erfolge in Tripolis moralisch gekräftigte
Türkei gerüstet da und ist infolgedessen auch militärisch allen Eventuali-
täten gewachsen.
Die Bevölkerung — besonders die Mohammedaner — bewahrt eine
durchaus patriotische, würdige Haltung. Die Albanesen, welchen die
Regierung anfänglich mißtraute, verhalten sich ruhig und der Imam im
Yemen schUeßt Frieden, so daß auch von dort nichts zu besorgen ist.
Die finanzielle Krisis im Oktober hat sich in letzter Zeit stark gemildert
und dürfte in den nächsten Wochen vollkommen verschwinden. Am aller-
wichtigsten jedoch ist die bewunderungswürdige Tapferkeit und Tüchtig-
keit der turco-arabischen Streitkräfte in Tripolis, welche ganz unerwar eter-
weise und alle Kalküle über den Haufen werfend zur Offensive über-
gegangen sind und den Italienern sogar empfindliche Schlappen beizu-
bringen imstande waren.
Während vor fünf Wochen selbst die gewiegtesten Kenner der
hiesigen Verhältnisse, ja selbst die erfahrensten türkischen Staats-
männer und Militärs, die Situation in den düstersten Farben sahen und
selbst eine Katastrophe nicht für ausgeschlossen hielten, hat der verjüngte
osmanische Staat eine ungeahnte Lebenskraft entfaltet und steht heute
viel stärker da als bei Beginn des von Italien provozierten Krieges.
Überdies hat sich die Türkei wieder einmal als ein Faktor erwiesen, in
welchem alle auf Logik aufgebauten Kalküle und Voraussetzungen
unmöglich zu sein scheinen.
Die nächste und vorläufig wichtigste Folge dieser Lage ist die
veränderte Haltung der Türkei zur Friedensfrage. Während man in
Konstantinopel vor zwei Wochen froh gewesen wäre, die nominelle
Souveränität des Sultans zu retten und bereit war, auf dieser Basis Frieden
zu schließen, bezeichnet der Großvezier jetzt die unbedingte Erhaltung
von Tripolis als türkische Provinz unter Verleihung von bloß wirtschaft-
lichen Vorteilen an Italien als die einzig mögliche Friedensbedingung.
Ganz abgesehen von dem durch die Waffenerfolge bedeutend
gehobenen Selbstvertrauen der Osmanen sind es in erster Linie die
Araber, welche «ine Abtretung von Tripolis unter keiner Bedingung
zugeben würden. Wie es sich nunmehr zu erweisen scheint, streben die
vernünftigen arabischen Elemente in der Türkei wenigstens vorläufig
nicht nach einer Losreißung, sondern nach Erhöhung ihres Einflusses
und Nationalisierung der Verwaltung der arabischen Provinzen inner-
183
halb des Reiches. Sie empfinden demnach den Verlust von Tripolis und
hiemit von 10 arabischen Mandaten im Parlamente als eine Schwächung
und Verschlechterung ihrer Position in der Türkei und wenden deshalb
alle Mittel an, um einerseits die tripolitanische Bevölkerung zu äußerstem
Widerstände anzuspornen, anderseits eine vertragsmäßige Abtretung von
Tripolis an Italien zu verhindern. Daß das Komitee der Partei »Einheit
und Fortschritt« die arabischen Argumente willig anhört und im Sinne
energischer Fortsetzung des Krieges ausnützt, ist ganz natürlich, denn
auch für diese Partei würde die ungünstige Lösung der Tripolisfrage
eine Wendung bedeuten, in welcher es sich um Sein oder Nichtsein
handeln könnte."
Über die im Zuge befindliche Friedensvermittlungsaktion enthält
dieses Schreiben folgendes:
„Obwohl nun die Stimmung in der Türkei sich entschieden gegen
den Friedensschluß und zu Gunsten der energischen Fortsetzung des
Krieges gestaltet hat, scheint unsere Diplomatie die Idee der Friedens-
vermittlung noch immer nicht aufgegeben zu haben. Auf die von mir
F. E. gemeldeten Sondierungen bei allen Mächten waren verschieden
lautende, meist unverbindlich zustimmende Antworten eingelaufen, worauf
Markgraf Pallavicini am 30. Oktober den Auftrag erhielt, sich mit den
hiesigen Botschaftern behufs eines gemeinsamen Schrittes bei der Pforte
ins Einvernehmen zu setzen. Der Herr k. u. k. Botschafter antwortete
telegraphisch, daß er diese Demarche angesichts der türkischen Waffen-
erfolge für aussichtslos und schädlich halte und wurde hierauf angewiesen,
die Vermittlungsfrage im Auge zu behalten und mit den Botschaftern
in steter Fühlung zu bleiben, lun im geeigneten Moment sofort wieder
eingreifen zu können.*'
Indessen war in Italien, das sich beeilte, ein fait accompli zu schaffen,
am 5. November 1911 durch einen königlichen Erlaß die Annexion
von Tripolitanien und der Cyrenaika erklärt worden.
Über die Wirkung dieses Ereignisses berichtet Oberst Pomiankowski
in einem am 21. November eingelangten Schreiben:
„Kon st antin Opel, am 17. November 1911.
Euer Exzellenz!
In meinem Bericht vom 6. d. M. habe ich bereits die großen
Schwierigkeiten geschildert, welche sich infolge der türkischen Waffen-
erfolge in Tripolis einem baldigen Friedensschlüsse entgegenstellen. Nun
sind die etwa noch bestandenen Hoffnungen durch die italienische
Annexionserklärung vernichtet worden, so daß gegenwärtig die Möglich-
keit einer Beilegung des Konfliktes in unabsehbare Feme gerückt erscheint.
184
In Rom hat man allerdings eine solche Wirkung der Annexion kaum
vorausgesehen. Man gab sich dort der Hoffnung hin, daß die Prokla-
mierung der Besitzergreifung nicht allein eine Beruhigung der durch den
Mangel an Erfolgen in Tripolis bereits stark erregten italienischen
Bevölkerung zur Folge haben wird, sondern auch, daß die Türkei —
vielleicht unter dem Druck der Mächte — nunmehr die unabänderliche
Entschließung Italiens hinnehmen und sich herbeilassen werde, Frieden
zu schließen. Sowohl unsere Monarchie, als auch die übrigen Mächte
haben die Annexionserklärung nicht beantwortet; nur England soll die
italienische Regierung auf den Widerspruch zwischen dem Annexions-
beschluß und der faktischen Lage in Tripolis aufmerksam gemacht haben.
Unter dem Eindruck dieser Enttäuschung verständigte das römische
Kabinett vertraulich die Mächte, daß Italien im Falle der Fortsetzung des
türkischen Widerstandes die Operationen auf die übrigen Teile des
Osmanischen Reiches ausdehnen und einen »Coup decisif« führen werde.
Die Antworten jedoch, welche Italien auf diese Mitteilung von den
Mächten erhielt, scheinen wenig ermutigend zu sein. Graf Ährenthal
hat — wie mir der Herr k. u. k. Botschafter sagte — den Herzog von
Avarna auf den Artikel 3 des (nicht veröffentlichten) Dreibundvertrages,
in welchem die Unantastbarkeit der europäischen Türkei ausdrücklich
stipuliert sein soll, verwiesen und erklärt, daß Österreich-Ungarn gegen-
über einer Verletzung dieser Vertragsbestimmung nicht gleichgültig
bleiben könnte. Nach Mitteilung des hiesigen englischen Militärattaches
hat England gegen einen Angriff auf Smyma Einspruch erhoben; bezüg-
lich der Haltung Rußlands und Frankreichs ist mir bisher nichts Authen-
tisches bekanntgeworden.
Bei den bezüglichen Besprechungen dürften die Mächte wohl nicht
versäumt haben, die italienische Regierung auf die Aussichtslosigkeit einer
Flottenaktion im Ägäischen Meere aufmerksam zu machen. Diesfalls habe
ich schon in meinem letzten Berichte Gelegenheit gehabt, die geringe
Wirkung einer eventuellen Besetzung von Inseln, dann von Angriffen
auf einzelne Häfen, sowie einer Blockierung derselben zu besprechen und
darzulegen. Die Möglichkeit einer Forcierung der Dardanellen und das
Eindringen einer italienischen Flotte in das Marmara-Meer habe ich für
so unwahrscheinlich gehalten, daß mir die nähere Erörterung dieser
Eventualität nicht notwendig zu sein schien. Nachdem jedoch speziell
in hiesigen Diplomatenkreisen eine solche Aktion als der angekündigte
»Coup decisif« angesehen und besprochen wird, so scheint es mir von
Interesse, diesbezüglich gleichfalls einige Worte zu sagen.
Die in die Dardanellen eindringende italienische Flotte wurd mit dem
Widerstände der Küstenbefestigungen und Minenanlagen, dann der
185
türkischen Flotte zu rechnen haben. Die Befestigungen sind zwar sämtHch
veraltet und mit alten, aus den Achtziger- und Neunzigerjahren stammen-
den Geschützen armiert. In den Strandbatterien stehen fünfzehn 15 cm-,
sechzehn 21 cm-, sechsunddreißig 24 cm-, zehn 26 cm-, zehn 28 cm- und
sechs 35-5 cm-Kanonen, in den Hochbatterien siebenundzwanzig 15 cm-
Kanonen und vierzehn 21 cm-Mörser. Die neuen, für die Dardanellen
und den Bosporus bestimmten 400 Stück Gehischen Minen sollen erst
in vierzehn Tagen in Konstantinopel eintreffen und man hat infolgedessen
anfangs dieses Monats bei den Dardanellen zwei Reihen altartiger Minen
gelegt. Es ist auch möglich und sogar wahrscheinlich, daß die sonst
inferiore türkische Flotte in der Meerenge günstige VerhäUnisse zum Ein-
greifen finden könnte.
Trotz der durchwegs veralteten Verteidigungsmittel wird nun nicht
allein von türkischen, sondern auch von deutschen und englischen
Offizieren eine Forcierung der Dardanellen durch die itaUenische Flotte
für kaum möglich gehalten. Admiral Williams, mit welchem ich die Even-
tualität dieser Operation eingehend zu besprechen Gelegenheit hatte, ist
der Meinung, daß ein möglichst rasches Durchfahren der Meerenge noch
immer mehr Chancen des Gelingens hätte als die systematische Zerstörung
und Demontierung der einzelnen Strand- und Hochbatterien, welche
schon durch ihre Anlage gegen das Weitfeuer der Schiffe meist geschützt
sind. Jedenfalls würde das sukzessive Niederringen der einzelnen Befesti-
gungen durch die moderne, weiterschießende Schiffsartilleiie sehr lange
Zeit erfordern, während welcher die italienischen Schiffe den türkischen
Minen- und Torpedo angriffen ausgesetzt wären. Daß es auf alle Fälle
ohne ernste Beschädigung und vielleicht Verlust einiger Schiffe nicht
abgehen würde, kann als sicher angesehen werden.
Nimmt man nun an, daß es der italienischen Flotte nicht gelingen
würde, mit dem größten Teil der Schiffe ins Marmara-Meer einzudringen
und vor Konstantinopel zu erscheinen, so fragt es sich, was hiemit für
Italien gewonnen wäre. Der Sultan, das Parlament und die Zentral-
behörden würden sich einfach außerhalb des Bereiches der Schiffs-
geschütze etablieren und im übrigen Konstantinopel seinem Schicksal
überlassen. Ein Bombardement des von Europäern bewohnten Galata
und Pera ist kaum denkbar und die Zerstörung Stambuls und Skutaris
mit ihrer an verheerende Brände gewöhnten türkischen Bevölkerung
würde auf die Entschließungen der Pforte so gut wie gar keine Wirkung
ausüben. Wenn sich nun die Aktion vor Konstantinopel als unwirksam
erweist, so muß für die italienische Flotte bald der Moment eintreten,
das Marmara-Meer zu verlassen, und dies könnte unter Umständen sich
noch schwieriger und veilustreicher gestalten als das Eindringen.
186
Wie aus dieser Betrachtung zu ersehen, wäre das Forcieren der
Dardanellen sowohl militärisch als auch politisch eine äußerst gewagte
Operation. Italien müßte selbst im Falle des militärischen Gelingens mit
dem Verluste einiger Schiffseinheiten rechnen und könnte auch dann
kaum auf einen politischen Erfolg rechnen. Ob sich Italien unter diesen
Umständen zu einer solchen Aktion entschließen kann, scheint mir sehr
zweifelhaft zu sein.
Wenn sich nun sämtliche Pressionsmittel im Ägäischen Meer als
unwirksam oder undurchführbar erweisen und auch das Expeditions-
korps in Tripolis keine Erfolge erringen könnte, so wäre es nicht
unmögUch, daß Italien sich entschließt, einen allgemeinen Balkankrieg
zu entfachen, um vielleicht auf diesem Wege eine Lösung des geradezu
zu einer Lebensfrage gewordenen tripolitanischen Problems herbeizu-
führen. Voraussetzung für einen Angriff der Balkanstaaten auf die
Türkei ist jedoch eine Erhebung in Albanien und Mazedonien, sowie die
NeutraUtät unserer Monarchie und Rumäniens. Daß in Mazedonien und
Albanien wieder viel Zündstoff angehäuft ist, scheint mir allerdings
ebenso wenig einem Zweifel zu unterliegen, als daß italienische Agenten
in diesen Gebieten schon jetzt eine rührige Tätigkeit entfalten. Doch wird
es hoffentlich Said Pascha gelingen, durch kluges Nachgeben und
nationale Konzessionen die Bevölkerung zu beruhigen und hiedurch die
italienische Agitation zu paralysieren.
Resümiert man nun diese Betrachtungen, so kann man sagen, daß
die gegenwärtige Lage der Türkei in militärpolitischer Hinsicht als
günstig bezeichnet werden kann. Es ist einfach nicht abzusehen, wie
Italien die voreilig erklärte Annexion von Tripolis de facto durchführen
und deren Anerkennung durch die Türkei erzwingen wird. Viele
Anzeichen deuten denn auch darauf hin, daß die anfängliche Kriegs-
begeisterung in Italien bereits verraucht ist und einer großen Nervosität
Platz gemacht hat.
Die Haltung der einzelnen Großmächte in Bezug auf den Tripolis-
konflikt, sowie die Möglichkeiten einer Intervention behufs Beendigung
des Krieges werde ich im nächsten Berichte erörtern.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht.
Pomiankowski, Oberst."
In einem zweiten Schreiben vom selben Tage (17. November 1911)
fügt Oberst Pomiankowski ergänzend hinzu, daß sowohl der k. u. k.
Botschafter Markgraf Pallavicini, als der deutsche, Baron Marschall, den
Moment für eine Pression auf die Türkei nicht gegeben erachten und es
angemessen hielten, Itahen von Aktionen im Ägäischen Meere oder gar
187
gegen Konstantinopel abzuraten. Er führt aus, daß eingeweihte Persön-
lichkeiten, und zwar auch Türken, das schließliche Nachgeben der
Pforte voraussehen, da auch Frankreich und Rußland das Interesse
hätten, eine starke Türkei nicht aufkommen zu lassen. Hinsichtlich
Englands aber heißt es:
„England, das der Stimmung seiner mohammedanischen Untertanen
bis zu einem gewissen Grade Rechnung tragen muß, unterstützt die
Türkei in mancher Beziehung bei Organisierung des Widerstandes in
Benghasi und nimmt auch sonst einen dem Osmanischen Reiche recht
wohlwollenden Standpunkt ein. So viel ich jedoch höre, weicht es
bisher jeder seriösen Besprechung bezüglich eines dezidierten Schrittes
zu Gunsten der Türkei, sowie betreffs Neugestaltung der englisch-
türkischen Beziehungen geflissentlich aus. Als Bedingung für die ernst-
liche englische Unterstützung wird der Sturz des von den Jungtürken
abhängigen Kabinetts Said Pascha und Berufung einer neuen Regierung
kiamihstischer Richtung bezeichnet oder angedeutet. Einen sichtbaren
Beweis für diese englische Tendenz erblickt man in Konstantinopel in
dem Empfange des in Ägypten weilenden Kiamil Pascha in Port Said
durch König Georg*) anläßhch der Durchreise der Majestäten nach
Indien.
Trotz der unleugbaren Verdienste des Großveziers Said Pascha
betrachtet man in manchen türkischen Kreisen die Erfüllung des eng-
lischen Wunsches schon in nächster Zeit als nicht ausgeschlossen. Denn
unter dem Eindruck des Ausganges der Marokko-Affäre, sowie des
Unvermögens von Seite Deutschlands, die Türkei gegen Italien zu unter-
stützen, gewinnt der Wunsch nach einer Anlehnung an England immer
mehr Anhänger und Intensität. Der frühere Marineminister Mahmud
Muktar Pascha sagte mir ganz offen, daß man, um den Kern des Reiches
zu erhalten, Konzessionen an der Peripherie machen müsse; er meinte
hiebei offenbar Konzessionen in Mesopotamien und Arabien, dann
Anerkennung des Faschoda-Vertrages und vielleicht sogar eine Kon-
zession bezüglich Tobruk zu Gunsten Englands.
Die Freundschaft Englands hat überdies noch deshalb einen
besonderen Wert, weil man durch dessen Einfluß hofft, von Frankreich
eine Anleihe zu erhalten."
Eine bemerkenswerte Stelle enthält der Bericht noch bezüglich
Rußlands, und zwar:
*) König Georg und die Königin reisten damals zur Kaiserkrönung
nach Delhi.
188
„Daß Herr Tscharykow in gewohnt rühriger Weise auf die möglichste
Annäherung zwischen der Türkei und Rußland hinarbeitet, ist nicht zu
bezweifeln. Markgraf Pallavicini glaubt hiebei feststellen zu können,
daß der russische Botschafter sich diesbezüglich um die Weisungen aus
Petersburg wenig bekümmert und hier seine eigene Politik treibt, welche
dahin zielt, zu einer Rußland günstigen Lösung der Meerengenfrage zu
gelangen. Es ist interessant, festzustellen, daß Herr von Tscharykow der
einzige Botschafter in Konstantinopel ist, welcher vom Beginn des
Krieges angefangen den Türken äußersten Widerstand anriet, während
alle übrigen Nachgeben und baldigsten Friedensschluß befürworteten."
Der Bericht konstatiert ferner das Abflauen der Beziehungen der
Türkei zu Deutschland und das wachsende Mißtrauen gegen Österreich-
Ungarn.
Dies fand auch eine Bestätigung in folgendem, am 25. November
eingelangten Schreiben des k. u. k. Militärattaches in Petersburg, Haupt-
mann Prinz Hohenlohe, das überdies auch Mitteilungen über Rußland
enthielt :
„Euer Exzellenz!
Eben hat mich mein türkischer Kollege, den ich neulich aufgesucht
hatte, ohne ihn zu treffen, verlassen.
Aus dem mit ihm geführten Gespräche entnahm ich, daß man in
der Türkei doch eher darüber desillusioniert ist, daß die freundschaftlichen
Gefühle Deutschlands und Österreich-Ungarns nicht greifbare Resultate
für die Türkei geschaffen hätten.
Remsy Bey sagte: »Ce sera pour l'avenir une legon pour nous,
qu'il ne faut se fier qu'ä des choses ecrites«*).
Darauf erlaubte ich mir zu bemerken, daß ich es zwar als Nicht-
diplomat nicht wissen könne, daß ich aber als Privatmann aus den
Zeitungen den Eindruck gewonnen hätte, daß es doch Deutschlands und
Österreich-Ungarns Bemühungen zu danken sei, daß bisher der Krieg
lokalisiert worden sei, und daß ich diesen in der Geschichte einzig
dastehenden Fall doch als einen sehr greifbaren und wertvollen Erfolg
für die Türkei ansehen zu müssen glaube.
Dies gab mir Remsy Bey zu und sagte: »Ja, die Ruhe auf dem Balkan
und die Erhaltung des Status quo seien gänzlich und in erster Linie von
Österreich-Ungarn abhängig.«
Er sprach dann über den Krjeg und sagte:
*) Dies wird für die Zukunft eine Lehre für uns sein, daß man nur
geschriebenen Sachen trauen dürfe.
189
>Für uns Türken und insbesondere für das jungtürkische Prinzip
ist dieser Krieg eine Operation auf Tod und Leben. Zur Zeit Abdul
Hamids wäre eine Gebietsabtretung möglich und weniger folgenschwer
gewesen als jetzt, wo jede Gebietsabtretung einen Selbstmord am Jung-
türkentum bedeuten würde.«
Man hofft und träumt in der Türkei von einem direkten Bundes-
verhältnis mit den Großmächten. Hiebei sagte er:
»La Turquie certes, n'est ä l'instant pas une force avec laquelle
l'Autriche-Hongrie et l'Allemagne voudraient etre alliees ä tout prix, mais
si on nous donne la possibilite de travailler encore 10 ans comme nous
l'avons fait jusqu'ä present et que nous ne disparaissons pas tout ä fait
de la carte de l'Europe par cette guerre, qui est pour nous question de
vie ou de mort, nous serons une force tout ä fait redoutable«*).
Auf meine Frage, ob durch die russische Diplomatie der jetzige
Augenblick nicht ausgenützt werden könnte, um in der Dardanellenfrage
eine Lösung herbeizuführen, sagte er, er wisse zwar nicht, was in
Konstantinopel momentan vor sich gehe, möglich sei es aber immerhin,
daß man, da man die Hilfe und Unterstützung irgend einer Großmacht
brauche, welche eine sichere Gewähr für die Eingehung eines Bundes-
verhältnisses bieten könnte, Zugeständnisse an Rußland machen würde.
Die Verhältnisse in Tripolis beurteilt er für die Türken als
günstig.
Die Italiener können an ein Vordringen ins Innere jetzt gar nicht
denken, selbst wenn sehr große Verstärkungen (er sagte sogar bis
200.000 Mann) herangezogen würden. Im Gegenteil sei die Möglichkeit
einer Rückeroberung von Tripolis durch die Türken und Araber, falls
die Flotte, durch die Umstände gezwungen, sich von der Küste fern-
zuhalten, ihre Mitwirkung durch die Schiffsgeschütze einzustellen genötigt
wäre, gar nicht ausgeschlossen.
Die Araber seien gut ausgerüstet und bewaffnet. Die Munitions-
zufuhr erfolge seiner unmaßgebUchen Ansicht nach nicht nur über Tunis,
sondern auch über Ägypten,
*) Die Türkei ist im Augenblick gewiß nicht eine Macht, mit welcher
Österreich-Ungarn und Deutschland um jeden Preis verbündet sein
möchten, aber wenn man uns die Möglichkeit gibt, noch zehn Jahre zu
arbeiten, wie wir es bis jetzt gemacht haben, und wenn wir nicht durch
diesen Krieg ganz von der Karte Europas verschwinden, welcher für
uns eine Frage auf Leben und Tod ist, werden wir eine beträchtliche
Macht sein.
IQO
Daß die italienische Flotte bei einem Angriff atif die Dardanellen
reüssieren könne, hält er für ganz ausgeschlossen. Sein Vertrauen zu
den Forts- und Minenanlagen ist groß.
Der einzige Erfolg der italienischen Flotte könne in der Besetzung
einzelner Inseln bestehen; doch werde dies auf den Gang der Ereignisse
von geringem Einfluß sein.
Remsy Bey bestätigte mir auch die Nachricht, daß mein englischer
Kollege demnächst aus Täbris auf seinen hiesigen Posten zurückkehren
dürfte; es könnte sein, daß es mir dann mögUch sein wird, E. E. neuere
Nachrichten über die Zustände und Ereignisse in Persien zu melden.
Remsy Bey bestätigte mk, daß man hier eine Zeitlang über die
Haltung Österreich-Ungarns am Balkan besorgt war.
Im hiesigen Kriegsministerium hätte man ihm mitgeteilt, daß man
auf die immer wieder auftauchenden Gerüchte über Truppenverschiebungen
Österreich Ungarns nach Tirol und nach Bosnien den russischen MiUtär-
attache in Wien beauftragt habe, darüber zu berichten.
Derselbe meldete allerdings über Munitions- und sonstige Transporte
nach Tirol. Größere Truppenverschiebungen seien jedoch nicht vor-
gekommen.
Auf meine Frage, ob hier in Rußland in letzter Zeit Truppen-
verschiebungen vorgekommen seien, sagte mir Remsy Bey, daß Muni ions-
transporte (auch Munitionswagen) in den Kiewer Distrikt vorgekommen
seien. Verschiebungen von Korpsteilen oder gar ganzer Korps haben
nicht stattgefunden und seien seiner Ansicht nach nicht zu erwarten.
Die Anwesenheit Seiner Majestät in Livadia, die noch nicht erfolgte
Rückkehr des Ministers des Äußern aus der Schweiz sind immerhin auch
Anzeichen dafür, daß man hier in maßgebenden Kreisen trotz aller
gegenteiligen Gerüchte den Ereignissen mit größerer Beruhigung
entgegensieht und an eine Aktion Österreich-Ungarns auf dem Balkan,
die über den Rahmen der Erhaltung des Status quo hinausgehen würde,
nicht glaubt.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner besonderen Verehrung, mit
welcher ich mich zeichne als
Euer Exzellenz gehorsamst ergebener
Hohenlohe, Hauptmann.
St. Petersburg, am 21. November 1911.
Präs. 25. November 1911.
Geh. Nr. 63/1911."
Ich hatte an den k. u. k. Militärattache in Rom Auftrag erteilt, zu
berichten, wann die ersten Anzeichen für irgend eine besondere
191
militärische Maßnahme in Italien wahrzunehmen waren und wieso es
kam, daß Italiens Aktion in so überraschender Weise erfolgen konnte.
Der hierauf eingelangte Bericht vom 22. November 1911 lautet aus-
zugsweise :
„Rom, 22. November 1911.
Es steht außer Zweifel, daß man allgemein — und so auch unsere
Vertretung — durch die plötzlichen Entschlüsse Italiens überrascht
worden ist.
Der Werdegang der italienischen Maßnahmen war wie folgt
markiert: Bis 21. September dachte niemand, auch im Schöße der
Regierung, an eine so nahe bevorstehende Aktion.
Erst zwischen 21. und 23. September müssen Ereignisse eingetreten
sein, welche zu den folgenden raschen Entscheidungen der Regierung
führten; militärische Anordnungen für die Mobilisierung fanden keines-
falls vor dem 23. September statt.
Der Mobilisierungsbefehl für die Flotte wurde erst am 24. September
dekretiert, wahrscheinlich unmittelbar nach dem überaus eiligen, an
diesem Tage abgehaltenen Ministerrat.
Die eigentliche Mobilisierungstätigkeit der Truppen und die
Ergänzungstransporte begannen jedoch erst mit dem 28. als erstem
Mobilisierungstag.
Das früheste wirkliche militärische Anzeichen für eine Expedition
war die am 23. September erfolgte Einberufung der Klasse 88.
Auf Grund erster Zeitungsmeldungen (waren zum Teil erfunden)
über Truppenbewegungen wurde am 15. September der Geschäftsträger
veranlaßt, die Konsuln zu beauftragen, zu berichten. Nur der Konsul
in Neapel sandte eine vage Meldung (vom 19. September) über größeren
Truppenverkehr bei Heer und Marine.
Dies ergibt als Resume, daß vor dem 23. keinerlei militärische
Vorbereitungen stattfanden und auch keine militärischen Anzeichen vor-
lagen, welche auf eine nahe bevorstehende militärische Aktion Italiens
schließen ließen.
Italien hat sich mit der tripolitanischen Frage wieder näher zu
beschäftigen begonnen, als Frankreich seine Marokkopolitik intensiver
gestaltete.
Den Entschluß zur Lösung der Tripolisfrage scheint man erst
gefaßt zu haben, als der Gang der Marokko Verhandlungen zwischen
Deutschland und Frankreich einen günstigen Ausgang derselben
möglich erscheinen ließ; das war ungefähr um Mitte September.
Damit setzte auch die Haupthetze der Presse ein, welche unum-
wunden die Okkupation von Tripolis und der Cyrenaika verlangte.
192
Der König, Giolitti und San Giuliano haben niclit sofort überein-
gestimmt. Der Treibende war San Giuliano. Giolitti, abliold jeder
Kolonialpolitik und Expansion, mußte erst überzeugt werden, was über-
raschenderweise gelang. Gerade Giolitti soll gesagt haben: >Wenn
schon, dann gleich alles. Remen Tisch. Kein Protektorat, kein Schatten
von türkischer Souveränität, denn wir dürfen später absolut keine
Schwierigkeiten mit unklaren Fragen dieser oder jener Art haben.«
Giolitti soll — mit einem Worte — dann noch energischer gewesen sein,
als San Giuliano und bei seiner überragenden Autorität gelang es
Giolitti auch, den König, der durchaus abgeneigt gewesen ist, zur
Zustimmung zu bewegen.
Die prinzipielle Einigung unter den Mitgliedern der Regierung war
vielleicht schon beim Ministerrat am 15. erzielt, aber kaum dürften
definitive Entschlüsse gefaßt worden sein, da die Einwilligung des Königs
noch nicht vorgelegen sein dürfte.
San Giuliano hat immer hervorgehoben, daß man die Tripolisfrage
lösen werde, wenn das deutsch-französische Abkommen über Marokko
perfekt geworden sei. Man erwartete, daß die Unterhandlungen sich
noch geraume Zeit hinziehen werden. Nun soll — jedenfalls nach dem
20. September — die erste verläßhche Nachricht des italienischen Bot-
schafters in Berlin eingetroffen sein, daß der Abschluß des Marokko-
Übereinkommens gesichert sei.
Diese Nachricht hätte nun überrascht und die schleunige Rückkehr
San Giulianos und Giolittis, der noch am 29. September zum König
eilte, nach Rom, sowie den Ministerrat am 24. September zur Folge
gehabt, in welchem die bekannten schwerwiegenden Entscheidungen
gefaßt wurden.
Die nun folgende Aktion der italienischen Diplomatie soll nun nicht
Hand in Hand mit der Bereitstellung des Expeditionskorps gegangen,
sondern den militärischen Maßnahmen vorausgeeilt sein. Man sagt, daß
der Druck auf die Türkei eine ganz andere Wirkung hätte haben
können (?), wenn das Ultimatum erst dann gestellt worden wäre, als
das Expeditionskorps vollständig bereit stand.
Die militärisch leitenden Stellen sollen es gewesen sein, welche jetzt
drängten.
San Giuliano — gestützt auf die öffentliche Meinung — sandte am
27. sein Ultimatum ab.
Tatsache ist, daß vor dem 23. September hier niemand — am aller-
wenigsten die türkische Botschaft — an die nahe Möglichkeit schwer-
wiegender Entscheidungen dachte.
13, Courad II jg3
So konnte es geschehen, daß alle Botschafter und Attaches weiter
auf Urlaub blieben und daß der deutsche Militärattache beispielsweise
am 18. einen längeren Urlaub antrat.
Sehr geheim wurden die nach dem 24. September gefaßten Maß-
nahmen der Consulta gehalten.
Italien wußte seit langem, daß ihm seitens der Mächte plein pouvoir
hinsichtlich Tripolis gelassen sei. Es hatte daher nicht notwendig, die
Mächte für den konlaeten Fall zu sondieren.
Jedenfalls waren weder pohtische noch militärische Anzeichen
bemerkbar, welche die plötzliche überraschende Aktion Italiens voraus-
sehen ließen und es war möglich, daß vielleicht die italienische Regierung
selbst nicht auf acht Tage früher ihre dann Schlag auf Schlag getroffenen
Maßnahmen vorausgesehen hat. Auch Armee und Flotte wurden voll-
kommen überrascht.
Nichtsdestoweniger ist dies ein Fingerzeig für die Zukunft, daß
Italien Entschlüsse und Absichten geheimhalten könne. Da eine solche
Überraschung ja auch uns treffen könnte, so ist es nötig, daß auch die
nichtmilitärischen ö.-u. Vertreter in Italien ihr schärferes Augenmerk auf
militärische Vorgänge und Maßnahmen richten, und zwar nicht nur in
kritischen Zeiten, sondern immer.
Unter diesen Vertretern meine ich die Konsularbeamten; diese
Beobachtung müßte einer pragmatisch in den Konsular-Dienstvorschriften
festgelegten Pflicht entspringen, die Konsularakademiker müßten eine
entsprechende Instruktion erhalten; die bisherigen dortigen militärischen
Vorträge scheinen mir nicht genügend intensiv zu sein.
In einem Lande, das wie Italien eine stete Quelle des Mißtrauens
bildet, müßte mit dem System der Honorarkonsuln, namentlich jener,
die itahenische Staatsbürger sind, unbedingt gebrochen werden*).
M i e t z 1, Oberstleutnant."
So stand die italienisch-türkische Frage zur Zeit, als
meine Enthebung von der Stelle des Chefs des Generalstabes erfolgte.
Ehe ich auf dieses Geschehnis eingehe, erübrigt mir noch, einige
für Österreich-Ungarn bedeutsame Vorgänge bei anderen Mächten,
sowie Beziehungen zu diesen zu berühren.
*) Österreich-Ungarn hatte einzelne sehr tüchtige Konsuln und
Generalkonsuln, aber im ganzen stand das Konsularwesen nicht auf der
wünschenswerten Höhe. Es kam vor, daß ö.-u. Staatsbürger die Vertretung
ihrer Rechte bei reichsdeutschen Konsulaten suchten; auch waren einzelne
der letzteren hiemit offiziell betraut.
JQ4
Balkan. Am Balkan warfen die Ereignisse bereits die Schatten
des Krieges voraus, der am Schlüsse des folgenden Jahres (1912) in über-
raschender Weise über die Türkei hereinbrach. In welch schwieriger
Lage die Türkei sich befand, geht aus den früheren Schilderungen hervor.
Mit Besorgnis sah sie auf das Verhalten ihrer Nachbarn.
Die Auffassung der Lage in Konstantinopeler Kreisen spiegelte sich
in den Berichten wieder, die ich von unserem dortigen Mihtärattache
erhielt.
GelegentHch der schon früher erwähnten Unterredung desselben mit
Izzet Pascha, dem türkischen Chef des Generalstabes, wies letzterer auf
eine griechisch-bulgarische Annäherung hin. Auch kam als symptomatisch
zur Sprache, daß dem serbischen und dem bulgarischen Mihtärattache
griechische Orden verliehen wurden und der serbische Oberst Illic sich
mitten im Winter nach Athen begeben hatte, um dort mit den griechischen
Armeekreisen in Verbindung zu treten.
Wie der k. u. k. Militärattache zu Izzet Pascha äußerte, dürfte sich
für die kleinen Balkanstaaten kaum eme günstigere Gelegenheit bieten,
über die Türkei herzufallen, als jetzt. Aber dieselben waren noch in
eifriger Reorganisation und Ausgestaltung ihrer Heeresmacht begriffen,
auch schien Rußland, wie ein Bericht des Oberst Pomiankowski vom
23. Juh 1911 ausführt, zu dieser Zeit einen Balkankrieg nicht zu
wünschen. Montenegro, das den albanesischen Aufstand förderte, lief
Gefahr, isoliert zu bleiben. Bulgarien blickte auch mit Mißtrauen auf
Rumänien, das es in einem Vertrag mit der Türkei verbunden wähnte.
Gerüchtweise soll der rumänische General Robesco inkognito in
Konstantinopel geweilt haben. Konstantinopeler Tagesblätter brachten
die Nachricht, daß der dortige rumänische Militärattache in letzter Zeit
zweimal stundenlange Unterredungen mit dem Kriegsminister Mahmud
Schefket Pascha hatte.
Österreich-Ungarn war bemüht, freundschaftliche Beziehimgen mit
der Türkei zu pflegen, aber sein Bundesverhältnis zu ItaUen, mit dem
die Türkei im Kriege lag, sowie die Empfindlichkeit der türkischen Staats-
männer gegen Beeinflussungen von außen und deren Mißtrauen in die
PoHtik der Monarchie machten sich hiebei erschwerend geltend; ein
Bericht vom 26. Juli hebt dies hervor. Ein Brief des Oberst von
Pomiankowski vom 3. Oktober 1911 enthielt die Mitteilung, daß der
serbische Gesandte in Konstantinopel Nenadovic unserem Botschafter
gegenüber geäußert habe, die Stimmung in Serbien und Bulgarien sei
sehr erregt, die Regierungen geben sich zwar alle Mühe, die Ruhe zu
erhalten, doch könne man, wenn der KonfUkt fortdauert, für nichts gut-
stehen.
13»
195
Am 21. März 1911 hatte ich den k. u. k. Militärattache in Sofia,
Oberstleutnant von Hranilovic, empfangen und mir vor allem über die
Reorganisation der bulgarischen Armee berichten lassen. Er bestätigte,
daß der ursprüngliche große Plan einer Verdoppelung der Divisionen
allmählich durchgeführt v^erde. Es sollten zur Formierung gelangen:
9 Infanteriedivisionen erster Linie zu je 16 Bataillonen und 9 Infanterie-
divisionen zweiter Linie zu je 12 Bataillonen, mit der Absicht, je eine
Division erster und eine solche zvceiter Linie in ein Korps zu vereinigen.
Er hob die große Sorge Bulgariens gegenüber Rumänien hervor, weil
es Anhaltspunkte dafür besitze, daß beim Wiederaufleben der mazedo-
nischen Wirren im Frühjahr Rumänien nicht gleichgültig bleiben werde.
Auch sei Bulgarien durch den vermeintlichen rumänisch-türkischen Vertrag
irritiert. Hranilovic bemerkte, daß nach seiner Orientierung wohl türkisch-
rumänische Besprechungen stattgefunden hätten, ein förmlicher Vertrag
aber nicht bestehe.
Ich erkundigte mich dann nach dem König. Hranilovic meinte, daß
er zwar im Lande nicht beliebt, aber als kluger und dem Staate nützlicher
Regent anerkannt sei. Er hob des Königs große Empfindlichkeit hervor.
Sie äußere sich auch in seiner Verstimmung darüber, daß Kaiser Franz
Joseph in Wien ihm nicht den Besuch*) erwidert und er auch noch nicht
das goldene Vließ erhalten habe.
Am selben Tag (21. März) hatte ich auch eine längere Unterredung
mit dem k. u. k. Mihtärattache in Bukarest, Hauptmann von Fischer.
Meine Frage nach der Heeresausgestaltung beantwortete er dahin, daß
sie im Zuge sei, namentlich hinsichtUch der Territorialformationen, dann,
daß Rumänien starke Garnisonen in die Dobrudza verlege.
Bulgarien gegenüber sei ein Umschwung eingetreten, denn während
bisher Rumänien Besorgnisse hegte, denke es jetz selbst daran, im Falle
von Komplikationen am Balkan aktiv gegen Bulgarien aufzutreten und
seine Kräfte hiezu in der Gegend von Crajova und Slatina zu konzen-
trieren. Eine Vereinbarung mit Serbien im Falle eines Coups gegen
Bulgarien bestehe tatsächlich.
Es kam nun der rumänische Aufmarsch im Falle eines gemeinsamen
Krieges gegen Rußland zur Sprache.
Fischer berichtete, daß vor unserer Einflußnahme keine Aufmarsch-
arbeiten bestanden, sondern erst daraufhin in Angriff genommen wordei?!
seien. Er habe den Eindruck, daß Vorarbeiten jetzt bestehen, auch hin-
•) Der Gegenbesuch war nur deshalb unterblieben, weil der König
selbst Seiner Majestät gesagt hatte, daß er noch am selben Nachmittag
abreisen werde, die Zeit zum Besuch also mangelte.
196
sichtlich der Instradierung, aber gewiß nicht so eingehend wie bei uns.
Man habe sich früher darauf verlassen, erst eintretenden Falles zu über-
legen, was geschehen soll. Mit Bezug auf mein Bemühen, den
rumänischen Aufmarsch möglichst in die nördliche Moldau zu verlegen,
meldete Fischer, daß ein Aufmarsch bei Birlat (Berläd), aber auch ein
solcher am unteren Sereth in Arbeit sei. Jener bei Dorohoju werde wohl
gleichfalls ausgearbeitet, auch sei die dortige Gegend durch General-
stabsoffiziere erkundet worden, doch sei es fraglich, ob man sich dafür
entschließen werde. Die Aufmarscharbeiten befänden sich talsächlich noch
beim bisherigen Chef des Generalstabes, General Crainiceanu. Er sei
heute ein Privatmann, seine Wiederanstellung aber sei möglich, selbst
wahrscheinlich, insbesondere für den Fall des Emporkommens der
liberalen Partei, in der er viele Anhänger habe.
Als bedeutendste Persönlichkeit für die Stelle des Chefs des General-
stabes käme General Averescu in Betracht, doch habe er Feinde in der
Generalität wegen seines scharfen Vorgehens in Personalfragen in seiner
Eigenschaft als Kriegsminister. Er wäre auch dem jetzigen KriegSr
minister Filipescu eine zu prägnante Persönlichkeit; dieser wünsche eine
fügsamere. Filipescu soll gut sein, nehme die Sache sehr ernst, habe viel
Einfluß im Ministerium Carp und neige zweifellos zu Österreich-Ungarn.
Überhaupt habe sich auch in den letzten zwei Jahren in der Öffentlichkeit
die Stimmung uns zugewendet, doch dürfe man nicht übersehen, daß
in Rumänien eine nationale Partei bestehe, die ein „Großrumänien"
im Programm habe und die nationale Entwicklung im Ausland anstrebe.
Auf meine Frage hinsichtlich der Idee einer Angliederung Rumäniens
an die Monarchie, meinte Fischer, daß eine solche im Volke um den
Preis der Vereinigung mit Siebenbürgen große Sympathien finden, aber
auf den Widerstand des an der Souveränität hängenden Königshauses, vor
allem jenen König Carols, stoßen würde.
Schließlich kam noch der Anschluß der rumänischen Bahnen bei
Petra an die siebenbürgischen zur Sprache, der mit dem Fall rechnete,
daß eine in der nördlichen Moldau versammelte Armee ihre Nachschübe
aus der Walachei über Siebenbürgen leiten müßte. Hauptmann Fischer
erwähnte, daß der König mit diesem Bahnbau einverstanden sei, umso-
mehr, als auch Krongüter an dieser Strecke lägen.
Nachdem im Frühjahr 1911 für Hauptmann von Fischer die Zeit
ablief, nach der Militärattaches wieder zum Dienst in der Heimat rück-
berufen wurden, erfolgte seine Ablösung durch Hauptmann von Bilimek
Bei diesem Anlasse sandte Fischer noch folgenden Bericht:
197
„Euer Exzellenz!
In der Anlage unterbreite ich eine zusammenfassende Meldung über
den Stand des Tölgyespaß-Bahnprojektes, sowie der den Aufmarsch
Rumäniens im Kriegsfalle »R« betreffenden Fragen zu dem Zeitpunkte
der Übergabe der Geschäfte des Militärattaches in Bukarest an meinen
Nachfolger.
I. Die Tölgyespaß-Bahn. Entsprechend dem mir mit
Befehl 700 vom 24. Feber d. J. erteilten Auftrage, Herrn Carp nahezu-
legen, in Angelegenheit der Tölgyesbahn die Initiative zu ergreifen, habe
ich mit dem Ministerpräsidenten bei passender Gelegenheit in diesem
Sinne gesprochen. Ich habe als hauptsächlichste Argumente angeführt:
1. Die Angelegenheit liegt in eminenter Weise im miUtärischen
Interesse Rumäniens.
2. Ein solcher Schritt würde die Bemühungen unserer maßgebenden
Faldoren um das Zustandekommen unserer Teilstrecke sehr fördern;
bisnun haben wir von der Geneigtheit der rumänischen Regierung, auf
dieses Projekt überhaupt einzugehen, eigentlich offiziell noch gar keine
Kenntnis.
3. Ein stärkeres In-den-Vordergrund-stellen der ökonomischen Inter-
essen würde dem Bahnbau den Charakter einer rein militärischen Maß-
nahme nehmen, was in Rumänien wahrscheinlich als wünschenswert
empfunden werden würde.
Herr Carp enthielt sich jeder bestimmten Äußerung und sagte, er
wöirde mit dem König darüber sprechen (was, da Seine Majestät kurz
darauf an die Donau abreiste, bis zum Zeitpunkte meiner Abreise wahr-
scheinlich nicht erfolgt ist). Ich habe nicht den Eindruck, daß der
Ministerpräsident der gemachten Anregung sehr bereitwillig gegenüber-
steht. Er wiederholte aber bei dieser Gelegenheit neuerlich die Zusiche^
rung, daß er im Prinzip geneigt sei, das Bahnprojekt zu verwirklichen.
Hen^ Carp fragte mich, wie weit die Sache bei uns gediehen sei,
worauf ich ausweichend antwortete, daß Seine Exzellenz damit
rechnen könne, daß, sobald Rumänien den Bau beginne, dies bei
uns auch geschehen würde.
Bezüglich des obenstehend unter Nr. 2 angeführten Arguments
machte der Minister die interessante Bemerkung: seinem Dafürhalten nach
sei es nicht nötig, den militärischen Charakter dieses Bahnprojektes
ängstlich zu verschleiern, als aggressiv könne man es ja nirgends
empfinden. (Herr Carp trägt bekanntlich nie Bedenken, seine Dreibund-
freundlichkeit zu affichieren, ein Standpunkt, der uns nur angenehm sein
198
kann, in dem er sich aber mit manchen anderen maßgebenden Faktoren,
auch dem König, nicht im Einklänge befindet.)
Wenige Tage später sprach der Premier auch mit dem Herrn
k. u. k. Geschäftsträger von Ugron über das Bahnthema. Dieser berührte
in akademischer Form das seit längerem bestehende Projekt, eine neue
Schnellzugshnie Budapest— Hermannstadt— Bukarest zu etablieren, was
den Bau einer Verbindungsbahn zwischen Rimnic — Välcea und Curtea de
Arges nötig machen würde. Herr Carp antwortete ihm, dieses Projekt
stünde noch in weiter Ferne, da man vor allen Dingen die Tölgyesbahn
bauen würde, die man dem k. u. k. Generalstabe zugesagt habe. (Dies
sei als Bestätigung für den Ernst der Absichten Herrn Carps angeführt.)
II. Aufmarschfragen. Da General Zotu*) erst ganz kurz im
Amte, daher wahrscheinlich noch nicht in vollem Umfange orientiert ist,
hielt ich es nicht für angebracht, vor meiner Abreise dieses Thema zu
berühren. Ich resümiere im folgenden kurz den derzeitigen Stand der
Angelegenheit :
Daß die Aufmarschfragen in dem von E. E. gewünschten Sinne
bearbeitet wurden, ist durch das mir von General Crainiceanu gezeigte
Memoire bestätigt; eine Erhärtung und Kontrolle dessen bilden die von
dem König gelegentlich meiner Audienzen sowohl 1910 als 1911 dies-
bezüglich gemachten Bemerkungen, deren Fassung und Ton — von dem
sonst von Majestät im Verlauf der Audienz beibehaltenen leichten Kon-
versationston abweichend — die Absicht, sie zu machen, erkennen ließ.
Wie weit dieses mehr als Studie angelegte Memoire in praktische Auf-
marschvorbereitung umgesetzt ist, ließ sich mit Sicherheit nicht feststellen.
Nach General Crainiceanus Versicherung wäre dies bezüglich aller drei
Varianten geschehen; ich habe nach wie vor den Eindruck, daß die
Variante »Berläd« ernster zu nehmen ist, als die »nördliche Moldau«;
die dritte Variante »Sereth« war ja seit jeher vorbereitet.
In Bezug auf den Charakter dieser Vorarbeiten ist anzunehmen, daß
sie Umfang und Gründlichkeit der bei uns üblichen überhaupt nie
erreichen. Diesbezüglich sind Ausbildung und Gewissenhaftigkeit des
rumänischen Großen Generalstabs gegenüber dem unseren sehr zurück.
So weit ich feststellen konnte, werden im allgemeinen die Transport-
bewegungen vorbereitet, jedoch ohne Zuziehung der Zivileisenbahn-
behörde; es werden Transportkalküls und — wie man mu sagte — auch
Fahrpläne gemacht, das »wie« muß natürlich offen bleiben. Als
Charakteristikum sei an die schon seinerzeit gemeldete Tatsache erinnert.
*) Der neu ernannte Chef des Generalstabes.
199
daß erst seit 1908 die Lerstungbfähigkeit der Bahnen nach den tatsäch-
hchen Verhältnissen differenziert wird, während früher für alle Bahnen
en bloc eine Durchschnittsleistung als Basis genommen wurde. Landes-
beschreibungselaborate in unserem Sinne existieren nicht, sondern
beschränken sich auf sehr allgemein gehaltene Studien, die an Detailliert-
heit nicht wesentlich über den Inhalt der Vorträge aus Militärgeographie
an unserer Kriegsschule hinausgehen und durch fallweise Rekognos-
zierungen ergänzt werden. Solche wurden im Laufe des vergangenen
Sommers (nach Angabe Crainiceanus) auch in den in Betracht kommenden
Aufmarschräumen der Moldau und am Pruth vorgenommen. (Eine
detaillierte Gesamtbeschreibung des Pruth war im vergangenen Sommer
noch nicht vorhanden.)
General Zotu. Wie Stellung und Hältung des neuen Chefs
in dieser Angelegenheit sein werden, kann ich noch nicht sagen.
Die Mobilisierungsvorarbeiten werden jährlich unmittelbar nach
Feststellung des Budgets — also im Mai und Juni — revidiert, man
dürfte also eben bei der Arbeit sein.
Es ist möglich, daß General Crainiceanu, gestützt auf die Rolle, die
er bis jetzt in dieser Angelegenheit gespielt, versucht, sich in derselben
auch jetzt noch einen gewissen Einfluß zu sichern und so seine Stellung
im allgemeinen zu stärken. Bei der stets wechselnden und oft vagen
Abgrenzung der Kompetenzen ist manches sonst merkwürdig Scheinende
möglich. Eine Bemerkung, die er gelegentlich der Vorstellung meines
Nachfolgers zu diesem machte, scheint darauf hinzudeuten. (Einladung,
ihn öfters aufzusuchen. >Nous causerons des affaires qui Interessent nos
deux pays en commun.«) Von einem direkten Eingehen auf etwaige
Avancen des Generals Crainiceanu muß natürlich abgeraten werden, es
können in diesen Sachen, wie ja selbstverständlich, für uns nur die
offiziellen Faktoren in Betracht kommen, doch wäre zu empfehlen, in der
Behandlung der Angelegenheit darauf Rücksicht zu nehmen, daß General
Crainiceanu für den Fall des in 2 bis 3 Jahren zu erwartenden Wieder-
ans-Ruder-kommens der Liberalen viel Chancen hat, wieder Generalstabs-
chef zu werden. Er hat überhaupt bei seinem Sturze seine Stellung in
geschickterer Weise sich zu wahren verstanden, als seinerzeit Averescu
Ich habe Hauptmann von Bilimek auch in diesem Sinne orientiert
Fischer, Hauptmann.
Bukarest, 17. Mai 1911."
Dieser Bericht bestätigt die damals bestehenden intimen militärischen
Beziehungen der Monarchie zu Rumänien. Es war daher befremdend,
als am 28. Juni 1911 folgende Meldung des neuen Militära.taches in
200
Bukarest einlangte. Mit Bezug auf deren Schlußsatz konnte wohl nur
angenommen werden, daß König Carol besondere Gründe dafür hatte,
diese Beziehungen dem Kollegen Bilimeks gegenüber zu verschleiern.
Die Meldung lautete:
„In der Folge gebe ich den Inhalt eines Gespräches wieder, welches
einer meiner Kollegen gelegentlich einer Audienz mit Seiner Majestät
dem König hatte:
Seine Majestät besprach die Aspirationen Bulgariens, Serbiens und
Montenegros gegenüber der Türkei und meinte, daß Bulgarien nur auf
einen günstigen Moment warte, um sein Gebiet vergrößern zu können.
Seine Majestät der König hatte diesbezüglich auch mit Seiner Majestät
dem Zar Ferdinand gesprochen und letzterem erklärt, daß Rumänien nie
eine Gebietserweiterung Bulgariens — außer es würde selbst seinen
eigenen Vorteil hiebei haben — zugeben könne, da ja auch sonst die
Erhaltung einer so großen Armee nicht gerechtfertigt wäre.
Weiters besprach Seine Majestät folgendes:
Unlängst war Prinz Roland Napoleon (ein Mann in den fünfziger
Jahren, befaßt sich mit wissenschaftlichen Studien, ist verheiratet mit der
Tochter des früheren Pächters und jetzigen Aktionärs der Spielbank in
Monte Carlo, Camille Blanc, und sehr vermögend) in Sofia, reiste hierauf
nach Brüssel und traf daselbst auch mit dem rumänischen Gesandten
zusammen. Das Gespräch berührte bald die Politik und meinte Prinz
Napoleon, daß die Stellung Rumäniens sehr gesichert sei, da es ja mit
Österreich-Ungarn eine Mihtärkonvention abgeschlossen habe. Der
rumänische Gesandte war hierüber sehr erstaunt und dementierte jegliche
Existenz einer solchen, worauf Prinz Napoleon ihm lächelnd erwiderte,
daß man ihm in Sofia Einblick in eine Abschrift des diesbezüglichen
Vertrages gestattet habe. Der Gesandte meldete dies dem König und
Seine Majestät sprach meinem Kollegen gegenüber seine Entrüstung über
diese falsche Nachricht aus und bezeichnete den Vertrag — welchen man,
wenn überhaupt, nie schriftlich, sondern nur mündlich schließen würde —
als eine plumpe Fälschung. -, . , . , ^
'^ ^ «^ Bilimek, Hauptmann.
Bukarest, am 22. Juni 1911."
Marokkofrage. Als wichtigstes Ereignis in der Politik der
Westmächte stand die wieder aufgetauchte Marokkofrage im Vordergrund.
Wenn man diese durch die diplomatische Aktion der Algeciras-Akte
(28. März 1906) und des Marokko- Vertrages (9. Feber 1909) geordnet
glaubte, so war dies ein Irrtum. Der erste Aufstand der Mauren und
201
das darauf erfolgende militärische Eingreifen Frankreichs und Spaniens,
sowie die diplomatische Einmengung Deutschlands und Englands schufen
einen neuen Konflikt. Im März 1911 brach General Moinier (ca. 20.000
Mann) von Casablanca auf, besetzte am 21. Mai Fez, am 14. Juni
Mekinez. Die Spanier okkupierten im Juni El Kasr und Larasch. Im
Juh legte sich das deutsche Kanonenboot „Panther"*) vor Agadir**).
In die hierauf zv^ischen Deutschland und Frankreich erfolgenden Ver-
handlungen griff England feindlich gegen Deutschland ein, wodurch die
Kriegsgefahr heraufbeschworen wurde. Die damals besseren Beziehungen
Deutschlands mit Rußland, mit dem es sich im August hinsichtlich
Persiens verständigt hatte, Umformungen im russischen Heerwesen, die
Sorge vor Österreich-Ungarns Zusammengehen mit Deutschland, angeb-
lich auch die Unfertigkeit der englischen Marine mochten mit Ursache
gewesen sein, daß der Krieg vermieden blieb und Deutschland und
Frankreich sich in den Verträgen vom 4. November 1911 verständigten.
Sie befriedigten allerdings weder in Deutschland noch in Frankreich.
Ob es für Deutschland ein Glück war, daß die kriegerische Aus-
tragung damals unterblieb, mag dahingestellt bleiben.
In eigentümlichem Lichte erschien bereits in diesem Konflikte die
Rolle Englands. Zur Zeit der Verhandlungen im Juh 1911 bezeichnete
der Minister des Äußern, Grey, die Forderungen Deutschlands an Frank-
reich für unannehmbar und der Schatzkanzler Lloyd George erklärte, daß
England eine Verletzung seiner Lebensinteressen und eine Hintansetzung
seiner Stellung nicht hinnehmen dürfe. Zwar schwächte der Minister-
präsident Asquith in öffentlicher Rede diese Drohungen dahin ab, daß sich
Englands Verwahrung nur auf die Marokko-Angelegenheit beziehe, aber
es fehlte nicht an Anzeichen, daß England damit rechne, im Kriegsfalle
aktiv an die Seite Frankreichs zu treten. Die Enthüllungen der englischen
Unterhausmitglieder Oberst Faber, Buxton und Ponsomby wiesen darauf
hin, daß ein Eingreifen hätte über Belgien geschehen sollen. Der Mangel
an Transportschiffen und die Sorge vor der deutschen Flotte sollen aber
dagegen gesprochen haben.
Ein bemerkenswertes Licht auf diese Verhältnisse wirft ein Bericht
des neu ernannten k. u. k. Militärattaches in London, Hauptmann
Horväth :
*) Später abgelöst durch Kreuzer „Berlin" und Kanonenboot
„Eber".
**) An der Westküste Marokkos.
202
„Präs. 27. November 1911.
Geh. Nr. 64/1911.
London, am 22. November 1911.
Euer Exzellenz!
Obwohl ich erst ganz kurze Zeit auf meinem Posten bin und noch
keine Gelegenheit hatte, mit maßgebenden Persönlichkeiten recht in
Fühlung zu treten, glaube ich doch durch aufmerksames Verfolgen aller
Erscheinungen, insbesondere im Parlament und in der Presse, ein Urteil
über die poUtische Stimmung in England bilden zu können.
Eine große Erleichterung bemächtigte sich der Gemüter durch den
Abschluß des deutsch-französischen Marokko-Abkommens, mit welchem
die Kriegsgefahr für England abgewendet erscheint. Daß sie um die
kritische Zeit arg befürchtet und von den Eingeweihten erwartet wurde,
ist aus mannigfachen Äußerungen und Enthüllungen (Ponsomby,
Faber etc.) zu entnehmen. Der großen Masse wurden aber erst jetzt
durch die sensationelle Rede Capt. Fabers (Parlamentsmitglied, Unionist)
und die darauffolgenden Kommentare die Augen geöffnet und deshalb
sieht man die fast täglich wiederkehrenden Angriffe im Parlament — selbst
von liberaler Seite — gegen Sir Edward Grey wegen der zu weit gehen-
den Geheimhaltung der Vorgänge in der äußeren Politik. Man macht
der Regienmg den Vorwurf, daß sie sich der Kontrolle des Parlaments
unter dem Titel, diplomatische Geheimnisse nicht preisgeben zu können,
entziehe und immer mehr Politik auf eigene Faust und unbekümmert mn
den Willen des Volkes treibe.
Die Enthüllungen Capt. Fabers, sowie die anscheinend von authen-
tischer Seite inspirierten Widerlegungen (s>Daily Telegraph«) lassen
mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit feststellen, daß zwischen England und
Frankreich nicht nur eine Entente, sondern ein Bündnis bestehe. Es
zweifelt niemand mehr daran, daß Feldmarschall Sir William Nicholson,
Chef des Reichsgeneralstabes, im Einvernehmen mit dem Chef des
französischen Generalstabes einen gemeinsamen Operationsplan aus-
gearbeitet hat, wonach die ganze sogenannte Expeditionsarmee (6 Divi-
sionen) sofort nach Kriegserklärung auf den Kontinent — man
munkelt nach Belgien — gebracht werden sollte. Die ganze Unter-
nehmung scheiterte nur am Widerstand der Marine, die nicht kooperieren
wollte. Zur Charakteristik dessen, daß man diesen Enthüllungen doch
einigen Glauben schenken darf, möchte ich ein Gespräch anführen, das
ich mit Generalmajor Wilson, dem Chef des Operationsbureaus, gelegent-
lich meiner Vorstellung im War Office (16. November) geführt habe.
Ich sah eine Menge Akten auf seinem Tisch liegen und sagte, darauf hin-
203
weisend: >Herr General sind wohl der meistbeschäftigte Mann im
Ministerium?« >Ja, wir arbeiten fort lür den Krieg und es kommt nicht
dazu,« antwortete er. >Wie schade,« bemerkte ich scherzhaft, worauf
er lachend erwiderte: 2>Nicht wahr? es ist wirklich schade!« Wiewohl
das ganze Gespräch einen scherzhaften Charakter trug, glaube ich doch
mehr Ernst dahinter zu verspüren, als wir beide der Sache an Anschein
geben wollten.
Was die Kampfbereitschaft der Flotte zur Zeit der Krise anbelangt,
so läßt sich aus dem Wust an Enthüllungen und Richtigstellungen mit
einiger Sicherheit entnehmen, daß
a) die englische Home Fleet*) tatsächlich auf drei weitentfernten Punkten
verteilt war und wenn man auch beschönigend anführt, daß die
zwei Dreadnoughtdivisionen verhältnismäßig nahe zu einander an
der Ostküste Schottlands lagen, so wird anderseits doch zugegeben,
daß zur selben Zeit die dritte Division in den irischen Gewässern
sich aufhielt; femer daß
b) man doch die deutsche Hochseeflotte plötzlich außer Sicht bekam
und ihren Überfall befürchtete; denn warum hätten sonst die Schlacht-
schiffe ihre Torpedonetze ausgelegt, was trotz aller sonstigen
Dementis als Tatsache angeführt wird?
Daß etwas nicht m Ordnung war — sei es in der Bereitschaft der
Flotte selbst, sei es im Weigern der Admiralität zur Kooperation mit der
Landarmee — ist aus der Tatsache zu entnehmen, daß die Stelle des
früheren Marineministers plötzlich durch Winston Churchill, dem bis-
herigen Minister fürs Innere, besetzt wurde, dem die Faberschen
Enthüllungen nachsagen, daß er nebst Lloyd George der eifrigste Für-
sprecher der Kooperation mit Frankreich im Kabinett war.
Aus der Marokkokrise will man übrigens von mancher Seite die
Notwendigkeit zur Verstärkung der Armee, ja selbst zur allgemeinen
Wehrpflicht ableiten. Man beruft sich darauf, daß Frankreich selbst mit
Unterstützung Englands in einem Kriege gegen Deutschland unterlegen
wäre, und da auf eine tatkräftige Unterstützung Rußlands nicht zu
rechnen sei, Frankreich schließlich zur Erkenntnis kommen müsse, daß
alle Opfer nutzlos sind, um gegen Deutschlands Übermacht sich zu
wehren. Es bUebe demnach Frankreich nichts anderes übrig, als die
Entente mit England aufzugeben und sich ins Schlepptau deutscher
Politik nehmen zu lassen. Schließhch wäre dann Englands Kolonial-
macht durch Deutschlands uneingeschränkte Präpondeianz gefährdet; es
•) Heimatflotte.
204
sei mithin Englands vitalstes Interesse, seine Armee zu verstärken, um
ein begehrter und kraftvoller Bundesgenosse für Frankreich zu sein.
Zunächst scheint die englische Regierung — dies ist mein ganz
subjekiives Empfinden — dahin zu arbeiten, um Italien gefällig zu sein
und dem Dreibund zu entfremden. Daher bereiten die häufigen Inter-
pellationen wegen italienischer Grausamkeiten, Interventionen zur Herbei-
führung des Friedens, Anfragen, ob der britische Konsul die Regierung
über alle Vorgänge am Kriegsschauplatz genau informiere und über die
britischen Interessen gehörig wache etc. etc., der Regierung sichtlich
UnannehmUchkeiten, und Mr. Asquith wie Sir Edward Grey weichen
jeder solchen Interpellation mit allgemeinen Redensarten aus oder lassen
sie überhaupt unbeantwortet. Türkische Sympathien scheinen der
Regierung sehr unangenehm zu sein, hingegen werden Nachrichten
über den angeblichen Druck Österreichs und Deutschlands gegen jede
Erweiterung des Kriegsschauplatzes mit großem Behagen kolportiert, bei
der Disziplin der englischen Presse wahrscheinlich nicht ohne Einfluß des
Foreign Office. So ist auch die Aktion einiger Abgeordneter, eine Adresse
an die Regierung zu richten, in welcher sie aufgefordert werden soll, im
Interesse des Friedens zu intervenieren, eigenthch gescheitert und trotz
wiederholter Einberufung eines bezüglichen Meetings im Westminster
Hall wurde dasselbe kaum von einigen Abgeordneten aufgesucht.
Ein tödliches Schweigen herrscht über Ägypten. Dieses Schweigen
scheint mir beredt und der Beweis für die. große Angst zu sein, daß der
heilige Krieg gegen die Italiener auch in Ägypten Anklang finden wird.
Einen Ausdruck hiefür glaube ich beispielsweise in der Resolution zu
finden, die bei dem vorerwähnten Meeting im Westminster Hall gefaßt
wurde und wonach die Regierung aufgefordert werden sollte, mit Rück-
sicht auf 80 Millionen loyaler mohammedanischer Untertanen die
Friedensintervention ins Werk zu setzen, welche Berufung jedoch über
Antrag mehrerer Anwesenden als »inopportun« (!) in den Beschluß nicht
aufgenommen wurde.
Die Entrüstung über itahenische Grausamkeiten ist übrigens merk-
lich abgeflaut, seitdem die Engländer sich selbst bei der Nase packen
mußten. W. Blunt, einstiger Kriegskorrespondent und jetzt Grafscliafts-
rat in Sussex, veröffentlichte kürzlich seine Erinnerungen aus dem Sudan-
feldzug unter dem Titel »Gordon at Khartoum«. Darin findet sich unter
anderem folgender Passus: »Diese englischen Soldaten sind nichts wie
Mörder! Was stellen sie eigentlich dar? Eine verrottete Schar des
Abschaums des Diebsgesindels von Whitechapel (d. i. des vom ärmsten
Pöbel Londons bewohnten Stadtteils) . . .< Ein Sturm der Empörung
entstand über dieses Urteil und war auch Gegenstand einer Interpellation
203
im Abgeordnetenhause, worauf Col. Seely, Unterstaatssekretär für Krieg,
in emphatischer Weise die engUsche Armee in Schutz nahm und ver-
sicherte, man werde alles tun, was im Rahmen des Gesetzes möglich sei,
um W. Blunts Tätigkeit im öffentlichen Leben einzuschränken. Wie dem
auch sei, die >ltalian atrocities« werden — zumindest in Presse und
Parlament — auf einmal mit Schweigen übergangen und ich glaube nicht
fehlzugehen, wenn ich vermute, daß die Interpellation wegen Blunts
Anklagen eine abgekartete Sache war, tun den für die Regierung so
unangenehmen Beschwerden gegen italienische Grausamkeiten den Boden
zu entziehen.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefgefühlten Verehrung, in
der ich verharre als
Euer Exzellenz gehorsamst ergebener
Koloman Horväth, Hauptmann."
Nach Abflauen der Kriegsgefahr stellte allerdings Grey in Abrede,
daß eine solche bestanden habe, und der belgische Minister leugnete, daß
die Landung eines englischen Heeres in Belgien beabsichtigt gewesen wäre.
Der am 22. Juni 1911 gekrönte König von England, Georg V., trat
die Reise nach Indien an. Am 12. Dezember 1911 fand in Delhi unter
großem Gepränge die Kaiserkrönung statt.
Indessen war auch im Innern der Kampf durch Annahme der Veto-
Bill beendet. Allerdings dmch eine das Zweikammersystem eigentlich
aufhebende Herabdrückung des Hauses der Lords.
Für Englands schließliches Ausweichen in der Marokkokrisis mag
möglicherweise auch mitgesprochen haben, daß, wie eine Reichskonferenz
erwies, die Kolonien ihre Selbständigkeit nicht beschränken und sich zur
grundsätzlichen Heeresfolge nicht verpflichten wollten, dann, daß
die Union mit Kanada Verhandlungen pflegte, welche die Möglichkeit
eines Zusammenschlusses beider nicht ausschlössen.
Auch Frankreich war zur Zeit der Marokkokrisis von inneren
Kämpfen heimgesucht, die schließlich zur Trennung von Kirche und
Staat und zur Annahme des Altersversorgungsgesetzes führten.
Deutschland hatte anfangs des Jahres 1911 gleichfalls wichtige
innere Fragen ausgetragen: im Feber die Annahme des erhöhten
Rekrutenkontingentes, im Mai jene der elsässischen Verfassung und des
Reichs-Versicherungsgesetzes. Die Marokkokrise verlegte jedoch das
Schwergewicht in die äußere Politik,
Bei der kritischen Lage, die den Ausbruch eines Krieges nahe rückte,
war Deutschland begreiflicherweise dafür interessiert, wie sich Österreich-
Ungarn in diesem Falle, also bei einem Krieg zwischen Deutschland
einerseits, England und Frankreich andrerseits, aber bei Ausschluß Ruß-
206
lands stellen würde. Deutschland konnte daher nicht gleichgültig bleiben
gegen die schon Ende 1910 in einigen Journalen Österreich -Ungarns
erschienenen, das Bündnis der Monarchie mit Deutschland bekämpfenden
Artikel. Auf Grund des Auftrages, mir über diese Stimmung zu
berichten, schrieb der k. u. k. Militärattache in Berlin, Major Baron
Bienerth :
„Euer Exzellenz!
Dem mündlichen Auftrage E. E. hinsichtlich der Bündnisstimmung
in Deutschland habe ich versucht zu entsprechen. Im folgenden bitte ich
E. E., meine Eindrücke darlegen zu dürfen.
Durch den k. u. k. Botschafter habe ich erfahren, daß der deutsche
Botschafter in Wien, Exzellenz von Tschirschky und Bögendorff, an den
Reichskanzler etwa zu Weihnachten einen Privatbrief geschrieben habe,
in welchem er es als unangenehmes Symptom hinstellt, daß in einigen
Blättern der Presse der Monarchie Artikel gegen das innige Bündnis-
verhältnis der Monarchie zu Deutschland erschienen seien. Ob Exzellenz
von Tschirschky diese Frage auch im k. u. k. Ministerium des Äußern
berührt hat, wurde hier nicht bekannt. Immerhin ist aber diese Äußerung
ein Anzeichen dafür, daß man in den offiziellen Stellen keine Änderung
des Bündnisverhältnisses eintreten sehen möchte.
Vor einigen Tagen hatte ich Gelegenheit, mit Seiner Exzellenz dem
Chef des Generalstabes, General der Infanterie von Moltke, zu sprechen.
Seine Exzellenz meinte, daß er mir gar nichts Wesentliches mitteilen
könne, da sich in der Lage nichts verändert habe.
Hinsichtlich des Ergebnisses der Potsdamer Zusammenkunft*) Seiner
Majestät des Deutschen Kaisers mit dem Zar habe ich E. E. bereits
mündlich gemeldet, daß Seine K. und K. Hoheit der Erzherzog Franz
Ferdinand bei seinem Jagdbesuche in Springe hierüber von Seiner
Majestät dem Kaiser orientiert wmde mit dem Wunsche, Seiner K. und K.
Majestät darüber Bericht zu erstatten. Inzwischen wurde der Schleier
über dieses Ergebnis bereits gelüftet. Sowohl der Reichskanzler hat
darüber im Reichstage gesprochen, als der russische Minister des Äußern.
Ebenso hat der französische Minister des Äußern in der Kammer diese
Frage besprochen. Dieselbe bildete in der französischen und engUschen
Presse den Gegenstand eingehender Erörterungen. Ich glaube, daß es
den Intentionen Seiner K. und K. Hoheit des Herrn Erzherzogs Franz
Ferdinand vollkommen entspricht, wenn sich das Verhältnis Deutschlands
zu Rußland bessert, was vielleicht auch von Einfluß sein könnte auf das
Verhältnis der Monarchie zu Rußland. Und gerade dies scheinen Frank-
*) Diese fand statt am 4. November 1910.
201
reich und England zu befürchten. Die Aufregung dieser beiden Staaten
wurde, wie ich glaube, hier sehr ruhig beurteilt.
Nach alledem kann ich E. E. nur meiner Meinung dahin Ausdruck
geben, daß sich hier in den Anschauungen über unser Bundesverhältnis
nichts geändert habe. Sollten mir weitere Daten zugänglich werden, so
werde ich sofort hierüber E. E. berichten. Genehmigen E. E. den Aus-
druck meiner steten Verehrung als
Euer Exzellenz gehorsamster
Bienerth, Major.
Präsentiert Wien, am 20. Jänner 1911."
Bezüghch des in diesem Bericht erwähnten Verhältnisses zu Rußland
war es bedeutungsvoll, daß am 19. August 1911 zwischen Deutschland
und Rußland ein Abkommen zustande kam, in dem sich beide Staaten
hinsichtlich Persiens und des Anschlusses der dortigen Bahnen an die
Bagdadbahn einigten. Jedenfalls war damals das Verhältnis beider
Reiche zueinander äußerlich ein gutes. Ob dies auch im Kriegsfalle
Deutschlands gegen Frankreich und England so geblieben wäre, und ob
sich diese Disposition Rußlands auch auf Deutschlands Bundesgenossen
Österreich-Ungarn erstreckt hätte, blieb allerdings fraglich. Greifbar
aber war, daß Rußland sehr an inneren Kämpfen htt und seine Heeres-
ausgestaltung noch zurückstand.
Die dem Bündnis mit Deutschland feindhchen Artikel der ö.-u. Presse
setzten sich auch während der Marokkokrisis fort.
Am 9. September 1911 besuchte mich der deutsche Militärattache in
Wien, Graf Kageneck. Er teilte mir mit, daß dies in Deutschland
unangenehm empfunden werde, wobei er insbesondere auf den sogenann-
ten Cartwright-Artikel der „Neuen Freien Presse" vom 25. August 1911
hinwies.
Ich erwiderte, daß die Zeitungen nicht die Ansichten der offiziellen
Kreise repräsentieren, sie ja auch nicht kennen, und fügte bei:
„Ich gehe so weit, daß ich Ihnen unter vier Augen, aber mit der
Bewilligung, es General von Moltke mitzuteüen, sage, daß ich bereits
bei Seiner Majestät die Bitte vorgebracht habe, Verhandlungen darüber
einleiten zu lassen, wie sich die Monarchie im Kriegsfalle zwischen
Deutschland und Frankreich bei Abseitsbleiben Rußlands stellen würde,
welche Vorbereitungen und Maßnahmen daher unsererseits in militärischer
Hinsicht zu treffen wären — Aufmarsch, Instradierung usw. — daß
jedoch Seine Majestät den Zeitpunkt hiefür noch nicht gekommen erach-
tete, da er nicht glaube, daß es zum Krieg kommen werde."
Graf Kageneck hatte sich hierauf nach Beilin gewendet und mir in
einem Schreiben vom 23. September 1911 mitgeteilt;
208
„Exzellenz von Moltke antwortete mir auf meinen im Auftrage E. E.
damals geschriebenen Brief: >Dem Herrn, in dessen Aufirag Sie
gesctirieben haben, bitte ich meinen besten Dank zu sagen und ihm Grüße
von mir auszurichten. Er wird wissen, daß ich dieselben Gesinnungen
hege wie er und daß ich unbedingtes Vertrauen zu ihm habe.« Wie ich
übrigens gestern in einer Berliner Zeitung lese, scheint der General-
stabschef doch noch in die Bukowina zur Hirschbrunft abgereist zu sein.
Wegen Marokko braucht er sich ja nun nicht mehr den Kopf zu zer-
brechen."
Die Verhandlungen Deutschlands und Frankreichs nahmen eben
einen friedlichen Verlauf, der am 4. November 1911 zum Abschluß
des Marokko-Vertrages führte.
Wie schon aus manchen Stellen der früheren Darlegungen hervor-
geht, stand man in Deutschland dem Bundesverhältnisse mit Italien stets
vertrauensvoll gegenüber, während ich, so oft die Sprache hierauf kam,
meine gegenteilige Meinung vertrat. Es fehlte denn deutscherseits nicht an
Versuchen, mich vcn meiner Meinung abzubringen und mir Beweise für
Italiens Bundestreue zu bieten.
Bezeichnend in dieser Hinsicht ist nachfolgender Bericht des k. u. k.
Militärattaches in Berlin vom 12. Oktober 1911:
„Euer Exzellenz!
Nach der Schlußbesprechung am 13. September, als dem letzten
Tage der Kaisermanöver, geruhten Seine Majestät der Kaiser und König
mich gelegentlich meiner Abmeldung in ein Gespräch zu ziehen, dessen
Inhalt ich dem Allerhöchsten Auftrage zufolge nur E. E.
zur Kenntnis bringen soll. Im nachfolgenden komme ich
diesem Allerhöchsten Auftrage nach.
Seine Majestät erzählte mir folgendes:
>Gelegentlich des Besuches Seiner K. und K. Hoheit des Kronprinzen
beim König von Italien zur Jagd auf Steinböcke brachte Höchstderselbe
das Gespräch auf das Gebiet der äußeren PoUtik, wie er es so gerne tue.
Dabei stellte Seine K. und K. Hoheit an Seine Majestät den König von
Italien direkt die Frage, wie sich Italien bei einem Konllikt Deutschlands
mit Frankreich aus Anlaß der Marokkofrage verhalten hätte und gab
Höchstseiner Meinung dahin Ausdruck, daß wohl mehr als eine wohl-
wollende Neutralität kaum zu erwarten wäre. Dem widersprach Seine
Majestät der König vcn ItaUen und sagte, daß er den durch die
Bestimmungen des Dreibun d Vertrages Italien auf-
erlegten Bedingungen bis auf seinen letzten Mann
gerecht geworden wäre.
14, Conrad II 900
Es sei dies seit dem Tode Seiner Majestät des Königs Humbert 1.
von Italien das erste Mal, daß er über die Auffassung und Bündnis-
treue Italiens eine Äußerung wisse, welche in so bestimm-
terFormgehaltensei. Es sei dies bei den jetzigen Verhandlungen
über Marokko für ihn von großem Werte gewesen, zu wissen, daß
eventuell italienische Truppen, wie dies vertragsmäßig vorgesehen und
vorbereitet ist, mitkämpfen würden.
Seine Majestät habe Seiner K. u. K. Hoheit dem
Herrn Erzherzog Franz Ferdinand bei Höchstseinem
Besuche in Kiel am 5. September von dieser Äußerung Seiner
Majestät des Königs von Italien Mitteilung gemacht. Höchst-
derselbe sei hierüber sehr erstaunt gewesen. Bei der
späteren Unterredung Seiner K. und K. Hoheit mit Seiner Exzellenz dem
Reichskanzler sei die Bedeutung dieser Mitteilung bereits zum Ausdrucke
gekommen, wie Seine Exzellenz der Reichskanzler Seiner Majestät
berichtet habe.«
Wer von dieser Mitteilung außer den angeführten Allerhöchsten
und Höchsten Personen und Seiner Exzellenz dem Reichskanzler Kennt-
nis hat, ist mir nicht bekannt. Seitens des Auswärtigen
Amtes wurde dem k. u. k. Botschafter bisher hievon
keine Mitteilung gemacht. Allerdings war Seine Exzellenz der
k. u. k. Botschafter nicht in Berlin anwesend und hatte auch jetzt noch
keine Gelegenheit, mit Seiner Majestät dem Kaiser und König zu sprechen.
Dem Geschäftsträger, Botschaftsrat Baron Flotow, wurde seitens Seiner
Exzellenz des Herrn Staatssekretärs von Kiderlen keine Erwähnung
getan, obwohl die beiden Herren sehr oft Unterredungen hatten. Eben-
sowenig ist es mir bekannt, wem Seine K. und K. Hoheit von dieser
Nachricht Kenntnis gegeben hat. Ich habe nur von Seiner
Majestät den Auftrag, dies zur persönlichen Kennt-
nis E. E. zu bringen und werde selbstredend sonst
absolut kein Wort darüber reden.
Mit dem Ausdrucke meiner tiefsten Verehrung und Ehrerbietung
verbleibe ich c ^ n i.
Euer Exzellenz ganz gehorsamster ^^ • ^ t.
^ ^ Bienerth.
Berlin, am 12. Oktober 1911."
Nach dem Verhalten Italiens im Weltkriege bedarf es wohl keines
Kommentars für die Zuverlässigkeit der im obigen Schreiben wieder-
gegebenen italienischen Versicherungen.
Mich haben sie nicht abgehalten, in Italien den zielbewußten
Feind der Monarchie zu sehen und nicht veranlaßt, von meinen
210
Anschauungen abzuweichen, die ich in dem schon früher volUnhaltlich
angeführten Schreiben an Graf Ährenthal vom 24. September 1911 aus-
gesprochen hatte. (Seite 172.)
Im gleichen Sinne habe ich das folgende Schreiben an Seine Kaiserüche
Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand gerichtet:
„Steyr, 12. Oktober 1911 abends*).
Euer Kaiserliche Hoheit!
Geruhen Euer Kaiserliche Hoheit meinen ehrfurchtsvollsten Dank für
Euer Kaiserlichen Hoheit so gnädiges Schreiben entgegenzunehmen.
Ich habe teils schriftlich, teils mündlich meine schweren Bedenken
über die vertrauensselige Politik gegenüber Italien Seiner Majestät a. u.
vorgetragen und hervorgehoben, daß ich es dringend geboten erachte,
unsere militärischen Vorbereitungen, mid zwar ebenso zu Land als zur
See, auf das schleunigste zu vervollständigen, ohne sich um die fort-
währenden Rücksichten und Bedenken des Ministers des Äußern zu
kümmern.
Ich habe in unsere Diplomatie nicht das Vertrauen, um nur von
ihrem Wohlmeinen die militärischen Vorkehrungen abhängig zu machen.
Daß sie auch jetzt wieder durch die Aktion Italiens völlig überrascht
war, steht außer Zweifel, charakteristisch ist dafür, daß gerade zur
kritischen Zeit sowohl der Botschafter in Rom, als jener in Konstantinopel
auf Urlaub waren.
Geruhen Euer Kaiserliche Hoheit den Ausdruck ehrfurchtsvollster
Ergebenheit entgegenzunehmen von
Eurer Kaiserlichen Hoheit treu gehorsamstem
Conrad."
Aus der Schweiz hatte ich Nachrichten, daß in Serbien Befehl an
die Divisionskcmmanden ergangen sei, sich für die Mobihnachung bereit-
zuhalten, im östlichen Frankreich Truppenansammlungen stattfänden und
die deutschen Sozialdemokraten ihre Parteikassen in die Schweiz geflüchtet
hätten.
Gelegentlich eines Briefwechsels mit dem schweizerischen Chef des
Generalstabes, Oberst-Korpskommandanten von Sprecher, anläßlich Ein-
ladung desselben zu unseren Armeemanövem, gab ich in einem Schreiben
vom 16. August 1911 meiner Ansicht über die Lage dahin Ausdruck,
„daß ich die Großmächte wenig geneigt für eine kriegerische Lösung
*) Ich befand mich dort zur praktischen Prüfung der Stabsoffiziers-
aspiranten für den Generalstab.
14»
211
halte, daher auf den friedhchen Verlauf der schwebenden Fragen
geschlossen werden könne, daß Albanien momentan beruhigt sei und es
hinsichtlich Marokkos zu einem Ausgleich zwischen Frankreich und
Deutschland kommen dürfte, bei dem jeder Teil sich das Möghchste
herausschlagen, keiner aber deshalb Krieg führen wird".
Wie Rußland sich hiezu stellen dürfte, ist schon gestreift; die Schwere
seiner inneren Kämpfe (auch in der Duma) erhieh eine traurige Beleuch-
tung durch das Attentat auf Stolypin, dem er am 18. September
1911 erlag. Auch in Finnland, das allmählich vergewaltigt wurde,
bestanden dauernde Schwierigkeiten. In der äußeren Politik sprach sich
durch den Zarenbesuch in Potsdam und durch das persische Abkommen
wenigstens äußerlich ein gutes Verhältnis zu Deutschland aus. Doch
war in Rußland stets mit zwei Strömungen zu rechnen, deren eine durch
Mitglieder des Zarenhofes, deren andere durch die nationalistische,
panslawistische Partei repräsentiert erschien. Nach beiden dieser
Richtungen war daher besondere Aufmerksamkeit geboten und Fühlung
zu nehmen.
Im nachstehenden, am 14. März 1911 erhaltenen Schreiben schildert
der neu ernannte k. u. k. Militärattache in Petersburg, Hauptmann Prinz
Hohenlohe, seine ersten Eindrücke:
„Euer Exzellenz!
Als Ergänzung meines ersten Berichtes, Res. Nr. 37 von 1911, möchte
ich mir erlauben, E. E. in einigen Worten über die Eindrücke zu berichten,
die ich bei meinem Eintritt in die hiesige Gesellschaft und die offiziellen
Kreise gewonnen habe.
Zunächst möchte ich die überaus freundliche Art und das große
Entgegenkommen hervorheben, das mir von Seite Seiner Exzellenz des
Herrn Botschafters und der Gräfin Berchtold gleich bei meiner Ankunft
zuteil wurde, sowie auch die freundhche Unterstützung und sehr
schätzenswerten Aufklärungen, deren ich von den der k. u. k. Botschaft
zugeteilten Herren teilhaftig wurde.
Ich wurde vom Herrn Botschafter gleich am Tage meiner Ankunft
zum Dejeuner eingeladen, bei welcher Gelegenheit ich alle Mitglieder der
Botschaft kennen lernte.
Am Abend desselben Tages hatte ich gleich ein offizielles Diner auf
der Botschaft, wobei ich mit 30 Personen bekannt wurde.
Von allen Seiten kam man mir enorm sympathisch entgegen und ist
die ganz besonders gute und freundschaftliche Erinnerung, die man
212
meinem Vetter Gottfried Hohenlohe*) hier bewahrt, für mich von großem
Vorteil und ein Anknüpfungspunkt von nicht zu unterschätzender
Bedeutung.
kh bin bereits teils auf Soireen, teils im kaiserlichen Jacht-Klub mit
sehr viel Leuten in einflußreicher Stellung bekannt geworden und hatte
die Ehre, den Großfürsten Nikolai Nikolaiewitsch, Sergius und Nikolai
Mihailowitsch, Kyrill, Boris und Andre Wladimirowitsch, Dimitry
Pawlowitsch und auch der Großfürstin Maria Pawlowna vorgestellt zu
werden.
Letztere speziell war überaus gnädig und sagte mir unter anderem:
>Ich hoffe, Sie werden sich hier ebenso wohlfühlen wie ,Gottfried', den
wir alle sehr gerne hatten.«
Allgemein wird hier das bevorstehende Scheiden des k. u. k. Bot-
schafters und der Gräfin Berchtold bedauert. Beide sind hier sehr behebt
und geschätzt.
Am 3. März (18. Feber) war der große Ball auf der hiesigen Bot-
schaft, der sehr glänzend und animiert verlief.
Verzeihen E. E. den etwas salonblattartigen Inhalt meines Schreibens,,
doch wird er vielleicht dazu beitragen, darzutun, daß es mir gelungen
ist, sowohl in meiner offiziellen als auch gesellschaftlichen Stellung Fuß.
zu fassen.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner vorzüglichen Verehrung^
mit welcher ich zeichne als
Euer Exzellenz gehorsamer
Hohenlohe, Hauptmann.
St. Petersburg, am 5. März 1911."
Rußland schien im Jahre 1911 einem kriegerischen Engagement in
Europa abgeneigt. Es verfolgte seine Ziele in Asien, speziell in Persien,
was nicht ohne Differenzen mit England abhef. Unbekümmert um letztere
besetzte es schließlich am 27. Dezember 1911 Täbris. Nicht ohne Sorge
rechnete es mit der Möglichkeit, daß Österreich-Ungarn die günstige
Gelegenheit benützen werde, in aktiver Weise seinen Balkaninteressen
nachzugehen. All diese Fragen finden eine Beleuchtung im nachfolgenden
Schreiben des k. u. k. Petersburger MiUtärattaches, das ich am
24. November erhalten hatte:
*) War als Major im Generalstabe Militärattache in Petersburg,
wurde darm k. u. k. Botschafter in Berlin, an welcher Stelle er sich auch
während des Weltkrieges befand.
213:
„Euer Exzellenz!
Mit gestrigem Tage hier angelangt, glaubte ich sofort den heute
abgehenden Kurier der kaiserlich deutschen Botschaft, der auch von der
k. u. k. Botschaft eine Sendung nach Wien mitnimmt, benützen zu sollen,
um E. E. über die politische Lage zu berichten.
Was die Gerüchte über die Vorverlegung von Korps der Zentral-
armee betrifft, habe ich natürlich noch keine endgültigen Daten, v^eder
in positivem noch in negativem Sinne zu sammeln Gelegenheit gehabt,
doch glaube ich aus den Gesprächen, die ich mit Diplomaten und Militär-
attache-Kollegen geführt habe, den berechtigten Schluß ziehen zu dürfen,
daß diese Gerüchte nicht richtig sind.
Wie dieselben entstanden sind, und ob vielleicht an denselben doch
etwas Wahres sein mag, wenn auch nicht mit aggressiver Tendenz gegen
die Monarchie, sondern vielleicht in Form einer Probemobihsierung einer-
seits oder in Form von Verlegung von Teilen dieser Korps in weiter
südlich gelegene Garnisonen — mit Rücksicht auf die in nächster Zeit
möglichen Ereignisse in Nordpersien andererseits — kann ich jetzt noch
nicht berichten, doch werde ich diese Frage im Auge behalten mid hoffe
E. E. bald genaueren Bericht erstatten zu können.
Die Ereignisse des italienisch-türkischen Krieges in Tripohs sowohl,
als auch die Gefahr allgemeiner Verwicklungen, die jetzt als Damokles-
schwert über dem Balkan hängt, haben gewiß auch hier ihre Wirkungen
auf die maßgebenden politischen Kreise sowohl, als auch auf die öffent-
liche Meinung gehabt.
Bei Beurteilung der Situation glaube ich aber, daß man in Rußland
mehr als irgendwo sonst die Stimmung der maßgebenden leitenden Kreise
von jener der öffenthchen Meinung streng trennen muß.
Gemeinsam ist hiebei beiden nur die Sorge, daß die ö.-u.
Monarchie ein Interesse haben könnte, die jetzige
Gelegenheit auszunützen, um amBalkan weitgehende
Erfolge zu erzielen.
Die leitenden hiesigen Kreise und, soviel ich weiß, auch persönlich
Seine Majestät der Kaiser wünschen und hoffen für den Augenblick
den Status quo am Balkan erhalten zu können und dieser Wunsch muß
naturgemäß, wenn er zur Verwirklichung führen soll, jede aggressive
Tendenz gegen die Monarchie ausschließen.
Ob hiebei mehr das Gefühl der eigenen Schwäche, oder aber das
Bewußtsein maßgebend waren, daß Rußland in nächster Zeit sowohl
durch die Vorgänge in Persien, als auch vielleicht jene in der
Mandschurei absorbiert sein dürfte, mag dahingestellt bleiben.
214
Insolange es also gelingt, den Balkan aus dem italienisch-türkischen
Krieg auszuschalten, wird man sich auch hier — ich glaube mit
Freuden — jeder aggressiven Politik enthalten.
Die öffentliche Meinung und die Pläne des Herrn von Tscharikow
bezüglich Aufrollens der Dardanellenfrage werden meiner Meinung nach
keinen weitgehenden Einfluß auf die Ereignisse haben, und es wird Ruß-
land außer auf diplomatischem Wege die Erfüllung seiner Wünsche
bezüglich der Dardanellenfrage jetzt wohl kaum anstreben.
Heute bringen bereits die hiesigen Zeitungen die Nachricht über den
Einmarsch russischer Truppen (aller Waffen) in Persien.
Dieselben konzentrieren sich zunächst »am Wege nach Teheran« in
der Stadt Kaswin.
Gestern erfuhr ich aus englischer Quelle, daß die englische Diplomatie
sich vergeblich bemüht habe, den Einmarsch der russischen Truppen,
wenn auch nur um Tage zu verzögern, da man dadurch noch immer
die diplomatische Regelung der Angelegenheit zu sichern hoffte.
In hiesigen englischen Kreisen ist man über das russische Ultimatum,
sowie auch über den Einmarsch sehr aufgeregt. Die weitere Heranziehung
indisch-englischer Truppen nach Persien ist möglich.
Die Probemobilisierungen, die im heurigen Herbst in großem
Umfang unter Heranziehung von Landespferden und Ausrüstung der
Trains an der preußisch-russischen Grenze stattfanden und auch in der
deutschen Presse kommentiert wurden, waren, wie ich aus sicherer Quelle
erfuhr, vorher durch den kaiserlich russischen Botschafter in Berlin
bekanntgegeben worden, um — wie es ausdrücklich hieß — keine unnötige
Beunruhigung der öffentlichen Meinung hervorzurufen.
Die Auflassung der Festung Warschau, die nunmehr zur Tatsache
geworden ist, und die auch gegen die neuerliche Vorverlegung von Korps
nach Westen spricht, werde ich in einem eigenen Bericht zu melden
Gelegenheit haben.
Am Schlüsse möchte ich besonders betonen, daß ich hier den Ein-
druck gewonnen habe, daß die leitenden maßgebenden Kreise, weit
entfernt, gegen die Monarchie eine aggressive Politik zu verfolgen, eher
nicht abgeneigt wären, eine diplomatische Entente bezüglich des
Verhaltens zur italienisch-türkischen Frage und der Ausschaltung der
Balkanangelegenheiten zu erreichen.
Daß man sich hiebei von russischer Seite scheut, ein allzugroßes
Empressement bezüglich des Eingehens irgendwelcher positiver Verstän-
digungen an den Tag zu legen, ist eben echt russisch und vielleicht eine
Gewähr für die Möglichkeit einer Verständigung, wobei aber Rußland
uns gegenüber nicht den Anschein geschäftiger Initiative erwecken möchte.
215
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner vorzüglichsten Verehrung,
mit welcher ich zeichne als
Euer Exzellenz gehorsam ergebener
Hohenlohe, Hauptmann.
St. Petersburg, am 17. November 1911."
An sonstigen Ereignissen des Jahres 1911 sei in Erinnerung gebracht,
daß Spanien im Mai die allgemeine Wehrpflicht einführte, Portugal sich
zur Republik umwandelte, Japan und Nordamerika die Ansiedlungsfrage
(von Japanern in Amerika) regelten, in China ein im August aus-
gebrochener Aufstand die Beseitigung der Dynastie und die Erklärung
Chinas zur Republik zur Folge hatte. Die Vereinigten Staaten, welche
die Revolution in Mexiko (Madero) unterstützten, standen im Konflikt
mit diesem Staate, dessen langjähriger, tatkräftiger Präsident Diaz am
24. Mai 1911 sein Amt niederlegte.
Faßt man die allgemeine Lage zusammen, so gibt dies
folgendes Bild:
Italien in Tripolis mit der Türkei im Kampf, der durchaus nicht
glänzend für Italien stand und auch dessen Flotte in Anspruch nahm;
Serbien, Bulgarien, Griechenland in Umformung, beziehungsweise Aus-
rüstung ihrer Heeresmacht begriffen und gezwungen, mit der müitärisch
noch nicht gebrochenen Türkei und auch mit Rumänien zu rechnen;
Rumänien noch auf Seite Österreich-Ungarns, der dreibundfreundliche
Carp am Ruder; Montenegro ischert; Rußland einem Kriege in Europa
abgeneigt, an inneren Schwierigkeiten krankend, militärisch noch nicht
fertig, zudem, bei mancher Dissonanz mit England, in Persien engagiert;
England, anscheinend aus maritimen Gründen, nicht aktionsbereit; Frank-
reich unter diesen Verhältnissen zum Kriege nicht gewillt, sondern
bereit, die Marokkoirage friedlich auszutragen, daher: Österreich-
Ungarn in der Lage, gegen einen seiner unvermeid-
baren, von aggressiven Tendenzen getriebenen
Gegner: Italien oder Serbien vorzugehen.
In seinem äußerst interessanten, im Jahre 1919 erschienenen
Buche : „K r i e g s u r s a c h e n" veröffentlicht der ehemalige serbische
3eschäftsträger in Berlin, Dr. M. B o g i c e v i c, einen Bericht des
Londoner serbischen Geschäftsträgers Gruic, in dem
sich folgende auf die friedliche Beilegung der Marokkokrise bezügliche
Stelle findet:
216
„Aber sowohl Frankreich wie auch seine Bundesgenossen sind der
Ansicht, daß der Krieg — selbst um den Preis größerer Opfer — auf
spätere Zeit, das ist auf die Jahre 1914—1915 verschoben werden müsse.
Die Notwendigkeit dieses Aufschubes erheischt weniger die materielle
Kriegsbereitschaft Frankreichs, welche vollendet ist, als die Organisierung
des Oberkommandos, welche noch nicht beendet ist. Diese Frist ist auch
Rußland erforderlich, Hievon wird nur England keinen Nutzen haben,
weil sich seine Flottenübermacht gegenüber der deutschen mit jedem Jahre
verringert. Mit Rücksicht auf die Bereitschaft der Bundesgenossen rät
Frankreich, sich jetzt mit Deutschland zu verständigen."
Ferner einen Bericht des serbischen Gesandten in
Petersburg (Popovic) vom 4. Dezember 1911 über folgende
Äußerung des dortigen italienischen Botschafters bezüglich Graf Ähren-
thals: „Wie er die Schwäche Rußlands zur Zeit der Annexion von
Bosnien und der Herzegowina ausgenützt habe, so könne er auch auf die
Schwäche Italiens Hoffnungen setzen, das in der Tripolisfrage engagiert
sei, und schließlich auch wieder auf die Schwäche Rußlands, das noch
nicht stark genug sei, um seine auswärtige Politik ganz so wie es wolle,
zu führen."
Graf Ährenthal nützte diese Lage nicht aus!
Die nun folgenden Darlegungen haben die Vorkommnisse zum
Gegenstand, die zu meiner Entlassung aus der Stelle des Chefs des
Generalstabes, unter Ernennung zum Armeeinspektor, führten.
217
Der Konflikt mit Graf Ährenthal.
Die große Meinungsdifferenz zwischen mir und Graf Ährenthal geht
aus allem Geschilderten hervor. Sie gipfelte darin, daß ich die Monarchie
auf dem Wege zu vitalen, schweren Komplikationen begriffen sah, für
deren Überwindung sich die Verhältnisse von Jahr zu Jahr verschlechtem
mußten, so daß nur rechtzeitiges vorbeugendes Handeln Rettung
erhoffen ließ, Graf Ährenthal aber weder diesem Handeln zuneigte,
noch mit jener Entschiedenheit für die Entwicklung der Wehrmacht
eintrat, die mit Rücksicht auf die kommende Gefahr geboten gewesen
wäre. Dazu kam sem Festhalten an der Dreibundpolitik, im Gegensatz
zu meinem tiefen Mißtrauen gegenüber Italien.
Ich war mir nicht im Zweifel, daß unser gegenseitiges Verhälhiis
auf die Dauer unhaltbar sei und Graf Ährenthal eine ihm passende
Gelegenheit benützen werde, mich zu beseitigen.
Schon Ende des Jahres 1910 wiesen mannigfache Nachrichten darauf
hin, daß ItaHen das Jahr 1912 als jenen Termin im Auge habe, zu dem
es das Wesentlichste seiner militärischen Bereitschaft, also einen Höhe-
punkt derselben erreicht haben wollte.
Gelegentlich einer Unterredung am 19. Dezember 1910 hatte ich
Graf Ährenthal hierauf aufmerksam gemacht und es durch ein Schreiben
vom 3. Jänner 1911 ergänzt, in dem ich auf diese Vorbereitungen Itahens
hinwies mit dem Beifügen:
„Es erscheint mir der Schluß naheliegend, daß Italien zu dem
bezeichneten Termin an eine politische Lage denkt, für welche es seine
absolute Schlagfertigkeit gesichert wissen will.
Weitere Schlüsse politischer Natur muß ich selbstredend der Wohl-
meinung Eurer Exzellenz überlassen, doch erachtete ich mich verpflichtet,
dieses Resultat hierseitiger Studien und Nachrichten Euer Exzellenz
bekanntzugeben."
Ich erhielt hierauf das nachstehende Antwortschreiben:
218
„Wien, den 6. Jänner 1911.
Hochwohlgeborner Freiherr !
Ich habe das gefällige Schreiben vom 3. d. M. erhalten, in welchem
E. E. meine Auhnerksamlceit auf den Umstand lenken, daß die Hochdem-
selben aus Itahen zukommenden Nachrichten übereinstimmend den Termin
Ende April 1912 als Zeitpunkt der angestrebten Schlagfertigkeit der
italienischen Wehrmacht erkennen lassen.
Ich nehme diese Mitteilung zur Kenntnis und werde nicht verfehlen,
die E. E. gemeldeten Wahrnehmungen nach Tunlichkeit auch durch meine
Organe überprüfen zu lassen.
Unser Bundesverhältnis mit Itahen läuft — wie ich E. E. bei früheren
Anlässen streng vertraulich mitzuteilen Gelegenheit halte — erst im Jahre
1914 ab; bis dahin dürfen wir uns also wohl jedenfalls als vor einem
feindlichen Angriffe von seiner Seite gesichert betrachten.
Die Frage, ob zu dem angegebenen Zeitpunkte der Dreibund
erneuert werden wird, ist heute noch nicht aktuell. Ich darf indessen
wohl darauf hinweisen, daß nach den mir zukommenden Nachrichten in
den maßgebenden Regierungs- und parlamentarischen Kreisen wie auch
in der öffentUchen Meinung in Italien die Tendenz die Oberhand bekommt,
nach Ablauf des gegenwärtigen Vertrages das Allianzverhältnis mit den
Zentralmächten zu erneuern. Wenn Italien gleichwohl mit rastloser
Energie und unter Aufwendung sehr bedeutender Mittel an der Vervoll-
ständigung seiner militärischen Rüstung weiter arbeitet, so folgt es dabei
zunächst gewiß dem Wunsche, in dieser Beziehung hinter den übrigen
Großmächten, die mehr oder weniger dieselben Wege wandeln, nicht zu
weit zurückzubleiben. Nebenbei m.ag aber bei der italienischen Regierung
auch der Gedanke eine Rolle spielen, daß die Land- und Seestreitkräfte
noch vor Beginn der Vertragsverhandlungen ausgestaltet und auf eine
möglichst hohe Stufe gebracht werden müssen, um auf diese Weise den
Wert seiner Freundschaft zu erhöhen und von den beiden anderen
Mächten als begehrter und gleichwertiger Bundesgenosse angesehen zu
werden.
Genehmigen Hochdieselben den Ausdruck meiner ausgezeichneten
Hochachtung. Ährenthal."
Der Schlußsatz dieses Schreibens charakterisiert scharf den Gegensatz
zwischen meiner Ansicht und jener des Grafen Ährenthal. Ährenthal
glaubte in Itahens Rüstungen einen bundesfreundlichen Wett-
bewerb zum gemeinsamen Handeln erblicken zu können,
ich sah in denselben die Vorbereitung zum Krieg gegen
Österreich-Ungarn.
219
Um diese Zeit spielte ein anderer, an sich geringfügiger Vorfall mit^
die gespannte Stimmung zu verschärfen.
Nach den Friedensbestimmungen des Jahres 1866 war es Österreich-
Ungarn verboten, Kriegsfahrzeuge auf dem Gardasee (wo es bis dahin
eine Flottille hatte) zu unterhalten, während für Italien diese Beschränkung
nicht bestand. Auch der ganze Privatschiffsverkehr lag seither in
italienischen Händen. Als nun ein Antrag einlief, eine österreichische
Privatschiff ahrts Unternehmung für den Gardasee ins Leben zu rufen,
stimmte ich dem selbstverständlich bei, auch in der Absicht, daraus mili-
tärische Vorteile zu ziehen.
Diese Angelegenheit erschien nun in einem Artikel der „Zeit" behan-
delt, der Graf Ährenthal zu folgendem Schreiben an mich veranlaßte.
„Wien, am 29. Jänner 1911.
Hochwohlgebomer Freiherr!
In dem Morgenblatte der >Zeit« vom 24. d. M. bin ich einem
Artikel begegnet, der sich mit der Etablierung einer österreichischen
Schiffahrtsunternehmung auf dem Gardasee beschäftigt und der zu meinem
großen Befremden von Differenzen zu berichten weiß, die über diese
Frage zwischen Euer Exzellenz und mir entstanden seien.
Mir ist von dieser Angelegenheit nur das bekannt, was mir von den
betreffenden Korrespondenzen des k. k. Handelsministeriums im Einsichts-
wege mitgeteilt worden ist, und ich bm also niemals in der Lage gewesen,
mich über die Opportunität der Schaffung eines solchen Unternehmens
auf dem genannten See in meritorischer Beziehung auszusprechen.
Die Behauptung, daß eine Divergenz in der Beurteilung dieser Frage
zwischen E. E. und mir bestehe, ist demnach gewiß falsch. Wenn aber
bei diesem Anlasse in höchst indiskreter Weise aus etwaigen auf anderen
Gebieten vorkommenden Meinungsverschiedenheiten der Schluß auf einen
zwischen uns angeblich bestehenden latenten Gegensatz in der Auffassung
über militärpolitische Angelegenheiten gezogen wird, so kann ich dies nur
auf das tiefste bedauern. Ich bin sicher, daß auch E. E. es auf das
schärfste mißbilligen werden, daß streng vertrauliche interne Vorgänge
in solcher, überdies irreführender Art an die Öffenthchkeit gebracht
werden.
Es ist einleuchtend, daß derlei Indiskretionen die übelste Wirkung
haben können, denn es wird auf das Tempo der italienischen Rüstungen
gewiß einen beschleunigenden Einfluß ausüben, wenn in der Publizistik
Darstellungen erscheinen, aus denen entnommen werden kann, daß uns
schon der gegenwärtige Stand der itahenischen Wehrmacht ernste und
220
dringende Gegenmaßregeln rechtfertigende Besorgnisse einflößt und daß
E. E. einen nicht zu fernen Krieg mit Itahen als im Bereiche der Wahr-
scheinlichkeit gelegen betrachten.
Ich beabsichtige nicht, den Mitteilungen des genannten Blattes eine
Richtigstellung folgen zu lassen, und begnüge mich damit, E. E. Aufmerk-
samkeit auf die Schädlichkeit derartiger, wie es scheint, auf einen
mihtärischen Ursprung hinweisender Auslassungen gelenkt zu haben.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hoch-
^■"""g- Ährenthal."
Ich hätte gedacht, daß es jedermann als selbstverständlich betrachten
müßte, daß gerade mir nichts ferner lag, als diesem Schiffahrtsunter-
nehmen durch vorzeitige Publikationen Hindernisse zu bereiten, ich
mußte mich darüber wundern, daß Graf Ährenthal seine Verwahrung
gegen den „Zeit'*-Artikel an mich und nicht an das Kriegsministerium,
als für Presse-Angelegenheiten kompetente Stelle, richtete und sandte ihm
folgende Erwiderung:
„Euer Exzellenz!
Auf E. E. sehr geschätzes Schreiben vom 29. Jänner 1911 kann ich
E. E. nur mitteilen, daß ich ein scharfer Gegner der Behandlung interner
Vorgänge und mihtärischer Maßnahmen in der Publizistik und mir daher
der Schädlichkeit derartiger Auslassungen längst selbst bewußt bin. In
diesem Sinne habe ich auch sofort nach Auftauchen der auch mir — und
zwar im Interesse der Sache — höchst unwillkommenen Zeitungspolemik
die in Abschrift beiliegende Bitte an das Reichs-Kriegsministerium gerichtet,
als den einzigen Weg, der mir für die Unterdrückmig solcher Vorkomm-
nisse offen steht.
Ob es bei den offenkundig gegen die Monarchie gerichteten mili-
tärischen Maßnahmen Italiens möglich sein wird, einer Behandlung dieser
Verhältnisse seitens der Presse auf die Dauer Schranken zu ziehen, ist
allerdings fraghch. Andererseits aber will doch auch sehr bedacht sein,
daß eine die feindseHgen Tendenzen ItaHens gänzlich verleugnende
Berichterstattung kaum dazu angetan sein kann, den dermalen in Schwebe
befindlichen, so dringhchen militärischen Forderungen zur Realisierung
zu verhelfen.
Welchen Einfluß E. E. speziell auf die Gardasee-Schiffahrisfrage
genommen haben, ist mir gänzHch unbekannt, ebenso auch, ob die dies-
bezügliche Publikation auf militärischen Ursprung zurückzuführen ist.
Je abholder ich jedoch der publizistischen Behandlung derart wich-
tiger politischer und militärischer Fragen bin, desto mehr fühle ich mich
221
andererseits verpflichtet, E. E. Aufmerksamkeit auch bei diesem Anlasse
auf die große Gefahr zu lenken, welche eine Verkennung der kriegerischen
Vorbereitungen Italiens und ein Unterlassen der dringenden eigenen
Gegenmaßnahmen in sich schließen würde.
Genehmigen etc. . . . Conrad.
Expediert 30. Jänner 1911."
Die Gardasee-Schiffahrtsfrage wurde, und zwar auch in der Publi-
zistik, zu einer Affäre aufgebauscht.
Ein ungarisches Blatt verstieg sich sogar zu der Behauptung, daß
die Armeemanöver bei Veszprim nur veranstaltet wurden, um den
Plattensee (!) als Analogon für Operationen am Gardasee auszunützen!
Als aber auch Italien seine Stimme dagegen erhob, fiel das Projekt.
Mittlerweile verschärfte sich mein Konflikt mit Graf Ährenihal durch
einen anderen Vorfall.
Wie erinnerlich, hatte mir Graf Ährenthal in seinem Schreiben vom
6. Jänner 1911 bekanntgegeben, daß er meine Mitteilungen über Italiens
Rüstungen auch durch seine Organe „überprüfen" lassen werde.
Am 23. Feber 1911 erhielt ich nun im Wege des Kriegsministeriums
einen Bericht, den der ö.-u. Botschafter in Rom, Herr von Merey, an
Graf Ährenthal erstattet hatte. Dieser Bericht lautete wie folgt:
Herr v. Merey an Graf Ährenthal.
„Nr. 4D.
Streng vertrauhch!
Hochgeborner Graf !
Indem ich mich anschicke, den hohen, streng vertraulichen Erlaß vom
10. 1. M. Nr. 77 zu beantworten, darf ich vor allem betonen, daß ich den
militärischen Vorgängen in Italien unausgesetzt meine volle Aufmerksam-
keit zuwende und mich speziell über militärpolitische und budgetäre
Fragen der Rüstungen Italiens in großen Zügen auf dem laufenden zu
erhalten trachte, insoweit dies bei meiner naturgemäß geringeren fachlichen
Kompetenz möghch ist. Ich muß hiebei annehmen, daß die beiden mili-
tärischen Organe dieser Botschaft über die Fragen, speziell nach ihrer
organisatorischen und technischen Seite hin, an ihre vorgesetzten Stellen
erschöpfend berichten.
Bei dem vorliegenden Anlasse habe ich über die von E. E. bezw.
dem Chef des Generalstabes aufgeworfene Frage, obwohl mein Urteil
darüber schon auf Grund meiner eigenen früheren Eindrücke und
Infonnationen ziemlich feststand, mit dem Marineattache speziell eingehend
Rücksprache gepflogen.
222
Zunächst möchte ich, ohne mich selbstverständlich mit einem Manne
von der Kompetenz des Chefs unseres Generalstabes in mihtäqDolitische
Kontroversen einlassen zu wollen, lediglich als eine auch dem Laien
nahehegende Erwägung, Zweifel darüber äußern, ob man von irgend
einer Armee oder Marine, also auch der italienischen, überhaupt ernst-
haft und sachlich sagen könne, dieselbe werde in diesem oder jenem
Jahre ihre Schlagfertigkeit erreichen. Meine eigene Anwesenheit bei zirka
25 Delegationen und somit ebensovielen Debatten über unsere Kriegs-
und Marinebudgets sowie meine Erfahrungen über die Entwicklung der
militärischen Streitkräfte anderer Staaten lassen mich diese Frage eher
verneinen.
Eine Armee und eine Marine scheint mir heute weniger als je ein
Instrument zu sein, welches man wie ein Schrapnell auf einen bestimmten
Zeitpunkt tempieren kann.
Armee und Marine sind vielmehr, wie alle anderen Institutionen —
und bei der rapiden Vervollkommnung der Kriegsmittel noch mehr als
diese — ein lebendiger, in einer steten Entwicklung und in einer rastlosen
Konkurrenz mit den anderen Staaten begriffener Körper.
Armee- und Flottenprogramme sind daher in meinen Augen nichts
anderes als finanzpolitische und parlamentarische Behelfe, dazu bestimmt,
gewisse Zuwendungen für eine gewisse Zeit zu erhalten. Aber die Aus-
führung keines dieser Programme kann wirklich die Schlagfertigkeit oder
einen bestimmten Grad derselben im voraus verbürgen, weil kein Kriegs-
minister, kein Generalstabschef und kein Marinechef vorhersagen kann,
welche Fortschritte mittlerweile die rivalisierenden Armeen und Marinen
gemacht haben werden und welche neue Erfindungen oder Vervollkomm-
nungen auf dem Gebiete der Kriegstechnik eingetreten sein werden.
Zu diesem Gedankengange halte ich es daher überhaupt nicht für
richtig, davon zu sprechen, daß die italienischen Streitkräfte in diesem
oder jenem Jahre ihre Schlagfertigkeit, ihre Kriegsbereitschaft erreichen
werden.
Die Kriegsbereitschaft ist meiner Ansicht nach nicht etwas Absolutes,
sondern etwas Relatives, hängt von dem Grade der gleichzeitigen Fort-
schritte der eventuellen Gegner ab, sie ist aber auch nicht der Endpunkt,
sondern, wenn man sich keiner Täuschung hingeben will, nur eine
Etappe im Verlaufe einer vorläufig noch unabsehbaren Entwicklung.
Dies vorausgeschickt und mit den in diesen unvorgreiflichen Deduk-
tionen enthaltenen, sehr wesentlichen Reserven kann ich, wenn ich mir
zu diesem Zwecke die Terminologie des Herrn Chefs des Generalstabes
zu eigen machen darf, die Frage, ob die Erreichung der Schlagfertigkeit
der italienischen Armee und Marine auf das Jahr 1912 eingestellt ist,
223
hinsichtlich der Marine vollständig, hinsichtlich der Armee zum Teil
verneinen.
Bezüglich der Marine galt bis vor kurzem das Flottenprogramm vom
Jahre 1Q09, welches auch den Bau von vier Dreadnoughts vorsah und
dessen Ausführung von Hause aus nie für das Jahr 1912, sondern für
1914 intendiert war.
Es ist auch dermalen noch fraglich, ob die Durchführung dieses
Programmes im Frühjahr oder im Spätherbst 1914 erreicht sein wird, und
bei der Unpünktlichkeit, Saumseligkeit und Mangelhaftigkeit aller hier-
ländischen Einrichtungen scheint mir auch eine weitere Verzögerung nicht
als absolut ausgeschlossen.
Bevor aber noch dieses Programm zur Hälfte durchgeführt ist, hat
die italienische Marineleitung — ein Schulbeispiel für meine eingangs
aufgestellten Thesen — bereits ein weiteres Programm entworfen, welches
den Ersatz der Schiffe der >Sardegna«-Klasse durch zwei Dreadnoughts
mit dem Kostenbetrage von zusammen 130 Millionen, femer 90 Millionen
für Überschreitungen bei den Ausgaben für das bisherige Flotten-
programm und 28 MiUionen für kleine Schiffbauten, im ganzen also
250 Millionen umfaßt und ausdrücklich bis in das Jahr 1918 reicht.
Hinsich thch der Marine spielt also das Jahr 1912 gar keine Rolle,
und wird — den unwahrscheinlichen Fall der pünktlichen Einhaltung
des projektierten Termines ausgenommen — die dermalen intendierte
Ausgestaltung der italienischen Kriegsmarine erst im Laufe des Jahres
1918 durchgeführt sein.
Was die Armee anbelangt, so ist allerdings ein gewdsses Streben
erkennbar, die bisherige Rückständigkeit des italienischen Heeres bis zu
den Jahren 1912 oder 1913 in den wesentUchsten Punkten zu beheben.
Aber schon heute läßt sich nach dem Stande der Dinge sagen, daß dieses
— wie ich wieder betonen möchte — keinen Schlußpunkt kennende
Ziel bis dahin kaum vollständig erreicht sein dürfte.
So ist beispielsweise dermalen, wo uns nur mehr ein Jahr von dem
fraglichen Zeitpunkte trennt, die Umgestaltung der Artillerie kaum zu
zwei Dritteilen vollendet. Ein Drittel der Geschütze harrt noch der
Auswechslung oder Umgestaltung und es ist dermalen noch nicht ein-
mal die Entscheidung gefallen, ob diese alten Geschütze durch solche von
Krupp oder von einer französischen Firma oder anderswie werden ersetzt
werden.
Weiter fortgeschritten, wenn auch an manchen Punkten, z. B.
Brindisi, der Vollendung noch keineswegs nahe, scheinen die Befestigun-
gen zu sein.
224
Hinsichtlich der strategischen Bahnen will ich, ohne in Details ein-
zugehen, nur erwähnen, daß die Legung des zweiten Gleises auf der
venetianischen Hauptbahn vorläufig nur bis Treviso erfolgt ist und daß
bezüglich einzelner strategischer Bahnen im Norden Italiens die Regierung
bisher, angesichts der sich dabei geltend machenden widerstreitenden
regionalen Interessen, noch keine endgültige Entscheidung getroffen hat.
Bezüglich des rollenden Eisenbahnmaterials ist erst kürzlich bekannt-
geworden, daß die Regierung aus Ersparungsrücksichten beschlossen hat,
niu" die Hälfte der in Aussicht genommenen Waggonanschaffungen zu
bewerkstelligen.
Was endlich das radiotelegraphische Netz anbelangt, so scheint mir
dieses seiner Natur nach eine Maßregel von eminent defensivem Charakter
zu sein.
Alles in allem möchte ich also zu dem Schlüsse kommen, daß das
Jahr 1912 keinen entscheidenden Wendepunkt in der Entwicklung der
italienischen Armee und noch weniger in jener der italienischen Marine
bedeuten wird.
Unleugbar ist im Vergleiche mit den früheren Jahren eine gewisse
Aktivität und ein rascheres Tempo in den italienischen Rüstungen bemerk-
bar. Auch ist, wie ich der Ansicht E. E. beipflichten möchte, Italien
hiebet von dem Streben geleitet, seine militärische Potenz höher ein-
geschätzt zu sehen. Nur möchte ich den hiebei in letzterer Analyse ver-
folgten Zweck zum geringeren Teile in einer Verbesserung der Chancen
Italiens gelegentHch der Frage der Erneuerung der Tripelallianz, haupt-
sächlich aber in dem Umstände erblicken, daß Italien, und zwar die
Regierung, die Armee und Marine, das Parlament, die Presse und ein
großer Teil der Bevölkerung, von dem italienischesten aller Gefühle: der
Paura beherrscht, ernstlich mit der Gefahr eines Angriffskrieges von
unserer Seite rechnet und durch eine möglichst rasche und umfassende
Vermehrung und Entwicklung seiner Streitkräfte trachtet, dieser Even-
tualität entweder vorzubeugen, oder aber ihrem Eintritte doch mit besseren
Chancen die Stime bieten zu können.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner Ehrfurcht.
Merey."
Der belehrende und hochmütige Ton, den manche Diplomaten
anderen gegenüber als selbstverständhches Recht beanspruchten, veranlaßte
mich zu nachfolgender Erwiderung. Auch mußte ich mich entschieden
gegen die geringschätzigen Bemerkungen über einen Gegner wenden, den
ich stets als sehr bedeutsamen Faktor in Rechnung stellte.
15, Conrad II 00>^
„Wien, 24. Feber 1911.
Euer Exzellenz!
Ich habe in meinem Schreiben vom 2. Jänner 1. J. E. E. eine Mit-
teilung gesendet, dahin gehend, daß verschiedene mihtärische Maßnahmen
Italiens darauf deuten, daß dieser Staat für das Jahr 1912 eine erhöhte
militärische Bereitschaft anstrebe.
Ich lege jetzt einige jener Details bei, welche mich zu dieser
Anschauung veranlaßten*), ich habe dies damals nicht getan, v^eil ich
glaubte, daß bei E. E. großer Inanspruchnahme es genügen würde, v/enn
ich E. E. lediglich mein resümierendes Urteil belianntgebe.
E. E. antworteten mir hierauf am 6. Jänner 1911, daß Sie meine
Wahrnehmungen nach Tunlichlteit auch durch Ihre Organe über-
prüfen lassen werden. Ich bin über diese, ein geringes Vertrauen in
meine Mitteilungen verratende Erledigung hinweggegangen, um im Inter-
esse der Sache Unstimmiglieiten zu vermeiden, und habe angenommen,
daß E. E. ledigHch bestrebt sind, durch mehrseitige Beobachtung den
Sachverhalt zu klären.
Nun erhielt ich seitens E. E. im Wege des RKM. sub Präs. Nr. 2100
den diesbezüglichen Bericht des Botschafters in Rom.
Über alles darin Enthaltene bin ich längst viel eingehender orientiert.
Ich kann aber mein großes Erstaunen darüber nicht unterdrücken,
daß sich irgend jemand berufen fühlt, mich, der ich seit dem zehnten
Lebensjahr den Soldatenrock trage, 39 Jahre als Offizier diene, alle
Wandlungen der Armee vom Kapselgewehr bis zum automatischen Repe-
tierer mitgemacht habe imd seit mehreren Jahren an dieser Entwicklung
aktiv an führender Stelle wirke, darüber aufzuklären, daß diese Ent-
wicklung ein ununterbrochener mühevoller Prozeß sei.
Jedem weiter Denkenden und jedem den inneren Werdegang bei
diesem Prozeß Kennenden muß es aber auch klar sein, daß sich innerhalb
dieser Entwicklung jene Momente herausgreifen lassen, in welchen eine
bedeutungsvolle Phase der Entwicklung überhaupt und eine auf bestimmte
Kriegsmöglichkeiten im speziellen gerichtete Stufe erreicht, beziehungs-
weise abgeschlossen werden kann; und jeder Voraussichtige wird es als
notwendig erachten müssen, einen solchen Abschluß für Zeiten herbei-
zuführen, welche eine erhöhte mihtärische Bereitschaft wünschenswert,
beziehungsweise notwendig erscheinen lassen.
E. E. geben ja gleichfalls diesem Gedanken im Schlußsatz Ihres
geschätzten Schreibens vom 6. Jänner 1911 in geradezu trefflicher Weise
Ausdruck.
*) Diese Details sind an den Brief angeschlossen.
226
Wenn der Herr Botschafter in Rom diesen Gedanken nicht erfaßt
hat, so ist es nicht meine Sache, ihn darüber aufzuldären.
Auf den Schluß des Berichtes des letzteren kommend, muß ich wohl
hervorheben, daß ich hinsichtlich der mir obliegenden konkreten Kriegs-
Vorbereitungsarbeiten nicht die Oberflächlichkeit besitze, dieselben auf die
>P a u r a« unserer möglichen Gegner zu gründen. Wir haben trotz
dieser >Paura« zwei unserer schönsten Provinzen: Lombardei und
Venetien verloren.
Ich möchte nicht Mitschuldiger an einem ähnlichen Vorkommnis sein.
Genehmigen Hochderselbe den Ausdruck meiner ausgezeichneten
Hochachhmg. Conrad, O. d. I."
Die im vorstehenden Brief erwähnten Details enthält nachfolgende:
„Abschrift der Beilage*) zum Brief an Exzellenz Ährenthal vom
24. Feber 1911.
Die im Jahre 1910 gesetzlich festgelegte, weitreichende Reorgani-
sation des Heeres ist bereits derart angelegt, daß sie im Laufe des Jahres
1911 allmählich durchgeführt, somit im Frühjahr 1912 in der Hauptsache
vollendet sein wird.
Bei den höheren Kommanden, bei der Infanterie und Kavallerie
werden diese organisatorischen Änderungen — insoweit sie nicht schon
gegenwärtig vollzogen sind — zuverlässig im Laufe dieses Jahres durch-
geführt werden können.
Die reitende Artillerie ist bereits gegenwärtig durchwegs mit dem
neuen Schnellfeuergeschütz ausgerüstet, bei der fahrenden Feldartillerie
wird die Neubewaffnung (im Zusammenhange mit der organisations-
gemäßen Neuaufstellung von zwölf Korps-Artillerieregimentem) vielleicht
bis Ende 1911, wahrscheinlich aber bis zum Frühjahr 1912
durchgeführt sein.
BezügUch der (heute noch nicht vorhandenen) schweren Feldartillerie
läßt sich der Zeitpunkt der tatsächlichen Aufstellung (20 Batterien) noch
nicht voraussehen; bezeichnend jedoch ist, daß die Bestellungen bei
Krupp, betreffend die Lieferimg von 112 schweren Haubitzen, ausdrück-
lich den Termin Ende April 1912 als äußerste Lieferzeit bestimmen.
An Maschinengewehren sind bei den Truppen derzeit nur zwei
Drittel des Bedarfes für die erste Linie vorhanden; der Rest (116 Gewehre)
soll, sobald die Entscheidung zugunsten des heimischen Fiat-Revelli-
*) Zusammengestellt im Evidenzbureau des Generalstabes.
*5' 227
Systems gefallen ist, von den Fiat- Werken binnen Jahresfrist, also bis
zum Frühjahr 1912, geliefert werden.
Nicht verbürgt, aber sehr wahrscheinlich ist, daß die genannten
Werke bis 1912 nicht bloß 116 Maschinengewehre für das Heer,
sondern auch solche für die Mobilmilizformation zu liefern haben werden.
Für die Mcbilmiliz ist die Aufstellung eigener Kaders gesetzHch
systemisiert worden. Von diesen werden bei der Infanterie ein Drittel,
bei den Alpinibataillonen fast sämtliche mit 1. März 191 1 aufgestellt;
die Aufstellung der übrigen bis zum Frühjahr 1912 ist beschlossen
und wird nach Maßgabe der Unterkunfts- und Standesverhältnisse
wenigstens zum größeren Teile bis zum genannten Termin erfolgen
können.
Bezüglich der Befestigungen in den Grenzgebieten hat schon die
parlamentarische Heeresuntersuchungskommission mit Befriedigung hervor-
gehoben, daß die Reichsverteidigung im Rahmen des Arbeits-
programmes bis 1912 erhebliche Fortschritte aufweise und den
Anforderungen wenigstens vorläufig entspreche. Es ist, namentlich wenn
die Heeresverwaltung dem unaufhörlichen Druck parlamentarischer Kreise
nachgibt, keineswegs unwahrscheinlich, daß auch die neuen Befestigungen
am Tagliamento bis zum Frühjahr 1912 in einem Zustande sein
können, der sie aktionsfähig macht. (Mit dem Erlasse Res. Nr. 120 vom
14. Jänner 1911 hat das VI. Korpskommando zu Bologna die Weisung
erteilt, die Vorarbeiten für den Bau von zusammen acht Batterien der
Brückenköpfe Codroipo und Latisana derart zu beschleunigen, daß der
Bau — im Sinne der Befehle des Generalstabes — nicht später als
im Monat März 1911 begonnen werden könne.)
Für den Ausbau der Luftflotte sind im vergangenen Jahr 10 Millionen
Lire bewilligt worden. Noch im Laufe dieses Jahres werden die
beiden großen Festungen Venedig und Verona über je einen Lenkballon
verfügen. Bis zum Frühjahr 1912 können von den teilweise schon
in Konstruktion befindlichen »Luft-Dreadnoughts« mindestens zwei fertig-
gestellt werden.
Das Projekt der Schaffung eines radiotelegraphischen Netzes über
ganz Italien ist durch die Bewilligung von 500.000 Lire (Gesetz vom
9. Feber 1911) bereits zur Tatsache geworden. Die Ausgaben sind bis
Juni 1912 tempiert; der Schaffung einer derartigen, in solchem Umfange
noch in keinem anderen Staate bestehenden Verbindungsanlage kommt
eine offensive Bedeutung zum mindesten im gleichen Ausmaße zu,
als ihr »eminent defensiver Charakter« hervorgehoben wird.
Die Vermehrung des rollenden Eisenbahnmaterials ist bis zum
Jahre 1912 mit einem Kostenaufwande von 56 Millionen Lire (8000
228
Wagen) projektiert. Die Entscheidung ist noch nicht gefallen und wenn
auch verlautet, daß das Parlament nur die Hälfte der Forderungen
bewilligen dürfte, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß die maß-
gebenden Kreise das Jahr 1912 als den wünschenswerten Zeitpunkt
der vollendeten Vermehrimg ins Auge gefaßt haben.
Die durch eine besondere Kommission festgelegten Arbeiten für den
Ausbau des Schiffahrtskanalnetzes in Oberitalien, wie auch der hiefür
bereits bewilligte Kredit von 10 Millionen Lire erstreckten sich auf den
Zeitraum bis 1 Q 1 2. Auch die Rührigkeit, mit welcher die Streihnittel am
Gardasee verstärkt werden (Inselfort Trimelone, Vermehrung der Garni-
sonen), weisen auf den Termin 1912 hin.
Von den bereits im Baue befindlichen Bahnstrecken in Oberitalien
sollen, laut Konzession, spätestens 1912 eröffnet werden :
Spilimbergo — Comino — Gemona,
Belluno — Longarone (Cadorebahn),
Treviso — Pordenone — S. Vito,
Verona — Nogara— Ostiglia — Revere und mehrere Straßenbahnen.
Der Bau der strategischen Linie Ostiglia — Treviso und der >Pede-
montana« Sacile — Aviano — Maniago — Pingano wird von den venetiani-
schen Abgeordneten gefordert und soll noch heuer begonnen werden.
Bei der Marine ist die Indienststellung des ersten Dreadnoughts
:^ Dante Alighieri« längstens bis zum Frühjahr 1912, der Stapellauf der
drei übrigen für den Sommer, bezw. Herbst 1911 vorgesehen. Bis zum
Frühjahr 1912 dürften auch die zur Zeit im Bau befindhchen dreizehn
neuen Unterseeboote und die Mehrzahl der in Bauausführung stehenden
Torpedoboote und Zerstörer in Dienst gestellt werden können. Die
Erweiterung des Flottenbauprogrammes vom Jahre 1909 unter Bewilli-
gung neuer, bis zum Jahre 1918 laufender Kredite ist nur in allgememen
Umrissen bekannt. Der stetige Fortschritt auf allen Gebieten der Technik
macht es bei einem Flottenbauprogramm wohl schwierig, für dessen
Vollendung einen fixen Termin zu bestimmen, nichtsdestoweniger gewähr-
leistet bereits das bis zum Jahre 1912 Erreichbare die von italienischer
Seite stets gewünschte und hervorgehobene Superiorität zur See.
Ein zwar nicht militärischer Beweis, aber eine dennoch recht sympto-
matische Erscheinung liegt in den sehr zahlreichen Tendenzschriften, die
von offiziöser Seite zum mindesten inspiriert zu sein scheinen und fast
durchwegs das Jahr 1912 als »kritisches J ahr« hinstellen. Die im
Jahre 1909 von einem aktiven Marineoffizier allen Senatoren und
Abgeordneten gewidmete Broschüre: »1912? Armate la marin a«
ist in dieser Beziehung charakteristisch und verdient ob ihrer zumeist sach-
lichen Darlegungen als Beweis dafür Beachtung, daß der Glaube an
229
besondere Ereignisse im Jahre 1912 in Italien längst
allgemeine Verbreitung gefunden hat."
Im übrigen ließ ich mich durch das Vorgefallene nicht abhalten, auch
weiterhin Graf Ährenthal über Italien zu orientieren. So in einem
Schreiben vom 25. April 1911, in dem ich erneuert auf den Termin von
1912 hinwies, mit dem Beifügen, daß der Generaldirektor des Artillerie-
und Geniewesens im italienischen Kriegsministerium von den liefernden
Firmen mit Bestimmtheit verlangte, daß das gesamte Artilleriematerial,
einschließhch aller Wagen und der Munition, bis längstens Ende
1912 fertiggestellt sei.
Die durch den Bericht Herrn von Mereys zu Anfang des Jahres 1911
hervorgerufene Mißstunmung erlitt eine weitere Verschärfung durch
folgenden Vorfall:
Während nämlich Italien unsere Grenzgebiete mit Spionen über-
schwemmte, von denen zahlreiche ergriffen, der Schuld überführt und auch
abgeurteilt wurden, setzte Graf Ährenthal der Entsendung von k. u. k.
Offizieren zu Rekognoszienmgszwecken, sowie dem Kundschaftsdienst die
weitestgehenden Hindemisse entgegen. Auch der Botschafter in Rom,
Herr von Merey, nahm dagegen Stellung, beklagte sich darüber und
schrieb : „Man sollte die Langmut der Italiener nicht zu stark in Anspruch
nehmen." Seitens Graf Ähren thals wurde das betreffende Schreiben
Mereys an den Kriegsminister Baron Schönaich und von diesem an mich
übergeben. In meiner die Notwendigkeit des Kundschaftsdienstes hervor-
hebenden Antwort vom 4. Juh 1911 hatte ich auch den Satz auf-
genommen: „Es ist mir unverständlich, wie der k. u. k. Botschafter in
Rom, dem ja die große Zahl der in Österreich-Ungarn erfolgten
Aburteilungen italienischer Spione nicht unbekannt gebheben sein kann,
von der Langmut der italienischen Regierung zu sprechen vermag. Solche
Anschauungen scheinen geeignet, das schwere Bedenken zu rechtfertigen,
daß die Interessen der Monarchie nicht jene energische Vertretung finden,
wie sie wohl jeder andere Staat von seinen bezüglichen Funktionären
voraussetzt"*).
Baron Schönaich übermittelte mein Schreiben, obzwar es nur für den
internen Gebrauch des Kriegsministeriums bestimmt war, an Graf Ähren-
thal, der dasselbe am 7. August in einem ebenso gereizten als autoritativen
*) Während andere Staaten für ihre im Kundschaftsdienst verwen-
deten Offiziere stets mit voller Autorität eintraten, wurden k. u. k. Offiziere
in der Regel fallen gelassen, wenn sie entlarvt wurden, da dies dem Mini-
sterium des Äußern Unbequemlichkeiten verursachte.
230
Ton erwiderte, den ich brieflich ablehnte, mit dem Bemerken, die Ent-
scheidung Seiner Majestät anrufen zu wollen.
Wie ich einer im Jahre 1920 erschienenen Publikation*) entnehme,
hat mich Graf Ährenthal in einer Denkschrift vom 22. Oktober 1911 bei
Seiner Majestät beschuldigt, meine Ansichten auch „publizistisch zu ver-
treten" und zur Begriindung dessen angeführt: „Dies läßt sich aus man-
chen Zeitungsartikeln nachweisen, die seinen Gedankengang genau wieder-
geben und darum seiner Inspiration zugeschrieben werden
müsse n."
Graf Ährenthal übersah dabei, daß es ja außer mir auch noch andere
Menschen geben konnte, die sich von Italien nicht täuschen ließen. Seine
Beschuldigung aber weise ich mit dem Bemerken zurück, daß ich mich
nicht nur niemals dieses Mittels bedient, sondern mich stets darauf
beschränkt habe, den Kampf mit offenem Visier zu führen. Auch war
den mir unterstehenden Generalstabsoffizieren eine publizistische Tätig-
keit in dieser Richtung untersagt.
Daß ich in Pressefragen stets den korrekten Weg durch das hiefür
kompetente Kriegsministerium einhielt, ergibt sich auch aus meinem in
der Denkschrift vom 9. September angeführten Schreiben an den Kriegs-
minister aus Malborgeth vom 25. Juni, das die Antwort Graf Ährenthals
vom 22. JuH und meine Erwiderung vom 30. Juh 1911 zur Folge hatte.
(Siehe die Denkschrift vom 9. September, Seite 247, 248, 251.)
Dieser Briefwechsel erweist, daß Graf Ährenthal sich im Unklaren
darüber war, daß es für einen Großstaat einen Unterschied in der
Rüstung zur Defensive und einer solchen zur Offensive nicht
geben könne, weil selbst eine abwartende, also defensive Politik, im Falle
feindlicher Herausforderimg oder feindlichen Angriffes, die eigene miU-
lärische Offensive erfordern kann.
Aber nicht genug damit, verwahrte sich Graf Ährenthal ja auch
gegen alle Maßnahmen, die selbst für sein vermeintUch reduziertes Ziel
dringend geboten waren.
Zur weiteren Erklärung der gegen mich bei Graf Ährenthal bestehen-
den Gereiztheit erwähne ich hier noch einen bereits 1909 stattgehabten
Vorfall. Ich hätte ihn übergangen, wenn er nicht in der früher angeführten
Publikation vom Jahre 1920 eine Andeutung gefunden hätte.
Mir wurde nämlich damals ein an Graf Ährenthal gerichtetes
Schreiben eines k. u. k. Gesandten zur Kennüiis gegeben, das in einem
dem militärischen schrifüichen Verkehr fremden, dem Empfänger huldigen-
den Stil abgefaßt, auch den Satz enthielt:
*) „Österreichische Rundschau".
231
„Euer Exzellenz n i e irrender Geist" (oder „n. i e irrendes
Gedächtni s"). Ich hatte diesen, mir besonders auffallenden Satz
mit Farbstift unterstrichen und mit einem Rufzeichen versehen, dabei
meinem mir das Stück vorlegenden Referenten gegenüber geäußert:
„Wenn einer meiner Untergebenen mir eine solche Schmeichelei schreiben
w^ürde, so sperre ich ihn ein." Das Stück nahm dann seinen Weg zurück
ins Ministerium des Äußern, ohne daß meine Farbstiftstriche v^eggelöscht
worden wären.
Diese erregten dortselbst eine Entrüstung, der Graf Ährenthal in
einem im Juli 1909 an mich gerichteten Schreiben Ausdruck gab, in dem
er sich gegen die Form verwahrte, ui der ich Kritik übe.
Ich erwiderte hierauf, daß es meine Gewohnheit sei, in einem
Schriftstück mir besonders auffallende oder bemerkenswerte Stellen mit
Buntstift zu unterstreichen. Ich würde dies aber bei Akten des Mini-
steriums des Äußern in Hinkunft vermeiden.
Mich nur auf meine Diensttätigkeit beschränkend, kümmerte ich mich
grundsätzlich nie darum, was hinter den Kulissen vorging.
Darüber wurde ich erst durch ein Gespräch aufgeklärt, das ich
während der Landungsmanöver in Dahnatien (23. bis 25. August 1911)
mit Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand an Bord seiner
Yacht hatte.
Der Erzherzog betonte, daß er absolut darauf bestehe, daß die
(wie er sich ausdrückte) „Clique Schönaich-Ährenthal" wegkomme. Er
verbiete mir, meine Demission zu verlangen, weil sie sofort
angenommen werden würde und er dann bloßgestellt (Seine KaiserUche
Hoheit sagte wörtlich „blamiert") wäre. Er habe die Überzeugung, daß
die ganze Clique gegen i h n gearbeitet habe, und er werde, wenn er nicht
Satisfaktion bekomme, nicht nach Deutschland reisen.
Er erklärte, daß er den „Skandal", daß sich der Kriegsminister gegen
den Thronfolger öffentlich in Opposition setzt, in einer monarchischen
Armee für unmöglich halte, und wenn Baron Schönaich entfernt sei, auch
dessen Anhang gesprengt werden müsse.
Er sei weiter der Politik Graf Ährenthals „mit den ewigen Nach-
giebigkeiten imd Blamagen, wie jetzt gegenüber Serbien anläßlich des
unterbliebenen Königsbesuches*), sowie der Einmengungen in mihtärische
Dinge überdrüssig und werde dem Schranken setzen."
*) Kaiser Franz Joseph hatte eingewilligt, König Peter von Serbien
im Frühjahr 1911 in Budapest zu empfangen. Auch waren seitens des
serbischen Ministers des Äußern Milovanovic alle Vorbereitungen getroffen.
232
Er bemerkte, daß ich in dem Merey-Konflikte noch viel schärfer hätte
antworten sollen, worauf ich erwiderte, daß ich vorhabe, am 8. oder
9. September Seiner Majestät einen a. u. Vortrag vorzulegen, und mich
gegen die autoritative Sprechweise des Ministers des Äußern zu verwahren.
(Siehe meine folgende Denkschrift vom 9. September 1911, Seite 234.)
Weiters hob der Erzherzog den Wunsch hervor, daß die heurigen
Manöver — sowohl die im Zuge befindlichen Landungsmanöver, als die
Armeemanöver — so glatt als möglich verlaufen, damit „die feindhche
Clique" nicht Anlaß fände, daraus Vorteile zu ziehen.
Seine Kaiserliche Hoheit erwähnte nochmals, daß er mich auf meinem
Posten haben wolle, nicht nur, weil ich sein Vertrauen besäße, sondern
auch weil die Gegenpartei keinen Triumph feiern dürfe. Sie wolle, da
er nicht getroffen werden könne, ihn indirekt in mir treffen.
Darauf gelangten noch einige militärische Personalangelegenheiten
zur Besprechung.
Mir war nichts widerlicher, als mich in dieses Intrigenspiel gezogen
zu sehen. Schließlich aber war es mir gleichgültig; ich ging auch weiter
meine direkten Wege.
Der Tag war festgesetzt, die Sache schon in die Öffentlichkeit gedrungen,
als König Peter im letzten Moment absagte, ohne je wieder mit der
Absicht eines Besuches heranzutreten.
In das Kapitel der Nachgiebigkeiten zählte auch Graf Ährenthals
Verhalten in der serbischen Grenzregulierungsfrage. Die Flußbett-
änderungen der Donau und der unteren Drina hatten einen Grenzkonflikt
herbeigeführt, den das Schiedsgericht zugunsten Österreich-Ungarns
entschied. Trotzdem ließ Graf Ährenthal den serbischen Standpunkt
gelten. Eine solche Geste mag gegenüber einem Staate am Platze sein,
wo gentlemanlikes Entgegenkommen richtige Einschätzung findet, einem
Staat wie Serbien gegenüber beweist dies vollkommene Unkenntnis der
Verhältnisse. Wer die Mentalität der Balkanvölker kennt, muß wissen,
daß sie jede Konzihanz nur als „Schwäch e" deuten und nicht zögern,
ihr Verhalten danach einzurichten, ihre Fordenmgen ins Maßlose zu
steigern.
Zudem sind Grenzregulierungsfragen, insbesondere dort, wo es sich
um Flußübergangs-Verhältnisse handelt, von eminent militärischer
Bedeutung, daher auch von diesem Standpunkt zu behandeln. Ich remon-
strierte deshalb gegen Graf Ährenthals einseitige Vorgangsweise und
schrieb ihm auch: „Wer gegenüber einem Staate wie Serbien auf sein
Recht verzichtet, verzichtet auch gleichzeitig auf sein Recht zur Macht."
233
Des ewigen Haders müde und von der Notwendigkeit überzeugt,
sich durch die PoHtik Italiens nicht länger irreführen zu lassen, entwarf
ich meine Denkschrift vom 9. September 1911, in der mein
ganzer Konflikt mit Graf Ährenthal zusammenfassend dargestellt erscheint.
Ich gebe sie vollinhaltlich wieder.
Denkschrift
vom 9. September 1911.
„Chef des Generalstabes.
Res. Glst. Nr. 3490.
Allergnädigster Herr!
In den letzten Monaten wurden zwischen dem Ministerium des
Äußern, dem Reichskriegsministerium und mir mehrfach dienstliche
Korrespondenzen geführt, welche die Wechselwirkung zwischen der
äußeren Politik und den Vorsorgen für die Schlagfertigkeit und Kriegs-
bereitschaft der Wehrmacht innig berührten. In diesen Korrespondenzen,
die größtenteils im Einsichtswege der Militärkanzlei E. M. zur Kenntnis
gebracht wurden, sind mancherlei Gegensätze darüber zutage getreten,
inwieweit die Tendenzen der äußeren Politik der Monarchie mit jenen
Vorsorgen militärischer Natur im Einklänge stehen, welche der Heeres-
verwaltung und dem Chef des Generalstabes zur Pflicht gemacht sind.
Zur Klärung der hiebei aufgetauchten Fragen bitte ich E. M. die
nachfolgenden a. u. Ausführungen AUergnädigst zur Kenntnis nehmen
zu wollen:
Wenn ich im Sinne der mir von E. M. Allerhöchst erteilten Wei-
sungen bei wichtigen Ereignissen, welche für die äußere Politik der
Monarchie von Bedeutung sein konnten, wiederholt einen Gedankenaus-
tausch mit dem Herrn Minister des Äußern gesucht habe, so geschah
dies stets ausschließlich nur in dem Sinne, um die daraus abzuleitenden
militärischen Konsequenzen festzulegen und diese Konsequenzen mit
jenen Forderungen in Einklang zu bringen, welche ich nach meiner
Anschauung der Verhältnisse als für die Schlagfertigkeit der bewaffneten
Macht unerläßlich erachte. Dabei muß ich a. u. hervorheben, daß auf
mir in dieser Hinsicht ganz besonders auch dann die volle Verantwor-
tung ruht, wenn — was niemand zu beherrschen vermag — der Gang
der politischen Ereignisse eine andere Richtung nehmen sollte, als sie
vom Ministerium des Äußern vorausgesetzt wurde.
Ich muß daher auch in der Erfüllung meiner ernsten Obliegenheiten
daran festhalten, daß das für diese Eventualität unerläßliche Maß rein
234
militärischer Vorsorgen seitens des Ministeriums des Äußern nicht nur
keine Hemmungen, sondern die weitestgehende Förderung erfahre, da
ja doch die schlagbereite Wehrmacht der Monarchie der wichtigste reelle
Faktor ist, auf den sich die äußere Politik in schwierigen Lagen zu
stützen vermag, um ihre Ziele zu erreichen und schließlich doch nur
der Starke seinen Willen durchsetzt, imd zwar auch dann, wenn dieser
Wille auf die Erhaltung des Friedens gerichtet wäre.
Als vollgültiges Beispiel dafür bitte ich E. M., die in die Zeit der
Amtsführung des Grafen Ährenthal fallende Annexionskrise a. u.
anführen zu dürfen, in der unsere militärische Schlagfertigkeit mit dem
durch die Kriegsvorsorgen dokumentierten ernsten Willen zur Tat ohne
Schwertstreich den Zweck der äußeren Politik erreicht hat, die Anerken-
nung der Annexion zu erringen und den Frieden zu erhalten.
Die m den eingangs erwähnten Korrespondenzen der letzten
Monate aufgetretene Divergenz in den Anschauungen bezieht sich
hauptsächlich auf unser eigenartiges Verhältnis zu Italien. Weit davon
entfernt, Bedenken gegen das größte politische Entgegenkommen und
gegen die freundschaftlichsten Formen des diplomatischen Verkehres zu
äußern, muß ich doch, pflichtgemäß und unbeirrt, meine Bemühungen
darauf richten, daß unserseits hinter den ganz offenbar und ausschließ-
lich gegen Österreich-Ungarn gerichteten Kriegsvorsorgen Italiens nicht
— wie dies jetzt schon der Fall ist — allzuweit zurückgeblieben werde.
Auch in Italien gehen der umfassende Ausbau der Wehrmacht, die
Friedensdislozierung der Truppen an der Nordostgrenze, die an Umfang
und Schnelligkeit einzig dastehenden, nur gegen uns gerichteten Befes-
tigungsbauten, der rationelle Ausbau der Aufmarschbahnen nach
Venetien, die intensivste Ausgestaltung des Grenzschutzes und der Frei-
willigen-Formationen, sowie der regste Kundschafterdienst Hand in
Hand mit den freundschaftlichsten Versicherungen und mit den kon-
ziliantesten diplomatischen Formen.
Da aber die positiven Ziele und Tendenzen, im Sinne einer natio-
nalen Politik, zu geeignetem Zeitpunkte ein agressives Auftreten von
Seite Italiens erwarten lassen, während uns ein solches Auftreten bei
der bloß erhaltenden Tendenz der Monarchie unbedingt fernliegt, ist es
selbstverständlich, daß unsere militärischen Gegenmaßnahmen, die, wie
schon erwähnt, sehr erheblich hinter den Vorkehrungen Italiens zurück-
bleiben, wohl nur mit Absicht mißverstanden werden können.
Niemals haben die weitgehenden Kriegsvorsorgen Italiens unsere
Presse und öffentliche Meinung in Erregung versetzt oder unsere äußere
Politik verhindert, pflichtgemäß die freundschaftlichsten Beziehungen
anzustreben und zu betonen. Das offizielle Italien tut das gleiche, ist
235
aber stets eifrig bemüht, sowohl auf parlamentarischem Wege, als auch
in der öffentlichen Meinung die Forderungen der dortigen Heeresverwal-
tung, die sich mit den nationalen Aspirationen vollständig decken,
mit allen Mitteln zu fördern.
Ich würde mich einer schweren Pflichtverletzung schuldig machen,
wenn ich diese unverkennbaren und planmäßigen Vorgänge unbeachtet
lassen und nicht wenigstens die zur Sicherung der Monarchie unum-
gänglich notwendigen militärischen Maßnahmen beharrlich anstreben
würde.
Leider konnte ich dabei nicht immer die wirksame interne Förde-
rung der militärischen Interessen seitens des Ministeriums des Äußern
finden, die zur Verwirklichung der bescheidensten militärischen Forde-
rungen so dringend erwünscht wäre.
In der Ministerratssitzung am 5. März 1911, in welcher ich nach
den Allerhöchsten Weisungen E. M. den berufenen staatlichen Faktoren
die mit den bewilligten Mitteln nicht realisierbaren Notwendigkeiten vor-
tragen durfte, resümierte der Herr Minister des Äußern, als Vorsitzen-
der, das Ergebnis der Besprechung in der Weise, wie es E. M. der a. u.
beigeschlossenen Beilage 1 Allerhöchst zu entnehmen geruhen.
Diese auszugsweise Abschrift des Sitzimgsprotokolls läßt ersehen,
daß der Vorsitzende die ablehnende Haltung der beiden Regierungen
nicht nur zustimmend zur Kenntnis nahm, sondern auch noch das
Gewicht seiner Bedenken hinsichtlich der Einwirkung mihtärischer For-
derungen auf die auswärtige Politik in die Wagschale warf.
Wie sehr diese Bedenken des Grafen Ährenthal die Haltung des
Ministeriums des Äußern in militärpolitischen Fragen beeinflussen, bitte
ich E. M. den a. u. unterbreiteten Beilagen 2 a, 2 b und 2 c Allerhöchst
zu entnehmen.
Meine Anregung (Beilage 2 a), daß auch bei uns ähnlich wie in
Italien durch eine patriotische Haltung der Presse und durch eine wahr-
heitsgemäße Darlegung der militärischen Lage in der öffentlichen
Meinung der Weg für die Erreichung jener militärischen Forderungen
geebnet werde, deren Notwendigkeit inzwischen auch das Reichskriegs-
ministerium in einem a. u. Vortrage an E. M. anerkannt hat, lehnte der
Herr Minister des Äußern ab (Beilage 2 b) und wandte sich dabei scharf
gegen eine angeblich existierende »Militärpartei« und gegen Vorberei-
tungen für einen »konkreten« Krieg.
Daraufhin mußte ich in meiner an die Person des Reichskriegs-
ministers gerichteten Note vom 30. Juli 1911 (Beilage 2 c) meiner Über-
zeugung von der unbedingten Notwendigkeit konkreter Vorsorgen
236
Ausdruck geben und auf die Gefahren hinweisen, welche Unterlassungen
in dieser Richtung nach sich ziehen könnten.
Ich muß aber auch zweifellos die gegen mich gerichtete Vermutung,
als bestünde bei uns eine »Militärpartei«, auf das entschiedenste zurück-
weisen. Diese Vermutung schließt einen schweren, ungerechtfertigten
Vorwurf in sich, dem ich mich umsoweniger ausgesetzt glaubte, als ich
meine Überzeugung stets mit pflichtgemäßer Offenheit E. M. a. u. zur
Allerhöchsten Kenntnis unterbreite und meinem Wesen jedes mit dem
Begriffe »Militärpartei« verbundene Konspirieren gänzlich fremd ist,
ein Umstand, der auch dem Grafen Ährenthal auf Grund unseres per-
sönlichen Verkehrs nicht unbekannt sein konnte.
Wie wenig übrigens die immer wieder betonten Bemühungen
unseres Ministeriums des Äußern, die öffentliche Meinung in Italien zu
unseren Gunsten zu stimmen, wirksam sind und wie sehr die uns aus-
gesprochen feindlichen nationalistischen Tendenzen dnr Irredenta unter
der stillschweigenden Patronanz der offiziellen italienischen Kreise über-
handnehmen, bitte ich E, M. der a. u. beigeschlossenen Beilage 3 Aller-
höchst zu entnehmen.
Die Bedenken hinsichtlich der Erregung der öffentlichen Meinung
unserer Nachbarn haben aber auch gelegentUch der Verhandlungen
über die Regulierung der bosnisch-serbischen Grenze an der Drina im
Sommer 1911 beim Ministerium des Äußern die Besorgnis erregt, daß
ein Festhalten an unseren berechtigten Ansprüchen zu Weiterungen
führen könnte, und dieses Ministerium dazu veranlaßt, trotz der für
uns zweifellos günstigen Rechtslage die vorbehaltlose, definitive
Abtretung der strittigen Drinainseln an Serbien in Aussicht zu nehmen,
wodurch ein Teil der Grenze endgültig in militärisch höchst nachteiliger
Weise im Räume westlich der Drina verlaufen würde.
Dieser Absicht mußte ich pflichtgemäß in der an das Reichskriegs-
ministerium gerichteten Bemerkung Glstb. Nr. 2795 von 1911, welche
ich in der Abschrift als Beilage 4 E. M. a. u. unterbreite, entschieden
entgegentreten.
Was die Grenzzwischenfälle betrifft, die sich an der italienischen
Grenze ebenso wie an der serbischen, türkischen und montenegrinischen
von Zeit zu Zeit ergeben, so haben die meist unbeabsichtigten Über-
schreitungen ihre Ursachen teils im Vorhandensein strittiger Grenz-
strecken, teils in der unzureichenden Vermarkung der Grenzen im
schwierigen Gebirgsterrain.
Die Heeresverwaltung war bestrebt, alles vorzukehren, um Grenz-
überschreitungen durch ö.-u. Militärpersonen zu vermeiden und auf die
Fälle unvermeidlicher Irrtümer zu beschränken. Speziell an der italie-
237
nischen Grenze sind in den Jahren 1909, 1910 und 1911 zusammen im
ganzen acht solche Fälle vorgekommen, während in demselben Zeit-
räume in 62 Fällen Grenzüberschreitungen italienischer Militär personen
bei uns dienstlich gemeldet wurden.
Da aber die Presse Italiens jeden durch unsere Truppen hervor-
gerufenen Grenzzwischenfall für ihre nationalistischen Zwecke aus-
beutet und ins Maßlose aufbauscht, da ferner der Herr k. u, k. Bot-
schafter in Rom Bedenken wegen der möglichen Folgen solcher
Zwischenfälle geäußert hat, sah sich das Ministerium des Äußern erst
kürzlich veranlaßt, wegen des Grenzkonflikts auf der Cima Mandriolo
der königlich italienischen Regienmg das Bedauern auszusprechen, was,
soweit mir bekannt, von italienischer Seite noch in keinem Falle
geschehen ist.
In der Korrespondenz, welche den Vorfall auf der Cima Mandriolo
betraf, sprach der Herr Minister des Äußern in einer Note an den
Reichskriegsminister, deren Abschrift ich als Beilage 5 a E. M. a. u.
zur Allerhöchsten Kenntnis unterbreite, ausdrücklich die Vermutung
aus, daß em die Grenzverletzung veranlassender Befehl vom General-
stabe ausgegangen sei. Ich war gezwungen, mich in der abschriftUch
a. u. angeschlossenen Bemerkung Glst. Nr. 3091 von 1911 (Beilage 5 b)
an das Reichskriegsministerium gegen einen solchen Verdacht nach-
drücklich zu verwahren, da es natürlich ganz ausgeschlossen ist, daß
ich außer den mit der Allerhöchsten Genehmigung E. M. jährlich aus-
gegebenen Alarmweisungen noch insgeheim Aufträge geben würde,
welche mit den Befehlen des Reichskriegsministeriums im Widerspruche
wären. Die von E. M. Allerhöchst genehmigten Alarm Weisungen aber
müssen als streng geheime Kriegsvorsorgen naturgemäß der Kenntnis
und Kontrolle des Ministeriums des Äußern unbedingt entzogen bleiben.
Ich bitte E. M. AUergnädigst zu gestatten, daß ich bei diesem
Anlasse auch über den für die militärischen Kriegsvorsorgen ganz
unentbehrlichen Kundschafterdienst a. u. berichte, welcher gleichfalls
wiederholt Anlaß zu Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Grafen
Ährenthal und mir gegeben hat.
Aus den Erfahrungen der Krise des Jahres 1908/1909 ergab sich
die dringende Notwendigkeit, den Kundschafterdienst auf weitere
Gebiete zu erstrecken und umsomehr auszugestalten, als sich eben
gezeigt hatte, daß es gerade in Zeiten politischer Spannung doppelt
schwer ist, neue Kundschafter zu erwerben und gute Nachrichten zu
erhalten.
238
Der für den Bedarf ganz unzureichende Betrag von jährlich
150.000 Kronen nötigte anfänglich dazu, einen Teil dieses Dienstes in
das Ausland entsendeten Offizieren zu übertragen.
Als aber die Anhaltung und Festnahme einzelner dieser Offiziere
beim Ministerium des Äußern die Besorgnis vor unliebsamen Weiterun-
gen und vor einer Schädigung unserer guten Beziehungen zu den Nach-
barstaaten wachrief, geruhten E. M. die Allerhöchste Willensmeinung
dahin abzugeben, daß getrachtet werden solle, die Nachrichten aus dem
betreffenden Lande, also durch dort lebende Kundschafter, zu gewinnen.
E. M. geruhten bei dieser Gelegenheit Allergnädigst zu erwähnen, daß
hiezu wohl höhere Mittel notwendig sind und daß sich deshalb an das
Ministerium des Äußern zu wenden ist.
Auf Grund dieser mit der Note der Militärkanzlei E. M. Nr. 2868
von 1910 anher mitgeteilten Allerhöchsten Willensmeinung wandte sich
das Reichslcriegsministerium unter eingehender Klarlegung der Verhält-
nisse mit dem Ersuchen an das Mmisterium des Äußern, den für Kund-
schaftszweclce gewidmeten Betrag nach und nach auf jährlich 500.000
Kronen zu erhöhen.
Das Ministerium des Äußern eröffnete hierauf, daß die Budgetierung
einer erhöhten Kundschaftsdotation wohl erst für das Jahr 1912
möglich sei, daß es aber nach Zulässigkeit der vorhandenen Mittel
bereit sei, schon im Jahre 1911 einen außerordentlichen Beitrag zu
leisten, doch könne sich das Ministerium des Äußern vor der Hälfte des
Jahres 1911 keineswegs engagieren.
Auf das im Jahre zweimal erneuerte Einschreiten erwiderte schließ-
lich das genannte Ministerium, daß es nicht in der Lage sei, im Jahre
1911 überhaupt einen erhöhten Beitrag zu leisten. Es bleibt somit trotz
der zweifellos anerkannten Unzulänglichkeit bei der bisherigen geringen
Kundschaftsdotation.
Obgleich ich, den Allerhöchsten Intentionen E. M. entsprechend,
seit dem Jahre 1910 von der Entsendung von Offizieren für Kund-
schaftszwecke gänzlich abgesehen habe, ja selbst über Einfluß des
Ministeriums des Äußern die Beurlaubung von Offizieren nach Serbien
und Montenegro, sowie nach der Türkei und speziell nach Albanien
teils aufs äußerste eingeschränkt, teils ganz eingestellt wurde, wieder-
holen sich immer wieder serbischerseits entrüstete Klagen über die Kund-
schaftstätigkeit unserer Serbien angeblich geradez;u überschwemmenden
Generalstabsoffiziere.
Auf eine vom Ministerium des Äußern an mich gerichtete münd-
liche Anfrage ließ ich Mitte Juli 1911 klar und ausdrücklich mitteilen,
daß heuer überhaupt kein Offizier nach Serbien entsendet worden ist.
239
Umsomehr mußte ich daher erstaunt sein, als sich trotz dieser
unzweifelhaften Mitteilung das Ministerium des Äußern auf Grund von
neuerlichen Behauptungen serbischer Hetzblätter, die ihm als solche
längst bekannt sind, im August 1. J. neuerlich veranlaßt sah, diesmal
beim Reichskriegsministerium wegen etwa verfügter Entsendungen ö.-u.
Generalstabsoffiziere nach Serbien anzufragen.
Meine diesbezügliche Auskunft an das Reichskriegsministerium ist
zur Allerhöchsten Kenntnis E. M. als Beilage 6 in Abschrift
angeschlossen.
Während der Krise imd unmittelbar nach derselben haben zahl-
reiche serbische Offiziere das Gebiet der Monarchie betreten, ohne daß
unsererseits Schwierigkeiten gemacht worden wären. Unser Ministerium
des Äußern aber hegt noch jetzt — drei Jahre nach der Krise —
Bedenken dagegen, daß ö.-u. Offiziere nach Serbien beurlaubt werden,
obgleich nach dem Abschlüsse des Handelsvertrages im Oktober 1910
ganz normale Beziehungen zwischen unserer Regierung und der
serbischen offiziell bestehen und obgleich das Ministerium des Äußern
und unsere Vertretungen zweifellos über die Mittel verfügen, um die
serbische Regierung zu verpflichten, für den Schutz unserer Offiziere
unter allen Verhältnissen zu sorgen, insolange sie sich den bestehenden
Gesetzen gemäß verhalten. Daß aber der im Auslande reisende Offizier
keine Spionage treiben darf, ist ganz selbstverständlich, denn dadurch
kommt er mit den Gesetzen des Landes in Kollision und hat keinen
Anspruch mehr auf deren Schutz.
Als das Ministerium des Äußern im Vorjahre beim Reichskriegs-
ministerium die Beurlaubung von Offizieren nach Serbien als inopportun
bezeichnete, verfügte das Reichskriegsministeriura mit Erlaß Präs.
Nr. 12.807 von 1910, daß Urlaube nach Serbien nur in dringenden
Fällen und nur mit besonderer Bewilligung des Reichskriegsministe-
riums erteilt werden. Vor kurzem hat nun das Ministerium des Äußern
neuerlich an das Reichskriegsministerium das Ersuchen gerichtet (Präs.
Nr. 9640 des Reichskriegsministeriums von 1911), die Offiziersurlaube
nach Serbien ganz einzustellen.
Um zu kennzeichnen, wie wenig Reziprozität in dieser Hinsicht
geübt wird, bitte ich E. M. a. u. melden zu dürfen, daß nach ganz
verläßlicher Information Mitte August 1911 sich ein serbischer Oberst-
leutnant und weitere acht serbische Offiziere durch mehrere Tage ganz
ungehindert in Agram aufhielten, und zwar nicht etwa bloß auf Urlaub,
sondern als Teilnehmer an einer so emment politischen Veranstaltung,
wie es das Agramer südslawische Sokolfest war.
240
Auch das Inhibieren von Urlauben nach der Türkei und besonders
nach Albanien wurde vom Ministerium des Äußern zu einer Zeit
angeregt und durch die politische Lage als dringend geboten betont, als
Offiziere anderer Staaten, ohne irgend welchen Schwierigkeiten zu
begegnen, diese Länder bereisten.
Die Besorgnis des Ministeriums des Äußern, daß unseren Offi-
zieren seitens der dortigen Behörden Unannehmlichkeiten bereitet wer-
den könnten, mag nicht ganz unbegründet sem. Der erste solche Fall
müßte aber eben die Gelegenheit geben, ein Verhalten an den Tag zu
legen, welches mit Rücksicht auf die Großraachtstellung der Monarchie
bei den auswärtigen Behörden die Überzeugung zeitigt, daß unseren
Offizieren ein Schutz zur Seite steht, der sie im Auslande ebenso sicher
wandern läßt, wie jene der anderen Großstaaten.
Pflichtgemäß muß ich gegen eine Einschränkung der Offiziers-
urlaube — nach welchen Ländern immer — Einsprache erheben, weil
wir Offiziere, namentlich aber Generalstabsoffiziere, mit umfangreichen
Länderkenntnissen brauchen, die nicht aus Büchern, sondern nur aus
unmittelbaren Eindrücken geschöpft werden können. Dazu ist aber das
Reisen auch abseits der Hauptbewegungslinien des Fremdenverkehrs
notwendig, was — wie schon früher a. u. erwähnt wurde — selbstver-
ständlich nie mit Spionage irgend welcher Art verbunden sein darf.
Meinen früheren a. u. Ausführungen bitte ich E. M. AUergnädigst
entnehmen zu wollen, daß wir ausschließlich auf Nachrichten an-
gewiesen sind, welche uns im Auslande sich aufhaltende Berufskund-
schafter liefern, deren Zahl schon wegen der unzulänglichen Geldmittel
nur eine geringe sein kann.
Was aber die Position unserer Kundschafter im Auslande beson-
ders schwierig macht, ist die zumeist sehr patriotische Haltung der
Bevölkerung unserer Nachbarstaaten, welche stets bemüht ist, im Ver-
eine mit den dazu dienstlich berufenen Organen jede Spionage zu ver-
hindern und jeden geringsten Verdacht der Auskundschaftung auch
dann in der Presse überlaut zu affichieren, wenn sich der Verdacht als
gänzlich haltlos herausstellt.
Was die bei uns tätigen Kundschafter sowohl Italiens als auch
Serbiens, Montenegros und Rußlands betrifft, so ist leider ihre Lage
eine weit günstigere, weil sie häufig Verbindungen mit reichsfeindlichen
Konnationalen in unseren Grenzgebieten haben, die ihnen jede Förde-
rung zuwenden.
Trotzdem verhält sich die Zahl der wegen Spionage Verhafteten
und Verurteilten bei uns, in Rußland und Italien so, wie es in der a. u.
angeschlossenen Beilage 7 ersichtlich gemacht ist.
16, Conrad II 241
Die Tabelle zeigt, daß in den letzten drei Jahren bei uns 34 Indi-
viduen wegen Betreiüung des Kundschaftsdienstes zu Gunsten einer
fremden Macht aufgegriffen wurden, hievon waren für Italien 13, für
Rußland 21 dieser Spione tätig.
In derselben Zeit wurden in Italien vier und in Rußland drei
unserer Kundschafter aufgegriffen.
Die in Beilage 7 ausgewiesenen, in Serbien verurteilten vier Spione
wurden im Frühjahre 1909 alle gleichzeitig festgenommen, zu einer
Zeit, als in unseren südslawischen Gebieten die reichsfeindliche Bewe-
gung in vollster Blüte stand, so daß Serbien und Montenegro über
straflos gebliebene Vertrauensmänner in größter Zahl verfügten.
Aus den vorstehenden a, u. Darlegungen geht mit voller Klarheit
hervor, daß wir keinem der genannten Staaten gegenüber die mora-
lische Verpflichtung haben, unseren Kundschaftsdienst einzuschränken
und daß unsere äußere Vertretung sehr berechtigt gewesen wäre, bei
der russischen und italienischen Regierung wegen der äußerst regen
Spionage Vorstellung zu machen.
Dies ist — so weit mir bekannt — nicht geschehen, wohl aber hat
der ö.-u. Botschafter in Rom, Herr von Merey, anläßlich der Festnahme
eines Kundschafters in Venedig im Frühjahr 1911 in einem an den
Grafen Ährenthal gerichteten Schreiben die Worte gebraucht: »Ich muß
es E. E. überlassen, zu beurteilen, ob auf die bisherige Langmut der
italienischen Regierung gegenüber den sich derart häufenden Spionage-
fällen auch weiter gerechnet werden darf und ob unsere offiziellen
freundschaftlichen Beziehungen und unser Bundesverhältnis zu Italien
auf die Dauer eine solche Belastungsprobe vertragen.«
Als das Reichskriegsministerium im Einsichtswege von diesem
Berichte Kenntnis bekam, konstatierte es die weitaus überwiegende Zahl
von Fällen italienischer Spionage auf unserem Gebiete, und ich fügte
die — selbstverständlich nur für das Reichskriegsministerium bestimmte
— als Beilage 8 a abschriftlich a. u. zugelegte Bemerkung bei, in
welcher ich meiner Überzeugung über die Anschauungen des Herrn von
Merey Ausdruck gab und das Reichskriegsministerium bat, im Sinne
dieser Bemerkung beim ?vlinisterium des Äußern vorstellig zu werden.
Daß das Reichskriegsministerium diese, offensichtlich nicht für das
Ministerium des Äußern bestimmte Bemerkung diesem letzteren im
Original weitergab, muß ich trotz der vom Reichskriegsministerium für
diesen Vorgang geltend gemachten Gründe formaler Natur als einen
bedauerlichen faux pas bezeichnen.
Diese Ansicht habe ich, als mir die Antwortnote des Herrn Ministers
des Äußern vom 7. August 1911 zur Kenntnis kam, deren Abschrift ich
242
E. M. als Beilage 8 b a. u. unterbreite, in meiner ebenfalls a. u. zuge-
legten Bemerkung Glstb. Nr. 3282 vom 14. August 1911 dem Reichs-
kriegsministerium gegenüber ausgesprochen. (Beilage 8 c.)
Damit ist aber nur die formelle Seite des Zwischenfalles dargelegt.
In sachlicher hinsieht fühle ich mich verpflichtet, E. M. zur Rechtferti-
gung und Begründung meiner Ansicht über die Haltung des Herrn
Botschafters in Rom a. u. zu melden, daß ich diese Ansicht nicht etwa
bloß aus dem Tone seines angeführten Schreibens an den Grafen
Ährenthal geschöpft, sondern daß meine Anschauung sich auf mehrere
frühere Vorkommnisse gründet, welche selbstverständlich alle nur den
Standpunkt des Herrn von Merey in militärischen Fragen betrafen, da
es mir naturgemäß ganz ffern liegen muß, mir in irgend einer anderen
Hinsicht ein Urteil über ihn anzumaßen.
Herr von Merey hat schon im Vorjahre in der Korrespondenz, die
über die Einschränkung von Zwischenfällen an der italienischen Grenze
geführt wurde, so absprechende Bemerkungen über unsere Wehrmacht
geäußert, daß sich das Reichskriegsministerium in semer Note Präs.
Nr. 8962 von 1910 an das Ministerium des Äußern genötigt sah,
darauf wie folgt zu erwidern:
»Der Herr k. u. k. Botschafter in Rom hat sich veranlaßt geglaubt,
in seiner Note Nr. 33 B vom 11. Juli auf Grund nicht ganz zutreffen-
der Daten ein unfreundliches Urteil über unsere Wehrmacht fällen und
ihr in seiner Note Nr. LXXVI S. vom 19. Juli 1. J. Ratschläge erteilen
zu müssen.
Ich wäre E. E. sehr verbunden, wenn der Herr k. u. k. Botschafter
in Rom von dem Inhalt dieser Note in vertraulicher Weise in Kenntnis
gesetzt würde, damit er künftighin bei der Beurteilung und Besprechung
solcher immerhin bedauerlicher Fälle die entsprechende Basis kenne und
seine Sprache darnach einrichte.«
Die Auffassung des Herrn von Merey über die mir so genau
bekannte militärische Friedensarbeit Italiens kommt in einem Berichte
des Herrn Botschafters an den Grafen Ährenthal vom 31. Jänner 1911
zum Ausdruck, welchen ich E. M. in Abschrift als Beilage 9 a a. u.
unterbreite*).
Am 2. Jänner 1911 hatte ich dem Herrn Minister des Äußern
pflichtgemäß als Ergebnis hierseitiger Studien und Nachrichten mit-
geteilt, daß die Daten üter militärische Rüstungen und Bereitstellungen
Italiens den Termin Ende April 1912 als Zeitpunkt der angestrebten
Schlagfertigkeit erkennen lassen, daß die Maßnahmen für den Ausbau
") Ist bereits im früheren vollinhaltlich gegeben. Seite 222.
''' 243
der Flotte, für die neue Artillerie-Organisation und Umbewaffnung,
der Ausbau der strategischen Eisenbahnen, die Vermehrung des rollen-
den Eisenbahnmaterials, die Fertigstellung der wesentlichsten, gegen die
Monarchie gerichteten Befestigungen und die Schaffung eines radiotele-
graphischen Netzes über ganz Itahen auf diesen Zeitpunkt gestellt sind.
Graf Ährenthal erwiderte mir am 6. Jänner, daß er meme Wahr-
nehmungen durch seine Organe überprüfen lassen werde und sprach
die Ansicht aus, daß die mit rastloser Energie und mit Aufwendung
sehr bedeutender Mittel fortschreitenden militärischen Rüstungen
Italiens wohl vor allem dem Wunsche entsprechen, es den anderen
Großmächten gleichzutun, vermuthch aber auch dem Gedanken, die
Streitkräfte noch vor Beginn der Vertragsverhandlungen so weit aus-
zugestalten, um von den beiden anderen Großmächten als begehrter und
gleichwertiger Bundesgenosse angesehen zu werden.
Im Auftrage des Grafen Ährenthal legte der Herr Botschafter in
Rom den früher erwähnten a. u. in Abschrift als Beilage 9a zugelegten
Bericht vor*).
Meine Anschauungen über diesen Bericht bitte ich E. M. meiner
abschriftlich a. u. beigeschlossenen Note an den Herrn Minister des
Äußern vom 24. Feber 1911, Beilage 9 b, Allerhöchst entnehmen zu
wollen*).
Mir obliegt es, unablässig und wachsamen Auges die Entwicklung
der fremden und der eigenen Machtmittel zu verfolgen, um auf Grund
sorgfältig geprüfter Tatsachen ein reelles Gesamtbild zu haben und
dann, ohne Kleinmut, aber bei Erwägung aller Möglichkeiten, jene
militärischen Maßnahmen vorzusorgen, welche allen Eventualitäten
entsprechen können.
Ich erachte es als meine Pflicht, auch dann unbeirrt zu bleiben,
wenn andere über die sehr intensiven Rüstungen eines immerhm mög-
lichen Gegners leichter hinweggehen, und wenn sie die Tendenz dieser
Rüstungen so optimistisch beurteilen, wie es Graf Ährenthal und Herr
von Merey tun. Wenn aber aus solchen Anschauungen eine Hemmung
der unerläßlichen militärischen Vorsorgen resultiert, so muß ich meine
Bedenken ernst und nachdrücklich geltend machen.
Von diesem streng sachlichen Gesichtspunkte bitte ich E. M. a. u.,
auch meine Stellungnahme gegenüber dem Standpunkte des Herrn Mini-
sters des Äußern einer Allergn ädigsten Würdigung zu unterziehen.
Graf Ährenthal tritt in seiner Note vom 7. August 1911, Beilage 8b,
selbstverständlich für Herrn Merey ein. Daß dem Ministerium des
*) Ist bereits im früheren vollinhaltlich gegeben. Seite 222 und 226.
244
Äußern und der k. u. k. Botschaft in Rom die zahlreichen Verurteilungen
italienischer Spione bei uns seitens der Justizbehörden nicht bekannt-
gegeben wurden, ist sehr zu bedauern; die meisten dieser Prozesse —
so namentlich die Fälle Bartmann, Colpi und Genossen, sowie Kretsch-
mar — wurden in allen Tagesblättem breit und in dem üblichen Sensa-
tionstone besprochen. Zweifel darüber, für wen diese Leute tätig waren,
sind schwer möglich.
Um die in derselben Note des Grafen Ährenthal erwähnte Behelli-
gung und Kompromittierung unserer Vertretungen durch im Auslande
aufgegriffene Kundschafter zu verhindern, werden diese stets eindring-
lichst dahin instruiert, daß sie sich unter gar keiner Bedingung an die
k. u. k. Vertretungen wenden oder auf sie berufen dürfen. Leider ist
das bei der Qualität dieser Leute nicht in allen Fällen erreichbar, obgleich
sie tatsächlich keine Verbindungen mit unseren Vertretungen haben.
Obgleich der Herr Minister des Äußern selbst andeutet, daß der
Bericht des Herrn von Merey zu drastisch stilisiert war, nimmt Graf
Ährenthal am Schlüsse seiner Note vom 7. August dennoch gegen mich in
einem derart autoritativen und verletzenden Tone Stellung, daß ich im
Bewußtsein, stets nur die mit meiner Stellung verbundenen Pflichten zu
erfüllen, mich entschieden gegen eine solche Sprache verwahren muß.
Ich bitte E. M., hievon Allerhöchst Kenntnis nehmen zu wollen
und füge a. u. bei, daß ich dem Grafen Ährenthal eine Verständigung
darüber zukommen ließ, daß ich in dieser Angelegenheit E. M. einen
a. u. Vortrag unterbreite.
Wien, am 9. September 1911. Conrad, m. p., G. d. I."
Auszug "Beilage 1.
aus dem Protokoll der Ministerratssitzung in Budapest
am 5. März 1911*).
Der Vorsitzende hebt hervor, daß er als Minister des Äußern,
soweit es von ihm abhänge, selbst\'erständlich für die Ausgestaltimg
der Wehrkraft eingetreten sei, daß er sich aber den von beiden Herren
Ministerpräsidenten abgegebenen Erklärungen nur vollinhaltlich
anschließen könne.
Er teilt vollkommen die Ansicht, daß die neuerliche Forderung von
260 Millionen Kronen, nachdem die Delegation eben so namhafte
Beträge für Rüstungszwecke bewilligt hat, eine schwere innerpolitische
Perturbation hervorrufen würde.
*) Das ganze Protokoll dieser Ministerratssitzung ist auf den
Seiten 134 u. f. abgedruckt.
24S
Aber auch vom Standpunkte der auswärtigen Politik würde er ein
solches Vorgehen für sehr bedenklich halten. Es sei zweifellos, daß
durch die von den Delegationen votierten bedeutenden Mittel unsere
Stellung in Europa gehoben und unser Ansehen wesentlich erhöht
worden sei, so daß wir nun mit größter Sicherheit und Fesiigkeit für oie
von uns verfolgten friedlichen Ziele emtreten können.
Die Monarchie hegt keine Aspirationen über ihren gegenwärtigen
Besitz hinaus, und er fasse die von ihm im Auftrage Seiner Majestät
und unter Zustimmung der beiden Ministerpräsidenten geführte äußere
Politik dahin auf, daß wir bei etwa eintretenden Verwicklungen nicht
sofort aktiv hervorzutreten hätten, sondern die Dinge sich vorerst ent-
wickeln lassen und erst dann eingreifen sollen, wann und wie es die
Interessen der Monarchie erheischen.
Unsere Politik weist demnach einen erhaltenden Charakter auf,
dem wir auch bei Ergreifung außerordentlicher militärischer Maß-
nahmen Rechnung tragen müssen.
Wenn wir nunmehr einen neuen Rüstungskredit anfordern würden,
würde man uns aggressive Absichten zuschieben, was dem von Seiner
Majestät hinsichtlich der Führung der äußeren Politik der Monarchie
erhaltenen Auttrag diametral entgegengesetzt wäre. Überdies würden
wir durch die rasch aufeinanderiolgende Einstellung solcher Summen
unsere Nachbarn noch zur Steigerung ihrer Rüstungen ermuntern.
Auch möchte ich noch hervorheben, daß aus den lichtvollen Darstel-
lungen des Herrn Chefs des Generalstabes zu entnehmen sei, daß bereits
heute eine wesentliche Steigerung unserer Kriegsbereitschaft konstatiert
werden konnte, daß aber die Kriegsverwaltung sich darauf beschränkt
hat, dasjenige zu beanspruchen, was sie für das Dringendste und Not-
wendigste gehalten hat, übrigens steht es der Heeresverwaltung frei,
dort, wo dies erforderlich erschiene, ein Virement eintreten zu lassen.
Zum Schlüsse will er dem Chef des Generalstabes im Namen aller
Anwesenden den Dank für seine so eingehenden und interessanten Dar-
legungen aussprechen; die Teilnehmer an der heutigen Beratung seien
überzeugt, daß Seine Exzellenz es für seine Pflicht gehalten hat, die
maßgebenden Faktoren auf jene Erfordernisse aufmerksam zu machen,
welche nach seinem Dafürhalten unumgänglich notwendig sind, doch
wären den Regierungen, wie erwähnt, durch die finanzielle Leistungs-
fähigkeit unüberschreitbare Grenzen gezogen.
Ährenthal m. p.
Für die Richtigkeit der Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstk."
246
„Beilage 2 a.
An Seine Exzellenz General der Infanterie Franz Freiherm von Schönaich
in Wien.
Malborgeth, am 25. Juni 1911.
Verfolgt man die italienische Presse der letzten Jahre und vor-
nehmlich die italienische Publizistik der jüngsten Zeit, so leuchtet — im
vollen Gegensatze zu unserer Presse — das konsequent und in einmütig
patriotischem Sinne verfolgte Streben hervor, durch steten Hin-
weis auf die Unzulänglichkeit der eigenen Kriegsbereitschaft, speziell
gegen Österreich-Ungarn, die breiten Schichten des Volkes über die
hauptsächlichsten militärischen Notwendigkeiten aufzuklären und so
den Boden für jene militärischen Forderungen vorzubereiten, deren
sukzessiver Erfüllung die italienische Reichsverteidigung den auf allen
Gci^ieten wahrnehmbaren Aufschwung der letzten Jahre verdankt.
Unablässig verfolgt die italienische Publizistik alle unsere leider so
bescheidenen Maßnahmen an der Grenze mit eifersüchtiger Aufmerk-
samkeit, bauscht sie gewohnheitsmäßig in tendenziöser Weise weit über
ihre tatsächliche Bedeutung auf und betrachtet es so — mit geringen
Ausnahmen einmütig — als patriotische Ehrenpflicht der nationalen
Presse, durch dieses Wirken Regierung und Heeresverwaltung nicht nur
zu unterstützen, sondern auf die militärischen Maßnahmen vielfach
geradezu anregend zu wirken, vor jeder Unterlassung oder Verschlep-
pung dieser wichtigen Fragen unablässig zu warnen.
Demgegenüber ist unsere Presse leider von einer geradezu beispiel-
losen Gleichgültigkeit hinsichtlich der so auffallenden,, vielfach selbst
dem Laien in die Augen springenden, ausschließlich gegen uns gerichte-
ten fieberhaften italienischen Kriegsvorbereitungen. Es gehört zu ganz
exzeptionellen Ausnahmsfällen, wenn eines unserer Tagesblätter — wie
die mir vom Pressebureau des Reichskriegsministerium zugekommene
Ausgabe des »Pesti Hirlap« vom 6. Juni — es wagt, diesbezüglich
seinen Lesern klaren Wein emzuschenken und in umfassender, leider
infolge unzureichender Information durchaus nicht erschöpfender Weise
auf die militärische Tätigkeit Italiens an unserer Grenze hinzuweisen,
die in mancher Hinsicht unsere eigenen Vorkehrungen bereits zu über-
holen im Begriffe ist. Ja, unsere Presse scheut sich nicht, wie die im
Abendblatt der »Zeit« vom 21. Juni 1911 veröffentlichte Notiz über den
Garnisonswechsel beweist, in der unpatriotischesten Art die militäri-
scherseits erkannten Minimalforderungen als durchaus unberechtigt
und ganz unverständlich hinzustellen und so zu versuchen, dieselben
unmöglich zu machen.
247
Diese ganz beispiellose Indifferenz, ja patriotisch sehr anfechtbare
Haltung unserer Presse und die daraus resultierende Unaufgeklärtheit
unserer öffentlichen Meinung bildet einen der Hauptgründe dafür, daß
unsere militärischen Forderungen immer wieder den größten Schwierig-
keiten begegnen und auf ein Maß herabgeschraubt wurden, das alle
militärischen Stellen mit schwerer Besorgnis für die Zukunft erfüllen
muß und diesen Stellen die unbedingte Verpflichtung auferlegt, die-
sem traurigen Zustande auf das entschiedenste entgegen zu wirken.
Es scheint mir daher, insbesondere im Hinblicke auf die demnächst
herantretende Notwendigkeit großer militärischer Forderungen, hoch an
der Zeit, die Bedeutung einer von maßgebender und orientierter Seite
zielbewußt beeinflußten Presse endlich im vollen Umfange einzuschätzen
und bitte ich E. E., unter voller Entfaltung der dem Reichskriegsministe-
rium zur Verfügung stehenden Machtmittel, unsere Publizistik in diesem
Sinne beeinflussen und gegensätzlichen Einflüssen anderer mit allem
Nachdrucke entgegentreten zu wollen.
Ganz besonders bitte ich in dieser Richtung auch beim Ministerium
des Äußern vorstellig zu werden, welchem ein derartiges, die Macht-
mittel und die militärische Bereitschaft der Monarchie schwer schädi-
gendes Gebaren ganz besonders nahe gehen muß.
Conr ad m. p."
„Beilage 2 b.
Hoch wohlgeborener Freiherr!
Ich habe die Ehre gehabt, das mir unter Nr. 8417 am 2. Juli zuge-
sandte Schreiben vom 25. v. Mts. zu erhalten, in welchem sich der Herr
Chef des Generalstabes mit der Haltung der Presse zu den militärischen
Forderungen beschäftigt.
Wenn Freiherr von Conrad in dieser Darlegung darauf hinweist,
daß die ausländische, namentlich aber die italienische Presse in viel
nachdrücklicher Weise, als dies bei uns der Fall ist, für die Verwirk-
lichung der als notwendig erkannten militärischen Maßnahmen ein-
tritt, so kann ich ihm in diesem Punkte nur recht geben.
Diese fast einmütige Stellungnahme speziell der italienischen
Presse ist zum Teile wohl auf die besonders in Oberitalien herrschende
Furcht vor uns, größtenteils aber darauf zurückzuführen, daß die
Presse national geeint ist, während bei uns die Verhältnisse bekanntlich
ganz anders liegen. Es ist E. E. nur zu gut bewußt, wie oft die Herein-
ziehung von nationalen Fragen und Aspirationen hindernd in die stete
Entwicklung unserer Wehrmacht eingegriffen hat, und es ist — so
248
bedauerlich dies auch sein mag — ganz erklärlich, daß dieser Umstand
auch in der Presse seinen Ausdruck finden muß.
Der vom Herrn Chef des Generalstabes bei diesem Anlasse gemachte
Hinweis auf die demnächst herantretende Notwendigkeit nochmaliger
großer militärischer Forderungen veranlaßt mich zu nachstehenden
Ausführungen:
In den Delegationen von 1910 und 1911 sind an militärischen
Mehr f orderungen zirka 1100 Millionen Kronen teils als Nachtrags-
kredite, teils als neue, auf die Dauer von fünf Jahren echelonierte
Beträge bewilligt worden, deren weitaus größter Teil für Neuanschaf-
fungen verwendet werden soll.
Daß dieser höchst ansehnliche Erfolg unter schwierigen parlamen-
tarischen Verhältnissen erzielt werden konnte, ist in erster Linie gewiß
das Verdienst E. E. und der beiden Regierungen; aber auch ich darf
einen Teil desselben für mich in Anspruch nehmen, da ich mir bewußt
bin, in voller Anerkennung der dringenden Bedürfnisse unserer bewaff-
neten Macht bei beiden Regierungen und in meinen Delegationsreden
für sie auf das nachdrückUchste eingetreten zu sein.
Umsomehr muß es mich jetzt wundern, daß der Herr Chef des
Generalstabes neuerdings auf die außerordentlichen Kredite zu sprechen
kommt, welche über das Maß der für die nächsten fünf Jahre bewil-
ligten Ausgaben hinausgehen und welche bereits den Gegenstand der
gemeinsamen Ministerberatung vom 5. März 1. J. gebildet haben.
Diese Forderung wurde damals von beiden Herren Ministerpräsi-
denten unter Hinweis auf die parlamentarische Undurchführbarkeit
unter anderem auch mit der Motivierung abgelehnt, daß damit die
Grenzen der finanziellen Leistungsfähigkeit der Monarchie überschritten
würden.
Ich habe mich diesem Votum aus Erwägungen der äußeren Politik
angeschlossen, und es erscheint mir auch heute richtig, an demselben
festzuhalten, da uns von keiner Seite eine Gefahr droht, unsere Bezie-
hungen zu allen Mächten sich vielmehr in vollkommen zufriedenstellen-
der Weise fortentwickeln.
Es ist ja selbstverständlich, daß die Monarchie immer bereit sein
muß, einen ihr aufgezwungenen Krieg zu führen und die Anstrebung
aller Mittel, die diesem Zwecke gelten und dazu dienen, die stete
Schlagfertigkeit der Wehrmacht zu gewährleisten, wird bei mir immer
auf regstes Verständnis und auf bereitwilligste Mitwirkung zu rechnen
haben.
Etwas anderes aber ist es, wenn Forderungen aufgestellt werden,
die spezielle Rüstungsvorbereitungen zu einem konkreten Kriege
249
betreffen, und namentlich müßte ich dagegen Stellung nehmen und jede
Verantwortung ablehnen, wenn es sich dabei um die von Freiherrn von
Conrad ins Auge gefaßte These eines Krieges mit Italien handeln
sollte.
Gewiß, die Schwäche der einander folgenden italienischen Regie-
rungen schließt Überraschungen nicht aus, und es könnm sich vielleicht
einmal Situationen ergehen, in denen uns Italien nicht als Freund und
Bundesgenosse zur Seite steht. Das soll von mir nicht bestritten werden;
aber man sollte es doch vermeiden, die Herbeiführung einer sokhen
Situation zu beschleunigen.
Wenn wir aber heute schon an der italienischen Grenze in forcierter
Weise Befestigungen anlegen, Truppenverschiebungen ausführen und
andere offen zutage tretende militärische Maßregeln mit leicht erkenn-
barem Zweck ergreifen, muß in der öffentlichen Meinung der Gedanke
erweckt werden, daß der Krieg mit Italien ein beschlossenes und je eher
zu beginnendes Unternehmen ist.
Dadurch wird jeder italienischen Regierung, mag sie auch vom
besten Willen beseelt sein, die Stellung außerordentlich erschwert; es
wird damit aber auch das große, ohnehin in gewissen italienischen
Kreisen gegen uns bestehende Mißtrauen gerechtfertigt und das peremp-
torische Verlangen erzeugt, durch Gegenmaßregeln der von uns drohenden
Gefahr vorzubeugen.
Wenn sich einmal auch in maßgebenden Kreisen Italiens die Über-
zeugung festsetzt, daß bei uns eine Militärpartei existiert, welche den
Krieg mit Italien für unvermeidlich hält und ihn durchsetzen will, so
wird vor allem der Allianzgedanke, der in der letzten Zeit in allen
Schichten der Bevölkerung eine erfreuliche Stärkung erfahren hat, dar-
unter zu leiden haben.
Da ich nun die vornehmste Aufgabe darin erblicke, Friedens-
garantien zu schaffen und nach allen Seiten den Frieden zu erhalten,
so lange dies mit unseren Interessen und mit unserer Ehre vereinbar
ist, kann es mich nicht gleichgültig lassen, wenn durch forcierte
mihtärische Maßnahmen unsererseits in Italien eine dem Bundesverhält-
nisse hinderliche Stimmung erhalten wird, der sich auch die Regierung
nicht entziehen könnte.
Unter solchen Umständen müßten sich die Verhandlungen wegen
Erneuerung des Allianzvertrages schwierig gestalten und daß, wenn
eine solche nicht erfolgen sollte, die Möglichkeit einer feindseligen
Haltung Italiens sehr in die Nähe gerückt wäre, ist E. E. bekannt und
braucht nicht näher ausgeführt zu werden.
250
Eine gewisse Behutsamkeit in unserem Verhältnis zu Italien scheint
um so gebotener, als die Beziehungen zu Rußland noch nicht genügend
geklärt sind. Zwar weisen diese einen merklichen Fortschritt zum
Bessern auf, aber die in der Annexionskrise erlittene Demütigung ist
noch nicht vergessen und der Ausbruch einer Krise mit Italien würde
sicher die russische Diplomatie veranlassen, eine der Monarchie
wenigstens unfreundliche Haltung einzunehmen und einen eklatanten
Erfolg unsererseits über Italien zu vereiteln.
Von diesem Gesichtspunkte aus muß ich mich entschieden gegen
alle Vorkehrungen aussprechen, die nicht unbedingt notwendig sind und
eher die Tendenz verfolgen, unsere Machtmittel gegen Italien in einer
für dieses Land alarmierenden Weise auszugestalten.
Indem ich E. E. ersuchen darf, von diesen Ausführungen auch
Se. E. den Herrn Chef des Generalstabes in Kenntnis setzen zu wollen,
erneuere ich Hochdenselben den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hoch-
achtung.
Wien, am 22. JuU 1911. Ährenthal m. p.
An den Reichskriegsminister Freiherm Franz von Schönaich."
„Beilage 2 c.
An den Reichskriegsminister von Schönaich,
Wien.
Innichen, am 30. Juli 1911.
Indem ich mich beehre, das beiliegende Schreiben des Ministers
des Äußern zurückzustellen, füge ich demseben folgende Bemerkung bei:
Wenn Seine Exzellenz der Herr Minister des Äußern sich gegen
Vorbereitungen für »konkrete Kriege« wendet, so kann ich dem nur
entgegenstellen, daß es überhaupt nur Vorbereitungen zu konkreten
Kriegen gibt.
Sich gegen alle Nachbarstaaten gleichmäßig vorzubereiten, über-
schreitet die finanzielle Leistungsfähigkeit; insbesondere ein Staat, der
von allen Seiten umringt ist, muß sich klar werden, mit wem er in
absehbarer Zeit sicher nicht in den Krieg gerät, gegenüber welchen
Staaten aber diese Sicherheit nicht besteht. Konflikte mit letzteren
Staaten bilden also die konkreten Kriegsmöglichkeiten.
Wird zugestanden — und das ist im Schreiben des Ministers des
Äußern der Fall — daß diese Sicherheit gegenüber Italien nicht besteht,
dann muß eben die Vorbereitung für einen Krieg, auf den sich Italien
vorbereitet, wofür ich zahllose Belege beizubringen vermag, erfolgen.
251
Was die Anlage unserer Befestigungen betrifft, so sind diese unendlich
weit hinter den analogen Leistungen Italiens zurück; schon der jährliche
Fortifikationskredit von 30 Millionen Lire gegenüber den diesseitigen
von kaum 6 Millionen Kronen spricht deutlich; in gleicher Weise sind
die diesseitigen Truppenverlegungen ganz minimal gegenüber den offen-
kundig gegen die Monarchie gerichteten italienischen; auch alle anderen
militärischen Maßnahmen stehen weit hinter jenen Italiens zurück.
Niemand zielt hierseits darauf ab, in der öffentlichen Meinung den
Gedanken zu erwecken, daß der Krieg mit Italien eine beschlossene
Sache sei; dies verbietet schon die Klugheit, weil man wohl einen Krieg
nicht früher annonciert, sondern eher das Gegenteil tut, um eintreten-
denfalls mit den bereitgestellten Mitteln den Gegner möglichst zu über-
raschen.
Italiens Maßnahmen tragen deutlich diesen Charaktti, sind durch-
aus nicht bloße Gegenmaßregeln, mahnen vielmehr dringend dazu, mit
militärischen Gegenmaßnahmen eigenerseits nicht im Rückstand zu
bleiben; hiefür zu sorgen, ist die eminenteste Pflicht meiner Stellung.
Ich würde in dieser Hinsicht der schwersten Pflichtverletzung mich
schuldig machen, wenn ich mich durch irgendwelche Einflüsse ein-
schüchtern ließe, dieser Pflicht unentwegt nachzugehen.
Die Überzeugung von der Unvermeidlichkeit eines durch positive
eigene Interessen bedingten Krieges zwischen der Monarchie und Italien
hat in italienischen Kreisen — und zwar nicht nur in militärischen,
sondern auch in zivilen — unendlich viel mehr Anhänger als in der
Monarchie, obzwar auch in dieser Hmsicht sehr maßgebende nicht-
militärische Kreise von der schließlichen Unvermeidlichkeit dieses
Krieges überzeugt sind.
Will man nicht zu dem Mittel greifen, diesen Krieg im selbst-
gewählten Moment unter Ausnützung temporärer Überlegenheit zu
führen — und hierauf hat ja unsere Politik vor Jahren verzichtet — so
erübrigt nur, jene Maßnahmen zu treffen, welche als das Dringendste
der Vorbereitung zu einem solchen Kriege bezeichnet werden müssen.
Sie zu imterlassen, damit der italienischen Regierung die Stellung
nicht erschwert und die sehr problematische Friedensgeneigtheit Italiens
nicht irritiert werde, erschiene mir als unverantwortliches militärisches
Versäumnis, ganz besonders im vorliegenden Falle, welcher sich bereits
jetzt schon durch eigenes Zurückbleiben hinter den forcierten mili-
tärischen Maßnahmen Italiens charakterisiert.
Überdies bin ich der Ansicht, daß eine militärisch vorbereitete,
kraftvoll dastehende Monarchie viel eher die Allianzgeneigtheit Italiens
erreichen wird, als eine Monarchie, deren militärische Rückständigkeit
252
seitens der zweifellos klarblickenden militärischen Kreise Italiens sicher
erkannt wird; besonders gilt dies dann, wenn es sich bei den neu-
erfolgenden Allianz Verhandlungen um die Abgrenzung und Feststellung
gewisser Interessensphären und gegenseitige Konzessionen handeln wird.
Die von mir gestellten Forderungen sind nicht nur unbedmgt not-
wendig, sondern bezeichnen die äußerste Grenze des Dringendsten; das
Recht, sowie die Kompetenz, dies festzustellen, muß ich für mich in
Anspruch nehmen.
Wenn ich nun aus dargelegten Gründen dringend bitte, den von
mu* gestellten Forderungen zur Realisierung zu verhelfen, so befinde
ich mich ganz auf dem Standpunkt, welchen auch Seine Exzellenz der
Minister des Äußern laut des vorletzten Alineas seines Schreibens vom
22. Juli 1911 einnimmt, und kann daher letzteren nur bitten, diese
meine Forderungen zu unterstützen.
Ich kann nicht umhin, erneuert hervorzuheben, daß in Italien in
zielbewußt tendenziöser Weise selbst die allergeringfügigsten hier-
seitigen Maßnahmen ins Übertriebenste aufgebauscht werden, mit der
unverkennbaren Tendenz, sie bei uns zu hintertreiben und eigenerseits
erhöhten Maßnahmen zum Durchbruch zu verhelfen.
Dies zu verkennen, sich davon beeinflussen zu lassen, wäre ein
unverantwortliches Übersehen.
Ich sehe meine unverrückbare Pflicht darin, hinsichtlich der mir
obliegenden konkreten Kriegsvorbereitungen und im Sinne der mir
obliegenden Einflußnahme auf die Entwicklung der bewaffneten Macht
eine Situation anzustreben, welche es ermöglicht, daß diese bewaffnete
Macht im Momente der Gefahr, dessen Eintreten oder Nichteintreten
niemand abzusehen vermag, als verläßliche Stütze der äußeren Politik
zur Verfügung stehe.
Von diesem und nur von diesem Gedanken lasse ich mich bei der
mir obliegenden Berufstätigkeit leiten, nur in diesem Sinne habe ich
auch unter den Mitteln, den Ausbau der Wehrmacht zu fördern, die
patriotische Mitwirkung der Presse in Betracht gezogen.
Ich erlasse es mir, hinsichtlich der Tendenzen und Vorbereitungen
Italiens einerseits, der diesseitigen Rückständigkeiten anderseits, in
Details einzugehen, bin aber jederzeit bereit, wenn gewünscht, zahllose
Belege beizubringen.
Indem ich E. E. bitte, dieses Schreiben auch Seiner Exzellenz dem
Minister des Äußern zur Kenntnis zu bringen, erneuere ich E. E. den
Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.
Euer Exzellenz gehorsamster
C 0 n r a d, m. p., G. d. I."
253
„Beilage 3.
Tätigkeit der Irredenta seit dem Jahre 1908.
Obwohl von offizieller Seite immer wieder der Versuch gemacht
wird, die Existenz einer aktiven Irredenta zu leugnen oder zumindest
ihre Bedeutung abzuschwächen, und sie als eine rein kulturelle Bewe-
gung hinzustellen, läßt sich im Gegenteile unwiderleglich konstatieren,
daß die irredentistische Bewegung in den letzten Jahren mehr denn je
erstarkt ist und immer weitere Kreise für ihre austrophoben Tendenzen
zu gewinnen versteht.
Wenn man bedenkt, daß der Geist der Irredenta zum ersten Male
zur Zeit der Aufrollung der orientalischen Frage im Jahre 1877 in
wahrnehmbarer Form in den Vordergrund trat, so darf es einem nicht
wundernehmen, daß die Annexion des Okkupationsgebietes im
Jahre 1908 die wildesten Kundgebungen irredentistischer Natur aus-
löste. Nicht nur, daß die Presse in leidenschaftlicher Sprache Kompen-
sationen für den Machtzuwuchs verlangte, den Österreich-Ungarn
durch die Annexion erfahren hatte, und deswegen der Regierung
Schwäche und gröbste Fahrlässigkeit vorwarf, jüngere Elemente
scheuten sich auch nicht, offen gegen uns aufzutreten und fraternisierten
in Belgrad mit den Serben (Bericht K. Nr. 1577), ja ein serbischer
Oberst konnte sogar unter moralischer Beihilfe der Irredenta in Rom
Freischaren für Serbien organisieren (Bericht K. Nr. 2003/08), welche
tatsächlich zur Aufstellung gelangten.
Von sonstigen im Jahre 1908 stattgefundenen, mit der Annexions-
krise nicht in Zusammenhang stehenden irredentistischen Kund-
gebungen seien kurz folgende erwähnt:
Demonstration Triestiner Studenten bei einem Ausfluge des Trie-
ster patriotischen Vereines »Andreas Hofer«, sowie Teilnahme von
Triestiner Lehrern an Garibaldi-Feiern in Mte Suello und Caffaro
(Bericht K. Nr. 225/08).
Demonstrationen bei der »festa delle Statuto« in Udine (Bericht
K. Nr. 1022/08).
Demonstrationen, provoziert durch Triestiner Irredentisten, anläß-
lich der Anwesenheit einer Bersaglieri-Abteilung in Pontebba (Bericht
Nr. 1319/08).
SchmähartLkel des Blattes »Giovine Italia« über den Wiener Jubi-
läumsfestzug (Bericht K. Nr. 11.770/08).
Irredentistische Reden bei den Regatten in Salö (Bericht K.
Nr. 1323/08).
254
Irredentistische Rede des Abgeordneten Brunialti bei der Eröffnung
der neuen Asticobrücke (Bericht K. Nr. 1699/08).
Von auffallenderen irredentistischen Kundgebungen im Jahre 1909
sind zu erwähnen:
Die heftigen Presseangriffe wegen Fehlens unserer Kriegsschiffe
bei den Rettungsarbeiten in Messina (Attache-Bericht Nr. 38/09),
wozu noch seitens mehrerer Blätter die schändliche Verleumdung hinzu-
kam, daß sich die österreichische Armee über die Hekatomben der Erd-
bebenkatastrophe wie über den Erfolg einer gewonnenen Schlacht freue.
Die intransigente Haltung der gesamten italienischen Presse im
weiteren Verlaufe der Balkankrise, dann in der damals wieder akut
gewordenen italienischen Universitätsfrage (Attache-Bericht Nr. 38/09).
Ete Festlichkeiten anläßlich der fünfzigjährigen Gedenkfeier des
Kriegsjahres 1859, bei denen irredentistische Studenten und Sportver-
eine des Trentino teilnahmen (Bericht K. Nr. 2382/09) und die mit den
auf tendenziös gewähltem Terrain — Mincio-Hügelland — abgehaltenen
Königsmanövern ihren Abschluß fanden (Attache-Bericht Nr. 38/09).
Ein an diesen Manövern als Zuseher teilnehmender ö.-u. Offiz-er
berichtet, daß die Nordpartei, als die »Austriaci« bezeichnet, von den
Soldaten der anderen Partei bei Zusammenstößen mit den ärgsten
Beschimpfungen empfangen wurde, was für den austrophoben Geist der
Armee charakteristisch ist (Bericht Evb. Nr. 1900/09).
Die irredentistische Rede des Korpskommandanten von Mailand,
Generalleutnant Asinari di Bernezzo, zu Brescia, gelegentlich der
Übergabe der Standarte an das neuerrichtete Kavallerieregiment Aquila
am 11. November. Der General wurde auf Grund dieser gegen Öster-
reich aufhetzenden Rede offiziell wohl durch Pensionierung gemaß-
regelt, erlangte aber gerade hiedurch noch größere Popularität: er
wurde von allen irredentistischen Vereinen zum Ehrenmigtlied ernannt
und sogar durch Widmung eines Ehrensäbels geehrt (Bericht Evb.
Nr. 2214, 2265, 2323 und 2328 von 1909).
Im Jahre 1910:
Am 14. Jänner Vorlesung des Poems »Ricordi e voti all Imperatore
d' Austria«, eines niederträchtigen Pamphlets eines gewissen Cristofferi,
im Ateneosaale in Venedig. Das Gedicht wurde dann in mehreren Auf-
lagen vom Vereine Trento-Trieste ausgegeben (Bericht K. Nr. 3935
von 1910).
Irredentistische Rede Gabriele d' Annunzios am 22. Feber
gelegentlich einer in Venedig abgehaltenen Konferenz üt>er Luftschiff-
fahrt (»Neue Freie Presse« vom 23. Feber 1910).
255
Demonstrationen anläßlich des Besuches Paduaner Studenten in
Triest; gehässige Besprechung der diesbezüglichen Maßnahmen der
österreichischen Behörden durch die italienische Presse (Attache-Bericht
Nr. 2/VI von 1910).
Antiösterreichische Demonstrationen gelegentlich des Besuches
ungarischer Studenten in Ancona (Attache-Bericht Nr. 2/VII).
Besuche der Triestiner Irredentisten in Mailand und Rom (Attache-
Bericht Nr. 2/VII und 2/VIII).
Verbreitung des Gerüchtes unter der Grenzbevölkerung über die
Abtretung des Trentino beim Ableben Seiner Majestät (Bericht Nr. 3236
von 1910).
Die Cima dodici-Affäre (Bericht K. Nr. 3433 und 3470 von 1910).
Die gehässigen Kommentare vieler Blätter anläßlich der Minister-
Entrevuen in Salzburg und Turin.
Ausgabe von Zündholzschachteln zu Propagandazwecken, auf
denen eine Karte Oberitaliens mit den im irredentistischen Sinne rekti-
fizierten Grenzen dargestellt war. Trotz dieser unverkennbar aggres-
siven Tendenz wurden diese Schachteln, mit dem königlich italienischen
Monopolstempel versehen, in Umlauf gebracht (Bericht K. Nr. 2884/10,
R.-K.-M.-Erlaß Präs. 10.217 von 1910).
Artikel des Generals Fadda in der »Tribuna« vom 2. Nov. 1910,
in welchem derselbe der sicheren Erwartung Ausdruck verleiht, daß die
ö.-u. Matrosen italienischer Nationalität sich im Ernstfälle begeistert
ihren italienischen Brüdern anschließen würden.
Konstituierende Versammlung des irredentistischen Vereines
>Associazione studenti tridentini« in Trient (25. und 26. September), an
der auch der bekannte Nationalist Sighele teilnahm, und bei welcher
die ärgsten irredentistischen Reden gehalten wurden (Bericht Nr. 3999
von 1910).
Nationalisten-Kongreß in Florenz (3. bis 5. Dezember), auf wel-
chem die heftigsten Angriffe gegen die Monarchie vorkamen (Attache-
Bericht Nr. 2/IX, dann Bericht K. Nr. 4176 von 1910).
Im Jahre 1911:
Demonstrationen bei den Aufführungen des anfangs verbotenen,
später unter parlamentarischem Druck aber freigegebenen politischen
Dramas »Romanticismo« von Rovetta, welches Ausfälle gegen die Mon-
archie enthält (Attache-Bericht Nr. 2/IV von 1911).
Ausstellung der »Trento-Trieste« in Turin, bei welcher außer
Photographien aus den >terre irredente« auch die verschiedensten Pro-
pagandaartikel und Flugschriften irredentistischen Inhalts verkauft
256
wurden; eine von der Regierung versuchte Pression zum Aufgeben des
Gedankens einer solchen Ausstellung hatte keinen Erfolg (Attache-
Bericht Nr. 2/1 von 1911).
Heftige Pressekampagne gegen die beabsichtigte Einführung
einer österreichischen Schiffahrtslinie am Gardasee im Jänner d. J.
(Bericht Evb. Nr. 107 von 1911).
Am 19. März feierliche Übergabe der von den Frauen Roms der
>Trento e Trieste« gewidmeten Fahne; das Fahnenband ein Geschenk
von Triester Frauen (Bericht Evb. Nr. 53 von 1911).
Demonstration des Vereines >Trento e Trieste« bei der Eröffnung
der ethnographischen Ausstellung durch den König am 21. April
(Attache-Bericht Nr. 2/VI von 1911).
Demonstration desselben Vereines nach der Ausstellungseröffnung
vor dem Garibaldidenkmal (Attache-Bericht Nr. 2/VI von 1911).
Verteilung irredentistischer aufhetzender Proklamationen durch die
»Trento e Trieste« bei der Enthüllung des Denkmals von Viktor
Emanuel am 4. Juni (Bericht K. Nr. 2085 von 1911).
Tumultuarische Studentendemonstrationen in Pisa anläßlich einer
Curtatonefeier am 29. Mai, welche in ganz Italien lebhaftesten Wider-
hall fand und unter anderem in Messina zur öffentlichen Verbrennung
einer Fahne führte (»Tribuna« vom 31. Mai und 2. Juni, »Adriatico«
und »Secolo« vom 31. Mai und 2. Juni).
Außer den im Vorstehenden angeführten Tatsachen muß noch eine
sich alljährlich wiederholende Kundgebung irredentistischer Natur
erwähnt werden: die Abhaltung von Gedenkfeiern am Todestage des
als »Märtyrer« verherrlichten Attentäters Oberdank (20. Dezember).
Auf die deshalb bei der italienischen Regierung erhobenen offiziellen
Vorstellungen erklärte letztere, »nicht in der Lage zu sein, gegen diese
Kundgebungen einzuschreiten« (Reichskriegsministerium-Erlaß zu Präs.
Nr. 53 von 1911).
Wiewohl die bis nun angeführten Daten, welche lediglich eine kleine
Auslese aller irredentistischen Kundgebungen der letzten Jahre dar-
stellen, die Existenz und die große Bedeutung der Irredenta zur Genüge
erhärten, so erhält man doch erst ein richtiges Bild von der gewaltigen
Ausbreitung dieser Bewegung, wenn man die Tätigkeit der irredentisti-
schen Vereine und ihrer Presse in Betracht zieht.
Die drei großen irredentistischen Vereine: die >Lega nazionale«, die
>Dante Alighieri« mit dem Unterverein >Sursum Corda« und die
>Associazione pro Trento e Trieste« treiben eifrigst Propaganda und
mehren jährlich die Zahl ihrer Mitglieder; ihre Tätigkeit dehnt sich
auch auf unsere italienischen Sprachgebiete aus, wo namentlich die
17, Conrad II 257
heranwachsende Jugend die eifrigsten Parteigänger dieser gegen Kaiser
und Reich gerichteten Bewegung beistellt. Nach Dr. W. Rohmeder
(München) soll die >Associazione pro Trento e Trieste« derzeit auf
österreichischem Boden allein etwa 60.000 Mitglieder und 180 Orts-
gruppen besitzen, welche jährlich 180.000 Kronen an Beiträgen zahlen
(»Kölnische Zeitung« vom 18. März 1911). Die >Dante Alighieri«,
welche nach offiziellen Daten angeblich in Österreich keine Vereins-
tätigkeit entwickelt, besitzt unter ihren 250 Ortsgruppen fünf mit
eigenem Statut (Ravenna, Udine, Ancona, Brescia und Turin), welchen
die Tätigkeit in Österreich obliegt; überdies besitzt dieser Verein zahl-
reiche Vertrauensmänner in Österreich (R.-K.-M.-Erl. Präs. Nr. 4053
von 1910).
Außerdem wurde in diesem Jahre — eine Frucht des vorjährigen
Nationalisten-Kongresses — noch ein neuer irredentistischer Verein
gegründet, die »Associazione nazionalista« (Sitz des »Comitato centrale«
in Rom),
Den besten Beweis für die Fortschritte, welche die irredentistische
Bewegung dank der regen Tätigkeit dieser Vereine in den letzten Jahren
gemacht hat, liefern die führenden Blätter der Partei: »La grande
ItaUa«, »II mare nostro«, »II Principe«, »II Caroccio«, »L' idea nazio
nale« u. a., welche alle erst in den letzten zwei Jahren gegründet wur-
den, und zu denen sich noch zahlreiche andere, immer neu erscheinende
periodische und nichtperiodische Druckschriften gesellen. Die Schreib-
weise dieser Blätter, die man nach Entziehung des Postdebits unter
falschem Namen in Österreich emzuschmuggeln sucht (»La grande
Italia« unter dem Namen »Crepuscolo«, den »Caroccio« unter dem
Namen »Alba«), zeigt einen grenzenlosen Haß gegen Österreich und
sein Herrscherhaus und macht in unverhüllter, maßlosester Weise für
die irredentistischen Ideen Propaganda.
Eine weitere Kräftigung hat der Irredentismus in Italien in den
letzten Jahren auch dadurch erfahren, daß die dortigen Sportvereine,
welche im regsten Kontakt mit den vorangeführten, rein politischen Ver-
einen stehen, von der Heeresverwaltung für die Zwecke der Landesver-
teidigung dienstbar gemacht werden; sie werden militärisch organisiert
und sind für eine Verwendung als Freischaren im Kriegsfalle aus-
ersehen. Die solchen Formationen abgehende Disziplin wird durch das
Bindemittel der gemeinsamen Idee — der Begeisterung zum Irredentis-
mus — ersetzt.
Der im Vorjahr beim Wiener Landesgericht beendete Spionage-
prozeß gegen Josef Colpi und Genossen hat ergeben, daß auch in Süd-
tirol in den Sportvereinen irredentistische Elemente die Hauptrolle
258
spielen, daß sie mit Erfolg junge Leute unter dem Deckmantel des
Sports dem Irredentismus zuführen und daß diese Vereine mit den Sport-
vereinen in Italien in engster Fühlung stehen. Es ist auch eine notorische
Tatsache, daß sportliche Festlichkeiten in Italien fast immer zu anti-
österreichischen Demonstrationen führen, und daß ebenso auch bei sport-
lichen Anlässen in Südtirol fast nie die irredentistische Note fehlt.
Endlich darf bei Beurteilung des Einflusses der Irredenta auf das
politische Leben Italiens nicht übersehen werden, daß sicherlich die
durch diese Agitation in den breiten Bevölkerungskreisen hervor-
gerufene antiösterreichische Strömung mit ein treibender Faktor bei der
glatten Bewilligung der bedeutenden Forderungen war, mit welchen
die Heeresverwaltung in den letzten Jahren an das Parlament heran-
getreten ist.
Aus all dem Gesagten geht hervor, daß trotz der von offizieller
Seite vorgebrachten gegenteiligen Darstellungen doch ein großer Teil
der erwachsenen Bevölkerung Italiens, jedenfalls aber die gesamte her-
anwachsende Jugend aller Bevölkerungsschichten, in unzweideutiger
Form und ganz unverhohlen eine aggressive Tendenz gegen Österreich-
Ungarn verfolgt, die in der »Erlösung«, der >terre irredente«, welche der
bekannte Nationalist Professor Sighele als »terre date in usufrutto ad
un altra nazione« (einer anderen Nation lediglich zum Nutzgenuß über-
lassenes Gebiet) bezeichnet, ihr Endziel und ihre heiligste patriotische
Pflicht erblicken.
Wien, am 2. September 1911. ^ ^ j_ r- ^ t
' ^ Conrad m. p., G. d. I.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstlt."
„Beilage 4.
Drina-Reguherung.
Bemerkung
zum Geschäftsstück Präs. Nr. 8194 von 1911.
Ich kann nur wiederholen, daß vom Standpunkt der Wahrung wich-
tiger Interessen im Alarmierungs- (Mobilisierungs-) Falle lediglich eine
solche Lösung der Grenzfrage militärisch annehmbar ist, bei welcher
a) entweder seitens Serbiens die 1883/84er Grenze anerkannt wird,
oder
b) Serbien im Einvernehmen mit der Monarchie eine Drina-Regu-
lierung durchführt und den aus der Drina-Regulierung resultieren-
den Talweg als Staatsgrenze anerkennt. Hiebei wäre es militärisch
17'
259
akzeptabel, daß der Talweg der regulierten Drina im Staraca-Bett
führt.
Ich muß darauf hinweisen, daß diese Angelegenheit durch den
beabsichtigten Bau einer Normalbahn Raca — Bjelina— Cehc noch an
Bedeutung gewinnt.
Ich bitte, das Ministerium des Äußern aufmerksam machen zu
wollen, daß die dortige Ansicht, mit Rücksicht auf das >Kräfteverhält-
nis« der beiden Armeen sei der Grenzfrage geringere militärische
Bedeutung beizulegen, nicht als Argument gelten könne.
Zur Beurteilung einer solchen Frage gehören konkrete Detailkennt-
nisse, welche dem Ministerium des Äußern fehlen.
Doch möchte ich meinerseits betonen, daß alle diese Grenzfragen
um so größere militärische Bedeutung gewmnen, je weniger aktiv unsere
äußere Politik ist und je mehr vorauszusehen ist, daß in kritischer Zeit
die Verstärkung und Kenzentrierung von Truppen in bedrohten Orenz-
räumen aus Gründen der äußeren Politik Verzögerungen erfährt.
Zu meiner Stellungnahme veranlaßt mich aber nicht nur die Not-
wendigkeit, militärische Interessen des Alarmierungs- und Mobilisie-
rungsfalles zu wahren, sondern auch die Üterzeugung, daß durch den
bedingungslosen Vorschlag des Ministeriums des Äußern, das Insel-
gebiet östlich Bjelina definitiv an Serbien abzutreten, unser Prestige
empfindlich geschädigt und — was am Balkan tür den Kriegsfall von
ausschlaggebender Bedeutung ist — das serbische Selbstgefühl außer-
ordentlich gesteigert würde, weil die ganze Aktion den berechtigten
Eindruck erwecken müßte, daß unser Verhalten unkonsequent und
schwächlich ist und zweifellos als schmählicher Rückzug aufgefaßt
und als solcher überall ostentativ affichiert werden würde.
Unser Minister des Äußern hebt selbst hervor, daß die serbische
Regierung »Zuflucht« genommen habe zu einer Interpretation des Ber-
liner Vertrages, die als unhaltbar zu bezeichnen sei. Um dieser Über-
zeugung vom eigenen Recht noch den Rückhalt einer streng objektiven
und unparteiischen Prüfung zu geben, hat es das Ministerium des
Äußern für gut befunden, die ganze Aktion aus dem Kreis intermini-
sterieller Besprechungen herauszutragen und das Gutachten eines Mit-
gliedes des internationalen Schiedsgerichtshofes im Haag einzuholen.
Dieses Gutachten, dem nun wohl autoritativer Wert beigemessen
werden soll, charakterisiert die Beweisgründe der serbischen Note als
völlig haltlos, so daß das Ministerium des Äußern selbst zur Folgerung
gelangt, daß bei konsequenter Durchführung der gegebenen Rechts-
grundlage die Inseln östlich Bjelina nicht bei Serbien verbleiben könn-
260
ten und daß diese Gesichtspunkte auch der Beantwortung der serbischen
Note zugrunde gelegt werden müssen.
Aus dieser Genesis der ganzen Aktion kann wohl nur die eine
Annahme resultieren, daß das Ministerium des Äußern nunmehr,
gestützt auf das Bewußtsein eines im Jahre 1878 unter schwierigen Ver-
hältnissen erworbenen Rechtes, die eigenen Interessen mit Energie ver-
treten und auf der Revindizier ung des strittigen Gebietes bestehen werde.
Ich bin daher überrascht und empfinde es als Chef des General-
stabes der bewaffneten Macht geradezu peinlich, daß das Ministerium
des Äußern den Vorschlag macht, mit Rücksicht auf vorübergehende
Schwierigkeiten die strittigen Gebiete einfach definitiv abzutreten, ohne
eine wirkliche Gegenleistung zu verlangen, und zwar trotz der zweifel-
losen Schädigung militärischer Interessen.
Die Besorgnis, daß das Festhalten an den bezüglichen Ansprüchen
zu Weiterungen führt, möge man Serbien überlassen, hingegen wäre es
eben Aufgabe der Diplomatie, auf Grund des nunmehr autoritativ
konstatierten eigenen Rechtes und im Bewußtsein des Rückhaltes durch
unsere effektive Macht, unsere Ansprüche auch auf gütlichem Wege
durchzusetzen, wozu ja durch die Möghchkeit einer in dem Staraca-Bett
geführten Drina-Regulierung die beste Handhabe geboten ist.
Sollte der gütliche Weg aber nicht zum Ziele führen, dann wäre
vor der gewaltsamen Geltendmachung zweifellosen Rechtes nicht zurück-
zuschrecken.
Ich komme dabei sowohl vom rein militärischen Gesichtspunkte,
als auch vom Standpunkte des staatlichen und militärischen Prestiges
zu dem Schluß, daß für den Fall, als eine Grenzregulierung auf den
von mir angegebenen Grundlagen nicht zu erreichen wäre, von einer
Grenzregulierung überhaupt ganz abzusehen wäre, und daß es im
weiteren Verlauf uns nicht schwer fallen würde, die Nachteile eines
solchen, durch serbisches Verschulden ungeklärten Besitzstandes den
Nachbarstaat fühlen zu lassen.
Schließlich möchte ich noch vom rein militärischen Standpunkte
erklären, daß durchaus kein Nachteil darin läge, wenn infolge von
Grenzstreitigkeiten einzelne Garnisonen der 11. Gebirgsbrigade fall-
weise, auch überraschend, zu besonderer Tätigkeit herangezogen würden,
da solche Zwischenfälle nur geeignet erschienen, stagnierende Ruhe zu
unterbrechen, militärischem Geist neue Impulse zu geben und die Vor-
bereitungen für den Alarmierungs- und Mobilisierungsfall geradezu zu
261
fördern; dagegen erkläre ich es nochmals als schwerwiegenden mili-
tärischen Nachteil, wenn serbisches Gebiet am Westufer des Haupt-
gerinnes der Drina anerkannt würde.
Wien, 8. Juli 1911. Conrad m. p., G. d. I.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstlt."
„Beilage 5 a.
Während ich einer gefälligen Äußerung E. E. auf meine Note
vom 13. d. Mts. Nr. 1614 entgegensehe, beehre ich mich, Hochdieselben
davon zu benachrichtigen, daß nach einer Meldung des k. u. k. Bot-
schafters am königlich italienischen Hofe italienische Zeitungen Mit-
teilungen über eine Grenzverletzung auf der Cima Mandriolo bringen,
die nach der vorabgegebenen Erklärung stattgefunden haben soll. Des-
gleichen sprechen sie auch von ähnlichen Vorfällen, die sich, wie E. E.
bereits wissen, bei Paularo, ferner bei Val Piccolo und am Monte Hulon
ereignet haben sollen.
Diese Behauptungen werden sich wohl als irrig erweisen lassen,
da nicht angenommen werden kann, daß die an der Grenze dislozierten
Truppenkommanden sich in so zahlreichen Fällen über die ihnen erteil-
ten strengen Weisungen hinweggesetzt haben sollen.
Aus einer Beilage der geschätzten Note vom 10. Juli 1. J.,
Präs. Nr. 8653, habe ich entnommen, daß die auf der Cima Mandriolo
errichtete Schutzhütte für die im Mobilisierungsfall dortselbst
etablierte Offiziers-Femsichtpatrouille bestimmt war.
Die Mitteilung läßt vermuten, daß der betreffende Befehl vom
k. u. k. Generalstab ausgegangen ist.
Es wäre mir nun von Interesse, zu erfahren, ob hier nur ein ver-
einzelter Fall vorliegt, wie ich hoffe, oder ob etwa von derselben Seite
allgemeine Weisungen an die Grenztruppen behufs Vornahme ähnlicher
Vorkehrungen ergangen sind, die der mit der königlich italienischen
Regierung abgemachten Vereinbarung direkt widersprechen würden.
Ich beehre mich E. E. zu ersuchen, mir hierüber eine gefällige Mit-
teilung zukommen lassen zu wollen.
Wien, am 22. Juli 1911. Ähren th a 1 m. p.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstlt.
An den Reichskriegsminister Schönaich."
262
„Beilage 5 b.
Chef des Generalstabes.
Res. Glst. Nr. 3091.
Bemerkung
zum Geschäftsstück Präs. Nr. 9328 von 1911.
Das k. u. k. Reichskriegsministerium hat mit dem Erlasse
Präs. Nr. 5914/1 von 1911 an das 3. und 14. Korpskommando den
Befehl erteilt, »strenge darauf hinzuwirken, daß Grenzzwischenfälle
nicht vorkommen und Grenzüberschreitungen unbedingt vermieden
werden«.
Selbstverständlich habe auch ich weder an die Truppen noch höhere
Kommanden Befehle gegeben, welche diesem Erlasse widersprechen
würden.
Demgemäß ist der Versuch des Ministeriums des Äußern, die
Grenzzwischenfälle auf Weisungen des Generalstabes zurückzuführen,
sowie jede Verquickung von Grenzüberschreitungen mit den von mir
ausgegebenen Alarmweisungen unzulässig.
Welche Weisungen bezüglich der Vorsorgen für den Alarm an die
Truppen ergangen sind, entzieht sich der Ingerenz des Mmisteriums des
Äußern.
Jeden Versuch einer Einmengung in diese rein militärischen
Angelegenheiten, sowie einer Kontrolle derselben müßte ich entschieden
zurückweisen, was ich bitte, dem k. u. k. Ministerium des Äußern zur
Kenntnis zu bringen.
Zur ausschließlichen Orientierung des Reichskriegsministeriums
erlaube ich mir mitzuteilen, daß von mir Weisungen bezüglich des
Baues von Schutzhütten für Beobachtungsoffiziere oder dergleichen
nicht ergangen sind.
Der Bau der im Stücke erwähnten Hütte scheint auf die sehr
anerkennenswerte Initiative jenes Kommandanten erfolgt zu sein,
welcher in diesem Abschnitte im Ernstfalle zu wirken berufen ist. Es
ist nur bedauerlich, daß durch die Unkenntnis des Grenzzuges eine an
sich so dankenswerte selbständige Haltung eine so unangenehme Kon-
sequenz — wie es die gezwungene Abtragung der Hütte ist — nach
sich zieht, und welche eventuell geeignet ist, den bei unsern braven
Grenztruppen herrschenden initiativen Drang nach Betätigung zu
lähmen.
Findet es das Reichskriegsministerium unerläßlich, das 3. und
14. Korpskommando über eventuell ergangene Verfügungen wegen
263
Erbauung von Beobachtungsständen zu befragen, so bitte ich zur
Wahrung des in den ergangenen Alarmweisungen festgehaltenen Grund-
satzes, daß Korrespondenzen, den Alarm betreffend, ausschließlich mit
dem Chef des Generalstabes zu führen sind, und in Konsequenz des
neu verfaßten Dienstbuches J. I b § 2, Pkt. 7, vorletzter Absatz, daß
»alle auf operative Instruktionen für die Alarmierung, Sicherung der
Mobilisierung und des Aufmarsches oder für den Grenzschutz gegrün-
deten Meldungen und Anträge in eigenen Berichten an den Chef des
Generalstabes zu behandeln sind«, diese Frage an mich zu richten,
worauf ich das Erforderliche veranlassen werde.
Wien, am 2. August 1911. ^ , ^ j r
Conrad m. p., G. d. I.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstlt."
Chef des Generalstabes. „Beilage 6.
K. Nr. 2913.
Zu Reichskriegsministerialerlaß Präs. Nr. 10.013 von 1911.
In diesem Jahre wurde kein Offizier, weder in vertraulicher noch
in offizieller Eigenschaft nach Serbien entsendet.
Die bezüglichen Behauptungen serbischer Blätter und serbischer
Regierungsorgane sind daher in die Augen springende Lügen.
Zur Charakterisierung dieser haltlosen Beschuldigungen serbischer-
seits will ich nur anführen, daß mit Ausnahme des Oberleutnants
Rajakovic, der kein Generalstabsoffizier ist, seit der Annexionskrise, also
seit drei Jahren, kein Offizier nach Serbien entsendet wurde.
Über den Fall Rajakovic habe ich seinerzeit dem Reichskriegs-
ministerium eingehend berichtet und ist daher bekannt, daß dem
genannten Offizier gelegentlich einer Privatreise vom Landes-
beschreibungsbureau einige Aufträge bezüglich Beschaffung rein topo-
graphischer Daten gegeben wurden, wobei er vor seinem Abgehen
speziell belehrt wurde, daß es auf Erkundung geheimer militärischer
Angelegenheiten nicht anzukommen hat.
Dies war also die ganze Spionagetätigkeit ö.-u. Offiziere in Serbien.
Trotzdem benützt die serbische Presse seit Jahren jeden, auch den
geringfügigsten und nichtigsten Vorwand, um kontinuierlich Beschuldi-
gungen gegen ö.-u. Offiziere wegen Spionage zu erheben. Jede Woche
erscheinen bezügliche Artikel in den Spalten der serbischen Zeitungen.
264
So werden z. B. Privat- und dienstliche Reisen von Offizieren auf
ö.-u. Schiffen an der unteren Donau in den serbischen Blättern als
Spionagetätigkeit bezeichnet; in gleicher Art wird auch jede Übung
unserer Grenzgarnisonen charakterisiert.
Das »Mali Zurnal« und die »Politika« sind vielgelesene Hetz-
blätter, die durch ihre frechen und rüden Angriffe gegen die Monarchie,
sowie gegen Seine Majestät und das Allerhöchste Kaiserhaus im In-
und Ausland genugsam bekannt sind und hieramts längst als plumpe
Düpierungen erkannt wurden.
Das k. u. k. Ministerium des Äußern sah sich während und nach
der Krise wiederholt veranlaßt, gegen die Sprache dieser Blätter bei
der serbischen Regierung Vorstellungen zu erheben. Letztere drückte
bei solchen Gelegenheiten auch ihr Bedauern aus, mit dem Beifügen,
daß sie nach dem serbischen Preßgesetze nicht in der Lage sei, gegen
diese Pressetreibereien einzuschreiten.
Dieselbe serbische Regierung nimmt aber jetzt keinen Anstand,
die Ausführungen gerade dieser Blätter zum Ausgangspunkte von
Rekriminationen bei der k. u. k. Vertretung zu nehmen.
Die k. u. k. Vertretung in Belgrad führt sogar selbst aus, daß es
nicht ausgeschlossen sei, daß die Artikel der »Politika« von der serbi-
schen Regierung selbst inspiriert wären, und daß neuerdings eine
Spionagehetze, die geeignet wäre, eine Schädigung unseres Handels
nach sich zu ziehen, inauguriert werden könnte.
Ich habe bereits Mitte Juli, also noch vor Erscheinen dieser
Artikel, auf eine bezügliche mündliche Anfrage, die Seine Exzellenz der
Herr k. u. k. Sekticnschef Baron Rhemen im Auftrage Seiner Exzellenz
des Herrn k. u. k. Ministers des Äußern gestellt hat, demselben durch
den Generalmajor Csoban mündlich mitteilen lassen, daß heuer über-
haupt kein Generalstabsoffizier nach Serbien entsendet worden ist. Hie-
durch war der k. u. k. Regierung die Handhabe geboten, sofort und
unmittelbar bezügliche Anfragen und Rekriminationen der serbischen
Regierung als haltlose Anschuldigungen von der Hand zu weisen.
Wien, am 24. August 1911. ^ , n a t
' ^ Conrad m. p., G. d. L
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstl."
265
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, Emilio Maggie
, Paul Bartmann
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Luigi Dante
, Otto Tomassini
, Adolf Kretschmar
, Erich Protivensky
, Hans Cords
. Edmund Simonides
. Josef Ruvoös
, Johann Knitsch
, Ladislaus Dekiert
Marian Koslowski
Wladislav Bakalarcz
Heinrich Religa
Johann Rabinovicz
Josef Jeczes
, Adam Pitkowski
Johann Souta
Johann Komarowsk
. Miecislaus Kuszmaji
, Franz Kaplanski
. Eugenie Bendak
. Wladimir Dobrzans
. Adolf Kretschmar
, Aurel Milobedzki
. Iwan Nowosiolow
, Wladimir Wierzbick
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266
Chei des Generalstabes. „Beilage 8 a.
K. Nr. 1585.
Bemerkung
zum Einsichtsakt des R. K. M. Präs. Nr. 5254 von 1911.
Es ist mir ganz unverständlich, wie der k. u. k. Botschafter in Rom,
dem ja die große Zahl der in Österreich-Ungarn erfolgten Aburteilungen
italienischer Spione nicht unbekannt geblieben sein kann, von der Lang-
mut der italienischen Regierung zu sprechen vermag.
Solche Anschauungen erscheinen geeignet, das schwere Bedenken
zu rechtfertigen, daß die Interessen der Monarchie nicht jene energische
Vertretung finden, wie sie v/ohl jeder andere Staat von seinen bezüg-
lichen Funktionären voraussetzt.
Ich bitte, beim Ministerium des Äußern in diesem Sinne vorstellig
zu werden.
Wien, am 3. Mai 1911. Conrad m. p., G. d. I.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstl."
„Beilage 8 b.
Anläßlich der Rücksendung eines Berichtes des k. u. k. Bot-
schafters beün königlich italienischen Hofe über die wegen Spionage
erfolgte Verhaftung eines ungarischen Staatsangehörigen haben E. E.
mir auch eine diesbezügliche Einsichtsbemerkung des Herrn Chefs des
Generalstabes zur Kenntnisnahme übermittelt (Nr. 5254 de praes.
26. Juli 1911).
Ich halte es für meine Pflicht, diese in erster Linie gegen einen
hochverdienten Beamten meines Ressorts gerichtete Bemerkung auf das
entschiedenste zurüciczuweisen.
Vor allem muß konstatiert werden, daß dem k. u. k. Botschafter in
Rom die Zahl der in letzter Zeit in Österreich-Ungarn erfolgten
Aburteilungen italienischer Spione nicht bekannt war und auch nicht
bekannt sein konnte, da diese Fälle bisher weder dem k. u. k. Ministerium
des Äußern, noch der k. u. k. Botschaft regelmäßig und fortlaufend
notifiziert werden. Bezüglich der fraglichen Liste selbst, sowohl der
allenfalls in derselben Zeit in Italien stattgehabten Verurteilung von
österreichischen oder ungarischen Staatsangehörigen behalte ich mir
vor, eventuell noch auf den Gegenstand zurückzukommen.
Weiter möchte ich hervorheben, daß die Redewendung »Langmut
der italienischen Regierung« sich darauf bezog, daß damals in Italien
267
innerhalb eines Monats bereits der dritte Fall sich ereignete, wo ein
wegen Spionage verhafteter Kundschafter sich direkt an die k. u. k. Ver-
tretungsbehörden um Hilfe wandte und dieselben gewissermaßen in den
Fall mit hineinzog. Dies war für den k. u. k. Botschafter um so
kompromittierender, als es sich ja in allen drei Fällen tatsächlich um
Kundschafter handelte, deren Beziehungen zu den k. u. k. Militär-
behörden der königlich italienischen Regierung im Laufe der gericht-
lichen Untersuchung wohl kaum verborgen bleiben dürften. Der Herr
Botschafter mußte daher mit Recht befürchten, daß, wenn sich dies
wiederholen sollte, die königlich italienische Regierung schließlich denn
doch alle diese Vorkommnisse zum Gegenstand einer Demarche machen
könnte.
Es ist daher nur erklärlich, wenn Herr von Merey, von dem
Wunsche beseelt, seine ersprießliche Tätigkeit und seine Stellung gegen-
über der königlich italienischen Regierung nicht durch derartige
Zwischenfälle ernstlich gefährdet zu sehen, in vielleicht etwas allzu
drastischen Worten auf die Notwendigkeit hinwies, dem Kundschafter
entsprechende Instruktionen zukommen zu lassen.
Geradezu unfaßlich ist es aber, wieso aus einem so nebensächlichen
Umstände des besser oder weniger glücklich gewählten Wortes ein so
schwerer Vorwurf gegen einen durchaus auf der Höhe seiner Aufgabe
stehenden diplomatischen Vertreter Seiner Majestät, ja gegen die
gesamte Leitung der auswärtigen Politik der Monarchie deduziert
werden kann,
Herr von Merey ist kein Neuling m seinem Berufe. Alle, die
Gelegenheit hatten, ihm dienstlich näher zu treten, müssen dessen
hervorragenden Eigenschaften Gerechtigkeit widerfahren lassen, sowie
seine hohe Begabung, Tüchtigkeit, Erfahrung, tiefen Ernst, unermüd-
lichen Fleiß und Hingebung für den Allerhöchsten Dienst anerkennen.
Den ihm anvertrauten schwierigen und verantwortungsvollen Posten
füllt er voll aus und vertritt die unter seinen Schutz gestellten wichtigen
Interessen mit Umsicht und Energie.
Umsomehr erschemt daher diese, sachlich genommen, durchaus
ungerechtfertigte Kritik als eine ganz unzulässige Überschreitung der
Befugnisse des Herrn Chef des Generalstabes, welche ich unmöglich
stillschweigend hinnehmen kann, und gegen die ich sehr entschieden
Verwahrung einlegen muß.
Da der Herr Chef des Generalstabes in seiner Einsichtsbemerkung
an E. E. das Ersuchen gestellt hat, im Sinne derselben beim k. u. k.
Ministerium des Äußern vorstellig zu werden so beehre ich mich das
Ersuchen zu stellen, Freiherrn von Conrad von dem Inhalte dieser
268
Note Kenntnis geben zu wollen. Der Einsichtsakt samt Beilagen folgt
im Anschlüsse zurück.
Mendel, am 7. August 1911. Ä h r e n t h a 1 m. p.
An den Reichskriegsminister Schönaich."
Chef des Generalstabes. „Beilage 8 c.
Res. Glst. Nr. 3282.
An das k. u. k. Reichskriegsrainisterium
in Wien.
Payerbach, am 14. August 1911.
Wie ich dem mir zugesendeten Einsichtsakt Präs. Nr. 9905 vom
August 1911 entnehme, wurde seinerzeit meine das Vorgehen des k. u. k.
Botschafters in Rom in der Spionageaffäre Fürst betreffende, an das
Reichskriegsministerium gerichtete und ausschließlich für dieses
bestimmte Bemerkung im vollen Wortlaut dem k. u. k. Ministerium des
Äußern zugemittelt.
Wenn ich auch die Gründe, welche ich dafür anführte, daß von
einer Langmut bezüglich solcher Affären eher auf unserer Seite als auf
jener Italiens gesprochen werden kann, voll aufrechferhalte, muß ich
doch hervorheben, daß ich eine diesbezügliche, direkt an das Mini-
sterium des Äußern gerichtete Note in anderer Weise gehalten hätte als
diese, nur für das Reichskriegsministerium bestimmte und durch die
gegen die diesseitige Kundschaftstätigkeit gerichtete Stilisierung der
Mereyschen Note provozierte kurze Bemerkung.
In der Zumittlung der letzteren an das Ministerium des Äußern
vermag ich daher nur den Fehlgriff eines untergeordneten Organes zu
erblicken, sowie einen Vorgang, welcher dazu geeignet ist, den dienst-
lichen Verkehr in ungünstigster Weise zu beeinflussen.
Ich bitte, die vorliegende Bemerkung dem Ministerium des Äußern
vollinhaltlich zur Kenntnis zu bringen. ^ , /^ j t
^ Conr ad m. p., G. d. I.
Für die richtige Abschrift:
Wien, am 5. September 1911.
P a i c m. p., Obstlt."
Soweit die Denkschrift vom 9. September 1911.
Aus Dalmatien nach Wien zurückgekehrt, hatte ich am 9. September
1911 eine Audienz bei Seiner Majestät, bei der ich über die Landungs-
manöver und laufende militärische Angelegenheiten referierte, meine Denk-
schrift vorlegte und auch mündlich meine Verwahrung gegen das
autoritative Gebaren Graf Ährenthals vorbrachte.
269
Am selben Tag erschien Oberstieutnant von Brosch, der Flügel-
adjutant des Thronfolgers, bei mir, um sich im Auftrage des letzteren
über den Verlauf der Audienz zu erkundigen. Ich konnte die Frage damit
beantworten, daß die Audienz ohne Zwischenfall, ganz normal
verlaufen sei.
Brosch erwähnte, daß gegen mich ein großes Komplott bestehe, daß
Graf Ährenthal zwei Männer wie Auffenberg und mich nicht vertrage und
daher entweder Georgi*) Kriegsminister würde, falls ich bleibe, oder ich ent-
fernt würde, wenn Auffenberg als Kriegsminister belassen werden sollte.
Als Anlaß wolle man die heurigen Armeemanöver wählen, in der
Hoffnung, daß diese mißglücken, oder sich ein Zerwürfnis zwischen mir
und dem Thronfolger ergeben würde**).
Darauf erwiderte ich Brosch, daß man den Verlauf der Manöver
wohl nie in der Hand habe, daß ich es aber auf ein Zerkriegen mit Seiner
Kaiserlichen Hoheit nicht ankommen lassen werde. Im übrigen sei es
mir ganz gleichgültig, ob ich bleibe oder gehe.
Brosch meinte hierauf: „Die heurigen Manöver muß man auch als
ein Politikum betrachten. Der Thronfolger hat vom Kaiser einen Brief
bekommen, daß die Entscheidung wegen Schönaich erst nach den
Manövern verlautbart wird."
Am 25. September 1911 sandte ich an Graf Ährenthal mein bereits
im früheren volhnhaltlich gegebenes Schreiben vom 24. September, in
dem ich mich über die politische Lage imd die daraus zu ziehenden
Konsequenzen aussprach und ihn um Bekanntgabe der Richtung seiner
Politik bat. (Siehe Seite 172.)
Die Meinungsdifferenz zwischen mir und Graf Ährenthal erwies sich
aber in der Folge immer mehr und mehr als unüberbrückbar.
Die Politik des Grafen Ährenthal stand nicht auf dem realen
Boden des Erreichbaren. Sie war auf die Utopie gegründet,
daß es gelingen könne, die Feinde Österreich-Ungarns zu besänftigen,
das Aufgeben ihrer aggressiven Pläne zu erschmeicheln; Pläne, die aus
*) Der bisherige k. k. Landesverteidigungsminister.
**) Ich hatte diese Manöver in die Karpathen verlegt und fand dabei
Bedenken des Thronfolgers wegen der Schwierigkeit des Terrains. Ich
heß diese Bedenken nicht gelten; nur meine Absicht, die Manöver mit
dem Einbruch eines großen Kavalleriekörpers zu beginnen, stieß auf
entschiedenen Widerstand des Thronfolgers und mußte daher insoweit
unausgeführt bleiben, als nur eine Kavalleriebrigade in der gedachten
Weise zur Verwendung kam.
270
dem Entwicklungsdrang dieser Gegner heraus auf die Zerstückelung der
Monarchie gerichtet waren. Der reale Boden aber kennzeichnete sich
dadurch, daß Serbien unverblümt und skrupellos das großserbische Reich
und hiezu die Gewinnung der südslawischen Provinzen der Monarchie
erstrebte, daß die Aspirationen Italiens auf die sogenannten „irredenten"
Gebiete Tirols und des Küstenterritoriums, sowie auf die Alleinherrschaft
in der Adria offenkundig lagen, daß Rußland Serbiens Pläne mit allen
Mitteln unterstützte, nebenher die Einverleibung Galiziens, hauptsächlich
aber die Zertrümmerung Österreich-Ungarns im Auge hatte, um sich den
Weg nach dem Balkan frei zu machen, daß es auf diesem Wege ein
Haupthindernis auch in Deutschland sah, dessen Emporblühen auf
pohtisdiem, wirtschaftUchem und maritimem Gebiet auch England im
Keime zu ersticken trachtete, Frankreich aber im Heranwachsen Deutsch-
lands eine nur mit Waffengewalt zu beseitigende Gefahr und in der
Wiedergewinnung Elaß-Lothringens ein unverrückbares, nationales Ziel
erblickte,
daß aber — imd darin lag der reale Kern der Lage — diese
Feinde in der Zeit bis 1912 noch nicht insgesamt auf jener Höhe militä-
rischer Bereitschaft standen, um mit Aussicht auf sicheren Erfolg den
längst geplanten gemeinsamen Kampf herbeizuführen, Deutschland und
Österreich-Ungarn also die letzte Gelegenheit hatten, mit diesen Gegnern
nacheinander oder doch noch zu einem Zeitpunkte abzurechnen, in
welchem deren Kriegsbereitschaft noch nicht voll gereift erschien.
Konnte jemand diese Lage nicht erkennen? Oder konnte jemand
wirklich glauben, daß alle di^e Gegner pour les beaux yeux de
l'Autriche-Hongrie von diesen ihren positiven Zielen abstehen
würden ?
Klar lag es, daß Österreich-Ungarn imerbittlich gezwungen sein
würde, seinen Existenzkampf mit den Waffen auszutragen; darauf
war daher jedwede Vorbereitung, darauf die reale Pohtik der
Monarchie zu gründen, nicht aber auf vage, einschläfernde Utopien und
problematische Traktate.
In der Wahl, all dem gegenüber schweigend abseits zu bleiben, oder
meinen Besorgnissen Ausdruck zu geben, wählte ich stets das letztere. Die
Folgen der Vertretung dieses Standpunktes richteten sich nun gegen mich.
Am 27. September 1911 hatte Exzellenz Baron Bolfras telephonisch
bei mir angefragt, ob er mich treffen könne. Ich bat ihn selbstverständhch,
sich nicht zu bemühen und teilte ihm mit, daß ich sofort zu ihm in die
Militärkanzlei kommen werde.
Dort angelangt, bot mir Exzellenz Bolfras Platz an und sagte,
er müsse mich vor allem fragen, ob ich volles Vertrauen zu ihm habe,
271
was ich selbstverständlich bejahte, beifügend: „Ja, um was dreht es sich
denn?"*)
Exz.Bolfras: „Ich bin von Seiner Majestät beauftragt, zwischen
Ährenthal und Dir zu vermitteln, insbesondere in der Angelegenheit
Merey. Seine Majestät will Ordnung haben und will, daß Ihr miteinander
normal verkehrt; Du sollst dem Älirenthal ein paar Zeilen schreiben, daß
Du bedauerst, daß die Sache so dargestellt wurde."
Ich: „Exzellenz, ehe ich dem Ährenthal eine Entschuldigung schreibe,
lasse ich mir eher die rechte Hand weghauen. Ich war immer gerade,
jetzt in meinem Alter biege ich mich nicht mehr."
Exz. Bolfras: „Es ist schon überhaupt ein unangenehmes Amt,
Vermittler zu sein, aber sehr unangenehm, wenn es resultatlos verläuft."
Ich: „Erlaube, daß ich rede. Ich werde Dir die ganze Sache so
darstellen, wie sie sich mir darstellte. Zuerst Schönaich; ich kann
nur sagen, wie ich herkam, war es mein Bestreben, mit Schönaich glatt
auszukommen. Es ging aber nicht. Der Verkehr wurde immer
>schiefriger« ; ich habe immer wieder versucht, einzulenken. Beweis dafür
ist auch, daß ich seinen Schwiegersohn Gm. Przyborski als zweiten Stell-
vertreter zu mir nahm, um zu zeigen, daß ich gut auskommen will.
Ich hoffte, daß Przyborski die vermittelnde Persönlichkeit sein wird."
Exz. Bolfras: „Und welche Rolle hat Przyborski gespielt?"
Ich: „Eine durchaus loyale; aber es ist nicht gegangen. Ganz
besonders kam es zu einem Bruch in der heurigen Budgetfrage, als hinter
meinem Rücken auf fünf Jahre im voraus das Budget abgemacht und mir
keine Gelegenheit gegeben wurde, meine Forderungen zu vertreten.
Nachträglich, ein paar Monate später, hat Schönaich selbst eingesehen,
daß der Kredit zu gering war, und er mußte mehr verlangen. In unserem
Verkehr hat dies nichts geändert. Jetzt muß ich aber weitergehen und
Dir sagen, daß ich nicht nur Schönaich, sondern auch Ä h r e n t h a 1 zum
Gegner habe. Ich habe mit ihm einen freundschaftlichen Verkehr
angebahnt; ich war wiederholt bei ihm, er bei mir. Ich sagte ihm oft:
»Bitte, wenn Sie mich brauchen, telephonieren Sie mir, ich komme zu
jeder Stunde zu Ihnen«. Ein Riß ist in unser Verhältnis erst gekommen,
als uns die politischen Ansichten auseinanderführten, besonders in der
Krise 1909. Er hat sich die Krise militärisch stützen lassen, aber es mir
nicht gedankt. Ich war ihm eine unangenehme Persönhchkeit geworden;
verletzte Eitelkeit etc. In der Merey-Geschichte möge man sich nur
orientieren. Auch Baron B u r i a n ist gegen mich, weil ich nicht einsehen
*) Dies und alles folgende nach mimittelbar nach der Audienz
diktierten Aufzeichnungen.
272
will, daß als Landeschef und Kommandierender in Bosnien ein General
nur ein Popanz sein soll, der nur das macht, was Burian will. In
Varesanin habe ich mich getäuscht, dies auch Seiner Majestät offen ein-
gestanden. Jetzt aber ist ein Mann dort — Potiorek — der läßt nicht
mit sich machen, was Burian will. Das ist die Koalition gegen mich.
Als ich zum Chef ernannt wurde, sagte mir Burian, daß ich auch die
Bestimmung haben werde, als Mitwirkender den Ausgleich mit Ungarn
zu fördern, das heißt, meine Zustimmung zu Konzessionen zu
geben. Ich habe damals erklärt, daß ich dazu nicht zu haben sein werde,
und mir damit die Gegnerschaft zugezogen. Jetzt ist die Krisis Schönaich
gekommen. Ein General, der öffentlich gegen den Thronfolger auf-
getreten ist. Ich wurde aufmerksam gemacht, daß die CHque Ährenthal,
wenn Schönaich fällt, ein Opfer haben will — ich weise auf die gemeine
Pressehetze gegen mich hin. Auch wurde mir weiter mitgeteilt, daß
Ährenthal zwei Generale in hohen Stellungen, die Vertrauensmänner
des Erzherzogs Franz Ferdinand sind, nicht dulden will. Entweder
Georgi wird Kriegsminister und ich bleibe, oder Auffenberg bleibt
und ich weiche. Die Manöver wurden hiezu abgewartet, in der Hoffnung,
daß ich mich mit Erzherzog Franz Ferdinand zerkriegen werde. Nach-
dem die Manöver nun sehr glatt abgelaufen sind und zwischen dem
Thronfolger und mir das beste Einvernehmen bestand, sucht man einen
anderen Angelpunkt, um mich zu entheben. Nicht um die Herstellung
eines kordialen Verhältnisses zwischen Ährenthal und mir handelt es sich,
nicht auf eine Art Satisfaktion für Merey wird abgezielt, sondern darauf,
mich zu entfernen."
Exz. Boljras: „Ich bin ganz erstaunt, daß ich davon nichts gewußt
hätte, auch die Hinausschiebung des Termines für das Abgehen Schön-
aichs nach den Manövern hat damit nichts zu tun; ich weiß die Gründe,
warum Schönaich erst jetzt enthoben wird,"
Ich: „Ich wiederhole hier nochmals, daß ich unter keinen Umständen
an Ährenthal eine Entschuldigung schreibe. Wenn Seine Majestät den
Frieden will zwischen Ährenthal und mir, so schlage ich vor, daß man
sagt: was geschehen ist, ist geschehen — es wird ein Strich darunter
gemacht — damit ist die Sache erledigt. Etwas weiteres kann ich nicht
zugestehen. Ich habe am Montag*), ohne Kenntnis von dieser Sachlage,
an Ährenthal eine Zuschrift in der Tripclisfrage gesendet und am Schlüsse
derselben angeführt: >Wenn es Euer Exzellenz im Interesse der Sache
zweckdienlich erscheint, so bitte ich nur über mich zu verfügen«. Wenn
Ährenthal den Verkehr mit mir anbahnen will, so hat er es in der Hand.
*) Mein Brief vom 24. September 1911.
18, Conrad II 97')
Entschuldigen tue ich mich nicht, ich habe mich nie im Leben entschuldigt.
Sagen muß ich aber noch, daß ich vom Thronfolger den strikten Auftrag
bekommen habe, ohne seine BewiUigimg nicht um meine Enthebung zu
bitten."
Exz. Bolfras: „Ja, das kann er ja gar nicht verbieten. Aber ich sehe
schon, daß es am besten ist, Du spricht selbst mit Seiner Majestät. Ich
werde Dich für Freitag in Aussicht nehmen zu einer Allerhöchsten
Audienz."
Schließlich erstreckte sich imser Gespräch noch auf einige andere Ange-
legenheiten, auch auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Thronfolger.
Da ich wußte, wie sehr sich der Thronfolger in dieser Angelegenheit
mitinteressiert und persönlich engagiert erachtete, war es mir selbstver-
ständlich Pflicht, ihm über meine Unterredung mit Exzellenz Bolfras
Bericht zu erstatten; ich tat dies mit folgendem Schreiben:
„Wien, 2. Oktober 1911.
Euer Kaiseriiche Hoheit!
Geruhen Euer Kaiserliche Hoheit den nachfolgenden Bericht gnädigst
entgegenzunehmen .
Ich war Dienstag zu Exzellenz Bolfras berufen; derselbe teilte mir
mit, daß Seine Majestät wünschen, daß die Divergenzen zwischen Graf
Ährenthal und mir aufhören, und legte mir nahe, an Graf Ährenthal eine
Art Entschuldigungsschreiben wegen der Merey-Affäre zu richten.
Ich erklärte, daß ich mir eher die Hand abhauen ließe, als ein solches
Schreiben auszufertigen, und sagte femer, daß ich gerne gewillt bin, unter
alles Vorgefallene einen Strich zu ziehen und den durch den Dienst
gebotenen Verkehr aufzunehmen.
In meinem an Graf Ährenthal am 25. September 1. J. gerichteten,
also lange vor der Rücksprache mit Exzellenz Bolfras abgesendeten. Eurer
Kaiserlichen Hoheit im Konzepte vorgelegten, die Tripolisfrage behandeln-
den Schreiben habe ich mich auch dem Grafen Ährenthal hinsichtlich einer
mündUchen Besprechung zur Verfügung gestellt.
Ich dachte nun zu Seiner Majestät in dieser Angelegenheit berufen
zu werden; dies erfolgte jedoch nicht, so daß ich, nachdem ich Seiner
Majestät ohnehin auch über die aus der Beilage ersichtlichen Materien zu
berichten hatte, selbst um eine Allerhöchste Audienz bat.
Diese wurde mir am Samstag Allergnädigst gewährt.
Seine Majestät war bei derselben gnädig wie immer. Ich referierte
eingehend über die in der Beilage angeführten Fragen, doch berührte
Seine Majestät mit keinem Worte die zwischen Graf Ährenthal und mir
schwebende Angelegenheit.
274
Es mag Täuschung sein, aber ich konnte mich des Eindruckes nicht
erwehren, daß Graf Ährenthal diese schon im Sommer entstandenen
Konflikte erneuert hervorgeholt hat, um mich in meiner Stellung unhalt-
bar zu machen.
Bei dem so gnädigen Vertrauen, mit dem Euer Kaiserliche Hoheit
mich auszuzeichnen geruhen, erachte ich mich verpflichtet, das Vorstehende
zu melden.
Geruhen Eure Kaiserliche Hoheit den Ausdruck der ehrfurchtsvollsten
Ergebenheit entgegenzunehmen mit der ich stets bin
Eurer Kaiserlichen Hoheit treugehorsamster ^ , ,,
^ C o n r a d."
Auf ein kurzes hierauf erhaltenes Schreiben des Erzherzog-Thron-
folgers erwiderte ich mit dem schon früher vollinhaltlich gegebenen, nach
Blühnbach gerichteten Schreiben vom 12. Oktober 1911. (Siehe Seite 211.)
Indessen hatten die durch Italiens aggressives Vorgehen gegen die
Türkei hervorgerufenen Ereignisse den schon früher geschilderten raschen
Fortgang genommen.
Dies drängte Österreich-Ungarn dazu, sich über die weiteren Kon-
sequenzen dieser Vorgänge klar zu werden und zu einem Entschlüsse zu
gelangen.
Da ich auf mein an Graf Ährenthal diesbezüglich gerichtetes
Schreiben vom 24. September 1911 keine Antwort erhalten hatte, trug ich
in einer Audienz am 8. Oktober Seiner Majestät meine Anschauung der
Lage vor und überreichte ihm die nachfolgende Denkschrift:
„A. u. Vortrag des Chefs des Generalstabes
Res. Glst. Nr. 3802 vom 8. Oktober 191 1.
Geruhen Euer Majestät Allergnädigst zu gestatten, daß ich anläßlich
der politischen Lage, welche durch das Vorgehen Italiens entstanden ist,
um Entgegennahme des vorliegenden a. u. Vortrages bitte.
Ich habe am 25. September 1. J. an den Minister des Äußern die
abschriftlich beiliegende Zuschrift*) gerichtet, in welcher ich der
Notwendigkeit einer Stellungnahme Ausdruck gab und hervorhob, daß
hieraus sich ergebende militärische Maßnahmen zeitgerecht getroffen
werden müßten. Dabei erbat ich mir die Bekanntgabe der bezüghchen
Anschauimgen des Ministers des Äußern und stellte mich zur persön-
lichen Rücksprache zur Verfügung.
Nachdem ich nun hierauf bis heute keine Antwort erhielt, anderer
seits aber die Ereignisse eine Richtung genommen haben, welche nicht
*) War eine Abschrift meines Schreibens vom 24. September 1911 an
Graf Ährenthal.
18*
275
nur die momentanen Absichten, sondern auch die zukünftigen Aspiratio-
nen Italiens — über welche ich mir übrigens nie im Unklaren war ^
enthüllt, erbitte ich umsomehr die Allerhöchsten Weisungen Eurer
Majestät, als ich, an meinen seit Jahren ausgesprochenen Überzeugungen
festhaltend, in Italien einen aufstrebenden Staat erbücke, dessen Expan-
sionsbestrebungen zur Schädigung der Interessen der Monarchie und
daher zur Gegnerschaft mit dieser führen müssen, will die Monarchie
nicht auf die letzten Chancen verzichten, die sich ihrer kommerziellen,
territorialen und poHtischen Erhaltung und Entwicklung bieten.
Ich bin der Ansicht, daß diese Gegnerschaft ins Auge gefaßt und
damit gerechnet werden muß, gegen Italien spätestens dann aktiv auf-
zutreten, wenn es gegen diese Interessen der Monarchie — sei es offen
oder verhüllt, sei es direkt oder indirekt — handelt.
Eine solche Stellungnahme gegen Italien setzt aber die volle mili-
tärische Bereitschaft und daher Maßnahmen voraus, welche ehestens
getroffen werden müssen.
Hier berührt die Politik direkt meine ressortmäßigen Obliegenheiten,
weshalb ich mich verpflichtet sehe, eine Allerhöchste Weisung Eurer
Majestät in dieser Frage a. u. zu erbitten.
Wien, am 8. Oktober 1911. Conrad, m. p., G. d. I."
Daraufhin wurde mir in einem Erlasse vom 17. Oktober 1911
folgende Allerhöchste Entschließung bekanntgegeben:
„Für die Ihr Ressort betreffenden Obliegenheiten hat nach me vor
der Grundsatz zu gelten, daß für die Wehrmacht stets jede mögliche
Kriegsbereitschaft anzustreben ist. In Kenntnis dessen leitet Mein Minister
des Äußern die Angelegenheiten seines Ressorts der Monarchie im Sinne
Meiner Willensmeinung und in Übereinstimmung mit Meinen beiden
Ministerpräsidenten."
Ich fand in dieser Allerhöchsten Entscheidung keinerlei Aufforderung
oder Ursache, von meinem bisherigen Wege abzugehen, der darauf
gerichtet war, durch rechtzeitiges Handeln die Monarchie vor Kriegen
zu bewahren, die ihre militärischen Kräfte überstiegen, sowie darauf, jede
mögliche Kriegsbereitschaft unermüdlich anzustreben.
In diesem Sinne war auch mein an Graf Ährenthal gesandtes
Schreiben vom 24. September 1911, das er mir nicht beantwortete,
abgefaßt. Ich erfuhr erst später, daß es den größten Unwillen des
Ministers des Äußern wachgerufen hatte.
In die Zeit — Mitte Oktober — fiel auch meine Korrespondenz mit
Graf Ährenthal anläßlich der Entsendung unseres Militärattaches von Rom
weg nach Tripolis, gegen die ich Einsprache erhoben hatte, da ich in
276
dieser kritischen Zeit die Anwesenheit des Attaches in der Hauptstadt für
viel wichtiger hielt.
Schon im März hatte auf meine Bitte hin Seine Majestät mit Aller-
höchster Entschließung vom 26. März entschieden, daß er sich vor-
behalte, fallweise meine Teilnahme an den Sitzungen der gemeinsamen
Minister anzubefehlen.
Für Ende Oktober 1911 stand eine Ministerratssitzung in Angelegen-
heit der bosnischen Bahnen bevor, zu der ich erwartete, beigezogen zu
werden. Diese Frage hing innig mit allen Aufmarscharbeiten zusammen,
die weder in das Ressort des Kriegsministers, noch in jenes des Landes-
chefs in Sarajevo, sondern ausschheßhch in die Kompetenz des Chefs des
Generalstabes fielen.
Graf Ährenthal durchkreuzte meine Beiziehung durch nachfolgendes
Schreiben an Exzellenz Bolfras.
„Minister des Äußern. Wien, am 22. Oktober 1911.
Hochwohlgebcrener Freiherr!
Wie ich vernehme, scheint der Chef des Generalstabes G. d. I. Frei-
herr von Conrad einer Aufforderung zur Teilnahme an der für den 28.
oder 29. d. M. in Aussicht genommenen Ministerkonferenz zur Beratung
der Angelegenheit der bosnischen Eisenbahnen entgegenzusehen.
Mit E. E. geschätzter Note vom 26. d. J. Nr. 746 hatten Hochdie-
selben die Güte, mir mitzuteilen, daß sich Seine Apostolische Majestät
auf die Bitte des Chefs des Generalstabes um Autorisierung zur Teilnahme
an Ministerratssitzungen, in welchen die militärischen Budgets behandelt
werden, vorzubehalten geruhten, fallweise die Teilnahme des k. u. k.
Chefs des Generalstabes an diesen Sitzungen anzubefehlen. Weiters haben
mich E. E. im Allerhöchsten Auftrage ersucht, Hochdemselben Mitteilung
zu machen, wenn Sitzungen des gemeinsamen Ministerrates bevorstehen,
zu welchen den Chef des Generalstabes zuzuziehen eventuell zweckmäßig
sein könnte.
Indem ich mir diesen Allerhöchsten Befehl vor Augen halte, sehe ich
mich veranlaßt, zu E. E. geneigten Kenntnis zu bringen, daß ich die
Teilnahme des Herrn Chefs des Generalstabes an der Ende nächster Woche
abzuhaltenden Ministerkonferenz nicht für erforderlich halte, da einer-
seits der Gegenstand der Beratung mit den militärischen Budgets nicht
im Zusammenhang steht und anderseits durch die Anwesenheit des Herrn
k. u. k. Kriegsministers und des Landeschefs Armee-Inspektor FZM. Potio-
rek die Vertretung der einschlägigen militärischen Interessen gesichert
erscheint. Überdies würde die Teilnahme des Chefs des Generalstabes an
der fraglichen Konferenz gewiß in die Öffentlichkeit dringen und dort,
277
in der jetzigen aufgeregten Zeit, Kommentare hervorrufen, die vom Stand-
punkte der Füiirung der äußeren Politik unerwünscht sein könnten.
Auch glaube ich hinsichtlich jener Ministerkonferenzen, welche die
militärischen Budgets betreffen, eine Zuziehung des Herrn Chefs des
Generalstabes in Hinkunft nur in jenen Fällen beantragen zu sollen, wo
Anforderungen in Frage kommen sollten, welche über den Rahmen des
im Vorjahre vom gemeinsamen Ministerium und von den beiderseitigen
Regierungen vereinbarten Programmes hinausgehen würden.
Indem ich E. E. ersuchen darf. Seiner K. u. K. Apostohschen Majestät
von Vorstehendem Meldung erstatten zu wollen, bitte ich E. E. den Aus-
druck meiner ausgezeichneten Hochachtung zu genehmigen.
Ährenthal m. p."
Wie ich nunmehr durch die schon mehrmals zitierte Publikation aus
dem Jahre 1920*) erfahren, hatte Graf Ährenthal von Hietzing aus am
selben Tage (22. Oktober 1911) an Seine Majestät eme umfassende Denk-
schrift gerichtet, in der er den Ausführungen meiner Memoires, ins-
besondere auch jenen meines Schreibens vom 24. September 1911 scharf
entgegentrat, meine auf den Zusammenhang zwischen Politik, Krieg-
führung und Kriegsvorbereitung basierten Ansichten und Anträge
bekämpfte, mir imperialistische Tendenzen vorwarf, meine Meinung über
Italien als irrig hinstellte, mich der Agitation auf publizistischem Wege
verdächtigte, von einer Kriegspartei im Generalstabskorps sprach und
mit dem Satz schloß:
„Aus allen diesen Erwägungen ergibt sich nur eine Schluß-
folgerung: Es wäre hoch an der Zeit, daß für die Führung der aus-
wärtigen Politik der hiezu von der Allerhöchsten Person ernannte
Minister kompetent und verantwortlich bleibt. Dem Chef des General-
stabs hingegen obliegt die Pflicht, die für die verschiedenen Kriegs-
möglichkeiten erforderlichen militärischen Vorbereitungen zu treffen, ohne
jedoch das Recht zu besitzen, auf den Eintritt der einen oder anderen
Kriegsmöglichkeit einen Einfluß auszuüben."
Ich erlasse mir ein näheres Eingehen darauf, wie unmöglich es für
die Monarchie war, für alle Kriegsmöglichkeiten, also auch für einen
gleichzeitigen Angriff aller ihrer Feinde vorbereitet zu sein. Ich deute
nur an, wie Graf Ährenthal selbst jene Vorbereitungen hintertrieb, die
gegen einen unverkennbaren Gegner unerläßlich erschienen, den er aber
als Bundesgenossen warm zu halten meinte, imd wie er es an der Unter-
stützung jener militärischen Forderungen fehlen ließ, die als Kriegsvor-
bereitung überhaupt durch Ausbau der Wehrmacht unabweisbar waren.
*) Österreichische Rundschau.
278
Es ist freilich bequem, sich bei Führung der PoUtik im Frieden die
im Krieg verantwortlichen Organe vom Leibe zu halten, dann aber,
wenn der Kriegsfall eintritt, alle Verantwortung auf sie abzuwälzen.
Die Diplomaten dieser Schule betrachteten die Armee wie einen
Regenschirm, den man im Kasten löcherig werden läßt und erst hervor-
holt, wenn es zu gießen anfängt. Die Diplomaten unserer Gegner aber
sahen in der Armee das wirksamste Mittel der Politik, das man sich für
ein bestimmtes Ziel herrichtet, dann aber auch gebraucht,
und wäre dieses Ziel selbst nur die eigene Erhaltung.
Was die Anschuldigung hinsichtlich publizistischer Propaganda
betrifft, so habe ich schon an anderer Stelle deren Haltlosigkeit dargetan.
Wer, wie Graf Ährenthal, in dem von mir vertretenen Vorgehen gegen
Serbien und Italien eine „imperialistische" Tendenz erblickt,
übersieht gänzlich, daß es sich, insbesondere im Hinbhck auf Serbien, um
einen aggressiven, hartnäckigen, das Fundament der Monarchie unter-
grabenden Feind, somit für diese lun einen Existenzkampf handelte.
Daß man nach glücklicher Durchführung dieses Kampfes auch daran
denken würde, die wirtschaftlichen Vorteile auszunützen, kann wohl nicht
als „Imperialismus" bezeichnet werden, wie etwa die Eroberung Indiens,
Südafrikas und Ägyptens. Zudem wäre dies nicht zum Schaden Serbiens
gewesen, da es, angegliedert an die Monarchie, jener Kulturvorteile teil-
haftig geworden wäre, an denen sich die verschiedenen nichtdeutschen
Nationalitäten des alten Reiches seit Jahrhunderten großgezogen und
kulturell entwickelt hatten. Manche Bande knüpften Serbien ohnehin
schon an dieses. Zahlreiche, die Hochschulbildung anstrebende junge
Serben studierten in Wien und Graz, wo sie stets auf das gastfreund-
Uchste aufgenommen waren. Was schließUch die „Militärpartei" anlangt,
so stand mir nichts femer, als die „Gründung" einer solchen. Ich habe
meine Ansichten stets direkt und allein vertreten. Hinterhältige Machina-
tionen lagen meinem Wesen immer fem. Daß es viele Menschen gab,
die gleicher Ansicht waren wie ich und zwar auch viele sehr vernünftige,
die nie den Militärrock tmgen, und daß diese Menschen ihrer Meinung
auch öffentlich Ausdmck verliehen, vermochte ich nicht zu hindern. Den
mir unterstehenden Organen aber hatte ich dies verboten.
Dem Evidenzbureau war es gelungen, aus italienischen Einberufungs-
befehlen für 1911 nachzuweisen, daß Italien im Jahre 1908/09 gleichfalls
eine Einberufung vorbereitet hatte, die sich offenbar gegen Österreich-
Ungarn richtete.
In einem Schreiben vom 8. November 1911 übersandte ich Graf
Ährenthal eine Zusammenstellung, aus der sich ergab, daß Italien seine
Heeresstärke um 210.000 Mann erhöht, von denen 80.000 Mann auf das
279
Expeditionskorps in Tripolis entfallen, so daß für das Königreich selbst
noch immer eine Standeserhöhung von 130.000 Mann resultierte. Daran
schloß ich folgendes:
„Ich sehe darin Maßnahmen, die umsomehr die volle Aufmerksamkeit
der ö.-u. Monarchie verdienen, als in dieser nicht nur keinerlei militärische
Vorbereitungen getroffen werden, sondern die Stände weit unterm Normal-
stand sind, ganz abgesehen davon, daß dermalen noch ein ganzes Jahres-
kontingent nur aus unausgebildeten Rekruten besteht.
Ich bringe ferner zur Kenntnis, daß laut hier eingelangten verläß-
lichen Nachrichten in Itahen mit aller Beschleunigung an der Ausgestal-
tung eines Eisenbahnnetzes in Venetien, wie an der Vollendung und
Armierung sowie der Neubefestigung des Tagliamento gearbeitet wird.
Ich lenke auch auf folgende Sache die Aufmerksamkeit: Bei der im
Herbst dieses Jahres durchgeführten Einberufung italienischer Nichtaktivei
des Jahrganges 1888 sind irrtümhcherweise auch Angehörige älterer
Jahrgänge eingerückt. Dieses Mißverständnis erklärt sich dadurch, daß
die Einberufungskundmachungen bezügUch der Jahreszahl 1888 mittels
eines überklebten Zettels korrigiert waren, die infolge von Wilterungs-
einflüssen hie und da abgefallen waren, so daß der Originaltext der
Kundmachungen herauskam. Dieser lautet:
»Manifest für die Einberufung der Mannschaft erster Kategorie der
dauernd Beurlaubtenklasse 1884 zur aktiven Dienstleistung.
Über Befehl Seiner Majestät des Königs wird die dauernd beurlaubte
Mannschaft der Kategorie einschließlich der Unteroffiziere, welche oben-
angeführter Klasse aller Waffen-Truppen-Speziahtäten angehören, zur
aktiven Dienstleistung einberufen.«
Die Ziffer 84 wurde auf dem Plakat zuerst mit 85, dann mit 87 und
88 überklebt. Es ist daher kein Zweifel, daß diese Kundmachungen aus
der Annexionskrise 1908/09 stammen und daher italienischerseits damals
die Einberufung des ganzen ersten Reservejahrganges tatsächlich konkret
vorbereitet wurde. Diese Kcnstatierung ist wohl von besonderer Wichtig-
keit. Die Auffassung, daß diese Maßregel damals nicht gegen die Mon-
archie gerichtet war, sondern anderen Zwecken, z. B. einer etwa schon
damals geplanten Unternehmung gegen Tripolis gegolten hatte, kann
wohl kaum ernstlich in Betracht kommen. Die Tatsache einer solchen
Maßregel an und für sich wäre unter den damaligen Verhältnissen mit
der loyalen Haltung einer mit uns alliierten Macht, ja sogar mit dem
Begriffe einer wohlwollenden Neutralität nicht vereinbar gewesen, und
das nunmehr erwiesene Faktum, daß damals eine so einschneidende kon-
krete Kriegsvorbereitung wirklich getroffen wurde, ist unverständlich,
wenn Italien zur Zeit der Annexionskrise im Falle eines Konfliktes tat-
280
sächlich jene unbedingt verläßliche bundestreue Haltung der Monarchie
gegenüber hätte einnehmen wollen, wie dies bei uns nach den dem
Ministerium des Äußern zugekommenen Informationen angenommen wurde.
Ich muß betonen, daß auf Grund dieser Informationen alle unsere
militärischen Maßnahmen im Jahre 1908 aufgebaut waren und brauche
wohl nicht besonders zu schildern, welche militärische Schwierigkeit sich
für uns ergeben häite, wenn Italien in dieser Situation wirklich einen so
unerwarteten Schritt einer überfallartigen militärischen Rüstungsmaßnahme
unternommen hätte.
Ich bitte E. E. diese Angelegenheit zur Kenntnis nehmen zu wollen
und mich in Hinkunft über alle Nachrichten, welche Rüstungen fremder
Armeen betreffen oder auf das Verhalten fremder Staaten im Falle einer
kriegerischen Komplikation irgend einen Schluß gestatten, fortlaufend und
in weitergehendem Maße als bisher orientiert zu halten."
Diese Zuschrift hatte zweifellos den erneuerten Unwillen Graf
Ährenthals hervorgerufen.
Meiner alljährlichen Gepflogenheit entsprechend, hatte ich auch für
den Schluß des Jahres 1911 eine umfangreiche Denkschrift über die mili-
tärische und die davon untrennbare politische Lage erfaßt. Der Denkschrift
waren eingehende, in den verschiedenen Bureaus bearbeitete Daten über
den Stand der dringendsten Bedürfnisse der Wehrmacht beigeschlossen.
Diese vom 15. November 1911 datierte Denkschrift habe ich in den
Anhang zu vorliegendem Buch aufgenommen, weil mit ihr meine Tätigkeit
als Chef des Generalstabes in der ersten Periode (d. i. von November
1906 bis November 1911) abschloß. Sie ist hinsichtHch ihres wesent-
lichen Teiles vollinhaltlich und nur hinsichtlich einiger ziffernmäßiger
Detaildaten in den Anlagen bloß auszugsweise wiedergegeben*).
Ich unterbreitete diese Denkschrift Seiner Majestät in einer Audienz
am 15. November 1911 in Schönbrunn. Der Verlauf dieser
Audienz ließ mir keinen Zweifel mehr, daß meine Stellung unhaltbar
geworden sei.
Der Grundton der Audienz war: Ungnade!
Ich legte die Denkschrift vor und erörterte die aus den Anschauungen
militärisch-politischer Natur abgeleiteten konkreten Kriegsvorbereitungen
und notwendigen Forderungen; darauf**)
*) Siehe Anhang, Anlage 3.
•*) Nach den unmittelbar nach der Audienz gemachten Aufzeich-
nungen.
281
Seine Majestät: „Ich sage gleich : die fortwährenden Angriffe gegen
Ährenthal, diese Nadelstiche verbiete Ich." (Seine Majestät war sehr erregt
und erbost.)
Ich: „Euer Majestät bitte ich zu gestatten, daß ich meine Ansichten
sage, wie ich sie eben habe; Euer Majestät entscheiden dann."
5. M.: „Diese fortwährenden Angriffe, besonders die Vorwürfe wegen
Italien und des Balkan, die sich immer wiederholen, die richten sich gegen
Mich; die Politik mache Ich, das ist Meine Politik!"
Ich war jetzt in einer peinlichen Lage, der Kaiser war persönlich
verletzt.
Ich: „Ich kann nur wiederholen, daß ich meine Ansichten so nieder-
schrieb, wie ich sie mir ableitete. Euer Majestät können ja zu jeder
Ansicht hinzusetzen : »f a 1 s c h«. Das ist in der Macht Euerer Majestät."
Hierauf legte ich die Denkschrift ruhig auf den Schreibtisch, bat, sie Aller-
gnädigst entgegenzunehmen und sagte kurz deren Inhalt.
S. M.: „Meine Pohtik ist eine Politik des Friedens. Dieser meiner
Politik müssen sich alle anbequemen. In diesem Sinne führt Mein
Minister des Äußern Meine Politik. Es ist ja mögUch, daß es zu diesem
Krieg kommt; auch wahrscheinlich. Er wird aber erst geführt werden,
bis Italien uns angreift."
Ich: „Wenn nur die Chancen dann auch für uns günstig liegen!"
S. M.: „Solange Italien uns nicht angreift, wird dieser Krieg nicht
geführt. Überhaupt war bis jetzt bei uns nie eine Kriegspartei."
Ich: „Diejenigen, die verpflichtet sind, zu sorgen, daß alles
vorbereitet ist, wenn der Krieg ausbricht, damit man nicht von Haus aus
in schwierige Lage komme, dürfen das Wort »Krieg« nicht aus-
sprechen, weil sie sonst beschuldigt werden, der »Kriegspartei«
anzugehören."
5. M.: „Vorbereitet sein muß man."
Hierauf machte Seine Majestät Bemerkungen gegen den deutschen Kron-
prinzen wegen semes Betragens gegenüber dem Parlament und fügte bei:
„Das wird ja bei uns nicht vorkommen, aber Ansätze dazu sind da"*).
Nach einer Pause flaute die Erregung des Kaisers, der überaus
ergrimmt war, allmählich ab. Die übrigen Punkte, die ich in der Audienz
vorzubringen hatte, wurden im allgemeinen glatt erledigt.
Da Seine Majestät meine Denkschriften stets auch dem Minister des
Äußern zur Kenntnis zu geben pflegte, war dies wohl auch mit jener
vom 15. November 1911 geschehen.
*) Eine Bemerkung, die offensichtlich gegen den Thronfolger
gerichtet war.
282
Meine Entlassung
von der Stelle des Chefs des Generalstabes.
Am 29. November 1911 nachmittags suchte mich der an Stelle des
zum Truppendienst eingerückten Oberstleutnants von Brosch neuemannte
Flügeladjulant des Thronfolgers, Oberstleutnant Dr. von Bardolf, in
meiner Wohnung auf. Er teilte mir im Auftrage des Erzherzogs mit, daß
ich folgenden Tages (30. November) zu Seiner Majestät in Audienz
befohlen werde, wobei mir der Kaiser meine Entlassung aus der Stelle
des Chefs des Generalstabes bei gleichzeitiger Ernennung zum Armee-
Inspektor bekanntgeben werde. Seine Kaiserliche Hoheit, der vergeblich
Fürsprache eingelegt habe, rechne bestimmt damit, daß ich die „Flinte
nicht ins Korn werfen", sondern die Stelle als Armee-Inspektor unbedingt
annehmen werde. Oberstleuhiant Dr. von Bardolf fügte persönlich hinzu,
daß es Seine Kaiserliche Hoheit sehr übel auffassen würde, wenn ich das
Gegenteil täte.
Ich erwiderte, daß ich nicht daran denke, zu frondieren, daß ich als
Chef den Dienst gemacht habe, so gut ich es eben vermochte, froh bin,
diese mir ohnehin aufgedrängte Stelle los zu werden und in eine Ver-
wendung zu gelangen, die mich wieder der Truppe näher bringt. Mit
einem heiter gewechselten Händedruck schieden wir von einander und
mit einem Gefühl der Erleichterung erwartete ich den kommenden Tag.
Indessen war mir auch die Audienz-Vorladung für diesen zuge-
kommen.
Am 30. November 1911 erschien ich in Schönbrunn bei Seiner
Majestät. Ich trat in das mir so wohlbekannte Arbeitszimmer des Kaisers.
Seine Majestät reichte mir die Hand, und es vollzog sich nun folgendes
kurze Gespräch*):
Ich: „Euer Majestät! ich melde mich gehorsamst über Allerhöchsten
Befehl."
*) Genau nach den unmittelbar nach der Audienz gemachten Auf-
zeichnungen.
283
S. M.: „Es tut mir leid, nach reiflicher Überlegung bin Ich aber
genötigt, Sie von Ihrem jetzigen Dienstesposten zu entheben und Sie zum
Armee-Inspeictor zu ernennen. Die Gründe sind Ihnen ja bekannt, darüber
ist es nicht notwendig zu reden."
Seine Majestät spendete mir hierauf anerkennende Worte und sprach
die Erwartung aus, daß er noch auf meine vollen Dienste rechne und
mich auch in wichtigen Fragen zu Rate ziehen werde. Seine Majestät
hatte die Gnade zu sagen, daß unser Verhältnis in persönlicher Beziehung
ein „freundschaftliches" geworden sei, und er mich habe rufen
lassen, um mir meine Entlassung s e 1 b s t zu sagen, weil ihm der gerade
Weg als der beste erschiene.
Sodann machte Seine Majestät eine Pause in der sichtlichen Erwar-
tung, daß ich sprechen würde.
Ich: „Ich danke Euerer Majestät gehorsamst; auch ich bin immer
nur den geraden Weg gegangen."
S. M.: „Da haben wir also beide das gleiche getan und wir scheiden
als Freunde."
Hierauf wurde ich entlassen.
Die durchaus vornehme, offene, würdige und eines Zuges wirklich
empfundener Herzlichkeit nicht entbehrende Art, in der mich Kaiser Franz
Joseph des Dienstes als Chef des Generalstabes enthoben hatte, erweckte
in mir ein wohltuendes, ausgleichendes Gefühl, das mich in meinem
Innern meinem verehrten Kaiserhchen Herrn noch näher brachte. Auch
war ich froh, des mir so wenig zusagenden Dienstes als Chef des General-
stabes ledig und dem Kontakt mit der Truppe wiedergegeben zu sein.
Schließlich kann ich nicht leugnen, daß mir auch die erhöhte persönUche
Freiheit willkommen war.
Ich konnte meine dienstliche Tätigkeit einteilen wie ich es wollte,
konnte meine Dienstesreisen nach Belieben anberaumen, konnte ohne
Zeitbeschränkung meine Pferde reiten, mich auch meiner Mutter, meinen
Kindern, meinen Freunden und Bekannten widmen.
Es war ein Aufatmen nach fünf Jahren!
Seine Majestät verlieh mir das Großkreuz des Leopold-Ordens mit
folgendem Allerhöchsten Handschreiben vom 2. Dezem-
ber IQll:
„Indem Ich es als erwünscht erachte, Ihre hervorragenden Führer-
eigenschaften, Ihr reiches militärisches Wissen, gepaart mit seltenen
Erfahrungen, auch auf anderem Dienstgebiete zum Wohle des Heeres zu
284
verwerten, enthebe Ich Sie vom Posten des Chefs des Generalstabes Meiner
gesamten bewaffneten Macht und ernenne Sie zum Armee-Inspektor.
In dankbarer Anerkennung Ihres ausgezeichneten, überaus hin-
gebungsvollen Wirkens in Ihrer bisherigen Stellung verleihe Ich Ihnen
das Großkreuz Meines Leopold-Ordens mit Nachsicht der Taxen.
Franz Joseph m. p."
Am selben Tage, 2. Dezember 1911, richtete ich folgenden
Abschiedsbefehl an den k. u. k. Generalstab:
„Gstb. Nr. 4697.
Infolge meiner Enthebung habe ich die Dienstgeschäfte mit heutigem
Tage an den Stellvertreter des Chefs des Generalstabes, Feldmarschall-
leutnant Rudolf Langer, übergeben. Es war mir ein stolzes Bewußtsein,
an der Spitze des Generalstabes zu stehen, in gemeinsamer überzeugungs-
treuer Arbeit für Schlagbereitschaft, Macht und Ansehen der ruhmreichen
Armee, an der wir alle seit unserer Kindheit mit allen Fasern unseres
Herzens hängen und an welche schließlich immer appelliert wird, wenn
alles andere versagt. Ich danke allen Angehörigen des Generalstabes
ebensosehr für ihre unermüdliche, vorzügliche Dienstleistung wie für die
mir stets entgegengebrachte warme Kameradschaft und sage allen ein
herzliches Adieu. Conrad, G. d. I."
Die Allerhöchste Entscheidung befriedigte schließlich alle Beteiligten;
Seine Majestät sah den ihm peinlichen Hader zwischen mir und Graf
Ährenthal beseitigt; ich war froh, die mir aufgedrängte Stellung los zu
sein; im Ministerium des Äußern herrschte Genugtuung und Graf
Ährenthal freute sich seines Erfolges.
Nach Übergabe des Dienstes an meinen bewährten Stellvertreter
Feldmarschalleutnant Rudolf Langer verabschiedete ich mich von den
Offizieren meiner Bureaus. Ich konnte unbesorgt scheiden, denn an der
Spitze eines jeden stand ein tüchtiger Chef und ich war sicher, daß die
eingelebte, streng geregelte Dienstestätigkeit auch weiter ihren Weg
nehmen wird.
Meiner alljährlichen Gewohnheit gemäß, hatte ich bereits die grund-
legenden Ideen für die große Generalstabsreise, die Generalsreise und die
Manöver für das nächste Jahr entworfen, so daß ich auch in dieser
Hinsicht keine Schulden hinterließ.
Anläßlich meiner Entlassung hatte ich ein freundschaftsvolles
Schreiben des Generals d. I. von Moltke erhalten.
285
Bei dem innigen Verhältnis, in dem wir zu Deutschland standen,
und dem ich auch weiter die Wege geebnet sehen wollte, und speziell
auch bei den freundschaftlichen Beziehungen, welche mich mit General
von Moltke verbanden, habe ich semen Brief v/ie folgt beantwortet:
„Wien, 7. Dezember 1911.
Euer Exzellenz!
Nach den letzten etwas bewegten Tagen ist es mein Erstes, Ihnen
für die mich so überaus erfreuenden freundschaftlichen Zeilen meinen
ergebensten Dank zu übersenden.
E. E. werden es gewiß schon vor Jahren bei unserem ersten
Zusammentreffen durchgefühlt haben, wie sehr ich Ihnen sofort mit auf-
richtigster Verehrung ergeben war und mit welchem unbedingten
Vertrauen ich sofort meine Hand in die Ihre legte.
Wir beide haben uns in den abgelaufenen fünf Jahren gegenseitig
nie getäuscht und wären ebenso treu und offen zu einander gestanden,
wenn die ernste Stunde geschlagen hätte, was leider nicht geschah.
Mit einem Mann von Ihrem edlen und geraden Smn in freundschaft-
liche Beziehungen getreten zu sein, hebt mich über manche Bittemisse
hinweg, die mir das verflossene Lustrum gebracht hat.
Es erschiene mir unaufrichtig, wenn ich Ihnen den wahren Sach-
verhalt memer Entlassung vorenthalten würde.
Zwischen mir und Graf Ährenthal bestanden schon seit langem
schwere Differenzen, hervorgerufen durch verschiedene politische Anschau-
ungen, insbesondere hinsichthch meines Mißtrauens gegen Italien, sowie
durch die konstanten Widerstände, welche Graf Ährenthal allen meinen
Bemühungen für Schlagbereitschaft der Armee entgegensetzte. Als ich
nun am 15. November m einem eingehenden Memoire all dieses bei Seiner
Majestät vertrat, führte Ährenthal die Krise herbei, welche mit meiner
Entlassung endete. Ich bin nicht von der Art, Widerständen auszuweichen
imd fahnenflüchtig zu werden. Ich wurde einfach verabschiedet.
Wenn es zum Heil der großen Sache war, so bin ich gerne gefallen,
ob es aber zum Heil der Sache war, wh-d wohl erst die Zukunft lehren.
Erlauben E. E., daß ich noch die nachfolgende Angelegenheit vor-
bringe. Graf Kageneck ist sehr bestürzt, daß bei diesem Ereignis eine
Mitteilung in die Öffentlichkeit gedrungen ist, die er mir gemacht hat.
Es ist mir das unendlich peinlich, und ich wäre unglücklich, wenn dadurch
diesem ausgezeichneten Offizier, der sich geradezu hervonagend an seiner
Stelle erwiesen hat, auch nur der geringste Nachteil erwachsen würde.
286
Er hat sich zweifellos als ganz erstklassiger Militärattache bewährt,
der stets so eingehend informiert war und der hier mit vollstem Rechte
eine geradezu glänzende Stellung errungen hat.
Ich bitte E. E. um Ihre diesbezügliche so maßgebende Einflußnahme.
Wie glücküch ich wäre, wenn es mir vielleicht noch einmal vergönnt
wäre, mit E. E. über so manches persönlich zu sprechen, brauche ich
wohl nicht besonders zu betonen. In der Hoffnung hierauf bitte ich Sie
erneuert, der aufrichtigsten Freundschaft versichert zu sein, mit der ich
stets bleibe ^^^ Exzellenz ergebenster Conrad."
Die Stelle dieses Briefes, die sich auf Graf Kageneck bezieht, betrifft
folgendes: Ein Artikel der „Zeit" hatte die Nachricht gebracht, daß der
italienische Botschafter Herzog von Avarna bereits am 29. November von
meiner Enthebung Kenntnis hatte, obzwar die Enthebung erst am
30. November in der Audienz bei Seiner Majestät offiziell erfolgte. Dies
veranlaßte Graf Ährenthal zu einem Vortrag an Seine Majestät vom
20. Dezember 1911, der nach Ausfällen gegen das Kriegsministerium und
den Generalstab, speziell gegen das vom Kriegsministerium ergangene
Communique über meine Enthebung folgende Stelle enthielt:
„Im Zusammenhange mit diesen Vorgängen halte ich es für
unerläßlich, folgenden bedauerliclien Zwischenfall zur Kenntnis Eurer
Majestät zu bringen:
Am Tage nach dem Bekanntwerden des Rücktrittes Freiherm von
Conrads war in dem Wiener Blatte »Die Zeit« eine Notiz erschienen,
in welcher mit einer nicht mißzuverstehenden Insinuation behauptet wurde,
daß außer den nächstbeteiligten hohen Würdenträgem nur eine
Persönlichkeit, und zwar der italienische Botschafter
an Euer Majestät Hofe schon vorher von der Demission des
Chefs des Generalstabes Kenntnis gehabt habe. Letzterer habe schon in
den Mittagsstunden des 3 0. November die Nachricht
dem deutschen Botschafter Herrn von Tschirschky
mitgeteilt und die Bemerkung daran geknüpft, der Chef des Generalstabes
sei »auf dem Altar des Dreibundes geopfert worden.^
Herr von Tschirschky habe hierauf einen Vertrauensmann zu Freiherm von
Conrad gesendet, welchem die Mitteilung des Herzogs Avama sodanr-
bestätigt wurde.
Als ich auf die Notiz aufmerksam geworden war, wartete ich ab,
daß die beiden durch diese Affäre kompromittierten Botschafter mir über
den Zwischenfall Aufklärungen erteilen Moirden. Die beiden Diplomaten
fanden sich auch bei dem von mir am 7. d. M. abgehaltenen Diplomaten-
287
empfange ein, und ich war in der Lage, aus ihrer übereinstimmenden
Darstellung folgenden Tatbestand festzustellen : Herzog Avarna
hatte tatsächlich aus einer Quelle, die er mir nicht
nannte, schon am 2 9. vorigen Monats spät abends die
Nachricht vom Rücktritte Freiherrn von Conrads
erfahren und dies hierauf dem deutschen Botschafter
mitgeteilt. Herr von Tschirschky, welcher hievon seinerseits
keinerlei Kenntnis hatte, beauftragte seinen Militärattache Grafen
Kageneck, diese Nachricht zu verifizieren. Aus den Worten
Herrn von Tschirschkys konnte ich entnehmen, daß Graf Kageneck sich
geradezu in seiner persönlichen Empfindlichkeit getroffen fühlte, weil man
ihm bei seinem fortgesetzten intimen Kontakte mit dem Generalstabe
keinen diesbezüglichen Wink erteilt habe. Er scheint diesen Gefühlen
bei einem der höheren Offiziere im Generalstabe Ausdruck verliehen und
darauf hingewiesen zu haben, daß ihm sein Botschafter eine Rüge erteilt
habe, weil er eine so wichtige militärische Angelegenheit
nicht von seinem Militärattache, sondern vom Bot-
schafter Italiens erfahren habe.
Auf Grund dieser Unterredung entstand die von der >Zeit<
publizierte Notiz, durch welche zwei Botschafter und ein Militärattache
kompromittiert erschienen und gegen den Minister des eigenen Landes
ein so schwerer Vorwurf vor der ÖffentHchkeit erhoben wurde. Dies ist
ein neuerlicher Beweis, mit welchen Gefahren die Unterhaltung von
Beziehungen mit einem so übel beleumundeten und geradezu als Revolver-
blatt zu bezeichnenden Organ verbunden ist.
Herr von Tschirschky brachte seine Aufklärungen in sehr aufgeregtem
Tone vor und konstatierte, daß man, so bedauerlich dies auch sei, unter
solchen Verhältnissen mit dem Generalstabe nur mit der größten Reserve
verkehren könne, so daß er sich genötigt gesehen habe, Graf Kageneck
zur Vorsicht zu ermahnen, da man, wie es scheint, Gefahr laufe, daß beim
Generalstab geführte vertrauliche Gespräche in die Zeitungen kommen.
Diesen für mich äußerst peinHchen Auseinandersetzungen des deutschen
Botschafters vermochte ich nichts entgegenzuhaUen.
Ich bin zwar nicht in der Lage, zu beurteilen, ob es unbedingt nötig
ist, daß im Kriegsministerium ein literarisches Bureau unterhalten werde
und wie die Bereitstellung der für das ersprießliche Funktionieren eines
solchen Bureaus erforderlichen materiellen Mittel mit der vielfach beklagten
mißlichen budgetären Situation des Kriegsressorts im Einklänge steht.
Die Vorkommnisse, über welche ich mir die ehrerbietigste Freiheit
genommen habe, Eurer Majestät im Vorstehenden Meldung zu erstatten,
veranlassen mich jedoch, an Allerhöchstdieselben die gehorsamste Bitte
2S8
zu richten, Euer Majestät wollen Allerhöchstsich bestimmt finden, dem
Kriegsministerium den Befehl zu erteilen, den Ver-
kehr mit der Presse auf das allernot wendigste zu
beschränken und vorkommenden Falles mit mir das Einvernehmen
zu pflegen, damit die etwa wünschenswerte Einwirkung auf die Presse
unter Zuhilfenahme des Pressebureaus des Ministeriums des Äußern
erfolgen könne, und weiter, daß das Kriegsministerium es in Hinkunft
unterlasse, was immer für formelle Verlautbarungen oder Enunziationen
zu veröffentlichen, welche nicht vorher zur Kenntnis des Ministers Eurer
Majestät Hauses und des Äußern gelangt sind und dessen Zustimmung
gefunden haben.
Wien, am 20. Dezember 1911. Ähren th al m. p."
Diese Ausführungen Graf Ährenthals erweisen zwei Tatsachen:
erstens, daß der italienische Botschafter tatsächhch schon am 29. November
in Kenntnis meiner Enthebung war, und zweitens, daß er dies von einem
Vertrauensmann hatte, den zu nennen er seinem Dreibundkollegen Graf
Ährenthal gegenüber verweigerte.
Man kann nur sagen: Vertrauen gegen Vertrauen!
Ich hätte hier noch meine speziellen persönhchen Verwendungen im
Jahre 1911 übersichthch kurz nachzutragen:
Erste Hälfte Juni: Große Generalstabsreise in Galizien im Räume
um Lemberg. Anschließend applikatorische Besprechung des Angriffes auf
die Ostfront von Przemysl.
Ende Juni und anfangs Juli: Generalsreise im Räume Malborgeth —
Tarvis— Klagenfurt.
23. bis 25. August: Landungsmanöver in Norddalmatien.
Anfangs September: Bei den großen Kavallerie-Manövern in Ungarn
(Kälmäncza).
12. bis 15. September: Armeemanöver in Nordungam (Karpathen).
Ferner: Prüfung der Stabs-Offiziersaspiranten für den Generalstab in
zwei Turnussen im Terrain.
Nach Übergabe der Dienstgeschäfte des „Chefs des Generalstabes"
ging ich daran, mich ganz meinem neuen Wirkungskreis als „Armee-
Inspektor" zu widmen. Dieser Dienst erstreckte sich im allgemeinen
auf die eingehende Beschäftigung mit allen die Truppenausbildung
betreffenden Fragen, im besonderen aber mit jenen, die sich aus der
Kriegsdienstbestimmung als Kommandant einer Armee ergaben.
Nach den von mir selbst (noch als Chef des Generalstabes) gestellten
Anträgen hatte jeder Armee-Inspektor, als präsumtiver Armee-Komman-
19, Conrad II
2S9
dant, im Winter eine bestimmte, vom Chef des Generalstabes festzusetzende,
seine Armee betreffende Operation mit Generalen, Generalstabsoffizieren
und Intendanzbeamten, die im Kriegsfalle zu dieser Armee gehörten,
applikatorisch durchzuarbeiten. Im Sommer war dies durch eine Übungs-
reise im Terrain zu ergänzen. Auf Grund dieser Arbeiten waren dann
auch konkrete Anträge zu stellen.
Ferner oblag dem Armee-Inspektor die Inspizierung von Korps, die
im Kriegsfalle unter seine Befehle traten. Er hatte sowohl die Eignung
der höheren Kommandanten, als die Ausbildung und Schlagfertigkeit der
Truppen zu beurteilen.
Alle einschlägigen Arbeiten waren Gegenstand meiner dienstUchen
Tätigkeit. Mein Stab war auf einen Flügeladjutanten, einen Personal-
adjutanten und einen Offizier für den Kanzleidienst beschränkt.
290
19 12
19*
Inhalt.
Rein militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor 293
Politisch-militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor 308
Der Ausbruch des Balkankrieges 311
Meine Mission in Rumänien 351
Von der Mission in Bukarest bis zur Wiederemennung zum Chef
des Generalstabes 370
Meine Wiederernennung zum Chef des Generalstabes 373
Wiederauf nahm.e meiner Tätigkeit als Chef des Generalstabes . . 376
292
Meine berufliche Tätigkeit im Jahre 1912 scheide ich in
die rein militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor;
die politisch-militärische Tätigkeit als Armee- Inspektor.
Meine Mission in Rumänien.
Meine Wiederernennung zum Chef des Generalstabes am 12. De-
zember 1912.
Die Wiederaufnahme meiner Tätigkeit als Chef des Generalstabes.
Rein militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor.
Am Schlüsse der Darlegungen für das Jahr 1911 erscheinen die
Obliegenheiten gekennzeichnet, die mit meiner Stellung als Armee-
Inspektor verbunden waren. Es ist angeführt, daß die wesentlichsten
derselben aus der Kriegsdienstbestimmung als Armee-Komman-
dant entsprangen. Dieser gemäß hatte jeder Armee-Inspektor
alljährlich mit Generalen, Generalstabsoffizieren und sonstigen Organen
der im Kriege von ihm zu befehligenden Armee eine Operation der-
selben im Winter applikatorisch*) durchzuarbeiten. Eine Instruktions-
reise im Sommer hatte es zu ergänzen. Auch waren auf Grund dieser
Arbeiten konkrete Anträge zu stellen.
Mir war bei meiner Ernennung zum Armee-Inspektor das Kom-
mando der 3. Armee für den Kriegsfall zugewiesen. Die 3. Armee
hatte nach den von mir noch als Chef des Generalstabes festgesetzten
Elaboraten im Kriegsfalle gegen Italien im allgemeinen im Gailtale auf-
zumarschieren und die Offensive über die Karnischen Alpen durch-
zuführen — im Einklang mit der vom Isonzo vorgehenden Hauptmacht
(1. und 2. Armee), während die 4. Armee bestimmt war, von Tirol aus
einzugreifen.
Die instruktive Durchnahme dieser Operation der 3. Armee war
das für 1912 gegebene Thema für die sogenannte Generalsbesprechung.
*) Will sagen: wobei auf Grund eines konkreten Beispieles die
Beurteilung der Lage, die Entschlußfassung und die Ausfertigung der
Befehle geübt wurden.
293
Ich nahm diese Besprechung im Winter und Frühjahr 1912 vor
und erstreckte sie auf alle Details der Operation. Sie bedingte vielseitige
Arbeiten der Teilnehmer. Nach Abschluß der Übung legte ich nebst
dem Bericht über die Qualifikation der Teilnehmer auch noch einen
solchen über konkrete Anträge für den Kriegsfall vor.
Ich gebe letzteren Bericht nachstehend vollinhaltlich wieder.
j^mee-Inspektor G. d. I. Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf.
Zu Res. Nr. 132.
Operative und organisatorische Anträge
auf Grund der Generalsbesprechung 1912.
Während bis zum Jahre 1909 die Befestigungen Italiens nur
an wenigen Stellen einen Widerstand entgegenstellten, welcher nicht
mit den verfügbaren Angriffsmitteln relativ leicht zu brechen gewesen
wäre, haben sich diese Verhältnisse bis 1911 dahin geändert, daß
längs der ganzen Tiroler Grenze Panzerfortifikationen entstanden,
welche die eigene Offensive wesentlich beeinträchtigen und welche reich-
liche und besonders wirksame Angriffsmittel (darunter 30-5 cm-Mörser)
erheischen.
Aber bis 1912 bestand daneben doch die Möglichkeit, durch eine —
fortifikatorisch nicht wesentlich gehinderte — Offensive der eigenen
Hauptkräfte vom Isonzo aus durch Venetien den Krieg chancenreich
zu beginnen.
Auch war bis zu dieser Zeit das Bahnnetz Venetiens nicht in
jener Weise entwickelt, wie seither, also für Italien auch nicht jenes
Gleichmaß, bezw. jener Vorsprung in der Versammlung der Streitkräfte
gewährleistet, wie dies dermalen der Fall ist und in naher Zukunft noch
mehr der Fall sein wird.
Von 1912 an ändern sich aber diese Verhältnisse noch weiter dahin,
daß die im großen Stile ausgeführten italienischen Befestigungen am
Tagliamento (Nord- und Südfriaul) der vorher relativ leicht und
entscheidend durchführbaren Offensive der eigenen Hauptkräfte vom
Isonzo aus nunmehr um so größere Schwierigkeiten entgegensetzen,
je weniger die erforderlichen Angriffsmittel eigenerseits bestehen, wie
dies leider trotz meiner jahrelangen Betreibungen der Fall ist.
Während also vor dieser Zeit (1912) die Aufgabe der 3. Armee
eine mehr sekundäre, das Vorgehen der 1. und 2. Armee lediglich unter-
stützende und m der Nordflanke schützende gewesen war, ist die Aufgabe
294
dieser Armee nunmehr eigentlich zur entscheidenden geworden, vor allem
insolange, als nicht reichliche Angriffsmittel für die 1. und 2. Armee
geschaffen sind. Aber auch dann, wenn letzteres der Fall ist, behält die
Rolle der 3. Armee diese Bedeutung, weil selbst bei ausreichenden
Angriffsmitteln die Niederkämpfung der italienischen Tagliamento-Befesti-
gungen geraume Zeit beanspruchen und dem Gegner dadurch so viel Zeit
gewähren wird, um ausreichende Kräfte in Ostvenetien zu versammeln,
deren frontaler Widerstand voraussichtlich nur dtu-ch flankierendes Vor-
gehen von Norden her zu brechen sein dürfte.
Legt nun diese kurze Erwägung vor allem nahe, ehestens und mit
aller Beschleunigung die meinerseits in meiner früheren Dienstesstellung
als Chef des Generalstabes dringend verlangten Angriffsmittel zu
beschaffen, so ergibt sich doch auch, insbesondere für die Zeit bis zur
vollen Beschaffung dieser Angriffsmittel, die Notwendigkeit, die 3. Armee
in jeder Hinsicht, daher auch hinsichtlich dieser Angriffsmittel, derart
auszugestalten, daß die Hindernisse, welche sich ihrer dermalen mehr
als früher entscheidenden Offensive entgegenstellen, rasch und sicher
beseitigt, respektive überwunden werden können. Ehe ich auf meine
diesbezüglichen engeren, die 3. Armee betreffenden Anträge zurück-
komme, möchte ich nur im allgemeinen nochmals die Dringlichkeit der
Beschaffung der Angriffsmittel, d. i. Aufstellung der nötigen Angriffs-
artilleriebataillone und deren Ausrüstung mit schweren Mörsern (30-5)
betonen und dabei auch auf meine Anträge bezüglich der sonstigen
Angriffsmittel (Savartinengeschütze*), Sprenggeschoßwirkung aus Luft-
fahrzeugen, Lufttorpedos etc.), sowie auf meinen Antrag Res. Gstb.
Nr. 3804 vom 4. Oktober 1911 zurückkommen, in welchem ich die
Konstruktion von Geschossen nahelegte, welche den Verteidiger auf
geraume Zeit zu betäuben und dadurch wehrlos zu machen imstande
sind. »
Hand in Hand hiemit muß die Ausrüstung und spezielle Aus-
bildung der Pioniere für den Pionier angriff besonders gepflegt werden.
Nunmehr auf die Verhältnisse bei der 3. Armee eingehend, seien
diese vor allem im wesentlichen wie folgt charakterisiert:
Aus der Strecke Innichen — Tarvis in die Strecke Lorenzago — Fellatal
bestehen an Straßen, bezw. fahrbaren Verbindungen nur:
1. Toblach, Landro, Auronzo, Lorenzago.
2. Innichen, Kreuzberg, Comelico.
3. Pontafel, Resiutta, Stazione per la Camia.
*) D. i. Minenwerfer.
295
Von diesen ist
Nr. 1 durch die Befestigungen von Vigo— Lorenzago (speziell drei
moderne Panzerwerke) gesperrt.
Nr. 2 liegt bei Comelico auf geraume Strecke im Feuer des Panzer-
werkes Mte Tudajo.
Nr. 3 ist durch das Panzerwerk Chiusaforte, die Panzerbatterie
Mte Comielli gesperrt und wird überdies in allernächster Zeit
durch das bereits im Bau befindliche Panzerwerk Mte Festa
gesperrt sein.
Außer diesen, wie oben dargelegt, durchwegs permanent gesperrten
fahrbaren Verbindungen steht in der ganzen 80 km langen Strecke von
Innichen bis Pontafel nur die Plöckenstraße zur Verfügung, welche aber
in ihrer Fortsetzung auf italienischem Gebiet in der ca. 5 km langen
Strecke bis Timau nicht als Straße ausgebaut ist.
Noch ungünstiger stehen die Verhältnisse von der Strecke Lorenzago
— Tolmezzo bis in die Venetianer Ebene, indem über die Venetianer
Alpen keine einzige fahrbare Verbindung führt, der halbwegs in Betracht
kommende Weg Tolmezzo nach Osoppo durch die Panzerwerke Mte Festa
und Osoppo, jener Tolmezzo — Pinzano durch das Panzerwerk Ragogna
gesperrt ist.
Da aher trotz aller dieser Schwierigkeiten die Offensive der 3. Armee
zvdschen Piave und Tagliamento erforderlich ist, muß alle Energie an ihre
Durchführung gesetzt, aber auch alles vorgesorgt und geschaffen werden,
um sie technisch zu ermöglichen und rechtzeitig wirksam werden zu lassen.
Was, abgesehen von den allgemeinen normalen Vorsorgen, in dieser
Beziehung speziell nötig wird, ist gestützt auf folgendes:
1. Die Truppen müssen gebirgsmäßig, also durchwegs mit Trag-
tiertrain ausgerüstet sein, nicht nur weil es für den bloßen Durchzug
an fahrbaren Wegen fehlt, sondern auch, weil die Truppen im Falle des
fast sicher zu gewärtigenden feindlichen Widerstandes im Durchzugs-
gebiete befähigt sein müssen, überall, unabhängig von den Fahrwegen
zu operieren, resp. zu kämpfen, was vornehmlich auf den für Wagen
unerreichbaren Oberteilen der Fall sein wird.
2. Auch der Nachschub wird für die Mehrzahl der Kolonnen der
3. Armee auf den Tragtiertransport angewiesen sein und hiezu speziell
organisiert werden müssen.
3. Für den Nachschub sind jedoch so rasch als möglich fahrbare
Verbindungen zu erschließen, dies auf zweifache Weise:
a) durch Bekämpfung der feindlichen Befestigungen, welche die Straßen
sperren und
b) durch Fahrbarmachung von dermalen bloßen Saumwegen.
296
Insbesondere wird dabei auch zu trachten sein, ehestens wenigstens
eine Automobillinie verfügbar zu haben, vor allem aber überhaupt
eine leistungsfähige Straße.
Dies bedingt:
a) Die Ausrüstung der 3. Armee mit jenen Angriffsmitteln, welche
zur Bekämpfung der in Frage kommenden feindlichen Werke
notwendig erscheinen und
ß) die ausreichende Vorsorge an Bauleitern, Arbeitern und Werk-
zeugen, resp. Sprengmitteln und Material für den Straßenbau im
Kriegsfall, sowie die Durchführung aller jener dieser Bauten,
welche auf eigenes Gebiet fallen, schon im Frieden.
4. Außer der Fortbringung auf Tragtieren muß aber auch alles
vorgesorgt werden, um Geschütze gebirgsmäßig, also zerlegt fort-
bringen zu können und, wo es das Terrain nur zuläßt, auch den
Schlitten-, Karren- oder wenigstens strecken weisen Wagentransport
auszunützen, bezw. einzuschalten. Dabei wird jedes starre System,
jede Einseitigkeit zu vermeiden sein, hingegen weitestgehende Elastizität
in Verwertung des jeweilig Möglichen und Zweckmäßigen einzutreten
haben.
Ad 1. Gebirgsmäßige Ausrüstung der Truppen.
Diese muß alle Truppen der 3. Armee betreffen, weil alle auf den
bloßen Tragtiertransport angewiesen sein können; um diesen aber örtlich
und zeitlich durch Karren- oder Wagen transport zu ersetzen oder doch
zu entlasten, muß auch in letzterer Hinsicht alles Notwendige vorgesorgt
werden.
Die Offensive der 3. Armee wird sich als das Vorgehen neben-
einander gruppierter Divisionen darstellen, deren jede mindestens einen
besseren Saumweg zur Verfügung hat, aber auch, behufs Kürzung der
im Einzelmarsch enormen Kolonnenlängen, alle übrigen in ihre Marsch-
zone fallenden Wege ausnützt.
Wären außer dem Hauptweg z. B. zwei solcher Wege verfügbar,
so könnten diese von je einem Infanterieregiment nebst Gebirgsartillerie
benützt werden, so daß der Hauptweg nur mit zwei Infanterie-
regimentern und den übrigen Truppen der Division belastet wäre; bei
nur einem Nebenweg blieben drei Regimenter für die Hauptkolonne;
im ersteren Fall hätte die Infanterie der letzteren, per Mann zirka drei
Schritt gerechnet, was auf Gebirgswegen ohnehin sehr wenig ist,
3 X 7000 = 21.000 Schritt im Einzelmarsch, zirka 11.000 Schritt im
Reihenmarsch; im letzteren Fall wären diese Ziffern 3 X 10.000 =
30.000 Schritt, bezw. 15.000 Schritt.
297
Dazu kommen jetzt noch die Kolonnenlängen aller übrigen Teile
der Division.
Ad 2. So wie aber dergestalt hinsichtlich des Marsches jede
Infanteriedivision eine selbständige Marschgruppe wird bilden müssen,
innerhalb welcher der Divisionär selbständig und selbsttätig alles für
den Marsch Erforderliche wird zu veranlassen haben, wird dies auch
hinsichtlich des für jede Division erforderlichen Nachschubes geschehen
müssen; es wird sich also jede Division gleichsam eine eigene Nach-
schublinie einrichten müssen; sie wird daher mit dem hiezu nötigen
Personal, den erforderlichen Truppen, Material etc. etc. zu beteilen sein.
Ad 3. Aber außer diesen, vornehmlich als Saumwege zu denkenden
Nachschublinien der einzelnen Divisionen wird seitens des Armee-, resp.
Armee-Etappenkommandos getrachtet werden müssen, ehestens fahrbare
Verbindungen (Straßen) in das vorschreitende Echiquier der Armee
zu bringen, um den Wagen- und Autonachschub einzuleiten und dadurch
den Tragtiernachschub der Division zu entlasten.
An die Ausgangspunkte der Divisionsnachschublinien, sowie an
jene der Armeenachschub-(Etappen-)Linien werden durch das Armee-
Etappenkommando die erforderlichen Nachschubvorräte rechtzeitig zu
schaffen sein, während dieselben, soweit sie nicht im Etappenraum auf-
bringbar sind, von der Zentralstelle (KM.)*) zugeschoben werden müssen.
Es ergibt sich dabei folgendes Ineinandergreifen
*) Kriegs-Ministeritun.
298
111, 2 2 2, 33 3 etc. sind die Divisionsnachschublinien; auf jeder
derselben organisiert sich jede Division ihren Staffelnachschub, sie
richtet hiezu die Linie ein, d. h. sie etabliert Zwischenstationen, v^o die
Transporte rasten, tränken, nächtigen, füttern, menagieren können, sie
organisiert Wegerhaltungs-Detachements, denen bestimmte Strecken
ständig zugewiesen smd (Zivilingenieure, Arbeiterabteilungen etc. etc.);
Trainoffiziere, welche den Staffelverkehr regeln, bezw. disziplinar und
ansonst eingreifen.
Übernahms-Kmdn. in den Ausgangspunkten a^— ag etc.
Das Armee-Etappenkommando schiebt in diese Ausgangsstationen
die Vorräte zu (Straßentransport, Autos, Feldbahn), nachdem es das
Gesamtquantum in A sichergestellt hat, sofern dasselbe nicht wenigstens
teilweise direkt in die Ausgangsstationen a^, ag etc. beigestellt wird.
Für die Zuschiebung dieser Vorräte erweist sich der Ausbau der
Oailtaistraße als leistungsfähiger auch für den Autotransport geeigneter
Straße dringend und die Fortsetzung der Bahn von Hermagor — Gail
aufwärts für sehr erwünscht.
Die Sicherstellung in A erfolgt teils durch direkte Käufe, teils
durch Zuschub von Verpflegszügen seitens der Zentralstelle. Dabei
wird damit zu rechnen sein, daß man Fleisch und Heu (Weide) im
Operationsraum aufbringt und daß statt Brot nur Zwieback transportiert,
Brot aber nur dort verabreicht wird, wo es sich an Ort und Stelle
erzeugen läßt; es mitzutransportieren wäre widersinnig.
Es werden daher zuzuschieben, resp. zu transportieren sein:
Normalportionen, außer (400 g) Fleisch, dabei Zwieback statt Brot,
d. i. zirka 600 g per Mann;
ferner Hafer, resp. Hartfutter für die Pferde.
Es wird daher an den Übernahmsstationen a^, sl^ ^tc. täglich der
Tagesbedarf für die betreffende Kolonne (inklusive ihrer im Ausgangs-
punkte zurückbleibenden Teile) eintreffen müssen. Um aber im Falle
von Verzögerungen nicht aufzuliegen, werden schon während des Auf-
marsches in den Ausgangspunkten ausreichende Vorräte angesammelt
und, um Zuschubstrecken zu kürzen, zum Teil auch weit vorn deponiert
werden müssen.
Da aber die Ingangsetzung des Nachschubes anfänglich manche
Schwierigkeiten finden, also einige Zeit brauchen wird, da femer alles
angestrebt werden muß, um den Nachschub nicht ins Ungemessene
wachsen zu lassen, wird die Truppe bei Beginn der Operationen eine
größere Anzahl Tagesrationen mittragen müssen, was sie ja auch kann,
da mit jedem Tag eine Entlastung eintritt.
299
Würde man die Gebirgszone ohne feindlichen Widerstand und ohne
besondere Verzögerung durchziehen, so wären hiezu zirka vier Märsche
notwendig, und zwar:
1. ComeHco, Fomi Avoltri, Paluzza, Paularo;
2. an den oberen Tagliamento;
3. bis mittwegs der Venezianer Alpen;
4. in die Ebene (Montereale,, Traversia).
Rechnet man hiezu jedoch noch etwa vier Tage für Gefechte, und
stellt man die Forderung, daß die Truppen mit einer mindestens vier-
tägigen Verpflegung von Mann und Pferd am Rand der Ebene ein-
treffen, so ergäbe dies die Notwendigkeit, bis zum achten Tage
12 Rationen mitgebracht zu haben. Trägt der Mann von Haus aus
4 Rationen*), so wären also 8 Rationen bis zu diesem Zeitpunkt nach-
zuschieben.
Aber auch für die nächste Folge wird die 3. Armee auf den Nach-
schub durch den eigenen Rayon angewiesen sein, weil die vom Isonzo
nach West führenden Zuschublinien teils fortifikatorisch gesperrt, teils
ganz für die 1. und 2. Armee erforderlich sein werden.
Also auch dann bleibt es für die 3. Armee notwendig, sich selbst
im eigenen Rayon ehestens fahrbare Nachschublinien zu schaffen, somit
teils solche zu bauen, teils solche zu eröffnen.
In letzterer Hinsicht wäre es wohl am erwünschtesten, wenn es
gelänge, Bahn und Straße von Pontafel nach Spilimbergo frei zu
bekommen; dies bedingt aber die Niederkämpf ung der Panzerwerke
Chiusaforte, Mte Festa, ComieUi, Osoppo, Ragogna, eventuell noch
zweier Werke von Nordfriaul.
Könnte auch, was jedenfalls angestrebt werden müßte, Chiusaforte
in seiner jetzigen Verfassung durch Handstreich mittelst Pionierangriff
*) „Es erscheint ohneweiters angängig, dem Mann auch noch mehr
Rationen mitzugeben; dabei muß vorgesorgt v^erden, daß Abwechslung
in der Kost eintrete, also auch Käse, gekochtes Rind-, Schaf- und
Ziegenfleisch, geräuchertes Fleisch, Hülsenfrüchtemehl u. dgl. mit-
genommen werden; aus sanitären Gründen überdies reichlich Tee und
Zucker, womöglich auch Marmeladen; Zucker überdies als Nahrungs-
mittel.
1878 krankte die Verpflegung mit frischgeschlagenem Fleisch an
der Unkenntnis der Zubereitung desselben. Durch den von einem
Intendanzbeamten vorgeschlagenen, bei der 8. Division 1906 in Tirol
erprobten Modus des Abkochens erscheint dem abgeholfen; letzterer
wäre der Truppe geläufig zu machen."
300
genommen werden, so restringiert sich diese Möglichlceit jedoch, sobald
die im Zuge befindliche Ergänzung Chiusafortes perfekt ist. Die Nieder-
kämpfung aller übrigen genannten Werke benötigt jedoch geraume Zeit,
auch werden Bahn und Straße im Fellatale, weil reichlich miniert,
bedeutend gestört sein, also langer Zeit zur Wiederherstellung bedürfen.
Es erscheint daher, soweit es die Kommunikationseröffnung durch
Bekämpfung der femdlichen Werke betrifft, immer noch zweckmä feiger,
diese gegen die Befestigungen von Lorenzago — Pieve di Cadore zu richten.
Bezüglich dieser, im obigen nur vom Nachschubstandpunkt in
Betracht gezogenen Bekämpfung der feindlichen Werke kommt aber
vornehmlich auch die operative Rücksicht in Betracht.
Das einfache Vorwärtskommen der Truppen der 3. Armee findet
nämlich zwei erhebliche fortifikatorische Hindernisse, und zwar:
1, Für die westlichste Kolonne der 3. Armee kommt als günstigste
Marschlinie die Straße von Innichen über den Kreuzberg nach Comelico
in Betracht. Diese liegt aber seit Errichtung der granatsicheren Panzer-
batterie Mte Tudajo im Feuer dieses Werkes, und zwar in der Strecke
Comelico (St. Stefano) bis S. Pietro im direkten; es kann daher nur
bei Nacht und Nebel, und dies erst nach Zurückwerfen aller feindlichen
Außentruppen (Beobachtern), gehofft werden, hier unbehelligt durch-
zukommen — ein Zustand, der im Hmblick auf Nachschub, Wa2,en- oder
Autoverkehr etc. wohl nicht in Kauf genommen werden kann, so daß es
also nötig wird, das Werk Mte Tudajo niederzukämpfen. Wollte man
dies mit Haubitzen bewirken, so müßten diese aus Porteegründen am
Südabfall des Rückens von Dante — St. Antonio etabliert werden, wobei
sie in wirksames Feuer des Panzerwerkes Col Vidal kämen, so daß auch
dieses niedergehalten werden müßte.
Nur weittragende Mörser würden die Möglichkeit bieten, Mte
Tudajo aus dem Tal von Comelico, also unbelästigt von Col Vidal, zu
bekämpfen. Die Ausrüstung mit solchen wird daher für die hier vor-
gehende Kolonne der 3. Armee erforderlich. Um bis zur Niederkämpfung
des Mte Tudajo im Vorwärtsbringen der Truppen nicht aufgehalten
zu sein, legt es sich nahe, die hiefür in Betracht kommenden Teile der
bei Innichen— Sillian versammelten Kräfte nicht über den Kreuzberg,
sondern über Tilliach und das Tilliacher Joch heranzuziehen, dies auch
deshalb, um sie in eine Richtung zu bringen, aus welcher sie feind'ichen
Flankenstößen von Vigo, Lorenzago gegen die 3. Armee wirksam
begegnen könnten. Dies verlangt den ehesten und bereits seit Jahren
angeforderten Ausbau der Straße Sillian— Kartitsch— Tilliach, dann
möglichst weiter bis zur Grenze.
301
Allerdings hätten auch hier vorgehende Truppen den Eingang ins
Frisonetal im Feuer des Mte Tudajo zu passieren, aber nur auf einer
kurzen Strecke und auf einer Entfernung von über 8000 Schritten;
zudem ließe sich selbst diese Stelle über Granvilla umgehen.
Ein entsprechendes Detachement müßte natürlich an der Kreuz-
bergstraße verbleiben, um feindlichen Unternehmungen gegen das
Pustertal Schranken zu ziehen und die Befestigungen von Vigo —
Lorenzago im Norden abzuschließen.
2. Das zweite, sich dem Vorwärtskommen der 3. Armee empfindlich
entgegenstellende fortifikatorische Hindernis ist der Mte Festa. Nicht
nur, daß derselbe das Vorwärtskommen der von Pontafel über Moggio
vorgehenden eigenen Kräfte hemmt, beherrscht er auch die Gegend von
Tolmezzo und damit die von Paularo und Paluzzo kommenden Straßen,
sowie den von Tolmezzo m das Tal von Arzino führenden, für das
Vorwärtskommen der 3. Armee erforderlichen Weg. Die Nieder-
kämpfung des Mte Festa ist daher für diese eine Notwendigkeit, und
die hiezu erforderlichen Mittel müssen ihr gegeben werden. Dies
bedingt die Beteilung mit, so weit möglich, schweren Mörsern und die
Aufbietung aller Mittel, um die für ihre Fortbringung nötige Straße
ehestens herzustellen. Als solche kommt jene über den Plöcken vor
allem in Betracht, aber es wird auch anzustreben sein, durch konstruktive
Einrichtungen es zu ermöglichen, schwere Mörser — mindestens zwei,
womöglich vier — auch auf minder guter Straße vorwärts zu bringen.
Überdies wird gegen den Mte Festa der Handstreich und Pionier-
angriff zu versuchen, daher die hier vorgehende Gruppe der 3. Armee
dementsprechend auszurüsten sein.
Außer diesen beiden, sich den Armeeflügeln entgegenstellenden
permanenten fortifikatorischen Hindernissen wird aller Voraussicht
nach damit zu rechnen sein, daß der Feind im Höhenterrain südlich
der Grenzzone, dann am oberen Tagliamento einen auf feldmäßige
Befestigungen basierten Widerstand leisten wird; diesen zu brechen
müssen daher alle Divisionen ausreichend mit Haubitzen versehen sein,
als welche die 10-5 cm-Feldhaubitzen genügen dürften, nur müssen sie
für den Gebirgstransport eingerichtet sein, was schon im Frieden vor-
gesorgt werden muß.
Wenn im Vorstehenden das Maß der aus rein operativen Grün-
den erforderlichen Bekämpfung feindlicher Befestigungen festgestellt
erscheint, so sei jedoch hier nochmals auf die aus Nachschubgründen
notwendige Niederkämpfung der Befestigungen von Vigo Lorenzago
und Pieve di Cadore zurückgekommen. Es wäre erwünscht, daß zu
diesem Zweck ein zum Teil aus Landsturmtruppen gebildetes spezielles
302
Angriffsdetachement bestimmt und ausgerüstet würde, welches, über
den Kreuzberg vorgehend, den Mte Tudajo, Col Vidal und die Werke
bei Vigo zu nehmen, dann gegen die alten Werke von Pieve di Cadore
vorzugehen, endlich das Werk Pian del Antro in der Kehle anzugreifen
hätte.
Schon im Frieden wäre die jetzt noch recht mindere Kreuzbergstraße
auszubauen, so daß nach Wegnah sne der obgenannten Befestigungen
eine Automobillmie Innichen— Pieve di Cadore — Belluno der 3. Armee
zur Verfügung stände.
Seit dem Ausbau von Nord- und Südfriaul, welche die Kommuni-
kationen in der Ebene so wesentlich unterbinden, hat die Bedeutung der
obgenannten Linie an Dringlichkeit zugenommen, sodaß besondere
Maßnahmen zu ihrer Eröffnung gerechtfertigt erscheinen, umsomehr, als
die allerdings leichter zu eröffnende Straße Pieve— Cencenighe — Agordo
erst für ein späteres Stadium der Offensive in Betracht kommen kann.
Wenn im Vorstehenden auch die Notwendigkeit dargelegt wurde,
die Truppen durch Ausrüstung mit Tragtieren für die Operationen
möglichst mobil und vom Wegnetz unabhängig zu machen, so verlangt
doch einerseits die Fortbringung verschiedenen schwereren Materials
(Geschütze, schwere Munition, Brückenmaterial etc.) die eheste Her-
richtung von Fahrwegen und wird aber auch anderseits für das
möglichst fließende Fortbringen der Tragtiere die gründliche Aus-
besserung minderer Saumwegstrecken erforderlich, dies besonders über
die Venetianer Alpen. Reichlichste Vorsorge an Arbeitskräften und
Arbeitswerkzeugen, resp. Material für diese Herstellungen ist daher
unerläßlich.
Was die fahrbaren Verbindungen anbelangt, so w^äre es sehr
mißlich, wenn die 3. Armee einzig und allein auf die Plöckenstraße
angewiesen wäre, nicht nur weil diese den enormen Verkehr kaum aus-
halten würde, sondern auch, weil es seine großen Schwierigkeiten haben
dürfte, von ihr aus den ganzen Train wieder nach seitwärts zu verteilen.
Es wäre daher sehr erwünscht, den Weg von Kronhof zum Promoser
Törl als Straße auszubauen und dann nach Cleulis oder Timau fort-
zusetzen. In gleicher Weise wäre der Weg von Tilliach zum Tilliacher
Joch und jener von Lugau zum Mitter jöchel fahrbar herzustellen.
Für alle diese Arbeiten empfiehlt es sich, Zivil-Straßenbauingenieure
heranzuziehen und dies schon im Frieden zu organisieren.
Da es im Verlauf der Operation notwendig werden kann, den
oberen Tagliamento, welcher zur Hochwasserzeit nicht furtbar ist, mit
künstlichen Mitteln zu übersetzen, so muß auch hiefür vorgesorgt
werden, eine diesbezügliche, schon im Frieden vorzunehmende Rekognos-
303
zierung der Strecke Forni di Sopra — Stazione per la Carnica erscheint
geboten; sie hätte festzustellen, welche die geeignetsten Übergangspunkte
sind, welches Material erforderlich ist, was von diesem Material an
Ort und Stelle beschaffbar, was anderseits davon mitzubringen ist,
Munition. Ein ganz besonderes Vordenken wird für die Ver-
fügbarhaltung der erforderlichen Munition notwendig, denn es muß
diese vorhanden sein, erstens für die sicher zu erwartenden Kämpfe im
Gebirge, d. i. während des Vorgehens bis zum Südrand des letzteren,
zweitens aber auch für die in dei E^ene zu erwartenden Entscheidungs-
kämpfe. Es kommt also auf eme zutreffende Kombination an, dahin-
gehend, inwieweit die Transportmittel für Verpflegung, inwieweit sie aber
für Munition auszunützen sem werden.
Da der Mann eine höhere Verpflegsdotation als die normale mit-
nehmen muß, so geht es nicht an, ihn wesentlich mehr als normal
auch mit Munition zu belasten; da aber anderseits an den Tragtier-
nachschub ohnehin sehr hohe Anforderungen gestellt werden, so wird
es erforderlich, möglichst viel Munition durch alle jene Leute mittragen
zu lassen, welche organ'sationsgemäß nicht mit solcher beteilt und auch
sonst nicht stark belastet sind (also Unteroffiziere, Tragtierführer,
Spielleute, Arbeiter etc. etc); dieselben hätten die derart mitgebrachte
Munition, sofern sie dieselbe nicht direkt an die Truppe abgeben, an
bestimmten Orten zu deponieren, von wo sie dann die Truppe abzuholen
vermöchte. Ebenso werden Kavallerieabteilungen auf jenen Strecken, in
welchen sie die Pferde nur an der Hand zu führen vermögen, Hafer
oder Munition mittelst der Pferde fort: ringen müssen.
Sanitätsmaßnahmen. Wenn auch für das Rückschaffen
von Kranken und Verwundeten die rückkehrenden leeren Staffeln zur
Verfügung stehen, so gestaltet sich doch ein solcher Transport auf
schwierigen Gebirgswegen derart anstrengend, daß er für Schwer-
verwundete und Schwerkranke ausgeschlossen erscheint; diese müssen
daher im Operaticnsraum selbst Pflege finden, wofür ad hoc Anstalten
in den Orten des letzteren improvisiert werden müssen. Es kommt dabei
nur darauf an, daß Ärzte, Sanitätspersonal, Verbandzeug, Instrumente
und Medikamente hiezu mitgenommen werden, alles andere, wie Liege-
stätten u. dgl., muß an Ort und Stelle beschafft werden.
Als großes Prinzip muß durch alle Anordnungen gehen, daß
absolut nichts Überflüssiges mitgenommen werde und daß jeder Mann,
jedes Pferd oder Tragtier, jedes Fuhrwerk bis zur vollen Belastungs-
fähigkeit ausgenützt werde.
Bei der Generalsfcesprechung ließ ich die obigen Fragen möglichst
auf den konkreten Fall der Annahme applizieren; die dabei sich ergeben-
304
1
1
den Details sind in den Arbeiten des Armee-Etappenkommandos
enthalten, welche ich beilege, und von denen ich besonders jene des
Oberstleutnants Landwehr hervorhebe.
Ich würde es sehr zweckmäßig erachten, wenn die für die Armee-
Etappenkommandos designierten Generalstabsoffiziere oder doch der
Generalstabschef des Armee-Etappenkommandos an den Vorbereitungs-
arbeiten für seine Armee mitarbeiten würden.
Auf eine außerhalb des Rahmens der Generalsbesprechung
gelegene operative Frage möchte ich hier noch eingehen.
Für die Aktionen der 3. Armee wird es von größter Bedeutung, daß
eigene, möglichst starke Kräfte von Araba— Pieve gegen das mittlere
Piavetal (Longarone— Belluno) emgreifen, erstens wegen der Ein-
wirkung in operativer Beziehung, zweitens aber auch wegen der
Möglichkeit, die Straße Pieve di Livinalungo nach Longarone oder
Belluno für den Nachschub zu erschließen. Notwendig wäre hiezu die
eheste Vorschiebung der bei Bruneck aufmarschierenden eigenen Kräfte
nach Corvara, Araba, Pieve, der Ausbau der Straße von Pieve zur
Grenze; die Beteilung der hier vorgehenden Kolonne mit Angriffsmitteln
gegen die veralteten Befestigungen von Agordo und mit Arbeits-
mannschaft zur Herstellung des Weges von Selva bis Mareson. Diese
Kräfte wären dem 3. Armee-Kommando zu unterstellen.
Was endlich den Aufmarsch der 3. Armee anlangt, so legt es sich
anbetrachts der neuesten Entwicklung des italienischen Befestigungs-
systems nahe, denselben in den Raum westlich (doch inklusive) Kirch-
bach zu verlegen, um sie zwischen der Linie Innichen — ComeUco— Fomi
di sopra und Kirchbach— Paularo— Tolmezzo (inklusive dieser Linien)
vorzuführen, in das Kanaltal aber nur soviele Kräfte zu verweisen, als
nötig sind, um (gestützt auf Malborgeth) ein Vordringen des Gegners
zu verwehren, beziehungsweise bei der eigenen Offensive die Ostflanke
der 3. Armee zu schützen und beim Angriff auf den Mte Festa mit-
zuwirken; dies alles aus folgenden Gründen:
Aus dem Aupatal führen nur minderwertige Wege in das Tal des
Chiarso und But über das diese Täler trennende Gebirge, während die
Straße von Moggio nach Tolmezzo im Feuer von Comielli und Mte
Festa liegt, so daß ein rechtzeitiges Eingreifen der durch das Kanaltal
vorgehenden Kräfte in den Kampf bei und westlich Tolmezzo auf
Schwierigkeiten stoßen dürfte.
Das Vordringen starker eigener Kräfte findet an den permanenten
feindlichen Befestigungen einen zu nachhaltigen Widerstand, der bei
Hochwasser unpassierbare Tagliamento zwingt zum Ansetzen der
20, Conrad II 305
Hauptkräfte westlich Tolmezzo; das Werk am Mte Festa erhöht diesen
Zwang, insolange es nicht gelungen ist, sich desselben zu bemächtigen
(was allerdings vor allem angestrebt werden müßte).
Conrad m. p., G. d. I."
Für die im Sommer vorzunehmende Übungsreise versammelte ich
die Teilnehmer in Lienz im Drautale und führte sie in der Zeit vom
8. bis 13. Juli über den Zochenpaß (der Gailtaler Alpen) ins Gailtal
und auf die Karnischen Alpen, wobei mannigfache Einzelheiten durch-
gesprochen wurden.
Vom 24. bis 29. August wohnte ich den mit einer scharfen Schieß-
übung verbundenen Schlußübungen des 14. Korps im Räume Trient —
Lardaro bei, gelegentlich w^elcher das indirekte Mörserfeuer gegen
Befestigungen im Gebirge zur Ausführung gelangte.
Vom 29. August bis 3. September befand ich mich in meiner Eigen-
schaft als Armee- Inspektor bei den Schlußübungen des 3. Korps östlich
Zirknitz in Krain, dann in gleicher Eigenschaft bei jenen des 2. Korps
vom 5. bis 7. September bei Hochwolkersdorf im Wechselgebiet in
Niederösterreich.
Vom 8. bis 12. September war ich den größeren Manövern bei
Mezöhegyes in Südungarn beigezogen.
Noch im September erhielt ich die Verständigung, daß ich im
Sinne der Weisungen Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzogs Franz
Ferdinand in Hinkunft für das Kommando der 4. Armee bestimmt
werde. Sie hatte sich im Kriegsfalle gegen Italien: in Tirol, in jenem
gegen Rußland : im Räume nördlich der Linie Przemysl, Lemberg zu ver-
sammeln.
Im Laufe des Sommers 1912 war mir seitens des Chefs des General-
stabes die Antwort auf meine anläßlich der Oeneralsbesprechung
gestellten Anträge zugegangen. Ich erwiderte sie mit folgender
Zuschrift:
„Wien, 26. Oktober 1912.
Auf die Zuschrift Res. Glstb. Nr. 2797 von 1912 beehre ich mich
nachfolgendes zu erwidern:
Die Fertigstellung der schweren Mörserbatterien und sonstigen
Angriffsmittel betrachte ich als eine der allerdringendsten Sachen, wobei
ich nicht umhin kann, darauf hinzuweisen, daß Italien bereits neue
Werke zu bauen beginnt, so daß die 3. Armee reichlich mit Angriffs-
artillerie ausgerüstet werden müßte, wenn sie vorwärts kommen soll.
Ich wäre sehr verbunden, wenn E. E. mir mitteilen lassen würden,
mit welchen artilleristischen Angriffsmitteln die 3. Armee zu rechnen
306
hat, in welchem Stadium sich die Fragen bezüglich der schweren
Mörser, der neuen 10 cm- und 15 cm-Haubitzen, der Minenwerfer, der
beantragten kleinkalibrigen Kanone zum direkten Beschießen empfind-
licher Teile permanenter Werke, von Lufttorpedos, Geschossen, welche
bei der Explosion betäubende Gase entwickeln, und endlich bezüglich
der Gebirgsausrüstung der Truppen der 3. Armee befinden.
Auch ich halte eine Überlastung des Mannes für nicht angenehm;
wenn man die nötigen Mittel hätte, Munition und Verpflegung gleich
anfangs nachschieben zu können, wäre dies gewiß erwünschter, fehlt
es an derartigen Mitteln, bleibt wohl nichts anderes übrig, als dem
Mann von Haus aus mehr mitzugeben.
Der Heranziehung der Mannschaft zu Trägerdiensten vermag ich
nicht beizustimmen; der wehrpflichtige Mann ist in erster Linie
Kämpfer, man könnte somit Trägerabteilungen nur aus dem Zivil und
aus nicht waffenfähigen Landsturmleuten formieren.
Was die Nachschublinien anbelangt, so wäre, da die Plöckenstraße
allein den ganzen Verkehr bestimmt nicht bewältigen könnte, die
Eröffnung der Straße Pontafel— Tolmezzo — Enemonzo gewiß sehr
erstrebenswert, nur müßte für die ausreichende Dotierung der 3. Armee
mit den notwendigen Mitteln zur Niederkämpf ung von Chiusaforte und
Mte Festa, in Hinkunft auch der angeblich bei Enemonzo geplanten
Werke vorgesorgt werden, was jetzt leider nicht der Fall ist.
Dabei müßte für die 3. Armee derart vorgesorgt werden, daß
Mte Festa und Chiusaforte gleichzeitig angegriffen werden können,
nicht eins nach dem andern, was zuviel Zeit wegnehmen würde.
Gegen die Absicht, bezüglich Unterstellung der 10. Division erst im
Verlaufe der Operationen zu entscheiden, habe ich nichts einzuwenden.
Schließlich danke ich noch vielmals für die Übersendung der drei
Rekognoszierungsberichte, die ich dem Operationsbureau bereits direkt
zurückgestellt habe, und bitte, auch in Hinkunft mir derartige Berichte
zukommen lassen zu wollen.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hoch-
achtung etc. ^
Conrad m. p.
Meine sonstige militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor erstreckte
sich auf das Detailstudium der verschiedenen Vorschriften, auf
organisatorische und taktische Fragen, auf das Verfolgen der technischen
Fortschritte, die Lektüre von Fachwerken, die Abgabe von Gutachten,
endlich auf die Berichte über Zustand und Ausbildung der von mir
inspizierten Truppen und die Eignung der Generale und höheren Stabs-
offiziere.
307
Politisch-militärische Tätigkeit als Armee-Inspektor.
Mit meiner Enthebung von der Stelle des Chefs des Generalstabes
waren für mich auch alle jene offiziellen Quellen versiegt, die mich bisher
über die politische und militärische Lage, speziell auch mit Bezug auf das
Ausland orientierten. Ich war in dieser Hinsicht nunmehr im wesent-
lichen lediglich auf die Zeitungs-Lektüre angewiesen. Es ist selbst-
verständlich, daß ich dieser mit vollem Interesse, vornehmlich in HinbUck
auf jene Fragen oblag, die ich vital für Gedeihen und Bestand Österreich-
Ungarns erachtete.
Nur hinsichthch der Ereignisse des Tripolis- und später des Balkan-
krieges erhielt ich — gleich allen Armee-Inspektoren — offizielle Mit-
teilungen über den Gang der Operationen in Form von im Evidenzbureau
des Generalstabes zusammengestellten Tagesberichten.
Am 17. Feber 1912 war Graf Ä h r e n t h a 1 einem längeren schweren
Leiden erlegen. Sein Nachfolger war Leopold Graf Berchtold, der
mehrjährige k. u. k. Botschafter in Petersburg. Ich hatte nie Gelegenheit
gehabt, Graf Berchtold persönUch kennen zu lernen. Anbetrachts meiner
nunmehrigen rein militärischen Stellung suchte ich auch eine solche nicht.
Selbst bei den Hoffesten vermied ich sie. Erst gelegentlich eines Diners,
das Baron Leopold Chlumecky — der Verfasser eines bedeutungsvollen
pohtischen Werkes über Italien — veranstaltete, um mir Gelegenheit zu
geben, über die mit ihm öfter erörterte albanesische Frage auch mit Graf
Berchtold zu sprechen, stellte ich mich letzterem vor.
Ich gewann hiebei sofort den Eindruck, daß Graf Berchtold, bei
aller Wahnmg seiner eigenen Ansichten, auch solche anderer anzuhören,
und wenn auch nicht zu akzeptieren, so doch zu erwägen geneigt war,
ohne sich von Haus aus auf den prinzipiell ablehnenden Standpunkt seines
Vorgängers zu stellen.
Ich sah mich nun wieder — jedoch als abseits stehender Privat-
mann — in politische Auseinandersetzungen gezogen.
Aber auch noch ein anderer Beweggrund führte mich auf dieses
Gebiet; es waren die Pflichten als Geheimer Rat. Der in der Öffentlichkeit
wenig gekannte, bei der Ernennung zum Geheimen Rat vor Seiner
Majestät und dem Minister des Äußern und des KaiserUchen Hauses
308
abzulegende Eid verpflichtet mit großer Schärfe jeden Geheimen Rat zur
strengen Wahrung der Interessen der ö.-u. Monarchie, auch dazu, auf
alles hinzuweisen, was eine Gefährdung dieser Interessen nach sich
ziehen könnte.
Unter dem Drucke dieser Pflicht verfolgte ich nun auch weiter nicht
nur alle militärischen, sondern auch alle politischen Vorgänge. Allerdings
war ich bezüghch letzterer, wie schon erwähnt, hauptsächlich nur auf die
Lektüre der Tagesjournale angewiesen.
In dem Maße, als die politischen Ereignisse immer bedeutungsvoller
für Österreich-Ungarn wurden, steigerte sich bei mir auch das Bedürfnis,
meine Ansichten festzulegen imd sie an den maßgebenden Stellen aus-
zusprechen.
Da ich dies nur ausgehend von meiner Eigenschaft als Geheimer Rat
zu tun vermochte, konnte ich meine diesbezüglichen Essays nur an die
Militärkanzlei Seiner Majestät, sowie an jene des Thronfolgers, dann an den
Minister des Äußern und des Kaiserlichen Hauses (Graf Berchtold) leiten.
Als mir daher seitens Oberst von Bardolff*) nahegelegt wurde, es
auch gegenüber dem Chef des Generalstabes zu tun, vermochte ich nur
folgende Antwort zu geben:
„Wien, am 17. November 1912.
Herzlichsten Dank für Deine geschätzten Zeilen.
Habe mich mit Graf Berchtold in Verbindung gesetzt, werde heute
nachmittags bei ihm sein**).
Hinsichtlich der Mitteilung meiner Essays an Schemua***) halte ich
strikte den Standpunkt ein, daß ich nur Seiner Majestät und Seiner
Kaiserlichen Hoheit direkt unterstehe und überhaupt nur in meiner Eigen-
schaft als Geheimer Rat die Berechtigung finde, an dieser Allerhöchsten
und Hohen Stelle meine bescheidenen Ansichten niederzulegen.
Mein ganzes diesbezügliches Vorgehen ist überhaupt nur auf ein
Gespräch zurückzuführen, das ich gelegentlich eines Diners mit Graf
Berchtold hatte, dem ich auch meine Niederschriften nur als Privat-
mensch gab.
Ich habe dieselben auch nicht an Auffenbergj), mit dem ich sehr
befreundet bin, gegeben, weil ich strikte vermeide, mich an militärische
Funktionäre mit unberufenen Ratschlägen und dergleichen heranzudrängen.
*) Chef der Militärkanzlei des Thronfolgers.
**) Bezog sich auf meine Bestimmung zur Reise nach Bukarest.
**) Chef des Generalstabes.
t) Kriegsminister.
309
So habe ich es seit meiner Entlassung gehalten und so halte ich
es auch weiter; bei einem gegenteiligen Vorgang kommt man zu leicht
in schiefe Situationen, und die vertrage ich nicht.
Sei herzlichst gegrüßt von Deinem ergebensten
Conrad, G. d. I."
Der T r i p o 1 i s k r i e g, das spannendste Ereignis anfangs des
Jahres 1912, zog sich in die Länge. Er komplizierte sich zu Jahresbeginn
durch eine vorübergehende Trübung der Beziehungen zwischen Italien
und Frankreich, dadurch hervorgerufen, daß die Itahener zwei der Konter-
bande verdächtige französische Schiffe durchsuchten und nach Cagliari
führten. Der Konflikt, den wohl beide Teile, im Hinbhck auf das seit 1902
bestehende Einverständnis für künftige Aspirationen, rasch beseitigt sehen
wollten, wurde Ende Jänner 1912 unter großen gegenseitigen Freund-
schaftsbeteuerungen durch das Haager Schiedsgericht geschlichtet.
Im April angebahnte Friedensvermittlungen zwischen Italien und der
Pforte scheiterten, da in Itahen bereits am 23. und 24. Feber Kammer
und Senat die durch den König schon früher erklärte Annexion von
Tripolis bestätigten ; was, nebenher bemerkt, der Türkei in Arabien
eine Erleichterung verschaffte, indem Scheik Jahia, als Mohammedaner, den
Aufstand einstellte. Nur Scheik Idris verharrte auch weiter im Aufstand.
Die Operationen in Tripolis schritten langsam fort.
Die Italiener nahmen am 11. April Buchanez, am 2. Mai Lebda, am
5. August die Oase Sansur und hatten am 20. September den Erfolg
bei Sidi Bilal. Aber im wesentlichen war der Krieg auf die Küste
beschränkt. Er hatte Italien schon einen großen Aufwand gekostet,
darunter ein Aufgebot von fast 200.000 Mann. Italien versuchte daher
auch an anderer Stelle der Türkei beizukommen. Solche auf dem Kontinent
der Balkan-Halbinsel zu suchen, verwehrte der Einspruch der Großmächte,
so daß Italien erklärte, hier den Status quo zu respektieren. Dagegen
richtete es maritime Unternehmungen auf andere Ziele.
Am 24. Feber zerschoß die italienische Flotte einige kleine türkische
Schiffe im Hafen von Beirut, am 18. April folgte ein mißglückter Vorstoß
gegen die Dardanellen. Er veranlaßte die Türkei, die Dardanellen auch
mit Minen zu sperren.
Sie stieß dabei auf die Verwahnmg der Großmächte, die dadurch
den Handel gefährdet sahen.
Am 5. Mai besetzte General Amelio die Insel Rhodus, deren
Besatzung kapituhert hatte. Den 19. Juli erfolgte unter Admiral Viale
ein neuer mißglückter Versuch, die Dardanellen zu forcieren. Im Juni besetz-
ten die Italiener die Farsaninseln im Roten Meere und den Dodekanes.
310
Die Großmächte sahen all dem zu!
England und Frankreich verfolgten wohl, nicht ohne Mißtrauen,
Italiens anwachsende Macht im Mittelmeer, schonten jedoch den künftigen
Bundesgenossen für höhere Ziele. Rußland hoffte jetzt die Meerengen-
frage zu seinen Gunsten zu lösen. Deutschland war auf Seite Itahens,
an dessen Bundestreue es noch immer glaubte. Österreich-Ungarn aber
war in demselben Wahn befangen und raffte sich nicht zur Tat auf,
obwohl auch die immer mehr hervortretende albanesische Frage
deutlich Italiens Gegnerschaft erkennen ließ.
Klar war Italiens Ziel: die Adria allein zu beherrschen, Valona
als Kriegshafen zu gewinnen, eine Ausdehnung Österreich-Ungarns,
selbst auch nur dessen Einflusses an der Ostküste der Adria zu
verwehren, sich selbst aber in Albanien festzusetzen.
Albanien aber kam für Österreich-Ungarn nicht nur wegen der
angeführten Aspirationen Italiens, sondern auch deshalb in Betracht,
weil man seiner als Verbündeten gegen Serbien und Montenegro bedurfte.
Österreich-Ungarn mußte verhindern, daß diese beiden Staaten sich
zusammenschließen und sich des albanesischen Territoriums bemächtigen.
So waren also Österreich-Ungarns Interessen doppelt bedroht,
einerseits durch Italien, anderseits durch Serbien und Monte-
negro. Die Interessen Österreich-Ungarns lagen in der Notwendigkeit
maritimer Freiheit in der Adria und in Rücksichten für den Fall eines
Konfliktes mit Serbien und Montenegro.
Ein an mich gerichtetes, offenbar die Anschauungen des Thronfolgers
vertretendes Schreiben seines Flügeladjutanten und Chefs seiner Militär-
kanzlei Oberst Dr. von Bardolff vom 4. Oktober 1912 betonte die Not-
wendigkeit der Wahrung unserer Interessen in Albanien. Sie traten ganz
besonders hervor, als ein neues Ereignis den Tripoliskrieg in zweite
Linie rückte.
Der Ausbruch des Balkankrieges.
Angeregt durch das Beispiel Italiens, das plötzlich über die wehrlose
Türkei hergefallen war, ohne dabei auch nur im geringsten von den
anderen Mächten gehindert worden zu sein, hatten sich Serbien, wo an
Stelle des plötzlich verstorbenen Milovanovic der tatkräftige P a s i c ans
Ruder gekommen war, dann Montenegro, Bulgarien und Griechenland
geeinigt, das gleiche zu tun. Zur Überraschung der meisten Großmächte
eröffneten sie den gemeinsamen Krieg gegen die Pforte.
Keine der Großmächte ging daran, ihnen hiebei in den Arm zu fallen.
Unentschlossen standen die einen, im stillen Einverständnis ihren Vorteil
abwartend, die anderen dem Ereignis gegenüber. Abermals nirgends
311
eine Spur jener geheuchelten Entrüstung, die in Szene gesetzt wurde^
als Österreich-Ungarn 1914 notgedrimgen bemüßigt war, sich seines
unablässigen, agacanten, bis zum Meuchelmord greifenden Gegners zu
erwehren.
Es ist nicht verständlich, daß das vorbereitende Gehaben der vier
genannten Balkanstaaten derart verborgen bleiben konnte, daß der
Balkankrieg in so überraschender Weise loszubrechen vermochte.
Aber, er war da! Er schuf eine ganz neue Lage,
mit ihm mußte gerechnet werden!
Von der Türkei abgesehen, war niemand schwerer durch ihn betroffen
als Österreich-Ungarn. Insbesondere, als sich der Kriegserfolg auf Seite
Serbiens neigte und dazu führte, daß dieser der ö.-u. Monarchie so gefähr-
hche Feind einen Machtzuwachs erhielt, den er für seine gegen Österreich-
Ungarn gerichteten aggressiven Ziele zu verwerten verstehen würde.
Ob die ö.-u. Diplomatie durch den Balkankrieg überrascht wurde,
oder ob sie hievon früher Kenntnis hatte, ist mir unbekannt.
In seinem im Jahre 1919 erschienenen Buch: „Kriegsursachen etc."
führt Dr. M. Bogicevic, ehemaliger serbischer Geschäftsträger in Berlin,
an, daß Österreich-Ungarn „durch Zahlung hohen Entgeltes serbischer-
seits Kenntnis vom Inhalt des Vertrages erhalten haben soll"*).
Voll eingeweiht in den Vertrag war jedoch Rußland, und zwar
durch die Vertragschließenden selbst, die den Zaren zum Schiedsrichter
in strittigen Fragen gewählt hatten**).
Diese neue Komplikation zwang die Pforte zum Abschluß des
Tripoliskrieges. Sie brach die schon im Zuge befindlichen Verhandlungen
in Ouchy (Schweiz) ab und unterzeichnete am 18. Oktober 1912 den
Frieden von Lausanne, in dem sie Tripolis — abgesehen von
einigen gegenstandslosen Formalitäten — gänzlich Italien überließ.
Italien hatte seinen Raub vollzogen, alle Groß-
mächte sanktionierten ihn.
Der inoffizielle Kleinkrieg dauerte in Tripolis, oder wie es von nun
ab hieß, „Libyen", allerdings noch fort.
Rasch vollzogen sich nun die Ereignisse am Balkan
Am 30. September mobilisierten die Balkanstaaten. Am 8. Oktober
erfolgten im Namen aller Großmächte durch Österreich-Ungarn und auch
*) Betrifft den bulgarisch-serbischen Vertrag vom 29. Feber 1912,
der auf den Krieg gegen die Türkei abzielte.
**) Im Juni 1912 — also nach Abschluß des Vertrages — war
König Ferdinand von Bulgarien zu Besuch in Wien und in Berlin. Ob
er dort auf den Vertrag zu sprechen kam oder nicht, ist mir unbekannt.
312
durch das voll eingeweihte Rußland diplomatische Vorstellungen in
Belgrad, Cetinje, Sofia und Athen. An die Pforte erging am 10. Oktober
eine gemeinsame Note aller Großmächte, in der sie den Krieg verwarfen,
Reformen verlangten und erklärten, keine Gebietsänderung
am Balkan zuzulassen, wie immer der Krieg auch enden möge.
Dieser ganze diplomatische Aufwand zerfiel in Nichts, da König
Nikita von Montenegro am 8. Oktober, kurz vor Eintreffen der
Erklärung der Großmächte, den Krieg eröffnet halte, sei es, um
ihn unbedingt in Fluß zu bringen, sei es, wie damals behauptet wurde,
wegen eines finanziellen Geschäftes.
Bulgarien, Serbien und Griechenland gaben auf die gemeinsame
Note Österreich-Ungarns und Rußlands überhaupt keine Antwort und
richteten am 13. Oktober ein Ultimatum an die Pforte, in dem
sie forderten:
Ernennung eines belgischen oder schweizerischen Statthalters in den
gemischten Vilajets*), Berufung von Provinzial-Landtagen, Vertretung
der Christen im Parlament, Gleichstellung der christhchen und
mohammedanischen Schulen, Überwachung cüeser Reformen durch die
Großmächte und die vier Balkan Staaten**).
Die Türkei gab auf diese, ihre Souveränität völlig vernichtenden
Forderungen keine Antwort und stellte am 17. Oktober 1912 dem
serbischen und dem bulgarischen Gesandten die Pässe zu. Ihr Versuch,
sich in der Kretafrage mit Griechenland zu einigen, scheiterte, da Venizelos
bereits am 14. Oktober in Athen die Vereinigung der kretensischen mit
der griechischen Kammer und damit Kretas Abfall vom Osmanischen
Reich ausgesprochen hatte.
Am 17. Oktober 1912 abends erklärten Serbien, Bulgarien und
Griechenland den Krieg an die Türkei, die jetzt — wie schon früher
erwähnt — mit Italien den Frieden von Lausanne schloß, um am Balkan
freie Hand zu bekommen.
Energisch traten die Balkanstaaten in die kriegerische Aktion. Von
Montenegro abgesehen, das Skutari nicht zu nehmen vermochte, waren
schon ihre ersten Erfolge sehr bedeutend, ihre Überlegenheit aus-
gesprochen. Wohl kam für diese Überlegenheit in Betracht, daß die
Türkei ihre Wehrmacht jahrelang vernachlässigt und in Verkennung der
hereinbrechenden Gefahr Reservisten in großer Zahl entlassen hatte.
*) Das ist in den nicht rein mohammedanischen.
**) Man vergleiche damit das so angefeindete ö.-u. Ultimatum vom
Jahre 1914, das die aiuf das brutalste herausgeforderte Monarchie an
Serbien gerichtet hatte.
31S
Aber vor allem war es das rücksichtslose, zielbewußte Vorgehen der
Balkanstaaten, das deren Erfolge schuf.
Am 23. und 24. Oktober siegten die Bulgaren bei Kirk-Kilisse, an
denselben Tagen die Serben bei Kumanovo, nachdem sie am 22. Pristina,
am 23. Novipazar genommen hatten. Die Griechen nahmen am 19. Okto-
ber Elassona, am 22. Serandoporos, am 27. Oktober Selfidze, von wo
die Türken nach Salonik wichen.
Es war unverkennbar, daß eine gänzliche Umwälzung am Balkan
im Werden stand, daß Österreich-Ungarns Interessen schwer, ja vital
betroffen wurden und daß der Moment verlangte, einen großen Ent-
schluß zu fassen, umsomehr, als sich anläßlich der albanesischen Frage
auch Italiens Gegnerschaft enthüllte.
M i t Serbien oder gegen Serbien stand die Frage !
Entweder war die Konsequenz aus der Feindschaft Serbiens zu
ziehen, oder in letzter Stunde der Anschluß an den Balkanbund zu
suchen, die Führung am Balkan zu übernehmen. Mochte die Erreichung
dieses Anschlusses auch kaum erreichbar erscheinen, eines Versuches war
sie wert. Schlug er fehl, dann blieb die Möghchkeit des anderen Weges
noch immer offen. Schließlich waren die Balkanstaaten ihres Enderfolges
doch noch nicht sicher und mußten mit dem Eingreifen Österreich-
Ungarns, Rumäniens, selbst auch Italiens gegen sie rechnen. Für Serbien
konnte hierin die Veranlassung liegen, sich endhch doch noch einer
Politik des Zusammenschlusses mit Österreich-Ungain zuzuwenden.
Für alle Fälle aber war zur Zeit des kriegerischen Engagements der
Balkanstaaten gegen die Türkei die Bahn frei, um mit Italien abzurechnen.
Nur zuzusehen und nichts zu tun war das Gefährlichste.
Dieser Gedanke und die große Sorge um die Zukunft Österreich-
Ungarns, die ich schwer bedroht sah, beschäftigten mich unablässig.
In dem Bemühen, mir in dem Wirrsal der Möglichkeiten über eine
bestimmte Richtlinie für das eigene Handeln klar zu werden und angeregt
durch die schon im Früheren erwähnte, rein private Konversation mit
Graf Berchtold gelegentlich des Diners bei Baron Chlumecky, schrieb ich
für mich einen Essay über die momentane Lage nieder, den ich nach-
stehend folgen lasse:
„Über die momentane Lage der Monarchie und deren
nächste politische Richtung.
Wien, am 28. Oktober 1912.
Der Krieg der Balkanstaaten gegen die Türkei ist allerdings noch
nicht beendet, das Dazwischentreten anderer Staaten immerhin noch
möglich und damit ein Umschwung oder eine Eindämmung des jetzigen
314
Ganges der Ereignisse nicht ausgeschlossen. Soweit es sich jedoch nach
den bisherigen Geschehnissen beurteilen läßt, dürfte aber das schließliche
^Resultat die Niederwerfung oder gründliche Zurückdrängung der Türkei
sein; es ist daher berechtigt, diesen so wahrscheinlichen Ausgang der
Dinge zur Basis für weitere Schlüsse zu nehmen. Unter dieser Voraus-
setzung ist das Nachfolgende geschrieben.
Bei meiner Ernennung zum Chef des Generalstabes im Herbst 1Q06
hatte ich es als unerläßhch bezeichnet, daß äußere und innere PoUtik
einerseits, Heeresentwicklung und konkrete Kriegsvorbereitungen ander-
seits Hand in Hand gehen müssen, weil sie in den innigsten Beziehungen
stehen, sich geradezu gegenseitig bestimmen.
Ich habe daher auch stets die Fragen der äußeren Politik in meinen
Pflichtenkreis gezogen und schon damals meine Ansicht dahin präzisiert,
daß die Lösung des Balkanproblems die wichtigste Frage für die
Monarchie ist.
In diesem Sinne habe ich die Annexion Bosniens und Herzegowinas,
sowie die Einverleibung Serbiens als nächstes Ziel hingestellt und die
vorherige Niederwerfung Italiens als voraussichtlichen Gegners ins Auge
gefaßt. Als nun die Annexionskrise 1908 die Frage ins Rollen brachte,
habe ich zur sofortigen Besitznahme Serbiens geraten und mit allen
Mitteln die hiezu erforderlichen Vorbereitungen zu realisieren getrachtet.
Derart war im Frühjahr 1909 alles vorgesorgt und zudem die
politische Gesamtlage dem Unternehmen günstig.
Im letzten Moment wurde ich jedoch im Rate überstimmt, und
es waren insbesondere der Minister des Äußern und der Kriegsminister,
welche von der Aktion abrieten.
Diese unterblieb, und was ich damals vorausgesehen und voraus-
gesagt habe, ist nunmehr eingetreten; die Balkanstaaten haben selbst die
Lösung dieser Frage übernommen und führen sie anscheinend mit vollem
Erfolg durch.
Der Status quo, den ich immer als Nonsens bekämpft habe, den aber
Graf Ährenthal stets als Basis seiner Politik voraussetzte, ist gebrochen,
und es fällt wohl keinem vernünftigen Menschen ein, an dessen Wieder-
herstellung zu glauben.
Mit diesem fait accompli muß somit gerechnet werden, das heißt,
die siegreichen Balkanstaaten werden das gewonnene Territorium unter
sich teilen und einen Bund schließen, der sie zu einer nicht zu über-
sehenden Großmacht gestaltet.
Inwieweit die übrigen Mächte dagegen Einspruch erheben und
inwieweit diese Einsprache Erfolg haben wird, läßt sich dermalen nicht
absehen.
315
Daher läßt sich dermalen auch nicht ein bestimmter Weg angeben,
an welchem die Monarchie starr festzuhalten hätte, sondern es wird
darauf ankommen, auf dem zu gewärtigenden Kongreß einen sehr
gewandten Vertreter zu haben, der unter zielbewußter und geschickter
Ausnützung der Konstellation die möglichsten Vorteile für die Monarchie
sicherstellt.
Dies enthebt jedoch nicht von der Pflicht, sich schon beizeiten über
die möglichen Ziele und über die großen Richtlinien ins klare zu kommen,
von welchen man sich hiebei wird leiten lassen müssen.
Ich bin der Ansicht, daß man dabei nur große, weitreichende Gesichts-
punkte ins Auge fassen und nicht sich von dem bloßen Streben leiten
lassen darf, an der Beute auch noch wenigstens einen kleinen Anteil zu
haben, lediglich damit es nicht heiße, man sei leer ausgegangen.
Als solcher großer Gesichtspunkt erscheint mir folgendes:
Die Monarchie tritt dem Balkanbund bei;
die kleinen Balkanstaaten treten in das Verhältnis wie Bayern im
Deutschen Reich.
Sollte dies nicht erreichbar sein, so müßte mindestens in folgendem
Gemeinsamkeit bestehen:
ein einziges Zoll- und Handelsgebiet;
Lösung aller gemeinsamen Fragen im Bimdesrat, zu welchem jeder
Staat seinen Minister des Äußern, seinen Kriegsminister, seinen Chef des
Generalstabes und seinen Finanzminister delegiert.
Als gemeinsame Fragen wären zu behandeln:
Äußere Politik;
Kriegsvorbereitungen in großen Zügen;
Heeresentwicklung und Organisation im großen (jeder Staat wäre
im Detail selbständig);
Finanzpolitik (gemeinsames Münzwesen);
Handels- und Verkehrspolitik.
Wäre es möglich, als Bundesherrn den Kaiser von Österreich durch-
zusetzen, so wäre dies ein anstrebenswerter Erfolg, wenn nicht, so würde
eben nur der Bundesrat als gemeinsames leitendes Organ fungieren.
In dieser allgemein gehaltenen Denkschrift erscheint ein Eingehen
auf weitere Details nicht opportun.
Dieses Bundesverhältnis würde also von den Balkanstaaten zunächst
Serbien, Bulgarien, Montenegro, Griechenland umfassen; es bleiben noch
Rumänien und Albanien.
Rumänien wäre zum Beitritt zum Bund einzuladen.
Albanien wäre autonom zu machen, jedoch unter direktem öster-
reichischen Protektorat; hierauf soll später noch eingegangen werden.
316
Wenn diese oben dargelegte große Richtlinie für die nächste Politik
der Monarchie auf den ersten BUck auch befremden mag, soi ergibt doch
eine nähere Betrachtung, daß sie unter den nunmehr eingetretenen
Umständen und nach den nicht mehr einzubringenden Versäumnissen die
immerhin zweckmäßigste ist. Einzelne Streiflichter sollen dies zeigen.
Die Monarchie, deren Bevölkerung zu fast Zweidritteln aus Slawen
besteht, kann umsoweniger eine antislawische Politik betreiben, als die
Slawen ein zweifellos im Aufblühen begriffener Völkerstamm sind. Sie
kann sich also schon aus diesen innerpolitischen Gründen den slawischen
Balkanstaaten nicht gerade in jenem Momente gegenüberstellen, in
welchem diese sich ihre Machtstellung im Kampfe errungen haben.
Durch die im Vorstehenden vorgeschlagene Politik werden jedoch
gerade die Slawen der Monarchie für letztere gewonnen und es werden
diese Slawen sowie jene des Balkans von Rußland pohtisch losgelöst,
womit ein außerordentlich großer außenpolitischer Vorteil errungen
wäre. Hat die Monarchie dadurch die Interessen der Balkanstaaten mit
ihren eigenen verknüpft, ist sie also gegen em feindliches Eingreifen
derselben gesichert, dann kann sie um so eher ihrem Auftreten gegen die
sonstigen Gegner, als: Rußland oder Italien kriegerischen Nachdruck
verleihen. Zu dem kommt, daß Rußland kaum sich feindselig gegen die
mit den Balkanstaaten verbündete Monarchie stellen dürfte, weil es damit
seine ganze bisherige, wenigstens zur Schau getragene Richtung ver-
leugnen und alle Sympathien der Süd- und Westslawen verHeren würde.
Ist die Monarchie aber dieser Staaten und ihrer eigenen Slawen
dadurch sicher, so kann sie es auf einen Krieg gegen Rußland oder
Italien ankommen lassen, beziehungsweise gestützt auf diese Möglichkeit,
ihren Willen diesen Staaten gegenüber durchsetzen.
In Bosnien-Herzegov^na stehen momentan 69 Bataillone, welche
durch Serbien und Montenegro dermalen gebunden sind, diese Kräfte
werden vor allem frei, wenn der freundschaftliche Fuß, beziehungsweise
der Bund mit diesen Staaten hergestellt ist; außer diesen Kräften aber
auch noch alle jene, welche bereit gehalten werden müßten, sofeme man
der genannten Staaten im Falle einer Verwicklung mit Rußland oder
Italien nicht sicher wäre.
Durch diese freiwerdenden Kräfte erhöht sich also bedeutend die
Schlagbereitschaft gegen die genannten beiden Großstaaten.
Es spricht also auch die militärische Lage für die eingangs vor-
geschlagene Politik.
Im Gegenfalle könnte es zu einer Situation kommen, in welcher die
Monarchie sowohl Rußland als Italien, wie die Balkanstaaten (mindestens
Serbien und Montenegro) gegen sich hat, eine Situation, welcher
317
die militärischen Kräfte der Monarchie nunmehr, da
man die Balkanstaaten sich selbständig entwickeln
ließ, nicht gewachsen wären.
Die unmittelbare räumliche Angrenzung der Monarchie an die
Balkanstaaten ist ein geographischer Vorteil, welcher keinem anderen
Großstaat zukommt; dieser Vorteil muß ausgenützt werden durch den
vollen Interessenzusammenschluß. Im Falle des letzteren repräsentiert
dieser Staatenbund eine Macht, welche es ruhig mit eventuellen Gegnern
aufnehmen kann.
In dieser Machtstellung fänden auch die Balkanstaaten jene großen
Vorteile, welche es wahrscheinlich erscheinen lassen, daß die Idee dieses
Bundes bei ihnen Eingang und Zustimmung finden wird.
Läßt man Serbien und Montenegro sich außerhalb des Anschlusses
an die Monarchie weiter selbständig entwickeln, dann besteht die
große Gefahr, daß sich diese Staaten bei kriegerischen Verwicklungen
der Monarchie der südslawischen Gebiete der letzteren bemächtigen,
womit vor allem der so wichtige Küstenbesitz in Frage stünde.
An diesen Küstenbesitz sind aber das Emporblühen des Seehandels
und die Entwicklung einer diesen schützenden, achtunggebietend«!
Kriegsmarine gebunden.
Es weisen also auch die maritimen Rücksichten auf die eingangs
vorgeschlagene Politik.
Welcher große Vorteil dem Handel, der Industrie, dem Verkehr aus
diesem Zusammenschluß erwachsen würde, bedarf kaiun einer eingehenden
Begründung; kleinliche agrarische Interessen können da wohl nicht in
Betracht kommen.
Es steht zu hoffen, daß durch den großen Zug einer solchen Ent-
wicklung von Verkehr, Industrie und Handel die Geister endlich von dem
kleinlichen Hader abgelenkt werden, welcher dermalen die besten Kräfte
der Monarchie lahmlegt.
Sollten sich aber kleinliche Sonderinteressen der Richtung dieser
Politik entgegenstellen, so muß endlich die Macht der Zentralgewalt mit
aller Energie dagegen einsetzen.
Wird diese Zentralgewalt in einer Weise geübt, daß sie allen für
die Monarchie bedeutungsvollen Nationen zu ihrem Rechte verhilft, dann
wird es ihr auch nicht an dem Rückhalt, der nötigen Macht fehlen.
Ich denke hiebei vor allem an die Selbständigstellung Kroatiens
und Slawoniens und die Befriedigung der Ruthenen bei schärfstem,
rücksichtslosestem Vorgehen gegen alle moskalophilen Tendenzen,
ferner an die fürsorgliche Pflege der loyalen südtirolischen und friaulischen
Bevölkerung bei schonunglosem Einschreiten gegen den Irredentisraus.
318
Nach diesen Streiflichtern sei jetzt auf zwei Fragen eingegangen,
welche sich unwillkürhch stellen:
1. Werden die Balkanstaaten auf diesen Bundesanschluß eingehen?
2. Werden die Großmächte diesen Bund akzeptieren?
In erster Hinsicht habe ich schon im Vorstehenden die Vorteile
angedeutet, welche den Balkanstaaten aus dem Zusammenschluß mit der
Monarchie durch die große Macht erwachsen, welche diesem Bund im
Völkerkonzerte zukäme und welche ihnen auch am sichersten ihr
ungefährdetes Weiterblühen garantieren würde. Aber auch in aller
anderen Hinsicht würde ihnen ihr wirtschaftlicher Anschluß an die
Monarchie bei der geographischen Nähe der letzteren, bei dem Zug der
Verkehrswege, bei den ethnographischen Zusammenhängen ganz bedeutende
Vorteile gewähren, während all dies mehr oder weniger gefährdet v/äre,
falls sie immer damit rechnen müßten, unter Umständen die Monarchie
zum Gegner zu haben. Kurz gefaßt, wäre das politische Verhältnis so:
Durch ihre geographische Lage schützt die Monarchie die Balkan-
staaten, durch den Bund mit diesen bekommt sie die Macht, diesen Schutz
auch ausreichend zu gestalten.
So fänden beide Teile ihren Vorteil.
Was nun die zweite Frage anlangt, nämlich den Einspruch der
Großmächte, so ist es zweifellos, daß diese den Zusammenschluß der
Monarchie mit den Balkanstaaten sehr scheel ansehen würden (ein Grund
mehr, ihn zu realisieren); aber ich glaube kaum, daß irgend eine Macht
diesem Zusammenschluß kriegerisch entgegentreten würde.
Rußland, wenn es die Balkanstaaten gegen sich hat und nicht
durch Italien kriegerisch unterstützt würde, hätte keine besondere Chance
gegen die mit Rumänien verbündete Monarchie. Greift aber Italien
gleichfalls gegen letztere ein, dann müßte Deutschland, der Dreibund-
pflicht gemäß, auf Seite der Monarchie treten. Es ist kaum wahrscheinlich,
daß Rußland eine solche Konstellation riskieren würde. Überdies
spricht in Rußland noch folgendes mit:
Dynastie und alle Würdenträger, deren Existenz von dieser abhängt,
dann ein großer Teil der besitzenden Klasse sind dem Krieg abhold, weil
sie die Revolution und damit den Verlust ihrer Existenz fürchten.
Zum Krieg drängen die ultramoskalophilen, dann die panslawistischen
Kreise, welche die Ausbreitung Rußlands zum Ziele haben, femer die
sozialistisch-revolutionäre Partei, welche sich eine Besserung der inner-
politischen Verhältnisse, und die polnische Partei, welche sich Befreiung
vom Russentum erhofft. Diese im Innern wühlenden und im Kriegsfall
ans Tageslicht tretenden Kräfte schaffen für Rußland keine günstigen
Vorbedingungen für die Führung eines Krieges.
319
Italien hat zwar momentan den Vorteil einer mobilisierten kriegs-
geübten Flotte, die Kaders seines Landheeres sind durch den tripoli-
tanischen Krieg aber zweifellos derart in Mitleidenschaft gezogen, daß
für eine rasche Kriegsbereitschaft die Bedingungen dermalen nicht günstig
liegen — daher auch Italiens momentane Liebenswürdigkeit gegen die
Monarchie. Allerdings kommt Italien an den Grenzen der Monarchie
ein sehr weitgehend ausgebautes System permanenter Befestigungen zu-
statten, welches den Angriffskrieg gegen diesen Staat um so schwieriger
gestaltet, je mehr es dank den nicht zu leugnenden, von mir durch fünf
Jahre fast erfolglos bekämpften Versäumnissen diesseits an den erforder-
hchen Angriffsmitteln fehlt. Trotzdem ist es kaum wahrscheinhch, daß
Italien dermalen einen Krieg gegen die Monarchie provozieren dürfte,
wenn diese die Balkanstaaten auf ihrer Seite hat und nicht auch von
Rußland angegriffen wird.
Immerhin liegt in der Möglichkeit eines gleichzeitigen
kriegerischen Auftretens Italiens und Rußlands gegen die Monarchie der-
malen die größte Gefahr, und erwächst daher der Diplomatie vor allem
die Aufgabe, ein solches Doppelengagement zu verhüten, sei es, daß
Italien, oder sei es, was vorteilhafter wäre, daß Rußland in Schach
gehalten, beziehungsweise zur Neutralität veranlaßt würde.
Frankreich. Ich bin zwar hinsichtlich Frankreichs sehr wenig
orientiert, glaube es jedoch dermalen derart finanziell engagiert, und zwar
ganz besonders auch in Rußland, daß ihm ein Krieg nicht sehr will-
kommen wäre. Die unablässigen Friedensbemühimgen seiner leitenden
Kreise scheinen diese Stimmung zu verraten.
Deutschland dürfte infolge der Niederlage der Türkei zwar
manchen Traum schwinden sehen und dürfte daher auch über den
Zusammenschluß der Monarchie mit den Balkanstaaten zu einer großen
Balkanmacht nicht sehr erfreut sein, aber die allgemeine Lage läßt es
für Deutschland kaum rätUch erscheinen, sich feindlich gegen die
Monarchie zu stellen, wenn diese das ganze West- und Südslawentum,
sowie die Polen für sich hat. Auch wäre es für Deutschland eine Gefahr,
Rußland größer und mächtiger werden zu lassen.
England. Wie sich England zu der hier vorgeschlagenen Politik
der Monarchie stellen würde, ist schwer zu entscheiden. Daß ihm die
Entstehung eines neuen mächtigen Konkurrenten im östlichen Mittelmeer
unbequem wäre, steht wohl außer Frage, aber es vermöchte dagegen
doch nur seine maritime Kraft einzusetzen; ob es dies aber mit Rücksicht
auf die stets gefürchtete Bedrohung seitens Deutschlands tun wird, ist
fraglich. Wenn ja, so würde es dazu greifen, ob nun die Monarchie den
320
Bund mit den Balkanstaaten schließt oder nicht. Es hätte die Monarchie
also gar nichts gewonnen, wenn sie sich Englands wegen abhalten ließe,
dem Bund beizutreten, sondern sie würde nur die damit verknüpften
Vorteile einbüßen.
Rumänien. Es ist eine bekannte Tatsache, daß Rumänien dem
Anwachsen Bulgariens sehr mißgünstig gegenübersteht, sowie daß es
auch territoriale Ansprüche an Bulgarien geltend macht. Ob Rumänien
darin so weit gehen wird, daß es sich jetzt kriegerisch gegen Bulgarien
wendet, ist bei den fortwährenden Niederlagen der Türkei und bei der
Gefährdung durch Rußland kaum anzunehmen. Jedenfalls müßte
Rumänien diesen Schritt sofort unternehmen und nicht erst abwarten, bis
die Türkei einen neuen Echec erlitten hat. Rumäniens Haltung muß sich
also sehr bald deklarieren. Bei nüchterner Erwägung fände Rumänien
im Beitritt zum Bund die beste Gewähr für sein wirtschaftliches und
staatliches Gedeihen. Der Anschluß Rumäniens wäre aber auch für die
Monarchie von besonderem Vorteil, insbesondere wenn es dadurch
gelänge, Rumänien dauernd in Gegnerschaft zu Rußland zu erhalten, dem
es ja doch gerne Bessarabien abnehmen möchte.
Nicht zu leugnen ist die Gefahr, welche darin liegt, daß sich der
blühende Staat Rumänien gerade als Nachbar Siebenbürgens entwickelt,
welches so zahlreich von Rumänen bewohnt ist, daß stets die Sorge
eines endlichen Zusammenschlusses der ungarländischen Rumänen mit
denen des Königreiches besteht. Aber ich glaube, daß sich dieser nun
einmal nicht wegzuleugnenden Gefahr eines Verlustes der rumänischen
Gebiete viel eher vorbeugen läßt, wenn man es erreicht, daß sich
Rumänien an die Monarchie anschließt, als wenn man es außerhalb der
letzteren als unablässigen Attraktionsherd bestehen läßt, nachdem man
schon im Jahre 1854/55 versäumt hat, diese Gebiete der Monarchie
einzuverleiben.
Voraussicht ist in dieser Beziehung besonders geboten, da Rußland
in Rumänien eine Partei unterstützt, welche den Anschluß der ungar-
ländischen Rumänen an das Königreich zum Ziele hat.
Albanien. Es ist kaum anzunehmen, daß die vier kriegführenden
Balkanstaaten ihre kriegerischen Unternehmungen auch auf ganz Albanien
erstrecken und die Aufteilung dieses Gebietes anstreben werden. Albanien,
räumlich ganz von der Türkei losgelöst, wird dadurch zu einem eigenen
staatlichen Gebiet. Diese Autonomie Albaniens wäre unbedingt zu
stützen, aber unter der Bedingung der Annahme eines ö.-u. Protektorates,
etwa in der Art wie Ägypten unter England.
21, Conrad II 32)
Gründe für diese Festsetzung in Albanien.
Nachdem die Monarchie schon den direkten Weg ans Ägäische Meer
in andere Hände übergehen heß, ist es geboten, ihren Küstenbesitz
wenigstens in der Adria zu vergrößern und insbesondere die Bucht von
Valona in ihre Hände zu bekommen, um, gestützt hierauf, ihre Seemacht
entvi'ickeln und zur Geltung bringen zu können.
Albanien unter dem dürekten Einfluß der Monarchie bildet ein wert-
volles Gewicht den anderen Balkanstaaten gegenüber, falls es mit diesen
zu Differenzen kommen sollte. Dieses Gewicht ergibt sich ebensowohl
aus der geographischen Lage im Rücken Serbiens und Montenegros, falls
diese in Konflikt mit der Monarchie geraten, wie aus der Zahl und Eigen-
art der Bevölkerung, beziehungsweise der Stärke der aus letzterer zu
bildenden Wehrmacht.
Albanien im Einfluß der Monarchie schließt jeden andern Einfluß,
insbesondere jenen Italiens aus.
Albanien in derartigem Anschluß an die Monarchie wird ein frucht-
bringendes Handels- und Verkehrsgebiet für diese.
Aussichten für die Realisierung dieses Anschlusses.
Die Albanesen, eine autochthone Rasse für sich, eingekeilt zwischen
Slawen und Griechen, sind auf den Schutz einer Großmacht geradezu
angewiesen und sind von früher her gewohnt, als solche Österreich-
Ungarn zu betrachten. Es kann und muß daher angestrebt werden, daß
die Bitte um diesen Anschluß von albanesischer Seite selbst erfolgt. Ist
dies aber der Fall, dann fehlt den Großmächten die Handhabe, sich g^en
diesen Anschluß zu stellen.
Ausführbarkeit dieses Projekts.
Erfolgt, wie oben vorausgesetzt, die Bitte um dieses Protektorat von
albanesischer Seite, hat die Monarchie also nicht zu besorgen, bei der
Durchführung auf Widerstand zu stoßen, so erschiene für letztere
folgender Vorgang geboten:
MiHtärische Besetzung;
Einrichtung der autonomen Verwaltung;
sukzessive Organisierung der nationalen albanesischen Wehrmacht —
anfänglich im Schützenvereinswesen etc.;
Bau von Kommunikationen.
Anzustreben, beziehungsweise als Mitbedingung zu stellen wäre die
Erklärung Valonas als ö.-u. Kriegshafen; diesfalls müßten dann dessen
Befestigung und Einrichtung erfolgen.
Was nun die müitärische Besetzung anlangt, so wären nach grober
Schätzung, und zwar unter der Voraussetzung widerstandslosen Ein-
322
marsches, mindestens drei Divisionen erforderlich, das ist je eine für
Nord-, Mittel- und Südalbanien:
(Nord: Alessio, Ipek, Prizrend);
(Mittel: Durazzo, Elbassan, Ochrida);
(Süd: Valona, Argyrokastron, Janina);
(Korpskommando: Elbassan).
Diese Kraft würde etwa 45 Bataillone betragen; bedenkt man nun,
daß in Bosnien-Herzegowina-Dalmatien mit Rücksicht auf Serbien und
Montenegro 69 Bataillone gebunden sind, so ergäbe dies zusammen
141 Bataillone, das ist nahezu der fünfte Teil der Gesamtzahl der Bataillone
der Fußtruppen, was einen sehr empfindlichen Ausfall aus der Operations-
armee bedeutet, die für einen großen Krieg (Rußland oder Italien) in
Betracht kommt.
Auch dieser Umstand weist darauf hin, den Anschluß an die Balkan-
staaten zu suchen, um die jetzt in Bosnien-Herzegowina-Dalmatien
gebundenen Kräfte für die Besetzung Albaniens frei zu bekommen. Könnte
man aus Bosnien-Herzegowina-Dalmatien zwei volle Divisionen von den
dort befindlichen vier entnehmen, so würde es noch einer Division aus
dem übrigen Gebiet der Monarchie bedürfen.
Es soll hier übergangen werden, daß in späterer Folge ein eigenes
Besatzungskorps, verstärkt durch die einheimischen Truppen, zu formieren
und daher die große Ordre de bataille der Armee wieder in ihrer
normalen Zusammensetzung herzustellen wäre; für die erste Besetzung
erübrigt jedoch nur der oben geschilderte Vorgang und müßten auch
für diesen die Vorbereitungen sofort in Angriff genommen werden.
Eine äußerst wesentliche Frage bildet jene nach der Verbindung
Albaniens mit der Monarchie. Keinesfalls dürfte diese auf den Seeweg
allein beschränkt bleiben, sondern es wäre die Landverbindung ebenso-
wohl von Süddalmatien über Antivari, als durch das Limtal und durch
Serbien vertragsmäßig zu sichern (Bahnbauten).
Würde für die hier vorgeschlagene Richtung in der Balkanpolitik
entschieden werden, so hätten die Vereinbarungen hiezu schon jetzt, und
zwar direkt mit den Regierungen der Balkanstaaten, also mit geflissent-
lichem Ausschluß der Großmächte zu erfolgen, um diese vor ein fait
accompli zu stellen. Sie wären beim König von Bulgarien zu begiimen,
dann bei jenem von Montenegro, endlich bei jenem von Serbien und
Griechenland fortzusetzen.
Sollte jedoch dieser Anschluß der Monarchie an den Balkanbund
von den Balkanstaaten entschieden abgelehnt werden, dann hätte die
Monarchie wenigstens ihre Aspirationen auf Albanien zu realisieren und
sich auf dem übrigen Gebiet zunächst nur Handels- und Verkehrsvorteile
21. 323
zu sichern, um erst bei seinerzeitiger günstigerer Gelegenheit größere
Ziele zu verfolgen.
Ich möchte noch der Möglichkeit gedenken, daß in dem jetzigen
Krieg, sei es mit oder ohne Eingreifen Rumäniens, ein Umschwung
zu Gunsten der Türkei eintritt.
In diesem Falle müßte die Monarchie sofort zulangen und zum
Schutze Serbiens und Montenegros aktiv eingreifen, lun dann aber diese
Gebiete in irgend einer Form sich anzugliedern und dadurch die süd-
slawische Frage zu lösen, deren große Gefahr eben darin besteht, daß
ein Teil der Südslawen im Gebiet der Monarchie, der andere in den
angrenzenden souveränen Königreichen lebt.
Grundzug unserer Politik muß bleiben, daß es darauf ankommt, die
außerhalb der Monarchie liegenden (serbisch-montenegrinischen) Gebiete
der Monarchie anzugUedern; geht es nicht in der Form einer Ein-
verleibung, so muß es mindestens in einem Bundesverhältnis angestrebt
werden. Je nachdem sich Gelegenheit hiezu bietet, muß dieselbe in der
einen oder in der anderen Weise ausgenützt werden.
Am Schlüsse meiner obigen Darlegungen möchte ich nur resümieren,
daß in der jetzigen Lage der Monarchie ganz spezielles militärisches Vor-
denken und ganz spezielle miUtärische Vorbereitungen notwendig sind,
wenn man nicht Überraschungen oder Versäumnisse erleben will.
Mehr v/ie je müssen jetzt äußere Politik und militärische Maßnahmen
Hand in Hand gehen.
Ich will jedoch ohneweiters annehmen, daß es hieran nicht fehlt."
Nach einigen Tagen entschloß ich mich, diesen Essay an Exzellenz
Baron Bolfras, an Oberst Dr. von Bardolff und, mit Rücksicht auf die
vorangeführte Besprechung, auch an Graf Berchtold zu senden. Zur
Charakterisierung des Verhältnisses, unter dem dies geschah, führe ich
die begleitenden Briefe an die beiden militärischen Stellen wörtlich an:
An Exzellenz Baron Bolfras.
„Wien, 1. November 1912.
Euer Exzellenz!
Ich bitte zu verzeihen, wenn ich als Abseitsstehender diese Zeilen
an E. E. richte; aber den epochalen Ereignissen, welche sich jetzt voll-
ziehen, vermag wohl kein Patriot teilnahmslos gegenüberzustehen.
Ich erlasse es mir, länger auszuführen, wie bitter ich darunter leide,
daß man im Jahre 1909 meinen dringenden Rat unbeachtet gelassen hat
und die bereits gründlich vorbereitete Aktion im letzten Momente
fallen Heß.
324
über meinen hochmütigen Gegner Ährenthal sind sich die Menschen
— glaube ich — jetzt klar, ich hätte ihm ein längeres Leben gewünscht.
Aber Rekriminationen nützen nichts, und man muß mit der neuen
Lage der Dinge rechnen, die allerdings für die Monarchie kerne
erhebende ist.
Tag und Nacht mit diesem Gedanken beschäftigt, habe ich in der
beihegenden Denkschrift (oder wie man es nennen will) meine Ansicht
niedergelegt, und ich bitte E. E., zu gestatten, daß ich diese Arbeit eines
lediglichen Zeitungslesers unterbreite.
Es ist mir eine Art Beruhigung, E. E. in diesem Moment meine
Anschauungen vortragen zu dürfen.
Ich glaube, daß die Monarchie jetzt wieder vor einem Wendepunkt
steht, über welchen nur große Beschlüsse gedeihUch hinüberhelfen können.
Genehmigen etc. etc "
An Oberst Dr. von Bardolff.
„Wien, 2. November 1912.
Lieber Bardolff!
Ich habe in der jetzigen schweren, durch die Versäumnisse des
Jahres 1909 geschaffenen Zeit nicht umhin können, mir klarzulegen,
wie ich die Lage auffasse und welches die Schritte wären, welche die
Monarchie zu unternehmen hätte.
Ich habe dies schriftlich niedergelegt und je ein Exemplar dem
Grafen Berchtold und Exzellenz Bolfras eingehändigt.
Ich übersende anliegend ein Exemplar an Dich mit der Bitte, es —
falls Seine Kaiserliche Hoheit darauf reflektieren sollte — Höchstdemselben
zu übergeben. I
Es sind lediglich die Anschauungen eines abseits stehenden Zeitungs-
lesers.
Mit herzlichem Gruß etc "
Indessen gingen unaufhaltsam die Ereignisse am Balkan weiter.
Die Bulgaren schlugen in der Zeit vom 28. bis 31. Oktober die
Türken bei Lüle-Burgas, zemierten Adrianopel und dirigierten, wohl um
als erste in Salonik zu erscheinen, die Kolonne Todorow nach Maze-
donien. Die Serben besetzten am 28. Oktober Mitrovica, am 31. Oktober
Prizren, während eine in Albanien rasch vordringende Abteilung schon
am 28. Oktober Durazzo an der Adria erreichte.
Damit war die albanesische Frage in eine neue Phase getreten, dies
um so schärfer, als Serbien am 8. November durch seinen Wiener
Gesandten (Jovanovic) erklären ließ, es werde auf dem Besitz eines Adria-
Hafens unbedingt bestehen.
325
Sowohl Österreich-Ungarn, als Italien sahen hierin eine Verletzung
ihrer albanesischen Interessen.
Die Lage erhielt eine neue Komplilcation, als die Pforte im Wege
des Großveziers Kiamil Pascha am 4. November 1912 die Großmächte
um Vermittlung bat, also ihre Ohnmacht deklarierte.
Die Monarchie sah nun die Türkei, auf die sie als Gegengewicht
gegen Serbien und Montenegro doch noch gerechnet hatte, zusammen-
gebrochen, Serbien, ihren hartnäckigsten und aggressivsten Gegner, im
raschen Aufschwung, ihren Dreibundalliierten Italien zwar als Gegner
der Balkanstaaten bezüglich Albaniens, aber gleichzeitig auch als scharfen
Konkurrenten in diesem Gebiet; Rumänien aber, dessen sie im Kriegs-
falle gegen Rußland dringend bedurfte, in den Balkanwirbel hinein-
gezogen, daher nicht mehr gegen Rußland völlig frei.
Diese Situation zeigt deutlich, in welche Unklarheit und Unsicherheit
die Führung der Politik in einem Staate gelangt, der ohne positives
Ziel, dem rechtzeitigen, entschlossenen Handeln ausweichend, vermeint,
dem großen Zug der Ereignisse lediglich mit diplomatischen Ausflüchten
und kurzfristigen Arrangements begegnen zu können.
Schwer war es bei dieser Lage und bei dem steten Wechsel der
Geschehnisse, die Richtlinie für das eigene Handeln festzustellen.
Mir über die Konsequenzen dieser neuen Lage klar zu werden,
schrieb ich nachfolgenden Zusatz zu meinem Essay vom 28. Oktober 1912.
„Zusatz
zu meinem Essay vom 28. Oktober 1912.
Wien, am 8. November 1912.
In einer Denkschrift vom 28. Oktober 1. J. habe ich meine
Anschauungen über die politischen Ziele der Monarchie unter Zugrunde-
legung des damaligen Standes der militärisch-politischen Lage auf dem
Balkan zum Ausdruck gebracht.
Seither haben die Ereignisse im Sinne einer völHgen Niederwerfung
der Türkei ihren Fortgang genommen, aber es sind auch zwei weitere
wichtige Momente hervorgetreten.
Das eine ist das Streben der Balkanbundesstaaten nach Aufteilung
Albaniens mit Festsetzung Serbiens an der Adria, das zweite ist das
Hervortreten der Aspirationen der Großmächte, und zwar auch im Hin-
blick auf den asiatischen Besitz der Türkei.
Die in meiner ersten Denkschrift dargelegte Idee eines bundes-
staatlichen Zusammenschlusses der Balkanstaaten mit der Monarchie und
326
Rumänien, in welchem Zusammenschluß, wenn er erreicht worden wäre,
ich den größten politischen Erfolg für die Monarchie erblickt hätte,
scheint nicht aufgegriffen worden zu sein, da diesbezügliche Verhand-
lungen schon längst hätten einsetzen müssen; dagegen ist seither Serbien
mit Aspirationen aufgetreten, welche es in Gegensatz zur Monarchie
bringen, für welche die volle Einflußnahme auf ein autonomes Albanien
Bedingung ist und die nie die serbische Festsetzung an der Adria zugeben
könnte; auch sonst sind in Serbien Tendenzen aufgetaucht, welche
geeignet erscheinen, die Interessen der Monarchie hintanzusetzen.
Serbien wäre daher klipp imd klar vor die Wahl zu stellen, ob es
freimdschaftliche Beziehungen zur Monarchie ehrlich will, in welchem
Falle es aber dann die Bedingungen hinsichtlich Albaniens, sowie die
wirtschaftUchen Forderungen akzeptieren müßte, oder ob es auf die
freundschaftlichen Beziehungen der Monarchie verzichtet, also sich den
genannten Bedingungen nicht fügt.
Ersterenfalls würde sich alles konfliktslos lösen,
letzterenfalls müßte die Monarchie erklären, daß sie es isich vor-
behält, ihren Willen zur Geltung zu bringen.
Damit spitzt sich die Frage für die Monarchie zu und sie muß mit
der Möglichkeit kriegerischen Eingreifens rechnen.
Hätte sie hiebei nur den Balkanbund als Gegner, so stünde diesem
Kriege nichts im Wege, insbesondere wenn Rumänien gleichfalls an ihrer
Seite eingreifen würde. Tritt jedoch Rußland den Balkanstaaten zur Seite,
so hätte die Führung dieses Doppelkrieges nur dann Chancen, wenn
Deutschland an der Seite der Monarchie eingreifen und Italien entweder
neutral bleiben oder sich an die Seite der Monarchie und Deutschlands
stellen würde.
Allerdings will dabei bedacht sein, daß die rumänischen Kräfte, wenn
Bulgarien in die Aktion tritt, durch die bulgarischen Kräfte gebunden,
also nicht gegen Rußland verfügbar wären, so daß das russische VII. und
VIII. Korps sich gleichfalls gegen die Monarchie wenden könnte.
Es kämen dann noch
10 serbische,
4 montenegrinische,
8 griechische, somit
22 Divisionen in Betracht, wenn sich tatsächlich der ganze Balkan-
bund mit Serbien solidarisch erklärt.
Würde auch ein Aufstand in Albanien, den man mit allen Mittehi
fördern und durch ein reichlich mit Artillerie versehenes Landungskorps
direkt unterstützen müßte, Teile dieser Kräfte, etwa 10 Divisionen (sechs
327
griechische, eine montenegrinische, drei serbische) abziehen, so bheben
noch immer deren zwölf.
Da die Monarchie auf dem russischen Kriegsschauplatz wenigstens
40 Divisionen versammeln müßte, so würden für den Balkan nur deren
acht erübrigen, welche den Kampf zu führen hätten, bis auf dem russischen
Kriegsschauplatz die Entscheidung gefallen wäre.
Im obigen Kalkül sind absichtlich die Marschformationen weg-
gelassen, da auch bei den Gegnern die Formationen dritter Linie nicht
einbezogen sind.
Im großen ganzen ergeben diese Formationen ein Plus zu Giuisten
der Monarchie.
Diese nur sehr im groben gemachte Gegeneinanderstellung ergibt
immerhin, daß es erwünschter wäre, das Ziel gegenüber Serbien zu
erreichen, ohne mit Rußland in Konflikt zu kommen; und der Weg hiezu
üeße sich vielleicht finden. Würde nämlich die Monarchie die Freiheit
der Dardanellen, selbst den Besitz des Bosporus Rußland zuerkennen,
unter der Bedingung, daß letzteres der Monarchie freie Hand m Albanien
(speziell den Besitz Valonas) läßt, so wäre hiedurch vielleicht die Frage
zu lösen und dabei noch der Vorteil einzuheimsen, daß Rußland in
Gegnerschaft zu England und in ein getrübtes Verhältnis zu Bulgarien
geriete.
Hat man aber derart Rußland ausgeschaltet, so kann die Monarchie
den Krieg gegen Serbien, beziehungsweise den Balkanbund ohneweiters
führen, wenn Serbien bei dieser Lage der Dinge nicht ohnehin nach-
geben würde.
Es kommt jetzt allerdings noch Italien in Betracht, und zwar dessen
Haltung für den Fall einer Besitznahme Albaniens durch die Monarchie.
Vielleicht wäre Italien durch Zugeständnisse im Ägäischen Meere oder
im asiatischen Besitz der Türkei zu befriedigen.
Stellt sich jedoch Italien feindlich gegenüber, hat man aber Rußland
durch das Dardanellenzugeständnis auf seiner Seite, so könnte man einen
Doppelkrieg gegen Italien und den Balkanbund immerhin riskieren, wenn
Rumänien Bulgarien bindet.
Rechnet man nur 36 Divisionen gegen Italien, so blieben 12 gegen
den Balkanbund, also genügend Chance hinsichtlich des Zahlenverhält-
nisses, da Italien mit kaum mehr als 32 operativen Divisionen auftreten
dürfte*).
*) Dieser Kalkül soll durchaus nicht die Scheidung der Kräfte für die
Aufmarschgruppierung bedeuten, sondern nur ein allgemeines zahlen-
mäßiges Abwägen der Gesamtkraft.
328
Bei dem plötzlichen Aufschnellen des serbischen Chauvinismus wäre
es für die Monarchie von großem Vorteil, Serbien eine empfindliche
Schlappe beizubringen, vor allem wegen der Rückwirkung auf die
Slawen, speziell die Südslawen im eigenen Gebiet, denen zu zeigen wäre,
daß sie ihr Gedeihen doch nur innerhalb der Monarchie finden können.
Allerdings wäre im Einklang damit dieses Gedeihen auch wirklich zu
fördern und zu garantieren, was besonders hinsichtlich Kroatiens gilt,
wo geradezu unhaltbare Zustände herrschen.
Die Interessen, für welche die Monarchie, wenn eine Garantie
anders nicht erreichbar ist, zu den Waffen zu greifen hätte, wären also:
Autonomie Albaniens unter ö.-u. Protektorat;
ö.-u. Kriegshafen in Valona;
handeis- und verkehrspolitische Vorrechte, welche im Detail von
Fachmännern zu bestimmen wären.
Dabei wäre zu trachten, Rußland und Italien neutral zu erhalten,
mindestens aber einen dieser beiden Staaten.
Sollten sich jedoch Rußland, Italien und der
Balkanbund gemeinsam gegen die Monarchie erklä-
ren, dann wäre letztere diesem Krieg gegen drei
Fronten, wenn sie außer Deutschland und Rumänien
nicht noch vollwertige andere Alliierte bekommt,
kaum gewachsen.
In diesem Falle würde ihr nur erübrigen, gar keine bindenden
Verpflichtungen einzugehen, gar nicht zu paktieren, sondern sich ganz
abseits zu stellen, aber den Moment abzuwarten, wo sie unter günstigeren
Chancen ihr Ziel verfolgen kann, sich für diesen Moment vorzubereiten
und gegebenenfalls energisch mit der größten Skrupellosigkeit und Rück-
sichtslosigkeit zuzugreifen.
Was nun das eingangs erwähnte neuaufgetauchte zweite Moment
betrifft, nämlich die Aspirationen auf asiatische Gebietsteile der Türkei,
so wäre ehestens eine Enquete maritimer, handelsverkehrs- und finanz-
politischer, sowie militärischer und diplomatischer (Konsular-) Fachleute
einzuberufen, welche unter weitreichenden Gesichtspunkten die von der
Monarchie zu erstrebenden Ziele festzusetzen und die Zugeständnisse zu
fixieren hätte, welche man anderen Mächten zur Förderung der eigenen
Interessen gewähren dürfte.
Was nun das Auftreten der Monarchie in den jetzt strittig werdenden
Fragen anbelangt, so glaube ich, daß dasselbe aus folgenden Gründen
ein dezidiertes sein kann. In keinem Großstaat besteht die Neigung zu
einem Krieg, speziell in Rußland besorgen die Dynastie, die besitzende
Klasse, hohe Staatsangestellte und dergleichen die Revolution, außerdem
329
dürfte Rußland noch immer nicht von allen Mängeln des russisch-
japanischen Krieges geheilt sein und auch von Frankreich zurückgehalten
werden, für welches im Falle eines Krieges große Werte auf dem Spiele
stehen.
Italiens Landheer leidet noch an den Folgen des Krieges in Tripolis;
Italien ist durch letzteren auch finanziell stark hergenommen.
Frankreich hat große Sorgen um seine bedeutenden finanziellen
Engagements, und die Balkanstaaten sind durch den jetzigen Krieg nicht
unbedeutend erschöpft, vielleicht zeigen sich auch Keime der Zwietracht.
Eine Frage, welche jedoch noch wesentlich in Betracht kommt, ist
die Wahl des Zeitpunktes für einen eventuellen Krieg.
Die Balkanstaaten haben in sehr geschickter Weise ihre Operationen
derart begonnen, daß die Entscheidung knapp vor den Winter fällt, wohl
wissend, daß ihnen während des letzteren kaum jemand in den Arm
fallen wird.
Tatsächlich ist ein Winterfeldzug ein für die modernen europäischen
Armeen sehr hartes Beginnen, umsomehr, wenn, wie bei uns, die Aus-
rüstimg für einen solchen eine sehr mangelhafte ist.
Müßte nun, wenn es das Staatsinteresse unabwendbar erheischt, auch
all dies in den Kauf genommen, somit auch ein Krieg im Winter geführt
werden, so erscheint es doch weit vorteilhafter, durch diplomatisches Hin-
ziehen den Kriegsbeginn auf die bessere Jahreszeit zu verschieben; zudem
käme die dadurch gewonnene Zeit den so notwendigen speziellen Vor-
bereitimgen sehr zustatten.
Auf Albanien zurückkommend, habe ich in meinem ersten Essay
die übrigens allgemein klarliegenden Gründe für die dort bestehenden
Interessen der Monarchie angeführt und dabei auch hervorgehoben, daß
eine Zerstückelung Albaniens und eine serbische Festsetzung an der
Adria nie zuzugeben wären.
Ein Kompromiß könnte vielleicht dadurch zustande kommen, daß
die Monarchie an Serbien den Raumbesitz bei Salonik zugesteht, mit
Sonderrechten für die Monarchie hinsichtlich dieses Hafens und der zu
demselben führenden Bahn, umgekehrt aber den Serben in analoger
Weise die Benützung eines norddalmatinischen Hafens mit der dahin
führenden Bahn gewährt. Die beiderseitige Garantie läge in der vollen
Reziprozität.
Was die Sonderrechte der Monarchie hinsichtlich Albaniens, speziell
den Hafen von Valona anlangt, so wäre für den Fall, als es zum Krieg
zwischen Dreibund und Tripleentente käme, Italien durch die Zusicherung
von Tunis für den Fall einer glücklichen Kriegsentscheidung zu
entschädigen.
330
Sollen aber die Interessen der Monarchie hinsichtlich Albaniens
gewahrt werden, so sind eheste Verhandlungen mit den Führern Alba-
niens erforderlich; etwa auf folgender Basis:
Die Monarchie tritt für die Autonomie Albaniens ein, gegen Annahme
des Protektorates oder doch weitestgehender Einflußnahme, sowie gegen
Abtretung des Hafens von Valona.
Die Albanesen haben dieses Eintreten der Monarchie für ihre Inter-
essen selbst zu beantragen.
Auch wäre zu sondieren, ob die Idee der Erwählung eines öster-
reichischen Prinzen auf den Thron Albaniens Aussicht auf Realisierung
hätte, wenn ja, so wäre dies unbedingt anzustreben.
Hinsichtlich der im Vorstehenden erwähnten etwa auftauchenden
Zwietracht zwischen den Balkanstaaten möchte ich folgendes anführen:
Ich hatte heuer in der zweiten Hälfte September, also in einer Zeit,
in welcher die Abmachungen zwischen den Balkanstaaten schon längst
perfekt waren, öfter Gelegenheit, in Portorose mit Prinz Mirko von
Montenegro zu sprechen. Aus seinen Äußerungen entnahm ich den weit-
gehenden Haß, welcher zwischen der montenegrinischen und der
serbischen Königsfamilie besteht. Ich konnte mich auch des Eindruckes
nicht entschlagen, daß Prinz Mirko die Aspiration hat, auf den serbischen
Königsthron zu gelangen und hiezu auf die Unterstützung seitens der
Monarchie rechnet; positive Anhaltspunkte habe ich hiefür allerdings keine."
Auch diesen Zusatz sandte ich an Exzellenz Baron Bolfras, Graf
Berchtold und Oberst Dr. von Bardolff.
Am 8. November 1912 hatten die Griechen Salonik besetzt. Sie waren
der bulgarischen Kolonne Todorow zuvorgekommen. Am 12. November
hielt König Georg dortselbst seinen Einzug.
Wo schon vor mehr als fünfzig Jahren weitblickende Politiker*)
ein österreichisches Emporium erhofften, wehten jetzt Griechenlands
Fahnen.
Am 13. November richtete die Pforte ein Friedensangebot an König
Ferdinand von Bulgarien, das dieser jedoch ablehnte, in der Erwartung,
im Siegeslauf auch Konstantinopel zu erreichen, trotz des Gegensatzes,
in den er dadurch zu Rußland kommen mußte.
Um diese Zeit verfaßte ich das nachfolgende Memoire als zweiten
Nachtrag zu meinem Essay vom 28. Oktober 1912 und sandte es wie
die früheren an die drei wiederholt genannten Stellen.
*) Konsul Hahn: „Von Belgrad nach Salonik."
331
„Zweiter Nachtrag zu meinem Essay,
Wien, am 16. November 1912.
Seit meinem letzten am 8. November geschriebenen Essay erhielt ich
gesprächsweise die Mitteilung über die auf früheren Abmachungen basierte
Möglichkeit der Entsendung eines italienischen Okkupationskorps nach
Albanien.
Ich empfand dies wie einen schrillen Mißton und ersah daraus
erneuert, in welcher Weise Graf Ährenthal die Monarchie auch in dieser
Richtung gebunden und benachteiligt hat.
Diese Eventualität verändert nicht unwesentlich das Bild, unter
welchem ich meine Essays vom 28. Oktober und vom 8. November
geschrieben habe, und macht es, um in diesem Bilde möghchst klar zu
sehen, notwendig, die ganze albanesische Frage einer vorurteilslosen
und ganz nüchtern rechnenden Betrachtung zu unterziehen, damit die
Monarchie nicht etwa Opfer auf sich ladet, durch welche schließlich nur
Italien ein Dienst erwiesen und letzterem ein Vorteil zugewendet wird,
der in der Folge zu Ungunsten der Monarchie ausschlagen könnte.
In diesem Sinne steht die Frage voran, worin die Interessen der
Monarchie bezüglich Albaniens bestehen; es sind dies folgende:
I. Die kriegsmaritimen Interessen.
Eine kriegsmaritime Festsetzung irgend eines andern Staates an der
albanesischen Küste bis südlich Valona wäre für die Seegeltung der
Monarchie ehi empfindlicher Nachteil, muß also hintangehalten werden.
Die bloße Zusage einer (solchen) Neutrahsierung wäre keine aus-
reichende Gewähr;
letztere muß sich vielmehr auf eine erhöhte Machtstellung der
Monarchie gründen.
Diese Machtstellung wäre durch folgendes garantiert:
a) Nur ö.u. Kriegsschiffen ist der dauernde Aufenthalt in diesen Tiäfen
gestattet;
b) Österreich-Ungarn besorgt die Seepolizei in diesem Gebiete;
c) der Hafen von Valona*) wird ö.-u. Kriegshafen, inkl. des umliegenden
Terrains, soweit es zu seiner militärischen Sicherung notwendig ist.
*) „Valona als Flottenstützpunkt einer fremden Seemacht würde die
Adria für die Monarchie zu einem mare clausum machen und jede Aktion
der k. u. k. Kriegsmarine empfindhch gefährden ; Valona dagegen als Stütz-
punkt für die k. u. k. Flotte würde dieser eine äußerst gesicherte Aktions-
freiheit gewähren und die Verteidigung der Adria gegen eine einbrechende
feindliche Flotte wesentlich begünstigen, es wäre ein ö.-u. Gibraltar."
332
In diesen Zugeständnissen sehe ich die wesentUchste Bedeutung der
albanesischen Frage für die Monarchie.
II. Die kontinental-militärischen Interessen.
Die nächste Bedeutung liegt darin, in Albanien einen selbständigen
Staat zu schaffen, welcher als Gegengewicht gegen Serbien und Monte-
negro ausgespielt werden könnte, wenn es zu Konflikten mit diesen
Staaten kommen sollte. Albanien mit zirka 1,Q00.000 Einwohnern ver-
möchte immerhin ein Heer zu stellen, welches Montenegro und einen
Teil der serbischen Kräfte, darunter insbesondere die jetzt neuhinzu-
kommenden, zu binden vermöchte, so daß man mit 8 ö.-u. Divisionen den
Rest niederhalten, also 40 Divisionen für einen eventuellen Hauptkriegs-
schauplatz verfügbar haben könnte.
Vorausgesetzt ist dabei, daß ein autonomes Albanien auch tatsächlich
der Monarchie zur Seite tritt, und nicht entweder ganz passiv bleibt oder
sich einem andern Staate (Italien) dienstbar macht, wofür zwar möglichst
Garantien geschaffen werden müßten, worauf jedoch nicht mit voller
Sicherheit gerechnet werden kann, insbesondere wenn man diesem Staat
(Italien) schon im voraus eine Einflußnahme in Albanien einräumt, wie
dies leider schon geschehen oder doch in Aussicht gestellt sein soll.
III. Die kommerziellen Interessen.
Ich bin in dieser Richtung viel zu wenig Fachmann, um ein
bestimmtes Urteil abgeben zu können, aber es scheint mir kein Vorteil für
die Monarchie zu sein, wenn Serbien die Möglichkeit erhält, mit
Umgehung des Gebietes der letzteren einen Schienenweg an die Adria
und dortselbst einen Hafen zu bekommen, durch welchen es ungehindert
exportieren und importieren kann. Allerdings gibt es anderseits auch
eine Ansicht, wonach ein hiedurch wirtschaftlich aufblühendes Serbien
ein sehr willkommenes, kaufkräftiges Absatzgebiet für die Monarchie
würde. Welche der beiden Anschauungen zutrifft, wäre fachmännisch
festzustellen.
IV. Die allgemein-politischen Interessen.
Bezüglich dieser ist vor allem zu entscheiden, ob man in Hinkunft
der Politik die Richtmig nach einer Serbien und Montenegro freund-
schaftlichen, auf den möglichst innigen Anschluß an die Monarchie
abzielenden Haltung geben, oder ob man eine Richtung wählen will,
welche mit der gewaltsamen Niederringung dieser beiden Staaten rechnet.
Vor allem bergen beide Richtungen, wenn auch auf verschiedenen
Wegen, die Gefahr, daß die südslawischen Staaten den Zusammenschluß
mit den südslawischen Gebieten der Monarchie und dann die Abtrennung
333
dieser Gebiete von der Monarchie zum Ziel nehmen; und es wäre nur
zu entscheiden, bei welcher von den beiden Richtungen diese Gefahr eine
geringere ist, bezw. welche der beiden Richtungen den dauernden
Interessenanschluß dieser beiden Staaten an die Monarchie gewärtigen
läßt.
Bei der feindlichen, gewaltsamen Richtung wird die Monarchie
voraussichtlich mit der Mißstimmung der eigenen Südslawen, vielleicht
der Slawen (außer den Polen) überhaupt, ferner mit einem Eintreten
Rußlands zu rechnen haben; also als äußerste Konsequenz auch mit
einem Krieg gegen letzteres. Es wird abzuwägen sein, um welcher
Interessen willen man auch diese Eventualität in Kauf wird nehmen
müssen.
Bei der andern, den freundschaftlichen Anschluß in Aussicht
nehmenden Richtung wird festzustellen sein, ob und unter welchen
Bedingungen ein solcher Anschluß überhaupt erreichbar und welches das
Mindestmaß der Forderungen ist, die für die Wahrung der Interessen
der Monarchie unerläßlich sind.
Diese Forderungen habe ich, soweit sie die albanesische Frage
betreffen, vorstehend präzisiert. Würde diese freundschaftliche Richtung
gewählt und erzielt werden, so wäre es aber auch dabei im Interesse der
Monarchie gelegen, dem albanesischen Volksstamm seine Religion und
seine Nationalität unbedingt gewahrt zu erhalten, erstens, weil die
Monarchie das Protektorat über einen Teil dieses Volkes übt, zweitens,
weil sie sich bereits für letzteres öffentlich engagiert hat und dies nicht
ohne Prestigeverlust aufgeben kann, und drittens, weil es trotz aller
freundschaftlichen Beziehungen mit Montenegro und Serbien vorsichts-
halber geraten ist, sich die Albanesen besonders zugetan zu erhalten und
sie nicht im Serbentum aufgehen zu lassen.
Sollte es nun möglich sein, die obdargelegten, die Interessen der
Monarchie bezüglich Albaniens betreffenden Forderungen im gütUchen
Einvernehmen mit Serbien und Montenegro gegen sonstige Zugeständ-
nisse zu erlangen und sicherzustellen, so wäre dies zweifellos erwünschter,
als diese Forderungen erst auf dem Umweg einer direkten, sehr zwei-
schneidigen Mithilfe Italiens in Albanien und eines Krieges gegen Rußland
und die Balkanstaaten anzustreben.
Klar muß man sich aber darüber sein, daß die Einhaltung dieses
Weges, insbesondere wegen des Hafens von Valona, zu einem kriege-
rischen Konflikt mit Italien führen dürfte.
Ich bin aber nun der Ansicht, daß es für die Monarchie viel nahe-
liegender und leichter ist, diesen Krieg zu führen, als jenen gegen Rußland,
welch letzterer nicht nur die Sympathien der eigenen Slawen (außer den
334
Polen) gegen sich hätte, sondern auch zu einer dauernden Veifeindung
mit Rußland führen würde, für welche eigentlich kein sonstiger Inter-
essengegensatz vorliegt, ferner zu einer dauernden Verfeindung mit den
westlichen Balkanstaaten, mit denen man dann bei jedem sonstigen
Konflikt als Gegner rechnen müßte.
Zudem müßte man auch nach glücklicher Entscheidung in diesem
Krieg doch erst noch jenen gegen Italien führen, wenn letzteres die
Interessen der Monarchie in Albanien (Küste, Valona) freiwillig nicht
respektieren würde, was besonders dann anzunehmen ist, wenn man ihm
vorher die Okkupation zugebilHgt hat.
Kurz, es erscheint — wenn erreichbar — zweckmäßiger, die
Interessen der Monarchie hinsichtlich Albaniens direkt, das ist mit
Ausschluß Italiens und selbst um eines Krieges gegen Itahen willen zu
wahren, als um den Preis eines Krieges gegen Rußland und die Balkan-
staaten.
Ich bin viel zu wenig über letztere beide orientiert, um ermessen zu
können, welche Aussicht bei diesen ein solcher Vorgang hätte; aber ich
glaube, daß es des Versuches wert wäre, durch unverbindliche, aber sehr
gewandte Vermittler bei Serbien und Montenegro zu sondieren, unter
welchen Bedingungen sie auf diese Lösung der Frage emgehen würden;
der Zustimmung Bulgariens dürfte man dann sicher sein.
Sollte nun aber dieser Weg aussichtslos sein, oder sollte man sich
für denselben nicht entscheiden, sondern lieber die gewaltsame Lösung
mit der Konsequenz eines Krieges gegen Rußland und die Balkanstaaten
wählen, dann erscheint mir, wie ich dies schon in meinen beiden ersten
Essays ausgeführt habe, unbedingt nötig, daß man der aktiven Mit-
vidrkung Deutschlands und Rumäniens sicher sei und daß Italien entweder
gleichfalls aktiv eingreift oder doch mindestens neutral bleibt, sowie daß
Bulgarien nicht aktiv gegen die Monarchie und ihre Verbündeten auftritt;
letzteres, damit mindestens acht rumänische Divisionen gegen Rußland
gerichtet werden können.
Außerdem müssen in diesem Falle, also wenn man den Krieg gegen
Rußland in Aussicht nimmt, ehestens folgende Vorsorgen getroffen
werden.
Erstens: Maßnahmen, welche die Durchführung des Aufmarsches
sichern.
Wie ich in verschiedenen Denkschriften während meiner früheren
Dienstverwendung hervorgehoben habe, werden moderne Kriege seitens
des initiativen Teiles stets mit Überraschungen begonnen werden; so
glaube ich auch, daß Rußland in dem Moment, in welchem es zum
Kriege entschlossen ist, sofort seine starken Kavalleriekörper, seine
335
Grenzwachtruppen, sonstige Detachements u. dgl. über die Grenze
schicken wird, um auf diesseitigem Gebiet die MobiUsierung und den
Aufmarsch ausgiebigst zu stören und damit die erste Bedingung für eine
günstige Kriegsentscheidung, nämlich die ungestörte Versammlung der
Armee zu durchkreuzen.
Da nun dieser Entschluß Rußlands jedenfalls in dem Moment reifen
dürfte, in welchem die Monarchie die Mobilisierung proklamiert, so würde
dieser russische Einbruch unsere Truppen noch in den schwachen
Friedensständen treffen, was jetzt überdies noch dadurch kompliziert ist,
daß diese Stände die Rekruten einbegreifen.
Es würden also die Kräfte fehlen, um diesem Einbruch zu begegnen;
daraus ergibt sich die unerbittUche Notwendigkeit, die Stände sogleich
derart aufzufüllen, daß dem russischen Einbruch erfolgreich begegnet
werden könne.
Das Mittel hiezu liegt in der Einberufung von Ersatzreservisten,
Urlaubern und Reservisten,
Eine zweite Maßnahme ist die sofortige Komplettierung des Pferde-
standes bei den in Galizien liegenden Kavallerieregimentern, so daß diese
mit dem vollen Kriegsstande bereit seien, ferner die Beschaffung der
Bespannungen für die Geschütz- und Munitionslinie der gesamten
Artillerie der galizischen Korps.
Als im Herbste die Nachrichten über die russische Mobilisierung
einlangten, habe ich im engeren Kreise meine Bedenken gegen diese
russischen Maßnahmen und die Meinung ausgesprochen, daß man darauf
mit den obangeführten Maßnahmen antworten müßte. Es ist mir nicht
bekannt, ob und inwieweit in dieser Richtung etwas erfolgte.
Eine weitere Maßnahme wäre die Durchführung der wesentlichsten
Instandsetzungsarbeiten der Festungen Przemysl und Krakau, insbesondere
des ersteren Platzes. Hand in Hand mit diesen Maßnalimen hätte ein reger
Kundschaftsdienst und ein scharfes Vorgehen gegen feindliche Kund-
schafter, Konfidenten und Agitatoren zu erfolgen.
Außer diesen dringendsten, lediglich die Sicherung des Aufmarsches
und der Mobilisierung bezweckenden Maßnahmen wären, so gut es in
der kurzen Zeit noch möglich ist, die bedenklichsten Rückständigkeiten
zu beheben.
Trotz eines fünfjährigen Kampfes, den ich dieserhalb und in manch
anderer Richtung gegen das Ministerium Schönaich geführt habe, ist die
Artillerie nach Zahl und Material nicht auf der erwünschten Höhe.
Weder die leichte, noch die schwere Haubitze, noch die Gebirgs-
kanone sind Schnellfeuergeschütze, während schon die Balkanstaaten
über solche verfügen.
336
An leichten Haubitzen hat die Division anstatt das Regiment zu
4 Batterien nur 2 Batterien und die Kanonenregimenter der Division
haben nur 4 statt 6 Batterien.
Ob sich ein neues Haubitz- und Gebirgsgeschütz-Material rasch
genug beschaffen läßt, ist zweifelhaft, aber an Kanonen erliegt noch eine
erhebhche Anzahl im Arsenal und diese wären sofort zur Aufstellung
neuer Batterien zu verwerten, oder wenigstens im Wege der Formierung
achtpieciger Batterien auszunützen; hiezu wären Urlauber und Reservisten
der Artillerie einzuberufen, wodurch auch die raschere Mobilisierung
dieser Waffe angebahnt werden könnte.
Was die Belagerungsartillerie anlangt, so vermöchten die 15 cm-
Haubitze, die 12 cm- und 15 cm-Kanone, sowie der 24 cm-Mörser gegen
die russischen Befestigungen zu genügen, vorausgesetzt, daß die erforder-
liche Munition vorhanden ist.
Als weitere Vorbereitung wäre die forcierte Erzeugung von Infanterie-
munition sowie Artilleriemunition zu beginnen.
Für die Infanterie wären die Aufstellung weiterer Maschinengewehr-
abteilungen und der Austausch der bereits minder brauchbaren, weil schon
zu sehr abgenützten Maschinengewehre durchzuführen.
Bei der großen Bedeutung der Flieger wären sofort möglichst viele
Apparate zu beschaffen, Piloten ausbilden zu lassen und Detachements
auf dem nördlichen Kriegsschauplatze jetzt schon zu dislozieren (Lemberg,
Przemysl).
Die Bahnen wären für den Kriegstransport zu überprüfen, vor-
nehmUch hinsichtlich Lokomotiven, Kohlenvorräten, Bahnhofeinrichtungen,
Objekten, die Bahnsicherungsabteilungen vor Beginn der MobiUsierung
aufzustellen, damit sie am ersten Mobilisierungstag bereits funktionieren.
• Wenn die Operationen in die kalte Jahreszeit fallen könnten, wäre
sofort für die hiebei erforderliche Kleidung vorzusorgen.
Ich erachte alle diese Maßnahmen für dringend, sofern auch nur die
entfernteste Möglichkeit für einen Krieg gegen Rußland vorUegt; auch
wenn es zu einem solchen nicht kommt, vermag der Vertreter der
Monarchie bei den voraussichtlichen Verhandlungen viel zuversichtlicher
aufzutreten, wenn er diese Vorbereitungen getroffen weiß, als wenn er
unter dem Bewußtsein des Mangels derselben steht.
Ich wiederhole:
Die Wahrung der Interessen der Monarchie (darunter auch hin-
sichtlich Albaniens) ohne einen Krieg gegen Rußland und die Balkan-
staaten, aber selbst um den Preis eines Krieges gegen Italien erschiene
mir vorteilhafter als der umgekehrte Fall; wählt man aber diesen, nimmt
man also einen Krieg gegen Rußland und die Balkanstaaten in Kauf, um
22, Conrad II 337
letztere schließlich gewaltsam unter die eigene Herrschaft zu bringen,
dann müssen erstens die im Vorstehenden angeführten Allianzbedingungen
gesichert sein und zweitens die obangeführten Vorbereitungen sofort in
Angriff genommen werden.
Das Gegenteil wäre eine unverantwortliche Unterlassung.
Hat man sich zum feindlichen Vorgehen gegen Serbien und Monte-
negro entschlossen, dann ist die Insurgierung der Albanesen gegen diese
Staaten mit allen Mitteln zu betreiben und zu unterstützen (Waffen, Geld,
Landungskorps, Artillerie).
R e s u m e.
Das mir jetzt erst bekanntgewordene Zugeständnis einer Okkupation
Albaniens durch Italien verändert das Bild wesenthch.
Die Mindestforderungen der Monarchie präzisieren
sich demnach wie folgt:
Valona ö.-u. Kriegshafen;
keine andere Kriegsmarine an der albanesischen Küste;
Seepolizei etc. an dieser nur durch Österreich-Ungarn;
Wahrung der Nationalität und Religion der Albanesen;
Österreich-Ungarns Protektorat speziell über die Katholiken;
absolute Ausschließung Italiens.
Um diesen Preis hielte ich selbst das Zugeständnis eines
Adria-Handelshafens an Serbien, analog wie Antivari,
zulässig.
Wie nun die Frage zu lösen ist, muß reiflich erwogen
werden, jede vorherige Dreibund-Bindung mit Italien wäre höchst
bedenklich.
Bei Lösung der Frage im feindlichen Sinne gegen
Rußland tmd die Balkanstaaten ergibt sich:
Krieg gegen Rußland;
Krieg gegen die Balkanstaaten;
dauerndes feindliches Verhältnis gegen die Genannten;
Verstimmung der eigenen Slawen;
Krieg gegen Italien, um dieses aus Albanien wieder zu delogieren.
Bei Lösung der Frage im freundschaftlichen Si nne
ergibt sich:
Vermeidung des Krieges gegen Rußland;
Vermeidung des Krieges gegen die Balkanstaaten;
Anbahnung eines freundnachbariichen Verhältnisses zu diesen;
Befriedigung der eigenen Slawen;
Möghchkeit eines Krieges gegen Italien wegen Albaniens.
338
Auf die eingangs angeführte Konzession an Italien zurücklcommend,
erachte ich ein unter itahenischem Eintluß stehendes Albanien, etwa gar
mit einer Festsetzung Italiens in Valona, als eine große Gefahr für die
Monarchie, und zwar als eine weit größere, als die allerdings auch nicht
sehr willkommene Gewährung eines adriatischen Handelshafens an Serbien.
Die vorstehende Arbeit soll nur zur Beleuchtung der jetzt so vitalen
Balkanfrage beitragen und die Gesichtspunkte vermehren, unter welchen
diese zu betrachten ist, damit bei den endgültigen Verhandlungen die
Interessen der Monarchie ihre volle Wahrung finden.
Eines aber wird bei diesen Verhandlungen unter allen Umständen
gehend zu machen sein, nämlidi, daß die Monarchie zur Wahrung ihrer
unerläßlichen Forderungen ohne Zögern bereit ist, zu den Waffen zu
greifen, wenn man ihr eine andere Lösung versagt.
Schließlich möchte ich die schwebende Angelegenheit noch von dem
Standpunkte einer Politik ins Auge fassen, welche darauf abzielt, Ruß-
land niederzuwerfen, es auf seine asiatische Interessensphäre zurück-
zudrängen und damit freie Hand zu bekommen, um am Balkan macht-
voll die eigenen Interessen zu verfolgen und auch im Nordosten der
Monarchie günstige Verhältnisse zu schaffen.
Gewiß ist dieses große Ziel eines großen Einsatzes wert; ob aber
der jetzige Moment der passende hiefür ist, ob eine so weitreichende
Aktion nicht ganz andere Vorbereitungen erheischt und eine andere
politische Konstellation erwünschter erscheinen läßt, mag dahingestellt
bleiben (Engagement Rußlands in Asien, Komplikationen zwischen Eng-
land und Rußland, Zerwürfnisse zwischen den Balkanstaaten).
Jedenfalls muß diese Frage scharf gesondert behandelt werden von
der momentan akuten hinsichtlich Albaniens.
Erst wenn es wegen dieser ohnehin zu einem Krieg gegen Rußland
käme, würden die Ziele dieses Krieges ineinanderfließen."
Auf dem Balkan war indessen ein bedeutungsvoller Umschwung in
der Lage eingetreten.
Vom 17. bis 22. November hatten die Bulgaren die Öataldza-Linie,
das letzte, Konstantinopel schützende Bollwerk angegriffen, waren aber
unter schweren Verlusten zurückgeschlagen worden. Die Aktion kam
hier zum Stehen. Das durch die Bulgaren zemierte Adrianopel hielt sich
nach wie vor und Bulgarien sah sich gezwungen, serbische Mithilfe
anzusprechen.
Die Serben waren mittlerweile am 18. November in Monastir ein-
gerückt, während die Griechen Erfolge zur See errangen und eine große
Zahl der Inseln des Ägäischen Meeres besetzten.
"' 33Q
Eine neue Situation lag vor!
Meine Auffassung zu dieser Zeit legte ich in einem Essay vom
19. November 1912 nieder; es lautete:
„Essay
vom 19. November 1912.
Moltke: >Erst wägen, dann v^agen!«
Ich setze dazu: dann aber auch wirklich wagen, rücksichtslos, ohne
Zögern, ohne Halbheiten.
Insolange es noch zu hoffen stand, daß es möglich sein werde, im
friedlichen Einvernehmen mit Serbien die durch den Balkankrieg gefähr-
deten Interessen der Monarchie zu wahren, erschien es selbstverständUch,
daß dieser Weg angestrebt wird.
Die Haltung Serbiens hat aber seither eine Richtung genommen,
welche nicht nur ein solches Einvernehmen auszuschließen scheint, sondern
dazu angetan ist, das Prestige der Monarchie und damit deren politisches
und wirtschaftliches Gewicht schwer zu beeinträchtigen, so daß die
Monarchie bemüßigt ist, den Appell an die Waffen in Aussicht zu nehmen.
In dieser Lage erachte ich folgendes für nötig, beziehungsweise
geraten :
1. Alle jene Vorkehrungen, wie ich sie im Winter 1908/09 für den
Kriegsfall gegen Serbien allmählich durchgesetzt habe, sind sofort durch-
zuführen.
2. In gleicher Weise hat dies hinsichtlich aller jener Vorkehrungen
zu geschehen, die ich in meinem (beiliegenden) Essay vom 16. November
hinsichtlich des Kriegsfalles >R« angeführt habe.
3. Diesen dringendsten Vorkehrungen haben dann auch alle weiter
noch nötigen zu folgen (Verpflegsvorsorgen, Materialbeschaffungen etc.).
Sobald diese Vorkehrungen hinsichtlich der Standeserhöhung perfekt
sind, wäre ein Rundschreiben an die Mächte zu richten, das nach-
stehendem Gedankengang zu folgen hätte:
Die Balkanstaaten haben durch den ganz auf eigene Faust über-
raschend begonnenen Krieg eine Situation geschaffen, durch die nicht
nur mannigfache Interessen der Monarchie, sondern auch mannigfache
Interessen der anderen Staaten, speziell der Großmächte, empfindlich
tangiert erscheinen.
Die Monarchie hat, obgleich sie ohneweiters in der Lage gewesen
wäre, gegen die Aktion der Balkanstaaten einzugreifen, dies nicht getan
in der sicheren Erwartung, daß die Wahrung ihrer Interessen im Wege
friedlichen Übereinkommens außer Zweifel gestellt sei.
340
Dementgegen hat nun die Haltung Serbiens allmählich eine Richtung
genommen, die nicht nur ein solches friedliches Übereinkommen aus-
zuschUeßen scheint, sondern die darauf hinausläuft, nicht nur diese
Interessen hintanzusetzen, sondern auch die Monarchie in ihrem Staats-
bestand und in ihrem Prestige zu bedrohen.
Wenn die Monarchie trotzdem bisher diesem Vorgehen mit über-
legener Ruhe und kühlem Abwägen gegenüberstand, so geschah dies
ausschließlich und allein nur, weil sich die Monarchie bewußt ist, daß
ihr kriegerisches Auftreten gegen Serbien aller WahrscheinUchkeit nach
kriegerische Verwicklungen zur Folge haben würde, die ganz Europa
mitreißen würden.
Das schwere Elend, das hiedurch über Europa hereinbrechen, die
enorme wirtschaftliche Schädigung, welche dies zur Folge haben und
das Übergewicht, welches die außereuropäischen Staaten damit gewinnen
würden, vor Augen habend, ist sich die Monarchie klar darüber, daß
sie mit dem Eintritt in die kriegerische Aktion nicht nur für sich, sondern
für ganz Europa entscheidet.
Wenn jedoch Serbien in seiner herausfordernden Haltung beharrt,
die Interessen der Monarchie beiseite setzt und ihr die Genugtuung für
sein völkerrechtswidriges Gebaren versagt, dann wird die Monarchie,
hiemit zum äußersten getrieben, den Kampf aufnehmen, möge er aus-
gehen, wie er wolle.
Dieses Rundschreiben müßte im gut gewählten Moment erlassen
werden, dabei müßte man gewärtig sein, demselben beim ersten Zeichen
feindlichen Auftretens anderer Mächte sofort die Mobilisierung folgen
zu lassen.
Es ist sehr bedauerlich, daß es so weit gekommen und die Monarchie
— zu unentschlossen, um in initiativer Weise einen unveraieidhchen Krieg
geeigneten Momentes selbst zu begimien — nunmehr gezwungen
ist, sich denselben aufdrängen zu lassen.
Vielleicht läßt er sich durch den im vorliegenden Essay angeführten
Schritt noch vermeiden, wenn nicht, so muß er eben geführt werden.
Hätte man mi Jahre 1908/09 meinem dringenden Rat, den auch schon
vorbereiteten Krieg gegen Serbien zu führen, Folge gegeben, so stünden
die Dinge heute anders.
Conrad, G. d. I."
Auch diesen Essay sandte ich wie die früheren an die drei schon
wiederholt genannten Stellen, speziell an Graf Berchtold mit folgendem
Begleitbrief:
341
„Euer Exzellenz!
Nachdem E. E. die liebenswürdige Geduld haben, meine politischen
Herzerleichterungen in dieser schweren Zeit freundlich aufzunehmen,
erlaube ich mir, Ihnen auch den beiliegenden Essay zu übersenden.
Ich glaube von E. E. soweit gekannt zu sein, daß Sie mir
Fanfaronaden, Wolkenschiebereien und Bramarbassaden nicht zumuten;
derartiges war mir immer widerlich. Für mich gilt nur die Tat, nicht das
Wort, diese aber überlege ich sehr, daher war ich in meiner früheren
Stellung auch immer im Kampf mit den höheren Gewalten, wenn ich in
Voraussicht kommender Komplikationen alles aufbot, um für letztere vor-
bereitet zu sein.
Mit derselben kühlen Ruhe betrachte ich auch die jetzigen Ereignisse,
und ich lasse mich nicht durch die unvermeidhche Indignation, welche
das Vorgehen Serbiens auslöst, aus dieser nüchternen Ruhe bringen,
aber ich bin doch auf dem Standpunkt, daß der Monarchie, wenn die
Dinge so weiter gehen, nichts erübrigen wird, als alles auf eine Karte
zu setzen.
Diese wenig neidenswerte Lage ist eben die Folge der schweren
politischen Fehler des Grafen Ährenthal, somit ein aufgezwungenes Erbe.
Genehmigen etc. etc.
Wien, am 19. November 1912. Conrad m. p."
Auch an Exzellenz Baron Bolfras gab ich begleitende Zeilen bei,
welche dieser mit dem Hinweis erwiderte, daß manche ernste Maßrege)
im Zuge sei, leider aber der Winter vor der Türe stehe. In meinem Dam
(d. d. 25. November 1912) für seine Antwort fügte ich folgende Stelle ein:
„Mögen unsere Berufenen jetzt klar darin sehen, ob wir nur
Serbien oder ob wir nicht auch Rußland als aktiven Gegner zu rechnen
haben; wenn letzteres der Fall, dann wäre wohl ohne zu zögern alle
Kraft gegen Rußland zu wenden, wobei ich voraussetze, daß man der
aktiven Mitwirkung Deutschlands und Rumäniens sicher ist. Hoffentlich
führt ein gnädiges Schicksal die Monarchie auch aus dieser Krise."
Die damals herrschenden Ansichten über, die politische Lage finden
Ausdruck in folgenden Artikeln des Blattes „Groß-Österreich" vom
1. Dezember 1912. Wer diese Artikel verfaßt hat, ist mir zwar nicht
bekannt, doch weiß ich, daß die Tendenzen dieses Organes der von
Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand eingehaltenen
Richtung entsprachen und daß das Journal von ihm protegiert wurde.
342
Erster Artikel.
„Die gegenwärtige Lage bedingt keinen Krieg!
(Von diplomatischer Seite.)
Wir halten den Krieg Österreichs gegen Serbien aus
vielen Gründen, die teilweise in den späteren Artikeln dieser
Nummer dargelegt werden, als unvermeidlich. Gleichwohl
geben wir im nachstehenden einer uns von sehr schätzens-
werter Seite zugehenden Darstellung der Lage Raum, aus der
unsere Leser ersehen werden, daß wir wenigstens die Aus-
dehnung des Krieges zu einem Weltkriege nicht zu fürchten
brauchen.
Der alte Lehrsatz: >Wenn du Frieden willst, so rüste zum Kriege«,
heißt in der diplomatischen Praxis folgendermaßen: >Wenn die
Regierungen diplomatische Verhandlungen führen, durch welche sie
schwebende Streitfragen friedlich schlichten wollen, müssen sie durch
militärische Vorkehrungen ihren Wünschen ein stärkeres Gewicht ver-
leihen.« Dieser Grundsatz bietet vielleicht einen Fingerzeig dafür, daß
manche beunruhigende Momente der vorigen Woche doch wohl nur den
Zweck hatten, uns dem Frieden näher zu bringen. Allerdings hat auch
der obige Grundsatz zwei Seiten. Militärische Vorkehrungen erzeugen
immer eine mehr oder weniger militärische, ja sogar kriegerische
Stimmung, und in solchen Stimmungen können bisweilen die bekannten
>Unwägbarkeiten« eintreten, die den rollenden Stein weiter treiben als
die ersten Bewegenden wollten.
Wenn wir indessen heute die friedliche Entspannung mit Sicherheit
erwarten, so liegen hiefür faßbare Gründe vor. Die Bedrohung des
Friedens könnte doch nur von den unberechenbaren und unverantwort-
hchen Störungskräften am russischen Hofe ausgehen. Aber sollte
wirklich der Zar so schwach sein, um gegen seinen Willen einen Krieg
zuzulassen, der den Bestand seines Thrones und seines ganzen Reiches
in Frage stellen könnte? Sollte wirklich die letzte Kaiserzusammenkunft
in Baltisch-Port nur eine Komödie gewesen sein? Zar Nikolaus kennt
die internationale Pohtik, und er weiß genau, wo sich die Quelle der
fortgesetzten Störungen und Beunruhigungen befindet. Er ist auch unter-
richtet darüber, daß in seinem Reiche und selbst an seinem Hofe Personen
vorhanden sind, die einer Beeinflussung von ausländischer Seite unschwer
unterliegen, besonders wenn sich dieselbe in ein russisch-patriotisches
Gewand kleiden läßt. Dies weiß man aber auch in Berlin, und wenn
man in Wien davon weniger Kenntnis haben sollte, so ist man sicher
in Pest darüber schon aus eigener Praxis unterrichtet. Kurz gesagt:
In Baltisch-Port dürfte zwischen den Herrschern Deutschlands und
343
Rußlands eine Vereinbarung darüber getroffen sein, daß sich beide Reiche
durch keine wie immer gearteten von England ausgehenden Machen-
schaften von dem friedlichen Grundcharakter ihrer Poütik abbringen
lassen werden.
Allerdings so ganz einfach ist dies für Rußland nicht. Es ist mit
Frankreich verbündet imd mit England befreundet. Es hat auch moraUsche
Verpflichtungen gegenüber den Balkanstaaten, es muß auch auf die
panslawistischen Strömungen im eigenen Lande Rücksicht nehmen. Aber
bisher hat der Zar noch immer das letzte Wort im friedlichen Sinne selbst
gesprochen. Nun ist femer in den letzten Wochen die schwere Verwick-
lung in Ostasien hinzugekommen. Rußland ist entschlossen, die Mongolei
zu einem russischen Vasallenstaat zu machen. Dieses Land, das in die
innere und die äußere Mongolei zerfällt, ist im Flächenraum doppelt so
groß als die habsburgische Monarchie, ist jedoch im Verhältnis zu China
nur sehr dünn bevölkert. Daher der Entschluß Chinas, einige Millionen
seiner überschüssigen Bevölkerung in die Mongolei zu entsenden, während
Rußland das gleiche tun möchte. Die südliche Mongolei ist ein ziemlich
warmes und fruchtbares Land, und wenn sich dort Rußland festsetzt, so
kann es zugleich mit seinen Positionen im östlichen Turkestan das
chinesische Reich von Norden und Westen völlig umklammem. Ebenso
kann es von dort aus die Japaner in der Mandschurei erfolgreich
bedrohen. Wenn also Rußland gegenwärtig den Willen hat, in der
Mongolei vorzurücken und dabei den sicher zu erwartenden Widerstand
Chinas und Japans zurückzuweisen, so kann es unmöglich gleichzeitig
in ernsthafter Weise an einen Krieg in Europa denken. Wenn es trotzdem
in dieser selben Zeit seine militärische Stellung in den Westprovinzen
verstärkt, so kann dies immerhin als eine vorbeugende Maßnahme
bezeichnet werden. Die mssischen Westprovinzen mit ihren jetzigen
Armeeständen von mnd 350.000 Mann umfassen ein Territorium von
der Größe Zisleithaniens, so daß man von einer Anhäufung der Tmppen
an der »Grenze« nicht gut reden kann.
Es ist klar, daß die Verbündeten an der Seine und die Befretmdeten
an der Themse ein neues Vorrücken Rußlands in Ostasien nicht gerne
sehen. Schon deshalb ist der militärische »Aufmarsch« m den West-
provinzen notwendig, um in Paris und London den Wert der AlHanz
und der Entente nicht allzusehr herabsetzen zu lassen. Auch hat die
Begründung mit der Haltung der Polen manches für sich. Im Laufe
dieses Jahres haben manche Provokationen von selten der Polen statt-
gefunden, auf welche auch die vielbesprochene Resolution des galizischen
Polenklubs Bezug nahm. Anderseits hat das Wiener Kabinett sehr recht
daran getan, die Haltung Rußlands nicht nach den Vorgängen in
344
Ostasien, sondern nach den offen zutage liegenden Handlungen in Europa,
besonders auch nach dem Verhalten des russischen Gesandten in Belgrad
zu beurteilen und darnach die eigene Stellungnahme einzurichten. Die
Aufstellung der österreichischen Minimalforderungen gegenüber Serbien
und die Erklärung, daß die Monarchie hiervon unter keinen Umständen
abweichen werde, ist eine klare und grundsätzliche Politik, die sich sehr
vorteilhaft von der vielfach widerspruchsvollen Haltung der übrigen
Mächte, mit Ausnahme Deutschlands, abhebt.
Indessen ist zu berücksichtigen, daß es bei der Regelung der Balkan-
fragen neben den serbischen Hafenansprüchen noch manche andere
erhebliche Schwierigkeit geben wird.
Die Meerengenfrage wird nicht mehr umgangen werden können,
Wenn Bulgarien auch an das Marmara-Meer käme, wäre sie sofort gelöst,
denn dann fiele das Tor an den Dardanellen von selbst fort. Deshalb
will Rußland, daß der Türkei das Land mindestens bis zur Mündung
der Maritza verbleibe. Aber die so geschwächte Türkei wird die Meer-
engen nicht mehr als ihr Eigentum betrachten können, zumal Bulgarien
als Uferstaat des Schwarzen und des Ägäischen Meeres für sich die freie
Durchfahrt durch die Meerengen zu fordern berechtigt ist. Es dürfte
deshalb schließlich doch den Russen ein Anteil an den Meerengen
zugesprochen werden müssen, was jedoch erst nach recht schwierigen
Verhandlungen erreicht werden kann. — Dann tritt die schwierige Frage
nach dem Schicksale der Ägäischen Inseln auf, von denen sich augen-
blicklich noch zwölf im Besitze der Italiener befinden, während die
übrigen eiligst von Griechenland besetzt wurden. Noch schwieriger wird
die Salonik-Frage werden, wo seit kurzem unter der Leitung des Wiener
Zionistenführers Dr. Jakobsohn ein jüdisch-autonomistisches Komitee eine
leidenschaftliche Kampagne gegen die griechische Besetzung der Stadt
eingeleitet hat. Der Niederschlag dieser Bemühungen hat sich bereits
im österreichischen Abgeordnetenhause merklich gemacht. Und wie soll
die Forderung Rumäniens auf eine Gebietsabtretung Bulgariens erfüllt
werden? Wenn diese nicht erfolgt, so wird die Stimmung in Rumänien
eine böse Wendung nehmen. Man wird die Behauptung aufstellen, daß
die bisherige dreibundfreundhche Haltung des Königreiches dem Lande
nichts einbringe, während alle Nachbarstaaten sich vergrößern. Interessant
dürfte auch die Frage werden, wer an die Spitze des künftigen albanesischen
Staates treten soll. Der ägyptische Prinz Fuad, der Enkel des Albanesen
Mehmed Ali, hat sich dieser Tage auch in Wien als Thronbewerber
vorgestellt. Als Gelehrter und Rektor der arabischen Universität in Kairo
hat er sich bereits früher viel Sympathien erworben, die ihm jetzt nützlich
werden könnten. Neben dieser Kandidatur ist die des Prinzen Viktor
345
Napoleon aufgestellt worden, der daran erinnert, daß schon sein großer
Vorfahr, Napoleon I., durch seinen Konsul Torqueville Albanien vom
türkischen Joch befreien wollte, was damals der Engländer Howe von
Korfu aus verhinderte. Diesen beiden Bewerbern gegenüber dürfte der
württembergische Herzog von Urach nur geringe Aussichten haben,
während die übrigen Kandidaten Albert Ghika, Aladro Castriota, Bib
Doda und andere bereits gänzlich in den Hintergrund getreten sind.
Sollte nun wirklich zur Bereinigung dieser Fragen eine europäische
Konferenz erforderlich werden, so dürfte Österreich jedenfalls dafür
sorgen, daß die Angelegenheit des serbischen Hafens und die prinzipielle
Frage der Autonomie Albaniens schon vorher entschieden werden."
Zweiter Artikel.
„Der Krieg ist unvermeidlich!
Die vorstehende Schilderung der diplomatischen Lage läßt leider einen
Punkt außer acht: die systematischen Provokationen Serbiens gegen
Österreich, sowie den Gegensatz zwischen unserer Monarchie und den
Ansprüchen Serbiens auf Albanien. Weder die Warnung Österreichs,
noch die freundschaftlichen Mahnungen Rußlands und Italiens haben die
Machthaber in Belgrad davon abhalten können, sich in Albanien fest-
zusetzen. Erklärt nun aber Österreich, es könne nicht gestatten, daß
Serbien auch nur einen Kilometer der albanesischen Küste besetze, und
tut dies Serbien dennoch, so ist das eben der Krieg! Wollte in diesem
Falle unsere Monarchie nachgeben, so würde sie dadurch sich selbst' aus
der Reihe der Großmächte streichen. Ebensowenig ist zu erwarten, daß
Serbien von dem Standpunkt, den es bis jetzt mit solcher Zähigkeit ver-
treten hat, abgehen wird. König Peter und seine Minister wissen, daß
Österreich sein Veto gegenüber der Besetzung Albaniens nicht zurück-
ziehen wird. Sie haben deshalb zu gewärtigen, daß schon in den nächsten
Tagen die Kriegserklärung Österreichs erfolgen muß.
Es fragt sich nun, ob Serbien Aussicht hat, daß Rußland ihm zu
Hilfe kommen wird. Nach der an erster Stelle gegebenen diplomatischen
Darlegung ist es sehr unwahrscheinlich, daß der Zar den Serben zuliebe
einen europäischen Krieg beginnen wird. Rußland steht in Ostasien vor
neuen Gefahren, und in Europa würde sofort das Deutsche Reich als
Bundesgenosse Österreichs auftreten. Es ist daher anzunehmen, daß nicht
nur Kaiser Nikolaus am Dienstag unserem Botschafter Graf Thurn sehr
friedliche Versicherungen gegeben hat, sondern daß auch Kaiser Wilhelm
mit dem Zaren ein Abkommen getroffen hat, nach welchem Rußland im
Falle eines österreichisch-serbischen Krieges neutral bleiben wird.
346
Sollte dagegen Rußland uns den Krieg erklären und gleichzeitig die
Kriegserklärung Deutschlands gegen Rußland sowie die Kriegserklärung
Frankreichs und Englands gegen Deutschland erfolgen, so würden wir
gegen Rußland einerseits die Rumänen als Verbündete haben, anderseits
würden Ruthenen, Polen, Littauer, Balten und Finnländer, im Südosten
auch die Armenier, Grusinier und die anderen Kaukasusvölker gegen die
Russen zu verwerten sein. Es ist nicht unmöglich, daß nach den ersten
Waffenerfolgen der österreichischen und deutschen Armeen in Rußland
über das Zarenreich eine ähnliche Katastrophe hereinbrechen wird, wie
sie soeben die Türken ereilt hat. Jedenfalls wäre für Rußland eine Kriegs-
erklärung ein sehr gefährliches Unternehmen.
Wie wird sich die italienische Regierung zu dem Kriege stellen?
Das Königreich Italien ist zwar unser Bundesgenosse, doch kommt dieses
Verhältnis den Orientfragen gegenüber nicht in Betracht. Es liegt
dagegen das vom Grafen Goluchowski im Jahre 1897 durchgesetzte
Abkommen betreffend die Unantastbarkeit Albaniens vor, wodurch sich
Österreich und Italien gegenseitig verpflichtet haben, Albanien nicht zu
besetzen oder zu annektieren. V/enn demnach Österreich der italienischen
Regierung das formelle Versprechen gibt, nach der Verdrängung der
Serben aus Albanien dieses Land ebenfalls sofort wieder zu räumen, so
liegt für Italien nicht die geringste Veranlassung vor, aus seiner
Neutralität herauszutreten. Anderseits dürften bereits zwischen Wien und
Rom Abmachungen getroffen sein, wonach Italien das von ihm besetzte
Rhodos und einige andere türkische Inseln erhalten wird.
Welche Haltung aber werden die Balkanverbündeten Serbiens ein-
nehmen? Nun, soviel steht schon jetzt fest, daß Griechenland die Serben
in einem Kriege gegen Österreich nicht unterstützen wird, während
Bulgarien ebensosehr auf die Türken wie auf Rumänien Rücksi;:ht zu
nehmen hat. Da der Balkanbund nur für einen Kampf gegen die Türken
geschlossen wurde, so bedeutet der von Serbien gewollte Konflikt mit
Österreich einfach die Sprengung des Balkanbundes. Für Serbien selbst
würde der Konflikt mit unserer Monarchie das Ende seiner Selbständigkeit
bringen. Da dieses Land nicht im Frieden neben unserer Monarchie
leben will, so muß es diesen Frieden innerhalb der Monarchie finden."
Auch die deutsche Presse wandte den Geschehnissen am Balkan
ihre volle Aufmerksamkeit zu. So brachten die „Münchener Neuesten
Nachrichten" in Nr. 603 vom 26. November 1912 folgenden, die Lage
klar und scharf erfassenden Artikel:
347
„Der osteuropäische Januskopf.
München, 25. November.
Auf dem Forum in Rom stand ein Tempel, der wie kein HeiHgtum
das Symbol der weltherrschenden Tiberstadt war. Herrschte der Friede,
dann waren die Tempelpforten geschlossen, im Krieg standen sie weit
offen. Und dann sah man Janus den Gott, den Gott mit den zwei
Gesichtern, von denen das eine vorwärts, das andere rückwärts schaute.
So ward Janus, der älteste der Götter, auf den alle Kultur zurück-
geführt wurde, der bei allen Opfern zuerst angerufen wurde, das
geheimnisvolle, schreckUche Symbol des Krieges zugleich und des innem
Widerspruchs des Krieges als Mittel politischer Machtbildung und
kultureller Neuschöpfung und kulturwidriger Vernichtung und grausamer
Zerstörung.
So ist Janus das Symbol des großen historischen Gegensatzes der
Anschauungen, der seit der Menschheit Beginn in den Zeiten, die die
Völker zu blutiger Auseinandersetzung zu treiben drohen, dem Kriegs-
mann und dem Staatsmann Denken und Handeln bestimmt.
Läßt man den Soldaten die Situation beurteilen, dann wird er, wenn
man die letzten österreichischen Stimmen heranzieht, etwa sagen:
. . . Wenige Wochen nach Beginn des Balkankrieges ist die militärische
Lage Europas im Begriff, sich erheblich zu verschieben. Der für West-
europa unerwartete Ausgang des Balkankrieges ergibt als Tatsache:
Niederwerfung der Türkei, bedeutende Kraftleistung des Balkanbundes,
das heißt mit anderen Worten : Fast gänzliche Ausschaltung der türkischen
Armee aus den militärischen Berechnungen des Dreibundes, dafür
Buchung der eben bewährten müitärischen Streitkräfte des Balkanbundes
auf der Saldoseite der Tripleentente.
Die wichtigsten Armeen dieses Balkanbundes, die bulgarische und
serbische, haben allerdings so außerordentUch schwer gelitten (Verluste
bis zu 40 Prozent des Bestandes), daß sie augenblicklich sowie in der
allernächsten Zeit keine besondere Beachtung beanspruchen können, zu
einem Kriege gegen Österreich-Ungarn und Rumänien sind sie zur Zeit
völlig außerstande. Bei der beiden Nationen innewohnenden, eben
bewiesenen Tatkraft muß aber damit gerechnet werden, daß sie verhältnis-
mäßig schnell (sicherUch in kaum zehn Jahren) wieder eine respektable
Kraft erreicht haben werden. Dieser Kräfteersatz wird sich um so
schneller vollziehen, als Bulgarien und Serbien neue Ländergebiete
zufallen, deren Männer künftig unter ihren Fahnen, anstatt unter dem
Halbmond zu dienen haben werden. Die Verluste, die mit Geld wett-
348
zumachen sind, werden sehr bald ersetzt sein; Leute, die gezeigt haben,
was sie können und daß sie etwas wert sind, haben stets Kredit gehabt.
Es wird also mit absoluter Sicherheit an der Südgrenze Österreich-
Ungarns binnen kurzem eine bedeutende slawische Militärmacht entstehen,
die man künftig in militärischen Berechnmigen nicht außer acht lassen
kann.
Je größer in der nach dem jetzigen Kriege vorzunehmenden General-
abrechnung die Gebietsvergrößerungen Bulgariens und Serbiens bemessen
werden, um so gefährlicher werden diese künftig ihren Nachbarn, vor-
nehmlich Österreich-Ungarn und Rumänien, in poUtischer und militärischer
Hinsicht.
Die Schaffung eines »Großserbien« muß natumotwendig zur Folge
haben, daß die serbisch-kroatischen Landesteile Österreich-Ungarns, die
Slawonien bis zur Drau, Kroatien, Dalmatien, Bosnien und die Herze-
gowina umfassen, den Anschluß an Großserbien betreiben werden. Schon
jetzt hat — wie bekannt — nach den serbisch-bulgarischen Kriegserfolgen
in diesen Gebieten eine tiefgehende großserbische Bewegung eingesetzt,
die aus einer moralischen sich in eine physische Schwächung der Doppel-
monarchie wandeln kann, wenn im Laufe der Zeit die Zuverlässigkeit
der Truppenteile mit slawischem Ersatz ins Wanken oder gar die Los-
reißung slawischer Gebietsteile von der Monarchie in Frage käme.
Rumänien zwischen Rußland und einer größeren slawischen Militär-
macht südlich der Donau würde mihtärisch einfach erdrückt werden,
wenn es nicht vorsichtig vorziehen würde, sich auf die Seite dieser Nach-
barn zu schlagen. In der augenblickUchen hochemsten Stunde muß der
Soldat den Machtverhältnissen, wie sie jetzt sind und wie sie sich gestalten
können, kalt und klar ins Auge sehen, daraus seine Schlüsse ziehen und
sich darauf einrichten.
Österreich-Ungarn und Rumänien müssen — das ist für sie eine
Lebensfrage — die zu weitgehende Vergrößerung und damit militärische
Kräftigung Serbiens und Bulgariens mit allen Mitteln hintanhalten. In
zweiter Linie muß das germanische Deutschland dieses seltne Ziel
verfolgen.
Aus dieser schwierigen militärpolitischen Lage und aus diesem
Zukunftsausblick heraus erklärt sich die augenblickliche Haltung Öster-
reich-Ungarns und Rumäniens.
Ob die Serben ein Fenster nach der Adria bekommen, ob die Alba-
nesen die Autonomie, das sind nur Unterfragen in der Hauptfrage, die
nicht lautet: Österreich-Ungarn oder Serbien?, sondern lautet: Österreich-
Ungarn oder Rußland? Germanen oder Slawen?
349
Die Friedensstärke vor dem Kriege der bulgarisch-serbischen Armee
betrug 9+5 Infanteriedivisionen. Mit der territorialen Vergrößerung
dieser Königreiche wird und muß auch die Vergrößerung ihrer Streit-
kräfte Schritt halten, man wird ihre Gesamtfriedensstärke in wenigen
Jahren, je nach den Gebietserweiterungen, auf mindestens 16—20
Infanteriedivisionen schätzen dürfen. Bei einem späteren Kriege gegen
Rußland müßte Österreich-Ungarn daher nahezu die Hälfte seines 4Q
Infanteriedivisionen betragenden Friedensstandes — und zwar deutsche
Truppen — zunächst gegen die slawischen Balkanstaaten in Rechnung
stellen.
>Carpe horam!« muß man Österreich-Ungarn und Rumänien zurufen,
und zwar um so dringhcher, als Rußland — Rußland, auf dessen aktive
Hilfe die Balkanstaaten vielleicht rechnen — zu diesem Zeitpunkt — ich
wiederhole früher Gesagtes nachdrücklich — unter keinen Umständen
das Schwert ziehen wird, mag es noch so viel mit geheimnisvollen Mobil-
machungsmaßnahmen demonstrieren. Ein kriegerisches Einschreiten
erlauben ihm weder seine Finanzen, noch seine teilweise lückenhafte
Rüstung, noch das gänzliche Fehlen einer Flotte, noch die Befürchtung
von sofort emporlodernden Aufständen in Finnland, in Polen, im
Kaukasus und im Innern, noch schließlich die Rücksicht auf seinen
französischen Alliierten, der in schwerer Sorge um Nordafrika sein müßte.
Rußland verkündet offiziell laut seine Friedensliebe, der Not gehorchend,
nicht dem eigenen Triebe; sie ist wirklich aufrichtig gemeint.
Die Tripleentente handelt vom militärischen Standpunkt aus durch-
aus richtig, wenn sie jede Auseinandersetzung mit dem Schwert zwischen
Österreich-Rumänien und Serbien-Bulgarien jetzt vermieden zu sehen
wünscht; aber in einigen Jahren? Ja, dann hegt die Sache anders: Ruß-
land bereit und im Besitz einer Flotte, Bulgarien und Serbien erholt von
den jetzigen Wunden, Frankreich in Marokko sicherer gebettet, Rumänien
vielleicht in die Zwangslage gebracht, sich von Österreich -Ungarn los-
sagen zu müssen, und die slav/ischen Südprovinzen Österreichs unruhiger,
als sie es heute schon sind.
Wenn es dagegen heute dem Dreibund und Rumänien, gestützt auf
ihre ungeheuren Machtmittel, gelingt, den slawischen Ausbreitungs- und
Großmannsgelüsten einen festen Damm entgegenzusetzen, so wird der
Friede nicht nur heute, sondern auf Jahre hinaus damit erhalten . . . ."
350
Meine Mission in Rumänien.
Die durch den Balkankrieg geschaffene, für Österreich-Ungarn so
schwierige Lage, die es zwang, die Möglichkeit kriegerischer Verwick-
lungen und zwar auch mit Rußland ins Auge zu fassen, legte es der
Monarchie nahe, sich für diesen Fall ihres südöstlichen Verbündeten,
Rumäniens, zu versichern. Dabei kam es aber darauf an, den Faden
mit Bulgarien (Rumäniens eifersüchtigem Rivalen) njcht abreißen zu
lassen, also die zwischen Bulgarien und Rumänien bestehenden Differen-
zen auszugleichen, seine guten Dienste hiefür anzubieten.
Wie die Dinge damals lagen, schien dies erreichbar, wenn man
Bulgarien bewegen könnte, gewisse kleinere Gebietsabtretungen an
Rumänien zuzugestehen. Auch schon mit Rücksicht auf die öffentliche
Stimmung in Rumänien war die Erreichung dieses Zieles erwünscht, da
ein Teil der öffentlichen Meinung ohnehin nicht mit Vorwürfen an die
Regierung kargte, dahin, daß Rumänien im Balkankrieg leer ausgehen
würde — ein Vorwurf, der sich dann auch gegen König Card richten
konnte, der uns als die festeste Stütze des Bündnisses galt. Graf
Berchtold war unentwegt bemüht, die Politik der Monarchie in diesem
Sinne zu gestalten. Rumänien mit Bulgarien auszugleichen und Rumänien
für den eventuellen Krieg gegen Rußland mit allen seinen Kräften aktiv
zur Seite zu haben, war das Ziel.
Mitte November 1Q12 wurde ich zu Seiner Kaiserhchen Hoheit
Erzherzog Franz Ferdinand berufen und von ihm beauftragt, mich für
eine Mission nach Bukarest reisefertig zu machen, um dort hn
obdargelegten Sinne zu wirken.
Als äußerer Anlaß hatte zu gelten, daß ich König Carol die
Kondolenz Seiner Majestät des Kaisers anläßlich des Ablebens der
Gräfin von Flandern, der Schwester des Königs, zu überbringen habe.
Aus diesem Grunde war es wohl auch vermieden worden, den Chef
des Generalstabes hiemit zu betrauen, obgleich es sich um Abmachungen
für den eventuellen Kriegsfall handelte.
Am 16. November erhielt ich die Verständigung, daß Grai
Berchtold am 17. früh aus Budapest in Wien eintreffen werde und ich
bei ihm Instruktionen einzuholen habe.
351
Bei diesem Anlasse teilte mir Graf Berchtold zunächst mit, daß er
am 10. November eine Besprechung mit dem bulgarischen Kammer-
präsidenten Herrn Danew hatte, der anführte, daß Rumänien an
Bulgarien Ansprüche erhebe, auf die es kein Recht habe, daß deren
Gewährung ein Opfer seitens Bulgariens wäre, daß Rumänien seitens
Bulgariens aufgefordert worden sei, am Kriege teilzunehmen, dies aber
abgelehnt habe. Jedenfalls — meinte Danew — müsse Rumänien für
ein Entgegenkommen Bulgariens dadurch eine Handhabe bieten, daß es
einen Druck auf die Türkei zur Herbeiführung eines Präliminarfriedens
zu Gunsten Bulgariens ausübe. Danew erwähnte auch, daß Bulgarien
einen baldigen Friedensschluß wünsche, ohne auf Konstantinopel zu
reflektieren. Dies wäre auch für Österreich-Ungarn vorteilhaft, damit
Serbien nicht weitere Fortschritte mache.
Nach diesen Mitteilungen über die Ausführungen Danews erhielt
ich durch Graf Berchtold mündlich folgende Informationen für meme
Mission in Bukarest:
Überreichen des Allerhöchsten Handschreibens Seiner Majestät an
König Carol; Überbringen der Grüße Seiner Majestät und des Thron-
folgers, sowie der Versicherung treuer Anhänglichkeit;
Wunsch Seiner Majestät, daß Rumäniens Interessen gewahrt
werden, und Bestreben, nach MögUchkdt hiezu beizutragen;
Ausspruch der Genugtuung, daß Rumänien die turkophile Politik
aufgegeben, dieselbe Haltung wie die Monarchie eingenommen habe und
Bulgarien bei den Verhandlungen mit der Türkei unterstützen, sowie
dahin wirken wolle, daß Bulgarien keinen definitiven, sondern nur einen
Präliminarfrieden schließe;
Versicherung, daß bei Superrevision dieses Friedens Gelegenheit
genommen werde, die Interessen Rumäniens zu wahren, sofern dies
nicht schon früher gelungen wäre;
Mitteilung, daß der Dreibund demnächst erneuert wird;
Wunsch, daß Rumänien pari passu mitgehe, das bestehende Bündnis
fortgeführt werde;
Aufklärung über xmsere militärischen Maßnahmen;
Versuch, unser militärisches Verhältnis zu Rumänien klarzustellen
und diesbezügliche Vereinbarungen analog v/ie mit Deutschland anzu-
bahnen;
v^omöglich schriftliche Niederlegung dieser Vereinbarungen;
Wunsch, daß Rumänien beim Nachdruck auf die Türkei Bulgarien
eventuell auch militärisch unterstütze;
352
Mitteilung, daß die Unterredung mit Herrn Danew rein informativ
war, hiebei jedoch seitens Graf Berchtold die Interessen Rumäniens
warm vertreten wurden.
Graf Berchtold verständigte mich, daß das Bundesverhältnis mit
Rumänien von drei zu drei Jahren kündbar sei, mit einjähriger Kündi-
gungsfrist, daß der nächste Kündigungstermin auf den 25. Juli 1Q13
falle, mit Ablauf am 25. Juli 1914. Er orientierte mich weiter dahin,
daß die Monarchie die serbisch-montenegrinischen Erwerbungen in
Albanien unter keinen Umständen akzeptiere.
Außer diesen mündlichen Informationen erhielt ich noch folgendes
Schriftstück als Direktive:
„Geheim.
1. Versicherung des Wunsches Seiner Majestät, daß Rumäniens
Interessen in der gegenwärtigen Krise vollkommen gewahrt bleiben, und
Bestreben des Allergnädigsten Herrn, Allerhöchst hiezu nach Möglich-
keit beizutragen.
2. Mitteilung des wesentlichsten Inhaltes der Konversationen mit
Danew, welche im allgemeinen bloß informativen Charakter trugen und
in deren Verlauf auch für Rumänien warm eingetreten wurde. Aus den
Äußerungen Herrn Danews war zu ersehen, daß es für Bulgarien mit
Rücksicht auf die öffentliche Meinung leichter fallen würde, in der frag-
lichen Richtung etwas zu tun, wenn Rumänien in der Lage wäre, im
Laufe der Friedensverhandlungen Bulgarien eine freundschaftliche
Unterstützung zu gewähren.
3. Streng geheime Mitteilung, daß der Dreibund gegenwärtig
erneuert werden soll und Hoffnung gehegt wird, daß, so wie in der Ver-
gangenheit, auch in der Zukunft das Verhältnis mit Rumänien pari
passu mit dem Dreibund fortgeführt werden wird.
4. Versuch, das Terrain für eventuelle schriftliche Niederlegung der
Stipulation wegen Militärkonvention zu erkunden."
*
Am 18. November 1912 wurde ich seitens des Ministeriums des
Äußern verständigt, daß sich, da Danew in Bukarest erwartet werde,
meine Abreise verschieben müsse. Sie erfolgte daher erst am 28. Novem-
ber, nachdem ich am 27. November noch in Audienz bei Seiner Kaiser-
lichen Hoheit Erzherzog Franz Ferdüiand war.
Der Verlauf meiner Mission in Rumänien geht am besten aus
meinem Seiner Majestät dem Kaiser erstatteten schriftlichen Bericht
hervor, den ich während der Rückreise von Bukarest nach Wien memem
Flügeladjutanten eindiktiert hatte.
23, Conrad II qcq
Er lautete:
„Bericht über meine Mission in Bukarest
am 29. und 30. November 1912.
Am 29. November um 12.55 Uhr nachm. in Bukarest eingetroffen,
wurde ich für 2 Uhr nachm. zur Audienz bei Seiner Majestät dem
König befohlen.
Ich v^urde von Seiner Majestät mit ausgesuchter Freundlichkeit emp-
fangen und w^ar zwei Stunden — von 2 bis 4 Uhr nachm. — beim König.
Ich habe den Totaleindruck gewonnen, daß der König unbedingt
treu zu seiner Bundespflicht hält, und daß er in diesem Sinn alle
militärischen Vorbereitungen getroffen hat.
Ich habe das Allerhöchste Handschreiben überreicht, der König las
es und war sichtlich erfreut darüber, ich habe ihm die Grüße und die
Versicherung der Gefühle treuer Anhänglichkeit Seiner Majestät des
Kaisers und Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers gegenüber
dem König von Rumänien ausgedrückt, femer habe ich betont, daß es der
Wunsch Seiner Majestät des Kaisers ist, daß die Interessen Rumäniens
gewahrt werden und daß die Monarchie bestrebt sein wird, dazu nach
Möglichkeit beizutragen.
Dies und auch die Bemerkung, daß es mit Genugtuung empfunden
wurde, daß Rumänien dieselbe Haltung angenommen habe, wie die
Monarchie in Bezug auf Bulgarien und die Türkei, haben auf den König
einen sichtlich guten Eindruck gemacht, und der König hat gleich
erwähnt, daß er das Ansinnen des Nazim Pascha, feindselig gegen
Bulgarien aufzutreten, abgewiesen habe.
Der König ist auch vollkommen dafür, auf keinen definitiven,
sondern nur auf einen Präliminarfrieden hinzuarbeiten, weil er einen
definitiven Frieden als die Quelle neuer kriegerischer Verwicklungen
betrachten würde und er hat es auch sehr beifällig aufgenommen, als
ich ausführte, daß bei einer Superrevision dieses Präliminarfriedens
Gelegenheit geboten wäre, die Interessen Rumäniens speziell zu wahren,
wenn dies nicht schon früher direkt gelungen sein sollte.
Der König war sehr bereit, auf alle mögliche Weise einen dies-
bezüglichen Druck auf die Türkei auszuüben, nur bei der Andeutung,
daß dieser Druck auch durch militärische Maßregeln verschärft werden
könnte, bemerkte der König, daß er dazu ein Fragezeichen machen
müßte, weil es ihm wie eine Felonie vorkäme, wenn er den alten Freund
— die Türkei nämlich — auch noch in diesem Zeitpunkt feindselig
behandeln würde.
354
Der König erzählte hiebei eine Anekdote, die er in Gesellschaft mit
Erzherzog Albrecht und dem russischen Gesandten Hitrowo erlebt hatte.
Sehr beifällig hat der König die Mitteilung von der Dreibund-
erneuerung aufgenommen, umsomehr, als er hinsichtlich Italiens doch
sehr skeptisch zu sein schien.
Auf den ausgesprochenen Wunsch, daß Rumänien gleichzeitig mit
dem Dreibund sein Verhältnis fortführen möge, erwiderte der König
zunächst, daß ja ohnehin das Bundesverhältnis besteht und eine ein-
jährige Kündigung bedingt, wenn es gelöst werden soll.
Auf meine Bemerkung, daß es erwünscht wäre, wenn dieses Ver-
hältnis in gleicher Weise enger gestaltet würde, wie es zwischen den
anderen Dreibundmächten der Fall ist, verhielt sich der König nicht
ablehnend.
Es wäre also in dieser Hinsicht die geeignete Zeit, dies einzuleiten.
Weiter gab ich Seiner Majestät dem König die Aufklärung über
unsere jetzigen militärischen Maßnahmen, bezüglich deren er im großen
bereits orientiert war.
Als ich nun auf unser militärisches Verhältnis zu Rußland speziell
zu sprechen kam, eröffnete mir der König, daß er in Ansehung der
Möglichkeit eines Krieges bereits in der verflossenen Woche mehrere
Sitzungen gehabt habe, darunter speziell eine mit dem Chef des General-
stabes, General Averescu, bei welcher die Details des Aufmarsches fest-
gelegt wurden, und teilte mir mit, daß mich der Chef des Generalstabes,
General Averescu, den folgenden Tag (Samstag) 9 Uhr vorm. ein-
gehend darüber orientieren und es mit mir besprechen werde.
Aus dem Gespräch des Königs entnahm ich, daß Rumänien bereit
ist, mit seinen vollen Kräften, das sind zehn operative Divisionen und
fünf Reserve-Divisionen (mit Ausnahme von einer Division, die anfäng-
lich in Bukarest bleibe), in den Krieg einzutreten, daß er jedoch den
Aufmarsch dieser Kräfte im Räume Berlat— Galatz— Nomoleasa—
Focsani plane, weiter nördlich aber bei Roman nur das IV. Korps
(Jassy) aufmarschieren lasse.
Auf meine Bemerkung wegen einer eventuellen Vereinigung der
rumänischen Armee bei und nördlich Jassy (Botosani) erwiderte der
König, daß dies mit Rücksicht auf die Lage Rumäniens doch nicht gut
möglich wäre, daß die rumänischen Kräfte schon am zehnten Tage
versammelt wären und dann ja ohnehin die Offensive beginnen würde.
Für diese rechnet er, daß die rumänische Armee das russische
VII. und VIII. Korps und auch Teile des kaukasischen Korps gegen
sich haben v^erde, was letzteres ich bezweifelte.
23*
355
Ich habe den Eindruck gewonnen, daß man sich mit dieser Zusage
abfinden könne, da es ja vor allem darauf ankommt, überhaupt die
Kräfte Rumäniens zur Verfügung zu haben.
Ich habe nun angeregt, daß die diesbezüglichen Vereinbarungen
in analoger Weise, wie mit dem deutschen Generalstab, auch zwischen dem
ö.-u. und rumänischen Generalstab schriftlich niedergelegt werden und
habe schließlich die Zustimmung des Königs erhalten und die Erlaubnis,
all dies bei der Besprechung mit General Averescu wenigstens in seinen
grundlegenden Zügen durchzuführen.
Bei der Besprechung der Dreibund-Verpflichtungen kam der König
auch auf die Rolle Italiens zu sprechen und teilte mir mit, daß eine
Verpflichtung Italiens bestehen soll, wonach dieses etwa 40.000 Mann
— oder nach einer anderen Version eine Division — zur direkten Unter-
stützung Rumäniens entsenden soll, welche Division natürlich, da der
Seeweg nicht frei wäre, durch österreichisches Gebiet transportiert
werden müßte.
Ich erklärte, daß ich von dieser Sache nichts wüßte, worauf mir
aber der König erwiderte, daß gerade der italienische Gesandte in
Bukarest vor ganz kurzer Zeit ihm gegenüber eine diesbezügliche
Bemerkung machte.
Es wäre also tatsächlich nachzuforschen, ob eine solche Verpflich-
tung Italiens besteht und was in dieser Beziehung vereinbart worden ist.
Als Seine Majestät der König die allgemeine Lage zur Besprechung
anregte, legte ich dar, daß die Monarchie Serbien gegenüber eine weit-
gehende Zurückhaltung erwies, daß sie diese Zurückhaltung aber nur
deshalb walten lasse, weil sie nicht leichtfertig eine kriegerische Ver-
wicklung über Europa heraufbeschwören will, daß die Monarchie aber
fest entschlossen ist, ihre bereits fixierte Minimalforderung unbedingt
aufrecht zu erhalten, auch selbst wenn es mit den Waffen sein müßte.
Diese Minimalforderung besprechend, bezeichnete ich als solche:
Die Autonomie eines ungeteilten, unzerstückelten Albaniens; die
Ausschließung eines serbischen Territorialbesitzes an der Adria und
hinsichtlich des Hafens nur das Zugeständnis, daß ein solcher als Frei-
hafen — ähnlich wie Hamburg — geschaffen werde, welchen auch
Serbien benützen und zu welchem sich Serbien eine Bahn bauen könnte,
daß jedoch diesem Bahnbau der Anschluß Uzice — Vardiste vorangehen
müßte.
Als der König fragte, welcher Hafen das sein könnte, erwiderte
ich, daß es entweder ein dalmatinischer — der aber dann auch Frei-
hafen wäre — oder Antivari oder äußerstenfalls Singjin (S. Giovanni
di Medua) sein könnte, natürlich ohne territorialen Besitz.
356
Auf meine Bemerkung, daß ich mir die Hartnäckigkeit Serbiens
nur aus der Unterstützung desselben seitens Rußlands erklären könne,
meinte der König, er glaube, daß, wenn wir die Bedingungen so
formulieren, wie es oben geschetien, Rußland entsprechend auf Serbien
einwirken werde, daß es sich dieser Bedingung füge.
Gelegentlich meiner Bemerkung, daß die Entscheidung der jetzigen
Frage meiner Ansicht nach davon abhängig ist, wie weit Rußland in
der Unterstützung Serbiens geht, weil ich nicht glaube, daß Serbien
ohne Unterstützung Rußlands einen Krieg gegen die Monarchie riskieren
würde, teilte mir Seine Majestät der König einen Zwischenfall mit
zwischen dem französischen und dem serbischen Gesandten und das
Hinzutreten des russischen Gesandten Schebeko beim Diplomatenempfang
letzte Woche, der ergab, daß der französische Gesandte den serbischen
hart anließ, und daß der russische Gesandte dem französischen bei-
pflichtete, worauf sich der serbische kleinlaut zurückzog.
Der König schien überhaupt der Ansicht zu sein, daß Rußland es
wegen dieser Frage nicht zum Krieg wird kommen lassen; er erzählte
mir auch, daß Offiziere in die an Rumänien grenzenden Teile Rußlands
entsendet wurden und daß in diesen Gebieten keinerlei militärische Vor-
bereitungen zu bemerken seien, nur Gerüchte sollen umlaufen, wonacli
russische Truppenverschiebungen in nordwestlicher Richtung, also gegen
uns, stattfinden sollen.
Ich habe dann die Besprechung dahin geleitet, daß ich auf die
Solidarität der Interessen Deutschlands, Österreich-Ungarns, Rumäniens,
aber auch Bulgariens hinwies gegenüber einem Zusammenschluß
Rußlands mit Serbien.
Der König meinte, daß diese Ansicht gänzlich der seinigen und der
Richtung seiner Politik entspreche, so daß ich die Ansicht gewann, die
rumänische Regierung ziele darauf ab, mit Bulgarien dauernd ein freund-
schaftliches Verhältnis herzustellen.
Der König kam nun auf die Mission des Danew in Budapest zu
sprechen, und ich teilte Seiner Majestät mit, daß die Gespräche mit
Danew nur informativen Charakter und hauptsächlich die Unterstützung
der rumänischen Forderungen durch die Monarchie zum Ziele hatten.
Auf meine Äußerung, daß Danew erwähnte, Rumänien sei von Bulgarien
zur Mitwirkung aufgefordert worden, erwiderte der König, daß das
ganz unwahr ist und von einer Aufforderung Bulgariens zum Mittun
absolut keine Spur gewesen ist.
Auch erfuhr ich gesprächsweise, daß das monarchirfeindliche Auf-
treten Hartwigs in Serbien auch auf die Beziehungen des Großfürsten
Nikolaus zur Frau des Herrn von Hartwig zurückzuführen sei.
357
Als ich nun weiter auf Gebietsabtretungen seitens Bulgariens zu
sprechen kam, teilte mir der König mit, daß Rumänien drei Alternativen
im Auge habe: eine maximale, die ziemlich weit nach Bulgarien hinein-
reicht, ohne aber Varna und Sumla einzuschließen, eine mittlere, die
Silistria in sich begreift, und eine minimale, die Silistria wegläßt.
Der Grund des Verlangens nach dieser Grenzregulierung ist:
1. die Schaffung etwas günstigerer strategischer Bedingungen und
2. die Dokumentierung der Anerkennung der Dobrudza als Besitz
Rumäniens seitens der Bulgaren.
Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß es die Monarchie
unbedingt durchsetzen muß, daß Rumänien diesen Wunsch erfüllt erhält,
weil sonst der König, der doch die ganze Stütze der äußeren Politik ist,
in eine schiefe Stellung zu seinem Volk und Land käme, wodurch jenen
Parteien Vorschub geleistet würde, die den rege betriebenen Ein-
flüsterungen Rußlands Gehör schenken und der Politik des Königs
ohnehin den Vorwurf machen, daß Rumänien infolge versäumten Ein-
greifens in den jetzigen Balkankrieg leer ausginge.
Nach 4 Uhr nachmittags war die Audienz bei Seiner Majestät dem
König beendet, und ich machte nun persönliche Besuche beim Minister-
präsidenten und Minister des Äußern Maiorescu, Chef des General-
stabes General Averescu, Kriegsminister General Herjeu, Korpskomman-
danten General Crainiceanu und dem Festungskommandanten GM.
Zottu, ehemaliger Chef des Generalstabes, nachdem vorher schon bei
zwei Staatssekretären, den übrigen Ministem und dem Generaladjutanten
Seiner Majestät und bei unserer Vertretung in Bukarest Karten abge-
geben wurden.
Um 7 Uhr abends wurde mein Flügeladjutant von Seiner Majestät
dem König in halbstündiger Audienz empfangen.
8 Uhr abends war Diner beim Ministerpräsidenten Maiorescu, an
welchem auch teilnahmen:
die Minister Take Jonescu, Marghiloman und Filipescu, der Kriegs-
minister Herjeu, der Chef des Generalstabes General Averescu, von
unserer Vertretung in Bulcarest der ö.-u. Gesandte Prinz zu Fürstenberg,
der Legationsrat Baron Haymerle und Oberstleutnant von Hranilovic,
ferner der mir zum Ehrendienst zugeteilte Kapitän des Generalstabes
Ressel und mein Flügeladjutant Major Kundmann.
Nach dem Diner führte mich Maiorescu in einen Salon, in welchem
wir beide allein konferieren konnten.
Bei dieser Besprechung teilte mir Maiorescu mit, daß er nach meiner
Audienz beim König war und ihm der König viel aus der Unterredung
mitleilte.
358
Maiorescu begann nun gleichfalls über diese Angelegenheit zu
sprechen, und ich gewann den Eindruck, als ob Maiorescu bemüht wäre,
die Zusagen des Königs etwas abzuschwächen, oder daß er besorgt
habe, daß der König in seinen Zusagen vielleicht zu weit gegangen wäre,
weil er (Maiorescu) nämlich zu sehr die Hoönung aussprach, daß sich
die Sache friedlich beilegen möge, und weil er betonte, daß Rumänien
bei einem Angriff auf die Monarchie treu seiner Bundes-
pflicht nachkommen würde, so daß ich den Eindruck gewann, als ob
er meinte, daß, wenn die Monarchie selbst der Angreifer wäre, Rumänien
zu einer solchen Hilfe nicht verpflichtet sein würde.
Er sprach dies keineswegs derart aus, aber ich glaubte, dies
zwischen den Zeilen lesen zu können.
Auf das hin entwickelte ich ihm den Hergang der jetzigen Situation
und legte ihm dar, wie sehr der Zusammenschluß Rußlands und Serbiens
eine Gefahr für Deutschland, Österreich-Ungarn, Rumänien und auch
Bulgarien bilde und wie daher gerade diese Staaten darauf angewiesen
sind, diesem Zusammenschluß Rußlands und Serbiens gegenüber soli-
darisch aufzutreten.
Ich setzte ihm weiter eingehend auseinander, daß sich die Monarchie
im vollen Gefühle der schweren Verantwortung für ganz Europa äußerst
langmütig erwiesen habe, daß sie zugesehen habe, wie Serbien überhaupt
diesen Krieg vom Zaune brach, daß sie selbst ruhig blieb, als Serbien
die Gebiete des Sandzak betrat, daß sie aber unbedingt ein Veto einlegen
mußte, als Serbien seine Aspirationen an die Adria ausdehnte, daß die
Monarchie nunmehr gleich beizeiten diesen ihren Standpunkt klarlegte,
welcher die Autonomie Albaniens und die Lösung der Hafenfrage in ihrem
Sinne betraf und daß die Monarchie unter gar keinen Umständen von
diesem Standpunkt weicht, sondern ihn auch auf die Gefahr eines Krieges
hin vertreten würde.
Ich erwähnte, daß es nunmehr an Rußland läge, sich klar zu werden,
wie weit es in der Unterstützung Serbiens geht, wenn es einen großen
europäischen Krieg vermieden haben will.
Ich legte ihm dar, daß Rußland der einzige Staat war, welcher von
der Aktion der Balkanstaaten schon lange vorher wußte, und daß Ruß-
land hinterhältig genug war, dies allen anderen Staaten und auch
Rumänien gegenüber zu verbergen.
Ich kam auch auf Frankreich und England zu sprechen, erwähnte,
daß Frankreich seiner großen finanziellen Engagements wegen den
Krieg nicht wünschen werde und daß England kaum gewillt sein dürfte,
es zu einem Seekrieg mit Deutschland kommen zu lassen, weil selbst
wenn die deutsche Flotte dabei vernichtet werden würde, auch die
359
englische eine derartige Einbuße erleiden würde, daß die Machtstellung
Englands, die doch nur auf der Flotte beruht, schwer getroffen wäre,
daß es somit tatsächlich Rußland ist, von dem es abhängt, ob es zu
diesem Krieg kommt oder nicht.
Minister Maiorescu verfolgte meine Ausführungen mit großer Auf-
merksamkeit, dankte mir sehr für diese Darlegungen und bemerkte nur,
daß er nunmehr klar sehe, wie man die Sache auffaßt.
Ich hatte nun noch eine Besprechung mit dem rumänischen Minister
des Innern Take Jonescu, bei welcher dieser auf die kutzowalachischen
Elemente zu reden kam und mir mitteilte, daß sich Rumänien für diese
sehr interessiere und auch in mehreren Städten Albaniens, z. B. Elbassan,
Berat etc., rumänische Schulen unterhalte.
Von verschiedenen Seiten, insbesondere auch vom Minister
Maiorescu wurde hervorgehoben, mit welcher Aufmerksamkeit meine
Entsendung nach Bukarest verfolgt wird und wie beifällig dieser Schritt
Seiner Majestät des Kaisers hier aufgenommen wurde.
Nicht unerwähnt aber kann ich es lassen, daß mir Maiorescu ganz
loyal mitteilte, daß außer ihm selbst auch noch der russische Geschäfts-
träger Schebeko vom König am selben Tage empfangen wurde und daß
Seine Majestät letzterem über die Überreichung des Handschreibens und
über den ersten Teil semes Inhaltes Mitteilung machte, wobei ich mich
des Eindruckes nicht erwehren konnte, daß diese Rücksicht auf den
russischen Vertreter darauf abziele, Rußland nicht zu verstimmen.
Schebeko hat offiziell im Namen des Zaren kondoliert, es war aber
durchsichtig, daß die Audienz wegen meiner Ankunft angesucht
worden war.
In Rumänien ist eine große Partei, die Angst vor einem Konflikt
mit Rußland hat.
Der König ist nicht vollkommen orientiert über die Strömungen ün
Lande, so daß ihn der Kronprinz schon einmal aufklären wollte, es aber
dann unterlassen hat, weil der König dies voraussichtlich abgewiesen
haben würde.
Am Abend ließ mir Seine Majestät der König sein Bild mit eigen-
händiger Unterschrift in einem Silberrahmen überreichen und verlieh
meinem Flügeladjutanten das Komturkreuz des Ordens der rumänischen
Krone.
Am 30. November 9 Uhr vorm. erschien der Chef des Generalstabes,
General Averescu, bei mir in jenem Teil des könighchen Schlosses, wo
ich als Gast des Königs abgestiegen war, und wir hatten bis gegen
11 Uhr vorm. unter vier Augen Besprechungen der gemeinsamen
360
militärischen Maßnahmen, wobei ich vollen Einblick in den rumänischen
Aufmarsch erhielt.
Es kam mir nun vor allem darauf an, die getroffenen Vereinbarungen
sofort wenigstens in großen Zügen schriftlich festzulegen, ich fertigte
daher ein Pare aus, während General Averescu eine Abschrift desselben
niederschrieb.
Diese nur dem König und General Averescu bekannten Fest-
setzungen hätten nun als Basis für die weiteren schriftlichen Verein-
barungen zwischen beiden Generalstäben zu dienen, wurden in einem
Pare von Seiner Majestät dem König von Rumänien eingesehen, während
das zweite gleichlautende Pare Seiner Apostolischen Majestät dem Kaiser
zur Allerhöchsten resp. Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzog Franz
Ferdinand zur Höchsten Einsichtnahme vorgelegt wird.
Speziell sei noch erwähnt, daß die rumänische Grenzsicherung am
Pruth in vier Abschnitte, korpsweise geteilt, mit der linken Flügel-
abteilung bei Dorohoj (dort Infanterie-, sonst Jägerbataillone) gedacht ist.
Die Rosiori-Kavallerie wird zum sofortigen Einbruch nach Ruß-
land (mit sechs Regimentern) bereit sein.
Operationsbereitschaft am zehnten Mobilisierungstage.
Das IV. Korps schon früher, ungefähr am siebten Mobili-
sierungstage.
Obige konkrete Daten tragen streng reservierten Charakter.
Von 11 bis 12 Uhr vorm. wohnte ich dem in Anwesenheit des
Königspaares stattgefundenen feierlichen Trauergottesdienste für die
verstorbene Schwester des Königs, weiland die Gräfin von Flandern bei.
Vor Beginn des Gottesdienstes hatte ich Gelegenheit, mit dem
gewesenen Ministerpräsidenten Bratianu, der der liberalen Partei
angehört, über die jetzige Lage und über die Position Österreich-Ungarns
zu sprechen. Ich erwähnte ihm gegenüber, daß die Monarchie bezüg-
lich Nachgiebigkeit gegenüber Serbien bis zum äußersten gegangen ist
und alles seine Grenzen hat.
Um 12.30 Uhr nachm. wurde ich von Ihrer Majestät der Königin in
halbstündiger Audienz empfangen.
Die Königin wäre sehr für den Frieden und Annäherung an
Bulgarien, würde einen Krieg mit Rußland für ein großes Unglück
betrachten und zeigte eine große Verachtung für das serbische Königs-
haus.
Vor Beendigung der Audienz lud mich Ihre Majestät für 4 Uhr
nachm. zum Tee ein.
361
Nach 1 Uhr nachm. war Dejeuner beim ö.-u. Gesandten Prinz zu
Fürstenberg', wo ich erneuert Gelegenheit fand, mit General Averescu
und dem Ministerpräsidenten iViaiorescu Rücksprache zu pflegen.
Maiorescu hat hiebei wieder erkennen lassen, daß es ihm am liebsten
wäre, wenn die ganze Sache friedlich beigelegt würde, hat auch gemeint,
daß unser einmütiges Zusammenhalten dazu beitragen wird, worauf ich
ihm erwiderte, daß unsere Einmütigkeit nur dann wirksam sein wird,
wenn man in Rußland sieht, daß wir auch gewillt sind, mit den Waffen
in der Hand unser Recht wirklich zu vertreten und uns nicht scheuen,
ia einen Krieg einzutreten, dessen Bedeutung und große Verantwortlich-
keit für Europa wir allerdings kennen.
Er hat auch wieder über verschiedene Strömungen in Rußland
gesprochen und die unschöne Rolle des Herrn von Hartwig, des russi-
schen Vertreters in Serbien, hervorgehoben.
Hierauf hatte ich noch eine Besprechung mit unserem Gesandten
Prinz zu Fürstenberg, der erneuert die Notwendigkeit betonte, daß
Rumänien durch Österreich-Ungarn die Grenzkompensationen bekomme
und nicht etwa durch Rußland, welches die analoge \mbition habe.
Diese Notwendigkeit liegt eben darin, die Dispositionen des Königs
in der öffentlichen Meinung zu festigen, damit es nicht heißt, dieser
habe 30 Jahre eine falsche Politik gemacht und damit nichts erreicht.
Um 3.45 Uhr nachmittags empfahl ich mich vom Prinzen zu
Fürstenberg und erschien um 4 Uhr nachmittags bei Ihrer Majestät der
Königin zum Tee, wo sich auch Seine Majestät der König einfand, und
wurde mir die seltene Auszeichnung zuteil, mit dem Königspaar ganz
allein bis zur Abfahrt zum Bahnhof verweilen zu dürfen.
In Begleitung des Flügeladjutanten Seiner Majestät des Königs
fuhr ich sodann direkt zum Bahnhof, wo ich 5.35 nachmittags eintraf.
Um 5.40 nachmittags ging der Zug nach Wien ab; am Bahnhof
hatten sich zur Verabschiedung unter anderen der Ministerpräsident
Maiorescu, die Generale Averescu und Crainiceanu, dann Prinz zu
Fürstenberg mit den Herren der Gesandtschaft eingefunden.
Während der Fahrt, es war 10.30 nachts, wurde ich vom Redakteur
Herrn Ciocärdia der Bukarester Zeitung „Universul" um ein Interview
gebeten.
So unangenehm mir dies war, gab ich doch dieser Bitte statt und
ging wie folgt auf seine Fragen ein.
Auf die Frage um den Grund meines Kommens erwiderte ich ihm,
daß ich ein Handschreiben Seiner Majestät meines Kaisers an Seine
Majestät den König von Rumänien überbrachte mit dem Beileid zum
jüngsten Todesfall in der Familie des Königs und mit dem Ausdruck
362
der freundschaftlichen Gefühle der Monarchie für die Interessen
Rumäniens.
Auf die Frage, ob es zum Krieg kommen wird, antwortete ich, daß
ich diesbezüglich nicht prophezeien könne und daß vielleicht in ganz
Europa überhaupt niemand ist, der diese Frage jetzt bestimmt beant-
worten könnte, daß aber jedenfalls viel von der Einsicht der krieg-
führenden Mächte abhänge.
Auf seine Bemerkung, daß sich jetzt in Rumänien große Meinungs-
verschiedenheiten äußern, ob es besser gewesen wäre, sich an dem Kriege
am Balkan zu beteiligen, sei es gegen oder für den Balkanbund, oder
unbeteiligt zu bleiben, sagte ich ihm, daß ich mich darüber nicht äußern
kann, aber glaube, daß die Leute, die jetzt so oder so reden, wenn
man sie anfangs gefragt hätte, auch nicht gewußt hätten, was sie
richtigerweise machen sollen. Im übrigen hat Rumänien das Glück, einen
so weisen und weitblickenden Monarchen zu haben, daß es sich ruhig
der Führung seines Königs anvertrauen kann.
Ich habe diesen Redakteur — gegen mein sonstiges Prinzip —
diesmal empfangen, weil ich nicht unfreundlich sein und die öffentliche
Meinung Rumäniens nicht vor den Kopf stoßen wollte, umsomehr als
es meine Aufgabe war, die Beziehungen zwischen der Monarchie und
Rumänien zu fördern und ich vielleicht dazu beitragen konnte, daß die
Presse auch in diesem Sinne schreibt, ferner um allen an meinen Besuch
geknüpften Ausstreuungen und Mißdeutungen, welche von Österreich-
Ungarn feindlichen Parteien lanciert werden könnten, die Spitze abzu-
brechen.
Dieser Bericht wurde vollinhaltlich nur Seiner Majestät dem Kaiser
und Seiner Kaiserlichen Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand unterbreitet
und auszugsweise unter Weglassung der Ausführungen rein militärischer
konkreter und operativer Natur dem k. u. k. Minister des Äußern über-
geben.
Wien, am 2. Dezember 1912. Conrad, G. d. I."
Die im Bericht angeführten schriftlichen Vereinbarun-
gen zwischen mir und dem rumänischen Chef des Generalstabes General
Averescu lauteten: .
„Bukarest, 30. November 1912.
1. Die operativen Vereinbarungen hinsichtlich der Kooperation
werden zwischen dem rumänischen und ö.-u. Generalstabe schriftlich
festgelegt, analog wie mit dem deutschen Generalstab.
2. Im Falle der Kooperation gegen Rußland versammelt Rumänien
sein 4. Korps bei Roman, sein 1., 2., 3., 5. Korps im Räume Berlat —
Foksani — Tekuc.
363
3. Von den Reservedivisionen drei bis vier bei Buzeu, eine in der
Dobrudza, erstere mit der Bestimmung, vorgezogen zu werden.
4. Die Hauptoperation würde sich voraussichtlich zunächst gegen
Kiszinew richten.
5. Die nächsten ö.-u. Kräfte wären im Räume Tarnopol — Trembowla
— Czortkow, Teile bei Czernowitz versammelt.
General Averescu m. p.
Conrad von Hötzendorfra. p., G. d. I."
Faßte man das Gesamtresultat der Mission zusammen,
so ergab sich, daß König Carol mit dem gemeinsamen Krieg Österreich-
Ungarns und Rumäniens gegen Rußland rechnete, daß die diesbezüglichen
militärischen Festsetzungen schon sehr konkrete Form angenommen
hatten und nach all dem anzunehmen war, daß zu dieser Zeit
Rumänien an der Seite der Monarchie eingegriffen hätte, wenn die Mon-
archie in einen Krieg gegen Rußland verwickelt worden wäre.
Auch die rumänische Öffentlichkeit, so sehr sich insbesondere der
französische Gesandte auch bemühte, war damals noch keineswegs
schon im Banne der Entente, sondern hauptsächlich auf das Verhältnis
zu Bulgarien und auf die eigentlich geringfügigen Gebietsabtretungen
gerichtet, die es von letzterem erwartete. Selbst das Schicksal der in
Mazedonien lebenden Kutzowalachen beschäftigte sie.
König Carol aber war ein deutscher Charakter. Er hatte nichts
von der Verschlagenheit, wie sie so häufig den Staatsmännern des
Ostens zu eigen ist. Sein ganzes Wesen mir gegenüber trug den Stempel
des aufrichtigen Zusammengehens mit Österreich-Ungarn, wenn auch
bei aller Wahrung seiner Selbständigkeit. Die herzliche Art, mit der
ich als Gast im königlichen Schlosse aufgenommen und sowohl vom
König als der Königin behandelt worden war, dies insbesondere gelegent-
lich des un Bericht erwähnten Nachmittags-Tees, war frei von jeder
Mache. Auch sprach König Carol mit einer Offenheit über die politischen
und militärischen Fragen, wie sie nur unter Bundesgenossen zulässig
erscheint.
Seiner Beurteilung der russischen Armee, deren vorzügliche Eigen-
schaften er ebenso hervorhob, wie deren Mängel, schloß er äußerst
interessante Mitteilungen aus dem Kriege 1876—77 an. Insbesondere
aus der Zeit, in der er den Oberbefehl bei Plewna führte. Er charakteri-
sierte die russischen Generale und wie er genötigt war, die Entfernung
einzelner derselben zu verlangen. Die Königin perhorreszierte den
Krieg, tadelte das ganze Gehaben Serbiens, kam mit Abscheu auf den
Königsmord in Belgrad und auf die Art zu sprechen, in der das Haus
364
Karageorgjevic sich des Thrones bemächtigte. In ihrer zartsinnigen,
poetischen Denkungsweise berührte sie mannigfache Fragen. Jedes
ihrer Worte war vom Geiste edelster Menschlichkeit durchweht. Unsere
Konversation war eine so rege, daß, als der diensthabende Adjutant
meldete, es sei Zeit nach dem Bahnhof zu fahren, das Königspaar noch
einen kleinen Aufschub verfügte. Ich habe heute noch deutlich dieses
Beisammensein im Teesalon vor Augen, den ich mit dem Empfinden
verließ, von zwei außergewöhnlichen Persönlichkeiten zu scheiden. Ich
habe beide seither nie wieder gesehen.
In Herrn Maiorescu hatte ich einen ernsten, überlegten, zuver-
lässigen, dem freundschaftlichen Verhältnis zu Österreich-Ungarn
geneigten Politiker, in General Averescu einen vornehmen, chevaleresken
General mit klarem Urteil und bestimmtem Willen kennen gelernt. Die
Besprechung mit ihm erstreckte sich auch auf Einzelheiten einer etwaigen
gemeinsamen Operation. Er erwies sich als genauer Kenner der
russischen Armee, an deren Manövern er in längerer Mission teil-
genommen hatte. Ein hierüber von ihm verfaßtes, sehr interessantes
Buch machte er mir zum Geschenk. In Belzy in Beßarabien geboren,
lag es für ihn nahe, die Wiedergewinnung Beßarabiens für Rumänien
auch aus persönlichen Gefühlsgründen anzustreben. Der Gewinn
Beßarabiens stand ja im Falle erfolgreichen gemeinsamen Krieges in
Aussicht.
Weniger beruhigt betreffs des Verhältnisses zu Österreich-Ungarn
war ich hinsichtlich der Herren Bratianu, Take Jonescu und wohl auch
Filipescu, im Gegensatz zu Herrn Marghiloman, der mu* dem Bunde
zuzuneigen schien.
Schließlich nahm ich den Eindruck mit, daß unsere Vertretung in
Bukarest bei dem k. u. k. Gesandten Karl Prinz Emil zu Fürstenberg in
vorzüglichen Händen lag.
In Bulgarien stand man den mehrerwähnten, von Rumänien
geforderten Grenzregulierungen, resp. Gebietsabtretungen damals,
also gegen Ende November 1912, noch ablehnend gegenüber. So schrieb
ein bulgarisches Blatt:
„Die Rumänen sollen zuerst ihre eigenen Bauern aus der Knecht-
schaft der »Tschokojen« (Gutsbesitzer) befreien, dann werden deren
Söhne gute und begeisterte Soldaten werden. Erst nachdem Rumänien
diese große, jedoch edle und unaufschiebbare Arbeit für die geistige und
kulturelle Hebung und Einigung des Volkes, das innerhalb der Grenzen
des Landes lebt, geleistet haben wird, werden die Rumänen an d i e
politische Vereinigung des ganzen rumänischen
Volkes denken können. Zu diesem Behufe ist aber eine ruhige
365
Entwicklung nötig, nicht aber eine »Grenzregulierung« an der südlichen
bulgarischen Grenze, auf welche einige Politiker und Diplomaten Mittel-
europas die Aufmerksamkeit der rumänischen Staatsmänner zu lenken
sich bemühen. Hoffentlich wird die liebe Mühe vergeblich sein, was für
beide Nachbarstaaten vom Vorteil sein wird, denn beide haben viel
Wichtigeres zu tun, als an eine solche »Regulierung« zu denken, die zu
schweren Folgen führen könnte."
Dieser Artikel läßt die Absicht durchscheinen, Rumäniens Aspira-
tionen für die Zukunft von Bulgarien ab auf Österreich-Ungarn
hinzulenken. Im übrigen haben die darin vertretenen Anschauungen in
der Folge eine wesentliche Korrektur erfahren, als sich das Kriegsglück
gegen Bulgarien wendete.
Wie sehr indessen Graf Berchtold bestrebt war, die Differenzen
zwischen Bulgarien und Rumänien in einem die Interessen der Monarchie
wahrenden Sinne auszugleichen, geht auch aus folgendem Telegramm
(Nr. 160 vom 25. November 1912) an Graf Tarnowski, den ö.-u.
Gesandten in Sofia, hervor:
„Einem Gespräche des türkischen Botschafters in Berlin, welcher
sich auf der Durchreise nach Bukarest, beziehungsweise Konstantinopel
hier aufgehalten hat, entnahm ich, daß seine Mission bei König Carol
dahin gehe, Rumänien für die Idee zu gewinnen, ein Mahnwort nach
Sofia zu richten und durch eine eventuell daran geknüpfte Drohung
einen Druck auf die bulgarische Regierung auszuüben.
Ich habe König Carol hievon mit dem Bedeuten in Kenntnis setzen
lassen, daß ein Eingehen auf eine solche türkische Insinuation der Richt-
schnur unserer Politik nicht entsprechen würde und daß es mir im
Gegenteil wünschenswert schiene, wenn auf Grund eines rumänisch-
bulgarischen Einverständnisses ein Druck in Konstantinopel ausgeübt
werden könnte.
Ich bin hiebei von der Anschauung ausgegangen, daß jetzt viel-
leicht der Zeitpunkt gekommen wäre, wo Rumänien — wie mir dies Herr
Danew in Budapest suggerierte — Bulgarien einen so wertvollen Dienst
leisten könnte, daß letzteres Rumänien die von ihm angestrebte Grenz-
regulierung als Gegenleistung für seine Mitwirkung zugestehen könnte.
Einer telegraphischen Meldung Prinz Fürstenbergs entnehme ich,
daß der Gedanke eines Druckes auf die Türkei behufs Friedensschlusses
und gleichzeitiger Sicherung einer bulgarischen Kompensation lebhaftes
Interesse und ungeteilte Zustimmung bei König Carol, der Nizami
Pascha noch nicht gesehen hatte, begegnet habe.
366
Euer Hochgeboren wollen Vorstehendes zur streng vertraulichen
Kenntnis Herrn Guechows bringen und sich sodann in nachfolgendem
Sinne vernehmen lassen:
Wenn es dem Kabmett von Sofia gelingt, sich mit Rumänien zu
verständigen und seinen Einfluß in Belgrad dahin geltend zu machen,
daß Serbien seine Ambitionen auf einen territorialen Zuwachs bis zur
Adria, die es mit uns in Gegensatz bringen müßte, aufgebe, so könnte
Bulgarien bei der definitiven Regelung der Balkanfragen auf unsere
und Rumäniens Unterstützung rechnen.
Es erscheine uns im Interesse Bulgariens, daß, wenn es jetzt oder
später zur Einstellung der Feindseligkeiten kommt, dies nicht auf Grund
eines endgültigen Abkommens, sondern bloß einer noch revisionsfähigen
Vereinbarung erfolge.
Der Kriegsverlauf habe es mit sich gebracht, daß Bulgarien, obwohl
es die größten Siege mit den größten Opfern erfochten habe, doch einen
unverhältnismäßig geringeren Besitzstand an faktisch okkupiertem
Territorium aufweist als Griechenland und Serbien. Dies könnte es mit
sich bringen, daß Bulgarien einer Teilung zustimme, welche weit davon
entfernt wäre, die berechtigten Ansprüche der Nation zu befriedigen.
Es dürfte sich sohin für Bulgarien der Wunsch nach einer Revision
einstellen, bei der wir seinerzeit umsomehr dem bulgarischen Stand-
punkte unsere Unterstützung angedeihen lassen könnten, als wir
bekanntlich unter keinen Umständen die sich im Laufe des Krieges
ergebenden militärischen Okkupationen an der albanesischen Küste als
Basis für die definitive Regelung akzeptieren.
Aus Vorstehendem dürfte Herr Guechow ersehen, daß, wenn
Bulgarien auf unseren Standpunkt entsprechend Rücksicht nimmt, wir
bereit wären, dem Königreiche sowohl direkt als auch durch Einwirkung
in Bukarest, sei es im jetzigen Zeitpunkt, sei es im weiteren Verlaufe der
Ereignisse, eine wertvolle Unterstützung zu leihen."
Über die Beurteilung, welche meine Sendung in der rumänischen
Publizistik erfuhr, gibt ein Artikel des Bukarester Tagblattes vom
1. Dezember 1912 Aufschluß.
Nach Hervorhebung der pietätvollen und besonderen Teilnahme
Kaiser Franz Josephs an dem Traueriall in der Familie König Carols und
der diesem damit bewiesenen Sympathie bringi der Artikel folgende Stellen :
„Gilt diese Sympathie dem rumänischen Königshause, so gilt sie
auch dem Lande und dem Volke, das in Freud und Leid zu seinem
König steht, und deshalb wird auch vom ganzen Volke die Entsendung
des Generals Conrad von Hötzendorf als ein Symptom der innigen
367
Beziehungen aufgefaßt, die zwischen den beiden Reichen bestehen und
von beiden Herrscherhäusern sorgsamst gepflegt werden. Diese Freund-
schaft ist aber ganz besonders wertvoll in einer Zeit, die man auch
hierzulande als eine kritische beurteilt. Gerade der Moment, in welchem
die Entsendung des Generals erfolgt ist, gibt derselben eine besondere
Weihe. Darin manifestiert sich also neben der Freundschaft der Höfe
die Freundschaft, die von Volk zu Volk geht, und als solches Zeichen
wird sie hier mit besonderer Wärme begrüßt. Auch wenn wirklich kein
anderer Zweck mit diesem Besuch am Königshof verbunden ist, erscheint
er schon an sich bedeutungsvoll genug.
Aber ist wirklich kein anderer Zweck damit verbunden? Mag sein,
daß offiziell kein anderer Zweck damit verbunden ist, allein in einem
Augenblicke, in welchem Europa in Waffen starrt, in welchem die
Frage Krieg oder Frieden? auf aller Lippen schwebt, in welcher die
Sorge um den nächsten Tag alle Herzen erfüllt, kann unter Staats-
männern, die miteinander in Berührung kommen, nicht bloß die subjek-
tive Beileidskundgebung, so edel sie auch ist, der alleinige Gegenstand
der Besprechung sein! Daß unser König eine staatsmännische Persön-
lichkeit von seltener Begabung ist, das hat seine nun 46jährige Regierung
gezeigt. Conrad von Hötzendorf will zwar >nur Militär« sein, aber
in einer Zeit, in welcher die Waffen über das Geschick von Völkern,
von Staaten und Dynastien entscheiden, kann auch der Soldat sich
politischer Anschauungen nicht entschlagen und man würde gegen die
Höflichkeit, die man dem hohen Gast schuldet, verstoßen, wenn man
von ihm annehmen wollte, daß er an den Erscheinungen des Tages
vorübergeht, ohne sie nicht bloß vom militärischen, sondern auch vom
politischen Gesichtspunkte ins Auge zu fassen. Niemand hat dem
Gespräche beigewohnt, das zwischen dem König und dem Abgesandten
des Kaisers Franz Joseph stattfand, aber jeder hat die untrügliche
Empfindung, daß dabei der Tatsachen gedacht wurde, die ganz Europa
in Aufregung versetzen. Man kann es daher als gewiß annehmen, daß
die Balkanfrage einen Gegenstand der Konversation gebildet habe.
Wenn man nun mit dieser — wie wir glauben, unwiderleglichen —
Schlußfolgerung die Veröffentlichungen zusammenhält, welche in der
Presse der ganzen Welt das treue Zusammengehen Österreich-Ungarns
mit Rumänien betonen, so kann man, ohne befürchten zu müssen, daß
man von den Ereignissen werde dementiert werden, aus dem Besuch
des Generals Conrad von Hötzendorf beim König Carol wohl den
weiteren Schluß ziehen, daß dadurch vor aller Welt demonstriert wird,
das Freundschaftsverhältnis zwischen den beiden Staaten bestehe nicht
nur fort, sondern habe an Kraft und Tiefe zugenommen. In diesem
368
Sinne betrachten wir auch die Anwesenheit des Generals Conrad von
Hötzendorf als ein Friedenssymptom. Denn das Zusammengehen der
Dreibundmächte mit Rumänien gibt Mitteleuropa den Anblick einer
Militärmacht, mit der man rechnen muß, wenn man den Frieden stören
will . . . Wenn man aber darauf verweist, daß Rüstungen stattfinden,
die man nicht ableugnen kann, so sei denen gegenüber auf die bewährte
Regel verwiesen: si vis pacem para bellum!"
Meiner Reise hatte sich auch im Auftrage des Handelsministeriums
Herr Sektionschef R i e d 1 angeschlossen, der im Sinne einer Zollunion
zwischen Österreich-Ungarn und Rumänien wirken sollte: ein Zollbund,
der mehr als 80.000 km^ mit 60 Millionen Einwohnern umfaßt hätte.
Ein von Sektionschef Riedl verfaßtes Expose führte die beiderseitigen
Vorteile einer solchen Vereinigung in eingehendster Weise aus. Darauf
näher einzugehen ist hier nicht der Ort, doch möchte ich wenigstens
folgendes hervorheben:
Die ö.-u. Monarchie konnte ihren Bedarf an Brotgetreide (Weizen
und Roggen) nicht decken.
Im Jahre 1910 betrug die Ernte an solchem 10,673.000 t, der
Verbrauch 10,974.000 t, durch Einfuhr mußten gedeckt werden:
301.000 t; in Rumänien ergab die Ernte 3,187.000 t, zur Ausfuhr
gelangten 2,116.000 t. Allerdings war in Rumänien die Ernte des
Jahres 1910 eine Ausnahmsernte. Als Normalernte kann jedoch eine
solche von 1,900.000 / gelten, bei einem Eigenbedarf von 800.000 t,
so daß ein Ü b e r s c h u ß V 0 n 1,1 0 0.0 0 0 t bleibt.
Man vergegenwärtige sich die Bedeutung dieser Ziffern für die
Verpflegung in einem großen Kriege!
Welche Schicksale die Bemühungen des Herrn Sektionschefs Riedl
hatten, welche Widerstände sie fanden, weiß ich nicht; daß diese Zoll-
union jedoch nicht zustande kam, bleibt bedauerlich; sie hätte auch das
politische Zusammengehen gefördert.
Nach Wien zurückgekehrt, war ich für den 2. Dezember zur Audienz
bei Erzherzog Franz Ferdinand, für den 3. Dezember zu jener bei Seiner
Majestät befohlen.
Seiner Kaiserlichen Hoheit erstattete ich eingehendst Bericht über
den Verlauf der Mission und überbrachte ihm die Grüße des rumänischen
Königspaares mit der Versicherung, daß sein in Aussicht gestellter
Besuch in Bukarest freudigst aufgenommen würde.
Ich bat Seine Kaiserliche Hoheit, zu betreiben, daß die Konvention
mit Rumänien ebenso präzise gefaßt werden möge, wie jene des Drei-
24, Conrad II oaq
bundes, Prinz Fürstenberg also diesbezügliche Instruktionen erhalte.
Weiter bat ich um Einflußnahme, daß Rumäniens Waffenbestellungen
in Steyr möglichst beschleunigt ausgeführt werden.
(Rumänien hatte, ohne die Kammer vorher zu befragen, 80 Mil-
lionen Francs votiert für außerordentliche Heeresanschaffungen,
darunter auch große Bestellungen in Steyr, so: 100.000 Gewehre,
30.000 Karabiner etc.).
Ferner bat ich um Förderung der Aktion des Sektionschefs Riedl
und übergab Seiner Kaiserlichen Hoheit schließlich die streng geheimen
Vereinbarungen mit General Averescu.
Am 3. Dezember vormittags empfing mich in Schönbrunn Seine
Majestät. Ich überreichte ein von König Carol an Seine Majestät
gerichtetes Handschreiben, berichtete eingehendst über den Verlauf der
Mission und über die Vereinbarungen mit dem rumänischen Chef des
Generalstabes.
Selbstverständlich referierte ich auch dem Minister des Äußern
Grafen Berchtold über den Verlauf meiner Sendung.
Damit endete meine Mission und ich wendete mich wieder meinem
Dienste als Armee- Inspektor zu.
Von der Mission in Bukarest bis zur Wiederernennung
zum Chef des Generalstabes.
Am 3. Dezember 1912, nach dem bulgarischen Mißerfolg an der
Cataldza-Linie, ging König Ferdinand von Bulgarien auf einen Waffenstill-
stand ein. Er wurde abgeschlossen; nur Griechenland setzte den Kampf
zur See fort.
Die Lage war jetzt:
Ein durch schwere Verluste geschwächtes, in seinen Operationen
zum Stillstand gekommenes Bulgarien; ein nach geringen Verlusten
siegreiches Serbien mit einem wohlausgerüsteten, vom Erfolg getragenen,
aguerrierten Heere in voller Kampfkraft; ein erfolgreiches Griechenland.
Daß Serbien, nach der Aktion gegen die Türkei, die weit größere
gegen Österreich-Ungarn im Schilde führe, konnte keinem Klarsehenden
verborgen sein, daher auch nicht die Gefahr, welche die momentane
Lage für Österreich-Ungarn barg.
Diese Gefahr noch beizeiten, wenn gleichwohl in elfter Stunde,
entschlossen zu bekämpfen, war ein Gebot der Selbsterhaltung;
mindestens aber mußte man gegen sie gerüstet sein.
In diesem Sinne verfaßte ich den nachstehenden Essay und leitete
ihn an die Militärkanzlei Seiner Majestät, an jene des Thronfolgers und
an Graf Berchtold.
370
„Wien, 6. Dezember 1912.
Im nachfolgenden soll nicht die Frage berührt werden, inwieweit
die Monarchie mit einem allgemeinen Krieg, dabei vor allem einem
solchen gegen Rußland, rechnen und sich darauf vorbereiten müsse,
sondern es soll nur das Verhältnis zu Serbien herausgegriffen werden.
In dieser Beziehung stehen drei Tatsachen fest:
1. die serbische Armee befindet sich auf Kriegsfuß;
2. diese Armee wird nach Friedensschluß frei und
3. diese Armee ist jetzt schon im Rücktransport nach Serbien
begriffen und kann in längstens drei Wochen an der Donau und unteren
Drina-Grenze vereint sein, noch früher aber gegen die mittlere Drina.
Dies versetzt Serbien, wenn diesseits nicht rechtzeitig Gegenmaß-
nahmen getroffen werden, in die Lage, entweder einen wenigstens
anfänglich erfolgreichen Einbruch in das Gebiet der Monarchie zu
wagen,
oder zur Zeit des Friedensschlusses derart bereit zu sein, daß es
seinen Forderungen einen viel kräftigeren Nachdruck zu verleihen ver-
mag als die Monarchie.
Letzteres aber bedeutet dann für diese nicht nur die Einbuße der
ohnehin geringen materiellen Vorteile, welche sie zur Bedingung gemacht
hat, sondern auch den gänzlichen Verlust des Prestiges mit allen sich
daran knüpfenden Folgen wirtschaftlicher und politischer Natur.
Die Monarchie muß daher jene Maßnahmen durchführen, welche
ihre rechtzeitige Kriegsbereitschaft gegen Serbien garantieren.
Da der Friede in zirka drei Wochen geschlossen sein dürfte, die
Kriegsbereitstellung der gegen Serbien bestimmten Kräfte aber nahezu
eben so lange dauert, hat diese Kriegsbereitstellung sofort begonnen zu
werden.
Eine Motivierung gegenüber den Mächten liegt einfach darin, daß
die Monarchie nicht eine Konferenz beschicken kann, während welcher
sie mit Friedensständen einem kriegsbereiten, sich feindlich gebärdenden
Nachbar gegenübersteht.
Daß diese Maßnahmen Geld kosten, ist sehr bedauerlich, aber doch
nur eine Folge des Umstandes, daß im Jahre 1909 versäumt wurde, mit
Serbien abzurechnen.
Sollten die Umstände diese Abrechnung jetzt erneuert nahelegen,
dann ist es eben um so notwendiger, ehestens mit der Kriegsbereit-
stellung zu beginnen.
Die Unterlassung wäre ein schweres Versäumnis.
Conrad m. p., G. d. I."
24'
371
Am 7. Dezember 1912 wurde der Dreibund (Österreich-Ungarn,
Deutschland, Italien) erneuert (obwohl er erst im Juni 1914 abgelaufen
wäre). Die Erneuerung wurde offen bekanntgegeben.
Ich stand mit großem Mißtrauen dem gegenüber und mit Sorge für
die Zukunft. Die Politik der Monarchie schien mir auf Sand gebaut.
Nur wenn dieses momentane, offen kundgegebene Verhältnis zu Italien
ausgenützt worden wäre, um mit Serbien abzurechnen, hätte diese
ostentative Bundesemeuerung Zweck gehabt. Geschah es nicht, so war
all dies nur ein Einwiegen gegenüber einer unabwendbaren Gefahr.
Hatte die Monarchie die Möglichkeit, bei Beginn des Balkankrieges
ihre Rechnung mit Italien abzuschließen, so war, nachdem dies unter-
blieben war, jetzt wenigstens die Möglichkeit geschaffen, dies gegenüber
Serbien zu tun.
Aber dieser einzige Vorteil ist — wie die Folge zeigen wird —
ungenützt geblieben.
Bündnisse haben nur dann einen Sinn, wenn sie auf ein gemein-
sames, klar gestecktes, positives Ziel gerichtet sind und an dessen
Realisierung so unverweilt als möglich herangegangen wird. Bündnisse
hingegen, die nur dem negativen Zwecke des Erhaltens, der passiven
Selbstsicherung dienen, verblassen allmählich, lockern sich, fordern die
politischen Feinde zur Gegenaktion heraus und versagen den Dienst,
wenn diese Gegenaktion eintritt und den gemeinsamen Waffengang
erfordern würde. Sie bergen überdies auch die Gefahr, daß man, in
vermeinte Sicherheit eingeschläfert, es unterläßt, für den Kampf aus-
reichend vorzusorgen.
372
Meine Wiederernennung zum Chef des Generalstabes.
Am 6. Dezember 1912 erhielt ich im Wege des Vorstandes der
Militärkanzlei Seiner Kaiserlichen Hoheit Franz Ferdinand (Oberst
Dr. V. Bardolff) den schriftlichen Befehl, mich am 7. Dezember früh in
Audienz bei Seiner Kaiserlichen Hoheit einzufinden.
Das Schreiben enthielt den Beisatz:
„Meiner unmaßgeblichen Vermutung nach dürfte es sich bei dieser
Audienz um eine höchst wichtige Angelegenheit handeln."
Einen speziellen Grund für diese Berufung vermochte ich zwar
nicht zu finden, vermutete vielmehr, daß Seine Kaiserliche Hoheit anbe-
trachts der schwierigen Gesamtlage einige Fragen an mich richten wolle.
Der Erzherzog-Thronfolger empfing mich am 7. Dezember um
9.15 Uhr vorm. im Belvedere in seinem Arbeitszimmer. Auf den Tischen
lagen die Karten der verschiedenen Kriegsschauplätze mit den Auf-
marsch-Elaboraten für die einzelnen Kriegsfälle. Seine Kaiserliche
Hoheit erklärte, daß er all dies wieder einmal mit mir durchsprechen
wolle, da ja die Elaborate nahezu ganz unverändert so geblieben sind,
wie sie zur Zeit meiner Amtsführung als Chef des Generalstabes
bearbeitet worden waren. Er fügte hinzu, daß man bei der jetzigen
Lage auf Überraschungen gefaßt sein müsse.
Es wurden nun der serbisch-montenegrinische und der russische
Kriegsfall, sowie jener gegen Italien, die beiden ersteren besonders ein-
gehend, erörtert, was geraume Zeit in Anspruch nahm. Als die
Besprechung beendet war, wandte sich Seine Kaiserliche Hoheit plötzlich
zu mir mit den Worten: „So, jetzt muß ich Ihnen aber noch etwas sagen;
Sie müssen wieder Chef des Generalstabes werden."
Ich staunte, zögerte und machte einige Einwürfe, insbesondere
dahm, daß es doch nicht gut möglich sei, meinen erst vor Jahresfrist
ernannten Nachfolger wieder zu entheben. Der Erzherzog erwiderte,
daß diese Enthebung mit allen Ehren für den Betreffenden erfolgen
würde, er (der Erzherzog) aber, als präsumtiver Armee-Oberkomman-
dant, Wert darauf legen müsse, daß, wenn es zum. Kriege kommen sollte,
derjenige an der Stelle des Chefs des Generalstabes stehe, von dem alle
373
auf den Krieg bezüglichen Vorarbeiten herrühren. Damit appeUierte er an
mein Verantworthchkeitsgefühl, ein Appell, dem ich mich nicht entziehen
durfte. Seine Kaiserliche Hoheit fügte noch bei: „Seine Majestät ist hiemit
einverstanden und wkd Sie heute noch in Audienz empfangen."
Ob das vorangeführte Motiv das einzige war, das meine Wieder-
emennung herbeiführte, oder ob es sich dem Thronfolger nicht auch um
eine Satisfaktion handelte für meine gegen seinen Willen erfolgte seiner-
zeitige Enthebung, vermag ich nicht zu beurteilen. Möglicherweise
wollte er zeigen, daß er die Macht der gegen ihn wirkenden Einflüsse
gebrochen habe.
Seine Kaiserliche Hoheit teilte mir v^eiter mit, daß der Kaiser die
Enthebung des Kriegsministers G. d. I. von Auffenberg und dessen
Versetzung in den Ruhestand verfügen werde, worauf ich mein großes
Befremden und die Meinung ausdrückte, daß ich zwar die Gründe nicht
kenne, die hiefür vorliegen, es jedoch mindestens geboten hielte, Auffen-
berg dem aktiven Dienste zu erhalten. Der Erzherzog bemerkte. Seine
Majestät habe da seinen ganz bestimmten Willen und entließ mich mit
einigen freundlichen, unser künftiges Zusammenarbeiten betonenden
Worten.
Mittlerweile hatte ich den Befehl erhalten, am selben Tage
(7. Dezemter 1912) um 3 Uhr nachm. in Audienz bei Seiner Majestät
in Schönbrunn zu erscheinen.
Seine Majestät empfing mich mit einigen gnädigen Worten,
erwähnte, daß der Thronfolger Wert darauf lege, mich wieder an der
Stelle des Chefs des Generalstabes zu sehen, daß er (der Kaiser) hiemit
einverstanden sei und meine Ernennung demnächst erfolgen werde.
Als Seine Majestät mir die beabsichtigte Enthebung des Kriegs-
ministers G. d. I. von Auffenberg mitteilte, erlaubte ich mir zu bemerken,
daß ich keinen rechten Grund hiefür finden könne und es mir vor allem
nicht angängig erschiene, den Kriegsminister durch eine Pensionierung
zu desavouieren und vor der Öffentlichkeit bloßzustellen, ich Seine
Majestät vielmehr bitten würde, wenn schon die Enthebung Auffenbergs
vom Ministerpcsten erfolgen müsse, ihn zum Armee-Inspektor zu
ernennen, wofür ja meine bisherige Stelle frei würde. Der Kaiser warf
ein: „Glauben Sie, daß er sich hiefür eignet?" Ich bejahte dies
unbedingt. Es entspann sich hierüber eine längere Erörterung, die
Seine Majestät mit den Worten schloß: „Bei der Enthebung Auffenbergs
vom Ministerposten bleibt es unbedingt, bezüglich der Ernennung zum
Armee- Inspektor werde ich es mir noch überlegen."
Hierauf entließ mich Seine Majestät.
374
Noch am selben Tage (7. Dezember) wurde ich für 5.30 Uhr nachm.
erneuert nach Schönbrunn befohlen. In dieser zweiten Audienz teilte
mir Seine Majestät unter anderem mit, daß er auf meine Fürsprache
hin Auffenberg zum Armee- Inspektor ernennen werde, beauftragte mich
aber, dies bis zur offiziellen Bekanntgabe streng reserviert zu behandeln.
Ich kehrte heim, die neue Sorgenlast auf mir fühlend und mit dem
dunklen Vorempfinden, daß, nachdem die für initiatives Handeln
geeigneten Momente ungenützt geblieben waren, die Monarchie einer
Lage entgegentreibe, in der für ihr Schicksal nur mehr der Wille
ihrer Feinde entscheiden wird.
Es war kein froher Ausblick!
Am 12. Dezember 1912 erhielt ich das nachstehende Hand-
schreiben:
„Lieber General der Infanterie Freiherr von Conrad. Ich ernenne
Sie zum Chef des Generalstabes Meiner gesamten bewaffneten Macht.
Wien, am 12. Dezember 1912. _ r i «
Franz joseph m. p.
Wieder hatte das Schicksal schwerwiegend in mein Leben ein-
gegriffen!
Ungern trennte ich mich vom bisherigen Wirkungskreis, selbst auch
von meinem erst vor Jahresfrist eingerichteten Bureau, nahm meinen
Flügeladjutanten Major Kundmann und meinen Personaladjutanten
Oberleutnant William Reimer*) mit mir und trat meinen neuen Dienstes-
posten als Chef des Generalstabes an.
*) Fand als Generalstabs-Hauptmann Mitte September 1914 den
Heldentod in der Schlacht bei Lemberg, während zu gleicher Zeit sein
Vater (mein Jugendfreund), Rittmeister a. D. William Reimer, als frei-
willig zum Kriegsdienst eingerückter Ordonnanzoffizier, im Gefecht von
Popielany gefallen war.
375
Wiederaufnahme meiner Tätigkeit als Chef des
Generaistabes.
Meine erneuerte Tätigkeit als Chef des Generalstabes begann ich
mit der Orientierung über alle einschlägigen Vorkommnisse, die in der
Zeit von meiner Enthebung im Jahre 1911 bis zu meiner Wieder-
ernennung 1912 stattgehabt hatten — vor allem über jene rein miU-
tärischer Natur, insbesondere jene innerhalb der k. u. k. Armee.
Unter diesen waren zwei von hervortretender Bedeutung.
Aus den früheren Schilderungen ist erinnerlich, welch unablässiges
Bemühen ich daran setzte, endlich das neue, ein erhöhtes Rekruten-
Kontingent in sich schließende Wehrgesetz zur Annahme zu
bringen und wie dies stets an dem Widerstand Ungarns scheiterte, wo
man nur gegen weitgehende, die Einheit der Armee bedrohende Kon-
zessionen zu verhandeln geneigt war.
Dieser Widerstand war durch den willensstarken Präsidenten des
ungarischen Abgeordnetenhauses Stefan Graf Tisza — zur Zeit vi^ohl
Ungarns bedeutendster Staatsmann — energisch gebrochen worden.
Er brachte am 4. Juni 1912 das Wehrgesetz zur Abstimmung und
Annahme und ließ die dagegen tobende Opposition mit Polizeigewalt
entfernen. Ein am 7. Juni 1912 gegen ihn verübtes Attentat blieb
glücklicherweise erfolglos und hinderte ihn nicht, am 9. Juni eine neue,
gegen die Obstruktion gerichtete Hausordnung durchzusetzen.
Graf Tisza hat sich damit um die Monarchie und die Armee ein
großes Verdienst erworben. Erst jetzt vermochten die seit Jahren
angestrebten organisatorischen Neuerungen zur Durchführung zu
gelangen. Auch Österreich erledigte die Wehrvorlage. Bei gleich-
zeitiger Einführung der zweijährigen Dienstzeit wurde das Rekruten-
kontingent für 12 Jahre hinaus von jährlich 103.000 auf 159.000 Mann
erhöht. (Es stellte Österreich 91.000, Ungarn 68.000 Mann.)
Die zweite Errungenschaft war der endliche Beginn der Groß-
erzeugung der Geschütze für die schwere Artillerie,
so auch der 30-5 Mörser, die ich seit Jahren mit Hartnäckigkeit gefordert
376
und die budgetär durchzubringen der frühere Kriegsminister Baron
Schönaich bereits durch Seine Majestät beauftragt war, die aber erst
unter dessen Nachfolger G. d. I. von Auffenberg in Angriff genommen
wurde*).
Noch im Stadium des Versuches und des Streites der Fachmänner
war leider die von mir gleichfalls schon zur Zeit meiner ersten Amts-
führung als Chef des Generalstabes dringend geforderte Beschaffung
neuer Gebirgsgeschütze und neuer leichter Feldhaubitzen. Aussichtslos
endlich stand die Gewehrfrage. Auf eine diesbezügliche, meinerseits
noch als Armee- Inspektor gemachte Anregung, die Steyrer Waffenfabrik
mit einer mehrjährigen Vorausbestellung zu betrauen, damit sie
leistungsfähig bleibe und ein Gewehrvorrat geschaffen werde, hatte ich
eine ministerielle Entscheidung d. d. 3. Jänner 1912 erhalten, in der es
unter anderem hieß:
„Wenn auch das Kriegsministerium für die ununterbrochene
Wahrung der Leistungsfähigkeit der Steyrer Waffenfabrik stets das
lebhafteste Interesse besitzt und dasselbe in konkreten Fällen wiederholt
durch vorzeitige Bestellungen praktisch zum Ausdruck gebracht hat,
so vermag ich doch auf die von Euer Exzellenz gestellte Proposition im
vollen Umfang nicht einzugehen, weil eine Bindung auf einen Zeitraum
von drei Jahren mir nicht zulässig erscheint.
Weder die allgemeinen militärischen, noch die militärisch-
technischen Verhältnisse lassen sich auf einen solchen Zeitraum voraus
überblicken und auch für die Beurteilung der budgetären Verhältnisse
in den Jahren 1913 und 1914 fehlt gegenwärtig noch die Grundlage;
es wäre daher sehr gewagt, wenn das Kriegsministerium sich derart
in die Zukunft verpflichten wollte."
Die Bestellung für das Jahr 1912 in Steyr reduzierte sich auf
6000 Karabiner, 4000 Stutzen und 100 Maschinengewehre.
*) Der Beginn der Konstruktion des 30-5 Mörsers erfolgte zu
Anfang des Jahres 1908; die Erzeugung des ersten Modelle wurde bei
Skoda in Pilsen im Juni 1909 begonnen. Am 22. Juli 1910 wurde der
erste Mörser in Bolewetz angeschossen. Darnach fanden die ersten Fahr-
versuche statt. Dieses erste Modell ist schon in jeder Beziehung „spruch-
reif" gewesen. Mit Herstellung der ersten Serie von 24 Stück Mörsern
wurde seitens der Fabrik im November 1911 begonnen; von den Probe-
mörsern abgesehen, erfolgte die erste Bestellung durch das Kriegs-
ministerium am 11. Dezember 1912. Alles bei Skoda.
377
Dies zur Beleuchtung der beschränkten Mittel, mit denen die
Heeresverwaltung zu rechnen hatte, und zur Erklärung des Gewehr-
mangels, an dem die Armee in den ersten Stadien des Krieges litt.
Die zahlreichen übrigen technischen, organisatorischen, sowie
sonstigen Maßnahmen übergehe ich und hebe nur die Fortsetzung der
Aufstellung neuer Feldkanonen-Batterien hervor, für welche das
Geschützmaterial schon vorhanden war.
Außer den oben erwähnten Fragen beschäftigten mich aber ganz
besonders die mit der Politik auf das engste verknüpften konkreten
Kriegs-Vorbereitungsarbeiten, also auch die poli-
tische Lage und die daraus zu ziehenden Konsequenzen. Wie schon
früher ermähnt, v^aren diese Kriegs-Vorbereitungsarbeiten, vor allem
die Aufmarsch-Elaborate, nahezu unverändert so geblieben, wie sie zur
Zeit meiner früheren Amtsführung geschaffen v^orden waren. Hervor-
trat aber die Frage, welchen Weg die Monarchie in der durch den
Balkankrieg geschaffenen Lage einzuschlagen habe, welche Aufgabe
daher der Wehrmacht zuzumessen sei.
Meine diesbezüglichen Anschauungen gehen schon aus den ver-
schiedenen Essays hervor, in denen ich noch als Armee- Inspektor zu
diesen Fragen Stellung nahm. Es ist natürlich, daß ich diese Anschau-
ungen nunmehr auch als Chef des Generalstabes vertrat.
Sie gipfelten in folgendem Gedankengang:
Die nächste schwerwiegende Gefahr droht der Monarchie von Seite
Serbiens, hinter dem Rußland steht;
diese Gefahr ist auf friedlichem Wege nicht mehr abzuwenden;
der Krieg gegen Serbien ist daher unvermeidlich;
jedes weitere Hmausschieben verschlechtert die Bedingungen hiefür.
Es muß zu einer Situation führen, welche die Monarchie zum Kampf
gegen eine übermächtige Koalition oder zum freiwilligen Aufgeben ihres
Bestandes zwingt;
die günstigste Gelegenheit wurde 1908 und 1909 versäumt;
die vorliegende Situation des Jahres 1912 bietet zwar lange nicht
die gleichen Chancen, ist aber die letzte Möglichkeit, die Rech-
nung mit Serbien erfolgreich auszutragen;
es ist daher ein Gebot der Selbsterhaltung, sich hiezu
zu entschließen.
Die Lage kam hiebei in folgender Weise in Betracht:
Bulgarien — der vertragsmäßige Alliierte Serbiens — war durch
den Balkankrieg wesentlich geschwächt, durch die sich erholende Türkei
gebunden, durch Rumänien bedroht, mit Serbien schon im beginnenden
Gegensatz, dagegen in freundschaftlichem Verkehr mit Österreich-Ungarn;
378
Montenegro verfolgte seine eigenen, auf Albanien gerichteten
Bestrebungen, sein Königshaus lag in Zwietracht und Rivalität mit
jenem Serbiens, so daß es bei kluger Politik nicht ausgeschlossen
erschien, Montenegro als Gegner auszuschalten, andernfalls aber durch
Albanien militärisch zu binden; übrigens war Montenegro Ende 1912
militärisch erschöpft;
Rumänien verfolgte damals noch Ziele, bei denen es in Einklang
mit Österreich-Ungarn stand. Das Bundesverhältnis, sowie die militä-
rischen Vereinbarungen zwischen beiden Staaten waren erst kürzlich
enger gestaltet worden;
Italien war eben in die Erneuerung des Dreibundes ein-
gegangen;
Griechenland war abseits liegenden Aspirationen zuge-
wendet;
die Türkei hatte sich aufgerafft und war im Erholen begriffen.
Bleibt: Rußland!
Ob die offiziellen Kreise Rußlands, vor allem das Herrscherhaus,
einen Krieg beginnen würden, der den Untergang von Reich und
Dynastie besorgen ließ, war fraglich, aber für alle Fälle war Rußland
im Jahre 1912 für einen Krieg weit weniger vorbereitet, als es dies
einige Jahre später sein würde, auch war der Ring der Entente noch
nicht so fest geschmiedet, wie er es mit jedem kommenden Jahr immer
mehr zu werden drohte.
Serbien, den unversöhnlichen, zielbewußten, nie ablassenden, von
Rußland unterstützten Feind der Monarchie niederzuwerfen und damit
den vital bedrohten Reichsbestand zu sichern, war der Kern der Frage.
Alles andere, wie Albanien, Hafenfrage, Donau — Adria-Bahn etc. waren
nebensächliche Begleiterscheinungen; mit einem Erfolg in letzteren
Dingen war der Kern der Frage nicht getroffen, auf diesen aber kam
es an.
Die letzte, die elfte Stunde für diese Lösung schien mir gekommen.
Wie sich nun meine dienstliche Tätigkeit in diesen Gedankengang
einfügte, sollen nachfolgende Details ergeben.
Am 14. Dezember 1912 hatte ich eine Audienz bei Erzherzog Franz
Ferdinand, in der ich mit ihm die allgemeinen militärischen, sowie die
obdargelegten politischen Verhältnisse, speziell auch die albanische
Frage besprach. Bezüglich Albaniens deckten sich meine Anschauungen
nicht ganz mit jenen des Ministers des Äußern, denn während dieser
die Neutralisierung Albaniens im Auge hatte, hielt ich ein Albanien,
das durch keine Neutralitätspflicht gebunden, unter dem Protektorat der
Monarchie steht, für zweckmäßiger. Ich hatte dies auch in einem an Oberst
379
Dr. von Bardolff gerichteten Schreiben vom 13. Dezember zum Ausdruck
gebracht. Vor allem aber erörterte ich mit Seiner Kaiserlichen Hoheit
das Verhältnis zu Serbien und legte ihm nachstehenden AUeruntertänig-
sten Vortiag vor. „„ . _
„Wie n, am 14. Dezember 1912.
Euer K. u. K. Hoheit!
Zum Chef des Generalstabes ernannt, ersehe ich es als erste Pflicht,
mir über die Lage klar zu werden, in welcher die Monarchie sich
befindet.
Diese Lage ist eine Konsequenz des jüngsten Balkankrieges.
Serbien als selbständiger Staat war und ist eine Gefahr für die
Monarchie.
Der Zusammenschluß der südslawischen Rasse ist eine jener völker-
bewegenden Erscheinungen, die sich nicht wegleugnen und nicht künst-
lich verv/ehren lassen.
Es kann sich nur darum handeln, ob dieser Zusammenschluß
innerhalb des Machtgebietes der Monarchie — also auf Kosten
der Selbständigkeit Serbiens — oder ob er sich unter der Ägide
Serbiens auf Kosten der Monarchie vollziehen wird.
Diese Kosten bestünden für uns im Verlust der südslawischen
Länder und damit fast des ganzen Küstengebietes. Territorial- und
Prestige-Verlust würden dabei die Monarchie zu einem Kleinstaat herab-
drücken.
Die Chancen für eine Lösung stehen heute allerdings nicht mehr so
günstig wie früher, aber fast mit Sicherheit läßt sich voraussagen, daß
sie sich mit jedem kommenden Jahre noch mehr verschlechtern werden,
denn :
1. wird sich das neue vergrößerte Serbien staathch und insbesondere
militärisch wesentlich verstärken;
2. wird die Agitation dieses aufblühenden Serbien in den süd-
slawischen Gebieten immer erfolgreicher werden;
3. wird sich Rußlands militärische Kraft immer mehr entwickeln
und
4. könnten in Rumänien Verhältnisse eintreten, welche die jetzt
bestehende feste Bundesfreundschaft in Frage stellen.
Will die Monarchie daher diese ihr ans Leben gehende Frage lösen,
dann erscheint es am zv/eckmäßigsten, den Krieg gegen Serbien trotz
aller Bedenken j e t z t zu führen.
Ist dieser Entschluß festgestellt, dann müssen in Anbetracht der
jetzigen Entwicklung Serbiens weitergehende Vorkehrungen für diesen
Krieg getroffen werden, als es in den bisherigen Elaboraten vorgesorgt
380
I
ist, damit der Schlag mit möglichster Sicherheit erfolgen könne, und es
müssen zweitens die Kriegsvorkehrungen sofort getroffen werden, damit
man der Konzentrierung der serbischen Kräfte und dem etwaigen Ein-
greifen Rußlands zuvorkomme.
Im Vorstehenden ist die Frage vom Standpunkt einer kriegerischen
Initiative der Monarchie in Betracht gezogen; ein solches Inbetracht-
ziehen muß aber nun auch umgekehrt vom Standpunkt einer kriegerischen
Initiative Serbiens erfolgen.
Serbien, durch seine Erfolge moralisch gehoben, auf eine siegreiche,
namhafte und gut organisierte Armee gestützt, sowie auf die Sympathien
der Slawen, speziell der Südslawen der Monarchie zählend und auf das
Eingreifen Rußlands bauend, glaubt alle Chancen für sich zu haben, um
nunmehr in einem Zuge auch gegen die Monarchie agressiv vorzugehen.
Es wäre nicht das erste Mal, daß ein kleiner Staat diesen Weg
beschritten hätte (Brandenburg — Preußen).
Tatsächlich hat Serbien seine Armee frei (von kleinen Teilen
abgesehen), tatsächlich trifft Serbien alle Anstalten, um diese Armee
gegen die Monarchie zu verschieben, an deren Grenzen bereits ein ver-
stärkter Grenzschutz aufgestellt ist; angeblich werden die rückkehrenden
serbischen Truppen nicht in ihre Garnisonen, sondern in Konzentrations-
punkte dirigiert, die einen Aufmarsch gegen die Monarchie erkennen
lassen; angebUch sollen diese Truppen dort neue Trains formieren, was
deutlich zeigt, daß sie nicht in das Friedensverhältnis versetzt, sondern
für neue Operationen bereit gemacht werden.
Eine solche Bereitstellung könnte — basiert auf die Situation Ende
November — gegen Donau — Save und untere Drina innerhalb 18 Tagen,
gegen die mittlere Drina und Sandzakgrenze innerhalb 16 Tagen voll-
zogen sein, wobei jedoch zu berücksichtigen ist, daß die Rücktransporte
schon seit Anfang Dezember im Gange sind.
Aber auch Montenegro schickt sich bereits an, seine Truppen
wenigstens teilweise an die Grenze der Monarchie zu verschieben.
Serbien hat den Krieg gegen die Türkei ganz überraschend, fast
überfallsweise begonnen und hauptsächlich diesem Umstände seine
eklatanten Erfolge zu danken; es liegt sehr nahe, daß es dasselbe System
gegen die Monarchie anwenden würde.
Bleibt diese dem gegenüber nur in dem Stadium ihrer jetzigen Bereit-
schaft, dann ist ein Echec nicht ausgeschlossen.
Gelänge den Serben auch nur ein erster Erfolg, dann ist die Rück-
wirkung auf die Südslawen der Monarchie und auf die ganze pohtische
Konstellation der letzteren gar nicht abzusehen.
381
Ich resümiere daher:
Sowohl in dem ersterwogenen Falle einer Initiative der Monarchie
als in dem zweiterwogenen einer Bereitschaft gegen eine Initiative
Serbiens
erscheint es unerläßlich, die für einen Krieg gegen Serbien erforder-
lichen Kräfte jetzt schon zu mobilisieren und zu versammeln und alle
sonstigen vorbereitenden Maßnahmen für die Aktion zu treffen.
In dem streng reservierten Beilagebogen ist der Umfang dieser Maß-
nahmen angegeben.
Ich bitte Euer K. u. K. Hoheit, diesen u. Vortrag gnädigst entgegen-
zunehmen, den ich im Vollgefühl der auf mh: bestehenden schweren Ver-
antwortung u. unterbreite, und die darin gestellten Anträge, insbesondere
auch hinsichtlich Heranziehung des 3. Korps, an Allerhöchster Stelle
gnädigst vertreten zu wollen.
Conrad m. p., G. d. I."
Zur ausschließlichen Kenntnis Seiner Kaiserlichen Hoheit war
folgende Zusammenstellung beigeschlossen:
„Maß der für einen Krieg gegen Serbien (1912) zu
mobilisierenden Kräfte:
1. Alle jene, die nach dem bisherigen Elaborat in Aussicht genommen
sind, das noch von der Zeit herrührt, als ich das erste Mal Chef des
Generalstabes war, also:
15., 16. Korps ä 2 Infanteriedivisionen,
13., 7., 8., 4., 9. Korps ä 3 Infanteriedivisionen,
die 20. k. u. Landwehrdivision,
die zu den genannten Armeekörpern gehörigen Marsch- und Land-
sturmformationen,
die Donau-Flottille,
die Flotte.
2. Ferner aber auch noch ein Korps, am besten das dritte, mit
3 Infanteriedivisionen.
Motivierung:
Serbien kann alles in allem 300.000 Gewehre stellen,
Montenegro 35.000, macht 335.000,
davon in den neuen Gebieten gebunden höchstens etwa 15.000
Gewehre, weil die sofort eingeleitete militärische Organisation in Alt-
serbien und Mazedonien schon lokal formierte Truppen für diesen
Zweck liefert,
bleiben 3 2 0.0 0 0 Gewehre.
382
Wenn die Monarchie den Krieg führt, muß der Erfolg auch durch
die Zahl gesichert sein;
das ergibt die Notwendigkeit einer Überzahl von zirka 75 — 100.000
Gewehren, also das Erfordernis von rund 420.000 Gewehren.
15., 16. Korps 4 Divisionen ä 15.000 Mann
4., 13., 7., 8., 9. Korps ... 15 „ ä 15.000 „
20. ung. Landwehrdivision . . 1 „ ä 15.000 „
3. Korps 3 „ ä 15.000 „
Summe 23 Divisionen ä 15.000 Mann
somit 345.000 Gewehre
dazu sechs Marschbrigaden 42.000 „
dazu sieben Landstunnbrigaden .... 78.000 „
Totale . 465.000 Gewehre."
Zur Beurteilung des Folgenden erscheint es geboten, die markan-
testen Momente der damaligen Lage hervorzuheben; sie betrafen nach-
stehendes:
Die feindliche Absicht Serbiens gegen Österreich-Ungarn, mit dem
Streben, die südslawischen Provinzen der Monarchie an sich zu reißen,
haben durch den Balkankrieg eine wesentliche Förderung erfahren.
Wird Serbien, das nach seinen billig erkauften Erfolgen gegen die
Türkei über eine voll mobilisierte, kriegserfahrene Armee verfügte, den
Kampf mit Österreich-Ungarn jetzt schon suchen?
Welche Maßnahmen hat letzeres anbetrachts dieser Möglichkeit zu
treffen?
Soll und wird Österreich-Ungarn sich entschließen, zuvorzukommen
und den miausweichlichen Schlag zu führen, ehe es zu spät ist? Was hat
diesfalls zu geschehen?
Wie wird in beiden Fällen Rußland sich verhalten? Wird es gegen
Österreich-Ungarn eingreifen oder nicht? Mit welcher militärischen Vor-
bereitung vermöchte Rußland einzugreifen? Trifft es besondere kriege-
rische Maßnahmen und mit welchem Ziele?
All diesen Fragen wandte ich erhöhte Aufmerksamkeit zu und lenkte
den Nachrichtendienst in diese Richtung.
Die Resultate des letzteren erhielt ich in täglichen Berichten des
Evidenzbureaus. Sie schufen — mehr oder minder zutreffend — das
jeweilige Bild der Lage und damit die Basis für die zu fassenden Ent-
schlüsse.
Im Balkankrieg war — wie schon erwähnt — eine Pause eingetreten.
Skutari, Adrianopel und Janina waren noch in türkischen Händen, aber
383
vom Feinde hart bedrängt. An der Cataldza-Linie und auf Gallipoli
hatten die Türken festen Fuß gefaßt, der bulgarische Angriff gegen
Cataldza war zerschellt. Bulgarien rief nach serbischer Hilfe, die ihm
auch wurde. Am 3. Dezember 1912 wurde ein Waffenstillstand mit der
Türkei abgeschlossen, nur Griechenland setzte den maritimen Kampf
auch weiter fort.
Wie sich in der Zeit vom 12. bis 23. Dezember das Bild der Lage
allmählich gestaltete und veränderte, möge aus nachstehend auszugs-
weise angeführten Tagesberichten erhellen*).
Serbien. Es mehrten sich die Anzeichen, daß Serbien Truppen
aus dem bisherigen Operationsgebiet nach Serbien rückbefördere, ob
zum Zwecke der Erholung oder zur Versammlung gegen Österreich-
Ungarn lag nicht klar. Die vermutete Situation am 13. Dezember
war:
2 Divisionen vor Adrianopel;
1 Division in Monastir;
3 Divisionen in Albanien;
1 Division und die Javor-Brigade im Sandzak Novipazar;
3 Divisionen und die Kavalleriedivision im Räume südlich Belgrad
(Velka Plana);
16.000 Mann III. Aufgebot im Grenzschutz an der Save-Donau;
9000 Mann III. Aufgebot im Grenzschutz an der Drina;
Rücktransporte aus Üsküb und Mustafa-Pasa im Zuge;
zunehmende Bandenbildung (Komitatschis);
Eintreffen russischer Freiwilliger und Materials aus Rußland;
große Bestellungen an Konserven und Munition in Deutschland;
guter Zustand der serbischen Armee.
Am 15. Dezember erhielt ich eine eingehende Kriegsgliederung der-
selben.
Danach zählte sie: 134 Bataillone, 30 Eskadronen, 53 Feld-,
9 Gebirgs-, 6 Belagerungs-, 2 Haubitz-Batterien, eine Positions- und eine
Schnellfeuer-Batterie.
Meldungen vom 16. bis 19. Dezember bestätigten diese per Bahn
und per Fußmarsch erfolgenden Rücktransporte und berichteten über
Truppenansammlungen bei Nis und Üsküb, auch über das Eintreffen
von Truppen bei Üb, Mladenovac und Valjevo, also im Aufmarschgebiet
*) Diese Daten sollen dem Leser ermöglichen, sich selbst das Bild
zu schaffen, wie es sich damals bot, also auch, wie es sich oft von Tag
zu Tag veränderte.
384
gegen Österreich-Ungarn; ferner über die Rückschaffung von Material
und Akten aus Belgrad.
In der Save-Donau sollen Flußminen gelegt und die serbische
Dampfschiffahrts-Gesellschaft angewiesen worden sein, ihren Schiffspark
in die untere Donau (nach Reni) abzuschieben.
Auch im Sandzak Novipazar sollen Truppenbewegungen gegen die
österreichische Grenze (von Mitrovica gegen Sjenica) erfolgen; das Gros
der serbischen 2. Armee (zwei Divisionen) aber noch vor Adrianopel
stehen.
Am 18. Dezember war folgendes die vermutete Situation der serbi-
schen Armee:
Grenzschutz an der Save-Donau: 16—18.000 Mann III. Aufgebot,
140 Geschütze; schwere Artillerie in Belgrad;
Grenzschutz an der Drina: 9000 Mann, III. Aufgebot,
36 Geschütze; schwere Artillerie in Valjevo;
1 Division südl. Belgrad (Velka Plana): 14.000 Mann, 36 Gesch.;
3 Divisionen und die Kavalleriedivision im Räume Stalac-Nis:
40.000 Mann;
128 Feld-, 12 Gebirgs-Kanonen; 20 Haubitzen, 6 Mörser;
davon Teile im Marsch über Uzice an die Drina;
1 Division und die Javor-Brigade im Sandzak: 20.000 Mann,
24 Feld-, 12 Gebirgskanonen ;
1 Division vor Skutari: 10.000 Mann, 18 Geschütze;
1 Division in Albanien (Durazzo, Tirana, Elbassan) : 10.000 Mann,
24 Geschütze;
11/2 Divisionen in Dibra, Ochrida; im Transport über Üsküb nach
Serbien;
2 Divisionen vor Adrianopel.
Am 23. Dezember wurden Kämpfe zwischen Serben und Albanescn
gemeldet.
Montenegro. Von den vier montenegrinischen Divisionen
sollen nach den Berichten vom 13. Dezember 31/2 vor Skutari, 1/2 in
Djakovo stehen; erstere im Kampf gegen die aktive Verteidigung der
Türken.
Montenegrinische und serbische Offiziere rekognoszierten auf den
Cattaro beherrschenden Höhen (Krstac, Lovcen); montenegrinische
Truppen wurden an die ö.-u. Grenze dirigiert.
Am 18. Dezember sollen sich befunden haben:
3 Divisionen vor Skutari: 17.000 Mann, 72 Geschütze;
25, Conrad II qo^
1 Division gegen Österreich-Ungarn: 7000 Mann, 20 Feld-,
28 schwere Geschütze;
% Division gegen Ipek-Djakovo: 3000 Mann, 4 Geschütze.
Dagegen versicherte, nach einem am 21. Dezember eingelangten
Bericht, König Nikita von Montenegro dem ö.-u. Mihtärattache, daß an
der ö.-u. Grenze nur schwacher Grenzschutz stehe, Montenegro absolut
keine Maßnahmen gegen Österreich-Ungarn getroffen habe und die
Rücksendung von Truppen nur Erholungszwecke verfolge.
Am 23. Dezember langte eine Mitteilung ein, daß die Truppen-
Konzentrierung in Cetinje dem Schutz der Dynastie gelte.
Bulgarien. Nach Informationen vom 20. Dezember 1912 hatte
die Sobranje einen außerordentlichen Militärkredit von 50 Millionen
Francs bewilligt. Russische Schiffe mit Kriegsmaterial seien in Ruscuk
emgelangt, 22 russische Offiziere in die bulgarische Armee eingeteilt
worden. Die bulgarische Armee sei vor der Cataldza-Linie am Ende
ihrer Offensivfähigkeit angelangt. Ihr von sechs Regimentern durch-
geführter Angriff hatte mit einem Mißerfolg und einem Verlust von
8 — 10.000 Mann geendet. 50.000 Rekruten seien als Ersatz eingetroffen,
der Verpflegs- und Sanitätsdienst funktioniere mangelhaft.
Griechenland. Nach Bericht vom 15. Dezember 1912 war es
nach Kämpfen vom 5. bis 9. Dezember Zeki Pascha gelungen, sich mit
Essad Pascha in Janina zu vereinigen, wodurch dort etwa 40.000 Türken
versammelt waren, zu deren Zemierung sich nun die Griechen anschickten;
die Verteilung der Griechen wurde wie folgt vermutet:
3 Divisionen in Salonik;
je 1 Division in Florina, Kozana, Santi Quaranta, dann südlich
Janina und bei Korica, diese im Marsch auf Janina;
Freiwillige bei Mecovo.
Der Bericht vom 16. Dezember meldete über ein Seegefecht vor den
Dardanellen, das mit dem Rückzug der Griechen endete, jener vom
22. Dezember über Kämpfe am 18. und 19., sowie über den Anmarsch
der 7. griechischen Division von Salonik nach Janina, endlich darüber, daß
sich der Raum Janina — Kastoria — Berat noch in türkischen Händen befände.
Türkei. Nach Bericht vom 16. Dezember standen:
in der Cataldza-Linie 5 Korps und eine Division: 120.000 Mann,
350 Geschütze, 1500 Reiter; die Lage war mißhch, die Cholera hatte zwar
aufgehört. Regen, Kälte, tiefer Morast, elende Unterkünfte seien aber der
Truppe sehr empfindlich;
auf Gallipoh 5 Divisionen: 35.000—40.000 Mann;
in Konstantinopel sollen 4 Divisionen versammelt werden.
Die Flotte soll ins Ägäische Meer ausgelaufen sein.
386
Rußland. Die erhöhte mÜitärische Tätigkeit in Rußland war
unverkennbar, sie hatte einerseits den Charakter beschleunigten Nachholens
allgemeiner Versäumnisse, anderseits jenen allmählicher spezieller Maß-
nahmen für die Kriegsbereitschaft gegen Deutschland und Österreich-
Ungarn.
Die tumusweise Einberufung und Ausbildung der großen Zahl
bisher Nichtausgebildeter, die kurzfristigen Bestellungen von Material
aller Art, der rasche Ausbau der Befestigungen und der militärischen
Bahnen gehörten zu ersteren, die Verstärkung des Grenzschutzes, das
Rückhalten des ausgedienten Jahrganges, Bereitstellen der Truppentrains,
Truppenverlegungen, Konzentrierung von Bahnmaterial, Erhöhung der
Kohlen Vorräte etc. gehörte zu letzteren Maßnahmen.
Das Bild im großen aber wies darauf hin, daß Rußland einem Kriege
zM^ar möglichst gewachsen sein, daß es diesen aber damals vermieden
wissen wollte, da es mit all diesen Vorbereitungen noch stark im Rück-
stand war.
Von den allmählich einlangenden Nachrichten seien folgende hervor-
gehoben :
Der Bericht vom 13. Dezember meldete:
Munitionstransporte nach Nowo-Georgiewsk, Bestellung von hundert
innerhalb acht Wochen zu liefernden Lastautomobilen, Rückberufung der
russischen Ärzte aus Montenegro, Errichtung von Sanitätszügen im
Militärbezirk Warschau, antiösterreichische Agitation der russischen
Geistlichkeit in den Grenzbezirken, Zunahme der Auswandenmg, Erneuten
in Sewastopol. Die politische Stimmung in Petersburg zum Frieden
geneigt, da die Lage den Krieg für Rußland nicht wünschenswert
erscheinen ließe.
Der Bericht vom 14. Dezember meldet die Verstärkung der
Grenzwache durch Truppen des Heeres, die Errichtung von Flugstationen
in Warschau und Lublin, Ausrüstungsarbeiten der Festungen Warschau,
Iwangorod, Nowo-Georgiewsk, Grodno und Brest; die Mobilisierung
der baltischen Flotte, endlich die Anordnung, rollendes Bahnmaterial auf
60 Kilometer von der Grenze zurückzuschieben.
Der Bericht vom 16. Dezember meldet : Truppentransporte
aus Kiew nach Rowno und Dubno; dorthin auch Munitionszuschübe;
Aufstellung einer Fliegerabteilung in 2ytomir; Befestigungsarbeiten bei
Bjelcy (in Beßarabien, also gegen Rumänien); Registrierung aller Privat-
autos mit dem Befehl, auf ergehendes Aviso innerhalb 24 Stunden ein-
zurücken. Abgehen von Freiwilligen nach Serbien.
Der Bericht vom 18. Dezember bestätigte die Grenzschutz-
verstärkung, die permanenten Befestigungsarbeiten in Brest; umfangreiche,
25'
387
kurzfristige Kriegsmateriallieferungen; Ansammlung an rollendem Material
für Truppentransporte in den Eisenbahnknotenpunkten, Ergänzung der
Kohlen Vorräte der Bahnen, Anhäufen von Mehrvorräten an Verpflegung
in den Grenzmilitärbezirken und in den Festungen, Ausrüstungsarbeiten
in Nowo-Georgiewsk, Iv^angorod, Brest, Grodno, Befestigungsarbeiten
bei Dubno und am Zbrucz; Aufstellung des Bahnschutzes in den Grenz-
militärbezirken; Truppenverlegungen gegen die Grenze, Absicht, das
V. Korps (aus Woronesch) nach Polen zu verlegen; Rückbehaltung des
ausgedienten Jahrganges, wodurch der Gesamtfriedensstand von 1 ,200.000
auf 1,600.000 erhöht erschien; Fälle von IndiszipHn infolge dieser
Maßnahme; Mobilisierung der Schwarzen Meer-Flotte.
Die politische Situation kennzeichne sich durch die Tendenz, jetzt
einem Weltkrieg auszuweichen, wenn aber jetzt durchaus dazu gezwungen,
ihn wenigstens bis 1913 zu verschieben; die äußere und innere Situation
lasse einen großen Krieg derart unerwünscht erscheinen, daß selbst die
Kriegspartei in ihren Bestrebungen nachgelassen habe.
Nach Bericht vom 2 0. Dezember werde die Grenzwache
im Spreng- und Telegraphendienst ausgebildet; in Kieke seien Flug-
zeuge eingetroffen; Truppen wurden nach Kremieniec, die 2. kombi-
nierte Kosakendivision nach Kamienecpodolsk verlegt; die Aufstellung
der Truppentrains erfolge auch im Innern des Reiches; Lokomotiven und
Waggons werden in Brest, Skarzyska, Radziwilow und Kiew bereit-
gehalten; die Reserveoffiziere erhielten Befehl, die Feldausrüstung
anzuschaffen; auch aus dem Don-Gebiet seien Freiwillige nach Serbien
abgegangen.
Laut Bericht vom 21. Dezember erhalten durch das Rück-
behahen des ausgedienten Jahrganges die Kompagnien eine Stärke von
215 Mann, inklusive Rekruten, die Eskadronen eine solche von 180
Reitern, die Batterien von 200 Mann, also nahezu den Kriegsstand.
Der Bericht vom 23. Dezember meldet Befestigungsarbeiten
bei Cholm, Materialtransporie von Kiew in der Richtung Zdolbunowo
und 2merinka; den Ankauf von Verpflegung im Nordkaukasus; endlich
mehrfache Disziplinwidrigkeiten.
Soweit die wesentlichsten Nachrichten für die Zeit bis 23. Dezem-
ber 1912.
Am 15. Dezember hatte ich folgendes Schreiben des Ministers des
Äußern erhalten:
„Euer Exzellenz!
Mit lebhafter Freude habe ich die Nachricht von Ihrer Ernennung
zum Chef des Generalstabes erhalten und erlaube mir Ihnen hiezu von
Herzen Glück zu wünschen.
388
Ich zweifle nicht daran, daß ich bei Ihnen in der schweren Zeit, die
wir gegenwärtig durchleben, einen vertrauensvollen Mitarbeiter finden
werde im Dienste der großen Interessen der Dynastie und des Vaterlandes.
Indem ich der Hoffnung Ausdruck verleihe, demnächst mit E. E. in
Gedankenaustausch treten zu können, zeichne ich etc. etc.
Wien, 15. Dezember 1912. uo..i,+^i^^ «"
' berchtoldm. p.
Ich antwortete umgehend wie folgt:
„Euer Exzellenz!
Ich beeile mich E. E. meinen aufrichtigsten Dank für die liebens-
würdigen, eben erhaltenen Zeilen zu übermitteln, mit der Versicherung,
daß ich mich glücklich schätze, gerade zu einer Zeit an meine jetzige
Stelle berufen worden zu sein, in welcher das schwerste Amt der
Monarchie in Ihren Händen ruht, und daß es mein eifriges Bemühen sein
wird, meine leider weit überschätzten Kräfte so gut ich kann zur
Verfügung zu stellen.
Ich werde ehestens meinen Dank mündlich wiederholen und bitte
E. E. den Ausdruck der vorzüglichen Hochachtung entgegenzunehmen,
mit der ich bin rr tr n u j.
Euer Exzellenz ergebenster ^ ,
'^ Conrad m. p.
Wien, 15. Dezember 1912."
Ich bin seither mit Graf Berchtold stets auf dem Fuße gegenseitigen
offenen, vertrauensvollen, und ich darf sagen, freundschaftlichen Verkehrs
gestanden, wenn auch unsere sachlichen Anschauungen nicht immer
parallel liefen. Ich fand in ihm stets den vornehmen, von allen selbst-
süchtigen Motiven freien, nur auf das Wohl der Monarchie bedachten
Diplomaten, der von seinem Vorgänger ein Erbe übernommen hatte, wie
es nicht schwieriger sein konnte.
Am 16. Dezember vormittags zur Audienz in Schönbrunn, besprach
ich auch mit Seiner Majestät die Lage, die der Kaiser als eine äußerst
schwierige, für Österreich- Ungarn gefahrvolle erachtete, für die er jedoch
eine friedliche Lösung erhoffte.
So wie schon öfter, fielen seinerseits besorgte Worte hinsichtlich des
Bestands der ö.-u. Monarchie. Auch deren innere Verhältnisse,
insbesondere die Vorgänge in Böhmen, sovne der unausgesetzte Hader
der Parteien und Nationalitäten bedrückten ihn, und es ist mir sein
wiederholt getaner Ausspruch erinnerhch: „Glauben Sie mir, die
Monarchie kann man nicht konstitutionell regieren."
Nichtsdestoweniger hielt sich der Kaiser auf das allerstrengste an
seine konstitutionellen Herrscherpflichten.
3S9
Am selben Tage (16. Dezember) besprach ich das gleiche Thema
auch mit Graf Berchtold.
Am 18. Dezember erhielt ich nachstehenden Bericht des auch für
Belgien akkreditierten k. u. k. MiUtärattaches in Paris Oberst Vidale:
»
Euer Exzellenz!
Bevor ich nach Paris von Brüssel zurückkehre, wo ich meine
Antrittsmeldungen teilweise absolvierte — der König bekam Influenza
und ließ mir sagen, er müsse die Audienz verschieben — und Fühlung
mit den hiföigen politischen imd militärischen Kreisen nahm, melde ich
E. E. in Kürze die Eindrücke, die ich hier über die augenbhckliche Lage
und deren Beurteilung empfing.
Gleichzeitig mit meinem Eintreffen wurde der Wechsel in den beiden
leitenden Stellen unserer Armee bekannt, und da ich in den Tagen meines
Aufenthaltes oft Gelegenheit hatte, mit den Herren der kaiserlich deutschen
Vertretung beisammen zu sein, konnte ich aus Fragen, die an mich gestellt
wurden und aus Bemerkungen, die ich — obwohl nicht für mich
bestimmt — zufällig hörte, mir ein Bild machen, welche Empfindungen
diese allen überraschend gekommene Änderung auslöste. Die Berufung
E. E. auf den schon früher eingenommenen Posten bedeute den >Sieg
der Kriegspariei«. Die Existenz einer solchen scheint sowohl in Frank-
reich, als auch in Belgien als feststehende Tatsache zu gelten.
Vor allem bedeute der Wechsel in diesem kritischen Augenbück ein
Eingeständnis bisheriger Schwäche, eine Unsicherheit, die keinen günstigen
Eindruck, namentlich auf einen Bundesgenossen, mache.
Unkonsolidierte Verhältnisse, jährlich eine andere Auffassung, wer
recht habe, wer zu führen und in den ernstesten Fragen zu entscheiden
habe.
Anderseits weiß man ganz gut, daß die jetzige Krise der kurz-
sichtigen Orientpolitik des früheren Ministers des Äußern zuzuschreiben
ist, der den Moment versäumte, sich den dauernden Einfluß am Balkan
zu sichern und dessen auf einen scheinbaren Augenblickserfolg abzielende
Politik E. E. damals zum Rücktritt bewog.
Ebenso ist man sich darüber klar, daß die nun folgenden diploma-
tischen und militärischen Schritte der Monarchie im Einklang und
energisch sein werden.
Aber aus allem, was ich hörte und was ich hier nur zusammen-
fassend registriere, schien mir unausgesprochen die Besorgnis durch-
zuringen: »Wird sich nicht auch das wieder über Nacht ändern? In
Österreich ist ja alles möghch!«
390
Die Frau des deutschen Gesandten Herrn von Flotow ist eine
enragierte Russin; Witwe des im mandschurischen Feldzug gefallenen
Generals Graf Keller, geborene Prinzessin Schahowskoy, wurzelt sie fest
im Moskowitertum. Sehr vermögend, übersiedelte sie als Witwe nach
Berlin, um den Wirren in ihrer Heimat zu entgehen und half scheinbar
durch ihren Reichtum und ihre Persönlichkeit die Karriere des Herrn
von Flotow mit zu festigen. Ihre ausgesprochen russische Gesinnung —
ihr Sohn aus erster Ehe ist russischer Rittmeister — dürfte gerade jetzt
ihrem Mann manchmal recht unbequem sein. Bei dem Souper, das unser
Geschäftsträger Graf Badeni am Abend meiner Ankunft gab, entspann
sich zvdschen ihr und einem Diplomaten ein Dialog, von dem folgender
Teil nicht uninteressant ist:
>Was geht schUeßlich Rußland die serbisch-österreichische Hafen-
frage an?«
»Wenn Österreich gegen Serbien losgeht, dann marschiert ganz
Rußland unbedingt«, sagte Frau von Flotow darauf.
>Ja, aber Rußland ist doch nicht direkt interessiert und im Augen-
blick, wo es gegen Österreich-Ungarn Krieg führen will, wird es mit der
Revolution im Innern zu tun bekommen. Die revolutionäre Partei ist
heute ganz anders organisiert als zur Zeit des Feldzuges gegen Japan, und
Moskau, Odessa, Kiew und Warschau werden in hellen Flammen stehen!«
»Sind Sie versichert,« antwortete Frau von Flotow sehr erregt —
»es gibt unbedingt Krieg, wenn Serbien ernstlich bedroht wird, und
wenn bei uns in Rußland die Revolution losbricht, gut, so gehen wir
eben zu Grunde, aber — wir ziehen los!«
Gewiß ist Frau von Flotow nicht für die russische Politik maß-
gebend, aber sicher ist sie die Repräsentantin eines großen und einfluß-
reichen Kreises, dem sie von Geburt und ihrer späteren Stellung in
Rußland nach angehört, und mit dem sie heute noch in stetem Kontakt
steht. Deshalb scheint mir diese Auffassung russischer Pflichten gegen
Serbien viächtig genug, um sie E. E. zur Kenntnis zu bringen.
Daß auch die Deutschen auf ihre Orientpolitik nicht sehr stolz sind,
geht aus einer Äußerung des deutschen Legationsrates Fürsten Hatzfeld,
der auch an dem Abend anwesend war, hervor. Der Deutsche Kaiser
sei vor kurzem zur Jagd bei seinem, Hatzfelds, Vater gewesen und hätte
dabei u. a. bemerkt: »Seit dreißig Jahren machen wir OrientpoHtik und
glauben, sie wäre sehr gut, jetzt auf einmal sehen wir, daß sie sehr
schlecht war!«
Belgien ist in dem — wie man hier meint — unmittelbar bevor-
stehenden Krieg zwischen Deutschland und Frankreich von ersterem eine
wichtige Rolle zugewiesen.
391
Dieses bequem gelegene »neutrale Ausland« wird seit Wochen durch
eine Anzahl deutscher Offiziere bereist, die den schon längst vorbereiteten
Kundschafts-, beziehungsweise Nachrichtendienst für den Kriegsfall über-
prüfen, vervollkommnen und die letzten Anordnungen treffen, damit der
Generalstab im geeigneten Augenblick rasch und sicher bedient werde.
Die große deutsche Kolonie in Brüssel und die vielen in Belgien seß-
haften reichsdeutschen Familien — meist kleine Leute der Arbeiterklasse —
erleichtern diese Vorbereitungen wesentlich.
Die ähnliche Rolle wurde natürlich Belgien von Frankreich zugedacht,
das sich auch dort eine sichere Basis für den Nachrichtendienst schuf.
Daß der deutsche Generalstab auch in dieser Richtung schon früher
sehr geschickt arbeitete, scheint mir aus dem Zugeständnis eines deutschen
höheren Generalstabsoffiziers hervorzugehen, der mir hier sagte, daß das
Märchen von den rettenden Zeitungsnotizen über den Abmarsch der
französischen Armee von Chalons nur für die Außenwelt und die
Geschichte erfunden sei, vor allem aber für die Franzosen selbst. Wenige
Stunden nachdem die Bewegung angeordnet war, wußte man bei der
deutschen Heeresleitung davon und konnte nur so die gewaltige Arbeit
leisten und fordern, die der eigene Rechtsabmarsch in seinen Vor-
bereitungen, die sich auf die kürzeste Zeit zusammendrängten, bedingte.
Jedenfalls faßt man in Deutschland die heutige Lage sehr ernst auf,
und rechnet absolut nicht mit Sicherheit damit, daß, wenn die Gegen-
sätze zwischen Serbien und uns mit den Waffen ausgetragen werden
müssen, Rußland neutral bleibe. Daß aber dann Deutschland, Frankreich
und Italien auf den Plan treten, sei sicher. Und England würde abwarten,
bis es sicher weiß, auf welcher Seite sein größter Profit zu holen sei.
Das ist in großen Zügen das Bild der augenblickUch in Brüssel
vorherrschenden Auffassung.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner respektvollsten Verehrung.
Vidale, Oberst."
Begreiflicherweise habe ich dieses Schreiben mit sehr ernsten
Gedanken gelesen, da es meine Befürchtung, daß Österreich-Ungarn die
Momente zum Handeln versäumt habe und einer gefahrvollen Kompli-
kation entgegentreibe, zu bestätigen schien. Allerdings handelte es sich
um die Äußerungen einer Frau, bei der das Temperament, vielleicht auch
die Absicht, im Interesse Rußlands einzuschüchtern, mitsprechen mochte,
und es blieb immerhin fraglich, ob man am Zarenhofe wirklich gewillt
sein würde, den Untergang des Reiches und der Dynastie mit solcher
Leichtigkeit in Kauf zu nehmen.
Man hat es 1914 — gegen jedwede Vernunft — tatsächlich getan.
Die Folgen sind nicht ausgeblieben!
392
Im Sinne der Erneuerung des Dreibundes, womit die Monarchie ihr
Bemühen deklarierte, mit Itahen auf gutem Fuß zu stehen, legte der
Militärattache in Rom, Oberstleutnant Graf Szeptycki, in einem vom
15. Dezember datierten, an mich gerichteten Schreiben nahe, auch die
Beziehungen zwischen den beiderseitigen Höfen intimer zu gestalten.
Ich gebe daraus folgende Stelle wieder:
„Unser Verhältnis zu Italien hat sich eigentlich gar nicht geändert;
wir sind und bleiben die offiziellen Freunde, im Grunde
genommen mag uns dennoch niemand.
EHe momentane militärische und finanzielle Schwäche, verursacht durch
den libyschen Feldzug, hat wohl die Regierung veranlaßt, den Dreibund
zu erneuern, übermäßig populär ist jedoch dieser Bund nicht.
Ich glaube, daß es vielleicht von großem Vorteile wäre, voraus-
gesetzt, daß wir uns der Freundschaft der Italiener
vergewissern möchten, daß man in Wien durch Höflichkeiten
und Entgegenkommen den hiesigen Hof sozusagen zu einem Hof
ersten Ranges zu heben geneigt wäre."
Diese Anträge entsprachen den Intentionen, wie sie vielfach auch in
unsem offiziellen Kreisen herrschten, sie stießen aber auf die unüberwind-
liehen Hindernisse, die durch die Rücksichten für den Vatikan geschaffen
waren; ün übrigen habe ich in Hinblick auf die großen, weitgesteckten,
gegen Österreich-Ungarn gerichteten Aspirationen Italiens den Äußerlich-
keiten freundschaftlichen Verkehrs der Höfe keine ausschlaggebende
Bedeutung zugemessen. Sie fielen nur dort ins Gewicht, wo auch
ansonst noch Interessengemeinschaft herrschte.
Auch ist nicht anzunehmen, daß ein Staat, der skrupellos laut
verkündete Verträge brach, sich durch Höflichkeitsakte irgendwie gebunden
erachtet haben würde.
In diese Zeit fiel ein Ereignis, das wohl als das erste Wetterleuchten
von Italiens Bundesbruch gedeutet werden konnte, wenngleich Italien
versuchte, es als bloße Folge der durch den Tripoliskrieg gestörten
militärischen Bereitschaft hinzustellen.
Es war nachstehender an mich gerichteter Brief des italienischen
Militärattaches Graf Albricci.
„Vienne, le 18 Decembre 1912.
A son Excellence
le General d'Infanterie Bai'on Conrad v. Hötzendorf etc. etc.
Vienne.
Par ordre du chef de l'Etat Major General de l'armee R. italienne
le soussigne a l'honneur de faire la suivante participation :
393
Par loyaute d'allie on fait connaitre que, jusqu'ä nouvelle decision,
on est oblige de supprimer l'envoi de la S'^""^ armee italienne sur le
Rhin, parce que l'Italie dans les conditions actuelles ne pourrait se priver
d'une teile partie de ses forces.
L'Etat Major Imp. et Royal pourrait cependant, le cas echeant
disposer de ses lignes de chemin de fer et du materiel qui seraient
actuellement destines aux transports Italiens.
Agreez, Excellence, ä l'occasion, le temoignage de ma plus haute
consideration. ^e Lieut. Colonel de l'Etat Major
Attache militaire A. Albricci m. p."
Italien kündigte damit ohne alle Bedenken an, daß es im Kriegsfalle
seinen militärischen Bundespflichten nicht nachkommen, also seine
3. Armee nicht an die Seite Deutschlands senden würde, obgleich es am
7. Dezember 1912 den Dreibundvertrag erneuert hatte.
Ich säumte nicht, eine Abschrift dieser Mitteilung an General von
Moltke zu senden, mit nachstehendem Schreiben:
„Res. Gstb. Nr. 5602/1. Wien, am 20. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
Die erste Gelegenheit ergreifend, die sich mir für einen Gedanken-
austausch darbietet, spreche ich meine Freude darüber aus, die
Beziehungen mit E. E. wieder erneuem zu können und bitte Sie, mir
auch künftig das Vertrauen entgegenzubringen, das für unseren Verkehr
und für unsere Vereinbarungen stets richtunggebend war und von mir
voll erwidert wird.
Ich beehre mich E. E. die Abschrift eines Schriftstückes zu über-
senden, welches mir am 18. d. M. der kgl. italienische Militärattache im
Auftrage seines Chefs überreicht hat.
Abgesehen davon, daß die darin mitgeteilte Maßnahme meine
Bewertung des italienischen Verbündeten erneuert bestätigt, glaube ich
auch, daß dieses Verhalten Italiens nicht ohne Einfluß auf die Maßnahmen
der deutschen Heeresleitung für den Fall eines Dreibundkrieges bleiben
dürfte, und ich wäre E. E. sehr verbunden, wenn Sie mir Ihre dies-
bezüglichen Anschauungen mitzuteilen die Güte hätten.
Ich füge noch bei, daß ich an den italienischen Militärattache die
Frage gestellt habe, was Italien mit den immerhin beträchtlichen Kräften
im Lande für den Fall eines Dreibundkrieges zu tun gedenke, wobei der
Militärattache keine Antwort zu geben vermochte, aber — nicht ohne
394
eine gewisse Verlegenheit — meinte, daß hinsichtlich der anderen Kräfte
(ausgenommen die 3. Armee) wohl die bisherigen Dispositionen aufrecht-
bleiben dürften.
Genehmigen etc. etc. Conraid m. p."
Am 16. Dezember 1912 hatte ich eine Besprechung mit Graf Berchtold
gehabt. Getreu meiner Gepflogenheit, wichtige Unterredungen womöglich
nachträglich niederzuschreiben, richtete ich folgenden Brief an Graf
Berchtold: „Wien, am 23. Dezember 1912.
Mit Bezug auf das Gespräch, das ich die Ehre hatte, mit E. E. am
16. Dezember abends zu führen, erlaube ich mir eine Niederschrift des
nachfolgenden Gedankenganges zu übersenden.
Die Resultate einer zurückhaltenden, rein friedlichen Politik der
Monarchie in der Balkankrise können nur seui:
Verlust an Prestige und damit Verlust an pohtischer und wirtschaft-
licher Macht und Geltung;
Mißtrauen der Bundesmächte in die Kraft der Monarchie und damit
in den Wert der Bundesgemeinschaft;
jetzt schon, mindestens aber in Hinkunft: Maßlosigkeit in den
Forderungen seitens der Gegner der Monarchie, eine Maßlosigkeit, die
mit jedem neuen Nachgeben der Monarchie zu neuen Forderungen führt,
im Einklang hiemit immer aggressiveres Vorgehen des momentanen
Hauptgegners der Monarchie, nämlich Serbiens;
Aufflackern und Anwachsen des revolutionären Sympathisierens der
slawischen Bevölkerung für die großserbischen Aspirationen;
Sinken der patriotischen Stimmung bei den übrigen Nationalitäten
der Monarchie infolge Erkenntnis der Impotenz des Staates;
Sinken des militärischen Geistes und des Vertrauens der Armee in
sich selbst, weil sie diese Tatenlosigkeit als ein Symptom des Mißtrauens
auffaßt;
tiefe Verstimmung im Offizierskorps;
Gefahr des schließlichen Verlustes der südslawischen Gebiete der
Monarchie und damit auch der Seemachtstellung;
wirtschaftlicher Ruin der Privatunternehmungen infolge des ununter-
brochenen krisenhaften Zustandes;
wirtschaftlicher Ruin des Staates infolge der enormen Kosten der
Bereitstellung, ohne Hereinbringung eines positiven Gewinnes;
Fortdauernde Verschlechterung dieser Situation bei längerem
Zuwarten.
Einziges Mittel zur Lösung: Kriegerische Niederwerfung Serbiens
ohne Scheu vor den möglichen Konsequenzen eines solchen Schrittes,
395
ausgehend von der Erwägung, daß weitere Passivität den Ruin der
Monarchie sicher herbeiführt, während ein energisches aktives Auftreten
derselben die Situation mit einem Schlage zu ihren Gunsten ändern kann.
Haben die Ententemächte nebst Serbien auch das Machtmittel der gemein-
samen Bedrohung der Monarchie, so hat letztere doch auch Machtmittel,
diese Staaten vor die Wahl eines allgemeinen Krieges zu stellen, welchen
die hauptsächlichsten dieser Staaten eigentlich doch fürchten.
Löst die Monarchie die Existenzfrage nicht jetzt, so wird sie die-
selbe in kurzer Zeit unter noch viel ungünstigeren Verhältnissen lösen
müssen.
Der Konflikt mit Serbien dreht sich nicht um dessen Nachgeben in
der Hafen- oder der albanesischen Frage, sondern darum, ob die süd-
slawische Frage durch Serbien zu seinen Gunsten gelöst wird; es ist also
eine Existenzfrage von entscheidender Bedeutung, die gelöst werden muß.
Trägt aber die Monarchie die jetzige Krise friedlich aus, läßt sie
also Serbien zu einem mächtigen, auch Montenegro einbeziehenden Staat
heranwachsen, dann muß sie sich darüber klar sein, daiß sie durch die
neugeschaffenen Verhältnisse in Hinkunft mit einem Kriege nach drei
Fronten rechnen, also jene militärische Bereitstellung in Kauf nehmen
muß, welche erforderlich ist, um einer solchen Eventualität gewachsen
zu sein.
Dies bedingt eine personelle und eine materielle Ausgestaltung von
Landmacht, Seemacht und Reichsbefestigung, die weit über das jetzige
Maß hinausreicht, eine wesentliche Erhöhung des Friedensstandes und
eine wesentliche Erhöhung der finanziellen Mittel, weil die meisten dieser
Vorkehrungen auch selbst für den Fall getroffen werden müssen, daß
es der Diplomatie gelänge, von den drei Gegnern : Rußland, Serbien (und
dessen Balkanverbündete) tmd Italien einen auszuschalten und das
Bündnis mit Rumänien aufrecht zu erhalten. '
Sollte es daher wider Erwarten dazu kommen, daß die Machtstellung
Serbiens nicht jetzt dauernd gebrochen, sondern ein friedlicher Ausgleich
getroffen wird, so muß ich es mir dermalen schon vorbehalten, im Sinne
der vorangeführten Konsequenzen die erhöhten Forderungen hinsichtlich
der militärischen Entwicklung zu stellen, sehe mich aber auch verpflichtet,
dies jetzt schon anzukündigen.
Diese Ausführungen bitte ich E. E. als den freimütigen Ausdruck
meiner Überzeugung geneigtest zur Kenntnis zu nehmen.
Genehmigen Euer Exzellenz etc. ^ , ,,
Conrad."
Daß meine Anschauung der Lage auch von anderen eingeweihten
und nach Stellung sowie persönlichen Qualitäten maßgebenden Funk-
3Q6
tionären geteilt wurde, ergibt beispielsweise folgendes, an mich gerichtete
Schreiben des kommandierenden Generals und Landeschefs von B. H.,
Feldzeugmeister P o t i o r e k :
„Verehrter Freund!
Nachstehend meine rückhaltlos ausgesprochene persönliche An-
schauung über Geist, VerläßUchkeit und moralischen Halt der Truppen
des XV. und XVI. Korps.
Ich wiederhole zunächst aus meinem letzten Briefe:
Die Generale sind größtenteils sehr gut und durchwegs gut. Ich
habe mich seit meinem Hiersein nicht umsonst bemüht, auf die Posten
der höheren Kommandanten Generale zu bringen, die nicht bloß in Bezug
auf ihre sonstigen Eigenschaften, sondern vor allem in Bezug auf
Entschiedenheit und Charakterfestigkeit am Platze sind. Was in dieser
Hinsicht nicht ganz meinen Wünschen entspricht, habe ich schon letzthin
angedeutet.
Das gleiche wie von den Generalen gilt von den Stabsoffizieren.
Damit ist die Hauptsache gesagt, weil unsere Truppen wie in früheren
Zeiten auch noch heute unter guten Kommandanten, die es auch ver-
stehen, mit einzelnen immer und überall vorkommenden Schädlingen rasch
fertig zu werden, zweifellos voll brauchbar und verläßlich sind.
Die Offizierskorps sind gut und frohgemut. Daß sie vor fünfzig
Jahren anders waren als heute, ist eine nicht zu ändernde Tatsache, aber
ich hege keinen Zweifel, daß sie sich auch jetzt bewähren werden. Dabei
ist ihre politische und nationale Verläßhchkeit ebensowenig anzuzweifeln,
wie jene der gesamten Mannschaft der exterritorialen und des Großteiles
der Mannschaft der territorialen Truppen, über welche ich an späterer
Stelle noch einige Einzelheiten berühren werde.
Geist und Disziplin lassen nichts zu wünschen und die Truppen
sehnen sich darnach, zeigen zu dürfen, was sie wert sind.
Es ist meine festgegründete Überzeugung, daß das XV. und XVI.
Korps dermalen gebrauchsfertige, scharfe Werkzeuge sind. Ich vertraue
ihnen vollkommen und werde sie jetzt mit Zuversicht verwenden,
wenn mir dies gegönnt werden sollte.
Ebenso ehrlich sage ich jedoch, daß ich das gleiche Vertrauen
künftig nicht mehr hätte, wenn die heutige Krise auf friedlichem Wege
mit einem nicht voll befriedigenden, auch den Massen sofort in die Augen
springenden, durchgreifenden und unsere Balkanposition endgültig sicher-
stellenden Erfolg ausgetragen würde. Wenn man sich jetzt mit Schein-
erfolgen begnügt, wenn man dem Übel wieder nur mit Palliativen
begegnet und damit die für die Monarchie schUeßlich doch nicht zu
397
vermeidende entscheidende Austragung der Balkanfrage bloß dazu hinaus-
schiebt, um nach zwei bis drei Jahren unter noch ungünstigeren Verhält-
nissen einer neuen Krise entgegenzugehen, dann wird dies nicht bloß
verhängnisvolle Folgen für die innerpolitischen Zustände in B. H. haben,
sondern auch eine schwere, in absehbarer Zeit nicht gutzumachende Schädi-
gung des Wertes unserer Truppen mit sich bringen. Offiziere und Mann-
schaften würden unter dem beklemmenden Eindruck stehen, daß die
Volksstimmung in Bosnien, die heute nicht an die Kraft der Monarchie
zur Durchsetzung ihres Willens glauben will, recht habe, und Offiziere
und Mannschaft würden sich des Gefühls nicht erwehren können, daß
man an oberster Stelle an der Kraft der Armee zweifle, die Lebens-
Interessen des Reiches auch unter den schwierigsten Verhältnissen erfolg-
reich zu schützen.
Ein drittes Mal würden dann die Reservisten gewiß nicht mehr so
willig hieher einrücken wie 190Q und 1912.
Geht es ohne Waffengebrauch, dann um so besser. Aber um Gottes-
willen, nur keinen faulen Frieden. Einem solchen wäre selbst eine
Niederlage auf dem Schiachfelde im Kampfe mit einer Großmacht
vorzuziehen.
Nun noch einige Einzelheiten über die territorialen Truppen. Ich
rechne mit der Möglichkeit, daß sowohl bei den b.-h. als auch bei den
dalmatinischen Landwehr- und Landsturmtruppen, wenn di^e gegen
Serbien-Montenegro kämpfen müssen, Desertionen und bei »einzelnen
Leuten« vielleicht auch sonstige schwere Vergehen vorkommen werden.
Ich bin aber überzeugt, daß auch bei den genannten Truppen die Masse
der Mannschaft ihre Schuldigkeit tun wird, und bin nicht dafür, daß die
bezügiidien Truppen mit anderen im Innern der Monarchie gewechselt
oder daß als unverläßlich geltende Mannschaftselemente in das Innere
der Monarchie abtransportiert werden u. dgl. Ein derartiger, offen kund-
gegebener Zweifel an der Verläßlichkeit dieser Truppen ist nicht begründet,
und Maßnahmen der vorerwähnten Art würden nicht bloß unser Ansehen
vor aller Welt schädigen, sondern auch dem angestrebten Zwecke nichts
nützen, vielmehr — weil als schwächliche Besorgnis gedeutet — die
Verläßlichkeit weiterer Elemente untergraben. Das einzig Richtige ist,
in die Truppe als Ganzes das ilir mit Recht gebührende Vertrauen zu
setzen und strenge Disziplin zu halten, dann wird sie als Ganzes gewiß
auch im Feuer ihre Pflicht tun, wenn auch Bruchteile abfallen. Und das
Einzige, was ich wünschen würde, ist, daß man den hiesigen b.-h.
Bataillonen aus dem Innern der Monarchie noch einige, besonders
tüchtige und schneidige, die Landessprache voll beherrschende Haupt-
leute imd Subaltemoffiziere zuweise.
398
Darüber zu reden, was später beim Wiedereintritte normaler Ver-
hältnisse zur gänzlichen Behebung der bei den territorialen Truppen
konstatierten Übelstände geschehen sollte, hat Zeit. Aber auch dabei
heißt es nicht vom Kleinen in das Große denken, sondern das Große
voranstellen.
Endet die dermalige Spannung so, wie es das Lebensinteresse der
Monarchie fordert, dann werden damit auch alle Ursachen beseitigt sein,
welche die Verläßlichkeit eines Teiles der Bevölkerung von B. H. D. jetzt
fraglich machen. Im Gegenfalle aber würde man vermutlich bald von
direkter »Unverläßlichkeit« der sich hier ergänzenden Truppen hören.
Also auch in dieser Richtung wird die Entscheidung der jetzigen Krise
für alles weitere maßgebend sein.
Gott gebe uns alles, nur kein schwächliches Zurückweichen in diesen
schweren Stunden.
Mit herzlichen Grüßen Dein treu ergebener
c • Ol r^ u iniou P o t i 0 r e k, FZM.
Sarajevo, am 21. Dezember 1912."
Auch bei Wiedereinsetzung in meine Stellung als Chef des General-
stabes hatte ich — wie früher — die Militärattaches beauftragt,
mir über alle mihtärisch bedeutungsvollen Vorkommnisse nicht nur rein
amtlich, sondern, wo es die Umstände erheischten, auch briefhch zu
berichten.
So erhielt ich von unserem jungen, aber sehr zutreffend beobachten-
den Militärattache in London, Major Horväth, am 24. Dezember 1912
das nachstehende Schreiben:
„London, am 20. Dezember 1912, 5 Uhr nachm.
Euer Exzellenz!
In meinen telegraphischen Berichten Nr. 156 und 157 vom 18. d. M.
habe ich über das Ergebnis der bisherigen Beratungen der Botschafter-
konferenz kurz gemeldet. Indem ich mir die Freiheit nehme, diese Zeilen
an E. E. zu richten, will ich nunmehr auch über den Verlauf und die
beeinflußenden Faktoren dieser wichtigen Besprechungen berichten.
Vom Vorsitzenden Sir Edward Grey wurde als erste Frage die
Zukunft Albaniens aufgeworfen. Unser Botschafter erklärte, Österreich
wünsche, daß Albanien ein selbständiger und lebensfähiger Staat werde.
Der russische Botschafter kam mit einem ergänzenden Vorschlag, der
deutlich zeigte, daß Rußland nicht gerade den heißesten Wunsch hegt,
die Grundlagen für konsolidierte Zustände zu schaffen, sondern vielmehr
bestrebt ist, den Keim für künftige Mißstände zu säen. Graf Benckendorff
schlug nämlich vor, daß Albanien einen autonomen Staat unter der
390
Souveränität oder Suzeränität des Sultans bilden soll, dessen Gouverneur
nach Fürwahl der Großmächte vom Sultan ernannt oder doch bestätigt
wird und dem eventuell als eine Art Eskorte auch etwas türkisches
Militär beigegeben werden könnte. Diese Idee fand indes keinen Anklang,
und Sir Edward Grey widersetzte sich ihr auch lebhaft, so kam man denn
in der Formel überein, die ich im Telegramm Nr. 156 gemeldet habe. Die
Wahrung der Souveränität oder Suzeränität wurde hiebei am meisten
vom deutschen Botschafter unterstützt, der unserem Botschafter gegen-
über meinte, man müsse gewisse Konzessionen auch dem russischen
Standpunkt machen.
Die vom Grafen Mensdorff vorgeschlagene Neutralisierung Albaniens
konnte nicht diskutiert werden, da Graf Benckendorff erklärte, daß seine
Instruktionen nicht so weit reichen, um dies zu akzeptieren (!).
Nun kam die Frage der Grenzen des künftigen Staates an die Reihe.
Graf Mensdorff präzisierte den Standpunkt Österreichs dahin, daß jedes
in der überwiegenden Mehrzahl von Albanesen bewohnte Territorium zu
Albanien fallen soll, während Graf Benckendoiif im Namen Rußlands
die Erklärung abgab, daß man sich die nördliche Grenze an Montenegro
und die südliche an Griechenland anstoßend denkt. Hiemit war die serbische
Frage aus der Welt geschafft, ohne daß sie zur Sprache kommen
mußte, und wurde nur vereinbart, daß Serbien der kommerzielle Zugang
zu einem neutralen und freien albanesischen Hafen auf einer internationalen
Bahn einschließlich freier Durchfuhr von Kriegsmaterial gewährt werde.
Bahn und Hafen sollen durch eine internationale Gendarmerie gesichert
werden, ein Gedanke, der wieder auf die russische Bestrebung zurück-
zuführen ist, in der künftigen Administration des Landes sich auch einen
Einfluß zu sichern. Es ist auch ganz gut denkbar, daß diese von Serbien
frei zu benützende »internationale« Bahn allmählich den Weg zur
Penetration pacifique seitens Serbiens bilden wird. Übrigens wurden
Österreich und Italien aufgefordert, die Gesichtspunkte im großen dar-
zulegen, wie die künftige Organisierung und Verwaltung des zu
schaffenden Staates gedacht wird. Ich glaube — wiewohl unser Bot-
schafter meint, dieser Aufforderung könne man schwer aus dem Weg
gehen — daß dies nur ein Schachzug war, um uns zur Aufdeckung all
unserer Pläne und Zukunftsgedanken zu veranlassen.
Bei der zweiten Sitzung zeigte Graf Mensdorff über Aufforderung
auf einer ihm von Baron Giesl gegebenen ethnographischen Karte die
Verteilung der Albanesen, die die Basis für die Abgrenzung des Staates
bilden soll. Dies fand keinen Anklang und hier dürfte die größte
Schwierigkeit entstehen, weil Rußland wegen Skutaris kaum auf dieses
Prinzip eingehen wird. Graf Benckendorff erklärte auch, er müsse um
400
weitere Instruktionen bitten, und so blieb dies in Schwebe, umsomelir,
als unser Botschafter sich nicht berechtigt fühlte, bezüglich der gedachten
Ostgrenze nähere Erklärungen abzugeben. Unser Minister des Äußern
will nämlich Ipek, Prizren und Ochrida als Kompensationsobjekte
verwerten, möchte daher vorläufig nicht Farbe bekennen. Ob dies gelingen
wird, ist eine große Frage, und ich fürchte, unser Botschafter wird in
seiner geradezu ängstlichen Friedensliebe nicht jene Hartnäckigkeit
entwickeln, die allein uns Erfolge bei dieser Konferenz sichern könnte.
Und es wäre dies insbesondere bezüglich Skutaris sehr am Platze, denn
Sir Edward Grey hat unserem Botschafter privatim angedeutet, er könne
hierin nichts mehr tun; er hätte wohl Rußland veranlaßt, die serbische
Forderung fallen zu lassen (?), aber einen weiteren Druck könne er nicht
mehr ausüben; es möge dies Deutschland tim, wenn es glaubt, in der
Frage von Skutari vermitteln zu können.
Die heute aus Wien eingelangten Instruktionen zeigen, daß man
bezüghch Skutaris auf dem Standpunkt verharrt, daß es zu Albanien
gehören soll, daß man ferner die Neutralität dieses Staates nach wie vor
anstrebe und daß man den Vorschlag machen will, daß man bei der
Festiegung der Grundprinzipien für die Verwaltung des künftigen Albanien
auch die Wünsche der Albanesen selbst anhören möchte. Hingegen will
man der Welt zeigen, daß man die wirtschaftliche Bedrückung Serbiens nicht
beabsichtigt hat, daher auf kommerzielle Konzessionen eingehen würde.
Bei der zweiten Sitzung kam auch die Frage der Meerengen und
der Ägäischen Inseln Samothraki, Imbros, Lemnos und Tenedos zur
Sprache. Rußland plädierte dafür, daß sie jedenfalls im türkischen Besitz
verbleiben, daß aber den Inseln eine gewisse Autonomie gesichert werde.
Die warme Fürsprache für die Wahrung der türkischen Herrschaft über
dieselben zeigt, daß Rußland doch die Hoffnung nicht aufgegeben hat,
daß die Meerengen und die den Ausgang beherrschenden Inseln einst
seine Beute werden. Sh: Edward Grey ist eher geneigt, sie den Griechen
zuzuerkennen. Man kam übrigens bei der Beratung dieser Frage in der
Formel überein, die ich im Telegramm Nr. 137 gemeldet habe.
Heute findet die letzte Sitzung vor den Feiertagen statt. Ob ich
noch imstande sein werde, über deren Verlauf vor dem Abgehen des
Kuriers zu berichten, ist fraghch. Über das wesentiiche Ergebnis werde
ich nicht verfehlen zu telegraphieren.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht, in der
ich verharre „ _ „
Euer Exzellenz gehorsamster
Horväth, Major."
26, Conrad II ^Qi
Eine seit Dezennien schwebende Frage bildete die höchst ungünstige
Grenzgestaltung in der Bucht von Cattaro. Sie gab diesen südlichsten
Kriegshafen der Monarchie der dominierenden Sicht und dem Feuer
der Montenegriner preis und verwehrte einen auch nur halbwegs
günstigen fortifikatorischen Abschluß nach der Landseite. Erst der Besitz
des Lovcen-Massivs (1759 m Seehöhe) und des von diesem nordwärts
über den Tatinjak und Vrsanj ziehenden Grenzrückens hätte dieses Übel
zu beseitigen vermocht.
In einem Schreiben vom 23. Dezember bezeichnete nun der k. u. k.
Militärattache in Cetinje, Major Hubka, den Moment für eine friedliche
Lösung dieser Frage anscheinend günstig und schlug vor, hiezu Skutari
Montenegro zuzusprechen, wenn es dafür das Lovcen-Gebiet der Monarchie
abtreten würde. Er schrieb:
„Montenegro ist gegenwärtig militärisch erschöpft und politisch hilf-
los. Der König bangt vor einer dynastischen Krise, und er erkennt
nunmehr, daß Rußland geographisch zu weit entfernt ist, und daß es
in ernsten Zeiten anderen wichtigeren Interessen Rechnung tragen muß,
um Montenegro den bisher stets erhofften Anschluß und Rückhalt bieten
zu können.
Während der jüngsten Kriegsereignisse in engerem, oft tagelang
ununterbrochenem Kontakt mit dem König lebend, habe ich den Eindruck
gewonnen, daß dieser derzeit — unter gewissen Bedingungen — für
einen bleibenden Wechsel seiner politischen Richtung, insbesondere
aber auch für die fragliche Grenzregulierung zu gewinnen wäre.
Nebst handelspolitischen und ökonomischen Begünstigungen im
Anschlüsse an das wirtschaftliche Getriebe der Monarchie bestünde die
hauptsächlichste Bedingung für die Abtretung eines Grenzstreifens im
Kuk-Lovcen-Gebiete in der Initiative und Unterstützung
Österreich-Ungarns bei Zuerkennung von Skutari samt Küsten-
gebiet bis an den Drin an Montenegro.
Eine zweite, jedoch minder ausschlaggebende Bedingung wäre die
Überlassung eines dem abgetretenen Gebiete räumlich gleichwertigen
Territoriums irgendwo an der herzegowinischen Grenze oder im Sandzak.
Dieser Handel würde den König in den Augen seiner Untertanen nicht
des Nimbus als „Mehrer des Reiches" berauben, würde nebstbei auch
der ö.-u. Monarchie den Vorwurf gehässiger Politiker ersparen, daß sie
es — trotz gegenteiliger Versicherungen — auf territorialen Gewinn
abgesehen habe."
So sehr ich stets ein Anhänger des Versuches war, Montenegro auf
friedlichem Wege zum dauernden Anschluß an die Monarchie zu bringen,
402
mußte ich doch als Hindernis für obigen Vorschlag die Unmöglich-
keit erkennen, Skutari, die größte und wichtigste Stadt Albaniens, und
als Bischofssitz Zentrum der katholischen Gebiete dieses Landes, von
letzterem abzutrennen. Nichtsdestoweniger legte ich die Idee einer fried-
lichen Gewinnung Montenegros dem Minister des Äußern in folgendem
Schreiben nahe:
„Wien, am 24. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
Ich wollte die gestrige, ohnehin fast zweistündige Konferenz nicht
noch verlängern, habe daher darauf verzichtet, die nachfolgend charak-
terisierte Idee zur Sprache zu bringen; bitte jedoch, dies jetzt schriftlich
tun zu können.
Ich habe heuer im September im Verkehr mit Prinz Mirko Gelegen-
heit gehabt, die bis zum Haß gesteigerte Aversion des montenegrinischen
Königshauses gegen das serbische kennen zu lernen, sowie die Rivalität,
die zwischen beiden besteht. Es scheint nun, daß durch die kriegerischen
Mißerfolge das montenegrinische Königshaus in Montenegro an
Sympathie verloren hat, und daß dies vom serbischen ausgenützt und
gefördert wird, vielleicht in der Absicht, auch Montenegro unter das
serbische Haus zu bringen. Dieser Zusammenschluß wäre für die
Monarchie höchst bedenklich und müßte unbedingt verhindert werden.
Ich glaube, daß trotz allem das Haus Petrovic Njegus, insbesondere
König Nikita, noch genügend Anhang im Lande hat, um es mit der
Gegenpartei aufnehmen zu können, wenn es von außen gestützt wird.
Vielleicht ist also der Moment gekommen, um Nikita diese Stütze
anzubieten gegen einen engen Bundesanschluß an die Monarchie. Gelänge
es, einen offenen Bruch zwischen Serbien und Montenegro herbeizuführen,
so erschiene mir dies sehr vorteilhaft, weil dann auch eine Spaltung in
die slawische Welt käme und Rußland seine Rolle als großslawische
Schutzmacht verlieren würde.
Ich betrachte dies auch vom. militärischen Standpunkte, der immer
darauf ausgeht, einen Krieg mit mehreren Fronten zu vermeiden, um mit
möglichst konzentrierten Kräften einem Gegner nach dem andern
begegnen zu können — also seine Gegner möglichst zu isolieren.
Ich vermag natürlich von hier aus nicht zu beurteilen, inwieweit
meine Anschauung der Dinge in Montenegro mit den tatsächlichen über-
einstimmt — aber Exzellenz Giesl müßte wohl in der Lage sein, hierin
zu entscheiden.
26*
403
Eine Stellungnahme unserseits für Montenegro gegen Serbien könnte
auch in Italien nur sympathisch aufgenommen werden, wenigstens nach
außen hin.
Genehmigen E. E. den Ausdruck der besonderen Verehrung, mit
der ich stets bin Euer Exzellenz ergebenster
Conr ad m. p., G. d. I."
Diesem Schreiben ließ ich am 25. Dezember das nachstehende folgen :
„Wien, am 25. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
Der Ernst der Lage mag es entschuldigen, wenn ich mir erlaube,
dieses Schreiben an E. E. zu richten.
Vor einiger Zeit tauchte in den Journalen die Nachricht von einer
Neutralisierung Albaniens ä la Schweiz auf. Dies erregte mein größtes
Befremden; da jedoch dieses ominöse Wort bald wieder aus der
Publizistik verschwand, hielt ich es eben nur für eine Zeitungskombination.
Nun ist mir aber ein on dit zugekommen, wonach angeblich der
Botschafter in London die Idee einer Neutralität Albaniens lancierte.
Ich hoffe, daß dem nicht so ist, bitte aber bezüglich dessen meiner
Ansicht Ausdruck geben zu dürfen, daß eine Neutralität Albaniens vom
größten Nachteil für uns wäre.
Ich habe da den mir obliegenden militärischen Standpunkt vor Augen,
bei welchem ich prinzipiell nur mit konkreten Daten rechne, und zwar:
Ein autonomes, aber nicht neutrales Albanien vermöchte bei seinen
1,900.000 Einwohnern mit der Zeit ein Heer von 120—150.000 Mann
zu stellen, welches den Montenegrinern und Serben in Flanke und
Rücken säße, wenn wir mit diesen beiden Staaten in Krieg gerieten, was
nur eine Frage der Zeit ist; darauf rechnen zu können, ist um so
notwendiger, da Serbien nicht nur die Wehrmacht seines bisherigen
Staatsgebietes bis aufs äußerste entwickelt, sondern auch aus den neuen
Gebieten mindestens 4 Divisionen (I. und II. Aufgebot) und 2 III. Auf-
gebot formieren könnte, voraussichtlich aber mehr und zwar 6, respektive
3, also in Summe 9 Divisionen, was einer Zahl von 114.000 Gewehren
gleichkommt.
Ich bitte nun E. E., die große Bedeutung dieses Kalküls geneigtest
in Rechnung ziehen zu wollen, falls die Frage einer Neutrahtät Albaniens
überhaupt zur Diskussion käme.
Genehmigen E. E. erneuert den Ausdruck der vorzüglichsten Hoch-
achtung, mit der ich stets bin
Euer Exzellenz ergebenster
Conrad, G. d. I."
404
Am gleichen Tage (25. Dezember) richtete ich ein Schreiben an
Oberst Dr. von Bardolff, den Vorstand der MiUtärkanzlei des Thron-
folgers, in dem ich auf die Gefahren der tschechischen Agitation in
Böhmen und deren Ausbreitung in anderen slawischen Gebieten, sowie
auf die bedauerliche Erscheinung hinwies, daß sich ein Teil des Klerus,
und zwar auch des katholischen, in den Dienst nationaler Verhetzung
stelle. Bei dem regen Verkehr des Obersten von Bardolff mit dem
Thronfolger, der ihm großes Vertrauen schenkte, wußte ich mich
hinsichtlich des Bemühens, diese Gefahr einzudämmen, an der richtigen
Adresse. Auch ich hatte ja schon öfter Gelegenheit gefunden, mit Seiner
Kaiserlichen Hoheit dieses Thema zu besprechen und ihm meine Ansichten
hierüber darzulegen. Ich betonte dabei, daß es keinen Staat im Staate
geben dürfe, daß in diesem nur eine, in der Person des Monarchen
zusammengefaßte Staatsgewalt zu herrschen, jede internationale Macht
aber ausgeschlossen zu sein habe, daher auch jede, die ihr Zentrum
außerhalb des Reiches hat.
Den Klerus anlangend, sei der Priester ausschließlich der Seelenhirt,
der Vermittler zwischen der unerforschbaren Allmacht und dem Einzelnen,
sofeme dieser einer Vermittlung bedürfe. Er sei dem Emzelnen der mit-
fühlende Freund bei schweren Schicksalsschlägen, der Tröster im Leid,
er wecke und pflege die Empfindungen für Moral und Anstand, für
geistige und seelische Güter im Gegensatz zu Roheit und materieller
Gewinnsucht, er sei der Förderer und Hüter der edleren Empfindungen
des Menschen; er suche darin die Erhabenheit seines Berufes, bleibe aber
dem politischen Parteiengetriebe fem.
Auch das Treiben der internationalen Sozialdemokratie und die
damit verbundenen Gefahren für den Staatsbestand hatte ich mit dem
Thronfolger wiederholt besprochen. Er sah diesem Treiben, sowie jenem
des Freimaurertums mit großen Besorgnissen entgegen.
Wenngleich diese Gefahr in Österreich-Ungarn damals noch lange
nicht jene Ausdehnung gewonnen hatte, wie in anderen Staaten, so
vornehmlich in Deutschland und in Rußland, hatten sich doch auch schon
in den Neunziger Jahren Maßnahmen als notwendig erwiesen, die dem
Eindringen zersetzender Tendenzen in die Wehrmacht Schranken ziehen
sollten. Bei der kurzen Dienstzeit vennochten solche Maßnahmen aber
doch nur wirksam zu bleiben, wenn eine voraussichtige innere Politik
ebensosehr auf das unerbittliche Unterdrücken staatsgefährlicher Bestrebun-
gen, wie auf billige Rücksichtnahme für das Wohl aller Bevölkerungs-
klassen gerichtet war und die Keime für richtige Auffassung der Bürger-
pflichten, für Recht und Ordnung schon in die Erziehung der Jugend
zu legen verstand.
405
Auch der Lehrer war daher dem verhetzenden Parteigetriebe fem
zu halten; daran aber gebrach es vielfach.
Am 28. Dezember erhielt ich ein vom 26. Dezember datiertes
Schreiben des Feldzeugmeisters Potiorek, in dem dieser auf die Not-
wendigkeit einer Landverbindung mit Albanien und darauf hinwies, daß
der als zukünftiger Herrscher für Albanien genannte ägyptische Prinz
Fuad ein warmer Anhänger Italiens sei.
Ich beantwortete dieses Schreiben dahin, daß die Frage dieser Land-
verbindung auch hier stets im Auge behalten sei*) und Österreich-Ungarn
den genannten Prinzen nicht akzeptieren, sondern lieber einen deutschen
Prinzen auf dem Thron Albaniens sehen würde. Im übrigen schrieb ich
in dieser Angelegenheit noch am 28. Dezember an Graf Berchtold.
Am selben Tage (28, Dezember) erhielt ich von ihm folgende
Antwort auf mein Schreiben vom 26. Dezember:
„Wien, 26. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
Mit verbindlichstem Danke bestätige ich den Empfang Ihrer beiden
an mich gerichteten geschätzten Privatschreiben vom 25. und 26. Dezember.
Das serbisch-montenegrinische Verhältnis bildet den Gegenstand
unserer aufmerksamen Beobachtung und würde uns das Ausspielen König
Nikitas gegen seinen Schwiegersohn ganz gut in den Kalkül passen, wenn
ersterer sich nicht nur als Komödiant — denn er nimmt gelegentlich die
Pose eines Freundes der Monarchie gegenüber Serbien an — sondern
auch in vollem Ernste dazu hergeben wollte. Wie man diesen unverläß-
lichen Balkan-Macchiavell aber beim Worte nimmt, was Giesl nicht
unversucht gelassen hat, kommt er mit ganz unannehmbaren Propo-
sitionen angerückt, aus denen geschlossen werden kann, daß er — wenig-
stens bis nun — der Monarchie bei diesem Geschäfte eine ausschließlich
passiv zu buchende Rolle zugedacht hat. Derzeit befinden wir uns
übrigens schon deshalb nicht in der Verfassung, Nikita zu Gefallen sein
zu können, weil vdr nicht die Absicht haben, Skutari, für welches er —
wie er zu sagen pflegt — seine letzte Ziege zu opfern und seine letzte
Patrone zu verschießen gesonnen ist, Montenegro zu überlassen. Skutari
als Brennpunkt des katholischen Albanesentums sollte nicht vom künftigen
Albanien ausgeschlossen bleiben. Ich habe diesbezüglich einen aufreiben-
den Kampf nach mehreren Fronten (Rußland, Italien, Frankreich und Eng-
land) auszufechten; auch hier läßt uns unser südlicher Alliierter total
im Stiche.
*) Vergleiche mein Essay vom 28. Oktober 1912, Seite 323.
406
Was die Frage der Neutralisierung Albaniens anbelangt, halte ich
dies für die einzige Art, dieses von allen Seiten von feindseligen Gewalten
bedrohte Gebilde lebensfähig zu gestalten und dauernd zu erhalten. Ruß-
lands Vertreter auf der Konferenz v^eigerte sich bisher, darauf einzugehen,
wohl vom unlauteren Gedanken ausgehend, dadurch den russischen
Schutzbefohlenen am Balkan Hoffnung auf Gebietserweiterung auf Kosten
Albaniens für die Zukunft in Aussicht zu stellen. Die russische Presse
scheint aber neuestens auf einen Rückzug in dieser Frage vorzubereiten.
In dem von uns intendierten Umfange würde die Neutralisierung eine
Sicherstellung für die Integrität des Landes bilden, ohne die Bewaffnung
der Bevölkerung bis aufs äußerste auszuschließen. Für den Moment würde
es uns eine Gewähr bilden gegen fremde Intervention während des müh-
seligen Bildungsprozesses dieses schwächlichen Organismus. In der
Zukunft — bei etwaiger kriegerischer Verwicklung am Balkan — könnte
es trotz Neutralisierung sub titulo Selbstschutz ein wertvolles Atout in
unserem Spiele bilden.
Hoffentlich wird es mir bald wieder gegönnt sein, mit Ihnen über
verschiedene aktuelle Fragen zu konferieren. Sollten Sie einen Moment
freie Zeit zur Verfügung haben, bitte um telephonische Verständigung.
Mit bester Empfehlung
Euer Exzellenz stets ergebener ^ u i. i j «
'^ Berchtol d.
Für dieses Schreiben dankte ich mit folgendem Brief:
„Wien, am 28. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
beehre ich mich vor allem meinen ergebensten Dank für das hoch-
geschätzte Schreiben vom 26. d. M. zu übermitteln.
Dem Urteil E. E. über den >König der Schwarzen Berge« stimme
ich vollkommen bei und denke, daß tatsächlich nur dann aus ihm etwas
herauszuschlagen ist, wenn er gänzlich in die Enge getrieben wird; dann
dürfte man ihn allerdings nicht zu leicht aus der Schlinge lassen; er müßte
durch Taten Farbe bekennen.
Daß Skutari den Albanesen bleiben muß, erachte auch ich für
unerläßlich, schon deshalb, damit ein steter Zankapfel zwischen Monte-
negro und Albanien vorhanden sei, aber dieses Albanien hätte für mis
doch nur Wert, wenn es ein zu einer selbständigen aktiven Kriegspolitik
berechtigter und nicht bloß auf den Schutz seines Territoriums (ä la
Schweiz) angewiesener Staat wäre.
Ich muß immer wieder betonen, daß ich bei allen diesen Meinungs-
abgaben nur von dem Bestreben geleitet bin, das militärische
407
Bedürfnis zur Geltung zu bringen, welches im obgedachten Falle darauf
hinausläuft, ein möglichstes Maximum serbisch-montenegrinischer Kräfte
durch einen andern Staat (also hier Albanien) gebunden zu sehen.
Leider wird ja die Monarchie in Hinkunft immer mit einem Krieg
nach zwei Fronten rechnen müssen, da es schon in den früheren Jahren
versäumt wurde, mit Italien und Serbien abzurechnen, ein Fehler, der
jetzt immer mehr imd mehr in die Augen springt.
Genehmigen E. E. den Ausdruck der vorzüglichen Hochachtung,
mit der ich stets bin
Euer Exzellenz ergebenster
Conrad, G. d. I."
Die für Österreich-Ungarn so wichtige Rolle Rumäniens und
mein Bemühen, zur Festigung unseres Zusammengehens zu wirken,
erscheinen bereits wiederholt gekennzeichnet. Einen Beitrag zur Charakteri-
sierung unserer damals, also Ende 1912 bfötehenden Beziehungen liefert
nachstehendes Schreiben des k. u. k. Militärattaches in Bukarest, Oberst-
leutnant von Hranilovic:
„K. u. k. MiHtärattache in Bukarest
Res. Nr. 175 geheim.
Bukarest, am 25. Dezember 1912.
Euer Exzellenz!
Auf die Meldung von meiner Rückkehr aus Wien befahl mich Seine
Majestät der König für gestern abends zur Audienz, um sich informieren
zu lassen, ob hinsichtlich der militärischen Fragen alles geordnet,
beziehungsweise noch irgend eine Ergänzung notwendig sei. Nachdem
ich ihm erklärt hatte, daß meines Wissens keinerlei offene Fragen mehr
bestünden, ging der König sofort zur Politik über und besprach die Lage,
wie sie sich ihm gegenwärtig darstellt. Ich lasse die springenden Punkte
chronologisch, wie der König sie berührte, folgen:
Rußlands offizielle Kreise mit dem Kaiser an der Spitze sind
absolut nicht geneigt, es aus Anlaß des Balkankrieges zu einer weiteren
großen Verwicklung kommen zu lassen. Der mit dem Marschallstab
hergesendete Großfürst Michael hat dem König versichert, daß Serbien
in Petersburg nicht im entferntesten so beliebt sei, wie es glauben machen
will, es werde aber vom russischen Gesandten Hartwig, einem gefähr-
lichen Intriganten, getäuscht und gehetzt, weshalb dieser die schärfsten
Instruktionen erhalten habe. Auf die Frage des Königs, warum Hartwig
nicht abberufen werde, blieb der Großfürst die Antwort schuldig.
Der Balkanbund ist eine Zusammenschweißung der vier
Staaten ad hoc, die jetzt schon die Keime des Zerfalls in sich trage.
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Salonik ist der Zankapfel, der vor allem Bulgarien und Griechenland
auseinanderbringen werde. Die eigentlichen Auseinandersetzungen werden
erst nach Beendigung des Krieges beginnen, da die verbündeten Staaten
als Einheit Frieden schließen wollen, dann aber über die Teilung unter-
einander verhandeln werden müssen.
Was den eventuellen Wiederbeginn des Krieges anbelangt,
so ist er fast sicher, wenn die Türkei nicht auf Adrianopel verzichtet.
Diese Perspektive veranlaßt den König, die mit E. E. besprochene, damals
aber abgelehnte Idee eines rumänischen Druckes auf die
Türkei nunmehr in ernste Erwägung zu ziehen.
Rumänien kann aus wirtschaftlichen Gründen eine Verlängerung des
Kriegszustandes nicht vertragen, weshalb der König nicht mehr abgeneigt
wäre, erforderlichenfalls zuerst diplomatisch, dann aber auch durch
Androhung einer militärischen Aktion die Türkei zum Nachgeben zu
zwingen. Im äußersten Falle würde selbst mit der Mobilisierung der
rumänischen Armee vorgegangen werden. Voraussetzung hiefür ist aber,
daß Bulgarien auf die rumänischen Wünsche betreffs einer Grenz-
regulierung eingeht. Der Gesandte Misu in London hat diesbezüglich
genaue Instruktionen, nach welchen keine Kompensation, sondern
eine Grenzberichtigung verlangt wird, die im allgemeinen die
Linie Silistria — Balcik als neue Grenze festzusetzen hätte. Auf SiUstria
legt der König gar keinen Wert, überhaupt will er nur einen Erfolg
haben, um die öffenthche Meinung zu beruhigen, die sich mit der Frage
immer erregter zu beschäftigen beginnt. Ernste Politiker, sagte Seine
Majestät wörtlich, haben von mir ganz unumwunden die Mobilisienmg
der Armee und die Besetzung des bulgarischen Festungsviereckes
verlangt.
Eine weitere Forderung Rumäniens ist, daß die Aromunen der
Gegend von Janina unter keiner Bedingung unter
griechische Herrschaft kommen, sondern dem autonomen
Albanien angegliedert werden, sowie, daß in Südalbanien rumänische
Administration eingeführt werde.
Die Besprechungen mit Dane v/ in Bukarest haben insofern
ein günstiges Resultat gezeitigt, als dieser im Prinzip die Grenzberichti-
gung zugestanden hat. Bezüglich der Größe des Gebietes ist alles noch
in Schwebe. Darüber wird Herr Misu in London zu verhandeln haben
und aus dem Gange dieser Pourparlers wird sich die Richtung für die
nächste rumänische Politik ergeben. Zu den Eröffnungen des Königs
hätte ich nur beizuzfügen, daß sich seit meiner Rückkehr aus Wien hier
eine immer weitere Kreise ziehende Agitation zu Gunsten einer raschen
und energischen Lösung der Grenzfrage beobachten läßt, die, von Politikern
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der oppositionellen Partei geschürt, schon so tief in die Bevöliierung
eingedrungen ist, daß von einem Gegensatz der öffentlichen Meinung zur
Regierung und zum König gesprochen werden kann. Seine Majestät legt
der Bewegung allem Anscheine nach keine große Bedeutung bei, doch
ist sie meinen Eindrücken zufolge ernster, als man an den leitenden Stellen
glaubt. Man hat sich im Volke in den Gedanken hineingelebt, Rumänien
müsse bei der Teilung der Türkei einen Gebietszuwachs erfahren, wurde
durch Äußerungen von höchster Stelle in diesem Gedankengang lange
bestärkt und verlangt nun, da der Zeitpunkt gekommen ist, die
Realisierung. Schlagen die Bemühungen Herrn Misus in London fehl,
dann ist es leicht möglich, daß die Agitation antidynastische Formen
annimmt und ein bewaffnetes Einschreiten zur Gewinnung eines Gebiets-
streifens erzwingt. In diesem Falle wäre naturgemäß eine freundschaft-
liche Politik Rumäniens zu Bulgarien für viele Jahre hinaus unmögUch,
weshalb wir auch alles Interesse haben, es vermeiden zu helfen.
Schließlich melde ich, daß ich mit General Averescu über den rumäni-
schen Aufmarsch jenseits des Pruth im Sinne der von E. E. gemachten
Bemerkungen gesprochen habe und bei ihm eine volle Übereinstimmung
der Auffassung mit derjenigen E. E. fand.
Genehmigen E. E. den Ausdruck meiner tiefsten Ehrfurcht.
Hranilovic, Oberstl."
Auch dieses Schreiben enthält Fingerzeige dafür, daß damals durch-
aus nicht alle russischen Kreise für den Eintritt Rußlands in einen Krieg
zu Gunsten Serbiens waren. Sei es aus Abneigimg gegen kriegerische
Verwicklungen überhaupt, sei es, daß sie Rußland noch nicht genügend
vorbereitet hiefür erachteten.
Jedenfalls war dies damals weit weniger der Fall als in der Folge-
zeit. Auch war kaum anzunehmen, daß in der Folge die übrige Gestaltung
der Lage günstiger für einen Austrag mit Serbien werden würde, als
1912 und 1913.
Von diesen Erwägungen ausgehend, richtete ich folgenden a. u. Vor-
trag an Seine Kaiserliche Hoheit Erzherzog Franz Ferdinand:
„Wien, 30. Dezember 1912.
Euer K. u. K. Hoheit!
Als ich seinerzeit den jetzt wieder innehabenden Dienstesposten
bekleidete, habe ich mit Jahresschluß Seiner Majestät a. u. eine Denk-
schrift über die militärpolitische und militärische Lage unterbreitet.
Die jetzigen, noch ganz ungeklärten poUtischen Verhältnisse schließen
es aus, ein erschöpfendes Programm festzustellen, doch bitte ich Euer
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Kaiserliche Hoheit die nachfolgenden kurzen, meine Anschauungen
präzisierenden Darlegungen gnädigst entgegenzunehmen und dieselben
auch zur Allerhöchsten Kenntnis Seiner Majestät zu bringen.
Ich bin der Ansicht, daß sich die Monarchie in einer Krise befindet,
die zu einer entscheidenden Tat drängt.
Die Basis für alle militärischen Vorsorgen, sei es hinsichtlich Organi-
sation und Ausgestaltung der bewaffneten Macht, sei es hinsichtlich der
konkreten, auf die einzelnen Kriegsfälle abzielenden Maßnahmen und
Vorbereitungen, bildet die politische Lage.
Es ist ganz unmöglich, über diese militärischen Fragen zu einem
abschließenden Urteil zu gelangen, wenn man sich über die politische
Situation nicht klar ist; diese Klarlegung muß daher allem vorangehen.
Die pohtische Lage kann dermalen sehr kurz dahin zusammengelaßt
werden, daß die Monarchie durch die überraschende und erfolgreiche
Initiative der Balkanstaaten, insbesondere Serbiens, momentan an die
Wand gedrückt ist, und zwar aus folgenden Gründen:
Das Emporschnellen der großserbischen Aspirationen hat im Gefolge:
die Entstehung eines weit vergrößerten, beinahe verdoppelten
Serbiens mit einer fast verdoppelten Armee, die nunmehr als sehr
gewichtiger und stets mit den Feinden der Monarchie verbündeter Gegner
in Betracht kommt;
die Entflammung der panslawistischen Sonderbestrebungen bei den
Slawen der Monarchie und deren Rückwirkung auf Geist und Verläßlich-
keit der slawischen Truppen, die gut ein Viertel der Wehrmacht betragen;
die Gefahr, den Besitz B. H. Ds., vielleicht auch Kroatiens und Süd-
ungams allmähhch untergraben zu sehen und diese Gebiete zu verlieren;
damit verbunden den Verlust des Küstengebietes und somit der mari-
timen Machtstellung der Monarchie, endlich mit alldem
den Verlust der politischen Geltung und der wirtschaftlichen
Prosperität Österreich-Ungarns.
Sollen diese Konsequenzen vermieden werden, so erübrigt nur, das
Übel an der Wurzel zu fassen.
Die Ursache des Übels ist — wie oben dargelegt — die plötzlich
hinaufgeschnellte Macht Serbiens; diese also muß gebrochen werden,
dann entfallen alle obigen Besorgnisse von selbst.
Die Situation ist zu einer Kraftprobe zwischen der Monarchie und
Serbien geworden. Die Kraftprobe muß ausgetragen werden. Alles
andere, wie Albanien, Hafenfrage, Konsulfrage, Handelsverträge etc. sind
Nebensachen.
Fällt diese Kraftprobe zu Gunsten der Monarchie aus, dann werden
sich die Slawen der letzteren sofort dem Stärkeren fügen und anschließen,
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der Besitz der südslawischen Gebiete der Monarchie wird gesichert,
Serbien als Attraktionspunkt für irredentistische Bestrebungen und als
dauernder Herd einer gefährlichen Agitation sowie als militärischer
Gegner wird beseitigt;
die ohnehin immer mehr und mehr angezweifelte Lebensfähigkeit
der Monarchie wird dokumentiert, dadurch das Ansehen und die politische
Geltung der Monarchie erhöht, so daß sie von ihren Feinden gefürchtet,
von ihren Freunden gesucht werden wird;
alle feindlichen Aspirationen, wie die italienischen, rumänischen,
großrussischen, werden ebenso wie die großserbischen verstummen;
alle inneren Kräfte der Monarchie werden erstarken und zusammen-
gefaßt werden können;
Macht und Ansehen der Dynastie werden nach innen und außen
gehoben ;
in die Armee wird wieder der Geist der Zuversicht und des Selbst-
vertrauens einkehren;
die wirtschafÜiche Lage wird sich sofort bessern und unter günstige
Auspizien gelangen.
Die politische Lage charakterisiert sich also durch die Notwendigkeit,
Serbien durch einen Krieg niederzuwerfen.
Alle, wenn auch begreiflichen Bedenken sind gegenstandslos, weil —
wenn der Schritt einer kriegerischen Austragung gescheut wird — die
eingangs angeführten, den Ruin der Monarchie nach sich ziehenden
Folgen genau so eintreten werden, wie dieselben in analoger Weise
hinsichtlich des seinerzeitigen italienischen Besitzes der Monarchie ein-
getreten sind, nur mit viel vitaleren Folgen.
Eine friedliche Beilegung könnte — und auch dies nur »vielleicht«
— höchstens momentan eine Art ruhiger Scheinexistenz herbeiführen,
würde aber sicher in kurzer Zeit die Monarchie unter noch viel
ungünstigeren Umständen zu einer kriegerischen Entscheidung zwingen.
Ehe diese Frage nicht ausgetragen ist, wäre es müßig, über sonstige
militärische Fragen, Maßnahmen u. dgl. Projekte zu machen und viel
Worte zu verlieren; es kommt vielmehr darauf an, alle militärischen Vor-
kehrungen zunächst auf die kriegerische Lösung der serbischen Frage
zu konzentrieren und diese Lösung ehestens herbeizuführen. An äußeren
Anlässen hiezu ist wahrlich kein Mangel.
Geruhen etc. C o n r a d."
Bei den wiederholten Gelegenheiten, die ich hatte, mit Erzherzog
Franz Ferdinand die Lage und die Notwendigkeit entschiedenen Vorgehens
gegen Serbien zu besprechen, vermochte ich mir nie klar zu werden, ob
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der Erzherzog in seinem Inneren zu einem kriegerischen Schritt ent-
schlossen war. Er erörterte alles hierauf Bezugnehmende, besprach die
konkreten Kriegsvorbereitungen mit dem Interesse, als ob er deren Aus-
führung im Auge habe, schien mir aber anderseits im Herzen nicht recht
dazu geneigt.
Ich hatte den Eindruck, daß er auch unter Einflüssen stehe, die mir
von deutscher Seite zu kommen schienen.
Bestimmte Anhaltspunkte fehlen mir hiefür, doch erinnere ich mich
eines vom Erzherzog mir zur Kenntnis gebrachten Briefes Kaiser
Wilhelms, in dem dieser schrieb, daß es jetzt in Europa eines Mannes
bedürfe, der für die friedliche Beilegung der Konflikte eintrete.
Um den Militärattaches in London, v^o die Botschafter-Konferenz
tagte, und in Petersburg, wo der Rückhalt Serbiens lag, eine besondere
Richtlinie für ihre Beobachtungen und ihr Verhalten zu geben, erließ ich
an dieselben folgende Weisungen:
„Wien, 30. Dezember 1912.
Zur Orientierung über die hierstellige Auffassung der Lage teile ich
Ihnen folgendes mit :
Einer etwaigen Forderung, daß wir unsere Standesergänzung durch
Entlassungen wieder reduzieren, würde ich mich unbedingt widersetzen;
es ist darauf hinzuweisen, daß unsere jetzigen Stände kaum jene Höhe
erreichen, wie sie die Stände der deutschen und russischen Truppen
immer aufweisen.
Eine Abtretung Skutaris an Montenegro wäre gegen unsere
Intentionen; ebenso auch jede Grenzbestimmung, welche Albanien ein-
engt und Gebiete mit albanischer Bevölkerung unter fremden Besitz
brächte.
Als streng reserviert teile ich Ihnen mit, daß meine rein persön-
liche Anschauung dahin geht, daß eine kriegerische Abrechnung mit
Serbien die einzige erfolgversprechende Lösung der Frage wäre."
Als sich die Anzeichen besonderer mihtärischer Maßnahmen in
Rumänien mehrten, deren Zweck damals noch nicht klar lag, aber sicher-
hch schon zu dieser Zeit auf die Erzwingung der Gebietsabtretung seitens
Bulgariens gerichtet war, erteilte ich brieflich folgenden Auftrag an den
k. u. k. Militärattache in Bukarest:
„Wien, 31. Dezember 1912.
Die Vorgänge in Rumänien erregen mein großes Interesse. Es
scheinen dort tatsächUch besondere militärische Vorgänge im Zuge.
Worauf zielen sie?
Will Rumänien mit uns gegen Rußland?
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Will es gegen die Türkei für eine Gegenleistung Bulgariens?
Will es gegen Bulgarien, etwa gar im Verein mit Serbien (dies eine
alte Lieblingsidee König Carols)?
All dies ist mir mit Rücksicht auf die Bereitstellung unserer militä-
rischen Kräfte von großer Wichtigkeit.
Bitte Dich um baldige Aufklärung.
Besten Gruß Conraid."
Für die Zeit vom 2 3. bis 31. Dezember wären nun noch
einige bemerkenswertere Berichte nachzutragen.
Serbien, Montenegro.
Laut Berichtvom2 6. Dezember dauern die serbischen Rück-
transporte an, die Hauptarmee soll sich bei Kragujevac versammeln; bei
Jagodina wird an Befestigungen gearbeitet, die Eisenbahndirektion von
Belgrad nach Nis verlegt. Die Männer vom 46. bis zum 50. Lebensjahr
werden für den Dienst des III. Aufgebotes einberufen, dagegen dieses in
die Formationen des II. Aufgebotes eingestellt.
Der montenegrinische Kommandant vor Skutari kehrt sich nicht an
den Waffenstillstand, daher dauern die Kämpfe fort; es bestehe keine
Aussicht, Skutari mit Waffengewalt zu nehmen, die Haltung der Albanesen
sei zweideutig. Montenegro hatte anfangs aus Eitelkeit und dynastischen
Gründen die serbische Hilfe abgelehnt, sie aber schließlich akzeptiert, es
stünden nun außer den 24.000 Montenegrinern 8000 — 10.000 Serben vor
Skutari, woselbst noch zirka 30.000 Türken seien. Die Maximalstärke der
montenegrinischen Armee betrage 32.000 Mann.
Der Bericht vom 2 7. Dezember konstatierte schwache
Besatzungen im Sandzak, dagegen die Konzentrierung des Gros in
Mitrovica, femer Tnippenansammlungen in Uzice; in Albanien soll die
Drinadivision II vor Skutari, die Öumadijadivision I in Durazzo, Tirana,
die Moravadivision II oder die Moravabrigade bei Elbassan stehen.
Bulgarien.
Nach Bericht vom 2 9. Dezember soll, wenn sich die
Friedensverhandlungen zerschlagen, Adrianopel angegriffen werden,
36 schwere Geschütze aus Frankreich seien über Dedeagac dahin am
Wege.
Der Bericht vom 31. Dezember meldet über einen am
30. Dezember stattgehabten Ministerrat, sowie daß der König sich am
31. Dezember 1912 oder 1. Jänner 1913 in das Hauptquartier begeben
werde. Es soll die Absendung eines Ultimatums an die Pforte mit vier-
tägiger Frist beschlossen sein.
414
Rußland.
Laut Bericht vom 2 7. Dezember trafen Verstärkungen an
Kosaken im Gebiete nördlich Krakau ein. Der Bahnbau Ungeni— Kiszinew
ward beschleunigt (Aufmarschbahn gegen Rumänien).
Nach Bericht vom 3 0. Dezember war um den 20. Dezember
eine erhöhte Mobilisierungsbereitschaft geplant; Eisenbahnparks waren in
Warschau, Kutno, Wloclawek, Lodz und Skarzyska konzentriert; der
Grenzschutz war durch Kosaken und Schützenregimenter verstärkt; aus
den Gouvernements Piotrkow und Radom waren Staatsgüter und Beamte
zurückgezogen worden. Die Ausrüstungsarbeiten in Warschau und Iwan-
gorod waren lebhaft betrieben.
Am IQ. Dezember soll in Zarskoje-Sselo eine militärische Beratung
wegen der nicht glatten Abwicklung der militärischen Vorbereitung statt-
gehabt haben.
Am 28. Dezember hatte Sasonow dem k. u. k. Botschafter versichert,
daß Truppenverschiebungen nur innerhalb der einzelnen Militär-
bezirke erfolgt seien.
Resume: Rußland war damals für einen großen
Krieg noch nicht genügend vorbereitet, Italien
durch den Tripoliskrieg in seinem Heerwesen
zerrüttet, Serbien sowie Montenegro am Balkan
engagiert; desgleichen Griechenland.
Dies war die Lage, als das Jahr 1912 zur Neige
ging.
Ich muß hier auf die interessanten Mitteilungen hinweisen, die
Dr. M. Bogicevic, ehemaliger serbischer Geschäftsträger in Berlin, in
seinem im Jahre 1919 erschienenen Buche: „Kriegsursachen" bietet
und die eingehende Lektüre derselben nahelegen.
Einzelne besonders bedeutsame Stellen sollen nachstehend hervor-
gehoben werden, um sie mit meinen Darlegungen vergleichen zu können.
Mit Bezug auf den Vertrag der Balkanstaaten heißt es:
„Hartvdg*) wurde zur Hauptaufgabe gestellt, an einer Verständigung
zwischen Bulgarien und Serbien mitzuarbeiten und dieselbe, koste es was
es wolle, zustande zu bringen."
„Einmal glücklich zusammengebracht, sollte das Bündnis zu
aggressiven Zwecken gegen Österreich verwendet werden. Im gleichen
Sinne war auch Tscharikow**) in Konstantinopel tätig."
') Russischer Gesandter in Belgrad.
') Russischer Botschafter in Konstantinopel.
415
„Als sich die innere Lage in der Türkei verschlechterte, wax man
sich gleich darüber einig, daß man sich zuerst über die Türkei hinweg-
setzen müsse, um dann erst Österreich erfolgreich angreifen zu können."
„Die Verhandlungen zwischen Bulgarien und Serbien waren sehr
schwierig, die seitens Rußlands in Aussicht gestellte Gewinnung Bosniens
und der Herzegowina für Serbien spielte dabei eine große Rolle."
„In wie, ich möchte sagen, lächerlicher Weise mühte man sich jahr-
zehntelang um die Fiktion der Erhaltung des Status quo auf dem Balkan,
und zwar gerade von deutscher und österreichischer Seite und dies alles
im besten Glauben, damit der Erhaltung des europäischen Friedens zu
dienen."
Der Abschluß des Balkanvertrages war durch eine dem Kronprinzen
Alexander von Serbien entschlüpfte Bemerkung dem Dr. Bogicevic zur
Kenntnis gelangt. Dieser schrieb hierüber: „Ich glaube, annehmen zu
dürfen, daß nicht Mangel an Vertrauen mir gegenüber der Grund war,
daß ich den näheren Inhalt des Vertrages nicht hätte wissen sollen,
sondern daß er (Milovanovic, serbischer Minister des Äußern) fürchtete,
ich würde das Vorwiegen der offensiven, österreichfeindlichen Tendenz
herausfühlen und mir zu frühzeitig Gedanken machen über die weiteren
politischen Pläne Rußlands und Serbiens."
„Die Vorverhandlungen," schreibt Bogicevic weiter, „ließen befürch-
ten, daß Serbien im Begriffe stehe, sich in ein schwerwiegendes Abenteuer
zu stürzen und, was noch wichtiger war, man konnte sich des Empfindens
nicht erwehren, daß man mit raschen Schritten dem europäischen Kriege
entgegengehe."
„Bei dieser Gelegenheit, und das erachte ich historisch wichtig,
festzustellen, teilte mir Kronprinz Alexander mit, daß ihm der Kaiser
von Rußland gelegen tUch des Abschlusses dieses Vertrages gesagt
habe, daß nunmehr die Aspirationen Serbiens gegen-
über Österreich-Ungarn bald in Erfüllung gehen
werden."
Dr. Bogicevic schildert dann die militärischen Vorbereitungen der
Balkanverbündeten und fügt bei:
„Ich führe dies alles zum Beweise an, was mir später von serbischen
Militärs bestätigt wurde, daß an den maßgebenden Stellen in Serbien
und Bulgarien der Krieg gegen die Türkei bereits Monate
vorher, wahrscheinlich schon beim Abschluß des Geheimvertrages vom
29. Feber 1912, eine beschlossene Sache war."
416
Die Haltung Deutschlands charakterisiert folgende Stelle:
„Ich icann es mit ruhigem Gewissen aussprechen, daß schon im
Oktober 1912, wo man noch immer nicht wußte, wohin das alles hinaus
sollte, für Deutschland der Hauptzweck bei seinen Entschlüssen im
Balkankonflikte einzig und allein die Erhaltung des europäischen Friedens
gewesen ist."
Bezüglich Rußlands schreibt der Autor:
„Obwohl der Balkanbund ein Werk Rußlands war, als russisches
Werkzeug gedacht gegen die Türkei und Österreich, wetteiferte Herr
Sasonow damals mit den leitenden Staatsmännern der andern Großmächte
in der Verurteilung der Handlungsweise der Balkanstaaten wegen ihrer
Störung und Gefährdung der Ruhe, Sicherheit und Ordnung Europas,
um damit jeglichen Verdacht der Komplizität der russischen Politik
abzulenken. Nur in einem Punkte war nämlich diese Entrüstimg vielleicht
ehrlich gemeint, daß nämlich der von den Balkanstaaten gewählte Zeitpunkt
zum Losschlagen der russischen Regierung noch nicht günstig erschien."
Er führt dann folgenden Passus aus einem Interview des „Lokal-
Anzeigers" mit Sasonow an:
„Sehr befriedigt äußerte sich der russische Minister von seinem
Berliner Besuche und versicherte mit großer Lebhaftigkeit, daß alle
Folgerungen, die man an die russischen Probemobilisierungen geknüpft
habe, durchaus ü-rtümliche seien. Es handle sich um eine jener Kontroll-
einberufungen, wie sie nicht nur in Rußland allein gesetzlich vorgesehen
seien. Sie mit den Ereignissen am Balkan in Zusammenhang bringen,
heißt Rußland Absichten zuzuschieben, von denen es weiter denn je
entfernt sei."
Bei Erörterung der albanesischen sowie der Adriabahn- und der
Hafenfrage findet sich der Passus: „Und da der Zeitpunkt zum Los-
schlagen gegen Österreich-Ungarn noch nicht gekommen war, so mußten
diese Bestrebungen Serbiens, die ja im Grunde genommen Bestrebungen
Rußlands waren, desavouiert werden."
Dem deutschen Staatssekretär für Äußeres, Herrn Kiderlen-Wächter,
gegenüber äußerte sich im November 1912 Dr. Bogicevic wie folgt:
„Nach der ganzen Vorgeschichte dieses Krieges sei es offensichtlich,
daß der Konflikt der Balkanstaaten gegen die Türkei nur die erste Phase
eines groß angelegten russischen Planes sei, um nach erreichtem Erfolg
gegen die Türkei die Balkanstaaten gegen Österreich in Bewegung zu
setzen und den Streit mit Österreich um die Hegemonie auf dem Balkan
endhch zum Austrag zu bringen. Die ganze Adriapolitik Serbiens sei
ein Machwerk Rußlands mit österreichfeindlicher Tendenz."
27, Conrad II 4J7
„Auch Österreich-Ungarn könne die ständigen Provokationen Serbiens,
denen es mit Gegenmaßregeln begegnen müsse, wodurch die gegen-
seitigen Beziehungen immer gespannter werden, auf die Dauer nicht mehr
ertragen. — — "
Aus einem späteren Gespräch mit Herrn Kiderlen- Wächter bringt
Dr. Bogicevic folgende Äußerung:
„Wie wünschenswert es auch vom Standpunkte des europäischen
Friedens wäre, an einer Lokahsierung des Balkankonfliktes festzuhalten,
selbst wenn Rußland und Österreich in den Konflikt eingreifen sollten,
so ist meiner Ansicht nach eine solche Lokahsierung unter den heutigen
Umständen leider unmöglich, weil ich an die Aufrichtigkeit der fran-
zösischen Politiker nicht glaube. Es würde daher auch in diesem Falle
für Deutschland der casus foederis Österreich gegenüber gegeben sein.
Ich hoffe aber, daß gerade deswegen jeder leitende Staatsmann der
Entente sich der ungeheuren Verantwortlichkeit bewußt sein wird, einen
so großen und in seinen Folgen unübersehbaren Konflikt herauf-
zubeschwören."
In weiterer Folge heißt es :
„Ende Dezember 1912 starb Herr von Kiderlen, aber auch sein
Nachfolger, Herr von Jagow, änderte in keiner Weise die friedhebende
Tendenz der deutschen Politik."
„Nur vom Gesichtspunkte der Erhaltung des europäischen Friedens
hat es Deutschland nicht gescheut, in einzelnen Fragen einen solchen
Druck auf die österreichische Regierimg auszuüben, daß derselbe in Wien
sehr unangenehm empfunden wurde, und daß man am Ballplatze oft
gute Miene zum bösen Spiel machen mußte."
„Hätte Deutschland einen europäischen Krieg haben wollen, so bot
sich ihm selbst damals politisch und militärisch wieder eine viel günstigere
Gelegenheit als Juli-August 1914."
Es mag dahingestellt bleiben, ob Deutschland mit seiner damahgen
Friedensliebe sich selbst, Österreich-Ungarn und auch dem Frieden
Europas einen Dienst geleistet hat.
Wie schon an anderer Stelle bemerkt, habe ich mich nicht der
Auffassung hingegeben, daß es gelingen könne, die Gegner Deutschlands
und Österreich-Ungarns zum Aufgeben ihrer aggressiven Pläne zu
bewegen. Wer über die Grenzen kleinlicher diplomatischer Übervor-
teilungen hinaus die großen, tiefliegenden Kräfte und Zusammenhänge im
Auge hatte, mußte darüber im klaren sein.
418
Die damalige Haltung Englands und Frankreichs kennzeichnet
Dr. Bogicevic wie folgt:
„Mit dem englischen und französischen Botschafter habe ich eben-
falls über die zweideutige Haltung Rußlands gesprochen. Schon damals
sagte mir bei dieser Gelegenheit Sir Edward Goschen, und er betonte
dies im Laufe der Zeit des öfteren, daß er aus dem Munde Sir Edward
Greys die bündigsten Versichermigen erhalten habe, daß England sich um
keinen Preis der Balkanangelegenheiten wegen in einen europäischen
Konflikt einlassen werde."
„Der französische Botschafter glaubte nicht, daß es Rußland wagen
würde, ohne Mitwirkung Englands einen europäischen Konflikt herauf-
zubeschwören; trotzdem äußerte er sich schon damals ebenfalls besorgt
über »gewisse« geheime, panslawistische Einflüsse am russischen Hoie,
Besorgnisse, die Herr C a m b o n — auch bezügHch Iswolskys — dem
belgischen Gesandten gegenüber, wie aus seinen von der deutschen
Regierung veröffentlichten Berichten zu ersehen ist, ebenfalls geltend
gemacht hat."
Die serbischen Ziele erscheinen durch nachstehendes klargestellt:
„Zum Belege bin ich (Bogicevic) in der Lage, eine höchst
charakteristische Äußerung des serbischen Ministers des Äußern,
Pasic, die er mir persönhch im August 1913, also unmittelbar nach
Beendigung des serbisch-bulgarischen Krieges, in Marienbad gemacht
hat und die ich damals als Ausfluß unmotivierten Größenwahns ansah,
anzuführen. Er sagte mir wörtlich folgendes: >Ich hätte schon
im ersten Balkankriege, um auch Bosnien und die
Herzegowina zu erwerben, es auf den europäischen
Krieg ankommen lassen können; da ich aber befürchtete,
daß wir dann Bulgarien gegenüber in Mazedonien größere Konzessionen
zu machen genötigt wären, wollte ich zunächst den Besitz
Mazedoniens für Serbien sichern, um dann erst zur
Erwerbung Bosniens und der Herzegowina schreiten
zu kön nen.«"
Bogicevic fügt dieser seiner Angabe hinzu: „Dieser Satz spricht
Bände", und führt noch folgende Äußerung Pasic' gegenüber dem
griechischen Delegierten an der Bukarester Friedenskonferenz 1913, Herrn
Politis, an, dem er auf die Schulter klopfend sagte: >La premiere
manche est gagnee, maintenant il faut preparer la
seconde manche contre l'Autriche.«
27«
419
Bogicevic fährt fort:
„Gibt es ein größeres Armutszeugnis für die Politik aller Groß-
mächte ohne Ausnahme? Dieser eine Satz zeigt, in welche traurige und
beschämende Lage die Großmächte durch ihr gegenseitiges Mißtrauen
gekommen sind, daß eigenes Sein oder Nichtsein, das Wohl und Wehe
Englands, Frankreichs, Deutschlands von der Gnade und dem Ehrgeize
einzelner Politiker und Fanatiker kleinster Staaten weniger fort-
geschrittener Kultur, eines Pasic, über den ein Sasonow schützend
seine Hand ausbreitete, abhängen konnte."
Sehr interessant sind die dem Werke beigeschlossenen dokumen-
tarischen Anlagen; wie:
Die russisch-bulgarische Mihtärkonvention vom Jahre 1909, in deren
Artikel 5 es heißt:
„In Anbetracht dessen, daß die Verwirklichung der hohen Ideale der
slawischen Völker auf der Balkanhalbinsel, die dem Herzen Rußlands so
nahe stehen, nur nach einem günstigen Ausgange des Kampfes Rußlands
mit Deutschland und Österreich-Ungarn möglich ist," etc. etc.
In einem Telegramme des serbischen Gesandten Ristic aus Bukarest
an das Ministerium des Äußern in Belgrad vom 13. November 1912
heißt es hinsichtlich des Rates, den die Gesandten Rußlands und Frank-
reichs als Freunde Serbien geben: „Es sei besser, daß Serbien, welches
mindestens zweimal so groß würde als es bisher war, sich kräftige und
sammle, um möglichst vorbereitet die gewichtigen Ereignisse
abzuwarten, die unter den Großmächten eintreten
müsse n."
Sehr bezeichnend ist nachstehendes Telegramm des serbischen
Gesandten in Petersburg an das Ministerium des Äußern in Belgrad vom
29. April 1913:
„Wiederum sagte mir Sasonow, daß wir für künftige Zeiten arbeiten
müssen, da wir viel Land von Österreich bekommen werden. Ich ent-
gegnete ihm, daß wir Monastir (Bitolia) gerne den Bulgaren geben
werden, wenn wir Bosnien und andere Länder Österreichs bekommen."
Dr. Bogicevic bringt auch vollinhalthch den bulgarisch-serbischen
Vertrag vom 29. Feber 1912, der auf den Balkankrieg abzielte und dessen
gegen Österreich-Ungarn gekehrte Spitze deutlich war.
Der Vertrag enthielt eine Geheimanlage, die unter anderem folgendes
enthielt :
„Wenn eine Einigung über ein bewaffnetes Vorgehen zustande
kommen sollte, so ist Rußland davon zu benachrichtigen, und wenn
letzteres keine Hindemisse in den Weg legt, so schreiten die Verbündeten
zu den verabredeten kriegerischen Operationen."
420
Für den Fall, daß eine Einigung nicht zustande käme, bestimmt
Artikel I: „wird die Frage Rußland zur Begutachtung vorgelegt. Die
Entscheidung Rußlands ist für beide vertragschließenden Parteien ver-
bindhch."
Laut Artikel III war eine Kopie des Vertrages mit der Geheimanlage
und der Militärkonvention der russischen Regierung zu überreichen und
von Rußland das Schiedsrichteramt in strittigen Fällen zu erbitten.
Die Militär-Konvention fordert für den Fall gegenseitiger Hilfe: von
Serbien 150.000, von Bulgarien 200.000 Mann. Falls Rumänien Bul-
garien angreifen sollte, hatte Serbien sofort an Rumänien den Krieg zu
erklären und mindestens 100.000 Mann entweder an die mittlere Donau
oder in die Dobrudza gegen Rumänien zu senden. Falls die Türkei
Bulgarien angreift, hatte Serbien mit mindestens 100.000 Mann gegen
diese einzugreifen.
Gegen Österreich-Ungarn kehrte sich Artikel III:
„Falls Österreich-Ungarn Serbien angreifen sollte, verpflichtet sich
Bulgarien, Österreich-Ungarn sofort den Krieg zu erklären und seine
Truppen in Stärke von 200.000 Mann auf serbisches Gebiet zu entsenden
und gemeinsam mit der serbischen Armee offensiv und defensiv gegen
Österreich-Ungarn operieren zu lassen.
Diese Verpflichtungen seitens Bulgariens zugunsten Serbiens bleiben
auch für den Fall in Kraft, daß Österreich-Ungarn, nach Vereinbarung
mit der Türkei oder ohne eine solche, unter irgend einem Vorwande seine
Truppen in den Sandzak von Novipazar einrücken lassen und hierdurch
Serbien nötigen sollte, entweder Österreich-Ungarn den Krieg zu erklären
oder seine Heere nach dem Sandzak zur Verteidigung seiner dortigen
Interessen zu entsenden, wodurch Serbien einen Zusammenstoß mit
Österreich-Ungarn hervorrufen würde."
Dabei war allerdings zu bedenken, daß die bulgarische Wehrmacht
durch Rumänien und wohl auch durch die Türkei gebunden, also kaum
gegen Österreich-Ungarn verfügbar geworden wäre.
Bezeichnend für die Lage nach der Annexionskrise ist folgende Steile
aus einem Bericht des serbischen Geschäftsträgers Gruic in London vom
8. September 1911 an den serbischen Minister des Äußern Milovanovic:
„Aber sowohl Frankreich wie auch seine Bundesgenossen sind der
Ansicht, daß der Krieg — selbst um den Preis größerer Opfer — auf
spätere Zeit, das ist auf die Jahre 1914 — 1915 verschoben werden
müsse. Die Notwendigkeit dieses Aufschubes erheischt weniger die
materielle Kriegsbereitschaft Frankreichs, welche vollendet ist, als die
Organisierung des Oberkommandos, welche noch nicht beendet ist. Diese
Frist ist auch Rußland erforderlich. Hiervon wird nur England kernen
421
Nutzen haben, weil sich seine Flottenübemiacht gegenüber der deutschen
mit jedem Jahre verringert. Mit Rücksicht auf die Bereitschaft der Bundes-
genossen rät Frankreich, sich jetzt mit Deutschland zu verständigen."
In diesem kurzen Satz ist die auf deneuropäischen
Krieg abzielende Machenschaft von Österreich-
Ungarns und Deutschlands Feinden unverblümt und
termin sicher gekennzeichnet.
Resümiert man die Enthüllungen des Dr. Bogicevic, so ergibt sich
die vitale, unausweichliche Gefahr, die für Österreich-Ungarn in den
hartnäckig und skrupellos verfolgten aggressiven Zielen Serbiens
gelegen war.
Wie meine dokumentarisch belegten Darlegungen erweisen, habe ich
mich über diese Gefahr niemals getäuscht und unentwegt auf die einzig
noch mögliche Folgerung hingewiesen, nämlich der Gefahr recht-
zeitig zu begegnen.
An Gelegenheit hiezu hat es nicht gefehlt, wohl aber an Entschlossen-
heit und Voraussicht.
Wenn auch die Veröffentlichungen des Herrn Dr. Bogicevic nicht
sclion so deutlich sprechen würden, zeigten die in der Folge eingetretenen
Tatsachen, welche Wege Rußland und Serbien wandelten.
Österreich-Ungarns Friedfertigkeit war ver-
lorene Liebesmüh.
Am Schlüsse der Darlegungen für das Jahr 1912 möchte ich noch
— als Gedächtnisbeheif für den Leser — von den sonstigen bemerkens-
werteren Ereignissen dieses Jahres die wichtigsten erwähnen:
Deutschland:
12. Jänner. Wahlsieg der Sozialdemokraten. (Scheidemann anfänglich zum
Vizepräsidenten gewählt) ;
13. März. Gültigkeitsbeginn des Marokko- Abkommens vom 4. Novem-
ber 1911, auf das Frankreich einging, da ihm ein Krieg verfrüht
gekommen wäre, das aber die Stimmung in Frankreich gegen
Deutschland nur verschärfte.
19. März speist Kaiser Wilhelm II. beim französischen Botschafter
Cambon; Freundschaftsakt gegenüber Frankreich.
21. Mai. Heeresvorlage angenommen. Jährliche Erhöhung des Rekruten-
kontingentes um 29.000 Mann; Aufstellung zweier neuer Armeekorps
(Alienstein und Saarbrücken); Verbesserungen bei den technischen
Waffen. Drei neue Linienschiffe, zwei neue Kreuzer genehmigt,
422
4. und 5. Juni. Freundschaftsbezeigungen zwischen Kaiser Wilhelm 11.
und Zar Nikolaus II. gelegentlich der Zusammenkunft in Baltischport.
Juh 1912. Reise Poincares nach Petersburg, Ergänzung des Bündnisses
mit Rußland von 1891 und der Militärkonvention von 1892 durch
ein Flottenabkommen.
Rußland:
Innere Schwierigkeiten.
3. März. Finanzminister Kokowcew ordnet die Finanzen durch das
Branntwein-Monopol, weshalb ihn Witte angreift.
November 1912. Vierte Duma, Rozdzianko Präsident.
Frankrei ch:
Mai. Aufstand in Marokko (Fez), niedergeworfen durch General Lyautey
(43.000 Mann).
26. Oktober. Marokko-Vertrag zwischen Spanien und Frankreich
abgeschlossen. Gesetz über den Achtstundentag angenommen.
England:
1 1 . April bringt Asquith die Vorlage über Irland ein, die das Unterhaus
annimmt (Homerule).
17. Juni. Neue Wahlreformvorlage. Suffragettenbewegung, Frauenstimm-
recht, Lady Pankhurst als fanatische Führerin.
Lord Haidane in Deutschland zur Vermittlung in der Flottenbaufrage,
durch die sich Deutschland Beschränkungen auferlegen sollte, was
es ablehnte.
Türkei:
17. Jänner. Auflösung der Kammer wegen des Gesetzes über Recht
des Sultans, die Kammer nur mit Zustimmung des Senates auf-
zulösen ;
Neuwahlen wieder günstig für die Jungtürken.
23. Juni. Gesetz angenommen, wonach der Sultan auch ohne Senat
die Kammer auflösen kann ;
Erneuerter Aufstand der Amanten (mohammedanische Albanesen).
Offiziere verlangen ein anderes Kabinett, die Arnauten die Auflösung
der Kammer;
Beides geschah; auch wurde Mahmud Schefket entlassen.
18. Juli. Ministerium Said entlassen.
423
23. Juli. Der achtzigjährige Muktar Pascha wird Großvezier, was mit
einer reaktionären, gegen die Jungtürken gekehrten Richtung
zusammenhängt.
5. August. Kammer aufgelöst; Belagerungszustand über Konstantinopel
erklärt.
Ausbruch des Balkankrieges; Beendigung des italienischen Krieges.
Persien.
Mißglückter Versuch des abgesetzten Schah's, sich der Herrschaft wieder
zu bemächtigen, Flucht desselben nach Odessa (17. März).
Portugal.
7. und 8. Juli. Fehlschlagen des monarchistischen Putsdies unter
Conceiros.
Dänemark.
14. Mai stirbt König Friedrich VIII., ihm folgt in der Regierung
Christian X.
Japan.
30. Juli stirbt der Mikado Mutsuhito, ihm folgt sein Sohn Yoshihito und
nimmt sich, in Erkenntnis, daß zur Leitung eines Staatswesens
gereifte Erfahrung notwendig ist, den bewährten Katsura als Berater.
China.
2. Februar wird auf Befehl des Kaisers die Republik proklamiert.
10. März wird Yuanschikai Präsident.
Im Juli bricht in Südchina der Aufstand aus, mit dem Ziel, sich vom
Norden abzutrennen; er wird durch Yuanschikai niedergeschlagen,
der am 6. Oktober zum Präsidenten gewählt wird.
Die Mongolei tritt unter russischen Schutz, das Heer wird von russischen
Offizieren ausgebildet;
Tibet reißt sich los und erzwingt den Abmarsch der chinesischen Truppen.
Nordamerika.
4. November. Wilson zum Präsidenten gewählt.
424
ANHANG
(Anlage 1 bis 3)
Inhalt.
Seite
.\nlage 1 : Auszug aus dem Vortrag des Chefs des Generalstabes
vom 13. Feber 1911 427
2: Denkschrift vom 23. April 1911 429
„ 3: Denkschrift vom 15. November 1911 (mit Beilagen) . . 436
A nlage 1,
Auszug aus dem Vortrag des Chefs des Generalstabes.
Res. Glst. Nr, 510 vom 13. Feber 1911 (Bedenken gegen zu niedere
Anforderungen des Reichskriegsministers).
Anläßlich der Kürzung der finanziellen Anforderungen durch den
RKM. meldet der Chef des Generalstabes, daß diese Forderungen des
RKM. weit unter dem zulässigen Mindestmaß geblieben sind, die er als
Chef des Generalstabes im Herbste IQIO angefordert habe.
Der Chef des Generalstabes habe 1000 Millionen Kronen aJs
Minimum bezeichnet, der RKM. dagegen nur 260 Millionen Kronen
angesprochen. Dies genüge aber kaum für die Kosten der Wehrreforni
und zur Sanierung der bestehenden Mißstände, geschweige denn für die
dringend notv/endige Ausgestaltung.
Der Chef des Generalstabes habe außer den 260 Millionen, für welche
der RKM. eintrat, noch 200 Millionen Kronen für die dringend notwendig
gewordene Neubewaffnung der Infanterie und 119 Millionen für die
Reichsbefestigung angefordert. Von diesen beiden Forderungen sei gar
nicht gesprochen worden.
Es sei mit Sicherheit vorauszusehen, daß von dem minimalen Reste,
der — auf fünf Jahre verteilt — dem RKM. verbleiben werde, nachdem
es die Kosten der Wehrreform gedeckt habe, nicht einmal die wichtigsten,
auch vom RKM. geplanten Maßnahmen, wie Neubewaffnung der Gebirgs-
kanonen-, Gebirgshaubitz-, Feldhaubitz- und schweren Haubitzformationen,
wofür 127 Millionen Kronen veranschlagt waren, bestritten werden
könnten.
Das RKM. habe sich für fünTjahre gebunden^ mit dem angeforderten
Betrage das Auslangen zu finden, d. i. bis 1915. Dennoch wird zu dieser
Zeit ein Betrag von 57-1 Millionen Kronen ganz unbedeckt bleiben,
welcher das Budget von 1915 belasten werde. Und zudem habe sich das
RKM. der Möglichkeit der Geltendmachung einer Gegenleistung begeben,
da die einzige Rekompensation, welche die Heeresverwaltung geben
könnte — die Reduktion in der Dienstzeit auf zwei Jahre — schon jetzt
im vorhinein preisgegeben worden sei.
427
Der RKM. sehe nach seinen Äußerungen nach Durchführung der
von ihm vertretenen (restringierten) Maßnahmen „mit einiger Ruhe"
den kommenden Ereignissen entgegen.
Der Chef des Generalstabes halte es aber für unabweisUch, ihnen
mit voller Ruhe entgegensehen zu können.
Er, der Chef des Generalstabes, könne unter diesen Verhälüiissen
auch nicht mehr für die Zulässigkeit der Einführung der zweijährigen
Dienstzeit eintreten, wenngleich er sie vertreten würde, wenn die von ihm
beantragten 1000 MilUonen Kronen verfügbar gemacht würden.
Wenn der Chef des Generalstabes seine Forderungen hätte selbst
vertreten können (wie der Marinekommandant), könnte er sich ruhiger
fühlen. Da er aber nur vor Seüier Majestät verantworthch, sehe er sich
bemüßigt, zum Ausdrucke zu bringen, daß er unter diesen Verhältnissen
die Verantwortung für die Kriegsbereitschaft nicht zu tragen vermöge,
und erbitte die diesbezügliche Entscheidung Seiner Majestät.
Ein Exemplar dieses a. u. Vortrages wurde vom Chef des General-
stabes Seiner Majestät, ein zweites Seiner Hoheit Erzherzog Franz
Ferdinand unterbreitet.
42S
Anlage 2.
Chef des Generalstabes.
Glst. Res. Nr. 1581.
Denkschrift
vom 23. April IQl 1.
Allergnädigster Herr!
Ich bitte Euer Majestät um Allergnädigste Entgegennahme des vor-
liegenden a. u. Vortrages, in welchem ich bemüht bin, in gedrängter
Kürze den Hergang der mein Ressort berührenden Verhältnisse seit dem
Zeitpunkte meiner Amtsvvirksamkeit darzulegen und hieraus die dermalen
dringendsten und unerläßlichen Maßnahmen abzuleiten.
Bei meiner Ernennung zum Chef des Generalstabes habe ich in
einem an den k. u. k. Minister des Äußern gerichteten Schreiben, sowie
wiederholt in verschiedenen a. u. unterbreiteten Denkschriften auf den
innigen Zusammenhang zwischen äußerer Politik, Heeresausgestaltung
und konkreten Kriegsvorbereitungen hingewiesen. In diesem Smne die
Lage im Jahre 1906/07 beurteilend, habe ich die Überzeugung aus-
gesprochen, daß das Entwicklungsgebiet für die Monarchie am Balkan
zu suchen ist, daß nicht nur kommerzielle und kulturelle Interessen die
Monarchie dahin weisen, sondern daß auch die dauernde Erhaltung
wesentlicher Gebietsteile der Monarchie es bedingt, die südslawische Frage
seitens der Monarchie zu lösen und diese Lösung nicht andern Staaten
(Serbien, Montenegro) in die Hände zu spielen, daß deshalb schon,
überdies aber auch aus mannigfach anderen militärischen, geographischen,
kommerziellen und politischen Gründen nicht nur die mittlerweile voll-
zogene Annexion Bosniens und der Herzegowina, sondern auch die
Einverleibung Serbiens, inklusive des Gebietes von Nis, das unverrück-
bare Ziel der Monarchie sein müsse.
Ich habe dabei weiter betont, daß bei Anstreben dieses Zieles Italien
als Gegner der Monarchie auftreten würde, umsomehr als Itahen auch
das aggressive Ziel verfolgt, Südtirol, Küstenland, Istrien etc., mindestens
aber Südtirol der Monarchie zu entreißen. Ich habe dabei wiederholt
geltend gemacht, daß es eine arge Täuschung wäre, sich durch momentane
offizielle Freundschaftskundgebungen beruhigen und einschläfern zu
lassen, daß es vielmehr Pflicht ist, dieser Gefahr ins Auge zu sehen und
daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen.
429
Die Situation der Monarchie im Jahre 1906/07 mit jener ItaUens in
Vergleich ziehend, war mir wohl klar, daß auch die Schlagbereitschaft
der ersteren vieles zu wünschen übrig ließ, daß jedoch jene Italiens noch
viel weiter zurückstand.
Mein Streben war daher darauf gerichtet, die für die damaligen
Verhältnisse dringlichsten Besserungen auf eigener Seite rasch durch-
zusetzen, was auch trotz der mißlichen innerpolitischen Verhältnisse
geschah, und dann zum ehest zu führenden Krieg gegen Itahen zu raten,
wohl voraussehend, daß bei der notorischen Stagnation der eigenen
Heeresentwicklung mit jedem kommenden Jahre sich die relativen Ver-
hältnisse zu unseren Ungunsten verschieben würden, da Italien seit dem
Jahre 1905 daran ging, seine militärische Lage energisch zu bessern.
Der Krieg gegen Italien wurde nicht geführt — und meine Voraus-
setzungen haben sich leider erfüllt.
Italien hat sich seither militärisch und insbesondere in den gegen
die Monarchie gerichteten Kriegsvorbereitungen in hohem Maße ent-
wickelt, die Monarchie hingegen ist in allem zurückgeblieben. Während
beispielsweise 1906/07 und auch noch 1908 die Niederkämpfung der
italienischen Befestigungen mit den artilleristischen Mitteln der Monarchie
möglich gewesen wäre, trifft dieses dermalen nicht mehr zu; während
damals eigenerseits gleich große Truppenmassen früher operationsbereit
an der Grenze aufmarschiert sein konnten, ist dank der Ausgestaltung
des italienischen Bahnnetzes dies dermalen gerade umgekehrt der Fall;
während Italien dank der wesentlichen Vermehrung und Verstärkung
seiner Grenzgamisonen jetzt mit weit stärkeren Kräften sofort bei
Kriegsbeginn, und zwar auch überfallsweise auftreten kann, wurden
eigenerseits die dringendsten Garnisonsvermehrungen hinausgeschoben,
wesentlich aus der vom Minister des Äußern ausgehenden steten
Besorgnis, Italien nicht zu reizen oder zu verstimmen, sich keine
diplomatischen Komplikationen zu schaffen; während Italien 1906/07
höchstens 24 Divisionen ins Feld stellen konnte, Mard es jetzt schon
mindestens 6, in Bälde wohl auch noch weitere 6 Mobil-Miliz-Divisionen
der Operationsarmee zuschlagen können u. s. f.
Es gab daher 1906/07 nur zwei Entscheidungen: entweder den
Krieg gegen Italien zu führen oder mit größter Energie und mit Auf-
wendung aller Mittel sich für den Moment vorzubereiten, in welchem
dieser Krieg der Monarchie wird aufgenötigt werden.
Weder das eine noch das andere geschah.
Ich hatte im Jahre 1906/07 in einer Euer Majestät a. u. unter-
breiteten Denkschrift die Ansicht ausgesprochen, daß es veimieden
werden müsse, sich in weitgehende Komplikationen am Balkan ein-
430
zulassen, ehe mit Italien abgerechnet ist, daß daher zuerst der Krieg gegen
Italien zu führen, dann die aktive Politiic am Balkan einzuschlagen ist.
Nun fiel in die folgenden Jahre zur größten Überraschung der
gesamten Diplomatie die jungtürkische Bewegung mit der konstitutionellen
Umgestaltung der Türkei, und dieses Ereignis rückte die Notwendigkeit
der Annexion Bosniens und der Herzegowina in erste Linie.
Dieser Notwendigkeit wurde mit raschem und energischem Zugreifen
entsprochen und sorgten die trotz mannigfacher Widerstände durch-
geführten militärischen Vorkehrungen dafür, daß diesem Schritte der
unerläßliche Nachdruck verliehen wurde.
Als sieb aber in dieser Zeit, dank dem Verhalten Serbiens und
Montenegros, die Möglichkeit ergab, die Balkanziele unter selten günstigen
Nebenumständen sofort zu verfolgen, wurde von dieser günstigen Lage
der Dinge kein Gebrauch gemacht.
Ich hatte den Krieg gegen Serbien damals dringend vertreten und
war in der Lage, Euer Majestät a. u. melden zu können, daß mit
1. März 1909 alles hiezu vorgekehrt sei, wenn nötig aber auch schon
früher die Aktion beginnen könne.
Durch das Anwachsenlassen eines selbständigen Königreiches Serbien
und eines selbständigen Königreiches Montenegro hat sich die Monarchie
den Weg auf den Balkan bereits mehr als halb versperrt, ein autonomes
Albanien und ein erweitertes Bulgarien wird ihn ganz versperren, wenn
die Monarchie nicht selbst festen Fuß mitten im Balkan hat.
Der Mißerfolg mit der Sandzakbahn gegenüber den auswärtigen
Bestrebungen nach der Adriabahn, die kommerziellen Schwierigkeiten
mit Serbien und die Eröffnung neuer, von der Monarchie unabhängiger
Absatzgebiete für dieses sind Zeichen dieser Lage.
Italien weiß genau, warum es Serbien und Montenegro unterstützt
und die albanesischen Autonomiebestrebungen fördert.
Während nun 1906/07 die relativ günstige Lage gegenüber Italien
nicht ausgenützt wurde, unterblieb dies nunmehr 1909 auch gegenüber
•Serbien und Montenegro.
Das Resultat war, daß alle drei genannten Staaten ihrer prekären
militärischen Situation entschlüpft waren, seither reichhch Zeit fanden,
an ihre militärische Ausgestaltung zu schreiten und daß sie diese Zeit
auch weitestgehend ausnützten.
Dabei festigte sich auch nicht unwesenttich ihre politische Situation;
so wurde Montenegro zum Königreiche erklärt, in Serbien konsolidierten
sich die Verhältnisse, insbesondere auch die Lage der Dynastie, und
Italien gewann noch mehr den Charakter eines zielbewußt und erfolgreich
431
aufstrebenden Staates; damit wuchsen aber auch die Aspirationen dieser
Staatswesen.
Die expansive Tendenz Montenegros spricht sich in dessen Ver-
halten gegen Albanien, bezw. gegenüber der Türkei aus, für die Ziele
Serbiens zeugen die österreichfeindliche Agitation und Haltung dieses
Königreiches, und der zielbewußt arbeitende Irredentismus läßt wohl
über die Absichten Italiens keinen Zweifel.
Dem allen gegenüber blieb die Monarchie weit zurück; zwar hat die
Entwicklung der Seemacht in jüngster Zeit einen wesentUchen Schritt
vorwärts gemacht, aber gerade der einzig und allein die Kriegs-
entscheidung gebenden Landmacht wurden selbst die dringlichsten
finanziellen Mittel für die Ausgestaltung versagt.
Läßt auch die endliche Durchbringung der Wehrvorlage sozusagen
in letzter Stunde die Aufbringung des erforderlichen Mannesmaterials
für die Sanierung der Stände, vor allem jener der arg geschädigten Fuß-
truppen, sowie für die Aufstellung der dringlichen Neuformationen
erhoffen, so muß ich doch die für die nächsten fünf Jahre in Aussicht
gestellten finanziellen Mittel als gänzlich unzureichend bezeichnen und
müßte es als ein schweres Versäumnis meinerseits betrachten, hierauf nicht
erneuert die Aufmerksamkeit gelenkt zu haben.
Ich muß dabei hervorheben, daß das durch die ungenügenden
finanziellen Mittel aufgenötigte Kargen mit dem Notwendigsten nicht nur
die konkreten Kriegsvorbereitungen, sondern auch die organische Ent-
wicklung des Heeres, sowie dessen Ausbildung in empfindhchster Weise
beeinträchtigt.
Geruhen Euer Majestät Allergnädigst zu genehmigen, daß ich mich
diesbezüghch auf meinen a. u. Vortrag Glst. Res. Nr. 510 von 1911
berufe, welchen ich Euer Majestät am 14. Feber 1. J. in Budapest unter-
breitet und in tiefster Ehrfurcht mündlich ausführlich erörtert habe und
welcher auch den Gegenstand meiner Darlegungen in dem am
5. März d. J. in Budapest stattgehabten Ministerrat gebildet hat.
Geruhen Euer Majestät femer Allergnädigst zu genehmigen, daß
ich daraus folgendes herausgreife:
Ich erklärte die 200 Millionen Kronen, welche überdies auf fünf
Jahre verteilt und sowohl für die Ausgestaltung des Heeres inklusive
der Reichsbefestigung, als für die Auslagen der zweijährigen Dienstzeit
ausreichen sollten, für ganz unzureichend und begründete eine Mehr-
forderung von mindestens 250 Millionen Kronen über obige 200.
Dem wurde nun entgegengehalten, daß die beiden Staaten der
Monarchie unmöglich eine solche finanzielle Leistung aufzubringen ver-
mögen.
432
Es blieb daher bei der Anomalie, daß in einem allseits von Land-
gegnern umgebenen Reiche, dessen ausschlaggebende schließliche Kriegs-
entscheidungen nur zu Lande erfolgen können, bloß 200 Millionen
Kronen für das stehende Heer, dagegen 312 Millionen Kronen für die
Kriegsmarine bewilligt wurden.
Weit entfernt, nicht in letzterer Bewilligung eine sehr erfreuliche
Ausgestaltungsmöglichkeit für die Kriegsmaiine zu sehen, müßte ich es
jedoch als sehr bedauerlich bezeichnen, wenn dies nur um den Preis
einer Vernachlässigung der Landmacht erkauft worden wäre.
Ich halte aber dafür, daß auch bei voller Zuwendung der
312 MiUionen Kronen an die Marine auch die unerläßUche Aufbringung
wenigstens jener 250 Millionen Kronen möglich bleibt, welche ich für
die Ausgestaltung der Landmacht und Reichsbefestigung gefordert habe,
für deren rechtzeitige Vertretimg aber ich in keiner Weise herangezogen
wurde.
Was die Möglichkeit der finanziellen Leistung anlangt, bitte ich
a. u. nur folgendes anführen zu dürfen:
Unmittelbar nach Erledigung des Heeresetats brachte die öster-
reichische Regierung eine Lokalbahnvorlage ein, welche mit Auslagen von
233 + 45 Millionen Kronen rechnete. Während also der außerordentliche
Beitrag der im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder für das
gemeinsame Heer nur zirka 132 Millionen Kronen, obendrein auf fünf
Jahre verteilt, also per Jahr kaum 30 Millionen Kronen beträgt, wurden
für die Lokalbahnen 278 Millionen Kronen eingebracht.
In der beiliegenden Karte sind alle diese Lokalbahnen rot ein-
gezeichnet; ein Blick auf diese Karte genügt, um zu zeigen, welch klein-
lichen, rein lokalen Interessen diese Bahnen dienen, Interessen, welche
umsomehr zurücktreten sollten, als ihre Respektierung nicht nur auf
Kosten der Reichsforderung nach dringlicher Ausgestaltung der Wehr-
macht ginge, sondern auch die Entwicklung der Hauptbahnen schädigen,
den Staat nur mit unproduktiven Auslagen belasten und die Entwicklung
.jener Linien hemmen würde, welche ihm Einnahmen und Überschüsse ein-
tragen körmten.
Was die andere Reichshälfte — Ungarn — anlangt, so wird sich
die Forderung des ungarischen Landesverteidigungsministers außer auf
eine bedeutende ständige Erhöhung des Ordinariums auch noch auf einen
einmaligen außerordentlichen Kredit von 125 Millionen Kronen erstrecken.
Während also Ungarn für seine Landwehr so große außerordentliche
Ausgaben vorsieht, widmet es für das gemeinsame Heer, und zwar auf
fünf Jahre hinaus, nur einen Beitrag von zirka 68 MiUionen Kronen.
28, Conrad II 403
Zur Beleuchtung dieser Zahlen möchte ich noch anführen, daß
während die Monarchie für ihre seit Jahren rückständige Landmacht nur
200 Millionen außerordentliche Ausgaben vorsieht, das kleine Rumänien
für sein Heer eine Anleihe von 200 Millionen Lei, also nahezu ebensoviel,
in Aussicht nahm, wovon 52 Millionen, auf zwei Jahre verteilt, bereits
bewilligt sind.
Ich erlasse es mir, auf die enormen Summen einzugehen, welche der
kolossale Verwaltungsapparat mit seinen zahllosen Beamten und deren
Versorgungsgenüssen verschlingt, femer auf die einer komplizierten
Organisation entspringende Sterilität des Staatsbahnbetriebes, endlich auf
die Konsequenzen einer wenig großzügigen Finanzpolitik; ich bitte aber
a. u. nur beispielsweise anführen zu dürfen, daß, so weit ich orientiert
bin, die Zahl der Staatsangestellten in Österreich 236.200
in Ungarn 300.000
also in Summe . . 536.200 betragen soll,
also weit mehr, als der mit 415.300 bezifferte Friedensstand des Heeres,
der Kriegsmarine und der beiden Landwehren zusammengenommen.
Zu dieser Staatsangestelltenzahl käme dann noch die Zahl der
autonom-behördlichen etc. etc. Organe.
Ich bitte nun Euer Majestät a. u. wie folgt resümieren zu dürfen:
In der Restringierung der für das gemeinsame Heer von mir
geforderten Kredite auf 200 Millionen Kronen und in deren bindenden
Verteilung auf fünf Jahre sehe ich eine überaus bedenkliche Schädigung
des gemeinsamen Heeres, welche um so folgenschwerer werden muß, als
mannigfache Rückstände aus der Periode der Stagnation zu beheben
sind und als alle in Betracht kommenden voraussichtlichen Gegner der
Monarchie zielbewußt, energisch und, insbesondere was Italien und Ruß-
land betrifft, mit Aufwendung großer Mittel an ihrer militärischen
Entwicklung arbeiten, wobei Italien jetzt schon die Monarchie in mancher
Hinsicht überholt hat.
Ich erachte weiter dafür, daß die Lage drängt, weil die Vorgänge
am Balkan die Situation jeden Moment ins Rollen bringen und auch
sonstige Verhältnisse eintreten können, welche zur Aktion zwingen.
Trotz aller gegenteiligen Behauptungen des Ministers des Äußern
ist es unverkennbar, daß Italien das Jahr 1Q12 als Termin für seine
Kriegsbereitschaft im Auge hat, daß es daher auch an der Monarchie
wäre, ihre Vorsorgen auf diesen Termin zu stellen, also zu beschleunigen.
Ich beurteile daher die dermalige Lage als eine außergewöhnUche
und erachte dafür, daß auch außergewöhnliche Maßnahmen nicht nur
begründet, sondern unerläßlich sind.
434
Ich erachte daher auch dafür, daß das Unzulängliche der für das
Heer ausgeworfenen Mittel offen einzugestehen und unbekümmert um
die fünfjährige Bindung die Forderung nach den unerläßlichen Mitteln
zu stellen wäre.
Aber auch ganz abgesehen von dieser durch die allgemeine politische
Lage aufgedrängten Notwendigkeit müßte ich in einer Verküm-merung
des gemeinsamen Heeres zu Gunsten der Marine und der beiden Land-
wehren eine überaus folgenschwere Verrückung des Schwerpunktes der
bewaffneten Macht sehen.
Ich bitte daher Euer Majestät a. u. um Euer Majestät Allergnädigste
Einflußnahme im Sinne der von mir erbetenen Vorsorgen für die eheste
Ausgestaltung des gemeinsamen Heeres.
Wien, am 23. April 1911. Conrad m. p., G. d. L
28*
435
Anlage 3.
Denkschrift
vom 15. November 1911.
Res. Gstb. Nr. 4350.
Allergnädigster Herr!
Geruhen Euer Majestät die vorliegende Denkschrift Allergnädigst
entgegenzunehmen, in welcher ich bestrebt bin, ein knappes Bild der
militärpolitischen Lage, der darauf basierten konkreten Kriegsvorbereitungs-
arbeiten, sowie jener Forderungen zu geben, die ich pflichtgemäß als
unerläßlich, beziehungsweise unaufschiebbar bezeichnen und für welche
ich die ganz besondere Allerhöchste Einflußnahme erbitten muß.
Wenn ich auch in allen jenen Memoires, welche ich seit meiner
Ernennung zum Chef des Generalstabes a. u. unterbreitet habe, mir
erlaubte, die mich leitenden Anschauungen schon wiederholt zum Aus-
drucke zu bringen, so bitte ich doch Euer Majestät, erneuert Allergnädigst
gestatten zu wollen, daß ich dieselben nochmals kurz zusammenfasse.
Ich gehe von der Grundansicht aus, daß em Staat stets positive
und daher auch aggressive Ziele verfolgen muß, weil bei dem Beschränken
auf das bloße Erhalten ein Rückgang um so unausbleiblicher wird, als
die umgebenden Nachbarn ihr Machtgebiet zu erweitem streben.
Ich bin daher ferner der Ansicht, daß es eine Fiktion ist, an einen
Status quo zu glauben und daher auch ein Fehlschluß, seine Politik und
— was mh: nahe geht — damit zusammenhängend auch seine militärischen
Vorsorgen auf einen solchen zu basieren.
Ich bin ferner der Ansicht, daß es bei der eigenen Verfolgung
positiver Entwicklungsziele darauf ankommt, die zur Erreichung dieser
Ziele unvenneidlichen Aktionen dann eintreten zu lassen, wenn die
Verhältnisse hiefür am günstigsten liegen, sei es, daß die momentane
Konstellation plötzlich solche Chancen bietet, sei es, daß eine auf ein
solches Ziel weit vorschauende eigene Politik es zustande bringt, solche
Chancen selbst zu schaffen, was mir immer als natürlichster, erfolg-
reichster und daher gebotenster Weg erscheint.
436
Ich halte ferner dafür, daß nur bei Einhaltung des letzteren Prinzipes
die großen Kosten für die Wehrmacht sich bezahlt machen, beziehungs-
weise, daß umgel<ehrt nur bei diesem Prinzip die Möglichkeit vorliegt,
die schweren Lasten für die Wehrmacht zu erleichtem, weil eben nur
dabei die Konzentrierung der Vorkehrungen und daher auch der Aus-
lagen für eine bestimmte Aktion möglich erscheint, während es andernfalls
unvermeidlich ist, fortwährend auf alle möghchen von außen aufgedrängten
Ereignisse gefaßt zu sein, also fortwährend eine schwere Rüstung zu
tragen, welche dann oft gänzlich unverwertet bleibt, was einem Kapital-
verlust von Millionen gleichkommt.
Insbesondere ein Staat, welcher, wie die Monarchie, allseits von
möglichen Gegnern umgeben ist, vermag es kaum zu leisten, daß er
jederzeit auch allseits, daher auch eventuell gleichzeitig gegen mehrere
Gegner schlagbereit sei; ich halte dafür, daß gerade ein solcher Staat
mehr als jeder andere daran gehen muß, seine voraussichtlichen Gegner
beizeiten festzustellen, und trachten muß, dieselben nacheinander nieder-
zuringen, wenn nicht schon das Niederringen eines derselben ausreichen
sollte, die anderen zur Aufgabe der Gegnerschaft bei Verfolgung ihrer
politischen Ziele zu veranlassen.
Was nun die Feststellung der voraussichtlichen Gegner anlangt, so
bin ich der Meinung, daß hiefür nicht die momentanen Machthaber des
betreffenden Staates oder die momentan zur Schau getragene Stimmung
seiner Regierung bestimmend erscheinen, sondern daß hiefür ausschließlich
die der Wesenheit des betreffenden Staates innewohnenden Entwicklungs-
bedingungen und daher stets wieder durchschlagenden Entwicklungs-
bestrebungen ausschlaggebend werden, daß es daher darauf ankommt,
den Kalkül auf diese zu basieren.
Geht man daran, die Nachbarn der Monarchie von diesem Stand-
punkte aus zu beurteilen, damit man — '■ und das ist für mich pflichtgemäß
geboten — nicht nur die militärischen Chancen abwägen, sondern auch
die unerläßlichen militärischen Vorkehrungen feststellen könne, so führt
dies zu folgendem:
Italien. Es ist unverkennbar, daß dieser Staat seit seiner nationalen
Einigung ununterbrochen an Konsolidierung zunahm, daß er sich
kommerziell, finanziell, politisch und ganz besonders auch in militärischer
Hinsicht bedeutend entwickelte und mit allen Bestrebungen einer Groß-
macht auf die Weltbühne getreten ist. Es muß besonders hervorgehoben
weiden, daß es ein Irrtum wäre, die itahenische Armee noch nach dem-
selben Maßstab zu messen, wie im vorigen Jahrhundert; wird auch m
437
alle Hinkunft mit der überlegenen soldatischen Tüchtigkeit der Nationen
der Monarchie zu rechnen sein, so sind es doch vor allem das vorzügliche,
ambitionierte Offizierskorps, dann die reichliche technische Ausgestaltung,
wozu ich ganz besonders auch die munifizent durchgeführte Reichs-
befestigung rechne, endlich der mit allen Mitteln aufgestachelte nationale
Enthusiasmus, welche die italienische Armee von heute weit über jene
früherer Zeiten stellen.
Die Mißerfolge in Tripolis dürfen in dieser Hinsicht nicht überschätzt
werden, da von solchen Erscheinungen auch andere Armeen in ähnlichen
Verhältnissen betroffen waren.
Gestützt auf diese Verhälhiisse, ist es naturgemäß, daß Italien positive
Ziele verfolgt. Diese sind:
Der Landbesitz im nördlichen Afrika (Tripolis);
die Einverleibung Südtirols, des Isonzogebietes, Istriens und Triests
in das italienische Staatsgebiet;
die wenigstens kommerziell entscheidende Festsetzung am Balkan,
hiezu die Vorherrschaft in der Adria, die Durchdringung des westHchen
Balkans mit dem italienischen Einfluß, vielleicht einmal auch die tat-
sächliche Festsetzung in wichtigen Häfen der adriatischen Ostküste,
darunter besonders in Valona.
Es liegt auf der Hand, daß das erste Ziel (Machterweiterung in
Afrika) bloß indirekt, daß aber alle andern direkt gegen die Interessen
der Monarchie gerichtet sind, also zur Gegnerschaft führen müssen.
Daß dermalen die italienische Regierung alles aufbietet, um Liebe,
Freundschaft und Interessenharmonie vorzuspiegeüi, ist mehr als
natürlich; aber ebenso sicher ist es auch, daß Italien nach Konsolidierung
seiner tripolitanischen Aktion sehr bald wieder die momentan zurück-
gestellten Ziele hinsichtlich der italienischen Territorien der Monarchie,
sowie hinsichtlich der Interessensphäre am Balkan aufnehmen wird, weil
dies den natürlichen, dem Wesen Italiens eigentümlichen Entwicklungs-
bestrebungen innewohnt.
Mit welcher Rücksichtslosigkeit und in welch überraschender Weise
Italien dabei fast mit Sicherheit vorgehen wird, darauf weist dessen
Inszenierung der Tripolisaktion mehr als deutlich hin. Es wäre bedenklich,
dies nicht zu erkennen.
Rußland. Wenn auch Rußland zu großem Teil mit seinen
Interessen in Asien verwickelt ist, so liegt es doch auch im inneren Wesen
dieses Reiches, expansive Ziele in Europa zu verfolgen; für dieselben sind
zwei Momente besonders bestimmend, und zwar die nationale Mission
438
als slawische Vormacht und das Streben nach Erweiterung seiner
maritimen Machtsphäre.
Das erstere Moment ist Ursache der Wühlarbeit Rußlands in den
slawischen Gebieten der Monarchie, insbesondere abzielend auf Gewin-
nung des ruthenischen Elementes, femer Ursache der engen Beziehungen,
welche Rußland mit Serbien und Montenegro unterhält; das letztere
Moment spricht sich in dem Streben nach gesichertem Besitz der Ostsee-
gebiete (Finnland), der Festsetzung am Weißen Meer, vor allem aber in
dem Streben nach dem Besitz der Dardanellen und des Bosporus aus,
hier, um die Fahrt ins Mittelmeer frei zu haben.
Von diesen Momenten sind es die ersteren, welche Rußland direkt
in Gegnerschaft ziu* Monarchie bringen können, doch dürften vielleicht
die letzteren das Mittel bieten, sich mit Rußland auszugleichen, wenigstens
für jene Zeit, zu welcher man positive Ziele an anderer Stelle verfolgt.
Dabei muß es als riditunggebend bezeichnet werden, daß die PoUtik
es unbedingt zu vermeiden wisse, die Monarchie gleichzeitig zu mehreren
Nachbarn, also insbesondere Rußland, Italien und den Balkanstaaten, in
Gegnerschaft zu bringen. Da jedoch letztere hinsichtlich Italiens und der
Balkanstaaten zweifellos besteht und sicher in die Erscheinung treten wird,
so legt es sich nahe, mit Rußland Beziehungen anzubahnen, welche
dessen Gegnerschaft gegen die Monarchie aufheben.
Serbien und Montenegro. Wie schon oben erwähnt, steht
die Politik dieser Staaten in engem Zusammenhang mit jener Rußlands;
letzteres wird seine Stellung als Schutzmacht dieser Staaten kaum je preis-
geben können und wird diese beiden Staaten stets als Verbündete gegen
die Monarchie bereit haben wollen; aber auch Italien wird auf beide
stets als Verbündete gegen die Monarchie rechnen, wozu es genau so
wie Rußland enge Beziehungen mit beiden aufrecht erhält.
Serbien und Montenegro selbst aber sind, nachdem man beide
Staaten groß und selbständig werden ließ, ängstlich darauf bedacht, sich
diese souveräne Stellung zu wahren und sehen daher in der Monarchie
als nächsten mächtigen Nachbarn, der diese Souveränität bedroht, ihren
Gegner, umsomehr, als auch faktisch, wie später noch ausgeführt werden
soll, die Monarchie auf Einverleibung dieser Gebiete (in irgend einer
Form) gewiesen ist.
Die eigenen Entwicklungsbestrebungen Serbiens sind auf Vereinigung
aller serbischen, im weiteren Sinne aller südslawischen Elemente in ein
selbständiges Königreich Serbien und daher auch auf die Erwerbung
439
Altserbiens, Rasciens und der südslawischen Gebiete der Monarchie
gerichtet; die gleichen Ziele verfolgt Montenegro, welches insbesondere
die Erstreckung seines Besitzstandes bis an das Meer und hiezu vor allem
den Besitz Süddalmatiens und der Herzegowina anstrebt, außerdem aber
auch aus mehr geographischen und kulturellen Motiven den Besitz
türkischen Gebietes in Albanien.
Die aus der Erstrebung gleicher Ziele resultierende Gegnerschaft
beider Staaten ist vorwiegend nur ein Widerstreit der Dynastien, während
der Einigungszug dem Wesen des Volksgeistes entspricht.
Die obdargelegten Verhälüiisse lassen daher Serbien und Montenegro
als Gegner der Monarchie erscheinen und gewärtigen, daß diese Staaten,
weil allein zu schwach, stets Anlehnung an die mächtigeren Gegner der
Monarchie suchen und mit diesen gemeinsame Sache machen werden.
Da es nun aber als großer militärischer Vorteil bezeichnet werden
müßte, wenn man im Falle eines großen Krieges der Monarchie nicht
auch noch mit der aktiven Feindschaft dieser Staaten zu rechnen
gezwungen wäre, so legen es die militärischen Rücksichten (abgesehen
von den sonstigen) nahe, diese Staaten lahmzulegen, sobald sich eine
passende Gelegenheit hiezu bietet. Bezüglich Serbiens erscheint dies für
die Dauer nur im Wege der Inkorporierung erfolgreich durchführbar,
indes vielleicht Montenegro durch materielle Interessen derart an die
Monarchie gebunden werden könnte, daß es im Anschluß an letztere
entscheidende Vorteile fände.
Insolange derartiges nicht erreicht ist, werden in jedem großen
Krieg der Monarchie sehr erhebliche militärische Kräfte durch diese
beiden Staaten gebunden sein, was einen entschiedenen militärischen Nach-
teü bedeutet, da diese auf dem Hauptkriegsschauplatze fehlen werden.
Türkei. Die innerpolitischen Verhältnisse der Türkei und die
Schwankungen seiner äußeren Politik machen die Türkei dermalen zu
einem höchst unverläßUchen Faktor im politischen Kalkül. Das Wesen
der ganzen Staatskonstitution ist auf Erhaltung des allseits gefährdeten
Besitzes gerichtet; damit ist die Türkei momentan in Konflikt mit Italien
und kann mit Rußland, Bulgarien, Serbien, Montenegro, Griechenland,
England jederzeit in Konflikt geraten; sie sieht außerdem ihren Territorial-
besitz durch die Autonomiebestrebungen Albaniens gefährdet. Der
Monarchie gegenüber bestehen dermalen keine die Gegnerschaft bedin-
genden direkten Interessengegensätze. Die Türkei könnte dagegen als
Gegner Serbiens und Montenegros der Monarchie nutzbar werden,
eventuell auch als Gegner Rußlands oder Italiens, was einer miütärischen
Entlastung der Monarchie zugute käme.
440
Griechenland hat bei seinen nicht sehr entwickelten mili-
tärischen Verhältnissen dermalen wenig politisches Gewicht, wird aber
immerhin als Gegner der Türkei in Rechnung zu stellen sein.
Bulgarien verfolgt eine sehr selbständige Politik, hat keine
direkten gegen die Monarchie gerichteten Aspirationen, dagegen indirekt
jene, welche es in Gegnerschaft zur Türkei bringen, femer jene, welche
auf Ausdehnung seiner Machtsphäre gegen Serbien, Albanien und
Mazedonien gerichtet sind, endlich jene, welche es in Gegensatz zu
Rumänien stellen, insoweit letzterer Staat als Verbündeter der Monarchie
in Betracht kommt.
Rumänien. Wenn auch in Rumänien die Keime einer groß-
rumänischen, schließlich auf die rumänischen Gebiete der Monarchie
gerichteten Propaganda vorhanden sind, so liegen doch in der Bedrohung
durch Bulgarien, in dem Streben nach Erwerbung Beßarabiens und in
der Bedrohung durch Rußland so gewichtige Momente für den Anschluß
Rumäniens an die Monarchie, daß mit diesem Anschluß gerechnet werden
kann.
Der große militärische Vorteil, welcher für die Monarchie in einem
aktiven Zusammengehen Rumäniens mit der Monarchie im Falle eines
Krieges der letzteren gegen Rußland gelegen ist, läßt es dringend
erscheinen, Rumänien als Alliierten zu erhalten.
Deutschland. Lassen sich auch hinsichtlich der Verfolgung
wirtschaftlicher Interessen am Balkan und im europäischen Orient
zwischen Deutschland und der Monarchie gewisse Konfliktspunkte walir-
nehmen, so ist doch die Erhaltung jedes dieser beiden Staaten derart an
ein Miteinandergehen gebunden, daß das Bündnis mit Deutschland die
Grundlage für jedwede Politik der Monarchie bilden muß; auf diese
unerschütterliche Voraussetzung sind auch alle militärischen Vorkehrungen
basiert, was ich erneuert besonders hervorheben muß mit dem Beifügen,
daß ein Wechsel in der Politik gegen Deutschland Jahre vorher
angekündigt werden müßte, wenn es möglich sein sollte, die gegen
Deutschland zu richtenden Kriegsvorbereitungen rechtzeitig zu bewirken,
weil dabei vor allem auch eine eingehende Sanierung der Bahnverhältnisse
in Frage käme.
Frankreich. Die Interessengemeinschaft der Monarchie mit
Deutschland läßt Frankreich als Gegner der Monarchie erscheinen,
sobald dasselbe mit Deutschland in Konflikt gerät. Das gleiche gilt von
England; beide kommen für die Monarchie insoweit in Betracht,
als sie Landstreitkräfte Deutschlands abziehen und als eine direkte
Bedrohung der Monarchie durch Seestreitkräfte dieser Staaten zu
gewärtigen ist.
441
An europäischen Staaten muß noch Schwedens, Dänemarks,
Belgiens, Hollands, dann Spaniens und der Schweiz
gedacht werden.
Schweden vermöchte in einem Krieg gegen Rußland als Ver-
bündeter wertvoll zu werden durch Bindung russischer Kräfte in
Finnland.
Dänemark dürfte stets neutral bleiben, da es bei ausgesprochener
Stellungnahme zu viel riskieren würde; nur besteht die MögUchkeit, daß
seine Neutralität von einem der Kriegführenden nicht respektiert werden
würde, es daher auch als Basis für Landungen benützt werden könnte.
Das gleiche gilt in noch höherem Maße von Belgien und
Holland, nur stünde bei diesen beiden Staaten zu erwarten, daß sie
sich aktiv gegen jede Verletzung ihrer Neutralität wenden, also zu
Gegnern desjenigen würden, der diese Verletzung begeht, sofern es nicht
einem oder dem andern gelingen sollte, Belgien oder Holland von Haus
aus als Alliierten zu gewinnen.
Spanien käme in Betracht, weim es als Gegner Frankreichs auf-
treten würde, wozu der Marokko-Konflikt Keime geschaffen hat.
Schweiz. Was endlich die Schweiz anlangt, so ist als beachtens-
wertes Moment die dort immer mehr Raum gewinnende Anschauung
zu verzeichnen, daß sich die Schweiz durchaus nicht gebunden erachtet,
von aktivem, kriegerischem Auftreten abzustehen, wobei insbesondere
betont wird, daß speziell dem jungen Königreich Italien gegenüber eine
derartige Neutralitätsverpflichtung nidit bestehe. Da nun die Schweiz
gleichfalls von der italienisch-irredentistischen Agitation bedroht ist und
gegen Italien sehr ungünstige Grenzverhältnisse hat, so ist bei ent-
sprechender Politik zu hoffen, daß die Monarchie im Falle eines Krieges
gegen Italien die Schweiz als Verbündeten zur Seite haben würde, worin
ein ganz bedeutender militärischer Vorteil gelegen wäre.
Von außereuropäischen Staaten kommen für die hier behandelten
Kombinationen zunächst Japan, China und die Vereinigten Staaten in
Betracht, und zwar hinsichüich ihrer gegenseitigen Beziehungen und
ihrer Politik gegen Rußland in dem Sinne, daß Japan oder China als
Gegner Rußlands, die Vereinigten Staaten jedoch als dessen eventueller
Verbündeter gegen Japan zu rechnen sind. Jedes Engagement Rußlands
in Ostasien muß als Vorteil für die Monarchie bezeichnet werden, der
allerdmgs nur dann geltend wird, wenn die Monarchie die Schwäche-
momente Rußlands zu eigenem Handeln ausnützt, sei es durch Aktionen,
bei welchen ihr sonst Rußland in den Arm fallen würde, sei es durch
einen Krieg gegen Rußland selbst.
442
Hält man nun den kurz dargelegten Entwicklungsrichtungen der aus-
wärtigen Staaten jene der Monarchie entgegen, so betrifft dies folgendes:
Die Erhaltung Südtirols und des ganzen Küstengebietes ist für die
Monarchie unerläßliche Bedingung, jede Bedrohung derselben müßte als
casus belli betrachtet werden.
Die Seemachtstellung der Monarchie und — gestützt auf diese —
Seehandel und Seevei'kehr bedingen die Vorherrschaft der Monarchie in
der Adria, insbesondere an der Ostküste derselben; jede Festsetzung
einer anderen Macht an dieser müßte mit Gewalt verhindert werden.
Der gesicherte Küstenbesitz ist an die Erhaltung des Hinterlandes
gebunden; jede feindliche Bedrohung des letzteren muß zum Kriegsfall
führen.
Auch jeder andere Gebietsverlust müßte in gleicher Weise zurück-
gewiesen werden, was insbesondere auch hinsichtlich Galiziens gilt,
dessen Verlust eine schwere Einbuße und eine Vernichtung der Groß-
machtstellung der Monarchie bedeuten würde.
Diesen vorwiegend erhaltenden Tendenzen reihen sich aber jene an,
welche zur eigenen Expansion drängen.
Ohne Kolonien und an allen anderen Grenzen mehr oder weniger
wirtschaftlich abgeschlossen, findet die Monarchie — vom Seeverkehr
abgesehen — ein kommerzielles und politisches Ausdehnungsgebiet nur-
mehr auf dem Balkan; auf diesem muß sie sich die Vorherrschaft wahren,
will sie nicht wirtschaftlich ersticken. Dies bedingt jedoch den Besitz
des Gebietes des jetzigen Königreiches Serbien inklusive des Raumes von
Nis, in der Folge allmähUch erweitert; dabei spricht der geographische
Ortsbesitz ebensosehr mit, wie die Gefahr, zwei südslawische, selbständige
Kleinstaaten bestehen zu lassen, welche stets den eigenen südslawischen
Besitz der Monarchie gefährden und den Gegnern der Monarchie als
stets bereite Verbündete zur Seite stehen.
Wie oben bereits angedeutet, liegt eine zweite Richtung für die
wirtschaftliche Expansion der Monarchie im Seeverkehr; dieser bedingt
eine starke Flotte mit einer ausreichend geschützten heimatlichen Flotten-
basis, als welche hier das ganze östliche Küstengebiet der Adria in Frage
kommt. Gerade aber der gesicherte Besitz einer solchen Flottenbasis
erfordert den gesicherten Besitz des Hinterlandes mit seinen in das
Zentrum der Monarchie führenden Verbindungen, und so weist auch
die auf dem Gebiete des Seeverkehrs zu suchende Entwicklungsriclitung
der Monarchie auf die obdargelegten Erwerbungen am Balkan hin.
In der Erwerbung Serbiens scheinen mir daher die nächsten
Expansionsbestrebungen der Monarcliie gelegen. Inwieweit einstens
Erwerbungen auf dem Gebiete Polens in Frage kommen werden, hängt
443
von Verhältnissen ab, welche dermalen noch zu wenig klar hegen; fast
scheint es aber, daß Rußland mit solchen Aspirationen der Monarchie
rechnet, da es jetzt schon daran geht, Oalizien, mindestens dessen Ost-
hälfte für den Anschluß an Rußland zu präparieren, sei es, um sein
Gebiet bis an die Karpathen auszudehnen, sei es, um sich für Gebiets-
verluste in Kongreßpolen (Herzogtum Warschau) schadlos zu halten.
Wenn ich alles Vorstehende resümiere, so ergibt sich als ausschlag-
gebend für die militärische Lage folgendes:
Deutschland und Rumänien müssen als Verbündete betrachtet werden.
Italien, Rußland, Serbien, Montenegro sind als direkte Gegner der
Monarchie ins Auge zu fassen.
Die übrigen Staaten mit Ausnahme der Schweiz kämen nur indirekt
als Gegner oder Verbündete in Betracht; Frankreich und England nur
so weit direkt, als es ihre Seestreitkräfte betrifft.
Die Schweiz wäre, soweit es bei ihrer Neutrahtät mögÜch erscheint,
als Verbündeter sicherzustellen.
Vergleicht man nun die militärischen Machtmittel der Monarchie mit
den obdargelegten politischen Erwägungen, so ergibt sich folgendes:
Diese Machtmittel ermöghchen es:
a) einen Krieg gegen Rußland zu führen unter der Voraussetzung, daß
dies gemeinsam mit Deutschland geschieht, daß Italien sicher neutral
bleibt und gegen Serbien und Montenegro nur die notwendigsten
Kräfte belassen werden, lediglich ausreichend, die Situation aufrecht
zu erhalten, bis auf dem Hauptkriegsschauplatz die Entscheidung
gefallen ist;
b) die obige Möglichkeit besteht auch, falls Deutschland überdies gegen
Frankreich engagiert wäre, sonach seine Hauptkräfte anfänglich gegen
dieses gerichtet hätte, sie bestünde umsomehr, wenn Italien nicht nur
neutral, sondern aktiv an der Seite Deutschlands stehen würde;
c) einen Krieg gegen Italien zu führen, wenn man der Neutralität
Rußlands sicher wäre und gegen Serbien und Montenegro jene
Minimalkräfte beließe, wie imter a) angegeben;
d) einen Krieg gegen Serbien und Montenegro zu führen, dabei aber
so viele Kräfte noch bereit zu haben, um nicht ohne Chancen sich
noch rechtzeitig gegen Rußland oder Italien wenden zu können,
wenn einer dieser Staaten plötzlich gegen die Monarchie eingreifen
sollte, dabei hinsichtlich Rußlands vorausgesetzt, daß Deutschland
gemeinsam mit der Monarchie vorginge.
Die mihtärischen Machtmittel reichen jedoch nicht aus, um
gleichzeitig mit Chance einen Krieg gegen Italien, Rußland,
Serbien und Montenegro zu führen.
444
Aus diesen Gründen der militärischen Machtmittel muß es daher
Hauptziel der Politik sein, es nie zu einer derartigen Situation kommen
zu lassen, daher mit den unvermeidlichen Gegnern einzeln abzurechnen.
Wenn trotzdem in den konkreten Kriegsvorbereitungen auch dieser
Fall vorgedacht ist, so erfolgte dies nur, damit, falls wider alles Erwarten
derselbe doch eintreten sollte, auch für das äußerste vorgesorgt sei, und
weil ich von der Ansicht ausgehe, daß man in keinem Fall verzweifeln
und die Hände in den Schoß legen dürfe, dabei vor Augen habend, daß
Entschlossenheit und rücksichtslose Tatkraft oft schon aus scheinbar
verzweifelten Lagen zu einem günstigen Ende geführt haben.
Im Sinne des Vorstehenden sind somit die konkreten Kriegs-
vorbereitungen für folgende Fälle getroffen:
a) R-Fall, das ist
Krieg gegen Rußland gemeinsam mit Deutschland imd Rumänien,
mit Minimalkräften gegen Serbien und Montenegro und bei Neu-
tralität Italiens,
b) I-Fall, das ist
Krieg gegen Italien bei Neutralität Deutschlands und Rußlands mit
Minimalkräiten gegen Serbien und Montenegro,
c) B-Fall, das ist
Krieg gegen Serbien tmd Montenegro bei Neutralität aller übrigen
Staaten, jedoch unter Bereithaltung ausreichender Kräfte gegen Italien
oder Rußland, hinsichtlich des letzteren auf Allianz mit Deutschland
gerechnet,
d) I+R-Fall, das ist
der höchst ungünstige und daher zu vermeidende Fall eines Krieges,
in welchem Deutschland, Österreich-Ungarn und Rumänien auf der
einen, Italien, Rußland, Frankreich, Serbien, Montenegro, eventuell
noch England auf der anderen Seite stehen würden.
Alle diese obgenannten Kriegsfälle, mit Ausnahme von I+R, werden
bis ms Detail inklusive der Instradierung vorbereitet und basieren bereits
auf dem Dislokationswechsel pro 1912, welcher unbedingt programm-
gemäß und unverändert durchgeführt werden muß.
Als Gültigkeitstermin für die neuen Kriegsvorbereitungen ist der
1. März festgesetzt.
Für den I+R-Fall ist nur das dringendste vorgesehen, weil man
wohl annehmen kann, daß die Leitung der Pohtik es nie zu einer solchen
Lage kommen lassen wird.
Wenn ich obdargelegte Kriegsmöglichkeiten noch einmal berühre,
so möchte ich dabei folgendes hervorheben:
445
Rußland. Es ist im Vorstehenden bei jedwedem Krieg gegen
Rußland die aktive Mitwirkung Deutschlands vorausgesetzt, sei es, daß
dieses von Haus aus mit allen Kräften gegen Rußland aufzutreten vermag
(was mit Rücksicht auf Frankreich kaiun wahrscheinlich ist), sei es, daß
es vorher mit der Hauptkraft im Westen (gegen Frankreich und England)
engagiert wäre, was wahrscheinlich eintreten dürfte. Für diese Fälle
bestehen die Vereinbarungen mit dem deutschen Generalstab.
Wenn es sich jedoch um einen Krieg der Monarchie gegen Rußland
ohne aktive Mitwirkung Deutschlands handelt, so stünden die numerischen
Verhältnisse der Monarchie zu Rußland wie 2 : 3 zu Ungunsten der
Monarchie. Die Teilnahme Rumäniens würde dieses Verhälüiis auf 2-4 : 3
bringen. Daraus erhellt, daß die Monarchie ohne Deutschland einen
Krieg gegen Rußland nur dann mit numerischer Chance führen könnte,
wenn Rußland an anderer Stelle mit erheblichen Kräften engagiert wäre.
Fallen für die Monarchie voraussichtlich auch bessere Führung und
größere taktische Gewandtheit der Truppen ins Gewicht, so stehen dem
jedoch anderseits die große Zähigkeit und Tapferkeit der russischen
Soldaten und jener Vorteil gegenüber, den Rußland in seinen unermeß-
lichen Räumen findet; es ist daher geboten, den Kalkül der Chancen auf
das numerische Kräfteverhältnis zu basieren.
Dam.it soll jedoch nicht gesagt sein, daß die Monarchie nicht auch
unter solchen Verhältnissen einen Waffengang mit Rußland aufnehmen
könnte, wenn die Lage es erfordert, insbesondere wenn schwerwiegende
politische Vorteile auf dem Spiele stünden.
Italien. Hinsichtlich Italiens gilt es vor allem zu bedenken, daß
dieser Staat in dem letzten Lustrum einen bedeutenden militärischen
Aufschwung genom.men und insbesondere seine Befestigungen und sein
Eisenbahnnetz zielbewußt und im großen Stile ausgebaut hat.
Das militärische Kräfteverhältnis zwischen der Monarchie und Italien
hat sich daher von Jahr zu Jahr zu Ungunsten der Monarchie verändert
und schreitet, von der momentanen Störung durch die Tripolis-Aktion
abgesehen, auf diesem Wege weiter.
Dies bereits vor Jahren voraussehend, habe ich schon damals,
insbesondere 1907, a. u. geraten, mit Italien abzurechnen.
Nachdem dies nicht geschehen ist, erübrigt nur, die eigenen Kräfte
derart zu entwickeln, daß das relative Kräfteverhältnis wieder zu Gunsten
der Monarchie umschlägt. Dies betrifft vorwiegend die Ausgestaltung
der materiellen Kriegsmittel, darunter vor allem die schleunigste Schaffung
der von mir schon seit Jahren erbetenen schweren Angriffsartillerie, dann
Ausgestaltung der Bahnen, Befestigungen und Grenzsicherungsmaß-
n ahmen sowie der Flotte und der für sie nötigen Küstenbefestigungen.
446
Bei jedem Krieg gegen Italien ist mit einer gleichzeitigen Verwicklung
mit Serbien und Montenegro gerechnet, wobei aber gegen diese Staaten
nur die notwendigsten Kräfte veranschlagt sind, wie dies bereits im
früheren angeführt erscheint.
Ich muß hier besonders hervorheben, daß ein Krieg gegen Italien
jetzt, das ist noch vor Vollendung der Befestigungen am Tagliamento,
weitaus größere Chancen hat, als nach Vollendung derselben; in richtiger
Erkenntnis dessen arbeitet Italien mit Hast und Energie an dieser Voll-
endung und dürfte längstens Ende 1912 oder Frühjahr 1913 damit
fertig sein.
Ich bin der Ansicht, daß auch die Politik mit den entscheidenden
Momenten des militärischen Kräfteverhältnisses rechnen muß.
Serbien. Die günstige Gelegenheit, die serbische Frage gründUch
zu ordnen, das ist Serbien zu inkori^orieren, war 1909; mein damaliger
Antrag auf kriegerische Durchführung wurde trotz der bereits durch-
geführten wesentlichsten Kriegsvorbereitungen abgelehnt.
Seilher hat Serbien eifrig an der Besserung seiner Heeresverhälhiisse
gearbeitet und, wenn auch noch manches im Rückstand ist, so ist doch
die serbische Wehrmacht von heute viel höher zu veranschlagen als wie
vor zwei Jahren, auch schreitet ihre Entwicklung nach jeder Richtung fort.
Immerhin erachte ich die für den reinen B-Fall getroffenen, auf die
Offensive nach Serbien abzielenden Maßnahmen, neben welchen aus-
reichende Kräfte auch noch gegen Italien oder gegen Rußland (diesfalls
verbündet mit Deutschland) bereit bleiben, für vollkommen genügend und
auch die im Kriegsfalle gegen I oder R gegen Serbien verbleibenden
Minimalkiäfte für ausreichend, den Krieg hier nicht ohne Chance zu
führen, bis auf dem Hauptkriegsschauplatze die Entscheidung gefallen ist.
Montenegro. Das Analoge gilt von Montenegro, doch muß ich,
wie ich dies auch schon in vielen früheren Denkschriften getan habe,
bezüglich dieses Staates als charakteristisch hervorheben, daß Montenegro
innerhalb weniger Tage (2 bis 3) eine erhebliche Kraft (25—30.000 Mann)
kampfbereit konzentrieren kann, während dieser anfängHch eigenerseits
kaum die Hälfte an Gewehren gegenübersteht, da sich unsere Truppen nur
auf dem stark reduzierten Friedensstand befinden, von ihren Ergänzungen
aber weit entfernt sind, ohne daß für deren Heranbringung genügend
Bahnen zur Verfügung stehen. Hier zeigt sich erneuert die dringende,
von mir seit Jahren leider fruchtlos geltend gemachte Notwendigkeit von
nach diesen Gebieten führenden Vollbahnen, deren Nichtherstellung ich
als ein bedenkliches Versäumnis bezeichnen muß.
Wenn ich die Schlußfolgerungen aus all dem Gesagten ziehe, so
sind es folgende:
447
Die Allianz mit Italien ist ein Schaden fiir die Monarchie;
mit Italien wäre abzurechnen, ehe es mit der Ausgestaltung seiner
technischen Kriegsvorbereitungen (Bahnen, Befestigungen) zu Ende
kommt;
der passende Moment hiefür wäre das Frühjahr 1912.
Die Ausnützung des durch die Tripolis-Aktion momentan geschaffenen
Schwächezustandes ist ein Gebot der Selbsterhaltung der Monarchie.
Dieser Entschluß wäre in streng reservierter Weise sofort fest-
zustellen und wären alle noch realisierbaren Vorbereitungen in unauf-
fälliger Weise zu treffen.
Bei der jetzigen Interessengruppierung der Mächte ist kaum anzu-
nehmen, daß Rußland der Monarchie in den Arm fallen oder England
maritim gegen letztere eingreifen würde, ganz besonders, wenn Deutsch-
land die Rückendeckung gegen Rußland übernimmt, wozu es durch die
Lage gezwungen ist, weil es kaum Italien als Alliierten gegen die
Monarchie eintauschen dürfte. Deutschland würde in eine bedenkliche
Situation geraten, wenn sich die Monarchie an Seite Rußlands, Frank-
reichs und Englands stellen würde.
Sollte es aber im Gegenteil etwa gar dazu kommen, daß sich
Deutschland unter Ausschaltung der Monarchie mit Rußland und Italien
verbündet, dann wäre für sie, soweit die militärische Machtfrage
entscheidend wird, die denkbar migünstigste Lage geschaffen; jedenfalls
müßte eine solche Möglichkeit, falls sie überhaupt bestünde, sofort ins
Auge gefaßt werden, weil dann die militärischen Vorkehrungen auf eine
ganz neue Basis gestellt und außergewöhnliche Vorbereitungen getroffen
werden müßten.
In diesem Falle hätte die Monarchie bestenfalls Frankreich und
England zur Seite, aber von letzterem ist keine nennenswerte kontinentale
Unterstützung zu erwarten, und die Landkräfte Frankreichs wären, von
geringen Kräften an der italienischen Alpengrenze abgesehen, ganz gegen
Deutschland engagiert.
Die Monarchie stünde dagegen militärisch einem Teil der deutschen
Kräfte, dann der bewaffneten Macht Rußlands, Italiens (mit Abschlag
geringer Kräfte in den Westalpen), dann Serbiens, Montenegros gegen-
über, soweit diese Staaten nicht auf dem Balkan engagiert wären.
Rumänien stünde in diesem Falle kaum aktiv auf Seite der Monarchie,
Bulgarien würde seine eigenen Zwecke verfolgen, die Türkei wäre
abhängig von dem Verhalten der übrigen Balkanstaaten, käme also in
Europa direkt nicht in Betracht.
Daraus geht hervor, daß anbetrachts dieser militärischen Kräfte-
verhälhiisse seitens der Diplomatie alles aufgeboten werden muß, um eine
448
solche fatale Lage unbedingt zu vermeiden, und daß das Gegenteil als die
folgenschwerste diplomatische Niederlage bezeichnet werden müßte.
Nach dieser Abschweifung auf die kriegerische Stellungnahme gegen
Italien zurückkommend, möchte ich folgendes anführen:
Die Haltung ItaUens im Jahre 1909, die unausgesetzten Hetzereien
der italienischen Irredenta, die offenkundigen Machinationen in Monte-
negro, Albanien, Serbien, die Einmischung in die innere Politik der
Monarchie (Universitätsfrage etc.), die bis ins Ungemessene gesteigerten,
dem Fachmann unverkennbar auf eine offensive Kriegführung abzielenden
Befestigungen an der ö.-u. Grenze, sowie alle sonstigen augenfällig im
Sinne eines Offensivkrieges gegen die Monarchie getroffenen und mit
Hast betriebenen militärischen Vorkehrungen sowohl zu Land als zur
See, das provokatorische Benehmen der Grenzorgane etc. geben der
Monarchie auch vollends das moralische Recht zu einem solchen Schritte.
Den etwaigen Einwurf, daß letzterer kein greifbares Ziel habe,
möchte ich mit folgendem entkräftigen:
Das politische Ziel dieses Krieges wäre:
1. Niederwerfung eines Gegners, der ansonst der Monarchie bei
allen anderen Verwicklungen in den Rücken fallen würde;
2. dadurch gewonnene Freiheit des Handelns, insbesondere am
Balkan und gegenüber Rußland;
3. Unschädhch machung eines Gegners, der ganz positive, aggressive
Ziele gegen die Monarchie verfolgt (Südtirol, Küstenland, Balkan etc.)
und dadurch Sicherung des eigenen Besitzstandes und Interessengebietes;
4. Wiedergewinnung Venetiens, was für die Herrschaft in der Adria
und für den gesicherten Besitzstand der Monarchie von eminenter
Bedeutung wäre;
5. mindestens Abtretung des Gebietes bis an den Tagliamento,
sowie der Carnia und des Cadore (Gebiete mit vielfach slowenischer
Bevölkerung) nebst ausgiebiger Regulierung der höchst ungünstigen
übrigen Grenzen zu Gunsten der Monarchie; all dies, um die militär-
geographisch höchst ungünstigen Verhältnisse, insbesondere hinsichthch
des Aufmarsches zu sanieren;
6. Vernichtung, eventuell Abtretung der Flotte;
7. Einhebung einer ausgiebigen Kriegsentschädigung, respektive
Kriegskontribution ;
8. Hebung des Prestiges der Monarchie und dadurch Gewinn eines
großen politischen Gewichtes;
9. Hebung des Geistes der Armee, der durch eine Politik des fort-
währenden Paktierens, Zaudems und Nachgebens entschieden leidet.
29, Conrad II ^Q
Bei all dem ist nicht zu vergessen, daß die Lombardei und Venetien
nach langen, opfervollen Kämpfen von der Monarchie erworben, aber
von Italien unter skrupelloser Ausnützung momentan günstiger Verhält-
nisse derselben wieder abgenommen wurden.
Ich erachte also einen Krieg gegen Italien für ein Gebot und die Aus-
nützung der jetzigen Lage für das angemessenste.
Diese Lage vorüberstreichen zu lassen, ohne sie zu benützen,
erschiene mir als ein Versäumnis.
Dieses Benützen könnte allerdings auch durch Verfolgen der
politischen Ziele auf dem Balkan geschehen, doch dürfte dies zu einer
viel schwierigeren Situation mit Rücksicht auf Rußland führen, immerhin
erschiene auch dies diskutabel.
Aber weder das eine noch das andere zu tun, erschiene mir nicht
zu rechtfertigen.
Ich glaube im Vorstehenden angedeutet zu haben, wie tief die militä-
rischen Kräfteverhältnisse in die Leitimg der Politik hineinreichen, wie
innig verknüpft militärische Machtfaktoren, konkrete Kriegsvorbereitungen
und Richtung der Politik sind, und damit auch begründet zu haben, daß
die mir ressortmäßig obliegenden Arbeiten ein derartiges Eingehen auf
die politische Situation nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu bedingen,
umsomehr als, wie ich dies schon wiederholt geltend gemacht habe,
sowohl die allgemeinen, als ganz besonders auch die sogenannten
konkreten Kriegsvorbereitungen von langer Hand vorbereitet sein müssen,
sich nicht im letzten Moment improvisieren lassen, daher beizeiten auf
ein bestimmtes, dem großen Zug der Staatenentwicklung angepaßtes
politisches Ziel gerichtet zu sein haben, nicht aber dem Wechsel einer
sich nur von äußeren Einflüssen abhängig machenden Politik folgen
können.
Sollte ich jene Mächtegruppierung bezeichnen müssen, welche ich
vom Standpunkte der militärischen Machtfaktoren — und nur diese sind
von meinem Ressortstandpunkte aus für mich entscheidend — als die
für die Monarchie ersprießlichste erachte, so wäre dies eine Verbindung
der Monarchie mit Deutschland und Rußland, aber ohne dieses Bündnis
durch weitere Ententen zu komplizieren und zu verwässern.
Wenn ich im Vorstehenden die militärischen Machtverhältnisse in
Erwägung gezogen habe, so geschah dies vorwiegend mit Bezug auf
die numerischen Verhältnisse, oder kurz gesagt, auf die Zahl der
Divisionen erster und zweiter Linie.
Dieser Vergleichsmaßstab wäre aber sehr einseitig, wenn dazu nicht
auch alle sonstigen Verhältnisse der bewaffneten Macht, als: Ausrüstung,
technische Kriegsmittel, Bewaffnung, Befestigungen, Spezialformationen,
450
Vorkehrungen für beschleunigte MobiHsierung und Konzentrierung etc.
in Betracht gezogen würden.
In dieser Hinsicht ist es eine unleugbare Tatsache, daß in der bewaff-
neten Macht schon seit Jahren erhebliche Rückstände t>estehen, Rück-
stände, für deren Behebung ich unablässig eingetreten bin, welche aber
in den letztvergangenen fünf Jahren noch weit von einer Behebung
gebheben sind.
Sie betreffen vor allem das Menschenmaterial für Behebung der
mißlichen Standesverhältnisse und für Aufstellung unerläßlicher Neu-
formationen, dann die Geldmittel zur Bestreitung der hiedurch notwendig
werdenden, sowie der für Neubeschaffungen unvermeidlichen Auslagen.
Die stete Verzögerung der auf Erhöhung des Rekrutenkonlingentes
abzielenden wehrgesetzlichen Bestimmungen und die nicht genügende
Geltendmachung der von mir ohnehin auf das Mindestmaß reduzierten
budgetären Forderungen im Vereine mit einer die Großmachtstellung der
Monarchie nicht im Auge habenden Finanzpolitik sind Ursachen dieser
t)edenklichen Verhältnisse.
Ich kann nicht umhin, darauf zurückzukommen, daß ich schon
seinerzeit die für den Ausbau der bewaffneten Macht und der Reichs-
befestigung erforderlichen Mittel unter eingehender Motivierung bezeichnet
habe, daß jedoch mit Beiseiteschiebung meiner Anträge und Ausschaltung
meiner Person jener Pakt geschlossen wurde, nach welchem bloß 200
Millionen, auf fünf Jahre verteilt, als Mehrforderung festgesetzt imd
überdies die Verpflichtung eingegangen wurde, in dieser Zeit keine
weiteren Forderungen einzubringen. Meine sofort geltend gemachte
Verwahrung gegen diesen Vorgang vermochte die Sache nicht mehr zu
ändern.
Dermalen glaube ich jedoch die Möglichkeit geboten, die unerläß-
lichen Forderungen erneuert zur Geltung zu bringen, umsomehr, als die
dermalige politische Lage, welche durchaus nicht absehen läßt, ob die
nächste Zukunft nicht schwerwiegende Verwicklungen schaffen wird, als
Begründung eines solchen Auftretens ausgenützt zu werden vermag.
Ich sehe überhaupt in der offenen Darlegung der unerläßlichen
Forderungen seitens der Heeresleitung das einzige und auch angemessenste
Mittel zur Sanierung der bestehenden Mängel und erachte dafür, daß
nichts erübrigt, als das Unzureichende der bisherigen Anforderungen
offen einzubekennen.
Es ist gewiß sehr schwierig, die erhöhten budgetären Forderungen
zur Geltung zu bringen, aber wenn man die Summen bedenkt, welche
für nebensächliche Lokalbahnen, für prekäre Wasserstraßen, für Beamten-
versorgung, endlich für einen geradezu monströsen Verwaltungsapparat
29'
451
in Rechnung gestellt werden, so erscheinen die die Existenz der Monarchie
direkt betreffenden militärischen Forderungen durchaus nicht ungerecht-
fertigt, insbesondere, wenn man damit die finanziellen Mittel vergleicht,
welche andere Staaten für Heereszwecke aufwenden.
Gerade bei der jetzigen, schon früher kurz charakterisierten politischen
Lage erachte ich aber ein ehestes Vorgehen in dieser Beziehung
unab weislich.
Um eine Basis hiefür zu geben, habe ich die vom Standpunkte der
konkreten Kriegsvorbereitungen, sowie der Schlagfertigkeit in Frage
kommenden dringenden Forderungen zusammenstellen lassen, und zwar
derart, daß dabei zum Ausdruck kommen:
die überhaupt in naher Zukunft zu bewurkenden Maßnahmen, dann
jene davon,
welche bis 1913 zu realisieren und jene,
welche noch bis 1912 unbedingt durchzuführen sind.
Ich ermesse vollauf die enormen Schwierigkeiten, welche dem der-
maligen Kriegsminister infolge des übernommenen Erbes erwachsen, aber
welche Politik immer die Monarchie befolgen möge, so steht es doch
fest, daß die mannigfachen Mängel der bewaffneten Macht so rasch als
möglich behoben werden müssen und jedes Hinausschieben die bedenk-
lichsten Folgen haben könnte. Vor allem auch schon deshalb, weil, wie
die jüngsten Erfahrungen gezeigt haben, die poHtische Lage plötzlich
Wendungen nimmt, welche von der Diplomatie gar nicht vorausgesehen
waren, welche aber die Monarchie jeden Moment vor den Appell an
die Wehrmacht stellen können.
Wessen man sich gefaßt machen muß, zeigt am besten das über-
raschende und skrupellose Vorgehen Italiens in der Tripolis-Unternehmung
im Zusammenhalt mit der Tatsache, daß dieser Staat seine gegen die
Monarchie gerichteten Kriegsvorbereitungen mit aller Beschleunigung zu
vollenden trachtet.
Geruhen Euer Majestät daher Allergnädigst die meinerseits gestellten
Anträge einer Allerhöchsten Würdigung zu unterziehen und deren Aus-
führung die Allerhöchste imperative Einflußnahme zuzuwenden.
Wien, am 15. November 1911.
Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf,
General der Infanterie.
452
Beilagen zur Denkschrift
des Chefs des Generalstabes vom 15. November 1911.
Bearbeitet in den verschiedenen Gener alstabs-Bureaus.
Zusammengestellt im Operationsbureau.
Anmerkung:
Die Beilagen 1, 2, 7 sind vollinhaltlich,
die Beilagen 5 a und 5 b sind vollinhaltlich bis auf die Dislokationsskizzen,
die Beilagen 3, 5, 6, 8 sind im wesentUchen mit Hinweglassung irre-
levanter Details gegeben.
Beilage 4 (italienische Befestigungen) ist im Originale eine Karte mit
detaillierter Einzeichnung der italienischen, teils bestehenden, teils
im Umbau, teils im Neubau befindlichen Werke;
sie ist in einer auszugs weisen Skizze beigeschlossen.
Beilage 1.
Die notwendigen militärischen Maßnahmen und die
Bereitstellung der Mittel für die Wehrmacht.
Während sich die äußere Lage — wie in der Denkschrift dargelegt —
derart gestaltete, daß für die Monarchie das gleichzeitige Eintreten dreier
Kriegsfälle (Italien, Rußland und Balkan) im Bereiche der MögHchkeit
liegt, während unsere Nachbarn (namentlich aber Itahen) mit der größten
Intensität und bei Aufwendung außerordentlicher Kredite an der
Entwicklung ihrer Wehrmacht arbeiteten, wurden unserer Armee keine
Mittel zugewendet, welche es ihr auch nur halbwegs gestattet hätten, mit
dem Fortschritt der möglichen Gegner Schritt zu haUen.
Bis zum Jahre 1908 wurden einzig nur die Geldmittel zur
Beschaffung der Schnellfeuerkanonen für unsere Feldartillerie erlangt.
Zur Annexionszeit waren die Rückständigkeiten so unerträglich und
für die Schlagfertigkeit so gefahrdrohend geworden, daß mit einem
Rüstungskredit von 180 Millionen Kronen die Sanierung der aller-
dringendsten Mängel angebahnt wurde. Von diesen 180 MilUonen gingen
etwa 42 Millionen auf die vorübergehenden Standeserhöhungen in
453
B. H. D. auf, etwa 132 Millionen wurden produktiv verwertet zur
Beschaffung von Maschinengewehren und Gebirgshaubitzen, von Muni-
tion und Gebirgsausrüstungen, dann zur notdürftigsten Ausgestaltung
der bedrohten Befestigungen.
Die unerläßlichsten, geringfügigen Neuaufstellungen, wie Maschinen-
gewehrabteilungen, Gebirgsbatterien, Festungsartillerie, mußten immer
wieder auf Kosten der ohnehin unzureichenden Stände der Truppen
durchgeführt werden, was — namentlich bei der Infanterie — so weit
führte, daß die vierten Bataillone auf verminderten Stand gesetzt werden
mußten.
Um diesen für die Schlagfertigkeit der Wehrmacht äußerst bedenk-
lichen Zuständen ein Ziel zu setzen, wurden die Grundzüge einer Wehr-
reform ausgearbeitet.
Beilage 2 läßt entnehmen, daß die ermittelten Kosten dieser auf der
zweijährigen Dienstzeit beruhenden Wehrreform auf Grund des Minister-
rates im November 1910 soweit reduziert wurden, daß die tatsächliche
Durchführung ohne Inanspruchnahme weiterer bedeutender Mittel für
fortlaufende und für einmalige Auslagen gar nicht denkbar ist.
In der Beilage 2 und in den folgenden Beilagen sind die beiläufigen
Kosten, ohne den Detailberechnungen des berufenen Kriegsministeiiums
vorgreifen zu wollen, zu dem Zwecke eingesetzt, um ein Gesamtbild über
die erforderlichen Mittel zu geben. Ein solcher Überblick der Gesamt-
kosten erscheint mir aber unerläßlich, wenn die künftige Budgetierung
dem tatsächlichen Bedarf entsprechen und das Versäumte nachgeholt
werden soll.
Für die Reichsbefestigung wurde im Jahre 1909 ein
„Minimalprogramm" mit den Gesamtkosten von 155 Millionen Kronen
festgestellt.
Da aber für diesen Zweck in den Jahren 1910 und 1911 zusammen
einschließlich der Armierungen nur 17-25 MiUionen Kronen gewidmet
wurden, für das Jahr 1912 aber gar nur 6-38 Mülionen Kronen prähmi-
niert sind, so müßte sich beim Fortdauern einer solchen Budgetierung
der Ausbau der Reichsbefestigung auf mehr als ein Vierteljahrhundert
hinausziehen. Da einerseits eine solche Verzögerung der für die Reichs-
verteidigung als dringend erkannten fortifikatorischen Maßnahmen ganz
unzulässig wäre, anderseits aber mit der Zeit auch neue Forderungen
auftreten (wie z. B. Sebenico), wurden in Beilage 3 die wichtigsten
permanenten Befestigungen im Grenz- und Küstenbereiche zusammen-
gestellt und ihre Gesamtkosten von etwa 145 Millionen Kronen nach dem
Maß der Dringlichkeit auf die Jahre 1912 bis einschließlich 1917 verteilt.
454
In der Beilage 3 ist auch ersichtlich gemacht, daß für jene feld-
mäßigen Befestigungen, welche zur Sicherung unseres schwierigen Auf-
marsches im Bereiche des III. und XIV. Korps überall dort notwendig
sind, wo die Anlage permanenter Fortifikationen entfällt, nur der gering-
fügige, aber äußerst dringende Bedarf von etwa 530.000 Kronen
erforderlich ist.
Demgegenüber läßt die Skizze Beilage 4 entnehmen, in welcher
intensiven Weise Itahen seine Befestigungen an unserer Grenze jetzt tat-
sächlich ausbaut. So sind allein an der Gemona — Tagliamento-Linie seit
1910 zehn Panzerwerke im Bau, deren Vollendung schon im Jahre 1912
sicher zu gewärtigen ist. Hand in Hand damit geht die Ergänzung der
permanenten Befestigungen durch zahlreiche provisorische Batterien und
Emplaceraents, welche ebenso wie der Bau der Zufahrtswege, Geschütz- und
Munitionsdepots etc. bei Aufwendung großer Mittel rasch fortschreitet.
Beilage 5 enthält die unerläßlichen Maßnahmen für Organi-
sation und Grenzschutz, welche zumeist erst bei Eintritt der
Wehrreform — sei es mit zwei- oder mit dreijähriger Dienstzeit —
durchzuführen wären.
Diese Maßnahmen halten sich im allgemeinen im Rahmen des vom
Kriegsministerium für die Wehrreform aufgestellten Projektes; sie gehen
darüber nur hinaus:
1. insoweit es sich um die noch fehlenden Kommanden und For-
mationen für schon bestehende Verbände handelt (wie beim Heere
2 Kavallerie-Truppen-Divisions-Kommanden, 1 reitende Artillerie-Division,
6 Kavallerie-Maschinengewehrabteilungen, fehlende Feld- und Gebirgs-
traineskadronen) und
2. insoweit, als uns durch die erwähnten fortifikatorischen Maß-
nahmen Italiens in den Anfangsstadien eines Kriegsfalles Italien ein
allgemeiner Angriff auf Befestigungen aufgezwungen ist. Diese fort-
schreitende Absperrung aller Einbruchswege gibt den artilleristischen
imd pioniertechnischen Vorsorgen eine geradezu ausschlaggebende
Bedeutung, weil der Erfolg einer Offensive an die Niederkämpfung von
Befestigungen geknüpft ist und die Organisation unserer Festungs-
artillerie imd Pioniertruppe zur Erfüllung dieser Aufgaben dringendst
einer Ergänzung bedarf.
In diesem Sinne ist in den Beilagen 5 a imd 5 b und in den
zugehörigen Dislokationsskizzen I und II jenes Mindestmaß der Aus-
gestaltung unserer Festungsartillerie und Pioniertruppe festgestellt,
welches gerade noch hinreichen kann, um im Vereine mit der Umgehung
der Sperren durch Truppen mit reichlicher Gebirgsausrüstung einen
entscheidenden Erfolg zu gewährleisten.
455
Auf Grund genauer Studien über die Angriffsverhältnisse auf die
Befestigungen, deren Niederlcämpfung unvermeidlich ist, muß ent-
schieden ausgesprochen werden, daß keine andervc^eitige Ausgestaltung
der Wehrmacht imstande wäre, die fehlenden artilleristischen und pionier-
technischen Angriffsmittel zu ersetzen.
Um die dafür erforderlichen personellen und materiellen Mittel
rasch zu erlangen und die Reorganisation bis zum Frühjahr 1915
durchzuführen, müßten äußerstenfalls die in der Wehrreform vorgesehene
Aufstellung der Gebirgsartillerie vorläufig von fünf auf zwei neue
Gebirgsartillerie-Regimenter eingeschränkt und der Ersatz der beiden
in B. H. befindlichen Kavallerie-Eskadronen auf einen späteren Zeitpunkt
verschoben werden.
HinsichtUch der Festungsartillerie bezwecken die in Anlage
5 a und Dislokationsskizze I enthaltenen Anträge
a) die Schaffung knapp ausreichender Artilleriebesatzungen für die in
erster Linie bedrohten festen Plätze,
b) die Schaffung der für Angriffszwecke unerläßlichen schweren Angriffs-
aitillerie bei möglichst sparsamer Organisation im Frieden.
Hinsichtlich der Pioniertruppe macht der zunehmende
Umfang der technischen Ausbildungszweige im Vereine mit der zu
gewärtigenden zweijährigen Dienstzeit eine Trennung der jetzigen
„Einheitspioniere" in eine Pionier- und eine Pontonieriruppe unaus-
weichUch. Nach diesem Grundsatz sind die Anträge in Beilage 5 b und
Dislokationsskizze II mit Rücksicht auf den unumgängUchsten Bedarf an
diesen beiden technischen Truppengattungen gestellt.
Beilage 6 enthält jene materiellen Vorsorgen, deren
Realisierung für die Kriegsbereitschaft der Wehrmacht von entscheidendem
Einflüsse sind.
Diese materiellen Erfordernisse sind auf das notwendigste ein-
geschränkt und ganz im Rahmen meiner im Jahre 1910 unter Res. General-
stab Nr. 3147 an das Kriegsministerium gestellten Anträge gehalten, von
denen bisher einzig nur die Beschaffung der schweren 30-5 cm-Mörser
in Angriff genommen wurde. Doch hat das Kriegsministerium schon im
Sommer 1911 im a. u. Vortrag Präs. Nr. 7400 die Notwendigkeit eines
besonderen Kredites von etwa 180 MiUionen Kronen für die Beschaffung
modernen Artilleriematerials anerkannt.
Beilage 7 enthält eine Gesamtübersicht der für die mili-
tärischen Maßnahmen der nächsten Jahre erforderlichen Mittel, insoweit
sie durch die bis 1915, angeforderten Kredite nicht gedeckt sind.
Dabei ist auch die in absehbarer Zeit ganz unvermeidliche Neubewaff-
nung unserer Infanterie in Rechnung gezogen. Diese Neubewaffnung
456
kann uns durch die analoge Maßnahme anderer Staaten jederzeit auf-
gezwungen werden; das müßte aber wieder zur Zurückstellung anderer
ganz unerläßlicher Maßnahmen führen, wenn die dazu erforderlichen
Mittel nicht im vorhinein in den Gesamtkaliiül einbezogen werden.
Beilage 8 enthält jene militärisch wichtigen Maßnahmen im Kommuni-
kationswesen, in der Wasserversorgung und in gesetzlicher Hinsicht,
welche zwar das Kriegsbudget nicht belasten, deren intensive Förderung
aber vom Standpunkte der Wehrmacht unerläßlich ist, um das Zustande-
kommen dieser Maßnahmen zu erreichen.
Hinsichtlich der Eisenbahn sind nur die allerdringendsten Erforder-
nisse aufgenommen, während ein dem militärischen Bedarfe angepaßtes,
die ganze Monarchie umfassendes Eisenbahnprogramm den Gegenstand
eines besonderen, demnächst zu imterbreitenden a. u. Vortrages bilden wird.
Beilage 2.
Die Wehrreform und ihre Kosten.
Nach dem ursprüngUchen, nur bis an den Ministerrat gelangten
Projekte waren präliminiert : Fortlaufende Einmalige
Ausgaben Ausgaben
120,000.000 216,000.000
Von diesen sollten nach der beigeschlossenen
Detaihiachweisung entfallen
für Standessanierungen 22,387.000 8,910.000
„ Neuaufstellungen 21,438.000 29,349.000
„ Verbesserung der materiellen Lage der
Unteroffiziere 8,310.000 —
„ materielle Ausbildungsmittel 7,500.000 40,000.000
„ Behebung von Rückständigkeiten . . . 55,710.000 135,279.000
„ sonstiges Erfordernis 4,655.000 2,462.000
Es muß ausdrücklich festgestellt werden, daß die ganzen obigen
Beträge n u r für die mit dem neuen Wehrgesetz zusammenhängende Wehr-
reform bestimmt waren, für die Reichsbefestigung und für die
dringenden materiellen Ausgestaltungen aber nichts gewidmet war.
Im Hinblick auf die Entscheidung des Ministerrates wurden die vor-
erwähnten Gesamtbeträge auf:
92-5 Millionen Kronen an fortlaufenden und
96-0 MilHonen Kronen an einmaligen Ausgaben, demnach um
27-5, beziehungsweise 120 Millionen Kronen reduziert.
Da eine Reduktion der für Standesformierungen und Neuaufstellungen
In Aussicht genommenen Beträge (43,825.000 Kronen fortlaufender und
38,259.000 Kronen einmaliger Auslagen) ausgeschlossen ist, steht für alle
457
übrigen vorerwähnten Zwecke nur mehr ein Betrag von 48,675.000
Kronen an fortlaufenden und von 57,741.000 Kronen an einmaligen Aus-
gaben zur Verfügung, welchen Beträgen eine Forderung von 76,175.000
Kronen an fortlaufenden und von 177,741.000 Kronen einmaligen Aus-
gaben für die Wehrreform allein gegenübersteht.
Der Fehlbetrag beläuft sich demnach auf:
27,500.000 Kronen bei den fortlaufenden und
120,000.000 Kronen bei den einmaligen Ausgaben.
Da nun femer für die Lösung der Unteroffiziersfrage mit einem
Mindestaufwand von etwa 10 Millionen Kronen an einmaligen und an
fortlaufenden Ausgaben zu rechnen sein wird, steht für alle
sonstigen Zwecke nur mehr ein Betrag von:
38,675.000 Kronen an fortlaufenden und
47,741.000 Kronen an einmaligen Ausgaben zur Verfügung, woraus
folgt, daß die hinsichtlich Behebung von Rückständigkeiten und
Beschaffung materieller Ausbildungsmittel bestehenden Forderungen nur
zu einem ganz minimalen Bruchteile realisiert werden können; der
Betrag von:
24,535.000 Kronen fortlaufender und
127,538.000 Kronen einmaliger Ausgaben findet keine Bedeckung.
Da aber auf die Realisierung des größten Teiles der in den beiden
letzterwähnten Beziehungen gestellten Forderungen nicht verzichtet
werden kann, die Realisierung dieser Forderungen vielmehr die Grundlage
bildet, auf welcher Wehrreform und Übergang zur zweijährigen Dienst-
zeit überhaupt erst in Angriff genommen werden können, wird sich die
Anforderung der cbgenannten Fehlbeträge von
etwa 24-5 Millionen Kronen fortlaufender und
etwa 127-5 Millionen Kronen einmaliger Ausgaben als ganz unerläß-
lich erweisen, um n u r die mit dem neuen Wehrgesetz verbundene Wehr-
reform allein ohne schwere Nachteile für die Wehrmacht durchzuführen.
Von den für die Kriegsbereitschaft unerläßlichen Forderungen für
die Reichsbefestigung, für Organisation und Grenzschutz und für die
materielle Ausgestaltung der Landmacht ist dabei noch nicht die Rede.
Kosten der zweijährigen Dienstzeit
nach dem ursprünglichen Programme des Kriegsministeriums.
Standessanierungen: ex, -j c- ,•
^ Fortlaufende Einmalige
Aussahen Ausgraben
Komplettierung der vierten Baone der Infanterie 3,460.000 326.000
Aufstellg. u. Ausgestaltg. von Masch.-Gew.-Abt. 3,943.000 1,913.000
Standeserhöhung bei 21 Baonen um 144 Mann 1,961.000 300.000
458
Fortlaufende Einmalige
Standesvermehrung bei den Ergänzungs-Bezirks- Ausgaben Ausgaben
Kommandos 566.000 82.000
Komplettierung der Feld-Kan.- u. Haubitz-Regt. 1,276.000 585.000
Standessanierung und Komplettierung bei der
Gebirgsartillerie 1,415.000 1,342.000
schweren Artillerie 2,113.000 1,208.000
Pioniertruppe 111.000 64.000
Traintruppe 599.000 796.000
Systemisierung von Sanitätsunteroffizieren . . 719.000 305.000
Standessanierung bei der Kavallerie 594.000 39.000
Standessanierung bei der reitenden Artillerie . 703.000 421.000
Einziehung übelkompletter und kommandierter
Mannschaft 4,563.000 1,529.000
Aufstellung höherer Kommandos 364.000 —
Summe . . 22,387.000 8,910.000
31,297.000
Neuaufstellungen:
3 Radfahrkomp. und 137 Arbeitsdetachements 2,745.000 936.000
Munitions-Tragtiere 1,111.000 3,311.000
Umwandlung von 4 Tiroler Kaiserjäger-Baonen
in Feldjäger-Baone 248.000 136.000
Reorganisation der Gebirgsartillerie und Auf-
stellung neuer Formationen 6,918.000 8,658.000
5 neue schwere Haubitz-Divisionen .... 2,445.000 3,540.000
Besatzungs- und Beleuchtungs-Detachements der
Festungsartillerie 2,142.000 2,720.000
1 Brückenbataillon 437.000 728.000
1 Eisenbahnregiment 1,255.000 1,227.000
1 Telegraphenregiment 1,107.000 475.000
Luftschiffertruppe 294.000 211.000
Automobiltruppe 694.000 57.000
Aufstellung von Feld- und Gebirgs-Eskadronen
der Traintruppe 2,042.000 7,350.000
Summe . . 21,438.000 29,349.000
50,787.000
459
Sonstige Erfordernisse: Fortlaufende Einmalige
Standesvermehrung um 4000 längerdienende "^^^ ^" "^^^ ^"
Unteroffiziere 3,652.000 462.000
Handgelderhöhung für den vermehrten Präsenz-
stand 203.000 —
Sonstige verschiedene Auslagen 800.000 2,000.000
Summe ."". 4,655.000 2,462.000
7,117.000
Verbesserung der materiellen
Lage der Unteroff iziere:
Dienstprämien für den vermehrten Unteroffiziers-
stand 3,300.000 —
Erhöhung der Abfertigung für vorzeitig aus-
tretende Unteroffiziere 1,500.000 —
Vermehrung der Zahl der Ehen erster Klasse . 600.000 —
Erziehungsbeitrag für Unteroffizierskinder . . 160.000
Ausgestaltung der Unterkunftskompetenz für
Unteroffiziere 2,750.000 —
Summe . . 8,310.000
Materielle Ausbildungsmittel:
Erwerbung von Truppenübungsplätzen ... — 30,000.000
Erweiterung von Exerzier- u. Gefechts-Schieß-
plätzen 1,000.000 —
Ausgestaltung von Schießstätten — 10,000.000
Erhöhung der Erfordernisse für Schießübungen 3,000.000 —
Erhöhung der Erfordernisse für Waffenübungen 500.000 —
Erhöhung der Truppenübungsdotation . . . 3,000.000 —
Summe . . 7,500.000 40,000.000
47,500.000
Behebung von Rückständig-
keiten:
Maßnahmen zur quantitativen und qualitativen
Hebung des Instruktionspersonals (Schieß-
stabsoffiziere, ständige Lehrer für Korps-
Offiziersschulen, Kommandanten für Kaval-
leriebrigade-Offiziersschulen, Lehrer an Militär-
Bildungsanstalten, Offiziersstandessanierungen
bei einzelnen Truppen und Anstalten etc.) 6,812.000 —
460
Erfordernisse für Ausbildungszwecke (haupt- Fortlaufende Einmalige
.,..,, -v. Ausgaben Ausgaben
sächlich Pauschalien für besondere Übungen,
Luftschiffertruppe, Festungs-Artillerie-, Eisen-
bahn- und Telegraphen-Regimenter), speziell
aber Erhöhung der Munitionsdotaticn für
Schießübungen, und zwar
Infanterie 197.435
Feld- u. Gebirgsartillerie 2,181.650
Festungsartillerie . . . 147.145 3,431.620
Verschiedene organisatorische Maßnahmen
(Armeeinspektoren u. deren Personal, Artillerie-
brigadiere, Sektionschefs im K.-M., Etappen-
bureau, Festungs-Kdtn. in Bilek, Trebinje und
Mostar, Personalvermehrung anläßlich der
Reform des Militärstrafprozesses) .... 6,582.270 —
Standesvermehrung an Offizieren, Beamten und
Mannschaft bei verschiedenen Behörden und
Kommanden 3,617.110 —
Gebührenregulierungen, Aufbesserung der Ver-
pflegsgebühren für Mann und Pferd, Mehr-
auslagen durch Preissteigerungen, Budget-
sanierungen 35,267.000 —
Beschaffung von Artilleriematerial — 19,431.000
Materialergänzung für Train werkstättegruppen,
Materialbeschaffung für 7 Train-Eskadronen
für Kriegsbrückenequipagen — 2,100.000
Subventionierung von Lastautomobilen, Werk-
stättenautomobilen, Automobilisierung von
Mörserbatterien — 10,600.000
Beschaffung von eisernen Straßenbrücken für die
Pioniertruppe — 3,870.000
Beschaffung mobiler und stabiler Radiostationen,
Ergänzung u. Verbesserung des Telegraphen-,
Telephon- und Feldpostmateriales .... — 10,880.000
Beschaffung des Kriegsvorrates für Maschinen-
gewehr-Abteilungen an Repetiergewehren
M. 95, der Kriegs-Reservevorräte an Munition — 25,032.000
Ein Lenkballon — 3,000000
Elektrische Beleuchtungsapparate — 2,500.000
Fortifikatorische Maßnahmen (Ergänzung be-
stehender Anlagen) — 18,000.000
461
Fortlaufende Einmalige
Für Bauten im Zusammenhange mit der wehr- Ausgaben Ausgaben
reform — 14,000.000
Beschaffung von Vorsichts- und Reservevorräten
an Bekleidung, Ausrüstung und Verpflegung
im Zusammenhange mit der Wehrreform . . — 22,272.000
Sonstige Bedürfnisse — 3,594.000
Summe . . 55,710.000 135,279.000
190,989.000
Beilage 3.
Reichsbefestigung.
I. Schon im Bau befindliche Werke, mit reduzierter Etsch — Arsa-
Sperre und Montozzo (Pejo), alles in Tirol, und zwar:
Comale mit Vignola (Etschtal); Valmorbia (Arsatal); Montozzo,
Plateau Lavarone— Folgaria—Lusema: Gschwendt, Lusem, Verle,
Vezzena, Cherle Sommo, Serrada; Judikarien: Por (Carriola);
Tonale; Mero.
II. Dringendste Grenzbefestigungen, deren Baubeginn 1912 unbedingt
erforderlich ist:
Tirol: Valsugana : Mneghin, Picosta, Cimogna ; Zugna, ZanoUi,
Serravalle, Sasso di Stria, Fodara vedla, Knollkopf.
Dalmatien und Herzegowina: Dvrsnik, Strac, Hoher
Vermac, Castelnuovo.
III. Befestigungen, deren Bau erst 1914 zu beginnen wäre:
Tirol: Kleinboden mit Schaf eck (Stilfser Spene).
Kärnten, Küstenland: Svinjak (zur Flitscher Grenze).
T r i e s t : Batterien Prinus und Muggiai.
Pola: Werk Cope, Gradina, Madonna.
S e b e n i c o : vier Küstenwerke.
Dalmatien: GoH vrch.
Bosnien: Visegrad.
Herzegowina: Bilek.
Gesamtkosten für alles Obige, und zwar :
Bau: 80-67 MilHonen, Armierung: 70-75 Millionen, Summe 151-42
Millionen. Hievon für 1912 ins Budget eingestellt: 6-38 Millionen,
es verbleiben daher noch zu fordern 145-04 Millionen.
Nach diesem Ausbau erübrigen noch die Neubauten von Sairajevo
imd Mostar laut Minimalprogramm mit 28-6 Millionen Gesamtko sten ;
hiezu: feldmäßige Befestigungen im Bereiche des III. und XIV. Korps,
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zusammen 530.000 Kronen; femer ist bei den Sperren die Durchführung
aller im Frieden ausführbaren Ausrüstungsarbeiten, sowie die Erbauung
der erforderlichen Beobachtungsstände dringlich und wären die ein-
leitenden Maßnahmen schon mit Frühjahr 1912 zu treffen.
Beilage 5.
I Organisation undGrenzschutz.
A. Organisatorische Maßnahmen.
Aufstellung der fehlenden vier Kavallerie-Truppen-Divisions-Komman-
den, und zwar zwei des Heeres (Nr. 4 Lemberg; Nr. 10 Budapest).
zwei der Landwehr (Nr. 5 Budapest, Nr. 11 Szegedin).
Aufstellung der fehlenden drei reitenden Artillerie-Divisionen für
Kavallerie-Truppen-Divisionen, und zwar eine vom Heer (Lemberg), zwei
von der k. ung. Landwehr.
Aufstellung der fehlenden zweiten Kavallerie-Maschinengewehr- Abt.
bei 6 Kavallerie-Truppen-Divisionen des Heeres und
bei 2 „ „ „ der Landwehr
Aufstellung der Feldartillerie bei den Landwehren,
Ausbau der Gebirgsartillerie in B. H. D. auf
7 Gebirgs-Art.-Reg. ä 4 Geb.-Kanonen u. 2 Geb. -Haub. -Batterien.
1 Gebirgs-Kanonen-Division in Dalmatien ä 2 Geb.-Kan.-Batt.
Formierung von 5 Gebirgs-Artillerie-Regimentern
ä 4 Gebirgs-Kanonenbatterien u. 2 Gebirgs-Haubitzen-Batterien.
Reorganisation der Festungsartillerie zur Deckung des Bedarfes für
Besatzungszwecke und für den Angriff auf permanente Fortifikationen ;
Reorganisation der Pioniertruppe auch mit Rücksicht auf den Bedarf
beim Festungsangriff; Trennung der Pontoniere und Pioniere;
Ausbau der 14 schweren Haubitzdivisionen von 2 auf 3 Batterien
ä 4 Haubitzen;
Reorganisation der Verkehrstruppen, und zwar:
Formierung von 2 Eisenbahnregimentem,
„ „ 1 Telegraphenregiment,
„ einer Luftschiffertruppe,
„ „ Automobiltruppe.
Aufstellung der fehlenden Friedenskaders für Feld- und Gebirgs-
Train-Formationen ;
Ersatz der zwei in B. H. befindlichen Kavallerie-Eskadronen durch
Neuaufstellung von 2 Eskadronen.
B. Grenzschutz.
Änderung der Ergänzung der Tiroler Jäger-Regimenter bei Ver-
legung eines Ersatzbataillons nach Südtirol;
464
Aufstellung der zwei für den Grenzschutz gegen Italien fehlenden
Brigade-Kommanden der k. k. Landwehr, und zwar:
a) für Stilfser Joch und Tonale (Innsbruck),
b) für Judikarien (Riva).
Volle gegenseitige Unterstellung der Heeres- und Landwehr-Truppen
in Tirol, sowie der Befestigungen an der Grenze unter die Brigade-
Kommanden ;
Teilung des künftig fünf Kompagnien starken Bataillons III des
Landesschützenregimentes I in ein Bataillon für das Etschtal (Brentonico,
Ala) und em Bataillon für das Arsatal (Camposilvano, Piazza, Malga
Bisorte) ;
Vermehrung und Militarisierung der Grenzfinanzwache;
Vermehrimg der Gendarmerie an der italienischen Grenze;
Militarisierung der Grenzfinanzwache an der russischen Grenze;
Berittenmachung von 410 Gendarmen in Galizien;
Ausbau des Standschützenwesens in Tirol für Zwecke der Landesr
Verteidigung.
Summe der Auslagen für das Heer:
einmalige: 11-23 MilUonen Kronen,
fortlaufende: 6-982 MiUionen Kronen.
Beilage 5 a.
Festungsartillerie.
A. Besatzungen.
Der Bedarf an Festungsartillerie für Besatzungen nach dem Ausbau
des Minimalprogrammes ist der beiliegenden Skizze zu entnehmen.
Pola, Cattaro, Bosnien-Herzegowina, Krakau und
P r z e m y s 1 haben ganz unzureichende Friedensbesatzungen an Festungs-
artillerie. Die betreffenden Festungs-(Kriegshafen-)Kommandanten fordern
in ihren Berichten dringend die Standeserhöhung auf 150 Mann
per Kompagnie, um im Ernstfalle in der Lage zu sein, auch nur
einen Handstreich oder eine kurz dauernde Beschießung abwehren
zu können. Dazu kommt, daß speziell im Kriegshafen Cattaro und in
den Befestigungen in Bosnien-Herzegowina die Ergänzungstransporte
eventuell zu spät in die betreffenden festen Plätze gelangen, somit die
Friedensbesatzungen lange Zeit hindurch auf sich selbst angewiesen
sein werden, was einen ausreichenden Friedensstand bedingt.
Somit ergibt sich gegenüber dem Wehrgesetze ein Mehrbedarf von
50 Mann bei den 12 Kompagnien des 4. Regiments in Pola und den
30, Conrad II ^ac
daselbst neu aufzustellenden 3 Kompagnien (bei diesen durch die neu
hinzugekommene Madonna-Gruppe bedingt), somit bei
15 Kompagnien
den 10 alten und 2 neuen Kompagnien in Cattaro .12 „
„ 4 „ „ 2 „ „ „ B. H. . . 6 „
„ 8 „ „4 „ „ „ Krakau .12
„ 8 „ „4 „ „ „ Przemysl .12
Somit insgesamt bei . . 57 Kompagnien
Dieser Mehrbedarf beträgt 2850 Mann oder 1045 Rekruten, welche
mehr für die Festungsartillerie gewidmet werden müssen.
B. Angriffsartillerie.
Der stete Ausbau der italienischen Sperren, insbesondere an der
Tagliamento-Linie, zwingt die Zahl der zur Niederkämpfung der Werke
notwendigen Kompagnien zu vermehren.
Der Gesamtbedarf wird im Jahre 1915 87 Festungsartillerie-
kompagnien für den Kriegsschauplatz I und 8 Festungsartillerie-
kompagnien für die 5. Armee gegen B, somit 95 Festungsartillerie-
kompagnien betragen.
Diesem Erfordernis von 95 Festungsartilleriekompagnien stehen nach
Wehrgesetz für Angriffszwecke verfügbar gegenüber:
beim Regiment Nr. 1 8 Kompagnien,
» j> » ■^ ° »
n
3 4
» »6 8 „
Bataillon „5 4 „
neuen Angriffsbaon Tirol 4 „
Somit in Summe . . 36 Feldkompagnien.
Der sonach noch bestehende Abgang von 59 Kompagnien muß zu
einem Auskunftsmittel zwingen, welches darin bestehen könnte, daß jede
Feldkompagnie im Kriege 2 Feldkompagnien aufstellt, somit sich
verdoppelt (statt der jetzigen Formierung von Reservekompagnien, welche
immer nur minderwertige Neuformationen sein können).
Dieser Vorgang erscheint bei der Angriffsartillerie deshalb möglich
und zweckmäßig, weil jede Kompagnie im Kriege nur vier, bei den
30*5 cm-Mörserbatterien sogar nur zwei Geschütze zu bedienen hat, wofür
durchaus nicht der ganze Kriegsstand von 200 Mann an ausgebildeter
Festungsariilleriemannschaft erforderlich ist. Es erscheint vielmehr voll-
kommen ausreichend, nebst einem genügenden Stande an Offizieren und
Unteroffizieren nur so viel im Festungsartilleriedienste ausgebildete Mann-
466
Schaft in den Kriegsstand einzuteilen, als zur dreifachen Ablösung in
der Geschützbedienung notwendig ist. Der Rest der Mannschaft hat
ohnehin nur untergeordnete Hilfsdienste zu versehen, welche eine spezielle
Ausbildung nicht erfordern.
Diese vorerwähnte Organisation wäre einer Teilung der Kompagnien
in selbständige Halbkompagnien schon im Frieden vorzuziehen, weil
Ausbildungsschwierigkeiten und Mehrkosten, die durch Bildung zahl-
reicher kleiner Unterabteilungen entstehen würden, vermieden werden.
Unter dieser Voraussetzung der Teilung der Kompagnien im Kriege
ließe sich auch der Bedarf an 95 Feldkompagnien für den Angriff decken.
Wenn aus den Standeserhöhungen in Krakau und Przemysl je sechs
Kompagnien gebildet werden, verblieben bei der unvermeidlichen
Belassung je eines Bataillons in Krakau und Przemysl, sowie an der
San— Dnjestr-Linie (um daselbst auch eine Vorsorge für einen I-, R-Fall
getroffen zu haben):
in Krakau 8 -(-6 = 14 Kompagnien,
m Przemysl 4-|-6 = 10 „
in Summe . . 24 Kompagnien
für Angriffszwecke, welche durch Teilung 48 Kompagnien ergeben würden.
Ferner würden durch Teilung entstehen:
beim Regiment Nr. 1 16 Kompagnien,
yy „ „ ^ 16 „
„ Bataillon „5 8 „
„ neuen Angriffsbataillon Tirol .... 8 „
in Summe . . 48 Kompagnien,
hiezu wie früher gerechnet
von Krakau und Przemysl 48 „
ergibt Totale . . 96 Kompagnien,
durch welche der Bedarf von 95 Angriffskompagnien gedeckt wäre.
Der Rekrutenbedarf für die Neuaufstellung der 12 Kompagnien (je
6 in Krakau und Przemysl) ist durch die bei den Besatzungen erwähnte
Standeserhöhung auf 150 Mann per Kompagnie gedeckt.
Beilage 5 b.
Pionier-Reorganisation.
Ist die Notwendigkeit der Trennung von Pionieren und Pontonieren
anerkannt, so handelt es sich zunächst um den Bedarf an beiden.
a) Pioniere.
Für die Ermittlung des Gesamtbedarfes ist der Kriegsfall I maß-
gebend, weil in diesem mit dem Angriff auf zahkeiche Sperren und
467
sonstige Befesttgimgen begonnen werden muß, wofür mindestens zirka
60 Kompagnien gerechnet werden müssen.
Schlägt man hiezu den Bedarf an Pionieren für die Besatzung der
eigenen Fortifikationen mit etwa 15 Kompagnien
und die ständig bei den Korps (für Wegherstellungen,
Notbrückenbauten etc.) einzuteilenden 14 „
so ergibt sich die Summe von 89, rund 90 Pionierkompagnien.
b) Pontoniere.
Hier ist der mit der Überwindung bedeutender Flußlinien ein-
setzende Kriegsfall B ausschlaggebend für den Bedarf.
Für die Donau, Save und Drina zusammen sind 72 Kriegsbrücken-
equipagen und zu deren Bedienung ein Drittel der Zahl, d. i. 24 Pionier-
kompagnien nötig.
Für einen gleichzeitigen oder dem B-Fall nachfolgenden I-Fall
genügen vorerst 16 Pontonierkompagnien, so daß sich der Gesamtbedarf
auf 40 Pontonierkompagnien stellt.
Um den weit höheren Bedarf an Pionierkompagnien (90) im Ver-
gleich mit den Pontonierkompagnien (40) richtig zu beurteilen, muß
noch berücksichtigt werden, daß
1. die Kampfverluste der Pioniere unverhältnismäßig größer sein
werden als jene der Pontoniere,
2. daß die Zahl der zu überbrückenden Flüsse und ihr Charakter
gleich bleiben, während die Zahl und Stärke der Fortifikationen, der
Minierungen und sonstigen zu behebenden Zerstörungen und damit die
Aufgaben der Pioniere noch wachsen werden.
Für die Zahl der notwendigen Friedenskaders an Pionier-
und Pontonierkompagnien jedoch ist anderseits die Tatsache von
Bedeutung, daß für eine Anzahl von Aufgaben der Pioniere, z. B.
Wegherstellungen u. dgl. kein derartiges jMaß von frisch haftendem,
fachtechnischem Drill nötig ist, wie bei den Pentonieren, daß man also
zur Deckung des früher ermittelten Kriegsbedarfes bei den Pionieren
in größerem Umfang auf Neuformationen aus Reservisten wird greifen
können, als bei den Pontonieren.
Die Abwägung aller Umstände führt zu dem Antrag, bei Neu-
aufstellung von 7 technischen Kompagnien folgende Friedensorganisation
festzusetzen :
10 Pontonierbataillone ä 3 Kompagnien gleich . . 30 Kompagnien,
15 Pionierbataillone ä 3 Kompagnien gleich ... 45 „
für feste Plätze:
Pola 3, Sarajevo 1, Trebinje 1, Bocche 2 Komp., gleich 7 „
zusammen: 82 Kompagnien.
468
Im Kriege hätten sich
die Pontonierbataillone auf je 4 Kompagnien ... 40 Kompagnien,
die Pionierbataillone auf je 5 Kompagnien ... 75 „
und die 7 Festungspionierkompagnien auf je ... 15 „
zu entwickeln, wodurch der eingangs berechnete Bedarf gedeckt wäre.
Dislokation.
Die Beilage zeigt einen Dislokationsentwurf, der nebst den Rück-
sichten auf die bestehenden Garnisonen, besonders den Forderungen der
Ausbildung Rechnung trägt.
Die Pontoniere sind danach fast durchwegs an großen Flüssen
disloziert, so daß die kostspiehgen Verlegungen an die Donau in Hinkunft
entfallen würden;
die Pioniere aber sind hauptsächlich in festen Plätzen und im
Gebirge untergebracht.
Beilage 6.
Materielle Vorsorgen.
30-5 Mörser: 27 Batterien ä 2 Geschütze mit Munition . 40*5 Mill.
Gebirgskan., 15 cm-Haubitzen, 10-5 cm-Kanonen, 15 cm-
Kanonen, weittragende Kanonen (zirka 19 cm) . . 138-3
10 cm-Gebirgshaubitzen 8-1
Automobile für 24 cm-Mörser 2-12
Munitionskarren für Gebirgstransport der Feldkanonen 05
Gebirgsausrüstung für 6 schwere Haubitz-Divisionen 0-2
Kompagnie-Munitions-Tragtiere, Eskadrons-Tragpferde . 5-0
Ergänzung der Infanterie-Munition für das Heer . . 8-79
Übungsmunition 6-5
Steigerung der Leistungsfähigkeit der Pulverfabriken . ?
Deponierung schwerer Art.-Mun. im Aufmarschraume 1*5
Vorgeschobene Munitionsdepots 0-14
Schaffung d. Munitionsdepots in Trient, Doboj, Mostar 0-1
Sanitäts-Anstalten, Gebirgs-Sanitäts-Ausrüstung . . 0-075
Ausgestaltung der mobilen Reserve-Spitäler und Feld-
Marodenhäuser 0-4
Einrichtung für Sanitäts-Anstalten 0-7
Vermehrung der Sprengmittel- Ausrüstung 1-0
Beschaffung der fehlenden 4 Kriegsbrückenequipagen . 0-468
Beschaffung der fehlenden 9 Kavallerie-Brückentrains . 0-27
Straßenbrücke System Herbert (1 km) 7-5
Ausgestaltung der Pionier-Reserve- Anstalten .... 1-82
Motorboote für Pioniere . M
469
Motorboote für den Gardasee noch
Auistellung von 2 neuen Oefairgs-Belag.-Pionierparks
u. Modernisierung d. bestehend. Belag.-Pionierparks
Beieuchtungszüge für die Festungsartillerie . . .
Bombenwerfer und Sappenmörser
Verbesserung der Werkzeugausrüstung der Truppen .
Werkzeugsdepots-Beschaffung beenden
Ausbau der Telegraphenausrüstung der festen Plätze
Neuausrüstung der Kavallerie-Telegraphenpatrouillen
Stabile Radiostationen, Ausbau des Netzes noch .
Fehlendes Material für Telegr.- u. Teleph.-Formationen
Ergänzung der Teleph.- u. Signalausrüstung d. Truppen
Ausbau des Telegraphen- und Telephonnetzes in B. H. .
Ausrüstung der Eisenbahntruppen mit Telegr.-Material
Drahtseilbahn Caldonazzo — Monte Rover
Lastautomobile für Nachschubsz v/ecke, Motortrains .
Erhöhung der Subvention für Lastautomobile . . . .
Beschaffung von 6 Automobil-Werkstätten-Trains . .
Beschaffung von 2 Ballonabteilungen der Festungs-Art.
Beschaffung von 200 Flugapparaten
Urlaubertragtiere für Tirol und Kärnten
Material für im Krieg aufzustellende Trainformationen
Vervollständigung der Gebirgstrain-Ausrüstung . . .
Trainwerkstätten und Hufbeschlagsmaterial . . . .
Material für 2 fehlende Kavailerie-Verpflegskolonnen
und eine Brigade- Verpflegskolonne
Schaffung von 2 Gebirgsbäckereien
Wasserdichte Behälter für den Wasserzuschub im
Gebirge und Rammbrunnen
013
Mill
4-3
V
21
)y
2-5
17
0-5
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0-569
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3-518
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006
'■>
002
1-094
Totale 265-901 Mill.
an einmaligen, hiezu 0-45 Millionen an fortlaufenden Auslagen.
Beilage 7.
Gesamtübersicht des beiläufigen Mehrbedarfes
über die von der Heeresverwaltung bisher für die Zeit von 1911 bis
1915 angesprochene Budgeterhöhung von
92-5 Millionen Kronen fortlaufender Auslagen
96-0 Millionen Kronen einmaliger Auslagen
*) Fortlaufende Ausgaben.
470
Durchführung der Wehrreform bei Schaffung der f^rW^^l Einmalige
=" ^. , ., 1-01- u Ausgaben Ausgaben
für die zweijährige Dienstzeit unerlaßhchen
Bedingungen (Beilage 2) 24-5 127-5
Permanente Befestigungen bis 1917 einschließlich
Armierung — 145-04
Noch erübrigende permanente Befestigungen nach
Minimalprogramm — 28-6
Feldmäßige Befestigungen im Grenzraum .... — 0-53
Organisation und Grenzschutz 11*23 6982
Materielle Vorsorgen 0-45 265-901
Für die in absehbarer Zeit unvermeidliche Neu-
bewaffnung der Infanterie — 350-0
Somit im Ganzen: Millionen Kronen 36- 18 924-553
Beilage 8.
Militärisch wichtige Maßnahmen
welche das Kriegsbudget nicht belasten, aber einer Förderung durch
alle maßgebenden Faktoren dringend bedürfen.
A. Eisenbahnen.
Durchführung des vom Kriegsministerium vertretenen Bahn-
programms m B. H. D. und zwar:
I. Normalbahn: Banjaluka— Mostar.
IL „ Brcka— Bjelina.
III. „ nach Sarajevo.
IV. „ durch Dalmatien bis Metkovic.
Zv/eites Gleise auf der Staatsbahnstrecke Salzburg— Wörgl.
Zweites Gleise auf der Staatsbahnstrecke Assling— S. Lucia.
Zweiglinie: S. Lucia — Tolmein — Karfreit.
Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Linien:
Dees — Borgo — Besztercze und
Dorna-Watra — Czernowitz.
Zweites Gleise auf der Linie Zloczow — Tarnopol.
B. Straßen, Kommunikationen.
Durchführung des Straßenbauprogramms in B. H. D.
Bau der Straße Selva— Barricata (in Tirol).
Verbesserung der Straße im Lessachtal von Kötschach bis zur Tiroler
Grenze.
Bau einer Straße Krasne — Brody.
Bau einer permanenten Savebrücke bei Zupanje.
Subventionierung der Gardasee-Schiffahrt.
471
C. Telegraph, Telephon.
Ausbau des Staats-Telegraphen- und Telephonnetzes, Anschluß an B. H.
Übernahme des nicht militärischen Radioverkehrs in den ausschließlichen
Staats betlieb.
D. Wasserversorgung.
Förderung der Wasserversorgung des krainischen und istrianischen
Karstgebietes, speziell des Plateaus von Comen.
Lösung der Wasserversorgungsfrage auf den Plateaus von Lavarone —
Folgaria und Pasubio sovile in B. H. D. und zwar:
Wasserleitung von Baba nach Plana, Erhöhung der Wasserleitung von
Nevesinje und in der Krivosije.
E. G e s e t z e, G e 1 d.
Einbringung und Erledigung des neuen Pferdestellungsgesetzes.
Gesetzliche Regelung der Zählung und Evidenz aller Motorfahrzeuge
(Automobile, Motorboote).
Finalisierung der Ausnahmsverfügungen m Österreich.
Schaffung eines Ermächtigungsgesetzes in Ungarn.
Finalisierung der Ein- und Ausfuhrverbote.
Schaffung von Kriegsleistungsgesetzen für Österreich, Ungarn und
Bosnien-Herzegowina.
Verfügung, daß der für den Mobilisierungsfall sichergestellte erste
Geldbedarf auch tatsächlich vorhanden sei.
iiiMiiiiMiiiiiMiimiiiiiiiiillllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllllilllllllllllllilllllliiiiiiiiiniiiiiiMMi.i
RIKOLA VERLAG
WIEN/BERLIN/LEIPZIG/MÜNCHEN
FELDMARSCHALL CONRAD
AUS
MEINER
DIENSTZEIT
1906—1918
BAND I:
1906 — 1909
Die Zeit der Annexionskrise
BAND II:
1910 — 1912
Die Zeit des libysdien Krieges und des Balkankrieges
bis Ende 1912
Der Kampf um den Heeresausbau / Der Konflikt mit Graf
Ahrenthal / Meine Entlassung 1911 / Meine Wiederernennung 1912
BAND III:
1913 und erstes Halbjahr 1914
Ausgang des Balkankrieges / Friedensperiode bis zum
Ausbrudi des Weltkrieges
<Ers(Jieint im Oktober 1922)
In Vorbereitung befindet sidi:
Die Zeit des Weltkrieges
DURCH JEDE BUCHHANDLUNG ZU BEZIEHEN
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HISTORISCHE BLÄTTER
HERAUSGEGEBEN VOM HAUS», HOF» UND STAATSARCHIV IN \XnEN
GELEITET VON O. H. STOWASSER
Der Plan dieser Vierteljahrsdirift ist, die ein Jahrtausend curopäisdien Geisteslebens
umfassenden Schätze des Haus», Hof» und Staatsardiivs, das seine Bestände in viel weiterem
Maße als die anderen großen Archive Europas der Forschung zur Verfügung stellt, nicht
nur den Fachgelehrten, sondern auch der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Sie
wird sich nicht bloß auf das Gebiet der Geschichte im engeren Wortsinn beschränken,
sondern Kunst», Literatur» und Musikgeschichte berücksichtigen. Es wird daher nicht nur
der Gelehrte, sondern auch jeder Gebildete die Historischen Blätter nicht ohne reidien
Gewinn aus der Hand legen.
INHALT DES ERSTEN HEFTES :
I. Geleitwort / 2. Geheimrat Univ.^Prof. Dr. Georg v. Below (Freiburg i. Br.> »Das Verhältnis der
deutschen Gesdiichtsdireibung zur Romantill und zu Hegels Philosophie« / 3. Uni v.»Prof. Dr. Harold Steinacker
(Innsbruck) »Geschichtlidie Notwendigkeiten deutscher Politik« / 4. Univ.=Prof Dr. Otto CarteHieri (Heidel=
berg> »Kitterspiele am Hofe Karls des Kühnen von Burgund« / 5. Univ.»Prof. Dr. Alfred Stern (Zürich)
>Wit von Dörring in österreichischen Diensten« (Ein Beitrag zur Geschichte österreichischen Pressewesens) /
6. Univ.^Prof. Dr. Arnold Winklcr (Freiburg im Üditland) »Erzherzog Johann und die Wiener Staatskanriei
in Sachen des Schweizer Sonderbundes« / 7. Hofrat Univ.-Prof. Dr. Aug. Fournier f (Wien) »Die europäische
Politik zwischen Mosliau und dem Pariser Frieden« / 8. Geh. Rat Univ.»Prof. Dr. Ale.x Cartcllieri (Jena)
»Deutschland und Hrankreich im Jahre 1912 nach einer Umfrage des „Figaro" in Deutschland« / 9. Univ.»
Doz Dr. Julius Szekfü (Budapest) »Die ungarische Geschichtschreibung und die Wiener Archive« / 10. Univ.»
Doz. Dr. Friedrich Schneider <Jena) »Tedeschi lurchi oder tedeschi lurchi«.
INHALT DES ZWEITEN HEFTES :
1. Geh. Rat Univ.»Prof. Dr. Georg v. BcIow (Freiburg i. Br.) »Soziologie und Marxismus in ihrem
Verhältnis zur deutschen Geschichtswissenschaft« / 2. Staatsarchivar Dr. J. K. Mayr (Wien) »Das politische
Testament Karls V.« / 3. Univ.=Prof i. R. Dr. Ed. v. Wertheimer (Preßburg) »Neues zur Orientpolitik des
Grafen Andrassy 1876 — 1877« / 4. Schriftsteller Berth. Molden <Wien) »Das Schicksal der Deutschen und der
Weltkrieg« / 5. Univ.-Doz. Dr. Heinr. Glück (Wien) »Kunst und Künstler an den Höfen des XVI. bis
XVllI. Jahrhunderts und die Bedeutung der Osmanen für die europäische Kunst« / 6. Univ.-Prof. Dr. Viktor
BibI (Wien) »Das Don Carlos^Problem« / 7. Neue Bücber. Besprechungen neuer Erscheinungen durch
Regierungsrat Dr. Karl Brinkmann (Berlin), Univ.»Doz. Dr. Friedr. Schneider (Jena) und Univ.=Prof. Dr.
Hans V. Voltelini (Wien).
WEITERE MITARBEITER
E. C. H. Brünner, Utrecht; Robert Davidsohn, Florenz,- Max DSberl, München; Karl Glossy, Wien;
Walter Götz, Leipzig; Ludo Hartmann, Wien; Hugo Hassinger, Basel; Adolf Hessel, Göningen; Josef
Neuwirth, Wien; Hermann Oncfcen, Heidelberg; Ludwig Pastor, Rom; A. T. Pribram, Wien; Felix
Rachfal, Freiburg i. Br.; Hans Schütter, Wien ; Aloys Sdiulte, Rom ; Heinrich Srbik, Graz ,• Samuel Steinherz,
Prag; Ottokar Weber, Prag; Albert Werminghoff, Halle a. d. Saale und viele andere.
Die ,, Historischen Blätter" können durch jede Buch»
Handlung bezogen werden / Jährlich erscheinen vierHefte
im Umfange von ungefähr je 10 Bogen.
DURCH JEDE BUCHHANDLUNG ZU BEZIEHEN
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